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BP 362.)
DATEN)
1
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—
Ze
HARVARD
COLLEGE
LIBRARY
3ahrgang 1870.
Erſter Band.
-Blätter
für
literarifhe Unterhaltung.
Jahrgang 1870.
Erfter Band.
Januar bis Juni.
(Entpaltenb: Nr. 1—26.)
14
eipjig:
5 U Brodhans.
1870.
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UNIVERÖITY
r | LIPaAp
PETE Lee, 23.
—
—
Blätter u
literarifhe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—4 Ar, 1. m
1. Januar 1870.
Die Blätter für literariſche Unterhaltung erſcheinen in wögentlihen Lieferungen zu dem Prtiſt vom 10 Thltz. fäprtid, 5 Thlru.
balbjährlih, 2Y, Zplrn. vierteljärlih. We Buhhandlungen und Yoftämter de8 In» und Auslandes nehmen Beftelungen an,
Inhalt: Revue des Literaturjahres 1869. Bon Muboif Gottigal. — Auerbag's neuer Roman. Bon Rudolf Sottisau. —
Zur philoſophiſchen Literatur.
Bon Eduard von Hartmann. — Zur ortientaliihen Literatur. — Senilleton.
(Notizen;
deutfche Evangefienüberfegung aus dem 12. Jahrhundert; Engliſche Urtheife über neue Erfeheinungen ber deutf—en Siteratur.) —
Bibliographie. — Anzeigen.
Revue des Literaturjahres 1869.
r fünnten unfere Revue mit der alten lage begin-
Wi ß auch dieſes Literaturjahr, bei einer maflenhaften
Production, jo wenig Früchte von dauerndem Werth ge-
zeitigt Habe. Doc einerfeitS darf man von einem ein-
zigen Jahr nicht erwarten, daß die Bäume der Poefie in
demjelben in den Himmel wachen, da auch die claffifche
Blutenzeit unferer Literatur feine derartigen Wunderjahre
aufweift; anbererfeit8 hat die Statiſtik des Buchhandels
ebenfo gut ihren unerſchütterlichen Gang wie die Statiftif
der Selbftmorde u. dgl. m.; man muß fie nad) allgemei-
nen nationalöfonomifchen Gefegen zu begreifen ſuchen und
darf ſich über Feine ihrer Zahlen wundern, wie überhaupt
das nil admirari des Horaz in unferer Zeit immer mehr
zur Geltung kommt.
Bon namhaften Dichtern Hat unfer Riteraturjahr wenig
Bedeutendes aufzumeifen, jo fehr der Born der Lyrik in
alter unverfiegbarer Weife ſprudelt und reichlich lohnender
Geſang nad) wie vor aus dem Herzen quillt, wenn wir
nämlid) diefen Lohn in ber Freude des Gingens und
nicht in der Anerkennung des undankbaren Publikums
ſuchen. Die Elegien von Karl Bed: Taubchen im Neft,
enthalten allerlei niebliche Cabinetsſtücke der Lyrik, wäh.
rend Hermann Lingg's „Vaterländifche Balladen und
Gefänge” mehr ein patriotifches Bilderbuch in Verſen find,
Adolf Bottger's „Neue Lieder und Dichtungen“ wol allzu
harmlos und anfpruchslos auftreten. 9. ©. Fiſcher
idmet „Den deutſchen Frauen“ jchwunghafte Gedichte;
uftav Kühne veröffentlicht finnvolle „Römifche Sonette*.
nach Formenfchönheit ragen die Gedichte von Yulius
ichanz: „Lieder aus Italien‘, hervor. Echt vollothümlichen
umor athmet Victor Scheffel's „Gaudeamus! Lieder aus
m Engeren und Weiteren‘. Der Veteran Karl von
Altei hat alte und neue „Königslieder‘ veröffentlicht.
Die bedeutendften Erfeinungen find Sammlungen
1870, 1.
von Gedichten, die ſich bereits früher in verfchiebenartig
betitelten Einzelausgaben Anerkennung verfchafften. Hobert
Prutz Hat feine glühenden Liebesgedichte im „Buch der
Liebe”, Paul Heyfe feine poetiſchen Erzäflungen in den
„Gefammelten Novellen in Verfen“, einer zweiten, auf
das Doppelte vermehrten Auflage zufammengeftellt. Albert
Möfer’8 „Gedichte zeigen im ihrer zweiten vermehrten
Auflage noch erhöhte geiftige Bebeutung. Die „Gedichte
des Gartenlaubendichters Albert Traeger find in fieben-
ter Auflage erfchienen, die in ber Form mangelhaften
„Gebichte" von Emil Brachvogel in zweiter Auflage, bie
von C. F. Scherenberg in vierter, die von C. W. Bag
und ©. Scherer in dritter vermehrter Auflage. Bon Julius
Hammer’s „Schau um did) und ſchau in Big iſt die achte
zehnte Auflage und von deffen „Zu allen guten Stunden"
die vierte Auflage erſchienen. Auch Julius Sturm, „Seomme
Lieber” (zweiter Theil) hat eine zweite Auflage erlebt, wäh.
rend von demfelben Dichter Lieder und Bilder‘ (zwei Theile)
foeben ausgegeben werben. Bictor Scheffel’s „Frau Aven-
tiure“ erlebte eine zweite Auflage. Ueber derartige äußere
Erfolge führen wir um fo forgfältiger Negifter, als die
Ungunft der Zeiten gerabe die Iprifche Mufe zu vernach -
Täffigen pflegt.
Mehrere neu auftauchende Dichter Haben fi) mit Glück
in die Literatur eingeführt. Zwar Iulius Große ift fein
Neuling auf dem Parnaß mehr; aber er hat ſich bisher
mehr durch epifche Gedichte hervorgethan. Seine neuen
Gedichte: „Aus bewegten Tagen‘, haben pomphafte Hal-
tung und vornehme Reflerion. Cbenfo ift Hieronymus
Lorm als Novelift befannt; feine „Gedichte“ zeigen eine
ſchwarzverſchleierte Weltanfhauung. Hermann Helſchlu-
er und Wilhelm Ienfen haben einzelnes Treffliche ger
iftet, namentlich auf dem Gebiete moderner, anmuthiger
Situationsmalerei. Karl Zettel zeigt in feinen „Erfien
1
2 Revue des Kiteraturjahres 1869.
°
Klängen“ Verwandtſchaft mit Lingg's geſchichtsphiloſophi ·
ſcher And Mnapper Dichtweiſe; Ludwig Dill in den Gedich-
ten: „Welt und Traum“, mehr religiöfe Grundftim-
mung in breitern Ergüfſen; Philipp Emrich, ein gereifter
Dichter, gibt bei einzelnen krafthaſchenden Wendungen und
einer gewiſſen Spröbheit des Tons im einzelnen mandjes
Sinnvolle und Gelnugene, namentlich auf dem Gebiete
guomifcher Weisheit.
Drammor’® „Requiem“ iſt eine formell umgleiche, doch
oft ſchwunghafte Hymme auf den Zod, während des Be
H. Neumann Canzonen: „Die Atheiften”, philo-
Probleme teils tieffinnig, theils verworren be»
Auf den Gebieten der Ode und des Epigramms
öfterreihifc—he Dichter mit Anerkennung zu nen
neı Ziegler (Carlopago), „Vom Kothurn der Lyrik“,
und A. Bichler, „In Lieb’ und Haß”. Ghafelen von großer
Formgewandtheit dichtete Hermann Rollet: „Offenbarum«
gen”, neben ihm ift A. Ebeling zu nennen: „Regenbogen
im Often.“ Unermüblid, fGöpft aus bem Born füblicher
Poeſie 3. Faftenrath wiederum in zwei nenen Sammlun-
gen: „Hesperiſche Blüten“ und „Immortellen aus Zo-
ledo“. Weniger poefiereich als Spanien ift Hannover, wie
die Gedichte des Hannoveraner A. B. von Weyhe- Eimte:
„Bider den Strom”, beweifen, die indeß in zweiter ver-
. Eine Meine
ig in Liedern”, während derſelbe Dichter
aud) eine Sammlung: „Borgefühle“, Hat erſcheinen lafien.
Als einen harmlofen Sänger gibt fi W. Jerwig: „Fromm
und fröhlid"; I. &. Ritter von Leitner hat eine nene
Sammlung: „Herbſtblumen“, veröffentlicht, während Ste-
phan Milow ein durch feine Stoffwahl mit allzu weiten
und verbämmernden Perfpectiven außgeftattetes „Lied von
der Menſchheit“ heransgab. Des Altmeifters Schnyder
von Wartenfee „Gedichte“, fammelte nady dem Tode des
Berfaſſers Müller von der Werra. Melchior Grohe,
befannt durch ſatiriſche Literaturbilder, veröffentlicht ein
Frühlingsmärden: „Die Hochzeit zwiſchen Geift und
Herz”, Gisbert Freiherr von Binde: „Reifegejhichten,
Novellenbuh in Berſen“.
In igrer Mehrzahl neun in der Literatur erjcheinende
Dichter find die folgenden: Eduard Graf Pfeil („Gedichte“),
K. von Pleß („Ernſte Weifen“), Raoul Ritter von Dom-
browsfi („Harmolle Lieder und harmloſe Gebanfen eines
Wildtödters"), W. Elmert („Heimatlieder“), F. Ettig
(„Scilderungen, Sagen und Märdien aus ber Pflanzen-
welt“), E. Frommuth („Gedichte“), Ernſt („Gedichte“),
€. Günther („Gedite”), W. von Biarowsky („Gloden-
Hänge”), ©. Freiherr von Bobenhaufen („Gedichte“),
3. Boppe („Am Zwiſchenahner See“), 3. ©. Sceifele
(„Gebichte”), R. Schonbed („Guten Morgen, Biellieb-
en“), ©. Yunghans (,Gedichte“), K. Weife („Lorber
und Roje”), K. Weiſer (‚Das Hohe Lied meiner Liebe“),
B. Bornemanm (,„Jagdgedichte“), F. Lentner („Licht und
Schatten. Ein Liederchtius“), E. Tanbert („Sugendpara-
dies”), E. Barre („Gebichte”), K. Candidus („Bermifchte
Gedichte”), Ritter von Elfenftein („Genanntes und Un-
genanntes“), I. Mayr» Tüchler („Wolken“), W. Bedhaus
Aus der Ingendzeit. Ausgewählte Gedichte”), L. Eichrodt
Eyriſcher Kehrans“), 3. Grasberger („Singen und Sa-
gen‘), 8. Stelter (Gedichte“), E. Hefle („Dichtungen“),
9. Bape („Dem Baterlande. Poetiſches Flugblatt”),
€. Glaſer („Sternlofe Nächte. Nuits sans etoiles“,
deutſch und franzöfiih), I. F. Hodmnth („Bebichte”),
G. Opitz („Funge Lieder”), Baron $. von Nolde („Bor-
tifche Berfuche”), R. Reither („Mus der Schuie Päba-
gogilde Difhen"), 8. Wilden („Bebichte), €. Hoffe
mann („Gedichte und Lieder“), F. Krafier („Offenes
Bifir! Zeitgedichte“), C. N. von Gerbel („Dichtungen.
Erſte Sammlung“), F. A. Leo („Gedichte“), 9. Golt-
dammer („Gedite‘), W. Stein („Gedichte“), M. Blandarts
Gedichte⸗), ©. Waldftedt („Herzensflänge), H. Kran
(„Zagebublätter"), 3. Sundermann („Bon Meer und
Infel), H. Voigt („Aeolsharfe“), A. Denffer („Mein
Kranz und meine Burg“), M. E. Grigner („Ein gehar«
nifchtes Ioyl“), und zwei anonyme Sammlungen: „Glüd-
auf! im Fürftenganje” und „Ueber den Gräbern".
Daß die Lyrik nad; wie vor eine Lieblingsarena ift,
in welcher die Frauen ihren Pegafus tummeln, wird auch
durch diefes Fiteraturjaht wiederum bewiefen. Nur mag die
Zahl der Novelliftinnen noch größer fein als die ber
Igrifchen Dichterinnen. Aufſehen erregte die Heinifirende
Ada Chriften durch den feden Ton ihrer „Lieber einer
Berlorenen”; Gemith und oft glüdliche Prägnanz des
Ausdruds zeigt Augnfte von Römer in den „Wellen und
Bogen”. Außerdem find auf dem Literaturmarkt mit
poetif—en Waaren erfchienen: Marie Hagenburg«Hiede
(„Gebihte”, Neue Sammlung), Marie von Najmajer
(„Schneeglödhen“), Angelika von Hörmann („Grüße aus
Tirol“), Wilhelmine Gräfin von BWidendurg- Almafy
(Neue Gedichte”), Eliſabeth Gujlomsti („Gedichte“),
Augufte Zind („Gedichte"), Fuife Henfel („Rieder“).
Bie jedes Fahr Hat aud; in biefem der Schieſiſche
Dichterverein ein „Album ſchleſiſcher Dichter. Giebente
Folge‘ veröffentlicht, und ebenjo ift das „Album des literarie
ſchen Vereins zu Nürnberg“, welches ſteis zahlreiche Gedichte
euthält, beide auf das Fahr 1870 lautend, erfchienen.
Bon ältern Gedichten find die von Novalis, von W.
Beyſchlag, Goethe's fämmiliche Gebichte in der kritiſchen
Tertrevifion von H. Kurz ſowie in der Hempel’fchen „Ra-
tionalbibliothek“, ©. A. Bürger’8 „Gebichte” in der Brod»
hausſchen „Bibliothek der deutfchen Nationalliteratur” von
3. Tittmann und Hölty’s „Gedichte“ von K. Halm Heraus.
gegeben worden. Bon R. von Liliencron’s Sammlung:
„Die Hiftorifchen Volkslieder der Deutſchen vom 13. bis 16.
Jahrhunderi“, iſt der vierte Band erſchienen, während von
den „Deutfchen Dichtern des 17. Jahrhunderts“, herans-
gegeben von Karl Goedele und I. Tittmann, drei Bände:
Martin Opig' „Dichtungen“, Baul Flemming's Gedichte“
und Friedrich von Logan’s „Sinngebichte”, vorliegen.
An Anthologien ift nad; wie vor fein Mangel: Ru«
dolf Gottſchall's „Blütenfranz neuer deutſcher Dichtung”
ift im fiebenter Auflage erſchienen. Eine Art poetife
Geographie hat R. von Schlagintweit veröffentlicht: „Poe ⸗
tiſche Bilder aus allen Teilen der Erde. Ausgewäßlte
Schilderungen deutſcher Dichter“; andere Anthologien find:
€. Böhmer, „Sranenfhmud und Frauenfpiegel. Ein lyri ⸗
ſcher Bliltenkranz aus bem Sängergarten der neueften Zeit”;
„Harfenflänge, eine Sammlung auserlefener lyriſcher
ur N 2) I Dee
J * en
Revue des LRiteraturjahres 1869. 3
F Poefien religiöjen Inhalts”; Hermine Stilfe, „Im Früß-
ling. Lenzlieder von verfchiedenen Dichtern in Driginal-
compofitionen“; 4. Daul, „Leitfterne im Leben und fie-
ben der rauen. Eine Shafjpeare- Anthologie”.
Bon den epifhen Dichtungen fteht in erfter Linie
durch glänzendes Colorit und Gedankenreichthum Robert
Hamerling's „Der König von Sion‘, von welchem im Laufe
des Jahres bereitS drei Auflagen erfchienen find. Bon
deflen „Ahasver in Rom” ift die fechste Auflage erfchie-
nen, einer der glänzendften Erfolge, den in nener Zeit eine
epifch-Iyrifche Dichtung errungen hat. Reich an Schön»
heiten des erzählenden Stils find U. F. von Schack's
„Epiſoden“; durch die Anmuth Fünftlerifcher Haltung und
die Tendenz milder Weisheit fehr anziehend J. V. Wid⸗
mann’3 „Buddha“. Im Scherenberg'ſchen Stil, oft ener-
giſch, aber allzu manierirt und forcirt ift 2. Goldammer’s
Didtung „Sadowa”. Das idyllifche Epos von L. Dil:
„Paul und Thereſe“, ift eine anmuthende Dorfgefchichte in
Herametern. Andere epiſche Dichtungen find: ©. Hid:
„Ein Wintermärden”; D. Wagner: „Zuleikha“; E. Rau-
fher: „Nora“; C. Hoeßlin: „Klofter Arkadi auf Ereta‘;
G. Baflg: „Perpetua”; 3, Weis: „Die neue Edda‘;
J. Bape: „Der treue Edart. Epos von deutfcher Ent:
zweiung und Verſöhnung“ (zweite umgearbeitete Auflage),
md E. Edftein: „Schach der Königin! Ein humoriſtiſches
Epos“. Auch der Kritiker Karl von Thaler ift al8 epifcher
Dichter aufgetreten in der Sammlung: „Aus alten Tagen”.
Zu den volksthümlichen Dichtungen wollen wir
gleich manche Profafchriften, Sagenfammlungen u. dgl. m.
mit hinzurechnen. Hier ift das Gebiet, auf welchem bie
Dialeltpoefie in voller Blüte ſteht. Wir erwähnen von
derartigen Gedichten: P. K. Rofegger, „Zither und Had-
bret. Gedichte in oberfteirifcher Mundart”; F. Neben,
„Plattdütſche Schnurren“, F. W. Grimme, „Schwänte
und Gedichte in ſauerländiſcher Mundart”, „Album platt
deutſcher Dichtungen”, „Ban mienem Keenich Willem.
Ban’n ol’n Nümärker“; U. Seyfried: „Altboarifche
Schichten uud G'ſangln“; B. Prinz'n: „Beruntwintig
fhöne Lere von R. Burns in’t medlenbörgich Plattdütſch
vewerdrogen"; W. Schröder: „Heidſnucken. Gedichte und
Geſchichten“; 2. Harms: „Honnig. Bertellen und Ute
leggen in fin Moderſprak“; „De Theerſchwöäler. Ne
eenfache Dörpgeſchichte nt Mark Brannenborch. Van
oll'n Numärker“; Pauline Arndt: „Up Hohenmüren orer
Anna Werner“; C. Gilow: „De Minſch“; O. Vogel:
„Pommernſpegel. Ut ollen Tiden“; G. Buchenthal:
„Wieſenblumen, Gedichte in ſchleſiſchem Landdialekt“.
Von neuen Sagenſammlungen ſind erſchienen: A. En⸗
gelien und W. Lahn: „Der Volksmund in der Mark Bran-
denburg“; P. Hoffmeiſter: „Heſſiſche Volklsdichtung in Sagen
und Märchen, Schwänken und Schnurren“; J. Proſchko:
„Hiſtoriſche Erzählungen und Sagen aus der Steiermark“;
K. M. M. Spedt: „Donaufagen”; C. Rode: „Der
Ugleifee. Nach einer Volksſage“; D. Funke: „Der
Baldeultus und die Linde in der Geſchichte in Sagen und
Liedern“; F. Sundermann: „Sagen und fagenhafte Er-
zählungen aus Oſtfriesland“; 3. Lederer: „Sagen und
Geſchichten aus Böhmen“; H. Meier: „Oftfriefifche Kin-
der» und Volksreime“; D. Sutermeifter, „Kinder- und
Hausmärchen aus der Schweiz”.
Karl Simrod gibt „Auserlefene deutſche Volksbücher“
heraus, in ihrer urfprünglichen Echtheit wiederhergeftellt,
und Hoffmann's von Fallersleben „Unfere voltsthiimlichen
Lieder” Liegen in dritter Auflage vor.
Wenden wir und nun zur dramatifchen Poefie des
legten Literaturjahrs, fo erfcheint die Ernte noch weniger
bedeutend als auf dem Gebiete der Lyrik. Freilich be-
findet fi unter den Bühnenſtücken manches wirffame und
erfolgreiche Drama, welches noch nicht im Buchhandel
verbreitet wind und don dem wir daher an diefer Stelle
nicht Notiz nehmen können; doc auch die Theaterchronif
bat faum ein Wert von hervorragender dichterifcher Be—⸗
deutung regiftrirt. Auf jeden Anſpruch an die Bühne
verzichten dialogifche Dichtungen wie der vierbändige, an
genialen Einzelheiten reiche „Fauſt“, von F. Stolte, und
A. Trümpelmann’s Hiftorie: „Luther und feine Zeit“,
oder die mit gigantifchem Urweltshumor ausgeftattete dra-
matifche Freske: „Das Mammuth‘‘, von Karl Weifer.
Daß antike Stoffe auch diefem Meßkatalog nicht feh⸗
len werden, ift bei der DBeeiferung unferer Dramatifer,
das claffifche Altertfum auf die Bühne zu bringen, felbft-
verftändlih. Dramatifches Talent und geiftvolle Welt-
anſchauung prägt fi m dem „Zimoleon” von Hans
Marbady aus. Andere antike ober biblifche Dramen find:
„Appius Claudius“, von 9. Forrer; „Cajus Grachus“,
zweimal behandelt, von A. Ment und D. Franz, welcher
legtere Dichter gleichzeitig einen „Iudas Iſcharioth“ und
eine Trilogie: „Der Meſſias“, gedichtet hat; „Tarpeja“,
von G. Sauppe, „Ecce homo“, von ©. F. Holt-
Ihmidt, und das Drama „Petrus und Nero”.
Bon den Bühnendramen, bie zugleih im Drud er-
fchienen find, Haben ſich drei fcenifcher Erfolge zu rüh⸗
men: das Preisluftfpiel von H. 4. Schaufert: „Schach
dem König”, welches mit ungleihem Erfolg die Runde
iiber die deutfchen Bühnen gemacht bat, ein Städ von
frifch zugreifendem Humor, aber auch ſhakſpearifirender
Manierirtheit; S. Mofenthal’8 Trauerſpiel: „Iſabella
Orſini“, und Joſeph Weilen's „Roſamunde“, welche als
der dritte Band ſeiner dramatiſchen Werke erſchienen iſt,
beide Stücke von dichteriſcher Haltung und von Kenntniß
der Bühne zeugend.
Bon des beliebten Luſtſpieldichters G. zu Putlitz
„Luftipielen“ ift eine neue Folge erfchienen; von Feodor
Wehl's Dramen der fünfte Band, welcher die Schaujpiele
diefes Autors enthält. Freiherr 4. von Wolzogen bat
feine Bearbeitung von Kalidaſa's „Sakuntala“, fowie feine
neue Unfcenirung der Oper „Don Yuan’ im Drud er-
icheinen lafien; 8. R. W. Ufchner einen Band gejam«
melter „Schaufpiele” herausgegeben, Ein früheres Stüd
von J. Minding: „Papſt Sixtus der Fünfte“, durch
Charakterifit und Energie des Ausdrucks hervorragend,
fiegt in einer Bühnenbearbeitung von E. Rainer und
A. Beder vor. Daß die Mofterien und Moralitäten
noch nit ganz ausgeftorben find, beweijen Maria Arndt’s
„Dramen für das chriftliche Haus” und „Ein geiſtlich
Spiel von Sanct Meinulppus. In drei Aufzügen“.
Aus den modernften Bühnenbedürfnifien dagegen erwach⸗
jen ift E. Bloch's „Theater⸗Correſpondenz“, deffen erftes
Heft „Das erfte Mittagsefien“, ein Luſtſpiel von C. Görlig,
1 *
4 Revue des Riteraturjahres 1869.
enthält, fowie A. Kühling's „Album fir Liebhaber-
bühnen“.
Einzeln erſchienen noch folgende Dramen: „Odoardo.
Romantiſches Schattenſpiel“, von F. Pocci, der auch ein
„Luſtiges Komödienbüchlein“ herausgegeben hat; „Die
Weizenähre“, Drama von G. F. P.; „Die Entthronten“,
von L. Philippſon; „Deutſche Treue“, von L. Wohlmuth;
„Das mähriſche Trauerſpiel in fünf Handlungen“, von
Fürſt und Altgraf zu Salm-Reifferſcheid; „Schwerting,
der Sachſenherzog“, von L. Meißner; „Eine morganatiſche
Ehe“, von C. Homburg; „Chriſta“, von E. Graf von
Stadion; „Struenſee“, Trauerſpiel von H. B.; „Widu⸗
kind“, Schauſpiel von Söltl; „Iſolde“, Tragödie von
A. Gehrke; „Joſephine“, Drama von dem mit Recht ſtets
moderne Stoffe wählenden L. Eckardt, und die beiden
Trauerſpiele: „Die Pulververſchwörung“ und „Bianca di
Capello“, von Carlo Giulio. Bon Luftfpielen find nod)
nachzutragen: „Die Frömmler“, von E. Oswald; „Der
berliner Figaro“, von F. Hollander; „Wer ift der Herr
Pfarrer”, von X. Calmberg; „Suum cuique‘, von E. He-
noumont. Die beiden dank der „Gartenlaube“ weltbefann-
ten Romane von E. Marlitt: „Sold-Elfe oder bie Egoi⸗
ſten“ und „Das Geheimmiß der alten Mamfell“, Hat A.
E. Wollheim für die Bühne bearbeitet.
Ungezwungen reiht fi) an die dramatifhe Production
die dramaturgifche Literatur, welde im Jahre 1869
nicht gerade zahlreiche Blüten getrieben hat. 3.2. Klein’s
„Geſchichte des Dramas’ ift jest bis zum fiebenten Band
gediehen, welcher endlich die umfangreiche vierbändige
„Sefchichte des italienifchen Dramas“ abſchließt. Der
zehnte Band von Eduard Devrient’8 „Dramatifchen und
dramaturgifchen Schriften” enthält: „Meine Erinnerungen
an Felix Mendelsfohn-Bartholdy; Albert Yäffing ver-
öffentficht eine Reformſchrift: „Zur Reform der Bühne‘,
während K. R. Pabſt. „Die Verbindung der Künfte auf
der dramatifchen Bühne“, das Tieblingsthema Richard
Wagner's, in etwas abweichender Weife behandelt.
Der Roman, das Epos der Neuzeit, welches von den
Vorkämpfern der Profaliteratur als der vollftändige künſt⸗
lerifche Erſatz für die Epopde in Verſen proclantirt wird,
fteßt natürlich in vollfter Blüte: Kaiferfronen und Hundes
veilden wuchern hier nebeneinander; die Großen und
Kleinen der Literatur begegnen fi) auf diefem Gebiete,
und es trifft fich Leicht, daR das Publikum hier einen
Kleinen ftreichelt und verhätfchelt, während es einem Großen
mit fcheuer Andacht aus dem Wege geht.
Die Bedeutung des hiftorifhen Romans dürfen
wir in einer Zeit wie die unferige nicht gering anjchlagen,
fobald berfelbe die Vergangenheit zum Spiegel der Gegen-
wart macht und fi) nicht mit todtem antiquarifchem Kram
befchäftigt. In der Regel ift er bei uns mit zu viel
nadter Geſchichte zerfeßt, und die Kunſtform deſſelben
erfcheint noch immer zu ſchwankend, ohne feften Gang
und fichere Haltung. Emil Brachvogel hat feinen phan-
tafiereichen, aber oft gejchmadlofen Romanen zwei neue
hinzugefügt: „Die Grafen von Barfus“ und „Ludwig der
Bierzehnte, oder die Komödie des Lebens‘; Julius Roden-
berg einen gediegenen, jüngft von uns gerühmten Roman ans
Cromwell's Zeit: „Von Gottes Gnaben“, verfaßt, und
Karl Frenzel einen in der Zeit Joſeph's fpielenden
Roman: „Im goldenen Zeitalter.” Auf fleißigen Stu-
dien beruht das mit lebhafter Phantaſie ausgeflihrte Wert
einer Dame, Arthur Stahl’8: „Die Tochter ber Alhambra.
Kleinere Hiftorifhe Romane hat Friedrich) Adami gefam-
melt unter dem Titel: „Große und Heine Welt.“
Der fleigige P. Galen veröffentlicht einen neuen Roman:
„Der Löwe von Luzern.” In neuer Zeit fpielen bie
Romane von Schmidt-Weißenfels: „Der achtzehnte Bru⸗
maire“; von 3. Bacher: „Auf bem Wiener Congreß”, und
von A. Schirmer: „Die Spionin, aus der Geſchichte des
amerikanischen Kriegs“. Andere hiftorifche Romane find :
3. von Widebe: „Soadhim Stüter, oder die Einfüh-
rung der Reformation in Mecklenburg“; 2. Herbert:
„Das Teftament Peter's des Großen”; 2. Better: „Die
legten Grafen Kery, oder Chrift und Mohammedaner”;
Paul Stein: „Aus den Tagen des erften Napoleon‘;
3. Hemfen: „Die Prinzeffin von Ahlden“; ©. Hiltl:
„Unter der rothen Eminenz“, €. Heufinger: „Eines Kö⸗
nigs Dank“; H. Schmid: „Mütze und Krone”; R. Kules
mann: „Cornelia von Lentulus“; S. Graf Grabowski:
„ver Schügling des Kaiſers“; E. Pitawall: „Kleopatra,
die Schöne Zauberin vom Nil’; A. St.-Maure: „Licht und
Finſterniß“. Ein Qulturbild des vorigen Jahrhunderts
gibt Dttfried Mylius in dem Roman: „Die Irre von
Eſchenau“. In antiproteftantifchen Tendenzromanen uner=
müdlich ift E. von Bolanden, wie jet fein „Guſtav Adolf‘
beweiſt. Im der allernächften Vergangenheit fpielen die
politifchen Romane: H. von Maltig: „Die Politik bes
Herzens, oder die Annectirten”; F. Klind: „Unter dem
letsten Welfenkönig“, B. von Rotenkirchen (A. Görling):
„Langenſalza“.
Der Zeitroman bat in dieſem Jahre einige be⸗
deutende Werke aufzuweiſen. Friedrich Spielhagen's
„Hammer und Amboß“ und Berthold Auerbach's
„Das Landhaus am Rhein“, vertreten beide das Evans
gelium moderner Humanität und find jener gegen das
weiße, diefer gegen das ſchwarze Sflaventhum gerichtet.
Der Roman „Hermann Stark“ von Oskar von Rebwik
ift zum Theil in Profa aufgelöfte Lyrik, doch zeigt er
Sinn für deutfches Leben und vertritt politiih den
Standpunkt des Liberalismus. Robert Byr's Roman:
„Der Kampf ums Dafein”, macht ven Darwinismus zum
Angelpunfte der Begebenheiten. Bon Karl Gutzkow's
„Zauberer von Rom” ift die dritte Auflage erfchienen,
während die „Ritter vom Geiſte“ in einer mejentlich ab-
gekürzten Ausgabe vorliegen.
Originell und keck, doch ohne Abſchluß ſind Hans
Hopfen's „Arge Sitten“, pſychologiſch intereſſant bie
„Fiamma“ von Günther von Freiberg, das Pſeudonym für
eine Dame, wie F. von Nemmersdorf: „Unter den Waffen.“
Des verſtorbenen Heinrich Koenig letztes Werk iſt der
Roman „Eine pyrmonter Nachcur“. Levin Schücking
hat zwei kleine Romane veröffentlicht: „Filigran“ und
„Die Malerin aus dem Louvre“, Guſtav vom See einen
Roman: „Valerie“, Karl von Holtei: „Die alte Jungfer“,
die auch im Kloſter unermüdlich producirende Gräfin
Ida Hahn-Hahn: „Die Geſchichte eines armen Fräuleins“,
und Wilhelmine von Hillern: „Ein Arzt der Seele.“
Das folgende Regifter der übrigen Romane dürfte ziem⸗
Auerbadieneuer Roman.
lich volftändig fein; etwaige Auslaffungen find nicht 2&
Abſicht, jondern Zufallstüde. W. Bennede: „Malerleba;
W. Freimuth: „Das Kloſter“; Paula Herbft: „Calle
und Liebe; W. Dtto: „Kaufmann und Xriftofrde;
E. 9. König: „Verſchollen“; Gräfin Creffieur: „2x8
dem High⸗life“; Agnes le Grave: „Frau Lee”, Elifesth
Baronin Grotthus: „Die Familie Runenthal”; A. Dis:
„Erlebtes und Erdachtes“ und „Bilder und Geftaltı“;
G. von Keflel: „Königstren“; F. Lubojatzky: „Zu Fus
und überall‘; 9. Mühlfeld: „Freie Bahn“; E. Biel:
„Das Haus Morville‘; E. M. Vacano: „Das Geheinif
der Fran von Nizza“, und zufammen mit Graf Stapn:
„Dornen. Erinnerungen und Ahnungen”; 4. fer:
„Bas ift Wahrheit? H. Kleinfteuber: „Das Glof
om Meer’, R. Neumann: „Köhin und Gräfin‘ ©.
Hefeliel: „Schellenmoritz“; Elife Pollo: „Sie ft‘;
D. von Kaszony: „Satan und Cherub”; T. ©. Um:
„Ein häßliches Mädchen“; W. Yäger: „Künſtlerſtiche“;
3. Hallervorden: „Das Haus Bernhard“; K.daff—⸗
ner: „Sungfernblut” und „Was fi die Kammzofen
erzählen”; €. von Dindlage: „Zolle Geſchten“;
3. Sonnendburg: „Madonna Sirtina”; U. Sfens:
„Ein Wechſel“ und „Ein Polenherz“; E. Pasqué, Drei
Sefellen“; A. Broof: „Das Schloß in den Armen‘;
J. D. 9. Temme: „Die Erbgrafen“; C. Lünherz:
„Berfehlte Ziele; D. Wilibald: „Kleines Iren aus
einer Heinen Stadt”; Amalie Römheld: „Anna raun“;
I. Weſtritz: „Gegen den Strom“; U. Schrad: „Die |
— — — —
Zwillingsbrüder“ W. Anthony: „Romane und Novellen“;
G. %. Born: „Die Geheimniffe einer Weltftadt “;
©. Graf Grabowski: „Das Käthchen von Heilbronn“;
D. von Paſchkowsky: „Chriftine‘; T. Ramlau: „Wanda“;
F. C. Schubert: „Und fie bewegt ſich doch“; I. 5. War-
tenberg: „Weiße Sklaven oder ein Opfer der Kirche“;
H. Klende: „Afchenliefel oder des Weibes Beruf“; 4.
Storch: „Die Katatomben von Wien‘; Graf U. Baudiſſin:
„Die Stieffinder‘; @. von Bolanden: „Raphael“;
Amely Bölte: „Ein Thron und fein Geld”; A. von Stifft:
„Renaiffance und Romantif”, und mehrere anonyme Ro-
mane: „Berlieren und Wiederfinden“, ein ſchleſiſcher Ro—
man; „Der Sohn des PVerbannten oder das Geld des
Juden“; „Mariola oder ein blinder Dämon“.
Der erotifhe Roman ift diesmal nur vertreten
durch F. Gerftäder's „Die Blauen und die Gelben.
Benezuelanifches Charafterbild.“ ine erotifche Färbung
hat auch der Roman von E, Freiherrn von Bibra: „Die
Abenteuer eines jungen Peruanerd in Deutſchland.“
ALS eifrigfter Vertreter des Humoriftifhen Romans
erfcheint U. von Winterfeld in den Werken: „Fanatiker
der Ruhe“ und „Der Winfelfchreiber”. Außerdem hat
Graf U. Baudiffin „Ronneburger Myſterien“ heraus-
gegeben und Dtto Buchwald „Das neue Geſangbuch“,
weldye beide Werke fi) als humoriftifche Romane be-
zeichnen.
| Rudolf Gottſchall.
(Die Fortſetzung folgt in ber nächſten Nummer.)
Aubach's nener Roman.
Das Landhaus am Rhein. Roman von Berthold, erbach.
Flnf Bände. Stuttgart, Cotta. 1869. 8. 5hlr.
Der deutfche Roman unterfcheidet fid) vorkm fran«
zöffchen und englifchen durch die ſchwerwende Ge⸗
diegenheit des Inhalts; wir meinen den Rom der von
hervorragenden Schriftitellern ausgeht; dennas Futter
der Leihbibliotheken iſt bei allen Nationegleichartig,
und auch wir haben genug Romane, deren ſtiger In—
halt gleich Null zu achten iſt. Will ſich g ein deut⸗
ſcher Romanſchriftſteller auf der Höhe des rnaſſes be⸗
haupten, fo darf er nicht blos wie die gepruſten fran-
zöfifchen und englifchen Genofjen durch chthum ber
Erfindung, ſchöpferiſche Geftaltung "und t Runft, die
Spannung zu erregen, ſich die Theilnahmer Leſer er-
werben; er muß vor allem und in eindeiftige Welt |
einführen, den Reichthum feiner Bildungf allen Ge⸗
bieten bewähren; er muß pädagogiſche, ſormatoriſche,
fociale Tendenzen, welche einen Commentwerausfordern,
in jeine Dichtung hineingeheimniſſen; enuß beweiſen,
‘aß ex ein vielſeitig gebildeter Mann iſt, vas Tüchtiges
‚elernt hat und über alle Dinge dieſevelt mit Geiſt
nd Grazie zu fprechen verfteht.
Die Traditionen unfers „elaſſiſchen“ mans ftammen
on Goethe her; die Entwidelung und bung bes Hel-
"en ift der Mittelpunft deſſelben; we Theorie
es Romans lehnt fi) vorzugsweiſe mie Goethe'ſchen
Mufter an. Wenn indeg dev Dichter „Wilhelm Mei- |
fter’8 Lehrjahren“ den abenteuerlichen Verwidelungen, auf
denen die Spannung des Romans beruht, nody Rechnung
getragen hat, fo haben ſich „Wilhelm Meifter’s MWander-
jahre‘ gänzlich von diefen Bedürfniffen des Lefepublikums
entancipirt; bei allem ZTieffinn, bet aller Tragweite der
focialen Tendenzen forgen fie fchlecht für die Unterhaltung
der Leſer, und wir find Fegerifch genug, dies fir einen
Fehler zu Halten.
Der Romanfgriftfteller, der Halbbruder des Dichters,
wie Schiller ihn nennt, hat für das Abendland diefelbe
Rolle übernommen, welche im Orient der Märchenerzähler
jpielt; er will die Phantafte der modernen Culturmenſchen,
die dur den Mechanismus ihres Tagewerks in den
Hintergrund gerüdt oder in unerquidlicher Weife befchäf-
tigt wird, mit freien, felbftändigen Genüffen erfrifchen;
er baut Hinter der Realität des praktiſchen Lebens eine
zweite, fchöne Welt auf, gekleidet in die anmuthigen
Zraumfarben der Phantafie, und zeigt und in ihrem
Taletdoffopifchen Spiel ungewöhnliche, aber gefchlofiene
Vigurationen des Menſchenſchickſals.
Der Roman entſpricht in erſter Linie nicht einem
äſthetiſchen, ſondern einem praktiſchen Bedürfniß, und dies
Bedürfniß darf auch von der Aeſthetik nicht misachtet
werden. Die angenehme Beſchäftigung der Phantaſie,
welche den Menſchen in ein Reich der Freiheit führt,
wo er der nächſten Sorgen und Beſchwerden vergißt, iſt
eine unerlaßliche Aufgabe des Romans, wie fie zugleich die
6 Auerbah’s neer Roman.
Wurzel ift, aus welcher dieſe ganze zwijchen Poefie und
Proſa ſchwankende Dichtgattung hervorging.
Freilich, das Märchen fol feinen Sinn haben und iſt
um fo fhöner und gelungener, je tiefer diefer Sinn if.
Und fo verhält fich’8 audy mit dem Roman. Gelingt
es dem Autor, eine tieffinnige Wahrheit zur Seele ber
Begebenheiten zu machen und fie ans dem ang der
Handlung mit zweifellofer Klarheit Herporleuchten zu
lafien, fo werden wir ihn doppelt preifen; denn ex
weiß den floffartigen Heiz mit geiftiger Bedeutung zu
verfnüpfen.
Etwas anderes ift es freilich, wenn die Tendenz ne
ben der Gefchichte herläuft; wenn wir belehrt und gebil-
det werben, nicht durch den Inhalt der Romanfabel felbft,
fondern durch die Betrachtungen, mit denen der Autor
fie begleitet, wenn unjere Phantafie fortwährend den
Armen des Traumgottes wieder entriffen und auf die
harte Schulbank geſetzt wird, um ſich Vorlefungen halten
zu laffen.
Ein guter Roman ift wie ein Wagen mit Federn;
man merkt nicht, daß man fährt. Doch diefe floßenden
Böantafienagen erinnern ung jeden Augenblid daran, und
Kreuz und Lenden thun uns wehe bei jedem Rud, der
und aus unferm Behagen auffchüttelt.
In der That hängen die Wagen unjerer beften Roman
autoren gerade nicht in Federn.
Die deutſchen Schriftfteller find zu geiftreih und
wollen, daß man’s merft. manchen Romanen glau«
ben wir fortwährend die Finger zu jehen, mit denen bie
Inferate der Kaufleute ſich ſchmücken, und die hier hin⸗
weifen auf geiftigen Ausverfauf, auf ein wohlafjortirtes
Waarenlager aus allen Fächern. Oft gewinnt es den
Anfchein, als wollte und ber Romandichter fagen: „Seht,
das verftehe ich vom Aderbau, vom Weinbau, von Botanil,
vom Nechtsweien, von Politit, von Faufmännifchen Ge-
ſchäften, von Dachdederei und Schmiedehandwert u. f. f.“
Dean könnte nur immer antworten: „Mein befter Herr,
wir ftellen ja fein Eramen mit Ihnen an! Wir ver-
langen auch gar nicht einmal, daß Ste jo übertrieben
geiftreidh find. Erzählen Sie uns nur eine finnreiche
Geſchichte, wir werden den Sinn ſchon felbft heraus-
finden.”
In der That, bie Noten drängen fich jet in den
Tert, wie überhaupt die Noten zur Signatur bes Zeit.
alters gehören. Man denke an die Noten der gelehrten
Shakfpeare- und Schiller - Ausgaben. Die Weisheit aus
zweiter Hand erftidt faft diejenige aus der erften, welche
der Genius uns bietet. Auch von denjenigen Noten
fprechen wir nicht, durch welche der hiſtoriſche Roman⸗
autor heutigentags ſeine Lefer unterrichtet, daß dieje
oder jene Anekdote oben im Xert die reine goldene ge-
ſchichtliche Wahrheit fei, und damit das Berdienft feiner
Duellenforfhung body Über das der eigenen Erfindung
ftellt. Und doch ift eine Empfehlung für eine erledigte
Achivarftelle ein Uriasbrief fir den Didier! Wir
ſprechen nur von den verfappten Noten, die fi in den
Text der Romane felbft einfehleihen, von den zahlreichen
Bemerkungen, Erläuterungen, Abhandlungen, mit beuen
die Autoren ihre Gefchichtsffitterung durchwirken, und die
uns eine größere Meinung von ihrer Bildung beibringen
8 von ihrem Talent. Nimmt man für den Roman
18 Vorrecht in Anſpruch, dag alles Mögliche in ihn
heingeftopft werden barf, was die Welt des Geiftes ber
pgt, alle erdenklichen Tendenzen, Bemerkungen, Aus-
eanderfegungen — jo wollen wir ihm die Vorrecht
riht ſtreitig machen, müſſen aber dann jeden Auſpruch
aiehnen, den der Roman anf die Bedeutung eines Kunft-
wis erheben dürfte. Dazu gehört vor allen Dingen,
d; fih Form und Inhalt deden.
Wenn wir mit dieſen kritiſchen Ergüſſen der Bes
ſſpihung des neuen Auerbach'ſchen Romans etwas un«
Ley präludirt haben, fo wollen wir durchaus nicht alle
drdallgemeinen Betrachtungen auf Auerbach's Werk be»
30; jehen. Doch die Anregung zu denfelben hat es
uneullerdings gegeben, indem die in ihm berrfchende
Op: der Meflerionen zu dem eigentlichen Seen der
Hecang nicht in dem richtigen Verhältniß fteht, jondern
wie 3 kometiſcher Dunftfchweif Hinter diefen Kern fid
inszerite hinaus erftredt.
éyerbach iſt ein geiſtreicher Schriftfteller, der mit
ſein gebinoziſtiſchen Weltanſchauung alle ſeine Werke zu
ſätti. weiß, ohne daß und die aufbringliche philofophifche
Vorneentgegenipringt. Eine echte Naturpoefie mit tie-
fem „ienten ins AU und feine wirkenden Kräfte finden
wir ipellen feinen Erzählungen und Romanen, auch in
biefei Wueſten, und der Geift der Öumanität, defien
Geſtir mmer fiegreicher am Himmel dieſes Jahrhunderts
empo t, feiert auch im ihnen einen Triumph über alle
Ueber _. der Barbarei. Bon der Culturmiffion der
Nenze —ES verherrlicht der Dichter den Sieg
eines „en Geſchlechts, welches die Sünden der Bü-
ter gut
D Aſfuerbach befigt ebenfo wenig wie Freytag eine
reiche *| erfinderifche Phantaſie. Im den Romanen
dieſer di hochſtehenden Autoren zeigt ſich eine unleug⸗
bare &egh der Motive und eine ausnehmend ökonomi⸗
Ihe Atanzung derfelben, welche aus dem Bewußtſein
jenes 9 dels hervorgeht. Wie unglitdtich ſelbſt ein fo
vorſicht; Autor ‚wie Freytag überall dort iſt, wo er
feiner genfie einige kühnere Wagniffe zumuthet: das
zeigt baperte Dand ber „Berlorenen Handſchrift“ mit
jeiner bo Zigeunerromantif und gemwaltfamen Ueber—
ſchwemmeſeataſtrophe.
Auchtei Auerbach's neuem Roman bringt es die
Handlunye deu drei erſten Bänden faum zu einem
Vortgang duns Spannung einzuflößen vermag. Das
Intereſſe dm vorzugsweiſe pädagogiſches; ein Haus—
lehrer, de dei Doctor und Hauptmann und mit der
Erziehung ve! Sohnes eines transatlantifchen Nabobs
betraut if, h im Bordergrunde der Handlung. Diefer
Nabob fer wenbart ſich durch fein Sonberlingswefen
und durch etunheimliche Vergangenheit, die er uns ah⸗
nen läßt, Dr eigentlihe Romanheld, von dem wir
noch einige ante Ueberrafchungen erwarten dürfen.
Doch dara Koffen wir ums gedulden — weilt uns
der Verfafſilh für diefe Gebulbprobe einen zaube-
riſchen Auj an an, in dem ſich's Leben läßt — bie
Billa Eden.n
Die Bilin | Eden und ift and ein wahres Eden, in
\
» das man freilih nur von außen hineinfehen kann, denn alles
ift verfchlofjen umd bewacht und längs der Gartenmauer find
Selbſtſchüſſe und Fußangeln. Nur wenn der Beſitzer verreiſt
iſt, haben die Diener die Erlaubniß, Haus und Park zu zeigen,
und nehmen dann viel Geld ein. Man rühmt die Ställe mit
den marmornen Krippen, bie bfütenvollen Zreibhänfer, die
fein ausgedachte Schönheit der Hauseinrichtumg, die Obſtgärten
und den Part. Der Beftger ift ein reicher Amerilaner, er hat
dieſes Haus gebaut, den fchattigen Park angelegt, und die Wieſe,
die halb verfumpft, zerriffen und ungeebnet ſich bie am ben
Strom dehnte, in einen Obftgarten verwandelt, der die edelſten
* trägt, von einer Größe und Schönheit, wie man fie
iergulande nod nicht gelaunt.
Wer erinnert ſich nicht an Adalbert Stifter’s „Spät-
jommer“ umd feine roſenumrankte Billa? Wie fchön-
felig wird e8 und dort zu Muthe, wenn wir fortwährend
Auerbad’s n kt Roman, 7
„ı
\ spiefe Eriten bedürfen einer mäßigen Temperatur und einer
aöbleibenden Feuchtigkeit. Sie werben ſchon oft gefehen ha⸗
‚ daß ein Erifenftod mit feinen zarten Blüten, den man
eir Dame für ihren Blumentifch fchentt, nach wenigen
Zen verdorrt ift; diefe Pflänzchen vertragen Teine trodene
Amerluft.
Wir werden von ihm in den Obſtgarten geführt:
Aus dem ſchattigen, dicht beſtandenen Park, deſſen Rand
mit ſchönen ſtämmigen Weißtannen bepflanzt war, trat
an in ein Gewirre von Obftpflanzungen, die auf einer Fläche
ıa mehren Morgen Feldes fi) wahrhaft zauberijch darftell-
. Die Beete waren mit Heinen, faf wie Taxusgebüſche
ergbaft gehaltenen Birnen⸗ und Apfelbäumen eingefaßt. Der
Atamm war kaum zwei Schub Hoch gehalten, während bie
Auszweigungen an Drähten fo ausgelegt waren, daß hüben
md drüben oft dreißig Schub lange Aeſte feftgebunden
m Gärten und auf Aeckern uns berumtreiben und bie foaren. Das biühte jetzt an allen Guben und fland dabei
fanbern, kunſtgeſchmückten Räume des Haufes kaum an-
ders als in Filzſchuhen zu betreten wagen, welche der
Dichter den Hausgenoſſen dort zur Dispofition flellt.
Es wird und zu Muthe, als gehörten diefelben zu ben
Templeifen, die irgendeinen Heiligen Gral bewachen,
und wäre es auch nur der Gral einer höchſt fublimirten
geiftigen und Kunſtbildung. Dod wir lefen von Bant
zu Band; es gefchieht nichts, Fein Ereigniß befledt di
Flieſe des Hausflurs; alles ift nur damit befchäftigt, fid
zu bilden.
Aehnlich ergeht e8 uns lange Zeit in der Billa Eden.
Der Hauslehrer Erich erzieht den jungen Roland, ber
bald in heftiger Neigung zu ihm entbrennt; man geh
Ipazieren, man erhält Beſuche; die pilante Gräfin Belh
irrlichtelirt mit etwas Esprit in bie fchönfelige Atmoſphär;
Erih und Magifter Knopf unterhalten ſich über pädayo-
giſche Grundfäge; wir lernen den Major, das Fräukin
Mid, fein Orakel, und den Doctor kennen; bes in-
zige Ereigniß, welches etwas Lebhafter die kaum fich Tılu-
jelnde Oberfläche des Romans bewegt, ift ein Diebtahl
bet Sonnenkamp; ein ganz gewöhnlicher, durchaus richt
romantiſcher Diebftahl, für den anfangs ein Unfchulsiger
zur Berantwortung gezogen wird. Der alte und neue
Pitaval können die Gefchichte nicht brauchen; wozu braucht
fie der Dichter? Nur als ein pädagogiſches Ereigniß,
welches auf das Gemüth bes jungen Roland bildende
Birfung ausübt, als eine Art von Schnlvorzeichuung,
durch welche der Haußlehrer feinen Zögling einige Schat-
tirungen des Menfchenlebens Iehrt.
Das äußere Leben ift arm; wir find auf einem
Landhaus, und da begibt ſich nicht viel; doch lernen wir
mancherlei. Wir brauchen ja bios durch ben. Garten
zu gehen und uns mit dem Gärtner in ein Geiprüd
einznlaflen, der Mann verfteht fein Gefchäfl:: Was
weiß und das Erdmännden Nicolas nicht alles zu
erzählen:
Droben im Walde fei eine Duelle, die Eiſen enthalte, und
"a habe Herr Sonnenlamp nadgraben laffen und Eiſenerde
jefunden; in diefe Eifenerde pflanze er num Horflenſien, die
Heifchfarbenen Pflanzen färben ſich dadurch himmelb,lau.
Auch rühmt er die einfache Methode des Koerrn Son-
ırenfamp, wenn er Obfllörner ſäete. Er ließ nämlich in
lie Erde Hinein Nadeln vom Wachholderbaum miſchen;
dadurch kamen feine Würmer und keine Milufe in ben
Ganren. Sonnenfamp jelbft unterrichtet ung ie die Eriken
rom Gap der Guten Hoffnung:
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o geregelt, daß der gewaltig bindende und bildende Men-
chenwille ſich zeigte, der die Natur zum freien Kunſtwerk
oder auch zu einer zwerghaften Berfünftelung gebracht Hatte.
Wohl geordnet flanden dann Bäume von mannichfaltigfien
geometrijchen Formen. Da waren Bäume in Kreisformen und
Biereden, andere, die von unten bis zur Spike nur vier
Zweige hatten, die in gemeljenen Zwiſchenrüumen nad ben
vier Himmelsgegenden gerichtet waren. Au bie Mauer an-
gelehnt waren Bäume, die Stamm und Zweige in Sternform
oder fchief legen mußten, wie ein Baſaltlager. Alles war im
beften Gedeihen. Sonnenlamp berichtete, daß man die Zweige
fnide, um den Saft nit zu Holzbildung in Stamm und
AR fich verbreiten zu laflen; alles müſſe der Frucht dienen.
Sie haben wol uud Mitletd mit diefen geknickten Zweigen?
fragte er ironiſch lächelnd. Die natürliche Form der uns be-
fannten Obfibäume — Ja wohl, fiel Sonnenlamp ein, die
Menſchen find Gefangene des Borurtheils! Findet jemand
Unfchönes, Gewaltfames darin, daß man den Weinftod
allfommerlih dreimal fappt? — Niemand will ſchöne Form
vom Weinftod, jondern nur reiche Frucht; fo fol e8 auch beim
Obſtbaum fein. Sobald man zu oculiren begonnen, war der
Weg vorgezeichnet; wir find nur confequent. Der Zierbaum
fol Zierbaum, der Fruchtbaum Fruchtbaum jein, alles grade-
aus. Diefer Anfelbaum ſoll ſolche Aeſte, und nur fo viel
Aeſte haben, daß er Früchte tragen kann, und zwar fo große
als möglih; vom Obſtbaum will ich fein Holz, fondern
Frucht.
Gewiß, das iſt alles ſehr lehrreich; wir führen aber
dieſe verſchiedenen Stellen an, um zu zeigen, was wir
unter den oben erwähnten verkappten, im Text verſteckten
Noten verfiehen. Das ift alles in einer Dichtung todter
Notizenkram, Excerpte aus einem Lehrbuch der Horticultur,
die fi mit Grazie in infinitum fortfegen laſſen. Die
hamburger Blumenausftellung gibt für derartige Garten-
und Zimmerdecorationen eines Romans eine ſolche Fülle
von Material, daß wir uns verpflichten, in dieſer Weiſe
einen Helden durch neun Bände hindurch fpazieren zu
führen und jedes Kapitel mit einer preisgefrönten Blumen-
jpecies anmuthig zu umrahmen. Wie in diefen Zunft
gürtnerifchen Notizen finden fi auch in der Schilderung
der Räumlichkeiten der Billa zahlreihe Proben jener
jchlechten deſeriptiven Poeſie, welche Leifing mit Recht
verurtheilt hat, und die wir 3. B. bei Stifter in reichem
Maße antreffen, Malereien und Schildereien mit der
Teber, ein todtes, vuhendes Nebeneinander von Aeußer⸗
lichkeiten, bie fein einheitliches Geſammtbild vor bie
Phantafie zaubern.
Den Excurſen über Gartenbau fchliegen ſich die pü«
dagogiſchen an. Hier treffen wir fehr viele geiftreiche
Bemerkungen. Magiſter Knopf ift auch gewiß eim
x
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8 Auerba ergener Roman.
tüchtiger Pädagog; doch unſer Held Erich Dournahee
Hauptmann⸗Doctor, weiß zwar über Erziehung, über lez
Verhältniß von Autorität und Individualität, das beifr
zur Sprache kommt, ſehr fachgemäß zu fprechen; ich
wirkt er ohne Frage durch feinen edeln Charakter bild
auf feinen Zögling ein. Im Grunde aber ift er .d
ein pädagogifcher Dilettant, wie alle Hauslehrer in 'y-
manen; wir trauen ihm nicht zu, daß ex einen fuften-
tiſchen Unterrichtsplan innehält. Wir fürchten, daß ei
einem Cramen das Regifter der Kenntniffe des junm
Roland manches bedenkliche Loch zeigen würde. Er kt
do zu viele andere Händel im Kopf. Nach eina
fhüchternen Liebesverſuch bei Frau Gräfin Bella, wo die
Schüchternheit weder nöthig noch erwünſcht war, verliet
er ji in die Tochter vom Hanfe, Manna, die fi, un
des Vaters Schuld zu fühnen, dem Kloſter geweiht hat.
Erich's Liebe jeboch gibt fie dem Leben zurück; fie wirft
ihren Bußgürtel zum Wenfter hinaus. Diefe Entwidelung
ift mit pſychologiſcher Feinheit durchgeführt, und auch von
warmer, anfprechender Gefühlslyrik; doch die entfcheidende
Wendung gehört fchon der zweiten Hälfte des Romans an,
in der wir mit etwas vollern Segeln fahren.
Sonnenfamp hat den Ehrgeiz, fich adeln zu laſſen; er
ſucht dies durch jede Art von Beftechung durchzufegen;
der Fürſt des Heinen Staats befucht ihn auf feiner Villa.
Der Nabob ift dem Ziele nahe, fcheitert aber im letzten
Augenblid. Seine Antecedentien werden fein Verhängniß.
Sonnenlamp war in Amerifa einer der berüichtigtften
Stavenhändler, ja mehr, er war ein Sklavenmörder.
Verfolgt von einem feindlichen Schiff warf er einmal bie
ganze Sflavenladung ins Meer und wurde bei diefer
Gelegenheit von einem Mohrenhäuptling in den Daumen
gebiffen. Um die Wunde zu verdeden, trägt er einen
Ring an diefer Stelle. Der Schwarze, der ihm die
Wunde beigebracht, lebt indeß und befindet fich in Dienften
des Yürften, welcher Sonnenkamp den Adel ertheilen will.
Wir hören nım fortwährend don einem dunfeln Ereignif
ſprechen, welches den Befiter der Villa brandmarft: die
Vögel fingen’8 gleihfam auf den Dächern, eine Dame
des Romans macht der andern davon die Mittheilung,
wir find bei der Zufammenkunft zugegen; doch wir er-
fahren trogdem nichts. Dies ift eigentlich gegen bie Ab-
machung, welde die Leſer mit dem Nomanfchriftfteller
eingegangen find. Doch Auerbach fagt: tel est notre
plaisir, und läßt Sräulein Mil) der Frau Profefforin
ein Geheimniß mittheilen, während wir babeiftehen und
nur fehen, wie fie die Köpfe zufammenfteden.
Die Enthüllung diefer beunruhigenden Antecedentien
wird auf den fpannenden Moment aufgefpart, wo der
Fürſt jelbft dem geadelten Sonnenkamp das betreffende
Document einhändigen will. ‘Da erhält er ein Zeitungs-
blatt, welches ſchonungslos den Sklavenhändler brand-
markt: er behält das Adelsdocument zurück und gleich-
zeitig fpringt der Leibmohr des Fürften wie ein wildes
Thier auf feinen frühern Peiniger los, den er erfannt
bat. Sonnenfamp wird mit Mühe aus feinen Krallen
gerettet und kehrt Heim, ein vernichteter Mann. Er kommt
auf den unpraftifchen Gedanken, eine Art Ehrengericht
über fi) von Münnern der Nachbarſchaft fällen zu lafjen;
doch er verhöhnt dies Ehrengericht durch eine Darftellung
ſwegung beginnt.
feines Lebens, in welcher er alles, was andern Sterblichen
heilig ift, mit Verachtung behandelt. Die geiftige DBe-
deutung bes Charakters, biefe rückſichtsloſe Selbſtſucht,
prägt fich immer fchärfer aus; doch fein praftifches Thum
büßt alle Zweckmäßigkeit ein. Zulegt entführt ex die
| gleichgefiunte, menfchenveradhtende Gräfin Bella von der
Leiche ihres Gemahls nad; Amerifa, wo fie ſich beide an
dem Aufftande der Sübftaaten betheiligen und in demfelben
zu Grunde gehen, während Erich, defien Gattin Manna
geworden ift, und Roland auf ber entgegengefegten Seite
kämpfen. |
Welch eim Stoff für ansgehungerte Romanlefer —
der Seceſſionskrieg mit feinen Schlachten und Abenteuern!
Welche bunte, reiche Welt entrollt fi Hier! Yankees
aus Neuyork, Plantagenbarone des Südens, Neger,
Indianer, etwas Cooper, Möllhauſen, Gerftäder! Da
kann ja nachgeholt werben, was in Bezug auf [pan-
nende Begebenheiten früher verjäumt worden iD
Sachte, ihr Ungebuldigen! Wir find jchon weit mm
legten Bande vorgerüct, ais die große amerifanijche Be-
Und nur in „Briefen von und nad
der Nenen Welt” erhalten wir flüchtige, flizzirte Auskunft
über Ereigniffe, die allerdings an Wichtigkeit bedeutend
ılles übertreffen, was uns vorher mit jo umfafjender
Husführlichkeit vorgeführt worden tft.
Do foll der Roman noch einen Roman gebären?
In der That gleicht er einer in allzu ſtarke Berjüingung
aslanfenden Säule; ihm fehlt der ſchlanke getragene
Arfbau. Am Anfang endlos in die Breite gedehnt, am
Schluß mit athemlofer Haft fi) überſtürzend, kann die
Sondlung als folche weder ein gleichmäßiges noch ein an-
dauerndes Intereſſe in Anſpruch nehmen.
Bei allen dieſen Ausſtellungen gegen die Architektonik
dee Romans müſſen wir denſelben doc als ein geift-
reiges Wert anerkennen, welches oft von einem poetifchen
Hard) durhdrungen ift und in einzelnen Zügen djaral-
terifiiche Schärfe und Energie der Darftellung verräth.
Namentlich zeigt ſich in den Nebencharakteren eine geftal»
tende Kraft, die auch originell zu jchaffen weiß. rau
Ceres, die Frau des Sklavenhändlers, ift ein folder
Charakter von origineller Urmüchfigfeit, eim exotiſches
Naturkind nur von Putz- und Prunkſnucht beſeelt, ein
Vogel im Käfig, der ſich nur an der Pracht feines Ge⸗
fieders erfreut. Der alte Major und Fräulein Milch
ſind ein paar köſtliche Figuren; in der Schilderung der
Gräfin Bella finden ſich feine pſychologiſche Züge. Lina
iſt der muntere Backfiſch, eine Art von ingenue, die in
den neuen Romanen zur typiſchen Figur geworden iſt.
Durchwaͤg poetiſch iſt Manna gehalten, das Kloſter mit
feinen Iſitriguen in gedämpftem Licht, nicht aufdringlich
Die Männer aus dem Volke fehlen jelbft-
verftändligh bei dem Verfaſſer der Dorfgeſchichten nicht;
der „Kriſſcher“ und der „Siebenpfeifer” vertreten dieſe
borfgefchichtliche Richtung, welche durch das Leben below
stairs, duch die oft ausführlich gefchilberte Tafelrunde
der Dienerſſchaft ergänzt wird. Bon ben Ariftofraten ift
Graf Clodipig der Mann von echter Bildung und wiſſen⸗
ſchaftlichem Streben, während Baron Pranden ein Re⸗
präſentant Jenes ſpeculirenden Adels iſt, der auf Reich⸗
thumer Jagd macht und fein Mittel, ſelbſt die Frömmelei
— — — — — — —— — — — —
|
|
f& verjchmäht, um zum Ziel zu gelangen.
Zur philofophifchen Literatur. 9
Die wür«
dige Matrone, die Fran Brofefforin, der ftets gleich“
müthige Doctor, der praftif—h-hHumane Weidmann und die
Heine märdhenhafte Bee, die dem jungen Roland im Walde
begegnet und fpäter fo kindlich mit ihm ſich in Braut-
haft und Ehe hincinplaudert, find ebenfalls mit Behagen
gezeichnete und zum Theil von dichteriſchem Hauch be—
feelte Geftalten.
Solange wir in dem Roman blos fpazieren gehen,
wird es dem Autor fehwer, biefe Charaktere bedeutſam
und malerifh zu gruppiven. Er läßt fie fehr einförmige
Eotillontonren ausführen, bald diefen, bald jenen mit dem
andern gehen. An vielen Stellen des Anfangs fehlt die
Gabe fließender Erzählung und die Bewegung ber Grup-
pen erfcheint hölzern und mechaniſch. Erft fpäter kommt
mehr Flug und Guß in das Ganze, und die Charaltere,
bie fi) anfangs nur ihres Daſeins freuen, beginnen bes
Rimmte Zwede zu verfolgen.
Sehr glücklich ift die Poeſie der naturfhönen und
leichtlebigen Rheinlande in Natur» und Volksbildern ge-
troffen. Auerbach's Stil erhebt ſich in ſolchen Schilder
rungen zu graziöfem Schwung. Ueberhaupt ift feine Proſa
edel, Mar, bezeihnend, nur an einzelnen Stellen nidjt
ganz frei von Manier. Diefe Manier befteht darin, die
Säge in einer Art von Gänſemarſch aufmarſchiren zu
laſſen, daß ſich lauter kurze Hauptfäge auf die Haden
treten. Dadurch befommt auch die Schilderung oft etwas
Stoßweiſes.
Den Reichthum an Gedanken und Sentenzen, der ſich
durch das ganze Werk zieht, bisweilen in allzu doctri⸗
nörer, meift aber in gefälliger, prägnanter Form, möge
die folgende, ans bem erften Bande zufammengeftellte
Anthologie verauſchaulichen:
36 wünfgte, id Yönnte Communift fein; ich wünſchte
daß ih den Communismus für eine geftaltungsfähige Form der
Sefelicjait halten Lönnte, was er dod) nie und mimmer wer«
den kann. Wir müfen auf anderm Wege daran arbeiten, unfer
Dajein von der Barbarei zu befreien, daß unfere Mitmenichen,
geihbererigt wie wir, an den gemeinften Bedürfniſſen Roth
ein.
Ich finde, daß Reichthum ein gewiſſes Recht auf Ehre hat.
Sebfterworbener Reihthum if Zeuguig von Thatkraft, Um-
fiht. Ebenſo ſchwer, vielleicht noch ſchwerer als die Aufgabe,
ein Fürf zu ſein erſcheim mir bie, ein Mann von fo Über-
mäßige Reihthum zu fein. Da Häuft fih eine Macht in dem
Menigen an, die dem Charakter leicht etwas Gemaltthätiges
gibt; jolh ein Mann lebt in eimem Dunftkreis des Allmadt-
bewußtjeins und hört faft auf, eine einzelne Perſönlichteit zu
fein; die ganze Welt ericeint ihm unter dem Geſichtspunkte des
Raufpreifes.
Codwig Tnüpfte die Betrachtung daran, daß es mohl-
ii darzutfun, wie der
ander gegenübergeftellt. Die Wifſenſchaft werde allerdings feine
Vetradtung nicht gelten laffen. Die Medufa fei ihm die Er-
fheinung der alles verzehrenden Peidenfhaftlichleit, die, wenn
fie der irende Menſch jehe, ihm vor feinem vigenen Gelbft er-
ftarren made. Es fei fehr bedeutungsvoll, daß die Alten das
äußerfte feelifche Chaos im Weihe dargefellt hätten, denn die
zur Liebe geſchaffene fhöne Erſcheinung, die zu Bosheit und
Zerfiörungsiuft geworden, fei gerade in der Geftalt des Weibes
um fo craffer. Die Rauch ſche Victoria dagegen erfcheine ihm
al8 Berlörperung eines hodjfittlihen modernen Seelenzuflandes,
„Diefe neue Jugend", fagte er, „ift anders als wir waren,
fie ſchwankt nit mehr zwiſchen den beiden Polen Begeifterung
und Verzweiflung; es ift vielmehr eine intellectuele Begeifte-
rung in ihr, und id glaube, fie wird mehr durchführen ale
wir. Ich bin glüdlih, ba ich nicht fon zu alt bim, um noch
biefe, id} möchte fagen, zur Cifenbahn geborene Jugend ver-
flehen zu fönnen. Ich bewundere und liebe unſere Gegenwart.
Noch zu feiner Zeit wußte jeder in feinem Bernfe fo beflimmt,
mas er will und foll, al& die heutige Welt; jo in aller Wiffen-
ſchaft und in allem Leben.’
Wer im Leben etwas anderes ſucht ale Nugen, Bergnä-
gen und Ehre, ber wird vielen, die von folder VBeborzugtheit
feine Ahnung haben, eraltirt erſcheinen; die Welt kann nicht
gereht fein gegen folde Menſchen, fie muß fie verdammen,
weil fie ihr eigenes Beftreben von ihnen verdammt fieht. Sie
werben Ihr Leben lang, wenn Sie fi treu bleiben, ein Mar-
tyrium zu tragen haben.
Wenn auch die Methode der Erziehung ſich nad) den Um-
ſtanden richtet, fo muß doc das Princip derfelben Mar erfannt
und feft verfolgt werden. Der große Kampf, der die Geſchichte
der Menfchheit und das ganze menfhliche Leben durchzieht, zeigt
fi) in der Erziehung des einen Menf—hen durch einen andern
am jcärfften; die beiden Mächte treten da alß Lebendige Ber-
fonen einander gegenüber. Ich möchte fie kurzweg Individualität
und Autorität, oder Geſchichte und Natur nennen.
Es ärgert mid), daß die Keichen fid) auch Duft und Frucht
höherer Erfenntniß ſollen kaufen tönnen; aber e8 bleibt wahr:
€6 komme fein Reicher ins Himmelreih. Die Reihen haben zu
viel Ballaft geladen; fie haben ein verfünfteltes Leben fern von ber
Noth des Dafeins und entziehen ſich felbft der Naturmacht der
Jahresjeiten; fie fliegen aus und eim in verihiebene Klimas
und haben überall wohnlich eingerichtete Schwalbennefter. Es
tmäre eine Unbarmherzigteit des Schidfalß gegen uns, wenn die
Reichen zum mühelofen Befige noch die hoͤhern Freuden haben
follten, die uns allein gehören.
Der frifche geſunde Sinn, der humane Geift des
Dichtwerks empfehlen daflelbe, als eine fi über die All-
tagsproduction erhebende Schöpfung, der Leſewelt.
Rudolf Gottſchall.
Zur philofophifhen Literatur.
tiſche Geſchichte der Büilofophie von ihren Anfängen bie zur
Begenwart von €, Dühring. Berlin, Heimann. 1868. |
3.8. 2 The. 10 Ngr. |
Wir Hatten es kürzlich (in Nr. 28 d. BL. f. 1869) mit
‚ec om Mufter der objectiven Geſchichtſchreibung zu thun,
a wir Kuno Fifcher's Werk über Fichte betrachteten;
870. 1.
heute Liegt uns ein Muſter der fubjectiven Gefchichtjchrei-
bung vor, wie fie nicht fein fol. Wir hatten als Kenn-
zeichen und Bedingung der objectiven Geſchichtſchreibung
der Philofophie kennen gelernt: im einzelnen bie con«
geniale Reproduction, im ganzen ben Begriff den Ent
widelung; bie congeniale Reproduction allein ift im Stande,
2
10
den Intentionen vergangener Zeiten geredjt zu werden,
der Begriff der Entwidelung allein kann die zerftüdelten
Glieder der Menfchheitsgedankfen zu einem Ganzen zu»
fammenfaffen, ohne der hiftorifchen Wahrheit und Treue
Eintrag zu thun. Nun entfteht aber die Trage, ob denn
die objective Geſchichtſchreibung das letzte und höchſte Ziel
des Studiums ber Geſchichte fei, und diefe Trage wird
man -allerdingd verneinen müſſen. So unmöglid) es ift,
aus der Gefchichte zu lernen, ohne fie begriffen zu haben,
jo umöglich es ift, die Gefchichte zu begreifen als in der,
objectiven Geſchichtsauffaſſung: fo gewiß iſt das Begreifen
der Gefchichte nicht Zweck, fondern Mittel zu ihrer Be:
urtheilung, und die Benrtheilung derfelben Mittel zur
Unterftügung und Bildung des Geiftes für feine gegen-
wärtigen Aufgaben.
Iſt dies Thon beim Studium der Geſchichte im all-
gemeinen der Fall, fo ganz befonders bei dem ber Ge-
ſchichte der Philofophie, wo es ſich ſchon um ein Inneres,
um ben flufenweifen Wortfchritt zur Wahrheit handelt.
Die objective Geſchichtſchreibung verfennt dies aud) keines⸗
wegs, aber fie bietet ſich allen Individuen, fo verfchieden
aud) ihr fubjectiver Standpunkt fein möge, ohne Unter-
ſchied al8 diefelbe und immer richtige dar, und überläßt
den Lefern die weitern Stufen der Geiftesarbeit; die Fri-
tiſche Geſchichtſchreibung aber, welche auch die Beurthei⸗
lung mit übernimmt, kann dies nur von einem mehr oder
minder beſchränkten ſubjectiven Standpunkt, und tritt des⸗
halb ſofort mit der Majorität der Leſer in Widerſpruch.
Die Geſchichtſchreibung der Philoſophie vor Hegel war
ein unklares Gemiſch objectiver und ſubjectiver Behand-
lung, infolge deſſen die Sache ſelbſt nicht zu ihrem Rechte
kam, und mithin auch das Urtheil ſchief ausfiel; vor allem
aber fehlte das Bewußtſein des innern geiſtigen Zuſam⸗
menhangs, und ſie verhielt ſich etwa wie der Entdecker
einer Anzahl beiſammenliegender antiker Statuen, der die
einzelnen beſchreibt und nach ſeiner Art kritiſirt, während
Hegel hinzukam wie der Künſtler, deſſen wahlverwandter
Blick die Zufammengehörigkeit aller dieſer Figuren zu ber
großartigen Compofition eines Giebelfeldes entdeckt. Diefe
Entdedung Hegel's ift fo epochemachend, und der Um⸗
ſchwung, welchen die Beleuchtung aller einzelnen Theile
des Ganzen dadurd) nahm, fo frappant, daß die Will-
fürlichkeit und Gewaltſamkeit, mit welcher ex bie einzelnen
Figuren in den allgemeinen Rahmen bineinzuprefjen juchte,
in der That bagegen verfchwinden muß, um fo mehr, ale
ja niemand, der feine Grundidee übernimmt, nöthig hat,
ihm die einzelnen Fehler nachzumachen. Wer aber diefen
durch Hegel vollzogenen totalen Umſchwung — wie Düh-
ring — nicht anerkennt, der kann natürlid) nur den vor-
hegel'ſchen Standpunkt einnehmen, mit dem einzigen
Unterfchied, daß die Subjectivität, von welder aus er
Fritifirt, eine mobernere if. Dühring erhebt fi wirklich
zu dem Zugeftändniß, daß die Annahme einer Tyflemati-
ichen Einheit und Verknüpfung der mannichfaltigen nach—
einander und nebeneinander aufgetretenen Erfcheinungen
der Bhilofophie im allgemeinen nicht ganz unberedjtigt fei;
im Folgenden erklärt er jedoch diejes Zugefländnig näher
dahin, daß er ſich diefen Zufammenhang überhaupt nicht
anders als bewußt und abfichtlich zu denken vermag, und
daß er demfelben mithin gerade auf die bedeutenden umd
Zur pbilofophifchen Literatur.
originellen Geifter am wenigften Anwendung zugeftehen
könne, da diefe „ſich abfichtlich der allgemeinen Strömung
und den Rüdfichten auf das UWeberlieferte entzogen, um
dem innern Triebe und ihrem eigenen Wege ungeftört
treu zu bleiben”. Freilich, wenn Hegel feinen innern
Zufammenhang der Syfteme fo verftanden hätte, daß ein
origineler Philofoph feine Originalität aus dem ihm
Borangehenden durch discurfive Logik Herausgellaubt hätte,
dann wäre er der Sculfnabe, zu dem Dühring ihn
machen will; daß aber Hegel ein inneres geheimes Bant
meint, welches gerade die originellften Entdedungen der
größten Philoſophen auf eine ihnen felbft unbewußte Weife
miteinander verbindet und welches nur wir erft nachträg—
lich ans Licht zu ziehen fuchen, davon hat Dühring fo-
wenig eine Ahnung wie nur irgendein Gefchichtichreiber
der Philofophie aus dem vorigen Jahrhundert.
Dühring bemerft ganz richtig, daß dasjenige, was
große Philojophen bemußtermaßen aus der geiftigen Atmo⸗
Iphäre‘, die fie gerade athmeten, in ihre Philofophie aufs
nahmen, nicht nur meiftens von untergeorbneter Bebeu-
tung, jondern oft geradezu von Nachtheil für diefelbe war.
Nein, nit da, wo Dühring den innern Zuſammenhang
ſucht und wo Hegel und feine Schule ihn (im ganzen im
fehlerhafter Weife) auch finden will, fondern in den
originell auftretenden Orundprincipien, in der Reihenfolge
der grundfäglich verfchiedenen und doch einander ergän«
zenden oder fortbildenden Standpunkte Tiegt die höhere
Einheit der philofophifchen Arbeit des Menfchengefphlechts.
Schon der objective Gefchichtfchreiber muß infofern kritiſch
verfahren, als er bei der ihm nothmwendigen Abkürzung
der Driginalwerfe jedes Autors befonderd die Neben:
ſachen abfürzt, aber feine originellen Brincipien, um deren
willen derfelbe feinen Rang in ber Geſchichte einnimmt,
ausführlich und mit Nachdrud erörtert, daß er bei diefen
den innern Zufammenhang mit Borgängern, Zeitgenoflen
oder Nachfolgern aufweift, aber nicht zu viel Zeit verliert
mit der Aufzeigung ded doch mehr oder minder gleid)-
gültigen Zufammenhangs von Nebenfachen. Hierin hat
Hegel und feine Schule noch vielfach gefehlt, weil fie et
zu gut machen wollte; bier ift der Punkt, wo die Eritifche
Geſchichtſchreibung der Philofophie ihre Hebel einzufegen
bat und wo fie ſich große Berdienfte erwerben Tann, wenn
fie mit Klarheit in ihren Grundſätzen und mit Bedacht
in ihrer Aumendung zu Werfe geht.
Auh Dühring Hat fich entfchieden ein Verdienft da-
mit erworben, daß er mit fühnem Wort ein Stüd ehr-
furchtsvoll behandelten Zopfs glatt abgefchnitten hat; aber
der Werth, den das Bud) nad) diefer Richtung bin ber
fist, wird dur) den Mangel an der nothwendigen Be
fähigung zur Gefchichtfchreibung überhaupt in dem Maße
überwogen, daß feine Vorzüge um ihre Wirkung gebracht
werden.
Daß Dübring dem Begriff der Entwidelung in der
Geſchichte der Philofophie Feine Stätte einräumt, haben
wir jchon oben gejehen; er ift hierin ein echter Anhänger
Schopenhauer’8. Beiden ift die Gefchichte der Philoſophit
ein Haufen Unrath, in dem allerdings der fleißige Sucher
bier und da ein verlorenes Körnchen Wahrheit findet.
Daß dies Feine verlodende Gefammtanfhauung ift, wirt
jeder einfehen, und man kann fih nur fragen, wenr
Zur philofophifdhen Literatur. 11
Dühring fein Buch wefentlich für folche gefchrieben hat,
bie fi fiber Philofophie beichren wollen, ob er e8 in dem
Glauben gefchrieben hat, durch daffelbe zur Philofophie
anzuziehen, oder mit der Abficht, von ihr abzuftoßen.
Wenn die Gefchichte der Philofophie wirklich ein ſolcher
Angiasſtall wäre, wie Dühring aus ihr macht, fo müßte
man in der That jeden bedauern, der genöthigt wäre,
derfelben feine Zeit und Kräfte zu widmen. Das Re
fultot wird das fein, daß jene, bei denen bie zur Schau
getragene Verachtung der Philoſophie Modeſache ift, emmige
neue Phrafen zur Beitätigung ihres Standpunftes gewon-
nen haben werden.
Aber Dühring kennt nicht nur feine Entwidelung,
er kennt fogar etwas wie umgefehrte Entwidelung, oder
fortlanfende Depravation, obwol auch diefe mehr zufällig
als ſyſtematiſch ſich einftellt. Diefe umgefehrte Entwide-
Img findet ex 3.8. in ber griechifchen Philofophte, die
bisher noch immer als ein Muſter folgerecht auffteigender
Entwidelung angefehen worden ift (man vgl. die erften
200 Seiten in Erbmann’s „Grundriß der Gefchichte der
Philoſophie“). Dühring kennt ferner feine hiftorifche Ge-
rechtigkeit. Weit entfernt, einen gleichmäßigen Schägungs-
maßſtab an die verfchiedenen Gebilde anzulegen, urtheilt
er ausſchließlich nach zufälligen perfönlichen Sympathien
und Antipathien, welche ſich an nebenſächliche Meinun-
gen der Bhilofophen knüpfen. Wenn die Werthſchätzung
eines Denkers nad) Begabung, Leiftungsfähigkeit und ©e-
fiauung eine weſentlich andere ift, als die nad) den vor⸗
liegenden Leiftungen und Werken, wenn ferner die Schägumg
der Wichtigkeit eines Syſtems nad) feinem Einfluß auf
feine eigene und fpätere Zeiten eine andere ift, als nad)
dem innern Werth, den wir von unferm heutigen Stand-
paufte bemfelben noch beilegen fünnen, fo verwirrt und
vertaufcht Dühring diefe Standpunkte nad) Bedarf, um
ferne Lieblinge herausftreichen und die ihm antipathifchen
Denker herabfegen zu können.
Gewiß mag der Einfluß der vorfofratifchen Philo-
fophen auf ihre Zeit bebeutend gewefen fein, vielleicht be-
deutender als der des Plato; aber was folgt daraus für
ihren abfoluten Werth? Gewiß mag die geniale Bega-
bung des Sokrates und feine Gefinnungstüchtigkeit die
manches fpätern Berühmtern überragen, aber wo find
feine bleibenden Leiftungen? Daß Plato und Ariſtoteles
zur Sorruption der griedhifchen Philoſophie gehören, dieſe
cortupte Idee verdient Feine Widerlegung. Die Yaunen
Duhring's find unberechenbar und entziehen ſich jeder
Borausfiht. Während ihm fonft alle Myſtik umd Un-
Harbeit wie die Nacht verhaßt ift, während er z. B. einen
Denker erften Rangs wie Johannes Scotus Erigena kaum
wit zwei Zeilen erwähnt, hat cr eine befondere Schwär-
merei fiir den allerdings genialen, aber ſchwärmeriſchen
and unklaren Giordano Bruno. Leibniz hingegen, an⸗
erfanntermaßen emer der Harften und fchärfiten Köpfe
aller Zeiten, ift ihm, weil er die „Theodicee“ gejchrieben,
fo überaus antipathiſch, daß er nicht nur feine umbeftreit-
bare Charakterloſigkeit auf das härteſte geifelt, ſondern
auch in wiffenfchaftlicher Beziehung feinen Ruf als einen
völlig unverdienten und feine vermeintlichen Leiſtungen
als bloße Compilation von Plagiaten hinſtellt. Wer je-
wals im Leibniz gelefen hat, der muß gefühlt haben, daf
in jeder Zeile der Hauch des Genius weht; wer mehr
von ihm fennt, der weiß, daß er für jeden von anders-
woher aufgenommenen Ideenkeim zehnfach Frucht getragen
Hat an eigenen neuen Samenkörnern. Wer bie damaligen
Berhältniffe bedenkt, der wird es Leibniz Dank wiflen,
dag er nicht in ftarrer philofopgifcher Abgefchloflenheit
jein Syftem entwidelt, fondern fi) den Forderungen ſei⸗
ner Zeit (auch den theologifchen) accommodirt und dadurch
das Intereſſe an der Philofophie und die Aufklärung in
die weiteften reife verbreitet hat.
Dühring ift völlig entblößt von dem Vermögen con»
genialer Reproduction. Was nicht vor ber Brille des
flachften und trodenften Rationalismus Stich hält, das
eriftirt für ihn nit. Im Mittelalter findet er nicht ein-
mal mehr ein Körnchen in all dem Unrath. Daß jede
Zeit ganz im demfelben Sinne in ihren Porurtheilen be=
fangen und unfrei an das Philofophiren herantritt, wie
das Mittelalter in feinen theologischen Vorurtheilen; daß
man an allem und jedem mit Nuten philofophiren Tann,
und daß es auch einen Standpunkt geben könne, von dem
aus die Philofophie als Theoſophie erfcheint, von alledem
bat Dühring Feine Ahnung. Jede nachweisbare formelle
Beimifhung der Phantaſie genügt für Dühring, um fid
jeder inhaltlichen Kritik überhoben zu glauben; was nicht
trodener Rationalismus ift, wird als Unfinn geftrichen,
alfo auch alles Myſtiſche, d. 5. alle wahren Keimpunkte
neuen Lebens. Gewiß joll das Myſtiſche nicht bleiben,
was es ift, jondern in die Form der Wiflenichaft über-
gehen, aber dies kann e8 nur, wenn es nicht fchon in
statu nascente amputirt wird. Deshalb dringt aud)
Dühring niemals in die Tiefe der Probleme, fondern
raifonnirt an der Oberfläche herum, wo es dann freilich
feine Kunſt ift, lesbar und Leichtfaßlich zu ſchreiben. Für
Schopenhauer hat er eine merkwürdige Sympathie, obwol
doc) das Befte an Schopenhauer gerade feine Myſtik und
die harmloſe Naivetät ift, mit welcher er feine genialen
Aperçus, auch wenn fle noch jo widerſprechend find, neben-
einanderſtellt. Wer aus ihm die Myſtik hinaus» und die
rationelle Conſequenz hineinfchulmeiftern will, der richtet
ihn, feine Größe und feinen Reiz, zu Grunde Fügt
man hinzu, daß Dühring dem Schopenhauer’schen Beift-
mismus nur den Werth einer Frageftellung zuerfennt,
d. 5. die Bedeutung, auf die Corruptiongfeite der Welt-
einrichtung und des Lebens hingewieſen zu haben *), fo
muß in der That die Hochſtellung Schopenhauer’3 bei
Dühring mehr den Eindrud einer Berlegenheitsausfunft
machen, da er doch unmöglich die ganze Zeit von Sant
bis jetzt mit feinem großen Philofophen Auguft Comte aus-
füllen konnte, und Fichte, Schelling, Hegel und Herbart
nur als wüßte theofophifche Philofophirer betrachtet. Es
ift jedenfalls fchlimmer, wenn ein Compendium die bier
Philofophen wegläßt, ald wenn es den einen ignorirt,
oder wie es jegt meist gefchieht, als fünftes Rad am
Wagen behandelt. Ein Berdienft in der Anerkennung
Schopenhauer’8 kann für den Gefchichtfchreiber erft dann
*), In feinem Bud: „Der Werth bes Lebens 4 Yommt Däpeing Be
einem Hefultat, das nicht Talt und nicht warın ift; er wendet und breih
fih, und läßt einen anı Ende gerade fo Mug wie man vorber war, wenn
er. Kr bas als Abſchluß gelten laſſen will, daß bie
och nicht g
elt im Gruube
ar fo übel ſei.
2 *
12
beginnen, wenn feine Berlegenheit aufhört, ihn mit den
übrigen organiſch zu verbinden. Das wüſte Schimpfen
Scopenhauer’8 gegen jene vier wird immer ein unaus«
löſchlicher Fleden in feinen Werfen bleiben, auch wenn
man es dadurch entjchuldigt findet, daß er als ihr con-
trärer Gegenſatz gleichjam Hiftorifch berechtigt war, fie
nicht zu verſtehen. Wenn aber Dühring, der fich als
Lehrer der Geſchichte der Philofophie gerirt, dieſes Schim⸗
pfen ein bis zwei Menfchenalter fpäter aus der nämlichen
Tonart fortfegt, fo fann man ihn nur bedauern, daß er
[ehren will, ehe er gelernt dat. Lauten Proteft aber muß
da8 ganze gebildete Publikum im Namen der Manen
jener Heroen beutfchen Geiftes erheben, wenn er ben
formellen . Unterfchied zwifchen jenen „Philofophirern‘
und den echten Philofophen darein fest, daß erftere der
fubjectiven Wahrhaftigkeit entbehrten; gegen eine ſolche
grundlofe Anklage von Männern, deren . ganzes Leben,
wie das Fichte's, ein unausgefegter opfermuthiger Kampf
für ihre Ueberzeugung war, müſſen wir im Namen ber
Wiſſenſchaft und der gefchichtlichen Wahrheit proteftiren.
Am wenigften follte fi) ein Daun zu ſolchen Ausfprüchen
binreißen laſſen, der jelbft in achtungswertheſter Weife
unter den erfchwerendften perſönlichen Umftünden und
fachlichen Berhältniffen einen höchſt ehrenvollen Kampf mit
Selehrtenzopf und Reaction für die Einbürgerung freier
Zur orientalifchen Literatur.
Wiſſenſchaft an der Univerfität der norbbeutfchen Haupt⸗
ſtadt führt.
Dühring Hat ſehr anerkennenswerthe Verdienſte um
die Einführung des großen amerikaniſchen Nationalöfono-
men Carey in Deutfchland; auch Hat er unter dem Titel:
„Natürliche Dialektik”, recht empfehlenswerthe Logifche und
dialektifche Unterfuchungen gejchrieben. Aber zur fritifchen
Hiftoriographie gehört vor allen Dingen, daß man nicht
unter der objectiven, fondern über derjelben fteht; zur
objectiven Geſchichtſchreibung aber gehören als natürliche
Anlagen die congeniale Reproductionsfähigleit und bie
biftorifche Gerechtigleit, und als erworbener geiftiger Stand:
punkt die Auffaffung der Gefchichte als eines einheitlichen
Entwidelungsprocefiet. Da Dithring aller diefer Vor⸗
bedingumgen zum Fritifchen Gefchichtfchreiber ermangelt, fo
hätte er fi von diefem Gebiete fern halten follen, auf
das fich niemals eine fo überaus profaifche Natur wagen
ſollte. Daß ich dies Werk trogdem fo ausführlid) be-
fprochen habe, ift darin begründet, daß es mir gerathen
ſchien, die Unwiffenfchaftlicjkeit einer Arbeit gründlich zu
fennzeichnen, welche durch ihre anerfennenswerthe Oppo-
fition gegen das Zunftgelehrtenthum wie durch den Fluß
ihrer Diction beftehen und dur die Dreiftigfeit des
Abfprechens gewiſſen Kreifen imponiren könnte.
Eduard non Hartmann.
—re— — — —— — — — —
Zur orientaliſchen Literatur.
Morgenländiſche Studien von Hermaun Ethe. Leipzig, Fues.
1870. 8. 28 Nor.
Mehr als andere Fachwiſſenſchaften Hat von jeher
die orientalifche Philologie das Bedürfniß gefühlt, ihre
bauptfächlichften Nefultate auch weitern Bildungsfreifen
zugänglich zu machen; von Dlearins’ Zeiten an ift von
feiten der Orientaliften fir allgemeinere Verbreitung werth⸗
voller Kenntniffe außerhalb der gelehrten Welt ſelbſt im
Berhältniß unendlich viel mehr gefchehen, ald von den
Bertretern der claffifchen Philologie, welche e8 allerdings
weniger nöthig Haben, die Gegenftände ihrer Studien dem
gebildeten Publifum gegenüber als würdig näherer Kenntniß-
nahme zu erweifen. Daß die Philologen den Homer und
Sophofles findiren, erfcheint auch dem nicht fachwifjen-
ſchaftlich Gebildeten natürlich; was für einen Werth es
aber haben könne, fi) mit den Literaturen des fernen
Dftens abzugeben, "darüber ift eine begründete Anficht nicht
fo Leicht zu bilden. Und doch wird einem jeden Drien-
taliften der Gegenftand feiner Unterfuhungen, das eigen-
thiimliche Leben öftlicher Völker und Sprachen, bei tie-
ferm Eindringen in anfangs ungewohnte Formen fo thener,
daß er wünjchen muß, in weitern reifen die Ueberzen-
gung zu verbreiten, man babe e8 auch hier mit einem
guten Stüd reiner Menfchlichkeit zu thun, welches näher
fennen zu lernen gerade unferer überall möglichft das
Ganze menfhlichen Wiffens umfafjenden Zeit von Werth
fein muß. So haben denn die Herder, Schlegel, Ham-
mer und vor allen Goethe und Rückert eifrig ſich be-
müht, die Kenntniß unſers gebildeten Publikums nad
diefer Seite hin zu erweitern. Daß dies feine leichte
Aufgabe ift, zeigt ſchon der Außere Erfolg; nehmen wir
die Bearbeitungen perfifcher Dichtungen aus, welche wir
nad; Rüdert dem trefflichen Schad verdanken, fo dürfte
faum irgendeind der hierher gehörenden Bücher wieder⸗
holte Ausgaben erlebt haben, welche Goethes „Divan“
auch wol nur dem Namen feines Verfaſſers dankt. Das
ift natürlich, denn die Formen diefer Literaturen liegen
bon unfern in claffiicher Schule maßvoll gebildeten Idea⸗
len oft weit ab; Viſcher hat indeß gezeigt, wie bei ben
Drientalen und den Semiten insbefondere die Darftel-
lung des Erhabenen und, fünnte man Hinzufügen, des
Sinnvollen und Berftandesmäßigen felbft ſolchen Anfor=
derungen genügen mag. Und fo ift bie Thatſache nur
mit renden zu begrüßen, daß von Zeit zu Zeit immer
wieder dem Publilum neue Gaben aus dem Often gebo—
ten werden, welche dazu beitragen können, richtige Begriffe
von öſtlichem Volksthum zu verbreiten, damit endlich ein-
mal die Compendien der allgemeinen Fiteratur- und Eultur-
geichichte aufhören, beſonders über die femitifchen Bölfer
at vergangener Jahrzehnte immer wieder aufzu⸗
tischen.
In dieſem Sinne begrüßen wir das vorliegende Buch
eines in fachwiſſenſchaftlichen Kreifen vortheilhaft bekann⸗
ten Orientaliften, welches im ganzen wol geeignet erfcheint,
dem Orient neue Freunde zuzuführen Zwar vermißt
man bei der Durdhficht der Inhaltsangabe fogleich eine
gewiffe Einheit des Stoffs, die gerade bei Publicationen.
diefer Art unerlaßlich erfcheint; um in unbefannten Gegen-
ben fich orientiven zu können, will man nicht in die Krenz
und die Quere geführt werden, jondern an überfichtliche
Zur orientalifchen Literatur.
Aufzeigung einzelner Haupiſtraßen fließt fich Leichter ein
genügender Ueberblid über das Ganze an; doc, enthält
das Werk im einzelnen fo viel Gutes und Beachtens⸗
werthes, daß wir über diefen Fehler der Anlage hinmweg-
jegen mögen. Abhandlungen und Erzählungen zur Cha-
rafteriftit arabijchen Lebens und arabifher Wiſſenſchaft
wechſeln mit Beiträgen zur Kenntniß der perfifchen Lite-
ratur in ziemlich mannichfaltiger Weife ab. Die erftern
ſtehen an Werth ben letstern im allgemeinen nach, mas
aus manden Gründen zu bedauern if. Denn einmal
ſteht gerade der femitifche Geift zu unferer Weiſe zu den-
fen und zu empfinden in ſchärferm Gegenfage, als der
und verwandtere perjifche; andererjeits ift gerade deswegen
das Weſen bes letztern bereit8 in weitern Sreifen richtig
erfannt als die Art der Semiten. Dazu kommt nun,
daß die Keligionen der gebildeten Welt fümmtlih ihre
Wurzeln gerade im femitifchen Geifte haben; um fo mehr
joflte man beftrebt fein, über die Eigenartigfeit defjelben
mögtihft allgemein ins Klare zu kommen, und um fo
fyägbarer find die Beiträge, mit welchen gerade an die
fer Stelle die Fachgenoſſen viel zu fparfam find.
Hermann Ehe hat zunäcft vier Novellen aus der
Blütezeit des arabifchen Qulturlebens gegeben, die auf
arabifchen Originalerzählungen beruhen und von ihm nur
bearbeitet und nad) unfern gefteigerten Anforderungen aus⸗
geführt find. Die Stüde find alle vier höchſt charak⸗
teriftifch fiir das Voll, welches nach Renan's richtiger
Bemerkung noch reiner als die Hebräer das urfprüngliche
Weſen des Semitenthums darftellt; es fragt ſich aber, ob
fie den Originalen gegenüber durch die allerdingd vor»
fihtige Moderniftrung gewonnen haben, welche ihnen
Eihe widerfahren läßt. Dabei ift freilich zuzugeftehen, daß
eine reinere Wiedergabe der urfprünglichen fprachlichen
und pigchologifchen Darftellungsweife diefelben für unfer
Bublitum vielleicht etwas weniger anmuthend gemacht
haben würde, als fie nun find; jedenfalls aber hätten fie
den arabifchen Typus dann noch getreuer ausgeprägt,
und das ift doch am Ende die Hauptfache.
Die erfte Novelle: „Kampf und Sieg”, erzählt bie
Abenteuer eines jungen Arabers von edler Herkunft, der
nad) dem Tode feines Vaters als Meines Kind, durch Er-
mordung feiner Mutter allen Anhaltes beraubt, unter
fremden Leuten heranwächſt. Durch feine Tapferkeit ger
winnt er fih eine Heldin zur Braut, die als arabifche
Brunhild bisher alle Bewerber in dem von ihr bedingten
Kampfe überwunden hat, und rädt bei der zufälligen
Entbedung des Mörders feiner Mutter den Tod derfel-
ben durch fchnelle That. Diefe bringt ihn umd feine
Braut in neue Gefahren, welchen ſchließlich das Wieder-
finden des väterlichen Stammes und das Erlangen der
Herrschaft in demfelben ein Ende macht. Die Erzählung
ift, ohne hervorragendes novelliftifches Verdienft zu bes
figen, höchſt bezeichnend für mehrere der hauptſächlichſten
Zuge des arabifchen Bollscharalters, wie für den Hang zu
abenteuerlichem Räuberleben, für die Auffafjung der Blut⸗
rache als unumgänglicher Pfliht und die Hetlighaltung
einer unbeſchränkt gebotenen und genoflenen Gaftfreund-
aft.
1“ „Die Brautwerbung” vermag das Problem der Liebe
eines arabifchen Theologen, welche zuerft den Abfall dej-
13
jelben von feinem Glauben veranlaßt, natürlich nicht auf
dem Wege der Rotheivilehe, fondern nur durd) jchliegliche
Eonverfion der geliebten Chriftin zu löſen; daß legtere
den feinen Glauben aus egoiftifchen Gründen verleugnen-
den Mohammebaner zunächft verfchmäht, obwol fie ihn
deftig liebt, gibt dem Ganzen ein faft tragijches In-
terefle.
Noch mehr als in diefem Stüde tritt uns in „Mut—⸗
ter und Sohn“ Hohe Begeifterung für den als wahr er-
fannten Glauben entgegen: um die von Gott gejandte
Wahrheit auszubreiten — freilich dur) das Schwert, das
ja aber auch Karl der Große frieblihern Bekehrungs⸗
mitteln vorzog —, gibt eine Mutter willig ihren einzigen
Sohn dem Tode auf dem Schlachtfelde preis und ftellt
ung fo ein treued Bild der gewaltigen Aufopferungsfähig-
feit vor Augen, welche den jungen Islam wie eimft das
junge Chriſtenthum befeelte.
Ebenfalls fehr anziehend ift die vierte Novelle: „Der
Bebuine und fein Weib”, in welcher die treue Liebe eines
armen Wüftenaraberd und feiner Gattin über alle Ber:
lodungen, welche ihren Bund trennen wollen, fliegt; nur
ift hier zu bemerfen, daß ſchon Rüdert in den „Morgen⸗
ländifehen Sagen und Geſchichten“ (II, 33 fg.) ganz die-
felbe Erzählung in Berfen kürzer und charakteriftifcher
gibt, was unfer Verfaſſer üiberjehen zu haben fcheint.
An diefen Novellencyklus können wir gleich die erft
jpäter folgenden Auffäge (Nr. 6 und 8) fchließen, bie
fi ebenfall8 auf arabifchem Boden bewegen. Es find
dies Bearbeitungen einiger Abjchnitte aus al Kaſwini's
großem Tosmographifchen Werk, welches Ethé zu über-
fegen begonnen Hat (Bd. 1: „Die Wunder ber Schöpfung“,
im gleichen Verlag 1869 erfchienen), von denen der erfte:
„Die menſchlichen Körper- und Geiftesfräfte nach der
Borftellung der Araber‘, vieles Intereflante bietet, das
jo in erflärender Bearbeitung allerdings klarer fein wird
als in der demnächſt erfcheinenden wörtlihen Mebertra-
gung; ber Feine achte Abfchnitt: „Ambra, Perlen und
Korallen”, hätte dagegen wol weggelaſſen werden können.
Das Gleiche wird von einem ber auf die perfifche Litera⸗
tur bezügliden Stüde: „Aus der perfiichen Fabelſamm⸗
lung Anwärt-Sohailt”, gelten müflen; das Wefentliche
darin iſt indifch (die zweite Fabel fteht ganz ebenfo in
Benfey's „Pantſchatantra“, II, 226, vgl. I, 348, 8.143),
und die indifche Literatur diefer Art ift durch Benfey's,
Brodhaus’ und anderer Arbeiten ſchon reichlicher in ber
Ueberfegungsliteratur vertreten.
Um fo größeres Intereffe werben die übrigen Auffäge
darbieten, die in den allgemeiner verbreiteten Kenntnifſen
über die perfifche Titeratur manche Lücke auszufüllen ge
eignet find. Die Perſer fehen in ihrer guten Zeit durch
Tiefe der Empfindung und Berftändigkeit der Gefinnung
zumeilen faft den Deutfchen ähnlih, und daher nehmen
wir an ihnen umwillfürlich ein wärmeres Intereſſe ale
an Arabern und Indern; fo erfahren wir mit lebhafter
Zheilnahme die zum Theil nach Gobineau gegebenen Mit-
theilungen über die auch bei diefem Volke als Anſätze
dramatifcher Poeſie hervortretenden PBafftonsfpiele, in denen
der Tod Chaſan's und Chuſain's dargeftellt wird, der bei«
den Märtyrer, deren Eultus die fchiitifche Gruppe der
Mohammedaner von den Sumniten trennt. Sind diefe
14
Spiele oft durch unerwartete Feinheiten der pfychologifchen
Motivirung anziehend, fo fcheint doch der Berfaffer zu
weit zu gehen, wenn er ihre Ausbildung zu einem natio-
nalen perfifchen Drama von wirflihem Tünftlerifchen
Werthe erwartet; um derartiges zu erreichen, muß ein
Bolt no eine Summe fittliher Kraft in fi) haben,
welche den Perjern ſchon lange abhanden gelommen ift.
Das Werthvollfte in dem ganzen Werk dürfte indeß
nächft dem unten noch zu erwähnenden zehnten ber fünfte
Abſchnitt: „Der Suflsmus und feine drei Hauptvertreter
in der perfifchen Poeſie, vorzugsweife Dicheläleddin Rümt“,
bieten. Derſelbe berührt eine der wichtigften Seiten per-
fifcher Denkweiſe, welche in den fonft gut orientirenden
Bemerkungen Goethe's zum „Weftöftlichen Divan“ gänzlich
vernachläffigt worden if. Ein Sufi ift ein mohamnteda-
nifcher Myſtiker und der Sufismus eine Erfcheinung,
welche durch Intenſität wie zeitliche Daner ihres Auf-
tretens bis in unfere Tage hinein unfere abenbländijche
Myſtik weit übertrifft. Zum Theil in erhabener Specu-
lation, oft aber in unfinnigfter Efftafe fich ergehend ift
der Sufismus die Stelle, wohin fi) nad dem äußern
Siege des an fich nüchternen und pofitiven Islam das
pantheiftifch »religiöfe Gefühlsleben der Perfer zuridgezo-
gen hat, das freilich hier oft unter Allegorien und Sym-
Tenilleton.
bolen die maßlofefte Ueberfchwenglichkeit zeigt, bis zu jener
Negation des eigenen Seins der pantheiftifchen Gottesidee
gegenüber, welche aud) die in Mar Müller’s geiſtvollem
kieler Bortrage gefchilderte falfche Richtung des indifchen
Nirwäna zeigt.
Wenn Erbes Abhandlung in gelungener Ueberficht die
verftändigern Vertreter dieſes Myſticismus vorführt, fo gibt
von den immer noch nicht am weiteften gehenden Exceffen
pantheiftifcher Schwärmerei das im zehnten Stüd über-
fegte Gedicht des Hiläli vom „König und Derwifch” (vgl.
dazu die Borrede, ©. vu—vın) ein anſchauliches Bild,
Können wir uns auch dem Lobe, das the dieſem Ge-
dicht als Kunftwerk fpendet, nicht eben überall anfchliegen,
jo müfjen wir doch das hohe Intereffe anerkennen, welches
dafjelbe als deutliches Beifpiel jener eben bezeichneten
myſtiſchen Richtung auch mweitern Kreifen darbieten wird,
und müſſen vor allem den Fleiß und die Liebe bemun-
dern, welche der Ueberfeger dem Gedicht zugewandt hat,
und welche uns das vou ihm gegebene Berfprechen zu=
fünftiger Uebertragung bedeutenderer perſiſcher Epen auf«
richtig willlommen heißen laſſen. Hoffen wir, daß aud)
die Theilnahme des Publikums diefem nicht genug an=
zuerfennenden Streben, den Spuren Rückert's und Schad’s
zu folgen, nicht fehlen möge.
Fenilleton.
Notizen.
Von Friedrich Gerſtäcker geht uns folgende Erklä⸗
rung zu:
„Entgegnung. Die Beilage zu Nr. 50 ber « Blätter für
Iiterarifche Unterhaltung» bringt eine Notiz über mid), die mid)
hart tadelt, daß ich mich gegen die Alerander Jung ertheilte
Benfion der Sciller-Stiftung ausgeiproden habe, In der An⸗
age Mingt die Sache anders als fie if. Ich muß geftehen,
daß ich Alexander Jung's bier angeführte Werte nicht kannte —
daffelbe aber war der Fall mit vielen meiner literariichen Freunde,
und ich rfigte nur eine, meiner Meinung nach, Ungerechtigkeit
der Schiller-Stiftung, daß die Witwe und Kinder eines allbe-
fannten und verdienftvollen Schriftfiellers, die fih in hülfs⸗
bedlirftiger Lage befinden, im Gegenſatz zu Alerander Jung jo
färglic) von der Stiftung bedacht fei — ja nad) wenigen Jahren
um weitere Unterſtützung einkommen müflee Die Sagungen
der Schiller-Stiftung fielen aber ausdrücklich die Schriftfieller
felber wie ihre nächften Hinterlafjenen — und mit Recht —
auf eine Stufe. Für wen arbeiten wir denn auch, als für
nnfere Familie, und welcher brave Mann wird ſich nicht ſelber
gern mit Mühe, Noth und Entbehrungen durch das Leben ar⸗
beiten, wenn er daflir die Seinigen fpäter vor Roth und Mangel
geichlitt weiß. Gegen Herren Alerander Jung und bie ihm
extbeilte Benfion hätte ich gar nichts, aber wir Zönnen denn
auch von der Stiftung, für die wir alle mehr oder weniger
mitgewirkt, verlangen, daß andere, die es wenigfiens ebenfo
verdienen, auch ebenfo bedadht werden. F. Gerftäder.‘‘
Wir haben, aus Rückficht auf den Namen des Berfaffers,
der Erklärung Friedrich Gerfläder’s einen Plag in d. BI.
nicht verfagt, obſchon biefelbe in keiner Weile als eine thatſäch⸗
liche Berichtigung angefehen werden kann. Auch nehmen wir
ern Act von der Erflärung, daß Gerftäder gegen Alerander
g und die ihm ertheilte Benfion nichts einzuwenden hätte,
wenn uur Frau Diezmann, zu deren Gunften der Herausgeber
d. BL. ja felbft ale Mitglied der Teipziger Schiller-Stiftung
geſtimmt und in Wien petitionirt hat, ebenfo bedadjt worden
wäre. Die Mittheilung Gerftäder's in der „Gartenlaube“
machte aber den Eindrud, ale ob er allerdings gegen Alexander
Jung und die ihm ertheilte Peufton Einwendungen zu machen
hätte, weil biefer nichts als ein paar Brofchliren über Karl
Gutzkow geſchrieben habe. Wir hielten ums deshalb unfererjeite
für verpflichtet, dieſem letztern Bedenken die Spite abzubrechen
und Alerander Jung's tüchtige und vieffeitige literarische Thä⸗
tigkeit rühmend heroorzubeben. Indem wir hiermit die Sache
für erledigt halten, fprechen wir noch den Wunſch aus, daß
Gerftäder in der „Gartenlaube“ felbft eine Berichtigung feines
thatſächlichen Irrthums in Betreff der fchriftfielleriichen Lei»
ftungen Alerander Jung's geben möge: denn was man vor
Millionen von Lefern geſündigt hat, muß man aud) wieder
vor Millionen von Lefern gut machen.
Otto Löwenſtein gibt unter Mitwirfung von Karl Fren⸗
zel, Friedrich Friedrich, Hermann Kletke, Director Lehmann,
ARubolf Löwenftein, Mar Ring und Adolf Stredfuß ein Blatt:
„Der literariſche Verkehr‘, heraus, welches die Intereffen der
deutſchen Schriftftellerwelt vertreten joll. Die vorliegende Probe-
nummer beweift, daß diefe Interefjen nad) den verfchiedenften
Richtungen bin gewahrt werden.
Unfer langjähriger Mitarbeiter, Feodor Wehl, ift der
Ruttgarter Intendanz für die artiftiiche Leitung des Hoftheaters
an die Seite geftellt worden. Wir freuen uns biefer Berufung,
benn fie beweift abermals, daß man bei den großen Theatern
nit mehr glaubt, die Mitwirkung tüchtiger dramaturgiſcher
Kräfte entbehren zu können. Wir wünſchen indeß, daß die
Stellung Wehl's nicht blos eine berathende fei, fondern dem
Dramaturgen aud eine entfcheidende Stimme gönne Nicht
wer zu rathen, fondern wer zu befehlen bat, kann auf die
Reform deutjher Bühnen durchgreifend einwirken.
Eine deutfhe Evangelienüüberfegung aus dem
12. Jahrhundert.
Während die althochdeutiche Zeit ung eine Reihe von Bibel⸗
überfegungen gewährt und mit dem 14. Sahrhundert die Ueber-
jegerthätigleit aufs neue ihren Aufſchwung nimmt, finden fi
befanntlih im 12. und 13. Jahrhundert nur wenig Denkmäler
diefer Gattung. Die poetifche Richtung biefer Zeit, welche den
biblifchen Stoff fo vielfach aus der Profa zu dichteriichem Schmucke
emporhob, mag die einfache Wiedergabe des Bibelmortes ver⸗
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kadert, zum mindeften nicht begünftigt haben. Dazu kommen
ne* vielfachen Berbote von feiten der Kirche. Jedes Zeugniß
son dem Borhandenfein deutſcher Bibelüberfegung jener Zeit
ü daher willlommen zu heißen. Joſeph Haupt theilt im let
in Hefte der „Germania“ von Pfeiffer (Bartich), im vierzehnten
Jahrgang (1869), Bruchſtlcke einer Heberfegung der vier Evangelien
mt, welche aus einer Handſchrift des 12. Iahrhunderts ſtam⸗
men und ihrer fpradjlichen Geftaltung nad alemanniſch find.
Haupt nennt diefe Evangelienliberfegung eine „althochdeutfche‘‘,
was uns geradezu unbegreiflid if. Der angeführte Grund,
angel des Umlauts außer dem kurzen a, iſt gar nicht ſtich⸗
haltig. Daß die Sprade ſchon durchaus einen modernen Cha⸗
rafter trägt, was aud bei der Spradje des vorausgehenden
11. Jahrhunderts in beſchränkter Weife der Fall if, das bemei-
fen die geihwädten Endungen. Sider aber ift, daß ber
Schreiber nad, älterer Borlage arbeitete. Zrogdem muß die
Ueberfegung als eine mittelhochbeutiche bezeichnet werden; und
wer in der hiſtoriſchen Bezeichnung fie von den jüngern mittel-
hochdentſchen des 14. Jahrhunderts unterjcheiden will, der mag
fie getroft eine altmittelhochdeutiche nennen.
Englifde Urtheile über neue Erfheinungen der
deutfhen Literatur.
. Ueber Dr. I. R. Schmidts „Die antike Eompofitionsiehre
ans den Meifterwerfen der griechiſchen Dichtkunft erfchlofjen‘‘
fagt die „Saturday Review‘ vom 20. November, von nur
wenigen Lejern könne man erwarten, daß fie die nothwendigen
Befähigungen befigen werden, Über dieſes Werk ein Urtheil zu
fällen, da hierzu nicht blos große philologifche Gelehrſamkeit,
fondern auch Belanntichaft mit der Mufil erforderlich feien.
Der umfangreihe Inhalt und der Fleiß des Berfaffers kann
zwar von jedermann gemlrdigt werden; es ift aber unmöglich,
innerhalb eines beichränften Raums eine Borftellung von ben
Eigenthümlichkeiten feines Syſtems zu geben. In aller Kürze
tönnen wir blos fagen, daß er fidh als Nachfolger Hermann’
und Boͤckh's betrachtet und feinen unmittelbaren Borgänger Weft-
phal, deſſen Wert von vielen als die höchſte Autorität angejehen
wird, tadelt, weil er von ihren gemeinfchaftlihen Vorgängern
abgewichen fei.
Anzeigen. 15
Ueber ‚Leibniz und feine Zeit‘ von 8. Grote heift es:
„Sine Biographie von Leibniz in der Geſtalt von einer Reihe
Borlefungen leidet an den Mängeln, welche diefer Art, Beleh-
rung beizubringen, aubaftet. Der Berfaffer ift zu geſchwätzig
und fein Stil ermangelt der Würde. Trotzdem Iieft fi) das
Bud angenehm und bietet einen höchſt intereffanten Ueberblid
über die Laufbahn des allfeitigen Mannes. Leibniz’ befonderer
Borzug als Denker iſt der Grad, in welchem er die Ideen und
Entdedungen jpäterer Zeitalter geahnt hat, und der befondere
Heiz feiner Lebensbefchreibung ift die Bekanntſchaft, die wir
durd) fie mit dem Gedanken in feinem erfien Aufleimen erlan-
gen. Wir fehen 3. B. mie Leibniz Napoleon’s Feldzug nad)
Aegypten, Adelung’8 Panorama aller Sprachen und Babbage’s
Rechenmaſchine vorweg ahnt. Viele feiner großen Ideen bar-
ren noch der Ausarbeitung feitens anderer. Gr felbft hat jehr
wenige davon ausgeführt. Weniger Fruchtbarkeit der Gedan-
fen und weniger Bielfeitigfeit ver eihäftigung wilrde ihn
ohne Zweifel befähigt Haben, feinen Namen mit greifbarern
und praltifhern Leiftungen in Verbindung zu bringen, würde
ihn aber freilich um feinen eigenthlimlihen Ruhm gebracht
haben, Es müßte ein ſehr ungeſchickter Biograph ſein, der
einen Gegenftaud, wie derjenige, den Grote behandelte, gänzlich
verhungen könnte, und läßt fi) auch vieles an feinem Werte
auejegen, fo kann es doch in der Hauptſache warm empfohlen
werden.’
Biblisgraphie.
Eulmann, F W., Die Namen der Raubthiere in verſchiedenen
Sprachen. Ein Beitra aut Zheorie der primitiven ober ſeeliſch⸗ organi-
ſchen Wortbildung. Leipzig, Fr. Bleilger. 1869. Gr. 8. 12 Ner.
zermak, J. N., Die Physiologie ala allgemeines Bildungs-Ele-
ment. Antritts-Vorlesung. Leipzig, Engelmann. Gr. 8. TEN .
Der Übel der Arbeit. Eine Erzählung von W. I—r. iß Lang⸗
mann u. Comp. Gr. 16. 1 Zhlr. ‘
ustow, 8., Lebensbilder. 1fter Bd. Durh Nat gen Licht. Er⸗
zählung. Stuttgart, E. Hallberger. Gr. 8. 1 Xhlr. 15 Ngr.
adländer, %. ®., Nabes und Yernes. — Die Spuren eines Ro
mans. — Unter ben päpftlichen Znaven. Stuttgart, &. Hallberger. Gr. 5.
1
Ir. 32! q T
man und Novellen» Bibliothet. 2ter und ter Vd.: Der Dorfpa-
anini. Criminal» Novelle von ©. Füllborn. Garriere. Originals»
velle von H. Hirſchfeld. Hamburg, Berlag ber Roman» und No»
vellen-Mappe. 8. & 15 Nur.
Anze
igen.
—
Im Berlag von F. A. Brockhaus in Leipzig erfcheint
auch für 1870:
Unfere Zeit.
Deutſche Revue der Gegenwart.
Hlonatsschrift zum Gonbersations- Jexikon.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
8. In Halbmonatlicden Heften. Preis jedes Heftes 6 Nor.
„Unfere Zeit‘ wird mit immer größerm Rechte ale eine
deutfche „Revue des deux mondes’' bezeichnet. Sie
bietet ein umfaflendes Gemälde der Gegenwart, indem fie die
politifhen Bewegungen durch orientirende Artikel begleitet und
ebenfo aus faft allen andern Gebieten des Culturlebens das That-
ſächliche in ſachgemäßen, Überfichtlihen Darfteflungen vorführt.
Der neue Jahrgang 1870 erfcheint in eleganterer äußerer
Ausftattung, um bie Zeitichrift aud) in diefer Beziehung deu
großen franzöfiichen und engliſchen Revuen zur Seite zu ftellen,
während der billige Preis unverändert geblieben ift.
„Unfere Zeit‘ empfteblt fi) den Journal⸗ und Leſecirkeln
als cine gediegene Zeitfchrift von bleibendem Werth; fie bildet
ihrem ftofflihen Inhalt nad) zugleich eine Weiterführung und fort-
laufende Ergänzung zu jedem Converfations-Lerilon.
Das erfte Heft des Jahrgangs 1870 ift foeben
erihienen und nebfi einem Profpect in allen Bud:
Bandlungen vorrätbig.
Verlag von Eduard Trewendt in Breslan.
Soeben erihien und ift in allen Buchhandlungen
Poetik.
Die Dichtkunſt und ihre Technik.
Vom Standpunkte der Neuzeit.
v
Rudolph Gottſchal
Zweite vermehrte und verbeſſerte Auflage.
8. 2 Bde. Eleg. broſch. Preis 2 Thlr. 15 Sgr.
Formen und Inhalt der mamichſachen Dichtungsarten
werden iu biefem Wert mit fleter Rüdficht auf ihre ge-
ſchichtliche Entwidelung ebenfo Kar als gründlich abge-
handelt, außerdem aber die Ziele angegeben, nad) denen
die Dichtung unjerer Tage zu ringen bat. Go wird
bier eine umfafjende Darftellung der Grundfäße geboten,
die den jchöpferiihen Dichter und den Kritiker zu leiten
Dan beide werden bier die anfprechendfte Belehrung
nden.
,
—
%
J
1
s
8
*
16 Anzeigen.
Feſtgeſchenke
aus dem Verlage von Hermann Coſtenoble in Jena.
Diron, W. Hepworth, Neu Amerika. Rechtmäßige,
vom Berfafler autorifirte deutfche Ausgabe. Nach der
fiebenten Original-Anflage aus dem Englifchen von
Richard Oberländer. Mit uftrationen nad
Driginal-Photographien. Lex.«8. Eleg. broſch. 2%, Thlr.
Gerftäder, Friedrih, Neue Reifen durch die Ver-
einigten Staaten, Merilo, Ecuador, Weſtin—
dien und Benezuela. 6 Theile in 3 ftarfen Bün-
den. 8. Broſch. 5%, Thlr.
Hamm, Dr. ®,, Weinkarte von Europa. Chromo-
Iithographie in 7 Farben. Mit Profpect in eleg. Um
ſchlag cartomnirt 1 Thlr. 10 Sgr. Diefelbe ungebro-
hen und gerollt 1 Thlr. 6 Sgr.
Hayes, Dr. J. J., Das offene Polar-Meer. Eine
Entdedungsreife nad) dem Nordpol. Aus dem Eng-
lichen von J. E. A. Martin, Euftos der Univerfitäts-
Bibliothel zu Jena. Nebft 3 Karten und 6 luftra-
tionen in Holzjchnitt. (Bibliothek geogr. Reifen I. Bd.)
Lex.⸗8. leg. brofh. 1%, Thlr.
Külb, Ph. H., Fernand Mendez Binto’s aben-
teuerliche Reiſe durch China, die Tartarei,
Siam, Pegu und andere Länder des öſtlichen
Aliens. (Bibliothef geogr. Reifen II. Bd.) Ler.-8.
Eleg. brojch. 1%, Thle.
Baker, Samuel White, Der Albert N’yanza, das
große Beden des Nil und die Erforfhung
der Nilguellen. Deutfh von 3. E. 4. Martin.
Nebſt 33 Illuſtrationen in Holzſchnitt und 1 Karte.
Zweite Auflage, (Bibliothek geogr. Reifen DEI. Bd.)
Lex.8. leg. broſch. 12%/, Thlr. Pracht» Ausgabe in
2 Bänden und mit 2 Karten 5, Thlr.
Bickmore, Albert S., Reifen im oftindifhen Ar-
hipel. Aus dem Englifhen von 3. E. A. Martin.
(Bibliothek geogr. Reifen und Entdedungen älterer
und neuerer Zeit IV. Bd.) Nebſt 36 Alluſtratio⸗
nen in Holzſchnitt und 2 Karten in Farbendruck. Lex.⸗8.
Eleg. brofch. 2 Thlr. 20 Sgr.
A, Torell und A. E. Nordenftjöld, Die Schwedi—
hen Expeditionen nah Spitzbergen und
Bären-Eiland in den Jahren 1861, 1864 und
1866. Aus dem Schwedifhen von 2. Paffarge.
Nebft 3 großen Anfihten in Tondrud, 28 Mluftratio-
nen in Holzfchnitt und einer Karte von Spigbergen in
Farbendruck. (Bibliothek geogr. Reifen V. Bd.) Ler.-8.
Eleg. broſch. Preis 2 Thlr.
Henglin, M. Th, von, Reife nad Abeſſinien,
den Gala-Ländern, Oft-Sudan und Chartum
in den Jahren 1861 und 1862. Mit 10 Illuſtra⸗
tionen in Farbendrud und Holzfchnitt, ausgefiihrt von
% M. Bernag, nebft Driginalfarte. Gr. Yer. «8.
Eleg. Ausftattung. 5 Thlr.
Kivingftone, David und Charles, Neue Miffions-
reifen in Süd-Afrika, unternommen im Auftrage
der englifchen Regierung. Forſchungen am Zambeſi
und feinen Nebenflüffen, nebft Entdedung der
Seen Shirwa und Nyaſſa in den Jahren 188
bis 1864. Aus dem Englifhen von J. E. 4. Mar»
tin. Nebft 1 Karte und 40 Illuſtrationen in Holz⸗
Schnitt. Zwei ftarfe Bände. Gr. 8. Broſch. 5%, Thlr.
Martins, Charles, Bon Spigbergen zur Sahara.
Stationen eines Naturforfchers in Spitzbergen, Lapp⸗
land, der Schweiz, Schottland, Frankreich, Italien,
dem Orient, Aegypten und Algerien. Mit Vorwort
von Carl Bogt. Aus dem Tranzöflichen von
A. Bartels. 2 Bde. Ler.-8. Broſch. 3%, Thlr.
Schlagintweit-Sakünlünski, Hermann von, Reifen in
Indien und Hocdhafien, ausgeführt in den Jahren
1854—1858. Eriter Baud: Indien, mit 2 Kar⸗
ten, 7 landfchaftlihen Anfichten und 2 ©ruppenbil-
dern von Eingebornen in Tondrud. Gr. Ler.- 8.
Elegantefte Ausſtattung. Broſch. A Thlr. 24 Sgr.
Allgemeiner Journal-Lesezirkel
der Buchhandlung von
W. Adolf u Comp.
H. Hengst
59. Unter den Linden. 59.
Berlin.
Der Zirkel umfasst dreihundertsechsundachtzig
deutsche, englische und französische Zeitschriften, von de-
nen 50 der Literaturwissenschaft, Kritik und Kunst, 13 der
Geschichte und Geographie, 34 der Rechts- und Staats-
wissenschaft nebst Politik, 42 der Medicin und Pharmacie,
30 der Naturwissenschaft, Astronomie und Mathematik,
40 der Philologie, Pädagogik und Stenographie, 25 der
Theologie und Philosophie, 40 der Landwirthschaft, Forst-
wissenschaft und dem Bergbau, 49 der Handelswissenschaft.
Technologie und Baukunde, 12 der Kriegswissenschaft, 15 der
Mode, 82 der Unterhaltung und 4 verschiedenem Inhalte
gewidmet sind.
Die Auswahl der Journale steht vollkommen im Belie-
ben der Abonnenten. Die Höhe des Abonnements richtet
sich nach dem Ladenpreise der Zeitschriften und beträgt
vierteljährlich pro Thaler 4 Silbergroschen, die nebst 5 Sgr.
Botenlohn pranumerando zu entrichten sind. Ein ausführ-
licher Prospect steht gratis zu Diensten und wird nach aus-
warts franco versandt.
Derfag von S. 4. Brockhaus in Leipzig.
Blütenlefe aus Altem und Uenem
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Ernſt Mori Arndt.
8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Nor.
Zum bundertjährigen Geburtstage Ernſt Morik Arndt’s
verdient diejes fur; vor feinem Tode von ihm veröffentlichte
Bud in Erinnerung gebracht zu werden. Es euthält Gedichte,
die er aus dem Griechiſchen, Schwediſchen, Englifhen und
Schottiſchen zu verſchiedenen Zeiten metriſch jibertragen und erfl
im hoben Aiter gefammelt und mit Gruß und Vorwort ver
feyen berausgab. In der Wahl der Stüde ebenfo wie in dem
fernigen Deutſch der Webertragung ſpricht fih der Charakter
des gefeierten Mannes mit unverlennbarer Entſchiedenheit aus,
. Berantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Berlag von $. A. Brodhans in Leipzig.
Blätter
literarische Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich. — ee Mr, 2, ÿæ 6. Januar 1870.
Inhalt: Brennende religiöfe Fragen der Gegenwart. — Revue des Fiteraturjahres 1869. Bon Rudolf Gottſchal. (Fort⸗
fegung.) — Aus der neueiten deutichen Romanliteratur. Bon 3. 3. Honegger. — Fenilleton. (Bom deutſchen Theater; Deut⸗
ſche Sprichwörter ale Beiipiele in der Grammatil.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Brennende religiöfe Fragen der Gegenwart.
1. Der Bapft und das Concil von Janus. Leipzig, Stein-
ader. 1869. 8. 1 The.
2. Brennende Fragen in der Kirdhe der Gegenwart. Drei Bor-
träge gehalten von Daniel Schenkel. Wiesbaden, Kreis»
del. 1869. 8. 12 Rat.
3. Die gefchriebene Offenbarung und der Menſchengeift. Ge⸗
widmet den kirchlichen Reformoereinen von Anton Henne.
Zürich, Berlags- Magazin. 1870. 8. 12 Ngr.
4. Herr Ölneraljuperintendent Dr. W. Hoffmann in Berlin
y vor dem Richterſtuhl der dentihen Chriftenheit gefellt von
M.Baumgarten. Berlin, ©. Reimer. 1869. Gr. 8. 5Rgr.
5. Dfficielle Actenftüde zu dem von Sr. Heiligkeit dem Papfte
Bıus IX. nach Rom bernfenen Oekumeniſchen Eoncil. Berlin,
Stilke und van Muyden. 1869. &. 8. 1 Thir.
Wenn der alte Hume vor mehr als hundert Yahren
das Concilium von Trient das ‘einzige nanute, weldyes
in einem Jahrhundert beginnender Aufllärung und For⸗
fung abgehalten ward, und meinte, die Wıffenfchaften müß-
ten tief finken, wenn abermals ein ſolches Concil zu Stande
füme, fo befand er ſich mit diefen zweifeldohne gutgemein-
ten Worten in einem großen Irrthum. Die Wiſſenſchaf⸗
ten find nämlich feit Hume's Zeiten nicht tief gefunken,
fie haben vielmehr in vielfaher Hinficht einen gewaltigen
Aufſchwung gewemmen; aber ein allgemeines Concil ift
dennod von Papft Pius IX. am 29. Juni 1868 durch
die Bulle Aeterni Patris auf den 8. December 1869 nad)
Rom berufen worden, und der Papft hat fi) jogar be-
miüßigt gefunden, gelegentlich diefes einbernfenen Concils
durch ein Schreiben vom 13. September 1868 aud alle
Proteftanten und Nichtkatholifen zur Rückkehr in den „einen
Schafftall“ der fatholifchen Kirche einzuladen,
Unter den vielen Schriften nun, welche in Deutſch⸗
land und andern Ländern dies päpftliche Unternehmen ins
Leben gerufen hat, nimmt die Schrift von Janus: „Der
Bapft und das Concil“ (Nr. 1), ohne Widerrede eine ber
erften Stellen ein. Diefe Schrift ift eine weiter ausgeführte
und mit einem reichen Duellennachweis verfehene Neu⸗
bearbeitung der vor nicht langer Zeit in der augsburger
„Allgemeinen Zeitung‘ erfchienenen Artikel: „Das Concil
1870. 2.
und die Civiltä”. Janus ift ein angenommener Name,
und die eigentlichen, mit dem Latholifchen Kirchenrecht und
der Tatholifchen Kirchengefchichte gründlich vertrauten Ber»
faſſer befennen fi in dem Borwort (S. ıv) ausdrücklich zu
derjenigen Anſicht von der Tatholifchen Kirche und ihrer
Miifion, welche von den Gegnern mit einem oft mid-
‚braudten und in feiner Unbeftimmtheit für polemifche
Zwede ſehr bequemen Worte die liberale genannt wird,
welche als ſolche bei allen unbedingten Anhängern des
römischen Hofs und des Jeſuitenordens — zwei gegen-
wärtig innig verbündeten Mächten — im völligen Berrufe
ſteht und von ihnen nie anders ald mit Bitterkeit und
Haß erwähnt wird. Die pfendonymen Berfafler jagen
von ſich jelbft:
Wir find die Gefiunungegenoffen derjenigen, welche erſtens
überzeugt find, daß die katholiſche Kirche zu dem Principien der
politifhen, intellectuellen und religiöfen Freiheit und Selbf-
entſcheidung, ſoweit diefe Principien im chriſtlichen Sinne ver-
ftanden werden, ja gerade aus dem Geiſte und Buchſtaben des
Evangeliums gefhöpft find, fi nicht feindlih und abwehrend
verhalten dürfe, vielmehr pofitiv auf diejelben eingehen und auf
deren ftete Verwirklichung reinigend nnd veredelnd einwirken
folle. Wir theilen zweitens die Anficht derer, welche eine große
und durdhgreifende Reiormation der Kirche für nothwendig und
für unvermeidiih halten, wie lange fie auch Hinausgejchoben
werden mag.
Den Berfaflern des in Rede ftehenden Buchs ift „bie
katholiſche Kirche keineswegs identifch mit dem Papismus“,
und fo find fie, ungeachtet der äußern kirchlichen Gemein-
ſchuft, doch innerlich und tief gejchieden von denen, deren
firchliches Ideal ein univerfaled, von einem einzigen Mon⸗
archen geiftlih und womöglid) aud) leiblich beherrjchtes
Reich ift, ein Reich des Zwangs und des Drucks, „in
welchem die Stantögewalt den Trägern ber Kicchengewalt
ihren Arm zur Niederhaltung und Erftidung jeder von
diefer misbilligten Regung leiht”. Sie verwerfen — kurz
efagt — jene Lehre umd jene Geftalt der katholiſchen
irhe, welche von ber römifch- jefuitifchen Zeitfchrift
„Civilta Cattolica” feit Jahren als die allein richtige, als
3
18 Brennende religidfe Fragen der Gegenwart.
der einzige und legte Rettuugsanker der fonft untergehen-
den Menfchheit gepriefen wird.
anus — um den Namen zu gebrauchen, welchen
die Berfafler des vorliegenden Buchs einmal angenommen
haben — will aus ber beften Duelle, willen, daß der
Bauptfeldzugsplan, den man auf dem neuen ökumeniſchen
Concil zu befolgen gedenkt, bereits ziemlich feftiteht und
vornehmlich darauf gerichtet ift, dem Unfehlbarkeitsdogma
zum Sieg zu verbelfen; daneben foll aber auch der be
kannte Syllabus, jene Zufammenftellung der von Gr.
Heiligkeit dem Bapfte Pius IX. verdammten wifjenfchaft-
lichen Lehr- und Grundfäge, dogmatifirt und das neue
Marien-Dogma, wonach „aud) der Leib Mariens in den
Himmel aufgenommen worden iſt“, unumftößlich feft-
geftellt werden. Er theilt demnach fein Buch, außer dem
Borwort und der Einleitung, in drei Hauptabjchnitte, in
denen er mit bewundernswerther Sachkenntniß und ge-
lehrter Schärfe die Lieblingswünſche des Jeſuitenordens
und desjenigen Theil der Eurie, der fi von ihm leiten
läßt, einer nähern Beleuchtung unterzieht, indem er zuerft
den „Syllabus“ und das, was mit ihm beabfichtigt wird,
ins Auge faßt, hierauf bas „neue Marien⸗Dogma“ kurz
erörtert und fchlieglich über die „päpftliche Unfehlbarfeit‘
an der Hand gejchichtlicher Thatfachen in ausführlicher
Weiſe orientirt.
Was die Dogmatifirung des Syllabus anlangt, jo
weift Janus nah, daß auf dem allgemeinen Concil eine
ſtarke Partei bemüht fein wird, mit Zugrundelegung ber
Arbeiten des Yefuitenpatere Schrader *) in Wien und
deffen Ordensbruders Gerhard Schneemann **) die ein-
zelnen Säge des Syllabus in affertorifher Faſſung zu
ebenfo vielen Glaubensartikeln zu ftempeln. Der Syllabus
verdammt nun aber bekanntlich die ganze jegige Welt-
anſchauung von den Rechten des Gewiſſens und des reli⸗
giöfen Glanbens nnd Belenntniffes; es ift nach ihm eine
arge Berirrung, Proteftanten zu gleichen politiichen Rech⸗
ten mit Katholiken zuzulaffen, oder proteftantifchen Ein-
wanderern bie freie Ausübung ihres Gottesdienftes in katho⸗
liſchen Ländern zu geftatten (vgl. Syllabus, $. 77— 79);
Zwang und Unterdrüdung ift vielmehr, fo lehren bie jegt
in Rom allmäcdjtigen Väter der Gefellfchaft Jeſu und ihre
Gönner, fobald man die Macht dazu hat oder fie erwirbt,
heilige Pflicht.
Der Syllabus fchlieft mit der Erklärung: „Dies
jenigen befinden fi in einem verdbammenswerthen Irr⸗
thum, welche die Verfühnung des Papſtes mit der mo«
dernen Civilifation file möglich und wünſchenswerth hal«
ten.” Hierzu bemerkt Janus ©. 23 Folgendes:
Die heute beftehenden Berfafjungen fänmtliher europäi-
iher Staaten (mit Ausnahme Rußlands und bes Kirchenftaats)
find nichts anderes als das Product und der Ausdruck diejer
modernen Civilifation. Freiheit des religidfen Belenntniffes
nnd des Gottesdienftes, Freiheit der Meinungsäußerung, Gleich⸗
beit vor dem Gefe und Gleichheit wie ber politiichen Pflichten
fo der Rechte, dies find neben der Selbfibefleuerung, der mu⸗
nicipalen Selbfiverwaltung und der Theilnahme des Volks an
der Geſetzgebung die herrfchenden, durch alle Berfaflungen
fih hindurchziehenden Ideen und Principien, die denn auch alle
— ·— — —
) De Papft und bie modernen Ideen“, zweites Heft: „Die Enchclica‘
te
u
*., ‚Die liche Gewalt und Ihre Träger” im flebenten Heft ber „Stim-
men ane Maria Laach“ (Freiburg im Br. 1867).
innig untereinander zuſammenhängen, fodaß fie fich wechſelſeitig
tragen und fügen und die Gewährung einiger dieſer Forde⸗
rungen bald auch mit innerer Nothwendigfeit die der andern
nad fi zieht. Nun ift aber in der (fatholiichen) Kirche ſchon
feit Jahrhunderten, eigentlich ſchon feit den Ifſidoriſchen Decre-
talen, der entgegengejettte Weg mit beharrlicher Eonfequenz ver»
folgt worden; die hierardhifhe Berfaffung hat fih mehr und
mehr zu einem fchranfenlojen, oligarchifch waltenden Abfolutis-
mus ausgebildet, und eine fletig wachlende und meitergreifende
bureaufratifche Centralifation hat allmählih das gauze altkirch⸗
liche Leben in feiner harmouiſch gefligten Gliederung und ſyno⸗
dalen Selbftregierung getödtet oder nur die hohlen Formen
beftehen laſſen. So verhalten fi Kirche und Staat zueinander
wie zwei parallel laufende Ströme, von denen der eine nord»
wärts, der andere flldmwärts fließt, d. h. die modernen flaatlichen
Zuftände und die politifchen auf Selbfiregierung und auf die
Beſchränkung fürſtlicher Willkür gerichteten Beſtrebungen ber
Bolker ſtehen im fchroffften —* zum Ultramontanismus,
deſſen Kern und Hauptaufgabe die Behauptung und Steigerung
des Abſolutismus in der Kirche iſt. Staat und Kirche find
aber aufs innigſte miteinander verwachſen; beide reagiren fort
und fort aufeinander, und es ift ganz unvermeiblidh, daß die
politiſchen Anjhauungen und Einrichtungen eines Volks in bie
Fänge auch die kirchlichen beeinfluffen und beftimmen.
Was Janus bier von der Wechfelwirkung ber politi«
jchen und kirchlichen Anfchauungen und Einrichtungen eines
Volks jagt, das gilt ebenfo fehr von den Beitrebungen
auf den focialen, national» öfonomifchen, wifjenfchaftlichen
und äfthetifchen, kurz allen Gebieten, auf denen ſich die
geifige und materielle Entwidelung der Völker vollzieht.
ie tief übrigens der Haß geht, den jeder echte Ultra-
montane gegen die freiheitlichen Inftitutionen, ja gegen
das ganze Verfaſſungsweſen, wie es fich gegenwärtig bei f u
allen civilifirten Vblfern immer mehr Bahn ,bridt, im
Grunde feiner Seele enipfinbet, das hat, wie Janus ©. 24 fg
mittheilt, kürzlich) die „Civilta Cattolica”, jener durch ei
eigenes Breve des Papftes hochbelobte Moniteur der römi
chen Curie, in ſehr bezeichnender Weife documentirt, wen
fie fagte: Yo
Die Hriftlihen Staaten haben aufgehört, die menfchliche
Geſellſchaft iſt wieder heidnifch geworben und gleicht einem von
Erde gebildeten Körper, welcher des göttlichen Hauches wartet.
Aber bei Gott iſt nichts unmöglich, er belebt nad) dem prophe-
tiſchen Geficht des Ezechiel ſelbſt dürre Gebeine. Ossa arida,
dürre Gebeine find die politifhen Gewalten, die Parlamente,
die Wahlurnen, die Civilehen, die Municipien. Nicht blos
bürre, fondern flinfende Gebeine find die Univerfitäten, fo groß
ift der Geſtank, welcher bon ihnen in verderblihen und pefti-
lenzialifhen Lehren ausgeht. Aber diefe Bebeine fünnen wieder
zum Leben gerufen werden, wenn fie auf Gottes Wort hören,
d. 5. das göttliche Geſetz annehmen, welches ihnen von dent
unfeblbaren und höchſten Doctor, dem Papfte, verkündigt wird.
Mit Recht erinnert Janus daran, daß gleich die ehr⸗
wärdige Ahnfrau und Stammmutter der europäifchen Ver—
faffungen, die engliihe Magna-Charte, mit dem heftig-
ften Zorn des Papftes Innocenz III., ber die Tragweite
der Sache ziemlich gut erfannte, durch die Bulle Nos,
tantae malignitatis vom 15. Uuguft 1215 heimgeſucht
wurde. Innocenz II. ſah darin eine Verachtung bes
apoftoliichen Stuhls, eine Verminderung der füniglichen
Rechte und eine Schmach des engliichen Voll (Angli-
canae gentis opprobrium); er erflärte fie deshalb fiir
null und nichtig und belegte ihre Urheber, die englifchen
Barone, mit dem Kirchenbann. Und fo laflen wir aud)
Pins IX. und feinen Rathgebern, den Jeſuiten, welche
befanutlich die intellectuellen Urheber ber Enchclica und
— — _____ıR..
Brennende religiöfe Fragen ber Gegenwart.
des Syllabus find, gern die Gerechtigkeit wiberfahren,
daß fie nur im Jahre 1864 gethan, was Innocenz ſchon
im Jahre 1215 mit prophetiſchem Blid für dienlich
im Intereſſe der katholiſchen Kirche erachtet Hat. Die
Magna · Charta indeffen, damals mod) ein zartes und
ſchwachliches Pflänzhen, ift mittlerweile dem Fluche
zum Trog, welchen einer der gewaltigften von allen Päp -
fien auf fie gelegt, zu einem ſtattlichen, die civilifirte Welt
überfhattenden Baume ausgewachſen, ‚mit fräftigen und
blühenden Kindern und Kindesfindern gefegnet; und fo
lann ſich denn auch wol ihr jüngfter Ablömmling, bie
öferreihifche Verfaffung, die ein Heinerer Nachfolger In
noceny am 22. Juni 1868 al® „einen unausſprechlichen
Greuel“ (infanda sane) bezeichnet Hat, beruhigen und
getroft an da Weltgericht der Gefchichte appelliren. Sie
fann c8 um fo mehr, als diefer felbe Nachfolger es vor
einigen Jahren nicht verſchmäht hat, wie Janus aus guter
Duelle verfichert, in London anfragen zu laſſen, ob nicht
auch für ihn in dem Mutterlande der „fittenverberbenden
Freipeitögefege” eine ſichere Wohnftätte zu finden fei.
Es würde hier zu weit führen, nachzuweiſen, wie
Rom fid) confequent allem und jedem Berfafjungsleben
feindlich gegenüberftellte. Wir erwähnen hier nur noch,
daß ſich auch Leo XII. mit einem Schreiben an Ludwig XVII.
von Frankreich wandte, in welchem er ihm das Verwerfliche
der franzöftfchen Conftitution vorhielt und ihn dringend
mahnte, jene Artifel, die zu ſehr nad) Liberalismus
ſchmedten, aus der Charte auszumerzen.
Hinfihtlich des neuen Marien -Dogmas faßt ſich Janus
mit guten Gründen fehr kurz. Diefer Gegenftand ift
ziemlich harmlofer Natur, und man begreift ſchwer die
Dringlichkeit deſſelben, da doch erft wenige Jahre ver-
foflen find, feit Pius IX. die unbefledte Empfängnig
fierlich für eine göttliche Offenbarung erflärt hat. Die
altficchlichen Ucberlieferungen wiflen, wie Janus bemertt,
von dieſen Dingen nichts. Es wäre ſicherlich viel wün«
ſchenswerther, wenn die Jeſuiten durch die Fügſamkeit
8 Concils die verrufene Probabilitätslehre zum Glau⸗
bensartifel erflären ließen, um dadurch die Moraldoctrin
des Ordens, „dieſe ftets Maffende Wunde feiner Repu-
tation“, durch einen Concilbeſchluß geheiligt zu erhalten.
Den Kern des Ichrreichen Werls, welches übrigens
bereits ins Engliſche, Franzöſiſche und Stalienifche über
fegt worden ift, bildet bie geſchichtliche Revue päpſtlicher
Täufhumgen und die kritifch-hiftorifche Unterſuchung der
Unfehlbarkeit der Päpfte in der Vergangenheit. Sollte in-
deffen das Eoncil die Infallibilitätslefre zum Dogma erhe»
ben, fo beanſprucht diefer Glaubensſatz aud Geltung bis in
bie fernften Jahrhunderte rückwärts. Cine Wahrheit, die
künftig geglaubt werben fol, muß auch von je eine Wahr-
hat geweſen fein; darum prätenbirt im vorliegenden Falle
das Dogma der Unfehlbarkeit nicht blos, daß die künfti ·
geı pupftlichen Ausſprüche ex cathedra unfehlbar fein
weben, fondern daß auch alle frühen Päpfte niemals
geirrt Haben und kraft der Infpiration des Heiligen Geis
fits niemals irren konnten. Im dieſer Beziehung fagt
Imus:
Aber wenn nun die Unfehlbarkeitslehre, einmal zum Glau ·
be sfatg erhoben, einerfeits alle geiftige Bewegung unb wiffen-
jä fefiche Thätigteit in der Latholifcen Kirche lahm legen müßte,
19
fo wilrbe fie andererſeits zwiſchen biefer umb dem vom ihr ge»
trennten religiöfen Gemeinfchaften nur eine neue Scheidewand
und zwar die Närffle und undurdbringlicfte von allen aufrid«
ten. Der theuerſten Hoffnung, die fein Chriſt aus feiner Bruft
zu verbannen vermag, müßten wir entfagen, der Hoffnung auf
eine fünftige Wiedervereinigung der getrennten Kirchen, bes
Drients wie des Dccibents. Denn im Ernft wird dod nier
mand, der die Gefdjichte der anatofifchen Kirche und bie der
proteftantifchen Gemeiniaften einigermaßen kennt, es für dent»
bar halten, daß jemals eine Zeit fommen könne, in der auch
nur ein beträgtlicher Theil diefer Kirchen ſich freitwilig der
durd) das Unfehlbarfeitedogma nod; Über da® jegige Maß hin»
ausgefleigerten Wilfürherrihaft eines einzigen unterwerfen
werde. Nur wenn ein allgemeiner Bibliothetenbrand alle Hifto-
riſchen Urkunden vernichtet hätte, wenn Orientalen und Occi»
bentafen von ihrer frühern Geſchichte nicht mehr wüßten, als
jest die Maoris auf Nenfeeland von ber ihrigen wiffen, und
menn endlich große Nationen durch ein Wunder ihre ganze
Geiftesrihtung und Sinnesweife abgelegt hätten — dann erft
fönnte eine ſolche Unterwerfung fih vollziehen.
Mehr oder weniger hat e8 Janus unterlafen, in feir
nem Buche aus den Prämiffen der Außerft zahlreich von
ihm angeführten Biftorifchen Thatſachen in Betreff der
Smfallibilitätsdoctrin ſelbſt Schlüfle zu ziehen; aber er
hat in ber gründlichften Weife die Wurzeln aller der ge
ſchichtlichen Thatſachen und Ereigniffe bloßgelegt, deren
Aufzählung allein mit vernichtender Logik das Unfehlbar-
keitsdogma, foweit e8 den Papft angeht, verdammen. Er
fagte in dem Vorwort ©. xıx:
Unfere Schrift ſoll ein Verſuch fein, zur Wedung und
Orientirung einer Öffentlichen Meinung beizutragen. Sie wirkt
vieleiht nur wie ein Gtein, der ins Waffer getvorfen die
Oberflüche anf einen Augenblid Fräufelt und dann fogleich alles
wieder läßt, wie es gemejen; aber fie fönnte doch auch wirken
wie ein Ne, das in den See getaucht reiche Beute brädte.
Nach unferer Meinung hat fie bereits wie ein foldes
Neg gewirkt, und zwar nicht allein in Deutfchland, fon«
dern aud in Italien, Frankreich und England, wie die
zahlreichen und eingehenden Kritiken beweiſen, die fie in
diefen Ländern Hervorgerufen hat. Am grünblichften ift
aber jedenfalls die Beiprehung gewefen, melde Prof.
Frohſchammer in feiner bei Adermann in Münden er»
ſchienenen Brofhitre: „Zur Würdigung der Unfehlbarkeit
des Papſtes und der Kirche”, dem Werke von Janus hat
zutheil werden laſſen. Frohſchammer geht aber mit Recht
einen Schritt weiter als Janus. Er begnügt ſich nicht
damit, die Infallibilitat des Papſtes anzufechten, er wirft
auch bie Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche über den
Haufen; er bleibt nicht auf halbem Wege flehen, fondern
befämpft mit ſcharfen Waffen das Episkopalſyſtem, welches
Janus unangetaflet läßt, ebenfo ſehr wie das Papal«
ſyſtem. Frohſchammer jagt a. a. D.:
Angefidts der Gelhichte des Papfthums mit all feinen
Fälfungen, Anmaßungen, Irrthümern nnd Unfittfichkeiten,
die ja eben dem Streben des vapftthume gemäß für die ganze
Kire gelten und fie durKdringen mußten, ift e8 unmöglich,
die Unfehlbarkeit der Kirche felb mod weiter zu behaupten,
fowenig als die Unfehlbarfeit des Papfies. Wenn die Päpfte,
die feit Jahrhunderten ſich als „Kirdje‘ factifh verbieten und
derrſchten nicht unfehlbar find, dann if e8 auch die Kirche feit
Jahrhunderten nit mehr, da die Päpfte eben die kirchliche
Unfehlbarkeit an fih riffen, ausübten und eben damit aufhoben,
wenn fie je befand. Mit dem Zurucweiſen einer unfehlbaren,
immer ja doch nur in ſchwacher menſchlicher Form erſcheinenden
umd tätigen Mirdjenautorität woirb erft bie wahre Urfache und
Quelle der kirchlichen Gewaltherrſchaft, des ſchreglichen Terror
rismus im geſchichtlichen Leben ber Menſchheit, befeitigt.
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>) Brennende religiöfe Fragen der Gegenwart.
Die Brofhüre von Daniel Schenkel: „Brennende
Fragen in der Kirche der Gegenwart” (Nr. 2), enthält
anf 116 Seiten drei Borträge, welche der Berfafler in
verfchiedenen Stäbten, den erften in Strasburg, den zwei»
ten in Elberfeld, den dritten zu Worms am 31. Mai
1869 hielt. Während fie einerfeits, wie fie uns vorlie-
gen, weiter ausgeführt find, als dies in mindlicher Rebe
möglich war, ift andererfeitd mandje® im Druck weg.
gelafien, was fi) mehr nur auf örtliche Verhältniſſe und
vorübergehende Umftände bezog. Der Berfafier hält die
Zeitumftände fir ernft genug, um Proteflauten und Katho-
liten zu griümdlicher Befinnung und allfeitiger Erwägung
der von ihm behandelten „Brennenden Fragen“ öffentlich)
anfzufordern.
Der erfte Vortrag, welcher „EChriftenthum und Eultur‘
überfchrieben ift, fncht auszuführen, dag „Cultur und
Chriſtenthum zufammengehören wie Licht und Wärme”.
Die Eultur fol der Religion das Licht, die Religion der
Cultur die Wärme geben; fo arbeiten beide für bafjelbe
Ziel: „die Entwidelnng aller menſchlichen Kräfte im
Dienfte ewiger Ideen.“ Mit großer Entfchiedenheit be-
fämpft Schenkel die weltverachtenden Religionsanſchauun⸗
gen, indem fie einer noch zurüdgebliebenen Culturſtufe
angehören. Welterfenntnig, Weltbeherrſchung, Weltgenuß
im reinften geiftigften Sinne des Worte, das ift ihm das
böchfte Ziel für den Menfchen und für den Chriften der
Gegenwart. „Wir wollen ein Chriſtenthum“, ruft er,
„das anf der Höhe der Eulturentwidelung fteht, und eine
Eultur, die durchdrungen ift von ber Fülle und Wärme
des chriftlichen Geiſtes.“
In dem zweiten Bortrage, welcher über „Das Princip
des Proteftantismus” handelt, fucht ber heidelberger Pro-
fefior das echte proteftantifche Bewußtfein den Uebergriffen
Roms und den Fatholiftrenden Beſtrebungen proteftanti-
fcher Kirchenbehörden gegenüber wieder aufzufrifchen und
zu Fräftigen. Ihm ift „das Princip des Proteſtantismus
das von Aufßern Autoritäten befreite und befreiende Ge⸗
wiflen”. Er Hält die Grunbfäge der Gewifiens- und
Glaubensfreiheit, der ungehinderten religiöfen Forfchung
fir unverträglich mit jeder Herilalen Autorität, welde
fi) eines Monopols in der Lehranfficht und der Gemeinbe-
leitung bemächtigt hat oder bemächtigen will. Die Re-
formation hat, feiner Anficht nad, im Princip ber Herr-
ſchaft der Geiftlichleit über die Laien ein Ende gemadit.
„Religion, und nicht Kirchenthum“, fagt er, „bedürfen
die in Geburtswehen kirchlicher und focialer Erneuerung
fiegenden modernen Böller.“
Der dritte Vortrag enthält eine „Proteſtantiſche Er⸗
ärung gegen das «apoftolifche Schreiben» des Papftes
vom 13. September 1868 und gegen bie ultramontanen
Angriffe und Anmaßungen“. Es entgeht Schenkel nicht,
daß der moderne Jeſuitismus mit vichtigem Inſtinct in
den orthodoren Theologen nnd Kirchenmännern des Pro-
teſtantismus wicht nur ſtille Bundesgenofien, ſondern ſo⸗
gar ſehr ſchätzbares Material für die Durchführung ſeiner
(des Jeſnitismus) Abſichten und Zwecke erkennt. Er kanu
in ber ſeit dem Jahre der Wiederherſtellung des Jeſuiten⸗
ordens, feit 1815, immer kecker und herausfordernder
auftretenden „Tirchlichen Reaction auf proteftantifchem Bo⸗
den“ nur eine Berleugnung des proteftantifchen Geiftes
und „einen Abfall zu römiſch⸗katholiſchen Grunbfägen”
erbliden. Deshalb fagt er:
Diele ganze, künfflich nuterſtützte umd geförderte, Tirchliche
und theologiſche Reaction] im Herzen des Proteflantiemue felbft
if unr ein matter AbHlatfch der katholiſch⸗jeſuitiſchen Reftau-
ration, fo ſchwächlich und Heinlich, fo voll innerer Wideriprüde,
fo völlig todtgeboren, daß fie gerade wegen ihrer innern Halt⸗
Iofigleit nnd Unfolgerichtigleit eine Brücke nad) Rom if.
Schenkel mag recht haben; aber wenn er recht hat,
fo ift hohe Zeit, daß man diefe nah Rom führende
Brücke abbridt.
Ueber das Büchlein des Prof. Anton Henne: „Die
geichriebene Offenbarung und der Menfchengeift” (Nr. 3),
welches er den firchlichen Heformvereinen widmet, haben
wir nicht viel zn jagen. Der Autor behandelt in 24 Ka⸗
piteln auf 77 Seiten die verfchiedenften Religionen und
Philofophenfchulen von den älteften Zeiten an bis auf die
jüngfte Gegenwart herab. Ein beſtimmtes Syſtem ver-
folgt er nicht; feine Arbeit ift ein kaleidoſtopiſches Durch⸗
einander, ein Gemiſch von gelehrten Ausführungen und
popnlären Anfchanungen, ſodaß das Lefen feines Werk⸗
chens, welches übrigens in guter Abfiht und mit gutem
Willen gefchrieben ift, Teinen wohlthuenden und nachhal⸗
tigen Eindrud hinterläßt.
Ganz anders verhält es ſich mit der Heinen Schrift:
„Herr Semeralfuperintendent Dr. W. Hoffmann in Berlin
vor ben Richterſtuhl ber deutſchen Chriftenheit geftellt“
(Nr. 4) von M. Banmgarten, Profefior und Doctor
der Xheologie in Roſtock; diefelbe ift hervorgerufen durch
die befannte Weigerung des brandenburger Confiftoriums,
an befien Spige der Generalfuperintendent Dr. W. Hoff-
mann zn Berlin fteht, dem vierten Proteftantentage bie
Thüren der Kirchen in der prenßiichen Hanptftadt zu
öffnen. Mit prüfendem Ernft, mit geradem Mannes⸗
muth und ungefchminkter Rede ftellt der orthodore, aber
dennoch freimüthige Baumgarten, nachdem er fi) in einer
furzen, kernigen Einleitung zu einem ſolchen Schritte
legitimirt hat, den genannten preußifchen Generalfuper-
intendenten „vor den Kichterftuhl der deutſchen Chriften-
beit“. Er gibt feine gehaltuollen, von wahrhaft Intheri-
ſchem Geifte durchwehten Reden, die er bei der Eröffnung
und beim Schlufſe des vierten Proteftantentags in Berlin
gehalten, und vertheidigt in einem Anhang ben vorzüglich
mit dur ihn gegründeten Proteftantenverein gegen bie
Angriffe des Generalfuperintendenten der Kurmark Bran-
benburg, der zugleich Hof- und Domprediger und Schloß⸗
pfarrer zu Berlin iſt. Als Aufgabe bes Proteftanten-
vereing ftellt er hin: das Volksthümlichmachen des Chriften-
thums umd das Chriſtlichmachen des Boltsthitmlichen.
„Es gibt nichts”, jagt er, „was dem innerften Wefen
beutfcher Gemüthsart mehr wiberftreitet, als jener finftere
Feind der Geiftesfreiheit, der in Rom feine Heimat hat.“
Alles, was noch chriſtlich gefund fei, müfle dahin ftreben,
„eine Volkskirche anzubahnen, die ebenfo deutſch ift als
chriſtlich und ebenfo chriſtlich als deutſch“. Die größte
That des beutfchen Geiftes, die Reformation, fie müfſe
jet vollendet werden. Die allgemeine politiiche Mündig⸗
feit erhalte erft ihren Werth, wenn fie durch die kirchliche
Mündigkeit erleuchtet und geheiligt werde. Er ruft ans:
Das Borgeben,, daß die Gemeinden im ganzen und großen
abgefallen feien und das Chriſtenthum nur in dem geiftlichen
Revue des Riteraturjahres 1869. 21
Stande und feinem erffärten Anhange erhalten fei, ift ein phari-
iiher Wahn, ber fofort gebrodhen mird, wenn an den Tag
fommt, was ſchon jrtt dem gelibten Auge Mar ift, dag in dem
Furchichnitt der Gemeinden mehr gejunder und urfprlinglicher
Ehriftenfinn vorhanden if als in dem Durchſchnitt des geift-
lihen Standes. Wenn fi nun die deutfche evangelifche Kirche
aus dem Geifte der chriſtlichen Freiheit und auf dem Grunde
des allgemeinen chriftlichen Vrieſterthums erneuert, dann find
wir auch fäbig, unjern katholiſchen Brüdern wirkiam zu helfen,
daß fie endlich frei werden von dem römıfchen Papftthum, und
damit die tieffte Wurzel deutichen Hader und Elends aus-
erottet, ber tödlichfte Giftfloff aus dem Körper des deutjchen
olts entfernt werde.
In der That, Profefior Baumgarten tritt uns in
der in Rebe ftehenden Meinen Echrift, welche die weitefte
Berbreitung verdient, als ein ebenfo wahrhaft frommer
wie freimüthig und echt deutſch gefinnter Mann entgegen,
dem es heiliger Ernſt ift mit den höchften Gütern feiner
Nation und der ganzen Menfchpeit.
Die „Officiellen Actenftüde u. f. w.“ (Nr. 5) find
eine dankenswerthe Samminng aller die Encyclica vom
8. December 1864, den Eyllabus und das öfumenifche
Concil betreffenden Documente bis auf da® Schreiben
des Papftes Pins IX. vom 4. September 1869 an ben
Erzbiſchof von Weftminfter. ALS Anhang find die Adrefie
der foblenzer Katholifen an den Biſchof von Trier und bie
Antwort des Erzbifchofs von Köln vom 6. Yuli 1869
auf die ebengenannte, auch ihm überreichte Adrefle hinzu⸗
| gefügt.
Revue des Literaturjahres 1869.
(Hortfegung aus Nr. 1.)
Noch beliebter als der Roman ift die kurzathmige
Erzählung und Novelle, welche nicht fo große An-
forderungen an die Muße des Publikums ftellt und das
Bedürfniß der Unterhaltung raſcher befriedigt. Auch bie
meiften Romanfchriftfteller erholen fich von der Arbeit an
einem mehrbändigen Opus, indem fie einige Novellen aus
dem Aermel jchütteln, meiftens harmloje Seifenblafen ber
Phantafie, die nach einigem kurzen bunten Spiel wirkungs-
los zerftieben.
Ein Streben nach künſtleriſcher Abrumdung, Glätte
und finnvoller Bedeutung, einer nad) Boccaccio’3 Muſter
fi) zufpigenden Novelle findet fich in den wenigften Pro-
ductionen dieſes Genre; doch zeigt es fich bei einigen ber
bervorragenden Vertreter. Bon Paul Heyſe's „Novellen“
if die „achte Sammlung“ erfchienen, welche den Titel
„Droralifche Novellen‘ führt und die Borzüge feiner bes
liebten früdern Novellen im ganzen nicht verleugnet. Ju⸗
lius Groſſe ift fehr productiv auf diefem Gebiet; feine
Erzählungen: „Ein Revolutionär”, „Eine alte Liebe‘ und
„Vox populi” mit den „Abenteuern einer Seelenwande-
rung”, find von ungleihem Werth. Edmund Hoefer, ein
vorzugsweiſe novelliſtiſches Talent, das fi in größern
Romanen mit weniger Glüd bewährt, veröffentlichte: „In
der Welt verloren”, „In doloribus. Tagebuchblätter einer
Berfchollenen” und „Zwei Familien“; 3. W. Hadländer:
„Nahes und Fernes“, „Die Spuren eines Romans”, „Un-
ter den päpftlihen Zuaven“ und die Humoriftifche No»
belle: „Hinter blauen Brillen”; K. Gutzkow, der auch in
der Rovelle finnreich geftaltet: „Lebensbilder. Exfter Band:
Durch Naht zum Licht”; der im Colorit fo treffliche
R. Schweigel: „Aus ben Alpen. Erzählungen‘; der
philoſophiſch gedankenreiche Dorfgefchichtenichreiber Mel⸗
chior Meyr: „Erzählungen aus dem Ries. Neue Folge“;
riedrich Spielhagen eine Erzählung: „Die Dorfkokette“;
r humoriſtiſch originelle W. Raabe ſieben Erzählungen:
Der Regenbogen”; W. Ienfen, ein feinfinniger Novellift mit
efflicher Stimmung in feinen Natur- und Lebensbildern,
ei Erzählungen: „Das Erbtheil des Blutes‘, „Die Ju⸗
na von Cölln“, „Unter heißerer Sonne”, ferner „Neue No⸗
üen“, und der elegante Guſtav zu Putlitz eine Novelle:
- Die Alpenbraut”; Robert Waldmüller, ein poefiereicher
Noveliift, die Novelle: „Die Heine Gipsgießerin“; Mar
Ring die biftorifche Erzählung: „Der Anfläger von Stras-
burg” und „Lieben und Leben‘; Friedrich Friedrich zwei
biftorifche Erzählungen: „Pereat Napoleon” und bie
Humoreste: „Ehemänner und Ehefrauen. Neue Folge“;
der productive Guſtav vom See: „Neue Novellen‘; life
Polko: „Auf dunfelm Grunde” und eine nene Reihe der
„Handzeichnungen‘: „Schöne Frauen”; Bernd von Gufed
die Hiftorifche Erzählung: „Im Herzen von Deutfchland‘;
Victor von Strauß, der tendenzidfefte der deutfchen No»
velliften, mehrere Erzählungen: „Aus der Vergangenheit“,
„Der Schulmeifter und der Herr Lehrer”, „Der Zwei⸗
kampf“, „Eros und Agape“; der Teibenfchaftlich- pilante
Sacher⸗-Maſoch die Paffionsgefhichte: „Die gejchiedene
Frau” und die auferien: „Aus dem Tagebuche eines
Weltmannes”, während die beliebte Romanſchriftſtellerin
E. Marlitt, welche e8 mit ihren beiden Hauptromanen
bereits zu einer beträchtlichen Zahl von Auflagen gebracht
bat, „Zhüringer Erzählungen‘ herausgab.
Folgende Erzählungen und Novellen find außerdem
im Laufe des legten Jahres erfchienen: Adelheid von Auer:
„Schwarz auf Weiß”, „Die barmberzige Schwefter‘‘;
B. Möllpaufen: „Das Hundertguldenblatt“; E. Brach⸗
vogel: „Aus drei Jahrhunderten“; K. Detlef: „Bis im
die Steppe”, „Unlösliche Bande“; R. Durangelo: „Bianca
della Rocca”; E. Senthis: „Die wilde Rofe, eine vheinifche
Dorfgeſchichte“; Sobotfa: „Drei Blätter meines Tage
buchs“; Marie Berger: „Berfchiedene Wege’, „Weiße
und rothe Roſe“, U. Wilbrandst, ©. Füllborn, 8.
Buchner: „Novellen; E. Haltaus: „Geſchichten aus
dem Leben“; B. Wörner: „Amt und Welt“; ©.
Pfarrius: „Natur und Menſchenleben“; 9. Mühlfeld:
„Bis zum Scaffot”, „Aus der Mappe‘; Anna Röhn:
„Der Geheimnißvolle“; A. Mützelbirg: „Das Schloß
an der Oſtſee“; ©. Scheurlin: „Der Scharfridter von
Rothenburg”; 2. von Erlburg: „Aus Herz und Welt“;
A. Mels: „Herzenskämpfe“; Eliſabeth von Grotthuß:
„Das Gaſthaus zum grünen Baum“; K. Che: „Der
Buchhof zu Reichenan“; Marie Rebe: „Erzählungen fürs
Bol’; 3. Krüger: „Die Geheimmiſſe einer jungen Mam⸗
fell” und „Die Todten ftehen wieder auf“; Ida Klein:
22 Revue des Literaturjahres 1869.
„Novellen“; 5. Emilius: „Lucia“; F. X. Himmel⸗
ſtein: „Hiſtoriſche Erzählungen‘; "Henriette Caſtell:
„Stille Größe“; F. Gerſtäcker: „Kreuz und Quer“;
H. von Moellendorf: „Erzählungen aus dem Taunus“;
M. Rugard: „Bunte Bilder“; 3. Boegehold: „Der De⸗
ſertenr“; ©. Better: „Familienrache“ ©. Graf Gra-
bowski: „Geſammelte Novellen und Erzählungen”; Lina
Freifrau von Berlepfh: „Nebelbilder; G. Flammberg:
„Die Rofe von Urach“; C. F. U. Geerling: „Bunte
Bilder‘; M. von Schlägel: „Tolle Liebe”; 2. Ziemffen:
„Fürſt und Weidmann“; C. ©. Barth: „Bier Lebens-
bilder”; Helene (Frau von Hülfen): „Novellen und Skiz⸗
zen fur ihre Freunde”; R. L. Stab: „Auf dornigem
Biaber; €. Brachvogel: „Aus drei Jahrhunderten“; C. W.
Stuhlmann: „Novellen und Erzählungen‘, „Steine Er⸗
aäblumgen €. Frige: „Der Major, Criminalnovelle” ;
M. v. B.: „Hamilienbilder‘; T. Meyer - Merian: „Ent-
ſchwundene Zeiten“; L. Mohr: „Roth⸗Weiß, Erzählung
aus der Zeit des Königthums Weſtphalen“; J. Nordmann:
„Wiener Stadtgeſchichten“; P. Wafferburg: „Aus der
Gerne‘; H. Martin: „Die ſpaniſche Hofdame“; 9. Field:
„Das Blockhaus“; G. Jahn: „Das ſchöneLuisle, oder Dreimal
verlobt"; E. Koller: „Klatſchereien“; F. Kühn: „Erzählun⸗
gen‘; Klara Eron: „Goldene Mitte; &. Ebeling: „Fantaska.
Sefammelte Märden, Legenden und Sagen"; G. Raimund:
„Novellen, ſechster Band“; Gräfin Luiſe von Robiano:
„Dur und Moll“; Lina Bagt: „Reflexe der Zeit” (Bd. 2).
Die Humoresfen find oft im Feuilleton Wand-
nachbarn der Novellen; wir wollen fie auch bier den⸗
felben anreihen und zwar ohne den Unterfchied zu machen,
ob fie in das Gewand der Proja oder des Verſes ge-
Meidet find. Ludwig Walesrode, der politifche Humorift
Königsbergs, der am Anfang der vierziger Jahre durch
feine „Glofſen und Randzeichnungen“ großes Aufſehen er-
regte, bat, nach längerm Schweigen: „Loſe Blätter, ge
fanrmelte Humoresken, erftes Bändchen“, erfcheinen (affen;
A. von Winterfeld mehrere Heftchen „Humoresken für
Sofa und Eifenbahnconpe”; J. Stettenheim ben erften
Band eines „Berliner Blaubuchs aus dem Gebiete der
Komik“; F. Schmidt: „Volkserzählungen und Scilderun-
gen aus dem berliner Volksleben“; C. Reinhardt: „Tinten⸗
flere in Form humoriſtiſcher Sky“; H. von Rittberg:
„Shemannsleid und Junggeſellenweh“, 9. Eggenburg:
„Torniſtergeſchichten“, I. Carl: „Das Oſtſeebad Neu⸗
fuhren, humoriſtiſche Skizzen“. Daß der Humor auch
noch heutzutage die krauſeſten, wunderlichften Titelverſchnör⸗
felungen liebt und dadurch gleich für feine Leiftungsfähig-
feit Reclame zu machen ſucht, da8 mag das folgende Re⸗
gifter ‚beweifen: „Humoriſtiſche Bombenfplitter, abgefenert
and einem Hinterlader”; L. Siegrift: „Leben, Wirken und
Ende weil. Sr. Ercellenz des oberfürftlich Winkelkram⸗
ſchen Generals der Unfanterte, Freiherrn Xebereht vom
Knopf”; „Lord Stiefelton’s wunderbare Reiſeabenteuer und
Erlebniffe, herausgegeben von, Habakuk Befenftiel, Kam⸗
merdiener Sr. Herrlichkeit”; „Die unfchuldige Iſabella
und ihr Louis. Liebesabenteuer einer Bohnenfönigin‘‘;
Supinator Longus, „College Schnepper oder die Höllen-
fteinpupille. Species dramaticae in zwei Aufgüffen für
Aerzte, Apotheker und Naturforjcher beider Hemifphären‘;
„Allerlei mit Krebönajen, Aufgetifcht vom Prinz Carne⸗
val III. (Xowis Julius)“; „De vitae, moribus et literis
pulicis. Blide in das Leben und Treiben des beften
Freundes der Menfchen. Mit einer Blütenlefe der Tite-
ratur berfelben, fowie zahlreichen intereffanten Auffchlüffen
von H. van ber Floee“; W. Buſch: „Schnurrdiburr
oder die Bienen‘; „Die Nebelfheuche von Marimus Ca⸗
InB, Oberlehrer zu Drumtenheim. Erfte Heliade“; A. Lin⸗
„Die Welf, Abenteuer und Fahrten eines Welfen⸗
long
Ganz oder theilmeife mit Bers und Reim ausgeſtattet
find folgende Humoreslen: 9. Scheblih: „rau Venus
und unfere Gelehrten”; W. Hod: „Prinz Earneval. Pa-
rodiftifche Burleske“; A. Ehrhardt: „Si H 4 ober die Ent-
dedung Hinter der Sanblapelle. Neueſte typifch- chemijche
Schickſalskomödie mit Geſang“; „Simfon oder Xeben, Thaten
und Ende eines altteftamentarischen Burſchen“; J. Stetten:
heim: „Die berliner Wespen im Aquarium“; E. von Wilden-
brudh: „Die PHilologen am Parnaß oder die Viviſectoren“.
Was die Ueberfegungsliteratur betrifft, jo haben
wir diesmal mehrere Aneignungen aus bem fernen Orient
zu regiftriren, zumächft die deutfche Säcularausgabe eines
hinefiichen Familienromans: „Haoh Kidh, Zieh und Pin-
fing’‘, dann die Ueberjegung und Erläuterung der „Bha⸗
gavad -Gita” von %. Lorinfer, die Epifode aus dem
Mahabhaͤrata „Amba“ von ©. 9. F. Neffelmann, und
die Ueberfegung von Taͤranaͤtha's „Geſchichte des Buddhis⸗
mus in Indien“, aus dem Tibetanifchen von A. Schiefner.
Die Ueberfegungen aus den Dichtungen des claffiichen Alter-
thums find diesmal nicht zahlreich. M. Zille hat Virgil's
„Aeneide” im Nibelungenversmaß überfebt; 3.9. Delagrife
die Dichtungen Catull's in rein deutſchem Gemwande;
T. Kod „Die Bhönifien” und den „Cyklopen“ des Euri-
pides. Bon mittelafterlichen Poeten ift nur Dante und
zwar die zwei erften Gefänge feiner „Hölle“ von %. Note
ter wieder überfegt und befprochen, während 9. von
Loeper „Hymnen bes Mittelalters”, frei nach dem Latei-
niſchen, überſetzt. Den Inhalt der reichhaltigen hildburg⸗
hauſener „Bibliothek ausländiſcher Clafſiker““, deren Ueber⸗
ſetzungen wir im Laufe bes Jahres mit Aufmerkſamleit
folgten, können wir hier nicht noch einmal angeben; fie
bildet jedenfalls jest den Mittelpunkt der deutjchen Be⸗
ftirebungen, den Geift fremder Literaturen ſich anzueignen;
wir Können bier nur auf einzelnes Neue von befonderm In⸗
tereffe, wie auf die Rapp'ſche Ueberfegumg fpanifcher Dra-
men, namentlich der Stüde des Lope be Bega binweifen.
Bon der J. J. C. Donner’fchen Meberfegung der „Lu⸗
fiaden‘ von Camoens ift die dritte Auflage erfchienen.
Die „Stmmtlihen Idyllen“ von Camoens find zum erften
male verdeutfcht von C. Schlüter und W. Stord.
Die Ueberfegung von W. Shaffpeare’s „Dranatifchen
Werken‘, welche Bodenftebt herausgibt, ift im Laufe des
Jahres ruſtig fortgeſchritten, bis zum dreiundzwanzigſten
Bändchen, und ſoll im Jahre 1870 vollendet werden.
Shakſpeare's „Hamlet“ erſcheint in engliſchem Text und
deutſcher Meberfegung von Mar Moltke. Shalfpeare’s
„Sonette“, welche zu überjegen jest Mode geworden
Hg werden gleichzeitig von Freiherrn von riefen und
B. Tſchiſchwitz übertragen.
Die engliſchen Lyriler werden von unſern poetiſchen
Ueberſetzern ſtets in erſter Linie bevorzugt. A. Tennyſon
—— an. — mu...
— — —
— u
Revue des Literaturjahres 1869,
erſcheint auch in Deutſchland als der Modepoet, als der
fajhionable Repräſentant der engliſchen Muſen. Wie oft
iſt ſein „Enoch Arden“ überſetzt worden! Neue Ueber—⸗
ſetzer deſſelben ſind F. W. Weber und H. A. Feldmann,
der auch Tennyſon's „Ausgewählte Dichtungen“ übertragen
hat. „Jung Harald's Pilgerfahrt“, von Byron, hat in
F. Schmidt abermals einen Ueberſetzer gefunden. Auch
einige engliſche Dichter des vorigen Jahrhunderts werben
dem Intereſſe der deutſchen Lefewelt durch Ueberſetzung
näher gerüdt, fo Oliver Goldfmith, deflen „Wanderer
und „Das verlafiene Dorf” Agnes von Bohlen, und
W. Comper, deſſen ausgewählte Dichtungen W. Borel
überfegt bat. Bon Karl Elze's „Englifchen Liederſchatz
aus britifchen und amerilanifchen Dichtern” liegt die
fünfte vermehrte und verbefierte Auflage vor. Die „Lie
der und Balladen” von Robert Burns hat U. Laun über-
fegt, der aud) Beranger’8 „Lieber und Chanſons“ über⸗
trug, während von Böttger's Milton» Weberfegung die
dritte Auflage vorliegt.
Auch der italienischen Literatur wendet ſich erhöhte
Theilnahme zu. Leopardi's Dichtungen find außer von
R. Hamerling auch von ©. Brandes überfegt worden.
8. Stehres Hat zwei Novellen Silvio Pellico's nebft
Thomas Morus, €. Poeger das Drama P. Giacometti's
„Der Millionär und der Sünftler‘, und Marr das
Drama: „König Nal” nad) Angelo De-Bubernatis überſetzt.
Auch der alte holländische Dramatiker 3. van den Vondel
iſt neuerdings auf dem Repertoire unferer Ueberſetzungs⸗
literatur beimifch geworden. Sein „Rucifer” ift durch ©.
9. de Wilde, fein Trauerjpiel „Jephtha“ von %. Grim⸗
melt übertragen worben. Außerdem notiren wir die An⸗
eignungen littauifcher Dichtungen von C. Donalitius und
der „Eſtniſchen Märchen” Kreutzwald's von F. Löwe.
Daß die Romane der meiſten neuern Nationen ſowie
andere Unterhaltungsſchriften bei uns eingebürgert wer⸗
den, und zwar mit einer geſchäftsmäßigen Pünktlichkeit,
bedarf faum der Erwähnung. Auch dies Jahr brachte
uns Romane von M. E. Braddon, Annie Thomas, F. W.
KRobinfon, W. H. Yinsworth, H. S. Edwards, 3. Payn,
D. Jerrold, Laby Fullerton, ©. Ruffini, Miß Donge,
Senfationsnovellen von Harwood u. a. aus dem Englifchen;
Ueberfegungen des neuen franzöfifchen Romans von Bictor
Hugo „Der lachende Mann”, mehrerer Romane von Paul
Feval, Urban Dlivier, Saint⸗Georges aus dem Franzöfl-
ſchen, der Erzählungen des geiftreichen Turgenjew und 4.
Pifemsfi aus dem Ruſſiſchen, eines Romans von 9. J.
Schimmel aus dem Holländifchen, der Romane von Marie
Sophie Schwarg und H. Biurften aus dem Schwedi⸗
Shen; außerdem die Uebertragungen wifjenfchaftlicher, auch
politiſcher und philofophifcher Schriften aus dem Tran»
zöfifchen und Englifhen, von denen wir die Ueberfegung
von Yohn Stuart Mil’ Werken und feiner Schrift über
„ te Hörigleit der Frau”, die neuen Werke von Carlyle,
I al Martin, E. Tenot, E. Talbot, M. Chevalier u. a.
6 vorheben. Befondere Erwähnung verdient der „Pau⸗
I?" von Erneft Renan.
Die Titeraturgefhichte erfreut ſich in Deutich-
L 0 ſtets bderfelben eifrigen Pflege. Wenn Anaſtafius
€ ün fingt, daß mit dem legten Menfchen der legte
23
Dichter fortziefen wird, fo kann man diefen Ausſpruch
wol dahin parodiren, daß wit dem leiten Deutfchen ber
legte Literarhiftoriler verfchwinden werde. Denn oft ge-
winnt e8 den Anfchein, als ob in Deutfchland die Poeſie
nur vorhanden wäre, um der Literaturgefchichte dem
nötigen Stoff zuzuführen, und unter den hundert Deut-
jhen, welche den Namen eines Dichters umd bie Titel
feiner Werke kennen, findet fi immer nur einer, der
diefe Werke felbft gelefen hat. Dichterruhm wird in der
Regel nur durch die Literaturgefchichte vermittelt und aus
eriter Hand nur wenig Glüdlichen zutheil.
In einer dritten neu bearbeiteten und ſtark vermehrten
Auflage erjcheint Johannes Scherr’8 „Allgemeine Ge
Ihichte der Literatur“, ein Handbuch in zwei Bänden,
jedenfalls ein fehr verdienftliches Werk, welches in präg«
nonter Yaflung und doch nicht blos chronilartig, fondern
au charakterificend in feharf umrifjenen Borträts eine
Dichtergalerie aller Zeiten bringt, ohne die nationalen
und culturgefchichtlihen Bedingungen ber Entwidelung
der Poefie und den Gang diefer Entwidelung felbft un.
beachtet zu laſſen. Bon Hermann Hettner’s trefflicher
„Literaturgefchichte des achtzehnten Jahrhunderts“ ift vom
dritten Buch des dritten Theils, die erfte Abtheilung erfchie-
nen, welche eine Schilderung ber Sturm« und Drangperiode
enthält. Der vierte Band von Heinrich Kurz’ „Geſchichte
der deutfchen Literatur“ ift im Laufe des Jahres bedeutend
fortgefchritten; die neuern Lieferungen enthalten eine Dars
ftelung unſerer epifchen Didyter mit der gewohnten Un⸗
parteifichleit und Gediegenheit des Urtheils. Kine „Ges
ſchichte der deutſchen Nationalliteratur” gibt H. Kluge und
aud) eine Danıe, Clotilde von der Horft, heraus, die lei⸗
der in Bilmar’s Fußftapfen tritt; F. Kramer veröffent
licht eine „Chronologifche Ueberficht der deutfchen Literatur.
geſchichte“, P. Frank „Grundzüge der franzöflfchen Lite»
raturgeſchichte“. Bon Joſeph Bayer’s Titerarhiftorifchen
Borträgen „Bon Gottfched bis Schiller” Liegt eine zweite
vermehrte Auflage vor.
Das bedeutende, nur allzu umfangreiche Werk von
L. Klein: „Geſchichte des Dramas“, hat die Gefchichte des
italienifhen Dramas mit dem vor kurzem erfchienenen
vierten Band beendigt und damit eine werthvolle Special«
geſchichte geliefert, wenn fie aud den Rahmen der Unis
verfalgefchichte des Dramas zu fprengen droht oder zum
uindeften ins Unabfehbare erweitert. Auch I. I. Honege
ger’s „Orundfteine einer allgemeinen Culturgeſchichte der
neueften Zeit”, deren zweiter Band bie Zeit der Reſtau⸗
ration darftellt, verdienen an dieſer Stelle erwähnt zu
werden, da ber literarhiftorifche Theil des verbienftlichen
Werks den culturgefchichtlichen überwiegt.
Bon der im Broddaus’fchen Verlag in vier Serien er-
jcheinenden Bibliothel der gefammten dentfchen National-
literatur bringen die „Deutfchen Claſſiker des Mittelalters“
in ihrem 7. und 8. Bande „Gottfried von Straßburg's
Zriftan”, herausgegeben von Bechftein; die „Deutjchen
Dichter des 17. Jahrhunderts“, herausgegeben von Karl
Goedeke und J. Tittmann, den 2. und 3. Band, Paul
Fleming's Gedichte und Friedrih von Logau's Sinn-
gedichte; während die „Bibliothek der deutfchen National-
literatur des 18. und 19. Jahrhunderts” Bereits bie
zum 27. Bande gebiehen if. Außerdem erwähnen wir
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94 Revue des Yiteraturjahres 1869.
- die „Sermaniftiiche Hanbbibliothel”, heransgegeben von
9. Zacher, deren erfter Band Walther von der Bogelweide
enthält, und die „Bibliothek der ülteften deutfchen Literatur-
dentmäler”. Eine „Geſchichte des deutſchen Liedes” ver⸗
öffentliht E. Schure, eine Monographie über Hroswitha
Rudolf Köpfe.
Zahlreich find überhaupt die Schriften, welche über ein⸗
zelne Dichter und Dichtwerke älterer und neuer Zeit ge
fhrieben find. Eine Erläuterung des Hohenliedes nad) fei-
nem gefchichtlichen und landſchaftlichen Hintergrunde gibt 2.
Noad in feiner Schrift: „Zharragah und Sunamith.”
„Homeriſche Unterfndungen“ veröffentlicht La Roche,
während U. Zingerle „Dvidius und fein Berhältniß zu
den Borgängern und gleichzeitigen römifchen Dichtern“
und &. Hannak „Appianus und feine Quellen” erörtert.
Die Dante-Literatur darf das Jahr 1869 gleichfalls nicht
zu den verlorenen zählen. Richt nur ift ein nemer, der
zweite Jahrgang des Dante⸗Jahrbuchs erfchienen, auch
Karl Bitte hat „Dante - Forfchungen‘ herausgegeben,
I. Petzholdt den „Berfud einer Dante-Bihliographie von
1865 an“, fowie einen befondern Nachtrag dazu, H. K. H.
Deiff eine Studie zur Gefchichte der Philoſophie und zur
Bhilofophie der Geſchichte: „Dante Alighieri”, und J.
4. Scartazzini eine Biographie: „Dante Alighieri, feine
Zeit, fein Leben umd feine Werle.“
Shaffpeare geht in einem deutfchen Literaturjahr fo
wenig leer ans wie Dante. Zunächſt forgt dafiir das
„Jahrbuch der deutſchen Shakſpeare⸗Geſellſchaft“, defien
von Karl Elze herausgegebener vierter Jahrgang einzelne
tüchtige Anffäge enthält, aber auch das Ueberwuchern ber
philologiſchen Kritik nicht verlengnet. Freiherr H. von
Frieſen hat das Buch: „Shakſpeare“ von Gervinus, das
der Kritik fo viele Blößen bietet, vom frommen Stand⸗
punkte aus fritifirt, ein Standpunlt, dem gegenüber
Gervinus fein gutes Recht behauptet. Zu Gunften
Moliere'8 und gegen Shaffpeare als Luftfpieldichter plaidirt
mit unabhängiger Kritif Karl Humbert: „Moliere, Shak⸗
fpeare und die deutſche Kritik“. Julie Freymann hat
eine Kritik der Schiller⸗, Shakſpeare⸗ und Goethe'ſchen
Franencharaktere“, H. T. Rötſcher eine „Entwickelung
dramatiſcher Charaktere ans Leſſing's, Schiller's und
Goethe's Werken“ herausgegeben; Adolf Laun „Dichter⸗
charaltere“; E. Laur eine (ıtecarhiftorifche Skizze: „Mal-
berbe’, während 3. Caro eine Studie über Nathan den
Weiſen: „Leſſing und Swift“, und W. Molitor eine Schrift
„Weber Goethe's Fauſt“ publicirt hat. Bon A. F. C. Bılmar
erfchienen mehrere nachgelaffene Schriften: eine Studie „Ueber
Goethe's Taffo“, „Lebensbilder deutſcher Dichter, heraus⸗
gegeben von K. W. Piderit“, außerdem eine Schrift über
„Luther, Melanchthon, Zwingli, nebſt einem Anhang: das
evangeliſche Kirchenlied“. Kirchenlied und Kirchengeſang
haben überhaupt in neuer Zeit eingehende literarhiſtoriſche
und äſthetiſche Beachtung gefunden. Außer der um⸗
fafienden „Geſchichte des deutfchen Kirchenliedes und
Kirchengeſangs“ von Eduard Emil Koch, die bereits in
dritter Auflage erfcheint, und der Schrift von Schletterer
erwähnen wir noch K. Kalcher's Schrift: „Das Kirchenlied
nad) feiner naturgemäßen Behandlung theoretiih und
pratuſqh dargeſtellt“.
In Betreff unſerer Claſſiker heben wir hervor das
rüſtige Fortſchreiten der kritiſchen Schiller⸗ Ausgaben von
Karl Goedeke und Heinrich Kurz, ſowie die Schrift
A. Boden's: „Bertheidigung deutſcher Clafſiker gegen
nenere Angriffe.” C. A. H. Burkhardt veröffentlicht „Goes
the’8 Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Mül⸗
ler”, 3. 2. Kriegk eine Monographie über die Brüder Sen-
fenberg nebft einem Anhang über Goethe's Yugendzeit. Auch
werden Schiller's und Goethe's Briefe mit gefchichtlicher
Einleitung heransgegeben.
Bon neuern m Yartfehen Dichtern ift Emanuel Seibel
der Gegenftand einer eingehenden und liebevollen biogre-
pbifch-kritifchen Behandlung von feiten Karl Goedeke's
geworden; bisjegt Liegt der erfte Band biefer Biographie
vor. ©. "Kühner bat ein Werk über Rüdert „Didıter,
Patriarch und Ritter“ erfcheinen laſſen; E. Paulns über
„LZubwig Uhland. und feine Heimat Tübingen”; Mar
King Literaturbilder „Lorber und Enprefie”. Außerdem
wird „Robert Hamerling‘‘, feine Dichtungen und deren Be-
urtheilung in einer felbftändigen Heinen Schrift befprochen.
G. R. Röpe ſchreibt über „Die moderne Ribelumgen-
dichtung mit befonderer Rüdficht auf Geibel, Hebbel und
Jordan.” Friedrich von Raumer's „Literarifher Nach⸗
laß‘ enthält mandjen interefianten Beitrag zur neuern deut.
ſchen Literatur. Friedrich W. Ebeling ließ eine „Bio⸗
graphie von Wilhelm Ludwig Welhrlin‘‘ erfcheinen. In
Bezug auf bie ältere Literalur erwähnen wir Ludwig lih-
land's „Schriften zur Gejchichte ber Dichtung und Sage”,
ein frifd) anregende Werk, von welchen ber vierte und
fiebente Band im Laufe des Jahres erfchienen find.
Zahlreich find die ſprachwiſſenſchaftlichen Scrif-
ten, von denen wir bier die folgenden erwähnen: 2. Geiger:
„Der Urfprung der Sprache“; H. B. Rumpelt: „Das natür-
liche Syftem der Sprachlaute“; 2. Meyer: „Die gothifche
Sprache“; 8. ©. Andrefen: „Ueber die Sprache Sacob
Srimm’s"; R. Hildebrandt: „Ueber Grimm's Wörterbud
in feiner wiffenfchaftlichen und nationalen Bedeutung“;
R. Weſtphal: De ophiſchibineriſch. Grammatik der
deutſchen Sprache“; F. Schelle: „Ueber den Begriff
Tochterſprache“; K. Nerger: „Orammatik des mecklenbur⸗
giſchen Dialetts älterer und neuerer Zeit”; X. Tobler:
Alte Dialektproben der deutſchen Schweiz".
Die Philofophie entwidelt, trog ber Ungunft der
Zeiten, eine bedeutende Re famteit. Im ganzen wiegt die
Keligionsphilojophie, die Piychologie und die Gefchichte
ber Philojophie vor. Die Vorliebe fr die legtere liegt
im Charafter der Epoche, die troß einzelner vrigineller
Denfer einen epigonenhaften Zug nicht verleugnet,
mentlich aber in allem bie hiſtoriſche Grundlage iebt,
Der Bhilofophie felbft mag man ihre ind Blaue hinaus:
gebauten Gedanfenconftructionen zum Vorwurf machen;
die Geſchichte der Philoſophie ift eine hiftorifche Biffen-
haft, indem bie einzelnen Syſteme Thatſachen der ge=
ſchichtlichen Erfahrung find, mögen viele der moder⸗
nen Materialiften biefelbe auch nur von dem gleichen
Geſichtspunkte auffaſſen wie eine Geſchichte der Geiftes-
krankheiten.
Ein ſelbſtändiges philoſophiſches Werk von geiſtiger
Bedeutung und Tragweite iſt E. von Hartmann's „Phi—
loſophie des Unbewußten“, in welcher Bauſteine aus
m
Revue des Riteraturjahres 1869. 25
Schopenhauer, Hegel und Schelling zu einer kühn aufe
frebenden, mit geiftreichen Arabesken gezierten Architektonik
verwandt find. Intereſſant find aud die mehr aphori»
füchen Schriften I. Frauenſtädt's: „Blide in die intellec-
tuelle, phnfifche und moralifche Welt“, und I. H. Fichte's
„Vermifchte Schriften zur Philofophie, Theologie und
Ethit. Philofophifche Orundlegungen verfuchten C. ©.
Baradı: „Die Wiffenfhaft als Freiheitsthat“ und H. K.
H. Delff: „Grundlehren der philofophifchen Wiſſenſchaft“.
Schr thätig im Herausgabe von Grundriſſen einzelner
philoſophiſcher Willenfchaften zeigt ſich F. A. von Hartjen:
„Srundlegung von Wefthetif, Moral und Erziehung”,
„Unterfuhungen ber Pfychologie”, „Unterfuhungen über
Logi“ und „Grundzüge der Wiflenfchaft des Glücks“.
Bon Heinern philofophifhen Schriften erwähnen wir:
M. Droßbach: „Ueber Erkenntniß“; A. Spir: „Forſchung
nach der Gewißheit in der Erkenntniß der Wirklichkeit‘,
und „Kurze Darftelung der Grundzüge einer philofophi-
fhen Anfhauungeweife”; F. Chlebit: „Dialektifche Briefe” ;
M.Perty: „Die Natur im Lichte philoſophiſcher Anſchauung“;
C. Fortlage: „Sechs philofophifche Vorträge“; €. Hebler:
„hiloſophiſche Auffäge”; I. Bahnen: „Zum Berhält-
zig zwiſchen Wille und Motiv“; K. Plant: „Grund-
zige der organischen Naturanficht”; W. Kaulich: „Hand-
buch; der Logik”, und im zweiter Auflage: „Ueber bie
Möglikeit, das Ziel und die Grenzen des Wiſſens“;
G. Recht: „Die Entwidelung der Weltgeſetze“; O. Liebmann:
„Ueber den objectiven Anblick“.
Auf dem Gebiete der Pſychologie ſteht im Vorder⸗
grunde das von R. Seydel herausgegebene nachgelaſſene Wert
€ 9. Weiße's: „VPſychologie und Unſterblichkeitslehre
möft Borfefungen über den Materialismus“. Dann
wir, außer der oben erwähnten Schrift von
m, an: ©. Gtruve: „Das Geelenleben oder
* Nakungefchichte des Menfchen”; D. Caspari: „die pſycho⸗
ponfiche Besegung in Nüdfiht der Natur ihres Sub-
| rat"; U-Mayer: „Die Sinnestäufehungen, Hallucinationen
und lnfionen”; M. Perty: „Blide in das verborgene
Leben des Menſchengeiſtes“, welchen Iegtern Schriften ſich
das von G. C. Wittig überfegte Werk des amerilaniſchen
Spiritiften A. I. Davis: „Die Principien in der Natur,
ihre göttlichen Offenbarungen und eine Stimme an die
Menſchheit“, anreiht.
Religionsphiloſophiſche Schriften find: O Pfleiderer:
„Die Religion, ihr Wefen und ihre Gedichte; M. Wolff:
Betrachtungen zur Religion und Ethif der Gegenwart”;
8. Paul: „Kaut's Lehre vom idealen Chriſtus““; C. Grün-
: „Das Chriftentfum als Cultus in feinem geſchicht ·
lichen Berlauf“; 9. Schmiehl: „Studien über jüdiſche,
insbejondere jitdifch-arabifche NReligionsphilofopie"; D.
Flügel: „Das Wunder und die Erfennbarkeit Gottes“;
Melchior Mey: „Die Fortdauer nad) dem Tode”; „Die
5 Religionsphilojophie, als eine Wiſſenſchaft für jeden, ift reif
für eine Umgeftaltung“; „Moralismus oder &mancipation des
Ge’ftes"; I. Frohfhammer: „Das Recht der eigenen Ueber-
" zeuzung‘‘; 8. W. Kunis: „Vernunft und Offenbarung”;
B Gaf: „Die Lehre vom Gewiſſen“.
Die Gejchichte der Philoſophie iſt ſowol im allgemeinen,
wie in zahlreichen Monographien behandelt worden. Einen
) „Ügweifer in bie Geſchichte der Philoſophie“ Hat R. Benfey,
170, —
eine allgemeine „Kritische Geſchichte der Philoſophie in ihren
Anfängen bis zur Gegenwart" E. Dühring herausgegeben.
Bon dem trefflichen Werke Kuno Fiſcher's: „Geſchichte
der neuern Philoſophie“, Tiegt der fünfte Band vor,
welcher „Fichte und feine Vorgänger” behandelt. Der zweite
Theil von ©. Teihmüler’s „Ariftotelifen Forfehungen”
befpricht „Ariftoteles’ Philofophie der Kunft“. Wir er-
wähnen noch von geſchichtsphiloſophiſchen Monographien:
I. Steger: „Platoniſche Studien“, erfter Theil; B. Zitn-
mermann: „Die Unfterblichteit der Seele in Plato’8 Phädo“;
W. Menzel: „Die vorhriftlice Unfterbligteitslehre; €.
€. Luthardt: „Die Ethik des Ariftoteles in ihrem Untere
ſchied von der Moral bes Chriftentgums, erfter Band:
die Güterlehre“; E. Buchholz: „Die fittliche Weltanfchauung
des Pindaros und Aefchylos“; A. Pichler: „Die Theologie
des Leibniz"; I. Durdit: „Leibniz und Newton“; 2. Grote:
„Leibniz und feine Zeit“; R. Zoepprig: „Briefe aus Ja«
cobi’8 Nadlaß"; &. Biedermann: „Kant’8 Kritit der reie
nen Vernunft und die Hegel'ſche Logik im ihrer Be—
deutung für die Begriffswiſſenſchaft“; A. Trendelenburg:
„Kuno Fiſcher und fein Kant“; 3. B. Meyer: „Kant’s
Pſychologie —X und erörtert”.
Ein durch Geift und Stil hervorragendes Hauptwerk
auf diefem Gebiet iſt die Schrift von Karl Rofenkranz:
„Hegel als Säcularphiloſoph“. Cine Eoncordanz neuer
Philoſophen verfuchten E. von Hartmann: „Schelling’s
pofitive Philofophie als Einheit von Hegel und Gchopen-
bauer“, und E. F. Wynden: „Das Naturgefeg der Seele,
ober Herbart und Schopenhauer, eine Synthefe”.
Neue äfthetifhe Schriften von allgemeiner durch-
greifender Bedeutung find nicht zu verzeichnen; wir er-
wähnen nur A. Horwicz: „Grundlinien eines Syſtems
der Aeſthetik“; Klacel: „Euchklopädiſche Erinnerungen an
Vorträge aus Logik, Aeſthetik, Literaturgeſchichte; O.
Buchwald: „Kleine Bauſteine. Aefthetifche Abhandlungen“.
NR. Gottſchall's: „Poetik, die Dichttunſt und ihre Technik“
liegt in zweiter weſentlich vermehrter und verbeſſerter
Auflage vor; ein von Karl Goedeke eingeführtes Wert
von H. Defterley führt den Titel: „Die Dichtkunft und
ihre Gattungen”. Nod erwähnen wir W. Jordan's
oratio pro domo: „Das Kunftgefeg Homer’s und die
Rhapfodit“.
Die muſikaliſche Literatur ift nad; wie vor fehr
probuctiv. Wenn unfere Literarhiftoriter Noten zum Tert
unferer poetiſchen Claffifer ſchreiben, fo ſchreiben die
Mufigelehrten Tert zu den Noten der mufilaliſchen.
Der verfehlten Schrift von ©. Gervinus: „Shaffpeare
und Händel”, folgt eine Monographie von L. Ramann:
Bad) und Händel”. Dem Andenten Meyerbeer’s find
zwei biographifche Charafteriftifen gewidmet: 2. Mendel:
„Giacomo Meperbeer“, und I. Schucht: „Meyerbeer's
Leben und Bildungsgang‘. Richard Wagner's Brofgiire
„Das Judenthum in der Mufil“ hat eine große Zahl von
Gegenfhriften hervorgerufen, die wir hier nicht alle einzeln
aufzählen wollen. Außerdem erwähnen wir des rühmlich
befannten I. €. Lobe „Confonanzen und Diffonanzen“,
und das Werk von E. Naumann: „Die Tonkunſt in ber
Culturgeſchichte“, von welchem die erfte Hälfte des erften
Bandes vorliegt. 9. M. Schletterer's obenerwähnte
„Geſchichte der geiftlichen Dichtung“ behandelt gleichzeitig
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26 Aus der neueſten dentſchen Romanliteratur.
die licchliche Tontunſt. Andere muſilalijche Schriften find:
Hermann Zopff: „Grundzüge einer Theorie der Oper“;
3.8. von Bafielewsli: „Die Bioline und ihre Meiſter“;
G. GSarlberg: „Ueber Sefang stunft und Kunfgeiang” ;
B. Kothe: „Friedrich der Große als Mufiter” ; lid:
„Seidichte. des Soncertwejens in Bien“; 5. * Fröhlich:
„Beiträge zur Geichichte der Muſil, erfter Band“; „Altes
und Neues aus dem Gebiete der Mufik, erſtes Heft“; 2.
Nohl: Richard Wagner“; 3W. Tappert:, ‚Das Berbot der
Oaintenparallelen“. “Der verdiente Theoretifer Dslar Paul
gibt ein „Banblerifon der Tonkunſt“ heraus, ſowie Her⸗
mann Mendel ein größeres „Mufilaliiches Converſations-
verilon”.
Auf dem Gebiete der bildeuden Kunſt find einige
beadhtenswerthe Erſcheinungen zn verzeichnen, wie E. För⸗
Re: —— der italienifchen Kunſt“, erfier Band;
Reuheriihe Studien”; W. Trautmann:
—— — Technik der entauftifchen Malerei“ ;
1 „Geſetz und Ziel der neuem
d- Trautmann: Kunſt und Sunitgewerbe vom früheften
Mittelalter bis Eude des 13. Jahrhunderte”; 8. C. Pland:
ng m Ber-
gleich mit der autilen“; G. Semper: „Ueber Bauftile“ und 9.
Semper: „Ueberfidht der Geſchichte tesfanijcher Sculptur bis
gegen das Ende des 14. Yahrhunderts“;, Humbert: „Das
Bild der Bilder. Vortrag über die Siptinijce Madonna‘;
A Springer: „Die mittelalterliche Kunſt m Palermo“;
J. R. Rahn: „Ravenna, eine kunſigejchichtliche Etabie";
3. Krenfer: „Bafilifa”; 9. Holgmaun: „Denkmäler ber
Religionsgeſchichte anf dem Gebiete der itafienifchen Kunſt“;
C. F. Some: „Flüchtige Blicke m Ratur und Kunſt“;
Grimm: „Das Reiterſtandbild des Theodorich zu
Aachen und des Gedicht des Walafried Strabus darauf”.
Wie wir fehen, verzettelt fich viele Fileruber zum Theil in
Specialitäten ohne
Badeif Geiifäel,
(Dex Beigizh feige in ber nädien Rammer.)
Aus der nenehen deutlichen Romanliteratur.
Der Roman ift immer uoch eine Macht in der Lite⸗
ratur; wohl oder übel, gern oder ungern gejehen, dieje®
Factum gan ; moberuen Stils laßt fi wicht beſtreiten.
Er beherricht heute noch, wenn auch nicht mit ber fieber-
haften Gewalt des franzöfiihen Romans der breiige
Jahre, die weiteflen Lejerkreife, indem er aud ba
Boden macht, wo firengere Leltüre nicht gefucht wird.
Und es iſt nicht anders als billig, daß er fein Feld be-
baue oder wenigftens durch die Ouantität der Production
eine änuferliche Bedeutung behaupte, ſelbſt wenn es ihm
durch die Qualitãt weniger gelingen jollte, Höheres zu
bieten. Dat ja doc) die Zeitſtrömung feiner breitfpurigern
Entwidelung das Erbe ber epijchen Poeſie zugeworfen,
die uns faft ganz abhanden geflommen! So ſehen wir
Jahr um Yahr eine Reife von Schriften diefer Gattung
in den verjchiedenften Nnancirungen, von der groß an⸗
gelegten Sompofition bis zur Novellette umd einfachen
Erzählung, vom Hiftorifchen Roman bis zum Yamilien-
Genrebildchen herab, geranewadilen, nicht minder verſchie⸗
den an Werth und Gehalt
Einige der neneflen follen hier kurz ffigzirt vorüber⸗
geführt werden.
1. Unter ber rothen Eminenz. Hiſtoriſcher Roman von Georg
HiltL Zwei Bände. Berlin, Hausjreund-Erpedition. 1869.
8. 2 Thlr. 10 Ner.
Der Gang des Romans iſt furz folgender: Der Kapitän
Francois de Yuflac dD’Ambleville, Herr von Saint-Prenil,
einer der außgezeichnetften Degen Franfreiche, wird und in der
Einleitung vorgeführt, Ball jpielend mit dem jungen Herzog
von Breze, dem Neffen der „rothen Eminenz“, die be
tanntlich niemand anders iſt als der allmädhtige Premier⸗
minifter Lubwig's XI, Cardinal Richelien; der Kapitän,
ebenfo Geftig, ſeiz und feibenfchaftlid, wie ſtart und tapfer,
demüthigt gefliſſentlich den übermüthigen Gegner; biejer
brütet Radge; vorläufig aber wird jener als Feſtungs⸗
gouverueur von Paris entfernt. In der Nacht vor der
Abreiſe befugt der Kapitän feine Geliebte Maria von
Hautenille, der im bderfelben Nacht bie Eminenz ihre
Aufwertung madjt, um die Dofdanıe zum verrätheriichen
Intrigniren gegen die belaunte Feindin, die Königin, zu
überreden, umter Drohungen, da der Gewaltige den Kopf
von Mariens in eine Berjchwörung verwidelten Bruder
in feinen Bänden habe. Der Kapitän, heimlich Zeuge
diefer Unterredung, übermwirft id hernach erbittert mit
feiner Dame. Wir werden daranf in das Hötel Rambonillet
bei den Yeinden des Cardinals eingeführt, dann im das
Semach der Marion de Porme, hernach in das geheime
Cabinet mit des Cardinals Spionen, unter demen jene
berügmte Buhlerin, endlih bei der Königin, die gegen
König und Miniſter Ränfe jpinnt. Zwei Dinge veihäf-
tigen fortwährend den Gewaltigen: die Berfolgung ber
Füden eines gegen ihn gerichteten Complots und bie
Aufjuhung der verlorenen Spuren einer geliebten natitr-
lichen Tochter Suſanne. Gaint-Premil flieht ihm überall
entgegen und reitet zunüchſt den Boten der Königin und
ihre Briefe gegen einen Ueberfall der Schergen des Car⸗
dinale. Das Complot auf Chateau d’Anet, dem Sitze
bes Herzogs von Bendöme, rüdt vor, und bejchloffen wird,
deu Sarmal bei der Rückfahrt and dem flandrifchen
Kriege zu morden. Zur That erbietet fi Boirier der
Einfiehler, ein alter Adelidher und einſtiger Rival des
Cardinals bei der ugendgeliebten, die diefem jenes Kind
fchenfte, hieranf um die geiftliche Würde von ihm ver-
lafjien ward umd flarb. Unterdeß bat Saint-PBreuil anf
feinen Gonverneurpoften durch Gewaltthaten, Exceſſe und
Ansgelafjengeit ſchwere Strafe verſchuldet und feinen
‚ den Minifteriellen, Anlaß geboten, ihn vor ein
Kriegsgericht zu flellen, rettet ſich aber nochmals durch
einen tollfühnen Act vor den Augen des Königs und wird
zu einem neuen Goupernement befördert. Das entdedte
Complot zerichlägt fi, die Kädelsführer aber, durch
denſelben Seint- Preuil gewarnt, flüchten fich, einzig
Poirier wird gefangen. Der Kapitän, von neuem in fein
tolles Leben verfinkend, begeht, theils durch die Luft, theils
durch eine tolle Wette geftachelt, den letzten Gewaltact:
er rambt die ſtill bei LYandleuten lebende Sufanne, bie
Aus der neueften deutſchen Romanliteratur. 27
Boirier allein als des Cardinals Tochter kennt, füllt bei
der Rückehr eine abziehende ſpaniſche Befagung mordend
on, da er pfli_htvergefien nichts von ihrem auf Ehrenwort
beiwilligten Abzuge weiß, und im Gemegel kommt Sufanne
um. Poirier macht dem Carbinal, feinem Tobfeinde, die
ausreichenden Eröffnungen über das Mädchen und wird
begnadigt, der Kapitän aber enthauptet, nachdem Maria
von Hanteville fich in fein Gefängnig geſchlichen und um ⸗
fonft ihn zur Rettung durch die geebnete Flucht Hat be—
wegen wollen; Maria geht ins Kioſter.
Das ift der nadte Rahmen. Er gibt eine Speifelarte,
reich genug für die zwei mäßigen Bände, zu benen ber
Tert verfponnen ift, um fo mehr, als verſchiedene Scenen
fih zu ſprechenden Bildern ausgemalt finden. Der wilde
Rapitän umd feine unglüdliche Geliebte find offenbar bie
Helden, und es find confequente Geftalten. Die in ihre
Intimität hineinbegleitete Eminenz ſcheint uns hiſtoriſch
richtig gezeichnet; nad) dem, was die Geſchichte über fie
berichtet, mögen wir fie uns gerabe fo denken in ihrer
Größe und ihren Schwädien und Schreden. Die Zeit
iſt eract gefaßt. Die Erzählung fpannt; doch hat der
Ton zu wenig Nuancirung, und das ewige Hof- und
Stastsintriguenfpiel, aus dem wir gar nie beranslommen,
denn es hält ja aud; die Stunden des Liebesſpiels und
des Schlachtlampfes umfponnen, ermüdet; es ift eine grane
Atmofphäre, in ber uns nie wohl werden kann; wir wiflen
bei jedem Schritte, daß «8 nicht gut enden wird, und in
jeder Ede grinft Berrath und Mord; davon hätten
mehr lichte Augenblide frei gemacht werben follen. Eine
Scene von tüdjtiger Zeihnung ift gleich die Intro
daction im parifer Ballſaale; doc will uns bie Bier
ansgelegte Schilderung des Herrn von Saint » Preuil
ger fehr an jene beliebte franzöfijche Manier des Por-
trätirens mahnen, die ihren Helden mit allen erbenfbaren
Borzägen ausräftet und fie an Fuß und Hand und jeder
Biegung des Kopfes vorbemonftrirt: da habt ir ihn!
& muß ſiegen, und ihr müßt ihn bewundern!
Lefen wir:
Der Eintretende konnte höchſtens 36 Jahre zählen, doch
war fein Antlitz ſchon gebräunt und hier und da mit Furchen
durchzogen. Die ſchlichte Haarfrifur bededte nur zum Theil
eine ungeheuer, auf der Stirn entlang laufende Narbe, ein Ber
weis, daß der Mann fi, nicht zurüdgehalten Hatte, wenn die
Degen gefrenzt wurden. Uebrigens war jein Gefiht ſonſt voll»
kommen fhön zu nennen. Die großen dunfeln Augen bfidten
mt einer Art von Melancholie um fi, alle Bewegungen des
Körpers zengten vom einer gewiſſen Energie, die ſich mit Grazie
parte, und unter dem dunfelm Barthaar blißten zwei Reihen
prahtvoller weißer Zähne hervor. Die Kleidung des Mannes
war dem Schnitte nad die der Eavaliere jener Zeit, indeffen
gawahrte man feinerlei Stiderei. Schwarzer Sammt mit Seide
aufgefhlagen, das maren die Stoffe und farben. Die im dem
jaale befindlid;en Eavaliere ſchienen durch den imponirenden
Eindrud, welden der Fremde hervorbrachte, offenbar betroffen.
Diejer grüßte höflich aber kurz, warf faR einen mitleidigen Btict
a die gepngte Dienerſchar, wobei ein leichtes Achſelzuden be-
m At werden fonnte, und trat in die Bahn...... Er hatte
fe Obertleid abgeworfen, und man gewahrte nun, daß das
fe e weiße Iinnene Hemd an der Bruft, den Yermeln und dem
H fe mit ben ſchwerſten und koſtbarſten brabanter Spigen be»
ie war, ein felbf für jene Zeit bedeutender Lugus. Der
$ mpe fchien diefen thenern Zoilettengegenftand fehr gering zu
x a, denn er fnitterte die Manſchetten zufammen nnd krämpte
ii dem Aermel feines Hemdes faft bis zu den Einbogen auf,
wobei man feiner mustuldfen Arme anfidhtig wurde; dann er-
griff er eine Raquette, verneigte ſich artig vor ben Cavalieren
und fagte: „Das Gpiel kann beginnen.‘ Gofort traten bie
Spieler an ihre Bläge; der Fremde fpielte gegen zwei. Die
Bälle fauften und brummten durch bie Luft. Jedes Ausweicen,
jedes Borfpringen ward von den Berfammelten eifrig beobachtet
und verfolgt. Die Spieler ließen e8 fi} angelegen fein, ihre
Kraft und Grozie in Schlägen, Stellungen und Spräugen zu
zeigen. Allein, wenn and) die jungen Cavaliere ihr Mögliche
thaten, um durd) Feuer und Lebendigkeit dem Gegner die Partie
abzugewinnen, diefer hatte dem bedeutenden Bortheil der Rue,
Seine Bewegungen, die nie das Maß überſchritten, waren ſtets
im rechten Augenblid angebradit; läcelnd fah er die Bälle
heranfommen, eine Heine — feines Kopfes genfigte, um
den ſchweren Ball vorbeigehen zu lafien, der fonft die Stirn
mit ungeheurer Wucht getroffen haben wärbe; er bog ſich vorn
umd hinten über, um mit der Raguette zu werfen, und wenn
jebermann ſchon glaubte, er habe den richtigen Doment verfehlt,
go traf er dennoch mit gewaltiger Kraft den Ball und ſchleuderte
ihn aus der Bahn.
Die Säge find zumeilen überladen und unſchön ger
baut, wie 3. B. der folgende:
Bon ben in Gilber gearbeiteten, mit Steinen befegten
BVehrgehängen wurden Lange fpanifche Ranfbegen gehalten, weldje
breite Handlörbe zur Dedung der Fauft, mit einem Gewirre
Töftlicher Filigranarbeit umgeben, zeigten.
Legen wir ben firengen Kunftmaßftab an, fo ſcheint uns
der Roman eine gejunde Arbeit über Mittelhöhe, die von
bereits geübter Feder Zeugniß gibt, aber Bebeutenderes
noch erwarten läßt.
2. Fran am Bene, göitorilher Roman von Syrmonn
einfeuber. Zwei Bände. Durr'ſche Buchand-
fung. 1869. 8. 2 Thlr. 15 Fre u
Wie neben dem Hiltl'ſchen Roman diefer zweite dazu
tommt, fih als Hiftorifher Roman zu geben, will
uns nicht in den Kopf. Was ift denn an biefen in
dem fomländif—en Küſtenſchloß Ahlbeck fih abfpinnenden
Familiengeſchichten, die allerdings ſtark in bie öffentlichen
Ereignifie verfiochten find und ganz aus ihnen heraus ⸗
wachſen, was ift trogdem daran viel Hiftorif—hes? Der
alte trogöpfige General von Schirbrandt mit feiner gan-
zen Familie bis herunter auf den in bie adeliche Tochter
verliebten Bürgersjohn David Neumann, der denn auch
durch wader patriotifches Thun und eine hochromantiſche
Rettung der Geliebten ihre Hand gewinnt, find doch ge
wiß feine geſchichtlichen Perfonen, und eine andere fin-
det fih aud nicht, die irgendwie wefentlich mitfpielte.
Ueberhaupt find die gefdichtlichen Beigaben fehr gering«
fügig. Um einen Hiftorifchen Roman aufzubauen, genügt
es doch wol nicht, daß er in einer hiftorifchen Zeit fpiele
— hier diejenige des Siebenjährigen Kriege umd zwar
fpeciell der Beſetzung Oſtpreußens durch die Ruflen —
und einzelne zerftrente Andeutungen über bie Zeitereigniffe
gebe. So viel über die immerhin unſichern Schranken
des Namens: Hiftorif—her Roman, den ſich viele Produc-
tionen beilegen, auf die er gar nicht paßt. Es würde
das im übrigen ber innern Wirkung ber vorliegenden,
zu zwei Meinen Bändchen ausgeſponnenen Schrift nicht
viel benehmen, Könnten wir uns nur dahin entfcheiden,
ihr fonft eine nennenswerthe Bedeutung beizulegen. Das
iſt nicht der Fall.
Kriegevorfälle, wie fie immer vorlommen, gefürdhtete
und wirflide Üeberfälle, das Durchſchleppen einer preußiſchen
4*
28 Aus der neneften deutſchen Romanliteratur.
Kaffe, welche die wunderlichſten Schickſale erlebt, die
Intriguen einiger abgebligten Liebhaber, von denen bieje-
nigen bes häßlihen Herrn von Chambean bis zum Ber-
raih gegen das Land und die Herzensdame gehen, eine
romantische Entflhrungsgefchichte und die nicht minder
romantifche Rettung, endlich nach überftandenen Gefahren
und überwundenen Borurtheilen das Wiederfinden aller,
die zufammengehören: das find die durchlaufenen Stadien
ber Geſchichte. Am Ende werden alle Guten belohnt,
die Boſen beftraft, die obligate glüdliche Heirath (bier
eine Doppelheirath) öffnet da8 Paradies und — die
Gedichte iſt aus.
Man kann ſich der Wahrnehmung unmöglich ver⸗
ſchließen, daß Kleinſtenber hier auf ſtark ausgetretenen
Wegen geht; die Dinge ſind alle ſchon hundertfach da⸗
geweſen, und beſſer. Dieſes durchgehende Gefühl iſt ge⸗
wiß ein Hauptgrund, weshalb wir uns für alle dieſe
Perfonen nicht erwärmen, ja nicht recht intereffiren kön⸗
nen, nicht einmal für die fchöne und energifche Baronin,
welcher der Romanlefer doch ſchon dafür dankbar fein
follte, daß fie durch ihren feinen Humor etwas Wechſel
in die fonft einfürmige Färbung des Tons bringt. Da
wollen die Geftalten der beiden Felgner, des boshaft
egoiftifchen alten Bauern und bes jungen Inſpectors,
eines noch böjern Speculanten, und ganz befonders ihres
dummpfiffigen Knechts Seifert uns bei weitem befier be-
bagen; im letztern iſt wenigftens ein Anflug von draſti⸗
ſcher Zeichnung verſucht:
Ein tragiſcher Uebelſtand verurſachte dem ſtrebſamen Bauern-
Tartufe vielen Kummer. Die Mutter Natur hatte ihn näm⸗
lich ziemlich ſtiefmütterlich ausgeftattet; Geſundheit und eine
robuſte, aber plumpe Geſtalt — das war alles, deſſen er ſich
in diefer Beziehung rühmen konnte. Yrüher zwar hatte ihn
dies wenig angefochten; jet aber, wo er zunähft im Schloß
Ahlbeck eine Earritre machen wollte, mußte er fi) zu feinem
größten Leidweſen geftehen, daß fein Weußeres wenig zu der
Nolle paßte, die er in nüchſter Zeit zu fpielen wünſchtel Mit
Neid jah er auf die hübſchen fchuurrbärtigen und gemanbdten
Kuticher, die zuweilen einen Gaft nach dem Schloffe brachten.
Defto mehr aber fndhte er’s ihnen abzulernen, „wie fie fi
räusperten, wie fie ſpuckten“. Fritz Seifert’s Gefiht mar
nämlich der reinfte Gegenja zum griechiſchen Typus; er beſaß
geradezu gar kein Profil, und man hätte glauben können, daß
fi) Stina, feine Mutter, einmal aus Berjehen auf das Geficht
bes Sünalinge geſetzt Habe. Seine breiten Füße, welche die
Form eines Bügeleifens hatten, Tiefen an der Spige mulden-
förmig in die Höhe, was allen feinen Bewegungen etwas Un⸗
geichihtes und Linkiſches gab. Die niedrige, rückwärts gebogene
tirn, umgeben von firuppig ſchwarzem Haar, das platte Ge⸗
fit mit den aufgeworfenen Zippen verriethen einen hohen Grad
geiftiger Beſchränktheit, während die grünlich ſchimmernden, chief
geihligten Mugen jene Verſchmitztheit befundeten, die man nicht
felten bei bornirten Menfchen findet.
In Summa reicht diefes „Schloß am Meer‘ nicht über
die Bedeutung einer Studie hinaus.
Neben diefen liegen zwei Werfe vor, die man ins Gebiet
der Yamilienromane verweifen kann, oder noch befier, ber
erfte und größere von ihnen:
3. Ein häßliches Mädchen. Roman von T. ©. Braun.
Drei Bünde, Leipzig, Grunow. 1869. 8. 4 Thlr.
ft ganz eigentlich ein Seelenroman, nicht mehr und nicht
weniger, da neben- und ineinander zwei Seelengeſchichten
abgewidelt werden. Der äußere Inhalt ift fir den Um-
fang gar nicht reich und im folgenden kurzen Strichen
gegeben. Ada Brandt, Tochter eines reichen Kaufmanns,
nicht ſchön, aber ein befonders reiches Geiftesleben in fich
tragend, wurde von ihrer Großmutter ländlich einfach
erzogen. Nach deren Tode im ftolzen Haus ihres Vaters
lernt fie einen verſchuldeten adelichen Offizier kennen, der
ihre Hand ſucht; in gläubiger Xiebe neigt fie fi ihm zu,
erfährt aber bei zeiten, daß er ein Elenber ift, der nur
ihr Geld will. Gegen das Leben in der Gefellfchaft ver»
bittert und vom Vater nicht verftanden, verläßt fie heim-
Ih das Vaterhaus und tritt anberwärts als Dienerin
und Erzieherin in ein einfames Forfthaus, defien guter
Geift fie wird, und hier verftreichen Jahre ihres fegnen-
den Wirkens. Eines Tags kommt Affeffor Raben ins
Haus und tritt im lebhafte geiftige Gemeinſchaft mit der
geheimnißvollen Unbelannten. In einem unbewachten
Augenblide nimmt er Gretchen, die reizende aber leicht
geartete Wörfterdtochter, zur Frau, die er nad) feinem
Geiſt erziehen zu können meint. Das geht bei biefer
Natur nicht ; bo ift die Probe kurz, denn bald
flirbt die junge Frau infolge von Erkältung auf einem
Balle. Da erkennt der ernfte und geiftig tiefe Mann erft,
was ihm paßt; er wird fih nad und nad bewußt, daß
feine Freundfchaft für die feinfühlige und nicht minder
tief gebildete Ada eigentlich Liebe war, ober doch unbe»
wußt zu folcher wurde; er bietet ihr feine Hand, und fie,
deren Seele im geheimen ſchon Lange ihm gehörte, die
für ihn forgte und bangte, bringt ihm mit ihrer Hand
die Reihthüümer zu, deren Eigenthümerin fie geworden.
Damit ift das Lebensfchidjal erfüllt, an dem ihre Seele
fhon von ihrem Keimen an hing: eine nur um ihrer felbft
willen erworbene, reine und hohe Liebe.
Unterdeß hat ſich ein zweites®efchid erfüllt: Ada's Vater,
ein glüdliher Speculant, deſſen erfte unglüdliche Gattin,
deren Ebenbild die einzige Tochter ift, auf geheimnißvolle
Weife geftorben, faßt eine heftige Leidenſchaft fiir Lydia, eine
düftere und folge Schönheit, die, von geheimem Leibe ver-
zehrt, ihm endlich die Hand gibt, aber offen das Herz
verfagt. Diefes gehört in ber Stille dem wahnfinnig in
fie verliebten verheiratheten Grafen Camillo, vor deſſen
Liebe und dem eigenen Stürmen der Gefühle fie ſich doch
flühten will. Die Gattin des letztern ftirbt. Brandt,
deſſen Talte Gemahlin ftreng aber unerwärmt ihre Pflicht
thut, wird allmählich gegen fie furchtbar tyrannijch, bis
fie fein Haus verläßt und fern und verborgen auf Ada’s
Landgütchen in den letzten Lebensjahren des kranken Ca⸗
millo pflegt. Brandt iſt wahnfinnig geworden, und nach⸗
dem feine Tochter ihn eine Zeit lang gepflegt, muß er ins
Irrenhaus gebracht werden, wo fein Zuftand in ruhigen
Zieffinn übergeht; das Alter verlebt er im Kreife der neu
gewonnenen Yamilie feiner Tochter.
Zwei Dinge werden beim erften Blick auf biefe pfy=
chiſchen Entfaltungen Mar: erftlich, daß der Roman fozu-
jagen feinen ganzen Inhalt aus feelifchen Erlebniffen und
Herzenswandlungen ziehen muß, und zweitens, daß er
fih durchaus auf ibenliftifchen Boden ftellt, was bei einenz
Inhalte diefer Art befonders nahe liegt. Aus dem er=-
ften Umftande folgt, daß der Verfaſſer, deflen geiſtiges
Concept fonft fo wenig und allerdings zu wenig Körper
hatte, darauf angewiefen war, eine ganze Lange, fchwere und
inhaltreiche Geiftesentfaltung bis in die feinften Nuancen zıx
Aus der neueften deutſchen Romanliteratur.
verfolgen, in den Falten der Seele zu lefen, jede Geſtal⸗
tung derfelben regelrecht aus ben andern abzuleiten, bie
Factoren forgfam abzumwägen, was eine delicate Zeichnung
verlangt. Und es Täßt ſich nicht beftreiten, daß der
Berfafier der Aufgabe treu geblieben und ein ganz folge
richtiges Bild geliefert bat. Wir dürfen auch eins nicht
verhehlen: die Gefahr lag fehr nahe, in bie zerfließende
Sentimentalität zu verfallen, ift ja das ganze Lebensbild
bis zum legten Markftein vor dem Ziele nichts anderes,
al8 eine Auslebung ber leidenden Refignation! Und lag
do die Verirrung auf jenen bezeichneten Weg um fo
näher, als eigentlich faum Ein böfer Charakter mitfpielt.
Oman genommen befteht bie ganze in Scene gefeßte
Berfonenreihe, wenigſtens bie beftimmenbe, benn doch aus
recht guten Menſchen, einzelne zwar mehr ober weniger
eigenmächtig, ja gewaltthätig, aber nicht verborben! Und
bie Hanptträger entfalten eine jo heroifche Großmuth, daß
es faſt zu viel wird, und wir atbmen ordentlich auf,
wenn zur Abwechfelung da und dort der Zipfel von der
Naſe eines ganz ordinären Menfchen, ja eines Böfewichts
beroorgudt. Im ganzen ift uns die Atmofphäre zu dünn,
zu ätherifch wird uns zu Muthe, wir machen eine Luft:
ballonfahrt mit, in deren Luftichichten Menſchen mit ſtarken
Zungen e8 nicht lange anhalten. Es iſt wahr, der Dichter
Hat feine Heldin vor dem Berfinfen in weichliche Senti-
mentalität bewahrt, indem er ihr eine ſtarke Dofis Haren
Berftandes, reifer Selbfterfenntniß und entfchiedenen Wol-
Iens beilegte, ja eine Energie im Thun und Leiden, bie
nur durch einen unabänderlich gerichteten Lebensplan und
die mitten in der Nefignation doch tief innen feimende
Hoffnung anf bie endlihe naturbeftimmte Löfung ber
Lebenswirren erklärt werben kann, fonft wäre fie Starr-
finn. Und doch! Was fehlt denn, um diefer Entwide-
fung die volle Befriebigung entgegenzutragen? Die Natur-
wahrheit. Es ift do ein bischen ſtark umgefprungen
mit der Realität des Lebens. Wir meinen damit nicht
jmen communen Realismus unjers polizeiftaatlichen Da⸗
feins, der fich leicht erfrechen könnte, dieſes ſeltſame Dienft-
mädchen mit falichem Namen, der Heimat entlaufen, als
Bagabundin zu behandeln, und wir laſſen ed und ganz gern
gefallen, wenn ber Autor diefer Art Wirklichkeit ein
Schnippchen fchlägt. Aber wir meinen die Kealität der
pigchifchen Grundlagen. Ein noch leidlich junges, reiches
und am Ende, wie bie Entwidelung lehrt, gar nicht fo
haßliches Mädchen mit feinbefaiteter Seele in dieſen er-
fhütternden Geiftesfämpfen und mit dem Muth, einem
vielleicht doch verlorenen Leben zu ſtehen nnd im edler
Aufopferung duch eine große Liebesthat, die fich aber
nur im ganz gewöhnlichen und engen Berhältnifien aus-
Ichen Tann, ein neues Dafein ſich zu jchaffen und es zu
ertragen; baneben bei aller Herzensgüte eine fo ver-
fchlofiene und nad innen gekehrte Natur, daß fle jahre»
Ing ihren Lieben über ihr früheres Leben und ihre Ge-
ı th8affecte keine Silbe anvertraut und jeder felbft zart
E rlihrenden Annäherung ein erſchrecktes Noli me tangere!
e tgegenhält: das ift ein abflractes Ideal, und je genauer
ı ıd detaillirter wir in alle die innern Borzüge eingeführt
x den, deſto entfchiedener müflen wir uns jagen: das
i nicht da8 Leben! Immer der gleiche Fehler eines zu
£ 5 gefpannten Ybealismus! Dan nehme einmal ben
— —
29
Höhepunkt des Kampfes, jene vernichtende Situation, wo
Ada mit der bereits hochlodernden Liebe zum Aſſeſſor
Raden im Herzen und mit der Ueberzengung im Kopfe,
daß er in einem leichten Augenblide, von jugendlichen
Liebreiz geblendet, fein bedeutendes Leben an ein Sind
weggeworfen, mit dem er nie glücklich fein werde! Und
fie, Ada, kämpft das alles im ftillen Kämmerlein durch
und kämpft es nieder, verjtedt ängftlid jede Gefühls—
wallung und Hilft dem Kinde, ihrer leichten und flüch—
tigen Schülerin, mit aller Unftrengung, daß es wenig-
ftend eine erträgliche Hausfrau werde! Wir möchten diefe
Art barımberziger Schweiter einmal in unferm nüdjter-
nen Erbenleben fehen! Dazu kommt unausweichlich eine
gewifie Monotonie der Färbung, die und allzu wenig
MWechfel bietet; das konnte faum anders werben. Drei
Bände hindurch immer derfelbe Horizont, diefelbe Fami⸗
lien» und Herzensgeſchichte! Das Gefichtsfeld wird uns
zu eng. Wir wilrden einen Theil der ſich ähnelnden
Scenen dem Autor erlaflen und wären ficher, mit den
andern um fo ſtärker zu wirken.
Wir wählen zwei Beifpiele, um die bisweilen ſchwer
ergreifende Zeichnung der Seelenzuflände Tenntlich zu
machen. Das erfte ift der Augenblid, wo die zarte und
gutmüthig liebende Gemahlin des in eine andere mwahn-
finnig verliebten Camillo im Herzen von einem ftillen
Web, vielleicht der Leife Heranfchleichenden Borahnung feie
ner verlorenen Sympathie, körperlich vom Typhus er-
griffen, flirbt. Da heißt e8:
Auf leiſen Sohlen ſchlich er in das Kranfenzimmer; bie
Kranke lag im Delirium und lannte ihn nicht. Still nahm
er den Pla an ihrem Bette ein. In dumpfer Befangenbeit
fah er die eingefallenen und doch fo glühend gerötheten Wangen
feines jüngft noch fo bfühenden Weibes, hörte er die Phantafien,
deren Mittelpuntt er war und blieb. „Martha“, rief fie,
„Martha, vergiß e8 nicht, wenn er kommt“ — und Bier ging
ihre Stimme in Ieifen Gefang Über — „ſag' ihn, ich ließe ihn
grüßen, ja grüßen viel tanſendmal.“ Er nahm ihre Hand und
tagte: „Hier bin ih, Marie, erfenue mid doch.“ Sie ſchüt⸗
telte den Kopf. „Ich muß noch immer warten’‘, fagte fie traurig,
„er kommt nicht.” „Ich bin geduldig‘, fprad fie ein ander:
mal, „Camillo liebt mid”, und ein fanfter Freudenglanz ver-
breitete fih liber ihr Angeſicht. Unzähligemale rief fie: „Er
kommt! Hörft du den Wagen nicht?" und glättete ihr wirres
Haar und z0g die Dede zurecht und ſchaute nad) ber Thür fiber
Camillo fort. „Geh zur Seite”, fagte fie zu ihm, „ich kann
Camill nicht jehen, wenn er eintritt.” — „Ich bin es, Marie,
{hau mid an, kennſt du denn meine Stimme nicht?” ſprach
er, ihre Sand faffend. Sie entzog fie ihm. „Was du dir
einbildeſt“, entgegnete fie, „Camillo's Stimme Klingt friſch und
—— deinige wie aus dem Grabe. Du biſt nicht mein
amill.“
Das zweite iſt der Moment, als die zur Pflege des
halb wahnfinnig gewordenen Vaters zurückgekehrte Ada
mit dem offenbar von dem Gedächtniß an ſeine erſte Frau
Gequälten die Koſtbarkeiten muſtert, womit er ſie über⸗
ſchüttet hat:
„Es bat etwas gekoſtet“, ſagte er und legte bie Hand von
einem Stück auf das andere, „damals — o ich kann e8 auch
heute noch. Wer jagt, daß ich feinen Kredit mehr habe?’ Er
richtete fi zornig auf und blidte wild umher. ‚Keiner‘,
fagte Ada entichieden, „aber ich habe jett alles; wenu id) jedoch
etwas wünfche, darf ich dir's jagen, Väterchen?“ — „Freilich,
erwiderte er, „freilih, und du ſollſt fehen, daß ich noch alle
deine Wünſche zu befriedigen vermag.” Er ftaud, ale laufche
er auf etwas, dann flüfterte er vor fih Hin: „Ich, Fieber
— a
30 Feuilleton.
Bater, Ada!“ Er lächelte wonnig und betrachtete fie von neuem.
„Kind‘‘, ſprach er bittend, „wie ſagteſt du doch, als du an
meine Thür Mopfteft und ich fragte, wer da fe?" — „Ic,
lieber Bater, Ada! rief ich hinein’, erwiderte fie gerührt und
bemiihte fi, den Tom genan zu treffen, in welchem fie e8 vor⸗
hin gerufen. Es war ergreifend, das glüdliche Lächeln zu ſehen,
mit weldyem er barauf hinhorchte. „Ich habe nie fo fchöne
Mufit gehört‘, fagte er, „es ift das ergreifendfte Lied, das ich
je vernommen. Die Augen werben mir feucht davon, und id)
abe fonft niemals geweint. Ich mochte die Thränen nicht.
enn Qufebia weinte, wurde ich jedesmal zornig. Liebes
Kind’, fuhr er, fih zu Ada’s Ohr neigend, flüfternd fort,
„willſt du mir wol verjpreden, immer mit diefen Worten bei
mir einzutreten? Zu Hopfen, zu warten, bis ich frage, und
jedesmal diefe Antwort zu geben?‘
3. 3. Honegger.
(Der Beſchluß folgt in der nächſten Nummer.)
Fenilleton.
Bom deuntſchen Theater.
Es gibt einen regelmäßigen Berlauf deutſcher Bühnen⸗
erfolge, der damit beginnt, daß ein neues Stüd an einem er-
ſten Ghenter in Wien oder Berlin am Anfang der Saifon eine
erfolgreiche Aufführung erlebt und von dort aus die Runde
über eine kleinere oder größere Zahl deutjcher Bühnen madit.
Dramen, die zuerfi an minder bedeutenden Theatern erjcheinen,
ofen bei ihrem Rundgang öfters auf Hinderniffe. In biefer
Saijon haben von Wien aus Joſeph Weilen’s „Rofamunde”
und S. Moſenthal's „Iſabella Orſini“ diefen Rundlauf be-
onnen. Beide Stüde wurden am wiener Burgtheater mit
olg gegeben, ohne bei der Kritik die gleiche Anerkennung zu
finden. Da fie beide im Buchhandel erſchienen find, fo werden
d. BI. noch eingehender auf biefelben zurückkommen. Weilen’e
Drama behandelt feinen romantischen Stoff abweichend von ber
geihichtlihen Erzählung oder Sage, die ihm zu Grunde liegt,
er beraubte diefelbe ihrer Wildheit und fuchte fie zu moder⸗
nifiren, indem die gefchichtlich Überlieferte That der Rofamunde
von einer Gefährtin derſelben vollbradyt wird, während dieſe
den Conflict durch Selbftmord Täf. Wozu indeß zur Grund⸗
fage de8 Dramas eine Sage nehmen, deren wejentlihe Züge
von der neuen Dichtung nicht beibehalten werden, noch dazu,
wenn der Misfland mit in ben Kauf genommen werben
muß, daß ein barbarifches Bolt und eine barbarifche Zeit den
der Gegenwart gänzlich fremden Hintergrund der Fabel bilden,
die Überdies für den entſprechenden Ausdrud der Empfindungen
nicht die veichere —— einer gebildeten Cultur bieten?
„Siabella Orfini" von Mofenthal ift eine Eiferſuchtstragödie,
in welder bie gewagte blutige Kataflrophe nur einer Neigung,
nicht einmal ber gemuthmaßten Thatfacdhe des wirklichen &he-
bruchs gilt. Hier herrſcht offenbar ein Misverhältniß zwifchen
Schuld und Sübne; die erftere liegt in einer geiftigen Sphäre,
die Ießtere im Gebiet der brutalen äußern Gewaltthat. Beide
Stüde zeigen indeß nicht nur Blihnengewanbtheit, ſondern auch
eine edle dichterifche Haltung.
etzteres kann man dem Scaufpiel von Emil Brad-
vogel: „Die Harfenſchule“, welches am berliner Hoftheater mit
großem Erfolg gegeben wurde,’ an mehrern andern Bühnen
aber nur eine fühle Aufnahme fand, Teineswegs nachrühmen.
Das Stüd ift in einem geradezu haarfträubenden Stil gelchrie-
ben, ganz wie der Roman ‚‚Beaumardjais‘, aus weldem
Brachvogel diefe Epifode entlehnt hat. In frühern Zeiten, in
denen man moch Gewicht auf den bichteriichen Adel des Aus-
drucks wenigftens in der ernften Dramatik legte, wurden der-
artige Stücke, die ſich durch ihre ſchülerhafte ſprachliche Ein-
Heidung nur als fogenannte „NReißer” und Bühnenfutter docu⸗
mentirten, an erſten Hoftheatern gar nicht zur Aufführung an⸗
genommen. Jetzt find Jutendanzen, Publikum und leider auch
die Kritil gegen derartige Verbrechen gegen den Genius der
Dichtkunſt fo gleichgültig geworden, daß man hierin einen
Berfall der von Goethe und Schiller fo hoch gehobenen Bühne
erbliden mödte. Alle die faft burlesten, meift falſch gebraud)-
ten Fremdwörter, die wir in dem Roman rügten, wie:
Infernalität, diabolifhe Delicateffe, Eruption der Hofkreife n. a.,
find in den Dialog des Dramas mit binlibergenommen nnd
eben demjelben den Anſtrich buntfchedigfter Geſchmacklofigkeit.
te Handlung, obgleih fie nur aus zwei oder verfnlipften
Anekdoten befteht, ıft theatralifch nicht ganz ungeſchickt zuſam⸗
mengerädt, wennſchon im letten Act ein Riß fichtbar if, wo
die beiden Theile zufammengenäht find. Die friſch zugreifenbe
Kedheit der Behandlung, aller Esprit und Wit können uns
indeß nicht darüber täufchen, daß die eigentlichen Borgänge des
Stüds widerwärtiger Art find. Der Erprefiungsverjucd, den
Beaumarchais bei dem Verleger ausübt, um ein Honorar zu
erzwingen, ſteht diefem genialen Lumpen, in welchen Brad
vogel nach der Formenſchablone feines „Narciß“ den ritterfichen
Abenteurer verwandelt bat, nicht beffer zu Geſicht als die Art
und Weife, wie er die Fran eines Mannes compromittirt,
melde ganz unſchuldig if an den Nachſtellungen des Iegtern
gegen die Gattin des Helden, oder als die fpeculative Pfiffigleit,
mit der er Kapital fchlägt aus dem Geheimniß, das die Geburt
feiner Frau verhält und hinter welches er durch Zufall kommt.
Bei diefem Beanmarchais nehmen fi die Tugendphraſen im
Grunde ſehr Hohl und nichtsſagend aus; der cynifhe Narciß
ift in feiner Art weit edler als diefer freibeuternde Glücksritter.
Die Handlung jelbft ift von Anfang bis zu Ende nur ein Ge»
webe von Zufälligleiten.
Am wiener Burgtheater hat ein Drama von Schaufjert:
„‚1684', Siasco gemadt. Dies patriotifhe Bolfsichaufpiel, deſ⸗
fen Mittelpuntt die Belagerung Wiens durch die Türken bildet,
zeigte die Mufe des preisgefrönten Luftipieldichters in einem
fo ſalopen tragiſchen Neglige und das Eompofitionstalent def»
felben, das ſchon durch fein Vreisſtück ſelbſt in Frage geftellt
wurde, fo auf bem Nullpunkt, daß die Schlußacte geradezu
ansgeladjt wurden.
Geibel's „Sophonisbe“, die wir bereit# eingehend im
d. BI. beſprachen und die inzwiſchen den preußiichen Sciller-
Preis erhalten bat, faud am berliner SHoftheater eine gün⸗
flige Aufnahme, bie indeß feine Bürgſchaft für feine nach»
baltige Beherrſchung des dortigen Repertoire gewährt. Auch
bie Kritik verhielt fi im ganzen kühl.
Das mit der Medaille ausgezeichnete Drama von Kruſe:
„Die Gräfin”, früher fhon an oftfriefiihen Bühnen aufgeflihrt,
batte an ber leipziger Bühne einen Achtungserfolg. Die tern:
bafte Sprache, die vortrefflide Zeichnung der Genrebilder,
eine im einzelnen mit jcharfen und feinen Strichen ausgeflihrte
Charakteriftit Tonnten Über den unglinftigen Eindrud, den das
Unfympatbifche im Charakter der Gräfin, deren flarrer Eigen-
finn fie im eine Niobe verwandelt, ſowie die Hänfung der
Unfälle gegen den Schluß des Stücks Hin macht, nicht ganz
den Sieg davontragen.
Eine andere Rovität der Teipziger Bühne war „Advocat
Hamlet”, ein anonymes Stüd, das bier einen zweifelhaften
Eindeud, in Prag aber Fiasco machte. Man fcdhreibt das
Stud Laube zu, und in der That erinnert e8 in der groblör-
nigen Factur, in der Beeiferung, die Zagesphrafen mit erplo-
dirender Gewaltſamkeit auszubeuten, in ber Nachdichtung öfter-
reihifher Tagsereigniffe an die „Böjen Zungen”. Doch ift
die Motivirung eine fo unmöglidje, den wirklichen Berhält-
niffen ins Geficht fchlagende, die Durchführung des Haupt-
charakters eine fo fprunghbafte und baltlofe, der Schlußact mit
der Geſchworenenſcene eine jo effectbafchende und im einzelnen
wieder unwahre, mit den hohlſten Phrafen ausgeftopfte Sce⸗
nerie, daß wir in dem Stüd, wenn e8 von Laube wäre, einen
bedauerlihen Rüdichritt fehen müßten.
In Dresden und Hamburg ift ein Traneripiel von Karl
Koberflein: „Erih XIV.”, mit gutem Erfolg in Scene ge-
gangen. Man rühmt den rafhen Berlauf der Handlung, bie
Feuilleton.
auenehmend gelgiete Berehmm, ji bes Theatereffeets, den ge»
ſchmacivollen Dialog, vermißt aber dichteriſche Bedeutung und
Vertiefung.
Bon Lufipielen ift „Des Nädften Hausfrau’ von Rofen
am berliner und bresbener Hoftheater und am wiener Carl»
Theater mit Beifall gegeben worden. Bei frifher Behandlung
hat das Stüd doch einen zu poffenhaften Charakter, die Ber-
widelungen find zum Theil umdelicater Art. Weit feiner ift
das Lufipiel von ©. zu Putlig: „Gut gibt Muth‘, weldes
am berliner Hoftheater zur Aufführung fam. Roderid; Be⸗
nedir Luffpiel: „Abentener in Rom”, Hat in Frankfurt einen
mäßigen Erfolg gehabt, in Prag nicht gefallen; dagegen iſt
das einactige Familienbild: „Weihnachien“, in Leipzig mehrfach
mit Beifall gegeben worden.
Der Ernennung Feodor Wehl's zum artiſtiſchen Director
des Ruttgarter Hoftheaters, bie wir bereit® mitgetheilt haben,
fügen mir zwei Wittheilungen Hinzu, welde das Ausſcheiden
anderer geiger Kräfte aus dem theatraliſchen Wirkungstreis,
weicher derfelben fo ſehr bedarf, berichten. Friedrich Bo-
demfedt if night mehr Intendant in Meiningen, und Eduard
Devrient ift als Generaldirector des Larleruher Hoftheaters
Penflonirt worden.
Deutfde Sprichwörter als Beifpiele in der
Grammatit.
Sprüge und Sprichwörter find jegt in hoher Gunſt.
Große und Meine, wiflenihaftfihe und populäre Sammlungen
werden veranflaltet und finden Beifall; aud in der Praris
werden Sprüde und geflügelte Worte mit Vorliebe angewandt.
Au Häufern, in Schloßgaferien, auf Fenfertafeln, in Bier-
und Beinfocalen, in Fefihallen, auf Bechern und Tellern, überall
wird der Spruch zu Bier und Schmud geſucht. Aug noch
in anderer Richtung wird dem Sprichwörterſchate ein Einfluß
augefanden. In den legten Jahren ift ans pädagogiihen Krei»
jen heraus auf die Bedeutung und Verwerihuug des Sprich-
worts für die Schule hingewieſen worden, von Staatswegen
hat man das Sprichwort als beſonders geeignet zu Memorir-
füden empfohlen. Hat in ber That aud) in der padagogiſchen
Literatur, in kleinern und ihn Lehrblicern für den deut.
ſchen Spradunterridt das Sprichwort wirkiich Benugung
funden, fo mar biefe immer nur eine vereinzelte. Darum madıte
Karl Wiegand, der ſchon öfter das pädagogifce Gebiet mit
GSiad betreten bat, den Berſuch, den befien Theil des von
Simmod, Körte u. a. gefammelten deutſchen Sprichwörter
ſchatzes abfigtfich und ſyſtematiſch in den Dienſt der deutſchen
Spradhlehre zu fiellen, nadjdem feine ähnliche vorhergehende Ar-
beit: „Das Proverbium in grammatijher Verwendung bei dem
Elementarunterriqt in der lateiniſchen Sprache. Sammlung von
faft 1200 lateiniſchen Sprigwörtern und ſprichwörtlichen Redens-
arten, mit Quelienbezeichnung u. |. m.‘ (Leipzig, Minfhardt),
fit beifälliger Aufnahme feitens der Schulmänner zu erfreuen
hatte. Der Titel des neuen Büdjleins von Wiegand Tautet:
„Meine veutfce Spradilehre auf der Grundlage des deutjcen
Sprichworts. ir den Sgulgebrauch bearbeitet und heransgege-
ben" (Hifdburghanfen, Gadom, 1868). Inwiewen dieſe aus.
gedehnte und ausſchließliche derangehung der Sprichwörter zu
grammatifhen Beifpielen principiell berechtigt und wie weit fie
in der Praris gelungen fei, das zu entſcheiden überlaſſen wir
billig den Pädagogen von Fach. Uns erſcheint dieſe nad; gram-
matifgen aregerim eingerigitete Sammlung höcft fleißig und
finnig. Cs ift eine Sprichwärterſammlung nad der Form
geordnet, die ſich den andern alphabetiſch oder ſachlich geordne-
ten gut anreiht. Der theoretifche Theil der Grammatit mag
de welche ſich für Sprichwörter intereffiren, völlig ig leid).
gäftig fein, gewiß aber werden fie den praftiichen Theil
ipiele aus dem deutſchen Sprichwörterſchatz“. enthaltend, will»
kommen heißen, um fo mehr als die Außlefe eine ſehr reichhaltige
if. Sollte fi der Berfaffer zu einer zweiten Auflage veran-
Laßt fehen, fo würde er nothwendig aud die große Sprich -
wörterfammfung von ander (einig, Brochaus), die rüſtig
weiter ſchreitet, zu Rathe zu ziehen haben.
31
Bibliographie.
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Die Beute Kia
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1869. 8, = Rar-
32 Anzeigen.
Anze
igen.
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Verſag von 5. A. vroclhaus in Leipzig.
Soeben erjdien:
Hiıflorifhes Tafhenbud.
Heransgegeben von Friedrich von Raumer.
Bierte Folge. Zehnter Jahrgang. 8. Geh. 2 Thlr. 15 Nor.
on Yra Rn, von Löher. — 8
Heinrich Stephan, Tönigl. preuß. Geh. Oberpoftrath.
Die jüämmtlichen vierzig Jahrgänge des Hiftorifchen Taſchen⸗
buch (1830—69) often zufammengenommen im ermäßigten
Breife, ftatt 93 Thlr. 5 Ngr., nur 40 Thlr., die erfte Folge
(1830 — 39), die zweite Folge (1840-49), bie dritte Folge
(1850 — 59), jede 10 Thlr., die vierte Folge (1860 — 69)
1% Fr einzelne Jahrgänge der erften bis dritten Folge
1’, Ir. |
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Deutsche Classiker des Mittelalters.
Mit Wort- und Sacherklärungen.
Begründet von Franz Pfeiffer.
8. Jeder Band geh. 1 Thir., geb, 1 Thlr. 10 Ngr.
Achter Band.
Gottfried’s von Strassburg Tristan. Herausgegeben
von Reinhold Bechstein. Zweiter Theil.
Mit dem vorliegenden zweiten Theil ist das classische
Epos Gottfried’s von Strassburg abgeschlossen. Derselbe
enthält ausser dem Schluss des Gedichts die Nacherzahlung
der Fortsetzungen Ulrich’s von Türheim und Heinrich’s von
Freiberg, sowie Wortregister und Namenverzeichniss zu
beiden Theilen.
Als neunter und zehnter Band der Sammlung wird
Wolfram’s von Eschenbach Parzival, herausgegeben
von Karl Bartsch, binnen kurzem erscheinen.
Inbalt des I.— VIII. Bandes:
I. Walther von der Vogelweide. Herausgege-
ben von Franz Pfeiffer. Zweite Auflage.
IL. Kudrun. Herausgegeben von Karl Bartsch.
Zweite Auflage.
III. Das Nibelungenlied. Herausgegeben von Karl
Bartsch. Zweite Auflage.
IV.—VI. Hartmann von Aue. Herausgegeben von Fe-
dor Bech. Drei Theile.
VII. VIII. Gottfried’s von Strassburg Tristan. Heraus-
gegeben von Reinhold Bechstein. Zwei
Theile.
Meutfche Allgemeine Zeitung.
-_— — —
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Die Denticge Allgemeine Zeitung ift ein entidie-
ben Liberaled und nationaleß, nad allen Seiten
unabhängiges Drgen und gehört zu den verbreitet-
ten Blättern in Mitteldeutfhland. Sie hat zahl:
reihe Originalcorreipondenzen und Depeſchen, ein
reichhaltige Fenilleton und DOriginalmittheilungen iiber
gandel und Juduſtrie. Außer dem Norddentfheu
unde, Süddeutſchland nnd Defterreih widmet fie
namentlid) den Angelegenheiten Mitteldeutihlands und
jpeciel Sadjens eine befondere Aufmerkfamleit und tan
als hauptſächlichſte Originalquelle darüber den weiteſten
Kreifen des Ju⸗ und Auslandes empfohlen werden.
Die Dentihe Allgemeine Zeitung ericheint außer Sonn-
tags und Keiertags täglich nachmittags mit dem Datum des
folgenden Zags. Nach auswärts wird fie mit den nächſten
nad Erjcheinen jeder Nummer abgehenden Bolten verfandt.
Der Abounementspreis beträgt vierteljährlich 2 Thlr.
Inſerate finden durch die Deutſche Allgemeine Zeitung,
welche zu dieſem Zwecke von den weiteftlen Kreifen und na⸗
mentlich einer Reihe größerer induftrieller Inftitute vegelmäßig
benugt wird, bie allgemeinfte und zwedmäßigfte Verbreitung;
die Infertionsgeblihr beträgt für den Raum einer viermal ge-
fpaltenen Zeile unter „Ankündigungen“ 1%, Ngr., einer drei»
mal geipaltenen unter „Eingeſandt 2, Nor.
Herſag von 5. 3. Brodifaus in Leipzig.
Wanderjahre in Italien.
0
Ferdinand Gregorovins.
Drei Bände.
8. Jeder Band geheftet 1 Thlr. 24 Ngr., gebunden 2 Thlr.
en F Band: Figuren. Geſchichte, Leben und Scenerie aus
alien.
Zweiter Band: Lateiniſche Sommer. (Schilderungen ans
Latium.)
Dritter Band: Siciliana. Wanderungen in Neapel und
Sicilien.
Derlag von 5. 4. Brodidaus in Leipzig.
Soeben erjdien:
Die Mehulle-Lent’
Ein Bolizeiroman.
Bon
3. Ch. ®. Anc- Tallemant,
Doctor beider Rechte.
Zweite Auflage. Zwei Theile. 8 Geh. 3 Thlr.
Während die erſte Auflage diefes Romans anonym erſchien,
nennt fi bei der zweiten Auflage als Verfaſſer deſſelben
Dr. Avé⸗Lallemant in Lübed, durch gründliche polizeiwif«
fenfhaftliche Werke vortheilhaft bekannt. Die „Mechulle⸗Leut““
eröffneten eine neue Gattung der Romanliteratur, den Bolizei-
roman, und fanden Überall eifrige Lefer. Es darf daher für die
vorliegende zweite Auflage gleiche Theilnahme erwartet werden,
zumal der Preis weſentlich billiger geftellt worben ifl.
Berantwortligier Redacteur: Dr. Eduard Srodhaus. — Drud und Verlag von F. A. Brochhaus in Lip.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
. Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wochentlich.
en Hr, 3. mir
13. Januar 1870.
Iuhalt:
(Beichluß,
Neuere dramatiſche Dichtungen. Bon deodor Wehl, — Revue des Fiteraturjahres 1869. Bon Rudolf Gottied.
— Aus der neneften deutfhen Romanliteratur. Bon 3. 3. Honegger. (Beſchluß.) — Feniketon. (Ein Ghaffpeare-
Epitaph; Straßennamen von Gewerben; Engliſches Urtheil Über neue Erſcheinungen ber deutſchen Literatur; Notizen.) —
\ Bibllograyhle. — Anzeigen.
Uenere dramatifche Dichtungen.
Die Production anf dem dramatiſchen Felde ift nach
wie vor ziemlich mafjenhaft, ohne daß indeß aus biefer
Maſſe irgend viel als bebeutfam hervorragte. Das meifte
gehört zur Gattung des fogenannten Buchdramas und
wird mur gedrudt, um in diefem Drud fozufagen bie
Bergeffenheit ſchwarz anf weiß zu erhalten, benn das,
was man die Gefchichte oder das Schidfal eines Buchs
nennt, erleben diefe gedrudten Dramen faft nie. Mehren-
theils allerdings, meil fie fo etwas auch in der That
nicht verdienen.
Sehen wir unfern Vorrath näher an. Betrachten
wir zuerft die religiöfen Dramen, oder die Dramen mit
Anlehnung an die Bibel oder mit bibliihem Hintergrunde,
jo finden wir:
1. Sebaftion. Martyrertragödie in fünf Aufzligen von Emilie
Ringseis. Preiburg i. Br., Herder. 1868. 8. 24 Nar.
ein Drama, welches das Pampenlicht der Bühne wol
ebenfo wenig wie andere Stüde der Autorin erbliden
dürfte, objchon das vorliegende nicht ohne alles Verdienſt
it. Bunädft kann der Stoff als ein ernfter und wür«
diger und feine Behandlung als immerhin wirkfam gelten.
Die Vorgänge fpielen unter Diocletian und im Beginn
des Chriftentyums. Sebaftian, ein Hauptmann der faifer-
lichen Leibwache und ein Vegünftigter des Herrſchers, ift
Chrift und bildet mit andern feines Glaubens eine ftille
Gemeinde in Rom, die fi eifrig immer neue Anhänger
zu verſchaffen firebt, trogdem Diocletian unausgefegt
darauf bedacht ift, fie mit Feuer und Schwert zu vertilgen.
Auch Marcus und Marcellinus Calius, zwei Brüder und
zömıfche Patricier, welche als Chriſten entdedt worden
find, müffen die Schwere feiner Grauſamkeit empfinden.
Sie werden zunächſt ins Gefängniß geworfen und hier
auf die abſcheulichſte Weife gequält. Marcella, die Mutter
beider, und Claudia, des Marcus Weib, die felbft der
neuen Religion noch nicht beigetreten, bemühen fih um-
fonft, fie derfelben abwendig zu machen und dadurch zu
1870, 3.
ı
retten. Sebaſtian beftärkt fie fo fehr in ihrem Märtyrer-
tum, daß ſie mit Freuden ihr Leben einfegen und dem
Tod nicht nur mit Standhaftigfeit, ſondern mit wahrer
Begeifterung erleiden.
Claudia, die untröftliche Gattin des Marcus, durch
diefen ihr entfeglichen Vorgang aufer ſich gebracht, geht
nun hin und zeigt Sebaftian feinem Taiferlihen Gönner
als Anhänger und Berbreiter des neuen Glaubens an.
Sehaftian, ftatt über diefen Verrath zu zürnen und ber»
jenigen zu fluchen, bie ihn verübt, fegnet fie und redet
ihr und ber Mutter feiner Freunde jo eifrig und innig
zu, bis er beide Frauen als ebenfalls dem Chriftentfum
gewonnen erachten darf. Mit diefem tröftlichen Glauben
gibt auch er fi) dem Tode hin, den er betanntlich an
eine Säule gebunden durd; die Pfeile afrikanischer Bogen»
fügen gefunden hat.
Dies ift der kurze Inhalt der Märtyrertragöbie, mit
dev wir es hier zu thun haben und mit der es ungefähr
wie mit ben mobernen Heiligenbildern befchaffen if. Wie
die Zeichnung und Farben jener Bilder, fo tönt es auch
aus allen Auftritten diefer Tragödie laut genug heraus:
Die Botſchaft hör’ ih wol, allein mir fehlt der Glaube.
Der echt katholiſche Hauch und Sinn der geiftlichen
Schaufpiele Calderon's tritt und aus ihr nicht entgegen.
Der Ton der Berfe ift ziemlich troden und farblos; ber
Berlauf der ganzen Handlung ohne inneres Leben und
jenen glühenden Enthuflasmus, der hier durchaus nöthig
ift, um zu entzünden und binzureißen. Um uns fir bie
erften Märtyrer des Chriſtenthums zu entflammen, be
dürfte es eines dramatiſchen Talents von genialer Wurfe
kraft und einer wahrhaft beraufchenden Macht der Diction,
alfo zweier Eigenſchaften, welche Emilie Ringseis Teinede
wegs befigt. Sie geftaltet nicht ungefchidt und weiß aud
‚ einen ganz verftändigen Dialog zu führen; allein damit
tagt ſich nod immer nicht mit einigem Erfolg ein Feld
bebauen, das feit dem Mittelalter brach gelegen. Es
[2
34 Neuere dramatiſche Dichtungen.
muß ein Genius befonderer Art erfcheinen, um das zu
tun, ein Genius, der mehr Fonds der Poefle und be=
wältigendern Schmelz der Sprache befigt als unjere
Autorin, die uns ein Martyrium beinahe im Conver-
fationsftil vorführt.
Da loben wir uns dagegen:
2. Jooſt van den Vondel's Lucifer. Ein Trauerjpiel aus
dem Jahre 1654. Aus dem Holländiichen Übertragen burd)
®. 9. de Wilde. Leipzig, Brodhaus. 1868. 8. 20 Nor.
Diefes Drama hat die fteife Ungelenkigkeit der alt-
deutfchen Malerfchule, ift fehwerfällig im Gang, edig in
der Bewegung, aber es liegt eine fo feltene Inbrunſt, der
Glanz und Schimmer einer jo gloriofen religiöfen Weihe dar-
über, dag man doch fid) wunderbar davon ergriffen fühlt.
„Lucifer“ fchildert uns die neidiſche Aufwiegelei des
Erzengeld Lucifer gegen die Größe Gottes; es ift ein
Kampf der böjen Geifter gegen die guten im Himmel.
Die Wollen diefes Himmels und die ganze Herrlichkeit
des Urewigen find plump und hölzern geftaltet und aus»
geführt, aber felbft in biefer hölzernen und plumpen Aus⸗
führung und Geftaltung imponirt die wahrhaft naive
Größe der Idee umd Anfchauung derart, daß man fi
zur Bewunderung bingeriffen fieht. Vondel liefert ge⸗
wiffermaßen das dramatifche Borfpiel zu Milton's „Ver⸗
lorenem Paradies” und Klopſtock's „Meſſias“. Er ift
ber wilrdige Vorläufer diefer großen Poeten und verdient
darum wol auch in unferer Zeit unvergefien zu fein,
wenn dieſe allerdings fchon, von ganz anderm Weſen und
andern Imterefien erfüllt, in feinem Werke nicht viel
mehr als poetifche Reliquien erlennen wird. ©. 9. be
Wilde aber barf fir feine feinfinnige und pietätvolle Ueber⸗
tragung immerhin auf unfere aufrichtige Dankbarkeit ge-
rechten Anfpruch erheben, weil er durch diejelbe jene poeti⸗
chen Reliquien uns nahe führt und fie uns in ihrem
vollen Umfange begreifen läßt.
Ein Stüd, welches ſich gleichfalls im veligiöfen Mythus
bewegt, ift:
3. Indas Iſcharioth. Trauerjpiel von Otto Franz. Berlin,
Heimann. 1869. GEr. 8. 15 Ngr.
Als ein höchſt mislicher Umſtand bei diefem Drama
fällt fogleich das Nichterfcheinen von Jeſus Chriftus in
die Augen. Judas Iſcharioth intriguirt und lehnt fi)
auf gegen ben Heiland, ja überliefert ihn fchlieglich dem
Tode, ohne daß wir ben, der fo dem Berberben preis-
gegeben wird, in der in Rede ftehenden Tragödie zu Ges
fiht befommen. Wir fehen in diefer Tragödie den Kampf
weier Elemente, von denen jedoch nur eins in die Er-
* tritt. Dieſes eine, das böfe, dunkle Element,
empört ſich gegen ein lichte und gutes, das unfichtbar
bleibt und dadurch diefe Empörung gegenftandslos und
hinfällig macht. Demand gegen eine Macht anfämpfen
lafien, die nicht vorhanden ift, muß von vornherein
für undramatiſch gelten, denn da8 Drama verlangt
die Leibhaften und lebendigen Gegenfäge nit nur in
ihrer gegenfeitigen natürlichen Wechſelwirkung, ſondern
auch in ihrem endlichen vollen Aufeinanderplagen. Ein
Yubdas Iſcharioth ohne Yejus Chriftus, das ift, wie wenn
man uns den Schatten eines Körpers, nicht aber auch
zugleich ben Körper zeigte. Wie fol man ſich für ein
ſolches Zeigen interejfiren lönnen? Noch obenein, wenn
es im übrigen nicht einmal poetifch genial oder impofant
ausgeführt erfcheint.
Der Berfaffer ift unbezweifelt ein Stüd von einem
Gelehrten, jedenfalls ein Dann, der etwas gelernt hat
und nit am Gewöhnlichen und Alltäglichen hängt. Aber
um eine epochemachende dramatifche Leiſtung zu bieten,
mangeln ihm Geftaltungskraft und eine gewiſſe Urwüchſig⸗
keit des Talents. Sein Schaffen verräth allerdings höhe-
res Streben, Ernft und Begeifterung, doch keineswegs
Kühnheit des Wurfs, ' Driginalität und frappirende Sicher-
heit der Mache. Sein Zrauerfpiel erjcheint ziemlich lin⸗
tfch und ausdruckslos.
Es beginnt mit plumpen Schäfereien, die fich römifche
Soldaten gegen jüdiſche Mädchen herausnehmen; auch
Maria Magdalena muß fich dergleichen gefallen Taffen,
bis Judas für fie eintritt, den fie ehebem geliebt und
deſſen finnlichen Begierden fle zum Opfer gefallen. Sie
ftand in Gefahr als Sünderin gefteinigt zu werden, als
Jeſus fie in Schug nahm und die Pharifäer mit der
Frage verdugte: wer ſich rein genug fühle, den erften
Stein auf fie zu werfen. Seitdem ift fie eine treue An
hängerin des Nazareners und jo fehwärmerifch für ihn
und feine Lehre eingenommen, daß fie Judas mit allen
Anſprüchen auf ihre Gunft und Liebe kalt zurückweiſt und
denfelben natürlich dadurch in feiner Bitterfeit gegen den
Heiland noch weſentlich beſtärkt. Judas felbft nämlich
bat etwas wie ein Held und Retter der Juden werben
wollen, Die Unterdrüdung feines Bolls ift ifm zu Her-
zen gegangen, und da er kühnen, Friegerifchen Geiſtes ift,
bat er fi ziemlich jung in die Rolle der Makkabäer
hineingeträumt. Da erſchien Jeſus und er fchloß ſich ihm
an. Über auf die Länge jagt ihm deflen Milde und
Dulbfamteit nicht zu. Judas will kein Prediger, er will
ein Agitator, ein Wevolntionär, ein Mann mit ben
Waffen in der Hand fein. So kommt es, daß er Ehri-
tus zuerft misachten, dann haffen lernt. Maria Magda⸗
lena’8 Hingebung für feinen Herrn und Meifter dient
weſentlich dazu, feinen Groll zu fchärfen. Am meiften
thun das jedoch die Reden feiner Mutter Lea, einer folgen,
thörichten Frau, welche e8 nicht ruhig mit anfehen kann,
daß der Sohn ihrer Freundin Maria berühmter und
glorreicher dafteht wie ihr eigener, und bie aus biefem
Grunde nicht müde wird, Judas jenem widerfegig zu
machen.
Im zweiten Acte verihwören ſich zunächſt Mitglieder
des Hohen Raths gegen Jeſus, und dann geräth Judas
außer fich darüber, dag Maria Magdalena dem Heiland
die Füße falbt. Er fagt:
Die Jünger flaunen, Jeſus lächelt fiegreih. —
gef du dich, daß du mich betrogen haft?
ei Gott, du follft dies Lächeln theuer büßen !
Maria wirft fih vor ihm nieder, Löft
Ihm die Sandalen, öffnet das Behältniß
Und falbt die Füße ihm mit duftiger Narde.
Was, Mädchen, bift du zur Bacchantin worden?
Mit Inbrunft drüdt fie feine fchnöden Füße
An ihren fchönen, zartgeformten Bufen,
Den meine Hand niemals berühren burfte.
Willſt du mich denn bis zur Verzweiflung treiben?
In diefer Verzweiflung befchließt er, feinen Herrn
Neuere bramatifhe Dichtungen, 35
ud Meifter den Gegnern deſſelben zu opfern und zu ver-
tathen.
Der Beginn des dritten Acts führt uns in die Mitte
des Hohen Rath, in welchem auf Judas’ Anzeige hin der
Untergang des Meffias bereits ausführlich verhandelt wird;
aber zugleid) auch vernehmen wir, daß man zwar bie That
des Verräthers annehmen, aber nachher ſich dieſen felbft
vom Halfe jchaffen will. Levi befennt, daß auch Judas
nicht leben dürfe, und jedenfalls macht er fich anheiſchig,
diefen dahin zu bringen, daß er in Verzweiflung Jeru-
falem verlaſſe. Ungefähr zu bderfelben Seit fpornt Lea
noch einmal nachdriſcklich den Sohn zu ber beabfidhtigten
Schandthat an.
Im vierten Acte ift fie bereitS begangen, und Yejus
wird gekreuzigt, indeß Iudas, von Gewiſſensbiſſen ver-
folgt, wie ein Rafender umberftürmt. Nachdem Ahas-
bern ihn als Mitgenoffe der Schurkenthat begrüßt, Maria
Magdalena ifn verwünfht und das wüthende Volk ihn
bedroht Hat, eilt er, ſich in die Wildniß zu verbergen,
aber nicht, ohne feine eigene Mutter vorher als feinen
böfen Genius verflucht zu haben.
Der fünfte Act bietet jetzt nur noch ein kurzes Nach-
fpiel, in welchem Sudas Iſcharioth ſich erfticht und, fter-
ftend von der Mutter angetroffen, noch gerade Zeit und
Kraft genug behält, um dieſer durch Zeichen feine Ber-
zeihung anzudeuten.
Die kurze Darlegung des Inhalts wird ohne Zweifel
genügend fein, um die derer erfennen zu lafien, daß bie
Hondlung fi nur fehwerfälig und ungeſchidt, nicht ohne
Biederholungen und Weitläufigleiten abwidelt. Neue,
tief menſchliche und überrafchende Motive find für die That
des Yudas Fſcharioth nicht aufgeftellt, und ebenfo wenig
ift von der ganzen religiöfen Bewegung jener Zeit ein
froppantes Gemälde entworfen worden. Auch die Diction,
wie bie Meine mitgetheilte Probe beweifen mag, ragt über
bie Gewöhnlichfeit nicht hinaus. Sie trägt, wie bie Dich-
tung im ganzen und großen, einen derb finnlichen, reali«
ſtiſchen Zug, ohne indeg bamit den Grad wahrhaft in-
diidualiſirender Kunft erreichen zu lönnen.
Bon dem nämlichen Verfaſſer liegt ferner vor:
4. Gajus Grachus. Zranerfpiel von Otto Franz. Berlin,
Heimenn. 1869. Gr. 8. 15 Nor.
Mit diefem Stüd wollen wir auf die weltliche Tra-
gödie übergehen, die Franz freilich nicht beſſer als bie heilige
ober bibliſche vertritt. Sein jüngerer Gracchus ift doch
ein ziemlich unreifer, wenig fympathifcher Held, ein Held,
für defien Heldentfum man ſich kaum begeiftern Tann,
weil es weber von bem vollen, berauſchenden Enthufias-
mas der Jugend, noch von dem Ernſt und der Weihe
des männlichen Geiſtes getragen wird. Es ift Grachus
jelbft, der den vornehmen Römern zuruft:
Ich will von eurer angemaßten Höhe
Herab euch reißen in dem tiefften Staub.
Hr Gofftet wol, ich würde end) mich beugen?
Berkehrt gebaht! Auf eure folgen Naden
Will ich den Fuß des Giegers ſetzen, will
Zertreten eure Brut, will volle Race
für meines Bruders Tod und für den Hohn,
it dem ihr mich bisher behandelt habt.
Man wird uns eingeftehen müfjen, daß diefe Aus-
lafung nicht eben Größe des Geiftes und des Herzens
verräth, und daß man ſich fiir eimen Menfchen, ber darin
feine innerften Tendenzen hervorkehrt, nicht fehr zu in«
tereffiren im Stande ift.
Der Verfaſſer hat den Kampf zwiſchen den Parteien
der Optimaten und Popularen, in welchem die fogenann-
ten gracdifchen Unruhen gipfeln, allerdings in feinem
hiſtoriſchen Werthe wohl erkannt und zu würdigen gewußt,
leider jedod in der politiſchen Auffafſung und bramatis
ſchen Verwerthung bderfelben jowol den Hihnen Wurf als
auch die großen Züge nicht gefunden, die dafür unerlaß-
lich find. Sein römifches Trauerfpiel ſchreitet fo fchlep-
pend, fo langſam und gleichfam in fo Meinen und zögern»
den Schritten nicht fowol der tragifchen Höhe zu, fon«
dern umgeht diefelbe vielmehr in fo bedeutungslofer Weife,
daß ſich felbftverftändlid ein imponirender Eindrud und
eine durchſchlagende Wirkung nit ergeben konnen.
Weniger realiſtiſch und vom geringerer Hinneigung
zum finnlichen Ausdrud als „Judas Ifcharioth“, nimmt
biefes Erſtlingswerk feiner tragifchen Mufe allerdings einen
mehr ibealiftifchen Anlauf und Schwung als das fpä-
tere, Hier zuerſt beſprochene; allein diefer ibealiftifche
Anlauf und Schwung, der fih im zweiten Stück auch
bereit8 als beinahe überworfen und befeitigt erkennen läßt,
iſt in der That doch zu wenig geſund und organifch ger
ftaltet, um große Hoffnungen auf denfelben fegen zu Tünnen.
Outer Wille und Bildung find genug vorhanden, um
eine dramatiſche Schöpfung von einiger Bedeutung erwar-
ten zu lafien; aber um fie wahrhaft und wirklich, ins
Leben zu rufen, gebricht e8 zum Theil an urwüchſiger
Kraft, wie befonders aud an Entſchiedenheit des Stils
und ber ganzen poetiſchen Richtung.
5. Dfden-Barnevelbt. Trauerfpiel in fünf Acten von G. Helm.
Suusbrud, Wagner. 1868. 8. 16 Nor.
Dies Stüd zählt leider and zu jenen gutgemeinten,
aber durchaus verfehlten Verſuchen, in denen bankbare,
biftorifche Stoffe durch verſchwommene, unſichere Ausfüh-
rung um allen Erfolg und Credit gebracht werden.
Yan dan Olden-Barneveldt, den firengen und. aufe
richtigen Republikaner, den weifen, leidenfchaftslofen Staats-
mann Hollands im Kampfe gegen die monarchiſchen Ge-
luſte des Prinzen Morig von Naffan-Dranien Hinzu-
ftellen, ein Kampf, in welchem er, zweinndfiebzigjährig,
unterliegt und das Blutgerüſt befteigt, das iſt gewiß eine
großartige und lohnende dramatifche eiufgebe; aber fie
erfordert freilich ein kräftiges, durchgreifendes Talent und
feine fo zutaftende und jeben dramatiſchen Ausbrud ver-
fehlende Begabung, als die von ©. Helm ſich ausweiſt.
Die Perfonen biefes Autors find ſchwerfüllige Auto-
maten, ohne Leben und Charakter; die Handlung erfcheint
matt, ohne Klarheit und firaffen Gang. Man kommt
im ganzen Stüd nit recht dahinter, um was es ſich
eigentlich Handelt. Dlden-Barneveldt und Prinz Morit
reden und verhandeln Hin und Her, ohne daß dieſe Ber-
handlungen bie zu wüuſchende Concifion und die nöthige
dramatiſche Schlagfertigleit gemwönnen. Alles ift um«
mwidelt und ausgeftopft in diefem Stüd und zwar fo voll-
Tommen, daß ſich jeder warme Schlag und Haud der
Natur darunter verliert. Dan trifft nirgends in biefem
Werhke auf gefundes Fleiſch und echt menfchlichen Impuls,
fondern überall auf vhetorifche Watte und ausgepoffterte
5*
— —— — — TR ._—r — r. .
* Gr
. Bus SRG. ——
36 Revue des Literaturjahres 1869.
Action. Es ift alles verſchwommen, ohne ſcharfe Con»
touren und formen; es verlegt nirgends, es ſtößt nicht
ab; aber e8 ergreift und padt aud nicht.
Noch ſchlimmer ift e8 beftellt um:
6. Georg Jenatſch. Eine bramatifhe Dilogie von Arnold
von Salis. Bafel, Richter. 1868. 8. 1 Thlr.
Wenn diefer Arnold von Salie ein Enkel jenes Jo⸗
hann Gaudenz von Salis ift, dem unfere fchöne Literatur
einige tief ergreifende poetifche Gaben verdanft, jo ift der-
jelbe der Snappheit und Schärfe des Stil feines Ahn-
herrn fehr unteren geworben, denn feine beiden Trauer⸗
fpiele find dramatifche Gemälde von höchſt auseinander»
geflofiener Compofition und Farbe, die von echter und
wahrer Tragik eigentlich kaum eine Spur in fich aufweiſen.
Georg Jenatſch ift ein Proteftant Graubündtens, der
in der erften Hälfte des 17. Jahrhunderts den Priefterrod
mit dem Soldatenwams vertaufchte und einen katholiſchen
Kaubritter, Pompejus von Planta, mit einigen Helfers-
beifern in feiner Burg ermordete. Tür diefen Mord wird
er und feine Genofien in Yem und Acht gethan umd
ſchließlich mit derfelben Mordart, mit der man Planta
auf die Dielen feines Gemachs genagelt, von deſſen Toch⸗
ter niebergefchlagen.
Die Vorgänge find umftändlih, breit und oft in ganz
nuglofe Epifoden zerfplittert; gerade an ſolchen Stellen,
an denen die Handlung dramatiſch zugefpigt zu fein ver⸗
langt, ftumpft fich diejelbe ohnmächtig ab. Man fieht
leichſam den Arm zum Schlage ausholen, ohne daß der
chlag wirklich je erfolgt; ftatt eines gewaltigen Streichs
gibt es einen Klatſch.
Die That des Jenatſch allerdings vollzieht fich ziem-
lich raſch, wenn auch freilich Hinter den Coulifjen; die
Rache der Plantas aber braucht neun Acte, um zum Ziele
zu kommen. Das erfte Tranerfpiel fchließt damit, daß
der Held, von feinen Gegnern verfolgt und befümpft, die»
fen zwar das Feld räumt, aber fie doch durch feine Kühn⸗
beit verblüfft. Lucretia von Planta, melche jenes ver-
bängnißvolle Beil immer mit fi berumträgt, Hat eben
wieder gefhworen, daß e8 den Mord des Vaters rächen
fol, als Zenatſch ihr aus einem Gebüſch entgegentritt
und durch feine Erfcheinung fie fo erfchredt, daß das
Beil ihren Händen entfällt. Er fagt zu ihr:
Laßt ruhn das Beil! Noch ift nicht meine Stunde,
Legt e8 beifeite für ein andres mal!
% babe viel gelitten, viel geftritten,
Das Land zu retten; doch — es follte nicht fein!
Ich beuge mid, verlaffe meine Heimat,
Berbanne felbft mich aus dem trauten Thal,
Dod nit um in der Fremde zu verſchellen,
Dem Baterland erhalt’ ich meinen Arm.
Mein Weg führt an dem Scloffe hier vorüber;
Ich ahnte, daß das Beil noch thätig fei;
Ich kam — ba liegt's — legt es beifeite, ſag' ih!
Denn noch iſt meine Stunde nicht gekommen
Ich fühl' es deutlich. — Zwar mislang mir vieles,
Doch vieles hab’ ic) Teidend auch gelernt;
Zum Manne bin von SJüngling id) gereift
Durch den verlornen Sieg: ich wähnte flolz,
Der Unschuld durch Gewalt zum Recht verhelfen
Zu können, und ich trogte größrer Macht, —
Da fiel, was fchwitend ich gebaut, zufammen,
So muß die Zeit mid andre Wege lehren!
Diefe andern Wege ſchlägt er in Bünben ein, wo er
fi nun niederläßt und gleichfalls für die gute Sade
feines Glaubens und der Freiheit, doch gefetster und ohne
Mord und Todtſchlag kämpft. Doc, aud hier tödtet er,
wennfchon ohne eigentliche Abfiht. Ruinelli, cin bünd⸗
nerifcher Oberſt, hat im Rauſch ein Kind tobt geritten
und fol nun vor Gericht. Als er fi weigert, ſucht
Jenatſch ihn zur Fügſamkeit zu bewegen, reizt dadurch
den Trunkenbold aber nur derart, daß diefer gegen ihn
das Schwert zieht. In der Nothwehr tödtet ihn Jenatſch.
Dieſe Tödtung entfegt den Helden derart, daß er fid) in
einen Waldbach ftürzen will, was aber feine dazwiſchen⸗
tretende Frau glüdlicherweife verhindert, indem fie ihn auf⸗
fordert, fich feiner Familie wie feinem Lande zu erhalten,
Aufs neue widmet er ſich den öffentlichen Angelegen-
beiten, dem Wohl des Staats, flir das er mit Frankreich
unterhandelt. Rechte Ruhe und Gelaffenheit jedoch kann
er nicht mehr erlangen; ihn plagen böje Gedanken und
Träume, zulett auch die Geifter der Erfchlagenen. Zwar
macht er Rhätien fchließlich frei, erliegt aber endlich doch
dem Artfchlage der Yucretia von Planta,
Dem Ganzen fehlt echt dramatifches Wefen und Gefte:
die Dilogie nimmt fich wie eine hiftorifche Abhandlung
oder Erzählung aus, die fi al Drama maslirt hat,
überall aber aus der Rolle fällt. Selbft die Sprade iſt,
wie man aus dem kurzen Auszuge erfannt haben wird,
ohne Prägnanz und fefte Haltung, Täffig, ſchwankend und
nie da8 richtige Wort treffend. Ein Held, der „ſchwitzend“
feine tragifche Arbeit verrichtet und fich über das Fehl-
ſchlagen feiner Abfichten damit tröftet, „daß es nicht jein
ſollte“, documentirt fich unbezweifelt als ungeeignet für
das eigentliche Pathos. Wir anerkennen den Fleiß und
guten Willen des Autors, aber das ift auch geradezu
alles, was wir anzuerlennen im Stande find.
Seodor Wehl.
(Der Beſchluß folgt in ber nädften Nummer.)
Revne des Fiternturjahres 1869.
(Beſchluß aus Nr. 2.)
Die Gefhihtfhreibung hat in diefem Jahre nicht
viele hervorragende Leiftungen aufzuweiſen; die Verzettelung
in das archivariſche und biographifche Detail, die Vorliebe
für die Monographie kurzer Zeitabfchnitte, minder bedeu-
tender Perfönlichkeiten, unwichtiger Epochen, bleibt wie in
ben legten Yahren auch in diefem fitr fie charalteriſtiſch.
Die Heransgabe von Leopold Ranle's ‚„Gefammel-
ten Werken‘ fteht im Vordergrund des allgemeinen In⸗
terefies; denn Ranke behandelt interefiante Stoffe, ein
Zeitalter geiftiger Bewegung mit großer Kunft der Dar«
ftellung. Auch jein Werk über „Wallenftein” hat, troß
der etwas Fühlen diplomatifchen Behandlung, den Vorzug
eines fein ſchattirten Charaktergemäldes, Der Dreißigjäh-
rige Krieg wird überhaupt mit Vorliebe von den Hifto-
rifern zu Monographien jeder Art ausgebeutet. Den
Nente ſchen „Wallenftein” tritt Droyfen’s „Guſtav Adolf“
an die Seite, ein Werk, das ebenfalls den diplomatifchen
Gefihtspunft in den Vordergrund ftelt. Eine umfafjende
„Geicjichte des Dreißigjährigen Kriegs" gibt A. Gindely
heraus, der erfte Band fehildert den büfmifchen Aufs
fand von 1618; Freiherr F. von Soden „Guſtav Adolf
und fein Heer in Süddeutſchland“, der dritte Band des
umfafienden Werts behandelt die Epoche von der Schlacht
bei Nördlingen bis zum prager Frieden. Andere DMo-
mographien aus der Epoche des großen Kriegs find:
©. de Beer „Dank vom Haus Oeſterreich oder ber In«
fant Dom Duarte“; G. W. E. Schmidt: „Das fchmebiich-
fähfiiche Biindniß vom 1. September 1631"; D. Fraas:
„Die Nördlinger Schlacht am 27. Auguft 16354". Außer
der Geſchichte bes preußifchen Ctaats“ von Eberty, von
welcher der dritte und vierte Band vorliegen, erſcheint
eine Gefdichte Preußens unter den Hohenzollern von
€. von Cojel: „Gefchichte des preußifchen Staates und
Bolfes unter den Hohenzollernfben Fürften“.
Bielfach behandelt wird außerdem die Gefchichte der
nordamerifanifchen Freiftaaten. Außer der deutſchen Aus-
gabe des Hauptwerfs von Laboulaye: „Geſchichte der Ber-
einigten Staaten von Amerika“, erſcheint eine Fortſetzung
der E. Willard’ichen „Gefchichte der Vereinigten Staaten
von Nordamerika von E. R. Schmidt. Der neue ame
rifanifche Krieg hat einen geiftreichen Darfteller in H. Blan⸗
tenburg: „Die innern Kämpfe ber norbamerifanifchen Union“,
gefunden; auferdem erwähnen wir noch bie „Amerifani«
Shen Kriegsbilder” von Heufinger und den Vortrag von
5. von Meerheimb: „Sherman’s Feldzug in Georgien”,
Im Bezug auf die englische Geſchichte führen wir an: das
uch einesnamhaften, auf diefem Gebiete beſonders heimifchen
- Autors. Pauli: „Auffäge zur engliſchen Geſchichte.“ Ueber
n raftatter Geſandtenmord liegen zwei Arbeiten vor, bie
von Karl Mendelsfopn-Bartholdy, die andere vom
heren 9. von Meichlin- Meldegg. Die neuefte Ge-
behandeln: Wilhelm Müller: „PBolitifcde Gedichte
jer Gegenwart, das Jahr 1868”; Wolfgang Menzel:
„Die wichtigften Weltbegebenheiten vom Ende bes lom-
Hard Beder: „Die Reaction in Deutfchland gegen bie
Revolution von 1848.” Eine „Europäifche Geſchichte des
18. Jahrhunderts” fchreibt, in Schloſſer's Fußftapfen tre-
tend, E. von Noorden; die erfte Abteilung behandelt
den Spaniſchen Erbfolgekrieg.
Bon Geſchichtswerken, welche das Alterthum behan-
deln, verdient Erwähnung C. Peter's „Geſchichte Rome“,
von welcher die zweite Abtheilung des dritten Bandes
vorliegt, die Kaifergefchichte vom Tode Nero's bis zum
Tode Mare Aurel’8 behandelnd. Bon Friedrich Ortloff’s
Seſchichte der Grumbach'ſchen Händel“ ift der dritte Theil
ſchienen. Ruſig ſchreitet die von Ernſt Klein bearbei«
te zweite Auflage von J. A. Feßler's „Geſchichte
om Ungarn‘ fort, ebenſo I. Hodler's „Geſchichte des
Bernervolts”. Ein rühmenswerthes Werk iſt &. Scle-
— Inger’& „Geſchichte Bohmens“.
Revue bes Literaturjahres 1869. 87
Die weit im übrigen die Gedichte fi) in das
monographifche Detail auflöft, mag folgendes Regiſier
beweifen, das felbftverftändlich auf Vollſiändigkeit feinen
Anſpruch macht: 9. Oberdid: „Die römerfeindlichen
Bewegungen im Orient während ber legten Hälfte des
3. Jahrhunderts v. Chr.“; R. A. Lipfius: „Chro-
nologie der römischen Biſchöfe bis zur Mitte des 4. Jahr
hundert"; T. Breyfig: „Die Zeit Karl Martell's“;
I. Ficker: „Geſchichte des Lombardenbundes“; F. Biene-
mann: „Aus baltiſcher Vorzeit. Sechs Borträge über
die Geſchichte der Oftfeeprovingen“; E. Mitller: Geſchichte
der Stadt Osnabrück“ (erſter Theil); I. M. Mayer:
nDas Baiernbuch“; A. Pfizmaier: „Zur Geſchichte des
Zwiſchenreiches von Han“; ©. 2. von Maurer: „Ger
ſchichte der Städteverfaſſung in Deutſchland“; I. Riedl:
„Kurze Geſchichte des Landes Salzburg“; W. Tobien: „Denk-
würdigkeiten aus der Vergangenheit Weſtfalens“; A. Bed:
„Geſchichte des gothaifchen Fandes, zweiter Band, Ge-
ſchichte der Stadt Gotha“; C. A. Cornelius: „Die nieder-
lündifchen Wiedertäufer während der Belagerung Münſters
1534— 35"; €. Sieniawsli: „Das Interregnum und die
Königewahl in Polen vom Jahre 1587; R. Calinich:
„Der naumburger Würftentag 1561; ®. Dubil:
„Preußen in Mähren 1742"; U. Dominicus: „Koblenz
unter bem legten Kurfürſten von Trier Clemens Wenzeslaus
1786— 94”; C. Höfler: „Fragmente zur Gefchichte Kaifer ”
Karl's VI.”; F. von Ompteda: „Zur deutfchen Gefchichte
in dem Jahrzehnt vor den Befreiungsfriegen” ; T. Griefinger:
„Dos Damenregiment an den verfchiedenen Höfen Europas“;
€. Reimann: „Geſchichte des Bairifchen Erbfolgefriege”;
©. von Polenz: „Geſchichte des franzöfifchen Calvinismus”
(fünfter Band); C. T. Perthes: „Bolitifche Zuftände und
BVerfonen in Deutfchland zur Zeit der frangöfifchen Herr-
Schaft" (zweiter Band); I. Eofter: „Gefchichte der Feftung
Lureniburg“. Bon Schade's „Geſchichtstalender“ und von
8. von Raumer's „Hiftoriihem Taſchenbuch“ Tiegen neue
Jahrgänge vor. Ebenfo fchreiten bie neuen Auflagen von
Beder’s und Weber's Weltgefchichte rüftig fort. Den Ueber-
gang zur biographifcen- und Memoirenliteratur bilden:
I. Eberöberg: „Haus, Hof und Staategeſchichten“ und
Luiſe Otto: „Privatgefdichten der Weltgefchichte".
Bon culturgefhidtlihen Echriften erwähnen wir,
außer dem oben bereit8 angeführten Werk von 9. I.
Honegger, 3. I. Roßbach: „Geſchichte der Geſellſchaft“;
der zmeite Theil diefes verbienftlihen Werks, deſſen Ber-
faſſer vor kurzem durch den Tod abberufen wurde, jcil-
dert „Die Mittelflafjen im Orient und im Mittelalter
der Völler des Occidents“, ber dritte Theil, „Die Mittel»
Haffen in der Eulturzeit der Voller“. ine allgemeine
Einleitung zur Culturgeſchichte der Neuzeit bietet die
Schrift von O. Henne-Am Rhyn: „Die Culturgefdichte
im Lichte des Foriſchritis“. Beiträge zur deutſchen Cultur -
geſchichte liefern F. Pfalz: „Wilder aus dem deutſchen
Städteleben im Mittelalter”; I. Falle: „Geſchichte des
deutfchen Zollweſens“; W. Weber: „Der deutſche Zolls
verein“; I. Schmoller: „Zur Geſchichte der deuiſchen
Kleingewerbe im 19. Jahrhundert”. Auch der Teufel ger
hört mehr in die Culturgeſchichte als in die Religions
philofophie, wir erwähnen daher hier Rosloffe' „Gedichte
des Teufels”.
.
-.. -
»
58 Revue des Literaturjahres 1869.
Ansnehmend reichhaltig ift die biographiſche Lite—
ratur, zu welder wir die Denkwürdigkeiten und Brief»
wechſel hinzurechnen. Die Biographie darf, wie uns
Varnhagen's Vorbild gezeigt hat, Anſpruch machen auf
tünftlerifche Bedeutung, wenn das gefichtete Material in
durchſichtiger Gruppirung und ebenmäßigen Berhältniffen
u einem harmoniſchen Ganzen georbnet wird, und zwar
in einer äuterung, welche das aus den Quellen gefchöpfte
Stoffartige und Beweisfräftige, gleichfam die Hilfen der
Forſchung, abſtößt und uns nur die gereifte und genieß⸗
bare Frucht bietet. Nach diefem Ziel einer künſtleriſch
harmonischen Biographie ftreben die wenigften Biographen
heutiger Zeit; die Mehrzahl gefällt ſich in archivariſcher
Behandlung, in der Aufhäufung quellenmäßigen Details
ohne geſchmackvolle Sichtung. Selbſt in anderer Hinficht
rühmenswerthe Werke, wie „Das Leben des Feldmarſchalls
Grafen Neitharbt von Gneiſenau“, von ©. 9. Berg,
von welchem der britte Band vorliegt, find von dem
Borwurf der Ueberladung mit unverarbeitetem Material
nicht freizufprechen. Eine Biographie von vier bis fünf
diden Bänden überfchreitet das erlaubte Maß gefchmad-
voller Darftellung. Einen Pendant zu Perg’ „Oneiſenau“
bietet ©. 9. Klippel: „Das Leben bes Generals von
Scharnhorſt“, von welchem bisher zwei Bünde vorliegen.
Bou dem Wert „Chriſtian Karl Yoflas Freiherr von
Bunſen. Aus feinen Briefen und nad) eigener Erinnerung
gefchildert von feiner Witwe‘, ift der zweite Band der
deutfchen Ausgabe von F. Nippold ausgegeben worben.
Bon K. A. Varnhagen's von Enfe „Tagebüchern“ erfchien
ber elfte Band, außerdem ans feinem Nachlaß fünf
“ Bünde: „Blicke aus preußifcher Geſchichte“.
Das Humboldt-Iubiläum Hat eine nicht unbeträchtliche
Humboldt⸗Literatur hervorgerufen: 4. Baftian: „Alerander
von Humboldt“, Feftrede; H. W. Dove: „Alerander von
Humboldt“, Feftrede; C. Ule: „Alerander von Humboldt,
Biographie für alle Völker der Erde”; R. O. Meibauer:
„Alerander von Humboldt, fein Leben und Forſchen“;
„Briefwechſel und Gefpräcde Alerander’3 von Humboldt
mit einem jungen Freunde. Aus ben Jahren 1848 bis
1856” (zweite Anflage); „Im Ural und Altai. Brief
wechjel zwijchen Alexander von Humboldt und Graf Georg
von Cancrin“; „Briefe von Alerander von Humboldt an
Chriſtian Karl Joſias Freiheren von Bunfen”; W. Buchner:
„Deutſche Ruhmes-Halle. Exfte Lieferung: Alerander von
Humboldt, ein Lebensbild”.
Ueber die preußifche Reftaurationsepodye geben nicht
unwichtige Anfjchlüffe: „Briefe des königlich preußifchen
Staatsminifters, Generalpoftmeifters und ehemaligen Bun-
bestagsgefandten Karl Ferdinand Friedrich von Nagler an
einen Staatsbeamten”, herausgegeben von E. Kelchner
und K. Menbelsfohn-Bartholdy, während die don Erne-
fine von 2. herausgegebenen Briefe und Aufzeichnungen:
„Köonig Ieröme und feine Familie im Exil”, uns ben
vielberufenen König Weſtfalens in etwas günftigerm
Lichte zeigen.
Um die Bielfeitigleit der beutfchen biographiichen Be⸗
firebungen zu beweifen, fügen wir das folgende bumt-
— von uns abfichtlich nicht nach Gruppen geord⸗
nete Regiſter von Biographien bei, von denen einzelne
nicht ohne Berdienſt find, die Mehrzahl aber an den oben
gerügten Mängeln leidet: B. Spiegel „D. Albert Rizüus
Hardenberg. Ein Theologenleben aus der Reformationd«
zeit"; H. WB. J. Thierſch: „Luther, Guftan Adolf und
Maximilian I. von Baiern”; „Georg, Großherzog von
Medienburg. Ein Lebensbild. Bon einem Medlenburger” ;
„Wilhelm Griefinger. Biographifche Skizze"; C. F. Her-
mann: „Johann Jalob Moſer, der wirtembergifche Pa⸗
triot, als Gefangener auf Hohentwiel”; I. F. A. Mücke:
„Flavius Claudius Julianus, zweite Abtheilung, Ju⸗
lian's Leben und Schriften‘; J. C. Mitterrutzner: „Dr.
Ignaz Knoblecher, apoſtoliſcher Provikar der katholiſchen
Miſſion in Centralafrika“; A. Wolf: „Graf Karl Chotek,
Geheimer Rath und Oberſtburggraf von Böhmen‘;
„Friedrich Wilhelm Krummacher, eine Selbftbiographie‘;
5. Wallon: „Johanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans”;
R. Lehmann: „Forſchungen zur Gefchichte des Abtes
Hugo I. von Cluny“; %. X. Wegele: „Friedrich ber
Trendige, Markgraf von Meißen, Yandgraf von Thitringen
und die Wettiner feiner Zeit”; C. 5. Nebenius: „Karl
Friedrich) von Baden. Aus defien Nachlaß herausgegeben
durch F. von Weech“; ©. Bruhns: „Johann Yranz
Encke, königlicher Aſtronom und Director der Sternwarte
zu Berlin. Sein Leben und Wirken bearbeitet nach dem
ſchriftlichen Nachlaß“; „Zur Erinnerung an Karl Wil⸗
helm Bouterwel, Director des Gymnaſtums in Elberfeld‘;
H. von Brandt: „Aus dem Leben des Generals ber
Infanterie 3. D. Dr. Heinrih von Brandt“ (zmeiter
Theil); A. Ritter von Vivenet: „Thugut, Elairfayt und
Wurmſer“; E. Achelis: „Dr. Richard Rothe”; 3. Anthieny:
„Der päpftliche Nuntius Karl Caraffa“; P. W. Stursberg:
„Das Leben Gerhard Terſteegens“; A. Wolf: „Fürſt Wenzel
—— erſter Geheimer Rath Kaiſer Leopold's J.“; L. Schnei⸗
der: „König Wilhelm. Militäriſche Lebensbeſchreibung“;
R. Volkmann: „Syneſius von Cyrene“; „Aus ben
Memoiren eines ruſſiſchen Dekabriften”; F. W. Cuno:
„Johann der Aeltere von Naſſau⸗Dillenburg, ein fürſt⸗
licher Reformator“; W. Kampſchulte: „Johann Calvin,
ſeine Kirche und ſein Staat in Genf“ (erſter Band); H.
Schramm: „K. F. Ph. von Martins. Sein Lebens- und
Charakterbild“; C. F. Meißner: „Denkſchrift auf Karl
Friedrich Philipp von Martius“; B. Erbmannsbörffer:
„Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein preußiſcher
Staatsmann im 17. Jahrhundert“; J. C. C. Hoffmeiſter:
„Karl II., Landgraf zu Heſſen⸗Philippsthal“; W. Edler
von Janko: „Das Leben des k. k. Felbmarſchalls Gideon
Ernſt Freiherr von Laudon“; R. Rößler: „Das Leben
Herzog Heinrich's VII. von Brieg“; A. Zinzow: „Thomas
Arnold”; J. B. Schwab: „Franz Berg, geiſtlicher Rath
und Profefſor der Kirchengeſchichte an der Univerfität
Würzburg”; 3. P. Gelbert: „Magiſter Johann Bader's
Leben und Schriften, Nikolaus Thomme und feine Briefe‘;
D.Hafe: „Die Koburger, Buchhändlerfamilie zu Nitrnberg“ ;
3. 9. Seefried: „Die Grafen von Abenberg“; D. U,
Kofenthal: „Sonvertitenbilder aus dem 19. Jahrhundert‘
(dritten Bandes erfter Theil); A. Ruß: „Die Conver-
titen feit ber Reformation” (neunter Band); „Renata,
Herzogin von Ferrara. Ein Lebensbild aus dem Zeit-
alter der Reformation. Dit einem Vorwort von W.
von Gieſebrecht“; F. Blümmer: „Renata von Ferrara“;
8. Bartſch: „Herzog Ernſt“; Wiener: „Karl Heinrich
Revue des Literaturjahres 1869,
Sraun”; R. Alerander: „Napoleon IL”; W. Herbft:
„Karl Guſtav Heiland, ein Lebensbild“; R. Roesler:
„Die Jugend Napoleon's J.“; A. Sach: „Joachim Rachel,
ein Dichter und Schulmann des 17. Jahrhunderts“; R.
von Stintzing: „Hugo Donellus in Altdorf“; L. Thyen:
„Benno II., Biſchof von Osnabrück“; J. A. Voigt:
„Skizzen aus dent Leben Friedrich David Ferdinand
Hoffbauer’3”; 9. F. Mürbter: „Engliſche Reformatoren
und Märtyrer in Biographien”; U. R. von Schrötter:
„Karl Ludwig Freiherr von Reichenbach“; Behn: „Herr
Medicinalratd Dr. Küchenmeiſter und die Leopoldinifch-
Karoliniſche Akademie ber Naturforfcher”; 3. Gmür:
„Landammann Baumgartner”; H. J. Kümmel: „Johann
Musler, Bilder and einem Lehrerlebeu des 16. Jahre
hunderta“; F. Körner: „Große Männer, große Zeiten.
Geſchichte des letzten Jahrhunderts in Biographien”; X.
Lewald: „Inigo. Eine Bilderreihe aus dem Leben des
heiligen Ignatius von Loyola“ (Biographie in Verſen);
H. Freiherr von Frieſen: „Julius Heinrich Graf von Frieſen,
Iniferlicher General. Feldzeugmeifter und koniglich englifcher
General⸗Lieutenant“; 9. Dartmann: „Erhard Schnepff,
der Reformator in Schwaben, Naſſau, Heilen und Thü⸗
zingen“; „„Sugenderinnerungen eines alten Mannes“;
„Aphorismen aus den Papieren eines Berftorbenen‘;
3. ©. Dreydorff: „Pascal, fein Leben und feine
Kämpfe”.
Wenn wir dies Regifter näher betrachten, fo treten
uns im ganzen nur wenig befannte Namen entgegen; es
find, mit Ausnahme eines König Wilhelm, eines Pascal,
Ende und einiger andern, meiftens Größen dritten Ranges,
welche in der deutſchen Walhalla feinen Platz finden
dürften. Yamilienpietät oder irgendweldye Specialftudien
begeiftern in der Regel zu derartigen Biographien, zu
denen befonders die Theologen und Militärs eine vor⸗
wiegendbe Neigung zeigen. ‘Die Biographien einzelner
Dichter und Künftler haben wir bereit8 früher an be»
treffender Stelle erwähnt. Bon Briefwechſeln fügen wir
bei: „Sibylle, Herzogin von Jülich⸗Kleve-⸗Berg, Briefe
an ihren Gemahl Johann Friedrih den Großmüthigen,
Kurfürften von Sachſen“; „Briefwechfel Friedrich's des
Großen mit dem Prinzen Wilhelm IV. von Oranien und
deflen Gemahlin”, U. Ritter von Arneth: „Joſeph I.
und Katharina von Rußland. Ihr Briefwechſel.“
Eine Ergänzung ber Geſchichtsliteratur bildet die
militärwiffenjhaftliche, ſoweit fie kriegsgeſchichtliche
Darftellungen bietet. Ueber den legten großen Krieg Liegt
ein Werk von T. Fontane vor: „Der deutjche Krieg von
1866”, defien erfter Band den Feldzug in Böhmen und
Mähren ſchildert und zwar in der erften Hälfte bis zur
Schlacht von Königgräg. Außerdem find nur minder
wichtige Erinnerungsblätter zu verzeichnen: R. Freiherr
von Strombed: „Kriegs- Tagebücher aus den Jahren 1864
und 1866“; 9. Blaenfner: „Die Neunundfechziger bei
Königgräg”; B. Dudik: „Erinnerungen aus dem Feldzug
1866 in Stalien”; Chevalier: „Die Elbarmee im Feld⸗
auge von 1866“. Der abyſſiniſche Krieg wird in zwei
Berken dargeftellt: Koloditſch: „Die engliſche Armee in
lbyſſinien im ®eldzuge 186768 und ©. Graf von
Sedendorff: „Meine Exlebniffe mit dem englifchen Erxpe-
yitionscorps in Abpffinien 1867—68". In das Mittel-
39
alter zurüd greift I. Würdinger: „Sriegsgefchichte von
Baiern, Franken, Pfalz und Schwaben von 1347— 1506“
(zweiter Band), und in die Kriegsgeſchichte des Alterthums
A. Dederih: „Die Feldzüge des Drufus und Tiberius
in da8 nordweftliche Germanien.” Den „Krieg in Neu⸗
ſeeland“ childert ©. Droege, während L. R. Zimmermann
„Erinuerungen eines ehemaligen Brigantenchefs” und 9.
Eggenburg „Zornifter-Gejchichten veröffentlicht, welche
beiden legten Werke fchon in das Novelliftifche hinüber⸗
jpielen. Eine „Geſchichte der Waffen“ Liegt vor von F.
A. K. Specht, eine andere von A. Dammin: „Die Kriegs-
waffen in ihrer hiſtoriſchen Entwidelung von ber Neuzeit
bis zum 18. Jahrhundert”.
Andere militärifche Schriften find: E. Nüffer: „Die
Strategen und bie Strategie der neneften Zeit”; G. von
Glaſenapp: „Die Generale der preußifchen Armee”;
„Sedanten über den militärifchen Geiſt“; „Weber die
Berantwortlichkeit im Kriege”; Felir: „Arkolay's Appell
an die Denker in den Heeren”; Gaupp: „Das Sanitäts-
wejen in den Heeren der Alten”; Schauenburg: „Er⸗
innerungen aus dem preußifchen Kriegslazarethleben”.
Auf dem Gebiete ber Publieiſtik erfcheint als her⸗
vorragendes Werk F. von Holgendorff: „Die PBrincipien
der Politik.” Wehnliche principielle Schriften von allge-
meiner Haltung find W. E. von Lindgren: „Die Grund-
begriffe des Staatsrechts”, und F. Pilgram: „Neue
Grundlagen der Wiffenfhaft vom Staate”; K. T. von
InamaSternegg: „Die Tendenz der Großſtaatenbildung
in ber Gegenwart”; 9. €. Bluntihli: „Charakter und
Geift der politiichen KParteien”. W. Menzel’s „Kritik
bes mbddernen Zeitbewußtſeins“ ift eine Jeremiade, welche
das Politiſche mehr gelegentlich ftreift, eingehender das
Sociale, Religionsphilofophifche behandelt. Kin Intereffe,
das täglich noch im Wachfen ift, haben die von Ruffifi-
cirungsverfuchen bedrohten deutſch⸗ruſſiſchen Oftfeeprovinzen
hervorgerufen. Wir erwähnen hier vor allem E. Eckardt's
„Baltifche und ruſſiſche Culturſtudien“; ferner W. von
Bod: „Der deutfch-ruffiiche Conflict an der Oſtſee“; 9.
von Sivers: „Humanität und Nationalität, eine lid»
ländifche Säcularfchrift zum Andenken Herder's“; „Die
baltiſchen Provinzen am Rubicon, Sendfchreiben an die
Deutjchen der Oftfeeländer von einem Batrioten“; Juri
Samarin’d Anklage gegen die Oftfeeprovinzen Rußlands.
Eingeleitet und commentirt von E. Eckardt“; C. Scirren:
„Lioländiiche Antwort an Herrn Samarin”; Edward
Kattner's „Preußens Beruf im Oſten“; Bertram:
„Wagien“; von Harleß: „Gefchichtsbilder aus der
Kirche Livlands.“
Bon ben mehr polemifchen Schriften erwähnen wir
diejenigen von 8. Braun, der ein ebenjo unermüblicher
wie wig- umd geiftreicher Borkämpfer bdeutfcher Einheit
it. Seinen „PBarlamentöbriefen‘ folgte neuerdings das
zweibänbige Werk: „Bilber aus der deutſchen Kleinftaaterei”.
Geiftvoll find auch die Auffüge der Sammlung von
Leonhard Oppenheim: „Bor und nad dem Kriege“.
Andere publiciftiiche Schriften find: „Deutſchland, Defter-
reich und Europa, von einem Wltöfterreicher”; „Bolitifche
Briefe über Rußland und Polen”; H. Ewald: „Die zwei
Wege in Deutjchland”; „Gneiſt und Stuart Mil. Alt
englifche und neuenglifche Staatsanſchauung“; D. Klopp:
40 Revue des Literaturjahres 1869.
„Das preußifche Berfahren in ver Vermögensſache des
Königs von Hannover‘; Oppermann: „Der Weg zum Jahre
1866; Thanlow: „Die Umgeftaltung Deutſchlands“;
C. Sceele: „Für und wider Preußen”; „Bismard vor
der Gefchichte‘; E. Wintersberg: „Brennende Fragen‘;
L. 8. Aegidi: „Die Mainlinie‘; F. 9. Walchner: „Pos
litiſche Wahrheiten‘; „Bubliciftifche Abhandlungen zum
Berftändniß der Gegenwart”; „Aufruf zur Bildung einer
neuen Mittelpartei”; „Berlin und Mottenburg. Ein
Rothbuch, herausgegeben von einem Kreuzritter“; „Was
geht und was nicht geht. Einige Bemerkungen mit
Bezug auf Saatshaushalt, Berfafiung und Recht im
Königreich Preußen und in dem Norddentfchen Bunde”.
Die fociale Literatur behandelt vorzugsweife zwei
Probleme, die Lage der arbeitenden Klaffen und die Lage
der Frauen. Bon nationalöfonomiihen Schriften, die ſich
an das größere Publitum wenden, erwähnen wir bier:
G. Eohn: „Ueber die Bedeutung der Nationalökonomie‘;
3. €. Biel: „Anfangsgründe der Volkswirthſchaft“; F.
%. Neumann: „Boltswirthichaft und Heeresweſen“; die
geiftreihe Schrift von U. Samter: „Die Reform des
Geldweſens“; 3. Schulze: „Bopuläre Vorträge über
Socialwiffenfchaft”; 3. Faeger: „Der menſchliche Verkehr
und ferne Theorie”; der erfte Band einer „Geſchichte der
Arbeit”, von dem tüchtigen Germaniften M. Weinhold.
Bezug auf die Arbeiterfrage nehmen die folgenden Scrif-
ten: N. Sokoloff: „Die fociale Revolution‘; B. A. Huber:
„Sociale Fragen. VI. Die Arbeiterfrage in England“;
„Die Köfung der focialen Frage durch Gewerkvereine und
Arbeiterfchaften”; %. von Kiräly: „Betrachtungen über
Socialismus und Communismus“; B. Beder: „Die
Allmeinde, das Grundſtück zur Löfung der focialen Frage
geftütt auf fchweizerifche Verhältniſſe'; H. Schumader:
„Weber Johann Heinrich von Thünen's Geſetz vom natur:
gemäßen Arbeitslohne”; W. Breyer: „Der Kampf um das
Daſein“; „Die Arbeitseinftelung, ein Lebensbild aus
unferer Zeit”.
In Betreff der Frauenfrage ift ein fehr berebter
Anwalt fir die Rechte der Frauen in John Stuart Mill
aufgetreten, deſſen Schrift „Die Hörigkeit der Frau’
von Jenny Hirſch aus dem Engliihen überfegt worden
ft. Auch die beutfchen Borlämpferinnen find unermüd—
[ih mit neuen Beröffentlihungen. Minna Pinoff gibt
eine neue Schrift: „Die Löſung der Eriftenzfrage der
Tran” heraus; Luife Dtto ben „Genius des Haufes”.
Fanny Lewald: „Vierzehn Briefe für und wider bie
rauen“; Zuife Hohndorf: „rauenleben und Frauenberuf“
und 2. Wachler's Furzgedrängte aber inhaltsreiche Schrift:
„Zur rechtlichen Stellung der rauen‘, verdienen hier
noch Erwähnung.
Daß die Padagogen eine fehr fchreibluftige Species
der Gelehrten find, ift burch die Erfahrungswiſſenſchaft
längft erwiefen. In diefem Jahre erfchienen zwei neue
„Pädagogifche Bibliotheken”, die eine herausgegeben von
K. Richter, die andere mit dem Titel „Bibliothek püda-
- gogifcher Claſſiker“ von H. Beyer; außerdem eine neue
Zeitfchrift: „Stimmen aus der berliner Lehrerwelt“, redigirt
von R. Schobert; 2. W. Seyfferth veranitaltet eine Aus-
gabe von „Peſtalozzi's ſämmtlichen Werfen”. Daß bie
wichtigften Fragen der Schule und des Unterrichts fort⸗
während in Schriften und Broſchüren behandelt werben,
beweiſe das folgende Regifter, das auf Bollftändigkfeit nicht
Anfpruh macht und nur ein charakteriftifches Licht auf
die BVieljeitigfeit der päbagogifchen Bewegung in Deutfd-
land werfen will: „Moderne Pädagogik. In Briefen“;
F. Hofmann: „Die Öffentlichen Schulen und das Schul-
geld"; C. Klett: „Der Lehrer ohne Stock“; F. Boll: „Die
häusliche Erziehung‘; A. von Lachemair: „Die Schul
frage und ihre bisherige Löſung““; R. Gneiſt: „Die Selbft-
verwaltung der Schule; 3. ©. Sergemund: „Dr. R.
Gneift und die confeffionele Schule‘; C. ©. Scheibert:
„Die Confeffionalität der höhern Schulen”; T. Bar:
„Die Stimmen bes Landes in der Schulfrage”; €. Pe-
fhel: „Weber Trennung der Schule von ber Kirche”;
L. Strümpell: „Erziehungsfragen, gemeinverftändlicdh er-
örtert”; ©. Schumann: „Eine Lehrerreife. Randzeich—⸗
nungen zu dem preußischen Volksſchulweſen“; R. Arendt:
„Der Anſchauungsunterricht in der Naturlehre“; A. Klein-
ſchmidt: „Weber Yugendfchriften”; ©. Zenfer: „Ueber das
Weſen der Bildung mit befonderer Berüdfidftigung der
Erziehung und des Unterrichts‘; 3. ©. Freyer: „Die
Sorge der Schule für das leibliche Wohl ihrer Zöglinge“;
„Zur Schulreform in Baiern“; H. Zwid: „Die Ziele
der mobernen Lehrerbildung”; 4. ©. Weiß: „Die alt
kirchliche Pädagogik“; ©. Bruckbach, „Wegweiſer durch
die Geſchichte der Pädagogik“; G. A. Harweck: „Johann
Heinrich Peſtalozzi“.
Bei den Reiſebeſchreibungen müſſen wir zwiſchen
der Schilderung größerer Entdeckungsreiſen in fremden
Ländern und der leichter geſchürzten touriſtiſchen Literatur
unterſcheiden, welche die Welt oft nur durch das Waggon⸗
fenſter betrachtet. Zur erſtern Klaſſe gehören die gedie-
genen, inhaltreichen Studien und Reifen von Adolf Baftian,
von denen der fünfte (Schluß-)Band erfchienen ift: „Reifen
im indifchen Archipel, Singapore, Batavia, Manila und
Japan.” Daffelbe Thema behandelt die ind Deutfche
überfegte Schrift von U. R. Wallace: „Der malayifche
Archipel“ und E. Semper’s Skizzen: „Die Philippinen
umd ihre Bewohner”. Wichtige afrikaniſche Reifefchriften
find: Baron von der Deden’d „Reifen in Oſtafrika in
den Jahren 185965”; M. T. von Heuglin: „Reife
in das Gebiet des Weißen Nil und feiner weftlichen Zu»
Nüffe in den Jahren 1862—64”; T. Wangemann: „Ein
Neifejahr in Südafrika” und „Maleo und Sekufini. Ein
Lebensbild aus Südafrika”.
Nachſt Afrika flößt der hohe Norden durch die fühnen
neuern Entdedungsfahrten ein bejonderes Interefle ein.
Einen allgemeinen Weberblid gibt der Vortrag von O.
Beer: „Ueber die neueften Entdedungen im hohen Nor«
den’; intereflante Einzelichilderungen finden ſich in zwei
überjegten Reiſewerken: %. Whymper: „Alaska. Reifen
und Erlebniffe im Hohen Norden‘, deutſch von F. Steger,
und D. Zorell und A. E. Nordenftjöld: „Die ſchwedi⸗
Ihen Expeditionen nad Spigbergen und Bären-Eiland“,
überjegt von 2. Paffarge.
Der Zug der eigentlichen Zouriften geht vorzugsweiſe
in bie Alpen und die füdlichen Fänder Europas, Stalien
und Spanien, Weiter hinaus haben fid) nur neuerdings
die Schwürme der Suezlanalreifenden erftredt, deren
toneiftifche Ernte noch nicht eingeheimft jſt. Intereſſante
Sfiggen Über Aegypten gibt Arthur Stahl’ Schrift: „Im
Lande der Pharaonen“. Italien, das Zauberland, deſſen
Reize, wie e8 ſcheint, mie ausgeſchrieben und ausgefungen
werden können, it im folgenden Keifefchriften von neuem
geichildert: H. Allmers: „Römifche Schlenbertage"; C. U.
Dempwolff: „Oberitalienifhe Fahrten“; 4. Stahr und
Fanıy Lewald: „Cin Winter in Rom“; O. Hartwig:
„Aus Sicilien. Cultur- und Geſchichtsbilder“; ©. F. von
Boffweiler: „Sicilien. Schilderungen aus Gegenwart und
Vergangenheit”; W. Roßmann: „Vom Geftade der Eyflo-
‚pen und Sirenen“.
Während wir im biefen meiften Schriften viel ins
- Gewicht fallende Gelehrfamfeit mit in ben Kauf nehmen
müfjen, tragen die Vergreifenden nad; Tirol und der
_ Scjweiz leichteres Grpäd: H.Noe: „Brennerbud. Nature
anfichten und Febensbilder aus Tirol“; A. von Kuthner:
„Aus Tirol. Berg» und Gletſcherreiſen in den öſterreichi -
ſchen Hodalpen”; U. Halder: „Vergluft. Sonntags-
; ifereien eines alten Clubiſten“; E. Ofenbrüggen: „Wan⸗
derjiubien aus der Schweiz” (zweiter Band); Fanny Le
wald: „Sommer und Winter am Genferjee“.
Abdolf Ebeling ‚gibt pilante „Neue Bilder aus dem
modernen Paris” heraus.
Die fpanifche Revolution hat neuerdings mehrere Tou⸗
‚riften angezogen, welche auf das Politiſche den Schwer
ihrer Darftellung legen: Guftad Raſch: „Bom
panifchen Revolutionsfhauplage‘; M. Klapp: „Revolus
bilder aus Spani Unbefangener zeigt ſich W.
jattenbadh: „Cine Serienreife nach Spanien und Por
gal“ und A, Kerſchbaumer: Reifebilder aus Spanien“.
. Rafc hat aud) ein Reiſebuch durch Schweden: „Aus
n freien Lande“, herausgegeben.
Andere touriftifche Schriften, denen wir gleichzeitig
‚€ etbnographifche anreihen, find bie folgenden:
Schasmayr: „Nord und Süd. Geographiſch- ethno -
hifche Studien und Bilder“; R.Hinterhuber: „Mondſee
feine Umgebungen"; I. Müblfeld: „Aus der Mappe.
buch“; B. Walden: „Wiener Studien“; K. Grün:
iches Wien. Die Stadt und ihre Kunſtſchätze“;
5. Pleger: „Bilder aus dem Süden“; F. Maurer:
;e Reife durch Bosnien, die Saveländer und Ungarn“;
Glagau: „Littauen und die Littauer“; F. Wüftenfeld:
ie Wohnfige und Wanderungen der arabiihen Stämme‘;
Pröple: „Harz und Kyffhäufe 3. Racki: „Fiume
jenüber Kroatien"; I. Bechtinger: „Ein Jahr auf den
dwichinfeln‘; H. Chrift: „Ob dem Kernwald“; J. N.
: „Acht Vorträge über das Pandſchab“.
Schwerer noch als in den andern Fächern läßt fid
den Naturwiffenfhaften die Grenze ziehen, wo
18 ftreng Fachwiſſenſchaftliche aufhört und in eine fih
die allgemeine Bildung menbende Literatur übergeht.
as Mufterwert biefer legten Gattung von Schriften,
. von Humboldt’s „Kosmos. Entwurf einer phufifchen
Seltbejchreibung”, hat eine mit einer biographiſchen Einlei-
agvon B. von Cotta verfehene Iubiläums-Ansgabe erlebt.
’ Am übrigen überwiegt in diefem Literatürjahr ein
hr philofophijcher Kampf für oder gegen den Materia -
mus; der Darwinismus und die Urgejchichte des Men⸗
1870. 3.
k
Revue des Literaturjahres 1869.
41
ſchen find für diefen Kampf die beliebteften Anhaltspımfte.
Volgende Schriften drehen ſich mehr oder weniger um
diefe Probleme: I. H. Thomaffen: „Enthüllungen aus
der Urgeſchichte“; I. B. Balger: „Ueber die Anfänge der
Organismen und die Urgeſchichte des Menſchen“; K. B.
Heller: „Darwin und der Darwinismus“; 9. Dub:
„Kurze Darftellung der Lehre Darwin's“; R. Biber:
„Karl Vogt's naturwifienfchaftliche Vorträge über die Ur«
gefhichte des Menſchen“; 2. Büchner: „Die Stellung
des Menfchen in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft“; F. Ragel: „Sein und Werden der orga⸗
niſchen Welt”; ©. H. ©. Jahr: „Stoff ober Kraft ? Ober:
Das immaterielle Wefen der Natur“; F. Mohr: „Alle
gemeine Theorie der Bewegung und Kraft als Grundlage
der Phyſik und Chemie”; I. Gottlieb: „Urfprung, Aus«
bildung und Ende der Erde und des Menſchen“; I. €.
Schmidt: „Elemente zur Begründung einer mathematifc«
phyfilaliſchen Organismenlehre oder Mathefis allein ift
Wifſenſchaft“; F. Recht: „Die Erkenntnißlehre der Schd-
pfung nad) Grundſätzen der freien Forſchung“ und „Die
Entwidelung der Weltgefege”.
Hinter diefer meift polemifchen Richtung in Bezug auf
allgemeinere Principien treten die einzelnen pofitiven Zweige
der Naturwiſſenſchaft etwas zurüd. Auf dem Gebiete
der Aftronomie und Phyſik erwähnen wir folgende Schrife
ten: H. I. Mein: „Handbuch der allgemeinen Himmeld-
beſchreibung vom Stanbpunft der kosmiſchen Weltanſchauung
bargeftellt”; PB. Reis: „Die Sonne. Zwei phyſikaliſche
Vorträge; ©. Badhaus: „Die Erde wird einen zweiten
Mond befommen, ber ihr näher liegt als der erfte”; „Neue
Beweife, daß die Erde ſich nicht nach Newton's Gravis
tationdgefeg um die Sonne bewegen kann“; G. Studer:
„Meber Eis und Schnee”; €. W. Schmidt: „Die ftetige
Senkung des Weltmeers auf der nördlichen Halbfugel der
Erde”; R. Falb: „Grundzüge zu einer Theorie der Erd⸗
beben und Bulfanausbrüche” ; & Ratgeber: „Ueber den
Nordpol ber Erde.
Geologifche Local- und Specialthemata behandeln
I. Schumann: „Geologiſche Wanderungen durch Altpreu:
Ben“ und F. Merklein: „Beitrag zur Kenntniß der Erd»
oberfläce um Scaffhaufen“. „Beiträge zur Geſchichte
der Chemie” veröffentlicht H. Kopp. Auf dem Gebiete
der Zoologie find zu erwähnen: F. Baron Drofte- Hüls-
Hoff: „Die Bogelmelt der Nordfeeinfel Borkum“ und
O. Köftlin: „Studien zur Naturgefchichte des Menſchen
und der Thiere”.
©. A. Martin gibt gefammelte populäre Aufjäge:
„Qilder und Skizzen aus der Naturkunde”, heraus; ©. von
Littrow eine Rectoratsrebe: „Ueber das Zurüdbleiben ber
Alten in den Naturwiſſenſchaften“. Lehrreich und inter
effant find I. N. Czermak's „Populäre phyfiologifche Vor-
träge”. Eine neue Sammlung: „Die Naturkräfte”, bringt '
eine populäre Optif und Aluſtik, indem Tiſco „Licht und
Farbe“, Rodan „Die Lehre vom Schall” darſiellt.
So nehmen wir Abfchied von dem Literaturjahr 1869,
das fir feinen Fleiß eine anerfennende Cenfur verdient,
wenn wir aud) keine literariſchen Fortſchritte zu verzeich-
nen hatten.
Rudolf Gottſchall.
6
2o
42 Aus der neueſten deutſchen Romanliteratur.
Aus der neneflen deutlichen Romanliteratur.
(Beſchluß aus Nr. 2.)
. 4 Eine alte Jungfer. Roman von Karlvon Holtei. Bres⸗
Ion, Trewendt. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Ngr.
Unter biefem nicht eben auf Bezauberumg abgefehenen
Titel führt uns ber beliebte Dichter einen Roman vor,
dem man nichts von dem Alter des Autors aumerkt, den
zweiten von ben bisher befprocdhenen, den wir ganz eigent-
fih als Seelenroman bezeichnen dürfen, eine recht tüd-
tige Arbeit. Die Liebe eines begeifterten Mufiljüngers zu
einer ftolzen Gräfin, die fein Bekenntniß erbittert abweift,
obgleich fie innerlich für ihn glüht, ift das Hauptobject;
er ftirbt; in den lebten Tagen gibt fie fich der zarteften
Pflege für den Freund ihres Herzens bin und widmet
deu Reſt ihres Lebens einfam feinem thenern Andenken
und der Erziehung der Kinder ihrer früh geſchiedenen
Schwefter. Daneben tritt der Freund beider auf, der
eine interefielofe, treue, ſchüchtern verehrende Liebe zur
großen Sängerin Sontag in feinem Herzen trägt, dieſes
zweite, ftille Herzenöverhältnig bildet gleichfam das Randbild
zum großen Haupt- und Mittelſtück. Das wäre fonad)
alles! Aber auch bier müſſen eben Inhalt und Gehalt
von innen herauskommen, und die Darftellung ift in der
That ihrer gewählten Devife treu: „Les romans qui pre-
sentent une peinture vraie et naive du coeur de !’'homme
et de ses mysteres me semblent l’histoire par excel-
lence.”
Die Charakterjchilderung der falten, ftolzen, verbitterten,
nur der eigenen Eingebung folgenden und dod) von hohen
HHealen begeifterten und einer bis in den Tod ergebenen
Liebe verfallenen Gräfin Kriegeheim und die des ibealifti-
ſchen Schwärmers Leo von Lerthal, deſſen in den frühen
Tod führende Leidenfchaft für jene äußerlich marmorkalte
Statue fih an einigen gefungenen Worten der Unbelann-
ten entzlindet bat, find meifterhaft, ohne daß wir doch
über den Zweifel an der feelifchen Berechtigung jener
furdtbar wiberfpruchsvollen Natur hinauskämen.
Doc, zuerft ein Wort über den etwas wunderlid) ges
arteten Idealismus! Da halten wir e8 gegenüber dem in
ben Aether verfliegenden und hernach doch der Nothwen-
digkeit unferer menfchlichen Natur verfallenden Leo mit
dem viel Kühler und trog der überfchwenglichen Berehrung
für die Sontag, welcher er Huldigt wie einer Göttin, von
der man nichts erwartet und nichts begehrt, klar und
launig in die Forderungen des Lebens blidenden Wilhelm
Scherfling. ALS der erſte im Anfang feiner Liebe philo-
ſophirt:
Ber mit ſich im Reinen iſt, daß er nichts will und er-
firebt, ala was er ſchon befigt und was ihm niemand rauben
fann: beglädende Liebe ohne Erwiberung — ber hat nidhts zu
fürchten. Was ih von ihr begehre, das gibt fie mir, ohne zu
ahnen, wie diefe Gabe mich befeligt. Und fie foll es nicht er-
fahren. Wozu au? Das Geheimniß gehört zu meinem vollen
Glück. Die Hohe dat nicht einmal Keuntnig vom Dafein des
armen Wurms, der Leo beißt, und dennoch darf er fie die
Seine nennen, barf fie lieben, in ihr leben, ihrer gedenten,
ihren Tönen lauſchen. Darin liegt die wahre Poefie der Liebe —
als er jo jylphenartig ſchwärmt, da antwortet der zweite
ganz richtig:
Das ift mir zu fein, Guter! Du Phönir, der du ganz und
ar im Aether häugſt, wie wirb dir fein, wenn diefe ans
Einen und Düften gemwobene dlinne Grundlage deines Leibes
Laft nicht Tänger zu tragen vermag? Wenn der Erdenmenſch
in dir, ans ſchwärmeriſchem Duſel erwachend, einen furdt-
baren Plumper in die Wirklichkeit thut? Hülflos wirft du auf
dem harten Boden boden und vieleidyt wie mehr auf die Beine
tommen. Wenn id ſchwärme, wenn ich mich von fänfelnden
Gefühlen ins Blaue heben laffe, will id) doch den Faden, der
mid) mit der ehrlichen, greifbaren Mutter Erde zufammenbält,
der mir ihre Nahrung zuführt, keineswegs durchſchueiden. Zum
törperlichen Engel bin ich verdorben.
Das Schidfal diefes mit unerfüllbaren Berheigungen
lodenden Idealismus zeichnet ſich anch gleich treffend in
folgender Bemerkung:
Ein Nachtwandler, von himmlifchen Harmonien umrauſcht,
war er fihern Schrittes dicht an Abgründen tränmend umber-
gegangen, im Fühlen Mondſchein, der ihm für Iebenswarme
Sonnenglut, für Liebeswonne galt. Sie hatten ihn beim Na⸗
men gerufen; er fchredte zufammen, erwachte, ſah die ſchwarze
Kluft, die ihn von ihr tremmte. Der Zraum iſt ausgeträumt;
das kalte Leben umflarrt ihn. Der Mond iſt nit Goune,
Ihn fröftelt.
Wenn wir es wirklich zu thum haben follten mit einer
Art zweiter Marie, Mutter Gottes, der man nit im
fterblicher Liebe nahen darf und auf welde allein das
Wort des nad) glühender Liebeserklärung ſtolz zurück⸗
gewiefenen und nun wie über ein begangenes Berbredden
klagenden Anbeters paflen würde:
Ich bin mir untren geworben; das Thier im Menſchen
bat über mid Macht geivonnen. Sch Habe, verbiendet von
eitelm Irrthum, vergefien, daß id) eine Heilige verebren wollte.
Ich habe mich erfrecht, mid; ihr zu nahen wie einer Sterblicdhen,
habe das Bertrauen misbraudt, deffen fie mich gewürdigt;
babe mid verägtlih, vob, gemein benommen. Gott verzeide
mir's, ich werde mir's nicht verzeihen. Die ſchwerſte Buße ıf
noch zu leicht für mid. Deshalb lege ich fie mir auf und will
fie lächelub ertragen. Sie entflhnt....
wenn wir e8 zu thun haben follten mit einem Weſen,
dem gegemüber diefe Worte Wahrheit hätten, dann müß⸗
ten die Geiftesgrundlagen ganz andere fein.
Wir befommen den rechten Schlüffel nicht zu diefer
räthfelhaften Natur, zufammengefett ans jener hochmüthi⸗
gen Berftellung, die erft vor dem grinfenden Gefpenft
des Zobes die Maske ablegt, und jener Ergebung, bie
dann aud wahrhaft großartige Zugeftändnifie macht und
rückſichtslos nachholt, was — zu ſpät kommt. Es ge
nügt uns nicht, was ſie über ſich uns eröffnet:
Ich ſtand von früh an zwiſchen hochmüthigem Stolz und
künſtleriſchem Drange. Mir blieb nur die Wahl: mich entſchie⸗
den zur Sängerin auszubilden oder Comteſſe Kriegsheim zu
bleiben. (Da fledt der Knoten. Wir fragen nmfonfl: Barum
denn? Wo liegt das Zwingende, wenn nicht in einer abfloßend
hodmlthigen Laune, die nicht das Recht bat als ein Seele
und Leben beftimmender Geiftesfactor aufzutreten?) Ich wählte
das letstere, und — habe dafür gelitten. Leo ordnete ſich mir
unter, die ich fefthielt an leeren, flarren Formen, binter welchen
ih Schuß vor mir felber ſuchte. Eine ftarfe Hand konnte diefe
Formen zerträmmern; die feinige war zu ſchwach. Er farb
an feiner Liebe; ich lebe von der meinigen, im feflen Glauben,
bß der ae zum wahren Leben nur durch die Pforten des
odes geht.
Aus der neueften deutfhen Romanliteratur. 43
Und als der Freund am Todtenbette fie fragt: Warum
fo fpät? da antwortet fie:
Ebendeshalb, weil es die himmliſche Berföhnung ift, die
erſt eintreten fann, wenn der Tod fie herbeiruft; mit dem Leben
hat fie nichts gemein. Mögen Sie mir fluden; mögen Sie
mir die Ditfhuld an feinem Tode aufblirden, ich vertheibige
mid nicht. Ih kam bierher auf alles gefaßt und habe über -
haupt nur no Einen Wunſch. Es ift der, daß Leo, bevor
Leib und Seele fi trennen, zur vollen Klarheit des Geiſtes
erwache, ſei es auf Minuten; daß er mid) erfenne; daß er ver»
mehme, wie id) ihn liebe; daß er bie Ueberzeugumg mit ſich ins
SIenfeits nehme: Benigna wird ihm Treue bewahren, über Grab
und Zeit! Gönnt ihm bie ewige Gnade ſolchen Lichtblid, gönnt
fie mir ein Joiches AbfGiebewort an ihn, baum habe id nichts
mehr zu wänjhen, nichts mehr zu erfireben, und mein Kinf-
tiges Dafein gehört den Pflichten der Tochter und Schwefler.
Alles das ift uns nicht genug. Sie bleibt uns eine
Art von verhüllter Statue; wir ftehen ihren Geiftesgrund-
Tagen fremb gegenüber und wiſſen nicht recht, follen wir
die ungewöhnliche Natur verehren ober ſcheuen, lieben ober
haſſen; es ift eine halbe Stimmung, wie in ihr felber nur
ein halbes Leben, das nicht zur Zeit mit ſich abzufclie-
Ben vermochte. Mit ihren hart eingefchnittenen Zügen
föhnen und die rührenden Acte am: Sterbebett ihres Ger
Tiebten etwas aus:
Bas fie auch fagte, wie eindringlich fie ihn bat, fi zu
jammeln, 4 verhallte fpurlos. Im wahrer Geelengual nannte
fie ihren Namen, den feinigen, rief: „@eo, fieber eo, Benigna
ſpricht zu dir!" Kein Zeichen bes Berftändniffes. Sie blidte um«-
der, das Mavier ſuchend, ohne weiches er ja nicht gedacht mer»
den könnte, fie ſah nad; dem andern Zimmer — aud dort
nichts! Berzweifeiud rang fle die Hände: Wenn er nun flerben
müßte, ehe ich ihm das SeRändnig abgelegt, daß id) ihn liebe?
Das wäre zu fürdterlihl Da kam e8 über fie ges einer
Eingebung von oben; mit mehr denn menfhlicher Willenskraft
gebot fie der eng zuſammengeſchnürten Kehle Gehorſam zu lei⸗
fen, und ihre Thränen geraliam hemmend fang fie aus vollem
Herzen: „D laßt mid, Xiefgebeugte weinen!" Die länge zit-
terten liber8 Gterbebette hin wie bon einer zerfprungenen Glocke.
Almählic, verfämanden aus des Kranken Gefihtezligen jene
Anzeichen quälender Fieberträume; die flarre Verzerrung des
Mundes Iöfte ſich nach und nach in ſchmerzhaft füßes Lächeln auf,
die bfeichen Fippen fispelten: „Sie fingtl" Er hob die Nugen-
Tider, er ſah Venigna fiber fich gebengt, er fühlte den Kuß auf
feiner heißen Stirn, er hatte fie erfannt.
Damit ihr aber die Glorie des Außerordentlichen bis
in den Tod bleibe, wird fie in den legten Stunden mit
dem Zweiten Geficht ausgeftattet, das gewiſſen Sterbenden
gegeben jein fol, umd fie fieht im fernen Merico zur
gleichen Stunde mit ſich jene Sontag von der Erde fchei-
den, vom beren bezanbernder Sängerhoheit ein flarter
Hauch in ihr felber lebte.
Die Sprachweife wird da und dort überladen und
manierirt; als Beweis diene folgende Periode:
Zum Glück waren beider Naturen fo ſcharf gefondert, daß
jene für vertrauten Umgangs Dauer gefährliche Rachgiebigteit,
welche ſtets nur momentane Uebereinftimmung Beucelt, um
dann gleich wieder in Zwietracht auszubrehen und Riffe im
Band der Freundfehaft u Binterlaffen, bei ihnen unmöglich
durde.
Papa Retter in der „Kant'ſchen Wildniß“ und feine
»ocalifirende Familie find koſtlich humoriſtiſche Figuren.
Wol der befte der uns vorliegenden Romane ift der
Algende:
5. Was ift Wahrheit? Roman von Adolf Glaſer. Zwei
Bände. Braunihtweig, Weftermann. 1869. 8. 2 Thlr.
Der befte, wenn wir uns entſcheiden follen nad) dem
Eindrud eine naturwahren Ganzen, das die Befriedigung
eines confequenten Verlaufs und Abſchluſſes gibt. Cs ift
ein Familien- oder, wenn wir lieber wollen, Gefelljchafts-
zoman modernften Schlags, denn er verjegt uns in die
Zeit des preußifch-öfterreichifchen Kriegs, ohne jedoch von
den ſchweren Öffentlichen Dingen viel Notiz zu nehmen.
Die Geſchichte ift fehr einfach: Ein junger Ädelicher ver-
liebt ſich in eine fchöne Schaufpielerin. Mutter und Berr
wandte verwenden alle Intrigue darauf, ihn von biefem
Bande freizumadjen, und es gelingt ihnen, den jungen
Mann auf Reifen zu ſchiden. Das Mädchen glaubt ſich
verlafjen, wird verführt und endet in Selbfimord. Er
aber, zuerft von wahnfinnigem Schmerz ergriffen und er-
bittert auch gegen die Mutter, dann aber durch den Krieg
und nachherige ſchwere Krankheit infolge von Verwundung
aus feiner Lethargie aufgefchredt, Heirathet eine Freundin
der Berftorbenen, die ſchöne und feelengute Tochter eines
reichen Yabrifanten, und wirb felbft defien focial und in«
duſtriell weitfehender und ebelftrebender Affocie, der in
großer Thätigkeit und ungeftörtem Familiengläd jeine Be-
friebigung findet.
Da ift Leben, jeder Zug unmittelbare, gegenwärtiges
Leben; an individuell fprechenden Bildern ift bie regelrechte
Entwidelung unſerer Geſeliſchaft gezeichnet in ihrer Hohl«
heit und ihrer Öröße, ihren bornirten Einfeitigkeiten und
weithergigen Strebungen; das Porträt ſpricht an, weil es
wahr ift; es gibt Realität und ift doch in Feiner Weiſe
bloße Copie, ſondern ideal gedacht und poetiſch gehoben.
Es fefielt uns um fo mehr, als wir hier einmal ben bei
mehrern andern fo fehr vermißten Wechſel ber Töne trefe
fen und glüdlich in das Tragiſche hinein zum Theil das
FTamiliär-Lieblihe, zum Theil das Humoriftifche fpielt
und zwar mit einzelnen koſilich aus dem Leben geholten
Biguren, wie z. B. den einen wahren Typus vorftellen-
den Alten der armen Nähterin Emilie Galben.
Die Zeichnung fann, ohne den Boden der Wirklich.
feit zu verlaffen, ganz ins Seine gehen; fo wenn es unter
anderm über ben jungen Adelichen heißt:
Bon Jugend an in den ewoßnheiten der großen Welt
erzogen, beherrichte er alfe äußerlichen Lebensformen volllommen,
und fiber der Sicherheit, mit welcher er ſich in der Gefellicaft
bewegte, Tag jener gewiſſe Hauch von Schlihternheit, der in
Hıpeen Sahren den vollendetfien Schimmer der Bornehmheit
gibt u. |. w.
Uebrigens wirb ung diefe Zeichnung viel werther durch
den prächtig launigen Realismus, den fe zu entwideln
verfteht. Davon einige Proben. Bei Anlaf der reis
werbung des verfchmigten ehemaligen Kammerdieners Loh ·
mann um die fechzigjährige „untröſtliche Witwe Dunker
heißt e8:
Als Frau Dunler ein Jahr lang Witwe war, blieben trotz
ihrer vorgerlicten Jahre die Freier mit aus. Auf einem
Bätten, weldes in Witices „Morgen- und Abendopfer“
lag, Eonnte man zehn Namen lefen, die alle untereinander
fanden. Eines Morgens ſtrich fie ſechs davon aus, dachte dann
ernfli nad), fegte mit einem Meinen Beſen forgfältig den
Staub von den Flügeln des Amor, der anf der Pendlile fah,
und ſtrich nod zwei Namen von der Lifte aus. Während fie
6*
ET ET
a αρσνανσ— α
44 Aus der neueſten dentſchen Romanliteratur.
die beiden übriggebliebenen Namen aufmerkſam betrachtete, kam
gerade das ältefte Dienſtmädchen und brachte ein Briefchen.
Sie öffnete daffelbe und athmete mit Wohlgefallen den Patchonli⸗
geruch, den es ausſtrömte. Der Inhalt mußte äußerſt ange-
nehm fein, denn die Augen der faft fechzigjährigen Witwe
glänzten, und fie blidte raſch einmal in den Spiegel, als wolle
fie fih überzeugen, ob die Schmeicheleien des neuen Freiers
auf Wahrheit berubten. .. Auf dem prachtvollen Grabftein des
jeligen Lieferanten Dunker flanden zwar in prangenden Gold:
Yettern die Worte: „Betrauert von feiner untröfllichen Witwe‘,
aber der Steinhauer wußte, wie das zu verftehen fei, nnd wäre
er Junggejelle oder felbft troftlofer Witwer gewefen, fo würde
er vielleicht der erſte geweſen fein, der jenen Spruch unwirl⸗
fam zu machen verfuchte,.... Ale am Tage nad dem Empfang
feines Brief8 der gewandte Konrad Lohmann den angeltindigten
Beſuch machte, ließ fie ihn nicht abweiſen, und nachdem er feine
feurigen Herzenswünſche in ſchwungvollen Worten zu erfennen
gegeben, verbarg fie ihr mehr ale funfzigjähriges Haupt mit
dem falſchen Lodenihmud an feinem Buſen und gab ihm ihr
Fawort. .. Der frühere Stand eines Kammerdieners hatte bei
der Werbung um die Hand der reihen Witwe wefentlihe Bor-
theile gebradt. Ein Kammerdiener ahmt feinen Herrn leicht
nad, und flieht er einigermaßen gut aus, fo macht er in feinen
Kleidern Überall den Eindrud eines vornehmen Mannes, na⸗
mentlich einer Witwe gegenüber, die von ihrem erſten Dann
nicht verflanden wurde und ihre geiftige Nahrung aus Romanen
und Andachtsbüchern zieht. Da Zuvorfommenheit und Dienft-
fertigfeit die zweite Natur eines Kammerbieners find, jo ift ein
folder vortrefflih zum Liebhaber geeignet, und die zartfühlende
Witwe des proſaiſchen Lieferanten hoffte an der Seite des
Kammerdieners a. D. fehr glüdlich zu werden.
‚Bei der alten Nürrin ftellen fid) die natürlichen Nad)-
wehen (vulgo Katenjammer) über ihre neue Heirath bald
ein, und fie macht Vergleiche zwifchen ihren zwei Männern:
Klara'e erfier Dann war den Zag über ſtets aufer dem
Haufe und befümmerte fi gar nicht um die Gefliple, welche
in demfelben für ihn forgten; ber zweite Gatte hatte dagegen
nichts weiter zu thun, ale den ganzen Tag in allen Eden und
Winkeln umberzufpioniren, alles zu bemäleln, namentlich aber
unter allerlei Borwänden in die Kliche zu kommen, wenn bort
zufällig die Köchin, eine junge frifhe Dirne mit rothen Baden
und prallen Armen, allein war. In ſolchen Augenbliden ver-
gaß er denn auch vollftändig fein ernſtes, geſetztes Weſen und
präfentirte fich fo jugendlich als möglich. Ueberhaupt hatte er
jehr viel Sinn für weibliche Reize, die weniger als dreißig
Sabre, alſo bedentend jlinger als die feiner beſſern Hälfte waren.
Der felige Dunker hatte Geld in das Haus gebradjt, und Loh⸗
mann fchleppte es daraus fort, denn er hatte von feinem Auf-
enthalt im gräflich Seefeld'ſchen Haufe allerlei noble Baifionen
mitgebradjt. Dies Iettere wog jchwer bei feiner Frau, denn
fie hing außerordentlid an ihren Procenten und Hypotheken.
Aus den Nebeln der Vergangenheit erichien ihr der Garnifone-
lieferant Dunfer befreit von feinen Mängeln: der gänzlichen
Sleihgültigkeit gegen fie und den ewigen Geichäften außer dem
Haufe. Dafür ſchmückte ihn ein Strahlenfranz von Bank⸗
billeten; er ließ ihr volllommen Freiheit, fireute goldene Münzen
in ihren Scho® und hatte ebenjo wenig für andere weibliche
Weſen Zeit wie für fie. Sett aber, in der Wirklichkeit, ſah fie
fi) au der Seite eines genußfüchtigen Menſchen, der in der
Küche des Strafen Seefeld viel zu viel Erfahrungen in delicidfen
Schüfſeln gefammelt batte, die er nun für fich verlangte, um
fie mit einer feinen Flafche Wein aus dem Keller von Dunker
jel. hinunterzuſpülen.
Die alte Galden, das vollendete Miuftereremplar einer
boshaft Feifenden und verleumbenden Schwägerin, ein
Naturſtück, an derber Wahrheit fo ziemlich das koſtbarſte
der Sammlung, erzählt am Sterbebett ihres Mannes,
nicht verſäumend, fo oft fie den Seligen nennt, die Augen
zu wifchen und tief aufzufeufzen:
Ja, es iſt ein gar trauriger Anblid, jo ein todter Menſch.
Sie Hätten ihn fehen follen, wie er jung war und mir nad-
ing und nicht nachließ, bis ich ihm verfprochen hatte, ihn zu
eirathen. Was konnte ich Beſſeres thun? Ich diente beim
Secretär Kappes, und der ältefle Sohn ftellte mir damals nad;
o, ih war ein ganz anjehnlihes Mädchen, wie ih fo in
Emiliens Alter war, und der Herr Candidat, des Herrn Secre-
tärs ültefter Sohn, wollte mich partout Heiratben, wie er mir
oft genng fagte, wenn id) fein Zimmer rein machte, denn auf
Keinlichleit wurde in dem Haufe fehr gehalten. Nun alio
merkte die Frau Secretärin, die eine alte Here war, wie die
Sadje lag. Das gab einen Gpectafel, fie nannte mid eine
ſchamloſe Perſon und wollte mid mir nichts dir nichts aus
dem Haufe ihiden. Da legte ſich aber dex Herr Gecretär jelbft
ins Mittel; ich durfte des jungen Heron Zimmer nicht mehr
betreten. Es iſt mir, ale ob ich es noch ſähe. Es lag nad
binten hinaus und hatte rothe Gardinen, denn der Herr
Candidat rauchte ſtark. Ia, das Rauchen, das Rauchen, dar-
über gab e8 manchen Aerger, obgleich es ja auch für die Zähne
gut fein foll, was ich einmal vergeblich verjudt habe. Nun,
bei vielen Männern ift e8 eben die Balfton, und mein Mann
fonnte aud ohne fein Pfeifchen nicht gut fertig werden. Da-
mals alfo blieb ich im Haufe des Secretär Kappes, bis das
Vierteljahr um war. Mein Mann war Gebülfe in der Nach⸗
barfchaft beim Schufter Hafenlauf. Die Leute Hatten nicht viel
zu thun, und ich fagte noch kurz vor feinem Tode zu meinem
Mann: Bater, fagte ich, bei Hafenlauf konnteſt du auch nicht
viel fernen, was er auch zugab und fagte: Nun, ich babe dich
doch dort kennen gelernt. Ad, es war ein gar lieber Mann,
und damals, al8 er noch Gehülfe bei Hafenlauf war, ging er
Sountags immer fo fein wie ein vornehmer Herr. Nun alfo,
jo fam es, daß wir uns heiratbeten.
Wenn das nicht das perjonificirte ſchwatzende Waſch⸗
weib ift, wir wüßten wahrlich nicht, wo wir es zu ſuchen
hätten.
Die Yeinheit der Beobachtung und die fchlagende
Richtigkeit der eingeftreuten Reflexionen bezeugen eine große
Zahl von Stellen. Man nehme als Beifpiel die folgen-
den. Ueber die Denkweiſe der Frauen mit Bezug auf
den Sittenpunft thut der Autor die von gründlicher Kennt.
niß der weiblichen Natur zeugenden Ausſprüche:
In Angelegenheiten der Sitte find Frauen umerbittlich, und
dies Tann, umjerer gejellfchaftlihen Organifation zufolge, nicht
anders fein. Kein richtig denfender und fühlender Dann wird
wünſchen, daß unſere Frauen Teichtfinnig über den Werth des
guten Rufe denlen, jeder aber wird bei vorlommenden Fällen
finden, daß oft gerade die edeldenkendften, großherzigften Frauen
eine unglanbliche Grauſamkeit und Xheilnahmlofigfeit an den
Tag legen können, fobald es ſich um ein weibliches Weſen
handelt, deffen Ruf, wenn aud) nur fcheinbar, befledt if. Und
wie wenig gehört oft dazu, um im dem Augen fittlich ſtrenger
—* den Schein des guten Rufs zu vernichten! Ein Zu⸗
all, eine Unvorfichtigkeit genfigt zuweilen, um jahrelanges gutes
Berhalten vergeffen zu maden. Kommen andere Bornrtheile
binzn, fo kann e8 fich ereignen, daß die räthfelhafteften Erſchei⸗
nungen des weiblichen Seelenlebens zu Tage treten. Alles
dies iſt pſychologiſch in der feltfamen Stellung begründet, welde
die Frauen der modernen @&efellichaft einnehmen. Muth, Geil,
Talent, dieſe Eigenſchaften find Vorzüge, die ſelbſt den fittlich
verwahrloſten Mann fühig machen, fi dod zur Geltung zu
bringen, während von der Frau vor allen Dingen Unbefcolten-
heit verlangt wird und nichts ihren einmal verlegten Ruf her⸗
zuſtellen vermag. u
Wennſchon in diefem Pafius die eigenthümliche Stel-
lung der Fran im unferer Geſellſchaft ganz richtig berührt
worden, fo anderwärts viel fchärfer und unter ausbrüd-
Iiher Betonung einer nothwendigen gründlichen Reform.
Wieder anderswo finden ſich fcharfe, ja ſchneidende Ein-
blide in die Forderungen bes alltäglichen Lebens, eine
entnächterte Abſchätzung des Werths und Kinfluffes von
/
Ideal und Wirklichkeit.
Ratıtren bemerkt Glaſer:
Es gibt menſchliche, namentlid weibliche Naturen, die
durch äußere Einflüffe entweder zu einem glänzenden, aber
innerlich hohlen Dafein geführt werden, oder anf dem Wege
zu biefem Ziel elend verlommen. Berühmte Maitrefien, viel
gefeierte Sircusreiterinnen und manche fchöne Bühnenheldin ge-
hören zu diefen Naturen. In ihnen ſchlummert gleichfam der
Keim zu großen erfolgreichen Thaten, aber verfehlte Erziehung,
fremde Einwirkungen und beim weiblichen Gejchlecht der Mangel
der ftrengen Lebenzfitte hemmen und verfiimmern das Gedeihen
und führen abfeits.
Eine folde Natur ift unfere Heldin, und darin liegt
ein Grund zu ihrem Untergang, und dieſe naturgemäße
Beftimmtheit klärt in unferm Gefühl ihr tragifches Ende
ab. Der geiftige Proceß in ber mit einem „deal bes
Höhern erfüllten, aber nicht mit fiherm Halt in fi und
nicht wit confeguenter Erziehung ausgeftatteten Seele von
dem Augenblid an, da fie ihre Liebe verrathen glaubt
und Fein Lebensziel mehr vor ſich fchaut, bis zu dem⸗
jenigen, mo fie fich als leichtfinnige Maitrefie hergibt, und
dann wieder die lebten verfpäteten Kettungsverfuche und
die Rückkehr zu dem fie verftoßenden Baterhanfe find mit
aller Yeinheit und vertiefter Wahrheit der feelifchen Vor⸗
gänge in den verfchiedenen Webergangsftufen begleitet.
Richt minder tragen die Blide in den Hanshalt einer
elend verkommenen Familie aus ber Wrbeitermelt den
Stempel der tief mit dem Herzen erfaßten Treue und
Imigkeit. Dan nehme einmal die Stelle, wo bie theils
forglos, theils mitde entjchlafenen Aeltern ihr fieberfrantes
Kind ohne Hülfe fterben lafien:
So fhliefen die beiden Weltern, und niemand wadıte am
Lager des todkranken Kindes, das bald fon nicht mehr fagen
tormte, daß es Durft habe, und deſſen ſchwacher Körper. nicht
im Stande war, dem beftigen Fieber länger zu wiberfiehen.
Niemand hörte fein immer leifer werdendes Wimmern, niemand
fahb den Angftichweiß, der das Meine Geficht des armen Wefens
bededte, in deſſen Kopf es hämmerte und pochte und dröhnte,
und defien Mund wie Feuer brannte, und niemand vernahm
endlich nad flundenlangem Todeskampf das Leife jchmerzliche
Röcheln und den letzten Athemzug, der fa wie ein dankbarer
Hauch für die Erlöfung von namenlojem Elend Hang.
Wir fchliegen unfern Gang mit zwei Heinern Com⸗
pofitionen:
6. Moralifde Novellen von Paul Heyſe. (Adte Samm-
Iumg.) Berlin, Herb. 1869. Br. 8. 2 Thlr.
Diefe Novellen zeigen jene an dem Dichter gewohnte
Sauberkeit der Zeichnung, welche die anmuthenden Genre.
bilder entwirft, können aber nicht auf tiefern Gehalt
Anſpruch madjen; es ift anheimelnde Unterhaltungslektüre,
wie fie in alle Hände Tann gegeben werden, mit recht
familiären Zügen. „Better Gabriel” behandelt eine doppelte
Brantwerbung an einem und demfelben Tage, die zweite
unternommen in verbittertem Gram über bie zurüidgewiefene
erfte, eine anfcheinend verleugnete Jugendliebe. Die Ber»
widelung, die den etwas umüberlegten Streich leicht hätte
tragiſch geftalten fünnen, endet mit allgemeiner Befriedi⸗
gung. „Die beiden Schweftern‘ find die in Briefe gefaßte,
balb humoriftifche, Halb ernfte Herzensgefchichte einer un⸗
befangen gutmüthigen Seele, deren Pilantes darin liegt,
dag die Schreiberin einem Hausfreunde die ſchöne junge
Schwefter zuzufüihren glaubt, während fie felber feine
Ueber gewiffe beſonders geartete
Aus der neneften deutfhen Romanliteratur. 45
Neigung bat. „Lorenz und Lore.” Sehr Tieblih. Wie
in der Cholerazeit ein Jugendbekannter die faft ver-
geflene Yugendfreundin findet und zur glüdlichen Gattin
macht. Das aus fehwerem Leib herauswachſende Glüd
in den. guigezeichneten Webergängen gibt ein wohlgelun-
genes, gut contraftirtes Lebensbild. „Am Todten See“
beftätigt in Parallele zu den voransgegangenen die immer
fi) erneuernde und immer richtige, weil auf einem tief
gegründeten Seelenzug ruhende Beobadhtung, daß alle an
das Tragifche ftreifenden Beiftes- und Lebensentwidelun-
gen eine geheime Anziehung auf uns ausüben, deren dunkle
eize durch Feine andern noch fo anmuthigen ober gar
rofenrothen Lichtfärbungen aufgewogen werden fünnen.
‚Jene weden in uns weit länger nachhaltende Vibrationen.
Diefer Arzt, der durch ein Verhängniß, wonad er fich
faft al8 den Mörder feiner Wohlthäter anflagt, zur Ver-
zweiflung am eben getrieben und eben im Begriff ift,
fi im Todten See zu ertränfen, dann aber durch Zu-
fall zur Hillfeleiftung gegen ein eben angelommenes zartes
junges Mädchen angetrieben wird, das Kind rettet und
die Mutter als Gattin gewinnt und ein neues Xeben fich
erfchließen ſieht: wir Haben in ihm in kurzem Zeit.
raum eine fo veiche, mechjelnde und durch ſchwere Con⸗
trafte gehobene Geiftesentfaltung, daß wir gefpannt und
gefeilelt folgen. „Der Thurm von Nonza“ ift eine cor-
ſiſche Geſchichte nach Guerrazzi.
Die Art von Heyſe's ſprechender und anſprechender
Schilderung mag gezeichnet werden an den Einleitungs⸗
ſätzen zu dem Bild „Am Todten See“:
Es war mitten im Sommer, aber oben im Gebirge wehte
ein ſchneidend kalter Wind und drohte den ſtark niederſtrömen⸗
den Regen in Schnee zu verwandeln. Die Luft war ſo ſchwarz,
daß man das Haus am Todten See kaum auf hundert Schritte
unterjchied, obwol es weiß getlindt war und der Tag fich eben
erft neigte. Drinnen hatten fie euer angemacht, die Wirthin
ftand im der Klihe und briet ein Gericht Fiſche, während fie
mit einem Fuß die Wiege fhanfelte, die neben den Herd gerückt
war. Im der Gaflftube lag der Wirth auf der Ofenbanf und
fhimpfte auf die Fliegen, die ihm nicht ſchlafen Tießen; eine
barfüßige Magd fpann im Winkel und ſah dazwiſchen durch die
trüben Scheiben jeufzend in das wüfte Wetter hinaus; ein vier-
ſchrötiger Knecht fam brummend herein, fchlittelte ſich wie ein
Hund, den man ins Wafler geworfen, daß die ſchweren Regen-
tropfen rings umher aus feinen Kleidern fprigten, und warf
einen Hanfen naffer Fifchernege in die Ede neben dem Ofen.
Keine |prad ein Wort. Es war, als fürchtete jedes, daß die
Wolle von Unmuth und Berdroffenheit, die über dem Haufe
lag, fi in einen Hagel von Zank und Zwift entladen würde,
wenn man nicht an fich hielte. Die Hausthlir ging, und ein
fremder Schritt tappte dur den finflern Flur. Der Wirth
rührte fi nicht, nur die Magd fand auf und öffnete die
Thür des Gaflzimmers.
7. Entſchwundene Zeiten. Nachgelaffene Erzählungen und Bil⸗
der von Theodor Meyer-Merian, herausgegeben von
5. Oſer. Baſel, Georg. 1869. 8. 1 Zhlr. 6 Nor.
Wenn Heyfe trog alles aufs Leben AZutreffenden in
der Zeichnung doch einen idealiſtiſch gerichteten Zug ent-
ſchieden wahrt, fo ſtellt uns dagegen dieſer nun bereits
im Grabe ruhende fchweizerifche Erzähler mit feinen nach⸗
gelafjenen Erzählungen und Bildern ganz unmittelbar in
die Nealität des eng begrenzten Lebens ber fchweizerifchen
Städte hinein, ja die meiften Züge mahnen uns ganz
genan an die Phyfiognomie der guten alten Stadt Bafel.
46 Feuilleton.
Wir werben bineingeführt in alle das anheimelnde, edige,
enge XTreiben, für defſſen befondere Phnfiognomie man
auch einen befondern Sinn haben muß, um fie nicht lang⸗
weilig zu finden. Es ift damit wie mit dem bier eben
auch oft wach gerufenen Iugenderinnerungen, die fo lang
ihren eigenen und unerjeglichen Reiz bewahren, als Herz
und Sinn dafür jung bleiben, nachher aber auch unfehl-
bar kleinlich und verblüht erfcheinen, ſodaß es feiner
Kunft gelingen könnte, den verblichenen Zauber wieder
frifch zu färben. Mit wie liebendem Verſtändniß auch
Meyer diefe vertrauten Züge erfaßt und zum traulichen
Kranze verbunden habe, man kann doch ben Eindrud nicht
verwinden, daß es auch gar zu alltägliche Dinge find,
die Hier im ziemlicher Breite vor uns abgefponnen werben:
ein kränkelnder Hageftolz, ber im Badeleben die Geſund⸗
beit und zugleich eine Grau findet; ein armes Müdchen,
das in einer mohlthätigen Familie zur tüchtigen Haus⸗
mutter herangezogen wird; ein unglüdlich verbeiratheter
armer Baner, der verlommt, in Amerila fein Glück ſuchen
geht und arbeitfam und zufrieden geartet, aber ohne Geld
wieder heimkommt; ein ftudirter junger Herr, der draußen
ins große Weltleben eingeführt ift und daheim beim Be-
ſuch alles anders und Heiner und rveizlofer als früher
findet, dann aber durch die Liebe dem Baterlande wieder
gewonnen wird; ein Pärchen aufwachfender Gartennach⸗
barn, bie nachher zu Liebenden werben u. f. w.: das find
die aus dem unmittelbaren Alltagsleben herausgelangten
Perfonen und Scenen. Das anziehendfte Bild ift „Der
Brautſchmuck“, da eine großmüthig wohlthätige Handlung
dazu führt, ein dauerndes Lebensglüd zu gewinnen. Auch
eine ganz Meine humoriftifche Erzählung („Sympathetifcher
Taback“) ift gelungen. Im allgemeinen ift die Ausfüh«
rung für die ſchwachen Grundlagen zu breit; es find alt-
bürgerlich behübig geftredte Schildereien, ganz in Schwei-
zerart, wie es denn andy dem fchweizerifchen Weſen an⸗
gemefien ift, die naheliegende Realität zu zeichnen und
mit allerlei Reflerionen auszuftatten.
3. 3. Honegger.
Fenilleton.
Ein Shakſpeare⸗Epitaph.
Das früheſte bekannt gewordene Gedicht anf dem Tod des
größten englifchen Dichters hat Malone ans Guflavus Bran-
der’s Manufcriptenfaminlung mitgetheilt, wofelbft dafjelbe über⸗
ſchrieben ifi: „Basse his Elegie one poett Shakespeare,
who died in april 1616. Es findet fich ebenfalls in einem
Manufcriptenbande aus Rawlinson’s Collections in ber Bodleian
library zu Orford, fowie unter ben Sloanian Manuscripts im
Muſeum, Nr. 1702. Die orforder Kopie ift betitelt: „Shak-
speare’s Epitaph”. Der Name des Autors if nicht angegeben.
Gebrudt find die Berfe in der Ausgabe von Ghafipeare’s
Gedichten vom Fahre 1640 und „W. B.“ unterzeichnet.
Hiernach Hält Malone einen Mr. William Baffe für den Ber-
faffer, welcher (nad; „Athen. Oxon.”, II, 812) aus Moreton bei
Thame in Orfordfhire geblirtig ‚sometime a retainer‘' des
Lord Wenman of Thame Park war. Diefem William Baffe
it auch ein Gedicht des Dr. Bathurſt „upon the intended
publication of his poems, Jan. 18, 1651 gewidmet
(„F. Bathurst’s Life and Remains by Th. Warton‘, 1761).
Malone glaubt nun, daß Baſſe's Gedichte niemals im Drud
erichienen fein. Nun if uns aber ein Gremplar der
„Wits Recreations. London. Printed by R. H. for Humphry
Blunden at the Castle on Cormn-hill 1640°, jener der
Shalfpeare-Literatur durch ein darin unter Nr. 25 entbaltenes
Epigramm „To Mr. William Shake-speare‘ befannten Samm-
lung, zu Geficht gefommen, in weldem ſich unfer Gedicht eben-
falls, aber auf eine eigenthümliche Weife, befindet. Unmittelbar
auf den Xert der „Wits recreations‘‘, welche ohne das übliche
„Finis‘ abſchließen, folgen nämlid 24 unpaginirte Blätter,
ohne Titelblatt, unter der Bezeichnung „Epitaphe’’ über der
erſten Seite. Ob dies Heft urfprlnglich dem Hauptwerk an-
nectirt oder blos durch den Buchbinder damit vereinigt, war
nicht auszumadhen. Es find 126 Grabſchriften, gleich die flinfte
ift unfer Gedicht, Hier „On William Shake-speare‘' betitelt,
die Anndertelfte „On Richard Burbage & famous actour‘' lautet:
„— — Exit Burbage.”
Auf der lebten Seite ftebt:
„Finis.
Oectob. 8. 1639.
Imprimatur.
Matth, Clay.‘
Diefe bibliographifchen Notizen gründlichern Shakſpeare⸗
Forſchern zur Berwerthung überlaffend, begnligen wir uns, jene
intereffanten Berfe bier auszugsweiſe mitzutheilen. Im Ein-
gan e werden Spenfer, Chaucer und Beaumont aufgefordert,
n Beftiminfter-Abbey näher zufammenznrüden, um Shafipeare
neben fid) als vierten aufzunehmen. Sollten fie ihm aber das
Grabmal verfchließen, dann — |
Schlaf unter beinem heil’gen Marmorſtein,
Großer Tragode Shalſpeare, fihlaf allein!
Ruh’ aus im Grab, das bir als Herrn gehört,
Nicht als Bafal’n, einfam und ungeflört;
Einft wird es fein ber höchſte Ruhm auf Erben,
Un deiner Seite beigeſetzt zu werben.
Straßennamen von Bewerben.
Nah Bollendung feiner beiden großen Namenlerica, der
altdeutfchen Berfonennamen und der altdeutfhen Ortsnamen,
weldje den gewaltigen Stoff aufſpeichern und der wifienfchaft-
lihen Benutzung darbieten, unternahm es Ernft Körftemann,
in einem abhandelnden Werft Üiber „Die deutfhen Ortsnamen‘
(Nordhaufen 1863) mit Ausfhliefung aller Specialgelehrfam-
keit eine leichte Ueberficht Über das Gebiet der deutfchen Orts-
namentunde zu gewähren. In dem Kapitel ‚Beflimmunge-
wörter‘ führte die Betrachtung aud auf die zahlreichen Straßen-
namen, welde auf ein beflimmtes Gewerbe hindeuten. Förſte⸗
mann gab, um die Wichtigkeit diefer Namenklaſſe anſchaulich
zu machen, ein Meines alphabetifches Verzeichniß von hierher⸗
gehörigen Ansprüden. In Parentheſe fette er die Stadt, in
weldher die betreffende Straße liegt. Diele Heine Sammlung
bat Förſtemann im Laufe der Jahre vermehrt und gibt ums jetzt
in Bfeiffer’s (Barth’e) „Germania“, 14. Jahrgang (1869), eine
recht ftattliche Anzahl ‚Straßennamen von Bewerben‘. In
biefes Gloſſar find auch einige niedere Beamtenklafſen aufge-
nommen, welche bem Gewerbebetrieb nahe ſtehen. Der. Samm⸗
ler verfennt nicht, daß es mitunter möglich fei, falfche Schlüfſe
ans den Straßennamen zu ziehen. Erftene können die Namen,
anflatt, wie es zunächſt fheint, auf die Gewerbtreibenden, viel-
mehr auf Familiennamen gehen, ſodann kaun eine Straße nach
dem zunädft liegenden Ort genannt fein und ſcheint doch durch
zufällige Uebereinfimmung in der Form von einer gewerblichen
Beichäftigung herzurlihren. In diefen Straßennamen von Ge-
werben find num vertreten die Nahrungsgemwerbe, Bekleidungs⸗
gewerbe, beide reichlich; geringere Anzahl bietet, mas zur Woh⸗
nung gehört. Die Berfertiger verfchiedener Geräthe bilden eine
fehr große Klaſſe; dazu gehören and) die Berfertiger von Waffen.
Selbſt in das Gebiet der Kunft fpielen diefe Straßennamen
binliber. So reich aud der von Förflemann gegebene Ueber:
— —
Feuilleton. 47
blid das geſammte Material erſcheinen läßt, fo findet ſich nad)
feinem Betinntniſſe darin doch gewiß mod lange nicht die
Hälfte der in deutfcher Sprache vorhanden gewefenen Hand-
werkebszeichnungen. Aber auch für bie betreffenden Gtraßen-
namen ſelbſt fei jeine Sammlung noch nicht im entfernteften
volfändig, namentlich nicht für Giddeuticland; aus ber
Schweiz bringe er vollende gar nichts bei, ebenfo wenig aus
den baltifhen Fändern Ruplande. „Genug“, ſchlieht Förfer
mann feine Mittheilung, „es thun mir noch viele Nadhträge
moth, und ich erfuche diejenigen, melde folde liefern können
und wollen, reht Herzlich, fie entweder mir ober diefer Zeit
ſchrift (der « Germania») einzufenden, damit fi alles Zufam-
mengehörige and zufammenfinde.*
Eugliſches Urtheil Über neue Erfgeinungen ber
dentfhen Literatur.
Ueber „Friedrich Wilhelm I. König von Preußen“ von I. 9.
Droyfen jagt die „Saturday Review“: „Bon allen Sonderbar-
feiten Carlyle's if feine feiner Eigenſchafi ale Schriftfteller dem
richtigen Urteil naqtheiliger geweien, als feine ſcheinbat unver-
münftıge Borliebe für Friedrich Wilhelm, den Bater Friedrich's
des Großen, den man gemeiniglic als das Mufter eines rohen,
mörrifcen, Iniderigen, Mäglichen Despoten betrachtet. Auf den
erften Blid könnte es nun feinen, als ob Carlyle enblih an
feinen Tadfern gerät würde, wenn wir nämlich, einen Hifto-
rifer don Droyſen's Bedeutung die Bertheidigung, wir möchten
faſt jagen, die Lobrede diefes vielgejhmähten Herrſchers über-
nehmen fehen. Bei genauerer Prüfung indeffen wirb es ſich
ergeben, daß Dropfen’s Gefitepunkt in Wirklicfeit mit dem
Cariyfe’s nur wenig Gemeinſchaft hat. Carlyle bewundert
feinen Helden feiner Mängel halber, Drohfen aber trof derjelben.
Gerade die rohe Kraft in ihrer unzweibentigften Geſtalt fefjelt
die Einbildungskaft bes Apoſtels der Macht, deffen natürliche
Sympaıhie für jeden Gegenftand Übrigens gewiß in genauem
Berhältniß zu feiner Eckigteit und Sonberbarfeit ſteht. Carlyle
hat zwar fehr viel für Friedrich Wilhelm als Herrſcher zu ja-
gen; allein wir lönnen nicht umbin, zu fühlen, daß feine Ber
tounderung rigentfich auf etwas ganz anderm beruht. Ex mag
ihn mol als Monarchen achten, aber er verehrt ihn ale Bar-
baren. Dropfen befolgt eine ganz verfjiedene und dem ge
wohnlichen Leſer fi wahrfheinlih mehr empfehlende Art der
Bertheidigung. Weder reditfertigt no ignorirt er Friedrich
Wühelm’s Fehler, fondern er läpt fie in den Hintergrund tre«
ten, und bemüßt fi, fie nicht ais die hervorfpringenden Züge
feines Charakter darzuftellen. Er deutet an, ab fie haupt»
fädjfich infolge des Geſchwätzes von Kammerdienern und Wartes
frauen oder des Spieens getäufgpter Diplomaten fo ſcharf her-
vortreten. Er ſchildert des Königs Verdienfte im ſtärkſten Lichte,
und läßt uns Scham darüber empfinden, daß wir ſolchen bloßen
Xieinigfeiten bisher gefattet Haben, daß Lob, welches der That-
traft, einem Scharffinn, einer Mäßigfeit und Gewiffenhaftigkeit
fo jeltener Art gebührt, verdunfeln zu laffen. Die Ausführung
diefes Vorhabens mocht eine mene Geldjighte der innern und
äußern Politif Beeußens, befonders der iebiern während Friedrich
Bilgelm’s Regierung uöthig. Der Gegenftand in viel zu ver»
widelt, als daß wir hier näher darauf eingehen fönnten;- bie
Behandlung aber zeigt, daß Droyfen feinen maffenhaften Stoff
vollftändig beherrfäit, und daß er ihm außerordentlich gut zu
ordnen und darzuftellen verſteht. Der große Fortſchritt Preußens
in Madıt und Wohlktand unter dieſem König if unlengbar,
und wenige werden befreiten, daß feine geſchickte Verwaltung
während einer Zwifchenzeit tiefen Friedens bie militärifgen Tri
umphe feiner Nachfolger angebahnt hat.“
Notizen.
3. 9. von Kirchmann's „Philofopdifhe Bibliothek‘
(Berlin, Heimann) ſchreitet ſehr rüftig vorwärts; es liegen bereits
34 Hefte derjefben vor, in denen die Sepriften von Kant übermies
gen: „‚Kritif der Uctheifefcaft“, „Anthropologie'‘, „Die Religion
innerhalb der Grenzen der Vernunft“. Wuperdem wird das
Bert von Hugo Grotius „Recht des Kriege und riedene''
veröffentlicht, allerdings eins der Gruudwerke der Staats
und Rehrephiefophie, aber doch außerhalb der philofophifchen
Strömung liegend, welche bie Syſteme der großen Denker her-
borgerufen haben. Wir dirfen dann wol au auf die Werke
von Hobbes und Pufendorf in biefer Sammlung rechnen,
welche Hugo Grotius theils ergänzen, theils einen erfärenden
Gegenfaßg zu ihm bilden. Kirhmann felbkt hat das Werk von
Hugo Grotius Überfegt und mit Anmerkungen verfehen; fowie
Friedrich Ueberweg Berkeley’s „Mbhandlung über die Brinci-
pien der menſchlichen Erfenntniß‘. Außerdem finden fid
Hume's „Unterjuhungen über den menſchlichen Berfland‘'
amd Scjleiermader's „PBhilofoppif—he Sittertehre" unter den
vorliegenden Heften.
ir Haben e8 hier nicht mit einer blos enchflopäbifchen
Beröfientlihung zu thun, fondern die veröffentlichten Werke
werden faft alle durch die erflärenden Noten und größern Com⸗
mentare dem Berfländniß erfchloffen, freilich nicht ohme dag
die philoſophiſche Grundanfhauung des Verfaffers fi gewiffer-
maßen zum-Regulativ für dem geiftigen Proceß machte, der in
der Aneignung aller diefer philoſophiſchen Lehren aus den ver ·
f&iedenften Zeitaltern der Menfchheit beftcht. Zu Kant’ „RKrie
tif der praftifchen Wermunft“, wie zur „Kritit der urtheusirafte·
I Kirchmann ausführliche, ſich der Paragraphenfolge anfchlie-
jende Commentare geſchrieben, welche auf einzelne Punkte mei⸗
ſtens kritiſe eingehen, Auch entwidelt er jelbfländig in einem
eigenen Hefte „Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral
als Einleitung in das Studium rechtsphiloſophiſcher Werte".
Mit manchen phifofophifchen Herleitungen des felbftändig denfen-
den Autors fönnen wir uns nicht einverflanden erklären. Wohl
aber hat er das Verbienft, auch in die Mechte- und Morale
begriffe, die mit einer gewiſſen zeitlofen Starrheit ſelbſt in fol«
gen bewegungäfrendigen Syſtemen, tie das Hegel’ihe, ihre
orthobore Aleinbereitigung aufrecht erhalten, den Strom der
biforifhen Bewegung geleitet und den thatfähligen Umftand,
Daß Rechts · und Moralbegriffe im Laufe der menfchheit-
lien Entwidelung wandeln und verſchiedenen Völkern in
verſchiedenen Zeiten verſchieden find, philofophifch begründet zu
haben. Er führt dem Wechſel in der Moral und dem Rechte
der Bölter auf die Abhängigkeit derfelben von ben drei Factoren
des Wiffens, der Macht des Menfchen ber die Ratur und feine
Empfänglichfeit für die Urfachen der Luft zurlid.
In demfelben Berlag (Berlin, Heimann) erfheint eine
„Hiforifg-pofitifhe Bibliothek“, welde «6 fih zur
Aufgabe fiellt, eine Sammlung von claffiihen Meifterwerten
auf dem Gebiete der Geſchichte und Politik aus alter und neuer
Zeit, die bisher trog ihrer Clafficität nicht die ihnen ge
bührende allgemeine Verbreitung im gebildeten Publikum ge-
funden haben, theils weil die bisherigen Ausgaben unzu-
gänglih und zu theuer, theils weil es geradezu an guten
Ueberfegungen fehlte, im neuen billigen Ausgaben zu bringen.
Die vorliegenden dreizehn Hefte bringen Henry Thomas Budie's
Geſchichte der Civilifation im England “, überfegt von
Immanuel Heinrich Ritter, „Fichte's Reden an die deutſche
Nation‘, ein Gejprä von Hntten „Ueber die römiſche Drei-
faltigkeit' umd eim Werk, welches man zunächſt in diefer Bi-
bliothet nicht fuchen würde: Johann Joahim Windelmann’s
„Ürigigte der Kunft des Alterthume”.
on der „Coſtümkunde“ von Hermann Weiß liegt die
fünfte und ſechöte Lieferung vor, melde vorzugsweiſe die Trach⸗
ten der Männer und Frauen bei den verfdjiedenen Völkern im
16. Jahrhundert fchildert.
Bibliographie.
eu
He N
sinnen von Eybern.
. . 1869. @r. &. IE
+ D Die preußif ulatiı id bie IE“
— ein lage jr Binsteid, Yannasırı Meyer Gr.
ar.
48
Unze
Anzeigen,
igen.
— —
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Responsa ‚ad calumnias Romanas.
Item Supplementum Novi Testamenti ex Sinaitico codice
anno 1865 editi.
Seripsit
Constantinus de Tischendorf.
8. Geh. 10 Ngr.
Eine energische, an die Partei der Civilta Cattolica zu
Rom gerichtete Antwort. Die von dieser Partei unternom-
mene Vertheidigung Angelo Mai’s als Herausgebers des
Codex Vsticanus wird in voller Blösse hingestellt, ebenso
die undankbare und gehässige Entstellung alles dessen, was
Prof. von Tischendorf in Betreff des Codex Vaticanus und
der neuesten päpstlichen Ausgabe geleistet hat,
Das „Supplementum“ bereichert das Novum Testamentum
ex Sinaitico codice „Vaticana lectione notata‘‘ (1865) ausser
andern Nachträgen mit den reichen Resultaten der Tischen-
dorf’schen (und neuesten römischen) Bearbeitung des Codex
Vaticanus.
In demselben Verlage erschien:
Novum Testamentum Graece. Ex Sinsitico*
codice omnium antiquissimo Vaticana itemque Elzeviriana
lectione notata edidit Constantinus Tischendorf.
Cum tabula. Accessit Supplementum 1870. 8. Geh. 4 Tbir.
Geb. 4), Thir.
Diese Ausgabe des Novum Testamentum aus dem Codex
Sinaiticus ersetzte das so schnell vergriffene Novum Testa-
mentum Sinaiticum (1863). Es hat vor dem letztern noch
voraus die Vergleichung mit dem sogenannten textus re-
ceptus und mit dem Codex Vaticanus. Das jetzt beigefügte
„Supplementum‘“ mit mehrern Nachträgen, besonders den
vielen Berichtigungen der Vaticanischen Lesarten, die erst
durch Tischendorf’s eigene Ausgabe des Vaticanus möglich
wurden, erhöht noch wesentlich den Werth des Werks.
Derlfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Gemälde der mohammedaniſchen Welt.
Bon
Iunlins Braun.
8 Ge. 2 Thlr. 15 Nor.
In diefem Werke Liegt die letzte Arbeit des verdienftvollen
Geſchichtsforſchers vor, die er kurz dor feinem Tode vollendet
hatte. Sie ift zugleich — wie Profeffor Moriz Earriere in
einem Bormwort jagt — die reiffte Srucht feines unermüdlichen
fühnen Strebens, feines vielfeitigen Wiffens, feiner künſtleriſchen
Geftaltungstraft; umd gerade jeßt, wo der Kanal von Sue; die
alten Eufturländer wieder in den Weltverlehr hineinzieht, wird
Braun’s den ganzen Schauplag, alle Zeiten und alle
Selten des Sslom umfaffendes Gemälde um fo mehr
mit lebhafter Theilnahme empfangen werben.
v Derfag von 5. 4 Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Bibel-Sexikon.
Realmörterbuhd zum Bandgebraud
für Geiftlide und Gemeindeglieder.
In Berbindung mit Dr. Brad, Dr. Dieflel, Dr. Dillmann,
Dr. Sribfehe, &. Surrer, Dr. Ga, Dr. Graf, Lic. Jausreit,
Dr. Higig, Dr. Holhmann, Dr. Keim, Dr. ſipſius, Dr. Man-
gold, Dr. Merx, Dr. Wöldeke, Dr. Reuß, Dr. Roskoff, Dr.
Schrader, Dr. €. Schwarz, Dr. A. Schweizer, Dr. Stark,
Dr. Steiner und andern der namhafteſten Bibelforſcher
beransgegeben von
Kirchenrath Profeffor Dr. Daniel Schenkel.
Mit Rarten und in den Text gedruckten Abbildungen in Holzſchnili.
In 32 Heften ober 4 Bänden.
Preis des Heftes 10 Ngr.; des Bandes: geheftet 2 Thlr.
20 Ngr., gebunden 3 Thlr.
Zweiter Band. (Didrachme — Heilig, Heilige.)
Schenkel's „Bibel⸗Lexrikon“, das erfte deutfche Wert,
welches ſich die Aufgabe ftellt, die Ergebniffe der Bibelforfchung
gleihmäßig der Geiftlichleit und der Gemeinde dar-
zubieten, hat bereits die allgemeinfte Theilnahme in den Kreifen
der Gelehrten mie der Laien, fowie die lobendfte Anerkennung
jeitens der Kritik gefunden.
Mit dem zweiten Bande liegt num bereits die Hälfte
des gediegenen Werks vor. In allen Buchhandlungen werben
Unterzeihnungen auf Scentel’s „Bibel - Lerilou” in Heften
oder Bänden, angenommen und ift ein Brofpect darliber
gratis zu haben.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Ersch und Gruber's Illgemeine Encyklopãdie
der Wiffenfchaften und Künſte.
4. Cart. Geber Theil auf Drudpapier 3 Thlr. 25 Nor,
auf Belinpapier 5 Thlr.
As nene Fortfegung des Werks erſchien foeben der 87.
und 89. Theil der L Section (A—G, beransgegeben von
Hermann Brodhaus).
Der 87. Theil bringt die mit dem 80. Theil begonnenen
Artikel über Griechenland zum Abſchluß. Demfelben ıft ein
Ian atilet Inhaltsverzeichniß über die Theile 80 — 87 beis
gerügt.
Der 89. Theil enthält in alphabetifcher Reihenfolge die
Artilel Green — Gregorius; der 88. Theil ift bereits vorher
erſchienen.
DB Frühern Subſcribenten auf das Werk, welchen eine
größere Reihe von Theilen fehlt, ſowie ſolchen, die als
Abonnenten nen eintreten wollen, werden die günftigften
Bedingungen zugefidhert.
Berantwortlier Redacteur: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Verlag von $. A, Srohhaus in Leipzig.
Bläfter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—e Ar, A 8
20. Sanuar 1870,
Impalt: Ein Novelliſt in Verſen. Bon Rudolf Gottfal. — Bom Büchertiſch. — Neuere bramatifhe Dichtungen, Bon
Beodor Wet. (Beſchluß.) — Feuilleton. (Gereimte antike Strophen; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Ein Novelliſt in Verfen.
Gefammelte Novellen in Berfen von Paul Heyfe. Zweite
h dorpete vermehrte Auflage. Berlin, Hertz. 1870. 8.
t.
Diefe gegen die erfte Auflage weſentlich vermehrte Samm ⸗
lung von Paul Heyſe's poetiſchen Erzählungen forbert die
Kritik zu einer nähern Betrachtung des „Novelliften in Ber«
fen“ herans. Die Novelle in Vers und Profa ift Paul Hey«
je’s Specialität. Auch ift feine Behandlung der poetiſchen
Erzählung in der That eigenthimlih und abweichend
von derjenigen, die fi, dem Vorbild Byron’s und Tho«
mas Moore’s folgend, nicht blos in Deuiſchland, ſondern
im ganz Europa, namentlich auch bei den Slawen und
Magyaren, den breiteften Pla erobert bat. Bon Byron
Mingt ung das Mufter feines humoriſtiſchen Epos „Don
Yuan“ bisweilen in den Heyſe'ſchen Dichtungen wider.
Den poetiſchen Erzählungen Byron's: „Lara“, „Der
Korfar“, „Die Braut von Abydos“, Hat man oft den
Borwurf gemacht, daß fie zu fubjectiv feien, daß alle
Helden nur den blafirten, abenteuerlichen Charakter des
Dichters fpiegelten, daß die Gedankenwelt Byron's nur
die Farbenpracht des füblichen Archipels und fein Welte
ſchmerz die Masfe diefer Seeräuber und Glüdritter borge.
Gewiß tritt der eigenthümliche Genius des Dichters in
allen diefen Erzählungen unverhüllt hervor und brüdt
ihnen ein weit Tennbares Gepräge auf, um fo mehr, als
die Form der Erzählung nicht die Strenge des epiſchen
Stils erſtrebt und lyriſchen Ergüflen einen weitern Spiele
raum gewährt. Die Eigenthümlichkeit bedeutender Dic«
ter, da8 innerfte Wefen ihrer Weltanſchauung fol über»
haupt nie verdedt und verfchleiert werben. (Eine derartige
DObjectivität würde zulegt auf die Nichtigkeit und Hohlheit
jener Altagserzäflungen hinausfommen, in denen bie ein«
zelnen Geſtalten recht feit und fertig gefnetet find, im
denen aber die flachfte Alltäglichkeit das Gefeg des Schaf-
fens und Geftaltens dictirt. Iſt doch auch der Genius
eines Dichters, den man als ben objectivften feiert, der
1870. 4.
Genius Shaffpeare's, mit feiner oft verzweifelten Stepfls
Über den Weltlanf und defien fortwährende Täufchungen, .
in feinen Trauer- und Luftfpielen in gleicher Weife Tennt-
lich und ſchafft fi bebeutende ober minder bebeutende
Charaktere, die fein eigenftes Weſen fpiegeln.
Auch Byron ift e8 mit feinen büftern, ffeptifchen
Geftalten volllommener Ernft, und wenn bie Objectivität
des Dichters in der Hingabe an feine Helden und ihre
Schichſale befteht, fo ift Byron in dieſen Erzählungen ein
vollfommen objectiver Dichter, der mit beheiftertem Schwung
immer bei der Sache iſt. Die humoriftiichen Epen: „Don
Iuan“ und „Beppo“, find aud) hier wieder ausgenommen.
Paul Heyfe ift in feinen „Novellen in Verſen“ da-
gegen meiften® fo fubjectiv wie Byron in biefen humo-
riftifchen Gedichten. Ein ernſtes Interefie an ber Hand»
fung läßt er faum auflommen; wir haben das Gefühl,
dag der Dichter himmelhoch über den Ereigniſſen ſteht,
welche er fehilbert, und daß er fie wie Spielzeug nur zur
bunten Schau Hinftellt und fich und uns harmlos durch
diefen Krimskrams zu ergötzen ſucht. Die Darftellung ift
faft immer eine ironiſche, über die Ereignifie hinweg
gleitende; fie ift deshalb Kühl und kann im ber Regel
auch bie Leſer nicht erwärmen. Diefe empfinden mol
Reſpect vor ber geiſtigen Sonveränetät bes Dichters, der
fo ſpieleriſch und doch jo felbfibemußt das Traumfcepter
der Romantik handhabt, mit ihrem Odem eine fo bunte
Welt vol oft merkwilrdiger Abenteuer zufammenmweht;
aber wo der Dichter e8 fo wenig ernft nimmt mit ben
Vorgängen, die er ſchildert, da Lönnen auch feine Hörer
und Lefer nicht zu ernflem Antheil begeiftert werben. Ihre
Theilnahme ift vorzugsweife ber Virtuofität bes Dichters
zugewenbet, welche mit der Kunſt des Taſchenſpielers die
Ereigniffe in- und anseinanberfchiebt und mit ber gras
ziöfeften Leichtigkeit und anmnthigen Berneigungen gegen
das Publikum feine Meifterfchaft bekundet.
Der Inhalt erſcheint dabei als zufällig und gleich-
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gültig; ja geiſtige Bedeutung deſſelben wäre ſtörend, denn
ſie würde auf die virtuoſe Behandlung drücken und ein
ſelbſtändiges Pathos entwickeln, welches mit dem leichten
Ton der Dichtung in ſchreienden Widerſpruch träte. Der
Hauptnachdruck liegt alſo auf der künſtleriſchen Form,
auf der formalen Meiſterſchaft der Behandlung — und
dies gerade hat man in neuerer Zeit mit Recht als die
„akademiſche Richtung“ bezeichnet.
Wir wollen nicht behaupten, daß alle die „Novellen
in Verſen“ dieſer Richtung angehören; aber in der Mehr⸗
zahl bderfelben ift der Inhalt Schaum und Traum, be=
liebige Romantik in der Verkettung zufälliger Ereignifie,
Geifenblafenfpiel der Phantafie, die in alle Coſtüme der
Erde ſchlüpft!
Mir denken nicht gering von ber formellen Meiiter-
Ihaft und müffen der Mufe Heyſe's in Bezug auf dieje
das größte Lob ſpenden. Die Grazie in der Behandlung
der verfchiedenften Strophen ſowie des mannichfachſten
Inhalts kann kaum größer gedacht werden und bezeichnet
einen Höhepunkt des Fünftlerifchen Stils nad) der Geite
der Anmuth hin, der unferer Literatur zur Zierde ge«
reiht und gegen die Berwilderung eines oft burfchifofen
und manterirten Kraftſtils, wie der falopen und lieder-
Iihen Nachtreter Heine's einen für den Yortfchritt der
, Dichtung erfreulichen Contraft bildet. Es ift der Triumph
diefer Kunft, felbft die ſchwerern epifchen Versmaße, die
ottave rime und Zerzinen, die Strophen Taſſo's und
Dante’s, mit fo fpielender ‘Plauderhaftigfeit zu behandeln,
daß fie dem leichteften Ton der Unterhaltung fich zwang⸗
[08 darbieten und dabei nirgends die Spuren einer Mühe
und Arbeit zeigen, welche an ihrem prunfvollen Reim⸗
gewand dieſen gligernden Befag im Schweiße des An-
geſichts anheftet.
Doc wozu denn ber fogenannte tiefere Inhalt? —
werben die Vertreter der Selbftherrlichkett der Kunft aus-
rufen; je tendenz= und zwedlofer, deſto freier, berechtig-
ter ift das dichterifche Schaffen. Die Phantajie ſoll ung
ja eben aus biefer zwedvollen Welt entführen — und von
ben Märchen aus „Zaufendundeiner Nacht“, von den
„Metamorphojen‘‘ des Dvid bis zu den Novellen Boccaccio’8
und der andern italienischen Novelliften gibt c8 hundert
Borbilder für diefe Geſchenke einer freifchwebenden Phan-
tafie, welche Blumen ohne Früchte aus ihrem Füllhorn
ſchüttet.
Wir ſtellen der modernen Poeſie einmal höhere Aufgaben,
als dies ſelbſtgenugſame Spiel der Phantaſie zu löſen
ſucht. Gleichwol find wir nicht fo einſeitig, dieſem Genre
jebe Berechtigung zu verfagen, wenngleich wir demfelben
einen nur untergeordneten Rang einräumen gegenüber
einer Dichtung, welche, vom Geift des Jahrhunderts ges
fättigt, in fünftlerifcher ©eftaltung die großen Probleme
befielben zu löjen ſucht. Doc wir meinen, die Adilleus-
ferfe der Romantik gude bedenklid aus dieſen fein-
geftridten Maſchen einer eleganten und vielfad, galanten
Poefie hervor, die fih in allerlei phantaftifchen Capriolen
gefällt; und aud) das Mufter Wieland’s, deſſen leihter con-
verfationeller Ton, defien attifche Grazie und gefchmeidige
Ironie in einzelnen von Heyſe's Gedichten ſich wicder-
holen, dürfte dem 19. Jahrhundert nicht fo wohl anftehe
wie dem 18.
teuer.
Ein Novellift in Verſen.
Die Sammlung beginnt mit ber größten Erzählung:
„Die Brant von Cypern“, einer in Verſe gebrachten No-
velle des Boccaccio, welche fid) zugleich als charakteriftifc
für das ganze von Heyſe angebaute Genre erweift:
Es gibt ein Bud), vor zeiten vielbewundert,
Bei Niedrigen und Hohen mohlgelitten,
Ein welterfahrner Tröfter, deffen Hundert
Gejhichtfein fanft in Ohr und Herzen glitten,
Sn unferm höchſt anftändigen Jahrhundert
Berpönt ob feiner allzu freien Sitten,
Ein Luftwald voll der Ihönften Abentener,
Kur, wie die Sage geht, nicht ganz geheuer.
Doch Stellen gibt’8 in dem verrufnen Hain,
Die felbft der lieben Ingend ungefährlicy:
Bon Belladonnen find die Wiefen rein,
Der Weg für guten Wandel unbefchwerlic ;
Kein fchnöder Faun grinft unverfhämt darein,
Der firengen Mütter Aufſicht wird entbehrlid),
Und loſe Vögel plaudern von Geſchichten,
Zwar auch verliebt, dod) zügellos mit nichten.
Solch ein Geſchichtlein — wenn ihr lauſchen wollt —
Selüftet mi, daß id) im Reim erzähle.
O wären meine Berje helles Gold
Zu würd’ger Faffung diefem Lichtjuwele!
Nie ward der Schönheit Huldigung gezollt
Andächtiger von einer Dichterfeele,
Nie hat Boccaz ſich höhern Flugs erhoben —
Doch fill! Ich will erzählen — ihr mögt loben!
Da haben wir gleih den plauderhaften Ton, mit
welchem die ottave rime- behandelt find, und der in Ver⸗
fen wie der folgende ganz in den Stil des Byron'ſchen
„Don Yuan übergeht:
Er bie Galeſo. Doch bei allen Leuten
War's Brauch, daß fie ihn nur Eimone hießen.
Dies dunkle Wort weiß id) euch nicht zu deuten,
Da id) des Cypriſchen mic) nie befliffen.
So was wie „ZTölpel” wird es wol bedeuten;
Boccaccio fagt e8 au, der muß es wiffen.
Genug, mit diefem Namen rief man ihn,
Der ihm durdaus nicht ehrenrührig fchien.
Der Dichter tritt felbft mit allerlei meift ironifchen
Bemerkungen, Betrachtungen und Ercurjen etwas auf-
dringlich in den Vordergrund; man könnte fagen, der
Charakter diejer Dichtung ift die latente Parabafe.
Die Babel felbft ift abenteuerlih. Der plumpe Cimone
verliebt fich in die fchöne Flordelis, des reichen Kaufherrn
Tochter. Die erfte Begegnung ift mit reizender Anmuth
gefhildert. Um des Mädchens wilrdig zu fein, civiliftrt
er ſich nad) beften Kräften. Dennoch wird Flordelis mit
dem Prinzen von Rhodus verlobt. Auf der Meerfahrt
indeß raubt fie Cimone, der mit verfleideten Gefährten
dem Anfchein nad) ein Piratenfhiff befett Hält; aber die
Brautfahrt der etwas fpröden Schönen wird vom Schidfal
begünftigt; Wind und Wellen treiben das Schiff an das
Seftade von Rhodus. Die Befagung wird von den
Khodiern gefangen genommen, die Yürftin- Mutter, cine
fehr geſtrenge Herrfcherin, verlangt den Tod der Frem-
den; doch das Volk erhebt ſich zu ihren Gunften, und ber
junge Fürſt gibt fie aus eigenem edeln Entfchluffe fre.
Um das Maf feiner Güte vollzumachen, reicht er feine
Hand einer frühern verlafienen Geliebten, und Cimone
führt mit der Braut von Cypern heim.
Es ift dies eben eine echte Novelle voll bunter Aben-
Für Cimone hat man ein gemwifjes pfychologifches
— —— — — — — —
Ein Novellift in Verſen. 51
Intereffe; aber Flordelis bleibt eine Puppe, die ſich nur
mit wiechaniſchen Gelenken bewegt. Die Behandlung
Heyſe's ift originell und anſprechend; meift in jenem Tempo
gehalten, welches die Mufifer scherzando nennen; aber
das Ganze ift doch nur poetifcher Baiſerſchaum, der und
im Munde zergeht. Vor jebem Gefang ftellt fid) ber
liebenswürdige Zuderbäder felbft an die Thir und madjt
uns Mittheilungen über die Quellen, von denen er feine
fügen Woaren bezieht. Im erften Gefang wird die
Firma Boccaz genannt, im zweiten die Firma Uhland,
von deſſen „Fortunatus“ die ſtrophiſche Candirung ent
lehnt fein fol. Betrachtungen über ben Zopf der Antike,
Sitate ans Plinius, nach Geneli’s Gemälden ausgeführte
Dichterbilder, Anfpielungen auf Altes und Neues laſſen
die Zaubermacht der Romantik nicht mit dem eigenen, uns
gebrochenen Reiz auf uns wirken, ben die Erzählung der⸗
felben Abentener bei Boccaccio ausübt. Daß es dabei
nicht an Gtellen von tadellofer dichteriſcher Schönheit
fehlt, ift bei einem Poeten wie Paul Heyfe felbftverftänd-
id; wir führen zum Beleg hierfür bie vorzüglichen
Strophen an, mit denen der dritte Geſang eingeleitet
wird:
Nicht if der Lenz im Süden, wie im Norden,
Die Zeit, wo Seufzer ſcharenweis erwaden,
Mo Yiebeude, ein fahr'nder Ritterorden,
Die Weg’ und Steg’ im Wald unfiher madjen.
‚Hier on des Mittagmeers befonnten Borden
Klingt ferngefund des Frühlings golbnes Laden;
Du fiehr ihm night in Wehmuth Überflieen,
Er lebt nur kurz und will den Tag genießen,
Wohl if es füß, im blätterlofen Hag
Dem erſten Gruß der Veilchen zu begegnen,
Zu fühlen, wie bei ſcheuem Vogelſchlag
Die fiarven Lüfte thaun in lindes Regnen.
Nun fommen ſchon mit jedem neuen Tag
Des Frühlings neue Boten, die wir fegnen,
Doch Ängfiigt ung fein langſam Liebesmühn,
Und mander Nachtfroſt droht dem jungen Grlin.
Wie andere, wo die Erd- und Himmelsmädte
Auf einmal jauchzend ineinanderglühen,
Die Sonne ſich befinnt der alten Rechte
Und derriſch flammt in Hei’gen Yahresfrühen.
Dann, wenn die Ichte ſchwand der Winternäcte,
Siehft du am Mittagftrahl die Mandeln blühen
Und hörft es flüfern im Orangenlaube:
Daß je ein Winter war, ift Aberglaube.
Ohne diefe um den Rahmen der Handlung ſchwei -
enden humoriftifchen Arabesfen ift die zweite Erzählung:
„Margherita Spoletina“, ausgeführt, in rafchen, kecken
Zügen, die zur Sataftrophe drängen. Der Stoff hat
einen gewiſſen vaffinirten Reiz — «8 handelt ſich um einen
weiblichen Leander, die ſchöne Margherita, welde mit
Hulfe ihrer Schwimmtunft allnächtlih den verwundeten
Geliebten befuht. Diefe Schwimmpartien zu verbotenem
Liebesglüct werden der Familie entdedt; ber Geliebte ver-
Aut ihrer Rache; die Leuchte, mit der er der fühnen
Schwinmerin den Pfad durch die Wogen gezeigt, wird
on den Rädern an einem Boot befeftigt, weldjes ins
rite Meer hinausfährt. Margherita, biefem Trugfignal
achſchwimmend, geht unter als ein Opfer raffinirter
raujamfeit, die dem Zeitalter der Neronen Ehre ger
aacht hätte.
Ariea“ ift die am meiften pathetifche von Paul Hey«
ſe's Erzählungen, ein Nadjtbild aus der Zeit der Fran⸗
zöſiſchen Revolution, nicht ohne ein gewiſſes fociales Pa-
thos, das wir fonft bei Heyfe vermiſſen, ein Pathos fir
die Menſchenrechte. Die Heldin ift eine Negerin, aufs
erzogen in ariſtokratiſchen Kreifen, entbrannt in Liebe für
den Grafenjohn, ber fie um ihrer Farbe willen verfhmäht.
Verzweiflung gibt fie fieberiſcher Krankheit preis, fie ent⸗
flieht trog der treuen Pflege, die ihr zutheil wird, aus
dem Grafenhauſe; auf dem Pflafter der Straße, wo fie
die Nacht verbringt, wird fie von einem Weib der Hal-
len, einer Fiſchersfrau, aufgefunden und folgt dieſer in
ihre befcheidene Wohnung. in Boot auf der Seine Ieie
tend, trifft fie den flüchtigen Orafenfohn, den Geliebten,
der fie, ohne fie anfangs zu erfennen, um Rettung an«
fleht. Die Kataſtrophe wird durd) einen Zug von großer
pſychologiſcher Zeinheit Herbeigeführt. Das Boot begegnet
einen Safobinerboote; die Nevolutiongmänner ſchöpfen an-
fange Verdacht, beruhigen fid aber, als fie die Negerin
erkennen, bei der fie feine ariftofratifche Contrebande arg-
wöhnen. „Küffe deine rau”, rufen fie dem Grafen zu:
Er ſchlägt den Arm um fie; ba bridt ein Schrei
Bon ühren Lippen, der nach Wahnfimn Ting.
Sie ſtoßt den Arm hinweg, der fie umſchlingt —
Es jünt ihr Tuch — ein Ihmarzes Haupt wird frei,
Bon krauſem, glänzendem Gelod umtingt,
Draus funfelt ihm ein Augenpaar entgegen —
Er kennt es nun! Sein letzter Muth verfinkt,
Da wild die Lippen dort fid regen:
Zurüd! du Mgft! Hat dich die Todesangft
Geheilt vom Ekel vor der Negerin,
Daß id) mun gut genug zum Küffen bin,
Da dur vorm Kuffe der Verweſung bangft?
Hat Efend mid) gebleiht? Sieh hin, fieh Hin,
Um weld) ein niedrig Lieben du geworben..
NRühr’ fie nicht an! Sie ift von flolgem Sinn,
Ob and) zur Grafenbraut verdorben!
Damit hat fie dem Flüchtling das Todesurtheil ge-
fproden. Am Schluß fehen wir, in der glänzenden
Kaiferzeit, die Negerin mit weißen Haaren auf den Bonle-
vards betteln.
Die Behandlung des grellen Stoffs ift eine discrete.
Was wir dabei vermiffen, wird uns Har, wenn wir uns
denfelben Stoff von Freiligrath behandelt denken; glühen-
des Colorit und hinreißendes Feuer der Leidenſchafi. Die
Form ift nicht fo rein und durchſichtig wie in Heyfe's
andern Gedichten, es finden ſich ungelenfe Wendungen
und harte Upoftrophirungen ſelbſt im Reim:
Und als der Mai and) die Gironde brach,
Ward, wer nod) träumte, feiner Träume fatt.
Dog) ftille war's ob einer Greifin Haupte,
Die um fo manden Wahn getranert hatt’
Und um ihr Kind, das todtgeglaubte.
Ihr Geift befann
Sich feines Ziels. Der Gaffe, drin fie fteht,
. Folgt fie begierig und der nädflen dann u. ſ. w.
Zwei chineſiſche Gefchichten: „Die Brüder” und „König
und Magier“, find in ben fünffüßigen reimlofen Trochden
ber ferbijchen Volfspoefie gefchrieben. Die erfte Hat zum
rührenden Mittelpunft, daß ein jüngerer Bruder ſich fir
den ältern opfert; die zweite endet in gefpenfliger Weiſe.
Ein Hinefifher König Saul und ein inefifher Salomon
treten fich gegenüber; doch ift der letztere in ein Zwielicht
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gerüct, welches den Heiligen und den Betrüger nicht
genau unterfcheiden läßt. Der despotifche König, welcher
den Magier zuerft, da diefer nicht Regen herbeizuzaubern
vermag, zum Scheiterhaufen verdammt, ihn dann aber,
als er vor dem Flammentod durch einen Regenguß ge-
rettet wird, felbft töbtet, ift befjer gezeichnet. Das chine⸗
fifche Coſtum nnd Colorit ift aber fir beibe Erzählımgen
fo volllommen gleichgültig, daß man nicht begreift, warum
der Dichter bie Handlung in das zopfige Reich der Mitte
verlegt, welches doch durchaus kein poetijches Klima hat.
Es liegt hier dieſelbe Willfür zu Grunde wie in ber
Wahl ferbifher Trochäen für die chinefifchen Stoffe.
Die alademifhe Muſe liebt einmal den Tosmopolitifchen
Carneval.
„Die Hochzeitsreiſe an den Walchenſee“ iſt eine plau-
derhafte Humoresfe oder Idylle im Stil des Byron’schen
„Don Yuan” mit Excurſen de omnibus rebus et qui-
busdam aliis, felbft itber das münchener Bodbier. Das
Gedicht aber ift leichteſter Schaumwein, mit gewinnenber
Grazie credenzt. Kleine Eiferſüchteleien eines jungen
Ehemanus, curirt durch die aufopfernde Liebe der Frau,
welche glaubt, dag er im Walchenfee ertrunken fer, wäh⸗
rend er nur im Kahn fchlummernd über denfelben Bin-
gleitet — das ift der Inhalt diefer „Hochzeitsreife‘‘, deren
pigchologifhe Motive von fpinnewebiger Feinheit find.
Trotz des anmuthigen Beftrebens, mit welchem uns ber
Dichter hierüber zu tänfchen fucht, können wir doch das
Gefühl nicht überwinden, daß das Gold des Stoffe für
diefen breitgehämmerten Golddraht nicht ausreicht.
„Michelangelo“ und „Rafael“ find zwei Künſtler⸗
novellen in Verfen, die erfte in fünf», die zweite in vier-
füßigen gereimten Jamben, beide ohne ſonderliche Bedeu⸗
tung. Es Handelt fi um Liebesabentener, deren Ab⸗
ſchluß die Refignation if. Das Intereſſe, welches der
jedenfall für plaftifche Formenſchönheit begeifterte Bildner
an ben Reiz der jcheinlofen, von Wuchs kümmerlichen
Bittoria Kolouna uimmt, ift felbft fo zweifelhafter Art,
daß es uns nicht zu erwärmen vermag; und bie Liebes»
epifode des fchönen Rafael, bie uns eine aus plöglicher
Begegnung himmelhoch auflobernde und fchnell begrabene
Leidenfchaft zeigt, erfcheint doch allzu keck in die Luft ge-
baut. Auch die Schilderung ift, troß mancher fließenden
Berje von bdichterifchem Adel, doch minniglich manierirt.
So jagt die Liebeude, nachdem fie, von Leid und Leiden-
Ichaft bezwungen, einander im Arme geruht, „zu zweien
Eine Ereatur”!
Kann Id)
Da mir fo hold geſchehen,
Zur unhold fremben Welt zurüd?
Der manierirte Stil der Nordlandsgeſchichte „Syritha“
ift ſchon früher (in Nr. 33 d. DL. f. 1867) gerügt worden.
Die Naivetät der Geſchichte ift eine fehr erkünſtelte;
„Syritha“ ift eine neue Auflage der „Amaranth“.
Die neuefte Dichtung Heyſe's, das im „Salon“
abgedrudte Gedicht: „Das Feenkind“, hat folhe Anmuth
bes loſen Faltenwurfs, daß fie in der That an die leicht.
geflügelten Kinder ber Wieland’fchen Muſe erinnert. Das
ift allerliebfte Konverfation in Verſen, und wie der Dich»
ter ſelbße fagt:
Bas Haben wir gethan?
denn wieber gehen,
Ein Novellift in Berfen,
Kein Märchen iſt's, mas ich erzähle,
Hiſtoriſch fireng beglaubigt {ft der Kern,
Boetifh unr die Korm, die ich erwähle,
Und trog des ibealen Flugs der Stanzen
Höchſt realififch die Tendenz des Ganzen.
Ein Prinz, der es liebt, einfam bie Nacht zu durch.
reiten und gegen weiblichen Reiz unempfänglich ift, wird
durch ein Feenkind befehrt. Dies Feenkind, eine Art von
abenteuernder Mignon, enthüllt dem Fürften felbft den
Betrug, den man mit ihm fpielt, will ſich aber nicht
„bediademen“ laſſen, fondern verzichtet auf die Krone, bis
der von Liebe entbrannte Fürft bei einer öffentlichen
Aufführung, wo fie ihre gewagten Künfte zeigt, vor allem
Bolt anf fie losftürzt und fie zur Gattin erwählt.
Die Darftellung ift faft durchweg in grazids fchälern-
dem Zon gehalten, mit ben breiteften humoriſtiſchen Ere
curjen, in denen der Verfaſſer weniger fehlagenden Wig
als feine Yronie bekundet. Am gelungenften ift bie Be-
eiferung der Frauen und Mädchen dargeftellt, das Herz
des jungen Yürften zu rühren, nachdem die fchöne Gul⸗
nare freiwillig zurüdgetreten:
Sie dachten, da nun Brefche fei, fo lafſe
Die ftolze Feſte fih mit Sturm gewinnen.
Bo nur der Yürft fi zeigte, war die Gaffe
Berlegt von holden Wegelagrerinnen.
Gedichte, Blumen regnet’ es in Maſſe,
Man mühte fih, Toiletten zu erfinnen,
In Schnitt und Farb’ und Stoff höchſt überſchwenglich,
Und mande felbft ein wenig ftart verfänglich.
So ſchlich fi einft ein Fräulein im den Garten,
Bis zur Fontaine, dort mit naſſem Haar
Im NRirenkleid den Yürften zu erwarten,
Obwal das Baden bier verboten war.
Er fam und glaubte, daß ihn Träume nartten;
Kaum aber ward die Wirklichkeit ihm Har,
So kehrt' er um, ale ſtäch' ihn die Tarantel,
Und rief: Mau bring’ ihr einen Bademantel!
Die zu einem Feſt eingelabenen benachbarten Prin-
zeffinnen unterwirft der Hofmohr der folgenden galanten
fterung:
Da ift zum Beifpiel die Prinzeß Irene
Bon Samarland, die Häffichfte von allen.
Doch Hat fie ſchönes Haar, fuperbe Zähne
Und ein Paar rothe Lippen wie Korallen.
Man jagt, fie fei nicht fehr gefcheit, fie gähne
Beim dritten Wort; das ließ' ich mir gefallen.
Dummheit ift Gottesgabe, und bie Diünmfle,
Glaubt mir, mein Fürft, iſt lange nicht die Schlimmfle.
Damm die Prinzeffin von Byzanz, die Dide,
Die dreimal ſtets von jeder Schüffel ißt.
Ihr, thenrer Herr, habt ja genug zum Glücke,
Die Gattin fatt zu machen, and Ihr wißt:
Ber ſtark zu effen pflegt, ift ohne Tücke.
Auch Yulins Käfer, der erlegen iſt
Dem hagern Casca, lebte wol noch hente,
Umgaben ibn nur wohlbeleibte Leute.
Indeß, zieht Ihr die Magern vor, wie wär’ es
Mit Fürſtin Babul-Budur, deren Näschen
Spig wie ein Pfeil? Sie liebt zwar fehr den Xeres,
Und man erzählt, daß, wenn fie erfi ein Gläschen
Zu viel genippt Hat, fle ein fehr vnlgäres
Geplauder führt, gewlirzt mit derben Späßchen.
Ihr Bater zog fie auf mit fieben Göhnen;
Ihr müßt den Hofton erft ihr angewöhnen.
Bom Büchertiſch. 53
Prinzeß Amine mit den blauen Augen
Und weißen Schultern ift ein füßes Kind.
Zwar ihre Renommee foll wenig taugen,
Dod; da es nicht die ſchlechtſten Krise find,
Bielmehr die reifflen, dran die Wespen fangen,
So ſchlug' ich ſoiche Scrupel in den Wind.
Auch hat als Frau fi mande fehr erprobt,
Die erft im led'gen Stand ſich ausgetobt.
Die Geſchichte ift offenbar ganz amufant, entbehrt
aber, wo fie ernfter gemeint ift und mo ein lyriſcher
Haud) die breit Hingegoffenen Wellen des Humors zu
kräufeln beginnt, des tiefer gehenden Intereſſes. Einem
ironifch aufgebröfelten Phantafiefpiel fehlen die Maſchen,
die unfern Sinn im Exnft gefangen nehmen,
Die humoriſtiſche Baftenprebigt: „Srauenemancipation“,
enthält manchen treffenden Einfall, ohne irgendein Facit
zu ziehen; fie ift abgefaßt in der befannten Don - Juan»
Form, geſpickt mit Fremdwörtern, die oft in die Reime
gefegt find, und ausgerüftet mit allen erdenklichen Wen-
dungen einer hin« und hergehenden Converfation.
Noch Haben wir zwei größere Gebichtegfien zu er-
mwähnen, welde an die Mufter der römiſchen Elegiler
erinnern: das Keifetagebud in Terzinen: „Der Salaman-
der”, das wir bereits in Nr. 3 d. BL. f. 1868 einer ein»
gehenden Würdigung unterzogen. Und zwar erfannten
wir die Meiſterſchaft in der leicht graziöfen Behandlung
der Terzinen mit Wärme an, ſowie die großen Schön.
heiten, welche der Dichter in der Darftellung dieſes an
fich unbebeutenden galanten Abenteuers feinen Zerzinen
abgewinnt.
Der zweite Liebescyllus: „Idyllen von Sorrent“, iſt
weit entfernt von dem blaſirt pifanten Ton der Terzinen;
er ſchildert eine harmlofe Neigung, um welde ſich Ara-
besten heiterer Genre⸗, Volls« und Naturbilder fchlingen,
in einem Stil, welcher den Gocthe'ſchen Diftihen und
all ihrer Eigentgimlichfeit zum Verwechſeln nachgebildet
ift. Nur plauderhafter ift Heyſe's Mufe, und dabei geht
fie oft mehr ind Breite und auch weiter in ber leichten,
ganz für ben Converfationston zugerichteten Behandlung
der antiken Berfe, ald dem Altmeifter beliebte. Manches
verliert fich ins Seichte und Verwaſchene; aber einzelne
Gemmen find auch mit fo feiner, forgfamer Kunft ge-
ſchnitten, daß fie dem Gedächtniß nicht Leicht entſchwinden.
Schon die Einleitung verfegt uns ganz in die Stimmung,
die das reizende Sorrent hervorruft:
Schön iſt immer der Mai in Sorrent, am Strand, in den
Gärten,
Ueber den Vignen am Fels, ſchön in den Gaffen der Stadt.
Aber am jhönften um Mondaufgang, wenn um den gefrönten
Berg Sant-Angelo falb dämmert ber trauliche Schein,
Und auf Jachia drüben die letzte verglimmende Wolfe
Ruht und dem alten Vefuv feierlich röthet die Stirn.
Dann trägt ſchweigend Luifa Zi gern fie plandert, die
te —
Mir ein Bänlchen hinanf auf das geebnete Dad.
Dort von des Tags nacbentficem 2 lichtsthun ruht fi die
ele
ei
Wie zufrieden mit ſich aus in der Stille der Luft,
Träumt von biefem und dem, zu den Freunden hinliber, den
jenen,
Schweift mit gefättigter Glut —* die Gärten im Grund,
Bo die Feige geinach anſchwillt und Duft der Orangen-
Blüte die dunfelnde Frucht nachbarlich wieder umfpielt.
Das italienifhe Naturfind ift mit vieler Anmuth ge
fchildert, oft dem Unbedeutenden ein feflelnder dichteriſcher
Reiz abgewonnen.
Die meiften „Novellen in Berfen“ find von beftriden«
der und einfchmeihelnder Grazie und rühmenswerther
Formvollendung. Doc der in ihnen herrfchende Grund«
tom ift ein fpielerifch leichtfertiger; wir fehen ftet vor
uns das fouveräne Subject der Romantit, das mit der
Dichtung und auch mit dem Leben fpielt; auf den Lippen
das nie erlöfchende Lächeln überlegener Ironie; bie eihi-
ſchen Licenzen Wieland’8 und Goethe's erflären ſich bei
Heyfe in Permanenz. Man darf ihn nicht einen un ⸗
gezogenen Liebling der Camönen nennen; ex gehört zu
ihren wohlerzogenften, das Heißt, er weiß feine frivolen
Unarten mit vielem Geſchick zu verbergen. Doch in einer
Zeit, deren Streben auf bie ewigen und höchſten Gliter
der Nationen und der Menfchheit gerichtet ift, wirb biefe
phantaftifche Arabesfenpoefie bei all dem Zauber ihrer
meifterhaften Form feine nationale Bedeutung gewinnen
fönnen, da ihr jeder wärmere Herzſchlag fehlt, dafür aber
den äfthetifchen Gourmands, ben Kennern, welde ben
Triumph einer auch den unbebeutendften Inhalt geſchmad -
vol fafjenden und ſinnreich Hebenden Kunft zu witrdigen
toiffen, eine, von Teinem ftofflichen Reiz getrübte Genüffe
bereiten. Rudolf Gotiſchall.
Dom Bücherliſch.
1. Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Berlin, Herk.
1870. 8. 2 Thlr.
ge unfcheinbarer der Zitel dieſes Buches auftritt,
defto marfiger und bedeutender ift fein Inhalt. Wir
haben anf dem Büchertiſch d. BI. gerade in der Tee
ten Zeit eine ziemliche Anzahl biographifcher (und zwar
meift felbftbiographifcher) Werke gehabt, die nicht der
Friſche und Lebenswahrheit entbehrten, bie wie „Die
Jugenderinnerungen aus der Mappe eines Greiſes“ fogar
iber den Kanal Hinitber Anerkennung gefunden haben;
teine Schrift des biographiſchen Genre trat ung jedoch
"0 vollberedtigt vor die Augen als bie vorliegende.
Bilpelm, der veichbegabte Sohn des Malers Gerhard
von Kügelgen, felbft vor furzer Zeit aus ſtillbewegtem
Wirken gefchieben, erzählt den Gang feiner Yugendjahre
mit fo viel Orazie und feiner Selbſtbeobachtung, dag ung
die Leftire diefer Aufzeihnungen mit einem Dauch von
„Wahrheit und Dichtung“ anmuthet. Freilich rauſcht die
bervegte Zeit der beiden erften Jahrzehnte des Jahrhunderts
mit ihren großen politiihen Ummälzungen nur in der
Berne an diefen Blättern vorüber, auf welche die Jugend-
geihichte eines hocjbegabten Menſchen gefchrieben iſt:
die file Klaufe der Familie ift es zumeilt, in der alle
Borgänge geſchehen und nur wie hinter einem Schleier
zieht die gewaltige Haupt» und GStaatsaction der Napo«
Teonifchen Zeit vorbei. Aber dafür entjcädigen uns taufend
54 Dom Büchertifch.
Einblide in das Kleinleben der Kügelgen’fchen Familie.
Wie plaftifch ftchen uns alle Figuren des Hauſes vor
Angen! Die unverfälfchte Künftlernatur Gerhard von
Kügelgen’s, den eine Mörderhand mitten aus frifcheftem
Leben hinwegriß, die verftandesmäßige, Klare und milde
Geſtalt der Mutter, das rundbadige vergnügte Geficht
des jüngern Bruders, daneben der originelle Inorrigweiche
Charakter des Tandpaftors Roller, dem unfer Selbftbiograph
wol die Grundlage feiner frommen Gefinnung verdanlt,
der höfifche Kreis von Ballenftäbt, das gemüthvolle
Familienleben im Krummacher'ſchen Haufe zu Bernburg —
wie ftehen alle diefe Bilder fo anfchaulid vor der Phan-
tafie des Leſers, Feine Gebilde romanhafter Phantafie,
fondern treue Porträts nad) dem Leben! Eine ungemein
feinfühlige, phantafievolle und doc willensfräftige Erſchei⸗
nung — fo präfentirt fih uns Wilhelm von SKügelgen,
deſſen aufrichtig fromme Ueberzeugung nirgends ftört, weil
fie fih einen ungetrübten Blick für weltliche Zuftände,
wie er dem Künſtler ziemt, erhalten hat. Leider bricht
das Buch mit dem erfchütternden Unglüdsfall der Er»
mordung des Vaters ab und der Herausgeber (Philipp
von Nathufius) Tann und nur einen magern Abriß von
den fpätern Lebensſchickſalen des Ticbenswürdigen Bio-
graphen geben. Immerhin aber verdient Nathufius, dem
die Natur des Gelbftbiographen ſympathiſch geweſen zu
fein fcheint, den Dank aller derer, denen biographifche
Denkwürdigkeiten auch dann willlommen erjcheinen, wenn
fie ſtatt gefchichtlicher Enthüllungen und Pilanterien den
Derfolg gemüthlicher Vorgänge im Menjchenleben zu
ſchildern verfuchen.
2. Dank vom Haus Defterreich oder der Infant Dom Duarte.
Epifode aus dem Dreißigjährigen Kriege. Nach den Onellen
dargeftellt von Guftan de Beer. Kaffel, C. Ludhardt.
1869. Gr. 8 20 Ner.
Ein Bruder bes tapfern Johann IV. von Braganza,
bes Befreierd Portugals vom fpanifchen Joch, diente wader
als General der Artillerie in ber öfterreichifchen Armee,
ward jedoch nad der Thronbefteigung feines Bruders
heimtückiſch in Regensburg eingelerfert, von dort nad)
Paffau und ſchließlich nah Mailand gebracht, wo er
1649 nad achtjähriger Kerkerhaft, 39 Jahre alt, ftarb.
Jene Unbill geſchah dem unfchuldigen Manne auf An-
ftiften Spaniens, genauer auf Wunſch des Herzogs von
Dlivarez, des allmächtigen Minifters Philipp's IV. Un
begreiflich bleibt e8 doch, daß dem königlichen Bruder
nicht mehr Hülfsmittel zu Gebote flanden, den Gefangenen
zu befreien. Die Gefchichte des Principe vendido, bie
be Beer nad) den Quellen wiedergibt, wird, wenn fie
in Portugal bekannt wird, ſchwerlich dazu beitragen,
bie alten Antipathien der Portugiefen gegen die mäch⸗
tigern Spanier, die duch eine fünfhundertjährige ©e-
ſchichte genährt worden find, zu vermindern unb in
eine don Madrid aus gewünfchte Unionseinwilligung
aufzulöfen.
3. Hugo Donelus in Altdorf. Bon R. von Stinking.
Erlangen, Beſold. 1869. Gr. 8. 15 Nor.
Dem berühmten Yuriften Profeflor von Wächter tft
die Heine Monographie bei Gelegenheit feines funfzig-
jährigen Lehrjubiläums (13. Auguft 1869) gewidmet,
und zwar don der Juriſtenfacultät der Univerfität Er—
langen, deren zeitiger Delan der Berfafier ift. Die eigen-
thümliche Erſcheinung eines franzöfifchen Calviniften, der
al8 renommirter Rechtslehrer an die nitrnbergifche Uni-
verfität Altdorf berufen wird, nöthigt uns, dem Iutherifchen
Zeit- und Sirchengeift gegenüber, der fi) Ende des
16. Säculums in Deutfchland breit macht, Achtung und
Intereſſe ab, um fo mehr, da wir erfahren, „daß ganze
Theile der heutigen civiliftifchen Theorie geradezu auf
Donelus zurüdzuführen find“. Go wird, zumal dem
Freunde ber Rechtsgeſchichte, das Miniaturbild, das ber
gelehrte Autor uns in feinen Zügen gemalt Hat, ein
willlommenes fein.
4. Geſchichte des Hebräifchen Volles und feiner Fiteratur, von
Samuel Sharpe Mit Bewilligung des Verfaſſers be-
rihtigt und ergänzt von H. Iolomwicz Leipzig, C. F.
Winter. 1869. Gr. 8. 18 Nor.
Es genügt nicht mehr, brave Gefinnung zu haben
und eine leidliche Portion von Nationalismus in .ber
DBibelfritif, wen man über die Gefchichte der Bücher des
Alten Bundes fchreiben will. Der Geift und die Iebens-
volle Darftellung de8 Gegenftandes ift doch wahrhaftig
nicht mehr fo rar, auch nicht mehr unter den deutſchen
Gelehrten, daß man nicht berechtigt fein follte, eine Heine
Dofis jener liebenswürdigen Eigenfchaften bei einer Be—
handlung altteftamentarifcher Geſchichte und Literatur zu
verlangen. Und nun ift der Autor gar ein Engländer!
Ein Engländer, von denen man feit zwei Jahrzehnten
gewohnt ift, die Fritifche Zractirung Biftorifcher, wirth-
ſchaftlicher, ja felbft theologifcher Dlaterien mit einem
reihlihen Aufwand jener Eigenſchaft behandelt zu fehen,
die die Anhänger des „Materialismus“ in einem mehr
oder minder vorhandenen Phosphorgehalt des Hirns zu
fuchen geneigt find. Oder hätten bie Buckle, Lecky, Mill,
Grote, Macaulay umfonft gefchrieben, und wir Deutfchen
fein Recht, ihre geiflvolle und doch gründliche, phantafie-
volle und doch durchweg verftändige Darftellungsweife zu
bewundern? Wenn der Herausgeber und Ueberfeßer das
Prädicat eines „ſchönen“ Buchs fir die Sharpe’fchen
Ereurfe in Anfprud) nimmt, fo vermögen wir dieſen
Geſchmack nicht recht zu begreifen. Aber man liebt ja
feine Pflegefinder oft wie feine eigenen Kinder, und der
Ueberſetzer befindet ſich vielleicht mehr im letztern als im
erftern Falle. Denn mie weit dem Sharpe'ſchen Bud)
gegenüber die Grenzen der Ueberfegung und der Selbſt⸗
thätigleit des Herrn Dr. Yolowicz gehen, vermögen wir
nicht zu unterfcheiden. Er hat „mit Weglaffung der
etymologifchen Spielereien und unbegründeten Hypotheſen,
von welchen das fonft ſchöne Buch nicht freizufprechen ift,
daffelbe deutfch bearbeitet und dabei nach Maßgabe feiner
Kenntniß und Studien bie betreffenden ſichern Ergebniffe
benugt, welche durch die vorzüglichen Forſchungen von
Männern wie — (folgt eine Reihe orientaliftiicher Auto-
ritäten) — in ihren Meifterwerfen zu Tage gefördert wor-
den find”. Nun find allerdings, das willen wir aus
guter Duelle, Kenntniß und Studien des genannten Ueber-
jeger8 derart, daß wir vor ihnen alle Achtung haben;
aber warum hat der wadere Herr durch feine willfürliche
Redaction des Originals es uns fo ſchwer gemacht,
engliſch von deutſch, Sharpe von Jolowicz zu fondern?
u
willen nicht, ob es wohlgethan ift, die fagenhafte
te der Hebräifhen Urzeit ganz zu ignoriren, wie
5 Sharpe gethanz gerade Hier, in einer Zeit, im
weldyer die zäheften Traditionen wurzeln, däucht und,
wäre e3 pajlend geweſen, mit ſcharfer Kritit aufzuräumen.
Beshalb eigentlich, das Sharpe ſche Buch dem deutſchen
Publikum vermittelt werben folte, begreifen wir nicht recht.
Im der Kritit der Geſchichte des jüdifchen Volts, feiner
Siteratur und Cultur ift gerade die deutſche Wiſſenſchaft
jeit Decennien der engliſchen weit voraus: auf dem weir
tem Wege von Michaelis über Ewald bis zu Fürſt ift
mehr und gründlicer gearbeitet worden als von Sharpe
and Gemoffen. As das Renan'ſche Bud über das
Leben You erſchien, da murrten die deutfchen Schrift
geleheten, warum man immer das ausländifche ſeichte
5» at beim gebiegenen einheimifchen, warum man Renan
Strauß vorziche. Und Renan hatte doch Schönheitsſinn
fein aufeichtiger Ernft ward durch die Heiterkeit einer
ifchen Form gehoben! Warum folen wir nun bie
und dabei nicht neue Behandlung eines Briten
er deutjchen gelehrten Stoffbewältigung vorziehen, wie
wir fie in 9, Für's „Geſchichte des hebräifchen Schrift
thums“ finden? Wir wollen nicht ungeredjt gegen ein
Berk fein, das, aus begreiflihem Nationafgefühl, in
England gewiß; großen Beifall findet. Aber in England
man in der freiheit, veligiöfe Dinge zu beſprechen,
de fo weit gegen Deutfchland zurüd, wie in ber Freiheit
fiaatlichen Lebens voraus; und während eine ver
nünftige, nicht allzu kühne Forſchung und Darftelung
biblijcher Urkunden jenfeit des Kanals als Zeichen reli«
Kedheit gilt, Hat man im Deutſchland auf eben
Gebiet ſchon Lange nicht mehr vor den Außer
ſequengen freier Forſchung zurüdgefchrekt, denen
Bolt der Briten erft auf Ummegen entgegen-
ß
'e der Geſellſchaſt von Johann Joſeph Roßbach.
oeiter Theil: Die Mittelffaffen im Orient und im Mit»
telalter der Bölter des Dccidents. Würzburg, Stuber.
1869. 8. 1 Thlr.
Der Name des tüchtigen Werks und das gute Re⸗
des Autors in der wiſſenſchaftlichen Welt bür-
ſchon allein dafür, daß wir im dem Bude, deſſen
er Theil uns jegt vorliegt, einen werthvollen Beitrag
Culturgeſchichte der europäiſchen und weftafiatifchen
Bi erhalten. Der trefilihe Mann, der in der Ge—⸗
ſchi te menſchlichen Rechts und menſchlicher Sitte geforſcht
umb gejcjrieben hat wie der Beſten einer, iſt mun vor
F Zeit dahingegangen und hat fein lehrreiches
ehmen unvollendet laffen müſſen. Sein Andenken
umergefjen fein, wenn eine fpätere Generation ſich
anern wird, was ihre Vordermänner für die Lichtung des
i hichtlichen und volkswirthſchaftlichen Waldes ge-
um, im dem viele gelehrte Detailiften nod; immer den
: al vor Bäumen nicht fehen wollen. Klar, vorurtheile-
‚ dabei mit einer leifen Beimiſchung veligiöfer Ge-
kn, fo tritt diefer zweite Theil der Gefchichte
Gejelljchaft vor uns Hin; er wird den Deutſchen
deshalb genehm fein, weil er ſich mit großer
© zur Sadje der Entridelungsgefhichte des deutſchen
s-Etat gewidmet hat. Die Genefis der deutſchen
Bm
Bom Büch ertiſch. 55
Mitteltlaffen bildet den Ungelpunft von Roßbach's Dar-
Tegung ; Inhalt und Ausführung biefes intereffanten Themas
werden dem nicht allzu umfangreichen Buche die lebhafte
Teilnahme bes heimischen Leſerkreiſes fihern.
6. Das Weihwaffer im heidniſchen und chriſtlichen Cultus,
unter befonderer Berüdfigtigung des germanifhen Alter
thums. Ein Beitrag zur vergleihenden Religionswifjenihaft
von Heino Pfannenshmid. Mit zwei Holzihnitten.
Hannover, Hahn. 1869. ©r. 8. 1 Thlr. 10 Nor.
Bravo, Herr Doctor, das ift ein Wort, bei dem ſich
aud) etwas denken läßt, die „vergleichende Religionswiffen-
ſchaft“. Ihre Definition ift Inapp und richtig: „Die
vergleichende Religionswiſſenfchaft“, fagen Sie, „detrachtet
das Chriſtenthum nicht als etwas für ſich Beſtehendes,
ſondern als eine Specialität der allgemeinen Religion, bie
ganz allgemeinen gottmenſchheitlichen Entwidelungsgefegen
unterworfen ift. Sie unterjucht alfo die allgemeinen reli-
gionsbildenden Proceſſe, um bie fpeciellen danach bemeſſen
zu Können. Co erkennt fie, daß nicht nur das Chrifien-
thum hinſichtlich feiner Entroidelung in Dogma und Cultus,
fondern auch hinſichtlich feines Urfprungs mit jeweiligen
Zeitvorftellungen, die felbft in der Vergangenheit wurzein,
in engfter Beziehung fteht.” Unter den Cultusfpeciafitäten,
welche das Chriftentjum dem erfterbenden Heidenthum ab«
geborgt hat, nimmt der veligidfe Brand der Benegung
mit geweihtem Waffer eine der erften Stellen ein. Wie
vor dem Meßopfer die Gläubigen in ber Kirche vom
Priefter mit Weihwaffer befprengt wurden und noch wer»
den, fo wurden die Heiden vor dem Opfer, das fie der
Gottheit darbrachten, ebenfalls mit Weihwafler vom Prie-
fter befprengt. Vorzugsweife aber waren es die heidniſchen
Germanen, die den Waffer-, Duell- und Brunnencultus
zum Hauptftüd ihrer Gotiesverehrung gemacht hatten.
Die Darftellung des Berfaffers läßt viele Seitenblide auf
die Analogie des heidniſchen und chriſtlichen Cultus zu; fie
hätt ſich aber mit Gefchid in den Grenzen der vergleichenden
Mythologie und wird als weſentliche Bereicherung der
vergleichenden Religionswiſſenſchaft zu betrachten fein.
Es ift tüchtige Forſchung und fruchtbringende Gelehrfam-
keit in dem Wert, das und auf des Autors angekündigte
„Heidniſche und chriſtliche Exntefefte in Niederſachſen“ recht
begierig madt. Möge ſich der wadere Mythenforſcher
und Religionswiſſenſchafter von feinen Entdedungen nicht
abſchrecken laſſen durch jene zahlreiche Partei, „die, aller
mahrhaften Wiffenfchaft bar, von hiſtoriſcher Entwidelung
der Religion feinen Begriff hat“.
7. Der Genius der Menſchheit. Frauenwirken im Dienſte
der Humanität. Cine Gabe für Mädchen und rauen.
—X Zuiſe Otto. Wien, Hartleben. 1869. 8. 1 Thlr.
gr.
Es ift-der fünfte Band der „Deutjchen Frauenwelt“,
ber obigen hochtlingenden Namen führt. Der brave, gute
gemeinte Inhalt entjpricht denn aud), wie wir das von
der bekannten Vorkämpferin file das Recht der Frauen
warten können, dem humanitären Zwecke. Ob freilich
ie Verfaſſerin nicht in manchen Punkten zu ſchwarz ge⸗
chen hat, ob bie verrätheriſche Männerwelt wirklich, fo
ſtark an der Verſchlechterung der weiblichen Gitten und
Denfart arbeitet, wie es der ſittlich empörten Schreiberin
.
oa
56 Vom Büchertiſch.
erſcheint, das überlaſſen wir einem Appellhof, der ſich
aus beiden Geſchlechtern zuſammenſetzt. Immerhin will
es uns bedünken, daß die begabte Schriftſtellerin mehr
auf ihrem Felde in der Beſprechung deſſen iſt, was dem
engern häuslichen und familiären Leben noththut, ale
auf dem dornenvollen Wege, die Menjchheit und das
Geſchlecht über feinen Beruf aufzullären: eine Frage, deren
Löſung fehr verjchiedenartig ausfallen muß. Was wir
bei Beiprechung des „Genius des Hauſes“ äußerten (Nr. 12
d. BL), gilt auch für den „Genius der Menſchheit“, mit
dem die Berfafferin intimer zu fein fcheint ald manches
philofophifche Genie.
8. Sammlung gemeinverftändlicher wifjenjchaftlicher Borträge,
herausgegeben von R.von Birchow und F. von Holten-
dorff. Heft 80 — 88. Berlin, Füderik. 1869. Gr. 8.
Jedes Heft 5 Nor.
Heft 80. Licht und Leben. Bon Ferdinand Cohn.
Das Berhältnig des Lichts zum Leben der Pflanzen,
das Sonnenliht und fein liebevoller Verkehr mit den
Pflanzenzellen werben bier Gegenftand der anmuthigften
Erplicationen. Kine weitreichende Belefenheit unterftütt
den Bortragenden in der gelungenen Ausjchmitdung der
Darftellung, die nirgends troden wird und ein reges Intereffe
an den erflärten Vorgängen wachhält.
Heft 81. Johann Hus und die Synode von Konftanz. Don
Henke.
„Die Sache von Huß iſt ein Proceß“, ſo will der
berühmte Kirchenhiſtoriker die Huſſiſche Affaire aufgefaßt
wiſſen, ſo ſtellt er ſie dar. Erſt wenn man alle Factoren
des großen Exempels zuſammenhält, den damaligen Rechts⸗
zuftand, die Richter, den Angeklagten und das Verfahren
ihn, wird man ein gemügendes Reſultat erhalten.
Unparteiiſch, gründlich und leidenjchaftslos, im Stil ber
beften Ranke'ſchen Unterſuchungen, ift die Heine Schrift
wohl werth, in weiten Kreiſen berüdfichtigt zu werden.
Die confervative Rechte der Gerſon und Clamenges fiegte
im Oberhauſe der Prülaten und Herren zu SKonftanz
über den eifrigen Fortfchrittsmann Huß; das böhmifche
Bolt aber war ein zähes Unterhaus, das fich für die
Berwerfung der Sache des Huf blutig rächte, Der Rhein
bat die Aſche von Huß' Scheiterhaufen ausgelöfcht, aber
„noch bis auf diefen Tag brennt von dort her der Haß
der Böhmen gegen die Deutſchen“.
Heft 82. Aegyptens Stellung in ber Religions. und Eultur-
geihichte. Bon Friedrich Nippold.
Gerade bei Gelegenheit der Eröffnung des Suez-
Yanald gewann die Frage nad) Aegyptens Bedeutung
wieder Interefle für Europa. Es fcheint faft, als ob bie
alte Eulturheimat am Nil wieder in Aufnahme kommen
fol, als Bermittelungspunkt fiir den Welthandel und da-
‚mit für die moderne Cultur. Das Bild, das Nippold
von der Bergängenheit und Gegenwart des wunder
baren Nillandes nach eigener Anfchauung eutrollt, ift ein
belebtes, das fich hübſcher Gruppirung und warmer Farben-
gebung erfreut, Nur irrt der Berfaffer, wenn er meint,
Bunjen habe den erften Anftoß zur wiffenfchaftlichen
Berüdfihtigung Aegyptens gegeben: wir erinnern hier
an Leibniz und deilen ägpptifchen Plan, den Blumftengel
(dgl. Nr. 48 d. DL. f. 1869) nenerdings wieder in
helles Licht geſetzt hat.
Heft 83. Sophofles und feine Tragddien von Otto Ribbed,
Ein lichter gewandter Bericht vom Leben und Dichten
des helleniſchen Tragöden, der beſonders der Beſprechung
der erhaltenen Werke des „Homer der Tragödie“ großen
Eifer zuwendet.
den 84. Hauswirthſchaftliche Zeitfragen. Bon A. Emming-
aus.
Die Grenzen der hauswirthſchaftlichen Productions-
einfhränkung, der Markt- und Magazinverkauf, bie
Dienftbotennotb (diefe mit Hinblid auf Möſer's und
Roſcher's Anfichten), die Webelftände der Miethölaferne
werden tüchtig durchgenommen und mit Liebe fiir den
Gegenftand erörtert. Der Berfaffer iſt ein begeifterter
Anhänger des Einfamilienhaufes. Nah ihm wiirde defien
Durdyführung den größten Theil der focialen Nöthe bes
ſeitigen. Er fchliegt mit dem Wunſche: „Das Einfami-
lienhaus muß ber Zielpunkt unferer hauswirthſchaftlichen
Sorgen und Erwägungen fein.”
Heft 85. Die geſchichtliche Entwidelung des Freihandels. Bon
A. Lammers.
Wieder eine jener Darlegungen, die an der Hand ber
Geſchichte beweifen, daß die Freiheit des Handels, nicht
weniger als die des Handelns und Denkens, einen fittie
genden Einfluß auf die Gefelichaft ausübt. Selbſtver⸗
ftändlich beſchäftigt fi bei weitem der größere Theil der
Arbeit mit der Geſchichte der englifhen Freihandels⸗
bewegung, die nicht mehr von dem Namen Cobden zu
trennen ift.
Heft 86. Die ältere Zerttärzeit. Bon ©. Zaddach.
Der Vortrag, ber Anfang diefes Jahres in Königs⸗
berg gehalten ift, gibt uns ein anſchauliches Bild aus
der Entwidelungsgefchichte der Erde. Zumal die Ber-
änderungen der Erdoberfläche einer Provinz, das Bild von
dem Zuſtande Dftpreußens zu‘ der beſprochenen Zeit,
nehmen unfer Intereffe in Anfprud. Die Entftehungs-
gefhichte des Bernfteins ift fo eigenthiimlih, bag man
noch immer neugierig auf jede Auseinanderfegung über
die Art und Gefchichte des Föftlichen Harzes laufcht. Es
erzählt fich ziemlich fehwer von der Periode, da noch Fein
„politifches Thier“ gegen die Reſte der gewaltigen Huf⸗
und Raubthiere anlämpfte, die in den Wäldern unb
Sünipfen der Zertiärzeit hauften: um fo rühmlicher für
den Bortragenden, daß er uns troß fehr viel Wafler und
noch mehr Geftein lebhaft filr fein Thema zu erwärmen
gewußt bat.
Heft 87 und 88. Ueber Schimmel und Hefe. Bon U. de Bary-
Mit 7 Holzſchnitten.
Der jonft höchſt gediegene Vortrag Hält fi) zu fehr
über dem Niveau der beabfichtigten Zwede des „‚gemein-
verftändlichen” Unternehmens. Wir glauben, man könne
aud) mit weniger Aufwendung von lateiniihen Namen
und mit mehr Kürze und Vereinfachung des Stoffe dem
Ziel nahe kommen, wiffenfchaftlihe Vorgänge in gutem
Deutſch zu bejchreiben.
7. Iohanna d’Arc. Heroiſches Drama in flinf Aufzligen von
Wilhelm von Sing. Kaſſel, Freyſchmidi. 1868.
©r. 16. 15 Ngr.
Es gehört Muth dazu, einen ſolchen Stoff zu behan-
deln, ein Muth, der fi dadurch belohnt Hat, daß er un
bie Größe und Herrlichkeit der Schiller’fchen Dichtung erſt
recht in die Augen fpringen madt. Zwar hat diefe
Scillerjhe Dichtung ihre Schwächen und Fehler, und
jedenfalls gehört fie nicht zu den gloriofeften Schöpfungen
umfers großen Autors, aber wie weife fie in ihrer drar
matijhen Faſſung, wie künſtleriſch in ihrer Conftruction
umd wie glänzend in ifrer Diction, das erfennt man in
einleuchtendfter Weife erft, wenn man fie mit einem Wert
wie das heroijche Drama von Wilhelm von fing
zufammenhält.
Heroiſch ift num gerade gar nichts an diefem Drama.
Der Berfaffer Hatte augenſcheinlich im Sinne, fein Mäb-
gen von Orleans realiftifcher und gefchichtlich treuer zu
Halten, als das Schiller gethan; er wollte des letztern
zomantifche Auffafjungsart vermeiden und betonte deshalb
im Iohanne dV’Arc mehr die Heldin und Sriegerin als
bie Seherin. Seine Jungfrau ift feine Träumerin, die
unter dem Zauberbaume figt und mit ben Heiligen bes
immels einen geheimmißbollen Umgang pflegt; feine
au ift ein ziemlich verftänbiges Mädchen, bie es
die Seele hinein empört, dag Ritter Robert von
ourt’S Aufforderung in Domremy, für den recht ⸗
en König zu impfen, fo wenig Anklang unter der
ichen Jugend findet. Sie opfert eine goldene fette,
fie ererbt, auf dem Altare des Baterlandes, um mit
Ertrag Männer auszurüften, und da der ftattliche
Daudricourt diefe Hingebung, dieſen Eifer fiir die
te Sache des Landes entzüdend findet und ber
in feine Bewunderung deswegen an den Tag legt,
adet ſich derem Herz fo fehr an feinem Lobe, daß fie
Walde unter einem Marienbilbe den Entſchluß fat,
gener Perſon mit dem Ritter zu ziehen. Seine
mlifche Erſcheinung, feine Stimme aus dem Druiden-
ıme geben ben Ausſchlag; ihre eigene Ueberlegung treibt
zu dene Entjchluffe, der im ihr zur Reife gelangt,
fie von fern die Kriegemufit des abziehenden
8 vernimmt. Unter diefen Klängen fieht fie im
König Karl, wie er, von Glüd und Freunden
a jen, dem Untergange zuſchwankt. Halt, Halt, ruft
a:
Rad) Orleans! Big, Schlag, Mufik in Einem. Nah
n8! Dem Donner glei an fernen Bergen rollt e8 mah-
eb hin. Wäre ic) dort — bei euch, die ihr doch bluten könut
j #8 Baterland, und hinfehen anf jeden Tropfen, wie anf das
4 „ dem Boden anvertraut! Gehnfucht meiner Tage und
Baer Nächte, da ift dein Ziel! Biſt du von Gott; du mußt
fein! Wachje frei hinaus Über Menſchenzwang, gib eine
mir, fromm und groß; ob ſich die Welt empörte, fie
dech geihehn! — Nach Orleans! — In Gottes Namen:
(Sie erhebt fih.) La mich, Vater! — Herr, ich fühle
HE Dir treibft Bläte um Bllkte auf in meiner Bruf; fo reich
E nie ein Weib! Frankreich, zittere nicht mehr! Sie mögen
19 zehllos, gewappnet vom Scheitel bis zum Fuß, denn
. 4
Neuere bramatifhe Dichtungen,
57
Uenere dramatifche Dichtungen.
(Beihluß aus Nr. 3.)
‚bier, darauf koſte ich Jeſu Leib, ſchießt eine Kraft empor, bie
aller Heere fpottet!
Damit ftürzt fie ab, den Reitern nach, die Baubricourt
führt, und man erkennt damit auf den erften Blick, dag
in Yohanna’8 Buſen als das eigentliche Agens, die treie
bende Kraft, eine file Liebe zu Ritter Robert vom Dichter
angedeutet wird.
Im zweiten Act finden wir, wie bei Schiller, König
Karl mit Agnes Sorel von aller Welt verlaſſen, an feir
nem Gefdjid verzweifelnd. Schon geht er mit dem Ger
danfen um, der Krone zu entfagen und bem Gegner das
Feld zu räumen, eben hat er im äußerſten Schmerze
gerufen :
Ich wil’s, will thun, was einem Könige gebührt, wenn
der ſchlammige Rebell ſich an des Cwigen Abglanz wagt. Zieht
herauf, ſchwingt im Blutrauſch euch empor; fo hoch fliegt feie
ner, baß nicht Aber ihm Vergeltung Treiftel Und Lüge ih am
Boden, beraubt der Krone, jeder Königlichen Zier — geicmäht,
befpeit — frei die Bahn dem Fluch des Könige! Läge ic,
wie Hiob lag, Eins raubt ihr nicht — das heilige Mal auf
meiner Stirn, die Macht zu firafen, in Ketten wie im Hermelin!
Kein Schwerthieb treffe ener Leben, Beratung frefle euer Mark!
Seid ein Zeichen kommenden Geſchlechtern, ein Ziel des Schimpfes,
ein Triumph dem Haffer, der Edles nur im Thiere ſucht i
Nehmt's bin, und tragt e8 in die Hölel Mein Gott — aljo
zu enden! Mein Gott, was habe ich dir gethan?
So ruft er aus, als Ritter Baudricourt mit Johanna
kommt, bie zunädjft von der Umgebung des Königs mit
Gelächter aufgenommen wird, aber endlich allen durch
ihre unerfchätterliche Zuverficht Reſpect einflößt. Sie hat
eine lange Unterredung mit Karl, der fie über ihre Ab-
flammung, ihr Alter ausfragt und ſchließlich mit ihr über
die Stellung des weiblichen Geſchlechis ftreitet. Ex zweifelt
über ihren Beruf zum Kriege. Er fagt:
Dir if der Krieg mit feinem Handwerk fremd. Nun fie!
Ein folies Wort — wie leicht gefproden! — ja — ein Wort,
nur ſalſch betont, e8 macht den Krieger lächeln; eim Fieberſchauer,
bei andern nicht beaqtei, für bie „Gottgefanbte wedt es bem
Spott, umd ihm erliegt fo mande echte Würde, um wie viel
eher bie erträumte!
Johanna aber entgegnet:
Gott Hätte nicht ein Weib erwählt? Nicht, weil es dul-
den fol? Ja, dulden iſt fein herbes Theil, doch feine Ehre
auch, fein Schmud. „Sieg oder Todl” Heißt eure Lofung,
„Hetr, voie dus willſt!“die unfere; wer fleht ihm näher? Und
was denn warb dem Manne mehr gegeben? ein flarker Arm;
ihn lahmt das Schwert. Der Geift ſchlägt die Gefahren! Er
aber wird nicht euch allein. Sind wir ſchwach, wohl, fo
if erfüllt das Wort: „Ih mil mid offenbaren in ben
Schwachen!“
Nun heißt es weiter:
Karl.
Glaube und Tollheit, welch ein Bund!
Johanna.
Den Glauben ſchmahen, welch ein Frevel!
Karl.
Mädchen, dein König bin ich!
Iohanna.
Gottes Knecht!
—
58 Neuere dramgtiſche Dichtungene
Karl.
Dir König! Fort nah Domremy!.. .
Aber Johanna trogt und ruft: „Ich will nach Orleans,
und aller Könige Macht fol mir's nicht wehren!!” ...: ı.
-. Diefer unbezwingbare Glaube. in. ihre. Sendung: über«
zeugt endlich auch den König fo fehr, daft ev vor Inkanne
das. Knie bengt und.ruft; „Knie, Frankreich, wo dein König
niet. Hier waltet Gott in feiner. höchſten Liebel”
Im dritten. Wufzuge treffen wir ‚wiederum . wir, bei
Schiller Talbot, feine Unterfeldgerren und den ihnen. ver»
büindeten Herzog von Burgund. Alle ſchmähen um. bie
ri...
Jungfrau eine „Metze“ Ist, fo greift man zum Schwerf
bit chen bereit fich
ihrem: Rücken gehandelt und zu -den Gegnern ‚gegangen
ift, um irgendeine Uebereinkunft zu treffe, ohne“ ihr et»
tuäs zu ſaden, 6168” weit ſich der Madit ihrer Wunder
ſchämt, dann mit ‚Talbot: fpricht. und. endlich Burgund
dadurch auf ihre Seite ‚zieht, . daß ſie Huldigend. ihm zu
Füßen ſinkt, ihre Unſchuld und Reinheit bethenert und,
als "er" widerftrebend' bleibt, ihm mit der Vernichtung ſei⸗
üce Bölfer deoßt: „Beultauf, daß alle Bölker heben";
bethewert fie, „jeber. Schrei ift mir cin Trunk!“ |
Dee Zorn des Maͤdchens erjchredt den Herzog von
Burgund, und vor der Anefiht auf Uxtergang,, die fie
iii eröffnet, zuritdbebend, ihre Maiht, ihren Einfluß
fürchtend, endigt er damit, den Enpländern das Blinde
niß zu kündigen und ju ſeinen Landsleuten überzutre⸗
fen. Dieſer Uebertritt und der begeiſternde Einfluß der
Schlacht: die Erigländer erliegen, Talbot wird gefangen.”
Hier reiht ſich in Iſting's „Iohanna d’Arc"” eine
hüßfche und. wirkfame Epiſode ein. Das Volk will dem
gefaugenen Talbot an das Leben; aber ein junger fran⸗
zöfiſcher Offizier, Raymond mit Namen, befreit ihn aus
der Gefahr und wird dafür vom Feinde bes Reichs, aber
dem anerkannten und verehrten Helden, mit eigener- Hand
zum Ritter geſchlagen. Dieſer Moment ift wahrhaft er-
greiſend, dabei einfach und ſchlicht; nicht ohne den Athenr
einer geotffen Größe.” = m —
Etwas von dieſer Größe, zeigt, au das Verhalten
Karl's ‚gegen Talbot, der.:diefen berühmten Kriegsherrn
weder ſchmähen noch vor. ein Gericht ſtellen, fondern--in
Ehren zu feinem: Heere zurückkehren läßt. -
Zeit Täßt er ſich felbft nicht Frönen, ohne Hand in Hand
mit Johanna den Thron zu befteigen,-ben-er- ihr verdankt,
und ihr dabei zu geloben,- tin milder und gerechter
Herrjcher zu fein. en
Alles dies vollzieht fich im vierten Wcte, wie bei
Schiller, und wie .diefer. jchreibt. auch Kfing einen Krö⸗
nungszug darin vor. Das Fatum jedoch, welches Jo—⸗
hanna ereilt, erweilt fi) bier anders geftaltet. Das
Mädchen von Orleans liebt hier keinen Engländer, den
“gleicher
Schwerte ſchont und aus franzöſiſcher Gefangenschaft ent-
kommen läßt... Idhanna liebt in diefem ‘Drama natürlich
Robert von Baudriconrt, der auf einem ftillen Abend»
Feld um fie wirbt. Sie geiteht,
daß; fie feine Gefühle RXwidert, aber-. zugleich auch, Ar,
fie fih dem Herrn für dil Befreiung ihrxes Königs. gelobt,
und daß fie ihr Gelübde ni
Gott durch: ihre Hand Karl ſiegß
Sercfönht emgefet. NL,
- Rod) vedhten fi. beide über .ifien
tige. Schickſal derſelben, als fie, von DR
fh unvermuthet von Engländern . i
Robert niedergefchmettert und Johanna ge
men wid. u PER
Der füifte Aufzug führt gohanna niin van, das Sk
bunal ihrer englifchgefinnuten Sandölente, bie fie al? Gere
verurtheilen und zum Scheiterhaufen führen Lafer“. .—- "=
erbliden. fie zu Anfang. ängfllich.und. werzagt, vol, dei
eiertode bebend; als jebod der edie Talbot, um Tante
Rettung möglich, zu. machen, ihr vorſchlägt, den undane
2.6
baren König, der feinen Finger rührt, fie. zu befreien,
...—
[4
N
melt ſie ſich iind ‚geht. ei Mr T
win ’».v -
feinem exhabenen Geifte erkannte auf. den erften Blich
was allein dem beutfchen Puhlikusi "eine Yohanna dün
ſiympathiſch und bedeutſam machen fünne. Er fühlte,
daß, wenn es galt, miften in ben Gürem und. Dran
des Krieges cin weibliches Weſen zu fielen, es 0
nöthig war, dieſe Stellung ſorgſami zu niotiviren und
vorzubexeiten. "Daher ſein Vorſpiel und in biefem Vor⸗
e Einfluß ſpiel die eingehende Schilderung von Johaung's ganzei
Jumigfrau entſcheden dad voe der gleich Barauffolgenden |
Befei wib‘ Treiben," Yohatına müßte." gang eigenärtg,
halb Bereheh, halb ‚gefhzäptet ſchan daheini sinb -unter ben
Ihren. daſtehen, um fofort auch hör hem Heere -unanges
| täftete Geltung. zu finden. Die Seherin, bie Heilige Hatte
die Kriegerin ‚du. beden, "eine Dedung, die ſich Wilheln
don fing. entgehen ließ, indem er jo Zurzweg und faſt
rein menjchlich bewegt. ſeine Jüngfräu iu das Feld Hine
ausgefhidt batı. nn
. Die Jungfrau ſollte dadurch begreiflicher, möglicher
di ihret Situation, mit. einem Wort hiſtoriſcher werben.
Der neuere Aufor wollte auß der Romantik heraus, mehr
in die Welt: der Wirklichkeit treten: ein Wille jedoch, dem
die Kraft der‘ Aüsführung beinahe gänzlich "gefehlt hat.
Iſing's Mädchen von Orleans iſt noch weit romantiſcher
als das Schiller'ſche. Schiller's Romantik in dieſem Stück
iſt die Romantik in großen Zügel, die. Romanlik mit ber
Geſte der Clafficität.. Die Dfnges iii ramantiidh nad
ben Mufter unſerer romantischen Schule, nach: dem Mu⸗
fter von Tieck, Adim von Arnim und Clemens Bren-
tano. Dieſe Romantik gefüllt fi in Detallausmalung,
in unflarer, verſchwommener. Sprache, in wirrer, her⸗
und hingezogener Charakteriftil. . Wie feft, felbfibemußt
und unbeirrt geht. Schillers Johanna ihren -Weg,. und
als fie mit- ſich -felbft und ihrer - Sendung -endfich im
fie, befteidt von feiner männlichen Schönheit, mit ihrem | Bwirfpatt gerät, wie offen, und weit Mafienb tft vieſer
J
III u
Neuere dramatiſche Dichtüngen.
Zwieſpalt! Jedes Find begreift ihn. Die Heilige liebt und
liebt den Feind des Landes. Dieſe Liebe überraſcht, über⸗
rumpelt ſie mitten im Kampfgewühl, in dem Augenblicke,
da ſie den Fuß auf die Bruſt des Gegners ſetzt. Das
iſt ein Schlag, ber alles erſchüttert. Aber Iſing's Yo
hanna, die eigentlich wur ins Feld zieht, um einem Manne
nadhlaufen zu fünnen, der unbezweifelt Eindrud auf fie
gemacht, Iſing's Iohanna kann doch unmöglich überwältigt
werden, wenn diefer Mann, ihr Helfer, ihr Beſchützer,
ihr trener Waffengefährte, ihr feine Hand anträgt. Wollte
Wilhelm von ing Baudricourt zum Yatum von Johanna |
und Johanna zum Fatum von Baudricourt machen, fo
mußte Johanna zumächft mehr ein Geſchöpf von Baudricourt
fein. Baudriconrt mußte dann Johanna zum Mirakel
vor den Angen der Welt erheben, fie gleichfam felbft
zum Wunder heranbilden, und nachdem ihm dies ge-
glüdt, fie dann menſchlich zu feiner Gattin beanſpruchen.
IR dann Idhanna, aufgegangen in ihrer Miſſion und,
an dieſe glaubend, nicht im Stande biefen Anfprüchen
zu genügen, weift fie Baudricourt ab und; diefer wendet
ſich num ſelbſt gegen fie, eine Wendung, welcher dann fie
ſowol wie er zu erliegen Hätten, fo wäre damit der echt
tragifche Conflict mb, die wahre Peripetie gefunden. |
Diefen Fund jedoch .hat unfer.. Autor nicht gethan.
Die dramatifche Krifis feines heroifchen Dramas ift Schwach
und unbedentend, wie der ganze Ausgang. feines Stüds,.
Die Haltung der Heldin vor dem Tribunal in Rouen
iſt ſchwankend, zeigt einzelne granbiofe Momente, macht
aber fchlieglid ber reinen Menschlichkeit zu große Cons
ceffionen. Johanna winfelt denn doch zu viel unb ver⸗
ſchwimmt zulegt fürmlih in Romantil. Bei Schiller
wird Johanna gerade in der Gewalt ber Engländer erſt
zur Heldin, umd daß fie im flegenden Kawpfe fällt, tft
ohne Zweifel der verſöhnendſte Ausgang, der dramatiſch
zu gewinnen war. Schiller's Romanfik iſt heldenhaft.
Die Romantik Wilhelm von Iſing's iſt katholiſch verbrämt
md endigt mit einem Heiligenbilde in ber Luft: Der
Dichter ſchreibt nad) dem Abgange feiner Heroine
zum Holzſtoß Nachſtehendes vor:
„Das Glocdengeldute verhallt. Dem letzten Klange ſchließt
ſich eine ſanfte Muſik an. Der Kerler verfinkt. Lichter Raum.
Die heilige Matter, von Engeln umgeben, erſcheint in der
döße. Johauna Reigt empor, Maria empfängt fie im: ihren
Armen. -
Dan ficht, King vertwiefücht bier, .was Stile
Johanna nur vifionär erfhant: . .
Der Himmel öffnet feine goſdnen Thore,
Im Chor der Engel ‚fteht‘ fte glänzend ba,
. Sie hält den ew'gen Sohn an ihrer Braft,
Die Arne firedt.. fie fiebend mir entgegen.
Sp uberromantiſch Täuft ein Verſuch aus, die roman⸗
tiſche Tragödie Schiller's heroiſch zu geſtalten!
8. Warwick. Drama in fünf Acten von Rich ard Graf. |
Leipzig, Weber. 1868. Or. 16. 1 Thlr.
Dies“ Stück Hat zum Helden, wie Hume fagt: „den
gtoßten fowie ben letzten jener mächtigen Barone, melde
her drohend‘ die Krone überragten”. Er ift haupt-
jächlich berühmt durch die Rolle, die er im den Kriegen
der Weißen und Rothen Roſe gefpielt, in jenen Bürger⸗
kriegen, bie England befanntlich an ben Rand des Ver-
59
derbens gebracht und welche ſchon Shalſpeare zu feinen
biftorifchen Dramen benußt. Auch bei. dieſem Dichter iſt
Warwick bereits eine hervorragende Figur; im dritten
Theile von „Konig Heinrich VI.“ iſt es, wo er als bie bei
weitem maßgebendſte Perfönlichkeit auftritt und ungefähr
bafjelbe thut und treibt, was Richard Glaß ihn thun und
treiben läßt, nur daß Shalfpenre; bei aller dramatifchen
Berfahrenheit und Unvolllommenheit feines Stücks, bod)
Warwick mehr ald ganzen Dann hingeftellt hat, als der
moberne Autor zu thım verftanden.
Warwick bei Shalſpeare ift in der That ber große,
kühne Vaſall, der begeifterte Anhänger: ber Plantagenet,
der dem Sprößling berfelben, Eduard IV., zum. Thron
verhilft und fpäter, als er flieht, daß biefer, fett ſich
ihm anzubertrauen und nad) feinem Rathe zu regieren,
durch feine Heivath mit Efifabeth Gray fid in die Hünde
einer Umgebung gibt, die ihm zuwider. ift, gegen feinen
ehemaligen Schütling erflärt und ihn befümpft, bei welcher
Bekämpfung er jchlieglid ums Leben kommt.
Bei Shalfpeare ift Eduard's Heirat der Grund zu
Warwick's Wendung. Warwick wirbt eben hei Ludwig XI.
in Franfreih um: bie Schweſter von deſſen Gemahlin,
als er die Meldung erhält, fein: König habe ſich hereits
vermählt und mit dieſer Vermählung alle ſeine politiſchen
Abſichten gekreuzt und vereitelt. In Zorn und Wuth
darüber ſagt er ſich von Eduard los und eilt ſtehenden
Fußes nach England zurück, um den wieder vom Throne
durch blutige Kriege herabzuſtürzen, den er durch ſolche
eben nur darauf befeſtigt hat.
Bei Shalſpeare Kal. Warwick ein Opfer feiner. Gigen-
willigleit und Unbeſonnenheit. Er hat Albion gewaltjan
einen König aufgenöthigt, ohne zu fragen und fich zu
vergewiffern, ob diefex König auch feines - Platzes würdig:
iſt. Er handelte übereilt bei defien. Erhebung und thut
es nicht minder, als er befchließt, denſelben zu ftürgen,
An diefem Misgriff geht er zu Grunde.
Der britiſche Dichter hat das kurz und entſchloſſen
im Ausgange ſeiner Trilogie dargelegt, eine Darlegung,
zu welcher Richard Glaß ſich aufzuraffen nicht vermocht hat.
Richard Glaß hat forgfältig die engliſche haar ftu«:
dirt und daraus erfehen, daß zwiſchen Eduard's Heirath
und Warwick's Aufftand fünf Jahre verſloſſen find und
zu dieſem letztern wol noch andere politiſche und zum:
Theil ziemlich perfünliche Beweggründe mitgewirkt. Haben:
mögen. Er läßt alſo ſeinen Helden wol auch. durch
Eduard's Vermählung und —3 kopfloſes Handeln
verſtimmt werden und ſich von ihm zurückziehen; aber
daB geſchieht nicht wie bei Shalſpeare am. Ende des
dritten Acts und als Höhepunkt der Krifis, fondern be⸗
reits im zweiten Aufzuge und derart, daß fi der Mafe
fenden Entzweiung fogleich noch etwas wie eine Berfüh-
nung anſchließt. Um bei Richard Glaß ref Warwid:
nit König Eduard gründlich und auf: ewig zu erzäunen,
muß letzterer exſt noch im vierten Acte einer Tochter
Warwick's nachſtellen und dieſe in ihrem Schlafzimmer über⸗
fallen. Es iſt hier alſo nicht allein oder nur ſehr unter⸗
geordnet der Politiker, der ſich gegen König Eduard auf⸗
lehnt, ſondern weit mehr und pathetiſcher der in ſeiner
Tochter beleidigte Vater. Allin abgeſehen davon, daß
der Verfaſſer ſeinen Helden für eine Vi Wendung in
re"
60
diefem Stüd in feinem Verhältniß zu feinen Zöchtern
gar nicht angelegt, widerſtreitet auch der endliche Aus⸗
gang des Dramas ganz und gar einem derartigen tragi«
{hen Motiv. Wo ift ſchließlich Warwid’8 Schuld? War-
wid geht hier zu Grunde, trogdem er das Recht und
zwar das höchſte Recht der fittlichen Welt, nämlich das
moralifche, auf feiner Seite hat.
An diefem Verſtoße fcheitert das Stüd, das allerdings
Eduard nur fiegen läßt, indem es fofort in diefem Sieg
die Ausfiht aud auf defien Untergang eröffnet, denn
Herzog Gloſter, der eigene Bruder bed Königs, ruft am
Ende hinter diefem ber:
Seh nur, und wiege dich im Glauben, daß
Ein Held wie Warwick fiirbt wie jene andern,
Die das Geſchick der großen Meunſchenkette
Einfligte, um ein Glied in ihr zu fein!
In feinen Adern Iebte mehr, als du
Beim Weine und bein ſchwelgeriſchen Mahle
Und in den Armen beiner Buhlerinnen
Erkennen lernteſt! — Blunt für Blut! — Du willſt
Die Zügel auch nad) oben firenger flihren?
Wohlan! Laß fehen, wer den Sieg behält!
Ich räche den Gefallenen an bir
Und an den Deinen! Edward, hüte dich!
Mich reizt die Stufe nicht, mich reizt die Höhe!
Das Ziel reizt mid, das ich im Geifte ſehe!
Der Ehrgeiz und bie Liebe reizen mid,
Warwick ift tobt, nun fommt die Reih' an — bi!
Diefer Hinweis auf Richard III., Hier von ihm felbft
gegeben, ift allerdings nicht ohne Wirkung und bringt
ung zum mindeften das fpätere traurige Los des leicht.
finnigen Königs in Erinnerung, ohne daß indeß dieſe
Erinnerung doch als dramatiſch genügend zu betrachten
fein könnte. Warwid’8 Untergang rechtfertigt fie aber
vollends nicht, und diefer bleibt aljo nach wie vor der
fragwürdige Punkt des Schaufpiels, das and fonft in
Gang und Entwidelung durchaus Feine Klarheit zeigt.
Die Architektonik ift jedenfalls mangelhaft darin und ge
ftaltet fich zu keinem hohen, aufgegipfelten, imponirenden
Gebilde. Das Stüd ift breit, weitläufig und umſtändlich
im Unterbau; im Aufbau aber erfcheint es lückenhaft, halt⸗
108, obne jede Kühnheit und Großartigfeit bes Stils.
Perfonen und Vorgänge ftreifen aneinander hin, ohne daß
fie zum Stehen kommen und Einbrud machen. Der
Geiſt des Lefers erhält faft gar keine Gelegenheit an den
gebotenen Erjcheinungen zu haften, ſondern er fieht ihrem
Treiben zu, ohne ein wirklich warmes Intereſſe dafür zu
gewinnen. Es ift der wahre, echte Hauch bes Lebens,
ber ihnen mangelt. Zu loben wird an der ganzen Are
beit nur eine gebildete Sprache, ein gewiſſes Etwas fein,
das uns erkennen läßt, daß wir es mit einem intelligen-
ten Kopfe zu thun haben. Die Verſe zeigen eine an-
genehme Glätte und Klarheit. Originelle Gedankenfülle
und ergreifende Innerlichkeit freilich haben fie nicht. Die
erfte befte Probe mag das belegen. Warwid, ald er zum
letzten entjcheidenden Kampfe auszieht, fpricht fein Schwert
folgendermaßen an:
Sprachſt du zu mir, du treues Schwert? Es war,
Als Hört’ ich deine Tangentbehrte Stimme!
Es war ein Klingen aus der Geifterwelt!
Komm, theures Erbe meiner großen Väter,
Du ſollſt die bint’ge Todesfadel fein,
Neuere pramatifhe Dichtungen.
Die mir zum Siege oder Tode Leuchte!
(Er umfaßt das Schwert nıit gefalteten Händen.)
D du, der alles Lebens Ende mißt,
Der unfre Kraft eutzindet und regiert
Und unferm Wollen die Erflillung gibt,
Dir weih' ich mich in diefer ernſten Stunde!
Berlangft du Opfer, großer Geift, laß mid
Das Opfer fein! Behlite Englands Erde
Mit feinen Bölkern! Gib Ihm tapfre Helden,
Die feinen Ruhm bewähren und verkiinden!
Und du, mein treues, oft bewährtes Schwert,
Laß deinen Mann nicht, wie bein Zeichen jagt!
Dein heil’ges Kreuz fei mein Gebet und Amen!
Diefe Apoftrophe ift nicht ohne eine gewiffe Schönheit,
aber dabei doch von feiner Mächtigleit, weil ber ganzen
Geftalt Warwid’8 das innere und durch die Sache ge
währleiftete Pathos fehlt. Dan weiß und erfährt nir⸗
gends recht, wofür diefer große Baron der Geſchichte hier
fein Schwert in die Wagfchale wirft. Schiller wärs. nad
Shalfpeare wol der einzige Dramatiker geweſen, das ‘ung
Mar und überzeugend vor die Seele zu fielen. Richard
Glaß gelang es nicht, wennſchon fein Verſuch, es
thun, ehrenhaft und der Beweis eines edeln Strebens i
dem wir wenigſtens unfere Sympathie nicht verfagen\
können.
9. Tilly. Hiſtoriſches Trauerſpiel in fünf Acten von Julius
Mat. Königsberg, Braun und Weber. 1869. 8. 20 Ngr.
Dies Werk ift eine Arbeit, in der ſich allerdings
weder ein großes poetifches Talent noch aud cine irgend-
wie hervorragende technifche Fertigkeit im dramatifchen
Aufbau der Handlung erkennen läßt, die aber dennod)
wenigftens fich anf feinem Abwege, fondern auf der großen
Heerftraße begriffen zeigt, auf welcher bei weiterm a
und Studium immerhin ein anjtändiger.Exfolg zu erobern — --
fein dürfte. Der Berfaffer erreicht fchon jett in feinem
ZTrauerfpiel wirkfame Momente und einen Gang der Ent-
widelung, dem ſich mit Antheil folgen läßt. Um impo-
nirenden Eindrud zu machen und wahrhaft fiegreidy mit
feiner Schöpfung zu werben, bebarf es zunächſt nur noch
einer ſchärfern Charakteriftit der ‘Perfonen, einer durch⸗
greifendern Sprache und einer weifern Mache.
Yulius Dat beabfichtigte einen „Tilly“ zu fchreiben,
fchrieb dermalen aber nur einen „Fall von Magdeburg“
mit einem Nachſpiel: „Tilly's Tod.” Wie feige Tragödie
jest vorliegt, wächſt in derſelben Tilly nicht recht zur
Hauptgeftalt und zum eigentlihen Mittelpunkt heran.
Sollte fie das werden, was bem Autor im Sinne lag,
fo mußte bie, Handlung nicht mit Magdeburg, jondern
früher und jedenfalls im Heerlager Tilly's beginnen. Tilly
mußte erft in ganzer Mächtigfeit und mit dem vollen
Ausdrud der dee, ber er dient, in Scene treten, che
uns fein Gegenpart vor bie Seele geführt werden durfte.
Das Publikum mußte in Tilly und feinem Anhang erft
die Tatholifchen Tendenzen des Öfterreichifchen Kaiferthums
Har und offen dargelegt fehen, ehe uns in Magdeburg
ber „Hort bes Proteſtantismus“ und der „Grenzſtein von
zwei gewalt’gen, großen Zeiten“ vorgeführt wurde. Magde⸗
burgs Belagerung und Hal konnte und durfte durchaus
nicht die Erpofition, fondern mußte den Höhepunkt der
Krifis fiir den dritten Act und für den vierten den Anlaß
zur Peripetie abgeben, Daß Julius Mat feinen eigent«
Feuilleton.
lichen tragiſchen Helden nur dürftig und mangelhaft ein-
führt, dagegen bie erſten drei Acte feines Stüds fait aus-
Schließlich, Magdeburg und feinen Bertheibigern einräumt,
ift ein ſchwerwiegender Driegeit, ein Misgriff, durch
welchen die ganze Ardjiteftonit biefes Dramas fo fehr in
die Brüche geht, da wir in biefem einen Stüd gleich“
fam zwei Stüde erhalten, wie wir bereits borftchend an«
deuteten.
Sollte aus. dem Ganzen ein fefter, gefunder drama»
tifcher Bau ſich geftalten, fo war nothwendig, daß ber
Unterbau ausjhlieglih Tilly gehörte, daß Tilly, der bis
dahin umbefiegte Feldherr, mit möglichfter Präcifion der
Geſchichte und mit dem Vollgewicht feiner Hiftorifchen
Miſſion vor uns und Magdeburg Hintrat, und daß hier
vor und in Magdeburg fein Leben auf die Grenzſcheide
des Schidjals gebradit wurde, bie ihn den Wechſel des
Glüds erfahren läßt. Der Untergang Magdeburgs mußte
ihm beraujchen und mit Uebermuth erfüllen, ihn Binftellen
ala den Mann, ber da meint, eine Welt unter feinem
Schwerte zu haben, Mitten im Ausbruch dieſes Triumph
aber mufte der mark» und beinerfchlitternde Fluch des
fterbenden Adminiftrators von Magdeburg ihn treffen und
ihm prophezeien, daß der Brand umd Untergang der
Stadt nicht die proteftantifche Sache, wohl aber feinen
ruhmreichen Namen und fein Glüd begraben werde.
Grenel, wie bu und dein Heer fie hier veriibt — Hätte der
finfende Wilgelm von Brandenburg zu fagen —, müflen
deine Ehre und dein Gewiſſen belaften und zu Boden
drüden, den Proteftantismus aber nur um fo energifcher
und ftärker zum Widerſtand treiben. Die Elbe bei Magder
burg ift dein Rubicon, denfe daran!
So ungefähr Hätte die letzte Rebe bes braven Ber-
theidiger8 von Magdeburg lauten und aus diefer Rebe
heraus das kommende Berhängniß feinen Schatten über
den Gieger werfen miüffen, der von da ab in Dunfel
tritt und feine Seele umnachtet ficht. 5
Ialins Mat hat die Nothwendigleit dieſes Umſchwungs
wohl erfannt und fie in der That auch gegeben, nur lei⸗
der nicht mächtig und ergreifend genug, objchon allerdings
gerabe bie Erftürmung Magdeburgs einige wahrhaft dra-
ſtiſche und padende Scenen aufweift. Doch felbft diefe,
wie 3. B. der Tod der armen Prinzeſſin Sophie, die,
um fi aus den Armen Iſolani's zu retten, ſich in bie
Elbe ftürzt, verlangen etwas mehr Schiller ſches Pathos,
als bier aufgewendet ift. Das Verhalten Wildftein’s, der
Sophie unglüdlic liebt und, um fir Magdeburg und den
Untergang feiner Geliebten Race zu nehmen, zu Tilly
übergeht umd ihn fpäter an die Schweden verräth, ift ein
61
wenig edles und auch dramatiſch keineswegs folides Motiv.
Denn man Wildftein gefangen nähme und zu kaiſerlichen
Dienften zwänge, fo hätte fein Benehmen wenigftens eine
Entfchuldigung; fo ift e8 einfach gemein und dabei voll»
fändig unnöthig, ja geradezu dramatiſch unweiſe, denn
die ganze Wucht von Tilly's Misgefchid Tiegt und muß
felbftverftändlich doch in defien eigenem Innern, im Wurm
feines Gewiffen® Liegen. Seine Ueberhebung, feine Grau-
ſamkeit umbunfeln feinen Sinn, geben der Nemefis Gewalt
über ihn, und hauptfäclich diefe Gewalt ift es, welche unfer
Scriftfteller verfäumt hat in feiner Tragödie zu eclatan«
tem Ausbrud zu bringen. Die Aneldote mit ber Tobten«
gräberwoßnung in Leipzig in die Handlung mit aufgenom«
men zu haben, ift ein glücklicher Griff, der aber Leider
nicht draftifch genug ausgebeutet wird, wie denn überhaupt
der ganze Tilly die finfter imponirende Erſcheinung nicht
if, die er fein follte. Der Tilly von Julius Mag ſpricht
u diel und zu unbedeutend; die Schiller’fchen Kern- und
raftworte fehlen; es fehlen Knappheit und Wucht bes
Ausdruds. Das erfte befte Beiſpiel mag das belegen.
Tilly, welder die in der Tobtengräberftube aufgeftellten
menſchlichen Gebeine ſchaudernd in ſchlafloſer Nacht be»
tradhtet, fagt da unter anderm:
Es if, als zittre ich davor! —
(Gezwungen lachend.)
Im einundfunfzig Schlag —— —
einundfun] lachten bei eim Anbli
Der morſchen Schädel — Wie? — Ic fah den Tod
Im heißer Feldſchiacht wild und furdtbar mähen!
Den Schädel ſah ich fpalten mandem Helden,
Des Hirnes Brei zum Himmel aufwärts fprigen!
Heil wie bie Kugeln durch die Lüfte tanzten,
Den Mann im Giegeslauf zu Boden ftredend;
Dämonifd Lächeln zudt um feine Lippen,
Benn et im Sterben röchelnd noch den Feind
Erdroſſelt, der blindwüthend ihn erfhlug! —
Nicht tollre Bilder kennt die Phantafiel
Denn es die Phantafie eines echten Dichters ift, doch
wohl. Eine ſolche würde diefer Nacht und Schauerjcene
ohne Zweifel Auftritte abgewonnen Haben, bie fruchtbarer
wirlen müßten als diefe gewöhnlichen Berfe und der
blaffe Geift Sophien's, ber ja obenein zu Tilly in gar
feiner bivecten Beziehung fteht. Ueberhaupt verläuft das
Ende matt. Tilly's Niederlage bei Breitenfeld, fein Tod
am Lech, bie Erſcheinung Guſtav Adolf's, das alles Iegt
ſich nicht bedeutend aus, fondern verwiſcht fid und zer«
fließt. Dem Autor Ir «8 für eine ſolche Aufgabe an
großem Stil, an Hiftoriichem Geift und Compofitiond-
talent, Sein Stoff ift bedeutender als fein Wert.
Seodor Wehl.
Fenilleton.
Gereimte autike Strophen.
Der Berſuch, den der Herausgeber d. DI. in feinen „Neuen
Gedichten” gemadt hat, die antifen Strophen zu veimen,
hat eine fehr verſchiebenartige Beurtheilung erfahren; im der
nenern Zeit ſcheint fi indeß das Zlinglein der Wage zu feinen
zu neigen. Wir Lonnten neulich das Urtheil eines
mannes, Rudolf Weftphal’s, in bie — werfen, eines
ers, deſſen Autorität anf biefem Gebiete nicht beftritten
werben Dätrfte, Im ber „Deutſchen Verolehre, zunäht für
höhere Lehranſtalten“, von Guſtav Heinrich (Befih, Ofter»
lamm, 1869), einem praktiſchen auf gefunden Grunbfägen ru-
benden Büchlein, wird mit edit betont, daß den antiken
Bersmaßen der Reim fehlt, der im Deuiſchen fein Zierath, Fein
leerer Klingklang fei, fondern die rhythmiſchen Oliederungen be»
zeichne. Dann wird Venedig citirt, der in feinem „‚Weien des
deutfhen Rhytämns‘ von den antifen Bersmaßen jagt: „In
dieſen Bersmagen Hat das Ohr nirgends einen Halt, es Hat
teine Ruhepunkte, feine Grenze, von denen es anfängt zu
62 Senilleton. |
hören, feine ‚andere, wo es einen. Abfchiitt findet. Man hört,
daß diefe Süße Berfe fein follen, ift aber nicht in Stande, de
ren Bau zu erkennen.“ on
Hieramf führt der Verfaffer fort: „„Diefer. letstere Bunt ift
vom großer Bedeutung. Nudolf Gottfchall hat den intereffan-
ten Verſuch gemacht, antile Odenflrophen zu reimen, und man
kann diefe Berfuhe als fehr gelungen bezeichnen. Diefelben
weifen auch deutlich auf das Weſen des dentichen Rhythmus
und feinen engen Zujammenhang mit dem Reime bin; benu
wir fehen aus benfim reimloſen Zuftande unverftändlichen und
theilweiſe eindrucksloſen Formen durch das Hinzutreten bes be-
grenzenden und verkulipfenden Reims Stropben entfichen, bie
zwar mit den antilen Kormen kaum nod eine Achnlichleit har
ben (denn die nöthigen Längen find. nicht zu erjegen), aber ſehr
wohlflingend und ausdrudsvol find, 3. B. eine alcäifche
Strophe:
Und finten Böller in bes Berberbens Schlund,
Der Sab des Elends bleibt auf des Bechers Grund,
So oft ihn au im Strafgerichte -
Schmettert in Scherben die Weltgeſchichte.
Eine ſapphiſche Strophe:
Hier im Killen Thal an ber Bergeshalde,
Friedlich ringe umtränzt. vom verichwiegnen XBalbe,
Wo der, Schilf im Zei, wenn ber Abend düſtert,
Trãumeriſch flüfert. -
Eine größere Strophe mit asklepiadeiſchem Grundcharakter:
Am bie Wipfel des Parts bämmert bes Mondes Strahl,
Zief in Schweigen gehüllt ſchlummert hab Schattenthal.
Längft it mit Blüten und Liebern ber Lenz eutflohn,
Gelbliche Blätter verſtreuen die Winde Thon, '
Saat ber Bergänglichtelt, welte® Laub
Raſchelt im Staub,
Schon aus dieſen wenigen Beiſpielen ift zu erfehen, daß
auch der Sprache, ber Satzfügung und Wortflelung durchaus
nit Gewalt angethan iſt.“
Aus der zweiten Auffoge der „Poetik. Die Dichtkunſt und
ihre Technik“, die foeben erjchienen iſt (Breslau, Trewendt,
1870), geht übrigens hervor, daß der Herausgeber d. BI.
feinesweg® den Ton auf die Nachbildung der antilen Strophen
legt, fondern auf den Gewinn’ einer geſchloſſenen, zugleich har⸗
moniſchen und melodijchen Kuuflform. Cr Spricht ſich in diefer
neuen Auflage über die gereimten Strophen folgendermaßen
aus: „Es ift eine irrige Anſicht vieler Philofophen und Aeſthe⸗
tiler, daß der kunſtvollere Rhythmus und der Reim ſich aus-
fließen, daß 3. B. die Architekwnik der antilen Strophe den
Heim unter feiner Bedingung ertrage,
ganz, daß der deutiche Rhythmus vom antifen me
ſchieden ift, indem bei ihm nicht die Quantität allein, fondery
auch der-geiftige Accent enticheidet, nnd daß der Reim mefent-
lich dazu beiträgt, ihn Hervorzußeben. Seine Bedeutung für
die Strophenbildung werden mir. jpäter kennen lernen, Des⸗
halb ‚habe ih in meinen «Neuen Gedichten» gewagt, Oben |
nad dem Schema der antiken Sorazifchen Strophen zu reimen,
indem id) überzeugt bin, daß gerade ihr rhythmijcher Gehalt, |
ſtatt dadurch abgeſchwächt zu werben, weit Iebhafter hervore
gehoben wird und ſich dem deutfchen Ohr melodiſcher einſchmei⸗
delt. Die Strophen felbft ſondern fih Harer; unndthige En-
jambements, Worthäufungen, pedantifhe Konftructionen wer-
den vermieden, indem der Reim felbft auf größere Lichtun
bes Ausdruds hinwirft; der rhythmiſche Gang aber prägt fd
durch den volltönenden Abſchluß der Zeile um fo Iebbafter dem
Ohre ein. Der firenge Mafflab der antilen Strophe iſt dabei
von felbft ausgejchloffen; die deutſche Sprache kann fi die an⸗
tifen Versmaße nur mit weientliden, durch den Sprachgenius
bedingten BRodificotionen aneignen. Der Widerſpruch zwifchen
der fogenanunten Sprachplaſtik, die ja nur einer ausſchließlich
quantitirenden Spracde zulommt, und dem Reim tft baber nur
ein fheinbarer. Sollte es mir. nicht gelungen fein, die Bor-
züge diefer Neuerung zur Geltung zu bringen: fo Tiegt ber
Fehler nur an der Schwüche meines Talents, Teineswegs an
dem PBrincip feldft, das ein glücklicher begabter Dichter nad)
mir gewiß mit Erfolg in Anwendung bringen wird.‘
Wir zweifeln nicht, daß fich die gereimten antifen Strophen,
Sie vergefjen dabei |
—2* ver⸗
namentlich foldje, die freier auf: der Gruidlage antiker Were
zeilen gebildet find, allmählich in unferer Dichtfunft einbiirgern
werben, fobald diefelbe die Ziele künſtleriſcher Formvollendung
nicht aus den Augen verliert. ebenfalls erregen ſolche Stro-
phen eine bewegtere und doch geregelte Rhythmik mit harmo-
niſchem Reimabſchluß. Man bat verfucht, Horaziſche Oden in
ereimten antilen Strophen zu überſetzen; jedenfalls häufen fid)
et der Wiedergabe eines feftfiehenden Textes durch den Reim
die Schwierigteiten, während bei freien Dichtungen der Reim
alles Gezwungene, Unfreie, ſyntaktiſch Schwülftige verbietet und
harmoniſch KR. '
Notizen. I
Otto Janke's „Nationalbibliothek nener deütſcher
Dichter, wohlfeile Ausgabe ihrer beſten Werle in Poeſie nnd
Proſa“ Hat bereits eine vollſtändig umgearbeitete Auflage der
„Ritter vom, Geiſte“ von Karl Gutzkow publicirt, welche der
Autor von neun Bänden auf vier zurückgeführt hat, eine der kühn⸗
ften Amputationen, zu denen moderne Schriftfteller ſelbſt fich
eritichtoffen haben. Sekt kündigt fe „Otto Ludwig's geſam⸗—
melte Werke” in fllnf Bänden am. Die erfien Lieferungen ente
halten den „Erbförſter“ und das. menig befannte, nach Ama⸗
deus Hoffmann's Erzählung gearbeitete Schaufpiel: „Das Fräu⸗
ein von Seudari.“ Die „Sefammelten Werke” ſollen in fünf
Bänden erfcheinen und außer den Stitden aud die Erzählungen
bringen. Aus bem Vorwort feiner Witwe erfahren wir, daß
Dr. Hermann Lücke in Leipzig die Sichtung des handſchrift⸗
lichen Nachlaſſes übernommen bat, Es märe wünſchenswerth,
daß bei dieſer Gelegenheit auch die bramaturgifchen Studien bes
Dichters, ein bisher ungedrucktes Manufcript, veröffentlicht
würden. - Sie find geifvoll und ausnehmend lehrreich, nicht
blos durch das PBofitive, was fie bieten, fondern auch dıncd)' bie
Abmwege, die fie uns zeigen, Abwege, auf weldye begabte Ta⸗
lente, namentlich aus dem Kreife der Kraftdramatif, Jeicht duxch
das Studinm Shakſpeare's und die Hingabe an die Commen⸗
tatoren der romantifchen Schule gerathen.
Das zweiundzwanzigfte und dreiundzwanzigſte Bändchen der
von Friedrich Bodenſtedt herausgegebenen‘, Dramaliſchen
Berk" Willtam Shaljpcare’s (Leipzig, Broddaus, 1869)
enthält den „Titus Andronicus“ in einer Ueberjegung von Delius«
und „Was ihr wollt“, eins der von Schlegel feIbft überſetzten Luſt⸗
fpiefe, in einer nenen Heberfehung von Gildemeifter. Die Ein⸗
leitungen zu beiden Stücken find interefjant. Delins, ber forft
ziemlich grauſam ift, mo es gilt, Shakſpeare ein Werk ganz oder
zur Hälfte abzufprechen, erflärt den „Zitus Andronicns‘ für
echt, wenngleich für eine Jugendarbeit. Er fagt von den Stüd:
„Und doch finden mir in biefer Erfilingsarbeit, in welcher Shat-
fpeare fo wenig noch als er felbft ericheint, Züge gemug, die
Greene nicht als ihm und feinen Genoffen entlehnte Federn be
legten Acte vieles, was an ben alten König Lear erinnert. Der
eine wie der andere, mit bemfelben entichiebenen. Shaffpenre’-
[hen Gepräge ausgeſtattet, Können nur Kinder deſſelben Autore
Feuilleton. 63
ſein. Der Humor ſataniſcher Bosheit in Aarou und in Sag,
der Humor eines zerriſſenen Herzens in Titus ind in kear —
das find Züge, die ebeu nur Shaffpeare fo concipiren’fo aus-
führen mochte. Wie aber, um auf das vorliegende Drama zur
tüdzulommen, im Berlaufe der Arbeit felbft unſerm Dichter
die Kraft und das Bemußtfein feiner Kraft wuchs, das ergibt
fih, fheint es, für den unbefongenen Sefer ſhon aus einer aufe
mertfamen Lehre und ciner Bergleihung ded erften fo überans
ſchwachen Actes mit ben folgende: m; die ein ſiets zunche
mendes dramatiſches Teben gem "bis vun Kataſtrophe uud
zum verföhmendtu Abfchluſſe ii Es ale vb Shaffpeare
im Fortjchritt diefes feines erien“dichterifhen Schaffens immer
mehr alfreife von."der aus -jırjendlidger "Uneyfahtenfeit und
Schuchternheit adoptirten Manier der Vorgänger und ferne cigene
Art mehr. und mehr. ahne ‚und. ahnen laffe, - Ueber kin ſoiches
Ahnen und Ahnenlafien Hinaus kommt es freilich im «Titus
Audrmicus» nidt,. ohne daß diefee Symptom einer nature
gemäßen Entwidelyng, ‚eines foriſchreitenden Uebergangs vam
Unfertigen zum minder Uufertigen, für uns ein Grund jein
dürfte, eim mangelhaftes Iugendwerf, mit dem Ghaliprare fo
gut jeder andere Dichter debutirt haben ınuß, lediglich des ⸗
dalb, weil es mangelhoft iſt, für unſhalſpeariſch auszugeben
und als des Diätes umwürdig gurädzuneilen.”
Album.
Armand, Graf Malt d
sung, 1870, 24 Bde. Leipzig
iibane, 3, Eustinr.
Er, 8.0 Gdunerem
zul en —S——
waftgrifber. .2.Bbe. "Dein, v. Deder.
» Te Sn kart
— 9,8, Autiıg nach Bombah und Raica im Jahre 1868.
Bapbeus, T x cha. Dad Schen ber Liebe in Fiebern und Geb
—X em Der er Dichte
ve Berlin, Oilitea. van wuhoen. 1er
i — Aue r,, ‚Der Baaptwirg der Fanponfnie Bern, Flala. 1869.
— Config Werk, ie na 100 Sähen fie Dan
— a
bare ud seine Heikrat —* ‚reeke von Siena)
— Gediqte. Obttingeü, Etliffen. 1869.
‚Brimskidi Genrehuder ‚us ber vaterlänbifgen
— ie Sem TR Flattzeutſaa Orlainel,
Fi "Saabenig. 5 ‚Charalters
enge. "en Korn. Rcesmätten)
—5 — euer bene Diommg. ne Kuflage,
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;efferte und vermehrte uf lage:
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Ser Neiyelt. 3 Bbe- i
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„ Segenben ‚und, morzenlänbliäe Sagen. Beilin,
ir is bie: genre⸗ bracten. Dictungen. Köln, Du
— im Sachsenspiegol, Ein Erklärungsversuch.
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Bieiet, 5. Der Beteran von Seutpen und feine Baugefgiäte. Dred-
Rieieh 3.05 Bar om Ssutgen und feine Baugeföiäte, Dre
Zeit-Verhältulssen; aus den Quellen bearbeitet, äter Thl. Die sechs er-
sten — ‚mit deren Bildulasen. Beriio, Wiegand a. Grieben.
Due neht, Bargareigg, Tas alt Tagen. Gebiäte.
Sugar befand, — ee dar Enoleciher ie FE
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Krämer, See de uge ar ung menfpliger Größe.
Bortrag, „Getä, Sirebel, —J———
———— —* Eger.. Ein Borloit, Wien.
Ge: ds Sohn 1869. Lex.-i
2, gabden, Gmma, Himkumatden. Gtüttgar, Lröne. 1869. Ot. 10.
Die Lage Europa’s in ben lepten Wonaten bes Iahres 1869, Ein
geiren au —— Bon einem Sacfen. Dresben, Lehmann, 1869.
—— Em, Zrset irs v. Eie Grauen. Srinen. Gotha, · a.
Nr, Flle und wider bie Frauen. Vierzehg Brick,
Berti, 9 24
2 inachiegeſchichte. Serlin, gante. &, [3 rap:
Ve, —— May. 1869. Gr. 8, 10 Rot.
Lingg, H. Wanderungen durch die Interansisunle Kunst-Ausstellung
in München. München, Lentner. 1869. Gr. TN
eat, A. Helnrien IL. (der Heilige) um —— 12 ae, ‚Vor:
Ihe. dargesiallt. : Wien, Leeb: 22 Bgr..
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Gr. 8.
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Tröter, R., Bilderwert. Ei} EL leipzig, Rotſchte. ®. az
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64 Anzeigen.
Anzeigen.
— — —
Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erſchien:
Die deuffhen Republikaner
unter der frauzöfiſchen Republik.
Mit Benugung der Aufzeichnungen feines Baters Michel Veuedey
dargeftellt von
Jakob Benedey.
8 Geh. 2 Thlr. 10 Nor.
Das vorliegende Memoirenwerk füllt eine Lücke in ber
Geſchichtſchreibung aus, indem es über eine bisher dunkle Par-
tie in den politifchen Gefchidlen des deutfchen Volks helleres
und authentifches Licht verbreitet. Die harten Kämpfe ber deut-
ſchen Bevölferungen von Strasburg, Mainz, Koblenz, Bonn,
Köln, Trier u. |. w. zu Ende des vorigen Jahrhunderts bil-
den den Gegenftand ber Darfiellung, welche theils auf eigener
Forſchung des Berfafjers, theils anf zeitgenöffiichen Erinnerun-
gen fußt und, mit den VBorboten der Revolution in den rheini-
fchen Kurftaaten beginnend, bis zum 18. Brumaire fi) erftredt.
Derlag von 5. A. Brockhaus im Leipzig.
Soeben erſchien:
Bibel -Sexikon.
Realwörterbuhd zum Bandgebraud
für Geiftlihe und Gemeindeglieder.
In Serbindung mit den namhafteſten Bibelforfhern Herausgegeben
von
Kirchenrath Profeſſor Dr. Daniel Schenkel.
Mit Rarten und im den Text gedruckten Abbildungen in Holsfänilt.
In 32 Heften oder 4 Bänden.
Breis des Heftes 10 Ngr.; des Bandes: geheftet 2 Thlr.
20 Ngr., gebunden 8 Cl “
Zweiter Band. (Didvrahdme — Heilig, Heilige.)
Mit dem zweiten Bande Tiegt num bereits die Hälfte
des gediegenen Werts vor. In allen Buchhandlungen werden
Unterzeihnungen auf Schenkel’ „Bibel » Lexiton‘, in, Heften
oder Bänden, angenommen und ift ein PBrofpect darüber
gratis zu haben.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
DIE HYMNEN DES RIG-VEDA
im Samhita- und Pada-Text.
Herausgegeben von Max Müller.
DAS ERSTE MANDALA.
Zum Gebrauch für Vorlesungen.
4. Geh. 2 Thir. 15 Ngr.
Aus Max Müller’s grosser Ausgabe des Rig-Veda ver-
anstaltete die Verlagshandlung einen Separatabdruck des
ersten Mandala, um denselben allen Lehrern und Studiren-
den des Sanskrit zu wohlfeilem Preise zugänglich zu
machen.
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien
die fiebente, umgearbeitete umd vermehrte Auflage
von
Kalfſchmidts Fremdwörterbud.
8. Geh. 2 Thlr. 12 Nor. Geb. in Halbfranz 2 Thlr. 24 Ngr.
(Auch in 12 Heften zu je 6 Ngr. zu beziehen.)
Kaltſchmidt's Fremdwörterbuch, bereits im ſechs flarlen
Auflagen verbreitet, wurde in ber vorliegenden fiebenten Auf-
age innerlich wie äußerlich dem Fortſchritten der Zeit gemäß
umgeftaltet. Es umfaßt jett 61 Bogen 2erilonoctav und iſt
demnach nit nur das neueſte und vollftändigfte, fondern
— das verhältnißmäßig billigſte aller Fremdwörter—
er.
Vorräthig in allen Buchhandlungen.
Derfag von S. 4. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Geschichte von Ungarn
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Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, bearbeitet von
Ernſt Rlein.
Mit einem Vorwort von Michael Horväth.
Zweiter Band.
Die Zeit der Rönige aus verfhiedenen Hänfern von 1301 Bis 1457.
8. Geh. 3 Thlr. Geb. 3 Thir. 10 Ngr.
(Der erste Band kostet geh. 2 Thir. 20 Ngr., geb. 3 Thir.)
Das Fessler’sche Werk «Geschichten der Ungarn und
ihrer Landsassen», allgemein als die beste in deutscher
Sprache geschriebene Geschichte Ungarns aner-
kannt und seit längerer Zeit gänzlich vergriffen, erscheint
jetzt in zweiter Auflage und zeitgemässer Umarbeitung,
eingeführt durch den berühmten ungarischen Historiker und
Staatsmann Michael Horväth, Infolge der gedrängteru
Darstellung sowie der zweckmässigern Druckeinrichtung war
es möglich, den Umfang sehr zu beschränken, den Preis
mithin wesentlich billiger zu stellen.
Ausser in Bänden kann das Werk auch in Lie-
ferungen zu je 20 Ngr., deren bisjetzt 9 erschienen
sind, durch alle Buchhandlungen bezogen werden.
Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig.
SHAKSPEARE.
JULIUS CAESAR,
ANNOTE PAR
CHARLESGRAESER.
8. Geh. 8 Ngr.
Diese Ausgabe von Shakspeare’s „Julius Cäsar‘, durch
Karl Graeser, den bekannten Verfasser vielverbreiteter Lehr-
bücher, mit mehr als 800 erklärenden Anmerkungen in fran-
zösischer Sprache versehen, ist für Uebersetzungsübungen
eingerichtet und kann auch deutschen Schulen als prak-
tisches Lehrmittel empfohlen werden.
Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Srohhaus. — Drud und Berlag von S. A, Brockhaus in Leipzig.
Blaͤtter
literariſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
— Ar. 5. ÿ—
27. Januar 1870.
Iunhalt: Aus Dentſchlands trübſter Zeit
Bon Hans Prug. — Romane und Erzählungen.
Shrifian von Bomhard's Nachlaß. Bon A. W. Grube. — Kleine philofophifhe Schriften. — Senilleton.
Bon Rudolf Gottſchall. —
(Sntereffante
* Autographen; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Aus Dentfhlands trübfter Beit.
Zur dentjhen Geſchichte in dem Jahrzehnt vor den Befreiungs-
kriegen. Bon F. von Ompteda. II: Politiſcher Nachlaß
des hannoverſchen Staats- und Cabinetsminiftere Ludwig von
Dmpteda and den Jahren 1804—13. Drei Abtherlungen.
III. Sena, Frommann. 1869. Gr. 8 5 Thlr.
Während wir aus den Schäten felbit der bisher
weniger zugänglichen Archive für die Gefchichte der Bes
freiungskriege und ber ihnen vorangehenden Jahre wol
faum noch wefentlich neue Aufſchlüſſe, noch weniger aber
eine völlige Umwandlung ber bisher üblichen SDarftel-
Iung zu erwarten haben werben, ftrömt und gerade in
der legten Zeit eine Maſſe von neuem Material zu für die
tiefere Erkenntniß jener Zeit in ihren Einzelheiten, indem
ganz in Uebereinftimmung mit einer in unferer hiſtori⸗
{hen Literatur mehr und mehr zur Herrfchaft gelan«
genden Strömung aud die Yamilien» und Privatardive
fi) öffnen und in den mehr oder weniger unbedeutenden
Correfpondenzen, Tagebüchern und Memoiren von oft
wenig hervorragenden Zeitgenoffen jener denkwürdigen
Ereigniffe die Quellenliteratur eine zuweilen mehr als
zweifeldafte Bereicherung empfängt. Denn gehen wir bie
lange Reihe der hierher gehörigen Werke durdy: wie
gering ift die Zahl derjenigen, durch weiche unjere Kennt⸗
niß von jener Periode eine wefentliche Förderung erfährt,
wie oft ift in einem didleibigen Memoirenwerke nur die
eine oder die andere, Thatfache von allgemeinem Intereſſe,
während alles andere nur das ſchon anderweitig Belannte
in ganz individueller Weife und daher oft in der aller-
verkehrteften Auffaffung und durch die Irrthümer ber
Tagesmeinung eniftellt und verbunfelt wiedergibt. Der⸗
artige Publicationen pflegen eben — unb darin liegt ein
Hauptgrund der angeführten Uebelftände — als ein Werk
der Pietät oder auch des Familienftolzes von Laien aus⸗
zugehen, welche felbft bei einer genauern Bekanntſchaft
mit der einfchlägigen Literatur doch der Forſchung und
1870, 5.
dem ftreng wiflenfchaftlichen Leben der Gefchichtfchreibung
zu fern ftehben, um mit Sicherheit das Werthvolle von
dem Werthlofen zu fcheiden; ja, ſelbſt wenn fie dazu im
Stande find, fo wird es ihnen doch oft aus taufenderlei
andern Rüdfichten unmöglich gemacht, ſich auf die Ver⸗
öffentlihung blos der neue Anfchauungen oder unbefannte
Bacta darbietenden Aufzeichnungen zu befchränfen, und
nicht gern wird von ſolchen Nachlaffen auch nur ein
Bettelchen ungebdrudt gelaffen. Es ift das entfchieden ein
Misbraud), durch welchen unfere neuere Hiftorifche Duellen-
literatur zu einem- Umfang anſchwillt, der mit dem Werth
des Inhalts in keinen Verhältniß mehr fteht.
Auch das obengenannte Buch aus dem politifchen Nach⸗
laffe des ehemaligen hannoverfchen Minifters von Ompteba
gehört in die Reihe diefer Werke, denen wir — offen
geftanden — zu unferm Leidweſen immer öfter begegnen;
doch muß es ohne Zweifel den ihrem Inhalt nad) werth-
vollern zugezählt werden, obgleich fich gewiß nicht leugnen
läßt, daß dasjenige, was eine Bereicherung unferer Kennt»
niß enthält, fich in einer weit Inappern Form, fodaß
auch der Laie davon angefprohen worden wäre, hätte
geben laflen; ja, ziemlich die Hälfte der uns Bier gebo⸗
tenen 270 Schriftftüde hätte, ohne bem fachlichen Werth
des Ganzen den geringften Abbruch zu thun, weggelaſſen
werden können. Aber es ift nur natürlich, wenn der
feines Vaters politifchen Nachlaß herausgebende Sohn den
fonft geltenden kritiſchen Maßſtab verliert und auch in
ziemlich werthlojen oder doch fachlich durchaus gleihgülti«
gen Aufzeichnungen nod einen allgemeinern Werth zu
erfennen meint. Ohne Zweifel hätte auch hier eine mono⸗
graphifche Verarbeitung des vorhandenen Materials bei
weitem den Borzug verdient vor ber von dem Herausgeber
gewählten Yorm, die uns eine Art von Urkundenbuch
bietet, nur daß die einzelnen Nummern ſich anreihen an
eine Biographie des Minifters von Ompteda: es hat base
I
66
noch ben Nachtheil, daß man alles doppelt zu Hören bes
fommt, erft in der Erzählung, dann in den auf biefe
folgenden Briefen und Actenftüden. Das iſt unbequem
und ermüdend im höchſten Grade, um jo mehr, als man
in den Dmpteba’fchen Papieren eine Menge ganz gleich-
gültiger und felbft zur Zeit ihrer Entftehung nur formell
bedeutender Schreiben mit in den Kauf nehmen muß und
höchftens von Zeit zu Zeit auf eine Gruppe von Schriftftüden
ftößt, für deren Inhalt und Form man ein lebhafteres
Intereffe zu empfinden vermag.
Der erfte Abfchnitt des vorliegenden Bandes betrifft
die Jahre 1804—6. Er ift eingeleitet durch einen bio-
graphifchen Abrig, aus dem wir den im Mittelpunft des
uns hier entgegentretenden Kreifes ftehenden Daun feiner
Entwidelung und amtlichen Laufbahn nad) kennen lernen.
Ludwig von Ompteda, 1767 auf dem älterlichen Gute in
der hannoverfhen Grafſchaft Hoya geboren, von einem
Geiftlihen in der Gegend von Celle liebevoll erzogen,
dann Gegenftanb und faft da8 Dpfer der pädagogifchen
Erperimente einer Tante, von diefen durd) die liebende
Sorgfalt der Mutter befreit, kam, nachdem die Mutter
dem fchon früher verflorbenen Bater gefolgt war, in die
[üneburger Nitterafademie, wo er durch feine Begabung
und Tüchtigkeit einflußreiche Gönner gewann, und findirte
dann in Göttingen, der hohen Schule ber Rechtswifien«
ſchaft, wo damals ein Kreis der hoffnungsvollften Jüng⸗
linge lebte: die Gebrüder Humboldt, Kamp, Altenftein,
Nagler u. a. gehörten zu dem Umgange des jungen
Dmpteda. Am vertrauteften aber war und blieb derjelbe
mit feinem ältern Bruber, ber fid) der militärifchen Lauf⸗
bahn gewidmet hatte und der uns von allen in den Auf-
zeichnungen auftretenden Perjonen das meifte und wärmfte
Intereſſe erwedt, eine einfache und edle, heroiſche und
doch kindlich liebevolle Seele, dabei von ſchönem Stoicid-
mus erfüllt und treu ausharrend inmitten der traurigften
und wechfelvoliften Geſchicke, die von allen Seiten mit
vernichtender Schwere hereinbrechen. Nach Bollendung
feiner Studien und nachdem er einige Zeit in ber richter-
lichen Praris bejchäftigt gewefen war, wurde Dmpteda
durch BVermittelung feiner Gönner 1791 zum Legationd-
fecretär bei der hannoverſchen Geſandtſchaft in Dresden
ernannt. Das war für fein ganzes Leben entjcheidend;
er kam dadurdy in die biplomatifche Laufbahn und blieb
in berfelben, obgleich er fich noch längere Zeit mit der
Abſicht trug, in der richterlidren und adminiftrativen
Thätigfeit feinen eigentlihen Beruf zu fuchen. Seine
in allen Richtungen bewiejene Züchtigfeit erwirkte ihm
ein fchnelles Auffleigen; fchon 1794 wurde er zeitweije
mit der Wahrnehmung der Gefchäftsträgerftelle am ber-
finer Hofe betraut, wohin er in gleichem Auftrage im
folgenden Jahre zurückkehrte, um dann 1800 als Kriegs-
rath in die Leitung der Kriegslanzlei einzutreten, ein Auit,
das er bald danad) mit dem nengefchaffenen eines Dber-
poftdirector® vereinigte. In bdemfelben Jahre vermäßlte
er fi mit ber Witwe des preußiſchen Hofmarſchalls
Grafen Solms, wodurd er zu dem erften Familien des
preußischen Adels in nahe Verbindung trat. Das aber
machte die Stellung nur noch peinlicher, in welche Ompteda
1801 bei der erften Beſetzung Hannovers durch die Preu⸗
Aus Deutfhlands trübfter Zeit.
Ben gerielh, da er, nad) beiden Seiten hin vielfach ver-
pflichtet, auch nach beiden doppelt leicht Anſtoß erregte
und Mistrauen gegen feine politiiche Ehrenhaftigkeit leicht
erwedt werden fonnte. Ein ihn hochehrender Beweis des
Bertrauend feiner Regierung war es baher, baß er
1802 als Unterhändler wegen der von Preußen ebenfo
wie von Hannover beabfichtigten Erwerbung von Hildes⸗
beim mit befonderer Bollmadjt nad) Berlin gefchidt wurbe.
Diefe Miffion Hatte feinen Erfolg; 1803 wurde Hanno-
ver zum zweiten mal von Preußen befjett, und Ompteda _
erhielt nun in Berlin eine doppelt wichtige, aber auch
doppelt ſchwierige Stellung. Daß der Herandgeber bie
Gelegenheit benugt, welche ihm der Bericht über diefe
Borgänge bietet, um die allerdings naheliegenden Paralle⸗
len zwifchen den damaligen Berhältniffen und den Ereig⸗
nifien des Jahres 1866 zu ziehen und dabei feinem gut
welfifhen Unmuth über die 1803 noch unbefannte, jett
verwirklichte Debellationdtheorie Luft zu machen, kann man
ihm als „königlich hannoverſchem Geheimen Regierungs-
rathe a. D.“ ſchon zugute halten, obſchon es andererfeits
nit gerade von Hiftorifchem Sinn und Berftändniß für
die Fragen der Zeit Zeugniß ablegt, wenn jemaub bie
Geſchichte des Jahres 1803 ohne weitere mit der von
1866 auf diefelbe Linie ftellen und nad bemjelben Maß⸗
ftabe particulariftifcher Moral mefjen will.
Bon 1803 — 6 blieb Ludwig von Ompteda in Ber-
Iin, von wo aus er zwiſchen den in Hannover lebenden
Getreuen und ber aus einigen hannoverſchen Miniftern
in Schwerin gebilbeten Regierung in partibus infidelium
den eifrigen Bermittler machte und Gelegenheit fand,
feinem Lande manchen danfenswerthen Dienft zu leiften.
Der Ausbruch des preußiich- franzöfifchen Kriegs 1806
griff aud in Ompteda's und der Seinen Schickſal ftörend
ein; infolge der Schladt bei Yena mußte Dmpteba Dres-
den, wohin er ſich begeben hatte, da er ſich in Berlin feit
der Schlacht bei Aufterlig nicht mehr ficher fühlte, ver-
lafien und ging nad) Prag, wo er zunäcft feinen Auf«
enthalt nahm. Dort und in Zeplig hat er den größten
Theil der nächſten Jahre verfebt, infolge feiner Stellung
zur Dispofition auch äußerlich in einer bebrängten Lage,
niedergebeugt aber vor allem durch da8 Elend, das über
fein Baterland und ganz Europa durd die Napoleonifche
Zwingherrſchaft Hereingebrocdhen war, in regem, oft frei=
lich vielfach gehindertem Verkehr mit feinen gleichgefinnten
Freunden und im Austaufche feiner ernften politifchen
Erwägungen mit den patriotifchen, franzofenfeindlichen
Männern aller Nationen, welche er durch feine amtliche
Stellung und die wechſelvollen Scidfale der letzten Jahre
kennen gelernt hatte.
In den Jahren 1808 und 1809 war gerade Böh-
men, und namentlih Prag und Teplig der Sammel-
plag für die ariſtokratiſchen Kreife diefer politifchen Rich-
tung, in denen alle bedentenden Größen der Zeit ans⸗
und eingingen. Aus diefer Zeit rühren aud) die inter-
effanteften der in der vorliegenden Samminng mitgetheil-
ten Schriftftitde Her; namentlich tritt andy Hier Geng, ben
Dmpteda in Prag fennen gelernt und mit dem ihn bald
eine feltene Uebereinſtimmung der politifchen Anfichten
näher verbunden hatte, am meiften in den Bordergrumbd
Aus Deutſchlands trübfter Zeit.
und bringt und in einer großen Reihe von Denlſchriften
und Briefen feine merkwürdige Perfönlichfeit mit ihrer
glänzenden Begabung und ihren erbärmlichen Schwächen
im frijchefte Erinnerung. Sonſt ift e8 auch bier des Geſand⸗
ten Ompteda Bruder, der unfer Intereffe und unfere Theil-
nahme am meiften wach ruft und defien bedeutende Per-
fönlichteit und trauriges Schickſal ein recht treues Spiegel ·
bild geben von ber Größe und dem Elend der ganzen
Zeit. Im der englifchen Legion zum Oberftlieutenant aufs
geftiegen, wird derſelbe mit feinem Corps von ben wech ⸗
felnden Kriegsläuften bunt in der Welt herumgemorfen:
in England, an der Küfte Deutſchlands, dann in Gibral«
tar, jpäter als Schiffbrüdiger und Kriegsgefangener in
Holland; endlich bei der Landung in Portugal von einem
Gemithfeiden befallen, fehen wir den ebeln Mann ſich
aufreiben in der Sorge um fein Vaterland und dem in«
grimmigen Zorn über den Sieg bes in Napoleon ver-
Förperten böfen Principe. Aus den Briefen deſſelben wäre
eine ganze Menge ſchöner und bedeutender Worte hervor«
zuheben, die zugleich zeigen, wie tief er feine Zeit und
deren Bebürfniffe verftand. So fohreibt er einmal, im
Frühjahr 1808, als Kriegsgefangener in Gorkum ber-
weilend, an feinen Bruder:
Mein, alles was wir erfebt haben, beflärtt mid in ber
umtoandelbaren Weberzengung, daß felbft im Untergange Ret-
tung gewejen wäre, fowie in ber illuforifhen Rettung der
wahre, unwiederbringliche Untergang vollendet ift. Dies fage
io dir in ber vollen Zuverfiht, daß wir in dem Gedanfen
übereinftimmen, daß der Geift eines Volls das erſte unter dem
Gütern beffelben if. Der einmal geopfert, ſteht ber Werth der
Übrigen nur im Berhältniß zu dem gefunfenen Werte des
Befiges und wird nichtsdeftominder den Weg der erften großen
Einbuße wandeln. Ich äußere dieſe bittere Wahrheit ohne Rüd-
Balt, da daß tiefe Gefühl derfelben, ungeachtet meiner fünfter
balbjährigen Entfernung von dem Gchaupfage des vaterländi-
fchen Jammers und Elende, ungeachtet meiner Berfegung in
fehr verjdiedene Berhältniffe, mich nie verlaffen hat nnd viel-
ieicht, durd) Eontrafte, empfindlicher geblieben ift wie da, wo
eine Familiariſirung mit allem, was den Menfchen phyſiſch
umd moralif ecrafirt, und die Entwöhnung des Blids von
Anfihten, die erhebend wären, wenig von der Empfindlichkeit
übriggefoffen hat, wie die der Entbehrung ehemaliger Genüffe
und des Berlangens nad; — Unmöglichkeiten.
Der intereffantefte Theil der Sammlung ift ohne
Zweifel bie feit dem prager Aufenthalte immer eifriger
werdende Correfpondenz mit Gent, der auch hier feinen
Charakter keinen Augenblid verleugnet und ſich mit Ompteda
nit blos in der fanatifchen Glut feines Hafles gegen
Napoleon („Berbammte Kanonenkugel!“ ruft er aus bei
der Nachricht, daß in ber Schlacht bei Preußiſch -Eylau
fünf Schritt von Napoleon ein General gefallen fei),
fondern aud) in der allgemeinen Würdigung der Lage und
der Beurtheilung der zu einer Befreiung Europas vor ⸗
handenen Mögliggkeiten meiftens in völliger Uebereinſtim⸗
67
mung befindet. Das von allen Seiten hereinbrechende
Berhängniß, die Schlag auf Schlag folgenden Siege
Napoleon’s, die gänzlice Hoffnungslofigkeit ber Lage
treibt felbft den fonft fo falt und Mar rechnenden Gentz
zu dem verzweifelnden Ausruf:
Eine Pauſe, eine Baufe! damit die Menfchen fi wieder
orientiren lönnen, die Vernunft einen Theil ihrer Rechte wie»
dergemwinne, bie Laſterungen der Hölle wieder verſummen!
Die Zukunft fängt an wie Blei auf meinen Nerven zu liegen.
Kaum erfennt man den Schreiber biefer und ähnlicher
Aeußerungen wieder, wenn er von bem ehemals in Ruß⸗
land einflußreichen General Wingingerode, der nad; bem
Tilſiter Frieden in öfterreichifche Dienfte getreten war und
in Prag lebte, ftatt aller andern Fritit an Ompteda
ſchreibt:
Er iſt allerdings eine bedeutende Reſſonrce für mic; zum
Unglüd hat er eine hochn Tangweilige, unfhmadhafte, häßliche
und obendrein arme Polin geheirathet, weldes dem nähern
Umgange mit ihm einige Schroierigleiten im den Weg legt;
auch ißt er ſchon vor 1 Uhr (gracious God!) und wohnt dabei
nahe am Viehmarft, weldes alles zu meinen Gewohnheiten
nicht paßt.
In diefen beiden Stellen find die beiden Seelen, bie
in Gent lebten, aufs fehärffte gefennzeicnet.
Bon wirklich Hiftorifhem Werth ift nur wenig in
der Sammlung, doch geben manche Stüde Beiträge
zur Charakteriftif ber ganzen Zeit und fpiegeln den bei
fpiello8 unruhigen Zuftand ab, in dem die fieberhaftefte
Erregung mit einer tobähnlihen Wbfpannung und Er-
ſchlaffung wechfelt. Freilich wäre diefer Zmed auch zu er-
teichen geweſen, wenn ein bedeutender Theil der mitgetheil«
ten Schriftftüde der Vergeſſenheit nicht entriffen worben
wäre. Die zahlreichen, doch nichts als Höflichkeitsformeln
enthaltenden Billets hätten ganz gut ungebrudt bleiben
Bönnen, aud) in ben Tagebuchaufzeichnungen des Geſand⸗
ten von Ompteba vermögen wir, bon einzelnen Abfchnit«
ten abgefehen, gar feinen Werth zu erkennen; in ben
Notizen über feinen wiener Aufenthalt zu Anfang des
Jahres 1807 ſpricht Ompteda von nidts als Bifl-
ten, Diners, Soupers und Mebouten und erideint als
ganz aufgegangen in dem Heinlichen wiener Geſellſchafts-
Hatfd. Intereſſant ift dagegen der Bericht über feine
Begegnung mit Schill und deſſen Verſuch, ihn für feine
Plane zu gewinnen, fowie die Erinnerungen an bie 1809
gemachte Reiſe nad) England, von wo er feinen gemüths-
franfen Bruder abholte. *)
Hans Prup.
des
Inzwifgen i die zweite und britte N
*) Iuzwiigen if auf bie ‚mei und & te Mstheitung jmeiten
Banbed und ber dritte Band
womit bafielbe vollftändig vorliegt. Der
reitd im Jahre 1869 veröffentlicht unter dem Titel: „Die Lei
Hannovers burd bie Brangofen, eine hiforife politiige Emile”,
. Re.
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WITTRTET TEN NR
TIEHRIETTNRT,
70 Romane und Erzählungen.
zu erfreuen, bildet den Inhalt des vorliegenden Romans,
Allerlei Intriguen, namentlich) von der Yürftin- Mutter
und einem alten Feinde bes Fürſten, dem Grafen liche
legi, ausgehend, zerreißen ba8 Band wieder, deſſen
ficchliche und gejeglihe Schürzung eine nicht ausreichend
fefte war.
Die Berfafferin wollte in biefem Roman zeigen, wie
verhängnißvoll das Hinausgreifen über die ſocialen Schran-
fen werden Tann, felbft wo nicht ftolze Ueberhebung, ſon⸗
dern nur leidenfchaftlihe Neigung dazu führt. Gleichwol
ift das Werk feine trodene Moralpredigt, welche durd)
einige lebende Bilder illuftrirt wird; es hat ftarfe roman⸗
hafte Reize, wie fie fonft nur ein Genfationsroman
de pur sang zu bieten pflegt. Der Doppelmord, defien
gefpenftige Erinnerungen das ganze Leben des Fürften
vergiften, gehört zu jenen dunkeln Ereigniffen, die ſich im
Berlaufe des Romans exhellen und gleichſam in Wohl«
gefallen auflöfen. Dagegen findet gegen den Schluß
defjelben noch ein Halb unfreimwilliger Meuttermord ftatt:
ein grelles Ereigniß, das wir nicht mehr erwarteten,
nachdem fid) die Verfaſſerin fo viel Mühe gegeben Hatte,
jenen blutigen Makel, der die Vergangenheit und das
Gewiſſen des Fürſten befledte, außzutilgen. Daß fie an⸗
ſchaulich zu fchildern verfteht, beweifen die Scenen auf
dem einfamen Bergfchlofie, noch mehr die Darftellung bes
Trappiftenflofters am Schlufie des Romans. Der Stil
ift nicht durchweg correct, aber wo es ber Stoff verlangt,
warm und anfchaulic.
5. Wendenburgiſche Junker. in Samilienroman von €.
Spielmann. Drei Bünde. Leipzig, Kollmann. 1869.
Gr. 16. 5 Thlr.
Diefer Roman nimmt ein eigenthlimliches cultur«
hiſtoriſches Untereffe in Anſpruch; denn während die
neuen Moderomane darin wetteifern, die Ariftofratie in
ein ungünſtiges Licht zu ftellen, ift der Roman von
Spielmann eine Berherrlichung des patriarchafifchen Junker⸗
thums, und zwar in feiner fchroffften Geftaltung, in der
es fih nur noch in einem abgelegenen Weltwinfel zu
behaupten vermag. Spielmann bildet fo den ſchärfſten
Segenfag zu Spielhagen, der in feinen Romanen
nicht müde wird, das beutfche Junkerthum bald im Stil
der Melpomene, wie wenn er bie Örenelthaten derer von
Hohenftein fchildert, und bald im Stil der Thalia zu
geifeln. Der Vorzug des Spielmann’schen Romans be-
fteht aber darin, daß er da8 Gebaren der menden»
burgifchen Junker mit größter Unbefangenheit und home⸗
rifcher Naivetät fchildert. Wohl fühlt man heraus, daß
die Grundftimmung des Autors eine fiir feine Helden fehr
freundliche ift und daß er Partei ergreift für die abjon-
derlichften Befchlüffe ihrer Tamilientage; aber das Be⸗
ſtreben des Berfaflers, die Perfönlichkeiten und Ereigniſſe
fi gleichſam felbft ſchildern zu laffen, ohne aufbringliche
Schönfärberei, wirb dadurch nicht beeinträchtigt. Und
fo bleibt e8 jedem unbenommen, aud ein ganz anderes
Urtheil über die, meiftens mit den lebhafteten Farben
gefchilberten Vorgänge zu fällen und das harmonifche,
ja einftimmige Urtheil, welches der Autor und alle feine
Helden gelegentlich über biefelben füllen, Durch einen gänzlich
abweichenden Spruch zu flören.
In der That erfahren und erleben wir hier Selt-
‘
wor. nn
james, was mit unfern hergebracdhten Rechts⸗ und Sitt⸗
lichkeitsbegriffen ſich ſchwer vereinigen läßt; wir baben
es mit einer Kafte zu thun, welche an die Dinge ganz
aparte Maßſtäbe legt. Dft fragen wir uns, ob biefe
Männer, die uns zum Theil als gebildet, ja als gelehrt
gejchilbert werden, wirklich mit und unter dem Sternbild
derfelben Civiliſation das Licht erblidt haben, oder ob fie
anf einer Inſel aufgewachfen find, die wir bisher auf
feiner Karte bemerften, bie ſich, eine Heimat barbarifcher
Naturvölker, mitten hineingefchoben hat in ben europäifchen
Geſellſchaftsarchipel? Dies wendenburgiſche Junkerthum
iſt ebenſo excluſiv wie patriarchaliſch zugänglich, ebenſo
rückſichtslos grauſam wie weitgehend in cyniſchen Licenzen —
es kommt nur darauf an, ob die Selbſtherrlichkeit des
Adels durch ſolche Ausſchreitungen gefährdet wird.
So z. B. wird in dem vorliegenden Roman, der nur
der erſte Theil eines größern Cyklus iſt, indem viele hier
angelnüpfte Fäden noch nicht zu Ende geführt ſind, die
Liebe eines wendenburgiſchen Junkers aus der Familie
von Urtifa, Jaspar Detlev, zu einem Judenmädchen ge=
ſchildert. Solche Verhältniffe verftoßen an und für fi
nicht gegen ben junferlichen Ehrencoder, wie und Herren
und Damen des Adels zur Genitge mitteilen; aber der
Junker Detlev begeht die Thorheit, dem Judenmädchen
die Ehe auf fein Ehrenwort zu gelobn. Wir jagen
Thorbeit, aber für den wendenburgifchen Adel ift dies
mehr, es ift ein todeswürdiger Frevel, da der Junker
dies Wort, welches das Mädchen ihm überdies nicht zu-
rückgibt, nicht löjen, aber ebenfo wenig erfüllen kann, ohne
mit einem unverlöfchbaren Makel feine Familie zu befleden.
Die verwandten Zweige derfelben halten nun einen Fa⸗
milientag auf Schloß Detlen, den der Verfaſſer mit dem
folgenden Dithyrambus einleitet:
Der mendenburgifche Adel behandelt die Gebräuche und
Geſetze feines Standes und feined Haufes auch zur Stunde noch
mit der ganzen feierlichen und pietätvollen Würde, bie ihm bie
Achtung gegen feinen Stand und ſich jelbft auflegt, mögen auch
die Apoftel und Jünger der neuen Zeit und ihrer unglüdfelig
und troftfos nivellivenden Richtung mit Hohn und Spott dar»
über berzufallen fiir ihre und die Aufgabe der Gegenwart hal
ten. Es ift leichter zerftören als aufbauen, und bie ganze
gepriejene Freiheit und Gleichheit des Heute, das hoch⸗ umd
volltönende Staatsbürgertfum, geb’ ich Hin für dem nieder⸗
geriffenen und binwegdebattirten und gefpotteten Segen und das
göttliche Band der Familie, Kein Befig, Tein äußeres Glück
ift den Segen der Familie vergleichbar. Freilich, die großen
Philofophen und Staatsweilen des Heute — nad den Grund»
fügen ihrer völterbegllidenden neuen Lehre müſſen fie die alten
Gebäude vom Fundament aus zerfören, um auf den Ruinen
das neue Normalbaus aufbauen zu können — wie follen fie
da Empfindung und Berftändniß für die Würde der Familie
haben! Der Adel Wendenburgs hat ben brandenden Wellen
der neuen Zeitrihtung die Thlir feines Haufes verſchloſſen ge-
halten und fid) dadurd die Würde der Familie in fledenlofer
Reinheit bewahrt und gefichert.
Der Beichluß diefes Familienrathes über den Junker,
der leichtfertig fein adeliches Wort verfchleubert und das
malellofe Wappen feiner Familie befledt Hat, lautet auf
Tod, und bie Mutter felbft, ein weiblicher Brutus, ſtimmt
tonlos in dies Urtheil ein. Wie aber wird es vollzogen?
Man hat keine Landeshoheit, um Erecutionen zu verhängen
und Tann doch auch keinen Mörder dingen. Der Familien-
rath theilt die folgende Auskunft duch feinen Redner mit:
Romane und Erzählungen,
Dein adelich Wort, das du gegeben, bift du verpflichtet
zu Löjen! Die Ehre deines Geſchlechts deines Haufes, deines
Namens und Wappens, deiner Familie verbietet aber, dein
Bort in dem Sinne zu löſen, wie die Perſon, der du's gege»
ben, fierfih erwartet. Nur ein Mittel gibt es, das dem
wendenburgifhen Edelmann feines Wortes ohne Makel feiner
adelichen Ehre emtbindet. Dieſes Mittels, fo ſpricht der Fami⸗
Tienrath deines Geſchlechts und Haufes fein Urtheil, darfft und
ſollſt du dich ohne Zögerung bedienen. Der Familienzarh hat
deıngemäß beſchloſſen, daß du dem ritterlihen Stämmen des
Kaufajus, unter deren Imams ich Freunde zähle, in ihren
Freiheitstämpfen gegen die ruſſiſche Vergewaltigung deinen De-
gen leidet. Du kämpfft dort unter Standesgenoffen für eine
große umd jedes edeln und wahren Menſchen Bruft — fei er
auf dem Thron geboren oder in nieberfter Hütte — gleich⸗
mäßig erfüdende Ipee, für die Freiheit des eigenem Herdfeuers
von Femme Jod. Der Familtenrath deines Geſchlechts und
Haufes ift von einem Urtifa fiher und überzeugt, daß er, ein
echter Sohn feiner Väter, für die Sache, die er einmal als
eine geredjte umd die feine miterfannt und der er feinen Degen
geweiht, ein tremer Partifan fein und aud für fie zu fallen
and zu fterben wiſſen wird. Auf deinem Schild, Jaspar
Detlev von der Urtifa, magſt du zurlickehren in die Hallen
deines Hanfes; ehrenvoll neben deinen vorangegangenen Bätern
wird dir dann deine Stätte bereitet fein!
Der Junker unterwirft fi in Demuth und Gehor-
farm, und ein Verwandter, der Doctor Riedwiſch, ein
gelehrter Baron, alfo eine Species, die dod unter den
wendenburgifchen Junkern geduldet wird, während man
fie im andern Gegenden mit ſchelen Augen anficht, ber
gleitet ihn in den Kaukaſus. Ob die Tſcherkeſſen dies
Todesuriheil vollftreden werben, müfjen wir abwarten,
und hoffen nur, daß ber Jagdjunker Fugelfeft ift, wodurch
das Erecntionsurtheil des Familienraths von felbft nichtig
werben müßte; denn zum Tod in der Schladt kann man
im Grunde niemand verurteilen, da dies, wie der alte
Homer fagt, „im Schoſe der Götter liegt”.
Die Gefhichte führt uns nämlich, zunächſt nicht in
den Kaufafus, ſondern fie ſchildert uns die frühern Lebens»
Tchictfale des Doctor-Barong, eines jünger geborenen Sohnes,
und gibt und das Gegenbild zu der catoniſchen Sitten -
ftrenge des Familienraihe. Der Doctor näuilich annec-
tirt fi ein Mädchen aus dem Bolt, das allerdings aus
einer herabgelommenen altitalienifhen Familie ſtammt, in
Pumpen umbergeht, doch auch ohne dieſe Tracht ſich
gelegentli als fingende Waffernige im Mondſchein badet
und fo von dem Doctor belaufcht wird. Er Heirathet
fie indeß nicht, fondern lebt in milder Ehe mit biefer
Mignon, woran niemand von den wendenburgiſchen
Sunfern, Frauen und Fräulein Anſtoß nimmt. Ja c8
lommen noch andere Beweife für bie fittlichen Licenzen vor,
melde, zum Theil offenbar ein Ueberbleibfel von dem
jus primae noctis, ſich dies Junkerthum geftattet. Es
wird ums mit vielem Humor gefchildert, wie einer biefer
Herren, ber dide Wolf Pedatel, der rundlichen Frau des
Schmiede, die fon längſt Sehnfuht nad einem
ſchwarzhaarigen Müdchen Hat, das der Storch ihr aus
Argyptenland bringen fol, in der natürlichften Weife von
der Welt zur Erfüllung ihres Wunfches verhilft, und wie
der Ehegemahl felbft fehr glüdlich ift über die frohe
Ausfiht. Und den Baronen thun's die Schulgen nad);
denn der brave Schulz Quaſſow beglüct die ſchmucke,
dralle“ Ammarik trog feiner fünfundſechzig Jahre „in
ähnlicher Weiſe“.
71
Wir fehen, es geht ſehr Iuftig zu in wenbenburger
Landen; man plagt ſich dort weder mit Skrupeln noch
Zweifeln in Bezug auf finnlihe Genüffe, und nur wo
die adelihe Ehre in Frage kommt, beginnt bie Tragdbie.
Im übrigen leben die Gutsherren mit den Dorfſchulzen
u. ſ. f. auf einem ſehr patriarchaliſchen Fuße. Auch hat
die Selbftändigfeit des Adels nad; oben hin eine ganz
refpectable Seite. Wie die alte Frau Gerberg Bertha
ihren Patronatögeiftlichen tapfer gegen den neuen orthodoxen
Confiftorialdirector vertheibigt: das ift eine recht Beitere
Geſchichte, die uns mit vielen Schrullen des wenbenburger
Iunfertfums wieder auszuſöhnen vermag. Ueberhaupt
zeigt ſich der Autor für das confervative Element in allen
Ständen begeiftert; er ſchildert uns auch die Bauern und
die Patricier der Handelsftadt mit vieler Pietät, ſobald fie
nur feft am Althergebrachten Hängen.
Der Form nad ift diefer Familienroman in feinem
erften Theil ein Cyflus von Novellen, die eben nur durch
die Familienbeziehungen der darin auftretenden Perfonen
miteinander verknüpft find. Die Exeigniffe im Haufe des
Rathsherrn Padlow, die Brautnacht der ſchönen Hilde-
gard u. dgl. in. find pikant erfunden und lebendig bar«
geftellt. Spielmann Hat eine rege Phantafle, der er nur
allzu leicht den Zügel ſchießen läßt; cim weicher tppiger
Ton der Farbengebung herrſcht bei ihm vor, daneben
freilich das derb volföthümliche Element mit allen feinen
Cynismen und feiner landſchafilichen Färbung. Durch biefe
Elemente wird der nicht immer correcte Stil unglei;,
aber Friſche und Originalität geht durch das Ganze, und
ſelbſt die oft parabore Weltanschauung diefer ariftofrati«
ſchen Infulaner, die fi fo fonderbar geiftig tätowiren
und den Federbuſch und Federſchurz, den fie von ihren
Ahnen ererbten, für den höchſten Schmud der Erbe Halten,
hat den Reiz der Neuheit gerade deshalb, weil fie allen
Ideen der Neuzeit fo diametral widerſtrebt.
Es bedarf wol nicht der Andeutung, daß das Phan«
tafieland Wendenburg nichts anderes ift, als das ins
Poetiſche überſetzte Medlenburg. Spielmann ſchildert uns
oft mit Wärme die Naturfcöngeiten, bie wir dort nicht
ſuchen wilden. Kann eine italienifche Nacht ſchwung -
hafter von ben Dichtern gefeiert werben als dieſe
meclenburgiſche:
Blütenduft athmeten Wald und Wieſe in berauſchender
—E ein lauer Haud rich über die Linden, Über die
traumfchwer nidenden Wiefenblumen, füllte ſich vol mit ihrem
Balfam und trug ihm auf leiſe ranfhenden Fittichen davon.
Der Vollmond breitete feinen milden Glanz aus über den Ser,
deffen Mare Fluten in leichten, kräuſelnden, vom Mondlicht
goldig —A Wellen fi bewegten und in flüfernd
märenhaftem Raufchen am die Ufer firebten. Es Liegt eim
wunderbar magifher Reiz auf einem flillen, vom Licht bes
Mondes Übergoffenen Waidſee in fommernädtiger Zeit. IM’E
nicht immer, al® ob man mit taufend Gemalten Hinabgezogen
wärde, zu erforſchen, was feine Tiefe flir zauberiſche Geheim-
niffe bergen mag? Welche mwunderprädtigen Lieber fingen
Schilf und Rohr am feinen Ufern in fäujelnden Melodien;
füge, in Träume Iullende, glücgerheißende, beraufchende Lieder.
Gegrüßt feift du mir, mein Riedwiſch See! Wenn die Juni
nächte fommen, die entzlidenden, wonnigen, lauſch' id; wieder,
waß beine flüfternden Wellen mir koſend vertranen!
Die Fortfegung des Romans wird erft ein Urteil
geftatten, inwieweit bie Compoſition bie auseinander«
BETEN 00T
t 32.
72 Romane und Erzählungen.
fallenden Fäden der Geſchichte zuſammenzufaſſen und gewagte
Vorausſetzungen zu rechtfertigen vermag.
6. Die geißiebene Frau. Paffionsgefhichte eines Idealiſten
von Sacher⸗;Maſoch. Zwei Bünde. Leipzig, Kormann.
1870. 8. 1 Thlr. 20 Ryr.
7. Aus dem Tagebuche eines Weltmanns. Cauferien aus der
Geſellſchaft und der Bühnenwelt von Sacher⸗Maſoch.
Leipzig, Kormann. 1870. 8. 1 Thlr.
Wenn ſich bei Spielmann fchon eine unleugbare Bor-
fiebe für üppige Schilderungen zeigt, fo gipfelt diefelbe
in dem beiden vorliegenden Werken von Sacher⸗Maſoch.
Wir haben die leidenſchaftliche Glut dieſes Antors bereits
bei Beiprechung feines „Letzten Königs ber Magyaren“ her»
borgehoben; es ift Feuer oder das was man Verve nennen
kann in feinen Schriften. Er zeigt auch in den obigen
Schriften die gleiche Darftellungsgabe, die ſelbſt das Ge-
wagtefte in natürlichem Fluß, ohne Künftelei erzäßlt.
Gleichwol haben wir gegen „Die gefchiedene Frau‘ (Nr. 6)
das Bedenken, daß ihre legten Abenteuer fie und als wider-
wärtig erfcheinen laffen. Der Autor fagt zwar in dem
einleitenden Geſpräch mit dem geiftvollen Novelliften oder
vielmehr der geiftvollen Novelliftin Arthur Stahl, er habe
fein Kunſtwerk, fondern ein Sittengemälde fchaffen wollen,
um unferer Zeit, unferer Gefellfchaft eimmal ihr wahres,
ungeſchminktes Antlig zu zeigen, fie ftatt in den 'gold«
umrahmten Spiegel, welcher lügt und fchmeichelt, in eine
Pfütze bliden Iafien, in der Ueberzeugung, daß er recht
und gut thue. Wir wollen auch dies Recht dem Dichter
einräumen; aber dann darf er uns nicht, wie es in dem
ganzen Roman, namentlich in den einleitenden Scenen
und der eigentlihen Rahmenerzählung gefchieht, noch ein
Intereffe fr die pilante, Tiebenswürdige und nur etwas
ſchwindſüchtige Samelliendame zumuthen, nachdem fie felbft
und das folgende Bild ihres letzten Liebhabers entworfen:
Denken Sie fid) einen Heinen fchlechtgebauten Menſchen
mit gewöhnlichen Zügen, dem Ausprud großer Verſchmitztheit,
einer gerötheten, balbzerfreffenen eiterigen Naſe — er behaup-
tete, fie jei ihm im Winterfeldguge erfroren, faulen Zähnen,
die einen ſtarken Gernch verbreiteten, gejchwollenen Lidern,
grünlichen, liſtigen, Teicht thränenden Augen, einem rothen Rund⸗
barte, einer Slate über der Stirne, fo haben Sie einen ge-
treuen Abdrud von dem Menſchen, um defjentwillen ic; Sulian
verlor.
Natürlich fragt der Autor, dem feine Heldin felbft
diefe Enthüllungen macht, und jeder Leſer mit ihn: „Aber
wie war das möglich ?“
Fran von Kofjow ſchlug jenes grauenhafte Lachen an, von
dem Julian in feiner Schilderung der Faſtnachtsſcene ſprach.
„Bragen Sie eine Fran um Beweggrlinde", rief fie nad) einer
Baufe höhniſch, „für das was fie fühlt und thut, und ich fage
Ihnen, fie lügt, wenn Ste ſich Mühe gibt, Ihnen oder fidh
davon Rechenfchaft zu geben. Das ift ja eben das Dämonifche
der weiblichen Natur, daß fie fi im ihren Regungen nie auf
ſichtbare Urſachen zurlidflihren, nie im voraus berechnen läßt,
daß fie etwas Geheimnißvolles, Unenträtbfeltes, Elementariſches
Hat, das den Mann jeden Augenblid mit Unheil, ja mit Ber-
nichtung bedroht.
Nun, wir laffen und das Dämonifche der weiblichen
Natur gefallen, aber nur, folange es nicht ins Unäfthetifche
übergeht. Eine „elementarifche Natur”, die an den Ge⸗
fallen findet, was andern Sterblicdhen Ekel einflößt, ver-
fcherzt jede Art von Antheil. Dffenbar Hat uns der
Autor bier mit dem Kopf zu tief in die Pfüge geflogen.
Einzelne Schilderungen des Romans find ganz treff-
lich. Das verwahrlofte Schloß der „gefchiedenen Frau“,
die polniſche Wirthichaft der Familie, die fich bei ihr ein-
geniftet hat, find vorzitgliche Genrebilder. Ueppig, glühenb
find einzelne wolluſtathmende Scenen. Der Sprudj:
„Male die Wolluft, doch male den Teufel dazu“, Hat im
neuer Zeit faum noch Gültigkeit. Eher könnte man die
Wolluſt, wie fie Makart gemalt hat, Iemurenhaft ge-
fpenftig finden. Bei Sacher-Maſoch vermiflen wir in-
deß gerade bei einigen der pilanteften Situationen die
Drigimalität; fo bei derjenigen Scene, in welcher, nad
den Worten der Vorrede, die „Sehnſucht der Modernen
nach der Antike” zum Ausdrud gelangt. Der Berfafier
rühmt ihre klare, fonnige, in keinem Augenblid dämmer⸗
haft mwollüftige Beleuchtung und ihren keufhen Schluß,
und vergleicht dies mit den frivolen Vorbereitungen und
dem Ausgange der ähnlichen Scene in „Werther, was
wol heißen fol, in den „Briefen aus der Schweiz“. Doch
bat diefe Situation noch andere Vorbilder, Schlegel’s
„Lucinde“ und Gutzkow's „Wally“; namentlich aber paflen
für die Situation in dem letztern Roman alle Voraus⸗
jegungen, welche Sacher⸗Maſoch zu Gunften der feinigen
geltend macht. Schlimmer fteht e8 mit der an und
für ſich wenig erquidlihen Laufchfcene, in welcher der
Pole dur den Vorhang des Wenfterd die verfchiedenen
Sitwationen belaufcht, die ihm den Schluß auf leiden⸗
Ihaftlihe Genüffe geftatten. Diefe Scene ift nicht Ori«
ginal, fondern Copie aus der „Fanny“ von Feydeau.
Geiftreihe Bemerkungen von einer reformatorifchen
Tendenz, die aus der Handlung felbft nicht hervorgeht,
auch wenn man fie nur ald Negativbild betrachtet, find
durch die ganze Schrift zerftreut, ebenfo durch die Skiz⸗
zen der Cauferien: „Aus dem Tagebuche eines Welt«
manns“ (Nr. 6), melde pilante Novelletten und Humores-
fen enthalten, weiblihe Tartufes und Don Juans und
ben Kofettenwahnfinn ſchildern, Ballſklaven, Theatertypen
vorführen, über Idealismus und platonijche Liebe Be—
teadjtungen anftellen, beweglich, ſchimmernd, flüchtig, jeder
Zoll „Feuilleton. Dennoch möchten wir den Autor war⸗
nen, feine Lorbern nicht dort zu fuchen, wo diejenigen
Emil Vacano's blühen, und fi nicht vor ſich felbft durch
reformatoriiche Tendenzen zu rechtfertigen, wo er Dich»
tungen cultivirt, welche dem Senſations⸗, ja Skandal
romane zum Verwechſeln ähnlich fehen.
8. Große und Heine Welt. Ausgewählte Biftorifche Romane
und moderne Lebenabilder. Bon Friedrih Adami. Bier
Bände. Berlin, Gerſchel. 1870. 8. 4,Xhlr.
In diefer Sammlung überwiegen die Heinen hiſtori—
fhen Romane die modernen Xebensbilder; fie find von
fnapper Faſſung und ihr Stil hat etwas Gefättigtes; die
Darftellung wird nicht durch Reflerionen durchbrochen,
jondern gibt ein zufammenhängendes Bild der Ereigniffe,
denen es nicht an einer bunten und fpannenden, für die -
Romandichtung unerläßlichen Abenteuerlichkeit fehlt. Nach
biefer Seite hin möchten wir der Erzählung: „Der Herzog
von Monmouth“, den Vorzug geben, weldye an wirkfamen
und doch ausreichend motivirten Effecten reich iſt. Der
Herzog von Monmoutd, ber Empörer gegen König Ia-
fob II., ift gefangen genommen und figt im Tower, zum
Tode verurtheilt. Kanzler Guildford fucht ihn zu vetten,
indem er fich bemüht, einen Erfagmann fir ihn zu finden,
der ftatt feiner bei der Hinrichtung untergejchoben wird.
Zwei Halbbrüder drängen fich zu diefer Ehre. Der erfte
bat fi als Verfaſſer eines Libells gemeldet, um mit dem
dafür ausgefetten Preis bie Ehre eines Kaufmannshaufes
zu retten. Lord Guilford bietet ihm das Dreifache, wenn
er fich ftatt des Herzogs hinrichten laſſen will. Der an«
dere Halbbruder ift aber der natürliche Sohn des Her-
3098, und ihm gelingt es, im Wetteifer des Edelmuths
den Preis davonzutragen und für den Herzog hingerichtet
zu werden. Diefen jelbft follen wir in der „Eifernen
Maske wiederfinden, eine der feltenern Varianten in Be⸗
treff diefer geheimnißvollen Hiftorifchen Erſcheinung. Die
damalige Bolleftimmung des proteftantifchen England
glaubte, wie zahlreiche Sagen und Balladen bemeifen
und wie auch Macaulay beitätigt, nicht an den Tod des
Herzogs Monmouth. Die Idee der Stellvertretung Mon«
mouth's durch feinen eigenen Sohn hat Wbami, wie
er felbft angibt, einem ältern Drama von Ch. Lafotut
entlehnt.
Die hiſtoriſche Erzählung: „Das Nordlicht von Dale-
karlien“, ift ebenfall8 reich an abenteuerlichen Berwide-
lungen, die fich wie Arabesfen um den Biftorifchen Kern
der Handlung, die fiegreihe Erhebung Guſtav Wafa’s
anf den fchwedifchen Königsthron, ſchlingen. Auch bier
fehlt e8 nicht an romanhaften Ueberrafchungen verjchieden-
fir Art; doc kann man kaum fir eine der mitwirfenden
Berfönlichkeiten befondern Autheil empfinden. Es find
theils dii minorum gentium, theil$ Betrüger, von denen
Chriftian von Bomhard's Nachlaf. 73
einer fchlimmer als ber andere ift. Guſtav Waſa felbft
tritt felten aus dem Hintergrund hervor; nur der junge
Dauer mit dem Fühnen Project für Schwedens Wohlfahrt,
fo praftifch in großen Entwürfen, jo unpraftifch in ber
Art und Weife fie geltend zu machen, erregt mäßiges
Intereſſe.
Abenteuerlich bewegt iſt auch „Kerker und Thron“,
eine Erzählung aus der Zeit der Medici in Florenz; es
find theatralifche Attrapen von großem Effect in derſelben,
aber die Infcenirung ift etwas künſtlich und wendet fich
in der Schilderung der Localitäten, welche den Gang der
Handlung beftimmen, an einen fein ausgebildeten Orts⸗
finn. Der Tyrann Lorenzino von Mebici ift gut gezeichnet;
ebenfo Cofimo, fein Nachfolger, der den Mordverſuchen
Lorenzino's glüdlich entgeht.
Eine neuerdings von der ardhivarischen Gefchichtfchrei-
bung oft behandelte Epifode, der diplomatifche Verrath,
welcher das raſche Einfchreiten Friedrich's II. bei Beginn
des GSiebenjährigen Kriegs zur Folge hatte, bildet den
Inhalt der Heinern Erzählung: „Der Berräther.“
Alle diefe Kleinen Romane Adami’8 erinnern uns in
der lebendigen und fpannenden Führung der Handlung
und ihrem frifchen Colorit an bie Erzählungen van der
Velde's. Die modernen Lebensbilder dagegen, wie: „Der
todte Paffagier” und „Ein Sonberling“, haben einen un⸗
heimlichen, gefpenftigen Zug, etwas Barodes und Ab»
jonderliche, was an Amadeus Hoffmann erinnert.
Rudolf Gottfchall.
Chriſtian von Bomhard’s Nachlaß.
Achren vom Felde der Betrachtung. Bon Schulrath Dr. Chr.
von Bombard. Aus defien literarifihem Nachlaß heraus
gegeben von 9. Stadelmann. Mit dem Bildnif des Berfaf-
jere. Augsburg, von Jeniſch und Stage. 1869. 8. 18 Nr.
Der in der Schulwelt Baierns hochgeadhtete und ge⸗
feierte Name Bomhard ift auch in mweitern Kreifen nit
unbelannt geblieben; wir verweifen auf die vortreffliche
Charakteriftif in der Beilage zu Nr. 31 der augsburger „Als
gemeinen Zeitung“ f. 1862. Das obenangezeigte Büchlein,
das ſechs Jahre nach dem Tode des Verfaſſers erjcheint,
darf in d. BI. nicht mit Stillſchweigen Übergangen wer-
ben, da es, eindringlicher als e8 jede Charakterfchilderung
bon fremder Hand vermöchte, uns ein Bild des innern
Lebens und Strebens des Verftorbenen gibt. Obwol ur⸗
fprünglih nicht für den Drud beftimmt und durchaus
nit für das große Publikum gefchrieben — denn e8 ſoll⸗
ten dieſe Betrachtungen, die gelegentlih zu Papier ge=
bracht wurben, wie es Zeit und Stimmung erlaubte, höch⸗
ſtens den Kindern und Kindeskindern ein liebes Andenken
fein und ihnen Zeugniß geben von ber Dent- und Em⸗
pfindungsweife des Dahingeſchiedenen, fie aber auch ver-
anlaffen, „nach höherer Bildung und Reife zu ringen,
als ihrem Bater und Großvater zu erreichen möglich ge=
weſen“ —: jo haben wir doch nun in diefer Aehrenlefe
ein populäre Bud im beiten Sinne des Wortes, für
welches wir dem Herausgeber zu Dank verpflichtet find.
9. Stabelmann hat als treuer Dünger des Meifters ſich
1870. 5.
mit ebenfo viel Liebe ala Umficht der Aufgabe unterzogen,
die einzelnen Blätter zu ordnen und zu fidhten; er hat
alles, was nur für Tachgelehrte von Intereſſe fein konnte,
mit beftem Takt ausgeſchieden und fo unfere Riteratur mit
einem Buche bereichert, das ſich den fchriftftellerifchen Ar-
beiten feines verewigten Lehrers würdig anreiht.
Schriften, wie die in Rebe ftehende, worin ein claf»
ſiſch durchgebildeter Gelehrter über die tiefften Räthſel
und höchſten Angelegenheiten des Menfchenlebens in einer
jo anſpruchsloſen, kindlich⸗ einfachen Sprache redet, daß
jeder, der das lieft, meint, fo hätte er e8 auch faft aus-
drüden mögen — find, trogbem, daß in den lebten Jahr⸗
zehnten große Fortſchritte in vollsmäßiger, allgemein ver-
ftändlicher Schreibart gemacht worden find, nicht allzu
häufig. Unſere philologifchen und philofophifchen Schrift-
fteller Tönnen in diefer Hinficht noch immer viel von den
Engländern und Franzofen lernen. Daß Bomhard nicht
blos vom claffishen Stil der Alten, ſondern auch von
der leichten, gewandten, durchfichtigen Schreibart der Neuern,
insbefondere von der Form englifher und franzöfifcher
Eſſays Nuten zu ziehen verftanden hat, das zeigt jebe
Seite diefer „Gedankenſpäne“, wie der bejcheidene Dann
feine Betrachtungen ganz bezeichnend nannte. Eſſays
im englifhen oder franzöſiſchen Sinne find es nicht, dazu
find fie zu kurz und fragmentarifh. Aber diefe Ramenta
find trog ihrer Kürze und Kleinheit doch alle wuchtig
und werthvoll und zeugen davon, daß der Verfaſſer mit
10
74 Chriftian von Bomhard's Nachlaß.
bortrefflichen fcharfen Inſtrumenten arbeitete und in feiner
Gedankenarbeit fi eine Energie und Friſche bewahrte biß
ins Öreifenalter Hinauf, um welche ihn jüngere Kräfte
beneiden möchten. Bomhard gibt uns feine Gedanken nicht
als abftracte Lehrſätze und von vornherein abgefchlofiene
Ergebniffe, jondern läßt uns an feinem eigenen lebendigen
Denkproceffe theilnehmen, er discutirt mit und, als wären
wir in feiner Gefelfchaft und nähmen perſönlich Antheil
an dem Geſpräch, das Für und Wider der Sade, und
weiß uns auf diefe Weife zur lebendigften Theilnahme an
dem von ihm zur Sprache gebrachten Gegenitande an—
zuregen. Hegel's Ddialeftifche Methode, die von einem
Gegenfag zum andern fortjchreitet, um die höhere Einheit
des Begriffs zu gewinnen, fowie Herbart's pfychologifche
Schärfe in Beobachtung der Vorftellungen find nicht ohne
merklichen Einfluß auf Bomhard's empfünglichen Geift
geblieben; aber diefer ſteht doch fo frei und unbefangen
da, daß er alles in feiner Weife verarbeitet und man
nirgends durch philofophifche Kunftausdrüde und Scul«
phrafen beläftigt wird.
Mit derjelben innern Freiheit, die er den Philofophen
alter und neuer Zeit gegenüber behauptete, wußte fich
Bomhard auch den unbefangenen Blid auf die großen
Dichter zu bewahren, in die er ſich zwar mit ganzem
Gemüth vertiefte, ohne jedoch in jene abgefchmadte Ueber⸗
ſchätzung zu verfallen, wie fie vornehmlich im Shalfpeare-
und Goethe» Eultus unferer Tage in nicht erfreulicher
Weiſe ſich zeigt. Ueber Goethe äußert er fi) in zwei
bemerfenswerthen Betrachtungen. ©. 111 heift ee:
Am meiften habe ich Goethe im feinen Gnomen bewun⸗
dert. Welch ein Geift, der aus dem reichſten Borrath von
Wiſſen eine ſolche Fülle gründlicher Gedanken über Kuuſt,
Wiffenfchaft und Leben zu ziehen und diefe in jo prägnanter
Bündigfeit, mit fo ſchlagendem Wit auszudrüden vermochte!
Es find Ueberfchriften zu ganzen Kapiteln, an Fruchtbarkeit dem
Samenkorn, an Debnbarkeit dem Golde vergleichbar; die Welt
war für ihn ein Californien, aus dem er edles Metall, bald
in Körnern, bald klumpenweiſe gegraben bat.
Auf ©. 145 treffen wir dagegen auf eine fehr ſcharfe
Kritit des Soethe’fchen „Bildungsideals”, die, troß ihrer
Einfeitigkeit, doch nicht ohne Grund if. Bomhard fragt:
Was ift Goethe das Höchſte, das er in Menjdennatur
und Beſtimmung anerlennt und dur feine jchriftftellerifche
Thätigkeit fordern will? Es ift beichloffen im Wort und Begriff
der Bildung. Und in welchem Sinne faßt er den vielfeitigen?
Nicht eben in einem tief intenfiven, da es Reinigung bes Ge⸗
müths von unebler Beimifhung, fefte Richtung zum Göttlichen,
Liebe und willige Aufopferung für die böchften Interefien der
Menfchheit bedeuten würde, fondern in weit ausgebehnterm
Umfange, da ber Geift mit reichem Borrath von wiffenswerthen
Kenntniffen und Einfichten verjehen, der Geſchmack geläutert,
der rechte Takt fürs Leben, ungezwungener Anſtand in Hal⸗
tung und Benehmen gewonnen und jelbft auch der Körper fo
gebt und zugerichtet if, daß er im feiner Erfcheinung bem
Geifte Ehre macht. Was den Charakter betrifft, jo wird diejer
durch Erfahrung, wobei freilich manches Irrige und Sünpdliche
mit ins Spiel fommt, zum Rechten geleitet ein ficherer gewor⸗
den fein, der fich feine Blöße gibt und jede Gemeinheit fern
von fih hält. Wo er auftritt, wird er als eine bedeutende
Eriheinung Reſpect einflößen. Sein wahres Element findet er
in der Umgebung foldher, die dur Stand, Rang und feinen
Ton hervorragen; dod wird e8 feiner Lebensklugheit und Ges
wandtheit leicht, fi) aud) gewöhnlichen Menſchen gefällig und
angenehm zu erweifen. Ihm fließen veichlich die Quellen der
feinften Genüffe, in Natur, in Kuuſt, in gefelligen Kreiſen;
doch ben füßeften findet er in der Anerkennung feiner Trefflich⸗
feit, die ihm vom Gleichgebildeten entgegenfommt und die er
wohl zu verdienen fid) bewußt if. Auch zu gemeinnlißiger
Thätigkeit entjchließt er fi), aber freilich weder zur banaufischen
des Handwerkers, noch zur pedantifch formellen des Beamten,
nod) zur mihevollen minutidjen des Gelehrten, noch zur egoi-
ftifch »materiellen des Kaufmanns, weil in folden Beſchäftigun⸗
gen fein Raum für freie allfeitige Entwidelung iſt.... Lieber
wird er fi) der Kunſt widmen oder aud in höherer Stellung
dem Staatsdienfte, am Yiebften aber wird er feine Güter admi⸗
niftriren und da viel Schönes ſchaffen. Denn ohne fehr bedeu-
tenden Comfort Täßt fi) der echte und rechte Gentleman gar
nicht denfen; er muß über anfehnlichen Befit zur gebieten ha⸗
ben.... Wilft du diefe Gebildeten in Geſellſchaft beiſammen
jeben und Ihr Gebaren beobadıten, fo nimm den „Taſſo“ zur
Hand. Hier findeft du einen talentvollen, aber überſpannten
Poeten, der nur noch einen Schritt zum Irrenhaufe Hat; einen
man of the world, der eine kleinliche Ciferfucht und Iutrigue
unter einer gutgewählten Charalterınaste zu verdeden weiß;
eine kränklich fentimentale Prinzeffin; einen Fürften, der feine
Bedeutungslofigfeit mit Auftand und Würde ausbietet. ine
dicke ſchwüle Atmofphäre ift über das Ganze ausgegoffen, angft
und bange wird e8 uns unter dieſen Leuten, wir fehnen ums
nad) naturwüdjfigen, derben, gefunden Naturen.... Oder nimm
den „Meiſter“; daſſelbe Schaufpiel. Ein junger Narr, der in der
Geſellſchaft liederliher Komödianten auf dem Theater (man hält
es kaum für möglich) Bildung fucht, und nachdem er eine ge-
raume Zeit den Tagedieb und Vagabunden gefpielt, endlich
unter Ariftofraten geräth, die ohne Amt und Beruf wahre
Schmarogerpflanzgen am Lebensbaume find, ihm ihre Bildung
einimpfen, foviel er als Bürgerlicher diefelbe in fi aufnehmen
fann. Fort mit diefen Leuten. Lieber fräftige Barbaren als
diefe Salonmenfhen. Mit jenen läßt fi etwas ausrichten,
diefe aber find zu jedem guten Wert unbraudbare Empfindler
und Schönredner.
Das ift nun freilich etwas ſtark ausgebrüdt. Aller
dings bat die Kritik ein Necht, nicht blos zu fragen, ob
ein Dichter dem üfthetifchen Geſetz Genüge gethan Hat,
fondern auch zu prüfen, wie feine Bildungsideale be-
Ihaffen find, und zu fragen, welchen ethiſchen Gehalt die
äfthetifchen Glanzerfcheinungen bergen. Allerdings ift nicht
zu verfennen, daß — den im jugendlichen Meberfchwang
gedichteten „Götz“ ausgenommen — faft alle dramatifchen
Helden Goethe's ſchwächliche und ſchwankende Charaktere
find, denen auf Seite der erzählenden Dichtung ein Wer-
ther, Meifter und Eduarb ganz entſprechend zur Geite
ftehen. Goethe führt uns in eine reiche mannichfaltige,
vortrefflich nad) der Wirklichkeit gezeichnete Welt, in der
es heißt: Leben und Lebenlaſſen! Bon Natur viel mehr
zur ruhigen Anfcdjauung und Betrachtung der Weltver«
bältniffe, zum innerlichen Verarbeiten der veih und voll
empfangenen Eindrüde und zu gleichmäßiger harmonifcher
Entwidelung feiner Individualität getrieben, als zur ener⸗
gifhen Geftaltung der Außenwelt, fühlte Goethe ſich nicht
berufen, den thatkräftigen und thatluftigen Willen zu ver-
herrlichen, der allen Hinderniffen zum Trotz fi) Bahn
bricht ımd im Kampfe mit feinem Schidjal, im Ning-
kampf der Gegenſätze die Freude und ben Genuß des
Lebens findet; er feierte vorzugsmweife das Weib in feiner
ſchönen Natürlichleit, in der Fülle und Abrundung des
Weſens und Wirkens, und unter den Männern vorzugs-
weife empfängliche, leicht erregbare und beſtimmbare Na»
turen, die auf ſchöne Geftaltung und Harmonifche Aus-
bildung der Anlagen vor allen bedacht find. Aber troß
alledem blieb Goethe ein univerjelleer Menſch, der das
Leben nad allen Richtungen erfaßte und es poetifch
|
Chriftian von Bomhard's Nachlaf. | 75
barzuftellen verftand. Wir wollen und dürfen nicht vergefien,
daß der „Hofmann“ Goethe und eine ber Toftbarften Per-
fen nationaler Dichtkunſt, das bürgerliche idyllifche Epos:
„Hermann und Dorothea‘, gefchentt hat, daß Goethe es
war, ber das deutſche Volkslied in feiner Einfachheit und
Natürlichkeit erfaßte und es zu Fünftlerifcher Vollendung
emporhob, wie fein anderer Dichter vor ihm, und mie
nur Einer nad ihm, nämlich; Ludwig Uhland, ihm hierin
würdig zur Seite ſteht. Wir wollen nicht verlennen,
daß, wer ſolches vermochte, auch den reinften offenften
Sinn für das Humane, Sittliche, Vollsthümliche aud)
in den niederſten Lebenskreiſen fid) bewahrt haben mußte.
Bomhard redete und ſchrieb — das erfieht man auch
aus diefen feinen Betrachtungen — auch als Greis nod)
mit wahrem Sünglingsfener und fein Kopf dachte und
verarbeitete nichts ohne die regſte Theilnahme des Her⸗
zend. Das Gefühl fleigert ſich mitunter zum Affect,
welcher das Urtheil trübt und einfeitig macht und lodert
auf in edelm fittlichen Zorn, ber ſich dann vernich⸗
tend gegen alles wendet, bas feiner Denk- und An-
ſchauungsweiſe widerſtrebt. So z.B. nennt er die Ver⸗
treter des Materialismus Büchner und Bogt, Moleſchott
und Feuerbach „Hocverräther an der Menſchheit“. Mean
darf aber bei ſolchen fchrofien Anfichten und Urtheilen
nicht vergeflen, daß Bomhard diefe Blätter ſchrieb, um
das, was ihm am Herzen lag, auch wieder den Seinigen
ans Herz zu legen. Mitunter ftreitet er and) heftig gegen
Lehrmeinungen, denen er fpäter, felbft zum Theil huldigt.
So wendet er fi) gegen Schopenhauer und jene Form
des Pantheismus, welche eine fteigende, ins Unendliche fid)
fortfegende Progreffion zum Beflern annimmt, ſodaß durch
diefen Proceß die Welt ſich mitteld des ihr innewohnenden
Brincips, das vorwärts treibt, von felbft läutert und ihre
Schladen allmählich ausſtößt. Bomhard entgegnet:
Aber damit ift auch die ewige Eriftenz alles Schabhaften
and Unbraudhbaren, d. 5. des Böſen und bes Uebels gejetst,
denn fonft hörte ja Arbeit und Proceß endlid einmal auf.
Emwiger PBroceß zum Beffern ift nichts als ewige Entfernung
vom Guten und alfo, ohne fein Ziel erreichen zu fönnen, ewige
Unfeligleit in wechſelnden Formen!
Ich bekenne offen, daß ich mir feine andere Seligkeit
denken Tann, als diejenige, welche aus der Arbeit, aus
dem Ringen und Streben nad) Vollendung, aus der
Ueberwindung bes Uebels und aller Hemmniffe, bie fi
dem auf das Göttliche, auf das Gute, Wahre und Schöne
gerichteten Vorwärtsſtreben entgegenftellen; baß das Gefithl
fortzufchreiten und Gott immer näher zu fommen, an ſich
Schon Seligfeit ift, daß da8 Suchen und Finden der
Wahrheit mehr erfreut, als der thatenlofe ruhige Beſitz
der Wahrheit. Ohne Dunkel und Naht würden wir
uns nicht des hellen Tages freuen, ohne den Gegenſatz
gar Fein Gefühl und Bewußtſein haben, ohne Kampf
feine Tugend, ohne Anfechtung ber Welt keine Gottfelig-
feit. Broceß ift Fortichritt; ein fogenannter vollfommener
Zuftend, dem das Streben, bie Entwidelung, der Forte
fchritt fehlte, wäre ein unterſchiedsloſes Einerlei und das
gerade Gegentheil der Seligkeit. Gott der Herr felber
ruht nicht, fondern ſchafft und wirft immer fort; er iſt
als Schöpfer auch der Urgrund der fteten Entwidelung
alles Geſchaffenen. Würde die Entwidelung aufhören,
fo wäre auch) das Leben vernichtet und damit der Schöpfer
des Lebens ‚felber negirt. Gewiß find jedem Strebenden
Momente des Ausruhens von nöthen, aber eben „Mo⸗
mente”, welche die Bewegung nicht abjchneiden und hem-
men, fondern zu neuem Fortſchritt ftärfen.
Bomhard blickt mit dem Gebanfen auf das unbewußte
Glück der Kindheit, daß Fein höheres Glück möglich fei.
„Was wilft du denn werben? Beſſer als gut? ſchöner
als ſchön? glüdlicher als glücklich?“ fo fragt er und
fährt dann fort: „Alles Werden ift nichts als Entſtellung,
Berzerrung des reinen Seins, Entleerung feines tiefern
Inhalts, Berflüchtigung feines Geiftes, Verſenkung ins
Eitle und Nichtige.“ Dann wäre es freilich beffer, wir
wären und würden nicht geboren und Arthur Schopen-
bauer’8 Pelfimismus wäre volllommen im Recht. Es
verhält fich aber umgekehrt: die Kindesfeele ift die ärmere
gegenüber der Seele des Jünglings und der Jungfrau,
das Werden und Wachſen ift Zunehmen, ein Reicher⸗
werden, feine Entleerung eines „tiefern Inhalts” — e8 tft
fein Abfall von der Idee, fondern ihre Verwirklichung.
„Leben ift Leiden”, fagt Bomharb an einem andern Orte,
während es umgekehrt beißen müßte: Leben iſt Thätigfein,
Wirken und Schaffen. Die Paffivität, der Schmerz und
das Leid find Negationen des Lebens, freilich nothwenbig,
um die Pofition zu verwirklichen und zum Bewußtſein
zu bringen.
Die ‚Betrachtungen Bomhard's berühren die tiefiten
Räthſel des Mienfchenlebens. Unter ber Ueberfchrift „Ach!“
wird uns ein Bild der Nachtjeite des Lebens entrollt,
das, wie Bomhard meint, überwiegend auf den Schmerz
geitellt fei. „Schmerz ift des Lebens Grundfarbe, die
aus allen Uebertünchungen immer wieder hindurchſchlägt.“
Das fcheint wol fo und ift e8 doch nicht, fonft binge
der Menfc nicht jo am Leben, wie er es thut. ber
die große Fillle von Noth und Elend foll damit nicht
abgeleugnet werden fowie die erfchredende Thatſache, daß
ZTrübfal und Elend fo manchen Strebfamen niederwirft
und feine Kräfte lähmt, bis jeder Aufſchwung unmöglich
wird. Da bleibt der Glaube an eine künftige Auflöfung
der Diffonanzen dieſes Erbenlebens der einzige Balſam
auf die Wunden. Bomhard fagt faft bitter: „Beſſer
wäre, man bedürfte bes Balfams nicht.” Und er führt
fort: „Kann auch das Bergangene ungefchehen gemacht
werden? Läßt fi) eine ganze Weltgefchichte voll des ent-
ſetzlichſten Greuels und unfaglichiten Webeld wie eine faljche
Rechnung von der Wachstafel wegtilgen?“ Das ift eine
fehr wahre und tiefgehende Bemerkung, ber fein Denken»
der auszuweichen vermag. Aber ganz charakteriftifch fucht
der Berfafjer das Problem zu löſen mit einer Bifion, die
zwar ein erhabenes Bild vor die Seele ftellt, aber der
Frage doch eigentlich aus dem Wege geht:
Mir ift, als fähe ich eine Heerſchar Geängfleter, Berfolgter
in wilder Flucht und hinter ihr her die Zeit, wie Pharao mit
Roſſen und Wagen, vor ihnen das Meer, aber ohne Furt
und Strafe. Eine Bifion tritt vor meine Seele. Der zweite
Mofes, den der erfie auf dem Berge der Verklärung geiehen,
reitet in majeftätifher Ruhe, den Hirtenflab in der Hand,
vor den zagenden Kiüchtlingen einher: „Mir nad, ich bin ber
Weg durchs Rothe Meer der Trlibfal und des Todes!" Und die
Fluten theilen fi, und hinter den Durdhziehenden und ihrem
Führer verfinkt die alte Zeit und das alte Geſchlecht, vor ihnen
eröffnet fi) eine neue Welt. Sowie die Ungeheuer der erfien
Schöpfung, deren verfteinerte Hefte wir noch mit Graufen
10 *
76
anfehen, fo verfchwinden, ertränft im Meer, die moralifchen Un-
gethlime und Scheufale der erften Geſchichte und an ihrer Stelle
erfcheinen edlere Weſen und feinere Organifationen. Ein neues
Schöpfungstagewert beginnt, die Pforten eines zweiten Para⸗
diefes öffnen fi, in dem feine zweite Schlange mehr verjuchen
wird. Und die alte Sünden» und Jammergeſchichte, war fie
nicht in dae Buch der Zeit eingeichrieben? Wo wird fie blei-
ben, wenn die Zeit felbft nicht mehr fein wird?
Bomhard hofft chiliaſtiſch, es müſſe doch endlich kom⸗
men das Reich auf Erden,
Darin der ew'ge Friede lächelt
Und Freiheitshauch die heiße Stirne fächelt —
er tröftet fi) mit dem Gedanken der Entwidelung der
Menfchheit, die jet ſchon auf einer unendlich höhern
Stufe der Bildung angelangt fei als vor Sahrtaufenden.
Aber damit legt er wieder die vom ihm ſelbſt aufgewor-
fene Frage nahe: Was Haben die Armen und Elenden
verbrochen, daß fie nur als Schutt und Mörtel dienen
mußten, damit auf ihrem Staube fi ein ſtolzer Palaft
erbebe?
Daß man das Jenſeits nicht in abftracter Weife vom
Dieffeits trennen kann, daß ber Dualismus, welcher Gott
und Welt, Geiſt ımd Materie, Ewigleit und Zeitlichkeit
als unvereinbare Gegenfäße ſcheidet und auseinanberhält,
ben nach Einheit ber Erkenntniß ringenden Geift nicht
befriedigen kann: deſſen ift ſich Bomhard wohl bewußt,
und es ift ihm gewiß Ernft, wenn er im einer ber
legten Betrachtungen die „Fremde Antwort aus Indien“
bringt:
Siehe das Sinnenleben mit feinem ganzen Treiben in den
Regionen bes Träumens und Phantafirens, der Borftellungen
und Meinungen, Einfälle und Bermuthungen, Furcht und
Hoffmung, Begierde und Leidenfchaft, des Kampfes und ber Un⸗
jeligtett: dieſes Leben oder vielmehr thierähnliche Begetiren —
das ift das Diefjeits. Dagegen ift das Leben in der Thä-
tigfeit des Denkens und Forſchens, der Erzeugung und Fort-
bewegung, der fichtbar erfcheinenden Ausprägung ber been,
das wahre Senfeits, darin die Abgefchiedenen wohnen, d. 5.
die aus den Trübungen des fenfualen Lebens in ein Leben bes
Geiſtes Hinlibergefhiedenen und Geretteten... Iſt dies be-
greiflich, fo wird e8 auch das Weitere fein, was fiber das DBe-
dauern, den Lauf der Weltgeichichte nicht auch nach dem Tode
verfolgen zu können, beizubringen if. Sei deshalb außer Sorge,
du wirft von der Weltgeichichte noch ein größeres Stüd, als
dir lieb ift, mitfpielen dürfen. Denn ich fage dir, du warſt
ſchon früher, ja fhon im Anfange Scaufpieler auf diefer Bühne,
wart mit Adam im Paradiefe, dann mit all feiner Defcendenz
auf ihren Wanderungen.... alle Entwidelungen Haft bu von
einer Stufe zur andern mitgemadt, du ftehit in einem ma-
giſchen Kreife, dem du nie entfallen, in und mit dem du did)
ewig fortbewegen wirft. Bergangenheit und Zukunft fchließen
fih in Einen Ring zufammen, in weldem der Tod feinen
Zutritt findet, alles Xeben und Bewegung nnd endlofer Fort»
gang iſt.
Sch würde aber die Grenzen einer Recenfion allzu
weit tiberjchreiten, wollte ich dem Berfafler der Betrach⸗
tungen auf diefem Wege weiter folgen, und benute den
mir noch übrigbleibenden Raum, die freundlichen Lefer
binzumeifen auf die veiche Fülle praktiſcher Philofophie,
welche das Büchlein enthält. Unter der Ueberſchrift
„Gutes Auskommen mit andern‘ Heißt es:
Liebe und Vertrauen ſuche nur bei ben Allernächſten und
Erprobten; dringe dich keinem als Freund anf. Die Borfchrift,
bei freundſchaftlichen Berhältniffen nie zu vergeflen, daß fie ſich
wol wieder löfen, ja in Abneigung übergehen können, iſt eine
Chriftian von Bomhard's Nachlaß.
praktifche Klugheitslehre. — Es gibt and) ſchöne Schwächen,
die in einer volllommenen Welt für Zugenden gelten würden,
in diefer aber wohl überwadt fein wollen. Gutherzigkeit,
die Überall Helfen möchte und wenn es aud) Opfer Toftete —
wie ift fie fo ſchön und löblich! und gleichiwol bietet fie dem
Misbrande und Betruge die Handhabe. Entgegenkommen⸗
des Zutrauen gegen jedermann. Wie human! Aber wie
find fo viele fchleht dabei weggeflommen! Dienfibereit-
willigfeit! wie leicht wird fie gemisbrandt! Darum alle
Impulfe des Gemüths unter fteter Controle des Berflandes ge-
halten! Iſt das leicht? Nein, wahrlich nicht. Es hat's noch
feiner vollſtändig ausgeführt.
Iſt auch kein fo großer Schaden, denn wer es voll-
ftändig ausführte, würde damit des Gemüthes felber ver-
luftig gegangen fein.
Demerfeuswertb ift, wie unter der Ueberſchrift
„Beſtimmung“ der Begriff „Bildung“ definirt wird. Die
Aufgabe, jede Anlage und Fähigkeit auszubilden, hält Bom-
hard für ungereimt, weil fie Unmögliches fordert. Die
Allfeitigfeit fei Anfgabe der ganzen Menfchheit:
Wir einzelne find nur Fragmente, Banfleine am großen
Zempet. Und doch fühlen wir den Drang, mehr zu fein, ſelbſt
ein Ganzes, felbft der Tempel. Gut, dazu kann Rath werden.
Aber nit durch allfeitige Ausbildung, fondern auf einem an»
dern Wege. Nimm in dein Gemüth warm und tief und innig
das Interefje der geſammten Menſchheit auf und verfolge es in
deinem engen Kreiſe, jo bift du Über die Schranken des indivi⸗
duellen Dafeins fammt allen feinen Separatbeftimmungen hin-
weggeboben. Es ift aber das Intereſſe, d. h. die tieffte Ange
legenheit der Menſchheit Fein anderes als reine Ausprägung
ihres Bildes, wie es in Gott aufbewahrt ruht. Mitformen
und Ciſeliren an dem Abdrud diefes Bildes — fiehe, das ift
Bildung.
Ganz recht. Uber die Frage Liegt doch nahe, Tann
man denn anders das „Intereſſe der gefammten Menfch-
heit” im fi aufnehmen und in feinem engern Kreije
verwirklichen al8 dadurch, daß man alle vom Schöpfer
empfangenen Anlagen jo viel ale nur irgend möglich in
fih ausbilde? Muß nicht, wer in feinem fpeciellen
Berufsleben das Humane, die Idee der Menfchheit ver-
treten und zur Erfcheinung bringen will, mehr fein und
in ſich ausbilden, al8 was fein Beruf verlangt? Dem
Unterzeichneten find fehr tüchtige Buriften, Mediciner und
Theologen befannt, bie ganz und mit beftem Erfolg fich
ihrem Berufe widmen und dabei doch ihr poetifches, ihr
ſchriftſtelleriſches Zalent, ihre muſikaliſchen und technifchen
Anlagen vortrefflich ausgebildet haben, die in politifcher
Einfiht es mit jedem Staatsmann von Fach aufnehmen,
obſchon fie Aerzte oder Lehrer, und die vortrefiliche Lieder
dichten, obfchon fie Rechtsgelehrte find. Sie alle mußten
in der Schule manches lernen, was fie fpäter zu ihrem
Berufsleben nicht brauchen. Allerdings muß die Kraft
in der einen Richtung zufammengenommen werben, aller«
dings muß jeder feines Berufs warten und wird jeder
Meifter nur durch weiſe Selbftbefchräntung Tüchtiges
leiften. Aber damit ift nicht gefagt, daß er einem Ta⸗
Iente, einer Kraft zu Liebe die übrigen mitfje brach liegen
loffen. War doch Bomhard felber viel mehr als bloßer
Philolog und Schulmeifter. Er war in gejelliger Be-
ziehung ein feiner Weltmann und Mienfchenfenner, in
mündlicher Rede vol Aumuth und Beredfamleit; ex fpielte
trefflich Klavier und hatte feinen Sinn für claffifche
Mufit aufs befte entwidelt, und er war ferner nicht blog
Kleine philofophifhe Schriften. 77
bet den Claſſikern des Alterthums, jondern aud in den
Hanptwerken der neuern englifhen, franzöfifchen und
deutſchen Literatur zu Haufe. Und die am Schluß des
Büchleins von ihm mitgetheilten Sonette geben Zeugniß,
bag er auch fein bichterifches Talent nicht unangebaut
ließ. Das alles unbefchadet der Berufötreue. So zeigte
er, daß die Forderung einer barmonifchen Ausbildung
aller Kräfte keine ungereimte iſt, und er zeigte bie um
jo eindringlicher in und an feiner Perfönlichkeit, als
diefe, das Gute mit bem Schönen vereinend, auf dem
reinften fittliden Wollen ruhte des feiner felbft gewiffen
Charafters. A, W. Grube,
Kleine philofophifche Schriften.
1. Die Religionsphilofophie als eine Wiſſenſchaft file jeden,
it reif für eine Umgeftaltung. Halle, Hermann. 1869.
8 10 Nor.
Gefetzt den Ball, dasjenige, was der Berfaffer, der
feinen Namen in dunkler aber ehrenvoller Zurüdgezogen-
heit hält, bier vorträgt, wäre Weligionsphilofophie, fo
könnte allerdings nicht fchlagendes die Reife diefer Die-
ciplin für eine Umgeftaltung bargethan werden. Indeß
bat fih der Berfafler wol nur im Xitel vergriffen.
„Bimmelstroft für betrübte Seelen“, ober „Satan, fieh
dieſes und entfleuch!” oder andere hymnologiſche Titel,
an denen dem Berfafler ja eine weit veichere Auswahl zu
Gebote fteht als einem gottlofen Kritifer, würden jeden«
falls das falbungsvolle Büchlein in vichtigere Hände ge—
führt haben. Ä
2. Unterfuchungen liber Pfychologie. Anmerkungen zu Robert
Zimmermaun’s „Bhilofophifche Propädeutik“ von F. A. von
Hartſen. Mit Rüdfiht auf Herbart, 3. H. von Fidhte,
Ulrici u. a, Leipzig, Thomas. 1869. Gr. 8. 18 Ngr.
Der Berfaffer gehört der nieberländifchen Schule des
Empirismus an, und hat von biefem Standpunfte aus
fon zwei andere Hefte veröffentlicht: „Die Methode ber
wiffenfchaftlichen Darftellung“ und „Grundlegung von
Aeſthetik, Moral und Erziehung”. Es ift eine erfreuliche
Erfcheinung, daß die Niederländer, welche fonft allzu jehr
im Rufe eines praltifchen Materialismus ftanden, ſich
lebhaft für Philofophie und namentlich auch für deutfche
Philoſophie zu intereffiren anfangen. Allerdings Tann
man bisjest nicht fagen, daß fie die Bedeutung des
deutfchen Idealismus verftanden und etwa den Verſuch
gemacht hätten, benfelben in ihrem Empirismus aufzu-
heben; vielmehr fchließt fi ihr Standpunkt mehr dem⸗
jenigen ber Engländer und Franzoſen an, und ihre Bes
nutgung der neuern deutſchen Philofophie befchränkt ſich
vorläufig auf die üußerliche Aufnahme brauchbar ſchei⸗
nenber Einzelheiten. Aber auch diefen Wortfchritt wollen
wir fchon gern anerkennen — das Weitere wird unfehl«
bar nachkommen, wenn wir nur felbft erſt die neuefte
Bhilofophie verdaut und organifch affimilirt haben. Am
wenigften flörend zeigt fich ber einfeitige Empiriemus auf
»igchologifchern Gebiet, zu welchem die vorliegende Schrift
recht ſchätzbare Beiträge enthält. Leider find diefelben aber in
die Form eines von Paragraph zu Paragraph fortlaufenden
Commentard zu Zimmermann’d „Propäbentil” gekleidet,
eine Form, welche für jeden wenig anziehend fein muß, der
nit „ans Zimmermann feine erfte philofophifche Kennt-
niß gefchöpft hat“, oder doch wenigftens dies Buch gelefen
and neben ſich liegen Bat.
8. Unterfuhungen über Logil. Mit Rückſicht auf Apelt, Bol-
zano, Drbal u. f. w. und einem Auffag über die Wunder-
frage und einer Kritil des „teleologifchen Beweiſes“ flir das
Daſein Gottes. Von F. A. von Hartjen. Leipzig, Thomas.
1869. Gr. 8. 18 Nor.
Weit fchwieriger ift die Aufgabe des Empirismus in
der Logik, und es wird fchon faft der Verſuch einer em-
pirifchen Logik als eine Kühnheit betrachtet. Man kann
nicht fagen, daß dem Berfaffer die Löfung gelungen fei.
Er vermeidet allerdings vollitändig jene läſtige Termi⸗
nologie der Logifchen Lehrbücher, aber er verzichtet dafür
auch in feiner nur 70 Seiten langen Unterfuchung voll»
ftändig darauf, die Ziefe der Probleme zu ermeflen.
Daß bei fo befchränktem Umfange eine Berdicherung der
deutſchen Philofophie nur von einer Schrift erwartet wer-
den könnte, welche ſich auf eine fpecielle Frage befchränft,
ift wohl nahe liegend; aud die „Berüdfichtigung‘‘ ber
zahlreihen auf dem Xitelblatt aufgeführten beutfchen
Namen verliert durch die räumliche Beſchränkung ihren
Werth. Wir müffen nur unfere Verwunderung aus«
fprecden, daß ein empirischer Logifer neben fo manchem
Stern fiebenten Ranges gerade ben Dann zu berüdfichtigen
vergefien bat, der dom empirifchen Standpunkt die Logik
auf das entjchiedenfte geklärt und gefördert bat, ich
meine von Kirchmann.
Der Schrift über Logik find mehrere kürzere Auffäge
und Notizen über verfchiedene Gegenftände beigefügt, aus
denen ich zwei Stellen hervorheben will. Das eine bes
trifft die Stellung des Holländers zur rein theoretifchen
Wiffenfchaft. Der. Berfaffer erflärt nur die Wiflenfchaft
eines Intereſſes fiir würdig, welche direct ober indirect
Nugen bringt (S. 74), und führt zum Beweife an, daß
eine detaillirte Beſchreibung feines Arbeitszimmers keine
Leſer finden würde — als ob Beſchreibung Wiſſenſchaft
wäre! Das zweite betrifft die Stellung der. Naturwiſſen⸗
Ihaft zur Wunderfrage, und Bier können wir die Anficht
bes Verfaſſers durchaus nur theilen. „Man muß nicht
fagen: die Auferftehung eines Todten wiberftreitet ben
Naturgefegen und Hat daher nie ftattgefunden. Nein,
man muß fagen: ift e8 wirklich wohl conftatirt, daß je
ein Zodter auferftanden ift, dann müſſen wir fchließen,
daß die Auferftehung eines Zodten nicht den Naturgefegen
widerftreitet‘‘ (S. 96).
4. Pſychologie. Ein Leitfaden für akademiſche Borlefungen ſo⸗
wie zum Selbftunterriht von Georg Hagemann. Mün-
fter, Ruſſell. Or. 8. 15 Nor.
Der Berfafler gehört zur fogenannten neufcholaftifchen
Richtung, welhe den großen Thomas von Aquino als
18 Feuilleton.
den Schlufftein aller philofophifchen Syſteme betrachtet,
aber emfig bemüht ift, die von demſelben vorgezeichneten
Contouren mit dem reihen Material der modernen Philo-
fophie und Nealwillenfchaften zu erfüllen. Es ift dies
die einzige von Nom aus gutgeheißene Richtung der
Philofophie, da jeder freiere Aufſchwung der Speculation,
au) wenn er im Grunde und in ben Zielen noch fo
katholiſch geſinnt ift (3. B. Baader und Glinther), doc)
ſchon Mistrauen und Anathema in der jefuitifchen Cenſur
hervorruft. Die vorliegende Schrift, bie dritte in der
Reihe der vom Verfaſſer unter dem Gefamntttitel
„Elemente der Philoſophie“ herausgegebenen Schriften,
bewegt ſich ebenfo wie die frühern Hefte („Logik und Noetik“
und „Metaphufil”) in derjenigen Freiheit des Denkens,
welche dem Verfaſſer feine pricfterlihe Stellung und
katholiſche Rechtgläubigkeit übriglafien; doh muß man
fagen, daß er feine Aufgabe ſehr geſchickt gelöft Bat.
Abgefehen von dem literarhiftorifchen Intereſſe folcher
Erſcheinungen dürfte freilich mehr den philofophirenden
Freunden des Katholicismus als „den Fatholifchen Freunden
der Philoſophie“ damit gedient fein.
Fenilleton.
Intereſſante Autographen.
Das neueſte (funfzehnte) Autograpben-Berzeiäniß
von Rihard Zeune in Berlin (Bictoriaftraße 29°)
liegt uns vor. Wie befannt, gehört unter den wenigen,
welde in Dentfhland ein Autographen» und Documenten⸗
geichäft betreiben, Richard Zenne zu benjenigen, melde fid)
diefem Gejchäftszweige mit unmandelbarer Neigung, großer
Sadlenntnig und Treue widmen, und daher fieht derjenige
Theil unfers gebildeten Publitums, welcher f4 für berartige
Sammlungen intereffirt (eine fehr Eleine Zahl Auserwäßlter !),
den Zeune'ſchen Katalogen ſtets mit einer gewiflen Spannung
entgegen,
08 Berzeihniß enthält wieder manches DOriginelle, Seltene
and Koftbare. Unter den Autographen von Fürften, Feldher⸗
ren und Gtaatsmännern nennen wir: einen Brief vom Her-
z0g Alba, dem Generaliffimus Philipp’s II., an Anton Fugger,
in Bezug auf die Stadt Angeburg; ein Document von *—
lipp U. ſelber, welches die Beſtallung des Rittmeiſters von
Mandelsloh ausſpricht, iſt mit der feltenen Unterfchrift „Philipp
verfehen, während far alle befannten Actenftüde des Königs
mit „yo El Rey’ unterzeichnet find; ein Autograph vom deut.
ſchen Kaiſer Marimilian I. an Sforza, mit der höchſt feltenen
eigenhändigen Nameusunterjchrift; ein anderes fehr wichtiges
Kctenftüd von Marimilian II, betreffend die Vertreibung „des
Erbfeindes der Chriftenheit”; einen Brief vom Taiferlichen
Kriegsrathe Dueftenberg, Wallenftein’e Freunde, die Geldange-
legenheiten bes Generals Iſolano betreffend; vom Grafen Lei-
cefter, dem berühmten Gilnfiling der Königin Elifabeth, ein
feltenes Autograph in holländifher Sprache; einen franzöflfchen
Brief von dem geiftreichen Fürſten von Ligne an Mr. de Wal⸗
ther; ein Autograph von der Marquife von Maintenon, wort
die Liebenswürdigleit einer Prinzeffin gefchildert wird. Zu
ben ausgezeichuetften Seltenheiten gehören: ein Antograph
vom ſpaniſchen Feldherrn Marquis Spinola; ein Brief von
dem ſchmalkaldiſchen Feldhauptmann Schertlin von Burtenbad),
in dem derſelbe feine Gerechtfame vertheidigt; ein anderer von
dem berühmten Feldherrn und König von Bolen Stephan Ba-
tbori; ein lateiniſcher Brief von Johann Sobieski, dem Erretter
Biens, an den Kaifer Leopold I. Ein Autograph von Samfon,
dem Henker von Baris, ift gleichfalls zu den Raritäten zu rech⸗
nen. Gin Brief von F. von Schill, das einzige Autograph
von diefem Helden, mit dem Namen unter eigenhändigem
Tert, welches eine Nechtfertigung feiner kriegeriſchen Ope⸗
rationen bei Kolberg enthält, Tann als ein merkwürdiges
Befchichtliches Document gelten und fchließt mit ben Wor⸗
ten: „Bei meinem das Vaterland und feinen König innig lie-
benden Herzen und einem regen Eifer wäre e8 leicht möglich
geweien, ein Riefengebäube aufzuflihren, wenn mir nur ohne
Töniglichen Befehl nicht Überall die Hände gebunden geweſen
wären. Ein origineller Brief Ludwig's I. von Baiern an Fried»
rich von Schlegel endigt mit der Erflärung: „Daß mir der
religiöfe Unterricht fehr am Herzen, daran zweifeln Sie nicht,
ſollte ich glei ein Obfenrant genannt werden; daß man mid
bald fo oder ander® Heißt, daran bin ich gewöhnt. Ein
wichtiges Actenflüd zur Geſchichte Sachſen⸗Weimars ift ein
Drief der Herzogin Anna Amalie an Kaifer Franz I., in dem
fie die Nothwendigkeit darlegt, die alleinige Bormundidaft und
Landesregierung zu Übernehmen. Merkwürdig if au ein
Brief von der Großherzogin Lniſe an Knebel, vom Jahre 1824,
mit der Stelle: „Es ift recht gut, daß Iena mit Requifitionen
‚verfhont geblieben ift, und wahrjcheinlich wird Herr von Kamp
mit feinen Spionen fi) von neuem geirrt haben, Die Rolle,
welche Preußen in diefer Hinficht Kbernimmt, ift nicht die ſchönſte.“
Unter den Schriftfiliden von Dichtern und Gelehrten ge-
Hört zu den feltenften: ein Autograph von Fulton, dem Erfinder
der Dampfichiffe; ein intereffanter Brief von Hölderlin über
feinen „Oedipus“; das eigenhändig gefchriebene Mailied von
Hölty: „Grün wird Wie und Au ꝛc.“; Körner’s „Wallhaide“
mit voller Unterſchrift; eine Univerfitätsquittung von Melanch⸗
thon; ein franzöfifcher Brief von Mesmer; ein Brief von
Metaftafio, deffen Inhalt feine „„Sofonisba’ betrifft; von größter
Seltenheit und gefhichtlichem Intereffe eine auf Pergament ger
fchriebene Urkunde, in der Johann Rift, der Stifter des Schwa-
nenordens, den Prätorius zum Poeta laureatus erwählt. Bon
Goethe findet fih unter anderm auch ein ungedrudtes Schrei-
ben an Göfchen über die Bearbeitung von „Rameau’s Neffen‘,
und von Schiller ein intereffanter Brief an feinen Freund Kör-
ner über Goethe, den „Muſenalmangach“ und die „„Zenien‘. Für
beginnende Sammler find alphabetifh geordnete Sammlungen
von berühmten Dichtern der Neuzeit, von Philologen, Theo»
fogen, Philofophen, Hiftorifern, Suriften u. f. w., je aus mehr
als 100 Autographen befiehend, zu dem geringen Preis von
5 Thlrn. zu erhalten.
Unter den Seltenheiten von Künſtlern und Kunftfchrift-
ftelleen fieht obenan: Beethovens Manufcript von ber Kuß⸗
Ariette „Sch war bei Cloe ganz allein‘; ein anderes von ihm
enthält die mufilalifhen Entwürfe zum Concert in Es-dur, zur
Phantaſie op. 77, und zur Phantafie mit Ehor op. 80, mit
ihwer zu erforfhendem eigenhändigen Text. Bon Haydn
ein Trio» Manufcript für Klavier, Bioline und Violoncello.
Bon Franz Schubert Tiegen zwei Liebercompofltionen vor;
davon ift eine noch nngedrndt und gänzlih unbelannt.
Höhn merkwürdig iſt ein großer ungedrudter Brief vom funf-
zehnjährigen Mendelsſohn⸗Bartholdy an Marz, in welchen fich
berfelbe, troß feiner Jugend, mit dem feinſten Sachverflänbniß
über den von Marx gedichteten Tert zur Oper „Don Duizote“
ausſpricht. Cine befondere Feine Sammlung zu 4 Thlrn. ent«
hält mehr als 50 eigenhändige Briefe von berühmten Malern
und Kupferflechern.
Notizen.
Wir mahen auf bie Prachtausgabe von „Goethe’s
Gedichten" aufmerfam, welhe Arthur Lutze in einer
Answahl für deutſche Franen erfcheinen läßt, mit vier Illu⸗
firationen von Hermine Stilfe (Harbendrnd von R. Stein⸗
bock in Berlin, Köthen, Berlag ber Lutze'ſchen Klinik, 1870).
Feuilleton. 79
Die Ausſtattung ift eine glänzende, die Auswahl eine durchweg
geſchmackvolle. Goethe's Büfte, von einer Roſen⸗ und Blumen-
guirfaude umrahmt, und die ſtimmungsvollen Tandjdaftsbilder
von Hermine Stile: „Wanderer's Sturmlied‘‘ und „Darzreiſe
im Winter“, gereichen dem Werke zu beſonderer Zier. Ge⸗
widmet iſt daſſeibe dem Großherzog von Sachſen⸗Weimar.
Kolgende zwei bisher noch ungedrudte Gedichte find der
Sanımlung vorausgefchidt:
Sonett an Bettina.
Am 4. Sanuar 1811.
Glanzvollſtes aller hohen Gnadenzeiden,
Bomit Sie jemals ihren Knecht bedacht.
Die Erbe kennt nit ſolche Farbenpracht
Und ſelbſt der Himmel muß vor bir erbleichen.
O unermeßlich Süd und fondergleicden,
Das ınir fo hold ind Herz und Auge lacht,
Ich unterliege der Empfindung Macht
Und fühle Sinn und Ausdruck mir entweichen.
Ste dentt an mich und legt mit taufend zarten
Bergißmeinnicht fi ſelber miv ans Herz |
So große Huld, fie würb’ in Stein und Erz
Des Dante, ber Liebe Flamme raſch entzünben ,
And könnt’ ich jemals dem Gefühl entarten,
Dann treffe mich ber Tod in meinen Sünden.
Epigramm.
Man if mit Recht befcheiben,
Wenn groß Berbienft uns ziert;
Sonft mußt bu dich beſcheiden,
Daß es dir nicht gebührt;
Du ſcheinſt denn eins von beiben:
Dumm oder affectirt.
Der zweite Band der von Karl Goedeke und Julins Tittmann
herausgegebenen „Deutfhen Dichter des fiebzehnten
Jahrhunderts‘ (Leipzig, F. A. Brodhaus) enthält die von
Julius Zittmann herausgegebenen Gedichte von Paul Fle-
ming, dem begabteften Dichter der erften Schleſiſchen Schule,
über deffen Lebensgang, dichteriſche Bedeutung, ſowie liber bie
verſchiedenen Ausgaben feiner Werke die Einleitung Auskunft gibt.
Bir dürfen auf die eingehende Charakteriſtik des Dichters hin
weifen, welche Heinrich Rückert in Nr. 15 d. Dt. f. 1868 ge-
geben hat. Der dritte Band der Sammlung bringt eine nicht
minder interefjante Gabe, die Sinngedichte von Friedrich
von Logau, von Karl Eitner herausgegeben, deren epigram⸗
matifhe Pointen aud für unfere Zeit nicht ihre Bedeutung
verloren haben.
Die humoriſtiſche Schrift, weldhe den Auf von Wilhelm
Raabe (Sakob Corvinus) begrlindete: „Die Chronik der Eper-
ſingsgaſſe“, ift eben im vierter Auflage (Stuttgart, Vogler und
Beinbauer, 1870) erjchienen.
Bibliographie.
Altmann, J., Aus einem Dichterleben. Lieder und Sprüche aus
ben Jahren 18601868. 2 Bpe. Ben Dioefer. 1869. 8, 3 Zhir. * Ngr.
Aus fernen Landen. ©re sepnifihe Bilder und Skizzen. Berlin, Lang⸗
maun u. Comp. Or.
Bartsch, K,, Biblio, —8 Uebersicht der Erscheinungen auf
dem Gebiete der germanischen Philologie im Jahre 1868. Wien, Gerold’s
Bohn. 1869. Gr. 8. 10 Ngr.
Herr von Beuſt der große eat annlene and Fa aa
Bon einem Wiener geaubenannen. © k Ich Me übiger. e? Rlrte Br.
rintman, J., Unf Herrgo eifen. Ein en, Ro
fiod, Leopold. ®r. 16. 27 x Na 2 *
Die Chroniken der beut gen Stäbte vom 14. bls ins 16, Sapryım
dert. Ster Vd. — U u : Die Sproniten der obercheinifden täbte.
Ehrafburg. ifter 8 ir ig, Sirzel. Gr. 8. 3 Thlr.
Craven, Frau Augulins, geb. La Benz onays, Anna Severin. Ros
man. i Eu 3 Rue von Silvan. Alorificte eberfegung. Miünfter, Ruſſell.
8. T.
Der —— Dramatiſches Zeitgemälte. Ein Beitrag zur Charal⸗
teriſtik der ſtehenden Heere. Deu Freunden bes Friedens und ber Frei⸗
Beit &. 16. 7% yon einem ehemaligen Soldaten. Zürich, Berlagd- Magazin.
r.
— 2, As meinem Leben, Musikalische Skizzen. Nerlin, Behr.
gT-
Egenter 3., Bfaffentrieg. Gewappnete Lieber. Züri, Verlags⸗
—* wi: ‚ Biaff 8 pp Züri, Verlag
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Deutschland und Protest gegen das gn Fettenkofer’sche Regenerations-
Verfahren. München, Merhoff, Gr.
L. 65: Hiag, Dr Karl Mathy. Seisimte | feines Lebende. Leipzig, Hir⸗
ze r. 8.
Funcke, Dur Beifeitber unb Helmatptlänge. 2te vermehrte und ver⸗
änbete — Auflage Bremen, Müler. 8 1%
. Vgmolãtter. Tafıhen » Ausgabe. ste Auflage. Leipzig,
Botämer 32. 97 Nor
Ei icht von ber ziten Hamborger Kopmann, Peter Stahl, nad Bat⸗
ting Möllern_ fine Verteilung un in fine NMundwies balfchreben in fäben-
teigen Berpuflungen von Mi, Berfafjer von „Dumm Hans.” Ene Jagd»
geihiht mit en prächtige Titelbild. ‚Schwerin, Stiller. Gr. 8. 29/, Nor.
nzen bach, Laura, Sicilianifhe Märden. Aus bem Volksmunud
gefamma Mit Anmerkungen Rhold. Köhler’8 und einer Einleitung ber»
aus egeben von DO. Hartwig. 2 Thle. Leipzig, Engelmann. Br. 8.
Grimm, J., Kleinere Schriften. dter Bd. — A. u. d. T.: Recensio-
von und vermischte Aufsätze. Ister Thl, Berlin, Dümmler. 1869. Gr. 8.
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-Haldinger, Ritter W. v., Das kaiserlich-königliche montanistische
Museum und die Freunde der Naturwissenschaften n Wien in den Jah-
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act Eokn . ©r. 16.
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3te verbeiferte Auflage. Hamburg, 3. %. Richter. Gr. 3. 1 Thlr.
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sig, attpes, 16, lt. gr.
His, W,, Leber die Bedeutang der ach — fũr die
Auffassung der organischen Natur. Leipzig, Vogel. Gr. 8. Ngr
Hoffinger, v,, Von der Universität. I, Die Doetoren- nee jen.
II. Erinnerung an die Docotoren: Carl Freih. v. Hock und Moritz Hör-
nes; Victor AImé Huber und Heinrich Ritter, Wien, Mayer u. Comp.
180%, Gr. 8. 10 Ngr
u S © deopole), Weinphantafieen. 2te Auflage. Berlin,
Lüderi
HR .r De Thierieele, ine gelten, unb Eigenjchaften bes
wiefen un ar Fenit Gr. 8 9 Nor
1868 Krüss Ber, * Die ee 9 Hoveile, Stone, Berlags-Burean.
in — — aus John Stuart Mill’s Unterordnung der Frauen von
A. Reyer. Graz, Pock. 1869. Gr. 8. 12 Ngr
ı an ol, @ etty, Nencfte Gedichte. Fa Gerolds Sohn. Gr. 8,
r. r.
fleid * r, E., Gotifried Wilhelm Leibniz als Patriot, Staats⸗
mann und Bilbungsträger. Ein Lichtpunkt aus igiande trüdfter
1 Ser Für die Gegenwart bargeftellt. Leipzig, Fues. Gr, 8. 3 Thlr.
aing, 2 , De Reid naan amborger Dom. 6te Oplaag. Ham⸗
sung ge ihter. ®r. 16, 10
RAR Luiſe er Perle Wagbalena. Ein geiftlihe® Drama,
inter. ®r. 8. 20 Nor
, Die Muflt eine Sprache, am Beifpiele von Spontini’s
Beftalin läutet‘ Dresden, Brauer. 8. er.
Pu iton, manbarafı, Landgraf, werbe N Klagenfurt, Bertihinger.
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ow, Matpilbe ‚Dorntofe. Roman in vier Büchern. 4 Bde.
Eisen —28 &
an 2.0, © Ämmttihe Werte. 1ster und ı15ter Ob. Leipzig,
Dunder —* umblot. Gr. 8. à 1Thlr. 15 Nar.
Reinthal, E. v., Berend von der Bord. Drama aus ber Ge⸗
ſchichte ——* ‚Dorpat, ©tläfer. 1868. Gr. 1 Thlr. 6 Nor.
Rittershaus, —— ‚Ye ten Ste vermehrte und verbefierte Auflage.
Breslau, Treitenbt, *
öpe, N., e mo erne Nibelungendichtung. “Mit befonberer
—R auf Jau; ee und Jordan. mburg, 8 . Meißner. 1869.
Near.
K., Zannenharz und Fichtennadeln. Geichichten,
BAHN, einen und @ieber En eftelerifger Mundart. Graz, Pod,
8 gr.
Kofenthat, H., Abdonis. Schaufpiel. Berlin, R. Leſſer. 1869, 8,
10
mad‘ f Nöte S, nit Bergpfalmen. Dichtung. Stuttgart, Mebler.
M.v., eueieelen. Aſzuderti e Menſchen und Schick⸗
Ile, Berlin Vriji. AR Br. 8. 9 ®
Schmick, ‚ Die —S "dor Meere und die Eiszeiten
der Halbkugelu der Erde, ihre Ursachen und Perioden, Köln, Du Mont-
Schanbere. rk Gr. 8. 8 Ngr
Wer C. Speculatine Sntbiopeisgle, vom enge biteTenhiisen
Stanbpuncte dar geheit. mM hen, Lentner. Gr, 8
d, te taibotifhen Kiöfter. Humanität Ghriftenthum
und Geiflioe Sumanität, Zwei Vorträge. Breslau, Aderholz. 1869, 8.
& —— = ., Pädagogiſche Wanderungen. Eafiel, ©. Ludharbt.
r
getip-Träbiäter, Elifabeth Gräfin, Gedichte. Altenburg,
Bonde. Thlr.
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Anzeigen.
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— —
Derfag von 5. A. Brockhaus im Leipzig.
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Kaltſchmidt's Fremdwörterbuh umfaßt in der fiebenten,
innerli wie äußerlich zeitgemäß umgeftalteten Auflage 61 Bo»
gen Lexikonoctav und ift demnach jet das neuefte vollffän-
Bine und verhältnißmäßig billigfte aller Fremdwörter»
er
In allen Buchhandlungen ift das erfte Heft vorräthig
und werden Subfceriptionen auf die Heftausgabe angenommen.
Doch kann das Werl auch gleih vollftändig in einem
Bande (geb. 2 Thlr. 12 Ngr., geb. in Halbfranz 2 Thlr.
24 Nor.) bezogen werben.
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Im Berein mit Gottfried Frisihe und Mar Moltle
herausgegeben von
Dr. Morib Bille
Director bes Geſammt⸗Ghmnaſiums zu Leipzig.
In 6 Lieferungen zu je 10 Ngr.
Zweite Lieferung.
Die „Schiller- Halle” fiellt alle bedeutſamen Ausſprüche
Schiller's, nad) den Gegenfländen oder Stichworten alphabetifc)
geordnet, in bequemer Ueberficht zuſammen, bildet alfo gewiffer-
maßen eine Real» Encyflopäde aus und zu Schillers ſämmt⸗
lihen Schriften, eine Art von Schiller3Converſations—
Lerifon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’s eigenen Worten
geichriebener Erläuterungs- und Ergänzungsband zu
Schiller's Werten genannt werden, der jedem Beflter
berjelben zur Anſcha ung zu empfehlen ift.
In allen Buchhandlungen ift die erſte nnd zweite
Lieferung nebit Brofpect vorräthig und werden Iinter:
zeichnungen angenommen.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
u Brockhans
Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur
des 18. und 19. Jahrhunderts.
Neu erſchienen:
26. Band. Voß' Luiſe und Idyllen. Mit Einleitung und
Anmerkungen herausgegeben von Karl Goedeke.
27. Band. Gchleiermaderd Monologen und Die Weib:
—28 Mit Einleitung herausgegeben von D. Carl
arz.
Die erſchienenen 27 Bände find nebſt einem Proſpect
über die Samminng in allen Buchhandlungen vorräthig.
Jeder Band geheftet 10 Ror., gebunden 15 Nor.
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Steder und Bilder.
eue Dichtungen
von
Inlins Iturm.
Zwei Theile.
8 Geh. 1 Thlr. 18 Nor. Geb. 2 Thlr.
(Seder Theil einzeln geb. 24 Ngr., geb. 1 Thlr.)
Eine neue Gabe des beliebten Dichters Iulius Sturm,
befien frühere Dichtungen im wiederholter, zum Theil, wie die
„Frommen Lieber”, bereits in fehster Auflage erfchienen,
darf der freundlichſten Aufnahme fiher fein. Die beiden Theile
find auch jeder einzeln mit befonderm Zitel zu haben und in
ihrer zierlihen Ausftattung befonders al® poetifches Feſtgeſchenk
zn empfehlen.
Don dem Derfaffer erſchien in demſelben Verlage:
Gedichte. Dritte Auflage. 8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Nr.
Nene Gedichte. 8. Geh. 1Thlr. Geb. 1Thlr. 10 Ngr.
—* Lieder. Sech te Auflage. 8. Geh. 24 Ngr. Geb. 1Thlr.
romme Lieder. Zweiter Theil. Zweite Anflage. 8. Geh.
‚24 Nor. Geb. 1 Zhlr.
ür dad Hans. Liedergabe. Geb. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
wei Roſen oder Das hohe Lied der Liebe. Miniatur Ausgabe,
Geh. 12 Ngr. Geb. 16 Ngr.
Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Geschichte des Teufels.
Von
Gustav Roskoft.
Zwei Bände 8. Geh. 5 Thlr.
Der bekannte Verfasser, ordentl. Professor an der k. k.
evangel. theologischen Facultat zu Wien, behandelt in die-
sem Werke die Vorstellung von einem bösen Wesen im
Zusammenhange mit der Natur und den geschichtlichen Er-
scheinungen, indem er sie nach ihrem Ursprunge und ihrer
weitern Entwickelung unter culturhistorischem Gesichts-
punkte darstellt. Es wird sowol der religiöse Dualismus
bei den Völkern des Alterthums nachgewiesen, als auch
gezeigt, wie innerhalb der christlichen Welt die Vorstellung
vom Teufel Raum und Herrschaft erlangt hat, bis sie in
den geläuterten Anschauungen der Gegenwart allmählich
ihre Macht zu verlieren beginnt. Gegenüber den Verfinste-
rungsversuchen in unsern Tagen verdient das Werk die be-
sondere Beachtung jedes Gebildeten.
Derfag von S. A. Brockhaus in Leipzig.
Slütenlefe aus Altem und Uenem
von
Ernſt Moritz Arndt.
8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Ngr.
Zum hundertjährigen Geburtstage Ernſt Moritz Arndt'«
verdient dieſes kurz vor feinem Tode von ihm veröffentlichte
Buch in Erinnerung gebracht zu werden. Es enthält Gedichte,
die er aus dem Griechiſchen, Schwediſchen, Englifhen und
Schottiſchen zu verichiedenen Zeiten metrifc übertragen und erſt
im hohen Alter gefammelt und mit Gruß und Borwort ver-
jehen berausgah. In der Wahl der Stüde ebenfo wie in dem
fernigen Deutſch der Uebertragung fpricht fih der Charakter
des gefeierten Mannes mit unverlennbarer Entſchiedenheit ans,
Berantwortlicher Rebactenr: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Berlag von $. A. Srodhaus in Leipzig.
Blätter
für
literari
iſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
Inhalt: Mathy's Leben von Guſtav Freytag. Bon deiunrich Rückert. — Ein humoriſtiſches Epos. Bon Nuboif Gottſchal. —
— Hr, 6. #8
3. Februar 1870.
Literarifche Ergebniffe der Humboldt-fFeier. Bon Rigard Andree. — Ein Beitrag zur Charakteriftit des Königs von Weftfalen. Bon
Zriedrich Bodenſtedt. — Die Bögel ber Nordfeeinjel Borkum. Bon Karl Ruf. — Senilleton. (Robert Gifele; Notizen) —
Bibliographie. — Anzeigen.
Mathy’s Leben von Guſtav Freytag.
Karl Mathy. Geſchichte feines Lebens von Guſtav Freytag.
Leipzig, Hirzel. 1870. Gr. 8. 2 Thlr.
Ber den Lebendigen Beziehungen zwifchen den Büchern
und dem Publikum nachgeht, wird fi des Misverhält-
nifjes zwifchen den Zahlen und den Wirkungen ber deut-
ichen gefchichtlichen Literatur bewußt fein. Zugegeben,
dag wir überhaupt an literarifcher Ueberproduction leiden
und daß das Publifun zunächſt fein anderes Vertheidi⸗
gungsmittel gegen diefes Vebel anwenden kann als eine
möglichft kühle oder abweifende Haltung, fo ift es doch
auch jo bemerkenswerth, daß gefchichtliche Werke noch
immer am allerwenigſten, wie man zu ſagen pflegt, „ziehen“
wollen. Schon anderwärts haben wir den Verſuch ge-
macht, eine genetiſche Erklärung dieſer Thatſache zu
geben, und wir ſind der Meinung, daß wir damals in
der möglichſt gleichen Vertheilung der Schuld unter die
Producenten und Confumenten das Richtige getroffen ha-
ben, aber auch darin, daß wir behaupteten, die Abhilfe
müfje zunächft von feiten ber erflern ausgehen. Was von
- der Gefchichtfchreibung im allgemeinen gilt, gilt auch von
der Biographie. Zahlen und Namen unferer, biographi-
fchen Literatur gewähren einen ftattlichen Anblid; forfcht
man aber nad dem Eindrucke auf die Lefer, fo findet
man nicht einmal die bejcheidenften Erwartungen befrie-
digt. Und doch wäre gerade diefer Zweig ber Geſchicht⸗
fhreibung vor allen andern berufen, im richtigen Sinne
populär zu wirken, bis die Durchfchnittsbildung unfers
Bublilums und die Darftellungskraft unferer Hiſtoriker
fi} jo weit gefteigert bat, um eine lebendige, im Kern
des nationalen Geiftes wurzelnde Gefchichtfchreibung im
großen Stile zu erzeugen. Denn die Biographie ftellt
vermöge ihres Berufs geringere Anforderungen nicht blos
an das pofitive Willen der Lefer, fondern aud an ihre
Faſſungs- und Denkkraft. Aber innerhalb ihrer enger
gezogenen Schranken verlangt fie diefelbe verfländige
Pflege, diefelbe klare und durchgebildete Erfenntniß ihrer
1870. 6.
Principien und diefelbe durchgearbeitete Technik wie ihre
vornehmere Genoffin. Und weil fie alles dies in ber
deutfchen Literatur bisher fo felten gefunden bat, darum
und aus feinem andern Grunde können wir zwar hun-
derte und taufende von TLebensdarftellungen berühmter
Männer und Frauen in deutfher Zunge aufzählen,
wüßten aber faum ein Dutend darunter zu nennen, die
dauernd mit dem Geiftesleben unferer Nation verwachſen
find oder, wenn man biefen verzopften Ausdrud brauchen
will, claffifche Bebentung haben. Der allgemein verbrei«
tete Glaube, daß es leichter fei, eine Biographie als ein
eigentliche® Geſchichtsbuch zu fchreiben, ift in gewiſſem
Sinne nicht unbegründet, aber er bat auf die natürlichſte
Weife von der Welt zu dem Wahne Anlaß gegeben, als
fei e8 überhaupt ein leichtes Ding, fo ein „Leben” zu
zimmern, wenn es nur an fich intereffant und floffreich
ift ober dem Berfertiger als ein folches erſcheint. An
dem von felbft gegebenen Soden reiht fidh, wie man meint,
alle ohne weitere Mühe. Wer aber ſelbſt einmal mit
Berftand einen ſolchen Faden gefponnen hat, weiß, was
es mit diefem „bon felbft gegeben’ auf fich Hat. Leider
aber reut viele, wenn fie mitten in der Arbeit zu diefer
Erkenntniß gelangen, Zeit und Kraft, die fie ſchon dar⸗
auf verwandt Haben, zu fehr, als daß fie fich entjchließen
fünnten, die ganze Arbeit beifeitezumerfen, oder mit
geläutertem Verſtande von vorn wieder anzufangen;
viele mögen auch wol, bei bem wenig entwidelten Sinn
für Geftaltung und Compofition, der unfern fpecififch
mit der Feder thätigen Männern eigen ift, nicht einmal
eine Ahnung von dem haben, was ihnen eigentlic) fehlt;
und die einen wie die andern beruhigen ſich jedenfall
mit der von jeder äußern Zuthat und Zubereitung unab-
bängig und gleihfam fouverain darüber erhabenen Güte
und Bedeutung ihres Stoffs.
Wenn es aber darauf anfüme, zu fagen was eine
Biographie nicht fein fol, jo würde man zuerft jene
11
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82
difeibigen Ungeheuer mit mehr Noten als Zert, mit ganzen
Alphabeten ven Ercurfen und Beilagen, womöglich nod)
mit einem Anbange von Urkunden und Documenten,
ftärler als das Buch felbft, als warnende Beiſpiele auf-
fielen. Ihr thatſächlicher Gehalt kann, wie allbefannte
und deshalb hier nicht genannte Fälle zeigen, ein großer,
für die Geſchichtskenntniß oft unermeßlich großer fein,
aber er witrde fih noc leichter verwerthen lafjen und
banfbarer von uns aufgenommen werben, wenn er in ber
natürlich angezeigten Form bloßer Materialienfammlung,
nach beftimmten Gefichtspunften geordnet, geboten würde.
Die Prätenfion folder Bücher, Biographien zu fein,
verftimmt nicht blos die unbefangenen und fozufagen
arglos berantretenden Lefer, fondern erfchwert auch die
Arbeit derer, die nicht blos Iefend lernen, fondern Mas»
terial zu eigener Arbeit fich zubereiten wollen. Selbſt⸗
verftänblich wird ja bei jeder den Namen verbienenden
gefchichtlichen Leiftung, alfo auch bei einer Biographie
vorausgefegt, daß ber Darfteller im Beſitze des ganzen
überhaupt vorhandenen oder erreichbaren Materials ift.
Will er aber Gefchichtfchreiber fein, fo fol er die damit
nicht beläftigen, die nur leſen und dadurch ſich bilden
wollen. Gedenkt er nur fir Mitforfchende zu fchreiben,
fo kann er es ſich freilich leichter machen, aber er ver-
zihtet dann auf das, worauf es dem Gecſchichtſchreiber
eigentlich ankommen wird. Wahrjcheinlid) wird er aber
durch das Halbfchüirige feines Thuns weder nad) der einen
noch nach der andern Seite ſich vollen Danf verdienen,
und das ift es eben, was ben meilten gefchichtlichen
Büchern trog allen Fleißes, aller Begabung, ja oft
wirklichen Gedankenreichthums ein jo unerquidliches Ger
präge gibt.
Wir verlangen alfo nicht fir uns perjönlich, fondern
für das Publitum und was bafjelbe ift, zum Nuten der
großen und wichtigen Sache und fchlieglid auch zum
eigenen Vortheil der jetst noch fo ungenügend zur Nation
geitellten deutfchen Hiſtoriker eine völlige, veinlihe Ver⸗
arbeitung des Stoffe und verzichten dafür gern auf
jene, wie jeder‘ wirklih Sadjverftändige weiß, doch mehr
täufchende als wahrhafte Sicherheit gewährende Schein-
quellenmäßigfeit und Scheingründlichfeit. Die wahre quellen»
mäßige Begründung gehört an einen andern Ort und vor ein
anderes Forum, vor dasjenige der wenigen Specialforfcher.
Wir verlangen e8 in allen Büchern, die Anſpruch maden,
Geſchichtſchreibung zu fein, aljo auch in den Biographien.
Damit ift außer vielem andern auch das gewonnen, daß
fi der äußere Umfang einer foldhen nicht ins Unabſeh—
bare dehnt. Niemand wird es einfallen, hierfür ein be=
ftimmtes Längenmaß als kanoniſch feitfegen zu wollen.
Der Inhalt eines Lebens, die Befchaffenheit des Mate:
rial8 und die Art des Darftellers werden bier immer
einen weiten Spielraum beanfpruchen dürfen. Aber wir
meinen, daß es wenige einer biographifchen Darftellung
würdige Perjönlichkeiten gibt, deren Leben nicht inner-
halb der Schranken eines ftattlihen Octavbandes wirk-
ſamer und feſſelnder erzählt werden könnte als in fünf
oder fechs Bänden. Wohl ift e& leichter, bei reichlich
fließendem Material fo viele Bände zu füllen, als fich die
ſchwierige Arbeit des Verdichtens und Concentrirens auf
zuladen. Das Publikum empfindet aber mit Recht ge-
Mathy's Leben von Guftau Freytag.
rade umgekehrt und geht mit gefundem Inſtincte, wenn
auch nod) immer mit einer gewiffen anerzogenen ehr-
furchtsvollen Scheu, jenen monjtröfen Gebilden aus bem
Wege, in welchen der Gefammteindrud der Geftalt, aljo
das eigentliche Ziel, nothwendigerweiſe dem Geifte des an
fie Herantretenden vor der Maſſe und Langathmigkeit der
einzelnen Momente entfchwinden wird. Unfere Biographen
icheinen aber noch guten Theil in der Findlic naiven
MWeife der ägyptifchen bildenden Kunft ihr Handwerk zu
treiben. Wenn diefe eine grandiofe Götter« oder Helben-
geitalt darftellen wollte, jo glaubte fie e8 dadurch am beiten
zu thun, daß fie ihr Ellenmaß weit über menfchliches
Durchſchnittsmaß vergrößerte. “
Nur als felbitverftändliche Forderung fei noch bei«
gefügt, daß man bei dem jeßigen Stand der Ausbildung
unferer ſprachlichen Darftellungsfunft von dem, der fi
für berufen hält, als Geſchichtſchreiber aufzutreten, auch
erwartet, daß er lesbar ſchreibt. Die höchſte Stufe der
techniſchen Vollendung der äußern Form kann und wird
nicht jeder erreichen, aber bis zu einem mehr als erträg-
Iihen Mittelmaß kann e8 ernfter Wille und fyftematifche
Uebung hierin wie anderwärts ohne Trage bringen, und
wenn fi) manche fogenannte Gefchichtichreiber noch immer
felbft davon dispenfiren, fo hat wenigftens das Publikum
feine Beranlaflung, ihnen bierin nachzuſehen.
Wenn wir bisher einige der wejentlichiten Forderun⸗
gen an eine wirklich genügende Biographie kurz formulirt
haben, fo ift e8 nur gefchehen, weil wir an einem gege-
benen alle ihre volljtändige Durchführung nachzuweiſen
in der erfreulichen Zage find. Mathy's Leben von Freytag
leiftet alles, was nach der Befchaffenheit des Stoffs ge-
leiftet werden konnte; es gibt ein volles, bis in die ein-
zelnen Züge klares Bild des Mannes und feiner Um⸗
gebung, die zu feinem Verſtändniß nöthig ift, und es
täut dies, wie faum zu jagen nöthig fein wird, in ber
eleganteften und feinften Yorm der Darftellung, ohne daß
dadurd) die Wärme und Energie des Bortrags beein-
trächtigt wiirde. Eine kurze Wnalyfe weniger bes
Inhalts als der Technik möge dies unfer Urtheil begrün«
den helfen und, was noch wünſchenswerther ift, möglichft
viele zum GSelbftprüfen und zum praftifchen Lernen an
einem folchen wahrhaft vollendeten Muſterbilde antreiben.
Allerdings kam dem Biographen Mathy's die Gunft
befonderer Berhältniffe zu Hülfe, wie fie nur felten einem
feiner Fachgenoſſen zur Seite ftehen. Perjünlihe Freund⸗
Ichaft, in der Reife des Lebens zwilchen beiden Männern
gejchloffen, verband fie, bis der eine Freund durch einen
immerhin frühzeitigen Tod dahinfchied. Der regte per-
ſönliche Verkehr durch eine Reihe von Jahren, mit al
den an ſich unfcheinbaren aber doch das Gemüth fo ſtark
und tief erfaſſenden Beziehungen und Verkettungen
der täglichen Gejelligkeit, und als diefe unterbrochen wurde,
ein veger jchriftlicher Austaufh der größern Intereſſen
nicht bloß, jondern auch der großen und fleinen Zufällig-
feiten des gewöhnlichen Daſeins — welder Biograpf
wird fo leicht im Befige eines ſolchen wahrhaft unver-
gleihlihen Materials für feinen Helden fen? Dazu
rehne man noch die völlige und unbedingte Weberein-
ftimmung in dem, was ben eigentlichen ern von Mathy's
Mathy's Leben von Guftan Frehtag. 83
Thätigkeit ausmachte und was ihn im wahren Wortfinne
zu cinem Helden. ftempelte.e ‘Der Biograph Hatte hier
nicht, wie es wol fonft zu gejchehen pflegt, nöthig, ſich
dur) DBermittelung ber Keflerion die Berechtigung des
Weſens bei dem Manne zu erſchließen, deſſen Geftalt ihn
vielleicht im ganzen und großen mächtig erfaßte, ohne daß
er fich gerade in natürlich gegebener Harmonie mit ihren
pfychologifchen Grundlagen oder mit den Zielen ihrer
Thätigkeit fühlte.
Ebenfo günftig ift e8 auch, daß Mathy's Lebenskraft
fid) auf ein Feld concentrirte, das jett durch die Natur
der Sache das allgemein zugänglichjte und in diefem
Sinne populärfte if. Mathy war einer der erften unter
dem deutfchen Volke diefer Zeit, die man ganz und voll
Männer der Politit oder, wenn der Ausdrud nicht zwei⸗
deutig ift, Stantsmänner nennen kann. Für ihn freilich
ft er nicht zmweidentig: wenn irgendjemand diefe ehren-
vollſte Bezeichnung männlicher Thätigkeit verdiente, fo
war er ed. Wohl aber möchten fehr viele damit allzu
ehrenvoll benannt fein, die auch, wie er, ihre Haupt⸗
gefhäftigkeit auf Dinge gerichtet haben, welche zu dem
Staate und der Politit gehören, gerade fo wie umgekehrt
die meiften der Leute, welche in Deutfchland während der
legten funfzig Jahre ex professo fi) mit dem Staate zu
thun machten und zum Theil leider nod) jet machen, Staats»
männer mit demfelben Rechte wie lucus a non lucendo
genannt zu werden pflegen.
Hätte fih der Biograph damit begnügt, den Staats⸗
mann Mathy in den verfchiedenen Phafen feiner eigenen
Bildung und feiner Wirkſamkeit darzuftellen, fo würde
er fich feine Aufgabe leichter gemacht, aber freilih auch
auf die eigentliche Entfaltung feiner Kunft verzichtet ba-
ben. Die Berfuchung dazu lag nahe und das gewöhn-
liche Herlommen in unferer biographifchen Literatur ſprach
dafir. Denn muftert man biefelbe von diefem Geſichts⸗
punkte aus, fo wird man finden, daß in den meiften
Fällen, wo es fi) um die Darftellung einer Figur von
bedeutender allgemeiner Wirkſamkeit, gleichviel welcher,
politifcher, militärifcher, gelehrter, Tünftlerifcher, handelt,
diefe allein oder faft allein herausgearbeitet iſt und der
concrete Menſch oder das Individuum, von dem dies
alle doc nur eine Ausftrahlung ift, darüber verfchwin-
bet. Oder auch umgekehrt: der Biograph, in dem Bes
fireben,, der concreten Befonderheit feines Helden völlig
gerecht zu werden, vergißt darüber die Fäden, die ihn
an das Allgemeine feffeln. Er verfudht wol auch fein
Thun und Laffen, fein Denken und Arbeiten zu fehildern,
aber fo, daß alle Strahlen davon wieder auf das Haupt
bes einzigen zurüdfallen, woraus nothwendig folgen wird,
daß eine ſolche Geftalt als ein undurchfichtiges Phänomen
dem Beſchauer unverftändlid und im Grunde un—
intereffant bleibt.
Hier aber in dem Leben Mathy’s ift die wohlabge-
wogene Berüdfihtigung und wahrhaft fünftlerifche Ber-
srbeitung dieſer beiden einander ergänzenden, bedingenden
mb erflärenden Momente nicht genug zu rühmen. 8
war nicht leicht, denn nicht blos mußte die natürliche
Schwerkraft des Gegenſtandes unwillfürlich zu einer mög-
lichſt ausſchließlichen Betonung des einen antreiben, jon-
bern das andere, das eigentlich perjünliche oder indivi⸗
duelle Moment möchte dem gewöhnlichen Auge als ein
relativ einfaches und intereflelojes erfchienen fein. Denn
es verläuft mit Ausnahme weniger Epifoden von drama⸗
tiſchem Effecte — der Flüchtlingszeit und der Lehrthä⸗
tigkeit Mathy's in einem Dorfe der Schweiz, und einigen
pifanten GScenen des Revolutionsjahres 1848 — im
ganzen im dem Geleiſe des einfachen dentfchen bürgerlichen
Dajeins, und wenn e8 auch reich an Wechfelfällen mancher
Art ift, fo liegen doch auch diefe alle innerhalb der
Sphäre deffen, was jedem gefchehen kann. Der Biograph
aber hat es verftanden, die ſchlichten Züge dieſes Lebens
von einem Mittelpunkt aus zu verbinden und fie als bie
natürliche Grundlage und zugleid) al8 die richtige Folie
der öffentlichen Thätigkeit des Mannes zu verwerthen.
So erfteht vor uns ein Bild, das nicht blos durch und
durch belebt und pfychologifch verftändlich ift, fondern das
auch als vorbildliher Typus für eine ganze mächtige
Schar von Charakteren und Individuen, Gedanken und
Ürbeiten der Gegenwart und der Zukunft erhebende, wir
möchten fagen, erbauliche Bedeutung gewinnt.
Der junge Mathy wurde von dem Schidjale auf feinem
Wege nicht befjer behandelt, als Laufende feiner Genoffen,
die, wie er, fich zu einem Eingreifen in die Gefchicke ihrer Na-
tion berufen glaubten. Auch er wuchs auf in der vergifteten
Luft der Reactionsperiode von 1815 bis 1830 oder 1848,
und was das heißen will, weiß wenigftens die ältere
Oeneration ber Lebenden, oder follte e8 wiflen. Wer bie
damaligen Zuftände des deutfchen politiichen Lebens un-
befangen erwägt, wird nicht fowol darüber ergrimmen,
welche unverantwortliche Sünden die Regierenden an bem
durch die Schuld der Vergangenheit rath» und führerlojen
Geiſt der Nation verübt haben, als vielmehr, daß nicht
diefer ganze Geift der Nation bis in fein innerftes Mark
von umbeilbarer und ewiger Fäulniß zerfreffen wurde.
Jene wiberwärtigen Erfcheinungen, womit der fchmuzige
Schaum der Gegenwart die Blicke der ehrliebenden Pa-
trioten noch täglich verlegt, jene am tonangebende
Politiker und daneben auch an die welſche Jefuiten⸗
cligue verkauften Scribenten und Agitatoren , fie
find nur die natürliche Frucht jener unnatitrlihen Mis-
handlung einer gut angelegten, aber fchwerfälligen und
findifch eigenfinnigen Volksſeele. Und felbft wenn folcher '
eigentliche Auswurf der Nation billigerweife nicht für dieſe
felbft gerechnet werden darf, obgleich er in bedenklicher
Weiſe bergehody auf- und in ihr lagert, fo Haben doch
auch die Befjern und Beften fid) in einer ſolchen Atmofphäre
nicht frei von dem Einfluß der Miasmen Halten können,
deren Gift fuftematifch zur Verpeftung Deutfchlands ge—
braucht wurde. In Mitte diefer Todkranken, Schwer-
und Halbkranken arbeitet ſich die unantaftbare Friſche
und reine Lebenskraft Mathy's wunderbar durch, begün-
fligt neben feiner Anlage durdy die einfachften aber
träftigften echt deutjchen Yörderungsmittel der Familie
und der glüdlichen Häuslichkeit. Die fehwere Prüfung
des Wlüchtlingslebens, der unzählige Charaktere bis zu
diefer Stunde erlegen, arbeitet in ihm das Höchfte, mas
überhaupt ein Mann erreichen Tann und was gerade
deshalb fo unfcheinbar ausfieht, völlig durch: er wird,
während die Genoſſen verkommen, ein Flarer Denker, ein
Tenntnißreicher Urbeiter von raſtloſem Fleiße und ein
11*
84 Ein Humoriftifhdes Epos.
durch und durch jelbftändiger, ehrlicher Charakter, und er ift
alles dies, wie faum zu fagen nöthig, bis zum letzten
Athemzug geblieben. Alle feine intellectuelle und fittliche
Kraft konnte fortan, völlig geläutert, dem einen großen
Biele jedes wahrhaften Mannes unferer Zeit dienen, der
Mithülfe an der Gründung und dem Ausban des deut-
Shen Staats. Ihm aber vor den meiften war es ver⸗
gönnt, zwar nur felten in anffälliger Weife, deſto mehr
aber in planvoller und unermüdlicher Thätigfeit an einer
entſcheidenden Stelle, auf ber äuferften Grenzwache gegen
Welten, fo viel dafür zu thun, wie fein anderer von
feinen Genoſſen, auch nicht von benen, die gleich wie er,
frei von dem Dünkel des doctrinären Wefens, die Sache
der Nation auch da noch als die einzige Richtſchnur
ihres Lebens anfehen, wo fie durch die Gewalt der Dinge
auf andere Bahnen gelenkt wurbe, als fie einft felbft ihr
borzuzeichnen gewünſcht oder in ihrer Stubirftube für fie
ausgeflügelt Hatten, Heinrich Rüchert.
Ein humorififches Epos.
Schach der Königin! Humoriſtiſches Epos von Ernft Edftein.
Stuttgart, Kröner. 1870. 8. 1 Thlr.
Wir haben eine bejondere Vorliebe fiir das Tomifche
Epos, dem wir auch in der neuen Auflage unferer „Poetik“
eine eingehende Beiprehung widmen, hauptſächlich mit
Anlehnung an die Mufter des vorigen Jahrhunderts:
Boileau, Pope und Zachariä. „Ueberhaupt‘, heißt es
dort (II, 144), „verdient das komiſche Epos in der
Gegenwart wieder angebaut zu werben. Ueberall in ber
Poetik ift es unfer Beſtreben, auf ältere Yormen Hinzu-
weifen, die, längere Zeit vernadjläffigt und fcheinbar ver⸗
altet, nur des fchöpferifchen Talents Barren, welches den
Geift der Gegenwart in fie hineinbannt; überall betonen
wir wieder die ftrengere Kunſtform für ben jugendlich
modernen Geift, ber feine jungdentfche Genialität endlich
einmal ausfchänmen muß in derfragmentarifch-novelliftifchen
Senilletonprofa, um auf allen Gebieten eine claffifche
Sicherheit und Formenſchönheit zu erringen. Kleinere
fomische Epen nah Pope’3 und Boileau's Mufter find
für ein graziös modernes, an der feinen Eleganz des neu⸗
franzöfifhen Feuilletonſtils herangebildete® Talent gewiß
eine willkommene Dichtform, die ſich durch die humori-
ftifche Novellette nicht erjegen läßt. Denn das ideale
Element, das einmal in der rhythmiſchen Form und im
Reim liegt, läßt fi durchaus nicht als gleichgültig ver⸗
anſchlagen; es trägt auch bie komiſche Muſe, gibt ihr
einen heiter phantaftifchen Schwung und ihren gelungenen
- Wendungen eine dem Gebädhtnig der Nation fi ein
prägende Form.“ Weiterhin bezeichnen wir als Gipfel-
punkt des FTomifchen Epos das bumoriftifche, das in
der derb⸗volksthümlichen Holzfchnittmanier der „Jobſiade“,
als genialer Welt- und Lebensfpiegel aber in Byron's
„Don Juan“ feine Mufter findet. Hier kann aud) die
ernftere epifche Muſe ihren ganzen bichterifchen Reichthum
entfalten; bier Tann ein großer Genius, ohne in bie
Blafirtheit des weltmitden Lords zu verfallen, ein echt
modernes Epos dichten, das künſtleriſchen Werth und
Bolksthiümlichleit vereinigt. Ein Epos nad) diefem Mu⸗
ſter ift das Edftein’fche Gedicht, das wir als einen talent-
vollen Verſuch zur Erneuerung der Dichigattung will
kommen heißen. Freilich, die Gefahren des humoriſtiſchen
Epos im Byron'ſchen Stil find nicht gering anzufchlagen, -
wie uns dieſer Verſuch beweift. Die Hauptgefahr iſt die
endlofe fubjective Redſeligkeit, das Plaudern ins Blaue
hinein, in welchem der Humoriftifche Geift des Autors ſich
mit vollem Behagen ergehen und glänzend bewähren Tann,
welches aber doch zuletzt das ganze Gefüge der Handlung
auflöft und das objectiv Komifche, das in der Situation
liegt, ganz in den Hintergrund treten läßt. Damit ift
zugleich eine Schranfenlofigfeit in der äußern Ausführung
gegeben, welche jeden Abjchluß ins weite hinausſchiebt.
Bezeichnend hierfür iſt es wol, daß das zweibänbige
Gedicht des britiſchen Dichters, trog feiner zwanzig Ge-
fünge, ein ganz unvollendetes Fragment ift, und daß
dafjelbe mit Grazie in infinitum fortgehen Tünnte, ohne
ein Ende zu finden. Gleichwol ift Byron’s „Don Yuan“,
feinem Umfang entſprechend, ein Gedicht von einer
Weltweite der Dimenfionen; es fpiegelt die Sitten ber
verjchiedenften Völker, gibt uns auch Friegerifhe Schil⸗
derungen und fügt ein reizendes Xiebesidyll von ern-
fterer Haltung in feine komiſchen Arabesten, in benen
Heine Backhantinnen und nedifche Faune durcheinander⸗
taumeln,
Das Gediht von Edftein ift aber für feinen Inhalt
viel zu umfangreich; denn es ift im Grunde nichts als
eine auf dem Profruftesbett des Humors ausgefpreizte
fomifche Novelle. Es bietet ung Tein Weltbild von ums
faflenden Dimenfionen, zeigt uns nicht wie Byron's
„Don Juan“ die Sitte in ihrer verfchiedenen Geftalt bei
verſchiedenen Nationen, ſodaß fie als abfolnte Macht ihre
Hoheit einbüßt, indem die Sitten trinmphiren, ungera-
thene Kinder Einer Mutter, die untereinander ſich gar
nicht ähnlich fehen. Die Sitten, bie ‚uns Edftein ſchil⸗
dert, find die der deutfchen und italienischen Gefellichaft,
und ift die Königin, welder der Humor des Dichters
den Krieg erklärt, die Sitte (ein Grundgedanke, der nicht
mit voller Klarheit aus ber Dichtung hervorgeht), jo
paßte der Titel der Dichtung offenbar weit befier fiir den
Byron'ſchen „Don Yuan“.
Indeß ift es wol nicht des Dichters Abficht gewe⸗
fen, felbft der Sitte in ihrer abfoluten Herrlichkeit, wie
e8 Byron gethan, den Krieg zu erflären; er führt uns
nur einen Helden und eine Helbin vor, welche dies thun
und daflir die gerechte Strafe erleiden. Hätte ſich der
Dichter auf die Beziehungen des jungen Schweden Kurt
zur ſchönen Baronin Marie befchränkt, und ung nur ge
zeigt, wie die leßtere für die Verlegung bet Ehe dadurch
beftraft wird, daß ſich ihr Liebhaber felbft von ihr ab⸗
wendet wegen einer vermeintlichen Treuloſigkeit, da fich,
nur um fie zu compromittiren, der Philofoph und Ber
diente außer Dienften, Armin, eine Nacht unter ihrem
Bette verftedt, während auf der andern Seite der kühne
Ein Humoriftifhes Epos.
Ehebrecher Kurt dadurch beftraft wird, daß feine fpätere
Gattin, die ſchöne Venetianerin Giulia, ihn mit gleicher
Münze bezahlt — der Grundgedanke bes Gedichts wäre,
getragen durch diefe Erfindung, die an und für ſich alles
Lob verdient, weit ſchlagender hervorgetreten als jegt, wo
die Nebenfiguren und bie Arabeslen des humoriſtiſchen
Geplaubers ihn verdeden und faft erbrüden, darunter
einige Luſtſpielcharaktere, wie die blauftriimpfige Tante, die
uns in den Stüden von Benedir und andern bis zum
Ueberdruß vorgeführt worden find.
Für ein Epos, das eben einen ſolchen Novellenftoff
aus dem focialen Leben behandelt, wäre aber die Form
des Fomifchen Epos, wie fie Pope im „Lodenraub”
muftergültig hingeftellt hot, ſchon wegen ihrer Kürze und
Prägnanz geeigneter geweſen als die bes meitausholenden
humoriftiichen . Epos von Byron, für welches wir ganz
andere Perjpectiven verlangen müffen. Und fo wenig ber
parodiftifche Charakter der lomiſchen Epen des vorigen Jahr-
hunderts für umfere Zeit paſſen würde, da das ernfte
Epos, das durch fle parodirt werden follte, jegt mit
feinen Muſenaurufungen und feiner Göttermafdinerie
auf den Ausſterbeetat gefegt ift, fo fehr würde dies klei ⸗
nere Epos dur eine frei erfundene inythologiſche Bele-
bung von humoriſtiſcher und fatirifcher Bedeutung gewin-
nen, wie fie Pope in feinem reizenden Vorbild mit fo
vielem Glücke gewagt Hat.
Wenn indeß das Beſſere der Feind des Guten ift, fo
wollen wir doch das Gute keineswegs verfennen, welches
wir in dem Epos von Edftein finden. Wir Haben ſchon
bie Grundzüge ber Erfindung gerüßmt; bie Ausführung
verräth einen durchaus formgewandten Dichter, der Verſe
und Reime in den Dienft des Humors und ber Gatire
puingt, aber aud; an ben ernfigemeinten Stellen über
ben Reiz anmutbiger Lyrik gebietet. Die Ouverture der
Dichtung mag beides zugleich beweifen, indem bie zweite
Strophe derſelben als Probe für bie ernflere Dichtweife
des Autors dienen Tann:
Ich Habe Luft, end; etwas vorzufingen
Ju ungewohnter, fremder Melodie.
Nicht tief im Herzen wird fie widerklingen,
Nur vor den Ofren rauſcht und tändelt fie;
Sid recht zu fammeln, wird ihr nicht gelingen:
Sie ſchweift und irrt, und claffif wird fie nie;
Au) werben ihre flüdht’gen Tongefalten
Nie eurer Meifter Farbenpracht entfalten.
Dod wenn im Wer der Sonnenball verglommen,
Dann grüßt man gern die Leuchte im Gemad!
&s tommt im Blau der file Mond geſchwommen,
Und ruft ber Sehnſucht Traumgefühle wa... .
Sein Schimmer ſcheint dem Liebesleid zu frommen,
Nachtwandler lockt er ſchwindelnd anf das Dad,
Und mo der Flut verſchwiegne Nebel fleigen,
Da ſchlingt die Eife lichernd ihren Reigen!
&o wird mein Lieb dem Schwärmer nur behagen,
Der ſich die Naht zur Königin erwählt,
Der felten nur bei Feſten und Gelagen,
Doch öfters in der Andachtſtunde fehlt;
Der bebt und flöhnt, den Galafrad zu tragen,
Der kühn die gem Ki Sanbgemenge ſtahlt,
Und der von Weisheit, Wochenbett und Waſſer
Ein unverföhnlih wuthentbrannter Hafer!
85
Die Jungfrau auch mit rofenrothen Wangen,
Die gähmend nad) der Kinderlehre ſchleicht,
Bird mit ber Unfhulb räthfelhaftem Bangen
Durdjfliegen, was der Dichter ihr gereicht.
Ansliefrung mag die Mutter zwar verlangen,
Denn fie ertappt ihr Herzenslind vieleicht,
Dod Herzen wird's von neuem ſich erhaſchen
Und nun erft recht verbotne Früchte nafchen.
Im Alltagsleben wurzeln meine Lieder,
Ic rede juft, wie mit's vom Munde flieht.
Bas mir die Welt gegeben, geb’ id; wieder,
Gleichviel ob's euer Kunftgefetg verdrießt.
IH ſchlage nie die Spötterblide nieder
Bo blafje Furcht die Augenwimper fließt:
Ein fharfes Urtheil Fränkt mid, nicht im mindeften;
Die [Härfften find ja meiftens aud die blindeften.
Mir dient zugleich das Hohe und das Niebre,
Was fern und nah, was göttlich und gemein;
Das Feile, Schlechte, Freble wie das Biedre
Mifgt feinen Mang dem Tongebilde ein!
Denn wenn ih rings das Leben mir zergliedre,
Bo Kräfte nur im Gegenſatz gebeihn,
As ob Natur die Fehde fid) entbiete —
So fühl id; feine Schranken mehr im Liebel
Die Dichtung beginnt in einem Bade; manche Epie
foben bes Badelebens werden ung mit vielem Humor ge»
ſchildert; ebenfo find die Typen der Badegeſelſchaft mit
ſcharfer Komik ausgeprägt. Bei der Rucktehr von einer
Bergfahrt wirft der Wagen um: die Schilderung dieſes
Unfall8 möge zeigen, wie ber Dichter das Objectiv-Somifche
behandelt:
Schnell ging die Fahrt auf lichtbeglänzter Bahn,
Denn in der Fülle wonnevoller Gluten
Schwamm hoch der Mond im Stermenocean,
Der Gondel glei auf dunkelblauen Fluten.
Sein Schimmer macht fo märchenhaft, jo bleich,
Die Damen fahen ſchwärmeriſch nad oben;
Im Hauch der Naht wird jede Seele wei,
Mit einem Wort: die Stimmung war gehoben.
Ob mun Eugen, der, wie ihr wißt, kutſchirte,
Sid, gleihfalis dieſer Stimmung überließ?
Ob ihn die flarke Bowle infpirirte,
Die Kurt ihn brauen und probiren hieß?
Kurzum, er Bielt bie ſchlaffen Zügel kaum
Und Tieß die Braunen ungehindert traben . . .
D füge Naht! o zarter Frühlingstraum!
O — Krach! und die Gejellihaft Tag im Graben!
Hal wer befgjreibt dies Schreien, Brüllen, Zappeln,
Das ſich umfonft im diden Schlamm erbon!?
Dies Stöhnen, Stampfen, Stoßen, Treten, Trappeln,
Das wilbverworren burdeinandertoft ?
Wie ſchnell dem einen die Befinnung ſchwindet,
Indeß ber andre ſich in Ruhe faßt!
Das Schichal wirft zufammen, wen es findet,
Und fragt nicht erſt, ob man zufammen paßt.
‚Hier brüct der Propf mit kraftgeſchwolluen Teilen
Den Bufen, ber ihn Heute noch verfhmäht;
Dort drängt Eugen ben Babearzt mit Keilen,
Bis er fein Stödchen mehr nad) unten dreht.
Hier faßt Bob Gray mit todesbanger Miene
Des Medienburgers dichtbehaarten Schopf;
Dort ftedt in Peterfiliene Crinoline
Des Habrifanten ſchredenebleicher Kopf.
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Kurt lag Marien ziemlich dicht zur Tinten,
Sie ſchien gefaßt und völlig unverleßt:
Er fah zum Kuß die NRofenlippe winken
Und dachte plöglih: wenn, — warum nidt jett?
Bricht felbft der Himmel Über ihr zufammen,
Die Liebe Tchließt im Tode noch ben Bund:
Und mit der Jugend lebensvollen Flammen
Berührte er ben Tiebewarmen Mund.
Welcher Urt dagegen die humoriftifchen Plaudereien
find, welche der Autor liebt und durch deren Tormlofig-
feit und Endloſigkeit ſich allerdings auch der dünnſte
Stoff noch bis zu golddrahtartiger Feinheit breithänmern
läßt — dafür möge der Anfang bes achtzehnten Geſangs
ein Beifpiel geben:
Boeten, Prinzen, Priefter, Profefloren,
Und bie ihr fonft mein Heldenlied befeift,
Weil ich des Flachlands Butterweg verloren
Und durch der Freiheit Alpenmwelt geichweift,
Weil ich der Neuheit Fenrergeift beichworen,
Den Geift der Zukunft, ben ihr nicht begreift —
Ihr werdet jetst des Blödfinns ganze Macht ſehn
Die Ohren auf: Es fommt Kapitel achtzehn!
Birgil befang das thränenreiche Troja
Und Dido’s rothen minnigliden Mund;
Denn Maro war ein Dichter comme il faut ja,
Der fattfam auf bie Epik ſich verflund;
Doch driſcht and) er mitunter eitles Stroh ja,
Und Hatfcht und quatſcht und fafelt ohne Grund,
Und feine Rede Hingt wie Madagaſſiſch ...
Wer fragt danach? Cr bleibt body immer claffiich.
Ich finge nit von Dido’s ſtillem Grame,
Nicht von Askan's rnbinenhellem Blick;
Ein übler Ruf verläftert diefe Dame,
Auch war ihr Sohn ein ungezogner Strid.
Und Dido! wel ein abgefhmadter Name!
Man bat im Reimen fiber doch Geſchick —
Man reimt anf Hannjuft, Philipp oder Guido —
Wer aber findet Reime mir auf Dido?
Ich finge nicht, was abends fie zum Thee af,
Ob man gedämpfte Morcheln ihr fervirt,
Ob fie zum Frühſtück Fiſche aus der See af,
Und wer bei größern Feſten fie frifirt.
Ya felbft der edle Zrojerfürft Aeneas
Wird nit durch mi mit Heldenruhm geziert;
Sie find für mid) zu leblos und zu flarr beide,
Weshalb ich fie im Epos nicht verarbeite.
Wenn's bei Birgil nur ausnahmsmeife vorlommt,
Daß Blei fih unters Goldgeſchmeide miſcht;
Daß unter Weißen plump einmal ein Mohr fommt,
Der grinjend fi) die Doggennafe wiſcht;
Daß unter Kingen blind einmal ein Thor kommt,
Der über böhre Weltideen ziſcht; —
So ift bei mir der Blödfinn ftete Regel:
Ich freie nur vor ®...... pP nod die Segel!
Oft parobirt der Dichter die Art und Weife ber
modernen Romandichtung; fo wenn er uns dad Duell
zwifchen Kurt und dem Baron am Anfang bes elften
Gefangs jchildert, von defien Vorbereitungen im vorher-
gehenden mit feinem Wort die Rebe war, und uns gleich)
in medias res führt:
Bir find zur Stelle; hier bie Wurzellante,
Und dort der Blick anfs neue Babylon:
Es ift der Pla, den Yellow mir benannte, —
Und jetst Geduld und Faltes Blut, mein Sohn.
1% 86 Ein humoriſtiſches Epos.
Er ſchießt nicht ſchlecht, ich fag’ es unverhohlen,
Indeß ich Hoffe viel von Ihrem Muth.
Da kommt man ſchon: Bob Gray trägt die Piſtolen,
Er ſcheint mir bleih ... . noch einmal: Kaltes Blut!
Es Tiegt in der Eigenthüimlichkeit diefer Dichtweife,
daß uns ber humoriſtiſche Kommentar nirgends erlaffen
wird, indem der Autor nicht das Zutrauen zu dem Lefer
befitt, er werde aus eigenen Mitteln biefen Commentar
zu ergänzen willen. So parabafirt ber Dichter auch
bier gleid) in ben nächften Strophen:
„In medias res!’ Daß dies die erfle Regel
Gediegner Kunft und wahrer Epik ift,
Dezweifelt heutzutage nur ein Flegel,
Und was er fchreibt, da8 wirft man auf den Mift.
Ich babe nie dem Pöbelwahn gehuldigt,
Der feinem Blödfinn eigne Regeln lieb,
Wenn aud) mein Onkel Hempel mic beſchnldigt,
Ich fei ein „ur-verbummeltes Genie“.
Drum fiel id), um mid) deutlich auszudrücken,
Schon gleid zu Anfang mit der Thlir ins Hans.
Dies follte, dächt' ich, Hempeln felbft entzliden,
Streit er auch fonjt mir alle Strophen aus,
Ich ftellte gleich die beiden Duellanten
Herzflopfend — bang — einander vis-a-vis,
Ich bitte alle Onkel nun und Zanten!
So macht's doch Fein verbunmeltes Genie!
Weiterhin perfiflirt er die Sprünge nad) rückwärts,
welche unfere Romandichter Lieben; er läßt bie beiden
Duellanten einander gegenüberftehen und erzählt dann
erit die Beranlaffung zum Duell, die Reife nad) Ham-
burg und Helgoland, auf welder Kurt die junge Frau
begleitete und fich ihrer ſchrankenloſen Gunſt zu erfreuen
batte, und mie ein Zufall die Entbedung dieſer Treu
loſigkeit herbeiführte; auch hierbei fchenft er und die Pa-
rabafe nit:
Set, um euch recht ergreifend zu erzählen,
Wie's zum Duell nad) diefer Reife kam,
Laßt mic der Bremer fromme Weife wählen,
Die ich jo oft zum edeln Borbild nahm.
Sie weiß den Thee fo prächtig zu bejeelen,
Ihr Hauch verflärt fo magiſch Milh und Rahm
Und wedt des Durftes glühendfle Gelüſte,
Daß ich nichts Beſſres eud) zu bieten wüßte.
Acht Tage rüdwärts müßt ihr euch verjeßen,
Für deutſche Lefer fiher nicht zu ſchwer!
Autoren, die fonft nie den Takt verlegen,
Erlauben ſich ja Heutzutage mehr.
Es ift fo nett, fich tändelnd zu ergößen,
Man Hüpft und fpringt und ganfelt freuz und quer,
Auch rlidwärts, vorwärts, rlüdwärts und fo weiter,
Ich finde dies unendlich nett und heiter.
Die Verſe find ottave rime, aber fo frei behanbelt,
daß nur die Kleinere Hälfte der Strophen mit dem Drei-
Hang des Reims geziert ift, während die größere fich
davon emancipirt. Dennoch ift die freie Behandlung der
Strophe, wie fie Wieland in feinem „Oberon” und Schil⸗
ler in der Ueberfegung der „Aeneide“ angewendet hat,
vermieden, und der fünffüßige Jambus, mit Ausnahme
weniger Strophen, conjequent beibehalten. Die Aus-
nahmen werden gerechtfertigt entweber durch eine ono-
matopdiiche Malerei, wie wenn Anapäfte an die Stelle
der Jamben treten, bei Schilderung der Seefahrt und
des ſchwankenden Schiffs:
Literarifhe Ergebniffe ber Humboldt⸗-Feier. 87
Und Fatfchender immer begann e8 am Steuer zu jhlitteln,
Und fchallender immer im mächtigen Kampfe zu tofen,
Und patichender, platjhender immer die Planken zu rütteln,
Und wallender immer den prächtigen Dampfer zu ftoßen,
Marie verfpürte ein eigenes Zittern im Magen,
Weshalb fie ein Schnittchen mit Butter verzehrte und Thee trank;
Doch gab ihr der Tranf und die Speife kein volles Behagen;
Sie hauchte noch einmal: ‚Beliebter !" dann wurde fie ſeekrank.
Oder der geflügeltere Rhythmus wird motivirt durch
den größern Schwung der Darftellung, wie in jener
Situation, wo Armin die fich entkleidende Schöne be-
lauſcht:
So ſei's denn begonnen, das Lied von der holden Entkleidung,
Auch dich, mediceiſche Venus, umhüllt ja kein Hemd, —
(Es fei denn die Hand, die in zarter, verwegener Deutung
Roc ſehr par distance bie blühenden Reize umklemmt).
Set, da fie fih naht, der Erzählung fatale Eutſcheidung,
Jetzt kräftig den Schenkel dem Roß in die Flanken geftemmt
Kiterarifche Ergebniſſe
1. Alexander von Humboldt. Feſtrede bei der von den natur»
wiffenfhaftlichen Vereinen Berlins veranftalteten Humboldt⸗
Feier am Säculartage gefproden von A. Baſtian. Ber⸗
iin, Wiegandt und Hempel. 1869. Ler.-8. 7, Nor.
3. Gedüchtnißrede auf Alerander von Humboldt. Gehalten in
der Öffentlihen Situng der königlich preußifchen Akademie
der Wiffenfchaften zu Berlin am 1. Juli, dem Leibniz⸗Tage
des Jahres 1869. Bon H. W. Dove. Berlin, Dümm⸗
fer. 1869. Gr. 8 71% Nur.
3. Briefe von Alerandber von Humboldt an Chriftian
Karl Yofias Freiherr von Bunfen. Leipzig, Brockhaus.
1869. 8. 1 Zhlr. 10 Ngr.
4 Im Ural und Altai. Briefwechſel zwiſchen Alerander von
Humboldt und Graf Georg von Eancrin aus den Jahren
1827—32. Leipzig, Brodhaus. 1869. Gr. 8. 1 Thlr.
10 Ror.
5. Briefwechſel Alerander von Humboldt's mit Heinrih Berg⸗
hans aus den Jahren 1825—58. Zweite wohlfeile Jubel⸗
ausgabe. Drei Bände. Jena, Coftenoble. 1869. G©r. 8.
2 Thlr. 15 Ner.
6. Wlerander von Humboldt. Biographie für alle Bölker der
Erde von Otto Ule. Berlin, R. Leſſer. 1869. 8. 10 Ngr.
7. Alexander von Humboldt. Ein Lebensbild für Jung und
Alt. Bon Ferdinand Schmidt Berlin, Kaſtner. 1869.
16. 7A Rgr.
8. Werauder von Humboldt und feine Bedeutung für Bolls-
bildung. Eine Feftichrift zu feinem hHundertjährigen Geburte-
tage am 14. September 1869. Bon Rudolf Benfey.
Berlin, Albredt. 1869. Gr. 8. 10 Ngr.
Es war ftil am Humboldt-Zage in Tegel. Weber
dem See lagen graue Nebel; der Herbitwind jagte das
Laub von ben Bäumen ber großen Tindenallee, als wir
den Hügel binauffchritten, um Opfer zu bringen am
Grabe bes großen Todten. Kaum eine Seele durchwan⸗
derte den weiten anmmthigen Park, aber da8 Grab war
von der Familie geſchmückt mit ben Blumen des Herbfteg,
und Thorwaldſen's Statue der Hoffnung ſchaute herab
auf die Feine Schar, die pietätvoll hierher gewallfahrtet.
Aber wir waren fo ziemlich die einzigen, die von Berlin
hinausgezogen — das Boll war biefer Stätte fern ges
Itieben. Das hatte feine Freude unter Sturm und Res
en im neuen Humboldt⸗Hain, dem Bart der Zukunft,
- ‚nferer Literatur zu wünſchen ift.
Und luſtig in Metren gewechfelt und fröglichen Tönen,
Denn felbft das Berbotne vermag noch Apoll zu verichönen.
Auch findet fih eine Strophe mit vierfüßigen Jam⸗
ben, wofür wir indeß feinen rechten Grund abfehen
fönnen.
Da der Humor des Dichters geiftreih ift und mit
jprühenden Schwärmern und prafjelnden Raketen glüd-
lich feuerwerkt, auch eine Menge Üiterarifcher Bezüge in
fein Werk hineingeheimnißt, da die Form das ſeicht Triviale
vermeidet und hier und dort bdichterifchen Adel gewinnt,
jo muß man das Edftein’fche Epos immerhin als einen
ſchätzenswerthen Verſuch auf dem Gebiete komifcher Dich-
tung betrachten, die fi in neuer Zeit der gefchloffenen
Form und lapidaren Prägnanz bes Metrums und Reims
mehr entäußert bat, als im Intereſſe der Entwidelung
Audolf Gottſchall.
der Aumboldt- Feier.
gefunden. Da ftanden fie zu Taufenden, Kopf an Kopf,
bie Gewerke mit ihren Bahnen, die Zimmerlente mit Art
und Schurzfel und falfchen Bärten — und zeigten ſich.
Mas war ihnen Humboldt! Täuſchen wir und boch nicht;
dem Volke ift Humboldt doch nur ein Name geblieben, es
empfängt indirect die Segnungen, bie er auögeftreut; er
felbft liegt ihm fern. Uber wieder anders geftaltete fich
das Bild in der feierlichen Berfammlung, die im Concert-
faale bes Föniglihen Scaufpielfaufes auf dem Gens⸗
darmenmarkte ftattfand; dort hatte ſich zufammengefunben,
was Namen und Ruf in Berlin befigt, die Spigen ber
Behörden, die Koryphäen aus dem Reich der Wiflenfchaft,
alle8 was wahr und wirklich an dem Heroen des Geiftes
Bing, dort vernahm auch die illuftre Derfammlung das
größte und fchönfte Denkmal, das Humboldt je geſetzt
wurbe, das Hohelied — denn fo möchten wir Adolf Ba-
ſtian's „Feſtrede“ (Nr. 1) bezeichnen. Baſtian fchien
uns an biefem Tage ein anderer. Wie fchwer war es
uns nicht immer geworden, uns durch feine von immenfer
Gelehrſamkeit zeugenden wuchtigen Werke, dieſe Toloffalen
Stofffammlungen, hindurchzuarbeiten. Und Beute! Leicht
und fließend, im edelften Rhythmus glitt die Sprade
dahin, oft fich bis zum begeifterten Dithyrambus erhebend.
Nicht Humboldt allein führte er uns vor, fowie bie an-
dern alle, die über ihn jett gefrhrieben. Er griff in bie
fernfte Gefchichte des Menfchengefchlechts zurück und zeich-
nete uns die Cultur⸗ und Weltftellung des Mannes, der
zum Bertreter unferer Seitepoche wurbe und auf der breis
ten Unterlage vergleichender Willenfchaften ein feftes und
fihere8 Fundanıent legte, um den Tempel des harmoni⸗
chen Kosmos inductiv zu erbauen. Humboldt, fo fagte
Baftian richtig, wollte uns Fein Syſtem geben, fondern
eine Methode, die Methode ununterbrochener Fortbildung
im Bereiche des Geiſtes. Spfteme find ephemer, feine
Methode dagegen ift dauernd für alle Zeit, weil organi«
ſcher Fortbildung fähig.
Baſtian's Rede mußte ſchon naturgemäß vor allen
ndern hervorragen, denn er ſebſt hatte ja etwas voraus,
—
Ser
was andere ſich nicht zu geben vermodten. Er, der am
weiteften gereifte Mann, der gegenwärtig lebt, war aud)
alle die Bahnen — in der Alten wie in der Neuen
Welt — gegangen, die Humboldt felbft einft gewandelt,
und fo famen ihm bei der Beurtheilung zugute feine An-
fhauung der Urwälder und der Gordilleren Amerikas,
die Kenntniß der Steppen und entralgebirge Afiens.
Auch er Hat die großen Eindrüde der Urwälder empfun-
den, die nach ihm fo maßgebend fiir Humboldt's Ent»
widelung waren:
Während die Titanen und Giganten, groß an Geift, dod)
ungeftalt und ungeſchlacht in ihren Gliedern, im Federkampfe
Europas heiß und zornig miteinander ftritten, im lauten Feld⸗
geſchrei — war in den Urmäldern Amerilas die Geburt des
Dlympiers vollzogen, der harmoniſch im Ebenmaß ber Propor-
tionen ans Licht treten follte, im Architelten des Kosmos in⸗
carnirt. Er brachte uns als Frucht feiner Meditation die Grund
züge der Bee die Harmonie des Kosmos,
unter deren im einheitlichen Wohlklang zufammentönenden ®e-
fegen bie neue Reltauffaffung ihrem Abſchluß entgegenreifen
wird.
Noch vor Baftian hatte am Leibniz⸗Tage vor der
Akademie auch einer der Fürften in ber Welt des Geiltes,
9. W. Dove, geſprochen (Nr. 2). Auf ihn, den Me-
teorologen, war die Wahl der Akademiker gefallen, Hum⸗
boldt zw ehren; aber er bemerkt, auf jeden aus der Zahl
der Mitglieder hätte die Wahl gelenkt werden Tönnen:
denn welchen Weg auch defien befondere Studien genom-
men, man fonnte ficher fein, daß Humboldt’8 Arbeiten
ihm dieſen geebnet. Dove fchildert Humboldt's Bedeu⸗
tung, indem er an befjen Leben anknüpft, das er in
großen Zügen vorführt. Reichen feine perfönlichen Er-
innerungen auch nicht in bie Jugendzeit des Gefeierten
zurück, fo Hat er ihm fpäter doch nahe genug geftanden,
um manches bisher Unbelannte bei diefer Gelegenheit mit«
theilen zu können. Er ſchildert jene deutſche Naturfor-
ſcherverfammlung zu Berlin, die wol als die bedeutendfte
in der langen Reihe bafteht und die fich felbft ehrte, indem
fie Humboldt zu ihrem Borfigenden ernannte, neben dem
dann Männer wirkten, wie Leopold von Buch, „Fr deſſen
Auge die Erdoberfläche durcchfichtig geworben“, und Gauf,
auf deſſen hoher Stirn das ftolze Wort des Paraceljus
gefchrieben ftand: „Engländer, Franzoſen, Italiener, ihr
mir nad), nicht ich euch!" Aber beide Ausfprüche können
wir aud) von Humboldt gelten Laffen, über deſſen An-
erfennung in der Heimat und Fremde Dove viele neue
Belege mittheilt:
Wer Paris verläßt, ift dort bald vergefien; Humboldt nicht.
„Site haben‘, fagte mir bei der erfien Induftrieausftellung in
Baris ein franzöfticher Gelehrter, „bei dem Einzuge der Königin
von England gejehen, wie wir Könige empfangen. Sagen Sie
Hrn. von Humboldt, er möge nod einmal nad) Baris fommen,
und die Welt wird jehen, wie wir den König der Wiſſenſchaft
zu ehren verſtehen!“ Als ich mid) meines Auftrags entledigte,
entgegnete Humboldt: „Ich kann es nicht; Ihnen brauche ich
nicht zu jagen warum.“
Daß Dove in feiner Rede feiner fpeciellen Wiffen-
Schaft, der Meteorologie, eingehende Beachtung widmet,
foweit fie mit Humboldt zufammenhängt, ift ganz natür⸗
ich, und hier nimmt er Öelegenheit, einigen verbreiteten
Irrthümern entgegenzutreten. Durch Verbindung der
Waärmeabnahme nad) ber Höhe mit der Temperatur⸗
erniedrigung bei zumehmender geographifcher Breite ent»
88 Literarifhe Ergebniffe ver Humboldt-Feier.
warf Humboldt befanntlih den Durchſchnitt ifothermer
Flächen von den Gebirgen in einem durch den Meridian
gehenden Duerjchnitt des Luftkreiſes. Schließlich zeigt ex,
daß, wenn man in ähnlicher Weife die Unterfuchung für
Sommerwärme und Winterfälte durchführe, indem man
Hothermen und Iſochimenen entwerfe, man die Eigen
thümlichkeit des See» und Continentalklimas in die Dar-
ftellung aufnehmen kann. „Dieſe Linien felbft hat er nicht
entworfen, jo oft fie auch von denen angeführt werben,
die, Humboldt’8 Namen ftets im Munde führend, doch
nie feine Schriften gelefen, fonbern ihre Kenntniſſe nur
den conjequent voneinander abjchreibenden Lehrbüchern ver-
danken.“
Sehen wir ab von den für die weiteſten Schichten des
Volks beſtimmten Schriften, auf die wir am Schluſſe
zurückkommen, ſo ſind dieſe beiden Reden das Wichtigſte,
was iiber Humboldt gelegentlich feiner Säcularfeier an
die Deffentlichfeit getreten ift. Aber auch von Humboldt
jelbft Haben wir Nachträgliches erhalten. Es find Teine
Griffe in den Papierkorb geweſen, wie fie fonft bei ähn⸗
lichen Gelegenheiten gethan werden, fondern vollwichtige,
Humboldt’8 Leben und Werke wejentlich bereichernde und
ergänzende Exfcheinungen, die von ber Firma F. U. Brod-
haus dem deutfchen Volke als Feſtesgaben geboten wurden,
Führt und der DBriefmechfel Humboldt's mit Bunſen
(Nr. 3) den Menfchen näher, fo gibt uns das von ber
ruſſiſchen Heife bandelnde Werk: „Im Ural und Altai“
(Nr. 4), wichtige Aufſchlüſſe über die gelehrten An-
ſchauungen Humbolbt’8 und ergänzt in erfrenlicher Weife
einen Abſchnitt aus feinem Leben, über den wir bisher
zumeift auf Roſe's Reiſewerk angewiefen waren, burd)
eigene Aufzeichnungen.
Infolge der Veröffentlichung von Varnhagen's „Tages
büchern“ bat man fi daran gewöhnt, Humboldt und
Bunfen gerade nit als Freunde zu betrachten. Dort
finden fid) Aeußerungen Humboldt's, welche keineswegs
günftig fir Bunfen lauten. Hier aber, in 92 Briefen,
die fich über den Zeitraum von vierzig Jahren erftreden,
1816 beginnen und 1856 fchließen, lefen wir nur Worte
der größten Anerkennung und Werthihägung für Bunſen.
Der ungenannte Herausgeber hat recht, wenn er im Nach⸗
wort hervorhebt, daß darum der Vorwurf der Zweibdentig-
feit auf Humboldt's Charakter noch nicht gewälzt werben
könne, daß vereinzelten Aeußerungen gegenüber diefe lange
Reihe wahrhaft freundfchaftlicher Briefe ſchwerer ins Ges
wicht falle, und daß jene die fchlimmften Berleumder
feien, welche unfere Augenblide verzeihlicher Gereiztheit
und? Schwäche benugen, um uns Worte abzulanfchen,
die den bleibenden Zügen unſers Charafter8 fo wenig wie
der Wahrheit entfprehen. Wenn wir Worte Humbolbt’s
für Bunfen finden wie biefe: „Ich kann diefem Briefe
nicht mehr anvertrauen, al8 den ernenerten Ausdruck mei-
ner tiefen Hochachtung für Ihre Oefinnung, Ihr edles,
freies, Fräftiges Wirken“ — dann müfjen die Gegenftim-
men jchweigen. Und ſolche Aeuferungen find Häufig im
Briefmechfel.
Die farkaftiiche Seite Humboldt’s, an ſich der Sitte
der Zeit entiprechend, tritt auch im diefem Briefwechfel
hervor; fie ift e8, welche nad) feinem Tode vielfach zur
Caricatur verzerrt dem Publifum dargeboten wurde. Aber
Literariſche Ergebniffe der Humbolbt-Feier. 89
auch zugegeben, daß ber, welcher fein ganzes Leben Hit
durch für andere fi abmühte, manchmal im lebhaften
mündlichen ober ſchriftlichen Verkehr das Maß überfchrit-
tem, das er im dem dom ihm felbft veröffentlichten
Schriften ſtets ftreng einzuhalten verftand, follten wir
darüber doch nicht die edeln Geiten feines Charafters,
die tiefen Gefühle feines Herzens vergefien. Und wie
trifft er bei ſolchen ſcharfen Aeußerungen doch gewöhnlich)
den Nagel auf den Kopf! Bunfen fol von Humboldt
bei Friedrich Wilhelm III. eingeführt werben. Der Fürft
Bittgenftein erläßt an erftern bie nöthige Kleiderorduung,
worüber Humboldt fchreibt: „Gewöhnlich find die wenigen
Perfonen, die der König empfängt, in Brad und rundem
Hute; doch wage ich für Sie nicht über ſo wichtige Dinge
zu entſcheidea.“ Es handelte ſich um Schelling s Beru-
fung nad) Berlin, welchen Humboldt den „geiſtreichſten
Manır unſers Vaterlandes“ nennt, und die auch der Kron-
prinz, der nachmalige König Friedrich Wilhelm IV.,
befürwortete. Welde wenig beneidenswerthe Rolle der
Minifter von Altenftein hierbei fpielte, ergibt der Briefe
wechſel, den man über diefen intereffanten Fall nad-
fefen möge. .
Ueber Friedrich Wilhelm’s IV. Verhältniß zu Humboldt
finden wir eingehende Nachrichten. So fehr er an dem
geiftreichen Monarchen Hing, ift er doch nicht blind für
defien Fehler. Kurz nach defien Thronbefteigung heißt
es: „Sein allgemeines Beitreben ift, fi) von den aus-
gezeichnetten Männern deutſcher Nation zu umgeben, und
diefe Richtung, mein theuerer Freund, ift der Gegenſtand
dieſer Zeilen.” Nun wird über die Berufung von Cor ·
nelius, Felix Mendelsſohn, Nüdert’s, beider Grimm
gefprochen. „Der König”, heißt es an einer andern
Stelle, „ift beffer und fteht geiftig höher als alle, die ihn
umgeben. Möge er ſich endlich Werkzeuge zum Handeln
ſchaffen und Muße unter dem Drange der täglichen klei⸗
nern Geſchafte, die man ihm aufdrüngt.“ ber fieben
Jahre fpäter, als der Vereinigte Landtag berufen wurde,
als Friedrich Wilhelm IV. in der Halbheit fteden blieb,
urtheilt Humboldt folgendermaßen:
Benn man lebhaft mit dem Ruhme eines fo hochbegabten
zein menſchlichen Königs befhäftigt ift, wenn man fo fehntichft
ihm allgemeine Anerkennung wünfcht, fonnten die Ergießungen
am 11. April (bei Eröffnung des Vereinigten Landtags) nur
fhmerzen. Ich mar zugegen. Die Beftürzung war allgemein,
felbft bei denen, melde an der änferflen Grenze des Ariftofra
tiemus fiehen, Ace, was verwunden mußte, war zufammen-
gehäuft, und bei dem @indrude, dem die aufgeftellten Priu⸗
Cipien machten, blieb für den Eindrud, den jonf immer die
edle Freimlithigkeit Hervorbringt, fein Raum.
Noch trüber werden Humboldt’8 Aeußerungen in der
Reactionsperiode, und er läßt Hier feine Gelegenheit vor-
übergehen, um feinen Unmuth über bie Sreugzeitungs-
partei auszufpredhen. Das ift bie Partei, bie ihn „müthig
Haft“, der er „ein alter tricolorer Lappen“ ift. Bittern
Ausdrud gibt er feinen Gefühlen am 14. September 1850:
Ic, ſchreibe diefe Zeilen an einem ernflen Tage, an meinem
vorfündflutlichen einundadhtzigften Geburtefeſt, einer Zeitepode,
in der, zwar dur die Gnade Gottes einer unbegreiflic feften
Gefundheit und großer Arbeiteliebe geniegend, ich doch in etwas
trüben Wefen in mich hinein und um mid) Herblide. In einem
folhen Zeitabfehnitt denkt man an dag wenige, das man voll-
indet, man denkt an die politifchen Vebrängniffe und Elendig-
1870, 6.
feiten der Zeit, am alles, was ein Menfd; meiner Färbung
feit 1789 gewünſcht hat.
Nicht minder Herb lauten dann bie Aeußerungen über
den Eultusminifter von Raumer, ben er mit dem Füfle
lichen Worte „eifige Beichränftheit” charalteriſirt, über
den „eibbrüchigen Gewaliſtreich“ in Frankreich, über das
ganze Gebaren deö zweiten Kaifertfums. Erquidlichern
Bildern begegnen wir, mo es fih um bie Förderung
wiffenfchaftlicher Unternehmungen aller Art Handelt. Hier
war Humboldt unermüdlich, und Bunſen's wichtige Stel
tung in Rom wie in London, fein weitreichender Einfluß,
feine vielen perſönlichen Beziehungen wurden eifrig ause
genutzt. Kaum irgendeine der bedeutenden Erfcheinungen
auf den Gebieten der Wiſſenſchaften und Kitnfte bleibt in
dieſem Briefwechfel unberüprt, für Lipfius und Brugſch,
die Schlagintweit und Mar Müller, Reinhold Roft und
Dieterici, den Bildhauer Hähnel u. f. w. finden wir
Wohlwollen, Förderung.
Wiegen in diefem Vriefwechfel allgemein wifjenfchaft«
liche, perfönliche und politifche Beziehungen vor, fo führt
ung die Correfpondenz Humboldt’8 mit dem ruffifchen
Grafen Eancrin auf ein ganz fpecielle8 Gebiet. Sie hans
deln nämlid von der ruſſiſchen Reife, die Humboldt bes
danntlich im Auftrage des Kaifers Nitolaus machte und
die für die Wiffenfhaft wie für Rußland insbefondere
von fo wichtigen Folgen war. Die Herausgeber der
Briefe, Dr. W. von Schneider und Hofrath W. — in
Petersburg, haben gleichzeitig die auf jene Reife bezüglichen
Acten des ruſſiſchen Sinanzminifteriums benuten dürfen
und durch beigefügte Actennachweiſe das vorliegende Werk
zu einem abgeſchloſſenen Ganzen geftalten Können.
Angefnüpft wird ber Vriefwechfel dadurch, daß der
Finanzminifter Cancrin an Humboldt neue ruſſiſche Platin«
münzen fchidte und ihn über deren Werth als Verlehrs⸗
mittel befragte. Hier zeigte ſich nun gleich Humboldt's
Scharfblid, indem er von vornherein die Ausprägung
folder Münzen widerräth, die befanntlich auch fpäter aus
dem Verlehr zurüdgezogen werben mußten. Humboldt's
vollswirthſchaftliche Anfhauungen waren ungemein ſchla-
gend und ftellten 1827 bereits, wo die internationalen
Beſtrebungen unferer Tage noch unbelannt waren, all»
gemeine Weltmünzen in Ausfiht. Provinzialmünzen, meint
Humboldt, könne es nicht mehr geben; ein faft unermeß ⸗
liches Reid), wie das ruſſiſche, ſcheine freilich zu ſolchen
Berfuden geeignet, aber ganz infelförmig abgefchloffen ſei
es doch nicht; der Handel dringe auch über feine Gren⸗
zen. Außerdem Halte e8 ſchwer, nad; Jahrtauſenden ein
neues Metal als bequemes Umtaufchmittel allgemein gel«
tend zu machen, das in Bezug auf Verbrauchswerth mit
Gold und Silber nicht zu concurriren vermöge:
Im großer Maffe erzeugt und vermünzt, von der fabrif-
artigen Anwendung faft- gänzlid; ausgeidfoffen, wurde die Pla»
tina, als Diünze in einem Staate angehäuft, ein fhweres, un»
bequemes Papiergeld werden, und der fo wohlthätig beabfid-
tigte Zwed, den Befigern der Bergwerke dadurch zu nißen,
daß man ihnen für das rohe Erzeugniß Platinamlnze Lieferte,
würde dann gänzlid, verfehlt. Wenn a daher nicht geneigt
feine, eine eigentliche Münze, welche in Taiferlichen Kaffen
angenommen würde, amzurathen, fo bin id; doch darin ganz
mit Ihnen einverftanden, daß der Staat die bergmännifde Ge»
winnung des Metalls in dem ſchönen Urafgebirge infofern ber
febte, aĩs ev eine große Zahl von Denkmünzen und Ehren
12
Su.
90 Ein Beitrag zur Charalteriftit des Königs von Weftfalen.
medaillen prägen ließe, welche an bie Stelle der Ehrenzeichen
von Gold und Silber treten Töunten.
Nun beginnen die Unterhandlungen über die Reife.
Zunächſt wird der pecuniäre Punkt erläutert, auf den
Humboldt gern eingeht, „ba er fein eigenes Vermögen für
nicht ganz unrühmliche Zwecke vernichtet habe“. In liberaler
Weiſe verfügte Kaifer Nilolaus nun, „daß bie Reifekoften
aus dem Staatsſchatz beftritten und an Humboldt alles
da8 abgelafjen werden folle, was er nur fiir nöthig halte”.
Wie großartig diefes Taiferliche Wort dann durchgeführt
wurde, wiſſen wir ſchon aus Roſe's Heifebericht, nad
welchem bie brei Gelehrten — Humboldt, Roje, Ehren-
berg — wahrhaft fürftlich reiften. Für legtere beiden Hatte
Humboldt fpeciell ein gutes Wort eingelegt, und jo wur⸗
ben fie gern als feine Begleiter anerlannt. Daß Ruf
land nur fich felbft Hiermit am meiften nugte, haben bie
Refultate der Reife beiviefen.
Nach mandherlei Vorbereitungen waren die drei Yor-
ſcher endlich unterwegs. Schon von Moskau an begin»
nen dann Humboldt's Heifeberichte an Cancrin, bie, je
mehr fie fich dem eigentlichen Reifeziele, den Bergwerks⸗
diftrieten des Ural nühern, mineralogifcher und ölonomi«
fer Art werden. Stets überrafcht das tiefe Urtheil
Humboldt's über bie geognoftifchen Verhältniſſe, über das
Borlommen der ebeln Metalle, und manche feiner Borher-
fagungen, die wir bier zum erſten mal verzeichnet fin⸗
den, find ſeitdem buchſtäblich eingetroffen. Aber immer,
wenn Humboldt auch für Rußland reifte, ſelbſt an der
hinefifchen Grenze, ift er fich feiner deutfchen Stellung
bewußt, wie aus einem Schreiben an bie Gräfin Cancrin
hervorgeht. Diefe Hatte ihm ein deutſches Briefchen ge-
fendet, anf welches Humboldt antwortete:
Ich erfuhr durch Ste ſelbſt erfi und nicht ohne Stolz für
mein Vaterland, daß deutſche Zöne nicht blos rein und milde
ans ihrem Munde widerhallen, fondern daß Sie aud) im Schrei»
ben alle Schwierigkeiten unferer Sprache finnig zu löſen ver-
ftehen._ IH will den Ausdrud meiner Dankgefühle ablürzen,
damit Sie nit in Berfuchung fallen, wie unfere überrheini⸗
ſchen Nachbarn deutſch und langweilig für fynonym zu halten,
Der dritte uns vorliegende Briefwechfel (Nr. 5) war
bereits im Jahre 1863 erſchienen und tritt nun aber-
mals als wohlfeile Jubelausgabe ans Licht. Euthält er
auch — wofür Humboldt nicht verantwortlich gemacht
werden kann — manches gar nicht zur Sache Gehörige,
fo ift er doch anerkanntermaßen einer ber wichtigften Bei⸗
träge zur Gefchichte der Geographie in neuer Zeit und
gewährt außerdem tiefe Einblide in die Art und Weife
der wifjenfchaftlichen Thätigkeit Humboldt 6. Wir fehen,
wie er während eines Zeitraumd von 30 Jahren mit
nnabläffiger Aufmerkſamkeit den Bewegungen auf dem
Gebiete der Erdkunde folgt, überall eingreift und thätig
iſt, jedem neuen und wichtigen Refultat feine Thätigfeit
zuwendet. Wir finden Mittheilungen berborragender
Gelehrten aus beiden Erdhälften und werthvolle Abhand-
lungen, bie früher entweder nod) nicht gedrudt oder doch
in Beitfchriften zerftreut waren. Man kann bier ben
Gang verfolgen, welchen die Entwidelung der Geographie
genommen bat; Briefe wie Beiträge find im hohen Grade
belehrend, und nicht nur der Gelehrte von Fach findet
reiche Ausbente, fondern auch der Freund der Erdkunde
erhält manche Anregungen und Auffchlüffe über wichtige
Sachen und bebeutendbe Perfonen. Mit Vorliebe ſehen
wir 3. D., wie Humboldt fi mit den Bereinigten Staa⸗
ten befaßt und wie er fid) gegen Berghaus verwahrt,
welcher der Union ein böſes Prognoftifon ſtellt:
Ein anderes ift es, wenn, wie Sie fehr richtig bemerken,
bie Stlavenfrage bdereinft zum Ansbrudhe kommen follte; für
den Fall theile ih vollftändig Ihre Auficht über das Precariumt
des ftaatlichen Beſtandes der nordamerilanifchen Union. Ich
wünſche, diefen Kal nicht zu erleben. Ich Halte viel, ſehr viel
anf die Vereinigten Staaten, weil fle der Hort einer vernünf⸗
tigen freiheit find.
Humboldt ftarb vor Thorfchluß, fonft hätte er noch
den kurz darauf aushrechenden Bürgerkrieg infolge ber
Sklavenfrage gefehen, der in der That den ftaatlichen
Beſtand der Union in Trage ftellte.
Zum Schluffe betrachten wir Humboldt in der Ver⸗
breiterung. Wir haben anfangs bereit8 bervorgehoben,
dag wir ihn entfchieden als Kaviar fiir die tiefen Schich⸗
ten des Volks betrachten, und daß die Berwäflerung und
ordinäre Auftifchung dieſes Heroen der Wiſſenſchaft für
folde Klaſſen, benen er naturgemäß fern ſteht — komme
ihnen fein Wirken auch mittelbar zugute —, uns ein Greuel
if. Wir wollen diefen Ausſpruch auf Otto Ule's tüchtige
Urbeit (Nr. 6) nicht angewandt wiflen; er fchreibt als
begeifterter Yiinger für das große beutfche Volk im beffern
Sinne und zeigt, wie feine Arbeit meift aus den Quellen
geflofien iſt. Bon den Heinen Biographien, bie für we—
nige Groſchen zu Haben find, ift es entjchieden die
beſſere. An fie reicht die Lebensbefchreibung Ferbi-
nand Schmidt’& (Nr. 7) nicht heran; fie unterfcheibet
fih nicht wefentlid von ältern Biographien, die noch zu
Humboldt's Lebzeiten erfchienen und denen fie folgt. Ganz
tendenziös und vieles hineintragend, was uns ungehörig
erfcheint und Humboldt's Bild verzerrt, erfcheint uns
R. Benfey’s Feſtſchrift (Nr. 8) Der entfchieden
demofratifche Standpunkt wirb hervorgehoben, die Schrift,
die „abfichtlich als Parteifchrift gehalten iſt“, wirb bejon-
ber& den „„Arbeiter-, Bildungs⸗ und Handwerksvereinen“
empfohlen. Die Hauptfache bleibt, daß fie uns Fein rich-
tiges Bild von Humboldt Liefert; fie ift einfeitig durch
und durch. Richard Andre.
Ein Beitrag zur Charakteriſtik des Königs von Weffalen.
König Jeéroͤme und feine Kamilie im Exil. Briefe und Auf-
zeichnungen. Herausgegeben von Erneftine von L.. Leipzig,
Brodhans. 1870. 8. 1 Thlr. 20 Ngr.
Die Geſchichte des Haufes der Napoleoniden iſt fo aben-
tenerlich wunderbarer Natur, daß fie ausfchmüdender Er⸗
findung nirgends bedarf und gerade in jchlichtefter Dar⸗
ftelung am mächtigften wirt. Dem ehernen Gange
ihrer welterfchlitternden Thatfachen gegenüber kommt felbft
die fruchtbarfte Phantafte zu kurz; nicht blos für das
Zerftörungsgenie des erften Napoleon, auch für die Schick⸗
fale feiner Angehörigen, die ihre Bedeutung durch ihm
erhielten, erweiſen fi die Grenzen der Romandichtung
.
Ein Beitrag zur Charakteriſtik nes Königs von Weftfalen. 91
als zu enge; wir Iernen ſolche Perſönlichkeiten lieber
Tennen aus zuverläffigen Nachrichten über ihr inneres
und äußeres Leben, ald aus fogenannten hiſtoriſchen Ro«
manen, die doch bei umd meiſtens invita Minerva ge
fchrieben werden. Bon biefem Geſichtspunkte aus können
wir das oben angezeigte Büchlein, welches wir mit leb⸗
hafterm Intereſſe und größerm Genuß gelefen haben
als irgendeinen uns zu Händen gefommenen Biftorifchen
Roman der legten Jahre, allen gebildeten Kreifen auf
das wärmfte empfehlen. Ueber den Inhalt berichtet das
furze Vorwort der Herausgeberin in jo ſchlichter und
anſpruchsloſer Weife, dag es nur zur Empfehlung des
Buchs beitragen Tann, wenn wir das Vorwort ganz
herſetzen:
Unter den Papieren, bie ich als thenre Andenken ver⸗
florbener Freunde aufbewahre, waren ımir ſtets die Tagebuch“
blätter der Frau von 8. ein bejonders werthvolles Vermächt ⸗
niß. Es ſpricht aus diefen einfachen, kunftlofen Aufzeichnungen
fo viel natürliche Anmuth und wahre Herzenebildung, eine foldhe
Wärme des Gefühle und Gefundheit des Urteils, dag man
an der Perſon der Gchreiberin wie an ihren Heinen häus-
lichen Freuden den innigfen Antheil zu nehmen fi gedrungen
fieht. Ihr Tagebud) bietet aber noch ein weitergeheudes, all-
gemeineres, für die Gegenwart gewiß nit unwichtiges Ju—
terefie. Denn e8 gibt zugleih, da Herr und Frau von B.
während einer Reihe von — zur nächſten Umgebung dee
Erlönigs von Weſtfalen Jerome Napoleon und feiner Familie
gehörten, ein treues Bild ‘von dem Leben der depofjedirten
Napoleoniden im Eril: ein Bild, das durch die zahlreich ein⸗
—— Briefe des Königs Jerome, feiner Gemahlin, der
ringeffin Katharina von Würtemberg, feiner Schweſter, der
Erfönigin von Neapel Karoline Murat, des Kaifers Nikolaus
von Rußland und anderer Hiftorifcher Perfonen volle Ergän-
zung und Befätigung erhält. Aus meinen eigenen Erinne -
rungen braud)te id daher nur wenige Hinzuzuthun, um. ben
Zufammenhang Herzuftellen und Hier und da eine Lücke aus-
zufülen.
So weit die Herausgeberin, und wir fünnen Binzue
fügen, daß ihr Bud) noch mehr enthält, als das Bor-
wort verſpricht. Ohne alle politifche Färbung gefchrieben,
mwedt und erhält e8 unfer Interefje an den mit großer
Anjchaulichkeit geſchilderten Perfonen zumeift dadurch, daß
wir biejelben hier nur in ihren intimften, rein menſch-
lichen Beziehungen und Lebensäußerungen kennen lernen,
wo fie denn durch manchen Liebenswürdigen Zug unfern
Sympathien näher treten, als fie je in den Tagen ihres
Glanzes vermochten. Als König von Weftfalen fpielte
befauntlich Yeröme eine Hägliche Figur. Er war feines-
wegs unfähiger und auch nicht ſchlimmer, als bie Fürften
im Durchfchnitt find, aber er war zum Regieren weder
geboren noch erzogen; er war auf ben Thron gelommen,
wie die Cocarde auf den Hut, ohne innere Zufammen-
gehörigkeit damit. Er hatte nichts von dem Genie und
aud) nichts von dem raftlofen Thatigkeitstriebe feines
weltftürmenden Bruders, der ihm als jüngftes Mitglied
der Familie faft wie ein Kind behandelte und ifm ale
Regenten felbft nicht in ber Wahl feiner Rathgeber freie
Hand ließ. Den Interefien des Landes völlig fremd,
gab Feröme fich auch nicht einmal die Mühe, bie beutfche
Sprache zu erlernen, von welder ihm nur die Worte
geläufig wurden: „Morgen wieder luſtick!“ Diefe Worte
wurden bezeichnend für die ganze Dauer feiner Regier
zung. . Seit den Tagen Auguſt's II. von Sachſen hatte
man in Deutſchland ein fo prunfvolles und ausſchwei⸗
fendes Hoftreiben nicht gefehen, wie es ſich fehnell in der
Refidenz des jungen, lebensluſtigen und pradjtliebenden
Königs bon Weftfalen entwidelte. Kaffel wurde ein Hein
Paris, das von franzöfifchen Abenteurern beiderlei Ge-
ſchlechts wimmelte und befonders in ben höhern reifen
der Geſellſchaft feine alte Zucht und Sitie vielfachen
Schaden nehmen jah. Kann man angefihts biefer That»
ſachen über das Regiment des Königs Ieröme kaum zu
ftrenge urtheilen, jo bleibt es doch pſychologiſch höchſt
intereffant zu gewahren, wie er einen perfäntiden Zauber
befaß, der ihm nicht nur ſchöne Frauen mohlgeneigt
machte, fondern auch fittenftrenge Männer fo an ihn
feffelte, daß fie fih ihm im Old wie im Unglüd als
zuberläffige Freunde bewährten. Zu dieſen gehörte auch
der Herr von B., deſſen Gemahlin die Tagebuchblätter
eſchrieben, welche den Hauptinhalt des Hier in Rebe
Rehenben Buchs bilden. Herr von B., der in früher
Jugend feine militärifche Laufbahn unter weſtfäliſchem
Regiment begonnen und viel Freundlichkeit vom König
Jerdme erfahren hatte, Fam aus dem fpanifchen Feldzuge
als einundzwanzigjähriger Capitän mit nur einem Arme
zurück; den andern Hatte ihm eine fpanifche Bombe weg-
geriffen. In Kaffel war er fo glüdlih, das Herz eines
feingebildeten und anmuthigen Fräuleins von achtzehn
Jahren zu gewinnen, und aus den Liebenden wurde bald
ein von der Kirche gefegneted Paar, als er den Poſten
eines Mar&chal des logis und Oberflieutnants bei Hofe
erhalten Hatte. Das Glüd follte aber nicht lange dauern,
da mit bem October des Jahres 1813 auch bie weſt-
fäliſche Königsherrlichleit zu Ende ging und fomit dag
vermögenslofe junge Paar ſich aller Subfiftenzmittel ber
raubt fah. So traten denn Tage fehwerer Sorge ein;
alle Bemühungen des Herrn von B., bei einer deutſchen
Regierung eine Anftelung zu finden, blieben ohne Er-
folg: fein deutſcher Hof wollte den einarmigen jungen
Mann in feine Dienfte nehmen. Als ber mig don
der traurigen Lage des Herrn von B. erfuhr, bot er
ihm eine Stellung bei fih an, und zwar in überaus
delicater Weife. So geſchah es, daß das junge Paar
dem Erkbnig ins Eril folgte und lange Jahre in traue
lichem Zufammenleben mit Jeröme und feiner vortreffe
lichen Gemahlin blieb, welche man aus den Aufzeichnungen
der Frau von B. ganz befonders Fiebgewinnt. Die in-
time, ohne jede Abfiht auf dereinftige Veröffentlichung
gefchriebene Schilderung des Zufammenfebens ber beiben
Tamilien mit den hineinfallenden Befuchen, Correfpondenzen
und wechfelvollen Ereigniffen verleiht bem Buche einen
ganz eigenthüimfidhen Reiz. on der chronique scan-
daleuse ber Yöniglichen Vergangenheit ift in den Aufe
zeichnungen mit feiner Silbe bie Rede: wir Iernen Io
röme nur als zärtlichen Gatten und Vater, und nebenbei
als feingebildeten und liebenswürdigen Menfchen kennen,
deſſen Fehler und Schwächen nicht einem böjen Herzen,
fondern einer entfchiedenen Principlofigfeit des Dentens
und Handelns entfpringen.
Im öffentlichen Urtheil wird ber Werth der Menfchen
im allgemeinen und der Fürften insbefondere eben da=
nad geſchätzt, ob fie nad; beftimmten Grundfägen oder
blos nad; Willkür und Laune handeln. If ſchon ein
12*
90
mebdaillen prägen Tieße, welche an bie Stelle der Ehrenzeichen
von Gold und Silber treten könnten.
Nun beginnen die Unterhandlungen über die Reiſe.
Zunähft wird der pecuniäre Punkt erläutert, auf den
Humboldt gern eingeht, „da er fein eigenes Vermögen für
nicht ganz unrühmliche Zwecke vernichtet habe“. In liberaler
Weiſe verfligte Kaifer Nilolaus nun, „daß die Reiſekoſten
aus dem Staatsſchatz beitritten und an Humboldt alles
das abgelafjen werden folle, was er nur für nöthig Halte”.
Wie großartig dieſes Faiferlihe Wort dann durchgeführt
wurde, wiffen wir ſchon aus Roſe's Reiſebericht, nad)
welchem die drei Gelehrten — Humboldt, Roſe, Ehren-
berg — wahrhaft fitrftlich reiften. Für letztere beiden hatte
Humboldt fpeciell ein gutes Wort eingelegt, und fo wur⸗
den fie gern als feine Begleiter anerkannt. Daß Ruß—⸗
land nur fich felbft Hiermit am meiften nugte, haben die
Refultate der Reife bewieſen.
Nah mancherlei Vorbereitungen waren bie drei For⸗
ſcher endlich unterwegs. Schon von Moskau an begin-
nen dann Humboldt's Reiſeberichte an Cancrin, die, je
mebr fie fi dem eigentlichen Heifeziele, den Bergwerks⸗
diftricten de8 Ural nähern, mineralogifcher und ökonomi⸗
[her Art werden. Stets überrafht das tiefe Urteil
Humboldt’8 über bie geognoftifchen Berhältniffe, über das
Borlommen der edeln Metalle, und manche feiner Borher-
fagungen, die wir bier zum erften mal verzeichnet fin⸗
den, find ſeitdem buchftäblich eingetroffen. Aber immer,
wenn Humboldt auch für Rußland reifte, felbft an der
Hinefifchen Grenze, ift ex fich feiner deutjchen Stellung
bewußt, wie aus einem Schreiben an die Gräfin Cancrin
hervorgeht. Diefe Hatte ihm ein deutſches Briefchen ge-
fendet, auf welches Humboldt antwortete:
Ich erfuhr dur Sie felbft erſt und nicht ohne Stolz für
mein Vaterland, daß deutſche Töne nicht blos rein und milde
ans ihrem Munde widerhallen, fondern daß Sie au im Schrei»
ben alle Schwierigkeiten unferer Sprache finnig zu löſen ver⸗
ftehen. „Ih will den Ausdrud meiner Dankgefühle abkürzen,
damit Sie nidht in Verſuchung fallen, wie unjere überrheini⸗
chen Nachbarn deutſch und langweilig für ſynonym zu Halten,
Der dritte uns vorliegende Briefwechſel (Nr. 5) war
bereits im Jahre 1863 erſchienen und tritt nun aber-
mals als wohlfeile Jubelausgabe ans Licht. Enthält er
auch — wofür Humboldt nicht verantwortlich gemacht
werden kann — manches gar nicht zur Sache Gehörige,
ſo iſt er doch anerkanntermaßen einer der wichtigſten Bei⸗
träge zur Geſchichte der Geographie in neuer Zeit und
gewährt außerdem tiefe Einblicke in die Art und Weiſe
der wifienfchaftlichen Thätigleit Humboldt’. Wir fehen,
wie er während eines Zeitraums von 30 Jahren mit
nnabläfftger Anfmerkfamfeit den Bewegungen auf dem
Gebiete der Erdkunde folgt, überall eingreift umd thätig
Ein Beitrag zur Charalteriftil des Königs von Weftfalen.
iſt, jedem neuen und wichtigen Refultat feine Thätigfeit
zumendet. Wir finden Mittheilungen berborragender
Gelehrten aus beiden Erbhälften und werthvolle Abhand⸗
lungen, bie früher entweder noch nicht gedrudt oder doch
in Beitfehriften zerfireut waren. Man kann Hier den
Bang verfolgen, welchen die Entwidelung der Geographie
genommen hat; Briefe wie Beiträge find im hohen Grabe
belehrend, und nicht nur der Gelehrte von Fach findet
reiche Ausbeute, fondern auch der Freund der Erdkunde
erhält manche Anregungen und Aufjchlüffe über wichtige
Sachen und bedeutende Perfonen. Mit Vorliebe fchen
wir 3. B., wie Humboldt ſich mit den Vereinigten Staa⸗
ten befaßt und wie er fid gegen Berghaus verwahrt,
welcher der Union ein böſes Prognoſtikon ftellt:
Ein anderes ift es, wenn, wie Sie fehr richtig bemerken,
die Sklavenfrage dereinft zum Ausbruche kommen follte; für
den Fall theile ich vollftändig Ihre Anficht fiber das Precarium
bes flaatlihen Beſtandes der nordamerilanifchen Union. Ich
wünſche, dieſen Kal nicht zu erleben. Ich Halte viel, ſehr viel
auf die Vereinigten Staaten, weil fie der Hort einer vernünf-
tigen Freiheit find.
Humboldt ftarb vor Thorfchluß, ſonſt hätte er noch
den kurz darauf ausbrechenden Bürgerkrieg infolge der
Sklavenfrage gefehen, der in der That den ftaatlichen
Beftand der Union in Trage ftellte.
Zum Schluffe betrachten wir Humboldt in der Ver⸗
breiterung. Wir haben anfangs bereit8 hervorgehoben,
daß wir ihn entfchieden als Kaviar für die tiefern Schich⸗
ten des Volls betrachten, und daß die Berwäflerung und
orbinäre Auftifchung dieſes Heroen der Wiffenfchaft fir
folde Klaffen, denen er naturgemäß fern ſteht — komme
ihnen fein Wirken auch mittelbar zugute —, ung ein Greuel
ift. Wir wollen diefen Ausſpruch auf Dtto Ule's tüchtige
Urbeit (Nr. 6) nit angewandt wiſſen; er fchreibt als
begeifterter Jünger für das große deutfche Volk im beſſern
Sinne und zeigt, wie feine Arbeit meift aus den Quellen
gefloffen ift. Bon ben Heinen Biographien, die für we—
nige Groſchen zu Haben find, ift es entjchieden bie
beſſere. An fie reicht bie Lebensbeichreibung Yerdi-
nand Schmidt’8 (Nr. 7) nicht heran; fie unterfcheidet
fi nicht wefentlih von ältern Biographien, die noch zu
Humboldt's Lebzeiten erfchienen und denen fie folgt. Ganz
tendenzids und vieles hineintragend, was uns ungehörig
erfcheint und Humboldt's Bild verzerrt, erfcheint uns
R. Benfey’s Feſtſchrift (Nr. 8) Der entfchieben
demofratifche Standpunkt wird hervorgehoben, die Schrift,
die „abſichtlich als Parteifchrift gehalten iſt“, wirb bejon-
ders den „Arbeiter-, Bildungs» und Handwerksvereinen“
empfohlen. Die Hauptfacdhe bleibt, daß fie uns fein rich⸗
tiges Bild von Humboldt Liefert; fie tft einfeitig durch
und durch. Richard Andree.
Ein Beitrag zur Charakteriſtik des Königs von Weffalen.
König Jeroͤme und feine Familie im Exil. Briefe und Auf»
zeichnungen. Herausgegeben von Erneftine von L.. Leipzig,
Brodhans. 1870. 8. 1 Thlr. 20 Ngr.
Die Gefchichte des Haufes der Napoleoniden ift fo aben-
teuerlich wunderbarer Natur, dag fie ausfchmüdender Er⸗
findung nirgends bedarf und gerade in fehlichtefter Dar—
ftellung am mäcdhtigften wirt. Dem ehernen Gange
ihrer welterfchüitternden Thatſachen gegenüber kommt felbft
die fruchtbarfte Phantafte zu kurz; nicht blos fir das
Zerftörungsgenie des erften Napoleon, auch für die Schid-
fale feiner Angehörigen, bie ihre Bedeutung durch ihn
erhielten, erweiſen fi die Grenzen der Romandichtung
.
Ein Beitrag zur Charalteriftil des Königs von Weftfalen. 9
als zw enge; wir Iermen folde Perfönlichfeiten lieber
fennen aus aubertäffigen Nachrichten über ihr inneres
und äußeres Leben, als aus fogenannten hiſtoriſchen Ro⸗
manen, bie doch bei uns meiſtens invita Minerva ge»
ſchrieben werben. Bon diefem Gefichtspunfte aus können
wir das oben angezeigte Büchlein, welches wir mit leb⸗
hafterm Intereſſe und größerm Genuß gelefen Haben
als irgendeinen und zu Händen gefommenen hiſtoriſchen
Roman der letzten Jahre, allen gebildeten Kreifen auf
das wärmfte empfehlen. Ueber den Inhalt berichtet das
kurze Vorwort der Herausgeberin in fo ſchlichter und
anfpruc;slofer Weife, daß es nur zur Empfehlung bes
Bud beitragen kann, wenn wir das Vorwort ganz
herſetzen:
Unter den Papieren, bie ich als theure Andenken ver-
forbener Freunde aufbewahre, waren mir ſtets die Tagebudj-
blätter der Frau von B. ein befonders werthvolles Bermäct-
niß. €s ſpricht gus biefen einfachen, funflofen Aufzeihhnungen
fo viel natürliche Anmuth und wahre Herzensbildung, eine folhe
Wärme des Gefühls und Gefundheit des Urtheile, dag man
an der Perſon der Schreiberin wie an ihren Meinen häns-
lichen Freuden den innigfen Antheil zu nehmen fid) gedrungen
fieht. Ihr Tagebuch bietet aber noch ein weitergeheudes, all»
gemeinere®, für die Gegenwart gewiß nicht unwichtiges Ju—⸗
tereffe. Denn e8 gibt zugleih, da Herr und Frau von B.
während einer Keihe von Sahren zuc mächften Umgebung dee
Erfönigs von Weſtfalen Iröme Napoleon und feiner ne
gehörten, ein treues Bild ‘von dem Leben ber depofiebirten
Rapoleoniben im Eril: ein Bild, das durch die zahlreid, ein
jeflochtenen Briefe des Könige Ieröme, feiner Gemahlin, der
rinzeſſin Katharina von MWürtemberg, feiner Schweſter, ber
Erfönigin von Neapel Karoline Murat, des Kaifers Nilolaus
von Rußland und anderer hiſtoriſcher Perſonen volle Ergän-
zung und Beflätigung erhält. Aus meinen eigenen Grinne-
zungen brauchte daher nur weniges hinzuzuihun, um dem
Zuſammenhang Herzuftellen und hier und da eine Lüüde aus-
sufüllen.
So weit die Herausgeberin, und wir fünnen Binzus
fügen, daß ihr Buch noch mehr enthält, ala das Bor-
wort verfprict. Ohne alle politifche Färbung gefchrieben,
wedt und erhäft e8 unfer Imtereffe an den mit großer
Anuſchaulichleit geſchilderten Perſonen zumeift dadurch, daß
wir diefelben hier nur in ihren intimften, rein menfch-
lichen Beziehungen und Lebensäußerungen kennen lernen,
wo fie denn durch manchen liebenswürdigen Zug unfern
Sympatjien näher treten, als fie je in den Tagen ihres
Glanzes vermoditen. Als König von Weftfalen fpielte
bekanntlich, Jeröme eine Hägliche Figur. Er war Feines-
wegs unfähiger und auch nicht ſchlimmer, als die Fürſten
im Durchfchnitt find, aber er war zum Regieren weder
geboren noch erzogen; er war auf den Thron gekommen,
wie die Cocarde auf den Hut, ohne innere Zufammen«
gehörigkeit damit. Er hatte nichts von dem Genie ımd
and nichts von dem vaftlofen Thätigfeitstriebe feines
weltftürmenden Bruders, der ihn als jüngftes Mitglied
der Familie faft wie ein Kind behandelte und ihm ale
Regenten felbft nicht in ber Wahl feiner Nathgeber freie
Hand ließ. Den Iuterefien des Landes völlig fremd,
gab Feröme fi, auch nicht einmal die Mühe, die deutſche
Sprache zu erlernen, von welder ihm nur die Worte
geläufig wurden: „Morgen wieder luſtich!“ Diefe Worte
wurden bezeichuend für die ganze Dauer feiner Regier
rung. Seit den Tagen Auguft’s III. von Sachſen hatte
man in Deutfchland ein fo prunkvolles und ausſchwei ⸗
fendes Hoftreiben nicht gefehen, wie e8 fi ſchnell in ber
Nefidenz des jungen, lebensluftigen und prachtliebenden
Königs bon Weftfalen entwidelte. Kaffel wurde ein Hein
Paris, das von franzbſiſchen Abentenrern beiderlei Ge»
ſchlechts wimmelte und beſonders in ben höhern Kreiſen
der Geſellſchaft ſeine alte Zucht und Sitie vielfachen
Schaden nehmen ſah. Kann man angeſichts dieſer That»
ſachen über das Regiment des Königs Jeröme kaum zu
ſtrenge urtheilen, jo bleibt es doch pſychologiſch höchſt
intereſſant zu gewahren, wie er einen perſönlichen Zauber
beſaß, der ihm nicht nur ſchöne Frauen wohlgeneigt
machte, ſondern auch ſittenſtrenge Männer fo an ihn
feſſeite, daß fie ſich ihm im Glück wie im Unglüd als
zuberläffige Freunde bewährten. Zu diefen gehörte auch
der Herr von B., deſſen Gemahlin bie Tagebuchblätter
gefchrieben, welche den Hauptinhalt des Hier in Rede
ehenden Buchs bilden. ‚Herr von B., der in früher
Jugend feine militäriſche Laufbahn unter weſtfälifchem
Regiment begonnen und viel Freundlichkeit vom König
Yeröme erfahren hatte, kam aus dem fpanifchen Feldzuge
als einundzwanzigjähriger Capitän mit nur einem Arme
zurüd; den andern Hatte ihm eine fpanifche Bombe weg -
geriſſen. In Kaffel war er fo glüdlih, das Herz eines
feingebildeten und anmuthigen Fräuleins bon achtzehn
Jahren zu gewinnen, und aus den Liebenden wurde bald
ein don ber Kirche gefegnetes Paar, als er den Poſten
eines Mar&chal des logis und Oberftlientnants bei Hofe
erhalten Hatte. Das Glüd follte aber nicht lange dauern,
da mit dem October des Jahres 1813 auch bie meft-
fäliſche Königsherrlichkeit zu Ende ging und fomit das
vermögenslofe junge Paar ſich aller Subfiftenzmittel be»
raubt fah. So traten denn Tage ſchwerer Sorge ein;
alle Bemühungen des Herrn von B., bei einer dange
Regierung eine Anftellung zu finden, blieben ohne Er-
folg: fein beutfcher Hof wollte den einarmigen jungen
Mann in feine Dienfte nehmen. Als der Erfönig von
der traurigen Lage des Herrn von B. erfuhr, bot er
ihm eine Stellung bei fih an, und zwar in überaus
belicater Weiſe. So geſchah es, daß das junge Paar
dem Erkbnig ins Eril folgte und lange Jahre in trau
lichem Zufammenleben mit Ieröme und feiner vortreff-
lichen Gemahlin blieb, welde man aus den Aufzeichnungen
der Frau don B. ganz befonders Tiebgewinnt. Die in-
time, ohne jede Abficht auf dereinftige Veröffentlichung
gefchriebene Schilderung des Zufammenlebens ber beiden
Tamilien mit den hineinfallenden Beſuchen, Eorrefpondenzen
und wechfelvollen Ereigniffen verleißt dem Bude einen
ganz eigentümlichen Reiz. Bon ber chronique scan-
daleuse ber Königlichen Vergangenheit ift in den Auf-
zeichnungen mit feiner Silbe bie Rebe: wir Iernen Ic
röme nur als zärtlichen Gatten und Bater, unb nebenbei
als feingebildeten und Tiebenswürdigen Menfchen kennen,
defien Fehler und Schwächen nicht einem böfen Herzen,
fondern einer entſchiebenen Principlofigfeit des Denkens
und Handelns entjpringen.
Im öffentlichen Urtheil wird ber Werth der Menfchen
im allgemeinen und der Fürften imsbefondere eben da-
nach geihägt, ob fie nach beftimmten Grundſätzen ober
blos nad Wilfir und Laune handeln. Iſt fon ein
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99 Die Vögel der Noxpfeeinfel Borkum.
gewöhnlicher Menſch ohne Grundſätze und Höhere Lebens-
ziele eine bedenkliche Exfcheinung, wieviel mehr ein Fürft,
von dem das Wohl und Wehe fo vieler abhängt! Ein
folder Tann im Privatleben der liebenswürdigſte und
gutmüthigfte Menfch fein: als Regent wird er in den
meiften Fällen nur verberblid) wirken. Umgekehrt kann
ein Fürft, der im Gefühle feiner hohen Pflichten nad)
ſtrengen Grundſätzen handelt, dem Volke zum dauernden
Segen werden und doch int Privatverfehr jehr unliebens-
würdig erjcheinen.
Diefe Betrachtungen fliegen uns auf, als wir das
unterhaltende Buch „König Jeroͤme im Eril” aus der
Hand legten und uns fragten, warum wir nad) ber
Lektüre manche Charaktere milder beurtheilten als vor⸗
ber. Tout comprendre c'est tout pardonner.
Sriedrich Bodenfledt.
Die Vögel der Mordfeeinfel Borkum.
Wenn ich auch nicht behaupten darf, daß die ornitho-
logifche Literatur in der naturwiffenfchaftlichen den erften
Rang einnehme, fo kann gerade ich doch conftatiren, daß
fie fid) der größten Beliebtheit erfreut. Dies bezieht fich
in gleicher Weife auf die wiljenfchaftlichen wie auf die
populären Darftelungen aus der Bogelmelt, und ebenfo
auf die Gebenden wie auf die Empfangenden. Es
wird außerordentlich viel über Vögel gefchrieben und dies
alles findet eine ungemein regjame Zheilnahme im großen
Publilum.
Als einen Heinen Beweis der weit verbreiteten Vogel⸗
liebhaberei ſei e8 mir geftattet, nebenfächlich zu erzählen,
daß ich infolge meiner Schilderungen fremdländifcher
Stubenvögel in der „Sartenlaube”, „Kölnifchen Zeitung“,
wiener „Tagespreſſe“ u. |. w. im Laufe von etwa zwei
Sahren über fünfhundert Briefe von Vogelliebhabern aus
allen Theilen Deutjchlands empfangen habe.
Da ift es alfo wol erflärlih, daß jedes Vogelbuch
ein verhältnigmäßig großes und dankbares Publikum fin-
det. Mit defto größerer Freude begrüßen wir es des⸗
balb aber auch, daß einerfeits immer häufiger die wiſſen⸗
ſchaftlichen Koryphäen der Drnithologie zu populären
Schilderungen fich herbeilaffen, und daß andererfeits diefe
populären Vogelbücher häufig in einer ſchwungvollen, ja
poetiſchen Sprache gefchrieben find.
Das uns vorliegende Bud):
Die Bogelmwelt der Norbfeeinfel Borkum. Nebft einer vergleichen-
den Ueberſicht der in den füdlichen Nordfeeländern vorkommen⸗
den Bögel. Bon Ferdinand Baron Drofte-Hülshoff.
Nebft einer Kithographirten Tafel und einer Karte. Mitufter,
Niemann. 1869. Gr. 8 2 Thlr.
bewährt die angebdeuteten Vorzüge in anerlennenswerther
MWeife. Der Verfaſſer, bekannt als einer der hervor⸗
ragenben deutſchen Bogelfundigen, erwirbt ſich dadurch
ein großes Verbienft, daß er einem abgegrenzten, verhält
nigmäßig Meinen, aber vorzugsweife intereffanten Gebiet
fein Studium zugewenbet hat. Eine Infel, welche durd) ihre
Lage und Beichaffenheit zur Beobachtung ber Vögel vor«
zugsweife geeignet erfcheint, ift eben Borkum. „Hier
können wir mit leichter Mühe ftudiren, wie die Millionen
vorüberwandernder Vögel am Meeresitrande fich bench-
men, und welche Arten fid) in der Nachbarjchaft der
Salzflut häuslich niederlaffen.‘
Das Buch bringt zunächſt eine kurzgefaßte topo-
graphifche Einleitung, fchildert dann das Leben ber hier
wohnenden oder nur zeitweife ſich aufhaltenden Vögel nad)
allen Seiten hin, gibt eine ſyſtematiſche Ueberficht aller
Bögel Borkums und fhließt im Anhang mit der Ueber⸗
ficht der Vögel an den füdlichen Nord» und Oſtſeeküſten.
Alle diefe verfchiedenen Seiten des Buchs find nicht allein
mit der Sachkenntniß, Liebe und Luft gefchrieben, welche
wir von dem befannten Bogeltundigen erwarten durften,
jondern fie fprechen auch vornehmlid) durch die klare
allverftändlihe Sprache, dur) die warme begeifterte
Auffaffung an. Geradezu köſtlich gefchildert find die
Eigenthiimlichfeiten des Vogellebens in den Abfchnitien:
„Beſuch bei Oftlande Niſtvögeln“, „Rottum“ (die Eierinfel),
„Ebbe“, „Blut“, „Entenſtrich“, „Sturmflut“, Es fei uns
vergönnt, einige Proben daraus mitzutheilen:
Ebbe (Anfang September). Bor kurzem verſchwand ber
Mond, und er, welcher die ganze Nacht hindurch der Finfternif
gewehrt Hatte, läßt nun, da bald der Tag dämmern wird,
unausftehlihe Dunkelheit eintreten. Ein Teiles Rollen verkuün⸗
det, daß die See ihre Thätigkeit nicht eingeftellt hat, aber dies
Seräufh ift nur ſehr ſchwach und verhallend. Hodflut muß
auch fchon vorüber fein und der Wind fcheint für heute fchlafen
zu wollen. Die Strandoögel verhalten fi) mäuschenftill, nur
jelten, daß einige Aufternfiiher oder Brachvögel leiſe kichern.
Die Schwimmpvögel dagegen find in voller Munterkeit, ſchwätzen
und zanfen ih, und dann qualt eine alte Stodente aus
Sn Halfe dazwiſchen, oder ein Pfeiferpel ſtößt einen gellen
aus.
Die Morgenfrifhe wird empfindlicher; der Morgenhimmel
beginnt fid) zu lichten und eisfalte Luft drängt fih von dort
her; dann windet fi im Often als Halbkreis ein heller Schein
berauf, das Tagesrad. Höher und höher hebt es fich, klarer,
lichter wird die Luft, froftiger der Wind und dreifter das zag-
bafte Geſchwätz der Strandvögel. Da flötet der Rothſchenkel
jein fanftes „Dit“ zwifchen das harte „Tiltiü“ feines Vetters,
des bellfarbenen Waſſerlänfers. Dann mengt ein Kibitsregen«
pfeifer feinen weitfchallenden Bfiff, ein Aufternfifcher oder ein
großer Brachvogel feinen gebämpften rauhen Lockton hinein.
Seht im Zwielicht zeigen ſich in Schwarzen Umriffen einige nicht
ſehr entfernt anfernde Schiffe und die nody nähern Dünentetten.
Die Enten find lauter und Iebhafter als vorhin, und nad und
nad eilen ihre Schwärme dem Meere zu.
Die Finſterniß ift gewwichen, des Himmels Bläue ſchiebt
den Nachtichleier zurück, und lange rothgoldene Wolfenftreifen
glänzen im Morgen. Dort an jener breiten Waſſerrille lagert
eine große Heerde Aufternfifcher, und etwas entfernter oben
auf dem trodenen Grünland find Hunderte von Brachvögeln,
Limojen oder große Strandjchnepfen und aud große Maffen
Heiner Strandläufer. Zum Theil liegen fie platt am Boden,
andere ftehen oder trippelm auf und ab, daun fperrt einer güh⸗
nend den Schnabel auf oder pfeift feine Kameraden an, und
alle Haben das Gefieder dic! aufgeblafen und den Kopf zwifchen
die Schultern gezogen, denn fie feinen die Morgenfälte jehr
zu empfinden. Nun fteht ein großer Brachvogel auf und ruft
mit jhlaftrunfener Stimme „loäh"; dann gähnt er, ſchütteit
ſich und wiederholt den klangvoller werdenden Ruf mehrmals
nacheinander, bis jetzt biefer, dann jener Genoffe und bald bier
und dort auch andere Bögel rings umber einfimmen. Und
Die Bögel der Nordfeeinfel Borkum,
während beffen bligt der erfte Sonnenſtrahl über bie Wellen
und langſam fteigt, von bluirothem Dunfikr’,. umgeben, die
flammende Sonnenkugel aus dem gelräufelten Meere empor.
Sie gibt da6 Zeihen zum allgemeinen Munterwerden der
Bögel. Diefer [Hüttelt fi, ein anderer redt die Srüget noch
ein anderer gähnt u. ſ. w., vor allem wird aber probirt, ob
die Stimme Über Nacht von ihrem Klange nichts verloren hat,
und jeder pfeift und lärmt nad feiner Weiſe tüchtig drauf
los. Schau wie der Kobberich (das Männden der Silber»
möve), der da neben feiner Chehälfte fteht, den Hals vedt, den
Schnabel fperrt und ein heulendes „Kiau, fan’ m. f. w. zu
Tage fördert. Die jungen Möven und Schmwalben ſtürzen fih
mit ſchrillen Heißhungrigen Tönen den Alten entgegen, um fie
amzubetteln. Bald wenden fie fi am biefe, bald an jene,
überall aber ernten fie ingrimmige Püffe und Biffe, denn faft
alle wurden ſchon als felbfländig fich felbft überlaſſen. Al»
mmäbfich wälgt fi der ungeberbige Haufen weiter gegen bie See
hinaus, und auch die Strandläufer erheben ſich heerdenweiſe,
um arı den Meereoftrand zu fliegen.
Die Ebbe ift ſchon bedeutend Herabgefunten, das Maffer
meit vom Gtrande fortgewichen. Mit gedämpftem Murmeln
und unter Flüſtern kommen Kleine flache Wogenreihen heran-
gehüpft; jeßt laufen fie den flachen Strand herauf und fpringen
ichnell wieder zurlid. Hier führt eine tändelnde Welle den fi
firänbenden Seeſtern den Sand Binauf, und num entzieht fie
ihm plöglid, ihre verrätherifche Hand umd läßt ihm Hülflos auf
trodenem Grunde zurüd. Mod einmal_kommt fie herauf,
doch wie zum Hohn gibt fie ihm nur die Spigen ihrer Finger
zu fühlen und verf hwinbet dann fir immer. Nicht Tange, fo
füglt der ungfüdlige Fünffug eine andere Hand; Beftig er-
greift ihm der Schnabel einer Silbermöve und verfucht es, ihn
im ben großen Schlund hinunterzumürgen, Dies erbliden ins
deß ein paar Schweftern, die ungeftüm hervorſtürzen, um bem
Iedern Biffen zu erlämpfen. Die erflere flieht, die andern
folgen. Da wird gerauft und gezwickt und gekreiſcht, und die
eine reift einen Strahl ab. Nun fällt im Getümmel gar
der ganze Geeftern herab und wäre faft wieder im fein heimi«
föjes Deere gelangt. Aber gerade ehe er eö erreicht, fängt ihn
eine neu hiningelommene Möve auf, und da er verfleinert und
arg zerquetiht if, fo gelingt es ihr, ihn fofort hinunterzu⸗
fluden. Da nun die Möven ben Grund der Balgereien ver⸗
ſchwunden fehen, entfernen fie ſich eiligf, um einen andern
Biffen aufzufuhen. Die andern Vögel verurſachen zwar nicht
eben jolden Larm, doch find fle nicht minder thätig. Bis jegt
noch fiehen fie meit am Waſſerrande bunt durdeinanderge-
miſcht und leſen das Heine Gewürm auf, meldes die Ebbe
zurüdließ, oder laufen auch wol in die Welle hinein, um etwas
ans dem Waffer zu holen. Hier und dort erhebt ſich dem⸗
nächft der eine oder andere Aufternfifcher, um mit aufmunterndem
Lodton zur See hinauszueilen. Diefes iſt ein untrügliches
Zeiden, daß die hohen Sandbänfe fon ihre Rüden ans der
Ffut heroreben. Die Bögel wiflen ganz genau bie Zeit,
wann im Watt das erfle Land ſichtbat wird. Und fiehe, das
Beifpiel der Anfternfilcher findet baldige Nahahmung unter
Möven und Brahvögeln.
Das nähfle Terrain, welches die Ebbe entblöft, if} eine
faft horizontale Fläche mit vielen Heinen, muldenförmigen Ber-
tiefungen. Das Wafler zieht ſich ungemein jene zurld.
Was eben noch eine Meine Bucht erfdien, liegt plötzlich als
feichter Tümpel auf dem Trockenen. Zahlreiche eine Fiſche
wollen dard) bie lehte Berbindungefiraße entfliehen, dod) eine
Belle drüdt fie zurüd und dann ift es zu fpät. Sie find vom
Meere abgefänitten und fiherm Verderben preisgegeben, denn
taum fingersbreit tief riefeft das Mafjer durd den Abflug,
welder bald ganz verſchwinden wird, Auch mande Krabbe
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hat fi Hier verfpätet und ſucht fi nun möglihft in den
Boden bes Tumpeis einzuwühlen, um den Blicken der Möven
u entgehen. Sold ein Zümpel if eine Goldgrube für die
Aungeiden Strandvögel. Den vorermähnten Abflug befegen
einige Wafferläufer; e8 if gerade ber geeignete Play, um ihre
bemunderungswerthe Beweglichleit zeigen zu können. Jedes
Heine Fiſchchen und jede Garnele, welde dem Meere zugefpült
wird, fangen fie im Waffer anf und fpringen dabei bald mitten
herein, bald mit einer Beute heraus, ober ſuchen fehreiend dem
Nachbar eine ſolche zu entreißen. Aber hier gibt e8 nicht, wie
bei den Möven, fange Raufercien; die einzelnen Haben feine
Zeit zu vergeuben, und es bleibt bei einem gelegentlichen Zu⸗
reifen. Im den Tumpel felbft waten Brachvögel und Limofen
Einen. und fmattern Enten darin, und fehlieflich fommen
die Möven, nm größere Fiſche fortzufangen.
Ie meiter das Meer zurlidweicht, deſto nahrungsreicher
find die Pläge, welche der BVogelwelt eröffnet werden, und
Ben gleihen Schritt hiermit Hält die Lebhaftigfeit ber Vögel
elbſt.
Wenn wir auch zugeben müffen, dag Hin und
wieder in mandem Ausdruck biefer Schilderungen ber
Fachmann ſich etwas zu fehr bemerflih macht und bie
Schreibweife dadurch einen oft etwas draſtiſchen Aus—
druck gewinnt, fo ift doch zugleich immer die Sprache
fo anmuthend, daß jeder Gebildete ſolche Iebendige Dar»
ftellungen mit Genuß lefen wird. Dagegen enthält das
Bud; aud allzu draſtiſche Partien:
‚Hent Abend, Rolf, da gehen wir aber auf den Entenſtrich.
Es find nur noch ein paar Zage bis die Hochflut zum Strich zu
fpät fällt. Nicht lange nach Mittag, .da wandern zwei banditen«
mäßig ausfaffirte Berfonen den Tangweiligen Meg über das
Tolifhendoor. Lange, ſchwere Waſſerſtiefel, einfäufige Lange
Entenflinte, kreuzweiſe mit einer Geehundtafhe über blauen
Schifferroc gehängt und großer „Teerfübrwefter‘ (Matrofenhut)
darüber, aus melhem allen von dem langen Rolf nichts als
eine verwetterte Naſe und ein paar blitzende Augen hervor-
fegen. Und der „tie B.” fledt wie gewöhnlich im äfteften
aller Fagdröde und ift mit einem unentwirrbaren Chaos von
Leinen, Batrontafhe, Fernrohr, Jagdflaſche, anfgeihlirztem
Zagdfittel u. f. ww. ummwidelt. Sein Doppeirohr allen derräth,
baß er wol mehrerorts als fein Meibgenoffe zu jagen gewohnt
iR. Der britte im Bunde iſt der ungertiennlihe Pubelbaftard
Safob, welcher die Entenjagd viel beffer als feine Gefährten
derſiehi.
Sehr hoch iſt es anzuſchlagen, daß der Verfaſſer
and) in der Hinſicht vollſtündig populär geſchrieben, daß
er neben ben lateinifchen Namen der Vögel faft überall
die deutjchen gibt. ine reichliche Angabe der benugten
und über den Gegenftand überhaupt exiſtirenden Lite»
ratur macht das Bud; für den Fachmann um fo werth-
voller. Tür alle Lefer wird es dies aber noch dadurch, daß
der Verfaſſer fehr eindringlich auf das Unrecht Binzeigt,
welches durch die unerftändige Vertilgung der Vögel hier
deritbt wird, und daß er zugleich die Mittel und Wege
angibt, wodurch biefem Unweſen geftenert werben Tann.
Beigefügt ift dem Werk eine gute lithographirte Ta-
fel, eine Anſicht der Vogelinſel Rottum darftelend, und
die Karte von Borkum,
Karl Auf.
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Feuilleton.
Fenilleton.
Robert Giſeke.
Cs if Pflicht der Preffe, die öffentliche Aufmerlſamleit
wieder auf einen Schriftfieller zu Ienlen, der, längere Zeit von
dem traurigen Scidfal geifliger Erkrankung heimgeſucht, meh⸗
rere Fahre in Heilanftalten verbrachte, fich jetzt aber wieder auf
dem Wege der Beſſerung befindet und deffen geiftig feines und
bedeutfames Talent der Literatur gewiß noch manche willkom⸗
mene Gabe fpenden bürfte.
Darf doch die Sournalifit Über den ftets zuftrömenden
und flets neu auftanchenden Begabungen, welche mit größerm
oder geringerm Recht viel von fich fprechen machen, nicht die
tüchtigen Kräfte vergeffen, über deren Thätigkeit bereit der
Strom eines oder mehrerer Luftren dahingerauſcht if. Es
klingt wie Ironie, ein Luſtrum als eine Epoche hinzuftellen, in
welcher ein Schriftftellername in Bergeffenheit gerathen könnte.
Und doch if es fo — nidt für die Zulunft, welche audere
Maßſtäbe kennt, aber für die vom Novitätenfturm bedrängten
Zeitgenoffen. Die bubdhiftifhen Philoſophen haben eine jehr
interefiante Theorie, um die Präeriftenz der menſchlichen Seele
zu erflären, die man doch an und für ſich leugnen muß, weil
uns das Bewußtfein derfelben fehlt. Sie meinen, e8 gebe eine
Folge von Eriftenzen, von denen die eine nichts von der andern
—* und dann plötzlich auf einer höhern Stufe erwache das
Bewußtſein, das ſie alle in eins zuſammenfaßt. Aehnlich geht
es in der Literatur. Schriftſtelleriſche und dichteriſche Thätigkeit
— für einige Luſtren in Vergeſſenheit, dann ſtrahlt fie für
das Bewußtſein einiger nächſten Generationen wieder in neuem
Glanze auf. Si licet parva componere magnis, auch Schiller
und Goethe, jener namentlich in der Epoche zwiſchen dem viel
angegriffenen „Don Carlos’ und dem „Wallenftein‘‘, erlebten
folge Berdimkelungen des Ruhms, wo ihre geiftige Nähe bie
Beitgenoffen minder magnetifirte, als die jetzigen Fernwirkungen
hrer Größe vermuthen laffen. Um wie viel mehr ergeht es fo
den Nachſtrebenden von minberer Begabung!
Wenn aber ein Schriftfteller durch ein unglinftiges Geſchick
ohne fein Verfchulden von der friſchen Titerariichen Bewegung
abgefperrt war, fo hat er es doppelt nöthig, ben leicht vergeß-
lichen Zeitgenoffen, denen allerdings der Buchhandel alljährlich)
die Zumuthung flellt, fi über 10000 neue Werke zu orien«
tiren, wieder in die Erinnerung zurlicigerufen zu werden. Wir
meinen ben Sciefier Robert Oiſeke, einen Autor, der mit
feinen „Moberuen Zitanen‘ und feinem „Pfarr-Röschen” glüde
lich debutirte als ein Erzähler von feiner Dialektik und weiten
geiftigen Peripectiven, der im engften Zuſammenhang mit ber
philojophiichen Bewegung ber Gegenwart ftand und nicht hohle
Schablonenfiguren des gewöhnlichen Unterhaltungsromans mit
etwas veränderter Tätowirung zeichnete, fondern Menichen und
Conflicte von geifliger Bedeutung wählte. Diefe Schriften,
denen fpäter noch mehrere Romane folgten, fanden bei der
Kritik freundliche Anerkennung. Leider wurbe dem jungen Au-
tor die Freude Über die erften Erfolge bald durch ein Familien⸗
unglüd getrlibt; er verlor eine Schwefter und den Bater durch
Verbrennung, indem an einer Spirituslampe das leichte Som-
merHleid der erfiern Feuer fing und der Bater, durch die Ver⸗
fuche, ben Brand zu löfchen, ſich ſelbſt gefährliche Wunden und
ben Tod zuz0g. Dies ein ftilles Familienleben zerrlittende Ver⸗
ängniß mag die erfte Beranlafjung jener Aufregungen und Ber-
dunfelungen geweien fein, denen das Geiſtesleben bes jungen
Sähriftftellers längere Zeit anheimfiel.
Schon damals Hatte er fi auch auf dramatiſchem Felde
verfucht. Sein „Sohannes Rathenow, Büirgermeifter von Berlin’
war in Berlin, Leipzig, Breslau und Stuttgart zur Aufführung
gelangt und befundete in einzelnen Scenen unverfennbare
Spuren bramatiihen Talents. Auch ein biflorifches Drama:
„Morig von Sachſen“, wurde iu veipaig und Breslau mit
Beifall gegeben. Der Held Giſeke's war fein politiiher Frei⸗
beitshelb, wie derjenige von Robert Prutz; er war ein Diplomat,
der eine große politifche Aufgabe durchzuführen wußte; es lag
in ihm ber Keim zu einem Helden, wie er für Deutichland feit
1866 doppelt verfländfich geworden if. Giſeke hat neuerdings
fein Stüd, im Hinblid anf die große politifche Bewegung der
jüngften Zeit, umgearbeitet, er hat auch Karl V. noch eine be-
dentende Schlußfcene gegeben und das Klofter von San -Yufle
leicham als den Schlußſtein diefer nach dem Grab ſich
Fehnenden Kaiferherrlichkeit in ben Bau feiner Handlung mit
eingemanert. ' in
Der Inftinct fr die politiiche Bewegung ber Neuzeit ſpricht
fih auch in der Stoffwahl der „Dramatifhen Bilder aus
deutfher Geſchichte“ aus (Leipzig, Brockhaus, 1865), und
wenn diefe „deniſche Geſchichte“ die prenßiſch⸗brandenburgiſche
it, fo wird heutigentags niemand in dieſer Bezeichnung einen
einfeitigen oder unhiſtoriſchen Sinn fuchen. Alle drei Stücke
find dem 15. Jahrhundert entnommen. „Der Hochmeifter von
Marienburg“ führt uns im die Zeit, in welcher der Deutiche
Orden nad) Preußen Gefittang und Eultur trug, wie der Hoch⸗
meifter Ulrid) von Iungingen fagt:
Die Eiche, die und erfte Raftftatt Bot,
Hat wunberfräftig ihre mädt’gen Aeſte
Nah Oft und Wet, nad Rord und Süb weit über
Entlegne Bollögebiete ausgeſtreckt.
Und unter ihrem heil'gen Dache wuchſen
Die Burgen, Kirchen, Dome, ſtolz und prächtig,
Die Dörfer frieblig und bie Stäbte reich,
Die Feten uud Baläfte wie durch Zauber.
Die Wildniß warb in Gartenflor verwandelt,
Die Niederung vor ber Ströme Flut geſchützt,
Statt Mooren grünten Felder frudtbar auf,
Bom Bord zum Borbe zogen fi die Brüden,
Bon Stadt zu Stabt die freien Handelsſtraßen;
Handwerke blühten auf, die Künfte wurben
Hierher verpflanzt,, bie Wiſſenſchaft gelehrt;
Geſetze finb verzeichnet, Freiheiten
Geordnet, Privilegien ertheilt.
Da, wo Gewaltthat nur und Raub unb Worb,
Wo blöde Einfalt ober rohe Wildheit,
Wo Gögtendienſt und Haß uur gegen Bilbung
Und unfre Offenbarung beimifh waren,
Iſt dieſes Ordens reiher Bau gegründet,
In dem ber Ritter al ein Yürft ven Bauer,
Den Bürger unb ben Edelmann regiert,
Ein Bau, fo weit, fo hehr, fo feft und mädtig,
Als irgenbfonft nur bei Europas Bölfern
Ein Staatsgebäube jetzt errichtet ſteht,
Ein Bau, der mehr als jeber andere
Ein Wunber if von Gottes Gnaden, weil
Nicht angeſtammte Macht und Ueberliefrung,
Weil ihn der Geiſt nur und Begeiſtrung Inf.
Do wenn auch diefe culturbiftorifche Bedeutung des Deut⸗
ihen Orbens fowie feine heldenmüthige Zhattrafl in der großen
Schlacht von Zannenberg den Rahmen des Gemäldes bildet,
fo bat ber Inhalt doch einen mehr myſtiſchen Zug, der an die
Dramen von Zacharias Werner, namentlih an „Das Kreuz
an der Oſtſee“ erinnert. Anknüpfend an bie Mittheilung eines
Hiftorikers Über Parteiungen zwifchen den Ordensrittern, ber
Hinneigung derfelben zu Wieliffe'ſchen Lehren, die fi fchon im
damaliger Zeit geltend machte, lüßt Giſeke den Plan einer
Sücularifation, wie fie fpäter Herzog Albrecht vollzog, bereits
damals bei dem Hochmeifter und einigen Orbensrittern anf«
tauchen, fodaß fie einen „Geheimbund‘‘, die Mariagilde, fliften,
welche für die Ordensritter and) die Ehe verlangt. Der Hoch⸗
meifter findet in einer mit diplomatifchen Aufträgen von Po-
fen ausgerüfteten Aebtiffin eine Jugendgeliebte wieder, die fich
ihm einft ergeben, die fi) aber abwehrend gegen die Ketzereien
des Geheimbundes verhält. In der Schladt bei Tannenberg
fällt Hochmeiſter Ulrich; fein und der Webtiffin Sohn, Graf
Heinrich von Plauen, wird Hocmeifter des Ordens, wozu er
als unehelicher Sohn Fein Recht hat; er wiberfteht ben Ber-
führungen der fchönen Gabriele, bie eine Säcularifation des
Ordens im Namen des Polenkönigs verſpricht und zugleich da⸗
für die Abtretung ber Neumark verlangt; er zerreißt den Trac⸗
tat mit Polen, ben er unterfchrieben, dadurch, daß er ſich ale
Feuilleton.
ein Gebild des Trugs und Verraths hinſtellt, ein Namenloſer,
der night Recht hat —X Bertrag zu ſchließen, und ſich daun
im das eigene Schwert fürzt.
Dies Drama if gewagt in feinen Boransfegungen und in
feinem ganzen Aufbau; aber nicht nur erhebt ſich der dramati»
ſche Stil über den alltäglien Jambentrab, in ben Gituatio-
nen liegt Mark und Kraft, Gefinnung und Größe und auch
Sinn für dramatiſchen Sfiect.
Das zweite Drama: „Der Burggraf von Nürnberg“, ift
mehr im EM der Hiftorien gehalten; e8 behandelt den ampf
der märtifchen Ritter, moment ich, Dietrid’e von Quitzow, gegen
den Burggrafen Sriedrih VI. von Nitenberg, den Statthalter
und fpätern Markgrafen und Kurfürſten von Brandenburg.
Der Stil des Ganzen ift kuapp und marfig und erinnert bier
und dort am das Muſter des „Sdtz von Berlichingen‘; doch
iſt die Handlung etwas zu zerfplittert für die Einheit des dra-
matiſchen Jutereſſes
Das dritte Stuck der Sammlung if eine Bearbeitung des
„Dohannes Rathenow'': „Ein Bürgermeifter von Berlin“, ein
Stüd, das ſich an dem 'oland von Berlin" don Wilibald
Arie’ anjcfiekt. Das Gtüd hat einen Hiforifgen Grund-
gedanken, der nicht an jene Zeit geknüpft it: den Kampf des
verbrieften geſchichtlichen Rechts, den hier Mathenom vertritt,
gegen das Recht einer nenen, umgeflaltenden Zeit, und es
bfeibt zu bedauern, daß ber Vertreter des letztern, Markgraf
Friedrich IT, and) in der Umarbeitung zu wenig bedeutjam
bervortritt, um diefem Conflict feine ganze Stärke zu geben.
Dagegen enthält das Stüd dramatiſche Siinationen don großer
Lebendigkeit und Spannung und zengt für das Talent und
GSeſchid des Berſaſſers.
Dieſe drei Dramen behandeln Stoffe, in denen die Keime
jener mationalen Größe Tiegen, zu welcher ſich Preußen jeht
entfaltet hat, und dürften mit Kedt die Aufmerkfamfeit wieder
auf einen Dichter hinlenken, der durch eim bedauerliches Leiden,
welches ja bei deutſchen Poeten nicht zu ben Geltenheiten ge-
hört, Tängere Zeit aus dem Gefihtöfeld ber Zeitgenofien ver⸗
ſchwunden war.
Notizen.
Karl Gugtow erſucht uns, die in Nr. 4 d. BI. enthale
teme Mittheilung iiber die „Amputationen‘, die er in der neuen
vierbändigen Janle ſchen Ausgabe feiner „Ritter vom Geiſte
mit diefem früher neunbändigen Werke vorgenommen Habe, da⸗
hin zu berichtigen, daß Biefelfen in nichts beftehen als hier und
da im einer Zuſammenfaſſung ber Geipräde in thaiſachliche
Berigte, und daß im Übrigen der außerordentlich comprefie
Drud der neuen Ausgabe die Zufommenziehung des Werks in
eine geringere Zahl von Bänden ermöglicht habe.
Roßbadı's „Gefcigte der Gefellicaft" (Würzburg, Stuber),
die wir in Nr. 4 d. BL. beſprachen, ift, wie wir erfahren, von
dem Berfafjer bei feinem Tode nicht unvollendet zurüdgelaffen
worden, jondern alle ſechs Bände liegen feit Jahresfrift im
Mauuſeript vollendet vor. Der dritte Band iſt bereits im Dc«
tober erſchienen, der vierte befindet fi im Drud; auch der
fünfte und ſechete ‚werden noch im Laufe diefes Jahres erſchei ⸗
nen. Bir freuen uns, daß der tüchtige Gelehrte in der Lage
war, fein inteseffantes Werk nicht als Fragment, fondern ale
fertiges Ganzes der Nation zu Binterlaffen.
Sibliographie.
raunfhweig, D., — Gebigte.
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* &. 8. e Sutoserae aber ber weißen Benfgen
‚8, nen
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* von Philadelphia. 4 Bok. Hannover, Rümpr
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yüstihßen Ya des Hajfijgen Mtertums. Zanbsput, Krüll, Gr.
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—— ©. .. Dr. Johannes Breverus, Guperintendent von
after, ‚Breefir an Sutpestor, Cine Erinnerung aus bem IT,
fegunden ai Riga, Bacmeifter u. Bruger. Gr. 8 12,
Halle, Herrmann.
95
Im Walde. —— in 1 Art. Rathenow, Haaſe. 1869. 8. 7', Mar.
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Top — — Werte, Ihr 20. Stuttgart, Goſchen.
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ah ie Woueuen Dorpat, @läfe. 1909. Du. 4.
FJ di Meganber v. Bumboßt, ber Eltmeiken ber, —
Raturf an. Gbentong jgm unleheien Geburlage Mlrukpet
3 Quibolt’& ter Suorankelhung ale, Khrantkae nun ven Heer
— emeliert und beräuegegeben, Selpig, Spamer. & DEE
Pallmann ie Cimb neh Bla Belag dir dee
deutschen Össenlohte und sar deuischen Alerthumskunde, Bariiß, Blönne
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Ba; Das Seheiyanz von Unbernag. Batestänbiiges Zrauer-
init Beben —
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ie sterkich-polltsche
Bindie. Leipzig Rasprowlez- Ne
j Be Dramatifges Gedigt von I, M. Minden, 8. Finfterlin.
A. Graf, Meber ben Verkehr der Geifter bes Ienfeits mit
— Vorträge im Leipyig. After Wortrag. Yeipe
X ®, Bote Gene ober bie Helden von Ban
4 Stsendtitn and dem (Aelliäen Breipetstriege
ftig. Ihre Wiberfprüge und bie Zufunft
Griminal-pipgelogifge Stuvien, Inusbrud, Wag«
teressen. Ein Mahnruf an
0 Ngr.
—* Smnegeis Reife gach Paris as Yriebensftifter. Eene
2
[3.7 öber,
yubise, — iftorje in 10 Kapitteln, Berlin, Bausfeeunb»@xpebl-
" itenglische Spaskproen nebst einem Wörterbuche, Unter Mitwir-
kung von K. Gold herausgegeben von E, Mätzner. 1ster Bd.:
Sprachproban, 210 Adıhe Prosa. Bertia, Weldmann. 1869. Lex.-8.
Sarsder wie fie lebt im Gebägtnif it;
Sohis Ednäten, mie e Ta iotniß ihrer Beitgenoflen und
= —8 — Bee Heine Bismartias, Ein didae⸗
je» Halle, Shwetihte. 16. 5 Mor.
Snieders jr, a8 Armenjhmweftergen. Eine Er tun, 18 ber
— — —
torifirte Meberfegun In u. Neuß, Sören, 1869. * aan Bar
Was Onic"uon den ‚en Sung —— Opera
rauen,
Yet una geil Pr überira gen * * —* — E fit von
be. Ranmaun,
kurzer Träciat von Gbit, dem Menschen und
denen — „Auf Grund einer neuen, von Dr. Antonius van
der Linde vorgenc rgleichung 8: een ine Deutsche
— Brläuterunge
—— ©. Bigwart. * —— —
Sprüde burg, niet un gegeldnet
Brlgfaete @er
von $ @ret-Ishann. € Sutcı At ER
Bidte von @. Mitterähene u an, Blender
gegeben, und in RE ausgefü von or sehe eier 7
"stark, Far Kellsche Forsch gen. „IL. Keltische Parsonsnnamen,
nachgewiesen in den Ortsbenenuung jes Codex traditionum ecclesiae hal
vennatensis aus dem 7. bis 10. Jı —5— iter und ꝛer Thi. Wien,
Gerold’s Sohn. 1869. Lex.-8.
1ngtern., Seat di vermehe Slage. Lelpig, Matiet. 16.
—— J., Berliner Slanbuch aus dem Archiv ber Konut.
Eizagmin, Sit Dir e
aan, ; .
realen —— FR X Ya ji "Gefamntentpee ——
— Roman. 2 Bde. Leip⸗
I.»
Y Sirria —
as 40 a RE Seipiig, Maither. 196%, Ge. 16.
Unze
Anzeigen,
igen.
— —
Verlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Deutsche Classiker des Mittelalters,
Mit Wort- und Sacherklärungen.
Begründet von Franz Pfeiffer.
8. Jeder Band geh. 1 Thlr., geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
Achter Band.
Gottfried’s von Strassburg Tristan. Herausgegeben
von Reinhold Bechstein. Zweiter Theil.
Mit dem vorliegenden zweiten Theil ist das classische
Epos Gottfried’s von Strassburg abgeschlossen. Derselbe
enthalt ausser dem Schluss des Gedichts die Nacherzählung
der Fortsetzungen Ulrich’s von Türheim und Heinrich’s von
Freiberg, sowie Wortregister und Namenverzeichniss zu
beiden Theilen.
Als neunter und zehnter Band der Sammlung wird
Wolfram’s von Eschenbach Parzival, herausgegeben
von Karl Bartsch, binnen kurzem erscheinen.
Inhalt des .— VIII. Bandes:
I. Walther von der Vogelweide. Herausgege-
ben von Franz Pfeiffer, Zweite Auflage.
U. Kudrun, Herausgegeben von Kar! Bartsch.
Zweite Auflage.
III. Das Nibelungenlied. Herausgegeben von Karl
Bartsch. Zweite Auflage.
IV. -VI. Hartmann von Aue. Herausgegeben von Fe-
dor Bech. Drei Theile.
VII. VIII, Gottfried’s von Strassburg Tristan. Heraus-
gegeben von Reinhold Bechstein. Zwei
eile.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Gemälde der mohammedaniſchen Welt.
Iulins Braun.
8 Geh. 2 Zhlr. 15 Nor.
Sn diefem Werke Tiegt die legte Arbeit des verbienftvollen
Geſchichtsforſchers vor, die er kurz dor feinem Tode vollendet
hatte. Ste ift zugleich — wie Profeſſor Moriz Carriere in
einem Vorwort fagt — die reiffte Seut feines unermüdlichen
tühnen Strebens, feines vielfeitigen Wiffens, feiner Tünftlerifchen
Geſtaltungskraft; und gerade jegt, wo der Kanal von Suez bie
alten Kulturländer wieder in den Weltverfehr hineinzieht, wird
Braun’s den ganzen Schauplatz, alle Zeiten und alle
Selten des Sslam umfaffendes Gemälde um fo mehr
mit lebhafter Theilnahme empfangen werben.
Derfag von 5. A. Brodifaus in Leipzig.
Sunfzehn Jahre.
Ein Zeitgemälde aus dem vorigen Jahrhundert.
Bon Talvi.
Zwei Theile. 8. Geh. 2 Thlr. 15 Nor.
Bon der unter dem Pſendonym Lalvj belaunten Schrift»
ftellerin Thereſe Robiufon, geb. von Jalob, erhält bie deutfche
Lefewelt hiermit einen neuen feffelnden Roman. Wie in ihren
frühern Werten, von denen mehrere ins Engliſche Überſetzt
wurben, bewährt die geiftvolle Berfafferin auch in diefem ihre
tiefe Kenntniß des menschlichen Herzens ſowie ihre Kuuft, das
Leben in den höhern Gefellichaftskreifen mit feinem Zalt und
treuer Anſchaulichkeit zu ſchildern.
Dertag von 5. X. Brockhaus in Leipzig.
König Ieröme und feine Kamilie im Exil,
Kriefe und Aufzeichnungen.
Herausgegeben von
FKrneffine von JS.
8 Geh. 1 Thlr. 20 Nor.
In diefen Tagebuchblättern aus dem Nachlaß einer Dame,
welche lange Zeit zur nädften Umgebung des Erlönigs von
Weſtfalen und feiner Familie gehörte, fpielt fi ein Stück De
poffedirtenleben ab, das, obmwol ohne alle tendenzidje Färbung
völlig mwahrheitsgetren erzählt, keinem Roman an fpannendem
Interefje nachftehen bürfte und für die Gegenwart, wegen
naheliegender Bergleihungen, erhöhte Bedeutung gewinnt. Zahl-
reihe in die Erzählung verflochtene Briefe Jeroͤme's, der Ex⸗
lönigin von Neapel Karoline Murat und anderer biftorifcher
Perfönlichleiten geben dem unterhaltenden Buche gleichzeitig
auch gefhichtlichen Werth.
Derfag von 5. 2. Brockhaus in Ceipzig.
Geschichte von Ungarn.
Von
Ignaz Aurelius Fessler.
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, bearbeitet von
Ernfi Klein.
Mit einem Vorwort von Michael Horväth.
Zweiter Band.
Die Zeit der Rönige aus verſchiedenen Häufern von 1301 Bis 1457,
8. Geh. 3 Thlr. Geb. 3 Thir. 10 Ngr.
(Der erste Band kostet geh. 2 Thir. 20 Ngr., geb. 3 Thlr.)
Das Fessler’sche Werk «Geschichten der Ungarn und
ihrer Landsassen», allgemein als die beste in deutscher
Sprache geschriebene Geschichte Ungarns aner-
kannt und seit längerer Zeit gänzlich vergriffen, erscheint
jetzt in zweiter Auflage und zeitgemässer Umarbeitung,
eingeführt durch den berühmten ungarischen Historiker und
Staatsmann Michael Horvath. Infolge der gedrängtern
Darstellung sowie der zweckmässigern Druckeinrichtung war
es möglich, den Umfang sehr zu beschränken, den Preis
mithin wesentlich billiger zu stellen.
Ausser in Bänden kann das Werk auch in Lie-
ferungen zu je 20 Ngr., deren bisjetzt 9 erschienen
sind, durch alle Buchhandlungen bezogen werden.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Die Medhulle-Lent’.
Ein Polizeiroman.
on
T. Ch. ®. Ave- Tallemant,
Doctor beider Rechte.
Zweite Auflage. Zwei Theile. 8 Geh. 8 Thlr.
Während die erfie Auflage dieſes Romans anonym erfchien,
nennt fih bei der zweiten Auflage als Verfaſſer befjelben
Dr. And-Lallemant in Lübed, durch gründliche polizeiwiſ⸗
jenfchaftliche Werke vortheilhaft befannt. Die „Mechulle⸗Leut“
eröffneten eine neue Gattung der Romanliteratur, den Polizei-
roman, und fanden fiberall eifrige Lefer. Es darf baher für die
vorliegende zweite Auflage gleiche Theilnahme erwartet werden,
zumal ber Preis wejentlich billiger geftellt worden if.
Berantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Druck und Verlag von 8. A, Brochhaus in Leipzig.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöhentlid.
a HrT. 2
10. Februar 1870.
Inhalt: Cine Philofophie in Dialogen. Bon Julius Frauenkädt, — Neue Romane. Bon Oskar Elsner. — Muſilkaliſche
Literatur.
Bon Hermann Kopf. — Bom Bucertiſch. — Die Briefe des Generalpoftmeifters von Nagler. — Senilieten.
(Englifhhe Urtheile Über neue Erſcheinungen ber deutſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Eine Philofophie in Dinlogen.
Moralisinus oder Emaneipation des Geiſtes. In ſechs Con
verfationen. Wien, Gerold’s Sohn. 1869. Gr. 8. 1 Thlr.
Neben den philofophifchen Schriften, bie ſich an ein bes
fimmtes, zur Geltung gelangtes Syftem oder an eine be⸗
ſtimmte Schule anfchliegen, gehen immer noch welche einher,
die im feinem nachweislichen hiſtoriſchen Zuſammenhange
ſtehen, die vielmehr ganz von vorn anfangen und, als
ob bisher noch nichts gefunden und fetgeftellt wäre, die
Wahrheit aus eigenen Mitteln zu finden und feftzuftellen
ſuchen.
Zu dieſen unabhängigen Schriften gehört auch bie
genannte, welche eine philoſophiſche Weltanſchauung in
dialogiſcher Yorm enthält. Was zunächſt die dialo-
giſche Form betrifft,. fo Hat fie uns an einen beachtens -
werthen Ausſpruch Schopenhauer’3 erinnert, Diefer jagt
nämlid, daß tiefe philofophifche Wahrheiten wol nie
auf dem Wege des gemeinfchaftlichen Denkens, im Dialog,
zu Tage gefördert werden. Wohl aber fei ein ſolches
ehr dienlich zur Borübung, zum Aufjagen der Probleme,
zur DVentilation derjelben, und nachher zur Prüfung,
Eontrole und Kritik der anfgeftellten Löſung. In diefem
Sinne jeien and Plato's Gefpräche abgefaßt:
As Form der Mittheilung philoſophiſcher Gedauken ift
ber geſchriebene Dialog nur da zwedmäßig, wo der Gegenftand
zmei, oder mehrere, ganz verſchiedene, wol gar entgegengefeßte
Anfihten zuläßt, Über welche entweder das Urteil dem Lefer
ameimgeftellt bleiben fol, oder welche zufammengenommen fi
zum vollfändigen und richtigen Berftändnig der Sache er»
gängen: zum exften Fall gehört aud die Widerfegung erhobener
Einwürfe. Die im folder Abſicht gewählte dialogifhe Form
muß aber alsdaun dadurch, daß die Berfhiedeuheit der An-
fichten von Grund aus hervorgehoben und herausgearbeitet ift,
echt dramatiid werden: es müflen wirklich zwei fpreden.
Shne dergleichen Abfiht if fie eine müßige Spielerei, wie
meiftens. (,Parerga und Paralipomena‘“, zweite Auflage,
32. 2, 8.6).
Meſſen wir hieran die vorliegenden Dialoge, fo ver-
hienen fie den Namen Dialoge nit. Es ift fein drama-
1870, 7.
tifches Leben in ihnen, es find Feine entgegengefegten An-
ſichien in ihnen perfonificitt. Denn ber eine der Unter-
tebenden ift ein Vater, der bereits das fechzigfte Jahr
überfchritten, ber andere fein Sohn, ber das breißigfte
Jahr erreicht hat. Der Bater hat dem Sohne ver»
ſprochen, ihm, wenn ex das dreißigfte Jahr erreicht Haben
wird, feine Ideen „über den wahren und richtigen Ber
griff von ber Eriſtenz bes Univerſums“ mitzutheilen, und
Löft nun dies Verſprechen. Der Vater bocirt feitenlang,
der Sohn Hört anbädtig zu, Aufßert Häufig fein Er-
ſtaunen und fein Entzitden über die vernommenen, ihm
ganz neuen Lehren, madt nur höchſt felten fleptifche Ge-
genbemerfungen und läßt fi alsdann immer ſehr leicht
vom Bater beſchwichtigen. Die dialogiſche Form ift alfo
hier, wie meiftens, „eine müßige Gpielerei“; es fehlt
das Aufeinanderplagen der Geifter, es fehlt bie Diafektif,
Die Pietät des Sohnes geht fo weit, bag er an einer
Stelle auf das Bernommene fagt:
Mein Bater, kindliche Rüdfiht Hält mic einigermaßen
ab, auf all das, fo logiſch richtig es auch fein mag, rüdhalt-
loſe Bemerkungen zu machen. J
Hierauf der Vater:
Mein Sohn, ich wünfde durchaus nicht, daß dur dir Bin.
ſchtlich deiner Bemerkungen und Einwendungen irgendwelchen
Zwang auferlegen ſollſt. Im Gegentheil; gegenfeitige deud-
haftfofigleit, und zwar in vollkommenen Maße, habe ich ſchon
zu Anfang unferer Converfation als die Bafis genannt, mittels
welcher allein wir unfer Ziel erreichen Lönnen. Ich verlange weder
von dir, nod) vom irgendjemand anderm, mir in irgendetwas,
etwa aus Gefälligleit oder aus irgendeiner fonftigen Rüdficht,
beizupflichten. @erade das Gegentheil; alles, was id) winfde,
if, daß bei Beurtheilung meiner Enthüllungen keinerlei Rüd-
ſichten und Parteilichkeiten, für oder gegen, obwalten; biele
mehr, daß dieſelbe vollfommen vorurtheilsfrei fe. Mein
Sohn, id fordere Zufimmung, fordere fe unparteiiſch, fordere
fie vollftändig, fordere fie von Rechts wegen und von jeder-
mann, fordere fie im Namen der Wahrheit. It fpric,
mein Sohn, was haft du einzuwenden?
Hierauf wird denn der Sohn etwas muthiger, bleibt
13
a use
98 Eine Philoſophie in Dialogen.
aber im ganzen immer noch fehr fchüchtern und fpielt
eine fehr untergeordnete Nolle.
Was den Inhalt der ſechs „Sonverfationen‘ betrifft,
jo befteht er in der Entwidelung und Begründung von
zwanzig zum voraus vom Vater aufgeftellten Theſen, die
er „Schlüffe” nennt.
Da diefe zwanzig „Schlüffe” das ganze Syftem des
Vaters in nuce enthalten, fo theilen wir fie bier mit.
Schluß I. Es gibt feine zwei Dinge, felbft von derfelben
Gattung, die nicht irgendwie voneinander verjchieden find.
Dafjelbe gilt von Ereigniffen, Wahrnehmungen, Anſichten, Ge⸗
danken und Seen.
Schluß II Es kann feine zwei Dinge, felbft von der-
felben Gattung, geben, die nicht irgendwie voneinander ver»
ſchieden find. Daffelbe gilt von Ereigniffen, Wahrnehmungen,
Anfichten, Gedanken und Ideen. Auch Dinge, Ereignifje u. |. w.,
die nicht zu derfelben Zeit exiſtiren, find, felbft wenn nod jo.
ähnlich, irgendwie voneinander verſchieden.
Schluß III. Diefe Verſchiedenheiten aller Dinge und Er⸗
eigniſſe find unendlich.
Schluß IV. Dieſe unendlichen Verſchiedenheiten der Dinge
und Ereiguiſſe vertheilen fi nad Graden und Stufen, wovon
jedes zur Verkörperung irgendeiner Entwidelungsphaje der
Wahrheiten und Weisheiten dient.
Schluß V. zeit und Creigniffe, Raum und Dinge bilden
das Univerfum. Das Stattfinden der Ereigniffe gibt die Zeit,
das Borhandenfein der Dinge gibt den Raum.
Schluß VI. Da die Berfchiedenheiten der Dinge und Er⸗
eigniffe, jelbft wenn von derſelben Art und Gattung, uuendlich
find, fo geht hervor, daß Zeit und Raum — aljo das Uni-
verfum — unendlid jein müſſen, nämlich ohne Anfang und
obne Ende.
’ . Schluß VII. Da die Verſchiedenheiten aller Dinge, Er-
eigniffe u. f. w. unendlich find, und fich in unendlich verſchie⸗
denen Graben und Stufen vertheilen, fo geht hervor, daß nir-
gends und niemals irgendetwas volllommen fein Tan. Voll⸗
tommen im firengfien Sinne kann ein Ding oder Ereigniß
nur dann fein, wenn es in allen Eigenſchaften, die es haben
ann, gleichzeitig volllommen ift und immer fo bleibt. Iſt
aber nichts im Univerfum wahrhaft volllonımen, jo muß alles
pervolllommnungs- und entwidelungsfähig fein, und zwar nur
bis zu einer dem betreffenden Dinge oder Creignifje gezogenen
Grenze.
& Ing VIII. Die Eriftenz eines Dinges oder Ereigniſſes
beginnt abjolut erft dann wahr und richtig zu fein, wenn
außer demſelben noch ein anderes exiſtirt.
Schluß IX. Iſt aber die Eriftenz eines Dinges oder Er⸗
eigniffes zu einer Zeit wahr und richtig, fo muß es aud zu
allen andern Zeiten fo fein. In andern Worten: die Wahr-
heit umd Richtigkeit der Eriftenz der Dinge und Ereigniffe ift
ohne Anfang und ohne Ende.
Schluß X. Demzufolge fanı das, was nicht zu irgend»
einer Zeit in Wirklichkeit eriftirt, abfolut nicht wahr und
richtig fein. Was nach dem beftehenden Raturgejegen — ent»
flanden aus den Weisheiten und Wahrheiten — möglich war
und richtig if, aber bisjegt unſers Wiffens noch nicht ges
ſchehen, ift infofern wahr und richtig, daß man mit Gemwißheit
behaupten kaun, es bat ſchon anf einem der andern Himmels⸗
körper flattgefunden oder e8 wird in Zukunft irgendwo flatt-
uden.
r Schluß XI. Was wahr und richtig ift, muß nicht allein
in Wirklichkeit exiſtiren, ſammt allen feinen unendlihen Graden
und Stufen, fondern aud) feitens der finnlich begabten Ereaturen
wahrgenommen werben, melde Wahrnehmung in unendlich
verfchiedenen Graden und Stufen gefchehen muß.
Shin XIL Alles, was ift, muß fein, und alles, was
fein muß, ift.
Schluß XII. Aus Obigem geht hervor, daß da8 Univer⸗
fum — beftehend aus dem umendlihen Raume ſammt zahl-
ofen und unendlich verfchiedenen Dingen darin, und aus un⸗
endlichen, aufeinanderfolgenben unendlich verfchiedenen Ereig⸗
niffen ſammt der dazu nothivendigen unendliden Zeit — abe
folut nur fo, wie es eriflirt, geſchieht und eingeteilt ift, fein
muß und nit anders fein faun. Unfere Erde ſammt allem,
was darauf und darin ift, kann, vermöge ihrer Stufe, die fie
unter den Himmelskörpern einnimmt, abfolut nit anders
jein, als wie fie eben ift, und alles, was darauf und darin
vorgeht, ift gleichfalls eine Folge biefer ihrer begrenzten Stufe
und daher nothwendig.
Schluß XIV. Im Univerfum ift überall, wo e8 Dinge
gibt, immer Leben, Wärme und Bewegung vorhanden; folglich
auch Wahrheit nnd Weisheit fı ihren unendlichen Graben und
Stufen. Nie und nirgends tritt bei Dingen, fowie bei Er-
eigniffen ein völliger Stillfiand ein. Alles regenerirt fi) end»
dh wieder, mithin muß alles immer und überall fi im
Entwidelungsprocefje befinden. Unmittelbar auf die völlige
Entwidlung eines Dinges zu feiner jeßigen Beſtimmung folgt -
defjen raſche, allmähliche oder fehr langſame Auflöfung, um
dann, ohne die geringfte Unterbredgung, ſich zu irgendetwas zu
vegeneriren; denn aus der Regeneration der Dinge gehen ent»
weder Ähnliche oder ganz andere Dinge hervor.
Schluß XV. Die Idee vom Rechte ift die Bafis aller
Wahrheiten und Weisheiten und daher als die Idee aller Ideen
zu betrachten.
Schluß XVI Alles, was ift und geſchieht, ift redit.
Denn etwas ift oder gefchieht, was unrecht fcheint, fo ift dies
ebenfalls von Rechtswegen fo nothwendig, mithin auch redt.
Schluß XVIL Die Auffafjung fowol, als die Ausiibung
bes Rechts feitens der finnlich begabten Kreaturen, iſt, wie
alles andere, unendlich verfchieden, nad unendlichen Graben
und Stufen.
Schluß XVIII. Es gibt Leine andere Pfliht als die⸗
jenige, die das Recht vorfchreibt.
Schluß XIX. Es gibt Feine Pflicht, die nicht allgemein
wäre. Es ift daher jedenfalls pflihtwidrig, irgendeine Pflicht
und deren beſtmögliche Auffaffung und Ausübung geheim zu
halten; vielmehr ift es eine der erften Pflichten, alle Pflichten
al® folhe unter allen Menſchen befimöglich zu verbreiten
und deren allgemeine richtige Auffaffung und beftmögfiche
Ausübung zu erftreben.
Schluß XX. Die erfte und wichtigfte Pflicht des Menſchen
muß aljo fein, den beſtmöglichen Grad der Auffaffung des
Rechts zu erlangen und beftmöglich danach zu handeln.
Dies find die zwanzig Säge, um welche fich bie „Conver⸗
ſation“ zwifchen Vater und Sohn drehen. Die vierzehn
erſten Säge find überwiegend metaphufifcher, die ſechs
legten Säge überwiegend moralifcher Art, und von biefen
legtern hat das Buch den Titel „Moralismus oder
Emancipation des Geiſtes“ erhalten. Sie bezeichnen das
Ziel, dem der Verfaſſer zuftrebt.
Es ift keine geringe Meinung, die der Verfafſer von
feinen Sägen hat, Am Anfange der zweiten Conper-
fation fehildert der „Bater” dem „Sohne“ bie innern
geiftigen Kämpfe, bie er durchgemacht. Es befeftigt fich
nach vielem Ringen in ihm die Ueberzeugung: 1) daß
feine ber vorhandenen Keligionen wahr und richtig fein
könne; 2) daß bisjegt noch niemand einen richtigen Auf-
ſchluß gegeben hat, wie man, abgejehen von Religion
überhaupt, die Eriftenz und den wahren Zweck des Uni⸗
verfums im allgemeinen, und die Eriftenzs und den
wahren Zwed des Menfchen fpeciell nur leidlich bes
greifen Fönne, ohne auf unbcantwortbare Cardinalfragen
zu ftoßen. Andererſeits befeftigte fich in ihm zugleich
auch die Ueberzeugung: 1) daß eine wahre und richtige
Anfiht über das Dafein aller unendlichen Dinge und
Ereigniffe im unendlichen Univerfum und deren wahren
und richtigen Zweck eriftirt, und zwar eine folche, die
alle, alle Fragen befeitigt und einen allfeitig zufrieden⸗
Eine PHilofophie in Dialogen.
ftellenden und berubigenden Aufſchluß darbietet, wie denn
überhaupt alles, mas ift, eine wahre und richtige Urſache
feiner Eriftenz habe, und 2) daß diefe Anſicht und diefer
Aufſchluß don dem menfchlichen Geifte, trog feiner Ber
fchränftheit, wenn auch nicht gründlich, fo doch größten-
theils erfaßt werden könne.
Seitdem verfolgten meine Ideen blos eine Richtung; alle
meine Gedanken, al mein Sinnen und Forſchen hatte blos
eine Bafis, die nämlich, daß alles, was ift, recht ift, d. 5. wo
oder wann im Univerfum Unrecht iR und geidieht, das Recht es
fo nothwendig mit fi bringt, und daher gleichſam von Rechts
wegen ift und gefdieht. Endlich, nad einem vierzigjährigen
tiefen und ununterbrohenen Studium iſl's mir gelungen, eben
diefe wahre umd mithin aud nur einzig richtige Anficht zw
erfoffen, und jeitbem bin ic) auch vollfommen beruhigt durch
das freudige Bewußtſein, alle Religions. und Schöpfungsfragen
gelöft und dadurch das geheimnißvolle Lit der Wahrheit und
der Erleuchtung emtdedt zu haben.
Wir wollen nun zwar nicht Teugnen, daß eine optie
miftifche Weltanfhauung, wie die in den „Converfationen”
entwidelte, eine Anſchauung, berzufolge: alles, was ift,
fein muß; in jeder der unendlichen Verſchiedenheiten ber
Dinge und Creigniffe eine Wahrheit und Meisheit ſich
verförpert; alles, wenn auch nicht volfommen, doch ver«
volltomnmungsfähig ift; alles, was gefchieht, recht ift und
auch das Unrecht notwendig, mithin Recht ift — wir
wollen nicht leugnen, daß eine folhe optimiftiiche An-
ſchauung auf da8 Gemüth fehr beruhigend und befriedi-
gend wirken muß. ber eine Anſicht, die das Herz
das Gemüth befriedigt, befriedigt nicht immer auch ben
Kopf. Trotz aller Mühe, die der „Vater dem „Sohne”
gegenüber ſich mit Beweifen und logiſchen Debuctionen gibt,
macht doc das Ganze auf den fritifchen Leſer nur dem
Eindrud eines Glaubensbefenntniffes. Diefes Glaubens-
befenntniß ift zwar mit feinem die Gerechtigkeit über
alles jegenden, ja recht eigentlich zum Gott erhebenben
Moralisums und mit feiner Forderung der „Emancipa-
tion des Geiſtes“ ein ſehr ebles, zeigt and, daß ber
Geift des Autors felbft emancipirt genug bon herrſchenden
Borurtheilen it, um ber Wahrheit zugänglich zu fein.
Aber wiſſenſchaftlichen Werth idnnen wir dieſen „Con
verjationen“ nicht beilegen. Es fehlt dem Autor an ber
echten wiſſenſchaftlichen Methode. Er verwechſelt logiſche
Denkbarfeit mit realer Wahrheit. Weil ſich die Dinge fo
denlen laſſen, wie er fie fich denkt und ſich auf feinem
Standpunkte genöthigt fühlt fie zu denken, darum Hält
er diefe Axt, fie zu denken, für wahr. Er verführt dog«
matiſch, nicht kritiſch. Won a priori als wahr ange
nommtenen Sägen aus deducirt er was fein muß, ohne die
Säge felbft einer Prüfung zu unterwerfen. Die Be
meife, die er beibringt, find Häufig nur Scheinbeweife,
umd die Widerlegungen ber vom „Sohne” erhobenen Ein-
wendungen nur Ausflüchte. Es fehlt in den Beweiſen
und Widerlegungen nit an Vernünftelei und Gophi«
ſterei. Der Sohn macht 5. B. gegen die in Schluß IV
ausgefprodene Behauptung bie ſehr triftige Cinmen«
dung, bag doch unmöglich alle die unendlichen Ver -
ſchiedenheilen der Dinge und Ereigniffe bis auf bie
einften und unbebentendften einen Zweck Haben oder
gar ebenfo viele verſchiedene Wahrheiten und Weisheiten
und deren Entwidelnngen enthalten Tönnen, da es ja
99
Fr) ganz zufällige Verfchiebenheiten gebe. Hierauf der
ater:
Du irrſt, mein Sohn. Du vergißt den Schluß XIT: „Alle,
was if, muß fein‘, alfo ein Zufall, wie du es nennft, ift ja,
und was ift, muß fein; da num dieſer Zufall fein muß, fo
Tann er nicht mehr nıit „, Zufal” bezeichnet werden!
Als ob damit, daß der Zufall fein muß, widerlegt
wäre, daß es zufällige Verfchiedenheiten gebe. Den
Charakter der Zufäligkeit Tann doc etwas nicht das
Bud, geleeen, daß die Zufälligkeit felbft eine nothwen ·
ige ift.
Nicht beſſer als diefe Widerlegung des „Sohnes“ ift
eine andere, Der „Vater“ Hatte nämlich den Sat vere
faßt: „Was wahr ifl, exiftirt, und was eriflirt, iſt wahr;
was nicht wahr ift, eriftirt nicht, und was nicht eriſtirt,
iſt nicht wahr.“ Der „Sohn“ macht die treffende Ein
wendung: „Sie fagen, was nicht wahr ift, eriftirt nicht;
und eine Lüge?“ Hierauf der „Vater“:
Daß die Luge unter Menſchen eriftirt, if leider eine volle
Wahrheit. Cs ift alfo wahr, daß bie Lüge eriflirt, und zwar
bildet die Lüge eine der bedentendften Unvoltommenheiten des
Menfhen, welche Unvolltommenheiten dem Grabe und der
Stufe, die die Menſchen als Hauptereaturen der Erde vertreten,
exact entfprechen und daher uneriaßlich find.
Solcher fophiftifchen Art find noch mande der Ant«
worten, die in dieſen Gonverfationen der Vater dem
Sohne gibt. Der Eindrud eines redlichen Ringens nad
Wahrheit, den fonft diefelben machen, wirb dadurch ger
ſchwächt. Wahrheitsliebe und Selbftbelügung gehen bunt
durdjeinander. Mit feinem Sage: „Was fein muß, ift“,
thut der Vater Wunder; denn fobald er nur etwas als
fein milſſend fich vorftelt, ift «8 aud. Ob dann auch
wirklich das, was er als fein müſſend voransfegt, fein
muß, darüber macht er ſich fein Kopfbrechen. Die per-
fönliche Unfterblichfeit muß fein, alfo ift fle.
Die nothwendige Eriftenz eines Jenfeits if einmal con»
ſtatirt; die Forteriffenz unſers Geiftes nad; dem Tode, aus-
geftattet mit Gefühl, Empfindung, Rüderinnerung und felbftäne
digem Bewußtſein ſcheint uns wunderbar, ebenfo, wie und wo
im Jenſeits diefer Geift befohnt oder befttaft wird, wer oder
was all diejes leitet, überficht und ausführt; al dies ift für
unfer beichränktes Geiftesvermögen unerforihlih, wie vieles
andere, allein ung genügt bie Ueberzeugung, daß all bies dennoch
in Wirklichteit ift, weil es fein muß.
Der Sohn fragt den Vater, ob nach feinem Syſtem
Todtenbeftattungen und Seelenmeffen zuläffig find, und
auf welche Art diefelben ftattfinden follen.
Bater. Bezüglich der erften if zu bemerken, daß fie ine
fofern von großer Wichtigkeit für die Hingefhiebenen find,
als fie feitene der am ihnen Theilnehmenden nicht allein eine
Ehrenbezeigung manifeftiren, wie lieb und thener ihnen der
Todte gewefen und wie fie feinen Lebenslauf würdigen, fondern
und Hauptfähfid eine fräftige Yürfprade ober Fürbitte für
ihn hervorrufen, welche Flrbitte an die Gerechtigkeit zu richten
iſt, aufbaß fie bie verdiente Beſtrafung im Jenfeits, foviel als
mit Recht vereinbarlih, vermindern möge.
Sohn. Wie kann auch die fräftigfte Fürbitte die Miffer
that weniger firafbar maden und die verdiente Strafe vers
ringern? Bringt die das Recht mit fih?
Bater. Ganz gewiß bringt dies das Recht mit fi, wenn
und fo fange bie Aifesite die eigene, d. 5. die Bitte des Miffes
thäters unterftügt, was doch hier ber Fall if; denn es ift doch
wol mit Gewißheit anzunehmen, daß ber hingefdiedene Geift,
ansgeftattet mit Gefühl, Empfindung, Gelbftbewußitfein und
Rüderinnerung, alfo mit vollerwachtem Gewiſſen und voller
13*
100
Erkenntniß feiner verbienten Beſtrafung, nicht unterlaffen wird,
ununterbroden die inbrünftigfien Gebete an die Gerechtigkeit
zu richten. Die kräftige Fürbitte feitene der Lebenden, vereint
mit der eigenen Bitte, bat dann von Rechts wegen große
Macht und beeinflußt wonicht eine gänzliche Befeitigung,
fo doch eine Verminderung der jenfeitlihen gerechten Beſtra⸗
fung, welche, wie ich oben erflärte, wahrſcheinlich in unfag-
lichen Gewiſſensqualen befteht; der Hingefchiedene Geiſt nämlich,
wol wiffend, welche kräftige Fürbitte er feitens der Lebenden
zu erwarten bat, findet dadurch eine Erleichterung feiner Ge-
wiffensqualen und fühlt fi ermuthigt, diefe mebrfeitige Für-
bitte mit feiner eigenen Bitte zu vereinen, und fo eher Ver⸗
zeihung und endlich gänzlihe Erlöfung und Befreiung von
jeinen Gewiffensqualen zu erhoffen. |
Als 0b Gewiffensgualen unter die Kategorie der»
jenigen Strafen gehörten, die von außen zugefchidt
werden und von außen Erleichterung oder gänzliche DBe-
feitigung erfahren können! Gegen Gewiſſensqualen Hilft
feine Würbitte, fondern nur die eigene innere Um⸗
wanblung, die Wiedergeburt des Mifjethätere. ‘Der Ber-
faffer ſcheint Katholik zu fein. |
Während die theoretifchen Anfichten des Verfaſſers
einen von der Gefchichte der Philofophie unberührt ge⸗
bliebenen Laien verrathen, der zwifchen immanentem und
transfcendentem Gebrauch der Begriffe und Grundfäge
feinen Unterfchied macht: fo verrathen dagegen feine
praftifchen Anfichten einen edeln, fir Recht und Freiheit
begeifterten Schwärmer, der fich in der Zukunft ein gol-
benes Zeitalter, ein moralifches Utopien träumt, wo all
gemeine Zufriedenheit und Glüdfeligleit unter den Men-
fchen herrſchen, nachdem man zu ber Erfenntniß ge
fommen fein wird, daß alles Unglüd, aller Sammer,
Sram und Kummer, alle Sorgen. und Widerwärtigkeiten
bie Menfchen fich felber und gegenjeitig bereiten, und
infolge deſſen zu dem Entjchluffe gelommen fein wird,
fortan nicht mehr jo dumm und ungerecht zu fein.
Um zu diefem glorreiden Zuftand allgemeiner Ver⸗
brüderung, völliger Gleichheit aller Menfchen, gleicher
Vertheilung alles Nützlichen und Nöthigen, gegenfeitiger
Liebe umd Achtung zu gelangen, hält ber Verfaſſer
nur für nötig: 1) das Recht foweit als möglich zu
erforfchen und zu ergründen und fich nicht blos in der
That, jondern auch in Gedanken immer fireng daran zu
halten; 2) eben das erforjchte und ergrüindete Recht und
defien allgemeine Ausübung, foviel als nur möglich, feinen
Nebenmenfchen beizubringen und zu verbreiten. Wer
irgendetwas Gutes weiß und c8 feinem Nebenmenfchen
vorenthält, es ihm nicht mittheilt, gleichviel ob darum
angegangen ober nicht, der begehe ſchweres Unrecht, denn
die beftmögliche Verbreitung des Guten fei eine ber
heiligften Pflichten.
Wenn eine Gefellfchaft zufammentritt, zum Zwecke, irgend-
etwas Gutes ausſchließlich ihren Mitgliedern zugänglich zu
machen, eine ſolche Gefellfchaft begeht, fammt und jonders,
ſchweres Unrecht, denn fomwie die Strahlen der Sonne Licht
und Wärme für jeden verbreiten, jo muß auch das Gute
jedem zugänglich gemacht werden. Weberhaupt jebe Geheim⸗
thuerei ift tadelhaft nnd unrecht, es müßten denn triftige und
ſtichhaltige Gründe dafür vorhanden fein. In der Regel aber
hält fi nur das Boſſe geheim, und zwar aus Furcht, in den
böſen Abfihten geftört zu werden.
Bon diefem Standpunkt aus befämpft der Verfaſſer
die Freimaurer, er nennt diefelben „Geheimmaurer“,
Eine Philoſophie in Dialogen.
weil fie alles Gute, was ihr Inſtitut in fich birgt, ſtreng
geheim balten. Wenn es weiter nichts als Moral ift,
was die Freimaurerei Iehre, weshalb ein Geheimniß
daraus mahen? Handelten die Gründer, Beſchützer und
Bekenner des Freimaurerthums ftreng nad) Recht, fo
müßten ſie ihrem Inſtitute den Namen, den glorreichen
Namen „Frei⸗Moralismus“ geben, dann aber dürften ſie
auch ihre Lehren nicht im mindeſten geheim halten. Ein
ſolches Inſtitut des „Frei⸗“ d. h. „Rein⸗Moralismus“
hofft der Verfaſſer von der Zukunft.
Es wird, es muß dereinſt, nicht nur ein goldenes, ſondern
auch ein moraliſches Zeitalter hereinbrechen, ein Zeitalter der
Gerechtigkeit, des Moralismus, ein Zeitalter des Rechts, der
Wahrheit und Weisheit, wo die wahre Erleuchtung unter
Menſchen allenthalben eriftiren wird, und in welchem die Men-
fhen in Wirklichkeit fo fein werden, wie fie fein jollen, nämlich
leben und fterben fireng nad) Recht, Wahrheit und Weisheit;
fie werden das Hecht beſtmöglich erforiht und ergrlindet
haben und fireng danach handeln, fie werben alle Srei- Mora-
fiften fein, indem fie alle Morvalpflichten genau erfüllen, denn
fie werden wiffen, was Recht und Unrecht ift, das erftere
wählen und das Iektere meiden.
Zur beftmöglicäften Erforfhung und Verbreitung des
Rechts fordert der Verfaſſer allgemeine und volljtändige
Emaneipation bes menfchlichen Geiſtes. Die Masken
follen fallen, um den völlig emancipirten Geift frei
walten zu laffen. Die Scheidewänbe, die Menſchen von
Menſchen trennen, follen wegfallen. Recht, Wahrheit
und Weisheit allein fol als die wahre Gottheit anerkannt
werden; Religionen jeder Art follen gänzlich aufhören,
die durch fie entflandenen focialen oder fonftigen Diffe-
renzen follen gänzlich befeitigt und an deren Stelle der
nadte Moralismus eingefeßt werden. Es fol fortan
auf der ganzen Erde nur Moraliften geben. „Kurz, alle
Menfhen müſſen allmählich zur Ueberzeugung gelangen,
daß Recht die Hauptibee, ober die. Idee aller Ideen ift,
daß Recht von Rechts wegen alles, alfo das ganze un⸗
endliche Univerjum beherrfcht.” Um die der Anerkennung
und Ausübung des Rechts entgegenftehenden Geiſtes⸗ und
Herzenddispofitionen zu bemältigen, follen Männer zu⸗
fammentreten, Männer der Wahrheit, die Macht und
Einfluß haben und deren Stimme Gehör findet; Männer
von Weisheit, Geift und Energie, infpirirt von ber hohen
Wichtigkeit ihrer Miffion und bereit, der guten Sache
große Opfer zu bringen; Männer von Cloguenz und
von liebenswürdigem und einnehmenden Benehmen, un⸗
bejcholtenen Charakters, erleuchtet, begeiftert, ducchdrungen
bon dem glorreichen vorgeftedten Ziele ihres edeln Bes
rufs, kurz Männer, deren Devife ift: Wahrheit, Weis-
beit, Recht, Moralismus, Smancipation des Geiftes.
Solche Münner follen zufammentreten und ein allgemeines
Moralinftitut gründen, auch unabläffig dahin wirken,
diefes Inftitut allerorts populär zu machen. Univerfitäten
und Collegien follen in jeder Stabt errichtet werden, wo
ausſchließlich Moral gelehrt wird; Clubs und fonftige
Societäten, wo über die Erforſchung und Ergründung
des Rechts debattirt wird; Schulen, wo die Kinder über
Recht und Unrecht unterrichtet werden und ihnen Feſt⸗
haltung des erftern, Verabſcheuung des letztern eingeprägt
wird, Tempel, worin feierlicher Gottesbienft abgehalten,
nämlich inbrünftige Gebete an die Gerechtigkeit gerichtet
werden, um Verzeihung für verübte Rechtsverletzung zu
Neue Romane.
erlangen, und von der Kanzel herab der reine Mora-
lismus gepredigt wird.
Kurz, e8 muß dahin kommen, daß das Forfhen und
Handeln nad) Reht fih almählid unter allen Schigten und
Klafjen der Menſchen verbreitet, daß die Menſchen im großen
und ganzen reif und empfänglich werden fir bie einzig wahre
amd richtige Löfung des großen Geheimniffes, und daß die
Rechtslehren, Rechtsgefege und Redtspflichten allgemein an«
erfannt und beobadjtet werben.
Nach Erreichung dieſes glorreichen Ziels breche ſich
die Erleuchtung im Rechte von ſelbſt weitere Bahn; man
tomme alsdann zur Erkenntniß, daß die allgemeine Ein-
und Ausführung eines Gleichheitsgeſetzes, ähnlich bem
des alten fpartanifchen Legislators, das einzige gerechte
Auslunftsmittel fei, die Nechtöverlegungen der Menfchen
zw verbannen, das Gemeinglüd und bie Wohlfahrt aller
zu begründen und beſtmöglich zu fördern.
An der Nealifirbarkeit diefes feines Ideale zweifelt
der Berfaffer nicht im geringften, er Hält es vielmehr
für gewiß, daß dafjelbe ſich dereinft vollſtändig vermirk-
lichen werde. Es mögen noch viele Jahrtauſende bie
dahin verftreichen, aber gewiß, endlich werde doch eine
neue Aera anbreden, eine era, wo „bie ehren des
Moralismus und des Rechts allenthalben üppig und in
größter Pracht prangen“; eine Aera, wo Gerechtigkeit
101
„in ihrer wahren Majeftät herrſcht, regiert, angebetet
und anerkannt wird als bie alleinige und einzige Gott -
heit im unendlichen Univerfum‘; eine Aera, wo Zanf
und Streit, Mord und Krieg, wo das Böfe überhaupt
gar nicht mehr eriftiren wird; eine Aera, wo Lug und
Trug, Liſt und Schlauheit, Neid und Haß nicht einmal
dem Namen nad unter den Menſchen befannt fein
werben; eine Aera, wo allem Unglüd, Sammer, Elend
der Menſchen ein grünbliches Ende gemadt ift; eine
Aera ber Freiheit und Gleichheit, der Kunft und Wiffen-
ſchaft, der Induftrie und Cultur, ber geiftigen und phy-
ſiſchen Thätigkeit; eine Aera der Wahrheit und Weis.
heit, des wahren Friedens und der Rechtserkenntniß;
eine Aera der wahren und dauernden Zufriedenheit und
Stüdfeligkeit; eine Wera der völligen Gleichheit und auf -
richtigen Verbrüderung der ganzen Menfchheit.
It nun gleich die Schwärmerei des Verfafſers eine
eble, fo ift es doch immer Schwärmerei. Eine nüchterne
Unterſuchung des Begriffs der Gerechtigkeit — dieſer
Gottheit des Verfaſſers — Hütte ihm zu der Weberzen-
gung bringen Können, daß Geredhtigfeit durchaus nicht
jene Gleichheit fordert, die er im ihrem Namen verlangt
und deren Verwirklichung er von ber Zukunft Hofft.
Julius Srauenflädt.
Nene Romane.
1. Der Fluch der Armuth. Roman von Hermann Bjurften.
Aus dem Schwebilden von Ferdinand Zeißberg. Drei
Bände. Bien, Müller. 1869. 8. 2 Thlr.
Diefer Noman übertrifft an Ungenießbarfeit viele
Productionen aus dieſem Gebiete. Bjurſten erzählt
uns von Söhnen, die ihre Väter morden, von Bätern,
die ihre Kinder tödten und die nicht getöbteten im Schmuz
des Pafters untergehen laffen, ferner von Todten, bie
wieder Iebendig werden, und ähnlichen heitern Dingen,
umd zwar im ſehr origineller Weiſe. Gehe und
mehr Geſchichten, fümmtlih mit der früheften Sind»
Beit ihrer Helden beginnend, laufen nebeneinander her,
im alleräußerlichften Zufammenhang miteinander. Gleich⸗
wol wäre aus dem Stoff etwas zu machen gemefen.
Den Kampf eines begabten Menſchen mit der Ungunft
der Berhältniffe darzuitellen, fein Ringen mit der Armuth
und Niedrigkeit, in die feine Geburt ihn verfegt, das iſt
eine nicht zu verachtende Aufgabe. Aber zu ihrer Löſung
gehört eine gewaltige Kraft, ein wirkliches Talent. Das
fcheint uns Hermann Yjurften nicht zu fein, denn er
verarbeitete feinen Vorwurf zu einem Makulaturroman
der gewöhnlichften Sorte. Damit ift alles gefagt. Zum
Schluß wollen wir nit unterlaffen, unfere Verwunderung
darüber auszufprechen, daß an ein fo verfehlte Product
des Auslandes die Mühe und bie Koften einer deutſchen
Ueberfegung verfchwendet werden Eonnten.
2. Satan und Cherub. Driginalroman in vier Bänden von
Daniel von Käszony. Leipzig, Minde. 1869. 8.
4 Thlr.
Das Gefühl, weldes die Lektüre dieſes Romans er-
wedt, ift ein aus Unwillen und Bedauern zufammengejegtes.
Wir find empört über die Roheit, bie fi darin offen
bart, bedauern fie aber zugleich, weil wir es hier mit
einer entſchiedenen Begabung zu thun haben. Cs ift
Methode im Wahnfinn. Dazu kommt, daß an ein Ber-
laſſen des einmal betretenen Pfades feitens des Autors
Taum zu benfen ift, da Käszony nicht mehr zu ben
jugendlichen Schriftftellern zu gehören ſcheint. Auch er
ift am dem fieberhaften Verlangen der Maffe nad) ger
waltſamen unnatürlihen Echauffements zu Grunde ge-
gangen. Die Ingrebienzien zu feinem Roman find
diefelben wie zu dem borerwähnten Roman, nur ſtärker,
padender: Ungeheuerlichkeiten über Ungehenerlichfeiten, raf⸗
finirte Betrügereien, Diebftähle, Fäljhungen, Morde —
was will man mehr! Man glaubt, einen rieflgen
Herentefiel vor fi zu Haben, aus bem bie widerlichſien
Dämpfe auffteigen. Und doch verräth ſich Talent. Die
Architektur des Romans läßt wenig zu wünſchen übrig,
den überaus albernen Schluß etwa abgerechnet; es ift
Spannung und Steigerung da bis zum Ende des britten
Bandes; ferner überfichtliche Gruppirung und meift ſcharfe
Charakteriftif, dann und warn zeigt fih aud Sinn für
pſychologiſche Entwidelung. Es ift ſchade, daß fo viel
Kraft auf ein Werk verwendet wurde, das in feiner To-
talität lediglich geeignet ift, die ohnehin ſchon arge Ber-
wilderung des Geſchmads zu fördern.
Zwei Schweftern, beide von einem Vater, aber ver
ſchiedenen Müttern, einander aufs Haar ähnlich, werben
einer großen Erbſchaft wegen, welche die eine machen foll,
vertaufcht, d. h. die nichtberechtigte Schweſter wird an
Stelle der beredjtigten geſetzt. Beide heißen Miranda
und find nad; des Verfaſſers Meinung die Heldinnen feines
102 Neue Romane.
Romans. Im Grunde genommen ift aber nur Dliranda
der Satan bie Heldin, während Miranda der Cherub
mehr als Folie dient. Natürlich ift erftere die einge
drungene, lettere die verbrängte Schwefter. Satan und
Cherub führen nun einen fehr geſchickt verwidelten Erb»
ſchaftsproceß, und e8 Hat lange Zeit den Anſchein, ale
ob der Cherub dabei zu kurz kommen follte, bis die Liebe
zu einem und demfelben Manne beide vereinigt. Aber
nur bie Liebe des Satans ift et — ber Cherub findet
fpäter einen andern Gegenftand feiner Neigung, tritt alfo
feine Rechte an den frühern Geliebten an ben Satan ab.
Diefer wird endlich gebändigt, verfühnt fi) mit dem
Cherub und theilt mit ihm die Erbfchaft, die den ganzen
Zwiſt hervorgerufen.
Wie roh ber Berfafler verfährt, ergibt ſich auch aus
feiner Erzählungsmeife. Fortwährend fällt er aus ber
Rolle des Erzählers Heraus und tritt vor und als fehr
ſelbſtbewußter Literat, der es für feine Pflicht hält, uns
mitzutbeilen, weshalb er in feinem Roman fo und fo zu
Berle geht. Man leſe I, 57:
Es ift durchaus und zwar im Intereſſe der Leer noth⸗
wendig, daß ſpannende Kapitel auf jenem Punkte vom Berfaffer
abgebroden werden, mo das Intereſſe der Lejer auf ben höch⸗
ftien Gipfel gelangt if. Diefe Oekonomie des romantiſchen
Werts werben fie beinahe bei allen Romantilern (!) finden,
es ift gleich wie bei dem Rhein, welcher fi) im Sande verliert,
um mehrere Meilen böber wieder in Borfchein zu kommen.
Dies ift die Urſache, daß wir ihnen die Fortfegung des Zwie⸗
geipräch® der beiden Better wohlberechnet (!) vorenthalten und
fie beifammen laffen, geben jedoch das Beriprechen (Il), fie fpäter
mit dem Inhalte deffelben befannt zu machen.
Ferner II, 131:
Wir find wieder im SIntereffe unferer Lefer gezwungen,
den Faden der Erzählung fallen zu lafien, um ihn dann fpäter
aufzunehmen, nnd fo wie wir in den legten zwei Kapiteln mit
der Zeit rückwärts gegangen find, jet um ebenfo viel einen
Eprung nad vorwärts zu gehen . . .
©. 205:
Wie ſchwer wäre e8 auf diefe Kragen zum antworten... .
Dennod glauben wir auf alle diefe Fragen bejahend antworten
zu lönnen (}).
Sodann III, 93:
Man verzeihe uns biefes kurze Abfchweifen von der Hand»
fung, in einem Roman paffen an gehöriger Stelle auch gelehrte
Blitze (!) der ernſten Wiſſenſchaft.
S. 190:
Die junge Dame hatte ihren Kranken auf einen Platz im
Baurhall⸗Garten geführt, wo er ausruhen und ein Sonnenbad
nehmen konnte, d. h. fein Gefiht war durch den Sonnenſchirm,
mit weldem ihn Miranda beichattete, vor dem biendenden Lichte
geihlittt, während fein übriger Körper in der Wärme ſchwim⸗
men fonute. Wir gebrauchen diefen Ausdruc blos infolge des
vorigen, allgemein angenommenen eines Sonnenbabes (!!).
Wir konnten noch eine ftattliche Blumenlefe derartiger
Eröffnungen zufammenftellen, denken aber, daß die gege-
benen Heinen Auszüge fowol dem Leſer als Heren von
Kaͤszony genligen werben.
83. Tolle Geſchichten. Ein norddeutſcher Roman von E, von
Dindlage Zwei Bände, Leipzig, Sclide 1870. 8.
8 Thlr. 20 Nor.
E. von Dindlage hat zwar gleichfalls Neigung zu
Berbrechergefchichten, aber fie behandelt fie wenigftens nur
als Epifode — freilich zuweilen in folcher Breite, daß
die Epifode zur Haupthandlung zu werden droht. Wer
nigften® gilt dies von dem vorliegenden Roman, der um
vieles beſſer wäre, wenn die fatale Geſchichte der Erbin
von Krainhorft, die, eine Vergiftung behanbelnd, einen
höchſt unangenehmen Eindrud macht, fehlte. Die Ge-
ſchichten dieſes Romans bleiben immer noch toll genug,
auch wenn diefe tolle DBegebenheit ausgefchieden wird.
Aber es ſcheint beinahe, als hegten unfere Romanfchreiber
die Meinung, daß ein Roman ohne derartige Würze nicht
recht genießbar fei. Wir wollen gegen diefe Anfchauung
hiermit ernftlich proteftirt haben. Das Berbrechen ift in
der Dichtung nur dann berechtigt, wenn es als das
Refultat gewaltiger Conflicte in der Seele eines von
Grund aus edeln Charakters erfcheint, wie in der Tra⸗
gödie. Denn es gilt dann, die gewaltige Kraft bes
jelbftbeftimmenden freien Willens im Kampf mit der
gewaltigen Kraft bes Weltgeiftes zu zeigen und durch
den Untergang des Verbrechers das Sittengefe zu ver⸗
herrlichen. Aber ein gemeiner Verbrecher, deſſen Motive
uns Abſchen flatt Bedauern einflößen, kann niemals ber
Gegenftand dichterifcher Behandlung fein.
E. von Dindlage jchildert in ihrem Roman das
Treiben einer altadelichen Junkergeſellſchaft, die, eingedenk
ihrer Vorfahren aus der Zeit des Fauſtrechts und im
Bewußtſein bedeutender phyſiſcher Kraft, glaubt, ſich
aud im 19. Jahrhundert ganz nad Willfür und mit
Verachtung jedes Geſetzes geberden zu dürfen. Die
Junker jagen auf fremden Gebieten, beftehen Kämpfe mit
den Grenzwächtern, befreien einen Zögling ihrer Darimen,
der in Gefangenfchaft gerathen, aus einer Feſtung, voll⸗
führen mit einem Worte lauter tolle Streiche. Natürlich
fommt es nun darauf an, dieſe wilde Geſellſchaſt zu
bündigen, ihre erclufive Stellung unhaltbar zu machen
und fie fchlieglich gleich andern Sterblichen dem Staats- '
organismus einzufügen. Diefe Wandlungen werben theils
duch die Liebe, theils durch das erwachende reinere
eiegeägt, theils durch ungünftige äußere Verhältniſſe
ewirkt.
Auch hier iſt der Vorwurf bedeutender als die Aus⸗
führung. E. von Dincklage hat wenig Begriffe von
architektoniſchen Bau und Stil. Aber ſie ſieht die
Welt wenigſtens mit klaren Augen an und weiß durch
eine gewiſſe Urſprünglichkeit, wenn auch nicht gerade zu
feſſeln, aber doch eine Zeit lang zu unterhalten. Mehr
wird ſie mit dem vorliegenden Roman wol auch kaum
beabſichtigt haben.
4. Mütze und Krone Roman von Hermann Schmib.
Fünf Bünde. Leipzig, Günther. 1869. 8. 4 Thlr.
- Mit diefem Roman verlaffen wir endlich zu unferer
aufrichtigen Freude die naßkalten Regionen des Dilettan«
tismus und treten in das fonnige Reich der Kunft. Hier
haben wir endlich einen Künſtler und ein Kunftwerf vor
und. Die Species wird immer feltener — um fo mehr
Grund für und, da8 einzelne Individuum und die einzelne
Erſcheinung mit doppelter Liebe zu betrachten.
Hermann Schmid ift Fein Neuling in der Literatur.
Die Bühne befigst von ihm eine Reihe Dramen, das
Publitum eine Anzahl belletriftifher Schriften. Vorzüg«
lich war e8 feine Thätigkeit auf dem Felde der Erzählung,
die ihn im weitern Sreifen befannt machte, Wirkten feine
Neue Romane,
erften derartigen Verſuche, zumal feine bairifchen Dorf-
geſchichten, aud) vorzüglich ihres ftofflihen Intereſſes
wegen, jo fündeten fie doch bereits ein wirkliches Talent
an, das zu ſchönen Hoffnungen berechtigte. Diefe Hoff-
nungen haben fih nun erfüllt. Wir Halten den Roman
„Müge und Krone” nicht blos für das befte Werk des
Autors — was unter gewiffen BVerhältniffen nicht eben
viel jagen wirde — fondern für eine wirkliche Bereiche -
rung der zeitgenöſſiſchen Literatur. Was ihm zunächſt
hohen Werth verleiht, das ift das moderne Gepräge, der
Haud) der Gegenwart, der das Ganze durchweht. Es
find Kinder der Zeit, die uns Bier entgegentreten, con»
crete Geftalten, wie fie uns täglich begegnen oder doch
begegnen können. Der Verfaſſer fußt auf der „feſten
dauernden Erde”, und verfhmäht es, uns mit abftracten
Phantaſien einzufchläfern. Der Roman ift zeitgemäß,
weil er auf realiftifcher Grundlage ſich aufbaut.
Und doc ift fein Held ein Schwärmer — freilich
ein Schwärmer, wie gerade bie Gegenwart fie vielfach
erzeugt: ein Schwärmer für das ftaatlihe Wohl ber
Dienfchheit, das er einzig in der Regelung des Mis-
verhältniffes zwiichen Fürft und Bürger, zwiſchen Mütze
und Krone fieht. Er hält eine Staatsform fiir möglich,
die beiden Theilm nicht nur ihre Rechte wahrt, ſondern
fie fogar zu gemeinſamem Streben vereint. Das ift aber
leider ein unauflösbarer Widerſpruch; das eime ſchließt
das andere aus, Ein Fürft mag fo populär fein ale
er will, er mag dem Bürger alle möglichen Conceffionen
machen — er bleibt der Negierende, der Bürger der
Regierte, und die Mluft zwiſchen beiden ift viel zu breit,
als daß fie einander die Hände darüber reihen Könnten,
Das ift auch die Anficht des Verfaſſers, und man wird
ihm gern beiftimmen. Der Held feines Romans verfucht
die Loͤſung jenes Problems — um fehr fpät und nad) großen
Berluften zur Ueberzeugung der Unlösbarkeit zu gelangen.
Aber diefen Berfuh in all feinen Phafen zu verfolgen,
ift in hohem Grade anregend und fefielnd.
Profeffor Führer war in feinen Stubienjahren mit
dem Thronerben eines mittlern Staats, dem Prinzen Felix,
befreundet, und beide entwarfen damals hochfliegende
Plane zur Beglüdung der Menfchheit. As mun ber
Prinz unerwartet zum Thron gelangt, fucht er Führer auf
und bietet ihm das Minifterium an, damit er, im Verein
mit ihm, ihre frühen Projecte zur Ausführung bringe.
Führer geht mit Freuden darauf ein, da er das ſchwar⸗
merifche Feuer der Begeifterung, das ihn noch immer
durchglüht, auch bei dem nunmehrigen Fürften voraus«
fest und, nad) dem erſten Auftreten deſſelben, auch vor
ansfegen darf. Vergebens find bie Warnungen feines
Freumdes Riebt, der dem neuen Minifter zuruft:
Ich kenne nur zwei wahre und darum allein mögliche
Staatsformen, bie volle Alleinherrſchaft und den volllommenen
iftaat. Ein Mittelding gie nicht, und jeder Verſuch zur
Dermittelung ift Halbpeit, Schein, Selbſitäuſchung oder geradezu
Betrug. Ich glaube nicht, daß ein FÜrft der Erde, wenn er
aur ein Jahr lang die Krone getragen und fi am bie Bogel-
verſpective gewöhnt hat, ernſtuͤch vermitteln will. Ich glaube
e3 aud) von biefem Herzog nicht. Thoren, die von einem patriar«
halifcen Berhältuifſe zwiſchen Fürft und Bolt fafeln!
Führer hat nur zu bald Gelegenheit, fi von der
Wahrheit diefer Worte zu Überzeugen. Gein Herzog bes
103
figt beim Antritt der Regierung den beften Willen, er
hegt die beften Abfichten, und die erften Schritte, bie er
auf Anregung feines Minifter8 unternimmt, find aner-
kennenswerth. Aber die Ideale, die ihm bisher vorge
ſchwebt, fangen an vor der nadten Wirklichkeit zu zer⸗
fliegen. Er macht die Erfahrung, daß Plane leichter
entworfen als ausgeführt find, daß eine Reformation ber
Verhältniffe nicht mit einem Schlage herbeizuführen ift.
Diefe Erkenntniß läßt feinen Eifer nach und nad) erlale
ten, jq er empfindet es ſchließlich als eine drüdende Laft,
den betretenen Pfad der Neuerungen fortzumandeln, und
hält e8 für das Beſte, auf die alte Bahn feiner Väter
zurlidzufehren. Führer's Vegeifterung ift nicht fo raſch
erlofchen, er arbeitet mit heiligem Exnft an feinem großen
Werke, trog der ſich täglich mehrenden Zahl feiner deinde,
ja auch dann noch, als ber Abfall feines Yürften ihm
Har vor Augen ſteht. Immer noch Hofft er, durch die
Gewalt der Ueberzeugung und durch den Hinweis auf
die bereits erzielten Fruchte ihrer gemeinfamen Beftre-
bungen den Fürſten wieder zu gewinnen. Als er indeß
entbedt, daß diejer nicht nur ein ſchwacher Regent, fon
dern auch ein ſchwacher Menſch fei, dem fogar das Weib
feines Minifters und Freundes nicht Heilig ift, da
verläßt auch ihn der Glaube an die mögliche Durchführung
feiner Miſſion. Enttäufcht, aber nicht gebrochen, verläßt
er fein Vaterland, ihm zurufend:
Sei glüdtid, geliebte deutſche Heimat, fo glädtih ale
unfere fühnften Träume dich gedacht, und ich weiß, du wirft
es fein! Ich fühle es in biefem Angenblide, der mich anweht
wie Obem der Weiffagung, du wirft frei und glüdlich fein, die
Zeit wird fommen, in der alle herrlichen Kräfte in dir zufame
menwirten im ſchönen, harmoniſchen Ebenmaße, die Zeit der
reiheit, in der fein Zwieſpalt mehr fein wird jwiſchen
Ürf und Bürger, keine Feindſchaft mehr zwiſchen Mütze
nad Krone!
Die Anlage des Romans ift weniger epifch als viel-
mehr dramatiſch, und das will uns als ein befonderer
Borzug erfheinen. Wir glauben ein breit ausgeführtes
Drama zu leſen — die fünf Bände find gewiſſermaßen
die fünf Acte. Der erſte Band gibt die Expofition und
den Beginn der Handlung: Führer übernimmt das
Minifterium; der zweite die erſte Steigerung: Führer's
erfte Unternehmungen und die dadurch Berborgerufene
Agitation feiner Feinde; der dritte die Krifis: Führer
auf dem Gipfel der Macht und zugleich in bedrohliche
Eonflicte mit der Gegenpartei und feinem eigenen Hanje
verwidelt; der vierte die Peripetie: die That des Herzogs
und zugleich bedenkliche Folgen ber einen Neuerung, nämlich
des Schwurgerichts; der fünfte endlich bie Kataſtrophe:
Führer’8 Abgang. Diefe Form der Behandlung iſt num
freilich ſpeciell für das Drama geeignet, aber es find
mannichfache Gründe vorhanden, die ihre Anwendung auch
beim Roman würnſchenswerth erſcheinen laſſen. Das
Ganze erhält dadurch einen beftimmten Rahmen, das
Ueberwuchern des Stoffe wird dadurch verhindert und
die Einheit des Gedankens gewahrt.
An Epifoden ift fein Mangel. Aber fie find niemals
ohne nähere Beziehungen zur Handlung. Teils erfcheinen
fie als deren Reflex, theils charakterificen fie die allgemeine
Vollsſtimmung. Der Stil endlich ift einheitlich, bie
Sprache correct. Oskar Elsner.
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2.
104 Muſikaliſche Literatur.
Muſikaliſche Literatur.
1. Bach und Händel. Eine Monographie. Vorträge, gehalten
an der Hamann-Bollmann’ihen Muſikſchule in Nürnberg
im Winter 1866 von 8. Ramann. Leipzig, Weißbach.
1869. ©®r. 8. 15 Nor.
Zu den zahlreichen eigenthümlichen Erfcheinungen der
gegenwärtigen Kunftepoche gehört jedenfalls auch die, daß
auf muſikaliſchem Gebiete die Frauen, fo wenig tüchtig
und glücklich ſich diefelben bisher im allgemeinen in der
Compofition zu erweiſen und fo wenig fie namentlich die
größern Formen zu beherrfchen und plaftifh zu ge—
ftalten vermochten, ſich dagegen auf biographiſch-kunſt⸗
philofophifchdem Felde mit Glück zu verfuchen anfan»
gen. Wir überfehen deshalb Teineswegs die Mängel
und infeitigfeiten namentlih einer Eliſe Polko, aud)
einer La Mara u. a., unterfchäten aber ebenfo wenig
die größere Vielſeitigkeit der Anſchauung, welche wir ge-
winnen, wenn ſich an derfelben auch das feinfühligere und
inftinctiv viel tiefer oder doch wärmer in manche Seiten
eindringende Ange der Frauen betheiligt. Hauptſächlich
aus diefem Grunde find auch bie vorliegenden (nicht zu-
treffend mit dem Ausdrud „Weonographie” bezeichneten)
Borträge von Lina Ramann zu den werthvollern Er-
ſcheinungen der Gegenwart zu rechnen. Fräulein Ra
mann ift unftreitig eine der Hervorragendflen und ver»
dienſtvollſten Mufilpädagoginnen der Gegenwart und ver-
dient in erfter Reihe neben einer Wifeneder, Gayette-
Georgens u. ſ. w. genannt zu werden. Einerſeits er-
freut fi die von ihr in Nürnberg gegründete Muſik⸗
fchule bereits feit mehrern Jahren Fräftigen Empor-
blühens, andererjeits verdanken wir ihr ſchon mehrere
anziehende oder pädagogifch werthuolle Literarifche Gaben,
3.8. „Die Muſik ale Gegenftand der Erziehung”, „Aus
der Gegenwart”, „Kindermufe u. f. w., und nicht mitte
ber ift der Eindrud des jegt erfchienenen Werkchens über
Bad und Händel ein überwiegend vortheilhafter. Es
weht in dem ganzen Buche ein wohlthuender Hauch, wohl
geeignet, namentlich jüngere Tonkünſtler aufzumuntern
und zu warmer Begeifterung, auch zu felbitthätigem
Schaffen anzuregen. Die Darftelung ift geiftvoll und
Kräftig, und nur die Ausbrudsweife erjcheint Hin und
wieder abfonderlih und gefucht. Wußerdem ift nicht zu
überjehen, daß für das Verftändniß unferer neuern, dem⸗
felben überdies viel näher liegenden Claſſiker Haydn,
Mozart und Beethoven viel mehr durch die Schriften von
Jahn, Brendel, Dulibifcheff, Chryfander, Bitter, Nohl,
von Kreißle, Thayer m. ſ. mw. gefchehen ift als für Bad
und Händel, welche bereits einer entferntern Vergangen⸗
heit angehören.
Wie fchon der Titel befagt, ift das Buch aus drei
ben Zöglingen ihrer Muſikſchule gehaltenen Borlefungen
entjtanden. Fräulein Ramann fagt:
Sie hatten —5 die Abſicht (den Zweck), die Meiſter
Bach und Händel dem Verſtändniſſe meines Publikums zu ver⸗
mitteln, welche bei ihrer jetzigen Herausgabe dieſelbe ge-
blieben iſt.
Den Kern bildet 1) das Leben Bach's und Hündel's,
2) die gefchichtliche und pſychologiſche Stellung der Cul⸗
turformen und bes Dratoriumsd zur Glaubensidee und
3) bie Charakteriftif beider Meiſter. Der erſte Abfchnitt
behandelt in anziehenderer Weife, als dies in derartigen
Broſchüren gewöhnlid) der Fall, nicht jeden von beiden
Heroen für fi, fondern läßt die Lebensmomente beider
gewiffermaßen parallel nebeneinander vorüberziehen, was
der ganzen Darftellung einen eigenen Reiz verleiht und
da8 Intereſſe fortdauernd rege erhält. Dabei ift die
Kürze, deren fich die Verfaſſerin bedient, Lobend anzuer⸗
tennen, welcher Umftand felbft noch Thatſachen, wie die
faft bis zum Ueberdruß oft erzählte Mardhand- Affaire,
von neuem anziehend macht. Der zweite Abſchnitt be»
leuchtet,
um unjere beiden großen Meifter in ihrer vollen Bedeutung
für die gejhichtlihe Weiterentwidelung der Tonkunſt fomwol
als auch in ihrem rein Tünftlerifhen Schaffen faffen zu können,
die muſikaliſchen Formen, derem ihr Genius, theild um durch
fie fi zu offenbaren, theils um biejelben zu vollenbeter Höhe
zu führen, fich bemächtigt Hatte, in ihrem gefchichtlichen und
piychologifchen Berhättnih zur Kunſt und zur Glaubensidee.
Die Berfafferin hat diefe Aufgabe mit vieler Hin-
gebung und großem Fleiße gelöft, und hätte nur dem
Oratorium als der bebeutendften dieſer Culturfornen
noch größern Raum widmen können. Ebenſo viel Tref-
fendes enthält die dem zweiten. Abjchnitte folgende Cha-
rakteriſtik. Nach einer Schilderung der damaligen Zeit»
verhältniffe, in denen der fuchende Blick nirgends jene
Einheit gewahrt, welche die Errungenschaft abgeflärter
Zuftände ift,
inmitten einer folchen Zeit, folder Umgebung treten die Per.
jönlichleiten eines Bach und Händel um fo großartiger hervor
und erfüllen mit jener Bewunderung, welche fih uur an
Geifter heſten kann, die in den Wircnijfen der Meinungen und
bes Lebens ſich edle männlihe Kraft, Geſchlofſſenheit und
Feftigfeit des Charakters, Hoheit und Ziefe in der Welt der
Ideen und Gefühle bewahrt. Beide ftehen fle vor uns ge⸗
wappnet mit dem ehernen Schild des Glaubens, umpanzert
von dem Bewußtſein reinen Strebens, im Herzen Gott und
ihre Kunſt.
Ebenfo enthalten die Abfchnitte über Wefen, Glauben
und Schaffen beider Meifter wie über ihre Inftrumental-
muſik geiftvolle und anziehende Mittheilungen.
2. Conjonanzen und Diffonanzen. Gelammelte Schriften ans
älterer und neuerer Zeit von J. C. Lobe. Leipzig, Baum⸗
gärtner. 1869. Gr. 8. 2 Thlr.
Wir haben ed bier nicht mit einer jener Titerarifchen
Eintagsfliegen oder abgeftandehen Gerichte in der Form
angenehm unterhaltender Cauferien zu thun, welde bie
moderne Bücherinduftrie in fo fruchtbarem Grade fort
und fort gebiert. Dafür bürgt ſchon der berühmte Name
und bie gediegene Richtung ihres Verfaſſers. Profeffor
Lobe ift in Bezug auf fein verdienftvolles Wirken auf
tunftphilofophifchen Gebiete ebenfo wohl befannt, wie als
geiftvoller Feuilletoniſt geſchätzt, ſodaß es Feines weitern
empfehlenden Wortes dieſer — größtentheils früher in
den verſchiedenſten Blättern enthaltenen — geſammelten
Aufſätze bedarf. Trotzdem manche derſelben, wie der Ver⸗
faſſer ſelbſt angibt, bereits mehr als 20 Yahre alt find,
bieten doch faft alle einen noch jetzt intereffirenden
werthvollen Kern. Nur wenige, 3. B. die unfruchtbare
Muſikaliſche Literatur.
Mühe, das dilettantifch einfeitige und verſchrobene Noten-
foftem des weiland Herrn von Heeringen zu beleuchten,
möchten hiervon auszunehmen fein. Lobe bat in feinem
Suhaltsverzeihniß und in der wirklichen Reihenfolge feiner
Auffäge eine doppelte Anordnung getroffen, ob jedoch
zum Vorteil leichter Ueberfichtlichleit oder geordneter Zu-
ſammenſtellung des Stoffs, ift uns nicht recht klar ges
worden. Das Inhaltöverzeihniß bietet unter der Rubrik
„Allgemeines“ folgende Auffäge: Tonmalerei; ein Wort
zur Schillerſtiftung; altarabifche Muſik (über das geifte
volle Wert von Chriftianowitih); über Daumer’s Bes
Hauptung, die Muſik fei feine Kunft; ferner: worin be-
fteht die Möglichkeit, ein Erfinder zu werben? (mit einigen
nicht zu verachtenden Rathfchlägen); über Confervatorien;
über Preisanfgaben; über das Vergleichen in der Kunft;
über das leidige Stimmen und Ptäludiren im Orcefter;
Salonmuſik; das Orgelfpiel und feine Mängel (fehr ber
herzigenswerth); Bertheidigung des geſprochenen Dialogs
in der Oper (unter anderm auf Grund ber allerdings fehr
wahren Beobachtung, daß uns ber Dialog hauptfüchlich
durch falſche Behandlung und ungeſchickte, unmotivirte
Zufammenftellung von Dialog und Mufit verleidet werde);
Entreacte im Schaufpiel (Lobe.ift gegen alle Entreacte-
muſik, welche nicht fpeciell für das betreffende Drama
componirt ift); Briefe aus Fernwinkel (geiftvolle Perfi-
flagen kleinſtädtiſchen. Kunftdünfels tie manches lanbläu-
figen Unfugs); über das Unfruchtbare todter Steindenk-
mäler ftatt lebendiger Denkmäler durch fruchtbringende
Inftitutionen; Effekticiemus; über Abnehmen des Theatere
bejuchs; Revue mufifalifcher Zeitphrafen, fowie eine Be
tradhtung darüber, ob aus der Oper die vollfommenfte
Kunftgattung werden könne.
Die zweite Rubrik des Buchs enthält dagegen: Er
innerungen an Karl Auguft von Weimar, an &. M. von
Weber, Ringelhardt (ein fehr beherzigenswerthes Geſpräch
mit demfelben), Spohr, Lorging, Marſchner, Berlioz, den
jungen Mendelsfohn (ein Quartett bei Goethe), Meyer
beer, Wieprecht, Liſzti; ferner über Dittersborf’s Opern
(mit Notenbeijpielen); Briefe von Jenſeits, in denen es
2. Nohl ziemlich übel ergeht; das Adagio der Oberon-
ouverture; Octavio im „Don Juan“; die Marfeilaife;
Schubert's „Erlkönig“; die Gebrüder Müller; über Ge-
naft’s „Tagebud eines Schaufpielers"; Schumann’s „Ge-
noveva”; Waguer’s „Iudentgum in der Mufil“, von einer
andern ergöglichen Seite beleuchtet; Wagner als Dichter;
Diffenbad) und Carlotta Patti. Gewiß eine reihe Yus-
wahl von Peltüre für unſer feuilletoniſtiſch arg verzogenes
Bubfitum, die aber, wie gefagt, trotz aller im erften Augen«
bli etwas bunt feheinenden Mannichfaltigkeit vor allem
einen durchgängig foliden Kern in der rüchaltlofen Ueber-
zeugungstreue des Verfaſſers ebenfo wie in feiner licht«
vollen, warmen und überwiegend unbefangenen, vorurtheils⸗
freien Darftellung enthält. Werthvoll find diefe gefam-
melten Schriften ferner wegen ber nobeln, ruhigen und
objectiven Weife, mit welder ber Berfaffer, einerfeits
feinen von Haus aus eingenommenen confervativen Stand»
punkt ſtreng feſthaltend, anbererfeits allem Bedeutenden
ein warın empfängliches, ſtets jugendfrifches Gemüth ent«
gegenbringend, überall feine Meinung ausfpricht, und bie
1870, 7.
105
Anhänger neuer Richtungen werden ſich wegen fo mander
ihren Anfihten wiberfprechenden Urtherle gewiß gern mit
dem Verfaſſer ausföhnen, wenn ſie 3.8. ©. 55 und 313
inne werden, mit welchem feltenen Muthe Lobe zu einer
Zeit z. B. für Hector Berlioz eingetreten ft, wo noch
faft alles Verſtändniß für die Bedeutung dieſer Rich-
tungen überhaupt ſchlummerte. Wir unterlaffen daher
nit, diefes einen ftarfen Octavband ausfüllende Sammel«
wert des allerſeits wohlbekannten und hochgeſchätzten Theo»
retilers als eine nicht nur angenehm unterhaltende, fon-
dern auch mehrfach in ernſterm Grade anregende ſowie
in manden Äufſähen wirklich Aufklärung und Nuten
gewährende Lelktüre zu empfehlen.
8. Kür Freunde der Tonkunſt von Friedrih Rochlis.
ritte Auflage. Mit einer Siegraphilien Stizze des Ber-
fafjers. Bier Bände. Leipzig, Cuobloch. 1868. 8, 4 Thlr.
Friedrich Rochlitz Hat für das Verftändniß neuer, un«
gewöhnlicher Schöpfungen, namentlich DBeethoven’s, zu
einer Zeit, wo der Sinn für fie faft noch völlig unentwidelt
war, namentlich durch die von ihm im Verein mit bem
Haufe Breitfopf und Härtel am 3. October 1798 in
Leipzig ind Leben gerufene „Allgemeine muſilaliſche Zeis
tung“ in fo hohem Grade verdienftvoll gewirkt und fo
vielen jungen Talenten und neuen Erjdeinungen auf
mufitaliichem Gebiete mit rüdhaltlofeftem Wohlwollen
die Bahn breden Helfen, daß fämmtlihe „Sreunde der
Tonkunſt“ alle Urfache haben, ihm ein dankbares und
ehrendes Andenken, ein ſtets vege erhaltenes Interefie zu
wibmen. Es wird daher bie bloße Anzeige genügen, daß
feine unter obigem Titel gefammelten Schriften, durch
eine anregend geſchriebene biographifche Skizze von Alfred
Dörffel bereichert, in fonft unverändertem Abbrud in
neuer (dritter) Auflage erſchienen find. B
Dörffel fagt in jener Skizze u. a. über die von Rochlitz
gegründete Zeitung:
Bon wer die Idee, eine ſolche Zeitung ins Leben zu rufen,
ausging, ob von Rodlig oder der Handlung Breitlopf umd
Hörtel, ift nit beflimmt nadjmeisbar. Nodjlik Half aber biefes
Iufitut entwerfen und einrichten, „tmidmete ber Theilnahme
daran mit Vergnügen einen Theil feiner Zeit und Kräfte“, ja
blieb fange Zeit ganz und. gar die Seele deffelben. Man darf
getroft behaupten: die Zeitung entftand mit ihm und durch
ihn, blüßte empor mit ihm und fegte reiche Fruchte ab; fie
alterte mit ihm und überleble ihn nur um, wenige Jahre (fie
ſchloß ſich mit Ende 1848); fie ift fein eigentliches Werl. Cs
waren nur fünf Männer, die gleich anfange Beihilfe zur
Stiftung der Zeitung verſprachen, und unter biefen fünf waren
drei, bie ihr Verſprechen erfüllten (u. a. Zelter in Berlin).
Hieraus erfieht man, daß Rodlig fo ziemlich auf ſich allein
angewiefen war, die Orlindung und ben Kortbeftand des Unter»
nehmens zu bewirken. Obſchon er ſich nirgends als Redacteur
oder Herausgeber nannte, fo wußte man e8 doch bald all»
gemein, daß er hauptfäglic für den Stoff forgte. Und wenn
er erflärte, daß er vom Monat Juni 1804 an den Antheil,
den er an ber Üedaction gehabt Habe, aufgeben werbe, fo bezog
man dies nur auf die gejhäftlichen Angelegenheiten, vom denen
ex flirder verfhont bleiben wollte. Erft mit Ablauf bes Jahres
1818 nahm er definitiv Abſchied vom Lefer, „inwiefern er näme
lich Redacteur der Zeitung von ihrem Üntftehen bis dahin ge»
weſen ſei“, und legte die Führung des Blattes in bem &
mußtfein nieder, „mährenb dieſer zwanzig Jahre ſchwerlich
zwanzig Tage verlebt zu haben, wo er dee Lefers gar nicht
gebadht, fi um ihm gar nicht bemüht hätte‘, Fügen wir dem
nun Hinzu, daß er bis im das Jahr 1835 hinein fortfuhr,
14
106 Bom Büchertiſch.
Beiträge in die Zeitung zu Tiefern — fehr werthvolle Beiträge —
fo rechtfertigt ſich wol die Behauptung, biefelbe fer fein Werk,
zur Genüge.
Daß Rochlig zu einer Zeit, wo die fachwiflenfchaft-
liche Preſſe noch viel unentwidelter war, wo das ſchrift⸗
ftellerifche Wirken eines Matthefon, Forkel, C. M. von
Weber, Gottfried Weber (ſ. deffen mit C. M. von Weber,
Gänsbacher u. f. w. in Manheim herausgegebene „Cä-
cilia‘) und weniger anderer noch fehr vereinzelt ohne alle
Nachahmung daftand, wo noch keineswegs jene befruchtende
Epoche angebrochen war, in ber ein Lobe, ein Jahn u. f. w.,
befonder8 aber ein Robert Schumann und nad ihm ein
Franz Brendel, Wagner, Liſzt und viele andere anregend
die Feder in die Hand nahmen, daß Rochlitz zu einer
folcden Zeit bereits jo bahmbrechenden Einfluß ausübte,
das verdankt er einer Vereinigung von Eigenfchaften, wie
fie fich felten bei einem kritiſchen Schriftiteller vereinigt
gefunden haben, Eigenschaften, welche wir zugleich allen
Fachcollegen auf das wärmfte zur Nachahmung empfehlen
können.
Rochlitz ſtellte das Gute überall ſorgſam in den Vordergrund,
zeigte ſich auch da, wo ihm ein neues Wert dunkel geblieben war,
vorfihtig und befgheiden; jein Lob war maßvoll, fein Tadel
mild, in beidem war er Tiebenswärdig. Ueber neue Erſchei⸗
nungen berichtete er, in feiner Erkenntniß die Durchſchnittslinie
von damals weit hinter fich laſſend, meift in kurzen, aber be⸗
ſtimmt das Rechte treffenden Sätzen. So bahute er den großen
Merken Mozgrt’6, Haydn’ und Beethoven's einen ſichern Weg
durch die verworrenen, fi) belämpfenden, vielfach irrigen An⸗
fihten feiner Zeitgenoffen, und fein Wort, teil es Wahrheit
war, erhielt eine Macht, die Überall Hin fegensreich wirkte,
Noch jett wird man, was er 3.B.Über Beethoven’s Symphonien
ſchrieb, mit großem SIntereffe lefen, wie überhaupt Beethoven
borzugsweife der Meifter war, den er werden und wachſen
und himmelan, hoch über die Erdenſchrift fteigen ſah. Dielen
Meiſter begleitete er als Erlennender feines Genius treulich
bis and Ende,
Diefe Worte werden Hoffentlich mehr als genligen,
da8 Andenken eines feinerzeit um lebendige WBeiter-
entwidelung ‚feiner Kunſt fo Hochverdienten, trefflichen
Mannes in gebührender Friſche in Ehren zu halten.
Hermann Bopff.
Vom Büchertifch.
1. Das Wefen ber menjchlichen Kopfarbeit. Dargeftellt von
einem SHaudarbeiter. Eine abermalige .Kritil der reinen
und praktiſchen Vernunft. Hamburg, Meißner. 1869.
8. 18 Nur.
Joſeph Dietzgen, Lohgerber in Siegburg, hat es unter-
nommen, in vorliegender Schrift da8 „Denkvermögen als
Drgan bed Allgemeinen” zu entwideln. Und da müllen
wir eingeftehen, daß ed dem wadern Herrn ganz gut
gelungen if, .die verwidelten Vorgänge des Denkens, jene
Detonomie des Gehirns, deren Erkenntniß dem Hand»
arbeiter meift fern zu liegen fcheint, dem aufmerkfamen Le⸗
fer Har zu machen. Der Autor erflärt fich früh, wie es
feiner Beſchäftigung nad) zu erwarten war, fir die
Smöductionsmethode. Ihm ift „bie Vernunft die Fähigkeit,
dem Befondern das Allgemeine zu entnehmen”, Die
Bermittelung zwifchen der Welt des Denfvermögens und
ber Welt unferer Sinne wird durch die ganze Schrift
aufrichtig geſucht — wenn aud nicht Mar gefunden.
Denn gerade das, was das unbefangene Nachdenken bes
werkthätigen Verfaſſers hat vermeiden wollen — die An»
jammlung abftracter Debuctionen, denen meift die endgültigen
Endſchluffe fehlen —, gerade diefe Fülle des Abftracten flarrt
und auf jeder Seite entgegen. Der „praftifchen Vernunft“,
der Moral, bie doch das Herz aller PBhilofophie ift, ift
nur ein Heiner Theil gewidmet. Freilich wird fehr rich⸗
tig die Unzulänglichleit des Einzelnen, da8 Bedürfniß der
Genofienfchaft als Kern des Sittengefetzes hingeſtellt, aber
diefer Kern wird doch zu wenig motivirt. Gonft wird
in ber ganzen Schrift zu viel motivirt: denn für eine
neue Kritik der reinen und praftiichen Vernunft finden
wir in ihe zu viel Definitionen und zu wenig Gejchichte
der Denkſyſteme. Auf die einzelnen Heroen der philofo-
phifchen SKopfarbeit ift gar Feine Rückſicht genommen,
Somit alfo ein Hauptzwed des Buchs ganz außer Acht
gelaſſen. Allein man muß e8 dem Autor zugeftehen, daß
man als Handarbeiter faum Harer und gründlicher dem
Proceffe der Kopfarbeit beilommen Tann, als er felbit es
gethan. Zu Mar und zu gründlich,“ möchten wir fagen;
denn gewiſſe Tteblingsfpaziergänge feiner Gedanken leiten
den gefcheiten Handwerker oft von dem Pfade ab, den
feine Dispofition nehmen wollte Man kann auch als
Laie in der philofophifchen Fiteratur geneigt fein, fi in
feine eigenen Speculationsgänge zu verlieben, gerade fo
wie ein bdeutfcher Profeflor von Fach.
2. Im Brautkranz. Briefe an eine junge Berlobte mit einem
Kapitel über die Ehe als Morgengabe für Bräute. Bon
Frau Therefe Hamburg, 9. F. Richter. 1870.
Gr. 16. 25 Nor.
Das Urtbeil, welches wir bereits in Nr. 4 d. BL. f. 1869
über die Denk- und Schreibweife von „Frau Thereſe“
abgaben, finden wir auch nach ber Lektüre vorliegender
Briefe beftätigt. Während in ben „Briefen und Blättern”
Holtei die befcheidene Frau auf den Büchermarkt führte,
gibt fie fi) in dem neneften Büchlein felbft, nur das
Recht der eigenen Perfünlichkeit blickt uns wiederum mild
und anmuthig aus diefen Blättern an. Würdig und fein-
fühlend find Frau Thereſens Gedanken über die Ehe:
die Beſtimmung des Weibes zur Familie und dem Glüd
in der Ruhe und Häuslichleit leuchtet aus den Worten
der Schreiberin als ftrahlende Sonne, als feftes Grund⸗
geje des ehelichen Glücks hervor; man lan wahrlich
allen jungen Frauen zurufen: lies die finnigen Rathfchläge
der trefflihen Frau, beherzige fie und — in biefem Zeichen
wirft dur fiegen!
3. Eduard Hildebrandt, ber Maler des Kosmos, Sein Leben
und feine Werke von F. Arndt. Berlin, R. Leffer. 1869.
8. 10 Nor.
In dreizehn Kapiteln fchildert ung F. Arndt das
anfangs dornenvolle, fpäter fruchtreiche Künftlerleben des
„Malers des Kosmos”, eine Bezeichnung, bie höchft tref⸗
fend if. Die Jugend des Künftlers, die Zeit des Strebeng
Bom Büchertiſch.
und Lernens in Paris, endlich die berliner Meifter-
zeit mit ihrer wachſenden Anerkennung Hildebrandt's —,
alle dieſe Phafen eines bewegten Lebens treten in Arndt's
Darftellung lebendig in’ die Erſcheinung. Liebenswürdig
genug zeigt ſich und das Freundſchaftsband, das Hilde
brandt an Kumboldt nüpfte, ebenfo Hildebrandt's ge-
meüthliche Humoriftifche Art, bie ihm einen theilnehmenden
Freunbestreis ſchaffte. In nenn Bogen eine eingehende
Biographie, ein folgeredhtes Lebensbild eines Hochgewir-
digten Manne zu geben, das ift fonft nicht Sache der
weitjhweifigen deutſchen Art — um fo mehr fei Hier die
glücliche Feder gelobt, die mit feinem Geſchick und großer
Pietät die Gebilde des Pinfel® und deren Meifter zur
ſaubern Feberzeichnung verarbeitet hat.
4. Leibniys ügyptiſcher Plan. Cine Hiftorifch-kritiihe Monor
graphie von 8. ©. Blumftengel. Leipzig, Loreng. 1869.
©r. 8. 15 Ngr.
Der zweiundzwanzigjährige Leibnig *), damals am
turmaingiſchen Hofe, faßte den Plan, den König von
Frankreich, den gerade die holländiſchen Kriege befchäfe
tigten, auf bie Eroberung eines orientalif—hen Landes und
zwar Aegyptens hinzuweifen. Die Bedeutung, die Aegypten
für bie großen Monardien des Altertfums hatte, bie
ungemeine Fruchtbarkeit feines Bodens, feine Lage am
Kreuzweg dreier Erdtheile verwiefen den jungen Gelchr-
ten auf eine Combination, der er in feinem Consilium
Aegypliacum Ausdrud gab. Sehr richtig ſah Leibnig
voraus, daß es für Europa heilſam wäre, bie Gebanfen
Ludwig's XIV. vom Kriege mit Holland abzulenken. Im
jenem Zeitpunkt ftand Frankreich in den ſchlechteſten Be-
ziehungen zue Pforte: es war alfo geraten, um das
Unheil eines allgemeinen europäifchen Kriegs und Elends
abzuwenden, Ludwig XIV. einen Plan vorzulegen, ber,
jowie er jene encopäifche Calamität verhinderte, dem
Könige die Iodendften Vortheile in Ausfiht ſtellte. So
ging Leibnig an die berüßmte Denffhrift, deren Expoſe
hier zu geben, dankbar für den Pefer, aber zu umfang«
reich für d. BI. wäre. Sie verheißt bei Befolgung ihrer
Borfchläge einen gänzlichen Umſchwung ber Verhältniffe:
unferm Philofophen ergibt ſich aus dem glücklichen Ans-
gang eines Agyptifchen Kriegs ganz ummiderlegli für
Franfreih, die Großmacht zuc See, der Levantehandel,
die Herrſchaft der Chriſten, der Sturz des türkischen Reiche.
Aber das Shidjal diefer Denkſchrift war ein unglüdtiches.
Die Protectoren Leibnig’, Boyneburg und der Kurfürft
ftarben bald darauf, und Lubwig wie feine Minifter
zeigten feine große Luft, den fühnen Plan zu realiſiren.
Wenn ex audgeführt wäre, hätte er vielleicht den großen
europäif—hen Krieg verhindert, welcher das Mark Frant«
reichs verzehrte. Mindeftens fo intereffant als bie Ge-
ſchichte des ägyptiſchen Plans bei Leibnig’ Lebzeiten,
find defien Schickſale nad; des Autors Tode, über bie
uns Blumftengel treu berichtet. Man folte meinen,
Napoleon wäre nur Leibnitz' Plan gefolgt, als er bie
agyptiſche Expedition unternahm. Wenigftens neigt ſich
Thiers (in der „Histoire de la Revolution frangaise“)
diefer Auffaffung zu, ebenſo Michaud in der „Geſchichte
der Kreuzzüge”. Aber der Sachverhalt ift bennod ein
*) Bir behalten die Sqreibung mit $ bei, ba bie Analogie beutfher
ai
Namen bie — ie mit $, nit bie mit } tennt, jowol in Orte aie
in Perfonennamen, And Rusoif Qilpedranb |areidt „Reibniy.
107
anderer. Blumſtengel weift ſchlagend nach, „daß niemand
vor dem Jahre 1803 von dem Leibnit ſchen Memoire
Kunde hatte” (S. 93). Erft nad feiner misglücdten
Erpebition lernte Napoleon die Denkfchrift Fennen. Ges
neral Mortier ſchidte ihm, als er Hannover befegte, im
Spätfommer 1803 aus dem dortigen Archiv eine Abſchrift.
„Mit welchen Empfindungen — ruft Blumftengel aus —
mag er fie gelefen haben!” Gomeit unfer Refumed über
den Inhalt des Leibnitz'ſchen „Consilium“ und deffen
Geſchick. Die Darftelung des Autors ift im hiſtoriſchen
wie im Fritifchen Theil glei; würdig und voll Liebe für
den Gegenftand gehalten. Freilich tritt die kritiſche Geite
ber Schrift gegen die hiſtoriſche zurüd: ift es doch loh—
nend genug, des großen Denker Jugendgebanfen in getreuer
Relation der Nachwelt wieder vorzuführen!
5. Der Talmud. Bon Emanuel Deutſch. Aus der fieben-
ten englifchen Auflage ins Deutſche übertragen. Autorifirte
Ausgabe. Berlin, Dümmler. 1869. Gr. 8. 12 Nor.
Ueber das Weſen und bie Befchaffenheit jenes eigen-
thünmlichen Erzeugniffes, deſſen Name faft unmerklich feine
Stelle unter ben Alltagsworten Europas einzunehmen be
ginnt, gibt und der rühmlichſt befannte Berfaffer, ber
ſprachkundige Bibliothekar des Britifchen Mufeums, forg«
ſamen Aufſchluß. Vom Talmud gilt das Wort, daß nie
ein Buch zugleich allgemeiner citirt und allgemeiner ver-
nadjläffigt worden. Und doch enthält er eine Menge
Dinge, welche die menſchliche Culiur im allerweiteften
Sinne angehen. „Tag für Tag“, verſichert Deutich,
„tauchen aus ben Tiefen des Talmud neue Bilder ans
Licht herauf. Wilder aus Hellas und Byzanz, Aegypten
und Rom, Perfin und PBaläftina; vom Zempel und
Forum, von Krieg und Frieden, Freude und Trauer;
Bilder voll Lebenskraft und Farbenglut!““ Dabei ift
Deutſch fern don Parteilichkeit, ein gerechter Richter,
deffen objectivem Blick das unvergänglid) Echte aus dem
wunderbaren Buch fund wird. Auf den erften Geiten
(6i8 ©. 13) gibt er eine hiſtoriſche Ueberſicht der Schid-
fale des Talmud, aud in Beziehung auf die Tertkritik.
Dann folgt die Darlegung des unendlichen Inhalts, ger
ſchieden nad} feiner theologifchen, juridiſchen und ethifchen
Seite. Bedeutſam und für die Aufflärung über bie
talmudiſche Denfart intereffant ift die Wurzel der Gitten«
lehre, das Geſetz „Du folft deinen Nächten lieben wie
dich felbft“, das (mie es ſich ja aud im Alten Teftament
findet) eine jübifche Vorſchrift ifl. Sprachlich merkwürdig
ift ferner die Bereicherung des römiſchen und griechiſchen
Sprachſchatzes durch femitifche Worte, wie fle Deutich
(©. 49—51) nachweiſt. Die Lehre von der ewigen
Berdammniß ift dem Talmud unbefannt, ebenfo vermag
er nicht die Todesſtrafe zu billigen, freifich entgegen ber
mofaifchen Gefegeöftrenge. Den Schluß ber Darftellung
bilden auserleſene Weisheitöfprüche ans dem merfwürbigen
Bud, deſſen Geift der gelchrte Bibliothelar in feiner
vollen Blüte und vorführt. Man fann geiftvoll, gelehrt
und doch elegant fehreiben, das Hat Deutih im feiner
Heinen Schrift gezeigt: jene liebenswürdige Mifhung von
tüchtigem Inhalt und geſchmackvoller Form, bie den
deutſchen Gelehrten noch immer nicht recht im bie Feder
will, hat ſich der gelehrte Deutſche unter dem Bolt der
Effayiften durchweg angeeignet.
14*
.„rni-
*
—*
108 Vom Büchertiſch.
6. Das Berbot der Ehe innerhalb der nahen Verwandiſchaft,
nach der Heiligen Schrift und nad den Grundjägen der
chriſtlichen Kirche dargeftellt von Heinrih W. J. Thierſch.
Nördlingen, Bed. 1869. 8. 24 Nor.
„Nach der Heiligen Schrift und nady den Grund-
fügen der chriftlichen Kirche” ift die vorliegende fehr ein-
gehende Schrift abgefaßt. Sie erklärt ſich entjchieben
gegen jede Ticenz in Betreff der Heirath in nahen Ver⸗
wandtſchaftsgraden, und verdammt vorzugäweife die neuere
lare Richtung des Proteftantismus, die die Ehe in den
duch die Heilige Schrift verbotenen Graben geftattet.
Lehe liber die proteftantifche Geiftlichfeit! Der befannte
Borkämpfer des Irvingianismus fagt’8 ihr deutlich.
„Hort und fort“, mwehllagt er, „werden eheliche Verbin-
dungen mit der Tante, mit der Nichte, mit des Bruders
Witwe, mit der Schwefter der Frau eingefegnet, und man
vernimmt nichtS davon, daß fich das Gewiſſen der Geift-
lichen dagegen ſträube.“ Der Standpunft des Autors iſt
gewiß fcharf bezeichuet, wenn wir anführen, daß er in
feiner Beſprechung des neuern Proteftantiemus an der
freien Bewegung ber Kirche fein gutes Haar Täßt,
daß ihm vielmehr Stahl und die beiden Gerlach neben
Hengftenberg die einzigen Onfen in der Wüſte der neue-
ften Kicchengefhichte find. Damit ift der Autor und
feine Schrift wohl zur Genüge gefennzeichnet. Für unfer
Gefühl macht es einen unerquidlihen Eindrud, wenn
wie die Bemühungen ber Theologie und der orthodoren
Jurisprudenz (fo in der Broſchüre des Profeffor Kuntze
über die Xodesftrafe), die Rechtsverbindlichleit der
mofaifchen Tradition für da8 moderne Bewußtſein zu
retten, dor der Kritik und dem Publikum fo kläglich
Scheitern fehen.
7. Gerftäder und die Miffton. Sin Geſpräüch liber den Roman
aus der Süpdfee „Die Mifflonare” von Friedrich Gerſtäcker,
allen Freunden der Wahrheit zur Berfändigung mitgetheilt
von Guſtav Jahn. Zweite Auflage. Halle, Mühlmann.
1869. 8. 4 Nor.
Schon die Ausführlichkeit des Titels läßt uns erfen-
nen, mas wir im vorliegendem Geſpräch zu erwar-
ten haben. Es ift nichts weniger als eine Abwehr der
Angriffe auf die Miffton, die der befannte Kenner und
Schilderer der Tropen in feinem neuen Südſeeroman
unternommen bat. Freund der Miffton, eifriger Belenner
der Nechtgläubigkeit, fest Hr. B. Hrn. A., einem Nach}
beter ber Gerftäcker'ſchen Anfchuldigungen, auseinander,
wie jene ſchweren "Vorwürfe, die zumeift auf die ver-
meintliche Sittenverfchlechterung der Miffionare gerichtet
find, jedes innern Grundes entbehren. Es ift auch ein
frommes Gemüth, diefer Hr. B., gewiß nicht weniger fromm
als der Autor des eben befprochenen „Verbots der Ehe”,
allein „wie anders wirkt dies Zeichen auf mich em“!
Aus diefem Kleinen Dialog fpricht der Geift echter Chrift-
Tichkeit, der über die Verdächtigung der eigenen Partei
von feiten des Gegner nicht Zeter fchreit, ſondern mit
Maß und Ernft die gegnerifchen Vorwürfe einer firengen
Prüfung unterwirft. Wir kennen nicht Gerftäder’8 Bud):
aber das vorliegende Geſpräch macht uns in feiner ges
mefjenen Haltung den Eindrud, al® ob die Bezeichnung
der „Oberflächlichkeit“ Hinfichtlich der Beſchreibung reli⸗
giöfer Zuftände in ben „Miffionaren” Feine unberech⸗
tigte fei.
8. Lebensbilder, geichichtlihe und enlturgeſchichtliche. Aus den
Erinnerungen und der Mappe eines Greiſes. Zweiter Theil,
Hannover, Meyer. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Nur.
Der erfte Theil der „Lebensbilder“ ift bei weiten
feilelnder, dem Inhalt und ber Ausführung nad, als der
zweite. Dennoch herrfcht auch in dieſem ein reined Ges
müth, feine Beobachtungsgabe und poetifhe Auffaffung
wohlthuend über die ruhige Darſtellung. 8 ift freilich
mehr die Ausflihrung als der Inhalt, deren Gediegenheit
im zweiten Theile hervortritt, denn des Iebensvollen In⸗
halts ift darin fehr wenig. Royaliſtiſch genug ift die
Auffoffung der Natur und Regierung Ernſt Auguft’s
gefärbt: die Gejchichte Hat Über den geftrengen Herrn
wol ein ganz anderes Urtheil, Jedoch haben dieſe Bil-
der’ ihren Schwerpunkt an einer andern Stelle zu ſuchen:
es ift die Idylle bes Dorflebens, die der Verfaſſer mit
fünftlerifcher Hand in ihrem Heinen Leben ung malt. Nur
ftören die zahlreich eingeftreuten Gedichte, die dem Autor
in ben Weg gelaufen find, wo wir die Schilderung eige
ner Stimmungen erwarteten. Go hat er ſich's freilid
bequemer gemacht; aber was follen gerade die befannte
ften Poeme deutfcher Dichter da, wo e8 dem Leſer daranf
ankommt, Driginales und Perfönliches kennen zu lernen?
9. Werke und Tage. Gejammelte Auffäge von Mar Maria
von Weber. Weimar, B. F. Boigt. 1869. Gr. 16.
24 Nor.
„Es gibt noch feinen Ruhm für den beutfchen Ted)
niter. Noch ift jenes Wiffen, das die Körper von ber
bindenden Macht der Schwere befreit, den Gedanken fo
ſchnell, al8 er entfteht, um den Erdball wandern läßt,
das uns Tleidet, nährt und behauft, in benjenigen Kreiſen
der civilifirten Welt, in denen der Ruhm entjteht und
wohnt, jenem Können nicht ebenbürtig erflärt worden,
welches die Geifter fchmüdt und die Seelen erquidt.
Noch ift die Technik nicht falonfähig in der guten Geſell⸗
ſchaft, noch ift die gute Erziehung nicht verpflichtet von
ihr Notiz zu nehmen.” Und doch ift e8 eine fo liebens⸗
wilrdige Geſellſchaft, diefe Gefellfchaft der technifchen Gei-
fter, in die und Weber führt! Und doch ift neben der
genialen Arbeit diefer Ingenieure und Baumeifter, die
uns der Autor in lebensfrifchen Bildern vorführt, jo viel
Romantik in feinen Schilderungen, daß felbft „die gute
Geſellſchaft“ getroft diefe Auffäge in die Hand nehmen
fann, ohne zu befürdhten, vom Kohlenftaub und, was fie
noch mehr fürchtet, vom Ennui der technifchen Ausein⸗
anderfegungen beläftigt zu werden! Bald ift es bie
Häuslichkeit Robert Stephenfon’s, die uns des großen
Tonſetzers Sohn mit treuer Beobachtungsgabe malt, bald
find e8 Bilder aus den Mafchinenwerfitätten, das Wun⸗
derwerf einer Eifenbahn, die in unglaublich kurzer Zeit
gebaut ward, bald Jagd- und Wüftenfcenen aus Nord»
afrifa, oder Seeabenteuer aus allen Meeren, die unfer
Intereſſe feileln. Hr. von Weber ift ein prächtiger
Gicerone. Ueberall wohin er uns führt, belaufchen wir
Natur und Menfcenarbeit in ihren Producten: nicht al-
lein, daß wir Gewordenes bewundern, wir jehen auch das
Werden vor uns und die Anfchaulichkeit der gefchilderten
Gegenſtände läßt nachhaltige Belehrung in uns zurüd.
Was nad) Leſſing's Darlegung der Dichter vor dem Maler
boraushat, die Handlung in ihrer Folge vor unfern Augen
Die Briefe des Generalpoftmeifter von Nagler. 109
dorgehen zu machen, während ber bildende Künftler nur
einen Moment bderfelben firiren kann, das Tommt dem
dichteriſchen Beſchreibungstalent des Autors vortrefflic zu
flatten. Als ein moderner Heſiod der tehnifchen Welt
zeigt er uns „Werke und Tage”; ber Tag, den ber Lefer
der Lektüre feines Werks wibmet, wird ihm ficher fein
verlorener fein.
10. Littauen und bie Littauer. Gefammelte Sfigen von Otto
Stagan. Leipzig, Opeb. 1869. 8. 1 Thlr.
Ken Gau in dem man in deutſcher Zunge redet, ift
Towenig denen -„im Reich” befannt als das Land zwifchen
Weichjel und Niemen, keinen gibt's, von dem man fo
viel Fabeln erzäplte, über den fo viel unrichtige Vorftel»
Iungen im Schwange find. Land und Leute der ofl-
preußiſchen Provinz find dem Mittel- und Süddeutſchen
in feiner Borftellung näher an Sibirien als an Deutſch-
land gerüdt. Da lommt benn jede ethnographiſche Arbeit,
die und über oftpreußifche Zuftände und Menfchen aufe
tlärt, gelegen, und wir find felbft dann geneigt, zu ver
zeihen, wenn wir derartige Schriften im fofeften feuille-
toniftifhen Gewande antreffen. Sehr forgfam genäht
ift das Gewand, das Glagau feinen Skizzen gegeben
Hat, nun freilich nicht; die Fäden figen Iofe genug und
die Nähte gucken überall hervor. Es ift chen feuilleto-
niſtiſcher Boden, auf dem diefe Arbeiten gefertigt find,
die großen Werfftätten der „Nationalzeitung” und des
„Daheim“ find ihre Heimat. Nur wundern wir uns,
daß ber Autor, der doc jelbft ein Autochthone des Bo-
dens ift, ben er befchreibt, fein eigenes Urtheil nicht öfter
ſprechen läßt. Ex zieht es vor, über lilauiſche Ange
Tegenheiten andere Gewährsmänner fprechen zu laſſen als
ſich felbſt. Es ift ein ſchönes Stüd oſtpreußiſchen Landes,
das heiden⸗ und roßreiche Litauen, das uns der Autor
ſchildert. Leicht und gefällig fließt feine Feder dahin,
wir erhalten aud) wirklich Einblid und Stimmung, bie
uns oft genug ein unmotivirte® Hervorheben des Un«
wichtigen ein Lächeln ablodt und uns die glatte Leltüre
unterbricht. Und was wir gern wiſſen wollen, erfahren
wir nicht immer, Wenn 3. B. Glagau uns über ben
einzigen Induſtriezweig Oftpreußens, die Bernfteinbaggerei
von Stantien und DBeder, belehrende Aufſchlüſſe gibt
und babei die auffallende Thatſache erwähnt, dag unter
dem gebaggerten Bernftein auch zahlreiche ſchon bearbeitete
Stide vorfommen (©. 188), fo verfäumt er es ganz
und gar, und über die Vermuthungen der Jetztzeit in
Betreff jener merfwürbigen Erſcheinung aufzullären. Er
hat hier ganz vergeſſen / andern Autoren zu folgen; eine
Marime, ber er doch fonft ziemlich ſtark huldigt. Denn
bie (©. 189) angeführte Bemerkung (Glagau's ganzes
Urteil über das erwähnte VBorlommnig!): „Es drängt
ſich die Vermuthung auf, daß diefer verarbeitete Bernftein
einem vorweltlichen Geſchlechte entftammt, und bag auch
die, vorweltlichen Künftler, vielleicht mitten in ihrer Urbeit,
von der gedachten Erbrevolution ereilt wurben“, ift doch
gar zu naiv und dürfte zu einigem nicht unintereffanten
Gedankenaustauſch mit dem Autor über „vorweltliche
Künftler“ und die Zeit des erften Auftretens des Men-
fen Anlaß geben. Wir zweifeln jniht an umferer
gründlichen Belehrung über diefen Punft durch Gla-
gau; ebenfo wenig wie Doctor ©. VBerendt in Könige-
berg, wenn er Glagau's Skizzen leſen follte, an einer
auffalenden Familienühnlichkeit mehrerer Kapitel derſelben
mit einem eigenen (in der altpreußiſchen „Monats-
ſchrift“, Jahrgang 1867 veröffentlichten) Aufſatz' wird
‚zweifeln können.
‚Die Briefe des Generalpoftmeifters von Nagler.
Briefe des Löniglih Preußiſchen Staateminiſters General-
Voftmeifters und ehemaligen Bundestags Gejandten Karl
Ferdinand Friedrih von Nagler am einen Staats-
beamten. : W18 ein Beitrag zur Gefichte des 19. Jahr
Hunderts herausgegeben von Eruſt Kelchner und Karl
Mendeisjohn- Bartholdy. Zwei Theile. Leipzig,
Brodhaus. 1869. Gr. 8. 4 Thlr.
Wie wichtig die Memoiren- und Briefliteratur für
die neuere und neueſte Gefchichte ift, wie fie für die Ger
ſchichte der Gegenwart unerlagliches Hilfsmittel geworben,
das bezweifelt auch fein hiſtoriſcher Akademiker mehr.
Hat doch ber Meifter neuerer Geſchichtsforſchung, Leopold
Kante, unermüdlich auf die Bebeutjamteit jener Literatur
aufmerffam gemacht: leider fehlt es der deutſchen Ges
ſchichtſchreibung noch gar fehr am derartigen Mitthei-
Lungen aus erfter Hand, bie ihr filr die politiſchen Vor⸗
gänge ber neueften Zeit zur ungetrübteften Duelle werden
können. Varnhagen's „Denkwürdigkeiten” und „Zager
bücher” find getrübt durd) Misftimmung und gekräntkte
Eitelfeit, Lang’ und Hormayr's Berichte, befonders die
letztern, find parteilich gefärbt und entbehren des weite
fehenden Blids. Da Tommt denn die Herausgabe des
Nagler’fdfen Briefwechfeld durch die Hand eines berufenen
Geſchichtsforſchers dem Hiftorifer wie dem deutſchen
Bublitum, das immer mehr Interefje an feiner Geſchichte
nimmt, höchſt willlommen. Ein hochgeſtellter preußifcher
Staatsmann, deſſen Thätigkeit ald Leiter des preußifchen
Poſtweſens freilich feinen diplomatifchen Bemühungen weit
überlegen war, fteht in dieſen Briefen, die er an feinen
„geheimen Agenten“ richtet, in plaftifcher Anſchaulichleit
vor unfern Augen. Bureaukrat von reinftem Waller,
der altpreußiſchen abſolutiſtiſchen Tradition blind ergeben,
zeigt ex ſich uns rüchſichtslos offen in allen Fragen ber
herrfchenden Staatsrichtung, treu ergeben feinem „Herrn“,
mit dem er, gleihalterig und gleichgefinnt, fteht und fällt.
Wir können und nicht verfagen, einzelne charalteriſtiſche
Merkmale des vielgehaßten Mannes aus dem reichen
Stoff herauszugeben. Ihm, dem abfolutiftifchen Staats-
mann, find nur die „gut” und „brav“, die dem ancien
regime, das vor feiner Spionage zurädjcheut, dienen.
Der Mann, an ben bie Briefe gerichtet find, ift ein
Subalternbeamter, der fpätere Hofrath Kelchner in Frant-
furt a. M., ein Mann, ber für feine raſtloſen geheimen
Dienfte, die er der preußifchen Regierung und Nagler
ſelbſt geleiftet, Leinen materiellen Dank geerntet hat.
Nicht einmal ein Orden fiel fir den treuen Mann, der
ihn fehnfüchtig wünfchte, ab. Die Verlegung des Briefe
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110 Feuilleton.
geheimniffes durch Nagler und feine Untergebenen ift be»
Iannt. Wie faul es mit dem Gewiſſen der Machthaber
ausſah, beweift die fortwährende Spionage und die hobe
Beachtung, die man politiichen Abenteurern, die im Beſitz
irgendeine® Geheimnifjes zu fein renommirten, wie Schlott-
mann (S. 108) un. a. m., angedeihen lief. Der famofe
Kombft macht natürlih Nagler fortwährend zu fchaffen:
ber alte Mann hat die größte Angft vor dem (immerhin
zweidentigen) Ausplauderer der Frankfurter Bundes-
geheimniffe. Nicht minder fürchtet ex die (in ben dreis
ßiger Jahren) erwachende Prefie: er lauſcht auf jedes
Wort, das die „Juden, Magifter, Doctoren und Serie
benten aller Art‘ in die Welt gehen laſſen. Wol ahnt
er, welche politifche Macht, eventuell welcher Beiftand die
Preſſe einer gefchidten Regierung fein kann; und ift es
nicht wie heute, wenn Nagler Hagt: „Bier (in Berlin)
verfieht man weder bie rechten Leute (von der Prefie)
zu benugen, noch fich) Partei zu machen.” Dabei ift er,
ganz das Kind eimes rationaliftifchen Zeitalters, jeder
Drtbhodorie abgeneigt: die „Myſtiker“ find ihm verhaßt,
und dem Kronprinzen (Friedrich Wilhelm IV.) bringt er
feine große Sympathie entgegen. Es war dies, wie die
Thronbefteigung des Prinzen auswies, wechjeljeitig der
Fall. Ganz der alte unverbeflerliche Rationaliſt, Abfo-
Intift, kurz das echte Kind des 18. Jahrhunderts, hatte
er lieber feine Luft an Gemälden, ja felbft an fchlüpfrigen
Büchern (U, 52 nnd 58), denn an den Kirchlichen Strei«
tigkeiten feiner Greifenjahre und am „chriſtlich⸗germani⸗
Shen Staat”. Er kannte die Menfchen und verachtete
fie. Lächerlich und doc; gefährlich waren ihm die Libe⸗
ralen. Mazzini ift ihm „ein Lump“; „Klüber follte
man ‘mit Börne in einen Sarg legen (zwei Landes-
verräther)”; Gans „war ein liberaler Narr; ähnlich
lautet fein Urtheil über Rotteck, Herwegh, Pruß, Hoffe
mann, nur vor OGutzlkow's genialer Erſcheinung bat er
Reſpect. Es ift intereffant, wie er den erften Producten
feiner Feder folgt. Sein Urtheil fteigt allmählid. „Auch
ein heillofer Kerl” heißt e8 von Gutzkow 1835. Dann
ein paar Monate fpäter „ein merkwürdiger Menſch“ und
„dieſer Menſch ift nicht gewöhnlich”; dann 1838: „Der
Gutzkow'ſche Auffag ift gut” („Die rothe Müge und die
Kapuze‘); endlih Ende 1842: „Wie Herr Gutzkow fo
wichtig und bedeutend wird! Mer hätte biefes gedacht!“
Sonft ift der alte Herr auf den Brodhaus’schen Verlag
nicht fehr gut zu ſprechen. „Man follte alles, was von
Brodhaus verlegt ift, excludiren” (1837). Die Geburt
der „Leipiger allgemeinen Zeitung‘ (1837) begrüßt er
mit den Worten: „Die Leipziger allgemeine Zeitung. ift
infames Gebräue relegirter Preußen“, und 1843 verbietet
er die (damals aber „Deutſche Allgemeine”) Zeitung für
Preußen. Das Eircular an die Poftanftalten findet fid
II, 302 abgedrudt. Wie gültig manche Anfchauungen
Nagler’s noch für die Gegenwart find; mögen nachfolgende
Ausiprüche zeigen, mit denen wir unſere Blumenlefe
fchliegen: „Die ftudirten Narren misbrauchen die Hand«
werfer, die zu nichts gut find“; und bei Gelegenheit der
erzbifchöflichen Wirren in Preußen: „Daß der Papft
etwas fulminiren werde, war vorberzufehen. Derglei«
hen Papftgefchrei iſt feit Jahrhunderten gewöhnlich.
Man muß dem Füchenlateinifchen Lärm nur nicht zu viel
Werth beilegen. Er verhallt.”
Der Herausgeber bat recht, wenn er in feinem treff-
lichen Vorwort betont, Nagler, der ganz das Ohr bes
Könige befaß, vertrete in feinen Briefen den damaligen
Standpunkt der preußifchen Regierung. Die Mühe der
Herausgabe des bedeutfamen Briefwechſels jei warın
anerkannt: fie ift nicht Hein gewefen. Wenn Harden-
berg’8 Memoiren über die Zeit vor dem Tilſiter Frieden
1872 aus dem preußifchen Ardiv Heraus veröffentlicht
werden, dürfte wol Karl Miendelsfohn- Bartholdy einer
der geeignetften Redactoren fein. Einer aber wird nicht
umhin können, den Nagler'ſchen Briefwechfel zu feinem
Hauptmaterial zu zählen: wir meinen ben künftigen
Geſchichtſchreiber des Deutfchen Bundes, Heinrich von
Treitſchke.
Fenilleton.
Engliſche Urtheile über neue Erſcheinungen der
beutfhen Literatur.
Ueber „Engliſche Charakterbilder“ von F. Althaus Täft
fi) die „Saturday Review‘ vom 15. Jannar wie folgt aus:
„Die Wiſſenſchaft, jagt man, hat Leinen andern Feind, ale
die Unwiſſeuheit. Man würde zu weit gehen, wollte man baffelbe
bom Frieden fagen; doch iſt es jedenfalls gewiß, daß es Teine
ergiebigere Quelle nationaler Misverftändnifle gibt ala die natio-
nalen Borurtheile, daß Borurtheil allemal das Ergebniß unvoll-
fommener Belehrung ift und daß man mit der Unwiſſenheit anch
im allgemeinen den Haß verbannt. Das durch die Eigenthüm⸗
lichkeiten feiner Einrichtungen ber Entflellung befonders aus⸗
gefekte England Hat dadurch am meiften gelitten. Daher ift
e8 jenen hervorragenden Ausländern, welde in neuerer Zeit
feine Gaftfreundfchaft damit vergolten haben, daß ſie unter ihren
Landeleuten genauere Belehrung und freijinnigere Auffafjungen
über England verbreiteten, zu befonderm Danke verpflichtet.
Dan wird fi) bierbei leicht der Namen eines Louis Blanc
und Alphonfe Esquiros erinnern, und num haben wir ihnen
noch den des Dr. Friedrich Althaus Binzuzufligen, der ſich durch
Diederveröffentlihung unter feinem Namen zu der vortrefilichen
Reihe von Artikeln über engliihe Zuftände, die wir fo Häufig
in den Blättern von « Unſere Zeit» bewundert haben, befannt
bat. Wenige Ausländer, die unter uns wohnen, find ihrer
Stellung und ihren Gelegenheiten nad beſſer dazu befähigt,
die Gefühle der gebildetfien Klafjen der Engländer zu interpres
tiren. Mit der Art und Weife eines geſchulten Denkers und
der geduldigen, deutſcher Gelehrſamkeit eigenen Forſchung der»
bindet er ben edeln Stil eines feingebildeten Schrififtellers,
und fo iſt da8 Werk ganz vorzüglich geeignet, richtige Vorſtel⸗
lungen Über engliſche Zuflände zu verbreiten. Die wichtigſten
Efjays find die, welche politifche Gegenflände, befonders her-
‚borragende engliihe Staatsnänner und Denker behanbelit.
Palmerfion, Cobden, D’Israeli, Mill und Carlyle werden der
Reihe nad und zwar jeder in einem unparteiiihen und auf
ihre Berdienfte eingehenden Geifte beurtheilt. Es ift natürlich
unndthig zu bemerken, daß das Urtheil eines für die Bolitik
ſich lebhaft intereffirenden Verfaffers von feiner befondern Bor»
liebe gefärbt ſein müſſe. Cobden und Mill haben feine wärınften
Sympatdien. Doc ift Althaus kein extremer Parteigänger und
wird dem confervafiven Element in Mill's Bhilofophie völlig
geredht. Lord Palmerfion wird kaum genügend gewürdigt, ob«
fon bie Umftände, bie ihn bei den Liberalen des Feſtlandes
unbeliebt gemacht, jetzt das Gegentheil von dem find, was fie
früher waren. Mr. D'Israeli wird nicht mit Unrecht als eine
eAuomalien» bezeichnet; morauf feine Freunde indeffen, wie
jmer M. P. dem Mr. Matthew Arnold, erwidern könnten:
«daß etwas eine Anomalie ſei, ift fchlechterdings kein Grund
zu einer Einwendung dagegen.» Der Eſſay Über Mr. Carlyle
it fehr zutreffend und fein. Der zweite Band ift Teichtern
Gegenfländen gewidmet, unter denen wir befonders einen höchſt
mterhaltenden Aufſatz über «englifhe Geizhälfe» umd eine be-
merlenswertb vollftändige und genaue Geſchichte der engliſchen
Sports erwähnen wollen.
Ueber ein anderes Werk heißt es ebendafelbft:
„Eine Bergleihung von Roskoff's «Gedichte des Teu⸗
fel9» mit ber Defoe's würde einen lehrreichen Mafftab für den
Fortſchritt der Welt feit bes lektern Zeiten abgeben. Das vor-
liegende Werk gehört derfelben Gattung von Literatur an wie
Mr. Buckle's und Dir. Ledy’s Schriften, und könnte faft für ein
erreiterte® Kapitel aus einem ihrer Werke gelten. Wie in
diefen nämlich, jo ift auch Hier eine ungebeuere Mafle aus
verihiedenen Quellen zufammengetragenen Materials fo geſchickt
verarbeitet, DaB des Verfaſſers Gelehrſamkeit fich niemals drückend
fühlbar macht. Der Gegenftand felbft ift zwar düſter und ein-
tönig, doch if die darauf verwendete Mühe durchaus nicht
weggeworfen worden. Wir Tönnen uns laum ein wirkjameres
Cortectiv für jedwedes fentimentale Gelüften nad) den Ideen
bes Mittelalters denken, als die Durchleſung dieſes wohlver-
bürgten und unparteitfchen Berichts liber das entſetzliche Unheil
und Elend, welches fie veranlaßt haben, gewährt. Diefer Theil
des Gegenflandes ift weitaus der ausgedehntefte; aber auch die
Dimonolatrie der wilden Böller ift von des Verfaffers Plan
nit ausgefchloffen worden und bringt er aud) hierüber aus-
führlide Belehrung bei. Das befriedigendfte Kapitel indeſſen
ih das letzte, welches die Gejchichte des «Berfalld und Sturzes»
bes Teufels erzählt.‘
„zb. Fontane's «Der deutfche Krieg von 1866»'‘, fagt das
Blatt ferner, „iſt ohne Zweifel die umfafjendfte Geſchichte dieſes
Kriege, die bisher erſchienen. Es ift eine Muſtergeſchichte für
die große Menge, jowol was den Ton der Erzählung betrifft, die
ohne übertriebene Parteilichleit dem Nationalftolz ſchmeichelt, als
auch was den Glanz der äußern Ausftattung anlangt. Schö⸗
nere Holzſchnitte find felten aus den bdeutfchen Preſſen hervor»
gegangen, und fie kommen im großer Zahl vor. Einige An-
fiten von Ortſchaften find wirkliche Hälfsmittel zum Ber-
ſtändniß des Textes; bie Schilderungen der Kriegsoperationen
find, wenn aud nicht ſtreng authentiſch, doch jedenfalls ſehr
anziehend und dabei reichlich vermengt mit Schutzengeln,
Ephinzen und Wappenſchildern ad captandum. Das Wert
eignet ſich vortrefflich für den Salontifch und kann fogar einft-
weilen einen Pla in der Bibliothet behaupten.’
Bei Beſprechung von „Hegel als deutfcher Nationalphiloſoph“
bon Dr. 8. Roſenkranz, kommt die „Saturday Review”
wieder einmal auf den alten Witz von dem Einen Schiller zu-
rüd, der Hegel verftanden, aber falſch, und will ihn auf den
Berfaffer beziehen. Unfers Willens ift das bisjet niemand in
Deutichland eingefallen. Trotzdem jagt der Referent: „Die
Bee würde durch fein lichtvolles und unterhaltendes Werk über
die Hegel'ſche Philofophie faſt gerechtfertigt erſcheinen.“ (Die
Sermuthung iſt alfo freilich ſehr qualifieirt — wir wollen fie
baber auch nur als facon de parler gelten lafien.) „Man kann
weder fein eigenes volllommenes Eindringen in den Gegenfand,
wie er ihn verfteht, noch feine Fähigkeit, ihn dem gemöhnlicdhen
feier begreiflich zu machen, bezweifeln. Doch gerade die Glätte
und Ducchfichtigleit feiner Behandlung iſt verdadhterregend.
küßt ih «das Geheimniß Hegel’s» wirklich fo leicht mittheilen ?
Bie den aud) fein mag, die Lejer bes Buchs werben eine
Anzahl prägnanter Ideen, von denen fie wahrjcheinlich ſchon
viele auf anderm Wege kennen gelernt haben, in einem gefeil-
ten und anziebenden Stil erflärt und mit Recht oder Unrecht
Hegel zugefchrieben finden. Man befommt aud eine vortreff-
fie Biographie des Philofophen mit in den Kauf, und feine
Feuilleton.
111
fi demnach der angenehme und Iehrreiche Charakter des Werks
durchaus nicht beftreiten; doch glauben wir wol, daß ftreugere
Metaphufiter als Dr. Roſenkranz ferne Berechtigung, über ben
Gegenftand efoterifch zu belehren, in Frage ſiellen werden.‘
Anfang und Schluß dieſes Referats zeugen nicht für ge-
naue Belanntichaft mit dem Gegenflande oder dem Berfaffer;
ein neuer Beweis für uns, dem Ueberfeter, daß diefe Be
gen nicht don dem deutſchen Gelehrten herrühren, dem manche
fie zufchreiben.
‚ Weber „Richard Wagner” von 2, Nohl heit es: „Dieſe
kritiſche Biographie ift, fo weit fie eben geht, des Rufs Hru.
Nohl's würdig, allein ihre Grenzen find nn ihre Entftehung
al® Bortrag zu eng geftedt. Es wird über Wagner's Biogra-
phie zu leicht hingegangen, um der äfthetifchen Kritif fiber feine
Diufit Play zu machen, welche erftere jedoch den Uneingeweihten,
ohne die Teßtere gehört zu Haben, unverfländlich if. Der Ber-
fafjer hätte eher Wagner’s Berdienfte als Dichter und Drama-
tifer hervorheben follen, ba diefe, obgleich bedeutend, doch bis⸗
ber nur verhältnißmäßig wenig beachtet worden find. Einen
Operntert dent man fi) num einmal als etwas fo Abgefhmad-
tes und Blödfinniges, daß es jhwierig ift, die Leute zu ver
anlaffen, ihn ernftlich, zu betradgten. Wagner hat gezeigt, daß
berfelbe, ganz abgefehen von den Verdienſten der muftlalifchen
Begleitung, ein Werk von vollendeter Kunft fein könne.“
Der auch von der beutfchen Preſſe fo günſtig beſprochene
Roman „Kinder der Zeit" von C. M. Sauer, erfährt fol
Kin Beurtheilung in der „Saturday Review”, „‚«Stinder ber
eit» übertrifft den durchſchnittlichen deutfchen dreibändigen Ro-
man. Er ift zum großen Theile gegen die neuefte materiali-
ſtiſche Schule gerichtet, und wenn aud auf Erdichtetes bafirte
Gründe nichts bemweifen können, fo hat doch das Bewußtfein
eines directen Zweds dem Werke mehr Kraft und Lebendigkeit
verliehen, als den neuern Romanen gewöhnlich eigen if. Die
Charaktere find Eräftig, wenn aud etwas derb gezeichnet, und
die Erzählung iſt durchgängig intereſſant.“
Schließlich Iefen wir: „Gedichte von Wilhelm Stein
iſt der befte Band deutſcher Gedichte, ben mir feit Lange gejehen
haben. Er ift gleich fern von den zwei Erbflinden neuerer
deutſcher Lyriker — Auſpruchmacherei auf der einen Seite und.
Zrivialität auf der andern, Die Stücke find in der Regel, fo-
wol was die Erfindung als auch die Ausführung betrifft, fehr
geringfügig; fle find aber dennod unverkennbar das Product
einer echt Inrifhen Begeifterung. Der Inhalt ift im allge
meinen erotijh und die Sprache höchſt Teidenfchaftlih. Ohne
fie geradezu mit den älteften lyriſchen Gedichten Goethe's ver-
gleichen zu wollen, können wir fie doch als weſentlich derſelben
Schule angehörend bezeichnen.‘
Bibliographie.
Briefwechſel zwiſchen Mn —78 — dv. Laßberg und Ludwig Ahland.
eransgegeben von F. Pfeiffer. t einer Bio ie F.
— Bar 110. Dien, Eranmälier, Or. 6. 4 € Sa 5. Biene von
arbon, ©, Memoiren ein ußengel®. t Autori
Betas überfegt von I. M. —— uſtet. 16. oetion des
Clericus, 3. mn, Geſchichteñ aus dem Boll. Aus ewähtte äbs
tungen. —8 48 en St. Gallen, nneregßer. &r. 8. a 12 Ror.
„ Eharaden un el u
ſcher Oben. Darmftabt, Songhans. Gr. 8, 7 Near. Gragmente doraii-
ächer-Sprache der Königin Isabella. Nach spanischem Original be-
arben t von Feel Er Benin, Shan 16, * Ngr.
errar r Dan to! oriiher Rom 4 .
—2 * p en I an. 4 Bde. Hannover,
o Oeſterreich und bie Bür n .
litiſche Studie, Wien, Wallishauffer. Zrs Gaſte aaa Iſtandes vo⸗
Geſel 1, K., Zwei Gedichte. Leipzig, Wartig. 1869, 8. 1 Nor.
Gisi, W., Quellenbuch zur Schweizergeschichte. Eine Sammlung aller
auf die heutige Schweiz bezüglichen Stellen der griechischen und römi-
schen Autoren mit einleitendem Text und erklärenden Anmerkungen, 1ster
Bd. Die Ereignisse bis zum Jahre 69 nach Christo. Bern, Jent u. Rei-
nert. 1869. Gr. 8. 1 Thbir. 15 N
te, 2%, Zur Geſchichte
®ro annov ®. 4
aus dem Jabre is ds ers. Üctenflüde und Stimmen
nebft einem 4
Srannet: 9: 8, ze Me a. un bem . ve 1848. Hannover,
eine, H., Letzte ichte und Gedanken. Aus dem Nachlaſſe des
Dichters zum erſten Male veröffentlicht. St .
—
as Hohelied, ein drama e .
Sta ne F F Eigſtätt, cl, 16. * nr in bearbeitet von ©
zbierih, D- WB. J., Die Senefis_ nah ihrer moraliſchen und pro
phetiſchen —E betrachtet. — Se Gr. 8, | Ir. 24 Fr.
Sauptwerfe werden ausführlih und Mar analyfirt. Es läßt
Anzeigen.
igen
Unze
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Dr. Slügel’s
Praktiſches Wörterbuch
Englifgen und veutſchen Sprade.
Dritte Auflage, neunter bucchgefehener nnd verbefierter
druck.
Zwei Theile. 8. Geh. 5 Thlr. Geb. 5 Thlr. 20 Ngr.
Engfifg-dentfher Theit: geb. 2 Thlr., geb. 2 Thlr. 10 Nor.
Deuiſch · engliſcher Cheil: geh. 3 Thir., geb. 3 Thlr. 10 Ngr.
Fligel’s englifch-deutfches und deutſch⸗engliſches Wörterbud)
(früher Berlag von Ioh. Aug. Meißner in Hamburg) gilt all»
gemein als das vorzüglichfte für den praltiſchen Gebrauch. Es
iſt in feinen verſchiedenen Auflagen immer mit den Bedürf-
niffen der Zeit fortgefchritten umd enthält die Ausdrlide des
täglichen Verkehrs ſowie die im Handel und in den Gewer⸗
ben, in der Kunft und in den Wiſſenſchaften gebräuchlichen
Wörter in größerer Vollſtändigkeit als andere viel umfänglichere
und tbeurere Werte.
Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin.
Günther, Staatsanwalt. opnläre Abhandlun⸗
gen und Vorträge über NRechtsmaterien. Ehe,
Adel, Lehen, Duell, Eid. Gr. 8. Broſch. 1 Thlr.
„Borliegende Aufſätze find nad) des Verfaſſers Bemerkung
aus Verträgen berborgegangen, bie von ihm in feinen verjchie-
denen Wohnorten gehalten wurden. Sie handeln über Che,
Adel, Duell, Lehen und Eid. Vorzugsweiſe kritiſch, geben
alle diefe Abhandlungen Harften Aufſchluß über die Genefis
mannichfadher Punkte der Gejeßgebung. — —
„Wie das Hegel’fhe Princip, daß alles, was wirklid),
auch vernünftig fei, durch die Erpofitionen des Autors liberal
bindurdhllingt, fo trägt auch das ganze Werl den Stempel
tiefgehender wiſſenſchafilicher Forſchung und bewegt fi in ge-
ihmadvolfter Redeform. Erfreulich war es uns zu fehen,
wie gewandt der Autor die einſchlägige germaniftifche Literatur
beherrſcht; ſo wird Grinim's Wörterbud) zum öftern angezogen,
wo es fih um etymologifde Feſtſtellung eines Rechtsbegriffs
handelt.” (Aus einer ausführlichen Beſprechung in Nr. 44 der
„Blätter für literarifche Unterhaltung‘, Jahrgang 1869.)
Badifhe Randeszeitung, 6. Juni, Nr. 129. „Lauter
Themata, welche ſtets und überall das Intereffe der Gebildeten
wachrufen, unterzieht der Berfaffer recht fefjelnde und nicht felten
ganz neue Gefichtspunfte eröffnender Betrachtung. Es ift ein
Bud für denkende Leſer, nicht zu flüchtiger Unterhaltung.‘‘
Desfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
die fiebente, umgearbeitete und vermehrte Auflage
von
Kalfſchmidts Sremdwörterdud).
8. Geh. 2 Thlr. 12 Ngr. Geb. in Halbfrauz 2 Thlr. 24 Ngr.
(Auch in 12 Heften zu je 6 Nor. zu beziehen.)
Kaltſchmidt's Fremdwoörterbuch, bereits in ſechs ſtarken
Auflagen verbreitet, wurde in der vorliegenden ſiebenten Auf⸗
lage innerlich wie änßerlich den Fortſchritten der Zeit gemäß
. umgeftaltet. Es umfaßt jetzt 61 Bogen Lerifonoctav und ift
demnad nicht nur das neuefte und vollſtändigſte, fondern
auch das verhältnißmäßig billigfte aller Fremdwörter—
bücher.
Vorräthig in allen Buchhandlungen.
ERGÄNZUNGSBLATTER,
1870, 1. Heft.
Geschiehte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy-
denbrugk.
Literatur: Das deutsche Drama der letzten zwei Jahre, I,
von Dr. A. Lindner.
Kunst: Leben und Werke Hans Holbeins des Jüng., I,
von Br. Meyer.
Geographie: von der Decken’s Reisen in Ostafrika. —
Die Philippinen, von Semper.
Astronomie: Physische Konstitution der planetarischen
Welt. — Auffindung eines neuen Kometen, von Klein.
Zoologie: Brutpflege der Fische. — Wirbelthiere der
Schweiz. — Der Elefant.
Physiolegie und Mediein: Ansteckungsfähigkeit der
Lungenschwindsucht. — Einfluss der Bodenfeuchtigkeit auf
die Häufigkeit der Lungenschwindsucht, von Dr. Bayer.
Velkswirthsehaft: Die preussische Finanzregulirung.
Handel und Verkehr: Fluss- und Kanalschifffahrt. —
Der neue niederländische Nordseekanal. — Die Eisenbah-
nen der Vereinigten Staaten. — Getreideproduktion und
Handel in den Vereinigten Staaten. — Nekrolog.
Fischerei: Die Kultur des Meeres in Frankreich, von
Schmarda.
Kriegswesen: Die Uebungslager der europaischen
Heere, I, von Chr. v. Sarauw. — Die europäischen Heere. —
Nekrolog.
Technologie: Centrifugal- oder Kreiselpumpen. — Eis-
maschinen. — Chlorfabrikation. — Farbstoffausbeute aus
den Steinkohlen. — Nekrolog.
Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk.
Illustrationen; Der Kilimandscharo, nach von der
Decken. — H. Holbein: Madonna des Bürgermeisters Meyer;
Initiale L. — Sigmund Holbein’s Porträt. — Die h. Elisa-
beth voın Sebastiansalter. — Plan des Lagers von Chä-
lons. — Lager einer französischen Escadron.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin.
Grundzüge conſervaliver Politik, In Briefen
eonfervativer Freunde über conjervative Partei
und Politit in Preußen. 2. Auflage. 1 Thlr.
Urtheile der Breife:
„Möge dies Buch der confervativen Partei Preußens neue
Sreunde erwerben nnd möge fich dieje der eruften Beichtrede
nicht entziehen, die ihr darin gehalten wird. Es kann ihr un⸗
ſers Erachtens nur zum Heile dienen, wenn fte ſolche Stim-
men willig anhört und fi zur Läuterung dienen läßt.“
(Schluß einer fehr ausführlihen Beſprechung im „Allgemeinen
literarischen Anzeiger” vom 4. Mai 1868.)
„Wer fi mit Politik befchäftigt, welcher Partei er audh
angehören möge, wird diefe gedanken⸗, geift- und lebensvollen
Anfchauungen mit Interefie und Nuten leſen — reipective
fudiren, für die künſtliche Entwidelung der confervativen Partei,
welche es empfindet, daß fie nicht mehr in ben Geleiſen der
alten Schule gehen kann, find die Briefe felbfiverfiändfih von
doppeltem Intereſſe.“ (,Speneriche Zeitung‘, 1868, Nr. 40.
„Daß die Briefe auf keinem engherzig confervativen Stand⸗
punkte ſtehen, geht ſchon daraus hervor, daß fie gegen «die
mechaniſche Einräucherung alter beftehenden oder die fünftliche
Kepriftinivumg der idealifirten Vergangenheit» eifern. Der an-
regende Zon, in welchem fle geidhrieben find, bat ihnen auch
über den Kreis der confervativen Partei hinans Lefer verſchafft.“
(„Braunfchweiger Tageblatt”, Nr. 78, 1868.)
Verantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von 8. 4, Brockhaus in Leipzig.
Blätter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
et Ar, 8 9
17. Februar 1870.
Iupalt: Bafian’s Reifen in Ofaften.
Zur Geichichte der bentfehen zefigiöfen Speculation.
Bon Rudolf Gottſchan. — Moderne und unmoderne Lyril. Bon @. Heröfurtb. —
Bon Seinrich NRüdert. — Senilleton.
Duplitkate von Schiller» Geipräden ;
Chineſiſche Brände und Spiele in Europa; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Baſtian's Reifen in Oftafien.
Die Bölfer bes üſtlichen Aflen, Studien und Reifen von Adolf
Baftian. Dritter Band: Reifen in Siam im Jahre 1863.
Bierter Band: Reife durch Kambodia nad Codindina.
Fünfter Baud: Keifen im Indifhen Arhipel, Singapore,
Batavin, Manila und Japan. Nebft einer Karte Hinter»
indiens vom Kiepert. Jena, Eoflenoble. 1867-69. Gr. 8.
10 Thlr.
Wir haben bereits die beiden erften Bände biefes in«
tereffanten und inhaltreichen Werks in Nr. 46 und 47
d. BL f. 1866 beſprochen, welche uns die Geſchichte
Birmas und den AufentHalt des deutfchen Philofophen
am Königshofe von Mandalay ſchilderten; wir wollen ihm
jegt auf feinen weitern Reifen nad) Often folgen, indem
wir vorher nod) einige Blide auf den Charakter des Werks
im allgemeinen werfen.
Baftian ift Philoſoph und Ethnograph; das Natur-
wiſſenſchaftliche tritt in feinem Werke mehr in den Hin-
tergrumd, ohne indeß gänzlich zu verſchwinden. Baftian
gibt und das landſchaftliche Colorit mit großer Treue
wieder, er ertheilt manderlei Auskunft über Landwirth-
ſchaft, über die Eigenthümlichkeit und Beſchaffenheit der
Wälder in jenen Landſtrichen, er bringt ſtatiſtiſche Notizen
über die Producte, welche fie erzeugen; aus dem Leben der
Thierwelt ſchildert er viel aus eigener Anfhauung und
weiß dafjelbe überdies durch Mittheilung zahlreicher Fa-
bein und Sagen ber oftafiatifhen Völker intereffant zu
maden; nur die ftveng wiſſenſchaftliche Bezeichnung der
einzelnen Pflanzen und Thiere werben die Fachgelehrten
vermiffen, ſowie überhaupt die vorzugsweiſe Richtung
des Forfchergeiftes auf die Bereicherung diefer Disciplinen.
Der Philojoph Baſtian dagegen hatte für feine Reifen
eine große Aufgabe: das Studium des Buddhismus,
jenes ebenfo philofophifchen wie theologijchen Religions»
foftems, welches in ganz Oftaften die überwiegende Herr«
ſchaft errungen und mehr als 300 Millionen Belenner
aufzuweifen hat, während feine Literatur von der über«
wucjernden theologifchen Gelehrſamkeit des Oſtens zu
1870. 8
einer Hyperprobuctivität entwidelt ift, welche felbft bie
fchreibfelige Theologie des Abendlandes in Schatten ftellt.
Den Buddhismus ftudirt Baftian an den Ouellen; in
vielen Humdert Klöftern, die er befucht, ſchöpft er nicht
nur aus den Unterrebungen mit den Mönchen neue
Kenntniß feiner Lehren; er ſtudirt aud alle ihm irgend
zugänglichen SKlofterfchriften und gibt von manden ber
großartigften Baudenkmäler ſowol wie auch von Ruinen
impofanter Tempel, welche dem Cultus deſſelben geweiht
waren, zum erjten male. eine eingehende Befchreibung.
Wir mußten an den erften Bänden tadeln, daß die Nor
tigen über ben Buddhismus, aus allem ſyſtematiſchen
Zufammenhang geriffen und durch die ganze Reiſeſchil-
derung zerftreut, auf ben Uneingeweihten einen mehr ver»
wirrenden Eindrud machen; überall pflüdte der Reiſende
einzelne Blumen, aber nirgends waren fie zum Franz
oder auch nur zum Strauß geordnet. Offenbar hat Baftian
diefem, auch don andern Seiten ausgefprochenen Zabel
Gehör gegeben; im dem Bande, der von Siam handelt,
find drei gefonderte Abfchnitte: „Die Klöfter und ihre
Bewohner“, „Die Phantaflewelt bes Uebernatürlichen“
und „Religiöfe Vorſtellungen“, einer zufammenhängenden
Darftellung des Buddhismus gewibmet, wie er fih in
Siam ausgebildet hat. Indeß foll der ſechste noch nicht
veröffentliche Band des Werks einer ſyſtematiſchen Ent»
widelung des großartigen Religionefyfteme gewidinet fein;
aber immer bleibt noch vielerlei übrig, was in der Zer⸗
ſtreutheit und Iſolirtheit, in der es mitgetheilt wird, für
den Laien unverſtändlich ift.
Der Ethnograph und Ethnolog hat bie größere Hälfte
feiner Arbeit vollendet, wenn er bei Schilderung ber oft«
afiatifchen BVölfer ihre Religion und ihren Cultus ein
gehend dargeftellt Hat; denn Leben und Gitte berfelben
werben fo von den Mächten des Glaubens durchdrungen,
dag nur noch dieſe oder jene Außerliche Erſcheinung zu
ſchildern übrigbleibt. Baſtian betrachtet ſich vorzugsweiſe
16
114 Baftian’s Reifen in Oftaften.
als Vertreter der Ethnologie, über deren Bedeutung
er fih in der Einleitung zum fünften Bande geift-
voll ausfpricht. Baſtian fcheidet die Ethnologie von der
Geſchichte; jene Hört nach feiner Anfiht auf, wo diefe
beginnt, wo bie Nation, da8 Volk geboren wird: ein
MWendepunft, der gekennzeichnet wird durd) das Hervor⸗
treten hiſtoriſcher Perfünlichleiten, durch das mehr oder
weniger erfolgreiche Eingreifen des Dienfchen in die Natur
und durch den, werm auch nur oberflächlichen Abdruck
feines Willens auf die planetarifche Erde. Dagegen meint
Baftian: „Jene Propyläen, die nur ſpärlich vom Hiftorie
fhen Lichte erhellt find, jene Außerften Vorhallen, welche
die Gefchichte raſch zu durchwandern pflegt und die dann
der Tummelplag der Mythen und Traditionen bleiben,
gehören erb und eigen ber Ethnologie an, die diejes
ihr zufommende Gebiet von den Verkäufern faljcher Fabel—
waare zu reinigen hat, wie die erjten Regungen pfycho-
logiſchen Schaffens, das frühefte Alter des Menjcen-
geifte8 zu belaufchen.” Baftian verlangt für die verglei-
chende Piychologie die naturwiſſenſchaftliche Inductions⸗
methode, welche ihr nur die Ethnologie bieten kann, indem
diefe ihr den Apparat des thatfächlich Gegebenen Liefert.
Entfhieden proteftirt aber Baſtian gegen die traurigen
Berftümmelungen des Materialismus, mwodurd die Gei-
ftesichöpfungen nad) dem Profruftesbette des Anorga-
niſchen zugefchnitten werden ſollen. Die Aufgabe der
Ethnologie befteht zunächſt in der Derbeifchaffung und
Bervollftändigung des erforderlichen Materials, in der
Sichtung und Klärung defielben und in dem Beitreben,
die Berechtigung der inductiven Forfchungsmethode in der
Plychologie zur Anerkennung zu bringen. Der Philofoph,
der diefer Aufgabe jetzt eine befondere Zeitfehrift widmet,
bat in feinen oftafiatifchen Reifen bereits ein fehr reich⸗
baltiges Material für Ethnologie und Völkerpſychologie
zufammengetragen, ja er hat durch die vergleichende Zu-
fammenftellung mythologifcher und fonftiger Anfchauungen
aus den verjchiedenften Kreifen der Urvölfer und aus der
Urzeit der gejchichtlichen Völker ſchon manchen wichtigen
Bauftein für einen ſyſtematiſchen Aufbau herbeigejchafft
und überrajchende Lichtblide in bie Gemeinſamkeit pfycho-
Iogifcher Entwidelung bei ben verjchiedenften Stämmen
eröffnet. Schade nur, daß die Yorm der Notiz und des
Apergu dieſen Mittheilungen zu fehr den Charakter des
Rohmaterials verleiht, daß fie allzu oft in ganz abrupter
Weiſe in die Schilderung eingefügt find, wie überhaupt
die früher gerligten Mängel der Sprachmengerei, der in
das Deutſche fi) ohne fcharfe Scheidung hineindrängenden
franzöftfchen und englifchen Citate, ſich noch immer in den
Noten vorfinden, wenngleich aus dem deutjchen Stil un=
beutfch-englifche Wörter und Wendungen entfernt find. Wir
bedauern biefe noch immer nicht ganz befeitigte Schwer-
fälligkeit und Unhandlichkeit des Werks um fo mehr, als
Baftian in feiner Humboldt⸗Rede und in der eben-
erwähnten Cinleitung ebenſo viel Stilgewandtheit wie
Architeltonik im gedanklichen Aufbau einer Abhandlung
beweift und als auf der andern Seite das große Lee
publitum, das gerade in ber neueften Zeit dur) an—
ſprechende und einleuchtende Darftellung auch der jchwie-
rigften Stoffe verwöhnt ift, ſich dadurch leicht von der
Lektüre eines hervorragenden Reiſewerls zurüdichreden
laſſen könnte, welches ihm fonft eine Fülle neuer Behaup⸗
tungen und Anſchauungen bieten wiirde.
Seine Reifen in Siam beginnt Baftian von ber
birmanifch=fiamefifchen Grenze aus; er bemerkt alsbald
die äußern Unterjchiede zwifchen Siamefen und Birmanen:
Im Berhältniß zu dem fchwerfälligen, kurzbeinigen, ſchwam⸗
migen Siamefen ericheint der Birmane cher fchlanf und her
hende, wie ihm auch das im langem Buſch Herabhängende Haar
ein verwegenes Ausfehen gibt, gegenüber der bärftenförmigen
Friſur, in der die Siameſen das Haar ihres breiten und diden
Kopfes zu ſcheren pflegen. Die Kleidung der Männer iſt ziem⸗
ih ähnlid), und bei den Siamejen aud) die der Frauen wenig
verfchieden,, da die Siameſinnen das vorne offen gefchligte Ge—
wand der Birmaninnen nicht fernen, dagegen aber häufig das
als Kleid getragene Lendentuch zwifchen den Beinen bindurd-
fnoten, wie die Männer bei der Arbeit. In diejem Coſtüm
ift es auf einige Entfernung oft ſchwer, die Geſchlechter zu
unterfheiden, da die Kopftracht bei beiden eine ganz gleiche ift.
Die Straße ging anfangs theils durch parfartig ge=
lichtete Teakwälder, theil® auf fteilen Waldungen durd)
ein hohes Gebirgsland. Die Keitelefanten bewährten fi
hier merfwürdigerweife :
Die Elefanten konnten an dem fteilen Abhange nur da-
duch feften Fuß faffen, daß fie vorfihtig in die früher ein-
gedrückten Löcher traten. Nah nod) manchem Auf und Nieder
mußten fie fi durch eine enge Schlucht hindurchwinden, und
danı fanden wir plößlich am Fuße eines fchroff auffteigenden
Bergiwalles, von dem abſchüſſige Felsmaſſen Über uns herüber⸗
hingen. Es fchien mir anfangs fraglih, ob fich die fleile
Höhe an dem Punkte überhaupt erklimmen laſſe, bald aber fah
id zu meiner Verwunderung die Elefanten unbedenklich das
Auffteigen beginnen und hielt e8 für das Beſte, mich hinauf⸗
tragen zu laſſen. Trotz feiner ſchweren Maffe, und gerade
durch - diefelbe, befittt der Elefant auf fteilen Gebirgspfaden
einen ſehr ſichern Tritt. VBefondets bergab ift es erftaunlich,
die Vorficht zu beachten, mit der er auf Hinter- und Border»
füßen niederfauernd ein Bein nad) dem andern vorfchiebt und
fih fo langſam herabgleiten Täßt.
Bald genoffen die Reifenden in angebauter Gegend,
in welcher Bäume und Büfche in Allen geordnet waren,
über da8 Thal des fiamefifchen Nils, des Menam, hin⸗
weg, den Did auf eine mannichfach geftaltete Gebirgskette,
und erreichten dann die Einmündung des Metong in ben
Menam, über welden Strom Weberfahrt und Durchwaten
mit großen Schwierigfeiten verbunden war. Der von ber
reißenden Strömung fortgerifiene Gepäckelefant konnte
mit genauer Noth gerettet werden. Jenſeit des Stroms
lag die lebendige und betriebfame Stadt Rahein, wo
Baftian in der Nefidenz des Gouverneurs, in einer
waffengeſchmückten Halle, eine Audienz bei diefem Macht⸗
baber Hatte, die ex uns In folgender Weife fchildert:
Als der Gonvernenr oder Chao⸗Myang, den meine Bir-
manen den Mingyi (Großfürften) nannten, eintrat, reichte er
mir feine Hand zum engliihen Gruß, der indeß bet feinen zoll⸗
langen Fingernägeln etwas ſchwierig auszuführen war. Die
vornehmen Siamejen adoptiren gern dieſe dhinefifche Sitte, um
dadurch zu zeigen, daß fie einer Bürgerklaſſe Angehören, die
von Hündearbeit befreit ifl. Die ganze Berfammlung Iag beim
Eintritt des Fürſten natlrlih auf Elbogen und Knien, doch
wurde dem Wichter und Höhern Beamten die Gnade eines
berablaffenden Winkes, der ihnen erlaubte, fi nach den Tep⸗
pihen hinzuwälzen, um auf dieſer weichern Unterlage Plat
zu nehmen. Das übrige Gefolge mußte es fih auf dem Fuß»
boden bequem machen. Der Mingyi trug unter feinen Bubo
oder Lendentuche ein filberdurchftidtes Untergewand, einen koſt⸗
baren Ueberwurf in der Form eines Schlafrods am Oberkörper
Baſtian's Reifen in Oftafien. 115
und chineſiſche Pantoffeln. Er ließ fi) auf den einen Arm⸗
ſtuhl nieder, mit Schwertträgern, Schreiber, Cigarren- und
Betellnaben zu feinen Füßen, und begann dann ein längeres
Seipräd, über die verichiedenen Nationen, die die Erde bes
wohnen, mid) über meine Reifebeobadhtungen in andern Län⸗
dern, meinen Aufenthalt in der Hauptfladbt Birmas und Achn-
liches mehr befragend. Er ſpielte mehrfach auf die Beziehungen
zwiſchen Franzoſen und Engländern an, ſprach von den Kriegen
des großen Napoleon und kannte ebenjo ben jetigen Sailer.
Anch die Kunde des furditbaren Bürgerkriegs in den Ver⸗
einigten Staaten war fchon bis dahin gedrungen. Dann wandte
fich die Unterhaltung auf meine Reifezwede, und gab befonders
der Unterfchied zwiſchen den Lehren der Weisheit oder der
BHilofophie und den aus den Miffionaren gefannten Lehren
der Religion Gelegenheit zu weiterer Discuffion. Nachdem
etwa eine Stunde fo verbracht war, bat mich der Gouverneur,
fein Gaf zu fein, und ließ die auf den Tiſch geftellten Schüffeln
aufdeden. Die Heinern derſelben enthielten alle Arten Ragouts
uud Fricaſſes, gebratene oder gekochte Enten und Hühner,
Schweinefleifh, Fiſche und Saucen. Ein gigantifhes Gefäß
mit Reis wurde hereingebracht und neben uns auf die Erde
geſtellt. Ein dahinter Iniender Diener füllte die Eßſchalen
mit Reis, der dann mit den auf dem Tiſche gebotenen Zu-
thaten gegeffen wurde; fiir mich hatte man Meſſer und Gabel
Bingelegt, die gewechſelt wurden, als ber zweite Gang ber
Süpigkeiten erſchien: Kuchen, Confituren, verzuderte Bananen,
ein Kolosnuß- Pudding u. dgl. m. Waffer wurde in Gläſern
gereicht, und zum Abipülen der Hände ſtand ein Wajchbeden
bereit. Nachdem abgetafelt war, kehrte ich zu meinem frühern
Sig zmrüd, und ging das Geſpräch noch einige Zeit fort,
während ſchmale Zaffen mit Thee herumgereicht und Eigarren
geraucht wurden. Beim Kortgehen Hatten wir Mühe, uns
durch die Zufhauermenge durchzudrängen, die fich inzmwifchen
ver dem Hofthore angefammelt hatte, und famen wir erſt fpät,
unter Borantragen von Fackeln, nad unferm Logis zurück.
Nach dem Beſuch des Klofters der Kofosnußpalmen
und nad) der nöthigen Verftändigung mit dem Gouver-
neur trat Baftiaon auf dem Menam feine Stromfahrt
nah Bangkok an, die er uns in anziehender Weife fhil
dert; er bejuchte foviel als möglid an ben Ruheſtätten
die Städte, Klöfter und Ruinen des Ufers. Die wid.
tigfte der Städte ift das neue Ayuthia, in deflen Nähe
die Trümmer der alten, hochberühmten Hauptftadt des
Landes liegen:
Die Stadt ift fehr volfreih und nimmt nit nur auf
dem fehlen Lande eine ziemliche Ausdehnung ein, fondern bejegt
auch die beiden Seiten des Fluffes mit ſchwimmenden Häufern,
bejonders Berlaufsläden, auf deren Straße eine Unzahl Meiner
Bote hin⸗ und herſchießen. Bald ift es die geſchmückte Gondel
des vornehmen Siamefen, der fi) fortrudern läßt, bald der
mit Früchten oder aufgeftapelten Porzellanwaaren gefüllte
Kahn des Kaufmanns, der jeine Waaren ausbietet, bald das
Boot des einfachen Bürgers, der feine Geſchäfte beforgt, oder
das vou ihr felbft gefteuerte Boot der Hausfrau, die auf den
Markt geht, oder die Heine Nußſchale, in der fi) der Schul»
Inabe zum Kloſter rudert, das Mädchen ihre Freundin bes
ſucht. Und dann bricht ſich dazwifchen wieder ein langes
Kriegsboot Bahn, das, im eintönigen Rudertakt fortgeftoßen,
Regierungedepeſchen bejorgt, erjcheinen befonders de8 Morgens
beim Bettelgang oder der Bettelfahrt die ſorgſam erhaltenen
Kahrzeuge der Mönche, die von ihren Schülern gerudert und
von den Borbeipaffirenden mit demüthigen Geften begrüßt
werden, bewegt ſich fchmwerfällig ein vollbepadtes Reiſeboot
feinem Beſtimmungsort entgegen, fehwanlt eine Dionte am
Anter, die von Bangkok aus fo weit den Fluß heraufgefab-
en if.
Bon ben Trümmern bes alten Ayuthia gibt uns Baftian
folgende anziehende Schilderung:
Nachdem wir die Straße verlaffen und uns eine Strecke
durch den Jungle durchgearbeitet hatten, kamen wir zu einem
verfallenen Tempel mit zwei Reihen hoher Säulen in der von
feinen Mauern umſchloſſenen Area. Kin Meines Kofler mit
Holzwänden war fpäter an die Trümmer angebaut worden.
In einem zerftörten Götzenhauſe lagen eine Menge zerbrodener
Figuren ans Stein oder Kupfer umher, während in der Mitte
ein vergoldeter Buddha von großen Dimenfionen no aufrecht
zwiſchen dem Schutt daſaß. Zwiſchen und liber den Bäumen
waren die Thüren verfehiedener Pagoden (Phra Ehebi) fichtbar,
meiftens jo dit mit Ephen und Sclingpflanzen umrankt,
daß nur die hohen Spiten frei blieben. Während ich fie un.
terfuchte, holten mid) einige Lente des Gouverneurs ein, bie,
meine Entfernung bemertend, mir nachgegangen waren, und
madten. mir Borftelungen darüber, daß ih mi in fo ab:
gelegenen Orten umhertreibe. Es gäbe dort feine Wege, auf
denen man Juftwandeln fönne, und ih möchte mit ihnen nad)
der Stadt zurücklehren, wo Menfchen wohnten. Ich ſetzte in⸗
deß meine Erplorationen fort, obmwol die dicht mit Dornen-
gebüfchen "ineinander verfchlungene Wildniß dem Vorwärts⸗
gehen viele Hinderniffe in den Weg legte und Lachen ſtehenden
Waſſers oftmals weite Ummege erforberten. An einer offenen
Stelle betrat ih die Ruine einer in Zerraffen aufgebauten
Pagode, unter deren Trümmern fid) neben andern Figuren
die eines doppeltgefichtigen Ianusbildes fand. Im einiger Ent-
fernung erblidte man einen Kreis fegelförmiger Pagoden, der
fogenannte Phra-Bhrang oder Phra-Phrom, und nad längerem
Suden in dem üppigen Pflanzenwudhs des Waldes entdedte
ich die Weberbleibfel eines breiten Pflafterwegs, der dorthin
führte. Der erfte ra: Phrang, ben wir erreichten, war mit
hochſpitzigen Phra⸗Chedi umgeben und glich in feiner Gefalt
ziemlich dem Auffag der Bopali-Pagode von Pagan. Eine
größere ftand daneben. Der Bau firebte Tegelig in bie Höhe,
mit zurlidtretenden Niſchen 'auffteigenb, und war überall mit
Scalpturen bededt. An den Eden zeigte fid) die Geftalt eines
geflügelten Zwerge in grotesfer Form. einem neben-
fichenden — der nebſt den umgebenden Phra⸗Chedi
durch eine Mauer eingeſchloſſen war, ſtieg ich über die Schutt⸗
trümmer zu der obern Terraſſe empor, wo eine Figuren tra⸗
gende Glockenpagode ziemlich gut erhalten war. Die Ober⸗
flähe des Phra⸗Phrang zeigte fi in den Niſchen mit Sculp-
turen verziert, und größere Bilder waren in den Eden ans⸗
earbeitet. Zwiſchen einer befonders forgjam ausgearbeiteten
ruppe von Arbesken fand fi ein figender Vuddha. Bon
ber erhabenen Pofltion des oberften Stockwerks blidte man in
weiter Ausdehnung über eine Waldwildniß, die das Terrain
der alten Stadt bededte und Überall die Spitzen der gebrochenen
Thürme von Pagoden zwiſchen der dichten Vegetation heraus⸗
(hauen lieg. Einige Punkte, wie ich auf dem Rückweg fand,
waren zum Anbau aufs neue gelichtet, und traf man bier und
da zerftrent die Hütte eines Bauern. Auch ein Klofter war in
diefer Einſamkeit errichtet, nnd hörten wir ſchon aus ber Ferne
die Stimme der budjftabirenden Knaben die Stille der Um:
gebung durchbrechen. Da wir auf der Heimkehr eine andere
Direction einfchlugen, fließen wir auf die Reſte einer alten
Stadtmauer, bie ji bis nach dem Weichbilde der neuen Ans
fiedelung verfolgen ließ. Mandelsloe zählte in dem zu feiner
Zeit weitberähmten Ayutbia 300 Tempel.
Am Tage darauf zeigten fi) dem Stromfahrer bie
hohen Bagoden, die buntgefchmüdten Palaftthilrme Bang-
koks, wo ihm bei verfchtedenen europäifchen Conſuln freund«
liche Aufnahme zutheil wurde.
Bon ber eigenthüimlichen Hauptftadt Siams, welche
in vieler Hinfiht eine Stromftadt genannt werden Tann,
gibt uns Baſtian eine anfchauliche Darftellung, der wir
das Folgende entnehmen:
Bangkok, die Stadt der wilden Delbäume, erſtreckt fich
über eine Meile an beiden Ufern des Menam, befonders aber
am linken, die innere Stadt, die den Balaft enthält, ift mit
einer bezinuten Mauer umgeben und nur an ben Stellen ver
Land» oder Waſſerthore zugänglid. Die äußere, an die fi
das Quartier der Fremden anfchließt, läuft ohne befiimmte
Grenze in die Borflädte Über. Die mittlere Stadt ift durch
15 *
De DH 7
116 Baſtian's Reifen in Oftaften.
Kanäle und Flußverzweigungen in verſchiedene Inſeln getheilt,
zwifchen denen die Hänſer auf dem Fefllande dichtgebrängt bei»
fammenftehen und kaum einen Ranm für die engen Gaſſen
offen laffen. Nur die Straße des Hauptbazars ift breiter
und von längerer Ausdehnung. Im den Außern Stabttheilen
it der Grund weniger beſchränkt und find die Häufer häufig
von Gärten "umgeben. Sie find aus Holz oder Bambus ge-
baut und auf Piähle geflellt, fodaß man auf einer Treppe zu
der Veranda emporfteigt. Steinmaterial wird außer von ben
Europäern nur zu den Klöftern und königlichen Paläften ver-
wandt. Der vornehmfte Verkehr in Bangfol findet nicht auf
dem Lande, fondern auf dem Waſſer ftatt, indem an jeder
Seite des Fluffes eine doppelte Reihe ſchwimmender Häufer
das Ufer einrahmt und den großen Markt bildet, auf dem
fi täglich der betriebfame Theil der Bevölkerung verfammelt.
Jedes Haus ift an der dem Fluffe zugewendeten Seite offen
und bildet durch die dort aufgeftellten Gegenftände einen offenen
Laden, den man im Borbeifahren im Boote bequem infpiciren
kann, nm das Convenirende auszuwählen. Gewöhnlich wohnen
die Handwerker derfelben Zunft zufammen, fobaß man einen
rafchen Weberblid Über den Vorrath gewinnt. Dazwiſchen
liegen Berlaufsichiffe, die friſche Früchte, Slide, ®emtife u. ſ. w.
herbeigebracht haben. Bon ber Yeuchtigleit abgejehen, bietet
ein ſchwimmendes Hans manche Vortheile, da e8 jeden Unrath
Yeicht entfernen läßt und durch die allzu große Nähe bes
Waſſers ſelbſt die Hinterindifhen Schmnzliebhaber zum Waſchen
verführt. Auch ermöglicht es beliebige Ortsveräuderung, inte
dem man feine Wohnung mit der Ebbe oder mit der Flut
weiter treiben läßt, um fie an einem neuen Anlegeplat zu be«
feftigen. Freilich kann die Entfernung aud eine unfreimillige
fein, wenn auf unfiherm Grund geanlert wurde. Als ich bei
dem Milfionar wohnte, fahen wir eines Morgens vor unferm
Haufe eine neue Straße angetrieben, die während der Nacht
losgeriffen und von den Bewohnern mit ziemlicher Mühe nad
ihrer legitimen Heimat zurüdzubringen war. Hat man eine
weite Fahrt anf dem Fiuffe zu machen, fo muß flets die
Ebbe und Flutzeit berechnet werben, da die nöthige Zeit fi
verboppeln und verbreifahen Tann, je nachdem jene ginfti
oder ungänftig if. Soviel es angeht, wird alles zu Shit
abgemadt, und es findet fich deshalb immer die halbe Ein-
wohnerfchaft ber Stadt auf dem Dienam oder ben Geiten-
armen beifammen. Zwiſchen dem VBootgewimmel in allen
möglichen Größen, Karben und en anfern die enropäiſchen
Dreimafter, pfeifen die Dampfſchiffe oder ſegelt die chineſiſche
Dionke Hinauf, mit den dröhnenden Schlägen der Gong bie
fhon im Hafen liegenden Schiffe begrüßend. An ben Ufern
erheben fih in maleriſchen GBruppirungen bie Thürme ber
fhlanfen Pagoben, biiden die Kloftergebäude zwiſchen ven
Bäumen ihrer Gärten hervor, ober gligern und ſchimmern die
Dächer der mit Schmnd überladenen Paläfte im Sonnenfcein,
Der jegige König von Siam war fchon 1825 bei
dem Tode feines Vaters der eigentliche Thronerbe, als
der einzige Iegitime Sohn, zog fich aber vor feinem
ältern Halbbruder, der den Thron ufurpirt hatte, in ein
Klofter zurüd, wo er nicht nur das Pali und die geift-
lichen Schriften lernte, fondern ſich auch im Lateinifchen
und Englifhen unterrichten ließ. Im Jahre 1851 be-
fieg er den Thron und erhob feinen jegt verftorbenen
Bruder zum zweiten König, der ebenfalld ein ſprachen⸗
Iundiger Gelehrter war und fogar ein chemifches und
phyſikaliſches Cabinet beſaß. Der dritte Bruder bes
Königs, der Prinz Krom Luang, ein wohlbehäbiger fetter
Herr, ift Präfldent des ärztlichen Colegiums und hat
fi) das Doctordiplom von einer amerifanifchen Univer-
fität zu verfchaffen gewußt. Baſtian erzählt:
In einem ärztlichen Geſpräch mit ihm wollte ich ihm einſt
einige Punkte des Schädels zur Erfärung andeuten und beugte
deshalb meinen Arm über feinen Kopf, wurde aber raſch durch
das drohende Knurren, da8 wie ein dumpfes Geroll aus dem
Munde aller feiner auf ber Erbe kriechenden Bafallen zu mir
heraufſchwoll, an den begangenen Etikettenverſtoß erinnert, da
es in Siam feine größere Beleidigung gibt, als einen Höher-
geftellten am Kopfe zu berlibren. Das Raſiren bat deshalb
für die vornehmen Herren feine eigenen Schwierigkeiten, und
die heiligften der Priefter fchaben ſich gegenfeitig, um die Be⸗
leidigung durch die Revanche wieder gut zu machen.
Der König felbft ift ein Heiner fchmächtiger Mann
mit lebendigen Augen, welcher dem Reiſenden nad) eng⸗
lifcher Sitte die Hand ſchüttelte. Als Fachtheolog ſucht
er eine neue Sekte des Buddhismus zu ftiften, eim
reformatorifcher Verſuch, alles Fabelhafte und Unglaub-
würdige aus den Palifchriften auszufcheiden und nur bie
moralifche Faſſung derfelben beizubehalten. Er vertritt
alfo, wie einft Friedrich der Große, die Aufflärung auf
den Thron und ift auch felbft wie biefer der Feder
mächtig: Ä
Bei den gelehrten Neigungen bes Königs herricht im Palaft
viel Titerarifche Thätigkeit. Jührlich wird ein Almanach heraus-
gegeben, der das ganze Land mit ben wichtigſten Ereignifſen
befannt macht, nnd in gewiſſen Perioden eine Hofzeitung, im
ber die Leitartifel von höchfleigeuer Hand gejchrieben fein
folen. Häufig bietet ſich die Gelegenheit, dem Fremden in
Bangkok Nachricht von einem freudigen oder traurigen Fa⸗
milienereigniß zu geben, und Seine Majeftät läßt fi dann
die Mühe nicht verdrießen, diefe Mittheilung ſelbſt durchzu⸗
ſehen, um fie mit den blumenreihen Phrajen orientafifchen
Stils zn zieren.
Wir können unferm Reiſenden nicht in ber nähern
Schilderung des Hofs und der einzelnen Minifter, der
Klöfter und Aebte folgen; aber an einer Perfönlichkeit
Siams dürfen wir nicht vorübergehen, da diefe fih in
Europa des größten Rufe erfreut und aud von einem
berühmten deutſchen Dichter befungen worden ift, wir
meinen den weißen Elefanten. Baftian erzählt von dieſem
bochgefeierten Stallheiligen Siam:
: Der weiße Elefant, den ich bei meiner Ankunft im Pa-
lafte gefehen Hatte, war fein ganz echter, als einiger Zeichen
ermangelnd, und wurde auch nur Zang Pralat (dev wunder⸗
bare Eiefant) genannt. Groß war daher die Freude, als einige
Monate fpäter fid) die Kunde durch die Hauptflabt verbreitete,
daß in den Wäldern des Nordens ein wirklicher Sproß ber
heiligen Thiermajeftät entdedt und auch ſchon von den Kha
gefangen ſei. Der Köuig 309g ihm zum Empfang mehrere
agereifen entgegen, und bei der Ankunft in Banglof wurde
vor den Palaftthoren eine reich vergoldete Tribüne errichtet,
auf der der Elefant, von Inienden Prinzen und Fürften bes
dient, für mehrere Tage den Augen des Volls gezeigt wurde,
das in den auf dem freien Plabe aufgeihlagenen Schanbuden
und Puppentänzen jede Art von Belufigung fand. Neben
dem mit goldenem Geſchirr bededten Elefanten, der fih unter
einem weißen Baldadin hin⸗ und berwiegte, war ein mit
Teppichen bebedter Sit für den König hergerichtet, der anf
einer mit filbernem Fußgeftell verfehenen Säufte berbeigetragen
wurde. Gold⸗ und Silberbäume waren zum Zeichen der Hul⸗
digung aufgeftedt. Die vornehmfte Rolle bei diefen Ceremonien
fpielte ein jlingerer Bruder des Könige, der als Reichsmarſchall
der Elefanten (unter dem Zitel Kromma-Xang) alle Angelegen«
beiten derfelben zu verwalten hatte. Ich erhielt durch feine
GSefälligleit ein Buch geliehen, in dem alle die verfchiedenen
Kaffen der Elefanten abgezeichnet und befchrieben waren, ſodaß
man nad den dort angegebenen Merkmalen den Stammbaum
ableiten und nad) dem reinern oder weniger edeln Vollblut
fhägen konnte. Zu den gewünfchten Zeichen gehört, außer
dem rötblihen Schein der Haut, völlig ſchwarze Farbe der
Nägel und ein unverleßter Schwanz, der den meiften derfelben
höher ober tiefer bei einem Kampfe abgebiffen if. Der glüd-
liche Sterbliche, dem es gelingt, einen weißen Elefanten (Xang
Baftian’8 Reifen in Oftafien.
phuet) zu entdeden, wird in ben belftand erhoben und erhäft
alla Land, fo weit man die Stimme eines Elefanten hört,-
frei von Steuer und Frondienften. Sobald die Nachricht dieſes
heilverheißenden Ereigniffes nach der Hanptftadt kommt, erhält
der Gouverneur der dortigen Provinz Befehl, einen weiten und
bequemen Weg durd die Wilde hauen zu faffen, bamit das
göttliche Thier bequem nad) dem Fluſſe reife, um von dort in
Staatsichiffen herabgebracht zu werden. Im Balaft angelommen,
erhält es feinen eigenen Hofftaat und feine Diener, die es beim
Ausgehen mit einem Sonnenſchirm bebeden, ſowie einen Leib-
arzt, der jede Unpäßlichkeit überwachen muß. Trotz dieſer
forgfältigen Pflege ift das Ausfehen diefer Albinos, wie ſchon
Finlayfon bemerkt, fein gefundes. Die Beine find oft in
dräfenartigen Knoten angeſchwollen, und bie tiefen Rungeln ber
trodenen Haut ſondern eine ſcharfe Flüffigkeit ab. Eine Menge
Sklaven find ſtets befchäftigt, friihes Gras zu ſchneiden, eine
Pflicht, die oft als Strafe auferlegt wird, und die Tafel Seiner
Thierheit it ſteis mit Kuchen, Bananen und Zuderrohr ver⸗
ſethen, in fofibasen Gefäßen aufgetragen. Die weißen Affen
werden in den Ställen ber weißen Elefanten gehalten, um die
Kranfheitsteufel abzuwehren. Um Verehrung zu empfangen,
muß der weiße Elefant ein männlicher fein, da er fonft noch
nicht die letzie Stufe vormenſchlicher Exiftenz erreicht Haben
wiirde, denn dem weibligen Geſchiecht bleibt flets zur Ber-
vollfommmung der Verwandlungen das männliche. Auch ge-
hört eine befondere Bildung der Hauer zu den Zeichen, woran
ex überhaupt erſt als echt erkannt wird, Im Kriege werben
gleichfalls nur männlie Elefanten verwandt, während die
Weibchen zur Selotıng beim ange bienen und zum Gepäd-
tragen oder bequemen Reiten vorgezogen werben. Die Wälder
der Elefantenjagden liegen beſonders in den Myang Rabeh ge-
nannten Bergen der
Nach der Aufzeichnung der eigentlichen Reifeerinne-
rungen gibt und Baftian in mehrern zufammenhängenden
Ab ſchnitien eine Darftellung des Mlofterlebens, der Rechts-
verbältniffe, der Sitten und Gebräude, Feſte und
Spiele u. ſ. f., die eine unerfchöpfliche Fülle von oft
pifanten Details enthält und gerade der vergleichenden
Bölterfunde ein nicht zu unterfcägendes Material zu
führt. Cs ift befannt, daß die erſten latholiſchen Miffio-
nare, welche nach Oſtaſien famen, den Buddhismus für
eine Spiegelfechterei des Teufels erklärten, welcher bie
Bräuche latholiſcher Chriftenheit nachahme. Und in der
That, wenn man den Abſchnitt lieſt, welchen Baftian der
Schilderung des buddhiſtiſchen Kloſterlebens widmet, wenn
man das Nähere über die geiftlihe Hierardhie, über Ton-
fur, Reliquien, Pilgerfaften, über die Weihen, bie
Gelübde und Mönchsregeln nadhlieft, fo wird man von
diefer merfwürdigen Aehnlichkeit in den religiöfen Bräuchen
des Morgen» und Abendlandes überraſcht. Freilich, nicht
minder groß ift die Aehnlichleit in ben Kinderfpielen, dem
Dragjenfteigen, dem Verftedipielen, dem Blindefuhfpielen —
eine conjervative Philofophie, wie diejenige Herbart's,
welche in dem Bleibenden und Gemeinfamen bei allen
Böllern die Spuren ber Gottheit erblidt, Könnte hier
zahlreiche Beiſpiele zu ihrem Kapital ſchlagen.
Der vierte Band des Baftian’j—hen Werts, welder
die Reifen durch Kambodia nah) Cochinchina befchreibt,
erhält dadurd) ein erhöhtes Intereffe, daß die Gegenden,
durch welche der unermüdliche Reifende bier feinen Weg
nahm, bisher faft ganz unbekannt waren, und daß feine
Reife durch das obere Kambodia den Charakter einer
Entdedungsreije annimmt. Mühſelig war die Fahrt mit
dem Büffelfarren anf fteilen Waldwegen, durch Simpfe
117
und ausgetretene Flüffe; aber diefe Waldromantik unter
ſcheidet ſich doch wefentlich von derjenigen der norbame-
rifanifcherr Urwälber; denn fie überwuchert die Trümmer-
ftätten alter Cultur. Hier fland der Tempel Nakhon
Vat's, den der Miffionar Cerri fehon im 12. Jahrhun⸗
dert die Peterskirche aller Indier nannte, zufolge der
dunfeln Kunde, die ihm von deſſen Eriftenz zugelommen
war.
Die Befchreibung der Trümmer dieſes großartigen,
bißher faſt unbefannten Tempels gehört zu den Glanz
punkten des Werts von Baftian. Die Geſchichte der
indifchen Architeltur und Plaſtik Hat durch dieſe Mitthei-
[ungen eine weſentliche Bereicherung erfahren. Gelegen
find diefe Tempelruinen nördlich von dem großen Süß-
wafferfee Kambodias, dem Thalefab, nicht weit von dem
Siemrabfluß, der fi) in ihn ergießt, und nicht weit
von der neuen Stadt Siemrab, deren Stabtmauer dur
Thore mit Spitzdächern unterbrochen und von hohen
Balmbäumen überragt werden. Den erften Eindrud bes
Tempels ſchildert uns Baftian in folgender Weife:
Ein fandiger Weg führte uns in einen bosfetartigen
Bald, und als wir auf eine freie Fläche daraus hervorfumen,
Ronden uns zwei riefige Gteinfötwen entgegen, die zu beiden
Seiten eine mit breiten Steinplatten getafelte Plattform flan«
firten. Bon bort lief in beträchtliher Erhöhung über weite
Gräben ein breiter Plaſterweg nad) dem hoch geſchwungenen
Thor der äußern Gartenmauer, ans deren Eorridoren zu beiden
Seiten eine lebendige Welt von Sculpturen hervortrat, während
fid) jenfeits, Hinter drei übereinander mit Thürmen und Zinnen
— Tersflen, der, gemaltige Dom des päcßtig ge
fämiüdten Tempels hervorwölbte, den überall auf dem umlau-
fenden Galerien und den von majeſtätiſch aufftrebenden Säulen
getragenen Hallen eine wunderbare Welt phantaflereicher Hime
melsgeftaltungen jhügend umgab. Ihre Einzelheiten entfal-
teten immer neue Schöpfungen, je mehr man fi ihnen nad
dem Cintritt in das Außenthor auf dem glatten Steinweg
näherte, ber mit Treuzartigen Abzweigungen nad; Seitentapellen
durch den großartig verwifderten Pflanzgenwucs der in Seen
blintenden Garten auf das Thor des Haupteingangs zuführte,
aus dem man die von ben Höfen anfführenden Treppen der
Stufenbanten höher und Höher erflieg und —F unter der
thronenden Kuppel ſtand, die frei nad) allen vier Seiten, gleich
bem dort placirten Buddhabiide, vierfah an Form, das in
Höhen und Thal zu Füßen liegende Land Aberfant,
Baftian verweilte Hier mehrere Tage, um biefe Kunft-
werfe genauer zu unterſuchen; fie find ein Denkmal der
von Bier ausgehenden brahmanifch-buböhiftifchen Cultur,
deren Einfluß auch den heiligen Spraden Siams, Kam-
bodjas und Japans jene ſanskritiſche Miſchung gegeben
hat, die durch das fpätere Weberwiegen ber Paliliteratur
zwar verdedt, aber nicht ganz erbrüdt wurde. So werden
auch die untern Corridore des Nafhon Bat von brahma-
niſchen Darftelungen gef hmüdt, während im oberſten
Stod Buddha in der Vierzahl fteht, nach den Welt.
gegenden blidend. Baftian vergleicht die Erneuerung bes
Brahmanismus in den Sculpturen des buddhiſüſchen
Tempeld mit den mythologiſchen Figuren des claſſiſchen
Alterthums, welche Rafael in der Schöpfung und Michel
Angelo im Jüngften Gericht file ihre Allegorien benugten.
In Italien werden die Themata mit Borliebe Ovib’s
„Metamorphofen“ entlehnt, wie in Kambodia dem Rama ⸗
yana. Baftian gibt auf das genauefte den Grundrig des
Tempels nad den vorgenommenen Mefiungen an; die
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118 Baftian’s Reiſen in Oftafien.
Architektur des Gebäudes wird am anſchaulichſten durch
bie folgende Befchreibung:
Aus den vier Thllröfinnngen des obern Doms öffnet ſich
eine freie Umſchau nad) allen Richtungen. Auf der einen Seite
blidt man über eine weite Ausdehnung grünen Waldes, der
fi) jenfeit der grauen Maſſen des Steinpalaftes forterftredt
und am Horizont, binter den Khao Bol, durch die Linie der
Lindi- Berge umzogen iſt. Nordwärts häuft fi) eine dichte
Wildniß um den Hligel des Khao Balong, auf der Stätte der
alten Hanptſtadt Nakhon Tom, während man im Süden Über
den Abfall bes Landes zum großen See fchaut, zu dem ſich
der Waflerftreifen des Siemrab⸗Fluſſes windet. Die Fenfter-
Öffnungen find mit geroundenen Säulchen gegittert. Die Dede
und die obern Wände zeigen Refte bunter Farben, die Wand-
gemälde darftellten, von Engeln und Göttern in romantifchen
Bergfcenen von Waldthieren umgeben. Die Wände find überall
in eın Steingewebe von Arabesken aufgelöft, die in dem Ne»
wert ihrer verfchlungenen Windungen in die ſchlanken Figuren
von Affen, Denichen, Schlangen, Vögeln, Blumen oder
Schlingpflanzen auslaufen und vielfad den Reſt früherer Ber-
sldungen zeigen. Im feinem Grundriß iſt der kambodiſche
empel (glei dem javaniihen) ein ineinandergejchachtelter
Terrafienbau, wie er fich in einfacherer Form bei dein merica-
nifhen Teocalli oder im Morai Polynefiens findet. Drei um-
laufende Säulengänge fteigen mit zwifchenliegenden Höfen über⸗
einander empor, bis dann die mit den Eingängen der drei
Borderthore im gleicher Linie liegende Haupttreppe des letzten
Centrums zu der Bafls des Doms felbft emporführt. Das
majeftätifhe Tempelgebäude ſteht in der Mitte eines mit
Zeichen und PBarlanlagen vermannichfaltigten Gartens, der von
einer Mauer umzogen ift, die auch ihrerfeits in fculpirte Säu-
Ienhalfen ausgearbeitet ift, und als ein vierter oder äußerer
Corridor betrachtet werben Tann, da fie mit ben breien des
Innern ihren Thoren und Edthliven nad) correfpondirt. Tritt
man unter dem Portal der Außenballen in ben Tempelgarten
ein, fo wird mau durch einen 4—5 Fuß Über den Niederungen
aus dunkelm Eifenftein (mit üiberlegten Quadern) aufgenauerten
und etwa 1000 Fuß langen (18 breiten) Steinplattenweg (mit
Abfreugungen nach Seitenlapellen auf der Hälfte der Entfer-
nung) zu dem auf 16 Zreppenftufen erhöhtem Cingangsthore
des Klofterpalaftes (auf einer von 112 Säulen umgebenen
Plattform) geflihrt, liber welches die maffiven Sculpturen des
Bortals vorhängen. Nach beiden Seiten fireden fi die Spit«
bogen der von rei verzierten Säulen getragenen Hallen,
beren Rückſeite mit einer Welt von Sculpturen belebt ift, nad
den Edihürmen bin, um baun in rechtwinkeliger Abzweigung
weiter zu laufen. Folgt man aber, ohne rechts und links ab»
zumweichen, der geraden Richtung nah vorwärts, jo gelangt
men, unter einem bevdedten Thorweg zwifchen vier Säulen⸗
reihen anfleigend, zu dem Hofe des zweiten Corridors (mit
freifiehenden Seitenfapellen auf der Hälfte der Entfernung)
und erreicht über 23 Stufen ben britten Hof, in weldem das
Maffengebände des centralen Doms fteht, von feitlichen Kuppel⸗
thürmen flanlirt. Nah dem Erklimmen einer fleilen Treppe
von 37 Stufen ſteht man dann an dem Fuße diefes den vier-
feitigen Buddha enthaltenden Dagop, und fieht Über fich, noch
weit in die blauen Lüfte Binaus, eine frei gehauene Sculpturen-
welt mächtiger und phantaftifcher Geftaltungen, bie in fieben
Schildkreiſen hintereinander hervorragen, bis zuletst die flumpfe
Thurmfpite des Doms das Ganze krönend abſchließt. Das
vierediige Mittelgebäube ift durch Kolonnaden, die von einem
doppelten Dach bededt find, mit dem GSeitenballon verbunden.
Bon den 12 Treppen find die mittlern vier 18 Fuß breit.
Die Galerien bilden ein Rechteck, das an der Peripherie
440 Fuß vorn, an den Seiten 648 Fuß lang if. Die Wöl-
bung ift 18 Fuß hoch und im zweiten Dache 12 Fuß. In
den Porticus, die von vier oder fech® Säulen getragen werben,
Reigen drei Dächer libereinander. Im Often und Weſten
führen fünf, an den andern beiden Seiten drei Treppen zu
ben Thlirmen bes Tempels. Die ganze Zahl der Säulen wird
bon Mouhot auf 1532 angefchlagen. Die freiftehenden Seiten»
tapellen erheben fich in verzweigten tagen und find mit aus-
gehanenen Sculpturen in Relief bebedt. Die Säulen find vier
edig und fcheinbar aus einem Stüd gehauen, mit Lotus
Capitälen. In der doppelten Sänfenteihe, die das zweifache
Dad; trägt, beträgt die Höhe in der größern 10 Fuß, in ber
andern 8 Fuß. Das Dad der Außenhalle bildet einen Halb.
bogen. Die beiden Säufenreihen find dur ſculptirtes Zwiſchen⸗
werk verbunden. And runde Säulen fommen vor. Zwiſchen
ben Fenflern und neben den Thüren find gewöhnlich zwiſchen
zierlich verfchlungenen Arabesfen Engelfiguren ausgewirft mit
einem in dreifachen Spitzthürmchen aufftehenden Kopfihmud,
und unter ihnen erjcheinen in Treifenden Arabesfenlinien die
Umriffe des Garuda ober Phaya Kruth. Im flachen Niſchen
neben den Hanptthoren oder in den Eden ftehen einzeln, ober
bald doppelt, bald im drei zufammen, die ©eflalten weiblicher
Thevada, die eine Blume in der rechten, ein Bacon in der
linfen Hand tragen. Die Baſis, auf der fie fliehen, ift oft in
Affengruppirungen ausgearbeitet. Der Haarputz vieler der
Frauenfiguren ift in einem wunderbaren Blumenfhmud auf
gethürmt, wo dann die Knospen und Blüten an den Seiten
nieberhängen. Das Gewanb hebt fi) flligelartig an den Säu⸗
men, und die Knöchel der Füße tragen Ringe,
Die Sculpturen in den Galerien werden von Baflian
auf das genanefte geſchildert; fie ftellen Schlachtfcenen bar,
Proceffionen, die indifche divina commedia mit ben Ter-
rafjen des Himmels und den Schreden der Hölle Ba-
ſtian weift darauf hin, daß bie in den Sculpturen dar⸗
geftellten Streitwagen die leichte Form ber griechifchen
zeigen, und daß die Reiterei ber Tempelſculpturen an
die erinnert, die am Fries der Cella de8 Parthenon in dem
Veltzuge auftritt. Die große Proceffion enthält gegen
taufend Yiguren. Die in Regimentern aufmarfchirten Sol⸗
daten werden von Fürften auf Elefanten, zu Pferde oder
in Hängematten geführt, jebe Abtheilung erjcheint mit
eigentblimlicher Bewaffnung und Helmfhmud, treu den
Geſichtsausdruck des Raſſencharakters bewahrend. Auch
eine bärtige Nation findet ſich unter den Heeresabthei⸗
lungen, ferner ein Haufen wilder Eingeborenen, die phan-
taftifh mit Franfen und Troddeln behängt find und
Schnüre als Kopfpug nieberhängen haben. In den
Kampfjcenen fieht man Viſchnu auf dem Garuda reitend
gegen eine Gottheit eindringen, die auf einer Lowen⸗
himäre ſteht, dann wieder gegen Elefantenreiter und einen
im Streitwagen ftehenden Bogenfhüten. Wagen von
Roffen, Löwen, Drachen oder Dchfen gezogen, auf
Schweinen fliegende Götter, Röwenreiter, Affen und Dä-
monen bilden die Hauptgruppen und die Comparjerie
diefer Kampffcenen.
Bon Nakhon Bat machte Baftian einen Ausflug nad
Nakhon Tom, der alten Hauptſtadt, deren Umfang fo
groß war, daß es einen Tag erforderte, fie von Sonnen-
aufgang bis Sonnenuntergang zu umwandeln. Der aus
Steinplatten aufgerichtete Außenwall derfelben ift 27 Fuß
hoch, der innere 21 Fuß. Der zufanmengefallene Palaſt
war aus breiten Steinplatten ſehr fauber gefügt, auf
der obern Teraſſe bliden Corridore mit Spitzbogen hervor.
Der Sage nad) ging Nafhon Tom zu Grunde durch den
auf feine undankbaren Bewohner gejchleuderten Fluch des
Dradenkönigs, der wie der franzöflfche Drac aus feinem
unterfeeifchen Korallenpalaft zum Beſuche der menſch⸗
lichen Oberwelt hervorzufommen pflegte, aber durch bie
aufgerichtete Figur des neungefichtigen Buddha zurück⸗
gejcheucht wurde. Das Wreal ber alten Stadt war mit
Büfchen bewachſen, und bier und da hatten Landbauern
Moderne und unmoderne Lyrik.
ſich amgefiedelt und Meine Häuschen zwiſchen Gärten
ebaut.
— Außerdem beſuchte Baſtian noch den Praſat -Keoh
oder Kleinodienpalaſt, der, von einem Graben umgeben,
auf einer fegelartigen Felserhöhung liegt und fünfthürmig
in Krenzform anffteigt. Hier fehlen alle brafmanifchen
Beimifhungen. Die Ruine liegt in der ungeheuern
119
Wilbniß eines nen aufgefchoffenen Urwaldes, durch deffen
Schlinggewächſe, Dornen und vermobernde, umgeftürzte
Stämme man ſich ſtets don neuem den Pfab breden
muß, und macht einen durchaus büftern Eindrud,
Rudolf Gotiſchall.
(Der Beſchluß folgt in der nägfen Rummer.)
Moderne und numoderne Lyrik.
In dem Cyklus der Kaulbach'ſchen Wandgemälde im
Treppenhaufe des Neuen Mufeums in Berlin bezeichnet
die Sage den Anfang, die Poeſie den Schluß und die
Bollendung der Geſchichte der Eulturentwidelung der ge-
fommten Menfchheit. Wegen des hervorragenden Plages,
den bier die Poefie erhalten, ift Kaulbach angegriffen,
und es ijt behanptet worden, daß fle ihre Stelle mit der
Wiſſenſchaft vertauſchen milſſe, da, wie die Geſchichte zur
Sage, fo die Wiffenfhaft zur Poefie ſich verhalte, und
„Vernunft und Wiffenfchaft, der Menſchen allerhöchſte Kraft“
vernichtet werde, wenn fie hinter ber Poefie zurüdftehen
ſolle. Allein die Poeſie ift bier die Vertreterin der Kunſt
überhaupt, und die Kunft ift die höchſte Vollendung aller
Euftwrentwidelung, die duftige Blütenkrone an dem Lebende
baume der Menfchheit, welde auf dem Wipfel deſſelben
der Sonne des Emwigen entgegenblüht.
Die Poeſie ift auf dem Kaulbach ſchen Bilde unıgeben
don drei jugendlichen, vofenbefrängten Geftaften, den Genien
der lyriſchen, epiſchen und dramatischen Dichtkunft, welche
in dem begeifterten Gefang der Poeſie einzuftimmen ſchei ⸗
nen. Wie aber der Maler des Neinele Fuchs und ber
Fresken der neuen Pinakothek in Münden überall eine
fatirifche Beziehung anzubringen Tiebt, fo Fönnte man
verfucht fein, in dem Umftande, daß der Genius der Lyril
in etwas nadjläffiger Stellung nad} der Lyra emporgreift,
die Saiten zu erreichen aber nicht vermag, eine Anſpie ⸗
lung darauf zu finden, daß namentlich, die moderne Lyrik,
wenn fie aud) mit voller Stimme ihre Lieder in die Welt
hineinfingt, dod die Feier Apollo's zu ſchlagen nicht im
Stande ift. Der Grund fir diefe leider unbeftreitbare
Wahrheit liegt weniger darin, daß, wie fürzlid Guſtav
Freytag in feiner Kritit von Geibel’s „Sophonisbe" fagt,
in der modernen Kunft bie Lyrik überhaupt nicht mehr
wie früher der Quell ift, in weldem am fünften und
reichlichften das poetiſche Empfinden aufquilit, fondern
häufiger darin, daß die moderne Lyrik nicht modern ges
mg, d. 5. daß fie von dem Geifte der mobernen Zeit
nicht getragen, von bem Inhalte unferer Eultur nicht er-
fulit iſt. Von der Univerfalität bes modernen Geiftes,
von den Errungenjchaften feines unausgefegten Ringens
und Kämpfens findet fi in mandem Bande neuerer
Igrifdjer Gedichte oft feine Spur, und diefe Gedichte ver-
ſchwinden deshalb auch fo bald ſpurlos, weil der Dichter
«8 nicht verftanden, der „fummen Harfe der Zeit“ den
Bohllant zu entloden. Dabei ift die Maſſenhaftigkeit
dieſer unmobernen Lyrik fo groß, daß fie geradezu ale
ein Notbftand zu bezeichnen ift, wie ja überhaupt ein
literariſcher Miswachs ſich in einer Bermehrung der
Dnantität, unter gleichzeitiger Berntinderung der Qualität,
kundgibt. Es gleicht die Maſſe diefer Iyrifchen Probucte
einem Roggenfelde, deffen Aehren zur Erntezeit nicht von der
Fülle der Körner niedergebeugt werden, ſondern die lee⸗
ven Stroßföpfe fol; emporrichten; fold eine Misernte,
die der Bauer mit den Worten bezeichnet: „der Roggen
junkert“, zeigt ſich auch in einem großen Theil der
neuern Lyrit, die ſich durch ihre Inhaltslofigkeit und durch
den Mangel an Verftändnig der unfer Culturleben bewer
genden Gedanken als unmodern darakterifltt,
Auch mande der folgenden Novitäten find Proben
diefer unmobernen Lyrik, deren Sprößlinge ſchon bei der
Geburt das Hippofratifche Gefiht tragen und in den
erften Kinderjahren an Altersſchwäche fterben. Einen ſolchen
Mangel an Lebensfähigfeit bekunden insbefondere:
1. Reime und Träume von Franz Binhad, Neuburg a. D.,
Prechter. 1869. Gr. 16. 15 Nor.
2. Saitenflänge. Lyriſche und epiſche Dichtungen von Albert
Jäßing. Leipzig, Matthee. 1868, 16. 20 Nar.
3. Gedichte von Karl Bafjewig. Hörter, Andreae. 1868,
8. 1 The. 10 Nor.
Die „Reime und Träume” von Franz Binhad(Rr.1)
bringen Reime von einer kaum glaublichen Incorrectheit —
das ganze Buch ift eine Mufterfammlung der faljcheften
und unmöglicften Neimbildungen; einzelne Gebichte,
z. B. „Gebet am Grabe“ u. a. haben nur falfche Reime
aufzuweifen. Die Träume aber find Häufig ungereimt;
von benfelben kann niemand behaupten, daß fie von Zeus
ftammen, fondern e8 gilt von ihnen nur das Sprichwort:
Träume find Schäume“, d. 5. inhaltslofe Blaſen, oder
um des Autors eigene Worte zu gebrauden: „Dies
Dichtergold ift Firlefanz.“ Die verfchiedenen Abtheilun«
gen dieſer Gedichte, welche u. a. die Weberfäriften:
Walhalla“, „Nifelgeim und Borhölle”, „Bittermandeln“,
„Ketten und Pfefferlörner“, „Noth” u. |. w. tragen, handeln
de rebus omnibus et quibusdam aliis, ſelbſt ein
„Brühlingsfpaziergang in einer Pappelallee” muß zu
einem Gedichte herhalten. Aber faft jedes Gebicht zeigt
zur Oenüge, daß der Verfafjer alle feine Liederpfeile um-
fonft verfhoffen, und fann man nur wünfden, daß er
das undankbare Geſchäft des Reimſchmiedens aufgeben
möge. Als Probe mag das folgende Souett genügen:
An die Ruhmes- Affecnranzen.
Nicht zuhl ich zu dem gebornen
Sängern, die zur Welt gelommen
Auf Parnaffus Höhn; benommen
Bar der Weg dur Stein und Dornen,
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120 Moderne und unmodberne Lyrik.
Und mag nie mein Sarg mir frommen,
Eh’ mic) weggerafft die Nornen;
Lie man dann mein Lied von vornen,
Nimmer fhilt man: Wie verſchwommen!
Die Schalmei hab’ ich geblafen,
Stimmend zum Geſang der Grille.
Und id frug nicht Bettern, Baſen,
Ob auch Lied und Ton geflele;
Sang in ſchlichten ſchlechten Maßen
Auf dem Rohr des Schäfers Spiele! —
Wem nach weitern Reimereien gelüſten ſollte, den ver⸗
weiſen wir auf „Cicero's Tod”, den „Glücksmarkt“, „Line
coln” n. f. w. — the rest is silence,
Daß auch die „Saitenflänge” von Albert Jäßing
(Nr. 2) mit noch ungeübter Hand der Leier Apollo’s
entlodtt werden, befundet fowol das Vorwort fir „Die
erften Sünge, die der Muſe Gunft verliehn“, als das
Nachwort, welches wol im Hinblid auf Mephiſto's
Ausſpruch:
Wenn fich der Moſt auch ganz abſurd geberdet,
Es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein!
mit der Bertröftung auf die Zukunft ſchließt:
Nehmt die moftgefüllte Schale,
Schöner perlet einft der Wein;
Freut ſchon Moft euch im Polale,
Wird der Wein euch Labe fein!
Allein diefer Moſt erfreut wol feines Menfchen Herz;
der Trank ift nicht nur trübe, fondern auch fauer und
ſchal; es ſcheint höchftens Grüneberger Schattenjeite zu
fein. Das ganze Bändchen Gedichte ift eigentlich nur eine
Sluftration zu den Anfangsworten von „Des Müllers
Töchterlein”:
Bin ih doc ein Maler nicht,
Bin auch nit Poet!
Das meifte ift trivial, manches geſchmacklos, einiges
kaum verftändlih. Als Probe diene die erfte Strophe des
Hymnus an „Deutfchland‘:
Es glänzt ein Land mit edlen, ftolgen
Granitpaläften goldumfäumt;
Es glänzt ein Land, wo der Armbruſt Bolzen
Sich auf des Gletſchers Höhen bäumt! (sic!)
Karl Baffewis, der dritte in diefem Bunde, gibt
in feinen Gedichten (Nr. 3), welche fich über den %eit-
raum bon 1838—67 erfireden, anfcheinend die ganze,
freilich qualitativ jeher geringe poetifche Ausbeute eines
Menfchenalters, und wenn der Verfaſſer ſich tröftet:
Ich fren’ mich, daß ich fingen kann,
Ein Lied ift meine Beutel —
fo nimmt er im befcheibener Selbftzufriedenheit mit fehr
wenigem fitrlieb. Denn ſowol der Liebesfcherz mit feinen
„Schmerzensſüßlichkeiten“, als der Liebesſchmerz, der
„raupenartig an des Dichters Herzen nagt“, ſind alles
poetiſchen Inhalts gunzlich bar; die Balladen ſtreifen
an die Grenzen des höhern Blödſinns; die Standreden
der Germania vor und nach dem Kriege von 1866 ſind
mislungene Kapuzinaden, und in den loyalen Gelegenheits⸗
gedichten und medlenburgifchen Sonetten tritt eine unfrei⸗
willige Komik zu Tage. Es werben deshalb nicht blos
Leſer, die, wie das erfte Sonett fi) zart ausdrlidt, „im
Materialismus erjoffen“ find, das Buch ungelefen aus
ber Hand legen. Denn das Bekenntniß:
Auch von der Freiheit möcht’ ein Lied ich fingen,
Doch haben's andre beffer ſchon gethan! —
gilt auch von allen übrigen Kapiteln der Lyrik, und nicht
unzutreffend erſcheint die Autokritit aus dem „Klageſang
eines Candidaten aus dem „Jahre des Heild 1838, als
der medlenburgifche Staatslalender 192 Candidaten der
Theologie aufführte‘:
Sonft war’8 nur Philofophen eigen,
Jetzt nennen’s Dichter Phantafle,
Wenn fie in Worten uns fidh zeigen,
Die ohne Sinn, und die man nie
Mit dem Begriffe kann verbinden,
Den fie begeiftert dariu finden!
Weit inhaltsreicher und beffer, wenn gleich nichts
weniger als modern find:
4. Die Jahreszeiten, von 8. I. Schuler. Berbefferte
Sefammt - Ausgabe. Würzburg, Stuber. 1869. 8,
26 Nor.
Diefe „Sahreözeiten” von K. 3. Schuler gehören trotz
der Jahreszahl 1869 nicht zu dem „Neueften aus Plun-
dersweilern“; denn fie find jchon vor 25—35 Yahren,
zwiſchen 1838 und 1844 ſtückweis veröffentlicht und
werden jet nur im einer allerdings etwas veränderten
Geftalt umter den Nopitäten auf den Markt gebradt.
Nah ihrem Inhalt würde man aber diefe ibyllifd-
didaktische Poeſie, die in dem „alten Gewande der Herameter“
vor uns tritt, faft um ein Jahrhundert zurück zu batiren
geneigt fein. Der Berfaffer beabfichtigt ausgeſprochener⸗
maßen eine Yortfegung von Ewald von Kleiſt's „Frühling“
zu fchreiben; aber er hält fich nicht fireng an fein Vor⸗
bild, ſondern e8 haben dieſe „Jahreszeiten“ auch noch einen
unverfennbaren Beigefhmad von Thomſon's „Seasons“,
Geßner's „Idyllen“, und namentlich von dem neunbändigen
„Irdiſchen Vergnügen in Gott” von Brodes. Jene Hein
meifterlihe Naturbetrachtung von Brockes, welche „das
Gras wachſen und die Flöhe Huften Hört”, tritt zu häu⸗
fig in den Vordergrund, während der muflfalifche Rhyth⸗
mus und die Fülle der Kraft, welche uns in Kleift’e
„Frühling“ anzieht, vermißt wird. Dagegen gilt das Ur⸗
theil Schiller’8 über Kleift, daß ihm die Neflerion das
geheime Werk der Empfindung ftöre, daß feine Phantafle
mehr veränderlich als reich, mehr fpielend als fchaffend,
mehr unruhig fortfchreitend als fammelnd und bildend
fei, auch von Schuler; feine Schilderungen find nur
aus Fragmenten kaleidoſkopiſch zufammengeftellt, und das
moralifirende „haec fabula docet“, welches überall in
Lehren der Weisheit und Tugend ſchwelgt, macht dieſel⸗
ben auch nicht anziehender. Dabei ſucht ber Berfaffer
möglichft viele abjonderliche Wörter und technifche Aus⸗
drüde zu verwenden; nit nur die Weidmannsſprache
wird ganz Eunftgerecht gehandhabt, fondern auch Aus⸗
drüde wie: Lühnen, Zacht, Wuhnen, Theiding, Liefchen,
Forkeln u. a. dgl. fommen Häufig vor; ebenfo finden fid
Tarbenbefchreibungen, wie 3. B., „bort grünt bläulich ein
See” un. f. w., doc läßt fih nicht verfennen, daß die
Meize der „Landluſt“, wie Kleiſt feinen „Srühling‘ nannte,
in diefer arfadifchen Dichtung mit großer Wärme und
Treue geſchildert find; ein frommer, aber keineswegs
franfhaft frömmelnder Sinn fpriht fi in derſelben
aus; einzelne Befchreibungen, 3. B. die Schilderung
ber Jagd im „Herbſt“, find voll lebendiger Anſchaulichleit,
Moderne und unmoderne Lyrik,
und die Bilder mit zartem Pinfel fein ausgeführt. Eine
Brobe dieſer Malerei in Miniaturen aus dem „Frilhhling“
möge bier Plag finden:
Zwiſchen den Bergen, die Schlucht ab, | melgt mit Ranuu⸗
ein bi
ie Wiefe,
Murmelnd von Brünnlein und Bad, drin blinkt die gefie-
derte Kreffe.
Welch ein dämmernd Gewirr in dem Aprigen wras unter
len,
Die umdunkeln den Duell mit anf ihn geranftem Gezweigel
Welch ein friedlich Bienengefjwärm in den Kelchen ber
Blumen!
Und welch himmliſche Ruh’ im mandmal raftenden Bade,
Der in der Raft am Gelräut fi zu niedlichem Teiche ge-
formt hat!
Zrodnende Wäſch' anf gelblich gefhorenem Flecke des Korn-
feld:
Weiter der magere Ganl, der den Hal vom Grünen nicht
aufhebt,
Und mit behaglichem Blid, wie ihm munde der Halm, ben
er abbeißt,
Zeiget; die roth getüpfelte Kaup' am Stiele der Wolfemild;
Zrauermantel, wie Naht, von founigem, Ghinmer um
leuchtet;
Augenfpiegel, mit lachendem Roth auf weißem Gewande,
Weißlinge, all auf der Au die träumenden Blumen umlebend;
Ho in fonniger Luft zween raftwärts fegelnde Störde u. ſ. w.
Die vielfach) hervortretende teleofogifche Weltanſchauung
des Berfafjers fpielt ihm zuweilen einen eigenthümlichen
Streich; fo jucht er z. B. die Eriftenz der Maikäfer nicht
nur mit der Behauptung, daß fie ein Schmud des Mai
und das Entzüden der Jugend feien, zu rechtfertigen,
jondern er findet in ihmen auch die Belehrung, baß fie als
abſchreckende · Beiſpiele“ im Dienfte der Mäßigkeits-
vereine zur Warnung vor dem Katzenjammer dienen
fönnen:
Auch belehrt ihr die Welt, ſtill ſchlummernd des Morgens
auf Blättern,
Daß, wer nachtlich geſchwärmt, nichts wirkt und gewinnet
bei Tage!
Hieran ſchließen fi:
5. Ein Leben in Liebern. Gedichte von Gottfried Flamm⸗
berg. Erlangen, Deichert. 1868. 16. 24 ng
6. Gedichte von Friedrih Kampmann, Berlin, Schweiger.
1869. 16. 15 Nr.
7. Bild und Stimmung. Gedichte von Chriftian Saggan.
Altona, Mengel. 1869. 16. 1 Thlr.
8. Gedichte. Poefle und Kunft, Liebe, Glaube, Wiffen, Arbeit
und Vaterland. Bon Ernft Rommel. Hannover, Schmorl
und von Seefeld. 1868. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Ngr.
Unter dem Titel: „Ein Leben in Liedern“ (Nr. 5)
bringt Gottfried Flammberg, der ſchon früher mehr
rere dramatifche Werke und Erzählungen veröffentlicht
hat, eine Sammlung lyriſcher Gedichte, welche in der hrono»
logifchen Reihenfolge der Abtgeilungen: „Schneeglödchen‘‘,
„Maiblumen”, „Goldregen“, „Rofen” und „Augentroſt“
ſich dem Wechſel der Jahreszeiten des Lebens anſchließt,
und wie ber Verfaffer im Vorwort ausfpriht, in ihrem
erſten Theile den Vorzug größerer Friſche, in dem legten
den Borzug größerer Reife erkennen laſſen fol. Allein
es fehlt den ganzen Blumenſtrauß Teider ber zarte Duft
der Friſche; das „Reben in Liedern‘ enthält faft fein einziges
Lied; dagegen finden fi meben einer gedanfenreichen
Reflerionspoefie auch zahlreiche nüchterne und profaifche
Schilderungen und Meditationen. Daß der Berfaffer ein
1870, 6.
121
gegebenes Thema mit Geſchick zu behandeln weiß, bavon
gibt der „Wettkampf in Sonelten“, ber von einem ges»
müthlihen Humor durchweht ift, ein Zeugniß; die
Sammlung trägt im ganzen aber den Charakter einer
ehrenwerthen, jedoch ſchwerfalligen Solibität, bie ſich von
ber Grenze der Laugenweile meiftens nur fehr wenig
entfernt.
Eine Reihe bunt durdjeinanbergewürfelter Xieber, Ro⸗
manzen, Sonette, Epigramme und Gelegenheitsgedichte
bietet der Meine Band Gedichte von Friedrid Kamp
mann (Nr. 6). Das meifte hat nur ephemere Beben-
tung; die Gelegenheitsgedichte mit ihren perſönlichen Ber
ziehungen eignen fi durchaus nicht zum Abdrud, und
and) den übrigen Gebichten fehlt größtentheils Vollen-
dung ber Form ebenfo wie tiefere Bedeutfamkeit des In«
halte. Recht drollig ift die „Windmühle mit dem Mühl«
ad“, das auch in mandem Kopf herumgeht:
Bor einer Windmühl ftand ich jlingft
Wohl eine ganze Stunde,
Und fah dem Spiel der Winde zu;
Das Rad ging in die Runde,
Mir imponirte die Eonfequenz,
Das Rad ging in die Rumde;
Der Flügel große Eloquenz,
Das Kad ging in die Runde.
Und wie es zugeht, daß das Rab,
Das Rad geht in die Runde?
Die cause movens ift der Wind, —
Das Rad geht in die Rundel
Die Gedihtfammlung: „Bild und Stimmung“, von
Ehriftian Saggau (Nr. 7), umfaßt drei Abtheilungen:
„Draußen“, „Drinnen“ und „Droben“, von denen na«
mentlich die legte einige gelungene Firchenliedartige Dich⸗
tungen enthält, welche ein frommes, gläubiges Gemüth be⸗
kunden; 3.2.: „Im Gotteshaufe“, „Dftergebet“, „Sehnfucht
nad Frieden“, Im den beiden erſten Abtheilungen hat
dagegen das Mahnwort „Schau um did und ſchau
in di" nicht dem Auge eines Künſtlers gegolten, und
läßt darum „Bild und Stimmung” vollendete Stimmungs-
bilder durchaus vermiffen; es find nur Skizzen, bie
don nicht ungeübter Hand mit ſchlichten, oft etwas groben
Zügen Hingezeichnet find. Die Sprache ift einſach und
Kar, oft etwas trivial, z. B.:
Drum forg’ und eifre nicht gewaltig
IR jemand nit nad) deiner Norm,
Das Chriftenleben, vielgeflaltig,
Paßt nit in eine Uniform!
Im diefen Gedichten finden ſich viele Beziehungen auf
die norddeutſche Heimat des Verfaffers; der Wunſch, den
derfelbe auf dem fegeberger Kallberg ausſpricht:
Möge der köſtliche Schag, den Kundige wiffen im Berge,
Südlich erſchloſſen dir werden in fprudelnder falziger Ouelle!
iſt inzwifchen durch die Erbohrung des großartigen fege-
berger Steinfalzlagers zur Wahrheit geworben.
Die Gedichte von Ernft Rommel (Nr. 8) bezeich-⸗
men gegen bie bisher befprodenen Sammlungen einen
unverfennbaren Bortfchritt, und zwar namentlich deshalb,
weil dem Verfaſſer die Bebeutung des mobernen Principe
nicht zweifelgaft geblieben ift und feine Dichtungen von
den Intereffen unfers Culturlebens durchaus erfüllt find.
Dies fpricht ſich vorzüglich in den zahlreichen, zum Theil
16
Pa.
122 Moderne und unmoderne Lyrik.
eine hannoverſche Localfärbung tragenden Feſtgedichten
zue Schiller » und Shaffpeare- Feier, zu den Jubiläen
der Künftler-, Architelten« und ngenienrvereine, der
Polytechniſchen Schulen. f.w., welche überall voneiner idealen
Auffafjung der Aufgaben der Gegenwart Zeugniß ablegen,
aus, und um diefe Beziehung recht deutlich Hervorzu-
heben, gibt der Autor feinen Gedichten noch den Neben-
titel: „Poeſie und Kunft, Liebe, Glaube, Wiffen, Arbeit
und Vaterland” — wobei man verfucht fein möchte, noch
ein et caetera beizufligen. Allein die geftaltenbildende
Phantafie, die eigentlich poetifche Kraft ift dem Berfaffer
nur in geringem Maße verliehen, feine Dichtungen find
feine Abhandlungen, die gefchidt in gebundener Rebe ab»
gefaßt find, und überall merkt man die Mühjal der
Gedankenarbeit. Nah allen Richtungen verſucht ſich der
Autor, ohne in einer einzigen es zur Vollendung zu brin-
gen; troß aller Mühe tragen feine Producte den Stem⸗
pel des Dilettantismus. Eins feiner beften Gedichte ift
das folgende:
Ya, ihr feid gut, denn— ihr wollt felig werden;
Der Lohn ift tauſendfach, drum feid ihr gut,
Darım ertragt ihr eure Noth auf Erden.
Ihr feid nicht böfe, feld auf eurer Hut,
Weil ihr euch ſcheut vor ew'gen Höllenqualen;
Furt hemmt die niedre Gier, den Frevelmuth.
Ihr glaubt, daß Gott mit Wucher werde zahlen
Das Keine Gute, was euch fauer ward,
Und fcheut die Pein, wie fie die Hölle malen.
Sch aber ſage euch, klingt es auch hatt:
Ihr feid nur feile Knecht' im Erdengarten,
Bon Lohn gelödert und in Furcht erftarrt.
Anf die Belohnung könnt ihr lange warten,
Denn daß ihr Knechte feid, ift euer Lohn —
Und eure Strafe! — Was mollt ihr erwarten? —
Spredt ihr von Seligkeit, fo ifi’s ein Hohn:
Denn Seligfeit ift freie thät’ge Liebe;
Wo Knechtſchaft herrſcht, ift Liebe Tängft entflohn.
Auch fürchtet nicht, daß euch die Hölle bliebe,
Das iſt ein ganz unmöglich Strafgericht,
Verdammniß fühlt man nicht mit Knechtestriebe!
Für euch iſt weder Finſterniß noch Licht,
Ihr kommt im Gut und Böſen nicht ins Klare,
Ihr taugt für Himmel und für Hölle nicht: —
Ihr feld fürs Fegefener ſchlechte Waare !
Auch das Gediht: „Geiſt der Kunft“, ift fehr an-
fprechend, dagegen freilid) die überwiegende Mehrzahl der
Dichtungen des ftarfen Octavbandes faum mittelmäßig;
einzelne, 3. B. „Enttäuſchung“, „Du haft Tein Herz“,
die Transfcription von Othello’ 8 „Put out the light“
in ein Sonett, find entſchieden mißlungen.
Gegen diefe ſchwerfälligen Gebichtfammlungen, weldje
multa sed non multum bringen, ſticht ſehr vortheilhaft
ein feines Werkchen ab, welches in jedem Zuge die Hand
des Künftlers erkennen läßt:
9. Pſyche. Bon Freiherrn Hugo von Blomberg. Berlin,
C. Dunder. 1869. 16. 15 Ngr.
Die Dichtung „Pfyche” von Hugo von Blomberg,
jenes Märchen „aller Märchen Stern und Blume,
das heitern Reiz mit tiefem Sinn vermählt‘‘, ift der be-
gleitende Text zu einer photographifhen Nachbildung des
berühmten Rafael'ſchen Cyklus von Darftellungen aus der
Geſchichte von Amor und Pjyche in der Villa Farneſina,
jedoh auch ein Fleines Kunftwerk file fi), welches ein
Recht auf felbftändige Beachtung beanſpruchen kann.
Der Berfafler, ald Maler, Dichter und Kunftfchriftfteller
rühmlich befannt — eine Verbindung, die zur Zeit der
großen Ginguecentiften häufiger vorfam, als dies in ber
Neuzeit leider der Fall iſt —, fchließt ſich in der Ardi-
teftonif dieſes Heinen Kunftwerfs genau an die Structur
des Saals der Farneſina an; er befchreibt, wie biefer
Saal 14 enfter Habe, über denen 14 Amoretten mit
den Trophäen Amor's gauleln, während die Dedengemälde
und 10 Felder der Wände die Gefchichte von Amor und
Pſyche enthalten.
Aus einer Ede fei nun angefangen:
Ein Bild, auch wol ein Paar, wie's eben paßt,
Sei Iuftig vom Octavenkranz umbangen;
Doch fiebeumal dazwiſchen mad)’ ich Raſt,
Und weil juft vierzehn Amorfiege prangen,
So viel, al8 Zeilen ein Sonett umfaßt; —
(Nennt’8 ein Sonett, da8 Rafael gedichtet!) —
Sei hiervon in Sonetten euch berichtet.
Kur, wie im Saal Sticdhlappen und Lünetten
(Berzeiht, daß ein Poet fo jachlich ſpricht),
Soll hier mein Märden wechſeln mit Sonetten,
Die man in Loden bunte Schleifen flicht!
Und diejer bunte Schmud behagt dem Dichter fo fehr,
daß fogar das Inhaltsverzeichniß fich zu einem Sonett
mit fein zugefpigter Pointe geftaltet. In dem anmuthigen
Spiele der Phantafie faft den Arabesken in den Loggien
des Batican zu vergleichen, umgeben diefe Dichtungen wie
ein Rahmen die Bilder Rafael's, und die Streiflichter
moderner Anſchauungs⸗ und Empfindungsweife, welde in
die antike Götterfage Hineinfpielen, dienen nur dazu, die
Geftalten derfelben in pilanter veizvoller Beleuchtung her-
vortreten zu laſſen. Die nedifche Heiterkeit der Tonart
läßt freilich zuweilen ſogar Offenbach'ſche Anklänge nicht
verfennen. Die Entgegnung auf den Einwand der Philo-
logen, daß Minerva, die Patronin der Gelehrtengilde, den
Hals in Amor's Joch nie gebogen habe:
Recht mögt ihr haben, nur bemerf’ ich flüchtig:
Ein fleines Pröäjudiz tft do vorhanden !
War nit die Göttin eitel mehr als züchtig,
Sie hätte nie vor Paris dort geftanden,
Auf Aphroditens Schönheit eiferfüchtig !
ferner die Feſtſtellung des Verwandtſchaftsgrades zwi-
ſchen „Herrn Neid und Fräulein Yama“, die „mo
nicht Geſchwiſter doch Geſchwiſterkinder“, endlich die Be—
dingung des Zeus, daß Amor ihm feine Hilfe in künfe
tigen Fällen gedenken möge:
Nur künftig, wenn bei Hlitten oder Thronen
— Wie das wol fommt — cin Mägdlein mir gefällt,
Dann hilf du, Heiner Näfcher, mir beim Nafchen:
Pflegt eine Hand die andre doch zu wafchen!
ftreifen do) nahe an die Grenze des Burlesfen und er-
innern an das „Jupiterlein“ im „Orpheus in der Unter»
welt”. Als Apologie hierfür weit der Dichter deshalb am
Schluß des Liedes von „dem Sieger, der fich felbft be—
fiegt hat’, auch noch auf die tiefere Bedeutung diefes al-
ten Märchens Hin und eröffnet dem Blick eine weitere
Perfpective:
Nur eines, was der Maler euch verichwiegen,
Gönnt noch dem Dichter, da er Abfchied nimmt:
Dem ſcherzhaft leichten Ton mußt’ er ſich fügen,
Den Apulejus vor ihm angeftimmt ;
- — U
Moderne und unmoderne Lyrif. 123
Do fühlt er drunter tief die Kunde Tiegen,
Die ahnend nur dem Alterthum geglimmt,
Bon eines Ew'gen Lieb', in deren Armen
Die bange Menjchenfeele darf ermarmen.
Dieſem lyriſchen Epos folgen noch einige andere
epiſche Verſuche:
10. König Richard. Drei Romanzen von Albert Haeger (aus
einem unvollendet gebliebenen Cyklus). Amſterdam, van
Zuijlen u. Co. 1868. ©r. 8 7 Nygr.
11. Anfon von R. C. 8. Abé⸗Lallemant. Altona, Mengel.
1868. 8 1 Thlr.
12. Waldblumen von Käthe Voß. Hamburg, W. Onden.
1868. 16. 27 Nor.
Eine Heine Gabe zum einem guten Imede — zum
Beten der Nothleidenden in Oſtpreußen — bietet das
Fragment: „König Richard“, von Albert Haeger (Nr.10),
welches ſich durch feine Kürze auszeichnet, da es nur drei
Komanzen mit einem Dutzend Strophen und eine kurze
Widmung enthält. Einige Epifoden aus dem Srenzzuge
von Richard Löwenherz: die Landung bei Meffina, dic
Belagerung von Ucre, und Blondel, den gefangenen Kö—
nig durd) fein Lieb tröftend, werden in einfachen, frifchem
Ballabenton geſchickt erzählt; freilich nicht ohne ſprach—
lihe und metrifche Verſtöße. So wird 5. B. ©. 18
„Firn“ im einer unrichtigen Bedeutung gebraudt, ©. 19
„Albion“ unrichtig fcandirt, u. a. m. Wenn der Ber-
faffer am Schlufje der Widmung in Ausſicht ftellt, daß
feine Leier bald Fühner, freier, in vollern Accorden rau⸗
ſchen werde, jo ift e8 wünſchenswerth, daß er fie vorher
noch etwas reiner ſtimmen möge.
Der dur naturwiſſenſchaftliche Werke, namentlich
durch feine Reiſe in Sübdbrafilien befannte Dr. med.
Robert Ane-Lallemant in Lübeck, der in ber Vorrede
ausdrücklich ablehnt, auf den Namen cined Dichters An-
ſpruch zu machen, hat die Mußeſtunden von 10 Monaten
dazu benugt, ein Seehelden-Epos: „Anſon“ (Nr. 11), zu
fchreiben und, anknüpfend an ben Kriegszug um die Welt,
welchen fein Held, der Tregattenfapitän George Anfon
in dem Kriege zwifchen England und Spanien in den
Jahren 1740— 44 ausführte, perfünliche Erlebniffe und
Reiſebilder in feine Lebendige Schilderung ber verſchie⸗
denen Schaupläge jenes Argonautenzugs zu verflcchten.
Und faft gewinnt e8 den Anfchein, al8 ob ihm das lettere
die Hauptſache gewefen, denn die 10 Gefünge des Epos
mit ihren 7—800 Stanzen geben kaum fo viel von der
eigentlichen Gejchichte des Kriegszugs, als die 10 Seiten
der Borrede in Profa, während dagegen bie Schilderun-
gen und Epifoden einen unverhältnigmäßig großen Raum
einnehmen, 3. B. die Befchreibung Madeira im erften,
des Amazonenftroms im zweiten, der Pampas im dritten
Sefange, ferner die Epifobe von Miranda im zweiten,
die Geichichte des Hufſchmieds Marcus Meier im fechöten
Heſang, u. dgl. m. Doch braucht dies der Lefer nicht
u bedanern, da gerabe in der Lebendigkeit und Anſchau⸗
heit diefer Neifebilder des vielgewanderten Zonriften
er Hauptvorzug des Gedichts Liegt; man fieht es den
Schilderungen an, daß ber Berfafler aus dem reichen
5chage eigener Erinnerungen ſchöpft und fi) nicht müh—⸗
am aus fremden Reifebefchreibungen die Farben zufant-
nenſucht. Auch find in der Regel die Reiſeeindrücke
in barmonifcher Farbenftimmung wiedergegeben, wenn⸗
gleih freilich in dem Beftreben nad) Vollftändigkeit
zumeilen die Verſe zu einer trodenen Nomenclatur were
den. So heißt e8 3. B. in einer Beichreibung des
Amazonenftrome:
Es laſſen ferner Reiher, Erotophagen,
Tukane, Geier, Enten, Schopfhuhnſcharen,
Anhingas, und mit nimmer ſatten Magen
Tuyuyos fi den ganzen Tag gewahren.
Den Aviringe hört man traurig Magen,
Und gellend fdjreien, drohen ihm Gefahren, —
Doch foldy ein Leben, folhes! foldh ein Treiben
Auf offner Praya kann ic) nicht befchreiben!
Und Pendants zu ſolchen Katalogen bieten bie borher«
gehenden Zeilen noch mehrfah. Das Epos von ber
Kriegsfahrt George Anfon’s, ber ſich überhaupt mehr
durch jeine Standhaftigkeit im Kanıpfe mit den Elementen
al8 durch befonders kühne Kriegsthaten auszuzeichnen
Gelegenheit Hatte, bildet fo nur den Stamm, an den fid
allerlei Tojes Beiwerk Tianenhaft anhängt und anheftet,
fodaß der Stamm oft kaum mehr zu erkennen ift; denn
nit nur diefe Neifchilder, fondern auch eine Menge
nebenfächlicher Reflexionen des Autors drängen ſich zwifchen
die Schidfale feines Helden ein. So werden bie jebige
Eolonifationd= und Berwaltungspolitit Brafiliens (©. 21:
„Der Ürbeit gebt, dem Glauben volle Rechte, laßt frei
die Sflaven, eure ſchwarzen Knechte“) u. dgl., ja ſogar
die jocialen Berhältniffe des modernen Europa nebenbei
mit verhandelt; 3. ®. findet ſich folgende Philippika:
Dagegen hier im Norden welche Noth!
Wer mag bei uns nad Frauengumft noch fireben?
Das deutſche Ritterthum ift ange todt!
Ein liederliches Junggeſellenleben
Bird nächſtens noch der Männer Machtgebot;
Kaum einen alten Ritter wird e8 geben;
Und unfre jungen Männer? In der Regel
Sind fie den Frauen gegenüber — Flegel.
Ein gutes Bier, ein beizender Tabad
— So fang fchon Vater Goethe voller Hohn —
Iſt heut der deutfchen Iugend Hauptgeſchmack;
Den Seidel ſchenkt der Vater feinem Sohn,
Cigarren und Petum ein dides Pad
Und dann ein Dutend Pfeifen noch von Thon,
Damit er die beim Trank aus Malz und Hopfen
Mit flinfendem Kanafter möge flopfen.
Es iſt dies zugleich eine Probe von dem kecken, oft
freilich etwas forcirten Humor, von dem fich auch fonft
gar manche Proben finden; 3. DB. die Warnung der Ba⸗
denden vor den SKrofodilen im Amazonenftrom:
Es naht der ſchlimme Freffer, fill und flumm,
Und tanzt jelbft alte Pyramiden um! —
oder die Einführung des lübecker „Meier“ und (S. 184)
die Schilderung der Chinefen:
Ein Volk in Zöpfen! Himmliſcher Gedanke,
Nur faßlich dem, der felbft den Zopf befah!
Wie hängt er doch gleich der Lianenrante
So reinlich und fo zweifelsohne dal
Der edle Zopf, der lange, weiche, ſchlanke,
An Millionen Köpfen fern und nah!
An jedem, den du fiehft vorlibergehen,
Der Zopf der hängt ihm Hinten, wirft du fehen.
Die Zeit der Entftchung dieſes Gedichts, den Sommer
1866, kennzeichnet die etwas forcirte Einleitung des neunten
Gefangs, als signatura temporis,
16 *
124 Moderne und unmoberne Lyrik,
Wo Deutfche gegen Deutiche ohne Wahl
Mit Mörderwaffen zühnefletſchend flegen! —
und fließt fich Hieran eine Apoſtrophe an die Kron⸗
prinzeffin von Preußen, welche einft als Friedensengel
dem Kriege wehren möge, damit
Nicht wieder an der Wand ein Mene telel
Upharfin Tieft die Nachwelt voll von Ekel,
Die Sprade wird mit großer Gewandtheit gehand-
babt, wenn fich auch einige incorrecte Ausdrüde und un⸗
ſchöne Bilder dazwijchen mit vorfinden, 3. B. ©. 152:
„Die weißen Blitze, die zur Erdengruft knallend nieber-
tollen!’
Der elegant gebundene duftige Strauß von „Walb-
blumen” von Käthe Boß (Nr. 12) bietet dem Lefer
zwei Novelletten: bie „Großmutter“ und „Die Roſe“;
ein Märden: „Die Brinzeffin im Walde” und eine
Naturflizze: „Der Wald“, d. 5. fo ungefähr „was fid
der Wald erzählt”. Die beiden kleinen Novellen find
zarte doch feharf umriffene Wederzeichnungen, deren feine
Linienführung die Fünftlerifche Begabung der Verfaſſerin
deutlich erkennen läßt. Im der Proſa diefer beiden Heinen
Erzählungen liegt mehr Poeſie als in manchem diden
Bande Inrifcher Gedichte; diefelben bleiben Hinter ihrem
deutlich erkennbaren Vorbilde, den Novellen Theodor
Storm’s, nit allzu weit zurüd und bilden eine anmu⸗
thige Bereicherung unferer Lovely Literatur.
Wenn diefen „Walbblumen” nod einige buftige Blü⸗
ten wirklich) moberner Lyrik zugefellt werben follen, fo
findet, wer eifrig ſucht, foldhe Blumen wol in folgender
Sammlung:
13. In Sonnenfhein und Wind. Rene Lieder von Georg
von Deren. Heidelberg, Weiß. 1868. Gr. 8. 1 Xhlr.
10 Ngr.
Keine Treibhauspflanzen mit narkotifchen Duft, fon
dern wilde Rofen, die frijch = Fräftig erblühen „in
Sonnenschein und Wind”, bieten diefe neuen Lieder von
Georg von Dergen, und wenn der Stamm auch mehr
Dornen als Blüten trägt und die loſen Ranken bie
ordnende und pflegende Hand des Gärtners gar oft ver-
miffen lafien, fo fpenbet doch manche diefer einfachen
raſch welkenden Blüten gar lieblihen Duft und Er⸗
quickung. Alle diefe Gedichte haben einen Hauch von
MWaldurfprünglichfeit, ed athmet uns aus ihnen eine Ge-
fundheitsfülle entgegen, deren Kraftgefühl ſich oft fogar
in etwas burfchilofer Art Luft macht. Luflig wie ein
Lerchenwirbel jchmettert das Lieb der fangesfuftigen
Kehle (S. 266):
Immer beſchäftigt.
Und blüht die Welt, und müht die Welt
Den langen Tag fi) nur,
Sch leg' ſpazieren mid) ins Feld,
Und meſſe die Natur!
Dafür ift überall noch Pla,
An Arbeit nie gebricht's:
Ich den an meinen lieben Schag,
Und mandmal and an nidte!
Der eine geht, ber andre ſteht,
Der dritte denft fih dumm;
Wenn's Rückwärtsſchaun was nlüten thät',
Wär' halt der Weg nicht krumm.
Das Klugſein, oft geſchadet hat's
Der Schoͤnheit des Geſichts:
Ich den’ an meinen lieben Schatz,
Und manchmal auch au nichts!
Solch Singen macht dem Dichter keine Mühe, und
ſchweigt er drum auch nicht ſchüchtern; das überläßt er
andern:
Thu's lieber nicht!
Wenn dir das Singen Arbeit iſt
Und Eitelkeit und Mühe,
Wenn dein Gedicht nie ſertig iſt,
Dein Denken nur zu frühe,
Denn du britend fiteft
Bis du Reime fhwikeft,
Dann laß dir rathen, lieber Mann:
Gewöhne nicht dir jo was an,
Du ſpielſt nicht wohl die Geige‘,
Drum räuspre dich, umd ſchweige!
Und triufeft du, weil Staub und Sand
Dir troden madt die Kehle,
Zr wahrer Durſt dir unbelannt,
Die Glut der Männerfeele,
Denn du Stoff bezwingeft,
Nicht den Geiſt erringeft:
Dann fol dir Milch credenzet fein,
Doch fchlürfe niemals edeln Wein.
Ich rathe dir: Bleib nüchtern
Sei bieder, aber ſchüchtern!
Diefen frifchen Humor, ber fi) no mehrfach z. 2.
in dem Lobe der Mittelftraße „In diefen ſchweren Zeiten“
befundet, gefellt fich eine anmuthige Begabung für frifche
Erzählungen im Volkston, von dem wir „Des Herzogs
Töchterlein“, „Die Rojen von Königgräg‘ und „Der
Keitersmann auf hohem Roß“ als befonderö gelungen
hervorheben. Daneben bricht aber auch ein warmes und
tiefes Gefühl aus manchem dieſer Gedichte hervor, 5. B.
aus dem Liebe: „Aus der Heimat in die Heimat” und
„Kommt und Hört“. Freilich kann es nicht verfchwiegen
werben, daß neben den Blüten auch mandje verkiimmerte,
wurmftihige Knospe ſich vorfindet und e8 an unbeden-
tendben und mislungenen Gedichten nicht gebricht, doch
find Gefhmadlofigfeiten, wie das hölzerne Shafel „Worte“
und das „markerſchütternde Brumbumbum“ im „Trommel⸗
lied von Afchaffenburg‘ nur felten. Weber derartige Män-
gel fieft man aber um fo lieber hinweg, als fich in diejen
Liedern ein Träftiges Baterlandsgefühl in wohltäuender
Weiſe bekundet, ein friiher Muth, der „am Bord der
Germania” ruft:
Hilf, Himmel, Ni, und wol’ e8 gnäbig wenden!
So betet heut die Furcht der blöden Kranken;
Uns pocht das Herz: Herr Gott, wir müſſen danlen,
Bir wagten kühn, du halfeft ſtark vollenden !
Dem Schiffer gleich, den faliche Feuer bienden,
Bar unſer 208: auf langer Irrfahrt ſchwanken;
Umfonft beweint ins Meer die Opfer ſanken,
Das Ruder ſchien Spielwerk in hundert Händen.
Setzt andrer Cours: vorwärts mit friiher Brife
Geht raſch die Fahrt, die grünen Wogen ſchlafen,
Herweht ein Duft vom Heimatparadieſe;
Doch wachſam bleibt, wen lanniſch Wetter trafen;
Und ob der Sturm ans Südweſt grollend bliefe,
AN Mann an Bord! wir flenern doc zum Hafen.
€. Hersfurth.
Zur Gefhichte der deutſchen religiöfen Speculation.
125
Bur Geſchichte der dentfchen religiöfen Specnlation.
Meifter Edhart der Myſtiker. Zur Geſchichte ber refigiöfen
Speculation in Deutfhland, Bon Adolf Taffon. Berlin,
Her. 1868. ©r. 8 2 Thlr.
Der zweite Band der „Deutfchen Myſtiker“ Franz Pfeif-
fer’8 bat den Studien über den Meifter Edhart eine relativ
zuverläffigere Grundlage gegeben. Aber es fehlt noch viel,
daß fie in dem Sinne genügend genannt werden Tünnte
wie, um bei dem Nächftverwandten ftehen zu bleiben, fir
Hermann von Friesland, Nikolaus von Strasburg und David
von Augsburg, deren Erzeugniffe der erfte Band jenes
groß angelegten Werks enthält. Pfeiffer hat bekanntlich,
außer einem Inappen Borworte, das ſich wefentlih nur
auf die Bezeichnung der von ihm benutzten handfchriftlichen
Halfsmittel beſchränkt, nichts weiter als die Texte der
hriftfih erhaltenen Reſte Eckhart's gegeben, oder das,
was er dafür zu erkennen glaubte. Einem felbftändigen
kritiſchen Theile war die ausführliche Begründung und
Rechtfertigung feines Verfahrens vorbehalten, aber fein
jäher Tod hat diefe wie andere fehr widjtige Arbeiten,
z. B. die Weiterführung der Ausgabe des Bruder Ber-
thold, einftweilen . abgefchnitten, und es ift fehr fraglich,
ob fie troß des reichhaltigen Materials und der gewillen-
haften unabläffigen Thätigkeit ihres frühern Unternehmers
bon einem andern vollendet werben können.
So hat den Bruder Edhart jenes ungünſtige Gefchid,
das von jeher über ihm gemwaltet, auch noch bis in unfere
Tage verfolgt, wo derjenige Dann, der unter allen Res
benden am beften gerüftet war ihn in feiner vollen Herr-
lichkeit wieder zu erweden, doch nur einen bedingungsweiſe
brauchbaren Zorfo Hinterlaffen durfte Nach wie vor
wird die Wiſſenſchaft, die fich jene erhabene Geftalt deut⸗
lich zu vergegenwärtigen ftrebt, feinen feften Boden unter
ihren Füßen fühlen, und fchon daraus erflärt es fidh,
daß auf der einen Seite immer nene Verſuche auftauchen
— der vorliegende ift feit 1864 der dritte —, das Syitem
Eckhart's in feiner Totalität darzuftellen, um die offenbar
ungenügenden Leiftungen der Borgänger womdglih zu
einem berichtigenden Abſchluß zu bringen, und daß auf
der andern Seite die eigentlich fundamentale Arbeit, auf
bie es Hier ankäme, doch von niemand in Angriff ge
nommen wird. Diefe beftände zu allererft darin, die fri-
tiſchen Orundfäge zu entwideln und feftzuftellen, nad)
denen die Autorfchaft Edhart’8 zu erkennen if. Da die
Mehrzahl der in die Pfeifferjche Ausgabe aufgenom-
menen Stüde durch fein äußeres Zeugniß als Kigen-
thum des Meifters beglaubigt ift, da jogar viele davon
bisher andern Namen — Tauler, Rusbroek, Sufo — zu⸗
gefchrieben waren, fo kann nur mit.den Hülfsmitteln der
innern Kritik vorgegangen werden. Diefe ſelbſt müſſen,
wie wir glauben, aus der Spradye und Diction gejchöpft
werben, nicht ſaus der innern Verwandtſchaft mit dem
Syſteme. Das Iebtere, wenn man überhaupt von einem
ſolchen fpreden darf, ift in feiner Auffafjung und Be
urtbeilung allzu fehr den fubjectiven Einflüffen des mo-
dernen Darſtellers unterworfen, fodaß ein Beweis aus
ihm heraus fehr leicht zu einem circulus vitiosus werden
dürfte. Sprahe und Diction find aber von einer fo
durchſchlagenden Eigenart und einzigen Individualität, daß
ſich darauf ein genligender Beweis für das Echte und
Unedhte bauen läßt. Nur gehört dazu eine vollftändige
Ueberficht des gefammten handfchriftlichen Materials, wie
es Pfeiffer befaß und vorlegen wollte. Sein gereinigter
Zert allein, jo dankenswerth er auch ift, kann nicht dazu
gebraucht werden, bis fich erkennen läßt, nach melden
Principien er ihn im einzelnen conftruirt hat.
Auf diefer feiten Grundlage läßt fi dann alles Weis
tere, jo Wünfchenswerthe und Nöthige aufbauen. Zuerſt
eine möglichſt ſchlichte und überfichtliche Zufammenftellung
des gefammten Material von Gedanken und Specula-
tionen, woran ſich gleichſam von felbft die Beziehung auf
die zeitgendffifche Philofophie und Myſtik ſchließen muß, um
Eckhart's Stellung in ihr genauer zu bezeichnen. Ebenſo
eine ganze Reihe anderer philojophifcheculturgefchichtlicher
Aufgaben, die alle diefen einen Mann zum Mittelpunkt
baben könnten, ohne feinen Inhalt zu erfchöpfen. Denn
fo viel läßt fich mwenigftens fchon jegt aus dem noch fo
unfihern Material erfennen, daß er alle bie begeifterten
Lobjprüche, womit ihn feine Verehrer zu überhäufen pflegen,
wohl verdient, wenn auch vieleicht oft in einem andern
Sinne, als fie es meinen. Zunächſt leidet es feinen
Zweifel, daß er die deutſche Sprache in ihrer ebelften
Ausbildung während des Mittelalters repräfentirt. Nie—
mand in jener Periode hat biefelbe zu einem Werkzeuge
der höchſten und ernfthafteften Intereſſen des Geiftes fo
zu gebrauchen verftanden wie er, und was feine andern
Gefinnungsverwandten, die deutſchen Myſtiker vor und
nad) ihm, in diefer Beziehung geleiftet Haben, nimmt fid,
den einen David von Augsburg abgerechnet, doch beinahe
wie kindliches Stammeln neben der vollen Reife der
männlichen Spradye aus. Ebenſo ift er unbeftritten der
größte Prediger deutfcher Zunge während des ganzen
Mittelalters. Bruder Berthold, deſſen ungeheuere Erfolge
wir, bei aller Hohadtung vor ihm fei es gejagt, nad)
feinen uns erhaltenen Predigten doch nicht ganz zu vers
ftehen vermögen, darf nicht mit ihm verglichen werden;
Tauler und die fpätern myſtiſchen ‘Prediger des 14. und
15. Sahrhundert8 noch weniger. Und wenn ſich mand-
mal die Trage aufdrängt, ob das Publikum, für welches
diefe Predigten beftimmt und gehalten wurden, im Stande
gewefen ſei den- [peculativen Kern der Süße zu erfaflen,
jo ift dies im Grunde eine müßige Frage. Diefe Pre
digten find fo unendlich reich an den verfchiedenartigften Ga⸗
ben für die derfchiedenartigften Individualitäten und Fähig-
feiten, daß jeder, er mochte fein wer er wollte, über-
reiche Frucht davon haben fonnte,
Heinrich Rücert.
126
Feuilleton.
Fenilleton.
Duplikate von Schiller-Geſprächen.
Von Herrn Dr. Borberger in Erfurt geht uns die fol⸗
gende Anfrage an Herrn Bernhard Annmüller zu:
In dem vor kurzem erſchienenen Buche: „Karoline Luiſe,
Fürſtin zu Schwarzburg⸗Rudolſtadt“, von Bernhard Annmüller,
finden fi) unter der Ueberſchrift: „Ressouvenir de conversation
avec Schiller‘ mehrere Data Sciller’8 mitgetheilt, von denen
ſchon längft befannt war, daß fie aus Unterredungen mit feiner
Berwandten Chriftiane von Wurmb flammen, die jpäter die Frau
des Directors Abeken in Osnabrüd wurde. Sie hatte diefe
Geſpräche aufgezeichnet wie Edermann und Friedrid, von Mül⸗
ler die Goethe’fchen, und da fie aud jedesmal das Datum und
den Umſtand angibt, unter weldhem das Geipräh gehalten
wurde, fo ift ein Irrthum bier nicht qut möglid. Sie wurden
zuerſt mitgetheift von Karoline von Wolzogen in ihrem „Leben
Schiller's“, II, 204—223, und find von da in alle jpätern Bio-
graphien Schiller’8 übergegangen. Nach Palleske's Ermittelun-
gen gehören fie in das Jahr 1802. Die vermeintlichen Ge⸗
ſpräche Sciller’s in dem Bude Annmüller's geben dieſelben
wörtlich, nur mit Heinen Differenzen, wieder. So fteht ©. 48:
„Wenn man 30 Schaufpiele fähe ꝛc.“ bei Karoline von Wol⸗
zogen II, 207 unter der Auffchrift: „Den 1. Mürz, als ich mit
ihm aus der Komödie ging"; S. 49: „Billigkeit ift eine ſchöne
aber feltene Tugend‘ ebenda S. 208 unter der Aufichrift: „Den
5. März, als ich ihm Kaffee einſchenkte““; „Es ift ein eigen felt-
fam Ding um bie gelehrten Frauen‘ ebenda ©. 214 um
ter der Aufſchrift: „Den 18. März, als ex mid) in meiner Stube
nähend fand“, nur fehlt bei Annmüller ber Schluß. Und fo
geht es fort bis S. 121: „Daß viele von und, wenn auch
nur durch den Schein blenden wollen‘, welches ich bei Karo-
fine von Wolzogen nicht finde. Das Gefpräh vom Jannar
1800, S. 117, welches ſich gleichfalls bei Frau von Wolzogen
nicht findet, hat nur ftattfinden können, wenn die Fürſtin um
diefe Zeit in Weimar war, vielleicht den 10. Januar, wo
Schiller zum Thee bei der Herzogin war. In Schiller’8 Brie⸗
fen findet fid) von einem folhen Beſuche nichts erwähnt. Ann»
müller wird alfo noch einmal nadjjehen müfjen, ob die betref-
fende Handſchrift auch wirklich von der Fürſtin von Rubolftadt
herrührt; dann kann fie aber nur eine Abjchrift von dem Ma»
nufeript der Ehriftiane von Wurmb fein. Auch wird er fi
Mühe geben müfjen zu erfahren, in welchem Berhäftnif Ehri-
fliane von Wurmb zu der Fürftin von Rudolſtadt ſtand. Diefe
Auskunft ift er den Schiller-Kennern fhuldig, denn wenn ihm
diefe auch gern verzeihen werden, daß er in der Schiller⸗
Literatur nicht fo bewandert war, um fi zu entfinnen, baß
diefe Geſpräche fehon feit 40 Jahren gedrudt waren, fo werben
fie doch im Falle feines Schweigens einen gewiflen Verdacht,
er habe fein Werk mit fremden Federn ansichmüden wollen,
ſchwerlich ganz unterdrüden fünnen.
Chinefifhe Bräude und Spiele in Europa.
In einer jenaer Imaugurafdifjertation (gedrudt Breslau
1869) fuht Guſtav Schlegel, Interpret der dhinefiihen
Sprache beim niederländifc - oftindiihen Gouvernement zu
Batavia, den Nachweis zu führen, daß faft alle unfere Geſell⸗
ihaftsfpiele, die fhon Jahrhunderte vor ihrem Erfcheinen in
Europa in China befannt gewejen, aus jenem fernen Rande zn
uns gelangt feien. Dahin rechnet er: das Damenfpiel, das
Dominofpiel, das Kartenfpiel, das Mühlenfpiel, das Zriftral;
die Hazarbfpiele, wie Würfel, Rouge et Noir; ben Papierdracdhen;
Heine Gefellichaftefpiele, wie Kämmerchenſpiel, Blindekuh; ferner
die Boltsfpiele, wie da8 PBuppenfpiel, die chineſiſchen Scatten-
maſchinen. Wird man diefe oder jene Behauptung des Ver⸗
fafjer8 gern glaubhaft finden, fo dürfte e8 dagegen den größten
Widerfprud) erregen, daß aud) das Schadfpiel ale ein urſprüng⸗
liches Eigenthum Chinas in Anfprud; genommen wird. Auch
einzelne Bräuche, wie das Efien hartgefottener Eier zu gewiffer
Jahreszeit, fowie der Schmud der Häufer in der Johannisnadht
follen uralten chineſiſchen Urfprungs fein. Eine befonders wife
fenſchaftliche Haltung Hat die genaunte Differtation gerade nicht,
aber fie ift wenigftens um ihres Gegenftandes willen allgemein
intereffant. Es würde erwänjdt fein, wenn über biefe fragen,
fomeit fie zweifelhaft ericheinen müſſen, von competenter Seite
aus discutirt und weitere und überzeugende Belehrung beige»
bracht würde.
Notizen.
Der von einigen Blättern angeklindigte Roman von
Biufeppe Garibaldi wurde längere Zeit für eine Ente ge-
halten, welche die Blätter bisweilen brauden, um ihre flag«
nirenden Gemwäfler zn beleben. Jetzt kündigt A. Hartleben's
Berlag in Wien die antorifirie Ueberſetzung deffelben an, fodaß
wir ung nun mit einem male auf dem Gebiete der buchhänd⸗
lerifhen Thatſachen befinden. Der Roman führt den Titel:
„Die Regierung des Mönchs“, und umfaßt zwei ftarfe Bände.
Dos Buch’ enthält, nad der Ankündigung des Verleger, von
der erfien bis zur letzten Zeile vom Verfaſſer felbft erlebte Er-
eigniffe im Gewande eines feflelnden Romans, und Garibaldi
enthüllt in demfelben die Urfachen der vielen italienifchen Ems
pörungen des 19. Sahrhunderts fowie die Intriguen und Ans
ſchläge des päpftlichen Hofs.
Zu Königsberg erſcheint in Heften eine Zeitfchrift unter
dem folgenden originellen Titel: „Die Sternwarte. Großes
Schatten» und Buppenfpiel mit verfchiedenen Monologen, Scenen,
Intermezzos, Gruppirungen und Aufmärſchen, oft mit eleftrie
{dem Lichte beleuchtet, von Gabriel Mephiſto. Berbunden
mit einer neuen Theaterzeitung: «Die pſychologiſche Poſaune»,
redigirt und herausgegeben von Dr. Hentilo Starke, Pro»
feffor der Pfychologie, promopirtem Doctor der Selbftlunde und
Geburtshelfer der Reclame, correfpoudirendem Mitgliede aller
Sternwarten Europas, Ritter des noch nicht geftifteten Phan⸗
tafieordens und Befiter aller Medaillen für Kunft und Wiſſen⸗
haft" (Königsberg, Expedition der Sternwarte). Uns liegen
die beiden erſten Hefte diefes mit fo wunderbarlichen Humor⸗
ſchnörkeln fid) ankündigenden Blattes vor, das indeß bier und
dort auch einen ernftern poetiichen Anlauf nimmt. Die Ten⸗
denz des Unternehmens, das für feine Strafgerichte nur zu
voluminds auftritt, ift eine fehr Iobensmerthe, nämlich bie
Reclame zu geifeln, die ſich in den Theaterblättern breit macht,
umd zwar in der ganz geeigneten Form hyperboliſcher Ueber⸗
treibungen. Seine Hauptprügelfnaben und Hauptprügeldamen
hat der Satirifer nad) dem Princip ber „Notorietät” auss
gewählt; doch findet man bisweilen auch einen Namen darun⸗
ter, den man mit Bedauern an den Pranger biejer Satire
geftellt fleht.
Eine Shafjpeare-Anthologie: „Leitfterne im Leben und Lieben
der Frauen‘, bat U. Daul, ber Berfaffer des reichhaltigen
ftatiftiichen Werts fiber die Frauenarbeit (Reipzig, Matthes, 1869),
zufammengefielt, und zwar hat da8 erfie Bändchen den Titel:
„Die Kunft zu lieben‘, das zweite „Frauenphiloſophie“, das
dritte „Geiſtiger Zoilettenfpiegel für das Frauengeſchlecht“, das
vierte: „Zur Männerfenntniß für das Frauengeſchlecht“. Es
find theils einzelne Sprüde und Sentenzen, theils Brudftüde
einzelner Scenen, die in der Sammlung mitgetbeilt werden;
die Quellenangabe, die Bezeichnung der einzelnen Stüde findet
fih im Inhaltsverzeichniß. Da Shakipeare immer noch mehr.
gefeiert als gelannt ift, und namentlich diejenigen Stücke, die
nicht anf unjern Bühnen heimiſch find, Teineswegs nad) Gebühr
in ihrem ganzen geiftreihen Detail unferm Lefepublilum gegen»
wärtig find, fo haben folde Sentenzenfammlungen aus dem
unerſchöpflichen Gedankenborn des britiihen Dichters oft dem bie
Lefer ſelbſt befremdenden Heiz ber Nenbeit.
Trotz der Klagen Über die Ungunft der Zeiten und ber
Stimmung des Publilums gegenüber Iyrifhen Dichtungen kön⸗
nen wir do mehrere Sammlungen verzeichnen, welche neuer-
dings in neuen Auflagen erichienen find. Der fangesfreudige
Dichter des Wupperthbale, Emil Rittershaus, läßt feine
.
„Gedichte“ in dritter vermehrter und verbefierter Auflage (Bres⸗
Ion, Trewendt, 1870) erſcheinen. Man kennt den frifchen
Tonfall, die Wärme der Empfindung, die fi) in diefen meift
ſchlichten Liedern aneipricht, denen aud auf dem Gebiet politi-
fher Dihtung manch frifher Wurf gelingt.
Emil Brachvogel's „Dichtungen“ find ebenfalls in
zweiter vermehrter Auflage (Leipzig, Dürr'ſche Buchhandlung,
1869) erfchienen, obfchon die Lyrik nicht da8 Gebiet ift, auf
weichen der Pegaſus des Dichters die befte Weide findet. Der
Inhalt Hat manches Tüchtige, do die Form erfcheint zu
melodielos, zu ungelent. „Goethe's Jugendliebe“, Gedicht von
Adolf Böttger, das befanute anmuthige Idyll in Heramer
tern, liegt in dritter Auflage (Leipzig, Haynel, 1870), vor.
„Duinten‘, die Meinen Gedichte von I. ©. Tauber, find in
zweiter Auflage (Leipzig, Brockhaus, 1869) erjchienen, welche
am einige leichtgefllügelte Guomen und zugefpigte Epigramme
vermehrt if. Eine dritte gefichtete und aufs Doppelte vermehrte
Auflage liegt aud) von den „Borbof- Klängen. Bon einem
Wahrheitſucher“ (Barmen, Langewieſche, 1869) vor, Dichtungen
mit einer vorzugsweife religiöfen Tendenz, die fi) aber nir-
gends aufdringlich geberbet.
Bon W. Jordau's „Nibelunge“, dieſer durch die Vor⸗
träge des Dichters in faſt allen größern und vielen kleinen
Städten Dentſchlands wohlbekannten Dichtung, liegt eine zweite
Auflage (Frankfurt a. M., W. Iordan’s Selbfiverlag, 1870)
vor, welche zeigt, dag auch moderne Epen, unter günſtigen
Bedingungen der Berbreitung, bei dem Publitum Wurzel zu
ſchlagen vermögen. Die zweite Auflage ift äußerlich nicht jo pom⸗
yög, joim Nedenftil gehalten wie die erfte, aber defto Handlicher
zu) zugänglicher für die Lefer. Auch von Joſeph Pape,
einem in jüngfter Zeit ſehr fruchtbaren Autor, liegen Werke in
nenen Auflagen vor, fo von dem Gedicht: „Der treue Edart.
Epos von deutſcher Entzweiung und Verſöhnung in zwölf
Geſängen“, eine zweite, volltändig umgearbeitete Auflage, und
von den Romanzen: „Sofephine, Liebe, Glaube und Baterland‘’
eine dritte ummgearbeitete und vermehrte Auflage (Paderborn,
eine, 1869).
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8eipiig, Schlide. 8. 3 Thlr. 10 Ngr.
legauder, R., Senrebilder. Berlin, Habel. 16. 28 Ngr.
Böch, R., Der Deutfchen ‚Sottegabl und Spradhgebiet in den enro⸗
eiigen s — gine atiſtiſche terfuchung. erliu, Guttentag.
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Bugeaud, Ueber den Gebirgskrieg in Afrika, « (Aus dessen Schrif-
ten übersetzt.) Wien, Seidel u. Sohn. 1863. Gr. 8. 5 Ngr.
" Bund, 8%, Die Monate bed Iahres in Dentiprüden. Diffelborf,
Budig. 16. 22'/, Rgr.
Burns, R., Lieder. In das Schweizerdeutscho übertragen von A.
Corrodi. Winterthur, Bleuler-Hausheer u, Comp. 16. 1 Thlr. 10 Ngr.
Shardon, G., Diemoiren eines Schugengeldg. Mit Autorifatton dee
Berfafjers Überfept von 3. Di. Regensburg, Puſtet. 16. 12 Nour.
EConard, 3, Die Dame im Schleier oder der VBilberfaal ver Stadt⸗
vogtei in geriin. „romantifhe SriminalsErzählung. 1ftes Heft. Berlin,
jer. ©r. 3. gr.
orrodi, A., Blühenbes Leben. Roman in 2 Büchern. Bern, Hals
lee. Br. 8. 1Thlx. 0 Nor oo. .
Cropp, I., Der Glaubensrichter fein eigner Richter. Offener Brief
an F. Stöter. Hamburg, Grüning. GEr. 8. Y Nor.
Deutihland um Reujahr 1870. Vom Berfaffer der Rundſchauen (von
Gerlach.) Berlin, Stille u. van Muyden. ®r. 8. 12 Ygr.
Diron, W. H., Der Tower von London. Mit Bewilligung bed Vers
Iafere it ſetzt und Eh Anmerkungen verfehen, ifter Bd. Berlin, F.
under, Tr. 8 4 r.
Dranmor, Requiem. Zweite Aufl. Leipzig, Brochhaus. 16. 10 Nur.
x Sleuer, D., Die rauf des Nil. Erzählended Gericht. Coburg,
iemann. r. 16. 10 Nor.
eis, E. Loreley. Koman, 4 Bde. Iena, Eoftenodle. 8. 5 Thlr.
15 Nigr.
» Fredetig, C. J., Lieb und Leid. Gedichte. Ravensburg, Dorn. 16.
To ammer, J., Beleuchtung ber päpfliden Enchelica vom
8. is 1864 und des Berzei nifies ber modernen Irrthümer. Nebit
auem Anhang: Kritik der Brojhüre dee Bigeie von Orleans. weite,
mit einem neuen Borwort vermehrte Aufl. eipaig, Brodhand. 8. 12 Ngr.
Sedente mein! Taſchenbuch für das Jahr 1870. Wien, Literariſch⸗
artiſtiſche Auftalt. Gr. 16. 35 Rgr.
Gnad, E., Populäre Vorträge über Dichter und Dichtkunst. 1ste
Sımmlung. Triest, Schimpfi. Gr. 8. 20 Pi
re, 8. f Iandfagen. Sagen, Mähren und Geſchichten aus
den Borbergen bed Thüringer Waldes. Leipzig, Wartig. 8. 15 Rgr.
Fenilleton.
127
Holland, H. Zu Fr. Overbeck's Heimgang. Ein Blatt der Erinne⸗
rung. Augsburg, Kranzfelder. Gr. 3. 3 Mur.
ollandt, F., Die Roſe bes Libanon. Gpilße Nylle in 3 Gefän-
gen. Braunſchweig, Sievers u. Comp. 16. 1 Zhlr.
Sluftrirter Kalender und Novellen⸗ Almanach für_1370. Mit Beiträgen
von J. Hackländer, Hoefer und F. Gerſtäcker. Herausgegeben von F.
Ment-Dittmarjch. Wien, Literariſch⸗artiftiſche Anftalt. 8. 12'/, Rgt.
König, E. A., Die Seheimniffe einer großen Stabt. Noman. 3 Bde.
Jena, Cofienoble. 8. 4 Thlr.
Krieg und Bundes⸗Reform. — Der Eongreß in Paris. Bom Berfaffer
der Rundſchauen (v. Gerlach.) Berlin, Stilfe u. van Muyden. Gr. 8.
6 Nor.
— Leſſer. Ausgewählte Digtungen. Nebſt einem Abriß ſeines
Lebens. Berlin, R. Leſſer. 16. 20 Nor.
Memoiren des Herzogs von Reichsſtabdt. (Napoleon II.) Berlin,
Schlinamann. Gr. 16. 1 Zhlr.
Monteton, D. Dijon Baron v., Im Lehnftuhl vom Sattel. Stendal,
Granen u. Groſſe. Gr. 8. 6 Nor.
üller, M., Im Lande der Denter! Ober: Werben bie Gelehrten,
namentlih meine lieben Landéleute noch nicht bald einig in Bezug einer
Nengeftaltung unferes Eulturideald? Berlin, Löwenftein. Gr. 8. 13 Ngr,
6 Dppenheimen, 2. Witter v., Nah den Wahlen. Prag, Calve.
% ‘ dr. ‘ ’
Oppermann, H. A., Bunbert Jahre. 1770—1870. Zeit» unb Le⸗
Fa aue brei Generationen. Erſter Theil. Leipzig, Brockhaus. 8.
r.
Peter, tr, Der Krieg des grossen Kurfürsten gegen Frankreich
1672—1675. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, Gr. 8. 2 Tbir.
Pfleiberer, ©, Leibniz als Verfafler von zwölf anonymen, meift -
beutipen politifhen Flugſchriften nachgewieſen. Leipzig, Wues. Gr. 8.
T j
onihsti, A. Graf, Ueber den Verkehr der Geifter bed Ienfeits mit
den Menſchen. Zwei Öffentlige Vorträge in Leipzig. 2ter Vortrag. Leip-
sig, Kaoprowicz. Gr. 8. 7ı/, Nor.
Priem, 3., Rürnberger Sagen und Geſchichten. Nürnberg, v. Ebner.
8. 20 Ner.
Neidelt, H. M., Bergmannsieben, Bergmänniihe Dichtungen.
Schneeberg, Goedſche. 16. Eh Nor. s ' Beung
So e &. ztiſche Driefe einer Frau. 2te Auflage. Wien, Gerold's
obn. 16. r.
Rödiger, %., Schultheiß Wengi von Solothurn. Ein Bolkébild
aus den Zeiten der — — Religionswirren im 16. Jahrhundert.
Solothurn, Jent u. Gaßmann. Gr. 8. 20 Ngr.
Sherer-Boccard, ©. T., Handbuch zur Beurtheilung der Vor⸗
uxtheile und Irrthümer unſerer Zeit. Ra bewährten Quellen encyelopã⸗
diſch bearbeitet. iſtes Heft. Auzern, Prell. Gr. 8. Nor.
Sickel, T., Zur Geschichte des Concils von Trient, Actenstücke
ans österreichischen Archiven. 1ste Abth.: 1559—1561. Wien, Gerold’s
Sohn, Lex.-8. 1 Thir. 26 Ngr.
So ipröäten be norbbütihe Bu'rn. Möäbensoarten, Sprüchwüs'r,
Du seöäthjel, Riemfel um Siugfang van de Gdären. Berlin, Schling-
r
mann. 16, 8 ‘
Szalay, L. v., Geschichte Ungarns. 2ter Bd, Deutsch von H. Wö-
geror, Pest, Lauffer. Gr. 8. 2 Thir. 12 Ngr.
Berner Taſchenbuch auf das Jahr, 1870. Gegrlindet von 2. Lauter»
burg. In Verbindung mit Freunden fortgefeht von G. Ludwig. 19er
Sahrgang. 1870. Bern, Haller. 8. 1 Zhlr. 2 Nor.
— rend, F. Freih. vd. der, Memoiren. Berlin, Schlingmann. Gr. 8.
r.
Turgenjew's, 3., ausgewählte Werke, Antorifirte Ausgabe. Iter
Bd,:- Audin. Drei Begegnungen. Mumu. zei Novellen. Mitau,
Bchre. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nr.
Ujfalvy, K. E. v. Alfred de Musset. Eine Studie. Leipzig, Brock-
haus, 8. 1 Thir.
Trautschold, H., Ueber sackulare Hebungen und Senkungen der
Erdoberfäche. MoskAu. 1869. Gr. 8. 15 Ner.
Der literariſche Berlehr. Organ für die Intereffen ber beutfhen
Schrififtellerwelt, Herausgegeben unter Mitwirfung von Karl fyrenzel,
Fror. Friedrich, Herm. Kleſte zc. Nedacteur: DO. Löwenftein. Ifter Jahr⸗
gang. 1370. 11 Nen. Berlin, Eöwenfein, 4 1 Thlr. 1 Rar.
Boldhaufen, A., Das Kind aus dem Ebräergang. Koman in zwei
Bon. Etuttgart, Bogler u. Beinhauer. Or. 8. 2 Zhlr.
Volkmer, F., Das Verhältuiss von Geist und Körper im Menschen
(Seele und Leib) nach Cartesinus. Historisch - philosophische Abhandlung.
Breslau, Aderholz. Gr. 8. 8 Neger,
Binde, ©. Freih, ABE fir Haus und Welt. Aus ber Mappe eines
alten Diplomaten. Wüniter, Drunn. 16. 15 Nor.
Deutjge Volls⸗ Lieder aud Kärnten. Gejommett von B. Po»
gatihnigg und E. Herrmann. 2ter Bd. — A. u. d. T.: Lieber vers
miſchten Inhaltes. vrag Pod. 16. 1Thlr.
Wackernagel, W., Jobann Fischart von Strassburg und Basels
Antheil an ihm, Gr. 8. 1 Thir. 15 Ngr.
Wagner, 9, und 3 Wedde, Glauben und Unglauben. Eine
Streitſchrift iur firhligen Frage. Kamburg, Srlning, 8 10 Nor.
Wais, %., Anthropologie der Naturoölfer, Mit Benutung ber Bors
arbeiten bed Berfaffers fortgeicht von G. Gerland. Ster Thl. Die Völ⸗
fer der Südfee. Zie Abth. Die Diilconefier und norbweßil en Polyner
Her. „Ertnggrarhiig und eulturhiftorifch dargeſtellt. Leipzig, %. Fleifcher.
% 3— 1 r. Te
Walbbrüßt, =. v., Rhingſcher Klaaf. Rheinfränkiſche Lieber und
Leuſcheu. Nebft einer Zugabe: Stödelder von Diontanus. Opladen,
Arndt. 1869. 16. 20 r
Walther, P. A, F., Die Alterthämer der heidnischen Vorzeit inner-
halb des Grossherzogthums Hessen, nach Ursprung, Gattung und Oert-
lichkelt besprochen. Darmstadt, Jonghaus. 1369. Gr. 8. 1 Thir.
Walther, E., Der Schaufpielerberuf In künſtleriſcher, gefellichafts
par und fittlider Beziehung. Vorleſung. BDresven, Zürh rd 16,
2 gt.
Basel, Schweighauser,
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128 Anzeigen.
Anze
igen.
— —
Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Ueber die Religion.
Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern.
Bon Jriedrich Schleiermacher.
Mit Einleitung herausgegeben von D. Carl Schbarz.
8. Geheftet 10 Ngr. Gebunden 15 Wer.
,Monologen.
Die Weihnachtsfeier.
Bon Friedrich Schleiermacher.
Mit Einleitung herausgegeben von D. Carl Schlourz.
8. Geheftet 10 Ngr. Gebunden 15 Ngr.
Bon Schleiermader’s Schriften ift leine fo zur Ber-
breitung in den weiteften Kreifen geeignet und verbient diefe im
bem Maße wie bie „Reden über die Religion‘. Sie ift fein
populärftes Werk, in dem er den Grundgedanken feiner theologi-
fhen Wirkfamleit — Berjühnung der Religion mit der freien
Horfhung und dem Bildungsbewußtfein der Zeit — auf eine
das gebildete Laienpublikum feſſelnde Weife entwidelt bat.
Die „Monologen" und „Die Weihnachtsfeier” ſchließen ſich
ergänzend und ausführend an die „Neben liber die Religion‘ an.
Durch die vorliegende erfte wohlfeile Ausgabe diefer drei be-
rühmten Schriften wurde einem lange gebegten Wunfche aller Ber-
ehrer Schleiermacher’s entiprochen. Einen befondern Werth verlei-
ben ihr außerdem die geiftreichen Einleitungen, womit fie der Her-
ansgeber, Ober-Eonfiforialratd D. Schwarz, begleitete.
Die beiden Bände bilden zugleich den 1. und 27. Band der
in demfelben Berlage erjcheinenden „Bibliothel der Dentjchen
Nationalliteratur bes 18. und 19. Jahrhunderts“.
Friedrich Hchleiermader. .
Lichtſtrahlen aus feinen Briefen und ſämmtlichen Werken.
Fit einer Biographie Schleiermacher's.
Bon Elifa Maier.
8 Geheftet 1 Thlr. Gebunden 1 Thlr. 10 Ngr.
Bon Franenhand gewählt, bilden biefe claffiichen Aus-
ſprüche Schleiermacher's über Freundſchaft und Liebe, Selbfl-
bildung und Thätigkeit, Ehe, Kinderzudt, Religion, Freiheit
und Unfterblichleit namentlih eine der empfehlenswertbeften
Gaben für das weibliche Geſchlecht. Eine pietätvolle Schilde⸗
rung von Schleiermacher's Lebensgang läßt die Herausgeberin
ben gewählten Stellen aus feinen Schriften vorangehen.
Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin.
Wrottesley, Lord. Gedanken über Regierung
und Geſetzgebung. Aus dem Englifchen überfegt
von ©. F. Stedefeld, Kreisgerichtsrath. Berlin,
1869. Kortlampf. 1 Thlr. 5 Sgr.
Didaskalia, Nr. 221. 11. Auguft 1869. Bebeuteuber
find zwei pbilofophifch-politiiche Schriften: Gedanken über Re-
gierung und Gejeßgebung von Stedefeld und eine von letzterm
verfaßte Studie Über die matertaliftiiche Auffaffjung der Eng⸗
Jänder vom Staat und vom Chriftenthum, die zu jenem gehört
und eine felbftändige Auffafjung bekundet.
ERGÄNZUNGSBLÄTTER.
1870, 2. Heft. ’
Geschiehte: Historische Literatur, von J. J. Honegger. —
George Peabody, von R. Döhn. — Nekrolog.
Literatur: Hermann Lingg, von Ad. Strodimann. —
Nekrolog.
Kunst: Leben und Werke Hans Holbeins des Jüng., II,
von Br. Meyer. — Nekrolog.
Geographie: Die Bocche di Cattaro. — Das Territo-
rium Alaska, nach Whymper. — Nekrolog.
Meteorologie: Wärmeabnahme in höheren Breiten. —
Der Nebel, von Dr. Dellmann.
Mineralogie und Geologie: Organisch gebildete Ge-
birgsmassen in Mexiko. — Entstehung des Erdöls. — Geo-
logie des Kaukasus. — Südafrika. — Quecksilber in Austra-
lien. — Nekrolog.
. Volkswirthsehaft und Statistik: Die gesellschaftliche
Vertheilung der britischen Steuern, von Dr. Dühring.
Industrie: Die Baumwollenindustrie.
Kriegswesen: Die Uebungslager der europäischen
Heere, II, von Chr. v. Sarauw.
Technologie: Theerfarbenindustrie.
Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk.
Illustrationen: H. Holbein: Madonna von Solothurn. —
Triumph des Reichthums. — Initiale V, OÖ. — Adam und
der Tod. — Dolchscheide. — Lager eines russischen Ba-
taillons. — Plan von dem Zeltlager eines dänischen Infanterie-
Bataillons.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
’
Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin,
Buchhandlung für Staatswiſſenſchaften und Gefchichte.
Bismark - Schönhanfen, Graf von, Reden.
Erfte Sammlung, enthaltend die Reben aus be
Jahren 1862— 1867 im preußiſchen Sandtagd
und in der erſten außerordentliden Seffion bes
Reihstages. Gr. 8. Belinpapier broſch. 2 Thlr.
— — weite Sammlung, enthaltend die Re⸗
ben aus den Jahren 1867 — 1869 im Landtag,
Reichstag und Zollparlament. Gr. 8. Belinpapier
broſch. 1%, Thlr.
Der Wortlaut dieſer Reden iſt den amtlichen ſtenographi⸗
ſchen Berichten entnommen; eine kurze, jeder Rede beigegebene
Einleitung weiſt auf die voraufgehenden Verhandlungen hin
und erleichtert ſo das Verſtändniß.
Die „National⸗Zeitung“ ſagt darüber in Nr. 538
vom 17. November 1869: „Dieſelbe gibt nicht nur ein über⸗
ſichtliches und ſchätzbares Material zur Beurtheilung der zeit«
gendjftihen Geſchichte und ber Politik und der Perjönlichkeit
des Grafen Bismarck, fie ift auch dem berufsmäßigen Politiker
ein willlommenes Handbuch, infofern fie ihm nad) der An-
ordnung der Reden je nad dem Gegenftande, welchen fie be-
handeln, es ungemein erleichtert, fich jeden "Angenblid über
das Auftreten defjelben in den betreffenden ragen zu orientie
ren und deffen Worte feftzuftellen. Aus den ftenographifchen
Protolollen des Landtags ift die nur mit großen Schwierige
feiten und oft jehr unbequemem Zeitaufwande möglich.“
Berantwortlidier Kedacteur; Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von F. 2, Srodhaus in Leipzig.
Blätter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich). —a Ar I = 24. Februar 1870.
Inhalt: Baflian’s Reifen in Oftafien. Bon Nubolf Gottſchall. (Beihluß.) — Populäre Begründung der Spectralanalyfe.
Bon vSeinrich Blrubaum. — Romane und Novellen. Bon Franz Sirſch. — Die Dichterin von Gandersheim. Bon Peinrich
Rüdert. — Dentſche Boltsbliher. Bon Karl Bartih. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen.
Saftian’s Reifen in Oſtaſien.
(Beſchluß aus Nr. 8.)
Die Bölker des öftlichen Aften. Studien und Reifen von Adolf
Baſtian. Dritter Band: Reifen in Siam im Jahre 1863.
Bierrter Band: Reiſe dur Kambodia nah Cochinchina.
Sünfter Band: Reifen im Indiſchen Ardipel, Singapore,
avia, Manila und Japan. Nebſt einer Karte Hinter⸗
indiens von Kiepert. Jena, Coſtenoble. 1867-69. Gr. 8,
10 Thlr.
Ueber die geographifche Bejchaffenheit des weftlichen
Kambobia, namentlich iiber das Flußſyſtem, erhalten wir
von Baftian genaue Auskunft. Der Centralpunft des
legten ift der große Binnenfee, der Thalefab, welcher elf
Flüffe in fih aufnimmt und felbjt wieder durch den
Thale Ian (Großen Fluß) in den Ocean mündet. Zu
diefen Flüſſen gehören der Siemrab, Kamphong Suay,
Battambong, Photifat u. a.; fie kommen zum Theil von
den Bergen Korats, zu denen ſich das flache Land Kam⸗
bodias allmählich erhebt und die in Terrafien übereinander
auffteigen. Die norbweftlichen Gebirge werden von den
Urvöltern, den Laos, Kha, Suay und Kama, bewohnt.
Auf dem Siemrabfluß fuhr Baftian in den großen See,
welchen direct nad) Süden zu durchkreuzen die Boote
niht wagen. Die nad Battambong beitimmten Boote
hielten fich weflwärts, die nach Udong beftimmten oftwärts.
Durch überſchwemmte Wiefen und Wälder, die bis zur
Blätterkrone im Wafler ftanden, ging anfangs die Yahrt,
bis der offene Sce erreicht wurde und zulegt auch die in
waldigen Spitzen ausgezadten Ufer verſchwanden und
am Horizont da8 Waller mit der Luft fi vermiſchte.
Schwimmende Pflanzeninfeln trieben in dem See umher,
welcher übrigens Ebbe und Flut mit dem Meere gemein
hat. Der Fiſchfang in biefem See ift außerordentlich
eich; eine große Duantität der getrodneten Fiſche wird
nach Udong verführt. Der See gilt gleichfam als Ueber-
zeft der großen Flut, aus welder der Wunderbaum der
lambodiſchen Sagen hervorwächſt.
Den Fluß Battambong fuhr unſer Reiſender hinauf
1870. 9.
bis zur gleichnamigen Stadt, deren äußerfte Häuſer auf
Pfählen in den Fluß hineingebaut find. Battambong ift
die Hauptſtadt einer nach ihr benannten Provinz des
fiamefifchen Kambodia:
Durd die Annectivung ber Provinzen Siemrab und Bat-
tambong hat fih Siam den beſten Theil Kambodias anzu»
eignen gewußt, eben diejenigen, die durch ihre begiimfiigte Lage
allein zur Entwidelung von Cultur befähigt waren und die-
jelbe, wie die Monumente zeigen, auch zu einer nicht unbedeu-
tenden Vollendung gebracht haben. Die einheimifchen Fürften
diefer Länder werden jet von den fiamefifhen Beamten des
Kha Luaug überwacht, der aud in den wichtigern Fällen das
Richteramt ansübt.
Ueber Steuern, Rechtspflege und Gefege diefer Pro-
binzen gibt Baftian Auskunft; fie zeigen eine bis ins
Detail ausgebildete Abminiftration und Vurisprudenz.
Daß auch im Volke der alte Eulturboden noch nicht ganz
brad) gelegt ift, beweift eine von Baftian angeführte That-
ſache. Man rühmt es den Gonbolieren ber adriatifchen
Marmorſtadt nad, daß fie die Stanzen des Taſſo zum
Takt der Auder fingen. Die Ruderer und Steuermänner
in Kambodia bejchäftigen fih aber nicht nur mit der
Poefie, fondern aud mit der Politik. Fifcher und Ru⸗
derer unterhalten ſich über die Metrik, und der Obmann
der legtern belehrte die Fischer, daß nur ein Gelehrter
und in den Regeln der Metrit Wohlerfahrner es unter-
nchmen dürfe, Verſe zu machen, da es eine Sünde fein
würde, gegen die Regeln zu verfioßen. Wer in Dentjch-
land eine ſolche Behauptung aufftellen wollte, der würde
von den Blauftrimpfen und den Bertretern ber Volks⸗
poefie als jämmerlicher Pedant verlacht werben.
In der Nähe von Battambong befinden fich die Ruinen
der alten Stadt Bafet; verftümmelte Figuren, mit Affen-
geftalten geſchmückte Portale, Infchriften, die theils denen
von Nafhon Bat gleichen, theild an die Charaktere ber
javaniſchen Infchrift von Suambaya erinnerten, erregten
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130 Bajtian’s Reifen im Oftafien.
das Untereffe des Reiſenden. Nod) pittoresfer find die
Ruinen des alten Bergfchloffes Banon, einft der Pfeiler
des kambodiſchen Königreichs genannt, das mit ihm zu«
ſammenbrechen werde.
Die im Diftrict von Battambong gruppirten Monumente,
weftlih vom See, erweiſen fich auf den erſten Blick als weit
jüngern Urjprungs, verglichen mit denen des obern Kambodia.
An einigen Structuren Baſets ſoll noch im vorigen Jahrhun-
dert weiter gebaut fein, umd wurde diefe Stadt überhaupt erft
in neuerer Zeit von ihren Bewohnern verlaffen. Auch find
die Anlagen der Strafen nod) überall deutlich zu erfennen,
indem fie zwijchen zwei Reihen von Heinen Erdhaufen laufen,
die die Stelle ber frühern Häufer andeuten. Der ganze Uns
freis der Stadt mit ihren Vorflädten war durd) einen Erdwall
mit zugehörigem Yelungsgraben umſchloſſen, dann folgt, wie
immer, die innere Mauer, und zulegt die Kampengkeoh oder
Kleinodienmauer des centralen Palaſtes oder der Citadelle.
Diefe mit umlaufendem Bflafterivege ift vieredig und öffnet
fih mit vier Thoren nad dem Innern des Palaſtes. Die
Steinthore (von denen das weftliche unter einer Colonnade be-
treten wird) haben zu beiden Seiten des Mitteleingangs drei
bis vier von der Straße hineinführende Deffnungen, aus großen
Steinplatten (8—I Fuß lang, 3 Fuß breit und 1%, Fuß hoch)
gebildet, die über aufrecht ftehende Steine gelegt und mit Rillen
auf dem Sodel gefügt find. Der Palaſt ift aus Lagen breiter
Steine aufgebaut, die in regelmäßige Duadrate geſchnitten find
(1%, Fuß hoch und 1%, Fuß lang) und fein polirt im engen
Zuſammenſchluß. Die größtentheils verfallenen Corridore find
von Trümmern verfchiedener Prajada umgeben, die bald aus
Stein, bald aus Ziegeln aufgeführt waren. Die aus großen
Steintafeln gebildeten Portale werden ſtets von Steinpfeilern
getragen. Die verwendeten Ziegel find ein fehr hartes Ma—⸗
terial, da fie, wie die Eingeborenen jagen, nur aus reiner
Erde verfertigt wurden, ohne irgendwelche Zufligung des jett
nie fehlenden Reisſtrohes, und dann ohne Kalk aufeinander
gelegt wurden, um durch gegenfeitiges Abreiben in genaue
Berbindung gebracht zu werden (wie bei den Inkabauten Perus).
Nad) ceyloniihen Sagen ließ Wahala Bandara Dewiyo für
feinen Zempelbau die Dämone den Felſen mit dem harten
Schilfgras Way Well nieverreiben, ohne den Gebrauch anderer
Inſtrumente zu geftatten. Den Nabbinen war der Gebraud)
eines Scilfrohrrandes zum Schneiden verboten, weil fi) Zaus-
berer defjelben bedienen. Unter den auf den Sculpturen der
Bortale behandelten Gegenftänden fanden fich, außer dem Ziehen
um die Schlange zwiſchen Götter und Dämonen, bejondere
Keulen« und Artträger wiederholt, fowie Flöte fpielende Fi-
guren in ber tanzenden Stellung Kriſhna's. Einige der Fi-
guren find aus Grauftein gearbeitet, und aud ein weicher
weißer Stein wird verwandt, aber der größte Theil der innern
Wand war aus einem röthlich gramitiihen Stein, von ber
Farbe Hartgebrannter Ziegel, aufgeführt. Weichere Ziegel
waren zumeilen ſtückweiſe zwifchengefügt, als Reparaturen ent«
ftandener Beſchädigungen. Zum Fundament der Bafis diente
ein poröfer Feldſtein. Bon einer aus verzierten Steinen auf:
gebauten und von Löwen bewachten Terraffe führt ein Pflafter-
weg zu einem See, ein Biered, von terrajfirten Treppen um⸗
geben, die feiner ganzen Länge nad) (etwa 200 Fuß an jeder
Seite) mit je 12 Stufen zum Waſſer niederführen. Die Säulen,
die die Portale tragen, fleigen in runden Kreiſen auf, die
andern der Thore dagegen find vieredig, mit Lotus-Capitälern.
Auch die Fenſter werden von runden Säulen gegittert. Einer
der mit Inſchriften der Alſong Ming bededten Steine handelt
von Konalo (Gonagan). Ein großer Stein zeigte eine tief
eingehauene Rinne, wie der azteliihe Opferflein, doc foll er
zu milderm Gebrauche gedient haben, als für den Abfluß
heißen Menihenblutes, da er als eine Prefie zum Ausquetichen
des Palmſaftes bejchrieben wurde. Manche der Thürpfoſten
und Säulen "waren einen Theil ihrer Länge in bie Erde ver-
graben, entweder dur almähliches Einſinken, oder durch
Aufhänfen des Schuttes in ihrer Umgebung. Der fon in
nädfter Nähe üppig wuchernde Wald drängt immer näher
auf die Ruinenſtätte diefer verſchwindenden Stadt ein, die er
bald mieder ganz in eine Wildniß verkehrt Haben wird,
Der SKloftertempel Bat ER ſteht zu diefer Stadt in
demſelben BVerhältniß, wie Nakhon Bat zu Nakhon Tom.
Das Schloß Banon gleicht einer Ruine aus unferer
mittelalterlichen Ritterzeit, romantiſch auf einem Feiſen⸗
berge gelegen, der von den Ufern bes Fluſſes auffteigt
Ken mit feinen Gipfeln über eine Waldesſchlucht nieder»
ängt.
Die umgebenden Berge find durch natürliche Grotten aus
gehöhlt, und das Bolf glaubt dort goldene Thronſeſſel und
toftbare Bildniſſe verborgen, die von ſechs Rieſenwächtern ges
hütet werden. Auch fol von der Spite des Berge, in dem
innerften Hofe der Citadelle Banons, ein unterirdifher Gang
bi8 unter das Waffer des Fluſſes führen, und würfe man
oben eine Kolosnuß in die Definung hinein, fo würde fie auf
dem Waſſer ſchwimmend wieder zum Vorſchein kommen. Der
Thurm fteht, wie das Volk fagt, auf dem Nabel Kambodias,
als fein Pfeiler und feine Stüge. Hat man auf fleilen Berg
pfaden, wo zuweilen eingehauene Stufen das Steigen erleid-
tern, die Höhe erreicht, fo blidt man von der Terraffe auf
zerflüftete Thäler dicht bewaldeter Hligel, jenfeit welcher im
Weften ber Kegel des Phanom Vanchab auffteigt. Die Khao
Kravan oder Kardamomenberge liegen weiterhin und die Chan
tabun’8 in der Ferne. Südöſtlich erhebt ſich der Khao Thip⸗
padeh. Nach Often blidt man liber ein Waldland, das in
grünem und rothem Blätterſchmuck wechſelnd fich Über eine
weite Fläche bis zum Horizont erftredt und hier und ba den
Wafferftreifen des Fluſſes zwifchen den Bäumen hervorſchim⸗
mern läßt. Der centrale Praſat, der mit vier Bortalen in
Kreuzform ausöffnet, ift von vier Meinern umgeben, uud pa-
rallel mit diefen liegen wieder die vier Eckthͤrme der ums
ziebenden Mauer. Die Figuren der Sculpturen an den Wän⸗
den tragen verfchiedene Moden des Kopfputes und auf "einem
Portal war Indra auf dem dreiköpfigen Elefanten Airawaddi
ausgemeißelt.
Auf der weitern Reife nad) der Hauptftadt Udong
fand Baftian die meiften Beamten der Dörfer und Städte
nicht anweſend, weil fie alle zur bevorftchenden Krönung
des Königs nad) Udong gereift waren. Auch die Ele
fanten waren an einzelnen Orten, wie in Photifat, nicht
zu haben, weil fie in Udong zur Beförderung der fla-
meſiſchen Geſandten dienten; der Weg ging über die weft-
lichen Seitenflüfje des Thaleſab, über die Städte Photifat,
Boribun, deſſen Klofter intereffante Gemälde enthält,
Leibiah, über Kolonien der mohammebanifchen Dſcham,
die Trümmer der frühern Hauptftadt Lowek mit den nod)
erfennbaren drei Ringmanern, nad) Udong, deffen Hänfer
halb in Büſchen oder Gärten verftedt Liegen und deſſen
Hauptftraße, von wo man über die Teiche ber Niede-
rungen auf die umkränzenden Hügel und ihre Pagoden
blidte,.von einem regen Marktverkehr belebt war. Baftian
bejuchte zuerft den Abt des Kloſters Salakhun, Phra
Sufhontthibodi, den gelehrteften Mönd von Kambodia;
doch fühlte ſich diefer in Verlegenheit, daß der Reiſende
ihm einen Beſuch abftattete, ohme vorher den König ge-
jehen zu Haben. Der Iettere glaubte anfangs, als er
hörte, Baſtian fomme von Bangkok über Land und mit
englifchen Puſſen verfehen, daß dieſer eine biplomatifche
Miffion Habe; denn da das franzdfifche Geſchwader der
Kriegsflotte in Saigon die Kanäle heraufgelommen war,
um bei ber bevorjtehenden Krönung in ber Nähe zu
jein, fo hoffte der König und auch der fiamefifche Ge-
jandte, daß England durch eine diplomatifche Miffion den
|||, ... I——i)——— —— — ——— — — — —— ————— — —
Baſtian's Reiſen in Oſtaſien.
Franzoſen ein Paroli bieten werde. Baſtian überzeugte
indeß beide Parteien alsbald von feiner Ungefährlichkeit.
Ueber feine Audienz bei dem Könige von Kambodia be=
richtet Baſtian Folgendes:
Nach dem Eintritte in das Thor der Holzpaliſſaden leitet
eine zwiſchen zwei Zeichen hinlaufende Chauſſee nad) den Ges
bäuden, dje flir die Krönungsfeierlichkeiten aufgerichtet wurden.
Der junge König empfing mid) in einem mit Teppichen ber
Iegten Gemache, nahm den an ihn gerichteten Brief entgegen
und verfprach jegliche Unterſtützung. Er faßte mich dann bei
der Hand, nm mit mir durch die geſchmlickten Hallen zu gehen,
in denen Mönche Weihgebete fprachen (fuet mon), nnd mir
die Zimmer des Schloffes zu zeigen. In einem derjelben
Rellte er mich dem flamefifchen Refidenten, dem Chao Myang
Pachim vor, der hergelommen fei, Kambodia zu bewachen.
Das Reihsichwert (Phrakan) wurde in Proceffion umbergetragen.
Im Hofe ftand ein hoher Trauerwagen, auf dem die Leiche
feines verfiorbenen Baters zur Berbrennung geführt worden
war, von der die Baulichkeiten noch daftanden. Der Palaft
wurde Überall renovirt, und der König bemerkte, daß Stübte
and Dörfer ſämmtlich zerftört gemejen feien, weshalb jett alles
erneuert werden müfle Er bet mir ein Logis in feinem Pa⸗
fafe an, gab aber auf mein Anfuchen, in dem Kloſter bleiben
zu bärfen, feine Einwilligung und fandte vier mit Gewehren
bewaffnete Soldaten, um dort während der Naht Wade zu
halten (San. 30.). Am nächften Tage ging ich zu dem Phra-
Aat oder Bibliothefar, da der König befohlen hatte, mir das
Krhiv zu Öffnen. In den Hallen waren Bergolder mit An-
fetigung von Zierathen beichäftigt.
Als ih dem König meine Aufwartung machte, nahm
er mih mit fi in die innern Gemäder, wo er mid) mit
Cigarren und friſchem Kokosnußwaſſer regalirte, während
ctineſiſche Gauller ihre Künſte zeigten nud dann theatra⸗
liſche Vorſtellungen gaben. Knaben fochten mit langen
Staugen, in Sätzen umeinander herumſpringend. Der eine
wird von dem andern getödtet, und der ſiegreiche Held
impft dann mit einer Schar verſchiedener Feinde, fie bald
uch das Schwert, bald durch feine Fäufte befiegend. Da⸗
wien machte ein Komiler groteste Stellungen, und zuletzt
jang der mit goldener Krone geſchmückte Triumphator in heller
Fiſtel fein eigenes Lob, während ihn Schwärmer und Hand»
tafeten umgifchten. Der König beflagte fih im Geſpräch (das
er mit mir fiameflich führte) über das unglückliche Schichſal
Kambodias, immerwährend von Kriegen zerriffen zu fein. Es
ſei beffändig nöthig, meu zu fchaffen und das zu Grunde Ge-
richtete friih aufzubauen. In Banglok dagegen ſtützten ſich
die Einrichtungen auf längeres Beftehen und gingen mit ihrem
Anfang in das Altertfum zurüd. Nach Louis wurde bie
eheorte des Königs von Camboze (1835) nur aus Fraueu ge
üdet.
Ueber den König jelbft heißt es weiterhin:
Der junge König ift etwas Tebeneluflig und war ſchon
jo (trotz des bei den Miffionaren genoffenen Unterrichts) bei
feines Vaters Lebzeiten, der ihn einſt in den Harem feiner
Großmutter eingebrochen und neben einer feiner Halbſchweſtern
fand. Die Folge der ihm zubictirten Strafe foll er nod in
Shiemen auf dem Rüden tragen. Nach dem Zode des frühern
Königs ſetzten die Siamefen den bei ihnen als Geißel lebenden
Sohn anf den Thron, und aus den Empörungen feiner Halb»
brüder, die fpäter gefangen und nad) Bangkok geführt wurden,
folgten verheerende Kriege. |
Die Stadt Udong ift durch eine äußere Palifjadenreihe
eingeſchloſſen, welche aber einen großen Theil verwüſteten
Landes enthält, innerhalb deſſen Udong dreimal feinen
Bla gewechjelt Hat, jodaß jetzt neben der wirklich erifti-
enden nemeften Stadt die Trümmerftätten zweier frühern
eingefchlofien find. Auf den vier Hügeln von Ret—⸗
ſchathaba finden fih die Monumente ber kombodifchen
Könige vereint, ihre Afche und ihre Gebeine. Es find
131
Pagoden und Tempel, die einen weitfchauenden Gipfel
tönen; die oberfte Pagode ift von Elefanten getragen.
Ueber die Einwohner von Kambodia berichtet Baftian:
Die Kambobdier haben oval gerundete Köpfe, breite, aber
zugleich in die Länge gezogene Geſichter, und find ungeſchlacht
in ihrer Haltung, indem der Oberkörper unverhältnigmäßig
lang, die diden und’ gefrlimmten Beine zu kurz find. Das
Weiße des Auges fcheint blendend hervor, und die Haare neigen
zum Sträufeln. Der Mund iſt breit und weit, die Stirn her⸗
überfiehend, die Nafe niedergedrlict und ftumpf. Doc finden
fi, wie in jeder Raſſe, alle Arten vou Phyfiognomien, auch
gerade oder Adlernaſen find nichts Seltenes, obwol die Nafen-
löcher faft durchgängig erweitert find. Im Vergleich mit dem
durch die Fluten nördlicher Einmanderungen mit neuen Schichten
überdedten Siam, blidt in Kambodia deutlicher die urſprüng⸗
lihe Bevölkerung hindurch, die aus ihrer frühern Verbreitung
über das benachbarte Feſtland und die Inſeln jetzt nur in ifos
lirten Trümmerreſten bervorfieht.
Ueber die Sprachen der Kha, der Zong, der Laos
gibt unfer Neifender durch zahlreiche Beifpiele erläuternde
Aufſchlüſſe, welche der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft
zugute fonımen. Ueber die Klofterbibliothet in Udong, bie
heiligen Schriften, Grammatiken, Dictionnaire, PBrofodien,
über die Erzählungs-, Geſchichts- und Fabelbücher er⸗
theilt Baſtian genaue Auskunft, indem er ein Aegifter
der Titel der Erzählungen einzelner Hauptiverfe zufammen-
ſtellt, auch Hier und dort durch die Inhaltsangabe uns
mit allerlei Legenden und Novellen befannt macht, welche
fi) wenig von ähnlichen „Geſchichtsklitterungen“ bes
Abendlandes unterfcheiden. Das Epos „Inao“, welches
durch eine moßlemitifhe Frau nah Ayuthia gebracht
und dort bon einem Prinzen ins Siamefifche über-
tragen wurde, ift das Lieblingsepos der Javaner; ein-
zelne Partien deſſelben fünnte Arioft gebichtet haben.
Intereffant für die history of fiction ift es, daß «8
auh in Siam einen Eulenjpiegel gibt, daß die Eulen»
fpiegelei alfo im Grunde der Weltliteratur angehört:
Der Eulenfpiegel der Siamefen ift Siſanonxai. Vom
Könige befohlen, fein Hausweſen (jof krob krua) berzubringen
(d. 5. feine Familie), fit er auf feinem Herde (krna fai) und
jucht ihn mit ſich zu fchleppen, bis ber dazulommende König
ihn ausladt. Auf den Befehl, eine Armee auszuheben (jof
thap), nimmt er zwei Steine in die Sand, fie zujammen«
ſchlagend (thap), und geht fo nad) dem Laoslande, die Rebellen
zu unterwerfen. Dieſe Vollsſchwänke fcheinen auch jetzt noch
Erweiterung und Zufügungen zu erhalten. Als der König
ein anderes mal Befehl gab, ein Feuerſchiff (Kamphan a
oder Dampfer) zu verfertigen, ftedte Sifanonrai die königlichen
Boote in Brand und wollte ſich vor Lachen ausichlitten, als
er fie alle Hell auffladern ſah. Der König fchidte feine Häfcher,
ihn zu ergreifen (cab tua). Als diefe ihn aber am Arme
angriffen, proteflitte Sifanonrai, da der König befohlen babe,
die Perfon (tua) zu ergreifen und nicht den Arın, ebenfo
wollte er die Beine, Kopf u. f. w. nicht als verfallen gelten
Iaffen, bis der König einen neuen Befehl gab, ihn als ein
Sanzes Herbeizubringen, indem er jebes einzelne Glied des
Körpers aufzählte. As Hofnarr des Könige Phra Rama
tbong baute Sifanonrai eine ſchiefe Pagode (Phra Ehairai)
und überftedte fie mit Glasfplittern und Dornen, ſodaß nie
mand hinanffteigen konnte. Der König befiehlt dann ein Haus
von Gold (thong) zu verfertigen, ohne indeß dabei zu fagen
metalliihe8 oder reines Gold (thong fam), und fo baut Si-
janonrat ein Haus von dem Baume Thong lang, dem ent-
täufchten Könige erflärend, daß es verfchiebene Arten von
Thong gäbe, als Thong lang, Thong beng, Thong khao
n. |. w. Oft erfcheint er in Räthfellämpfen, wie fie, denen
zwiſchen Calcha und Mopfus geführten ähnlich, auch im der
17 *
132
binterindiichen Literatur befannt find. Wie Aefop bei Bla-
nudes, affifiirt er dem weilen Könige in den Witfragen, die
in gleicher Weife zwiſchen Sennadyerib und Pharao ausgetaufcht
wurden.
Bon Udong reiſte Baſtian nach Saigon, der Haupt⸗
ſtadt des franzöſiſchen Kambodia. Er ſchiffte auf dem
Kambodiafluß zunüchſt nach Panempeng an dem breiten
Zuſammenfluß des Mekhong und Kambodiafluſſes, und
von dort den Mekhong abwärts und über die nach
Cochinchina abfließenden Zweige deſſelben nach Mytho,
wo ihn zuerſt wieder Spuren der europäiſchen Civili⸗
fation begrüßten; denn ein franzdfifches Kriegejchiff lag
dort vor Anker und eine Straße am Ufer war mit
franzöfifchen Butiken beſetzt. Bon Mytho fuhr der
Reiſende auf Kanälen bis in die Vorſtädte Saigons,
einer Stadt, die jet bereits im den Bereich der euro⸗
päifchen Gefchichte gehört. Von den Franzoſen erobert,
mußte fie von diefen, während die franzöfifche Flotte im
hinefifhen Kriege abweſend war, gegen ein Belagerungs⸗
heer von Siamefen vertheidigt werden, für welche Ber-
theidigung als Hauptpunft der auf natürlicher Unterlage
fünftlich aufgebaute Pagodenhügel Kaimas diente. In
Saigon befinden wir uns bereit8 im Bereich ber chinefi-
fhen Eultur, welche fih von der indifchen weſentlich
unterfcheibet. Beide gemeinfam beherrfchen dieſe Miſch⸗
länder, doch während im weftlichen Kambodia die erftere
das Uebergewicht Hat, ift im öftlichen die zweite vorherr⸗
fchend. Baftian fchildert uns die Sitten der Cochin⸗
hinefen und theilt eine große Zahl ihrer fagenhaften
Ueberlieferungen mit; auch fügt er einen Cyklus über die
philofophifchen Syfteme der Hindu, namentlich über das
des Rapila ein.
Seit den Erfcheinen des Werks von Baftian ift um-
fere Kunde von Kambodia weſentlich vorgefchritten durch
die Entdedung, welche die franzöfifche Erpebition auf dem
Mekhong gemaht hat. Uuter dem Oberbefehl bes
Fregattenkapitäns be Lagree, fuhr diefe Expedition ben
Mekhong aufwärts bis Cratieh mit einem Sanonen-
dampfer, und von dort nad) Baſſak, jest der Hauptſtadt
einer von Siam abhängigen Provinz, aber einer alten
Capitale indifcher Eultur, deren großartige Ruinen den
Reiſenden in Erftaunen fegen. Bon hier wird der Strom
reich an Stromfchnellen und gewährt oft den Anblid
eines gewaltigen Bergſtroms. Auch die Nebenflüffe, der
Attopeufluß und Semun werben erforfcht, die Städte
Ubon, Khemrat, Bang- Mut befuht. Die Erpedition kam
hierauf bis nach dem Städtchen Pallaye, das bereits zum
Gebiete von Luang⸗Phrabang gehört, eine Gegend, mo
ber Stromlauf durch den Neifenden Mouhot, der 1861
in Zuang-Phrabang ftarb, befannt geworden iſt. Die
Erpedition hatte den Mekhong alfo von Cratieh bis
Paklaye zuerft befahren und erforſcht, ein Stromlauf von
142 deutfchen Meilen, was etwa der Länge bes ganzen
Rheinſtroms entſpricht. Unfere Leer, die ſich für
diefe intereffante Erpedition intereffiren, verweiſen wir
auf die fie fchildernden Auffüke in der „Revue des
deux mondes” (Jahrgang 1869) und auf den Auf-
ſatz in „Petermann’s Mittheilungen, (Jahrgang 1868,
©. 10).
Die Franzofen richten fi allmählich in Kambodia
Baftian’s Reifen In Oftafien.
häuslich ein. Außer den weftlichen Provinzen, die ihnen ber
König von Tonkin im Trieben von Saigon (5. Juni 1862)
abtreten mußte, Haben fie, auf Grund wiederholter Un⸗
ruhen in der neuen Colonie, die von den weftlich bes
untern Melhong gelegenen Provinzen genährt fein foll-
ten, auch diefe Provinzen annectirt und am 25. Juni
1867 von ihnen Beflg genommen. Auch der in Übong
refidirende König von Kambodia Hat ſich bereit 1863
dem franzöfifchen Protectorat unterworfen und den
Branzofen einen Theil von Panompeng abgetreten. Das
ınperialiftifche Frankreich annectirt im Oſten ebenfo ges
hit wie in Europa. '
Der fünfte Band von Baftian’s Werk enthält bie
„Reifen im Indiſchen Archipel“, und führt uns von
Singapore nad) Batavia, Manilla und Japan. Der
Charakter der Reifebefchreibung verſchwindet faft gänzlich
in dieſem Bande, „Singapore wird von unferm Rei⸗
fenden nur flüchtig flizzirt; eine Stadt, die für einen
Zouriften gewöhnlichen Schlags eine .erotifche Blüte von
ganz befonderm Duft wäre, ift für Baftian bereits zu
„belannt”, dem Publikum zu oft vorgeführt, als daß er
fi) auf eine ausführliche Beichreibung der Stadt ein«
lafjen könnte. Ueberhaupt ift er gegen das Nationalitäten»
gewimmel, welches andere Reifende hier in Entzliden ver-
fett, etwas blafirt:
Anf ben Neifenden, ber bie Völfer in iärer Heimat ge-
ſehen bat, kann das verzerrte Eonterfei derjelben in Singapore
nur einen widerwärtigen Eindrud maden, oder doch jedenfalls
einen unbefriedigenden, wie wenn er die unter dem blauen
Himmel des Sübene wogende Palme in der Berfrlippelung
einer nordiſchen Zreibhauspflanze wiederfindet.e In Siugapore
fieht man Chinefen, Hindus, Birmanen, Siamefen, Araber,
Perſer, Iavaner und andere Infulaner, aber einer trägt fein
echte® und charakteriftifches Gepräge. Der Sohn aus dem Reiche
der Mitte bleibt durch fein Clanverhältniß ftets mit biefem
verfnüpft. Und obmwol er jett wicht mehr zur Rückkehr ver-
bunden ift, obwol er, wie in Batavia und Manilla, auch in
Singapore anfängt anfäffig zu werden, fo ſchlägt er doch anf
fremdem Boden feine fefte Wurzel, er verheiratget ſich vielleicht
mit den Töchtern des Landes, aber er bildet feine Kamilie, und
ein Ehinefe ohne Familie ift ein Filh ohne Waſſer. Dann bie
armen Birmanen und Siamejen, die durch die Straßen Sin⸗
gapores dahinschleichen, ohne ihre himmelufftzebenden Pagoden,
ohne ihre Bonzen, die fie füttern dürfen! Die bengalifchen
Lascars, bie Kling aus dem Delau, man fieht fie vor Keinen
Zeltchen beten, mit bunten Fähnlein gejchmildt, aber man denkt
an ihre prachtgeſchmückten Zempel, bie daheim auf Indiens
Erbe fiehen. Und der Araber, der feinen Gebetteppich breitet,
der heimlich und verftohlen den Kiblah Meflas fucht! Dort von
deinen Mofcheen ſchlägt laut und kühn ans Ohr der Auf, die
Stunden des Tags: Allah Akbar, durchtönt es die Stille ber
Nacht: Allah Albar; Hier, im Lande der Ungläubigen, fuchft
du di furchtſam ihren Blicken zu entziehen, ba man deiner
fpotten mödte und bier nicht mit Steinen gervorfen werden
darf wie im heilig vömifch-meflaifchen Reh. Im Singapore
findet man nur fümmerlihe Schattenbilder der glänzenden Ge⸗
mälde, die im Oſten an den Augen vorübergezogen find, und
man wendet bald den Blid ab, um die Illuſion der Erinnerung
nicht zu verderben,
Auch von Batavia und Java erfahren wir, fomeit
e8 eigentliche Keifefhilderungen gilt, wenig Neues. Et⸗
was eingehender wird uns Manille befhrieben. Nach
einer ftürmifchen Fahrt dur ben Kanal von Formoſa
gelangen wir mit dem Neifenden nad) Japan, wo wir
.
ons Nangaſali einige recht pilanie Genre», Bolls- und
Tempelbilder erhalten. Die Thee- und Babehäufer jpie-
[m in Japan eine große Role. In den Badehäufern
findet ber Gefchlechtsunterfchieb noch geringere Beachtung
als in den fchweizerifchen Curorten des Mittelalters,
Ans Yokuhama berichtet uns Baftian die folgende
Ecene:
Dur bie Straßen der Etadt fchlendernd, traten wir in
eins der Babehänfer, bei denen derjelbe Eingang, in dem ber
Einnehmer fist, zu dem der Männer und dem ber frauen
führt, nur durch eine halb offene Wand voneinander gefchteden.
Um in jene® zu gelangen, mußte man erſt dem dieſer vorüber-
geben, und da die Kleidergeftelle der rauen unmittelbar neben
der Thür fanden, fo hatten diefelben beim Herausfommen aus
dem Bade Fein anderes Gewand als das Eva's, ehe fie ihr
eigenes wieder herabnehmen fonnten. Wir fanden das Bad
voll von Mädchen (zum Theil vielleicht die Inſaſſen eines nahe
gelegenen Theehaufee), nnd waren dieſe um das gemeinjame
Beihbeden gelagerten Najaden theils damit beichäftigt, fich
ſelbſt zu waſchen, theils in den Händen eines Badeknechts,
der ihnen mit Bürſten und Tüchern den Rücken abrieb. Da
wir eingetreten waren, hatten wir auch das Badegeld zu ent⸗
rihten, eine unbedeutende Kupfermünze. Statt aber den nad)
igrem Departement hindurchgehenden Männern zu folgen, 3d-
gerte unjer Führer, der als Künfller zu Modellludien ver-
pfüchtet zu jein bebanptete, fo lange an dem Kleiderſchrank,
daß er uns faſt gezwungen hätte, die Rolle Kriſhna's auf dem
Baume zu fpielen, als er den Milchmädchen die Kleider geftohlen.
Ganz ohne Berlegenheit ging es für die jungen Sapanejerinnen
wicht ab, doch trugen fie durchfchnittlich eine größere Nonchalance
zu Schau, als ihre Gegenfüßlerinnen bei gleicher ®elegenheit
gezeigt haben würden,
Nicht minder ungenirt geht es bei den theatraliſchen
Schauſtellungen zu:
Im Theater (Shibaya), vor deſſen Thür Wimpeln und
bunte Fahnenſtreifen wehten, löſten wir uns einen Sitz in der
obern Logenreihe, und die ſchon darin befindlichen Leute, dar⸗
zuter einige Bonzen, wurden ausgetrieben, um uns Platz zu
machen. Auf dem Borhange flanden die Straßennamen Mia-
06 geichrieben, wo Scaufpieler gemiethet werden fonnten.
Gedruckte Tcheaterzettel ließen fich von den Logenſchließern er«
halten. Das Parterre war ziemlich gefüllt, und zwiſchen ben
Zuſchauern in ihren gefperrien Eigen gingen auf übergelegten
dretern Knaben mit Eigarren und Knchenwerk umber. Außer-
halb der Sige war ein Gang mit Matten überlegt, und ein
im violette Seide gefleidetes Pärchen, ein Männlein und ein
Sränlein, erfchien auf ihm, nm der Bühne entgegenzumandeln,
anf der beim Auseinanderziehen des Borhanges fidy der Ein-
geng in ein Haus Hinter einem Hofthore zeigte. Die Dame
trat ein, während ihr einen Schirm tragender Begleiter, dem
zwei Schwerter am Gürtel hingen, draußen ftehen blieb. Eine
Dienerin (wie alle weiblichen Rollen dur einen Mann ge-
fpielt), mit einem Beſen in der Hand, empfing bie Dame und
Reflte ihr auf der Balnfirade einen Sit zuredit. Im ciner
Bertiefung der Wand hing eine Lampe Über einem mit weißem
Bapier beſteckten Topfe (dem Plate des Schnutzgottes), und da⸗
neben feitete eine Thür zu einem Cabinet, während eine andere
Thür im SHintergrunde den Ausgang aus der Stube bildete.
Reh einiger Zeit ließ die Dame den dranfen ftehenden Herrn
durch das Thor ein und fette fih mit ihm, nachdem bie
Dienerin entfernt war, auf einen Teppich nieder, der Unter-
haltımg zu pflegen, die von männlicher Seite in ſchreiender
Kopffimme geführt wurde, da fie fih in einem fremden Dia-
lette bewegen follte. Zugleich fpielte eine gedämpfte Mufik.
In einem Fäfigartigen Kaften des Profceniums jaß der Souffleur,
der die Stichworte und wichtigften Sentenzen vorjagte.
Baltian’s Reifen in Oftafien.
133
Als nach Länger geflihrter Unterhaltung das Nachtdunkel
einbrach, Holte die Dame aus einem Nebenzimmer Matratze
uud Schlafkiſſen, ſchloß die Thüren forgfältig zu und ſetzte fich,
nad einigen fofetten Einwendungen, mit ihrem Beſucher auf
das Bett nieder. Die Unterhaltung wurde jest fehr warm
und lebendig, ber Liebhaber riß feine zwei Schwerter aus der
Scheide und ſchwur, fie in der Luft fhwingend, daß er feine
Unterbredyung fürdte und etwaige Störenfriede Übel empfan-
gen werde. Ein Augenblid, wo er ben Kopf wegwandte,
wurde von der Dame benußt, fortzufchlüipfen und die berbei-
gewinkte Dienerin an ihren Play zu jchieben. Der feurige
Don Juan faßte die Hand derfelben, im feiner eifrigen Liebes.
erflärung fortfahrend, und ſchließlich kamen Scenen vor, bie
fi) bei uns weder lateiniſch nod in griechifchen Buchftaben be»
fchreiben ließen, denen aber die Japaner mit ihren rauen und
Töchtern in leidenſchaftsloſer Gemüthlichkeit zuſchauten. Nach
Beendigung biefes einactigen Stücdes (Omigenſch genannt) trat
der Xheaterdirector vor und kniete nad tiefer Berbengung
nieder, um in feiner Anrede dem Publitum flir die erwiefene
Gunft zu danken und den Titel der morgigen Aufführung
anzuzeigen.
In Europa pflegen die Tcheaterbirectoren übrigens
weniger böflich gegen das Publilum zu fein. Bon ben
Sittlichkeitsriicfichten, welche in Europa und vielen afia-
tifhen Ländern herrjchen, hat überhaupt das emancipirte
Sapan feinen Begriff. Die Courtifanen find bort ges
achtet. Väter vermicthen ihre Töchter auf Zeit in die
öffentlichen Häufer und nehmen fie dann ohne weiteres
wieder ins Haus zurüd. Die Regierung beftraft oft ihre
Beamten damit, daß fie die Frauen derjelben in eins der
öffentlihen Häufer ſchickk. Der Gatte, der feine Frau
beftrafen will, verjährt ebenjo. Fraglich bleibt es, ob
die Gattinnen, die vielleicht als Töchter dort ſchon einen
Curſus durchgemacht haben, diefe Strafe fo hart finden.
Wenn die Zeit ber offictellen Beftrafung oder der ehelichen
Züchtigung vorüber ift,.tchren die Grauen zu ihren Gatten
zurüd, als ob weiter nichts vorgefallen wäre.
Baftian hat bei diefen Reifen im Indiſchen Ardhipel
und nad Japan eigentlich nur die Hafenftädte berührt;
Sumatra, Borneo, Celebes befuchte er nit. Die Be
ihreibung der Inſeln darf alfo auf eine erfchöpfende
Darftellung der Landfchaften und Bollsfitten Teinen An⸗
ſpruch machen. Der Werth dieſes fünften Bandes iſt auf
einer andern Seite zu fuchen, er beruht auf den mit
außerordentlihem Fleiß aus Bibliothefen der Städte und
mündlichen Zraditionen zufammengehäuften Notizen über
bie Urgefchichte jener Infeln, über die religiöfen Vor—⸗
ftellungen und deren Berwandtichaft, und gerade in Bezug
hierauf enthält der Band fehr wichtige und neue Beiträge
zur vergleichenden Völkerpſychologie und zur Geſchichte
de8 Buddhismus und feiner Entwidelung fowie der
zahlreichen Nuancen, welche fein Mythos, fein Dogma
und Cultus bei den verfchiedenen Bölkerfchaften fanden.
Freilich bleibt aud, Hier wieder zu bebauern, daß die
Form des Notizbuche in dem Werke überwiegt, und daß
wir nur ein Conglomerat von Thatfachen erhalten, die
für den Forſcher auf jenen Gebieten vom größten Werthe
find, für den Laien aber in diefer ungefchichteten Faſſung
zum großen heil ungenießbar bleiben.
Rudolf Gottſchall.
G T.
— GE TE TEL
at A = -
5
134 | Bopuläre Begründung ber Spectralanalnfg.
Populäre Begründung der Spectralanalyfe.
Die Spectralanalyfe in ihrer Anwendung auf die Stoffe ber
Erde und die Natur ber Himmelskörper. Gemeinfaßlich dar-
geftellt von H. Schellen. Mit 158 Figuren in Holzſchnitt,
zwei farbigen Spectraltafeln und vier Porträts. Braunfchweig,
Weſtermann. 1870. Gr. 8. 3 Thlr. 20 Ngr.
Der Verfaſſer Hat offenbar Glück in der zeitgemäßen
Mahl feines Stoffe. Die Spectralanalyfe verfpricht die
größte naturwiffenfchaftlihe That unſers Jahrhunderts
zu werden. Bon allen Seiten reden bie Fachmänner
mit hoher Begeifterung davon, und das gebildete große
Publikum ift begierig, einfichtsvol mit bewundern zu
können; es fehnt fich nad) einer Schrift, welche den Ge⸗
genftand für ihn pafjend und doc gründlih zur Dar⸗
ftelung gebradht hat. Und da das Werk diefen Wunſch
vollfommen zu befriedigen ftrebt, fo wird es ihm an einer
allgemein ‚beifälligen Aufnahme ficher nicht fehlen. Wir
baben da8 Buch mit großem Intereſſe gelefen und find
jo volllommen davon befriedigt "worden, daß mir ihm
mit ftarfem Nachdruck das Wort reden müſſen. Es ift
und lange feine literarifche Arbeit zu Händen gekommen,
welche wie die vorliegende mit richtigem Takte gerade
das zur rechten Zeit gebracht hätte, was man dringend
zu haben wünfchte. Der fchon Längft rühmlichft befaunte
Berfaffer hat früher einen ganz ähnlichen glüclichen Wurf
getan. Als vor zwanzig Jahren der eleftriiche Telegraph
ſich in feiner praktischen Thätigkeit fo weit ausgebildet
und befeftigt hatte, daß man ihm nicht mehr blos an⸗
ftaunie, fondern auch feine bedeutungsvolle Zukunft fir
gefichert hielt, übernahm es unfer Berfafler, ein Werk zur
ebenfo gründlichen als Leichtfaßlichen Belehrung über diefen
Gegenftand berauszugeben. Und fo wie wir damals
rübmen mußten, daß er zur richtigen Zeit das Nichtige
erkannt und befriedigend gegeben babe, fo fünnen wir e8
noch im höhern Grade bei der vorliegenden Arbeit über
Spectralanalyfe thun. Ueberhaupt hat er fi in noch
vielen andern Fällen als tüchtigen‘Naturforfcher gezeigt,
der feine Zeit begreift und mit aller Kraft dahin ftrebt,
daß dies Verftändniß zu einem ganz allgemeinen werde.
Als die Beobachtungen der Sonnenfinfternig vom
18. Auguft 1868 zum Abſchluß gelommen und die Be:
richte in den gelehrten Zeitfchriften veröffentlicht mwor-
den waren, erfannte man fogleic), daß dabei ganz vor-
zugsweiſe die Spectralanalyfe ihre hohen Triumphe ge—
feiert habe. Es wurde aber überall fühlbar, dag man
das eigentliche Wefen diefer neuen Unterfuhungsmethode
noch gar zu wenig kenne und man war begierig, barüber
einen allgemein faßlichen befriedigenden Auffchluß zu be-
fommen. Da entfchloß fid) der Verfaſſer zu einer Reihe
von Vorträgen über dieſen Gegenftand, welche im Winter
1869 zu Köln in dem „Verein für wiſſenſchaftliche Vor⸗
leſungen“ gehalten und mit ungetheiltem Beifall aufgenom«
men wurden. Diefe Vorträge bildeten die Grundlage zu dem
vorliegenden Werte. Die weitere Verarbeitung hatte den
Zwei, das Weſen der Spectralanalyfe und die verſchie⸗
denen Erfcheinungen derfelben leichtfaßlich darzuftellen,
um dadurch auch ohne Vorausſetzung andermweitiger phy⸗
ſikaliſcher Kenntniſſe einen jeden Gebildeten in den Stand
zu ſetzen, fi) mit ber neueſten und glänzendſten Ent-
dedung unfers Jahrhunderts befannt zu machen, um ein
anfchauliches Bild zu geben für die große Bedeutung,
welche diefer Gegenftand in der Phyſik, Chemie, Tech⸗
nologie, Phyſiologie und Aftronomie ſchon jettt errungen
babe und für die Zukunft noch verſpreche. Der Lefer
lernt diefe neue Sprache bes Lichts kennen, welche uns
fihere Kunde gibt über die Natur der irbifchen und
himmlischen Stoffe. Die dabei vorgeführten Experimente
find alle darauf berechnet, daß fie von einem großen Zu-
hörerkreife gleichzeitig deutlich wahrgenommen und zum
Haren Erkennen gebracht werben können. Das Bud)
eignet ſich alſo ebenfo vortrefflich zum Selbftudium wie
zu ähnlichen öffentlichen Vorleſungen.
Im Einklang mit dem gediegenen innern Werthe ift
dad Werft aber aud) äufßerlih ganz vortrefflid ausge»
ftattet. Die Holzjchnitte find alle ausgezeichnet ar und
correct, einige davon fogar ordentliche Meifterwerke ber
ſchweren Kunſt. Vorzugsweiſe find aber die farbigen
Spectraltafeln der Art, daß das Auge mit Bewunderung
darauf ruht und die Ueberzeugung gewinnt, es fehe bier
die vielgerühmte Farbenpracht im Bilde gerade wie in
der Wirklichkeit. Und zur Befriedigung des Tebhaften
Intereſſes für die großen Männer, welche die Spectral»
analyfe ins Dafein gerufen und zu ihrer Anwendung auf
die Erforfhung der Natur der Himmelslörper weiter
ausgebildet haben, find dem Werke auch die Porträts
von Robert Wilhelm Bunfen, Guftav Robert Kirchhoff,
William Huggins und von P. Antonio Sechi mit pho-
tographifcher Hehnlichkeitstreue beigegeben.
Wir Ienfen die Aufmerkſamkeit unferer Lefer num
etwas fpecieller auf den Inhalt des Werks. Daſſelbe zer⸗
fällt in drei Hauptabtheilungen. In der erften werden die
fünftlichen Quellen der höchſten Wärme- und Lichtgrade
befprochen; in der zweiten ift von den einfachen und zu⸗
fanmengefegten Spectren in ihrer Anwendung auf die
Stoffe der Erde die Rede; die dritte befpricht dann die
Spectralanalyfe in ihrer Anwendung auf die Himmels-
förper. Jede Abtheilung enthält in kurzer Harer Darftellung
alles, was zum Verſtändniß der Hauptfache unumgänglich
nothwendig ift; und obgleich dabei vorzugsweife auf die
allerneneften Forſchungen das nieifte Gewicht gelegt wird,
jo werden doch auch die ältern Leiftungen und Anfichten
gehörig gewürdigt und unparteiifch ins Licht geftellt. Das
Ganze macht daher den Eindrud eines eingehenden um⸗
fafienden Berichts über alles, was zur Entdedung ber
Spectralanalyje geführt hat, fowie über die jegige wiffen-
chaftlihe und praftifche Ausbildung berfelben. Dabei
bewahrt das Buch durchweg den Charakter der populären
Belehrung für jeden gebildeten Denker, und zwar in ber
Weife, dag auch jelbft die Männer von Fach daſſelbe
liebgewinnen und mit Befriedigung lefen werden. Es
paßt alfo ganz allgemein für alle, welche den Gegenftand
erft genau kennen lernen oder fich gründlich darin weiter
ausbilden wollen, und fteht auch zugleich jelbft fiir bie
Tachgelehrten auf der Höhe der Wiffenfchaft. Unfer
Urtheil iſt offenbar cin fchr günftiges. Doc, hoffen wir
Populäre Begründung der Spectralanalpfe, 135
zaſſelbe durch einige Mittheilungen aus dem Werke felbft
volfommen rechtfertigen zu können.
Im erften Theil ift unter gehöriger Vorbereitung von den
ei der irdiſchen Spectralanalyfe vielfach gebrauchten Bunfen’-
en Banner, von dem Magnefiumlighte, Drummond’fchen
goltfihte und dent elektriſchen Kohlenlichte, fo ausführlich
die Rede, daß jeder, felbft wenn er von der Sache nod)
wenig oder gar nichts willen follte, davon eine Hare
Borftellung erhält. Bei diefer Gelegenheit wird auch das
Blühen der Safe in den Geißler'ſchen Röhren forgfältig
in Betracht gezogen, welche eigentlich nur eine weitere
Ausbildung des Leuchtens der Elektricität im luftverdünn⸗
ten Raume ift und unter dem Namen bes „eleftrifchen
Eis” fchon längſt befannt war. Der Verfaſſer fagt:
Das Studium aller hierhergehörigen Erſcheinungen wurde
hedentend erleichtert und ausgebreitet, al8 Dr. Geißler in Bonn
durch eine nene Methode der Luftverdlinnung es dahin brachte,
inftieere Slasröhren berzuftellen, in welchen die zu unterfuchen«
ven Safe in einem Zuftande ftarler Verdünnung eingeſchloſſen
waren, und die vermittels zweier an den Enden der Röhren
eingeſchmolzenen Platindrähte mit den Polen eines Funken⸗
imdnctors in Verbindung gebradjt werben konnten. Ge nad)
der Form und Beſchaffenheit des Glaſes, aus welchem die ein-
zeinen Theile einer folhen Röhre zuſammengeſetzt find, ins⸗
befondere aber nad) der Natur und dem Grade der Verdünnung
des darin eingefchloffenen Gaſes, find die Erfdeinungen der-
jelben, wenn die Platindrähte mit dem Inductor in Verbindung
geieht werden und die hindurchſtrömende Elektrieität das Gas
hend und leuchtend macht, fehr verfchieden. Diejenigen
ie, welche mit verblinnter atmofphärifcher Luft oder mit
Stidftoff angefüllt find, erglühen in einem ſchönen violett-röth-
ſichen Lichte; Kohlenfäure und die Kohlenwafferftoffe geben gritu-
fihe und weißliche Farbentöne ...
Der Verfaſſer unterläßt dann auch nicht, darauf auf-
merlſam zu machen, daß Profeſſor Plücker in Bonn die
Geißler'ſchen Röhren eben jetzt nod) wefentlich umgeformt
habe, ſodaß dadurch das Leuchten der Gaſe viel intenſiver
gende und jogar zu dem Zweck der Spectralanalyfe
rauhbar werde. Gerade Hierin liegt nun aber die
Hauptgrundlage zu der Anwendung der Spectralanalyfe
für aftronomifche Zwede. Daß itbrigend in diejen all»
gemein einleitenden Abfchnitte aud) die galvanifche Batterie,
befonders die Bunſen'ſche, das Reguliren des herrlichen
eleltriſchen Kohlenlichts u. |. w. feine erflärende Begrün-
ung gefunden habe, bedarf wol kaum der Erwähnung.
Der zweite Theil führt nad) ciner allgemeinen Betrad)»
tung des Lichts und feiner Vergleihung mit dem Schall
fogleih zum Sonnenfpectrum, zu den Spectren der feſten,
füffigen und Iuftförmigen glühenden Stoffe, beſchreibt die
verfhiedenen Spectralapparate und kommt dann auf das
Thema der Fraunhoferichen dunfeln Linien im Sonnen»
ſpectrum. Dazu hat nun der geniale Kirchhoff eine Er—
Märung gegeben, welche mit einem Schlage Harcs Licht
u das bis dahin fo unheimliche wiſſenſchaftliche Dunlel
gebracht hat. Darin liegt aber aud) der eigentliche Kern⸗
yunft file Die ganze Bedeutung ber Spectralanalyje. Der
Verjaſſer Iegt daher mit Recht das höchſte Gewicht auf
de richtige Vorführung der Kirchhoff'ichen Theorie, und
wir handeln gewiß ganz im Sinne unferer Leer, wenn
wir hierbei den Berfaffer ſelbſt das Wort geben. Es
waren vor Kirchhoff chen von Euler und Foucault Wahre
nehmungen über das Emiſſions- und Abjorptiondver«
mögen bes Lichts gemacht und and mit Erklärungsver⸗
juchen verbunden:
Aber alle diefe Thatſachen flanden vereinzelt da, und es
fehlte der höhere Geſichtspunkt, das phyſikaliſche Geſetz, dem
die einzelnen Erfheinungen hätten untergeordnet werden fönnen.
©. Kirchhoff blieb es vorbehalten, diefes Geſetz aufzufinden und
jeine Richtigkeit fowol durch matheinatifche Beweidſührung als
auch durch das Erperimentiren fiir mehrere einzelne Fälle glän-
zend zu beflätigen. Im Jahre 1860 veröffentlichte er feine
Arbeit Über das Verhältniß zwilchen dem Emilfions- und Ab-
forptionsvermögen der Körper fiir Wärme und Licht, aus weldher
der Sat: „Das Berhältuig zmwifchen dem Emilfionsvermögen
und dem Abjorptionsvermögen einer und derfelben Strahlen
gattung ift für alle Körper bei derfelben Temperatur daffelbe‘‘,
als eins der wichtigften phyſikaliſchen Geſetze für alle Zeiten
hervorleudhten und den Namen feines Entdeders wegen jeiner
großen Tragweite nnd vielſeitigen Aumendbarfeit unfterblid)
machen wird.
Es werden nun einige Leichtverftändliche Verſuche durch⸗
geführt, womit das Gefet erläutert und bewahrheitet wird.
So wird 3. B. im Spectroflop mit Hülfe von reinen
Gaslicht das bekannte continnirlihe Farbenbild erzeugt
und dann eine Glasröhre dazwiichengefchoben, welche in
verdünnten Wafjerftoffgafe ein Stückchen Natrium ent»
hält; ſowie nun die Glasröhre etwas erwärmt mit Na«
trinndämpfen angefüllt ift, fo zeigen fich im Gelb des
Spectrums augenblidlich die zwei charakteriftifchen dunkeln
Linien, und entzlindet man Natrium allein, fo zeigt fich
umgekehrt ein Spectrum, in welchen einfach nur die gelbe
Doppellinie fihtbar ift, während alle andern farben
ausgelöfcht erjcheinen. Auf ähnliche Weile haben Kirch-
off und Bunfen durd Lithium, Kalium, Strontium«,
Calcium» und Baryumdanıpf aus den continuirlichen
Spectrum genau diefelben hellen Farben ausgelöfcht, welche
diefe Dämpfe felbft in der Glühhite ausftrahlten:
Das wichtige Refultat diefer Unterfuchungen ift alfo, daß
die harakteriftifhen Linien des Natriums, Lithiums u. f. w.
in dunlele Linien umgewandelt werden, wenn das intenfive
weiße Licht glühender feiter oder flüffiger Körper durch die
Dämpfe diejer Wietalle hiudurchgeht. Das Spectrum des glü-
henden Natriumdampfes ift eine helle orangegelbe Doppelfinie,
der Übrige Theil des Sehfeldes im Spectroflop erfcheint dunkel;
da8 Spectrum des weißglühenden feften oder flüſſigen Stoffe
dagegen erjcheint, nachdem es durch Natriumdampf von niedri»
gerer Temperatur gegangen ift, im ganzen Sehfelde des Spee⸗
troflope8 farbig, mit Ansuahme derjenigen Stelle, wo ſich die
dunkle Natriumlinie befindet. Weil baher bei diefen Berfuchen
die heilen Linien der Gaeſpeetra fih in dunkle Linien verwan⸗
dein, dagegen die dunfeln Theile der Gasfpectra von dem con⸗
tinuirlichen Spectrum des weißen Lichts farbig beleuchtet wer⸗
den, mithin das ganze Gasſpectrum in Beziehung auf die Be⸗
leuchtung umgekehrt ericheint, jo nennt man das ganze Phä-
nomen nad Kirchhoff „die Umkehrung des Spectrums“.
Damit erhält man den Schlüſſel filr bie ganze
Spectralanalyfe. Denn find durch diefe Unterfuchungen
die harakteriftiihen Spectra der einzelnen Stoffe ein
für allemal beftimnit, fo fann man in jedem vorkommen⸗
den Falle aus der Geftalt des Spectrums auch umgekehrt
jofort wieder zurüdichließen auf die betreffende Materie.
Die Spectralanalyje zerlegt die Körper in ihre Beftand-
theile, fie analyfirt Diefelben ohne Kolben, Ketorte, Re⸗
agentien, überhaupt ohne chemifche Hülfsmittel, es reicht
ſchon aus, fie in den Zuftand des Leuchtens oder Ber-
dampfens bringen zu können. Sie findet ihre Anwen⸗
bung wo man vorläufige raſche aber fichere Unterſuchungen
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136 Populäre Begründung der Spectralanalvfe.
zu machen bat, daher ift fie für den Phyſiker, Chemiker
und Aftronomen ein ganz vortrefflicher Wächter und Vor⸗
nnterfucher, um jeden in Sicht Tommenden Stoff fofort
zu fignalifiren. Und mit weldher Schärfe, mit welder
feinen Empfindlichkeit hält fie Wade! Wenn z. B. ber
Chemiker ſich jchon etwas darauf zugute thut, ein Milli⸗
gramm Kochſalz in einer Sole beftimmen zu können, fo
ift man mit Hülfe der Spectralanalyfe fogar noch im
Stande, den Salzgehalt in einer Sole klar zu erkennen,
welche unter gleichen Umftänden nur den dreimillionften
Theil eines Milligramms Salz enthält.
Die Anwendung der Spectralanalyje zur Erforſchung
der materiellen Natur der Himmelskörper bildet den dritten
Theil bes Werks. Hierauf legt der Berfaffer mit Recht
das Hanptgewicht feiner ganzen Darftellung, und es ift
ihm auch ganz vorzüglich geglücdt, den Gegenftand leicht⸗
faßlih und foweit nur möglich erſchöpfend zu behandeln.
Die gefammte phuftfche Aftronomie wird dadurch eine
ganz neue. Das frühere unfichere Hypothejengebilde ift
ſchon jett faft ganz befeitigt, und dafür eine rationelle
Baſis fir die Naturforfhung der Weltkörper an ben
Platz gefett, welche überall das wirkliche Wiffen fiir das
bisherige Vermuthen und Glauben zu vertaufchen tradhtet.
Damit ift der bedeutungsvolle Schritt zur einer wirklichen
Revolution der Sternkunde gethan, der ſich um fo mehr
eines fegensreichen Erfolgs verfichert halten kann, als felbft
die gewiegteſten Fachmänner der Sache großes Intereſſe
widmen und voll Eifer mit Hand anlegen, um ben
ausgejpürten Schatz glüdlih zur Hebung bringen zu
können. Hier ift es nun wieder der geniale Kirchhoff,
welcher dazu die Wege ausgefonnen und genau bezeichnet
bat. Er bewies die genaue Coincidenz der dunkeln
Fraunhofer'ſchen Linien im Sonnenfpectrum mit den
hellen Speetrallinien der irdifchen Stoffe mit meifterhafter
Ausdauer und Gefchicdlichkeit:
Kirchhoff fand die Urfache dieſer Abforption; er mies nach,
daß das geſammte Syftem ber Fraunhofer’ihen Linien zum
großen Theile aus der Ueberlagerung von umgekehrten Spectren
gerade nur folder Stoffe befteht, wie fie auch auf der Erde
vorfommen. So gelangte biefer Gelehrte zu einer neuen An-
ſchanung Über die phyſiſche Beihaffenheit der Sonne, die mit
ber äftern zur Erklärung ber Sonnenflede angenommenen Hy⸗
pothefe von William Herſchel im geraden Gegenfage fand.
Nach Kicchhoff befteht die Sonne aus einem feften oder tropfbar
flüffigen, iu der höchſten Glühhitze befindlichen Kerne, welder,
wie alle weißglübenden feften oder flüffigen Körper, alle mög-
lichen Arten von Lichtſtrahlen ausjendet und daher für fich
allein ein continuirliches Spectrum ohne dunkle Linien geben
würde. Dieſer weißglühende centrale Kern ift mit einer Atmo⸗
fphäre.von niedrigerer Temperatur umgeben, in welcher ſich
wegen der hoben Hitze des Kerns viele Stoffe, aus benen
festerer zufammengejett if, in Form von Dämpfen befinden.
Die von dem Kerne ausgehenden Fichtfirahlen müſſen daher,
bevor. fie zu uns gelangen, durch diefe Atmofphäre hindurch⸗
gehen, und jeder Dampf löſcht aus dem weißen Lichte alle
Strahlen aus, welde er im glühenden Zuſtande ſelbſt aus⸗
\
ſtrahlen Tann.
Die ausgelöſchten Strahlen find aber genau diefelben,
welche Natrium, Eifen, Kalium, Calcium, Baryum,
Magneflum, Mangan, Titan, Chrom, Nidel, Kobalt,
Waflerftoffgas und wahrjcheinlih auch Zink, Kupfer und
Gold für fi allein glühend ausftrahlen würden, aljo be=
fteht die Sonnenatmofphäre aus den Dämpfen aller ber
genannten Stoffe. Die ſämmtlichen Subſtanzen, aus
denen der Sonnenlörper zufanmengefett ift, finden wir
daher auf unferer Erde wieder, und wenn wirklich noch
einige dunkle Linien im Sonnenfpecttum vorlommen, deren
Beſtimmung uns noch nicht möglich war, fo wäre der
Schluß doc, ficher übereilt, daß diefe Linien von Stoffen
berrührten, die auf der Erde nicht vorfümen. Es läßt
ſich nur daraus folgern, daß die Erforſchung noch nicht
bis zum Abjchluß gebracht worden fei, daß es aber fchon
ganz außerordentlid) wahrjcheinlich geworden, wie Exde
und Sonne aus berfelben Materie zufammengefett feien.
Der Somnenfinfterniß, welde am 18. Auguft 1868 ge-
rade in dieſer Hinfiht jo vieljeitig ſcharf beobachtet
worden ift, wibmet der Berfaffer eine ganz befondere
Aufmerkfantkeit. Die Refultate derfelben Haben die Kirch—
hoff'ſche Theorie glänzend betätigt. Im dem Augenblick,
wo mit dem Berjchwinden des legten Sonnenftrahls die
totale Berfinfterung begann, wo alfo das Kernlicht der
Sonne für die Beobachter auf der Erde ausgelöſcht er-
ſchien, verfhwanden ſogleich alle Fraunhofer'ſchen dunkeln
Linien. Allerdings fehlten aber auch die hellen Linien der
Umkehrung. Der Verfaſſer bemerkt:
Es würde jedoch voreilig ſein, wenn man aus dieſen ne⸗
gativen Ergebniffen einen Schluß gegen die Kirchhoff'ſche Theorie
ableiten wollte; denn der Gedanke liegt nahe, daß die dampfe
fürmige Sonnenatmojphäre nicht denjenigen Grad der Hitze
babe, welcher zur Erzeugung eines intenfiven Fichte und zur
Bildung von Gasipectren aus einer fo ungeheuern Entfernung
(20 Millionen Meilen) überhaupt erforderlich iſt; die große
Dunkelheit und die tiefe Schwärze vieler Fraunhofer'ſchen
Linien berechtigt zu dem Schluffe, daß die Differenz zwiſchen
den Temperaturen de8 Sonnenferns und ber ihn umgebenden
abjorbirenden Dampfatmofphäre fehr bedeutend fein müffe,
Aber wie man Hierliber auch denken mag, fo bleibt
die Kirchhoff'ſche Erklärung ber Fraunhofer'ſchen Son-
derungslinien doch unangefochten beftehen und ebenfo aud
der Nachweis für dieſelbe Materie beider Weltförper.
Das Borhandenfein des Wafferdampfs in der Sonnen⸗
atmofphäre ift vom Pater Sechi am 27. Januar 1869
der parijer Alademie mit großer Wahrfcheinlichkeit ange»
fündigt und am 15. Februar durch feine neweften Spectral«
beobadjtungen fo gut wie zur Gewißheit gebracht worden.
Da diefe Waflerdampffpuren fih immer im der Nähe
der Sonnenflede zeigten, fo führte eine ſolche Entdedung
zu einer ganz neuen Anſchauung über das Weſen der
Sonnenfleden. Der Berfaffer benutzt die Gelegenheit,
diefen Gegenftand ausfügrlich zu befprechen, und theilt
eine Reihe von fehr intereffanten Beobachtungen unb
Photographien durch Nafmytd, Warren de la Rue n. a.
mit. Er deutet daranf hin, daß e8 wahrfcheintich fei, einen
ſolchen led für eine wollenartige, mannichfach zufammen-
gefetste glühende Dampfmaffe, für eine Art Schlade
gelten zu laffen, welde das Licht des Sonnenkörpers
theilweife zurückhält und daher als dunkle Maſſe erſcheint.
Der Berfafler fagt:
Wir find meit davon entfernt, in dem vo ⸗
danken eine alle —e der Sonnenfiede ——
Erklärung geben zu wollen. Wenn es gewiß vom hpochſten
Intereſſe für uns iſt, die phufliche Natur desjenigen Simmels-
körpers näher Eennen zu lernen, der uns Lit, Wärme, Be-
wegung und Leben gibt, fo müfjen wir uns andererfeits Do
ſehr Hüten, dasjenige für Wahrheit und Wirklichkeit zum halten,
was zunächſt nur das Refultat unferer Kombinationen ift, umd
I;
Romane und Novellen,
dieſes um fo mehr, wenn unfere Speculationen nur auf Be-
obachtungen beruhen, die vereinzelt daftehen und des Zuſammen⸗
bangs mit dem großen Ganzen, zu weldem fie gehören, nod)
entbehren.
Eine ſolche Vorſicht iſt beſonders eben jetzt ſehr zu
loben, da man leichtfertig genug ſchon mehrfach für Ge—
wißhett angenommen bat, was ſich aus ben berühmten
Spectralbeobadhtungen von Secchi, Huggins und Lodyer
Hypothetiſches aufbauen ließ.
In der Zuſammenſtellung der Berichte über die totale
Sonnenfinſterniß vom 18. Auguſt 1868 iſt der Verfaſſer
ſehr ausführlich zu Werke gegangen, weil dabei die
Specttalanalyſe eine ganz neue wichtige Hauptrolle ge⸗
Ipielt hat:
Saffen wir alle am 18. Yuguft 1868 gemaditen fpectral-
analytischen Beobachtungen der Sonnenfiniterniß_ zuſammen,
fo gelangen wir mit Ausfcheidung des minder Wichtigen zu
folgenden bebdentungsvollen Refuftaten: 1) Das Licht der Corona
in ſtark polarifirt, das der PBrotuberanzen nicht; jenes ift daher
mögliherweife Reflexlicht, dieſes wird von felbfleuchtenden glü⸗
benden Materien ausgeſtrahlt. 2) Das Spectrum der Corona
iR ſchhwach und anſcheinend continuirlich; das Licht derjelben
it weit weniger intenfiv als das der Protuberanzen. 3) Das
Spectrum der Protuberanzen befteht aus einigen hellen, intenfiv
137
leuchtenden Linien, unter denen bie WBafferflofflinien Ha=C,
HB=F, und Hy nabe bei G befonders bervortreten. 4) Die
Brotuberanzen find glühende Gasmaflen, vorzugsmeiie glühendes
Waſſerſtoffgas; fie hüllen den ganzen Sonnenlörper ein, oft
auf äußerft weite Streden nur im einer niedrigen Schicht, oft
auch in mafjenbaften, Iocalen Anſchwellungen, die zuweilen eine
Höhe von 20000 Meilen und mehr erreichen.
Uebrigens theilt der DVerfaffer auch eingehend mit,
welche fpectralanalytifhen Beobachtungen über bie ein-
zelnen Planeten, über ben Mond, über Firfterne, Ko⸗
meten, Mebelflede, Sternfhnuppen und Feuerkugeln ge=
macht und welche wahrfcheinlichen Schlüfie Daraus gezogen
worden, Ebenſo ift auch von den Spectren der Blitze
und bes Norblihts die Rebe.
Die Leer werben ficher bie Ueberzeugung gewon⸗
nen haben, daß das Werk feinen Gegenftand mit er-
ſchöpfender Gründlichkeit Teichtfaglich behandelt Hat, daß
dafjelbe ganz dazu gefchaffen ift, einen allgemein ge-
fühlten Bedürfniß volllommen befriedigend abzuhelfen.
Wir können daher nur wünſchen, daß es auf feiner lite
rarischen Laufbahn überall die Beachtung finden möge,
welche es feinem gediegenen innern Werthe nach ver
dient, Heinrich Birnbaum.
Romane und Novellen.
1. Fteie Bahn. Roman von Inlius
Bünde. Leipzig, Rötſchke. 1869. 8.
Wenn die Orundzüge jedes beffern deutjchen Romans
ben Kampf materiellec und ideeller Gegenjäge verfinn-
lichen follen, fo iſt Mühlfeld's Werk ein echter deutſcher
Roman. Freilich ift hier das Feld diefer Kämpfe nur ein
jehr Heine „ fogar ein Meinjtädtifches, und wenn ber
fühne Titel des Romans auf einen idealiftifchen Ing ber
KRomanhelden deutet, fo ifl als Gegenftüd „Die deutfchen
Kleinftädter” ein unpaflender Titel. In Zietha und nur
zum Heineen Theil in der benachbarten Univerfitätsftadt
Sealburg jpinnt ſich die jchlicht gewebte Handlung ab:
die Deutung anf thilringifche Zuftände liegt nahe, Zietha
iſt als Provinzialſtadt eines Meinen (thüringifchen) Staats
und Saalburg ale Lena oder Halle gedadit. Sonſt
mongeln bejtimmte Porträts, die man ja in neuern Ro⸗
manen mit Borliebe fucht, gänzlich, fehr zum Bortheil
dr Dichtung. Denn die Kleinbürgerlichen Berhältniffe,
m die uns Mühlfeld führt, find ſich felbft genug: daß
tm liebenswürdiger begabter Jüngling, Arno Strahl,
ein gleichgefinntes Mädchen, Helene Wernide, liebt, und
daß fi dem Vermögensloſen den Aeltern der Geliebten
gegenüber ſchwere Hinderniſſe aufthiirmen, ift eine alte
Gedichte, die aber bei Mühlfeld einen liebenswürbigen
anfprachslofen Aufputz erhält, der fie als neu erjcheinen
läßt. Manches Perjünliche ift zu jehr ins Grelle gemalt:
Fran MWernide, die Mutter Helenens, die doch als gut-
herzig bezeichnet wird, zeigt ſich fortwährend als ver»
nöcherter kleinbürgerlicher Geldfad; auf der andern Seite
RM wieder die Familie des Profefior Treuhard von einem
fo unmöglichen Idealismus, daß hierin die Grenzen bes
Komanhaften überfchritten werden. Der Einbrud, den
ver Leſer von „Freie Bahn“ erhält, ift ein wohlthuender;
1870. 9.
Mühlfeld. Drei
3 Thlr.
die gute deutjche Tradition von ber Bevorzugung der Cha-
rakterfchilderung gegenüber der Erfindung hat in Mühl⸗
feld ihren Anhänger, wenngleich fi) diefer Autor vor jü-
ben unvermittelten Webergängen und unnöthiger Eile und
Ylüchtigkeit gegen den Schluß Bin zu hüten hat.
2. Aus jungen und alten wagen. Erinnerungen von Ern ſt
Freiferen von Bibra. Drei Bände. Jena, Coftenobie.
1868. 8. 3 Thlr. 22%, Nur. "
Die vielgewandte lebendige Weder, bie ber tüchtige
Naturforfcher feit mehr als einem Bierteljahrhundert führt,
bat ſich wieder einmal auf das belletriftifche Gebiet ge⸗
wandt, auf dem Bibra ein gern gefehener Gaft if. Er
bat vieler Menfchen Städte gefehen und für ftidameri-
kaniſche Zuftände ift er neben Gerftäder wol ein claf-
ſiſcher Zeuge zu nennen. Borliegende „Erinnerungen“
find auf Bafis felbfteigener Erlebniffe in novelliftifche Form
gebracht, ein Theil gehört dem transatlantifchen Gebiet,
ein anderer deutfchem Boden an. Alle diefe Erzählungen
baben einen fchalfhaften Zug, die Diction und die Stoffe
find anmuthend. Bon den Erinnerungen europäifcher
Heimat ift „Das Erbe des alten Friedenreich“ ein fau-
ber ausgeführtes Charakterbild: diefe Melufine, die etwas
von Philine hat, ıft ein blitzſauberes Weibsbild, freilich ein
wenig perfid, aber zur Novellenheldin durchaus gefchaffen;
die übrigen Heinen Genrebilder, als „Der verlorene Graf“,
„Die Jungfer Lene”, „Auf dem Klofterberge”, „Zwei
Stieflinder” find, ohne neue Motive, ſorgſam ausgeführte
Stüde in Tempera. Weit bedeutender find die Aquarelle,
die Bibra aus Südamerika malt: da ift grandiofe
Natur- und treue Menjchenfchilderung, und babei befin-
den wir uns unter einem ewig blauen tropifchen Him-
mel und erfreuen und der angenehmen Ruhe der Erzäh-
lung, die fi) von Gerftäder’3 bewegungsfreundlichem Stil
18
J
138 Romane und Novellen.
vortheilhaft unterſcheidet. Dahin gehört vor allem, Mond⸗
ſcheinſtudien“ und die charaktervolle Novelle „Wie Cornelius
Bloemart nach dem Lande Chile fam und was ihm bort
begegnete”. Diefer Cornelius Bloemart, ein Holländer,
ift von englifchen Matrofen gepreßt, denen er bei gün⸗
ftiger Gelegenheit in Valparaiſo entipringt, und nun,
abenteuerlid genug, fih in Chile herumſchlägt. “Die
Schilderung des großen chilenischen Erdbebens von 1822,
in das hinein Cornelius’ Wanderungen fallen, ift prädjtig
und in ihrer Art ebenfo bedeutend wie Humboldt's Des
ichreibung des Erbbebens von Caracas. in drittes
Agnarell, „Señor Machado“, leidet ebenfo wie „Pablo
oder Pedro“ an Unmahrfcheinlichkeiten, gleicht aber dieſe
Mängel durch farbenreihe Schilderung von Land und
Leuten aus. Wir geben nur eine Probe von Bibra’s
Malertalent aus der Schilderung der Geereife von Rio
nach Peru:
Endlich vereint die finfende Sonne Himmel und Meer mit
einem Purpurbande, und bald bliden Myriaden funfelnder Ge-
fiirne auf euch nieder. Ihr könnt fie ſichten und ordnen, dieſe
rolfenden Welten, in Sternhaufen und Sonnenfyfleme, wenn
ihr ein Aftronom feid. Ihr könnt fagen, daß die Sonne zer-
ſchellt ſei am Rande des Horizonte, und daß ihre Trümmer
aufgeftiegen als Sterne zu dem tiefblauen Nachthimmel, wenn
eben zufällig ein wenig Poefle in euerm Kopfe ſpult. Sentt
ihr dann aber enre Blide abwärts in die Fluten, fo funkelt
und blitt e8 dort faft ebenfo wie droben. Nings um enern
Bord glänzt die See in myſtiſchem Lichte und weithin durch die
Mellen zieht das Schiff eine feurige Furche. Einzelne hell⸗
feuchtende Geftalten aber ziehen, alles überftrahlend, langiam
durch das Feuermeer unter euch. Das ift das Leuchten der See,
- Man fleht, e8 find warme Tinten, die Bibra vor⸗
feuchten läßt, wenn er uns die füdamerifanifche Natur,
deren Erforfchung und Befchreibung er einen großen
Theil feines Lebens gewibmet hat, in lebensfriſchen Bil-
dern vorführt.
3. Streben ift Leben. Bon Amely Bölte Drei Bände.
Sena, Hermsdorf. 1868. 8. 3 Thlr.
Die Novellenfammlung, welche bie Berfafferin uns
unter vorftehendem ehrenwerthen Zitel bietet, ift reich an
mannichfaltigem Stoff. Schade nur, daß dieſer nicht
immer gehörig verarbeitet ift, oft auch nicht einmal aus⸗
reicht. Exfteres ift bei der Erzählung: „Der Phrenologe“,
letzteres bei „Der Landwehrmann” der Fall. Aus der
Heide der übrigen Novellen können wir nur „Der Letzte
feines Stammes” und „Ein Liebesabentener des Grafen
Moritz von Sachſen“ hervorheben. In dem legtgenannten
Sharafterbilde bekundet die Berfafferin ihr Talent, Scenen
aus der Rococozeit zu reproduciren: den Hauptinhalt
bildet der Urfprung der Liaiſon des galanten Morig von
Sachſen mit Adrienne Lecouvreur. In der Zeitfürbung
wie in der ſcharfen Markirung der Charaktere ift Amely
Bölte am glüdlichften; weniger gelingen ihr die Scil-
derungen von Seelenzuftänden, die eine Bekanntſchaft mit
der wirklich guten Geſellſchaft vorausfegen. Inmmer wie
der, wenn wir und in eine derartige Erzählung hinein-
zulefen verfucht hatten, trat und ein wunderlich verzerrter
Zug in der Phyfiognomie der handelnden Perfonen ent-
gegen: oft war diefe Verzerrung nichts anderes ald das
hippokratiſche Geficht, das eine Novelle machte, die jchon
obne Leben war bevor fie endete. Am bdeutlichften zeigen
fi dieſe und ähnliche Misftände in „Die Jüdin“.
Herr Meyerhof, ein jüdifcher Bankier, hat eine Tochter
von feiner eriten Gemahlin; letztere lebte mit igrem Gatten
nicht glüdlich, denn bei Tiſche „fehlte heute der Senf,
morgen dad Compot, übermorgen das Deſſert, kurz fie
hatte beftändig etwas vergeffen“. Selina, die Tochter,
ſtellt fih, da fie von der Würde des Weibes die höchſte
Idee hat, von Anfang an kalt und fremd zum Bater,
der fie natürlich nicht verſteht. Dafür ift er ja Jude,
berliner Jude, und die berliner Juden kommen bei Amely
Bölte, die fie wahrſcheinlich jehr genau Fennt, fchlecht weg.
Selina ift doc) ein braves Mädchen, ift Leidenfchaftliche
Kindergärtnerin nad) den Marimen der Grau von Maren»
bolg und doch „ein echtes berliner Kind, vell Selbſtgefühl,
Anmaßung und Dünkel“. Vaterliebe kennt fie nicht, und
Amely Bölte gibt ihr verftohlen recht, denn „Verehrung
flößen ihr nur ſolche Männer ein, welchen ihre Bildung
mehr am Herzen Liegt als der Erwerb des Geldes”.
So veradjtet Selina alle jungen Kaufleute und „gibt
Profefjoren den Vorzug, vor denen fie holdfelig erröthend
dafteht”. Selina jpielt Schach, der Vater aber veradhtet
dergleichen und verbittet ſich überdies einen gelehrten
Chriften zum Schwiegerfohn (beiläufig ein Nonfens gerade
in den genannten berliner jüdifhen Kreifen, die mit
Borliebe chriftliche Gelehrte in ihre Familien wünjchen).
Aber die eigentliche Kataftrophe der Erzählung tritt bei
einer Table⸗d'hoöte in Wien ein, bei der ſich zwei Offi-
ziere über Selina's fehmuzige Finger moquiren, „Sieh
nur, wie ungeftaltet“, fpricht der eine, „jeder Nagel ab⸗
gebiffen und mit einem Zrauerrande.” Er ſchüttelte fi),
als ob ein Schauder ihn überlaufe. „Schade“, fagt der
andere, „fie könnte fi das abgewöhnen, aber fie ijt eine
Jüdin. Die Neigung zum Schmuze ift ihnen angeboren.”
Selina ift tief erjchlittert: einen vom Vater präfentirten
Bräutigam ſchlägt fie aus. Erftens Heißt er Aaron, und
das ift fehr unangenehm, „aber auch feine Hände, die
Nägel mit dem Zrauerrande und bie nach einwärtd ge=
Tehrten Plattfüße waren ein Anſtoß!“ Um diefer Heicath
zu entgehen, tritt Selina, ohne Vorwiſſen des Vaters,
als Gouvernante bei einer pefther Jüdin in Condition.
Kaum ift Selina Frau Jacobſon vorgeftellt, fo beobachtet
fie fogleich deren Hand. „Sie war nit fauber, nicht
gepflegt, die Nägel kurz und ſchwarz. Der Anblid that
ihr bis ins Herz hinein weh.” Die Arme! Nachdem
fie fih aus Verzweiflung über Gott, Welt und ſchmuzige
Nägel ins Waffer zu ftürzen verfucht, wird fie von Aaron
gerettet, den fie jchlieglich dennoch heirathet. Ja, die
Berfaflerin hat ganz recht in Bezug auf den Charalter
der Suben. Aber ein wenig äſthetiſche Feinheiten hätte
fie doch zu ihrem Ragout hinzuthun können; e8 geht bet
der „Jüdin“ wie beim „Phrenologen“ und dem „Kunſt⸗
gärtner und feinen Töchtern“ entjeglich gedankenreich zu.
Aber wenn jeded Genre erlaubt ift, außer dem des
Langweiligen, jo hat rau Amely Bölte weniger fri«
ſches Leben gezeigt, ald vielmehr ein unerlaubtes Genre
cultivirt.
4. Schöne Frauen. Handzeihnungen von Elife Polko.
Zweite Reihe. Troppau, Kold, 1869, 8 1 Thlr.
15 Nur.
Das Frauenherz, was es bewegt, was es fühlt und
erlebt, ift von je der Berfafferin Domäne gewefen; bier
Romane und Novellen. 139
it fie im eigenen Haufe, Hier fchließt fie uns mit dem
Schlüſſel der Phantafie, der ihr unbefchräntt zu Gebote
ſteht, alte bekannte Räume auf, bier träumt, fingt und
fiebelt eine blaufiugige Romantik, die wir ung ganz gern
einmal gefallen laſſen. Wie die Porträts der ältern
Düffeldorfer muthet uns diefe Welt von blonden Pagen,
ſchmachtenden Frauen in mittelalterlihen Sammetgewän-
dern an. Allein dieſen Handzeichnungen mangelt die
anatomische Richtigkeit; die gezeichneten Perfonen erinnern
häufig an Hauben⸗ und Perrütenftüde, denen man prädj-
tige Kleider umgehängt hat. Und in ber Benutung hi⸗
ſtoriſchen Materials, in der Borliebe fiir gefchichtliche
Meinigfeitöfrämerei wäflert oft ein tüchtiger Mühlbach die
üppigen Phrafenbeete der DVerfaflerin. Die befte Damen-
gefellfchaft vergangener Jahrhunderte, und wenn mir
Fran Polfo und den Chroniften trauen wollen, aud) die
fhönfte, zieht vor uns vorüber. Maria Eleonore, Her-
der's Freundin, die fromme Bittoria Colonna, Chriftina
von Schweden, die Dacier, Julie de Lespinaffe, die
Blanſtrumpfe Hortenfe Mazarin, Alerandrine St.-Aubin,
Maria Caracciola, Fauſtina Maratti, die fchönen Frauen
ſtellen fi) ums ungezwungen vor, wir müffen aber ihre
Gavaliere, die mitunter ganz anftändige Namen führen,
ala Herder, Lorenzo von Medici, Iſouard u. dgl., mit
im ben Kauf nehmen. Im ganzen ift die Stimmung der
„Muſikaliſchen Märchen” aud) in den „Schönen Frauen“
feſtgehalten. Es fei damit nicht gerade ein Lob ausge»
ſprochen. Denn jene weiche Mollftimmung der Märden,
bie ein Meines Feld hatten und ſich daran genligen ließen,
recht file größere gefchichtliche Situationen und Perfün-
iihfeiten, die do in den „Schönen Frauen“ auftreten,
nit aus. Hier verlangt der Gegenftand Licht und Schatten,
Dur und Mol müffen wechjeln und bem weichen
Frauengemüth müſſen ftarfe männliche Charaktere jecun-
dire. Nemo ultra posse! Das eng begrenzte Genre
ber Polko ift bedeutender als das der Berfafferin von
„Steeben und Leben‘; das Genre der Pollo ift erlaubt,
denn „erlaubt ift, was gefällt“.
5. Walram Forft, ber Demagoge. Roman von Philipp
Salen Bier Bände Berlin, Janke. 1868. 8.
6 Thlr. 20 Nor.
Was Goethe doch für Unheil angerichtet hat mit feinem
Ausſpruch: „Im Noman follen vorzüglih Gefinnungen
und Begebenheiten vorgeftellt werden, im Drama Charaftere
md Thaten!” Nun begeben fd; unfere neuen dentfchen
Romanfchreiber ganz der Thaten und thun mit Gefinnungen
allein Schon fo, als wären es Thaten! Diefer Walram
Forſt, von bem wir bem Titel nad) vermutheten, e8 werde
ms an feinem Lebensgange eine Epoche deutſchen Stre-
bens und politifchen Lebens, zum mindeften doch eine
thatenreiche Manneögeftalt vorgeführt werben, Hält nad
Goethe's verhängnigvoller Andeutung da8 Vorbringen des
Banzen zur Entwidelung auf. Und leidet er als echter
Romanheld? Nein, er bleibt im Hintergrunde, da er
bereits vor Beginn des Romans als Demagoge auf dem
Ehrenbreitftein gelitten hat, von dem er entfpringt, und
durch Londoner Handelsthätigkeit ſchon zu Anfang des
Romans ein reiherr Mann wird. Was wir erft Mitte
des vierten Bandes erfahren, daß nämlid) Walram kein
anderer ift als der Bauaufſeher Magnus und ber alte
[4
Herr von ber Flühe, ahnen wir fchon bis zur Gewißheit
im zweiten Bande. Daß der junge Hugo, Walram’s
Sohn, die Tochter der Retterin und Yugendgeliebten des
Demagogen, die ſchöne Bettina, Tiebt, ift die einzige Ve
gebenheit, die vor unfern Augen ſich zuträgt, obwol auch
bier die Geſinnung das Beſte thut und die Liebesgefchichte
ohne Nerv und Mark ifl. Den übrigen Theil des Ro-
mans füllen Miniaturautobiographien, ein paar Nature
Hilderungen und unerträglihe Schwägereien bes alten
Jeremias Heiduck aus. Eine endlofe Weitfchweifigkeit
legt fi) wie ein dider Nebel um das Ganze und raubt
bee fonft angemeflenen Diction jede Friſche. Wir haben
den Autor fchon bebeutend anregender und origineller ges
funden als in feinem lesten Werl. Waren in feinen
frühern Romanen die ihn begeifternden Mufen auch feine
hohen Göttinnen, fo waren es doch ehrliche hübfche
Bürgermädchen, nun aber find fie in „Walram Forſt“
langweilige alte Yungfern geworden. Wie wenig verlangt
der unverdorbene deutſche Lefer von feinem Romanfchreiber,
und boch wie ift dies wenige fo viel in ben Augen bes
guten Geſchmacks! Charaktere, Handlung und eine ver-
ftändige Sprache find das wenigfte, was der Lefer fordern
fann, und baran ift Galen, der, wie wir fürchten, ſich
der Bieljchreiberei in die Arme geworfen, in feinen neueften
Merk fo fehr arm. Wie originell und bedeutend war
der „Irre“, wie derb und körnig fein „Andreas Burns“!
Nach letztgenanntem Roman zu urtheilen, fcheint es, als
ob ein Hiftorifcher Hintergrund und die Ideen einer be=
wegten Zeit den Kiel Galen’s beflügelten und ihn an Kraft
und Leben gewinnen ließen. Hoffen wir bei feinem nächſten
Opus auf die forgfame Durdjarbeitung eines glücklichern
Stoffs als der des vorliegenden Romans,
6. Ein ausgeriffenes Blatt. Roman von M. Anton Rien-
dorf. Zwei Bände. Berlin, Hausfreundb-Erpedition. 1868,
Br. 8 3 Thlr.
Einen höhern und vollern Ton als „Walram Forſt“
Schlägt Niendorf's Roman an. Hier ift ber Verſuch, die
Willkür ftandesherrlichen Gerichts- und Verwaltungsweſens
am Faden romanhafter Erfindung nachzuweiſen, durchaus
gelungen. Ein im beiten Sinne moderner Roman liegt
bier dor und. Wie es die Richtung d. DL. ift,
den modernen Gedanken, mo er in Wort und Ber Har
und warm auftritt, hervorzuheben, zu unterflüßen und
feine Berechtigung zu vertreten, fo kommt fie dem gefun«
ben Realismus Niendorf’ gern entgegen. Wie einfach
und doch bewegungsträftig ift die Handlung im „Aus-
gerifjenen Blatt”! Wie ſcharf, wie treu nad) dem Leben
gezeichnet, und doc wie voller Farbe und gefättigter
Gedanken find diefe handelnden Menſchen! Der weiche
edelmüthige Graf, der männliche Fortfchrittsfreund Lafer,
der gelehrte, üngftliche Profeffor, die ftarkherzige und doc)
mädchenhafte Clotilde, die jumferliche und bureaukratiſche
Geſellſchaft der Xaver und Amelang, wie find fie alle aus
dem Holze unferer Zeit gefehnitten! Ein lebendiges Zeit.
bild rollt fich, zumal im zweiten Bande, vor uns auf, wo
das Kriegsjahr 1866 mit allen feinen wirthfchaftlichen
Folgen in fortfchreitender, fein gegliederter Bewegung ges
jHildert wird. Dem Realismus und feinen Vertretern
fällt, jo follte man meinen, die gefchmadvolle edle Diction
ſchwerer als bem formellern Idealiemus. Bon dieſer
18*
140
Kegel macht Niendorf's Werk eine hervorzuhebende Aus-
nahme. Die Gleichmäßigfeit der nobeln Diction, bie
faubere Ausarbeitung des Dialogs iſt im vorliegenden
Roman fehr erfreulih. Wen die Auseinanderfegung ber
londwirthichaftlichen Zuftänbe weniger Interefle abgewinnt,
der wird fich an der plaftifchen Figur Clotildens erfreuen,
einer Berlinerin, die noch nicht von der berufenen Reſi⸗
denzluft angefräufelt if. Wen nicht die wie aus bem
Leben abgefchriebene Kreistagsverhandlung in ihrer bra-
matiſchen Schilderung feflelt, dem wird die große Scene
der empörten Weiber von Walderode, denen man bie
Kiffen zerſchnitten, ungemeine Ergöglichfeit bieten. Kurz
jeder verftändige Sinn, der vom Roman etwas mehr als
krankhafte Phantafiegebilde fordert, wird in Niendorf’s
Roman Ausbeute für Kopf und Herz finden. Die Zeit
romane dieſes Genre find noch felten, fo felten wie bie
Auerbach, Freytag und Spielhagen, bie uns die Gegen-
— zum beliebteſten Gegenſtand des Romans gemacht
aben.
7. Album. Bibliothek deutſcher Original-Romane. Dreiund⸗
zwanzigſter Jahrgang. 1868. Robert Clive, der Eroberer
von Bengalen. Hiftorifher Roman von Adolf Mützel⸗
burg. Yünf Bände Leipzig, Günther. 1868. 8. Je⸗
der Band 10 Ngr.
Ein Hiftorifcher Roman! Auch diefe Serie unjerer
Beſprechung darf nicht ohne Hiftorischen Roman vorüber-
gehen. Das ganze ruhmbeglänzte, biutbefledte Leben des
Eroberer von Bengalen zieht an uns vorüber; Mützel⸗
burg hat weder Worte noch Papier gejpart, um uns 35
Jahre eines genialen Menfchenlebens anſchaulich und, ſo⸗
weit e8 der Romananftand erlaubt, Hiftorifch treu zu
ſchildern. Lord Elive's Anfang und Ende find fo dra⸗
matifch, daß es Fein Wunder ift, wenn dem Autor Cha-
raktere und Thaten ſchon durch feinen Stoff zufliegen.
Über wer indiihe Pracht, wilde Kriegsfcenen, Kämpfe
Die Dichterin von Öandersheim.
des Schwertes und bed Herzens mit flammenber Feder
befchrieben fehen will, der fühlt ſich bei ber Lektitre bes
vorliegenden Romans enttäufcht. Es ift etwas von Galen
in dem Autor des „Robert Clive”, es wird uns mitunter
zu Muth, als ob wir mit- fiichblütigen Menſchen zu thun
bätten ftatt mit kühnen Eroberern, mit jener Kaffe von
britifchen Conquiſtadoren, die vor Wifchnu und allen
Zeufeln nicht zurüdichredten. Allein vomanhafte Dar-
ftellung der Gefchichte wird uns, gegenüber den Hiftorijchen
Phantaftereien der Ketcliffe, Kaszony u. a. nicht unwill⸗
fommen fein, fobald nur bie Dehors der Zeitfürbung und
einer anftändigen Diction wahrgenommen find. Und dann
ift der geniale Abenteurer Clive von jeher voller Anzie⸗
hungskraft auf Hiftoriler und Poeten gewefen. Bon den
erftern hat Macaulay in einem feiner Eſſays die Geftalt
des Fühnen Mannes zum Vorwurf genommen, ber er in
großem Hiftorifchen Stil gerecht wird. Unter den Dichtern
bat Rudolf Gottſchall feinen „Nabob“ das Tichten und
Trachten Clive's zum Sujet gegeben, weitaus gewaltiger
und dichterifcher, als e8 Mützelburg vermocht hat. Die
tragische Schuld bes Helden, die ihm zuletzt felbft die”
Piftole in die Hand drückt, wird bei dem Dramatiler
Kern und Lebensnerv der erfihütternden Handlung, wäh⸗
vend fie bei dem Romancier leife nebenhergeht. Ohne
ethifchen und politifchen Hintergrund verläuft die Handinng
bes Romans, während der Dichter und die Beziehung des
fhuldbewußten Individuums zu den fittlichen Mächten
mit dem ſchönen Wort andentet:
Ein anbres, größeres Geſchlecht ale diefes
Mad’ unfte Frevel gut, laß unſre Fahnen
Als Segensfahnen wehn in allen Zonen! —
D, alles Große muß am Fluche fierben,
Hält ſtets das Schwert aufs eigne Herz gezlidt;
Den Segen aber wirb die. Nachwelt erben.
| Stan; Hirſch.
Die Dichterin von Gandersheim.
Dttonifche Studien zur deutfchen Geſchichte im 10. Jahrhundert.
II. Hrotfuit von Gandersheim. Zur Literaturgeihichte des
10. Sahrhunderts von Rudolf Köpfe. Mit einem photo⸗
Kithographirtem Bilde der münchener Handſchrift. Berlin,
Mittler und Sohn. 1869. ©r. 8. 1 Thlr. 25 Ngr.
Unter den Namen aus der deutfchen Literaturgefchichte des
10. Jahrhunderts ift ber von „Roswitha“ (Hrotfuit) jeden-
falls der befanntefte. Jedermann befigt eine ungefähre Vor⸗
ıftellung davon, daß eine Nonne eines ſächſiſchen Klofters die
feltfame Idee gefaßt und verwirklicht hat, den heidnifchen
Komödienfchreiber Terenz durch hriftlihe Komödien —
nach unjerer Terminologie richtiger Dramen oder gar
Tragddien — zu überbieten und zu verdrängen. Die Ge-
ftalt der Schriftftellerin fteht fo originell und fo einſam
in ihrer Zeit da, daß fie wol als ein literarifches Wunder
epriefen werben barf, wie es ihr don vielen begeifterten
Berehrern bis auf diefen Tag reichlich zutheil worden ift,
Es mag aber fehr wenige unter den vielen geben, bie
ihren Namen nennen, welche jene intereflanten Producte
gelefen oder auch nur einen Blick anf fie geworfen hätten,
Und daß derſelbe Titerarifche Genius ſich auch auf ganz
andern Gebieten ſchöpferiſch erwiefen, pflegt nur dem
engen Seife der eigentlichen Gelehrten befannt zu fein.
Aber gerade dadurch erhält das Phänomen erft feinen
vollen Glanz. Mindeſtens daſſelbe Talent, welches fich in
jeh8 großen Dramen entfaltete, bethätigt fi) and) in einer
ganzen Reihe von chriftlihen Heldengedichten in epifcher
Form und endlich in zwei großen eigentlich Hiftorifchen
Epopden, von denen die eine die Thaten des Helden des
Jahrhunderts und des deutfchen, fpeciell des ſächſiſchen
Volkes, Dito des Großen feiert, die andere ein befchei-
deueres Ziel, die Darftellung der Gefchichte des Kloſters
Oandersheim, ber Heimat der Dichterin, verfolgt. Selt⸗
ſam wie die poetijche Individualität der Dichterin ift
aber auch alles, was um ihr ift und zu ihr gehört. Rein
Zeitgenoffe erwähnt ihrer, und doch wurde damals viel
gejchrieben und das ganze Weſen der Dichterin fegt einen
ſehr intenfiven Titerarifchen Verkehr voraus, wie wir ihn
und auch aus andern Zengniflen der Zeit reconſtruiren
Fönnen,. Kein fpäterer Schriftfteller bes Mittelalterg kennt
Die Dichterin von Gandersheim. 141
md benutzt fie, und doch beruht die fo unendlich breite
Literatur jener Periode, ſhauptſächlich auf unaufhörlicher
Compilation und Transmutation des ſchon Vorhandenen,
bejonder8 wenn dafjelbe irgendeine Spur von Originalität
an fih trug. Bei Hrotfuit ift aber nicht blos eine Spur
von Originalität, fondern fie ift originell vom Wirbel bis
zur Sohle, einzig in ihrer Art, mit nichts anderm im
10. aber auch in keinem der andern Sahrhunderte des
Mittelalters zu vergleichen. Es wäre eine zu wohlfeile
fung des Räthſels, wollte man fagen, eben weil fie
gar zu originell war, mußte fie vergeffen werden. Nur
ein paar armfelige Spuren in einer Reimchronik bes 13.
Sahrhunderts lafſen fi auf eins ihrer Werke, und zwar
auf das mindeft felbftwiichfige, die Gefchichte ihres Gan⸗
dersheim, beziehen, freilich. nicht viel, aber doch wichtig
geung, weil damit die Fortexiſtenz wenigftens eines biefer
Werke bewiefen wird. Erft am Ende des 15. Jahr⸗
hunderts taucht in Regensburg eine Handfchrift auf,
welche den größten Theil ihrer Werke enthält. Die füb-
beutichen Humaniſten, voran ihr Führer Konrad Celtis,
bemächtigen fich dieſes Schages und heben ihn durch eine
iplendide Drudausgabe gerade im erſten Jahre des Jahr⸗
hunderts der Reformation. Aber die Lücken diefer einen
Sandfchrift laſſen ſich durd) feine zweite ergänzen: zwar
iheint noch im 17. Jahrhundert eine zweite vorhanden,
bie aber feitdem verjchollen ift, in welcher die Gefchichte
von Gandersheim ftand, die dort fehlt, und erſt neuer-
dings findet fich eine fpäte Abſchrift jener regensburger
Handſchrift, die nicht erft aus dem Drude, wie manche
andere in jener Zeit der noch unentfchiedenen Con⸗
currenz zwifchen ber Prefle und der Schreibfeber, ge-
Neffen i
en
Bon Celtis an bis auf diefen Tag hat fich bie gelehrte
Belt mit ftaunenswerthem Eifer bemüht, dad wieder gut zu
machen, was die Zeitgenofjen und das fpätere Mittelalter ver-
fänmten. Eine Flut von Ausgaben, literarifchen und äfthe-
tifchenlinterfucgungen und Darftellungen Bat eine ftattliche
Specialliteratur erzeugt, deren einftweilige Refultate diefes
Buch Köpke’3 mit feiner gründlichen, gediegenen Berarbei-
tung des geſammten aufgeftapelten Materials bezeichnet.
Bon einem Abſchluß der Arbeit Tann aber bier nicht
einmal in dem bedingten Sinne wie anderswo die Rede
jein: ber Räthſel und wiſſenſchaftlichen Fragen werben
immer mehr, je ernfthafter die Forſchung diefem Objecte
zu Leibe geht, und alles bisher Gethane erweift ſich nad)
jeder Richtung Bin als unzulänglicher Anfang.
Momentan concentrirt ſich jedoch das hauptfächlichite
Interefie, weniger unter den eigentlichen SKennern und
dechgelehrten als in ben weitern Kreifen der Gebildeten,
auf eine Hypotheſe, zu deren Empfehlung ſich beſonders
das jagen Läßt, daß fie durchaus neu und eigenthündic)
isrem Urheber angehört. Der Hiftorifer Aſchbach in Wien
bat vor zwei Jahren, 1867, bie Räthſel, welche unfere
‚ Hrotfuit umgeben, jehr einfach dadurch zu löſen geglaubt,
daß er ihre ganze Eriftenz als eine bewußte Fiction ihres
erften Herausgebers, Celtis, barzuftellen verfuchte. Im
Jahre 1868 bat er das Gewicht feiner Gründe in
einer zweiten umgearbeiteten Auflage feiner kritifchen Un-
terfuhung noch verftärft und, wie nicht geleugnet werden
kann, nicht blos Erftaunen, fondern auch theilweife laute
und apobiktifhe Zuftimmung gefunden. Kein Zweifel,
daß gerade einem Bildungsftande wie dem heutigen mit
einem rajchen Durchhauen eines folchen gorbifchen Knoteus
ber Forſchung befjer gedient fein mag, als mit den lang-
famen und ſcheinbar fo fruchtloſen Verſuchen, ihn zu ent⸗
wirren. Die ernfte Wiffenfchaft hat fich bisher durchaus
ablehnend gegen diefe Art deſtructiver Kritik verhalten,
fie hätte. überhaupt wol kaum Notiz davon genommen,
wenn nicht das laute Triumphgefchret vom Markte auch
bis in ihre ftillen Hallen gedrungen wäre. Auch Köpfe
bat der directen Widerlegung Aſchbach's einen eigenen
Abſchnitt widmen zu müffen geglaubt, obwol fein ganzes
Buch indirect die vollftändigfte Widerlegung ift, inden
ed und Ort, Zeit und Perfonen, in deren Mitte fid
Hrotſuit geftaltete, fo Har und erfchöpfend wie niemals
vorher auseinanderlegt.
Aſchbach's Hypotheſe Tann eigentlich für ſich nichts
weiter anführen als jenes innere und äußere Dunkel,
welches über der Dichterin ruht und das auch durch bie
neneften Unterfuchungen Teineswegs zerftreut, wenngleich
an einigen Stellen gelichtet iſt. Aber genügt dies, um
die Authenticität einer gefchichtlichen Geftalt überhaupt
in Frage zu fielen? Wohin kämen wir mit hundert
andern ebenfo unbegreiflichen, d. h. bisjetzt noch nicht ge⸗
nügend genetiſch erklärten Phänomenen? Was Aſchbach
ſonſt noch fir feinen Vernichtungskampf als Waffen ge-
braucht, erweiſt ſich bei näherer Beſichtigung als Spiegel⸗
fechterei. Schon allein die Thatſache jener Handſchrift,
die entſchieden älter iſt als die Zeit des angeblichen Be⸗
trugs, vermag er nicht umzuflogen. Die größten Kenner
der Paläographie haben fie früher und jegt für echt, d. h.
für ein Werk des 10., höchſtens des 11. Jahrhunderts
erflärt, und wenn auch die Anficht aufgegeben werden
muß, daß es die Originalhandfchrift ſelbſt fei, fo ift es
jedenfalls eine nur wenig fpätere Abſchrift. Findet eine
Fälſchung ftatt, jo mußte fie ſchon damals erfolgt fein,
und außer dem Namen ber Hrotſuit bliebe dann alles
gerade jo wie vorher. Noch jeltfamer find die angeblichen
Beweisftellen aus Celtis’ und anderer Humaniften Briefen
und Schriften, aus denen fich ergeben foll, daß eine ganze
Bande von Fälſchern das Publikum fyftematifch Hinters
Licht zu führen ſuchte. Köpfe Hat fih die Mühe ge-
nommen, auch diefer DBeweisführung nachzugehen, und
eine ganze Reihe von Misverftändnifien, Flüchtigkeiten
und factiihen Irrthümern nachgewiefen. Hoffentlich ift
bamit der unerquidliche Gegenſtand ein fiir allemal er-
edigt.
Heinrich Rücert,
—
142 Deutſche Volks bücher.
Dentfche Volksbücher.
Auserleſene deutſche Bolfebliher. In ihrer urſprünglichen Rein⸗
heit wiederhergeſtellt von Karl Simrock. Zwei Bände.
Frankfurt a. M., Winter. 1869. 8. 2 Thlr. 20 Nor.
Außer feiner befannten großen Ausgabe ſämmtlicher
beutfcher Vollsbücher läßt der für unfer Bolt fo uner-
müdlih thätige Simrod in vorliegenden zwei Bänden
eine Auswahl der fchönften erfcheinen. Der Werth von
Simrod’s Arbeit im Bergleih mit den übrigen Samm⸗
lungen von Bollsbüchern braucht nicht ausführlich er-
Örtert zu werden. Simrock bat zuerft, wie man von
einem Bachmann nicht anders erwarten konnte, auf bie
ursprünglichen Quellen hingewieſen und bat diefelben, wenn
aud) in ber Sprache etwas erneuert, getreu wiedergegeben.
Die Erneuerung ift übrigens fehr unmefentlih und un⸗
bedeutend, da die Quellen nicht älter als das 15. Jahr⸗
hundert find, aljo einem Zeitalter angehören, in welchem
die deutſche Sprache im wefentlichen ſchon den heutigen
Charakter an fich trägt. Auch die „Auserlefenen Volksbücher“
haben denfelben urkundlichen Werth; fie wiederholen genau
die Texte der größern Sammlung. Zu bedauern ift,
daß die Holzſchnitte weggeblieben find, denn uns will
fcheinen, daß diefelben bei einer auf weitere Kreiſe be⸗
rechneten Auswahl beinahe noch mehr am Plage waren
al8 in der großen Ausgabe. Bon den beiden vorliegenden
Bäuden enthältder erfte die Volksbücher von „Senovefa”, den
„Heiligen drei Königen‘‘, den „Haimonslindern“, „Hirlanda‘,
„Sibyllen Weiffagung” und dem „ehörnten Siegfried”.
Unter diefen find Genovefa, die Haimonslinder und Sieg-
fried wol jedem Lefer jo geläufige Namen, daß wir eines
nähern Eingehens auf fie und überhoben glauben. Wer
niger befannt möchte da8 Vollsbuch von ben „Heiligen
drei Königen“ fein, welches im 14. Jahrhundert von Jo⸗
hann von Hildesheim (geft. 1375) in Iateinifcher Sprache
abgefaßt und noch anı Ende deffelben Jahrhunderts (1389)
ins Deutfche übertragen wurde. Eine bafeler Handfchrift
vom Jahre 1420 ift das ältefte Document der dentichen
Geſtaltung, welche gedrudt erft am Ende des 15. Jahr⸗
hunderts erjchien. Dieſe Gefchichte von den Heiligen brei
Königen, deren Legende mit Köln in Verbindung gebracht
ift, Hat ſchon Goethe's Wohlgefallen erregt und wird
auch unfere Zeit durch den einfach ſchlichten Ton ficherlic)
anmuthen. Durch feinen Inhalt berührt dieſes Büchlein
fid) mit den Weiffagungen der Sibyllen, welche wie fo
viele unferer Voltsbücher auf einer ältern poetiſchen Faſ⸗
fung beruhen; man löfte die alten Gedichte, dem Ges
ſchmacke der Zeit entfprechend, in profaifche Form auf,
und fo wurden fie gedrudt. Das Gedicht von „Sibyllen
Weiſſagung“, welches der Mitte des 14. Jahrhunderts
angehört, ift nun allerdings nicht die einzige Quelle des
Volkobuchs, fondern dieſes ift aus Mitbenutzung anderer
Sibyllenfchriften von mehr gelehrtem Charakter hervor⸗
gegangen. Engern Anſchluß an die zu Grunde liegende
Dichtung zeigt das Volksbuch von „Wigoleis vom Rade“,
welcher den zweiten Band eröffnet, denn diefer ift in
der That nichts anderes als eine directe Proſaauflöfung
der Dichtung des fränfifchen Ritters Wirnt von Grafen⸗
berg aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts.
Der zweite Band enthält außerdem ben „Armen Hein⸗
rich“, „Herzog Ernſt“, „Ahasverns“, „Kaifer Octavianus“
und die „Schöne Melufina‘. Das erfte der genannten Bü
her ift fireng genommen fein Bollsbuch, wol aber im Bes
griff eim folches zu werden. Es ift die. befannte Dich—⸗
tung Hartmann's von Une (um 1200 verfaßt), auf
welche biefes jüngfte aller „Volksbücher“ fußt. Der
Bearbeiter Bat dabei durchaus denjelben Weg eingeſchla⸗
gen, den die Volksbücher des 15. Jahrhunderts auch ge»
gangen find: er gibt im wefentlichen eine Proſaauflöſung,
in welcher gerade wie auch in ben alten Druden ber
Volksbücher hin und wieder no die Reime zu erkennen
find. Man kann fragen: bat ein moderner Bearbeiter
das Recht dazu, auf dieſe Weife in ber unmittelbaren
Gegenwart ein Volklsbuch zu fchaffen und es den alten,
längft überlieferten Vollsbüchern an die Seite zu ftellen?
Wir glauben: ja, wenn bie Erzählung ihrem ganzen
Charakter nad) dazu angethan ift, ein Bollsbuh im
echtem Sinne zu werden. Und dies ift ficherlich, wie
jeder zugeben wird, beim „Armen Heinrich” der Fall. Wäre
das Gedicht Hartmann's einem jener Projaanflöfer bes
15. Jahrhunderts gerade umter die Hände gekommen, es
würde uns dann wahrjcheinlih aud in einem Drude des
15. Yahrhunderts nur in Profageftalt vorliegen. Wir wol⸗
Ien aljo dem trefflichen Exrnenerer dankbar fein, daß er
das, was der Zufall im 15. Jahrhundert verfchuldet Hat,
im 19. nachgeholt.
Der zunächft folgende „Herzog Ernſt“ weift uns wieder
auf ein lateinifches Original, ein Werk eines Geiftlichen
aus dem 13. Jahrhundert, welches ſeinerſeits wieder
auf einer alten deutſchen Dichtung von 1180 berußt.
Nach diefem Iateinifchen Zerte wurde im Anfang des
15. Jahrhunderts, wenn nicht ſchon am Ende des vor⸗
audgegangenen, eine beutfche Ueberfegung gefertigt, Die
fih in einer münchener Handſchrift zugleih mit dem
lateiniſchen Original erhalten Bat; und diefe Handſchrift
ift, wie ich in meinem „Herzog Ernft“ nachgewieſen habe,
da8 Original, aus welchem die alten Drude geflofien
find. Hätte ftatt der Mönchsproſa der Ueberſetzer das
alte lebensvolle Gedicht vor fich gehabt, wie beim Volks⸗
buche von „Zriftan”, „Wigoleis“ u. a., und es in Profa
aufgelöft, fo würbe das beutfche Volksbuch von „Herzog
Ernft ohne Frage einen beſſern Eindrud machen. Wir
jehen aus diefem Beifpiele, wie fehr wir vom Zufall
abhängig geworden find. Sollte nicht auch hier es ver⸗
ftattet fein, der Ungunft deffelben zu Hülfe zu kommen?
Wir Halten es durchaus für unbedenklich und erlaubt.
Bon allgemeinerm Intereffe wird der nun folgende
„Ahasverus“ fein, weil ex die ältefte Duelle und Darftel-
Iung der Sage vom Ewigen Juden ift, der fo viele
unferer neuern Dichter zu poetifcher Bearbeitung gereizt
dat. Die Erzählungen von ihm tauden im 16. Jahr⸗
hundert auf; die ältefte befannte Ausgabe ift eine leydener
bon 1602, welche aber von geringem Umfange ift und
den Anfang bei Simrod bilde. Nachher folgen aus
jpätern Ausgaben entnommene ausführlichere und jüngere
Berichte, welche aber gleichwol auch auf ältere Quellen
Feuilleton.
und Ueberlieferungen zurückweiſen. Die beiden letzten
Stüde des zweiten Bandes: „Octavianus“ und „Schöne
Melufina”, ruhen auf franzöſiſchen Profaquellen, die ihrer-
jeits wieder auf Äftere Dichtungen zurüdzuführen find; denn
143
in Frankreich war der Entwidelungsgang der Volfsbicher
genau derfelbe wit in Deutfchland: auch fie find Profaaufs
Üfungen älterer Gedichte, die im 15. Jahrhundert und fpäter
diefe Formveränderung erfuhren. Karl Bartſch.
Feuilleton.
Notizen.
Dr. Friedrich Sehrwald gibt Heraus: „Deuiſche Dich⸗
ter uud Denker der vaterländifhen Jugend und ihren Freun-
deu ausgewählt und durch Titerarbiftoringe Charakteriftifen eine
geleitet“ (Altenburg, Bonde, 1870). Uns liegen die drei erfteu
Lieferungen vor; das ganze Wert ift auf zehn Lieferungen bes
rechnet. Was die Principien der Auswahl betrifft, fo können
wir fie nur billigen. Sämmtlihe Sähriftfteler, von denen
Proben mitgetheilt werden, gehören mit wenigen Ausnahmen,
zu denen Luther, Paul Gerhardt und Logau zählen, den legten
hundert Jahren unferer Nationalliteratur an. Auch die nenern
Dichter find, und mit Recht, in hervorragender Weife berlid-
ſichtigt worden. Dies if ein Foriſchritt gegen derartige Lite-
raturmerfe für die Jugend, welde nur den alten tradittbnellen
Kram immer von neuem auftifhen. Treffend fagt der Here
ausgeber in der Borrede: „Wir haben unfere Auswahl, jedod)
nur was die Dichter anlangt, bis herauf zur nädjften Gegen⸗
wart geführt, da diefe, in der Dichtlunft wenigfiens, troß man«
her Abirrung und,den mehr zur Herrfhaft gelangten Zeitten-
denzen, in den bervorragendern Berfönligkeiten noch immer
unter der Anregung und dem Einfluffe von Schiller und Gor-
the fteht. Cine zwedmäßige Auswahl gerade aus den neuern
Dictern ſchien aber um fo mehr von nöthen zu fein, je leichter
hier Irrangen Über Berth und Unwerth zumal für die Jugend
möglid, find, der doch fiher ein beflimmteres Recht auf eine
nähere Betanntſchaft mit den poetifhen Leiftungen der unmittel-
baren Gegenwart nit abgeſprochen werden fann. Wo Lönnte
jemals wieder ein ciaſſiſches Zeitalter der Porfie gehofft wer⸗
den, wenn bie Dichter fort und fort fängen nnd unfere Jugend,
als wäre aller Gefang ausgeftorben und pulfirte das Leben der
Boefie nicht mehr in friſchen Herzſchlagen, nur mit den großen
Scöpfungen der Vergangenheit bekannt gemarht würde, die,
je weiter fie hinter ung zu liegen kommt, um fo viel mehr ge»
iehrten Apparat zu ihrem Verfländniß nöthig made.” Aud
die, freilich wicht bei allen einzelnen Autoren durhführbare
Dreitheifung der ausgewählten Proben in Lieder, Sprüde und
Anregungen verdient die Zufimmung der Kritil. Ju der That
befigt umjere Literatur, wie Sehrwald fagt, einen reihen Schatz
von Sprüden, der für die Jugend nod nicht gehoben ift.
Auch unfere modernen Dichter find reich am Senienzen, und
die mehr oder minder prägnante Faffung derjelben erjcheint
ung für die Werthmeſſuug der dichieriſchen Begabung als ein
entfdeidender Maßſtab. Es gibt vielgenannte Schriftfteller,
deren Werfen man kaum eine für dem Gedanfenfhag der Na-
tion geprägte Geiflesmünge entnehmen Tann, während die did-
teriſche Originalität anderer Zieffinniges in dauernder Form
des Ausdınds niederlegt. Daß_Gehrmwald auch die hervore
ragenden Denker mit in feine Sammlung aufgenommen, ift
am und für fid) au billigen, wenngleich bei Mitheifung einzel»
mer Bruchftüce die Gefahr unvermeidlich ift, daß die Popular«
philoſophen über die großen Denker, deren ſyſtemſchaffende
Thatigieit ſich in Fragmenten gar nicht abipiegeln fann, den
Sieg davontragen, uud ein Garde und Fries 5. ®. in einer
folhen Sammlung bedeutender eriheinen als Fichte. Ein
gleiches Bedenken hegen wir gegen die vorzugsweiie Befchrän«
fung auf die Lyrik; bis auf Hleinere fentenzenartige Stellen
Find alle Brudftüde aus Epen und Dramen ausgefdloffen.
Der Herausgeber erklärt dies damit, daß er ftets beftrebt jei,
ein im fi) geſchloſſenes Ganzes zu geben, das aud für fi
allein ſchon verftändlidh fei. Allerdings wird ein epiſches und
dramatifes Kunftwert als Totalität nie aus Fragmenten be
urtheilt werden können; gleichwol läßt fih aus einzelnen Sce-
nen und Stellen, die wenigflens ein relatives Ganzes bilden
und an und für fid verländlic, find, dad) der epifde und
dramatifhe Stil eines Dichters und die Eigenthlimlichteit fei-
ner Darftellungsmeife erfennen. Dies f—heint uns fhon genli-
gend, um die Dutalung auch ſolcher Fragmente zu rechtfertie
gen. Mehr noch aber fordert dezu eine andere Gefahr auf.
Das Urtheif der Jugend faun leidjt verwirrt werden durch die
ausſchtiehiiche Berldfigtigung der Lyrifer. Cin Autor, dem ein»
mal ein artiges Lied, ein hübfdhe® Gedicht gelang, fteht hier in
Reih und Glied mit den Meiſtern des Gefanges, während epiw
ſche und dramatifhe Dichter vom großer geifiiger Bedeutung
und großem Streben, die in der Nationalliteratur und in ihrem
Einfluß auf die Nation eine ganz andere Rolle fpielen, auge
geſchloſſen find, fobald fle nicht auch einmal in der Lyrik ſich
verfuchten. Die „Wuthologien‘ ſchon beglinfigen die hrifer
in gleiher Weile; ein Wert, das „deutfhe Dichter und Den-
ter“ bringt, follte diefen Standpuntt der Anthologien nicht zu
dem feinigen machen.
„Bon Leopold von Ranke’s „Sämmtlichen Werken"
(Leipzig, Duuder und Humblot) find im vorigen Jahre ber zwöifte
bis funfgehnte Band erjdjienen. Wir machen befonders auf den
dreigehnten aufmerffain, welcher als ſecheter Band der „Franzöfie
fen N die Briefe der Serjogin von Orleans an die
Kurfücin Sophie von Hannover mit einer kurzen Charal-
teriſtit der Vriefftellerin in Rante’s gemohnter feinausfchneiden-
der Silßonettenmanier enthält. Der derbftäftige Originalfil der
Herzogin fhreibt die euliurhiſtoriſchen Bilder mit Fraciurfchrifi
Sehr ungenau zeigt ſich das Porträt, das neuerdings Paul
‚Heyfe mit feiner alademifder Pinfelführung in feinem Drama
von ihr entworfen hat. Der vierzehnte und funfzehnte Band
bitden die beiden erſten Bände der „Englifhen Gejchichte, vor⸗
nehmlid, im 17. Jahrhundert‘, ein Werk, das bier im dritter
Auflage erſcheint.
„Dumbolbtperlen. Gin Demantkranz aus Alerander
von Humbolbt’s Leben und Schriften” (Leipzig, Wartig, 1869)
lautet der Titel einer Meinen Anthofogie, die vorzugsweife aus
dem „Kosmos“ zufammengeftellt ift; die „Anfichten der Natur‘
und die „Amerifanifde Reife‘ geben geringere Beiftener. Auch
Barnfagenie „Zagebücher" find eitirt im erften Abjchnitt, der
einen Abriß von Hnmöoldt's Leben gibt. Ein chronoiogiſches
Berzeihniß feiner Schriften ift dem Werkchen angehängt.
Kibliographie.
Almeisa, ein Drama
arbeitet. Bert
je
keclin, Sante, 8.
eber, Die Aöfte
beutfcpe Wolf und jeine Bertrei
erther,
gt
dr
rauenrache. Amerikanif ü
ne: Benin, Dongmann k. dompı dr 5 gienteman i
Ein offenes Wort in Sachen der Re
aller Confessionen geschrieben von einem.
Für denkendo Christen
ien. Bern, Jenni. Gr. 16,
gr.
Ein Wort an das bayerische Volk und dessen Vertreter von einem
Soldaten. Würzburg, Sinhel, Gr. 8. 6 Ner. j
Zi m Studien und Kritiken zur Philosophie und
Ei Wien, Braumäller. Gr. 8, 4 Thlr.
Zingerle, d. V,, Bericht über die in Tirol im Jahre 1868 ange-
stellten Welsthämer- Forschungen, Wien, Gerold's Sohn. 1869. Lex."
4 Ner.
Au TE. 1
TEL u “
144
Un eig
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Hundert Dafre.
1770 — 1870.
Zeit» und Lebensbilder aus drei Generationen.
Bon Heinrich Albert Oppermann.
Erfter Theil. 8 Geh. 1 The. 10 Nor.
Wenige Tage nad dem Erſcheinen des erften Theile dieſes
Werks farb plötlic der Verfaſſer deffelben, der als Mitglied
bes prenßiſchen Abgeordnetenhaufes bekannte Obergerichtsanwalt
Oppermann ans Hannover. Das Werk, ein umfaflfender cul-
turhiftorifher Roman, verbindet Wahrheit und Dichtung zu
er Reihe vierfeitip. intereffanter Gemälde, die im ihrer Ge⸗
A mtbeit das Zeitbild eines ganzen Fahrhunderis entrollen.
Beſonderes Intereſſe dürften die Illuſtrationen zur Geſchichte
des Welfenreichs, meiſt nad) eigenen Erlebniſſen des Verfaſſers
mitgetheilt, in Anſpruch nehmen. Die folgenden Theile des
(im Manuſeript vorliegenden) Romans werden raſch nachein⸗
ander erſcheinen.
Verlag von Fr. Kortlampf in Berlin.
Stedefeld, G. F. Kreisgerichtsrath. Natura⸗
liſtiſche Auffaffung der Engländer von Stant
und Kirche, leg. geb. 24 Ser.
„Das Bud) fteht auf dem Standpunkt der jet in England
herrſchenden liberalen und national. dölonomifden Schule, und
da deren Grundfäge und Anſchauungen ja mehr oder weniger
auch die der Liberalen Parteien des Kontinente geworben find,
fo wird ihre zufammenhängende Darlegung and Hier fowol
Studirenden ale Publiciften und Abgeordneten von Nugen fein.
Der Meberfeger Hat daher mit feiner Einführung in Deutſch⸗
Yand eine banfenswerthe Arbeit geliefert." (Boſſiſche Zeitung.)
Wrottesiey, Lord. Gedanken über Regierung
und Geſetzgebung. Aus dem Engliſchen überſetzi
von ©. F. Stedefeld, Kreisgerichtsrath. Berlin,
1869. SKortlampf. 1 Thlr. 5 Sgr.
Didastalic, Nr. 221. 11. Auguft 1869. „Bedeutender
find zwei PhiloTepbiig- -politiihe Schriften: Gedanken über Re⸗
gierung und Gejehgebung von Stedefeld und eine von letzterm
verfaßte Studie Über die materialiſtiſche Auffaflung der Eng»
länder vom Staat und vom Chriſtenthum, die zu jenem gehört
und eine felbftändige Auffafjung bekundet.‘
Desfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erſchien:
equiem
von Dranmor.
Zweite Anflage 8 Geh. 10 Ngr. Geb. 15 Nr.
Diefer bereits in zweiter Auflage vorliegende Cyllus von
Gedichten wendet fih an die Freunde ernfler, gedankenreicher
Poeſie. Sie begegnen darin einem originellen und tiefen Geifte,
der feine Ideen in das Gewand vollendeten dichterifchen Aus⸗
drucks zu Heiden verftebt. .
Don dem (pfendonymen) Derfaffer erſchien früher in demſelben Derlage:
Boetifhe Fragmente Zweite Auflage 8 Geh. 24 Ngr.
Geb. 1 Thlr.
Anzeigen.
igenm
OT ERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 3. Heft.
Geschiehte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy-
denbrugk. — Nekrolog.
Literatur: Max Müllers Essays zur vergleichenden Re-
ligionswissenschaft und Mythologie, von Dr. Dühring. —
Friedrich Spielhagen, von A. Strodtmann. — Nekrolog.
Kunst: Zur Kenntniss unserer grossen Komponisten. IV.
Robert Schumann. — Nekrolog.
Archäologie: Steinzeitalter auf den griechischen Inseln. —
Kjökkenmöddings. — Die alten Heidenschanzen Deutsch-
lands.
Meteorologie: Die neuesten Fortschritte der Meteorologie.
Zoologie: Der Galago. — Das Blasen der Wale.
Botanik: Die Wechselbeziehungen in der Verbreitung
von Pflanzen und Thieren. — Wasserverdunstung der Pflanzen.
Mineralogie und Geologie: Organische Reste in kry-
stallinigchen Gesteinen, von H. Vogelsang.
Volkswirthschaft und Statistik: Volkswirtbschaftliche
Umschau, von A. Lammers. — Die Geschichte des deut-
schen Zollvereins und Zollwesens, von Dr. Diühring.
Handel und Verkehr: Die schweizerische Alpenbahr, I,
von C. Kind.
Technologie: Kohlensäure zur Feuerlöschung. — Feuer-
feste Thone.
Illustration: Der Galago.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Derſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Alfred de Musset.
Eine Studie von
Karl Engen von Ujfalvy
Professor am nen. Lyceum J —
8. Geh. 1 Thlr.
Mit dieser Schrift beabsichtigt der Verfasser, den grossen
französischen Lyriker Alfred de Musset dem Verständniss des
Publikums näher zu bringen, indem er die einzelnen Dichtungen
im Zusammenhange mit dem Leben des Dichters vorführt und
sie mit sprachlichen und ästhetischen Erläuterungen begleitet,
Verlag von Fr. Kortkampf in Berlin.
Buchhandlung für Staatswissenschaften
und Geschichte.
Mittheilungen
aus den nachgelassenen Papieren
eines Preussischen Diplomaten,
herausgegeben von dessen Neffen L. v. L.
I. Band (enth. die Jahre 1779 bis Ende 1796) 2 Thaler.
Am Schluß einer ansführfichen Beiprehung in Nr. 13
der „Heidelberger Jahrbücher“ heift es:
„Man mag aus diefer kurzen Angabe des in biefen Mit⸗
theilungen Enthaltenen die Wichtigkeit und die Bedeutung def»
jelben entnehmen; fie verbreiten fi) über eine Periode, die auch
in unfern Tagen zu einer vielfachen Controverfe über dae Ber-
baften der beiden Großſtaaten Defterreih und Preußen in jener
Periode geführt hat, und werden daher der geſchichtlichen For⸗
[hung ein neues, beachtenswerthes Material zuflihren.‘
Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von $. A. Brockhaus in Leipzig.
|
Blätter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—a Br, 10. #9
3. März 1870.
Inhalt: Publiciſtiſch-hiſtoriſche Schriften. Bon Rudolf Doebn. — Neue Gedichte. Bon Gans Herrig. — Zur Culturgeſchichte
des 18. Jahrhunderts. Bon Geinrig Räder. — Bom Büchertiſch. — Senileton. (Die Tantieme der Dramatiker und der nord⸗
bentfche Reichstag.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Publiciſtiſch · hiſtoriſche Schriften.
1. Revolutionsbilder aus Spanien. Bon Michael Klapp.
Hannover, Rünpler. 1869. Gr. 8, 1 Thlr.
. Bor und nad) dem riege. Der Bermifhten Schriften
zweiter Theil. Bon Heinrich Bernhard Oppenheim.
Stuttgart, Kröner. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Nor.
3. Rußland. und Europa. Bon Henri Martin. Deutſche
dom Berfafjer darchgeſehene und vermehrte Ausgabe. Ueber»
fett umd eingeleitet von Gottfried Kinkel. Haunover,
Rümpler. 1869. Gr. 8. 1Thlr. 15 Nor.
Es war zu erwarten, daß ein Ereigniß wie ber
Sturz der Bourbonenherrfchaft in Spanien in unferer
fchreibfeligen Zeit eine Menge von Federn in Bewegung
fegen würde, mochten diefelben nun befähigt fein, etwas
Gebiegenes zu Leiten, ober nicht. Was zunäcft die „Re⸗
volutionsbilder ans Spanien“ von Michael Klapp (Nr. 1)
anbetrifft, fo find diefelben, unferer Meinung nach, von
ſehr verfchiedenem Werthe. Ein fließender, gewandter Stil
und eine pilante, feſſelnde Darftellung find an ſich loben»
werthe Eigenſchaften, aber fie reihen nicht aus, um ernſte
geſchichtliche Ereigniffe in würdiger Weife zu ſchildern.
Dazu gehört mehr; bazu gehören vor allen Dingen
wiffenfhaftliher Sinn, genügende Sachkenntniß und ein
möglichft objectiver Forſchungsgeiſt, welcher den Cau-
ſalnexus ber wirklichen Thatſachen zu erfaffen und ber
Wahrheit gemäß wiederzugeben weiß. Blinde Partei»
leidenſchaften verwirren nur und vermögen felbft die befte
Sache nit zu fördern. Michael Klapp, der unſers
BWiflens ein beliebter Fenilletonift eines bedentenden
Blattes in Wien ift oder war, bereifte im Herbſt des
Jahres 1868 Spanien, ſah bie revolutionäre Entwide-
lung daſelbſt mit eigenen Augen und gibt ung nın in dem
vorliegenden Buche die Refultate feiner Beobachtungen.
Wir müſſen geftehen, daß wir faum glauben, Klapp
wird durch feine „Revolutionsbilder“ feinen literarifchen
Ruf mehren. Namentlich find die drei erften, unter dem
Motto „A bajo los Borbones!” mitgetheilten Skizzen:
„Das Bourbonenneft in Ban“, „Eine Begegnung mit Carlos
1870. 10.
0*
Marfori und Padre Claret“, „Aus dem Roman der Köni-
‚gin“, weber dem Inhalt noch der Form nad) empfehlenswerth.
Die Ausdrudsweiſe ift oft geradezu lax und unzart, und
die mitgeteilten Thatfachen trivial und ungehörig. So
heißt es z. B. ©. 9 über Yfabella II. wörtlich:
Aber man glaube ja nicht, die Bourbonenfürftin habe
irgendweichen tprannifcien Zug im Antlig! ®eileibe nicht.
Wenn man lange darin ſucht, findet man fogar einen gewiſſen
Grad von Gutmlthigkeit darauf verzeichnet. Alfo gutherzig
if fie and? „Dod das find fle alle”, fagt Ferdinand von
Balter in „Cabale und Liebe” von einer gewiffen Gattung
von Frauenzimmern, in ber ſich mitunter aud Königinnen
finden. Iſabella ift 37 Jahre alt, ziemlich groß gerathen im
Wuchſe, hat Augen vom nichteſagender Bläue, Augen, die des
weifen Mirza Schaffy Sprud: „Des Auges Bläue deutet auf
Trene‘, nicht wenig discreditiren. Im ihrem Gefichte ift das
Hübfhhefte allenfalls der Heine Mund, der fo friſch drein ſchaut,
als ginge er gerade zum erſten Kuſſe, während ih in feinem
alle mit der Aufgabe betraut fein möchte, nad) intimen, amt-
fen Duellen den Rechenſchaftsbericht Über dieſes Mundes
Iangjährige Thätigkeit Herzuftellen. Nähere harakteriftiihe Keun-
yißem von Ginnlicgfeit fehlen ganz im Geſichte ber aönigin,
man wäre verſucht, fie faſt für phlegmatifh zu Halten. Biel-
leicht fagen phrenologifche Unterfuhungen mehr von dem, was
wir alle ohnehin wifien.
In biefer Weife, die oft wirllich obfcön wird (S. 10
heißt e8 3. ®.: Nabella Hat für fi) das Motto: „Wein,
Männer und Gebetbiiher” und ift merkwürdigerweiſe bei
diefer Lebensweiſe fehr did geworden), geht es Seiten hin
duch fort; fabella’s Gemahl, Don Francisco, wird
als „Zitularmann“ und „Titularkönig“ mit benfelben
oder doch ganz ähnlichen Farben gefchildert wie feine
Tran.
Wir find durchaus nicht geneigt, die Königin Iſabella II.
und das ganze Bourbonenwefen in Spanien oder fonftwo
zu vertheidigen ober auch nur zu entſchuldigen; aber im
Namen der Publiciſtik, im Namen der Geſchichiſchreibung
müffen wir gegen bie Art und Weiſe proteftiven, wie
Michael Klapp in dem in Rede ftehenden Buche beide,
19
146
die Publiciftit und die Gefchichtfchreibung, in den Staub
berunterzieht. Nicht jeder, der es fein möchte, ift ein Jo⸗
bannes Scherr.
Unter den folgenden Schilderungen find einzelne fach»
lich werthooller und ftiliftifch beffer gehalten, jo 3. 2.
die als Feuilletonartikel Leidliche Skizze: „Eine Heerfchau“,
und ber Aufſatz: „Riego und die Riegohymne.“ Der
legtgenannte Artikel enthält anerkennenswerthe Deitthei-
lungen über den „Spanischen Rienzi“ und gibt die von
San-Miguel, dem Freunde Riego's, gedichtete Riego⸗
hymne in der MWeberfegung des Dr. Faſtenrath. “Der
Componift diefer fpanifchen Marfeillaife war Don Joſe
Melchore Gornis y Colmer; er ftarb in ärnlichen Ver⸗
hältniſſen zu Paris am 4. Auguſt 1836.
Auch die biographiſchen Skizzen über Prim, Serrano,
Topete, Dlozaga, Caſtelar und Garrido, womit daß
Buch jchließt, enthalten manches Intereſſante und Lehr⸗
reihe, doch kaum genug, um den übeln Eindrud zu ver-
wifchen, welchen bie erften „Revolutionsbilber” bei jedem
Lefer, der einen gebildeten Geſchmack befigt, hervorrufen
müſſen.
Gediegener an Inhalt und ruhiger der Form nach,
als das Klapp'ſche Werk, iſt Heinrich Bernhard
Dppenheim’s „Bor und nad dem Kriege” (Nr. 2),
obſchon auch Hier ftellenweife der Parteimann zu fehr in
den Bordergrumd tritt. Wie der Berfafler in der kurzen
Borrede feines Buchs erflürt, find die darin veröffent-
lichten Aufſätze in den letzten drei bis vier Jahren ent-
ftanden umd tragen deshalb allerdings faſt durchweg
ganz dentlih das Gepräge ihrer Entjtehungszeit. Wenn
es aber nicht felten vorkommt, daß manche publiciftifche
Aeußerungen über Stimmungen, Richtungen oder Bes
gebenheiten, die zu der Zeit, wo fie zuerft gethan wurden,
nicht allzu ſchwer ins Gewicht fielen, fpäterhin ein nicht
zu unterfchätendes hiſtoriſches Intereſſe gewinnen burch
ben Ueberblid über Zufammenhang und Entwidelung von
Borangegangenem zu Nacdjfolgendem, jo müſſen wir zus
geben, daß die Mehrzapl der von Oppenheim in dem
vorliegenden Buche publicirten Auffäte in dieſe Kategorie
gehören dürfte. Andererfeits fcheinen und aber dieſe
Auffäre weder ein fo großes publiciftifches Intereſſe
noch einen fo Hohen Hiftorifchen Werth zu befigen, daß
wir uns veranlaßt fühen, diefelben hier einzeln einer ge«
nauern Beſprechung zu unterziehen. Es wird genügen,
wenn wir unſere Lefer auf einige Artikel befonders auf-
merkſam machen.
Das Oppenheim'ſche Buch zerfällt in drei “Theile,
von denen der erſte fünf Aufſätze politifchen Inhalts zählt;
der zweite ift „Allerlei“ betitelt und enthält drei Artikel,
von welchen die literar=hiftorifche Studie ‚Paul Louis
Courier” volle Anerkennung verdient; der dritte Theil
endlich umfaßt acht Kritiken, bie ſämmtlich interefjant
und leſenswerth genannt werden müfjen.
Unter diefen 16 Auffägen wollen wir nun folgende
kurz hervorheben.
Gleich der erfte Aufſatz des erften Theils, „Die
Garantien der freiheit“ überfchrieben, ift eine verbienft-
volle, von Geift und Sachlenntniß zeugende Arbeit. Der
Autor erkennt darin die großen Vorzüge des Gneift’fchen
Werks über „Das englifche Verwaltungsrecht“ gern an,
Publiciſtiſch-hiſtoriſche Schriften.
erflärt aber mit Recht, daß Gneift durch feine Nachwei⸗
jungen, die Berwaltung fei in England das eigentlich
Primitive gewefen und die Verfaffung habe fi aus ihr
erſt jpäter entwidelt, zu vielen Misdeutungen Beranlafjung
gegeben habe, und daß er genöthigt fei, folche verkehrte
Interpretationen abzulehnen. Berfaffung ift nach Oppen-
heim in ftaatlichen Dingen nichts anderes als Garantie;
denn da8 Weſen einer Berfaffung beftehe in ben Ga⸗
rantien ihres Beftandes. Der Autor tritt (S. 10) dem
Gemeinplage entgegen, demgemäß man England für eine
ariftofratifche Republik zu erklären pflegt; es ſei richtiger,
zu jagen, England fei eine oligarchifche Republik, die
fih täglich mehr demokratifire.e Wenn er aber (©. 11)
behauptet: „weder die helvetifche noch die nordamerifanifche
Republik umfafjen eine einheitliche Nation und entfprechen
dem Bedürfnig der nationalen Staatseinheit“, fo liegt
in biefer Behauptung, für melde er übrigens ben Be-
weiß ſchuldig geblieben ift, Wahres mit Falſchem ver-
mifcht. Sehr richtig fagt er dagegen ©. 30 fg.:
Frankreich ift nicht deshalb unfrei, weil es die Gleichheit
vor dem Geſetze Hat, fondern weil e8 bie freien Gemeinde»
inftitutionen entbehrt und unter einer imperialiftiihen Centra«
lifation mit rein bureaufratiicher Verwaltung ſteht. Daß unter
Ludwig Philipp eine Art Gentry, die haute bourgeoisie näm«
lich, fi der Regierung bemächtigt hatte, änderte nichts an dem
Weſen diefer Zuftände, Allerdings erfchien die Herrichaft mil⸗
der, da fie von einer ganzen und ziwar einer aufgeflärten und
erwerbsthätigen Klaffe ausging, als jest, two das Heft in ben
Händen eines Einzelnen if. Diejes Beifpiel fpriht ja aber
gerade für die fortwährende Erweiterung und Ausdehnung der
an der Regierung zu betheiligenden Klafje bis zum allgemeinen
Stimmredt.
©. 31 bemerkt Oppenheim mit Recht, daß die befte
Verfaſſung durch eine fchlechte Adminiftration oder Ver⸗
waltung um ihren Segen gebracht werden faun; ebenjo
hob er früher (S. 4) hervor, daß der BVerfaffungseid,
„den man, aus befonderer Schonung, nicht einmal dem
ftehenden Heere auferlegt”, zwar nicht immer gebrochen,
aber jehr oft „ausgelegt“ wird. Die Sranzofen haben die
politiſche Gentralifation erftrebt, welche zur Vollendung
eines jeden Nationalftaates unentbehrlich ift, und welche
auch in Großbritannien mit „Blut und Eifen” durch⸗
gejeßt wurde; fie haben bei diefem analogen Entwide-
lungsproceffe neben der politifchen Centralifation aud
die adminiftrative Centralifation in den Kauf befommen,
ohne den Werth und Inhalt diefes zweibeutigen Geſchenks
genau zu kennen. Wenn eine zu hoc) gefchraubte admi⸗
niftrative Centralifation allerdings die Zuvielregiererei
und den bureaufratifhen Wbfolutismus bedeutet, fo Liegt
dod) in der Zerfplitterung nicht das Heilmittel bagegen.
Das hieße nur, wie man zu fagen pflegt, den Teufel
austreiben durch Beelzebub. Die bureaufratifchen Uebel
in ariftofratifchen Gemeinwefen find oft nicht geringer,
blo8 weniger fihtbar als in ben gleichheitlich centrali=
firten. Der Autor fagt:
Dean bane die Gemeinde von unten auf, aber man wolle
fie nicht von oben herab conftruiren; fie fei fein bloßer Ver⸗
waltungsbezirt, wie in Frankreich, kein Staat im Staate, wie
im Mittelalter, aber doch eine felbfländigere Organifation als
in England.
n Der Schluß des Auffages ift vortrefflich und lautet
alfo:
er er
Bubliciftifä-hiftorifhe Schriften.
Es handelt fich überall bei dem fpecififch freiheitlichen
Werth der Inftitutionen nicht blos darum, wie viele Beichrän-
fingen der Gewalt fie enthalten, fondern mehr nod darum,
m welchem Zufammenhange fie mit dem Volksgeiſte fichen,
und in weldem Grade fte die allgemeine Betheiligung der
Bürger weden. An den freien Gemeindeorbnungen preifen wir
nicht blos, daß fie einen Damm gegen bie Überflutende Re-
gierungsgewalt bilden, fondern mehr noch, daß fie den Bürger
zur Selbfländigfeit erziehen. Ebenſo bei den parlamentarifchen
Functionen: fie jchligen die Nechte des Volle und wirken auf
deffen politifche Erziehung zurück. Dazu gehört eben, allen
Heinlihen bureaukratiſchen Bedenken zum Trotz, die praktifche
Erziehung durch das allgemeine Stimmrecht, ohne welches eine
wnbedingte allgemeine Betheiligung zur Anwendung und zum
Schutze der Berfafjung gar nicht denkbar if. Der Parlamen:
tarismus ift immer nur bie Spite des Gebäudes, das um jo
fefter ſeht, auf je breiterer Bafis es ruht. Alle Sicherheits-
ihranben ber Berfafjung mögen nod fo ſchlan ausgedacht fein,
die ganze Mafchinerie kann mitfammt den Schrauben untge-
foßen werden, wenn nit das ganze Volk fie ſtützt. In dem
allgemeinen Staatsbewußtjein, in der dringenden Ueberzeugung
von der Allmacht des Geſetzes, in der Wehrfähigfeit und Be-
reitwilligleit jedes einzelnen Bürgers für daſſelbe Tiegen bie
einzigen wahren Garantien der freiheit. Dazu bedarf es langer
Arbeit und einer mit Bewußtſein zu leitenden Entmwidelung
des Gemeinweſens, d. 5. Bollserziehung.
Der vierte Auffag im erften Theil: „Partie oder Co⸗
terie?“ enthält viele wahre Gedanken und gefunde, ſtaats⸗
männifche Anfchanungen, darf aber faum für eine ob»
jective Kritik der Liberalen Parteien in Preußen gelten,
obſchon er dies dem Anfchein nach gern fein möchte; er
ft im der That nur ein Plaidoyer fir die fogenannte
nationalsliberale Partei und ein fcharfer Angriff auf die
Fortſchrittspartei. Es ift hier niht am Plate, eine
Kritit der Kritik Oppenheim's zu geben, die wirk—⸗
lich mehr eine oratio pro domo ift al8 etwas anderes;
nur das wollen wir bemerken, daß wir vollftändig mit
ihm darin übereinftinnmen, wenn er behauptet, daß bie
Zeit entfchieben vorüber ift, „in welcher das Rotteck—
Welcker'ſche Staatslexikon für den Inbegriff aller politi-
ſchen Weisheit gelten konnte”.
Der neunte Auffag ift eine interefjante Kritik des
befannten Buchs von Walter Bagehot über „Englifche
Berfaffungszuftünde”. Unfer Autor maht mit Recht
anf einige Irrthümer Bagehot's Hinfichtlih der Gewalt⸗
ausübung der englifchen Erecutive aufmerkfam und weiſt
darauf Bin, wie lehrreich die Parallelen find, welche der
genannte englifche Schriftfteller zwifchen Nordamerika und
England zieht. Daß übrigens Bagehot's Bemerkungen
über amerifanifche Zuftände und Berhältniffe auch nicht
immer zutreffend find, ift von uns bereits an einen an⸗
bern Orte hervorgehoben worden. *)
Endlich können wir nod) befonders empfehlen: Oppen⸗
heim's Befprechungen von Hermann Hüffer’s „Diploma
tiſchen Berhandlungen aus der Zeit ber Franzöſiſchen
Revolution” (Bonn, Marcus, 1868), einem Werke,
welches mit Glück gegen von Sybel und Häuſſer po»
Temifirt und die Baſeler PFriedensverhandlungen, die
Bräliminarien von Leoben und den Frieden von Campo-
Formio nad) ardivarifchen Quellen fchildert,; fowie den
vorlegten Auffag, der Robert Mohl's Schrift: „Ueber
die bürgerliche Gleichſtellung der Juden“, verdienter-
* Bgl. Aubolf Dochn, „Die politifhen Parteien in ben Vereinigten
Gtaaten von —ES 298 fg.
147
maßen Revue paffiren laßt. Nady Oppenheim tritt
gegenwärtig der Judenhaß bald pübelhaft, bald doctrinär
verkleidet auf, überall aber liegt ihm, wenn aud) unbes
wußt, in gewillen Grade Brotueid und Concurrenzfchen
zu Grunde, Robert Mohl's Judenthum in der Politik
reiht fih dem Richard Wagner’fchen „Judenthum in
der Muſik“ würdig an die Seite. Der boctrinäre
Judenhaß gloffirt, wie ſich Oppenheim ausdrüdt, den
pöbelhaften; und diefer taucht natürlich mit größerer
Lebenskraft wieder auf in einer Zeitepoche des neuein-
geführten Stimmrechts, wo die Vorurtheile und unedlern
Empfindungen der Maffe von vielen Seiten aufgebo-
ten und ausgebeutet werden, wo ſich zu dem Behufe
in vielen ©egenden bie Bureanfratie mit dem Pfaffen-
tum verbünde. Um fo fchärfer und firenger follte allen
diefen Reactionsverfuchen, auch wo fie ſich noch ſchüchtern
hinter gelehrte Bedenken verfteden, entgegengetreten wer⸗
den. Uebrigens trägt Mohl's Schrift über, oder viel
mehr gegen die Yubenemancipation einen gewiſſen reſig⸗
nirten, tief melancholifhen Ton.
Das Buch von Henri Martin (Nr. 3), einem
Gefhichtsforfcher, dem Türzlich das Institut de France
auf den Bericht des Herrn Mignet für feine „Histoire
de France” den zweijährigen großen “Preis von
20000 France zuerkannt hat, ift nach Inhalt und Form
nicht ganz leicht zu Haffificiren; denn es ift keine fort
laufende Erzählung gefchichtlicher Begebenheiten, fondern
ein Werk Biftorifcher Kritik, deſſen oft und Kar ausge-
ſprochene Tendenz dahin geht, nachzuweifen, daß im Intereffe
der Civilifation die Machtſtellung Rußlands in Europa ge-
brochen werden muß. Diefem Werke find, außer einer
ziemlich ausführlichen Vorrede von Gottfried Kinkel,
mehrere, zum Theil fehr wertvolle Anffäge verfchie-
dener Autoren aus den verfchiedenften Nationen als
„ Beilagen zur Erläuterung und Begründung “ bei
gegeben.
Kinkel erblidt noch immer in der ftaatlichen Wieder
geburt Polens das Heil Deutfchlands, und er tritt uns
auch Bier wiederum als der warme und begeifterte Ber-
theidiger der Moral in der Bolitit entgegen. Seine
Ausführungen enthalten viele beherzigenswerthe Winke,
dennoch Tiegt in ihm ftetS der Dichter zu fehr mit dem
Politiker im Kampfe. Er lernte Martin bei der Ein⸗
weihungsfeier des Polendenkmals in Rapperswyl im
Jahre 1868 perfönlich Tennen; bei biefer Gelegenheit
brachte Martin, den übrigens auch E. Vacherot in dem.
erften Juliheft der „Revue des deux mondes” (1869)
zu den bedeutendften und gründlichften Hiſtorikern des
modernen Frankreich zählt, einen glänzenden Zoaft auf
„die Föderation der europäifchen Staaten” aus. Kinkel
und Martin find zwei gleichgeartete Naturen, und man
darf allerdings, wie dies auch ſchon von anderer Seite
ber gefchehen ift, das in Rede ftehende Buch in mancher
Hinficht gleichfam als ein gemeinfames Werk beider Männer
betrachten. Folgende Sätze definiren hinlänglich Kinkel's
Stellung und Meinung:
Die Sache Polens ſteht auch in den Geſinnungen des
deutſchen Volks nicht mehr fo ſchlimm als es ſcheint, und wenn
Dentihlands öffentliche Meinung einmal zu Gunſten Polens
ſich umſchwingt, ift deffen Auferftehung nur noch eine Frage
19*
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148 Bubliciftifch-Hiftorifhe Schriften.
ber Zeit. Wenn ich fiber den Stand der Gemüther in Deutſch⸗
land gut berichtet bin, fo ift im Wolle felbft, zumal in der ge-
bildeten Kaffe, die Neigung zum Moskomitertium flark tm
Schwinden. In Oefterreih fieht und ahnt man die Gefahr,
feit Bogodin’s Iöplagen richtiges Wort: „ber Weg nad Kon⸗
flantinopel führt über Wien‘, ein Stichwort felbft unter den
Maſſen in Rußland geworden if. Die panflawiftiihen Wüh⸗
Iereien von Moslan aus haben jebem Ginfichtigen bie Gefahr
des Kaiſerſtaats anfgededt, ber ja zur Hälfte aus flawijchen
Böllerihaften zufammengefeßt if. Im Norddeutſchland flirdhtet
man fich weniger als man follte, aber die Angriffe des mosko⸗
witifhen Weſens nnd ber orthodoxen Kirche auf das Deutſch⸗
thum der Oſtſeeprovinzen haben Erbitterung erregt, und die
landwirthſchaftliche Verwüſtung Polens dur‘ ben ruſſiſchen
Guterraub ruinirt commerciell auch die angrenzenden preußifchen
Probingen. Man ſchlägt es nicht mehr fo Leichtfertig ſich aus
dem Sinn, daß die drei zur langfamen Ruſſificirung verur-
tbeilten Provinzen Kurland, Livfand nnd Efiland gro entbeils
alte Beftaubtheile des Deutichen Reiches find, daß die Bildung
dort weſentlich von dem deutſchen Lutherthum getragen wird
und auch tief in die einheimiſchen finniſchen und litauiſchen
Banern eingedrungen if, deren Vollsthum nie flark genug war
noch fein wird, um eigene Nationalflaaten zu gründen, während
doch auch das katholiſche Polen bort fchwerlich je wieder Sym-
pathien gewinuen kann. Schon E. M. Arndt und andere ha⸗
en darauf hingewieſen, daß, wenn Rußland nad) einem erfien
Feldzuge nicht zur Herfiellung Polens die Hand bietet, wir
Deuiſche dort nationale Anfprüche erheben follen. Ein ruſſiſcher
Krieg aber kann doch nur dann Sinn und Ausficht auf Erfolg
haben, wenn wir die Wiederherftellung eines polniſch⸗litaniſchen
Staats bis zum Dnjepr uns zum Ziele nehmen und den Ruſſen
ganz von unfern Grenzen zurückſchieben. Erheben wir mit
biefem Zwed gegen Rußland Krieg, fo haben wir die Sym⸗
pathien und theilweife die Allianz mit den europäifchen Völkern
für uns, und felbft die Vereinigten Staaten werben, wenn es
für Bolen gilt, ihre vor einigen Jahren ziemlich warme Ruflen-
freimdfchaft ſchweigen Lafjen, die Rußland durch allerlei Gefällig-
leiten und Zugefländniffe ohnehin ſchon Heute nicht vor ſtarker
Abkühlung zu bewahren vermag.
Daß Deutfchland, zwiſchen den ruſſiſchen Amboß
und den franzöflichen Hammer geftellt, ebenſo vorfichtig
nah Dften wie nach Weften ausfchauen muß, ift eine
Wahrheit, welche auch der Fühl urtbeilende und fcharf
blidende Hr. von Rochau in feinen trefflihen „Grund⸗
fügen der Realpolitik“ (I, 207 fg.) mit Nachdruck ber-
vorhebt; und über die beflagenswerthe Lage des Deutjch-
thums in den Oftfeeprovinzen gibt, abgejehen von bem,
was die Tagespreſſe bringt, das ausgezeichnete Buch von
Profefior C. Schirren: „Eine livländiſche Antwort“
(Leipzig, Dunder und Humblot), ganz kürzlich ben beften
und zuverläffigften Nachweis.
Das Wert von Henri Martin felbft zerfällt nun in
zwei Haupttheile, wovon der erfte „Die Vergangenheit;
Rußland und Bolen“, der zweite „Die Gegenwart und
Zukunft; Rußland und die emropäifche Föderation“
behandelt. Der Autor bat zu feiner Arbeit fehr gute
Duellen benutt, 3. B. die Chronik des alten Neftor von
Kiew, der fiir die Slawen ungeführ das ift, was Gregor
von Tours für bie Franken, ferner das Geſchichtswerk
des 1826 verftorbenen Karamfin, das gründlich ge
fchriebene Buh von Schnigler: „Histoire intime de la
Russie sous les empereurs Alexandre et Nicolas”;
die Werke von Schafarit, Harthaufen, Duchinski, Viques⸗
nel u. v. a. Nachdem er in dem erften Haupttheile fei-
nes Buchs die NRaffen- oder ethnographifche Trage zu
Löfen verſucht Hat und zu dem Reſultat gekommen ift,
daß der eigentliche Ruſſe, „der Moskowiter”, ber
Nordafiate”, „der Tatar“ von den ccht flamifchen
Stämmen, 3. B. den Bolen, fehr verfchieden ift, er-
klärt er:
Nur zwei Mächte find in Rußland: Zarenthum und die
Bauern; die Autofratie und die Maffe, welche die Autofratie
wil. Die gebildete Gefellichaft inmitten beider, die uns bei
dem polnischen Aufftande ein fo empörendes Schanfpiel gab, ift
feine politifhe Macht, kann andy bis heute Leine werden; fie
verdient und erobert die Freiheit nicht, von ber fie ſchwaßtzt,
ohne deren Bedingungen au begreifen.
Nah Henri Martin ift, wie gejagt, der wahrhaft
ruffifche oder mosfowitifche Geift von dem ſlawiſchen und
europdiſchen Geift überhaupt vollftändig verfchieden. Sein
Grundcharalter ift negativ: es ift der Mangel an Per⸗
fönlichleitsgefühl, Mannichfaltigfeit und Erfindung, bie
Unmöglichkeit eines Fortſchritts ans den eigenen Kräften
und Xrieben heraus, womit fid) aber eine große Leichtig-
feit der Nachahmung und eine eigenthümliche Gelehrigkeit
verbindet; Feine Anlagen zur freien Gemeinfchaft, aufer
etwa in ber Form religiöfer Selten; keine Fähigkeit fir
Einrihtungen, wo man discutirt und fi zumal ber
oberften Gewalt gegenüber eine Garantie gründet, denn
Oppoſition erfcheint hier als ein Angriff auf das Heilige;
fein Gefühl fir die Menfchenrechte, Neigung zu de&po«
tifcher Concentration und fanatifcher Anbetung der Macht.
Die am meilten bervorfpringenden pofitiven Kigenjchaften
dieſes Volksgeiſtes find große Sclauheit und höchſte
Beweglichkeit:
Der Slawe, und fo im allgemeinen der Europäer, if
Aderbauer und hängt am Boden; er hat das ftarfe Gefühl für
den Grundbefig wie für die Familie Der Moskowiter, umb
fo im allgemeinen ber Xatar, der Norbaflate, ift in feinen
Neigungen zugleih Romabe und Communiſt. Das Dorf des
Slawen von reiner Raffe und das Dorf des Moskowiters ftellen
den vollſtändigſten Gegenfat bar.
Selbſt die Natur des Zarenthums und bes römifchen
oder modernen Cäſarismus find, wie Martin es ausführt,
äußerft verſchieden. Das Zarenthum ift das deal der
Monarchie von Gottes Gnaden, es ift der vollkommenſte
Despotismus; die fouveräne Gewalt, welche der Zar bes
fitst, Tnüpft fi) an Gott an; aber an einen Gott, ber
mehr dem Fatum, als dem fittlihen und freien Gott des
Chriften gleicht. Der Moskowiter felbft ift überhaupt nur
ein Balber Chrift. Ludwig XIV. kam dem Zarenthum
am nächſten. Ganz anders ift der moderne Cäſarismus.
Der Autor jagt ©. 152:
Er bat feine Rechtsgrundlage im Bolfe, wenn er aud in
der Wirklichkeit das .Bolt lahm legt. Er ift die republikauiſche
Dictatur, die zeitweilige Concentration der Gewalten, bie ein-
mal der Zufall zu einer permanenten Einrichtung gemacht Bat.
Dem Rechte nad) bleibt er eine in Suspenfion verfette Republik
und Über ihm ſchwebt die Vollefouveränetät.
Diefe Bemerkungen buhnen Martin den Weg zu dem
zweiten Saupttheile feines Werks, worin er die politie
hen Zuftände und Berhältniffe der mächtigften Staaten
Europas, wie ſolche ihm gegenwärtig befchaffen zu fein
fcheinen, in ihren Grundzügen fehildert und, weit im bie
Zukunft hineingreifend, das Bild einer allgemeinen euro⸗
päischen Föderation entwirft. Der geiftreiche franzdfifche
Hiftorifer bewegt fi Hier meiftens in Hypotheſen und
Möglichkeiten, die ganz entſchieden wtopiftifcher Natur
Neue Gedichte.
find, wie er es felbft wieberholt zugeftehen muß. Geine
Cardinalidee ift und bleibt aber ftets: die Ruſſen ober
die „Zuranier“, wie er ſich gern ausbrüdt, müſſen alle
und jede Madjtftelung in Europa verlieren. Als Haupt
bedingung zur Erreichung dieſes Ziels erſcheint ihm
felbftverftändlic das Hinwegräumen aller feindlichen. Ge-
genfäge zwiſchin Deutjhland und Frankreich. Go frei«
finnig, fo demokratiſch Martin aber auch bei der Ent
widelung feiner Ideen auftritt — ben Franzoſen kann
er doch nur felten verleugnen. Die Summe feiner
Ausführungen ift in folgenden Sägen (S. 341) ent-
alten:
’ Unfere geleuimte Welthälfte wird der gerechten oder ber
ungerechten Gewalt gehören. Die ganze Welt ftcht auf dieſem
Waljerfelde oder wird dort einft aufriden; der in Perfiens
myftifcpen Heldengedidht befungene Kampf zwiſchen Iran und
Zuran, der ſchon die Urwelt erfüllte, ernent fi im ungehener
größerm Maßftabe. Hier entſcheidet fi, ob die Beftimmung
der erften aller Menfhenraffen fi in der ganzen alten Welt
verdunfeln, ob unfere Toter Amerika allein die höhern Ele⸗
149
mente ber Menſchheit wahren fol. Eins von beiden: Entweder
gibt Europa fih auf, der Welttheil finft unter das Joch
des aflatifhen Despotismus; England, zwifchen Rußland und
Amerika erflict, verihwindet, und nur zwei Mädjte bleiben auf
der Welt, welche fie zwifchen Licht und Finfterniß theilen wer»
den; alles fittlihe Leben wird fich in bie andere ifphäre
flüchten. Oder Europa erwacht, und das Kaifertfum aller Reußen
brit in Trümmer, e8 bleibt nur das Zarat von Moslowien
ober Großrußland übrig, Dann gäbe e8 drei Mächte, unter
denen Mostorien die ſchwächfte wäre: es gäbe die enropäifche
Eiberation, die Vereinigten Staaten von Amerika, und das
toslowien der Wolga und des Ural, das don Afien den
Norden, die centrale Hochebene und den entfernten Ofen
beherrfchte. Im dieſer Stellung Könnte es in der Harmonie
bes Weltalls feinen Play behaupten, flatt die auflöfende und
flörende Potenz in berfelben zu bleiben. Entſchließt es ſich zu
diefer Rolle, fo hat Europa feinen Feind mehr.
Wir überlafien es den Leſern d. Bl., ob fie mit
Henri Martin auf eine folde „Harmonie des Weltalls“
hoffen wollen ober nit; was ums betrifft, jo Halten
wir biefelbe für ein reines Utopien. Rudolf Wochn.
Neue Gedichte.
1. Rora, ein Gedicht in dier Gefängen von Ernft Rauſcher.
Leipzig, Matthes. 1869. 16. 20 Ngr.
Nachdem der Dichter drei Seiten lang darüber ge-
ſprochen, wie er das nennen folle, was er fehreiben wolle
— ohne übrigens dem Byron'ſchen Wige in diefer dem
„Bon Juan“ nachgeahmten Einleitung irgendwie gefähr«
üche Concurrenz zu machen — und auch die alte Litanei
zum beften gegeben: \
D daß nur einmal mir eim Lied gelänge,
Ein Lied n. f. w.
entſchließt er ſich endlich, die Geſchichte des namenlofen
Helden Egon —
nur daß niemand mwähne,
Es möge ein Ego drin verborgen fein —
zu erzählen. Derfelbe wurde in einem der bſterreichiſchen
Alpenländer geboren und nad) dem früßzeitigen Tode
feines Vaters von der Mutter erzogen. Im zarter Zus
gend fchon warb fein Herz von den Flammen einer keuſchen
Badfischliebe ergriffen, unb es gelangen ihm bei biefer
Gelegenheit die erften Verſe:
O trat doch damals aus den grünen Thoren
Der Bäume, fihtbar nah, zu ihm herein
Die Mufe! ſprechend, daß fie ihn erloren
Recht ſchade! am meiften für den Kecenfenten, denn
Egon Tieß fid) durch das Ausbleiben der Mufe nicht abe
reiten;
;
Gaunlich Hingegeben
Dem Sänftenstiehe, FE arm und treu —
ſchrieb er im Verein mit ſeinem Buſenfreunde Friedrich
und andern Gleichgeſinnten ein Wochenblatt:
Dort legten ſie die Frucht der Feierſtunden
Getrenlich nieder, von Kritit noch frei,
Mit dem erſten Geſange ſchließt bie Periode der Kind»
heit. Im zweiten geht Egon nach Wien zur Univerfität,
ohne ſich jedoch einen beſtimmten Veruf zu wählen.
Die Stände biefer Erde Überfhanenb
Erſchien ihm feiner wünfchenswerth genug. :
Bon Wien erfahren wir wenig:
Ich Überfäjlage vieles, denn ich haſſe
Detail, nicht angewandt am vediten Ort,
So ſchnell als möglich leul' ich durch die Maffe
Des Stoffes meinen Kahn zum Ruheport.
Egon lebte luſtig und liebte, natürlich wiederum höchſt
ſchwärmeriſch "ideal:
Die Irdif- Schönen waren meiftens Sterne,
Die er bewundern durfte nur von ferne,
Nämlich Bühnenprinzeſſinnen. Wahrſcheinlich, um
feiner Carriere auf dem jetzi fo ſauber gehaltenen deutſchen
Barnafje feinen Abbruch zu thun; auch war
Den Si B * lets fen 00, 2
en Sieg zu laſſen nfert’;
Und Augeaften, Tppieteden Men
Dafür hielt er fih am die Schönheit in ber Kunſt.
Indeſſen felbft diefe war ihm noch zu concret, feine eigent ⸗
liche Verehrung galt dem reinen Begriff:
Es fand der Seelen Pforten durflig offen
Dein Steahl, der hundertfach ſich Bei und bricht,
Und nimmer fäßt er fein begeiftert Hoffen,
Dereinft zu fhauen dein vereinigt Licht
In jenen grenjenlofen Sternenauen,
Nachdem fie jo „durch die Maſſe des Stoffs gelenft“,
eilt die Mufe zum „Ruheport” und befingt Egon’s nun.
mehrigen Freund, ben tragifchen Dichter der Zufunft
Guido von Steinwand und fein ungegebenes Trauerfpiel
„Heinrich IV.“, mit obligaten misgünftigen Seitenbliden auf
Literaten, Dichterlinge, Leitartifel u. |. w., ohne inbeffen
über unfere Zeit den Stab zu breden; denn es folgt das
Lob faft aller zeitgenöffifchen Schriftfteller: b
Daß & gelebt vor hundert Jahren Hätten!
Die Gegenwart hat anderen Geihmad!
An feihten Poſſen, kiudiſchen Biuetten —
Der Eancan oft, die Anmuth geht in Ketten,
150
Doch weshalb follen wir nicht über Pollen und Bluetten
lachen, vorausgeſetzt, daß ber Berfaffer wigig ift?
Endlich, verlangt e8 unfern Egon nad Ruhe:
Verwundet von Gedanken, bie nie ruhten,
Berlangt e8 ihn nad) einer flillen Bucht,
Um unbelannt nnd fchweigend zu verbluten.
Er reift deshalb zu dem Zwed im dritten Gefange
wieder nad) Haufe, verblutet aber dort keineswegs, fondern
verliebt fi) in Fräulein Nora:
Es klingt ber Rame fo bedentungsvoll,
So noriſch ober nordiſch.
In einem Liede macht er ihr die erfte ſchamhaft ver-
büllte Riebeserflärung. Bald aber hält e8 den unrubigen
Geift nicht mehr; er unternimmt eine Gchweizerreife.
Die Schweiz wird curforifch befchrieben:
Kein Reiſehandbuch hab’ ic Luft zu fchreiben,
Das man behagfich in bie Taſche ftedt.
Die Liebenden fehen ſich im vierten Gefange wieder,
geftehen fich ihre Neigung und verloben fi. Binnen
kurzem machen fie Hochzeit und eine Hochzeitreife nad)
Benedig. Das Lied ift zu Ende:
Zu Ende if mein Stoff, und mit ihm endet
Auch meiner Jugend frühlingefchöner Traum.
Vielleicht gebiegenere Früchte ſpendet
Die Zukunft, duftigere Blüten faum —
nämlich (dee Dichter redet die Iyrifche Muſe an):
Verſtohlne Augenweide
Iſt längſt für mich dein holdes Schweſternpaar.
Sm Herzen will ſich mir die Sehnſucht regen
Nah Höh’rem Sing, bleibt des Erfolges Segen
Mir auch bermeigent — ach! es ſchwand der Glaube
An jedes Überirdiihe Symbol,’
Des Dafeins edler Inhalt fiel zum Raube
Der Zeit, die Form nur blieb uns, fchal und hohl.
Doch einft wird ein neues Gefchlecht erftehen:
Mag nie mir auch des Sieges Lorber ſproſſen
Im Kampfe, den kein Hoffnungsfirahl erhellt,
Bergebens ward mein Herzbint nicht vergoffen!
Die Zuverficht, bie meine Seele fchwellt,
Iſt Lohn genug, und fa’ ich andy bezwungen,
Treu bis ans Ende hab’ ich doch gerungen.
Das ift nun der Inhalt eines 113 ‚Seiten langen
Gedichts! Wir haben ihn nur Hergefegt, um an einem
recht ſchlagenden Beifpiele zu zeigen, wie weit Beutzutage
das Selbftgefühl des Dilettantismus geht. Rauſcher be:
fitt, wie der Lefer fchon aus den angeführten Proben
gefehen Haben wird, ein unheimliches Berfifications-
talent. Zuweilen gelingen ihm fogar recht gute Strophen.
Diefes Talent nun verführt ihn, fi für einen Dichter
zu halten, von feinem „Ringen‘ zu fprechen, und — wir
wetten zehn gegen eins — bereit an einem regulären Epos
oder gar Drama zu arbeiten. In der Poeſie kommt es
auf den Inhalt an, nicht auf „die Form, Hohl und
ſchal“. Was aber bietet ung er für einen Inhalt! All⸗
tägliche Erlebniffe, triviale Gedanken, anempfundene, ge»
machte Gefühle Nicht ein Pinſelſtrich, der zu indivi⸗
dnalifiven oder zu Localifiren verfuchte, Rauſcher Haft die
Details. Auch nicht ein Seufzer, den der Iebendige Mo-
ment ausgepreßt; Egon's höchſte Verehrung gilt ja der
Schönheit in abstracto. Diefem Egon ift überhaupt aud)
nicht das mindeſte paffirt, was andern Leuten erzählt
zu werben wert) wäre, Goethe fagt einmal zu Eder-
Neue Gedichte,
mann über die „Wahrheiten aus Jean Paul's Leben”:
„Was kann da für eine andere Wahrheit herauskommen,
anßer daß der Autor ein Philifter ift!” Und wenn diefer
Egon dennod) ein Ego ift, wie wir nach ben Schlußverfen
fürchten müffen, jo ift das auch die Pointe der Raufcher’fchen
Dichtung, und wir künnen dem Autor nur rathen, feine
anerfennenswerthe Formkunſt lieber für Ueberſetzungen
anzuwenden. Es gibt keinen Poeten, der nichts erlebt;
er leſe die Biographien feiner ſämmtlichen Vorbilder durch.
Er braucht nicht wie Lord Byron die halbe Welt zu
durchreifen, taufend Weibern ben Kopf zu verdrehen und
zulegt inmitten des Kanonendonners zu fterben, aber er
muß etwas durchmachen, was Eigenthum nur feines Herzens
ift, was‘ er mit keinem andern theilt, da8 Befremdende,
anfangs Unbegreifliche, weldjes dem Genius die Urſprüng⸗
lichkeit der Weltanfhauung gibt. Wer vier Gefänge lang
folid lebt, und nicht einmal, weder moraliſch noch phy⸗
fifch, den Beweis auch nur feiner plena pubertas antritt,
endlich gemüthlich Hochzeit macht, ber bilde fich doch nicht
ein, daß er diefen Lebenslauf des Philifters durch eine
poetifhe Sauce fhmadhaft machen Tann, mag er nod)
jo viele Byronismen und andere Jômen dazuthun. Welch
lächerlichen Eindrud muß es auf jeden machen, der bie
qualvolle innere Geſchichte großer Geifter Tennt, wenn
die Poetafter fortwährend vom Berbluten ihres Herzens
und ähnlichen ſchönen Dingen reden. ‘Das Heiligſte auf
Erden ift ber Schmerz, und nichts efelhafter, als ihn
zum poetifchen Ylitterftante misbraucht zu fehen.
2. Gedichte von S. Junghans. Kaflel, C. Luckhardt. 1869.
16. 15 Ngr.
Dffenbar ein Erftlingswert und in kindlicher Pietät
der eigenen Mutter gewidmet. Die Sammlung zerfällt
in Epifch-Tyrifches, Sonette und Lieder. Junghans Hagt:
Und faft wie Neid fleigt’8 auf in meinem Sime,
Wenn ich gewahre, wie von Geift und Minne
Und allem Hohen wenig bleibt zu fagen.
Grfungen und gejagt ift alles eben,
Die eignen Lieder fcheinen ausgefungen,
Gebraudt ift jeder Reiz im Menfchenleben.
Wer keine eigenen Lieder fingen kann, ber gebe doch
den Umgang mit ben Mufen ‚auf. Die dargebotenen
bewegen fi) allerdings fümmtlih im gewohnten Gleiſe.
Der Gonette gibt e8 nur drei, und diefe zeigen nicht
einmal eine regelmäßige Form. Die erfle Abtheilung
„Epiſch⸗Lyriſches“ ift wegen der Sujets zu oben. Der
Dichter hat meift Sagen, Märchen und Geftalten ber
Volksmythe benugt. Auch kommt« manche verdienftliche
Zeile vor, fo Anfang und Ende des Gedichts „Im Thale
der Ruhe”, das in der Mitte Leider zu einer trodenen
Allegorie ausartet. Ueberhaupt hat Junghans nicht ver⸗
ſucht, den Stoff über fi) hinauszuheben, fondern das
Vorgefundene nur verfificirt, manchmal fogar recht ge=
fhmadlos, 3. B. in ben wechjelnden Metren des Mär⸗
hend, welches die wunderbare Gefchichte von den drei
Blutötropfen und dem treuen Roſſe Yallada erzählt. Mit
der bloßen verfificirten Reproduction unferer vollsthüm⸗
lichen Traditionen ift nichts gethan: da Iefen wir fie noch
lieber in den kurzen Auszügen ber Menzel’fchen Lite
raturgefhichte.e Grimm's Darftelung aber übertrifft
alles, was die Poeten geben können, wenn fle die Grenzen
— — —
Neue Gedichte.
des naiven Genre reſpectiren. Das ift indeffen nicht
ihre Aufgabe. Wenn die Kunftpoefie mit der Volkspoefie
am Naivetät wetteifern will, muß fie nothwendig unter»
liegen. Vom Strahl des modernen Bewußtſeins beleuchtet,
zeigt die todte Tradition wieder das lebendige Antlitz
der Örgenwart. Im Mythus ift die Idee verſteckt wie
der Edelftein im Felſen; die Poefie fei der kryſtallene
See, auf deſſen Grunde man den Goldhort ſchauen Kann.
3. Singen und Sagen. Gedichte von Johannes Gras-
berger. Wien, Gotthard. 1869. Gr. 16. 25 Nor.
Iohannes Grasberger befingt die Känıpfe zwiſchen
Licht und Finſterniß, den Sonnenaufe ımd Untergang,
das Toben der Gewitter mit einer Ausführlichkeit, die
den Sängern de „Rig -Veda“ Ehre gemacht haben
mirbe. Doch nimmt der Lefer an manchen Gejchmad-
Iofigfeiten Anftoß :
Flieht die Sonne? Naht fie ſlegeshehr
Mit verjüngten Lichtgewalten
Neu ihr Banner zu entfalten?
Lund' 6 uns, verlorner Boften, Strahl,
Der trübe, wund und fer
Sich durd) die Lager ſtahl.
Diefer verlorene Poften Strahl ift eine Berfonifica-
tion, die noch über die himmlifchen Lichtgötter, die Agvinen,
hinausgeht und wäre wol jelbft den alten Ariern unver»
fündlih geweſen. Ober:
Drum glänzt als wie ein Oflerei
Die ganze Exde, Flur und Feld —
oder endlich:
Sterne, euer Licht, das reine,
Bard zu zorniger Blide Leuchten,
Ward zu rorhem Fadelſcheine,
Sleicht des Wudrers Augen,
Die felhtroden (?) faugen
An den Armen thränenfeuchten (1).
Daß das Abjectiv, wenn es Hinter dem Subftantiv
feht, im Neuhochdeutſchen nicht declinirt, Scheint dem Dichter
entgangen zu fein. Er hält ſich freilich meiſtens unter
den alten Deuiſchen auf. Sämmtliche im Buche enthals
tenen Balladen und Romanzen drehen fich um Hiftorien
aus der Iongobarbifchen und fränkischen Gefdichte, fo
Authari's Brantfahrt”, „Defiderius’ Königswahl“, „König
Ks Traum“ u. a. Mit diefen alten Bölferwanderern
läßt ſich nicht viel machen. Seibſt Karl der Große flößt
ein wirffich poetifches Intereſſe erſt in der Auffaſſung der
Sage ein. Auch ift die Brauiſchau der Könige und
Pringen im Incognito ein allzu abgefungenes Thema.
Im Ganzen if nicht viel zw loben; nur einzelne kürzere
Geber zeichnen ſich durch anfprehenden Ton aus. Am
meiſten gefiel und ein Meines derbhumoriſtiſches Epigramm:
Die Bauerdirne.
Sie hatten junges Blut
Und waren fi gut. .
& fätic, A nachts zum Fenferlein,
Sie ließ ifn ein,
Und waren allein.
Er naht in heller Brunft
Und bat und ſchwor — umfunft!
Denn fie blieb kalt
Und hatte über fih und ihn Gewalt:
Da vorne jet? dich auf bie Truh
Und überbenk in Ruh’,
| 5. Heimatlieber von Wilhelm Elwert.
151
Ob du in Ehren
Kanuft Weib und Kind ernähren —
Dann magſt du wiederfehren
Und id will dir nicht wehren.
4. Poetiſche Pinakothek von Friedrich Friedre ich. Nürn
berg, Schmid. 1869. 8. 18 Ngr.
Die Pinakothek ift fehr reichhaltig: Galerie großer
Männer und hiftorifche Gemälde, Landſchaften und Natur-
feenerien, Stilleben, Familienſcenen u. f. w. Auch
Friedreich verfificirt meiftens nur. So erzählt er uns
die berühmte Sage von Faſtrada. Dieſe Gelichte Karl's
des Großen trug einen zauberhaften Ring am finger,
der das Herz des Kaifers unaufhörlih am fie feſſelte,
ſodaß er nad) ihrem Tode nicht von ihrem verfaulenden
Leichnam wid. Turpin endlid) zog den Wing ab, da
übertrug ſich bie Anhänglichfeit des Raifere auf ihn, und
als der Bifhof den Talisman in einen See bei Aachen
geworfen, auf diefe Stadt. Auf wie verſchiedene Weife
ließe fi dies Sujet behandeln: humoriſtiſch, fatirifch ober
ernft, wenn der Dichter ſich die Mühe geben wollte, eine
Idee Hineinzulegen! Wen Tann die bloße Geſchichte in-
tereſſiren ? an Liebeszauber glaubt niemand mehr. Möchte
auch das Berweilen Karl's bei dem geliebten Leichnam
nod jedem verftändlich fein, in welchem Conner jteht
damit feine Zuneigung zu Turpin und Aachen? Das
mußte alfo entweder in bebentfamen Zufanmenhang ge»
bracht, oder fortgefchnitten werden. Erſteres vielleicht bei
einer humoriftifchen Behandlung, letzteres bei einer ernften.
Friedreich Täßt nicht einmal Faſtrada's Leichnam derweſen.
Er hielt es vielleidht für unäfthetiih. Das ift es aller-
dings an und fiir fi; in feiner Vebeutfamteit, feinem
Eontrafte gegen vorher und nachher, feiner Satire auf
Schönheit und Liebe ift es tief poetifch. Wie die frommen
Dienerinnen des Elends ihren Ekel durch Liebe und Res
figion überwinden, fo bezwingt aud die Mufe das Ent-
fegliche, indem fie e8 auf das Myfterium des Dafeins be»
zieht und es fo in das Gebiet der Kunft erhebt. Wir
wollen übrigens dem Dichter nicht abſprechen, daß ihm
einige Gemälde wohl gelungen find, fo „Phantaflereife”,
„Altonda“, „Die Todtenmeſſe“. Andere dagegen ſtehen
wiederum unter dem Niveau, weldes dem Dichter er-
reichbar ift, und find nichts als feichte Neimerei. Auch
find einige Ungenauigfeiten in der Sprache zu tabeln.
Hochſt fonderbar ift das Gedicht „Befruchtung” (©. 67).
Man möchte an Hoffmannswaldau'jche Zweideutigkeiten
denten, wenn man nicht wüßte, daß die Mufe ber
Mittelmäßigfeit in ihrem Ungeſchick häufig jener behexten
Bauerdirne gleicht, bie mit aufgehobenen Nöden durch
ein blühendes Flachsfeld ging, das fie für die blaue See
hielt, und unanftändig war, ohne es zu wiſſen.
Stuttgart, Bogler
und Beinhauer. 1869. 16. 15 Ngr.
Dilettantendihtung, die unſers Erachtens noch lang«
weiliger faft nieberzufchreiben als durchzuleſen fein muß.
Grobe Gebrehen trägt der Berfaffer nit zur Scan;
höchſtens find die mannichfachen falſchen Reime (t und
d feinen feinem Ohre gleich zu Hingen), die ſchlechten
Herameter, worin Tübingen gepriefen wird, bie vollftän«
dige Bointenfofigkeit vieler Lieblein dahin zu rechnen.
Aber gerade biefer Mangel an Gebrechen macht bas
152
Büchlein noch unerträglicher; das ganz Verfehlte erzeugt
wenigftens ein gewiſſes Vergnügen.
6. Grüße aus Tirol. Gedichte von Angelila von Hdr-
mann. Gera, Amtbhor. 1869. 8. 10 Nr.
Abgefehen von den üblichen Liedern über das Dichten,
das Dichterherz, Poefie und Wirklichkeit, enthält dieſe
Sammlung nur finnige, wahrempfundene Gedichte von
wohltäuender Melodie und rlihrender Anſpruchsloſig⸗
keit, 3. B.:
Stille Liebe.
Denn du mir nahft und ſchauſt mir ſtumm erröthend
Ins Angeficht,
Warum ich zitternd immer bir entfliehe,
Das frag’ mich nicht.
Wenn alles jchläft, in meinem kleinen Zimmer
Siehft du noch Richt,
Um was id) da fo lang, fo innig bete,
Das frag’ mich nicht.
Der Schlummer naht und um bie Seele fpinnt ſich
Ein füß Geficht;
Barum ich morgens feuchten Blicke dich grüße,
D frag’ mid nid.
Zur Eulturgefhichte des 18. Jahrhunderts.
Sehr ſchön ift auch der Cyklus „Freudvoll und Leidvoll“
mit Ausnahme von Nr. 8: „Dein Herz iſt wie der
dunkle Wald“, denn dies: „dein Herz iſt wie”, „mein
Herz ıft wie” ift fo flereotyp geworden, daß es bei nie-
mand vorkommen darf, der etwas auf fih Hält. Auch
hätte die Dichterin, flatt mit dem unflaren Gedichte:
„Es fteht ein Baum an heimlich dunkler Stelle”, mit
dem vorangehenden jchließen follen :
Hatteft dir das Glas gefünt
Mit dem Maren Trank der Reben ;
„Angeftoßen!‘ ſprachſt du kühl,
„Aud die Todten follen Leben. ‘
Dranf das Glas bis auf den Grund
Leerteſt dn, und um zu nippen
Set’ aud ich es zitterud umm
Au die ſchmerzerblaßten Lippen.
Heimlich eine Thräne fiel
In den Wein, den purpurrothen,
Ad! feit jenem Augenblid
Dein’ aud ih um einen Todten.
_ Yans Herrig.
Bur Culturgeſchichte des 18. Iahrhunderts.
Wilhelm Lubwig Welhrlin. Leben und Auswahl feiner Schrif-
ten. II. Zur Eulturgefdhichte des 18. Jahrhunderts. Bon
5. 8. Ebeling. Berlin, Köppen. 1869. Gr. 8. 2 Thlr.
Es ift bezeichnen für die Bildung der Gegenwart,
bag bei bem Namen Wedherlin neun Menfchen unter zehn
an das Bild des Dichters Rudolf Georg Wedherlin, des
Zeitgenofien umb Concnrrenten von Dlartin Opitz, er-
innert werben, aber von dem PBubliciften Wedherlin, defjen
Wirkfamfeit beinahe noch an die Grenzen der Gegenwart
ſtreift, nichts wiſſen. Dies ift Feine rhetorifche Ueber-
treibung des Herausgebers vorliegenden Buchs, fondern
eine Thatſache, die wir felbft praftifch conftatirt haben,
ein Iehrreicher Beweis, wie gründlich Literarifch oder belle
treiftifch, gefärbt doch noch immer unfer Bildungsmaterial
iſt. Rudolf Wedherlin Hat einen tüchtigen monographi-
fchen Darfteller gefunden (Höpfner), fein Urentel aber,
troß ber Bewunderung, bie feine originelle Begabung bei
den bedentendften Zeitgenoffen erregte, bisjetzt darauf
warten müſſen. Denn jelbft diefe Arbeit wird doch nur
als eine Abfchlagszahlung anzufehen fein, obgleich das
beutfche Publitum auch dafiir dankbar fein darf. Eine
Abfchlagszahlung darum, weil ebenjo wol für das rein
biographifche Moment noch eine Menge von Lücken und
Zweifeln bleiben, die fortgefegte und energifche Forſchung
wol auszufüllen hoffen darf, als auch weil die hier ge
gebene Auswahl, wenngleich charakteriſtiſch und verftändig
angelegt, doch ſchon äußerlich zu beſchränkt ift, um dar⸗
ang einen Begriff von dem Weſen unb der Thätigfeit
des Autors zu erlangen. Es bleibt alfo noch immer das
fon von Johannes Müller ausgefprochene pium desi-
derium nad) einer im wahren Sinne kritiſchen Ausgabe
von Wedherlin’s Schriften als ſolches zu Recht beftehen,
wird aber möglicherweife durch Ebeling’8 Berdienft feiner
Erfüllung um etwas näher gerückt fein.
. 7
fi
!
1
Wie die „Gebildeten“, fo haben auch ihre Titera-
rischen Wortführer die einftmalige Weltberühmtheit bes
Mannes durch fyftematifches Todtſchweigen oder gründliche
Misahtung in das Gleichgewicht zu feinem Berdienft zu
jetzen fich beftrebt. Abgefehen von den bloßen Nomenclatoren,
find es, foviel wir wiffen, nur Gervinus („Gefchichte der
deutſchen Dichtung”, V, 124, vierte Ausgabe) unb
Biedermann („Achtzehntes Jahrhundert“, I, 112), bie
fi) zu einigem, aber durchaus negativem Eingehen
auf ihn bemüßigt fehen. Beiden gilt er als einer aus
der Zahl der Tiederlichen Genies, der mit gewiflem
Zalent begabt war, auch momentan einige Wirkung er⸗
zeugte, aber ſich perſönlich und literariſch durch Die
Mängel feines Charakters zu Grunde richtete. Gervinus,
der bier, wie überall, auch da gewiſſenhaft aus eigenfter
Anjchauung urtheilt, wo ihm die entgegenftehende litera-
riſche Individualität möglihft antipathiſch ift, mag in ge-
wiſſem Sinne das Rechte getroffen haben, wenn er, der
Hiftorifer, nämlich das Recht Hat, den Mann bes
18. Jahrhunderts nah dem fittlihen Mafftab der
Gegenwart zu mefjen. „ebenfalls erhält die Frage Feine
Antwort, wodurch die notoriſch ungeheuern, epochemachen⸗
den Erfolge eines ſolchen zerfahrenen Scribenten zu er⸗
klären, Erfolge, die nicht etwa in dem rebolutionären
Taumel der rohen Maſſe und ihrer gejchmeichelten Leiden⸗
ſchaften wurzelten, wie bei fo vielen Pamphletiften und
Journaliſten der franzöftfchen Aevolutionsperiode oder der
Gegenwart, fondern in dem einftinmigen Urtheil der erften
und reifften Bertreter damaliger Bildung und Aufklärung,
kurz aller der Dinge, die wir noch jetzt als preiswürdig
und als die fchönfte Frucht einer ber fchönften Perioden
in der menfchlichen Entwidelungsgefchichte des großartigen
1. Jahrhunderts der Befreiung und Humanifirung an«
ehen.
— — — — 2...
Zur Culturgeſchichte des 18. Jahrhunderts.
Wir wolen verfuchen, in einigen Grundlinien darauf
zu antworten. Wedherlin traf in eine Zeit, der das
Bedürfniß, ſich raſcher als es auf dem bisher gemößnlichen
Wege der gelehrten oder ſyſtematiſchen Deduction in un ⸗
behülflicher Buchform tiber unzählige Fragen aus allen
Bereichen des menſchlichen Dafeins zu verftändigen, fo-
zufagen auf die Nägel brannte. Der Journalismus
lag in der Puft, aber man ftellte fi, wenn man offenen
Auges feine erften damaligen Phafen beurtheilt, in unferm
Baterlande recht ungefhidt damit an, fobald man über
die eigentlich, literarifche Sphäre oder bie ber innern
Seelenerfahrumgen hinausging. Und über biefe wollte
man eben dod) Hinaus. Religion oder Kirche und Glaube,
Staat und Gefellfhaft, Handel und Gewerbe, kurz alle
die tanfend realen Intereſſen der Menſchheit zogen mit
Gewalt jeden Denkenden, und ihnen folgend das ganze
Gros der blod Angeregten, zu einer immer eindringendern
Erforfhung und Kritit ihrer thatfächlichen Geftaltung,
verglichen mit dem damals herausgearbeiteten Bernunfte
ideal davon.
Was die deutſche Publiciftit und Vournaliſtik felbft
in ihren eminenteften Vertretern biefer Zeit, wie Salt,
der jüngere Mofer, producirte, erzeugte zwar eine
wegung der empfänglichen Geifter, von ber ſich unfere
heutigen abgeftumpften ober abgehärteten Nerven nur
jchwer eine vorſtellung machen können, aber unwillkürlich
fühlte man doch, daß dieſen Männern und ihresgleichen
noch etwas fehlte, um einen völlig durchſchlagenden, fort ·
reißenden Erfolg zu erzielen. Dies Etwas ift für uns
nicht ſchwer zu entbeden: es war theils bie, jeden
falls nad; den Tendenzen und dem Inhalte ber Zeit-
bildung allein zu bemeſſende Befchräuttheit oder Bornirt-
heit ihres Wefens, theil® die dadurch notwendig bedingte
Zrivialität und Pedanterie ihres Stils oder ihrer Weber.
In dem einen wie in dem andern fteht Wedherlin hoch
über ihnen, fowie über allen zeitgendffifchen Eoncurrenten.
Es ift felbftverftändlic, dag wir Menfchen von 1870
uns nicht mit jedem Gedanken einverftanden erklären Tönnen,
den ein Ionrnalift im Yahre 1770 oder 1780 in bie
Welt ſchleuderte; aber es ift für jeden Kenner der dama-
ligen Geifteszuftände ebenfo jelbftverftändlich, daß biefe
Gedanlen gerade in ihrer zeitgenöffichen Beſchrünktheit
den vollen Inhalt deſſen vergegenwärtigen, was man als
die öffentliche Meinung der gebilbetften und lebendigſten
Geiſter umferer Nation bezeichnen fann. Dem entipricht
08 ebenfo notwendig, daß hier nun auch der rechte Stil
für einen ſolchen Inhalt zuerft hervorbricht. Es find,
um durch ein heutiges Wort die Sache deutlich zu machen,
die erften wirklich gut gefchriebenen deutſchen Leitartilel.
Bon diefer Seite her dürfen fie fogar mod) jegt als
muftergültig empfohlen werben, denn der nicht ganz uns
begründete Bormurf, ben Wedherlin übrigens felbft gegen
fich erhebt, feine mit Gallicismen untermiſchie Diction,
erſcheint als ein geringfügiger im Vergleich zu der Leich-
tigkeit und Durchfidtigfeit des Sagbaues, der freien und
doc gemäßigten Energie des Ausdruds und der gefhmad-
vollen Gliederung und Abrundung der Themata, gleich-
viel welchem Bereiche fie entnommen fein mögen. Hier
iſt die Verrüfe, welche alle unfere damaligen Journaliſten
1870. 10.
153
trugen, foweit fie nicht wie Leffing bloß Literatur und
Wiſſenſchaft in ihren Kreis zogen, volftändig verſchwunden,
und fein Wunder, daß feine Zeitgenoffen, die, was man
nicht vergeffen darf, Zopf und Haarbeutel ſchon für einen
großen Fortſchritt auf der Bahn der Befreiung des Men-
ſchen zu erachten berechtigt waren, davon ſich völig und
gründlich befriedigt fühlten. Salop und cynifd mag
der Privatmenfch Wedherlin, trogdem was fein Biograph
dagegen fagt, mitunter ſich geberbet Haben: der Schrift«
fteller Wedherlin bleibt auch da, wo er als derbfter Sa-
tirifer auftritt, immer ein vornehmer und überlegener
Geiſt und unterfcheidet ſich dadurch fehr vortheilhaft
vor feinem Landsnianne, liierariſchen Concurrenten und
Feind, dem mit Recht mehr berüchtigten als berühmten
Herausgeber der Deutſchen Chronik“, Daniel Schubart,
mit welchem ihn Gervinus ſehr wenig zutreffend in engſte
innere Verbindung gebracht Hat, während er richtiger
fein volles Widerfpiel innerhalb derfelben Sphäre und
aus benfelben bedingenden Momenten ber Aufern Ums
gebung genannt werden dürfte. Denn Schubart über-
trug den Cynismus und die Unflätereien feines Lebens
auch ganz und gar im feine Schriftftellerei und ift da⸗
durch der directe Ahnherr der gegenwärtigen fogenannten
demotkratiſchen und ultramontanen Preſſe geworden. Für
da8 18. Dahrhundert bleibt er immer nur ein in-
tereflantes pathologifches Symptom, während Wechherlin
und feine eigentliche Signatur vergegenwärtigt. Ja in
manden Anfhauungen und Combinationen fliegt ber
Geift dieſes Politilers weit über die Schranfen feiner Zeit,
und jenes etwas emphatijche Urtheil Yohannes Müllers
über ihn, das auch fein neuefter Biograph mit nicht ger
tinger Befriedigung wiederholt, hat ein gewiſſes ect,
„daß manches in Weckherlin's Schriften für eine unbe
rechenbare Werne gedacht und gelehrt feine“. Dahin
gehört feine relative Freiheit von allen Formeln und Stiche
morten ber damaligen Doctrin über bie abſolut befte
Stantsform. Während die Zeitgenoffen, entweber durch
den Einfluß Montesquien's für die conftitutionelle Monarchie
nad) englifhem Vorbilde, oder durch Rouſſeau und die
amerikanische Revolution für die Republik, in zwei ſchroffe
Parteigegenfäge auseinandergingen, erkannte fein über-
legener Scharffinn, daß dies eigentlich gar Feine Gegen
füge feien. Aus Smecdmäßigkeitögründen empfahl er für
Europa die Beibehaltung der Erbmonarchie, ohne fie zu
einem Princip zu erheben. Wohl aber ſprach ex es auß,
daß jede Staateform, melde ihren Angehörigen unbe
ſchränkte Neligionsfreiheit, nicht blos jene paffive Toleranz,
wie fie factifch damals ſchon in den Niederlanden und
in Preußen herrfchte, Preßfreigeit und Handels- und Ge-
werbefreiheit gewahre, eine wahrhaft freie oder dem richtig
gefaßten Ideale entjprechenbe fei, jede andere, fie möge
heißen wie fie wolle, eine unfreie,
Als ein wahrer Prophet, den wie billig Feiner der
Zeitgenofjen begriff und beachtete, fchrieb er ganz am
Ende feiner Laufbahn: „In Hundert Jahren wird man
den Kindern in der Schule lehren: Europa befteht aus
folgenden Reichen: Rußland, Schweden (Skandinavien),
Deutſchland, Hungarn, Türkei, Italien, Frankreich, Spa-
nien, Portugal und England” — eine Keterei, wofür er
20
154 Vom Büchertiſch.
auch vom den heutigen Reactionären in der Kutte, in der
mofratifcher Bluſe oder in Hofuniform in die tiefite
Hölle verurtheilt werden muß. Auch war ihm fchon die
unermeßlich fruchtbare Idee aufgegangen, daß ſich das
Maß der politifchen Freiheit eines Volls nach dem
Maße feines Reichthums, d. h. feiner wirklichen Kräfte
richte, alfo nicht durch Decrete und nad Schablonen,
fondern durch eine ftrenge Logik der Thatſachen felbft bes
ftimmt werde. Das Mercantilfyftem und das phyſiokra⸗
tifche, die damals auf nationalöfonomifchem Gebiete ſich
in unverföhnten Gegenjage befämpften, find durch diefe
Auffaffung, beide in ihrer Einfeitigleit auf politifche Dinge
angewandt, ebenfo überwunden, wie fie gleichzeitig in der
engern Sphäre der Handels« und Induſtriebewegung
durh Adam Smith’ Theorie der productiven Arbeit
überwunden wurden.
Daß fich daneben und dazwifchen manche unvermittelte
Einfülle, manche vorjchnelle Urtheile und Axiome auf
ftehen ließen, wenn man darauf ausgehen wollte, verfteht
ſich bei einem Tagesſchriftſteller von folder Fruchtbarkeit
und ſolch zerfahrenem Leben von ſelbſt. Aber feine Zeit
genofjen find darüber nicht an ihm irre geworden; fie
haben begriffen, daß auch ein fo reicher und klarer Geift
mitunter der allgemeinen Neigung des Menjchen, ſich in
Schnurren und Albernheiten auszutoben, verfallen dürfe,
Geltfam aber erfcheint e8 einem heutigen Leſer dieſes ori⸗
ginellen Schwaben, wenn fein neueſter Biograph und
Herausgeber einer der Lächerlichiten unter diefen feinen
Bizarrerien, feinem zügellofen Judenhaß, alles Ernftes
das Wort redet. Es fcheint una das doch mehr gethan,
als die Pflicht oder das MWohlwollen eines Biographen
verlangt. Weckherlin, muß man bedenken, fannte die Juden
nur als die ſchmuzigſten und binterliftigften Blutfauger
des heruntergelommenen Bauern in Südweſtdeutſchland
ober ihrer ebenfo verlumpten abelichen Profoſe. Ihm als
Schwahen war natürlich die Geftalt des würtembergifchen
Hofjuden Süß die typifche für das ganze Voll, und fo
mag man feine wüthenden Invectiven, wenn auch nicht
entfchuldigen, doch begreifen. Aber es überfteigt unfere
Fafjungsfraft, wie ein heutiger Schriftfteller von entſchie⸗
denft Liberaler Yärbung in dies Hepp, Depp einflimmen
mag. Wol haben fidh jene traurigen Zuſtände in dem
nächſten Gefichtsfelde Wedherlin’8 auch bis Heute noch
nicht durchgreifend geändert, aber glüclicherweife find fie
weder in irgendeiner andern Hinficht, noch auch, was die
Stellung der Juden zu der beutjchen Nation angeht,
irgendwie maßgebend für das Ganze, fondern nur häß«
liche Reminifcenzen der anderwärts gottlob ſchon völlig
überwunbenen tiefften Verkommenheit der dentfchen Zu-
fände, Unfern Juden in Welt- und Norddentfchland,
foweit fie fid) an der allgemeinen bdeutfchen Bildung be»
theiligen — und das thun fie thatſächlich in relativ größerer
Intenfität als die Mehrzahl der blondhaarigen Nadlom«
men Teut's — vorzuwerfen, daß ihnen das patriotijche
Intereffe fremd ſei u. dgl., ift ein fehmweres Unrecht. Daß
fi unter den Handlangern der Yeinde unferer na
tionalen Größe in Wien, Frankfurt und auderwärts
auch Juden befinden, wird doch kein denkender Menſch als
einen Beweis dafür gelten laſſen wollen. „Jedenfalls find
es ihrer nicht mehr, als echt autochthonifche Schwaben,
Franken, Sachſen und andere „Stammbafte” aus allen
Horben und Llanen bes vorfündflutlihen Germanien.
Die Manen eines der edelften unter allen echten Deutſchen,
Gabriel Rießer's, unzähliger anderer Todter und Lebender
unter feinen Glaubensgenofjen zu gefchweigen, follten gegen
eine ſolche Berunglimpfung allein ſchon genügenden Proteft
erheben. Wunderlich, wenn man immer noch nicht ber
greifen will, daß die Nationalität in) etwas ganz anderm
als in der bloßen Gemeinſchaft des Bluts und der
Haare beiteht. Heinrich Rücert.
Yom Büchertiſch. |
1. C. F. Pb. von Martins. Sein Lebens. und Charakterbifd,
insbefondere feine Keifeerlebniffe in Brafllien, von Hugo
Schramm. Zwei Bünde. Leipzig, Denide. 1869.
2 Thlr. 20 Nor.
Es war eine „aus dem Jahrhundert Leſſing's, Goethe's
und Sciller’8 herſtammende Natur, deren Annäherung,
wen fie irgend zutheil geworden ift, gewöhnlich auch als
wahrhaft beglüdend erſchien“. Diefe Worte von Carus
bezeichnen treffend den Hochbedeutenden heimgegangenen
Naturforfcher, der in vorliegender Biographie lebensvoll
und gründlih nah Sitte, Lehre und Erfahrung geſchil⸗
dert wird. Martins’ äußerer Lebensgang als Gelehrter
ift nicht minder anzichend als feine für die Wiffenfchaft
höchſt erfprießliche Reiſe nach Brafilien im Jahre 1817
(nit 1807, wie im erfien Band auf ©. 41 fulſchlich
zu leſen). Ein Humboldt im Heinen zog er über das
Meer, um im Auftrag des batrifchen Königs der münche⸗
ner Alademie der Wiflenfchaften durch eigene Erfahrung
Bereicherung zulommen zu laflen. Sehr paſſend läßt
Schramm hier meift Martins’ eigene Befchreibungen vor-
walten; im andern alle weiß er uns ein glüdliches
Gemälde der Reiſe und ihrer Erlebniffe vorzuftellen.
Desgleichen widmet der Biograph der literarifchen Thä-
tigfeit feines Helden ein liebevolles Denkmal. Martins’
Denkreden, fein weitbelanntes Reiſewerk über Braſilien,
feine ethnographiſchen und linguiſtiſchen Forfchungen, feine
botanifchen Arbeiten, alle diefe verfchiedenen Phafen ge-
lehrter Thätigkeit erhalten ihre eingehende Würdigung. Es
ift ein wackeres Buch, diefes „Lebensbild“, würbig nad
Inhalt und Ausführung. Unter den angehängten Briefen
heben wir befonder8 die vielen Briefe an Sturz berver,
die gerade Hinfichtlich der neuerdings nicht ganz sine ira
et studio behandelten braftlianifchen Yuswanderungsfrage
ernentes Intereſſe beanfpruchen dürften.
2. Adrian van Oſtade. Sein Leben und feine Kunſt. Bon
Theodor Gaedertz. Lübed, von Rohden. 1869. Gr. 8.
1 Thlr. 15 Nor.
Aus Vorträgen, die der Berfaffer über den berühmten
Genremaler in der lübecker Gemeinnügigen Geſellſchaft
Vom Büchertiſch. 155
gehalten, iſt dieſe Biographie entſtanden. Es iſt neben
dem kunſtgeſchichtlichen auch ein patriotifches Intereſſe,
das den Verfafler geleitet hat, das Leben Oſtade's zu
befchreiben. Es galt, das Wirken eines aus Deutſchland
ſtammenden Malers zu ſchildern. Die italieniſchen Künft-
ler, die Rafael, Angelo, Veronefe, Tizian find vielfach)
gewitrbigt worden; die deutſchen viel weniger. Wenn
uns nit dann und warn Alfred Woltmann aushülfe,
wir hätten fehr wenig Biographien von deutfchen Künft-
lern. Gehört Oſtade der Schule und Richtung nad)
aud nad; den Niederlanden, fo ift das harakteriftifche
Merkmal der holländischen Schule ein fo echt germani«
ſches, daß 28 uns in allen Producten heimiſch an«
muthet. Das Haus, feine Vehaglichfeit und Gemüthlich ⸗
keit, ift überall in den niederländifhen Genrebildern un«
ausbleibliches Motiv. Im diefem Genre ift Oftade groß
geworben, in ihm muthet er das deutſche Gemilth wohl⸗
thuend an. Man kann wohl fagen, daß der Biograph
ber luuſtleriſchen Größe und Urjprünglichfeit des berügm-
ten Lübeders nad) allen Seiten hin gerecht geworben ift;
auch fehlt dem forgfamen Buche nicht ein ausführliches
chronologiſches Verzeichniß ber fümmtlichen Werke des
Meifters.
3. Wegweiſer durch bie Geſchichte der Päbagogik von ®. Brude
bad). Leipzig, Matthes. 1869. Gr. 16. 15 Nor.
Einfichtig und urtheilsvoll ift diefer „Wegweifer“ ver
jaßt. Es ift feine leichte Aufgabe, in einem Sedezwerlchen
die Geſammigeſchichte europäifcher Pädagogik zu geben.
Die Zeitabſchnitte find richtig gefondert, am Schluß jedes
Abſchnitts wird eine Ueberſicht der einfchlägigen Literatur,
der padagogiſchen Stationen des betreffenden Zeitraums,
ſowie berühmter Schulmänner und Erzieher gegeben.
Der Ton des anfpruchslofen Buchs ift ein fachgemäßer
und zeugt von der gefunden päbagogifchen Anſchauung
des Verfaſſers, fodag wir biefen Äbriß beſtens empfehr
len fönnen.
4. Pädagogifge Streifzüge. (Bierte Sammlung pädagogifder
FR) Mi H. Dre Fr Raffel, €. nachts 1870.
Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
Nicht fo anſpruchslos wie das Büchlein von Bruds
bach fallen dieje „Padagogiſchen Streifzüge” ins Auge. Der
Autor derjelben, ein anerlannter Pädagog von prattiſcher
Erfahrung und dem unbeftreitbaren Beruf, gute theorer
tiſche Anweifungen zu geben, Hat ſich ſchon vielfah in
päbagogifchen Zeitfchriften, fo in der „Allgemeinen beutjchen
"Vehrerzeitung“ vernehmen iaſſen. Die reihfte Beobachtungs-
gabe defien, was dem Kindesalter noththut, ift auch
aus biefen Streifzügen ſichtbar. Da find allerlei Geifter
vereinigt, die zufammen ein gut Theil pädagogifcher
Weisheit vepräfenticen, fo ungeorbnet fie aud) aneinandere
gereigt find. Am meiften Anerkennung verdient wol ber
Auffag „Herder als Padagog“ und die „Briefe an einen
angehenden Lehrer”. Der erftere Artikel ſteht im Zu-
fommenhang mit Keferftein’s „Lichtftrahlen aus Her-
der's Werfen” (Leipzig 1867). Reizend und dem lind ⸗
den Alter entſprechend find die Briefe Herber’s
aus Dtalien an feine Kinder; auch eine Menge treffe
licher Aphorismen, die neu fein dürften, finden wir
in dem erwähnten Aufſatz wieder, Schließlich drängt
es und, dem Berfaffer unfere freubige Webereinftim«
mung mit der Abfertigung auszuſprechen, bie ex Direc-
tor Campe's „Abhandlungen über Geſchichtsunterricht“
(Leipzig 1859) zutheil werden läßt (©. 32). Der Herr
Director will, getreu dem alten Geſchichteſchlendrian auf
Gymnafien, nicht allein in Serta, Ouinta, Tertia und
Prima alte Gefcjichte allein vorgetragen, fondern auch die
Culturgeſchichte gänzlich) aus dem Lehrplan vertviefen fehen.
Dem tritt — ähnlich wie wir bei Gelegenheit jene un-
päbagogifche Anficht befämpften — unfer Autor wader
entgegen. Es lohnt wohl, die warm geſchriebene Stelle
ganz hierher zu fegen: .
Die Ausfgeidung des culturhiſtoriſchen Stoffs aus dem
Geſchichtsunterrichte dürfte die am wenigften haltbare Forderung
des Berfafiers fein. Er ruft: Thaten und abermald Thaten!
Sind denn aber Thaten nur Schlachten und Feldzüge? If
die Geſchichte der grieg und Staatsactionen der der Jagend
angemefjenfte' Stoff! Wie viel Roheit der Motive und Hande
Tungen jelber läuft nicht in der rein politifchen Geſchichte mit
unter: foll der Sinn des Knaben genährt werben mit ſolch
blutigen Scenen, wie mit ber Hinrichtung der 4500 Sachſen
ober den Schlächtereien in den Kriegen des 18. Jahrhundertsl
Wir follten meinen, es gäbe denn doch eblere Thaten zu bes
richten als die laute Feldſchlacht — daran mag ſich ein befon-
ders kriegeriſches Zeitalter und Geflecht weiden. Sind Erfin⸗
dungen, Entdedungen, Leitungen in Kunft und Wiffenichaften
nit auch Thaten, Thaten des fill ſchaffenden, aber defto Fame
reicher wirfenden Geiftes! Soll der Knabe nicht biefe Tieben,
fhägen, ihnen nicht nadeifern lernen! Bom Standpunkte des
tauflufigen Adele des Mittelalters ober des kriegliebenden
Spartaners mag bie pofitife That, die doch vorwiegend in
Kriege und Stantsactionen ausmlnbet, Hauptgegenftand ber
hiſtoriſchen Belehrung der Jugend fein — für ein Zeitalter der
Gefittung, meinen wir, geziemte es ſich auch, ſchon die Iugend
mit dem Werden und Wachen und dem Gegen bes Eultur-
lebens der Völter bekannt zu maden. Es Täuft auf eine ro⸗
mantiſche Anfhanung hinaus, wenn man meint, ber Knabe und
Jungling finde nur Geſchmac an Kampfgeſchrei und Schwerter»
Hang, er laſſe fid nit gern aud in das Gemad und in die
Berkftatt des finnenden Weifen führen, er finde feinen Geſchmack
an ben vielleicht unfcheinbaren, aber unendlich, wertvollen Er-
genen fen des Handwerks und des gefammten Gebiets gewerb⸗
licher Thätigfeit. Wir haben gewiß allen Grund, ung über den
Anban der Tulturgeſchichte zu freuen, und es fann und wird
das Berfländniß des wahrhaft Werthvollen ganz befonders and)
dur die Einführung der Jugend in bie Tuliurgeſchichte ante
gebahnt werden. Auch bernht es auf falſchen Borausfegnngen,
wenn man meint, e8 könne die Culturgeſchichte nicht lehrreich und
anzegend zugleid) für die Unmünbigen behandelt werben.
5. Hausfrau. Gattin. Mutter. Gedanken über Frauenbildung,
den Gebildeten ihres Geſchlechts gewidmet bon ber Ber»
faſſerin. Zugleich ein Beitrag zur Frauenfrage. - Halle,
Dendel. 1870. ®r. 16. 15 Nor.
Ein edler, warmer Ton fpricht aus biefem Buche, das
eine Frau mit ſtarlem Herzen gefchrieben haben muß.
Ohne ihrem Geſchlecht zu fehmeiheln, weiß fie den
Eigenthitmlichteiten befjelben gerecht zu werden und
verfällt dabei nicht in den abſprechenden Ton gegen
die heutige Männerwelt, deſſen ſich die Berfafferin des
„Genius der Menfchheit” (vgl. Nr. 4 d. BL. f. 1870)
nicht entwöhnen kann. Der Einfluß des Weibes auf den
Mann, das Verhältnig von Mutter und Kind, das innerfte
Familienleben, diefe Punkte werden einer forgfältigen Be-
fprehung unterzogen: fanfte Männlichteit und felbftändige
Weiblichkeit find der Verfaſſerin das wahrhaft Schöne
und Erftrebenswerthe; „wie ihr den Knaben und Dungling
20*
156
lehrt, der Geſpielin und Schwefter zu begegnen, fo wirb
der Mann auch einft fein Weib behandeln.“ in un-
verwifchter Ausdrud wahrer Religiofität durchdringt das
Büchlein, das ſich ficher einen ftillen Freundeskreis ſchaf⸗
fen wird.
6. Der Nothſtand ımter den Frauen und die Abhlilfe deffelben.
Ein Beitrag zur Franenfrage von Kari Weiß. Berlin, Brigl.
1870, ©. 8 Ta Ngr.
Das ift einmal ein gutes Wort in der focialen Frage!
Ohne Phraſe, mit ftatiftifcher eiferner Confequenz weift
der Autor nad), welche Wurzeln der Nothftand ber Frauen
babe und welche Wege zu feiner Befeitigung führen kön⸗
nen. &8 find ſchon fo fehr viel Nothſtände fignaliftrt,
es. ift Schon fo viel mit dem „Elend“ in Leben und
Dichtung kokettirt, e8 find fchon jo viele unmögliche Wege
zur Abhülfe angegeben worden, daß man doppelt froh
fein muß, wenn einmal Ernſt flatt Worte und das Brot
eines vernünftigen Auswegs aus ber Mifere ftatt ber
Steine von Klagen nnd Anklagen gegen das Menjchen-
gejchlecht geboten wird. Wenn in Berlin allen 43417
unverheirathete Frauen eriftiren, „bie fih an ber natio«
nalen Arbeit gar nicht oder nur in geringem Maße be»
theiligen, fomit als meiſt überflüffige Beihülfe in ber
Wirthſchaft mit ernährt werden müſſen“, fo nöthigt diefe
Thatſache zu ernfter Betrachtung und dringender Abhülfe.
Dan kann bei Weiß nadjlefen, wie Iehrreich die berliner
Statiftif für die Kenntniß dieſer Nothftände iſt. Die
Hauptkraft, weldhe die Frauen vor der Noth bewahrt, ift
die Erziehung zur Arbeit. Aber auch Hier ift vor den
Gebieten zu warnen, bie zu überfüllt find. Bor der
muftlalifchen Arbeit, dem Beruf der Lehrerinnen und Er-
zieherinnen, dem Gebiet der Buntftiderei, der gröbern
Wollenarbeiten warnt ber Ueberfüllung wegen der Ver⸗
faſſer. Nach feiner Berechnung (in der er die verſchie⸗
denen Arbeitögebiete der Frauen zufammenftellt) kommt
auf 8500 weibliche Bewohner in Berlin ein einziger
felbftthätiger. Und aus diefer Tabelle geht auch bie Er-
fenntniß der Abhilfe bes Mebels hervor. Das Gebiet
der Nadelarbeit, des AZufchneidens und Kleidermachens
(wodurch die Damenfchneider unnit werden), der Näh⸗
machine, der amerilanifchen Stridmafchine, der Zeichnerei
im praltiihen Sinn follte den Frauen viel mehr Arbeit
bieten als bisher. Noch mehr. Die große Befähigung
des weiblichen Gefchlechts fir Buchführung, Kaſſe⸗ und
Comptoirarbeiten follte daffelbe mehr in die gejchäftlichen
faufmännifchen Branchen hinweiſen. Das alles wird des
genauern in der Heinen Schrift ausgeführt, und auf den
Bictoria-Bazar als kräftiges Abhillfemittel der Noth Hin-
gewiefen. Es ift eine Pflicht, das Weiß'ſche Büchelchen
zu Iefen, und für die nothleidenden Frauen auch eine ernfte
Pfliht, danach zu handeln.
7. Ueber den Kampf der Humanität gegen die Schreden bes
Kriegs. Ein Bortrag von %. Esmard. Mit fünf
Holzichnitten nad Zeichnungen von I. Wittmaack. Kiel,
Schwere. 1869. Er. 8 7% Nor.
Auch ein Nothftand, allerdings mehr des phyſiſchen
als des geiftigen Lebens tritt uns in vorliegender Bro⸗
ſchüre vor die Augen. Sie ift der Abdruck eines Vor⸗
trags, den der rühmlich bekannte Profeffor der Chirurgie
Dom Büchertiſch.
(wol in Kiel?) gehalten Hat. Esmarch gibt ein anfchau⸗
liches Bild der Unzulänglichkeit der alten Sanitätspflege
in den Sriegen unfers Jahrhunderts; er erklärt bie
Staatshülfe für nicht ausreichend, die Noth anf den
Schlachtfeldern zu mildern; aber auch bie öffentliche Hilfe,
die fi im leiten Kriege glorreich bewährt hätte, bedürfte
der Regelung, der zweckmäßigen Organijation. Die bis-
berigen Localitäten für die Pflege der Verwundeten er-
jheinen ihm unzureichend; dba es aber fehwerlich befjere
gäbe, fo empfiehlt er dringend die Errichtung amerifani-
cher Baradenlazarethe: ein Gegenftand, dem Esmard) die
eingehendfte Befchreibung widmet. Auch hier wieber, wie
in allen Fragen des praftifchen Xebens, haben die Ame⸗
rifaner ihre große Weberlegenheit über die Staaten der
Alten Welt gezeigt. Ein Theil jener Vorurtheilslofigkeit,
welche die Yankee auszeichnet, wäre den Deutfchen,
gerade in Bezug auf das Vorgehen in neuen nitglichen
Unternehmungen dringend zu wünſchen. Uebrigens ift
bemerfenswerth, daß Esmarch mit Virchow bie Schreibart
„Lazarett“ ftatt „Lazareth“ file die richtige erklärt.
8. Borträge von Friedrich Liebetrut. Gotha, Schloeßmann.
1869. 8. 24 Rgr. "
Die Themata diefer Vorträge: „Das deutfche Vater⸗
land nad der Germania des Tacitus“, „Geſchichte und
Kritit der Jungfrau von Orleans“, „Das Lebenswunder
und feine Räthſel“, find mannichfaltig. Die Behandlung
iſt nicht immer fo objectiv, wie der Vortragende fie felbft
bezeichnet; wenigftens paßt der „elende Boltaire” nicht
reht in den Rahmen Hiftorifcher Darſtellung. Nicht
minder gewagt und einfeitig ift die Erklärung der Er=.
fheinung der Befreierin von Orleans vom übernatürlichen
Standpunkte aus. Das fehr richtige Urtheil Heder’s, ber
in der Beurtheilung. pfychifcher Zuftände der mittelalter-
lichen Gedichte höchſt fachverftändig ift, wird für zu
frivol, zu wenig dem frommen Glauben entjprechend
erlärt. Kein Wunder! Wer ben Auffab über das
„Lebenswunder” gefchrieben hat, muß alle Anfhauungen
der „ſich blähenden Klugheit” eitel und nichtig nennen.
Diefer legtgenannte Bortrag entzieht ſich der Kritik d. Bl.:
er gehört völlig in ein Erbauungsbuch, und zwar in eins
bon pietiftiicher Färbung.
I. Die Fauſtſage und der religiös-fittlihe Standpunft in
Goethe's Fauſt. Bortrag von PB. Tube, Dresden, Nau⸗
mann. 1869. Br. 8 5 Ngr.
Don geiftliher Stelle her, wie die eben erwähnten
Borträge, find auch die vorliegenden Worte über bie
moderne Bibel des Menſchengeſchlechts geſprochen, aber
fie verrathen ein tiefes Verſtändniß für den Dichter und
fein Werk. Gie zeigen, wenn auch fehr flüchtig, was
Goethe gewollt, und haben die Symbolik des Werks fein
erfannt. Schade, daß ber Bortrag gerade da abbricht,
wo wir den Endpunkt der Unterfuhung erwartet hätten:
nämlich in der Beſprechung bes großartigen Finale im
zweiten Theil.
10. Diron's und Duncker's Seelenbräute, filhouettirt von
ilhelm Ebel, Bafel, Riehm. 1869. Gr 8.
7% Nor.
Nicht allein dem Briten Diron, auch dem beutfchen
Buchhändler Franz Dunder, der die deutſche Ueberfegung
Bom Buchertiſch. 157
von Diron’s „Spiritual wives” verlegt Bat, gilt der
Kampf, den Ebel, ein Sohn des vielgenannten Tönigs-
berget Archidialonus, als ſtreitbarer Kämpe gegen die
Anfläger feines Vaters führt. Beſſer als weiland dem
Grafen Kanitz gelingt es dem Verfaſſer, dem Ironie und
tüchtige gelehrte Bildung zur Seite flehen, fo manchen
ſchwachen Punkt des englifchen Senfationswerfs zu be=
leuchten; denn Dixon's Buch ift allerdings, mas bie
tönigeberger Muckergeſchichten betrifft, in vieler Hinſicht
oberflachlich und einfeitig. Die Amtsentfegung Chefs
und Dieſiel's find jegt noch dunkle Punkte in ber
preußifchen Rechtsgeſchichte, mag man auch über bie
Eonventikel der Königsberger Frommen denken wie man will.
11. Die Verbindung dee Kunſte auf der dramatiſchen Bühne,
Bon Karl Robert Pabſt. Bern, Haller. 1870. Gr. 8.
1 Thlr. 5 Ngr.
Borliegende „Reihe alademiſcher Vorträge” behandelt
ein bebeutungsdoles Thema. Nachdem der Autor die
Rangftellung der Poeſie unter den Künften bezeichnet und
ihr den erften Rang zugetheilt hat, kommt er anf bie
Verbindung der Künfte ſelbſt. Als Grundgeſetz ftellt er
hier die Unterordnung aller zufammenmirkenden Künſte
umter die Herrſchaft einer einzigen Hin. Und zwar hält
er unter allen Künften fir die bedeutendfte und wirkungs⸗
reichte die theatraliſch aufgeführte dramatiſche Dichtung.
Nach einer forgfältigen Analyfe der Oper (mobei er
Wagner’3 Irrtfum genau aufdedt) wird der Muſik bie
zweite Stelle unter den Künſten vindieirt, und zwar dem
Gefang, der in der Inſtrumentalmuſik feine Stige fin-
det. Der Pantomime und dem charalteriſtiſchen Ballet
will der Autor nur zeitweife das Recht einräumen, ale
Herrfcher aufzutreten. Sehr abfällig äußert er ſich über
die Flut der Leſedramen, die mit ein Grund des Herab-
fommmens der Vühne geworden find. Das ganze Wert
ift mit liebevoller und eingehender Theilnahme fir das
Wefen und bie Gefundheit des beutfchen Theaters verfaßt
amd werth, von Dichtern und Darftellern, vor allem von
dem Leitern der Bühne beherzigt zu werden,
12. Der Bürgergeift, die Bühne und der Vühnenvorfand. Ein
Wort der Bitte und Mahnung an Staatsmäuner, Gemeinde»
räthe, Lehrer und die Glieder des Schaufpielerftandes, vom
F z gett Eruſt. Zurich, Herzog. 1870. Gr. 8.
10 Nor.
Die Schweiz liefert, wie wir fehen, zu Anfang des
neuen Literaturjahres gleich zwei anregende Schriften über bie
Bühne und was ihr noththut. Die Schrift von Ernft wen-
det fid, während das Pabft’che Buch die theoretifche Seite
der Kunft im Auge hat, mehr an die praltiſchen Anfors
derungen des Theaters. Der Autor kennt die Berhält-
niſſe des deutſchen Theaters im allgemeinen und im bes
fondern; er tadelt nicht nur, er macht auch Borfchläge,
die ſich verwirklichen laſſen. Der Vürgergeift, ber in der
republifanifcen Schweiz alle tüchtigen Unternefmungen
ourchdringi, fol and das Theater kräftigen: nur lönnen
wir mit dem Verfaffer nicht einverftanden fein, wenn er
‚zen Staat ganz bon der Theilnahme für das Theater
Terngehalten und ihn mur bei der Grundung von Theater-
ichulen im Devrient'ſchen Sinne betheiligt wiſſen will.
Die ſchließliche Rüdfictnahme auf das Theater einer
beftimmten xheinifchen Stadt ift zu particulär, um das
allgemeine Intereſſe zu befcäftigen. Trotzdem bietet das
Scriftchen fo viel Anregendes, daß feine zu enge Faſſung
nur bedauert werden Tann.
13.€. ©. Leffing als angehender Dramatiker, geſchildert nach
einer Bergleihung feines Schages mit den Trinummus bes
Piauras, Bon Eugen Sierke. Königeberg, Hartung.
Diefe Differtation „zur Erlangung der Doctorwürde
der philoſophiſchen Bacultät zu Leipzig überreicht", er«
drtert auf 55 Seiten eins der bedentendften Erftlings-
dramen Leſſing's. Eingehender und peinlich gewiffenhafter
Tann man faum den Intentionen und den Eigenthümlich-
teiten eine8 jungen Dramatifer8 nachforſchen, als e8 der
oftpreußifche Doctorand, der jett über das Fönigäberger
Theater in der Hartung'ſchen Zeitung berichtet, in feiner
gediegenen Arbeit gethan hat.
14. Heinrich Heine und das Judenthum. Bon Guſtav Kar-
peles. Breslau, Heidenfeld. 1868. 8. 5 Nor.
Auch eine Rettung! Auch Heine, der Neffe Salomo’s,
hat feinen Göfchel gefunden. Wäre Heine nicht fo gren⸗
zenlos frivol gewefen, fo hätte er — es iſt gar nicht
anders —* — enthuſiaſtiſcher Jude fein wmiüfjen!
Und worauf ftügt ſich Karpeles? Hauptfächlic auf
8. 7 des Heine’fchen Teftaments, wo er das pater peccavi,
an deſſen Aufrichtigkeit fein Menſch glaubt, gegen bie
offenbarte Religion ausgefprochen. Bas die religidfe
Belehrung auf dem GSterbebett anbetrifft, jo weiß alle
Welt, was fie davon zu halten hat, ohne gerade Voltaire
und andere Geifter zu nennen, Der Eifer des Verfaſſers,
Heine als Dichter des Judenthums nachzuweiſen, wendet ſich
auch mit Energie gegen die Verächter der Ceremonialgeſetze,
die mobernen Juden. Hinc illae lacrimae! Und doch
hat Heine die unfhägbaren Vorzüge bes Gänfegefröfes
und des Schalets mit Klößen recht appetitlich hervor⸗
gehoben, wenn er ſich aud über die Handelsthätigleit mit
abgelebten Hofen etwas fpöttifch ausgelaſſen. Der Bore
trag des Hrn. Karpeles ift fo falbungsvoll, fo ganz von
ſchwarztalariſcher Färbung, daß ihn mit Umfegung ber
Worte „Hude“ in „Chrift“ ein proteftantifcher Paftor (die
Tatholifchen wagen ſich wenige auf das Feld der Literatur),
mit einem Wort, daß ihn Liebetrut gehalten haben Könnte.
15. Geſchichte der Juden von den älteſten Zeiten bis anf die Ge⸗
gaman Aus den Quellen neu bearbeitet von 9. Graetz.
jehnter Band: Gefdichte der Juden vom der dauernden
Unfiedelung der Marranen in Holland (1618) bis zum Ber
ginne der Mendelsſohn'ſchen Zeit (1760). Leipzig, Leiner.
1868. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr.
Brüfet alles und das Befte behaltet! Wenn man
vom Judenthum eine fo partieulariſtifche Anſchauung Hat
wie ber Retter Heinrich Heine's, fo freut es um fo mehr,
bie Fortfegungen eines der tüchtigflen Geſchichtswerle zu
begrüßen, das über das merkwürdige, noch fo viel ver-
Tannte und umbelannte Volt verfaßt iſt. Es wäre un.
nöthig, noch über das Werk von Graeg viele Worte zu
verlieren; es gemüge hier wieber, zu betonen, baß ber
treffliche Gelehrte für feine Specialität, die Geſchichte der
Hude, die einzig genane und ſicherſte Duelle if, Aus
156
Iehrt, der Gefpielin und Schwefter zu begegnen, fo wirb
ber Mann auch einft fein Weib behandeln.” Ein un
verwifchter Ausdrud wahrer Keligiofität durchdringt das
Büchlein, das ſich ſicher einen ftillen Freundeskreis ſchaf⸗
fen wird.
6. Der Notbftand umter den Frauen und die Abhülfe beffelben.
Ein Beitrag zur Frauenfrage von Karl Weiß. Berlin, Brigl.
1870. Gr. 8 71% Ngr.
Das ift einmal ein gutes Wort in der focialen Frage!
Ohne Phrafe, mit ftatiftifcher eiferner Conſequenz weift
ber Autor nach, welche Wurzeln der Notbftand der Frauen
babe und welche Wege zu feiner Befeitigung führen kön⸗
nen. Es find fchon fo fehr viel Nothftände fignalifirt,
es. ift fchon fo viel mit dem „Elend“ in Leben und
Dichtung kokettirt, e8 find fchon fo viele unmögliche Wege
zur Abhilfe angegeben worben, daß man boppelt froh
fein muß, wenn einmal Ernft ftatt Worte und das Brot
eines vernünftigen Auswegs aus der Mifere ftatt ber
Steine von Klagen und Auflagen gegen das Menfchen-
gefchlecht geboten wird. Wenn in Berlin allein 43417
unverbeirathete rauen exiſtiren, „bie fih an der natio-
nalen Arbeit gar nicht oder nur in geringem Maße be-
theiligen, fomit als meift überflüffige Beihülfe in der
Wirthſchaft mit ernährt werden müſſen“, fo nöthigt dieſe
Thatſache zu ernfter Betrachtung und dringender Abhülfe.
Dan kann bei Weiß nachleſen, wie Iehrreich bie berliner
Statiſtik für die Kenntniß diefer Notbftände iſt. Die
Hauptkraft, welche die Frauen vor der Noth bewahrt, ift
die Erziehung zur Arbeit. Aber auch hier ift vor ben
Gebieten zu warnen, die zu überfüllt find. Bor ber
muſikaliſchen Arbeit, dem Beruf der Lehrerinnen und Er-
zieberinnen, dem Gebiet der Buntfliderei, der gröbern
MWollenarbeiten warnt der Ueberfüllung wegen der Ber»
faffer. Nach feiner Berechnung (in ber er die verfchie-
denen Arbeitsgebiete der Frauen zufammenftellt) kommt
auf 8500 weibliche Bewohner in Berlin ein einziger
felbftthätiger. Und aus diefer Tabelle geht auch die Er-
fenntniß der Abhülfe bes Uebels hervor. Das Gebiet
der Nabdelarbeit, des Zuſchneidens und Kleidermachens
(wodurch die Damenfchneider unnütz werden), der Näh—⸗
mafchine, der amerikaniſchen Strickmaſchine, der Zeichnerei
im praktiſchen Sinn follte den Frauen viel mehr Arbeit
bieten als bisher. Noch mehr. Die große Befähigung
des weiblichen Gefchlehts für Buchführung, Kaffe» und
Comptoirarbeiten follte dafjelbe mehr in die gefchäftlichen
faufmännifchen Branchen hinweiſen. Das alles wird des
genauern in der Heinen Schrift ausgeführt, und auf den
Bictoria-Bazar als Träftiges Abhülfemittel der Noth hin⸗
gewiefen. Es iſt eine Pflicht, das Weiß'ſche Büchelchen
zu lefen, und fir die nothleidenden Frauen aud) eine ernfte
Pfliht, danach zu Handeln.
7. Ueber den Kampf ber Sumanität gegen die Schreden bes
Kriege. Kin Bortrag von F. Esmard. Mit fünf
Holzihnitten nach Zeichnungen von I. Wittmaack. Kiel,
Schweres, 1869. ©r. 8. 71 Nor.
Auch ein Nothſtand, allerdings mehr des phyſiſchen
als bes geiftigen Lebens tritt uns in vorliegender Bro⸗
fhüre vor die Augen. Sie ift ber Abdrnd eines Vor⸗
trage, den der rühmlich bekannte Profeſſor der Chirurgie
Dom Büchertiſch.
(wol in Kiel?) gehalten Hat. Esmarch gibt ein anfchau-
liches Bild der Unzulänglichleit der alten Sanitätspflege
in den Sriegen unfers Jahrhunderts; er erklärt bie
Stantshülfe fiir nicht ausreichend, die Noth auf den
Schlachtfeldern zu mildern; aber auch die öffentliche Hilfe,
die fi im legten Kriege glorreich bewährt hätte, bedürfte
ber Regelung, der zwedmäßigen Organifation. Die biß-
berigen Localitüten für die Pflege der Verwundeten er⸗
foheinen ihm unzureichend; da es aber fchwerlich befiere
gäbe, fo empfiehlt er dringend die Errichtung amerifani-
her Baradenlazarethe: ein Gegenftand, dem Esmarch die
eingehendfte Befchreibung wibmet. Auch bier wieber, wie
in allen Fragen bes praftiichen Lebens, haben die Ame-
rikaner ihre große Weberlegenheit über die Staaten ber
Alten Welt gezeigt. Ein Theil jener Vorurtheilslofigkeit,
welche die Yankees auszeichnet, wäre ben “Deutfchen,
gerade in Bezug auf das Vorgehen in neuen nilglichen
Unternehmungen dringend zu wünſchen. Uebrigens ift
bemerkenswert, daß Esmarch mit Virchow die Schreibart
„Lazarett“ ftatt „Lazareth“ für die richtige erklärt.
8. Borträge von Friedrich Liebetrut. Gotha, Schloeßmann.
1869. 8. 24 Nor.
Die Themata diefer Vorträge: „Das beutfche Vater⸗
land nach der Germania des Tacitus“, „Geſchichte und
Kritik der Jungfrau von Orleans”, „Das Lebenswunder
und feine Räthſel“, find mannichfaltig. Die Behandlung
ift nicht immer fo objectiv, wie der Vortragende fie felbft
bezeichnet; wenigftens paßt der „elende Voltaire“ nicht
recht in den Rahmen hiſtoriſcher Darſtellung. Nicht
minder gewagt und einfeitig ift die Erflärung der Er⸗
fheinung der Befreierin von Orleans vom übernatürlichen
Standpunkte aus. Das fehr richtige Urtheil Heder’s, der
in der Beurtheilung pfochifcher Zuftände der mittelalter-
lichen Geſchichte höchſt fachverftändig ift, wird für zu
frivol, zu wenig dem frommen Glauben entfprechend
erflärt. Kein Wunder! Wer den Auffat über das
„webenswunder” gefchrieben bat, muß alle Anſchauungen
der „fi blähenden Klugheit” eitel und nichtig nennen.
Diefer letztgenannte Vortrag entzieht ſich der Kritik d. Bl.:
er gehört völlig in ein Erbauungsbud, und zwar in eins
bon pietiftifcher Färbung.
9. Die Fauftfage und der religids-fittlihe Standpunft in
Goethe's Faufl. Bortrag von P. Tube. Dresden, Nau⸗
mann. 1869. Br. 8. 5 Nor.
Don geiftliher Stelle her, wie die eben erwähnten
Vorträge, find auch die vorliegenden Worte über bie
moderne Bibel des Menfchengefchledhts gefprochen, aber
fie verrathen ein tiefes Verſtändniß für den Dichter und
fein Werl. Sie zeigen, wenn auch fehr flüchtig, was
Goethe gewollt, und haben die Symbolik des Werks fein
erfannt. Schade, daß ber Bortrag gerade da abbricht,
wo wir den Endpunkt ber Unterfuhung erwartet hätten:
nümlich in der Beſprechung des großartigen Finale im
zweiten Theil.
10. Dixon's und Dunder’s GSeelenbräute, filhouettirt von
Wilhelm Ebel. Baſel, Riehm 1869. G©r, 8.
7 Nor.
Nicht allein dem Briten Diron, auch dem beutfchen
Buchhändler Franz Dunder, dev bie deutſche Ueberſehung
Vom Buüuchertiſch.
von Diron's „Spiritual wives“ verlegt Bat, gilt der
Kampf, den Ebel, ein Sohn des vielgenannten königs
bergee Archidiakonus, als ftreitbarer Kämpe gegen die
Anfläger feines Vaters führt. Beſſer als mweiland dem
Srafen Kanit gelingt e8 dem Berfaffer, dem Ironie und
tüchtige gelehrte Bildung zur Geite flehen, fo manden
ſchwachen Punkt des engliſchen Senfationswerts zu be
leuchten; denn Diron’s Buch iſt allerdings, was die
Tonigeberger Mudergefchichten betrifft, in vieler Hinficht
oberflächlich und einfeitig. Die Umtsentfegung Ebel’
und Dieftel’s find jegt noch dunkle Punkte in der
preußifchen Rechtsgeſchichte, mag man aud; über bie
Eonventikel der Lönigeberger Frommen benfen wie man will.
11. Die Verbindung ber Künſte auf ber dramatifhen Bühne.
Bon Karl Robert Pabſt. Bern, Haller. 1870. Gr. 8.
1 Zhlr. 5 Nor.
Borliegende „Reihe alademifcher Vorträge” behanbelt
ein bebeutungsvolles Thema. Nachdem der Autor bie
Rangftellung der Poeſie unter den Künften bezeichnet und
ihr den erften Rang zugetheilt hat, fommt er auf bie
Berbindung der Künſte ſelbſt. Als Grundgeſetz ftellt er
bier die Unterordnung aller zufammenmirtenden Künfte
umter die Herrfchaft einer einzigen hin. Und zwar hält
er unter allen Künften fr bie bedeutendfte und wirkungs-
reichfte die theatralifch aufgeführte dramatifche Dichtung.
Nach einer forgfältigen Analyfe der Oper (mobei er
Wagner's Irrthum genau aufdedt) wird der Muſik die
zweite Stelle unter den Künſten vinbicirt, und zwar bem
Gefang, der in der Inftrumentalmufit feine Stüge fin
det. Der Pantomime und dem charakteriftiichen Ballet
will der Autor nur zeitweife das Recht einräumen, als
Herrſcher aufzutreten. Sehr abfällig äußert er ſich über
die Flut der Leſedramen, die mit ein Grund des Herab-
kommens der Bühne geworden find. Das ganze Werk
iſt mit Tiebevoller und eingehender Theilnahme für das
Befen und die Gefundheit des deutfchen Theaters verfaßt
amd wertb, von Dichtern und Darftellern, vor allem von
den Leitern der Bühne beherzigt zu werden.
12. Der Bürgergeift, die Bühne und ber Bühnenvorfiand. Ein
Bort der Bitte und Mahnung an Staatsmänner, Gemeinde
zäthe, Lehrer und bie Glieder des Schaufpielerflandes, von
zrangott Ernf. Zürich, Herzog. 1870. Gr. 8.
gr
Die Schweiz liefert, wie wir fehen, zu Anfang bes
neuen Literaturjahres gleich zwei anregende Schriften über bie
Bühne und was ihr nothihut. Die Schrift von Ernft wen-
det ſich, während das Pabft’fche Buch die theoretiſche Seite
der Kunft im Auge hat, mehr an bie praltifchen Anfor-
derungen bes Theaters. Der Autor kennt die Verhält-
niffe des deutſchen Theaters im allgemeinen und im bes
fondern; er tadelt nicht nur, er macht auch Vorfchläge,
die ſich verwirklichen laſſen. Der Bürgergeift, der in der
republikaniſchen Schweiz alle tüchtigen Unternehmungen
zurchdringi, fol and, das Theater Fräftigen: nur können
vie mit dem Verfaffer nicht einverftanden fein, wenn er
‚en Staat ganz bon der Theilnahme für das Theater
erngehalten und ihn nur bei der Grundung von Theater«
Snlem im Devrient'ſchen Sinne betheiligt wiflen will,
Die ſchließliche Rüdfichtnahme auf das Theater einer
157
beftimmten xheinifchen Stadt ift zu particulär, um das
allgemeine Intereffe zu beſchäftigen. Trotzdem bietet das
Schriften fo viel Anregendes, daß feine zu enge Faſſung
nur bebauert werden Tann.
13. €, ©. Leffing als angehender Dramatifer, geſchildert nad
einer Bergleihung feines Schages mit den Trinummus des
Prautme, Bon Eugen Sierke. Königsberg, Hartung.
Diefe Differtation „zur Erlangung der Doctorwürde
der philofophifchen Facultät zu Leipzig überreicht“, er-
drtert auf 55 Seiten eins der bedeutendften Exftlings- .
dramen Leſſing's. Eingehender und peinlich gewiffenhafter
tann man faum den Intentionen und ben Eigenthümlich«
keiten eines jungen Dramatifers nachforſchen, als es ber
oſtpreußiſche Doctorand, der. jet über das königsberger
Theater in ber Hartung’jchen Zeitung berichtet, in feiner
gediegenen Arbeit gethan Hat.
14. Heinrich Heine und das Judenthum. Bon Guſtavb Kar
pelee. Breslau, Heibenfeld. 1868. 8. 5 Npr.
Auch eine Rettung! Auch Heine, der Neffe Salomo's,
hat feinen Göfchel gefunden. Wäre Heine nicht fo gren«
zenlos frivol gewejen, fo hätte er — es ift gar nicht
anders möglich — enthuftaftifher Jude fein müffen!
Und worauf ftügt fi Karpeles? Hauptfächlih auf
8. 7 bes Heine ſchen Teftaments, wo er das pater peccavi,
an deſſen Aufrichtigkeit fein Menſch glaubt, gegen bie
offenbarte Religion ausgefproden. Was bie religidfe
Belehrung auf dem Gterbebett anbetrifft, fo weiß alle
Belt, was fle davon zu halten Hat, ohne gerade Voltaire
und andere Geifter zu nennen. Der Eifer des Berfaffers,
Heine als Dichter des Judenthums nachzuweiſen, wendet ſich
auch mit Energie gegen bie Veräditer der Ceremonialgefege,
die mobernen Juden. Hinc illae lacrimae! Und doc
bat Heine die unſchätzbaren Vorzitge des Ganſegekröſes
und des Schalets mit Klößen recht appetitlich hervor
gehoben, wenn ‘er ſich auch über die Handelsthätigfeit mit
abgelebten Hofen etwas fpöttifch ausgelaſſen. Der Vor⸗
trag des Hrn. Karpeles ift fo falbungsvoll, fo ganz von
ſchwarztalariſcher Färbung, daß ihm mit Umfegung der
orte „Yude“ in „Chrift“ ein proteftantifcher Paftor (die
Tatholifchen wagen fich wenige auf das Feld der Fiteratur),
mit einem Wort, daß ihn Liebetrut gehalten haben Könnte,
15. Geſchichte der Juden von bem älteften Zeiten bie anf die Ge⸗
— Aus den Duellen neu bearbeitet von 9. Graetz.
ehnter Band: Gefchichte der Juden von der dauernden
Ainfiedetung der — nd big zum Ber
jinne der Mendelsjohn’fden Zei . Leipzig, Leiner.
Wer Gr. 8. 2 Thlr. 20 Nr, vis
Prüfet alles und das Befte behaftet! Wenn man
vom Judenthum eine fo particulariftifche Anfhauung hat
wie der Retter Heinrich Heine's, fo freut es um fo mehr,
bie Fortjegungen eines der tüchtigften Geſchichtswerle zu
begrüßen, das über das merkwürdige, noch fo viel ver-
Tannte und unbelannte Volt verfaßt ifl. Es wäre un.
nöthig, noch über das Werk von Graeg viele Worte zu
verlieren; es genüge bier wieder, zu betonen, daß ber
treffliche Gelehrte für feine Specialität, die Geſchichie der
Duden, die einzig genaue und ficherfle Duelle if, Aus
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„er er 1. -
158 Feuilleton.
Graetz' „Sefchichte der Juden“ und Deutſch's Aufſatz über
ben Talmud (den wir in Nr. 7 d. DL. beiprochen haben) be-
fommen wir ein klares anjchauliches Bild von der langen
Culturarbeit des jüdifchen Volle. Auch der Iegterfchienene
(zehnte) Band des Werks von Graetz bietet eine Fülle glän-
zend verarbeiteten Hiftorifchen Materials. Die Erfcheinung
des Sabbatai Zewi und feiner Anhänger, die Graek mit
großer pfychologiſcher Feinheit charakterifirt hat, bildet hier
einen Sammelpunkt des jübifchen Geifteslebens zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts. Nur bei Gelegenheit der Be⸗
ſprechung Spinoza's (dem übrigens der Antor unbefchabet
feines Glaubens gerecht wird) hätte Graetz Fritifcher
verfahren können. Er fcheint die neueften Arbeiten van
Bloten's über den großen Denker nicht zu kennen. Ebenſo
iſt es unftatthaft, wenn er die Yabelangabe aus Kolerus,
Spinoza habe um das Teſtament des Vaters mit ben
Schweftern proceffirt, auf Treu und Glauben wiederholt.
16. Indiſche Streifen von Albrecht Weber, Zweiter Band.
Berlin, Nicolai. 1869. Gr. 8, 3 Thlr.
So ift num auch der zweite Band ber verbienftlichen
Auffüge, deren erften Band wir feinerzeit beſprachen,
heransgekommen. Wie ber vorige befteht biefer Band
wieder aus Abdrüden von Kritiken für das „Literarifche
Eentralblatt“ und die „Zeitfehrift der Deutfchen morgen-
ländiſchen Gefellfchaft‘‘: Abdrücke, bie über da8 Fahr 1849
nicht hinausgehen. Alle Artikel find mit gewohnter ge»
Iehrter Kritik und größter Schärfe des Urtheils verfaßt.
Statt der Inhaltsüberfiht wäre indeflen ein Regiſter am
Schluß praftifcher, weil in feiner alphabetiichen Yorm
überfichtlicher geweſen.
17. Illuſtrirte Familienbibliothek. Unter Mitwirkung der be-
liebteſten Schriftfteller und Fachmaänner herausgegeben von
Paul Kormann. Erſter Band. Mit I Tonbildern und
mebrern Tertillufrationen. Leipzig, Kormannı, 1870.
®r. 8. 25 Nor.
Derartige Unternehmungen find nicht neu, die ganze
Lefewelt drängt nach populärer Unterhaltung: wer vieles
bringt, wird allen etwas bringen. Iſt foldes Sammel»
und Lieferungswert nur körnig gehalten, bringt e8 eine
paffende Auslefe aus allen Gebieten des popularwifienjchaft-
lichen, wirthſchaftlichen und belletriftifchen Lebens, fo kann
es fich der Theilnahme des Publikums fo Lange verfichert
halten — bis ein neueftes linternehmen dem neuern den
Rang abläuft. Die Beiträge des erften Bandes find
befonder8 in populärsnaturwiffenfchaftliher Hinficht recht
gelungen. Wir nennen unter den Mitarbeitern für natur
wiſſenſchaftliche, vollswirthfchaftliche und pädagogische Dar⸗
ftellungen u. a. Birnbaum, Büchner, Züger, K. Müller,
Reich, Keinsberg-Düringsfeld, Vogel; unter den befletris
ftifchen Bernd von Gufed und Sacher⸗Maſoch. Büchner's
Aufſatz über „Das Alter des Menſchengeſchlechts“, Jäger's
„Lebensproceß im Waſſer“, jowie beſonders Sacher⸗Maſoch's
„Volksgericht“, eine Geſchichte aus Oſtgalizien, die an
Zurgenjew’s Schreibweife gemahnt, heben ſich vortheilhaft
aus den auch fonft fehr ſchätzbaren Beiträgen hervor,
18. Die Gefundheit der Seele. Bon Bernhard von Beskow.
Nah der zweiten Auflage des ſchwediſchen Originals über-
feßt und mit einem kurzen biographifhen Abriß des Ver⸗
fafjers verfehen von Ehrifian von Saraumw. Berlin,
C. Dunder. 1869. 16. 12 Nor.
Der Ueberfeger fcheint Teine Ahnung davon zu haben,
daß bereits ein Jahr vor ihm eine gute beutfche Ueber⸗
feßung des fchmwedifchen euchtersleben erfchienen iſt. Da
wir bereits in Nr. 12 d. BL f. 1869 das Büchlein in der
Prätorins’fchen Ueberfegung beſprochen haben, genügt es,
vorliegender Verſion das Lob der Gewandheit und Klar⸗
beit, dem biographiſchen Abriß aber die Anerkennung
lakoniſcher Kürze zu geben.
19. Die Kunft des Wetterprophezeiens oder bie Wetterzeichen
und Bauernregeln nebſt einem Aubange: Die Wetter
prophezeinngen des hundertjährigen Kalenders. Zufammen-
eftelt von Freiherrn ©. von Horn. Altona, Berlags-
reau. 1869. Gr. 16. Da Nor.
Die „Bauernregeln”, die bei weiten ben größten
Theil bes Büchleins einnehmen, find nicht übel zufammen-
eftellt; auch die Kunft des Wetterprophezeiens in ihren
Fundamenten, wenn es folche gibt, wird ben Laien
bier Har gelegt. An Menfchen und Thieren find auf-
merffame Beobachtungen angeftellt und vom Verfaffer in
Teidlicher Ordnung zufammengeftellt worden. Dies zur
Notiz für die zahlreichen deutſchen Barometrii und ihre
Freunde!
Fenilleton.
Die Tantieme ber Dramatiker und der norddeutſche
Reichsſtag.
Dem Bernehmen nach wird der diesmalige Reichstag and
über eine wichtige geiftige Eigenthumefrage zu _bebattiren haben,
indem eine Petition deutſcher Dramatifer die Zantiemefrage bei
demfelben in Anregung bringen wird. Soviel wir hören, bezieht
fi diefe Petition zunächft anf bie königlichen Hofblihnen im
Hannover, Kaffel und Wiesbaden, indem es in der That ale
eine Anomalie erfcheinen muß, daß diefe zum Reſſort der könig⸗
lichen berliner Hofbühne gehörigen Hoftheater noch nicht bie
Tantieme eingeführt haben, während fie ſchon feit Küſtner's
Zeiten und durch das Verdienſt diefes Intendanten bei dem ber-
finer Theater beſteht.
Wenn ſich die Petition hieranf beſchränken ſollte, fo würde
kaum ber Reichstag in der Lage fein, über eine nur dem
Sheaterreglement angehörige Frage zu eutſcheiden. Es ift zu
wünſchen, daß die gefeßgeberiiche Imitiative des Reichstags die
Tantieme zum durchgreifenden Geſetz für alle Bühnen des nord⸗
deutfchen Bundes erhebt.
Affoctationen von Autoren haben vielfach gefirebt, die Tan⸗
tieme auf dem Wege ber Selbſthülfe durchzuführen; fo ber
bresbener ‚„Shalfpeareverein‘ und eine ausdrücklich zu dieſem
Zwed zufammentretende Vereinigung von Dramatilern um
Componiſten in Wien, welde bereits Statuten ausgearbeitet
hatte. In dieſen Beftrebungen prägte fich wenigſtens der bei
deutſchen Dramatilern berridende Nothſtand und das richtige
Feuilleton.
Gefühl darüber aus, wo fie der Schuh drüdt, Wenn ber
Schriftftellertag in Weimar 1869 über die Tantiemefrage zur
Tagesordnung überging, fo Hat ex die Bedeutung diefer Frage
im unerflärlicher Weife unterfhägt.
Ale jene Beftrebungen der Selbſthlitfe find im Sande
verlaufen. Man darf die deutſchen Schriftfteller und am mer
wigfien die deutſchen Dramatiker deshalb anklagen, wenn ihnen
der Muth zu kühnem Borgehen in ihren eigenen Intereſſen
fehlt. Sie haben Hierin zu traurige Erfahrungen gemadt.
Die Selofthülfe gegenüber den Bühnen berubte auf dem foli»
darifcen Princip einer „iterarifhen Aushungerung“. ie
aber, wenn die Hauptlieferanten fehlten? Was half da den fibrigen
ihr Zufammenftehen? Die Bühnen ließen ſich im Nothſall
auehungern, oder drehten ben Spieß um und Hungerten bie
Schriftfteller aus; denm wer da weiß, wie froh die große Mehr»
zahl der letztern ift, wenn ihre Stüde Überhaupt nur an einer
oder der andern Buͤhne gegeben werden, der wird ben Ger
danten allzu fühn finden müffen, daß die Dichter den Directoren
das Gefeg dictiven wollten, vor denen fie font ſtets den Hut
im der Hand dafehen, und mit denen fle auf dem Wege dev
Devotionsftrige-und Bittformeln verkehren.
Ia auch mander erfolgreiche Dramatifer mochte fid) fagen,
daß in dem Beitritt zu dieſer Affociation eine Erſchwerung für
feine Künftigen Erfolge fiege; denn aud; den Glädlichfen wird
bisweilen die Thlir verfchloffen, und wer als Dramatiter, das
geißt im Kampf mit dem deutſchen Bühnen grau geworben if,
der durfte ſich mol einige Ruhe gönnen.
Deshalb ift Hier die Gejeßgebung, die mit einem Para-
graphen den ganzen KUmmerniſſen und Willfürlicfeiten ein Ende
wagt, durchgreiſend einzufchreiten befäßigt und berufen.
As Soy der Tantitme därften fi 10 Proc. von der
Bruttoeinnahme jedes Abends (die in Wien und Berlin bei
den Hofbühnen geltenden Tantitmen) für alle Hofbügnen em-
piehlen, für_alle andern Theater one Ausnafme 5 Proc.
Breiwilige Steigerungen und Prämien find nie ausgefhloffen.
Laube lampfte in Wien für die zehnprocentige Zantieme
auch bei Staditheatern. Er if nun ſelbſt Stadttheaterdirtetot
geworden; wir wiffen aus eigener Erfahrung nicht, ob er noch
diejelbe Anſicht hat, oder ob er fie, den Umfänden Rechnung
tragend, mobificiete. Uns feinen 5 Proc. Taniieme ausreichend
als Norm für die Berhaͤlinifſe der meiften deutſchen Stadts
theater.
Schr zu wänfhen wäre e8 indeg, wenn aud außer der
Zantieme in ein Gefeg zum Schutz des este Eigenthums
deutjher Dramatiker mod) einige andere Veflimmuny ugem aufe
genommen würden, melde zwar aus allgemeinen Rechtsvor-
Schriften folgen, aber doch ſehr nöthig wären bei der Schlihtern-
heit deuti—er Dramatiker, die-micht, wie die franzöffhen, fich
auf dem Rechtsboden zu flellen umd dadurqh ihrer ganzen Birk,
jamteit einen Rechtsboden zu fchaffen wagen.
Der wichtigſte diefer Säge wäre: die Annahme eines
Stüds involirt die Berpflihtung zur Aufführung deffelben.
Ber die franzöffgen Resisnergättnife 1 in biefer Frage fiudiren
will, dem empfehlen wir das vortveffliche, gründliche Wert von
Zacan: „Traitt sur 1a legislation et la jurisprudence des
theätres er wird daraus erfehen, daß die franzöflihen Au-
toren alle” derartigen gegen die Directionen geführten Breite
gewinnen. Ohne beflimmte Zeitangabe wäre ein ſolches Geieg
Aluſoriſe Die franzöfihen Autoren verlangen die Auffüh-
zung nad) der Reihenfolge der Annahme und Magen über bie
Bevorzugung fpäter angenommener GStüde; and dieſe Proceffe
gewinnen fie. Bei unübermwinblihen Sinderniffen iſt ſelbſtver ·
ſtaudlich ein entſprechender Schadenerſatz zu leiſten.
Dieſes Geſetz, obgleich aus allgemeinen Rehtegrundfägen
feicht Gerzufeiten, würde den Directionen die Wiltlicherricjaft
verbieten, die fie jegt ausliben, und Hauptfählich dazu beitragen,
die bisjelst beftehende Rechtloſigteit der dramätiſchen Schrift
fteller aufzuheben,
159
Sibliographie.
Niederdeutscher Aesopu In und Erzählungen aus einer
.. 20
Wolfenbütteler Handschrift det
— von Fallare
Sat v., ® * fe Sammlung. Res
Ae verbolfänbigte Ausgabe. Berlin,
.‚ Die Sage von der goflügelten ‚Sonnenschelbe nach alt-
'n dargestellt. Göttingen, Dieterich. Gr. 8. 24 Ngr.
ll Wratifge Berfuge zur Gölung ver Granenfräge-
3., Ein vor 3000 Jahren abgefasste Geirolderechnung,
au der südlichen Aussenmauer des Tempels von Mediuet-Habu in
Ober-Aegypten, und mit Ergänzung und Berichtigung sämmtlicher an der
zerstörten oder fehlerhaft olagemelsselten Stellen in ihrem Zusam-
meuhange erklärt, Berlin, Stargurdt, Gr. 4. 22, Ngr.
Dunger, Hu Ueber Diasct und” ‚Yolkstiea des Voptlands, Ein Vor-
trag. Plauen, Nonpert.
Fischer, K, Baus
Gr. 8, 12 Ngr.
Die Corps der deutschen Hochschulen,
stellung student hi » Ankan
Achaften. ERE —e—
—* Te nähen Kufgeßen für bie Ratlonateriehung
öl jiehungsft
ver Wedens it Beyus auf Bewr Item. Cine
Bi — eee Bertlm ei
ineren Inoerftäten., Ölterse of, Berteiemann, 8. 5 Hy
ı Bablo oder d⸗ in den Bampad. Aus de
eailin "abenfet' von Sopamna Woellenpoff, Deritn
Geiger, L., Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland
ga Pa ien 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Breslau, Schletter.
r. *
the, D., Bilber und Studien zur Geſgichte der Zaduſtrie und
Fy Refaiken wefene. ARe Gammlung. Dertin, — &r. 8. 3 Tiit.
I
20 7 PFaeber, B,, Die Kathedrale des heil. Volt zu Prag und die Kunst-
— Kaiser Karl IV, Eine archliekionisch —— Btudio,
ag,
Tendelentärg. Bine Duplik. Jens, Delstung.
Nebst einer eingehenden Dar-
ie modernen Nurschen-
ante,
—— Mn un. Eee
jeit, 0. Gedächtalse
emer. der Zoologie an der kalserl, Alexander —
fors, Mitgiied der französischen Academie der Wimenschaften sa Parlı ci
gehalten am Jahres- und Festtage der finnischen Gesellschaft dor Wissen-
Schaftan den 29. April 1861. Aus dem Schwedischen iberasist. Helslag-
Tora, 1068, Gr,B. 1 Ner
ırt dor hundert Jahren. Vortrag. Gtuttgart,
glaiber, 3., ©
« &r.
Loßscheid, W., Eins politische Rundschau mit besonderer Berle-
hung auf die chinesische Gesandtschaft, Berlin, Btilke u, van Muyden.
Gr 8. H *
Ma «Bi ptebilber unb Gagen aus
ber Boni der — ea fen und ee ter Galbob, Bänden,
Lindner. & 2 a
Meper Charles Darwin und Alfreb Ruffel Wallace. Ihre
HF Bittner über bie nen es, Arten“ mebR einer Gkigze
— — ange en —— a Bi Mjation
“; A 1 90, De8 Hirten afgen. Peinchpien
® Staat und Religion.
De Ureitägige Schlacht bel Werschan 20., 29. und 80.
lege preussischer Kraft und preusslscher Siege“. Bei-
onburgiefh senwedlschen Kriogegoschiehte. Nach blaher
chiralischen Quellen dargestellt, Breilan, Mälser. Gr 8.
ie auf Alezander v.
und Ioeen *
After Thi.
— die Wehasianige, Königin von Castilien. Bo-
Neuchtung der Enihällungen 6- n aus dem Archive zu
üimancas., Wien; Baser u. Frick, 10
u. ie Rüdhlide auf den — von 1666, Berlin, Dümmier,
Esram, 2., Di um ben Namen, ie Bitensite
aus — —* —— Pi
ma € &op ter. Satan, Rah
dem (dmebifgen EHRE —2*— Dei je Übertragen unb beat
beiten bon de BE pnrihe. 2 —— ‚bir. 10 Rar.
Ileich: &ieta) Gerd von Gel: | Berlin, Sanle.
Ngr.
Bincenti, Ghevalier de, Der —* euch Befotterten. Aus den
Geranentegen Ele illene. Berlin, Sante. 8. 20
ie Werte. ifer a2. Sie Hofdame. Edau-
if
fpiel m 24 nern Hand, — ——* x J a r
von —
Die Zukunfts-. — und die Aufgaben der —— —
und Gesetzgebung von Einem, der keiner der alten Partelen angehört.
Berlin, Mitscher u, Röstell. Gr. 8. 10 Ngr.
Anzeisg
Derfag von 5. A. Brockhaus im Leipzig.
Soeben erjdien:
Briefe von Wilhelm von Humboldt
an eine freundin.
Dritse Auflage der Ausgabe in Einem Bande.
8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 20 Nur.
Wilhelm von Humboldt, als Staatsmann und Ge⸗
lehrter einer ber gefeiertftien Namen Deutſchlands, ift dem
größern Publikum doch erft durch feine „Briefe an eine
Freundin‘ (Charlotte Diede) werth und thener geworden:
ein Srieirmeälel, der, wie fih ein befannter Kritifer ausdrückt,
„einzig in feiner Art baftoht, mit defien Wahrheit, Herz
lichkeit and Ideenreichthum ſich kein anderer vergleichen läßt,
der zu den werthvoliſten Documenten der elaſſiſchen
Periode unferer Zeit gerechnet werden muß”.
Außer in biefer wohlfeilen Ausgabe in Einem Bande iſt
das Werk fortwährend auch in einer ſplendidern Ausgabe in
zwei Bänden (geheftet 4 Thlr. 12 Ngr., gebunden 5 Thlr.)
durch alle Buchhandlungen zu beziehen.
In bemfelben Berlage erſchien:
Lichtſtrahlen
aus Wilhelm von Humboldt's Briefen an eine Freundin,
an Frau von Bolgogen, Schiller, G. Forſter und 3. U. Bolf.
Mit einer Biograpfie Humdoldf's.
Bon Eliſa Maier.
Sünfte Auflage.
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
Dem lebhaften und dauernden Intereffe, das den „Briefen
an eine Freundin‘ feitene bes Publikums ewidmet wird, ift
e8 zu danken, daß aud die von Elifa Maier aus biefen nnd
andern Briefen Humboldt's mit geſchickter Hand zufammengeftell-
ten und von einer fehr gelungenen Biographie deſſelben be⸗
feiteten „Lichtſtrahlen“ zahlreihe Freunde gewannen und
jeßt fhon in Fünfter Anflage vorliegen.
Derfag von $. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Beleuchtung der päpſtlichen Encyclica
vom 8. December 1864
und des DVerzeichniffes ber modernen Vrrthlimer.
Nebft einem Anhang: Kritik der Brofchlire des Biſchofs von
Orleans.
Bon 3. Frohſchammer.
Zweite, mit einem neuen Vorwort vermehrte Auflage.
8 Ge. 12 Nor.
Die erſte Auflage diefer ſcharfen Oppofitionsihrift gegen
die päpftfiche Encyelica und den Syllabus, worin biefelben als
ein vom ultramontanen und jefuitifchen Geifte dictirtes Partei-
manifeft gefenngeichnet werben, erſchien anonym im Jahre 1865.
Durch den Verlauf, welchen die Dinge feitdem genommen, fand
fi der Berfafler, Brofeffor I. Frohſchammer in Münden,
bei der vorliegenden zweiten Auflage bewogen, mit feinem
Namen hHervorzutreten und in einem Vorwort den neue⸗
fien Stand der Angelegenheit, namentlich in Bezug auf das
Eoncil und bie durch dafjelbe veranlaßten Schriften, kritiſch zu
beleuchten. Die Schrift bat daher gegenwärtig ein hervor»
ragendes Intereffe.
Anzeigen. |
igen.
TERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 4. Heft.
Geschiehte: Historische Literatur, von J. J. Honegger. —
Nekrolog.
Unterrichtswesen: Die Schulreformbewegung.
Geographie: Vergleichende Erdkunde, von O. Poschel. -
Protestanten und Katholiken in Preussen.
Naturwissenschaft: Arbeitstheilung in der Natur, von
Häckel.
Astronomie: Ueber die neuesten Fortschritte auf dem
Gebiete der Astronomie. — Die Wärmestrahlung des Mond-
lichtes, von Dr. Klein. — Nekrolog.
Physiologie und Mediein: Zellstoff im Darm der fleisch-
fressenden Thiere und des Menschen. — Stickstoffoxydul
als anastbetisches Mittel. — Chloralhydrat und Strychnin. —
Nekrolog.
Handel und Verkehr: Die schweizerische Alpenbahn, II,
von C. Kind. — Amerikanische Finanzen, von Dr. J. Mino-
prio. — Nekrolog.
Landwirthschaft: Luftwechsel in Stallungen. — Noth-
futterstoffe.. — Mähemaschinen. — Der Dampfpflug in der
Provinz Sachsen. — Nekrolog.
Fiseherei: Zur Austernzucht. — Der Walfischfang.
Kriegswesen: Die Panzerschiffe der Gegenwart und
der nächsten Zukunft, von C. v. Sarauw. — Nekrolog.
Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk.
Illustrationen: Kartenskizze der schweizerischen Al-
penbahnen. — Türkisches Kasemattenschiff und Amerikani-
scher Monitor.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
TRES FLORES
del
TEATRO ANTIGUO ESPANOL.
Publicadas con Be biograficos y oriticos
CAROLINA MICHAELIS,
8. Geheftet 1 Tblr. Gebunden 1 Thir. 10 Ngr.
Dieser Band enthält drei bedeutende Erzeugnisse der
altern spanischen dramatischen Literatur, und zwar:
Las Mocedades del Cid de Don Guillen de Castro,
La Tragedia mas lastimosa de amor. Dar la vida
por su dama 6 El conde de Sex. Por Don Anto-
nio Coello,
El desden com el desden de Don Agustin Moreto.
Das allgemeine literarhistorische Interesse, das sich an
diese Dramen knüpft, wird noch durch die beigefügten bio-
graphischen und kritischen Notizen erhöht.
Dieser Band bildet einen Bestandtheil der von der Ver-
lagshandlung unter dem Titel
COLECCION DE AUTORES ESPANOLES
herausgegebenen Sammlung spanischer Werke,
Ein Verzeichniss der bisher erschienenen 27 Bände dieser
Sammlung ist durch alle Buchhandlungen gratis zu erhalten.
Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von 8. A, Srocdhans in Leipzig.
Blätter
literariſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
- SHabella Orfini. Drama in fünf Aufzügen von ©. 9.
Mofenthal. Leipzig, Weber. 1870. 16. 24 Nor.
2. Rofamunde. Lrauerfviel in fünf Aufzligen von Soſeph
Beilen, (Der „Dramatifchen Dichtungen“ dritter Band.)
Bien, Hartleben. 1870. Gr. 16. 20 Nor.
Schach dem ging Hiftorifches Luftfpiel in fünf Aufzligen,
von Hippolyt Anguf Schaufert. (Crftes Preisitlicd
des # £. Hofburgtheater® zu Wien) Wien, Walispauffer.
* 1869. Gr. 8. 1 Thlr.
Die Ueberjchrift dieſes Artikels hat keineswegs bie
Bedeutung, daß die drei angeführten Dramen büßnen«
gerechter wären als viele andere, bie aufgeführt und nicht
aufgeführt werden; ebenfo wenig wollen wir bie Berfafler
uch in die Reihe jener Stallknechte der Thalia und
elpomene begrabiren, welche nur das übliche Bühnen»
futter in bie theatcalifchen Krippen flopfen; wir nennen
biefe Stücde nur deshalb Bühnendramen, weil fie den
mäßigen Turnus über die deutfchen Breter im Laufe
einer Saifon gemadjt haben.
Der Gang iſt bei diefen Kindern des Glüds einfach
er folgende. Ein großes, tonangebendes Theater, wie
die wiener Burg, bringt die Stüde zur erften Auf-
rung; fie finden von feiten des Publikums eine gute
Aufnahme und werben öfter wiederholt; die Kritik ertheilt
Die unvermeidlichen Püffe, zieht aber doc vor den Au-
toren und vor dem PBublitum den Hut ab. Dies begibt
ziemlich, am Anfang einer Theaterfaifon. Alsbald
len fich die andern deutſchen Bühnen, biefem Beiſpiel
zu folgen; die fpäteften und fchläfrigften Tommen in der
nädjiten Saiſon nad.
Es find dies die Erfolge, die gleihfam am Schnir-
jem gehen. Freilich find ſie oft nicht nachhaltig,
ad folgt raſche Vergeſſenheit dem glänzenden
eslauf.
Solche Stücke darf man wohl „Bühnendramen“ nen-
2 gegenüber den andern, die entweder, trotz ihrer Ber-
nfte, gar nicht auf die Bühne fommen, weil ein Un-
1870, u.
se Ar. 11. 0
10. März 1870,
£ Inhalt: Drei Bühnendramen. Bon Rudolf Sottſchal. — Poefie und Geſchichte der Schweiz, — Unterhaltungslektüre. —
jom. Engliſche Urteile fiber neue Gefgeinungen —& Literatur; Zu Hartmann's von Aue „Gregorius““.) —
jographle. — Auzel
igen.
Drei Bühnendramen.
ſtern über ihrer Wiege ſtand, oder die gleichſam von der
Pite anf dienen, mühfam im Lauf der Fahre ſich von den
Bühnen zweiten Rangs auf die Hofbühnen emporarbeiten
und erft die Munde zu machen anfangen, wenn ihr
Taufſchein bereits auf ein nicht mehr jugendliches Alter,
hinweiſt. In der Regel haben indeß folde Gtüde ein
zäheres: Leben und zum Theil das Vorbild unferer
Tlaſſiler für fih. Wie fpät find bie meiften Dramen
Goethes auf die Bühne gelommen, und die durchgängigen
Triumphe der Schiller'ſchen Stücke fpielten ſich keines-
wegs im Laufe einer Theaterſaiſon ab. Auf einer erſten
Bühne Deutſchlands, der wiener Hofbühne, find zu Leb⸗
zeiten des Dichters mur zwei feiner Trauerfpiele gegeben
worden, und erft in Iegter Zeit hat das Repertoire berfel«
ben feine ſümmtlichen größern Werke aufgenommen.
©. H. Mofenthal ift einer der erfolgreichſten Büh-
nendichter und darf bei jebem feiner Werke, mit welchem
die wiener Burg ſtets die Initiative ergreift, auf einen
regelmäßigen Rundgang über die deutſchen Bühnen redje
nen. Er verdankt dies nicht nur feiner Kenntniß des
Theaters und feiner Kunft, bühnengerecht zu ſchreiben,
fondern auch geiftigen und dichteriſchen Borzligen. Seine
Deborah” zeigte diefelben alle vereint: poetiſchen Schwung
und glänzendes Colorit, fowie eine tüchtige Oenremalerei
bei Figuren aus dem Vollsleben. Sie war mehr Ge-
möäldegalerie als Drama, aber die Bilder Ieuchteten von
der Friſche des Talents. In den fpätern Stüden trenn«
ten fi) die beiden Richtungen, die italieniſche und bie nie«
derländifhe Schule, die in der „Deborah“ noch friedlich
unter Einer Flagge in See ſtachen: zw ber italienifchen
Säule gehörten Trauerfpiele wie „Cäcilie von Albano“
und „Pietra”; zur nieberlänbif—en Dramen wie „Der
Sonnenwenbhof” und „Der Schulz von Altenbüren”.
„Ihabella Orfini” (Nr. 1) ſchließt ſich der exftern Reihe
on, Wenn „Pietra“ als Liebeötragddie an „Romeo und
21
162 Drei Bühnendramen.
Julie” erinnert, fo erinnert „Iſabella Orfini” als Eifer:
fuchtstragddie an „Othello“. Der Hintergrund ift dabei
im Kunſtſtil der Renaiffance-Epoche gehalten; wir wandeln
unter offenen Säulenhallen, auf den blühenden Terraſſen
der italienifchen Paläfte; es ift die Zeit, wo Dichter und
Dichterinnen auf dem Capitol gefrönt werden; es iſt bie
Epoche der Mebiceer, welche freilich in dem Stüde nur
durch einen „Barbaren“ vertreten find. Liebenswürdige
Schönheiten von zweifelhaften Ruf fpielen mit ben
Schlüſſeln Petri, beherrſchen Papſt und Kirche, und
Buhlerinnen werden mit der Krone geſchmückt — ein
Zeitalter ſchönen Formenſinns und leichter Sitten; die
Aſpaſien und Phrynen mit ihrem Hellenismus verdrängen
die Madonnen, nicht aus der Idealwelt der Künſtler, aber
aus der Herrſchaft über die Gemüther.
In ſolcher Zeit lebt Iſabella Orſini, Gattin des
Herzogs Paolo Giordano Orſini, von Bracciano,
Schweſter des Großherzogs von Toscana, Francesco
de Medici, eine gefeierte, auf dem Capitol gekrönte
Dichterin, welche einer ber beſten italieniſchen Roman⸗
dichter, Guerrazzi, bereits zur Heldin eines hiſtoriſchen
Romans gemacht Hat. Wir haben dieſe Schöpfung
nit zur Hand, um fie mit Moſenthal's Dichtung zu
vergleichen; wir willen nicht, wie viel Anregung er ihr
verdankt, wo er mit ihr zufammenftimmt, oder von ihr
abweicht. Dffenbar aber ifl der Stoff, auch wie ihn
Mofenthal behandelt, von mehr novelliftiichem als dra⸗
matifhem Reiz; es handelt fi um das Werden und
Wachſen einer Neigung, deren Phafen fi dramatifch
nit mit Schärfe zeichnen laſſen, da diefe Neigung eine
durchaus innerliche bleibt. Darum befrembet und verletzt
die gewaltſame Kataftrophe, bie von außen herantritt; man
glaubt nicht an ihre Nothwendigfeit. 3—
Sehen wir uns unſere Corinna näher an, die für ſo
leichte Schuld mit ſo ſchwerer Sühne geſtraft wird.
Auf dem Capitol, kurz vor der Krönung, begrüßt ſie den
Gemahl. Orſini iſt ein Krieger, kein Freund der Muſen;
ihm gefällt die öffentliche Schauſtellung ſeiner Gattin nicht;
er hätte ſie lieber an des Hauſes Schwelle begrüßt; auch
weiſt er ihre Eitelkeit zurück, die für Italiens Muſe ein⸗
zuſtehen wagt. Iſabella aber bekehrt ihm durch eine
Beredſamkeit, durch welche fie ſich ankündigt als Ber-
treterin des weiblichen Geſchlechts, als Miffionarin für
Frauenrecht und Yrauenarbeit:
Ber ſich befcheiden fühlt im tieffter Seele,
Der braudt den Schein des Hochmuths nicht zu fürchten!
Und jenen Kranz, ic würd’ ihn nicht empfangen,
Bevor id) dir, mein Gatte, dir, mein Bruder,
Enthält, was mid zumeift an ihm gereizt.
Wie wagt’ ich's je, die Muſen zu vertreten
Au diefer Stätte, die Petrarf befchritt,
Wo Artof gekrönt, und wo man eben
Den Lorber für die Loden Taſſo's flicht !
Allein Italiens Fran'n wollt’ ich vertreten,
Und wie die Welt das Weib erniedrigt fieht,
So foll fie au das Weib erhöht erbliden.
(Innig.) Was je in mir gebichtet, war — das Weib.
Der Liebe Duell, der Frauenherzen tränkt
Die Thau die Blüten, und der, mächtig fehwellend,
Ein Ziel gefucht, das ſich ihm felbft entrückt,
Brach fi in Maren Tropfen riefelnd Bahn,
Und jeder Zropfen ift — ein Lied geworden.
So allgemein war der Empfindung Wefen,
Daß bald ihr Ausdrud zum Gemeingut ward,
Und jedes reingeftimmte Frauenherz
Es dichtet wol wie ih; nur daß es mir
Die Mufen Hold gegönnt es auszudrücken.
Wir wollen von der blauftriimpflihen Gelehrtheit
diefer an und für ſich reizvollen Verſe abjehen, doch
müfjen wir von der Erklärung Notiz nehmen, daß „das
Weib in ihr“ bisher gebichtet hat; daß „der Liebe Duell,
der Frauenherzen tränkt“, fih in ihren Liebern ergoß.
Orſini darf mit dieſer Erflärung zufrieden fein; fie hat
niemand geliebt als ihn; das weiß er, das willen wir,
er ift alfo der geiftige Urheber diefer in „Haren Tropfen
riefelnden‘ Lieder und des „getränkten Frauenherzens“.
So ift die Krönung doch nicht ohne Zufammenhang mit
ihm; er belohnt fich felbft und ſchweigt.
Die Krönung findet Hinter der Scene ftatt; inzwi«
chen begibt fi) auf den Bretern Lärm und Unheil,
Ein junger Benetianer, Xroilo, tapferer Kriegsmann,
früherer Liebhaber der Bianca Capello, die ihn betro-
gen hat, erblidt die Dichterin und wird von ihrem Reiz
verzaubert. Der Bruder der Bianca, ein gut gezeichneter
Bagabund, den die fürftlihe Schwägerfchaft übermiüthig
macht, verhöhnt fie und wirb von Zroilo gefährlich vers
wundet. Der Lärm führt die gefrönte Poetin und ihre
Begleiter herbei; der Dramatiker hat uns nun anſchaulich
zu maden, wie fi Iſabella plöglich in Troilo verliebt.
Doß er file fie gekämpft, ift ein gute® Motiv; das muß
ihre Theilnahme erregen; doch wie ftellt uns der Dra⸗
matiler dies „mehr“ dar? Romeo und Yulie fehen fid
und lieben fi) — „es ift der Blig, der trifft und zündet,
wenn fid) Berwandtes zu Verwandten findet‘‘; Doch Iſabella,
die glüdliche Gattin — wie kommt diefe dazu, fich fo
plöglich in einen Fremden zu verlieben? Und verliebt fie
fi) denn wirklich? Wir müſſen es zunächſt mehr aus
ihren Orakelſprüchen errathen; fie jagt nur wenig:
Nach fo viel Glanz ſolch ſchauderhaftes Bild.
Das ift der erfte Eindrud der Scene; dann will fie
Troilo fhüten gegen den Herzog, ber von ihm volle Wahr⸗
heit über den Grund des Zweikampf verlangt:
Laß, mein Gemahl! —
nachdem fie vorher ihre Empfindungen über die Mittheilung,
daß Troilo für bes Herzogs Ehre eingeftanden, mit einem
„Seltſam!“ ausgedrüdt. Am Schluß bleibt fie wie an⸗
gewurzelt ftehen; nachdem der Herzog dem Troilo aufge
tragen, feine Gattin nach Florenz zu geleiten:
Herzog (u JIſabella).
Darum nod) zögerft du?
Sfabelfa,
Ich bin verwirrt —
So hätte diefer Tag nicht enden follen.
Diefe Introductionsfcenen find dramatifch Tebendig;
da8 Talent des Dichters fiir Volksſeenen und frifche
Genremalerei tritt erfreulich hervor, doc der Charakter
der Heldin und ihr Empfinden bleibt uns zunächſt ein
Räthſel.
Der nächſte Act löſt es. Troilo hat Iſabella nad
Florenz geleitet; in einer Scene, über welcher die Stim⸗
mung des Goethe'ſchen „Taſſo“ ſchwebt, fchlitten die Lieben⸗
den — denn fie find es — ihr Herz aus: Orangendüfte,
Öuitarrenfpiel, Gondelfahrten, der italienifche Himmel,
Gatte fern, der die Räuber des Piccolomini zu Paaren
ibt — die Gelegengeit ift günftig. Jſabelia freilich
zeigt fi) fehr reſervirt, denn während Troilo ihr fein
N mzes Herz ausſchüttet, mit den unumwundenſten Liebes-
erflärungen, weilt fie bdiefelben zwar nicht zurüd, denn
das wäre zu viel verlangt von einer gefrönten Dichterin,
fe fagt nur mit Milde:
Wohl mir, wenn du bei uns did glüdtich fühlſt,
Ih weiß, wie vief ich dir zu danfen Habe.
Sie ergeht ſich in myſtiſchen Oralelſprüchen von den
ügen gleichgeftimmten Seelen auf Erden, wie man
it nennt, was fid) im Geift verband, und vereint,
Naum und Nüdficht aneinanderketten. Das klingt
freilicd) wie Ermuthigung, denn es zielt auf den Gatten,
fährt aber beruhigend fort:
— &o lafi ung denn die reine Harmonie
iehen, jegliches Gefühl verbannen,
, und verwirrend, ihren Zauber flört,
Denn, Freund, die reine Harmonie bedingt
mur der Töne Klang, nein, aud ihr Maß.
Da begibt es fid), daß Troilo nad) Siena berufen
zum Herzog. Der Mann geht fehr feft und rüd-
[08 zu Werke; er ließ den von feiner Wunde geheil«
Capello, der jeine Ehre beleidigt Hatte, in Rom er-
nt. Troilo fühlt ſich umficher; vieleicht droßt ihm
gleiches Los. Der Abſchied entfeffelt die Leidenfchaft ;
macht ihm ein glühendes Geftänbni Zum
hört dies nad) beliebter Theaterpraris eine Lau⸗-
‚ umbd diefe ift feine andere als Bianca Capello,
Habella zum Feſte eingeladen Hat, das ihre Ehe
dem Bruder offenbar machen fol, und fih nun in
Gebüfchen verbirgt, um mit anzuhören, wie Troilo
feiner früheren Liebe zu ihr ſprich
"_ Ich Tannte fie;
Sch fah die Welt in trübem Sumpf gefpiegelt,
Der Menfhheit Moder fühte mid) mit Grauen.
_ Bianca, eine lebensvollere Figur als Ifabella, finnt
a ache an der Tugendflolgen; abgefehen von einigen
feenzen an die Lady Milford bringt Bianca bra«
che Bewegung in die Handlung und gibt dem Stil
leibenfcjaftlicheres Colorit, das nur hin und wieder
ſolche öde, abſtracte Ansbrüde etwas verblaft,
ae Dicttunſt Befentaem ei
ol u zuerft mit mir hermiel eigen
> eines den igengergme Birnigteie
Im jener Liebeserklärung, die im ganzen platonifch,
ünfcjelos, ohne den Eifer der Entführung, des a,
Benden Befiges nur ein Herzenserguß ift, gipfelt die
ld der Heldin. Was nun folgt, find nur die Fol-
der Lauſchſeene. Der dritte Act ift thentralifch fehr
hidt componirt; aber bie eingehende und gelungene
arafterzeichnung des Francesco von Medici, eines
mobeztyrannen, der mit dem bei unfern Dramatifern
15 Novelliften fo beliebten „Cäfarenwaßnfinn” auögeftattet
hat den doppelten Mangel, daß ſowol die Genefis
RR gefrönten Seelenftörung, die bei ben weltherrfchenden
jeratoren durch die geſchichtlichen Thatfachen erläutert
unerflärt bleibt, als auch der Charakter viel zu
tailliet ausgeführt ift für fein Eingreifen in bie Hand»
1g. Brancesco colportirt ja nur die Mitteilung ber
Drei Bühnendramen, 163
Bianca, die er mit eigenem Gift verfegt, an den Herzog
don Orfini, Diefer will Klarheit; wie Franz Moor,
der das Arjenal der menſchlichen Affecte prätft, um bie
rechte Waffe zu finden, wählt er „Schmerz” und „Freude“,
um feine Gattin auf die Probe zu ftellen; es ift die
pſychologiſche Folter, während Brachvogel am Schluß bes
„Narciß“ den pſychologiſchen Mord als tragiſches Motiv
benugt. Troilo ift mit dem Herzog gelommen; er wird
dazu beftimmt, zu dem Experiment zu dienen und auf
das Erempel die Probe zu machen. Jſabella improvifirt
zur Feſtfeier ein amafreontifches Lied, welches weder zu
ihrer Stimmung noch zu ihrer fentimentalen Gemilthsart
paſſen will. Der Herzog und Bianca fuchen fie zu ver⸗
wirren; fie flüftern vom Tode Troilo's; kaum beherrſcht
ſich Iſabella, doch fie bezwingt nod den Schmerz.
Weniger gelingt ihr dies mit der Freude, Troilo wird
hereingerufen; da entfällt ihr die Laute, fie erhebt bie
Arme und den Yubelruf: „Troilo, du Iebft!" Und wie
ein heiferer Nabe krächzt der Herzog Hinterbrein: „Das
war dein Tobesurtheil!”
Da haben wir bie Tragödie, und was no kommen
kann, find nur Verzögerungen. Und biefe vielgerlihmte
Schlußſcene des dritten Actes — ift fie nicht effectvoll?
Gewiß! Sie ift mit großem VBühnengefhid arrangirt —
in bie ſchwule Atmofphäre der Spannung ſchlaͤgt ber
theatralifche Blig zündend und bfendend; der Heldin wird
das Geheimniß ihres Herzens abgefoltert vor dem ver⸗
fammelten Hofe.
Der vierte und fünfte Act führen durch Meine
Hemmungen zur Kataftrophe. Bianca will Troilo erretten,
Troilo Ifabella — diefe verfällt aber zulegt dem Gericht
igres Gatten, der fie mit faltem Blute hinmorbet. Das
ift der Inhalt diefer Acte, auf ihre einfache Formel
zurädgeführt. Bon den Scenen diefer Acte ift die gelun-
genfte diejenige zwiſchen Troilo und Bianca; in ihr bie
brirt etwas von jener Leibenfchaft, melde bie großen
Monologe der „Deborah“ befeelt; Bier hat die Diction
nicht nur edle Haltung, fondern auch hinreißenden Schwung,
wie die folgende Stelle beweifen mag:
Bianca (mit wachfender But).
Ia, Lüge, Lüge war mein ganzes Leben,
Nur Eins iſt Wahrheit, Eins, daß ich dic) Tichel
Slaubſt du nicht meinen Worten, gut, fo glaube
Dem Zuden meines Herzens, glaub’ dem Wahnſinu,
Der alles opfert, alles, und für di!
Ich will ja nicht, daß bu mich lieben ſollſt,
Nur folgen ſollſt du mir, daß ich did rettel
Deun ohne mid) ift jeder Ausgang Tod!
Troilo.
Er ſei willlommen, weil er ohne di!
Bianca.
Halt ein! Wohin? Zu ihr? Du willſt fie warnen?
Du willſt fie retten? Eitler Wahu! Gewogen
M euer Schidſal von zwei ſchlauen Krämeru,
Orfini dort, hier Medici. Dein Leben,
Das ic) erbettle um den Preis des meinen,
IR eine Spanne, umd für dieſe Spanne
Werf’ ih den Purpur hin, das Diadem,
Und mit ber Zulunft, die id) dir erfaufe,
zer id, die Schulden der Bergam nei,
aunſt du noch wählen, ſchwand ms roilo!
Ih biete dir das Leben, fie den Tod —
21*
164
Den Tod! Betracht’ ihm wohl, er heißt Vernichtung!
Entflieh’ ihm, fafl’ des Lebens armen Reſt,
Mit meinem Reichthum will ich ihn vergolden!
Ich will dich Tieben, wie fein Weib geliebt,
Will fühnen, büßen, wie fein Weib geblßt,
Bergib, wie Gott der Sünbigen vergab,
Mit meinen Thränen falb’ ich deine Füße
Und trodne fie mit meinen Haaren ab.
(Sie finkt aufgelöft vor ihn Hin.)
Der Charakter der Iſabella felbft verliert in den
legten Acten alles dramatische Intereſſe. Nefignation,
Selbftanflagen zeugen nicht von einer ſich machtvoll fort⸗
entwidelnden Leidenfchaft; fie laflen die platonifche Nei-
gung zu Troilo wirklich als eine bichterifche Grille er»
ſcheinen und rüden die Gewaltthat des Gatten dadurch
in ein immer grelleres Licht. Am bedenklichften erfcheint die
legte Scene zwifhen dem Herzog und Iſabella wegen
ihrer fehr nüchternen Auseinanderſetzungen. Endlich er-
fahren wir zwar, warum „fabella in ihrem Gatten nicht
den rechten Mann gefunden Bat, was nad) dem Geſetz
logifcher und pfnchologifcher Motivirung wol beffer an
den Anfang als an das Ende des Stücks geftellt wor-
den wäre:
Wenn bu die Seele, bie fidh dir verpfändet,
Mit einem milden Gruße angezogen
Und das verwöhnte, liebbedürft'ge Herz
Mit einem Hanche dir befreundet hätteft,
Es Hätte nie ein andres Ziel geincht.
Du felbft eutrüdteft fları dich und verneinend
Der fchönen Welt, in der ich träumend lebte
Und wie im Traum ihn fand, der mich verſtand.
So ging ich irr’, und auf des Herzens Bahnen
Gibt's Teinen Rückweg!
Dieſe Motivirung hätte uns am Anfang geholfen
die plötzliche Leidenſchaft für Troilo verſtehen, obſchon ſie
an und für ſich allzu ſehr an die Hyſterie weiblicher
Schöngeiſter erinnert, die ſich unverſtanden fühlen, wie in
dem Heine’schen Berfe:
Wenn du meine Berfe nicht lobſt,
Laff ich mich von dir ſcheiden.
Die legten Ucte find überbies reich an Reminifcenzen,
namentlih an Sciller:
Das wird er niht! Ich bin ein fürftlih Haupt,
Europens Könige find mir verwandt. —
Was kann noch entjelich fein,
Wenn diejes heil'ge Haupt der Mord bedroht.
Das ift „Maria Stuart”; und fo klingt die Diction viel
fach auch an andere Schiller’fche Wendungen an. Daß bie
Situationen der Testen Acte eine auffallende Aehnlich⸗
keit mit „Katharina Howard” haben, das hat die Kritik,
wie 3. B. in ber „Leipziger Zeitung”, fo hervorgehoben,
daß auch der Berfafler diefes Stücks es wohl beftätigen
darf. Die Aehnlichkeit erftredt fi) bis auf Aeußerlich-
feiten, wie das au das Fenſter geftellte Licht.
Bühnengewandtheit, edle Haltung der Sprache, mandje
keck aufgeſetzte charakteriftifche Lichter find unverkennbare
Borzüge bes neuen Moſenthal'ſchen Stüds, diefer „Tra⸗
gödie des platonifchen Ehebruchs“, dem aber tiefere Ori⸗
ginalität, pfychologifch überzeugende Glaubwürdigkeit im
Vortgang der Handlung umd jenes gefunde Verhältniß
von Schuld und Sühne fehlt, welches auch die tragifche
Nemefis nicht entbehren Tann.
Drei Bühnendramen.
Das Weilen’sche Trauerfpiel „Rofamunde” (Nr. 2)
bezeugt von neuem dieBorliebe des Dichters für mittelalterlich
dramatifche Stoffe. Wir haben oft wiederholt, daß der Hin⸗
tergrund einer barbarifchen Cultur oder Eulturlofigkeit, wie
ihn da8 Zeitalter ber Völkerwanderung barbietet, für die
dramatifche Dichtung und noch mehr fr die Bühne der
Gegenwart ein unglinftiger iſt; wir bedauern, daß der
begabte Dramatifer immer von neuem zu derartigen
Stoffen greift. Noch dazu fehlt in dem neuen Stüd jede
Nöthigung, ein pinchologifches Problem in das Gewand
einer mittelalterlichen Sage zu kleiden. Denn bie über
lieferte Sage der Rojamunde und die Fabel der Weilen’-
fhen Tragödie haben kaum etwas anderes als ben Na—
men ber Helbin und des Helden gemein: die wilde
Rofamunde der Gefchichte wird von dem grimmen Alboin
genötigt, aus dem Todtenſchädel ihres Vaters zu trinken;
aus Rache läßt fie den Longobardenfürften durch ihre
Getreuen umbringen.
Diefe Handlung, die ganz in das Coſtüm ber Zeit
paßt, erſchien dem Dichter zu rauh, zu barbarifch, ja
unmöglich für die Bühne der Gegenwart. Indeß würde
ein Poet wie Hebbel nicht davor zurüdgefchredt fein,
dieſen mittelalterlichen Charakter der Ueberlieferung feſt⸗
zubalten; gerade das originell Gräßliche Hätte für ihn
pilanten Reiz gehabt, und wir können uns denken, daß
eine Rede der aus dem Todtenſchädel des Vaters trin-
tenden Roſamunde an grandiofen Bildern reich gewejen
wäre und gleichzeitig Lebensglut und Verweſungshauch
geathmet hätte.
Weilen hielt es indeß für nöthig, im Intereſſe der
„eonventionellen Tragödie“, ein Genre, zu dem wir „Ro⸗
ſamunde“ ebenfo wie „Iſabella Orſini“ reinen, den Stoff
zu wmobernifiren. Der Schädel des Vaters verfchwindet
als ein zu unheimliches Requifit; an feine Stelle tritt
ein Bofal, der durch den Glauben des Boll ben Gepiden
ein heilige Palladium if. Roſamunde läßt nicht Alboin
binmorden, fondern fie vergiftet ſich ſelbſt. Was ift da
von der alten Sage übrig geblieben ? Der Conflict
zwoifchen Liebe und Patriotismus. Doch der Tann in
der neueften Zeit fpielen wie in der älteften und gewinnt
wahrlich nicht an Intereſſe duch die Gepiden und Lon⸗
gobarden.
Eine große Wehnlichfeit mit „Iſabella Orſini“ Hat
„Rojamunde‘ durch das eine Hauptmotiv: das pfychologiſche
Experiment. Seit der „Griſeldis“ gehört bies mit zu dem
Lieblingsmotiven der wiener Dramatil. Der Herzog von
Orſini prüft feine Gattin durch Schmerz und Freude;
fie befteht ſchlecht in diefer Prüfung. Alboin prüft
durch feinen Rathgeber Kleph feine Gattin, ob fie ihn
wahrhaft liebt. Eine fingirte Todesnachricht bildet den
Prüfftein. Roſamunde beſteht vortrefflid:
Rofamunde,
Ermordetl Mann, du Tügft,
So ſtraft mid Gott nicht, ber fo viel mir nahın,
Und als Erjag für viel mir mehr gegeben,
Und alles wieder nähm’ mit einem mal.
Und einer meines Volls? Im meinem Volle
Lebt ſolch ein Unmenf nicht, eim folcher athmet anf
Der ganzen Erde nit! Den Leihnam muf
Ich jehen, dann erſt glaub’ ih dir. Wo iſt er?
Drei Bühnenpramen. 165
Kleph.
Man trägt den Todten wol alsbald herbei.
Rofamunde
Hinauf auf ben Altan. Und ſeh' ich wirklich
Das Gräßlice geſchehn, ihm unten tobt;
Himab ftürz' id) zu ihm mid vom Alten,
Daß id) gerſchmeitert Tiege neben ihm
Und dir bemeife, wie ich ihm geliebt.
Wir befennen, daß uns dergleichen Eramina mehr
in bie Komödie als in die Tragödie zu gehören Leinen,
Es liegt ihnen ein Raffinement zu Grunde, welches über«
dies jo moderner Art ift, daß man in der Zeit der
Bölferwanderung feine Ahnung davon Hatte. Und wie
gutmüthig, an das Refultat einer folhen Prüfung zu
glauben! Die ſchlaue Gattin würde ja eine Empfindung
heucheln können, die fie gar nicht hat.
Die Stelle der geſchichtlichen Rofamunde, die ihren
Gatten tödten läßt, ift hier der Sklavin Roſamunde's
zugetheilt, die ben ihrigen erjchlägt, um ben Polal, das
geheinmißvolle Requiſit der Handlung, das faft an die
befannten Requifite der Schidjalstragödien erinnert, vor
ihm zu fern; fle wird zur Strafe dafür in den Strom
geftürzt. Dies Palladium ift num in Roſamunde's Hän-
ben. Der Gepide Lupold fagt zu ihr:
Das Meinob, das
Id) anvertraut ihr, das befigeft du.
Id finfe auf die Knie und bitte did,
Bewahr' es treu, gib’s deinem Gatten nicht.
Bewährt hat ſichs in Hunderten von Jahren,
An ihn Mmüpft ſich Srinnrung fernfter Zeit,
Daß nie ein Feind, wie mächtig er auch war,
Uns bleibend fomn” mit feinem Jod; belaften,
So lange dieſes Kleinod wir befaßen.
Die letste Hoffnung, raube fie ung nicht!
Rofamunde fühlt, daß ihre Liebe zu Alboin, dem
Ueberwinder und Mörder der Ihrigen, von ewigem Mis-
trauen vergiftet fein wird, daß fie beide baran uͤnglücklich
werden. Das fol nicht fein; fie beſchließt, ſich Fir ihn
zu opfern; fie erfcheint mach der Krönungsfeier mit dem
Pokal und wirft ihn in die Flut, nachdem ſie Gift aus
demjelben getrunfen.
Unfengbar ift der Conflict dieſer Tragddie, wenn er
auch einer Wildheit beraubt ift, doch tragifcher als der-
jenige in „Sfabela Orfini”. Wenn aud) die Sprache
der Empfindungen faft durchweg eine moderne ift, fo ift
doch in Alboin auch der Träftige Barbar nicht ohne einen
Anflug von Größe ausgeprägt und das Talent des
Dichters zeigt fih in einer Menge feiner und finniger
Züge. So konnte die erfte Begegnung des Helden mit
der ſchönen Roſamunde nicht poetiſcher eingeleitet werden
als durch die folgenden Reden Alboin’s, im denen ſich
ein durch die plaftifchen Kunftformen des Südens erregte
Schönheitsgefühl ausjpricht:
Alboin.
Als bierher wir zogen,
Entfang der Donau dur) die weiten Streden,
Bo eint die Römer herrſchten, wo nod Trümmer
Bon Tempeln ſtehu, Mertjeichen ihrer Größe,
Gelangten wir zu einem Hügel einft,
Den nit Natur, den Menfhenhand erhöht,
Und unfre Krieger, Schäge dort vermuthend,
Durhmwühlen emfig ihn mit Speer und Schwert,
Und plöglid, tönt der Schrei: Ein Fund! Ein Fund!
Ich eile Hin und blide in bie Tiefe,
Und was erblid’ id da? — Du güt’'ger Gott!
(Immer wärmer und begeifterter.)
Da unten lag: wie Schnee fo herrlich fhimmernd,
Nein, Iodender, gieich wie ein glänzend Schwert,
Ein Frauenbild aus Marmorftein gemeißelt.
Ein Kund’ger unter uns nannt fie: Diana.
D, welch ein Anblid war's! — So fippig zart,
& lieblid) quellend dehnten ſich die Glieder,
Wenn aud) nur Stein, man hätte ſchwören mögen,
Der Athem fen?’ und heb' den holden Bufen.
Zum Glüd blieb unverfehrt das edle Haupt.
D, welch ein Antlig war's: vol Kraft und Hobeit,
Und welhe Stirne! welche vollen Lippen!
Benn die gelebt einft, die, beim ero’gen Gott,
Bar niemals falich, gewiß auch feige nicht!
Die große Scene zwiſchen Alboin und Rofamunde
hat dichterifche Schönheiten und dramatifches Leben. Die
Diction ift marfig, nicht zerfloffen, und bier wie an vielen
andern Stellen erinnert der ftahlharte Metallflang der
Berfe an die gelungenen Strophen in Lingg’s „Böller-
wanderung“. Dramatiſches Talent und theatralifches Ge-
fehl im Verein laſſen doppelt die Vorliebe des Verfaſſers
für Stoffe bedauern, die nun einmal auf der Bühne der
Gegenwart nicht Wurzeln ſchlagen können.
Das Luftfpiel: „Schach dem König” von Hippolyt
Auguft Schaufert (Nr. 3) hat, nachdem es 1868
don der wiener Preiscommiffton den erften Preis fitr das befte
Zuftfpiel erhalten Hatte, bie Runde über die meiften beut-
ſchen Bühnen mit wechjelndem Erfolg gemacht. Das
Preisausſchreiben Hatte in Schaufert wenigſiens ein frifches
Talent and Tageslicht gezogen; denn eine gefunde, nur
oft zu ſehr mit Shafjpeare'jhem Licht phosphorefeirende
Auftfpielader ift in dem Stücke nicht zu verkennen.
Das Stüd erſcheint Hier in der Geflalt, in welcher
«8 ben Preisrichtern vorgelegen, mit Ausnahme einer ein-
zigen Wenderung; es zeigt feine fünf Acte im ihrer ganzen
Ausdehnung, während die Bühnenbearbeitung deren nur
vier ausweiſt. Es ift wahr, in ber erften Hälfte des
Stüds zeigt ſich Fein großes Bühnengefdjid, was Abgänge
und Schlußwirkungen betrifft; in der zweiten fährt das
Stüd hierin mit volleen Segeln, ba die Handlung felbft
hier die komiſchen Wirkungen hervorruft. Trotz dieſes
DMangeld an Vühnengewandtheit müſſen wir befennen,
daß das Stüd in ber Geftalt, in der e8 im Drud vor-
liegt, auf uns einen beſſern und vor allem bedeutendern
Eindrud gemacht hat als bei der Aufführung und in
feiner für bie Bühne eingerichteten Geftalt. Wir haben
die Nothwendigfeit nie verfannt, größere Werke einzu»
richten für einen Bühnenabend, zu fürzen und zufam-
menzubrängen; aber wir haben dieſe Notwendigkeit ftets
für eine „traurige gehalten und es nie begriffen, wenn
Dramaturgen, die in diefen Kürzungen, Berftiimmelungen
und Zerfegungen eine gewiffe Routine erlangt haben, ſich
wegen dieſer Polonius-Weißheit als Meifter dramatischer
Kunſt preifen liegen und ihr dramaturgifces Raſirmeſſer
zur Anbetung fir bie Gläubigen ausftellten. Wie viel
das Wert des Dichters in feinem innerften Zufammen-
Gang, in feinen feinen Gliederungen und Uebergängen
oft unter dieſem SHeransbrennen und Schneiden leidet,
ergibt freilich mur bie genaue Vergleichung mit bem
— — — — — —— ——— — —
166 Drei Bühnendramen.
Driginal. Würden wir die Schiller’f—hen und Shaffpeare’-
schen Tragödien in den Büßneneinrichtungen wiebererfennen,
wenn wir nit aus eigenen Mitteln ihren Zufammen-
hang ergänzten? Wir Haben oft einen Schauder em-
pfunden vor ben barbariſchen Zugeſtändniſſen, welde
namhafte Dramaturgen dem Sitfleifch des Publikums
machten.
So befennen wir offen, daß die Bühneneinrichtung des
Schaufert ſchen Stüds zwar mandje Ränge eines hin» und
herfpielenden fhaffpearefirenden Wiges, manchen matten Ab»
gang und mande für die Ungebuld ber Zeitgenofien hem-
mende Ausgiebigfeit dichteriſchen Erguſſes, ja einzelne
an den tragif—hen Stil ftreifende Wendungen, wie 3. B.
den Selbſtmordverſuch Calvert's, mit Glüc befeitigt hat,
daß aber and) die forgfältigere Motivirung, die nicht blos
in dem unbebingt Nöthigen liegt, daß eine Dienge Stellen
von echt dichteriſcher Schönheit, durch melde gleichzeitig
die Charaktere, namentlich des Königs und der unter
nehmenden Harriet, innerlich vertieft werden, der äußern
Nothwendigkeit ber ſceniſchen Einrichtung zum Opfer ge-
fallen find.
Der Stoff des Luftfpiels ift aus den Zeitungen befannt;
es ift ein guter Luftfpielftoff. König Jakob verbietet das
Rauchen und fereibt ein Werk gegen baffelbe; alles an
feinem Hofe raucht insgeheim; bie Damen Magen die
Männer an; ber Geheimfecretär des Königs, Calvert, ergibt
ſich diefem Lafer, wird vom König überraſcht und aus
dem Dienft gejagt, gerabe als er mit Harriet, der Tochter
eines Schiffsrheders, Hochzeit machen will. Noch dazu
ift das Manufeript des Königs, die Philippifa gegen das
Tabadrauden, verſchwunden. Auf Calvert ruht der Ber-
dacht, und biefer wird verhaftet. at
Soweit find die Fäden der Handlung gut eingeleitet,
wenngleid; dieſe Expofition viel Weitfchweifiges hat und
an Wiederholungen leidet. Jetzt beginnt eine amufantere
Handlung; aber fie beginnt durd einen Galtomortale
der Motivirung. Harriet will ben Geliebten wieder frei
machen. Der König Hat erflärt, er werde Calvert nie
zu Gnaden wieber annehmen, bis er felbft, der König,
geraucht Habe. Da faßt Harriet den Plan, ihn zum
Rauchen zu bewegen. „König Jakob, ic) nehme dic
beim Wort! Schach dem König!" Es ift dies ein fo
unbeftimmter, fo ausſichteloſer Plan, daß die ganze um«
erſchrockene Bereitwilligfeit des Dichters dazu gehört, um
ihn zum Ziele zu führen. Harriet lauert in Bagen-
Heidern dem Könige auf, der verkleidet aus dem Palafte
ſchleicht, um ſich zu überzeugen, ob man in London raucht.
Hier trifft er Harriet, und fie gefällt ihm fo, daß er
den Pagen zur Begleitung mitnimmt und feine Bewun ⸗-
derung in einer Rede ausſpricht, welche, wenn man fie
gegen das Licht Hält, ganz ſhakſpeariſch opaliſirt:
Ic fag’ Euch, Freund, am beften iſt empfohlen,
Ben bie Natur empfiehlt. Der Jüngling bier,
So arm er feint, ift rei, denn in ihm wohnt
Das glüdliche Geheimniß jener Mat,
Die Aug’ und Ohr zu füßer Sklaverei
Verdammt, ja felbft den finftern Lömen Menſchenhaß
Mit Lächeln zähmt und vor den Wagen feſſelt.
Sprad; je mehr Wis aus einem jungen Körper?
Dar je ein Körper würdiger geformt,
Den ſchönſten Geift zu fpiegeln? Dem Kryftall
Steidjt diefes Auge, anf der Wange blüht
Die zarte Rofe unbefledter Jugend;
Kein Tritt, fein Hauch, worum die Grazien
Nicht wüßten, und das Gange, morgenfrifc),
Jetzi eine holde Kuospe der Natur,
Berfprict den ſchönſten Mann.
Wenn es dem Dichter gelungen wäre, dieſen ganz
ins Blaue hinein gefaßten Plan Harriet's durch irgendeine
Möglichkeit des Erfolgs zu affecuricen, fo würbe das Stüd
außerordentlich an innerm Zufammenhalt gewonnen haben.
Der Zufall ift zwar im Luſiſpiel berechtigt; wo es ſich
aber um einen beftimmten Plan Handelt, da wollen wir
auch die Logik der Ereigniffe im voraus mitberechnen;
fonft wirb feine Spannung hervorgerufen. In der In
trigue muß ein folgerichtiger Verſtand liegen; der Zufall
darf fie kreuzen, aber nicht vertreten. Wie Tann Harriet
wiffen, daß fie dem Könige gefallen, daß er fie zur Be
gleitung auffordern wird? Welche Möglichfeit Tann ihr
vorfchweben, den wilthenden Gegner des Tabadrauchens
zur Ausübung der verhaßten Neuerung zu beftinmen?
Sind wir nun einmal mit beiden Füßen in bas ziel
loſe Abenteuer bineingefprungen, fo triumphirt die ges
funde Komik des Autors über unfere Bedenken. Es folgt
eine Reihe von Scenen, die friſch entworfen und durd-
geführt find. Die Raudjfcene des Königs, die Gefangen
nehmung Seiner Majeftät wegen des Verdachts, ihr
eigenes Manufcript geftohlen zu haben — das ift alles
von Fomifcher Wirkung; noch fomifcher die Pfeifenfamme
fung, die der König bei feinen Hoflenten zufammenbringt
und die durch fein eigenes Pfeifhen erſt ihren Glanz-
punkt erhält. Sehr humoriſtiſch ift au die Scene mit
den Dieben, welche der König zu Tabad begnadigt hat,
um fie fo an Gift fterben zu laſſen, während biefelben
in gemüthlichfter Betrumkenheit nad Ablauf der ver-
hängten Frift auf bie Bühne kommen; und glüdlich der
Gedanke, daß der Narr das Manufeript des Königs ger
ſtohlen Hat, um fi an der Leltüre zu erbauen. Der
Dialog ift vol Mark und Friſche, in dem vorliegenden,
Buchmanuſcript oft dichteriſch funfelnd, aber zu ängft-
lich im Schnitt der Gewandung Shakſpeare's immer«
hin veraltetes äufßeres Goftiim befolgend in Witzreden
und Gleichnißhaſcherei. Schaufert Hat das Zeug, ori«
ginel zu fein; warum ſich an ein gefährliches, weil um-
nadahmliches Vorbild anlehnen? Rudolf Gottfcall.
Poeſie und Geſchichte der Schweiz.
167
Poeſie und Gefchichte der Schweiz.
1. Die poetijche Nationalliteratur der deutſchen Schweiz. Muſter⸗
Rüde aus den Dichtungen der beften ſchweizeriſchen Schrift
fteller von Haller bis auf die Gegenwart. Mit Biographie
chen und iritiſchen Einfeitungen von Robert Weber.
Drei Bände. Glarus, Bogel. 8. 3 Thlr. 6 Nor.
2. Helvetia. Vaterländifche Sg: und Geſchichte. Herausgegeben
von Georg Geilfus. Vierte vermehrte und verbeſſerte
Auflage. Mit 15 Holsfänitten. Wintertfur, Steiner.
©r. 8. 3 Thlr.
3. Geſchichte der ſchweizeriſchen Eidgenoffenfhaft von den älter
fen Zeiten bis 1866 von A, Daguet. Yutorifirte dentfhe
Ausgabe nad ber Menbearbeiteten fechten Auflage mit Nach ⸗
trag. Aarau, Sauerländer. Gr. 8. 2 Thlr.
Die deutſche Einwanderung in die Schweiz, melde
mit dem Anfang der dreißiger Jahre begonnen und feit
diefer Zeit nicht aufgehört hat, wenn fie aud) nicht immer
gleihmäßig ftarf geweſen ift, konnte nicht ohne bedeu-
tenden Einfluß bleiben. In den dreißiger Jahren waren
es vorzüglich Studenten oder junge Literaten, welde ſich
in bie Schweiz flüchteten, um den Verfolgungen ihrer
Regierungen zu entgehen. Sie wurben mit offenen Armen
anfgenommen, und zwar aus zwei Grunden. Gerade
damals Hatten in den größten Cantonen, in Ziürid,
Bern, Luzern, Aargau, Thurgau, St. » Gallen,
Baadt u. a. m. Ummälzungen flattgefunden, infolge deren
die alten ariftofratifchen Regierungen und Berfafjungen
geftürzt worben waren und neue freifinnige an ihre Stelle
traten. Es iſt begreiflich, daß man den jungen Männern
gern eine Freiſtatt gewährte, die wegen der nämlichen
Ideen verfolgt wurden, die in der Schweiz ſiegreich ge
worden waren. Es kam aber noch der weitere Umftaud
dazu, daß man dieſe jungen Leute gut gebrauchen konnte.
Die ariftofratifchen Regierungen hatten nämlich für bie
Bolksbildung nicht nur nichts getan, fie hatten fogar
diefelbe abſichtlich zurücgehalten. Da bie neuen Regie»
rungen einfahen, daß die freien Berfafjungen nur dann
gegen Reactionen gefihert werben könnten, wenn das
Voll geiftig herangebildet wurde, jo richteten fie ihre Augen
zunächft auf die Verbefierung des öffentlichen Unterrichts.
Aber num fehlte es an tüldtigen Lehrern, nicht blos für
die Bolfsjhulen, fondern aud für die Höhern Unterrichts-
anftalten. Die deutfchen Flüchtlinge, welche meift Stu
denten waren ober die Univerfität ſchon abfolvirt hatten,
tonnten gut verwendet werden, denn ſeibſt diejenigen, welche
nicht gerade Theologie oder Philologie ftubirt hatten, be⸗
faßen doch eine weitaus größere gelehrte Bildung als
die meiften bisherigen Lehrer. Ihre Brauchbarkeit ber
ſchranlte ſich aber feineswegs auf das Lehrfach, und viele
wurden auch anderweitig verwendet. Die ariſtokratiſchen
Regierungen hatten nämlich, fo ziemlich, alle, die nicht zu
den patricifchen Geſchlechtern gehörten, ſyſtematiſch von
dın Staatsgejchäften ausgejchlofjen, und insbeſondere fanden
di‘ Bürger der Heinern Städte, der Fleden und Dörfer,
u ter weldjen ſich, wie ſich fpäter zeigte, viele intelligente
I änner befanden, feinen Zutritt zu denfelben. Als nun
d meuen Negierungen fowie die ifnen untergeordneten
& umten meift gerade aus diefen Bürgern gewählt wurden,
ft war «8 begreiflich, daß viele ihrem Amt nicht gewachſen
r vem, weil ihnen jegliche Erfahrung mangelt. Man
gab ihnen daher germ junge Leute bei, bie zwar ebenfalls
feine praftifche Erfahrung hatten, dagegen eine theore-
tische Einficht in die Staatsverhältniffe befagen. Nament-
lich fanden deutfche Flüchtlinge in folden Beamtungen
Anftellung, welche beftimmte Kenntniſſe vorausfegten, wie
3. B. beim Forftwefen u. f. w.
Eine weitere, wenn auch bei weitem nicht fo zahle
reiche, aber in jeder Beziehung bedeutendere und einfluß-
teichere Einwanderung fand ftatt, als die zwei Univer»
fitäten Bern und Zürich gegründet wurden. Für biefe
fehlte es namentlic an hinreichenden Kräften, und fo
wurde eine nicht geringe Zahl von deutſchen Gelehrten
in bie Schweiz berufen, unter denen fi manche höchſt
ausgezeichnete Männer befanden, jelbft folde, die in ihrer
Wiſſenſchaft ſchon den höchſten Rang einnahmen, wie
3. B. ber treffliche Dfen, der dem Rufe um fo Lieber
folgte, als er in Münden fortgefegten Pladereien von
feiten der despotiſchen Regierung anögefegt war. Um
diefelbe Zeit wurden auch in vielen Cantonen die Gym«-
naſien und Induftriefhulen neu organifirt, und aud da
zeigte ſich das Bedürfniß, fremde Kräfte Herbeizurufen,
fo in Bern, in Zitih, in St.-Gallen, in Luzern und
jelbft in den franzöſiſchen Cantonen. E8 leuchtet von
ſelbſt ein, daß eine fo große Zahl tüchtiger oder auch
nur jugendlich begeifterter Männer auf die Jugend und
durch fie auch a das reifere Alter großen Einfluß ge⸗
winnen mußte.
Leider wurbe biefes glückliche Verhältniß nur zu bald
geftört und. zwar durch die Schuld der Deutfchen. Es
ift nämlich eine merkwürdige Erſcheinung, daß die Deut»
ſchen, die in kurzer Zeit zu Engländern, zu Franzoſen u. ſ. w.
werben, wenn fie ſich einige Sabre, oder auch nicht einmal
fo lange, in England ober Frankreich aufgehalten Haben, fi)
in der Schweiz ſchwer, oft niemals acclimatifiren. So
glüclich fi die Fluchtlinge gefühlt hatten, hier warme
Saftfreundfchaft und zugleich Lebensunterhalt gefunden zu
haben, fo fithlten fie fich doch bald unbehaglih. Gie
lonnten fi in die neuen Berhältniffe nicht fchiden, es
war ihnen nichts recht. Sie waren in ihrem Vaterlande
vorzüglich deshalb verfolgt worden, weil fie in biefer
oder jener Weife für die Einheit Deutſchlands gekämpft
hatten; und nun erbfidten fie in der Schweiz die näm-
liche Kleinſtaaterei. Sie Hatten in den Hörfälen der Unie
verfitäten oder aus ihrer Lektüre Ideen über Staaten
und Staatöverfaffungen geſchöpft, die mit den ſchweizeri-
ſchen Zuftänden in oft grellem Widerſpruch ftanden; fie
hatten fogar in ihrer Verblendung gehofft, daß die Schweiz
fie mit Gewalt wicder in ihre Heimat zurüdführen würde,
As fie fi nun nad allen Seiten fo bitter getäufcht
fahen, fuchten fie der Schweiz Verlegenheiten zu bereiten,
damit diefe gezwungen werde, einen Krieg anzufangen.
So wurde der Savoyerzug organifiet, der ein fo ſchmah ·
lies Ende nahm. Dies Tonnte die Eidgenoffenfchaft
natürlich nicht fo Hingehen laſſen; fie verwies alle die-
jenigen aus ihren Grenzen, welche am Savoyerzuge theil«
genommen hatten, fowie diejenigen, welche auf irgendeine
Weiſe die Schweiz mit den benadjbarten Mächten in
168
Conflict zu bringen fuchten. Aber es blieb, wie zu er-
warten war, nicht dabei; das unfinnige Benehmen der
meiften Flüchtlinge führte auch einen günzlichen Umſchwung
in ber öffentlichen Meinung herbei, die man bisher von
den Deutſchen gehabt hatte; und wenn ein berner Staats-
mann früher einmal die freilich ſehr thörichte Anficht ge=
äußert Hatte, daß, wenn ſich zwei ganz gleichberechtigte
Bewerber um eine Stelle meldeten, ein Deutjcher und ein
Schweizer, man dem erftern den Vorzug geben müſſe, fo
war jett die Stimmung im ganzen Bolfe den Deutfchen
feindfelig geworden. Die frühere Neigung war in den
vollftändigften Haß umgefchlagen, ſodaß felbft die ver-
ftändigern Flüchtlinge, die an den Umtrieben keinen An-
theil genommen hatten, ja fogar bie Lehrer an den Uni-
verfitäten und den Übrigen Unterrichtsanftalten, die eben»
falls jenen Umtrieben fremd geblieben waren, nur mit
Mistrauen behandelt wurden und den Einfluß einbüßten,
den fie gewonnen Hatten.
Mit der Zeit verlor fich allerdings dieſer Haß und
biefe feindfelige Stimmung, befonders als die Deutſchen
fih immer mehr in die fchweizerifhen Berhältniffe hin»
einlebten und an den nationalen Beftrebungen lebendigen
und verfländigen Antheil nahmen. Diefer Umſchwung
trat namentlich zur Zeit der Freiſcharenzüge ein, an welchen
fi eine Anzahl Deutfche betheiligten, und des Sonder-
bundfeldzugs, wo bie Deutfchen ſich überall für die libe⸗
rale Partei erflärten. Nicht wenig trugen auch die Re—
volntionen in den verfchiedenen deutſchen Ländern bei,
ben Schweizern eine befjere Meinung von der Thatkraft
der Dentfchen zu geben; auch zögerte die Eidgenoſſenſchaft
nit, die proviſoriſche Kentralregierung anzuerkennen.
Bar zeigte dieſe bald ihre Unfähigkeit auch der Schweiz
gegenüber. Während fie nämlich bei ben grof.n LRächten
vergeblich um Anerkennung bettelte, während fie e8 nicht
einmal dahin bringen fonnte, daß ihr ©efandter, der be»
rühmte Herr von Raumer, bei der republifanifchen Re⸗
gierung in Frankreich Zutritt erhielt, trat fie der Heinen
Schweiz mit einer Anmaßung gegenüber, die fi nur
daraus erklären läßt, daß fie fi an derfelben wegen
der von den Großmächten erfahrenen Beratung rächen
wollte. Es Hatten fich nämlich einige Anhänger der frü⸗
bern Zuftände in die Schweiz geflüchtet, und unterhielten
von dort aus Verbindungen mit ihren Gefinnungsgenoffen
in Deutfchland. Da fchidte das Parlament einen Ge-
fandten in die Schweiz, der ungefähr auf diefelbe Weife
drohte, wie e8 in den dreißiger Jahren die abfoluten
Mächte gethan hatten. Dies mußte natürlich böſes Blut
madjen, und der Haß gegen alles Deutfche hätte ohne
Zweifel wieder zugenommen, wenn nicht bald daranf das
Parlament nebft feiner Centralregierung ein klägliches
Ende genommen hätte Das Mitleid gegen die neuer-
dings erfolgten drängte jede feindfelige Stimmung zurüd,
um fo mehr, als fich die neuen Slüchtlinge im allgemeinen
anftändig und Hug benahmen. Da die Deutſchen aud
im neuenburger Handel fich offen zu Gunften der Schweiz
erflärt hatten, jo verfchwand die Abneigung gegen die
Deutfchen immer mehr; und wenn fi auch jest nod)
feindfelige Stimmen hören Laffen, fo rühren fie beinahe
ohne Ausnahme von foldhen Perfönlichkeiten ber, welche
es ben fchweizerifchen Regierungen nicht verzeihen können,
J
Poeſie und Geſchichte der Schweiz.
daß ſie ihnen bei Anſtellungen tüchtigere Deutſche vor⸗
gezogen haben. Man legt aber um ſo weniger Gewicht
auf ihre Aeußerungen, als es dieſelben ſind, welche ein
lautes Jammergeſchrei erheben, wenn die züricher Regie⸗
rung einen tüchtigern Berner anftellt, obſchon fih ein
unfähiger Züricher gemeldet hat, und fo umgekehrt.
Obgleich feit den dreißiger Jahren ein ganzes Men⸗
fchenalter voritbergegangen war, fo konnte doch die Schweiz
bi8 in die neuefte Zeit der fremden, namentlich deutfchen
Gelehrten nicht entbehren; Dies zeigte fi auf das ſchla⸗
gendite, als das eidgendffiiche Polytechnilum gegründet
wurde, defien Tehrftühle nur durch Berufung einer großen
Anzahl deutfcher Gelehrten gut beſetzt werden konnten.
Aber auch an die Univerfitäten und Gymnaſien werben
immer wieder Deutſche berufen. Denn wenn fchon jegt
viel mehr junge Leute ftudiren, als e8 früher der Fall
war, fo widmen fich doch die meiften berfelben irgend»
einem praktifchen Beruf, fie werden Advocaten, Aerzte,
Pfarrer oder Beamte; ja gar manche treten in Gejchäfte
ein, denen fie durch ihre höhere geiftige Bildung öfters
einen bedeutenden Auffchwung geben. Die wenigften
widmen ſich dem Lehrerberuf, und fo kommt es, daß die
böhern Unterrihtsanftalten noch vielfältig fremde Kräfte
in Anfpruch nehmen müſſen.
Der Einfluß, den die dentjche Einwanderung vorzüg-
lich durch den willenfchaftlich gebildeten Theil derſelben
gewonnen bat, ift unbeſtreitbar; er läßt ſich fchon durch
den einzigen Umſtand beweifen, daß der Gebraud ber
hochdeutſchen Sprache tagtäglich mehr zunimmt. Während
vor 30— 40 Jahren felbft Perfonen aus den höhern
Ständen, aus den ariftofratifchen Familien fi nicht nur
nicht in hochdeutſcher Sprache ausdrüden konnten, ſondern
nicht einmal eine hochdeutſche Rede verftanden, fpredjen
jest in den Städten nicht nur die gebildeten Stände,
fondern auch Arbeiter und dienende Perfonen hochdeutſch,
ja viele Schweizer beweifen, daß fie echt deutſches Blut
haben, indem fie fi ihrer Mutterfprache fhämen und
fid) ftellen, al8 ob fie das ſchöne und kräftige Schweizer-
deutfch nicht mehr fprechen können, wenn fie ſich ein paar
Monate in Deutſchland aufgehalten haben, wie die meiften
jungen Mädchen ihre Sprache durch Einmifchung zahle
reicher franzöfifcher Wörter verunftalten, wenn fie eine
Zeit lang in einer „welſchen“ Benflon gewefen find.
Bon größerer Bedeutung ift der Einfluß, den bie
deutſche Einwanderung auf die geiftige Bildung gewonnen
bat, und der fi vor allem darin kundgibt, daß fich die
Schweiz von Tag zu Tag mehr an den Bewegungen und
Fortſchritten der deutſchen Wifjenfchaft betheiligt. Zwar
bat die Schweiz don jeher große Gelehrte gehabt, wir
erinnern nur an die Gesner, Bernoulli, Euler, Wytten⸗
bach, Hottinger u. a. m., und was die fchöne Literatur
betrifft, an die Haller, Bodmer, Breitinger, Geßner u. f. w.,
aber alle gehören beinahe ohne Ausnahme in frühere
Jahrhunderte, und wenn and) ans dem jeigen manche
bedeutende Gelehrte zu nennen find, die zu dem erften im
ihrer Wiffenfchaft gezählt werden müſſen, wie der Phi-
lolog Orelli, ber Naturforfcher Heer u. f. w., fo gehören
fie meift in die neuere Zeit, und fle haben ſich daher
wer dem vorwiegenden Einfluß der deutfchen Wifjenfchaft
gebildet,
Poeſie und Geſchichte ver Schweiz. 169
Ann bebeutendften vielleicht ift der Einfluß der Deut-
ſchen auf die Entwidelung und Ausbildung der Poeſie
gewefen. Während ber großartige Umſchwung, den die
deutfche Dichtfunft in der erften Hälfte des 18. Jahr
hunderts nahm, zum großen Theil von ber Schweiz aus -
ging und die Namen Bobmer, Breitinger, Haller immer
eine höchſt bedeutende Stelle in der Geſchichte der deutſchen
Literatur bewahren werden, während in der zweiten Hälfte
Zimmermann, Salomon Geßner, Lavater und Peftalozzi
höchſt einflußreich wurden, fo haben im erften Viertel des
19. Yahrhundert® nur wenige Dichter, Salis, Ufteri und
3. 8. von Aldertini Bedeutung erlangt, und die Did:
tungen wurden fogar erft nach ihrem Tode im den drei⸗
Tiger Jahren veröffentlicht, alfo erft als das deutſche
Element in der Schweiz Einfluß gewann. Zwar haben
gerade zwei der bedeutendern unter den neuern Dichtern,
A. E. Fröhlich und K. R. Tanner, ihre Poeſien noch vor
Ende der zwanziger Jahre veröffentlicht; allein auch dieſe
Hatten fich auf deutſchen Univerfitäten deutſche Bildung
angeeignet, und zudem hatten ‘mehrere Deutfche, die ſchon
am diefe Zeit in die Schweiz geflüchtet waren, namentlic)
der befannte Follen, nad ihrem eigenen Geftändnig auf
ihre poetifche Production weſentlichen Einfluß ausgeübt.
Bar fomit die Bejhäftigung mit der Dichtkunſt bis
zu ben dreißiger Jahren im ganzen ſehr gering, und traten
nur ſehr wenige Dichter auf, bei denen man von wirf-
lichem Talent jprechen Tonnte, fo nimmt fie ſeitdem einen
merkwürdigen Aufſchwung, der fi nur aus dem Einfluß
der deutfchen Einwanderung erflären läßt. Hier ſprechen,
wie immer, Zahlen am beften. Robert Weber hat in
feiner „Poetiſchen Nationalliteratur der deutſchen Schweiz”
(Nr. 1) von 1700—1830 nur fiebzehn Dichter zu
nennen gewußt, während er für bie Zeit von 1830—65
nicht weniger als vierundneungig anführt, unter denen ſich
freilich manche Dichterlinge befinden, aber doch auch eine
Reihe folder, die man als echte Dichter begrüßen darf,
fo die Aprifer Gottfried Keller, Edward Dorer, Bater Gall
Morel, Karl Morel, Hagenbad, die Frau Meta Henßer-
Schweizer und Meger-Dierian; die Epiler Reithard, Sa-
lomon Zobler, Vornhaufer, Balthafer Reber, Corrodi;
den Dramatiker Iofeph Victor Widmann und die Ro—
man- und Novellendichter Bitzius (Jeremias Ootthelf),
Haberſtich (Bitter), Alfred Hartmann und Yatob Frey:
Dichter, bie jümmtlih auch in Deutſchland teils ſchon
Anerkennung gefunden haben, theil® Anerkennung zu finden
verdienen. Auch unter ben übrigen wären manche zu
nennen, welche ein hilbſches, wenn auch beſchränktes Talent
befigen, jo Eduard Döffebel, Fr. H. Oſer, Konrad
Meyer u. a. m., bor allen aber der geniale, leider zu
früh verftorbene Architelt 9. G. Müller.
Das vorliegende Werk verdient ſchon deshalb unfern
Dant, weil es geeignet ift, das im Deutſchland herrſchende
Borurtheil, ala ob aus der Schweiz nichts Gutes fommen
Könne, in feiner Nichtigfeit zu zeigen; und der Heraus.
geber führt folgende Stelle aus Bodmer:
Hier ift poetiſches Land, das die Gabe vom Himmel empfangen,
Dichter in feinem Schos zu gebäreul —
mit vollftem Rechte an, fowie eine andere von Haller:
1870, ı1.
Der Freiheit Sig und Reich auf Erden
Kann nit an Geift unfruchtbar werden:
Ber frei darf denten, denfet wohl.
Auch gebührt dem Herausgeber unfere Anerkennung,
daß er meilt gute und richtige biographiſche und Biblio»
graphiſche Notizen über die einzelnen Dichter gegeben hat;
auch die Benrtheilungen der verfchiedenen Dichter und
Dichtungen find zu loben; dod verfallen fie nicht ganz
felten in Phrafenhaftigfeit und find Bier und da von pere
ſonlicher Zu- und Abneigung eingegeben. Bon Beſchrunbt ⸗-
heit zeugt, daß ber Herausgeber diejenigen Dichter nicht
mit aufgenommen hat, bie zwar nicht in der Schweiz
geboren find, aber nicht blos durch langen Aufenthalt,
fondern auch durch Aufnahme in das Bürgerrecht, vor⸗
züglich aber durch ihre Gefinnung Schweizer gewor-
den, bie fogar zum Theil von Einfluß auf die Geſchicke
der Schweiz gewejen find. Zählen doch die Franzoſen
Friedrich IL, die Deutſchen A. von Chamiffo zu den
Ihrigen; und ein Zſchotke, ein Bronner, 2. U. Follen,
Wadernagel, Ettmüller u. a. m. follten nicht als ſchwei⸗
zeriſche Dichter gelten, obgleich ihre Dichtungen meift in
der Schweiz entitanden find und zum Theil fogar ſchwei ⸗
zerifche Verhältniſſe behandeln? Das Heißt die Schweiz
eines nicht Heinen Ruhms berauben. Was würde Weber
fügen, wenn es einem engherzigen Deutſchen einfiele, in
einer Gefcjichte der deutſchen Literatur die ſchweizeriſchen
DMinnefinger aus der Zeit der Burgunderkriege, den Sän-
ger derjelben, Veit Weber aus Freiburg im Breisgau,
aus der Reformationszeit Zwingli und Manuel, aus dem
18. Jahrhundert Haller, Bodmer, Vreitinger, Zimmer-
mann, Peftalozzi, Lavater, J. von Müller u. f. w. aus«
zufaffen, weil fie in der Schweiz geboren find?
Diefe Beſchranltheit hängt freilich bamit zufammen,
daß Weber mit den Wörtern „Nation” und „National«
literatur“ einen falſchen Begriff verbindet. Die Schwei-
zer find feine Nation, fondern eine Verbindung von vier
verfchiebenen Nationalitäten. Sind aber die Schweizer
in ihrer Gefammtheit feine Nation, fo find es die dent»
ſchen Schweizer, für ſich betrachtet, noch viel weniger;
fie find ein Stamm des deutſchen Bolts, fie find Deutiche,
wenn auch mit den übrigen deutſchen Stämmen nit
mehr in Stanteverbindung. Sie wollen auch entſchieden
Dentfche fein, wenn fie glei, was ihnen Teineswegs zu
verdenken ift, unter feiner Bedingung mit bem übrigen
Deutſchland in eine andere als eine rein diplomatifche Ber-
bindung treten wollen, ebenfo wenig als bie franzdfifchen
Schweizer (mit Ausnahme vielleicht einiger fanatiſchen
Ultramontanen) ſich von Frankreich möchten annectiven
laſſen. Die deutſchen Schweizer wollen Deutfche fein;
dies hat unter anderm der Altlandammann Baumgartner,
der befanntlic die Deutfchen nicht wenig haßte, zu einer
Zeit öffentlich ausgefprochen, als gerade die Hetze gegen
bie Flüchtlinge ihren Höhepunft erreicht Hatte. Es war
dies im Jahre 1838 bei dem eidgenöſſiſchen Freiſchießen
in St.-Öallen, und zwar fprad er es aus, wenn wir
recht berichtet find, ais Entgegnung auf eine Rede des
Prinzen Ludwig Bonaparte, jegigen Kaifers der Franzo-
fen, der damals thurgauer Bürger und Schulrathsprä-
fident feiner heimatlichen Dorfgemeinde war, aber and
22
Bi)
170
als folder weder den Prinzen noch den Franzoſen ber»
gefjen Tonnte.
Sind aber die Schweizer Feine Nation, fondern nur
ein Theil der großen deutfchen Nation, jo kann aud von
feiner Nationalliteratur der deutfchen Schweiz die Rede
fein, ebenfo wenig als man von einer bairifchen oder
toburgifchen oder ſchwäbiſchen ober frankfurter National
literatur ſprechen fann, oder von einer eljafjifchen, ob-
gleihh das Elſaß auch flaatlic nicht mehr zu Deutjch-
land gehört. Wäre dad Staatöverhältnig in diefer Hin«
fiht maßgebend, fo dürfte man feit 1866 nicht einmal
mehr von einer deutfchen Literatur fprechen, fondern nur
von einer norddeutfchen, öfterreihifchen, bairifchen, wür⸗
tembergifchen, badifchen und fürftlich Tichtenfteinifchen Na—
tionalliteratur. Don einer ſchweizeriſchen Nationalliteratur
zu fprechen ift ebenſo abgefchmadt, als von einer fatho-
liſchen, proteftantifchen oder jüdischen. Ganz anders wäre
es freilich, wenn die ſchweizeriſchen Scriftfteller, nicht
blos die Dichter, fammt und fonders im fchweizerifchen
Dialekt gefchrieben hätten, und höchſtens ausnahmsweiſe
in hochdeutſcher Sprache; aber es ift befanntlicd) dies nicht
der Fall, fondern umgekehrt find felbft die Dichtungen
nur ausnahmsweife in der Mundart gefchrieben. So kann
man wol von einer holländifchen Nationalliteratur reden,
obgleich die Holländer auch ein deutjcher Volksſtamm find,
weil alle ihre Schriften in holländiſcher Sprache abgefaßt find.
Weber fagt zwar:
Es ift von vornherein ſchon wahrſcheinlich, daß ein Voll,
welches einen fo eigenthlimlichen Boden bewohnt, welches eine
fo befondere, dur Großthaten ausgezeichnete fünfhundertjährige
Gedichte befitt, und das politifche Inflitutionen gefchaffen Hat,
welche heute die Aufmerlfamleit und die Bewunderung der
Bölfer auf fid aim, auc feiner Literatur ein befonderes
Gepräge aufgebrüct hat.
Das wäre eben zu beweifen. Zwar fügt er hinzu:
„Wir verfparen eine größere Abhandlung über den Cha-
rafter fchweizerifcher Literatur im allgemeinen und bie
poetifch -Literarifche Aufgabe der Zukunft auf den Schluß
unſers Werks”; diefe Abhandlung ift jedoch den letzten
Band nicht beigegeben worden; und was er noch in ber
Borrede zur Unterftügung feiner Anſicht fagt, ift nicht
ſtichhaltig. Daß die Dichter die Großthaten der Vor⸗
fahren bejungen, daß fie aud die Natur in den Bereich
ihrer Poefie gezogen haben, das gibt ihnen noch Lange
nicht ein bejonderes Gepräge, einen eigenthümlichen Cha-
ralter, was fchon deshalb nicht möglich ift, weil fich bei
den meiften nachweifen läßt, daß fie Goethe, Schiller,
Platen, Rüdert, Uhland, Heine u. f. w. ftudirt und, wenn
auch zum Theil felbftändig und ſchöpferiſch, doch im
Sinne diefer Vorbilder gedacht und gedichtet haben.
Wir find keineswegs gefonnen, den Herausgeber bes
vorliegenden Werks zu tadeln, daß er es unternommen
und durchgeführt, vielmehr Halten wir es für durchaus
verdienftlich, nur durfte er nicht die ſchweizeriſche Literatur
der dentfchen entgegenfegen und dadurch zu faljchen Be⸗
griffen verleiten.
Was die Ausführung betrifft, fo glauben wir, daß
er füglih manchen Didjterling Hätte übergehen können
und follen, manchem einen Fleinern, andern einen größern
Raum widmen dürfen, daß er — und dies ift wol das
Tadelnswerthefte — manchen hätte aufnehmen follen, den
Poeſie und Gefhichte ver Schweiz.
er Übergangen Hat. Wir haben hier nicht blos die ge»
borenen Deutfchen im Auge, von denen fchon die Rebe
gewefen ift, fondern geborene Schweizer. So hätte er
wol von der blinden Luife Egloff ausführlicher fprechen,
dem begabten Joſeph Victor Widmann einen größern
Kaum widmen und biographifche Notizen von bemfelben
geben follen, da dieſer e8 weit mehr wert war als
aan andere, von denen er ausführliche Mittheilungen
macht.
Die Auswahl der Dichtungen iſt im gauzen ver⸗
ſtändig; manchmal hätten wir gewünfcht, daß der Her⸗
ausgeber ftatt dieſes oder jenes Gedichts ein anderes ge=
wählt hätte; allein e8 wäre unbillig, darüber mit ihm zu
rechten, da wir dod) nur unfere individuelle Anficht der
feinen entgegenfegen können, und er wol Gründe für bie
jeinige hat, wie wir für die unferige.
Ein wefentlicher Mangel des Buchs ift, daß c8 am
Schluß fein allgemeines Namensverzeihniß hat und daß
die DVerzeichniffe der einzelnen Bünde nicht alphabetifch
geordnet find, mwodurd) das Nachſuchen bedeutend er⸗
jhwert wird. Sollte da8 Werk eine zweite Auflage er⸗
leben, was wir dem fleißigen Herausgeber wünſchen, fo
möge er diefem Mangel wie auch die andern, die wir
oben berührt haben, abhelfen.
Die Schweizer haben von jeher viel fiir die Gefchichte
ihres Landes geihan. Ihre alten Chroniken aus dem
15. und 16. Jahrhundert gehören zu den beften, welche
die beutfche Literatur aufzumeifen hat. Die Hiftorifchen
Arbeiten aus dem 17. Jahrhundert ftehen weit tiefer, auch
im 18. Jahrhundert wurde bis auf Johannes don Müller
wenig Bebentendes geleiftet; in der neuern Zeit dagegen
bat die Schweiz eine Menge von trefflichen Gejchichts-
werfen aufzumeifen, die fich freilich meift mehr durch
gründliche Forſchung auszeichnen als durch Fünftlerifche
Darftellung. Doc auch nad) diefer Seite find bedeutende
Arbeiten erfchienen, unter welchen wir zunächſt die Fort⸗
fetger der Gefchichte der Eidgenoffenfchaft von Johannes
von Müller nennen, Glutz⸗Blozheim, Hottinger und vor
allen Monnard, der zwar nicht jene Fortſetzung, aber
wol andere hiftorifche Werke in deutfcher Sprache ge»
ichrieben hat. Zu den neuern Erfcheinungen gehören die
zwei Werfe, deren Titel wir oben mitgetheilt Haben. Das
erfte: „Delvetia” von Geilfus (Nr. 2), ift vorzüglich
für die reifere Jugend beftimmt, und diefem Zweck ent«
fpriht e8 auch volllommen. Die „Helvetia iſt nämlich
nicht eine fortlaufende Geſchichte der ſchweizeriſchen Eid⸗
genoffenfchaft, fondern der Verfaſſer gibt in ihr eine Reihe
von einzelnen, in fi) abgefchloffenen Bildern, welche die
wichtigften Begebenheiten darftellen oder auch culturkifto-
rifches Intereffe gewähren. Verdienſtlich find namentlich
die Biographien der bedeutendften Männer, wobei ſich ber
Verfaſſer nicht auf diejenigen befchränfte, welche auf das
Staatsleben oder die firchlichen Zuftände Einfluß hatten,
er hat auch diejenigen in den Bereich feiner Darftellung
gezogen, welche als Schriftfteller hervorragen. Wir find
ganz damit einverftanden, daß er den großen Konrad von
Gesner, Abreht von Haller, 9. J. Rouſſeau und
Peſtalozzi behandelt Hat; aber daß er den trefflichen
Hfelin, den brugger Zimmermann, Johannes von Miller
Boefie und Geſchichte ber Schweiz. . IT
u. 0. m. nidjt genannt hat, Mnnen wir nicht billigen,
um fo weniger, als gerade Biographien bedeutender DMän-
ner die jchönfte Anregung für die Jugend find. Das
gegem ift mit Lob zu erwähnen, daß der Berfafler auch
die Hiftorifche Sage berüdfictigt hat, und er Hätte viele
leicht mad) diefer Seite noch mehr geben können.
Wenngleich das Buch vorzugsmeife für die Jugend
beftimmt ijt, fo kann es doch auch Altern und gereiftern
Berfonen empfohlen werden. Die Gedichte eines Heinen
Bolis, das fid) durch feinen Muth und feinen praftifchen
Sinn die Selbftändigkeit erringt und jahrhundertelang
unter den ſchwierigſten Verhältniſſen ficert, das felbit
ans den gewaltigften innern Stürmen neu gefräftigt her-
vorgeht, das endlich auch im Innern die politifche und
bürgerliche Freigeit zu erringen weiß, ift lehrreicher als
die Gefchichte großer Staaten, in denen das herrſchende
Geflecht alle, das Volk wenig ober nichts iſt. Der
befannte Tourift und Reifebefhreiber Kohl fpöttelt in
feiner „Reife durch die Schweiz”, daß I. Zellweger die
Gedichte feines Kantons Appenzell in acht diden Bän-
den bejchrieben habe. Hätte Kohl dieſes Werk gelefen
veffen fünf letzte Bände nur aus Urkunden beftehen), fo
würde er wol feinen Spott unterbrüdt haben, denn er wälrbe
gejehen Haben, daß das Kleine appenzellif—he Bolt eben eine
große, eine bedentungsvolle Gefchichte Hat, die durch Fülle
und Mannicjfaltigkeit der Begebenheiten, durch Tücjtig«
feit und felbft Großartigfeit der auftretenden Perſönlich-
feiten das höchſte Intereſſe gewährt. Und nicht blos
Appenzell, fondern jeber einzelne Canton Hat feine eigene,
unabhängige Geſchichte, wenn auch feit der Stiftung des
exften Bundes eine Verbindung zwifchen den einzelnen
Ländern beftand. Und eben deshalb, weil jeder Canton
feine eigene Gedichte hat, ift es ebenfo verehrt als
Hoffentlich fruchtlos, die Eidgenoſſenſchaft vollſtändig zu
centralifiren. Wir wollen hoffen, daß biefer Gedanke,
der vorzüglich in den Köpfen der jüngern Generation
fpuft und den ihr ihre deutjchen Lehrer auf deutſchen oder
ſchweizeriſchen Hochſchulen eingeflößt Haben, an dem ge⸗
funden Sinn des Volls ſcheitern wird, das ſich freilich
ſchon öfters hat verleiten laſſen, in die Ideen einzugehen,
welche deutſche Philofoppen und Politiker Hinter ihrem
Dfen ausgefonnen haben, und bie ihre ſchweizeriſchen
Schüler unter ihrem Volle zu verbreiten fuchten. Wenn
wir oben gejagt Haben, daß die deutſche Einwanderung
von günftigem Einfluß auf wiſſenſchaftliche und poetische
Bildung der Schweizer geweſen ijt, fo müflen wir dar
gegen auf das emtfchichenfte behaupten, daß fle bezüglich
der pofitifchen Entwidelung von großem Nadtheil war
und noch if.
Ehe wir bie „Helvetia“ verlaſſen, müſſen wir noch
eines lobenswerthen Abſchnittes derfelben gedenken, des⸗
jenigen nämlich, der ale Bundesbriefe und Urkunden,
von der erften an (1. Auguft 1291) bis zu ber legten
(12. September 1848), im ganzen 19, mittheilt. Es
läßt diefe Sammlung ſchon einen tiefen Blid in die Ent«
widelung der Eidgenoffenfaft werfen; ja man kann fie
ohne biejelbe nicht grundlich verftehen.
Die „Geſchichte der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft“
von Daguei (Nr. 3) iſt eine der tüchtigften Erfcheinuns
gen auf dem Gebiete ber Gefchichtfchreibung, und mir
wollen auch gleich Hinzufügen, daß die deutſche, ober wie
Hagnauer fchreibt, teutſche Ueberfegung fehr wohl gera-
then ift; er hat den einfachen, Haren und doch gehobenen
Stil des franzöſiſchen Originals mit Glück wiedergegeben,
und fo find auch die von ihm herrührenden Zufäge eine
wirfliche Bereicherung des Buchs. Bei der Beurtheilung
“eines Geſchichtswerls find zunächft viererlei Punkte ins
Auge zu faſſen. Man hat fih zw fragen, ob die Ber
richte auf Duellenftudium beruhen und die Begebenheiten
richtig aufgefaßt find; zweitens, ob die Unordnung
des Stoffe überfihtlih und fo gehalten ift, daß das
Weſentliche Iebendig Hervortritt, daß ſich der Zufammen-
hang zwiſchen Urſache und Wirkung Mar zeichnet; brite
tens, ob ber Stil und die Darflelung auch ſchon fei
und dem Gegenftande entiprede, und enblid; vier—
tens, ob der Berfafer bei der Behandlung von einem
höhern Sinn geleitet worden fei, Den dritten Punkt
haben wir bereits beantwortet, was bie zwei erften be»
trifft, fo fann dem Werke Daguet's nur das ungetheiltefte
Lob ertheilt werden, Ueber den vierten Punkt erflärt fi
der Berfaffer felbft im Vorwort auf folgende Weife:
Dos Schweizervolt nimmt freilich nur einen Heinen Raum
auf dem Erdball ein. Allein wie ein beredter Geſchichtſchreiber
fagt: „Kein Vaterland ift Hein.’
Auch Griechenland war auf der Karte der alten Welt ein Heiner
Fleck. Gab es jemals ein reihhaltigeres und ruhmvolleres Land?
Ohne fi) der Heimat der Leonidas, der Themiftolfes, der
Perikles und der Sokrates gleichſtellen zu wollen, kaun deunoch
die Schweiz id, rühmen, große Männer jeder Art erzengt und
große Dinge vollbracht zu haben, unter welchen voraufteht, daß
fie ihre Unabhängigkeit zu erringen und zu bewahren vermodjt
bat, während fo viele mächtigete Freiftaaten unter das Joch
der benachbarten Fürften fielen. ‚Wären unfere Boräftern nicht
Männer gewefen, was würden wir fein?“
Wilhelm Tell und die andern Stifter des Schweizerbundes,
unb nad) ihnen Rudolf von Erlach, Winfelried, Nikolaus von
ie, Smingli, Konrad Gesner, Schultheiß Wengi, Albregt
aller, umd im der zeitgenbſſiſchen Geſchichte Alois Rebing,
Schultheiß Steiger, Johannes Müller, Peſtalozzi, Lavater, Las.
harpe, Fellenberg, Oirard, Trogler, Binet waren ungewöhnfidhe
Männer; fte Haben der Schweiz in Politif, Literatur, Religion,
Geiftesbildung eine ſchöne Stelle an dem Lichte der Gejchichte
verfhafft. Und wenn aud) die großen Perſönlichleiten unferm
Ruhme fehlen follten, unfer Volk wäre immerhin groß genug;
denn das Volk feibft ift es, welches bei uns die benfmürbigften
Thaten verrichtet hat. Die Geſchichte der ſchwegeriſchen &o-
gemofienfhaft iſt vor allem eine nationale und republifa-
nifge, Ihre Abſchnitte beftimmen ſich weder mad) der Regie-
zung eines Herrſchers, noch mad) ber Verwaltung eines alle
Finke Minifterd, noch nad) der Dictatur eine fiegreichen
elbheren.
Drei Grundgebanfen walleten vor bei der Gründung der
ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft: Gott, Freiheit und Adtung
des Rechte. Cs if aud) unter dem Cinfluß biefer grohen Ge-
danfen und gleichjam beim Fichte biefer drei Sterne dieſes mo-
raliſchen Gefichtstreifes, daß wir die Seiten des vorliegenden
Werts verfaßt haben. Unfere Geſchichte der ſchweizeriſchen
Eidgenoſſenſchaft ift vor allem ein unbefangenes Bud, ohne
vorgefaßte Abfiht, zu Gunften irgendeiner 3 oder Pariei,
betreffend Neligion ober Politit, Herabzufegen oder zu ſchmeicheln.
Auch wird fie niemand Anftoß geben fünnen als jenen Aus»
ſchließlichgeſinnten, melde in ben Jahrblichern der Bergangen-
heit nur eine Streitwaffe in den heißen Kämpfen der Gegen-
wart, ober eine Vertheidigungsrede zu Gunften eines vorge
faßten und mit einer blinden und unduldfamen Verehrung ger
hegten Syſtems erbliden.
22 *
172 Unterhaltungsteftüre.
Und was ber Berfaffer in dieſem Vorworte der»
ſprochen, das bat er in ber Durchführung feines Werks
auf das lobenswertheſte gehglten: Mäßigung und Un⸗
parteilichfeit hat er auch in den Stellen bewiefen, mo
mancher anbere fi) von gerechten Zorne gegen Falſch⸗
beit und Heuchelei hätte hinreißen laſſen. Ebenſo wenig
läßt er fi) von den zur Mode gewordenen Zweifeln an
der Wahrheit der volksthünilichen Weberlieferungen ver-
führen, und weiß ben allerdings oft blendenden Schein»
gründen fehr verftändige und überzeugende Gegengründe
enfgegenzufegen. Er jagt (S. 105):
Die Bollsdihtung darf nicht mit der Fabel vermengt
werden. Die Sage oder nationale Weberlieferung in Wort,
Schrift ober Lied hat eine gefchichtlidhe Grundlage. Und un-
geachtet ihres eigenthümlichen epifhen und munderhaften Tons
drüct fie oft mit mehr Wahrheit den Geiſt einer Zeit oder
eines Volks aus, als; die gelehrte, aus trodenen Urkunden
berausgearbeitete Geſchichte. Das Hat die Schule der Zweifler
wol zu fehr vergeffen, von meinem Landsmann Builliman an
bis auf Kopp von Luzern, der heute da8 Haupt derfelben ift.
Der erſtere behauptet, daß der angeerbte Haß der Schweizer
gegen die Deflerreicher viele Übertriebene Erzählungen geichaffen
babe. Allein er vergißt uns zu fagen, wie biefer Haß eines
ganzen Bolks entftanden ſei. Niemand, glaube ich, hat dem
indrud, welchen die Geſchichte Wilhelm Tell's auf einen un⸗
befangenen @eift macht, beſſer zufammengefaßt als Georg von
Wyß in folgender Stelle eines zu Zürich gehaltenen Vortrags:
Das Ganze ift feinem Grundgedanfen und Weſen nad) der
wirklichen Gefchihte der Länder gemäß; in allen Einzelheiten
.„ aber, in Zeitangaben, Ort, Namen ‚ein Gemifch wirklicher Er⸗
innerungen umd ergänzender Erfindung, das unfere Urkunden
weder beflätigen können, noch in Bauſch uud Bogen als Un⸗
wahrheit zu bezeichnen zwingen.
Daß ein Wilhelm Tell wirklich gelebt Hat, wird durch
eine Sage auf merkwürdige Weife beftätigt. Gewöhnlich
werben als erfte Stifter des eidgenöffifchen Bundes Ar-
nold von Melchthal, Arnold Stauffacher und Walther
Fürſt, als der dritte werden von verfchiedenen andere
genannt; in dem belannten Urner Schauspiel heißt er
Wilhelm Tell, und in der Vollsfage heißen die drei Be⸗
freier „bie drei Zellen”, von denen fie Aehnliches berichtet,
wie die deutſche Sage vom Kaifer Barbarofja, nämlich,
daß fie in einer Höhle fchlafen und einft, wenn es noth-
thut, wieder erwadhen und dem Lande zu Hilfe kommen
werden,
Wenn aud) die Chronifen und andere Weberlieferun-
gen, welche von Tell als dem Befreier der Schweiz fprechen,
erft aus dem 15. Yahrhundert ftammen, alfo etwas über
anderthalb Jahrhunderte fpäter find, als die Befreiung
ftattgefunben hat, jo iſt e8 geradezu unmöglich, daß biefe
Berichte, die von verfchiedenen beinahe zu gleicher Zeit
mitgetheilt werden, von denfelben erfunden worden feien,
was an ſich fchon deswegen nicht denkbar ift, weil fie
jedenfall® damals ſchon Widerfprud) gefunden hätten. Sie
berubten alfo auf Weberlieferungen, oh mündlichen oder
Ihriftlihen, ift am Ende gleichgültig, und es können diefe
Ueberlieferungen nicht erſt kurze Zeit vor der Abfaffugg
jener Chroniken entftanden fein, da fie ſchon im ganzen
Volke der Waldftädte verbreitet waren.
Wir jchliefen unfern Bericht, indem wir das Wert
Daguet’8 auf das wärmfte empfehlen. Wenn er e8 auch
vornehmlich mit Rüdficht auf feine fehweizerifchen Lands⸗
leute fchrieb, Hat er es doch fo gehalten, daß es in Inhalt
und Yorm auch bei dentjchen Lefern warmes Intereſſe
erregen muß.
Unterhaltungslektüre.
1. Das Geheimniß des Arztes. Criminalroman von Ponſon
du Terrail. Berlin, Medienburg. 1868. 8. 20 Ngr.
Ein Roman, der fi) an eine geheime Geburt Mnüpft
und Schon deshalb von einem gewiſſen Intereffe ift. Die
Ereigniſſe, welche fi an bie heimlichen Quartale junger
Damen, auch verheiratheter, in Privat» Entbindungs-
anftalten fnüpfen, find ohne Ausnahme intereffant, nicht
etwa weil fie ftetS mit „intereflanten Umftänden” verbun-
den find, fondern weil ſtets zweckmäßige und unzwed»
mäßige Anftrengungen erforderlich find, um das Geheimniß
zu wahren, ja um die Penfionsgelder zufammenzubringen
und für die Zukunft des unerlaubten Heinen Weltbürgers
wenn auch nur einigermaßen Sorge zu tragen. Scheuf-
fichfeiten der raffinirteften Art werden vielfach, faſt ebenfo
offenkundig vor ben Augen der Gerichte als der unglüdlichen
oder bemoralifirten eltern vollführt, un den Stehimwege
beifeite zu fchaffen, und oft ift es ebenfo vergeblich al8 geführ-
li, zu Gunſten des Lebens zu interveniren, das irgendein
anderes Leben in feiner Sicherheit beeinträchtigen könnte.
Aud in dem uns vorliegenden Romane wird gehörig
intriguirt und gefürchtet und gefahndet, beſonders ift der
Charakter des Engländers mit großer Naturtrene gezeich-
net. Manches andere ift nicht neu, aber alles ift gut
erzählt, und da die Erzählung ein befriedigendes Ende
findet, fo wird fie ficher auch die Mehrzahl der Leſer
durchaus zufriedenftellen,
2. Bilder aus meiner Praris. Mittheilungen ans dem Tage-
buche eines fchwediichen Arztes. Bon Anders Lunde»
berg. Deutſch von Auguft Kretzſchmar. Drei Bände.
Leipzig, Kollmann. 1868. 8 3 Thlr.
Diefe Mittheilungen find unverkennbar auf das treuefte,
wenigftens auf das ehrlichfte nad) dem trivialen Alltags»
leben photographirt und befonders von Intereſſe, weil
nicht jeder Lefer Arzt und nit — ſchwediſcher Arzt ift.
Wir lernen die ganze Mifere in den Heinen ſchwediſchen
Städten Tennen, in benen ohne die allervollfommenfte
Refignation nun einmal nicht zu leben if. Der Ber-
fafjer ift der Hauptheld, wenigftens knüpft der Erzähler
die Ereigniffe, die er dem Publikum vorträgt, mit oft
reizender Naivetät an feine Perfon, mit der man denn
gut thut, wenn man bis zu Ende leſen will, ſich von
vornherein zu befreunden. Die Primadonna des Buchs,
die er ſchon im ihrer Blütezeit hätte heirathen Tünnen,
wenn er Courage gehabt Hätte zuzugreifen, wird ihm erft,
Feuilleton.
nachdem fie aus einer übeln Ehe Witwe geworden ift,
zutheil, aber das Baar ift glüdlih und die Fran tobt
auf den legten Seiten ihren Mann, wenigftens erträgt
fie es, daß er ihre Liebesleiden und “Freuden fo hilbſch
auftifcht:
Und hinter mir fleht fie, welche mein ganzes Leben mit
einem neuen heitern Element erfüllt hat. Sie möchte gern diefe
legten Worte ausftreihen, denn fie fteht, wie ich eben gefagt,
Hinter mir und lieſt Über meine Schulter hiumeg, aber fie darf
nicht, denn die Worte find wahr, umb ich Habe mir bei biefer
Arbeit vor allen Dingen die Aufgabe geſiellt, mic fireng an
die Wahrheit zu halten.
Wir glauben dem Verfafler und haben demgemäß ein
Stüd aus der Kräptoinkelei ſchwediſchen Kleinbürgerlebens
vor und.
3. Der Jäger von Königgräg. Hiftorifche Erzählung aus bem
Kriege im Jahre 1866. Bon Ernſt Pitamall. Ber-
lin, Große. 1868—69. ®r. 8. In 40 Lieferungen zu
3 Ngr,
. Maria Stuart. Hiſtoriſch romantifhe Geſchichte der Zeit
und des Lebens der Königin von Schottland von E. Pi-
tamalf. Berlin, Große. 1868—69. Gr. 8. In 80
Lieferungen zu 4 Nor.
Fenil
Eungliſche Urtheile über nene Erſcheinungen der
deutſchen Literatur.
„Die Beröffentlichung der «Briefe von Alerander
von Humboldt an Freiheren von Bunfen»“, jagt bie
„Saturday Review“, „ift ein jehr willtommener Beitrag zur
Yiteratur, jomol an fid felbft, als weil fie dazu dienen, den
unangenehmen Eindruck zu berichtigen, welden Humboldt's
Sriefwechfel mit Barnhagen von Enfe zurüdgelaſſen hat. Diefe
Sammfung enthielt zwar wenig oder nichts, da8 wirklich ge-
eignet gewejen wäre, Humboldt’s Charakter zu erniebrigen,
wenn fie unparteliſch in ihrem gehörigen Lichte als ein Heiner,
wenn auch widtiger Theil einer großen Maſſe von Briefen
hätte betraditet werden Lönnen. Ihre Telbfänbige Veröffentlichung
inbeffen Ientte die Aufınerffamfeit des Publikums auf das tabel-
füchtige und fartaftifhe Element in Humboldt's Weſen, für
weiches dieje Briefe als Sicyerheitsventil dienten. Man hatte
wicht binlängli bedacht, daß Humboldt’s vielſeitiges und daher
empfängliches Wefen unvermeidlich bis zu einem gewifjen Grade
von jeinem cynifchen Correfpondenten beeinflußt werden mußte;
auch hatte man nidyt gebührend anerlannt, wie viel ehrenvoller
diefer pleenhafte Broteft gegen Misrggierung und Rüdigritt am
Ende für ihn war, als die höfifhe Zuftimmung, derem er fonft
mit einem Schein von Recht hätte besichtigt werden Lönnen.
Die vorliegende Brieffammlung wird viel dazu beitragen, Herb-
Heiten zu mildern: nicht jedod, als ob fle mit irgendetwas
im Briefwechſel mit Barnhagen im Widerſpruch flände, fondern
weil fie eine andere Seite des Charalters Humboldt’8 zur Schau
Felt. Sie wird aud dazu dienen, Bunfen zu erhöhen, der
Durchroeg als fein trauter und gejhäter Freund erfheint. Der
Herausgeber bemerkt ſehr richtig, daß einige unvorfichtige, in
ämer tadeljüchtigen Stimmung geſchriebene und zu Parteigmeden
ibertriebene Aeußerungen an andern Stellen gegen den allge»
meinen Charakter des Briefwechſels, als Gedankenanstaufch auf
leihen Fuße zwiſchen innig verwandten Geiſtern, nicht in An«
lag gebracht werden dürfen. Er beginnt 1816 und flieht
856. Die zwilhen den Freunden erörterten Gegenfände find
geifg literariich und wiffenfhaftlih, tHeils Geihäftsfagen, die
5 zwar auf Literatur und Wiſſenſchaft beziehen, aber nur aus
sc amtlichen Verbindung der Verfaſſer mit dem preußifchen
173
5. Die Iungfran von Orleans. Hiflorii romantiſche Ge⸗
ſchichte von &. Graf Grabomsli. Berlin, Große.
1868— 69. Gr. 8. In 35 Lieferungen zu 4 Ngr.
Vorftehende Unterhaltungstektiüre habe ich von ber
Magd in der Küche wiegen laffen, und Tann beſchwören,
daß die drei Romane ungebunben faft fünf Zollpfund ſchwer
find. Sie find in Lieferungen erfchienen, und da „Der Jäger
von Königgräg” 40, „Maria Stuart” 30 und „Die
Jungfrau von Orleans” 35 Lieferungen ftark ift, fo er-
gibt einfache Addition, daß fämmtlihe drei Romane in
105 Lieferungen über die Schwelle der Käufer rüden.
Die Lieferungen koſten je 3—4 Ngr., es fiedt alſo
immerhin Geldwerth in der Collection. Die literarifhe
Kritik Hält ſich nicht für verpflichtet, eingehend tiber diefe
„Romane“ zu fpredien, auch werben die Berfaffer und
Berleger das jo wenig wunſchen, wie die Redaction d. Bl.
es geflatten könnte. Das Lefepublitum, fir das bie
Berfaffer gefchrieben Haben, ift das gebuldigfte und uns
gebildetfte, das Iefen gelernt Hat. Zu loben ift nichts,
als die authentiſchen Actenftüde, die in dem „Süger von
Königgräg" abgebrudt find und ein gut Theil der Blatt-
feiten füllen.
leton.
Hofe herrühren. Die letztern find wegen der Beleuchtung des
eigenthlimlichen Charakters des verfiorbenen Königs von Preußen
und Sumboidt's Berhältnifjes 13 bemfelben die intereffanteften.
Sie weiſen die Kehrjeite der Medaille zu Varnhagen's Briefe
wechſel auf und follten in Verbindung mit ber jungſt erſchi
nenen Biographie Bunſen's gelefen werden. Humboldt ſcheint
fir den König trog der volffländigen Täufhung aller an feine
Thronbefteigung ſich Inlipfenden Geffnungen bis zulegt eine aufe
richtige Zuneigung gehegt Br haben. it einem männlidhern
Seife und entichlofienerm Willen hätte dieſer Herrſcher leicht ber
Augufins Deutſchlands werden können; fo aber fonnte ex es
nit einmal bahin bringen, deſſen Mäcen zu werden. Der
Monard) verdarb den Gönner: er if ein bemerkensmwerthes
Beifpiel von einem Herrfcher, defien Regierung feinen Glanz ent«
lehnt hat von der begeifterten und verfändigen Aufmunterung
der Literatur, Kunſt und Wiffenfhaft und der Berufung ihrer
Bertreter, einer folden Bereinigung von geiftvollen Männern,
wie fie felten unter dem Schutze irgendeines andern Flrften
verfammelt war. Der Briefwechſel enthält zahlreiche Cingele
heiten bezüglich der Verpflanzung von Tied, Schelling, Core
nelius, Rüdert und Mendelsfohn nad; Berlin, nebft einigen
unterhaltenden Bliden auf die bei diefen Gelegenheiten in Ber
wegung gefegten Meinlihen Intriguen. In einer Hinficht hate
ten die Männer von Geift eine wunderbare Aehnlichkeit mit«
einander: im ihrer einmüthigen Wbgeneigtheit nämlich, nad
ihrer Ankunft in Berlin etwas nur einigermaßen ihres alten
Aufes Würdiges zu leiſten. Der weniger perfönliche Theil des
Briefwechſels mimmt durch Bunfen’s Aufenthalt als Gefandter
in London einen fehr englifhen Anftrih am. Humboldt's
Bemerkungen fiber engliſche Gelehrte und Literaten, und feine
Nachfragen nad) denfelben find fehr zahlreich und bezeugen die
Achtung, die er vor ihnen hegte. Die Anerkennungen einer Ber-
pflichtungen gegen General Sabine find fehr herzlich; ebenfo
groß ift fein Werger über den verflorbenen Mr. Eroffe, der eine
unglinftige Recenfion des «Kosmos» verfaßt Haben fol. Die Er-
ſcheinung des Acarus Crossil verfhaffte ihm eine Gelegenheit,
ſich zu räden. Eroffe, meint er, hätte beim Anfange beginnen,
der Beſcheidenheit der Natur nacheifern und bie Anelbımg
feiner Prärogative als Schöpfer zunächkt anf die Hervorbringung
Es A se re ag:
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174 Feuilleton.
von SInfuforien beſchränken follen. Ein ähnlicher, leiſe ſcherz⸗
hafter Ton kann, wie wir glauben, in einigen feiner Anfpie-
Iungen auf Bunſen's äguptologiihe Theorien entdedt werden.
Der wirkliche Reiz des Buchs indefjen liegt nicht fo fehr in
dem, was ansgefproden ift, als vielmehr darin, daß man
beobadhten Tann, wie ein Mann zu einer Xebenszeit, wo bie
meiften Menichen längft aufgehört haben, fir nene Eindrücke
empfänglich zu fein, ſich die Pflege feiner Fähigkeiten und die
Ausdehnung feiner Kenntniffe angelegen fein läßt. Wenn wir
zu diefem den glühenden Eifer für politifde und geiftige Frei⸗
beit hinzufügen, den da® Alter nicht zu löſchen, den Wohlftand
nicht zu vermindern und Täuſchungen wicht zu entinnthigen
vermodten, jo muß man zugeben, daß, ganz abgefehen von
Humboldt'e befondern Leikungen, das Bild feines hohen Alters
ſowol erfreulih als auch imponirend ſei.“
Ueber die neuen Bände der „Hiſtoriſchen und politiſchen
Auffäre” von Heinrih von Treitſchke Tagt dafjelbe Blatt,
fie feien vo anziehenden, wenn auch nicht gerade frappanten
oder originellen Stoffe. Vom erften Aufſatze, liber den Lauf
der franzöflfchen Gefchichte feit dem erften Kaiferreiche, heißt es:
die Punkte, welche der Verfaſſer hauptjächlich betont, feien zwar
bereit8 oft befprochen worden, doch verdiene die Abhandlung
als MHarer und zufammenhängender, durd eine hohe Unpartei⸗
lichkeit des Tons ſich außzeichnender Ueberblid über einen großen
Gegenftand befondere Aufmerkſamkeit. Der Effay liber die vier
Dramatifer Leſſing, Kleiſt, Otto Ludwig und Hebbel fei, wie
die politiſchen Aufiäge, unter denen er ſich ſeltſamerweiſe (?)
befinde, eher verftändig als glänzend.
Ä rner wir:
„Adolf Ebeling's «Neue Bilder aus dem modernen Paris»
beanſpruchen nichts weiter, als pikant der Form und dem In⸗
halte nach fein zu wollen, und das find fie allerdings. Der.
Berfafier erzählt parifer Plaudereien fehr geläufig nah, und
feine Ehnralterfligzen, gleichviel ob Titerarifch, perſönlich ober
focial, find ſtets unterhaltend. Der ‚große Fehler des Werle,
wie der meiften Werle diefer Art, ift ein ungebührliches
hie eines dürftigen Stoffs zum Zwede der Bücher⸗
macherei.“
„Büchner unternimmt in feinem Buche «Die Stellung des
Menſchen in der Natur» u. f. w., feine Nebenmenfhen in dem
Raume von drei Tleinen Bänden ausreihend darüber zu beleh⸗
ven, woher fie fommen, wo fie jet find und wohin fie gehen.
Der Umfang des Buchs ift im umpgelehrten Berhältnif fein
unrichtiges Maß für die Anmaßung und Oberflächlichleit des
Berfaffere. Wer etwa wirkliche Aufflärung von ihm erwartet
bat, muß ſich enttäufcht fühlen, wenn er findet, daß die erſte fo
prunkhaft auf dem Zitelblatt geftellte Frage mit einer Com⸗
pilation von bauptfählih den Werfen Lyell's und Hurley's
entlehnten Einzelheiten, das Alter der Menfchheit betreffend,
für hinlänglich beantwortet gehalten wird. Indeſſen, fehlt es
Büchner auch gämfih an Selbfländigfeit, fo verdient er doch
das Lob eines geſchickten Compilators: feine Anorönung iſt vor⸗
trefflih und fein Stil frifh und klar.“
Nach einer lobenden Erwähnung des „Dante Alighieri‘'
von R. K. Hugo Delff, fährt die „Saturday Review’ aljo fort:
„Jeder Menſch, jagt man, wird entweder als Blatonift oder
als Ariftoteliler geboren. Wir haben foeben geſehen, daß Dante,
einem geiftreihden Erklärer zufolge, der erfiern Klafle ange-
hörte ; wir erfahren von Karpf (aus deſſen „Td ti nv elvau;
die Idee Shafjpeare’8” u. |. w.), daß Shalipeare der letztern
beizuzäblen ſei.“ Er wolle das befonders aus Hamlet und ben
Sonetten erhärten. Es fei indeffen unmöglich, dies durch der
großen Mehrheit verftändliche Beweiſe feftzuftellen, und daß
bei dent Diangel derjelben gebrauchte Raifonnement jei zu dimkel,
um leicht verfolgt oder wiedergegeben werden zu können. Dieje
Duntelbeit könne jedoch weder des Verfaſſers Fleiß noch die Liebe
zu feinem Gegenftande verbergen.
„Baul Heyſe's a@efammelte Novellen in Verfen» bilden
eiien Uebergang von der Novelle zur Poeſie. Sie beſitzen alle
großes Berdienſt, was die Form betrifft; in jeder anderu Hin-
fiht aber halten fie den Bergleich mit feinen Profadichtungen
nicht ans, Diefe find nicht nur künftleriiche Meiſterwerke, ſon⸗
dern haben auch den Schein con amore geſchrieben zu fein.
Hier erfcheint der Dichter als ein gefchmadvoller Tändler, und
das fortwährende Spielen mit feinem Thema läßt einen Man-
gel an Theilnahme feinerfeitß vermuthen, den der Lefer Leicht
anftedend finden dürfte Mühſame Zändelei ift eine ſehr
ſchwerfällige Sache.“
Ueber Novalis' Gedichte, von W. Beyſchlag heransge-
geben, fagt das Blatt: „Nopalis if ein Geift von ber echten
Art; feine Dichtung iſt zu deutlich der Ausbrud innigen Ge⸗
fühle, als daß fie durch Veränderungen des Geſchmacks oder der
Meinung veralten Lönnte. Die Ernften und Begeifterten wer⸗
ben fich ſtets an ihm erfreuen. Witibald Beyſchlag hat durch
Zufammenftelung der in Novalis’ gefammelten Werfen zer-
freuten Stüde und Boranfdhidung einer geiftvollen Biographie
und Beurtbeilung einen wirklichen Dienft geleiftet. Man könnte
einwenden, daß er Novalis zu ausfchließlich von der techniſch
religidjen Seite feines Genius betrachtet habe; allein ein Kri«
titer kann faum deshalb getabelt werden, daß er hauptſächlich
jene Charalterzlige feines Autors hervorhebt, die am meiſten
wit feinen eigenen lbereinflimmen. Hätte er die Abſicht ge-
habt, Novalis genauer als Proſaiker zu betrachten, fo bätte fein
Urtheil allerdings weſentlich mobdificirt werden müſſen.“
Adolf Wilhelmi’s „Dmitri Iwanowitſch“ wird eine
matte Leiftung genannt, welche das Verzeichniß der mislun⸗
genen Berfuhe, Schillers Fragment zu ergänzen, um einen
dermehre.
Ueber „Die Gräfin” von Krufe fagt er: „Ihre außer⸗
ordentliche Länge ebenfo wie die Verlegung der Handlung nad;
einer fo obfeuren Gegend wie Öftfriesfand (?) und einer fo
dunkeln Zeit wie da® Ende des 15. Jahrhunderts, läßt fie
wol ungeeignet zur Darſtellung eriheinen. (Der Gegenbeweis
ift bereits geführt worden.) Sie iſt indefjen gut gefchrieben,
gut angelegt und im ganzen eine verbienftliche Leiftung.“
A. Laun's Urbertragung der Gedichte von R. Burns (bie
wir nächſtens ausführlicher beiprechen werden) wird als vor-
trefflich gerihmt, jowol was die Wiedergabe der Melodie als
aud) des Sinne des Originals betrifft. „ine glättere Ueber-
jeßung oder eine, die fo gänzlich frei vom Unbeholfenheit wäre,
ift felten zu finden‘‘, fügt der Recenſent Hinz.
„Unfere Zeit", beißt es zum Schluß, „behauptet ihren
hohen Ruf, Towol die Mannichfaltigleit als auch die Genauig⸗
feit ihrer Belehrung über Gegenflände zeitgenöſſiſchen Intereſſes
anlangend ... Unter aubern Artileln von befonderm Intereſſe
mögen die fiber George Elliot, Demetrius den Betrüger als
dramatisches Sujet, die Philofophien Hartmann’s und Schopen-
hauer's, das große Nordlicht des vergangenen April und ben
Byron-Stowe-Streit genannt werden.”
Zu Hartmann’s von Aue „Gregorius".
Wie zweckentſprechend ſich die mit Erklärungen verfehenen
Ausgaben unſerer alten Dichtungen erweiſen, davon können
wir uns täglich mehr überzeugen. Ueber die Art und Weiſe
dieſer Erklärungen werben natürlich die Meinungen immer ge
theilt fein. Daß aber überhaupt die alten Werke nicht kahl und
dürr mehr Hinausgefandt werden, daß ein Anfang gemadt
wurbe, auch fiber den engern Kreis der Fachleute hinaus für
das Berſtändniß der einfligen Dichterſprache zu forgen und fo
biefe GSeiftesblüten für unſere neue Welt wieder zu erſchließen
und duftig zu maden, das ift und bleibt doch das hohe Ber-
dienft Kranz Pfeiffer's. Jetzt erfennt man erft, wie ſchwer es
it, Altdeutſches zu erklären. Entgegengeſetzte Anfichten über
einzelne Stellen werden num nicht mehr blo8 in der Stille ge
hegt oder vom Katbeder herab verkündigt, fondern fie drängen
ſich and an die Deffentlichkeit, nnd indem fie laut werden,
beifen fie mit zu immer tieferm Verſtündniß des Altern Deut-
fen. Die anregende Kraft der Bfeiffer’fchen Claſſikerſamm⸗
lung, die doch zunäcft bie Laien im Auge haben fol, bewährt
fi) nun auch inmitten des gelehrten Bade Um aus verfchie⸗
denen Wahrnehmungen dieſer Art nur eine herauszuheben, fo
wollen wir erinnern an einige Arbeiten, welche fidh mit der
Erklärung von Hartmann’ von Ane „Gregorius“ befaflen,
Feuilleton.
Lachmaun gab feine trefflihe Ausgabe ohne alle Zuthat, fie
lieferte blog den Tert. Später ließ er den Variantenapparat
folgen. Die Wörterbliher allein wurden auf die Erklärung
der Stellen geführt. Nachdem Fedor Bed den „Oregor' zum
andernmal edirt (im zweiten Theil der Werke Hartmann’s, dem
fünften Bande der Pfeifferihen Sammlung der „Deuticen
Glaffiter des Mittelafterg", Leipzig, Vrodhaus, 1867) und in
diefer Ausgabe das fchöne Gedicht jorgfäftig zu erflären der⸗
juht hatte, da wurde bald danad) der Tebhafte Widerſpruch
Iaut ſowol gegen Lachmaun wie gegen ben zmeiten Herans-
geber. Albert Höfer befehreibt in Pfeiffer’ (Bartic'e) „Gere
mania“ im Iegterjhienenen Hefte (vierzehnter Jahrgang, 1869)
eine Stelle im „Gregor“ und knüpft daran noch weitere Beer»
tungen zu dieſem Gedidt. Er uenut Bech's neue Ausgabe nach
Lahmann’s unvergleichlichet Arbeit die einzig nennenswerthe
teiftung für diefe Dichtung und ihm ſelbſt einen ausgezeichneten
Kenner des Mireibodpeutlen. Über wie freudig er feine Aus.
gabe aud) als cine vielfach Tehrreiche, fördernde Arbeit anerfenne,
jo finde er dennod eine Menge Stelen, in denen er feinem
Tert und bejomders feine Erklärung night gutheißen möchte.
Er gibt dagegen zu einzelnen Stellen ferne Auffafjungen zu
weiterer Erwägung ohne Anſpruch auf Unfehlbarkeit. Höfer's
Bemerkungen find alle wohlerwogen, manche beſſern entſchie -
den, andere werden ohne Zuftimmung bleiben. Jedenfalls ge-
ben fie zu weiterer Peifung Anlaß und werden bei einer zwei»
ten Auflage der Ausgabe Bed's, die wir von Herzen wünfden,
gewiß Berlidfihtigung finden, Auch Karl Bartſch gibt in dem⸗
jelben Hefte der „Germania Bemerkungen zu Bech's Gregor-
Ausgabe. Sind diefe zumeift Fritifher Natur , fo berüßren fie
mitunter aud) die Erffärung in fördernder Beife.
Bibliographie.
2 ei htfgreißer Tpiers, R
rate Kl nase an Werfen
er, — nnerangen und Misceilen aus dem
eldäuge. Wil en Bohn. Gr. &
echtin
äbessinischen
nbardl
des ie Berlin,
BR
une
aan Reise-Erianerungen aus dem Herbst 1868, Hannover, Hahn, Gr. 8.
Do in ge eilge Br, ms ben Handeld« Vertrag mit
——— Ruge Cr:
ART iR C
Eisstn, a Au ® Nr ee
Beinersdorf Gr. 8
Yo lmann, Br asia Otuart, Cine $ bonfarhigeaphilge Ort.
Bortan., bietet, Sail u. Sorabls
‚tstehung des Kantons St, Gallen,
Venuntersüchung Bar-
Herausgegeben vom histori-
schen Verein In Be En, ei * — —
Ebeling, 3 @., Fri nd © ft. Bein
„ Ba 5 — Bieten. ıRer
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8* RE m Berfaffer des Romance
et I, und Die Muder in "Bien. Res Di dies Def Men,
a
Glokan, Bir Aka iadls Festredo zur Feier des handertjährigen
Geburtstages Alezander’s v. Humboldt am 14. September 1869 gehalten,
Frankfurt a. M., Auffarth. 1869. 8. 10 Ngr,
Graeger, Ne» Sonnenschein und Regen und ihre Einfüsse auf die
ganze Schöpfung, "Eine populäre Witterangskunde für Nichtmeteorol
‚n. Mit einem Vorwort von H. W. Dove. Weimar, B.F. Volgt, Gr.
1 Thlr. 9 Nar,
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tovellen und
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1550. WBte, Serlin, ©. Deder- 8. 3 Ahr»
175
Tragöbie. Hamburg, Hoffmann u. Campe.
nyj, Mrinngrungen an Corfa in Sommer 1869. Wien,
Caermak. Gr. 8. ı TH
un —8 Kabine, alle ce Reupefaltung und politifge Debeu-
—* Seine, 5.8. Nat ven Kioferfarne. Sie, Mayer u. Comp,
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enge au Ninne von —— —A Br.
Germann, Kuiit Neion iger Mfronsimte. Refse, Eifer, Or
3 Au Die Veroneser Vergischolleu. Donaneschlagen.
offmann, &,, Blids in die feüßehe Gefdinte des gelobten Landen,
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— "pie eieintschen Vagantenfieder des Mittelalters.
Das Ziel der "Arbeiterbewegung. Rebe. Berlin, Cohn.
0, Ueber die aiederdoulschen Elemente in- unser
Berlin, Calvary u. Comj
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in hen Meere m Jahre 1866. Wien, Ge-
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S.I Luthers geben nd Wicten. Berlin, Her. Or. s.
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Stevore, G. , Biodlon sur Genchlckte der mischen Kalter, Aus
dem Nachlasse, er Väters herausgegeben von G. Gievra, Bazlin, Weid-
©. 8. ®. Gerigte and Grgähtungen. 2er Dd. uhes Heft,
Dis aan hiederdeutsche Bprichwärtersamehung von
A. Tunnleius gesammelt und in lateinische Verse übersetzt. Heraus.
gegeben mit hochdentsche orsetzung, Anmerkungen und Wörterbuch
von Thlr.
wort 9. Du, Ba de8 Oyrm v. Dismert,
iebenti
yad ihre, philosophischen Gegner
dargestellt und beurtheilt. heipsig, Dürrsche Bach. 3, 13 Ngr.
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— — —
verlag von S. N. Brockhaus in Leipzig.
Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur
des 18. und 19. Jahrhunderts.
Neue, ſchön ansgefattete, correcte Ausgaben der
Schäte ber dentſchen Nationalliteratur,
von den angejehenften Schriftftellern der Gegenwart heraus⸗
gegeben mit Einleitungen und Anmerkungen.
Unter Mitwirkung von
Sartſch, Biedermann, Buchner, Carriere, Wünper, Ebeling,
Stengel, Gervinus, Gordehe, Goltſchall, Heiner, Möhler,
Hermann Kurz, Mar Milller, Moriß Müller, Oeflerlep,
Pfeiffer, Rücert, Inlian Schmidt, Carl Schwarz, Tittmann,
Zöllner und Andern.
Soeben erſchien der 28. Band:
Mofes Mendelsſohn's Phädon und Yerufalem Mit
Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von
Arnold Bodek.
Die frühern Bände (1—27) enthalten:
Schleiermacher's Reden über bie Religion, von Carl Schwarz;
Klopftock's Oden, von Dünger;
Mufänd' Volksmärchen, von Moritz Miller (Doppelband);
Kortum's Sobfiade, von Ebeling (Doppelband) ;
Eruſt Schulze's Bezauberte Rofe, Poetiſches Tagebuch, von
Tittmann;
Leſſtug's Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan, von
Hettner;
Wieland's Oberon, von Köhler;
Maler Müller's Dichtungen, von Hettner (zwei Theile);
Kürner’d Leier und Schwert, Zriny, Rofamunde, von
Gottſchall;
Forſterns Anſichten vom Niederrhein, von Buchner (zwei Theile);
erderis Eid, von Julian Schmidt und Karoline
Michaklis;
Senme's Spaziergang nach Syrakus, von Oeſterley;
Wilhelm Müller's Gedichte von Mar Müller (zwei Theile);
Goethes Fauſt, von Carriere (zwei Zheile);
Bürger’8 Gedichte, von Tittmann (Doppelband);
Herder'3 Ideen zur Gedichte ber Menfchheit, von Julien
Schmidt (3 Bände);
Voß' Luiſe, Idyllen, von Goedeke;
Schleiermacher's Monologen, Die Weihnachtsfeier, von Carl
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Blätter
literarifhe Unterbaltung.
Herausgegeben von. Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
ee Ar, 12, 9
17. März 1870,
Iuhalt: Zwei neue Romane. Bon Rudolf Gottihent. — Philoſophiſche Schriften. Bon Karl Bortlage. — Militärifher
Büdertifh. Bon Karl Suſtav von Bernet. — Feuilleton. (Der Abgeordnete Braun nnd bie Autorenrechte.) — Bibliographie. —
Anzeigen,
Zwei nene Romane.
1. Im goldenen Zeitalter. Roman in vier Büdern von
ae Ener Bier Bände. Hannover, Rümpler. 1870.
2. Ein Arzt ber Seele. Roman von Wilhelmine von
Hillern, geb. Bird. Bier Bände, Berlin, Janke. 1869.
8. 2 Thlr. 20 Nor.
Bir haben Hier zwei Romane, gewandt in ber Form,
geiſtreich im Inhalt, vor uns, ber eine ein hiftorifcher,
der andere ein focialer Roman, beide dazı geeignet, das
Weſen der Gattungen, die fie vertreten, in klares Licht
zu jegen.
Karl Frenzel ift ein feinfinniger Geift, wie feine
Kritifen und Efjays beweifen, und dieſer feinfinnige Geift
fpiegelt ſich auch in feinen Romanfchilderungen, in ber
Anmuth der darftellenden Form, in der Imnerlichleit der
Charaktere, in der Fülle und Tiefe der Beziehungen.
Der hiſtoriſche Roman getvinnt unter feinen Händen eine
eigenthümliche Geftalt.
Wir haben vor kurzem Rodenberg's Nomen „Yon
Gottes Gnaden“ beſprochen, einen Roman, der in allem
Weſentlichen der Schule Walter Scott's angehört, reich
an Leben und Bewegung, an farbenveichen gefchichtlichen
Zableaur, einen Roman, ber feine Cirfel anfegt im
Mittelpunkt der englifhen Revolutionsgeſchichte und for
dann die Peripherie beſchreibt. Die Thatſachen felbft
treten mit Ienchtenden Zügen in den Vordergrund, unbe»
ſchadet der bichterifchen Erfindung, welche die Spannung
an freigejchaffene Geftalten Inüpft.
Die Mufe Frenzel's und der Stoff, den fie gewählt
hat, find von anderer Art. Das geſchichtliche Tableau
ift nit die Domäne des Dichters, er fchildert keine
Schlachtbilder, Teine Parlamentsfcenen, Teine Hof» und
Staatsactionen; es ift bie geiftige Signatur des Zeitalters,
die er mit feinen Zügen und Arabesten ausarbeitet, ohne
daß jeine Muſe in eine todte Schildermalerei verfällt.
Große Männer des Zeitalters, wie Kaifer Iofeph, treten
in dem Roman auf; aber nicht ihre Thätigfeit als Stants-
1870, 12,
männer, ihre Gedankenwelt wird von ber Tadel ber
Dichtung beleuchtet.
Das goldene Zeitalter — es ift das Zeitalter ber
Träume, der Ideale, der Weltverbefferung! Fürſten,
Ariſtokraten, Denker und Prediger, Bürger und Mädchen
fühlen ſich angeweht wie von einem Frühlingshaud der
Zukunft — und noch denkt man fi den Frühling und
den Frieden zufammen. Nur der vifionaire Bicomte
ahnt, daß jener unter Gewitterftürmen über die Menſch-⸗
beit hereinbrechen wird.
Der Borzug des Romans befteht in biefem Hauch ber
Stimmung, der ebenfo einheitlih wie anmuthend und
bebeutfam über dem Ganzen ſchwebt. Wir fühlen dies
ahnungsvolle Weben der Geifter noch, obſchon wir langſt
bie Enttäufhungen der Geſchichte durdhgefoftet und er«
fahren Haben, daß dieſem Traume bes goldenen Zeitalter
ein eifernes gefolgt ift, und daß das goldene nad) wie vor
nur in den Träumen edler Geifter Iebt.
Um dieſe Einheit der Stimmung aufrecht zu erhalten,
darf fein gewaltfames Ereigniß der hiſtoriſchen Chronik
in den Rahmen des Romans treten, obwol bie Ver«
widelungen in ben focialen Berhältniffen der einzelnen
Perſonlichleiten hier und dort zu gewaltfamen Kataſtrophen
führen. Doch die Eonflicte der Hauptperfonen finden
eine friebliche Töfung, wenn and) der Roman am Schluß
noch manchen Wechfel auf die Zukunft ausftellen muß,
über deffen Verbleiben und Accept wir nur Vermuthun-
gen hegen können. Im der That erinnert diefer Roman
an eine Gedankenſymphonie, in welder ſich alles dem
Grundton entſprechend auflöft.
Der geſchichtliche Held bes Romans iſt Kaiſer Joſeph,
fein Ideaiheld Graf Erbach. Beide Männer find eng
miteinander befreundet; es find die Vorfämpfer des gol«
denen Zeitalters in der wiener Burg und auf bem böh⸗
miſchen Schloffe. Man mag ber Idenlwelt des Fürften
und bes Adelichen die ungewiß verbämmernden Umriffe zum
23
PR BE
178
Borwurf machen; dennoch treten hinlänglich marlirt einige
geiftige Axiome bderfelben hervor: der Kampf gegen geiſt⸗
lihe Unduldſamkeit, das Evangelium der Menſchen⸗
rechte, welche keiner Kafte das Vorrecht laſſen, die andere
unglüdtih zu machen. Was aber die Freiheit des Her-
zens betrifft, die wol auch zu dem goldenen „Credo“
gehört, fo bleiben die Verhältniffe, in denen fie ſich ſpie⸗
elt, am meiften ungelöft, und die Rückkehr zum Beſte⸗
enden, welches durch Misverftändnifie erfchüttert wurde,
ftegt über die freiere Neigung, welche neue und lodenbe
Ziele gefunden bat. Hier treffen wir auch diejenigen
Stellen bes Romans, hinter welche man einige Fragezeichen
fegen möchte. Die fehöne Gräfin Corona von Thurm
vertritt in ben Roman die „Freigeiſterei der Leidenſchaft“ —
fie entflieht dem väterlichen Schloffe mit einem Sänger
Roſſi; dann bietet ihr der Graf Erbach, der von feiner
Frau getrennt lebt, ein Afyl auf feiner Befigung; es
entwickelt ſich eine zarte Neigung zwilchen beiden, welche
fi) durch den ganzen Roman Binzieht, aber fiir Corona,
die in Paris durch ihren Gefang Enthuflasnus erregt
bat und fih am Schluß ganz der Künftlerlaufbahn wid»
met, ohne Erfolg bleibt, da der Graf fi) mit feiner
Gattin wieder ausfühnt.
Offenbar gehört Corona Thurm zu den problemati-
[hen Naturen; aber der Dichter lüftet doch zu flüchtig
und aud zu fpäüt den Schleier ihres Innern. Kaum
auf dem Schloß des Grafen angelommen, ift ihre Nei⸗
gung zu dem Sänger, mit dem zuſammen fie in die Welt
binauswollte, fo gut wie erlofchen; kaum ein leiſes
Nachzittern jener Empfindungen, bie doch furz vorher fo
mädtig waren, daß fie einen kühnen Entſchluß bervor-
riefen. Die Lefer aber felber find durch eine etwas
gewaltthätige Expofition, durch Entführung und Degen-
flirten, in jene antheilvolle Stimmung verſetzt, deren
bochgehende Wellen fich nicht fo Leicht wieder beruhigen
laffen. Corona’8 Herz erfüllt auf einmal ein anderes
Bild, das des Grafen Erbach; das Bild des Sängers ift
wie ausgelöfcht in ihrem Herzen, in dem Roman felbft,
fein ſpäteres Auftauchen nur ein epijodifches, und erft in
legten Bande, nach dem Wieberfehen mit Roſſi, gibt der
Autor einige nachträgliche Aufklärungen.
Diefer Mann — nein, fie hatte ihn nie geliebt. Seine
Erzählungen von dem freien Leben eines Künſtlers hatten ihre
findifhe Phantaſie entzündet, in ihr ödes Dafein auf dem
Schloß der Großmutter fiel von einer geheimnißvollen, unbe-
fannten Welt, der Bühne, ein magifher Schein. Blindlings
war fie diefen Schimmer gefolgt. Tagelang, wodenlang hatte
Antonio mit feiner Einwilligung in ihren Plan gezögert
und ihr das tollfühne Beginnen auszureden verfucht, endlich
trieb ihn ihre Leidenjchaft vorwärts, aud) er wurde von dem
Schwindel halb der Liebe, halb des Ehrgeizes ergriffen, der fie
bewegte. Wo waren dieſe Zeiten ber Thorheit und der Hoff«
nung! Wo fie zufammen Luftſchlöſſer gebaut und überall vor
ſich Lorbern und Rofen fahben! Dem kurzen Rauſch war die
Ernüdterung nur zu bald gefolgt.
Selbſt in diefen verfpäteten Enthüllungen wird man
die ſchärfere chronologifche Beftimmung vermiffen. Wann
folgte die Erniichterung auf den furzen Kauf)? Wann
drängte das Bild des Grafen Erbach die Neigung zu dem
Fünftler in den Hintergrimdb?
Dieſe verduftende Zeichnung der pfychologifchen Con⸗
touren möchten wir auch der Neigung bes Kaifers Joſeph
Zwei neue Romane. ®
zu der Gräfin Renata Erbach zum Borwurf machen.
Die geheinnigvolle Begegnung in Venedig wird zwar
jpäter genügend aufgeklärt; aber wir möchten der Dar-
ftelung doch auch hier einen Feder zugreifenden Ton
wünſchen, dies Yeolsharfenfpiel der Empfindungen ver-
zittert in einem zu feinen Aether, nicht blos für ben
Geſchmack des großen Lefepublilums, fondern auch für das
berechtigte Bedürfniß der Bhantafie, an ſchärfer ausgepräg⸗
ten Situationen einen Anhaltspunkt für pfychologifche
Entwidelungen zu finden.
Etwas anderes ift e8 mit der Liebe ber Verwalters⸗
tochter Hedwig zu dem Kaiſer, eine ehrgeizige Neigung,
die manche anfcheinende Ermuthigung findet und von einem
Jeſuiten zu nicht vollkommen Haren Zwecken benugt wird.
Diefe Träumereien über eine unansfüllbare Kluft hinweg
erregen unfere Sympathie, und wenn fie fi am Schluß
in einer foliden Ehe mit einem tüdjtigen Dann beruhi-
gen, die halb und halb auf Kabinetsbefehl gejchloffen wird,
fo finden wir dies begreifiih und den Charakteren und
Situationen angemeffen.
Wenn wir auf dem ©ebiete der Herzensneigungen in
biefem Strome den allzu ätherifhen Platonismus, eine
zu duftige Weinfühligfeit, ein ebenfo launen- wie nebel»
baftes Auf» und Niederwogen ber Empfindungen, ohne
die durchfchlagenden Blige großer Leidenſchaften und ihre
innere Nöthigung, nicht billigen können, fo werben wir
dafür wieder durch eine Fülle höchſt lebendiger Schil⸗
derungen entjhädigt, welche Lebenswahrheit mit gejchicht-
licher Treue verbinden und meiftens auch geiftig bebent-
fame Berfpectiven eröffnen. Namentlich enthält der zweite
Band manches Cabinetsſtück in der Rococomalerei, ein
Gebiet, auf welchem ſich Frenzel bereits in feinem
„Watteau“ als Meifter gezeigt hat. Marie Antoinette
und die Dubarri, der Salon im Pavillon von Luciennes
und das Hoffeft in Trianon, die dunkeln Erinnerungen
der Yamilie Blanchard und des Vicomte von Rochefort
myfteriöfe Prophezeiungen, in denen die hereinbrechende
Revolution fi ankündigt — das alles zufammen bildet
ein lebensvolles Gemälde, wie e8 nur ein ebenfo gefchichte«
fundiger wie feinfinniger Autor entwerfen Tann.
Im dritten Bande ift das Fer auf dem Schloffe des
Grafen, der Brand, der Tod bes Sektenpredigers Mra⸗
fotin von lebendigem Intereſſe, der Bauernfohn Zdenlo,
eine Yigur von fcharfer Zeichnung, in welcher fich flawifche
Volkseigenthümlichkeit und wilde Charafteranlage vermifchen.
Im vierten Bande ift die Wahrfagerfcene wol etwas
zu theatralifch arrangirt; die Duellfcene dagegen padend,
Der Bicomte, der als Rächer des verführten Bürgers
mädchens den ſtolzen Ariftofraten, den Grafen Aremberg, im
Duell niederftößt, erſcheint als Vorkämpfer ber Revolution,
deren Prophet er ſtets gewefen.
Wir jehen, es fehlt dem. Roman keineswegs an Bes
wegung, Leben und Handlung, wenn auch die Liebe in
bemfelben mehr Fühl und geiftig auftritt. Die Darftellung
felbft ift von einer Feinheit und einem Abel, welche ge⸗
genüber dem weitverbreiteten Maculaturftil belletriftifcher:
Schriften warme Anerkennung verdienen. Ueber den
landſchaftlichen Bildern zittert ein ſtimmungsvoller Haud);
der geiftige Inhalt in den Gefpräden und Beftrebungen.
der Hauptcharaktere ift ein bebeutfamer, Es iſt ein
Zwei neue Romane. 179
geiftreicher Zug, daß der Luftſchiffer Blanchard mit in die
Handlung verwebt ift — eine feine Ironie auf die geiftige
Luftſchiffahrt, anf die Flugverfuche der damaligen Menſch⸗
beit, auf das hoffnungsvolle Streben ins Unermeffene.
Die Helden des Romans find die „Ritter vom Geiſt“
des 18. Jahrhunderts; Kaifer Joſeph I. ift der Artus
dieſer Tafelrunde. Ruft doch der Graf Erbach jelbft
begeiftert aus:
Es gibt in dieſer Zeit eine große Verſchwörung.
Nicht um einen Tyranneu zu tödten oder einen Fürften zu
ronen, nein, um das Reich der Wahrheit und der
Beruunft aufzurichten; wicht von Brieftern, Schwärmern
und — nein, von den edelſten, weiſeſten und
tugendhafteſten Männern aller Völler. Ein Bund der Men⸗
fchenliebe umſchlingt unfichtbar die im hohen Norden und bie
am Meer des Südens wohnen. Hoffnungen eines ewigen
Friedens dämmern in allen auf. Und an der Spitze biefer
Berbrüderung, wir fagen es mit Stolz, fteht ein Kaifer! Hört
es, ihr Nachkommen, die ihr diefem Jahrhundert der Aufflärung
nud der Bhilofophie euere Bildung und Freiheit, euern Wohl«
Hand und ener Recht verbanten werdet, ein Kaifer war ber
Mitverfhworene einer fchönern Zukunft! Auf dem Schlachtfeld,
dank der gütigen Gottheit, follten ſich Joſeph und Friedrich
nicht begegnen; Hand in Hand, unzertrennlich werden fie in der
Walhalla deuticher Helden ftehen, die Mitverſchworenen flir die
Freiheit der Menfchheit!
Auh das Reformprogramm für das öfterreichifche
Kaiſerthum ſpricht Graf Erbach aus:
Gelingt es Ew. Majeſtät nur, die Grundlagen des neuen
Staatenbaues zu legen, dann bleibe die Bbeiterführung ruhig
der Zuknuft Üüberlaffen! Wenn der Kailer es will, haben wir
eine Reihe Friedensjahre vor ums, welche viele innere Schäden
heilen und Quellen des Wohlſtandes eröffnen werden. Möge
jeder in Defterreich .offen feinen Glauben befeunen und die
Sottheit in feiner Weiſe verehren dürfen! Mögen die unbilligen
Borrechte, welche bie Stände voneinander trennen, fallen, und
ein gemeinfames gleiches Recht den Höchften wie deu Niedrigften
binden und ſchützen. Diefe Berbefferungen Tiegen im Sinne
ber Zeit, mit Jubel werben fie von der allgemeinen Stimme
aufgenommen werben. Bon Sefjel befreit, werden die Arbeit
und der Handel beflgeltern Schrittes dahineilen, wüſte Streden
urbar machen, Moore austrodnen, Heiden in. Saatfelder ver-
wandeln und die engen Thore der Städte öffnen, damit der
unabfehbare Zug ſchwer und reich mit den Schägen des Oſtens
beladener Wagen feinen ftattlihen Einzug halte. Mit goldenen
Zügeln lenkt Gott Mercur die Roffe, aus dem Horn des Ueber-
— verſtreut der Reichthum ſeinen Sam. und über ihnen
It das Luftſchiff durch das Meer der Wollen,
Auch das den Titel erläuternde Programm des Werks
iR in den Mund Erbach's gelegt:
Offenbar fiehen wir im Beginne eines neuen Zeitalters;
das eiferne neigt fich feinem Ende zu und ein neuer Weltentag
fängt wieder mit dem goldenen an. Zu neuem Fluge fpannt
Phoͤbus Apollo feine Sonnenroffe an, ihm voranziehend firent
der Friede, von Mufen und Orazien im bolden Tanz begleitet,
feinen Weg mit Blumen, In reihlichern Segen erblüht Feld
und Flur, feſtlicher jhmüden fi die Städte. Die alten Bor-
urtheile fallen, über die tiefften Abgrlinde fpannen ſich Zauber.
brüden. Und wen verdanken wir diefe glüdlihe Wandlung?
Der Raturwiffenfhaft, der aufflärenden Philofophie. Leber
dem Portal des neuen Jahrhunderts fieht gelöeiben: tage es
zu denfen, wage e8 ein Menſch zu fein! Die Rückkehr zu der
reinen unverfälihten Natur, zur Verbrüderung der Menfchen
und zu der Naturreligioun . . .
Der Raifer ſelbſt tritt vielfach intereffant hervor ala
geiftreicher Kopf und ein Mann ber feinften Intentionen.
Daß es im Roman dabei bleibt, ift um fo weniger auf-
fallend, als es auch ja in der Geſchichte bei den Inten⸗
tionen blieb und die Verwirklichung derjelben auf zahl
reihe Hinderniffe ſtieß und ſchmerzliche Enttäufchungen
zur Folge hatte. Unbefchabet der feinfinnigen Eigenthüm-
lichkeit Karl Frenzel's dürfen wir dod auf einen Autor
hinweifen, an deſſen Darftellungsweife die feinige erinnert,
was die Fülle geiftreicher Bezüge, die mehr imeinander«
gewebte ald im eigentlichen Fluß ſich ergießende Erzäh—
lung und die einzelnen funkelnden Sentenzen betrifft,
die in dieſem Gewebe oft an unerwarteter Stelle hervor⸗
f[himmern: wir meinen Karl Gutzlow, der in feinem er⸗
ften Hauptroman ja ebeufalls die Strebungen der beweg⸗
ten Zeit nad) einem golbenen Ziele ſchilderte, Beftrebun-
gen, die kaum zu Thaten werden.
Wenn wir neben dem hiftorifchen Roman den focialen
betrachten, der vor uns liegt, fo fehen wir, daß wir
ebenfalls in einem goldenen Zeitalter uns befinden, welches
dur die eiferne Gegenwart hindurchſchimmert, einem
Zeitalter der Luftfchiffahrten und Flugverfuche auf dem
Gebiete der Frauenemancipation, welche den geiftigen Kern
des Romans der Frau Wilhelmine von Hillern bil-
det (Nr. 2). Als wir den erften Roman der geiftvollen
Säriftftellerin: „Doppelleben” (vgl. Nr. 37 d. Bl. f. 1866),
beſprachen, wiefen wir ſchon darauf hin, daß die begabte
Tochter, die von ihrer Mutter das Talent für die Technik
der Production und die gewandte Führung der Hand»
lung everbt Habe, fich wefentlich durch ihre Beftrebungen,
gedankenvolle Probleme darzuftelen, von ber mehr ftoff-
artigen Productionsweife der erftern unterſcheide. Noch
mehr als in jenem erften Roman tritt dies Beftreben in
dem vorliegenden zweiten hervor, ber überdies einen un⸗
beftreitbaren Fortfchritt bekundet. Denn wenn die Dar-
ftelung des Doppellebens in dem erften Werke eine
allzu äußerlich |pecialifivende war, welche die zwei Seiten
eines Charakterd einander mit einer die höhere Einheit
verleugnenden Selbſtändigkeit gegenüberftellte, fo ſehen wir
bier in der Bruſt der Heldin die zwei fich befämpfenden
Factoren nicht als fertige Geftalten in wenig glaublicher
Weiſe fymbolifirt, fondern im Entwidelungsgange und
Kampfe begriffen und dabei durch eine höhere Einheit.
des ganzen Charakters motivixt und feftgehalten. Und in
der trogigen und abjonderlichen Eigenart des geiftig be-
deutenden Charakters zeigt fi) wieder die Tochter ihrer
Mutter, welche die „Jane Eyres” und „Grillen“, wenn
fie diefelben auch nicht urfprünglich erſchuf, doch für die
Bühne zu acclimatifiren liebte.
Diefe Erneftine ift in der That eine intereffante
Frauengeſtalt, deren pfychologifche Entwidelung von Haus
aus mit innerer Wahrheit gezeichnet if. Mishandelt von
einem Franken Vater, der fie fogar enterbt hat und nur
auf dem Zodtenbette dazu beftimmt wird, fie wieder zur
Erbin einzufegen; von einem Heimtüdifchen Onkel, der
fich ihres Vermögens bemächtigen will, mit Aufopferung
ihrer Gefundheit zu einer einfeitigen Gelehrten erzogen;
zu ftolz, ihre geiftige Richtung ihrer Liebe zu opfern,
wird fie zulest durch die Noth des Lebens und die un⸗
befiegbare Neigung zu dem Geliebten, dem Arzt ihrer
Seele, geheilt. Der verbrecherifche Onkel ift durch eben
diefen Arzt entlarot worden und bat fich felbft das Leben
genommen.
23 *
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..
180 Zwei neue Romane,
Die Hanptfrage bei jedem derartigen Roman, defien
Angelpunft eine in die Zeit eingreifende Tendenz bildet,
ift offenbar, wie fi die Erzählung zu biefer Tendenz
ftellt. Die Antwort ift Hier eine zuweifellofe; die Ver⸗
fafferin verneint die Frauenemancipation am Schluß,
nachdem fie fid) vier Bände lang mit berfelben bejchäftigt
bat, und befchenft uns mit einer Entbindungsanzeige ihrer
Heldin, welche fie felbft contrafignirt als ein Beweis⸗
ſtück ihrer Heilung von geiftiger Erkrankung. Das Ende
der Emancipation ift die Wochenftube.
Die Löſung des Problems ift natürlich in die Hand
des Autors gegeben; wol aber muß die Stellung und
Faflung eine Hare fein — und dies vermiflen wir in dem
vorliegenden Roman. Es gibt eine doppelte Frauen⸗
emancipation: die erfte war an der Tagesordnung zur
Zeit der freigeiftigen Bewegungen des vierten und fünf
ten Iahrzehnts unfers Jahrhunderts, al8 ber Saint-Simo»
nismus das „freie Weib“ verherrlichte, pere Enfantin
bie freie Liebe predigte, George Sand die Ehen und Mis-
ehen analyfirte und die jungdeutjche Literatur in ihren
Ditbyramben die „Emancipation des Fleiſches“ verkündete,
Ein Abſchnitt in unferm Roman, der diefen Titel trägt,
führt uns eine epifodifche Geftalt vor, die Gräfin Wor⸗
ronsla, die als Bertreterin ſolcher Emancipation hin⸗
geftellt iſt — ein geniales Kraftweib, ſlawiſch amazonen-
baft, fiegegewiß, eine jener Seftalten, welche gleichſam
ein beftimmtes Rollenfach in den deutfchen Romanen beflei-
ben und auch in den Dramen, wie 3. B. Freytag's „Graf
Waldemar“ beweift, heimifch find, Die Berfaflerin gönnt
diefen Kraftproben üppiger Weiblichkeit indeg nur einen
befcheidenen Raum; die Hauptthat der Gräfin ift, daß
fie mit ihrem Biergefpann ein Dorflind überführt; ihre
Liebe zum „Arzt der Seele”, der feine Luft Hat, ihr an
den Puls zu fühlen, ift eine unglückliche. Ihr Beſuch
bei der Pertreterin der geiftigen Emancipation, Erneftine,
gibt Veranlaffung, die entgegenftehenden Anfichten geift-
reich zu erörtern. Die lebendluftige Gräfin jagt zu ber
gelehrten Dame:
Sie Halten meine Anfichten für unmoraliſch. Was aber
it unmoraliſch? Was den Gejegen der Natur am nächſten ent-
ſpricht? Welche Moral Hat das Thier? Keine, und deshalb if
es ſtraflos. Es gehorcht dem Geſetze, weldes Sie ale Natur-
forfcherin für das erfle, höchfte halten müſſen. Die Aſceten
fagen, die Moral jei nothwendig, um die Ordnung zu erhal
ten, ohne welche das Chaos wieder hereinbräche. Ich frage
Sie aber: IR in dem Reich der Thiere das Chaos? Sind nicht
die NRaffen eingetheilt in fireugfier Ordnung? Hat nit und
bewahrt nicht jede ihre Eigenthlimlichkeiten? Bleiben fte nicht
untereinander fireng gefchieden? Sucht der Löwe die Hyäne,
würde die Tigerkatze den Schakal nicht zerreißen, der fich ihr
nahen wollte? If das nicht eine unerſchütterliche Geſetzlichkeit?
Und fo würbe e8 and) bei den Menfchen fein. Das Edle würbe
fi) doch fletS dem Edeln verbinden, wie da8 Gemeine dem
Gemeinen, Ueber dem Ganzen maltete nur die Liebe, und alle
Unflttlichleit des Zwangs, der Convention, ber Lüge und
Heuchelei fiele weg. Wäre das nicht eine ſchönere Welt? Und
glauben Sie mir: auch eine befiere! Im dem Bewußtſein, daß
ein gejegficher Zwang die Gatten mehr aneinauderbindet,
müßte fich jeder da8 Herz des audern durch verboppelte Gfite
und Aufopferung zu erhalten ſuchen — die Menſchen würden
gefälige, felbfiverlengnender gegeneinander, und der Geift wäre
efreit mit der befreiten Sinnlichkeit; find wir doch, folange
unfere Wahl gebunden if, geiſtig gefnechtet! Und haben benn
nicht auch die Männer das Vorrecht der freien Wahl flir fi
in Anſpruch genommen? Binden fie fi an Geſetze? Mo if
der, welcher nicht öffentlich oder heimlich an ihnen fündigte?
Uns nur, uns fieht feine Entfcheidung zu — wir nur follen
eine Sache fein, die befeffen wird, ohne zu befigen. Wir follen
erhaben fein über das Bedürfniß des Wechſels, das jedem
Menſchen angeboren ift, Über die Anforderungen des Geſchmadcs,
der Leidenfhaft, über alles, nur nicht über den Mann! Gr
fordert von uns Siege Über die Natur, die ihm zu ſchwer
würden, aber gänzlicye Unterwerfung unter feinen Willen: und
das, meine Theuerfte, das fol eine gerechte Weltordnung fein?
Nein, das können ſelbſt die nicht behaupten, welche nie bie
Grauſamkeit folder Anforderungen an ſich jelbft empfanden!
Sat nicht die fortfchreitende Cultur die ruſſiſche Leibeigenfchaft
aufgehoben? Und bie traurigfle von allen, die allgemeine Leib⸗
eigenfchaft bes Weibes, follte fortbeftehen? Nein, wenn Sie
nicht für fich ſelbſt jene Rechte freier Wahl, perjönlicher Selbft-
beftimmung erftreiten wollen, für welche Frauen mie eine
Luiſe X... . kämpfen — fo thun Sie es für die Zanfende
armen Schwachen, welche ſich an jener verkehrten Moral ver⸗
uten!
Auf dieſen Dithyrambus lautet die Antiſtrophe der
geiſtig Emancipirten:
Und wenn ich das thäte, fo kämpfte ich für den Berfall
ber Menſchheit! Ich will nicht Über die Berechtigung einer Moral
mit Ihnen ftreiten, die Sie nicht verſtehen — ich will Ihnen
die Nothwendigfeit derfelben beweifen, über bie Sie noch wenig
nachgedacht zu haben ſcheinen. Diefe läßt fi in einem einzigen
orte ausfpreden: Moral ift Maß — wo fie fehlt, da erfchöpfen
fich alle Kräfte in Maplofigleit, denn das Maß ift das Erhal⸗
tende in der Natur wie ım Leben. Sie bliden mid verwun⸗
dert an — Sie verfiehen mid nit. Ih kann Sie nit in
einer Stunde die dunkein dornenvollen Pfade führen, anf welden
ich mich zur Erkenntniß emporgerungen Babe, unb weiß daher,
daf ich tauben Obren predige. Aber Sie forderten mic her»
aus — haben Sie es denn! (Erneftinens Wangen begannen in
edelm Zorn zu erglühen.) Es wirbt ein jeder Genoffen für
feine Sadje, drum fei es Ihnen verziehen, daß Sie den Frie⸗
den einer reinen Seele zerftören, daß Sie Gift in ein ſchuld⸗
fofes Herz träufeln wollen. Möge e8 Ihnen überall fo mis⸗
fingen wie bei mir! Ich will es glauben, daß es der Faua⸗
tismus Ihres Irrthums ift, der Sie fortriß, nicht die ten
liſche Srende, mich, die Ihnen nichts zu Leide gethan, im Ihren
Abgrund mit Hinunterzuziehen! Aber, Frau Gräfin, meld) furdt-
barer Irrthum ift es, an den Sie Ihre Kraft, Ihre Herrliche
Begabung vergeuden! Ich Tenne ihn. Glauben Sie nicht, daß
Sie mir etwas Neues fagten, es iſt die alte abgebrofchene Phi⸗
loſophie der Lüſternheit. Es ift das Entlarven ber eigenen
Begierden, alles befien, was der Menſch, wenu nicht um der
Sitte, fo doch um der ewigen Schönheit willen verbergen follte,
weil es häßlich if, wenn Sie es nicht unfittlih nennen wollen!
Diefe Grundfäge find es, welche dem Worte „Krauenemanci«
pation“ einen ewigen Schaubfled aufgedrückt haben. Genug!
Erfparen Sie mir das nähere Eingehen auf ein fo efelerregen-
des Thema. Ich kenne es genugfam, um barliber zu urtheilen,
denn ich hatte ale Mitlämpferin file unfere Rechte den Wunſch
und die Pflicht, alles zu prüfen, was von feiten meines Ge-
ichlechts zu feiner Erhöhung gethan worden if. Aber mit tie
fem Schmerz Habe ich gefehen, wie fehr alle Wege, die jene
Frauen einſchlugen, von dem meinen abwichen, wie wenig fie
ihre eigene Würde verfichen. Was fle Erhebung nennen, if
Entartung, was fie frei machen fol, madt fie frech — ihre
Offenheit wird zur Schamlofigkeit — was fie als Entledigung
unwürdiger Bande bezeichnen, erfcheint mir ale Zligellofigkeit!
Was thun, was leiften fie, um fich der Rechte, die fie fordern,
würbig zu zeigen? Sind Spielereien wie Cigarrenrauchen und
Piftolenfchießen die Attribute unſerer Größe? Und die Rechte
ſelbſt, die fie fordern, wie flieht e8 damit? Was will diefe Luiſe
A....? Was wollen diefe Frauen, die wie Theaterheldinnen
auf der Bühne des Lebens einherftolziven und die Welt erfüllen
mit dem Zetergeſchrei ihrer unverftandenen Herzen? Pfui Über
fie! Sie rolixbigen fih zu SHavinnen berab, indem fie fi
emancipiren wollen, zu Sklavinnen ihrer Begierden, alfo der
Zwei neue Romane.
Männer, denn ihr ganzer Bombaft von Befreinngsphrafen gilt
ja nur dem ungeſchmälerten echte des Verkehrs mit dem an⸗
bern Geſchlecht!
Es ift dies unzweifelhaft die Anficht der Verſaſſerin,
der Emancipation des Fleifches wird ein für allemal die
Zhür gewiefen und die Smancipation des Herzens, die
body keineswegs mit ihr zufammenfällt, in ihren Sinden-
fall mit verwidelt. Liegt indeß in diefen von allerlei baroden
Arabesten überwucherten Theorien fein gefunder Stern?
Iſt die Emancipation perfönlicher Neigung vom focialen
Zwang fo gänzlicd, unberechtigt? Können wir uns nicht
auch andere Inſtitutionen benfen al8 diejenigen, welche
jet bei uns den Verkehr der Geſchlechter regeln? Daß
biefe Inftitutionen fo verfchieden find auf ber ganzen Erde,
bei den verſchiedenen Bölfern, daß fie ſich vielfach ge-
wandelt haben im Laufe der Zeiten, zeigt wol, daß fie
auch in Zukunft fi) wandeln werden. Und da bie ganze
Entwidelung der Menjchheit auf eine höhere Harmonie
zwifchen dem einzelnen und der Gefellfchaft hindrängt, jo
wird jene Wandlung fi in einer Weife vollziehen, welche
der Eigenheit der Naturen größern Spielraum gewährt,
ſoweit feinem andern Willen dadurd) ein Zwang angethan
wird. Solange wir neben den Ehegefegen die Proſtitu⸗
tionsregulative haben, Tünnen wir nicht von einer doll»
kommen harmonischen Drganifation der Gefellichaft ſpre⸗
hen, welche derartige Reformgedanken überflüfftg machte.
Frau von Hillern freilich ift anderer Anſicht, ihre
Sräfin Worronska wird fo fiegreihh von ihrer Heldin
aus dem Felde gejchlagen, daß ihr nichts Übrigbleibt, ale
in der Ferne zu verdämmern; fie verliert in Petersburg
bei einem Wettrennen das Teben. Muß denn die „Eman«
cĩpation des Fleiſches“ gerade Kinder überfahren und hals⸗
brediende Künfte treiben? Friedrich Schlegel’8 Lucinde
that uichts von beidem; dieſe Vertreterin vomantifcher
Smancipation, welche die Vereinigung von Trägheit und
Wolluſt Iehrte, brauchte nicht auf einem Viergeſpann ein«
berzufahren, ihr gentigte ein Sofa als Piedeftal. Die
Söttinnen der Liebe und Wolluft find keine Amazonen.
Doch aud) gegen die Emancipation des Geiftes Legt
unfere Verfaſſerin fchlieglih Proteſt ein; hier aber fehlt
es der erfundenen Fabel an Beweisfraft. Muß denn eine
Stan, welche ihren Geiſt zu bilden und von Vorurtheilen
zu befreien fucht, nothwendig in einer fo einfeitig ver⸗
Schrobenen Richtung erzogen werden und dabei ihre Ge-
fumdheit ruiniren wie Erneftine? Laſſen ſich überdies wif-
jenfchaftliche Weberzeugungen durch Lebensfchidfale wider⸗
legen? Iſt die trogige, wiflendeifrige Heldin nicht bei
weiten interefianter als die zum „ewig Weiblichen‘‘ be-
kehrte, und lohnt e8 fo vieler Mühen, um zu bemeifen,
daß diefe mit ſolchem Aufwand genialer Züge gezeichnete
Heldin doch nur zu denjenigen Frauen gehöre, von denen
zwölf auf ein Dußend gehen, welche den Kochlöffel ſchwin⸗
gen und Kinder belommen? Tant de bruit pour une
omeleite, welches Erneftine im vorlegten Kapitel nicht
zu Tochen verftcht, im letzten aber jedenfalls kochen gelernt
hat, da bie Gevattern rühmen, was fie fir eine Haus-
frau geworden ift.
Die praktiſche Franenemancipation ber jüngften Zeit
geht darauf hinaus, den Frauen aud außerhalb der Ehe
eine unabhängige Stellung zu ermöglichen, da ja gerabe
181
von der Ehe eine fo große Zahl ansgefchloffen ifl. Frau
von Hillern beweift und zwar, was eine Frau geiflig zu
leiften vermag: Erneftine ift eine unermüdliche geiftige
Ürbeiterin, ftudirt Aftronomie, Chemie, Phyfiologie u. ſ. w.
bei Tag und Nacht, fie erhält ben Preis für eine wiflen-
ſchaftliche Arbeit; aber die Berfafjerin ift weit entfernt,
fie zu einer berechtigten Bertreterin der Frauenemancipa⸗
tion und Frauenarbeit machen zu wollen. Gegen ben
Schluß des Romans hin findet fi ein Kapitel, wo
Erneftine und die Coufine Gretchen in einer Heinen
Stadt „ums tägliche Brot” arbeiten. Das gelingt ihnen
jehr fchlecht; fie Hungern und frieren dabei und haben
bisweilen abends Fein Licht. Knüpft die Verfaſſerin
hieran Betrachtungen über das fogenannte Recht der
Frauen auf Arbeit, das ihnen nur durdy die gefellfchaft-
lichen Berhältnifje verküimmert wird? Keineswegs. Es
ift das nur eine „Strafftation“, auf welcher Exneftine
für die „Ehe“ zuvechtdreffirt wird, nachdem fle zuvor
durch die Krifls eines Nervenfiebers von ben Ueberrei⸗
zungen ihrer Gehirnthätigkeit geheilt worden war. Am
Schluß tritt num Erneftine ohne eine reservatio mentalis
zu Gunſten ihres geiftigen Strebens in die Ehe — und
diefe ganz bedingungslofe Hingabe, bei welcher die geifti-
gen Rechte der Frauen gar nicht gewahrt werden, ift wol
ein Hauptfehler des Werks, welches in frühern Abfchnit-
ten gerade über den geiftigen Beruf ber Frauen fo viel
Sinniges und Glänzendes enthielt.
Die Emancipation des Geiftes bei ben Frauen er-
ſcheint Hier nur in krankhafter Uebertreibung, fogar al®
dag Werk einer Hinterliftigen Intrigue, woburd bie Stel«
lung des Problems verwirrt wird. Die Frage mußte
lauten: Wie verträgt fid) die Emancipation des Geiftes,
ohne Uebertreibung, mit Naturanlage und Lebensftellung
ber Frauen? Dann würde auch der Kampf im Herzen
Erneftinens zwijchen ihrer Liebe zu den Wiffenfchaften
und ihrer Neigung zu Johannes ein tieferes Interefle er-
wedt Haben und, worauf e8 doch bei aller Dichtung an⸗
kommt, eine vorbildliche, allgemeine Bedeutung, während
jetzt, bei aller Feinheit einzelner piychologifcher Züge, doch
zuviel des Verſchrobenen mit unterläuft, was .un® gegen
die Heldin verftimmt.
Wir haben bisher mit dem Standpunkt der Berfafle-
rin gerechtet; es ift uns jegt eine angenehme Pflicht, das
Bortreffliche ihrer Darftellung hervorzuheben. Frau von
Hillern Hat Seift, Empfindung, Phantafie; ihr Stil if
frei von jeder Künftelet und PVerzwidtheit, fließend und
treffend; fie Bat den Sinn für Spannung und Effect
von der Mutter geerbt. Daß fie aud) den naiven Plau⸗
derton der Verfaſſerin des „Pfefferröſel“ zu treffen weiß,
zeigt ihre Schilderung der Sinderfcenen, bie herzigen
Plandereien des Käthchen mit dem filbernen Arm und
der woblbeleibten Mutter Bertha im hamburger Hotel.
Ein Charakter wie der Leuthold's ift mit großer geiftiger
Feinheit und Meberlegenheit durchgeführt; fein Jeſuitis⸗
mus hat etwas fo Blendendes, daß man jelbft oft an ihm
irre wird und fi von den Netzen feiner Sophiſtik fan-
gen läßt, daß man ihm trog feines verwerflichen und
verbrecherifchen Handelns nicht alle Theilnahme verfagt.
Sind doc feine Berechnungen fo gewagt und weitaus-
fehend, dag man in erfter Linie die Opfer der Gegenwart
IT et
DIEBE HET EN
fieht, mehr als den Profit der Zukunft. Die raf
finirte Hinrichtung der kränklichen Erneſtine durch den
Geift, durd) den Eultus der Wiffenfchaft erfauft ja ber
Intriguant mit dem Tangjührigen Verzicht auf die Ges
ſellſchaft feiner Tochter Gretchen, eines allerliebften Kin⸗
des, deffen freude über das Wiederfehen des Vaters fo
anmuthig gejchildert und mit dem Contraft durd) die
bereinbrechenden Enthüllungen feines Verbrechens und
durch feinen Selbſtmord fo ſcharf contraftirt wird. Jo⸗
J 182 Philoſophiſche Schriften.
hannes ſelbſt iſt Pädagog und Arzt, ein frauenbändigen⸗
der Idealheld; die alte Staatsräthin, die ſchöngeiſtige
Elſa, der erblindende Schullehrer und andere Nebenfigu⸗
ven find mit Geſchick und ſcharf filhonettirt.
Der Roman flößt ung, alles in allem und troß
unferer Bedenken gegen die Durchführung feines Pro—
blems, Reſpect vor dem Zalent und der geiftigen Beben:
tung der Berfaflerin ein.
Rudolf Gotiſchall.
— — — — — — ——
Philoſophiſche Schriften.
1. Der Zeitſinn nach Verſuchen von Karl Vierordt. Tüi-
bingen, Lanpp. 1868. Gr. 8. 1 Thlr.
2. Die pigchologiichen Grundlagen der Raumwiſſenſchaft von
Ben Karl Frejenius. Wiesbaden, Kreidel. 1868.
8 2 r.
Mit der Fechner'ſchen „Pſychophyſik“ iſt ſeit neun Jah⸗
ren eine neue Wiſſenſchaft ins Leben getreten, die Wiſſen⸗
ſchaft, Empfindungen und Wahrnehmungen zu meſſen.
Durch neuerfundene finnreihe Methoden verfchiedener Art
werben in mathematisch genauen Angaben die Geſetze er-
kannt, nach denen phyſikaliſche Reize die ihnen entfpredjen-
den Empfindungen und Anſchauungen als inwendige Her-
vorbringungen unſers Seelenwejens hervorloden und ver-
anlaffen. Zu ben von Fechner begonnenen Unterfuchun-
gen und Experimenten gehören unter anderm aud) die
über die fubjective Zeitmeffung in Vergleich zur objectiven,
welche wir in ber erften obiger Schriften auf eine fleigige
und genaue Art weiter fortgefegt finden.
Im allgemeinen gibt es die tägliche Erfahrung für
jedermann, daß die Länge oder Kürze der Zeiträume in
unferer innern Wahrnehmung von mancherlei fubjectiven
Bedingungen, wie z.B. von Stimmungen bes Gemüths,
Abwechfelung oder Einförmigkeit in den Eindrüden, die
auf und gefchehen, Graben des Wachſeins oder der
Schläfrigkeit und andern ſolchen innern Umftänden ab»
hängt. Sechs oder fieben Stunden erquidenden Schlafs
Schrumpfen dem erwachenden Bewußtſein in den Zeitraum
einer einzigen Minute zufammen; dagegen erzählen und
Opiumeſſer, wie in ihren wüften und unbehaglichen Träu⸗
men fi die Dauer von Minuten zu flunden», ja zu
tagelang und darüber dauernden Begebenheiten ausge-
behnt habe.
Wil man auf pfychologifhem Wege diefen ebenfo
alltäglichen als ſchwer erffärbaren Erſcheinungen tiefer auf
den Grund kommen, jo ift dazu ein nicht zu verachtender
Anfnüpfungspunkt der, daß man Mittel und Wege auf-
fucht, die fubjectiven Zeitgrößen in ihren Berhältniffen zu
den objectiven meßbar zu machen. Weil hierzu diefe von
Bierordt (Nr. 1) mit Sorgfalt und Ausdauer fort«
geführten Fechner'ſchen Berfuche eine erſte feſte Hand-
babe bieten, find diefelben als verbienftlich und dankens⸗
werth zu begrüßen.
Der Apparat ber fowol auf den Taſtſinn, als auf
ben Gehör» und Geſichtsſinn fich beziehenden Verſuche
ift ziemlich Fünftlicher Natur, Hat auch nur für ben ein
näheres Intereffe, welcher fih mit der Sache genauer
zu befafien wünfcht, weshalb auf die Schrift ſelbſt ver-
wiefen werden muß. Hier genügt es, auf die mühſam
gewonnenen Reſultate hinzuweiſen. Diefe laufen in den
Hauptreihen der Verſuche auf folgendes Geſetz hinaus:
Wenn wir einen gewiffen durch den Sinn percipirten
Zeitraum von kurzer Dauer (nämlid) von einer Dauer
unter etwa drei Secunden) aus dem Gedächtniß wieber-
bolen, fo nehmen wir jedesmal den Zeitraum zu groß;
und wenn wir einen percipirten Zeitraum von langer
Dauer (nämlich von einer Dauer über etwa drei Secun
den) aus dem Gedächtniß wiederholen, fo nehmen wir
jebesmal ben Zeitraum zu Men. Nur allein alſo bei
Zeiträumen oder Taltſchlägen von ungefähr drei Secuns
den bedt fich die objective Zeit des fehwingenden Pendels
mit der fubjectiven Zeit des auffaflenden Gedächtniſſes;
bei retardirten fowol als bei befchleunigten Taktſchlägen
weichen fie voneinander ab. ALS fchwingendes Pendel
dient bei diefen Verſuchen das Mälzel'ſche Metronom.
Mit Rüdficht auf feine fleißigen Beobachtungen über
die fubjective Zeitanfchauung erklärt fid) der Experimen«
tator für die Kant'ſche Theorie, bie Zeit in ähnlicher Art
wie den Raum als eine urfprüngliche Form unfers Wahr-
nehmens (Anfhauung a priori) vorzuftelen. Er nimmt
an, daß mit unfern anfänglichen Empfindungen fchon jehr
bald fi die nicht in ihnen felbft Liegende Anfchauung
einer zeitlichen Succeffion verbindet; nämlich ganz ficher
von dem Zeitpunft an, wo wir dageweſene Empfindungen
als folche wiedererkennen, welches nicht möglich ift, ohne bie
Borftellung eines vergangenen Zuftandes zu Hülfe zu nehmen,
In ber That, jo ift es. Kine miedererinnerte Ems
pfindung wird nicht dadurch als Zeichen eines vergan«
genen Zuftandes erfannt, daß fie als ein nachflingendes
blafjeres Empfindungsbild in uns fortbauert, fondern das
durch, daß fie bezogen wird auf einen nicht mehr ſeienden
Zuftand und folglich eingereiht wirb in daffelbe unkörper⸗
liche Schema von Sein, Nichtmehrfein und Nochnichtfein,
in welchem auch die Körpermelt ihren angewiefenen Pla
findet, ohne welchen ihr der Weg in das Dafein ewig
verfchloffen bleiben würde.
Wir haben daher auch die Zeitanfhauung nicht nur
zu unterfcheiden von allen Empfindungsformen, fonbern
ebenjo ſehr von allen körperlichen Eigenſchaften. Denn
fie geht dem Dafein der Körper als eine unkörperliche
Srundbedingung deſſelben voraus und, fofern die Körper
die Empfindungen in uns verurfadhen, ebenfalls den
Empfindungen. Die Zeit der Körper ift die objective Zeit
(Körperzeit); die Zeit der Empfindungen ift bie fubjective
Philoſophiſche Schriften. 183
Zeit (Seelenzeit). Jede von ihnen ift ewige unlörperliche
Boransfegung (Anſchauung a priori). Auf das Berhältniß
beider zueinander bezieht ſich das von Bierordt feftgeftellte
etz.
Durch die Kant'ſche Theorie von Raum und Zeit ſind
freilich dieſe Themata noch ebenſo wenig erſchöpft, als
die Kenntniß eines neuen Welttheils durch die erjte Ent-
deckung deſſelben. Aber es ift zum wenigften das dadurch
gewonnen, daß fortan alles nicht mit ihnen Stimmende
ſehr bald in ſein Nichts zurückſinken muß. Der Kreis
der Möglichkeiten iſt verengt; das frühere Schweifen in
ber Irre und Wildniß, wenn auch noch nicht völlig, doch
Schon in bedentendem Maße abgejchnitten.
Die Schrift über „Die pfychologifhen Grundlagen
der Raummifjenfchaft” von Freſenius (Nr. 2) fucht in
die Tiefen der Raumconftruction weiter einzubringen, als
dieſes nad) der gewöhnlichen euflidifchen Methode der
geometrifchen Beweiſe zu gelingen pflegt.
Die geometrifchen Lehrſätze haben das Eigenthümliche
an fi), daß fie häufig auf zweierlei Art bewiejen werben
können, theil® auf geradem Wege, theil® durch Umwege.
Der gerade Weg ift der gemetijche, der Ummeg der eulli⸗
diſche. Schon Schopenhauer hat es ber enklidifchen
Methode in der Geometrie vorgeworfen, daß fie ſich darin
gefalle auf Ummegen zur gehen, zuweilen den Ummeg als
einen elegantern und intereffantern dem näher liegenden
genetifchen Wege vorziehe. So z. D. ift der enklidiſche
Weg, die 180 Grade jedes Triangels zu beweiſen ver-
möge einer angehängten Hilfsconftruction mit Anwen-
dung der Ariome vom Nebenwinkel und Wechjelwinkel,
ein Ummeg; hingegen ber genetifche, von ber halben Dre—
hung eines Stabes hergenommene Beweis der directe und
gerade Weg in diefer Sade. Die Einſicht hat in beiden
Fällen zwar die gleiche Gewißheit und Sicherheit, aber
nicht auch das gleich Einleuchtende. Es ift zu vergleichen,
wie wenn ich einen ©egenftand unmittelbar in Augen-
Schein nehme, oder mir durch einen fihern und glaubwür-
bigen Zeugen von ihm Bericht erftatten Laffe.
Der Verfaſſer dringt nun darauf, daß überall, wo
es angeht, ber gerade Weg den Umwegen vorgezogen
oder zum mindeften mit ihnen in Verbindung gejegt werde.
Wo es angeht — nicht überall fcheint e8 zu gehen. Dar⸗
ans entftcht aber die Aufgabe, e8 überall zu verfuchen.
Hier macht er nun mandje gute Vorſchläge, gefteht aber
zugleich, in Beziehung auf andere Fälle felbft noch rath-
[08 zu fein. Wenn für alle Lehrſätze der Geometrie
birecte oder genetifche Beweife gefunden werden könnten,
ſo würden hierdurch die Lehrſätze ohne Zweifel beim Unter⸗
richt viel einleuchtender und durchſchaulicher gemacht wer⸗
den können als nach der euklidiſchen Methode, welche
überdies das Gedädhtnig mit viel überflüſſigem Ballaſt
befchwert, mit deflen Entweichen auch immer ſogleich der
Nerv der Ueberzeugung mit entweicht.
Eine andere Frage ift, ob auf diefem Wege auch für
ein tieferes Verſtändniß des Raums in pbilofophifcher
Hinſicht etwas gewonnen wird; ob die von Kant gefun-
dene Grunderkenntniß auf diefem Wege irgendeine Ver⸗
ttefung oder Vermehrung erfährt. Diefe Frage ift aus
folgendem Grunde zu verneinen:
Die geometrifchen Raumbeſtimmungen entfprechen nad}
der Anficht des Berfaffers den pfychologiſchen Beftimmun-
gen in der Thätigkeit unferer auffaffenden Aufmerkſamkeit.
Der Punkt ift der einfache Ausdrud concentrirter Auf-
merkſamkeit. Denn die gefammelte (nicht die zerftreute)
Aufmerkſamkeit fällt zunächft immer auf irgendeinen Punkt.
Ihre Vortbewegung brüdt fih aus durch die Bewegung
diefes Punktes, woraus das Bild der Linie entſteht. Durd)
die Bewegung ber Linie in der Drehung um einen Punkt
entfteht der Winkel und die Fläche, u. ſ. f. Es entgeht
dem Berfaffer hierbei nicht, daß Bewegung ein Begriff
ift, welcher den Raum fchon vorausfegt. Denn Bewe-
gung eines Punktes ift nichts als Veränderung feines
Orts im Weltraum Er fchreibt daher felbft mit Recht
feinen pſychologiſchen Erflärungen nur einen pädagogifcyen
Werth zu, als Hülfsmitteln der Faſſungskraft, und ift
weit davon entfernt, die Tragweite feiner Bemühungen
zu überfchägen. Diefe Beicheidenheit ift Iobenswerth. Aber
ed wird für die Wifjenfchaft der Metaphyſik nichts da⸗
duch gewonnen, daß man zur Erleichterung der Arbeit
die Anſprüche, welche fie am Ende doc; wol zu machen
berechtigt ift, von vornherein über das Maß herabfpannt.
Die pfychologifchen Bewegungen unferer Aufmerffamteit,
weldje den Raum bereits vorausfegen, find nicht die ſpon⸗
tanen Acte, durch welche der Raum in der anfchauenden
Vernunft der Geiftwefen ſich unaufhörlich hervorbringt.
Indem unfere auffafjende Aufmerkfamteit ſich von Punkt
zu Punkt im Raume bewegt, wird dieſer dabei immer
ſchon als ein Früheres (ein Apriori) vorausgefetst, welches
wir allerdings jelbft Hervorbringen, aber nicht vermöge
der auffaſſenden Aufmerkſamkeit. Wenn ich eine Geite,
welche ich foeben gefchrieben Habe, überleſe, und babei zu
mir felbft fage: „Ich bin der Urheber diefer Schrift” —
jo habe ich nur dann das Hecht zu diefem Ausſpruch,
wenn ich die Urheberfchaft auf das vorhergegangene Nieder-
ſchreiben, nicht aber auf das nachherige Ueberlefen beziehe.
Hierdurch ſetzt ſich der wifjenfchaftliche Werth der geneli⸗
ſchen Beweiſe, wie fie der Berfaffer ſucht, fehr im Preife
herab. Denn diefe Genefis ift nicht die primitive, ſon⸗
dern nur eine fecunbäre, nicht die Geneſis der Hervor⸗
bringung, fondern nur die der Auffaffung, nicht die Ge-
nefis, welche zeigt, wie die Frucht wächlt, fondern wie
wir die gewachſene am leichteften pflücken können.
Doch ift jede Bemühung willlommen zu heißen, welche
ernftlih in diefen Weltgründen gräbt, auf denen bas
ganze materielle Dafein ruht wie ein Gebäude auf feinen
tragenden Fundamenten.
3. Die Grenzen ber menſchlichen Erfenntnig und bie religiöfen
Seen. Von L. R. Landau. Leipzig, Weber. 1868. Gr. 8.
gr.
4. Forſchung nad) der Gewißheit in der Erkenntniß der Wirk⸗
lichkeit von A. Spir. Leipzig, Förſter und Findel. 1869.
8. 1 Thlr. 10 Nor.
5. Ueber Erfeuntniß von Marimilian Droßbad. Halle,
10) x.
Pfeffer. 1869. Gr. 8 10 Ng
6. Der Sat des zureichenden Grundes von Joſeph Jäkel.
an, Maruſchke und Berendt. 1868. ©r.8. 1 Thlr.
gr.
Der Verfaſſer der Schrift: „Die Grenzen der menfch-
Iihen Erkenntniß und die veligidfen Ideen”, 2. R. Lan-
dau (Nr. 3), ſucht darin die Angriffe der Atheiften und
Materialiften auf die veligiöfen Ideen zu entkräften, was
. n — st
a ER 7, af
184
ihm auch völlig gelingt. Er faßt Hierbei vorzüglich einen
Hauptpunkt gut und richtig ins Auge, die innere In«
confeguenz nämlich, an welchem die Methode des Ma-
terialismus krankt. Die Materialiften fpielen auf reli⸗
gibſem Gebiete die Rolle der abfoluten Skeptiker, welche
nicht8 anerkennen wollen, was fich nicht fireng bemeifen
läßt; fie weigern und firäuben ſich hingegen, den wiſſen⸗
haftlich begründeten Zweifeln der kritiſchen Philofophie
an der Selbftändigfeit des materiellen Dafeins und der
Beſchränkung aller Erfahrungsthatfachen auf da8 alleinige
Feld des äußern Sinns nur das allermindefte Gehör zu
Schenken. Vielmehr beruhigen fie ſich in diefem Punkte
mit demfelben guten Glauben des ungebildeten Berftan-
bes, welchen fie an jenem mit fo tiefer Verachtung von
fi) weifen. Es ift aber ganz inconjequent, am einen
Ende ber gewöhnlichen menfchlichen Vorurtheile den voll-
fommenen Confervativen, Hingegen am andern den voll»
fommenen Revolutionär zu fpielen. Nur dann können
in der Wiffenfhaft gefunde und confequente Refultate
gewonnen werden, wenn fich die wifjenfchaftliche Kritik,
welche niemals und nirgends zu weit gehen Tann, anf
alle Punkte der Wiflenfchaft ohne Ausnahme ausdehnt,
Es gibt Fein Voll der Erde, welches nicht ebenjo feit
an einen Zufammenhang der menſchlichen Scidfale mit
höhern geiftigen Gewalten glaubte wie an die felbftändige
Mirklichleit der Körperwelt. Der eine Glaube fteht fo
feft wie der andere. In Beziehung auf den einen biefer
Punkte die Zweifel als gefährlich verbieten, in Beziehung
auf ben andern fie als zuträglich zulaflen, bat feinen
Sinn. Wer in Beziehung auf den einen Punkt fi com
fervativ verhält, hat alle Urſache, dafjelde aud) in Des
ziehung auf den andern zu thun. So wenig er beim Con⸗
jervativismu® des guten Glaubens an die Realität der
Stoffe nöthig Hat, falfche Meinungen über diefelben an»
zunehmen, ebenjo wenig hat er beim guten Glauben an
die Realität der göttlichen Dinge nöthig, falſchen Dogmen
über diefelben Gehör zu geben. Gegen die erfte Gefahr
ihügen die täglichen Yortfchritte einer fleipigen Natur-
willenfchaft, gegen die zweite bie täglichen Fortſchritte
einer aufgeflärten Theologie. Dies ift wirklicher gefunder
Menfchenverftand. Gegen ihn gehalten zeigt fich der
Menfchenverftand der Materialiſten Frank, weil er bie
Thatſachen der Erfahrung nur ſcheinbar in Ehren hält,
in Wahrheit aber mit Füßen tritt, wie der Berfafler
richtig und gut in folgenden Worten bemerkt (©. 81):
Die Erfahrung ift es, auf bie ſich die Verfechter der mo-
dernen Weltanſchaunng immer berufen. Doch wird fie ganz
willkürlich anf das allein befchränft, was wir mit den äußern
Sinnen wahrzunehmen glauben, eigentlid aber nur mit dem
innen Sinne erfaffen, während das, was ſich in uns unmittel⸗
bar kundgibt, deſſen wir uns unzweifelhaft bewußt find, eigen-
mädtig aus dem Kreife der Erfahrung ausgefchloffen wird.
Der gefunde Menfchenverftaudb wird von ihnen angeblich ſehr
hoch gehalten, und follte e8 auch, da fie das Recht der Vernunft
verkürzen, und fi alfo auf ihn allein fügen können; doch
werden deffen Ausjagen umd Zeuguiffe, ſobald fie ihmen nicht
zufagen, ohne weiteres verdächtigt und als Borurtheile und
alſche Borftellungen behandelt.
Es ift in dieſen Sägen und ihrer weitern Ausfüh-
rung in obiger Schrift die ſchwache Seite des Materia-
lismus volllommen genügend aufgewieſen. Trotzdem bes
Philoſophiſche Schriften.
Gegenwart auch immer noch feine ftarfe Seite und rela⸗
five Berechtigung, welche der Verfaſſer zwar nicht hervor⸗
zubeben veranlagt war, bie aber doch bei einer gerechten
Beurtheilung ebenfalls nicht aus dem Auge gelafien wer-
den darf. Der Materialismus ftellt ein nicht gut ent-
behrliches Webergangsftabium von negativem Charakter dar
zwifchen einer vergangenen und einer bevorftehenden Periode
religiöfen Lebens. Ueber die Nothwendigkeit einer Reini
gung der hergebrachten NReligionsbegriffe find ſich die
philoſophiſch Gebildeten unfers Volks Längft Kar, und
ebenfo jehr aud darüber, daß uns die Mittel zu folder
Reinigung in den Errungenjchaften der Kant’fchen Philo-
fophie bereits vollftändig zu Gebote ſtehen. Uber die
kirchlichen Gemeinschaften haben bisjegt im allgemeinen,
einzelne rühmliche Uusnahmen abgerechnet, nur wenig
die Fähigkeit entwidelt und die Kräfte angeftrengt, dieſe
geiftigen Errungenfchaften Iebendig zu verwerthen. Hier
mußte nun die Vorſehung fi ins Mittel Iegen, um das
zu tbun, was Menſchen bisher nicht vermocdhten, indem
fie in einer impofanten Maſſe albgebildeter Seelen, welche
in der Mitte fchwebten zwifchen Wiffen und Unwiſſenheit,
eine gerechte, obwol höchſt unklare Indignation erweckte
gegen unrichtige religiöfe Vorftellungen, mit denen fie
nicht länger weder fi ſelbſt noch ihre Kinder und Nad;-
fommen irreführen laffen wollten.
Gottes Mühlen mahlen langſam,
Mahlen aber ſchrecklich ſcharf.
Auch A. Spir, der Verfaſſer der „Forſchung nach
der Gewißheit in der Erkenntniß der Wirklichkeit“ (Nr. 4),
geht ernftlih und gründlich ein auf dag Verhältniß von
Glauben und Willen, und zwar ſogleich in der Vorrebe.
Er beftimmt hier jedoch dafjelbe keineswegs auf befrie-
digende Weife. Er formulirt fein Verfahren in Glaubens-
angelegenheiten in folgenden beiden Sägen, weldge er bie
Srundfäge der Freiheit und Moralität des Denkens
nennt (©. ıv):
Erſtens, alles, was fi) unzweifelhaft als wahr erweiſt,
fogleich bereitwillig anzunehmen und anzuertennen, einerlei ıvo,
wann und wie man daffelbe findet und ohne Rlick daran
ob es uns gefällt oder nicht. ß m —
‚ Zweitens, alles, was ſich nicht unzweifelhaft als wahr aus⸗
weiſen und legitimiren kann, unbedingt zu verwerfen, einerlei
wo, wann und wie man daſſelbe findet und ohne Rülckſicht
darauf, ob e8 uns gefällt oder nicht.
Der erfte dieſer Grundfäge ift ebenfo vernünftig, als
der zweite unvernünftig zu nennen. Der Landmann 5. B.,
welcher fich durch das vielleicht Gewitter und Plagregen
drohende Gewölk in Beziehung auf vorzunehmende Yeld-
arbeiten nicht warnen läßt; der Geſchäſtsmann, welcher
die immerhin unfichern Sennzeichen, welche in dem Unter
händler Unredlichkeit vermuthen laſſen, fir nichts achtet;
der Truppenführer, welcher auf vielleicht tritgende Kenn.
zeichen eines im Gehölz verftedten Feindes gar keine Rück⸗
fiht nimmt: alle diefe werden als Leichtfinnig und un
vernünftig geſcholten, und zwar allen darum, weil fie
dem zweiten Grundjage in ihrer Haudlungsweiſe ftreng
nachkommen. Denn weder ein aufziehendes Gewitter,
noch ein im Gemüthe unwillkürlich aufſteigender Verdacht,
noch irgendein ſonderbares und unerklärliches Wegezeichen
ſind Beweiſe, welche ſich unzweifelhaft als wahr aufſtellen
hält freilich der Materialismns im religiöſen Leben der | und Iegitimiven laffen. Denn das Gewitter kann au
Philoſophiſche Schriften. 185
vorüberziehen, der Verdacht lann ungegrünbet fein, und
das Wegezeihen im Gehölz Tann von den läderlichften
Urfachen herſiammen.
Daher ift der zweite Grundſatz des Verfaſſers als ein
Grundirrtfuns zu bezeichnen. Das richtige Verfahren in
allen Dingen befteht vielmehr in der Anwendung der
völig entgegengefegten Maxime, nur allein dasjenige un.
bedingt zu derwerſen, was ſich unzweifelhaft als faljch,
wiberfpredjend und irrthümlich ausweift; dagegen alles
das, mas fid) noch nicht unzweifelgaft ais wahr ausmwei-
fen und Iegitimiren Tann, als Merkzeichen noch zu ent-
declender neuer Wahrheiten forgfältig im Auge zu behalten.
Die übeln Folgen des falfchen Grundfages zeigen ſich
im Berfaufe der Arbeit befonder® in der plumpen Art,
womit hier alles Hppothetifche in der Philofophie ab»
gelehut und berworfen wird. Der Verfaſſer benimmt ſich
wie ein Gärtner, welcher nur bie völlig ausgewachſenen
Pflanzen reſpectirt, dagegen alle Blumen mit noch un«
entwidelten Blättern, alle Bäumchen mit noch unentfaltes
ten Kronen ſchonungslos miedertritt, weil fie noch nicht
ausgewachſen find. Die ringende Entwidelung unferer
Bhilofopfie hat zu gar vielem Hypothetifchen geführt,
was der ftrenge Denker ſich zwar unmöglich unmittelbar
als fejtftehende Wahrheit aneignen Tann, was er gleich“
wol als ſcharfſinnige und Weg weifende Muthmaßung für
weitere Forſchung in den Geheimniffen des Lebens ebenfo
wenig ungefiraft verwerfen und unbenugt laſſen darf.
Dergleihen Erwägungen werden hier von vornherein ab»
geſchnitten. Dit einem reſoluten „Kopfab“ Liegen Hegel,
Herbart, die Theiften unferer Tage und faft alles, was
jonft hier in den Weg fommt, hingeſtredt mit kaum noch
zudenden Gliebern. —
Diefer Uebelftand darf uns jedoch die guten Geiten
der Arbeit nicht überfehen laſſen, welche fowol in bem
ernften Streben nad unzweifelhaſter Gewißheit als in
einem ſchatzbaren Maße von anfgewandtem Scharffinn ber
ftehen. Man dürfte das Streben ein originelles nennen,
wenn Originalität in Beziehung auf den Zwed, welden
der Verfafjer verfolgt, nicht ein Tadel wäre, Gein Stre-
ben ift mehr als originell, es ift wirklich fundamental.
Es ift das gediegene Streben, alle Gewißheit in allen
Dingen zu gründen auf das tieffte logiſche Grundgefeg,
das der Ioentität; das Streben, die Reniität oder Glei⸗
dung (A=A) als das alleinige Gefeg aller Wahrheit und
Gewißgeit überhaupt nachzuweiſen. Ciner der hervor»
zagendften Punkte bei folder Anſicht der Dinge ift die
darin nothwendig hervortretende Forderung, daß das
Grundgefe der Togit und das der Moral nicht mehr ald
verſchiedene auseinanderfallen dürfen, fondern ganz nur
als eins und daſſelbe feiend erfannt werden müſſen. Die-
ſes gu zeigen, ift dem Verfafler in dem Abfchnitte über
den Willen, ©. 241— 277, auf eine wirklich glänzende
Beife gelungen. Auch daß er die dem ſcharfen Forſcher
bei iogiſchen Unterſuchungen dieſer Art aufftoßende In«
commenfurabifität des Seins uud Gefchehens (a priori
und a posteriori), zu deren Berbergung und Vertuſchung
der Soentitätsftanbpunft leicht verführen Tann, keineswegs
verbedt, vielmehr im Gegentheil in demjenigen grellen
Lichte zeigt, weldes der Sache in Wahrheit eigen iſt,
1870. 13.
wenn man fie unerfehroden ins Auge faßt, ift eine nicht
zu unterfchägende Tugend diefer Arbeit. Als bie aus-
geſprochenſte und reinſte Identitätslehre geht fle im alle
gemeinen diefelbe Bahn, welche ihr die großen Identitäts⸗
philoſophen Fichte, Schelling und Hegel vorangegangen
find. Daß fie nicht am diefe anfnipft, fondern überall
von vorn anhebt, gereicht ihr nicht gerade zum Nachteil,
indem das Princip der Identität hierdurch nicht ab⸗
geftumpft, vielmehr in gewiffer Beziehung nur noch ver⸗
fchärft worden if. Daß fie dabei vermöge der geriigten
falf hen Maxime ungerecht gegen ihre Vorgänger gewor -
den ift, hierin befteht bie Schattenfeite der Sache.
In der Schrift „Ueber Erkenntniß““ (Nr. 5) fährt
Marimilian Droßbad fort, un fein befanntes Syſtem
einer idealiſtiſchen Atomiftit mit jugendlicher Friſche und
thatkräftigem Feuer vorzutragen: ein Syſiem, ganz dazu
gemacht, träge Seelen aus bem geiftigen Schlafe zu weden
und ihren Blick don der Oberfläde der Erſcheinung in
die Tiefe des Wefenhaften zu lenken. Unermübet macht
er Propaganda für die Exkenntniß, daß die Dinge, welche
der Naturforfcher für wirklich wahrgenommene Eriftenzen
hält, nur zu eriftiren feinen, ähnlich wie die Sonne ſich
nur zu bewegen fcheint. Iſt man aber einmal darüber
ins Klare gefommen, daß die Körperdinge nichts Wirk-
liches find, fo ſieht man auch, wie weit ber Materialift
fehlgeht, wenn er aus dem vermeintlichen Zuſammen ⸗
wirten biefer unwirklichen Dinge das wahrnehmende Ich
hervorgehen läßt. Erſt wenn wir durch manderlei Er⸗
fahrungen darauf Yommen, daß das, was wir für ein
wirkliches Ding Bielten, ein Trugbild war, wird uns die
Möglichkeit gegeben, zum Bewußtſein deſſen zu gelangen,
was bdenfelben voransgeht, und was wir wirklich wahr«
nehmen: die zu Grunde liegenden Geiftwefen, von denen
die materiellen Erfceinungen ausgehen. Denn alle wir
lichen Weſen find nad; Droßbach vorftellende Wefen. Der
Stein, wie der Menſch, ftellen immer vor. Der Unter
ſchied befteht nicht dem Wefen, fondern nur dem Grabe
nad, ähnlich wie die Grade der Temperatur unter Null
auch noch Wärme anzeigen. Nun aber liegt im Begriff
des Geiftigen eine gewiſſe Unenbligfeit und Schranten-
loſigkeit enthalten. Was Leine Schranfen Hut, Tann un⸗
mittelbar zu allem andern kommen, im andern fein. Die
ſchranlenloſen Wefen durchwirken ſich innerlich, indem fie
trog ihrer BVielheit unendlich bleiben. Da jedes Weſen
ſchranlenlos ift, fo muß ein jedes alle andern in ſich
faffen und durchdringen, mit allen in innerlihem Zus
fammenhang fein. Hierin befteht die in allen Weſen ur-
ſprünglich angelegte Liebe, der Grund ihrer Harmonie
und Einmüthigfeit, vermöge einer allfeitigen Wecjfeldurd-
dringung, in welder fie Raum und Zeit mit ihrer Exi«
ftenz überragen. Denn fie find nit in Raum und Zeit,
fondern Raum und Zeit in ihnen. Aus diefer Urſache
geht ihr zeitliches Schauen auch nit nur rüdwürts in
die Vergangenheit, ſondern ebenfo ſehr vorwärts in bie
Zukunft. Dos Auge des Kindes im finftern Mutterleibe
wird ſchon darauf angelegt, daß es fpäter die Wirkungen
des Lichts aufnehmen kann. Im diefem Vorausſchauen
bifden wir unbewußt unfern Organismus und veranlaffen
unfere Geburt. Im dieſem Vorausſchauen bewirken wir
24
PETERS
186
unbewußt die Auflöfung defjelben, ben ZTob, um zu wei⸗
tern böhern Formen der Berbindung fortfchreiten zu kön⸗
nen. Wir bleiben immer die ewigen unendlichen Wefen
und ändern nur unfern innern Zuftand. Nur wer den
Schein, bie irrige Vorftellung, die er fi) von dem wirk-
lihen Borgange macht, für das Wirkliche und Wahr⸗
genommene felbft hält, erfchricdt vor dem Tode; wer hinter
die Conliffen blidt und das Getriebe erkennt, welches bie
GSefpenftererfcheinung auf ber Bühne bewirkt, läßt fich nicht
von ihr imponiren. Denn wir felbft find die Bedingun-
gen alles Entftehens und Bergehens, und Geburt und
Zod nur unfere wecjelnden Zuſtände.
AS geiftige Atomiftit (Monadologie) ift diefe Theorie
der Herbart’fchen nahe verwandt. Aber fie nimmt nicht,
Kilitärifcher
1. Aus dem Leben des General® der Infanterie 3. D. Dr.
Heinrih von Brandt. Aus den Tageblihern und Aufzeich-
nungen feines verflorbenen Vaters zufammengeftellt von
HSeinrih don Brandt. Zweiter Theil. Berlin,
Mittler und Sohn. 1869. Gr. 8. 1 Thlr.
Der zweite Theil des Werks fchließt ſich nicht unmit-
telbar an den erften*), an, da fi für bie Zeit von
1812—28 in dem Nachlaſſe des Generals kein genügen-
des Material vorgefunden bat. Aus dem Jahre 1813
hat außer flüchtigen Notizen dem Herausgeber nur das
Zagebuch vorgelegen, durch welches die Berwendung
des aus den Trümmern der Weichfellegion gejchaffenen
Weichfelregiments, bei welchem der Kapitän» Adjutant-Major
von Brandt Ende Mat in Erfurt wieder eintraf, zu er-
fehen ift. Bei Leipzig, ſchon am 16. October, fiel Brandt,
zweimal ſchwer verwundet, in ruſſiſche Gefangenſchaft;
nachdem er lange im Lazareth gelegen, wurde er mittels
Zwangspafles in feine Heimat gejchidt. Im Jahre 1815
trat er, aufgefordert durch feinen alten Chef Chlopidi,
in die vom Großfürften Konftantin reorganifirte polnifche
Armee; als aber Poſen als preußifches Großherzogthum
anerlannt wurde, bat ev um feinen Abfchied, um im
preußifche Dienfte zurüdzutreten, was der Großfürſt erft
im folgenden Jahre genehmigte. Er wurde hierauf wie-
der in ber preufifchen Armee als Hauptmann angeftellt
und ſtand bis 1828 in Heinen ſchleſiſchen und polnischen
Sarnifonen, außer dem praltifchen Dienft mit kriegs⸗
wiſſenſchaftlichen Studien und Arbeiten befchäftigt, bis er
auf Verwendung des Generald von Balentini, der ihn in
Glogau als Lehrer an der Divifionsjchule kennen gelernt,
zum Cadettencorps nad) Berlin commandirt wurde. Bon
diefer Zeit an bat er wieder die Aufzeichnungen jener
Erlebniffe und Beobachtungen begonnen. Wir konnten
die Luücke verfchmerzen, weil wir von da an einen wich⸗
tigen Beitrag für die Zeitgefchichte bis in die Gegenwart
hinein zu erwarten hatten. Leider hat es ſich aber ber
Sohn verfagen zu müſſen geglaubt, die Veröffentlichung
weiter als bis zum „Jahre 1833 auszudehnen. Er jagt
im Borwort zum zweiten Theile: „Mit jedem Schritte
%) Bgl. die Befprehung befielben in Nr. 16 d. BL. f. 1869, D. Reb.
Militärifher Büchertiſch.
wie Herbart thut, ein blos mechanifches Verhältniß zwi⸗
chen den geiftigen Einheiten oder Monaden an, fondern
gibt dem organischen Begriffe einer wechſelwirkenden Durch⸗
dringung der Weſen von innen als Urſache ihres zwed.
mäßigen Zuſammenwirkens das entfchiedene Uebergewicht
itber den mechanifchen Begriff äußerer Störungen und inner«
licher Widerftrebungen oder Selbfterhaltungen. Um diefes
dem Herbart'ſchen Gedankengange entgegengefegten Ver⸗
fahrens willen darf die Droßbach'ſche Theorie ebenſo ſehr
für einen lebendigen und eigenthümlich geſtalteten Zweig
der aus der Fichte'ſchen Wiſſenſchaftslehre entſprungenen
Identitätsphiloſophie angeſehen werden.
Karl Sortlage.
(Der Beſchluß folgt in der naächſten Nummer.)
Büchertiſch.
vorwärts mehren ſich die zunehmenden Rückſichten, und
ich glaube im Sinne des Dahingeſchiedenen zu handeln,
wenn ich über feinem Grabe keine Streitigkeiten herauf⸗
beſchwöre.“ Ob ber Berewigte bei feiner Freimüthigkeit
diefe Zuritdhaltung gewünſcht bat, mag bdahingeftellt
bleiben, jedenfalls hat er, wie aus den angeführten Wor⸗
ten bes Herausgebers hervorgeht, diefen Wunſch nicht
ausgefprochen, und nad) Aeußerungen, die er gegen uns
gethan, möchten wir überhaupt an bemfelben zweifeln.
Indeſſen begreifen wir, daß der Sohn in feiner Stellung
Rückfichten zu nehmen Bat, wenn wir aud) beflagen, daß
und dadurch fo viel verloren geht. Der zweite Theil
enthält alfo nur: Leben in Berlin, Aufftand in Polen,
Sendung nad Frankreich. 1828—33. Er bietet des
Interefianten aber fehr viel; Hoffen wir, daß nichts ab»
geſchwächt oder unterdrüdt worben ift: bier und da möch—⸗
ten wir es glauben. Weber den damaligen Zuftand des
Cadettencorps und der Allgemeinen Kriegsſchule, an welcher
Brandt auch bald, mit Vorträgen betraut wurbe, über die
ausgezeichneten Männer, mit denen er in Berührung kam,
über anbere Perfönlichkeiten und die allgemeinen Ber
bältniffe jener Zeit in Berlin Iefen wir eine Fülle von
harakteriftifchen Schilderungen und Bemerkungen, deren
Richtigkeit wir bezeugen können, ba wir jene Zeit cben-
falls erlebt und faft alle Perfonen, welche genannt wer«
den, gelannt, auch fpäter in bdenfelben WYunctionen wie
früher der General Brandt gewirkt Haben. Die fcharfen
Bemerkungen über den Bildungsgrad der Offizierafpiranten
baben noch heute ihre Berechtigung; im Cadettencorps ift
e8 zwar beffer geworden, aber „der Uebelſtand, welcher
faft allen Inftituten anklebt, die in einer gewiffen Zeit
eine gewiſſe Anzahl von jungen Leuten für ein beſtimm⸗
tes Fach vorbereiten follen, daß nämlich vieles nur ein
äußerlich Angelerntes ift und eine gehörige Durchbildung
fehlt“, ift noch immer nicht gehoben. Auch was über bie
Allgemeine Kriegsfchule, die jegige Kriegsakademie, bie
höchſte Militärbildungsanftalt, gefagt ift, trifft zum größ«
ten Theile noch heute zu: die Kriegsſchulen der Armee
aber, die Schöpfung des Generals von Peuder, bisjegt
ſechs an der Zahl, Haben einen rühmlichen Auffchwung
Militäriſcher Büchertiſch.
genommen und ihre Leiſtungen glänzend in ben legten
Kriegen bewährt. Im Yahre 1830 wurde Brandt als
Major in den Generalftab verfegt. Er ſchildert die da-
malige Organifation befjelben, feine Arbeiten, beſonders
die fogenannten Generalftabsreifen, fehr genau, letztere mit
fcharfer Kritik, welche noch immer Geltung bat. Zur
Charakteriftit der Perfünlichkeiten, die uns Brandt vor«
führt — und e8 fehlt faft kein Name von Bebentung
darunter — werden viele bezeichnende Züge, Aeußerun-
gen, felbft Anekdoten mitgeteilt, welche der Aufbewahrung
wohl werth find. Solche leſen wir von Gneifenau, Rühle
von Lilienftern, Clauſewitz, Radowitz, Balentini, Müffling,
BWigleben, Willifen, Grolman und vielen andern fo le⸗
bendig erzählt, daß wir bie Perſonen vor uns zu fehen
und fie zu hören glauben,
Mit den Creigniffen, welche das Jahr 1830 in
Frantreich und Belgien, iheilweiſe auch in Deutfchland,
endlich in Polen brachte, nimmt das Tagebuch ein all»
gemeineres und höheres Intereſſe in Anſpruch. Ueber
bie Eindrüde in Berlin heißt «8:
Der Ausbrud) der Unruben in Paris war das erſte Zeichen
einer neuen Geflaltung der Dinge und flug wie ein zündender
Blig in die Mafie. Der EntHufiasmus für die Beroegung in
Frautreich grenzie in mander Beziehung am das Anferordent-
liche. Daß Hierzu die Neugier nad) politiigen Neuigkeiten viel
beigetragen, verſteht ſich von felbft, aber viel war durch die
Rände, wie fie einmal waren, vorbereitet. Der Herd aller
enigleiten war das Caſino, in dem die meiften Zeitungen ge-
halten wurden und alle Diplomaten und Lente von Stande
Deuteheten. Hier erregten einzelne Blätter mitunter den größten
mwillen.
mad alles, was den Fortfhritt wollte, Uebrigens waren viele
Leute der höhern Stände einer confitutionellen Regierung
durchaus nicht abgemeigt, Die Hervorragendfte Partei aber un-
ter den Demokraten, wie man file damals nannte (Demagogen ?),
bifdete der Beamtenſtand. Er war den Grundfägen der Revor
Intion durchaus nicht fremd und hat es fpäter bemiefen, daß
he ihm mehr wie willlommen war.
Der polnifhe Aufitand brachte für den Major von
Brandt eine neue und angeftrengte Thätigkeit. Da er
die Verhaltniſſe in Polen genau kannte, fo mußte er aus
den polniſchen Zeitungen, Ertrablättern und Plafaten für
den Generaladjutanten des Königs, von Witzleben, das
Wichtige überfegen und excerpiren, was ihn. ben ganzen
Winter hindurch befcjäftigte.
Im Palais des ruſſiſchen Gefandten Alopeus ſammelten
fich allabendlih die Anhänger der ruſſiſchen Regierung, deren
9 wit wenige gab. — Die urheffiihe Berfafjungefrage, die
zumächft doch don großer Wichtigkeit war, trat gänzlich in ben
bintergrand, und die Nachricht, daß der Bundestag den Herzog
von Braunjhweig an die Stelle des verjagten Herzogs Karl
ale Mitregenten anerkannt, warb von einigen Hhperlegitimiften
ale Theilnahme deffelben an der Revolution bezeichnet.
Der General irrt aber, wenn er fagt, daß Herzog
Wilhelm bei den Gardedragonern geftanden; er ſtand
vielmehr im zweiten Garde-Ulanenregiment, wo ex feinem
Escadronchef durch völlige Unachtfamfeit vor ber Front
viel Uergerniß gegeben hat. Daß er zu den diis mino-
rum gentium gerechnet wurde, ift dagegen richtig. An-
Fichten, welche fpäter bei einem Gejpräd des Berfafiers
mit dem Feldmarſchall Diebitſch geüußert werden, find
Bei Stehen dagegen fammelte fid die Literatur.
187
entſchieden Brandt's eigene, obgleich «8 aus dem Tert
nicht recht Mar Hervorgeht:
Mögten nur die Fürflen die Tramontane verlieren, möc-
tem fie e8 nicht an ſich kommen laffen, vernünftige Reformen
aufzufhieben. Zu dergleichen Hinterher Iepwun. jen zu werden,
wie in Heffen, Sachſen und Braunſchweig, ift immer einer
Copitulation mit dem Bolke gleichzuachten und führt mehr
oder weniger eine Exrniedrigung der Flrftengemwalt im Gefolge.
Hinterer gerathen beide Theile auf Ertravagangen und Ueber»
ſchreitungen, wenn ein Rüdihlag erfolgt.
Als die vier dftlichen Armeecorps unter Feldmarſchall
Gneiſenau an der Grenze aufgeftelt wurden, veranlaßte
diefer, daß Brandt zu feinem Generalftabe kam, beffen
Chef der General von Elaufewig war, und endete ihn
auch gleich, aus Poſen in das ruſſiſche Hauptquartier mit
einem Briefe an den Feldmarſchali Diebitig. Die Er-
lebniſſe auf diefer Reife, die Perfönlichkeiten, das Lager«
leben und bie ruſſiſchen Truppen find vortrefflich ge⸗
ſchildert, es fehlt dabei auch nicht an pifanten Zügen.
Ebenfo zeugen die folgenden Blätter, welche die im
preußifchen Hauptquartier verlebte Zeit barftellen, von
ſcharfer Beobachtungẽgabe und früh entwidelter Menfchen-
tenntniß. Gneiſenau namentlich tritt uns im feinem
ganzen Weſen, man möchte fagen, menſchlich näher; wir
lefen auch viele, bisher noch wenig oder gar nicht be-
lannte Einzelgeiten von ihm:
Wenn e8 wahr iſt, was griechiſche genofoghen behanpten,
daß fi die Seele den Körper baue, jo hatte der Feldmarichall
eine edle Seele, denn er war ein flattliher Herr, eine wahr-
Haft männliche Beflalt vom imponirendem Aengern und ein!
lebhaften fhönen Auge. Unter den Marſchällen, die ich im
meinem Leben gefehen, Überragte ex hinſichtlich der äußern Er-
ſcheinung alle. Cs ift wahrſcheinlich daß mander von dieſen
in einzelnen Disciplinen mehr zu leiften im Stande geweien
wäre al® der Feldmarſchall, aber im feiner Zotalität auf-
goßt übertrifft er fie alle am Seelenadel und Größe des
ei I.
Ueber Clauſewitz äußert ſich das Tagebuch ziemlich
zurüdhaltend, Brandt Hat ſich wol wenig zu dem ſchwei-
enden Manne hingezogen gefühlt. „Der Beifegung bes
Gelbmarfae wohnte der General von Claujewig, was
wir alle im höcjften Grade bebauerten, nicht bei — er
war in einer Soiree der Frau von Roeder.” Allerdings
unbegreiflich! Nach dem Uebertritte der Polen auf preu«
ßiſches Gebiet hatte Brandt großeutheils die Berhand-
lungen mit ihnen, behufs ihres Abmarſches nach Franke
+ oder ihrer Rückehr in die Heimat, zu leiten; eine
traurige Zeit für ihm, die ihm viele Unannehmlichkeiten,
Berleumdungen und Angriffe von feiten der vevolutionären
Varteipreſſe brachte. Was er zur Charalteriſtik bes
Treibens jener Partei und ber „Infamien“, welche fie
an polniſchen Offizieren ſelbſt begangen Hat, erzäßlt, wirft
ein tramriges Licht auf Zuftände, die ſich in fpätern pol»
niſchen Revolutionen wiederholen follten. Um fo wohl-
thuender iſt es, was wir bon ber ebeln menfchenfreund»
lichen Gefinnung des Königs gegen bie Polen, bie bei ihm
Schutz gefucht haben, Iefen. Brandt hatte nad; feiner
Nüdkehr noch viel mit der Sade zu tun, er mußte
mehrere Zeitungsartifel u. |. w. als Erwidernngen auf
die maßlofen Angriffe ſchreiben, welchen Preußen damals
ausgeſetzt war. „Die Sachen find jest vergefien, aber
24°
:188
das wird ewig wahr bleiben, daß ſich die Polen für bie
Saftfreundfchaft und Rückſicht, mit der die preußiſche
Regierung fie aufgenommen, höchſt undanlbar bewiejen
haben.” Die vielen Thatfachen, die er dafür gibt, wer-
den fi) nicht widerlegen lafjen.
Im Auguft 1833 erhielt Brandt eine Sendung nad)
Franfreih, um den Zuftand der franzöfifchen Armee, über
den bie widerfprechendften Nachrichten eingegangen waren,
fennen zu lernen und darüber zu berichten. Die Ergebniffe
feiner eingehenden Beobachtungen werben militärische Leer
zu Bergleichen mit der jegigen Berfaffung der franzöfifchen
Armee veranlaffen; außerdem find auch hier viele Perſo⸗
nalien von den höhern Truppenführern Hinzugefügt, welche
Major Brandt dort kennen gelernt hat. Die politifche
Stimmung in den vier Lagern, welche er befuchte, bildete
eine förmliche Gradation: das von Compiegne war durch
und durch orleaniftiih, in St.-Omer offenbarten ſich hier
und dort Sympathien für die geftürzte ältere Linie der
Bonrbons, ftärker traten fie in Rocroi hervor, und in
Wattignées wurden fie mit einer Art Oftentation zur
Schau getragen. Franzöfifche Generale erkundigten ſich
nady dem Geifte, der in der preußischen Armee herrſche,
ob fie viele Republilaner Habe, und auf die Antwort,
daß von dergleichen feine Rede, die Armee vielmehr dem
Könige felfenfeft treu fei, priefen fie diefelbe glüclich.
„Bei und“, ſagte der einflußreiche Corpeintendant Dubois,
„find ale Unteroffiziere Republikaner, die Soldaten
Proletarier.” Der Marſchall Soult fragte, warum fid)
der Kriegsminifter von Hake zurüdziehen wolle; Brandt
antwortete, daß er feine Gefundheit durch angeftrengte
Arbeiten ruimirt babe, worauf Soult entgegnete: „Und
Sie haben noch Feine Kammern, noch keine Deputirten, welche
fih amufiren, die Minifter mit Nabelflihen zu tödten.
Aber Sie werden diefelben Später auch haben, und dann
wird man fehen, was es heißt, wenn alle Welt fi
einfallen läßt, Angelegenheiten zu dirigiren, von benen
fie nichts verſteht!“ Wie oft ift im fpätern Jahren
dem General von Brandt dies Wort des Marjchalls
eingefallen!
Mit der Rückkehr aus Frankreich bricht das Bud),
ohne Schluß, Kurz ab. Wir können unfer Bedauern,
daß die Aufzeichnungen uicht bis auf die neueſte Zeit
veröffentlicht worben find, nur wiederholen und wünſchen,
daß die Rüdfichten, welche dies verhindert haben, bald
ſchwinden mögen.
2. Erinnerungen eines ehemaligen Brigantenchefs. Bon Lud⸗
wig Rihard Zimmermann Zwei Theile Berlin,
Hausfreund-Erpedition. 1869. 8. 2 Thlr. 10 Nor.
Schon bei ihrem erften Erfcheinen in der auf dem
Titel genannten Zeitfehrift haben wir diefe „Erinnerungen“
mit Intereffe gelejen. Der Berfaffer, ein junger Offizier,
welcher den Krieg von 1859 als öfterreichifcher Lieutenant
mitgemacht hatte, ftellte fi 1861 in Rom zur Verfiigung
des vertriebenen Königs von Neapel, wie er felbft fagt,
ohne Hare, politifche Ueberzeugung, ben Kampf zunächft
nur um bed Kampfes willen ſuchend, ohne von Begei⸗
fterung für das Princip der Legitimität an und für fi)
etwas zu verſpüren. Jetzt verurtheilt er von politiichem
Standpunfte feine damalige Partei, doch ſchämt er fich
Militäriſcher Büchertiſch.
ihrer nicht, ſondern „denkt mit ruhigem Bewußtſein an
einen Kampf zurück, der, wenn auch von vornherein
verfehlt und unglücklich, ſo viele leuchtende Beiſpiele von
Treue, Muth und Opferfreudigkeit zu Tage förderte.“
Er ſpricht damit begreiflicherweife nur von ber bonrbe-
nifchen Actionspartei, den Briganten des Jahres 1861
und 1862, nicht aber von der bourbonifchen Camarilla
zu Rom, deren erbärmliches Treiben er mit Verachtung
ſchildert. Die Entftehung und das Wefen bes „Brigau-
taggio”, welcher nur durch die furchtbaren Maßregeln
der Piemontefen zur Unterdrückung deffelben und der fid
mehrenden örtlichen Erhebungen, die Maffenfüfilladen und
Brandfcenen, fowie durch die Pflege des fcheuglichften
Denunciationsſyſtems fo große Dinienfionen annahm, wird
jehr treffend dargeftelt. Wir lefen die Namen der vor
züglichften Bandenführer, unter denen diejenigen bezeichnet
find, melde im Laufe der Zeit mehr oder minder zu
wirklichen Räubern wurden, nachdem urſprünglich faft
alle nur die Bekämpfung der neuen Herrſchaft und die
Herftellung der alten zum Zwecke gehabt. Das wirkliche
Räuberweſen bat in Neapel den höchſten Grad erreicht,
nachdem der Parteifrieg längſt beendet war. Nach diefer
Einleitung erzählt der Verfaſſer feine eigenen Erlebnifle
in frifcher anziehender Form, oft mit poetiſchem Schwunge,
oft auch mit bitterm Humor und fcharfem Urtheil über
alles, was ihm verwerflich ober verächtlich ſchien. Nur
in dem Kapitel Liebe, wie er felbft fagt, hat er zumeilen
bon einer poetifchen Licenz Gebrauch gemacht; für mande
Lefer mögen biefe Intermezzi ihren Reiz haben, wir hät⸗
ten fie dem Verfaſſer gern erlaſſen.
In Rom erhielt er von Leitenden Perfönlichkeiten aus
der Umgebung des Königs Franz die Weifung umd die
Mittel, fi) zu der Zruppe des Chiavone zu begeben,
welche in den Bergen von Sora ftand. Mit einem Paß
und der äußern Ausftattung als deutfcher Künſtler reifte
er dahin ab, traf unterwegs bald mit Briganten zufam-
men und gelangte glüdlich zu der Bande, deren Chef
wie faft immer abwejend war, weil er ihre Entbehrungen
und Gefahren nicht theilen mochte und fich lieber in dem
Banerböfchen Caſa occoli, feinem Erholungsquartier,
bei der Hausbefigerin, feiner Gelichten, Rathgeberin und
Berderberin, aufhielt. Seine Bande, 240 Dann ftarl,
hatte ihr Lager auf dem Monte Farone, 5000 Fuß had,
umgeben von einer riefenhaften, feläftarrenden Natnr.
Zimmermann war zum Sapitän ernannt worden, und
Chiavone fette ihn zum Untercommandanten feiner Truppe
ein, die nun vor allem erft organifirt werden mußte.
Bon der Perfon und dem Leben Chinvone’s, mit welchem
der Verfaſſer bald in die fchlimmften Conflicte gerieth,
erhalten wir ein deutliches, wenn auch nicht anziehendes
Bild. Er war 17 Jahre Soldat (zulekt Sergeant) und
dann Forſtwart in Sora geweſen, in welchem Dienfte er
fi die genauefte Ortskenntniß und ausgebreitete Belannt-
jchaften unter der Bevölkerung der Gegend verjchafft Hatte;
beim Einmarfch der Piemontefen 1860 war er als Führer
und Kundfchafter der Töniglichen Truppen thätig gewefen
und endlih, um dem Erjchießen zu entgehen, zu ber
Truppe des Major Grafen Chriften geflohen, dem er
durch feine Gewandtheit und Ortskenntniß gute Dienfte
geleiftet hatte. Er war dafür zum Kapitän der Armee
“ Militärifher Büchertifch. 189
ernannt und mit einem Orden decorirt worben unb nad)
dem Abgange Chriften’8 an die Spige der Truppe ge
treten, wo er fi) aber bald ganz unentfchloffen, träge
und feig gezeigt. Aus eigener Machtvolllommenheit nannte
er fih nun Obergeneral der königlichen Truppen im
Königreich Beiber Sicilien, wenn er au nur 200 Dann
befehligte und diefe in Untbätigfeit hielt, ohne fich zu
irgendeiner ernften Unternehmung bewegen zu lafien.
Er Hatte fi mit etwa 20 Guiden als einer Art Leib⸗
wache umgeben, zum großen Theil feigen Schurfen, mit
benen er in Caſa Coccoli fpielte und zechte und durch welche
er feine Gewaltthaten ausführen Tieß. Bon biefen lefen wir
mehr als eine. Ins euer, wenn c8 zum Gefecht kam,
ging er nie.
Der Berfaffer erzählt fein Leben unter den „Vogel⸗
freien“, die ihm bald ihr DBertrauen fchenkten. Als
Bogelfreie, nicht als ehrliche Gegner wurden die Bri—
ganten von den Piemontefen behandelt und alle Gefan-
genen erſchoſſen. Dean jegte fie rittlings auf hölzerne
Stühle, die Erecutionsmannfchaft ftellte ſich hinter ihnen
auf und erſchoß fie von rückwärts, damit ſie ſchimpflich
fterben follten. So wurde auch Graf Kaldreuth, ge-
wefener Öfterreichifcher Nittmeifter, ein geborener Preuße,
defien Mauen der Berfaffer fein Bud) gewidmet bat, fo
der fpanifche General Borges mit 22 fpanifchen Offizieren,
welche herübergefommen waren, um für den Better ihrer
Königin zu kämpfen, erjchoflen. Das Schredensfyften,
das die Piemontefen in Neapel übten, iſt feinerzeit
belannt genug geworden; von Gialdini fagte hier das
Boll: „Der Mund, der diefen Namen ausfpridt, blutet!“
Noch 1862 ließ ein Oberft Fantoni in feinem verhält⸗
nigmäßig Meinen Bezirke innerhalb weniger Monate
900 Menfchen, worunter mehrere Weiber und Kinder,
als Briganten und Brigantenhelfer füfiliven. Die Bri⸗
ganten, wie fie eine Hymne gedichtet, Hatten aud) ein
Tobeslied, da8 der Berfaffer im freier Ueberſetzung mit«
theilt: die wilden Worte, die ſtürmiſche Weife machten
flets einen unbefchreiblihen Eindrud.
Zimmermann fuchte vergebens, Chiavone zu Unterneh-
mungen, wenigftens zu einem Handſtreich zu bewegen, der
Chef erwartete immer Berftärkungen, zulegt gar Berglanonen,
die natürlich ausblieben. Er geftattete aud) feinem Unter-
commandanten höchitens zu recognosciren und zu requiriren.
Die Piemontefen ihrerjeits rüdten öfter gegen die Berge,
tonınten die Anfgänge aber nicht gewinnen. Chiavone fandte
enblich Zimmermann mit einem Briefe „an unfern Herrn‘
nad) Rom. Hier gab es fcharf ausgeprägt als Parteien
nebmeinander: die päpftliche, die piemontefifche (königlich⸗
italienische), die mazziniftifche (republikaniſch⸗ italieniſche),
die franzdfifche, die der Verfaffer das unnatitrliche Kind
Napoleonifcher Umtriebe nennt, und als Gaft die bour-
bonifche. Auf das fchärffte geifelt er die neapolitanifchen
Emigranten, die von der föniglichen Sache lebten, nicht
ihr dienten. „Mit dem Oelde, welches diefe Gauner ver⸗
ſchlangen, hätte man eine Heine Armee ausrüften Können.
Die Partei umfaßte mehrere Sectionen, unter denen die
ber Action» die tüchtigfte und wichtigfte war, und viele
fach verfolgt von Franzoſen und Piemontefen bei äußerſt
geringen Hillfsmitteln eine Thätigkeit entwidelte, bie eines
befiern Zweds würdig gewejen wäre.”
Zimmermann mußte faft drei Wochen in Rom bleiben,
um Leute, Waffen und Munition zu ſammeln; er brach dann
mit feinem Transport auf und traf unterwegs mit dem zum
Oberften ernannten Riviere, der fein künftiger Chef fein
ſollte, zuſammen, dem Urtypus eines franzöfifchen Offizierg,
welcher in brei Welttheilen ein bewegtes abentenerliches
Leben geführt Hatte. Später wurde er bes Verraths an
ber jetzt ergriffenen Sache befchnldigt, und verließ biefelbe,
ohne daß feine Schuld erwiefen worben if, Der Trans-
port am glüdlich in die Berge, wo die Truppe Chiavone's,
zu welcher 25 trefflich bewaffnete verwegene Gefellen un⸗
ter dem Bandenführer Conti geftoßen waren, eine neue
Drganifation erhielt. Die einbrechenden Herbfiftiirme und
Mangel an Lebensmitteln veranlaßten endlih Zimmer-
mann, fie hinab nad, der Caſa Eoccoli zu führen, wo
Chiavone mit feinen Guiden gemüthlich lebte. Es kam
zu heftigen Scenen, und Zimmermann mußte fürchten,
bei pafjender Gelegenheit auf den „gran posto“ geftellt
zu werden, wie Chiavone das Erſchießen nannte. Doc)
heuchelte Chiavone vorderhand verfühnliche Gefinnungen ;
die Truppe wurde, ftatt loszuſchlagen oder ans ihrer
verzweifelten Lage in das waldreiche Innere der Abruzzen
geführt zu werden, in Quartiere gelegt, wo fie die Franzoſen
im Rüden hatte. Zimmermann unternahm noch einiges
mit Glück auf eigene Hand, doch kehrte er, da fein Ver⸗
hältniß zu Chiavone immer fchlechter wurde, nad) Rom
zurüd, wo er in ehrendfter Weife empfangen wurde und
den Winter zur Errichtung eines Freicorps benußte, das
er befehligen follte. Seine Berichte über Chiavone hatten
feine andere Antwort befommen, als daß man den Dann
feiner Popularität wegen nicht entbehren könne. Mit
200 Freiwilligen glaubte Zimmermann feinen zweiten
Veldzug beginnen zu können; bie Truppe, die fi an ber
Grenze gefammelt hatte, erhielt aber höchſten Befehl, feine
Ankunft nicht abzuwarten, fie wurde überfallen, und ihr
Führer fand bei feiner Ankunft nur nod) 25 Mann vor.
Wie er fi) dennoch im Felde gehalten und verftärkt, wie
er unter die Befehle des Generals Triſtany getreten (des
Spaniers, deſſen Name jegt wieder als Karliftenführer
genannt wird), welchen Verrath Chinvone von nenem
verübt, wie diefer endlih durch ein Kriegsgericht von
Brigantenoffizieren zum Tode verurtheilt wurde und als
Veigling farb, und wie Zimmermann bald nachher die
verlorene Sache, für die er gefämpft, aufgab, ift intereffant
zu lefen. Das Buch fchließt damit; es iſt jedenfalls ein
guter Beitrag zur Geſchichte des Brigantaggio.
Karl Guflau von Berned.
190
Fenuilleton.
Fenilleton.
Der Abgeordnete Braun und die Autorenrechte.
Am 21. Februar fand in der flebenten Sigung des Nord»
deutſchen Reichstags die erſte Berathung bes Geſetzentwurfs,
betreffend das Urheberrecht au Schriftwerfen, Abbildungen,
muftlalifhen Compofitionen, dramatiihen Werken nnd Werken
der bildenden Kunft flatt. Der Abgeordnete Braun war nad)
dem Commiſſarius des Bundesrathes, Dr. Dambach, der erfte
Redner, der fih über den Entwurf ausſprach. Man kennt die
geiftvoll plänkelnde, wisfhimmernde Art nnd Weife des wies⸗
badener Abgeordneten, welche keineswegs eine prägnante und
fahgemäße Behandlung der vorliegenden gig en ausſchließt.
Diesmal indeß hatte das Streben, eine durch allerlei Auekdoten
illuſtrirte Literaturkenntniß zur Schau zu tragen, die misliche
Folge, daß feine Intentionen vielfach misverftanden wurden,
und daß zum Xheil jener „Schrei der Entrüftung‘ gegen ihn
ausbrach, der in Deutichland bei Anmlichen Beranlaffungen ſel⸗
ten auf fi) warten läßt. Braun citirte fogar die Autoren des
claffifchen Altertfums, die für ihre Schriften kein Honorar bes
zogen hatten, und dergleichen Beiſpiele mußten böſes Blut
maden in Deutfchland, wo fo manche Autoren nur in dieſer Hin-
fit auf deu Ruf der Elafftcität Anfprud machen können, und
wo man in der That für Erhöhung und nicht für Ermäßigung
des Honorare plaidiren folte Wir tbeilen den Kern der
Braun'ſchen Rebe bier mit:
„Daß die geiftige Arbeit nicht ungethan bleibt, wenn man
fein Autorrecht und lein Honorar flatuirt, beweiſt die Geſchichte:
Somer hat für feine Gefänge, Sokrates für feine Converſationen
und Blato fir feine Dialoge nie irgendwelches Honorar befommen,
fonbern fle haben ihre Geiftesarbeiten verrichtet, weil fie der
Geiſt trieb, und ich halte nufer Jahrhundert nicht für fo tief
beruntergefommen, daß nicht aud) heute ne bergleichen Fülle
vorfommen werden. Ariftoteles, wird man jagen, hatte feinen
Alerander, Horaz feinen Mäcen, und in fpätern Zeiten Hatten
die Schriftfteller ihre Medici und Ludwig XIV., bie ihre geifli-
gen Arbeiten, wenn fie ihnen gefielen, genügend zu belohnen
wußten. Heute bedarf es größerer Anregung zur geiftigen Thä⸗
tigleit. Man bat fich jetzt zwilchen zwei Syſtemen, dem des
onopols und dem der Nationalbelohnung, zu entfheiden. Das
fetstere wiirde in der Gegenwart ſchwerlich ausreichen, weil
unfere Zeit zn fehr von Parteiinterefien zerriffen ift. Ich be-
tämpfe deshalb das Autorrecht nicht principiell, gebe vielmehr
zu, daß wir es bis zu einem gewiſſen Grabe nicht entbehren
tönnen. In einem neuen Geſetze nur das beflehende Recht zu
codificiren und Controverſen zu enticheiden, Halte id) nicht für
richtig. Der Entwurf beraubt auf Gefeßen, die, auf den An-
trag der SIntereffenten ausgearbeitet, fich nicht bewährt und der
g ifigen Production nicht den Aufſchwung gegeben haben, den
man erwarten durfte Wir haben ihn deshalb genau durch⸗
zuberathen; daß die Interefienten bei diefem Entwurfe gefragt
find, dagegen habe ich nichts; aber auch die Maſſe der Nation,
der Confamenten hätte gefragt werden müffen. Die Intereſ⸗
fenten find nur mit ihrem Geldbeutel bei der Sache intereffirt;
ob diefer aber der spiritus familiaris iſt, der bie beften Rath:
ſchläge ertheilt, iſt ſehr zu bezweifeln. Entſcheiden wir uns für
das Syſtem des Schutzes, fo meine ih doch immer, daß der
Entwurf denfelben auf zu lange und auf eine unzuläffige un-
gleihe Zeit ausbehnt, nämlih auf die Lebenszeit des Autors
und auf 30 Jahre nah feinem Tode. Denjenigen Antoren
alfo, die früh flerben, wird ihr Autorrecht abgekürzt gegenüber
denen, bie lange leben. Die Zeit muß deshalb gleich und auf
15 oder 20 Jahre, wie in England, normirt werden. Daß
Autor- und Verlagsrecht beſteht keineswegse feit Erſchaffung der
Welt; es flammt nicht einmal aus dem Mittelalter, fondern
ans der Blütezeit des territorialen Kirchentbume, das für fi)
alle möglihen Borrechte in Anſpruch nahm und diefelben in
Heinen Dofen an feine Glnftlinge in Form von Privilegien
vertheifte und zwar als privilegia singulorum. Gemeinfame
Geſetzgebung beftaub damals noch nicht; wollen wir fie ſchaffen,
fo müffen wir auch gleichzeitig die Iurisdiction in einem Rechte
körper verlörpern, wenn die Rechtſprechung nicht nad allen
Seiten Hin anseinandergehen fol. Auch außerhalb des Bun-
des, in Süddeutſchland, in Deflerreich, in andern europäifchen
Ländern und anßereuropäifchen Welttheilen gibt es Deuiſche.
Wollen wir deshalb eine Grundlage für unfer Autorrecht ſchaf⸗
fen, fo muß fie fo fein, daß fie auf dem Wege internationaler
Berträge ausgedehnt werden Tann, foweit die beutjche Zunge
reiht. Diefe Borlage wird die deutſchen Autoren ſchwerlich
gegen die Piraterei im Auslande ſchützen und don der Volls⸗
vertretung jenfeit des Oceans ſchwerlich acceptirt werden. Das
Autorredht if ein Monopol, das das Product verthenert und
zwar um fo mebr, je länger die Dauer des Autorrechts aus
gebehnt wird. Da wir es für die Gegenwart nicht ganz ent⸗
ehren können, fo müffen wir feine Nachtheile möglichſt zu be
feitigen juchen und ihm eine möglihft kurze Dauer geben.
Dann werden die Schriftfieller beſſer fahren als bei einer
langen Dauer des Autorrechts. In Frankreich und England
fprießen die nenen Auflagen in ebenfo viel Wochen hervor als
bei uns in Jahren; die dritte Auflage iſt dort ſchon fo billig,
daß felbft Unbemittelte fih das Wert Laufen können; bis daß
bei uns bei Schiller und Goethe u war, haben wir ein
halbes Jahrhundert warten müffen. Das kommt einfach daher,
daß durch eine Unzahl von Sortimentebuchhandlungen die Bü⸗
der gegen einen Aufichlag, der in folder Höhe nur noch beim
Wein⸗ und Cigarrenhandel vorkommt, bei uns vertrieben werden,
während in England durch die öffentlichen Berfteigerungen das
Berl in kurzer Zeit in Umlanf gebraht wird. Das Monopol
des Autorrechts führt Überdies zu einer übermäßigen Steigerung
der Production und zu einer auffallenden —A—— bet
Confumtion, d. 5. des Bücherkanfs. Die befifituirten Men⸗
ſchen geniren fi nit, weil die Bücher zu theuer find, fie in
ſchmuzigen und widerwärtigen Exemplaren, wie fie in England
fein Kutfcher und in Frankreich Feine Köchin in die Hand nimmt,
aus den Leihbibliothelen zu bezichen. (Heiterkeit.) Ja ich kenne
den Ball, daß ein jübbeutfcher Fürſt das Buch eines in feiner
Nefidenz wohnenden Scriftftellers zu Iefen wünſchte. Der
Hofmarſchall befam den Befehl, das Buch zu beforgen. Anflatt
es zu laufen, ging dieſer zu dem Schriftfteller und ließ fich ein
Eremplar für Se. Majeſtät ſchenken. Ic finde unfern Buchhan⸗
dei nicht im geringften bewundernäwerth gegenliber dem eng-
liſchen und franzöſiſchen. Bergleiden Sie 3. B. die Honorare
der englifden und franzöfiihen Romanſchriftſteller mit denen
der Deutſchen! Jene find bedeutend Höher; umd doch werden
Sie einen Roman von Guftan Freytag nicht für ſchlechter hal-
ten als einen von George Sand, oder einen von Berthold
Auerbach für jchlechter als einen Roman von Bictor Hugo.
Muß da nicht etwas faul in Deutſchland fein? Sechzig Sabre
fol nad) dem Entwurfe das Autorredt dauern. Wer fol denn
davon Bortheil ziehen? Der Autor wird keinen Pfennig mehr
befommen, als wenn das Autorrecht Hirzer wäre. Sie ver
theuern damit alfo nur noch mehr die geiftige Nahrung, bie
ohnehin ſchon theuer genug if. Die Erben werden gleichfalls
feinen Ruben davon haben. Ic babe die Ehre, zwei Entel
Goethe's zu kennen, habe aber nie gehört, daß fie durd die
Werte diefes Autors Millionäre gervorden find. Wollen Sie
dagegen die Verleger zu Millionären machen, fo flimmen &ie
dem Entwurfe zu. Sollten die Erben VBortheil von dem Autor⸗
recht ziehen, fo müßten Sie jagen, das Autorrecht ift ein Majorat,
ein Fideicommiß, das auf den Erftgeborenen forterbt. (Heiterkeit.)
Wie wenig es die Dichter bereichert, zeigt Ihnen das. Dach⸗
fümmerlein, das wackelige GStehpult und das Bett, worauf
Schiller fhlief, worauf unfereiner für feine Figur keinen Plag
hätte. (Heiterkeit) Das Berheißen auf die Nachwelt wird bie
Lage der Schriftfteller nicht beſſern. Sie kommen und vergehen
mit dem Zage. Wo find fie hin, die fi um die dresdener «Abenb-
zeitung» gruppirt hatten, die Clauren, Theodor Hell und F. Kind,
der zum «Freiſchützo in einem gewiffen Berhältniß ftand? Im
Laufe von 60 Jahren kaun da8 Berlegerredht eines Werks reli-
giöfer oder politifher Tendenz an einen Verleger kommen, ber
Feuilleton.
ber entgegengefettten Partei angehört. Er wird es dahin brin-
gen, daß das Werk von Markte ſpurlos verſchwindet, bis es
endlich) vergeffen und ben künftigen Geſchlechtern entzogen ift.
Die Motive zu dem Entwurfe find fehr aufridtig. Sie geben
als Duellen die beiden Entwürfe des Börfenvereins der deut.
fhen Buchhändler an. Wollten wir nur das vermeintliche
Intereffe der deutſchen Buchhändler vertreten — denn ihr wahres
Jutereſſe befteht darin, möglihft raſchen Umschlag und Maffen-
abfatz zu erzielen —, fo lönnten wir keinen beffern Entwurf als
den vorliegenden machen.“
Die thatſächliche Pointe diefer Rede iſt doch nur gegen die
alzu lange Schutfrift oder vielmehr gegen das unbillige Ver⸗
hältniß derjelben, wenn fie vom Tode des Autors ab gerechnet
wird, gerichtet, und in dieſem Hauptpunkte ftimmte aud) ber
Abgeordnete Franz Dunder mit ihm überein, der ſich im übri⸗
gen ii Scriftfteller gegen einzelne Ausfälle des Vorredners
anuahm.
„Streiten“, ſagt Dunder, „läßt fih nur über bie
Ausdehnung der Schutzfriſt. Auch ich kaun ein körperliches
Sigenthum an einem geiftigeu Erzenguiſſe nicht anerkennen.
Unfere gejammte Literatur geht aus zwei Factoren hervor: bie
efammte geiflige Arbeit der Nation bildet das Material, den
on zu allen Bildungen, zu allen geiftigen Producten; aber
der einzelne verlörpert die Idee in einer jpeciellen Geftalt, und
das ift feine eigenfte That, die er nicht ohne ernfte mühſame
Arbeit vollbringen kann. Hierin beruht das Recht des Autors,
aber and) die Örenze feines Rechte. Er bat ein Recht darauf,
fein Wert geihligt zu ſehen; aber da zugleich die ganze Nation
mit ihm gearbeitet bat, da er der Erbe von Sahrhunderten ift,
fo muß fein Recht im dem Rechte der Nation wieder unter
eben. Aus diefem Grunde möchte ich auch die in vorliegenden
Seiepe firirte Schugfrift für eine zu lange, oder wenigſtens für
eine ſchlecht abgegrenzte halten. Das bezieht fih namentlich auf
die 30 Sabre, für welche noch nad) dem Tode des Autors die
Schutzfriſt gelten fol. Während danach Schiller's Werke ſchon
1835 Gemeingut der Nation geworden wären, wäre biejer
Zeitpunkt bei Goethe's «Werther», der, wenn ich mich nicht irre,
in dem fiebziger Jahren erſchien, erſt nach 90 Jahren feit dem
Erſcheinen des Werks eingetreten. Man muß die Dauer ber
Schutfrift abgrenzen von dem Zeitpunkt des Erſcheinens des
Werks, wobei dann freilich) wieder der Webelftand eintritt, daß
dann unter Umftänden dem Autor noch bei feinen Lebzeiten die
Dispofition über fein Werk entzogen werden faun.‘
Recht hat Dunder, wenn er fi) dagegen wendet, daß
Braun das Recht des Autors auf fein Schriftwert als Monopol
bezeichnet und meint, ein Monopol wäre e8 unr, wenn jemand
etwa das ausichließlihe Recht hätte, Gedichte zu produciren
n. dgl. m. Man hat Braun am meiften deshalb angegriffen,
daß er die geiflige Arbeit für einen Act der „Infpiration‘ er-
Märte, der an und für fi mit dem „Honorar“ nichts zu thun
bat. Aber ift dies denn nicht der Fall? Kein echter Dichter
denkt noch heutigentags, wenn er dichtet, an das Honorar,
welches er dafür erhalten wird, und es iſt ja auch nur zu be
kannt, daß die Lyrik, die Tragödie, die eigentlichen höhern, auf
Snfpiration beruhenden Dichtgattungen, bHeutigentags feine
uenneusmerthen Honorare erhalten, während bie am beften
bezahlten deutfhen Autoren die berliner Poſſendichter find.
Honerar und literarhiftorifche Geltung fteht alfo im umgekehrten
Berhältniß, und wenn ein Redner hiervon die Conſequenzen zieht,
fo fleht es den Schriftfteleru übel an, deshalb über benfelben
herzufallen und einen Idealismus zu verurtheilen, den bie
Literatur nie verleugnen darf, ohne ihr Beiligftes Palladium
in den Staub zu treten. Der Reichstag fol freilich gerade
dafür forgen, daß bie materielle Lage auch der edelftrebenden
Dichter verbefjert wird; indeß zeigt fi ja aud) Braun dafür
beforgt und meint nur, daß die jeßigen Geſetze mehr den
Buchhändlern als den Schriftftellern zugute kommen. Wie man
vernimmt, wird Braun jeine vielfad misverfiandenen An⸗
ſchauungen formuliren und zu 8.8 des Gejegentwurfs über bie
Autorrechte folgenden Antrag einbringen, welcher fi den Prin-
eipien der englifchen nnd amerikaniſchen Geſetzgebung anſchließt:
191
„Der Schuß, welden da® gegenwärtige Geje dem Autor gegen
Nachdruck gewährt, erfiredt fih auf die Dauer feines Lebens
und auf einen weitern Zeitraum von fieben Iahren nad feinem
Tode. Im denjenigen fällen jedoch, in weldyen diefer gefammte
Zeitraun fi auf weniger als vierzig Jahre, gerechnet von ber
Publication des Werkes an, beläuft, verlängert fidh derfelbe
kraft des Gefeges bis zu dieſer Dauer, d. b. bis zu einer
Sefammtfrift von vierzig Jahren, gerechnet von dem Erſcheinen
des Werks, jedoch nie über dreißig Jahre nah dem Tode
des Autors.”
Es ift wünſchenswerth, daß die Beflimmungen der Schutz⸗
frift, fomwie Überhaupt die andern Paragraphen des Geſetzes nach
allen Seiten Hin genau erwogen und verhandelt werden. Weit
weniger empfehlenswerth erfcheint e8 uns, vor dem Entwurf
als einem unfehlbaren Meiſterwerk Schildwache zu flehen und
das Gewehr zu präfentiren, und wenn die Herren Auerbach,
Freytag, Hermann Grimm, Mommfen und Sulian Schmidt '
ein derartiges Schilderhäuschen, wo fie mit präfentirtem Ge⸗
wehr ftehen, in Geſtalt einer unbedingten Zufimmungserflärung
in viele Zeitungen bineingebaut haben, fo ift das ihr gutes
Hecht, ſoweit dies ihre perſönliche Anfiht gilt. Sollten fie
aber glauben, damit die Meinung der deutjchen Schriftfleller
zu vertreten und etwa durch ihre Autorität zu deden, fo er»
Hören wir andern, daß wir fie nicht zu unſern Vertretern ges
wählt haben, daß wir ihre Anficht nicht theilen und überhaupt
eine derartige Orthodoxie verwerfen, welche fih gegen die Ber-
befferungsfähigkeit menſchlicher Erzeugniffe flräubt. Erſt eim
aus dent lebendigen Kampf der Meinungen herausgeborenes,
in einer großen Verſammlung, welde die Nation und nicht
die Fachmänner vertritt, geprüftes und umgeftaltetes Werk ver-
dient als nationale Errnngenſchaft eine Zuftimmung, die das
Recht der freien Kritik gegen einzelne Befimmungen auch fpäter
nit in Frage ftellen darf.
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192
Anzeigen.
Anzeigen.
Verlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erſchien:
Volitiſches Handbuch.
Staats-Lexrikon für das dentſche volk.
In zwei Bänden.
Erfier Band.
Aachen bis Hiftorifhe Schule.
8. Geh. 2 Thlr. 20 Ngr. Geb. 3 Thlr.
als ein „Staats⸗Lerikon für das deutſche Bolt
enthält biefe® im zeitgemäßen, aber durchaus unparteiiſchem
Geifte bearbeitete Wert das Weſentlichſte aus den poli«-
tifhen nnd focialen Wilfenfhaften in populärer
Faſſung und gedrängter alphabetifher Form.
Es ift Mitgliedern von Laudes⸗ und Gemeindeveriretun-
en, Beamten, Gewerbtreibenden, durz jedem, der am. öffent-
ihren Leben th , al —Se % Hand» und Rad-
ſchlagebuch zu empfehl en.
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Dieser sechste Band vervollständigt die aulorisirie
Ausgabe der Werke von Mickiewicz, indem er den
gesammten literarischen Nachlass des Dichters
enthält und zugleich Varianten zu frühern Dichtungen bie-
tet, wie sich solche nach der von den Erben des Dichters
besorgten Ausgabe ergeben.
Die ersten fünf Bande der Werke von Mickiewicz
bilden Band 8— 12 der von der Verlagshandlung unter
dem Titel
BIBLIOTEKA PISARZY POLSKICH
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Band kostet geheftet 1 Thir., gebunden 1 Thlr. 10 Ngr.
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Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur
des 18. und 19. Iahrhunderts:
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ERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 5. Heft.
Geschiehte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy-
denbrugk. — Staat und: Kirche, von J. J. Honegger. —
Nekrolog.
Literatur: Das deutsche Drama der letzten zwei
Jahre, II. Die Preisdramen von 1869, von Dr. A. Lind-
ner. — Nekrolog.
Kunst: Die neuen photographischen Vervielfältigungs-
methoden, von Dr. Br. Meyer. — Nekrolog.
Chemie; Ammonium. — Die Destillationsprodukte des
Rohspiritus. — Reaktion auf Alkohol. — Muscarin. — Ne-
krolog.
Zoologie: Organe eines sechsten Sinnes. — Fortpflan-
zung im Larvenzustand. — Fortpflanzung des Lachses in
Süsswasserseen. — Der Vulkanwels. — Nekrolog.
Physiologie und Mediein: Die Gefahr des kalten Trun-
kes bei erhitztem Körper. — Einfluss des Alkohols auf die
Körpertemperatur, von Dr. Bayer.
Botanik: Regelmässiger Wechsel in der Entwiokelung
diklinischer Blüthen. — Die Wälder in Ostindien. — Austra-
lische Riesenbäume.
Mineralogie und 6eologie: Erdbeben, von H. Vogel-
sang. — Die Kreideflora von Nordamerika. — Der Diamant.
Volkswirthschaft: Gesetze über Aktiengesellschaften. —
Nekrolog.
Handel und Verkehr: Umschau von Dr. Lammers. —
Singapore. — Nekrolog.
Technologie: Die technisch verwendeten Gummiarten,
Harze und Balsame, von \Viesner. — Trennung thierischer
Fasern von vegetabilischen. — ÖOzonäther. — Ein Län-
genmassstab der bei Temperaturwechsel unveränderlich ist.
— Nekrolog.
Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Derfag von 5. N. + Brodfaus in Leipzig.
Alfred del Musset.
Eine Studie von
Karl Eugen von Ujfalvy
Professor am kaisorl. Lyceum za Versailles,
8 Geh. 1 Thlr.
Mit dieser Schrift beabsichtigt der Verfasser, den grossen
französischen Lyriker Alfred de Musset dem Verständniss des
Publikums näher zu bringen, indem er die einzelnen Dichtungen
im Zusammenhange mit dem Leben des Dichters vorführt und
sie mit sprachlichen und asthetischen Erläuterungen begleitet
Berantwortliher Redactenr: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Berlag von 5. A, Srochhaus in Leipzig.
Blätter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
—4 Ar. 13. mr 24. März 1870.
Erfcheint wöchentlich.
Inhalt: Wanderungen durch dem dentſchen Dichterwald. Bon @. Gersfurts. — Philoſophiſche Schriften. Bon Karl Fortlage.
Weſchinß) — Dentfg-Brafilien. Bon NRigard Mudree. — Senileten. (Mdalbert Stifter; Notizen.) — Bibliographie. —
Anpeigen.
Wanderungen durch den denifhen Dichterwald.
Der deutſche Dichterwald gleicht ſchon längſt nicht
mehr einem Urwalde, in deſſen unwegſamer Wildniß die
tnorrigen, ſchlingpfianzenumſponnenen Baumrieſen das
Staunen und die Bewunderung des einſamen Wanderers
erregen. Dieſe Urwaldspoeſie ift verſchwunden, ber beutfche
Dichterwald zu einem wohlcultivirten und in regelmäßige
Schläge eingetheilten Forſte geworden, in welchem bie
Literarhiftorifer zur beſſern Ueberficht ſchnurgerade breite
Schneißen eingeſchnitten und mit Grenzfteinen verfehen
Haben. Auch in diefem Forfte werden die in Pflanzgärten
forgfam erzogenen Schößlinge reihenweiſe nebeneinander
gejegt, um in gefchloffenem Berbande zum Lichte empor»
zuftreben, und jeder Stamm gleicht feinem Nachbar fo
jehr, daß man oft vor lauter Bäumen den Wald und
feine Poefie nicht finden kann. Dabei wird der ſchöne
Hochwald immer feltener, Mittel- und Niederwalb rentirt
fih ja befier; und Bier und dort findet fi auch jene
Traveſtie des deutfchen Waldes, ber Eichenſchülwald: „ficht
aus wie Wald, ift’8 aber nicht!“
Wie man 8 aber trogdem mit Recht beflagt, wenn
irgendwo ein Stück Wald ausgerodet wird und der
Profa des Kornfeldes weichen muß, weil die nachtheiligen
Einwirkungen der Entwaldung auf Klima und Boden
cultur zwar langfam aber unausbleiblich ſich geltend
maden, fo fann es jeder Einſichtige auch nur lebhaft ber
dauern, wenn irgendwo dem beutſchen Dichterwald das
Terrain befchränkt und entzogen wird. Denn dadurch
feidet unvermeidlich bie Friſche und Kühle der geifligen
Atmofphäre, und bie Höhe der ganzen Eultur eines Volls
wird wefentlih auch bedingt durch das richtige Berhältniß
zwiſchen Wald und Feld, zwiſchen praktifcher Thäfigfeit
und wiffenihaftlihem Studium einerfeits und zwiſchen
tünſtleriſcher und dichteriſcher Production andererſeits.
Bo die letztere erſchwert und von ben praltiſchen Beftre-
bungen verdrängt wirb, da verſiegen allmählich die Quel-
Ten, die das Land befruchten, und die ährengefüllten Fel-⸗
1870, 10.
der und faftigen Wiefen werben zu öben Wüſteneien ume
jewandelt. Pflege des Waldes ift daher eine wefentliche
lufgabe der Nationalöfonomie, Pflege des Dichterwai ⸗
bes eine bedentungsvolle Aufgabe der Literaturgefchichte
und der Mritil, Zur Pilege des Waldes gehört dor
allem aber auch eine rechtzeitige Durchforſtung, eine Ve⸗
feitigung ber ſchwächlichen und unbraudbaren Bäume,
damit den gefunden Träftigen Nachbarn mehr Licht und
Luft geſchafft werde: und jo möchten wir in der Parcelle
des deutſchen Dichterwaldes, durch welche unfer Weg uns
heute führt, zunächft auch einige untauglihe Stämme aus.
fondern, um Raum zu gewinnen für den Präftigern Nach-
wuchs. Diefe Ausfonderung trifft namentlich folgende
Product:
1. BSedichte von Ernſt Barre. Leipzig, Durr'ſche Buchhand ⸗
ung, Fe A “wis, Tan Bush
2. Gedichte von Eugen Frommuth. Berlin, Gelbfverlag
des Berfaſſers. 1868. 16. 15 Nor.
3. Srüßlingeblüten. Gedidte von Alfred Granert. Erim-
mitſchau, Burdhardt. 1868. 16. 1 Thlr.
4 Berichte von Karl Huber. Kempten, Köfel. 1868. 8.
5
6.
gr.
. Borgefühle. Neue lyriſche Gedichte von Albert Jäßing.
Leipzig, Matthes. 1869. Gr. 16. 25 Nr.
. Bolten. Gedichte von Joſeph Mayr⸗Tüchler. Graz,
Hügel. 1869. 8. 20 Ngr.
Die „Gedihte” von Ernſt Barre (Mr. 1) dringen
zuerſt eine verfificiete weſtfälifche Criminalnovelle: „Die
Judenfichte“, melde denſelben Gegenftand wie „Die Iuden-
buche” von Annette von Droſte⸗Hülshoff behandelt, aber
jenen dichteriſchen Hauch, ber die Poefie diefer letztern
durchwehi, gänzlich vermiffen läßt. Den Schluß bilden
Ueberfegungen befannter Lieber von Burns und Byron,
welche ſchon häufig beffer und geläufiger übertragen wor«
den find, Die dazwiſchen befindlichen eigenen Gedichte
leiden an Gedanfenmangel und Unbehülflichfeit der Form;
ale Beiſpiel diene eine Strophe aus ber Schilderung dee
25
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. ® . 2*
194 Wanderungen durch den deutſchen Dichterwald.
nicht ganz unbekannten Schickſals eines in das Licht flie⸗
genden Schmetterlings, von welchem es S. 82 heißt:
Schwirrt und ſchwirret leicht und leis;
Und der arme Falter weiß,
Daß er muß verderben;
Und doch irrt er näh'r und näh'r,
Bis die Flamme ihn verzehr',
Bis daß er muß ſierben!
Von den beſten der Gedichte gilt des Autors eigenes
Wort (S. 98):
Er dachte manch Gutes und ſagt's meiner Treu;
Doch leider, leider war es nicht neu.
Eugen Frommuth (Nr. 2) hat ſeinen „Gedichten“
feine Ueberſchriften gegeben; er ſagt ©. 2:
Ganz ohne Namen, jo wie ihr gekommen,
So end’ ich euch, getroft mit frohem Muth,
Macht jelbft eud Namen, wo ihr aufgenommen,
Wo mandes Aug’ auf euch gerichtet ruht!
Allein diefe Gedichte find nicht geeignet, fich ſelbſt
oder ihren Verfaſſer einen Namen zu machen, denn fie
find jehr unbedeutend, und es fehlt ihnen gerade jencd
„Anonyme“ des bekannten Soethe’fchen Spruch, der feine
Duft des Originalen, da8 Bouquet cined unverwäflerten
Feuerweins. Die Gedichtfammlung enthält mit wenig
Ausnahmen Xiebeslieder, die das Thema von der ſchwar—⸗
zen Loden Nacht, des fchneeigen Buſens Wogen, ber
Augen Glut und der Küffe Flut nach allen Seiten Bin,
oft in wenig gemandter Weife variiren und jo von Zau-
tologien ftroßen, daß es kaum möglid fein würde, unter«
ſcheidende Ueberfchriften für die einzelnen Gedichte zu finden.
Die „Trüblingsblüten” von Alfred Grauert (Nr. 3)
eriunern an die Keimereien, die bei Gefellichaftsipielen,
jenen jeux d’esprit, deren Bezeichnung an die Ableitung |
des lucus a non lucendo mahnt, nad) aufgegebenen
Reimen fabricirt werden. Es ift die nüchternfte platte
Profa in gereimten Jamben und Trochäen, die uns in
diefen Gedichten entgegentritt; Strophen wie folgende:
Bon allen Blumen liebe
Am innigften ich drei,
Des Herzens heiße Triebe
Beflimmen mid) dabei! —
fönnen doch, wenn fie auch noch fo richtig fcandirt und
mit correcten Heimen verfehen find, nicht als Poeſie gel«
ten wollen. Einzelne fräftige Gedanken, welche nament-
lich in den patriotifchen Gedichten: „Bewacht die Fleinfte
Scholle deuticher Erde”, „Zurüd! Noch bat die Waffe
nicht gefprochen”, einen höhern Auffchwung zu nehmen
verfjuchen, laſſen jedoch erwarten, daß der Verfaſſer zu
einem tüchtigen Proſaiker wol eher die Befähigung haben
könnte.
Die Hermann Lingg gewidmeten „Gedichte“ von Karl
Huber (Nr. 4) halter ſich fo genau auf ber breiten Heer-
ftraße der Mittelmäßigfeit, daß es gleich ſchwer ift, aus
der Schar bderjelben ein ganz gelungenes oder ein ganz
mislungenes Lied hervorzuheben. Halb gelungen find einige
(4. B.: „Liebliche Sonne, ach, ſcheide noch nicht”), Halb
mislungen ſehr viele, alle aber unbedeutend.
Albert Jäßing, ıdeflen vor Jahresfriſt erſchienene
ſehr mangelhafte Jugendgedichte in d. Bl. bereits beſprochen
worden find, bringt jetzt ein Bündchen „Vorgefühle“ (Nr. 5),
jn welchem er nad Angabe des Vorworts „durch neue,
ber Größe und des Aufſchwungs der Zeit entfprechende
Bilder und Gedanken eine nene Richtung einzuſchlagen“
beabfihtigt. In welcher Weife er dieſe Aufgabe zu löſen
verſucht, mögen die erften Strophen bes Gedidjts: „Der
Zeitgeift”, zeigen, welche lauten (S. 17):
Hoch fich bäumend, kühnen Schwunges,
Wie der Aar das Blau durchfchoß,
Jagt der Ziegin: ha, ein junges,
Adelſtolzes Siegesroß!
An der Halfter, Nationen,
Keucht ihr nach dem Ideal;
Keine Sonnendemant- Kronen
Wurden blendend euch zur Dual! —
und folgende Schlußcadenz des „Grußes an die Sterne‘
(S. 75):
Ob unermeßlich die Weltenflur
Sich dehnt in endlofe Weiten,
Doc ihrer höhnt die Zitanengeftalt,
Der Menichengeift mit Gottesgewalt,
Und fhwingt fi) empor zum herrlichſten Ruhme,
Und mindet die Erden» und Sonnenblume !
Bon den „Wolken” von Joſeph Mayr-Tüdler
(Nr. 6) find einzelne, z. B.: „Verrechnet“, „Zauberkreis”,
‚Liebe auf der Eiſenbahn“, „Wolfsſage“, ſchon früher
und zwar in den milnchener „liegenden Blättern” an
uns vorübergezogen, und die meiften diefer Ephemeriden
eignen fid) allerdings aud) mehr für dieſes Journal als
für eine felbftändige Gedichtfammlung. Denn troß ein-
zelner gelungener Bilder, mander pifanten Vergleiche und
eöpritvollen Bemerkungen (3. B.: „Indianer und Möndje”)
fehlt e8 den Gedichten an der vis poßtica, fodaß fie nur
als Proja in Reimen erfcheinen.
Kaum größeres Anrecht auf einen dauernden Plag im
deutschen Dichterwald haben folgende epifche Berfuche:
7. Zuleitha. Erzählendes Gediht von Dslar Wagner,
Stuttgart, Belfer. 1869. 16. 18 Ngr.
8. Ahasverus, der ewige Jude. Bon Bernhard Giſeke.
Berlin, Schmweigger. 1868. 8. 22, Ngr.
9. Die Hochzeit zwiſchen Geift und Herz. Ein Frühlingsmär-
hen von Melchior Grohe. Heidelberg, Weiß. 1869,
8 10 Nor.
Die Heldin des erzählenden Gedihts von Oskar
Wagner: „Zuleiffa” (Nr. 7), trägt denfelben Namen
wie the bride of Abydos, und das Epos beginnt gleich)
Byron's Dichtung mit einer Schilderung des Orients. Aber
man darf freilich bei der Xeftitre befjelben nicht an jene
wundervolen Berfe denken:
Know ye the land, where the cypress and myrtle
Are emblems of deeds, that are done in their clime? —
Denn bier Haben wir nicht eins jener Heinen leiden⸗
Ihaftdurchglühten Byron'ſchen Kunſtwerke, fondern, wie
der Epilog befagt, nur eine Nacerzählung der Im⸗
provifation eines türkiſchen Kaffeefaus- Märchenerzählers.
Und es ift in derfelben nicht einmal ein Grundton feft-
gehalten, da bumoriftifch-ironifche und pathetiſch⸗ſentimen⸗
tale Stellen fid) unvermittelt folgen und gegenfeitig para»
lyſiren. Die Form ift ſehr nachläffig behandelt, Metrum
und Reime find zuweilen von faum glaublicher Incorrect«
heit; folgende Stelle der Einleitung (©. 4):
—
Sn en ie. Br EEE
Wanderungen durch ben beutfhen Dichterwald.
Der Fluß dort ift ber Granikus,
Wo Alerander fiegte,
Und dies bier ift der Bosporus,
Den Darius überbrlidte —
muß man wörtlich citiren, um ſich zu überzeugen, wie
Darins und Granikus fcandirt, wie „fiegte” und „über:
brüdte” gereimt werden Zönnen.
Das Erfcheinen eines neuen „Ahasverus“ von Bern-
hard Giſeke (Nr. 8) ift wol faun durd) „ein allgemein
gefühltes dringende Bedürfniß“ Hervorgerufen worden,
denn die Zahl der literarifchen Emwigen Juden wächſt
unmer fort „mit Orazie in infinitum”. Der Ewige Jude
bewährt feine irdifche Unfterblichkeit auch dadurch, daß er,
fo oft er auch von einem Autor glücklich zur ewigen Ruhe
gebracht wird, jofort wieder auferfteht, um feinen troft-
Iofen Lebenslauf in einem neuen Epos von torn anzufan«
gen. Ein folder Revenant ift auch der „Ahasverus“ von
Bernhard Giſeke, welcher aber gegen feine neueften Vor⸗
gänger, Hamerling’8 „Ahasver in Rom’ und ©. Hel⸗
ler’s „Ahasverus“, weit zurüdfteht; denn e8 fehlt ihm
ebenso die Yarbenglut und der narkotifche Duft des einen
wie die philofophifche Tiefe des andetn biefer Namens-
vettern. Ohne einen Grundgedanken Mar bervortreten zu
laffen, enthält dieſe neue Geſchichte des alten juif errant
nur eine Vermiſchung der von dem Herausgeber d. DI.
in Nr. 42 f. 1866 bezeichneten verfchiedenen Auffafjungen
der Ahasverus- Sage,
Neben einzelnen epifodifhen Kreuz» und Duerzügen
des Ewigen Juden bildet eine mehr ausführliche als an⸗
ſchauliche Erzählung der Belagerung und Zerftörung Jeru⸗
falems, bei deilen Vertheidigung Ahasver eine Hauptrolle
fpielt, den wefentlichen Inhalt dieſes Epos, und endigt
dafielbe mit dem Concil von Nicha und der Berlefung
bed Credo durch Athanafius. Einen Abſchluß bringt dieſes
Ende freilich nicht; Ahasver kommt zwar zur Erkenntniß,
daß in Chriſto der Meſſias erſchienen, aber auf ſeine
Bitte um den Tod erhält cr von „einer Stimme“ die
Antwort:
Noch Ion du nicht den Weg gemacht,
Noch haft du nicht erreicht das Thor,
Aus dem dir quilit des Heiles Licht.
Sud deinen Weg, du findeft ihn,
Magſt du auch Iang’ in Irre ziehn! —
was bezüglich einer Fortſetzung dieſer Ahasverus-Irrfahr-
ten Beforgniffe hervorzurufen geeignet ift.
Das der Großherzogin Luiſe von Baden gewidmete
Sarmen zur „Hochzeit zwifchen Geift und Herz”, von
Melhior Grohe (Nr. 9), ift ein Hymenäus eigenthün-
oe Art; ein Frühlingsmärchen nennt es der Berfaller
.11):
\ Ein Märchen iſt's — fein fröftlihes! —
Ein köſtlich tröſtlich öſtliches! —
und doch iſt der Inhalt dieſes im Zone von „Waldmei⸗
ſters Brautfahrt” erzählten Heinen Epos nur eine froftige
Allegorie: der König von Parfiftan, Wille der Gute, und
die Königin Vernunft, welche von dem Majordomus, dem
(Zunschen Berftand, und feiner Kebfe Sinnlichkeit vom
‚Throne verdrängt worden, werden mit Hillfe ihres Sohnes
Heiſt und deſſen angeblicher Schweiter Herz wieder reftau-
nirt. Geift und Herz entbrennen in Liebe zueinander,
md nachdem fich heransgeftellt, daß fie nicht Geſchwiſter
195
find, fondern Herz die Tochter der Feenkönigin Phantafie
und eines unbekannten Baters ift (die Phantafte hält fich
an bie Rechtsregel: „La recherche de la paternitö est
interdite”, welche fie in hochpathetifcher Weife überfett),
wird die Hochzeit gefeiert. Diefe Gefchichte wird nun
nit etwa in fteifen Alerandrinern oder witrdevollen
Herametern, fondern in Inftigen Keimen, die zuweilen
nur Rnittelverje find, erzählt; es entfteht dadurch jener
eigenthümliche Widerſpruch zwifchen Form und Inhalt,
der uns 3. B. die Rubens'ſchen Bilder aus der Gefchichte
der Maria von Medici im Palais Yurembourg gerade
deshalb faſt ungenießbar macht, weil in denfelben cine
Fülle vein allegorifcher Figuren in realiftifcher Auffaffung
mit aller Glut der Farbe dargeftellt wird. Der Berfaffer .
Ichließt fein Epos mit einer Apoftrophe an SHeibelberg
und mit den Wunfche, daß von ihr, der Stadt vol
Immergrün, in feinen Verſen ein Hauch zu fpüren fein
möchte (S. 57):
Dann blieben meine Schilderein
Wie hier Blum’, Böglein, Stern und Ouelle
So Tuftig, duftig, frifch und helle!
Allein, „der genius loci Heidelbergs ift feucht”, wie
Bictor Scheffel in der Widmung zum „Gaudeamus“ fingt,
und dieſes Frühlingsmärchen bleibt doch nur eine trodene
Allegorie.
Nachdem auf diefe Weife etwas Raum gefchafft wor-
den, wenden fi unfere Augen zunächſt auf zwei Bäume
mit weithin fchattenden Kronen, welche nicht dem jungen
Nachwuchs angehören, deren Stünme vielmehr gar viele
Sahresringe ertennen laffen; wie eine Fräftig fnorrige Eiche,
und eine Birke mit dem im Windhauch zitternden grünen
Laube ftehen fie da:
10. Wilhelm Bornemann’s Jagdgedichte. Aus den hinter⸗
laffenen Handfchriften des verfiorbenen Dichters gefammelt
und herausgegeben von Karl Bornemann. Nene Aus
gabe. Mit dem Bidniß des Verfaſſers im SHolzfchnitt.
Berlin, v. Deder. 1869. 8. 22, Nor.
11. Lieder von Luiſe M. Henfel, herausgegeben von
€. Schlüter. Paberborn, Schöningh. 1869. 8. 1 Thlr.
15 Nur.
Bon den „Jagdgedichten“ von Wilhelm Borne-
mann (Nr. 10), deſſen zuerft im Yahre 1810 erfchie⸗
nene, jest im fiebenter Auflage vorliegende plattdeutfche
Gedichte zu den bewährten Veteranen der Dialektdichtung
gehören, ift nach dem Tode des Verfaſſers eine neu,
durch Einfügung mehrerer bisher zerftreut gewefenen
Poeſien bereidherte Ausgabe veröffentlicht worden. Das
Lob, welches das Nachwort dem Dichter ſpendet:
Und er ließ uns feine Lieder
Friſch geſchöpft am Lebensquell,
Wie er felber ſchlicht und bieder,
Wie er felber Har und hell! —
it ein wohlverdientes; denn diefe Gedichte find naturfrisch
und naturwahr, es weht durch fie ein Daud wie daß
Kaufen des Morgenwindes in den Wipfeln des Eid)-
waldes. Wir finden in ihnen die Ergüffe cines „fernen
Jägers“, der mit großartiger Verachtung auf die „Thaler-
ſchützen“ der Neuzeit nach 1848 herabficht:
Spiegel will ich euch vorhalten
Aus der Jägerwelt der alten;
Kann doc an der zeitig neuen
Sid kein Jägerherz mehr frenen! —
25 *
196
und es werben ſich diefe Jagdgedichte auch ſtets bei , Diana's
Söhnen“ einer guten Aufnahme verſichert Halten können.
Für den gewöhnlichen Lefer find diefelben freilich ohne
ein Leriton der Weibmannsfpradhe oft kaum verſtändlich,
weshalb in den Anmerkungen auch meiftens eine Erklä-
rung ber techniſchen Ausdrüde beigefügt worden ift. Aber
auc des Jageriateins muß ber Leſer kundig fein, wenn
er diefen Jagdgedichten den rechten Geſchmad abgewinnen
will; der biberbe Humor derſelben ift zuweilen ſehr kruftig
und macht Häufige Streifzüge in das Gebiet des Burles-
ten, wie ſich dies aud; in der Form (3.8. in den Rei-
men „Weh" und „Berwundete”, „ägerheer” und „Neun-
undneunziger“) bekundet.
Einzelne der „Lieder“ von Luiſe M. Henfel (Nr. 11)
find vor mehr als 50 Jahren in dorſter's „Sängerfahrt”
1818 unter dem Namen Ludwiga, dann in bem „Geiſt ⸗
lichen Blumenſtranuß“ des Fürftbiihofs von Diepenbrod
unter den Smitialen L. H., und in Hermann Kletke's
„Geiftlicher Blumenleſe abgedrudt, auch iſt von letzterm
ein Theil derſelben in einer beſondern Sammlung im Jahre
1857 veröffentlicht worden. Nur wenige der jegt vom
Prof. Schlüter herausgegebenen Gedichte find in dem letz .
ten Decennium entftanden, faft die Hälfte berfelben ift
vor einem halben Säculum gebichtet; einige, namentlich
das „Nachtgebet”: „Müde bin ich, geh’ zue Ruh, fchliehe
beide Augen zu“, find ſchon längft nicht nur in zahlreiche
Liederſammlungen, fondern aud) in den Vollsmund über
gegangen, und bie Dichterin hat wegen dieſer Lieber ja
aud in namhaften Literaturgeſchichten rühmende Erwäh-
nung gefunden. Bon befonderm Interefie ift das per»
ſonliche und literariſche Verhältnig ber Dichterin zu Ele
mens Brentano, ber ihr ſteis die innigfte Zuneigung bes
wahrte und ihre Lieder in einem Briefe an feinen Bruber
Chriſtian als das Liebſte und Wohlthätigfte bezeichnet, was
ihm von menſchlichen Händen in feinem Leben zugelom-
men fei. Einige der Gedichte, welche Clemens Brentano
zugef—hrieben werden umd unter feinen „Geiftlichen Lie»
dern“ veröffentlicht worden, haben Luiſe Henfel zur Ver-
fafferin, 3. B. „Das Keimchen“; und in bem Liebe: „Zur
Weihnachtaſternenhelle“ — dem Prolog der „Trutznachti ⸗
galt” — find die einzelnen Strophen abwechjelnd von Cie»
mens Brentano und Luiſe Henfel gedichte. Das Lob,
welches diefen Liedern von H. Kurz umd Barthel gefpendet
wird, daß „fie zu den trefflichften Erſcheinungen in dem
Gebiete des religibſen Liedes gehören umd nicht nur wegen
echt chriſtlichen Sinnes, Kindlicher Demuth und hingeben-
ber Liebe, fondern auch wegen der Herzlichen einfachen
Spradje und des oft volfsmäßigen Tons der Darftellung
hochzuftellen find“, ift allerdings gar wohl begründet. Denn
Lieder wie 3. ®.: „Jeſus in ber Heiligen Schrift”, „Das
Gebet um Beharrlichkeit“, „Vorüber — hinitber”, „Einer
Keinmüthigen” u. a. find der ergreifende Ausdrud find
licher Demuth und einfacher aber tiefer Frömmigkeit und
zeigen zugleich eine ungefänftelte Vollendung der Form,
welche von großer Wirkung ift, Allein es kann auch nicht
verſchwiegen werden, daß der Kreis der Empfindungen,
in welchem ſich dieſe Gebichte bewegen, eim fehr enger,
ihr Inhalt etwas eintönig ift, und bag fid), mwenigftens
in einen Theil berfelben, eine unangenefme Silßuͤchleit
eingeſchlichen hat. Dies gilt namentlich von der micher-
Wanderungen burd ben deutſchen Dichterwald.
holten Bezeichnung bes Heilandes als des Liebſten, bes
Allerfhönften, von dem Ausmalen bes erften Kuffes, des
füßen Liebestodes, von Gedichten wie „Der Reifeplan“,
er Dftermorgen 1818” und von Stellen wie folgende
G. 65):
2 Du füßer, lieber Jeſu Chriſt,
Die (htm id mid vor bi,
Daß noch fo lau mein Herz dir if:
Gib Liebe, Liebe mir!
Ferner (©. 38):
Da fah er meine Thränen fließen,
Da rief er freundlich: „Lämmlein, lomm!“
roh eilt’ ich hin zu feinen Füßen,
ein Blut that auf mid niederfließen,
Da war ic) wieder rein und fromm!
Dber (©. 9):
Laß uns in grünen Wiegen
Im weißen Hemblein fiegen
So fill und tief und didt;
Laß Thränen uns befendten,
Laß auf uns nieberleuchten
Dein ewig Mares Mondgeficht!
Solche Stellen, ferner die übertriebene Kindlichleit der
Krippenlieder“, oder die Ballade von den frommen Schäf-
fein, die vor ber Hoftie Inien, muß man dem Heraus-
geber entgegenhalten, wenn berjelbe am Schluß bes Bore
worts eine Bergleihung zwiſchen diefen Gebichten und
den „Geiftlichen — von Annette von Drofte- Hülshoff
anftellt, welche im ganzen zu Ungunften ber letztern aus ·
fällt, während diefelbe doch Luſe Henfel an poetiſcher
Kraft, an Tiefe der Gedanken und Reichthum der Phan-
tafie weit überragt.
Bon dem jüngern Nachwuchs find einige mehr. oder
minder politiſchen Inhalts, von den Ereigniffen der jüng-
Ren Vergangenheit ganz ober zum Theil erfüllt, und zeich⸗
nen fid) die beiden erften biefer Gedichtfammlungen auch
noch dadurch ans, daß ihre Verfaffer dem Handwerker
ſtand angehören:
12. 2orber und Rofe. Vaterländiſche Gedichte von Karl
Beife. Berlin, Goldſchmidt. 1869. 16. 10 Rgr.
18. Dentjche Klänge aus den für das deutſche Baterlaud fo
sreignißolin Jahren 1866 und 1867. Dem beutichen
Bolle gewibmet von 9. ©. Müller. Rebſt einem Anhang
vermiſqhter Gedichte. Obrdrufi, Stadermann jun. 1868.
&. 16. 12 Nor.
14. Buute Blätter. Gedichte von Wilibald Skett. Min
den, Köhler. 1868. 32. 15 Nor.
15. Bfätter und Blüten aus dem Schwarzwald. Gedichte von
T. Hafner. Tübingen, Oflander. 1868. 16. 12 Rar.
Unter dem Titel: „Lorber und Roſe“ (Mr. 12) hat
zunächſt der als Volksdichter befannte und ſchon wieder«
holt in d. DL. beſprochene Dreslermeifter Karl Weife
aus Yreienwalde a. D. eine Sammlung vaterländifcher
Gedichte Herausgegeben, welche ſich zum Heinen Theil
auf den Feldzug in Scleswig-Holftein, zum größern
Theil auf die Kämpfe des Jahres 1866 beziehen. Weife's
früere Werke, namentlich fein „Familienleben in Dice
tungen“, geben ein vollgültiges Zeugniß dafür, daß bie
Hand, welche tagsüber den Meißel führt, abends ber
Harfe des Dichters einfache, aber zum Herzen dringende
Töne zu emtloden verfteht, und dies befunden an bie
vaterländifchen Gedichte, welche in einem Doppelfonett dem
Wanderungen durch den deutſchen Dichterwalb. 197
König Wilhelm I. getoidmet werben. Iſt in dem Dichter
diefer patriotiſchen Gefänge auch gerade nicht ein neuer
Tyrtäus erftanden, fo fehlt es einzelnen berfelben doch
Teineswegs an Schwung; Hangvoll und Fräftig tönt z. B.
„Das Giegesfäuten" (S. 1):
Sa, öffnet, all ihr Abendgloden,
Den liederreihen Mund von Erz
Und wedt zum innigſten Frohloden
Das fiegsbeglücte deutſche Herz!
In den meiften diefer Gebichte tritt jedoch der bie
Dichtungen Weife'8 harakterificende Sinn fr das Far
wilienhafte, Häusliche, zuweilen faft in etwas trivialer
Weiſe hervor; andere haben nur ben Werth einer gefchidt
erzählten militärif—en Anekdote (3. B. „Die durftigen
Pommern in Kiffingen“),
Die zweite Sammlung patriotifcher Gedichte: „Deutſche
Klänge aus den für das deutjche Vaterland fo ereignißvollen
Jahren 1866 und 1867”, von H. ©. Müller (Mr. 13),
ſtammt ebenfalld von einem deutſchen Handwerker; als
einen folchen bezeichnet ſich der Verſaſſer felbft in der
Borrede, und in bem erften Gedicht ruft er, an ber
Hobelbank ftehend, aus:
Daf es mir möcht’ gelingen,
Ihr Mufen ſteht mir bei!
Stürkt meines Geiftes Schwingen,
Denn id bin nur ein Lai'!
Leider haben aber die Mufen diefer Bitte ihr Ohr
verfchlofien, und wenn die Veröffentlichung diefer Reime⸗
reien durch die in ber Vorrede erwähnten „anerfennenden
Zufhriften befannter und competenter hochgeftellter Män-
ner“ herborgerufen worden ift, fo dürfte die Competenz
diefer Kritiker den erheblichften Zweifeln unterliegen. Denn
der Berfaffer weiß feiner wmohlgemeinten Begeifterung für
Deutſchlands Einheit und Größe, für Vollsrechte und
Freiheit nur in holprigen Knittelverfen Ausbrud zu geben,
und diefen gereimten Seitartifeln eines Winkelblattes fehlt
es an jebem poetiſchen Gehalt. Als Beiſpiel diene ein
Kapitel aus der neueften Geſchichte Italiens (S. 44 fg.):
Doch jener große Held (sc. Napoleon ILL.)
Laßt feiner gu das Feld,
Will guter Eh'mann fein,
Und ihr den Papft befrein!
Dem Frau Engenia
Srolt mit Italia,
Papft ſich nicht retten kaun,
Müffen Franzofen dran.
Er ſchickt mit Chaſſepots
—A
Zuaven bei Mentana;
Thum große Wunder dal
" Die Philippifa gegen den bewaffneten Frieden ent»
Hält folgendes Argument:
Neuer Mordgewehre Koften
Freffen Millionen Gold,
Und des Budgets ſchwerſter Poſten
IM des Friedencheeres Sold!
In gleicher Tonart find and die vermiſchten Gedichte
des Anhangs gehalten; in dem Hochzeitöcarmen für feine
Nichte preiſt der Verfaffer das 208 ber Braut und die
fociale Stellung des Bräntigans mit folgenden Worten
(©. 59):
Denn Frau Pfarrerin zu werben
IR ein neidenswerthes Glüd,
Das gar viele ſchon begehrten,
Mande wol mit neid'ſchein Blid!
Der Pfarrer if in der Gemeinde
Der erfle, der geehrt'ſte Mann;
Jeder wünfeht fid) ihn zum Freunde,
Beil ex den Himmel fließen kann!
Wenn die Dichtungen von Karl Weife auch zumeilen
etwas an das Hausbadene ftreifen, fo zeigt doch eine
Bergleichung berfelben mit diefen Producten feines Colle-
gen Müller, welche Fülle poetifcher Kraft ihnen innewohnt.
In dem als Vorwort der „Bunten Blätter” von
Wilibald Skett (Nr. 14) dienenden Dialog zwiſchen
dem Dichter und bem Lefer unferer 'Zeit fpricht der letz⸗
tere bie Verwahrung aus: „Nur nicht zu große Sachen,
man kommt zu ſchwer vom Fleck!“ Und diefer Mahnung
eingebent bringt der Dichter im Meinften Weftentafchen-
format auch nur Kleinigfeiten, die zuweilen faum etwas
anderes find als „Vermiſchte Nachrichten” der Zeitungen
in Berfen. Die trivialen Geſchichten: „Gute Freunde”,
„Hochzeitsreiſe“, „Die fallende Eiche” ober „Die legten
Lebendtage des Golbonfels aus Amerita” (©. 75):
Er brachte feine Gelder
ze einein reichen Bankier;
wußte fie da fidher,
Bei mäßiger Zinfenhöh't
Kaum af er eine Woche
Des Alters zubigen Brot,
Da war das Geld verloren —
Der Banfier war bankrott! —
Eönnen ben aus ben „liegenden Blättern“ befannten
Biedermannd- Gedichten eingereiht werden. Daneben fin«
den ſich aber auch einige von tiefer Empfindung zeugende
Lieder, 3. B.: „Gebet der Natur”, und eine Anzahl von
Gedichten, welche, auf die neueften Zeitereigniffe Bezug
nehmend, nicht ohne Geſchick gegen Particnlarismus und
Ultramontanismus mit ſcharfgeſchliffenen Waffen ankäm⸗
pfen; 4. 8.: „Juni 1866”, „1572 und 1867 — Bar
tholomäusnaht und Mentana”, „Deutſches Zollparlament
im Mai 1868”, „Sentimentale Klänge vom Nordfee-
firand“ und die etwas ſehr ſtark gepfefferte Satire: „From ⸗
mer Wunſch einer nicht deutſchen Partei“, welche mit den
Berfen beginnt (©. 81):
Bir hatten einft ein Grundgefeg!
Daher war he viel Rn _
Bon fieben Profefjoren,
Die wir zum Glüd verloren.
Unb fpäter lag uns Rom fehr nah,
Auch waren Jeſuiten da,
Die num katechiſirten
Und uns zum Beffern führten!
Auch gab es einen Hoffrifeur
Der war greihzeitig Grandfeigueur.
Man zahlte feine Gnade
Wie Bürfe und Pommade!
Der und ein feiner Zahudirurg,
Nur Cavaliere dur und durch,
Und dann ein frommer Priefter,
Die waren Hausminifter! u. f. w.
198
Der Verfaſſer der „Blätter und Blüten aus dem
Schwarzwald“, T. Hafner (Nr. 15), fendet feinen Ge-
dichten nicht nur als Vorwort eine Paraphrafe des Goethe’.
fhen Spruchs: „Wer Tann Kluges, wer fann Dummes
denken, das nicht längft die Vorwelt ſchon gedacht”, fon-
dern aud) noch eine Vorentſchuldigung“ voraus (©. ıx):
Ohne Fehler, ohne Mängel
Sind felbft Gottes Tiebe Engel
In dem weiten Himmel nicht;
Denn er mußt' vor grauen Tagen
Einen Schub hinunterjagen
An das hölifche Gericht!
Afo find auch meine Kinder
Mangelhafte Erdenſünder,
Aber dennoch allerliebft!
Darum hoff’ ich, Lieber Lefer,
Daß du nicht in Wuth, in böfer,
Sie dem Feuer übergibſt! —
und zur nähern Charakteriftif der „allerlichften Kinder“
dient dann nod der Troft (©. 42):
Sf nun eins unter den Kleinen,
Das vielleicht ſtrümpfig
Ober barfuß, mit zottigen Haaren
Und vorwibigem Gebaren,
Mit ſtottriger Rede und trokig
Draußen umberremnt,
Wo niemand e8 kennt,
Der Kritiker darliber fchimpft,
Der Aefthetiler die Nafe rümpft,
So wißt:
Unter jedem Kinderhäufchen
Dft ein ungerathnes ifl!
Freilich iſt aber die Zahl diefer ungerathenen und
ungezogenen, vorlauten und vorwitigen Kinder etwas zu
grob und ihre Unart häufig etwas zu kräftig, wie z. B.
a8 Sonett an einen Geizhals, das Gedicht „Unfere
Zeit mit dem Schluß: „Poefie ift nicht vonndthen, da
man ja Guano bat” u. a. zur Genüge befunden. Allein
es finden fi unter der Gefchwifterfchar aud) gar viele,
die Kopf und Herz auf dem rechten Flede haben, und
unter ihnen zeichnen fid nicht wenige durch einen frifchen
Lebensmuth und namentlich durch ein warmes Baterlande-
gefühl vortheilhaft aus. Die Stimme, bie in biefen Ge-
dichten von jenfeit de8 Main herübertönt, wird im Nor⸗
den überall ein Echo finden; im Scherz (z. B.: „Einen
Erfünig“, den man doch gewarnt vorm Spiel Sche-
undfechzig) und im Eruft (z. B.: „Den Antipreußen“,
„Aufruf vom Mai 1867, „Gloſſen“) ſpricht ſich ein
fräftiger Patriotismus, ein Gefühl fürs deutſche Vaterland
in wohlthuender Weife aus. Der Rüdblid „Zum Jahres.
ſchluß 1867" zählt zunächſt den Gewinn „diefer großen
Zeit” freudig auf und ſchließt dann mit den Worten,
die auch heute noch Geltung haben:
Das heiß’ ich viel errungen
Sn folder Turzen Zeit!
Doch ift fie ganz gelungen
Die deutide Einigkeit?
Trennt nicht vom deutfchen Norden
Den Süden noch der Main?
Iſt's Wahrheit denn geworben:
Ein Dentſchland foll es fein?
Kommt, trot des Auslands Neiden
Und trog Napoleon
Laßt ihn uns überfchreiten:
Den dentſchen Rubilon!
Wanderungen durch den deutſchen Dichterwald.
Rein lyriſchen Inhalts find dagegen folgende Novi«
täten:
16. Am Zwifchenabner See. Lieder von Franz Poppe.
Didenburg, Stalling. 1869. 16. 10 Ngr.
17. Zropenlieder von Albert Häger. Amflerdam, van ber
Made. 1868.
18. Gedichte von Ernſt Günthert. Ulm, Stettin. 1869.
16. 18 Nor.
. Guten Morgen Bielliebhen! Gedichte von Richard
Schönbed. Glatz, Hirſchberg. 1868. Gr. 16. 1Thlr.
. Aus dem Herzen. Dichtungen von Hedwig von Szwy⸗—
fowsta. Göttingen, Bandenhocd und Ruprecht. 1869.
8. 15 Nor.
Die Gebihtfammlung: „Am Zwifchenahner See”,
von Franz Poppe (Nr. 16), enthält zumächft eine Reihe
von Robliedern der idylliſchen Lieblichkeit dieſes waldumkrunz⸗
ten Sees des Ammerlandes im Herzogthum Oldenburg,
deſſen landſchaftliche Schönheit, ja defien Exiſtenz vielleicht
manchem Leſer unbekannt ſein mag. An dieſe Natur⸗
ſchilderungen ſchließen ſich Liebeslieder an, bei denen der
See und ſeine Umgebungen ſtets den Hintergrund bilden;
auch ſie ſind ein ſprechendes Zeugniß von dem friſchen
kräftigen Gefühl und der poetiſchen Begabung des Ber
faſſers (z. B.: „Ritornell“, „Wir faßen zu vieren im
Wagen”, „Der Yahrende Sänger” u. a), Sehr an
Iprechend find auch die humoriftifchen Beigaben, und zwar
nicht blo8 das am Schluß beigefügte „Kleeblatt ungezo-
gener ungen“, deren ausgelaffenes Treiben der Dichter
mit der Bemerkung: „Es wächſt anı See ja auch bei Lilien
der Hülfenftrauch” (die Stechpalme), zu entſchuldigen bittet,
ſondern auch unter den Seeliedern felbft findet fich hier
und da ſolch ein Iuftiges Intermezzo; 3.8. ©. 82: „So
geht's“, mit der Moral:
Drum Iadeft du zum Stellbichein
Dein Liebhen in den Garten,
Laß es zu lang’ im Sternenſchein
Nicht warten, ja nicht warten!
Sonft fommt der Hans, des Nachbars Sohn,
Und ftiehlt dir deine Liebe:
Gelegenheit, das weiß man ſchon,
Macht Diebe, ja macht Diebe!
Und ©. 35:
Das Land, es ift ein Paradies!
Allein was nützt es mir?
Bin id) dod in dem Paradies
Allein wie Adam bier!
Du lieber Gott, ich bitte dich,
Gib eine Eva mir!
Dann jag’ mich meinethalb hinaus
Zum Paradies mit ihr!
Naturfhilderungen und Liebeslieder mit landſchaft⸗
lichem Hintergrunde bringen auch die zum Beften bes
Sophien⸗Thierſchutz⸗Vereins in Amfterdam herausgegebenen
und der Beſchützerin befielben, ber Königin Sophie ber
Niederlande, gewibmeten „Tropenlieder“ von Albert Häü-
ger (Nr. 17); nur wird diefer Hintergrund nicht von
einem waldumfränzten norbögutfchen Binnenfee gebildet,
fondern ift derfelbe „weiter her” (©. 23):
Die Tropennacht bededt das Meer und laue Luft weht drü-
berhin
Der Blumenduft Oſtindiens umgauieit träum'riſch meinen
inn;
Da liegt das zauberhafte Land — Scheherazade's Märchenwelt,
Gleich einem Bilde vor mir da, uf die mein finnend Auge
fällt
Wanderungen burch ben deutſchen Dichterwald.
Diefe „Tropenlieder“ ftammen aus Java nnd Celebes
und bieten außerdem ein Intermezzo „Aus ben Savan-
nen” und einen Epilog vom Piräus und ber Heimreife.
Sie erinnern in ihrem glühenden Colorit zuweilen
an die Aquarelle von Eduard Hildebrandt und deflen
Sonnenuntergänge aus Indien mit Elefantenftaffage. Die
Dietion ift eine Imitation von Freiligrath, wie z. ®.
aus folgender Strophe deutlich erhellt:
Mit vorgeftredtem Halfe geft verſchnellten Schritis das Dro-
mebar,
Schon athmet es dem feuchten Duft dee Wuſtenbronnens Kühl
untl ar
Aus ihrem matten Schaf erwach im Sa das Lieblingeweib
I jeits
Sie ornet mit geäfeger Sand De weiten Falten ihres
ails.
Zwiſchen die eigenen Gedichte find auch einige gelun-
gene Ucberfegungen von Burns ſchen Liedern (3. B.: „Will
you go to the Indies” und „Powers celestial“) und
ans dem Holländif—en eingefügt.
Das Heine Bändchen mit faum 50 „Gedichten“ von
Ernft Günthert (Nr. 18) if den Manen Ludwig Uh—
land's, der den Verfaffer zur Herausgabe diefes Lieber-
trauzes ermuntert hat, gewidmet, und der Tod Uhland's
hat auch zu eiment der Hübfcheften Gedichte („Es wird
ein Grab gegraben zu Tübingen im Thal“) Beranlafjung
gegeben. Ueberhaupt finden fid) unter diefen Dichtungen
eines begabten Dilettanten manche recht anſprechende Lier
der, die durd) ihren Maren Gedankeninhalt und ihre ab-
gerumdete Form ben Lefer erfreuen, z. B. die Anekdote
von York „Den Rufen gegenüber”, „Das höchſte
Gluck“, „Der Ring von Gold“, „Im Thau von ftillen
Thränen” u. a. m.
Der Strauß von Immergrün, Ehrenpreis, Difteln,
Eifenhut und Ritterfporn, welchen der Verfaſſer der Gedichte
fammlung: „Guten Morgen, Vielliebchen“, Richard
Schönbeck (Nr. 19), darbietet, enthält gerade feine
Blumen, die fih durch Farbe, Form und Duft befonders
auszeidjnen, und überdies find biefelben nicht ſämmtlich
im des Verfaſſers eigenem Garten gewachſen. Denn diefe
Gedichte find eine fo umverfennbare Nahahmung von
Heine's „Bud; der Lieder“, daß einzelne Wendungen und
Gedanten faft unverändert wieberfehren. Das Gedicht
(S. 91): „Und wenn id) allein dich treffe“, mit ber
Schlußſtrophe:
Halt fe dann die Heinen Hände,
Und laffe dich nicht von der Stel’,
Und jhan dir ins Auge nud frage:
„”ann reifen Sie, Mabemoifelle?" —
ift doch nur eine verwäſſerte Paraphrafe von Heine's
„Madame, id) Tiebe Sie!" Dann „Die Kluge” (©. 95):
Sie hatte der Eonrmacher dreie,
Drei Anbeter warben um fie,
Sie war and wirklich traitable
Beauts und voll Geift und Geniel —
tie „Ballade” (©. 128):
Es reitet ein einfamer Reiter
Durch Naht und Sturmmwind einher,
Gs peitjcht ihm der Regen das Antli; —
Mein Liebchen, was wilft du noch mehr? —
mit dem Schluffe:
199
Es ift ein preußiſcher Lieutuant,
Der reitet vom Lande nach Haus,
Den Baletot hat er vergeffen —
Mein Liebchen, das Lied if num aus; —
ferner ber Vers vom Stern im hohen Norden (S. 39):
D leuchte weiter, du treuer Stern,
Dit deinem milden Lichte,
Ic lieb' dich innig — du bleibft fern; —
’S ift halt die alte Geſchichte! —
oder (S. 98):
Sich, ic} habe dir gewidmet
Meiner Lieder leiſes Flehn,
Schön fcandirt und fhön gerhythmet —
Und du willſt es nicht verfichn!
Nein, gewiß, das war nicht edel,
Daß du fo an mir gehandelt,
Meinen ganz bernüir’gen Schädel
In das: Gegentheil verwandelt! —
fie find ganz - in Heine’fcher Manier, falop und auf
pifanten Effect berechnet, nur weniger geiſtreich und eben
nicht mehr originell, Aber auch die beſſern ber zahl·
reichen Liebeslieder (3. B. „Ich träumte, ich wäre wieder
bei dir“, ferner: „Dort oben bei ber Kapelle, da faßen
wir Hand in Hand“, und: „Dort oben bei den Todten
ftand wieder ic) allein“) erinnern, allerdings zu ihrem
Bortheil, an bie ſpecifiſch Heine ſche Lori. Schön
fcandirt find freilich, diefe Lieder nur zum kieinern Theil,
viele find pure Proſa, und es dürfte eine ſchwierige Aufe
gabe fein, folgende Stelle aus dem „Prolog des Tages
don Oswiecim, einer trodenen Gefechtsrelation, als Verſe
zu ſcandiren:
Hier aogen beide — General von Knobelsdorff mit feinem
Regimente Nr. 62, Malachoweki und feine 2. ſchleſiſchen Hu-
faren, vom Oberflientenant von Baumgarten geführt — nahm
feine Stellung dann in Ratibor, umfpähend nah dem feinde
auszufhauen. Gen Myslowig wand fi Graf Stolberg hin
mit Buffe Ulanen-Landwehr-Regiment und Petersdorfi Hufaren,
der Fägercompagnie des Hauptinanns Kufferom, vou Infanterie
die Landwehrbataillone Major von Ofen-Saden, Kleiſt und
Kehler m. ſ. w.
An andern Stellen Tofettirt der Verfaſſer mit einer
Fülle nautifcher Kunflausdrüde, z. B. im „Bellerophon"
(©. 121):
Das St.⸗Georgekreuz ander Mod der Gaffel,
Die Leinwand aus vom „Topp zur Railing,
Die Luken aufgetreißt — —"
Ein hübſcher Einfall in gefälliger Form ift das Lob
des preußifchen Wahlſpruchs Suum cuique mit bem
Schluſſe (S. 77):
Und nimmer wirb im Preußenland
Der edle Spruch verletzt,
Selbft wenn des blinden Gottes Hand
Die ſcharfen Pfeile wegt.
Kup ic meins Liebchens roſigen Mund,
So wünfd’ ich aud zu jeder Stund:
Suam cuiquel
Wenn die Verfafferin der Lieder „Aus dem Herzen“,
Hedwig von Szwykowska (Nr. 20), im Vorwort
ausfpridht :
Mit wenig Worten viel zu fagen
Soll nie ein Namenlofer wagen,
Der noch nad Ruhm und Beifall ringe;
200
Das if ein Recht, das fich die alten
Gediegnen Dichter vorbehalten! — —
fo fcheint fle die Schranke ihrer eigenen Befähigung für
ein allgemeines Geſetz zu Halten. Daß fie felbft aller-
dings nicht im Stande ift mit wenig Worten viel zu
fagen, bavon find die ſechs⸗ und achtzeiligen „Stoppeln‘ und
„Schneefloden”, in denen nirgends ein Gedanke einen
furzen prägnanten Ausdruck findet, ein Zeugniß. Alle
Gedichte nehmen fi) wie Paraphrafen aus, die jedoch in
geihmadvoller Form oft recht finnige Gedanken, ein fri⸗
ſches und tiefes Gefühl und lautere Frömmigkeit erken⸗
nen laffen. Als ein ſolches anfprechendes Gedicht ift
befonders der „Mahnruf zur Freudigkeit“ in Terzinen
hervorzuheben.
Noch inhaltreicher find:
21. Iugendparadies. Dichtungen für Yung und Alt von
mil Taubert. Neu-Ruppin, Petrenz. 1869. 8.
gr.
22. Gedichte von Karl Schwarz. Leipzig, Felix. 1868. 8.
1 Thle. 15 Ngr.
Der fehr probuctive Emil Taubert, befien „Ge⸗
dichte” (1865), „Brautgefchen!” (1866) und „Neue Ger
dichte” (1867) in Nr. 31 d. Bl. f. 1866 und Nr. 3
d. Bl. f. 1869 beſprochen worden find, bat unter dem
Titel „Bugendparadies“ (Nr. 21) wiederum ein Bändchen
Dichtungen verdffentliht. Daſſelbe enthält aber nicht,
wie feine Vorgänger, Liebeslieder und Gedankenlyrik, ſon⸗
dern Kinderlieder für Heine und große Kinder, welche die
Begabung bes Dichters don einer neuen jehr anfpreden-
den Seite erfcheinen laffen. Unter diefen Gedichten find
einzelne allerliebfte Genrebilber, welche fi den bekannten
Zeichnungen aus bem Kinderleben“ von Oskar Pletih an |
die Seite ftellen können. Bon denfelben find namentlich:
„Proſit“, „Die erften Stiefeln‘, „Katenmufif”, „Der
Thiere Weihnachten“, „Vogelſprache“, „Gänſemägdlein“
hervorzuheben, und ferner „Große Wäſche“ (S. 20) mit
dem Freuderuf der Kleinen Wäſcherin: |
7." Sol ein Planjchfeft, fo wie heute,
Wünſcht' ih Tag um Tag, juchhei!
D die großen klugen Leute,
Sammern fie nicht ſtets dabei?
Beun ich groß bin, alle Wochen
Große Wäſche richt’ ich ein.
Waſchen, Planſchen, Seifekochen —
Ach wie köſtlich muß das fein!
Der Vorwurf, der manden Kinderbildern von Oskar
Pletſch gemacht wird, daß fie die Naivetät und die Poefie
des Kinderlebens, welche alle Zeichnungen bes Altmeifters
Ludwig Richter durchwehen, zuweilen vermiffen laſſen,
ober fie geradezu einer pilanten Wendung, einer manie⸗
rirten Parodie des Lebens der großen Kinder aufopfern,
kann freilich einzelnen diefer Kinderlieder auch nicht er⸗
fpart werden.
Die Gedichte von Karl Schwarz (Nr. 22) werben
von dem Antor als Heine Böglein voller Wald- und
Sangesluft bezeichnet (S. 14):
Kleine Lieder find wie Vöglein
Die man jeden Tag gern Hört,
Weil ihr Fliegen, weil ihr Singen
Uns auf unjerm Gang nicht flört.
Wanderungen durch den deutſchen Dichterwald,
Denn fie aber auch feinen Ablerflug wagen, ſondern
nur leicht befchwingt von einem Baume zum andern
flattern, fo fchallt doch ihr Geſang bald in den füßen
Tlötentönen der Nachtigall (in den LXiebeslicdern: „An
die Entfernte”, „Es geht heut nicht”, „Liebesfrühling“),
bald in Iuftigen Lerchenwirbeln (in ben Naturfchilderungen:
„Soldregen“, „Brühlingseinzug”, „Mondſchein⸗Sommer⸗
nacht“), bald im muntern Finkenſchlage (in den Waldes
liedern: „Bergwäſſerchen mein Führer”, „Mein Wander
ftab”, dem Sonett: „Ein Wort, ein Mann“, den Trink
liedern: „Beim Wein‘, „D du wonnige lane Sommer
nacht”) aus ben Zweigen. Allein was der Dichter von
ben guten und ſchlechten Gedanken in ben „Aufgereihten
Perlen” (S. 248) fagt:
Ein Gedanke kommt felten allein,
Ich hab’ es erfahren:
Klug oder dumm,
Sie leben zu Paaren! —
das gilt auch von feinen Gedichten. Die Zahl ber guten
it ziemlich groß (von denſelben fei noch das Motto der
Liebeslieder, die Gedichte: „Die Erften“, „Wie die Kinder
das Laufen lernen“ erwähnt); allein die Zahl der unbe:
deutenden und fchlechten ift auch nicht Hein, und da bie
Quantität die Qualität niemald zu erfegen vermag, fo
würde eine Beſchränkung bes Inhalts diefes ſtarken
Octavbandes auf etwa die Hälfte fehr zu feiner Empfeh⸗
Iung beigetragen haben. Neben einer Anzahl fehr trivialer
Erzählungen und Reflerionen (3.2. „Der alte Buchhalter“,
„Umſchau“, „Gefühle beim Bergfteigen”, „Bom Leben
zum Tode‘) find es namentlich die Gedichte humoriſtiſchen
Inhalts, die ſehr ſchwach ausgefallen find; „Der Frühling
als Spottvogel“, der dem im Gefchäft bes Dichtens
raſch dur das Rofenthal dahinlanfenden Autor zu-
ruft (S. 337):
Und fo wähnt’ ich, lieber Sänger,
Liebesſchmerz fei auch dein Drünger;
Doch ein Lied, ich weiß es jebt,
Hat dich jo in Trab geſetzt —
beweift dies zur Genüge. Daß übrigens Gutes und
Schlechtes nicht blos immer „zu Paaren” kommt, fondern
ih auch einzeln dicht nebeneinander vorfindet, das zeigt
folgende Beiäreibung eines Gewitters, in welcher das
erfte Bild ebenjo ſchön wie das zweite matt und mid
lungen ift (©. 107):
Dem Gedanken gleich, der erſt nur
In dem Kopf des einen lebet,
ft des fernen Bliges Spur. —
Doch bald jagt des Donners Rollen,
Daß er aus der Haft entfprungen,
Ju die Mafjen eingedrungen —
Furchtbar, daß die Erde bebet!
Auf des Taltſtocks Flammenzeichen,
Das zerreißt ber Wollen Schweigen,
Folgt der große Paufenfchlag
In der Wetterfompbonie;
Langgezogen hallt er nach!
Zum Schluß finden wir in diefem Stüd des beutfchen
Dichterwalbes noch eine Fräftige, im fchönften Blätter»
ſchmuck prangende Ulme, welche gleich den Ulmen ber
lombardifchen Ebene bis oben von Weinranken umfponnen
und 3 einer Fülle ſüßer ſchwellender Trauben behan«
gen iſt:
= — ——— — —— — — ——— -
|
|
Philoſophiſche Schriften. 201
33. Beinpdantaften von 3. Leopold. Zweite Auflage. Berlin,
eüderig. 1870. Br. 8. 12 Ngr.
Der Berfaffer diefer „Weinphantafien fagt ziwar von
fih in der Makame (S. 82):
Es ift wahr, mich kennen die wenigfien Leute,
Und von meinem Weltruhm jchnattern heute —
Statt in des Nordens Froft und des Südens Sommern
Kaum erſt ein paar Bänfe — in Hinterponmern! —
allein dies Büchlein mit dem Motto: „In vino veritas,
in vino divinitas”, wird bald die Wirkung haben, daß
fein Zalent nicht lange „latent“ bleibt. Denn der Dichter
it ein würdiger Nachfolger des Hafis und Mirza-Schaffy,
und doch von ihnen wefentlich unterfchieden; nicht unter
Palmen, fondern in deutſchen Buchenhainen find diefe
kiebesblüten gewachfen, und ihr Duft ift ohne jede Bei«
miſchung des Narkotifchen, Tiebli und doch kräftig, er-
quidend wie da8 Bouquet eines edeln Rheinweins. Und
deshalb werben Weinlieder wie: „Die Trinkmuſik“,
„Das Meer”, „Die Weinphantafte‘, „Warum ift die
Lehe jo froh?” m. a. mit wohlverbientem Beifall
empfangen werden von dem Chore der Zecher in jauch-
zender Runde:
Sie fühlen es, daß für die Tollheit der Welt
Zu jeglider Stunde
Aus dem Geifte des Weines fid) ein Rächer erhebt
Mit der Weisheit im Bunde.
Und wenn mander in die Klage des Vorworts über die
ſchwere Noth der „kriegsgottſel'gen Zeit“ einftinnmt, fo
erfreut er fi) doppelt an diefen originellen Klängen
und benft:
Ein folder Klang bei ſolchem Leid,
Ein foldyer Sang in folder Zeit
Sf, was man zugeftehn gwiß muß,
Gin rlihmensiwerther Anakreoniſsmus.
Der luſtig fprudelnde Humor des Dichters, der na⸗
mentlih in der Makame: „Das bemoofte Haupt‘, ſich
in grotesk fomifchen Sprüngen ergeht, überfchreitet zu«
weilen die Orenzen des Burlesten, 3. B. in der Etymo-
logie des Wortes Philofophen, in ber Verdeutfchung des
eocesiar Auap diay nor Amin! (E8 kommt der Tag,
da der Teufel euch Hole), oder in den Strophen:
Das Glück zwar das weicht mir recht ärgerlich aus,
Oft pocht' ich an den Thoren, da war's nicht zu Haus;
Doch treff ich es einmal, dann fafj’ ich's beim Schopf,
Und wenn’s keinen Chignon trägt, behalt’ ich's am Zopf.
Allein auch bei der Geburt diefer „Lofen Kinder‘ find
die Grazien nicht auögeblichen, und ihrem ungezogenen
Liebling verzeiht man gern folhe Ertravaganzen, bei de»
nen die bemunderungswürbige Herrichaft über die Sprache
oft im Uebermuth gemisbraucht wird, und lachend horcht
man feinen Lehren:
Und wie von geftern bie Sorgen did) nicht mehr Tränen,
So mußt du aud nicht an das „morgen denlen;
Denn wie fagt der Dichter?
So fpridt er:
Quid sit futurum cras, fuge quaerere!
Du folft um die Zukunft dich nicht fcherere!
Zwifchen diefen Scherzen und Trinkliedern tönen uns
aber auch, namentlich im dritten Cyklus, Iyrifche
Klänge wie Iuftig fchmetternde Lerchenwirbel entgegen,
und daß der Schall auch ein ernftes Wort zur rechten
Zeit zu fprechen vermag, das bezeugt fein „Lied von ber
Phraſe“ und das „Saiferlied“ mit dem alten Refrain:
„Komm du bald, o Kaifer.” Bon diefen „Weinphantaflen”
gilt deshalb der Spruch: „Verba placent et vox“; e8
find feine jener „Ohnmachts-Erzeugniffe”, deren Erfolg
der Dichter mit den Worten bezeichnet:
Dies ift ihres Schidjals Entweder — Ober:
‚Heut find fie Mode, und morgen — Mober!
€. Gersfurih,
Philoſophiſche Schriften.
(Beihluß aus Nr. 12.)
Der Berfafler der Schrift: „Der Sag des zureichen⸗
den Grundes“, Joſeph Jäkel (Nr. 6), kündigt fich felt-
famerweife an als einen logifchen Dualiften. Er Hält e8
nämlich fir einen Irrthum unferer bisherigen Speculation,
nur Einen Urgrund aller Dinge, Ein abfolutes Wefen,
behauptet zu haben, und fucht den Beweis zu führen,
bag ein jedes Wirkliche vielmehr zwei urfprüngliche Gründe
voraudfege, ein Ich umd ein Niht- Ich, ein Subject und
en Object, eine zu Grunde liegende allgemeine Bedin-
gung oder Borausfegung und eine fpecielle erzeugende
Urſache.
Daß ein ſolcher Dualismus von Grund und Urſache,
oder Bedingung und Veranlaſſung, in den Naturproceſſen
nirgends vermißt wird, iſt freilich wol anzuerkennen und
zuzugeben. Wenn z. B. ein Gegenſtand vom Tiſche füllt,
ſo iſt der allgemeine Grund ſeines Fallens das Geſetz der
Schwere; er wird aber nicht vom Tiſche fallen, wenn
ihn nicht eine beſtimmte Urſache herunterſtößt, z. B. die
Bewegung meiner Hand. Und fo in allen ähnlichen Fäl-
Im. Schon Ariftoteles hat diefen Dualismus recht gut
1870. 138.
erfannt. Er würde in dem gegebenen Beifpiel das Gefeg
der Schwere als das Wefen der Begebenheit, die fchie-
bende Hand als den Anlaß der Bewegung bezeichnet ha»
ben. Uber obgleich diefe Nothwendigkeit eines Zufanımen-
wirkens von Grund und Urfache bei allen Naturbegeben-
beiten von alter8 her zu den befannteften Dingen gehört,
fo ift ihre tiefere Begründung in den Principien der
Metaphyſik dennoch ein unerfchöpfliches Thema ſcharfſin⸗
nigen Nachdenkens, und aud) die vom Verfaſſer darauf ver-
wandte Mühe und Anftrengung ift höchſt anerkennenswerth.
Daß er fid) bei feiner fchwierigen Unterſuchung baupt-
ſächlich mit näherer Aufhellung ber letzten Grundbegriffe
der heutigen Speculation, der Begriffe des Ich und Nicht⸗
Ich, beſchäftigt, iſt ebenfalls nur in der Ordnung.
Ganz unbefriedigend hingegen erſcheint ſeine Arbeit in
einem andern Punkte. Sie ignorirt völlig den wichtigſten
unter allen Weltgritnden, die Zwedurfahe Und doch
läßt fi über das Abfolute der modernen Speculation
gar nicht reden ohne die Zuhülfenahme bdiefes Begriffs,
auf welchem ganz allein feine Annahme beruht. Ob der
26
202 Philoſophiſche Schriften.
Berfaffer den Begriff der Zweckurſache ganz zu vertilgen
denft, wie Spinoza, oder ob er ihn für einen unerheblichen
und aus andern Örundbegriffen ableitbaren hält, erfahren
wir nicht. Jedenfalls gewährt eine Abhandlung über den
Sag des zureihenden Grundes, worin von der Zwed⸗
urfache gar feine Rede ift, den Anblid eines Rumpfes
ohne Kopf. Oder ift die Sache fo gemeint, daß die Zie-
bung der letzten Schlußfolgerungen dem Leſer überlaffen
bleiben fol, wozu der Verfaſſer blos die Prämiffen an
die Hand geben wollte, ähnlich wie e8 zuweilen in Pla-
tonifchen Dialogen vorkommt? Ein Umftand Fünnte wol
anf diefen Gedanken leiten. Sowol letter Grund (Ich)
als legte Urfache (Niht- Ich), follen als bloße Möglich-
feiten, noch nicht als Wirklichkeiten, gedacht werden. Nun
aber gibt es im ganzen Umfreife unfer8 Denkens und
Anfchauens nur einen einzigen Val, in welchem wirfliche
Thatſachen aus blos möglihen Borausfegungen al8 ihren
vorhergehenden Urfachen entfpringen, und diefer einzige
Tall ift die Thätigkeit wirkender Vorſtellungen oder die
Zwedthätigfeit. Denn nur allein in diefer geht das Wirk»
liche (die That) aus dem Möglichen (der Vorftellung von
derfelben) hervor, und diefem Umftande gemäß hätten wir
alfo das Ih und Nicht» Ich, oder den Weltgrund und
die Welturfache, als die beiden Urideen aufzufafen, nad)
benen das denkende Urwefen (die abfolute dee) ſeinen
Schöpfungsplan entwirft. Hat der Verfaſſer die Sache
jo gemeint, fo find wir einverftanden. Er hätte fid) aber
über diefen Punkt deutlicher erklären follen.
7. Orundlegung von Aeſthetik, Moral und Erziehung, vom
empirifchen Standpunlt. Mit Rückſicht auf Herbart, R. Zim-
mermann, Lobe, 3. H. von Fichte, Fechner, 8. Büchner
und Trendelenburg, von F. A. von Hartfen. Mit einem
neuen Berfuh, Philofophie und Religion zu verfühnen,
Halle, Pfeffer. 1869. 8. 24 Nr.
Der Berfafler von Nr. 7: „Grundlegung von Aeſthetik,
Moral und Erziehung, vom empirischen Standpunlt“,
F.A.von Hartfen, gründet Erziehung auf Moral, Moral
auf Aeſthetik. ALS fenfualiftifcher Empirifer erkennt er
‚ein einfaches moralifches Grundprincip an, fondern ftatt
deilen drei der Erfahrung entnommene Tugenden: Wohl«
wollen, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Kriterium des
Richtigen bei ihrer Beurtheilung ift das Urtheil der
Mehrheit, aber nicht der gegenwärtigen, fondern der zu⸗
fünftigen Menſchen. Der Philoſoph foll überall das
Drafel der Zukunft befragen und nad; deſſen Ausfprichen
fi richten. Was er fi als die öffentliche Meinung
dev Mehrzahl in der über unfern dereinftigen Gräbern
ftehenden. Menſchheit vermuthungsweife denkt, hat ihm als
der letzte Maßſtab der Wahrheit zu gelten. Einen an⸗
dern jollen wir nicht haben, einen andern foll e& über»
haupt nicht geben.
Alfo eine Philofophie der Zroftlofigleit in neuer Va⸗
riation. Denn was kann troftlofer fein als die Hinaus⸗
fchiebung der letzten Gewißheit in das abfolut Ungewiffe,
die Zukunft? Wer fteht uns dafür, daß nicht gerade daß,
was wir jett für das Teltefte anfjehen, wie die Forde⸗
rungen des Wohlwollens, der Gerchhtigfeit und Wahr⸗
haftigkeit, von der Mehrheit zulünftiger Menfchengejchlech-
ter ganz misachtet werden, folglich feine ganze Wahrheit
verlieren Könnte? Wer fteht uns dafür, daß zweimal zwei
in alle Zukunft hin fir vier gelten wird? daß Wunder
und Zaubereien, welche wir heute fiir unmöglich anfehen,
in Zukunft nicht vielleicht die ganze Welt erfüllen und
damit zur höchften Wahrheit emporfteigen dürften? Als
pathologifche Gemüthsſtimmung betrachtet, ift der Gedanke
nicht ohne einen gewiffen fhwärmerifchen Reiz. Byron
hätte ihn als poetifches Motiv Leidenfchaftlicher Grübelei
herrlich verwerthen fünnen. Der Wiffenfchaftsforfcher aber,
welcher nach ewigen Bernunftgefegen urtheilt, Tann dem
wilden Schwärmer nur mit Mephiflopheles zurufen:
Hör’ anf mit deinem Gram zu fpielen,
Der wie ein Geier dir an deiner Leber frift!
Es Liegt nun einmal in der Beſchaffenheit gewiſſer
Studien» und Lebensfreife, daß in ihnen ſich ein voll.
fommen fenfualiftifches Denken ausbildet. Kommen diefem
feine höhern Bedürfniffe Hinzu, fo wendet e8 fich einfad
zum Materialismus. Kommen jene Hinzu, fo ſucht es
zwar Anfnüpfungen an idealiftifhe Syfteme, ohne jedoch
mit ihnen recht fertig werden zu können. So ſchlägt ſich
bier der Berfafler mit Herbart herum, überall fähig den-
jelben zu fafien, wo er fich im reife des unmittelbar
Sinnlichen bewegt. Dagegen gehen ihm immer fogleich
die Gedanken völlig aus, fobald die fpeculative Arbeit
beginnt. Weil Herbart indefien nur auf dem theoretiſchen
Gebiet zu den fpeculativen Denkern gehört, auf dem praf-
tiichen hingegen zu ben Bopularphilofophen, indem er bie
Moral zu einer bloßen Wefthetil des Willens und der
Sefinnung herabfeßt: fo ift auf dem letzten Gebiet der
Punkt eines Berftändniffes von fenfualiftifcher Seite her
zu finden. Und fo kann man des Verfaſſers Theorie
denn wol eine um einen ganzen Grad tiefer in den Sen
ſualismus berabgeftimmte Herbart’fche Moral nennen.
Eine endloſe Cafuiftif ohne gründliche Principien in
der Moral ift etwas überaus Berwirrendes. ine folde
findet fi in diefer Erziehungslehre. Gründliche Prin-
cipten in ber Moral find nur die fpeculativen. Die wahre
Moral ift Dictat reiner Vernunft. Bon reiner Vernunft
aber weiß der Berfafler nichts. Er befchreibt vielmehr
den empirifchen Weg, auf welddem er zur Anerkennung
einer Moral gelangte, in der Borrede (S. ıv) auf fol-
gende Art:
Der Berfafler nun zweifelte an der Eriftenz der Moral,
Sein Zweifel in diefer Hinficht aber wurde mächtig erſchüttert
durch gelittenes Unrecht, das ihn in große Empörung verſetzte.
So — fagte er nun — id) empöre mid, ich muß alfo do
zugeben, daß es Schlechtes gibt.
Diefe Art von empirifchem Standpunkt, auf welchen
der Menſch die moralifchen Thatſachen der Erfahrung fo
lange in Zweifel zieht, bis fle ihm an die eigene Haut
gehen, erinnert ſtark an das finnreihe Märchen vom
Manne, welcher das Grufeln lernte. Die furchtbarften
Dinge rührten diefen Mann ganz und gar nicht, folange
er fie nur von außen fah. Erſt als der Eimer kalten
Waſſers mit den darin zappelnden Gründlingen fiber feine
eigene Haut floß, erfuhr er was Gruſeln fi. Im Leben
fühlt ſich allerdings ein Eimer Falten Waflers an der
eigenen Haut immer nod) fchredlicher an als das Henker⸗
beil am Naden de8 Nachbars. Diejer Standpunft iſt
gewiß ein vollkommen empirifcher Lebensſtandpunkt, taugt
aber darum nicht zum Standpunft der Moral, weil er
ein egoiftifcher ift.
Philoſophiſche Schriften. 203
Die Schwächen des moraliſchen Senfualismus Heben
allen Auseinanderfegungen des Verfaffere an. Weil 5.2.
das Moralprincip des Wohlwollens bei ihm nicht ver-
nünftiger Grundſatz, fondern pathologifche Gemüthsftim-
mung it, jo kann e8 duch Srankheiten theils gehindert,
ipeitö befördert werden (S. 88):
Gewiſſe Krankheiten, nämlich Unterleibsfrankheiten, kön⸗
nen die Reizbarkeit zum Wohlwollen abſtumpfen, ja ſogar in
das Gegentheil umändern. Andere Krankheiten bringen leicht
Uebermaß von Wohlwollen hervor.
Der Widerfpruch, welcher darin liegt, da ein mora-
liſches Priacip von Unterleiböfrankheiten abhange, wird
vom Berfaller,' wie es fcheint, gar nicht empfunden. So
etwas verfteht fi bei ihm nur ganz von felbft. Das
Kaifonnement bleibt überall im bloßen Senfualismus (in
Unterleibe) fteden.
Dabei tragen dieſe Auseinanderfegungen ein ziemlich)
frmbländifches Colorit. Die Sprache ift in der Con»
ſtruction voll franzöftrender Wendungen, artet fogar mit—⸗
unter durch umnndthige Einftreuung fremder Ausdrüde,
wie „idee fixe” ftatt „fire Idee“ u. dgl., in einen fran«
zöfirenden Jargon aus. Wir würden diefe Unart gar
nicht erwähnen, wenn fie als eine bloße Schwäche und
one Spuren von Eitelkeit aufträte, welches aber nicht
der Fall ift. Der Berfafier ift offenbar in dem Irrwahn
befangen, klarer zu fchreiben als die meiften unferer philo⸗
ſephiſchen Schriftfteller. Sogleih das Motto auf dem
Zitel der Schrift deutet indirect darauf bin. Es lautet:
„Ce qui n’est pas clair, n'est pas philosophie.”
Und doch verftößt ſogleich der dritte Sag in ber Bor»
rede gegen Die Forderung dieſes Mottos: „Eine flare Dar-
fellung der erften Gründe der Aeſthetik, hieran aber fcheint
8 in Deutſchland bisher zu fehlen.” ,
Das „aber“ im Nachſatz deutet auf einen fehlenden
Borderfaß, welchen der Leſer hinzudenken muß, indem er
etwa lauten könnte: „wäre wilnfchenswerth”, oder: „wäre
eine die Mühe lohnende Arbeit“, oder: „würde die philo-
ſophiſche Wiffenfchaft fördern”, oder wie fich jeder den
Zufammenhang am Liebften ergänzen mag. Das ift aber
keineswegs eine Mare Schreibart zu nennen. ‘Dabei tabelt
er bin und wieder an andern Schriftftellern Säge als un-
Mar und unverftändlich, welche es nicht Überhaupt, ſon⸗
dern nur ihm find, weil ihm die Mittel des Verſtänd⸗
nifſes fehlen. So z. B. ift die befanntel, auf S. 1 an»
geführte Hegel'ſche Definition der Kunft ($. 556 der „Ency⸗
Hopädie”) durchaus verftändlich und Mar für jedermann,
weicher feinen Hegel verftehen gelernt hat, was ohne
methodifches Stubium der Philofophie allerdings nicht
möglich if. Wenn nun der Verfaſſer mit der ganzen
Raivetäit des Autodidalten binzufegt: „Wir fir ung ſchä⸗
men uns nicht, zu geftehen, daß wir fie nicht verftehen‘:
jo ift die Aufrichtigkeit diefes Geftändniffes zwar zu loben,
den Berfaffer jedoch etwas mehr Behutfamkeit anzurathen
m feiner breiften Aburtheilung über Dinge, welche er
jwar nicht verfteht, welche dafür aber andere verftehen.
Zuweilen beruht des Berfaflers Polemik blos auf einer
Unbekanntſchaft mit der richtigen deutfchen Ausdrudsweife.
So lefen wir 3.3. ©. 9 folgende gegen Herbart gerichtete
Invective:
Jedenfalls ift es Unfinn, zu jagen, daß das Aeſthetiſche
unwillkürlich gefällt. Das wird wol heißen müſſen, daß es
jemand (wem?) gefällt, ohne daß biefer es will!
Mir haben hin⸗ und hergerathen, was es denn wol
außerdem noch bedeuten könne, aber es ift uns nicht ges
lungen, es zu errathen. Aud) finden wir das eingefchaltete
„wen? bier ganz überflüffig. Denn daß mit dem „je
mand“, wenn von Muſik die Rede ift, der Hörer, wenn
bon einem Roman, der Lefer, wenn von einem Gemälde,
der Beichauer, und wenn von einem Schaufpiel die Rede
ift, der Zufchauer und Zuhörer in einer Perſon verftan-
den wird, unterliegt doch wol feinen Zweifel.
Duisquilien und Müdenfeigerei in Wörtern und Re-
denearten find es, im denen der Verfaſſer fich zu fehr
gefält. Bon der Bedeutung der goldenen Regel: „In ver-
bis simus faciles”, bat er nicht die entfernte Ahnung.
Ein fataler Kigel treibt ihn, den Notabilitäten unferer
philofophifchen Fiteratur altklug, aber mit wenig Geſchick,
am Zeuge Herumzufliden. Ob er felbft dabei in feinen
Sägen den richtigen oder unrichtigen Caſus fett, das
bängt oft mehr vom guten Glüd ab. Um vom incor-
recten Stil des Verfaſſers ein charakteriftifches Beifpiel zu
haben, betradjte man fich etiwa den folgenden Sag (5.98):
„Wol wenige Ausnahmen wird es geben auf der Regel:
was das Licht ſcheut, urtheilt ſich ſelbſt!“
Wer ſo fehreibt, dem fehlt nun einmal alle Berechti⸗
gung, die itber fein Verſtändniß emporragenden Rebens-
arten eines Herbart, Trendelenburg ober Hegel in der
Weile, wie er es thut, mit dem Schulmeifterlineal zu
zerklopfen.
8. Spinoza's neuentdedter Tractat von Gott, bem Menſchen
und deffen Slüdfeligkeit. Exrläutert und in feiner Bedeu⸗
tung für das Verſtändniß des Spinoziemus unterſucht von
Shrinopp Sigwart. Gotha, Befler. 1866. GEr. 8.
8
9. Ueber die beiden erften Phafen des Spinoziſchen Pantheis⸗
mus und das Verhältniß der zweiten zur dritten Phafe.
Nebft einem Anhang: Ueber Reihenfolge und Abfaffungszeit
ber ältern Schriften Spinoza’s. Bon Richard Avena⸗
rius. Leipzig, Avenarius. 1868. Gr. 8. 24 Ngr.
Die gewöhnliche Anficht über Spinoza's Entwidelungs-
gang war bisher, dieſer große Mann Habe zu philofo-
phiren begonnen als Cartefianer, und ſich von dieſem an-
fänglichen Standpunft aus durch immer ftrengeres Ber-
folgen der mathematifchen Methode feiner Begriffsred;-
nung nad) und nad zum Syftem des ihm eigenthülmlichen
Pantheismus emporgearbeitet. Man konnte allem An»
ſchein nad nicht wohl anders, als diefer Meinung fein.
Denn die erfte von Spinoza felbft der Deffentlichkeit über-
gebene Schrift war feine Darftelung der Cartefianifchen
Brincipien der Philoſophie nach geometrifcher Methode
(Amfterdam 1663). Als fie erfchten, war ihr Berfafler
erft 31 Jahre alt, und daß derfelbe früher einer andern
Philoſophenſchule angehangen habe, darüber gab es feine
Nachricht und gibt fie and) noch heute nicht.
Beide Verfaſſer der unter Nr. 8 und 9 genannten
Schriften, Chriſtoph Sigwart und Rihard Ave—
narius, ftellen hiergegen die auf gewiffen Vermuthungen
beruhende Hypothefe auf, daß Spinoza anfangs gar nicht
Cartefianer gewefen fei, im Gegenteil einem fehr ent-
gegengefegten Syftem, dem des Giordano Bruno, an-
gehangen habe, ſodaß feine Lehre keineswegs angefehen
26 *
202
Berfaffer den Begriff der Zweckurſache ganz zu vertilgen
denft, wie Spinoza, oder ob er ihn für einen unerheblichen
und aus andern Grumdbegriffen ableitbaren hält, erfahren
wir nit. Jedenfalls gewährt eine Abhandlung über den
Sat bed zureichenden rundes, worin von der Zweck⸗
urfache gar feine Rede ift, den Anblid eines Rumpfes
ohne Kopf. Oder ift die Sache jo gemeint, daß die Zie⸗
bung der legten Schlußfolgerungen dem Leſer überlafjen
bleiben fol, wozu der Verfaſſer blo8 die Prämifien an
die Hand geben wollte, ähnlich wie es zuweilen in Pla—
tonifchen Dialogen vorkommt? Ein Umftand Fünnte wol
auf diefen Gedanken leiten. Sowol letter Grund (Ic)
al8 legte Urfache (Nicht- Ich), follen als bloße Möglich-
keiten, noch nicht als Wirklichkeiten, gedacht werden. Nun
aber gibt es im ganzen Umfreife unſers Denkens und
Anfchauens nur einen einzigen Fall, in welchem wirkliche
Thatſachen aus blos möglichen Vorausfegungen als ihren
vorhergehenden Urfachen entfpringen, und diefer einzige
Tall ift die Thätigkeit wirkender Borftellungen oder die
Zwedthätigfeit. Denn nur allein in diefer geht das Wirk⸗
lihe (die That) aus dem Möglichen (der Vorſtellung von
derjelben) hervor, und diefem Umftande gemäß hätten wir
aljo das Ih und Nichte Ich, oder den Weltgrund und
die Welturfache, al8 die beiden Urideen aufzufafjen, nad)
benen das benfende Urweſen (bie abfolute dee) feinen
Schöpfungsplan entwirft. Hat der Berfaffer die Sache
fo gemeint, fo find wir einverflanden. Er hätte ſich aber
über diefen Punkt deutlicher erklären follen.
7. Grundlegung von Hefibetil, Moral und Erziehung, vom
empirifchen Standpunkt. Mit Rüdfiht auf Herbart, R. Zim-
mermann, Loße, 3. 9. von Fichte, Fechner, 8. Büchner
und Trenbelenburg, von 5. U. von Hartfen. Mit einem
neuen Berfud, bitofop ie und Religion zu verföhnen.
Halle, Pfeffer. 1869. 8. 24 Nur.
Der Berfafler von Nr. 7: „Srundlegung von Aefthetik,
Moral und Erziehung, vom empirifchen Standpunkt”,
F.A. von Hartfen, gründet Erziehung auf Moral, Moral
auf Aeſthetik. ALS jenfualiftifcher Empirifer erkennt er
kein einfaches moralifches Grundprincip an, fondern ftatt
deſſen drei der Erfahrung entnommene Tugenden: Wohl
wollen, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Kriterium des
Richtigen bei ihrer Beurtheilnng iſt das Urtheil der
Mehrheit, aber nicht der gegenwärtigen, fondern der zu-
fünftigen Menfchen. Der Philofoph foll überall das
Drafel der Zukunft befragen und nach deſſen Ausſprüchen
fi richten. Was er fih als die öÖffentlihe Meinung
der Mehrzahl in der über unfern dereinftigen Gräbern
ftehenden. Menſchheit vermuthungsmweife denkt, hat ihm ale
der legte Maßſtab der Wahrheit zu gelten. Einen an-
dern follen wir nicht haben, einen andern foll e8 über⸗
haupt nicht geben.
Alfo eine Philofophie der Troftlofigkeit in neuer Va⸗
riotion. Denn was kann troftlofer fein als die Hinaus-
ſchiebung ber letzten Gewißheit in das abfolut Ungemiffe,
die Zukunft? Wer fteht ung dafür, daß nicht gerade daß,
was wir jetzt für das Teftefte anfjehen, wie die Forde⸗
rungen des Wohlwollens, der Geredhtigfeit und Wahr«
haftigfeit, von ber Mehrheit zukünftiger Menſchengeſchlech⸗
ter ganz misachtet werden, folglich feine ganze Wahrheit
verlieren Könnte? Wer fteht uns dafür, daß zweimal zwei
Philoſophiſche Schriften.
in alle Zukunft hin für vier gelten wird? daß Wunder
und Zaubereien, welche wir heute für unmöglich anfehen,
in Zukunft nicht vielleicht die ganze Welt erfüllen und
damit zur höchften Wahrheit emporfteigen dürften? Als
pathologische Gemütheftimmung betrachtet, ift der Gedauke
nicht ohne einen gewiſſen ſchwärmeriſchen Reiz. Byron
hätte ihn als poetifches Motiv Leidenfchaftlicher Grübelei
berrficd) verwerthen Können. Der Wifienfchaftsforjcher aber,
welcher nach ewigen Bernunftgefegen urtheilt, Tann dem
wilden Schwärmer nur mit Mephiflopheles zurufen:
Hör’ anf mit deinem Gram zu fpielen,
Der mie ein Geier dir an deiner Leber frift!
Es liegt nun einmal in der Befchaffenheit gewiffer
Studien- und Lebensfreife, daß in ihnen ſich ein voll«
fommen jenfualiftiiches Denken ausbildet. Kommen diefem
feine höhern Beditrfniffe hinzu, jo wendet es ſich einfady
zum Materialismus, Kommen jene Hinzu, fo ſucht es
zwar Anfnüpfungen an idealiſtiſche Syfteme, ohne jedoch
mit ihnen recht fertig werden zu können. Go fchlägt ſich
bier der Berfaffer mit Herbart herum, überall fühig den-
jelben zu faflen, wo er fi im reife des unmittelbar
Sinnlichen bewegt. Dagegen gehen ihm immer ſogleich
die Gedanken völlig aus, jobald die fpeculative Arbeit
beginnt. Weil Herbart indeffen nur anf dem theoretiſchen
Gebiet zu den fpeculativen Denkern gehört, auf dem prak⸗
tifchen hingegen zu den Bopularphilofophen, indem er bie
Moral zu einer bloßen Aeſthetik des Willens und ber
Sefinnung herabfegt: fo ift auf dem lebten Gebiet der
Punkt eines Berftändniffes von fenfualiftifcher Seite Her
zu finden. Und fo fann man des DVerfaffers Theorie
denn wol eine um einen ganzen Grad tiefer in den Sen⸗
ſualismus berabgeftimmte Herbart'ſche Moral nennen.
Eine endlofe Caſuiſtik ohne gründliche Principien im
der Moral ift etwas liberaus Verwirrendes. ine foldhe
findet fi) in dieſer Erziehungslehre. Gründliche Prin-
cipien in der Moral find nur die fpeculativen, Die wahre
Moral ift Dictat reiner Vernunft. Bon reiner Vernunft
aber weiß der Verfaſſer nichts. Ex befchreibt vielmehr
den empirifchen Weg, auf welchem er zur Anerkennung
einer Moral gelangte, in der Borrede (S. ıv) auf fol-
gende Art: |
Der Berfafler nun zweifelte an der Eriftenz der Moral,
Sein Zweifel in diefer Hinfiht aber wurde mächtig erſchüttert
durch gelittenes Unrecht, das ihn in große Empörung verjekte.
So — ſagte er nun — id empöre mid, ih muß alfo doc
zugeben, daß e8 Schlechtes gibt.
Diefe Art von empiriſchem Standpunkt, auf welchem
der Menſch die moralifchen Thatfachen der Erfahrung fo
lange in Zweifel zieht, bis fie ihm an die eigene Haut
gehen, erinnert ftarf an das finnreihe Märchen vom
Manne, welcher das Grufeln lernte Die furdtbarften
Dinge rührten diefen Dann ganz und gar nicht, folange
er fie nur von außen ſah. Erft als der Eimer kalten
Waſſers mit den darin zappelnden Gründlingen tiber feine
eigene Haut floß, erfuhr er was Orufeln ſei. Im Leben
füplt fid) allerdings ein Eimer falten Waſſers an ber
eigenen Haut immer noch fchredlicher an als das Henker⸗
beil am Naden des Nachbars. Diefer Standpunkt iſt
gewiß ein vollkommen empirifcher Lebensftandpunft, taugt
aber darum nit zum Standpunft der Moral, weil er
ein egoijtifcher ift.
En. EEE
Die Schwächen des moraliihen Senfualismus Kleben
allen Auseinanderfegungen des Berfaflers an. Weil 3.2.
das Moralprincip des Wohlmollend bei ihm nicht ver⸗
nünftiger Grundſatz, fondern pathologifche Gemüthsſtim⸗
mung ift, fo fann e8 durch Krankheiten theil® gehindert,
theils befördert werden (S. 88):
Geniffe Krankheiten, nämlich Unterleibskrankheiten, kön«
nen bie Reizbarleit zum Wohlwollen abftumpfen, ja fogar in
das Gegentheil umändern. Andere Krankheiten bringen Teicht
Uebermaß von Wohlwollen hervor.
Der Wiberjpruch, welcher darin liegt, daß ein mora-
liſches Princip von Unterleibsfranfheiten abhange, wird
vom Berfafler,' wie es ſcheint, gar nicht empfunden. So
etwas verfteht fi) bei ihm nur ganz von ſelbſt. Das
Raiſonnement bleibt überall im bloßen Senfualismus (im
Unterleibe) fteden.
Dabei tragen diefe Auseinanderfegungen ein ziemlich
fremdländifches Colorit. Die Sprache ıft in der Eon»
ſtruction vol franzöfivender Wendungen, artet jogar mit«
unter dur) umndthige Kinftrenung fremder Ausdrücke,
wie „idee fixe” ſtatt „fire Idee” u. dgl., in einen fran-
zöfirenden Yargon aus. Wir würden diefe Unart gar
nicht erwähnen, wenn fie als eine bloße Schwäche und
ohne Spuren von Eitelkeit aufträte, welches aber nicht
der Fall iſt. Der Berfaffer ift offenbar in dem Irrwahn
befangen, klarer zu fchreiben als die meiften unferer philo«
fophifchen Schriftſteller. Sogleich das Motto auf dem
Zitel der Schrift deutet indirect darauf bin. Es lautet:
„Ce qui n'est pas clair, n’est pas philosophie.‘
Und doc) verftößt fogleich der dritte Sag in der Vor⸗
rede gegen bie Forderung diefes Mottos: „Eine klare Dar»
ftellung der erften Gründe der Aeſthetik, hieran aber fcheint
es in Deutſchland bisher zu fehlen.“
Das „aber“ im Nachſatz beutet auf einen fehlenden
Borderfag, welchen der Leſer Hinzudenfen muß, indem er
etwa lanten könnte: „wäre wünſchenswerth“, oder: „wäre
eine die Mühe Iohnende Arbeit‘, oder: „würde die philo-
ſophiſche Wiffenfchaft fördern”, oder wie fich jeber ben
Zuſammenhang am liebften ergänzen mag. Das ift aber
leineswegs eine Mare Schreibart zu nennen. “Dabei tadelt
er bin und wieder an andern Schriftftelleen Säge als un-
Har und unverftändlich, welche es nicht überhaupt, ſon⸗
dern nur ihm find, weil ihm die Mittel des Verſtänd⸗
niffes fehlen. So z. B. ift die bekannte), auf S. 1 an«
geführte Hegel'ſche Definition der Kunft ($. 556 der „Ency⸗
Hopädie”) durchaus verftändlic und Mar für jedermann,
welcher feinen Hegel verftehen gelernt bat, was ohne
methodifches Studium der Philofophie allerdings nicht
möglich if. Wenn nun der Berfaffer mit der ganzen
Raivetät bed Autodibaften Hinzufest: „Wir fiir uns ſchä⸗
men und nicht, zu geftehen, daß wir fie nicht verftehen‘‘:
fo ift die Aufrichtigfeit diefes Geftändnifies zwar zu loben,
dem DBerfafler jedoch etwas mehr Behutfamkeit anzurathen
im feiner bdreiften Aburtheilung über Dinge, welche er
zwar nicht verfteht, welche dafür aber andere verfichen.
Zuweilen beruht des Verfaſſers Polemik blos auf einer
Unbelanntfchaft mit der richtigen deutfchen Ausdrudsweife.
So leſen wir 3.8. ©. 9 folgende gegen Herbart gerichtete
Invective:
Jedenfalls iſt es Unſinn, zu ſagen, daß das Aeſthetiſche
Philoſophiſche Schriften.
203
unwillkürlich gefällt. Das wird wol beißen müffen, daß es
jemand (men?) gefüllt, ohne daß diefer es will!
Mir haben hin⸗ und hergerathen, was es denn wol
außerdem noch bedeuten könne, aber es ift und nicht ge-
lungen, es zu errathen. Auch finden wir das eingefchaltete
„wen?“ bier ganz überflüffig. Denn daß mit dem „je⸗
mand“, wenn von Mufil die Rede ift, der Hörer, wenn
bon einem Roman, der Leſer, wenn von einem Gemälde,
der Befchaner, und wenn von einem Schaufpiel die Rede
ift, der Zufchauer und Zuhörer in einer Perſon verftan-
den wird, unterliegt doch wol feinen Zweifel.
Quisquilien und Mücdenfeigerei in Wörtern und Re
densarten find es, in denen der Berfafler fich zu fehr
gefällt. Bon der Bedeutung ber goldenen Kegel: „In ver-
bis simus ſaciles“, bat er nicht die entfernte Ahnung.
Ein fataler Kigel treibt ihn, den Notabilitäten unferer
philofophifchen Literatur altklug, aber mit wenig Geſchick,
am Zeuge herumzufliden. Ob er felbft dabei in feinen
Süßen den richtigen oder unrichtigen Caſus feit, das
büngt oft mehr von guten Glück ab. Um vom incor-
recten Stil des Verfaſſers ein charakteriftifches Beiſpiel zu
haben, betrachte man ſich etwa den folgenden Sag (S. 98):
„Wol wenige Ausnahmen wird es geben auf der Regel:
was das Licht fcheut, urtheilt fich felbft 1“
Wer fo fchreibt, dem fehlt nım einmal alle Berechti⸗
gung, die über fein Berftändnig emporragenden Nebens-
arten eines Herbart, Trendelenburg ober Degel in ber
Weife, wie er es thut, mit dem Schulmeifterlinenl zu
zerflopfen.
8. Spinoza’8 neuentdedter Tractat von Gott, dem Menfchen
und deſſen Slüdfeligleit. Erläutert und in feiner Beben
tung für das Berjtändniß des Spinozismus unterfucht von
Shrinops Sigwart. Gotha, Beſſer. 1866. GEr. 8.
gr.
9. Ueber die beiden erſten Phafen des Spinoziſchen Pantheis⸗
mus und das Verhältniß der zweiten zur dritten Phaſe.
Nebft einem Anhang: Ueber Reihenfolge und Abfaffungszeit
der ältern Schriften Spinoza’s. Bon Rihard Avena-
rius. Leipzig, Avenarins. 1868. Gr. 8. 24 Nor.
Die gewöhnliche Anficht über Spinoza's Entwidelungs-
gang war bisher, dieſer große Mann Habe zu philofo-
phiren begonnen als Cartefianer, und ſich von diefem an«
fänglichen Standpunft aus dur immer ftrengeres Ber-
folgen der mathematifchen Methode feiner Begriffsrech⸗
nung nach und nad zum Syſtem des ihm eigenthümlichen
Pantheismus emporgearbeitet. Man konnte allem An⸗
ſchein nach nicht wohl anders, als dieſer Meinung fein.
Denn bie erfte von Spinoza felbft der Deffentlichkeit über-
gebene Schrift war feine Darftellung der Cartefianifchen
Principien der Philofophie nach geometrifcher Methode
(Amfterdam 1663). Als fie erfchien, war ihr Berfaffer
erft 31 Jahre alt, und daß berfelbe früher einer andern
Philoſophenſchule angehangen habe, darüber gab es Feine
Nachricht und gibt fie auch noch heute nicht.
Beide Berfafler der unter Nr. 8 und 9 genannten
Schriften, Chriftoph Sigmwart und Richard Ave—
narius, ftellen hiergegen bie auf gewifien Bermuthungen
beruhende Hypotheſe auf, dag Spinoza anfangs gar nicht
Cartefianer gewefen fei, im Gegentheil einem fehr ent-
gegengejegten Syftem, dem bes Giordano Bruno, ans»
gehangen Habe, ſodaß feine Lehre keineswegs angefehen
26 *
204 Philoſophiſche Schriften.
werben dürfe als der auf carteſiauiſchem Boden errichtete
originelle Prachtbau, woflicr man fie bisher Hielt; viel«
mehr fei fie zu betrachten als ein in feinem Urfprunge
höchſt Ichwärmerifcher und überfchwenglicher, hernach aber
durch cartefianifche erkältende und ernüchternde Einflüffe
bi8 zur völligen Erftarrung ertödteter und zufammen-
gefhrumpfter Platonismus im Geifte des gottberaufchten
und als Märtyrer feiner Schwärmerei zu Rom verbrann-
ten Giordano Bruno.
Spinoza ein poetifcher Schwärmer! Diefe Anficht ift
nen und intereflant. Sie ftüßt ſich auf zwei in den zu
Amſterdam aufgefundenen (1862 zum erften mal edirten)
Yugendfchriften Spinoza’8 enthaltene Fragmente, welche
bis in feine frühefte Seit (Avenarius vermutbhet, bis in
fein neunzehnte® oder zwanzigſtes Fahr) hinanfzureichen
fcheinen, und welche von cartefianifchen Begriffen nod
feine Spuren zeigen. Es find dieſes zwei ohne jchrift-
ftellerifche Gewandtheit verfaßte Dialogen philofophifchen
Inhalts, in deren erftem fi die allegorifchen Perfonen
der Liebe, der Vernunft, bes Verftandes und der Begierde
über religidje Themata unterreben, in deren zweiten aber
der Philoſoph, welcher Spinoza’8 eigene Anficht darlegt,
den Namen Theophilus führt, unter dem Bruno faft in
allen feinen Dialogen auftritt und den er fich felbft auf
den Titeln feiner Werke beilegt.
Beide Berfafler obiger Schriften ſtimmen darin über-
ein, daß diefe offenbar älteſten fchriftftelleriichen Verſuche
Spinoza’8 vielfahe Reminiſcenzen aus den Schriften
Bruno’s, namentlich) aus feinen Dialogen „Degli eroici
furori” enthalten, und ftehen aus diefem Grunde nicht
an, den Spinoza zu einem Schüler und Anhänger Bruno’8
zu machen, obgleich der Name diefes Platonikers in dieſen
Schriftftitden nirgends und auch fonft bei Spinoza nicht
vorfommt. Nah Sigwart's Anfiht war Spinoza nidt
nur anfänglih Anhänger des Bruno, fondern blieb dieſes
auch gemwiljermaßen fortwährend. Descartes lieferte ſei⸗
nem Ideengange nur die logische und methodiſche Schu-
lung, welche freilich, je weiter er in dexjelben fortjchritt,
defto mehr verderbliche und zerftörende Einflüffe auf fein
urfprüngliches idealeres Lehrgebäude ausitben mußte. Sig.
wart drüdt ſich hierüber fo aus (S. 133 fg.):
Der Marbeit und Deutlichkeit zu Liebe wurde der Idealis⸗
mus geopfert. Alle jene zwar erhebenden und erwärmenden,
aber nicht Haren und deutlichen, einem mehr poetifchen als
fireng logiſchen Geifte entfprungenen Ideen von Bereinigung
mit Gott, Genuß Gottes als Folge innerer Erleudtung wur⸗
den durch die fortfchreitende begriffliche Bearbeitung, durch das
Bedürfniß ftrenger Deduction zurückgedrängt. Aber ein Reſt
jener platonifivenden Myftit widerftand der Aufldfung unfers
ganzen Seins und Wefens in den materiellen Mechanismus der
Bewegungen, die unfern Körper bilden, und in den logiſchen
Mehanismus der Begriffe, und jene intellectuelle Liebe Gottes,
bie im fünften Buche der Ethik freilich erft als Refultat eines
verwidelten Fortſchritts der Erkenntmiß, nicht mehr als un⸗
mittelbare Gabe Gottes auftritt, ift der letzte Neft der Lebens-
wärme, die einft den Tractat durchdrungen hatte, der letzte
Hauch, ber ben erflarrenden Körper verffärt.
Nicht ganz fo weit getraut fich der im übrigen bie
Sigwart'ſchen Bermuthungen theilende Avenarius mitzu-
gehen. Er lenkt fchon bebeutenb ein, indem er zugibt,
dag Spinoza „eigentlich nur die Confequenz gezogen habe,
welde im Syſtem des Descartes involvirt Ing”. Diefes
eben ift die gewöhnliche Anficht der Sache, wie fie ſchon
Leibniz andeutete in feinem befannten Ausſpruch, daß ber
Spinozismus ein übertriebener Gartefianismus ſei. And
tritt uns ſchon in dem wenige Jahre fpäter abgefaßten
Zractat von Gott, dem Menfchen und feiner Glüdjelig.
feit (welchen Avenarius in Spinoza’8 dreiundzwanzigſtes
Lebensjahr zurückverſetzt) Spinoza als volllommener Car-
teflaner entgegen. Wenn nun Üvenarius einerjeit3 zwar
zugibt, daß Spinoza eigentlih nur die Confequenz zog,
bie im Syſtem des Descartes involvirt lag, anderer-
feit8 Hingegen Ieugnet, daß Spinoza jemals Cartefianer
gewefen fei, fo muß unfers Erachtens eine diefer Behaup-
tungen der andern weichen, wofern wir nicht blos mit
Worten fpielen und unter einem Qartefianer einen geifl-
[ofen Nachbeter des Descartes verftehen wollen, was aller⸗
dings Spinoza niemals gewefen ift, was aber aud) nod
niemals jemand von ihm behauptet hat.
Bis zum dreimndzwanzigften Jahre foll ber junge
Spinoza als ein phantafiereicher Platoniker in überfchweng-
lichen Bifionen gefhwärmt haben. Iſt bas wol wahr
jcheinlich bei einer jo kalten, ruhigen und nüchternen,
aller poetifchen Ueberſchwenglichkeit, aller phantaftifchen
Unflaxheit fo entjchieden abgeneigten Gemüthsart, wie fie
ung in Spinoza entgegentritt? Wo find denn im jenen
beiden Dialogen die Spuren irgendeiner Poeſie, irgenbs
einer Schwärmerei? Spinoza bedient ſich blos auf bie
froftigfte Art platonifirender Ausdrücke von Gottesfühnen,
Gottesliebe u. dgl. für die trivialften und nüchternſten
Dinge. Denn wer find diefe Gottesfühne? Der eine it
die Körperwelt oder die Ausdehnung, der andere ift die
Geiftwelt oder das Denfen. Was ift die Gottesliche?
Sie ift da8 Verlangen, bie Nothwendigkeit alles Einzelnen
in der Natur als begründet in dem Allgemeinen vermöge
adäquater Begriffe zu erkennen. Was ift die göttliche
Borjehung im Weltall? Sie ift ber in allen Weſen lie-
gende Zrieb nad Selbſterhaltung. Diefe unpoetifche
Nüchternheit eines nur zu Rechenkünften angelegten jugend-
lichen Berftandes, wie fie fich bier in verkehrt gebeuteten
platonifchen Reminifcenzen zu erkennen gibt, konnte durch
das Studium des Descartes unmöglic) noch tiefer herab⸗
gedrüdt, vielmehr nur zu höherm Schwunge erhoben wer-
den. Diefer junge Spinoza macht weniger den Eindrud
eines ſchwärmenden Pantheiften, als eines noch in fi
unklaren Jünglings von bdenfgewandter und denküber⸗
müthiger Anlage, welchem nichts zu Hoch ift, welcher gern
alles prüft, nicht gern irgendetwas unbefehens verwirft,
am liebften an dem von andern für ausgemacht Gehal⸗
tenen die ungereimte, an dem von andern filr ungereimt
Gehaltenen die vernünftige Seite aufweift, und aud) wol
in übermüthiger Laune gern bem allgemein perhorrefcirtet
Schwärmerifhen und Unflaren eine niichterne und zum
Erjchreden gemeinverftändliche Deutung unterlegt. Wil
man vielleicht auch Leibniz darum zum Goldmacher ſtem⸗
peln, weil er einmal in übermüthiger Sugendlaune ſich
unter die Alchemiften gemengt hat?
Wenn daher Avenarius behauptet, daß der junge Spi⸗
noza, als er in feinem dreiundzwanzigften Jahre mit einer
gewiſſen Haft cartefifcher Beftimmungen ſich bemächtigte,
hierbei einen ihm innerlich ſchon Längft beftimmten Zwed
verfolgte; daß der Einfluß bes Descartes den Pantheismus
Deutfh-Brafilien. 205
in Spinoza bereits feitftehend vorfand; daß Spinoza nicht
nur im hohen Maße von Giordano Bruno abhängig war,
fondern fogar in der erften Phafe feiner Philofophie nur
defien Wert zum Abjchluffe, zum bewußten Ausdrude
brachte: fo haben diefe Behauptungen ung wenig eine
lenchten wollen.
Wer das gerade Gegentheil von allen diefem auf-
ftellte, würde unſers Erachtens näher zum Ziele treffen.
Mit dem zwanzigften Jahre verfucht ber junge Spinoza ſich
dem Bruno anzunähern, weil diefer ihm einerjeits durch
feinen Kampf gegen den Aberglauben, andererfeits durch fein
Martyrium und feinen Heroismus und nebenher aud)
durd den Herrlichen Stil feiner Dialogen „Degli eroici
furori‘“ imponirend entgegentritt. Er eignet jich deflen
Idee von der unendlichen Ausdehnung des Weltalls an,
weil fie feinem Berftande einleuchtet; er jest an die Stelle
der myſtiſchen Gottesliebe, fiir welche feiner Fühlern Na»
tue don vornherein alles Berftändniß mangelt, eine ab»
ftracte Liebe für Erfenntniß und Willenfchaft; er erklärt
es für die wahre Freiheit des Geiftes, daß wir mit ben
lieblihen Ketten diefer Liebe gebunden feien; er deutet
den platonifchen Liebestrieb der Aufopferung bei Bruno
um in einen Trieb der mechaniſchen Selbfterhaltung; die
bewußt erzengende und dabei in finnlicher Liebesleidenfchaft
fchwelgendbe Natur bei Bruno in eine unbewußt erzeu-
gende, nach mechaniſchem Gefeß; die aus dem Berfolgen
der böchften Zwecke ſtammende Nothwendigkeit der gött⸗
lichen Handlungen bei Bruno in eine mechaniſche Noth⸗
wendigkeit derſelben; den platoniſchen Intellect als un⸗
mittelbare innere Schau göttlicher Dinge bei Bruno in
ein geometriſches Begreifen aus letzten Grundſätzen; mit
einem Wort, er verſucht das Kunſtiſtück, ein in einer ihm
underfländlihen Sprache gejchriebenes Buch ſich durd)
gewaltjame Umdentung feined Inhalte verftändlih zu
machen. Der Verſuch mislingt. Der enttäufchte Spinoza
fühlt ſich zuletzt in diefer fchiefen Stellung zu Bruno
wie ein ins Waſſer gegangenes Huhn, wie ein auf dem
Trocknen zappelnder Fiſch, wie ein Wagen ohne Räder
und Deichſel. Kein Wunder, daß er fich bereits zwei
oder drei Jahre fpäter mit einer gewilfen Haft der
carteſiſchen Begriffe bemächtigt, in denen fein kühles und
verſtandesklares Naturell ungenirt und behende wie ber
Fiſch im Waſſer ſich bewegen kann.
Ehe der große Fichte Kantianer wurde und bie
Kant'ſche Freiheitslehre weiter bildete, war er unflarer
Determinif. Was bedeutet diefer Umftand für die Aus:
bildung des Fichte'ſchen Syſtems? Er ift völlig uner-
beblih. So lange Fichte Determinift war, exiftirte ber
Fichte'ſche Geift, welcher Epoche macht in der Gefchichte
der Philofophie, noch nicht; fo lange war der Philoſoph
Wichte noch nicht geboren. Diefer kam nicht früher zur
Welt, als in der Stunde, wo Fichte anfing die Kant'ſche
Vernunftkritik zu ſtudiren. Da erft ging ihm das Licht
auf, in welchem er fchöpferifch fortdachte, und ber alte
Determinismus war als ein zufälliger, nichtefagender,
unglüdlicher Einfall vergeffen. Aehnlich vergaß Spinoza
feinen Theophilus als den unglüdlichen Einfall einer
Annäherung an ein fehwärmerifches Syſtem, welches
nicht für ihn taugte. Erſt fein Studium des Descartes
bezeichnet den Tag feiner geiftigen Geburt. Bor die-
jem Tage war Spinoza als Ph;lofoph noch nicht
vorhanden.
Spinoza trieb die carteflanifche Philofophie von ihrem
innerften Princip aus einen Schritt weit bialeftifch über
ſich felbft hinaus. Er that diefes dadurch, daß er die
mathematiſch rechnende Methobe ber Begriffe, welche
Descartes anftrebte und forderte, in eimer ftrengern und
ausgedehntern Weiſe handhabte, als es dem Descartes
jelbft jemal8 gelungen war. Spinoza ift daher unter
allen Nachfolgern des Descartes mit Recht der ftrengfte
genannt worden in Beziehung auf bie mathematifche oder
dogmatiſche Methode.
Daher Fünnen wir uns nicht mit dem Gedanken be-
freunden, bei Spinoza mehrere Entwidelungsphafen von
entgegengefegtem Charakter anzunehmen. So wie bei
3. ©. Fichte als dem ftrengften Methobifer unter den
Kantianern ſämmtliche Entwidelungsphafen nad) einem
und demfelben Charakter verlaufen, fo finden wir es auch
bei Epinoza von dem Punkte an, wo er zu philofophiren
anfängt, d. 5. wo er Cartefianer wird. Marl Sorllage.
®
Dentfch-Brafilien.
Georg, der Auswanderer. Oder: Anfieblerfeben in Südbrafilien.
Illuſtrirte Schilderungen zur Erwägung für Wanderluftige.
Mit 235 Abbildungen in Ton» und Farbendrud. Neue,
ee Ausgabe. Rudolſtadt, Froebel. 1869. Gr. 8.
T,
Bei "Gelegenheit der Beiprehung des Tſchudi'ſchen
Reiſewerls haben wir bereit aus vollfter Ueberzeugung
unfere Stimme für die beutfche Auswanderung nad
Südbraſilien erhoben. Langfam aber ftetig wendet ſich
ein deutfher Strom dorthin, und bie Colonien in Rio—⸗
Grande⸗do⸗Sul und Santa-Catarina gedeihen, wie alle
Berichte und ftatiftifchen Ausweiſe beweifen, trog der uns
günftigen Lage, in welcher Braftlien fid) gegenwärtig bes
findet, ehr gut. Der unermüdliche und hochverdiente
Dr. Blumenau bat auf eine Eingabe, weldhe er im Be
ginn des Jahres 1869 an das norddeutſche Yundes-
h
fanzleramt machte, und in welcher er um bie Aufhebung
der in Preußen mit Bezug auf die Auswanderung nad)
Brafilien getroffenen Ausnahmemaßregeln nachſuchte, aller-
dings eine abjchlägige Antwort erhalten. Eine eingehende
Pritfung der BVerhältniffe hat in dem Bundeskanzleramt
nicht die Weberzeugung zu begründen vermodt, daß eine
Uenderung der bisher in Betreff der Auswanderung nad)
Brafilien beobachteten Grundſätze zur Zeit im Hinblid
auf die gefammte Tage ber deutfchen Goloniften oder mit
Rückſicht auf das Verhalten der- dortigen Regierung ihnen
gegenüber gerechtfertigt fein würde. Diefelbe Antwort
wurde auch der Coloniedirection von Donha Francisca
zutheil, die eine ähnliche, von Coloniften unterzeichnete
Eingabe an da8 Bundeskanzleramt machte.
Wer die Flugblätter gelefen Hat, die von ben bentfch-
BE FRE O a2,
era BE
206 Feuilleton,
braſiliſchen Anfledlern in das Mutterland gefchidt
worden und von den adtbarften Leuten unterfchrieben
find, wird feine Minute daran zweifeln, daß unjere
Landsleute ſich in ihrer neuen Heimat wohl befinden.
Aber noch weitere Garantien für deren Rechte und den
Schu der Einwanderer find nothwendig, und diefe zu
erlangen, ift Norbdentjchland bemüht. Der Abfchluß einer
Eonfnlarconvention mit Brafilien wird fiherlih nicht nur
die nothwendigen Garantien in fich fchließen, fondern auch
die Ueberwachung und Ausführung berfelben durch die
Conſularagenten bezweden. Iſt diefer legte Schritt gethan,
dann möchten wir die Stimmen hören, die es noch wa⸗
gen dürften, von einer Auswanderung nad) Sübdbrafilien
abzurathen. Die deutſchen Colonien in Sübhrafilien bie-
ten zweierlei: ein gebeihliches Dafein für den einzelnen,
der zu Wohlhabenheit gelangt, und dann die Garantie,
daß ihm feine Nationalität bewahrt bleibe. Dort ent«
widelt fi Nendentfchland auf der ſüdlichen Halbkugel,
und das ift wichtig.
Wohin der Deutfche in der Fremde bisher auch kam,
er wurde mehr oder minder doch nur ein Mifchungstheil
des herrfchenden Volks, und eine nationale Zukunft hat
er, darüber ift man nachgerade einig, weber in ben
Bereinigten Staaten nody in Auftralien, welche zur Zeit
noch die wichtigſten Colonifationsgebiete der Neuen Welt
find und die Auswanderer anziehen. Hier wie da ver-
ſchwindet das Deutſchthum fehon in der zweiten, fpä-
teftens dritten Generation und macht bem Mifchelemente
Platz, das in Lauten & la „Hans Breitman’s Barty“
ch ergeht. Anders in Südbrafilien. Hier ift fehon ein
fräftiger deutfcher Kern vorhanden, an ben nur bie neuen
Elemente anzufhießen brauchen, um die Deutfchen dort
zur herrſchenden Macht mit nationaler Zukunft zu erhe⸗
ben, um mit einem Worte ein Neudentfchland zu fchaffen,
auf welches die alte Heimat mit Stolz herniederfchauen
fann, file die e8 in mercantiler Bezichung auch auf lange
Zeit der beite Abnehmer fein würde. Allerdings gab es
Zeiten, in denen die Preſſe recht Hatte, vor einer Aus-
manderang nad) Brafilien zu warnen: die religiöfe Un-
duldfamkeit, die Parceria- oder Theilpachtverträge führten
zu Scändlichfeiten aller Art, und die Lage mancher
deutfchen Emigranten war eine fo grauenvolle, daß viele
beutfche Regierungen ſich genöthigt fahen, die Auswan⸗
derung nach Brafilien zu verbieten oder doch nad; Mög⸗
lichkeit zu verhindern. Jene Slagen und Warnungen
haben heute ihre Spitze verloren; bie übeln Zeilen find
vorüber, das deutſche Element ift zur Geltung gelangt
und gedeiht unter der brafilifchen Verfafſung, einer
der freieften der Welt, vortrefflih. Im der Union, wo
der ungebildetfte Neger das Wahlrecht hat, nur weil er
auf amerifanifchem Boden geboren wurde, erlangt der
gebildete deutſche Einwanderer dieſes erft nach Berlauf
eines fünfjährigen Aufenthalts; in Brafilien kann er fi
fofort nah der Landung naturalifiren laffen und tritt
nun in den Vollgenuß aller bürgerlichen Rechte. Abges
ſehen von den natürlichen Vortheilen, die in Brafilien
mindeftens denen in der Union gleich find, zeichnen ſich
die fübbraftlifchen Provinzen — wir fagen ſüdbraſiliſch —
noch dadurch aus, daß dort der Procentfag der farbigen
zur weißen Bevölkerung der günſtigſte ift; es herrſchen
dort keineswegs jo unconfolidirte Verhältniffe, wie in ben
Süpdftaaten der Union, wo auf Jahrzehnte Hinaus bie
Raflenfeindfchaft zwifchen Schwarz und Weiß noch un«
zweifelhaft beftehen wird. Brafilien zählt auf 11 Mil
lionen Einwohner nur 1,400000 Sklaven. In Santa-
Catarina und Parana kommt auf zwölf Freie nur ein
SHave, in Rio-Örandesdo-Sul, dem Hauptfite der
Deutfchen, gar erft einer auf neunzehn Freie. In den
deutfchen Colonien gibt e8 felbftverftändlich Feine Sklaven.
Die Zahl der in Brafilien, namentlich im Süden angeficdelten
Dentfchen wird jet auf 80000 angegeben.
Mit diefen wenigen Andeutungen wollen wir die
zweite Auflage eines Werks anzeigen, dag in ungemein
praftifcher und vollsthümlicher Weife die Vortheile einer
Auswanderung nad Brafilien darlegt und im Erzählerton
den Auswanderungsluftigen mit der Reife (via Hamburg),
mit den nothwendigen Reiſeutenſilien und VBorräthen, mit
den Segeln, die bei der Ankunft zu befolgen find, umd
den Borzügen ber verfchiedenen deutfchen Kolonien im
Süden befannt madt. Das Rand, fein Klima, feine
Producte, die verfchiedenen bei der Colonifation ange»
wandten Syſteme, die politifchen Verhältniffe werben ein-
gehend gefchildert und zum Theil mit IUuftrationen
erläutert, die allerdings nicht ſämmtlich auf üfthetifche
Ausführung Anſpruch machen können. Große Gewifien-
baftigfeit charakterifirt vorzugsmeife dieſes Buch, das wir
jedem, der einmal entjhloffen ift nad Südbraſilien
auszuwandern, als Führer angelegentlid empfehlen
können.
Richard Andree.
Adalbert Stifter.
Die „Linzer Zeitung” bringt folgenden Aufruf:
Grabdentmal für Adalbert Stifter.
Sn feinen Worten trägt der Dichter fein Leben von Ge⸗
fchlecht zu Geſchlecht und bebarf bes nur widerftrebend dem
Meißel ſich fligenden Steins nicht, daß er Zeugniß von ihm
gebe. Gleichwol fol der Ort, wo ihm zuerſt das Licht der
Sonne traf, die flile Stätte, die feine Aſche birgt, nicht un⸗
bezeichnet bleiben, damit eine fpätere Zeit nicht fage, daß er
einfam unter uns gewandelt und unerlannt von und geſchieden
Feuilleton.
ſei. Im diefem Sinne bat e8 das unterzeichnete Comité unter
nommen, an dem Grabe Adalbert Stifter’s auf dem SFriebhofe
von Linz ein Denkmal, feiner würdig, zu errichten, und wen⸗
det fi um Beiträge für daſſelbe an die zahlreichen Berehrer
des Dichters in allen bdeutjchen Landen. Die Redaction biefes
Blattes und die Danner’ihe Buchhandlung (Th. Ewert) ift bereit,
diefelben in Empfang zu nehmen.
Notizen.
Wir wollen die Aufmerkfamkeit unferer Lefer anf ein
werthvolles wiflenichaftliches Wert, auf W. Obermüller’s
®
Feuilleton.
„Deutichefeftifches Wörterbud)" (Leipzig, Denide) richten. Die
Spradforfdug, welche ſich früher fait ausſqließlich innerhalb
der Sphäre des clajfifgen Aiterthums hielt, hat fi be»
fanntlic in neuerer Zeit auf die fogemannten Urfprachen ger
worfen, auf welchem Gebiete bereits höchſt bemerfenswerthe
Ergebuiffe erzielt worden find. Wie die paläologif—hen For-
ſchungen der Naturwiſſenſchaft eine ganz neue, folidere Unter»
Tage gewährt haben, und wie da8 Gtudium der folfilen Thier—
reſte einen Blick in die verfchiedenen Schöpfungsperioden der
Erde möglid) macht, fo liefert die Bergleihung der Urſprachen
ein Bild von den älteften Bewohnern der Erde weit Über die
geſchichtlichen Zeiten hinaus, Die alten Fluß- und Bergnamen,
welche feine neuere Sprache zu erflären vermag, find gleichſam fof-
file Ueberrefe aus einer längft geſchwundenen Periode, aber fie
zeigen, welche Böller einft im Herzen Europas hauften, voraus -
gejetst, daß man ben Schlüffel gefunden Hat, um fie zu deuten.
Diefer Schlüffel aber iR gefunden, wenn die Angaben Mone’s in
Karlsruhe und Obermüller's in Leipzig, ſowie verfhiedener ande»
ver, welde diejen Sprahforicun ven folgten, das Richtige treffen.
Das vorliegende „Deutich-feltiiche Wörterbuch” von Obermüller
erflärt Zaufende von Fluß und Berg⸗, von Wälder>, Gauz,
Dorf» und Stäbtenamen aus der celtifhen, d. 5. aus der
Sprache derjenigen Völker, welche vor Ankunft der Deutſchen
und Römer Mitteleuropa bewohnt haben. Mag man num
auch dahingeftellt fein Taffen, wie viele der Bier gegebenen Er»
flärungen anufehten feien, fo iR doc micht zu leugnen, daß
die meiften derjelben fo ungezwungen erſcheinen daß man
dem Autor nur zufimmen fan. Auch hat das Werk bei irie
hen Gelehrten, deren Sprache eben die celtiihe ift, ſowie bei
Amerifanern, die wegen ihrer Verſetzung mit iriſchen Elemen-
ten gleichfalls eine Art vom Autorität im diefer Sache haben,
vieffadhe Zufimmung gefunden. Was aus ben Obermüller’ichen
Auffiellungen zunächſt hervorgeht, ift die durch vielfache Wort-
erflärungen unterlügte Behauptung, daß die Slawen in Oſt⸗
europa, ſowie die Iren und Schotten in Weſteuropa Neoigtich
Ueberrefte eines frühern europäif—en Urvofls, der Celten näm«
Hd, feien, wenn aud zum Theil mit Deutihen, Finnen und
Hunnen, beziehentlid) Tataren, ſtark vermiſcht. Cin anderes
Refultat der auf die vordeutjchen Sprachrefte —* Sprach⸗
forſchungen ift ferner, daß die jegigen deutihen Stämme am
Rhein, am der Weſer und obern Donan keineswegs urſprüng ·
lich rein dentſche feien, vielmehr mit finnifchen und. celtifhen
Elementen im demfelben Grade vermifdt find, mie es bie
Spradie mit demem jener Völker if. Grimm’s fogenannte
verlorene Wurzeln, d.h. die aus der deutſchen Sprache nicht
erflärbaren Worte follen nad den Kennern der celtifchen
Spradje eben ceftifche, beziehentlich finniſche fein.
Da die in dieſer Richtung angeftellten Forſchungen ihre
Tragweite Haben, leuchtet ein, und mag man auch dahingeftellt
fein laſſen, wie fih in Zufunft die Sprachwiſſenſchaft mit den
bier angedenteten Refnltaten der celtiſchen Forſchungen ausein«
anderfeigen werde, fo iſt doch micht zu Teugnen, daß eine Menge
von Thatjaden burch dieſelben ans Licht gezogen find, von
denen man zuvor nicht eine Ahnung hatte.
Bon der Ausgabe von „Shalfpeare's Werfen“, welche
Nikolaus Delius veranftaltet Elberfeld, Frideriche), Tier
gen die funfzehnte bis meunzehnte Lieferung vor. Mit der
funfzegnten beginnen die englifhen Königedramen. Sehr ine
tereffant find mie immer die Ouellenongaben uud die Ber-
gleijungen mit ültern Stüden, aus denen teile Hervorgeht,
wie Shatjpeare mit freierm Sinn und oft in genialer Weiſe
von feinen Vorbildern abwich, theils aber auf, wie viel
er benelben verdankt, bei weitem mehr ale u.ä unfern
Anfhauungen fih mit der Selbſtändigkeit und Originalität
eines Schriftftellers verträgt. 9
Der achte Baud der hiſtoriſch-kritiſchen Ausgabe von
„Schillers fämmtlihen Schriften” (Stuttgart, Cotta) ente
Hätt die von Hermann Deferlen herausgegebene „Ge-
Nichte des Dreifigjägrigen Kriegs”. Die Barianten find hier
nicht fehr zahlreich; die Terikritik hat nur die erſten Ausgaben
berüchfichtigt. .
207
Bibliographie.
Bea. R., I Seiegt.
Sk: gung do ” —* * oaigie. Berlin,
ernau, ie jaffung ber Zobeöfirafe. Anmerkungen zu dem
eines Str: bi für be di ii
he. N EAN Ni Fe — Bund vom Juli
er, A, ine Sträuder aus dem weizerland: äl ie
en, (Reue Bolge) Sci, Beriagde Mogaın Tori
HR zur „Eompeteng - Et “ ie
AUT que „Gompeteng« Gompelen?" Cine Streir
tv. Bpinozas System dor Philosophie nach
Traktaten desselben In geuetischer Entwicke-
t eiuer Biographlo Spiaosa’s versehen. Berlin,
Roman, 3 Bbe. Berlin, Sante, 8. 4 Th.
v., Ein Beitrag zur Lösung der Staaispapior-
* Bunde. Mit Kückeicht auf die Regulirung
des Münzwesens und auf die Reform der Bankgesctzgebung iu Norde
deutschland. Leipzig, Velt u. Comp. Gr. 8. 15 Nat.
B
Eutwn
1809.
8
i
gen und Hobel
on Giovanni von Mozart. Eine Studie zur Oper
auf Grundlage des da Poute'schen Textes uebst einer verbasserten Uober-
setzung des letateru. Frankfurt a. M. 8. 1 Tülr.
Findel, d. Hierarchie und der Absolatismus in
Preussen. Ein
der „höchsleuchtenden“ growen Landesloge der Freimaurer vou Deutsch“
*
— Leipaig, Findol, On. 9 Nr. 2 0
am Wit in .
autotifie m Uringeifn Shönstdedarseh kike
dig, Weber. Cr. 8. 2 hie. 15 Nor.
—38 —* Der file Speculant. Eriminal-Rovelle. Halle, Dendel.
5 t
ie Serefcaft bes Minds oder Nom Im 19. Zahrhun -
mäßige und gefeglid gejgügte Original « Husgabe in
Wien, Yartleben. 8. 3 Thlr.
Befgigte ber Spatefpcare'jgen Dramen in Deutfland.
. Ör. 8. 2 Zhl. 22%, Nor.
iu swangiojen Heften gejammelt und berandgegeben.
Aue, 8 220, Wer,
Tete ren bed Wiener Diufifiebens nebft eingm Mnpı
ie ie aus England, Sranfteih und ber Gweig.
müller. @&r. 8.
br Wr. de Meer
Reiter, 28.0. Dec D., Was hat dene Brof. Mppolb in Heibefs
ve Bildefakeht ann
hyteig eine "Deleutundg maherner
Dein, Süokein. Orb 6 ng,
Die Gräfin, Trauerfpicl, Me Wafl, Leippla, Hirzel.
.d Btantebürgerrecht Im norddeut-
‚Bunde. Leipzig, Hinrichs. Gr, ir.
Songiellow, 9. ., Evangeline. Cin ameritanifhes IoyL in 10
@efängen. In deutfger Raddigtung von ®. Herlth. en, Rühte
mann u. Somp- 16. 15 ver
M -, Die Bellglon des Ju
Prinei ınseres Jahrhunderts. Za;
Gr. 8. 15 Ngr.
äbter, 8.9.0, eben und Mshanblungen über Gegenfänbe ber
Himmelötunde. Berlin, Oppenheim. Gi. 8. 2 Zhlr. 20 Nor.
und zur Einführung In die Aristotelische Politik, 1ste Hälfte. Leipzig,
Engelmann, Gr. 8. 1 Thlr. 22%, N
Bayn, I.
dem wirfticen
mit einem Vorwort dere
Ster a; Die Geihicte
I, 15 Rat.
otheim,d., Bier Monate in Grufien. Germanneburg. 1869.
8. 3 dar.
Trauttwein von Belle, % Diniam Pitt der Jüngere, Yazniere
*
Miner von England. Bortrag. Berlin, dandau. Cr. 8. 7’,
* re — 7
N, .
— 53
mus,
HP „ Di: 0 2 OR SEE
2 er era DT.
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er Hein 2 » 7
Anze
Anzeigen.
igem
— — —
Vertſag von S. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Lao-tse Täo-te-king.
Der Weg zur Tugend.
Aus dem Chinesischen
übersetzt und erklärt von
Reinhold von Plaenkner.
8. Geh. 2 Thlr.
Dieses Werk des chinesischen Philosophen Lao-tse,
eines Zeitgenossen des Confucius, bietet eine reiche Quelle
tiefsinniger Anschauungen über religiöses und philosophi-
sches Lehren und Leben; es nimmt in der chinesischen
Literatur eine sehr hohe Stelle ein und ist auch in Europa
schon vielfach zum Gegenstand specieller Forschungen ge-
macht worden. Die hier vorliegende erste vollstendige
deutsche Uebersetzung darf um so sicherer auf grosse Theil-
nahme rechnen, als der Herausgeber die vielfachen Irrthü-
mer der frauzösischen und englischen Uebersetzungen darin
berichtigt, sowie durch ausführliche Erläuterungen zu jedem
Kapitel das Werk dem Verständniss deutscher Leser mög-
lichst nahe zu bringen gesucht bat.
Berlag von 8. Pfeil in Rendnig-Leipiig.
Sag — Drud — Papier. 7%, Sgr.
Literaotur-Merfbüdlein. 10 Sgr.
ERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 6. Heft.
Philosophie: Gegenwärtige Philosophie in Deutsch-
land, von Dr. Dühring.
Geschichte: Historische Literatur, von J. J. Honegger.
— Edwin M. Stanton, von Dr. R. Döhn. — Nekrolog.
Literatur: Biographische und Briefliteratur, von K. Alt-
müller. — Nekrolog.
Physik: Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiete der
Physik, von Dr. Klein.
Astronomie: Die Spektralanalyse, von Schellen.
Botanik: Die Abstammung unserer Obstbäume, von
Koch. — Victoria regia. — Saprolegnien als Fischtödter.
Mineralogie und Geologie: Die Basaltgesteine, von II.
Vogelsang. — Tertisre Limulus
Volkswirthschaft: Die Bestrebungen auf dem Gebiet
der Armenpflege, von Dr. Dühring.
Handel und Verkehr: Die französische Kolonie iR
Saigon.
Industrie: Die Bierbrauerei, von Noback. — Nekrolog.
Landwirthschaft: Fleischproduktion und Konsum. —
Guarana. — Mandioca.
Kriexswesen: Festungsbau. — Neues Schiess- und
Sprengpuiver, — Offensiv-Torpedos. — Nekrolog.
Technologie: Die Farbstoffe, von Schützenberger.
Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk.
lllustrationen: Nebelflecke, Beilage zum Artikel „Spek-
tralanalyse“.
BIBLIO6RAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Deutfche Allgemeine Zeitung.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Die Dentihe Allgemeine Zeitung iſt ein entfdie-
den Liberaled nnd nationales, nad allen Seiten
unabhängiges Organ und gehört zu den verbreitet-
ten Blättern in Mitteldentſchland. Sie hat zahl-
ir Originalcorrefpondenzen und Depefden, ein
reichhaltiges Feuilleton und Originalmittheilungen Über
gendel und Induſtrie. Außer dem NMorddentihen
unde, Süddentſchland und Defterreid wibmet fie
uamentlid den Angelegenheiten Mitteldeutfhlands und
ſpeciell Sadfens eine befondere Aufmerlſamleit und kann
als hauptſüchlichſte Originalquelle darüber den weiteiten
Kreiſen des In= und Auslandes empfohlen werden,
.Mit dem 1. April beginnt ein neues Abonnement auf
die Deutiche Allgemeine Zeitung, und werben deshalb alle aus⸗
wöärtigen Abonnenten (die bisherigen wie nen eintretende) erfucht,
ihre Beftellungen auf das nächfte Vierteljahr baldigft bei ven
betreffenden Poftämtern aufzugeben, damit feine Verzögerung
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Die Deutfche Allgemeine Zeitung erjcheint außer Sonn-
tags und Feiertags täglih nahmittage mit dem Datum des
folgenden Tags. Nach auswärts wird fie mit den nächſten
nah Erſcheinen jeder Nummer abgehenden Boften verſaudt.
Der Abonnementspreis beträgt vierteljährlih 2 Thlr.
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welche zu diefem Zwede von den weiteften Streifen und na»
mentlid einer Reihe größerer induftrieller Inftitute regelmäßig
benutzt wird, die allgemeinfte und zweckmäßigſte Verbreitung ;
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fpaltenen Zeile unter ‚„Anllindigungen‘ 1%, Ngr., einer drei»
mal gefpaltenen unter „Cingefanbt” 2Y, Nor.
Bon 1870 an haben die Herren Haafenflein & Bogler
in Reipzig, Berlin, Breslau, Frankfurt a. M., Köln, Hamburg,
Stuttgart, Wien, Bafel, Züri, Genf, St.» Gallen und Dres-
den den ausfchließlichen Suferatenbetrieb für die Deutſche All⸗
gemeine Zeitung übernommen und find alle Inferate an eins
diefer Etabliffements zu ſenden.
‚. In der €. &. Lüderigihen Verlagsbuchhandlung A, Cha⸗
rifins in Berlin erfchien foeben:
Prof. Sr. Nippold,
Die Sleihniffe Jeſu.
1870. 40 Seiten gr. 8. 6 Sgr.
Diefer wiffenfhaftlich-religiöfe Vortrag wird von allen Zu⸗
hörern feit Monaten ſchon mit Spannung erwartet.
Deſſelben Berfaflers: .
Viſchofsbrief vom Goncil
ift in zweiter Auflage für 5 Sgr. käuflich.
Die Schrift des Prof. Baumgarten:
An Se. Majeflät, Wilhelm den Sıflen,
König von Preußen. Ein notbgedrungenes Wort zum
Schut des deutſchen Proteftanten- Vereins. 1870. 40 Sei»
ten gr. 8. 6 Sgr.
ift jeßt in allen Buchhandlungen vorräthig.
Berantwortlicher Nebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von 8. A. Brochhaus in Leipzig.
Blaͤtter
literariſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Etſcheint wöchentlich. —4 Ar, 14. er 1. April 1870.
Die Blätter für literariſche Unterhaltung erſcheinen in wöentlihen Lleſerungen zu dem greife von 10 Ihfen. jährlich, 5 Thlrn.
barbjähriih, 2’ Thlrn. vierteljährlich. Ale Buhhandlungen und Forämter ded In- nud AublandeB nehmen Beftelungen au.
Inhalt: Zofeph Bictor Scheffel. Bon Kudolf Bottihat. — Ein preußiſcher Staatsmann im 17. Sahrhundert. Bon Gans
sag. — Bom Bücertiih. — Senilleton. Engliſche Urtheife fiber wene Erſcheinungen der deutſchen Literatur; Schiller-
Gefpräche; Aelteſte deutſche Fiteraturdenfmäler.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Iofeph Victor Scheffel.
. Bergpfalmen. Dichtung von Joſeph Bictor Scheffel.
Bilder von Anton von Werner. Stuttgart, Metzler. 1870.
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Iofeph Bictor Scheffel. Mit 60 Holzſchnitt⸗Illuſtra⸗
tionen und einem Titelblatt in Zarbendrud von Anton don
Berner. Stuttgart, Meter. 1869. Imp.4. 5 The.
Fig TE Feng Ausgabe ohne Illuſtrationen. Dritte Auflage.
. Der Trompeter von Sädingen. Ein Sarg vom Oberrhein
von Zofeph Bictor Sheffel. Zehnte Auflage. Stutt«
gart, Megler. 1870. Gr. 16. 1 Zhlr. \
. Frau Aventinre. Bilder aus Heinrich vom Ofterdingen’s
Zeit von Iofeph Victor Sheffel. Zweite Auflage.
Stuttgart, Mehfer. 1869. 8. 1 Ihle. 10 Ngr.
In biefer Zeit eines auch für die Dichtkunſt bedroh⸗
lichen Nivellements, in welcher nach einer und derſelben
Form hundert Geſichter geſchnitten werden, im Gegenſatz
zu jener Form, von welcher Byron fingt:
And broke the form in moulding Sheridan —
iſt es erquicklich, Dichter zu treffen, die man als Specia-
Itäten bezeichnen kann, mag aud) dies ftolze Vorrecht
mit mander kraus wunderlichen Eigenheit erfauft werden.
Zu diefen Specialitäten gehört ohne Frage Joſeph Victor
Siheffel, von welchem gegenwärtig zwei neue Gedicht
jammlungen vorliegen, während frühere in neuen Auflagen
erjchienen find, die Erzählung „Der Trompeter von
Sadingen“ ſchon in ber zehnten Auflage.
Es ift ein eigen Ding um unfere Literaturgefchichten,
Anthologien, Sentenzenfammlungen — um die Propaganda
des literarifchen Rufs in der Gegenwart. Die Poeten,
welhe duch gemeinfame Merkmale eine Gruppe bilden,
haben ſtets den Bortritt vor denen, die etwas eigenfinnig
beifeiteftehen und im feine Rubrik fo recht paſſen wollen.
Bei jenen „Schulen" und „Gruppen“ wird aud eine
1870. 1%
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Mittelmäßigfeit, die fi an den Rodzipfel irgendeiner
Sröße hängt, bequem mit hereingefhmuggelt, während
man die Einzelnfttehenden leicht vergißt. Und mie zäh
find die Rubriken unferer Fiteraturgefchichten! Wie erb⸗
ten fie ſich fort als eiferne Inventarftüde! „Das unge
Deutfchland", „Die politifche Lyrik“, „Die öſterreichiſche
Lyrit — und ‘einige ähnliche Gruppirungen find ftereotyp
in ben Darftellungen moderner Literatur! Mer einer
ſolchen Gruppe einmal angehört, der ift unverlierbar für
das Gebädhtniß der Nachwelt. Doch was ſoll man mit
den Poeten anfangen, die gleihfam auf eigene Fauſt
dichten, welche nur dazu dienen Rönnen, die Fächer und
Rubriken zu verwirren; „fonberbare Käuze“, die man
unter feiner Weberfchrift unterbringen kann. Nun, fie
müffen draußen ftehen vor der Kiterarhiftorifchen Walhalla,
bis ein Plägchen für fie aufgefunden wird, durch einen
„glüdlichen Griff“, der doch ein gemeinfames Etikette für
fie und irgendwelchen Leidensgenoffen findet.
Bictor Scheffel gehört zu diefen Dichtern, bie ſich
ſchwer rubriciren laſſen. Er verleugnet außerdem in
Stoffwahl und der ganzen Haltung eine gewiſſe Tand«
ſchafiliche Eigenthümlichteit nicht, ſodaß er in den ändern
des unmöglihen Sübbundes weit bekannter ift als im
Nordbeutfchland. Hierzu kommt, daß feinem Coftüm ber
altdeutſch alterthümliche Aufpug, der ſich felbft in einer
Inorrigen, oft vor lauter urſprünglicher Deutſchheit ſchwer-
verftändfichen Sprade zeigt, durchaus eigen if, und
daß ein Ueberwuchern mit krauſen, Holzichnittartigen Ara-
besten, mit mittelalterlichen Initialen und Majusfeln des
Stils vielen feiner Gedichte eine etwas harte Schale gibt,
welche aufzufnaden dem Zeitgefchmad nicht fonderlih
bequem ift.
Der Kern der Scheffel ſchen Gedichte aber ift ein
27
210
durchaus gefunder, und aud) wo feine Dichtungen mittel
alterliche Stoffe wählen, wie namentlich in der „Frau
Aventiure“, unterjcheiden fie fi) dadurch vortheildaft von
dem füßfichen und verfäljchten Mittelalter der „Amaranth“.
Sein Hauptwerf auf diefen Gebiete: „Ekkehard“,
muß als Romandidtung hier von unſerer Betrachtung
ausgefchloffen bleiben; doc die treue und kryſtallklare
Spiegelung des mittelalterlihen nationalen Lebens, ohne
bie irrlichtelivende Romantik, mit welcher Achim von Arnim
feinen nur bisweilen Töftlihen naiven „Kronenwächter“
ilufteirt Hat, ohne die Tendenzſucht, welche aus altdeut«
chem Wefen und Gefchehen Kapital fir moderne politifch-
religiöfe Richtungen zu fchlagen fucht, kann auch eine
misgünftige Kritit diefen poetiſch gefaßten Culturbildern
nicht abfprechen.
Wir find allerdings der Anficht, dag die Culturmalerei
untergegangener Epochen feine Hauptaufgabe einer wahrhaft
nationalen Poeſie fein kann, daß fie ſtets nur zu den flores
und amoenitates dichterifcher Nebenftunden gehören follte.
Ein germanifches Muſeum ift ein höchſt verdienftliches
Aſyl tüchtiger Forſchung; aber ein germanifches Muſeum
in Verſe zu bringen keine Aufgabe für die moderne Poeſie.
Unſere wackern mittelalterlichen Dichter trugen auch keine
gelehrten Brillen, um ſtoffhungrig im alten Moder zu
wühlen; ſie dichteten nur, wie's ihnen ums Herz war,
und wählten nur Stoffe, die zu ihrem Sinnen und Trach—⸗
ten paßten. Die „Yrau Aventiure“ der Neuzeit bat
einen gänzlich veränderten Charakter, fie ift zu Haufe in
den Salons und auf den Straßenpflafter von Paris
wie am grünen Tiſch von Baden-Baden, unter politifcgen
Stegreifrittern und emancipirten Stegreifritterinnen; gele-
gentlich fett fie als Einfag eine Krone auf rouge oder
noir; aber der Waldduft, der Zauber des keuſch Min-
niglichen, des ritterlich Edeln ift ihr fremd, wie ung
wiederum die Abenteuerluſt jener mittelalterlihen Huldin,
deren Fahrten und Lieder und wol eine Zeit lang ange:
nehm bejchäftigen mögen, doch immer nur als „Poeſie
ans zweiter Hand“,
Diefe Bemerkungen treffen indeß nicht die zwei neues
ften Sammlungen Scheffel's: „Die Bergpfalmen” (Nr. 1)
und das „Gaudeamus“ (Nr. 2), in denen nur bie üufßere
Einfleidung etwas Wlterthümliches Hat, während dies
Alterthüümliche oft einem ſchalkhaften und baroden Humor
zugute fommt. Bei den „Bergpfalmen“ freilid; Tann man
nicht abjehen, warum der Dichter eine folche Einkleidung
gewählt hat. Der Inhalt derfelben ift Naturpoefie, bie
fih in allen Zeiten der Deenfchengefchichte gleich bleibt,
und felbft die etwas fagenhafte Naturbelebung ift freies
Borreht der Dichtung und braucht zu ihrer Rechtfertigung
nicht den Hintergrund einer fagenfrohen Zeit. Warum
den Holzfchnittartigen Charakter auf diefe Hymnen der
Natur übertragen? Warum muß es ein Biſchof zu
Regensburg fein, ein frommer deutſcher Dann, der aus
Raiferfehde und Fürftenftreit ſich in die Einfamfeit der
Alpen zurüdzog? Aufrichtig gejagt, wir glauben nicht
an den Naturfinn und die Naturbegeifterung der mittel»
alterlichen Biſchöfe; wenigftens find uns Teine Proben
derfelben überliefert. „Natura taceat in ecclesia” —
fünnte man den befannten Spruch ummodeln, der die
Frauen zum Schweigen in der Kirche verdammt.
Joſeph Victor Scheffel.
Die Naturgefühle dieſes Biſchofs werden uns nun in einer
Folge poetiſcher Bilder: „Ausfahrt“, „Sturm“, „Nebel“,
„Sonnenſchein“, „Gletſcherfahrt“, „Heimkehr“ vorgeführt,
welche nicht nur durch alterthümliche Initialen geſchmückt
ſind, ſondern auch durch große Bilder von Anton von
Werner, in denen der ſtimmungsvolle Ausdruck des Natur⸗
lebens durch ſagenhafte Geſtalten, Nebeljungfrauen auf
ſchnaubenden Roſſen, Schneejungfrauen in der Gletſcher⸗
kluft u. ſ. f., wiedergegeben wird, wobei wir indeß doch
vielfach an Leſſing's „Laokoon“ und die Grenzen der
Dichtkunſt und Malerei erinnert werden. Der Dichter
kann die Nebel als freiſchwebende flatternde Geſtalten
hinſtellen; die empfangende Phantaſie kommt ihm dabei
zu Hülfe, indem ſie in ihrem freien Aether dies Schwanken
und Schweben, dies Uebergehen der Nebelgebilde in
menſchliche Erſcheinungen, das Verſchwimmen und Zurück⸗
verſchwimmen, dieſe dissolving-views treulich nachzuſchaffen
vermag. Bei den feſten Contouren des Zeichners droht
indeß die Gefahr, daß wir das Naturbild ſelbſt über
ſeiner ſymboliſchen Geſtaltung vergeſſen. Wir werden
z. B. kaum den Eindruck des Nebels erhalten, wenn
wir dieſe Geſtalten mit ihren Schleiern auf ſchnauben⸗
den Roſſen daherbrauſen ſehen. Gelungener ſind die
andern Bilder, meiſt ſinnreich und ſchwunghaft in der
Ausführung.
Die Dichtung ſelbſt erſcheint als das mittelalterliche
Gegenbild gegen die modernen Heine'ſchen „Nordſeebilder“.
Beide ſind in freien, beflügelten Rhythmen abgefaßt, in
hymnenartigen, meiſt reimloſen Formen; aber die Heine'ſche
Feier des Meeres iſt friſch aus dem Geiſte der Neuzeit
herausgedichtet, und wenngleich fie von ſarkaſtiſch zerſetzen⸗
den Elementen nicht frei ift, fo fchlägt body in ihnen
der Puls des modernen Gedanfens, und die großartigen
Naturbilder erhalten eine Beleuchtung, die und vertraut
gemahnt. Der Grundton der Scheffel’fchen „Bergpfalmen‘“
ift eine mittelalterliche Yrömmigkeit, in die wir uns erft
mit einer gewiflen Gewaltſamkeit hineinverfegen müſſen.
Denn die Perfpectiven unferer Zeit find andere als bie
einer geiftlichen Klaufe des Mittelalters, und ein philo«
ſophiſch gebildeter Geift ſchöpft andere Nahrung aus
großen Naturpanoramen und Naturerfcdeinungen als der
Biſchof von Regensburg, deſſen Eindliches Gemitth etwas
treuherzig Unfprechendes, aber auch engherzig Beſchränk⸗
tes bat.
Gleichwol Haben bie Naturfchilderungen als folche
Schwung und einzelne große Züge, am meiften der
Sturm, in welden aud) die Auffaffung über das be—⸗
ſchränkt Klausneriſche hinaus in das altbibliſch Pfalmen-
hafte übergeht:
Sturm kam geſchnoben
Nächtig mit Toben,
Mit ſauſendem Braus, mit Blaſen und Raſen;
Aufſtöhnte der Wald
In des Bergföhns Gewalt.
Durch Fugen und Ritzen der Blockhausſtämme
Drang, fpottend ber ſorglichen Moosverſchließung,
Schneidiger Hauch. Er ſcheuchte vom Scragen.
Und ich Hub mich Hinaus vor die Pforte der Klauſe,
Barhäuptig, flatternden Bartes,
Und ich beugte ein Knie, demüthig erfchanernd,
Denn id erkannte bie Stimme des Herrn,
Der auf Flügeln des Windes im Sterneufchein
Joſeph Victor Scheffel.
Gewaltig dahinfuhr.
Er aber ſprach nun:
Lange hab’ ich nicht Umſchau gehalten,
Ließ wuchern und wachſen das Menſchengewächs,
Wie die Sträucher des Waldes, nebeneinander
ut und bös.
Nun gehn meine Wege in Wetter und Sturm,
Kun ift mein Wille, ein Zeichen zu geben,
Das die Spreu gemahnet, daß fie nur Spreu iſt,
Das den faul und brüdig Gewordnen im Seift
"Den Meifter weift.
Und wie ich Über den Bergwald jetzt braufe,
Den Bäumen unbold,
Alte entwurzelnd, junge im Wipfel
Schlittelnd und Inidend, daß fie erächzen,
Alſo ereile ich draußen die Fande,
Bill ihre Städte und Märkte umpfeifen,
Um mand ein wohlumfhuppt Gotteshausdach,
Trotz forglich gepflegten Gebets und Geſangs
Und ewigen Lichte,
Soll fid ein Sciudelgewirbel erheben,
Der Wohnſitze Grundfeften follen erichlittern,
Daß der Zechtiſch erdröhnt und body vom Gefims
Der Becher dem Zecher aufs Haupt flürzt.
Keine Ruh fei vergännt zu nachtſchlafeuder Zeit;
Ber immer begehrfam zur Liegerftatt fchleicht,
Dem entfhmwante, im Fußgeſtell zitternd, fein Bett
Und verleid’ ihm die nächtigen Spiele.
Gewäffer und Ströme will ich durchfurchen,
Daß die Schiffe von jäh fi aufkräuſenden Wellen
Brandend zerworfen in Splitter zerjchellen.
Heimſuchung fomm’ Über Hütte und Haus!
Heimſuchung komm' über Burgen und Feten!
In Bolten lagernd erſchau' ich der Wälle
Umerferte Thürme, Trunkenen gleid),
Eid) wiegen, fich beugen,
Und endlich mit dumpfem, flerbjeufgendem Krach
Hinfinten in trodenen Graben.
Dit hebt fid) um die geborftenen dann
Bie aus jäh aufplagendem Hexenſchwamme
Erfiidend Gewölk,
Bon Trümmergeftäub,
Bon Mehl, das der Wurm im Gebälfe ernagt,
Bon morfhendem Moder und Schwaben.
In die Lüfte zerflieben jeh’ ich den Qualm,
Sch’ alles erbeben, zerbrechen und fallen,
Und gräme mid) nicht!
Die Lande durchſchütternd ſchwing' ich mich weiter,
Starkſröhlich und heiter,
Ih, der Herr!
Die altertHümlichen und feltfanen Wendungen, die
auch hier nicht fehlen, wie: „immerbegehrfam‘, „Liegerftatt”,
„auffräufend“, geben bei häufiger Wiederholung zum
Theil den andern Gedichten einen etwas manierirten
Anftrih. Das gilt gleich von ben erſten Verſen der
Ausfahrt:
Sandfahriges Herz, in Sturm geprüft,
Im Weltlampf erhärtet, und oftmals doch
Zerfnittert von ſchüͤmigem Kleinmuth.
Die Metrik ift natürlich auch die altdeutfche, Hebungen
und Senfungen ohne NRüdfiht auf Länge und Kürze; wir
ſtolpern daher oft über unmögliche Daltylen, ähnlich
dem Blaten’fchen „Holzklogblod” ; doc, die Maßſtäbe der
modernen Metrif gelten nicht gegenüber‘ der altdeutfchen.
Bir finden in der Wahl der legtern eine Reaction gegen
den Fortfchritt der Dichtkunft.
Beffer Als diefe „Bergpfalmen‘, eine Naturpoeſie
auf Goldgrund, fagen uns die Lieder des Scheffel'ſchen
„Gaudeamus“ (Nr. 2) zu, von benen eine elegante Aus-
211
gabe mit Initialen, Holzſchnitt⸗Illuſtrationen und einem
Titelblatt in Farbendruck vorliegt und eine zweite, Octav⸗
ausgabe für minder Iururiöfe Leſer. Der Grundton bie
fer Sammlung ift humoriſtiſch; das Alterthümliche tritt
hier nicht mit der Prätenfion jelbftändiger Geltung auf,
fondern nur als eine Eigenthümlichkeit des humoriftifchen
Barockſtils. Originell und barod find dieſe Xieder; fie
gemahnen uns oft wie Heine’fche Gedichte in mittel-
alterlihdem Mummenſchanz. Der erfte Abfchnitt bringt
naturwiſſenſchaftliche Gedichte, in denen befonders die
Geftalten der Urwelt, der Ichthyoſaurus, der Tatzelwurm,
das Megatherinm, eine große Rolle jpielen. Der Humor
in diefen Gedichten gehört allerdings zu einer orte
von zweifelhafter Berechtigung, zur Sorte des „gelchrten
Humors“, aber die Ausführung ift eine fo derb volks⸗
thümliche und bdraftifche, daß man die Entlegenheit der
Stoffe darüber vergift. ALS Probe mag das Gedicht
„Das Megatherium” dienen, mit ber köſtlichen Schluß»
perfiflage, welche gegen die beliebten Moralanhängjel
mancher Gedichte gerichtet ift:
Das Megatherium.
Was hangt denn bort bewegungsios
Zum Knaul zufammpgeballt
So riefenfaul und riefengroß
Im Ururururwald?
Dreifach jo wuchtig als ein Stier,
Dreifad fo fehwer und dumm —
Ein Kletterthier, ein Krallenthier:
Das Megatherimm !
Träg glott es in die Welt hinein
Und gähnt al8 wie im Traum,
Und krallt die fharfen Krallen ein
Am Embahubabaum.
Die Früchte und das faftige Blatt
Berzehrt es und fagt: „Ai!“
Und weun’s ihn Teergefreflen Hat,
Sagt’8 aud zuweilen: „Wail‘
Dann aber fleigt es nicht herab,
Es kennt den kürzern Weg:
Gleich einem Kürbis füllt e8 ab
Und rührt fih nicht vom Fleck.
Mit runden Eulenangeficht
Nickt's fanft und lächelt brav:
Denn nad gelungener Fütterung kommt
Als Hauptarbeit der Schlaf.
...O Menſch, dem fold ein Rieſenthier
Nicht glaublich fcheinen will,
Sch nad Madrid! dort zeigt man dir
Sein ganz Stelet foifil.
Doch bift du flannend ihm genaht,
Berliere nicht den Muth:
So ungeheure Faulheit that
Nur dor der Sündflut gut.
Du bift fein Megatherium,
Dein Geift kennt höhere Pflicht,
Drum fhwänze fein Collegium
Und Überfriß dich nicht.
Nütz' deine Zeit, fte gilt flatt Geldes,
Sei fleißig bie zum Grab,
Und ftedft du doch im faulen Pelz,
So fall’ mit Vorſicht ab! |
Das Guanogedicht und einige andere tragen fogar
einen gewiſſen Cynismus zur Schau, ber aber bei feiner
Naivetüt nicht verlegt.
27 *
212
Der zweite Abfchnitt: „Eulturgefchichtlich”, wirkt lo⸗
mifh duch den Contraſt zwifchen der alterögrauen
Färbung und dem modernen Inhalt. Gleich das erite
Gedicht bringt und den Monolog eines Pfahlmenfchen ;
Bumpus von Perufia fchildert in parodiftifch erhabenen
Trimetern den erſten Pumpperſuch der Erde. Volksthümlich
geworden ift das Gedicht: „Die Teutoburger Schlacht“,
welches mit den Strophen beginnt:
Als die Römer frech geworben,
Zogen fie nad) Deutſchlands Norden;
Borne beim Trompetenſchall
Ritt der Generalfeldmarfhall,
Herr Quiuctilius Varus.
Doch im Teutoburger Walde
Huh, wie pfiff der Wind ſo kalte;
Raben flogen durch die Luft
Und es war ein Moderduft
Wie von Blunt nund Leichen.
Plötzlich aus des Waldes Duſter
Brachen krampfhaft die Cherusker;
Mit Gott für Fürſt und Vaterland
Stürmten fie von Wuth entbrannt
Gegen bie Legionen.
Weh! das warb ein großes Morden.
Sie erfhlugen die Cohorten;
Nur die römiſche Keiterei
Nettete fih noch ins Frei,
Denn fie war zu Pferde.
Der Eontraft zwifchen verwittertem Uraltertfum und
allermodernftien Wirthshanszuftänden ift mit erheiternder
Prägnanz in folgendem Gedicht ausgeprägt:
Altafiyrifd.
Sm Schwarzen Walfifh zu Askalon
Da trank ein Mann drei Tag,
Bis daß er fleif wie ein Befenftiel
Am Marmortifche lag.
Im Schwarzen Walfiſch zn Aslalon
Da ſprach der Wirth: „Halt an!
Der trinkt von meinem Dattelfaft
Mehr als er zahlen Tann.‘
Im Schwarzen Walfiſch zu Aslalon
Da bracht' der Kellner Schar
In Keilſchrift auf ſechs Ziegelftein
Dem Gaſt die Rechnung dar.
Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon
Da ſprach der Saft: „O wehl
Mein baares Geld ging alles drauf
Im Lamm zu Niniveh !"
Im Schwarzen Walfiſch zu Aslalon
Da ſchlug die Uhr Halb vier,
Da warf der Hausfneht aus Nubierland
Den Fremden vor die Thür.
Im Schwarzen Walfiſch zu Aslalon
Wird fein Prophet geehrt,
Und wer vergnligt dort leben will,
Zahlt baar was er verzehrt.
Freilich finden fih unter den Gedichten auch viele,
in denen der Humor nit recht in Fluß kommen will
und die dadurch einen verzwidten und manierirten Cha⸗
rafter erhalten. Zu diefen Gedichten rechnen wir z. 8.
„Des Klofterkellermeiftere Sommermorgenklaggefang”, „Die
Maulbronner Tnge”, „Das große Faß zu Heidelberg“,
defien buntfchedig gelehrter Anſtrich allerdings dadurch
Sofeph Bictor Scheffel.
entſchuldigt wird, daß es für eine Philologenverſammlung
gedichtet wurde.
„Die Lieder vom Rodenſtein“, einem vertrunkenen
Edelmann, der in Heidelberg ein Dorf nach dem andern
vertrinkt, ſind volksthümlich gehalten und athmen einen
friſchen, erquicklichen Humor. Köſtlich iſt die Wendung,
welche die Wilde Jagd auf den unerſättlichen Durſt des
Rodenſteiners zurückführt:
Doch wem der letzte Schoppen fehlt,
Den duld't kein Erdreich nicht;
Drum tobt er jetzt, von Durſt gequält,
Als Geiſt umher und ſpricht:
„Raus dba! 'Raus aus dem Haus ba!
Herr Wirth, daß Gott mir helf'!
Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein
Des Nachts um halber zwölf?"
Und alles, was im Odenwald
Seiu'n Durſt noch nicht geſtillt,
Das folgt ihm bald, das ſchallt und knallt,
Das Haflt und ſtampft und brüllt:
„Raus dal 'Raus aus dem Haus dal
Herr Wirth, daß Gott mir helf',
Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein
Des Nachts um halber zwölf?“
Bon den fpätern Gedichten Heben wir noch den „Lebe
ten Poftillon‘ hervor, beffen elegifhe Haltung einen fym«
patbifchen Eindrud macht, und das Gedicht „Sraziella”
mit feinem italienifchen Colorit und der witzigen Schluß«
pointe.
Die größern Gedichte in der Abtheilung: „Aus dem
Weitern“, haben uns bei weiten nicht fo angejproden.
Die Naturpoefie in dem Gedicht: „Der Wasgenftein“,
bat eine gefuchte und zum Theil gelehrte altdeutſche Yärs
bung. „Rippoldsau” und „Die Schweden in Rippoldsau“
find etwas weitſchweifige Humoresfen; „Der Grindwal⸗
fang an den Färöerinſeln“ zeigt ebenfalls einen wenig
genießbaren Humor. Wenn Scheffel's Mufe nicht ihren
guten Tag Hat, dann erftarrt eben ihre Eigenthümlichkeit
zur Manier. Damit hängt die etwas falope Form der
Gedichte zufammen, welche überhanpt allen Dichtern eigen
ift, die nach altdeutfchen Muftern dichten und, wie Wil-
helm Jordan, principiell den Fortſchritt verleugnen, der
in der Ausbildung der neuen Metrik beftebt.
Sceffel’s poetifche Erzählung: „Der Trompeter von
Säckingen“ (Nr. 3) ift bereits feit Tängerer Zeit dem
deutfchen Leſepublikum befannt als eine friſche Dichtung
aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs; und wenn and)
die zahlreichen Auflagen, welche da8 Gebicht gefunden hat,
nicht für feinen Werth ſprechen, da ſonſt „Amaranth‘
von Redwig den „Trompeter von Südingen‘ um eine
Halslänge fchlagen würde, fo ift e8 doch auch nicht der
Antheil einer Partet oder gar einer Corporation von bem
Einfluß des katholiſchen Klerus, welche den „Trompeter“
gefördert bat, wie er ber „Amarauth“ zu einer großen
Zahl von Auflagen verhalf. Der Ton des Scheffel’fchen
Gedichts ift ein durchaus gefunder und von der Manier
feiner fpätern Productionen freier; deutſche und italienifche
Genrebilder find in anfprechendfter Weife gezeichnet, und
der treuliebende beutfche Trompeter, der zuletzt durch bie
Gnade des Papftes das deutſche Edelfräulein zur Frau
erhält, iſt eine durchaus volfsthüimliche Figur. Das Büch—⸗
fein der Lieder enthält manches Anmuthige und Nedifche,
Ein preufifger Staatsmann im 17. Jahrhundert, 213
namentlich, bie Lieder des weltbetrachtenden Katers Hiddi⸗
geigei, welcher überhaupt einen ſehr ammfanten Chorus
zu mandem in bem Gedicht geſchilderten Ereigniß bildet.
Der Kater Hiddigeigei ſtauimt zwar in directer Linie von
dem Hoffmann’schen Kater Murr ab; dennoch hat er
manchen originellen Zug in feinem Katzengeſicht, und da
er überdies ein Igrifcher, nicht in romantiſcher Proſa zer»
floffener Kater ift, jo muß man ihn ſchon als eine felb-
fändige Figur gelten laſſen. Köftlih ift 3. B., wenn
Fräulein Margaretha der Trompete ungefüge Greueltöne
entlodt, daß das angoriſch lange Fellhaar des Katers ſich
wie Igelftacheln auffträubt, der Monolog diefes Katers
mit feinen revolutionären Tendenzen gegen bie Menfchheit
and feinen Betrachtungen über menſchliche Kagenmufit:
Dulbe, tapfres Katerherze,
Das fo vieles ſchon erduldet,
Duld' and) diefer Jungfrau Blaſen!
Bir, wir kennen bie Gefege,
Die dem alten Schöpfungsräthfel,
Die dem Schall zu Grunde liegen,
Und wir fennen ihn, den Zauber,
Der umfitbar durch den Raum ſchwebt,
Der ungreifbar wie ein Schemen
In die Gänge des Gehörs dringt,
Und in Thier- wie Menſchenherzen —
Liebe, Sehnſucht und Entzüden,
Raſerei und Wahnſinn anfftärmt.
Und doch müffen wir erleben,
Daß, wenn umfre Katerliebe
Vachilich FÜR in Tönen denkt,
Sie den Menſchen Spott nur abringt,
Daß als Kayenmufica man
Unfre beften Werte brandmarlt;
Und doch mäüfjen wir erleben,
Daß biejelben Menſchenkinder
Solde Tön’ ins Dafein rufen,
Wie id} eben fie vernahm.
Solde Töne, find fie nigt ein
Strauß von Neffel, Stroh und Dornen,
Drin die Diftel ſtechend prangt?
Und kann angefidts des Fräuleins,
Das dort die Trompete handhabt,
Noch ein Vienſch ohn’ zu erröthen,
Die Mufit der Kahen felten?
Aber dulde, tapfres Herzel
Duld’ — e8 werden Zeiten kommen,
Wo der Menfch, das weile Unthier,
Uns die Mittel richt'gen Ausdruds
Des Geflihls entleihen wird;
Bo bie ganze Welt im Ringen
Vach dem Höhepunkt der Bildung
— Bird, *
denn gerecht iſt die Geſchichte,
Jede air fühnet fie.
Auch andere Monologe des Katers gehören zu den
Eabinetftüden der Scheffel ſchen Dichtung, die in ihrer
Anſpruchsloſigkeit und Friſche gewiß noch viele Leſer er.
heitern wird.
Eine neue Ausgabe hat auch Scheffel s, Frau Aventiure“
(Mr. 4) erlebt, eine mit wahrhaft poetiſchen Illuſtrationen
ausgeftattete. Scheffel's „Frau Aventinre” ift eine Wieder⸗
erwedung mittelalterlichen Minnegefangs mit mittelbarer
ober unmittelbarer Benugung von Gedichten, poetifchen
Wendungen, Thatſachen und Begebenheiten, die in bie
Zeit der Minnefänger fallen. Es iſt keuſche, unverfälfchte
Poeſie des Mittelalters, der auch in diefer Wiedergeburt
nichts Fremdartiges angelränfelt, welche durch keine mo⸗
dernen Züge entftellt if. So hoch wir dieſen jungfrän
lichen Reiz der Dichtung ftellen, jo müſſen wir doch nad
wie vor bie Anficht fefthalten, daß die Erneuerung mittel-
alterlichen Minnegefangs ‚nicht zu den Aufgaben unferer
gegenwärtigen Dichtung gehört. Das Talent Scheffel’s,
das fi) in ber „Frau Abentiure“ meift formenftrenger
zeigt al8 in den andern Dichtungen, wird wegen feiner
erquicklichen waldquellartigen Frische und feines originelle
norrigen Humors al8 eine Specialität im Kreiſe unferer
neuen Poefie ſtets befondere Anziehungskraft auf die Lefer
ausüben. Rudolf Gotiſchall.
Ein preußifher Staatsmann im 17. Jahrhundert.
Graf Georg Friedrih von Walded. Ein preußiſcher Staats-
mann im 17. Jahrhundert. Bon Bernhard Erbmanns-
dörffer. Berlin, ©. Reimer. 1869. Gr. 8. 2 Thlr.
Eine Geſchichte der deutfchen Einheitöbeftrebungen zu
freiben, wird zu den ſchönſten und lohnendſten Aufgaben
gehören, deren Löſung die deutſchen Geſchichtſchreiber der
Zufunft verſuchen Lönnen; aber erft dann wird biefelbe
möglich fein, wenn die Einheit felbft als eine Thatfache
vorhanden und wirklich vollendet, nicht mehr in dem
ſcheinbar endlofen Stadium mühfeligen und nur allzu oft
gehemmten Wachfens und Werbens begriffen if. Solange
das nicht der Fall if, muß eine Darftellung des Käm-
pfens und Ringens, in dem das deutſche Volt, feitben
8 — freilich ſput genug — den Werth dieſes Gutes
erfannt, fi um die Gewinnung ber Einheit abgemüht
hat, doch immer mehr oder weniger fragmentarifd) bleiben
und mehr dem politifchen Bedürfniß des Augenblids und
den praftifchen Forderungen der nationalen Arbeit als
dem Triebe nad) reiner Erkenntniß des hiſtoriſchen Ent-
midelungagangs zu dienen bemüht fein. Auch Liegen bie
Materialien, auf welche eine ſolche Darftelung ſich grün«
den müßte, noch zum guten Theil ungenugt, ja ungefannt
in dem Siaube unferer Archive, und manche davon wer-
den erft auf einen glüdfichen Zufall warten müffen, um
an das Picht gezogen und ihrem wahren Werthe nad
getoitrbigt zu werben. Ueberall aber, wo bisher unbefannte
Quellen für die Kenntniß dieſer Richtung in dem Ent
widelungsgange des bdeutfchen Volls zugänglich gemacht
worben find, gewinnen wir eine neue Beftätigung der
Anfiht, daß weit früher, als das Volt felbft ſich des
Unfegens der nationalen Zerfplitterung bewußt wurde und
ſich von dem Drange nad} fefterer Einigung ergriffen
fühlte, alle wahrhaft deutſch denfenden und ſcharfbliden-
den Männer des preußifchen Staats in diefem die Pflicht
und den Beruf erkannten, das deutſche Volt mit ftarker
Hand zufammenzufaffen und nöthigenfalls felbft gegen
feinen Willen zur nationalen Einheit zu führen. Fedoch
nicht bie Einheit um ihrer felbft willen pflegt von dieſen
Männern erftrebt zu werden, und ohne der Bedeutung
derfelben Abbruch zu thun, wird man behaupten fönnen,
212
Der zweite Abſchnitt: „Eulturgefchichtlich”, wirkt for
mifh durch den Contraſt zwiſchen der alterögranen
Färbung und dem modernen Inhalt. Gleich das erfte
Gedicht bringt uns den Monolog eines Pfahlmenjchen;
Pumpus von Peruſia ſchildert in parodiſtiſch erhabenen
Trimetern den erſten Pumpperſuch ber Erde. Vollsthümlich
geworden iſt das Gedicht: „Die Teutoburger Schlacht“,
welches mit den Strophen beginnt:
Als die Röomer frech geworben,
Zogen fie nad) Deutſchlands Norden;
Vorne beim Trompetenſchall
Ritt der Generalfeldmarſchall,
Herr Duinctilius Varus.
Dod im Tentoburger Walde
Hub, wie pfiff der Wind fo Halte;
Raben flogen durch die Luft
Und es war ein Moderbuft
Wie von Blut und Leichen.
Plöglich ans des Waldes Dufler
Brachen Trampfbaft die Cherusler;
Mit Bott für Fürſt und Baterland
Stürmten fie von Wuth entbrannt
Gegen die Legionen.
Beh! das warb ein großes Morben.
Sie erfählugen die Soborten;
Nur die römische Reiterei
Rettete ſich noch ins Frei’,
Denn fie war zu Pferde.
Der Eontraft zwifchen verwittertem Uralterthum und
allermodernften Wirthshanszuftänden ift mit erheiternder
Prägnanz in folgendem Gedicht andgeprägt:
Altaſſyriſch.
Sm Schwarzen Walfiſch zu Askalon
Da trank ein Manu drei Tag,
Bis daß er fleif wie ein Bejenftiel
Am Marmortifche Tag.
Im Schwarzen Walfiih zu Askalon
Da ſprach der Wirth: Halt’ an!
Der trinft von meinem Datteljaft
Mehr ale er zahlen kann.‘
Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon
Da bracht' der Kellner Schar
In Keilſchrift auf ſechs Ziegelftein
Dem Gaſt die Rechnung dar.
Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon
Da ſprach der Gaſt: „O weh!
Mein baares Geld ging alles drauf
Im Lamm zu Niniveh]“
Im Schwarzen Walfiſch zu Aslkalon
Da ſchlug die Uhr halb vier,
Da warf der Hausknecht aus Nubierland
Den Fremden vor die Thür.
Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon
Wird kein Prophet geehrt,
Und wer vergnügt dort leben will,
Zahlt baar was er verzehrt.
Freilich finden fi unter den Gedichten auch viele,
in denen ber Humor nit recht in Fluß kommen will
und bie dadurch einen verzwidten und manierirten Cha-
rafter erhalten. Zu dieſen Gebichten rechnen wir 3. B.
„Des Klofterkellermeifters Sommermorgenflaggefang”, „Die
Maulbronner Fuge”, „Das große Faß zu Heidelberg“,
deſſen buntjchedig gelehrter Anftrih allerdings dadurch
Joſeph Victor Scheffel.
entſchuldigt wird, daß es für eine Philologenverſammlung
gedichtet wurde.
„Die Lieder vom Rodenſtein“, einem vertrunkenen
Edelmann, der in Heidelberg ein Dorf nach dem andern
vertrinkt, ſind volksthümlich gehalten und athmen einen
friſchen, erquicklichen Humor. Köftlich iſt bie Wendung,
welche die Wilde Jagd auf den unerfättlichen Durft des
Rodenſteiners zurüdführt:
Doch wen der letzte Schoppen fehlt, -
Den duld't fein Erdreich nidt;
Drum tobt er jet, von Durſt gequält,
Als Geift umher und fpridt:
„Raus da! ’Raus aus dem Hans ba!
Herr Wirth, dag Gott mir beif’!
Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein
Des Nachts um halber zwölf?"
Und alles, was im Odenwald
Sein'n Durſt no nicht geftillt,
Das folgt ihm bald, das fchallt und knallt,
Das Hafft und flampft und brällt:
„Raus dal Raus aus dem Haus da!
Herr Wirth, daß Gott mir hei,
Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein
Des Nachts um halber zwölf?“
Bon den fpätern Gedichten heben wir nod) den „Letz⸗
ten Boftillon‘ hervor, deſſen elegifche Haltung einen ſym⸗
pathifchen Eindrud macht, und das Gedicht „Graziella“
mit feinem italienifchen Colorit und der wigigen Schluß⸗
pointe.
Die größern Gedichte in der Abtheilung: „Aus dem
Weitern”, haben uns bei weitem nicht fo angeſprochen.
Die Naturpoefie in dem Gedicht: „Der Wasgenftein”,
bat eine gefuchte und zum Theil gelehrte altdentjche Faͤr⸗
bung. „Rippoldsan” und „Die Schweden in Rippoldsau“
find etwas weitfchweifige Humoresken; „Der Grindwal-
fang an den Färderinfeln‘‘ zeigt ebenfalls einen wenig
genießbaren Humor. Wenn Scheffel’8 Muſe nicht ihren
guten Tag bat, bann erftarrt eben ihre Eigenthümlichkeit
zuc Manier. Damit hängt die etwas falope Form ber
Gedichte zufammen, welche überhaupt allen Dichtern eigen
ift, die nad) altdeutfchen Muftern dichten und, wie Wil-
helm Yordan, principiell den Fortſchritt verleugnen, der
in der Ausbildung der neuen Metrik befteht.
Scheffel’8 poetifche Erzählung: „Der Trompeter von
Sädingen” (Nr. 3) ift bereits feit längerer Zeit dem
deutfchen Leſepublikum befannt als eine frifche Dichtung
aus ber Zeit des Dreißigjährigen Kriegs; und wenn aud)
die zahlreichen Auflagen, welche das Gedicht gefunden hat,
nicht für feinen Werth fprechen, da fonft „Amaranth‘
von Redwitz den „Trompeter von Sädingen” um eine
Halslänge fchlagen würde, fo ift e8 doch auch nicht ber
Antheil einer Partei oder gar einer Corporation von dem
Einfluß des Tatholifchen Klerus, welche den „Trompeter“
gefördert bat, wie er der „Amaranth” zu einer großen
Zahl von Auflagen verhalf. Der Ton des Scheffel’jchen
Gedichts ift ein durchans gefumder und von der Manier
feiner fpätern Productionen freier; deutſche und italienifche
Genrebilder find in anfprechendfter Weife gezeichnet, und
ber treuliebende deutfche Trompeter, der zulegt durch die
Gnade des Papftes das deutſche Edelfräulein zur Fran
erhält, ift eine durchaus volfsthümliche Figur. Das Büch⸗
lein der Lieber enthält manches Anmuthige und Nedifche,
Ein preußiſcher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 213
namentlich die Lieder des weltbetrachtenden Kater Hibdi-
geigei, welcher überhaupt einen fehr amufanten Chorus
zu mandjem in dem Gedicht gefchilberten Ereigniß bildet.
Der Kater Hibdigeigei ſtammt zwar in directer Linie von
dem Hoffmann'ſchen Kater Murr ab; dennoch Hat er
manchen originellen Zug in feinem Satengefiht, und ba
er Überdies ein lyriſcher, nicht in romantifcher Profa zer«
flofiener Kater ift, jo muß man ihn ſchon als eine felb-
fändige Figur gelten laſſen. Köſtlich ift z. B., wenn
Fräulein Margaretha der Trompete ungefüge Greueltöne
entlockt, daß das angoriſch lange Fellhaar des Katers ſich
wie Igelſtacheln aufſträubt, der Monolog dieſes Katers
mit feinen revolutionären Tendenzen gegen die Menſchheit
and feinen Betrachtungen über menfchliche Katzenmuſik:
Dulde, tapfres Katerherze,
Das fo vieles fchon erbuldet,
Duld’ auch diefer Juugfrau Blaſen!
Wir, wir kennen die Geſetze,
Die dem alten Schöpfungsräthſel,
Die dem Schall zu Grunde liegen,
Und wir kennen ihn, den Zauber,
Der unfihtbar dur) den Raum fchwebt,
Der ungreifbar wie ein Schemen
In die Gänge des Gehörs dringt,
Und in Thier- wie Menſchenherzen —
Liebe, Sehnſucht und Entzüden,
Naferei und Wahnfinn anfftlirmt.
Und doc müffen wir erleben,
Daß, wenn unfre Katerliebe
Nächtlich ſüß in Tönen denft,
Sie den Menſchen Spott nur abringt,
Daß als Katzenmufica man
Unfre beftien Werke brandmarlt;
Und doch müſſen wir erleben,
Daß diefelben Menſchenkinder
Solche Tön’ ins Dafein rufen,
Wie ich eben fie vernahm.
Solde Töne, find fie nicht ein
Strauß von Nefiel, Stroh und Dornen,
Drin die Diftel ſtechend prangt?
Und kann angefidhts des Fräuleins,
Das dort die Trompete handhabt,
Noch ein Menſch, ohn’ zu erröthen,
Die Mufil der Katzen fchelten?
Aber dulde, tapfres Herze!
Duld’ — es werden Zeiten fommen,
Wo der Menſch, das weife Unthier,
Uns die Mittel richt’gen Ausdruds
Des Gefühls entleihen wird;
Wo die ganze Welt im Ringen
Nah dem Höhepunkt der Bildung
Katzenmuſikaliſch wird.
Denn gerecht ift die Geſchichte,
Jede Unbill fhnet fie.
Auch andere Monologe des Katers gehören zu den
Cabinetſtücken der Scheffel'ſchen Dichtung, die in ihrer
Anſpruchsloſigkeit und Friſche gewiß noch viele Leer er-
beitern wird.
Eine neue Ausgabe hat auch Scheffel’8 „rau Aventiure“
(Nr. 4) erlebt, eine mit wahrhaft poetifchen Illuſtrationen
ausgeftattete. Scheffel's „Frau Aventiure” ift eine Wieder-
erwedung mittelalterlihen Minnegeſangs mit mittelbarer
oder unmittelbarer Benutung von Gedichten, poetifchen
Wendungen, Thatſachen und Begebenheiten, die in die
Zeit der Minnefünger fallen. Es iſt keuſche, unverfälfchte
Poefie des Mittelalterd, der auch in diefer Wiedergeburt
nichts Fremdartiges angefränfelt, welche durch Feine mo-
dernen Züge entitellt if. So hoch wir diefen jungfräu-
lichen Reiz der Dichtung ftellen, fo müſſen wir doc nad
wie vor die Anficht feftgalten, daß die Erneuerung miittel«
alterlichen Minnegefangs nicht zu den Aufgaben unferer
gegenwärtigen Dichtung gehört. Das Talent Scheffel's,
das fi in der „Frau Aventiure“ meift formenftrenger
zeigt als in den andern Dichtungen, wird wegen feiner
erquidlichen waldquellartigen Friſche und feines originelle
fnorrigen Humors ald eine Specialität im Kreiſe unferer-
neuen Poeſie ftetS befondere Anziehungskraft auf die Lejer
ausüben, Rudolf Sottfchall.
Ein preußifher Staatsmann im 17. Jahrhundert.
Graf Georg Friedrih von Walded. Ein preußiſcher Staats-
mann im 17. Sahrhundert. Bon Bernhard Erdmanns-
dörffer. Berlin, ©. Reimer. 1869. ©r. 8. 2 Thlr.
Eine Gefchichte der deutſchen Einheitsbeftrebungen zu
fhreiben, wird zu den fchönften und lohnendften Aufgaben
gehören, deren Löſung die deutjchen Gefchichtfchreiber der
Zukunft verfuchen Können; aber erſt dann wird dieſelbe
möglich fein, wenn die Einheit felbft als eine Thatſache
vorhanden und wirklich vollendet, nicht mehr in dem
ſcheinbar endlojen Stadium mühfeligen und nur allzu oft
gehemmten Wachjens und Werben begriffen ift. Solange
das nicht der Fall ift, muß eine Darftellung des Käm⸗
piens und Ringens, in dem das deutſche Volt, feitdem
8 — freilich ſpät genug — den Werth diefes Gutes
etlannt, fi) um die Gewinnung ber Einheit abgemiüht
hat, doch immer mehr ober weniger fragmentarifch bleiben
und mehr dem politifchen Bedürfniß des Augenblicks und
den praftifchen Forderungen der nationalen Arbeit als
dem Triebe nach reiner Erkenntniß des hiſtoriſchen Ent«
nidelungsgangs zu dienen bemüht fein. Auch liegen bie
Materialien, auf welche eine ſolche Darftellung fid) grün-
den müßte, noch zum guten Theil ungenugt, ja ungelannt
in dem Staube unferer Archive, und manche bavon wer-
den erft auf einen glüdlichen Zufall warten müffen, um
an das Licht gezogen und ihrem wahren Werthe nad)
gewürdigt zu werben. Ueberall aber, wo bisher unbelannte
Duellen für die Kenntniß dieſer Richtung in dem Ent⸗
widelungsgange des deutfchen Volks zugänglich gemacht
worden find, gewinnen wir eine neue Beftätigung ber
Anſicht, dag weit früher, ald das Volk felbft fich des
Unfegens der nationalen Zerfplitterung bewußt wurde und
fih von dem Drange nad) fefterer Einigung ergriffen
fühlte, alle wahrhaft deutſch denfenden und fcharfbliden-
den Männer des preußifchen Staats in biefem die Pflicht
und den Beruf erkannten, das deutfche Volk mit ftarker
Hand zufammenzufaflen und nöthigenfalls felbft gegen
feinen Willen zur nationalen Einheit zu führen. Jedoch
nicht die Einheit um ihrer jelbft willen pflegt von biefen
Männern erftrebt zu werden, und ohne der Bebentung
derfelben Abbruch zu thun, wird man behaupten können,
rad
214 Ein preußifher Staatsmann im 17. Sahrhundert.
daß der nationalsfittliche Werth, der namentlich feit den
Befreiungskriegen von den Vorkämpfern der deutfchen Ein-
heit betont worden iſt und den allmählich das Volk felbft
mehr und mehr begreifen und würdigen lernte, von ihnen
wol felten oder nie geahnt worden ift, fondern daß fie
von feinen andern als rein politiichen Gefichtspunften
ausgingen. Eine politifche Nothmwendigfeit aber war bie
feftere Einigung des vielgefpaltenen Deutfchland für jeden
preußifchen Staatsmann, der es mit der Macht Preußens
ehrlich meinte und die Zukunft defjelben auf wirklich fichere
Tundamente gründen wollte: die Pflicht der Selbfterhal-
tung gebot dem fo fchnell in die Höhe gefommenen preit-
ßiſchen Staate, die Einigung Deutſchlands raſtlos zu ber
treiben; denn er bedurfte derfelben, um fich gegen bie
ftete und unüberwindliche Feindſchaft der Habshurgifchen
Macht zu fihern. So fehen wir denn Preußen überall
da, wo e8 fich feiner unausgleichbaren Gegenfäte gegen
Defterreich Har bewußt wird, zugleich den deutjchen Staa-
ten gegenüber eine Einheitspolitik vertreten, geradefo wie
in neuerer und neuefter Zeit die wahren Vorfümpfer der
nationalen Einigung Deutſchlands die Trennung von
Defterreich und die Vernichtung des habsburgiſchen Ein-
fluffes in Deutfchland auf ihre Fahne gefchrieben hatten.
Das Bedürfniß, gegen die Vergrößerungsgelüfte des länder-
gierigen Joſeph II. einen feften Rückhalt zu gewinnen,
trieb den greifen Friedrich) den Großen in bie Bahnen
der Einheitspolitif und führte ihn zu feiner letzten großen,
epochemachenden politifchen That, der Stiftung des deut-
chen Fürftenbundes, durch welche er Preußen zugleich
die Bahnen feiner künftigen Politik vorzeichnetee Mit
diefem letzten Werke des großen Königs pflegt man die
Gefchichte der deutſchen Einheitöbeftrebungen zu beginnen.
Sollte e8 aber vorher ganz an folchen gefehlt haben?
Sicher nicht, wenn es richtig ift, daß überall da, wo
Preußen in bewußtem Gegenſatze gegen Oeſterreich han⸗
delt, Verſuche zur Einigung Deutſchlands gegen die habs⸗
burgiſche Macht ſich als nothwendige und natürliche Folge
ergeben. Es kann dieſer Satz geradezu einen Fingerzeig
geben, wo, auch in der Zeit vor Friedrich dem Großen,
Einheitstendenzen in der brandenburgiſch⸗preußiſchen Po⸗
litik vermuthet werden können und an welcher Stelle ber
Forſcher ſolchen nachgehen kann mit der ziemlich ſichern
Ausſicht auf lohnenden Erfolg.
Daß dieſe politiſchen Geſichtspunkte lange vor der
Gründung des deutſchen Fürſtenbundes bekannt waren,
daß mehr als ein Jahrhundert vorher ſchon die preußiſche
Politik von denſelben beſtimmt worden iſt, das nachgewie⸗
ſen zu haben, iſt das Verdienſt der Monographie, in
welcher uns Bernhard Erdmannsdörffer in dem Grafen
Georg Friedrich von Waldeck einen Staatsmann dargeſtellt
hat, der, bisher wenig beachtet, unter den preußiſchen
Staatsmännern aller Zeiten einen Ehrenplatz einzunehmen
verdient und in dem man für jene Zeit und unter jenen
Verhältniſſen gewiſſermaßen einen Vorläufer Bismarck's,
wenn auch einen nicht eben vom Glück begünſtigten, ſehen
möchte. Das Auftreten Waldeck's unter dem Großen
Kurfürſten Friedrich Wilhelm und die kühne, von einer
entſchiedenen Einheitstendenz beherrſchte Politik, welche
er trotz aller ihm entgegengeſtellten Hinderniſſe eine Reihe
von Jahren durchzuführen die Kraft hatte, erſcheinen frei—
[ih in der Geſchichte des genialen Begründer des brans
benburgifch -preußifchen Staats wie eine ziemlich fchnell
vorübergehende Epifobe; im einzelnen aber ift biejelbe
nicht blos für bie Zeit des Großen Kurfürften, fondern
für die Richtung der preußifchen Politif überhaupt und
die Erfenntniß ihrer Aufgaben fo außerordentlich lehrreich,
daß ſchon dadurch die eingehende nionographifche Behand«
lung eines nur wenige Jahre umfaſſenden Zeitraums nicht
blos gerechtfertigt, fondern im höchſten Grade dankens⸗
werth erfcheint und gerade in unjern Zagen auf die Ich-
baftefte Theilnahme rechnen fann, um fo mehr, als bie
höchſt merkwürdigen Thatfachen, welche uns hier auf
Grund umfangreicher archivalifcher Forſchungen dargeftellt
werden, auffallenderweife in völlige Vergeſſenheit gera«
then und nirgends, auch da nicht, wo man dem meilten
Grund gehabt hätte fich ihrer zu erinnern, ihrer Bedeu—
tung gemäß gewürdigt worden find. Selbſt Friedrich der
Große, al8 er den Fürftenbund ftiftete, bat Feine Ahnung
davon gehabt, daß fchon unter dem Großen Kurfürften
die preußifche Politit ganz gleiche Ziele mit ganz ähnlichen
Mitteln verfolgt hatte: —
Zurüdblidend auf die frühern Epochen ber deutſchen Ges
ſchichte fand der gefchichtsfundige König feinen Verſuch refor-
matorifcher Bundespolitik vor, mit welchem er feine eigenen
Abfichten in Vergleich ftellen mochte, ale das große proteflan-
tiſche Büundniß des 16. Jahrhunderts. Im den weitern Erörtes
rungen, welche hierauf folgten, wird dann gelegentlid) aud) die
Union von 1608, das leipziger Bündniß von 1631 zum Ber
gleich herbeigezogen; nirgends aber begegnet, weder in den
Aeußerungen des Königs, noch in den Staatsfchriften Hertzberg's
und anderer Diplomaten der Zeit, nod) im der pubficiftifhen
Literatur, die ſich an die Union von 1785 anſchloß, die leiſeſte
Spur davon, daß noch irgendeine Erinnerung ſich erhalten
hätte an die mit jo großem Eifer betriebenen Plane, deren Ent-
ftehung und Berlauf uns bis hierher befchäftigt hat. Aufs voll»
fländigfte war das Andenken daran dem Gedächtniß der Men-
ſchen und dem hiſtoriſchen Bewußtſein des preußifchen Staats
entſchwunden, daß ſchon 130 Sabre vor der Grlindung des
Sridericianifchen Fürſtenbundes, ſchon in ben erften Jahren
jugendfrifhen, zukunftsfihern Emporfirchens der preußiſchen
Monarchie ein Staatsmann des Großen Kurfürften diefem Fürs
ten als die Aufgabe feines Staats das Werk Hingeftellt bat,
welches dann der große Herricher des 18. Sahrhunderts, mit
mächtig erweiterten Mitteln, mit den gereiftern und gellärten
Anſchauungen feiner Zeit, als den Schlußftein feines gewalti⸗
gen Lebens fi) vorzufegen den Ehrgeiz hatte.
Diefer Staatsmann ift eben Graf Georg Friebrid
von Waldeck. Seine Thätigkeit und Politik als Minifter
des Großen Kurfürften wird uns von Erdmannebörffer
eingehend gefchildert, zumeilen fogar vielleicht eingehender,
als die Mehrzahl der Leſer es liebt. Aber nicht eine Bios
graphie des bedeutenden Mannes wird und geboten; wenn
auch die Schickſale defjelben bis zu feinem Eintritt in.
brandenburgifch-preußifche Dienfte kurz berichtet werben,
jo vermißt man doc eine, wenn auch nur flüchtige Skizze
über den Lebensgang Waldeck's feit feinem Ausſcheiden
aus dem Dienfte des Großen Kurfürften, die beiläufigen
Undentungen, welche fich hier und da finden, werben den
mwenigften Leſern genügen, wie ja auch bei dieſem plötz⸗
lichen Abbrechen ein abfchliegendes Urtheil über die ges
fanımte Berfönlichkeit des Grafen, den man nur ale
preußifchen Staatsmann Tennen lernt, unmöglich gemad)t
wird. Das ift ein recht empfindlicher Mangel, dem durch
— —— —— — — — — — — — —— — — —— — — —— —— —— —— — — — — — — — ——
Ein preußifber Staatsmann im 17. Jahrhundert,
ein Schlußwort von wenigen Seiten hätte abgeholfen wer-
den fünnen.
Graf Georg Friedrid) von Walde, einem Geſchlecht
entfprofien, da8 unter den Heinen reichsfreien Dynaften
des norbmeftlichen Deutjchland immer nur eine miittel«
mäßige Stellung eingenommen, war am 21. Januar 1620
geboren. Unter den Greueln des Dreißigjährigen Kriegs
wuchs er auf und fah unter den Verwüſtungen deflelben
den ohnehin fchon geringen Wohlftand feines Haufes vol⸗
lends zu Grunde gehen. Nach der Sitte ber Zeit voll»
endete er feine Bildung durch eine Reife nad) Paris; von
der Fortſetzung derfelben nad) Italien durd) ben Tod jei-
nes Baterd abgehalten, fah er ſich durd) die tiefe Zer⸗
rüttung des Familienbeſitzes genöthigt, mit feinen Brüdern
in ben Niederlanden Kriegsdienfte zu nehmen, wo er ſich
im Kampfe gegen die Spanier auszeichnete. Nach einigen
Jahren trat er, durch den Tod feines ältern Bruders
zum Yamilienhaupt geworden, die Verwaltung der Graf—⸗
ihaft Waldel an, wobei er inntitten der fchwierigften
Berhältniffe Thatkraft und Geſchick in feltenen Grade zu
entfalten Gelegenheit fand. Doch gelang es ihm nid,
dem Elend, in das fein Haus und fein Land durch den
entfeglichen Krieg gerathen waren, erfolgreid) abzuhelfen.
In welcher Lage damals biefe Heinen Dynaften waren
und wie fie um eine kümmerliche Eriftenz geradezu ringen
mußten, zeigt uns die Yeußerung, welche Waldeck's jün-
gerer Bruder einmal in einem Briefe thut:
Denn man menfhliher- und irdifcherweife davon reden
will, ſcheint gewißlich, die Zeit unfers Haufes Untergang fei
vor der Thlir. Zu allem Unglüd kommen noch die ſchweren
Proceſſe, welche uns ſchon etliche Federn ausgerupft; follte
Pyrmont denen folgen, wären wir ganz capot. Die großen
Schulden, die uns an allen Orten auf dem Halfe liegen, wer»
ben unfern Fall nicht wenig befördern helfen; weldjer verfluchte
Krebs auch den Euylenburgiihen Staat ſchon dermaßen an⸗
gejrejien, daß er gleihfam ſchon in den letzten Zügen liegt.
In summa, id) fehe nichts als Bettelei und splendidam mi-
scrıam.
So ift e8 Leicht begreiflih, daß Georg Friedrich don
Waldeck nicht anftand, eine mit folchem Elend behajtete
fürflihe Stelung mit dem ihm angebotenen Dienft des
Kurfürten von Brandenburg zu vertauſchen, da ſich ihm
mit derfelben günſtige Ausjichten auf Macht und Einfluß
fowie eine völlig geficherte äußere Eriftenz öffneten. Es
war int Januar 1651, als Walded durd ein eigenhän-
diges Schreiben des Kurfürften die Aufforderung erhielt,
das Commando der furfürftlichen Keiteret zu übernehmen.
Eben damals jah Friedrid) Wilhelm, der mit jo bewun⸗
dernswerth fiherm Blick und fo flarfer Hand das faft
zerſchellte Schiff feines Staat3 aus den wilden Stürmen
des Kriegs in einen ſchützenden Hafen geftenert hatte, ſich
dur die Erneuerung der jülich-cleveſchen Streitigfeiten
mit ernftlichen Schwierigkeiten bedroht; gerade um dieſen
zu begegnen, berief er Walded in feine Dienſte. Die
Energie und das Organifationstalent, welche ihn auszeich⸗
neten, berfchafften diefem bald einen viel weiter reichen-
den Einfluß; durch feine fiir den Kurfürften politifch fo
wichtige Berbindung mit der oranifchen Partei in ben
Niederlanden gewann Waldeck auch bald in der Leitung
der auswärtigen Politik eine entjcheidende Stimme. Wie
ſehr Waldeck ſich bewährte, zeigt, daß er nad dem
215
refultatlofen Ausgange des jülihfchen Kriegs in branden-
burgijchen Dienften blieb und feinen anregenden und ums
geftaltenden Einfluß bald auf allen Gebieten des Staats»
lebens geltend zu machen begann. Höchft intereffant und
lehrreich ift die Schilderung, welche Erdmannsdörffer bei
diefer Gelegenheit von den Beamtenthum des Großen
Kurfürften entwirft. Sein Menſch dachte daran, dem
Lande feine Dienfte zu widmen, in dem er geboren; und
wie fo die Mürker, da man eben nur Beaniter wurde
um fein Glück zu machen, in anderer Yürften Dienfte
traten, jo waren gerade die bedeutendften unter den Die-
nern Friedrih Wilhelm’8 Ausländer; daraus erklärt ſich,
daß fo felten ein Beamter wirklich ein Herz Hatte für das
Land und den Yürften, benen er diente, daß fie nicht
Anftand nahmen, in den Dienft der Gegner derfelben zu
treten, furz, daß von einer ftrengen Moralität in dieſen
Kreiſen noch nichts zu finden ift. Da jeder nur fein
Glück im Auge hatte, fo fah er jeden neuen Ankömmling
als feinen perſönlichen Nebenbuhler an und juchte dem»
jelben wie und wo er konnte Abbruh zu thun. So
wurde denn aud) Walde, je mehr er bei feinem Fürſten
zu gelten anfing, um fo leidenfchaftlicher von all denen
angefeindet, die ſich durch ihn in ihren Stellungen und
ihrer Zulunft bedroht wähnten. Das gefhah um fo
mehr, als Walded mit einer Meuge von Reformen her-
vortrat, durch welche der bisherige, bequeme und jchlaffe
Gang der Verwaltung zum größten Misvergnügen der
davon betroffenen Beamten geändert werben follte. Wenn
es nun Waldeck auch glüdte, feinen Hauptgegner Konrad
von Burgsdorf aus dem Sattel zu heben, jo konnte er
des ihm fonft noch entgegentretenden Einfluſſes ande-
rer Männer, wie Schwerin’s, Blumenthal’8 und nament-
fh Sparr’s, nicht Herr werden. So ſah er denn feine
Plane zu einer durchgreifenden Berwaltungsreform ſchei⸗
tern und mußte fid) damit begnügen, wenigftens fr eine
kräftige Entwidelung de8 Militärwefens zu forgen, das
er in den Wirren jener Zeit als die wichtigfte und un«
entbehrlichfte Stütze Brandenburgs anfah.
Almählid aber wurde Walde als brandenburgifcher
Minifter der unumſchränkte Leiter der auswärtigen Politik
des Großen Kurfürften, und zwar gejchah das von dem
Augenblid an, wo Brandenburg fid mit aller Energie
von der habsburgiſchen und Eatholifchen Partei losfagte.
Waldeck's Ernennung zum Minifter leitete ein völlig neues
Syſtem ein: Oppofition gegen Defterreich und defjen ber
Reformation feindliche Tendenzen, Einigung der Evan⸗
gelifchen unter brandenburgifcher Teitung und Begründung
einer feftgejchloffenen Union derjelben — das find bie Ge-
danfen, von denen diefelbe nun beherrfcht wird. Im
December 1653 entwidelte Walde feine Ideen den Kur⸗
fürften in einem ausführlichen Memoire, das für ihn als
einen Vorkämpfer der deutſchen Einheit und als genialen
Staatsmann das glänzendfte Zeugniß ablegt. Nachdem
er gezeigt, daß alle die fogenannten Einigungsmittel, die
in der Kreisordnung, in Exrbverbrüberungen u. |. w. vor⸗
banden waren, ganz werth= und wirkungslos find, und daß
Brandenburg namentlih an den übrigen Kurfürften keinen
Rückhalt findet, ſchlägt Walde die Stiftung eines Bünd⸗
niſſes vor, zu welchem die vornehmften Cvangelifchen,
nämlich Kurſachſen, Kurpfalz, Pommern, Bremen und
214
daß ber national-fittlihe Werth, der namentlich feit den
Befreiungskriegen von den Vorkämpfern ber deutſchen Ein-
heit betont worden ift und den allmählich das Volk feldft
mehr und mehr begreifen und würdigen lernte, von ihnen
wol felten oder nie geahnt worden ift, fondern daß fie
von feinen andern al8 rein politifchen Gefichtspunften
ausgingen. Eine politifche Nothwendigfeit aber war die
feftere Einigung de8 vielgefpaltenen Deutſchland für jeden
preußifchen Staatsmann, der e& mit der Macht Preußens
ehrlich meinte und die Zukunft deffelben auf wirklich fichere
Fundamente gründen wollte: die Pflicht der Selbfterhal-
tung gebot dem fo fchnell in die Höhe gekommenen preu-
ßiſchen Staate, die Einigung Deutſchlands raftlo8 zu ber
treiben; denn er bedurfte derfelben, um fich gegen bie
ftete und unüberwindlihe Yeindfchaft der habsburgiſchen
Macht zu fihern. So fehen wir denn Preußen überall
da, wo es fich feiner nnausgleichbaren Gegenfäge gegen
Defterreich Kar bewußt wird, zugleich den deutfchen Staa⸗
ten gegenüber eine Einheitspolitik vertreten, geradefo wie
in neuerer und neuefter Zeit die wahren Vorfümpfer der
nationalen Einigung Deutfchlande die Trennung von
Defterreih und die Vernichtung des habsburgifchen Ein-
fluffes in Deutfchland auf ihre Fahne gefchrieben hatten.
Das Bedürfniß, gegen die Bergrößerungsgelüfte des länder⸗
gierigen Joſeph II. einen feften Rückhalt zu gewinnen,
trieb ben greifen Friebrih den Großen in die Bahnen
der Einheitspolitif und führte ihn zu feiner letzten großen,
epochemachenden politifchen That, der Stiftung bes deut-
ſchen Fürftenbundes, durch welche er Preußen zugleich
die Bahnen feiner künftigen Politik vorzeichnete.e Mit
biefem lebten Werke des großen Königs pflegt man die
Gefchichte der deutfchen Einheitsbeftrebungen zu beginnen.
Sollte e8 aber vorher ganz an foldyen gefehlt haben?
Sicher nicht, wenn es richtig ift, daß überall da, wo
Preußen in bewußtem Gegenjage gegen Oeſterreich han-
delt, Verſuche zur Einigung Deutfchlands gegen die habs⸗
burgijche Macht fi als nothwendige und natürliche Folge
ergeben. Es kann diefer Sa geradezu einen Fingerzeig
geben, wo, auch in der Zeit vor Friedrich dem Großen,
Einheitötendenzen in der brandenburgifch« preußifchen Bo-
litik vermuthet werben können und an welcher Stelle der
Torfcher folhen nachgehen kann mit der ziemlich fichern
Ausfiht auf lohnenden Erfolg.
Daß diefe politifchen Geſichtspunkte lange vor ber
Gründung des beutfchen Firflenbundes befannt waren,
daß mehr als ein Jahrhundert vorher fchon die preußifche
Politif von denfelben beftimmt worden ift, das nachgewie-
jen zu haben, ift das DBerdienft der Monographie, in
welcher uns Bernhard Erbmannsbörffer in dem Grafen
Georg Friedrich von Waldeck einen Staatsmann bargeftellt
bat, der, bisher wenig beachtet, unter den preußifchen
Staatsmännern aller Zeiten einen Ehrenplag einzunehmen
verdient und in dem man für jene Zeit und unter jenen
Berhältniffen gewifjermaßen einen Vorläufer Bismarck's,
wenn auch einen nicht eben vom Glück begünftigten, fehen
möhte. Das Auftreten Waldeck's unter dem Großen
Kurfürften Friedrich) Wilhelm und die kühne, von einer
entfchiedenen Einheitstendenz beherrfchte Politik, welche
er trog aller ihm entgegengeftellten Hinderniffe eine Reihe
von Jahren durchzuführen die Kraft Hatte, erjcheinen freis
Ein preußifher Staatsmann im 17. Jahrhundert.
lich in der Geſchichte des genialen Begründers des brans
denburgifch «prenßifchen Staats wie eine ziemlid) fchnell
vorübergehende Epifode; im einzelnen aber iſt diefelbe
nicht blos für die Zeit des Großen Kurfürften, fondern
für die Richtung der preußifchen Politit überhaupt und
die Erfenntniß ihrer Aufgaben fo außerordentlich Iehrreich,
daß ſchon dadurch die eingehende nionographifche Behand«
lung eines nur wenige Jahre umfafjenden Zeitraums nicht
blos gerechtfertigt, fondern im höchſten Grade dankene«
werth ericheint und gerade in unfern Zagen auf die Ich-
baftefte Theilnahme rechnen fann, um fo mehr, als bie
höchſt merkwürdigen Thatſachen, welche uns hier auf
Grund umfangreicher archivalifcher Forſchungen dargeftellt
werden, auffallenderweife in völlige Vergeſſenheit gera«
then und nirgends, aud da nit, wo man den meiften
Grund gehabt hätte fich ihrer zu erinnern, ihrer Beben
tung gemäß gewürdigt worden find. Selbſt Friedrich der
Große, als er den Fürftenbund ftiftete, hat feine Ahnung
davon gehabt, daß fchon uuter dem Großen Kurfürften
die preußifche Politik ganz gleiche Ziele mit ganz ähnlichen
Mitteln verfolgt hatte: —
Zurldblidend auf die frühern Epochen der dentſchen Ges
ſchichte fand der gefchichtsfundige König Leinen Verſuch refor
matoriſcher Bundespolitik vor, mit welchem er feine cigenen
Abfichten in Vergleich ftellen mochte, als das große proteftan-
tiſche Bündniß des 16. Jahrhunderts. In den weitern Erörte
rungen, welche hierauf folgten, wird dann gelegentlid) aud) die
Union von 1608, das Teipziger Bündniß von 1631 zum Ver⸗
gleich herbeigezogen; nirgends aber begegnet, weder in den
Heußerungen des Königs, noch in den Staatejchrifterr Hertberg’s
und anderer Diplomaten der Zeit, nod) in der publieiſtiſchen
Literatur, die fid) an die Union von 1785 anſchloß, die leifefte
Spur davon, daß noch irgendeine Erinnerung fich erhalten
hätte an die mit jo großem Eifer betriebenen Plane, deren Ent-
ftehung und Berlauf uns bis hierher befchäftigt Hat. Aufs voll»
ftändigfte war da8 Andenken daran dem Gedächtniß der Men-
jhen und dem hifloriihen Bemwußtfein des preußifchen Staats
entſchwunden, daß ſchon 130 Jahre vor der Gründung des
Fridericianiſchen Flürftenbundes, fhon in den erſten Sahren
jugendfrifhen, zukunftsſichern Emporftrebens der preußifchen
Monardie ein Staatsmann des Großen Kurfürften biefem Fürs
fen als die Aufgabe feines Staats das Werk hingeftellt bat,
weiches dann der große Herricher des 18. Sahrhunderts, mit
mächtig erweiterten Mitteln, mit ven gereiftern und gellärten
Anſchauungen feiner Zeit, als den Schlußſtein feines gewalti-
gen Lebens ſich vorzufegen ben Ehrgeiz batte.
Diefer Staatsmann ift eben Graf Georg Friedrid
von Walded. Seine Thätigkeit und Politik als Minifter
des Großen Kurfürften wird uns von Erdmannsbörffer
eingehend gefchildert, zumeilen ſogar vielleicht eingehender,
als die Mehrzahl der Leſer es Liebt. Aber nicht eine Bios
graphie des bedeutenden Mannes wird uns geboten; wenn
auch die Scidjale defjelben bis zu feinem Eintritt in
brandenburgifch=preußifche Dienfte kurz berichtet werben,
jo vermißt man doc eine, wenn auch nur flüchtige Skizze
über den Lebensgang Waldeck's feit feinem Ausfcheiden
aus dem Dienfte de8 Großen Kurfürften, die beiläufigen
Andeutungen, welche ſich hier und da finden, werben ben
menigften Lefern genügen, wie ja auch bei biefem plötz⸗
lichen Abbrechen ein abfchließendes Urtheil über die ge
ſammte Perfünlichkeit des Grafen, den man nur als
preußifchen Staatsmann Fennen lernt, unmöglich gemacht
wird. Das ift ein recht empfindlicher Mangel, dem durd)
BE
Ein preußifcher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 915
ein Schlußwort von wenigen Seiten hätte abgeholfen wer-
den können.
Graf Georg Friedrich von Waldeck, einem Geſchlecht
entfproffen, das unter den Heinen reichsfreien Dynaften
des nordweſtlichen Deutfchland immer nur eine mittel⸗
mäßige Stellung eingenommen, war am 21. Januar 1620
geboren. Unter den Greueln des Dreißigjährigen Kriegs
wuchs er auf und fah unter den Verwiſlſtungen defjelben
ben ohnehin ſchon geringen Wohlftand feines Haufes vol-
Iend8 zu Grunde gehen. Nach der Sitte ber Zeit voll»
endete er feine Bildung durch eine Reife nad) Paris; von
der Fortſetzung berfelben nach Italien durch den Tod jei-
nes Vaters abgehalten, fah er ſich durd) die tiefe Zer⸗
rüttung des Bamilienbefiges genöthigt, mit feinen Brüdern
in den Niederlanden Kriegsbienfte zu nehmen, wo er ſich
im Sampfe gegen die Spanier auszeichnet. Nach einigen
Jahren trat er, durch den Tod feines ältern Bruders
zum Familienhaupt geworden, die Berwaltung der Graf-
ſchaft Waldeck an, wobei er inmitten ber ſchwierigſten
Verhältniſſe Thatkraft und Geſchick in ſeltenem Grade zu
entfalten Gelegenheit fand. Doch gelang es ihm nicht,
dem Elend, in das ſein Haus und ſein Land durch den
entſetzlichen Krieg gerathen waren, erfolgreich abzuhelfen.
In welcher Lage damals diefe kleinen Dynaſten waren
und wie ſie um eine kümmerliche Exiſtenz geradezu ringen
mußten, zeigt uns die Aeußerung, welche Waldeck's jün-
gerec Bruder einmal in einem Briefe tut:
Denn man menjchliher- und irdifchermweife davon reden
will, fcheint gemißlih, die Zeit unſers Hauſes Untergang fei
vor der Thür. Zu allem Unglüd kommen nod die ſchweren
Broceffe, welche uns ſchon etliche Federn ausgerupfi; follte
Pyrmont denen folgen, wären wir ganz capot. Die großen
Schulden, die une an allen Orten auf dem Halfe liegen, wer-
den unjern Kal nicht wenig befördern helfen; weldyer verfluchte
Krebs auch den Euylenburgiihen Staat ſchon dermaßen ans
geirejien, daß er gleihfam ſchon in den letzten Zügen Tiegt.
Su summa, id} ſehe nichts als Bettelet und splendidam mi-
Beriam.
So iſt es leicht begreiflich, daß Georg Friedrich von
Waldeck nicht anſtand, eine mit ſolchem Elend behaftete
fürſtliche Stellung mit dem ihm angebotenen Dienſt des
Kurfürſten von Brandenburg zu vertauſchen, da ſich ihm
mit derfelben gilnftige Ausjichten auf Macht und Einfluß
ſowie eine völlig geficherte äußere Exiſtenz öffneten. Es
war im Januar 1651, als Waldeck durd) ein eigenhän-
diged Schreiben des Kurfürften die Aufforderung erhielt,
das Commando der furfürftlichen Reiterei zu übernehmen.
Eben damals jah Friedrich) Wilhelm, der mit fo bewun⸗
bernswertd ficherm Bid und fo ftarker Hand das fall
zerichellte Schiff feines Staat aus den wilden Stürnien
des Kriegs in einen ſchützenden Hafen gefteuert hatte, ſich
durch die Erneuerung der jülich-clevefchen Streitigkeiten
mit ernftlichen Schwierigkeiten bedroht; gerade um dieſen
zu begegnen, berief er Waldeck in feine Dienfte. Die
Energie und das Organifationstalent, welche ihn auszeich⸗
neten, verſchafften diefem bald einen viel weiter reichen=
den Einfluß; durch feine fiir den Kurfürſten politifch fo
wichtige Verbindung mit der oraniſchen Partei in den
Niederlanden gewann Waldeck auch bald in der Feitung
der auswärtigen Politik eine entfcheidende Stimme Wie
ſehr Walde fi) bewährte, zeigt, daß er nah dem
refultatlofen Ausgange des jülichſchen Kriegs in branden-
burgifchen Dienften blieb und feinen anregenden und um⸗
geftaltenden Einfluß bald auf allen Gebieten bes Staats⸗
lebens geltend zu machen begann. Höchſt intereffant und
lehrreich ift die Schilderung, melde Erdmannsdörffer bei
diefer Oelegenheit von dem Beamtenthum bes Großen
Kurfürften entwirft. Kein Menfc dachte daran, dem
Lande feine Dienfte zu widmen, in den er geboren; und
wie jo die Märker, da man eben nur Beamter wurde
um fein Glück zu machen, in anderer Fürften Dienfte
traten, fo waren gerade die bedeutendften unter den ‘Dies
nern Friedrich Wilhelm's Ausländer; daraus erklärt ſich,
daß fo felten ein Beamter wirklich ein Herz hatte filr das
Land und den Fürften, denen er diente, daß ſie nicht
Anftand nahmen, in den Dienft der Gegner derfelben zu
treten, kurz, daß von einer ſtrengen Moralität in diefen
Kreifen nody nichts zu finden if. Da jeber nur fein
Glück im Auge hatte, fo fah er jeden neuen Ankömmling
als feinen perjönlichen Nebenbuhler an und fuchte dem-
jelben wie und wo er konnte Abbruh zu thun. So
wurde denn aud) Walde, je mehr er bei feinem Fürften
zu gelten anfing, um fo leidenfchaftlicher von al denen
angefeindet, die fi durd ihn in ihren Stellungen und
ihrer Zukunft bedroft wähnten. Das gefhah um fo
mehr, als Waldeck mit einer Menge von Reformen her⸗
vortrat, durch welche der bisherige, bequeme und fchlaffe
Gang der Berwaltung zum größten Misvergnügen der
davon betroffenen Beamten geändert werden follte, Wenn
es nun Walded auch glüdte, feinen Hauptgegner Konrad
von Burgsdorf aus dem Sattel zu heben, fo konnte er
bes ihm fonft noch entgegentretenden Einfluſſes ande⸗
rer Männer, wie Schwerin’s, Blumenthal’8 und nament⸗
lich Sparr’s, nicht Herr werden. So ſah er benn feine
Plane zu einer durdjgreifenden Berwaltungsreform ſchei⸗
tern und mußte fid) damit begnügen, wenigſtens fr eine
kräftige Entwidelung des Militärwefens zu forgen, das
er in den Wirren jener Zeit als die wichtigfte und un«
entbehrlichfte Stütze Brandenburgs anfah.
Allmählich aber wurde Walde als brandenburgifcher
Minifter der unumfchränkte Leiter der auswärtigen Politik
des Großen Kurfürften, und zwar gefchah das von dem
Augenblid an, wo Brandenburg fi mit aller Energie
von der Habsburgifchen und Fatholifchen Partei Losfagte.
Waldecks Ernennung zum Minifter leitete ein völlig neues
Syftem ein: Oppofition gegen Defterreich und defjen der
Reformation feindliche Tendenzen, Einigung der Evan«
gelifchen unter brandenburgifcher Leitung und Begründung
einer feftgefchloffenen Union derfelben — das find die Ges
danfen, von denen diefelbe num beherrfcht wird. Im
December 1653 entwidelte Walde feine Ideen dem Kur⸗
fürften in einem ausführlichen Memoire, das für ihn als
einen Vorkämpfer der beutfchen Einheit und als genialen
Staatsmann das glänzendfte Zeugniß ablegt. Nachdem
er gezeigt, daß alle die fogenannten Einigungsmittel, bie
in der SKreisordnung, in Exrbverbrüderungen u. f. w. bore
handen waren, ganz werth⸗- und wirkungslos find, und daß
Brandenburg namentlid) an den übrigen Kurfürften keinen
Rückhalt findet, fchlägt Walde die Stiftung eines Bünd⸗
niffe8 vor, zu melden die vornehmften Evangelifchen,
nänlih Kurſachſen, Kurpfalz, PBonmern, Bremen und
216
Berden (d. h. Schweden), Braunfchweig, Magdeburg,
Hefien und Medienburg eingeladen feien; dann werde der
Kurfürft unzweifelhaft „für das Haupt der andern Bun⸗
desgenoffen erfannt , erflärt und beftändig gemacht werben‘.
Weiterhin follen dann Oldenburg, Oftfriesland, Lippe u. ſ. w.
zugezogen werden, von den Städten in erſter Linie Frank⸗
furt, Hamburg und Lübeck; „wollten Nürnberg, Stras⸗
burg, Augsburg und Regensburg mit anſtehen, ſo würde
ſolches wegen des Rhein, der Donau und des Main,
auch Trennung der Katholiſchen nicht undienlich ſein“. So
kommt denn der Plan Waldeck's auf nichts mehr und nichts
weniger hinaus, als mit Durchbrechung der unbrauchbaren
Reichsverſaſſung ein von derſelben völlig gelöſtes, trotz
derſelben beſtehendes Bündniß zu gründen, „welches unter
der Führung Brandenburgs zunächſt das geſammte Nord⸗
und Mitteldeutſchland umfaſſen, weiterhin aber auch über
die proteſtantiſchen Gebiete des Südens ſich ausdehnen
und ſo eine geſchloſſene Partei von kirchlich und politiſch
gleichintereſſirten Reichsſtünden darſtellen ſollte“. Gab
naturgemäß der Proteſtantismus den erſten Grundſtock
und Stamm dieſer Verbindung ab, ſo ſollte dieſelbe doch
nach den Abſichten ihres Urhebers nicht eine ausſchließlich
proteſtantiſche bleiben, ſondern im Gegentheil wurde der
Zutritt der gleichgeſinnten katholiſchen Reichsſtände in Aus-
ficht genommen. Nicht mehr der Schmalfalbifhe Bund
oder die Union ift das Vorbild, fondern wir haben es
bier mit einer ganz neuen, im wejentlichen auf rein politi-
ſchen Grundlagen beruhenden Idee zu thun, die ihr Seiten-
ftüd erft mehr al8 ein Jahrhundert fpäter in dem Fürſten⸗
bunde Friedrich's des Großen gefunden Hat; aber aud)
zu den neueften, endlich mit einem Erfolg gelrönten Unions-
beftrebungen Preußens ergeben ſich von jelbjt der lehr⸗
reichen Parallelen genug.
Dir müffen e8 uns verfagen, den vielfach verfchlungenen
diplomatischen Verhandlungen ins einzelne zu folgen, durd)
welche Waldeck die Erreihung des ihm vorjchwebenden
Zield erſtrebte. Da geradeswegs auf bafjelbe loszugehen
fi) als unthunlich erwies, fo fuchte er fi) den Weg
dazu durch Separatbündniffe mit den gleichgefinnten Reichs⸗
finden zu bahnen. Sein Blick blieb dabei immer in
eine fernere Zukunft gerichtet, wie er denn der von Frank⸗
reich gewünfchten Annäherung eine Zeit lang entjchieben
das Wort redete. Doc nur langfam fam man vorwärts,
Die Conferenzen zu Goslar führten zu einer Defenfiv-
allianz mit Braunfchreeig; ein Bündniß mit Köln wurde
zu Wetzlar und Arnsberg abgeſchloſſen. Gelang es nun
no, fih mit Frankreich zu einigen und biefes von ber
Unterftügung des alten Gegners Brandenburgs, des Pfalz-
grafen von Neuburg, abzubringen, fo hoffte Walde, daß
man fi der fo lange ftreitigen rheinifchen Gebiete ohne
Mühe werde bemärhtigen können. Dann nahm Branden«
burg am Rhein inmitten geiftlidher Territorien und zers
fplitterter Heiner Grafſchaften eine dominirende Stellung
ein, und die Derbindung mit der zunehmenden Macht
des jungen Wilhelm III. von Dranien in den Niederlan-
den ſchien den beiden verwandten Fürftenhäufern eine
glänzende Zufunft und einen großartigen Mactauffchwung
zu fihen. Worauf Waldeck's Gedanken binausliefen,
ließ er deutlich genug erkennen, wenn er dem Kurfürften
erklärte, durch die von ihm vorgezeichnete Polttit werbe
Ein preußiſcher Staatsmann im 17. Jahrhundert.
derfelbe das römische Reich „entweder in Flor und Auf
nahme bringen ober ein groß Theil davon vor ſich be-
halten”. Wir fehen, die Unnerionspolitit im großen
Stile ift bereitd im 17. Jahrhundert in Preußen vertres
ten worden. Natürlich mußten diefe Plane auch auf die
Geftalt der Keichsverfaffung entfcheidend einwirken. Die
Habsburger durften nicht im Beſitze des Kaiſerthums blei⸗
ben; ein brandenburgifches proteftantifches Kaiſerthum er-
ſchien unmöglich: fo dachte Walded denn in einem bairie
chen den Ausweg zu finden, indem dieſes feine Hanpt-
ftüge in Brandenburg und dem von diefen geleiteten
Bunde zu fuchen genöthigt war. Das aber ift Zug für
Zug die Politik, die Friedrich) der Große im zweiten Schles
fifchen Kriege im Bunde mit Karl VII. und Frankreich
verfolgte. Der Träger dieſes bairifchen Kaiſerthums follte
jedod nichts fein als das Organ des Regiments der
Reichsſtände, daher „bie Dignität bei übler Adminiftration
wieder quittiren müſſen“, d. 5. alſo abgejegt werben Tön-
nen. DBefonders hervorgehoben zu werden verdient es noch,
daß Walded, obgleich alle feine Plane auf der Theilnafme
Brandenburgs an bem großen franzöfifch» fpanifchen Kriege
und der dazu einzugehenden Berbindung mit Frankreich
beruhten, dem legtern doch immer die fcharfe Mahnung
entgegenhält, daß es fich nicht den Anfchein geben dürfe,
fi in die deutfchen Angelegenheiten einmifchen zu wollen,
Gerade in dem Augenblid aber, wo mit der Ausfüh-
rung diefer weitreichenden Entwürfe Ernſt gemacht were
den follte, wurde die preußische Politif nad) einer ganz
andern Seite bingezogen. Mit dem Regierungsantritt
Karl's X. Guſtav von Schweden fam der nordifche Krieg
zwifchen ben alten Nebenbuhlern Schweden und Polen
von neuem zum Ausbruch. Kurfürft Friedrich Wilhelm,
als Herzog von Preußen polnifcher Lehnsmann, konnte,
wie fich bald genug zeigte, diefer Berwidelung nicht fremd
bleiben; auch Waldeck's Scharfblid erkannte die ganze
Wichtigkeit der Krifis, in welche mit ber Wiederaufnahme
des polnifch-fchwediihen Streits die Verhältniſſe des
Nordens eintraten, und war entjchloffen, die fich barbie-
tenden Eventualitäten volftändig auszunngen. Freilich
waren damit die eben noch ganz im Vordergrund ftehen«
den Unionsplane aufgefchoben, wenn Walde fie auch kei⸗
nen Moment aus dem Auge verlor und au im Norden
zu ihrer Förderung zu wirken bemüht war. Gleich beim
Ausbruch des nordifchen Conflicts ftellte der fühne Staate-
mann die Souveränetät Preußens und die Löfung deſſel⸗
ben von der polnischen Lehnshoheit als die Frage hin,
um die es ſich fir die Politik des Kurfürften Hier zunächſt
handelte. Nur im Bunde mit Schweden ließ fidh Bas
nun geftedte Ziel erreichen; zugleich aber follte dabei für
die deutſchen Plane Kapital gemacht werden, infofern
nämlich als Schweden und Brandenburg ſich verbanden,
um, das eine in Polen, das andere in ‘Deutfchland, ſich
zu „arrangiren”. Die Unterhandlungen, welche zuerft
auf einer Conferenz zu Stettin in diefer Richtung mit
Schweden geführt wurden, ftellten geradezu eine Theilung
Polens ald Weg zu dem von beiden Staaten zu erftres
benden Ziele in Ausfiht. Ein Abſchluß erfolgte nicht,
denn Walde erkannte bald, daß Schweden nur feinen
Bortheil im Auge Habe und namentlich die Oftfee völlig
in feine Gewalt zu bringen trachte. Brandenburg ging
Vom Bühertifch. 217
feinen eigenen Weg; es verband fich mit den Ständen
der polnifchen Preußen und ftellte eine Obſervationsarmee
gegen die Schweden auf, an deren Spitze Walde feine
militäriſche Laufbahn wieder aufnahm. Damit aber be-
gann in der Politik des Kurfürften ein unfiheres Schwan-
fen, denn bie Lage war fo eigenthümlich verwidelt, daß
über den fchlieglichen Ausgang jede Bermuthung unmöglich)
war. Walde war durch diefes Schwanfen und Zögern
tief verſtimmt; ſchon begann der Einfluß feiner nie ganz
machtloſen Gegner wieber zu fteigen, namentlich) fein alter
Biderfacher und perjönlicher Feind, Sparr, gewann mehr
und mehr Geltung bei dem Kurfürften. Die Folge da-
von war der Abſchluß des bemilthigenden Königsberger
Bertrags, in welchen der Kurfürft bie Lehnshoheit Schwer
dene, das er eben noch Hatte befämpfen wollen, über
Preußen anerkannte. Vergeblich fucht Walde, mit biefer
Wendung im höchften Grade unzufrieden, in der nächften
Zeit dad, was im Norden mislang, durch die Aufnahme
feiner deutichen Plane im Weiten, am Rhein wieder
jugewinnen: da tritt ein neuer Umfchwung ein, indem
duch den von Waldeck zu Stande gebrachten Marien-
burger Vertrag Brandenburg fich der ſchwediſchen Erobe-
rungs⸗ und Xheilungspolitif ganz anfchliegt und dafür
einen großen Theil von Großpolen, Pofen und Kaliſch
zu fonveränem Befig erhält. Die brandenburgifchen Trup⸗
pen fohten num an der Seite der Schweden; in der
Schlaht bei Warſchan begründeten fie ihren militärifchen
Ruhm. Durch den Labiauer Bertrag wnrde das Bündniß
zwilhen beiden Mächten erneut, wenn aud auf etwas
beihränktern Grundlagen, indem für den Kurfürften nicht
mehr die Erwerbung eines Theils von Großpolen, fon-
dern die Souveränetät in Preußen ber Hauptgewinn wurde.
Mit dem 1657 erfolgten Tode Kaifer Ferdinand’ III. war
nad der Meinung Waldeck's der Zeitpunkt gelommen, wo
Brandenburg mit feiner antihabsburgifchen Politik offen
hervortreten und die früher bargelegten Plane auf Gritn-
dung eines nichthabsburgiſchen Kaifertfums mit aller
Energie verfolgen mußte. Geſchah das und gelang das
Borhaben, defien Durchführbarkeit niemals fo einleuchtend
war als gerade in diefem Augenblid, fo waren die deut-
hen Plane Waldeck's zugleich mit den ſchwediſch⸗branden⸗
burgijchen Neuerungen im Norden gefichert. In beiden
Bunkten fcheiterten Waldeck's Bemühungen, indem fid
Brandenburg no einmal zum Bundesgenoſſen eines
habsburgiſchen Kaifere machte; damit wurde die Allianz
mit Schweden zerriffen und alle die auf diefelbe ge
gründeten Blane ſanken in nichts zufammen.. Nun
war aud über Waldeck's Stellung entfchieden: unzu-
frieden mit dem, mas gefchah, erbittert durch das
völlig refultatlofe Scheitern jahrelanger Bemühungen,
gereizt durch die zunehmenden Unfeindungen feiner nun
immer kühner auftretenden Gegner, verlangte und erhielt
Walded im Mai 1658 feine Entlafjung aus dem fur-
fürſtlich brandenburgiſchen Dienft. Scheidend noch wieber-
holte er feine eindringliche Warnung vor der Hingabe an
das Haus Defterreih und einer abermaligen habsburgi⸗
hen Kaiſerwahl.
Und damit ging denn die merkwürdige Epifobe in der
brandenburgifch«preußifchen Politik zu Ende, deren Träger
Graf Georg Friedrid) von Walded gewefen und die um
fo bedeutender ift, je mehr in ihr der Zeit vorauseilende
und die gefammte Aufgabe Preußens für die Zukunſt
Deutſchlands erfaffende Ideen enthalten find. Die Ideen,
welche Friedrich den Großen zur Zeit bes zweiten Schle⸗
fifchen Kriegs, der Theilung Polens und der Stiftung des
deutfchen Fürftenbundes erfüllten, ebenfo wie die Prin-
cipien, auf denen die Politik Preußens in der neueften
Zeit berubte und von denen aus fie ihre letzten großen
Erfolge gewonnen bat, find zuerft durch den Grafen
Waldeck vertreten worben: ein entjchieden Bismard’icher
Zug, möchte man fagen, geht durch die Natur und die
Politik deffelben. So ift e8 denn ein in jeder Hinficht
dankenswerthes Werk, durch welches das ganz vergeflene
Andenken des genialen, ja revolutionär kampfluftigen
Staatsmannes wieder aufgefrifcht ift, und das uns zugleich)
die wahrhaft nationalen Tendenzen in ber preußifchen
Politik Tennen gelehrt hat in einer Zeit, wo man bder-
gleihen am wenigften vermuthete. Hans Prus.
Dom Büchertiſch.
1. Die Opfer mangelhafter Juſtiz. Galerie der interefjanteften
Juſtizmorde aller Bölker und Länder. Bon Karl Löffler.
Dritter Band. Jena, Coftenoble. 1870. 8. 2 Zhlr.
TA Ngr.
Wir beginnen diesmal die Revne unſers Bitchertifches
mit der Beiprehung bes dritten Bandes von Löffler’
Unternehmen, ba derfelbe einen Fall enthält, deſſen Ent-
ſcheidung vor dem irdifchen Richter verhängnißvoll aus-
gefallen if. Das Haupt bes Chirurgen Kühn aus Ohr-
druf ift bereits durch die Onillotine gefallen, eines Mans
ned, ben Löffler mit aller Energie beweiskräftiger Ver⸗
theidigung als unſchuldig an dem bezichtigten Verbrechen
bes Mordes hinftellt. Nach Löffler's Beweisführung liegt
ein Selbfimord vor und die Erecution wäre als ein Juſtiz⸗
mord zur bezeichnen. Die beiden andern Causes celebres
de8 dritten Bandes behandeln die Procefie Fonk und
Hamacher, und den fchweizerifchen Fall Indermauer.
1870. 1.
Mührend der Ausgang des erſtern allgemein befannt if,
dürfte die letztgenannte Probe ſchweizeriſcher Juſtiz kein
ſehr erfreuliches Bild von den juriſtiſchen Zuſtänden der
glorreichen Republik geben.
2. Die intereſſauteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus
älterer und neuerer Zeit. Eine Auswahl für das Volk aus
dem „Neuen Pitaval”. Umgearbeitet und herausgegeben
von Anton Bollert. Fünfter und fester Band. Leipzig,
Broddaus. 1869. 8. Jeder Band 15 Near.
Die dee, welche diefer Auswahl aus der Langen
Reihe von Bänden des „Neuen Pitaval“ zu Grunde liegt,
nämlich dem reichen Material des Werts dasjenige zu
entnehmen und in neuer, zeitgemäßer Bearbeitung bar«
zubieten, was bleibenden gefchichtlichen Werth hat oder
das Intereſſe der heutigen Lefer vorzugsweiſe zu fefleln
geeignet ift, wird von dem Herausgeber mit Takt und
Geſchmack zur Ausführung gebracht. Auch die beiden
28
218 Bom Büchertiſch.
neu erjchienenen Bände Iegen davon Zeugniß ab. Gie
bringen in ber That faft lauter Fälle von culturhiſtori⸗
cher Wichtigfeit, unter denen folgende hervorgehoben feien:
im fünften Bande „Caglioftro“, „Nidel Lift und feine
Geſellen“, „Die Goldprinzeffin”; im fechsten Bande:
„Karl Ludwig Sand“, „Franz Schal”, „Rudolf Kühn-
apfel” und „Jean Calas“.
Den criminalgiftorifchen Werken laſſen wir eine Reihe
vollswirthichaftlicher und technologiſcher Novitäten folgen.
Zunächſt fei Hier erwähnt:
3. Einleitung in das ſtaats⸗ und volkswirthſchaftliche Studium.
Ein Beitrag zur Theorie und Geſchichte der Nationals
ölonomie. Bon Heinrich Contzen. Leipzig, Wilfferodt.
1870, 8. 24 Nor.
Der Berfafler, Docent an der Torftlehranftalt zu
Eiſenach, hat ſich bereits in feinem Wache vortheilhaft
befannt gemacht. „Ueber den Wald”, itber „Die Volks⸗
wirthfchaft im Mittelalter‘ (letzteres Werk von uns be-
ſprochen) Hat er Eingehendes und Tiefgedachtes geſchrie⸗
ben; fo gibt er denn aud) in vorliegender Schrift eine
ethiſch⸗ anthropologiſche Darlegung, in der er den Men-
fhen als den Mittelpunkt der geſammten nationalöfono-
miſchen Beripherie Hinftelt. In der Einleitung die Me-
thode und Stellung der Nationalökonomie im Kreife ber
verwandten Wiflenfchaften erörternd, gibt er von den
Grundfätzen und der Aufgabe der Volkswirthſchaftslehre
in den folgenden Abfchnitten anjchaulichen Bericht; was
er im britten Abfchnitt über das Mittelalter, den Prügel«
jungen ber hiftorifchen Dilettanten, jagt, find goldene
Worte. Die Wichtigkeit der Nationalöfonomie für bie
einzelnen Glieder der bürgerlichen Geſellſchaft wird am
Schluß gebührend hervorgehoben. Die ganze Darlegung
des Verfaſſers beruht auf gründlichen focial- Biftorifchen
Studien, die in gewandter Überzeugender Rede dem Ber-
ſtändniß übermittelt werden.
4. Geſchichte der Sefellihaft von Johann Joſeph Roßbach.
Dritter Theil: Die Mittelflaffen in der Eufturzeit der Völ⸗
an Erfe Abtheilung. Würzburg, Stube. 1869. 8
1 r.
Kurz vor dem Hingange des verdienſtvollen Autors
iſt dieſer Theil erſchienen, deſſen Borgänger wir in Nr. 4
d. DI. beſprachen. Er behandelt die antiken Mittelklaſſen,
den dritten Stand bei Griechen und Römern und, zu ber
modernen Zeit übergehend, den Zierd- Etat der romani-
fhen Staaten und Völker, zunähft den von Italien,
Frankreich und Portugal. In ruhiger, gehaltener Unter-
fuhung gleitet die Feder des begabten Autors dahin, um
uns an den Beifpielen alter und neuer Völker den Fort-
fhritt einer planmäßiger dentenden Zeit nachzuweiſen.
Befonders der Abjchnitt über die italienifchen Mittelklaſſen
ift mit großer Sorgfalt und gefchidter Materialverwer-
ihung abgefaßt. Wir jehen der von dem Verleger an⸗
gefündigten Fortſetzung des Werks, das der Verfaſſer
ſelbſt noch vollendet hat, mit Spannung entgegen.
5. Anfangsgründe der Vollswirthſchaft von E. J. Kiehl.
Berlin, Buttlammer und Mühlbrecht. 1869. Gr. 8. 1Thlr.
Mehr in der Art eines Hand⸗ und Lehrbuchs als in
der darftellenden Art des Conten’shen Buchs ift die
vorliegende Arbeit gehalten. I. Stuart Mill ift der Feld⸗
berr, deſſen Gcneralftabsplanen der Verfaſſer folgt; dabet
wird Rofcher, dem die größte Aufmerkſamkeit gewid-
met ift, häufig als Hülfsmacht zugezogen. Ungemein
logiſch und anſchaulich, etwa wie in einem mathematifchen
Schulbuch, werden die wirtbfchaftlihen Säge dargeitellt:
Beifpiele in Menge fehlen nicht, wol aber ein Regifter,
das die Weberfichtlichkeit jehr erleichtern würde. Wir Kün«
nen das durchweg praftifche Buch allen Anfängern in der
Volkswirthſchaftslehre als den zwedmäßigften Leitfaden
empfehlen, den wir auf diefem Gebiet Tennen lernten.
6. Bilder und Studien zur Gefchichte der Induſtrie und des
Maſchinenweſens. Bon Hermann Grothe. Erfle Samm⸗
ung. Berlin, Springer. 1870. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr.
Bon großen Iuterefje für die Genefls und Gefchichte
wichtiger moderner Induſtriezweige, werben biefe Bilder
und Studien nicht verfehlen, ſich ihren theilnahmsvollen
Leſerkreis zu erwerben. Die Geſchichte der Entwidelung
der Induſtrie und des Maſchinenweſens zieht in techno⸗
logiſchen Genrebildern an uns vorüber. Beſonders ſind
es die Erfindungen für das Spinnen und Weben, die
den Hauptſtoff des Verfafſers bilden. Die Seide, bie
Baummolle, Wolle, der Flachs werden in ihrem modernen
Berhältnig zur Arbeit, Verarbeitung und Culturverbrei⸗
tung hiſtoriſch und populär erklärend dargeſtellt. Auch
bie Frauen, ihre Stellung und ihr Einfluß bei der Ent-
widelung ber neuern Technik werden beſprochen; an fie
knüpft fi naturgemäß ein Artikel über das Nähen und
die Näühmafchinen. Die Iettern find nad Grote ein
Reformmittel für die zahlreiche Klaffe der Armen und
Elenden: „fie gehören zu jenem Kreiſe von Mitteln bes
Fortſchritts, welche die Arbeit verbeflern und vermehren“.
Wer fi) über den Segen des Maſchinenweſens informi-
ren will, der verfäume nicht, vorliegende „Bilder und
Studien“ zu leſen, denen auch das überfichtliche Hegifter,
das wir bei Kiehl's Lehrbuch vermißten, wenigſtens in
Bezug auf die Namen der Erfinder, nicht fehlt.
Bom Gewerbe zur Kunft ift nicht allzu weit. Schlie-
fen wir alfo der Beſprechung des technologifchen Werte
diejenige der kunſttechniſchen und Eunfttheoretifchen Neuhei⸗
ten an. Den Anfang mache:
7. Ueber den Berfall der Reſtauration alter Gemälde in Deutfch-
land und Protefl gegen das von Pettenkofer'ſche Regenerations⸗
verfahren von Karl Förfter. München, Merhofl 1870.
®r. 8. 123 Ngr.
Dieſe vielberufene Brofchitre hat bekanntlich das größte
Auffehen in weiten Sreifen erregt. Die Anwendung,
welhe von dem Regenerationsverfahren des miüncdhener
Profeffors Pettenkofer bei den Bildern der alten münchener
Pinakothek gemacht wurde, bat dem renommirten Kunſt⸗
fenner Förſter eine entrüftete Abwehr in die Weber dictirt.
Förſter erklärt den hemifchen Proceß, durch den ber Firnis
auf alten Gemälden aufgelöft werden kann, für höchſt
ſchädlich, da derfelbe nicht allein den Firnis, fondern
jelbft die Laſuren, alles bis auf den Grund, in Auflöjung
bringe. Daß bei den Beweiſen hierfür, die Yörfter nicht
ſchuldig bleibt, manche unliebfamen Streiflichter auf die
Berwaltung deutfcher Muſeen fallen, ift begreiflih und
dürfte für die Berliner, die fich in einem ähnlichen Falle
über Hrn. von Olfers nicht beruhigen Tonnten, von dop⸗
peltem Intereſſe fein.
8. Schadom und feine Säule. Feſtrede gefproden bei Ent-
hülung des Schadow · Dentmals am zweiten Tage ber Semi.
Sicularfeier der Lönigl. Kunftafadenie zu Düffelborf, den
24. Juni 1869. Bon Julius Hübner. Bonn, Cohen
und Sohn. 1869. 8. 5 Nr.
Die Feſtrede, die bei Enthüllung des Schabow-
Denfmals in Düffeldorf gefprochen ward, Tiegt hier im
Drud vor. Die Semi» Gächlarfeier der Kunftafademie
gab die Gelegenheit zu der warm gehaltenen Lebensſtizze
des Gefeierten, die fein berühmter Schüler entworfen.
Als ein Beitrag zur Gefchichte der düffeldorfer Akademie
folte fie nicht ohne Beachtung bleiben.
9. Flüchtige Blide in Natur und Kunf. Ein Beitrag zum
Kunfverfändnig von Ehrifiian Friedrich Gonne
Dresden, Burdach. 1869. 8. 10 Nar.
Ueber das Wefen der Fünftlerifchen Schönheit verbreitet
fih der Berfaffer des Weitern. eine Beobachtung der
Natur und des Menjchenlebens unterftügen ihn, eine
ſcharffinnige Unterſuchung über den Unterfchieb der natür«
fihen Schönheit von der fünftlerifhen anzuftellen, ſehr
Beherzigenswerthes über den hiſtoriſchen Stil zu fagen
and die Darftellungsmeifen in der Malerei einer ein«
gehenden äftgetifchen Kritit zu würdigen.
10. Meine Banfleine. Aeſthetiſche Abhandlungen von Dtto
Buäwald. Leipzig, Maithes. 1869. Gr. 16. 22%, Nor.
Dem berliner Kritifer und Novelliften Karl Frenzel
find vorftehende Aufjäge gewidmet. Sie haben Themen
derſchiedener Künſte. Da Handelt ein Artikel über die
mebiceifche Venus, einer über bie Figur des Geiſtes in
Shaffpeare’8 „Macbeth“ und „Hamlet“, ein dritter über
Shelley umb Hebbel, ein vierter über Platen und Arifto-
phanes, und der legte Auffag über bie körperlichen Ge⸗
bredien auf der Bühne, Aber der Berfaffer, ber fonft
ein beachtenswerthes Talent für äſthetiſche Architeltur hat,
baut zu viel mit antifem Material: er ift zu ſehr in der
Hochſchätzung der Untife befangen, um fle da aus dem
Epiele zu halten, wo ein Vergleich mit ihr ungehörig iſt.
Einfeitig erſcheint andy bie Richtung auf bie bildende
Kunſt als bildendfte aller Künfte, neben ber den reden»
den Künften nur ein Meiner Pla gebühre.
11. Das Kunſtgeſetz Homer's und bie Rhapſodik. Bon Wils
heim Jordan. Frankfurt a. M., Jordan's Selbſtverlag.
1869. "&r. 8. 18 Mgr.
Bei weitem bie Krone aller neu eingelaufenen Werke
für unfern Büdjertifch iſt Jordan's Darlegung des epifchen
Grundgefeges. Er war wie fein anderer dazu berufen,
dem Geheamnig der xhapfodifchen Kunft nadzufpiren,
deſſen Löfung er und wir praftijch in feinen Nibelungen»
umbidhtungen längft gefpürt haben. Bon feiner Ueber-
ſchatzung, fondern der richtigen Würdigung der Antike
ausgehend, verteilt ber hochbegabte deutſche Rhapſode
zunäcft bei der Odyſſee und zeigt an dieſem glänzenden
Beifpiel die weife Delonomie des helleniſchen Dichters.
Den Grundſtock der Jordan'ſchen Unterfuchungen bildet
ein Vortrag über biefen Gegenftand, welchen er in ber
Bfingftwoche 1865 vor der Berfammfung rheiniſcher Bhir
Tologen in Sranffurt a. M. gehalten Hat. Erweitert und
näher ansgeführt, bietet und die aus jenem Bortrage
Vom Büchertiſch.
219
entſtandene vorliegende Arbeit willkommenen Aufſchluß
über bie, Technik Homer's in ber Odyſſee. Die Ber
dingung ber Objectivität, in ber fi der Sänger zum
Sprachrohr der Mufe macht, ift für den Nhapfoben bie
erſte. Ale dieſe Eröffnungen über das Wefen des Epos,
wie fie hier und vorliegen, find dem Autor bei Gelegen-
heit feiner originellen Nibelungenrhapfobien in ben Sinn
gelommen. Cr weift ſehr treffend die mannichfachen
Einwürfe der Gegner und der Ungläubigen feiner Theo»
rien zurüd. So ©. 21 und 22, wo er vom bem poe⸗
tifchen Wunderglauben, ©. 25, wo er von dem Irrthum,
auf allgemeine Gedanken ein Kunftwerk aufzubauen, han-
delt. Man Iefe bie gedankenreiche Arbeit felbft, um ſich
von der Nichtigkeit der Jordau'ſchen Crörterungen zu
überzeugen. Eine martige Sprache, die fich auch in den
überfegten Stellen der Odyſſee günftig bemerkbar macht,
thut das Ihre, um dem intereffanten Inhalt auch bie ent-
ſprechende Form zu geben.
12. Geift des Schönen in Kunft und Leben. Praktische Aeſthetik
für die gebildete Franenwelt von Jeanne Marie von
9: ettesGeorgens. Berlin, Nicolai. 1870. 8. 1 Thlr.
gr.
Eine Hauspoftille des Geſchmads Könnte man dies
anmuthende Buch, nennen, das ſehr bazu angethan ifl,
dem Schönen aud in Lleidung, Schmud und Zimmer
einrichtung zahlreiche BVerehrerinnen zuzuführen Nur
wiederholt ſich die Verfafferin öfters, ein Fehler, ber in⸗
deß bei dem Umfang des Buchs verzeihlich if. Solche
Bücher bleiben, zumal wenn fle fo zart und feinfühlig wie
das vorliegende gefchrieben find, eine willlommene Bes
reicherung für bie äfthetifche Literatur. Nur Haben fie
das Schidfal, entweder nicht mit Aufmerffamleit gelefen
zu werben, ober im andern Falle feine werthätigen Fol -
gen zu hinterlaffen. Oder ſollte die deutfche Damenwelt
auch im Geſchmad der franzöfifchen fernerhin nicht nach⸗
ftehen wollen?
13. Die befte Ausflattung für junge Damen von I. Preis.
Brieg, Bräuer. 1870. 8. 1 Thir. 10 Nor.
Die feltfame Form, die der Berfaffer gewählt Bat,
feine Waare an den Mann zu bringen, nämlich eine halb
dialogiſche, Halb nodelliſtiſche, hindert nicht, viel Wahres
in diefem Buch zu finden. Ob freilich manche junge
Dame, die ſich eine ganz andere Ausftattung als die hier
preisfiche an Geift und Gemüth gewünſcht hatte, mit
den Anfichten des Verfaſſers unbedingt einverftanden fein
dürfte, das ift eine andere Frage. ebenfalls enthält das
beſprochene Werk des Erreihenswerthen und Preiswilrbie
gen vieles, was, wie wir aufrichtig wünſchen, nicht um«
gelefen bleiben follte,
14. Vom Schönen und vom Schmud. Ein Angebinde für
Gerne und Freundinnen de8 Schönen zu tieferm Ber«
ſandniß und rechter Uchung deſſeiben von Friedrich
Tiebetent. Cingeleitet duch Hoffmann. Gotha,
Schloeßmanu. Gr. 8. 24 Nor.
Daß Hr. Liebetrut, obwol Hr. Generalfuperinten«
dent Hoffmann in Berlin es ihm bier ſchwarz auf
weiß gibt, durchaus nicht die Mittel befigt, äfthetifche
Fragen zu erörtern, haben wir bereit im legten Bichertiſch
28 *
220 Som Büchertiſch.
bei Gelegenheit feiner dort befprochenen Vorträge zu
ProtofoU gegeben. Wer fo heilloſe Konfufion über die
Begriffe Chriſtenthum, oder vielmehr Kirchentfum und
Schönheit anrichtet, wer in einem gejchmadlofen Prebigtftil
funftbezügliche Probleme zu löfen glaubt, der kann un-
möglich darauf Unfprud machen, gehört und gelefen zu
werden. Daß wir durchaus fein Feind echt religiöfer,
ja ſelbſt kirchlicher Gefinnung find, wenn fie in geſchmack⸗
vollem Gewande auftritt, haben wir oft in d. Bl. be⸗
wiefen; aber gebet dem Saifer, was des Kaifers, Gott,
was Gottes ift: die Aefthetil in Form der Kanzelrede ift
dem deutſchen Publifum neu und ſoll ihn auch, gelinde
gejagt, neu bleiben!
15. U-B-€ für Haus und Welt. Aus der Mappe eines alten
Diplomaten. Bon Gisbert Freiberen Binde Münfter,
Brunn. 1870. 16. 15 Nor.
Ein allerliebftes Büchelchen, voll körniger Lebens-
weisheit, ein Feines A-B-E prächtigen Humors und er«
ftaunlichee Detailbeobahtung des Lebens. Es gemahnt
ung, als ob ein moderner Jean Paul en miniature
uns eine Meine Auswahl von Apercus gefchenft hätte,
die alle mit der Mil einer gefunden Denkart gefät-
tigt find.
16. Ueber den Begriff Tochterſprache. Ein Beitrag zur gerech⸗
ten Beurtbeilung des Romanifchen, namentlid des Fran⸗
zöfifhen. Bon Kranz Scholle Berlin, Weber. 1869.
@r. 8. 18 Ngr.
Der Berfaffer, der feine Arbeit „einen Beitrag zur
gerechten Beurtheilung des Romanifchen, namentlich des
Franzöſiſchen“ nennt, geht herzhaft auf fprachvergleichende
Unterfuhungen aus. Das einfchlägige Material ift aus-
reichend benutzt, die Schrift durchweg mit größtem Exnft,
Eifer und entjprechender Gelehrſamkeit verfaßt. Zweck
des Autors war, die franzöftfche Sprache vor den unge.
rechten Verunglimpfungen zu retten, die man ihr theil«-
weife aus falfch veritandenem PBatriotismus Hat angedeihen
laſſen. Diefen Zwed hat Scholle durch feine fleigige
und forgfame Arbeit hinlänglich erreidt.
17. Zur Reform ber wiener Univerfität. Gin Votum erflattet
in der Situng des Univerfitätsratbe® am 29. December
1865, von Joſeph Unger. Wien, Manz. 1869.
Gr. 8 10 Ror.
Daß fi die öſterreichiſchen Hochſchulen gegenüber
den deutfchen in einer Sonderftellung befinden, ift be-
fannt. Unger det nun die Misftände fpeciell der wiener
Univerfität auf, die zumächft bei der Jubelfeier berfel-
ben zur Sprache kamen, ben confeffionellen Charakter
der Hochſchule und die fehiefe Stellung ber Doctoren-
collegien. Nur wenn legtere aus dem Berbande ber
Univerfität ausſcheiden und ber kirchliche Charakter ber-
felben befeitigt wird, Tann, fo meint Unger mit Recht, die
Univerfität eine gebeihlihe Entwidelung haben.
18. Blicke eines Engländers in die firchlichen und focialen Zu⸗
fände Deutihlands von Thomas Carlyle. Weberjegt
von B. Freih. von Richthofen. Breslau, Mar und Comp.
1870. Gr. 8. 1 Thlk.
Carlyle's „Moral phenomena of Germany” find bereits
1845 in zweiter Auflage erjchienen; dennoch dänchte es
dem Ueberjeger nicht unzeitgemäß, die Uebertragung bes
fonderbaren Buchs in fein geliebtes Deutſch zu unter
nehmen. Und Hr. von Richthofen hat recht daran ge-
than, wenn au in anderm Sinne, ald er gewollt.
Die religiöfe Engherzigfeit des Briten, der nicht mit dem
gleichnamigen berühmten Hiftorifer Thomas Carlyle ver-
wechjelt werden darf, ift fo eigenthümlich, fo apart eng»
liſch, daß es fi) fchon der Mühe verlohnt, die Polemik
bes eifernden Mannes gegen bie rationaliftifche Richtung
der Zeit wieder aufzufriichen. Gott fei Dank, fo finfter
und traurig in fittlicher Beziehung fieht es doch noch
nicht in unferm Baterlande aus, als e8 uns der hoch⸗
kirchliche Mann glauben mahen möchte, ja fo bat es
felbft in den böfen Jahren vor der Märzrevolution nicht
ausgefehen !
19. Chriſtliche Betrachtungen über Glauben und Pflicht. Rad
dem Englifchen des Sohn James Zayler. Uebertragen
von 3. Bernhard. Nebſt einer kurzen Biographie des
Berfaffere. Gotha, Thienemann. 1869. 8. 16 Ngr.
Das ift echt religiöfer chriftlicher Geift, den biefe
Schrift athmet. Ye mehr die Beftrebungen der englifchen
Theologie dahin gehen, neue DBeweife fiir tibermundene
Lehrfäge zu erfinden, zu zeigen wie wenig fie dem Wiffen
und ber Einficht ihres Zeitalters einräumen können, und
die Feſtung des Glaubens gegen jeden Angriff zu ver«
theidigen, felbft wenn unter den Angreifenden die göttliche
Geſtalt der Wahrheit erſcheinen follte, defto mehr ift bie
Tapferkeit Tayler's anzuerkennen, der, felbft gläubig, doch
weit entfernt war dem Buchſtabenglauben anzuhängen,
den er befämpfte. In biefem Sinne ift das Bud ge«
fohrieben, da8 den am 28. Mai 1869 heimgegangenen
Theologen im beften Lichte zeigt. Die Ueberfegung, von
einer Dame, verdient das Lob gejchmadvollen und tref-
fenden Ausdrucks.
20. Stoff ober Kraft? Oder: Das immaterielle Weſen ber
Natur. Ein naturphilofophifcher Vortrag, gehalten in ver-
ſchiedenen deutſchen Vereinen zu Paris im März und April
1869 von ©. 9. ©. Jahr. Leipzig, Literarifches Juſtitut.
1869. Gr. 8. 5 Nor.
„An alle Lefer der Werke von 2. Büchner, K. Vogt
und 3. Moleſchott“ ift bie vorliegende Schrift gerichtet.
Sie ift al8 eine der gründlichen und fachgemäßen Wider-
legungen des Materialismus zu betrachten, bie der Phra-
jeologie defjelben einen empfindlichen Stoß geben. Die
vielen ‚Schwachen Punkte der materialiftifchen Lehre werden
einzeln bergenommen und gründlich) unterſucht. Indeſſen
gibt der Verfaſſer diefen Vortrag nur als Ouverture
zu feiner demnächſt erfcheinenden Schrift: „Rationelle
Gefundheitslehre für Jedermann.“ Immerhin aber ift
derfelbe als wichtiger Beitrag zu ber Polemik gegen
die Schule zu betrachten, die felbft die Polemik gegen
die unüberwindliden Mächte bes „Idealismus hervor⸗
gerufen bat.
21. Sophie Schröder, wie fie lebt im Gedächtniß ihrer Zeit⸗
genoffen und Kinder. Wien, Wallishaufſer. 1870. 8.
2 Thlr.
Der Schwiegerfohn der berühmten Tragddin, Dr. B.
Schmidt in Hamburg, hat eine liebevolle Biographie der
Gefchiedenen in vorliegender Schrift verfucht, der er eine
——
Feuilleton. 221
Menge Belege in gebundener und ungebundener Form Der große Lebenskünſtler Goethe hat übrigens manche
für ihre Anerkennung unter den Zeitgenoſſen beifügte.kaltſinnige Genoſſen, hauptſächlich im letzten Säculum der
Nirgends geht das Maß der biographiſchen Darftellung | Liebespaare, die im ganzen drei Jahrhunderte umſaſſen.
über die Grenze der Wahrheit hinaus, eine wohlangebrachte | Während in jener unruhigen parifer Zeit und Welt, in
Bietät läßt den Schwiegerfohn das Häusliche Leben der | welcher Romanticismus und Roccoco, Klofter und Salon fo
Schröder aus befter Quelle in gemüthlicher Weife berich- | wunderlich ineinanderfpielen, das Weib auf dem Throne
tn, und die wohlgemeinte Zugabe der oft fehr jchwachen | der Liebe fit und der Mann ſich vor demfelben in den
Selegenheitögedichte zu Ehren der Künftlerin nehmen wir | Staub wirft, tritt in fpätern Zeiten faft das Gegentheil
als Beitrag der Mitwelt zum Lorberkrange, der von der | ein. Bon dem gefeiertiten und gefürchtetften Autor feiner
Nachwelt vergeffen wird, gern mit in den Kauf. Was | Zeit, dem englijchen Satiriter Dekan Swift, angefangen,
die künftlerifche Stellung der großen Schaufpielerin in | ſogar den Sänger der Liebesleidenſchaft, Byron, biefes
der deutſchen SCheatergefchichte betrifft, jo wird wol das | mal nicht ausgenommen, bis zu dem farblo8-conventionellen
Urtheil Eduard Devrient's und Laube's, deren Urtheile | Grafen Finkenſtein herab verhalten fi) die Männer bier
mehr untereinander flimmen, als Schmidt glaubt, auf | in der Liebe mehr oder weniger paffiv. Unter ben fein
lange Zeit bin das maßgebende bleiben. Bee Trauencharakteren Heben wir vorzüglich dem
, , . . bon Julie ecamier hervor. Die fchönfte und die genialfte
Een ng a a gone ai weibliche Berühmtheit bes erften Nappleonifchen Frankreich
wird in ihren Herzensbeziehungen zu deutjchen und Halb-
Zur Humdertjährigen Inbelfeier des getrenen Edart | deutfchen fürſtlichen und gelehrten Verehrern gefchildert.
dee Deutfchen erfchien bie vorftchende Schrift, eine der | Auch laſſen wir gern das in unferer unruhigen Gegen⸗
verbienftlichen biographifchen Darftellungen des Bolls- | wart ſchon halb verblaßte Bild einer Zeitgenoffin aufs
und Iugendfchriftftellers Ferdinand Schmidt. Wenn ein | frifhen, die in dem feines Geiftes fi rühmenden
gutes Wort eine gute Stätte findet, fo Tann bdiefes | Berlin einft die Gerühmtefte war: das Bild einer
Büchlein getroft feine Wanderung ind Publilum antreten, | Rahel Levin.
es wird gaftlich aufgenommen werben, denn es ift mit
patriotiſchem Herzen und geſchichtlichem Berftändniß ge⸗ 2. Bon feige eben ohne, 1867 role
.ſchrieben. Die ſchwere Kunft ber natürlichen Erzählung 10 Rot. '
hat der Verfaſſer trefflich inne: beſonders bie Jugend, die
fih gern an den Lebensbildern nationaler Denker und Eine ſchon vor ein paar Jahren erfchienene Studie,
Kämpfer erwärmt, wird bies Lebensbild bes Alten von welche wir nachträglich, um ihrer Trefflichteit willen, zur An
den fieben Bergen freudig begrüßen. zeige bringen. Die zahlreichen Lebensbeſchreibungen Dvib’,
der belanntlich zu allen Zeiten wiberfprechend beurtheilt
3. Berühmte Liebespaare von F. von Hohenhanfen. Mit | wurde, haben entweder einfeitig die äußern Umftände unter
18 Porträts, Braunfhmweig, Weftermann. 1870. 8. ſucht, oder nur die Urtheile alter und neuer zuſammengeſtellt,
1 Zhfr. 10 Ngr. oder zu ausfchließlich die dichterifche Eigenart berlidfich-
Aus der Fülle der bekannten, vergefienen und ent« | tigt, und nur in wenigen findet man ein leider meift durch
ſtellten Hiftorie gibt und dies Bud) eine Sammlung von | Vorurtdeil entftelltes Charafterbild. Reichart unternimmt
Aufjägen im biographifcher Form. Die Schilderung ber | e8 nun, aus den Quellen ſelbſt nachzuweiſen, wie Ovid
Berhältniffe und Zeiten ift Mar und lebendig, der Stil | über fittliche Verhältniſſe geurtheilt Hat, umd zugleich wür⸗
hefflih. Einzelne Einfäle und Gedankenblige haben die | digt er die einzelne Kundgebung in ihrem Zufammenhang
feine Anmuth und den Glanz des franzöfifchen Geiftes. | mit ber fittlichen Entwidelung des Dichters. Nur auf
Dennoch ift das Büchlein mit beutfchem Herzen gefchrie- | dieſe Weife ift_zu eimem objectiven Urtheile über Ovid
ben, denn nirgends wird dem Genius eine Ausnahme im | zu gelangen. Die Borwürfe, weldhe ihm von neuern
Bunte der Tugend zugeftanden. Ya, in dem lieblichen | Dicdtern und Aeſthetikern gemacht wurden und namentlid)
Idyll von Sefenheim dünkt uns faft zu ftreng der Stab | von Schiller, ſucht der Verfaſſer am Schluſſe ſeiner Ab⸗
über unfern zwanzigiährigen Dichterjüngling gebrochen, | handlung zurückzuweiſen. So ſtellt ſich Reichart's Studie
weil er in feinem Herzen gewaltig viel Raum für Liebesluſt als eine „Rettung“ dar, welche ber viel verkannte und
und «Leid, aber nicht das befcheidenfte Eckchen für einen Herb | gefhmähte Dichter wegen feiner Hohen Bebeutung
und eine Kinderſtube bereit Hatte. ficher verdiente.
Fenilleton.
Englifhe Urteile über neue Erjheinungen der | Kber einen anziehenden Gegenfiand hinzunehmen, fpricht ihnen
deutſchen Literatur. aber die in das Fach einfchlagende Gelehrfamteit ab, weil bem
Veber Inlius Brann’s „Gemälde der mohammebanifchen | Verfaffer bejondere die zu feinem Gegenftande uöthigen tal-
Belt" ſpricht fi die „Saturday Review” vom 19. März nur | mudiſtiſchen Kenntnifje fehlten.
infofern günftig aus, als fie zugibt, daß das Werk eine höchſt Ueber „Bascal. Sein Leben und feine Kämpfe", von J.
angenehme Lektlire bilde. Der Recenſent will fid) zwar damit G. Dreydorff, heißt es: „Pascal's Charakter war faft fo ein⸗
begnügen, die Bände als ein lebhaftes und reizendes Apercu | zig im feiner Art wie ſein Genins, und beide werben für bie,
. — rm
222 Feuilleton.
welche geiſtige Phänomene zu unterſuchen lieben, lange ein
Lieblingsthema bleiben. Dr. Dreydorff, Paſtor der reformirten
Kirche zu Leipzig, und augenfcheinlich dem freifinnigfien Theile
der deutſchen Geiſtlichkeit angehörend, hat denn auch beide einer
gründlihen Prüfung unterzogen. So meit es die Gefchichte
von Pascal’8 eigenen Seelenfämpfen betrifft, ift Dr. Dreydorff's
Ton von feltener Leidenichaftslofigleit. Er erörtert in einer
faltblütigen und kritiſchen Weife ſolche Bragen, wie: das Weſen
von Pascal’8 erfier dunkler Belehrung zum Sanfenismus und
feines noch dunklern Rückfalls, den — der Phi⸗
loſophie des Montaigne mit dem SH feine Wiederbekeh⸗
rung ... u. ſ. w. (ine Iebbaftere Theilnahme flir das my⸗
ſtiſche Element in Pascal’s Natur würde dem Verfaffer keinen
ſchlechten Dienft geleiftet Haben; man laun e8 übrigens einem
Theologen von Fach nachſehen, daß er die wifjenfchaftliche Seite
diefer ** faſt günzlich unberückſichtigt gelaſſen hat. Im
ganzen ſpiegelt fich in des Verfaſſers durchfichtigem Stil deſſen
gefunder Sinn und klares Urtheil trefflich ab. Der am we⸗
nigſten befriedigende Theil ſeines Werks iſt der, welcher ſich
anf Pascal's Streit mit den Jeſuiten bezieht. Die Schluß—⸗
folgerungen Dreydorff's find wahrſcheinlich an und für fid
richtig genug; alleim diefe Kapitel laſſen ftarfe polemifche Vor⸗
eingenommenheiten durchblicken. Man merkt ihnen zu viel von
der gegenwärtigen Aufregung des proteftantifchen Deutichland
an. Müffen wir uns indeffen aud) jagen, daß Dr. Dreydorff's
Gegenftand eine feinere Aualyſe als die feinige verlangt, fo if
doch fein Werk von der erften bis zur letzten Seite vom höch⸗
fien Interefie. Der allgemeine Eindrud, den es zurücklüßt, ift,
daß Pascal am Ende doc eher zu den Steptifern, als zu ben
großen Heiligen gezählt werben müſſe.“
Wolfgang Menzel's, Die vorchriſtliche Unſterblichkeitslehre“
wird in folgenden Worten beurtheilt: „Dies iſt ein intereſſantes
und unterhaltendes Buch — intereſſant durch den Gegenſtand
und die vielſeitige, auf die Beleuchtung deſſelben verwendete
Gelehrſamkeit und unterhaltend durch die charakteriftifchen Eigen⸗
tblümlichfeiten des Verfaſſers. Menzel, der Bhilofoph, it ganz
derfelbe wie Menzel, der Politifer — dafjelbe feltfame Gemiſch
bon eniberfinmigfeit, Kampfesluſt und geſundem Menſchenverſtand.
Dieſe letztere Eigenſchaft ſeines Geiſtes zeigt ſich deutlich in
ſeinen allgemeinen Schlüſſen in Bezug auf die heidniſchen Ideen
über Unfſerblichkeit. Seine eigenen Entdeckungen auf dieſem
Gebiete find indeffen kaum weder fo neu noch h widtig, ale
er zu wähnen fcheint. Uebrigens ift fein Werk zu voll von
wunberlihen Einfällen und unerheblichen Stoffe, um viel
wiſſenſchaftlichen Werth zu befiten. Menzel muß immer je-
mand baben, den er Haft, unb da es in ben Zeitaltern,
welche er behandelt, unglücklicherweiſe Feine Franzoſen gab, fo
fällt er über die Aegypter und Babylonier ber, die er für die
großen Verhunzer der alten @ottesgelahrtheit hält. Anderer-
feits, meint er, wären die alten Deutichen «ebenfo originell in
der Welt des Gedanlens, wie in der Welt der Haublung, und
den bedeutendfien Böllern des Alterthums völig ebenbürtig».
Auf diefe Entdedung hin beanfprudit der Berfafler Anertennung
feines hervorragenden Patriotismus, die mar ihm andh wirklich
nicht wohl vorenthalten kann. Sein Stil ift wie gewöhnlich
gefeilt und faßlich.“
Ueber Lemke's „Bopuläre Aeſthetik“ heißt es, es fei ein
Bud, „wie e8 nur in Deutichland möglich ifl. Mit der
philofophiichen Theorie des Schönen beginnend, verfolgt es die⸗
felbe durch alle ihre denfbaren Aumwendungen auf Farbe, Mufik,
Form, Literatur, ja fefdft auf den Rationalcharakter und die
Angelegenheiten bes Lebens. Bon einer ftrengen wiſſenſchaft⸗
Iichen Behandlung eines folden Sammelfuriums von &egen-
fänden kann natürlih nidt die Rebe fein; indeffen erhält
man mandherlei Belehrung in einem Haren und gefälligen Stil.‘
„Rudolf Gottſchall's «Poetiln‘'‘, heißt es dann, „die fich
auf einen einzigen Zweig ber äftbetifchen Wiffenfchaft bejchräntt,
ift ein gelinbfiheree und wiflenfchaftlicheres Wert. Der Berfafler,
der ſelbſt ein Dichter von Auszeichnung if, analyfirt die Poeſie
ihrem Wefen nad und ftellt fie im Gegenſatz zu andern Kunſt⸗
weigen dar, fleigt darauf zu den praftiichen Gegenftänden der
orm und Berfificirung hinab und befchreibt dann die verſchie⸗
denen Arten poetifcher Compoſttion. Diefer Theil ift durd
sahlreihe, hanptſächlich aus den deutſchen Dichtern gewählte
Beifpiele beleuchtet. Des Verſaſſers Kritik ift Überall fcharf-
finnig und genial.‘
Ueber „Alfred de Muſſet. Eine Studie”, von 8. E.
don Ujfalvy, jagt dafielbe Blatt: ‚Alfred de Muſſer's Ruhm
fteigt immer böber; er hat bereits Lamartine überfirahit
und bedroht nun die Herrſchaft Victor Hugo's. Diejes Ergeb
niß wird, fo weit deutfche Lejer betheiligt find, durch die Arbeit
des Brofeffor Uifaloy noch befördert werben. Er bat feinem
Lieblingsautor eine höchſt gründliche und forgfältige Abhandlung
genidmet und fle durch zahlreiche Auszüge, welche zum größern
heile die beftmögliche Rechtfertigung feiner Arbeit bilden, be
leuchtet. Wir können zwar feinem Urtheil wicht immer bei⸗
pflihten; aber wenn er irrt, jo ift es augenfcheinlih nicht aus
blinder Parteilichkeit. für feinen Autor, ſondern weil er ſelbſt
bis zu einem gewiffen Grade dem esprit frangais angenom⸗
men bat.“
Ueber Kleinpautl’s „Poetik“ u. |. w. fagt die „Saturday
Review’ ferner: „Der Berfaffer bat eine fo reizende Aus
wahl Boltsballaden aus dem «Wunderhorn» und ähnlichen
Quellen getroffen, daß man ihm die monftröfe Thorheit, deren
er fi) dadurch ſchuldig gemacht, daß er feine eigenen trivialen
und einfältigen Parapbrafen, bie er fiir Berbefferungen hält,
gegenfiber ihren wilden und lunfllofen Schönheiten gedrudt hat,
verzeihen muß.‘
Ueber „Requiem“ von Dranmor heißt es: „&s if
zwar mehr Rhetorik ale Poefie in den «Requiem- betitelten
metrifchen Betrachtungen; bie Athetoril aber if} hehr und ernfl,
der Bersbau flattlich, und das Ganze von tiefem Gefühl durch⸗
drungen. Der Berfaffer ift unzufrieden und höhniſch; feine
Philoſophie ift ein ftoifcher Peſſimismus. Er ſcheint bedeutende
Erfahrungen ſowol in der Literatur als auch im Leben gehabt
zu haben.’
„Dtto Roquette“, Iefen wir meiter, „ift als einer
der beften unter den neuern deutſchen Novelliften bekannt, und
fein Ruf kann buch die vier Tieblihen und Tünftlerifchen
«Novellen», die er kürzlich veröffentliht bat, nur gewiunen.
Es find Tiebesgefchichten, die man als erzählte Luftfpiele bezeich-
nen kann, obgleich das tragifche Element der unbeilbaren Täu⸗
{hung in den beiden erften nicht fehlt. Sie endigen indeffen
alle glücklich und mit voller Befriedigung der fittlichen und
künſtleriſchen Schicklichkeit. Die vierte ift vielleicht die frap⸗
panteſte; weniger wegen irgendetwas befonders Bemerlkens⸗
wertbem in der Handlung, als wegen der malerifchen Inſce⸗
nirung. Wir haben hier eine intereffante Waiſe, eiuen ab⸗
fonderlihen Bormund, ein düſteres, altes, mit altertblimfichen
Seltenheiten angefülltes Haus und einen unternehmenden jungen
Liebhaber, der die Anordnung bes Ganzen übernimmt.”
Dagegen Sagt das Blatt von Eliſe Polko's „Schönen
Frauen’, das Buch) gehöre jener ungenligenden Gattung an, welche
die Grenze zwijchen der Biographie und der Dichtung bildet.
„Der Inhalt gehört jener, die Form diefer an. Das Bud)
mag fih wol für das Bondoir eignen, ift aber ohne
fiterarifhe Bedeutung.‘
Ueber die, Mechulle⸗Leut“ beißt es: „Dr. Ap&-Lallemant's
Roman bat eine Tendenz, welche die Uneingeweihten kaum ver»
muthen würden. Der Berfaffer wünſcht nämlich das deutfche
Bolizeifgftem zu verbeffern, und diefes Ziel fucht er dadurch zu
erreihen, daß er deſſen Ohnmacht im Zufammentreffen mit
allerlei Uebelthätern darſtellt. Die Erzählung erlangt dadurch
einen ſehr melodramatifchen Anſtrich; die Ereignifie find indeffen
wenigftiens ebenfo belebt wie verrufener Art, und wir begegnen
zumeilen einer Feinheit der pfychologiſchen Beobachtung, die man
bon einem ſolchen Manne wie der Berfafler kaum erwarten
würde.“
Schiller-Geſpräüche.
In Beziehung auf das in Nr. 8 d. Bl. enthaltene, die
Ueberfrift: „Duplikate von Schiller Gefprähen‘ tragende
Feuilleton.
Inferat bittet uns Bernhard Anemliller*) um Aufnahme
folgender Antwort an Hru. Dr. Borberger in Erfurt:
Iene in die Biographie der Fürſtin Karoline Luiſe von
Schwarzburg⸗Rudolſtadt von mir aufgenommenen Reminifcen-
jen „Ressouvenir de conversation avec Schiller‘ finden fid
allerdings in den eigenhändigen Aufzeichnungen der Fürſtin,
und jedenfalls bat fie diefelben von Fräulein Chr. von Wurmb,
fpäter verheiratheten Frau Profeffor Abelen, erhalten, welche,
wie uns fehr wohl befaunt, ihrer Stellung als Hofdame zu⸗
folge mit der Fürſtin in ftetem Berlehre fiehen mußte. Die
Fürſtin hat die genannten Dicta ohne Jahreszahl uad Datum,
Gh mit der Abficht, jpäter diefelben mit Angabe der Quelle
noch zu ergänzen, aufgeſchrieben und in ihre reichen Samm⸗
lungen aufgenommen. Sie hat dieſe allerdings nicht als Er⸗
ianerungen aus ihren eigenen Unterhaltungen mit Schiller be⸗
zeichnet, was ich in der Biographie ausdrücklich hätte erwäh⸗
nen ſollen. Natürlich wären ſie aus derſelben ganz weggeblie⸗
ben, wenn mir vor dem Drucke zeitig genug ihr Borhanden⸗
ſein in dem „Leben Schiller's“ von K. von Wolzogen zur
Erinnerung gekommen wäre.
Die Frage über den Tag, an melden das auf S. 117
erwähnte Geſpräch flattgefunden habe, erledigt fi dur einen
Rehengebliebenen Drudjehler. In dem eigenhändig geichriebe»
nen Zagebudye der Fürftin, mie in meinem Manufcripte ftebt
in folgender Ordnung: „Januar 1800. Schiller ſagte mir
einſt“ u. f. w. (micht „„geute'‘). Der Zag ift nicht angegeben.
Inden ich Hrn. Dr. Borberger für feine Mittheilung mei-
nen beften Dank ausfprede, Hoffe ich, er werde aus bem Obi⸗
gen bie Ueberzengnng gewinuen, daß von einem, auch nod fo
entfernt liegenden Berdachte, als habe man „fremde Federn’
zum Schmude berbeiholen wollen, nicht, die in
Die geniale, geifi- und gemlithvolle, wie fromme Fürſtin be»
durfte keines folchen Schmucks und würde ſchon bei Lebzeiten
ihn als „Lüge“ zurlickgewieſen und verachtet haben. Gewiß aber
wird Hr. Dr. Borberger mir es nicht verargen, weun ich aufs
richtig bedauere, daß er den viel weitläufigen Umweg durd)
d. Bf. Lieber eingeichlagen hat, als daß er die Güte gehabt
hätte, durch eine freundliche Mitteilung auf brieſlich kürzerm
Wege von Erfurt nach Rudolſtadt mich in den Stand zu ſetzen,
für diejenigen, welche die von mir geſchriebene Biographie leſen
ſollten, ſofort eine Berichtigung in d. Bl. bekannt zu machen,
was, da ſeine betreffende Anfrage erſt jetzt mir von Belannten
zugefandt wird, leider nicht eher gejchehen Tonnte.
Rudolftadt, 17. März 1870. Bernhard Anemüller.
Aelteſte dentſche Literaturdenkmäler.
Wenn ſich unſern Dichtungen aus der Glanzperiode des
Mittelalters eine weitverbreitete Theilnahme zuwandte, ſo wer⸗
den, was nicht minder erfreulich iſt, doc auch die älteſten dent⸗
ſchen Literaturdentmäler darüber nicht ver ergeifen. Das zeigt
ung äußerlich der Erfolg, weldje die von Moritz Heyne ge
gründete Sammlung gefunden. Bon Stamm’s „Ulfilas‘‘, mit
dem diefe Bibliothek anhebt, erfchien bereits im vorigen Jahre
die vierte Auflage, beforgt von Heyne (Paderborn, Schöningh).
Diele letzte Ausgabe tft deshalb beſonders werthuoll, weil der
Tert nunmehr durchgängig auf den Leſungen Uppftröm’s
berußt, der viel zu früh für die Wiffenfchaft im Jahre 1868
aus dem Leben fchied. Die dem Xerte folgende Grammatit
iR von Heyne nur wenig verändert worden, dagegen Hat er
das Wörterbuch erweitert, wie es nach Uppftröm’s Forſchungen
geboten war. In der vorhergehenden Auflage war in der Ein-
leitung mehr über da8 Leben des Ulfilas gejagt, während jetzt
nur eine ganz kurz gefaßte Notiz gegeben ift, wie fie jeder
literariſche Grundriß enthält. Wir können dieſe Sparſamkeit
nicht billigen in einer Ausgabe, die nach allen Seiten Hin be»
Ichren will. Auch die Ausgabe des „Beomulf’ von Heyne, welche
deu dritten Band dieſer „Bibliothet der älteſten deutſchen Lite⸗
raturdenkmäler“ bildet, iſt in einer neuen Auflage erſchienen
(1868). Der Tert iſt ebenfalls einer ſorgfältigen Revifion un⸗
*) Nicht Annmüller, wie in Nr. 8 gedruckt iſt.
ede fein könne.
223
terworfen worden. Die beträchtlich erweiterten Anmerlungen
bringen außer dem Variantenapparate eine Anzahl werthooller
fritiiher Bemerkungen, welche fih aud auf die Metrik cr-
fireden. Das Gloſſar bat manche Berückſichtigung erfahren.
Dei dem gefteigerten wiſſenſchaftlichen Intereffe, weldes neuer-
dings der „Heliand“ gefunden, ift wohl anzunehmen, daß aud)
Heyne's treffliche Heltand - » Ausgabe, der zweite Band jener
Bibfiothet, in nicht zu ferner Zeit in neuer Auflage vorliegen
werde
Kibliographie.
Balde. — Renai Ausgewählt
Neberiragen von 9. FAT und ee an en eb
hagavad-Gitä ober: das Lieb ber Gottheit, Aus dem Indi en über⸗
ſetzt von R. Borberger. Jerlin, empel. Br. 8. 12 ee
Biedermann, BD. Freih. v er Roman als Fr a Eine
fie ale als Beitrag zur Achpenit. Dresden, Schulbuchhandlung. 8. 10 Yigr.
lederımann, G., Metaph ysik in Ihrer zu deutuug für die Begrifis-
wissenschaft. Erag, —ã Gr. 8. 12 N
— — Die Wissenschaft Geistes, Ste Aun. Prag, Tempsky. Gr. 5,
0 Bien n, T. ©,, Eine gelungene Eur. Leipjig, Grunow. 8. 1 Zhlr.
— — Das Erbe Tosta's. Erzählung. 2 Bde. Leipzig, Grunow. 8.
a nn E., Sübb 19 Dri li
eutſche i 1
Set, "Weutlinge 2, Rapp. F 3 wi Bi Bolge, Iſtes
dmann⸗Chatrian, adame exeſe. Ueberſetzung von b
* fe unb durchgefeben. Straßburg, — 1869. ® Gr “er
‚ Fran Sopanna. Graählung. Mit einem Borwort von F.
G * Idebrand,
ie —— —* Criminal⸗ Enabluns.
me.
hr bes Gehrermalfen aufes. Gr. 16.
tetbune,
—* ge — der Fra R er en
— ermann. Gr. 8. 10
ne, Ka Gloffen über laufenbe Politit. Wien, Hersfeld
u. Bauc, An ER
®oeb Die rbeinlänbifhen Erpbeben von 1869, Ihre Ber»
anlafjung, ku” and Ausdehnung. Nebit einer Ab anbiung über:
Erbbeben im Allgemeinen unter Derü itigung der verf evenen b arüber
beftebenben Theorien, ifte Lief. Wiesbaden. Gr. 8. 8 Ngr.
agemann, © Iemente ber Bhilofophie. Ae um earbeitete unb
fehr nermehrte Aufl. ifter und Ster Bb. Münfter „Ruſſell. Gr. 8. a 18 Ngr.
Heltor, €. Fr Zannengeifter. Ein ——— Hannover,
Ruͤmpler. 16. 15
ollanb er be N SeiR und Kör ver. Dresden, Bay. Gr. 8. 5 Ngr.
ahrbuch für die Literatur der Sch weizergeschichte, ter Jahrgang.
1868. Bedigirt durch 2 on Jer v. Knonau, Zürich, Orell, Füssli u.
Comp Be *
be des Ri enannten Eigenen Kreiſes in der
tönial F berlan F Rep Ir Tunden= Buch. efrönte Preisſchriſt.
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und jocile © Reform Dat rünn, Karaftat. Gr. 8
Ken a ger, © ali de Briefe aus der neueflen Zeit. Dünfter,
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Kühn ne, ®., einen anf ber Wanderſchaft. Eine Legende, Leipzig,
Barttuoh, Gr. | ir.
Ku Ch Dat ber rag uf dem Grunde ber gegen«
würtigen — Populär. bargeftelt. Zerbft, Luppe. Gr.8, 14 Rgr.
Lange Xiteraturgefchicht vie —E — und Eharakteriftiten.
rnet Kepert orlum Ba Geſchichte der beutichen Literatur. Ber»
xiner.
ade heit Kormenlehre ber deutſchen Diettunf. Ein
Reitfaben. Pr Oberklaffen böperer Bildungsanftalten. Ste, verbefierte Aufl.
xtner, ©®r. 8. Rer.
Der eg zur Tugend. Aus dem Chinesischen
Berlin, Gä
Lao-ıse täo -tö- king.
Leipzig, Brockliaus. 8.
übersetzt und erklärt von R. v. Plaenckner.
2T
Neligiöfe Dichtungen. Iſtes Heft. Augsburg,
Benfe, A., Knoſpen.
Lrangfelber... 8. 6
Li R. —8 ste Aufl. Weimar, Kühn. 16. 5 Ner.
Banelnriemus im Gegensatz zum Allslaventhum und die politische
Bedeutung der polnischen Bevölkerung ausserhalb der russischen Zwing-
herrschaft. Strasburg | i. Pr., Köhler, 4 Ngr.
Pierson, W., Aus Russlands Vergangenheit, Knlturgeschichtliche
Skizzen. Leipzig, Duncker u. Humblot. Br, 8. 1 Thir
Vivenot, A, Ritter v., Korssakoff und die Betheiligung der Russen
an der Schlacht bei Zürich, 25. und 26, September 1799. Wien, Brau-
ınüller. Lex.-8. gr.
Wagner, R., Atomgewichte der Elemente. Würzburg, Stahel.
Imp. -Fol. 8 Ngr
Wattenb 26, W., Die Sievenbürger Sadfen. Ein Vortrag. Hei⸗
belberg, Baffermann. 0 Mar.
We Seren, B.G,, Baltische Briefe. Hamburg, Hoffmann u, Campe.
8. 20 N
Zu ter 2 Einige ze ——— „potnifgen Meiftern nach⸗
gefungen, Beben Kittler.
224 Anzeigen.
Derfag von 5. A. A Brodans in Leipzig.
Weihgefhenke zur zur Gonfirmafion.
Illnkrirte Bibel
Mit Holzſchnitten
nah Originalzeichnnngen te aan „Overbeck, Rethel,
er u. a
In Groß⸗Quart. Geh. 7% Thlr. Geb. in Halbfranz
9%, Thlr., in Leder mit Goldſchnitt 10 Thlr., in Chagrin-
leder 11 Thlr.
Sn Folio. Geh. 15 Thlr. 18 Nor. get in Leber mit
Goldſchnitt 20 Thlr. 18 Nor.
Das Nene Teſtament apart. Groß-Duart, Geh. 1 Thlr.
24 Ngr. Geb. in Leder mit Goldſchnitt 4 Thlr. 14 Nor.
Hansbibel.
Klein⸗Quart. Geh. 3 Thle. 10 Nur. Ge. in Halbfranz
4 Thlr., in Leder 5 Thlr., in Leder mit Goldſchnitt 5, Thlr.,
in Thagrinleder 6 Thlr. — Ein mit 2 filbernen Schließen
2 r.
Das Nene Teſtament und der Pfalter.
Mit Photographien.
Dctav. Cart 4 Thlr. 24 Nor. Geb. in Leder mit Gold»
ſchnitt 6 Thlr. und mit 2 filbernen Schließen 7 Thlr. 4 Ngr.
Das Nene Teitament apart. Cart. 41, Thlr. Geb. in
Leder mit Goldſchnitt 5Y, an und mit 2 ſilbernen Schließen
Der Pſalter apart. Cart. 14 —* Geb. in Leinwand 22 Nor.
Die Länder und Stätten der Heiligen Schrift.
Bon Friedrich Adolph Strauß und Otto Stranß.
it hundert Rildern.
Groß⸗Onart. Geh. 9 Thlr. Geb. in Leinwand mit Gold»
ſchnitt 11%, Thlr., in Leber mit Goldſchnitt 12), Thlr.
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Berlag der Bibelanflalt der I. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung),
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duch alle Buchhandlungen zu beziehen.
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weithin angelnüpften Berbindungen ein’ fehr großes Feld eröff-
net if, dürfte diefes Unternehmen allen Herren Autoren von
weſentlichem Intereſſe fein. — Ausführliche Profpecte fliehen
gratis franco zn Dienften.
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zenkunde sowie für Bibliotheken höchst wichtigen Werke
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und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen. Jedes Heft
des zweiten Bandes kostet 2 Thir. 20 Ngr.
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fhweig ift foeben erſchienen und in allen Buchhandlungen
zu Haben: Der Schüdderump.
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Drei Bände. 8. Fein Belinpapier. Geh. Preis 5 Thlr.
Raabe's Vorzüge treten namentlich in der Art hervor,
wie ex die Gegenjäge jchildert, die fich zwiſchen dem vereinzelten
Erfcheinungen wahrhaft edler Naturen und der Gewöhnlichkeit
des Lebens zu erkennen geben. Die Geftalten Antoniens und
bes Nitters don Glaubigern, denen als wirkſame Folie Jane
Warwolf und das Fräulein von St. Tronin zugefellt find, zei-
gen fi) von dem idealen Lichte reiner Menſchlichkeit umfloffen;
daneben tft ein Reichthum am charakterifiiihen Geftalten in dem
Romane enthalten, in denen die mannichfaltigſten Seiten des
Menfchenlebens zur Erſcheinung kommen.
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Der Neue Bitaval,
Eine Sammlung der intereſſanteſten Criminalgeſchichten
aller Länder Bu er un neuerer Zeit.
I. €. Hitzig und Fi) Geringe (Bilibald Alerib).
Fortgeführt von Dr. A. Dollert.
Neue Serie. Fünfter Band. Exftes Heft. 8. Geh. 15 Ngr.
—— Die — ngen in hr „Geneiß, (Belgien. 1868.) — Marie
fer ber engen Su 781-1786.) — —— hr
imdergs Bergangenbeit. 6. ae berühmter Scharfrichter von Nürnberg.
An den Proceß gegen die Giftmiſcherin Marie Jeanneret
in Genf knüpfen ſich juriſtiſche, medicinifche und pſychologiſche
Probleme von beſonderer Wichtigleit. Ebenſo nehmen die Ver⸗
bandlungen in dem belgiſchen randſtiftungsproceß wegen der
kirchlich politiſchen Umtriebe, die dabei zu Tage getreten, unge⸗
wöhnliches Interefje in Anſpruch.
Der „Neue Pitaval“ ift im vierteljährlichen Heften zu
15 Nor. oder in jährlihen Bänden zu 2 Thlr. durch alle
Buchhandlungen zu beziehen.
Verantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Brochhaus. — Druck und Verlag von 8. A. Brockhaus in Leipzig.
Blätter,
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
a Ar. 15. 2
7. April 1870,
Inhalt: Eine Geſchichte des italienischen Dramas. Bon Rudolf Bottiäel. — Erzählungen und Novellen. — Zur Ueber
fegungsliteratur. Bon David Arber. — Philoſophiſche Schriften. — Feuilleton. (Die „Revue des deux mondes‘ über Arthur
Schopenhauer; Rudolf Weſtphal über den deutſchen und itafienifchen Reim.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Eine Geſchichte des
Geſchichte de8 Dramas von J. L. Klein. Vierter bis fiebenter
Band: Geſchichte des itafienifhen Dramas. Vier Bände.
Leipzig, T. DO. Weigel. 186669. Gr. 8. 20 Thlr. 24 Nr.
Das überaus fleigige Werk von 3.2. Mein Hat ung
wieber einen großen zufammenhängenden Abſchnitt aus
der „Geſchichte des Dramas’ vorgeführt und zwar in der
eingehendften Darftellung. Der Äbſchluß der „Geſchichte
des italienijhen Dramas” gibt uns eine willfommene Ber-
anlafjung, auf dag Werk zurüczulommen. Zunächſt ſchicken
wir einige allgemeine Bemerkungen voraus,
Die äußere Maflofigkeit des Unternehmens tritt immer
augenfälliger hervor. Die „Geſchichte des italienifchen
Dramas“ hat einen Umfang von vier Bänden, von denen
der erfte 925 Seiten enthält. Durch dieſe Ausdehnung
Hört das Werk auf ein lesbares Nationalwerk zu fein
und verwandelt ſich immer mehr in eine gelehrte Fund ⸗
grube, deren Werth wir durchaus nicht verfennen wollen.
Wird benn ber üble Ruf deuiſcher Gelehrfamteit, daß fie
nicht Maß und Geſchmack kennt und in ihren Darftel-
lungen nicht die durch das Lefebedürfniß gebotene Schrante
rejpectirt, troß aller Fortſchritte der Neuzeit aufrecht er»
Halten bleiben? Und wenn ein geiftvoller dramatischer
Dichter, der nicht entfernt zu dem trodenen, nur todte®
Draterial anhäufenden Gelehrten gehört, ein derartiges
Titeraturgefchichtliches Werk verfaßt, darf man ſich da über
die unüberwindlidien Folianten wundern, welche die Fach-
gelehrſamleit zu Tage fördert?
Was den Fleiß des Sammlers betrifft, fo ift Klein’s
Wert in vieler Hinfiht als grundlegend zu betrachten.
Gegenüber den Piteraturgefhichten, welche die Urtheile
ihrer Vorgänger abſchreiben, fehen wir hier überall die
Refultate jelbftändiger Forſchung. Klein begnügt ſich
nicht mit den Mitteilungen und Urtheifen ber italienifchen
Specialwerfe über fein Thema; er fucht fich die einzelnen
Dramen ſelbſt zu verfchaffen, um den Leſern ein Bild
von ihnen zu geben und feine abweichende Meinung
1870, 15.
italieniſchen Dramas.
gegenüber den kritiſchen Autoritäten Italiens zu recht⸗
fertigen.
So ſehr wir indeß auch biefen Fleiß rühmen, fo ift
bie Berwertgung deſſelben doch eine zu ausgiebige, der
jebe Beſchrünkung, jede Prägnanz fehlt. Wir achten noch
höher den Fleiß eines Johannes von Müller, welcher
taufend Werke ercerpirt, um eine breibändige Univerjal-
geſchichte abzufaflen; während SM ein vielfach feine Excerp-
lenhefte felber, nur ausgefhmüdt mit wigfunfelnden, oft
baroden Arabeöfen, in das Werk aufnimmt. Das Unglüd
ber deutfchen wiſſenſchaftlichen Literatur ift — das gelehrte
Atelier. Wir wollen ja nicht die Arbeit ſelbſt fehen, fon-
dern bie Refultate in geläuterter Form; wir wollen nicht
zufammen fhwigen mit den Marmorarbeitern, nicht jeden
ihrer Meißelfchläge hören, nicht alle die abfallenden Split»
ter ung zeigen laffen, wir wollen das fertige Werk fehen.
Wodurch ſchwillt aber die Arbeit Mlein’s zu einem fo
unfandlihen Umfang an? Zunähft durch die Excurfe.
Wir wollen Teineswegs ein Literaturwerk zu äfthetifcher
Bedentungslofigfeit verbammen; wir billigen alle äftheti-
ſchen Erceurfe, welche das einzelne Drama durch Paralle-
len mit andern erläutern und aus feiner Kritil die äfthetifche
Duinteffenz ziehen. Die Literaturgefdichte hat die Pflicht,
der Aeſthetik in die Hände zu arbeiten. Klein's Eritifcher
Standpunkt, ber ftets auf den innern Gehalt geht, hat
unfere vollftändige Zuftimmung, und die dramaturgiſchen
Winke und Ausführungen, die an die Kritik ber eingelnen
Stüde gefnüpft werden, find faft immer treffend und
werfen auf bie äſthetiſchen Fragen ein erhellendes Licht.
Neben diefen äſthetiſchen Excurfen findet ſich aber eine
große Zahl anderer, die mehr zu den humoriſtiſchen Ertra»
blättern gehören und als geiftige Eranthemen und Ueber-
wucherungen betrachtet werden miüjen. Sie flören nicht
nur die willenfchaftliche Haltung des Werts, fie wilrden
auch in jedem andern Werk als ungehörige Plaudereien
und witzhaſchende Geſchmadloſigkeiten erſcheinen. Ein
29
.
226
Literarhiftoriler darf ebenjo wenig wie ein Dichter allen
feinen Sdeenafjociationen Folge leiften — das führt zulett
zu Brillantfenerwerken des Esprit, die ins Blaue hinein
verpuffen. Wir wollen nur aus dem erjten Bande des
Werks eine Probe derartiger Ercurfe geben.
Bei der Gelegenheit, wo Klein von den Maſſalioti⸗
ſchen Rhapſoden fpricht, führt ihn feine Poeſie im Flug
aus dem alten Gallien in das neue, und wir erhalten
einen langen Excurs über das second empire, der ganz
im Bictor Hugo'ſchen Stil gefchrieben if. Kaum werden
die Tenzonen der Troubadours erwähnt, jo wird und der
folgende Ercurs über Richard Wagner und die Zufunftö-
muſik zutbeil:
„Der Sängerkrieg auf der Wartburg” von Rihard Wagner
it eine folche deutſche Tenzone, ein folches declamatorifches
Sängerturnier (Torneyamen), worin gleichfalle die verjchieden-
fin Anfichten über ein Thema erörtert und pro und contra
verfochten werden, über das Thema nämlich: ob diefer Sänger-
frieg zu den infirumentirten Controverjen der rhetoriſchen Com⸗
pofitionsfchufen, oder zu den wirklichen Wettgefängen unbeftreit-
barer Muſik zu rechnen. Für muſikaliſche Ohren der Gegen»
wart ift diefer Wettlampf längft zu Gunſten der erftern Anficht
entſchieden. Die Klingsohre der Zukunft, deren Oben mit ber
Entwidelung der Zukunftsmuſik Schritt halten, hören zwar
gleihfalls nur inftrumentirte Controverfen oder Streitreden aus
den Tenzonen ihres Tronbadours heran, begrüßen aber dies
eben als das Phänomenale, Zulunftsvolle, alle bisherige Opern«
mufit Todtſchlagende, die von Mozart, Gluck, Beethoven, Wer
ber und ähbnlihen Bänlelſängern in erſter Reihe; weil deren
Mufit fo tief in Trivialität ftedt, um von Melodien überzu—
fließen, um die Bollsfeele in melodifhen Harmonien auszu-
ſprechen, weil ihr von Melodien Überfliegender Mund, plebeji-
jcherweife, davon übergeht, weß das Bollsher; voll if. Nur
diejenige Opernmuſik fei für voll zu nehmen, die nid)ts wie
opera ift ohne Muſik, nichts wie raffinirte Combination bizarrer
Klangwirkungen, bie ein Werk des mit dem Sigfleifch arbeiten
den Generalbafjes ift, ein Werk des mit diefem ausſchließlich
fharwerfenden Genie, wie der prunfende Pfauenſchweiffächer
auch ein ſolches Werk if. Die innerlich declamatoriſch, äußer-
lich decorativify prunfende Opernmufif, mit allen möglichen
Znftrumentations-Reizungen wirtend — für blafirte Ohren das,
was das bewußte Ruthenbündel für den Rüden entnervter Sün⸗
der —, eine folde Opernmuſik mit einem von fhöngeiftigem
Lyrismus pridelnden Tert ans den Hofritterromanen der Sagen.
Hofkreife: das ift die vornehme, die einzig hoffähige, die Fürſten⸗
Salonoper par excellence, die Oper der Hofbhörigfeit, und
deshalb auch die Reclamenoper des Birtuofen- Hoflafaienthums.
Kurz, die auf Noten gefegte Kontroverje, dieſe allein ift bie
wahre mit ber Mufll der Bergangenbeit brechende Muſik, deren
Zukunftsmiffion dahin geht: den Sängerkrieg in einen Krieg
gegen die Sänger, die Opernmuſik Überhaupt in einen Ber-
nichtungsfrieg gegen die Mufll umzuſetzen.
Bei der Schilderung der Grazie in den Luſtſpielen
des Ariofto fpricht Klein von den zweierlei Grazien, den
hehren, die mit den ewigen Göttern Eines Urfprungs
und Geblütes find, und den pandemifch gemeinen Grazien.
Nah längerer Schilderung der Iektern geht der Ercurs
auf Goethe und Heine über:
Sogar ein Kunftmeifter von echter Grazienmeihe, ein
Dichterfürft wie unfer großer Goethe, war zuweilen fo über-
wiegend mehr Fürft als Dichter, daß er, von ber Maske be:
rüdt, den Grazien der Pandemos nachbuhlte, umd ihnen in
feinen der bimmlifchen Benus geweihten Romanen gar ſchmucke
Kapellen im grieailaen Stil baute: Hier nod von Myrten-
wäldchen und Rofenbüfchen halb verftedt; wogegen er in feinen
römiſchen Elegien und in einigen feiner Schaufpiele, wie „Die
Mitſchuldigen“, „Der Großkophta“ z. B., dieſen Pandemchen die
Eine Geſchichte des italieniſchen Dramas.
zierlichſten Tempelchen, nach Art jener chineſiſchen vom Staate
ſanctionirten, der feinern Luſt und Freude gewidmeten Blumen⸗
häuschen, unverhüllt und offen ſtiftete und weihte. Kein Wun⸗
der, wenn, durch ſein Beiſpiel ermuthigt, Dichter geringern
Schlags, als geborene Luſtknechte der gemeinen, mit allem Buhl⸗
zauber poetiſcher Toilettenkunſt aufgeputzten Venus Vulgivaga
und ihrer liederlichen Grazien, den Cultus derſelben auf den
beſudelten Tempeltrümmern der himmliſchen Grazien zu errich⸗
ten für ihren Prieſterberuf und höchſten Dichterruhm erklärten
und, frech und ſchamlos die Orgien der liederlichen Grazien⸗
poeſie auf dem Trümmerhaufen feiernd, als deren Dichter von
Gottes Gnaden ſich ſelbſt vor dem verblüfften Straßeupublikum
proclamirten. „Von Gottes Gnaden“ — welchen Gottes? Auf
den Gott kommt alles an. Gott Hannuman? von deſſen Gna⸗
den? Daß läßt ſich hören; das könnte man, ja müßte man
gelten Taffen, in Betracht diefer Dichter von Gottes Gnaden,
diefer Affen der poetifden Unzucht mit ſeitlich aufgeftlilpter
Klingelmüge, woran die Schellen von falſchen oder bejchnittenen
Dukaten, und in ein Jäckchen verkleidet, befett mit gediegenem
Trödel- Brandfilber und fogar mit Barodperlen, worunter einige
echte von reinem poetifhen Waſſer. Hannuman ift groß, und
der „Dichter von Gottes Gnaden“ fein Prophet. Die Affen-
grazie mit Haaren auf den Zähnen ift auch eine Orajie, eime
gar pubige Grazie von boshaft-poffierlihfter Drolligleit. Sie
ı der poetiſche Kunftaffe, den die Grazien der Bulgivaga auf
den Märkten tanzen und feine Künſte produciren laffen, in
Gemeinſchaft mit dem Kunftbären Atta Troll. Bald pußen
fie ihn als Boltaire, ein audermal wieder als Ariftophanes her⸗
aus; aber durch die Vermummung ſticht dod) ſtets der jchllipferige,
boshaft-närrifche Affenblid hervor, wie durd) die den Huldin-
nen nachgeäfite Maske der gemeinen Grazien ihre Tiederlichen
Lorettenaugen lüfteln.
Aehnliche Excurſe finden fi über das „Säbel- und
Ifebelregiment” (S. 689), fogar eine feitenlange Abhand-
fung über „Aug’ und Ohr” (S. 732— 733), und die fol-
genden Bände find durchaus nicht ärmer an derartigen
oft ganz abjonderlichen Ertrablättern.
Außer durch diefe Exrcurfe wird der Umfang des
Werks angefchwellt durch die ausnehmend genaue Inhalts-
angabe der einzelnen Stüde. Wir verlangen allerdings
von ber Literaturgefchichte, daß fie und nicht todte Na⸗
men und Notizen biete, fondern ein Bild der Dichter
und ihrer einzelnen Werke gebe. Principiell find wir
daher mit der Klein’schen Behandlungsweife einverftanden.
Dod die Ausführung geht in ein Detail, welches die
Grenzen der Literaturgefhichte und der Anthologie oft
verwiſcht. Nicht nur wird uns oft von ganz unbedeu⸗
tenden Komödien der Inhalt, und zwar durch die abrupte,
jpringende, geiftreich gefuchte Manier des Verfaſſers Fei=
neswegs immer in einer die Angelpunfte der Handlung
Har erfafienden Weife, dargelegt; auch die Darftellung ein-
zelner namhafter Dramen, die von befonderm Intereſſe
find, überjchreitet doch bisweilen die Grenze, wo der Be—
tihterftatter aufhört uns das Bild des Stüds zu geben;
er gibt uns dafür Theile deflelben, wie fie in eine antho—
logifhe Sammlung gehören.
Ebenfo wenig darf die Geſchichte, melche einen Kunft«
zweig durch verjchiebene Epochen der Entwidelung hin⸗
durchführt, fi in die Monographie verlieren. Dies ift
aber der Fall, wenn einem Dichter wie Alfieri, mag er
immerhin der bedeutendfte Bertreter des italienischen
Dramas fein, faft ein halber Band gewidmet iſt. Ueber
diefer Vertiefung ins einzelne geht leicht der allgemeine
Ueberblick verloren; die Charakteriſtik der Entwidelung
jelbft verwandelt ſich in ein Zwifchenfpiel, während der
Eine Geſchichte des italienifhen Dramas, 227
ganze Schwerpunkt der Darftellung auf der Analyſe der
einzelnen Stüde berußt.
Faſſen wir indeß die „Geſchichte des italienischen
Dramas‘ auf in ihrer Beziehung zu dem Gejammtwerf,
fo müffen wir uns auch gegen die jelbftändige zufammen-
hängende Darftellung des Dramas einer einzigen Nation
von feinen Anfängen bis zur neueften Zeit erflären. So
löſt fi die Univerfalgefchichte in eine Reihe von Specials
geſchichen auf, während jede Nation nur dann auf die
Bühne der Darftellung geführt werben follte, wo fie felbft
als epochemachend in die Literargefchichtliche Entwidelung
eingreift.
Die von Klein beliebte Methode macht Wiederholun-
gen unvermeidlich und gibt doch nicht den ſynchroniſti—
fchen Ueberblid. „Das Drama des Mittelalterd” ver-
diente eine zufammenhängende Darftellung; fein Entwide-
lungsgang, feine Grundzüge find faft bei allen Nationen
gleich; Klein muß unvermeidlich auf baffelbe wieber bei
der Darftelung des fpanifchen, des franzöfifchen und eng»
lijchen Dramas zurückkommen, und durch dieſe Vereinze⸗
lung erhalten wir unmöglich ein Geſammtbild, wie es
die Kunſt⸗ und Culturgeſchichte verlangt. Wir meinen,
die Geſchichte des mittelalterlichen Dramas hätte im Zu-
fammenhang vorausgehen und ihren Abfchluß finden müfjen
in der Darftellung bes fpanifchen Dramas, welches alle
Ideale des mittelaterlichen Glaubens und feiner Kunft
zum ſchwunghafteſten Ausbrud brachte und die Pajfione-
tragödie zu künſtleriſcher Vollendung führte. Dann hätte
eine Darftellung des altbritifchen Shakſpeare'ſchen Dramas
fih anfchließen, und diefer wiederum das franzöfifche claj-
ide Theater folgen müſſen, welches für die ganze dra-
matiſche Fiteratur des 17. und 18. Jahrhunderts bei Deut-
ſchen, Engländern, Italienern u. f. w. tonangebend wurde.
Das Theater des 18. Fahrhunderts mußte nothwendig in
feinem ganzen europäiſchen Zufammenhang dargelegt, die
Enfwidelung der einzelnen nationalen Bühnen, die zwi«
jhen dem Mittelalter und diefer Zeit lag, an diefer Stelle
nachgeholt werden. Das claffiiche Drama der Deutſchen
hätte dann wieder eine felbftändige Behandlung verdient.
Mag man nun diefer Gliederung des Stoffs beiftimmen
oder nicht — fie beruht jebenfall® auf einer univerfjal-
geichichtlichen Auffaflung, während die Behandlung Klein's
fein großes Wert in Lauter Specialgefchichten zerfplittert,
bei deren Ausdehnung es auch dem eifrigften Beftreben
des Berfaffers nicht möglich fein wird, gemeinfame, tiber
die Schranken der Nationen hinausreichende Beziehungen
feftzuhalten und über den allgemeinen Entwidelungsgang
des Dramas in Europa und feine entfcheidenden Wende:
punkte aufzuflären.
Das italienifche Drama hat Teinen derartigen Wende:
punkt beftimmt; ja and) von dem verfchiedenen Gattungen
der Boefie, welche die italienifche Muſe gepflegt bat, fteht
es wol in letter Reihe. Deshalb darf eine fo ausgiebige
Behandlung deffelben wol unverdient genannt werden, und
dee Berfafler vermwechjelt offenbar das Intereſſe der ge-
kehrten Forſchung mit demjenigen bes großen Publikums,
anf defien Theilnahme ein derartiges Werk doc in erfter
Linie angewiefen ift. Freilich, die Dramatiker jelbft find
oft intereffanter als ihre Dramen; ein Arioſto, Taſſo oder
auch Pietro Aretino, die auf andern literarifchen Gebie-
ten fi Ruhm oder Ruf erwarben, bieten fiir eine geift-
reihe biographifche Darftellung, für ein fcharfgefchnittenes
Porträt die willfommenfte Veranlaſſung. Das Drama
jelbft erfcheint, wie bei Taſſo, dann als das Nebenjäch-
liche. Wol aber darf die Biographie diefes Dichters als
eine der vortrefflichften Partien des ganzen Werfs ber
trachtet werden; fie ift jelbft mit dichterifchem Geifte durch⸗
geführt. Auch werden bisweilen ganze felbftändige Ab-
fhnitte der wenn auch fürzern Charakteriſtik anderer
Dihtgattungen gewidmet. So finden wir gegen Enbe
des zweiten Bandes eine Darftellung der italienijchen
Lyrik und des italienifhen Epos im 17. Jahrhundert;
Marino und feine üppige Liebesmalerei wird uns vor⸗
geführt, dann das fomifche Epos von Taffoni, von Carlo
de’ Dottori, von Bracciolint u. ſ. w.
Wir wollen nun die Elemente zufammenftellen, durch
deren Ausbeutung ein Stoff wie das italienifche Drama
zu einer für ben eifrigften Lejerfleiß bedroglichen Aus»
dehnung herangewachſen ift.
Klein's Darftelung beginnt mit den älteften Myſterien⸗
dramen, Mirafelfpielen und Modalitäten, geht dann über
zu einer Darftellung der provenzalfchen Troubadours,
ihrer Tiebeshöfe, Sirventes, Tenzoneni — eine Darftellung,
die ebenfalls jehr ausgedehnt ift, während bie Schaufpiele
der Jongleurs und die Moralitäten der Trouveres auf
drei Seiten abgehandelt werben. Die genaue Inhaltsgabe
des Miratelfpiels, da8 Wunder des Theophilus, und des
Spiel® des Heiligen Niklas, fowie der folgenden Stüde,
greift wiederum faft in das Anthologifche über und hat
nur den Werth eines Antiquitätenframs, eines „Magazine
für die Forſchung“, in welchem außer den großen Pro-
ben auch halbe Stiide mitgetheilt werden. Ueber Dante,
defjen „Divina commedia” auch, wenngleich fehr bejchei-
den, auf die dramaturgifche Bühne tritt, Dino Conpagnt,
Guido Savalcanti hinweg gelangen wir dann zu den
älteften italienischen Mirakeljpielen und Moralitäten, bis
zu „Lorenzo de’ Medici il magnifico‘, feinen „Canli car-
nascialeschi“ und geiftlichen Feſtſpielen. Eine Fülle biblio-
graphifcher Notizen weiht uns in die überreiche Production
heiliger und Profanfpiele damaliger Zeit, in die Tragödien
in Profa u. |. w. ein. Aus diefer Production der Maflen,
die im äfthetifcher Hinficht volllonmen werthlos ift, wer-
den wir herübergeführt zum einzelnen Dramatilern, die
wenigſtens eine beftimmte Phyfiognomie zur Schau tragen
und das Interefje feft ausgeprägter dichterifcher Perfönlich-
keiten bieten. Es waren die einzelnen Fürſtenhöfe Italiens,
um welche fi) die Dramatiker verfammelten; namentlich
der Hof von Ferrara, der von der Mitte des 15. bis
zum Ende des 16. Jahrhunderts an poctifchem Glanze
alle Städte Italiens überflügelte.
Als erfte der italienischen Originalkomödien iſt Bo⸗
jarbo’8 „Timone“ anzufehen, ein nad) Lucian's „Timon“
gebichtetes und mit allegorifchen Figuren ausgeftattetes
Stüd in Zerzinen. Als Vater des italienifchen Luſtſpiels
dagegen muß Lodovico Ariofto betrachtet werden, melden
Klein zugleich den Vater des claſſiſch⸗kunſtgemäßen Luſtſpiels
der neuern Zeiten nennt. Da bie Leiftungen des großen
Epifers, den Italien den Göttlichen, „il divino‘, nennt,
auf dem Gebiet des Luftfpiel8 weniger befannt find, fo
29 *
’
228
wird die Analyfe der Stüde des Ariofto allen Lefern des
Klein ſchen Werks willkommen fein, ebenfo wie die voraus«
gefchidte Biographie, die durch eine Menge bisher un-
befannter Daten und durch ihre geiftreich- pifante Faſſung
intereſſirt.
Das erſte Luſtſpiel: „La cassaria“, die „Caffetten«
fomödie”, hat feinen Namen von einer Chatonlle, dem
corpus delieti bes Luſtſpiels. Bedeutender noch ift die
‚weite Komödie: „I suppositi“, die Untergefchobenen, welche
Klein für den Gipfelpunkt der italienifchen Komödie erklärt.
„La lena“, die dritte Komödie, finft von dieſem Gipfelpunfte
wieber tief herab, wenngleich es auch ihr nicht an komiſchem
Genie fehlt. Der kernfaule Bunft in dem Stüd ift, daß die
Heldine in Schandweib, Kupplerin und Ehebrecherin zugleich,
ift und dem Stüd den Charakter ihres Gewerbes und ihrer
Unfittlichfeit anfprägt. Gleichwol wurde das Stüd nicht
nur vor Fürften und Hof, fondern aud) von Fürften und
Hof gefpielt. Arioſto's Luftfpiel: „Il negromante”, breht
fid) gar um eine nediſche Bigamie; es ift übrigens das
erfte europdiſche Luftfpiel, in welchem alle Fäden von
einer in den Mittelpunkt der Intrigue geftellten Haupt
figur ausgehen. Sein fünfte Stüd: „La scolastica‘,
ift als Fragment zurüdgeblieben und nad} feinem Tode
von feinem Bruder Gabriel vollendet worden. Die lomiſche
Handlung läuft darauf hinaus, daß zwei Freunde, Claudio
und Eurialo, junge Studenten in Ferrara, nad) verfchie-
denen Misverftändniffen und Täuſchungen, ihre Liebchen,
die fie als Rechts- und noch mehr Liebesbeflifene in
Pavia hatten kennen Iernen, heirathen. Arioſto's Luft«
fpiele find in baftylifch-anstönenden Sdruccioliverſen ge«
fhrieben, die an die Senare des römiſchen Luftfpiels er⸗
innern, welche fi file unfern Gefchmad oft endlos ins
Breite dehnen. Das Lob des Luftfpieldichters Ariofto
gipfelt wol in Klein's folgendem Urtheil:
Dan wird das Luffpielgenie des großen ferrariichen Didj-
ters bewundern müffen, der bie drei Stile der Vertreter der
altclaffiihen Komödie: des Ariflophanes, Plautus und Teren»
tius, zu verbinden ſtrebte; ber bie „lambifche Idee’, die ſatiriſche
Geifelkraft der Ariftophauiſchen gegen die Stadt- und Staats
ſchaden gerichteten Spottdöre mit der bürgerlichen Sittenfomif,
mit der Anmuth und Gitnationsftärkte, mit der naturfriſchen
Charakterfcjilderung, mit ber Vermandlungsfähigkeit und Afft-
milirung muftergliltiger Formen in nationalgeimifches Fleiſch
und Blut, mit allen dieſen Eigenſchaften des Plautus zu ver»
ſchmelzen, als feine Aufgabe erfannte; und der in diefe wunder»
jame, die terentianifhe „Contaminstio* oder Durcheinander
flechtung verigiedener Komddienfabeln an Kunft und Genie bei
weitem überbietende Durdpringung von altattifher und plau-
tinifher Komil aud noch die Eigenthlimlichteiten des Terentius,
namentlich mas zierlich feinen Gelprä jeton betrifft, als drittes
Element feinem Komddienfif einverfeibte.
Auch hebt der Literarhiftorifer weiterhin hervor, daß
die Komik des Ariofto die echte, „poetifch-Lathartifche” ift,
wie fie von der Selbftzwed-Aeftgetif verleugnet wird, und
nad) diefer Seite Hin einzig daſteht im Bereich ber italie-
nifchen Komödien:
Wir werden nod) eine oder die andere in Bezug auf vis
comiea mit Arioſto's Luffpielen nicht ohne Glüd wetteifern
fehen; vielleicht aud in Betreff der Figurenzeihnung, des echten
Komödientons und Stils, demzufolge die Berfonen ihre Sprade,
die Alferweltsfpradge, nur nicht die des Dichters reden follen,
die bürgerliche Umgangefprade, durch die beileibe feine gepußt-
literarifche Phrafe, fein Lyriemus hervorflingen darf, am aller-
iwenigften wo die Luffpielfigur von Geiſt und Wit jprüht —
Eine Geſchichte des italienifhen Dramas.
eine Kunft, worin und Ariofto und nad; ihm Moltere als die
rößten Meifter der claſſiſch- romaniſchen Komddie erſcheinen.
allen dieſen und ähnlichen Eigenſchaften wird fo manche
italieniſche Palliata des 16. Jahrhunderts mit den Kombdien
des Arioflo vielleicht nm die Palme ringen bürfen; nur nicht
in Abficht jenes innerflen, das echte Dichtergenie eben kenn-
zeichueuden Läuterungsmotive, das jebes poeiiſche Kumnflmerk,
das tragiſche wie das komiſche, als fein Nervengeift, feine un⸗
fihtbare Seele durchdringt und befebt. Damit im Zufammen-
hange fteht auch die feine Kunſttechnik, das tiefe Verſtändniß
der Gliederung und Ardjiteftonit, die harmoniſche Einheit im
Gefammtorganismus der Dichtung, die als ein poetiſches Kumfl-
ganzes fi daun eben nur darflellt, wenn fie von einem fletigen,
den Plan des Ganzen beherrſchenden, ernfigeflimmten Zwed-
gedanken befeelt wird, dem einzig vorbehaltlich + fubjectiven
Momente im Kunſtweri — gegenüber feinen Figuren bes Did»
ters Geheimniß —; während alle andern Geftaltungsmomente
ſich objectiv anszuprägen, jelbfländig feinem Inuern zu ente
jchweben und in voßfommener Freiheit ſich plaflifh rein von
ihm abzuföfen feinen. Die bloße frivole Belufigungsfomik
wird, bei dem ‚größten Talent, and) feine vollendete Kunfttehnif,
ja felbft feine bündige, planmäßige, niet» und nagelfehe Structur
aufmweifen können. Der Geift der Compofition iſt ber göttliche
Geiſt, der Ruach Elohim, der mit tiefem Geftaltungsernft über
den Bildungen ſchwebi.
Die nuchſte Komödie, die in Italien Auffehen erregte,
die Schostomddie von Päpften und Fürften, ift die „Ca-
landria” des Cardinals Bibbiena, ein Std mit abenteuer«
lichen und unwahrſcheinlichen Voransfegungen, mit einer
fehe künſtlichen Intrigue, mit großem Aufwand von zügel»
lofem Wig und glängendem Talent fir das Standalös-
Komische.
Mit Freuden begrüßt Klein jegt auf feinem Wege den
großen Niccolo Macdjiavelli, der ihm Gelegenheit zu einer
eingehenden Charakteriftif des italieniſchen Diplomaten gibt.
Dem Hauptluftfpiel Macchiavelli's, der „Mandragola,
ertheilt Klein, nad) eingehender Analyfe, das abſchließende
Lob, daß fie don mander andern vieleicht an Kunfte
vollendung, von feiner an culturgefchichtlicher Bedeutung,
bei folder Situations- und Charakterfomil, von Feiner
an muftergültigem Luftfpielton und Stil übertroffen wird.
Die andern vier Komödien Macdjiavelli’s, „ Clizia *
und „Andria‘, Nachbildungen des Plautus und Terenz,
und zwei „Commedie”, die feinen weitern Namen haben,
werben von der „Mandragola” tief in Schatten geftellt.
Nicht minder glücklich als über die Begegnung mit
Machiavelli ift Klein über diejenige mit Giordano Bruno,
dem begeifterten Märtyrer der Denk- und Redefreiheit,
dem berühmteften Opfer hierarchiſch- kirchlichen Wahns,
deſſen Luftfpiel: „I candelajo”, ber Lichizieher, eim
Sugendiwerk ift, das erfte, mit welchem der Philofoph
hervortrat, ber fpäter felbft der Held einer Tragödie wer-
den follte. Das Luftfpiel zeichnet ſich Übrigens durch
einen flandalöfen Eynismus aus; jungen ehrfamen Frauen
find Reden in den Mund gelegt, die an ben crafieften
Zoten reich find. Den Inhalt des Stüds gibt Klein auf
Grundlage bes vom Dichter ſelbſt mitgeteilten Scena-
riums an.
Wiederum begegnet uns eine intereffante Perſonlichteit,
der eyniſche Voltaire des 16. Jahrhunderts, Pietro Are
tino, die Fürftengeifel und doch der Liebling der Fürften,
unzüchtiger Läfterer und fchamlofer Schmeichler zugleich,
der Dichter der Sonette zu den ſechzehn obfeönen von
Giulio Romano gezeichneten Gruppen. Die Biographie
Eine Geſchichte des italienifhen Dramas.
diefes Sathrs wird von Mein mit dem ganzen Aufgebot
pitanter Thatſachen, die ihm feine eifrigen Ouellenftubien
an die Hand geben, und pifanter Darftellung, welche ihm
feine‘ geiftigen Mittel erlauben, ausgeführt. Er ſpricht
feine Berwunderung aus, wie eine fo gemeine, lafterhafte
Kothfeele auch mur eine Scene im Luftfpiel „II mares-
calco“ und einige Briefe ſchreiben Yonnte, worin ſich eine
edlere Negung md ein klarer Geiftesblid in Menſchen
and Zeiten kundgibt, und faßt fein Urtheil über bie Luft-
fpiele in folgender Weife zufammen:
Eigentliches Talent zeigt Aretin nur in der Komödie: Sinn
für Figurenfomit und muntern Luffpielton, doch felbft dies
ausjhlieglich in dem „Marescalco'; und hier mit einer Zugabe
von Erfindungsmangel, Dünne des Plans und Loderheit der
Srenenfolge, fodaß diefe feine einzige noch Iesbare und für
die Literatur nicht werihloſe Komödie dennoch feiner einzigen
Komödie der Meifter diefes Jahrhunderts, auch der fhmwächten
sit, an Kunftwerth gleihlommt. Die andern vier Komödien
des Aretino find, unferer Meinung nah, fammt und fonders
in den Zodten zu werfen.
„ll marescalco“ nennt er weiterhin eine Komödie ber
Stolnedjts- und Pagenehe; eine Marftalltomödie, welche
die Menandrifche Hetärenfomöbie erft vervollftändigt, zu
der fie die Kehrfeite bildet. Die vier andern Komddien
Aretin's heißen: „La cortigiana”, „Ipocrito“, „La ta-
lanta“, „Il filosofo“. Klein rügt ihre Spaflofigkeit, ihre
biffig-vergerrte Komik, widerfinnige Fabel, confus · barocke
Luſtiſpielhandlung, pritſchenmeiſterliche Figurenzeichnung
und trivial-verzwidte Moralitätsmasfe, die fie an ber
Stirn tragen, bei fonft nacktfrechem, die Maske lügen-
Arafendem Satyrgeſicht. Weiterhin fagt Klein:
Atetin o konnte berufen feinen, der claſſiſch⸗ italieniſchen
Hoflemödie bie Volkokomsdie oder das national- bürgerliche
Faßipiel entgegenzufetgen, wenn derber, ſatiriſcher, oft unfläti-
ger Big und dialogifche Fertigkeit im Verein mit Unmifienheit
und Unbildung zu einem foldhen Luffpiel hiureichte. Am un«
fähigften dazu madite ihn aber feine bodenloſe Unfittlichleit, feine
Laſtet, die ihn zum niedrigfien Schmeichier der Großen ent
mörbigten zmd ihn, ale feine eigene Geifel, in deren Dienflbar-
keit hineinpeitſchten, während feine prahlerifche Frechheit ſich
dos Anfehen gab, Hof und Höflinge ale „freier Mann“ ver»
fpotten zu Können. Cine Zwittergeburt von gemeiner Bedienten-
feele und ſchwelgeriſchen Gelüften, vereinigte er, als Baflard
eins Edelmanns und einer Luftdirne, die Laſter von beiden:
die Genußſucht, die uoblen Pafflonen des Hofihranzen mit der
BVegwerfung und Feilheit ber gemeinen Stroßenfäuferin. Die
fen Stempel verräth fein Talent, verrathen feine Komödien,
bie von der Hoflomödie bie Unfittlicjfeit, den [muzigen Standal
um den Unzuchtskitzel zu eigen haben, während fie von der
Commedis dell’ arte, welge, buch Lohnfpieler dargeftellt,
gleichzeitig neben der claffijchen, von vornehmen Dilettanten
gefpielten Komödie, als Bollefomödie einherging, den Stegreif-
arakter in ber Zerfahrenheit der Gandlung und in der epifo-
digen Buntheit der Scenenfolge zur Schau tragen.
Im Gegenfag zu der claffifhen Commebia, die ſich
borzugsweife nah dem Mufter der Iateinifchen palleata
gebildet Hatte, fteht die Novellen«, Abenteuer» oder ro»
mantifche Komödie, als deren erſte, „La Floriana’, von
einem unbelonnten Verfaſſer genannt wird, während ber
Hanptvertreter und eigentliche Schöpfer der Gattung Ber-
nardo Xccolti ift, ein enthuſiaſtiſch bewunderter Gonetten-
dichter. Die „Commedia Virginia” ift das Mufter diefer
Gattung, die Shalſpeare fpäter mit allen Reizen und
Farben dramatifh-romantifcher Phantafie ausgeſchmückt
hat. Die „Hadriana” erinnert an „Ende gut, alles gut“;
229
und indem wir hier ein Gebiet zum Theil neu aufgefpürter
Shalſpeare ſcher Stoffquellen betreten, wollen wir, ver
führt durch Klein's Ercurfe, ebenfalls einen Excurs über
Shalfpeare und bie noch weiterhin erfchlofienen Vorbilder
feiner Mufe hier einfügen.
Wenn man bisher die Thatfache, dag Shalſpeare feine
Stoffe vielfach aus italienischen Novellen genommen hatte,
tannte und feine betreffenden Ouellen ihm nachwies, fo
erfehen wir aus dem Klein'ſchen Werke, das filr hie
Shalſpeare » Gelehrfamfeit und ihren quellenfindenden
Siderismus in vieler Hinſicht epochemachend ift, daß ber
britifche Dichter auch italienische Dramen benugte, wie
er vielfach ältere engliſche Dramen für die Bühne um«
gearbeitet oder meu gedichtet hatte. Es ift aber eine weſent ·
lich andere Sache, ob ich einen in einer andern Dichte
gattung ansgeprägten Stoff für die Bühne umpräge,
oder ob ic; einen bereits in berfelben Dichtgattung ab»
gefchloffenen noch einmal, mit Benugung meiner Borgän-
ger, neu dichte. Im letztern Fall wird die Originalität
des Dramatiferd und die Schranke zwiſchen Ueberarbei-
tung und urfprünglicher Schöpfung zweifelhafter; ja, nach
unfern Begriffen, welde die damalige Zeit nicht kannte
und ein Bühnendirector am wenigften refpectirte, ift hier
die Anklage des Plagiats berechtigt.
Klein als ein Shaffpearomane de pur sang, befien
Charakteriftit Shaffpeare’s ein hohes Lied der Apotheofe,
ein geift= und begeifterungfunfelndes Feuerwerk zu Ehren
des britifchen Dichter zu werden verfpricht, findet nicht
nur in jeder diefer Aneignungen eine Verbeſſerung, er
findet aud das ganze Verfahren fo felbftverftändli, daß
er den britifchen Dichter nicht einmal in ber ſchuchtern-
ften Weife dafür zur Ordnung ruft. Aus Ariofto's Luft-
fpiel: „I suppositi“, hat Shatſpeare ben vierten Act für
die „Bezäfmung der Widerfpenftigen“ in einer Weife be-
nugt, daß Klein felbft fagt:
Einen vierten Act, ben Shalfpeare ganz gewiß gebichtet
hätte und fo, wie er da ift, gedichtet hätte, wenn er ihm nicht
ion von feinem großen Kunfgenoffen Arioſto fertig vorfand
und daher den ganzen Act, fammt Wurzelfafern, Erdkrümeln,
frz mit allem, was drum und dran hängt, gleich ohne weiter
tes als Epifode in fein Luffpiel: „Die gegähinte Widerfpenftige“
verpflanzen konnte. nnte es um fo bequemer, als Arioflo’s
2uffpiel, „I, suppo: die Shaffpeare finngetren zu den
Suppofiti feines Luſtſpiels machte, Ichon 1566 nad George
Gascoignes’ Bearbeitung auf die englifche Bühne gelommen war.
Klein führt dann fort:
Aus Ariofo’s ewig grünem Blätterlaub ſolche Liebesblüten
duften, aus Arioſto's üppigem Wipfel Shafjpeare’s eigenwlichſige
ruchifülle hervorlachen und ſchwellen zu ſehen, iſt eine um fo grö-
jere Merkwürdigkeit bei diefem Allaneigner (I) und Ummandfer
von italienischen Novellen, engliihen Chroniken, alten Schar»
teenftücen, furz von allen möglichen Stoffen in fein unſterblich
Saft und Blut, ift eine um fo größere Merkwürdigfeit, ale er
fonft auch in diefer Beziehung mit der ſchaffenden Natur wette
eifert, deren Früchten und Blumen man es nicht anmerkt, daß
fie ihre Nahrung aus Düngfloff, Wegwurf, aus Koth und
Mober ziehen; fowenig wie man den buftig-zarten Roſenwäng⸗
lein eines ätherifh-feinen Furſtentindes den Kalbebraten an:
merkt oder den Schnepfenertract; ſowenig wie man den Gter-
nen die Erd- und Waſſerdünſte anfieht, durch melde fie fo
lieblich funkeln und blitzen. Wenn fonft die gemeinen Kieſel,
die Shatſpeare in fein Kunſtwerk einfügt, flugs als Edelſteine
aufglühen, prächtig wie die an den Speichen und Felgen ber
Wagenräder jener Cherubim in der Biflon des Propheten: foll
man es nicht unbegreiflich finden, daß der Magiſter, der in „Der
230
Widerſpenſtigen Zähmung“ den Bincentio vorftellt, dem Siene-
en in Arioſto's „I suppositi', desgleichen der Vincentio dem
Siligono des Ariofle wie an den Augen abgejehen, daß bie
ganze komiſche Eutwidelung der Arioft’ihen wie aus den Augen
geftoblen ift; und daß trotdem die Epifode in Shalfpeare’s Luft-
ſpiel ung mit Shakſpeare's feefentiefen Augen anblidt, die gleich
denen ber indifchen Götter nicht zwinfern und nicht zuden?
Weiterhin beißt es:
Wir bervundern da8 Genie der komiſchen Erfindung bei
Ariofto, und ftaunen feinem Plagiarius, der Krähe in Ariofto’s
Bfauenfedern, nad, die als Phönix vor unfern Augen auf-
fliegt in ihrem ureigenen Sonnengefieder. Für eine ſolche Kräbe
erklärte befaumtlich der arme Robert Greene den jungen Shak⸗
fpeare zuerſt (an upstart crow beautified with our feathers);
nur merkte der gute Greene nicht, daß in Bezug auf ihn und
feine Genoſſen fi die Fabel umkehrte: Greene's Krähenfedern
glänzte und verflärte Shalipeare zu herrlichfier Pfauenpracht,
und da meinte die arme Krähe, das Juwelengefieder wäre ihres,
und berief fi, als Beweis, auf ihre kahlen Stellen, ihre Krähen⸗
biößen, und ächzte und Trächzte über „an upstart crow beanti-
fied with our feathers“. Nicht fange darauf rupfte der Wunder-
vogel von Stratford am Avon gar einen ihm ebenblirtigen
Sonnenflieger, rupfte Shalipeare gar unferm Ariofto ein paar
der ſchönſten Federn aus. Aber wie eine Fackel die andere be-
rupft und befliehlt, die ein wenig von ihrem feuer nafcht, und
nun mit ihr vereint in felbigem Strablenglanz leuchtet. Aber
wie ein Pfeilerfpiegel den andern, ihm gegenfiber, beftichlt,
vor dem fich zufällig eine Schöne Hingeftellt, um ihre Toilette
zu ordnen, und deren reigende Geflalt num beide Spiegel zu-
mol, in unendlicher Wiederholung, zu einem unabjehbaren
Bötterfaale voll Bimmlifher Schönheiten zaubern.
Wohin reigeft du mich, Bachus? — kann man mit
Horaz ausruſen. Welche funkenftiebende Bewunderung
gegenüber ber einfachen Thatſache, daß Shakſpeare einen
genialen Borgänger benutzt und geplündert hat. Die
Epiſode aus ber „Bezühmung der Widerfpenftigen” verdient
gewiß diefe Bewunderung nicht; fie gemahnt uns ftets
etwas altfränfifch und verleugnet ihren italienifchen Urfprung
nicht; es find Scenen, wie fie fpäter die opera buffa
verwenbete.
Ein „Allaneigner”, ein „Epitomator‘, wie Klein
Shakſpeare an anderer Stelle nennt, ift nicht das Lob,
das file einen großen Dichter paßt, dem auch die Gabe
der Erfindung und ſelbſtſchöpferiſcher Geftaltung eigen
fein muß. Wir befennen offen, daß, wenn man fo fort
fährt uns die Borbilder der Shakſpeare'ſchen Dichtungen
nicht nur vor Augen zu führen, fendern auch die Cha-
raftere, bie Situationen, ja zum Theil die dichterifchen
Gedanken bis auf die Ausdrudsform berfelben als ent-
lehnt nachzuweiſen, wir einen beträchtlichen Theil der
Shakſpeare'ſchen Dichtergröße ſchwinden fehen; denn die
Grenzen zwifchen Aneignung und Schöpfung werden dann
verwifcht, und wenn auc in ber Kraft der Aneignung
für einen felbftändigen Stil und eine felbftändig tiefe
Weltanfhauung noch immer eine urfpriimgliche Genialität
liegt, fo fehlt doch eine große Seite dichterifcher Bedeu⸗
tung, welche die Erfindung der Geftalten und Situationen
verlangt. Mindeftend wird man einen Theil der Shaf«
ſpeare ſchen Dramen als halbe Bearbeitungen außfcheiden
müſſen. Klein analyfirt uns Accolti's „Virginia und führt
ben Nachweis, daß Shaljpeare das Stüd gelannt haben
müfle; die Fabel, die Handlung find in feinem Luftfpiel
„Ende gut, alles gut” ganz diefelben; aber Klein zeigt audh,
baß die Monologe der Helena und der Birginia eine nahezu
ähnlihe Empfindungs » und Gedankenfolge aufzeigen.
Eine Geſchichte des italienifhen Dramas.
„Es find Birginia’8 Stimmungen und Gefühle aus dem
Igrifchselegifchen Ditavengang in den dramatifhen Ton
und Schlüffel umgefegt und übertragen.” Auch in dem
zweiten Monolog der Helena und Birginia find einzelne
Gedanken der letztern „nahezu wörtlich” von Shakſpeare
entlehnt worden. Die Charaktere der Heldinnen find
einander ähnlich. Alles Gute und Nidjtige, was Ger
vinus von Shaffpeare’8 Helena fagt, paßt, nad) Klein’
Anfiht, ganz genau auf Accolti's Virginia, „als hätte
es Gervinus für diefe gefchrieben, von deren Eriftenz er
doch nichts wußte‘. Noch viele Stellen, die faft ganz
Paraphrafen find, werden von Klein mitgetheilt. “Die
Abweichung von Accolti ift bei Shakſpeare nicht einmal
immer glüdlih: Klein felbft muß zugeben, daß es viel
zarter von Accolti gedacht ift, wenn Birginia ihren
Herzerwählten im Vertrauen dem König nennt, welcher
diefem ihre Wahl als feinen Wunſch mittheilt, als wenn
Helena vor dem ganzen Hofe ausruft: „Das ift der Mann!”
Wir Haben unſere Tegerifchen Bedenken gegen den viel
gerühmten Aneignungs-Chemismus des großen Mifch-
und Scheibefünftlers, gegen dieſen „Stoffwechjelprocch”.
Was würde man heute von einem Dichter fagen, der in
folcher Weife verführe? Der Ausſpruch: „Quod licet jovi,
non licet bovi“, ift doch fein genügender Unterfcheidungs-
grund; Klein’ überſchwenglicher Phraſenſchwall macht die
Sache noch fchlimmer.
Weitere Spuren, daß Shalſpeare nicht blos bie ita-
lienifchen Novellen, fondern auch die italienischen Dramen
benugt babe, entbedt Klein in Parabosco's Komöbie:
„I viluppo“, in welcher der Page Brunello als das
Borbild des Pagen Sebaftian (Julia) in Shakſpeare's
Luftipiel „Die beiden Beronefer” gelten darf, in welcher
ih der Entführungsanfchlag und die Doppelbewerbung
findet. Auch einige Parallelftellen weift Klein nad), bie
und fhlagend genug bedünken. Das alademifche ano⸗
nyme Luftfpiel: „Gl Ingannati” und Secco's Luftfpiel:
„Gl Inganni” wurden von der englifchen Kritik als bie
wahrſcheinlichen Quellen von Shaffpeare’s „Was ihr wollt“
bezeichnet, wegen ähnlicher darin vorfommender Charaktere
und Incidenzen. Klein beftreitet dies nad Kenntniß-
nahme von den Stüden; er findet die Aehnlichkeit nur
in ein paar Pinfelftrichen von zweifelhafter Befchaffenheit;
wohl aber Habe Shaffpeare durch Secco's „Inganni“
Anregungen zu einigen Situationen und felbft Charafter-
zügen für ein anderes feiner Dramen: zu einigen intimen
Scenen zwifchen Falftaff und feinem Liebchen in „Heinrich IV.“,
wie auch zu den entiprechenden Borbellfcenen in „Maß
für Maß“, in „Perikles“ u. f. f. gefunden.
„La Hadriana‘, die italienische Romeo» und Julia=
Tragödie von Groto, die erfte Dramatificung des Novellen-
ſtoffs, enthält ebenfall® Scenen, in benen felbft der bich-
terifche Ausdrud für Shakſpeare vorbildlich wurde und
die Anklänge nachweisbar find. So bie Trennungsfcenen
der Liebenden:
Sabdriana.
Wenn
Latino.
Doch irr' ich nicht, bricht ſchon der Morgen an.
Horch auf die Nachtigall, die mit uns wacht,
— — — — — — — —
Erzählungen und Novellen.
Mit uns im Haggebüſche feufzt. Der Frühthau
Bereint mit unjern Thränen fi), wie er
Die Gräfer nett. Ad, blid’ gen Often hin:
Schon keimt das Morgenroth und führt ernent
Herauf die Sonne, die befiegt doch bleibt
Bon meiner Sonne.
Hadriana.
Web, ein Schauer faßt mich,
Ein fröftelnd Beben! Dieſes ift die Stunde,
Die anslöfht meine Wonne; dies die Stunde,
Die mid, was Gram ift, lehrt. Misgönn'ſche Nacht!
Barum enteilft du, flicheft du fo fchnell,
Um did, und mid) mit dir, ine Meer zu ſtürzen —
Dich in den Ebro, mich ins Thränenmeer?
O du aus Neid befchleunigt Morgenroth,
Das andern Licht, mir Finfterniß nur bringt,
Tauſch um für mid) dein Amt, den Gang und Namen!
D Licht, das Augen nur und Herz verjengt,
D Mond, warum läßt du fo fchnell den Himmel? ...
Es gemahnt uns dies fo befannt! Diefe Wendun-
gen Hangen Shalfpeare im Ohr — und, wenn auch nicht
gerade in der Balconfcene, jo finden fie fi an andern
Stellen, namentli in ben Monologen der Julia.
„Bieder ein Fall“, fagt Klein, „der uns Ichrt, wie
Shalipeare entlehnte, Motive verſetzte, umſtellte, durch-
Erzählungen
Wenn Unterhaltungsichriften fih ale bloße Erzäh-
fangen ankündigen — der Ausdrud „Novelle auf dem
Titel einiger der vorliegenden Bücher fol wol aud) nichts
anderes bedeuten —, fo ift allerdings der Maßftab der
Arengern Kunſtkritik nicht anzulegen. Indeſſen verlangt
man auch von einer Erzählung einen gewiflen Organismus,
denn fie ſoll doch ein Mares, überfichtliches Wild der
Phantaſie vorftellen und den Leſer fpannen; vor allem
aber ift Wahrheit unerlaßlich, nichts darf mit Natur,
Eittlileit und Berhältniffien in Widerfpruch ftehen.
Ber das Leben poetiſch abipiegeln will, muß «8 mit
feinem Mittelpunfte, dem menſchlichen Herzen, kennen ge
lernt haben — eine einfache Wahrheit, und wie viel
wird dagegen gefündigt! Solder Sünden laffen fid
denn auch in den Erzählungen Nr. 1 und 2 mande
entdecken.
1. Die Wahnſinnige auf Aland. Novelle von Julius Wander.
Dresden, Jänice. 1868. 8. 1 Zhlr.
Ein Fiſchermädchen, Stina, hat ihren Jugendgeliebten,
Konrad, verlaſſen und ſich mit einem andern, welcher
das Handwerk eines Schiffszimmermanns gelernt und fid
mehrfach gebildet hat, Ewers, verlobt. Kurz dor der
Hochzeit geht diefer verloren; er ift im Kampfe mit See-
räubern fchwer verwundet und gefangen worden. Die
Braut ift untröftlich, und als eine Kartenlegerin ihr ver⸗
fündet, der ferne Geliebte fei ihr untren geworden, wird
fie wahnfinnig. Nah und nad wieder zu Berftande
gekommen, will fie ihren exften Bräutigam heirathen; da
entbeet man, daß diefer die Briefe des Berjchwundenen
an bie Braut unterfchlagen hat. Neuer Wahnfinn des
Mäschene, in welchem fie den zurückkehrenden Ewers mit
einem Meſſer ſchwer verwundet. Diefer war im Haufe
des im legten Kampfe tödlich getroffenen Seeräuber-
231
einanbermifchte, da und dort einfügte, je nachdem er bie
Farben aufzufegen Hatte.” „So wenig die Palette den .
Künftler eines Plagiats befchuldigen Tann, fo wenig darf
eine Borlage zu Shakſpeare's Dramen ein Eigenthums⸗
recht auf irgendwelche Stelle, irgendein Motiv geltend
machen.” Wie? Sind denn bdiefe Gedanken eines Groto
nicht ſchon dichterifch geformt? Und wer auch nur einen
folhen einzelnen Gedanken wieder aufnimmt, macht der
fih nicht einer unbewußten Reminifcenz oder eines be-
wußten Plagiats ſchuldig? Klingt es nicht wie Hohn,
wenn Klein Shakſpeare als ben umfaffenditen und tief-
belefenften Forſcher aller ihm zu Gebote ftehenden, in fein
Kunſtfach einfchlagenden Ducllen, als einen der größten
Fachgelehrten feiner Zeit, als den gelehrteften aller dra⸗
matischen Dichter preift, blos weil er damals befannte
Novellen und Stüde gelefen und, um für den Klein'⸗
ſchen Schwulft den einfachen Ausdrud zu feßen, geplün-
dert hatte?
Die blindefte Shaffpearomanie erfcheint bereits hier
als eine bedenkliche Achillesferfe des Klein’fchen Werkes.
Rudolſ Gottſchall.
(Die Fortſetzung folgt in der nachſten Nummer.)
und Novellen.
fopitäns, der bald darauf ftirbt, genefen. Die Witwe
erfennt in Ewers den Mann, mit dem fie vor Jahren
flüchtige Belanntſchaft gemacht, und den fie feit der Zeit
fortwährend geliebt Hat. Als nun nah Stina’s end-
licher Senefung der Berlobten Liebe durch die fchlimmen
Zwiſchenfälle erkaltet ift, heirathet Ewerd die Witwe,
Stina den Jugendfreund.
Umftändliher läßt fi ber Inhalt ber fehr bunten
Geſchichte nicht angeben, ohne den geftatteten Raum weit
zu überfchreiten, und es ift überhaupt ſchwer, mit we⸗
nigen Zeilen einen Begriff von dem Unnatürlichen, Un-
wahren, Sinnlofen zu geben, was in der Ausführung
der Gefchichte und in der Sprache herrſcht. Einige Bei⸗
fpiele werden genügen, um dies Urtheil zu begründen.
©. 69 fg.: Der Hauptheld der Gefchichte, Ewers, liegt
fchwer verwundet in dem Schiffe bes TFreibeuters, der ihn
auf dem Wege von Stodholm angegriffen und beraubt
bat. Jetzt wird das Raubſchiff von einem „Miniſterial⸗
kreuzer“ entdedt und eingeholt; es beginnt ein heftiger
Kampf, die Räuber find dem Feinde nicht gewachfen, und
gerade ift ein Soldat im Begriff, den Kapitän der Frei⸗
beuter zu tödten, da ſtürzt Ewers im Fieberparoxismus,
nachdem er feine von außen verriegelte Kojenthür gefprengt,
aufs Verdeck, ergreift den zu Boden geſtürzten, noch mit
dem Kapitän ringenden Seefoldaten, „ſchwingt ihn vor
fih body in die Luft“, ſtürmt fo dem Feinde entgegen,
und jagt ihn, nachdem er nod den Srenzerkapitän
getödtet, auf fein Schiff zurück, und der Geeräuber
entlommt.
Um fid für diefe ihm geleiftete Hülfe dankbar zu
bezeigen, bewirkt der Seeräuberhauptmann kurz vor feinem
Tode, daß Ewerd von ber „Marineverwaltung” zum
Schiffskapitän ernannt wird! Die Witwe des Seeräubers,
232
welche fiir eine ausgezeichnete Frau gelten ſoll, kann ihrer
Liebe zu Ewers, obgleich fie ihn verlobt weiß, nicht ent⸗
fogen und folgt ihm daher, von ihm nicht erfannt, ale
Matroſe verkleidet. Später, als ſich das Verhältniß des
Ewers zu feiner Braut getrübt hat und eine Verbindung
faft unmöglich erfcheint, da will fie in ebler Selbſt⸗
verleugnung vermitteln. Die Tendenz des Buchs jcheint
©. 133 ausgefprochen zu fein, wo die Mutter bie über
ihr Beginnen und eine andere geringfügigere Täuſchung
doch etwas beunruhigte Tochter mit den Worten tröftet:
„Die Wege durch das Leben werden dem Weibe einzig
und allein duch ihe Herz, aljo durch ihre Liebe be
zeichnet, und daher muß die Stimme des Berftandes
ſchweigen!“
Man kann iudeſſen in Zweifel ſein, ob die Unnatur,
die in der Sprache herrſcht, nicht doch noch größer
ſei. Dan leſe S. 14—16 den Monolog, welchen ber
verſchmähte Liebhaber Stina's, ein einfacher Fiſcher, hält,
ehe er ſich ins Waſſer ſtürzt; er beginnt: „Nacht! —
Nacht! — ringsum entſetzliche Nacht! So nehmt mich,
ihr finſtern Mächte! nehmt mich hin und befreit mich
von meiner Qual! Ziſchet und rufet nur, ihr Geiſter⸗
ſtimmen! — Bald, bald werd' ich bei euch ſein. Ha! ha!
Wo biſt du, himmliſche Gottheit“ u. ſ. w. Nachher:
„Jetzt, wo ich hier mein eigner Herr und Meiſter bin,
jetzt! rufe ich: komm heran, du großer Weltgeiſt! Hui!
ich verhöhne dich“ u. f. w. Oder: „Lufliger Lanz! —
Hochzeitstang! — Friſch auf, du feuchte Wogenbraut,
ſchmücke deine Stirn mit filbernen Schaummellen! Ich
komme, ich komme, du lechzende Schöne!” Wehnliche
Stellen finden fid) in Dienge, 3. B. ©. 49—51, 78—93
n. f. w., wo fie nachleſen mag, wer ſich au dergleichen
ergögen kann.
2. Eines Andern Fran. Eine Erzählung von Guſtav Höder.
Eiberfeld, Lucas. 1868. 8. 1 Thlr.
Ebenfalls eine höchſt unerquickliche Geſchichte. Elfried
Stahlblüth, Prediger in einer großen Reſidenz, ein noch
junger Mann aber fchon ausgezeichneter Kanzelredner
und entfchiedener, bortrefflicher Charakter, macht zufällig
die Bekanntſchaft eines Arztes der Stadt, wird mit deſſen
Familie befreundet und erkennt in der Frau, Hedwig, ein
bor vier Jahren von ihm confirmirtes Mädchen. Hedwig,
welche der Prediger bei ber Einfegnung zum erften male
gejehen, hatte auf ihn durch ihre Aehnlichkeit mit einer
Schaufpielerin, welche er als Schüler geliebt, bejondern
Eindrud gemacht, und fie felbft Hatte feit jener feierlichen
Stunde eine tiefe Neigung für ihn gefaßt. Bei längerer
Bekanntſchaft erfährt der Prediger, daß fie unglücklich
verheirathet ift, und es bauert nicht lange, jo läßt fie ihn
ihre Leidenjchaftliche Liebe deutlich erkennen; er liebt fie
auch, weiß jedoch feine Neigung mehr zu befümpfen.
Endlich, da ber Arzt, ein Böſewicht, nicht zu verbergen»
der Verbrechen wegen flüchten muß, wird Hedwig des
Predigers Gattin.
Unendlih bunt ift bie nur 256 Seiten lange Er⸗
zählung, indem in die Geſchichte der Jugendliebe des
Paftors zurüdgegangen wird und die hier erwähnten
Perfonen auch nachher wieder auftreten; an jpannenden
Situationen fehlt es ebenfalls nicht, und der gewöhnliche
Erzählungen und Novellen.
Lejerfchlag wird fie vielleicht intereffant nennen, ber
die fittliche Baſis fehlt, und aus den Haupiperfonen ift
etwas ganz anderes geworden, als der DBerfaffer beab⸗
fichtigte. Die Frau gibt fi) gar Feine Mühe, ihre Liebe
zu dem Geiftlihen zu verbergen, und biefer Tüßt feiner
Empfindung ebenfall® freien Spielraum und glaubt fei-
nem Gewiſſen zu genügen, wenn er fie nicht zum Aus.
bruche kommen läßt. Und diefer verliebte Prediger wird
als Repräfentant ber freifinnigen Theologie und echten
Frömmigkeit im Kampfe mit der ftarren Drthodorie und
Scheinheiligkeit dargeftellt! Yon feiner Kanzelberedſam⸗
feit, welche fo fehr gerühmt wird, befommen wir eine
wunderliche Probe. Der Anfang des Bude, ©. 1-5,
gibt die Schlußworte „der ergreifenden Confirmationsrebe”,
welche folgenden Ideengang enthalten: Der Frühling
ift Schön (hier Heißt es z. B. „frühe Wandervögel, als
wäre ihnen der deutjche Frühling eine Amneftie, die fie
aus läftigee Verbannung zurüdruft, kehren wieder‘,
ſchöner als der Frühling in feiner vol entfalteten Pracht
ift fein erfles Erwachen; denn fo wie der Frühling fort.
fchreitet, fterben fchon die erften Blumen dahin. Wie
in der Natur, fo im Leben. Ihr fteht Heute auf der
Schwelle der Verheißung (der Freuden und Genüſſe des
Lebens). Gedenket daher biefer Stunde, und wenn ihr
fpäter an biefem Tage die Gloden rufen Hört, fo Takt
fie euch fagen, daß auch euch einft ein Frühling einge
läutet wurde, wie er nimmer wiederfehrt.
Man will faum feinen Augen trauen, wenn man
lieft, daß das die Quinteffenz einer erbaulichen Confir-
mationsrebe fein fol. Daß die Perfonen ber Geſchichte
bin und wieder Fähigkeiten befigen, welche fie nad ihrem
Bıldungsgange nicht Haben können, darf uns nicht wun-
dern; der Dichter ift ja ein Schöpfer und maltet nad
Laune! Hier kann bie oft erwähnte noch junge frau,
die Tochter einer Hebamıne, welche unter den zerrüttetften
häuslichen Verhältniffen aufgewachſen ift, über einen Brief,
der ihr von ihrem Manne untergefchoben ift, fagen: „Diele
glübenden Zeilen können unmöglich feine Erfindung fein —,
id würde behaupten, fie feien irgendeinem Schrififteller
entlehnt, wenn ich nicht zu belefen wäre, als daß ein
jolher Meifter mir hätte entgehen können.”
Bon der Sprache ift ſchon eine Probe gegeben. Der
Verfaſſer will ſchön, will poetifch fchreiben, wenigſtens
mit Schönen Stellen fein Werk aufpugen, fängt das aber
fo ungefdidt an, dag man aus dem Buche eine Menge
Redeweiſen auslefen könnte, welche in ftiliftifchem Unter
richt als negative Mufter zu gebrauchen wären, wie fol
gende: „Das Gold der Abendröthe hielt eine Zeit Tang
nod, wie im Zodesfampf, die Herrjchaft des Tages auf-
reht, bis am dunfelnden Himmel die Mondfichel ans
ihrer bleichen Ohnmacht erwachte und, ihren filbernen
‚Glanz entfaltend, die erften beherzteften Sterne her=
auslockte.“
3. Die feindlichen Brüder. Erzählung von der rothen Erde.
Bon Wilhelm Anthony. Aachen, Cremer. 1867. 8.
15 Ngr.
Das Buch enthält eine Keine anſprechende Erzählung,
bie freilich nad) keiner Seite Hin bedeutend genannt wer-
den Fann, aber eine wahre Erquickung iſt, wenn man fie
nad den beiden vorigen Werken Tieft. Ein weftfälifcher
”
Erzählungen und Novellen. 233
Banernfohn, ein braver Burfche, welcher zum Verdruſſe
der Familie und des ganzen Dorf Seemann geworden
ift, fehrt nach dem Tode der Aeltern in die Heimat zu«
rüd, belaftet mit bem Verdacht eines Diebſtahls, der ihm
jedod nicht hat bemwiejen werden können. Der Bruder,
der Erbe des Hofs, meift den Zurückgekehrten, den er
für einen Berbrecher hält, mit der ärgſten Härte von ſich.
Diefer, der von jet an von allen Leuten des Dorfes
wie ein Geächteter behandelt wird, finnt auf Race. Ein
Mordverfuh, welcher von einer andern Seite auf den
Bruder gemacht wird, ftimmt ifn um, und ald er bald
darauf denfelben zum zweiten male in dringender Gefahr
fießt, eilt er ihm zu Hülfe und rettet ihm das Leben.
gest ift ihm aller Groll entſchwunden, und da zu«
gleich feine Unfhuld an den Tag kommt, gelangt bie
brüderliche Liebe gegenfeitig wieder zur volllommenen
Geltung.
Der Berfaffer bat ein fpecifiich frommes Element in
bie Erzählung gebracht, welches fich jedoch keineswegs auf
Iäfige Weife vordrängt, aber faft die pſychologiſche Wahr-
heit beeinträchtigt hätte, denn der Seemann mußte fehr
ihfimm erfcheinen, damit die Erneuerung feines Weſens
recht Hexvortreten konnte; aber die ſchwarzen Rachegedan⸗
in, denen er nachhängt, find keineswegs durch feinen
Charakter motivirt.
4. Im Pfarrdorf. Erzählung von Wilhelm Jenſen. Ber
lin, U. Dunder. 1868. 16. 15 Ngr.
Eins der mittelmäßigern Werke des belannten Ber-
foflers. Ein junger Menfch, welcher feine Studien voll-
endet und als Naturforfcher große Reiſen gemacht Hat,
fehrt in fein heimatliches Dorf zurüd und verlobt ſich
mit feiner SJugendgefpielin; bald aber wird cr des Ber-
hältniffes überdrüßig und folgt der neuerwachten Sehn-
fuht, welche ihn ins Weite zieht. Nach zehn bis zwölf
Jahren finden wir ihn als Profeffor in einer Univerſitäts⸗
fladt wieder, und der ziemlich ungezogene Jüngling tft
nun ein eremplarifcher Mann geworben, deſſen äußere
Erſcheinung fo bedeutend, daß „vor feinem Blicke“ felbft
Leute, die ihn nicht perfünlich kannten, „die Augen nieder-
ſchlugen und unwillkürlich haſtig an den Hut griffen”.
Eine heftige Krankheit, in welche er verfällt, ruft die
weit entfernte Bugendfreundin herbei, und nad feiner
Geneſung begreift er, daß er nur fie lieben könne, worauf
fie fih bald verftändigen.
5% Auf dunkelm Grunde. rauengeftalten aus ber Franzö⸗
figen Revolution (1793). Novelle von Elife Polto.
Leipzig, Dürr'ſche Buchhandlung. 1869. 8 1 Tür.
7%, Nur.
In ſtizzenhafter Darftellung, mit gewanbtem Griffel,
wie er der Berfafferin zu Gebote fteht, wird ums bie
Geſchichte der Liebe von drei idealen Frauengeftalten vor-
geführt, welche, von den Greueln der Revolution erfaßt,
zu Grunde gehen. Wohlthuend ijt der Eindrud nicht,
weichen die Erzählung macht, wenngleid) in der treuen
Liebe der rauen, welche im: Ungefichte des Todes nur
um die Geliebten zärtlich bemüht find und in dem Ge»
danken, mit ihnen zufammen zu fterben, alle Schreden
des Todes überwunden haben, die verjühnende Idee
liegen fol.
1870. 15.
6. Kleine Memoiren von Alfred Meißner Berlin, Leffer.
1868. 8. 15 Nor.
Sieben Feine Bilder und Skizzen, welde durch an⸗
Iprechende Darftelung und als „Erzählungen von Erleb-
niffen‘ ein höheres Intereſſe gewinnen, als fie ihrem
Stoffe nad) haben Fünnen.
7. Aus dem jübifchen Volksleben. Gefchichten von Eduard
Kulle Hamburg, 3 P. F. ©. Richter. 1868. 8.
1 Thlr. 10 Nor.
Die Helden vorliegender vier Erzählungen find Ber-
fonen der niedern jüdifchen Vollsklafſe, fogenannte
Schaderjuben, welche ſich hauptſächlich durch eine Menge
jüdiſcher Ausdrücke, die, jedem andern Leſer unverſtändlich,
eine Ueberſetzung in Parentheſe erforderten, als ſolche
kundgeben. Ob es auch derartige Geſchichten geben
müſſe, um die Gattungen des Romaus zu vervollſtändigen,
ob es dieſer Form bedürfe, um unter den Juden echte
Humanität, welche doch das letzte Ziel aller geiſtigen
Beſtrebungen fein muß, zu fördern, fol bier nicht
unterfucht werden; ob aber durch obige Productionen
das Gebiet des Schönen bereichert werde, möchte ſehr
in Trage fichen. Der Stoff der erften Erzählung
„ Alt» Eifib wird tänzerig“ ift wenig anfprechend.
„Ein Schnorrerfind” Taborirt an manchen pfychologifchen
und ſachlichen Unwahrheiten, 3.8. ©. 19, 53—56, 58.
„Juden⸗Chriſtel“ ift unendlich gedehnt; mehr als 50 Seiten
weiß der Verfaſſer zu füllen, um zu ſchildern, wie ein
verfchwenderifcher Bauer fein Vermögen durdbringt.
Die gelungenfte Erzählung ift „Der Kunſtenmacher“,
jedoch auch nicht ohne Unwahrfcheinlichkeiten, welche dazu
der Geſchichte zur Bafis dienen; 3. B. ©. 57. Eigen-
thümlich iſt es, daß der Berfafler die ausgezeichnetften
Chriftenmäbchen fi in Judenjünglinge verlieben läßt.
9, Hiſtoriſche Novellen aus der neueflen Zeit. Bon D.
Kempner. Breslau, Heidenfeld. 1868. Gr. 8. 1 Thlr.
22%, Nor.
Die erfte Gefchichte, „Melanin”, hängt mit dem pol«
nishen Aufftande von 1831 zufammen; die andern,
„Politik und Liebe, oder: So war e8 vor zwanzig Jahren”,
fpielt in einer Mittelftadt Deutfchlande und nimmt ihre
Verwidelungen aus den politiihen Bewegungen bes
Jahres 1848 Her. Wenngleich Geſchichtliches in den
Erzählungen vorkommt und felbft zum Theil den Gang
der Begebenheiten darin bedingt, fo können fie deshalb
noch nicht geichichtliche Novellen heißen, denn fie find
keineswegs wirkliche Gemälde jener Hiftorifchen Epochen.
Aber wenn man auch von diefer Anforderung ganz und
gar abjehen wollte, jo würden die obigen Producte, aud)
nur als einfache Erzählungen betrachtet, doch nicht befrie⸗
digen können, denn dazu wäre wenigftend einc intereflante
Darftellung erjorderlich; dieſe aber ift fo dürr und fo
kahl, daß felbft das Spannende, was in den Geſchichten
liegen könnte, dadurch, abgefhwächt wird. Dazu leidet
noch der Vortrag an Heinen Ungenauigkeiten, Widerſprüchen
und trivialen Redeweifen, 3. B.: „Ich fuchte und fand
Zerftreuung (der Redende erlernt die Landwirthſchaft)
in den Wifjenfchaften, die ich gemwiffermaßen als eine
Aegide betrachtete gegenüber den trivialen Berufsgeſchäf⸗
ten, die mir oblagen. So lebte ich Höchft gelangweilt,
bis“ u. |. w.
30
234
9. Wenn das Heimweh kommt. Drei Novellen vom Berfaffer
des Bilderbuchs eines armen Studenten. Berlin, A. Dunder.
1868. 16. 15 Nor.
In drei Heinen Erzählungen werden theils flizzenartig,
theils umftändlicher Bruchftüde aus Lebensgefchichten ung
vor die Augen geführt, in welden das ftille tiefe Weh
des menfchlichen Herzens uns anſpricht. In der zweiten
Erzählung „Helene“ ftört ein greller Miston (S. 77),
der nicht zum Charakter der Heldin flimmt, die weh-
müthige Empfindung.
10. Novellen von Robert Griepenkerl. Braunſchweig, Graff
und Müller. 1868. 8. 1 Thlr.
Die hier aufgerollten Gemälde verrathen eine nicht un-
geſchickte Hand; bie VBorzeichnungen ſcheinen aus Caprice
oder Gefchmadsverirrung hervorgegangen zu fein. Sehr
unpaſſend ift die Erzählung „Bella“ an die Spite geftellt,
fie könnte von der weitern Lektüre des Buchs zurüd«
fchreden; fe ift für Leer, die nur noch durch Pilantes
können gereizt werben. ine verbuhlte Generalin, ein
fiederlicher Aſſeſſor und ein leichtfinniger Graf als ihre
Courmacher im fhlimmften Sinne des Wortes, ihnen
gegenüber ein reizendes unſchuldiges Mädchen in einer
Thierbube, welches von einem jungen polnischen Edelmann
verführt wird, find die Handelnden, außer dem Löwen,
dem Jaguar und dem Tiger, welche die Kataftrophe her⸗
beiführen, indem der Löwe das Mädchen todtbeißt, der
Jaguar den Grafen padt, worauf auch die Thiere nebft
der Generalin umlommen duch die Yeuersbrunft, welche
gleichzeitig in der Menagerie ausgebrochen if. Die
Sprache ift eines ſolchen Inhalts würdig, unnatürlich,
ſchwülſtig, mitunter bis zur Unverftändlichlet. ©. 22:
„Der holte, ein anderer Prometheus, aus den Schachten
der Erbe die feit Yahrtaufenden in erfalteten Gaſen
fchlafenden Fener und fprengte fie auf die Gefieder der
beflügelten Welt, daß fie die Luft erflillen mit bem Glanze
Zur Ueberfeßungsliteratur.
Ichendig geworbdener Smaragden, Ametbiften, Rubinen,
Topaſen, Saphiren, Chryjolithen, Chryfoprafen und
Zürkifen? Wer tauchte diefe Sittiche in das Phosphor.
leuchtende Meer und in die ftille Pracht feines bimmel-
geborenen Ultramarins?” — ©. 41: „In Zenith ber
Thierbude ftand Venns, einer ber fchönften, von der
Sonne à jour gefaßten Demanten des Himmels. Wonne⸗
ſchauernd fog fte in ſich Hinein ihr blänliches Licht, um
e8 wieder auszuſtrahlen in Tichtgelben Bligen, ein pradt-
voller Topas. Weißwollige Schäfchen lagerten umher,
auf ihrem Rüden roth geftreift von Luna, ber keuſchen
Schäferin.” S. 52: Die Thiere der Menagerie werden
unruhig; da heißt es: „Zittert, Tyrannen der Erbe!
Die Türften der Wälder, Werkzeuge in Gottes Hand,
lehnen fih auf, und die Elemente zerreißen ihre Fetten
wie Spinnweb, daß der Menſch nit mehr troße auf
Erden.” ©. 54: „So ftarben die gefangenen Fürften
der Wälder, majeftätifch wie die Cedern, wenn fie der
Blitz enttäront unter dem Orabgeläute des Donners.
So ftarben die gefejlelten Segler der Lüfte, todestrunken
wie die Wolfen, wenn fie zergehen in ben Glutſtrahlen
der Sonne. Aber wiflet, der Paradiesvogel Neuguinens
bereitete jein Aſchenlager auf dem zufammengefallenen
Zwinger bes Löwen und ftarb mit dem Welttraume bes
Sonnenvogel® Phönix!”
Die zweite Erzählung: „Ein Ueberlebender”, ift befier;
das Geheimniß indeſſen, worauf alles beruht, fcheint
gezwungen feitgehalten; auch find die Farben oft redt
grell. „Schloß Dornburg“ ift fpannend; aber Charaktere,
wie fie hier gezeichnet find, wird es in ber Wirklichkeit
fchwerlich geben. „Der dreizehnte December” ift eme
Heine biftorifche Erzählung, die fich recht gut lieſt. „Die
Verſchüttung“ ift noch kürzer und behandelt ein Thema,
wie es der Titel benennt. „Die Edelknaben“ ift eine
Allegorie, in ber fih Bild und Gegenbild ſchwer ver»
einigen laſſen.
Zur Veberfegungsliteratur.
Bedenkt man, wie allgemein verbreitet heutzutage bie
Kenntniß der nenern Sprachen ift, fo muß es in der
That befremben, daß die Uebertragungen aus denſelben
ind Deutfche noch immer, ja jet wol mehr als je, bei
und fo üppig wuchern. Man kann es ſich faum erklären,
fie wen diefe Bermittelungsverfuche eigentlich beftimmt
fein. Jetzt, wo jeder halbweg Gebildete mindeſtens eng⸗
liſch und franzöfifch verſteht oder doch gelernt Hat, follte
man glauben, es können für UWeberfegungen aus diefen
Sprachen kaum noch Leſer gefunden werden. Und doch
muß dem fo fein, fonft würden bergleichen Erfcheinungen
bald vom Büchermarkte verſchwinden; denn auch bier
richtet fi) da8 Angebot natürlich und ebenjo ftreng wie
in andern Artifeln nad der Nachfrage. Soll man die
Thatfache beklagen, oder joll man ſich freuen, daß, bei aller
Berbreitung des Stubinms der neuern Sprachen, ber
ſchwierigen Ueberſetzungskunſt, von welcher gerade die
deutfhe Literatur ſolche Meifterwerke aufzumeifen hat,
noch immer Gelegenheit zur Uebung geboten wird? Bei
reiflicher Ueberlegung wird man ſich wol fürs letztere ent-
ſcheiden müſſen; denn eine fo gründliche Kenntniß ber
Sprachen unferer Nachbarvölker, wie fie zum wahren
Genuß ihrer zumal poetifchen Schöpfungen erforderlich
ift, wird fi im allgemeinen fchwerlich erzielen lafien, es
fei denn auf Koften der Mutterſprache, was fein Ber-
nünftiger wünſchen oder verlangen wird. Unter fo be»
wandten Umftänden werden wir alfo gelungene Vermitte⸗
lungen gebiegener Werke fremder Nationen auch jet noch
willfommen heißen und denen, welche fich diefer ſchwieri⸗
gen und im Grunde wenig lohnenden Arbeit unterzichen,
dankbar fein müſſen. Bon ſolchen Berfuchen Liegen uns
die folgenden Nummern vor:
1. Billiam Cowper's ausgewählte Dichtungen. Ueberſetzt
von ri ifhelm Borel. Leipzig, Naumann. 1870. Gr. 16.
Diefer vollsthümliche Dichter Englands erfcheint hier
zum erften mal in beutfchem Gewand; und wie er ber
Zeit nach der erfte von den hier zu befprechenben ift, fo
Zur Meberfegungsliteratur. 235
it er auch ihr eigentlichen Vorgäuger was die Art feiner
Dihtung betrifft. Er nämlih ift es, dem das Ver⸗
bienft zuerfannt werben muß, bie bis in die Mitte des
18. Jahrhunderts hHerrfchende Kunſtpoeſie verdrängt und
die Naturdichtung angebahnt zu Haben. Ohne ihn würde
England vielleicht Teinen Wordsworth und ebenfo wenig
einen Tennyſon befigen. Er ſelbſt bat eigentlich in ber
englifchen Literatur Feinen Vorgänger gehabt, denn die
geſammte Iyrifche Dichtung Englands vor ihm war, mit
nur einzelnen wenigen Ausnahmen, bloßes Kunftprodnct.
Selbſt Shakſpeare's Herzensergüffe — wenn feine So—
nette wirklich folche find — find nie ins Volksbewußtſein
gebrungen, vielleicht eben ber Fünftlichen Form wegen.
Die einzige Volkspoeſie Englands vor Comper, nimmt
man Marlowe’ „Come live with me” und einzelne
Lieder von Robert Herrid aus, hat daher in ben Balla-
den beftanden, und derart ift die Lebenskraft ſolcher Pro-
ducte, daß, als fie durch die Herausgabe von Percy's
„Reliques" dem Bolfe wieder von neuem zugeführt wur»
den, fie, wie in Deutſchland, auch in ihrem Baterlande
eine neue Poeſie ind Leben riefen, wie fie England bis
dahin nicht gefannt Hatte. Hatte fich feitdem ein Mittel
fand herangebildet, der an ber frühern Hof- und Ritter
poefie feinen Gefallen finden konnte, fo mußte aud) ein
entfprechender Dichter erftehen, um ber neuen Klafje zu
genügen, ihren Gefühlen Ausdrud zu verleihen, ihre
Sprache zu fprechen. Und fo hat man William Cowper
nt Recht ben „Dichter bes Mittelftandes” und feine
Dihtung die „des Stillebens” genannt. Es Heißt von
ihm bei Chambers:
Bir Haben größere uud erhabenere Dichter ale Cowper,
aber feinen, der jo gänzlich mit unferm täglichen Dafein ver-
wachſen, jo boliftändig unfer Freund, unfer Begleiter in der
Baldeinfamleit und in Augenbliden des eruften Gedankens
wäre. Wir finden ihn ſtets janft und liebevoll, felbft in feinen
vorübergehenden Anfällen afcetiiher Dunkelheit — einen reinen
Spiegel von Liebe, Bedauern, Gefühlen und Wünſchen, bie
wir alle gehegt haben oder gern begen möchten! Shalſpeare,
Spenfer und Milton find Geifter ätherifcher Art; Cowper aber
iR ein unmwanbelbarer und werthvoller Freund, deffen Gejell-
ihaft wir mol zuweilen für die glänzenderer und anziehenderer
Genoſſen vernadhläffigen mögen, defjen nie wanlende Treue aber
und Reinheit des Charakters, mit reichen geifligen Gaben ver-
bunden, im fillen fich uufer immer wieder bemädhtigt und uns
auf immer mit ihm verbiudet.
Kann man wol einem Dichter Größeres nachrühmen?
Unter den heutigen deutſchen Dichtern könnten wir nur
etwa Seibel ihm an die Seite ftellen; doch ift auch diefer
fo volksthümliche Dichter nicht entfernt in dem Maße ins
Bolt gebrungen wie Cowper, defien Berfe vollftändig fo
Semeingut in England find wie in Deutfchland vielleicht
une Schillers. „Ihm war e8 übrigens vergönnt“, be⸗
merkt Borel, „ſchon bei feinem Leben die Volksſtimme filr
fi zu gewinnen. Die Leute von Gefhmad lafen ihn
ber Anmuth feines Stils, die Denker feiner religiöfen
Tiefe wegen”, und wie bei feinen Lebzeiten, fo lad man
ihn auch noch lange nad) feinem Tode, und keiner ber
nenern Dichter bat fein Andenken zu verdrängen ver⸗
mocht, jo fehr find feine Gedanken, feine milde Weisheit,
feine der Tiefe des Herzens entflammenden, anſpruchsloſen
Dichtungen in Fleiſch und Blut des Volls übergegangen.
Er ift vorzugsweife der engliſche Familiendichter, Ihe poet
of the fireside, geblieben, und wir flimmen mit bem Ueber⸗
jeger überein, wenn er jagt, Cowper fei ein bem deut⸗
hen Bollögeift verwandter Dichter. Wenn er aber hinzu»
fügt, er verdiene deshalb um fo mehr, in Deutfchland
befannt zu werben, „als wir nicht das Glück haben, daß
einer unferer großen Claſſiker auch ein ernfter Chriſt war
und in allen feinen Schöpfungen file jedes Ohr in der
Familie, auch für das kindliche, taugt”, fo müſſen wir
befürchten, wir haben es mit einem Pietiften zu thun,
dem, wie einft den Buritanern in England, die echte
Kunft ein Abfchen ift und dem eine fromme Hymne höher
fteht als eine Horaziſche Ode oder Goethe's Fifcherlied.
Gegen eine ſolche Auffafjung unfers Urtheils über
Cowper müflen wir entfchieden Verwahrung einlegen. Eine
derartige Gefchmadsverirrung möchten wir uns nicht zu
Schulden kommen laffen, wenn wir dem Dichter, den wir
gern mit dem Ueberſetzer als „harmlos“ bezeichnen wollen,
fein ihm gebührendes, aber auch nicht mehr als fein ihm
gebührendes Berdienfl zuertennen. Biographen und Ueber-
jeger, die fih in ihren Gegenftandb vertieft und mit Herz
und Seele eingelebt haben, verfallen leicht in den hier
gerügten Irrthum; fie verlieren die Klarheit des Urtheils
und find mehr oder minder verbiendet. Die Kritik aber
darf nie vergefjen zu fcheiden; denn das eben ift ja ihre
Aufgabe: fie muß ſtets befonnen genug bleiben, um das
richtige Maß im Lobe ebenfo wie im Tadel einzuhalten.
Eine gerechte Kritik barf eben weder unter» noch über⸗
jhägen. Dies ift zwar ein Gemeinplag, doch mußte
bier nothiwendigerweife daran erinnert werben.
Was nun die Mebertragung felbft anlangt, fo ift fie
durchweg als gelungen zu bezeichnen; fie ift glatt und
ſauber und bat es verftanden, den Ton bes Driginals
jo genau wie möglich anzufchlagen. Hingegen befchränft
fich die Auswahl nur auf die Heinern Gedichte Cowper's, zu
denen doch felbft die berühmte Baflade von „John Gilpin‘,
die vorzüglich wiedergegeben ift, gezählt werden muß;
von feinen größern Sachen jedoch, alfo von dem, maß,
wie Borel in ber Einleitung erwähnt, Coleridge „a divine
chit-chat‘, „ein göttliches Geplauder”, genannt hat, ent-
hält der vorliegende Band nichts. Vielleicht beabfichtigt
ber Ueberfeger, das Berfäumte in einem zweiten Bande
nachzubolen und dem deutfchen Publitum wenigftens aus-
zugsweiſe „The Table Talk“, „Tbe Task“ u. f. w. vor⸗
zulegen. Erft dann nämlich würde das beutfche Urtheil
dem Dichter gerecht werben können.
2. Lieder und Balladen von Robert Burns. Deutich von
a oh Laun. Berlin, Oppenbeimer. 1869. ®r. 8.
gr.
Längft feft und wohlbegründet ſteht diefes Urtheil auch bei
ung über den fchottifchen Sänger Robert Burns, und es wäre
überflüffig, bei biefem Dichter des Längern zu verweilen.
Ein Genius erften Ranges, fteht er unerfchüttert im Tem⸗
pel des Ruhms, und weder Zeit noch Mode wird ihn
je aus feiner Nifche verdrängen. Kein Wunder, daß er
fortwährend bie Weberfegungsluft unferer Landelente an-
regt. Erſt vor fünf Jahren brachte die hildburghauſenſche
Sammlung eine treffliche Uebertragung einer größern Zahl
der Lieder Robert Burns’ von Karl Bartſch, und abermals
liegt eine folde Auswahl — denn das find fie, obfchon
30 *
238
feine von beiden fi) fo nennt — mit einer recht ſach⸗
fundigen Einleitung vor. Belanntlih wird Burns ftets
als unmittelbarer Nachfolger — eigentlich, follte e8 heißen
als geiftesverwandter Zeitgenofle — des eben beſprochenen
Cowper genannt. Ob er diefen ebenfo gelefen und ge-
witrdigt hat, wie diefer ihn, ift nicht mit Beftimmtheit
anzugeben, obwol erfteres jedenfall angenommen werden
darf. Wie dem indefien auch fei, fo ift das Zuſammen⸗
treffen des Schotten mit dem Engländer in der Richtung
aufs Natürliche gewiß nur ein rein zufälliges, und fo
fiimmen wir mit Laun überein, wenn er jagt: „Burns,
ohne alle literariſche Tendenz und blos den Eingebungen
feines Genius folgend, hat mit dem Zauber feines Wohl«
laut8, feiner Friſche und Natürlichkeit nad) einer langen,
öden Periode die Herzen wieber zu treffen und zu rühren
gewußt und gezeigt, was wahre Lyrik iſt.“
Nur wollen wir damit nicht wieder unfer Urtheil über
Cowper umftoßen und Laun au, darin beipflichten, wenn
er don biefem fagt, er konnte wegen der Rauheit und
Härte feiner Form nicht durchdringen. Die Literarhiftos
riker fündigen nur zu oft durch ihren Schlendrian, durch
die Art und Weife ihres Schematifivens. Bei gleichzeiti=
gen Größen namentlich kommt ficher ſtets einer zu kurz:
ungefähr fo wie man von den Ehen jagt, es fei ſtets
eine Hälfte die betrogene. Kin Shakfpeare verduntelt, ob
mit Recht ober Unrecht das wollen wir hier ganz dahin-
geftelit fein laſſen, alle feine Zeitgenofjen; wie lange bat
man fich nicht bei uns darum geftritten, ob Goethe oder
Schiller der größere Dichter fei; neben bem im heutigen
England faft alle Aufmerkſamkeit in Anſpruch nehmenden
oder in ber Mode feienden Tennyſon kann kaum ein an«
derer Dichter auflommen, und wir haben es erlebt, daß
ein fonft gar tüchtiger Kenner der englifchen Literatur in |.
Deutſchland den genialen, neue Bahnen brechenden Swin⸗
burne, der in feiner „Atalanta” ein fo glänzendes Zeugniß
feiner dramatischen Begabung abgelegt, zu den Nachtre⸗
tern des „Poöta laureatus“ gezählt hat. Durch die Sucht
zu Haffificiren, wird man ſelten dem einzelnen geredit.
Man urtheilt fo gern nad) der Schablone — wo bliebe
fonft da8 Syftem, was würde aus der Titeraturgefchichte
werden? War ſchon Cowper nicht unterzubringen, war
er ein Dichter, der feine eigenen Wege — die Wege bes
Herzens — wandelte, fo ift Burns vollends incommen⸗
furabel, wie e8 jeder echte Genius iſt. Er mußte fingen,
wie es die Nachtigall im Walde muß, weil fie nicht
anders kann. Ein folder Sänger läßt ſich nicht klaſſi⸗
fieiren — er ift eben er felbft: er ift Robert Burns.
Iſt es aber richtig, daß auch der Genius jedesmal
ein Kind feiner Zeit ift, fo leidet der Sat infofern auf
Burns Anwendung, als „bie Poefie”, wie Laun mit Recht
fi äußert, „den Schotten immer Herzensſache geblieben
war. Sie lebte, als Burns geboren wurde, zugleich mit
den Hiftorifchen Erinnerungen und Xraditionen, in den
MWeifen der alten Minftrelgefünge und den neuern Jako—
bitenliedern noch fort, fie waren Fein todter Schag, der
Mund des gejangsfreudigen Volls hatte fie lebendig er-
halten, und gerade dadurch, daß Burns an das im Volle
no Borhandene anknüpfte, ift er fo volksthümlich ge⸗
worden.”
Nah dem Urteil Carlyle's, der in den „Liedern“
.y PEarE EP
Zur Ueberfegungsliteratur.
die au@genrbeitetften und vollftändigfien Yeiftungen bes
Dichters findet, hat Laun fich bei feiner Ueberfegung meift
auf diefe bejchränft: einige Balladen find wol aud) mit
aufgenommen, das Meiſterwerk Burns’ aber, fein „Tam
O’Shanter”, vermiffen wir auch hier wieder. Daß es übri«
gend dem Ueberſetzer gelungen, „nebft Siunestreue einiger-
maßen die Melodien des Schotten im reinen Fluß eines
dem bdeutfchen Ohr wohltönenden Liedes durchklingen zu
laffen”, wollen wir ihm gern bezeugen.
Daſſelbe können wir den beiden nüchſten Berfuchen,
die noch zu befprechen erübrigen, nachrühmen. Es find:
3. Enoch Arden. Ein Gediht von A. Tenuyfon. Ueber⸗
Ieht mon 5.8. Weber. Leipzig, Naumaun. 1369. Gr. 16.
r.
4. —* Held von Alfred Tennyſon. Aus dem Eng⸗
Tifchen Übertragen von H. X. Feldmann. Mit einem Bor-
wort von Emanuel Geibel. Hamburg, Grüning. 1870.
16. 15 Nor.
Für erfteres fehlen uns die zahlreichen Vorgänger zum
Bergleih. Möglich, dag ein folder ein noch günftigeres
Urtheil für den Ueberfeger ergeben dürfte; wo aber fo
tlihtige und bewährte Dichter mit ihm um die Palme
ringen, dürfte der Vergleich auch anders ausfallen und
das Sprichwort fi bewähren: „Der größte Feind des
Guten ift das Beſſere.“ Wir fagen blos: dürfte, wäh-
rend und vielleicht Hier die befte Uebertragung vorliegt.
Jedenfalls beweist die Widmung an des Ueberſetzers Gat⸗
tin, daß er den Geift bes Gedichts richtig erfaßt hat.
Sie lautet:
Im ſchlichten Buch ein einfach fchlichtes Lied!
Ein Bud, das recht zu unſerm Hausrath paßt,
Zu Eid’ und Eiche, wie zn Woll’ und Leinen;
Ein Bud), jo ſchlecht und recht wie bu und ich
Und unfre lieben zwei: Gott fegne fie
Und fegne fie mit fiebenfahen Segen!
Ein Lied, das felbft des Reimes Put verjchnäht,
So einfach) wie des Dorfes Abendläuten,
Wenn Scnjenwegen von den Wiefen klingt;
So einfady wie die Blumen, bie dort fallen,
Bom fcharfen Hieb des fcharfen Stahls gemäht:
Orchis und Schadtelhalm, Caltha und Kreffe.
Wohl dir, du gute Frau, wohl dir und mir,
Daß unfer Herz noch bebt beim Abendläuten,
Daß unfre Augen froh gerührt noch fehen
Der armen Wiefe reiche Gotteswunder:
Orchis und Schadtelhalm, Caltha und Kreffe.
Bom legten Gedicht des „Po&ta Laureatus” (Nr. 4)
jagt Seibel im Vorwort:
Schon öfters hatte ich mein Bebauern barliber ausgeſpro⸗
hen, daß gerade dies bedeutende, für Tennyſon's Eigenthlemtich-
feit fo bezeichnende Werk von feinem der bisherigen Ueberſetzer
berüdfihtigt worden, als mir zu meiner Freude im Laufe des
vergangenen Frühjahrs die nachſtehende, in jeder Hinficht ge⸗
Iungene Verdeutſchung von Freundeshand mitgetheilt wurde.
Wir freuen ung um jo mehr über Geibel's Beurthei⸗
lung dieſes befondern Gedichts, als wir gleich nach deffen
Erſcheinen dafjelbe Urtheil in der „Nordifchen Revue‘
gefällt und fein Bedauern ſeitdem getheilt haben. Ebenſo
erfreulich aber iſt e8 ung, daß Geibel diefelbe Anficht
über Tennyſon als Dichter überhaupt hegt, die wir be=
Kan bei mehrern Gelegenheiten ausgefprochen haben. Er
agt:
Zennyjon ift fein bahnbrechender Genius, wie fie zumeift
nur im Beginn auffleigender Literatnrepochen hervortreten; ex
Lin a — —
Philoſophiſche Schriften. 237
trägt durchaus den Stempel einer ellektiſch gewordenen Zeit.
Aber er ift eim fchönes, vielfeitig durchgebilbetes Zalent, ein
fiebenewürdiger Charakter, ein gewifjenhafter Künftler.... Zu
Byron verhält er fih etwa wie Mendelsfohn zu Beethoven.
Bon der vorliegenden Dichtung bemerkt er:
Zu der umfangreihften und intereffanteften diefer focialen
gebensbilder gehört das Gedicht: „Aylmer’s Field”... Aus
gezeichnet durch poetiiche und vhetoriiche Gewalt wie durch glän-
zende Charalteriſtik behanbelt es die in ‚,Lodsley Hall’ lyriſch
durchgeführten Motive in erſchütternder Erzählung Ein er
greifenderer Proteft wider die Unnatur erflarıter Menſchen⸗
ſatzung ift wol faum aus der Feder eines Dichters gefloffen.
Unfere Worte in gedachter Revue Tauteten:
„Ayimer’s Field’ ift eine erfchlitternde, hochtragiſche Er»
zählung, die, als Strajpredigt gegen den Götzendienſt, der mit
dem Dammon getrieben wird, nad) unferm Dafürhalten eine
der wicdtigften focialen Fragen behandelt. Der ganze Zauber
Tennyſon'ſcher Poefie ift fiber diefe Erzählung ergofien; keine
Härte ſtört ben melodifhen Fluß oder verunftaltet das Ebenmaß
diefer ſchwungvollen Berje, und die bilderreiche Sprade iſt von
einem Schliff, der faft alles von ihm bisher in diefer Bezie⸗
bung ©eleiftete übertrifft.
Und fo wollen auch wir diefe Berdeutfchung mit Geibel
dem deutfchen Lefer empfehlen und ihm verſichern, daß er
ihr „manche genußreiche Stunde verdanken‘ werde.
David Afher.
Dhilofophifche Schriften.
1. Die pfychophufifche Bewegung in Rüdficht ber Natur ihres
Snbftrate. ine fritifche Unterfuhung ale Beitrag zur
empirischen Pfgchologie von Otto Caspari. Leipzig, Boß.
1869. Gr. 8. 18 Ngr.
Eine fleißige und achtungswerihe Studie mit voll»
fländiger und kritiſch gewandter Benugung der einfchla-
genden Literatur. Neue leitende Gefichtspunkte oder tiefe
Ideen werden freilich nicht zu Tage gefördert, aber der
Laie belommt einen guten Weberblid über das gegenwär-
tig fo wichtige Gebiet derjenigen Refultate ber Phyſiologie
und Pſychophyſik, welche geeignet find, Schlüffe auf die
Art des Zufammenhangs und der Beziehungen zwifchen
Leib und Seele zu geftatten. Der Verfafler, welcher
ebenfo wol dem Dualismus, der Leib und Seele als
heterogene Elemente einander entgegenjegt, wie der ums
motivirten ( Fechner'ſchen) Inbentification des individuellen
Leibes mit der individuellen Seele entgegentritt, ſucht mit
Recht das einende Band in einer wefensgleihen Beſchaf⸗
fenheit beider Theile ober Seiten. Er acceptirt einen
dhnamifchen Atomismus, der ſich auf Fechner und Ulrici
fügt, und betrachtet im Anfchluß an die Leibniz⸗Herbart'ſche
Philoſophie bie Seele ebenfalls als ein ausdehnungslojes
punktuelles Kraftweſen, als ein pfüchifches Atom, das
irgendwo im Leibe feinen Sit haben muß, aber mit
der Fähigkeit der Ortsbeweglichleit ausgeftattet iſt.
Wenn der Berfaffer der Erwägung Raum geben wollte,
daß denjenigen Sraftwejen, die man materielle Atome
nennt, nur deshalb ein punftueller Sig im Raume zu-
geichrieben wird, weil ihre räumlichen Kraftwirfungen bie
Eigenthümlichkeit haben, fich in ihren ibeellen Berlän«
gerungen nad; rückwärts in einem imaginären mathema-
tiſchen Punkte zu ſchneiden, daß aber den räumlichen
Kraftwirkungen der pſychiſchen Kraftweſen diefe nähere
Beſtimmung nicht zufommt, fo würde er fid) der Noth-
wendigfeit überhoben jehen, der bloßen Analogie und
Gleihartigkeit zu Liebe die unräumliche Seele an einen
räumlichen Punkt zu bannen, der im Leibe fpazieren gebt,
und wilrde die Gleichartigkeit des Geiftes und der Ma-
terie al8 an umd für fi unräumlicher aber räumlich
wirtender Kraftwefen erfennen. Es ift kaum zu glauben,
daf beinahe ein Jahrhundert nach Kant's „Kritik der reinen
Bernunft“ eine zahlreiche Schule von Gelehrten ſich nod)
über den „Sit der Seele den Kopf zerbriht und noch
immer mit den alten Kategorien der Wolf’fchen rationalen
Piychologie in moderner Herbart'ſcher Aufarbeitung ihr
Weſen treibt.
2. Die dichteriſche Phantafie und der Mechanismus bes Be-
wußtſeins. Bon Hermann Eohen. Berlin, Dümmier.
1869. GEr. 8. 20 Nor.
Der es liebt, fi durch Eſſays anregen zu laſſen,
die einen glüdlichen Gedanken flizzenhaft behandeln, ohne
ihn allfeitig zu verknüpfen und zu bewältigen, dem fei
die vorliegende Schrift beftens empfohlen. Wennſchon
die dichterifche Phantafie meiner Anficht nach eine ſecun⸗
düre Erjcheinung im Vergleich mit der plaftifhen Phan-
tafie ift, und eine erfchöpfende Erörterung der Natur ber
Phantafie mithin von Ietterer ausgehen müßte, ohne die
nebenherlaufende Abart ber mufifalifchen Phautafle zu
vernadjläffigen: fo fchränkt der Berfafler fein Thema, die
dichteriſche Phantaſie, dadurch noch mehr ein, dag er ben
geiftigen Stoff der Dichtung in Feiner Weife berührt,
jondern fih nur an das Gewand berfelben, den fprac-
lichen Ausdrud mit feinen poetifchen Bildern, hält. Sein
Berdienft liegt darin, daß er ein unbequemes Problem,
welches man fonft gern ignorirt, zu löſen fucht, nämlich
die Frage: wie ift e8 möglich, daß ein gebildeter Menſch
in der Poeſie Anfchaunngen duldet und producirt, deren
Falſchheit ihm wiſſenſchaftlich feſtſteht? Der Berfafier
geht auf die Entſtehung dieſer poetifhen Anſchauungs⸗
weife zuriid und zeigt, daß fie aus der mythiſchen ent-
jprungen if. Das mythiſche Bewußtſein iſt noch durch⸗
aus einheitlich und kommt erſt dann mit ſich in Zwie⸗
ſpalt, wenn eine beffere wiffenfchaftliche Einficht ihm die
Unrichtigkeit feiner bisherigen Anſchauungsweiſe zeigt.
Aus diefem Conflict entfpringt die poetifche Anſchauung,
indem die alten Fdeenverbindungen, die ſich als Gleichun⸗
gen nicht mehr behaupten fünnen, nunmehr auf das Ni-
veau der Bergleichungen herabgefegt werden. Sie können
aber deshalb nicht ganz verdrängt werden, weil fie befier
als die mwifjenfchaftliche Auffaffungsweife im Stande find,
die Gefühlegrundlage der Vorſtellungen (Berfaffer nennt
bies mit einem fehr unglüdlich gewählten Ausbrud die
formale Seite der Borftellungen) feftzubalten und zum
bedingenden und verfnüpfenden Moment der Ideen⸗
affoctatton zu machen. Die Behauptung derfelben wird
dadurch unterftüßt, daß jeder Menfch in feiner Kindheit
jelbft eine Beriode der mythiſchen Anfhauung durchmacht,
deren Apperceptionen im Gedächtniß haften bleiben, außer-
. Er Da en n
we”. A -
238 Benitteton.
dem auch durch den Rüdblid auf große anerkannte Bor-
bilder vergangener Seiten, ſowie durch die unmillfürliche,
die Stepfis einfchräntende Achtung vor bem lange Be
fließenden, welche daſſelbe als ein objectiv Beſtandiges er-
feinen läßt. Bei jedem bedentenden Fortſchritt in der
wiffenfchaftlichen Naturauffaffung, bei jedem „Gewahr ·-
werben einer fremden Cultur“, wie Goethe fagt, wieder«
holt ſich der Proceß der Ablöfung von der Naivetät
bisher unangetafteter mythiſcher Anſchauungen, fodag man
dem Reichthum der Urzeit immer weiter entrüldt wird.
„Es ift eine Frage von der höchften Bedeutung, ob es
möglich fein wird, die mythiſchen Borftellungen volftän-
dig durch die wiflenfchaftlichen zu unterbrüden. Gin
gründficher Fortſchritt Tann nur auf dieſem Wege er
reiht werden.” So ſehr ich dem BVerfaffer im weſent ⸗
lichen zuſtimmen muß, und fo fehr ein Vergleich zwijchen
der Sprache Homer's und derjenigen der modernen No«
velle oder bes Romans dieſe Anficht beftätigt, fo drin»
gend naft fi uns die Frage zur weitern Behandlung,
inwieweit bie fogenannte poetijche Sprache als eine uner»
laßliche Bedingung und als ein Lebenselement der Poeſie
felbft betrachtet werden Könne.
Feuilleton.
Die „Revue des deux mondes” fiber Arthur
Schopenhauer.
Das zweite Märgheft der „Revue des deux mondes"
Bringt unter der Ueberfcrift: „Un bouddhiste contemporain
en Allemagne“ einen Cfjay von Challemel Lacour Über Ar-
thut Schopenhauer. Die Studie beridfichtigt auch die Werke
Fe San mer ee en indner ‚und
ayın. Der Berfafier bezeichnet Schopenhauer's Syſtem jeben-
— als Doetrin, melde der Fiiojonle einer der
ausgefprodenfien Neigungen des Jahrhunderts entipriht, der
Neigung zu jener büftern Stimmung, welde feit funfgig Jahren
in ver Die vorgeherrſcht und viele ernfle Gemüther mit forte
gerifen hat. Fr Sqopenhauer fteht meben dem Philoſophen
der Schriftftellee und der Denker *), und vom dieſen geht nichts
verloren; fie firenen einen Samen ans, den unvorbergefehene
BWindftöße, den unfihtbare Strömungen weiter forttragen nnd
von dem man fd wundert, wie er weithin befruchtend wirkt,
ohne da man fagen kanu, woher er Lomme.’
Sonft fagt ang Challeinel Lacour wenig Neues und manches
Unrichtige über die Schopenhauer'ſche Philoſophie. Das Jutereſ-
fantefte inbchte die Darftellung feiner perſönlichen Beziehungen
zu dem merkwürdigen Bhilofophen fein. Diejer, fonft nicht
ieicht zugängli, empfing gern Engländer und Framoſen.
Lacour traf ihn im feiner Vibliothel, wo Kants Büſte vom
Hagemann gleich in die Augen fiel; er ſelbſt faß gerade für
die feinige, welche eine fchägbare berliner Künflerin, Fräulein
Rey, vollenden wollte. „Schopenhaner war damals 71 Jahre
alt, Haare und Bart ganz weiß; aber es war ein munterer
Geis, mit den Augen und Geberben eines jungen Mannes.
Ein forkaftifher Zug um feinen Mundwinkel frappirte mic);
er hatte nichts von der firengen Würde eines Fachphilofophen.
Er empfing mic, freundlich aber ohne fid zu erheben und
ohne aufzuhören mit dem Lieblofungen feines fchönen ſchwarzen
dhundes, die für die Menfchen fat etwas Berletzendes hat»
ten! Als er fah, daß mir dies auffiel, erzählte er, daß er den
Hund Atına («Weltfeele» im Sanskrit) genannt jbabe, daß er
die Hunde liebe, weil er nur in ihnen die Intelligenz ohne die
meujchtiche Heuchelei finde.” Bei einer fpätern Zufammenkunft
an der Table / d'hote fand ihn Lacour an der Seite mehrerer Offie
jiere figen. Er fah, wie vor ihm, neben feinem Zeller, ein
'ouisd’or Tag, ben er beim Aufflehen am fich nahm und in
feine Taſche fette. „Diele zwanzig Fraucs“, fagte er, „lege ich
feit einem Monat vor mid) Bin, mit der Abfiht, fie den Ar»
men zu geben an dem age, wo dieſe Herren während bes
Mirtogefiens von etwas anderm geſprochen Haben werden ala
von Avancement, von Hunden und Frauen. IA kann fie no
immer in die Taſche fleden.” Diefe Weußerung gab Ber-
anfafjnng zu einer Diatribe gegen bie rauen, wie man fie
von Schopenhauer gewöhnt if. Die Frauen haben nah
feiner Anfit am meiſten dazu beigetragen » der modernen
Belt das Böfe, an dem fie leidet, zu inoculiven. Er vergleicht
. F u t ıbar ben „„ tifhen" Dene
— Segen a0
fie mit dem Tintenfiſch, der fi im eine ſchwarze Wolfe Hült,
feine Zinte ansiprigt und das Waffer trübt. Das find die
Waffen der Frauen. Als Lacour den Foriſchritt der Meuſchheit
betonte, rief Schopenhauer ans: „Der ortichritt iR eure
Chimäre, er iR der Traum des 19. Iahrhunderts, wie die
Auferftegung der Todten der des 10. Jahrhunderts war; jede
Zeit hat ihren Tranın. Wenn ihr eure Vorrathsfpeiher und dies
jenigen der Bergangenheit erihöpft, enere Kenntniffe und Neid«
thümer noch höher aufgethlivmt haben werdet, wird ber Menſch
beum, gegenliber diefem riefigen Haufen, weniger Hein erſcheinen?
Krufelige Emportömmlinge, bereichert mit dem, was ihr nicht
gervonnen Habt, ſtolz anf das, was end; nicht gehört, an⸗
maßende Bettler, bie ihr Aehren leſt auf dem Feid ber erſten
Erfinder, und bie ihr euere Ruinen plündert, vergleicht dod,
wenn ihr es magt, ihr, bie ihr enere GEntdedungen mit jo
großem Pomp verkündet, die Wgebra mit der Spradie, ben
ru mit der Schrift, euere Wifenfgaft mit den einfaden
Berechnungen berjenigen, die zuerft den Himmel betrachteten,
euere „steamera'' mit der erften Barke, der ein Vermegener ein
Segel und ein Steuerruber gab! Was find eure Iugenieurs
und Ghemiter neben denjenigen, die euch das Feuer, den Pflug
und bie Metalle gegeben haben? Ihr Habt aus dieſem allen
göttliche Geſchenle gemacht, ihr habt recht gehabt. Warum
denn feid ihr fo anmafend? Ich fehe die Pyramide wachſen,
die ihr nicht begonnen Habt, die ihr micht vollenden werdet;
aber wird der legte Arbeiter, der fi auf ihre Spite nieder
fegen wird, größer fein als derjenige, der ben erſten Block dazu
legte? Erzählt mir zum taufendftenmaf euere laugweiligen Ge-
ſchichten, und wenn die vergangene Größe euch nicht genügt,
nehmt die Zukunft vorweg, fcheut euch micht zu prophezeien.
Macht den Wechſel der Bühne noch mannichfaltiger, vermehrt
die Zahl der Schaufpieler, ruft.die menſchlichen Raſfen auf die
Bühne, erfindet Peripetien, wenn eure Phantafle reich genug
dafür if. Diefe Geſchichten find wie die Dramen von da
die Motive, die Borfälle wechfeln in jedem Stüd und wieder
holen fid nie, aber ber @eift, der bie Vorfälle beherrſcht, if
unmwandelbar, die Kataſtrophe flets vorauszufehen, die Perfonen
find immer dieſelben. Trot aller Erfahrungen und aller Züd-
tigungen bleibt Pantalon immer glei plump und geigig,
Zartaglia immer gleich ſchelmiſch, Brighetta immer gleich feige,
Eolombine immer glei) Lolett und treuloe. Gluclicherweiſe
finden fie ein Parterre, das flets bereit iſt, das Stüd des Abends
ju beklatſchen, weil es fi nicht mehr auf das Stüd des vor-
jergehenden Abends befiunt. Mit Entzücken, mit offenem Munde,
gemartungeooll folgen die Zuſchauer dem Fortfhritt der Dinge
bis zur Entwidelung, deren Einförmigfeit fie in Eſtaunen fegt,
ohne fie zu entmathigen.”
Rudolf Weſtphal Über dem deutſchen und italienie
[hen Reim.
Der berühmte Berfaffer der „Metril der Griechen” WeR-
phal hat 5 fon früher auch auf dem Gebiete der deutſchen
Grammatik bewegt. Seine Unterfugungen über die gothijchen
Auslantegeſetze find geradezu als epochemachende zu bezeichnen,
Feuilleton,
ie waren ebenfo wichtig ſüur die Sprachvergleichung wie für
die deufhe Grammatik fpeciel. Neuerdings wandte Weſt ⸗
phal noch eindringlicher dieſen Dieciplinen zu, welche ihm
nad) feinem eigenen Belenntniffe ſeit dem erſten Deginne feiner
Sudienzeit vor allem bie liebften geblieben find. Cine Frucht
diefer fprahnoiffenfhaftfichen Studien iR feine „‚Phiofophifd«
Hiforifhe Grammatik der deutſchen Sprade” (Iena, Weaute,
1869). In dieſem trefflichen Werke find zwei Veftandtheile zu
einem einheitlichen Ganzen verwebt, der eigentliche grammati-
fe und der fprahphilofophifche, und beiden Befandtpeifen if
im Bude eine gleichberechtigie Stellung gegeben. Bei dieler
Anfoge konnte nicht das gejammte germanifche Sprachmaterial
amfefend verzeichnet werden, wie e8 bei Jakob Grimm geſche⸗
Sen, fondern das Hauptaugenmerk ift dem Gothiſchen und un«
fern beiden ätteften Dialelten, dem Althochdeuiſchen und Alt -
niederdeutſchen, zugewandt. Das Werk handelt zuerft vom Worte
im allgemeinen und von feiner lautgeſchichtlichen Geſtaltung,
unter welcher Rubrik die Wurzeln, dann die Stämme nnd
Flerionen befproden werden. Das zweite Kapitel ift dem Ber-
bum gewidmet und gibt zuerſt eine genetifche Entwidelung der
Verbalflerionen und fodann eine Darlegung der germaniſchen
Conjugation. Schon aus dieſer Inhaltsangabe # erfihtlic,
daß in dem vorliegenden Werke ber Stoff nicht erſchöpſt if,
fondern daß in ihm nur die erſten Theile der Grammatik ihre
Dorfiellung gefunden haben. Der Berfaffer flellt eine abſchlie-
ende, fhon drudjertige zweite Abtheilung von gleichem Um-
fange in Ausficht; wir wollen hoffen, daß aud; diefe recht bald
der Deffentlichfeit übergeben werde. J
Befphal lommt in den Einleitungeworten auf die Bor-
‚üge der deutſchen Sprache im Hinbfid auf die der romauiſchen
und ſiawiſchen Nacjbarvölfer zu ſprechen. Ju unferer deutſchen
Eprade herrſcht von älteſter Zeit bis auf den heutigen Tag
trog der großartigften ſprachlichen Revolutioneu eine jo durch-
Ägtige Ordnung im Confonanten- und Bocalbeftande der Wur-
gel, daß fich für diefe Tegtern die zu Grunde liegende ur-indo-
ifche Form auf wifſenſchaftlichem Ziege felbR aus unfes
ter uenhochdeutſchen reconfruiren läßt, wogegen in den roma⸗
utfgen und flawiihen Spradyen der Wurzelf ha fid von der
Ürgefalt far zur üntennilichteit depravirt hat. Dagegen hat
fi der Deistiche in VBegiehung auf den alten Reichthum töncu-
der Slerionsendungen weniger Haushäfterifc gezeigt. Bon der
di an, feit welcher uns bie einzelnen germanijhen Dialekte
friftlien Denfmälern vorliegen, läßt ſich das Streben,
den alten Bocalbeftand der Endungen immer mehr und mehr
zu verdrängen, von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter ver«
folgen, bis dann der Vocal der Endung zu tonlofem e herab ⸗
fiat. Daher die Unfcheinbarkeit der deuiſchen Wortausgänge
gegenüber ben Hingenden Bocafen ber Romanen und Slawen.
„Dod“, führt Weitphal fort, „[hämen wir uns biefer uuferer
Armuth nicht: fie iR die durch größere geiftige Rührigfeit ber
dingte Emtänßerung eines entbehrlich gewordenen Materials,
weiche zugleich das höhere Eulturleben des germanifdhen Stam-
mes und feine größere Berechtigung auf eine hervorragende
geidjiehtliche Stellung documentirt.”
Weiterhin weift Weſtphal in einer Anmerbung auf den
Unterſchied des deutfchen und andererfeits des romaniſchen und
Nawifden Reims Hin und charakterifirt insbefondere dem deut»
fen und italienifhen Reim. Diefe Bemerkungen find in or
hem Grade feinfinnig, weshalb wir fie Hier herausgeben möd-
ten. Zuerft wird ais allgemeines Kennzeichen des Reims hin ⸗
geſtelli daß er diejenigen Wörter zweier Säge oder Sagtheile,
auf welchen ber vorwiegende logiſche Nahdrud ruht, durch
Gleichheii des betonten Vocals und der auf ihm folgenden
comfonantifhen und vocalifgen Laute hervorhebe: „In der
deniſchen Boefle, wo fein guter Dichter ein tonlofes Form.
wort als Reimfilbe gebrauchen mag, if die dem Reime als
Grundlage dienende betonte Gilbe jedeemal eine Wurzelfilbe,
uud gerade bie Wurzelfilbe if dasjenige Element des Worte,
im welder fi) der durch die reimende Poefle Hervorzubebende
| Begriff ausipriht. Hat nicht fon mauder Deutfche die
° Stafiener, die Spanier um die File ihrer einen mannid-
239
fachen Vocalwechſel gefattenden weiblichen Reime beneidet?
Haben uidt in_neuefler Zeit die Berehrer des Dante das Ur-
theit_gefält, daß die deutihe Sprache, eben weil ihr diefe Art
der Reime fehlt, jenen Dichter Überhaupt gar nit im Schmude
des reimenden Verfes, fondern Lieber in Proſa wiedergeben
foltte? Cs ift wahr, der weibliche Ausgang bei italienifhen
Berfen fällt wohlfiingender ine Ohr als bei unfern deutſchen,
dafür aber hat in unzähligen Fällen der itafienifche und über
Haupt der romaniſche Reim nicht die logiſche und die eigentlich
dichteriſche Vedentung des beutfchen; denn es ift ja fa das
Gewöhnlide, daß er nicht die für den Begriff charatieriſtiſche
Wurzelfilbe hervorhebt, fondern auf eine für diefe ganz gleid;«
gültige Endſtibe fällt — er ift ein lediglich ornamentiflifches, aber
fein mit dem- wahren Wefen der Poeſie in näherm Zufammen-
Hange ſtehendes Clement; das letztere ift blos in der germani«
fen Poeſie der Fall.“
Bibliographie,
: Walther von der Vo-
ta Auf. herausgegeben
Talr.
;
J ig, 2
Delitzsch, J., "Die. Gonies 'hre des Thomas von Aquino kritisch
dargestellt. — örffling u. Franke. Gr. 8. 15 Ner.
ae SS BIETE Be a er ot
Er
Buclen bearbeitet, 2 Bde, Algendorff. er % * le.
* Denemei
lad‘ Lit und Ziemare Finferniß, Bon einem er.
— Oieverd u. Comp. 7 Dar.
Gotiesidee und Cultus bei den Ein Beitrag zur ver-
gleichenden Sprachforschun; Gr. 8. 12 Ngr.
Grietinger, E., Blätter aus aiter
un neuer Zeit, 3'@de: Ötattgart, Wogler m. Beinpaner, Cr. 16. 3 Kir.
Hopf, &., Die Sinwanderung ber Bigenner in Europa, Gin Bere
trag. Gotha, F. M, Wertes. 8. B Mar.
Die Yufarvetigu in Dalmatien. ‚Cine il if strifae Darkeng
ber Öterreigiiden Rriegsoperationen In ber Boca von Cattaro. Zien,
Yerled. Or. 8 Ba Bm -
Müpljelp, 3, 1545— 1868. as fahre Ir te
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SE e Gniersten an, 3 Bbe. Berlin, Bı
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Pi, Hör zn *. ie Enten im eriin, Brigt.
Nippo ., Die Heipniffe Iefu und das G⸗ in ber Ger
— Nase BEE BEN RLINE
(e de lat « In. Dffie
des Sumdfaen Gomitet, Ssenn[areg, Beeren, Pe Te
Otfrid, Christi Leben und Lehre besungen. Aus
schen übersetzt von J. Kelle. Br Tompsky. 8. 3 Thlr.
mdeulas, &, Ci Musfug mad Tom. Botiseg. Grutgart, Ref. &
Ätamall, @., Marie Antoinette, Granfreige Fingeriitete 2önigin,
ei — — —— —
jeriſu Große. 1. 8, a8 Ye
®., Der Galhberump. 3 Bre. Braunfgweig, Deftermanu.
„E., Frelmaureriſche Diätungen. Leipzig, Windel.
‚Bedigte. Auswahl bes Bi . #
Bei ut a Befg: 3 20 m uk
cilien in alter und neuer Zeit. Bortrag, satten
ttgart. Gtuttgart, I. . Gtelntopf. ®r. 8. 6 Rar.
ürfteneQbeal der Sejuiten In einem treuen Epiegelbilbe bare
Bogler u. Beinhauer. Br. 8. 18 Npr.
2» Gein ober Ridifein nad dem Zobe? Gine Bor
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pilten, $., Die Entfehung Der Weit und bie Einheit ber Rature
ati.” Populäre Sotmogone, ie Si. Dill, 6. Oemmanı. Ge. 6.
Preusseh.
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‚ermifchte Schriften. Herausgegeben von d. Aprent.
lie Snfelibinfen. Cine Duplt der Mäufer'fäen
L, 2, Für bie Infallibitiften. ine 1 ber infler’;
n, DölingerrAdreffanten. Dünfter, Brunn. ®r. 8. 6 er
Har, &. Die Snpiration der beiligen Bfrift: Gin Benin ar
nbigung. Ebaffhaufen, Durter. Or. ©. 4 Rgr,
Stolz. M., a8 6 für probe Yeute. Greißucg im Br., Gerber, &r.8.
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Triegen mit befonderer Bezugnahme auf die „Militatr-EitteratursZeitung”
während — —— ehe Don eier 1
It.
—78
leme D: 3 Das Lieb von ber Bölterfrein
—
ae ——
240 Anzeigen.
Anze
igen
— —
Vetſag von 5. A. Brochhans in Leipzig.
Soeben erſchien:
*8chiller-Halle.
Alphabetiſch geordneter Gedanken⸗Schatz aus
Schiller's Werken und SKriefen.
Im Berein mit Gottfried Frisihe und Mar Moltle
herausgegeben von
Dr. Mori Bille,
Director des Geſammt⸗Gymnaſiums zu Leipzig.
In 6 Lieferungen.
Subfcriptionspreis jeder Lieferung 10 Nor.
Dritte und vierte Lieferung.
Die „Schiller-Halle” ſtellt alle bedeutſamen Ausſprüche
Schillers, nach den Gegenftänden oder Stichworten alphabetifd)
geordnet, in bequemer Ueberficht zuſammen, bildet alfo gewiſſer⸗
moßen eine Real-Encyllopädie aus und zu Schillers fümmt-
Iihen Schriften, eine Art von Schiller-Eonverfations-
Lerilon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’® eigenen Worten
geichriebener Erläuterunge- und Ergänzungsband zu
Schiller's Werken genanut werden, ber jedem Beſitzer
derfelben zur Anſchaffung zu empfehlen if.
In allen Buchhandlungen find bie bereitö erſchienenen
vier Lieferungen nebft Profpect vorräthig nnd werden
Unterzeihinungen augenommen. Die beiden lebten Liefernu⸗
gen folgen baldigft.
Berlag von Heyder & Zimmer in Frankfurt a. M.
Dr. M. Luther’s
fammtlide Werke.
Herausgegeben von
J. K. Irmiſcher und E. 8, Enders,
Deutſche Werle 67 Bände 37 Thlr. 71, Nygr.
Lateiniſche Werke Band 1—31. 18 Thlr.
„Gewaltiger iſt wol nie ein Schriftſteller aufgetreten, in
keiner Nation der Welt. Auch dürfte kein anderer zu nennen
ſein, der die vollkommenſte Verſtändlichkeit und Popularität,
geſunden, treuherzigen Menſchenverſtand mit fo viel echtem Geiſt,
Schwung und Genius vereinigt hätte. Er gab der Literatur
den Charakter, den ſie ſeitdem behalten, der Forſchung, des
Tieffinns.“ Leopold Ranke.
„Luther war der fruchtbarſte, größte populäre Schrift⸗
ſteller der Deutſchen.“ Guſtav Freytag.
„Dieſe Ausgabe zeichnet fi von den frlühern, theils
durch ihre Vollſtändigkeit, theils durch größere Zerttrene, theils
durch möglihft unveränderte Beibehaltung der Sprachformen
Luther’s jo vortbeifhaft aus, daß wir fie allen Glaubens-
genofien unfers unſterblichen Reformators mit vollem Rechte
empfehlen. *' Literarifhes Kentralblatt.
„Wie viele Misverftändniffe über Kirchenfragen, wie viele
Streitigkeiten würden jchwinden, wie viele wahre Union wiirde
fih einfinden, wenn man ſich entfchlöfje, die Schriften Luther's
mit beilsbegierigem Herzen zu leſen.“
ERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 7. Heft.
Geschichte: Historisch-politische Umschau, von v. yy-
denbrugk. — Nekrolog.
Literatur: Das deutsche Drama der letzten zwei
Jahre III, von Dr. Alb. Lindner. — Geschichte des Ten-
felsglaubens, von Dr. Dühring. — Nekrolog.
Geographie: Geographische Umschau, I. Afrika, von
Dr. Rich. Andree. — Centralamerika, von Mor. Wagner.
— Nekrolog.
Zoologie: Die Wurzellaus des Weinstockes. — RBe-
generation der Flossen. — Die Hausratte. — Nekrolog.
Volkswirthschaft: Die norddeutsche Zettelfrage, von
Dr. Dühring. — Die nenen Werthe des Jahres 1869.
Handel und Verkehr: Der Streit um die neueren
Handelsverträge, von Dr. Dühring. — Nekrolog.
Fischerei: Austern in Amerika. — Ostseefischerei.
Kriegswesen: Die norddeutsche Flotte.
Technologie: Perusnisches Wismuth, — Mit Anilin-
farben gefärbte Syrupe. — Jantak-Schakar. — Nekrolog.
Politische Uebersicht: vom 15. bis 28. Februar 1870,
von v. Wydenbrugk.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
In 3. U. Kerns Berlog (Mar Müller) in Bredlan if
foeben erſchienen:
Des Grafen Ernſt von Mansfeld
lebte Pläne und Thaten.
Bon
AJulins Großmann, Dr. phil.
Gr. 8. Eleg. broſch. 25 Sgr.
Dieſes mit ſorgfältiger Benutzung vieler bisher unbe⸗
kannter Quellen verfaßte Werk berichtigt viele noch in den
letzten Biographien Mansfeld's von Villermont und Uet⸗
terodt enthaltene irrthümliche Anſchauungen und iſt für
das Studium des Dreißigjährigen Kriege von großer
Wichtigkeit.
Im Verlage von F. E. C. Leuckart, Buch- und Musi-
kalienhandlung in Breslau, ist soeben erschienen:
Mozarts Don Giovanni. Partitur, erstmals nach
dem Autograph herausgegeben unter Beifüguug
einer neuen Textverdeutschung von Bernhard von
Gugler. Folio. CGartonnirt. Preis 12 Thir. nelto.
Früher erschien:
Wolsogen, Alfred Freiherr von, Don Juan, Oper von W. A.
Mozart, auf Grundlage der neuen Text- Ueber-
setzung von Bernhard von Gugler neu scenirt und
mit Erläuterungen versehen. Geheftet 15 Sgr. Hieraus:
das Textbuch apart 5 Sgr.
Berantwortlider Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von 5. A, Srohhaus in Leipzig.
Blätter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich. et Ar,
16, 9 14. April 1870.
Inpalt: Umſchau auf dem Gebiete naturwiſſenſchaſtlicher Unterhaftungsieftüre. Bon Seinrich Birnfaum. — Eine Geſchichte des
ütalienifhen Dramas. Bon Wudolf Bottihau. (Fortjegung.) — Amterbaftungeigriften. — Zur Geſchichte ber Arbeit und der
induftriellen Kaffen. Bon deinrich Mäder. — Zur Lebensweisheit.
on Mierander Jung. — Senileten. (Netrofoge.) —
Bibliographie. — Anzeigen.
Umſchan anf dem Gebiete nalurwiſenſchaftlicher Auterhaltungslektüre.
1. Die Rotabilitäten der Tierwelt. Dargeftellt in ſechs Bilder-
fränzen von W. Ahlers. Berlin, Wiegandt und Hempel.
1869. 8. 2 Thfr. 10 Rgr.
Bir haben dies Werk mit Intereſſe gelefen und
wünſchen ihm einen recht großen Kreis von aufmerf-
famen und mohlwollenden Freunden. Der Berfaffer Hat
zum Herbeiſchaffen des fehr reichen Materials einen
Fleiß an den Tag gelegt, er ift Mann von Fach
8 Wiſſen, fondern auch einen feinen Geſchmack
warme Liebe zur Sache. Er fandte das Ma-
feript der Berfammlung des vierten internationalen
Thierſchutz · Congreſſes zu Paris 1867 mit der Bitte zu,
die Dedication fi gefallen laſſen zu wollen. Die wohl ⸗
wollende motivirte Befürwortung durch feine Freunde,
Baftor Bödeker aus Hannover und Legationsrath Baron
von Ehrenftein aus Dresden, bewirkte eine ehrenvolle
Gewährung der Bitte. Der Congreß übernahm dadurch
gleichſam WPathenftelle für das geiftige Kind bes Ber-
faſſers und gab ihm zu feinem Fortlommen eine wichtige
Empfehlung.
Um nun mit dem Inhalte des Buchs näher befannt
zu machen, Ienfen wir die Aufmerfamfeit der Leſer gleich
auf den erften Kranz, wobei ben Bildern der Säugethiere
mit Recht der Vorrang gegeben wird. Das erfte Bild
it das von Barry, dem berühmteften Hunde des St.»
Bernhard. Die Bernhardinerfunde find wahrſcheinlich
eine Mittelraſſe der englifhen Dogge und des fpanifchen
Wachtelhundes, nad) andern follen fie von einer dänifchen
Dogge abftammen, welche in der Mitte des vorigen Jahr«
hunderts Graf Mazzini von einer nordifchen Reife aus
Grönland mitgebraht hatte und die ſich dann mit einem
walliſiſchen Schäferhunde paarte. Sie find meiftens ziem-
lich groß, Tanghaarig, dunkelbraun und weiß gefledt, von
farfem Knochenbau und wohlgeformtem Kopfe. Der
Barry rettete nicht weniger denn vierzig Menfchenleben.
1870, 16,
t in ber Auswahl der Bilder nicht bloß ein zu⸗
So wie fi Schneegeftöber einftellte, regte fi in dem
Thiere ganz unverkennbar ein Trieb ins Freie, und wenn
dann gar ber fchredliche Donner eines Lavinenſturzes
fein Ohr traf, fo hielt ihm nichts mehr im SKlofter zurüd.
Raſtlos ftreifte er mum umher, machte ſich durch lautes
Bellen bemerkbar und fplrte mit Nafe, Aug' und Ohr
nad, ob nicht irgendwo ein Menſch im Unglüd fei, dem
er Hülfe geben Könnte. Und nun wird zur Verherrlichung
des fchönen Bildes die Erzählung der ſchon oft beipro-
Genen ebelften That des berühmten Hundes gegeben.
Eine Mutter mit ihrem Knaben war von einer Lavine
verfchlittet; jene wahrſcheinlich unmittelbar getöbtet, wäh⸗
end dieſer fi aus der Schneemaffe emporgearbeitet Hatte,
aber vor Kälte, Hunger, Schmerz und Mübdigfeit dem
Lebensende ſchon ganz nahe war. Der Hund, fo ver-
muthet man, hört das Wimmern des Kindes:
Er läuft num zu ihm bin, und indem das Enge Thier
feinen Kopf erhebt, fieht das weinende Knäblein das ſtärkende
Getränt und das Brot, welches alle Genoſſen bei ihrem Dienfte
in einem am Halebande befeftigten Körbchen mit fich führen.
Das Kind, welches das Anerbieten vom großen zottigen Thiere
nicht verfland, zitterte ficher auch noch mehr vor Schreden und
machte weinend eine Bewegung fi zurüdzuziehen. Doc der
Hund, wie mit Menſchenverſtand ausgerüftet, firebt das un.
glüdtihe Kind zuttaulicher und muthiger zu machen, indem er
fanft feine Pfote auf die Heinen Füße des Kuabeu hebt und
ihm die vor Kälte ſchon Halb erftarrten Händen abledt.
Duck diefe friedlichen und freundfcaftlihen Beweiſe ſchien das
KXnäblein berubigter und immer zutraulider zu feinem vier-
füßigen Wohlthäter geworben zu fein. So machte e8 einen
Verſuch, fi zu erheben; aber die Heinen Beine, die Aermchen,
ber ganze Körper waren fo erfroren und fleif, dafi er nicht
gehen konnte. Diefe große Noth fhien nun das Mitleid des
ebeln Hundes um jo mehr E erweden, ſodaß er durch eim
ausbrudsvolles Zeichen dem Keinen zu verftehen gibt, fih auf
ihn zu ſetzen.
Das Thier bringt fo feine hülfebedilrftige Bürde zum
Lloſter, verſchafft fi mit dem Lauten der Nothgiode
Einlag und überläßt das gerettete Kind den menſchen ⸗
3
nm
242 Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsteftüre.
freundlichen Klofterbrüdern. Das Kind fand nad) feiner
Rettung und Genefung in einem reichen Kaufmann aus
Bern einen liebevollen Adoptivvater.
Um das erſte Bild in mannichfaltigſter Weife zu
erläutern, ift aud) von dem berühmten Bunde die
Rede, welder die Garnifon der Akropolis in Korinth
aufwedte; von dem ſchrecklichen Bezerillo, der Hunderte
nadter Amerilaner zerriß; von dem Hunbe jenes Hen-
kers, der auf Befehl feines Herrn einen geängftigten
Reifenden zum Schu durch einen langen finftern Wald
begleitete; von Dryden's Draden, der auf den Wink
feines Herrn fih auf vier Banditen flürzte, zwei davon
erwürgte und die andern beiden in die Flucht jagte;
von dem Müllerhunde, der anzeigte, daß ein Kind ing
Waſſer geftürzt; von dem Hunde Benvenuto Cellini's,
der die Goldfchmiedegefellen wach zerrte, als er merkte,
daß man feinem Herren Juwelen ftehlen wollte u. f. w.
Doc gebührt vor allen dem Barry die Höchfte Ehrenfrone,
und wir finden es natürlich, wenn unfer Berfaffer,
ähnlich wie ber liebenswürdige Thierfreund Scheitlin
zu St.-Gallen, von dem Barry voll Hoher Begeifterung
redet.
Zur Vollendung diefes erften Kranzes wird dann die
Kate des Mohammed, der Bucephalus Alerander’s, der
Löwe des Androclus, der Ejel von Abdera, die Ejelin
Bileam’s, die Kraniche des Ibykus, das Pferd des Ibykus,
die Hunde des Lazarus, der Hund des Pyrrhus u. ſ. w.
als Bilderſchmuck ausgewählt und anfprechend geordnet
ineinandergemwoben.
Ganz auf diefelbe Weife find dann auch die übrigen
fünf Kränze mit ebenfo belehrenden als finnigen und an-
ziehenden Thierbildern geſchmückt.
Charakteriftiich ift aber nody der Schluß bes Ganzen.
Denn obgleich der Berfaffer ſchon eine recht große Reihe
von Thiernotabilitäten bildlih in Kränze geflochten bat,
fo war e8 doch rein unmöglich, alle zu verwenden, da⸗
her entftand nun ſchließlich ein tumultuariſches Brummen,
Knurren, Pfeifen, Zifhen und Rauſchen von denen, welde
noch unbeachtet geblieben waren. Da ruft der Berfafjer
in feiner Noth:
Wohlan denn, was bleibt uns andere übrig? — Ihr
Edeln alle, du Soter von Korinth, ihr Spatzen Walther’s von
der Vogelweide, du Kate Whittington’s, du Spinne Robert
Bruce's, du Hand Duval’s, du Roß des Bevros, du Elefant
des Btolemäus , du Eſel Lubwig’s XT., du Adler des
Gilgamos, ihr Zauben von San-Marco, du Ochſe Cäſar's,
du Sperling des Trojaniſchen Kriegs, ihr Hirſche des Andro»
nieus....... und ihr Übrigen alle, die ihr ſonſt noch
hochberühmte Namen tragt und bier um uns berumftebt, ihr
Erlauchten, Großwürbenträger .... . Eure Beihmerden —
wir geftehen es freimüthig — find allerdings wohl begründet,
eure Anſprüche und Erwartungen nur zu geredtfertigt! —
Aber ... . ultra posse nemo tenetur, oder liber die Möglich-
keit hinaus wird niemand verpflichtet. Denn es fehlt uns, wie
ihr feht, zur Zeit au würdigen Pläten, und das Publikum bat
fi) bereits verlaufen, und man darf and nicht zu viel von
feiner Geduld verlangen.
Diefe und noch andere pafjende Worte bewirken vor
ber Hand eine Beruhigung und ein friedliches Heimgehen.
Ob die Unruhe aber nicht bald wiederkehren wird und der
Berfafier fi) dann nicht zu einem neuen Theile der Tieblichen
Bilderfränze verftehen muß, ift fehr die Frage.
2. Ueber Föhn und Eiszeit. Mit Nachtrag: Der Schweizer-Köhn,
Entgegnung auf Dove’s gleichnamige Schrift von H. Wiild.
Bern, Ient und Reinert. 1868. Gr. 8. 12 Nor.
Das Buch enthält 1) die am 15. November 1867 von
dem Berfaffer zu Bern gehaltene Rectoratsrede über Föhn
und Eiszeit, worüber Dove in feiner Nachtragsfchrift „Ueber
Eiszeit, Föhn und Scirocco” fo erbittert den Stab gebrochen
hat, und liefert 2) eine Entgegnung auf Dove's Beſchuldigung.
Wenn man die Rede Wild's mit unbefangener Ruhe ges
lefen bat, fo fann man es nicht recht begreifen, warum
der berühmte Dove daran ein jo gewaltiges Wergerniß neh»
men konnte. Denn Wild ift gar fein fo entfchiebener
Gegner der Dove’jchen Anficht über Föhn, wie e8 Dove
in feiner Aufgeregtheit annimmt, und, genau erwogen,
Ipricht die Rede fogar viel mehr zu Dove's als zu deffen
Gegner Ounften. Daher ift e8 denn auch erklärlich,
warum Wild in gerechter Entrüftung gegen die beftige
Beſchuldigung Dove's das Wort ergreift. Der Ber
fafler fagt:
Wir Schweizer find vielleicht weniger Gelehrte als Dove,
befiten auch) wol in Saden der Meteorologie keinen fo reichen
Erfahrungsihat und können vielleicht Hier und da unllare oder
dunkle Andeutungen in Schriften Dove's misverftanden haben,
aber wir find jedenfalls ehrlihe Männer, die auch in willen-
chaftlicher Controverfe Verkehrungen u. dgl. verwerflich finden
und verwerfen und denen die Erforſchung der Wahrheit höher
flieht als die Befriedigung perſönlichen Ehrgeizes.
Ob er mit diefem Ausſpruche für alle feine Lands⸗
leute einftehen kann, wollen wir nicht näher unterfuchen.
Es iſt fehr zu beklagen, daß dieſer für wiſſenſchaft⸗
liche Zwecke ſo ſruchtbare Streit eine ſo kleinliche perſön⸗
liche Richtung angenommen hat. Die Schweizer ſind
barilber empfindlich verletzt, daß ein berliner Stuben⸗
gelehrter den Charakter des Föhn und deifen Urfprung
beifer kennen will als fie felbft; und Dove ift höchſt un⸗
angenehm davon berührt, daß man gegen ein auf fireng
wiffenjchaftlichen Wege gewonnene und von ben Mün«
nern von Bad) jahrelang für wahr gehaltenes Refultat
gewagt babe Zweifel aufzuftellen,; er kann's nicht gut
vertragen, Unrecht zu haben, und fieht jede Einrede faft
immer als einen Angriff auf feine Antorität an. Leider
ift der Kampf jetzt ſehr von der Hauptfache abgezogen.
Es ſcheint, als wenn auch die Schweizer nicht mehr daran
glauben, daß der Föhn ausfchlieglih ein Wüftenwind
Afrikas fei; und damit hätte Dove im wichtigften Punkte
recht. Der Streit, ob ber Föhn ein feuchter oder trodener
Wind fei, wird wol ſchwerlich ganz gefchlichtet werben
können, da der dabei zu Grunde gelegte Maßſtab eine
gar zu relative Bedeutung befigt und die Entfcheibung
nicht gut früher gegeben werden Tann, als bis man bei
allen vorkommenden Füllen über den ganzen Weg bes
Windes fit) Rechenſchaft abgelegt Hat.
3. Zaridermie oder die Lehre vom Conferviven, Präpariren
und Naturalienfammeln auf Reifen, Ausftopfen und Aufs
fielen der Thiere, Naturalienhandel u. ſ. w. Dritte Aufe
lage von ©. 2. Brehm, „Die Kunft, Bögel ale Bälge zn
bereiten u. f. w.’ in gänzlicher Umarbeitung von Philipp
Leopold Martin. Mit 5 Tithographirten Tafeln nad
Zeihnungen von Friedrih Specht. Weimar, B. 5. Boigt,
1869. ®r. 8. 1 hl. 15 Nar.
Es ift dies eigentlich der erfte Theil von bem bes
abfihtigten dreitheiligen größern Werke des Verfaſſers,
Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftliher Unterhaltungslektüre. 243
welches den Titel „Die Praris ber Naturgefchichte” führt.
Der Berfaffer Hält beſonders in der Nalurgeſchichte eine
Theilung der Ürbeit für nothwendig. Dan müffe hier
die wiffenfchaftliche Thätigfeit von der praftifchen fondern.
Bir glauben, daß man diefe Anficht ſchon Längft als eine
unbezweijelt richtige angefehen Hat, ur möchte man darin
nit mit dem Verfaſſer einerlei Meinung fein, daß die
beiden Urbeitöfreife jo ftreng voneinander gefondert wer»
den und jeder ganz felbfländig auftreten müßte. Dem
Brofeffor der Naturgejchichte darf die Praxis feines Fachs
nicht fehlen, fowie aud; dem mehr praftifch gebildeten
Gonfervator die wiſſenſchaftliche Grundlage nicht abgehen
darf. Sie arbeiten beide an einem innig zufammengehöri«
gen Ganzen, und die Trennung wäre eine unnatürliche,
wenn fie einen andern Charakter annähme als cine bloße
Erleichterung der Arbeit durch ein Vertheilen auf zwei
ober mehrere Kräfte. Doc abgefehen von dieſer Ber-
fhiedengeit der Anfichten iſt das vorliegende Wert ein
wahrer Schag für die praftifche Naturgefdichte. Für die
jungen Leute, welche felbftändig Hand an bie Erweiterung
ihtes Wiſſens und Könnens legen wollen, ift hier ein
vortrefflicher Wegweifer geboten, und für die ſchon
fertigen Männer der Wiflenfchaft liefert das Werk noch
viele beherzigenswerthe Wine, welche für das praf-
tiſche Leben paſſen, weil fie alle auf dem Wege ber un.
mittelbaren Erfahrung gewonnen find. Wir halten es
nach diefer Andentung nur nod für nöthig, die Titel
der Hauptfapitel namhaft zu machen: „I. Conferviven und
die Lehre von den Confervirmitteln‘‘; „I. Bräpariren und
Naturalienfammeln auf Reifen“; „II. Taridermie oder das
Ausfopfen der Thiere”; „IV. Naturalienhandel”. Zum
Schiuß wird noch auf die hierhergehörende Literatur Hin.
gewiefen und eine befondere Erflärung der angehängten
fünf Tafeln gegeben. Diefe Tafeln enthalten die Thiere
und Apparate in ganz ausgezeichneter Darftellung, fie find
wahre Meifterwerte.
4 Bilder und Sfiggen aus der Naturkunde. Gefammelte po»
puläre Auffäge von G. A. Martin. Mit 50 Hofzihnitten.
Bien, Lehner. 1869. Gr. 8. 1 Thle. 7%, Ngr.
Diefe Auffäge haben ſchon in verfchiedenen ber Unter
haltung dienenden Journalen einen kieinern Kreis der
Seröffentlihung durchgemacht, und es wird ihnen nun
die Gelegenheit geboten, einen neuen und nod) größern
Umlauf zu machen. Für ihren Inhalt, die populäre
Naturwiffenſchaft, ift im Publikum jegt ein allgemeines
lebhaftes Intereſſe erwacht, daher wird es ihnen an guter
Aufnahme nicht fehlen, zumal der Inhalt fich ebenfo aus»
füprlic über die mikroſtopiſche wie die teleffopifche Welt
aftredt und dabei der Naturgefcjichte ebenfo bereitwillig
wie der Naturlehre dient. Und was bie Art der Behand-
fung des reichen Materials betrifft, fo paßt fie vortreffe
ich für das denkende gebildete große Publitum; Velch-
zung ift Hauptzwed, aber durchaus feine breite Schul
meifterbelehrung, fondern eine Herz und Geift erfreuende
gemüthliche Beipregung der munter durcheinandergemwürs
felten Tagesfragen.
Zu einer fpeciellern Beſprechung des Buchs Ien-
fen wie die Aufmerkſamleit der Lefer zunächſt auf die
Wanderluſt der Vögel“. Der Verfaſſer macht darauf
aufmerffam, daß aud uns Menſchen fant alljährlich
eine große Wanderluft anmandelt. Obgleich dies num
bei den Vögeln eine ähnliche Beranlafjung haben Tann,
fo fprechen dabei doch noch mandje andere Umftände
mit, welche der Sache mehr den Stempel ber Nothwendig ·
keit als der freien Wahl aufdrüden. Was der geiftreiche,
ſcharfſinnige Beobachter Brehm über diefen Gegenftand
gefagt hat, wirb, in der Hauptfache mitgetheilt. Es fteht
zunächft feft, daß die Vögel unfere Gegend verlaffen,
um der eintretenden Kälte und bem Mangel an Nahrung
auszuweidhen, daß fie dagegen zu uns zurüdfehren, wenn
fie durch Übertriebene Wärme und Spärlicjleit der Nah-
tungsmittel von dem fernen Süden wieder nach Norden
ausgewieſen werben. Doc erflärt dies noch nicht alles.
Es wohnt den Thieren cin unbezähmbarer Trieb zum
Wandern inne, wovon wir die ganze Urſache noch nicht
kennen. Der Berfafler fagt:
Im Aegypten weilen das ganze Jahr hindurch zwei Schwal«
benarten, und unfere in weit fälterm Klima geborenen Schwal-
ben bleiben auf ihrem Zuge nicht bei ihmen, obgleich fie alle
Bedingungen ihrer Eriftenz dort vorfinden; fie wandern weit
hinaus und verweilen nicht in Nubien, nicht in den infelten-
reihen Steppen von Oft- Sudan, nein, fort müffen fie bis in
das innerfle Herz des fremden Exbtheile. Was treibt fie fo weit,
wenn nicht die Wanderluft? Aehnliche Sefäeimungen hat man
bei deu Storchen bemerft, bie ebenfo eilig weit über Chartum
hinausſegeln, während fie doch fon an den Sümpfen Aegyps
tens hinlängli Rahrung fänden.
Dann hat das Kapitel „Ueber die Haare” unfer
Intereſſe auf ſich gezogen. Es wird zumäcft eine
naturhiftorifche Turze Beſchreibung gegeben und dann zu
den einzelnen Merkwilrdigfeiten übergegangen, So bes
wunderte man zu Neapel einen jungen, aus der Berberei
gebürtigen Mann von 38 Jahren, defjen Haar in einer
Länge von 4 Fuß und von borftenartiger Confiftenz vom
Kopfe herabhing. Der Tänzerin Negrini find die Haare
nad) einer Higigen Krankheit bis auf eine Länge von vier
Ellen gewachfen. Der Kanzler der Univerfität Tübingen,
Dr. Ulrich Pragizzer, Hatte einen wahren Aaronsbart, ſodaß
der franzöfifche General Turenne, als er dort im Winter-
quartier lag, ſtaunend ausrief: „Voila, il ya un homme
plus de barbe, que tous les hommes de France.“ Hans
Steininger, im Jahre 1572 Bürgermeifter zu Braunau,
hatte einen Bart, der bis unter feine Füße reichte; einft
hatte er beim Exfteigen der Rathhaustreppe vergefjen, dies
Naturwunber aufzufhürzen, ba ftolperte er darüber, ftürzte
die Treppe hinab und fand dadurch feinen Tod.
Auf Quadratzoll Kopffläche wachſen durchſchnitt ·
lich 250 Haare. Die Haare von dem Haupte eines ge»
funden kräftigen Menſchen befigen in Summa ein Gewicht
von 24— 30 Loth. Nur Abfalon’s Haar foll nad) hiſto⸗
riſchen Nachrichten 400 Loth gewogen Haben. Durch die
heutige Mode verführt, beeifern fid) die Damen in ihren
Haarzopf dem Abfalon nicht nachzuſtehen.
Mit diefer Heinen Probe wollen wir Abſchied nehmen
von dem Werke, welches und auf das angenehmfte unter-
halten hat. Wenn es auch hier und da Kapitel enthält,
die allgemein Belanntes beſprechen, fo ift es doch friſch
und neu in der Auffaffung des Ganzen und verſteht es
vortrefflih, überall Wig und feine Bemerkungen ein-
zuflechten.
31*
—
244
5. Jahr und Tag in der Natur. Ein Jahrbuch der Erfchei-
nungen bes natürlichen Kreislaufs und feiner Beziehungen
zum Gemlithsleben des Menfchen, von Otto Ule. Halle,
Schwetſchke. 1869. 8. 24 Ngr.
Der Berfafier ift fchon feit einer Reihe von Jahren
fleißig gewefen auf dem Gebiete der populären Natur-
funde, man kennt ihn als geiftreichen gewandten Schrift«
fteller, als begeifterten Freund und Kenner ber Natur,
ale Mann von Gemüt, der Geift und Herz feiner Lefer
ebenfo belehrend als erfreuend zu unterhalten verftcht.
Und das vorliegende Werkchen gibt ihm fo recht ©e-
Tegenheit, feine ganze Fähigkeit zu bewähren. Cs
will die Gefhhichte des Werdens der Natur in Berbin-
dung bringen mit der Seele und dem Gemüth des Men⸗
fhen. Das ift eine ebenfo große als ſchwere Aufgabe,
aber der Berfaffer verfteht es jehr geihidt Maß zu hal⸗
ten und die bejchwerlichen Wege mit gemüthlicher Behag-
lichkeit zu durchwandern.
Das Buch zerfallt in zwei Abſchnitte. Der erſte bringt
die Naturbefchreibung der Fahreszeiten in den zwölf Mo-
naten; ber zweite die vier Tageszeiten: Morgen, Mittag,
Abend, Nacht. Daran ſchließt fih dann jebesmal ein
überfchauendes Schlugwort, in welchem Jahr und Tag
als die Pulsſchläge des fortfchreitenden Lebens der Natur
bezeichnet werben.
Um in die nähere Belanntfchaft mit dem Buch ein-
zuführen, wählen wir einige Stellen aus dem December.
Hier Heißt es:
Der Menſch trotzt der Glut des Sommers wie der Kälte
des Winters, er lebt unter den Tropen wie unter den Polen,
ohne abzufterben wie die Pflanzen, ohne in Winterſchlaf zu ver-
finlen wie viele Thiere. Mag das Thermometer, wie e8 in
Oflindien beobadıtet worden ift, auf 54° C. über, oder, wie
man es in den Polarländern erlebt hat, auf 68° €. unter
dem Gefrierpunft ftehen, feine Körperwärme erhält fih, kaum
beachtenswerthe Schwankungen abgerechnet, auf 361, ° €.
Ein unter der Zunge eines Polarreifenden angebradhtes Ther-
mometer wird denjelben Wärmegrad zeigen, wie eins unter der
Zunge eines Soldaten in Delhi. Diefe wunderbare Gleich
mäßigfeit in Erhaltung unferer Lebenswärme deutet auf natlir-
liche Schutmittel gegen die äußern Natureinflüffe hin. Wir
wilfen in der That, dag wir unfere Widerflandsfraft gegen die
Shut des Sommers und der Tropen einem natfirlichen Kühl⸗
apparat verdanken, den wir in uuferer Haut befiten, den zahl-
reihen, Schweißbereitenden Drüfenorganen nämlich, deren 2800
durchſchnittlich auf jeden Duadratzoll unferer Sautflähe kom⸗
men, und die durch Berbunftung befiändig die überflüſfige Wärme
wieder abführen. Wir wiffen ferner, daß wir in den Ber;
brennungsprocefien, welche nicht eigentlich unſere Nahrung,
fondern vielmehr unfere eigenen Gewebe beftändig erleiden, eine
reihe Wärmequelle befiten, weldhe im Winter die Wärme-
verlufte nach außen unabläffig erfebt.
Was den zweiten Abfchnitt betrifft, fo lenken wir die
Aufmerkfamkeit der Lefer auf die Abendbetrachtung. AU-
mählih bricht die Dämmerung ein, das Licht nimmt
ab und die Farben in der Natur verfchwinden. Wir
empfinden diefe Vorgänge, legen uns aber fehr felten
gehörig Rechnung davon ab. „Deu Malern war diefe
Erſcheinung längft befaunt, fie wußten, daß die Farben⸗
wirtung ihrer Gemälde bei Dämmerlicht eine wefentlic
andere fei als bei Heller Tagesbeleuchtung. Aber Dove
erft hat dieſe Erjcheinung wifjenfchaftlich aufgeklärt.“ Und
nun gibt das Bud) die wörtlihe Mittheilung Dove's, der
die Einwirkung des Lichts und der Farben aufs Auge
Umſchau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsteftüre.
mit denen von Schall und Ton aufs Ohr in Vergleich
bringt. Dann fährt der Berfafler fort:
So ſtimmt alfo unfere Empfindung ber Helligkeit nidt
nothwendig mit ber wirklichen Helligkeit überein, und das ſtär⸗
tere Licht kann bei geringerer Wellenzahl als das ſchwächere
empfunden werben. Je größer bie Verſchiedenheit der Schwin⸗
gungszahlen, um fo eher tritt diefe Erfcheinung ein. Das
—26 erbleicht darum am ſchnellſten gegenüber dem Blau⸗
Violett. Miſchfarben, in denen roth und gelb vorherrſcht,
nehmen an dieſer ſchnellen Verdunkelung theil, und fo ſtellt
ſich durch das Heraustreten einzelner Farben jene allgemeine
Farbenwandlung, jenes Verdämmern ins Blaue und Graue
ein, das jedermann als der Charalterzug der Dämmerunges
beleuchtung bekannt ift.
Bei diefer Gelegenheit ift auch von den Urſachen bie
Rede, welche die Dämmerung nad) den Polen zu vers
längern, nad) dem Yequator Hin verkürzen u. f. w.
6. Der Anfhauungsunterricht in der Naturlehre, als Grund»
lage für eine zeitgemäße allgemeine Bildung und Vorbereitung
für jeden höhern naturwiffenfchaftlien Unterricht. Bon
Rudolf Arendt. Mit fpecieller Beziehung auf des Ber-
fafjere „Materialien für den Anſchauungsunterricht in ber
Naturlehre‘‘. Leipzig, Boß. 1869. 8. 10 Nor.
7. Materialien für den Anfhauungsunterricht in der Natur
Ichre, Bon Rudolf Arendt. Leipzig, Voß. 1869. 8.
gr.
Diefe beiden Schriften feheinen ihrem Titel’nad) nicht
eigentlich in unfer Gebiet der naturwiffenfchaftlichen Unter-
Baltungslektitre zu gehören, paſſen aber dennoch ihrem
Inhalt und noch mehr ihrem Zwed nad) ganz vortrefflich
hinein. Das erſte enthält einen reihen Schag an metho-
dologifchen Fingerzeigen für das Begründen einer fürs
wirkliche Leben tauglichen Naturlehre, während das zweite
die dazu paflenden Materialien andeutet und aufzählt.
Die Heimat beider ift alfo die Schule, aber nicht blos
in dem befchränkten alltäglichen Sinne, fondern in bem
böhern ganz allgemeinen, wo jede Yamilie, jede Kirche,
jede Gemeinde, überhaupt das ganze Leben als Bildungs-
anftalt betrachtet wird, und von dieſem höhern pädagogi-
ſchen Standpunfte zählen wir die beiden Bücher fehr gern
mit zu den unferigen. Der Berfafier hat vor kurzem cin
„Lehrbuch der anorganifchen Chemie“ nebft einer Ergänzungs«
fhrift „Organifation, Technik und Apparat des Unterrichts
in der Chemie‘ herausgegeben, welches von den fachverftän-
digen Männern der Schule und des Erziehungsweſens mit
Beifall aufgenommen worden if. Dadurch ermuthigt, will
er benjelben Zwed nun auch bei der allgemeinen Natur-
lehre überhaupt erreichen. Die Anſichten und Borfchläge
des Verfaſſers find ganz naturgemäß und ficher zum
Ziele führend, fie verdienen fehr beachtet und beher-
zigt zu werden. Er bringt in mande dunkeln Schul-
winkel Licht und Klarheit, kehrt manchen Schlendrian zum
Haufe Binaus und bringt dafür jugendliche Frifche und
anmuthige Lebendigkeit hinein. Er will der Anfchauung
in der Naturlehre ihr volles echt geben und verlangt
daher, daß mit ihr ſchon in frühefter Jugend der Anfang
gemacht werde, und daß biefelbe ſtets das belebende Hülfs-
mittel, die Haupigrundlage und das fördernde Princip
zum Borwärtöfommen bleibe. Hören wir ben eben
im Geifte Peftalozzi’8 wirkenden Jugendfreund felbft:
Die Eindrüde, Reize, welche irgendein Ding der Außen⸗
welt auf unfere Sinne le Peiner pflegen wir Empfindun-
gen zu nennen. Durch ſolche gelangen wir zu Wahrnehmungen
Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfchaftlider Unterhaltungslektüre. 245
des Dinges, fchließen auf gewiſſe Eigenfchaften deffelben, und
in unſerer Seele fett ſich eine Vorſtellung von ihm fe. Fehlt
die Empfindung, fo bleibt aud die Wahrnehmung aus und wir
find um eine Borftellung ärmer. If die Empfindung flüchtig
"oder verſchwommen, d. 5. nimmt unfer Bewußtfein nur une
genügend von ihr Act, fo bleibt die Vorſtellung unklar; und
find endlich die einzelnen Empfindungen, welche ein Ding ber-
vorrufen kann, unvollſtändig, jo gelangen wir nur zu einer
partiellen Wahrnehmung, unſere Borftellung bleibt unvollftändig,
mangelhaft. Wer 3.8. nie den Klang einer Bioline gehört,
nie Moſchus gerodhen, niemals eine ſauere Subftanz getoftet,
oder nie den Entladungsichlag einer Leydener Flaſche gefühlt
bat, für den eriftiren Körper oder Lörperliche Zuftände, durch
weile ſolche Empfindungen hervorgerufen werden, nicht, feine
Vorſtellungswelt dedit die Anßenwelt nicht, fie bat Lücken; und
wenn der Lücken zu viele find, fo ift er ein Sdiot.... Hiermit
iR ohne weiteres der Weg bezeichnet, den der naturwiſſenſchaft⸗
fihe Anfchanungsunterricht zu gehen hat: er muß möglich
viele, möglihft Mare und möglichft vollfländige Borftellungen
ſchaffen. Zugleich leuchtet aber auch die Nothwendigkeit eines
ſolchen Unterrichts ein, denn e8 bedarf wol kaum ber Aus⸗
emanderfegung, daß niemand flir fich jelbft im Stande if, ſich
Vorſtelnugen, wie fie dem heutigen Stande naturwiſſenſchaft⸗
jiher Erkenntniß entſprechen, anzueignen.
Er fpridt fih dann dahin aus, daß weber das
alltägliche Leben noch die Natur dies zu leiften im Stande
ift, daß es nöthig fei, von einem gründlich durchgebilde⸗
ten Lehrer durch methodische Anfchauung zu diefen Bor-
Rellungen geführt zu werden. Daran wird nun heute,
Gott ſei Dank, nicht mehr gezweifelt, daß der natur-
wiffenfchaftliche Unterricht zuc Bildung nothwenbig fei.
Trotz alledem aber liegt derfelbe noch ſehr im argen,
wenigſtens was die beobachtenden Disciplinen (Phyfik und Chemie)
onbelangt. Ich will dies im Folgenden zu begründen fuchen
und daran einige Borjchläge Inlipfen, durch deren Realifirung
meiner Anfiht nad) ‚Abhilfe der bedeutenden Webelftände ge»
ſchafft werden Tönnte.
Das ift der lebte Zwed des Buchs, von dem man
wünfchen muß, daß e3 Fein Lehrer der Naturwiſſen⸗
ſchaft, kein Director der Gymnaſien und Bürgerfchulen,
kin Schulvorftand ungelejen laſſen möchte.
8. Ueber das Entmwidelungsgeleg der Erbe. Bon Bernhard
von Cotta. Leipzig, Weber. 1867. Gr. 8. 10 Nor.
Der berühmte Berfaffer diefer Heinen Schrift hat fchon
in mehrern feiner geologifchen Schriften Andeutungen der
Tee eines Entwidelungsgefeßes der Erde gegeben; da dies
ober immer nur beiläufig gefchehen Tonnte, fo hielt ex
eine felbftändige, in ſich abgejchloffene Bearbeitung um jo
mehr für nothwendig, als eine ſolche für alle tiefer gehen»
den geologifchen Forſchungen gerade jest zu einem drin«
genden Bedürfniß geworden zu fein feheine. Der Verfafler
hofft Hiermit beweifen zu können, baß die Anwendung
diejes Geſetzes alle Zweige des Naturwiſſens zu einem
innig zufammengebörigen Ganzen verbinden werde. Die
Darftellung ift Har und leichtfaßlich für jedermann gege-
ben und für jeden gebildeten Denker jo anziehend ent-
widelt, daß fich das Büchelchen ſchon überall zum Lieb-
ling des Publikums gemacht hat. Beſonders ift dafielbe
aber den zahlreichen Freunden der „Geologiſchen Bilder”
des Verfaſſers, welche: bereits eine vierte Auflage erlebt
haben, zu empfehlen.
9. Grundzüge zu einer Theorie ber Erdbeben und Vullanaus⸗
brüdhe. In gemeinfaßliher Darftellung von Rudolf
Falb. Erſte Lieferung. Mit zwei Figurentafeln. Gratz,
Bod. 1869. Gr. 8. 15 Nor.
Der Berfafler gibt in diefer Schrift etwas ganz Neues
und hofft, daß man mit der Annahme feiner Theorie ganz
allgemein und fehr bereitwillig vorgehen werde, weil fie
überall vollkommen befriedigend aufllären könne, was
bisher noch im dunklen Wirrwarr lag Wir haben
feine Ideen mit vielem Intereſſe gelefen, konnten uns
aber babei mandherlei Bebenten nicht entfchlagen. Er
nimmt bei der Erflürung der Erdbeben und Vulkane einen
viel höhern Standpunkt ein, als dies bisher von den
Geologen gefchehen ift, nämlich den der gefammten Aftro-
nomie, und glaubt, daß jene Phänomene fi ähnlich wie
Ebbe und Flut in den Hafenftäbten vorausberechnen
lafien. Unter der Vorausſetzung, daß der Erbfern ein
beiflüffiger fei, muß die Anziehung von Sonne und
Mond auf unfere Erbe in diefer innern Flüſſigkeit auch
Gezeiten entwiceln, e8 müffen dabei unter günftigen Um⸗
ftänden auch Springfluten entftehen, welche dann noth-
wendig die Erdbeben und Vullanausbrüche zur Yolge
haben. Das Buch bringt nun eine feharfe Kritik aller
frühern Erflärungsverfuche und entwidelt dann die neuen
Ideen ausführlid und in dem guten Glauben, daß fie
jeben unparteiifchen Denker ohne moeiteres für fich ge-
winnen müffen. Das Ganze ift fehr anziehend und mit
einer leicht erflärlichen Begeiflerung gejchrieben, welche
wohl geeiguet jcheint, den Laien von der Richtigkeit der vor⸗
getragenen Anſichten zu überzeugen; ob dies aber aud)
ebenfo bei den Fachmünnern der Gall fein dürfte, muß ſehr
bezweifelt werden. |
10. Der Karft. Ein geologifches Fragment im Geifte der Ein-
ſturztheorie, geichrieben von F. Grafen von Marenzi.
Zweiter Manufcriptabbrud, Zrieft.
Der Berfafjer hat in feinen von uns in Nr. 52 d. BL f.
1865 befprochenen „Zwölf Fragmenten iiber Geologie‘, wo⸗
von bereit8 die dritte Auflage erfchienen ift, feinen Stand»
punkt Mar entwidelt. Ex ift ein entſchiedeuer Gegner der
Erxrhebungstheorie und lebt und webt in ber von ihin auf-
geftellten Einſturzhypotheſe. Er macht ſich dabei natürlich
ganz frei von jedem Wutoritätöglauben. Wir können ihn
deshalb nur loben, denn wo Wahrheit gewilfenhaft zu er-
forfchen ift, muß man kein blinder Nachbeter fein, fon-
dern den Muth Haben, auf eigenen Füßen zu fiehen und
den errungenen Standpunft mit ganzer Straft zu ver-
theidigen. Das vorliegende Werl des Verfaſſers, ſowie
das ſpäter erjchienene: „Die Schweiz, ein geologisches
Fragment im Geifte der Einflurztheorie”, kann als eine
praftifche Anwendung der in den Fragmenten begründeten
Theorie angefehen werden. Die Entwidelung deutet auf
den anf innerer Weberzeugung fußenden ſtarken Geift des
Berfaffere und verdient noch mehr Beachtung, als ihr
bisher zutheil geworden, Wir verfichern ſchließlich, daß hier
in der That eine durchweg interefjante Lektüre geboten
wird, Heinrich Birnbaum.
246
Eine Geſchichte des italienifhen Dramas.
Eine Geſchichte des italienifcyen Dramas.
(Kortfegung ans Nr. 15.)
Geſchichte des Dramas von I. L. Klein. Vierter bie fiebenter
Band: Geſchichte des italienifhen Dramas. Bier Bände.
Leipzig, T. DO. Weigel. 1866— 69. Gr. 8. 20 Thlr. 24 Ngr.
Nach einer Analyfe von Accolti's „Virginia, welde
nad) Klein's Anficht dem Ideal eines poetiſchen Nationale
dramas ernftgafter Gattung näher ſteht ala die claſſiſche
Tragödie der Haliener, und von Richt’: „I tre tiranni“,
einer zuerft im verso sciolto gebichteten Kombdie, welche
einer heitern und gefälligen Fabel eine allegorifche Bebeu-
tung gibt, wendet ſich num Klein zu ben Luſtſpieldichtern
in ber zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, deren Rich-
tung er als eime eflektifche bezeichnet:
Unter ahrung der Palliotenicene vermiſcht fie Motive
der römijchen Findiingskombdie mit denen ber romaniſchen
Abentenernovelle. Ihre Berwidelungsbehelfe entlehnt fie größe
tentheils aus der Arioflo » Komödie. Verkleidungen, Unters
fchiebungen, insbefondere Arioſto's Nekromant mit feinen Kiften-
intriguen, müffen ihrer erſchöpften Erfindung zu Hülfe lom⸗
men. Dagegen befleigigt ſich dieſe eklektiſche Rachahmnungs⸗ und
Entlehnungstomddie einer größern Ehrbarkeit; betont fie mehr
das Moralifce, ohne fi deshalb wähliger und gemifienhafter
in ihren Anstunftemitteln zu erweifen. Im dem Liebesaffect
ihrer Sünglinge mifcht fie Garbentöne der reinern in ber Novelle
gefchifderten Ciebesleidenfchaft, und der wilden Che der Ariofto«
Romöbdie fucht fie einen Anftrich berechtigter Verbindung durch
den fiehenden Berlobungering zu geben, mit dem der Liebende
fich zum heimlichen Gatten feines Mädchens vor der Ent-
führung weiht.
Der Hauptvertreter diefer Gruppe ift Giammaria
Ceechi, der productive Verfaffer von 92 Stüden, von
denen die mod unebirten 70 Stüde meiftens bibliſche
Dramen, geiftliche Spiele find. Unter den andern befin-
den ſich zahlreiche Nachbildungen römiſcher Palliaten.
Im Grunde find alle diefe Stüde Intriguenlomddien mit
verwidelten Intrignen, deren Fäden immer diefelben bfei«
ben, indem nur die Kreuzungen und Verſchränkungen
wechſeln. Gechi als Abvocat licht aud die Kniffe und
Tinten. Die eigentliche komiſche Charakterzeihnung tritt
bei ihm zurück. Neben Cecchi, deſſen Hauptluftfpiele
genau beſprochen werben, find noch zu nennen Antonio Sran-
desco Grazzini, genannt Lasca, ber gelehrte Erzbifchof
Aleffandro Piccolomini, deſſen „Ortensio“ ein pifantes,
an überrafcenden Situationsmomenten reiches Stüd iſt,
Girolamo Parabosco, Niccolo Secco, Luigi Groto, der
Blinde von Hadria, Lodovico Dolce, der italienifche
Hans Sad, der Schufter Giovanni Battifta Gelli, der
übrigens ein gelehrter Schufter war und Latein verftand,
Agnolo Firenzuole, Ercole Bentivoglio, Raffaello Bor
ghint, Lionardo Salviati, Annibale Caro, deffen Komödie
„Gli straceioni” zu den beften, gefefenften und anftändig-
ften gehört.
Bei der CHarakteriftik der einzelnen Mitglieder diefer
Gruppe verweilt der Dichter offenbar zu lange Zeit.
Die Analyfe der Luftfpiele erfcheint uns Hier zum großen
Theil überflüffig, es wiederholen ſich in allen biefelben
Elemente der Intrigue: Verwechſelungen, Kleidertauſch und
Geſchlechtertauſch, Bindlingsmotive, Geeränber» und
Bordellabenteuer. Wer zehn biefer Inhaltsangaben hin ·
tereinanber licſt, „dem wird offenbar von all dem Zeug
fo dumm, als ging’ ihm ein Mühlrad im Kopf herum“.
Die Unterfchiede der einzelnen Dichter, mag fie ber
Literarhiftorifer auch angeben, verwifchen ſich bei der Letüire
der Argomenti, bie os, nur ebenfo viele Umfegungen und
Berftellungen derſelben Beftandtheile der Handlung find.
Eine kurze Charakteriftit der Dichter mit Hervorhebung
eines und des andern Werts hätten wir bei weiten
diefem Streben nad) einer Bolftändigfeit und Gründlich ⸗
keit vorgezogen, die nur einen verwirrenden Eindrud
macht.
Nach einer Charalteriſtik der Commedia dell’ arte,
der für die Entwidelung italienifcher Kunft ſehr wichtigen
Masten- und Stegreiflomödie, wendet ſich Klein im
fünften Band zum Hirtendrama im 15. und 16. Jahr-
hundert; ber Vater des Hirtendramas ift Aynold Poliziana,
deffen „Orſeo“ das ältefte claffifhe Drama in einer
neuen Sprache überhaupt if. Es folgen Niccolo ba
Correggio, Agoftino Beccari, Agoftino Argenti und
Torquato Taffo, deſſen Biographie, wie wir ſchon er-
wähnten, zu den Juwelen des Mein’fchen Werts gehört.
Die Iprifchen Schönheiten de „Aminta” rechtfertigen bie
Mittheilung zahlreicher Proben. Ein Chorgefang ent
hält bereit das Goethe ſche: „Erlaubt ift, was gefällt“
(S' ei piace, ei lice). Unter den italienifchen Paftoralen
befinden ſich viele jchlüpfeige Fabeln, wie namentlich
Groto’8 „Calisto”. Nichſt Taſſo's „Aminta“ ift das
bebentendfte und berühmtefte italienifche Paftoral Battiſta
Guarini’8 „I pastor fido”. Die verwidelte Vorgeſchichte,
das weitläufige Wabelgebäude, das Raffinement laſſen
Guarini's Hirtenidyl gegen dasjenige Taſſo's zurüdtreten,
trotz aller Vorzüge und Schönpeiten, die ein geſchmacvoll
gefchulter, glänzend ftilifirender Dichtergeift dem Werke
mittheilte. Klein vergleicht Guarini's Dichtung mit einer
mufterhaften Mofailarbeit, diejenige Taſſo's mit einem
ſchöpferiſch erfundenen, aus dem Bollen ausgeführten
Gemälde.
Die italienifche Tragödie bis zum Ende des 16. Jahr«
hunderts flammt im gerader Linie von der lateiniſchen
de8 Seneca ab. Die erſte und ältefte, mit Dante’s
„Divina commedia” gleichzeitige Tragöbie ift des Albertiuo
Muffato „Eccerinis” in Iateinifher Sprache; der Held
derfelben ift Ezzelino, der italienifche Muftertyrann.
Weniger Beachtung verdient Muffalo’8 zweite Tragödie:
„Achilleis". Schon dem 16. Jahrhundert gehört Giovan
Giorgio Triffino'8 Trauerfpiel „Sofonisba” an, welder
Mein nahrühmt, daß fie dem Bericht des Hiftorikers
Livius mit gewiſſenhafter Treue folge, „ein Vorzug mehr
bei einer geſchichtlichen Tragödie, weiche die poetifchen
Momente in der meifterhaften Erzählung fo kunſtgeniaß
und bühnenwirkſam zu entwideln verfteht wie die bes
Triffino“. Der nähjfte Bewerber um bie Lorberkrone
der claffifc-italienifchen Tragödie it Giovanni Rucellai,
Dichter der Tragdbie „Rosmonda”, welche den befannten
longobardiſchen Stoff behandelt. Wir bewegen und in
diefer Renaifjance-Tragdbie bereits im Kreife jener typi⸗
fen Trauerfpielftoffe, bie bis in die meuefte Zeit bei den
Dichtern beliebt find. Emanuel Seibel und Zofeph Weilen
find ja exft vor kurzem in die Fußſtapfen von Zriffino
und Nucellat getreten. Ueber die nüchſten Tragödien
fagt Klein:
Mit jeder nun folgenden Tragödie des 16. Jahrhunderte
entfernen wir uns mehr und mehr von ber gefälligen Einfach»
beit und dem Adel ber „„Sofonisba‘, der erften Mufterform einer
vom Geifte, ſei's auch nur vom Schattengeifte der antiken
Bühne berührten Palafttragödie im Nenaiffanceftil, als deren
Schöpfer Triffino und als deren geihmadvollftier Bollender
und Ausihmüder Racine zu betrachten. Mit jedem Schritte
gerathen wir immer tiefer in die Barbarei der pſeudo⸗elafſiſchen
ragik, der wüſten, zur Caricatur des griehifhen Dramas
verwilderten und von den Cinquecentiſten zur äußerflen Blut-
und Greuelfratze verzerrten Seneca-» Tragödie, deren moder-
fenchtes Grabgeſpenſt wir dem Leichenfchädel eines Gepidenkönigs
eben entfleigen fahen, nm dem Phantom ale hochgeftelztem,
mit Scepter und Krone, im Purpurmantel und auf dem Kothnen
der Staatsactionen dahinfchreitendem Spul in der Tragödie
des Großmeiſters diefer Richtung, des großen Corneille, wieder
zu begegnen.
Unfer Autor analyfirt nad) der Reihe die „Tullia‘
des Lodopico Martelli, die Tragddie der Blutſchande,
„Canace” von dem gefeierten Speron Speroni degli
Alvarotti, Cintio's greuelvolle Tragödie „Orbecche“,
bes göttlichen Pietro Aretino „La Orazia”, die denſelben
Stoff wie Corneille's „Horace‘' behandelt, Lodovico Dolce's
Zragödien „Marianna“ und „Didone*, Muzio Manfredi’8
„La Semiramide‘‘, ©roto’8 „Hadriana“ und Torelli's
„Merope”, die er mit Maffei's und Voltaire's Tragödie
vergleicht. Bei Gelegenheit von Speroni's Inceſttragödie
ſchiebt Klein einen wegen feines baroden Cynismus mit-
theilenswerthen Excurs über „Schwangerfchaftstragüdien”,
befonders über Hebbel’8 „Maria Magdalena” ein:
Bir würden uns felbR einer kritiſchen Unfittlichleit zu zeihen
haben, wenn wir ein Sujet, wie das von Speroni's „Canace‘,
überhaupt als ein dramatiſch berechtigtes betrachten und für
möglich halten könnten: ein Dichtergenie, es fei fo groß wie
es wolle, vermöchte ein Motiv zu tragifhen Ehren zu bringen,
weiches zu dem der Dedipusfabel durch das Wiffen um ihr
frevelvolles Berhältniß, das die Schuldigen durchweg begleitet,
das volle Widerjpiel bildet. Ein Schuldmotiv, das die Heldin
der Bintfhande an ihrem Leibe zur Schau trägt, das fie in
ihren Klagen, die in Mutterwehen ausädhzen, lets erneuert und
auffrifcht; ein Schuldmotiv endlich, das die Frucht ihrer läſter⸗
lichen Liebe zur fcheußlichen Misgeburt entftellt! Nur Eine
in Scene gefettte Leibesfrucht wirft auf den Zuſchauer und
Lefer von äfthetifh-gefundem, äfthetiich -fittlidem Geichmade
noch efelhafter: eine Bühnenſchwangerſchaft, welche ſich die
Heldin zugezogen wie eine geſchwollene Backe, wie einen
Schnupfen, der in Geſtalt eines ihr gleichgültigen, eher fatalen
und widerwärtigen, als auch nur ſinnlich genehmen Schwängerers
fiber ſie gelommen; eine Bühnenſchwangerſchaft ohne Liebe,
sine ira et studio, wie die der Maria Magdalene von Hebbel.
Diele Tragik der kalten Geſchwulſt fteht auf der umterften, nie
drigften Stufe; ift, nad) dramatifchpoetifcher Würdigung, nod)
greulicher, noch widriger und efelhafter als felbft die Kindes-
nöthen aus Gejchwifterliebe. Denu wie dasjenige Mädchen das
umfittlichfte, verächtlichfte aller Geſchöpfe ift, das fich Teiden-
ſchaftslos in Tiebeleerer Gleichgültigkeit Falten Herzens entehren
Täßt: fo ift ein foldhes Geſchöpf als dramatiſche Heldin die
poetiſch verworfenfte aller Blihnencreaturen. Selbft bie Hetären-
tomödie verabfchent eine foldhe Heldin. Eine Dame aux Came-
lias, eine Traviata bat weit beredhtigtere Anfprüche auf unjere
Sympathien: denn diefe lieben doch, und leidenſchaſtliche Liebe
fan felbft ein Opfer der Fiederlichleit zum Sühnopfer läutern.
Die unrettbar und unerlösbar verlorenftien aller Sünbderinnen
aber find die Maria Magdalenen, die nicht geliebt.
Eine Geſchichte des italienifhen Dramas, | 247
Zorquato Taſſo's großentheild im Irrenhauſe gefchrier
bene Tragödie „König Torrismondo“ behandelt einen nor«
difhen Stoff mit einer verworren-büftern, abenteuerlich⸗
abftufen Fabelintrigue, enthält aber, namentlich gegen
den Schluß Hin, Stellen, die bes großen Dichters
würdig find,
Die weitern Abjchnitte des fünften Bandes: „Das
mufifalifhde Drama im 16. und 17. Yahrhundert“,
„Sharakterzug der Kunft und Poefie im 17. Jahrhundert“
und „Die Komödie im 17. Jahrhundert” enthalten wenig,
was hier hervorgehoben zu werden verdiente. Geiſtreich
find die Ueberblide auf verwandte Fiteraturgebiete und
die Charakteriftit des üppigen Marino und feines Stils.
Bon den Luftfpieldichtern an der Scheibegrenze des 16.
und 17. Jahrhunderts ift befonders Giovanni Battifta
Porta eingehend analyfirt, deſſen Eigenthümlichkeit ein bis
zur Birtuofität ausgebildetes Raffinement in Schlingung
und Löſung der Knoten, eine künſtliche Steigerung der Intri⸗
guenmomente ift, während Giacinta Andrea Cicognini’s
Luſtſpiele einen romantifch-phantaftifchen Zug nicht ver-
leugnen, wie der Marmorbräutigam in ber „L'’Adamira“
beweifl. Ein anderes Stüd deſſelben Autors: „Die ver-
leumdete Unſchuld“, ift deshalb intereffant, weil einzelne
Scenen an ähnliche in Schillers „Don Carlos“ erinnern,
und weil aud der Stoff der Schiller'ſchen Ballade:
„Der Gang nad) dem Eifenhammer” in die Handlung
verwebt ift.
Die erfte Abtheilung bes fehsten Bandes ge-
winnt dadurd) an Interefje, daß ſich die Darftellung allmäh-
lich um befanntere Träger der dramatifchen Dichtung concen-
trirt. Die biograpgifch-kritifchen Monographien von Me
taftafio, Goldoni und Gozzi nehmen den größern Theil des
Bandes ein, der mit einer Darftellung der Tragddie im
17. Jahrhundert beginnt. Analyfirt werden „Aristodemo“
von Conte Carlo de’ Dottori, ein Stüd, das in feiner
Igrifchen Ueberfchwenglichleit für ein Zeitalter charakteriftifch
it, weldes die Grenzen von Tragödie und Singdrama
verwiſchte; Giovanni Battifta Andreini’8 „Adamo”, ein
Drama, welches Milton zu feinem großen Epos angeregt
bat; Geneſio Soderini's „La Rosimonda“, eine Rachtrags-
tragödie zu Rucellai's Trauerfpiel, in Bezug anf tragi-
Ihen Ausdrud und Stil demfelben überlegen. Anſaldo
Ceba’s „Alcippo” und, ‚Die Zwillingsſchweſtern von Capua“,
crafje Stüde, von denen das legtere mit einem „Zwillings-
boppelfelbfimord‘ endet; des Cardinals Giovanni Delfino
„Cleopatra”, ein Stüd, das von ber Sataftrophe ben
Ausgang nimmt und gleich mit dem Entſchluß der ägyp⸗
tifchen Stönigin beginnt, dem Antonio in bie Gruft zu
folgen, und das fi) im übrigen durch veine und edle
Sprade des Affects, durch präcien dramatifchen Ausdrud
und durch eine an bie Kataftrophe in Shalſpeare's
„Kleopatra“ erinnernde hoheitsvolle Darftellung des Todes
der ägyptiſchen Königin auszeichnet; Giacomo Cicognini’s
„Der Berrath aus Ehre“, eine Eiferſuchtstragödie, die
als Borläuferin unferes modernen, das häusliche umb
bürgerliche Leben ſchildernden Trauerſpiels betrachtet wer⸗
den Tann.
Das Hirtendrania des 17. Jahrhunderts verfällt
Traufer Gewundenheit und gewaltfamer Verſchnörkelung,
wie das vielgeritämte Paftorale: „Filli di Sciro” von
248
Guidobaldo Bonarelli de la Rovere beweift, ein Stüd voll
Unnatur, fowol was die Fabelerfindung als das pfycho-
logische Problem anbelangt. Einfacher find die mythologi-
ſchen Paftoralen von Chiabrera, wie: „Der Raub des Cefalo“.
An das Hirtendrama fchliegen fi) die ländlihen Komö⸗
dien, unter denen „La Tancia“ des Michel Angelo Buo-
narotti don Sein als ein meifterhaftes Kunſtwerk, als
eine der werthvollſten Kronperlen der italienifchen dra-
matifchen Poeſie gerühmt wird, als ein naturwahreg,
ungefchminktes Bauernibylldranıa, veredelt durch Kunftftil
und Form.
Nach einem Blid auf die Lyrik und Epik des 18. Yahr-
hunderts, nach einer Schilderung derfelben, in welcher Niccolo
Forteguerra's Fomifch-romantifches Heldengedidht: „Ricciar-
detto‘ als ein Meifterftid bes Tomifchen Epos hervor⸗
gehoben wird, wendet fi Klein zu den Melodrama
des 18. Jahrhunderts und zu feinen Hauptvertretern
Apoftolo Zeno und Niccolo Metaſtaſio. Bon Zeno’s
60 Melodramen werden drei analyfirt: „Gl' Inganni felici“,
das Erſtlingswerk des Dichters mit claffifchen Anftrich und
Motiv, aber ohne Würde in der Haltung der Figuren;
„Caio Fabbrizio”, ein Melodrama, weldyes den bekannten
Borgang aus der römiſchen Geſchichte behandelt, aus⸗
gezeichnet durch einzelne Scenen von echt römifchen Ge⸗
präge, wie die zwiſchen Fabbricio und feiner Tochter
Seftia; und „Ambleto”, ein Berfuh, die Hamletfabel
für die Mufifdichtung einzurichten, wie dies neuerdings
von Ambroife Thomas wieder unternommen worden: ift.
„Ein Hamlet”, fagt Klein, „wo nicht blos Ophelia im
Wahnſinn fingt, wo fünmtliche Perſonen verrüdt genug
find, um zu fingen.” Die befte Scene in dem Melo«
drama ift diejenige zwifchen Ambleto und feiner Mutter,
eine Scene, welche an bie verwandte bes englifchen Dic)-
ter? anklingt. Die Muſik zu diefer Oper feste Franc.
Gasparini (1705). Ein andere Melodrama von Zeno:
„Meride e Selinunte”, behandelt den Stoff der Schiller’.
fen „Bürgſchaft“. Charakteriftiich für alle Melodramen
Zeno’s ift die. heroiſche Großmuth und Hochherzigkeit der
Helden. Dies ift aud) der Grundzug in ben Singdramen
Pietro Metaſtaſio's, des großen Poeten diefer Gattung,
der fie zur Vollendung erhob. Die Biographie Metaftafio’s,
welche Klein ausführlich erzählt, enthält manche pilante
und file die Cultur⸗ und Kımftgefchichte des 18. Jahr⸗
hunderts intereffante Anekdote; unfer Autor reiht an
diefelbe eine Anthologie der Tritifchen Urtheile über ben
italienifhen Dichter und eine Reproduction einiger
Melodramen, wie: „Die verlaffene Dido“ und
„Temistocle”, In diefen Melodramen wurde die fce-
nifhe Wirkung bereits durch bedeutenden Aufwand von
opernhaften Mitteln hervorgerufen. In der „Dido“
drängt fi) die Wirkung gegen den Schluß hin zufammen;
man ſieht den Brand bes Palaftes; Dido ſtürzt fich im
die Flammen:
Gleichzeitig — fo ſchreibt die Theateranmweifung vor — wälzt
das Meer Sturzwellen an die Stadt. Dichte Wolfen ballen ſich
unter den Klängen einer geräufchvollen Sinfonie. Waſſer und
Fener in ftreitendem Wuthkampfe. Naturaufruhr, wilde Blitze,
brüffender Donner, Schaumgefprige u, f. w. Zulegt behält das
Waflerelement Oberwafler. Der Himmel heitert fi auf; bie
fhauerlihe Sinfonie geht in eine heitere Über, und aus ben
berubigten Wogen erhebt fi Nettuno’s firahlender Meerpalaft,
Eine Gefhichte des italtenifchen Dramas,
in deffen Mitte der Meergott felbit fihtbar wird, thronend auf einer
von Seeungeheuern gezogenen und von Nereiden, Sirenen und
Tritonen umſchwommenen Seemufchel.
Im „Temistocie” wirb außerordentlich viel gefungene
Großmuth confumirt; die Verſe aber haben einen wahr-
haft bezaubernden melodiſchen Heiz, welcher den ganzen
eingeborenen Wohlklang der italienifhen Sprache zur
Geltung bringt. Im übrigen bleibt die Holzform der
melodramatifchen Kunftwerfe bei Zeno, Metaftafio und
ihren Nachfolgern immer biefelbe, wie verfchieden and
der Gipsbrei der hineingegoffenen Fabel erfcheinen mag.
Auch Hatte in diefen Stüden die Fürftenfchmeichelet ihren
Höhepunkt erreicht. Neben dem ernftern Melodrama ber
ftand die opera buffa fort, als deren Hanptvertreter
Giambattiſta Lorenzi, der Ariftophanes ber neapolitanifchen
opera buffa, betrachtet werben muß. Es fehlt dieſen
Dpern wie dem „Socrate immaginario” nidht an Cynis-
men, wie 3. B. in der erwähnten Oper der „Kammertopf“
der Zanthippe eine große Rolle fpielt; aud) nicht an paro⸗
diftiichen Elementen, die an die modernen Offenbachiaden
erinnern. In der Wahl der Themata war Lorenzi's Mufe
fe genug: fie wählte chinefifche Stoffe, wie im „Chinefi«
ſchen Idol“, wo ſchon das Coſtüm gewiß eine ähnliche
Wirkung ausübte wie in Auber's „Chernem Pferd“; fie
fheute jelbft in „La luna abitata” eine Mondreife nicht,
welde ein verrüdtr Aſtronom mittel thaugefüllter
Ochſenblaſen unternimmt. Ein dritter Melobramendicter
ift Giambattiſta Cafti, welcher für feine komiſchen Ope⸗
retten biftorifche Stoffe wählte, den verfchuldeten corfifchen
„König Theodor in Venedig“, ja felbft den „Catilina“
auf die Bühne brachte und die bekannte Longobardenkönigin
Rosmonda zur Heldin einer Tragilomddie machte. Auch
die Höhle des Trophonius gab Lafti den Stoff zu
einer opera buffa. Die Parodie auf die Antike lag aljo
Ihon damals in der Luft, und Offenbach erfcheint als
ein Erneuerer ber neapolitanifchen opera buffa, die
er nur mit der ganzen Srivolität des second empire
ſättigte.
Die italieniſche Komödie des 18. Jahrhunderts knüpft
ſich an den Namen Goldoni's:
Seine Wiege und fein Grab fallen nahezu mit dem Bes
ginn und dem Ende des Jahrhunderts zufammen. Wie Moliere
für Frankreich im 17. Jahrhundert, fo ift Goldoni für Italien
im 18. der Reformator des komiſchen Theaters und der eigent-
liche Schöpfer des neuern Lufifpiele. Die Novellen» oder Aben-
tenerlomödie, was im Grunde aud die Menanderlomödie war,
bat Goldoni zu einem Charalter- uud Sittengemälde des ge-
ſellſchaftlichen Lebens umgeftaltet und, dank feinen komiſchen
Genie, feiner unübertroffenen Kenntniß der feinen, bie Ko⸗
mödienmomente ins Spiel feenden Triebfedern gefellichaftlicher
Figuren, namentlih aus ber mittlern und niedern Sphäre,
dank feiner Fruchtbarkeit endlich, ein für allemal feſtgeſtellt,
da ihn, den nähft Zope de Vega fchreibfertigfien und pro-
ductivften Bühnendichter, die Fruchtbarkeit eben in Stand fette,
durch eine ununterbrochene Reihe wirkjamer, die Theaterwelt
in Spannung und Athen erhaltender Stüde dem Luftfpiel
den Stempel einer muftergliltigen Behandlung nachhaltig uud
danernd aufzudräden.
Klein gibt eine ausführliche Biographie und Charal-
teriftit von Goldoni, ſowie er auch die kritiſchen Urtheife
der italienifchen *iterarhiftorifer über diefen Autor mit
theilt. Die Bedeutung des Charakterluftjpiels für Italien
ftelt Klein mit den folgenden Worten feſt:
An Stelle der iypiſchen Charaktermasken der Stegreif⸗
lomödie wirkliche, piuchologifch entwidelte, aus dem Leben ge-
ſchoöpfte Luſtſpielcharaktere in komiſchen Conflict ftellen; die im⸗
provifirte, von Lazzis unterbrochene, mit unfdjidlichen Späßen
verungterte Wechſelrede durch ein kunſtgemäß gearbeitetes und
dennoch natürlich fließendes, dem Charakter der Perſon ent-
fprechendes und die Handlung fortipinnendes Geſpräch erjegen:
darin vorzugsmeife follte die von Soldoni erftrebte Reform ber
italienifhen Komödie, oder vielmehr die Zurüdführung derſel⸗
ben auf die Sittenkomödie des Macchiavell beftchen, gegen welche
fie Hinmwieder, in Rüdficht auf eine gefittetere, decentere Hals
tung, fich nicht minder reformatorifch zu bewähren hatte — ſort⸗
frittbefliffen auch in der Beziehung, daß fie nicht fowol, wie
jene, ein fatirifches Zeitgemälde und Geijelung der Sitten, ale
die Entfaltung gefellichaftlicher Charaktere und ihrer lächerlichen
Eigenheiten bezwedte, mit der Abficht, auf die Befreiung von
folhen und ähnlichen Charakterfhiwäden und Fehlern binzu-
wirlen. Doch galt es, ein leidenſchaftliches im Nationalgeſchmack
fe wurzelndes Behagen an jenen Volksmaseken nicht mit eins
umzuwandeln. Zu reformiren galt es eben, nicht dem all»
emeinen, felbfi die höhern Schichten der Geſellſchaft beherr-
Ihenden Geſchmack ins Gefiht zu ſchlagen. Unfer Komiler ging
baber, feinem engen und maßhaltenden Naturell entiprechend,
wit vorfichtiger Allmähfichleit zu Werke, indem er einen Com⸗
promiß gleihfam mit der Stegreiflomödie ſchloß und im Be
ginn feiner Reform einige der beliebteften Charaktermasken aus
der Commedia dell’ arte in feine Charakterfomödien aufnahm,
bis nach umd nach die Metamorphofe alle Berlarvungen ab»
geftreift und das reine Charakterfuftfpiel fi aus den Mäsken-
formen frei und vollfommen entpuppt hatte.
Der Hiftorifer des Dramas nimmt im ganzen zu den
Broductionen Goldoni's eine wohlwollende Stellung ein,
obwol fie doch bes Flüchtigen und Langweiligen fehr viel
enthalten und durch eine, poefielofe Auffafjung des realen
Lebens und Mangel an Humor und Wis einen etwas
nüchternen Ton auf der italienifhen Bühne einführten.
Stüde wie: „I teatro comico“, mit feiner äußerlich zu⸗
fammengelötheten Scenenfolge find doch nur eine drama-
tifirte Poetik, welche die Grundfäge der Reform zur Gel:
tung bringt, aber nicht biefe ſelbſt. Beſſer find Sitten-
Inftfpiele, wie: „Le smanie per la villeggiatura“, „La lo-
candiera”, in welcher ber Charafter der Gafthofwirthin
anſprechend ift und die Bermwidelungen mit Gemwandtheit
geſchürzt find. „La bottega del caſſè“, ein Stitd mit voll»
fommen bewahrter Ortseinheit, eine Komödie der Bar-
bier-, Spiel» und Kaffeebuden,, fcheint wegen einzelner
Sitnationen mit einem fchneidenden Contraft von Tomifchen
und tragifhen Momenten überfchägt zu werden. Uns
ericheint das berühmtefte Luftjpiel Goldoni's: „Il burbero
benefico”, and in der That als das befte, ganz ab-
gefehen von feinem glänzenden parifer Erfolge, während
Klein der Anſicht ift, daß fie einer oder der andern der
zur Erörterung gebrachten Goldoni'ſchen Komödien an kunſt⸗
feiner Charakteriſtik, an Entwidelungsinterefje und fefleln-
den Situationen nachſtehe. Wol aber rühmt er mit
Recht als Surrogat für die lachenden Thränen, welche
die große enthuſiaſtiſche Luftfpiellomit auspreft, Die
Thränen einer „fo. beglüdenden Rührung, ans welcher bie
mumtern fcherzhaften Eufffpielftimmungen hervorſchimmern
wie die Goldfiſchchen ans der Haren Flut“. Nimmt man
hierzu eine treffliche und lebenswahre Charakteriftil, eine
Handlung, die fi aus den Eigenthümlichkeiten der Cha⸗
raftere mit Nothwendigkeit entwidelt, fo begreift man,
wie auch Goldoni's Erzfeind, Carlo Gozzi, gerade dies
Luftipiel als vorzüglich preifen Tonnte.
1870. 16.
Eine Gefhichte des italienifhen Dramas, 249
Ueber Carlo Gozzi, einen don den NRomantifern und
ihren Nachzüglern ſehr überfchägten Dichter, iſt Klein’s
Urtheil zutreffend. Uns fcheint die Phantafterei der Gozzi'⸗
ſchen dramatifhen Märchen ebenfo nüchtern wie der Ton
der Goldoni'ſchen Komödien; es fehlt ihnen ber poetifche
Hauch und der tiefere Sinn; nur hin und mider findet
fich ein fatirifcher Anklang, ähnlich wie in den confufen
Märchendichtungen unferer Romantiker; fonft drängen ſich
bizarre und monftröfe Erfindungen, Leib» und Seelen»
wechfel, Bertaufchungen der Perfönlichkeiten, Ungeheuer
jeder Art. Das Barod-Phantaftifche ift aber weder
komiſch noch geiftreich’; es ift nur wie ein wüſter Traum
bei vollem Magen. Die Masken der Commedia dell
arte, für deren Stegreifergüffe Gozzi die nöthigen Lücken
ließ, müfſſen für die eigentliche Komik forgen. Gozzi's
beftes, durch Schiller’8 Genius geadeltes Stück: „Turandot“,
gehört einer etwas andern Oattung an. Klein analyfirt
don Gozzi's Stüden: „L’amore delle tre Melarance“,
„ll corvo“, „I Re Cervo“, die8 Hauptmetamorphofenftiid
mit der Statue, welche lacht, wenn jemand in ihrer An⸗
wefenheit eine Lüge jagt, und dem Zauberſpruch, der einen
Geelenwechfel zur Folge hat; „La donna serpente”, ein
etwas triviales Büihnenmärchen; die Märchentragödie: „La
Zobeide‘; und das philofophifce Märchen vom grünen
Vögelchen: „L’angellino beiverde”, welches in mancher
Hinfiht no als das finnvollfte betrachtet werden Tann.
Gozzi's geiftiger Standpunkt war ein befchränfter, feine
jocial»politifchen Anſichten ariftofratifch «volksfeindfich, ein
Umftand, der ihm die Sympathien der beutfchen roman
tifhen Heactionäre zuwenden mußte. Seine übrigen Werke,
Komödien und Tragikomödien, find unbedeutend.
Die zweite Ubtheilung des [ehesten Bandes (bie
erfte hat fiber 700, die zweite über 600 Seiten) jet zunächft
die Darftellung der italienifchen Komödie im 18. Jahrhundert
fort und fchildert Marcheſe Francesco Albergati Eapacelli und
deffen zwei gerühmteſte Luſtſpiele: „I ciarlatore maldicenti‘
(„Der verleumberifhe Schwäger‘) und „Le convulsioni‘
(„Die Krämpfe), Aleffandro Bepoli, Antonio Simone So»
grafi, defjen befannte Komödie „Olivo e Pasquale” ein paar
anſprechende Situationen bei ungenitgender Motivirung der
Rataftrophe enthält und der auch eine commedia „Wer-
ther“ nad) Goethe's Roman mit rührendem, aber nicht
tödfihem Abſchluß dichtete; Camillo Federici, beffen Luft»
jpiel: „Die Heinftädtifchen Vorurtheile“, gerühmt wird
wegen überrafchend deutjchnationalem Gepräge, wegen
Bau, Gliederung, Dispofttion der fcenifhen Momente,
mufterhafter Berwebung der Nebenmotive mit dem Haupt-
motiv und ſcharfer Charakterzeichnung; Francesco Antonio
Avelloni, „postino”, das Dichterchen, genannt; Signorelli,
den befannten Xheaterhiftorifer u. a.
Die Tragödie des 18. Jahrhunderts wird in der er⸗
ften Hälfte deffelben durch Maffei's „Merope”, in der
zweiten duch Alfieri's 16 Zrauerfpiele vertreten. Andere
Tragbdiendichter find: Pierjacopo Martello, der Erfinder
des Martellianifchen Berfes, einer Umgeftaltung des Ale⸗
randriners, welche durch die weibliche Cäfur in der Mitte
und die größere reiheit der Bewegung an die moderni-
firte Nibelungenftrophe erinnert, Verfaſſer einer „Iphigenie
in Tauris“, einer Tragödie: „M. Tullio Cicerone‘, voll
32
{
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el
2
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J
250 | Unterhaltungsfchriften.
größerer Grüßlichleiten, als fie da8 Trauerfpiel der Ein-
quecentiften zur Schau trug, und mehrerer anderer Trauer»
ſpiele; Gian Vincenzo Gravina und Conte Saverio
Panſuti mit griechiſch⸗römiſchen Stoffen. Einen von dem
Herzog von Parma ausgefegten Preis hatten eine Menge
preiögefrönter Tragödien erhalten, „denen“, wie Klein ſehr
treffend und mit weitreichender Beziehung fagt, „der ge⸗
wonnene Preis nur als Mühlſtein am Halfe dient, der
fie fchneller al8 andere im Meer der Bergefienheit be-
gräbt”. Zu den gerühmtern Tragddien jener Zeit, welche
Klein eingehend analyfirt, gehören: Giovanni Granelli's
| „Dione” und Antonio Conti’8 „Giulio Cesare”, welche
durch Erzählung der Kataftropge an dramatifchem Leben
weit hinter Shakſpeare's Trauerfpiel zurüdteht, und des
Afonfo Barano di Camerino: „Demetrio“. Eine ſchauer⸗
liche Dedipus « Tragilomödie ift Domenico Lazzarini’s
„Ulisse il Giovane‘, deren Scidfalsftrumpf Zaccario
Balareffo parodiftifch aufbröfelte in der Burleske: „Rutz-
vanscad il Giovane‘‘, eine Satire, welche mehr oder we⸗
niger die ganze franzöfifch-antikifirende Nichtung diefer
Dramen trifft. Audolf Gottſchall.
(Der Beſchluß folgt in ber nädften Nummer.)
Unterhaltungsfchriften.
1. Siligran. Bon Levin Schüding. Hannover, Rümpler.
1870. 8. 1 Thlr. 7% Nor.
2. Schwarz auf Weiß. Rovelle von Adelheid von Auer.
r.
Berlin, Leffer. 1869. 8 15 N
8
8. Vox populi. Phantaſieſtück aus der Thierwelt. Abenteuer.
einer Seelenwanderung nad den Bifionen eines Haſchiſch⸗
effers. Bon Julins Groſſe. Braunfhweig, Wefter-
mann. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Ngr.
4, Novellen und Skizzen file ihre Freunde von Helene. Ber⸗
lin, v. Deder. 1869. 8. 1 ZThlr. 15 Nor.
5. Die Welt des Scheines. Bier Erzählungen von Ernft
Billlomm. Zwei Bände. Gera, Ißleib und Rietzſchel.
1869. 8. 3 Thlr.
6. Das Haus Morville. Roman von Karl Grüel. Zwei
Bände. Jena, Coſtenoble. 1869. 8. 3 Thlr.
7. Der Frauen Königreih. Cine Liebesgeſchichte von der Ber
fafferin von „Sohn Halifax”. Aus dem Englifchen von
Sophie Berena. Autorifirte Ausgabe. Bier Bände,
Berlin, Janke. 1869. 8. 2 Thlr. 20 Nor.
Allerlei Hausarreft hat mich gendthigt, die ſümmt⸗
lichen obengenannten Bücher nicht blos als Kritiker zu leſen,
fondern in der Abſicht, durch die Lektüre auch anmuthig
unterhalten zu werden. Diefe doppelte Abficht des
Kritikers muß dem Autor willlommen fein, befonders
wenn er mehrbändige Werke vorlegt. Bei dem erft«
genannten Werke: „Biligran‘ von Schüding, ift dies
nicht der Val, vielmehr enthält der müßige Band fogar
vier einzelne Arbeiten, „nicht aus ernftem Stoff Gebilde⸗
tes, fondern Lichtes Gewebe der Fiction, des Lebens Spiegel⸗
bild, wie es in zierlicher Farbenklarheit eine Seifenblafe
zurüdwirft, etwas, worin der Gedanke Libellenflügel an⸗
genommen bat und mit buntem Schiller durch das heitere
Gebilde der Phantafie ſchwebt“. So charakteriſirt Schüding
felbft diefe zierlichen und mit Finftlerifcher Sorgfalt und
Liebe gefchaffenen Arbeiten, die alle vier jo viel drama⸗
tifches Leben haben, daß fid) zahlreiche Bearbeiter der
Stoffe bemädhtigten, um fie für die Bühne darftellbar
zu machen. Solche Birchpfeiffereien pflegen den Autoren
nicht erwünſcht zu fein, aber Schücking wird nicht zürnen,
wenn er Hört, daß wir nach forgfältiger Leſung zuerft
von ber Novelle „C. Krüger“ die Rollen unter und ver«
theilten und flottweg im Salon das Stüd ex tempore
und ohne irgend vorhergängiges Memoriren aufführten.
Es wurde viel gelacht und Beifall geflatfcht, und da wir
niemand wehe thaten, fo dürfte diefe Art immerhin geift-
reicher Abendunterhaltung wol zur Nachahmung empfoh-
len werden.
Adelheid von Auer hat es bereits in den frühern
Romanen: „Modern“, „Fußftapfen im Sande” u. f. w. ver-
fanden, die Aufmerkſamkeit ber feinern Lefewelt zu erre-
gen. Auch in „Schwarz auf Weiß‘ (Nr. 2) behandelt
fie wieder einen nicht unglücklich gewählten Stoff aus
dem heutigen Gefellichaftsieben, erzählt mit Anmuth und
Sicherheit, trägt die Farben nie zu ſtark auf, läßt uns
nie über Unmöglichkeiten ftaunen und bringt alles zum
guten und fachgemäßen Abſchluß. Das Recht, ja bie
Pfliht Hat der Romanfchriftfteller.
In dem Phantaſieſtück „Vox populi” (Nr. 3) ift
Julius Groffe in einen Fehler verfallen, den wir im
Intereſſe der Kunft rügen und vor deſſen Wiederbegehung
wir warnen müſſen. Auch er bat gut und richtig aus
dem Leben erzählt, aber gegen das Ende Hin verfällt er
in einen befremdlichen Fehler, er gibt ung zweierlei Abſchluß
feiner Erzählung zur Auswahl, einen „verfühnenden, be
friedigenden“, und einen, den er „reale Wahrheit” nennt;
warum nicht „die triviale Alltüglichkeit? „So“, fagt er,
„hätte e8 kommen können, aber auch fo; wie es dir ge⸗
fällt, entfcheide dich, Lieber Lefer, wähle diefen Schluß
oder jenen‘ u. f. w.
Das ift unrecht. Diefe Spielerei ift dem Dichter
nicht geftattet. Sein Werl muß ein wie aus Erz ge
goflenes Kunſtwerk fein, kein Mummenfchanz, keine puppen⸗
bafte Figur, welche die Maske beliebig wechjelt.
. Aud) die „Abenteuer einer Seelenwanderung” kön⸗
nen wir keineswegs unbedingt loben. Stoffe folcher phan-
taftifchen Natur dürfen nicht über 100 Seiten hinaus
ins Breite getreten werben, fondern müffen lieber in
poetiſcher Form, wie Küdert das fo meifterlich gezeigt
hat, kurz und prägnant, in jedem Worte wirkfam und
zufammengehalten zum Bortrag kommen. Hätte Groſſe
das gewollt, er hätte e8 recht gut vermodt. Weshalb
immer „in da8 Breite fchweifen‘?
Die Kritit fol fih nie genirt fühlen, and nidt,
wenn fie eines Königs oder Kaiſers Geifteswerke zerglie⸗
dert, um ihren Werth feitzuftellen. Auch einer Frau
Mühlbach gegenüber behält fie Teicht ihren Gleichmuth
bei, denn folange die Berleger zahlen und druden, feen
die Mühlbäche ungeftört fröhlich ihr Rauſchen fort. Faſt
aber ift e8 ein anderes, wenn ein zartbefaitetes Frauen⸗
gemüth wie das der Anonyma Helene die Lyrik ihres
Herzens und Lebens in Berfen vor uns ausſtrömt umd
dann auch „Novellen und Skizzen fiir ihre Freunde” (Mr. 4)
nachfolgen läßt. Der Kritiker ift micht fo anmaßend, ſich
— — — EEE nn — —— — —— Lu — —— — —— — — — — 6—2——
Unterbaltungsfhriften. 251
nit zu dieſen Bevorzugten zu zählen. Er verſteht fehr
wohl den leifen Wink, die unausgefprochene Weifung:
„Noli tangere circulos meos”, verrecenfirt mir nıeinen
lieben literariſchen Blumengarten nit, ich fchreibe zu
meinem Vergnügen und ſetze bie Fünigl. Geh. Ober⸗
hofbuchdruderei nicht der Gefahr aus, an Drud, Papier
und Berlag Geld zu verlieren. Und jo will der Sritifer
denn amch gern Manier annehmen und geftehen, baß,
fauber und elegant wie die Ausftattung, auch das Innere
des hübjchen Buchs ift, daß nichts Ungeheuerliches aus⸗
gefonnen und ausgefponnen ift, fondern daß mit edler
Wärme und volllommener Stilreinheit Wamilienereig-
niffe borgetragen werden, die wohl geeignet find, be-
freundeten Berfonen ein mehr als gewöhnliches Iutereffe
abzundthigen. Unfere fchriftflellernden Damen find in
der That gegen ihre Kolleginnen in England übel genug
daran. Die brauchen nur Auge und Ohr zu Öffnen und,
was fie ans nahen oder fernen Häufern und Edelhöfen
erfahren, nad) der Schablone der Tagesmode zu erzählen,
fo wird uns immerhin pilant Abenteuerliches vorgejekt
fein. . Man laſſe einmal ein Dutend Engländerinnen die
Sata ihres heimiſchen Herbes erzählen; wir möchten jede
Wette eingehen, daß mindeſtens neun frappirende Ro⸗
mane auöframen würden. Was paffirt dagegen ig Deutſch⸗
land und in deutſchen Novellen, 3. B. ber letzten Novelle
von Helene: „Wie alte Wunden heilen"? Ein zartes Ver⸗
hältniß wird gelöft, weil Er ein Graf und Sie eine
wenn auch nicht unbegüterte Profefforstochter iſt. Er
beirathet eine Bon, Sie ftirbt. Die Aeltern brouilliven
ſich, proceffiren miteinander, endlich verlauft der Profeſſor
feine Beſitzung und flebelt nach Genf über; doch nein,
er bat nur die Abſicht. Die Frauen haben eine Berfüh-
nung angebahnt, es wird eine dampfende Bowle aufgetra-
gen, der ungetreue Er ift infolge der Strapazen von 1866
geftorben, feine Bon ift ſchon Längft tobt, nur ein Sproß
M übrig, Eduard. Der glückliche Knabe erbt nicht blos
das gereitete Majorat (400000 Thaler), fondern wird
auch von der Profefiorfamilie als ihr mitangehörig be»
trachtet, in dem Grade, daß ihm durd) donatio inter
vivos ſchon eim Theil des Vermögens, was Sie geerbt
hätte, zugetheilt wird. Sie ift jo gut wie vergefien, die
thenere Berftorbene.
pÖeflatten Sie uns, Ednard als unfer Kind zu betradhten
und ıhm bereits jeßt einen Theil des Bermögens zu lbergeben,
Aber weldes mein Mann und ich frei zu beflimmen baben.
eftern früh waren wir bei unferm Rechtsanwalt, um dies
enf jeden Fall ficherzuftellen, und bat berfelbe bereits unſern
Letzten Willen in Händen.” — „Ia, gewähren Sie uns dieſe
Senugthuung, Herr Graf”, fligte der Profeflor bewegt Hinzu
u. J. w. Der Graf zerdrüdte eine Thräne der RUhrung und
Margaretha rief, mit ſtürmiſcher Innigkeit ihren Arm um den
Hals der Profeſſorin ſchlingend: „Was die Zukunft auch neh⸗
men oder bringen möge, eine füße Gemwißhelt nehmen wir in
das neue Jahr hinüber, welche uns unter allen Umftänden
tröften uud ermutbigen ſoll. Sie beſteht in der Grfahrung,
daß jedes wahre Gere! auch eine ewige Dauer in fi} trägt
and es oft nur ber allerunbedeutendflen Beranfafjungen bedarf
(doch wol gegen mindeftens 50000 Zhaler], um daffelbe — wie |
tief es anch immer erlofchen feine — a feiner erneuten voll⸗
lommenen Herrſchaft gelangen zu laffeu!‘
Diefe Schenkung war ungebörig, wenn fie auch dazn
beiträgt, bei bem Grafen, der die Trennung der Liebenden
verfchuldet Hatte, eine Thräne der Rührung hervorzuloden
und der Baronin Margaretha diefen pathetifchen Schluf-
accord auf die Lippen zu legen, benn wir find überzeugt, der
glüdlichhe Eduard wird das Geſchenk verjubelt haben, che
er auf fein Majorat zurückkehrt. Der alte Brofeffor,
wenn er fo reich war, hätte lieber einige vernünftige
Stipendien fir unbegüterte Studirende ftiften follen.
Aus dem Gefammititel feiner vier Erzählungen läßt
Ernft Willkomm uns allzu beutlich vorausſehen, was
wir zu erwarten haben: „Die Welt des Scheines“ (Nr. 5),
und faft alles Liegt gejagt vor, wenn wir noch die Einzel
titel hören: „Wucher und Speculation”, „Ein leidenfchafte
liches Kind der Welt“, „Zwei Frauen von Bildung‘,
„Falſch gewählt”. Willkomm ift mit Recht einer ber am
liebften gelefenen Romanfchriftfteller, aber es ift ſtets ein
bedenklich Unterfangen, über Themata aus einer ſcharf⸗
bezeichneten Sphäre, wie über gegebene Schablonen, No⸗
vellen zu fchreiben, felbft wenn es mit dem Gefchid eine®
Willkomm geſchieht. Trotz wohlberechneten Arrangements
iſt eigentliche Spannung nicht möglich, alles iſt vorneweg
angedeutet, die Moral liegt im Titel, ſtatt ſich als Facit
am Ende zu ergeben. Gut erzählt, oft markig und draſtiſch,
iſt alles, doch wollen wir auf das einzelne nicht eingehen.
Aud) Über die zwei letzten aus dem Englifchen bear-
beiteten Romane dürfen wir uns kurz fallen. Karl
Gritel (Nr. 6) freilich Hat es fich keineswegs leicht ges
madt. Er hat gezeigt und zeigen wollen, „was eine
deutſche Männerhand aus dem weichlihen Gebilde der
pietiftifchen Engländerin machen kann“. Das ganze erfte
Bud, reſp. der erfie Band fpielt vor Beginn jener eng⸗
liſchen Erzählung, und das Einflechten einzelner aus die
fer genommenen Züge war gerade nicht die leichtefte Aufgabe
der Erfindung. Erſt in der Mitte feines zweiten Buchs
langt der Berfafler bei dem Zeitpunkt an, wo jener Ro⸗
man beginnt; aber aud) von da an if} er nicht Nach⸗
ahmer, denn er führt den Leſer nicht nur durch ganz
andere Scenen, fondern kommt auch zu einem gänzlidy
andern Schluſſe. Sein Original: „The heir of Red-
eliffe”, hat Grüel unbeftreitbar weit überholt, und wir
möchten ihm wünjchen, daß feine Arbeit in das Englifche
wörtlich überfegt wiirde, vorzugsweife der erfte Band,
der ein für fich abgefchlofienes Werk ift und den er mu-
tato nomine für fein Werk getroft ausgeben dürfte.
Auch der von Sophie Berena aus dem Englifchen
| bearbeitete Roman: „Der Frauen Königreich” (Mr. 7), hat
nad) unſerm Urtheil durch die Bearbeitung gewonnen. Hand»
lung ift wenig darin, aber die Entwidelung der Seelenzuftänbe
bei den zwei Schweftern und den zwei Brüdern, die in
Liebesverhältnig zueinander treten und von denen das eine
Paar glücklich wird, ift mit viel pfychologiſcher Feinheit
und oft mit wahrer Meifterfehaft ausgeführt. Die vier
Perſonen find Teineswegs ungewöhnliche, in irgendeiner
Hinficht ſonderlich hervorragende, aber der Lefer bleibt
gefeſſelt und iſt der Berfafferin fir manche Wendung und
manche Sentenz, für mande fcharffinnige und gut mite
getheilte Beobaditung dankbar. „Der Frauen Königreich“
ift ein Buch, das man nicht nur gern einmal Lieft, ſon⸗
bern dem man auch gern einen Ehrenplaß in feiner Bi⸗
bliothet einräumt,
32 *
252
Zur Geſchichte der Arbeit und ber inpuftriellen Klafien.
Zur Geſchichte der Arbeit und der indnftriellen Klafen.
1. Geſchichte der Arbeit von Morig Weinhold. Erſter
Band. Dresden, Heinfius. 1869. Gr. 8. 1 Zhlr. 10 Nor.
2. Bilder aus dem deutfchen Stäbteleben im Mittelalter von
5 vanz Pf alz. Erſter Band. Leipzig, Klinlhardt. 1869.
. s Nor.
Das innere Band zwifchen beiden Büchern, das uns
veranlaßt, fie hier zufammenzuftellen, ergibt fid) aus ihrem
Titel von ſelbſt. Das zweite behandelt eimen einzelnen
Ausfchnitt aus dem weitgefpannten Kreiſe, den das erfte
zu umfafen ſucht. Die beutjchen Städte find, jeitdem
es folche gibt, bie eigentlichen Herde der Arbeit im fpeci-
fiſchen Sinne des Worts gewejen und bis in die Gegen-
wart hinein, wo fich der fociale und ölonomifche Unter-
ſchied zwiſchen Stadt und Yand auch bei und zu ver-
wifchen beginnt, geblieben. Daraus geht aber aud) ſchon
hervor, was wir uns unter dem an ſich vieldeutigen Be⸗
griff „Arbeit“ zu denken haben, deſſen Geſchichte das erjt-
genannte Buch darftellen will. Es ift vorzugsweiſe die-
jenige menſchliche Thätigkeit in ihrem Einfluß auf den
Menſchen hier gemeint, welche duch mehr oder minder
complicirte Werkzeuge den natürlichen Rohproducten eine
erhöhte Brauchbarkeit und infolge defien einen höhern
Werth gibt, alfo das, was man Gewerbthätigfeit oder
Ichlechtweg früher Handwerk — im feften Gegenjag zu
dem theil® weitern, theil8 engern Begriff der Handarbeit —
zu nennen pflegte. Damit ift nach der einen Seite hin
3.2. ber Uderbau, überhaupt die Rohproduction, nad
der andern die eigentliche Kunft und die wiflenfchaftliche
Thätigleit von der Aufgabe ausgefchlofien, obgleich ſich
felbftverftändlich die Grenzen nicht fo ſcharf ziehen laſſen,
daß fie nicht öfters nach der einen oder nad) der andern
Seite hin überfchritten würden. Der Verfaſſer felbft ift
ſich dieſer ſchwankenden Faſſung feines Gegenſtandes be-
wußt und ſucht dieſe, wie billig, durch die Natur deſſel⸗
ben zu entſchuldigen. Obgleich wir aber im allgemeinen
damit vollkommen einverſtanden ſind, ſo iſt es doch nicht
zu leugnen, daß ihn hier und da die Berüccſichtigung
jener verwandten, aber begrifflich doc) getrennten Gebiete
fo weit geführt hat, daß der eigentliche Kern und Mittel
punkt des Ganzen daburdy dem Auge entrüldt wird.
Wer eine Geſchichte ber Arbeit von dem Anbeginn
unferer Hiftorifchen Kenntuiß bis zu dem Yufanımenbrud
der römiſchen Eultur in einem Bande von nur 276
Seiten zu erzählen unternimmt, kann dies begreiflich nur
in großen, fligzenhaften Zügen thun, wie e8 bier geſche⸗
ben ift. Auch wird kein Verftändiger etwas dagegen ein-
zuwenden haben, daß der Berfafjer, ein vielbejchäftigter
Schulmann in Dresden, nit den Aufprud) erhebt, als
felbftändiger Forſcher zu belehren, fondern nur die Re
fultate dev Forſchung anderer unter feinen Geſichtspunk⸗
ten zu verarbeiten. ‘Derartige Bermittelungen der ftreng
gelehrten Wiſſenſchaft mit den Bedürfniſſen der Durch⸗
ſchnittsbildung werben wir, befonders auf dem Gebiete
der Gefchichte, Herzlich willlommen beißen, wenn fie ge»
wiſſenhaft, verftändig und geſchickt gemacht find. Und
diefe Prüdicate Tann man bem Buch wel im Durchſchnitt
ertheilen, obgleih wir in manden nicht unweſentlichen
Dingen gegen Anlage und Ausführung Erhebliches ein«
zuwenden haben.
Eins davon ift ſchon erwähnt, und einige andere
wollen wir wenigftens andeuten. Daß der Verfaſſer der
eigentlich Biftorifchen Zeit der menjchlichen Arbeitsentwides
fung bie paläontologifche, wie wir fie kurz nennen wollen,
vorbergehen läßt, ift an ſich richtig gegriffen. Die ganze
Wiſſenſchaft ift aber noch zu jung, um nicht denjenigen,
der fi) nur receptiv zu ihren Forſchungen verhält, der
Gefahr anszufegen, irgendeiner der leichtfertig aufſchießen⸗
den und raſch wie Blaſen auf dem Waffer wieder ver⸗
ihwinbenden Hypothejen der Tagesmeinung allzu fehr zu
vertrauen. Dies gilt, wie jeder felbftändig Prüfende weiß,
3. B. von dem ganzen Complex der fogenannten Pfahl
bauten und was damit zujfammenhängt. Uebrigens ift
auch da8 Ergebniß der bisherigen Arbeit auf diefem Ge⸗
biet file die eigentliche Aufgabe dieſes Buchs von fehr
geringer Bedeutung. Denn aus diefen ſtummen Zeug«
niffen der Borwelt„Iernen wir zwar die Erzeugnifie der
Arbeit, nicht aber, was die eigentliche Tendenz des Ver⸗
faſſers ift, die cultur» oder fittengejchichtliche Stellung der
Ürbeiter im Volle oder im der größern menfchlichen Ge⸗
meinfchaft, der fie angehörten, kennen. Auf die Frage
danadı geben uns weder die Culturſchichten der urzeit-
lichen Höhlen, nocd die Kjökkenmöddinger, noch die Ge—
miülleftätten der Pfahlbauten irgendeine Antwort. Wäre
es beabfichtigt geweſen, die Gefchichte der Arbeit als eine
Geſchichte ihrer Werkzeuge und Erzeugniffe aufzufafien,
fo würde dies paläontologifche Material für folden Zweck
eine ganz andere Brauchbarkeit haben, als für die eigent-
lihe Tendenz dieſes Buchs, das zuerft und zumeift ben
arbeitenden Menfchen berüdfichtigen will.
Ebenfo ‚möchte die hier beibehaltene, in der. gewöhn-
lichen eykliſchen Darftellung der Weltgefchichte hergebrachte
etfnographifche Eintheilung,, beziehungsweiſe ftufenartige
Aneinanderreifung des Stoffs nad dem Hiftorifchen Auf⸗
treten der einzelnen großen weltgefchichtlichen Völker nicht
fo ohne weiteres zu billigen fein. Chineſen, Inder,
Aſſyrer und Babylonier, Perfer, Aegypter, Phönizier
und Juden erfcheinen hier nach dem überlieferten Schema
gleihjam al8 Glieder einer fortlaufenden Kette, ohne daß
man body hier ober andersivo das Bindemittel der welt«
gefchichtlihen Idee oder der concreten pragmatiichen Zus
fammengehörigkeit nachzuweifen oder herauszuerkennen ver«
möchte. In der That gibt es ja auch kein folches; wenig⸗
ſtens foweit wir Heute den bisherigen Entwidelungsgang
der Menfchheit zu überſehen vermögen, fteht z. B. bie
chineſiſche Eultur ganz ifolirt, die indifche in ihrer vollen
Ausbildung fo gut wie ifolixt, und ebenjo wieber bie
ägyptifche. Bemüht fich doc in dieſem Angenblid die
jelbftändige Wiſſenſchaft der Aegyptologie noch ohne ficht-
baren Erfolg, die Verbindungsfäden zu der fpätern griechi⸗
fen Eultur, ober zu der ältern aſiatiſchen, femitifchen
und chamitifhen aufzufinden. Wahrſcheinlich wäre es
zwecddienlicher geweſen, alle. biefe originalen und in ihrer
Originalität erftarrten Culturgebiete ganz beifeitezulafien
und nur das unter ſich und mit dem unfern organic
Zur Lebensweisheit. 253
Berbunbene ber griechifh=römifchen Welt allein zu be
rüdfichtigen, wie es ja auch in der That von dem Bers
faffee durch verhältnigmäßig breitere Ausführung von
allen andern am meiften hervorgehoben wird.
Endlich können wir nit umhin, zu rligen, daß der
Berfafler an mehr als einer Stelle die Gelegenheit bei
den Haaren herbeizieht, um eine giftige Polemik gegen
die jeige politifche Neugeftaltung Deutſchlands anzubrin-
gm. Es ift möglich, dag man in gewiffen reifen un-
ſers Elbflorenz und feiner Dependenzen den contagiöfen
Einfluß welfcher Pfaffen, autochthoner Zopfiunfer und
Hofſchranzen fanımt fosmopolitifchen Abenteurern, die feit
1697 das Weſen unferer meißniſchen Stammesgenofjen
fo wenig erfreulich alterirt Haben, noch nicht fo weit zu ver-
winden vermag, um ſich zu einer ebenſo von dem ge-
funden Denten wie von dem nationalen Chrgefühl ges
botenen Auffaffung ber dentfchen Geſchichte und Gegen-
wart zu erheben. Aber man follte den Ausdruck dieſer
Stiummmg den Leuten überlaffen, die dafiir durch den
Stempel ihrer Natur berufen find und auch dafür be—⸗
zahlt werden. In ein Buch, wenn auch nicht von ge⸗
fehrter, fo doc) von gebildeter Tendenz und Haltung paßt
es fchlecht, wenn von dem Bruderfrieg von 1866 geredet
wird, was doch mur den Sinn haben Tann, daß fächfifche
Regimenter e8 vorzogen, als Bundesgenoffen an ber Seite
md im Intereſſe von Kroaten und Zigeunern gegen das
bentfche Heer zu fechten. Ebenſo können die Bhrafen
von dem preußiſch⸗norddeutſchen Militärdespotismus, der
mit dem Gebaren der Soldateska in der letzten römiſchen
Laiſerzeit paralleliſirt wird, nur ein mitleidiges Lächeln
erregen. Freilich wiſſen wir, daß es zu den Grund⸗
rechten eines Deutſchen, namentlich eines ſolchen, ber in
ber faulen Luft des. Particularismus athmet, gehört, mit
ſchwächlicher Berbifienheit die großen Erfolge feiner Nation
zu benörgeln und zu beneiden, aber wir fordern von ber
Würde der Gefchichtfchreibung, daß fie fich tiber ſolches
Weſen zu erheben wifle.
Einen ungemifcht guten Eindrud macht da8 zweite der
genannten Bücher: „Bilder aus dem beutfchen Städteleben”,
von Franz Pfalz Es ift gleichfalls auf eine populäre
Darftellung abgefehen und der Verfaffer verzichtet befchei-
den anf das Verdienſt der Forſchung. Über er hat nicht
blo8 die gefammte umfängliche gelehrte Literatur der neuern
Zeit, ſondern auch die eigentlichen Quellen mit Verſtändniß
und feinem Sinn verarbeitet und, fo ein Werk gefchaffen,
das nicht blos durch feine fehr elegante und durchgebil⸗
bete Form, fondern auch durch feine Begründung Lob
verdient. In diefem erften Bande fehen wir das Werben
der deutfchen Städte ans und in den Trümmern ber
römifthen, um die Königspfalzen, Bifchofshöfe und Ab⸗
teien, bis zu der Höchften Entfaltung ihres politifchen und
focialen Geftaltungstriebes in der Mitte des 13. Jahr⸗
Bunderts. Denn wenn auch erft fpäter das eigentliche
goldene Zeitalter der ftädtifchen Induſtrie, bed Handels
und Verkehrs beginnt und namentlich die Hanfa erft im
14. Jahrhundert den Gipfel ihrer Größe erftiegen hat,
fo ift doch für die füb- und weſtdeutſchen Gebilde feit
der zweiten Hälfte bes 13. Jahrhunderts eine gewiſſe in«
nere Stagnation eingetreten, die nur nicht auf allen Lebens⸗
gebieten fich äußerte. Wenn der Verfaffer, wie zu hoffen
fteht, bald eine Fortſetzung liefert, fo freuen wir uns,
dann Gelegenheit zu haben, noch etwas eingehender feine
fchöne Arbeit zu würdigen. i
Heinrich) Rüde,
Zur Kebensweisheit.
Gedanken über das wahre Glück von Tinette Homberg.
Berlin, ©rote. 1869. 8. 25 Nor. |
Es iſt vielfach bedenklih, wie fehr aud) das Gegen«
gentheil den Anfchein bat, wenn der Autor ein Thema
wählt, welches ſchon von vornherein Lieblingsgegenftand
eines weitreichenden Publitums if. Denn entweder wird
der Schrififteller den Lefern num zum Munde reden, und
Binterher den Undank ald Strafe erfahren, daß es heißt:
was der Verfaſſer uns jagt, haben wir längſt gewußt,
oder er wird durch dem Titel feines Buchs der Mehrzahl
ſich nur anbequemen, jedoch in ber Abficht, den Leſer zu
höhern Standpunkten allmählich zu erheben, die das Nach⸗
und das Mitdenken zur Bedingung machen, an welches
viele nicht heranwollen und fi nun für getäufcht er-
Mären. Und doc gäbe es noch einen dritten Fall. Es
wäre der, daß ber Berfaffer fo vielfeitig begabt, jo tüch⸗
tig in feiner Ausführung wäre, daß er die Kunft, popus
Ar zu fein, mit einer umfafjendern als der gewöhnlichen
Beltanfhanung gründlich verbände, und nun feinen Les
jeru mehr gäbe, als fie and) bei den gefpannteften Er⸗
wartungen wünfchen konnten. Dieſes Große, Schwere,
fogar für das tägliche Teben Heilbringende zu leiften, ift
der vortrefflichen Verfaſſerin des obigen Buchs vollauf
gelungen. Kein Lefer wird es unbefriebigt aus der Hand
legen, er müßte denn zu jenen zerfahrenen, alles bemä⸗
kelnden, unglüdliden Saturen gehören, die gar nicht
mehr willen, was fie wollen. Wer ſchon aus Princip,
methodiſch, unglüdtih ift, und dabei noch, ohne daß
er es oft weiß, den lebten, jedoch ſelbſtiſchen Genuß
nur barin findet, daß er ſich an feinen Unglüd weidet,
der ift zu feinem, auch nur relativen Glücke mehr zu
erheben, fo lange ex in fo bejchrünfter Weile an fi
ſelbſt Haftet.
Man darf zunähft nur das Vorwort unferer Schrift
leſen, um fich fogleich davon zu überzengen, daß wir im
weitern hier über ein höheres Glück Aufſchluß erhalten,
als das ift, wonad) die Menge läuft, welches daher auch
das allgemeine, vulgäre Loſungswort geworden ift, Ihrem
Motto von Sophofles gemäß, verführt die fo überaus
umfichtige Berfaflerin auch darin weife, daß fie im tief-
ften Sinne den Leſer aufklärt, und zwar ganz allmählich
aufflärt, über den Menſchen als foldhen, über fein Ver⸗
hältnig zu andern Individuen, über Selbftfenntniß, tiber
das ebenſo Wohlthuende, wie Fördernde, daß der einzelne
ſich durch andere ergänzen folle, um zu Schägen, Ein-
fihten und Willemskräften zu gelangen, die ex lediglich
rn — — — — — —— ——
254 Feunilleton.
aus ſich ſelbſt nie aufbringen würde. Indem der Leſer
ſchon durch derartige Auseinanderfegungen zum Nachdenken
über das, was wahres Glück eigentlich befagt, angeregt
wird, und ſolche Anregung angenehm findet, zieht die Ver⸗
faflerin ſtets weitere Gebantenkreife um ihn, ja die Unter»
ſuchung iſt im ber leicht faßlichſten Form bereitS auf dem
Boden der Philofopgie angelangt. Hier erflaunt man
über das umfangreiche Wiffen einer rau, über ihr durch⸗
weg gefundes, in die Tiefe der Gedanken eindringenbes,
zur Döhe der Ideen ſich erhebendes Urtheil, immer fo
gebalten, einfach, beſtimmt, klar ausgeſprochen, daß fie
über das wahrhafte Weſen des von jedem kdeln Menſchen
zu erreichenden Glückes neues Licht gewinnt. Sie ift mit
Platon, mit Ariftoteles, mit Kant — felbft was bie drei
Krititen des letztern betrifft —, mit den beiden Fichte,
mit- Schopenhauer wohl belaunt, wie in ber bentjch-
claffifchen, in der heutigen Literatur vielfeitig belefen, und
eröffnet überall neue Geſichtspunkte, erfchließt uns ihre
eigenen Gedanfen und Lebenserfahrungen, ihre Beobach⸗
tungen an Menfchen, in Familien⸗ wie in reifen ber
beichteften, auserwählten Gefellfchaft, und ift, was noch
außerdem ihrem geiftvollen Buche zu höchſter Ehre ger
reicht, bereits im böhern Alter angelangt, fo zufrieden
mit ihrem Scidfalglofe, fo ansgeföhnt mit dem Erden⸗
leben, deffen Nachtſeite und Herbigfeiten fie aus eigenen
Wecjjelfällen kennt, daß man einer ſolchen Glückverkün⸗
digerin mit Aufmerffamteit folgt. Sie weift nach, welde
unrihtigen Anſichten man über Bildung hat, worin bie
wahre beftebt. Wie entfchieden fie itberall jeder Ueber⸗
fpanntheit enigegenaxbeitet, ift fie doch auch ſtets des
Ideals eingedenk, indem fie ihren Gegenftand zugleich ans
dem Gefihtspuntte der Kunft faßt. Wie geredht wird fie,
bei Gelegenheit der Muſik, der individuellen Eigenthüm⸗
lichkeit, welche gerade durch die Tonkunft, in Beib und
in rende, fo beglüdend in allen wach gerufen wird!
Indem fie liberzeugenb von dem fpricht, was allein wahr-
haftes, würdiges Feben ift, fährt fie fort: „Diefe Grund⸗
anficht bildet den feften Refonanzboden in mir, iiber den
die Saiten meiner Seele fi in ſicherer Stimmung hin-
ziehen und mir in ftillee Heimlichkeit al’ die reinfte
Muſik zu hören geben, bie in meinem Innern zu bere
nehmen ich jegt fähig bin.” Und finnreich fest fie hinzu:
„Sin jeder hat feine eigene innere Muſik.“ Freilich foll
ber Menſch, dies ergibt ſich aus ihren fo tief durchdachten
Erdrterungen, um unter allen Umftänden glüdlih in
böchfter Bedeutung zu fein, über alles, was blos Stim-
mung ift, ja über Kunſt noch hinausdringen. Hier find
es: Religion — wobei fie fig mit Hecht gegen jeden
engberzigen Pietismus erflärt —, die ſtrengſte Treue in
der Pflihterfüllung, Sittlichkeit, Selbſtverleugnung, Ar⸗
beit am fich felbft zu täglich fortfchreitender Läuterumg,
welche da8 Erreichen eines dauernden Glücks allein zu
beweritelligen vermögen.
Ausgezeichnete Partien bes Buchs find befonbers,
wie fie den Beweis der Freiheit des menfchlidhen Willens
führt, wie fie fi) über Naturell, Charakter, Temperament,
Gemüth, über Eiferfucht, Neid, Misgunft, über Familien»
zwiefpalt, häuslichen Frieden, über Liebe und freunde
ſchaft ausläßt, Schmollgeift und üble Laune bis in ihre
berborgenften Schlupfwinkel verfolgt, Frauen und Männer
in derartigen Untugenden ohne Rüdficht beurtheilt, um
alles das anch ſchon in Kindern auszurotten, was jebes
fpätere Glück unmöglih madt, und num veranlaft, daß
die Menfchen das einem feindlichen Schidjal zufdieben,
was fie fich felbft bereitet haben. Möchten fich Leferin
und Leſer nnaustilgbar einprägen, was bie fcharffinnige
Frau, die fo fein treffend im ihren mit Anfpruchslofigfeit
geäußerten Bemerkungen ift, über „Höflichkeit des Herzens“
jagt, und wir dürfen Hoffen, daß ber fchreiende Contraft
zwifchen Höflichleit und Liebenswürdigleit in der größern
Geſellſchaft, und Unfitte wie Murrlöpfigkeit in der Familie
unter den Foriſchritten der Civiliſation allgemach ver-
ſchwindet. Wir freuen uns, auf einem Gebiete, welches
wir jahrelang ducchforfcht Haben, wit einer ber ebelften
Frauen Deutjchlands und der Gegenwart, wenn aud) bei
ganz verjchiedenen Wudgangspunkten, bei abweichendem
Verfahren, in den Ergebniffen oft wunderbar übereinzn-
ſtimmen.*) Winfchenäwerth wäre es gewefen, bie wackere
Schriftftellerin Hätte ſich doch emtfchliegen können, ben
Gang ihrer Unterfuhung durch Wbfchnitte und Ueber⸗
Schriften zu unterbrechen. Auch hätten wir gewünſcht, fie
hätte nicht fo häufig aus andern, wenn auch vortrefflichen
Schriften eitirt, denn ihre Urt, ihre Gedanken find uns
fo werth und Lieb geworden, daß wir fie auch am Liebften
ſtets jelbft vernommen hätten. Wir haben diefe Heinen
Ausftellungen fchon oft bei dem beften Büchern ausge—
fproden. Zum Schluffe bemerken wir noch zweierlei.
Einmal, daß es ausgezeichnete Menfchen gibt, die ent⸗
weder duxch innere Kümpfe ober durch den Hingang ge-
liebter Wefen für jedes bloße Glück unzugänglich gewor⸗
den find, wohl aber ſchon hienieden zu einer Geligfeit
erhoben werden, in der Schmerz und rende fid aus
gleihen. Sobaun, wo Frau oder Mann bedauern, ein
Weſen von ſolchem Seelenadel, wie die Verfafferin, nicht
zur Hausfreundin haben zu können, ift e8 gewiß cin Er⸗
fat ſich das feelenvolle Buch anzufejaffen.
— — — — lexand ©
*%) Bgl._„ Des Gehelmniß db 5 , u
rl Des Bebelmmniß der Lebenttung. Ben lezander Jung
Fenilleton.
Nekrologe.
Einer der tüchtigſten dentſchen Litermchifterifer, defſen mt»
ermüdlicher Fleiß ee Kiterarifche zuerſt in erfren⸗
licher Weiſe aufgehellt Hat, iſt jüngſt geftorben: Auguſt Ko⸗
berſtein, ber Verfafſer des „Grundriſſes der — der
deutſchen Nationalliteratur.“ Um 8. März verſchied er in Kö⸗
fen im Haufe feines Schwiegerſohns an einer Lungenentzündung.
Roberfiein war am 10. Januar 1797 zu Rügenwalbe in Pom⸗
mern geboren, mo fein Bater als Prediger lebte, befuchte dann
bie Cadettenanſtalt zu Stolpe und feit 1816 die berliner Uni⸗
berfität. Im Jahre 1820 wurde er Adjunct an der Landes«
ſchule zu Pforta, 1824 Profeffor und 1855 erfier Profefjor an
diefer Anftalt. Sein tlihtiges Wirken als Lehrer der deutfchen
Sprache nnd Literatur Hatte ibm im pübagogifchen Streifen
Feuilleton.
einen ehrenvollen Namen gemadht; groß war die Zahl feiner
Scääler und meitverbreitet. Am 3. Auguft 1870 folte das
funfzigjährige Amtsjubiläum Koberſtein's gefeiert werden; leider
zaffte ihn der Tod hinweg, ehe er fo mwohlverdienter Ehre
theilhaft werden konnte. Doc weit Über den Kreis feiner
Schüler hinaus hat fi Koberflein als Literarhiftorifer einen
Namen gemadt. Sein obenerwähutes Hauptwerk, das zuerft
1827 erfchien, jollte zunächft praftifchen Lehrzwecken dienen, doc)
von Auflage zu Auflage erweiterte es ſich zu einem gediegenen
grundlegenden iteraturwert, das freilih den Rahmen eines
rundriffes mehr und mehr fprengte, aber aud) vielfach durd)
denfelben beengt und behindert war. Wir verweilen auf bie
eingehende Kritif des Werks, welche wir in Nr. 12 d. DL f.
1867 von der vierten Auflage deffelben gaben. ine neue
Auflage hatte der tüchtige Gelehrte in Ausfidt genommen, fo
ſchwer auch die Beherrſchung des von Jahr zu Jahr heran-
wachſenden Materials für den mehr als fiebzigjährigen Ge⸗
lehrien fein mochte; hoffentlich wird eine undige Hand dieſe
Arbeit in würdiger Weiſe ansführen. Außer feinem gediege⸗
nen, durch die Reichhaltigkeit und Genauigkeit aller Angaben
ausgezeichneten Hauptwerk hat Koberftein noch mehrere ſprach⸗
wiflenfchaftlihe Schriften verfaßt und in den „Vermiſchten
Auffägen zur Literaturgefchichte und Wefthetil’‘ (1858) fi aud
als geihmadvollen Darfteller bewährt. Er gab auferdem
„Heintih von Meif’s Briefe an feine Schwefter” (1860) und
den dritten Band von Loebell's „Entwidelung der deutjchen
Boefte'‘ (1865) Heraus.
Am 2. März farb in Weimar Apollonins von Mal-
ti, der Tangjährige Vertreter der ruffifchen Regierung an dem
weimariſchen Hofe. Seit 1865 war er ans feiner diplomati-
hen Stellung ausgefchieden, hatte aber feinen Wohnfig in
Weimar beibehalten, am welche Stadt er durch gefellichaftliche
Beziehungen und die Pflege der claſſiſchen Erinnerungen der
Literatur gefefielt blieb. Apollonius von Maltig, geboren 1795,
war der Sohn des kaiſerlich ruffiſchen Geſandien Freiherrn
von Maltitz, und begann 1830 feine Carriere bei der ruſſiſchen
Gefandtihaft in Rio de Jaueiro, war feit 1836 Legations-
fecretaie in Miinchen und trat 1841 feine diplomatiſche Stel⸗
Inng am großherzoglich. weimarifchen Gofe an. Er if der
vierte jeines Namens, der in der deutichen Literatur Hille, aufs
getreten if. Sein älterer Bruder Franz Friedrich von Maltitz
ft namentlich als Fortfeger des Schiller'ſchen „Demetrius‘'
befannt; Gotthilf —5 von Maltitz als Dichter der Trauer⸗
ſpiele: Schwur und Rache“, „Hans Kohlhas““, „Dliver Crom⸗
weil“ und Autor der ſcharfen ſatiriſchen „Pfefferlörner““ und
„KHumoriftiihen Raupen”. Er war der talentvolfte und origi-
nellfte der Schriftfteller dieſes Namens. Ein fleißiger Roman-
fchriftfieller iR Hermann von Maltitz, defien Romane mit eimer
gewiften breiten Behäbigkeit gefchrieben, doch einen tüchtigen,
gejunden, für Auffafjung praftifcher Lebeusverhältniſſe glücklich
organifirten Sinn befunden. Apollonins von Maltis bat fi
auf den verfchiedenften Gebieten verſucht; feine erſten poetiſchen
Berſuche erſchienen bereits 1817; zwei Bände „Gedichte“ 1838,
„Drei Fühnlein Sinngedichte” (1844). Bon feinen Dramen
erwähnen wir die Trauerſpiele: „Birginia’' (1858), „Anna
Boleyn“ —9 und „Spartakus“ (1861).
. A. Oppermann, der befannte bannoverjche Abgeord-
nete und Bublicift, der am 17. Februar 1870 zu Nienburg ftarb,
wurbe am 22. Juli 1812 zu Göttingen geboren, wo cr von
1831 ab die Rechte findirte. Wie Heine feinerzeit war er von
den göttinger Profefforen wenig erbaut und ſchrieb für Ruge's
„Deutiche Jahrbücher“ eine ſcharfe Kritit der Univerfität Odt⸗
tingen. Als Romanjhriitfieller unter dem Piendouym Her-
mann Frofc hatte er 1834 einen Roman: „Deutſchlands Ger-
manen und Arminen‘‘, verfaßt, der friih ans dem ſtudentiſchen
Lehen heransgegriffen war und die damals in vollfter Blüte
fiehenden Kämpfe zwilchen den Korps und den Burſcheuſchaften
ſchilderte. Merkwürdigerweiſe nahm fein Lebensgang eine au⸗
dere Richtung, ſodaß er mit feinem legten nachgelaſſenen Wert
erh wieder den Boden ſchönwifſenſchaftlicher Production berührte,
von dem er ausgegangen war. Da er zur Oppofition gegen den
255
Bruch des Staatsgrundgeſetzes gehörig und misliebig in maßgeben-
ben Kreifen war, wurbe ihm 1836 das Recht verweigert, ſich als
Advocat niederzulaffen,, fodaß er ganz in die publiciftiihe Thä⸗
tigleit hinausgedrängt wurde. Erſt 1842 wurde ihm erlaubt,
in dem Städtchen Hoya die advocatoriiche Praris auszuüben.
Als tüchtiger, fernhafter Vertreter der Rechte der Bauern
machte er ſich hier bald beliebt und wurde 1847 in die zweite
hannoverſche Kammer gewählt, wo er als ſachgemäßer, ſchlag⸗
kräftiger Redner wirkte. Außerdem machte er ſich ale Ge⸗
Shichtfchreiber Hannover und der hannoverſchen Stände be»
taunt. Im Jahre 1852 ficdelte Oppermann nad) Nienburg
über, redigirte dort ein politiſches Localblatt und blieb feiner
Oppoſition gegen das Welfenthum, den Minifter Borrieg und
deffen undeutſche Tendenzen auch in der Kammer treu. Stets
rieth er zum Anflug an Preußen und fuchte nad ber voll-
zogenen Annerion des Jahres 1866 die Geifter aufzuklären und
die Gemüther zu beruhigen. Bon dem berliner Landtag zurück⸗
fehrend, ſtarb er plöglih am Schlagflug. Bein binterlaffenes
mehrbaudiges Wert: „Hundert Jahre. 1770—1870. Zeit⸗ und
Lebensbilder aus drei Generationen‘ (Leipzig, Brodhaus, 1870),
if eine Säcularchronik mit romanhafter Einkleidung, welde
ein reiches aneldotiihes und culturgefhichtlies Material in
—* für größere Lejerkreife anziehenden Art und Weiſe be»
andelt.
Bibliographie.
en %5 t von Samuel 35 ibbon,
ch — n bbon
. 20 Ngr.
d, ©. , Kratauer Klofter» Gcheimniffe ober bie Iebenbig ber
Elemen® 5, Das Manifeft der Vernunft. Div i
teranen im Frei eitölfampfe der De Eine —5 a ler
Ierin. 2te gänzlich umgearbeitete Aufl. Berlin,
“ ® 8. Th
R 9 Frl De annatob: dpi 1 g
v om Denn . 1870.
Icinger. Gr. 4. a Seft Rer Saprgang. 1870. 11 Hefte. Berlin,
Bir,
von. Gr. 8,
tur. Von Verfasser und Verleger des Original-Werkes autorisirte deutsche
Ausgabe von W. Berg. Mit einem Vorwort und einem Verseichniss der
niederländischen Schriftsteller und ihrer Werke von E, Martin. ister
Bd. Leipzig, Vogel. Gr. 8. 2 Thir, 20 Ngr.
Justi, C., Die Verklärung Christi. Gemälde Raphaels in der Pina-
kothek des Vatikan. Eine Rede. Leipzig, Vogel. Gr. 8. 10 Ngr.
Kar he » &., Die firtinifge Madonna. Bortrag. Roſtock, Stiller.
rabbe, D., Der Mangel philofopbiiher Studien die wiflen ⸗
liche Signatur unferer Sei. Rec, a een Gr. 8. 4 Keule r
Iorent, 9. v., Wimpfen am Redar. weihihtti unb topogrerhiih
& biftorifgen itnpellungen md arhäslogiihen Studien bargeflellt.
Zubojasty, F., Der Bapflipiegel ober ba® Leben und Treiben ber
Bäpfe bie Su’ aniere Zeit, 1 H And ste8 Heft. Dresden, U. Wolf.
‘de q LT
Maiandacht In Liedern. Bon Fraueuhand gefammelt. Oberhauſen,
Spaarmann. Gr. 16. 22'/, Nor.
Migelet, 3., Die Welt ber Dögel. Bevorwortet von Herm. Mafins.
art ten von H. Giacomelli. fe Lief. Berlin, Sacco Nachfol⸗
® PL . Te
Neumann, 0» Ueber die Priucipien der Galilei-Newion’schen Theo-
rie. Akademische Anteittsvorlesung,. Lens, Teubner. Gr. 8. 10 Ngr.
Schneider, L., Die Unfterbligteits dee im Gtanben und in ber
Bptlofophle der Bölter. Regenoburg, Coppenrath. Gr. 3. 2 Thlr.
Strube, C., Studien über den Bilderkreis von Eleusis. Leipzig, En-
—A D.. Di der Squle. Eine A
utermeifter, D., Die e €
Deiginalbeirägen Ba hen gr Eh e — ne Anthologie mit
N 2 [} Q 18 N “
Mariam, dae BeR auf Arpadvar. 2 Thle. Berlin, Hauss
enger
freund Erpebition. 3. 2 Thlr. 15 Nor.
Tobler, J. R., Grundsüge der evangelischen Geschichte. Zürich,
Herzog. ( ar 1 Ner- ſere @ “ein «
„Unfere Ziele und unfere Gegner.” Ein Wort zur Aufflärun d
Abwehr. Leipzig, Priber. Gr. 5 Nor. ö m Bu
256
Unze
Anzeigen.
igem
— — —
Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Shaedon
oder
Ueber die Unfterblihleit der Seele,
— ⸗—
Derufalem
oder
Veber religidfe Macht und Judenthum.
Bon Mofes Mendelsfohn.
Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von
Arnold Bodek. |
8. Geh. 10 Nor. Geb. 15 Ngr.
„Phaedon“ und „Jernſalem“ find befanntlidh die Haupt-
werte Moſes Mendelsjohn?’s und zugleich Diejenigen, welche
dem gegenwärtigen Geſchlecht nicht nur noch volllommen ver»
fändli find, fondern aud) in vielen Punkten, namentli was
Denk⸗ und Glaubensfreiheit und das Verhältniß zwifchen Staat
und Kirche betrifft, gerade jett wieder als leuchtende Wegweifer
dienen können. Zum erſten mal werden die beiden Schriften
hier in einem Band vereinägt, von dem Derausgeber mit einer
ausführlichen Biographie Mendelsſohn's begleitet, und zu fo
wohlfeilem Preife dargeboten.
Die Angabe bildet zugleich den 28. Band der in bemiel-
ben Berlage ericheinenden „Bibliothel der dentſchen National⸗
literatur des 18. und 19. Jahrhunderts““; jeder Band ber
Sammlung foftet geh. 10 Ngr., geb. 15 Nor.
ERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 8. Heft.
Geschichte: Historische Literatur, von J. J. Honegger.
— Nekrolog.
Literatur: Berthold Auerbach, von Ad. Strodimann. —
Ludwig Uhland über das altfranzösische Epos, von’ R. Bech-
stein. — Nekrolog.
Geographie: Geographische Umschau,
II. Australien, von Dr. Kich. Andree.
Meteorologie: Electrieität der Wolken und der beiden
Hauptwinde, von Dr. Dellmann. — Die grössten jährlichen
und täglichen Regenmengen. — Temperaturen im Pend-
schab. — Das Klima von Tahiti. — Nekrolog.
Physiologie: Die Quelle der Muskelkraft I. — Ne-
krolog.
Mineralogie und Geologie: Untersuchung des Golf-
strombettes. — Diamanten in Böhmen.
Paläontologie: Die neuesten Fortschritte, von Huxley, I.
Landwirthsehaft: Der Obstbau in Nordamerika. —
II. Amerika.
Nekrolog.
Volkswirthschaft: Hermann, staatswirthschaftliche Un-
tersuchungen, von Dr. Dühring. — Carey’s Lehrbuch der
Volkswirthschaft, von Demselben.
Handel und Verkehr: Oesterreichs Handelsverkehr mit
dem Zollverein,
Industrie: Umschau, von A. Lammers.
Technologie: Revision der Dampfkessel. — Ueberziehen
von Messinggegenständen. — Kath.
Politische Uebersicht vom 1. bis 15. März 1870‘, von
v. Wydenbrugk.
BIBLIO@RAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Bei Heyder & Zimmer in Frankfurt a. M. if ew
ſchienen und durch jede Buchhandlung zu beziehen:
HB. Scharfenberg,
Hiftorien aus Oberheſſen,
dem beutfchen Volke erzäßlt.
1869. 15 Ngr.
Die Erzählungen dieſes Büdjleins führen nach einer Ge-
birgsgegend, die vor andern ihresgleichen längſt megen der
Armuth und Rauheit von Land und Leuten fprihmwörtlich ge-
worden if. Biele und große Erinnerungen geben durch den
Bogelsberg. Haft jedes Dorf und Städtchen hat deren
mehr oder minder aufzumweifen, von jenen Tagen an, aus wel»
hen unbewußt die germanifche Götterwelt hereinfchaut in ein
chriſtliches Land, bis zur Erſcheinung ber frommen irifchen
Schotten, die zuerft die Eindde des Buchenwalds lichteten, bis zu
Bonifacius, dem Apoftel der Deutfhen, von dem eifernen Zeit-
alter ber Fchderitter bis zu den Greueln des Bauernkriegs
und der Drangfal durh Schweden und Franzofen, bis herab
auf die letsten jüngften Tage.
O. Glaubrecht,
heſſiſche Erzählungen.
2 Bündchen. Neue Auflage. a 10 Ngr.
Derfag von 5. A. Brockhaus im Leipzig.
Requiem
von Dranmor.
Zweite Auflage 8 Geh. 10 Ngr. Geb. 15 Ngr.
Diefer bereits in zweiter Auflage vorliegende Cyklus von
Gedichten wendet fi au die Freunde ernfter, gedanfenreicher
Poeſie. Sie begegnen darin einem originellen und tiefen Geifte,
der feine Ideen in das Gewand vollendeten dichterifchen Aus-
druds zu kleiden verftebt.
Don dem (pfendonynen) Derfaffer erſchien früher in densfelßen Derfage:
Boetiihe Fragmente. Zweite Auflage 8. Geb. 24 Nar.
Seh. 1 Thlr. y !
Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Geschichte des Englischen Reiches in Asien.
Von
Karl Friedrich Neumann.
Zwei Bände. 8, Geh. 7 Thlr.
Der kürzlich verstorbene Verfasser, berühmt als Sino-
log und Historiker, hat in diesem anerkannt trefflichen
Werke die Geschichte der englischen Besitzungen in Asien
von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage, nach ihrem
innern Zusammenhange, aus den bewährtesten und seiten-
sten Quellen geschrieben. Desgleichen erstreckt sich seine
Darstellung auf die verschiedenen Religionen und Regie-
rungsformen, auf das bürgerliche und häusliche Wesen der
sich bekämpfenden europäischen und orientalischen Völker.
Man kann das Werk demnach auch eine westöstliche Cul-
turgeschichte nennen, und zwar im weitesten Sinne des
Wortes, in Betreff der Literatur und der Unterrichtsanstal-
ten, der natürlichen Erzeugnisse, der verschiedenen Gewerbe
und des gegenseitigen Handelsverkehrs.
Berantwortlier Redacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Verlag von 8. A, Srockhaus in Leipzig.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
— a Ar. 10. ÿæ-
21. April 1870.
Inhalt: Eine Gefchichte des italienifhen Dramas. Bon Mubolf Gottſchall. (Beſchluß.) — Militärifcher Büchertiſch. Bon
Karl Suſtav von Berneck. — Nene Romane, Bon Sranz Hirfh. — Senilleten. (Notizen.) — SKibliographie. — Anzeigen.
Eine Geſchichte des italienifchen Dramas.
(Beſchluß aus Nr. 16.)
Geichichte des Dramas von 3.8. Klein. Bierter bis fiebenter
Band: Geſchichte des italienifhen Dramas. Bier Bände.
Leipzig, T. DO. Weigel. 1866— 69. Gr. 8. 20 Thlr. 24 Nor.
Wir wenden uns jegt mit Klein zu dem glänzendften
Bertreter ber italienifhen Tragödie, Bittorio Alfiert:
Er ift der erſte von allen italienischen, vielleicht von alleu
romanischen Tragifern, welcher feine Perſönlichkeit, feinen
Billenscharalter, fein individuelles Pathos, mit einem Worte
feine eigenfte Geiftesftiimmung, fein fubjectives Selbft und We-
fen in antikhiſtoriſche Tragödienſtoffe ergoſſen. Der erfte mit-
Bin von allen tragiſchen Dichtern der Romanen, der fie galliich
gräcifirte, pfeuboclaffiiche Tragddienform mit der Grundſtimmung
feines perfünlichen Ichs, feiner Teidenjchaftlichen Freiheitstendenz,
mithin romantiſch färbte. In Plutarch's Modell des tyrannen-
mörderifchen Freiheitsheldenthums ließ Vittorio Alfieri die
galligherbe, ſchwarzblütige Tragik feiner fatirifchen Aber aus-
Rrömen, und in Plutarch's Abgußformen fein Herzblut gleich"
fam zu tragifchen Helden von antikem Gepräge gerinnen, er»
ſtarren und erlalten.
Das Leben Alfieri's, nad deſſen Selbftbiographie
erzählt, gehört wieder zu denjenigen Partien des
Werts, welde für die Darftellungsgabe feines aud)
dichteriſch begabten Autors ein günftiges Zeugnig ab»
legen. Alfieri hat ein fehr bewegtes Leben geführt; die
Romantik, die wir in feinen claffifch ftolzen Tragbdien
vermiſſen, leiht feiner Selbitbiographie einen beweglich
anlodenden Schimmer. Das Abenteuer ift in ihr hei-
mifh, während er den bunten Reiz defjelben in feinen
Dichtungen verſchmähte. Leben und Dichtung dedten ſich
bei ihm nicht, weil er nad falihen Muftern dichtete.
Man wird oft an Lord Byron erinnert, wenn man bie
Geſchichte feiner Exrlebniffe lief. Nur fpigen fich biefe
noch novelliftiicher zu; bei Byron hat alles den großen
Stil des Dithyrambus, ber Orgie. Gemeinfam war
beiden Dichtern ein ſtark ariftofratifher Zug und bie
Borliebe fir die Pferde. Alfiert war ein echter italienifcher
„Pferdegraf“; er fehildert feinen Mebergang über den
1870, ı7.
Mont-Cenis, den er mit feinen zahlreichen und theuern
Roffen bewerkftelligte, wie eine Heldenthat, die ſich mit
Hannibal's Alpenübergang meffen kann. Am Tanzen war
Byron durch feinen Klumpfuß verhindert; Alfieri hate
den Zanz ſchon wegen bes franzöfifchen LXehrmeifters, ber
ihm denſelben beibringen wollte, und hafte wegen dieſes
Tanzmeiſters und feines lächerlichen karikirten Wefens bie
Franzoſen! Bon feiner erften „Liebelei”, welche die junge
Gattin des ältern Bruders eines feiner Kameraden und
Mitgenoffen, eine Brlinette voll Feuer und einem gewiſſen
Trotz, ihm einflößte, exftattet er felbft Bericht. Die
Neigung des funfzehnjährigen Knaben fir „verheirathete
Frauen” wurde maßgebend für feine fpätern Liebſchaften.
Im Jahre 1768 verliebte er ſich in eine fchöne verhei«
rathete Holländerin; er ließ fi eine Ader fchlagen und
wollte dann die Binde abreigen und fich verbiuten. Nur
den Bemühungen feines Dienerd und eines Freundes
gelang es, den beabfichtigten Selbftmord zu verhüten.
Alfieri verfichert felbft, dag er nie in feinem Geiſte
Sehnfuht nad den Studien, nie jenen Drang, jene
Gärung fehöpferifcher Ideen gefühlt habe, als wie im
den Zeiten, wo fein Herz heftig von Liebe ergriffen war.
Auf feinen Reifen befuchte Alfieri Preußen — vor befien
bespotifchen Militärwefen ebenfo wie vor dem großen
Friedrich er einen Abſcheu zeigt, welchen fein Literar-
hiftorifer in einem langen, bis auf die Schlacht von
Sadowa hinausgehenden Excurd zur Ordnung ruft —,
Schweden, Rußland und England, wo er in einen
„zweiten heftigen Liebesanfall” verfiel. Wieder war es
eine verheirathete Lady, die ihm eine foldhe, an Wahnſinn
grenzende Leidenfchaft einflößtee Er befuchte die Dame
heimlich in ihrem Schloß, wenn der Gemahl, der bei ber
Garde diente, in London zur Revue war. Diefe Liebes⸗
novelle hat alle Ingredienzien, welche die Novelliften lie⸗
ben, fogar einen pifanten Abſchluß. Bei einem Spazierritt
33
258 Eine Geſchichte des italieniſchen Dranıns.
machte Alfieri einen fühnen Wagefprung über eine der
höchſten Barrieren, ftürzte mit dem Pferde, verrenkte
fih die Schulter und brad) das Schlüffelbein. Dennoch
fprang er vom Bert auf, um mit allen Schmerzen die
zweite Wallfahrt nach dem Gute anzutreten und das Glück
verbotener Liebe zu genießen. Reiten fonnte er nicht;
das Stoßen des Wagens, in welhen er fuhr, hatte feine
Schmerzen verdoppelt. Das Pförtchen des Gartens fand
er verjchloffen und mußte über die Stadete ftcigen; mit
dem Morgenroth entfernte er fi wieder. Trotz feines
verjchlimmerten Zuftandes begab er ſich abends in die
Theaterloge, wo er die Geliebte bei der Fürftin von
Maſſerano fand. Bald erfchien auch der Gatte; wenige
Worte genügten; es folgte ein Duell in Yames-Park ohne
weitere Zeugen. Alfieri erhielt eine leichte Wunde und be=
gab fi, nach dieſem Zwiſchenact, wieder in die Yoge. ‘Der
beleidigte Gatte ließ fih von feiner Frau fcheiden; nun
erit aber fam für den Dichter der bittere Nachgeſchmack.
Der Reitknecht des Lords erzählt feine dreijährigen Lieb—
haften mit der Lady dem Lord felbft, um fid) an dem
neuen Nebenbuhler zu rächen, und die Zeitungen beeilen fid)
diefe high-life» Anekdoten mitzutheilen.
Nad) weitern Reifen durch Deutſchland, Spanien n.
ſ. f. kehrt Alfieri nach Italien zurüd, wo er alsbald (1773)
in eine dritte, verderbliche Liebfchaft gerieth. Er verfiel
infolge der Aufregungen in eine jo heftige und außer«
ordentliche Krankheit, daß die boshaften Schüngeifter Tu⸗
ring fagten, er hätte fie ausſchließlich für ſich erfunden.
Erbrechen, ein fiicchterlicher Krampf des Zwerchfells,
Nervenconvulfionen, die fo ftarf waren, daß, wenn er
nicht gehalten wurde, er in den fürdhterlichften Zudungen
bald mit dem Kopf gegen das Kopfgeftel, bald mit den
Händen und Elnbogen gegen alles anftieß, was baftand.
Dieſe unwürdige VLiebe ließ ihn fortwährend in Wuth,
Scham und Schmerz leben. Mehrmals reiſt er ab, nimmt
Abſchied auf lange Zeit und kehrt immer wieder. Zuletzt
faßt er den verzweifelten Entſchluß, nicht aus ſeiner
Wohnung zu gehen, welche der Geliebten faſt gegenüber war,
täglich ihre Fenſter anzuſchauen, zu ſehen wie fie vorüber
geht, anf alle Weife von ihr fprechen zu hören, und we—
der directen noch indirecten Botfchaften von ihr nachzu⸗
geben. Er fchnitt fi den Haarzopf ab und ſchickte ihn
einem Freunde als Unterpfand feines feften Entſchluſſes.
In der That gelang feinem cifernen Willen der Sieg,
freilich nicht ohne daß er ſich von feinem Diener oft auf
dem Stuhl feftbinden laſſen mußte, wenn die Paroxysmen
feiner Leidenschaft über ihn kamen.
Als er friiher einmal am Krankenbette der Geliebten
von morgens bi8 abends geſeſſen Hatte, kam er, an
geregt durch einige ſchöne Tapeten im Borzimmer, welche
verjchiedene Thaten des Antonius und der Kleopatra dar«
fiellten, auf den Einfall, fi) die Langeweile, da er die
Geliebte nicht durch Gejpräche aufregen durfte, mit
Derfemachen zu vertreiben, umd kritzelte einen ‘Dialog
zwifchen einem Photin, einem Frauenzimmer und einer
dazu Tommenden Sleopatra aufs Papier. Das weitere
Geſchick diefer Skizze ſchildert er felbft in folgender
Weife:
Meine Gebieterin genas von ihrer Krankheit, und ich,
ohne je wieder an mein lächerliches Drama zu denken, legte es
unter ein Kiffen ihres Polfterftuhfs, wo es ungefähr ein Jahr
in Vergeffenheit lag; und jo wurden meine tragiichen Erftlinge
indefjen jowel von meiner Dame, die gewöhnlich dort faß, ale
aud) von jedem andern, der fid) zufällig darauf niederlieh, zwi⸗
ſchen dem Bolfter und dem Gefäß ausgebrütet ... . -
Seine vierte Liebe, eine würdige, bie ihn endlich für
immer fefjelte, deren fteinerne Denkmäler in der Kirche
von Santa-Croce in Florenz zuhen, war die zur Gräfin
Zuife von Stolberg, Comteſſe d'Albany, Gemahlin bes
englifhen Thronprätendenten, des lebten ber Stuart,
In dieſer Dame fah er nit, wie in allen gewöhnlichen
Frauen, ein Hinderniß des literarifchen Ruhms, eine
Störung in nütlichen Befhäftigungen, eine Verminderung
der Ideen, jondern Sporn, Antrieb und Borbild zu je
dem guten Unternehmen, Den erften Eindrud, den die
Gräfin Albany auf ihn machte, ſchildert der Dichter mit
folgenden Worten: |
In dem Sommer vorher, den ich, wie gefagt, ganz in
Florenz zugebradyt hatte, war mir, ohne daß ich es gewollt,
mehrmals eine herrliche und ſchöne Dame vor Augen gekom⸗
men, welde, da fie ebenfall8 fremd und von hohem Range
war, unmöglich uugefehen und unbemerkt bleiben konnte; und
noch unmöglider war es, daß fie, gejehen und bemerkt, nicht
jedem aufs höchſte gefallen hätte, Aber wiewol ein großer
Theil der adelichen Herren von Florenz und alle Fremde von
Geburt bei ihr Zutritt hatten, fo Hatte ich dennoch, verjentt in
meine Studien und in Melancholie, abftoßend und ungejellig
bon Natur, und immer bedacht von dem fehönen Geſchlecht die-
jenigen am meiften zu fliehen, die mir anmuthiger und ſchöner
erihienen, aus diefen Gründen mid) im vorigen Sommer nidt
in ihr Haus einführen laffen; dagegen hatte id, fie im Theater
und auf Spaziergängen Häufig geſehen. Der erſte Eindrud
war mir anf das füßefte in den Augen und im Herzen zurück⸗
geblieben. Eine fanfte Glut in den ſchwarzen Augen, die, was
höchſt felten ift, mit der weißeſten Haut und blonden Haaren
vereinigt waren, gaben ihrer Schönheit einen Glanz, daß es
ſchwer war, nit davon getroffen und gefeflelt zu werden. Ein
Alter von 25 Jahren, viel Neigung zu den fchönen Künſten
und Wiffenjchaften, köftliche Herzensgaben, und trotz des Reich⸗
thums, den fie im Ueberfluß bejaß, drüdende und läftige häus“
liche Verhältniffe, die fle nicht, wie fie follte, glädtich und zu⸗
frieden fein Tießen — zu groß waren diefe Vorzlige, um ihnen
zu wiberfiehen...... .
Die weitern Data von Alfieri's Biographie möge
man bei Sein felbft nachleſen. Intereſſant find die
claffifchepHilologifchen Studien, die er nad) genau einge»
baltenem Stundenplan durdjführte, um das in der Jugend
Verſäumte nachzuholen. Er war ja lange Zeit hindurch
nicht einmal feiner italienifchen Mutterſprache mächtig.
Klein darf daher dies träge Emporftreben mit dem des.
Faulthiers vergleichen, das Monate braucht um einen
Daum zu erflettern, und in deffen inftinctivem Drange
es doch Liegt, de Baumes äußerften Wipfelpunft zu
erflimmen. ,
Alfieri gehört zu den Dichtern, die nicht blos nad.
ihren Dichtungen zu beurtheilen find, fondern die auch
in einer Art von Dramaturgie und Poetif der Beurthei—
lung einen Anhalt geben. Sein „Gutachten über feine
Tragödien“ („Parere dell’ autore su le presenti tragedie‘‘),
feine Beantwortungen der kritiſchen Briefe des Calſabigi
und Ceſarotti enthalten die theoretifchen Grundſätze, auf
denen feine dramatifchen Dichtungen fußen. Alfieri’8
Tragödienideal ift von großer Simplicität. Das Trauer.
jpiel fol nur von feinem Gegenſtand erfült, alfo ohne
Epifoden fein; ausjchlieglih von den Hauptperſonen
ER
— — — —
a ——————— — ——⏑ - —
Eine Geſchichte des italieniſchen Dramas.
geſprochen werden, nicht von Nebenperſonen, Rathgebern,
Zuſchauern u. ſ. f., aus einem einzigen Faden geſponnen
fein, einen möglichft rafchen, reißend fchnellen Fortgang,
die größtmögliche Einfachheit zeigen, graufig und wild
fein, ſoweit e8 bie Natur zuläßt, und fo warm wic
möglid. |
Alfieri war feineswegs fo einfeitig, die Achilleusferfe
dieſer Poetik zn verfennen, wie fie fi) in feinen eigenen
Dramen ausprägt. Er fagt am Schluß feines „Farere“:
Der Hanptfehler, den ich im Gange all diefer Tragödien
(der feinigen nämlich, die er begutadjtete) auszufegen finde, ift
die Sinförmigfeit. Wer das Knochengerüſte einer einzigen fennt,
der kennt alle: der erfte Act in der Regel jeher kurz; der
Hauptheld erjcheint meift erſt im zweiten Act; nirgends ein
Zwiſchenfall; viel Dialog; der vierte Act unbedeutend; Lüden
bier und da, was die Handlung betrifft, die der Berfaffer mit
einer gewiſſen Leidenfchaftlichkeit des Dialogs ausgefüllt zu ha⸗
ben glaubt; die fünften Acte äußerft kurz, von rafcheftem Ver»
lauf, und in der Mehrzahl der Fälle ganz Handlung und
Scanfpiel; die Sterbenden farg in Morten: das ift in Kürze
der Übereinflimmende, allen jenen (feinen) Tragödien gemeinfame
Bang. Mag ein anderer unterfuchen, ob diefe durdjgängige
Einförmigteit des Baues von der Mannichfaltigfeit der Stoffe,
ber Sharattere und der Kataftrophen hinreichend anfgemogen
wırd.
Klein macht bei der Kritik diefer dramaturgifchen
Grundfäge die treffendften Bemerkungen über die „aus
gehungerte ımd ausgemergelte” Melpomeue Alfieri’s, über
den hochgemuthen, tyrannenmörderiſchen Freiheitstrotz,
dem das perfünliche Leidgefühl, die tragiſche Grundſtim⸗
mung fehlt, über die „Erfindung“, deren ſich Alfieri
rühmt, während er ſich doch alle eigenen und fremden
Erfindungen verjagt.
Die Erfindungstraft feines Meißels befundet fi nicht in
der Zurüdführung des Blocks auf feinen einfachſten Ausdrud,
wit in der Herabminderung etwa zur größten „Cinfachheit
des Gegenſtandes“ (semplicita del soggeto). Durchaus nid;
im Gegentheil: das Erfinderifche liegt in der möglich »reichften
Entwidelung und Ausgliederung des Blocks zu einer Schö⸗
pfungsfülle, einer Unendlichkeit von Sdeengeftaltung, einer Welt
von Öffenbarungen, wogegen der urfprünglihe Blod als die
„Einfachheit des Gegenſtandes“ erfcheinen muß. Die kunſthafte
Delonomie und Binfachheit ſpricht fi einzig und allein im
dem volllommenen Ebenmaß, in der Haren Ueberſchanlichkeit
des Bildwerks aus, wobei das Räumliche vor der PBhantafie
verſchwindet. Der Steintern — was bietet er nicht alles auf,
am feine harte Schale zur üppigften, bis zum Ueberfluß üppi⸗
en Frugcht zu Schwellen! Man beiße in eine Aprilofe oder
Birne, and der Üiberquellende Saft zeigt augenblicklich, was
es mit der „Einfachheit des Stoffs“ bei einem folhen Frucht.
tern auf fi hat, und daß feine Dagerfeit ein Füllhorn des
Weberfluffes, ein Born des Genuffes iſt. Alfieri's Erfindungs-
genie ſoll fi) aber darin erweifen, daß es von den Früchten
alles Fleiſch ablöft und wegwirft und nur die Steinferne an
ihren Stielen auf den Zweigen und Xeften fiten läßt. Solche
Frudtfteine mögen Lederbiffen für römifhe Kreuzſchnäbel,
claffiihe Kernbeißer, Tyrannenfreffer und Nußlnader fein;
was aber ein kluger Bogel ift mit gefundem natürlichen Schna-
bel, der hält es mit den foftigften und fleifchigften Früchten,
Kirichen, Pfirfihen ‚und Aprilofen. Gleichermaßen find dem
poetiich geſchmackvollen Kenner die höchſten Delicen, Himmels.
tof nnd Götterfpeife: der Pomp, die fchwellende Fülle in Rede,
Sedanten und Empfindung; die göttliche Weberfchwenglichkeit,
bie titanifch koloſſenhafte Wucht, der tragiihe Orgiasmus, ber
oceanifhe Wogeuſchwulſt eines Aeſchylos, der mit jedem Chor,
wie der Erdriefe Ephialtes täglih um neun Zoll wuchs, um
eine Kopfeslänge über die antife Tragödie hinauswächſt; oder
eines Shakipeare, deſſen Muſe als cine taufendbrüftige, mit
259
allen Gebilden des Himmels und der Erde geſchmückte Diana
von Epheius daſteht; oder des Dichters der, Räuber“, des, Fiesco“,
„Don Carlos“,,„Wilhelm Tell“, worin ein Gedanken⸗ und Gefühls⸗
überſturz, Cascaden der edelſten Begeiſterung, die vom Lippen⸗
ſchaum der pythiſchen Prieſterin zu ſpruhen ſcheinen, eine
Erfindungsflüülle, „als wollte das Meer ein Meer gebären“;
eine Redepradt und Hoheit, als fliege, wie er vom Dome
der St.-Beterslivhe fingt — ein zmeiter Himmel zum Him⸗
mel empor.
Weiter fagt Klein treffend, wenngleih mit etwas
mildgehegten Wi:
In Anfehung feines Kunfftils erfcheint uns Alfieri unter
ben Tragifern als der Stylites, wie befanntlid die Kirchen»
geihichte jene „Säufenheiligen‘‘ nennt, welche nah Borgang
des ſyriſchen Mönches Simeon (5. Jahrhundert) auf der Spige
einer einfiedlerifchen Säule ihr Büßerleben zubradjten, ringsum
unwirtbbare Einöde. Nächſt der von ihm jelbft betonten Eigen»
thlimlichkeit feiner Zragödien: daß die in allmählicher Verſün⸗
gung ſich immer mehr verdiinnende Handlung in den fünften
Act, als ihre höchſte Spite, ausläuft und in ihm gipfelt,
„im kleinſten Buntte die höchſte Kraft" — gibt ihnen auch dies
die ähnliche Beftimmung: daß fie nämlich als Tyrannengräber
dienen, den Charakter von ägyptifchen, aber fchmalleibig ver-
feinerten Byramiden, die aus den zahlreichen Sandwüftenhligeln
der italienifdyen Tragik bervorragen,
Alfieri's Tragödie bleibt, troß aller feiner Abſchwö⸗
rungen, in Bezug auf Schema, Monotonie, fcenifche
Tarblofigkeit, innere Kälte und Misverſtändniß der ats
tischen Tragik mit der claffifchsfranzöflfchen verwachſen,
unterfcheidet ſich indeß von ihr, nad Klein's Anficht,
durch die Befeitigung der Bertrauten, an deren Stelle
häufige, undramatifche Monologe treten, ferner dadurch,
daß Alfieri nicht die Kataſtrophe erzählt, fondern diefelbe
fi) vor den Augen des Zufchauers entwideln läßt, durch
die Behandlung der Liebesleibenfchaft nit im Höfifch-
galanten Stil des Antihambre-Rittertfums, und vor allem
durch den mannhaften Exrnft einer beherzten, auf bie
politiſche Bildung des Volle einwirkenden Freiheitstendenz,
wodurch fie in den fchärfiten Gegenfag zur franzöfifchen
Hoftragödie tritt.
Die Analyfe der Alfierr’fchen Stüde geht im ganzen
wenig glimpflich mit denfelben um. Das Erftlingswerf
„Cleopatra wird raſch bejeitigt. Sehr genau ift die
Reproduction des „Filippo“, ein Stüd, welches offenbar
Schiller befannt war, indem derjelbe „manches Fädchen
daraus in die Motive feines «Don Carlos» mit kunft«
reicher Hand eingewebt hat“. Freilich meint Klein, „daß
ſich Alfieri's aFilippoo neben Schiller’ 8 «Don Carlos»
ausnehme wie die engere Dleiftiftjfizze eines Abam van
Dort zum ausgeführten Gefchichtöbilde eines Schülers
von Rubens”. „Perez“, den bekanntlich Gutzkow zum
Helden eines eigenen Dramas gemacht hat, ift der Bofa
Alfieri's. Daß Schiller den Namen feines Pofa aus
Otway's „Ton Carlos entlehnt hat, konnte Klein hier⸗
bei wol erwähnen. Anch ift uns eine noch wichtigere
Anregung aufgefallen, welche Schiller offenbar dem Bor»
bild des italienischen Tragikers verdankt. Wenn man
den Stil de8 „Don Carlos’ mit dem der drei Erftlings-
dramen vergleicht, jo bemerkt man einen auffallenden
Unterfchted, der nicht blos in dem metrifchen Gepräge
der Dichtung liegt. Statt der hyperboliſchen Kraftſprache
zeigt fich eine Sprache des Affeets, die namentlich durch
die Wiederholungen am Anfang und Ende, burd bie
33 *
260 Eine Geſchichte des italienifhen Dramas,
Anaphoren und Epiphoren und durch die häufige Ane-
rufungsform und Zerfegung mit Interjectionen charak⸗
terifivt wird. Diefe Art der Diction findet ſich gerade
in Alfieri’s „Filippo“. Stellen wie folgende:
Oh quanto jo sono,
Quanto infelice io men di te, Filippo.
O um mie vieles bin ich, um wie vieles
Ich weniger unglüdli doch, als du,
Philipp! . . .
Pera il mio regno,
Pera Filippo pria, ma il figlio viva.
Mag mein Reid, mag Philipp felbft
Zu Grunde gehn, wenn mir der Sohn nur lebt! —
und hundert andere beweifen fiir jedes feinere Stilgefüihl
zur Genüge den Einfluß, den Alfieri mit feinem „Filippo“
auf Schiller’8 ‚Don Carlos” ausgelibt hat. Franzöſiſche
und italienifche Kritifer, wie z. B. Sismondi und Ugoni,
haben das italienifche Drama bevorzugt vor dem deutſchen.
Klein ftellt die großartigen Vorzüge des Schiller’fchen
Genius vor dem Alfieri's in das rechte Licht, durfte aber
doch nicht verhehlen, baß ber „Carlos“, jo body er ihn
fielen mag, doch den einfachen, Haren Gang der Hand⸗
[ung vermifjen läßt, den Alfieri's Drama behauptet, und
daß er an einigen poetifchen Protuberanzen leidet, welche
feinen Kern verbüftern.
Die antiken Tragddien: „Polinice“, „Antigone “,
„Agamemnone” ſucht Klein „kurzer Hand’ zu erledigen,
gleihwol widmet er dem „Agamemnone” 21 Geiten.
In diefem Trauerſpiel findet er alle mythifchen und ges
fchichtlichen Ueberlieferungen, alle Motive und Charaftere,
folglich die ganze Kataſtrophe auf den Kopf geftellt.
Noch jchärfer tabelt er den gerühmten „Oreste‘, in
welchem der tragiſche Hauptzwed: die von dem Sohn
für den Batermord zu 'vollziehende Racheſühne, Epifobe
wird, und die Schilderung einer, bis zur Blindheit und
Preisgebung ihres Ziels, ſich felbft genießenden und in
ihrer Berbiffenheit mit Wolluft fchwelgenden Racheleiden-
fchaft die eigentliche Aufgabe behandelt. Die alles ein-
zelne graufam zerpflüdende Aualyſe Klein’s geht wol
darin zu weit, daß fie felbit den einzelnen Gtellen
in der Ueberfegung einen parodiſtiſchen Charakter gibt,
.B.:
Wer biſt du denn, Potzwetter,
Wenn du Oreſt nicht biſt?
E chi sarai tu dunque,
Se Oreste non sei tu?
D mmerwarteter Berratil O Wuth,
Drefte frei? Nun wird man was erleben.
Oh inespetatto tradimento! oh rabbia!
Oreste sciolto? Or si vedra.
Höher ſtellt Klein Alfieri's ſpätere Tragödien, na-
mentlich die „Virginia. Daß er uns bei Beſprechung
der letztern die fieben Kapitel aus dem Livius, welche ben
Stoff des Stüds enthalten, in Ueberfegung mittheilt, ift
wol eine ungehörige Ausweitung des Werks, ebenfo
wie die Mittheilung des ganzen letzten Actes aus der
„Verſchwörung der Pazzi“ mehr in eine Anthologie ge=
hört als in eine Literaturgefchichtee Auch macht es uns
oft den Eindrud, als ob Klein am Ende feiner Analyfen
vergefle, was er am Anfang derfelben gefagt habe. So
nennt er bie „Virginia“ vor ber eingehenden Beſprechung
eine der mit Recht gepriefenften „Meiftertragddien‘‘, und
nachdem er fie mit feinem kritiſchen Pfluge durchgeackert
bat, am Schluß „ein Ungethüm“, den lebten Act
übers Knie gebrochen, ein Merkmal barbarifcher Unfunde
bes eigentlichen Zwecks der Tragödie u. f. f. Die Con»
cordanz zwifchen diefen abweichenden Urtheilen berzuftellen,
bleibt dem Leſer überlafien; der Piterarhiftorifer hätte fie
wol felbft durch Uebergänge und Abtönungen vermitteln
können. Den „Saul“ erklärt Klein freilich fowol am
Anfang wie am Ende der umfänglihen Zergliederung
für Alfieri's beſtes Drama, oder, wie er mit einem ete
was gefuchten und dabei unrichtigen Bild fagt, für
den „Chimborafjo in der Gipfelkette feiner Tragödien“.
Der Chimborafio tft befanntlih nicht der höchſte Gipfel
der Anden. Ueber Alfieri's „Maria Stuarda” Tautet
Klein's Urtheil fehr abfällig:
Diefe Tragödie beweift mehr denn irgeudeine bes Alftert,
daß er, mit andern dramatifchen Dichtern verglichen, denen ihre
Nation die erſte Stelle anmweift, nicht über den angefirengten
Dilettantismus hinauskam, und es höchſtens nur ftoßweife und
wie buch einen glücklichen Wurf hin und wieder zu Theater»
wirkungen bringt, die hart an grelle Theatercoups ftreifen; wo
aber auch der Kunftbilettautismus Schon die Linie der Virtuofität
berührt, In keinem feiner Xrauerfpicle Friecht die Handlung
durch die erften vier Acte fo zäh, fo niedrig, fo krüppelunter⸗
bolzartig dahin wie hier. Motive, Leidenichaften, Intriguen
muß man förmlich mit der Lupe, wie Kryptogamen, unterjuchen,
wie Laub⸗, Leber- und Blattmoofe. In die Scenen theilen fi
Heinlante Gardinenpredigten, die von den königlichen Gatten
wie mit bafber Stimme gehalten werden, und eine flumpfe
Balaflintrigue, die Botuello (Bothwell) um bie fehottifche Königin,
um ihren Gatten Urrigo und um ben englifchen Gefandten
Ormondo garnt.
Die Bergleihung von Alfieri's „Mirra”, einer Tra⸗
gödie der Blutfchande, mit der epijchen Behandlung bie-
ſes Stoffs von jeiten des Metamorphofenbichters fchlägt
zu Ungunften bes erftern aus. Die Mirra Alfieri’8 ver⸗
harrt bis zur Kataftrophe in demfelben Gemüthszuftande
eines verzweifelten Kampfes mit ihrer abfcheulichen, nichts
weniger als tragifchen Leidenschaft, deren Natur und
Beichaffenheit noch überdies dem Zuſchauer bis zulegt eim
Räthſel bleibt. Nachdem Klein die Tragödien „Ottavia“,
„Merope“, „Timoleone“, „Sofonisba“, „Agide“, „Ros-
munda“ flüchtiger als die frühern durchgegangen, ver⸗
weilt er wieder länger bei den beiden Brutustragödien
Alfieri's. Wenn er die „Doppelwurzel einer zweifachen
Kataftrophe” in einer Junius⸗Brutus⸗Tragödie rechtfertigt,
fo läßt fi dies nur durch die etwas laren Begriffe von
dramatifcher Einheit erflären, welche ſich wie ein rother
Baden durch Klein's Dramaturgie hindurchziehen. Was
aber die tragiſch hHervorzuläuternde „ulturidee” dieſes
Stoffs betrifft, jo proteftiren wir dagegen, daß dies eine
Sulturidee von allgemein menfchliher Bedeutung fei.
Junius Brutus, der Richter feiner Söhne, zeigt nur ein
ſpecifiſches Römerpathos, das für andere Zeiten unge-
nießbar ift, wie ſchon Schiller mit Recht hervorgehoben
hat. Die Bergleihung zwifchen Alfieri's und Voltaire's
Brutud-Tragddie bietet manche intereflante Seite dar.
Das Zrauerfpiel, deffen Held der zweite Brutus ift, wird
von Klein gegen Shakſpeare's „Julius Cäſar“ tief in dem
Schatten geftellt. Indeß ift der Grundzug der erftern,
„daß Brutus Himmel und Erde in Bewegung fest, um
Cuſar für feine politifchen Ueberzeugungen zu gewinnen‘,
fowie die Betonung des Verhältnifies von Vater und
Eine Geſchichte bes italienifhen Dramas, 261
Sohn Feineswege fo fchälernd beifeitezufchieben, wie
dies von Klein geſchieht. Dadurch erft gewinnt die
Tragödie einen tragifchen Conflict. Um der Alfieri’fchen
Faſſung des ConflictS den ‘Vorzug zu geben, bedarf es
nur der Berufung auf das vierzehnte Kapitel der Poetik
des Ariftoteles, mo ber hellenische Kunſtrichter jagt:
„Zöbtet nun ein Feind den andern, fo erregt biefes, die
Ermordung an fih ausgenommen, fein Mitleiden, er
mag es ſchon thun oder erft thun wollen. Ebenfo wenig
erregt e8 Mitleiden, wenn fie einander gleichgültig find.
Machen aber Freunde einander unglüdlich, tödtet ein
Bruder den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter
ben Sohn, ein Sohn feine Mutter, oder wollen fie
dieſes erft oder etwas ähnliches ihun — den Gtoff
wählet.”
Uneingeſchränktes Rob ertheilt Klein dem „Abele” des
Alfieri, einer „Tramelogedia“, die er das poetiſch
werthpollfte unter Alfieri's ſämmtlichen Stüden nennt.
Die Ausfälle auf Byron's tieffinnigen „Kain“ hätte fich
der Kritiker freilich erjparen können. Die Vorzüge des
Stüds mögen durch die Vorzüge ber Gattımg bedingt
fein, da die Ealte flarre Tragik des Alfieri durch bie
muſikaliſche Lyrik des Mifchgenre mehr erwärmt und
in Fluß gebracht wurde. Auch die phantaftifchen Tyi-
guren tragen dazu bei, die flarre Rinde zu fchmelzen,
mit welcher fih Alfieri'ss Muſe in dem SKothurnftil
der Tragödie umgibt. Die Komödien und politifchen
Zendenzftüde des Dichters, welche die verfchiedenen
Staatsformen fehr ungeſchickt parodiren, find im ganzen
werthlos.
Der ſiebente Band ber „Geſchichte des Dramas“ be⸗
handelt die italieniſche Tragödie und Komödie im 19. Jahr⸗
hundert. Die Zranerfpieldichter Monti, Ugo Foscolo,
Pindemonte, Manzoni, Niccolini und Silvio Pellico, bie
Luftfpieldichter Conte Giraud, Marchiſio und Nota wer-
den eingehend beſprochen; die neueſte Entwickelung der
dramatiſchen Literatur Italiens nur in einer Anmerkung
ſtizzirt. Unter den Tragikern des 19. Jahrhunderts pflegt
man Niccgfini wegen feines wuchtvollen politifchen Pathos
und der fernhaften patriotifchen Gefinnung, die ſich in
feinen Dramen ausfpricht, die Palme zu ertbheilen; Klein
bevorzugt Silvio Pellico, über deſſen Dramen Ruth den
Stab gebrochen. In der That find „Francesca da Ri-
mini‘, beren Ueberfegung durch Mar Waldan Stlein wol
hätte erwähnen künnen, und „Ester d’Engaddi”, das im
Gefängniß gedihtete Trauerfpiel Pellico's, Dramen, welde
durch innigen Gefühlsausdruck unferm Geſchmack mehr
zufagen als die etwas auf Stelzen gehenden Tragödien
ber Dramatiler aus Alfieri's Schule. Klein fagt von
Bellico:
Es iſt der naivſte, ja ber einzige naive italienifche Tragi-
fer. Im der ganzen Zragddienliteratur Italiens mödte kaum
ein naiver Zug zu entbeden fein; in den Tragödien der beiden
berühmteften: Alfieri's und Niccolini’s, kaum eine Spur von
folden Zuge. Der Mangel an Natureinfalt, an Naivetät,
Iranlt durch biefe Tragik wie Rückenmarksdarre. Pellico’s
Zragödien allein machen hiervon eine Ausnahme, vor allen
jeine „Francesca da Rimini”. Wie fühlt fi bier das Herz
erfriicht von dem naiv-innigen Hauch, der biefe Perfonen, diefe
Empfindungen, dieje Leidgefühle, ja jelbft das tragifche Mitleid»
amd Furchtgeflihl befeelt! Die feinfte, tieffte Herzfafer des Ge⸗
wies, and) des tragifchen, ift aber die Naivetät. Die beiden
größten Tragiker, Aeſchylus und Shaffpeare, find denn auch
die naivſten. Nicht blos die Elektra im den „Choephoren“ ift
naiv; aud die Eumeniden find es. Ja, Aeſchylus' Furien
jelbft find naiv und im Maße ihrer unerbittlichen Surchtbarteit
naiv; im Maße ihres das Gittengefeß rächenden und gegen den
Muttermord, als unfühnbares Verbrechen wider die Natur,
wlthenden Bluteifer® naiv. Und wie naiv Shalipeare in
feinen fchredenvolifien Furchterregungen ift, in feinen Schauder-
wirfungen ift, mitten im Schüttelfroft feiner Entfeßenserftar-
rung ift: das feht ihr an feinem Macbeth, in der Schloßhof-
fcene vor und nad) Duncan’s Ermordung. Hier ericheint Mac-
beth als der naide Mordfchred in Perſon; ale das vor fidh
jelbft entjeßte, im feiner naturwidrigen Untbat fchrederftarrte
Naturgefühl. Bon bdiefer tragifchen Naivetät bei Shakſpeare
wiſſen die Shaljpeare: Gelehrten blutwenig zu erzählen. Und
doch ift die Naivetät bei ihm faft der halbe Tragiker. Wir
begen daher nicht das geringfte Bedenken, unfern Silvio Pellico,
was tragifche Naivetät anlangt, an die Spite aller feiner vatere
ländiſchen Kunftgenoffen, fhon bier, ſchon an der Schwelle der
dritten Scene feiner „Francesca da Rimini”, zu flellen, und
es unverzagt und kühnlich, und feinem beidelberger Anſchwärzer
anf den Pfeifenktopf zu, auszufprechen: daß ihm, dem Bellico
nämlih, neben der Naivetät nnd allen damit verbundenen, vor⸗
zugsweiſe aus feinem kindlichfrommen, feeleninnigen Geiſte quel⸗
lenden dramatiſchen Begabniſſen zu einem großen Tragiker —
was mehr ſagen will, als zu dem größten und erſten Tragiker
Italiens — nichts fehlt als die großartig-fnrchtbare, jenen Weſens⸗
eigenschaften des poetifchen Genies ebenbürtige tragiiche Phantafle;
als jchöpferifche Kühnheit; ein tieferer Ipeengrund; umfaſſendere
Ideenmotive, und jener Weltgerichtspojaunenflang einer Himmel
und Hölle erfhütternden Mächtigkeit des Ausdruds: os magna
sonaturum.
An einer andern Stelle hebt der Literarhiftorifer bie
Präcifion, Correctheit und feine Ausführung in Bezug
auf dramatifchen Bau und Technik hervor, Vorzüge,
durch die fih in ber That die „Ester d’Engaddi‘ aus«
zeichnet. Don diefem Drama erhalten wir eine fehr ein-
gehende Analyſe. Intereſſant ift ebenfalls die ausführ-
liche Lebensbejchreibung des unglüdlichen Dichters, ber
unter den Bleidächern von Venedig und in den Kaſemat⸗
ten des Spielbergs mehr als zehn Jahre feines Lebens
berirauern mußte. Die Mittheilungen feiner Gelbft-
biographie enthalten viel Rührendes und Erfchlitterndes.
Manzoni’8 „Conte di Carmagnola“ wurde befanntlich
von Goethe jehr hochgeftellt; wir haben in dem Stüd nie
etwas anderes finden Fünnen als eine trodene Hof⸗ und
Staatsaction mit Chören ohne Schwung. Mit Recht
hebt Klein hervor, daß der tragifche Grundgedanke, ber
im Stoffe liegt, nicht von dem Dichter herausgearbeitet
jei, er mußte die Tragödie des Söldnerthums fchreiben,
im Untergange des Helden die Sühne feiner Vaterlands⸗
Iofigkeit zur Anſchauung bringen. Mazzini fagt von
Manzoni, mit ihm fei das Hiftoriiche Drama in Ita»
lien geboren worden, er babe zuerft das claffifche
Schema ignorirt und das Hiftorifche Factum zum Kern
der Handlung und der dramatifchen Affecte gemacht. Doch
fehlte die Ddichterifch = philofophifche Durchgeiftigung der
aufgenommenen Thatſache: |
In Abfiht der Entfaltung ber Vorgänge, der Scenenfolge
und Entwidelung der fünf Acte ift noch zu bemerken, daß bie
Handlung fich keineswegs aus einer planvollen Anlage, einer
Srundleidenfchaft, aus einem Mittelpunkt und Kern, berbore
gliedert; daß alfo die Momente der Handlung nicht in drama-
tiiher, um einen Schwerpunlt gravitirender Bewegung, nicht
in» und auseinander, fondern hintereinander, im begebenbeit-
lichem Anfchlufje fortfreiten. Die fünf Acte werben wie ein
Bilderftreifen aufgerollt. Erpofition, Scidjalswentung und
ea N.
: on Be Mer Ge DE ME Br SE DEE 775
tt — . \
262 Eine Geſchichte des italienifhen Dramas. |
Entſcheidung folgen fid) anf dem Fuße, im hifloriſchen Gänfe-
mark. Sie hängen wie Münchhauſen's Enten nur mittels
des durchlaufenden Berbindungsfadens zuſammen; anflatt daß
jene den tragiichen Lebensgang de8 Helden beilimmenden und
abtheifenden Barzen den Eumeniden -Kreistanz um den Mittel-
punft eines großen Schidjals - oder weltgejhichtlichen Um⸗
ſchwungs⸗ und Cauſalitätsgedankens fchlängen.
Der nambhaftefte Nachfolger Manzoni's ift Niccolini,
der zuerft mit claſſiſchen Tragödien nach antik» mytholo-
gifchen Stoffen auftrat. Bon diefen erhielt feine „Po-
lissena“ den Preis von der Academia della Crusca.
Eine eigenthümliche Masfentragöbie ift fein „Nabucco”,
deren Held, Nebufadnezar, die Berlarvung von Napoleon
darftellt. Seine berühmteften Tragödien find: „Giovanni
da Procida“ und „Arnaldo da Brescia‘, deren Analyſe
ſich faft in eine Monographie verwandelt, indem aud) die
Biographie der Helden mit größter Ausführlichkeit erzählt
wird. Intereſſant ift die Barallele mit der Arnaldo-
Zrogddie des Marenco, welcher Klein in vieler Hinficht
den Vorzug ertheilt, weil fie unfer Intereſſe inniger und
fympathifcher an die Perfönlichkeiten knüpft, während bei
Niccolini das große Hiftorifhe Tableau, das oratorifche
Pathos überwiegt, freilich mit einem Schwung des Ges
danfens und ber Gefinnung, dem ein begeiftertes Echo
nicht fehlen konnte:
Niccolini mag an dramaturgifcher Selehrfamteit, an Geiftes-
ſtärke, Bedeutſamkeit der Intentionen, Geſchichtsverſtändniß, ſa⸗
tiriſchem Pathos, Sinn fürs Großartige, theatraliſch Maſſen⸗
parte den Marenco Überragen: was fpecifiich dramatifches Ta⸗
ent betrifit, fteht er diefen: bei weitem nah. Schon die eine
Tragödie des Marenco, der „Arnaldo‘, feine befte freilich,
rechtfertigt das Urtheil. Die Gabe und die Kunft zu rühren
und die rege Theilnahme für den Helden und feine Umgebung
zu erweden, befitt Marenco in bedeutender Stärke; und gerabe
dieſes für den tragifchen Beruf entfcheidende Talent läßt Niccos
lini am auffäligfien vermiffen. Ja wir wagen die Behauptung,
daß diefer von der heimiſchen wie auswärtigen Kritif als Ita⸗
liens größter Tragiker gepriefene Dichter, in Abfiht auf tra-
iſche Kraft und dramatiiche Wirkung, Hinter die nenejten nam⸗
after italienifchen Bühneudichter des Jahrhunderts zurlidtreten
muß. Die Energie feines patriotifchen, rhetorifch- fatirifchen
Beitpathos gibt ihm für feine Nation, wie feinem Vorgänger
Alfieri, eine Bedeutung, die außer Berhältniß zu feiner Dichter-
fraft und dramatiichen Begabung fteht, worin er ſich felbft mit
Alfieri nicht mefjen darf, der ihn an tragifher Wirkung, mit
fo ſauerm Schweiß fie Alfiert erringen mag, übertrifft. Die
Fülle, die fchwellendere Strömung, die Niccolini vor Alfieri
voraushat, ergießt fi fiber den, im Bergleih zu Alfieri’s
claſſiſch⸗ ausgedorrten Fabelmotiven, frifchern Fabelgehalt feiner
mittelalterfich Hiflorifh romantischen Tragödienſtoffe in jo fiber»
ſchwemmender Breite, daß fie den fruchtbaren Boden zu wüften
Bruch⸗ und Moorfireden ſumpft.
Marenco’8 Trauerſpiel „Manfredi” gibt wiederum
Beranlafiung zu Parallelen mit dem Raupach'ſchen Stück
und zu Betrachtungen über die Hohenſtaufen-Tragödien.
Für den tragifchen Hohenftaufenfaifer erklärt Klein Fried⸗
rich II; doch habe noch Fein Dramatiker diefe feine tra-
ifche Bedeutung erfaßt, während fie alle feine epifchen
uhmesthaten mit dem dramatifchen Dialog ausläuten.
Wir meinen, daß der Conflict zwifchen Staat und Kirche
überhaupt feine Bedeutung für die Zeitgenofjen verloren
hat, und daß Fein Stoff, welchem der moderne Lebenspuls
fehlt, auf der Bühne Geltung gewinnen Tann.
Die Komödie des 19. Jahrhunderts fchließt fich im
wefentlihen an die Komödie Goldoni's an. Hier betont
Klein, wo er bie Aufgabe des echten Luftfpiels jchildert,
das Verhältniß zur Zeitfitte und zum Beitbegriff, das er
bei der Tragddie mit Unrecht außer Adıt läßt. So jagt
er bei der Beſprechung von Giraud's Komödien:
Die Komik der Sittenfhilderung und der aus den Sitten
erwachſenen Charaktere — die echte Komik der großen Meifter die»
fer Gattung, Moliere, Soldont u. f. w., tritt in Oiraud's Ko»
mödien zurüd, um der Specialitätenlomil, dem Lächerlichen zu⸗
fälliger Eigenheiten, mehr wunderlicher ale ſchädlicher Charalter-
ſchwächen, beijerungsfähiger Thorheiten und nedifcher Berwider
lungen infolge von Verwechſelungen und Misverfländniffen,
freien Spielraum zu Taffen. Der bloße lomifche Charakter ohne
die Reflexe der Zeitfitten, ohne die hiftorifche Folie, die ihn ale
Ausdruck und Product feiner Zeit erſcheinen läßt, kann ale
vereinzelte, aufs allgemeine der gefellfchaftlihen Zuftände nicht
beziebbare Erfcheinung wol zu läderlichen, ſpaßhaften Situas
tionen Anlaß gaben; allein jenes zur wahrhaft komiſchen Wir⸗
fung unerlafliche Atom von Eruft, von ernfthafter, wenn and
kunſtgemäß verftedter Zweckabſicht; jenes gefchichtlich » gefellichaft-
liche, feibft der fcheinbar ungebundenften, tollften Komödie noth⸗
wendige Gedantenmoment, das die fpeciellen Charakterlaunen
und Eigenarten mit den Zuftänden der Geſellſchaft in Zuſam⸗
menbang bringt und beide, Perfon und Gefelfchaft, aneinan⸗
der erklärt, beide ım Lichte gemeinſamer Lächerlichkeit beleuchtet
und in dem Schmelzfeuer einer die Zeitjitte und die Zeit-
begriffe durd) Lachen zerfependen Bernunftlomit Täutert: dieſen
bem wahrbaften, als mächtiges Eufturmittel wirkenden Luftfpiele
eingefenkten Kern und Grundgehalt von poetiſchem Ernſt, Dies
ſes Bernunftelement in dem grotesfen Spiel von Thorbeiten,
Lächerlichkeiten und Aberwitz, diefe eigentliche Seele der Komik
und Komödie, verleugnet das bloße Lachſpiel, das hauptſächlich
durch feltfame, aus einer zufälligen Charaktereigenheit entſpriu⸗
gende Verlegenheiten belufligen und ergögen will und fett fidh
durch diefen Mangel, bei fonft noch jo erfreulich anregender
natärliher vis comics, felbft herab auf die untergeordnete
Stufe eines blos unterhaftlichen Schwante.
Die Luftfpiele von Graf Giraud find mehr oder we⸗
niger Lachſpiele, die blos auf ſpaßhaften Einfällen beruhen,
jo „La capricciosa confusa”, welche die Caprice einer
Schönen vornehmen, unbefcholtenen Frau behandelt, ſich
in einen jungen albernen Laffen zu vernarren und ba»
durch den Mann, den fie liebt, mit den fie verfprocen
ift, zur Berzweiflung zu bringen, „Don Desiderio dispe-
rato per eccesso di buon cuore“ (in Verzweiflung aus
allzu großer Herzensgüte), ein Luſtſpiel, dag auf dem
glüdlihen Grundgedanken ruht, komiſche Berwidelungen
darzuftellen, in welche der Held gerabe wegen ebler, herz⸗
gewinnender, aber in ungefchidter Weife ſich Fundgebender
Charaktereigenfchaften geräth u. a. Der namhaftefte Mit-
bewerber um den Luftfpiellorber im erften und zweiten
Jahrzehnt des Jahrhunderts ift Stanislao Marchiſio,
deſſen Luſtſpiele: „I cavalieri d’industria” (Die Induſtrie⸗
ritter) und „La borsa perduta‘ (Die verlorene Geldbörfe)
Klein genauer analyfirt. Das erfte Stüd ift eine Gauner«
fomödie de pur sang, das zweite ein Stüd zur Bere
berrlichung der verfolgten und unterdrüdten Tugend.
Das Haupt der italienischen Komödie des 19. Jahr«
hunderts, die einen wefentlich efeftifchen Zug zur Schau
trägt, deutſche, franzöfifche und Goldoni'ſche Theatereffecte
nicht ohne Virtuoſität vermifcht, ift Alberto Nota, der in
feinen Dichterſtücken: „Arioſto“, „Laura und Betrarca“,
„Taſſo“, jeden wahrhaft poetifchen Hauch vermiffen Tat,
in dem legtern einzelne Situationen aus Goethe's Schau»
fpiel in matter Weife copirt, während er in feinen Luſt⸗
fpielen ſich als einer der gewandteften Routiniers zeigt.
Wenn Nota einen Goethe geplündert hat, fo ift er dafür
Militärifher Büchertifch. 263
wieder von den beutfchen Ruftfpieldichtern geplündert wor⸗
ben. Klein erwähnt, daß fein Luftfpiel: „IL filosofo ce-
libe“, in deutſcher Bearbeitung unter dem Zitel „Ich
bleibe ledig”, auf allen Bühnen bei uns gefpielt worden
fei; er hätte Hinzufügen können, daß auch Nota’s bejtes
Luftipiel: „La fiera”, unter dem Titel „Der Ball zu
Ellerbrunn“ von Karl Blum für die deutfche Bühne ber
arbeitet oder vielmehr in allen Hauptfcenen wörtlich über-
fegt worben if. Und da auch dies Stüd zu den Re-
pertoireftüden unferer Theater gehört, fo verdanken wir
ben Autoren der Italiener, eines tapfer nad den Zielen
politiiher Einheit und Macht mitftrebenden Volls, eine
nicht unbeträchtliche Bereicherung unſers Repertoire.
Die Behandlung Nota's von feiten des Literarhiſto⸗
rikers erfcheint uns nicht glüdlich, was die Auswahl ber
beſprochenen Stüde betrifft; „Der Unterdrüder und bie
Unterdrüdte”, „Die Herzogin von Lavalliere” und die
Didterdramen gehören doch zu Nota's ſchwächſten Arbei«
ten, 68 find im Grunde Bird» Pfeifferiaden, Familiengemälde
und hiſtoriſche Rührftüce,; von den beffern Dramen führt
uns Klein nur „La donna ambiziosa” und „Il proget-
tista” (der Planmacher) vor, während einige der in
Italien anerfannteften und wirlungsreichften unerwähnt
bleiben.
Klein’8 Geſammturtheil über Nota ift indeß gewiß
das richtige; er fchildert ihn als einen Efleftifer, ohne
Neuheit, Friſche und überrafchende Komik der Figuren
und Combinationen, aber von feiner Technik in der Aus-
führung, die nur in der ontraftirung oft zu weit
geht und zu flereotyp wird, von Yeinheit des Colorits
und der Haltung; ihm fehle der „Dämon“, den Boltaire
von der Nuftfpieldichtung verlangt, ohne ihn felbft zu bes
ſitzen. Günſtiger fpricht fich ein berühmter franzöfifcher
Kunftgenofje, Eugen Seribe, über Alberto Nota aus:
Die fennzeichnende Eigenjchaft von Nota's Talent iſt Ein-
fachheit und Natürlichkeit. Bei ihm findet ſich nichts Anſtößi⸗
— — —— mn —— —
Ailitäriſcher
1. Amerikaniſche Kriegsbilder. Aufzeichnungen aus den Jahren
1861—65 von Otto Heuſinger. Leipzig, Grunow. 1869.
8. 1 Thlx. 10 Ngr.
Der Sohn des Veteranen, deſſen Werk: „Zwei Kriege“,
wir in Nr. 44 d. Bl. f. 1868 mit der Anerkennung, die
es verdient, beſprachen, war in Amerika als der Bürger⸗
krieg ausbrach, trat als Freiwilliger in das Unionsheer
und machte den Krieg bis zu Ende mit. Was er dort
erlebt und geſehen, erzühlt er in dem vorliegenden Buche
anſpruchslos in einfacher natürlicher Sprache, mit dem
unverfeunbaren Streben, einen völlig unparteiiſchen Stand⸗
punft einzunchmen. Er läßt dem einde, gegen den er
gefämpft hat, volle Gerechtigkeit wiberfahren: „Das Princip
der Südſtaaten war zu verabfcheuen‘, fagt er, „aber die
Thaten ihrer Armee fünnen nur mit Bernunderung ge-
nannt werden.” Politiſche Betrachtungen fchließt er ganz
aus, dazu würde ihm auch in feiner Stellung und bei
feiner Jugend der erforderliche Horizont gefehlt Haben.
Dagegen widmet er den innern Einrichtungen der Mord»
ges, nichts Unwahrſcheinliches, keine Webertreibung. Dafür aber
bat er die Fehler diefer Borzüge. Die Einfachheit des Sujets
bewirkt eben, daß Bang und Entwidelung bisweilen zu fehr
vorherrfchen werden. Die Regelmäßigkeit und Beſonnenheit
der Handlung führen oft die Kälte herbei. Nota zeigt eine
natürliche Richtung auf ernſte Stoffe Er geht nicht darauf
aus, den Zufchaner lachen zu machen. Bei ihm entfleht das
Lachen von felbft aus der Entwidelung, oder dem Gegenſatz
und Widerfpiel der Charaktere. Wie Molidre fucht er das
Komiſche in den Situationen, nicht in den Worten nnd Ein-
fällen. Nota’8 Stil ermangelt der Schwungfraft und Wärme;
aber die Schreibart ift Har, gefällig und zierlih. Niemand
bat vegelrichtiger und reiner gejchrieben.
Wir haben der geiftreihen und inhaltuollen Arbeit
Klein’ über das italienische Drama als einem der her-
vorragenden Literaturwerke der legten Jahre die ein⸗
gehendfte Beachtung gewidmet, ohne ihre Fehler und
Schwächen zu verfchweigen. Kleinere Schniger freilich),
die durh das Werk zerftreut find, konnten wir nicht
imnmer an den betreffenden Stellen rügen, wie 3. ®.,
wenn Schiller 8 Worte: „Spät fommt ihr, doch ihr
kommt“, ftatt auf den Grafen Iſolani auf Octavio
Piccolomini bezogen werden, wenn das „Porträt ber
Geliebten” als ein Luftfpiel von Benebir Hingeftellt
wird, während es doc von Feldmann ift u. dgl. m.
Die Fülle des unermüdlich, zufammengetragenen thatfäch-
lichen Materials auf der einen, der Reichthum der tref-
fendften dramaturgifchen Bemerkungen, die fi wie eine
angewandte Poetit durch das ganze Werk zichen, auf der
andern Seite, laſſen dafjelbe jo werthvoll und gewichtig
erfcheinen, daß man doppelt bedauern muß, von dem
Berfaffer jenen Goethe'ſchen Spruch, der nicht minder
auf wiffenfchaftliche wie Fünftlerifche Productionen paßt,
außer Acht gelafien zu fehen, den Spruch: „Inu der Bes
ſchränkung erſt zeigt ſich der Meiſter.“
Rudolf Gottſchall.
—— — — ee ap
Bücherliſch.
armee eine beſondere Berückſichtigung, womit wir voll⸗
kommen einverſtanden ſind; er ſetzt voraus, daß ſie wenig
bekannt ſeien, doch haben, abgeſehen von den umfaſſenden
Werken, welche die Literatur dieſes Kriegs aufzuweiſen hat,
auch andere Mitkämpfer in ihren „Erinnerungen“ u. ſ. w.
zur Kenntniß jener Zuſtände viele Beiträge geliefert.
Der Verfaſſer geht, ſeinem Vorſatze treu, ohne Ein⸗
leitung über die politiſchen Urſachen des Kriegs hinweg
gleich zur Sache. Er ſelbſt trat in das deutſche, aus
Freiwilligen gebildete Regiment, das den Namen „de Kalb“
erhielt, nad) dem Helden, der einft im amerifanifchen
Unabhängigkeitskriege für die Sache ber freiheit gefallen
war. Das Regiment beftand, wie alle, aus 10 Compagnien
und hatte eine eigene Uniform, die der preußifchen Fäger,
welche es jeboch fpäter zum Leidweſen der Soldaten mit
ber blauen Blufe vertaufhen mußte. Der Kommandeur
des Regiments, Oberſt von Gilfa, wußte dafjelbe in kur⸗
zer Zeit kriegstüchtig zu machen und vor allem zu diß-
cipliniren. Es wurde bei der Concentration ber deutſchen
264
Divifion zugetheilt, welche General MacClellan, der Be-
fehlshaber der Potomacarmee, unter dem Oberften Blen⸗
fer, aus ber pfälzifch-badifchen Revolution befannt, for⸗
mirte. Diefelbe war 20000 Mann ftarf und aus 16 In-
fanterieregimentern, einem Cavalerieregiment, einer fahren»
den zwölfpfiindigen und einer reitenden fechspfündigen Bat-
terie zufammengejegt. Bei ihrem erſten Bormarfch kam
fie gerade zurecht, die beifpiellofe Auflöfung des Heers
nad der Schlacht bei Bull Kun zu fehen, und fehrte, die
Arrieregarde bildend, vom Feinde unverfolgt, wieder nach
Wafhington zurüd, von wo fie vor furzem ausmarſchirt
war. Hier ging e8 bunt zu:
Tauſende von Soldaten kiefen zwedlos in den Straßen
umber, fih auf die Mildthätigleit der Bewohner verlaffend,
denn feit zwei Zagen Hatten die an Entbehrung noch nicht ge⸗
mwöhnten Leute nichts gegeffen. Cavalerteoffiziere ritten in allen
Straßen, um die Artilferiftien und Cavaleriften an dem Verkauf
ihrer Pferde zu hindern, da ſich ein fehr Tebhafter Pferdehandel
fhon feit geſtern entwidelt hatte. Ambulancen und Leiterwagen,
mit Bermundeten gefüllt, wurden auf die öffentlichen Plätze
‚ gefahren und die Verwundeten dafelbft abgeladen, da größere
Eoharetbe nod nicht eingerichtet waren.
Mit Recht hebt der Verfaffer aber dann hervor, daß
es ein eigenthiimlicher Charafterzug des Amerifaners fei,
jelbft nach den härteften Schlägen den Muth nicht zu
verlieren, jondern im Gegentheil dadurch nur zur größten
Thätigleit angefpornt zu werden. Wir lefen dem ent=
Iprechend die Reorganifation der Armee durch MacClellan.
Die Berpflegung war fehr reichlich, der Sold hoch. Der
Soldat bekam monatlih 11, fpäter 13 Dollars, der
Secondlieutenant 110, fpäter 145 Dollar.
Mit großer Anhänglichkeit fpricht der Berfaffer vom
General Blenker, deifen Hauptquartier der Glanzpunkt
der Divifion war. Blenker umgab ſich mit einem Stabe,
deſſen fich fein fürftlicher Feldherr zu fchämen gebraucht
hätte, ex felbft Tiebte den Prunk und trug, abweichend
von der Einfachheit der amerifanifchen Uniformen, die
Uniform feines Regiments mit goldenen Auffchlägen und
Stiderei am Kragen. Mit dem 10. März begann der
Feldzug von 1862. Der Berfaffer fehildert nur das,
woran er felbft theilgenonmmen hat, und wenn er ein
Urtheil über die ftrategifcdhen Operationen ausſpricht, fo
gibt er wieder, was damals in ber Armee dariiber ge-
urtheilt wurde. Die Urfachen manches unbegreiflichen
Tehlers, die Einflüffe, welche die Unternehmungen der
Feldherren beftimmten und oft lähmten, find freilich, wie
er fchreibt, noch nicht ganz aufgeflärt, doch beginnt das
Dunkel nad) den neuern Veröffentlihungen, die dem Ver⸗
fafjer wol nicht alle zugänglich gemwefen find, fich zu lich⸗
ten. Sehr anſchaulich, mit aller Friſche und Lebendigkeit
der Jugend, ſchildert der Verfaffer die Mürfche, Gefechte
und Schlachten, die Strapazen und Entbehrungen, an
denen er theilgenommen hat, wir belfommen bier nene
Beiträge zur Kenntniß der unglaublichen Truppenführung
der unfähigen amerifanifchen Generale. So verbot General
Summer da8 Bauen einer propiforifchen Brüde über den
reißend fchnellen Broad Run und ließ die deutfche Dis
vifion bei 1 Grad Kälte in der Nacht den Fluß durch
waten, was am andern Tage nod mehrmals gefchah,
da ſich derfelbe in verfchiedene Arme mit vielen Krüm⸗
mungen theilt. Als num dabei mehrere Leute ertranken, ritt
Militärifcher Büchertiſch.
Blenker wüthenb zum General, warf ihm den Säbel vor
die Füße und fündigte ihm den Gehorfam auf. Das
Schickſal der deutſchen Divifion war dadurch beſiegelt, fie
wurde vom Summer’fchen Corps getrennt und fpäter
ganz aufgelöft. Bon der geringen Anerkennung, welche
die deutfchen Truppen trog ihrer glänzenden Tapferkeit
bei der großen Maſſe der Dankees gefunden, von der
Anfeindung derjelben in den parteiifchen Sournalen weiß
der Berfafler viel zu erzählen; er muß freilich zugeben,
daß fie fich durch ihre „Räubereien“ im feindlichen Rande
einen fchlimmen Ruf gemadt; mit der gerühmten Die-
ciplin kann e8 alfo nicht weit Her getvefen fein. Auch
mit der Suborbdination war e8 eigenthümlich beftellt. Ließ
doch der Oberft von Gilfa dem General Fremont, der
den Regimentsmarketender für fein Hanptquartier in Bes
ſchlag nahm, durch den Adjutanten, welcher das meldete,
jagen: „Ex fer verrüdt!” Er kam dafür in Arrefti und
der General behielt die Lebensmittel, doch bewog ihn die
drohende Stimmung des Regiments, diefe herauszugeben
und Gilſa feines Arreſtes zu entlaffen.
Die deutfchen Regimenter wurden, nachdem Blenker
verabfchiedet war, dem erften Corps der Armee von Pir-
ginien einverleibt, welches Sigl befehligte. Diefer wurde
mit großem Jubel empfangen, rvechtfertigte aber die Ex»
wartungen nicht, die man auf ihn feßte, und verbarb eg,
al8 er auch im Felde Parteipolitif trieb, mit allen Deut⸗
hen. Er ſuchte bald feinen Abfchied nach, den er zwar
nicht erhielt, aber wol eine andere Beftimmung; fein Corps,
jegt das elfte, trat unter Howard’8 Befehl. Den Marſch
unter Hooker, wo die ganze Armee buchftäblich im Rothe
(unfer junger Autor gebraudjt dafür confequent den der⸗
bern Ausdrud!) fteden blieb, hat auch der Schweizer Aſch⸗
mann in feinem Buche draftifch gefchildert. Bei Chancel-
lorsville wurde der Verfaſſer verwundet und kam ins
Tazareth, deffen Einrichtungen er als vortrefflich ſchildert,
wie er aud) die firenge Lager- und Onartierordnung im
Heere ſehr rühmt. Nach einigen Wochen konnte ex wieder
zur Armee abgehen, um die Schlacht bei Gettysburg
mitzumadjen, im welcher fi das de Kalb⸗Regiment be=
jonder® auszeichnete, freilich aber ein Drittel feiner Stärke
verlor. Daffelbe nahm dann an bem Kampfe gegen Charlefton
theil, den ein eigener Abfchnitt im Buche zugemeffen ift.
Ueber die neucrrichteten Negerregimenter, von denen
auch eine Brigade vor Charlefton eintrat, urtheilt der
Verfaſſer fehr ungünftig:
Die ideale Schwärmerei, daß die Neger fi ihrer Freiheit
daburd) am mwürdigften maden würden, wenn fie für die Frei⸗
Heit ſelbſt kämpften, zerfiel in nichts, fobald die Schwarzen im
Felde waren, denn fie zeigten fich al8 eine unbrauchbare Truppe,
melde nur durch Hinter ihnen aufgeftellte Geſchütze ins Feuer
getrieben werden Tonnte. Die in vielen radicalen Zeitungen
ausgeſchriene Tapferkeit der Neger, welche durch höhere Gene-
rale documentirt fein follte, war libertrieben, ich habe mich vom
Gegentheil gründfich überzeugt.
Ueber die graufame Behandlung der Kriegsgefangenen
in den Südſtaaten lefen wir ſchauderhafte Meittheilungen,
befonders über da8 Lager von Anderfonville, wo leider
ein Deutfcher, Namens Wirz, commandirte, ber fpäter
daflir gehangen wurde. Die Guerrillas der Conföberirten
verführen auch graufam genug, was bann wieder Repref-
falien hervorrief. Einen gefangenen Offizier der Union
Militäriſcher Büchertifch. Ä 265
hatten fie gezwungen, fich felbft ein Grab zu graben, hat-
ten ihm darauf Hände und Füße und endlich den Kopf
abgehauen. Der Präfident Lincoln befahl darauf: „In
einem Umfreife von 15 Meilen von dem Plate aus, wo
bie That gefchehen ift, verbrenne man fünmtliche Ort⸗
Ichaften, laſſe keinen Stein auf dem andern, führe Kin⸗
der, Männer, Frauen und reife nad) Wafhington und
made die ganze Gegend dem Erdboden glei.“ Dieſer
Befehl it wörtlich ausgeführt worden; Sheridan's Cava⸗
lerie vollendete das Werk der Zerftörung im Shenandoah⸗
thale.
Empörend ift ferner, was der Berfaffer tiber bie un⸗
glücklichen Deutfchen berichtet, welche, von einem amerifa-
nifchen Agenten in Amfterdam als Arbeiter engagirt, in
Amerifa ohne weiteres als Rekruten eingeftellt wurden,
ba fie, der englifehen Sprache nicht mächtig, einen dahin
Iautenden Contract unterfchrieben hatten. Noch unbewaff-
net wurbe ein großer Theil von ihnen bei einem feind-
lichen Ueberfall hingeſchlachtet.
Der Verfaſſer machte nach dem Fall von Charlefton bie
leßten Feldzüge der Potomacarmee in Birginien mit,
wovon er manches Interefjante erzählt. Er wurde nad
dem Kriege zu den Freedmansburean commandirt, das
im ganzen Süden eingerichtet wurde und fegensreidy auf
alle Klaſſen der Bevölkerung wirkte. Seine Hauptaufgabe
war, eine Bereinigung der Örundbefiger und ihrer nun
freigewordenen Sklaven zu Stande zu bringen, da fid)
beide Parteien jchroff gegenüberftanden. Die Neger wur⸗
den nach ihrer Arbeitsfähigkeit in drei Klaſſen getheilt
umd danad) der Lohn beftimmt, fie mußten fich dafür ver-
pflihten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit
einer Mittagspaufe don zwei Stunden nad) ihren Kräften
zu arbeiten. Die Weißen dagegen verpflichteten fi, den
Megern in ihren Forderungen gerecht zu werden; daß die
BPrügelftrafe aufhörte, verftand fih von felbft. Leider
kamen aber viele Unterfchleife und Scündlichleiten von
Lieferanten, felbft von Offizieren vor, welche dem wohl:
thätigen Inſtitut ſchadeten.
Mit einem kurzen Ueberblick der Operationen der an⸗
dern Armeen ſchließt das Buch, das wir als eine inter⸗
eſſante Lektüre nur empfehlen können. Ueber manches in
der Form und in den Ausdrücken wollen wir mit einem
jungen Autor nicht rechten; dagegen iſt die Correctur des
Drucks ſehr mangelhaft: es ſind erhebliche Fehler, ſowol
in engliſchen als in deutſchen Wörtern, ſtehen geblieben.
2. Betrachtungen über die franzöſiſche Armee mit beſonderer
Berückſichtigung des moraliſchen Elements. Von M. v. K
Wien, Seidel und Sohn. 1868. Gr. 8. 20 Rgr.
Im Gegenſatze zu dem vorigen Werke, das den jadj-
Lich wehrmänniſchen Standpunft fefthält, ftellt dieſes zweite
eingehende Betrachtungen über den Geift und das Weſen
der franzöfifchen Armee an. Der Berfaffer ift ein ſchar⸗
fer Beobachter, der aus eigener Wahrnehmung urtheilt,
und wenn wir auch dem Hefultate, zu dem er kommt,
daß den Franzofen, was militärifche Tugenden anbelangt,
vor den Deutfchen die Palme zuzugeftehen fei, niemals
beiftimmen werben, fo geben wir- ihm doch in allem, was
er über bie hohe Bedeutung des moralifchen Elements im
Kriege und über die Entwidelung defjelben in der franzd-
fiihen Armee fagt, volllommen recht. In der Einleitung
1870. 17.
erflärt er die jegigen Kriegsrüftungen Frankreichs aus der
verlegten itelfeit der Armee, welche die Siege ber
Preußen 1866 wie eine Beeinträchtigung ihrer eigenen
Gloire anfah und für dieſe Unbill nad) Genugthuung
lechzte. Frankreich ift von Preußen nicht bedroht, nur
der friegerifche Ehrgeiz feiner Armee läßt es rüften. Das
moralifche Element derfelben ift ein fo mächtiger Hebel,
daß es allein fchon zum Kriege drängen kann.
Der Berfaffer fuht nun die Ouellen und ben
Urfprung biefes mächtigen Factors in der franzöfifchen
Politik auf und betrachtet in der erften Abiheilung das
Heer von 1792—1852, in der zweiten das Heer unter
Kapoleon MI. Die Schilderung ber Revolutionsarmeen
und ber Zriebfedern, welche bei denfelben in Bewegung
gefegt wurden, um die Kriege in fo großartigen Maß-
ftabe führen und fo ungewöhnliche Erfolge erzielen zu
können, iſt ganz vortrefilih. Aus der Hand der Revo»
Iution empfing das Saiferreich den Krieger fchon fertig,
und die militärifche Ehre wurde feitdem die unverfiegbare
Duelle, aus welcher das erfte Kaiferreich nnd alle folgen-
ben Gewalten in Frankreich gefchöpft Haben. Die gläne
zenden Erfolge deffelben Haben den Geift der Ehre in ber
Urmee für die kommenden Zeiten gefichert. Nah bem
Untergange Napoleon’8 verlettten die Bourbons immer
rüdfichtslofer den Stolz des Heeres, und biefe verblendete
Misachtung trug weſentlich zu ihrem Sturze bei. Ludwig
Philipp war anfangs fo Hug, dem militärischen Stolze
Genugthuung zu geben, um die Armee an ſich zu fefleln,
feine Söhne bewährten ſich in Algier als echte franzöfifche
Soldaten. Die Regierung entjremdete fid) die Truppen
aber nur zu bald, und der Tod des Herzogs von Orleans
fann hier als der Wendepunkt betrachtet werben.
Trog aller Mieftimmung gegen Ludwig Philipp wäre das
Heer im Februar 1848 auf eine ganz energiſche Weife für
ihn in den Kampf gegangen, wenn der König nicht felbft in
faft unbegreiflider Verblendung feine Sache fo voreilig aufs
gegeben hätte.
MWeiter wird ausgeführt, wie die republifanifche es
gierung das Heer, das, wie jede feftgeordnete Armee, fich
einer folchen nur ungern unterwarf, gegen fich exbitterte,
wie diefer Haß gegen die rothe Partei fi) bei dem
Juniaufſtande berjelben befundete, und wie enttäufcht Die
Hoffnungen der Armee auf Capaignac wurden. Um fo
leichter gewann Ludwig Napoleon diefelbe, nur mit ihrer
Hülfe konnte der Staatöftreich gelingen; er hat fie zux
fefteften Stüge feines Throns gemadt, wie er aud)
neuerdings noch ausgefprochen Hat. Sehr treffend iſt,
was der Berfaffer über den guten Geift, dieſes belebende
Princip jedes Heeres, fagt, der nicht durch den Macht⸗
ſpruch eines Autofraten eingehaucht werde, fondern aus
dem Grunde der gemeinfamen Eigenthiimlichkeiten einer
Nation entwidelt, großgezogen und dann forgfältig ge
pflegt werden müſſe, damit er fich ftets, wenn man feiner
anregenden Wirfungen bedarf, wie durcd einen Zauber
entflammen laffe.
Frankreich und Preußen gehören zu den wenigen Staaten,
in deren Armeen das moraliſche Element, beſonders das mili⸗
tärifche Ehrgefühl, als eine der wichtigſten Bürgſchaften für
wahrhaft große Feiftungen im Kriege forgfam gepflegt wird.
Diefem limftande verdanken aud die beiden genannten Mächte
zum großen Theile ihre anßerordentlihen Erfolge in ben
legten Kriegen.
34
266 Militäriſcher Büchertifch.
Als Grundlage für- die num folgende Beſprechung der
gegenwärtigen Verhältniſſe des franzöflichen Heers ftellt
der Berfaffer einen Bergleich zwiſchen den geiftigen und
phyſiſchen Eigenfchaften der Franzoſen und der Deutſchen
an, der zu dem Refultate führt, dag der Sranzofe, wenn
auch im allgemeinen weniger gebildet, in militärifcher
Beziehung einen höhern Standpunft einnehme als jelbft
der Preuße. Wir unfererfeits können den deutſchen Soldaten
nicht dem franzöfifchen nachftellen: hat diefer mandje gute
Eigenfchaft nad feinem Naturell für fi, jo wird das
von dem deutfchen durch andere aufgeiwpgen. Die Kriegs⸗
gefchichte beweift das. Auch möchten wir die Charakteriftil
des Berfaffers, die er felbft bittet nur cum grano salis
allgemein zu verftehen, nicht blos in Bezug auf Individuen,
wie er zugibt, fondern für Nord- und Süddeutſchland
im ganzen mobificiren. In Norddentichland, follten wir
meinen, könne ber praftifhe Sinn, die reale Richtung
nicht vermißt werden. .
Nah diefen allgemeinen Betrachtungen jchildert das
Werk im erften Abſchnitte der zweiten Abtheilung die
Drganifation und Ausbildung bed Heers; der Ber
fafier deutet dabei auch bie Uebelſtände und? Mlän-
gel an, die ihm aufgefallen find. Wir finden über viele
Berhältnifie, namentlich über bie abgefchloffene Stellung
der Armee, über bie fociale der Offiziere, viele feine
Bemerkungen, die wir beftätigen können. Ueber die Be-
Köaffengen und ben innern Dienft der Truppen, beſonders
er die Savalerie, urtheilt der Verfaſſer wie ein prak⸗
tifcher Offizier dieſer Waffe; er hat zwar, wie in einer
Note zur leſen, in der Nechtspraris gewirkt, doch zeigt
fi überall, daß er fpäter Soldat geweſen oder noch ift.
Man Iefe, was er über die Lanze ſagt. Nur waren
die Bolen in der Somoflerra feine Lanciers, fondern
Chevauzlegers, wie Niegolewsli, der bei dem Regiment
geftanden, ausdrücklich bezeugt. Wir haben diefe irrige
Annahme noch kürzlich in einem andern Werke gefunden.
Den franzöfiſchen Miilttärbildungsanftalten widmet der
Berfaffer eine eingehende Betrachtung, nicht ohne Seiten-
blide auf „die ganz ungeheuere Bedeutung, welde in
Deutſchland der Form aller amtlihen Schriftjtüde bei-
gelegt wird”. Etwas gebefiert Hat es ſich darin, im
allgemeinen müſſen wir ihm aber noch recht geben. Yu
der franzöftfchen Militärliteratur findet der Verfaſſer mit
Recht eine gewiſſe Einfeitigkeit oder ſtark franzöſiſche Für⸗
bung, der preußiſchen geſteht er dem Gehalte nach den
Vorzug zu.
Der zweite Abſchnitt enthält Betrachtungen über das
moraliſche Element und die Pflege des Ehrgefühls in der
franzöſiſchen Armee. Der Verfaſſer ſtellt dar, worin das
moraliſche Element beſteht, durch welche Triebfedern es
erwedt und genährt wird, und welche Attribute zur voll»
fommenen Kriegstüchtigfeit noch dazutreten müfjen, um
daffelbe zu fichern, nämlich Disciplin, taktifche Ausbildung
und technifche Ausrüſtung. Doch erklärt er die Geiftes-
fiimmung, das moralijche Element, für die Hauptfache,
Diecipim, Taktik und Ausrüftung für untergeordnete
(für die Armeen der Gegenwart jedody unerlaßlich noth>
wendige) „accessoria”. Die gefchichtlichen Beifpiele für
ben erften Sat find nicht alle von gleicher Beweiskraft:
das Heer Mohammed’s IL Tann wol fein wilder Haufe
fanatifcher Sarazenen mehr genannt werben, auch leifteten
die elenden Griechen ihm wenig Widerftand; und welde
Siege hätte denn das Heer Karl’ des Kühnen erfochten,
um es „fieggewohnt” zu nennen, als es gegen bie
Schweizer zog? Die Factoren des moralifhen Elements:
militärifches Ehrgefühl, Baterlandsliebe, Anhänglichkeit
an die Dynaftie, religidfe Motive und Pflichtgefüihl, bes
jpricht der Verfaſſer einzeln in Harer Auffafſuug und
erläutert ihre Wirkung durch Beifpiele aus der Gefchichte,
Ueber die Vaterlandsliebe jagt er, daß fie ſtets mit bem
Nationalbewußtjein zufammenfalle, und daß von dieſer mo«
ralifchen Zriebfeder nur dann große Erfolge zu erwarten
jeien, wenn ber Kampf wirflih um nationale Intereſſen
gefiihrt werde.
Man wird in DOeflerreih mit der Vaterlandsliebe als
movens der Armee, im ganzen betrachtet, gar wenig ausrichten.
Der Ungar wird Salzburg und Tirol nie als einen Theil feines
Baterlandes betrachten. Bin ich nit Schwab, bin ich Ungar,
wird er fagen. Ebenſo wenig fühle ih, als Oberöfterreicher,
mid) zu den Czechen oder nad) der Bukowina hingezogen.
In diefen freimüthigen Worten liegt ein Theil der
Schwierigkeiten angedeutet, mit denen Defterreich noch im:
mer zu kämpfen hat. „Dagegen“, heißt e8 weiter, „war
die öfterreichifche Armee ſtets von ausgeprägt dynaſtiſchen
Spympathien getragen.” Die Pflichttreue nennt der Ber
fafler den Nothnagel unter ben Zriebfedern, das morali⸗
iche Commißbrot des Soldaten, dem jeboch anbere, mehr .
biutbereitende Nahrumgsmittel Kraft und Energie verleihen
müſſen. So niedrig ftellen wir die Pflichttrene nicht,
wenn wir auch zugeben was im Bergleich zu dem milie
tärifchen Ehrgefühl über biefelbe gejagt if. In der Re
gel wird letzteres nicht fehlen, wenn erftere vorhanden ift,
und beide vereint werden Großes wirken fönnen. Dann geht
das Werk zu feinem eigentlichen Gegenflande zurüd und
ichildert die Hebel, welche in der franzöftfchen Armee für
das Chrgefühl gebraucht werden: die Geftattung bes
Zweilampfs, Verleihung von Orden, eine nad ben Be
griffen des franzöfifchen Soldaten ſchöne und glänzende
Uniformirung, die Errichtung bes Gardecorps aus erle
jener Mannfhaft (gegenwärtig befommt fie ebenfalls
Rekruten), die Elitencompagnien (feit Erfcheinen bes Werks
abgeſchafft), Die Beförderung von Unteroffizieren zu Offi⸗
zieren und die Berforgung ausgedienter und verftümmelter
Soldaten. As Anhang ift eine Ueberfiht des franzö⸗
fifchen Heer8 nach feinen Beftanbtheilen und feiner Ein-
tbeilung hinzugefügt. Auf eine Beiprehung der Bore
und Nachtheile des franzöfifchen Wehrſyſtems hat der
Berfaffer, wie er erklärt, ſich nicht einlaffen wollen, weil
er eine Abhandlung über die in den verſchiedenen euro«
päifchen Staaten jegt in Anwendung fiehenden Wehr-
fofteme veröffentlichen wird. Wir ‚heißen fie im voraus
willlommen.
Zum Schluffe erwähnen wir noch eines höchſt ver⸗
dienftlihen Werls:
3. Die Militärliteratur feit den VBefreiungsfriegeu mit beſon⸗
derer Bezugnahme auf bie „Militär-Literatur- Zeitung‘ wäh⸗
rend der erften 50 Jahre ihres Beſtehens von 1820 — 70
von Theodor Freiherrn von Troſchke. Berlin, Mittler
und Sohn. 1870. ©r. 8. 1 Thlr. 10 Nor.
Das Werk ift eine Gelegenheitsfchrift, was feinem
Werthe keinen Eintrag thut. Der VBerfafier wurde durch
Neue Romane.
die Redaction der „Militär-Literatur Zeitung” aufgefordert,
das funfzigjährige Jubildum derfelben durch ein geeigne-
tes Werk feiern zu helfen, und er entchloß ſich, dazu
eine Ueberfit der gefammten Militärliteratur feit den
Befreiungsfriegen zu geben, gewiß eine äußerft milhevolle,
aber auch danfenswerthe Arbeit. Dadurch wurde zugleich
eine Ueberfiät der Leiftungen der genannten Zeitſchrift
unb ein concentrirte® abgerunbetes Bild des Inhalts
ihrer 50 Bände gewonnen. Es kam zunäcft darauf an,
den richtigen Standpunft für den großartigen Gegenftand
zu gewinnen und den Stoff zwedmäßig zu gruppiren.
Der letztere in feiner Maffenhaftigkeit -bot einer univer»
ſellen Auffafung mit gleihmäßiger Berüdfichtigung aller
in Betracht fommenden Nationalitäten faft unüberwind«
liche Schwierigkeiten, fodaß ſich der Verfafler bewogen
fühlte, das Deutfche, das Preußiſche in den Vordergrund
zu ftellen. Für die Eintheilung des Stoffs behielt er
die drei Kategorien der „Militär-Literatur- Zeitung“ bei,“
nämlic, Kriegägefhichte, Kriegswiſſenſchaften und militä-
rifche Hülfswiflenfchaften, zu denen noch Journaliſtik und
Miscellen hinzutveten. Um aber den Bildern der Dar-
ftellung mehr phyfiognomiſche Schärfe zu geben, hat er
jene drei Kategorien noch im logiſch geordnete Unter
abtheilungen geſchieden. Ueber die Eintheilung felbft wer-
den verſchiedene Anfichten walten, da bisjegt noch feine
allgemein angenommene Klaffification der Militärwiffen«
267
ſchaften gefunden if. Die Ausführung des Werts ift
fehr gelungen. Es Konnte nicht alle Erzengniſſe ber
Militärliteratur in bem bezeichneten halben Jahrhundert
beſprechen, ſondern mußte fi auf die bebeutendften und
wichtigften beſchränlen. Darum wird vielleicht manches
darin vermißt werden, befonder8 aus den legten Jahre
zehnten, während in den frühern, deren Schriften ſchon
ihren feftftehenden Ruf haben, bie Auswahl leichter war,
doch wird man ſich im allgemeinen gewiß mit der Wahl
einverftanden erflären. Sie wurde überbem noch dadurch
bebingt, daß diejenigen Werke, welche in der „Subilarin”
beſprochen worden, beſonders berüdfichtigt werben mußten,
und die Yubilarin hat manches, immerhin intereffante
Werk nicht befproden, ans verſchiedenen Grunden auch
nicht befprechen Tönnen. Was wir noch befonders rih-
men müffen, ift, daß ber Verfaſſer feine eigenen Anfich-
ten in’ ber Beurtheilung der Werke nicht ben borgefuns
denen Pritifen untergeorbnet, ſondern jelbftändig gewahrt
hat. Ex fagt darüber: „Es wäre fonft bei dem oft fehr
verfchiedenen Standpunkt der Referenten eine Moſaik zu
Tage gefördert worden, im ber mancher Stein fehreiend
von dem Nachbar abgeſtochen Hätte, ohne fich zu dem
angeftrebten harmoniſchen Ganzen zu verfchmelzen.” Gi
denn das Werk allen, die ſich für den Gegenftand inter»
eſfiren und militärifche Werke im ihrer Bibliothek befigen,
beftens empfohlen. Korl Suſtav von Berne.
Neue Romane.
1. Die Herzogin von Nemours. Hiflorifher Roman von Paul
Feval. Ans dem Franzöfiihen liberfegt. Drei Bände.
9. 8. 2 Thlr.
Bien, Müller. 186
2. Aus den Tagen des erfien Napoleon. Hiftorifher Roman
Stuttgart, Kröner.
von Paul Stein. Zwei Bünde,
1869. 8. 3 Thlr. 10 Nor.
3. Aus alten Tageblichern. Im Anſchluß an „Eine deutſche
Zürgerfamilie”, bearbeitet von Julius von Widede
Drei Bände. Iena, Coftenoble. 1868. 8. 4 Thlr.
4. 1872, in Roman der Zutmmft im vier Bänden von
Daniel von Käszony. Leipzig, Pardubitz. 1869. 8.
4 Thlt.
Nicht mehr die Vergangenheit allein, auch die Zufunft
Schafft ſich jetzt ihren hiſtoriſchen Roman. Es ift nicht
genug, daß man bemüht ift, die Vorzeit mit phantaſie -
vollem Geift und poetifcher Geftaltung in das angeregte
Bewußtſein der Gegenwart zu verpflanzen, man muß auch
allmählich — gibt «6 doch auch eine Tonkunft der Zur
Tunft! — die Ereigniffe mit einem glücklichen second sight
vorausſehen; man muß nicht nur ein rüdwärts, fondern
aud) ein vorwärts gewandter Prophet fein, um einen
pifanten Roman zu fchreiben. Nähere Auskunft über bie
Ingredienzien des Zufunftsromans ertheilt Daniel von
Käszony, auf deſſen „1872 (Mr. 4) wir unten zurüde
Tommen.
Bie ein Saul neben dem Propheten magyarifder
Zunge nimmt fi Paul Beval, der Autor der
„Herzogin von Nemours“ (Mr. 1) ans. Diefe Herzogin
von Nemours ift eine noble Dame von altfranzöſiſcher
Zournure, aus ber Zeit, da noch micht napoleonifche
Parvenus das blaue Blut des galliſchen Adels verdächtig
roth gefärbt hatten. Wir bewegen uns in dem Feval'⸗
fen Roman in fehr guter Geſellſchaft, der beften Sranf-
reichs von 1490; die Balois, Orleans, Armagnac find
uns fo belannt, daß wir und nicht wundern würden, wenn
einer von ben edeln Herren uns auf bie Schulter Hopfte
und uns mit einem herablafienden „Better, wie geht's”
beehrte. Diefe hohe und Höchfte Geſellſchaft finden wir
in allen Romanen, die wir heute bejprechen, wieder. Bei
Feval find es die letzten Balois, bei Stein das Negenten«
geihleht der Würtemberger, in Wicede's Tagebüchern
die hohe preußifche Generalität, bei Kaszony endlich die
Potentaten ganz Europas. Dennoch ragt ber Frauzoſe
weit über feine Genoffen hervor. Man fieht, Paul Feval
hat ſich nad) Walter Scott, Paul Stein nad) der Mühlbach,
und der Prophet Daniel nad; Retcliffe-Gödfche gebildet.
Der Autor der „Herzogin von Nemours“ ift feinem Bor-
bilde am nächjften gefommen. Er nimmt aus dem Gewirr
franzöſiſcher Geſchichten die Fehden der Armagnac und
die bewegten Tage der Minderjährigkeit Karl's VII. her⸗
aus, um daraus einen belebten und handlungsreichen
Roman zu verfafien. Die Witwe des Kingerichteten Jean
d’Armagnac, Iabella, die Herzogin von Nemours und
ihr Sohn Jean, der Blonde genannt, find ber Mittel-
punkt der Intrigue, die der Graf de la Mare, ber
Sieur Graville, gegen Karl VII. und feine Freunde an-
fpinnt. Der Sohn des geächteten und gerichteten Ar-
magnac, der blonde Jean, tritt als Champion des jungen
Valois auf, als Graville diefen bei einem prunfvollen
Feſte an Leib und Leben bedroht, und erobert fo wieder
34*
268
fi und feiner Mutter Namen und Beſitzthum des Vaters.
Er heirathet ein fchönes Mädchen aus dem Volle, Blanche,
und felbft die fchmerzensreihe Mutter Ifabella bat Luft,
fih mit dem Retter ihres Kindes, dem wadern Bruder
Trangquille, zu vermählen. So weit bie Fabel des Romans,
die nicht ſtreng Hiftorifch ift: fo heißt 3. B. der Sohn
Iſabella's nicht Jean, fondern Louis d’Armagnac. Diefer
Louis ftarb, um bies beiläufig zu erwähnen, 1503 und
finderlos, wie wir für bie auf den Ausgang feiner Ehe
begierigen Xejer des Romans hinzufügen wollen. Abge⸗
jehen von derartigen Heinen Sünden gegen die Gefchichte
ift Feval's Buch fo treu im der Hiftorifchen Zeitfärbung,
die handelnden Perfonen find fo liebenswürdig altmebifch
ihre Reben find fo hübſch naiv und fo biderb verftändig,
daß wir Hierin das würdige Vorbild des Autors faft
erreicht finden. Die Franzoſen haben fonft fehr wenig
Talent fiir gefchichtliche Darftellung, fo wenig, wie fie es
für geſchichtliche Auffaffung der Dinge Haben; außer
Bictor Hugo's erften Romanen und ben Fed romantischen
Projadichtungen Charles Nodier’s wüßten wir unter den
Tranzofen keinen Hiftorifchen Romancier von Bebeutung
zu nennen. Auch wo Feval großartige Schilderungen
geben will, gelingt ihm dies in reihen Maße. So bei
ber Beichreibung ber eftlichkeiten im Palaft de la Marche,
bie faft die Hälfte des Romans einnimmt. Befigt Teval
auch nicht jene goldene Weber, welche die wundervollen
Tefte befchrieb, die Graf Leicefter feiner königlichen Herrin
in Schloß Kenilmorth gab, jo mangelt dem Franzoſen
andererfeit3 nicht ein Vorzug, den man oft bei dem
Briten vermißt: der Vorzug der Knappheit des Ausdrucks,
die Vermeidung von Weitfchweifigfeiten. Es ift ein gutes
Stüd Erzählerkunft in dem bunten Gewebe Paul Feval's
bemerkbar. Wer bes Autors frühere Flüchtigleit und
Teuilletonarbeit fennt, wird ihm die Gauberleit der
Zeichnung in feinem neueften Roman doppelt body an«
rechnen müſſen.
Paul Stein erzählt ung Gefchichten „Aus den Ta⸗
gen des erften Napoleon“ (Nr. 2). Es iſt der fluttgarter
- Hof, zumeift König Friedrid) und fein Sohn Wilhelm,
deren Daupt- und Staatsactionen die Folie des Romans
bilden. Da ift feine forgfame Dispofition, keine inein-
anbergreifende Mafchinerie der Handlung, wie bei Weval;
bei Stein ift wüftes Chaos und eitel Gerede ohne Marl;
die Reben der hohen Herren, die fo blinkend find, im
denen fie der Menjchheit Schnitzel kräufeln, find uner⸗
quicklich — wie ber Nebelwind der Langenweile, ber über
dem ganzen Nuftgebilde des Verfaſſers pfeift. Nicht ein-
mal Heine Pilanterien aus dem Hofleben des Rheinbund⸗
königs find in die träge Handlung verflochten: die hod)-
fürftliden Perfonen und ihr Anhang — bis auf ben
nebelmindigen Grafen Eugen — find alle fo fträflich fo-
lide und tugendhaft, daß fie viel beſſer in eine ſchwä⸗
bifche Theeftunde denn in einen Roman a la Mühlbach
gehören. Die Tendenz Paul Stein’s Flingt uns oft burd)
feine faftlofen Zeilen hervor als die eines königlich wür⸗
tembergifchen Hofromancierd. Wir erfahren in den zwei
Bänden feines Romans nichts von einem Menfchenfchidjal,
was bes Interefjes wert wäre. Nur die Lebensläufe
der Söhne König Friedrich's, vor allem des Thronfolgers
Wilhelm, werden mit einiger Füniglich privilegirten Phan⸗
Neue Romane.
tafie befchrieben. Was dagegen ben verftändigen und
biedern König Wilhelm bewegte und feflelte, woran fich
feine Neigung und Thätigkeit ſchon als Jüngling bewies,
davon erfahren wir nichts; ſtatt deſſen erfindet Stein ein
romantiſches Liebesverhältniß der Prinzeß Katharina mit
dem Baron Lepell, allerlei heimliche Ehe⸗ und Liebes-
geihihten — natürlih alles in Ehren — des Kron⸗
prinzen, und wärmt dad alte Märchen von den unnatür⸗
lichen Tode der erften Gemahlin König Friedrich's noch
einmal anf. Neben den fürftlichen Perfonen geht em
intriguantes Mädchen ale Haus- und Tamiliendämon ber,
obwol diefe Mademoiſelle Rofe durchaus nicht dazu an⸗
gethan ift, eine intereflante Romanfigur zu bilden. Wo
ftedt denn nun eigentlih der Roman? Wir fehen nur
eine Ausbeutung des Sothaifchen Kalenders in diefen zwei
Bänden würtembergifcher Hofchronik: daß Prinz Wilhelm
in unharmonifcher Ehe mit feiner erften Gemahlin gelebt,
daß er fpäter die Witwe Peter's von Didenburg gechlicht
und nit ihr drei Jahre glüdlichfter Ehe durchlebt, weiß ber
patriotifhe Wirtemberger wie ber Kenner der Genealogie
ebenfo mie Stein; daß es jo loyale und fürftenentzüdte
Untertdanen gibt wie die ſchwäbiſche Pfarrersfamilie, die
einmal vom Kronprinzen incognito bejucht und dadurd)
ein undermeibliches Anhängfel des Romans wird, ift dem
deutfchen Lefer durchaus nicht neu. Wo bleibt nun ber
Roman? „Aus den Tagen bes erften Napoleon!" Da
hatten wir nad) dieſem ftolzen Zitel doch einen ganz
andern ‚Inhalt vermuthet. Die ganze militärifche und
ftaatsmännifche Romantik des erften Kaiſerreichs, die mit
Kronen wie mit Nüffen fpielt, follte — jo dachten wir —
im Spiegel der Dichtung an und vorüberziehen. „Aus
den Tagen des erften Napoleon!" Das klingt nicht wie
eine königlich würtembergifche Samiliengefchichte, nicht wie
ein ſchwäbiſches Schidfal; nein, das Hingt wie Ablerflug,
friegerifche Mufif, Muth und Ehre ohne Anfehen der
Perſon, wie wilder Schlachtendonner und heimliches Kofen
im üppigen Bondoir fchöner vornehmer rauen! Selbſt
ben Ereigniffen am fluttgarter Hof hätte in diefer Beleuch⸗
tung fid) manche poetifche Situation abgewinnen laſſen;
jo müſſen wir es ſchon als Lob ausſprechen, daß der
Autor fein manierlich jenen fchönen Leichtfinn des jungen
Jahrhunderts unbeachtet gelafien und nad) waderer
Scribenten Weife feinen Figuren zierlid) gefette Worte
und gerade einfache Handlungen zugefchnitten hat. Bon
itppigen Schilderungen wie von originellen Gedanfen hält
fi Stein’ Roman fern. Über die Sentimentalität fließt
von jeder Seite über und will ſich durch feine unhöfifche
Derbheit eindämmen Iaffen.
Dem Stein’fhen Roman fliegen wir ein Buch an,
das bie gleiche Zeit, die Zeit des eriten Kaiſerreichs, aller-
dings von der Kehrfeite der Medaille behandelt. „Aus
alten Tagebüchern“ (Nr. 3) benennt Julius von Widede
eine biographiſche Veröffentlichung, die er feiner
„Deutſchen Bürgerfamilie“ anfchliegt. Iſt auch verhält
nigmäßig nur meniges in dieſem Wert Eigenthum des
Bearbeiters, fo macht doch die kecke forfche Art Wickede's,
die fich in feiner Arbeit kundgibt, gegenüber ber phili⸗
ftröfen gothaifchen Filigranarbeit Stein's, einen erfriſchen⸗
den Eindrud. Auch Hier ift Geſinnung, ſtark accentuirte
altpreußifche Gefinnung, oft nicht ohne Einſeitigkeit
Neue Romane. 269
befchränfter Ausartung, aber e8 ift doch eine richtige ver«
ftändnißvolle Zeitauffafjung in den Tagebüchern bemerkbar.
Es ging und bei der Leftüre diefer Tagebücher eigen«
thümlich. Mitten in unfere Romanvertiefung taudte die-
ſes Stüd foldatifher Biographie Hinein. Es paßte nicht
zu den eben gelefenen Romanen, und doch paßt «8 zu
den hier befprochenen Werken. Während bei Stein das
napoleonifhe Decennium vom Standpunkt eines Rhein
bundunterthanen betrachtet wird, fühlt der militärifche
Biograph als Preuße, oft aud als echter Deutſcher.
So ftellten wir bie Tagebücher denn getroft dem Stein’
ſchen Roman entgegen, als fräftige Hausmannsfoft nad
dem füßen Zuderbrot! Ohne Vorwort, ohne Einleitung,
ſchlicht genug führt der Herausgeber den Autor ber
Tagebücher, einen preußiſchen Artillerieoffizier, ein. Wir
machen mit dem wadern Erzähler die Nheincampagne,
die jener Schlacht und die Befreiungskriege mit: freilich
miüſſen wir dem Erzähler gegenüber fo anfpruchslos fein,
wie er felbft es ift. Die gejchilberte Zeitperiode umfaßt
ungefähr die Jahre 1790— 1815, alfo die Zeit ber
Sranzöffchen Revolution. Wie diefe gewaltige Zeit we⸗
nig Eindrud auf bie politifchen und focialen Anſchauun -
gen des braven Pommern macht, ift Höchft ergöglich zu
Iefen. Auf Karl Auguft und die Weimaraner ift er nicht
gut zu fprechen. So fagt er von Karl Auguft:
Er hatte leider eine ſchlechte Erziehung erhalten, und feine
Sugendjahre fielen in eine Zeit, wo Frivolität und Irreligiofität
am nur zu vielen deutſchen Höfen traurigerweile Mode waren
und elf ein Monarch, wie unfer preußifher König Friedrich
der Große, einen Boltaire an feinem Hoflager duldete, an den
unmorclifden Schriften der fogenannten frangöflfhen Poltofopgen
fein Wohlgefallen fand und die Verbreitung derartiger ſchlechter
Bucher nit uur duldete, fondern fogar beförderte.
Obgleich unfer Artillerift ſehr ſchlecht auf Literaten
und Komöbdianten zu ſprechen ift, nöthigt ihm doch Goethe's
Berfönlicleit, mit dem er während ber Rheincampagne
zufammentrifit, Achtung und Zutrauen ab. Sehr dyaral»
texiftifh iſt feine Auffaſſung von der Erſcheinung bes
Drannee, die er im erften Band des Nähern entwidelt.
Die beiden heterogenen Naturen ſtimmen ganz gut mit«
einander, and) noch da, als der Artillerift dem Dichter
auf eine Bemerkung erwidert: er (Goethe) verftände nichts
vom Xrtilleriewefen und folle bei feinem Leiften bleiben,
worauf Goethe „nichts ermiderte und ganz roth warb“.
Dem Seribifar hat's der Brave mal ordentlich gegeben!
Und Goethe war nod; confervativ, nun denfe man ſich
den Altpreußen gegenüber einem „Salobiner”! Seine
Meinung Über die Anhänger der frauzöſiſchen Republik
ift diefe:
Die Anhänger des franzöfigen Republifanismus in Preu⸗
Ben waren größtentheils Subjecte, bie entweber fon im Zucht»
Haufe gefeffen hatten, oder doc ſchon Tängft dafür reif waren,
ober and) hirmverbrannte Poeten und ähnlihe nur im Neid,
der Phantafte fhwelgende, in Wirflicjfeit aber unzurehunnge
fähige Menſchen.
Ueberhaupt find dem bienfteifrigen Kapitän die genia-
len Militärs unſympathiſch, felbft wenn fie der Herrſcher⸗
familie angehören. Sowie unfer Tagebuchautor über den
Prinzen Louis Ferdinand urtheilt, ſpricht er gewiß bie
Meinung der Majorität des preußiſchen Dffiziercorps
von 1806 aus:
Er foll in feinem Palais zu Berlin nur fehr ſchlechte Ge⸗
ſellſchaft um ſich gehabt und mit jlidiſchen Schöngeiflern, Liter
raten und Muſilanten häufig bie geruen Nächte beim Cham-
pagnertrinfen verbracht haben, wobei emancipirte MWeibebilder,
jrößtentheil® Judenmüdchen, dann and) nicht fehlten. Wie ein
— des Königlichen Hauſes fi einen fo ſchlechten, unpaſſen-
den Umgang vähfen fonnte, ift mir flet8 unbegreiflich geblieben.
So weit bie Auszüge aus den „Zagebiihern“. Go ein«
feitig und befchränft auch vielfach die Urtheile des Schrei»
benden ausfallen, fo bat er andererfeits doch den Kopf
auf dem rechten Fleck. Er weiß die unfähigen Generale
von ben tüchtigen ſehr gut zu unterſcheiden, nimmt fein
Blatt vor den Mund, wo es fi um einen faulen led
im preußiſchen Staats- und Armeewefen handelt, und
hält es für Preußen höchſt nöthig, von Nupoleon und
feinen Heeresrefornıen zu lernen. Man denke, fo wie unfer
Tagebuchfchreiber dachte ein Offizier von 1790, und man
wird vieles begreiflicher finden. Kannten wir doch ſelbſt
einen wadern Schulkameraden — auch bürgerlicher Ab-
Tunft wie unfer Autor —, ber, wenn ihm biefe „alten
Tagebücher” zu Geficht kommen, ſich weidlih an ihnen
ergögen würbe, ba fie ganz feine Anſichten ausfprechen.
Das heißt, wenn er fie lift! Denn aud) er — jegt ſchon
lange Offizier — dachte wie unfer Artilerift, der „nie«
mals weder Zeit noch Luft Hatte, feine Freiftunden mit
der Leltüre poetifcher Werke zu verderben“. Aber unfer
Schullamerad war ein Original, der den Marfchallftab
im Kopf zu haben glaubte, und das kanun man von allen
unfern Offizieren doch nicht fagen. Alfo wird wol auch
jene altpreußifche Unfchanung, von der wir eben einige
Proben gaben, nur vereinzelt im Heer vertreten fein. Wie
viel übrigens Hr. von Wiebe zu den Tagebüchern hinzu«
gethan hat, fei Bier nur vermutet; jedenfalls hat er mit
großem Geſchick und bewundernswerther Ausdauer die
fiher im Original vielfad vorhandenen lapsus calami
ausgemerzt.
Beſchuftigen ſich Fival, Stein und der Autor der „Alten
Tagebücher” mit verfchiedenen Epochen der Bergangen-
' heit, fo hat der ungarifch-beutfche Romancier Kaszony in
feinem „1872. Ein Roman der Zukunft” (Nr. 4) ſich,
wie wir bereit oben angedeutet, eine Frage an das Schid⸗
ſal erlaubt, indem er die Zukunft der Völker prophetifch
auszumalen ſucht. In Mercier's „L’an 2440” iſt Aehn-
liches verfucht worden, und ber Verfaffer führt uns felbft
ein Luftfpiel: „Die drei Yahrhunderte”, an, das, wie er
fagt, viele Jahre hindurch volle Häufer gemacht haben
fol, Wir fennen diefes Luftfpiel nicht, wahrſcheinlich ift
es faticiiher Natur, Denn eine derartige zufunftsträu«
mende Dichtung follte doch nur dem ſatiriſchen Genre
angehören: der Roman, ber Zuftände der Wirklichkeit
nad) poetifchen Bedingungen behandeln fol, muß fi von
phantaftishen Schilderungen fo fern wie möglich Halten. Ein
Roman der Zukunft ift ein äſthetiſches Unding: entweder
wird daraus ein utopiftifches Werk, das mit ibenlen Per⸗
fonen idealogifche Luftgebäube aufführt, ober e8 werben
Individualitäten und Zuftände der Gegenwart auf eine
kommende Zeit übertragen, bie folche vomantifche Prophetie
nit ertragen. Wird nun gar mit den tomangebenden
Erſcheinungen der Zeit jo freventlich gewirthſchaftet, wie
in „1872” des Hrn. von Räszony, jo muß die Kritif
bier, wie bei jedem Attentat auf den guten Geſchmadc,
ihr Veto einlegen. Das Motto, das ſich der Autor
270 Neue Romane,
gewählt, berechtigt den „Roman ber Zukunft“ noch lange
nicht. „The task of an historical writer is: to record
the past, to describe the present, and to foreshadow
the future” — ein geflügeltes Wort Bolingbrofe’s, ift vom
Verfaſſer des „1872” gemisbraudt. Abgefehen bavon,
daß er das Prädicat eines historical writer nit ufur«
piren darf, gilt für ihn nur das record the past, went
ex hiſtoriſcher Romanfchreiber fein will; die Verhältniſſe
des present find bei Kaszony grob verzeichnet, und vom
future weiß er ungefähr fo viel wie wir. Über Rafael
weiß alles. Rafael? Wer ift Rafael? „Ein ähnlicher
Charakter (sic!) wie Koffuth und Bismard“, ein Ungar
und Rosmopolit, ein moderner Erzengel mit dem Schwert
von Ehaffepot und Dreyje und dem Delzweige vom gen-
fer Friedenscongreß. Rafael ift der Sohn eines Magparen
von der Farbe Kofiuth und Beſitzer von 30 Millionen
Pfund Sterling; aljo gehört ihm eine Summe, halb fo
groß als Englands Staatseinkünfte. Er ift aber aud)
noch mehr als Milliondr. Hören wir, wie feine Mutter
ihm den Spiegel vorhält:
Bei einem jungen Menichen von fo jeltenen Eigenfchaften,
wie du fie befigeft, der die Schönheit eines Adonis mit ber
Weisheit eines Plato, mit der Stärke eines Allid, mit der
Tapferkeit eines Achill und der Anmuth eines Eros verbindet,
ift es nichts, in einem Lande wie England ber Erſte zu jein,
du geek mit deiner Zukunft der Weltgefhichte an, du mußt
Böller ſchaffen () oder ausgeftorbene wieder ins Leben weden.
Diefe Lehre beherzigt denn auch Rafael: er freift die
Aermel auf unb beginnt gleich feine Arbeit. Mit Ungarn
muß angefangen werben, bort allein verfteht man die
Worte Freiheit und Patriotismus. Der neue Meſſias wird
von Hrn. Schön (Bismard) heimlich unterſtützt; bei die⸗
fer Gelegenheit lernt er feinen Vater, Kaspar Schwarz,
kennen, ber jedoch mit der Beglüdung Europas zu be-
ſchäftigt iſt, um fich über feinen Halbgott von Sohn zu
freuen. In Ungarn angelangt, wühlt Rafacl mit Geld
und Liebenswürdigfeit; vorher jedoch hat er bei einem
Beſuch in Turin den Erbdictator Koffuth mit feinem Plan
befannt gemadt. „Ich will mich gern Ihren Anordnun⸗
gen fügen”, ſagt Koſſuth, und küßt demüthig die Hand
des Meſſias. Nach einem Abenteuer à la Caſanova ver⸗
läßt der Gbttliche Turin, und nun geht's los. In Un⸗
garn lernt er die Gräfin Szennyei kennen und verliebt
ſich in ihre Tochter; aber die Liebe ſtört ihn nicht, denn
das Jahr 1872 bricht an und die ungariſche Revolution
ſoll noch zur Zeit fertig werden. "In Gödölls trifft er
Beuſt und die Faiferliche Familie; Beuſt küßt ihm beide
Hände, und das Faiferlidhe Paar ift auf Du mit Rafael,
die ſchöne Kaiferin lüßt fogar eine leife Neigung für dem
fhönen Erzengel durchſchimmern. Rafael’8 Neigung zu
Clorinde Szennyei wird erwibert: die Mutter, eine Feindin
bes Helden, thut fich mit zwei intriguanten Weibern zum
Iurienbunde wider Rafael zufammen; eins diefer Weiber
ift Rafael's Mutter. Clorinde wird von ihrem Bruder
im Bade belaufcht, der ein biutfchänderifches Attentat
gegen die Schwefter verübt; dann wird fie eingelerkert,
bis Rafael fie erlöf. Denn Ungarns Meſſias hat Wich-
tiges vor: die Ruſſen ziehen gegen das Donaureich heran
und fhlagen die magyarifche Armee. Rafael gilt für
gefallen, lebt aber und hält fich verborgen, um von hier
aus die Fäden der Regierung zu Halten.
Der Zuftand Europas um diefe Zeit ift kläglich: den
Diplomaten und Stantsmännern der Gegenwart zur Nadj=
richt, daß fie ein genaues Expofe der Lage Europas Anno
1872 auf ©. 50— 60 des zweiten Bandes vorfinden.
Heben wir nur eine Stelle, die unfer Vaterland betrifft,
daraus hervor:
Im Centrum Europas hatte fi) endlich ein mächtiger Staat
gebildet und das einheitliche Deuiſchland war endlich zu Stande
gelommen, die Könige von Baiern und Sachſen und der Groß.
— von Baden Hatten freiwillig zu Gunften des Königs von
reußen ihren Sonveränetätsrechten entiagt, der König von
Würtemberg aber wurde fpäter auch gezwungen, bafjelbe zu
thun, Preußen hatte demnad ale Königreich aufgehört zu be⸗
fieben, und es gab num wieder einen deutſchen Kaifer, welder
fih zu Frankfurt a. M. tönen und Friedrich VI. nennen
tieß. Deutſchland anerlannte dankbarlich das Verdienſt jenes
Mannes, der es dazu gemacht, was es geworden, unb der Graf
Bismard-Schönhaufen wurde duch Parlamentedecret in bem
Fürftenftand erhoben und ibm ber Ehrentitel „Gründer der
Einheit“ beigelegt.
Sp weit unfer Romanprophet. Nur noch ein paar
Data: Am 18. November 1872 Schlaht bei Komorn,
die Ruſſen werden gefchlagen und ziehen ſich aus Ungarn
zurüd, zum Aerger der Baterlandsverräther Deat, Verczel
und Horvath (der Autor ift ja Koffuthianer). Deu 19. De⸗
cember 1872 werben die Franzofen von der beutfchen
Armee bei Leipzig gefchlagen u. ſ. w. Man fieht, wir
haben bier die Zukunft der Völker in 52 Drudbogen
vor uns, und das ift bequemer als alle Blaubücher der
Zukunft. Es thut uns nur leid, daß wir unfern Leſe⸗
rinnen nicht die Adrefie des fchönen Völkerbeglückers Ra⸗
fael angeben können: ex ift nad) Kaszony 1846 geboren,
alfo jett in dem Alter, in dem jeder hoffnungsvolle Sünge
ling fid) wundert, noch nichts für die Unfterblichkeit ge=
than zu Haben.
Wenn Käszony’s Bud) nicht jo merkwürdig ernft wäre,
jo wäre man verfucht, es für eine etwas ungeheuerliche
Satire zu halten. Aber dem kühnen Phantafiefreibeuter
ift die Pritfche der Ironie und des Scherzes voll tieferer
Bedeutung fo fremd wie feinem Rafael die Armuth. Ihn
gelüftet nach dem ſüßen Lorber der Leihbibliothefenhelden,
nad) dem Kranze der Retcliffe und Genofien. Die Phan⸗
tafie ift ein fchönes Gut. Aber bald wird die misgeſtal⸗
tete Stieftochter der himmlischen Göttin, die Phantafterei,
mehr Anbeter zählen denn ihre Mutter, und die dent⸗
fhen Dichter werben, im Hinblid auf die Zukunftsroman⸗
cierö, ſich fchämen müflen, von dem Gut der Göttin
Phantafie zu zehren. Scan; Hirſch.
Feuilleton.
271
Fenilleton,
Notizen.
Die Beilage bes „PBreußifchen Staatsanzeiger”, Nr. 12, ente
hält ein Verzeichniß (preußifcher) „vaterländifher Dras
men“, geordnet nad) den Zeiten, aus welden die Stoffe gewählt
find, mit Angabe des Datums der erſten Aufführung der Stüde,
welche vor 1786 von den in Berlin ſich aufpaltenden Schaufpielere
truppen, und ſeitdem von dem Perſonal des Rationaltheaters und
den Mitgliedern des königlichen Theaters dargeftellt wurden.
Das Berzeihuiß ift mit großem Fleiß zufammengeftellt, enthält
aud mehrere Stüde, die im vorigen Sahrhundert zur Auf-
führung gelommen find, namentlid mehrere Feſtſpiele und
Ballets zur eier Friedrich's des Großen. Bon den verjchier
denen preußiſchen Geſchichtsepochen ift die Zeit vor dem Kur«
fürfen Friedrich) Wilhelm, die Zeit des Königs Friedrich IL.
und diejenige der Befreiungskriege und ihrer Vorgänger, eines
Nettelbed, Schild, York, am meiften behandelt worden. Es
ergibt fi aus_diefem Verzeichniß, daß die Zahl patriotifcher
Stüde, deren Stoffe dem Volisbewußtſein nahe liegen, keines»
wegs eine geringe ift. Jutereſſant ift aber jedenfalls die Ber
tradtung, daß don allen diefen Stüden nur eine ausnehmend
jeringe Zahl auf der berliner Hofbühne zur Aufführung ger
ommen if. Haupthinderniß ift die nod immer beobachtete
Borfcrift, die Mhnherren dee königlichen Hanfes nicht auf die
Breter des Hoftheaters zu bringen. Ausnahmen hiervon find
nur felten gemacht worben, wie mit Haus goeſter's Schaufpiel:
„Der große Kurfürf‘'; aber aud die „Schill“ und „Hord,
die fid auf andern Bühnen bewährt Hatten, wurden durch come
ventionelle Rüdfihten von dem Hoftheater ausgeichloffen.
Bon dem Werke: „Der mündliche Bortrag. Ein Lehrbud)
für Schulen und zum Selbftunterricht‘, von Roderih Benedir
iR eine zweite, vermehrte Auflage erfchienen (3 Bde.. Leipzig,
Weber, 1870), ein Beweis, daß die Kunft des Vortrags zu
erlernen immer mehr als ein Bedürfniß der Zeit anerfannt
wird, wie dies bei ber machfenden Deffentlichleit in allen un«
fern Berhäftniffen begreiflic) it. Nicht blos Bühne und Kanzel,
aud der Gerichts und Parlamentsjaal, die verfchiedenen Ber-
eine und Berfammlungen verlangen jet bie Kunft des Vortrags.
Das verdienfvolle Werk vom Venedig legt im erfien Theil:
„Die reine und deutliche Ausfpradhe des Hoddeutfchen", bie
federn Grundlagen, auf denen der zweite Theil: „Die richtige
omg und Rhythmif der deutihen Sprache“, welder die
Richtigkelt des Vortrags, umd ber dritte, welcher „Die Schönheit
des Vortrags behandelt, weiter bauen. Die Beiſpieie aus
anfern — Dichtern find treffend gewählt, bie Unterſchiede
im Vortrag des Epiſchen, Lyriſchen und Dramatiſchen mit
Feinheit hervorgehoben, Das Werk iſt beſtens allen denen zu
empfehlen, deren Beruf den mündlichen Vortrag bedingt, oder
die ſich für eimen folhen Beruf vorbereiten; aber aud den»
jenigen, welde den mündlichen Bortrag, namentlich, auf der
Blipne, zu recenfisen haben, da aud die Kritif, wenn fie nicht
tn® Blaue Hineintappen will, ſicherer Grundlagen nicht ent
behren darf.
Der 16. Band von Taudnit” „Collection of German
Authors“ bringt eine Ueberfegung der Erzählung von Karl
Seutzkko w „Durdh Naht zum Licht” unter dem Titel: „Through
night to light‘ von Mrs. Faber. Diefe Ueberfegung if ein
neuer Beweis dafür, wie rajch der Herausgeber werthvolle Er-
zeugniſſe der neuern bdeutihen Literatur dem englifchen Leſe-
publifum zu vermitteln weiß.
Das Trauerfpiel: „Die Gräfin“, von Heinrid Krufe,
in in dritter Wuflage (Leipzig, Hirzel, 1870) erſchienen, welche
aud den Namen des Berfaflers an der Stirn trägt, Der
Diäter, der bekanntlich für fein GStüd von dem berliner
Sojiler-Breiscomite die Medaille erhielt, Hat die Einwendungen
der Kritif beachtet und namentlich eine ſchwache Stelle des Stüds,
die eigenmwillige Entfheidung der Mütter Über die Hand der
Zöhter gegen deren Willen, durd) eingefügte Motive zu ver-
ſtürten gefucht. Auch die Kataftrophe ift verflärkt, indem wir
über das Schidfal der Almuth nicht in Unwiſſenheit bleiben. Die
ternhafte Sprache und charalteriſtiſche Kraft wird dem Stücke flets
nene freunde erwerben.
Durch elegante typographiſche Ausſtattung und treffliche
Holzſchnitte empfiehlt fi uns ein Prachtwerk: „Altdeutfche
Sprüde aus der Wartburg; componirt und gezeichnet von
Vh. Grot - Johann in Düffeldorff. Einleitung von Profeſſor
A. Springer in Bonn. Sriginalgedichte von Emil Riiters
Haus und Hugo Freiherrn von Ziemberg, Herausgegeben und
in Oolzſchnitt anageführt von O. Gehrke" (Eiberfeld, Lucas).
Die doppelte Iluftration der Sprüche durch Bers und Bild ift als
eine gelungene zu betrachten. Die Gedichte von Rittershans find
friſch und ſchwunghaft, diejenigen von Hugo von Blomberg
finnig, wie man e8 von beiden Dichtern erwarten konnte,
Ein anderes Werk von höchſt eleganter Ausflattung ift die
Monographie „Das Handlungshaus Bizdinand, liu ſch.
Gedenkbuh zu defien funfzigiähriger Jubelfeier am W. April
1860. Herausgegeben von Fr. Wilfelm Süß" (Frankfurt
a. M., 1869), So wenig die Geſchichte techniſcher Etabliſſe -
ments in den Bereich d. BI. gehört, fo dilrfen wir doch einen
für die literariſche Production fo wichtigen Geſchüftezweig und
eine fo Hervorragende Vertretung deſſelben nit unerwähnt
laſſen, denn, wie der Herausgeber fagt, „es erſcheinen diefe
Blätter nur als ein Spiegelbild des Wohlwollens, mit welchem
die deutſche und felbft die ausländiſche Prefle feit Jahren die
Berbieufte des Haufes Flinſch um bie vaterländifhe Papiere
induftrie wie auch um gewerbiiche Anlagen begrüßte.”
Bibliographie.
in Halle. Ben em Oihkanden, Bett, & Dakdn 1 Bir
‚Qubwig dan Beethoven. Cin dramatiihes Cparakterbil Aufe
güsen mit einem Gpilog zur Beier won Becipouen's Hund igem Ge»
uttötage am 16. December 1870. Bon einem Bonner. Leipzig, Seiner.
Gr. 8.035 pr. ®
Deramann, W., cher und vermifgte Gelfte. Berlin, G. Die
me, 4
Wöitger, U, Pro gen ber Branen. Misum-Eprige and ben
aitaen Selen. Yeltie, Kormanne 6 1 20 J von
Bittner, 8, Eben Odlelermagen. Ihre D. Berlin, &, Rele
mer, Gr, N
Seas, Bier 6 dem Gebiete der Bortenirthfgaft
und Welebgenunn” Boriefineen® Belpiig D, Mlaakhr 8 1a Han
— Du Das Seltalter Ser Rovelle In Bellat,
Berlin, ©. Reimer, 8. 8 Br
enefti, Sulfe (M, v. Humbradt), Todtes Capital. Roman. 4 Bbe,
Yena, Goftenoble. 8. 4 Zple.
ebauleu über modernen Gonfervatismns und Aufruf an bie Eonfers
vater, Basti, Rontampl, hr,
5 Genfigen, D. 8. 1. Zrauerfpiel. Berlin, Heimann. 8.
8
© egoronius, #., Wanderjahre in Italien, Ufter Bo. .
—— Sen une Scenes Safer Sie Huf. Ciba ondheen.
Elfe. 2 myr
. €, Drei Monate in Canada nebft Hin- und Hereeife
aber Samsung um jort, vom 20. Quli DIS zum 18. Deceıber 1868,
agebach. Eiraljund, Hingf’ Nadf. Gr. 8. 15
Müller, I., Der 2 t8+, Rultur» und
arsanı, Seine veliüite, „He
ifte Lief. Zücib, Shultbeh. Br. 8.
Müller, N. M., Ueber Erziehung und Bildun;
Söriften aroßer Bädapogen und Weltmeifen Bearbeitet,
8. 27 Nr.
15 Nat.
Na feltenen
Hannover, Hahn.
*
Desterreiche jüngste Kreis,
Gr, 8. 71, Ngr.
EM, Der Spiritismus. Vortrag. Leipzig, Rofe
Eine Märzbetrachtung von Ernst ***,
auer, Sartened,
ıpfe_ feiner EN
de —— — —8
National-Arhives in Hermannfladt,
6
dt, Spmiebide. 1869.
Gr. ©. 2 pie. 20 gr. —————
272 Anzeigen,
Unze
igen.
— —
Verlag von F. A. Breckhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Proben der Holzschnitt-Illustrationen
F. A. Brockhaus in Leipzig.
In 15 — 20 Lieferungen zu je 5 Ngr.
——
Erste Lieferung.
Die hier gebotene Sammlung von Holzschnitten enthält
Darstellungen aus fast allen Gebieten der Wissenschaften,
Künste und Gewerbe (aus der Zoologie, Botanik und Mine-
ralogie, der Physik, Chemie, Mathematik und Astronomie,
dem Kriegs- und Marinewesen, der Geschichte, Cultur-
geschichte, Geographie, der Architektur, Mechanik und
Technik), ferner landschaftliche, Städte- und Gebäude-
ansichten, Porträts, Genrebilder, Scenen aus dem Volks-
und Kinderleben etc. Die Sammlung ist zunächst bestimmt,
Unternehmern illustrirter Werke oder Zeitschriften Ab-
drücke der Illustrationen, von denen die Verlagshandlung
Cliches abgibt, in reicher Auswahl vorzuführen; da aber
die Abbildungen nach zusammengehörigen Gruppen sorg-
faltig geordnet und sammtlich mit erklärenden Unterschrif-
ten versehen sind, dient das Werk zugleich als belehrendes
und unterhaltendes Bilderbuch und kann als billigster Or-
bis pictus empfohlen werden.
In allen Buchhandlungen liegt die erste Lieferung
zur Ansicht aus.
Preismässigung.
Von F. A. Brockhaus in Leipzig durch alle Buchhandlungen
| zu beziehen:
Denkmäler
der Kunst des Mittelalters in Unteritalien
von
Heinrich Wilhelm Schulz.
Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von
Ferdinand von Quast.
Dresden 1860. 4 Bande Text in Quart mit Atlas in Folio. Cart.
EE Ermässigter Preis 60 Thir. (Früherer Preis 120 Thir.)
Die Anerkennung, die diesem werthvollen Werke seit
seinem Erscheinen seitens der hervorragendsten Kunstschrift-
steller in reichstem Masse zutheil geworden ist, verbürgt
dessen bleibenden Werth als der Hauptquelle für die mit-
telalterliche Kunstgeschichte Unteritaliens; es genüge in
dieser Beziehung auf die Werke von Schnasse, Lübke,
E. Förster, von Quast und Strehlke hinzuweisen.
Durch die jetzt eingetretene Ermässigung auf die Halfte
des frühern Preises wird die Anschaffung dieses Pracht-
werks wesentlich erleichtert. Ein Prospect mit ausführ-
licher Inhaltsangabe ist gratis durch alle Buchhandlungen
zu erhalten.
Im Verlage von George Weflermann in Braun-
ſchweig ift foeben erſchienen und in allen Buchhandlungen
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Leitfaden
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erften Schuluntericht
Geſchichte und Geographie.
Prof. Dr. Ernft Kapp.
Siebente durchause verbefferte Auflage.
Gr. 8. Geh. Preis 10 Sgr.
Dies in einer Keihe von 6 Auflagen verbreitete Buch des
bekannten Berfafjere der „‚Bergleichenden Erdkunde‘ Hat eine
Zeit lang gefehlt und erſcheint nun in 7. Auflage, nachdem der
aus Amerika zurlidgelehrte Verfaſſer es einer totalen Umarbei⸗
tung unterworfen bat, als ein völlig neues Buch, das der
Schule angelegentlichft zur Beachtung empfohlen fei.
Derfag von 5. X. Brockhaus in Leipzig.
Alfred de Musset.
Eine Studie von
Karl Eugen von Ujfalvy
Professor am kaiserl. Lyceum zu Versailles.
8. Geh, 1 Thir.
Mit dieser Schrift beabsichtigt der Verfasser, den grossen
französischen Lyriker Alfred de Musset dem Verständniss des
Publikums näher zu bringen, indem er die einzelnen Dichtungen
im Zussmmenhange mit dem Leben des Dichters vorführt und
sie mit sprachlichen und asthetischen Erläuterungen begleitet.
Zu Feſtgeſchenken
empfohlen von Heyder & Zimmer in Frankfurt a. M.
Karl Sudhoff,
Sn der Stille,
Poetiſcher Theil,
Vierte Auflage. 16. XL und 908 ©. broſch. 1%, Thlr.,
in Leinwand gebunden 2 Thlr.
Inhalt: Stille zu Bott. Heilige Zeiten. Des Glaubens
Kampf und Gieg. Leben in Chriſto. Die Ietsten Dinge.
1. Heimwehlieder. 2. Heimfahrt. 8. Troſtlieder. 4. Die
Bollendung. — Erläuterungen und Nachrichten Über die Dichter.
Ein Begleiter auf der Wanderung durch dieſes Leben.
Proſaiſcher Theil.
16. XX und 812 Seiten. Broſch. 1, Thlr., in Leinwand
b. 2 Thlr.
eb.
Inhalt: gebensftagen. Gott und feine Wege Der
Menih und feine Geſchichte. Chriſtus und fein Werl. Die
Straße des Heils. Lebensweisheil. Das Haus. Die Kirche.
Die Vollendung.
Eine Gedankencollecte religiöfer wie fittliher Wahrheiten
in Ausfprüchen bedeutender Dichter und Denker zum Berfländ-
niß der Dinge auf Erden und im Himmel,
Berantwortlicder Rebdactenr: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Verlag von $. A. Brochhaus in Leipzig.
Blätter
literariiche Uuterbaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottfchall.
Erfcheint wöchentlich.
—4 Ar, 18 9
28. April 1870.
Inpalt: Neuere bramatifche Dichtungen. Bon deodor Webl. — Revue fiber neue mufllalifhe Schriften. — Vom Büchertiſch. —
Senilleton. (Notizen; Grein's Heliand »Ueberfegung.) — Sibllographiee — Anzeigen.
Yenere dramatifche Dichtungen.
1. Wlafle. Dramatifhes Gedicht in einem Borfpiel und fünf
Acten von Leo Meißner. Xroppau, Buchholz und Die-
bel. 1868. 8. 20 Nor.
Eine Yugenbarbeit, in der fi echte Begeifterung
und der lebhafte Drang, etwas Tüchtiges zu leiften, vor⸗
derhand noch mit Unflarheit des Ausbruds und Man⸗
gel an burchgreifender Geſtaltungskraft paaren. Der
junge Berfaffer, von Liebe und patriotifher Hingebung
für fein deutfches Vaterland erfüllt, Hat in die graue
Borzeit, in die erfte Hälfte des 8. Jahrhunderts, zurück⸗
gegriffen und hier eine Epifobe aus der böhmiſchen Ge⸗
fchichte erfaßt, in der Böhmen, Czechen und Deutſche
um die Herrfchaft diefes Landes fümpfen. Als die Haupt:
geftalten in diefem Kampfe führt uns das Stüd Primis-
Ians, den Überlebenden Gatten der großen Libuſſa, Wlafte,
Die Führerin der von Libuffa gegründeten Jungfrauen⸗
Leibwache, und einige Lehen, Adeliche der Czechen vor.
Primislaus ift eine ruhige, eble, männliche Natur, die
fih in Liebe zu Wlafla neigt, eine Neigung, welche diefe
erwidert. Leider aber fchieben fich die Czechen mit ihren
Intriguen zwiſchen die Herzen diefer beiden ein, weil fie
Ang genug find einzufehen, dag, um felbft zur Gewalt
und Herrfchaft zu gelangen, es nöthig erfcheine, zwei
Elemente in Zwiefpalt zu bringen, die vereint ihnen ver⸗
derblich wirken müßten.
Auf einem Landtage am Wyfchehrad befhuldigt man
Wlaſta, einen czechifchen Fürſten ermordet zu haben, und
Wlaſta, welche inzwijchen die Marlomannen, Thüringer
and Sachſen, kurz die deutfhen Stämme in Böhmen
ind geheim zu ihrer Königin erwäßlt hatten, die ſich aber
von PBrimislaus nicht fo energifch gefchütt und vertheidigt
fieht, als fie e8 erwartet — denn fie hat noch lurz vorher
fein Kind vom Tode aus dem Waſſer gerettet —, Wlafta
flürmt entrüftet mit ihrem Anhang davon und erklärt
Primislans und den Ezechen den Krieg.
Bon den letztern hat ſich einer, Mil, der die Cabalen
1870. 18.
feiner Landsleute kennt und biefe verabfchent, Wlafta an-
gefchlofien, die er ſeurig liebt, eine Liebe, die indeß nicht
erwidert wird, da, wie bereit8 gejagt, unfere Heldin in
ihrem Herzen eine tiefe Empfindung für den Herzog begt.
Aber eben deswegen flammt nun ihre Feindſchaft um fo
wilder gegen biefen auf. Glaubt fie doc, ihr Gefühl fei ver-
ſchmäht. Zwar zögert fie am Anfange des zweiten Actes
noch mit dem Beginn des Kriegs; aber man ftachelt und
reizt fie fo lange, bis fie endlich das Zeichen gibt und
den Kampf eröffnet. . |
Im erfien Anſturm ift fie flegreih; bie Gegner unter-
fiegen. Ezechen und Böhmen wiüthen, indem fie den
Herzog anfpornen, bie Aufrührerin zu verurtheilen und
zu vernichten. Primislaus aber, auch jegt noch dem
großen umd kühnen Weibe Hold, Täßt ihr ein Pergament
in die Hände fpielen, das ihr Gnade und BVerzeihung
verfpricht, wenn fie fich entjchließen ünne, ihrem Wüthen
Einhalt zu thun. Ä
In diefem Zeichen feiner Liebe ficht fie aber nur Hohn
und Erniedrigung, und dabdurch außer ſich gebracht und
nur noch mehr empört, führt fie die Uhren zu Kampf
und Rache weiter gegen Primislaus an.
Im dritten Aufzuge befindet. fih Wlafta auf dem
Gipfelpuntt ihres Glücks. Als Siegerin zieht fie auf
Dirwin, der Mägdeburg, ein. Dean huldigt ihr und -
fie vertheilt Ehren aller Art. Gefängene Czechen läßt
fie vor ein Kriegsgericht ftellen und tödten. Das alles
thut fie wie im Rauſch des glüdlichen Erfolgs ihrer
Waffen. Aber im ftillen fängt fie doh an ihr Unrecht
einzufehen. Die Zudringlichkeit Mil's Täßt fie nur immer
mehr erkennen, daß ihr Herz einem andern entgegenfchlägt,
und diefer andere ift es, der num mit feiner ganzen Macht
beranzieht und den es aufs Haupt zu fchlagen, ja zu
verderben gilt.
Diefer Gedanke entſetzt und lähmt fie. Die Kriegerin
tritt zur und das Weib in ihrem Weſen vor. Gie
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zagt und bangt und dies un fo mehr, al8 fie Hört, daß
der verfchmähte Mil mit feinen Getreuen fie verläßt.
In der vierten Abtheilung des Stüds ftehen Herzog
Primislaus und Wlaſta fich gegenüber. Wlaſta kommt
als ihr eigener Bote zu dem Gegner und fpridt:
Ich bin des Krieges müd'
Und mild’ der Macht, die ich durch ihm errungen.
Ich z0g das Schwert nicht, mid an die zu rächen
Für deinen Undank, den Berrath an mir;
Ich zog es für mein Boll. Ich hab’ geflegt:
Did ſchlug ich nieder, ſchlug die Lechen nieder
Und, lüftet’s mich, bin Heut’ ich Herzogin
Und kann bebrliden num dein eigen Bolf.
Doch, wie gefagt, nicht danach firebte ich
Und werth nicht acht’ ich's weitrer Kriegesnoth:
Willſt du verſprechen, eidlich, feierlich,
Den Marlomannen gleihe Macht und Recht
Und Hoheit mit dem Czechen; willft du ung,
Was ihr geraubt, fo weit uns wiedergeben,
Daß glei das Anfehn, der Befi des Bodens,
Stimmzahl im Landtag und das Recht zum Throne,
Und daß der Herzog -Goldreif wechſelnd ſchmückt
So deutſche Stirnen wie der Slawen Haupt —
Willſt du das alles, daflic Geiſeln flellen,
So wird noch Heut’ der Friede diefem Land
Und heut’ nod) legt ihr Schwert die Wlaſta nieber.
Doc ſtößt du fort mich, zwingt dur noch einmal
Das Eifen mir, den Kriegsbrand in die Hand —
Dann ſieh did vor! Dann foll ein Kampf es werben,
So wild uud blutig wie noch feiner war!
Bis eins ber Völker ward ein Boll von Todten!
Primislaus antwortet mit ruhiger Würde und zeigt
Wlaſta wie die Dinge ftehen, nämlich äußerft verzweifelt
‚für fi. Dein Heer ift in Trümmern, du felbft, fagt er,
bift die nicht mehr, die du warſt. Du haft Blut ver-
goffen, ungerecht vergofien, und fängft an in Reue zu
erzittern. Ä
Ich zittere nicht, entgegnet Wlafta. Zieh dein Schwert
und erprobe es. Über der Herzog weigert's, und als
feine Gegnerin mit dem ihrigen auf ihn einſtürmt, bietet
er ihr ftolz und kühn die unbeſchützte Bruſt.
Das bezwingt fie und fie ſchwankt. Diefen Augen⸗
blick benugend, hält Primislaus ihr nachdrücklich ihr Un⸗
recht vor. Er zeigt ihr, wie übereilt fie gehandelt, wie viel
er fiir fie gethan, wie gut er es mit ihr gemeint. Noch)
jest jchlägt er ihr vor, das Land zu verlafien und erft
wieberzulehren, wenn Srieden*geworben. Er verheißt ihr:
Die Marbodsburg foll fi dir neu erhöhn,
Und nad den Stürmen diefer wilden Zeit
Wird uns vielleicht ein mildverflärter Abend.
Eben ift, von des Herzogs Edelmuth gerührt, Wlaſta
im Begriff nachzugeben und fich zu fügen, als von draußen
ber ber Kriegsgefang ihres Volks ertönt und fie, fich auf-
raffend und Primislaus zum Abfchied die Hand reichen,
biefem zuruft:
Dein Rath ift mild, doch fieh, er birgt die Reue —
Did ruft die Pflicht, mid) ruft die deutfche Treue!
Hierauf entbrennt die Schlaht und füllt zum Nadh-
teil der Deutjhen aus; ſelbſt Wlaſta's Heldenmuth
vermag den Unftern de8 Tags nicht zu wenden. Wir
fehen fie im fünften Acte in einem legten Gefecht
verzweiflungsvol den Tod in den Reihen bes Fein⸗
des ſuchen.
Deutſche und Czechen haben fich gegenfeitig anfgerie-
Neuere bramatifhe Dichtungen.
ben, die Böhmen aber behaupten mit ihrem Herzog an
der Epite triumphirend bas Feld.
So endet diefes dramatiſche Gedicht, deffen Wirkung der
etwas dunkle und Lärmende Stoff, der obenein nicht viel Sym⸗
pathifches für das deutfche Publikum haben dürfte, viel-
fach beeinträchtigt. Auch die Sprache ift noch ungelenf
und zu zeiten unklar und verfchwommen. Die Gliede⸗
rung und Entwidelung des Ganzen beweift dagegen Stu-
dium und natürliches Gefhid, nur daß beibes in dem
lärmenden Gange und den wirrigen Berhältnifien ber
Handlung noch nicht recht zu artiftifcher Geltung und
Abklärung Hat gelangen können.
Bon demfelben Autor liegt und noch ein anderes, [pä-
tere8 Drama dor:
2. Schwerting, der Sachſenherzog. Drama in fünf Acten von
Leo Meißner. Troppau, Buchholz und Diebel. 1869.
©r. 8. 20 Nor.
Auch diefes Stüd fpielt in der grauen Vorzeit,
aber in feiner Ausführung ift es bereits viel Leichter,
durchfichtiger und beftimmter, aud) bewahrt es in allem
Sturm der Ereigniffe mehr künftlerifche Ruhe als, Wlafta”.
Jedenfalls find in diefem Stüd, gegen das frühere ge-
halten, große Fortſchritte zu erkennen. Macht fich in eini-
gen Momenten und Figuren allerdings noch immer eine
gewiſſe romantiſche Nebelhaftigkeit bemerkbar, tritt das
Verhältniß von Schwerting zu feinem Bater Orbulf, von
Waldulda zu Schwerting, und endlih von Aftrild zu
Schwerting und Frotho noch keineswegs recht klar und
dramatiſch wirkſam vor uns Hin, fo iſt doch im allgemei⸗
nen der Gang ber Entwidelung ſchon viel einfacher und
ftrieter und nicht nur organifcher gegliedert, ſondern auch
mit mehr Kunſt in der Peripetie und Sataftcophe bes
handelt.
Die Eröffnung des Stüds ift frappant und vollzieht
fih mit einer Epigraͤmmatik der Erpofition, die an Shak⸗
ſpeare's „Hamlet“ erinnert. Schwerting fteht nachts am
braufenden Meeresufer, um heimlich und Hinter dem
Rüden feines Baters mit den Dänen zu unterhan-
deln, mit deren Hilfe er dem Chriftentgum Schach
zu bieten verſuchen will, zu weldem fich fein Bater
und ein Theil der Sachſen hinneigten. Schwerting liebt
Waldulda, die Ordulf mit Bolko, ihrem Bater, auf das
Meer verbannt hat, weil fie fid) von den beibnifchen
Dpfergebräuchen nicht trennen wollen. Auch in diefer
Naht Hat Walhulda auf der Opferinfel in der Nähe
des Strandes, an dem fich Schwerting befindet, geopfert;
als fie von dem Eiland fich fortbegibt, wird ihr Boot vom
Sturm erfaßt und droht umzufchlagen. Schwerting rudert
ihr zu Hülfe und trägt fie an das Ufer, gerade in dem
Augenblide, in dem fein Vater kommt, feine Unterhand-
lung mit den Dänen, von der ex Kunde erhalten, zu
vereiteln.
Herzog Ordulf will Walhulda in den Kerker, ihren
Vater in den Tod ſchicken, um feinen Sohn frei von ihren
Negen zu machen; aber der Sohn, dadurch außer fid
gebracht, empört ſich nun offen gegen den Vater, nimmt
ihn gefangen, verweilt den Chriftenpriefter des Landes und
fliegt mit den Dänen einen Bund, die ihm den Könige
a verheißen. Dies alles ift der Inhalt des erften
ctes.
EEE
Neuere bramatifche Dichtungen. 275
Im zweiten zerfafert fi) die Handlung und verliert
an Fluß. Schwerting darf feinen Vafallen, die zu ihm
halten follen, nicht eingeftehen, daß er feinen Vater durch
einen Staatöftreich entthront; er gibt ihn infolge deſſen
fir wahnfinnig aus, ein DVorgeben, dem indeß durch
Bolko feierlich auf dem Thing widerfprochen wird, weil
diefer alte Starrfopf und Heide zwar ein Feind Drdulf’s,
aber doch ein Dann des ftrengen Rechts und der Wahr-
heit ift.
Schwerting, um Bolfo verftummen zu machen und ſich
Glauben zu verfchaffen, fieht fich gezwungen denfelben töd-
ten zu laſſen, Bolfo, den Bater feiner Geliebten. Im dies
ſem Act und in der Graufamfeit gegen feinen Vater, der
feiner Gefangenschaft erliegt, ift des Helden tragifche Schuld
zu fuchen, deren Beftrafung ihn nur zır bald ereilen foll.
Frotho, der Dänenkönig, macht zwar Schwerting zum
König der Sachſen, aber zugleich zum Bafallen Däne-
marks. Er muß Frotho als Oberherrn anerkennen, eine
Anerkennung, die dem Unabhängigfeitsfinn des Sachſen⸗
führers furchtbar fchwer wird und ihn um fo mehr zu
Boden drüdt, ale doch am Ende auch fein Auflehnen
gegen den Bater nichts anderes als ein unbändiger
Zrieb zu unbefchränkter Willensfreiheit war. Nun fol
er diefe, die er gegen ben Bater nicht einbüßen wollte,
gegen den Bundesgenoſſen einbüßen — ein Umftand, der
ihn zu äußerſter Bitterfeit und Berzweiflung treibt.
In diefer Berfaffung feines Innern ruft er Wibulind,
einen andern Sachjenführer, herbei und Täßt ſich felbft mit
Frotho und deffen Begleitung in feinem eigenen Schlofie
einfperren und verbrennen, um fein Volt unter anderer
Herrfchaft volllommen frei und unabhängig zn erhalten.
Diefer Tod, fowie der Auftritt, in welchem Schwer-
ting nothgebrungen bem Dünen feine Huldigung leiftet,
find nicht ohne alle Größe und dramatische Bedeutung;
und da ber vorhin fchon erwähnte Eingang bes Stücks,
fowie manche andere Scenen jedenfall eine poetifche Be⸗
gabung von nicht ganz gewöhnlicher Art befunden, fo
mödjte Hoffnung da fein, Leo Meißner eines Tags mit
einer Arbeit von gewinnendem Werthe und bucchichlagen-
dem Erfolg auf den Bretern zu begegnen.
Die eben beſprochenen Schaufpiele find Verſuche und
Kroftproben, die bei rüftigem Weiterftreben und andauern-
dem Studium einen glüdlichen Wurf entjchieden in Aus-
fit ftellen.
8. Vermiſchte Schriften von ©. Conrad. Zweiter Theil.
Bremen. 1868.
Diefe Sammlung enthält vier dramatifche Arbeiten:
„Der Uleranderzug“, „Kleopatra”, „Lurley“ und „Ale
randros“, die ſich allerdings nicht als fogenannte praftifche
Bühnenftiide anfehen lafjen, ſondern mehr für fcenifche Car⸗
tons erflärt werben müflen, die zwar einen entfchieben künft-
leriſchen Geift in Conception und Gruppirung, dagegen
wenig durchſchlagende theatralifche Seftaltungsfraft zeigen.
„Lurley“ wird im ganzen noch am meiften al8 abgerun-
detes Schaufpiel zu gelten haben, ba es in feiner Hand |
fung fih in einer gewiffen organischen Stetigkeit ent-
widelt und fchlieglich auch zu einen einigermaßen befric-
digenden, wenngleich keineswegs Maren Austrag kommt.
Aber felbft in diefem ift doch Fein wahrhaft volles und
padendes Leben, Der Autor. welcher, wie jet in den
Iiterarifchen Kreifen allgemein belannt, ein preußifcher
Prinz ift, befindet fi allem Anfchein nach mit feinem
Zalent und feiner ganzen poetifchen Richtung noch halb⸗
wegs unter dem Himmelsftricd) der romantischen Schule,
jener romantischen Schule, welde mit einem Fuße in der
Sage des deutfchen Mittelalters und mit dem andern in
der claſſiſchen Mythe des Alterthums fteht. Er Tiebt das
Großartige, Heroifche, aber er liebt es umhaucht vom
Wunder, umftrahlt von der Fabel zu fehen. Sogar ber
Grieche und Römer müffen fi bis zu einem gewifien
Grade eine romantische Coftümirung, etwas von der Gar-
derobe der Tieck'ſchen Helden gefallen laſſen. Die Ges
ftalten der „Lurley” erfcheinen jelbftverftändlich nun ganz
in ſolchem Gewande, wenn dafjelbe auch freilich nicht
mebr die Fülle und den Pomp erkennen läßt, in dem bie
Geftalten von Meifter Ludwig an uns vorübergewan-
delt. ©. Conrad's Figuren find etwas bürftiger an⸗
gepugt und nehmen ſich ihrem ganzen Weſen nach weni«
ger üppig und lyriſch mwollüftig aus, als die Erfcheinun-
gen des „Fortunatus“, der „Genoveva“ und bes „Kaifers
Octavianus“; aber fie haben bafjelbe myſtiſche Behaben,
den nämlichen mittelalterlichen Typus. Was Tiechs Dich⸗
tungen innerlid) durchdringt, der fromme chriſtliche Puls-
flag, der gern mit dem Heidenthum ringt und fid) an
allerhand Heilige Dffenbarungen und Mirakel mit eimer
Art von bacchantiſchem Bergnügen Hingibt, verräth ſich
auch bier in biefer Lurley, welche ber chriftlich erleuchtete,
von Sanct«Gereon gefegnete Hermann von Sonneck in
den Wellen des Rhein für immer verfchwinden macht.
Es iſt der Fatholifche Kirchenglaube, der hier das ſchöne
heibnijche Wabelmefen ganz ohne Gewalt und Grauſam⸗
keit, nur allein mit feiner erleuchteten Meberzeugung, auch
im Vernichten noch fanft und duldfam, aus ber herr-
lichen Sotteswelt und dem irdifchen Dafein hinaustreibt.
Selbft Hermann liebt die Lurley und ift von ihrem Zau-
ber beftridt, aber er ſteht in feines Gottes Hand unb
Hofft auf feine Güte, und darum bleibt er mit ftiller
Wehmuth und Rührung Sieger, indeß jene, von ihm er⸗
Löft, in den Wellen verjchwindet, nachdem fie gefagt:
Jetzt wird es hell; es dämmert ſchon der Morgen
Herauf des fchönften Tags; doc graue Nebel
Berfchleiern no die Sonne, nur allmählich
Kann deines Worts erhabnen Sinn ich faffen.
O neige dich zu mir: nur kurze Zeit
Haft du mid no; es zieht mich dort hinab
Unwiberftehlihe Gewalt; der Rhein
Berlangt fein Kind, mid drüdt die Erbenfchwere;
Den Sonnengfuten müßt’ ich bald erliegen.
O laß mid fterben, Freund, o laß mich ruhn
In der Iryfallnen Flut! Ic lebte nur,
Um dich zu finden; du haſt mich befreit:
Du weiſeſt mi zu jenen Höhen hin,
Do ew’ger Friedeu blüht. Auf diefer Welt
Trennt alles uns; „es bleibt die Lurleynize,
Die Fee des Rheine, dem heil’gen Strom geweiht":
Erfüllt iR meine Sehnſucht und mein Ahnen,
Es gab die Liebe mir, die ich erjehnte:
Sie gab mir Tod und Freiheit; ohne did)
Kann ich nicht weiter leben, will e8 nicht.
Es ſchwindet meine Kraft, das Ende naht,
Zu andern Welten werd’ ich fortgezogen,
Und eine andre Sonne firablet mir.
Sch flerbe durch die Liebe, wie die Opfer,
Die meines Lieds verführeriicher Klang
35 *
276 | Neuere pramatifhe Dichtungen.
Hinabzog in bes Nheines Flint. Auch ich
Berfinke in den Wellen, und für immer!
Durch dich warb id bejlegt ward ich vernichtet:
Du brachſt den Zanberbann.
‚Nun fährt der Schiffer an dem heil'gen Felſen
Sorglos vorüber; eine nene Zeit
Beginnt; die alten märcdenhaften Kläuge
Berranfhen mit der Wellen ſanftem Plätſchern,
Und nur im Liebe leben fie noch fort.‘
Das Chriftenthum, welches die fchönen Reizungen des
Heidenthums derart beftegt und vernichtet, daß biefelben
noch in ihrem Untergange ihren Bernichter und Beſteger
fegnen: das ift die Tendenz diefes fo zu nennenden lyri⸗
ſchen Trauerſpiels in drei Aufzligen, das von den übri«
gen bier vorliegenden dramatifchen Arbeiten die allerdings
abgerunbetfte Ausführung erhalten hat, aber eben in biejer
Ausführung ziemlich verfhwommen und unflar ſich aus-
nimmt.
Nächſt ihm erfcheint am fertigften „Kleopatra“, gleich⸗
fam ein Seitenftüd zur „Lurley“, denn diefe Königin Aegyp⸗
tens ift die Sirene des Orients, welche Roms männliche
Heldenjugenb verführt und bezwingt, bis Octavianus
Auguftus exrfcheint, der ftrenge, berechnende Staatsmann,
welcher aller Koketterie und allem Liebreiz jener beraufchen-
den Frauenerfcheinung gegenüber nur troden forjcht:
Sehr bebentend fcheint
Der königlihe Schatz, die Ländereien, —
Wie hoch mag ſich wol der Ertrag belaufen?
An diefer nüchternen Frage erkennt Kleopatra, daß
ihre Zeit vorüber und ihre Künfte nicht mehr verfangen.
Zwar ruft fie ftolz ihrem Meberwinder, der fie vor feinen
Triumphwagen fpannen will, zu:
So nimm mid mit! Berſuch' es nur!
Ich werde dann den Sieger Überfirablen.
Mir jauchzen deine Römer zn; ih kaun
In meinen Zauberfreis fie bannen: denn
Dämoniſch if die Kraft, bie in mir glüht.
Und als Auguftus fie anherrſcht:
SH bin dein Herr und Rom bleibt mir ergeben —
da flammt fie allerdings zu der Antwort auf:
Vernichtung werde bir und beinesgleichen,
Vernichtung ſolcher niedern Sinnesart!
Die Gottheit, die der Menſchen Schichſal lenkt,
Wird folhem Herricher niemals huldreich fein.
Die Lüge nagt an deiner Größe wie
Der Wurm am Kern der Frucht, die lebensfrifch
Uns noch erſcheint, ift fie auch halb verweſt.
Dein Siegeslorber kann Fire lange griinen:
Nichts Edles wird durch dich hervorgerufen.
Da ift e8 größer, wie Antonine
Zu enden, als zu leben wie Auguflus! —
aber fie geht doch eilig Hin, um fi von dem Giftbiß
der Natter töbten zu laſſen, obgleich Cornelius Dolabella,
ein junger Römer und Freund des Auguftus, ihr noch
immer buldigend zu Füßen liegt und Auguftus felbft im
legten Angenblid noch, von ihrem Reiz und ihrem Stolz
faft bezwungen, ihr zu huldigen im Begriff ift.
Diefe Wendung jedoch ſcheint uns gerade ein Haupt-
fehler diefer einactigen Tragödie und ein foldher, ber fie
in ihrem Aufbau bis in den Grund erſchüttert. Unferm
Dafürhalten nach durfte Auguftus nicht mit einem Schwan-
Ten feines Charakters in diefem Stücke endigen, fondern
mußte eher mit einem foldhen anfangen. Die Schönheit
und Schmeichelei ber Kleopatra konnten ihn anf einem
Moment umgarnen, aber auc nur auf einen Moment,
denn ein Blick anf die unmännliche Verzüdung feines
jungen Freundes und eine Erinnerung an die ihm zu-
gefallene Hiftorifche Aufgabe mußten ihn fogleich wieder
zur Befinnung und dem Lefer oder Hörer die Gewißheit
bringen, daß in ber That die Zeit der Kleopatra vor⸗
über fei. Wie die heibnifche Rheinnixe am Chriſtenthum,
fo muß die Circe des Morgenlandes an der römischen Welt-
berrfchaft zu Grunde gehen, die Wr in dem überlegten,
klugen und gewißigten Octavian noch einmal glorreich in
Scene fett. Octavian darf der beftridenden Camellias⸗
dame auf dem ägyptifchen Königsthron nicht erliegen und
keineswegs blos durch deren voreiligen Selbftmorb dieſem
Erliegen entrückt werden, fondern er muß nothwendig dieſe
Entrückung ſelbſt vollziehen, um hier nicht nur ſich, ſon⸗
dern auch das Stück vor einer Compromittirung zu retten.
Nur ohne eine ſolche Compromittirung hat das Stück
rechten Sinn und volle Bedeutung; mit ihr wird es,
unſerm Erachten nach, ein ziemlich hinfälliger Verſuch,
weil ihm damit zunähft das abhanden fomnıt, mas man
eine moralifche Grundidee und Perfpective eines Dramas
zu nennen pflegt.
Man mag diefe „Kleopatra“ anfehen wie man will,
als ein Nacjfpiel zum Antonius oder al8 ein Vorfpiel
zum Dctavianus, immer wird nöthig fein, wenn fie von
imponirender Wirkung fein fol, daß ſich eine neue Welt-
ordnung von einer alten darin abhebt und daß ſich bie
tragifche Collifion mit ganzer Schärfe vollzieht.
Daran jedoch gerade gebricht e8 hier. Die Gegen⸗
fäge plagen bier nicht gewaltig genug aufeinander, es
treten zwei Menfchen-, man dürfte fagen, zwei Welt-
geſchicke nicht mit voller Macht auf die Wetterfcheide der
Jahrhunderte. Zu einem bie Luft der Menfchheit reini-
genden Wetterfchlage follte es kommen, und es kommt nur
zu einem fernen und vereinzelten Donnern in der Atmo⸗
ſphäre. Das ift ber Schaden des Stücks.
Ein drittes Tranerfpiel und das einzige flinfactige die⸗
ſes Buchs betitelt ſich „Wlerandros”. In diefem fehen
wir der Reihe nad, wie Alexander zuerft nad) der Er⸗
mordung Philipp’s zum König, dann im zweiten Aufzug
im Heiligtum von Zeus-Ammon zum Götterfohn er-
Märt wird, wie er dann Perfopolis erobert, Dareios be⸗
flegt und ſich mit deffen Tochter Stateira vermählt, über
diefer Vermählung aber Thais verliert, die atheniſche
Hetüre, die ihm auf feinen Weltzuge gefolgt ift und feine
Seele mit Rauſch und Begeifterung erfüllte. In der
vierten Abtheilung, die in Indien fpielt, erfticht ex in ber
Trunkenheit feinen Freund Kleitos, wie er denn überhaupt
auf dem Gipfel feiner Macht und feines Ruhms dämo⸗
nifchen Neigungen und Anwandlungen nicht zu wider-
ſtehen vermag. Im fünften Act hat ex auch feinen lieb⸗
ften Freund Hephaiftion bereits eingebüßt und damit zu⸗
gleih feinen Halt, feine Bejonnenheit, die Unbeirrtheit
feines Weſens. Wir finden ihn Binfällig, erſchöpft und
fterbend.
Dies ift in wenigen Bitgen ber Verlauf des Stüds,
das, wie man fieht, in diefem nur lofe, aber doch immer
nod) derartig erjcheint, daß ſich darin eine ziemlich ge=
fchlofjene Handlung in fletigem Fortgang barftellt. Nur
iſt diefe Darftellung nicht markig und frappant genug,
—— — — —
Neuere dramatiſche Dichtungen.
um uns den Alexanderzug gleichſam in einem dramati⸗
ſchen Fries mit wahrhaft erſchütternder Mächtigkeit vor
die Seele zu führen. Es mangeln der Schöpfung bie
wirklich heroifchen Geſtalten und der wahrhaft geniale und
kühne Schwung der ausführenden Hand. Dieſer aus-
führenden Hand find die Aufgaben, die ihr ber erfindende
Geiſt geftellt, zu groß und zu maſſiv. Sie weiß nicht
mit dem nöthigen Nachdruck zu meißeln und überall mit
der zu wilnfchenden Kraft zu verfahren. So kommt es,
dag die Umriffe fich vermifchen, die Linien verfchwimmen.
Wir finden allerdings die artiftifchen Geſetze des
Dramas beobachtet, wir finden im erften Act die Wurzel
der Action mit jpannender Perfpective, im zweiten Schür⸗
zung des Knotens in dramatifcher Berwidelung, im drit⸗
ten den Höhepunkt der Kriſis, im vierten die Peripetie
und im lebten die Kataftrophe; aber dies alles nicht in
ber erforderlichen fcharfen und gewichtigen Ausprägung.
Dies tritt um fo mehr hervor, je zufammengefaßter,
je regelrechter der Dichter zu verfahren fi anfdidt.
Wo er blos hingeworfen, mehr willlürlich und zwang⸗
los ſchafft, wie im erfien Drama: „Der Alerander-
zug“, das gleichſam nur wie eine Skizze, ein flüchtiger
Entwurf zum „Alerandros“ erfcheint, da zeigt ſich unfer
Autor bei weiten glücklicher und poetifch einfchmeicheln.
der und getwinnender. Es find Stellen darin, die Schiller’
ches Pathos gepaart mit Goethe'ſcher Anmuth erkennen
loffen, fo 3. B. wenn Alexander fpridt:
Stolzes Babylon, dein Schimmer
Heilet ſolche Schmerzen nicht:
Tiefe Sehnſucht endet nimmer,
Flieht zum milden Sternenlidt.
Nur der Tod kann uns vereinen,
Und mir bleibt der Erde Dual,
Frei und glüdlih muß ich fcheinen
In der Herrſcher goldnem Saal,
Euch bfeibt ein unſterblich Leben:
Höchſte Gaben enden nit,
Und die Himmliſchen, fie geben,
Was den Sterblichen gebridt.
Zu den Schatten ſteig' ich nieder:
Sehnſucht kann nicht ewig dauern,
Und nach bangen Todesſchauern
Blühet dort das Glück mir wieder.
Zwar ift auch hier in der Handlung wie in der Diction
einigermaßen Harer und beftimmter Ausbrud zu vermifien,
aber dies Bermiffen tritt in der fragmentarifchen Behand-
Iung nicht fo merklich. hervor, als es ba der Fall if,
wo ©. Conrad in mehr gefchloffener Production fi dich⸗
terifch ansgibt. Wie aber, follen wir unfere Meinung
in einen kurzen Ausſpruch ſchließlich zufammenfaffen, dies
dichterifche Ausgeben immer befchaffen fein mag, unter
allen Umftänden bekundet e8 einen feinen, finnigen, dem
Edeln zuftrebenden Geift, einen Geift, der liber den ge
wöhnlichen Dilettantismus durch Hohe, echt Fünftlerifche
Sutentionen weit hinausragt und das Intereſſe und die
Theilnahme der Kenner ſich darum mit Recht erwer⸗
ben mag.
4. Iacobäa von Baiern. Schanfpiel in fünf Aufzügen von
Friedrich Marr. Leipzig, Ph. Reclam jun. 1869. 16.
2 Nor.
Das Stüd behandelt einen echt dramatifchen und dabei
poetiſch wirkſamen Stoff, die Liebe der genannten Fürſtin
277
zu Frank von Borfell, den vom Tode burd) Henfers Hand
zu retten fie dem Thron zu entjagen ſich entfchliekt.
Jakobdia, die Erbtochter Wilhelm’s IV., Grafen von Hol-
land und Hennegau, kam nad; dem Tobe ihres Baters
in den Beſitz diefer Grafſchaften, welche ihr jedoch, nach⸗
dem fie ihren Gemahl, Johann von Brabant, verftoßen,
nach defjen Ableben ihr Better, Philipp, der Gute ge
nannt, ftreitig machte Nach langen Zwiſtigkeiten fah
fih Ialobäa zu einem Vergleich genöthigt, durch den fie
Philipp zum Mitregenten annahm. Diefer gab ihr in
ihrem Jugendgenoſſen Frank von Borfel eimen Hüter
und Wächter, welchen jedoch ihr Liebreiz, ihre Anmuth
und ihr feiner Geift fo fehr für fle einnahmen, daß er
fi) in eine Verſchwörung gegen Philipp einließ, um
Zalobiia wieder zur unbefchränften Herrfcherin zu machen.
Diefe Verſchwörung warb aber dent, gegen ben fie unter
nommen war, verrathen und Hatte zur Yolge, daß Philipp
die Hinrichtung Frank's befahl. Um den letztern zu retten,
gab endlich die fehwergeprüfte Herrſcherin alle Anfpritche
auf den Thron auf und zog ſich mit dem auf ſchwere
Art erworbenen Geliebten in das Privatleben zurüd.
Dean wird uns einräumen, daß biefe Handlung Theil-
nahme und Spannung wol zu erregen im Stande it,
and zumal wenn ein Dichter diefelbe in die Hand nimmt.
Daß aber Friedrich Marx ein folder ift, das belegt fchon
bad dem Schaufpiel vorgedrudte Widmungsgediht an
Hermann Lingg, wenn er e8 nicht fchon durch ander
weitige Schöpfungen belegt hätte. Auch das Drama felbft
thut es. Daſſelbe ift allerdings in der Exrpofition nicht
eben Mar, wie auch in feinem ganzen erften Theile ziemlich
unruhig uud verworren; aber je weiter es vorfchreitet und
fi) der Kataftrophe nähert, je beftimmter, anziehender
und wirkfamer wird es. Es iſt jedenfalls von allen uns
diesmal vorliegenden Dramen dasjenige, das uns menſch⸗
Gh und bichterifch mit am wohltäuendften berührt, ganz
abgefehen davon, daß e8 auch bei weitem wol in feinem
ganzen Bau das bühnengerechtefte und theatralifch ab-
gerundetfte ift. Dabei Hat das Werk etwas von einem
frappanten Biftorifchen Colorit, eine Charakteriftif, die
einer gewiſſen Schärfe nicht entbehrt und bei allem knap⸗
pen Stil doch zugleich von ſchwunghafter Diction ges
boben ift.
Bon demſelben Poeten erſchien:
5. König Nal. Dramatiſches Gedicht in einem Aufzuge nach
dem Italienifhen des Angelo de Gubernatis von Friedrich
Marr. Hamburg, I. 5. Richter. 1870. Gr. 16. 15 Nur.
Diefe Ueberſetzung, die jedenfalls mit viel Talent und
Geſchmack ausgeführt ift, dürfte doch wol kaum im Stande
fein, eine allerdings veizende, aber uns etwas fremdartig
anmuthende Dichtung auf unfern Bretern heimisch zu
machen.
6. Florian Geyer vom Geyern, Hauptmann der ſchwarzen
har im großen Bauernkriege von 1525. Drama von
F. Dillenins Stuttgart, Mebler. 1868. 8. 24 Nor.
Dos Werk eines Siebziger ift als ſolches wegen fei-
ner Friſche und Lebendigkeit höchſt beachtenswerth und
intereffant. Ein eigentliches, fi organijch entwickelndes
Schauſpiel ift e8 freilich nicht, denn es bietet durchaus nur
loſe aneinandergefügte Momente aus dem Leben Geyer’s,
Momente, bie gewiffermaßen nur mit Bimmermann’s
278 Neuere dramatiſche Dichtungen.
„Geſchichte des deutfchen Bauernkriegs“ in der Hand zu
verftehen find, ans der eingetandenermaßen der Berfafler
aud) allein die Anregung zu feinem Epos in bramatifcher
Form gefhöpft.
Sicherlich „ hat berfelbe recht, wenn er in Florian
Geyer den Helden eines Dramas erblidt; auch ift diefer
ſchon vielfach als ſolcher, nur bisjegt noch nicht in all⸗
gemein durchgreifender Weife behandelt worden. Die
Behandlung von F. Dillenius gibt nun vollends nur ein⸗
zelne Bilder und Epifoden, aber kein Ganzes, das und
durch Entwurf, Gang und Haltung zu imponiren ber
möchte. Dabei ift die Charalteriftif nur wenig bedeutend
und aud) ber Vers weder voll Mark bes Gedankens nod)
vol Schönheit der Form. Der Reiz der gefammten Ar-
beit Liegt allein in ber lobenswerthen und hier befcheiden
ausgeſprochenen Abficht des Autors: den Namen des
Helden im Gedächtniß der Zeit und gleichjam auf der
Tagesordnung der dramatifchen Dichtung zu erhalten:
eine Abficht, die biefe bramatifche Epopde erfüllt umd
welche dem greifen Verfaſſer gewiß zum befonderer Ehre
gereicht.
Möchte unfere realiftifche Tugend von dem Idealis⸗
mus unferer Alten lernen! Es ift etwas Schönes und
Herrliches, das hohe Alter von folcher Begeifterung und
einem fo heiligen Intereſſe für die Menjchheit roſig über«
glüht zu jehen. Gletfcher des Lebens im Alpenglühen
‚des Geiftes — es Tann Fein entzückenderes Schaufpiel ge-
ben, und wehe der Kritif, die nicht mit Bewunderuug und
gefalteten Händen zu ihm aufblidt.
Was uns betrifft, fo find wir noch fo glücklich, dies
thun zn Können, wennfchon wir aud die Schwächen und
Mängel des Gebotenen nicht überfehen.
7. Ecce homo! Dramatiſche Dichtung von Karl Friedrich
Holtſchmidt. Barmen, Bädeker. 1869. 16. 15 Ngr.
Die Dichtung bietet Momente aus bem Leben des
Heiland in dramatifcher Geſprächsform. Ein eigentliches
Schaufpiel mit gefchlofjener und fortfchreitender Hand⸗
lung ergibt ſich nit. Alles iſt epifodenhaft umd loder
aneinandergefügt, ohne dramatifchen Aufbau, ohne Kata⸗
ſtrophe. Das Ganze ift nur zum Lefen eingerichtet, und
als Lektüre ift e8 immerhin empfehlenswerth, wenn and)
keineswegs weber den Gedanken noch den Berfen nad)
befonder8 hervorragend.
8. Dentihe Treue. BDramatifches Gediht von Leonhart
W Zimuth. Aarau, Sanerländer. 1869. ®r. 16.
gr.
Eine kleine freundliche Schöpfung, die ſich rund und
gefällig, aber doch ohne jede hervorragende Eigenart und
poetiſche Originalität vor den Augen des Leſers abfpinnt.
Lukas Cranach, der berühmte dentjche Maler, bittet bei
Raifer Karl V. um das Leben bes bei Mühlberg befiegten
Johann Friedrich von Sachſen und folgt ihm ſchließlich
mit deſſen Gemahlin in bie Gefangenfchaft. Weder der
Meifter no Karl, weder Herzog Alba noch Kurfürftin
Sibylle werden zu Charaftergeftalten. Der Künftler, ber
in der nnfeligen Schlacht den eigenen Sohn verloren und
den Schmerz befiegt, um ganz nur für feinen unglüd-
lichen Herrn zu wirken, hätte eine impofante Figur wer-
den können, wenn es ber Dichter verftanden hätte, ihn
durch eine gewiſſe geiftige Größe von dem finftern Albe
und düftern Karl hellglänzend abzuheben. Aber gerade
die Farben find es, welche dem Autor fehlen. Sein dra»
matifches Gedicht ift eine ziemlich gefchidte, aber durch⸗
weg ausdrudslofe Lithographie, hart im Wurf ber Linien
und Falt im ganzen Ton.
9. Kurd uud Blanda. Ein Nachſpiel zu Nathan dem Weifen.
Heidelberg, €. Winter. 1867. 8. 6 Nur.
Das Stüd ift gleihfam eine dramatiihe Nachbemer⸗
fung zu dem berühmten Toleranzgedicht Leſſing's, eine
dramatifche Nachbemerkung, in welcher der Welt die Kunde
wird, daß Nitter Kurd und Recha, jetzt Blanda genannt,
im Laufe der Zeit ſich noch zu echten und rechten glau⸗
bensfeften Chriften ansgebildet. Die Scene fpielt zu
Konftantinopel im Jahre 1204. Es hatte fi, wie ber
anonyme Autor meldet, ein Heer von Kreuzfahrern im
Jahre 1203 auf einer venetianifchen Flotte eingeſchifft,
um dem bedrängten Kaifer Iſaak Angelus, auf Bitte von
deſſen Sohne Alerius, gegen einen Ufurpator zu Hülfe
zu kommen. Die Stabt wurde erobert und der alte
Kaifer wieder eingefest. Da aber im folgenden Jahre
durch einen Aufruhr ein anderer Ujurpator die Oberhand
gewann, fo erftürmten die Sreuzfahrer im April 1204
die Stadt und plünderten fi. Unter den Helden diefer
Großthat befindet ſich nun auch Kurd; er trifft bei die⸗
fer Gelegenheit mit feiner Schwefter zufammen, bie nad)
Konftantinopel übergefiedelt. Jedes von ihnen erwartet,
in dem andern einen laren, freigläubigen Geift zu finden,
entdedt aber zu feinem freudigen Erflaunen, daß dem
nicht fo ift; vielmehr find beide Gefchwifter jo recht⸗
glänbig, als Hätten fie Tholud gehört oder Hengftenberg's
Kirchenzeitung gelefen.
Ob die Welt dem Berfafler für biefe Belehrung
danfbar fein wird, wiffen wir nidt. Wir wiſſen nur,
daß fie Leffing’s Geift und feinem unfterblichen Gedichte
widerfpricht und die Pietät verlett, die wir beiden ſchul⸗
dig find.
Bon Adolf Calmberg, einem Autor, ber in Küß-
nacht bei Zürich lebt, erjhienen mehrere Dramen. Wir
erwähnen von ihm:
10. Jürgen Wullenweber. Bon Adolf Ealmberg Köln,
Kaulen u. Comp.
11. Der Erbe des Millionär. Ein Schaufpiel von Adolf
Salmberg. Zürid, Orell, Füßli u. Comp. 1868. Br. 8.
20 Nor.
Letzteres ift ein bürgerliches Schaufpiel in fünf Auf-
zügen, da8 nad) einer wahren Begebenheit, dem befannten
Procefie de Bud zu Brüffel im Mai 1864, bearbeitet ift
und damit immerhin feinen ungeſchickten Griff in das
moderne Leben gethan hat. Es zeigt uns einen heuch⸗
lerifchen Arzt, der unter bem Scheine frommen und
gottgefälligen Wefens fi in das Haus und Herz eines
reihen Kaufherrn in der Abficht einniftet, um für feinen
eigenen DBortheil und den einer geiftlihen Brüderſchaft
defien Sohn und Angehörige gänzlich) daraus zu ver⸗
drängen. Wilhelm de Boot, eben jener Kaufherr, hat
in feiner Jugend in der Havanna ein Mädchen verführt
und dann ſchändlich feinem Schidjal überlaſſen. Dieſe
Sünde feiner Zünglingsjahre laſtet auf feinem Gewifien
Revue über neue muſikaliſche Schriften. 279
und dient dem Doctor Loor vorzüglich dazu, ihn zu ver-
anlaflen, den Sohn für den geiftlichen Stand zu beſtimmen,
eine Beftimmung, der fi) Benedict indeß mit dem ganzen
Aufgebot feiner Kräfte widerfegt, einmal weil er über⸗
haupt in ſich feine Neigung befigt der Welt zu entfagen,
und dann weil er Helene, eine Waife, die fein Vater
an Kindesftatt angenommen bat, von Herzen licht. In⸗
deß auch Doctor Loor begehrt Helene, und nachdem er
Benedict durch gezwungenes Slofterleben zum äußerften
Biderftande gereizt, faft zum Verbrecher gemacht, den al-
ten de Boot durch ein frevelhaftes Gaukelſpiel getödtet,
Helene aber an den Rand des Elends und durch bie
Soripiegelung, daß fie wahnhnnig fei, im feine beinahe
ausschließliche Gewalt gebracht, ift er eben dabei den
Lohn feiner Verbrechen und Schandthaten zu ernten, als
zum Glück der Kronprinz des Landes, ein Studienfreund
Denedict’8, erfcheint und als echter deus ex machina
der Unfchuld zu ihrem Recht, db. h. dem Sohne des
Kaufherrn zu feinem Vermögen und der Hand feiner
Geliebten, dem Uebelthäter aber zu feiner mohlverdienten
Strafe verhilft.
Die Handlung ift nicht ohne dramatiſches Intereſſe,
leider jedoch breit und ziemlich unbehülflich ausgeführt
worden. De Boak it ein gar zu bejchränfter Kopf und
die Intrigue des Doctor Foor plump und ohne künſt⸗
ferifhen Aufbau. Für Benediet läßt fi) Feine rechte
Theilnahme gewinnen, weil feinem Charakter aller eigent«
Iihe Inhalt fehlt. Auch Helene ift Feine irgendwie her⸗
vorragende Erfcheinung.
Abolf Calmberg fcheint nicht ohne Talent zu fein;
aber er Bat, wie uns bünft, dafjelbe noch nicht genug
ausgebildet und gefchult, um damit großen Aufgaben voll»
fändig gewachlen zu fein. echt deutlich läßt das fein
„Sürgen Wullenweber, Bürgermeifter von Lübeck“ er⸗
lennen, deſſen Leben und Wirken der genannte Schrift-
fteller in zwei flinfactigen Dramen behandelt hat. Das
erfte: „Wullenweber’8 Sieg“, zeigt und Wullenweber's
ſteigendes Anfehen und feine Macht in der Vaterſtadt, die,
auf gefunde demokratifche Grundfäte geftügt, biefe zum
Haupt der Hanfa macht. Wullenweber fchlägt alle
Gegner, die es nicht gut und ehrlich mit ber Sache des
Bolls meinen, aus dem Felde und wird zum dirigirenden
Bürgermeifter der Stadt. Als folder haucht er der
Hanfa neues Leben und eine weitgreifende Bedeutung ein;
allein vom Glück verlaffen, von Feinden umdrängt, fehen
wir ihn im zweiten Stüd: „Wullenweber's Tob”, feinem
Feinde, Herzog Heinrich von Braunfchweig-Wolfenbüttel,
durch Ueberrumpelung in die Hände gerathen und auf
Befehl deffelben auf dem Ylutgerüfte enden.
Die ganze Arbeit ift nicht ohne dramatifches Leben
und jedenfalls mit fichtlicher Liebe und großem Fleiße
ausgeführt. Aber auch hier fehlen zum vollen Gelingen
ein wahrhaft artijtifcher Aufbau und eine fichere, wohl
geregelte und bemefjene Steigerung ber ſich belämpfenden
Gegenfäge. Es mangelt überall an gefchloffener Haltung,
an feltem Gang und glüdlicher Made. Für zwei Stüde
üft der Stoff entſchieden nicht ausreichend, zu auseinander-
fahrend und austragelos. Hierfür hätte man das Schidfal
der ganzen Hanfa ind Spiel ziehen müſſen. Zulckt ift
auch die Peripetie nicht Hinreichend genug vorbereitet
und die tragiſche Schuld des Helden nicht gehörig genug
ins Licht geftellt,
12. Der König von Münſter. Tragödie von Ernfl Mevert.
Hamburg, Hoffmann u. Campe. 1869. Gr. 8 1 Zhlr.
Das Stüd wird wol auch nur eins von jenen Bücher:
dramen bleiben, die, obgleich nicht ohne alles poetifche Talent
und mit begeifterter Drangabe gefchrieben, doch die Breter
nicht erreichen, weil ihre Berfafler deren Geſetze zu wenig ſtu⸗
dirt und beachtet haben. Der Autor, welcher fich nicht ganz
ohne Erfolg im Roman verfucht Hat, ift in diefen „Rü-
nig von Münſter“ fozufagen mit beiden Beinen zugleich,
aber ebendeöwegen zu wenig vorbereitet und geſchult auf
die Bühne gefprungen. Sein Stüd weiſt vorzügliche
Einzelheiten auf, ift im ganzen jedoch zu unflar in der
Handlung, zu wirrig im ang feiner Entwidelung und
zu wenig dramatiſch verinnerlicht, um der Scene an-
‚gemeflen und auf biefer von Geltung fein zu können.
Es erfcheint als ein nicht ganz unintereffanter dramati⸗
her Verſuch, verdient aber noch nicht den Namen eines
Dramas, Das Stüf, wie es nun einmal vorliegt, ift ein
Roman in dramatifcher Verkleidung, ein Werk in ber
Manier des Dramas, aber nicht in deffen Wefen, ba
es breit in feiner Anlage und zerfloffen in feiner Cha-
rakteriſtk und Motivirung erſcheint. Aber nachrüh—⸗
men läßt ſich ihm wenigſtens, daß es nicht alltäͤglich
und farblos ift, fonbern eine gewiſſe Originalität bekundet
und Spuren don pathetifchem Schwunge und Leben au
ſich trägt. Seodor Wehl.
(Der Beſchluß folgt in der nähfen Nummer.)
Revne über nene mufikalifche Schriften.
1. Grumdzlige einer Theorie der Oper. Ein theoretifch-praftifches
Handbud für Küinftler und Kunftfreiimde, Dichter und Com⸗
poniften, Sänger, Kapellmeifter, Hegiffeure und Directoren,
bafirt auf die Anforderungen der Gegenwart und auf
zahlreiche in den Text verwebte Ausſprüche hervorragender
Geifter. Bon Hermann Zopff. Erfter Theil: Die Pro⸗
duction. Leipzig, Arnold. 1868. 8. 1 Zhlr. 10 Ngr.
Die Vorrede ſchließt mit folgenden uns etwas my»
fteriös Elingenden Worten :
Erſt müſſen die Menfchen die fich ſelbſt gefchmiedeten Feſ⸗
ſeln engherzigner Unnatur zerbrechen, ehe die Kunft, zumal bie
dramatiſche, wahrhaft umfafjenden, rückhaltslos unmittelbaren
Aufſchwung zu nehmen vermag. Erſt nachdem fich die Nationen
vor allem eine Garantie ihrer weſentlichſten Lebensbedingungen
geichaffen Haben werden, wird fi die Ueberzengung allgemein
genug Bahn zu brechen vermögen, daß aud) die Kunft eine
diefer Lebensbedingungen im höhern Sinne und zwar in ganz
wefentlihem Grade if. Dann erft, nachdem ihre jüngflerfchloffene
neue Blüte nicht nur unverlümmert durch das uns bevorftehende
mächtige Wehen des menfchlichen Geiftes geblieben, ſondern
vielmehr durch daffelbe erftarkt und gereift ift zu einem vielleicht
nod) ungeahnten Einfluffe, dann erft wird die Kunſt im Stande
fein, eben diejen ummittelbaren geiftesbewegenden Einfluß um:
fafjend genug zur Entwidelung zu bringen als eine ihrer ſchön⸗
ften, fegensreichften Früchte.
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rien. ei. De
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278 Neuere dramatiſche Dichtungen.
„Geſchichte des deutſchen Bauernkriegs“ in ber Hand zn
verftehen find, aus der eingeitandenermaßen der Verfaſſer
au) allein bie Anregung zu feinem Epos in dramatifcher
Form gefhäpft.
Sicherlich , hat derfelbe recht, wenn er in Ylorian
Geyer den Helden eines Dramas exrblidt; auch ift diefer
ſchon vielfach als folder, nur bisjetzt noch nicht in all⸗
gemein durcchgreifender Weife behandelt worden. Die
Behandlung von F. Dillenius gibt nun vollends nur eins
zelne Bilder und Epifoden, aber fein Ganzes, das uns
durh Entwurf, Gang und Haltung zu imponiren vers
möchte. Dabei ift die Charakteriftit nur wenig bebeutend
und aud) ber Vers weder voll Markt bes Gedankens nod)
vol Schönheit der Form. Der Reiz der gefammten Ar-
beit Liegt allein in der lobenswerthen und hier befcheiden
ausgefprochenen Abſicht des Autors: den Namen des
Helden im Gedüchtniß der Zeit und gleichfam auf der
Tagesordnung der dramatiſchen Dichtung zu erhalten:
eine Abficht, die dieſe dramatiſche Epopde erfüllt und
welche dem greifen Berfafler gewiß zu beſonderer Ehre
ereicht.
Möchte unfere realiſtiſche Jugend von dem VOdealis⸗
mus unferer Alten lernen! Es ift etwas Schönes und
Herrliches, das hohe Alter von ſolcher Begeifterung und
einem fo heiligen Intereſſe file die Menſchheit rofig über«
glüht zu fehen. Gletſcher des Lebens im Alpenglühen
‘des Geiftes — es kann Fein entzüidenderes Schaufpiel ger
ben, und wehe der Kritik, die nicht mit Bewunderung und
gefalteten Händen zu ihm aufblidt.
Was uns betrifft, fo find wir noch fo glücklich, dies
thun zu können, wennſchon wir aud die Schwächen und
Mängel des Gebotenen nicht überfehen.
7. Ecce homo! Dramatiſche Dichtung von Karl Friedrich
Holtfmidt. Barmen, Bädeker. 1869. 16. 15 Nor.
Die Dichtung bietet Momente aus dem Xeben bes
Heiland in dramatifcher Geſprächsform. Ein eigentliches
Schauſpiel mit gefchloffener und fortfchreitender Hand⸗
lung ergibt ſich nicht. Alles ift epifodenhaft und Loder
aneinandergefügt, ohne dramatifchen Aufbau, ohne Kata⸗
ſtrophe. Das Ganze ift nur zum Lefen eingerichtet, und
als Lektüre ift e8 immerhin empfehlenswerth, wenn auch
keineswegs weber ben Gedanfen noch den Berfen nad)
beſonders hervorragend.
8. Deutfhe Trene. Dramatifches Gediht von Leonhart
* zZimuth. Yaran, Sanerländer. 1869. Gr. 16.
gr.
Eine Heine freunblihe Schöpfung, die fih rund und
gefällig, aber doch ohne jede hervorragende Eigenart und
poetifche Originalität vor den Augen des Leſers abjpinnt.
Lukas Cranach, der berühmte bdeutfche Dialer, bittet bei
Kaifer Karl V. um das Leben des bei Mühlberg befiegten
Johann Friedrih von Sachſen und folgt ihm ſchließlich
mit deſſen Gemahlin in die Gefangenfchaft. Weder ber
Meifter noch Karl, weder Herzog Alba noch Kurfürſtin
Sibylla werden zn Charaftergeftalten. Der Künftler, ber
in ber unjeligen Schlacht den eigenen Sohn verloren und
den Schmerz beftegt, um ganz nur für feinen unglild-
lichen Herrn zu wirken, hätte eine impofante Figur wer⸗
den können, wenn es der Dichter verftanden hätte, ihn
durd) eine gewiſſe geiflige Größe von dem finftern Alba
und büftern Karl hellglänzenb abzuheben. Aber gerade
die Farben find es, welche dem Autor fehlen. Sein dra-
matifches Gedicht ift eine ziemlich gefchichte, aber durch⸗
weg ausdrudslofe Lithographie, hart im Wurf der Linien
und kalt im ganzen Ton.
9. Kurd und Blanda. Ein Nachſpiel zu Nathan dem Weifen.
Heidelberg, C. Winter. 1867. 8. 6 Ngr.
Das Stüd ift gleichfam eine dramatiſche Nachbemer«
fung zu dem berühmten Toleranzgebicht Leffing’s, eine
dramatische Nachbemerfung, in welcher der Welt die Kunde
wird, dag Ritter Kurd und Recha, jetzt Blanda genannt,
im Laufe der Zeit ſich noch zu echten und rechten glau⸗
bensfeften Chriften ausgebildet. Die Scene fpielt zu
Konftantinopel im Jahre 1204. Es Hatte fi, wie ber
anonyme Autor meldet, ein Heer von Kreuzfahrern im
Jahre 1203 auf einer venetianifchen Flotte eingefchifft,
um dem bedrängten Kaiſer Iſaak Angelus, auf Bitte von
defien Sohne Alexius, gegen einen Ufurpator zu Hülfe
zu kommen. Die Stadt wurde erobert und der alte
Kaiſer wieder eingefett. Da aber im folgenden Jahre
durch einen Aufruhr ein anderer Ufurpator die Oberhand
gewann, fo erftürmten die Kreuzfahrer im Wpril 1204
die Stadt und plünberten fi. Unter den Helden diefer
Großthat befindet ſich nun auch Kurd; er trifft bei die-
fer Gelegenheit mit feiner Schwefter zuſammen, bie nad)
Konftantinopel übergefiedelt. Jedes von ihnen erwartet,
in dem andern einen laren, freigläubigen Geift zu finden,
entdedt aber zu feinem freudigen Erftaunen, daß bem
nit fo iſt; vielmehr find beide Gefchwifter jo recht.
gläubig, als hätten fie Tholud gehört oder Hengſtenberg's
Kichenzeitung gelefen.
Ob die Welt dem Berfaffer für biefe Belehrung
dankbar fein wird, wiffen wir nit. Wir wiffen nur,
dag fie Leffing’s Geift und feinem unfterbliden Gedichte
wiberfpricht und die Pietät verlegt, die wir beiden ſchul⸗
dig find.
Bon Adolf Calmberg, einem Autor, ber in Küß-
nacht bei Zürich Lebt, erfchienen mehrere Dramen. Wir
erwähnen von ihm:
10. Jürgen Wullenweber. Bon Adolf Talmberg. Köln,
Kaufen u. Comp.
11.Der Erbe des Millionärs. Ein Schaufpiel von Adolf
Calmberg. Züri, Orell, Füßli u. Comp. 1868. Br. 8,
20 Nor.
Letzteres ift ein bürgerliches Schaufpiel in fünf Aufe
zügen, da8 nach einer wahren Begebenheit, dem befannten
Procefje de Bud zu Brüffel im Mai 1864, bearbeitet ift
und damit immerhin feinen ungeſchickten Griff in das
moderne Leben gethan bat. Es zeigt uns einen heuch⸗
Terifchen Arzt, der unter dem Scheine frommen und
gottgefälligen Weſens fi in das Haus und Herz eines
reihen Kaufheren in der Abficht einniftet, um für feinen
eigenen Vortheil und den einer geiftlichen Brüderſchaft
deſſen Sohn und Angehörige gänzlih daraus zu ver⸗
drängen. Wilhelm be Book, eben jener Kaufherr, Hat
in feiner Jugend in der Havanna ein Mädchen verführt
und dann ſchändlich feinem Schichkſal überlafien. Diefe
Sünde feiner Iänglingsjahre laſtet auf feinem Gewiſſen
Revue über neue muſikaliſche Schriften. 279
und dient dem Doctor Loor vorzüglich dazu, ihn zu ver-
anlafjen, ben Sohn für den geiftlichen Stand zu beftimnen,
eine Beftimmung, der fid) Benebict indeg mit dem ganzen
Aufgebot feiner Kräfte widerſetzt, einmal weil er über-
haupt in fich feine Neigung befigt der Welt zu entjagen,
und dann weil er Helene, eine Waife, die fein Vater
an Kindesftatt angenommen hat, von Herzen licht. In⸗
beß auch Doctor Loor begehrt Helene, und nachdem er
Benediet durch gezwungenes Slofterleben zum üußerften
Widerftande gereizt, fat zum Verbrecher gemadjt, den al«
ten de Book duch ein frevelhaftes Gaukelſpiel getödtet,
Helene aber an den Rand des Elends und durd bie
Borfpiegelung, daß fie wahnhnnig fei, in feine beinahe
ausfchliegliche Gewalt gebracht, ift er eben dabei den
Lohn feiner Verbrechen und Schandthaten zu ernten, als
zum Glüd der Kronprinz des Landes, ein Studienfreund
Benedict's, erjcheint und als echter deus ex machina
ber Unschuld zu ihrem Hecht, d. h. dem Sohne des
Kaufherrn zu feinem Vermögen und ber Hand feiner
Geliebten, dem Uebelthäter aber zu feiner wohlverdienten
Strafe verhilft.
Die Handlung ift nicht ohne dramatifches Intereſſe,
leider jedoch breit und ziemlich umbehülflih ausgeführt
worden. De Boat iſt ein ger zu befchränfter Kopf und
die Intrigue des Doctor Loor plump und ohne Fünft-
Ierifchen Aufbau. Für Benedict Täßt ſich Feine vechte
Teilnahme gewinnen, weil feinem Charakter aller eigent-
Iihe Inhalt fehlt. Auch Helene iſt Feine irgendwie here
vorragende Erfcheinung.
Adolf Calmberg ſcheint nicht ohne Talent zu fein;
aber ex bat, wie uns dünkt, dafjelbe noch nicht genug
ausgebildet und gefchult, um damit großen Aufgaben voll«
fländig gewachſen zu fein. Recht deutlich läßt das fein
„Zürgen Wullenweber, Bürgermeifter von Lübeck“ er-
fennen, deflen Leben und Wirken der genannte Schrift-
fteller in zwei flinfactigen Dramen behandelt hat. Das
erfte: „Wullenweber’8 Sieg“, zeigt und Wullenweber's
ſteigendes Anfehen und feine Macht in der Vaterftadt, die,
auf gefunde demokratifche Grundfäge geftügt, diefe zum
Baupt der Hanfa macht. Wullenweber ſchlägt alle
Geguer, die es nicht gut und ehrlich mit der Sache des
Bolts meinen, aus dem Felde und wird zum dirigirenden
Bürgermeifter der Stadt. Als folder haucht er ber
Hanja neues Leben und eine weitgreifende Bedeutung ein;
allein vom Glüd verlafien, von Feinden umbdrängt, ſehen
wir ihn im zweiten Stüd: „Wullenweber’8 Tod“, feinem
Veinde, Herzog Heinrich) von Braunfchweig-Wolfenbittel,
durch Weberrumpelung in die Hände gerathen und auf
Defehl defjelden auf dem Blutgerüfte enden.
Die ganze Arbeit ift nicht ohne dramatifches Leben
und jedenfalls mit fichtlicher Liebe und großem Fleiße
ausgeführt. Aber aud bier fehlen zum vollen Gelingen
ein wahrhaft artiftifcher Aufbau und eine fichere, wohl⸗
geregelte und bemeſſene Steigerung ber ſich befämpfenben
Gegenſätze. Es mangelt überall an gefchloffener Haltung,
an feftem Gang und glüdlicher Mache. Für zwei Stüde
ift der Stoff entfchieden nicht ausreichend, zu auseinander⸗
fahrend und austragelos. Hierfitr hätte man das Schiefal
der ganzen Hanfa ins Spiel ziehen müſſen. Zuletzt ift
auch die Peripetie nicht Hinreichend genug vorbereitet
und die tragifche Schuld des Helden nicht gehörig genug
ins Licht geftellt.
12. Der König von Müufter. Zragödie von Ernfl Mevert.
Hamburg, Hoffmann u. Campe. 1869. Gr. 8 1 Zhlr.
Das Stüd wird wol and) nur eins von jenen Bücher⸗
dramen bleiben, die, obgleich nicht ohne alles poetifche Talent
und mit begeifterter Drangabe gefchrieben, doc die Breter
nicht erreichen, weil ihre Berfafjer deren Geſetze zu wenig ſtu⸗
dirt und beachtet Haben. Der Autor, welcher ſich nicht ganz
ohne Erfolg im Roman verfucht Bat, ift in diefem „Rö-
nig von Münſter“ fozufagen mit beiden Beinen zugleich,
aber ebendeswegen zu wenig vorbereitet und gefchult auf
die Bühne gefprungen. Sein Stüd weiſt vorzügliche
Einzelheiten auf, ift im ganzen jedoch zu unllar in ber
Handlung, zu wirrig im Gang feiner Entwidelung und
zu wenig dramatiſch verinnerliht, um der Scene an-
‚gemeflen und auf diefer von Geltung fein zu können.
Es erjcheint als ein nicht ganz unintereffanter dramati⸗
ſcher Verſuch, verdient aber noch nicht den Namen eines
Dramas. Das Stüd, wie e8 num einmal vorliegt, ift ein
Roman in dramatifcher Verkleidung, ein Wert in ber
Manier des Dramas, aber nicht in defien Wefen, da
e8 breit in feiner Anlage und zerflofien in feiner Cha-
rakteriſtik und Motivirung erfcheint. Aber nadrüh-
men läßt fi ihm wenigitend, daß es nicht alltäglich
und farblos ift, fondern eine gewille Originalität bekundet
und Spuren von pathetifchem Schwunge und Leben an
ſich trägt. Seodor Wehl.
(Der Beſchluß folgt in ber nächſten Nummer.)
Revne über nene mufikalifche Schriften.
1. Grundzüge einer Theorie ber Oper. Ein theoretiich-praktifches
Handbuch für Künſtler uud Kunftfreiinde, Dichter und Com⸗
poniften, Sänger, Kapellmeifter, Regiffeure uud Directoren,
bafirt auf die Anforderungen der Gegenwart und auf
zahlreiche in den Text verwebte Ausiprlüche hervorragender
Geifter. Bon Hermann Zopff. Erſter Theil: Die Pros
duction. Leipzig, Arnold. 1868. 8. 1 Thle. 10 Ngr.
Die Vorrede fließt mit folgenden und etwas my⸗
fterids Mingenden Worten :
Erf müffen die Dienfchen die fich ſelbſt geichmiedeten Feſ⸗
ſeln engherzigiier Unnatur zerbrechen, ehe die Kunſt, zumal bie
dramatiihe, wahrhaft umfafjenden, rlickhaltslos unmittelbaren
Aufſchwung zu nehmen vermag. Erft nachdem fich die Nationen
vor allem eine Garantie ihrer wefeutlichften Lebensbedingungen
geichaffen haben werben, wird ſich die Ueberzeuguug allgemein
genug Bahn zu brechen vermögen, daß aud die Kunft eine
diefer Lebensbedingungen im höhern Sinne und zwar in ganz
wefentlichem Grade ift. Dann erft, nachdem ihre jüngfterfchlofjene
neue Blüte nicht nur unverfünmert durch das uns bevorftehende
mächtige Wehen bes menfchlichen Geiſtes geblieben, ſondern
vielmehr durch baflelde erftarkt und gereift ift zu einem vielleicht
noch ungeahnten Einfluffe, dann erft wird die Kunft im Stande
jein, eben biejen unmittelbaren geiftesbewegenden Einfluß um:
fafjend genug zur Entwidelung zu bringen als eine ihrer ſchön⸗
ften, ſegensreichſten Früchte.
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280
Das ift allerdings ſtark Wagnerifch geſprochen; der
Berfaffer muß uns nun aber fchon erlauben zu ges
fiehen, daß wir der Oper, fri es nad Wagner'ſchem
Schnitt oder dem feiner Jünger, keine fo hervorragende Be⸗
deutung beizulegen vermögen.
Der erfte Abſchnitt „Inhalt“ Handelt im erſten
Kapitel von dem Weſen und Charakter der Oper und
den Bedingungen ihrer Berechtigmg zum Kunſtwerk.
Die Kunft hat es nicht mit dem Wiedergeben von Wirks
Iichkeit, fondern vielmehr von Wahrheit zu thun. Erſt
durch Gluck warb die Dper eine wirklich berechtigte
Kunſtform. Alles jeboh, was nad) Gluck gegeben wor-
den ift, bietet bei aller unendlich großen Bortrefflichkeit
des einzelnen feine cigentlich neue Aera. Erſt Richard
Wagner war es, nach dem Berfaffer, befchieden, den un⸗
motivirten Conventionalismus mit erfolgreicher Entſchie⸗
denheit zur befämpfen; ihm allein gebührt das Berdienft,
für Miedererftarlung wahrhaft künſtleriſcher Grundſätze
mit Ernſt und Feuereifer in die Schranken getreten zu
ſein u. ſ. w. Das folgende Kapitel des erſten Abſchnitts
‚trägt die.Ueberfchrift: „Höhere Anforderungen des Lebens
an den Inhalt“ (im Berzeichniß beit es richtiger: der
Gegenwart an den Inhalt), und handelt unter Unführung
von Ausſprüchen Leffing’s, Schiller's u. a. von dem
höhern fittlichen umb befehrenden Zweck der Kunft und von
der Romantik. Der Berfafler jagt:
Nicht etwa nur das Schaufpiel eignet ſich für diefe Auf-
gabe, fondern auch in gleihem Grade die Oper. Ja fie ift in
noch höherm Grade als jenes zu dieſer Beſtimmung geeignet
und berufen, weil fte durch ihre ungleich reichern Mittel, zumal
durch feelenvollen Geſang, unſtreitig noch unmittelbarer nnd
mädtiger auf das Gemüth zu wirken vermag.
Das legte Kapitel: „Studium und Darftellung der
Geſchichte und des Lebens”, fpricht vorzugsweife ber bedeut⸗
famen Auffafjung der Oper da8 Wort und erörtert dia Trage:
wie und inwieweit ift e8 wahrer Kunſt allein würdig und
geftattet, Hiftorifche und fociale Momente behufs erkennt.
nigwedender Beleuchtungen in da8 Bereich ihrer Dar-
ftellung zu ziehen? Der Berfafler meint, daß das muſi⸗
kaliſche Drama kraft feines hohen focialen Ziels ſicher
einft zu wahrhaft Ehrfurcht gebietendem Einfluſſe anf die
Bervolllommmung des menfchlichen Geiftes, auf die Wedung
richtiger Erkenntniß des Lebens und feiner Eonfequenzen
fi erheben werde.
Die Harmlofen Zeiten find vorüber, in denen ſich ber
Componif- beguligen durfte, den ihm gelieferten Operntert
gedanfenlos (H mit Haut und Haar zu bemufifen. Das Pu-
biiftum iſt denn doch nachgerade fo weit erwacht, daß es neue
Opern in dem albernen, abgeſchmackten Zuſchnitte früherer
Zeiten bereits ziemlich unbarmherzig verurtheilt, und daß Pro»
ducte ohne kräftigen dramatifchen Aufihwung, troß ſonſtiger
Schönheiten, ganz unhaltbar geworden find.
Wir find gewiß fein Freund abnormer conventioneller
Formen, welde die Opernmuſik miögeftalten und über
die fi) auch begabtere Componiften oft nicht haben er»
heben können; indeß ift es nicht fo leicht, zugleich den
rein muflfalifchen Intereſſen Genüge zu leiften umd dabei
eine haarſcharfe Kritit des Formenweſens zur Geltung
zu bringen.
Der zweite Abfchnitt „Form“ handelt zubörberft über
allgemeine künſtleriſche Anforderungen an ein dramatiſches
Kunſtwerk (nach Hegel). Bei der Trage, ob der Componift
Menue über neue mufifaliihe Schriften,
den Text felbft dichten ſoll oder nicht, werden für beibes
die Bedenken und Bortheile zur Sprache gebradt. In ben
nächften Kapiteln Tommen bie Wahl der Stoffe, die allge-
meinen Erfordernifje des Textes, bie technifche Structur
defielben, Dialog, Melodrama zur Erläuterung. Der
Berfaffer fagt fehr richtig:
Eine an fi vollendet ſchöne Dichtung kann alfo untanglid
zur Compofttion fein, eben weil fie zu pollkommen unb daber
zu jelbftändig, ſchon für ſich allein ein abgerundetes Kunftwert
if. Set man zu einem folhen Wert Muſik, fo macht diefe
höchſtens einen ftörenden Eindrud u. |. mw.
Die Frage wegen des Dialogs in der Oper wird
von verfchiedenen Gefichtspuntten beleuchtet. Nach diefen
Borbereitungen gelangt der Berfafler zur „Compoſition“.
Die Abhandlungen über Befähigung und Berechtigung
zur dramatijchen Compofition, über dramatifche Geftaltung,
Charafteriftil, Situation, Declamation bringen, wie alle
andern Kapitel, eine reichhaltige Blumenleſe von Aus
ſprüchen der Autoren und zahlreiches Belehrendes für
den Studirenden. Im Kapitel über Anlage und formelle
GSeftaltung der dramatifchen Muſik heißt es:
Diefe Factoren (die verſchiedenen Gefühlsmomente, welche
mit dem mannichfaltigften Wechfel und Gemiſch von Affecten
und Situationen an den Componiften herantreten), wicht her⸗
kömmliche fereotype Schablonen und Geſetze find es, melde
unzweifelhaft in erfler Linie die Formen ber dramatijchen Muſil
bedingen. Dieſe Freiheit des Gedankens, der ſich durch feinen
Rüdblid auf Herlommen und Gewohnheit verfünmern lafſen will,
dieſes beharrli auf die Scene gerichtete Wollen, diefe unver-
brüdlihe Widmung und Hingebung an den dramatiſchen Inhalt:
das iſt der Charakter und die Ehre Wagners,
Der Berfaffer Hält es mit Wagner für Oruppirung
und einheitliche Wirkung einer Oper von großem Bor«
theil, wenn der Verlauf der Handlung dem Componiften
geftattet, ein ober mehrere Gauptmotive an dazu völlig
berechtigten Stellen zu wiederholen. Wir geftehen, daß
wir darauf nicht viel geben und es mit ber alten claf-
ſiſchen Schule halten (die Wiederholung bes Chors aus
der Gluck'ſchen „Iphigenie in Aulis“ in der Tauridifchen
Iphigenie ift eine ganz andere Sache). Weber Modulation
wird das Richtige nach Lobe vorgebracht. Nach furzer Bes
trahtung über „Thematiſche Kunft und Polyphonie‘” folgt
„Senauere Betrachtung der für die bramatifche Muſik ge-
eignetften Formen“ (Recitativ, Reim, muftlalifcher Dialog,
Enfemble, Chor), Zopff nennt es auffallend, wie
fpät fih im mufifalifchen Dialog und im Enfenrble die
Bolyphonie Herausgearbeitet hat. Noch bei Gluck finde
fi) Fein Duett mit felbftändig gegeneinander geführten
Stimmen, fondern entweder Wechfelgefang oder höchſtens
bomophone Mehrſtimmigkeit. Dies ift indeg nicht fo
ganz der Tal. Bei Gluck find die Duette natürlich
nur felten. In der „Iphigenia in Tauris“ z. 2. kommt
nur ein einziged vor (zwifchen Oreſt und Pylades im
dritten ct), aber von welcher Wirkung ift dies! Ebenſo
da8 Befchtwörungsduett im zweiten Act der „Armide“.
Diefe wenigen Beifpiele zeigen, daß Gluck ſchon das
Richtige erkannte,
Die folgenden Kapitel behandeln: „Das Orchefter”
(Charakteriftit und Anwendung feiner Zonfarben; felb-
ftändigere Verwendung befjelben zur Vorbereitung und
Ergänzung, Ouvertüre, Introduction, Entreact, Ritornell,
Zanz, Marfch m. ſ. w.; komiſche Oper, Operette, Sing«
Revue über neue muſikaliſche Schriften.
fpiel; die herrſchenden Opernflile; das nationale Element).
Rüdblid und Schlußfolgerungen. Bei „Bantomime und
Tanze“ find wol die fo charalteriſtiſchen Schthenmärjche
und Tänze in ber Gluckſchen „Iphigenie in Tauris“
blos vergefien worden; dagegen fünnten mande andere
Beifpiele wegbleiben.
Auffallenderweife Tieft man, daß Koffini mit dem
billigen Efjecte der großen Crescendos im Stretto feiner
Dwerturen felbft einen Beethoven in der erſten Leonoren ⸗
Duverture angeftectt habe. Fa, aber ift denn letztere nicht
lange, ehe Koffini als Operncomponift befannt wurde,
gefchrieben worden? Wir fimmen ganz überein in der
Berwerfung des Potpourriftild der Weber'ſchen Duver-
turen, bie, da fie Stellen aus der Oper bringen, mehr
Epiloge als Prologe zu nennen find. Wie ſieht es da
aber erſt mit der Tanhäufer-Duverture?
Ein eigenes Kapitel ift betitelt „Wagner’s Reformen“
(nad) Brendel). Auf das vielfach Uebertriebene, das in
den angeführten verfchiedenen Urtheilen über Wagner ent»
halten iſt und zulegt zum großen Theil in leeren Wortſchall
ausläuft, Yönnen wir hier freilich nicht eingehen.
Wie der Lefer aus unferer VBerichterftattung erſieht,
enthält das Buch des Dr. Zopff eine Fülle anziehender
Mittheilungen fir jeden, der fi für den Stoff und bie
geoählte Behandlungsart intereffict.
2. Gejchichte des Concertwefens in Wien. Bon Eduard
— Wien, Braumuller. 1869. Gr. 8. 8 Thlr.
gr.
Hanslid beklagt ſich in der Vorrede über die Mangel»
haftigleit der vorhandenen Materialien aus älterer Zeit,
indem die wiener Journale bis 1820 herab faft gar feine
Notiz don Concerten nehmen. Dennoch enthält das
Bud) viel Intereſſantes, wie bei ber hervorragenden
mufitalifchen Bedeutung Wiens allerdings zu erwarten
war. Hansfid tHeilt feine Darftelung in vier Bücher.
Das erfte Buch, „Die patriarchalifche Zeit‘ betitelt, veicht
von 1750—1800 und umfaßt die Epoche Hayın-Mozart.
Der Penfionsverein (Tonfünftlerfocietät) ift die ältefte
organifirte Muſilgeſellſchaft und das erfte öͤffentliche
Concertinftitut in Wien. Ihr Gründer war ber Hofe
Tapellmeifter Florian Gaßmann. Er Hatte als dreizehn»
jähriger Knabe das Aelternhaus verlaffen, als armer
Tarlebader Mufifant mit der Harfe die Welt durchreift,
Hatte Hunger und Kälte Kennen gelernt und hat das in
feinen guten Zeiten nicht vergefien. Zum Hoflapellmeifter
ernannt, gründete ec den Penfionsverein für Witwen und
Waiſen öfterreihifcher Tonkünftler, deſſen regelmäßige und
Haupteinnafme aus dem Ertrage bon vier jährlichen
Concerten beſtand. Die Mitglieder diefer Geſellſchaft
waren Fachmuſiler (die Mitglieder der kaiſerlichen Hofe
Tapelle bildeten den Kern), während bie übrigen erften
Eoncertvereine und muſilaliſchen Gejellfchaften in Wien
aus Dilettantenkreifen hervorgingen. Der faftenmäßige
Düntel der Tonkünftlerfocietät ift aus den Vorgängen
mit Haydn befannt, den die Gefellj—haft denn doch, um
die frühern Infolenzen der Inflitutsverwaltung wett zu
machen, endlich im Jahre 1797 unentgeltlih zum Mit⸗
gliede aufnahm. Hanslid erzählt, daß auch Mozart
Mitglied ber wiener Tonkünftlerfocietät zu werben
wünſchte und es niemals wurde. Die Nefolution auf
1870. ı8.
281
fein Geſuch lautete dahin, daß der fernere Beſcheid er-
folgen follte, wenn der Taufſchein beigelegt fein werde.
Da Mozart feinen Taufſchein wahrfcheinlid nicht finden
tonnte, fo erhielt er auch niemals einen Beſcheid. Ohne
Taufſchein ihm die Aufnahme anzutragen, fiel der Societät
nit ein. Daß Salieri, damals Präfect der Societät,
feinem Beſchiltzer Gluck nad) deſſen Tode auf Koften der
Societät ein Requiem veranftaltete, wurde von den Mit«
glicdern derfelben fehr gerügt. Im Yahre 1830 wurde
Zoſeph Lanner die Aufnahme in bie Gocietät verfagt,
„weil er bei der Tanzmuſik ift“, während man bie obfcur-
ſten Orceftermitglieder mit Vergnügen in bie Gocietät
aufnahm. Dratorien bildeten weitaus den größten und
wichtigften Beſtandtheil der Socieäts-Alademie. Zwifchen
den einzelnen Theilen ließen ſich öfters Virtuoſen hören.
In der ganzen Zeit bis 1801 finden ſich Händel's Orar
torien blos durch die einmalige Aufführung des „Judas
Maftabäus” vertreten. Haydn's Oratorien „Schöpfung“
und „Jahreszeiten“ waren die erften, welche ganz ohne
. Eoncert-Zwifchennummern zur Aufführung famen, unb nad}
dem Jahre 1808 wurde biefe Einrichtung conjtant.
Ein befonderes Kapitel handelt von ben fürftlichen
Brivatcapellen und dem muficirenden Abel, jene fir das
Mufiffeben namentlih in Wien fo wichtigen Momente,
welche mächtig zur Hebung künſtleriſcher Strebungen
beitrugen, wenn auch die Stellung der Künftler ihren
Sebietern gegenüber im vorigen Jahrhundert befanntlich
eine vielfach) erniedrigende war. Als gegen Ende bes
18. Jahrhunderts die fürftlihen Kapellen aufhörten, war
es dennoch immer noch der bel, welder die Muſik
pflegte und unterftügte Es ift befannt, wie einflußreich
und fördernd bie Mufifpflege des Adels für Beethoven
wurde. Seine Ouartette, Trios und Sonaten wurden
zum größten Theile in den Häufern Lichnowsty's,
Roafumowsky’s u. ſ. w. zuerft aufgeführt. Auf die Blu⸗
tenzeit der fürftlichen Kapellen folgte die eigentliche Pe⸗
riode der Dilettantenconcerte. Die Ariftofratie tHeilte ihr
Mufitprivilegium mit bem gebildeten Mittelftande, den
bürgerlichen Kunftfreunden, und trat e8 bald vollftändig
an legtere ab. Der BVerfaffer gibt einen Abriß ber
— der Liebhaberconcerte und Muflfvereine nicht
blos in Wien, fondern auch in Deutfchland überhaupt.
In der Regel wurde jedes Orcheſterſtuck ohne Probe vom
Blatt gefpielt. Unter ben Ausnahmen glänzt Stettin,
wo alle vierzehn Tage eine Vorübung gehalten und jebe
Symphonie dreis bis viermal probirt wurde, ehe man die ⸗
felbe öffentlich vorführte. Die „Berliner Müſikzeitung“
vom Jahre 1793 geräth darüber in bewunderndes Lob
und fügt bei, daß in Berlin feine einzige ordentliche
Probe zu erreichen fei. In Wien wurden die Spiritual«
concerte in den zwanziger und dreißiger Jahren ohne Probe
und bie Gefellfchaftsconcerte mit Einer Probe gefpielt.
Bon einer Partitur war obendrein in den Heinen Städten
nie die Rebe, der Concertmeifter dirigirte mit dem Bogen
aus der Violinftiimme. Nod am 6. März 1826 fpielte
man in Leipzig in einem großen Concert öffentlich bie
eben erfchienene neunte Symphonie von Beethoven blos aus
den Stimmen. Der Dirigent hatte die Partitur nie ge-
fehen. Der Mangel an Proben war e8 auch, der Frem-
den den Zutritt zu den Aufführungen erſchwerte, ſodaß
36
282 Reyue über neue muſikaliſche Schriften.
felbft die „Geſellſchaft der Deufilfreunde” in Wien noch
im Jahre 1825 anlündigte, wie Fremde zwar in ber
Geſellſchaftskanzlei (nit an der Kaſſe) Billets gegen
Bezahlung erhalten Innen, jedoch ihre Namen anzugeben
haben. Man fcheute fich offenbar vor der Kritik.
Den Schluß bes erften Buchs bilden die „Birtuofen-
concerte” in Wien im 18. Jahrhundert in fehr ansführ-
licher, nad den Juſtrumenten georbneter Beiprechung.
Anzeigen wie folgende vom 15. Januar 1783: „Herr
Kapellmeifter Meoffart (Mozart) macht die Herausgabe
“ drei neuer erſt verfertigter Klavierconcerte befannt,
welche gefchrieben auf Subfeription zu vier Dukaten in
feinee Wohnung zu haben find“, finden fich Häufig in der
„Wiener Zeitung‘ der achtziger Jahre.
Das zweite Buch führt die Bezeichnung: „Aſſociation
ber Dilettanten 1800—30. Epoche Beethoven -Schu-
bert.“ Die wichtigfte Geftaltung der Afjociation der Dis
fettanten ober des organifirten Dilettantismus in Wien
war die „Geſellſchaft der öſterreichiſchen Mufilfreunde*.
Der Verfaſſer gibt ein vollftändiges Verzeichniß der Con-
cexte derfelben bi8 zum Yahre 1824. Die folgenden
Kapitel begreifen: Confervatorien, Muſikzeitungen, patrios
tiſche Eoncerte und Wohlthätigleitsafademien, Spiritual-
concerte (der Cherubini-Eultus in Wien war auf allen
mufifalifchen Gebieten in den zwanziger und dreißiger
Jahren durchaus Iebhaft), die Pflege des Oratoriums
(Beethoven Tieß fich von der Geſellſchaft der Muſilfreunde
im Jahre 1819 auf ein für biefelbe zu componirendes
Dratorium 300 Dulaten Vorſchuß geben, componirte aber
nicht eine Note davon und that zeitlebens feinen Schritt
zur Zurüdzahlung bes Geldes), Quartettproductionen,
Birtuofenconcerte (wobei alle irgendwie namhaften Künftler
figuriren) n. f. w. Den Schluß diefes Buchs bildet ein
Kapitel, „Beethoven und Franz Schubert” betitelt. Die
große C-dur- Symphonie des legtern wurde erft im Jahre
1839 im Gefelfchaftsconcert bruchftücweife aufgeführt;
man gab nur die zwei erften Säge und trennte fie über⸗
dies durch eine Donizettifche Arie. Die erfte vollftändige
Aufführung in Wien erfolgte im Jahre 1850 durch die
Geſellſchaft der Muſikfreunde, welcher Schubert diejelbe
gewibmet und dafür 100 Gulden erhalten hatte.
Das dritte Bud: „Die Birtuofenzeit”, umfaßt bie
Periode 1830—48 (Epoche Liſzt⸗Thalbergſ. In den
Sahren 1815 — 30 waren in den 100 Concerten ber
GSefelfchaft der Muſikfreunde aufgeführt worden: Sym-
phonien von Beethoven in 35 Concerten, von Mozart
in 20 Goncerten, von Haydn in 2 Concerten. Don
den Mendelsfohn’schen Compoſitionen wurden feine A-molle
Symphonie erft 1851, die Muſik zum „Sommernachte»
traum“ erft 1852 aufgeführt. Das frühere Anfehen der
bon Dilettanten beforgten Gefellfchafts- und Spiritual«
concerte erhielt feinen legten Stoß und diefer Stoß gleich»
fam feine thatfächliche Sanction durch die Begründung
der Philfarmonifchen Concerte ſeitens der Oxcheſter⸗
mitglieder und des Kapellmeifters des Hofoperntheaters,
Dito Nicolai. Das erfte fand ftatt im November des
Jahres 1842. Uebrigens Batte ſchon früher Franz Lach⸗
ner Aehnliches verfucht, war aber des ungenügenden Er-
trags wegen genöthigt gewefen wieder aufzubhören. Mit
bald ins Stoden und hörten 1850 gänzlid) auf. Die
Entſtehung des Männergefangvereind und ber Schmibr-
Ihen Mufikzeitung gehört nod in biefe Epoche.
Der Berfaffer gibt ein Verzeichniß der Birtuofenconcerte
bon 1831 bis inclufive 1849. Die erfte Stelle nimmt
freilich Lifzt ein; außerdem Thalberg; dieſem ſchloß fid
die ganze Heerſchar der Inftrumentenbändiger an, welche
damals die Landftraßen weit und breit unficher machten.
Die Revolution von 1848 machte diefem wenigftens der
fchaffenden Kunft wenig förberlichen Gellimper ein Ende,
Bon Eomponiften ift vor allem Berlioz hervorzuheben, der
im Jahre 1845 vier Concerte im Theater an der Wien
gab, denen ein fünftes und fechstes im Januar 1846 im
großen Redoutenfaal folgten. Berlioz ſah den Eoncertfaal
ftetö gefüllt und konnte mit dem Applaus wie mit dem
materiellen Ertrag vollkommen zufrieden fein.
Das vierte Buch: „Epoche der politifchen Renaiſſance“,
wird als „Affociation der Künſtler“ bezeichnet und reiht
von 1848 bis auf die Gegenwart. Ende bes Jahres
1854 brachte die Gefellichaft der Mufikfreunde zum erften
mal ein Wert von Robert Schumann zur Aufführung,
die C-dur-Symphonte. Wegen der abfälligen Aufnahme
wurde erft zwei Jahre fpäter ein weiterer Verſuch mit der
B-dur»- Symphonie gemadt. Neben ihren ftatutenmäßi-
gen vier Geſellſchaftsconcerten veranftaltete die Gefellichaft
der Mufilfreunde noch Concerts spirituels (erft zwei,
dann bier); letstere erhielten fich aber nur wenige Dahre,
indem fie durch die wiedererftandenen pbilharmonifchen
Concerte unter Edert verdrängt wurben. Doch wir müflen
unjern Beriht bier abjchließen und es dem fich daflir
intereffirenden Leſer überlaffen, an der Hand bes fundigen
Verfaſſers felbft eine Wanderung durch die gegenwärtigen
Mufilzuftände der Kaiferftadt zu unternehmen.
3. Geſchichte der geiftlihen Dichtung und kirchlichen Tonkunß
in ihrem Zufammenhange mit der politiiden und focialen
Entwidelung, insbefondere des deutſchen Bolls. Bon H. M.
Schletterer. Erfter Band. Hannover, Rümpler. 1869.
Ler.»8. 4 Thlr.
Der Berfaffer fagt in feinem Vorwort:
Bol wäre der vorliegenden Arbeit der Borwurf zu machen,
daß dem Hiftorifch- politifhen Theil in ihr eine zu große Ant
dehnung eingeräumt wurde. einer Periode aber, wo man
den Spuren der Poefle und Kunft durch die größten flaatlichen
Umwälzungen und den erjchlitternden Jammer der Bölfer nad»
geben mußte und es oft ſchwer hält, die feinen Fäden, welde
fih am verſchiedene Kulturflätten anknüpfen Taffen, jeftzubalten,
lag es zu nahe, den gejchichtlichen Ereigniffen aufmerkſam und
eingehend zu folgen. In dem näcften Bänden, in benen bie
Schilderung des @eiftesiebens die Dberhand gewinnen fans,
wird auch das Berhältnig der Darſtellung ein anderes werben
föunen,, denn nicht felten werden dann bie öffentlichen An⸗
gelegenheiten von jenem beherrſcht oder werden fie als eime
Folge der Regſamkeit anf allen Gebieten des Denkens mb
Wiſſens zu betrachten fein.... Um den Umfang des Buchs nicht
allzu fehr auszubehnen, hat man von dem Griechifchen und La⸗
teinifhen nur die Ueberfegungen und nit die Originale ge
geben. Ebenſo finden fich die älteften deutichen Dichtungen nur
in neudeutfchen Webertragungen. in für den erfien Band be
flimmter liturgifcher Excurs wird im zweiten Band nachfolgen.
Die mufitalifhen Belege für das ganze Werk follen einen
Sammelband für fi bilden.
Der Inhalt des ungefähr 600 Seiten ftarlen Bandes
bem Abgange Nicolai's (1847) geriethen diefe Eoncerte | bringt es mit fi, dag wir unfern Lejern blos eine
Revue über neue mufilalifhe Schriften.
Anzeige befielben geben können, wobei wir nicht ver-
bergen mögen, daß der Berfaffer auch uns bed all»
gemein Hiflorifchen etwas zu viel gethan zu haben jcheint.
Wenigſtens im vorliegenden Bande ift ein großes Mis-
verhältniß zu der eigentlichen Aufgabe bes Werks ein-
getreten. Nach der bi8 ©. 49 reihenden „Geſchichte der
Poeſie und Mufit bei den alten Völkern‘, folgt in ein-
zelnen Abfchnitten die Geſchichte des SKirchengefangs der
verjchiebenen Jahrhunderte von Ehrifti Geburt an bis zum
10. Jahrhundert, welche bis ©. 454 reiht. Die legten
150 Seiten füllen, nah einem kurzen Niücdhlide, eine
„Auswahl geiftliher Dichtungen aus dem erften Jahrtaufend
der chriftlichen Kirche” (griechiſche, fyrifche, Lateinifche und
dentfche Kirche) und Berzeichniffe hymnologiſcher Quellen⸗
werte u. |. w.
4, Beiträge zur Gefchichte der Muſik der ältern und neuern
Zeit, auf muſikaliſche Documente gegründet, Bon F. 3.
xöHlih. Erſter Band. Ser Dürzburg, Stabel.
868. 4. 1 Thlr. 10 Ngr.
Die Vorrede beginnt mit den Worten:
Der würdige Berfafler Hatte diefes Werk noch felbft für
bie Heransgabe völlig bereift(!), als er am 5. Januar 1862 hin⸗
ſchied. Der Drud verzögerte fi inzwifchen zunächft der Zeit.
verbältniffe wegen; um fo dringender erjchien nunmehr die Ber⸗
öffentlihung des Werks als ein Act der Pietät, zugleich als
wefentliche Förderung der Wifjenfdaft.
Eigentlich bildet die über 100 Seiten lange Schrift
eine weitausholende Betrachtung und Erläuterung zu ben
Doeumenten, welche der zweite Band bringen fol. Ra-
türlich ift der größte Theil der alten Muſik, ein Heinerer
Theil der Mufit der chriftlichen Zeit bis Paleftrina ger
widmet. Alles Spätere ift blos Anhüngfel. Es möchte
jchwer fein, einen begeiftertern Bewunderer der altchine-
fifchen, hebräifchen, griechifchen Muſik zu finden als den
Berfofir. Man könnte manchmal glauben, daß es ſich
um ganz andere Dinge, um große tiefe Kunſtwerle der
Renzeit handle, nicht um die fargen Reſte, weldhe uns
von der Muſik der alten Völker geblieben find. Der Ver⸗
fafier, feinerzeit Profeſſor ber Aeſthetik, philofophirt übri⸗
gens ganz unterhaltend, indem er ben Zuhörer an der
Anstellung feiner Documente vorüberführt; nur fcheint
es uns, als wenn ihn biefe im Stich Ließen, und als ob
er bie Erwartung der Zuſchauer etwas zu hoch fpanne.
Doch das ift ja bie Eigenheit vieler Cicerone. Wir glau-
ben gern, daß der geeignete Lefer mancherlei Anziehendes
amd Belehrendes in der Schrift finden wird, wenn aud
vieles freilich mit einiger Kritik aufzunehmen fein dürfte,
5. Giacomo Meyerbeer. Sein Leben und feine Werl. Bon
Hermann Mendel. Berlin, R. Leffer. 1869. 8. 10 Ngr.
Die ungeführ 150 Seiten ftarle Schrift in Klein⸗
octad gehört zur „Weltbibliothek“, welche in bemfelben
Berlage erfcheint. Die Borrede jagt:
Die Namen Aleranber von Humboldt und Giacomo Meyer-
Beer, allenthalben bewundert und bochgefeiert, follen, wie fie
in aller Munde und Herzen find, in einer Weltbibliothel nicht
fehlen. Daß perfönlihe Zuneigung und Bewunderung ben
Berfaffer wärmer und berzlicher fprechen laſſen als einen Frem⸗
ben, welcher ausfchlielid, aus mittelbaren Quellen ſchöpft, wird
283
ihm, welcher im übrigen der Wahrheit die Ehre zu geben be»
fliffen ift, nit zum Vorwurf gereichen.
Sol das etwa eine Entfchuldigung fein? Wir glau-
ben allerdings, daß der Berfafler zu ſtark für feinen Hel-
den eingenommen ift und in einer Weife flir denfelben
plaidirt, welche geeignet fein möchte, Kopffchütteln unter
den Mufifern von Fach nicht nur, fondern auch bei dem
feiner gebildeten muftlalifchen Publikum zu erregen. Nach
unferer Anſicht müßte e8 fchon ſchwer genug fallen,
Meyerbeer's tonkünftlerifches Wirken in feinem Schielen nad)
allen Gefhmadsrichtungen Hin genügend zu redhtfertigen,
und Mendel gibt uns flatt deſſen einen Panegyrikus zu
lefen, dev Meyerbeer ungefähr in eine Linie mit Mozart
und Beethoven ftellt, aber zugleich auch die Unzulänglichkeit
des Autors beweifen Fünnte, feiner Aufgabe in anderer Weife
als in einer blos literarifchen gerecht zu werden. Und
offenbar handelte es fich aud blos um eine Darftellung,
die aller Fritifchen Erörterung aus dem Wege ging.
©. 7 heißt es:
Er war in bemfelben Jahre unter glücklichen Eonftellatio-
nen geboren worden, in welchem im Wien der große Mozart
ohne Klage fein junges, durch Noth und Sorge verbittertes
Dafein befchloffen Hatte, um hinterher Hoch verehrt und bewun-
dert zu werden. Könnte man nicht Hierin einen der geheimniß-
vollen Züge des Schickſals finden, daß es der Welt den un⸗
vergleihlihen Schöpfer des „Don Inan“ in dem Augenblid
entriß, wo es als ige Nachfolger den Eomponiften der
„Hugenotten“ erfiehen Tieg® Die bob Kunſtmiſſion, von der
Bühne aus in der Weltfpracdhe des Gemüths, in Tönen, nicht
blos zu einer Nation, fondern zu allen (?) Völkern der Erde
eindringlich und erhebeud zur veden, welche Mozart zuerft über»
nommen Batte, von wen wurde fie zunächſt wieder im demſel⸗
ben (?) großartigen Sinn aufgenommen und durchgeflihrt als
bon Meverbeer?
Mendel überficht dabei blos den Heinen Unterſchied,
daß Mozarts Muſik fich allgemeine Anerkennung errang,
während Meyerbeer nur nad) Opferung aller fünftlerifchen
Individualität und jedes nationalen Charakters durch Con⸗
ceffionen an den Geſchmack der Menge ſich Bahn brach.
Auf der folgenden Seite erzählt der Verfafler, . wie der
kaum dreijährige Knabe bier und dort einmal gehörte
Melodien zu Haufe ohne jede Anleitung bewundernswerth
richtig mit ber rechten Hand auf dem Pianoforte nad)-
ipielte, während die linke in felbftgefundenen Harmonien
dazu accompagnirte. Belanntlich wird in folchen Dingen
viel gelogen; übrigens ift die Sade an ſich unerheblich.
Wir haben Wunderfinder genug gehabt, aus denen fpäter
nichts Bedeutendes geworben ift. Meyerbeer’s erftes Auf-
treten als Pianift fällt ins Bahr 1800, wo er als neun-
jähriger Knabe das D-moll» Concert von Mozart vortrug.
Wir lönnen dem Verfaſſer in feiner Darftellung, die
im allgemeinen nichts Unbelanntes bringt, aber einen
fließend und unterhaltend gefchriebenen Lebensabriß bes
Componiften liefert (abgefehen von Stellen wie 5. B.:
„Bon einem gaftrifch-nervöfen Fieber ergriffen, wirkten bie
Bäder von Spaa” u. f. w.) freilich nicht weiter folgen.
Den Zwed, welchen ber Autor mit feiner Leiftung zu
erfüllen hatte, wird er jedenfalls genügt haben, und mehr
ift ja bei Schriften diefer Art nicht nöthig. -
96 *
Bom Büchertlſch.
Vom Büchertiſch.
1. Aphorismen ans den Papieren eines Verſtorbenen. Nürn⸗
berg, dv. Ebner. 1869. 8. 1 Xhlr.
Nach einer Einleitung, die einen kurzen biographifchen
Abriß bietet, ohne jeboc die Perfünlichkeit des verftorbenen
Autors näher zu bezeichnen, werben uns die Briefe defjelben
an Verwandte, fodann mehrere Abhandlungen religiöfen und
philofophifchen Inhalts vorgeführt. „Weber religiöfe Ideen’
handelt der erfte Aufſatz; an ihm fchließen fi) „Unter-
fuhungen über ben Staat‘, eine „Pſfychologie“ über⸗
fchriebene ſehr aphoriftifche Darlegung biefes inhaltvollen
Begriffe. Aus allen diefen Unterfuchungen, die mehr
bedeutfamen Inhalt als gefällige Form haben, Teuchtet
ein freier und gewiffenhafter Geift hervor, der fih nur,
3. B. im erfigenannten Aufſatz, über gewifle philofophi-
Ihe Syfteme, liber das bes Pantheismus in den land»
läufigen Anfchauungen, bewegt, fonft aber die Treiheit des
Denkens ſich überall bewahrt hat. Wenn der Autor in
feinen „Aphorismen über religiöfe Ideen zu dem Re⸗
fultat kommt, die Religion habe nicht blos die Ideen der
Sittlichkeit in Gott hineingelegt, fondern in beren Ges
folge auch alle Unfittlichkeiten; wenn er vom Socialismus
ausfagt, er fei der Traum der Hungernden Maſſe von
ewig gededten Tifchen mit Muſik und Tanz, fo ift das
ein bedeutender Freimuth nad) links und rechts, der
aus diefen Anfichten fpricht. —* minder wahr und
fein empfunden find bie zahlreichen Definitionen ethiſcher
und logiſcher Erfcheinungen, die in den „Aphorismen‘
über Piychologie zu Tage treten. Und wenn wir aud)
nichts weiter aus biefen „Uphorismen” lernten, als daß,
wie auf S. 256 erzählt wird, bei den Eskimos fich ein
ftarker fittlicher Trieb findet, jo wäre bamit in der That
fhon bewiefen, daß ber fittliche Trieb Tein Product weit
vorgejchrittener Bildung ift, fondern zu den urfprünglich-
ften, unmittelbarften Regungen ber Seele gehört.
2. Vorſchlag an die —5 einer vernünftigen Lebensführung
von A. Spir. Leipzig, Findel. 1869. GEr. 8. 3 Ngr.
Spir, dem wir ſchon öfter in d. Bl. begegneten, macht
in vorliegender Broſchüre den Vorſchlag, eine Art prote-
ftantifcher Klöfter zu gründen, wo, wie Leſſing einmal vor-
ſchlägt, ein lediger Mann ungeftört und doch nicht ver«
einfanıt feinen Befchäftigungen obliegen könnte. So ftellt
Spir, nach einigen Kapiteln philofophifcher Debuction, das
Broject einer Gemeinde vernünftig Lebender, alſo einer
Art moderner fratres communis vitae, auf. ©. 29—86
gibt er 22 Paragraphen einer philofophifchen Kloſter⸗
orbnung an, die befonders in $. 14 cine große Abneigung
gegen den Fleiſchgenuß zeigt und in $. 20 fehr natur⸗
ärztlich die möglichfte Vermeidung aller Arzneien vorjchlägt.
Der Plan ift jo übel nicht, wenn er ſich nur verwirklichen
ließe. Die Freunde biefes Unternehmens, auf das wir
unfererjeit8 nicht verfehlen aufmerkſam zu machen, bittet
Spir, fi Brieflih an die Verlagshandlung des Herrn
I. ©, Findel in Leipzig zu wenben.
3. Rede beim Schluß der erflen ifraelitifchen Synode zu Leip⸗
zig am 4. Inli 1869 gehalten vom Präfidenten der Synode
M. Lazarns. Nebſt der Anfprache bes Oberrabbiners
Löw aus Szegedin an den Präfidenten. Leipzig, Liſt und
Srande. 1869. Gr. 8. 10 Ngr.
Wenn Lazarus ein Wort fpricht ober ſchreibt, fo
weiß alle Welt, daß es ein gutes ift, das aus klarem
Kopf und warmem Herzen ſtammt. So ift auch diefe
Rede des hervorragendften der gegenwärtigen jüdiſchen Phi-
Iofophen, der vermöge feiner Hohen Bedeutung in ber
preußifchen Hanptftadt ein Ehrenamt befleidet, wieder ein
Zeugniß von feiner großen redneriſchen Begabung, der e8
ebenfo darauf anfommt, wie fie e8 fagt, als was fie
fagt. Wenn ſich Lazarus mit der Synode auf den Stand⸗
punkt der Idealität und Religioſität ftellt, die gegen die
Berflahung kämpfen, wenn er betont, daß das Judenthum
mehr auf das Innere fehen folle als auf die äußere
Form, wenn er Berfühnung aller Denkenden fordert: dann
bören wir nicht nur diefe inhaltsvollen Worte, wir be=
wundern auch bie gejchmadvolle Form bes Redners. Und
mehr noch, wir würdigen mit bem Oberrabbiner Low die
Bedeutung des Moments, daß, wie Lazarus' Beiſpiel zeigt,
die Philofophie, was felten gefchieht, mit der Theologie
Hand in Hand gegangen if. Selten wird bie Lektüre
einer Rede fo reiche Denkfrlichte tragen wie die Yel-
türe der 18 Seiten von Lazarus’ Rebe auf der leipziger
Synode. |
4. Die Wahl des Berufs von Alfred Schottmüller,
Separatabdrud aus dem raftenburger Gymaſialprogramm.
Raftenburg, Schlemm. 1869.
Noch immer ift die Programmenliteratur, troß ber
Borfchläge Reinhold Bechftein’s, vielfach im Dunkel ver»
graben und kommt über die Zahl. ber Pflichteremplare
Binans wenig zur Kenntniß des Publikums, vom Bücher»
markt ift fie faſt ganz ansgefchloffen. Da ift es denn
danlenswerth, daß ftatt der beliebten philologifchen, mathe-
matifchen und antil-Biftorifchen Excurſe einmal ein reales
Thema uns in vorliegender Arbeit zu Tage tritt, das
feinen Stoff in gefchmadvoller und zwedmäßiger Weife
behandelt und alle Chancen fir die Wahl eines pafien-
den Lebensberufs nad) ihrem Für und Wider mit lehr⸗
hafter Sorgſamkeit abwägt.
5. Populäre Vorträge über Dichter und Dichtkunſt von Ernſt
nad. Erſte Sammlung. Trieſt, Schimpfl. 1870.
Gr. 8 20 Nor.
Ein eigenthlimliches Zeichen der Zeit ift die aufe
fallend fid) mehrende Anzahl äfthetifcher Vorträge, gewiß
die Signatur eines reflectivenden Zeitaltere. Auf unferm
Büchertiſch bilden die Afthetifchen Abhandlungen, die fidh
mit mehr oder weniger Gefhmad über Dichter und
Dichtwerke verbreiten, meift den Stamm, an ben fi
Werke naturwifienfchaftlichen, Hiftorifchen, politifchen, jurie
ftifchen, philofophifchen und hygieiniſchen Inhalts erft in
zweiter Reihe anfchliegen. Auch die vorliegenden Vorträge
find Abdrücke xhetorifcher Erpectorationen, die vor einem
Publitum beiderlei Geſchlechts gehalten worden find.
Ueber den Charalter der Heine’fchen ‚Dichtung, über den
Weltſchmerz in der Poeſie, über Goethe's Lyrik verbreiten
fie fih und wir Können ihnen das Zugeftändniß machen,
daß fie die ſchon vielfach breitgetretenen Themata, wenn
aud) nicht von einem neuen, fo doch don einem verftändniß«
innigen Standpunft aus befpredhen. In Defterreich bes
findet man fid) noch auf einer naivern Stufe der Poefie
gegenüber als im deutſchen Norden, Man Tann fi dort
«
—— — — — — — — — — 70 m — — —
noch lebhaft an einer Debatte über Schiller (den der
Oeſterreicher hoch verehrt), über Goethe und feine Lyrik
u. a. m. betbeiligen, wo der blafirtere Norddeutſche fich
gelangweilt wie von einem überwundenen Standpunft ab-
wenden würde Da nun Gnad's Darftellungen nächſt
gründficher Kenntnif des Gegenftandes ſich auch durd)
Lebendige bilderreihe Sprache auszeichnen, fo wird man
wol dieſe Discurſe mit nicht minderm Beifall aufnehmen,
als es das triefter Publikum gethan hat.
6. Beiträge zur Vor⸗ ober Anrede der zehnten Auflage ber
von Dr. Ludwig Büchner verfaßten Schrift: „Kraft und
Stoff.” Bon M. E A. Naumann Bonn, Cohen und
Sohn. 1869. Gr. 8. 8 Nor.
Es ift eine perfönliche Angelegenheit, die Naumann
in vorliegender ftreitbarer Brofchlire mit dem vielberufenen
Berfafler von „Kraft und Stoff” ausmacht. Der ge-
lehrte Herr geht feinem Gegner fcharf zu Leibe; da wir
indeß Naumann's Schrift: „Die Naturwifienfchaften und
der Materialismus“, die den Ausgangspunkt vorbemerkter
Fehde gegeben, nicht fennen, fo vermögen wir auch nicht
zu ermeilen, inwiefern jeder der Streitenden recht hat
oder nicht. Eins aber wiflen wir doch. Wenn Büchner
feinen Widerfachern vorwirft, daß fie, da es mit dem
Widerlegen nicht recht gehen wollte, ſchließlich fi auf das
Schimpfen verlegt hätten, fo können wir genanntem Herrn
dreift verfichern, daß feine eigene Begabung in diefer
Brande .wol noch von feinem ſeiner Gegner übertroffen
worden ift, von Naumann, der ſich eines durchgängig
anftündigen Tons befleißigt, am allerwenigften.
7. Religion, Moral und Philoſophie ber. Darwin’ihen Art-
fehre nad) ihrer Natur und ihrem Charakter als Meine Pa-
rallele menſchlich geiftiger Entwidelung. Leicht verftändlich
hervorgehoben -von Wilhelm Braubad. Neuwied, Heu⸗
fer. 1869. ©r. 8. 12 Ngr.
Wenn die Pfychologie nach Baftian’8 Wort die Wilfen-
Schaft der Zukunft ift, fo ift die. Wiflenfchaft vom Men⸗
ſchen ſchon jet der Gegenwart Pflicht und Bedingung.
Was Darwin in feiner epochemachenden Artenlehre vom
Pflanzen⸗ und Thierreih auseinanderfett, das will Brau⸗
badı in feiner Schrift auf den Menfchen angewendet
wiflen. „In dem Menfchen als Mikrokosmus“, fagt
Braubach, „Tann das Naturgefez der Bervolllommnung
nicht untergehen, auch nicht in finnlicher Vernichtung; es
ſpielt feine Role in jedem Yortfchritt, auch neben ſchlech—
tem Rüchkſchritt.“ Allerdings rechtfertigt fich aus diefem
Gefichtspunkt der Verſuch einer Parallele menfchlicher
Entwidelung mit der Artlehre Darwin’s. Der Berfafler
bat e8 in geiftvoller Führung des Inhalts, wenn aud)
in oft baroder Form unternommen, für die menfchliche
Entwidelung die Gefegmäßigkeit der eracten Wifjenfchaft
in Anfprucd zu nehmen; ein ähnliches Unternehmen, wie
e3 Budle in Bezug auf die Gefchichte verfucht Hat. Es
wiirde dem zugemeſſenen Kaum dieſer Referate nicht ent-
fprechen, wollten wir genauere Details über Braubach's
Ableitungen und Hypothefen geben; der denfende Autor
fielt ein Schema pſychiſcher Fähigfeiten auf, das in
fi fo viel Parallelen aufweiſt, wie feine Schrift der
Darwin’fchen gegenüber durchführt. Wenn er jedod) nad)
der gründlichen Erläuterung diefes Schemas zum Schluß
anf die nene Urt zu fprechen kommt, die aus der Menſchen⸗
Vom Büchertiſch. 285
art, ähnlich wie dieſe aus einer niedern Thierart ent⸗
ſtanden, hervorgehen ſoll, ſo ſcheint er ſich etwas ins
Vage zu verlieren. Oder iſt ſeine Hypotheſe über die
Engelart von fo verſteckt ironifcher Färbung, daß ſie ge-
wiſſen naturwiffenfchaftlichen Confequenzen, denen fle doch
im Grunde beizuftimmen fcheint, einen leifen Hieb ver-
ſetzen will, während fie doch vorher an der Seite ber
neuen Phyfiologie wader dad Secundantenamt ausge⸗
übt bat?
8. Die culturgefchihtliche Bedeutung des Hülfsvereins⸗Weſens
mit befonderer Berüdfichtigung der Friedensthätigkeit der
Genfer-Sonventions-Bereine und Begründung eines natio-
nalen Hülfsvereine. Bon Marimilian Schmidt. Gotha,
Zhienemann. 1870. GEr. 8. 8 Nr.
Schon das neulih von uns befprochene Buch Yon
Esmarch Hat über das Weſen der Hülfsvereine intereffante
Aufjchlüffe gegeben. Eingehender nod und ausführlicher
ale Esmarch zeigt und Schmidt bie erfprießliche Thätig-
feit der genfer Conventionsvereine. Nach einer forgfältigen
Beleuchtung der Errungenfchaften diefer internationalen
Thatfache kommt er auf die fehr wünfchenswerthe Um-
Ihmelzung der einzelnen Vereine in einen nationalen
Hülfsverein für Krieg und Frieden zu fprechen. Hören
le Berfaffer felbft, wie er fih auf ©. 36 aus-
pridt:
Die Erweiterung der vaterländifchen Vereine der Genfer
Convention zu einem foldhen beutfchen Hülfsverein erfcheint uns
thatſaächlich als eine natlirlihe Bedingung, um dem für die Ar-
men und für die Nation gleich wichtig werdenden Unternehmen
die erforderliche Theilnahme in allen vaterländifchen Kreifen
dauernd zuzumenden, und e8 wäre fehr zu wünſchen, daß von
diefen Bereinen felbft das Signal Hierzu gegeben und eine Be⸗
wegung nad diefer Richtung hin in Gang gelegt werden möchte.
Denn einmal find gerade fie mit ihrer bereits befiehenden Lan-
dbes-, Provinzial-, Kreis- und Localorganifation vorzugsmeife
eeignet, zur erften Grundlage und zum Ausgangspuntt einer
im nationalen Stil zu entwidelnden Hüffsthätigkeit gewonnen
: zu werden; fodann bieten fie durch ihr ausgeiprochenes Princip
eines durchgehenden Zuſammenwirkens mit den ftaatlidhen Or-
ganen bie fichere Bürgſchaft einer Tendenz, welche eine ſolche
Einrichtung ſowol vor dem Misbrauch wie vor der Beſorgniß
vor dem Misbrauch ſchlitzen wilrde, und endlich wäre eine ſolche
Umwandlung das unverlennbarfte äußere Anzeichen der erwei-
terten Beſtimmung.
Das find beherzigensmwerthe Worte, die, da fie von
ſachverſtändiger Seite ausgegangen find, wol auch der
Beachtung nicht ermangeln werben.
9. Die Semi. Gäcularfeier der kbniglichen Kunftafabemie zu
Düffeldorf in den Tagen des 22., 23. und 24. Juni 1869.
Herausgegeben von Ludwig Bund. Diüffeldorf, Budich.
1870. ©r. 8. 1 Thlr. 15 Ngr.
Auch die feftlichen ISubeltage der büffeldorfer Afademie
haben ihre Gefchichte, die Erben Schadow's haben ihren
Bafart gefunden. Bund gibt uns ein treues Bild der
weihevollen Tage vom 22. bis 24. Juni 1869; er ver⸗
gißt auch das Meinfte Detail nicht, führt Reden, Gedichte,
Beftjpiele (darunter das gelungene Feftfpiel von Camp—
baufen) ausführlich an, erwähnt auch die Heinften Zeichen
föniglicher Huld und, was das wichtigfte ift, gibt einen _
gründlichen hiſtoriſchen Vorbericht über die Entftehungs-
gefhichte der Akademie. Das Ganze ift etwas weniger
troden gehalten, als ſolche Aufzeichnungen post festum
in der Regel zu fein pflegen.
poems of Julius Rodenberg, translated into English verse
286 Feuilleton.
10. Oſtfrieſiſches Jahrbuch. Altes und Nenes aus Oſtfries⸗
land. Heransgegeben unter Mitwirkung von Keunern und
Greunben oſtfriefiſchen Landes und Volle. Erſter Band.
fies Heft. Emden, Haynel: 1870. 8. 10 Nur.
Die Oftfriefen, deren Geſchichte neuerdings mit Glück
dramatifche Behandlung gefunden hat — wir erinnern an
MWeilen’s „Edda“ und Kruſe's „Gräfin“ —, wollen, wie
es ſcheint, thatkräftig in die deutſche Literatur eintreten,
Sie haben in vorliegenden „Jahrbuch“, das, weil es viel
bringt, mandjem etwas bringt, einen lobenswerthen Anja
dazu gemacht. Da finden wir im „Jahrbuch“: eine emde⸗
ner Stabtgefchichte: „Die Watergeufen“, von Harberts;
dann eine ethnographifche Skizze über die Zigeuner in
Ofifriesland; ferner Schwänfe, Sagen und Aberglauben,
biftorifche Kleinigkeiten; und endlich unter der Rubrik: „Am
Theetiſch“, Heinere Mittheilungen aller Art. Das ganze
Werken hat eine angenehme leichte Phyfioguomie, mit
der es ſich gut auskommen läßt und bie gewiß geeignet
ift, den Oftfriefen die langen Winterabende zu verkürzen.
11. Satanas in Neuyorl. Na dem amerilaniſchen Original.
Herausgegeben von Adalbert von Wildenfels. Ber:
lin, Langmann und Comp. 1870. Gr. 16. 20 Rgr.
12, Tagebuch des Sultans. Erinnerungen au Paris, London,
Koblenz, Wien. Nach der türkiſchen Haudſchrift. Berlin,
Langmann und Comp. 1870. 16. 20 Ngr.
Wir haben es hier mit zwei Verlagswerken eines jener
berliner Buchhandinngen zu thun, die mit Vorliebe ihren
Berlag der pilanten fatirischen Branche zuwenden. Wir
wollen es nicht allzu genau nehmen und nicht weiter nad)
.
dem „amerifanifchen Drigmal” und „ber türkifchen Hand-
Schrift” fragen. „Satanas in Neuyork“ ift eine Urt mo⸗
derner Hauff’fcher „Memoiren des Satans” und ein ple-
bejifches Gegenftüd zu ber nobel gefchriebenen Gatire
Laboulaye’8 „Paris in Amerila”. Wenn bei Laboulaye
Nordamerila vom optimiftifchen Standpunkt aus be=
trachtet wird, jo ift e8 ein fehr pefftmiftifches Gemüth,
das bier diefe Philippifa gegen bie PYankees fchleudert.
Biel witiger und wirklich fatirifh im beften Sinne
ift das „Tagebuch des Sultans” verfaßt. Es ift das
eine ironiſche Illuſtration der Zeitgefchichte, die mit dem
Griffel des „Punch“ gemalt ifl. Die europäifchen Mis—
fände können kaum treffender gegeifelt werden als in
dem ammfanten Reiſetagebuch des Beherrſchers der Gläu-
bigen am Bosporus.
13. Zimpel’s Auszug aus „Die elfte Stunde mit dem Anti⸗
rin. Achtundzwanzigſte Auflage. Frankfurt a. M., Win⸗
ter. 8. 7%, Nor.
Man erlafie uns, ein Kefume bdiefes tollen Buchs zu
geben. Wenn man den Propheten Daniel und die Offen-
barung Bohannis in folder Weife zu Deutungen auf
heutige politifche Zuftände benutzt, wie es hier gefchiebt,
fo kann man foldye, leider zu allen Zeiten beliebte Pro⸗
pbezeiungen und Auslegnngen biblifcher Bücher in ihrem
balb religiöfen, halb lächerlich profanen Miſchmaſch nur
widerlid finden, ſodaß mir uns bie achtundzwanzigſte Auf-
loge nur durch eine brennende Neugierde der großen
Menge nach allem Abſonderlichen erflären Lünnen.
Fenilleton.
Notizen.
Bon Iulins Rodenberg's Gedichten iſt in Amerika
eine engliſche Ueberſetzung erſchienen unter dem Titel: „The
and the original metres, with the German text on the op-
posite page by William Vocke'' (Chicago 1869). Gegenüber⸗
ſtellung des deutſchen und englifchen Zertes läßt Vergleichun⸗
gen zu, welche die Ueberjegung nicht zu ſchenen braucht, ba
fie ſowol durch Trene als durch anmuthige Freiheit der Be⸗
wegung fich hervorthut. Dan vergleiche 3. B.:
Frühlingeſonne.
Frühlingsſonne tritt mit Funkeln
Aus ben Wolfen; Märzluft weht,
Zief am Berg, im Wald, bem bunfeln,
Und am Strom ber Schnee zergeht.
Beilchendüfte, Lerchenſchall,
Glanz und Inbel überall.
D wie wonnig,
D wie fonnig,
Wenn der Frühling auferſteht.
Spring-sun.
Golden 8pring-sun bright is sparkling
Through the clouds, while March winds blow;
On the hills, in forests darkling,
Near the stream he melts the snow.
Violet odors, lark-songs fair,
Joy and lustre ev’rywhere.
O, how cosy,
O, how rosy,
When Spring’s beauties newiy glow!
Der „Bexein zur Verbreitung guter und wohlfeiler Volls⸗
ſchriften“ in Zwidau verdient wegen feiner ſtillen, aber nad
baltigen Wirkſamkeit nnd des großen Lejerfreifes, den er für
feine Beröffentlihungen gewonnen bat, in den Organen ber
Breffe nach Verdienſt hervorgehoben zu werden; ber geſunde,
von allem Pietismus freie Sinn, der feine Drudtäriien be⸗
ſeelt, macht dieſelben um ſo empfehlenswerther, je mehr andere
Vereine, namentlich in Norddeutſchland, die Vollebildung im
Geiſt der Innern Miſſion betreiben. Auch auf Erweckung des
vaterländiſchen Sinns hat der zwickauer Verein fein Augen⸗
merk gerichtet, wie eine uns vorliegende Volleſchrift beweiſt:
„Aus deutfhen Gauen. Bilder und Skizzen von beutfcher
Erde“, von Rudolf Müldner (Zmidan 1870). Der Ber-
fafjer ſchildert einige von der großen Heerfiraße abliegende Ge⸗
enden volksthümlich und mit Venugung der gejhichtlicen
ocumente, deu Petersberg, den Iberg, die Tour von Aachen
nach Lüttich, ferner das Schill-Monument in Braunſchweig
u. a. in allgemein verfländlicher und anfprechender Weiſe.
Alfred Meißner, der Dichter des „Ziska“, abgeftoßen
vom Treiben der Ezechen, deren Vergangenheit feine Mufe ver-
herrlichte, hat Prag verlaffen und iſt nach Bregenz lbergefie-
beit, wo er fih ein Beſitzthum erwarb. Er ift jet mit der
forgfältigen Revifion feines im Feuilleton der wiener „Brefje’‘
erfhienenen Romans: „Die Kinder Gottes’, befchäftigt, der
demnädft bei DO. Janke in Berlin in drei Bänden ericheinen
fol. Emil Brachvogel, ber fi jetzt meiſtens in Dittel-
deutfchland aufhält, hat feinen Wohnort in Eijenad) aufgegeben
und ift nach Weißenfels übergefiedelt,
Bon welcher Bedeutung die Wirkung eines Autors, eines
Denters, oft nach defien Tode noch ift, erfehen wir aus einer
Schrift, die aus den Werten eines bedeutenden Philofophen
unter dem Separattitel erfhien: „Die erfofiung ber chriſtlichen
Kirche und ber Geiſt bes Ehriftentbums. Blitzſtrahl wiber
— Dun — —
Feuilleton. 287
Kom von Kranz von Baader‘ (Erlangen, Deidiert, 1870).
Baader konnte nicht ahnen, daß feine Production Heute, unter
den Verhandlungen des ölumenifcen Concils, ihre ganze Ener»
gie geltend machen werde. Ber biefe Populär gehaltene Schrift
lien, wird die gegenwärtigen Vorgänge in Rom mit ganz neuein
Iutereffe verfolgen. Der Autor iſt ein fo treuer Anhänger der
Wahrheit, ein jo tapferer Verfechter bes mahrhaften Foriſchritis,
daß er mit edler Rüdfictslofigkeit die unglaublichen Aumaßun⸗
gen befeuchtet, welche fid} in einem großen Theil der bisherigen
irhengefdichte vorfinden. Für alle Confeffionen, für die
Rechte aller Gemeinden und civilifirten Nationen, für die Ges
gear in ihren wichtigſten Problemen iſt obiger „Bligftrahl‘
der's don außerordentlicher Zündkeaft, damit alles Morſche,
Unhaltbare, Abgeftorbene, der Vernunft, dem Weſen und Wil
Ien Gottes inerfpreßenbe gefundem Leben Play made. Wir
Können demnad; die Verbreitung und Leftüre der von uns ge-
nanuten Schrift nur aufs angelegentlichfte empfehlen.
Grein's Heliand-Ueberfegung.
Bor nun bald 15 Jahren erſchien von Grein eine Heliand-
Ueberfegung, melde fih freunbficher Aufnahme erfreute. Der
Rachdichter war bemüht, feinem Werke eine größere Volllom⸗
menheit zu geben, aber flatt am der alten Ueberfegung beflänbig
au beffern und zu feilen nnd Ah: auf ſolche Weiſe umzuarbeiten,
entf&loß er fi, lieber die janz von neuem zu begin.
men. Diefes verjlingte Werk "liegt jet 1 Da it unter folgendem Titel
vor: „Der Heliond ober die altfähfihe Cvangelienharmo-
mie. Üeberſetzung in Stabreimen nebit einem Anhange von
C. W. M. Grein.“ Zweite durchaus neue Bearbeitung (Rafe
fel, Kay, 1869). Wir zweifeln nicht, daß dieſe Ueberfeßung in
ührer neuen Geſtalt dazu beitragen werbe, der Heliand-Dichtung
immer mehr Freunde zu gewinnen. Die Uebertragung if, wie
wir uns überzeugt, möglichft — dabei macht fie nicht im
mindeſten den Eindrud der Gebundenbeit; im einzelnen if frei»
id) der Ausdrud, um einestheils dem Originale Genlge zu
thun und anderntheils den Stabreim zur Geltung zu bringen,
mandmal etwas geſucht ausgefallen. Die Kapiteleintheilung
if We Grein anders getroffen als in ber bielgebrauchteü
— HR Heyne’, dod find die Rapitelzahfen derfelben
tens ben
werte aha befeet über die literarhiſtoriſchen Ber-
Häftniffe. Es werden da die verfdiedenen Hanbferiften und
Ansgaben genannt, und im Anſchluffe an Bilmar’s bedeutendes
amd einflugreihes Buch über die Altertümer im „Heltand" der
deutſche Charakter des Gedichts gezeigt. Ein zweites Kapitel
beiprit. „Die Quellen des Hellaud“. Grein hat über diefen
Bunkt eine eigene Monographie a? (Kafjel 1869) als
erſter Band der „Heliand- Studien“, welder er vielfadh zu
andern Refuftaten gelangt als Bindiih in feinem vorher er-
fhienenen irefflichen Bude: „Der Heliond und feine Quellen“
(1868). Diernach beflimmt ih zum Theil auch bie „Beit der
Abfafjung des Heliand‘‘, Über welde dann gehandelt wird.
Scieblid wirb die Broge nad, dem unbelannten Didter bes
„Seliand‘” zu beantworten gefucht. Hier gerade Herrchen die größ-
ten Meinun mngeeriiebenheiten: den einen gilt er als Laie, den
andern. als gzaugen Srein’s Anſicht geht dahin, daß er nicht
bios ein großer Dichter gemefen jei, fondern auch grindlid
Latein verflanden und foehaupı gelehrte Bildung befefen und
allem Anfcein nad) dem hen Stande angehört habe.
So if in dieſer © k nicht blos die —S
eiten
. „Heliand“ geboten, fondern der Herausgeber hat aud) al
berüßrt, melde zu näherm Verfländniffe bes fo bedeutenden
Berts nöthig find.
——
—— Ye, Ü ee
* *. ra Aue Di Bin —J
Barth, Ex, Uaber den U Ein Boltr. Bchulpädagogik,
Leipaig,. efnitzseh, nr a Baltrag. sur Behulpkdugoni
1 —38— Der erfuntene " Enäplung. Berlin, Iante. Or. &.
—
reifen Entſtehung
us, Leipzig, Per-
ats. Kar. 8. 10 Ngr.
ius, E., Kunstmussen, ihre Geschichte und ihre Bedeutang mit
besonderer Rückaleht auf das königl. Museum zu Berlin. Vortrag. Ber-
um ai ————— — D. @igar, Oak
ante’ götttige Komdvle, Ueberfett don D. Rrigar.
Bere. Dit eine et von. Mitte, ie Ole, M
Rede. —— periodische, Schrift zur Belsuchtung deutschen
Labens In Bunat, Gesellschaft, Kirche, Kun Wissenschaft,
herai n
‚Jahrgang 1870. 3 Ba Berlin, sälke u. van
ichael Caspar Lundorp act,
der Herausgeber dı
zellen, Ein Aoutscher —— — Anfangs des 17% Jahrhunderts
jrlin, Weber, 4. 15 Ni
Das Hobelied ——— er und mit Anmerkungen nah bem
Midrafh veriehen Kin Zie Berlin, Boppelauer. Gr. 8. 16 Mar.
Kraut, Die — en Beykehungen zwilhen Deutjhlanb und Frank
— iR zu nögen ostentfitung beo Ratfertfuma unter Heincig I.
Seiltronn, 1368. 17,
rufe, de, — Trauerſpiel in fünf Aufzügen. ate Aufl.
zen, gel 'or 6. Dr.
$fer, Nebe über bie Todeöfttafe, Gehalten am 23. Februar 1370
in ber Ciblng bes nortveutjgen Meidstages, Berlin, Belle. Or, 5.
*
Sutritz, G., Aschenbrödel, Faschings- „Spiel. Dresden, E, Arnold.
Gi ie
Fliegende Blätter. Das ventfhe Bo, erein za
auf —8— Strafgefeg und der norbbeutjche di
—3
8. 2, 8, Die gonfsffonttee Säule ig F nein Be
siepung. Ein Gonferenzvortrag. Helmftedt,
Whrifenbiätter (Seuguiffe auß älterer —5 Bei, von ber
Sammierin der ee der Wahrheit”, „Ölaubensöl" ic, Gtutigart,
Sacıer „Dr. &
Mi und Can). Antwort auf pie 2ı Ganoneh ale Mabneaf an
bas vater Bolt zur Abfgüttlung des Ioces römifgper Herrig« und Habe
fügt, —53 D. Wigand. 16. 3 Nor.
ᷣr Ausgewäßtte Romane und — „er Bb.: Berirrt
tin
J * xʒir,
— ji J ei Einige feeimithige Bozle ur rung und Se ⸗
zußigung in * e —— an ale Freunde der Wahrheit. Par
bertorn, Schönii Br
3 Non, ‚Martin Suter über. bie Früßte ber Reformation.
8. 4 Nor.
in, Liht. Preiögehrönte Erzäplung.
dar Jglht, u, ie feiner Ber
re Inefonhete ne Grafen non Dlontfn DR eh
Ihichte ber ehemaligen Amtsorte von Langenargen, ha ni —e
uelfen zufammengeftelt und bearbeitet. Urfendorf. @r. 8. 18 Apr.
Er v., Bon Sünde zu Clinde. Roman. 3 Bde. Bere
“
SE Beusster Gesshichtskalender, 1869. Jar Jahr-
16.
ig — bar After Thi. geipsig,
etlin, Korttai
‚Bbiipp Satos Eike in Refpemtier nach der
Reformallon, Bahnmaler, 8. 5 War.
langer, dr Ueber Umarbeiting eiäiger Arliophanischer Komö-
dien, Leipzig, Teubner. Gr. 8. 12 Nar.
Stifte, Dermine, Zagebug. Leipsig, Arnold. 4. 6 Tfle,
* ', Wider Honig. Beeiburg im Br., Herder. @r. 8, 1Zplr,
=. des Bohn.: Der Mufifteufer.
Br; En ae 1Eran.; „De Duftteer, Safe mit Muft
a Ei „Bene
Keks: —— Auler, „Bon Se — &hrer,
AN SIE Bir —5 Höngg. Urtunblig geſcildert.
1. 8.
fügen Ducen. Boltdaueg: Aa na a et,
n, H., Kritische Umschau aid Gebiete der, Vor-
tschen Mdns Behr, Tai a
unb bie else fe @ ei ie id —S
— Gemeinde in Ben ke *
Ki — atchere der FR Ma Wubdenom. &r' 8.
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288 Anzeigen.
Anzeigen.
— —
Verlag von S. A. Brockhaus in Leipzig. -
Soeben erfdien:
Sundert dahre.
1770 — 1870.
Zeit» und Lebensbilder aus drei Generationen.
Bon Heinrich Albert Oppermann.
Dritter Theil. 8. Geh. 1 Thlr. 20 Nor.
(Der erfte und zweite Theil Eoften zufammen 2 Thlr. 10 Nor.)
Die erften beiden Theile diefes von dem kurzlich verflor-
benen belannten Mitgliede des preußiihen Abgeorbnetenhaufes
Obergerihtsanmalt Oppermann aus Hannover verfaßten cul-
turhiftorifchen Romans haben in der gefammten Prefie, felbft
von feiten der politiichen Geguer des Berftorbenen, ſehr warme
Anerfenuung gefunden. Sicher wird ber eben ausgegebeine
dritte Theil das allgemeine günftige Urtheil noch mehr befefti-
en. Die folgenden Theile find bereits im Druck, ſodaß das
intereffante Werl binnen kurzem vollftändig vorliegen wird.
Derfag von 5. X. Brockhaus in Leipzig.
Wahrheit, Schönheit und Liebe,
Philoſophiſch⸗äſthetiſche Studien von
Vickor Granella.
8 Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Nor.
Der Berfafler, ein Tatholifcher Geiſtlicher, Hat in den reli-
giöfen Gedankenreihen dieſes Buche — das ſich bereits zahl.
reiche Freunde erworben hat — mit tiefer Einficht auf den
Dualismus zwifchen der Geiftesfreiheit des Evangeliums
und der Unfreiheit des kirchlichen Standpunfts hin
gewiejen und die Fdeale ewiger Wahrheit, Schönheit und Liebe
mit durchſichtiger Klarheit beleuchtet.
Derfag von S. 4. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Lao-tse Täo-t6-king.
Der Weg zur Tugend.
Aus dem Chinesischen
übersetzt und erklärt von
Reinhold von Plaenkner.
8. Geh. 2 Thlr.
Die erste vollständige deutsche Uebersetzung dieses
berühmten Werks des Philosophen Lao-tse, eines Zeit-
genossen des Confucius. Durch ausfülırliche Erläuterungen
zu jedem Kapitel hat der Uebersetzer das Werk dem Ver-
ständniss deutscher Leser möglichst nahe zu bringen ge-
sucht.
DEE Neue intereffante Erfcheinungen! "ug
Soeben erfhienen im unterzeichneten Verlage und find
vorräthig im jeder Buchhandlung:
Dalınatien und feine Infelwelt
nebft Wanderungen duch die Schwarzen Berge.
on Heinrich Nos.
30 Bogen 8. In illuftr. Umfchlag geheftet.
Preis: 1 Thlr. 20 Ser. = 3 Er ö. W.
In dieſem Buche entwirft ber Verfaſſer in feiner be-
fannten Weije ein farbenreiches Bild des feltfamen Landes,
welches man eine „Schweiz im Meere” nennt und das
dem Berftändniß unjers Bublitums bis zu den neueften
Greigniffen herab unbekannt geblieben iſt. Diefe Lebendige
Schilderung des jüblichen Küftenlandes verdient die aflge-
meinfte Aufmerkſamkeit.
Die Herrfchaft des Mönchs
oder Rom im neumzehnten Sahrhundert.
Bon General Garibaldi.
2. Aufl. Bolle-Ausgabe. In illuſtrirtem Umſchlag geheftet.
Preis: 1 The. = 1 Fl. 80 Kr. 5. W.
Das Schnelle Erſcheinen einer zweiten Auflage des epoche-
madenden Romans von General Baribaldi beweift wol
deutlich, daß die duch das Werk enthüllten erhabenen Im»
tentionen des gefeierten Helden Widerhall finden im SHer-
zen des deutfchen Volks. Der billige Preis diefer zweiten
Auflage macht jedermann deren Anfıhaffung möglich.
A. Hartieben's Verlag in Wien.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
TRES FLORES
del
TEATRO ANTIGUO ESPANOL.
Publicadas con apuntes biogräficos y criticos
por
CAROLINA MICHAELIS.
8. Geheftet 1 Thir. Gebunden 1 Thir. 10 Ngr.
Dieser Band enthält drei bedeutende Erzeugnisse der
altern spanischen dramatischen Literatur, und zwar:
Las Mocedades del Cid de Don Guillen de Castro
La Tragedia mas lastimosa de amor. Dar la vida
por sa dama 6 El conde de Sex. Por Don Anto-
nio Coello.
El desden con el desden de Don Agustin Moreto.
Das allgemeine literarhistorische Interesse, das sich an
diese Dramen knüpft, wird noch durch die beigefügten bio-
graphischen und kritischen Notizen erhöht.
Dieser Band bildet eineu Bestandtheil der von der Ver-
lagshandlung unter dem Titel
COLECCION DE AUTORES ESPANOLES
herausgegebenen Sammlung spanischer Werke,
Ein Verzeichniss der bisher erschienenen 27 Bande dieser
Sammlung ist durch alle Buchhandlungen gratis zu erhalten.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus. — Drud und Berlag von S. A, Brochhaus in Leipzig.
Blätter
literarifhe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
a Ar, 19, or
5. Mai 1870.
Inhalt: Die Novelfifin der „Bartenlaube". Bon Wudelf Gottfhet. — Neuere dramatiſche Dichtungen, Bon deodor Mehl.
efchluß.) — Dtto Liebmann und feine Suconfmaen, on Gran von Hartmann, — Seuileten. (Notizen) — Biblio
graphle. — gen.
Die Novellitin der „Gartenlanbe“,
1. Goldelfe. Roman von E. Marlitt. Fünfte Auflage.
Leipzig, Keil. 1869. 8. 1 Thir.
2. Das Geheimniß der alten, Mamfel. Roman von €.
Marfitt, Zwei Bände. Bierte Auflage. Leipjig, Keil,
1869. 8. 2 Zplr.
3. Die Reihegräfin Gifela. Roman von E. Marlitt.
Zwei Bände. Zweite Auflage. Leipzig, Keil. 1870. 8.
3 Thlr. 20 Nor.
„Spät kommt Ihr, doch IHr kommt“ — wird man
den „Blättern für literariſche Unterhaltung” entgegenzufen,
wenn fie jest erft das Bild einer Schriftftellerin zu
grundiven beginnen, deren Werke in kurzer Zeit jo viele
Auflagen erlebten, und beren Name auf ben über bie
Deeane flatternden Bogen der „Gartenlaube“, dieſer ver⸗
breitetſten deutjchen Zeitfchrift, in alle Zonen getragen
wurde. Bon der „Solbelje” und ber „Alten Mamfell“
fpriht man nicht nur im ben verborgenften Winfeln
deutjchen Landes, wohin der Wellenſchlag ber literarifchen
Bewegung fonft felten ein verlorenes Echo wirft, fondern
in ber That „foweit die deutfche Zunge Mingt“, in den
fernften Colonien des innen Rußland, an den halb»
afiatif—hen Riefenftrömen, wie an den Ufern des Miſſiſſippi,
in Chile und Brafilien. Mander ferne Auswanderer
denft der anheimelnden deutſchen Walbberge, der Forft«
und Pfarehäufer, der Schlöffer und Burgen der Heimat,
wenn er ſich in die Leftüre diefer Erzählungen vertieft;
und wenn er dann durch ben hochwogenden, Tianen-
umjchlungenen Urwald wandelt, fo vermißt er mitten in
all der iippigen Farbenpracht den frifchen Waldduft der
harzigen Fichten und Tannenwälber.
Doch in folder Verfäumnig von feiten ber Kritik
Liegt zugieich eine Gunft für dieſe Werke. YIeht Tann der
Erfolg mit in die Wagſchale gemorfen werden, und die
Frage nach den Urfachen dieſes Erfolgs führt von felbft
auf die Ergründung charalteriſtiſcher Eigentbümticfeiten,
welche jonft der beobachtenden Prüfung vieleicht minder
ſcharf ins Auge gefprungen wären.
1870. 19.
Sagen wir es nur dom vornherein, E. Marlitt (bes
tanntlich Pfendonym für Fräulein John in Arnſtadt) ift
ein bedeutendes erzäßlendes Talent. Das ift eben eine
Noturgabe, die ſich nicht rnmingen laßt. Wir haben
ſehr geiftreiche Nomanfchriftfteller, die eigentlich nicht zu
erzählen verftehen. Sie wiflen zu ſchildern, zu charat-
terifiren, durch finnige Gedanken zu fefjeln, durch funfeln.
den Esprit zu blenden, doch das find alles nur Surrogate
für die Kunſt des Erzählens. Worin diefe zu fuchen iſt,
das lehrt und fchon das gejellichaftliche Talent einzelner
Verſonlichteiten; das fchriftftelleriiche ift nur eine höhere
Potenz deſſelben. Jene „Künftler der Converfation
verftehen das Heinfte Erlebniß im einer fo feffelnden Weife
vorzutragen, daß wir unmillfiiclih alles mitzuerleben
glauben. Man kann folhen Erzählern einzelne Eigen«
heiten abfehen und als „Kunftgriffe” zur Geltung bringen;
doc) wer nicht diefe friſche Strömung der Phantafie be»
figt, die und unmittelbar mit fortreigt, wer nicht Heine
Ereigniffe durch die Lebendige Anſchauung und den eige-
nen innigen Untheil auch dem unferigen nahe zu rüden,
wer in uns nicht Fragen an die Vergangenheit und die
kunft ſtets wach zu halten weiß: der wird, bei aller
jeichichlichkeit und Sauberkeit der Außern Technik und
bei allem innern Gehalt, vergebens nach den Lorbern ber
erzählenden Kunft ringen.
Einfeitig und mangelhaft wäre auch die Poetik,
melde folhen Reiz der Romandichtung gering achtete.
Bon den Zeiten des Homerifchen Urromans, der Obyfiee,
von den fpätern griechiſchen Profaromanen bi® zu den
orientalifhen Märchen und italieniſchen Novellen, bis zu
den neufranzöfifchen Romanen, welche an bie Iegtern er⸗
innern, hat e8 ſtets für die Aufgabe ſolcher erzählenden
Dichtungen gegolten, durch dem fpannenden Gang der
Ereigniſſe die Phantafle zu feſſein. Ein Taugmeiliger
Roman ift ein dverfehltes Product, Der Roman bleibt
als folder aber auch langweilig, wenn er noch fo viele
37
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geiftreiche Neflerionen und Unterfudungen enthält, die in
einem andern Werke, an einer andern Stelle unfern
Beifall verdienen und finden würden.
Doch E. Marlitt befigt nicht blos die Gabe der Erzäh-
fung, fondern auch das Talent der Schilderung; wir jehen
alles Iebendig vor uns, was fie befehreibt. Sie wählt mit
Borliebe feltene Localitäten, bie nicht gerade an der großen
Heerftraße der Nomanliteratur liegen. Die Dahmohnung
der alten Mamſell wie das. verfallene Schloß der Gold⸗
elfe find Höchft originelle Zeichnungen; der architektonische
Aufriß ift klar und beftimmt, die Ausführung bis ind
Heinfte hinein von großer Sauberkeit und hervorftechendem
Sinn für Fünftlerifches Detail. Auch bleibt es nicht bei
dem todten Nebeneinander der Aeußerlichkeiten; fie erhal»
ten Leben durch die Bewegung der Handlung. Die ger
fährlichen Dachpromenaben des jungen Mädchens in das
verftedte Logis der alten Mamfell, welde in und Un«
wandlungen von Schwindel erregen, ziehen diefe hoch—
gelegenen Regionen des Haufes aus dem Bereich des
Maurermeiftere und Dachdeckers und einer blos den
Bauriß machzeichnenden Phantafte in den Kreis inniger
Theilnahme; und die idylliſche Wohnung der Goldelſe,
die ſich hinembaut in das dem Einfturz drohende Schloß,
die Thätigkeit, die vom Verfall vettet, was fich noch ret⸗
ten läßt, die Verknüpfung der Gegenwart mit alter Ver⸗
gangenheit durch die aufgefundenen Adelsurkunden — das
alles bringt Leben in die Trümmerhaufen, deren noch fo
anſchauliche Schilderung fonft nur einen todten Eindrud
machen wiirde. Auch die Perfönlichkeiten, auch menſch⸗
liches Leben und Treiben weiß E. Marlitt "lebendig dar-
zuftellen. Wie frappant ift glei die Ouverture der
„Alten Mamfell“, der Tod der Schildjungfrau durch bie
unvorfichtigen Kugeln im Rathhausſaal, wie bewegt und
beherricht dis in alle Gruppen hinein das Geburtstagsfeſt
in „Goldelſe“, das Hoffeft in „Reichsgräfin Giſela“!
Das find wechſelnde Tableaur, bei denen die Bewegung
der Handlung bald die eine, bald die andere Geftalt in
den Vordergrund ftellt, bei denen aber ſtets in abgeftufter
Gruppirung auch alle andern zu ihrem Rechte kommen.
E. Marlitt vergißt niemals irgendeinen der Anweſenden;
fie macht jedem bie ſchriftſtelleriſchen Honneurs mit
größter Aufmerkſamleit, wenn fie auch einen oder ben
andern bevorzugt, wie es gerade die Situation mit
ſich bringt.
Auch der Stil biefer Romane verdient alles Lob; er
ift frei vom jeder Künftelei und Webertreibung, fließend
und frifh, von anmutbiger dichterifcher Belebung, ohne
Iyrifche Ertratouren, anſchaulich und bezeichnend, edel amd
tabello8 im Ausdrud wie in der ſyntaktiſchen Fügung.
Alle diefe Vorzüge würden indeß die großen Erfolge
der Marlittfchen Romane nicht erflären,; die Verbreitung
durch die „Gartenlaube” war allerdings die üußere
Bürgichaft dafür, aber die Aufnahme in dies Wlatt
mußte ſchon felbft als ein Erfolg betrachtet werden.
Die Bolfsthümlichfeit der Stoffe warf das entjcheidende
Gewicht in bie Wagſchale zu Gunften diefer Er-
zählungen.
Hier berühren fid) indeß bie Vorzüge alsbald mit
einem Mangel. Allen drei Romanen liegt das Schema
der volfsthümlichften deutſchen Sage, des Aſchenbrödel,
Die Novelliftin ver „Sartenlaube”.
zu Grunde. Die Vorliebe für diefen Stoff ift tief in
deutfher Gemüthsart begründet. Denn derfelben ift ein
unbeftechliches Rechtsgefühl eigen, welches die Entrüftung
über unverdiente Zurüdjegung nie verleugnen Tann und
den endlichen Triumph verfannter oder gefränfter Unjchuld
mit Jubel begrüßt. Wenn diefe Unfchuld überdies mit
dem Reiz echter Innigkeit und Lieblichkeit ausgeſtattet iſt,
fo bleibt ihre Anziehungskraft eine nachhaltige. Gleichwol
nennen wir es einen Mangel, daß bafjelbe ſehr durch⸗
fihtige Schema den drei Romanen der thüringer Schrift-
ftellerin zu Grunde liegt, unter fo verfchiedenartigen Ber-
Heidungen und reizvollen Arabeöfen fie auch diefe Gleidy-
förmigfeit zu verfteden fucht. Reichthum der Erfindung
zeigt fich gerade in der Mannichfaltigkeit der Grundlinien
mehr als in der Fülle der Maskirungen. Wir zweifeln
nicht, daß E. Marlitt auch andere Themata anzufchlagen
und auszuführen weiß; bisher hat fie nur Variationen über
daffelbe Thema gejchrieben. Aſchenbrödels Braut- und
Himmelfahrt ift da8 Ende in allen drei Romanen. .
Der erfte und dritte Roman fiihren uns Gegenſtücke
vor, in dem dritten Roman find freilih die Grundzüge
der deutſchen Sagenheldin am meiften verftedt. Denn
die bochgeborene Reichsgräfin und Schloßherrin Gifela
Scheint am wenigften gemein zu baben mit dem in der
Aſche des Herdes figenden, zu niedrigfter Dienftbarkeit
verurtheilten Mädchen des Bollsmärcdene. Gleichwol ift
fie den Hoffreifen gegenitber das Aſchenbrödel, das fid
nicht zeigen darf und zu unfreiwilliger Einſamkeit ver-
dammt ift, ein Leben, das auch außerdem ein geifliger
Aſchermittwoch ift, da fie tief in der Aſche der ariſtokra⸗
tifhen Vorurtheile figt. Wie aber Goldelſe, das fchlichte
Bürgermäbchen, da8 auf dem vornehmen Schloſſe fo vie
len Demüthigungen ausgeſetzt war, durd die Liebe des
Herrn von Walde entfchädigt wird für alle erlittene Une
bil und eingefegt in die Vorrechte der bisher feindfeligen
Kreife, fo wird die Oräfin Gifela eines Bürgers
Braut und entfühnt durch innige Hingebung an ben
tüchtigen Mann die frühern Frevel eines ſchuldvollen
Geſchlechts.
Es ſind dieſelben Varianten, wie ſie Freytag's beide
Dramen „Die Valentine“ und „Graf Waldemar“
enthalten, mit dem Abſchluß zweier bürgerlich⸗adelichen
Miſchehen, in denen dort die vornehme Dame durch die
Hand des Bürgerlichen, hier der Graf durch die Liebe des
Bürgermädchens beglückt wird.
Das eigentliche Aſchenbrödel iſt die Felicitas, die
Vagabundentochter in dem, Geheimniß der alten Mamſell“,
denn bier iſt aus dem alten Märchen auch die Ber-
urtheilung zu gemeiner häuslicher Dienftbarkeit mit aufe
genommen. Bier ift es ein gelbftolzes, frömmelndes
Patriciat, das ein familienlojes Mädchen unterbrüdt, bis
diefe den frommen Profefjor befehrt durch die innige Nei-
gung, bie er zu der vielduldenden Schönheit empfindet.
Felicitas ſowol wie Goldelfe finden, nad) einem gleich“
artigen Schema der Erfindung, zwar vornehme Ahnen,
verleugnen aber diefen Bund und wollen nur ihrer Liebe
Beglüdung und Erhöhung danlen.
„Soldelje” (Nr. 1) verjchaffte zuerft der Berfaflerin
die Sympathien des großen Publikums. Der Roman
Die Novelliftin der „Gartenlaube“. 291
enthält ftarfe, volksthümliche Züge, die Goldelſe felbit
it eine jener troßig berben, naiden Schönheiten von
fpröder Yungfräulichkeit, wie fle die deutfchen Sagen lie-
ben. Das Erwachen der Liebe, das Hinfchmelzen dieſes
Stolzes im Feuer der Leidenfchaft ift pfychologifch wahr
und dichterifch anmuthig gefchildert.
Volksthümliche Theilnahme verlangt entjchiedene Liebe
und entjchiedenen Haß; die halben und fchmankenden
Charaftere, jene feinern pfychologifchen Mifchungen, in
denen bie Skepſis des modernen Beiftes die feſten Scheide«
wände zwiſchen gut und bös verjchiebt, werden nie all-
gemeinen Antheil mweden. Hier fteht die geiftige und
dichterifche Bedeutung im umgefehrten Verhältniß zur
Bolksthümlichfeit. Der Romandichter muß etwas Welt
richterliches an ſich haben und die Schafe und Böde fon-
dern, wenn das Bolt an feine ©eftalten glauben fol.
So umſchwebt denn die Stirn von Golbelfe ein Lichter
Schein der Berflärung, fie ift in fprödem Trog wie in
liebender Hingebung ein ideales Mädchenbild; fie ift ent-
ſchloſſen und energifh, voll von Selbftbewußtfein gegen-
über den höhern Kreifen, vol von kindlicher Pietät gegen
die Aeltern, und damit dieſe file Blume doch auch geiftig
„gefüllt“ fei, eine vortreffliche Klavierfpielerin,
Ebenſo it Herr von Walde „jeder Zoll ein Mann“,
ebel, jelbftbewußt, durchgreifend energifch, den Schein ver-
achtend, Human felbft unter rauhen Yormen.
Breilich, oft gemahnen uns feine Neben, fein ganzes
Weſen fo befannt, und wenn wir genauer aufmerfen, fo
glauben wir, den Lord Rocheſter der Eurrer Bell zu
hören; die Goldelſe erjcheint dann als eine in etwas
andere Berhältnifie verjegte, milder gefärbte Jane Eyre,
und einzelne Situationen, wie die Begegnung mit dem
Keiter im Walde, kommen uns wie Varianten auf Vor⸗
gänge des englifchen Romans vor. Offenbar ift „Goldelſe“
unter dem Einfluß dieſes Vorbildes gedichtet worden,
wenngleich die Erfindung eine weſentlich andere ift und
englifche Grillenhaftigkeit durch Züge deutfchen Gemüths
erſetzt wird.
Gegenüber den beiden in Licht getauchten Haupt⸗
geftalten ſtehen nun die Vertreter der vorurtheilsvollen
Ariftokratie im tiefften Schatten. Un diefem Herrn von
Hollfeld ift fein gutes Haar, ba ift auch Fein einziger Zug,
der mit bem heuchleriichen, berechnenden Wüftling ver-
fühnen könnte. Und diefe pietiftifchdespotifche Baronin
Leſſen gehört ebenfalls zu den Vogelfcheuchen, welche der
volksthümliche Roman braud)t.
Das Franke Fräulein von Walde dagegen mit ihrer
fentimentalen Liebe ift, ebenfo wie die nachtwandelnde, lie⸗
bestolle Bertha mit dem großen Forſterhund, eine der
Bhantafie ſich ſtark einprägende Geftalt, die aud) ein
Holzfchnitt mit wenigen Zügen zur Geltung bringen würbe.
Die Scene im Nonnentfurm zeugt für die außerorbent-
liche Begabung der Verfaſſerin, durch lebendige Schilbe-
rung bdraftiiche Wirkungen hervorzubringen. Die tolle
Bertha Hatte mit angefehen, wie ihr Geliebter, Herr von
Hollfeld, Eliſabeth im Pavillon umarmte, trog ihres
Sträubens, das Bertha nicht bemerkte; in wüthender
Eiferſucht folgt fie der Goldelfe in den Wald zum Non-
nenthurm:
Eliſabeth fühlte plötzlich, Teicht zufammenfchanernd, ihr
Aleinfein mitten im Herzen des todtenflillen, bunfelnden Wal-
des; troßdem zog es fie noch einmal unwiderſtehlich nach jener
Stelle, wo Hr. von Walde von ihr Abfchied genommen hatte.
Sie ſchritt Über den zerftampften Raſenplatz, blieb aber einen
Augenblid wie feftgewurzelt fiehen; denn der Abendwind trug
einzelne, abgebrochene Töne einer menfchlihen Stimme zu ihr
herüber. Anfänglich klang e8 wie ein ferner, vereinzelter Hülfe⸗
ruf, aber olfmäßtid, reihten fi} die Töne aneinander, fie kamen
raſch näher. Es war eine fchmeidend fcharfe, gellende weibliche
Stimme, die ein geiftliches Lied mehr fchrie als fang. Eliſabeth
hörte deutlich, daß das Wefen während des Singens fchnell vor-
wärts Tief. Plötzlich zerriß die Melodie, und an ihre Stelle
trat ein entjeliches Gelächter, oder vielmehr ein Gefchrei, das
eine Scala von Hohn, Triumph und bittern Qualen bildete.
Eine ſchlimme Ahnung ſtieg in Elifabeth auf. Ihr Blick tauchte
erfhredt in das Baumbunfel nad der Richtung Hin, wo ber
Lärm fid) näherte. Er verftummte in diefem Angenblid jedoch
wieder, und die Stimme begann das Lied von neuem... jebt
aber kam fie wie im Sturmfcritt heran. Eliſabeth trat in die
offene Thür bes Thurms, denn fie modte der wandernden
Sängerin, die offenbar ein unheimliches Wefen fein mußte,
nicht in den Weg kommen; allein kanm hatte fie die Schwelle
en, ald das Gelächter abermals und zwar fehr nahe
erſcholl.
Jenſeit des Raſenplatzes ſtürzte Bertha aus dem Wald⸗
dickicht hervor, ihr zur Seite lief Wolf, der grimmige Hofhund
des Oberförſters. „Wolf, ſaſſ' an!“ kreiſchte fie, beide Hände
nach Elifabeth ausftredend. Das Tier jagte heulend Über den
Platz. Clifabeth warf die Thür ins Schloß und lief bie Treppe
hinauf. Sie gewann einen Borfprung, aber noch che fie die
Zinne des Thurms erreicht Hatte, wurbe drunten die Thür
aufgeftoßen. Der Teuchende Hund ſtürzte herauf, ihm nach die
Bahnfinnige, indem fie unausgejegt ihren hetzenden Zuruf
wiederholte. Athemlos erreichte die Verfolgte die legte Stufe,
fie hörte das Schnanben des ungeberdigen Thieres hinter fi) —
e8 war ihren Ferſen nahe —, warf mit der lebten Kraftauf⸗
wendung die eichene Thür zu, bie anf das Plateau führte, und
flennmte fi dagegen. Einen Augenblid darauf rüttelte Bertha
drinnen am Thürſchloſſe, es wie nit. Sie tobte und warf
fi) wüthend mit der ganzen Schwere ihres Körpers gegen die
eihenen Bohlen, während Wolf abwechfelnd heulend und knur⸗
rend an der Schwelle kratzte. „‚Bernfleinhere da draußen!”
ſchrie ſie. „Ich drehe dir den Hals um... Ich werde bich bei
deinen gelben Haaren nehmen und dich durch den Wald fchlei-
fen! ... Du haft mir fein Herz gefiohlen, du Mondfcheingeficht,
du Tugendfpiegel, Scheinheilige! Wolf, faſſ' an, fall’ an!“ Der
Hund winſelte und flug mit den Zaten gegen die Thür.
„Zerreiße fie in Stüden, Wolf, fchlage beine Zähne in ihre
weißen Finger, die ihn bebert haben mit der Muſik, die vom
Zeufel kommt! ... Wehe, wehel Verdammt feift du da draußen,
verdammt feien die Töne, bie deine Finger herporbringen; fie
ſollen zu giftigen Mordfpigen werden, die fich gegen bein eigenes
Herz wenden und es zerfleiſchen!“ Abermals warf fie fid) gegen
die Thür. Das alte Bretergefüge erzitterte umd ächzte, aber
e8 wich nicht unter ben Stößen des Heinen, ohmmädhtigen Fußes.
Elifabeth lehnte währenddem mit feftgeichloffenen Lippen und
bfeihem Gefiht draußen. Sie hatte ein Stüd Holz, das zu
ihren Füßen lag, ergriffen, um ſich nmötbigenfalls gegen den
Hnnd zu vertheidigen. Bei den Flüchen und Berwänfhungen,
die Bertha ausfließ, erbebte ihr ganzer Körper, doch fie richtete
ſich um jo entjchloffener und trogiger auf. Hätte fie einen
prüfenden Blid auf das Thürſchloß geworfen, fo würde fie ge-
merft haben, daß das Anſtemmen ihrer zarten Geftalt ganz
unnötbig fei, denn ein mächtiger Riegel war vorgeiprungen,
gegen dem die ſchwache Kraft der BBahnfinnigen nichts auszur
richten vermodte. „Wirft du wol aufmaden? tobte fie wie-
ber drinnen. „Du durchfichtiges, zerbredhliches Ding! ... Ha,
ba, Ha! Goldelſe nennt fie der alte Brummbär, den ich haffe
wie das Gift; der Alte will durchaus nicht fromm werden, er
mag zur Hölle fahren, aber ich werde felig fein, felig!...
Goldelſe nennt er fie, weil es berufteingelbes Haar hat! Pfui,
97"
292 Die Novelliftin ver „Gartenlanbe”.
wie bift du häßlich, du Fühfin... Mein Haar if ſchwarz
wie ein Rabenflägel, ich bin ſchön, tanfendmal ſchöner als du!
Hörft du das, du Affengefiht da dranßen?“ Gie fchwieg er-
eete auch Wolf unterbrach ſein Zerſtörungswerk an der
we
e.
Doch neben dieſen draſtiſchen Bildern webt auch der
Traumgeiſt deutſchen Waldes anmuthend und geheinmiß-
voll durch das ganze Werk; die Beſchreibung des alten
Schloſſes darf ſich mit ähnlichen Studien Adalbert Stif⸗
ter's mefien; die ariftofratifchen Kreife find mit fcharfer
Satire gezeichnet. Hier ift alles einfeitig, fchroff, grell;
aber der Hauch der Humanität, der durch bas Ganze
weht, verfähnt mit diefen Falten ſchwarzen chinefifchen
Tufchzeichnungen.
„Das Geheimniß ber alten Mamſell“ (Nr. 2) iſt
origineller als „Goldelſe“ und bürfte der befte der bis⸗
berigen Romane von E. Marlitt fein; fchon deshalb, weil
der Charakter des Profeflors Johannes nicht von Haus
aus als Inbegriff männlicher Tugenden erfcheint, fondern
von fehr gehäffigen Eigenfchaften erft durch die Macht
der Liebe geläutert wird. Die alte Mamfell mit ihren
Blumen, ihren Vögeln, ihrem Klavier, ihren Handſchrif⸗
ten nnd ©eheimniflen, hoch oben in ihrem abgefperrten
Dachlogis, ift eine durchaus originelle Erfcheinung, und
die Kataftrophe, bie ſich dort in aller Stille vorbereitet
und ein ftolzes Patricierhaus in die Luft fprengt, iſt wohl
erfunden und doch nicht fo leicht zu errathen. Felicitas
ift herber, ſtrenger, trogiger als Goldelſe, dem Charalter
nad mehr Jane Eyre, während ber Profeſſor nichts don
Lord Rocheſter beſitzt. Was in „Goldelſe“ bie Baronin
Lefien, das ift im „Geheimniß ber alten Mamſell“ Yrau
Hellwig, die in den Vorurtheilen bes Geldſtolzes ein-
gefrorene Patricierdame. Auch fie ift eine Fromme; benn
gegen bie Frommen, bie ihre Frömmigkeit zur Schau
ftellen und andern aufzubringen fuchen, bat bie Mufe
von E. Marlitt einen befondbern Stachel. Doc, wird dem
Volkshaß hier fein Opfer durch einige milbere Züge ent⸗
zogen, die wir bei der Baronin vergeblich fuchten.
Ein ausgezeichnetes Charakterbild ift die junge Re⸗
giernngsräthin mit „den weichen Linien bes Profils, dem
Glorienſchein der hellen Roden über ber Stirn, ben blauen
Augen, der rofigen Geftalt im duftigen, fledenlo8 weißen
Kleide“. Diefe anmuthige Heuchlerin, die auf die Hand
des Profeffors fpeculirt, und deren inneres Meduſen⸗
antlig nur bei ber entſcheidenden SKataftrophe durch die
reizvolle Engelslarve blidt, ift eine geniale Zeichnung,
welche der feinen Beobachtungsgabe der Berfafferin, forwie
ihrer Gabe zu charakterifiren, das befte Zeugniß ausftellt.
Daß es an jenen Ingredienzien des Vollsromans,
welche man „Senfationsmomente” nennen könnte, auch in
diefem Werke von E. Marlitt nicht fehlt, läßt fich bei der
Richtung ihres Talents, welche das gewaltfam Wirkende
nicht verfhmäht, von vornherein mit Beftimmtheit an-
nehmen. Die Dachwanderungen ber Felicitas vertreten
bier vorzugsweife die auf die Nerven berechneten Effecte.
Der Schwindel in bes Wortes urjprünglicher Bedeutung
wird durch derartige Senfationsfchilderungen hervorgeru-
fen, die in der nenern Romandichtung nichts Seltenes find.
Wir brauchen blos au Victor Hugo's „Notre-Dame” zu
grinnern, an bie fortwährenden Wanderungen in jenen
fehwindelerregenden Höhen und auf den fchmalen Pfaden,
die fie erlauben, an bie Schauerfcenen, mo Quaſimodo den
Priefter herunterftürzt und biefer, fich an den Dachrinnen
feftflammernd, in den Lüften hängt, oder an Otto Lud⸗
wig's „Zwiſchen Himmel und Erde‘ und die Schiefer
dederfcenen auf dem Thurmdadh. Dagegen erfcheinen bie
Schwindelfcenen von E. Marlitt no immer im Stil des
Familienromans gehalten, ohne bie ungehenerliche, auf bie
Thürme Hetternde Romantik. Doch lebendig und [pan-
nend find auch diefe Schilderungen:
Ueber Felicitas’ Haupte zog es bald fenfzend, bald in lang
gezogenen, leiſe pfeifenden Tönen bin, als fie ben Korridor
unter bem Dade betrat. Das Sparrwerk knarrte, und durch
die Oeffnungen der fonnenerhittten Hohlziegel fuhr ſtoßweiſe ber
fhwüle, heiße Athem des Gewitterwindes. In diefem Angen⸗
blick hing eine grau nnd weiß gemifchte Hagelwolle Über dem
Dächerquadrat, ein fahlgelbes Licht zudte fchräg auf den bin»
menbebedten Firſt, es gligerte wie ein falſcher Blick in dem
Glasſcheiben der Vorbauthüre, ber melde fich loegeriſſene
Ranken des Ephen und der Kapuzinerfreffe baltlos bäumten,
und beleuchtete grell das aufgepeitichte Blättergewirr des wilden
Weins. ALS das junge Mädchen den Kopf aus dem Dadıfen-
ſter ftedte, fuhr ihr ein heftiger Windſtoß über das Gefiht; er
raubte ihr den Athem uud awang fie, augenblidiih zurüdzu-
weichen — fie ließ den Unhold vorliberbraufen, dann aber ſchwang
fie fi Binaus,.. Wem e8 vergönnt geivefen wäre, dies ſchöne,
bleiche Geficht mit dem feft aufeinandergepreßten Lippen und dem
düſter entichloffenen Ausdrud aus dem dunkeln Dachfenſter auf.
tauchen zu fehen, der hätte erfennen müflen, daß das Mädchen einer
entjeglihen Gefahr fid) vollfommen bewußt, und daß es bereit
fei, felbft den Tod zu erleiden um feiner Milfion willen!...
Welch ein wunderbares Gemifh war doch diefe jinnge Seelel
Ueber einem heißen Herzen, das fo glühend haſſen konnte, ein
fo fühler, befonnener Kopf! Sie lief leichten Fußes Über die
knirſchenden Ziegel, und nicht einen Moment bunlelte e8 vor
dieſen Haren Augen; ihr braufender Feind aber gönnte ſich nicht
viel Zeit zum Ausſchnaufen — ein greller Pfiff, und er kam
wieder daher mit niederſtürzender Wucht. Die Borbauthür flog
klirrend auf, Blumentöpfe filirzten zerſchmetternd auf den Fuß⸗
boden der Galerie, und die uralten Sparren ädhzten und zit⸗
terten unter Yelicitas’ Füßen. Sie fland noch auf dem Nadj-
bardadje, aber ihre Hände umllammerten das Galeriegeländer,
das fie in demſelben Augenblide erreicht hatte. Wol riß ihr
ber Sturm das Haar auseinander und peitfchte die gewaltigen
Sträbne, als follten fie in alle Lüfte zerfireut werben, allein
fie felbft Rand fe. Nach einem Momente geduldigen Aushar-
tens Tonnte fie fi über das Geländer ſchwingen, und gleich
barauf trat fie in den Vorbau... Hinter ihr braufte und tobte
es meiter — fie hörte es nicht mehr, fie dachte auch nicht an
den todbringenden Rüdwmeg — die gefalteten Hände ſchlaff nieder-
bängend, ſtand fie in dem kühlen, epheuumfponnenen Raume —
fie jah ihn zum letzten male,
Noch fchwindelerregender ift die folgende Scene, wo
Felicitas bei der Rüdkehr, um dem Brofeffor nicht zu
begegnen, hoch auf den Firft Hettert und im Sturm die
Eifenftange bes Blitzableiters erfaßt.
Ueberhaupt bat diefer Roman durchaus frifches Leben
und eine Fülle von genialen Zügen.
Der legte Roman: „Die Reichsgräfin Gifela“ (Nr. 3),
verleugnet durchaus nicht das bewährte Talent der Ver⸗
fafferin und intereffirt, indem er das Lieblingsproblem
derfelben einmal von der andern Seite faßt; er enthält
Schilderungen von Höchfter Lebendigkeit und Anſchaulich⸗
feit. Aber er kehrt die Abfichtlichkeit der Tendenz mehr
hervor als die frühern. Da ift auch in ben ganzen Krei⸗
fen der vornehmen Geſellſchaft nicht ein einziger Charakter,
Die Novelliftin der „Gartenlaube“. 293
ber, fei e8 auch nur durch Laune und diberlegenen
Humor, uns irgendwelhe Sympathien abgewönne. Der
Premierminifter ift ein gemeiner Betrüger, feine fchöne
Sattin eine putzſüchtige Kolette, die Gouvernante, Fran
von Herbed, eine Heuchlerifche, adelsſtolze Närrin; die
Sräfin Schlierfen eine für bie Splitter des Nachbars vor-
trefflich andgerüftete, gallenbittere Hofdame; der Fürft
felbft eine harmlofe, wenig anziehende Perfönlichkeit. Die
Vorgeſchichte des Romans ift wol mit überzeugender Mo⸗
tivirung, aber doc etwas künſtlich erfunden. Dagegen
find die Berfpectiven des Romans weiter als bie der vor»
ausgehenden; feine offenen Flügelthüren gehen gleichfam
binaus in das Freie, mo der Genius bes Jahrhunderts
am xollenden Webſtuhl ber Zeit da8 Gewebe fchlingt für
das Bild einer freiern und fchönern Dienfchheit, die fi)
aus engberzigen Berbältniffen zum Licht der freiheit
emporarbeitet.
Inu dem Charakter ber Heldin, die, von dieſem freiern
Luftſtrom angeweht, die Nee zerreißt, melde bie In⸗
trigue um fie gefchlungen bat, in ber Entwidelung dieſes
Charakters aus der PBuppenhülle des fchwächlichen Kindes
zu einer felbftbewußten Perfönlichleit durch die Macht der
Liebe, in ihrer Belehrung von einfeitigem Vorurteil zu
dem Glauben an die Rechte aller Menfchen auf Glüd
und Bildung liegt der feflelnde Reiz diefes Romans,
und in der That Haben die Begegnungen der ſchönen
Reichsgräfin mit dem Braftlianer, dem frühern deutfchen
Studenten, ber einft das Heine ſchwächliche Grafenkind
hart von ſich geftoßen, denfelben poetifchen Hauch, wie
er den Begegnungen ber Goldelfe und ihres ariftofrati-
fchen Geliebten eigen ift.
Der Charakter des Braftlianers hat Züge von eigen-
thümlicher Kraft, und das exotifche Colorit, welches die
Dichterin ihm felbft wie feinem Waldhaufe zu ertheilen
weiß, gibt ihm ben Reiz der Originalität.
An lebendigen Schilderungen ift „Die Reichsgräfin Gi-
ſela“ fo reich wie bie frühern Romane E. Marlitt's; wir
weifen nur auf die reizenden Idyllen des Pfarrhaufes hin,
als deren Mittelpunkt die Figur ber tüchtigen, warm»
gezeichneten Frau Pfarrerin erfcheint; auf die Scene mit
dem tollen Hund, welchen der Brafilianer erſchießt; auf
die Brandſcenen und die Schilderung des Feſtes im
Schloſſe. Trog ihrer Begeifterung für den Tiers⸗Etat,
welche es breift mit Guftav Freytag's Verherrlihung des
Dürgertfums aufnehmen kann, hat die Dichterin dennod)
einen chevaleresfen Zug: fie liebt die Pferde und Hunde,
die in der „Neichögräfin Gifela“ wie in „Goldelſe“ eine
nicht unwichtige Rolle [pielen.
Um von dem echt malerischen Eolorit einzelner Schil⸗
derungen eine Probe zu geben, wählen wir die Scene
ans, in welcher wir zuerft die zur Jungfrau erblühte
Heldin des Romans wiederfehen, wie fie arme Dorflinder
auf dem Heinen See [pazieren fährt:
Die heiße Iulifonne brannte ſenkrecht über dem Gewäfler;
glatt wie eine goldene Tafel lag fein Mittelpunkt da — nur bie-
weilen zitterten leife Schwingungen vom Ufer her und gruben
krauſe, wunderliche Charaktere — vielleicht ein Gedicht des Wal-
des — in bie Flüche. Der Waflerring aber, fiber welchem das
Ufergebüſch und die verſchränkten Eichen- und Buchenäfte hin-
gen, war dunkel und geheimnißvoll wie der Wald ſelbſt.... Und
anf diefer gründämmernden Bahn z0g leife ein Kahn hin. Das
Ruder reichte hinaus in die ſonnendurchleuchtete Flut und bin-
terließ, Leicht einfinfend, eine ſchmale, bligende Furche; manch⸗
mal verſchwand es — dann brebte ſich der Kahn und fuhr auf
das Land auf. Ein Mädchen ſaß am Ruder, und anf der
Shmalen Bank ihr gegenüber hodten drei Kinder, zwei Knaben
und ein allerliebfles kleines blonbtöpfigee Mädchen. Die Kin-
der fangen aus voller Bruſt, mit glodenbellen Stimmen:
Ich hab’ mich ergeben
Mit Her; und mit Sand
Dir, Land voll Lieb’ und Leben,
Mein beutiche® Baterland!
Der Kahn faß fer und ſchwankte uicht mehr, nnd da Lie
es ſich noch einmal fo ſchön fingen Über den See Hinfiber und
zwiſchen die ernfihaften Walbbänme hinein. Das Mädchen am
Ruder hörte fchweigend zu. Hinter ihr durchſchnitt ein fanft
emporfteigender, moosſsbewachſener Weg das Didicht und ber
Wald that ſich tief auf im feiner grünen Finfternig. Auf die
Kindergruppe fiel noch ein Haud) des goldenen Tags draußen —
das blonde Haar des Heinen Mädchens flimmerte, und die Kna⸗
ben, die nad bem See hinansfangen, hielten die Hand fchligend
über die Augen. Die junge Scifferin aber faß tief im grünen
Dämmerlicht, nur Über ihre Knie bin legte fi ein laſſer,
durch das Blätterdach zuckender Goldſtreifen wie ein reichgewirk⸗
ter Tunicaſaum, nnd die perlmutterweiße Stirn umkreiſte traum⸗
haft ein blauſchimmerndes Stäbchen — eine verirrte Libelle.
Die Verfaſſerin bat dieſen Roman Hrn. Ernſt Keil,
dem Schöpfer der „Gartenlaube“, zugeeignet und fagt in
der Widmung von ihrem Verleger fo viel Rühmliches in
Proſa, wie nur Heinrich Heine in den Verſen feines
„Wintermärchen‘ von dem feinigen fagt:
Sie haben mid, hinausgeführt auf dem ſengend heißen Bo⸗
den der Deffentlichleit und Ihre ftarke Hand behütend und für»
dernd tiber mein redlich gemeintes Streben gehalten; Sie haben
mit mir gejubelt, als meine Worte Widerhall fanden iu ben
Herzen der treuen Gartenlaubenlefer, und mich ermutbigt nnd
getröftet, wenn bier nnb da eine Hand plump aus myftiichem
Dunkel nad mir herübergriff und mein Wollen und Wirken
zu verbächtigen ſuchte; Sie haben gemacht, daß das fo oft ge-
hörte Wort vom kärglichen Brot des deutichen Schriftftellers
für mid nur die Bedeutung einer von fern berüberfliugenben
Mythe hat — iſt es da nicht felbfiverfländlih, daß ich einmal
wenigftens meiner Hochſchätzung für Sie öffentlich Ansdruck
geben möchte?
Wenn fie aber der „Oartenlaube” nachrühmt, daß fie
den Segen einer fittlich reinen, von verknöcherten Dog⸗
men und Formen fi) losringenden Weltanfhauung aus⸗
ftröme, daß aus ihr der weiche Odem der Menjchenliebe
wehe, und daß fie mit denen zürne, bie nur ihres perſön⸗
lichen Bortheild willen nad) ber Wiederkehr alter verrot⸗
teter, menfchenfeindlicher Inftitutionen ringen: fo bat fie
mit diefen Worten auch das geiftige Gepräge ihrer eigenen
Schöpfungen treffend charalterifirt und diejenige geiftige
Richtung, durch welche ſich diefelben über bie bloße Unter-
haltungsliteratur erheben, obgleich wir ihnen das Lob nicht
verfagen können, daß fie zu den unterhaltendften Werken
unferer neuen erzählenden Literatur gehören.
Rudolf Gottſchall.
294
Neuere bramatifhe Dichtungen.
Neuere dramatifhe Dichtungen.
(Beihluß ans Nr. 18.)
13. Balentin. Ein bärgerfüßee Schauſpiel in drei Acten von
Bictor Stern. Wien, Lehner. 1868. 8. 22 Ngr.
Dies Drama gehört in die dramatifche Schule und
Richtung don Dtto Ludwig und Friedrich Hebbel, mit
denen es in realer Manier, in braftijchen Zügen und dem
Ausdrud einer gewifien Naturwahrheit übereinftimmt. Es
verräth emtfchieden Talent, ift aber wegen ber Craßheit
feiner Handlung und einer durchaus unflaren, man möchte
fagen fnabenhaften Intrigue für die Bühne underwendbar.
Valentin, ein junger Volfsfcullehrer in einem Land»
ftädtchen am Fuße des Riefengebirgs, ſteht in dem Ber-
dacht, feinen Freund Oswald, einen Forftverwalter der
felben Gegend, ermordet zu haben. Obſchon die geridht-
liche Unterfuhung ihn wegen fehlender Beweiſe hat freis
ſprechen müfjen, fo glaubt doch nichtsdeftoweniger das
Voll an feine Schuld, und dies um fo hartnädiger,
als aller Welt befannt if, dag Oswald fo gut wie
Valentin um Marie, bie ſchöne Tochter des Weber⸗
meifters Wendelin, ſich beworben hat. Marie hat Ba-
Ientin begünftigt und folte an dem Tage, an weldem
Dswald verſcholl, mit jenem getraut werden. Das räth-
ſelhafte Verſchwinden Oswald's, bie gefängliche Einzie-
hung Balentin's, feine lange Haft während der Unter
fuchung und endlich der auf dem Unglüdlichen zurüd«
bleibende Verdacht haben ifn um Stellung, Unterhalt
und infolge deſſen auch um die Möglichkeit gebracht,
Marie heirathen zu Lönnen. Letztere hatte ſich denn end»
Ti, anderweitig mit einem reichen Kaufmann aus ber
Kefidenz, mit Namen Dorn, verlobt. Dorn fand mit
ihrem Bater in Gejäften und fam, als biefer in Un-
glüc gerieth, ihm zu helfen und ihn ans feinen Berlegen-
heiten herauszureißen. Es geſchah dies wol nicht ganz
ohne Abſichten auf Marie, die er kennen und Lieben ges
lernt hat und im der er einen Erſatz für feine jung ver-
ftorbene Frau ſowol fir fi als feine unerwachfenen Kin
der zu gewinnen hofft. Marie, die Valentin noch immer
fiebt, aber wohl erfennt, daß fie nun deſſen Gattin nicht
mehr werden ann, Hat auf Drängen ihres Vaters in
eine Verbindung mit Born gewilligt, und als der Bor-
Hang im die Höhe geht, finden wir fie mit ihrer Iugend-
freundin Chriftel am Borabend ihrer Hochzeit vor ihrem
Brantftaat.
Chriftel ift ganz rende, ganz Entzüden über alle
die Pracht und Herrlichkeit, bie der reiche Dorn feiner
Braut ins Haus gefickt. Die Braut felbft aber ift
traurig, zerftrent und einfilbig. Als Chriftel fie wider
ihren Willen anpupt, um zu fehen, wie Brautfranz,
Schleier, Halsgeſchmeide und Ohrgehänge der, wie fie meint,
gfüdfichen Jugendgefpielin zu Geſicht ftehen werden, er-
ſchridt letztere und erzählt, wie fie in einer Art von Viſion
ſich bereits darin erblidt :
Marie. Piögfic fchien es mir, ala wären ang dem einen
Spiegel drei geworden, und in jedem ſah id mich als Braut mit
Myrtenfranz und Schleier gef müdt. Die Spiegel waren eigen
bintereinandergeftelt, näher und ferner. Und wie id fo ſtaud
und hineinblidte, da ſchienen die drei Bränte im Myrienkranz
und Schleier fid) langfam von mir fortzubewegen und gingen
Eine weitere Unterrebung der Sugendfreundinnen wirb
durch das Erſcheinen Valentin's unterbrochen, der ſich
ſtill und wortlos in eine Ecke der Stube fegt. Als Chri-
ftel gegangen, berichtet er auf Mariens Befragen, daß
feine Bemühungen um irgendeine Heine Stelle wieder ver-
gebens gewefen. Niemand will ſich mit einem Menſchen
einlaffen, der in dem Rufe ſteht, einen Mord begangen
zu haben. Ein Pächter kommt, Feldarbeiter bei Wendelin
zu fuchen; Valentin bietet ſich auch dazu an und wird
auch hier wieder abgewieſen. Nun teilt er Marie mit,
daß er nad Amerika wolle. Er hat Auswanderer ge»
fehen, welche durch die Gegend fommen, und ift ent»
ichloffen, ſich diefen anzureihen. Hier endigt der erfte Act.
Im zweiten eradjtet es der alte Wendelin für feine
Pflicht und Schuldigkeit, Dorn die Vergangenheit und
Geſchichte feiner Tochter zu erzählen, die wir bereits len ⸗
nen. Sein künftiger Schmiegerfohn Hört ergriffen zu,
und da er endlich auch vernimmt, daß Valentin auswan«
dert, Hofft er alles vom der Zeit für das Glüd und bie
Ruhe feines Haufes, das bereit fteht, feine zweite Gattin
zu empfangen. .
Nachdem nun Wendelin nod einmal mit Marie ger
ſprochen Hat und in ſie gedrungen ift, Balentin zu ver⸗
gefien, bleibt diefe allein, um fich zu Bett zu begeben.
Es find wunderbare, aber wahre und tiefergreifende Ges
danken, die ihr durd) den Kopf gehen, Gebanfen wie die
folgenden:
Marie. Wer nur einen Blid in die nächſte Zukunft Hin,
einwerfen Könntel Für ein Mädchen ift es doch ein fo banges
Gefühl, daß fle beſchleicht, fühft fie die Nacht vorher fidh noch
ganz als Mädchen, und Mädchen mehr ale je zuvor — und dann
wieder eine Nacht, wo fie dem ungeheuern Kampf gleich einer
wildgereizten Lzwin ausfämpfen muß; doch ift c8 der Kuß der
Liebe, der fie bezwingt, und ehe fie noch ante, daß fie aufe
gehört hat Mädchen zu fein, iſt fle fhon Weib in feinen Ar
men — in feinen Armen! In weffen Armen? In Balentin’e? —
In Dorn’s Armen! — Mir ſchaudert!
Neuere bramatifche Dichtungen. 295:
Diefer Schauder wirb erhöht durdy ein dunkel auf:
fteigendes Wetter. Eben will Marie Fenfter und Laden
ſchließen, als Balentin volllommen reifefertig einbringt,
um einen letzten Abjchied zu nehmen. Bei diefen Ab»
ſchied briht nun auf einmal fein ganzer Schmerz, fein
voſler Zorn über fein Schidfal aus. Er verwünſcht und
verflucht alle Zage feines Lebens, die Träume und Täu⸗
[dungen der Welt und zulest auch Marie. Er verlangt
von biefer eine Kette zurück, bie er ihr einmal gegeben
und welche feine fterbende Mutter ihm einft in die Hand
gedrüdt, daß er fie derjenigen fchenke, bie er liebt und
die ihn wieder liebt. Diefe Kette kann ihm Marie aber
jest nicht zufommen laſſen.
Marie. Ic trug die Kette noch diefen Abend, ba ber
merkte es jpöttifch die Chriftel und fragte mich, ob die Fette
auch zu den Übrigen Brautgefchenten gehöre; und ſei's num
Scham, fei’8 Berwirrung — ich nahm ſchnell die Kette mir vom
Halſe — Inlillte fie in meinen Händen zufammen — und fchob
fie mir, ohne daß ſie's merfte — da vorn vor der Bruſt herein.
Balentin gibt fich feltfamerweife damit zufrieden, bittet,
die Kette ihm nad; Hamburg nachzuſenden, und will fort.
Aber das Wetter iſt herauf und Marie will ihn nicht
laſſen. Sie erinnert ihn an alte Zeiten, an ihre Kind⸗
Beit, ihre Spiele, an ihre Liebe endlih. Noch einmal
fleigt diefe ſchöne Epoche mit all ihrem Reiz und Zauber
in ihren Seelen empor. Die Leidenfchaft erwacht und
entflammt ihre Herzen, mitten unter dem lo8brechenden
Gewitter löſcht der liebestrunkene Valentin die Lampe und
— der Borhang fällt.
Im dritten Act wird e8 Morgen. Der Raufch ber
Liebe ift verflogen, die Befinnung kommt und Hand in
Hand mit ihr die Neue. Balentin ift ernüchtert, voll
Sorge und ohne Rath; Marie entgeiftert, von der Schande
niedergedrüdt und in Verzweiflung, faft ſinnlos. Ohne
zu willen, was fie thnt, thut fie den Brautſtaat an und
tritt vor ben Spiegel, und im Spiegel fieht fie nun aufs
neue ihre Bifion. Schaudernd finkt fie zufammen, indem
fie vol Entjegen fchreit: „Ich bin eine... .!”
Das reißt Valentin empor. „Komm mit“, ruft er,
„komm mit in die Neue Welt. Die ift groß und frei und
fragt nicht, wen fie beherbergt. Wirf dich an mein Herz.
Da findeft du Heimat, Name, Gatten, Vater, ulles, alles
wieber. Bertrame dich dem Arm der Liebe, der dich auf
Meereswogen wiegt!"
Eben ift man im Begriff zu fliehen, da Hopft Chris
ftel, welche die erfte fein will, die die Braut an ihrem
Ehrentage begrüßt. Nun ift keine Rettung mehr mög»
lich und das DVerberben da. Marie vergeht in Angſt
und Scham. Außer fi ergreift fie die Piftole, die
Balentin im Gürtel trägt. „Es bleibt Feine Wahl mehr“,
fagt fie, „ichieß zu.“
Während num draußen die Hochzeitsmuſik und bie
Hochrufe der Nachbarn und Freunde anheben, fällt der
Schuß. Marie finkt todt zu Boden. Ehe aber Valentin
Zeit bat, fich die tödtende Kugel ins eigene Herz zu jen-
den, wird die Thür erbrochen und die Leute dringen ein.
Da diefelben nun Marie todt am Boden, Valentin
aber mit der Piftole in der Hand finden, jo ift e8 ihnen
klar, daß fie in diefem einen Doppelmörder zu erfennen
haben. Wüthend dringen fie auf ihn ein, und ſchon hofft
Valeutin unter ihren Streichen zu erliegen, da wirft fid
die Obrigkeit und ein Fremder dazwifchen.
Diefer Fremde ift natürlich Oswald, der nun erfchüt-
tert folgende fonderbare Gefchichte zum beften gibt:
‚Bahr iſt's, ich liebte Marien, und den Gedanken, fie in
wenigen Stunden mir unmwiederbringlich entriffen zu fehen, ver»
mochte ich nicht zu ertragen. So ftürzte ich mich in die hoch⸗
ſchäumenden Wogen, Valentin zu meiner Rettung mir nad).
Schon hatte er mid, gefaßt, vergebens, daß ih iöm den Tod
abzuringen verfuchte; gerettet glaubte er mich ſchon von feinen
Händen, da trennte ung eine hocherſchäumende MWafferwoge(!)
und aus meinen Augen verfhwand er, dem Ufer zu; ob lebend
oder todt, nod weiß ich's nicht. Mich aber riß der Strubel
hin ans jenfeitige Ufer, und fort trieb's mid in Berzweiflung
noch in jelber Nacht und fo viele Tage auf abfeits gelegenen
Wegen, bis id, endlich die hohe See erreichte. Ein Schiff,
das eben feine Segel blähte, begrüßte ich mit Jubelruf, nahm
anatrofenbienfte darauf und hinüber fchiffte ich nach der Neuen
elt.
Diefe Ausfage Ändert viel. Man erkennt daraus, daß
man Balentin unrecht gethan. Aber was weiter? Der
Mörder Mariens bleibt er doch und das Schaffot ift ihm
gewiß. Da Hat der Bürgermeifter einen Einfall. Er
nimmt die Valentin entriffene Piftole und ftedt fie ihm
mit den Worten zu: „Dein Leben ift verwirkt — id) biete
dir diefe Waffe, tritt auf die Seite — ein Drud mit
dem Finger, und du haſt's überſtanden!“ |
Wr jedoch ſchleudert die Piftole von fih, indem
er ruft:
‚.„. Set nimmermebr! O ich verſtehe euch nur zu gut, die
ihr euch früher fo forgenbedädhtig um mich ſchartet. Seht
fpieltet ihr mir gern das Mordmwerkzeug in die Hände, doch
niht um meinet-, nm euertwegen iſt's euch nur zu thun!
Ich werde nicht Hand an mic legen. Hier Überliefere ich mich
dem Arme der Geredtigleit. (Für fit.) Der Skorpion, wenn,
er die Ferſe ſich ſchon auf dem Naden fühlt, hat noch ein letztes
tödliches Gift für feinen ärgften Feind bereit, das er. nach
zudend an im ausläßt. Auch ich habe ein foldes Gift für.
euch, daB euch noch brennen wird, wenn euer Athem kürzer
und das Gewilfen euch ans Ende mahnen wird; deum num
müſſen fie mich richten, und das ift mein Troſt!
Beweint, bemitleibet, faſt verehrt geht Valentin ab,
inbeß Dorn ihm nachruft: „Doc, die Schuldigen waren
wir!
Dies tft das Stüd, das, wie bereitö gefagt, durchweg
im realiftifchen Genre gehalten, manche Schönheit auf-
weiſt. Es befigt Momente von überrafchender Wahrheit
und jelbft von einer Art Größe, namentlich in den Auf
teitten zwiſchen Balentin und Marie. Hier ift die Liebe
mit einem lebhaften Pulfe, gleihfam mit dem warmen
Herzſchlag des Lebens gefchildert. Das Aufbämmern,
Erwachen und endliche Weberftrömen der Leidenfchaft ift
mit wahrhaft finnlihem Hauche vergegenwärtigt. Auch
bie Ernüchterung und das Elend danach erfcheint mit
wirkſamen und echt dramatifchen Strichen ausgeführt. In
der Stimmung, im Colorit ber Situation ift Victor Stern
von hervorragender Bedeutung. Ganz unbedeutend, une
reif und pueril erweift er fi) dagegen in der Motivirung
und in der Entwidelung der Intrigue Warum foll-Ba-
Ientin denn durchaus den Oswald ermordet haben? Cs
kiegt ja gar fein Grund vor. Er ift doch der Beglin-
ftigte, der fiegende Nebenduhler; ihn hat ja Marie er-
wählt. Und wie curios bie Entweihung Oswald's.
Konnte diefer nicht fchreiben, fich nicht erkundigen, was
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296 Neuere dramatiſche Dichtungen.
aus Balentin geworden? Und warum Fehrt er zurüd?
Das alles ift unflar und haltlos. Diefer ganze Conflict
mußte anders geftaltet werden, follte darauf eine Tragödie
gebaut werden. Die Tragödie Liegt Hier nur im Dialog,
durchaus nicht im Stoff und deffen Aufbau, Dazu kommt,
baf ſich das Ende des zweiten Actes doc, nicht gut auf
die Bühne bringen läßt. Hier find der Sinnlichkeit doch
allzu große Zugeitändniffe eingeräumt. Es fehlt nicht
viel, fo fehen wir vor unfern Augen die Liebe alle ihre
Myſterien in oftenfibelfter Weife preisgeben. Und wie
es fcheint, ift die Provocation dazu nicht einmal ganz
natürlich ansgebeutet. Der Dichter, wenn er dod) ein-
mal hier die Sinnlichleit in ihrem ganzen Recht zeigen
wollte, warum ging er da nicht fo herzhaft ans Werk,
als fich ihm die Gelegenheit dazu bot?
Die Heine Epifode mit der Halskette nimmt fich ziem-
fich nichtsſagend, ja faft albern aus. Valentin will bie
Kette zurück; Marie wünſcht fie zu behalten und trägt
fie auf der Bruſt. Was liegt da näher, als daß Da-
Ientin in feiner wilden, aufgereizten Stimmung fie ihr
zu entreißen, zu entmwinden trachtet? Dabei dürfte es
leicht gefchehen, daß er ihr das Tuch, das Mlieber vom
Buſen riß und dieſer in feiner ganzen jungfräulichen
Fülle und Schönheit ihm entgegenquölle und feine Be-
gehrlichkeit entflammte. Wilhelm Hertz hat in feinen Lie-
dern und Balladen ſolche Momente glüclich erfaßt. Auch
Bictor Stern hätte das für fein Drama thun Fönnen,
fobald er eben davon abzufehen ſich entſchloß, daß es zur
Darftellung gelang. Er hätte dann allerdings mehr
Werth auf poetifchen Gehalt legen und in feinem Trauer⸗
fpiel uns vorzugsweife ein Gedicht von erotifch überfluten-
dem Geifte bieten müffen, ein Wilhelm Heinfe des Dramas!
14. Chriſta. Dramg in vier Aufzügen von Emerih Graf
von Stadion. Peſt, Hedenafl. 1869. 8. 15 Nor.
Ein ähnliches, nur literarifch viel fchwächeres fociales
Schauſpiel. Hilmer, der Sohn des Oberfürfters Waldfee,
liebt Chrifte, die Tochter eines Schmiede, geräth aber
als Privatfecretär des Freiherrn auf Düftereihe in bie
Nete einer vornehmen Kolette, einer Gräfin Ada Syr,
beren Herzloſigkeit und Falſchheit er leider fo fpät er-
fennt, daß er erft zu feiner Jugendgeliebten zurücklehrt,
als deren Herz bereits gebrochen.
Diefer nicht eben fehr neue Borwurf ift von dem
Autor noch obenein weder fehr dramatifch geſchickt noch
poetifch originell ausgeführt worden. Das Werk ift, wie
der Berfafler auch felbft einräumt, mehr ein Product ber
Muße als ber Mufe und verdankt feine Entftehung in
höherm Gradel der Befliffenheit, Lila von Bulyowszky,
der befannten Darftellerin, der es gewidmet ift, eine Hul⸗
digung darzubringen, als von dem Drange bichterifchen
Talents Zeugniß abzulegen.
15. Heimatlos. Schaufpiel in fünf Aufzligen von Marimi-
liaun Gramming Münden, Fritſch. 1868. Gr. 8.
21 Nor.
Dies ift einer don jenen bramatifchen Berfuchen, bei
denen es Mühe Eoftet, fich nicht über fie Inftig zu machen.
Das Stüd ift ohne Zweifel mit Ernſt und Eifer ver-
faßt, aber fo unreif und ſchülerhaft in feiner Idee, fei-
‚ nem Gang unb feiner Sprade, daß e8 unter die weniger
geglüdten Stilübungen eines Gymnaſiaſten gezählt wer⸗
den muß.
Irgendein armer Poet, der daheim in feiner ſtillen
Klanfe an einer Tragödie: „Das Mutterherz“, fchreibt,
trifft zufällig draußen unter einem Lindenbaum mit Com⸗
teffe Amalie zufammen, die aus feinen Gedichten ein Epos:
„Ahasverus“, Taut vor ſich Hinlieft. Die Begeiſterung,
mit ber es gefchieht, entzüdt unfern Helden und er knüpft
infolge deffen mit der vornehmen jungen Dame eine Unter-
baltung an, im der er erfährt, daß fie noch nie einen
Dichter gejehen und um alles gern den Autor ber Berfe
fennen lernen möchte, aus denen fie foeben lange Stellen
zum beften gegeben. Unfer Boet, der vorhin feinen
Freunde Schwarz geftand, daß Dichter nur einmal des
Zags efien, wahrſcheinlich weil die Natur, die precäre
Stellung derfelben fenuend, ihren Magen befonders dar-
auf eingerichtet, unfer Poet fchildert nun feiner jugend»
lichen Berehrerin das Leben eines Dichters, fein Leben,
das heimatlos erjcheint, feit man feine Mutter begraben.
Der Dichter ift „ſchuldlos fluchbelaben, ohne Heimat, ohne
Liebe! Nur feine Lieber find feine Freunde, fle find feine
Begleiter auf feinem bornigen Lebenspfad; fie werben es
bleiben und es (!) einftens geleiten dahin, mo feine Mutter
gegangen ift und wo es (!) auch feine Heimat finden wird.“
Diefe Erzählung rührt Gräfin Amalie und fie fagt:
„Ah, wenn Sie den Dichter wieder treffen, fo fagen
fie ihm, er ſolle zu mir kommen, ich wolle ihm Belfen!“
Und um auch fogleicd, einen Beweis zu geben, wie ernft
fie e8 damit meint, „langt fie jofort in die Taſche“ und
gibt dem Dichter Geld, das diefer zwar anfangs aus
ſchlägt, „weil Dichter auch ihren Stolz haben“, dann
aber doch annimmt, weil die Comtefje ihn fehr bittet,
es dem Armen zuzuftellen. Der Arme, verfpricht der
Empfänger, wird nun aud fein nächſtes Gedicht der
Spenberin weihen, wobei die legtere den Wunfch verlau⸗
ten läßt: „er jolle ja recht viel von Freiheit und von
Liebe hineinſchreiben“.
Im zweiten Act gibt fi ber Dichter bei einem ver-
abredet gewefenen Stelldichein als Berfafier bes „Ahas-
verus“ zu erkennen und wird nun felbftverfländlich ab⸗
göttifh von der Comtefje geliebt. Leider aber trifft diefe
Liebe auf Hinberniffe. Amaliens Mutter, Gräfin Roſa
von Schönhoff, eine frivole, eitle Frau, die um jeden
Preis Minifterin und Ercellenz fein will, Hat ein firäf-
liches Verhältniß mit Baron Haſelwitz. Damit dies Bere
bältniß ja recht „ungenirt” fein könne, fol Hafelwig
Amalie heirathen, denn, fo heißt es wörtlich weiter:
Hafelwig. Wenn ich erſt verheirathet bin, dann befude
ih Sie vet oft — noch öfter wie jett! Und dann —
Roſa. Und dann —
Hafelwig. Dedt ja die Ehe alles zu und ich klann meine
Rofa recht ungenirt küffen.
Es wird nun gegen ben Dichter cabalifirt: die Gräfin
Schönhoff beftimmt ihren Mann, ber fid) den Minifter-
poften glüdlih wieder bat entgehen laſſen, gegen ben
Dichter und für Hafelwig zu operiren, der flatt Schön⸗
hoffe Minifter geworden und Schönhoff zu protegiren
verſpricht. Schöndoff, ein guter, etwas fchwadhlöpfiger
Mann, wirkt in der gemünfchten Art anf fein Kind ein
und fagt zu diefem Ende zu Amalie:
Nenere dramatiſche Dichtungen. 297
Der Menſch Tann alles, wenn er will, und ſelbſt im Uns
pläd kann — maß er ſich glüdtih fühlen! Ich hatt’ es auch
gefonnt! Habe freilich einige graue Haare und feine Krigel ins
Gefiht befommen; bie Bäume, die gegen bie Wetterfeite ſtehen,
befommen auch fo eine gemiffe Rindenfarbe, fo einen gräulichen
Anfhein, eine Moosbewachſung. Und der Menſch ift eine
Beide, die fi) beugt, wenn der Sturm darüber hinfegt, und
die, wenn der Sturm vorüber ift, ihre Krone wieder zum
Himmel erhebt! So glaube id denn meine Pflicht als Vater
erfüllt zu haben — behersige die Worte deines Baters und be«
halte ihm lieb in deinem fünftigen Stande, grolle ihm nicht!
Sei überzengt, deinem Vater koftete der Schritt mehr Thränen
und mehr Kampf als vieleicht dir jelbft; denn Väter haben eine
Verantwortung! (Gr weint.)
Diefe Worte und Thränen befiegen Amalie und fie
willigt ein. Inzwiſchen iſt Hafelmig bei dem Dichter
eingedrungen und Hat demſelben Manufcripte entwendet,
in denen cr fie Hafelwig und gegen Schönhoff auf feines
Verlegers Beſtellung Partei in dem Zeitungen ergriff.
Diefe Papiere verliert Hafelmig bei der Verlobung; fie
falen Schönhoff in die Hände und biefer, der infolge
defien die Intriguen durchſchaut, erflärt fich gegen Hajel-
wig, ſodaß diefer rächeſchnaubend das Haus verläßt, in
dem man noch kurz zuvor den Dichter mit der Verlobung
Amaliens nit Hafelmig überrafcht hatte,
Natürlich ift er verzweiflungsvol fortgeftürzt und
geräth darauf bei feinem Freunde Schwarz in einen Zus
fand, der fi) durch „wirre Blide und gräßliche Blicke“
als entfchiedener Wahnſinn zu Tage legt. Zum Ueber
fluß hat ihn Hafelwig noch ins Gefängniß ſperren laſſen,
und als Amalie und ihr Vater fommen, um ihn zu bes
freien, ftirht er ifmen unter den Händen weg, im Ster -
ben flehend, ihn umter der Linde zu begraben, unter der
er zuerft Amalie gefehen. Zuletzt kommt noch heraus,
daß der Dichter der Sohn Schönhoff's war, den. er fei«
nem zweiten Weibe zu Gefallen verftieß.
Diefe wirrigen, unklaren, verzwadten Vorgänge und
die curiofe Sprache, in ber fie fid) ansdrüden, kennzeich ⸗
men die Arbeit als ein vollftändiges Stümperwerk, für
welches wir aud) bei der größten Milde und Nachſicht
nit umhin Können, diefelbe zu erflären.
Daffelbe gilt von:
16. Der Iudenhap. Ein Traueripiel in flnf Acten von Ernft
Dswald. Meiningen, Brüdner und Renner. 1868.
Br. 8. 12 Nor.
Das Stüd fpielt in einer ſüddeutſchen Reichsſtadt im
Jahre 1349, wo leichtfertige, liederliche Patricier eine
ausbrechende Peſt benugen, um eine ganze Reihe von
Iudenfamifien als Brumnenvergifter anzullagen und zu
vernichten, blos um ſich fo die Schulden vom Halje zu
ſchaffen, die fie bei den Hebräern gemacht.
Das Stüd ift fo unfiher und ſchwankend, daß es
fid) kaum auf den Beinen Hält und ohne allen dramatir
fhhen Halt und ftricten Gang dahertaumelt. Es ift die
baare dramatifche Unfähigkeit, die fich Hier zur Un
ſchauung bringt.
17. Der rehtmäßige Erbe. Schaufpiel in fünf Aufzugen von
Eduard Bulmwer Lord Lytton. Ins Deutige liber-
tragen von Karl Hermann Simon. Leipzig, Weber.
1869. 8. 24 Nor.
Bulwer's Schaufpiel dürfte ben Ruhm des englifhen
Romanfhreibers nicht vermehren, wenn es freilich ihm
auch wol feinen Abbruch thun wird, Diefes Drama
1870, 1.
zählt einigermaßen zu den Ritterftüden, und fpielt zur
Zeit ber fpanifchen Armada, d. h. im jener Epoche der
englifchen Geſchichte, in welcher Königin Eliſabeth einen
Angriff Spaniens zur See erwartete und infolge deſſen ihre
Flotten Friegegerüftet zur Dedung bereit hielt.
In jener Epoche lebt eine Lady Montreville, eine
Gräfin von Geburt, mit ihrem einzigen Sohne, Lorb
Beaufort, in -ihrer ftattlichen Grafſchaft. Cie hatte, che
fie fi legitim vermählte, einem Pfande der Liebe das
Leben gegeben, einem Knaben, ben fie fpäter anzuerkennen
in Abficht gehabt. Nachdem fie jedoch einen rechtmäßigen
Sohn geboren, hat fle dies auch nad; dem Tode ihres
Gatten nicht gethan, fondern ftatt deſſen den Baflard auf
ein Kriegsſchiff fteden laſſen, don woher man bie Kunde
von deſſen Tode ihr übermittelte,
Die Familie der Lady meift nämlich einen armen
Better, Sir Grey de Malpas, auf, welcher darauf ſpe⸗
eulirt, der Erbe der Montrevilles zu werben, und der,
um zu diefem Ziele zu gelangen, nichts fehnlicher wünfcht,
als daß der Teufel den Iegitimen ſowol wie den illegi-
timen Sohn feiner Verwandten holen möge. Um dem
Fürften der. HöNe dies freundſchaftliche Werk zu erleichtern,
bat er einen zu Grunde gegangenen Dann, einen gewifjen
Wredlyffe geworben, der Vyvian, den unehelicen Sohn
der Gräfin, aus dem Wege ränmen follte, diefer löblichen
Abſicht aber nicht nachgelommen ift. Vyvian, der zum
Kapitän des Kriegsfchiffs Dreadnought emporgeftiegene See⸗
mann, ift eben jegt nad) England zurüdgefeprt, einmal um
feiner Ablunft, namentlich feiner Mutter nachzuforfchen,
dann aber aud um Eveline, eine Miündel der Gräfin
Montreville, ſich als Gattin Heimzuholen. Er hat diefelbe
auf dem Meere aus einer großen Gefahr errettet und
fpäter von Herzen lieben lernen. Nach dem Tode ihrer
Altern hat Lady Montreville Eveline zu fi genommen,
und bier num fucht Vyvian fie auf. Daß er der erfi-
geborene Sohn jener Hohen Dame ift, wird ihm, dieſer
felbft und natürlich, aud) Grey fehr bald Mar. Lebterer
reizt die Mutter, reizt Lord Beaufort gegen Vyvian auf.
Bei der erftcen gelingt ihm dies, weil fie die Beeinträch⸗
tigung und gefegliche Hintanfegung ihres zweiten Sohnes
fürchtet, der, reich und vornehm erzogen, es nicht ertragen
würde, bie Hauptbefigungen, die von mütterlicher Geite
herrühren, dem Grftgeborenen abzutreten; bei Lord Beau-
fort, der natürlich von dem Geheimnig feine Kenntniß
hat, nicht weniger, denn dieſer liebt Eveline und ift auf
Vyvian eiferfüctig. So ſcheinen die Dinge für ben
Intriguanten vortrefflich zu gehen. Lord Beaufort und
Vyvian geraten aneinander und fehwören, fid) einander
die Hälfe zu breden. Sie geben ſich zu ihrem Zwei
tampf ein Stelldichein auf einem Felſen, den der Sciffe-
Yapitän paſſtren muß, um an den Strand und zu feinem
Schiffe zu kommen. Der Sicherheit wegen heut Grey
noch Wredlyffe hinterher.
Aber Vyvian, der inzwiſchen die Seele feiner Mutter
hat ergründen lernen, will freiwillig auf alles, nur auf
Eveline nicht verzichten, und als er auf fein Schiff
zurüdgerufen wird, um gegen bie Spanier in See zu
gehen, verzichtet er darauf, ſich mit Beaufort zu ſchlagen.
Diefer, weil er die Beweggründe der Schonung nicht
tennt, will ihn zum Zweilampfe zwingen und eilt ihm
38
Bi
Dt
EA Le
’
j
298 Neuere dramatiſche Dichtungen.
mit gezogenem Degen an den Rand ber Klippe nach, wo
Bypian fih an den Aft eines Baums fügt. Hier nad)
ihm fchlagend, nöthigt er den Gegner fi zurüd-
zubengen, wobei der Aſt briht und Vyvian im bie
Tiefe ſtürzt.
Dies ift die Handlung von vier Ücten. Im fünften
finden wir Lord Beaufort von feiner Schuld niebergebrüdt,
Grey aber in Zweifel über den Ausgang der Sache, da
man Vyvian's Leiche nicht aufgefunden. Dennoch liegt
es natürlich in feinem Interefle, daß der Erzieher Vyvian's,
dem er das Duell auf der Klippe verrathen, gegen Lord
Beaufort Hagt und biefen vor Gericht zieht. Bor dieſem
Gericht fol Beaufort, der reuig eingefteht, eben verur-
theilt werben, als ein Ritter mit gefchloffenem Bifir er-
fcheint, der den Handſchuh für des Lords Unſchuld hin⸗
wirft. Sir Grey de Malpas, in allen feinen Hoffnungen
betrogen, denn er ift ja der Erbe von Montreville, wenn
Beaufort dem Geſetze als Mörder anheimfält — Sir
Grey de Malpas will eben mit dem Fremden in bie
Schranken treten, als diefer den Helm abwirft und fich
ale Vyvian zu erfennen gibt. |
Vyvian ift nämlich wunderbar damals dem Tode ent⸗
gangen, und nur Wrecklyffe verunglüdt, der ihm nach⸗
träglich zu Leibe wollte. Er ift inzwifchen mit Eifer in
ben Krieg gezogen und durch feine Tapferkeit zu hohen
* Ehren gelangt. Nun bietet er Bruder und Mutter die
eine Hand zur Berfühnung, feiner Eveline aber, die
immer auf fein Wiederkommen in trener Liebe gehofft,
die andere zum Chebunde, indeß Sir Grey verachtet
und mit Schande bededt abziehen muß.
Das Schaufpiel ift hicht unintereffant und hat ein
paar höchſt wirkſame Scenen; einige Momente athmen
fogar den Hauch echter Poeſie. Im ganzen aber ift dad
Drama von etwas froftiger und bürrer Haltung; das
warme, pulſirende Reben fehlt, e8 erfcheint gemacht — nicht
ohne Geiſt und Geſchick gemacht, aber doch gemadit.
Aehnliches gilt von:
18. Der Millionär und der Künſtler. Drama in vier Acten,
aus dem Stalienifchen des Baolo Giacomelli, von
Ernft Preyer. Karlsruhe, Bielefeld. 1868. GEr. 16,
20 Nur.
Der Inhalt diefes Stüds fpielt fih in etwas zu
fteifer umd abgemefener Form für feine innere Mager-
feit ab,
Der Millionär Giorgio hat feine Tochter Rachel dem
Maler Michael nicht zur Yrau geben wollen, den fie liebt,
fondern hat ihr einen vornehmen Spanier, den Orafen
Rodrigo erwählt, der fie mit feinem maßlofen Stolze und
feiner Eiferfucht aufs bitterfte quält. Michael Hat indep
in der Fremde großen Auf erlangt und kehrt gerabe als
Berlobter der Regina, einer Freundin der Nadel, zurüd,
als deren Gatte bei diefer ein Porträt Michael's entbedt
hat. Er ift im Begriffe, fein armes, unfchuldiges Weib
zu mishandeln und Michael feiner blinden Wuth zu
opfern, als gerade defien Bruder, ein Seemann, zurüds
fehrt und in Graf Rodrigo einen ehemaligen Sklaven⸗
händler entpuppt, den die Regierung, zur Rettung aller,
zu lebenslänglicher Feſtung verurtheilt, indeg Michael zum
Bräfidenten der Akademie und zum Ritter bes Berdienft-
ordens gemacht wird. So belohnt fi das Talent und
wird die leere Eitelkeit und Prunkſucht beftraft.
Das Drama hat wie da8 Bulwer'ſche feine fehr glüd-
lichen Momente, leidet aber ebenfalls an Kälte der Diction
und trodener Ausführung.
19. Eduard Bloch's Volkstheater. Ar.31— 33. Berlin, Laffar.
1868. ©r. 8 2 Thlr 15%, Ngr.
Die drei Hefte biefer Sammlung, Nr. 31—33 ent
balten folgende Stüde: „Undine oder eine verlorene Seele”,
romantifche8 Zauberfpiel mit Geſang in vier Acten und
einem Borfpiel von Wollheim; „Der Winkelfchreiber“,
Luftfpiel in vier Acten von U. von Winterfeld, und „Wie
geht's dem Könige”, Luftfpiel in fünf Acten von Arthur
Müller.
Alle drei Arbeiten find vielfach aufgeführt und bei
diefer Gelegenheit von der Kritik nach ihrem Werthe ges
würdigt worden. Es genügt daher wol, wenn wir an
diefer Stelle einfach ein kurzes Refume diefer Würdigung
veranftalten.
Das letztgenannte Luſtſpiel gehört zu bes fleigigen
Berfoflers beſſern Stüden, wennfchon freilich auch in
ihm Spuren von Flüchtigkeit nicht zu verfennen find,
Die Handlung fpielt in Berlin und Breslau, kurz vor
dem Ausbruch der Freiheitöfriege, und gipfelt in ber
Intrigue, zu der man fich veranlaßt fieht, um die
Franzoſen über die Abfichten des preußiſchen Königs zu
täufchen. Der Gang der Sache ift lebhaft und fpannend,
gejchidt die Hiftorifchen Ereigniffe und Stimmungen aus
beutend, der Stil frifh uud wirkſam, die Charakteriſtik
oft von glücklichſten Wurfe. Hier und da ift freilich
manches, was feiner und fubtiler hätte behandelt fein
können; ohne Erfolg ift die Komödie aber wol nirgends
gewejen.
Aehnliches ift von dem zweiten Stüd zu fagen. Das
Ganze ift jedoch troden und dürftig in feiner Mache fowol
als auch in feiner Haltung; aber es bietet gute Rollen
und zeigt den aus einem altrömifchen Drama entlehnten
Stoff innmerhin mit fehägenswerthbem Talente in die mo⸗
dernen Berhältniffe hinein umgewandelt und für biefelben
trefflich ausgebeutet.
Wollheim's „Undine” ift in ihrem poetifchen Theile,
d. 5. in der Benugung der befannten Sage etwas ehr
fentimental und in ihren pofjenhaften Beigaben keineswegs
immer von glänzendem Wig und Humor; troß alledem
läßt fi) nicht leugnen, daß das Stück bei glatter und
runder Darftellung nicht ohne Wirkung bleibt.
Bon demfelben Berfaffer erfchien:
20. Gold⸗Elſe oder Die Egoiften. Scaufpiel in fünf Acten,
von A. E. Wollheim. Dit freier Benutung des gleich.
namigen Romans von E. Marlitt. Hamburg, B. ©.
Berendfohn. 1869. Gr. 8. 15 Nor.
Das Stüd ift weder fein in den Motiven noch in
der ganzen Ausführung, doc, gibt es immerhin den
gelefenen Roman, namentlih fiir das Publikum Kleine
rer Bühnen, zwedmäßig verarbeitet zum beften. Der
belannte Autor hat Dankenswertheres geliefert, braucht
fi indeß auch diefer Arbeit nicht zu fchämen, wenn
freilich fon die bloße Mache und die Abficht, mit ciner
populär gewordenen Geſchichte auf dem Theater in
Neuere dramatifhe Dichtungen.
dramatiſcher Verwendung ein gutes Gefcäft zu machen,
mehr als nöthig darin zur Geltung gelangen.
21. Der berliner Figaro. Lunfpiel in fünf Aufzligen von F .
Hollander. eben, Ei Ihe sr 15 ER
Dies iſt ein ziemlich curiofes Stüd, ein Stüd, von
dem man nicht recht weiß, was man bamit anfangen foll.
Es hat etwas vom Hauch und Weſen der alten Schule,
einen Zug von Leffing oder doch von Schröder, er-
ſcheint dabei aber zugleich überaus ſchüllerhaft und
unfertig.
Ein Major Halden, der eine liebenswürdige Tochter
befigt, ift in Schulden gerathen, aus denen nur ein glüd-
licher Zufal oder ein ebelmüthiger Freund ihn erlöfen
Kann. Letzteres gefchieht, aber fo, daß der Unglüdliche
feinen Netter nicht mit Beftimmtheit zu erkennen vermag.
Ein Ungenannter hat große Mittel flott gemacht und zu
feiner Verfügung geftellt. Ex räth auf Hofrath Finken-
berg, einen glatten Weltmann, der fih um die Hand
feiner Tochter bewirbt, und dem er, überrafcht von defien
vermeintlichen Edelmuth, diefelbe auch geben will, ale
zum Glück durch die Schwaghaftigfeit eines ziemlich un«
berſchämten berliner Barbiers an ben Tag kommt, daß
der Spender jenes zur rechten Stunde gelommenen Kar
pital8 der Sergeant Preiß ift, der, urſprünglich ein ver«
mögender Gutöbefiger, aus Liebe zu Sophie Soldat ge-
worden ober geblieben if. Das Wahre und Klare der
Sache tritt nämlich nicht recht ins Licht bei der Dürfe
tigfeit, Knappheit und unbentlichen Art, mit ber die Bor-
gänge behandelt find. Das Ganze macht einen etwas
ſchattenhaften Eindrud: es fpielt wie im Dämmer- unb
Slüferton. Es fehlt jede Regung wahrhaften Lebens,
jedes Laute und ergreifende Wort. Selbſt der berlinifche
Dit, der in dem Jargon des Barbier Wer zum Bor«
fchein Tommt, lallt wie im Schlafe und vermag fein
herzhaftes Lachen zu erzeugen. Es ift etwas Abgeftor-
benes, Todtes in diefer Arbeit, wenn auch ſchon zuger
ftanden werben Tann, daß fie in ihren Mienen und Be-
wegungen ein Etwas zu Tage legt, das uns an große
Vorbilder erinnert. Ueber die Erinnerung aber kommt
fie nicht hinans, denn die Made ift troden und hölzern,
die Geftaltung ausdrudslos und matt, und die Sprache
impulslos und ohne Wärme.
„Der berliner Figaro“! Welche Vorſtellung wedt
dieſer Titel! Und doch hat er gar keine Bedeutung.
Wer ift ein ganz gewöhnlicher Bartkrager, ein Bartkrager,
im dem Feine Aber von dem Beaumarchais'ſchen Wind-
beutel, ja nicht einmal die mindefte Aehnlichteit mit dem
berliner Leben und Zreiben fledt, wie es ehedem Adolf
Glasbrenner in feinen Skizzen und Genrebildern fo er-
gðtzlich zu ſchildern verftand. Daß diefer Burfche aber,
ohne von einem gemialm Humor und glänzender Laune
geabelt zu fein, bier fo breift fich überall aufbrängen und
einmifdhen darf, von Hofrath Finkenberg, Major Halden,
Sophie, Preiß und Jürgen geduldet wird, die ganze
Intrigue, foweit von einer folden Hier die Rede fein
Fan, wenn auch nicht leitet, doch aufbedt, ift ein ganz
entfchiebener Misgriff des Autors, denn dafiir hätte diefe
Figur mehr Geift, mehr epigrammatifche Schärfe, mehr
Immerlicjfeit und Perfpective erhalten müflen, als fie
erhalten hat. Das Miegeſchick des ganzen Luftfpiels iſt
299
eben, daß es feinen weitgreifenden und höhern Inhalt
hat, daß es mit feiner ganzen Idee in bloßem Sande
fpielt. Wer an ſich felbft den Anfpruch erhebt, einen
Figaro“ zu fchreiben, der muß auf der Höhe feiner Zeit
ftehen und fie mit der Geifel feiner Ironie zu kitzeln im
Stande fein, fonft wird feine Unternehmung unbezweifelt
Schiffbruch leiden und als verfehlte Speculation der Ber-
urtheilung nicht entgehen.
22. Almanach dramatiſcher Bühnenfpiele zur_gefelligen Unter»
haltung für Stadt und Land. Bon &. 9. Görner.
Sfter Jahrgang. Altona, Berlagsbureau. 1868. 8.
1 Thlr. 15 Nor.
Diefer Jahrgang bietet zwei einactige Bluetten und ein
funfactiges Luftfpiel, weldje die bühnengewandte Hand des
Verfaſſers wiederum nen und oft recht fiegreidh befunden.
Die größere Komödie: „Erziehung macht den Menfchen“,
ift die Bearbeitung eines ältern Stücs, das chedem
Beifall fand, aber fpäter wegen feines veralteten Zuſchnitts
in totale Vergeſſenheit kam, aus der es unſer Verfaſſer
dadurch hervorzuziehen verſucht Hat, daß er demſelben
eine modernere Einkleidung gab. Doch auch dieſe zeigt
noch ziemlich verjäßrten Schnitt, wenigſtens nichts weiter
als die längft befannten und abgenugten Theaterfiguren:
einen verſchuldeten Cavalier, der um jeden Preis eine
reihe Heirat}; machen will; eine komiſche Alte, die mit
verdrehten Fremdwörtern um fi wirft; einen humoriſti -
fen Schmerbauch, der fich felbft über feine Toggenburg.
natur fuftig macht, und eine naive und eine mehr pathetie
ſche Liebhaberin. Immerhin aber ließe ſich auch mit bie»
fen abgegriffenen Geftalten eine gewifſe Wirkung erzielen,
wenn der Stoff felbft nicht etwas gar zu fabenfcheinig
wäre. Eine Comteſſe, die in der Wiege von ihrer Ämme
mit deren eigenem Bauermädchen vertaufcht worden ift,
und die Entdelung dieſer Bertaufhung, nachdem bie beie
den Kinder, jedes feinem Stande gemäß, erzogen worben, -
ift ein Vorwurf von zu oft bagewejener Art, als daß er
noch follte Eindrud machen Fönnen, wenn er nicht. eine
ganz neue und frappante Behandlung erfährt, die er Bier,
wie bereits gejagt, nicht erhalten Hat.
Das Stüd zeigt danlbare Rollen und einen glatten
Gang der Entwidelung, aber weder glänzenden Geift im
Dialog noch frappirende Frifche im Wurf.
Glüdliher ift Gdrner diesmal in den zwei Bluetten.
„Rurzfihtig” behandelt zwar ein körperliches Gebrechen,
mit dem uns nicht zu fpaßen ſcheint, obfchon es aller»
dings zu den leichtern und crträglichern gehört; aber es
iſt doch wirklich eine drollige Idee, daß eine junge Witwe,
welche felbft kurzſichtig ift, feinen Furzfichtigen Gatten
wählen will und doc nur zwiſchen Freiern die Wahl
erhält, die es gleichfalls find und ihr Leiden ängfte
lich verbergen, ohne zu ahnen, daß ihre Verehrte es
ebenfalls theilt.
Die befte Gabe dieſes elften Jahrgangs ift indeß un«
bezweifelt: „Nur ein Band”, ein Luſtſpielchen, das in
hochſt ergöglicher Weife die alte Wahrheit bekundet, daß
der Teufel und nur bei einem Haare zu paden Gelegen-
heit erhalten darf, um uns ganz und gar in Beſchlag
zu nehmen. Ein nur eben verheirathetes Weibdhen be
giant damit, nur ein neues Band für ihren Hut zu
wünfchen, und fiche ba, kaum daß diefer Wunfch von
38 *
300
dem glüdlichen Gatten erfüllt wird, fo zeigt fih auch
fofort die Nothwendigkeit, daß das neue Band einen neuen
Hut, der neue Hut ein neues Kleid, das neue Kleid einen
neuen Ueberwurf und kurz Unfchaffungen erheifcht, die
gleich im Beginn das Glüd des jungen Ehepaars unter-
graben müßten, wenn nicht enblih das junge Frauchen
felbft zur Einfiht gelangte und auf dergleichen Luxus
verzichtete.
Dies Stückchen ift fo geſund erfunden, fo Taunig
durchgeführt, und trog einer gewifien Härte im ſchließ⸗
Iihen Umſchwung doch fo munter und befriedigend zum
Austrag gebracht, daß es uns fehr beachtenswerth dünkt,
und wir und aufrichtig wundern, bafjelbe nicht mehr und
häufiger auf dem Repertoire zu finden.
Der vorhergehende Jahrgang des Görner'ſchen Alma-
nachs, der zehnte, welcher 1866 in bemfelben Verlage
erichien, enthält ebenfalls drei Stücke des Heransgebers,
nämlih: „Ein geadelter Kaufmann”, in fünf Acten,
und zwei einactige Schwänle: „Der Hahn im Dorfe”
und „Eine ftille, gemüthlihe Wohnung“. Der letztere iſt
eine ſehr pofienhafte und derbdrähtige, wenig geſchmackvolle
Arbeit. Auch „Der Hahn im Dorfe” kann nicht gerade
ein ſehr glüdliher Hahnenjchrei der dramatifchen Mufe
genannt werden; immerhin aber ift er zu leſen und zu
jehen. Das größere Lebenebilb ift oft und viel gegeben
worden, weil e8 ziemlich überall eine günftige Aufnahme
fand, die e8 im Grunde auch verdient. Kann ihm freilich,
namentlih im Ausgange, ber Vorwurf von Trivialität
nicht ganz erfpart werben, fo ift ber Haupt» und Grundzug
Dtto Liebmann und feine Inconfequenzen.
darin doch von unbezweifelter Trefflichfeit, indem uns der»
felbe einen tüchtigen, reellen Kaufmann zeigt. Dieſer wird,
weil er einflußreihen Standesperfonen bemerfenswerthe
Dienfte geleiftet, durch deren Betreiben von feinem Fitrften
in den Abdelftand erhoben, weldye Erhebung Emannel Rohr-
bed anfangs nur widerwillig und mit dem feften Gelöbnig
aufnimmt, daß dadurch in feinem Haufe und Leben nichts
geändert werden folle, die aber ſchließlich doc, ihm fo zu
Kopfe fteigt, daß ex Thorheit über Thorheit begeht und
endlich dadurch feinen Ruin berbeiführt. Natürlich kommt
er nach demfelben wieder glüdlich zur Bernunft und
führt damit einen verſöhnlich befriebigenden Schluß des
Stüds herbei.
23. Ein Depoffedirter. Komifches Singfpiel in drei Auf
zügen. Frei nad) Voltaire's „„Baron d'Otranto“ bear
beit bon Dtto von Breitfhwert Frankfurt a. M.
Das Singfpiel führt und einen jungen ſich langwei⸗
Ienden Fürften vor, in defjen Heinen Staat türkifche Piraten
einbrechen, die ihn entſetzen und ſich's an feiner Statt wohl
fein Lafien, bi die Prinzeſſin Irene fie und igren Anführer
trunfen macht und in diefem Zuſtande fie mit einigen
Getreuen überrumpelt, wodurch der Fürft von Otranto
wieder fouverain und felbftverftändlich der Gemahl feiner
fürftlichen, ihm verwandten Befreierin wird,
Das Meine, unbedeutende Libretto ift kaum des großen
Namens und jedenfalls der Berdeutfchung faum würdig.
Seodor Wehl.
— — — — ——— —
Otto Liebmann und feine Inconfequenzen.
; welt producirt, d. 5. als „Borftellungsvermögen“, ebenfo
von
Weber den objectiven Anblid. Eine kritiſche Abhandlun }
j r. 8
Dtto Tiebmann Stuttgart, Schober. 1869.
1 Zhlr. 9 Ngr.
Die vorliegende Schrift behandelt im gefprächiger
Breite die Theorie des Sehens als Beifpiel zur Demon-
firation der. Principien des fubjectiven Idealismus. *)
Der Berjafler bringt in feiner Weife etwas Neues vor,
und gibt felbft zu, daß nit nur der Chorus der Phi-
loſophen, fondern auch die neuere Phyfiologie der Nerven-
und Sinnesorgane von Johannes Mitller bis Helmholtz
den Sat anerkennt, daß die Sinneswahrnehmungen uns
weiter nichts als unfere eigenen Zuftände zeigen. Cr
zicht hieraus genau diefelben Folgerungen wie die drei
Vertreter des fubjectiven Idealismus: Kant, Fichte und
Schopenhauer, nämlid daß „die empirifhe Natur ein
Secret unfers Geiſtes“ ift, d. h. daß fie blos Phänomen
oder Erfcheinung ift „im Gegenſatz zum Weſen, welches
intelligibel, Noumenon, ift“, daß die Welt der Erſchei⸗
nung zwar das intellectuelle Product des Menſchen, ber
Menſch felbft aber ein Product derjelben Natur ift, wenn
man fie als „unfaßbares Weſen“, als intelligible Welt
foßt. Alles der intelligibeln Welt Angehörige bleibt uns
ein unfaßliches X, alfo anch der Menſch als dasjenige
Weſen, welches bie empirische Natur oder Borftellungs-
*, Ich bemerke, daß ich fubjectiv und objectiv Im Bolgenden in anberm
Einne brauche als Liebmann, ſodaß dieſer nel Dahl mmanent und trande
ſcendent oder intellectuell und extraintelectuell dafür fegen wärde.
wie die völlig unbefannten transfcendenten Ereigniffe, auf
welche diefes Borftellungsvermögen mit feinen Borftellun
gen „reagirt“. Alles, was uns zugänglich ift, ift aljo
eine Erjcheinung, die mit unabweisbarer Nöthigung als
Refultat einer Relation von ewig unerfennbaren Xen und
Ys unferm Bewußtſein „octroyirt” wird. Das X iſt
dasjenige, was dem Phänomen „zu Grunde liegt”, das
Subftrat des Erjcheinenden wie es „an fih if”. Das
D) ift das Vorftellungsvermögen, welches mit der „Er
fheinung” auf ein Ereigniß reagirt, dem das „An ſich“
bes GErjcheinenden oder da8 X zu runde liegt. Das
N ift das „Weſen“ des empirifchen Ich, wie das X das
Weſen des empirifchen Objects; demgemäß gibt es ver-
ſchiedene „animalifche, gleich uns organifirte Wefen”. Das
Signalemient des & und ) ſtimmt haarfcharf mit dem
bes Kant'ſchen „Ding an fi” und „Ich an fich” über
ein, wie Liebmann felbft e8 auf ©. 155 aufftellt, und es
ift ſchlechterdings unbegreiflich, woher er den Muth nimmt,
zu verlangen, daß man bei feinen der Erſcheinnng zu
Grunde liegenden intelligibeln Weſen oder Subftraten,
wie fie an fich find, ja nicht etwa an das Kant’fche
Ding an ſich denken folle! Sein X kann ebenfo wenig
wie das Kant'ſche X umhin, das Borftellungsvermögen
vorher zu afficiren, weil ohne das eine Reaction von fei«
ten —8 undenfbar wäre; es muß alſo das „ber
— —— —— — —— — non ———
Otto Liebmann und feine Inconfequenzen. 301
Erſcheinung zu runde Liegen“ des Dinges an fih ale
eine caufale Einwirkung gedacht werden, durch welche es
das Vorftellungsvermögen zur Reaction nöthigt; nur auf
Grund der Caufalität ift eine Nothwenbigfeit oder Nd-
thigung verftändfich,
Im Widerfpruh hiermit darf Liebmann's X doch
ebenfo wenig wie das Kant’jche den Formen („Raum und
Zeit") und den Kategorien (Caufalität, Subfiftenz) unter-
worfen fein, wenn es wirklich zur intelligibeln Welt im
Gegenfag der Exfcheinungswelt gehören foll, verwidelt
ſich alfo in eben diefelben Widerſprüche wie jenes. Mag
aljo Liebmann die Idealität beider Unbegriffe zugeben
ober nicht, ſo gilt doch gegen feine X und 9) genau
daſſelbe, was gegen Kant's Ding an fi gilt, d. h. er
ift in diefer Schrift in Feiner Weile über den widerſpruchs-
vollen Standpunkt Kant's hinausgefommen.
Berückſichtigt man hiernach, daß Liebmann in philos
ſophiſcher Beziehung einen feit bereits 80 Jahren antie
quirten Standpunkt vertritt, und daß er andererfeit® auch
in phyſiologiſcher Hinficht nichts als abgegriffene Scheide-
münze bietet, ohne irgendwo felbftthätig die Probleme zu
vertiefen, ober aud; nur don beren allgemeinfter und ober«
flachlichſter Faſſung ſich zu derjenigen Freiheit ihrer For⸗
mulirung zu erheben, welche im neueſter Zeit Lotze,
Helmpolg und Wundt herbeigeführt haben, fo würde man
glauben fönnen, daß ber Verfaffer nur den didaltiſchen
Zived einer Einführung eben von der Schule fommender
Studenten in die Kant’jche Philoſophie im Auge gehabt
hätte, wenn nicht die Gelbftgefülligkeit des Tons und bie
burſchiloſen Schimpfreden gegen Andersdenkende es außer
Zweifel ſtellten, daß er neue welterfchütternde Wahrheiten
zu Dearkte zu bringen wäßnt. Hiernach konnte e8 ſchei ·
nen, als ob man einem folden Machwerk mit einer aus«
führlichen Beſprechung zu viel Ehre erwiefe; indeſſen fteht
demfelben der Umftand zur Seite, daß der Berfafler vor
fünf Dahren eine höchſt intereffante, kurz und gewandt
verfaßte Schrift: „Kant und die Epigonen“, herausgege ⸗
ben, welde in lehrreicher Weife eine ganz enigegengelegte
Tendenz wie bie vorliegende verfolgte. Da die Thatjache
de8 erfolgten Umſchwungs und Rüdfalls in längft über-
wundene Irrthümer ebenfalls hier ſehr lehrreich ift, fo
wollen wir nod) ein wenig bei dent Verhältnig beider
Schriften verweilen.
Der Gedankengang in „Kant und die Epigonen“ ift
folgender: Die erclufid » fubjective Natur von Raum, Zeit
und Kategorien ift über jeden Zweifel erhaben. Kant hat
den unmittelbaren Conſequenzen biefer Wahrheit durch die
Annahme des „Ding an fich” miberfproden. Er fagt
zuerſt (©. 49 der „Rritit ber reinen Vernunft”), daß ein
Ding an ſich der Erfcheinung zu Orunde Liegen mag,
dann (©. 358) daß e8 zu Grunde liegt, endlid (S. 538)
daß es zu Orunde liegen muß; fo wirb ber negative
unmöglihe Orenzbegriff des Erkennens zu einem pofitiven
Eindringling. Das Ding an fi Tann nicht nur fein
Prädicat erhalten, kann nit nur zu Feiner Erklärung
benugt werben, da es nichts bewirken ober bedingen fann,
fondern kann nicht einmal Subftrat der Erſcheinung fein,
weil die Subfiftenz ebenfo wie die Caufalität nur ſub⸗
jective Geltung hat zwiſchen Borftellungen untereinander.
Mit andern Worten: dad Ding an ſich (oder da der
Erſcheinung zu Grunde liegende Weſen) ift nit nur
„ungewiß“ und für und = x, fondern „undenkbar und
ungereimt" („Kant unb die Epigonen“, S. 51). Diefe Ar-
gumentation des Wenefidemus erfannte Fichte an und fah
ein, daß das finnliche empirifche Material der Vorftellun«
jen ebenfo wie ihre apriorifche Form don innen gegeben
Fin müfje (nicht wie bei Kant von außen, vom Ding an
fih). Uber er ließ das Ding an ſich in anderer Form
beftehen, nämlich als „Ich an ſich“, als das innere, dem
empiriſchen Ich zu Grunde Tiegende, ſelbſt unerfennbare
Weſen, als das Ding an ſich, defien Erſcheinung Id bin
(©. 82). Fichte Hat alfo den Orundfehler Kant's gefannt
und doc) beftehen laſſen, auch er muthet ung den Wiber»
fpruc zu, „ein Unvorſtellbares vorzuftellen“. Fries ftelkt
die drei Grundfäge auf (©. 155): „1) Die Sinnenwelt
unter Naturgefegen ift nur Erſcheinung; 2) der Erſchei⸗
nung liegt ein Sein der Dinge an fi zu Grunde; 3) die
Sinnenwelt ift die Erſcheinung der Welt der Dinge an
ſich.“ Aber auch Fries Tann das , Afficirende“, das „zur
Anfhauung nöthigt”, nicht nachweiſen, fondern denkt es
ſich blos Hinzu (S. 148). Ebenſo geht Herbart dapon aus,
daß bie Welt Erfheinung fei, und daß jeder Erfcheinung
ein Weſen entſprechen müfle. „Wie viel Schein, fo viel
Hindentung auf Sein“ (6.114). Es ift immer wieder
derfelbe Iertfum, die unmahre Vorausfegung, daß bie
Welt Erfheinung fei (S. 189, 195), während doch Er-
ſcheinung ebenfo wie Dafein, Exiftenz und Wirklichkeit nichts
weiter als Präbdicate find, die in den Formen unfers Ins
tellects liegen (©. 209). „Wenn ich verſuche, meine Er
fenntniß dadurch zu verbefiern, daß ich ftatt der unmittele
baren finnlihen Anſchauung eine Menge von farblofen,
nicht wahrnehmbaren Xen vorftelle, deren Complerionen
und Verhältnifie Grund ber finnlichen Mannichfaltigfeit
fein follen, fo habe ic alle Änſchaulichteit verloren und
an Berftänblichfeit nichts gewonnen” (©. 128). An Stelle
des faljchen confufen Begriffs der Eriftenz muß der rich
tige gefegt werden: nur das Angeſchaute, die Vorftelung,
exiftirt — nicht8 weiter („Objectiver Anblid”, ©. 147); jelbft
mein Leib entfteht erſi, wenn er (vom mir oder andern)
angefhaut wird, und die ganze Natur hört auf zu exiflie
ren, fobald fie nicht mehr angeſchaut wird (ebend., ©. 145,
132). Von einer Eriftenz zu fpreden außerhalb der
Borftellung ift ein confufer, -falfcher Begriff.
Auch Schopenhauer hat diefe Irrthlimer nicht über»
wunden; obwol er einfieht, daß Kant’s Ableitung des
Dings an fi aus der Caufalität falſch ift, Hält er doch
am Ding an fi feft, da8 er aus dem Willen ableiten
will, als ob die innere Wahrnehmung des Willens nicht
auch blos Vorftellung vom Willen wäre, und als ob man
von dem in feiner Erfahrung und keinem Bewußtſein zu
findenden Wilen an ſich überhaupt noch irgendetwas
ausfagen oder von ihm veben könnie! Auch der Wille
kann nichts erflären, er Tann keinenfalls (weber als folder
noch durch feine Objectivität al8 Gehirn) Urfprung der
apriorifhen Formen des Intellects fein, da ein Urfprung
nur als caufales Moment einen Sinn hat, Canfalität
aber nur zwiſchen Vorftellungen untereinander Geltung
hat („Kant und die Epigonen“, ©. 183). *)
GEMRSIENLSTB BEIN TER SEN
|
as:
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3,3% x_ST% 34
8 "Ti
302 Dtto Liebmann und feine Inconſequenzen.
Schelling und Hegel fallen troß ihrer Verficherungen
bes Gegentheils noch mehr als Fichte in einen unfritifchen
Dogmatismus zurüd.
Sp meit „Kant und die Epigonen”. Ich erfenne mit
Vergnügen bie anfchauliche Klarheit und Schärfe ber Be
‚weisführungen an und erachte die Konjequenzen, welche
Liebmann aus den Kant'ſchen Prämifien zieht, fiir logiſch
unwiberlegbar. DBergegenwärtigen wir uns furz das po⸗
fitive Reſultat biefes kritiſchen Gedankengangs, fo lautet
es: 1) Ein Ding an fi, ein Weſen hinter der Erſchei⸗
nung, ſei e6 nun als unabhängig Objectives oder unab⸗
bängig Subjectived gebadht (S. 52), ift nicht nur unbeweis⸗
bar und unerfennbar, fondern fich felbft widerfprechend,
d. h. unmöglich (S. 51, 156); 2) die empirische Welt ift
nicht Erfcheinung, fondern Wirklichkeit, bedarf aljo gar
keines Wefens Hinter fih, das in ihr erſchiene (S. 189).
Die Borftellungswelt ift das einzige, was eriftirt, und
weder draußen noch drinnen ift die Eriftenz trandfcenden-
ter Correlate möglich, die diefen Vorſtellungen entfprechen
könnten; fowol das empirische Ich wie die empirifche Natur
fammt Berwandten und Fremden ift bloße Vorftellung
und weiter nichts. Der Traum des Lebens ift die ein-
zige und wahre Wirklichkeit, ein Traum ohne Träumer,
ein Traum, ber fich felbft träumt, aber mit nothmwenbiger
Berknüpfung ber Borftellungen (Caufalität), Wollte man
fih 3. B. wundern, warum Liebmann „Kant und bie
Epigonen“ gefchrieben habe zur Belehrung eines Publi⸗
fums, da8 doc nur in den Vorftellungen feines fogenann-
ten Intelleets befteht, fo iſt darauf zu erwibern, daß ber
Berfaffer wohl weiß, daß mit ber Vorflellung, ein gutes
Buch gefchrieben zu haben, die Vorftellung, von bem vor-
getellten Publitum applanbirt zu werden, in nothwendi⸗
ger Verknüpfung ftehe, und dag mit letzterer Vorſtellung
ein angenehmes Gefühl unausweichlich verfmüpft fein werde.
Die Anticipation dieſes angenehmen Gefühls aber zieht
wiederum bie Borftellung von dem Schreiben des Buchs
mit Nothwendigkeit nach fih, was zu erflären war.
Man fieht, daß ſich auch mit biefer Auffaflungsweife
leben läßt. Nur zwei Punkte önnten in dem frühern Stand-
punkt Liebmann’s noch Anftoß erregen, nämlich der In»
tellect und das Gefühl. Was der Intellect ift, ber fich
in ben Formen ber Borftellung bewegt und im welchem
die BVorftellungen find, erfahren wir nicht; follte aber
damit mehr gemeint fein als das algebraifhe Summen-
ziehen für den gefammten Vorftellungsverlauf, fo wäre
fotort wieder da8 Ding an ſich in befter Form reftituirt
und ber Widerſpruch von neuem eingefchmuggelt. Bes
denklicher fleht e8 mit bem Gefühl, welches für Liebmann
diefelbe Klippe geworben zu fern fcheint, wie für Scho⸗
penhauer der Wille. Die Sehnſucht nad dem unfagba-
ren, tiefften Etwas iſt doch file den Philofophen bloße
Wafelei, fobald das „Surrogat”, welches diefes Gefühl
bietet, da8 Surrogat für einen unmöglichen und ſich felbft
widerjprechenden Begriff iſt (S. 67 fg.). Das „mmabhängig
Objective und unabhängig Subjective” durch das Medium
des Gefühls retten zu wollen, nachbem das Denken es als
unmöglich erkannt (5. 156), wäre doch eine „Gefühlsphilo⸗
ſophie“ der fchlimmften Sorte (S. 69). Ein unangenehmes
erflärte, daß er der Eaufalität trandfcenbente Geltu eibt, wa® abe
Ecqhopenhauner eben nicht wii, er ns zuſqhrelbt, Ion
Geſtändniß aber iſt es doc, daß Gefühl und Intellect
fih im unausweichlichen Widerſpruch befinden (S. 200 fg.),
daß z. B. das Gefühl die „unabhängige Objectivität“ eines
ltebreizenden Weibes mit Gewalt anerlennen will, wäh-
rend der Intellect Tächelnd fagen muß: „Meine Gnäbdigfte,
Sie find ja doch blos ein Secret meines Intellects!“
Aber die wächſernen Flügel, mit denen Liebmann „Kant
und die Epigonen‘ überfliegen wollte, find geſchmolzen; er
ift von feiner ätherifchen Höhe Herabgeftürzt und krümmt
fih ald armer Erdenwurm zu den Füßen des alten Mei⸗
ſters. Seine Rritit der Epigonen paßt Wort für Wort
auf ihn felbft als Verfafler der Schrift „Ueber den objecti«
ven Anblick“, wie der aufmerkſame Leſer fchon hier bemerkt
baben wird; er Hat fich felbft zu den Todten gelegt, noch
ehe er geboren war, und es bliebe ihm in der Chat nichts
mehr übrig, als im einer zweiten Auflage von „Kant und
die Epigonen” einen neuen kritiſchen Abjchnitt hinzuzu⸗
fügen, in welchem er zum Schluß ſich ſelbſt mit feiner
ftereotypen Wendung (vgl. S. 86) feierlichft beftattete:
„Liebmann fest die Kant'ſche Philofophie vorand. Kr
bat die Lchre vom Ding an fid) gefannt und aus ben
ffeptifchen Angriffen gegen dieſelbe gewußt, baf fie eine
Inconfequenz war. Er hat aber durch die Anfflellung
einer intelligibeln Welt von unerkennbaren und unvorftell«
baren Xen und Y), weldhe ber Erjcheinungswelt zu Grunde -
liegen follten, denfelben Fehler begangen, alfo die Kant'⸗
fche Philofophie in diefem Punkte nicht corrigirt. Alfo
muß auf Kant zurüdgegangen werben.’
Wir find mit unferer immanenten Kritit zu Ende
und ziehen die Moral der bisherigen Betrachtungen:
Die von Kant aufgeftellten Principien bes fubjectiven
Idealismus find bisher noch von keinem confequent
durchgebildet worden, weil das confequente logiſche Zu⸗
Endes Denken derfelben unausweichlich zu einer abfurden
Karicatur führt. Liebmanu bat das Verbienft, die
erfte Hälfte diefer Wahrheit in feiner kritiſchen Schrift
mit Schärfe bargethan zu haben; als ihm aber: felbft die
pofitiven Confequenzen klar wurben, zog er ebenfalls es
vor, lieber mit der logiſchen Conſequenz als mit dem
gefunden Menfchenverfiand zu brechen, gerade wie es Kant
und die Epigonen gemacht Hatten. Daß ihm aber bies
als eine Alternative erſchien, fam nur daher, daß er feine
eigene Devife unausgeführt ließ: „Es muß auf Kant
zurückgegangen werben‘, d. h., es müſſen die bisher
blindlings acceptirten Fundamente kritiſch geprüft werden,
welche zu einem fo unerquicklichen Dilemma geführt has
ben. Diefe Prüfung hat Liebmann nicht nur verfäumt,
jondern er Hat auch überfehen, daß fie anderweitig bereits
theilweife ausgeführt war und zu negativem Reſultate
geführt Hatte (vgl. Trendelenburg's „Hiftorifche Beiträge
zur Philoſophie“, dritter Band, 1867, Nr. VI: - „Ueber
eine Lüde in Kant's Beweis von der ansfchließenden
Subjectivität des Raums und der Zeit”, und Tren⸗
delenburg, „Kuno Fiſcher und fein Sant“, Leipzig 1869).
Aus der erfigenannten Abhandlung ergibt fi, daß alle
Epigonen und Kant jelbft fammt dem gefunden Menfchen«
verftand infofern im Rechte waren, als fie ſich nicht durch
die Liebmann’schen Confequenzen der Kant'ſchen Principien
beftriden ließen, und nur infofern im Unrecht, als fie
der exeluſiv⸗ fubjectiven Geltung von Raum, Zeit und
— — — — —— —
on m — — — — — —
VG ne — — — — —
ö— Gr —ñ — — — — — — — —
Feuilleton. 303
Kategorien nicht unzweideutig und ausdrücklich genug wider⸗
ſprochen haben, was Schelling erſt in feiner „Darftellung
des Naturprocefies” gethan Hat. Durch die reductio ad
absurdum die Nothwendigkeit einer Revifion der Sant’
ſchen Grundprincipien gezeigt zu haben, ift das unfreis
willige Verdienft der Liebmann’schen Schriften, und in
diefem Sinne feien diefelben allen empfohlen, die nod)
heute halbe oder ganze Anhänger des Kant’jchen Idea⸗
liomus find, alfo namentlich den Schopenhauerianern.
Letztere ſeien Übrigens noch bejonders darauf hingewiefen,
baß die Schopenhaner’sche Philofophie theils noch im Kopfe
des alternden Meiſters jelbft, theils in feinen Schülern
ganz benfelben Uebergang vom Idealismus zum Realis⸗
mus, oder vom fubjectiven zum objectiven Idealismus
durhmachen mußte und muß, wie die Fichte'ſche Philoſophie
in Schelling. Selbft Frauenftädt, der am firengften am
Meifter feftzuhalten fucht, muß ſich zu dem Zugeſtändniß
bequemen, 1) daß neben und vor der fubjectivsidealen
Zweckmäßigkeit eine reale (objectiv-ibeafe) anzuerkennen fei
(„Unfere Zeit“, 1869, ©. 771—774), 2) daß ueben
und vor der idealen Bielheit eine reale beftehe (S. 701),
und 3) daß jede Vielheit dur Raum und Zeit als
priocipium individuationis vermittelt fei (S. 779), alfo
auch die reale, dem Bewußtſein vorhergehende Vielheit
durdy realen Raum und Zeit, wie man fchließen muß.
Der bedeutendfte Kopf der Schopenhauer’fchen Schule,
Julius Bahnjen, ftellt fi) unumwunden auf Trendelen⸗
burg’8 Seite, indem er die erclufiu »fubjective Gattung
der Anfchauungsformen verwirft („Beiträge zur Charal-
terologie“, II, 288—289). Wer fi nicht eigenfinnig in
anachroniftiichen Anſchauungen gegen die übereinftimmen-
den Zeugniffe aller von gleichviel welchen Ausgangspunlt
beginnenden Betrachtungen verblenden will, der muß bie
Unhaltbarkeit des fubjectiven Idealismus einjehen.
Eduard von Hartmann.
Fenilleton.
Notizen.
Mar Moltke in Leipzig bat ſoeben die erſte Nummer
anes „Shakfpeare-Mufeum‘ ericheinen laffen, deſſen Ten⸗
denzen fi in dem Xitelfopf bereits deutlich ausprägen. Das
„Shalipeare- Mufeum‘ ſoll eine Zeitfchrift für Geſchichte und
Bflege des Shaffpeare- Studiums und Shafipeare- Kultus, ein
Organ flür Frage nnd Antwort, für Rede uud Gegenrede in
Shafipeare-Sadıen, ein literarifch-dramaturgifches Erörterungs-
und Berftändigungsblatt für Shalipeare- Forfher und Shak⸗
fpeare- Freunde fein. Nach dem auge ebenen Programm mill
es in einem anthologijch » efleftifchen Abe die wichtigften, nicht
in Geftalt felbftändiger Druckſchriften erfhienenen Abhandlun⸗
gen und Aufſätze, fomie anderweitige in wiffenfchaftlihen und
poetiihen Werfen enthaltenen Exeurſe, Ausiprüde oder Ge-
dichte über und auf Shalipeare jammeln und mit Anmerkun⸗
gen begleiten, in feinem originalen Theile jelbfländige Abhand-
Inmgen, fritifche Neberfetzungspergleiche, Recenſionen über neue
Erfheinungen der Shalipeare-Titeratur bringen, aud eine mit
befonderer Sorgfalt gepflegte Lesartenmuſterung. Dem „Jahr⸗
buch der Dentihen Shakſpeare⸗Gefellſchaft“ will das Blatt nicht
Concurrenz machen, fondern ihm recht eigentlich in die Hände
arbeiten. Das „Shakſpeare-⸗Muſenm“ erjcheint in zwangloſen
kieferungen an einem in Shalſpeare's eigenem Leben bedeu-
tungevollen Tage, oder auf den Geburts- und Todestag eines
um Ghaffpeare verdienten Forſchers oder Dichters, jo 3. ©.
die zweite Nummer am 9. Mai (Schiller's Todestag), die
dritte am 31. Mai (Tied’s Geburtstag) u. |. w.
Der gewifjenhafte Fleiß Mar Moltke's ift aus feinem
„Dentihen Sprahwart‘, aus feiner Shakſpeare⸗Ueberſetzung,
feiner Ausgabe des „Hamlet“ u. f. w. zur Genlge belannt;
ex gebietet Über ein außerordentliches literarisches Material und
weiß außerdem feine Blätter in einen anregenden Sprechſaal,
ſeine Leſer in Mitarbeiter zu verwandeln; wir ‚können alfo
dem „Shaljpeare- Miufeum’‘ nad diefer Seite Hin ein gutes
Brognoftifon flellen. Möge es nur nicht die philologiſche
Nußknackerei allzu fehr begünſtigen und den blauen Apotheofen-
dunſt, ſondern auch das Recht ber modernen Kritit gegenüber
den Dichtwerken Shakſpeare's zur Geltung bringen und daß
Berhältniß unferer Bühnen zu feinen Schöpfungen berüdfichtigen.
Dies gefchieht in dem vorliegenden erfien Heft nur in einer
Miscele: „Hamlet in Leipzig‘, in welcher der „Advocat Ham⸗
It” als ein „Wfterhamlet” und „Hamletaffe‘ nad; Gebühr
gegeifelt wird. Schr reichhaltig ift das „Shalſpeare Stamm⸗
buch”; Leopold Nantes und Johannes Scherr's Urteile über
Shalfpeare, fowie Goethe's Aufſatz: „„Shalipeare und kein
Ende”, kommen bier zum Abdruck. Der Herausgeber d. BT.
erhält dabei eine levis notae macula, weil er in feinen „Lite
roturbriefen an eine Dame’ in der „Sartenlaube” jene Lieber»
fchrift als einen „Seufzer“ Goethe's betrachtete. Dies iſt aller-
dinge nicht der Fall; Goethe rechtfertigt mr, daß er, troß
jenes Seufjers, der in der Ausdrudsmeije des Titels unlenge
bar liegt, auf Shaffpeare zurüdlommt; er erflärt dies damit,
daß es die Eigenfhaft des Geiftes fei, daß er den Geiſt ewig
anrege. Wir befennen daher, uns einer kleinen Imcorrectbeit
ſchuldig gemadt zu haben, indem wir nur die Weberfchrift
und nit die Erläuterung derfelben ins Auge faßten.
Die bei Meyer in Hildburghaufen (Bibliographifches In-
ſchteitet rüftig dor. Es Tiegerr uns die Hefte 108-113 vor.
Sie enthalten: Byron's dramatiſche Werke, liberiett von W.
Grutzmacher in zwei Heften („DManfred”, „Kain'‘, „Himmel und
Erde‘, „Sardanapal“), Goldſmith's „Landprediger von Wale-
field”, überfegt von Karl Eitner; Rouſſeau's „Belenntniffe‘,
deutſch von Levin Schücking (bisjett drei Hefte), dem filnften
Band des „Spaniſchen Theaters‘, herausgegeben von Morik
Rapp (enthaltend Schanſpiele von Zirjo de Molina), Ghat-
fpeare's „Antonius und Kleopatra‘‘, überjegt von Karl Sim⸗
rod, „Coriolan‘, „König Heinrid) IV. (2 Theile) und „Hein⸗
rich V.“, überfegt von Heinrich Biehoff.
Bibliographie.
Ener B., Davos in feinem Walferbialelt.e Ein Beitrag zur
Kenntniß diefes Hochthals und zum ſchweizeriſchen Idiotikon. J. Sealco-
raphiſcher Theil. eigebe: Wanderung turh Davos.) 1fte® Balbbänd-
hen, A—8, Beidelberg. Gr. 8. 1 Thlr.
Eſchebach, A., Aus der Buchbinderwerkſtatt. Gedichte. Berlin’
Loewenftein. 16. 7!/, Nor.
Holtsmann, A., Altdeutsche Grammatik, umfassend die gothische,
altnordische, altsüchsische, augelsächsische und althochdeutsche Sprache.
ister Band. iste Abtheilnug. Die specielle Lautiehre. Leipsig, Brock-
haus. Gr. 8. 1 Thlr, 20 Ngr.
Kozmian, St. v., Graf Bismard und jein Werk, ber ide
335 ine Dorn Bruni Vebertragungen von &M. P.⸗Pleß.
ofen, ab. ®r. 8. r.
öller, J., Ueber unfere weibliche Erziehung. Ein Bortrag. Kö⸗
nigeberg, Gräfe u. Unzer. Gr. 8. 3 zar. .
Morgenftern, I, Die franzöfiige AHcademie unb bie ‚‚Beographie
des Zalmubs”. Berlin, Benzian, S. 15 Nor.
Der Nibelunge Nöt mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet,
1 Tbir. 10 Ngr.
Rüdert, F., Die Weisheit des Brahmanen. Ein Lehrgebit. Tie
Aufl. Leipzig, Divzel. 8. 2 Thlr.
uborfi, &., Gtunben ber Weihe. Cine Sammlung von Ausiprä-
hen Friedr. Schleiermachers. Berlin, Boettcher. Gr. 16. 15 Ner.
flitut) erfcheinende „Bibliothek ausländifher Elaffifer"
deu Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuche heraus- .
gegeben von K. Bartsch. ister Theil. Text, Leipzig, Brockhaus. Gr. 8.
Unze
Anzeigen.
igen.
— — —
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erjdien:
Endwig Börne.
Lichtſtrahlen aus feinen Werten.
Mit einer Biographie Börne's.
Bon Guftau Karpeles.
8. Geh. 1 Thir. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
Cine überficgtlich geordnete Sammlung der originellen und
vielfeitig onregenden Ideen in Ludwig Borne's Schriften, wie
fie hier zum erften mal geboten wird, darf anf zahlreiche
Freunde rechnen. Auch durch das mohlausgeführte Lebens⸗
und Charalterbild Börne's, welches der Heransgeber den ge-
fammelten Stellen voranfchidt, empfiehlt ſich das Buch freund-
licher Aufnahme.
Doffelbe reiht fich folgenden, unter dem gemeinfamen
Titel „Lichtſtrahlen“ im gleichen Berlage ervichienenen
Sammlungen an:
Johann Gottlieb Fichte. Lichtfirahlen aus feinen Werten und
Briefen nebft einem Lebensabriß. Bon Eduard Fichte
Mit Beiträgen von ISmmannel Hermann Fidte.
Georg Forſter. Lichtftrahlen aus feinen Briefen an Reinhold
garten Friedrich Heinrich Iacobi, Lichtenberg, Heyne, Merch,
uber, Sohannes von Müller, feine Gattin Thereſe, und
aus feinen Werken. Mit einer Biographie Forſter's. Bon
Elifa Maier.
Goethe als Erzieher. Lichtſtrahlen aus feinen Werken. Ein
Sandbuch für Haus und Familie von Philipp Merz.
Johaun Gottfried von Herder. Lichtftrahlen aus feinen Wer⸗
Pr ne einer biographifchen Einleitung. Bon Horf
eferftein.
Wilhelm von Humboldt. Lichtftrahlen aus feinen Briefen an
eine Kreundin, an Frau von Wolzogen, Schiller, &. Forfter
und %. 4. Wolf. it einer Biographie Humboldt's. Bon
Elifa Maier. Fünfte Auflage.
Gotthoid Ephraim Leſſiug. Lichtficahlen aus feinen Schrif-
| in und Briefen. Mit einer Einleitung. Bon Friedrich
vemer.
Friedrich Schleiermacher. Lichtſtrahlen aus feinen Briefen und
fänmtlihen Werten. Mit einer Biographie Schleiermacher's.
Bon Elifa Maier.
Arthur Schopenhaner. Lichtfirahlen aus feinen Werken. Mit
einer Biographie und Charakteriftit Schopenhauer’s.. Bon
Zulinus Krauenffädt Zweite Auflage.
William Shalſpeare als Lehrer ber Menſchheit. Lichtſtrahlen
aus feinen Werken, nebſt einer Einleitung. Bon Hermann
Marggraff.
Jedes biefer Werke koſtet geheftet 1Thlr., gebunden 1Thlr. 10 Ngr.
Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Gedichte
von
Adolf Ritter von Tihabnihnige.
Dritte Auflage. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Ngr.
Die Gedichte Tſchabuſchnigg's (gegenwärtig Öflerreichifcher |
Minifter), bereits in zwei Auflagen verbreitet, liegen hier in
einer bedeutend vermehrten dritten Auflage vor.
Verlag von F. Henschel, Berlin.
Tiberius und Taeitus
von
L. Freytag.
234, Bogen 8. Eleg. geh. 2 Thir. 10 Sgr.
Die Lehren vom Zufall
von
Dr. W. Windelband.
5 Bogen gr. 8. Eleg. geh. 15 Sgr.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Shaedon
oder
Ueber die Unſterblichkeit der Seele.
Derufalem
oder
Ueber religisfe Macht und Judeuthum.
urn pop
Bon Mofes Mendelsfohn.
Mit Sinleitung und Anmerkungen Berausgegeben von
Arnold Bodek.
8. Geh. 10 Ngr. Geb. 15 Ngr.
„Phaedon“ und „Serufalem‘ find befanntlich die Haupt⸗
werte Mofes Mendel sſohn's und zugleich diejenigen, welche
dem gegenwärtigen Gejchlecht nit nur nod volllommen ver-
ſtändlich find, fondern auch in vielen Punkten, namentlih was
Denk⸗ und Glaubensfreiheit und das Verhältniß zwiſchen Staat
und Kirche betrifft, gerade jet wieder als leuchtende Wegweiſer
dienen können. Zum erſten mal werben bie beiden Schriften
hier in einem Band vereinigt, von dem Herausgeber mit einer
ausführlichen Biographie Mendelsſohn's begleitet, und zu fo
wohlfeilem Preile dargeboten.
Die Ausgabe bildet zugleich den 28. Band der in demſel⸗
ben Berfage eriheinenden „Bibliothek der dentſchen National:
Siteratur des 18. und 19. Jahrhunderts“; jeder Band der
Sammlung koftet geh. 10 Ngr., geb. 15 Ngr.
Im Verlage der Hahn’schen Hofbuchhandlung in Han-
nover ist soeben erschienen und durch alle Buchhandlun-
gen zu beziehen: Di
6
Länder an der untern Donau
und Konstantinopel.
Reise-Erinnerungen aus dem Herbst 1868 von
Dr. W. Brennecke,
Direkter der Realschule zu Posen.
Gr. 8 Geh. 24 Sgr.
Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Srochhaus. — Drud und Verlag von S. A, Srodhaus in Leipzig.
|
— — —— — —
Blätter
literarifde Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
ea Ar. 20, 9
12. Mai 1870.
Inhalt: Gefammelte Efjage. Bon udolf @ottigel. — Zur ſocialreformatoriſchen Literatur. Bon Aurelio Buddeus. — Neuere
Werte deutſcher Humoriften. Bon Emil Müller: Gamdwegen. —
Sammlwerle und Ueberfegungen. Bon Wilselm Andrei, —
Feuilleton. (Englie Urteile ber neue Erfejeinungen ber deutfcjen Literatur.) — Bibllographle. — Anzeigen,
Gefammelte Eſſays.
1. Studien und Kritifen jur
hiloſophie und Aeſthetil. Bon
Robert Zimmermann.
wei Bände. Wien, Braumliller.
1870. Gr. 8. 4 Thle.
2. Englifhe Charalterbildter. Bon Friedrich Althaus.
Fe Bände. Berlin, von Deder. 1869. Gr. 8.
It.
3. „Am faufenden Webſtuhl ber Zeit." Bon Feodor Wehl.
Zwei Bände, Leipzig, Matthes. 1869. 8. 2 Thlr.
4. Litterarifcher Nachlaß von Friedrih von Ranmer. Mit
dem photographirten Bildniß des Verfaſſers. Zwei Bände.
Berlin, Mittler und Sohn. Gr. 8. 2 Thlr.
5. Licht- und Tonwellen. Ein Buch der Frauen und Dichter.
Aus dem Naclah der Fofepha von Hoffinger. Herans-
gegeben und mit einer Lebens nnd Chara! figge verſehen
durh Johann von Hoffinger. Wien, Prandel.
1870. 8. 1 Thfr.
6. Kritit der Sciller-, Shaffpeare- und Goethe ſchen Fraueu⸗
harattere von Julie Freymann. Gießen, Roth. 1869.
Gr. 16. 1 Thir.
7. Borlejungen von Bogumil Gold. Zwei Bände. Berlin,
Ianfe. 1869. Gr. 16. 2 Zhle. B
Neben den größern Werken, bie ihre Themata in ſy⸗
ftematifhen Zufammenhang ausführen, geht in Deutſch-
land immer eine reiche Fiteratur von Efjays, Skizzen,
gefammelten Aufjägen einher, wie ſchon in frühern Zei⸗
ten unfere alten Gelehrten neben ihren wiffenfchaftlichen
Hauptwerfen Nlores et amoenitates ihrer Nebenftunden
zu veröffentlichen pflegten. Ja es gibt geiftreiche Köpfe,
welche gleichfan „Fragmentarifch” zur Welt gelommen find
und über die Form der Skizze nicht hinausgehen, in
diefer Form aber eine höchſt anregende und oft bebeutende
Wirkung ausüben. Gebanken von fehöpferifcher Keim»
traft find nicht an das Syſtem gebunden; auch ber Flug ·
famen des Apergu ſichert ihnen eine weitreichende Ber-
breitung, und aus mandem verftrenten Samenkorn wächſt
eine herrliche Pflanze empor.
Es liegt ung eine Zahl von Werfen vor, die ihre jour-
naliſtiſche Herkunft nicht verleugnen, eine Zahl von Efjays,
ChHarakteriftifen von Dentern, Dichtern und Staatmännern,
1870. 2.
von Borlefungen über fociale und literariſche Themata,
die aber doch in folder Zufammenftellung eine mächtigere
Gebantenphalanr bilden als in der zerftreuten Solirtheit
journaliſtiſcher Exiſtenz. Der weſentliche Unterſchied des
Eindruds, den ſie in dieſer neuen Faſſung machen, von
dem frügern beruht wol darauf, daß ber einzelne Journale
artitel für die Sache, die ex vertritt, Propaganda macht,
während die Perfönlichteit feines Autors dabei in den
Hintergrund tritt; daß aber umgefehrt jede Sammlung
von Eijays und Auffägen aud) die geiftige Bebentung des
Berfaflers ins Licht fett, als das innere Band, weldes
die einzelnen Geiftesblüten zufammenhält. Jedes Journal
hat feine beftimmte Phyſiognomie, feine eigene Gefammt«
perfönlichkeit, in welcher die Perſönlichkeit der Mitarbeiter
aufgeht. Will dieſe ſich mach Gebühr zur Geltung brin-
en, fo müſſen die zerftreuten Auffäge von der journali-
ifhen Unfelbftändigfeit erlöft und gefammelt werben,
um fo als Ausftrahlungen eines und deſſelben Geiſtes
aud für die fchaffende Kraft zu intereffiren, aus ber fie
hervorgegangen find.
Die „Studien und Fritifen zur Philofophie und
Aeſthetik“ von Robert Zimmermann (Mr. 1) zeigen
durchweg den feinfinnigen Geift eines Philofophen ber
Herbart'ſchen Schule, welcher beſonders der Aeftdetik,
einer von Herbart nicht felbftändig gepflegten Disciplin,
die aber doch, über dem Kreis der Künfte übergreifend,
bei ihm die Ethik und Socialphilofopgie beftimmt, einen
eifeigen Eultus widmet. Auch die vornehme Entfremdung
der Herbart’ichen Schule gegenüber der zeitgenöffifchen
Literatur ift ein Bann, der von Zimmermann durchbrochen
wird, indem dieſer tüchtige Gelehrte mehrere hervorragende
Größen des modernen Parnaffes einer eingehenden Ana-
lyſe unterwirft.
Bir wollen zuerſt den zweiten Band feiner „Studien und
Keititen“ betrachten, ber die Separatitberfchrift „Zur Aeſthe ⸗
3
—
tik“ trägt. Hier finden fi) Charakteriftifen von Grillparzer,
Hebbel und Auerbach, die von einer genauen Kenntniß diefer
Schriftfteller und ihrer Werke Zeugniß ablegen. Das Por-
trät des erſten Poeten bildet den Abſchluß eines Auffages:
„Bon Ayrenhoff bis Grillparzer. Zur Gefchichte bes Dra⸗
mas in Defterreih” — ein Auffag, mit welchen man hie
Darſtellung deſſelben Stoffe in Joſeph Bayer's Werk:
„Von Gotiſched bis Schiller“, vergleichen mag, deſſen
Anhang fie bildet unter dem Titel: „Bemerkungen: über
die dramatische Dichtung in Oeſterreich.“ Weder Bayer
noch Zimmermann erwähnen Heinrich Laube, der doch,
wie man auch über feine Bühnenleitung und feine dra⸗
matifhen Productionen denken möge, für die Geſchichte
des Dramas in Defterreih von Wichtigkeit geworden ift.
Zimmermann gebenkt Hebbel’8, der die ragen der Ges
genwart auf die öſterreichiſchen Bilhnen verpflanzt habe.
Dies gilt body in höherm Maße von Laube's dramatifcher
und dramaturgifcher Thätigkeit. Denn daß in Hebbel's
„Ribelungen” 3. B. eine „Trage der Gegenwart” behan«
belt werde, das ift boch eine allzu kühne Behauptung der
Hebbel’fchen Dramaturgen.
Bon Ayrenhoff, „Oeſterreichs Racine” — dein fanatifchen
Shaffpeare-Feind, der Shakſpeare's Sleopatra „eine Metze
von ber Wachifinbe”, den Dichter jelbit „einen Lunft- und
geſchmackloſen Meifterfünger‘, feine Werke „Ungeheuer,
den Hamlet „einen fchlecht durchgeführten, albernen, un⸗
moralifchen und verächtlichen Charakter“, den Othello einen
„Gecken“, den Heinrich V. einen „Stallknecht“, und den
Berfaffer des „Götz“ fowie feinen Freund Lenz „geſchmackloſe
Nachahmer des Shalſpeare'ſchen Unrathes“ nennt — er-
halten wir ein im fichern Umriſſen gezeichnetes Bild;
ebenjo von Heinrich Kollin, ben Johannes Müller
„Oeſterreichs Corneille” nannte, und deffen antikes, ethiſch⸗
politiiches Pathos von Zimmermann mit Nachdruck Her
vorgehoben wird. Eollin’8 Dramen find alle mit Herois⸗
mus getränft; bie Helden treten faft alle in Situationen
auf, in welchen ihre ſittliche Gefinnung ihnen feine andere
Wahl läßt als den freiwilligen Tod. Collin wird von
Zimmermann als öfterreichifcher Nationaldichter bezeichnet:
ein Prädicat, da8 dem größer Dichter Franz Grillparzer
ebenfalld zugeeignet wird; es Heißt von ihnen, daß fie
„um Geifte der gefammtftaatlichen Regierung ein nationales
Drama und ein nationales Theater‘ zu fchaffen verfuchten,
um mittels berfelben ein nationales öfterreichifches Be⸗
wußtjein zu erweden“. Unſer Philoſoph vergißt, daß es
ein nationales öfterreichifches Bewußtfein gar nicht geben
ann, da die Defterreicher keine „Nation“ bilden, fondern
ein aus verfchiebenen Nationalitäten beftehendes Gefammt-
reich. Ein „ſtaatliches“ öfterreichifches Bewußtſein könnte
man allenfalls gelten laſſen, um fo mehr, als die deutjche
Nation als die herrfchende den Geſammiſtaat vertritt.
Was aber eine nationale Öfterreichifche Poeſie zu bedeuten
bat, das ift uns trotz aller Auseinanderfegungen Zimmer-
mann’s unklar geblieben. Dan kann die in Defterreich
geborenen Lyriker und Dramatiler öſterreichiſche Dichter
nennen; man kann bei einzelnen hervorheben, daß fie die
Tendenzen des öſterreichiſchen Geſammtſtaates fürderten,
was bei Grillparzer übrigens doch nur in dem einen Drama:
„König Ottokar's Glück und Ende”, welches den Sieg
des deutſchen Rechts über ſlawiſchen Trotz verherrlichen
306 Geſammelte Eſſays.
fol, der Fall iſt; aber als Dichter find fie doch alle
deutjch-nationafe Dichter; es ift nicht vortheilhaft, fie als
aparte Klaſſe abzuzweigen, und wenn man rikparzer
den „Schiller Oeſterreichs“ nennt, fo will man bamit
doch nur den Primus in einer Secunda bezeichnen. Wir
haben Grillparzer’s ſchönes Talent, wie es ſich namentlid
in der „Sappho” offenbart, mit größerer Wärme aus
erfannt, als dies andere norddeutſche Literaturhiftorifer zu
tbun pflegen; aber eine Apotheoſe verfehlter Dramen, wie
der „Ahnfrau“, Liegt doch außerhalb ber Sphäre unpar-
‚tetifcher Kritik. Der Kritiker verwandelt fi) dadurch in
den Wpologeten. Das ift bei Zimmermann unlängft
der Tal, wenn er von einer fühnen und ethifchen
Bergeltungsidee in der „Ahnfrau“ fpriht und das echt
„Schiller'ſche Nemefisprincip”, das in ihr wie in der
„Braut von Meffina” herrſcht, nicht mit dem albernen
Müllner'ſchen Fatuu verwechfelt fehen wil. Es ift doch
offenbare Sophiftit, wenn Zimmermann fagt:
Beide Dichter haben im Gegentheil es ſich angelegen fein
laffen, der eine den Fall des Meffinefer, der andere den des
Borotiner Haufes durd die „Sreuelthaten ohne Namen‘, welde
diefelben beherbergen, fo ftreng als möglich zu begrlinden. Diefe
Verbrechen wirken uugefehen fort, weil im Leibeserben des
Verbrechers dieſer jelbft fortbefteht; weil, obgleich ſcheinbar
eine andere Perſon, die organiſche Anlage des Handelnden noch
immer bie des urſprünglichen Uebelthäters iſt; weil in Don
Eefar das phyſiſche und moralifche Naturell des alten Flrften,
im Räuber Iaromir das flündenvergiftete und fündengebärende
Blut der Ahnenmutter fih erhalten Hat. Die Schuld bes
Ahnen rechtfertigt deſſen Strafe ethiſch, die Identität des
im Bor» und Nachfahren flteßenden Lebensftroms die Beftra-
fung des erftern im legtern weniger pſycho⸗ als vielmehr
phyfiologiſch.
Was iſt damit gewonnen? Das moderne Bewußtſein
ſträubt ſich gegen die Sühne einer überlieferten Familien⸗
ſchuld; es erkennt derartige ethiſche Zuſammenhänge nicht
an. Das Drama verlangt, daß der Held der Thäter
ſeiner Thaten ſei, aber auch nur für dieſe verantwortlich
gemacht werde; der Jaromir, welcher nach Zimmermann's
Behauptung nur das ſichtbare Gefäß iſt, in welchem der
ſündige Geiſt der längſt geſchiedenen Stammmutter in der
Außenwelt fortfrevelt, iſt eine Marionette, kein drama⸗
tiſcher Held. Und gar die Ahnfrau, eine Geiſtergeſtalt
im Drama, ſoll durch das Intereſſe der Kunſt gerecht⸗
fertigt werden:
Wenn es die Aufgabe der Philoſophie iſt, durch den Ge
danken, der Kumft dagegen, durch die Sinne, ber dramatifchen
insbeſondere, durch ſichtbare Gegenwart auf das Auge zu wirfen,
fo if in dieſem Punkte Schiller vielleicht philoſophiſcher,
Grillparzer ohne Zweifel dramatifcher verfahren. Schiller, ber
Kantianer, ſchloß das Intelligible, da es die Sichtbarfeit aus-
hließt, aud von der Bühne aus; Grillparzer nimmt keinen
Anftand, wo die dramatifche Wirkung es zu verlangen fcheint,
dem Beiſpiele Shalſpeare's folgend, das Intelligibfe feinem
Begriffe zuwider fihtbar darzuftellen. Wie er in richtiger Er⸗
tenntniß deffen, was die dramatifhe Handlung verlangt, feinem
Principe zum Trotz die Willensfreiheit zu retten, den unwider⸗
ftehlichen in einen blos „‚verftärkten‘ Anreiz zum Böfen zu
verwandeln fi bemüht, jo nimmt er bier, um Bergangenes,
wie e8 die Form des Dramas fordert, als gegenwärtig darzu⸗
ftellen, lieber zur Geiftererfcheinung, für die es als Intelligibles
feine Zeitfchrante gibt, feine Zuflucht. |
Der theatralifhe Spuk als Verkörperung bes Intel⸗
ligibeln, als dramatische Kunſtthat — das ift offenbar
eine fophiftifche Beweisführung. Wenn Jaromir ein
Gefammelte Effays. 807
Menſch don Fleiſch und Blut, aber nicht der wahre
Thäter ift, fo ift die Ahnfrau, die wahre Thäterin,
dagegen ein Geſpenſt, für defien Schidfale ſich fein
vernünftiger Menſch interefficen Tann. Nicht blos die
Schuld und die Sühne find vernunftwidrig und undra-
matiſch an zwei verjchiedene Perfönlichkeiten vertheilt; die
dramatische Action und der Wille ift bei dem Gefpenft,
die Willenlofigfeit bei dem handelnden Menſchen: ein
Programm fir die Vorftellungen eines Magnctifeurs und
Geifterfehers, nicht für ein Drama.
Zimmermann geht in der Wpotheofe Grillparzer’s
glüclicherweife nicht fo weit, aud) für das verfehlte Stüd:
„Der treue Diener feines Herrn“, eine Rechtfertigung zu
ſchreiben. Ex gleitet über den Miserfolg deffelben mit
der Bemerkung hinweg, daß die „dem modernen Fühlen
allerdings unverftändlich gewordene, obgleich echt mittel-
alterliche Vaſallentreue“ des Banlbanus von der gereizten
öffentlichen Meinung als „Hunbetreue” verurtheift worden
ſei. Jedenfalls zeigt das Stück fowie „Die Ahnfran“,
daß Grillparzer nicht auf ber geiftigen Höhe einer freien
und großen Weltanfhauung fteht, welche den Sündenfall
in romantiſchen Fatalismus und politifchen Servilismus
ausſchließt. J
Der zweite Abſchnitt: „Shalſpeareana“, enthält
zunädft einen Auffag: „Hamlet und Viſcher“, in welchem
Zimmermann neue Schlüffel für das Berftändniß der
engliſchen Tragödie ſucht. Im diefer oder jener Stelle
wird von den Auslegern ber Grumbaccord für bie
Gedanfenfymphonie dieſes Werls gefunden. Wehnlic wie
Storffrich in feinen „Pſychologiſchen Aufſchlüſſen über
Shaljpeare'3 Hamlet” fieht Zimmermann diefen Schlüffel
in ben Worten, mit denen der Dänenprinz bie Truntſucht
feiner Landsleute Harakterifirt, obwol wir von vornherein
zweifeln, daß der Dichter fo leichtſinnig feinen Grund»
gebanfen bei fo unwichtiger Gelegenheit aus der Tafche
verloren haben ſollte. Hamlet ſpricht da vom einer
„Angewöhnung“, von ber „Livree der Natur“, vom „Stern
des Schidjals“, und nun wird anf dieſem Schlüffel bie
Grundmelodie de8 gamzen Stüds gepfiffen.
Sollte es eines Seelenfenners wie Shakfpeare_ unwürdig
geweſen fein, Fluch und Gegen der Herrſchaft der Gewohnheit
in einem umfafjenden Gemälde zu entwideln, in welchem Edle
und Unedle, Hohle und Tieffüplende an den Folgen der durch
Gewöhnung zur Livree der Natur gewordenen Ueberwucherung
des äußern Scheins · fiber ben Innern Seinsmenfchen in tragi-
ſcher Selbftzerflörung zu Grunde gehen?
Hamlet ift alfo die Tragödie der gedankenloſen Ger
mwöhnung — immerhin! Ein geiſtreiches Stüd bietet der
Auffaffung viele Seiten, und mit einigem Scharfſinn
läßt ſich jede diefer Seiten verallgemeinern als das gei-
ſtige Grundwefen des Dramas. Wir machen indeß dar-
auf aufmerfjant, daß der Gegenfag zwiſchen dem äufern
Schein und dem imnern Sein zu ben Grundzügen ber
Shalſpeare ſchen Lebensphilofophie gehört und in fehr vielen
Reflerionen feiner Hauptwerke wieberfehrt.
Der Aufſatz über „Shalſpeare's Sonette” enthält wer
nig Neues. Die Kritik über „Rümelin und den Realismus“
hält ſich in den Schranken maßvoller Polemit; er gibt
ihm recht, was den Nachweis betrifft, daß Shaffpeare's
Nationaldihterrugm bei den Zeitgenofien ein Mythus
feiz dagegen widerſpricht er dem Tadel, der von feiten
Rumelin's das dramatische Compofitionstafent Shafefpeare's
und feinen Weltverftand trifft. Cine fehr genane Anafyfe
gibt Zimmermann von Hebbel's „Nibelungen“. Die Auf
fafjung ift geiftreic), führt Perfpectiven weiter ans, welde
die Dichtung doch nur andeutete; jeder moderne Drama-
tifer Tann zufrieden fein, wenn er einen fo liebevoll ein
gehenden Commentator findet. Gleichwol dürfte der Ta-
del, welcher ben dritten Theil trifft, Herber fein, als es
den Anſchein hat und Zimmermann felbft beabfichtigte:
Nach fat ermüdender Dehnung im Lauf des zweiten, drit ⸗
ten nud vierten Actes, wo man dem Dichter be Mulhe an-
merkt, dem raſch zur Kataſtrophe forteilenden Gang der Hande
fung aufzuhalten, thürmt gegen den Schluß ein Todtenberg ſich
auf, von einem Blutmeere befpilt, in welchem die von fird-
mendem Blut bfind taftenden Helden bis ans Knie watend
fi untereinander würgen. Wir bewundern den Dichter, dem
hier noch Worte zu Gebote ſtehen, wo uns der Athem flodt,
der troß Flammen und Leichenduft die einzige fühlende Bruft
unter Larven fein Suhnwert zu Ende führt. Zuletzt Hille
alles der Dualm ein, in dem bie kampfenden Helden wie
Niefenfhatten umherſchwanken. Reden und Thaten arten ber-
mafen ins Monfröfe ays, daß dom furchtbar Erhabenen mit ·
unter der Umfchlag ins Parodifde nahe Liegt. Die Grenzen
des Epos find mehr als erreicht, die des Dramatifchen fiber«
Schritten. Was kaum ſich erzählen läßt, ift noch viel weniger
darflellbar.
Eine breit ins Epifche verlaufende Sarblung in drei
Hauptacten, eine Kataftrophe von einer ſich felbft paro-
direnden Grußlichkeit — mas bleibt da nod für ein
Lob übrig?
Weit interefianter erfcheint uns die Charakteriftif
Friedrich Hebbel's, nach unferer Anfiht die Glanzpartie
in der Sammlung, durch jene einheitliche Behandlung,
welche man felten bei ben Philofophen ber „realen Bielen”
findet. Hier aber trifft fie den Kern dichterifcher Eigen-
thümlichfeit. Aehnlich wie Linne die Eintheilung der ge-
ſammten Pflanzenwelt auf das Saeattyfen begründete,
führt Zimmermann ale Dramen Hebbel'3 zurüd auf ein
feruales Princip, deſſen verjchiedene Modificationen den
Orumbdgebanfen der einzelnen Stüde beftimmen. Dies if
keine aufgedrungene, fonbern eine durchaus ungezwungene
Berweisführung, denn fie ift in vollem Einklang mit der
Sade; der gefchlechtlihe Gegenſatz ift das große Agens
der Hebbel ſchen Dramatik, bie himmelmeit entfernt iſt
von der ae, welche das Schönfte auf den Fluren
ſucht, um die Geliebte zu ſchmüden; eher verfällt fie oft
in einen bacchantiſchen Gi atlnehienfe Das Pathologifche
und Phyſiologiſche überwiegt bei weitem bie eigentlichen
Gefühlsmomente. Gibt es einen größern Gegenfatz
gegen die Heldin einer Shaleſpeare ſchen Liebestragddie,
eine Iulia, als die Maria Magdalena, „das pfiffige
Bürgermäbchen, das fi mit kuhlem Raffinement aus
Intereſſe preisgibt“, oder jene Hebbel’jche Yulia, die
fi mit einem impotenten Eynifer trauen läßt in einer
Scheinehe, um einen feiern Fehl zu verdeden und unter
biefer Birma dem Geliebten nad, wie vor anzugehören?
Beide Heldinnen befinden ſich überdies im Stadium der
Schwangerſchaft, welches zwar manches abnorme Gelüfte
rechtfertigt, an deſſen Bühnengemüßheit man aber wol
mit Recht zweifeln darf.
Zimmermann findet die vier weiblichen Hauptcharaktere
der Hebbel’fchen Iugenddramen: die Witwe, die Braut,
die wahre und die Scheinfran, mit der Symmetrie einer
39*
308 Gefammelte Effays.
logiſch erfchöpfenden Eintheilung angelegt und fajert uns
diefe ſchematiſche Tabelle in folgender Weiſe auseinander:
Judith und Magdalena beweiien, daß fein revolutionärer
Groll der Hingebung ohne Neigung, Genofeva und Julia, daß
er der Ehe ohne Liebe galt. Sein Motiv der Berberrlichung,
wie das der Verachtung bes Weibes ift ein weſentlich fittliches.
Die Handlung der Judith legt dar, daß, was die Welt Unfitte
nennt, immer noch fittli, die Situation ber Julia, daß, was
jene Sitte tauft, tief unfittlich fein Tann. Der fittlichen Unfitte
der Iudith flieht die fittlihe Sitte Genofeva's, Julia's unfitt-
licher Sitte die unfittliche Unfitte der Magdalena gegenüber.
Das fociale Problem der Stellung des Weibes zum Manne ift
mit dem Scarffinn bes Logikers nad der
Gegenfäte durchgearbeitet.
Sn den fpätern Dramen wirb das fernale Problem
zarter behandelt, ohne die Naturfeite fo ſcharf hervorzu-
fehren. Der Proteft gegen den Despotismus des Man⸗
nes, weldjer das Weib mehr ober weniger als eine Sache
behandeln will, tritt indeß ſcharf genug hervor, fowol in
„Herodes und Mariamne“, wo das Streben, dieſen Beſitz
über den Tod hinaus zu fihern, Urfache des tragifchen
Eonflictd wird; im „Ring des Gyges“, wo der Held nicht
nur ſelbſt „mit vergnügten Sinnen auf das beherrfchte
Samos” hinſchaut, fondern auch einem andern Antheil an
feiner Freude nnd den Anblid der nadten Schönheit der
Gattin gönnt, eine Exrniebrigung, welche die legtere nur
durch den Tod des Gatten und die Ehe mit dem profa-
nirenden Eindringling fühnen zu können glaubt; in den
„Nibelungen“, wo die nordiſche Walkyre, die Königin
von Burgund, den Mann ermorden läßt, der, ohne ihr
Ehemann zu fein, ihre Schwäche gefehen hat.
Die Analyfe der Hebbel’fchen Stüde ift ſcharf und
eonfequent von einem Punkte ausgehend, der fich in der
That als der Centralpunkt der —8 Production
erweif. Auch mit der Verwerfung der Luftfpiele bes
Dichters und feines „Demetrins” als einer Tragilomdbie
find wir volllommen einverftanden.
Die Charakteriftit von Auerbach ift eine fehr aner-
tennende; gleichwol vermiſſen wir eine Beſprechung feines
Romans: „Auf der Höhe“. „Das Landhaus am Rhein“
ift möglicherweife nicht mehr zur rechten Zeit für eine
Berüdfihtigung in Zimmermann’! Sammlung erfcdienen.
Mir meinen, daß der Efjayift es nicht verfäumen dürfe,
in feinem Porträt die Züge nadhzutragen, welche an dem
Driginal inzwifchen mit größerer Schärfe hervorgetreten
find. Der Abdrud eines frühern Aufſatzes ohne fo zeit-
gemäße Umgeftaltung wird in dem Lefer immer das Ge⸗
fühl einer Lücke zurlidlaflen.
Die Auffäge zur „Aethetil der Tonkunſt“, die fi
an Werke von Hanslid, Ambros und Gervinus anfchliegen
und fi gegen die beiden letztern polemifch verhalten, find
ganz aus dem Geilte ber Herbart'ſchen Schule hervor⸗
gegangen; fie protefliven gegen das Streben, alles Schöne
auf ein Princip zurüdführen zu ‚wollen. Das Scöne
fiege in Verhältniſſen und biefer gebe es viele; der Com⸗
ponift ftelle nur rein mufllalifche Ideen bar. Hierin ſtimmt
Zimmermann ganz mit Hanslid überein. „Einen Kreis
von Ideen Tann die Muſik mit ihren eigenen Mitteln
reichlich darftellen. Dies find unmittelbar alle diejenigen,
welche auf hörbare Veränderungen der Zeit, der Kraft,
ber Proportionen ſich beziehen; alfo die Idee des An-
fchwellenden, des Wbfterbenden, des Eilens, Zögerns, des
afel möglicher
fünftlich Berfchlungenen, des einfach Begleitenden u. dgl. m.”
Zimmermann wie Hanglid proteftiren dagegen, daß die
Muftt Gefühle darftelle, dann fiele das ganze Gebiet
ber Figuralmnfit weg; in der Inſtrumentalmuſik ſehen
aber beide Aeſthetiker die reine abjolute Tonkunſt. Selbft«
verftändlich ergeht e8 biefen Anfchauungen gegenüber den
Berherrlichern der Vocalmuſik, wie Gervinus, ſchlecht genug;
ebenfo dem Kunftwerk der Zukunft. „Misverſtandene Be⸗
griffe vom Drama der Alten find der Hiftorifche, mis⸗
verftandene Begriffe von ber Einheit der Kunft der philo-
fophifche Quell biefer Irrthümer.“ „Der Werth der Muſik
ift weit davon entfernt, abhängig zu fein von dem Werth
ber Gefühle. Mag dieſer fteigen oder fallen, jener bleibt
fich völlig gleih. Ihr Gebiet find die Tonvorftellungen,
die weder Gefühle noch Gedanken find.“
Wenn indeß die Muſik auch nicht Gefiihle darftellt,
fo wendet fie fi) doch an das Gefühl, und Ambros hat
recht, wenn er behauptet, wer die Muſik nur für tönend
bewegte Formen erkläre, könne in die Bezeidinungen: heroi⸗
ſche, paftorale Muſik u. ſ. w. nicht einftimmen: es gebe
feine heroiſche Arabeste, Tein heroiſches Kaleidoflop, kein
heroifches „Dreied oder Biere’. Wenn Zimmermann
entgegnet, es gebe aber einen Rhythmus, der heroifchen
Bewegungen als ſolchen eigenthümlich fei, folglich auch
tönende Formen, die fih in folden Rhythmen bewegen,
da färbt er doch offenbar die Tonverhältniffe ſchon mit
ber Farbe des Gefühle. Ein Friegerifcher Rhythmus ift
e8 doch nur infofern, als er auf das Friegerifche Gefühl
wirft, und dag fhon im Rhythmus allein die größten
Gefühlswirtungen liegen, daß ſchon das bloße Tempo
freudig erregend oder elegifch fchmelzend wirken Tann,
wird doch Fein Aeſthetiker leugnen wollen.
Gleichwol wiſſen wir es ber eracten Schule der
Aeſthetik dank, daß fie die Sphären der einzelnen Künſte
rein Hält von jeder Vermiſchnng; denn ſcharfe Sonderung
ift unerlaglich für die Erkenntniß eigenthitmlichen Wefens.
Gerade in Bezug auf Mufil wird neuerdings viel ge=
fündigt durch das Hereinziehen der frembartigften Elemente
in ben abgejchlofjenen Kreis der Kunſt. Wie hat man
mit vwillfürlichfter Deutung einzelne Tongemälde ald Ge⸗
dankenſymphonien ausgeführt, welches Unmwefen ift mit der
Programmmmufil getrieben worden! Die Herbart’fche Schule
wird die Muſik ftets mit befonberer Vorliebe behandeln;
denn ihr Meifter war vorzugsweife vertraut mit dieſer
Kunft, und wenn man noch die Architektur als „gefrorene
Muſik“ mit ihren feften, ebenfalld mathematifch nachweis-
baren Berbältniffen neben die bewegten der Tonfunft ftellt,
fo Tann man fagen, die Herbart'ſche Aefthetit baut ſich
auf dem Generalbaß auf.
Die Auffüge „Maler und Bilder” geben eine inter
effante Charakteriftil von Asmus Carftens, kritifiren Da-
vid's Bild: „Die Ermordung Marat's“, Piloty's ‚Nero‘
u. a., und zeigen in der Schilderung des neuen „Fieſole“
Overbeck's umd Führich's eine etwas bedenkliche Hinnei⸗
gung zu dem modernen Nazarenenthum in der bildenden
Kunft, wie fie fih nur aus einer gegen den Inhalt gleich»
gültigen Aeſthetik erklären läßt.
Der erſte Band ber Zimmermann'ſchen „Stubien
und Kritiken“ ift der Philoſophie gewibmet. Bei der Auf
Geſammelte Eſſahs. 309
nahme der einzelnen Aufſätze war der Grundſatz maß-
gebend, nur dajenige zuzulaffen, was ein mehr als vor⸗
übergehendes Imterefje darzubieten oder den größern wiſſen⸗
ſchafllichen Arbeiten des Verfaſſers zur Erläuterung und
Ergänzung zu bienen geeignet ſchien. Gleich der erfte
Auffat: „Ueber die Lehre.des Pherelydes von Syros“,
wäre indeß am beften wol aus einer Sammlung aus.
gefchloffen worden, die fi an das größere Publikum
wendet. Diefer Beitrag zur Geſchichte ber Philoſophie
ift mit einer Gelehrfamkeit abgefaßt, die für den Fleiß
und das Quellenſtudium des Verfaſſers ein rühmliches
Zeugniß ablegt; aber die philofophiſchen Ariome des Phe⸗
refydes haben doch nur ein geſchichtliches Intereſſe, und
eine derartige Specialität, an die Spige einer Sammlung
mit vielen allgemein interefjanten Auffägen geftellt, könnte
einen nicht unbeträctlichen Leſerkreis zurüdidreden, wie
eine beftaubte Rüftung, die vor einem archäologiſchen Waffen-
mufeum hängt, das Publikum abſchredt, das fih für
Piten, Helebarten und Arm- und Beinfchienen nicht
intereffirt.
Der zweite Auffag: „Ueber den logiſchen Grunds
fehler der Spinoziſtiſchen Ethik“, Hat für und nichts Ueber«
zeugendes, fo ſcharfſinnig einzelne, gegen den philofophie
ſchen Monismus gerichtete Deductionen find; aber die
Unterfcheidungen gehen oft bis zw einer Gubtilität fort,
der nad) unferer Anficht die Spige abgebrochen wird.
Spinoza's Syftem beruht weniger barauf, daß feine geo-
metrifhen Demonftrationen niet- und nagelfeft find, als
auf einer Intuition des Weltzufammenhangs, deren Ueber»
zeugungskcaft durch Luden der Bemeisführung nicht ger
ſchwächt wird. So können wir gerade in Bezug auf
Spinoza der geiftreihen Einleitung des Auffages nur
ſehr bebingt zuftimmen:
Im ber Geſchichte des menfhlihen Denkens begegnen wir
une zu häufig ber Erfeinung, daß wie im der Natur aus
dem anfänglid, nnanfehnligen Klümpden Schnee die zerflörende
Lavine, fo aus einem meiprünglid; unbebeutenb erſcheinenden
Irrtum, der ſich das Anjehen der Wahrheit gibt, eime Kette
inhaltfcäwerer Folgerungen fi entiwitfelt, die zuleßt über weite
Gebiete bisher für mnantafbar gehaltener Wahrheiten ſich aus»
breitend dieje ſelbſt im den Nebel des Zweifeld und der Un⸗
gewißheit mit ſich hineinzieht. Diefe Folge tritt um fo fiherer
ein, je confequenter und in ſich vollendeter das Lehrgebäube ift,
Über deffen Schwelle der Jruhum ſich eingeſchlichen FR umd
je umangreifbarer die Methode erſcheint, am deren Hand das
Syftem von jenem Meinen Anfang zu feiner endlihen Abrun-
dung fortgeſchritien if. Wenn fi dann wie in einer ehernen
Bhalanr Border» anf Hinterglied Iehnt und ftügt, Bfeibt der
Kritif nichts übrig, als den Keil bis zu jenem Schluß» und
Anfangsglieb zucäczutreiben, mit dem das Syſtem felbft ent-
weder fefter beftchen oder für immer fallen muß.
Zahlreich find die Auffäge über Leibniz, feine Vor⸗
gänger und Zeitgenofien. Dies darf bei einem Herbar«
tianer nicht wundernehmen; Leibniz ift mit feinen Mo-
naden der Vorgänger einer Philofophie der „vielen Rea⸗
Ten“. Bon diejen Auffägen Heben wir zwei hervor: „Ueber
Leibniz’ Conceptualismus“ umd „Leibniz und Leſſing“.
Im dem erftern geht der Berfaffer auf den Gegenſatz von
Nominalismus und Realismus zurüd, welder in der
Bhilofophie des Mittelalters herrſchte. Man muß befannt-
lich diefen Bezeichnungen nicht die moderne Bedeutung
anterlegen; fie würbe zu den größten Berwechfelungen
führen. Herbart, der am meiften realiſtiſche Philoſoph
der Neuzeit, würde nach mittelalterlichen Begriffen ein
firenger Nominalift geweſen fein, während Fichte, Schel-
ling, Hegel für Kealiften gelten müßten. Nach der Theorie
des Realismus eriftirt der Begriff ald Idee vor und aufer
feinen Gegenftänden, fodaß diefe nur Eriftenz befigen,
fofern fie mit ihrem befondern Sein an feinem allgemeinen
theilnehmen. Für den Nominalismus find die Dinge als
Gegenftände für ſich und der Begriff ift nur die im Den-
ten vollzogene Heraushebung und Zufammenfaffung bes
Gemeinfamen mehrerer Dinge. Die vermittelnde Änſicht
zwiſchen Nominalismus und Realismus ift der Concep-
tualiemns, der ſchon zur Zeit der Scholaftiter Geltung
hatte, und namentlich in einem Fragmente Abälarb’s
„De generibus et speciebus“, veröffentlicht in deſſen
„Oeuvres inedits' begründet wird. Mag dies Fragment
nun don Abälard felbft oder, was wahrſcheinlicher ift,
von einem andern ſcholaſtiſchen Philoſophen herrühren —
es ift eine der wichtigſten Urkunden für die philofophi=
ſchen Bewegungen jener Zeit. Der Eonceptualismus als
vermittelnde Anſchauung befteht darin, daß er einerfeits
nominaliftifch, andererjeits realiſtiſch ift, aber feines ganz.
Diefe Anſicht ift
nomiualiſtiſch, weil fie nur die Individuen als das wahrhaft
Epriftirende anerfennt, das Allgemeine dagegen, die Gattungen
und Arten, für bloße Inbegrife von Imdivibuen anfleht: rear
liſtiſch, weil fie das Allgemeine dod nicht für bloße Worte,
nicht einmal für blos fubjective Gedanken anfieht, die nur für
den Betrachter Geltung haben, fonbern duch den Ausdrnd:
Ähnliche Natur auf eine innerliche Verwandtſchaft "der zur felben
Species gehörigen Individuen hinweift, bie eben den Grund
enthält, daß fie auch vom Betrachter als zur felben Art gehörig
erfannt und umter einen allgemeinen Begriff geftellt werden.
Die Individuen find nit eine in der Gattung, aber ihrer
viele von ähnliher Natur bilden die Gattung. Diele eriflirt
als foldje nicht vor den Individuen als eine, 3. B. die Menfd-
heit vor allen menſchlichen Individuen, fondern in ihnen, die
ſelbſt ähnlicher, nicht derfelben Natur find.
Oder wie Zimmermann am Schluß des Auſſatzes diefe
Anfhauung zufammenfaßt: ü
Einheit ohne Vielheit und Vielheit ohne Einheit find gi
zeitig abgewieſen; der Verſuch, die Vielheit neben der Einheit
und bie Einheit in der Bielheit gleihmäßig zu ihrem Rechte
kommen zu laffen, ift der Conceptualismne.
Unfer Philoſoph beweift nun, daß Leibuiz nicht ein
reiner Nominalift wie Herbart gewefen fei, fondern jene
bermittelnde Anſchauung aufredtgehalten habe. Indem
der Artbegriff erfaßt wird als objective Zufammengehörig-
teit gewifler Individuen vermöge ber Wehnlickeit ihrer
innern Natur, wird der fubjective Standpunkt der No«
minaliften überwunden. Dieſe Zufammengehörigfeit ob«
jeetiver Art ſucht Zimmermann in dem Begriff „concep-
tus“. Gleichwoi Haben auch die Nominaliften, wie William
Decam, ben Ansbrud conceptus fir ganz fubjective Bor«
ftellungen gebraucht. So weifen wir unfern Autor auf
jene Stelle in den „Quaestiones super IV libros senten-
tiaram“ Bin, wo der Doctor singularis et invincibilis
fagt (Quaesturus, 8): „conceptus et quodlibet univer-
sale est aliqua qualitas existens subjective in mente,
quae ex natura sua est signum rei extra.”
Im dem Auffag „Leibniz und Leſſing“ wird zunächſt
der Gegenfag zwiſchen Spinoga und Leibniz mit großer
Schärfe anseinandergefegt; dann fucht Zimmermann bie
Anficht zu widerlegen, Leffing fei Spinozift geweſen, und
310
hebt im ©egentbeil hervor, wie Leſſing's metaphufifche
Grundlage in Harmonie mit der Leibniz'ſchen geweſen fei,
namentlih was bie Tehren von der präftabilirten Har⸗
monie, der Erziehung des Menſchengeſchlechts, ber fteten
Vervollkommnung deſſelben u. a. betrifft. Leſſing's Spi⸗
nozismen ſind indeß ebenſo wenig zu leugnen. Keines⸗
falls war ber Kritiker ein „Iuftemfrommer‘ Philoſoph, und
da er befanntlich gegen die „fertige Wahrheit die größte
Abneigung hatte, fo konnte er bei dem Suchen berjelben
wol einmal diefen und das andere mal jenen Weg ein«
ſchlagen.
Bon ben übrigen Aufſätzen: über „Schiller als Denker“,
„Zum Fichte⸗Jubiläum“ u. ſ. w., heben wir noch zwei hervor,
welche orationes pro domo des Berfaflers find: „Zur Re
form der Aeſthetik als eracter Wiffenjchaft” und „Ueber
Lotze's Kritik der formaliftifchen Aefthetif”. Zimmermann
vertheidigt feine Aeſthetik als Formwiſſenſchaft oder, wenn
man will, als Berhältnißlehre gegen verfchiedene Angriffe.
Er fieht die Aufgabe der Aeſthetik darin, „nachdem fie
biöher, ans dem Inhalt der Schönheitsidee beducirend,
eine der aprioriſch⸗ conſtrnirenden Naturphilofophie ähn⸗
Iihe Rolle gefpielt”, auf Grundlage der einzelnen üfthe-
tiſchen Zweigwiflenichaften aus dem Umfange des Schd-
nen ſich zu einer allgemeinen Kunſtwiſſenſchaft aufzubauen:
ürchte man ja nicht, daß eine ſolche Aeſthetik dem wah⸗
enius feindlich fein werde. Nur der falfhen Genialität,
welche an die Stelle objectiv gültiger äſthetiſcher Principien,
um bie Evidenz des äfthetifchen Urtheils unbekümmert, perfön-
liche Autonomie fetten wollte, fündigt fie offene Fehde au. Weit
entfernt, die Originalität in ein für allemal feftgezogene Schran⸗
ten einfchließen zu wollen, ift fle für jede wahrhafte Bereiche-
rumg ihres Schages von äſthetiſchen Srundelementen dankbar,
vorausgefeht, daß fie die Probe bes üſthetiſchen Urtheils ver⸗
trägt. Das Genie ift entdedend, fie iſt aufnehmend und prü⸗
fend. Das ganze Rei der Kunft- wie der Naturwelt ift vor
ihr anfgefhloffen; aus der unendlichen Kormfülle, welche ſie
darbieten, ift es ihr Geſchäft, die gefallenben oder misfallenden
Kormen zum Zwed der Nachahmung oder Vermeidung auszu-
fondern. Sie will der Kunft dienen und, wenn es angeht, fie
leiten, aber es fällt ihr nicht ein, fie erfeßen zu wollen. Wah⸗
rend die myſtiſche Aeſthetik des 19. Jahrhunderts über das
Schöne und die Kunſt in Ausdrücken zu philoſophiren ſich ge⸗
wöhnt hat, in welchen kaum noch ein leiſer Anklang an das
ren
Zur ſoeialreformatoriſchen Literatur.
Weſen derjelben, an Töne, Farben, Umriffe, Sifben-, Worts
nnd Gedanfenmaße Übriggeblieben war, hält dieſe Aeſthetik fi
einfach an dasjenige, ohne welches ber Tonkünftler keine Muſik,
ber Maler kein Gemälde, ber Bildhauer, Architekt und Poet
weder Statuen noch Gebäude, noch Gedichte hervorzubringen
vermöchten. Indem fie dem Künſtler nabe bleibt, von dem alle
Kunft ſtammt, wird fie vielleicht im Stande fen, der Entfrem-
dung Einhalt zu thun, welde, aller Bemühungen neuerer
Aeſthetiker ungeachtet, zwifchen Künftlern und Kunſiphiloſophen
immer mehr platgegriffen hat. Gewohnt, mit Farben, Um⸗
rifien, Tönen, Rhythmen und Worten umzugehen, ſucht der
Künſtler vergebens nach Belehrung in Werken, in welchen von
dem Geſuchten nur mit flolger Geringſchätzung geſprochen oder
gänzlich geſchwiegen, dagegen vom Abſoluten, von der Idee
und ihrer Erſcheinung in hohem, ihm unuverſtändlichem oder
doch fernliegendem Tone gefprochen wird. Was wunder, wenn
er endlich die fruchtlofe Beſchäftigung aufgibt ? In einer Aeſthetik
im Geifte des Realismus hätte ihm das nicht widerfahren Tönnen.
Wir hätten dann nicht das traurige Schaufpiel erlebt, daß bie»
jelben Geifter, welchen wir die höchſten Schöpfungen der neue⸗
ſten Kunſtepoche verdanten, ber Aeſthetik zum Zro oder doch
ohne Rückſicht auf diefelbe ſchufen, und daß eine Zeit, in ber
empirifchen Kenntniß des Schönen aller Zeiten und Böller
reicher als jede vorangegangene, an philofophifher Erkenntniß
nefferben feld Hinter die Anfänge, des Alterthums berabgefun-
en if.
Wir können indeß ebenfo wenig wie Loge, gegen deſſen
Kritik fich der Verfaſſer kehrt, das Wefen der Echünheit
in der reinen Form finden; wir verlangen, daß die Kunft-
werke etwas bedeuten, und finden nicht wie Derbart, daß
in ſolcher Deutung ein Yenßerliches liegt, das dem innern
Weſen der Kunft fremd ift. Bei geiftreichen Künſten,
wie 3. B. der Dichtfunft, fpielt die Form und das har-
monifche Berhältniß überhaupt nicht die bedeutende Rolle
wie in der Architektur und Muſik. Man weiſe uns nad),
daß große Dichter wie Shakſpeare und Schiller nur rei»
ner Formenſchönheit ihre Macht über die Gemüther ber
Menſchen verdanten! Diefer Beweis dürfte ſchwer fallen.
Fülle des Geiftes und Tiefe der Weltanfhanung gehören
gem großen Dichter, und dieſe laſſen fich ſchwerlich durch
ie einfchlägigen äfthetifchen Verhältniſſe beftinnmen ober
beziffern, wie die Intervalle des Generalbafles.
Rudolf Soltfchall,
(Die Fortfegung folgt in der nähften Nummer.)
Bur forialreformntorifchen Literatur.
1. Kapital und Arbeit. Neue Antworten auf alte Fragen.
Bon ©. Dühring Berlin, Eichhoff. 1865. Gr. 8.
1 Thlr. 5 Ner.
2, Die Berlleinerer Carey's und die Krifis der Rationalölonomie.
Sechszehn Briefe von E. Dühring. Breslau, Trewendt.
1867. Gr. 8. 1 Thlr.
3. 3. St. Mill's Anfihten über die fociale Frage und bie an⸗
geblihe Ummälzung der Socialwiſſenſchaft durch Carey.
Bon F. U. Lange. Duisburg, Fall und Lange. 1866.
Gr. 8. 1 Thlr.
4. Carty's Socialwiſſenſchaft und dag Merlantilſyſtem. Cine’
literalurgeſchichtliche Parallele von Adolf Held. Würzburg,
Stuber. 1866. ©®r. 8. Ir. 6 Nor,
5. Der Profetarier. Drei Borlefungen zur Drientirumg in
der ſocialen Frage. Bon Johannes Huber Münden,
Lentner. 1865. 8. 15 Nor.
6. Die confervattve Saciallchre. Mittels Erörterung von Tages⸗
fragen erfäntert von M. von Lavergne-Pegnilben.
Erfteo Heft: Die Eoncurrenz und bie Ofiedernng der Staaten.
Berlin, F. Schulze. 1868 -®r, 8. 15 Nor.
7. Die Confnumvereine, ihr Weſen und Wirken. Nebft einer
brattilgen Anleitung zu deren Gründung und Einrichtung.
uf Beranlafjung des fländifhen Ausfchuffes der dentſchen
Arbeitervereine herausgegeben von Eduard Pfeiffer.
Stuttgart, Kröner, 1865. 16. 15 Nor.
8 Die auf Selbfthülfe gelitten Benofjenfchaften im Handwerler⸗
und Arbeiterftande, „Borträge, gehalten im Yortbildunge-
verein für Bnhdruder in Wien am 25, Febrnar, 4. md
11. März 1866 von Mar Menger. Wien, Czermak.
1866. Gr. 8. 6 Nor.
Die Zeiten finb vorüber, in denen fich der ehrfame
Dürger von gelindem Grauſen überlaufen fühlte, wenn
nur ernſthaft von focialen Fragen gefprocdhen wurde.
Auch fcheint die Polizei nicht mehr jeden, der fich wiflen-
Ihaftlid) oder gar praktiſch mit dem focialen Problemen
befhäftigt, amtspflihtig a priori für einen ftaatsgefähr-
lichen Wühler zu halten. Die praltifchen Refultate,
welche die fociale Reformarbeit, im Vergleich mit den
Zur focialreformatorifghen Literatur. 311
Beftrebungen auf andern Gebieten des öffentlichen Lebens
errungen hat, find freilich auch fo vereinzelt und gering-
fügig geblieben, daß felbft wol der beforgtefte Burcaukrat
ſich nicht zu ängfligen braucht, es fünnten daraus für bie
nächſte Zeit mehr als putſchhafte Störungen der öffent
lichen „Ruhe und Ordnung“ hervorgehen. Die Ioyale,
jelbft die vücziigelnde politifche Tendenz Hat fi im
Gegenteil gerade mit den fcheinbar ertremften Richtungen
focialer Fortſchrittspraris fo trefflich geſtellt, daß letztere bei
der politifchen Demokratie — wenigften® in Deutſchland —
in den übeln Geruch gekommen ift, hinter fehr radicalen
Aushängefcildern eine geheime entente cordiale mit der
politifchen Repreſſion zw pflegen und ihren abfofutiftifchen
Endzielen, namentlich im Uxbeiterftande, wiſſentlich in die
Hände zu arbeiten. Nomina ct exempla sunt odiosa!
Indeſſen würde ſelbſt der Berdadjt eines ſolchen Verſuchs
ſchwerlich haben entftehen können, wenn nicht die theore-
tifche und praftifche Behandlung der focialen Frage dies
felbe höchſt einfeitig und faft ausfhlieglih auf das Ge-
biet der Arbeiterfrage, d. h. auf die Beflerftellung des
mit feinen phyſiſchen Kräften feinen Lchensunterhalt er-
werbenden THeild der auf den Dafeinsfampf durd) Er—
werbsarbeit Geftellten, beſchränkt hätte. Die Fiction des
fogenannten „vierten Standes” hat bie fociale Frage in
eine ſchiefe Stellung zu den übrigen progreffiven Beſtre-
bungen der Öegenwart gerildt. Sie aus diefer wieder auf
ihren rechten Blag, namentlich in dev Öffentlichen Mei—
nung und Landläufigen Auffaſſung zu ftellen, erfcheint und
vorerft die dringendfte Aufgabe derer, bie es redlich mit
der focialen Neform meinen und fie nicht blos als Reclame
für ganz abjeit® gelegene Zwede benugen.
Dean darf es aus dieſem Gefichtspunfte fogar als
eine recht bedeutfame Signatur des praktiſchen Foriſchritis
der politiſchen Demokratie betrachten, daß deren neuefte
Kundgebungen mit Iebhafter Entſchiedenheit den Grund»
faß betonen: jede Coalition einer politifchen Partei mit
ben Arbeitern als geſchloſſenem Stand fei ber Freiheit
gefährlich. Denn fei eim folder geſchloſſener Staub
wirklich vorhanden, fo Hönne er nur Symptom einer
focialen Krankheit fein; diefe indeſſen eriftive nicht, und
die Heutige Demokratie dürfe e8 nicht mehr mit Ständen
zu thun haben, fondern nur mit Inbividnen, weil fie es
als Princip feſthalten müffe, daß der Arbeiter ſich buch
mehrere Jahre hard works zur Gelbftändigfeit empor»
ringe. Jedenfalls Hat diefes Princip fehr viel für ſich.
Allein um bie Jahre der hard works handelt es ſich
doch eben bei der Arbeiterfrage vorzugsweile; fie find bie
träftigften des beften Lebensalters und kommen bei der
intellectuellen, geiftigen, moraliſchen Arbeit kaum minder
in Frage als bei der rein phyſiſchen Forterhaltung des
menſchheitlichen Lebens.
Die weitern Anwendungen diefer Thatſache auf bie
ſocialwiſſenſchaftlichen Beftrebungen ergeben ſich von felbft
und find Hier nicht abermals auszuführen. Dagegen
möchte auf einen fehr allgemeinen Webelftand der litera-
rifchen Erfcheinungen auf focialem und ſocialpolitiſchem
Gebiete Hinzuweifen fein, welder unſers Erachtens zu
ihrer relativ geringen Wirffamkeit gerade in denjenigen
Bevölferungs- und Bildungsfchichten, auf welche fie ſich
borzugsweile beredinen, erftaunlich viel beiträgt. Ihre
Mehrzahl ift, wenn nicht zu wenig populär, doch jeden
falls zu abftract, zu wenig ad hominem gehalten, um
den don ber Zagesarbeit ermüdeten Manne nicht noch
eine außerordentliche Geiftesanftrengung und eine große
Willenskraft zu ihrem Studium zuzumuthen. Engländer
und Franzofen find im diefer Beziehung den Deutfchen
unzweifelhaft voraus; ihre Arbeiten find concreter ges
ſchrieben, geben den Beifpielen breitern Raum, und willen
außer dem Berftand und der Ueberlegung aud) dem all-
gemein menfchlicen Intereffe Iebhaftere Anregung zu bie-
ten. Dan braudt die möglichen Gefahren eines folden
gewiffermaßen agitatorifchen Vortrags der Socialwiſſen -
ſchaften gar nicht zu verfennen, wird aber trogdem
bie nadte Thatſache nicht in Abrede zu ftellen vermögen.
Dazu kommt in den meiften beutjchen Schriften dieſes
Genres eine ſocialphiloſophiſche Nomenclatur, melde, ba
die Grundlehren weder feſiſtehend noch unbeftritten find,
ſchwankend und mehrbeutig ift, ja faft in jeder neuen
Schrift wieder neue Abweihungen der einzelnen Wort ⸗
bedeutungen in die Discufflon einführt. Dies erfchwert
demjenigen, weicher nicht ſchon durch das Studium theo«
retiſcher Philoſophie an ſolche Berfahrungsweife gewöhnt
ift, abermals die Leftiire derartiger Schriften.
Banal wäre es faft, hier nochmais daran erinnern
zu wollen, daß alle ſpecialwiſſenſchaftlichen Erörterungen,
fofern fie wirklich aus den vorhandenen Lebenszuftänden
neue und [cbensfähige Berhältniffe zu entwickeln trachten,
ſich auf gewiffe feftftehende Grundprincipien der National
öfonomie baſiren müflen. Aber bie Nationalöfonomie
felber hängt fowol in ber theoretiſchen Aufftelung ihres
Lehren, als in deren praktifcher Anwendung von den un⸗
aufgörlich wechfelnden und fi) umgeftaltenden Berhälte
niffen des Lebens ab. Man könme mit Bezugnahme
daranf felbft die Trage aufwerfen: ob fie auf ihrem
jegigen Standpunkte den Bollbegriff einer Wiſſenſchaft
bereit8 vepräfentirt? Laßt man jedoch auch diefen theo-
retiſchen Zweifel ganz beifeite, gewiß ift, daß ſich die
Zahl ihrer abfolut feſtſtehenden und unter allen Berhält-
niſſen unumföglichen Principien auf einen überaus engen
Kreis und eine fehr niebrige Ziffer beſchränkt. Dies
mag traurig klingen, ift jedoch volllommen wahr und
faum anders möglich. Die Entwidelung von Lehren und
die Anftrebung praktifcher nationaldfonomifher Ziele auf
diefer ober jener Grundlage ift in ber einen Periode
ſicherlich volljtändig auedmääig und berechtigt, ja abfolut
nothwendig; allein biefelben Lehren und prattiſchen Be-
ftrebungen verlieren in ber folgenden, unter umngeftalteten
Berhältniffen, nicht blos ihre Berechtigung und Zwed-
mößigfeit, fondern aud ihre intellectuelle Bedeutung.
Dan braudt beifpieldweife blos an das Zunftwefen und
bie fegensvolle Erftartung des Bürgerthums auf feiner
Grundlage im fpätern Mittelalter zu denken, während
diefelbe Inſtitution ſchon zu Ende des 18. Jahrhunderts
als ein Anachronismus von hemmendftem Schwergewicht
auf die Neugeflaltungen bes Lebens drüdte und fid) in das
19. Jahrhundert blos noch nad) dem Gefege ber Trägheit,
in ſich felbft abfterbend, Herüberfchleppte.
Neue Entwidelungen in ben Gebieten ber national
ölonomifchen Wiffenfhaft find daher faft immer nur
Proteſte gegen die unter veränderten Verhältniſſen unere
Tee.
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312 Zur focialreformatorifchen Literatur.
träglich gewordenen Einrichtungen des ſocialen Lebens
ans überlebten Perioden. Die bahubrechenden Lehrer ber
Boltswirtbfchaft treten fat immer zuerft polemifch in die
Arena der Deffentlichkeit. Aus der Bekämpfung beſonders
hemmender und läftiger wirtäichaftlichen Einrichtungen
einer Zeit wachſen dann ganze Syſteme heraus. Gerade
darin Liegt jedoch auch wieder die Haupigefahr dieſer
Syfleme. Dem faft immer führt die Hartnädigfeit des
geiftigen Kampfes gegen die Wirkungen des Gefeges der
Trägheit im öffentlichen Leben über das felbftgeftedte Ziel
der vollswirthſchaftlichen Reformer hinaus. Die einfeitige
und übermäßige Ausbildung einer an fich, wie unter den
gegebenen praftifchen Verhältniſſen, vollkommen berechtigten
Anſchauung oder Lehre ift die natürliche Folge. Dabei
mag. der an fih richtige Grundgedanke wol allmählich
zur Anerfennung gelangen. Allein nach allen Richtungen
wahllos ausgefponnen, auf alles ausgedehnt, auf Dinge
und Verhältniffe angewendet, für welche feine innere Be⸗
rechtigung fehlt, ift er, ift das in feiner urjprünglichen
Bedeutung Richtige und Heilfame oft fchon felber wieder
ein Uebel, wenn der Moment zu feiner praftifchen Ber-
wirklichung gelommen ſcheint. Es gibt darum fein be⸗
denflicheres Borurtheil, trogbem es noch immer fehr ver-
breitet ift, als daß die Lehren der Nationalölonomen ab⸗
folut gültig, für alle Zeiten und Berhältniffe anwendbar
fein müßten. Es eriflirt im Gegentheil keine politifche
oder fociale Wiffenfchaft, welche fo fehr ein Product-
ihrer Zeit und mit ber Geltung ihrer Principien wie
ihrer praktifchen Anftrebungen auf diefe befchränft ift,
als die Nationalölonomie.
As in der erften Hälfte des vorigen Jahrhunderts
die Auſicht zur Herrſchaft gelangte, daß in wirthichaft«
lihen Dingen die Regierung einfchreiten müſſe, war fie
in den damaligen politifchen Verhältniffen der Staaten
und in den focialen des Publilums relativ bererhtigt.
Allein während man fie praftifch auf die Spike trieb,
ſodaß ſich alle productive Betriebſamkeit ausjchlieglich
duch die und nad) ben von den Regierungen entworfenen
Rormen entwideln follte, Hatten die politifchen und
fociolen Zuftände bereits ſolche Wandlungen erlitten, daß
die ſchürfſte Reaction gegen ein ſolches vollswirthfchaftliches
Syſtem nothwendig daraus hervorbrechen mußte In
vollkommen Elarer Geftaltung und fyftematifch durchgebil⸗
bet führte befanntlih Adam Smith biefe Reaction mit
unmiderftehlicher Gewalt in das praftifche Leben ein.
Die BVerbienfte feiner genialen Energie bleiben unfterblich,
felbft wenn ein anders geftaltetes fociales Leben neue
Forderungen ftellt. Sind biefe noch nicht geftellt worden?
Ganz gewiß, und ebenfo gewiß ift es, daß die Neu:
geftaltungen ſie vechtfertigen. Allein eine genügende und
darum epochemachende Antwort darauf, wie Adam Smith
fie für feine Zeit und Verhältnifie fand, erwartet man bie»
jest umfonft. Hunderte von Schriftftellern aller Cultur⸗
länder, Zaufende von Büchern und Abhandlungen in allen
ulturfprachen haben .an einer modernen Ausbildung der
Volkswirthſchaftslehre gearbeitet. Allein trog des all-
mählih erfolgten Zuſammenbrechens des Feudalſyſtems,
trog der durch Dampfkraft, Eifenbahn- und Zelegraphen-
weſen berbeigeführten Revolution bes gefammten focialen
Berkehrs ift theoretiſch und praltiſch zur entfprechenden
Umgeftaltung der focialen Berhältniffe vergleichsweiſe blat-
wenig gejchehen. Man wandelte im großen und ganzen
fortwährend die Smith’fchen Wege und trat fie breit,
indem man hundertmal von neuem bewies, daß fie bie
richtigen fein. Für die neuen Wege, welche man etwa
davon abzweigte, ftehen dagegen. die Beweife noch zu
fügren, daß fie im ihrer gar zu ſtrengen Nachfolge
auf der Smith’fchen Richtung feine thatfächlichen Abwege
werden.
Es if, um nur auf eins von vielen Beifpielen bin
zuweifen, eins der gültigften Dogmen modernfter Volls⸗
wirthihaft, daß principiell der Staat in erfter Reihe bei
irgendwelchen induftriellen Unternehmen gar nicht, in
zweiter dagegen wol durch indirecte Unterftilgungen, z. B.
Zinsgarantien u. ſ. w., ſich betheiligen folle. Was war
nun in hundert und aber Hundert Tällen das praltifche
Refultat? Ueberaus nützliche, doch nicht fofort zinfende
Unternehmungen kamen gar nicht ober verfpätet, ober
nicht aus erfter und zunächſt betheiligter Hand zu Stande;
oder aber noch gewöhnlicher: die Gefahren und Nachtheile
zweifelhafter, doch von gejchidten Faiſeurs betriebener Unter
nehmungen fielen zu Laften des Staats, d. h. der Steuer-
träger. Es wurden dadurch wieder ganze Klaſſen zum
Schaden der Geſammtheit bevorrechtet, prämürt, gleich
ſam privilegirt, und es wucherten bei ihnen Prätenfionen
auf, welche nicht felten alles überfteigen, was ehemals,
wenn auch auf theilmeife andern Gebieten oder boch unter
andern Formen, von den Feudalherren und Zünftlern in
Anſpruch genommen worden war. Gewiffe, in folden
Händen befindlihe und ſolchermaßen begünftigte Unter
nehmen warfen allerdings ihren Actionären und den Groß⸗
induftriellen koloſſale Gewinne mühlos in den Schos;
allein bezahlt wurden fie durch ebenſo Toloffale Dpfer bes
Gemeinwefens, des Staats, ber Gefimmtgeib der Un⸗
bemittelten, während der auf diefe mittelbar herabträu-
felnde Bortheil ein verſchwindend geringer blieb. Selbft
eine große Schar derer, bie fich für liberal, fortfchrittlich,
volksthümlich nicht blos ausgeben, fondern fich felbft in
gutem Glauben dafür Halten, unterftüten, betreiben und
fördern folde Deanipulationen, Und nachher wundert
man fi) noch über Mistrauen, Argwohn, Berbitterung
der eigentlichen Arbeiter gegen die im focialen Leben Höher-
geftellten!
Iſt das Uebel erfannt, fo muß auch die Heilformel
dagegen gefunden werden. Das ift freilich die einfachfte
und natürlichfte Forderung, die fi an die Volkswirth⸗
fhaftslchre ftelt. Der wildefte Socialismns und rohefte
Communismus werden fonft durch folche Thatfachen fort-
während aufs neue herauögefordert und großgezogen.
Zrogdem verwünſcht man bie „jociale Frage”, die doc
nun einmal da ift, und verrennt ſich immer wieder in die
Einfeitigfeit der fogenannten Manchefterfchul-Theorie, als
ob man abfichtlich bewirken wolle, daß die extremften
jocialiftifchen und communiftifchen Forderungen aller Welt
über den Kopf wachen. Was treibt denn die Arbeiter
cohorten der Lafſalle'ſchen Doctrin in die Arme und ihre
zweifelhaften Führer in die Schleppträgerei der politifchen
Reaction? Doch wol vorzugsweife der Anblid jener Bei⸗
fpiele von Staateunterftügungen für bie Sroßinduftriellen,
die man der Kleininduftrie verweigert. Daß fie dabei von
— — — — —
Neuere Werke deutſcher Humoriſten. 313
der feudal⸗abſolutiſtiſchen Reaction unterſtützt werden, er⸗
Märt fi leicht nicht nur durch deren Rancune gegen die
neu emporkommenden induftriellen Feudalherren, ſondern
auch daraus, weil die Verwirklichung der Laſſalle'ſchen
Theorien faſt naturnothwendig die ſcheinbar auf die Maſſe
des Arbeiterſtandes übertragene Gewaltherrſchaft im Staate
in die Hände einzelner Führer legen und dem craſſeſten
Abſolutismus durch die Ochlofratie den Weg eben würde.
Iſt nun aber zu erwarten, daß bie aufgehetten Maſſen
ber „Arbeiter“ zu diefer Einficht gelangen, indem man
ihnen vordemonftrirt, daß das Manchefterfyften, wenn
aud) ohne fie, doch alles fr ſie, für ihr Beftes thue? Gewiß
nicht. Ebenfo kann ihre Mitwirkung nad; Schulze - De»
litzſch'ſchem Syftem, defien ganzer Natur und Anlage
zufolge, immer blos auf einen relativ engen Kreis bes
ſchwichtigend wirken; und immerhin blos beſchwichtigend,
nicht befriedigend. Um den tiefiten ſocialen Erſchütterun⸗
gen wirkſam begegnen zu können, wird vielmehr, fo fcheint
6, der bisherige Weg ganz verlafien werben müſſen.
Ein neuer Adam Smith thut uns notd — dem Aus-
druck dieſes Bedürfniſſes begegnet man in allen Sreifen,
welche eimerfeits die Löſung der focialen Frage neben und
mit der politifchen als das anfehen, was fie in That und
Bahrheit ift, als bie nothwendige Ergänzung der Eultur-
aufgabe unferer Gegenwart, ohne welche eine organifche
Entwidelung bes Bölfer- und Staatslebens gar nicht ge=
dacht werden Tann; und welche andererfeits mit dem „Volk“
und der „Freiheit“ nicht Begriffe verbinden, deren täu«
ſchende Handhabung blos ephemeren Parteitendenzen dienen
jol. Die Stärke dieſes Bedürfniſſes hat vielleicht das
meifte dazu beigetragen, daß, nachdem bie Periode der
ſocialen, foctalpofitifchen und theokratiſch myſtiſchen Utopien
mehr glanzvoller als geiftestiefer und ernfter franzöſiſcher
Lehrer der Gefellfchaftswiffenfchaften durch bie Praxis der
Beltlcbensgärige widerlegt, zu überwundenen Standpunf«
ten geworden ift, Stuart Dil und Carey don den ent-
gegengefegten Standpunkten der Socialwifjenfchaft aus
als Begründer einer neuen Aera auf das Schild gehoben
worden find. Damit fol durdjaus nicht in Abrede ge⸗
Rellt werden, dag in den Aufitellungen beider ganz ent«
ſchiedene reformatoriſche Elemente für bie Theorie des
Geſellſchaftslebens vorhanden find. Allein ebenfo wenig
darf man vergefien, daß beide, der Engländer Stuart
\
Mill wie der Amerilaner Carey, auch genau an dem
Boden baften, aus dem fie herausgewachfen find. Diefe
Bemerkung Tann man, eben nad) dem Charakter der
Geſellſchaftswiſſenſchaft, durchaus nicht als Vorwurf be-
traten. Wenn bei jeder andern Wiffenfchaft die then»
retifche Forderung geftellt werden mag, fie foll fein Bater-
land haben, fo gilt dies, wie fchon berührt wurde, bei
der theoretifchen Geſellſchaftswiſſenſchaft nur in befchränf.
tem Maße, bei der praftifchen vollends blos bedingunge-
weife. Der Subjectivismus Mill's wie Carey's Hat fein
gutes Recht. Allein cbendeshalb kann auch die progrefjive
deutjche Bollswirthfchaft die Lehren Stuart Mill's und
vollends Carey's ſich blos durch praftifche Anwendung
aneignen, und da beide Schriftfteller keineswegs eine leichte
und fofort faßliche Darftellungsweife Haben, beide aud),
aus ihrem realiftifchen Grundtypus heraus und in Rüd-
fiht auf ihre praftifchen Ziele, bei den letzten Confequen»
zen von einer Reihe ihrer Doctrinen Rückſchwenkungen
machen, jo fann es einerfeits nicht fehlen, daß die deut⸗
ſchen Volkswirthſchaftslehrer (im weitern Sinne) über den
objectiven Werth beider Koryphäen, andererſeits über bie
praftifche Bedentfamfeit ihrer Syftente, noch ganz ab-
gejehen von deren verfchiedente, Wegen und Zeitpunkten,
fehr divergirende Anfichten verfeten. Die SKriti der
Mill'ſchen und Carey'ſchen Princigien, die Erörterung
ihrer fubjectiven Anwendbarkeit auf bie Praxis ber ge=
gebenen Lebensverhältniffe, und der deutfchen in8befondere,
bilben denn aud ein Hauptthema der eigentlich focial-
wiſſenſchaftlichen Literatur in den letzten Jahren: .
Zwei Hauptmomente find es befonders, um welche
fi die Discuffion bewegt. Während von der einen Seite _
für Stuart Mil die beffere Logik in der Durchführung "
feines Syſtems in Anſpruch genommen wird, befämpft‘
man von der andern Seite, im Intereſſe Carey's, dieſen
angeblichen Vorzug als ein Haupthinderniß der Anwend⸗
barkeit des Mil’ichen-Syftems in der vollswirthfchaftlichen
Praxis. Dagegen wird aber, und felbft für den Uns
befangenften nicht ohne überzeugenden Eindrud, geltend
gemacht, daß durch Carey einem volkswirthſchaftlichen
Optimismus, welder die grümblichere fociale Reform
zurüdzufchieben trachte, Thor und Thür nur allzu weit
geöffnet werde. Aurelio Buddeus.
(Der Beſchluß folgt in der nächſten Nummer.)
— —
Uenere Werke deutſcher Humoriſten.
Bir ſprechen ausdrücklich von „Werken deutſcher Hu-
moriſten“ und nicht von „humoriſtifchen Werken“. Letztere
Bezeichnung würde zu einem der nachfolgenden Bücher
siht gut flimmen. Und doch möchten wir demfelben
kinen andern Pla anweifen, dba es von einem unſerer
bewährteften Humoriften herrührt und das fprechendfte
Zengniß für das gereifte Talent des Verfaſſers ablegt.
Unfere Kritik umfaßt Bücher von Hadländer, W.
Roabe, Graf Ulrich) Baudiffin, W. Grothe und U. von
Binterfeld. Wer in einer humoriftifchen Dichtung nur
das Grotesk⸗Komiſche liebt, der möchte in vorliegenden
Derlen mit Ausnahme eines einzigen kaum feine Rech
zung finden. Diefes eine möge bie Reihe eröffnen. ,
1870. 2. j
1. Theolog und Komddiant. Humoriftifch »Lomifcher Roman
von Wilhelm Grothe. Berlin, Grothe. 8. 1 Thlr.
Schon ber Titel deutet Gegenfäge an, die, derb aus⸗
gebentet, dem Humor in draftifcher Form die größte Frei-
heit geftatten.
dem Weiche der Lampen und ber Schminke.“ Wir wer
den Hinter die Couliſſen geführt, doch nur, um auf den
Bretern, welche die Welt bedeuten, Perfonen und Gegen-
ftände höchſt ungeſchminkt zu fehen. Der Berfafler ver-
fteht fich auf die „Banden“ und „Schmieren“ ; mit lachen⸗
dem Munde erzählt er uns, ohne indeß das Draftifche
bis zur Uebertreibung zu fleigern. Die komiſche Wirkung
liegt zugleih in der Handlung und in Art und Weile
40
Das Weitere thut der Hinweis: „Aus .
514
der Darſtellung. Grothe ftellt ben fittlichen Ernſt bes
wilfenfchaftlich gebildeten jungen Mannes der Leichtfertig-
Yeit und Halbbildung des Bagabunden- und Komödianten-
thums entgegen. Die Handlung glänzt nicht gerade
durch befondere Fülle, fie genügt aber für den Umfang
des mäßig ſtarken Bude. Ein junger Theolog wird
durch eine wunberliche Teftamentsclaufel gezwungen, ein
Fahr Lang den Director einer Wanbdertruppe zu fpies
In. Er benimmt fih in dem Neiche der Rampen und
Schminke natürlich wie ein etwas verfchrobener, für Sitt⸗
lichkeit begeifterter Heiliger. Vorherſagen läßt fi, daß
er ber trübjeligften Erfahrungen mit ſchwindelhaften Agen-
ten, talentlofen Helden, koketten Soubretten, vorlauten
Naturburfchen, graugemorbenen erſten Liebhabern, pap⸗
penen Bruftharnifchen, fteifleinenen Helmen und — be:
fecten fpanifchen Wänden in dem gemeinfchaftlichen Ans
Heibezimmer genug zu machen haben wird. Natürlich nur
zu unferer Freude. Denn wir lernen auf feine Koſten von
diefen hochedeln Menſchen und Gegenftänden die wahrften
Brachteremplare kennen und, wohlgemerkt, damit wir ben
Ausbund der Tugend nicht vermifjen, auch den mit dem
Vorſchuſſe regelmäßig „durchbrennenden“ fiebenten oder
achten Liebhaber. D über bie renden eines „Schmieren-
Directors”! Und einer Aufführung der „Lenore” wohnen
wir bei, wie fie allerdings hier und da im lieben Vater⸗
Iande noch nicht ganz zu den Unmöglicjkeiten gehört. In
Summa: wer in dem Buche nicht mehr fucht, ald darin
zu finden, ber wird fi mit ihm ein Stündchen die Zeit
leicht vertreiben Können. Leiftet der Berfafler auf dem
Gebiete der Humoriftil anch nicht gerade das Höchſte, fo
meinen wir and, daß er es mit diefem Buche nicht lei
fien wollte
Höhern Zielen ftrebten die drei andern der genannten
Berfafler nach und fie erreichten auch höhere Ziele.
2. Ab Telfan oder die Heimlehr vom Meondgebirge. Ein
Roman von Wilhelm Raabe. Drei Bände. Stuttgart,
E. Hallberger. 1868. ®r. 8. 3 Thlr.
Raabe erfreut fih durch eine Reihe gern gelefener
Romane eines beftimmten Rufs als Humorift. Er machte
fi) urplöglich geltend und erwedte Hoffnungen, die fi)
mit jedem neuen Werke fteigern follten. Erfreulich für
den Sritifer, wenn er bei dem neuen Werke eines bewähr-
ten Autors zwifchen den Zeilen nichts von einem Rück⸗
Schritt oder Seitenfchritt defjelben leſen zu laſſen braucht.
Diefes Buch wird zwar nicht jedermanns Sache fein.
Raabe fchreibt nicht für die gedankenlofe Maſſe, und in
diefem Buche fchrieb er für fie um fo weniger, als er
darin vielmehr gegen einen gewiſſen Bildungsdünkel offen
auftritt. Aber ſeine Darftellungsweife hat nichts Abſtoßen⸗
des, nnd fie wird dem Heimkehrenden vom Mondgebirge
manchen Freund gewinnen. Das Borrecht des Humori-
ften geftattet die Wahl eines abfonderlichen Stoffe, es
geftattet ihm ferner, ſich dreift über Berge und Meere
‚hinwegzufegen, gleichviel ob fie vorhanden find oder ob
nicht. Von diefem Vorrechte macht Raabe den weiteften
Gebrauch, denn er wählt zum Helden feines Romans,
man höre und ſtaune — einen Sklaven aus Afrika! Einen
Sklaven, aber keinen zähnefletfchenden Neger, fondern
einen aus zwölfjähriger Gefangenſchaft in die Heimat
zurüdtehrenden Deutſchen. Raabe kennt Abu Telfan im
Neuere Werke deutſcher Hu moriſten.
Tumurkielande unfern des Mondgebirgs, artigerweiſe aber,
um uns auf der Karte nicht unnöthigerweiſe fuchen zu
laſſen, verwahrt er ſich: „Ich bitte ganz gehorſamſt, weder
den Ort Abu Telfan, noch das Tumurkieland auf der
Karte von Afrifa zu fuchen, und was das Mondgebirge
anbetrifft, jo weiß ein jeder ebenfo gut wie ich, daß die
Entdeder durchaus noch nicht einig find, ob fie daſſelbe
wirklich entdedt haben.‘
Den Humoriften Bindert nichts, gleichwol an baffelbe
unbedingt zu glauben. Ihn hindert ferner nichts, einen
relegirten Studioſus der Gottesgelahrtheit auf allerlei
Kreuz⸗ und Duerzügen unter die Hände der Dame Kulla
Gulla zu bringen, ihn mit Fußtritten aller Art tractiren
zu laflen, bis er fi reif fürs Barbarenthum erweif,
und ihn darauf gnädig zur höchften Verwunderung aller
Berwandten, Freunde, Nachbarn und dergleichen einen und
einen halben Büchſenſchuß weftlich von der berühmten Stadt
Nippenburg im Dorfe Bumsdorf anf ber heimatlichen
Scholle wieder abzufegen, freilich mit der etwas unheim⸗
lihen Frage: „Wie nun weiter?” Die allmühliche Wieder:
erwedung des Sklaven aus barbarifcher Stumpfheit und
Geiftesöde bis zur Nutzbarmachung feiner immerhin bes
deutenden Fähigkeiten. im Dienfte der Civilifation bildet
bie Aufgabe, welche der Verſaſſer nicht wur ftofflich in
einer |pannenden Erzählung, fondern mehr noch in zu.
teeffender Charakteriftit der vielen Perjönlichfeiten humo⸗
viftifch geläft Hat. Ex bezeichnet fein Buch als ein nicht
in Einem luftigen Sommer entftandenes Werl. Das
merkt der Lefer an feiner oft füßfauern Miene. Ein
bandwerlsmäßig gefchriebenes Buch ift es eben nicht, fon«
dern eine durch und durch abfonderliche Dichtung, bei
welcher Kopf und Herz des Berfaffers gleicherweife bes
theiligt waren. Wusgelafienes Lachen foll die Geſchichte
nicht hervorrufen, aber das flille Lächeln des Weiſen.
Und der wahre Weife unter allen den bumsdorfer, nippen«
burger und hauptſtädtiſchen Größen, den berühmten immer
und ewig ind Koptifche vertieften Profeflor Reihenſchlager
nicht ausgenommen, bleibt doc unfer guter. Freund aus
dem Tumurlieland, der relegirte Studiofus der Gottes⸗
gelahrtheit, Hr. Leonhard Hagebucher. Es ift um Abn
Zelfan und um das Mondgebirge ein eigenea Ding.
Diefes Tiegt nicht immer in Afrika, fondern oft um Nip⸗
penburg und Bumsdorf, und Abu Telfan benennt ſich
mehr als eine Hauptitadt. Ach und wie viele der Höchſt⸗
civilifirten feufzen nicht unter der Herrfchaft einer Kulla
Gulla, fie wiffen nur nit, daß diefe Madame Kulla
Gulla ihre eigene Eitelfeit, Selbftüberhebung und Unfrei-
heit bedeutet! Weber den humaniſtiſchen Zwed feines Buch
laſſen wir fchlieglih den Verfaſſer felbft reflectiren mit
Worten, welche er bei Gelegenheit der Borlefung feines Hel-
den über das Tumurkieland vor dem hauptftäbtiichen Pu-
blikum ausſpricht:
Hier Hatte fi jemand durch viel Dreck und Blut, durch
ſehr unfolide und ungeordnete Verhältniſſe unter Türken, Moh⸗
ven und Heiden aller Schattirungen wader durchgeſchlagen und
brachte aus der grimmigften Stlaverei, der heillofeiten Ernie⸗
drigung einen folchen Hauch der Freiheit in dieſe fo rationell
geordnete Gewöhnlichkeit mit, daß das philifterhaftefte Selbſt⸗
gefühl darob mit einem bangen Efel und Ueberdruß und bei
den m Naturen mit einem dunfeln Schmerz in Widerſtreit
gerieth. |
.
Neuere Werke deutfher Humoriſten.
8. Rouncburger Myfterien.” Humoriftiſcher Roman von Graf
Uri Baudifſſin. Drei Bünde Stuttgart, Kröner.
1869. 8. 4 Thir.
Ein glüdlicher Verſuch, das Thema ber „Zärtlichen
Berwandten” in noveliftifcher Form zu behandeln. Graf
Richard Werneberg dat von feinem Vater nicht nur Gitter
m Schweden von unermeßlichem Werth, ſondern aud) den
Widerwillen gegen den Stammflg feiner Bäter, das Schloß
Ronneburg, geerbt. Ex ift daher überall zu finden, in
Rußland, Schweden, Kleinaften, nur nicht in Deutfd)-
land. Seine näthften Verwandten, Couſins nnd Cou⸗
finen, kennt er nicht; aber fie kennen ihn, fie betrachten
ihn als ihre irdiſche Borfehung und verfolgen ihm überall
hin mit Bettelbriefen, da fie ſich zumeift in deiperaten
Berhältniffen befinden. Er lieſt die Briefe, Tieft fie auch
nicht; er unterftügt, unterſtützt auch nicht; er ärgert fidh,
oder and) nicht — bis er endlich, fatt und müde der fleten
Beläftigungen, einen nach dem andern auf Schloß Ronne-
burg ſchickt, in das Familienaſyl. Bald fiten allda ihrer
ſechs, zwei Männlein und vier Weiblein, die zärtlichiten
Berwandten, nad Gutdünken und Laune wirthichaftend.
Ratürlich gleicht die Zärtlichkeit der Lieben der zwiſchen
Kate und Hund; das hat der Graf vorhergefehen, und
er iſt malicid8 genug, den lieben Verwandten jeden mög⸗
fichen gegenfeltigen Uerger von Herzen zu gönnen. Der
Graf ift alt, ohne directe Erben (zwei Söhne find ihm
geftorben, ber ältere nachdem er ſich mit einem Bürger⸗
mädchen verheiratet und eine Tochter hinterlaffen Hatte,
welche ex, ber alte Graf, gleichfalls für geftorben hält).
Da guartiert er fich plöglich felbft incognito als lieber
Better unter der Maske eines derben Seekapitäns auf
Schloß Ronneburg ein, um bie lieben Berwandten zu
verfaferben einzufegen. Begreiflichermweife zeigt fich bie
Sippe der ſechs von dem Eindringlinge fehr wenig erbaut,
er aber noch weniger von ihr. Zum Glück iſt da noch
ein fiebenter, von der Sippe feines bitrgerlichen Namens
wegen Geringgefchägter, ein junger talentvollex Landſchafts⸗
gürtner, welcher auf Betrieb des gräflichen Intendanten
atit der Berbeflerumg ber Parkanlagen befchäftigt if. Dies
fem wendet fi) die Theilnahme des Grafen zu, und
er geht ſchließlich — dazwifchenliegende Berwidelungen
übergehen wir — als Sieger mit der Erbſchaft von Mil-
lionen hervor, beirathet die wiebergefundene Enkelin des
Grafen, löſt das Familienafyl auf und gibt Schloß Ronne-
burg feiner nrjprünglichen Beſtimmung zurück.
Das Thema, fo viel wird aus dieſer Inhaltsangabe
erfichtlich fein, gewährt dem Novelliften nadı beiden Sei-
ten, nach dem des Ernftes und dem bed Scherzes, weiten
Spielraum. Graf Bandiffin wählte nicht die Seite des
Scherzes auf Koſten des Ernſtes; mag er felbft feinen
Roman einen „humoriftifchen” nennen, doc würde der
Leſer, der nur feine Hoffnung auf Scenen der Ausgelaſſen⸗
beit fett, fich etwas enttäuſcht fühlen. Ein Banptverbienft
des Berfafjers finden mir in ber Zeichnung der Perfonen.
Sie tragen beftimmte, feharfe Züge, ftreifen aber nicht
en bie Caricatur, eine Yigur, die des wirklichen See⸗
Topitäns, ausgenommen, in welcher der Verfaſſer die Far⸗
ben doch wol etwas zu braftifh auftrug. Baudiſſin hat
diefe Arbeit feiner Feder gewiß nicht jo ſchwer abgerun-
| die Gefahr
315
gen, wie Raabe die vorhergenannte ber feinigen; trog ber
fi aber an einzelnen Stellen zu fehr bervorbrängenden
epifobenhaften Breite wird ſich der Leſer bie Einweihung
in die ronneburger Myſterien gern gefallen Taffen. Zur
Entfhuldigung der ab und zu etwas loſen Schürzung
bedient fd der Berfaffer der Ausrede, ihm fei das Ma⸗
nufeript heftweiſe aus Schweben zugegangen, ſodaß er
wegen bed Verlaufs der Geſchichte Yeine Verantwortung
trage: eine höchſt glüdliche Ausrede, nur möchten wir
ihn bitten, das Anreden des Lejerd und die Berathung
mit ihm wegen des weitern Berlaufs nicht zur Mar
nier werben zu laſſen. Der Zweck, gelegentlich einige
Geitenhiebe auf die Berfafler padender Romane zu füh-
ren, leuchtet ung fehr wohl ein, ebenfo, daf ein Humorift
ohne eine beſtimmte Manier leicht blaß oder farblos er-
ſcheint. Bei einem ſchnell producirenden Dichter ermübdet
aber die Manier ſchneller, als er es felbft glaubt. Das
bat ſelbſt Boz erfahren. Und um uns an das Nächſt⸗
liegende zu halten, aus fehr vielen Kritifen über Raabe
ift deutlich heranszulefen, wie feine fpätern Werke eben
feiner „Manier wegen ben frühern entfchieden nachitehen.
4. Zwölf Zettel. Bon F. W. Hadlünber Zwei Bünde.
Stuttgart, ©. Hallberger. 1868. 8. 2 Thlr.
Diefes 8 wegen faßten wir bie Ueberſchrift bed
Artikels in oben er Weiſe. Ein eigentlich humo⸗
riſtiſcher Roman find die 78wölf Zettel” nicht, fie ftam-
men aber von einem unferer bekiebteften Erzähler und fie
zählen zu dem Werthoollften, was wir aus bem reichen
Schatze des trefflihen Humoriften kennen "gelernt haben.
Da iſt die gleiche Sicherheit in ber Anlage wie in der
Durchführung, die gleiche Geftlligkeit in der Motivixung
u | wie im Stil. Die Handlung wäre vieleiht nicht ganz.
Andiren und den würdigften unter. ihnen zı feinem Uni⸗
frei von Unwahrfcheinlichkeiten, wenn eine weniger ger -
wandte Feder fich ihrer bemächtigt hätte; unter den Hän⸗
den Hadländer’s aber erſcheint ſelbſt das Gewagte ganz
natürlich. Der Titel gehört zu denen, bei welchen ſich
der Leſer fo gut wie nichts denken kann; darin Liegt oft
Fe ben Novelliiten, die Erwartungen des
Leſers Hinterbrein nicht bedeutend genug befriedigen zu
können. Hadländer befriedigt aber die Srwartungen voll»
auf. Zwei Schwindler, welche kein allzu großes gegen-
ſeitiges Vertrauen befigen, deponiven ihr gemeinfchaftliches
Bermögen bei einem Bankier, den Schuldfchein des Ban⸗
tier aber übergeben fie einem Notar in Wien und die
Quittung des Notars zerfchneiden fie im zwölf Theile,
von denen jeder ber beiben ſechs an fih nimmt. Die
Abſicht leuchtet ein; da je ſechs Zettel nur zufammen-
hangsloſe Silben enthalten, fo haben fich beide gegenfeitig
gefichert, damit nicht der.eine hinter dem Rüden des an-
dern ſich des Schuldfcheine und damit auch des Geldes
bemäcdhtige. Der Notar ift angewiefen, den Schulbfchein
nur gegen Ueberreihung ſämmtlicher zwölf Zettel zu ver⸗
abfolgen. Der eine ber beiden ermordet nun den andern,
gelangt damit aber doch nicht in den Befig der ſechs, die
feinigen ergänzenden Zettel, da der Ermorbete die Brief
tafche mit den Zetteln im letten Moment von fi ge
worfen. Theils nun die Jagd nad den Zetteln — denn
and) der Bankier, deflen Glück zumeift durch die bedeu-
tende Geldeinlage gegründet ift, intereſſirt ſich begreiflicher-
weiſe für die Zettel außerordentlich —, theild die Entzif-
40 *
316 Neuere Werte beutfher Humoriften.
ferung bes Geheimniffes feitens berjenigen, in deren Hänbe
bie ſechs Zettel des Ermordeten durch Zufall gefpielt wur-
den, bildet die Verwickelung ber höchſt fpannenden Ge-
ſchichte. Daß ſich die Charafterzeihnung der Hanbelnden
durch Einfachheit und Wahrheit auszeichnet, brauchen wir
faum zu verfihern. Ein Cabinetftüd der Sauberkeit und
Gefälligleit wie die Marquiſe von Reveillot ift die Frucht
eines reifen Talents, dem freilich der gefellichaftliche
Schliff zuweilen über originelle Befonberheit, nicht aber
über bie Gediegenheit einer inhaltsvollen Unterhaltung
gehen mag.
Wir fchliegen hieran ein Sammelwerk defjelben Ver⸗
faffers:
5. Eigene und fremde Welt. Bon F. W. Hadländer. Zwei
Bände, Stuttgart, Krabbe. 1868. 8. 2 Thlr.
Der erfte Band betitelt ſich: „Scherz und Ernſt aus
der Weltausftellung”, ber zweite: „Wahrheit und Dich⸗
tung”. Dort gibt und Hadländer nicht gerade eine fyfte-
matifche Befchreibung der parifer Weltausitellung, fondern
eher eine Schilderung bes parifer Lebens während ber
Ausftelung in und außerhalb derſelben. Leicht hingewor⸗
fen feffeln diefe Skizzen auch noch jett, nachdem das
Intereffe an dem Weltereigniffe ziemlich erlofchen. Der
Feerie „Aſchenbrödel“ im Theätre du Chätelet widmet er
nicht weniger als 50 Seiten, eine Aufmerkſamkeit, bie
er bem „Alchenbröbel” im Bictoriatheater zu Berlin wol
nicht beweifen möchte, felbft wenn e8 daſſelbe wäre und
auch im äußern Pomp dem parifer Vorbild wenig nad)-
fände, Den erften Band befchließt er mit einer „Welt
ausftellungs-Novelle”, „Die Gräfin Patatzky“ betitelt. Ein
neue8 Genre von Novellen wollte er damit ſchwerlich be»
gründen. Etwas übermiüthig geifelt er da8 Gebaren deut⸗
scher Philifter in der Weltftadt, dem Scherze aber den
Ernft beimifchend, indem er eine in Ungnade gefallene
polnische Gräfin durch ben Zaren wieder zu Gnaden auf-
nehmen läßt.
Im zweiten Bande fefleln die Heinen Gefchichten:
„Eine Weihnachtsgeſchichte“, „Heidehaus“, „Zwiſchen zwei
Regen“, durch den rührenden, elegiſchen Ton; zwei an⸗
dere: „Trouville“ und „Am Hofe zu Japan“ ergötzen,
letztere als Perſiflage der kleinlichen Ränkeſucht hochgeſtell⸗
ter Hofbeamten. Im der Skizze: „Die Bucht des Todes
ober das Krolodilgeftade”, gipfelt der Effect in ber Auf-
löſung der Spannung in nichts. Eine Gefchichte ohne
Ende, eine Gefhichte, zu welcher man bie Erfindung
eines Schlufjes als Preisanfgabe ftellen könnte.
Als Tetten der Humoriften führen wir U. von Win-
terfeld mit zmei Romanen vor:
6. Der Winkelſchreiber. Humorifiifhder Roman von A. von
neh Drei Bände. Jena, Eoftenoble. 1869. 8.
r.
7. Fauatiker der Ruhe. Komiſcher Roman von A. von Win⸗
terfeld. Bier Bände. Leipzig, Dürr. 1869. 8. 5 Thlr.
Gute Laune Hat dem beliebten Erzähler die Feder ge⸗
führt. Wir würden uns ihrer noch mehr freuen, wenn
ein humoriſtiſcher oder fomifcher Roman gleich einem hiſto⸗
riſchen oder focial=politifchen nicht ſchlechterdings zu drei
oder vier Bänden ausgedehnt werden müßte Unfehlbar
verirrt fich der Humoriſt bei dem Deftreben, die dor»
Ichriftsmäßige Seitenzahl zu erreichen, entweder in for
cirte Situationen oder in Wiederholungen Tomifch fein
follender Schlagwörter und Wendungen. - Der Titel des
erftern Romans erflärt fi felbft, der des letztern be⸗
dürfte wol einer Erflärung. „Ein Fanatiker der Ruhe, fagt
der Berfaffer, „iit ein Sanguinifer, ber danach ringt,
ein Phlegmatifer zu werden, alfo nad) etwas Unmöglichem,
denn mit bdemfelben Recht könnte fi) ein Chemiler die
Aufgabe ftellen, ein Iuftig prafielndes Feuer in träge
fließendes Waſſer zu verwandeln.” Ob der Leſer durch
diefe Erklärung vollftändig befriedigt wird, laffen wir
dahingeftellt. „ebenfalls ift das Beftreben gerade des
geiftig untergeordneten, in kleinlichen Berhäftnifien wirken⸗
den Mannes, es zu etmas zu bringen und von biejem
Etwas den Heft des Lebens in Ruhe zu zehren, ein ganz
natürliches. Daß zu dem fogenannten „fid) zur Ruhe
ſetzen“ und als Rentier die Zeit in Ruhe zu verbringen,
ein eigener Charakter gehört, ift wahr; ſchon Johann,
ber muntere Geifenfieder, machte darin Erfahrungen,
wenn auch andere als Winterfeld's Materialwaarenhändler
Tliedermüller und Conditor Schellenberg.
Inwieweit diefe beiden echten berliner Kinder berufen
find, Hanptrepräfentanten der Fanatiler ber Ruhe abzu⸗
geben, mag der Verfaſſer felbft verantworten. Er bes
müht ſich wenigftens veblich, durch drollige Berwidelungen
und komiſche Situationen die Geiftesarmuth der beiden
Helden erträglich zu machen, und hütet fich vorforglich, im
bie Gefellfehaft ber beiden andern als günzlich fade Per-
fönlichkeiten einzuführen. Auch wirft er uns fortwährend
„Knallerbſen“ oder „Du ſollſt und mußt lachen” an den
Kopf. Da fich aber ber fomifche Roman „Fanatiker der
Ruhe” zu dem Kumoriftifchen „Der Winkelſchreiber“ un«
gefähr verhält wie eine Bofle zum Luftfpiel, fo kommt
uns bei lesterm die Freude über die Handlung und bie
Handelnden weit mehr als bei erfterm vom Herzen, und
während wir dort mehr und mehr gezwungen lachen, laſſen
wir uns bier weit ummittelbarer durch die humoriſtiſche
Wirkung fortreißen. Wer das berliner Pflafter kennt,
wird fih an den Localjhilderungen weidlich ergötzen,
Kenntniß deffelben ift aber zum vollen Genuß der Schil⸗
derungen erforderlich. Dem „Winkelſchreiber“ können wir
den leifen Vorwurf einer gewiffen Breite nicht erfparen;
ein Stoff, welcher zu dem gleichnamigen Luftfpiel unfers
Autor ausreicht, mußte, wie gejagt, zu einem breibän-
digen Roman ausgedehnt werden. Dies veranlaßt den
Berfaffer, den Schwerpunlt des Intereſſes an der Hand⸗
lung bier und da zu verrüden und 3.2. in den erften
Kapiteln die Schilderung des Junggeſellenlebens Helfreich’s
und fpäter die Eiferfuchtsfcenen zwifchen der Commerzien⸗
räthin und ihrem Gatten in einer Weife zu behandeln,
al8 wären fie die Hauptſache. Im Mittelpunkte fteht,
wie fchon der Titel befagt, der Winkeladvocat Knifflich,
und alles, was mit biefem zufammenhängt, was biefen
berührt und was diefen treibt, auf die Handlung beſtim⸗
mend einzuwirken, ift mit einer Behaglichkeit, zuweilen
freilich auch mit einer etwas vedfeligen Wohlgefälligkeit
geichildert, welche uns in bie heiterfte Laune verſetzt.
Wir Hungern und dürften gern mit ihm, wir fertigen
unbequeme Clienten ab und lafien uns abfertigen, wir
fühlen alle Heinen Leiden des menfchlichen Lebens, bie
Sammelwerfe und Ueberfegungen. 317
Noth, die Schäbigfeit, den Geldmangel, und wie fie fonft
heißen mögen, nad), wir ergögen uns fogar an ihnen,
da fie und originell und witig geboten werden. Hin⸗
ſichtlich der Form, fpeciel der Echreibweife, muß man
einem Humoriften ſchon eiwwa® dur bie Finger ſehen.
Wir wilrden über gewiſſe draftifche Wörter auch kein
Wort verlieren, wenn nicht gerade von untergeordneten
Schriftſtellern, namentlich auf der Poſſenbühne, die komiſche
Wirlung zumeift in plebejiſchen Ausdruden gefucht und
dadurch felbft beſſere Schriftfteller verleitet würden, bem
gewöhnlichen Gef mad unnöthige Conceffionen zu machen.
Dan kann der bumoriftifchen Yaune immerhin etivas die
Zügel ſchießen Laffen, ohne daß man glaubt, den Leſer
in jeber Minute „ankrähen“, „anpuften“ und „anprufchen”
zu müffen.
Emil Müller- Samswegen.
Sammelwerke und Veberfegungen.
„
- Englischer Liederfhag ans britiſchen und amerilaniſchen 33
teen von Karl Elze. Mit einem biographiſchen Verzeich⸗
niß der Berfaffer. Filnfte verbefferte und vermehrte Aufe
Tage. Halle, Barthel. 1869. 8. 1 Thlr. 10 Nor.
2. Kronen aus Italiens Dichterwalde. Ueberfegungen von
Sofepha von Hoffinger. Mit einem Anhange eigener
Dietungen. Halle, Barthel. 1869. 16. 1 Thlr.
3. Die zwei erften Gefänge von Dante's Hölle. Ueberfetzt und
befproden vom Friedrich Notter. Stuttgart, Schaber.
1869., ®r. 8. 1 Zhlr.
4. Das Leben ein Traum von Calberom be Ia Barca.
Ueberfegt von I. D. Gries. Mit dem Bildniß des Dich⸗
ters. Berlin, Nicolai. 1868. Gr. 16. 25 Nor.
Album ansländifcher Dichtung in vier Büchern: England,
Sranteeig, Serbien, Polen. Im deutfher Ueberfetung von
einig Nitfmann. Mit vier auf Stein gezeichneten
klaren von Strioweli. Danzig, Vertling.
Gr. 16. 1 Thlr.
Karl Elze’: Sammlung: „Englifcer Liederſchatz“
(Nr. 1), Hat ſich in Deutfchland bereits ein weites Ge-
biet erobert und dürfte kauin noch bei einem Verehrer
der engliſchen Literatur vermißt werden. Die Gedichte
find mit Geſchmadk ausgewählt, ein Umſtand, ber, foviel
ums erinnerlih, ‘bei Beſprechung früherer Anflagen nicht
minder ritfmend erwähnt wurde, wie die Art und Weife
der Anordnung. Es ift dies nämlich die ftoffliche, für
deutfche Leſer oßme Frage zwedmäßigfte, die auch in die»
fer fünften Auflage beibehalten worben ift. Elze Hat die
Zahl der Gedichte auch noch vermehrt und die iebens⸗
geſchichtlichen Nachrichten Hier und da vervolftändigt.
Eine Einfügung älterer Gedichte Hat nur da flattgefunden,
wo die planmäßige Reihenfolge diefelben offenbar ver⸗
mifjen ließ.
Sofepha von Hoffinger, welche und vor einigen
Yahren mit einer gefungenen Weberfegung von Dante’s
„Söttlicher Komödie” überrafchte, führt uns in ben „Kro«
nen aus Yaliens Dichterwalde“ (Mr. 2) in einer nicht
minder Lobenswerthen Webertragung, bie bei ber ziemlich
gewifienhaften Beibehaltung des oft fo ſchwierigen origi«
nalen Veremaßes von ihrem Fleiß und ihrer Hingabe
an die Sade zeugt, mehrere der herborragendften italie«
niſchen Dichter mit voraufgefchieten biographiſchen Be⸗
merfungen vor, darunter Leopardi, Filicaya, Petrarca,
Dante, Michel Angelo u. a. Daß dieſer letztere auch
Dichter war und zwar in dem Genre ber religiöfen
Sonette ziemlich bedeutend daſteht, wird vielleicht manche
unferer Leſer überrafchen. Die in einem Anhange beie
gefügten Originalgedichte der Ueberfegerin find dem In⸗
*
Halte der italieniſchen Dichtungen entſprechend, gedanlen ⸗
reich und zugleich formgewandi.
Notter’s Ueberfegung: „Die zwei erſten Gefänge
von Dante's Hölle“ (Mr. 3), der auf der gegenüber-
ftehenben Seite das Original Hinzugefügt ift, weicht in«
fofern von diefem letztern ab, al8 in ihr nach dem Vor⸗
gange von Stredfuß die weiblichen Reime mit den männ-
ug regelmäßig abwechfeln. Dante bebiente ſich befannt«
lich nur im einzelnen fräftigen Stellen bes männlichen
Reims. Wenn der fonft fo wadere Ueberfeger übrigens
in der Vorrede bie Behauptung aufftellt, daß ihm feine
Aufgabe dadurch ſchwieriger geworben fei, fo müſſen wir
befennen, daß wir entgegengefegter Anſicht find. Seine
Arbeit ift ihm dadurch weſentlich erleichtert worden.
Uebrigens Tann ſich diefe Meberfegung, in der allerdings
einzelne, vieleicht unvermeidliche Härten dem allgemeinen
Wohllaute einigen Abbruch, thun, dem beften der bereits
vorhandenen dreift zur Geite ftellen. Der angehängte
Commentar zeugt von ebenfo gründfichem deutfchen Fleiße
wie die Ueberfegung felbft.
Der Werth der Ueberjegung von Calderon's „Les
ben ein Traum“ durch Gries (Mr. 4) ift der ſchönen
Ausftattung des Gedichts Teineswegs entſprechend. Sie
ift fo gefünftelt und fteif, daß wir den Reiz eines poetie
ſchen Werts faft vollftändig in ihr vermiflen, und daß
es für etwaige Darfteller biefes berühmten Schauſpiels —
welches in nenefter Zeit hier und da wieder auf das
Repertoire gelangt ift — eine unmögliche Aufgabe fein
dürfte, dafjelbe in biefer Geftalt zu memoriven. Wir
era von Gries eine fliegendere Uebertragung erwarten
ürfen,
Im den Ueberfegungen, welche Nitſchmann's „Als
bum ausländif—her Dichtung“ (Nr. 5) enthält, herrſcht
Gewandtheit der Form und Klarheit des Ausbruds vor;
dafür find fie aber oft außerordentlich frei. Es ift in
ihnen weniger ber Wortlant als der Sinn, und oft nur
diefer allein wiedergegeben worben. Gie verdienten da⸗
her eher Nachdichtungen als Ueberſetzuugen genannt zu
werben, wenigftend gilt dies von vielen der englifchen
und franzöfiichen Webertragungen. Im einzelnen Fällen
hätte aud bie Wahl des Ausdruds eine poetifchere fein
nnen. Uebrigens werben fie der großen Leſerwelt, bie
feine vergleichende Kritit anſtellt, in ihrem anmuthigen
Gewande gewiß eine willfommene Gabe fein.
Wilhelm Andreä,
318 nn Feuilleton,
Feuilleton.
Engliſche Urtheiſe über neue Erſcheinungen der
deutſchen Literatur.
Ueber Reinhold Pauli's „Auffägen zur engliſchen Ge⸗
ſchichie⸗ ſagt die „Saturday Review” vom 16. April: „Das
gegenmärtige Zeitalter ift in einigen Hinfichten vorzugeweiſe das
der hiſtoriſchen Literatur. Man kann faft fagen, die Hiftorifche
Kritik fei in unferer Zeit erfunden worden; bie ungeheuern
und unentbehrlichen Borräthe von öffentlichen Ardiven und
Brivatcorrefpondenzen waren für die frühern Geſchlechter fo gut
wie nicht vorhanden. Man kann indeflen bezweifeln, ob- diejer -
Reihthum an geſchichtlichem Rohmaterial der literariſchen Un-
fterblichkeit der Geſchichtſchreiber förderlich fe. Die große,
nicht zu beherrſchende Maſſe bat eine am fich ſchon ſchwierige
Aufgabe nur um fo mehr erſchwert. Die neuen, dem Geſchicht⸗
ſchreiber anferlegten Bebingungen find gegenwärtig mit dem
Schliff, dem Ehenmaß, vor allem aber: mit der, dem dauernden
Ruhme durchaus. nothwendigen Kürze faR ganz unverträglich,
Gibbon wird ſtets gelejen werden; denn feine wunderbare Gabe
der Zufammenbrängung vertritt und erfegt ganze Bibliotheken.
Macaulay Hat zum Glück für feinen Ruhm blos ein Brud)-
fd Hinterlaffen; glaubt aber irgendjemand, daf die Nachwelt,
die mit ihren eigenen Intereſſen bejchäftigt fein wird und berem
Ohr die zeitgendifiichen Schriftfteller in Anſpruch nehmen wer-
ben, je Belt haben werde, Froude's zwolf Bände buchzulefen?
Mau wird -fle wohl zu Rathe ziehen, nicht aber lefen. Die
Hiſtoriker diefeg Beitalters werden fi) wahrfcheinfih mit dem
Amte des Sammelnd und Sichtens bes Materials für die der
künftigen Generation zu begnligen haben. Es ift daher ſchon
befriedigend, wenn wir einen hervorragenden Hiſtoriker finden,
ber im Stande iſt, etwas Züchtiges im Kleinen iu feiften, was
ihm möglichermeife durch fein eigenes Verdienſt einen dauernden
Platz im der ‚Literatur verfihaffen wird oder auch wicht, was
aber jedenfalls nicht durch feinen bloßen Umfaug, wie die alten
Mammuthe und Megatherien, im Kampf ums Dafein untexlie-
gen wird, Pauli ſcheint foldje Betrachtungen fehler vor. Augen
gehalten zu haben als die meiften feiner Zeitgenoffen. Seine
Kürze darf durchaus nicht einem Mangel an Fleiß beigemefien
werden; doch Find feine Werke niemals unmäßig lang. Am
wenigften ift dies mit dem eleganten Bande von Auffägen zur
engliſchen Geſchichte ber Kal, den wir kürzlich al® eine anmu⸗
thige Ergänzung zu wid gerer Arbeit von ihm erhalten haben.
Er if in der Auswahl von Epifoden aus den ereignißvollen
und maleriſchen Aunalen unfers Baterlandes glücklich gemeien.
Der Schwarze Prinz und Richard III. find die Gegenflände zweier
gebrängter und vortrefjliher Studien. Dies find Geftalten,
welche der Vergangenheit angehören; der Einfluß Heinrich’s VIII.
aber ift in unfern ftaatlihen und kirchlichen Einrichtungen im⸗
mer noch fühlbar, und Erörterungen nnd Entbdedungen der
jängften Zeit haben das Tebhaftefte Intereſſe an feiner Politik
und feinem Charakter von neuem wacd gerufen. Dieſe beiden
bilden das Thema eines der Panli’ichen Aufſätze; ein anderer
behandelt Heinrich's Berhältnig ‚gum Kaiſer Marimilian und
feine ande auf. die kaiſerliche Krone. aufi ſcheint
uns ein jehr unpartelifches Urtheil Über Heinrich's Charakter
zu fällen; er ift zu leidenſchaftslos, um von dem ſtürmiſchen
Parteigefühl grond beherrſcht zu werden, während er ale
dentſcher Kritiker natürlich Über der entſtellenden Atmoſphäre des
odium theologicum weit erhaben iſt. Er läßt Heinrich's große
Eigenſchaften volſlkommen gelten, erklärt ihn aber als aller fei⸗
nern und edlern Charalterzlige gänzlih bar. Das Weſentliche
eines andern überaus anziegenben Auffages, des über ©
Peter Carew, iſt den kürzlich veröffentlichten Caremw- Papieren ent-
nommen. Ein fharf- und feinfinniges Mimoire Eanning’s
zeugt von Pauli’e geigeln neuere Bolitif zu behandeln,
und der Band fchlieht fehr paſſend mit einer von Froſtigkeit
und Schmeidelei gleich fernen Lobrede auf den verflorbenen
„Prinz⸗Gemahl.“
„Das Werk «Die deutſchen Republikaner unter der fran⸗
zöſiſchen Republiky, von Jakob Benedey“, heißt es dann, „ver⸗
dankt ſein unſtreitiges Interefſe mehr dem Reize des Gegenſtan⸗
des als dem Geſchick des Verfaſſers, da feine Conſtruction unzu⸗
jammenhüngenb und fein Stilvon Einfdiebfeln überladen ift. Auch
ift das Werk zu fehr unter dem Einfluß perfönlihen Gefühls ge-
ſchrieben, da des Verfaſſers Bater einer ber -intereffanten aber
unglücklichen Männer geweſen — beren Verfahren er erzählt —,
welche von vornherein in eine faljche Stellung gerathen waren,
aus ber fie fih.unmöglid mit Ehren zu Sieben vermochten.
Wenn es irgendein Land in Europa gab, wo mit Recht das
erſte glänzende Verſprechen der Franzöſiſchen Revolution mit
Frohloden begrüßt werden konnte, fo war es das von Fürſten
und Prisftern überfüllte Tatholifche Deutfchland. Die Gebildet-
ften und vom ebelften Streben Befeelten bes Landes nahmen
eifrig Partei fir das, was die Sache der Freiheit fchien, doch
nur um der großen und unlösbaren Aufgabe zu begegnen, wie
Is fret werden könnten, ohne aufzuhören Deutjhe zu fein.
an Tann fi ſchwerlich eine beffemmendere Lage benfen ala
die, in welcher Georg Forfler und feine Freunde fich befanden —
entweder nämlich zu der unerträgliden Korruption, und dem
Stiliftand des alten Syſtems zurlidzufehren, oder ihre Natio⸗
nalität in der Franfreih8 aufgehen zu laffen und Pin mit den
Sraufamteiten der Schredenehersihaft zu identificiren. Sie
mählten den letztern Weg, deffen Thorheit und Unheil die Er-
fahrung bald deutlich madte; dog ift e8 die Frage, ob er nicht
unvermeidlich geworden war, Der interefjantefte Theil des
Venedey'ſchen Buchs ift feine Erzählung der Erlebniſſe Korfter’s
und feiner Genoſſen zu Mainz während der erfien franzöfiichen
Beſetzung und die Geſchichte der unglüdlichen und ruhmlofen
Sendung Forſter's nach Paris als Vertreter des neu einver⸗
leibten Departements der Republik. Die Iettere Hälfte feines
Werks, welche bauptfählich die einige Jahre jpäter erfolgten
Ereigniffe zu Koblenz, in welchen fein Bater eine wid“
tige Rolle geipielt Hat, behandelt, ift weniger anziehend, "und
zwar nit etwa al8 ob die Ereigniffe jelbft einen minder dra=
matifhen Charakter hätten, fondern weil das Romantiſche und
die Begeiflerung der erſten Zeit der franzöftfchen Republik ihren
abgeht. Benedey's Geſchichte ſchließt dramatifch genug mit der
Entdedung der deutfchen Republilaner, daß fie für das Katfer-
reich gearbeitet hatten, was ihre Ietten Illuſionen zerfiteute.
Als Beurtheiler der PVerfonen und ahnt bie er ſchil⸗
dert, fcheint er uns fehr unparteiiſch zu verfahren, ein firenges
Feſthalten an der Wahrheit mit einer edeln Wuslegung der
Motive und Undliche Pietät mit den Gefinnungen eines pa»
triotifchen Deutfchen vereinigt zu haben. In feiner Meinunge-
änßerung ift er Übrigens durchaus nicht zurückhaltend oder
wuhleriſch; fein Urtheil Über Goethe 3. B. lautet: «Goethe
Inat bei der reihften geifiigen Begabung ein herzensarmer
ann.» * !
‚ Ueber Guſtav Freytag's „Karl Mathy“ fagt das Blatt:
„Einer der uaen und beliebteften der heutigen demtfchen
Schriftſteller u! die Biographie eines Staatsmaunes gefchrieben,
beffen Einfluß auf bie Bolitit Süddeutſchlands fehr bedeutend
war und befjen Charakter wahrſcheinlich noch einige Zeit Gegen-
Rand des Streites fein wird. Gnſtav Freytag war ein alter
Frennd des verftorbenen Karl Mathy, und feine Ausſage zu
Suuften Mathy's kann daher freilich nur als die eines partei»
hen Zeugen aufgenommen werden. Sie bebarf allerdings
feiner empfehlung in literariſcher Hinſicht. Die große, Mathy's
perfönlichen Auf betreffende Frage ift die, melde Beweggründe
ihn wohl veranloßt haben mögen, nachdem er lange Flihrer der
liberalen Partei in Baden gemeſen und fich deshalb verbanmen
mußte, feine alten Genoffen zu verlaffen und während der Un-
ruhen von 1848 zu der Regierungspartei fiber ugehen, Nach
einer Anſicht war es Widerwille gegen die Aue! reitungen er«
teemer Demofraten, welcher ihn zu dem Schritte bewog; feine
frühern Berblindeten indeffen betradjteten ihn als einen feilen
Ueberläufer. Nach Freytag’ Schilderung von ihm könnte mar,
wenn man die Wärme bes Colorits in Abzug bringt, eine oder
die andere Anficht gelten laſſen. Mathy fheint nad ihm einen
Beuiffeton. 319
überfegten eigenfinnigen Kopf, eine große Fähigkeit für bie
Leitung der Gefhäfte und eine praktiſche Richtung befeffen zu
Haben, welche fid} leicht entweder zum Nerger, Über Unruhen
oder zu Rüdjichten auf fein perfönliches Iuterejje neigen konnte.
Welche auch immer feine Motive geweſen fein mögen, er erfuhr
da8 gewöhnliche Schiefal der Abtrlinnigen und murde caffirt,
als man feiner Dienfte nicht mehr bedurfte. Geudthigt, fih in
einer privaten Stellung zu ernähren, entfaltete er eine.demer»
tenswerthe Energie in feinem Kampfe mit ber Welt bie 1862,
wo bie Annahme eines freifinnigen Syſtems in Baden feinen
Rildruf Herbeiführte und er bald wieder ins Minifterium eintrat.
Im diefer Eigenfchaft fpielte er eine höchſt wichtige Rolle, da er
al8 leitender Gücfprecher der premfifchen Ullianz fid) auszeicnete
amd aller Wahrſcheinlichteit nach die von Baden während bes
Kriegs von 1866 und ſeitdem befolgte Politit leitete. Nach
Fregtag’6 preußiihem Gefichtspuntte bildet diefe Handlungsweife
natürlich Mathy’s Hauptanſpruch auf die Dankbarkeit des deut«
fen Bolts; Süddeurfland wird fie freilich anders beurtheilen.
Er farb im Januar 1868. Als Staatsmann waren FM
Fähigkeiten umbezweifelt, wenn es ihm auch an der nöthigen
BHantafie mangelte, um große Principien zu faſſen oder große
Bervegungen einzuleiten. Er war ein Staatsmann von dem
Typus, welder fi am beſten für comflitutionele Staaten in
ruhigen Zeiten eignet — ſiarr, troden, pofitiv, für bie Nüt-
tigkeit gefiunt und befondere gejchidt in finanziellen ragen;
fo entfernt wie möglich von der Art bes typiſchen Revolutionäre
und daher um fo mehr zu entihufdigen, daß er feine Barteifarbe
geändert. WIE Titerariihe Leiflung if Freytag's "Biographie
meifterhaft. Die trodenften Gegenftände werden interefjant ge»
macht, und diejenigen Stellen, welche unterhaltende Dinge ber
handeln, wiez.®. Mathy's Abenteuer während feiner Verbannung
in der Schweiz, find in der That unterhaltend.”
Ueber Fanny Lewald’s ade und wider bie rauen‘
fagt die „Saturday Review‘: „Ein Werk über die Erhebung
des weiblichen Geſchlechts von einer Dame, welche Fanim Ler
wald's Ruf für Geiftesftärke genießt, dürfte auf bem erfien
Blid ein wenig erſchredend ſcheinen, es ift aber in Wirklich
teit eine vernünftige und zeitgemäße Leiftung. Die öffentliche
Meinung in diefer Hinfiht if in Deutſchlaud nod fo zurüd,
daß die Bemühungen um eine Verbeſſerung der Lage ber Frauen
dort noch keine Befürchtung auflommen laffen, fie könnten im
einen Kreugug flr die Emancipation berfelben ausarten. Fanuy
Lewald's Bemerkungen find verfländig und ſachgemäß und ber
häftigen fi Hauptjählidy mit Fragen, welche der richtige Ber»
Rand bei uns Tängft zu Gunften der frauen entſchieden hat;
wie 3. B. die Noihwendigleit, ledige Frauenzimmer in dem
Stand zu fegen, ihr Brot auf eine andere Weile deun ale Er»
gieherinnen fid) zu erwerben, und eine durchgreiſende Reform
in der Erziehung der Mädchen aus dem Mittelftande herbeizu-
fügren. Gtreitigere Punkte find kaum berührt; die Frage jo
weit fie hier geht, ift nicht zwiſchen zwei ſich befämpfenden
Schulen, fondern zwifchen Vernunft und einer mngehenern
Maffe veralteten und unvernünftigen Borurtheils, welches fich
in den Sa zufsmmenfaffen läßt, daß ein Weib erniedrigt
wird, wenu fie etwas fur ſich felöft feiftet. Manny Lewald gibt
ahlreidhe Beilpiele von der Wirkung diefes Gefühle dorch alle
Kaffe der Gefelfhaft. Eins ber feltjamften ift vom ihrer
eigenen Erfahruug hergenonmen. Sange nachdem fie fi durd;
ihre Feder bequem ernährt hatte, geflattete ihr Vater ihr, die
Belt glauben zu maden, baß er fie erhalte, um die Schande
ju vermeiden, welde daraus für fie nnd ihre Familie erivach -
fen wäre. Der Ausgang des Kampfs zwiſchen gefuubem Men-
jchenderſiand uud Sentimentafität diefer Art kann nicht zweifel-
haft fein; unb wir erwarten vertranensvoll von dem häuslichen
Sinn, der einfachen Reinheit, der echten Weiblichkeit der großen
Mehrzahl deuiſcher Frauen, daß fie die Ertravaganzen verhin«
dern werden, weiche ähnliche Bewegungen in andern Ländern
in Berruf gebradit Haben.‘ J
„Rudolf Genee’s «Gefichte ber Shaltpeare’ihen Dra-
men in Deutfclande”, fefen wir weiter in der englifchen Zeit»
förift, „AR ein werthvolles und interefjantes Wert, gründlich
umd umfaffend umb dod nicht überfaben mit Gtoff. In den
erfien Kapiteln, welche von den englifhen Schanfpielertruppen
Handeln, die Deutſchland im Anfang des 17. Jahrhunderts
durchzogen, und von den erfien fhwaden Dämmerungen eines
Shalpeare ſchen Einfluffes in jenem Lande, hängt der Berfaffer
hauptſaclich vom den erfchöpfenden Arbeiten Adolf Cohn's ab.
Sein Beriöt über den großen Gtreit zwijhen Lefflng und
Gottſched, welcher mit der Throuerhebung Shafipeare's auf
den Trümmern der franzöſiſchen Schule endete, if fehr ange
führfih und unterhaltend; wir bedauern nur, daß biefer Theil
des Werts mit der «volfländigen Aneignung» Shalipeare's durch
die Dentfchen vermittel® der Uebertragung von Schlegel und
Tied fließt und daß nichts Über die fpätern Schidfale feiner
BVerke auf der Bühne berichtet wird. Der größere Theil der
Abhandlung hefchäftigt ſich mit einer Analyfe ber verfchiedenen
auf Shaffpeare gegrlindeten Dramen und der vorzüglichften
Umänderungen und Anpaffungen, die fie erlitten haben — ein
merkwilrdiger Beitrag zur Geſchichie des iiterariſchen Geſchmads.“
„Bon Gottes Onaden, ein Roman aus Cromwell's Zeitn,
von Julius Rodenberg, zeichnet ſich durch die.bemerteng-
werthe Vollendung und Eleganz des Stile von dem gewöhn-
tie Schlage der deutfchen Romane vortheilhaft aus. Jede
Seite trägt ben Stempel eines hochgebildeten Geiſſes. Auch
die Geſchichte an fih iſt vortrefflih, die Charaktere find gut
gezeichnei, unb der englifhe Leſer wirb durch feine fo groben
Beweife von Unfenntniß englijcher Dinge, wie man ihnen in
Bictor Hugo begegnet, beleidigt oder beläRigt. Die geſchicht -
tigen und häuslichen Elemente des Intereffes ud gefgidt ver»
moben und nichts blrfte der Popularität des Werks bei uns
im Wege ſtehen als feine Länge, melde allerdings ungewöhn⸗
Tidy erfgeint, wenn man den bei une üblichen Mahfab anfegt.'
Bibliographie.
Aus dem Leben und Wirken bes Königs kml L
Bayern. Beriällgungen un Grläuterungen je Dr. Gene Bopcaptiiden
Werte über König Ludwig I. von Bayern. Münden, Manz. Gr. 8. I Rpr.
Babut, I., Holland auf Java, Roman. Zus dem Bramöfife
Bbertragen ven bh. Frlßmann. 30. Brtin, Kangmann a Comp
8 1, 2, De ir Berli ”
teagemäite) Berln, Sanganı u Sue Geo ler jan sit
&. — —— einer Kunſireiie Berlin, kangriann u. Comp.
Dürd, — Blaze de, Der Liebe Rage und Sieg. Roman,
guten jlifhen überjegt von Fine Kapfer. 9 Bde. Lelpyig, Slide.
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Taler, &, Der Gpiveerabend im Spiegel bes Bollöglaubene. Gin
tänblipe® Bühnenfüd. Eigmaringen, Zappen. 8 3 Bar.
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Freytag: I, Tiborlan und Tacltak, Berlin, Henschel, Or. UThir,
I, Henbel, @r. 16.
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Vernunft. Xrouerjpiel, Berlin, Herg. 8. 25 Rat.
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re.
umperbind, ©, Die Spradlante, phpfiologif@ und ſpraquiſſen-
PR Beradte. leitung, ge POofoloait® und wraawin
M Dillinger Härditer? Bon P. 9. d. Münden, Ofdenbourg.
8. 6 Nat
Junghans, ®., Yohann Gebaflan Bag ala Schäfer ber Bertitur
Taridufe zu Gt. Migaetis in Cüneburg eine Bflepfätte Kiegliger Mufit.
üneburg, Heroip u. Wahtfab. Or. d. 15 Mgr.
Rarpeles, udınig Börne,“ Lidilttahlen aus feinen Werten.
Mit einer Diograpki Börne'd. Leipzig, Brodhaus. 8. 1 zur
det Heny Siroutberg. VBiogeaffhe Karakterifit.
1.3. 10
—*
midt, Bolts« und Sugendfcriftiteller. Sel, Stlegenbeit
orfi,
Berlin, Cigle
Gerbinand
feines 2öjährigen Schrififteller-Iubiläums, OftereWtefie 1870. Berlin, Kaf»
er. 8. gratiß,
Sömiy, D., Ein Macaulap- Gommenter: Anmerkungen zu Macau
Vol, 1. Zur Einführung in ein grünbliges
— history of. England,
Bertueniß visfet Öetgiägeiweitet ans ber saliiden Gpsade berpanpt,
Afte Hälfte. Greifswald, Bamberg, tr. 8. 1 Thlr. 6 Agr.
Shrder, R. d., Die veutjge Negptfgreibung in der &Gule und deren
Eteilung zur Shreibung der Julumft. Mit einem Berzelhniffe ziweifel-
Hafter Wörter. Yeipsig, Vrodfaus. 8. 20 Nat.
Yoli, B., Die Eründung des Ferurohrs und Ihre Folgen für die
Astronomie. Vortrag. Zürich, Schulthess, Gr. &, 9 Ngr,
320
Unze
Anzeigen.
igem
— —
Verſag von S. A. Brockhaus in Leipzig.
Die beiden Veroneſer.
Bon William Hhakefpeare.
Ueberfegt von Georg Herwegh.
Mit Einleitung und Anmerkungen.
Diefes Stück bildet das 24. Bändchen von:
William Shakeſpeare's Dramatifche Werke. Ueber-
fest von Sriedrich Bodenftedt, Serdinand Sreiligrath, Otto
Gifdemeifter, Paul Heyfe, Hermann Rurz, Adolſ Mil-
Brandt u. a. Nach der Textreviſion und unter Mitwir-
fung von Nicolaus Delius. Mit Einleitungen und An⸗
merfungen. Herausgegeben von Sriedrich BSodenſtedt.
Das 1.—23. Bändchen enthalten:
Othello. Ueberſetzt von Friedrich Bodenftebt.
König Johann. Ueberſetzt von Otto Gildemeiſter.
Antonius und Kleopatra. Ueberſetzt von Paul Heyſe.
Die luſtigen Weiber von Windſor. Ueberſetzt von Her⸗
mann Kurz.
Biel fürmen um Nichte. Ueberſetzt von Adolf Wil-
ranbt.
König Riders ber Zweite. Ueberfeßt von Otto Gilde-
meifter.
Machetb. Ueberſetzt von Friedrich Bodenftedt.
König Heintih der Vierte. Zwei Theile. Uebrrfegt von
Dtto Gildbemeifter.
Romeo und Julia. Ueberfegt von Friedrich Bodenſtedt.
Coriolanus. Ueberfegt von Adolf Wilbrandt.
Zimon von Athen. Ueberfegt von Baul He wi e.
König Heinrich der Fünfte. Ueberſetzt von Otto Gilbe-
meiſter.
Der Kaufmann von Venedig. Ueberſetzt von Friedrich
Bodenſtedt.
König Heinrich der Sechſte. Drei Theile. Ueberſetzt von
Dtto Gildemeiſter.
Ein Sommernachtstraum. Ueberſetzt von Friedrich Bo»
den ftebt.
König Richard der Dritte. Ueberfegt von Otto Gilde-
meiſter.
König Lear. —F von Georg Herwegh.
König Heinrich ber Achte. Ueberſetzt von Otto Gilde⸗
meifter.
Titus Anbronicus. Ueberjet von Nicolaus Deline.
Was ihr wollt oder Heiliger Dreilönigsabend. Ueber-
fett von Otto Gildemeiſter.
Jedes Bändchen gebeftet 5 Ngr., cartounirt 74, Ngr.
Eine neue deutſche Ueberſetzung der Shalefpeare’”
ihen Dramen if längft als Bedürfniß empfunden, ba die
Schlegel⸗Tieck'ſche Ueberſetzung, ungeachtet der hohen Borzlige,
die namentlih den von Schlegel felbft überſetzten Stücken bei-
wohnen, body den Zotaleindrud des Originals nicht wiederzu-
geben vermochte und den gegenioärtigen Anfprühen keinesfalls
mehr völlig genügt. Die obengenannten Scriftfielee — zu
ben erften Namen zäblend, welche Deutfhland im
Gebiete der poetifhen Ueberfegun 8literatur auf»
zuweifen bat — Haben fich biefer großen Anfgabe gewid-
met, uud barf deshalb die Tebhaftefte und allgemeinfte Theil⸗
nahme im deutſchen Publikum für das Unternehmen erwartet
werden, zumal die Berlagshandlung im Jutereſſe der weites
ſten Berbreitung einen überans wohlfeilen Preis geftellt
bat. Jedes Bändchen enthält ein vollkändiges
Drama nebft ausführliher Einleitung und erläu-
ternden Anmerlungen und koflettrog des Umfangs
von 8-10 Bogen geheftet nur5Rgr., cart. 7, Ngr.
Die erfihienenen Bändchen find nebft einem Profpect
in allen Buchhandlungen vorräthig.
Einladung zur Subfeription auf die
Sammlung semeinverftändlicher
wiſſenſchaftlicher Worträge,
, herausgegeben von
Rud, Virchow um Fr. von Holizendorfl.
V. Serie ober Jahrgang 1870. Heft I97— 120 umfaffend.
WER Su Abonnement jedes Heft nur 5Sgr. "WE
Soeben wurben ausgegeben:
97. Brof. 9. Steinthal, Mythos und Religion. 6 Sgr.
98. Prof. W. von Wittich, Ueber Phyſtognomik u. Phreno⸗
logte. 6 Sgr.
Nah uud nah werben demnächſt folgen:
Prof. Dr. Ehr. Peterjen, das Zwölfgötterſyſtem ber Grie⸗
hen und Römer.
Obermedicinalrath Dr. Rob, Volz, ber ärztliche Beruf.
Stabtrath Dr. Rob, Zelle, das heutige Bormunbfchaftswefen
unb feine Reform.
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Inng: bie Stabfbereitung.
Geh. Rath Dr. Settegaft,
modernen Thierzucht.
Brof. Dr. Zoepprig, Ueber bie Arbeitsvorräthe ber Natur
und ihre Benukung.
Prof. Dr. Onden, Arifioteles Politik.
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u. Bentilationg- Methoden,
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Heft 6 Sur. und barüber ifl.
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95. Fr. v. Holsendorfj, Englands Preſſe. 6 Ser.
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1. Abtheil. Die Erzeugung bes Roheiſens. Mit 2 Holz-
ſchnitten. 7, Ser.
92. Ferd. Roemer, Die älteften Formen bes organifchen
ebens auf ber Erbe. 6 Sgr.
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A. Chariſius in Berlin.
Aufgaben und Leiſtungen der
Berantwortlichen Redactenr: Dr. Eduard Brocihaus. — Drud nud Verlag von F. A, Srodhaus in Leipzig.
Blätter
literarifhe Unterhaltung.
Herausgegeben von
Erſcheint wöchentlich.
ea Ar. 21. er
Rudolf Gottſchall.
19. Mai 1870.
Iuhalt: Gefammelte Efjays. Bon Mudelf Gottigal. (Fortſetzung.) — Bolfstäimliche Dichtungen, Erzählungen und Ueber-
Kieferungen. Bon @ugen 2abes. — Zur focialreformatorifchen Fiteratur. Bon Murelio Buddens. (Beihluß.) — Cine Ueber
fegung der „Bhagavad-@ite." Bon Augufk Müller. — an Golksthumliches aus dem Bogtlande.) — Bibliographie. —
meigen.
Geſammelte Eſſays.
(GGortſetzung
1, Studien und Kritilen zur Philoſophie und Aefthetikt. Bon
Robert Zimmermann. Zwei Bände. Wien, Braumüller,
1870. ©®r. 8. 4 Thlr.
2. Engliſche Choralterbilder. Bon Friedrich Althaus.
Beil, Bände. Berlin, vom Dede. 1869. Gr. 8.
r.
3 „Am foufenden Webſtuhl der Zeit." Bon Feodor Wehr.
Zwei Bände. Leipzig, Matthes. 1869. 8. 2 Thlr.
4. Litterarifer Nachlaß von Friedrid von Raumer. Mit
dem photographirten Bildniß bes Berfaffers. Ziyei Bände.
Berlin, Mittler und Sohn. Gr. 8. 2 Thlr.
. Lichte und Tonmwellen. Ein Buch der Frauen und Dichter.
Aus dem Nachlaß der Joſepha von Hoffinger. Herans-
gegeben und mit einer Lebens und Sharatterfige verſehen
dutch Johaun von Hoffinger. Wien, Prandel.
1870. 8. 1 Zhlr.
6. Kritik der Schiller, Shaffpeare- und Goethe ſchen Frauen⸗
charaltere von Julie Freymann. Giefen, Roth. 1869.
Gr. 16. 1 Thlr.
7. Borlefungen von Bogumil Golg. Zwei Bände, Berlin,
Sanfe. 1869. Gr. 16. 2 Thlr.
Triedrih Althaus bat in feinen „Englifchen
Charakterbildern" (Nr. 2) eine Zahl von Auffägen ge-
fammelt, welche in deutſchen Zeitfehriften, namentlidy in
„Unfere Zeit“, Weftermann’s „Suftrirten Monatsheften”
u. a. bereitö zum Abdrud gelommen waren, bie aber jegt
in ihrer Zuſammenſtellung einen bedentendern Eindrud
machen und fowol das Talent des Antors in günftigftem
Licht erſcheinen laſſen, als auch die englifhen Zuftände
der Gegenwart, Politik, Literatur und Sitten des neuen
England in geiftvoller Weife daralterifiren.
Friedrich Althaus Hat fi vorzugsweiſe an ben
englischen Eſſayiſten gebildet, ohne den Kern beutfchen
Weſens zu verleugnen. Im ganzen gibt es in Deutſch-
land noch wenig Schriftfteller, melde einen „Eſſay“ mit
ſolcher liebevollen Vertiefung auszuführen wiſſen wie die
Mitarbeiter der großen franzöfifchen und englischen Rennen.
Es wird in Deutjchland fehr viel über Literatur gefchrieben;
1870. 2.
5
ans Nr. 20.)
aber literariſche Porträts, wie fie 3. B. Sainte-Beuve
in der „Revue des deux mondes” ausgeführt unb in
feinen_„Lundis“ gefammelt hat, gehören bei und noch zu
den Seltenheiten. Die Kritit überwiegt noch immer die
Eharakteriftit, und bie Uehertragung einer eiitofopsiigen
Darftellungsweife, welche vorzugsweife die Gedantengänge
und Richtungen charalieriſirt, auf die neuefte Literatur.
geihihtfegreibung hat zur nothwendigen Folge, daß Ser
einzelnen ſchopferiſchen Perfönlighteit nicht das ihr gebihe
vende Recht zutheil wird. Viel wichtiger aber ift e8 für
bie Literaturgefehichte, den Duellpunkt dichteriſcher Eigen-
thümlichteit zu erfafien, als eine Reihe von Linien zu
ziehen und die Bewegung der Literatur in ein abftractes
Gedankennetz einzufangen. Die Linie aber vertritt die
gefige Richtung, und ihr gegenüber wirb das einzelne
alent zu einem faft gleihgültigen Punkte degrabirt. Die
Sucht zu verallgemeinern wird da verhängnigvoll, mo
gerade auf dem eimelnen der Schwerpunkt geiftiger Ber
deutung ruft. Dies iſt aber unbedingt der Fall bei al-
lem tünftferifchen Schaffen; das Genie ift das Einzelne
als Einziges in unergründlicher Cigenheit. Die Be
wegung der Literatur iſt freier Flug der Geifter; fie
barf nicht als ein Ganſemarſch dargeftellt werden, wo
bie einen Rotten nad) rechts, die andern nad) links
marſchiren.
Abgeſehen von dieſer ungünſtigen Neigung ber deut ·
ſchen Literatur- und Kunftgejcichtichreibung, ja auch ber
Geſchichtſchreibung ſelbſt, die Perfönlichkeiten gering zu
achten gegenüber der logiſchen Nothiwendigkeit einer Ent-
twidelung, bie ebenfo oft nur vage Conftruction umb -todtes
Schema einer dden Schulweisheit ift, ftand der Ausbil-
dung des Eſſay auch der Mangel an deutfehen Revuen
entgegen; denn jedes literarifche Genre ift aud) von äußern
Berhältnifen abhängig, deren Gunft und Ungunft e8 zu
4
322
zeitigen und zu unterdrüden vermag. Die Revue ift das
Spalier, an welchem fi der Effay zu früchtereicher
Entfaltung ausbreitet. Erſt in jüngfter Zeit ift in
Deutfchland mit Bezug hierauf eine Wendung zum Befiern
eingetreten: Wir dürfen ohne Anmaßung behaupten, daß
namentlich „Unfere Zeit‘ hierin bahnbrechend vorgegangen
und ohne Aufopferung deutscher Eigenthitmlichkeit doc)
den ausländifchen Vorbildern am nächften gekommen iſt.
Wie viel Behentendes fie auf dem Gebiete bes Eſſay
enthält, das zeigen die felbftändigen Sammlungen von
Althaus, Wehl u. a., deren Auffäge zum großen Theil
diefer Revue entnommen find. Doch auch Weftermann’s
„Illuſtrirte Dionatshefte”, die „Preußiſchen Jahrbücher“
und einige andere Zeitſchriften, die nicht vorwiegend auf
den Ton der Revue geſtimmt ſind, brachten in letzter Zeit
manchen trefflichen Eſſay.
Friedrich Althaus wahrt in feinen „Engliſchen Cha⸗
ralterbildern“ die rechte Mitte einer Charakteriftif, die fich
weder mit oberflächlichen Allgemeinheiten begnügt, noch
auf eine allzu fubtile Zergliederung ſich einläßt. Auch
bier ift der fleißigen Detailmalerei eine Grenze geftedt,
deren Ueberfchreitung zu allerlei Ueberladungen und zur
Berwifhung des Gefammteindruds führen muß. Ges
fährlih ift die Sucht des Aus⸗ und Linterlegens, der
eigenmächtigen Conftruction der Charaktere, bei weldjer
einzelne Momente ausſchließlich berüdfichtigt, andere mit
ihrem unmwilllommenen Widerſpruch beifeitegefchoben wer-
den. Althaus gibt ſtets ein volles, Lebensfrifches Por:
trät mit jener Tüchtigfeit und Solidität, welche englifcher
Geſchichtſchreibung eigenthümlich iſt; das Streben nad)
objectiver Auffafjung ift durchweg vorwiegend; aus den
Thatfahen, aus den Feiftungen heraus entwidelt ſich der
Charakter vor unfern Augen. Nirgends zeigt fich jene
Uebereilung, zu welcher eine nad) Bointen hafchende Dar⸗
ftellung leicht verführt; mit vollem Behagen, das unfere
Theilnahme nicht fünftlich erregt, fondern gleichmäßig er-
wärmt und fefthält, wird das Charakterbild grundirt, ent-
worfen, mit lebhaften Farben, mit reichen Leben erfüllt.
Deutfche Bildungsfchule zeigt fi, ohne aufdringliche phi-
loſophiſche Kunftfprache, in der fihern Sondirung des
Wefentlihen und Unmefentlihen, im Feſthalten des Ent⸗
widelungsgangs und feiner Hanptzüge; der Einfluß des
englifchen Lebens in der bdurchfichtigen Behandlung aller
politifchen und praftifchen Fragen. Der Stil ift durd)-
weg bezeichnend ohne geſuchte Prägnanz, elegant ohne
mit Grazie zu kofettiren, und nur hin und wicder ver⸗
räth ein etwas auffälliges Fremdwort, daß unſer deut⸗
cher Landsmann fi in einer fremden Nation eingebür-
gert hat. Freilich verdankt er diefer Einbürgerung aud)
feine gründliche Kenntniß englifcher Zuſtände, welche für
den flüchtigen Touriſten unerreichbar iſt. Mit Recht ſagt
Althaus in der Vorrede:
Die in dieſen Bänden geſammelten Darſtellungen verdan⸗
ken ihre Entſtehung einem vieljührigen Aufenthalt in England
und eingehenden Studien der neueſten engliſchen Geſchichte und
des Bollsthums, auf welchem dieſelbe ruht. Eine einigermaßen
umfaffende Anſchauung des gegenwärtigen Lebens eines alten
Enlturvolfs ift unter affen Umftänden jchwer und ebenfo ſehr
die Frucht der Zeit als eines redlichen Bemühens. Der Tourift
hat den Borzug der fprihmwörtlichen Lebhaftigkeit erfter friiher
Gindrüde; aber ex fieht meiftens nur die Façade der Dinge,
Gefammelte Ejjays.
und das Selbitvertrauen, womit diefe vorübergehende Auficht
für eine gereifte Anſchauung, diefer flüchtige Schein als das
Weſen geboten wird, trägt Tein geringes Maß der Schuld an
den Misverfländniffen, welche die Urtheile der Nationen fiber
einander verwirren. Das englifhe Bolt bat vielleicht mehr
durch derartige flüchtige Anfichten zu leiden gehabt als irgendein
anderes. Seine infulare Lage bedingte von vornherein eine
abweichende, eigenartige Eutmidelung; fein verhältnißmäß
verichlofiener Charakter bat die Schwierigkeit der Erkenntni
feines Wejens und feiner Zuflände vermehrt. Während auf dem
Feſtlande ruckweiſe Erſchütterungen, gewaltſame Wechſel zrotichen
Reaction und Revolution vorwogen, und das gewonnene Gut
ber Freiheit ebenjo oft wieder verloren wurde, durchlebte Eng⸗
land alle Phajen eines wefentlih oceauifchen Wachsſsthums, in
deſſen Berlauf eine Bildungsſchicht ſich Liber der andern abla⸗
gerte, alle Neue auf dem feften Grunde des Alten emporftieg,
und der Zuſammenhang des Bergangenen mit dem Gegenmwär-
tigen fo feft begründet wurde, daß felbft die furchtbaren vulka⸗
niſchen Ausbrliche der Revolutionen des 17. Jahrhunderts nicht
im Stande waren, ihn zu zerſtören. Die Gewißheit einer or»
ganifhen Yortentwidelung des Nationallebens wurde damals
al8 nnoeräußerlihes Befigthum errungen; aber in den Sitten
und Traditionen, in den gejellfchaftlichen Zuftänden und den
äußern Formen des Lebens und der Thätigfeit ließ die Ver⸗
gangenheit troßdem ihre tiefen Spuren zurüd., Neben bem
Drange zur Freiheit machte die confervative Anhänglichleit an
das Beftehende fi fortdauernd mit Erfolg geltend, und die An⸗
fprüche beider wurden nicht durch den Sieg ber einen über die
andere, fondern durch eine friedlich fortfchreitende Berföhnung
der Gegenjäte ausgeglichen. England bietet daher den ſeltenen
Anblid eines Bolls dar, bei dem die Gefchichte überall binein-
ragt in die Gegenwart, bei dem die Toleranz gegen das Her»
gebradgte Hand in Hand geht mit der Praris der Selbſthülfe,
und in beffen Mitte die nationale Eutwidelung nad keinem
vorgefaßten Syfteme flattfindet, fondern nad) den Nothwendig⸗
feiten der Gegenwart, unter dem fteten Einfluß der öffentlichen
Meinung. Diejer Zuftand der Dinge bedingt fo vielfache Ab⸗
weidhungen von ben Berbäftniffen, an welche der Seftlänber
gewohnt ift, daß es unmöglich ift, feine oft fremdartigen ein⸗
zelnen Erſcheinungen zu verftehen ohne eine Kenntniß ihres alle
gemeinen Zuſammenhangs. Eine ſolche Kenntniß ift aber, bei
der unendlichen Mannichfaltigkeit der Berhältniffe, das Werf
langer Beobadjtung, und nur in demjelben Maß, wie diefe an
Umfang und Tiefe zunimmt, wird aud die Kritik zugleich trefe
fender und gerechter werden.
Die Auffaflung der englifchen Nation in den Efjays
von Althaus ift eine unparteiifche, obgleich der Verfaſſer
von der Ueberzeugung ausgeht, daß die Entwidelung Eng⸗
lands im Fortſchreiten begriffen ift, daß alle Zeichen auf
den Anbrucd einer großen Epoche reformatorifcher Geſetz⸗
gebung und nationaler Wiedergeburt hindeuten:
Daß aud) England an den Gebrechen der modernen Civi⸗
Tifation leidet, daß dort wie anderswo noch unendlich viel zu
befiern, eine gewaltige Maſſe verjährter Misbräuche und Vor⸗
urtheile hinwegzuräumen bleibt, ift volllommen wahr. Aber
ebenſo wahr ift es, daß feine Zuftände ein unendlich fruchtbares
get ber Beobachtung darbieten, und daß von der Art und
eife, wie die großen Aufgaben des Staats und der Gefell-
ſchaft dort gelöft werden, noch immer viel zu lernen if. Das
Bemliben, die Zuflände und die Perfönlichleiten unbefongen zu
würdigen, die Einfeitigleiten fowol der „Anglomanen’ als der
„Anglophoben’' zu vermeiden, war der leitende Geſichtspunkt,
von dem aus die nachfolgenden Eharakterbilder entftanden.
Der erſte Band des Werks enthält die eigentlichen
Porträts und die Darftellungen der jüngften englifchen
Geſchichte; der zweite Band Sittenfchilderungen und tou⸗
riſtiſche Skizzen mit einem weſentlich feuilletonartigen Zug.
Die Porträts des erften Bandes find nicht zufällig ans
der Galerie englifher Berühmtheiten herausgegriffen; eg
find die bedeutendften Repräſentanten der Politik, Philo-
ſophie, fchönen Literatur und Kunſt, die und hier vor—⸗
geführt werden und die fi) zu einem Gefanımtbild eng-
liſchen Geiftesfebens ergänzen. Freilich muß ſich jeder
hervorragende Zweig deſſelben mit einem oder zwei Ver⸗
tretern begnügen; man würde neben Cobden gern Bright,
neben Thackeray Dickens mit in dieſe Galerie aufgenommen
ſehen; neben dem humoriſtiſchen Roman würde man gern
irgendeinen Hauptvertreter des Senſationsromans, auch
der Lyrik begrüßen, obgleich Alfred Tennyſon wenig eng⸗
liſches Blut hat und oft nur wie ein ins Engliſche über⸗
fester Emanuel Geibel gemahnt; doch das Streben nad)
einer derartigen Vollſtändigkeit iſt in einer Sammlung
von Eſſays von ſelbſt ausgeſchloſſen. Die wahrhaft be»
deutenden und charakteriſtiſchen Richtungen des engliſchen
Geiſtes find alle vertreten.
Bon leitenden Staatsmännern werden uns Lord Pal-
merfton und Benjamin d’Israeli vorgeführt; der erfte eim
„ mufterbafter Vertreter“ Altenglands, ber zweite eine
etwas fremdartige, exotiſche Erſcheinung im englifchen
Staatsleben. Lord Palmerſton wird treffend charakteriſirt
unb bei der Bilanz feines Wirkens die Summe der Er-
folge als überwiegend dargeftellt. Wenig belannt wird
es in Deutfchland fein, daß Lord Palmerfton mit Sir
Mobert Peel und Der. Cooke eine Zeit lang als Heraus-
geber des torpiftiichen Witblattes „The new whig guide‘
fungirte, eines Witblattes, welchen Althaus Derbheit,
Hoheit und Uebermuth zum Vorwurf macht, wie allen
Witzblättern einer ſiegsgewiſſen, machtftolzen Majorität.
Hier verdiente fih Balmerfton rite die Sporen als
„Ritter vom Geift” oder vielmehr als der Mann des
tauftifchen Parlamentswites. Seine oratorifhe Begabung
war an und für fi) nicht glänzend:
Sein Organ mar mangelhaft, fein Vortrag ziemlid ein⸗
förmig; er bejaß weder redneriihen Schwung, noch erftrebte
er Glanz der Diction, und der natlirliche Fluß der Rede, die
mehr converfationelle ala rhetoriſche Gewandtheit, welche ihm
eigen war, wurde nicht felten durch ein gewiſſes Schwanten,
ein Suchen nad) dem treffenden Ausdrud unterbroden. Doch
unübertroffen war er in dem Takt, mit dem er fih in die
Stimmung feiner Zuhörer zu verjeßen und die Mittel für den
Zwechk, den er erreichen wollte, in Anwendung zu bringen wußte.
Ueberdies war er ein Meifter des Details, und feine Ausdauer
im Durdhhören der längften Debatten war ebenjo erftaunlid),
als feine Gedächtnißkraft und die ſtete Schlagfertigleit, womit
er, ohne jede Vorbereitung, ohne jede fhriftliche Notiz, auf die
fängften Angriffe erwiderſe, bewundernswerth. Man fah ihn
nie müde, nie in fchlechter Laune, und fo gewöhnt war man
an den Einfluß diefes unverwüſtlich heitern energifhen Tem⸗
peraments, daß feine Abweſenheit, wenn er einmal in ben
Situngen fehlte, fofort an der Stimmung des Hauſes bemerkt
wurde.
Eins ber intereffanteften Charakterbilder ift dasjenige,
welches: uns Althaus von Benjamin d'JIsraeli entwirft.
Schon in der Einleitung ift die Parallele mit Heinrich
Heine und Ludwig Napoleon fehr anzichend:
Benjamin d’Isracli ſtellt in der neneften englischen Gejchichte
eine ähnlich merkwürdige Erfcheinung dar, wie feine Zeitgenoffen
Heinrich Heine in Deutſchland und Ludwig Napoleon in Frank⸗
veih. Aber felbft in diefen hervorragenden Berfönlichkeiten, fo
heterogene Elemente aud in ihnen vermifcht find, ift die Dop⸗
pelnatur , welche bie gegenwärtige Uebergangsepoche in ber
Entwidelung der europäiichen Völker charalterifirt, nicht fo nad)
alen Seiten jhillernd zum Ausdrud gelommen wie in bem
Gefammelte Effays. 398
Schriftfteller, dem Socialphilofophen, dem Bolitiler, deſſen
?ebensgang uns bier beichäftigen fol. Zugleih Didter und
praktifcher Staatsmann, zeigt er uns ein Janusgeſicht, das nad
der einen Seite den imperialififchen Politiker, nach der andern
den „romantischen Voltaire‘ erkennen läßt, und eine Kombination
ähnliher Widerfprliche macht ſich in feiner gefammten Laufbahn
geltend. Seine großen Naturanlagen voraudgefet, muß der
Hanpterflärungsgrumd eines jo widerfpruchsvollen Weſens bei
v’Israeli wie bei Heine ohne Zweifel in der Thatfache feiner
jüdifchen Abftammung geſucht werden, und er felbft, obgleid)
nominell ein Mitglied der englifchen Hochkirche, hat durchgängig
mit fo erflaunlichem Nahdrud auf feinem Judenthum beftanden
und fi als fo Teidenfchaftlichen Vorlämpfer der jüdiſchen An⸗
ſprüche auf Weltherrſchaft fundgethan, daß die Bebeutung dieſes
Naffentypus in ihm auch der oberflächlichſten Betrachtung nicht
entgeben kann. Der ſcharfe Berftand, die bilderreiche Phantafie,
der fchneidende Wit, die zähe Ausdauer, der zudringliche Cy⸗
niemus des jüdifchen Weſens, das fi) dem europäiſchen Leben
gegenüber nod immer als ein fremdes fühlt und eben dieſer
Fremdartigleit halber feine Scheu empfindet, zügellos mit allen
feinen Formen und Ideen zu fpielen — diefer Typus jeiner
Kaffe hat auf englifhen Boden in d'Israeli einen ebenfo präg⸗
nanten Ausdrud gefunden wie auf deutfchem Boden in Heinrich
Heine. Doch fein Ehrgeiz und feine Fähigkeiten waren nicht
wie bei dem deutſchen Dichter auf die Laufbahn eines Schrift-
ftellers und den in bdiefer zu erringenden Einfluß beicyränlt.
Schon in früher Jugend gefiel er fi in der Borftellung eines
Negenerators der modernen Geſellſchaft, eines allmädhtigen, ge-
nialen Staatemanns, der vom Schidfal zu der großen Auf»
gabe berufen fei, die verrotteten Zuftände einer zerfallenden Welt
von Grund aus zu ernenern, auf dem politifch-focialen Lebens⸗
gebiet eine ebenfo Herrfchende Stellung zu gewinuen wie (um
nit mehr zu fagen) feine Stammesgenofjen, die großen jüdi⸗
ihen Bankiers, in der Welt der Finanzen. In diefer zmeiten
Hauptrichtung feines Charakters zeigt d’Israeli ſich unverfeunbar
als den Geiflesnerwandten Ludwig Napoleon’. Diefelbe uner⸗
fättlihe Sucht zu glänzen und zu berrfchen, derfelbe fataliftifche
Glaube an fih und feine Beſtimmung, diefelbe paradoxe Mi-
fung der Eigenjchaften des Abenteurers und des Staatsman⸗
nes, der Ideen des Demokraten und Socialiften mit denen des
Ariſtokraten und Cäfarianers, berfelbe ftaunenswürbdige Erfolg
endlich gegen ſcheinbar unüberwindliche Hinderniffe find beiden
Männern in der auffallendften Weife gemeinfam. Ganz ähn-
lich verhäft es ſich mit dem öffentlichen Urtheil über ihre Cha⸗
raftere und Leiftungen. Bei d'Israeli wie bei Napoleon ſtehen
den beimundernden Anhängern die abiprechenden Zadler gegen-
über. Was auf der einen Seite ale der Gipfel genialfter Be-
gabung gepriefen wird, wird auf der andern als täufchender
Schein veradtet. Hier ergeht man fi in ſchwärmeriſchen
Ansdrüden ber die Kunft des Redners, den weiten Blid des
Politikers; dort erkennt man in dem einen nichts als den
Sophiften, in dem audern nichts als den vollendeten Egoiſten.
Ohne Widerrede wird nur das zugegeben, daß man es mit einer
ungewöhnlichen Perfönlichleit zu thun habe.
Alle die erwähnten Seiten des Charakters treten in
der eingehenden Biographie und Schilderung fcharf hervor.
D' Israeli gehört zu jenen gemifchten Charakteren, welche
die Kunft des Biographen herausfordern. Ein Belletrift
ohne Herkunft und Vermögen und ber Führer der ftolzen
englifhen Zorypartei, ja nicht blos mehrfach englifcher
Staatskanzler, fondern auch Premierminifter diefer großen
Nation, ein Abkömmling jüdifcher Kaffe, in feinen Ro⸗
manen eifriger Vertreter des Judenthums und doch gleich-
zeitig ein faft fanatifher Anwalt der Interefien des eng-
tischen Hochlirchenthums — das find folche dein Anfchein
nad) unvereinbare Widerfprüche, welche einem d'Israeli
die Bedeutung eines Phänomens geben, wie es fi nur
auf Englands politifch-focialem Boden in fo glänzender
Weife entfalten Tann. In Deutſchland würde ſchon die
41 *
u
324 Sefammelte Eſſays.
jüdifche Herkunft für einen Makel gelten, der eine maß⸗
gebende ftaatsmännifhe Stellung ausſchließt. Warum hat
ein jo begabter PBarlamentsreduer und Parlamentsleiter
wie Simfon, der zugleih ein tüchtiger Fachmann if,
bisher in Preußen kein Portefenille erhalten, aud nicht
als feine Partei zur Zeit der Regentfchaft ans Ruder
tom? Und doch bat er zum Mafel feiner Abftammung
nicht wie d’Israeli den zweiten des Belletriften und
Romandichters hinzugefügt, der in Preußen und Deutſch⸗
land überhaupt für ein unwiderfprechliches Zeugniß
ftantsmänntfcher Unbrauchbarkeit gelten würde. Nur
Defterreich macht Hierin eine Ausnahme, wie die Ernennung
Zichabufchnigg’8 zum Inſtizminiſter beweift.
Interefſant ift die Thatſache, dag d'Ssraeli's Verſuche,
die Höhe bes Ruhms zu erklimmen, faſt alle mit einer
Niederlage begannen. Aus dem Bureau eines Abvocaten
auftauchend, warf er ſich in bie Publiciftil und gab
ſchon in feinem zwanzigften Lebensjahre unter dem Titel
„The representation“ eine londoner Zeitung heraus, die
aber nad ſechs Monaten einging und dem Verleger
200090 Pfb. St. koſtete. Ebenfo war feine Jungfernrede
im Parlament ein entſchiedener Miserfolg. Auch fein Be-
fireben, in feinem Revolutionsepos (‚„‚Revolutionary Epick‘)
in Dante’3 und Milton’s Fußftapfen zu treten, misglüdte;
das Gedicht, defien Held Napoleon Bonaparte in der Zeit
ber franzöfifhen Republik war, erſchien mehr als das
Wert eines Rhetors. Gleichwol muß die Infpiration,
aus der es hervorgegangen ift, für volllommen berechtigt
gelten, unb wir freuen uns, in d’IFöraeli einen Kampf⸗
genofjen in Betreff jenes äfthetifchen Grundſatzes zu ber
grüßen, den mir ftets als maßgebend für Die moderne
Poefte betrachtet haben. D'Israeli fagt in Bezug auf
die Entftehung feines Gedichts, defien Plan ihm aufging,
als er, in träumerifches Sinnen verloren, auf ber Ebene
von Troja fland:
Während meine Phantafle mit meiner Vernnuft kämpfte,
ſchoß es durch meinen Geiſt wie der Blitz, welcher eben über
den Ida dabinfuhr, daß in jenen großen Gebichten, welche als
die Pyramiden dichteriſcher Kunft unter dem finlenden und ver»
bleihenden Glanz geringerer Schöpfungen emporfleigen, ber
Dichter lets den Geift feiner Zeit verförpert bat. Das hel-
benhaftefte Ereiguiß eines heroifchen Zeitalters erzeugte in der
Iliade ein beroifches Epos; die Begrlindung des mädhtigften
Weltreichs erzeugte in der Aeneide ein politifches Epos; das
Wiedererwachen ber Wiffenfchaften und die Geburt des Volls⸗
geiftes gaben uns in der , Böttlichen Komödie“ ein nationales Epos;
die Reformation und deren Folgen riefen aus der begeifterten
Harfe Milton’s ein religiöjes Epos hervor. Und der Geifl
meiner Zeit follte allein ungefeiert bleiben ?
Alle dieſe erften Miserfolge entmuthigten indeß den
zähen Charakter d'Israeli's nicht; ihnen folgten bald glän-
zende Erfolge auf dem Gebiete der Romandichtung und
der Politik. Dan möge die geiftreihe Analyfe der d'gIs⸗
raeli'ſchen Romane, welche theils ein Selbftporträt bes
byronifch blafirten, ungeſtümen Weltverbeflerers geben,
wie „Vivian Grey“, theild den Parteitendenzen des
Zungen England dienen, wie „Coningsby“, theils der
Berberrlihung des Judenthums, wie „Faucold“, bei Alt-
baus felbft nachlefen, ebenfo die genauere Schilderung ber
merkwürdigen politifchen Laufbahn diefes originellen, ja
in vieler Hinſicht paraboren englifchen Staatsmanns.
Das Urtheil Über denfelben erſcheint durchaus unbefangen,
trog eines leifen Schein® von Ironie, ber hier und bort
auflenchtet, wo die Kontrafte des Charakters oder feiner
Ueberzeugungen, die Reibungen der innern Widerfprüche
biefen Funken von felbft hervorrufen.
Gegenüber einem geiftfunfelnden, aber vielfach Hin
und her irrlichtelivenden Charakter wie d’IEraeli zeichnet
fih Cobden durch feine Gebiegenheit und die Concentration
eines ftarfen Willens auf die Durchführung einer national»
dlonomiſchen Meberzeugung aus; er gehört zu den Männern,
bei denen ber Biograph nicht den Pinfel des Malers, fondern
den Meißel des Bildhauers ergreifen darf, um eine har
moniſch abgejchlofjene Statue auf das Poftament zu ftellen,
Wenn Althaus das Bild Cobden's mit feften und
tüchtigen Zügen ausarbeitet, fo zeigt er in der Charal-
teriftit des philofophifchen Diosfurenpaars John Stuart
MiN und Thomas Carlyle Gewandtheit in Ausführung
geiftiger Parallelen, welche entgegengefeßten Richtungen
gleichmäßig gerecht werden. Er leitet bie Auffätze mit
folgender Ouverture ein:
Unter den englifhen Denlern der Gegenwart liberragen
zwei Männer an Einfluß und Bedeutung alle andern: Thomas
Carlyle und John Stuart Mil. Beiden kommt im vollen
Sinne des Wortes ber Name von Philofophen zu: Borkämpfern
des Gedanfens, bie über dem Sclachtlärm der Barteien und
dem Wirrwarr der Alltäglichleit die Welt der ewigen Ideen feft
im Auge behalten und ihre Erkenntniß furchtlos verkünden.
Beide find Meifter ber Sprache, der Maſſe gebildeter Leſer ohne
Mühe zugänglih, und in beinahe gleichem Verhältniß haben
fie ſchon zu ihren Lebzeiten einen tiefgehenden Einfluß anf bie
Denkweije ihrer Zeitgenoffen gewonnen, wie er dem Philofophen
nur felten autfeil wird. Auch darin gleichen fie einander, daß
ee Bhilofophte weſentlich praltifcher Natur ift, den Drang zur
erwirfiihung des Gedankens ebenfo mächtig betont al& das
Belenntniß feiner Wahrheit. Und diefe Eigenthümlichkeit, welche
beide uicht nur als große Denker, fondern als energiſche Cha⸗
raktere kennzeichnet, erklärt viel von dem Geheimniß ihres Er⸗
folge. Aber jo merkwürdige Aualogien fchließen das Borhan-
denjein ebenfo entfchiebener Gegenſätze nicht ans. Im der That
ſehen wir in den Geftalten diefer englifhen Denker recht eigent-
lich jene alten Urtgpen der beiden Hauptrichtungen ber Philos
fopbie wiederholt, die ihre erſte claffifche Verförperung fanden in
Plato und Ariftoteles. Carlyle vertritt den Platonifchen, Mil
den Arifloteliihen Geiſt. Für jenen arbeitet eine großartig
dihtende Phantaſie am Webſtuhl der Ideen, im dieſem liber-
wiegt die Macht des Haren, weit und tief fhauenden ‘Denkens,
welches den Stu der Phantafle unter die Herrfchaft des Gei⸗
fies bänbdigt. ill iſt duch und durch modern, feine Sdeale
liegen ohne Ausnahme in der Zukunft. Carlyle fommt vielfad
nicht hinaus Über die humoriſtiſche Empfindung des Gegenſatzes
zwifchen Ideal und Wirklichkeit und theilt mit den Romantikern
die Neigung zum Idealiſtren des Vergangenen.
Wie jeden diefer Dioskuren mit dem andern, paralle-
lifirt ex beide wiederum mit einem, in ber Zeit voraus⸗
gehenden, englifchen Dioskurenpaar:
Einzig in der Art aber if wol ber Umſtand, baß bie
der jegigen unmittelbar vorangehende Generation in England
dur die Philofophie zweier Männer gebildet wurde, welche
unter fi, wie der Nation gegenüber, in ganz denfelben Bezies
hungen einflußreich wirkten wie jene beiden: Jeremy Bentham
und Sammel Taylor Coleridge. Bentham if in allen Haupt
zügen das Prototyp Mill's, Coleridge in allen Hanptzligen das
Prototyp Carlyle's. Jener entwidelte wie Mill die venliftifche,
dieſer wie Carlyle die tdealiftifche Denkart feiner Epoche; jener,
wie Carlyle, fchöpfte ans ber Quelle ber deutfchen Transfcendental«
philofophie, diejer, wie Mill, aus der Duelle der engliſchen
Realphiloſophie. Beide verließen die ausgefahrenen Gleiſe ber
hergebradjten Anſchauungen, worin fie die Maſſe der Nation
foden fanden, und verjuchten von neuen Gefichtöpunften aus
Gefammelte Eſſays. 395
eine kosmiſche Ordnung des Chaos ihrer Zeit: Bentham, wie
fpäter Mill, vorzugsweife durd ein analytifches, logiſches, in⸗
ductives Verfahren; Eoleridge, wie jpäter Carlyle, durch die
befruchtende Wirkung einer tieffinnigen Phantafie, einer poetiſch⸗
philofophifchen Inſpiration. Wir müffen. nur hinzufügen, daß
Benthbam und Coleridge bei aller Bedeutung ihrer Verdienſte
im übrigen nicht für die Meifter, fondern nur für die Borläu-
jer ihrer größern Nachfolger gelten können. Denn ebenfo weit,
als die Fortjchritte der gegenwärtigen bie Leiftungen ber ver-
angenen Generation überflügeln, ragen Carlyle und Mill liber
jene ihre philoſophiſchen Progonen hinaus. Fülle und Klarheit
des Geiftes wie Gunft der Zeitumflände zeigen fie auf einer
höhern Stufe der Entwidelung.
Die „Logik“ von John Stuart Mil ftellt Althaus fehr
hoch und vertheibigt fie gegen die Angriffe feftländifcher
Kritiker; er meint, daß der Eindrud diefes Werks ganz
dem jener feltenen Schöpfungen des Menfchengeiftes gleiche,
die wie Minerva in voller Waffenrüftung aus dem Haupte
bes Denkers hervortreten und feinen Ruhm fofort und
für immer feft begründen; er nennt Mil einen Denker
erften Rangs, einen tiefen, umfaffenden, analytifch-fynthe=
tifchen Geiſt; er fpriht von den „ſtahlſcharfen, licht⸗
beſchwingten“ Gedanken, die er wie in feinen Schriften
auch im lebendigen Fluß feiner Rede entwidele. Ebenſo
wird Althaus aber auch bem genialen eigenartigen Cha-
rakter Carlyle's gerecht, ben er zum Theil auf national»
ſchottiſche Bedingungen zurückführt:
Seine Phantafie, fo verſchieden and) die Gegenſtände fein
mögen, an welchen fie ihre Kraft erprobt, trägt eine entſchieden
offtanifche Färbung; fein Charakter, auf fo weſentlich modernen
Boransjegungen der Philofophie und Bildung derſelbe auch
ruht, erinnert ebenfo unverlennbar an bie antilen Puritaner-
geftalten der reformatorifch:revolutionären Epoche der ſchottiſch⸗
englifhen Geſchichte. Die einzigen geifligen Koryphäen feines
engern Baterlandes, die ſich in diefer Beziehung etiva mit ihm
vergleichen ließen, find Robert Burns und Sir Walter Scott;
aber bei feinem von beiden tritt neben dem Humor und
der Bhantafie des Dichterherzens eine fo herbe, energifche,
roßartige Urfprünglichleit des Dentens zu Tage als bei
omas Carlyle.
Treffend iſt auch das Bild des Humoriſten Thackeray,
welchem Althaus den Vorzug vor Dickens gibt, und dasjenige
des Malers William Turner, zugleich ein Beitrag zur
Geſchichte engliſcher Sonderlinge. Die Aufſätze: „Irland
und die Fenier“ und „Reform und Zukunft“ find zeit-
gefhichtliche Gemälde von Harer Darftellung und prag-
matiſchem Zuſammenhang, welche zugleih Muſter jenes
Revueſtils And, wie ihn „Unfere Zeit“ in Deutjchland
eingeführt hat.
Der zweite Band der Eſſays von Althaus enthält
zuerft die Schilderung einer „Billeggiatur auf der Infel
Wight im Sommer 1860“, welche regen Sinn für land»
ſchaftliche Schönheiten beweift und an anfprechenden Detail⸗
zügen reich ift, bann eine Galerie „Englifcher Geizhälſe“,
welche als ein ebenfo amufanter wie werthvoller Beitrag
zur Naturgefchichte des Geizes betrachtet werden kann.
Denn da ſich bei faft allen Exemplaren „bes Geizigen‘
diefelben ober ähnliche Symptome und Eigenthümlichkeiten
wiederholen, ganz wie die Eigenfchaften diefer oder jener
naturwiſſenſchaftlichen Species aus dem Thierreih, fo
lann man wol von einer Naturgefchichte des Geizes
fprechen. Einen intereffanten Pendant dazu würde eine
Darftellung des Geizes anf dem Gebiet ber dichterifchen
Erfindung geben. Auch Hier treffen die einzelnen aneldo⸗
tifchen Züge in einer biefe Erfindung felbft beſchümen⸗
den Weife überein. Gleichwol wird niemand behaupten
wollen, daß Plautus oder Moliere das chinefifche Luft-
jpiel gefannt oder benußt haben, deſſen Held ganz Die
jelben Charaftereigenfchaften bis in viele Kleine Züge hin»
ein zur Schau trägt wie die Helden der europätfchen
Luftfpiele. Die Galerie von Friedrich Althaus iſt ein
abenteuerliches uriofitätencabinet; fie beginnt mit den
Königen und endet mit den Beitlern. in fonberbarer
Kauz zieht nach dem anbern vor unfern Augen vors
über. John Eloes, der Befiter von 800000 Pfund,
längere Zeit Barlamentsmitglieb, pflegte, zwei harte Eier
in der Zafche, nad; London zu reiten, 60 — 70 englifche
Meilen, ober ließ fich mitnehmen, wenn ihm ein Mann
einen freien Sit im Wagen anbot:
Sein Landhaus war Halb verfallen; nichtsbefloweniger
Magte er über die Summen, die er für unnlte Möbel ver-
fhleudert, und trug feine Knanferei in fo widerwärtiger Weife
zur Schau, daß er die mitleidige Verachtung feiner ganzen
Umgebung erregte. Oft fah man ihn, in beinahe zerlumptem
Anzuge, mit bunter wollener Mütze auf dem Kopf, während
feiner einfamen Wanderungen auf die Felder feiner Pächter
geben, um bie zurüdgebliebenen Aehren einzufammeln, ober
am Wege Reisholz für fein Feuer auflefen. Ein andermal
fand man ihu bemüht, ein altes Krähenneft zu zerflören, und
er erwibderte auf die Frage, was ihu dazu veranlafle: „DO, es
ift wahrhaftig eine Schande, wie dieſe Thiere ihre Neſter bauen;
ſeht nur, was für eine Verſchwendung!“ Wenn er ausritt,
hielt er feine Pferde, nm die Hufeifen zu fhonen, auf weichem
Rafengrund, indem er bemerkte, den Pferden ſei nichts an-
genehmer als der weiche Raſeu. Befuchte ihn jemand, ſo ſchlich
er in den Stall, um das Heu fortzunehmen, das der Stall»
junge dem Pferde bes fremden in die Krippe gelegt. Dabei
gönnte er ſich faum die nothiwendigften Subfiftenzmittel. lm
nicht vom Fleischer laufen zu müffen, ließ er ein Schaf ſchlach⸗
ten und aß davon, bis es auf Haut und Knochen aufgezehrt
war. Dann wurde in den Zeichen gefiicht, oder Wild geichof-
fen, das wiederum bis zur Fäulniß gemoffen werben mußte,
ebe ex eine neue Füllung feiner Borratbstammer zugab. Eines
Zags binirte er von einem durch Hatten aus dem Fluß ge-
zogenen Waſſerhuhn. An einem andern Tage af er ben unver⸗
dauten Heft eines Hechte, dem ein anderer größerer verichindt
hatte. „Ja, ja’, bemerkte er dabei mit befriedigtem Ansdrud,
„das heißt zwei liegen mit Einer Klappe ſchlagen.“
Dann begrüßen wir den Oberft Thornton, bei welchem
fi der Geiz mit Renommiſterei verband, und den Reve⸗
vend Der. Jones, der in feiner Lebensweiſe wie in feinem
Anzuge bie niedrigfte bettelhafteſte Armuth zur Schau trug:
Derjelbe Hut und Rod, worin er feine Pfarrverweſung
antrat, diente ihm, wenn man den Erzählungen feiner Pfarr»
finder Glauben ſchenken darf, während der vollen dreiundvierzig
Sabre feiner Amtsführung, und die Künfte, die er anwandte,
um beide Stüde vor gänzlidem Berfall zu bewahren, machte
fie zu Wunderwerken des unermüdlich ausbefiernden Erfindungse
geiſtes. So erſetzte er einft dem abgetragenen Rand feines Huts
durch ingenidfe Benußung einer mehr als gewöhnlich refpecta-
bein Vogelſcheuche, während fein Rod, nad) mehrmaligem Keb-
ren, durch wiederboltes Flicken endlich zu einer Jacke zuſam⸗
menfhrumpfte. Ein neuer Rod wurde nun zum Suegchen uns
erlaßlich; aber zu Haufe fette die Jade nach wie vor ihre alten
Dienfte fort. Bon Hemden hatte er aus früherer Zeit einen
anſehnlichen Borrath, erlaubte ſich jedoch jahrelang nur ben
Gebrauch eines einzigen und ließ diefes, aus Furcht vor vor»
ſchneller Abnntzung, nur alle zwei oder drei Monate waſchen.
Während es gewaſchen wurde, ging er ohne Hemd.
Unter den Eitygeizhälfen zeichnet fi der große Aublay
aus, Thomas Guy, ber Gründer des nad) ihm benann-
ten bauptftädtifchen Hospitals, der wenigſtens durch
326
enbliche edle Benutung bes zufammengefcharrten Geldes die
Nachwelt mit feinem vergangenen Leben ausſöhnte; der
Wucherer Pope und der AJuderbäder Thomas Cooke,
der fich bei feinen Bekannten zur Eſſenszeit einzufinden
pflegte und nad vielem Widerftreben an deren Mahlzeit
theilnahm, der auch Ohnmachten und Krampfanfälle in
der Nähe von Häufern heuchelte, die er vorher dazu aus⸗
erfehen, und fi dann bort Wein zur Erfrifchung reichen
ließ. Sein Hauptvergnügen war das Anpflanzen von
Kohl; den Dünger dafür ſammelte er felbft auf der Straße.
Das Bolt warf ihm Kohlftrünte mit Flüchen und Ber-
wünjchungen in bie Grube nad. Auch von Frauen wird
berichtet, welche das Princip des Geizes bis zu der Ich»
ten furchtbaren Confequenz bes Hungertode8 durchführten.
Eins der wildeften Eremplare ber fonft zahmen Species
ber Geizigen war die ſchöne Elifabeth Bolaine, welche
den Tod ihrer Mutter duch Knauſerei befchleunigte, das
Teftament berjelben verfälfchte und auf ihren Bruder einen
Mordanfall machte. Dabei hatte fie durch Schönheit
und Wis fih mande Bewunberer in gefelligen Krei⸗
fen errungen, die fie als Kokette hinzog und ausplüuderte.
In fpäterm Alter verfanf fie in den tiefften Geiz. Es
ift ein interefjanter pfychologifcher Zug, daß bie größten
Geizhälfe in ihren teftamentarifchen Beftimmungen ſich
ein prächtiges Begräbniß zu verordnen pflegen. Go be-
flimmte Miß Bolaine, die man, halb entkleidet, mit einer
vertrodineten Schwarzbrotfrufte in der Hand auf ihrem
Bette fand, daß die Todtengloden über ihren fterblichen
Reſten geläutet werden, ihr Begräbniß pomphaft fein,
ein Trauerſchild in ihrer Wohnung ausgehängt und cin
Denkmal über ihrem Grab errichtet werben folle.
Außer dieſen PBerfünlichfeiten, bei denen der Geiz als
geheime Naturanlage wie mit inftinctartiger Nothwendigfeit
wirkt, gibt es andere, bei denen er durch gewaltſame, plöß-
lich eintretende Ereigniffe hervorgerufen wirb, während
die Möglichkeit diefer Leidenfchaft in dem vorhergegangenen
Leben weder angedeutet, noch begründet erfchien. Der
fogenannte „hölzerne Krämer”, Richard Dart, wurde zum
Geizhals infolge einer unglüdlichen Liebe, Hohn Andrews
infolge einer ihm zufallenden Erbſchaft, ber Dollar-
Richards durch den Fund glänzenden Metalls, das nad)
emem Schiffbruch im Meerjand verftreut war und ſich
bei der Ebbe ihm zeigte. Immer von neuem fuchte er
an der Küfte zwilchen Sand und Felſen gierig nad)
Schätzen und wurbe verbittert, als dies Suchen vergeb-
lich blieb.
Die „Memoiren der Prinzeffin Charlotte von Eng-
land“ bilden die Glanzpartie des zweiten Bandes: es ift
ein Hig-life-Roman, der fih hier vor unfern Augen
entrollt, deſſen Helden der geniale Wüſtling Prinz von
Wales, ber fpätere König Georg IV., feine Gemahlin,
Karoline von Braunfchweig, mit den interefjanten Skandal⸗
und Ehebruchsprocefien, vor allem aber bie ſchöne Tochter
des fürſtlichen Ehepaars, Charlotte, ift, welche fo früh
einen felbftändigen Charakter entwidelte, der Tyrannei
ihres Vaters energiſch entgegentrat und in Claremont
mit ihrem jungen Gemahl, den Prinzen Leopold von
Koburg, dem nachherigen König der Belgier, ein von ben
Muſen ımd Grazien behütetes Stilleben führte, bis ein
alzu früher Tod biefe file Englands Thron beftimmte
Richtbeil der Guillotine legten.
Gefammelte Effays.
Prinzeffin hinwegraffte. Merkwürdiges Spiel des Zu.
falls, welcher ihrer Coufine, ber Tochter des Herzogs
von Kent, die Hand eines andern koburgifchen Prinzen
und den Thron von England verfchaffte, wo bie kurze
Idylle von Claremont ſich in einer Töniglichen Muſterehe
wiederholte.
Der legte Abjchnitt der „Englifchen Charakterbilder”,
der faft die Hälfte des zweiten Bandes einninmt, behan-
delt die „Geſchichte der englifchen Vollsſpiele“ und ift als
ein nicht unmwichtiger Beitrag zur englifchen Eulturgefchichte
zu betradhten. Die Schilderungen aus dem „Merry old
England“ geben uns ein Bild der Feſte und Spicle,
welches die Shakſpeare'ſchen Dichtungen vielfach, erläutert.
Bon den „Bollsfpielen des neuern England‘ find die
Jagden, namentlicd, die Fuchsjagden, und die Aegatten
jehr eingehend gefchildert. Die Darftellung ift, wie immer
bei Althaus, von durchaus gediegener und geläuterter
Form, anziehend und feffelnd.
Auch von den Auffägen, welche Feodor Wehl in
feiner Sammlung: „Am faufenden Webftuhl ber Zeit“
(Nr. 3), herausgibt, ift die große Mehrzahl bereits in
„Unfere Zeit” erfchienen. Wie Althaus nad, englischen
Muftern, jo hat fi Wehl mehr nad franzöfifchen ge
bildet; denn ein farbenreiches Colorit, ein ſchimmernder
Esprit, ein oft leidenfchaftlicher Zug der Darftellung ver
leugnet fi in ihnen nicht; fie wenden fich ebenfo oft an
unfere nervös erregte Theilnahme, wie an unfer ruhig
abwägendes Urtheil. Der erfte Band bringt zwei Stu-
dien aus der Nevolution; er fchildert uns nad) neuen
Duellen „Marie Antoinette” und „Manon Roland”, zwei
intereflante Frauen, welche beide ihr Haupt unter das
Das Porträt der leicht⸗
ſinnigen, liebenswürdigen Königin trägt folgende ab»
ſchließende Unterfchrift:
Was Marie Antoinette als Königin geflindigt, hat fle als
Gattin und Mutter geſühnt. Sie ift von großen Fehlern,
Schwächen und Misgriffen nicht frei, nicht frei von Schuld
an der Revolution, der fie erlegen iſt. Ihr politifches Handeln
würde fie vor den Verdammungsurtheil ber Geſchichte nicht
ſchützen können; es ſchützt fie davor nur ihr mweibliches Handeln,
Das Weib in ihr rettet Die Herricherin, und diefe unwiderftreit»
bare Thatjache lehrt uns aufs neue erfennen, worin die Er
babenheit und Größe des andern Geſchlechts zu fuchen iſt. Wäre
Marie Antoinette in ihrem Glanz und ihrem Glüd immer nur
Gattin und Mutter geweſen, wie fie e8 in ihrem Misggeſchick
und in ihrer Erniedrigung war, fo hätte fie allerdings der
Welt wol ſchwerlich die allgemeine geielihaftliche Erfchlitterung,
aber der Hiftorie ohne Zweifel einen Blutfled eripart, vor
welchem noch heute die Menjchheit mit erjchlitterter Seele flieht.
Manon Roland aber nennt der Verfaſſer „die polis
tifche Seele und das vorahnende Kaffandra-Gemüth der
Gironde, den meiblihen Staatsmann der Revolution,
jenen erhabenen Geift, der von der Freiheit im Namen
der Tugend und von der Tugend im Namen ber Frei⸗
heit ſprach“.
Wenn dieſe Charafteriftifen dur) Wärme und Glanz
der Darftelung an jene Porträts revolutionärer Helden
und Heldinnen erinnern, wie fie Lamartine in feinen
„Girondiſten“ entwarf und ausfüthrte: fo find die literar-
biftorifchen, äfthetifhen und dramaturgifchen Auffäte des
zweiten Bandes durch den mobernsidealiftifhen Stand»
punkt ausgezeichnet, den auch wir ſtets und überall vertreten
Volk sthümliche Dichtungen, Erzählungen und Ueberlieferungen,
haben, fodaß wir in Wehl einen tapfern Mitkämpfer
für die echte Dichtkunſt und ihre großen Aufgaben in
einer durd den Realismus vielfach, verflachten Zeit ber
grüßen. Die Begeifterung für Schiller, die ſich nicht
blos in der Schiller-Nede: „Was Schiller feinen Deut-
ſchen iſt“, fondern namentlid) aud; in dem Aufſatz: „Goe -
the's und Schillers Einfluß auf die Entwidelung ber
deutfchen Pyrif”, ansprägt, welcher den Zufammenhang
unſerer Poeſie, foweit fie überhaupt berechtigt ift, mit
unfern Elaſſikern in einleuchtender Weife darlegt — biefe
Begeifterung ift ſichere Burgſchaft dafiir, dag Wehl bie
Bedeutung nationaler Dichttunſt richtig erfaßt Hat und
den Fortgang unſerer Nationalliteratur vom richtigen
Standpunft aus beurtheilt. Gegenüber dem namentlic,
von Laube begünftigten Realismus darftellender Kunft er»
hebt Wehl in feiner treffenden Charalteriſtik Bogumil
Dawifon’s and) auf diefem Gebiet das Banner des Idea⸗
lismus:
Die realiftifche Schule will die Wahrheit und noch einmal
die Wahrheit. Sie will fie womöglich wie fie geht und fteht,
mit Haut und Haar, mit Regenſchirin und Galofgen. Ihr
iſt ſchon der Vers, als unnatürlid zuwider. Sie hält ihn
gewiflermaßen für den Bortrag für jenen panifchen Reiter, den
men einft in der Pferdedreffur fo fange und mit fo vieler Bor»
liebe angewendet hat, und dem fie, wie biefe, fid) nun aud
vom Halfe ſchaffen will. Es ift aber doch eine cigene Sache
damit. Der Vers hemmt allerdings den freien Redefluß, aber
521
er regelt ihn aud. Er gibt ihm jene edle, gehobene Gangart,
die ehedem aud) die mit jenem Reiter dreffirten Pferde Hatten.
Alles kann natürlid; übertrieben werden, und wie man dem
Schritt und bie Bewegung unſers edelften Thiers endlich von
alzu eifernem Schulgwange freigegeben hat, fo darf man immer»
hin aud die Declamation der gebundenen Rede mehr dem Weſen
und dem thythmiſchen Inftinet der Natur überlaffen. Aber
flürzen und verbannen fol man fie nur nicht. Der deutſche
Bers iſt der fchönfte der Melt. So voll von Abel, weichem
Gall und männliger Kraft gibt e8 feinen mehr. Aber er will
aud freilich behandelt fein. Er läßt fich nicht zerbrödeln und
verſchieppen wie der engliſche, nicht ſchleifen und abmeſſen wie
der franzöflfhe, nicht fingen und fchnalgen wie der italienifche.
Er will geſprochen fein, und fein Sprechen ift eine Kunft, eine
eigene, befondere Kunft, bie noch ganz felbfländig neben der
Scaufpiellunft dafteht.
Die Charatteriftifen von Upland, Seume, namentlic,
von Adolf Glafbrenner, einem ſatiriſchen Dichter von
hervorragendem Rang, ber von ben Literargefdhichtfchrei«
bern nod; immer nit nach Gebühr gewürdigt wird,
zeigen Wehl's feinfinniges Talent und fein Streben nach
Gerechtigleit. Auch die Lebensſtizze des Unterzeichneten
ift aus der „Gartenlaube“, wo fie früher zum Abbrud
am, in bie Sammlung mit aufgenommen worden, und
wir können dem Autor file die liebevolle Beurtheilung
und auch dem zutreffenden Tadel nur aufridtigen Dant
fagen. Rudolf Goliſchall.
(Der Befhluß folgt in ber nächften Nummer.)
Volksthümliche Dichtungen, Erzählungen und Heberlieferungen.
Auch die Literatur Hat ihre Moden fo gut wie Damen-
leider, nur mit dem Unterfchiede, daß die Mode in der
Literatur meift von einem wirklich bedeutenden Werke an«
hebt, das im geiftvoller Weife, fei es in der Form, fei es
im Inhalte, eine neue Richtung eingefchlagen. So können
wir fagen, daß, obgleich es zu allen Zeiten Dialektpoefie
gegeben hat, in Süddeutſchland diefelbe eine Zeit lang
durch Hebel Mode wurde und daß fie in Norddeutichland
durch Groth und Reuter in neueſter Zeit wieder Mode
geworben ift. Die Aufgabe der Kritik wird es nun fein,
die erfcheinenden Spracherzeugniſſe der Dialekte zu prit«
fen, ob fie nur flüchtige Sonnenlinder der Mode find,
oder ob fie die Saifon überdauern werden. Es liegen
uns bor:
1. Der frieſiſche Spiegel mit einer hochdeutſchen Meberfegung
von M. Riffen. — De freske Sjemstin me en hugstiüsk
Auerseting. Altona, Mentel. 1868. 8. 1 Ihr. 15 Ngr.
2. Grain Tuig. Schmwänfe und Gedichte in fawerländifder
Mundart vom Berfaffer der „Sprideln und Spöne“.
Zweite Auflage. Soeft, Naſſe. 1866. 12. 7%, Nor.
3. Der Berggeift. Ernſte und heitere Mittheilungen aus
DMangfelde Bor- und Neuzeit in Bollsmundart von €. F.
A, Giebelhauſen. Halle, Pfeffer. 1868. 8. 15 Nor.
Der „Frieſiſche Spiegel” hat billigermeife den Bors
tritt unter diefen Werken, weil uns in ihm Nachflänge
der alten friefifchen Sprache entgegentönen, die viele
Jahrhunderte lang Fräftig an den Ufern der Nordſee er -
Mnngen und, wenn ihre Literatur auch vorzugsweife alte
chrwürdige Nechtödenfmäler aufzumeifen Hat, durch ihren
umfangreichen Bocalismus und eine gemiffe ihr ein
wohnende Kraft ſich auszeichnet. Mit jedem Yahrzehnt
nimmt das Sprachgebiet derfelben an Umfang ab, ſodaß
fie jegt nur noch in Nordfriesland, Helgoland, Wangeroog,
Saterland im Großherzogifum Oldenburg und Welt
friesland in Holland geſprochen wird; um fo dankens⸗
werther ift der Verſuch, in Liedern und Sprüden fie zu
verwerthen, um fo diefelbe, wenn nicht weiter außzubehnen,
fo doch zu erhalten und einigen Nachwuchs der frühern
Literatur zu zeitigen. Wir Haben damit ſchon die Abſicht
des Verfaſſers angedeutet, der zumächlt feinem Volie
Producte aus feiner eigenen Sprache darbieten wollte, in
melde er Geſchichte, Sage und Sitte Meidet, um die
„Naivetät und Derbheit, feinen Humor und Exnft, feine
Licbe und Sehnfucht, feine Treue, feine Hoffnung und
feinen Glauben in feiner ganzen Stärke auszudrücken“.
Dadurch hofft er zur Hebung des frieſiſchen Vollscharalters
beizutragen und dahin zu wirlen, daß das Bolt feine
herrliche Sprache nicht aufgibt.
Bon den fünf Abtheilungen des Buchs bringt bie erfte un.
ter der Ueberſchrift: „Die Heimat“, gutgemeinte vaterländi«
ſche Klänge, die zweite: „Gottes Heimat“, veligiöfe Lieder;
bie dritte enthält Gedichte, die fi an Sagen anfchliehen;
die vierte: „Unfere Sitte”, ift infofern mit der fünften,
welche Sprüce, Sentenzen und Gleichniſſe bietet, die
widhtigfte, al8 fie ung wirklich ein Stüd Frieſenthum im
engern Anſchluß an den Volksmund Bietet, und nur dieſe
beiden legten Abtheilungen rechtfertigen auch den Namen
„Der frieſiſche Spiegel“, den der Berfafier feinem Buche
gegeben. Wir heben von ben Profaftiiden „En Alkenine-
Preitai“, cine Giebelprebigt, hervor, welche eine Anzahl
echt frieſiſcher Sprüche und Wendungen enthält und wol
328
an ein vollsthümliches Mufter ſich anſchließt. Hier einige
Broben:
Mein Meifter bat von mir verlangt, eine Giebelpredigt
zw Balten über diefes neue Haus, welches wir mit Gottes
Hülfe gebaut haben. &o flehe ich hier denn hoch im Giebel
und will predigen. Ihr müſſet aber wohl bedenken, daß ich
nur ein Zimmermann bin und fein Predigen gelernt habe.
Ich bin nicht im Kiel auf der Univerfität gewejen; ich bin bei
Sammer und Kelle groß geworden und habe von meinem
Lehrer nur fo viel gelernt, daß ich eine gute Rechuung aus-
jhreiben fann.... Ja, wenn e8 mir gelingen möchte, alle
Köpfe umter einen Hut zu bringen, fo konnte ich leicht etwas
predigen; aber dg liegt der Hund begraben. Der eine hat
einen folden Sinn, der andere einen andern, der dritte ift
nicht genug gegaffelt, der vierte ift nur balbgebaden, und ber
fünfte bat feine flinf nicht beieinander und kann ſich nicht be-
finnen. Der eine ift von bem feinen, der andere von bem
groben Ende abgefchnitten. Der eine Hat einen ganzen Kopf
voll Verftand, und der andere faum einen Fingerhut voll. Der
eine macht eine breite Lippe uud fängt an zu weinen, wenn
die Schuhe etwas brüden, und ber andere tut feinen Mund
nicht auf, wenn ber Kopf aud vor Füßen liegt. Der eine
ocht wie eine Wanze, nnd der andere ftedt den Schnipp glei)
in die Taſche. Der eine winkt und plinft und Hinft nad Nor⸗
den, umd der andere kehrt ihm den Rüden zu und geht nad
Süden. Der eine ift etwas harthörig und kann nicht gut hö⸗
zen, namentlich nicht mit dem rechten Ohr, und der andere
bat ein Paar gute Ohren und ift doch noch tauber als ber
Taube. Bas fehr gut angehen kann, Leute! denn es iſt nie»
mand fo taub, als welcher nicht hören will.... Sagt es mir,
Leute, wie kann ich es denn jedem vecht machen? Gleichwol habe
ih gearbeitet wie ein Yuhrmannepferd, um eine gediegene
Predigt zu lieſern. Ich habe in vielen Nächten feinen Schlaf
darliber befommen. Ja, glaubt es mir, Kopfbrechen ift bie
ſchwerſte von allen Arbeiten. Zuletzt fam id nod auf einen
aladlichen Einfall: „Gerade fo wie du die Steine in der Mauer
nad der Schnur legſt, mußt du die Gedanken nad einer
Sqe zurechtlegen, wenn dir das Predigen gelingen ſoll.“
Meine Gedanken über den Giebel Gabe ich denn zurechtgelegt
nach der Schnur, daß ih euch ſage: „Was ein Giebel if;
er gebraucht wird, und wie weit er Über die Erbe ver-
breitet if.” Sch will euch I jagen, mas ein Giebel ift.
Gerade fo wie du felber die Nafe Über dem Munde haft, muß
dein Haus einen Giebel über der Thür Haben, fonft ift bein
Hans fein friefifhes Haus. So haben die alten riefen ihr
Sans nad) dem Manne gebaut. Der Giebel if die Nafe, die
Thür if der Mund und die Fenfter find die Augen.
Es wird dann weiter auögeführt, wie der Giebel ein
Zeichen fei für die friefifche Mutterfprache umd wie weit die
friefifche Sprache einft verbeitet gewefen fei. Auch die
Sprüche der fünften AbtHeilung ſchließen ſich vielfach an altes
aus der Volfsweisheit Ueberkommenes an, jo die Priamel:
Kon ey hulpen warde.
Deder alltidd fanget am Redd
deder Nente to Wag set;
deder alltidd snaket am en Bridd,
to de Kost et eg käme let; —
jii der alltidd bai a Priygel halt,
an de Hös fale let;
ju der Pone an Putte beslakket
an her dag eg sat et:
„kon eg hulpen wardel!“
Ihm iſt nicht zu Helfen.
Ber immer um Rath fragt,
und niemals etwas wagt;
wer immer fpricht von der Braut,
und doch vor der Hochzeit graut, —
die immer bei dem Stridwir hält,
während befien der Strumpf fällt;
Volksthümliche Dichtungen, Erzählungen und Ueberlieferungen.
die alle Pfanne und Zöpfe beledt,
und fi doc nicht fatt it noch ſchmeckt:
„dem ift nicht zu helfen!
Auch unter den kurzen Sprüchen findet ſich mandher,
der originell iſt na Inhalt und Form und fomit ein
Recht auf Aufzeichnung bat. Wenn wir noch hinzufügen,
daß der Verfaffer durch eine genaue Angabe der Laut.
bezeichnung, Webertragung der fchwierigern Worte umd
furze grammatifche Anmerkungen feinem Büchlein Beben-
tung verliefen Bat, fo wird es fich dadurch auch Fach⸗
männern bon felbft empfehlen.
Die Sammlung „rain Tuig“ (Nr. 2) Tiefert uns
wiederum einen Beweis bafür, daß die Leute bes Landes,
das fpärlich feine Bewohner nährt, darum nicht den
ichlecteften Humor haben. Es find die in dieſem humori⸗
ftifchen „Allerlei uns aufgetifchten Erzählungen, Schwänfe
und Anekdoten zum Theil recht naturwüchſig und gefund
und enthalten eim gut Theil echten Mutterwitz. Dies
fommt wol mit daher, daß der Berfafler mit ridti-
gem Talt die Stoffe in feiner fauerländifchen Mundart
wiedergibt, für welche diefer Dialekt, wie er int weſtfäliſchen
Südland geſprochen wird, gerade ausreicht. Laflen wir
uns vom Berfaffer erzählen, warum er feine Sammlung
„Brain Zuig“ betitelt hat, wie er auch dies nicht ohne
Humor auseinanderfeßt:
Dat me junge Leders und Schnurrnburfen, Schüdtters
un Backfiſte un ander Kleinvaich metunner met dem Namen
„Brain Tuig“ behlinget, um ſei dann giäll um grain weert
füar Aerger, dat me fei nau mit füar vull aufaihn wull —
dat kümmert mif nit. Un dat ufe ſäll'ge Paftauer falſt worte,
wann ſou Frailains un diergleyken int der Staat ankummen
job met Parafölltes, Sundalen, Schlaiers un Tuigſchanuhen,
un datte dann ſaggte „O Heer! bat graine Tuig is wier do!
Guatt ſtoh us bey! — dat kümmert mil auf nit; if well kei⸗
nen Menſken intſchemen. Wenn if ug grain Tuig verhaite,
dann mein if raue Xeppelfes, güllene Biätkes, jeite Plnimles,
un fan derhilic — allerdinges en mengeft en wennig unreype;
dött nix — bat kann if derfüür, darrt te Binkften innen
Surlande jchuigget hiät, den ganzen Sumer riähnt hat, to
Michäl oppem Aftenerge (Aftenberge), de grainen Sälmer oppem
Selle wier taufchnigget find, un diärlimme de Schwätffen un
Kraiken grafegrein, un Appeln un Biären Hein un ſchrumplig
bliewen find? IE jegge ments dat: grain Tuig i® em ange
nehm Dinges no der Middagesfoppe und des Owends fitlir
Berregahn, giet geſund, friſt Blout in de Odern, gurren Schlop
un ſcheine, lichte Droime. Freylik, wenn Heine Blagen teviel
annem grainen Tuige guauftert, dann trift fe Leifwäih un
ſchnitt Gefigter! Amer gutt! wenn ey ſau gutt ſeyn wellt un
laden bey meynem grainen Tuige fau harre, dat ug bet Leyf
wäih dött, unt Gefichte ganz iutem Faßonn kümmet, dat fol
mey recht leif ſeyn, un kann ey mey feinen grötteren Gefallen
dauhn. Diäm fey niu, biu diäm wolle — i⸗ winft ug gurren
Aweteyt.
Ein Vorzug dieſer Sammlung beſteht darin, daß
alle in derſelben enthaltenen Erzählungen, Sprüche und
Anekdoten nicht etwa nur aus dem Hochdeutſchen über⸗
tragen find, fondern daß fie aus dem gemilthlichen
Dialekt hervorgewachſen, in demfelben gedacht und er-
zählt find.
Nicht in gleicher Weife gilt dies von der unter Nr. 3
aufgeführten Sammlung: „Der Berggeift.” Auch fle
bietet viel Komifches und Spaßhaftes, aber einzelnes,
jo die „Schlacht am Welpesholze”, Tlingt mehr mie
aus hochdeutſcher Gejchichtserzählung in die mandfel-
der Mundart übertragen. Daß die Erzählungen mehr
00
Volksthümliche Dichtungen, Erzählungen und Ueberlieferungen. 329
Komifches als Humoriftifches bieten, Tommt zum Theil
auf Rechnung des Dialekts, der dem Erzähler felbft
dieſe Schranke fest, und es wird in den Gegenden,
wo biefer Dialekt belannt ift, an Leſern nicht fehlen,
die fi lange Winterabende auf Furzweilige Weife ver»
treiben wollen.
4. Aberglaube und Sagen aus bem Herzogthum Dfdenburg.
Herausgegeben von 8. Straderjan. Zwei Bände Ol⸗
denburg, Stalling. 1868. Br. 8. 2 Thlr.
5. Der Bollsmund in der Mark Brandenburg. Sagen, Mär-
hen, Spiele, Spridmwörter und Gebräuche, gejammelt und
herausgegeben von A. Engelien und W. Lahn. Erſter
Theil. Berlin, W. Schulte. 1869. Gr. 8. 25 Nor.
6. So fprehen die Schwaben. Spridwörter, Redensarten,
Reime gefammelt von A. Birlinger. Berlin, Dümmiler.
1868. 16. 12 Ngr.
Die drei vorftehenden Sammlungen verfolgen ſämmt⸗
lich wilfenfchaftlihe Zwede. Sie wollen durch möglichft
objective Ueberlieferung des vorgefundenen Stoffs ein ge⸗
trenes Bild des Bollögeiftes geben, wie er fich in feinen
Glauben, Bräuchen und Sprüchen abfpiegelt.
Die Sammlung von Straderjan (Nr. 4), bisjegt
die umfänglichfte von den genannten, verfügt über ein fo rei=
ches Material, dag wir darauf verzichten müſſen, eine auch)
nur annähernd erfchöpfende Charakteriſtik deſſelben zu ge«
ben. Sie gibt außerdem mehr als fie verfpriht, indem
fie außer den Mittheilungen aus dem Gebiete des Aber⸗
glaubens und der Sage noch Schwäne, Bräuche, Reime
und Räthfel enthält.
Das erfte Buch handelt von den unperfönlichen Gefegen,
das zweite vom Spuk, das dritte von übernatürlichen
perfönlichen Wefen. Im vierten Buche wird das Wirkliche
in feinen Beziehungen zum Aberglauben abgehandelt, das
fünfte Buch enthält Märchen und Schwäntle.
Wie der Glaube auf dem Gefühl der Abhängigkeit
don Gott beruht, fo entfpringt der Aberglaube wefentlich
aus dem Gefühl der Abhängigkeit von Mächten und
Kräften, file welche weder in den ihm befannten Natur»
gefegen noch in ber geläuterten Religionslehre fich ein
Blog findet. Eine feite Begrenzung des Aberglaubens
läßt ſich nicht aufftellen, und es wird ſtets Glaubensſätze
geben, welche zwifchen Glauben und Aberglauben gleich
fam eine Vermittelung bilden. Der Verfaſſer will nur
die Slaubensfäge zum Aberglauben rechnen, welche, fowol
in den Augen des Priefters als auch des gebildeten Laien
als Aberglaube anzujehen find.
Diie Ueberreſte heibnifchen Glaubens, welche ſich im
Herzogtfum Oldenburg als Aberglauben erhalten ha»
ben, laſſen fih auf die Frieſen und Sachſen zurüd»
führen. Die Priefter, welche ihnen das Chriſtenthum
verfündeten, führten die guten Wirkungen der Götter»
welt auf chriftliche Mächte zurüd, die böfen übertrugen
fie auf den Teufel, Gefpenfter und Hexen. Donar's
Farbe, die rothe, ward die Farbe des Teufel, der rothe
Donar ftedt noch in dem „roden Jan Harm und
dem Rattmann, die den Wildenloh bei Oldenburg fo uns
heimlich, machen”. Auch die vorliegende Monographie,
welche um fo wichtiger ift, als uns ein forgfältig ger
fammeltes, reiches Material vorliegt, beftätigt, daß der
Aberglaube des Volks in den verfchiedenen Gegenden ein
ziemlich gleichartiger ift, was wiederum auf gleiche mytho⸗
1870. 21.
logiſche Anfhauungen als gemeinfame Grundlage zurüd-
deutet. Während man geneigt fein könnte zu ver-
muthen, daß, wie dies bei Island im großen der Fall
ift, fo hier Oldenburg im Fleinen, weil fpäter und weni»
ger gewaltſam befehrt als andere Länder und von dem
großen Verkehr abgelegen, ein anderes, älteres Gepräge
des Aberglaubens bieten müſſe, wird diefe Vermuthung
durch die vorliegende Sammlung nicht beftätigt. Eie er-
gibt vielmehr das Refultat, dag Oldenburg in Bezug
auf die Geftaltung des überlieferten Aberglaubens nur
auf der Durdjfchnittshöhe fteht, ja daß viele Gebirgs-
gegenden ihre Ueberlieferungen oft treuer bewahrt haben.
Nur in Bezug auf die Walridersken und ‚Heren findet
fich reicheres und eigenthüümlicher ausgeprägtes Material.
Der Herxenglaube ift fehr fuftematifch gegliedert. Die
Heren haben ihre Lehrzeit; das Vermögen, gefchwänzte
(weiße) Mäuſe zu machen, ift ein Kennzeichen der nun
vollendeten Lehrzeit. Die Hexen fünnen machen was fie
wollen, aber weſentlich ift ihre Thätigkeit darauf gerichtet,
Böfes zu fliften, und Böfes müſſen fie thun, fie mögen
wollen oder nit. Sie können Menfchen und Vieh krank
machen, Unwetter erregen, den Regen beheren, daß das
Zeug auf der DBleiche ſchwarz wird, Früchte verderben,
Ungeziefer erzeugen u. f. w. Die Walriderske, Walrie-
fche, Weilridersfe kommt zu dem fchlafenden Menſchen
meift in Geftalt eines rauhbehaarten Thiers, legt fich
ihm auf die Bruft und drüdt ihn fo, daß er fich nicht
regen und kaum noch athmen kann. Die Erfcheinung
gleicht bald einem Pudel, bald einer Katze; ihre Farbe
ift meift Schwarz, aber auch braum oder weiß. Mitunter
find es auch Weſen menfchlicher Bildung, welche ſich
zu dem Schläfer gefellen.
Auh Sagen und Märchen hat der Berfafler feinen:
Werke angereiht, weil die Sage nur eine befondere Form
des Aberglaubens ift, und an die wiederum unter fich
verwandten Sagen und Märchen ſchließt er eine Anzahl
von Schwünfen und Legenden, welche zu der Form, in
der wir anderwärts diejelben Stoffe finden, manche inter-
effante Varianten bieten.
„Der Bollsmund in der Markt Brandenburg”, von
A. Engelien und W. Lahn (Nr. 5), bildet eine Ergän-
gung zu der von Kuhn und Schwark veranftalteten Samm-
lung „Norddeutſche Sagen” und enthält: Bolksfagen,
Märden, Kinder» und Spielreime, Räthſel und Scherz.
fragen, Sprücde und Sprichwörter und endlich Sprüche,
Lieder, Formeln, die fih auf Sitten und Gebräuche des
Bolfs beziehen. Im folgenden Bande follen Infchriften
und Wahrzeichen an Häufern und eigenthilmliche Grab»
jchriften vertreten fein, auch fol derfelbe ein Wörter:
verzeihnig aus den Dialekten mit etymologifchen Erflä-
rungen enthalten. Als Vorzüge des Werks treten hervor:
die getreue Wiedergabe des Stoffs und die fehr danlens-
werthen Anmerkungen, welche locale und ſprachliche Er-
läuterungen enthalten.
Anton Birlinger hat in feiner Sammlung: „So
Iprechen die Schwaben” (Nr. 6), Spridywörter, Bauern»
regeln, Sprichwortartiges, Lebensregeln und Hausreime
aus dem Schwabenlande zufammengeftelt. Seine Fund-
orte find Schwaben zwifchen Iller und Lech und das
würtembergiſche Gebiet bi8 an den Oberrhein. Die
42
[F “ =, , ut m 2 * Fr Lese u “
—— ——— — ————
Fi
330
Sprichwörter, Bauernregeln und Redensarten find alpha-
betifch georhnet, und dem Ganzen find, da die Mundart
beibehalten wurde, am Schluß des Ganzen fprachliche
Erläuterungen beigegeben, Das Heine Heftchen enthält
manches dhargkteriftiiche Kraftwort und bürfte allen, bie
fih für Schwaben intereffiren, eine willfommene Gabe
fein. Zum Schluß einige Haus⸗ und Zimmerreime, in
denen und Reminifcenzen aus mittelalterlicden Dichtungen
(fo aus „Freidank's Beſcheidenheit“ u. f. w.) mit den
neuern Producten des Vollsgeiſtes vereint entgegentreten:
Neines Herz, frober Muth,
Steht zu allen Kleidern gut.
Guter Wein, rein und gut,
Junget alter Lente Mutl.
Ein Hausreim in Kinbingen:
Loß die Neider neiden,
Laß die Haffer haſſen;
Zur focialvreformatorifhen Literatur.
Was uns Gott bejcheret bat,
Das wird er uns dod Taffeı.
In Müsringen (Schloß):
Gott behlit diefes Haus jo lang,
Bis ein Schned die Welt ausgang :
Und ein Ameis durft fo fehr,
Bis fie austrinft das ganze Meer!
In Gundelfingen:
Biele find, die tadeln mid,
Doch ich glaub’: fie irren ſich.
Das if das Beite in der Welt,
Daß der Tod nimmt an kein Gelb:
Sonft würden die reichen ©efellen
Die Armen vor die Lucken ftellen!
Wer bauet an die Straßen,
Muß die Leute reden laſſen.
Eugen Kabes.
Bur focialreformatorifchen Literatur.
GBeſchluß aus Nr. 20.)
1. Kapital und Arbeit. Reue Antworten auf alte Fragen.
Bon E. Dühring. Berlin, Eichhoff. 1865. Gr. 8,
- 1 Thle. 5 Ngr.
2. Die Berkleinerer Carey's und die Kriſis der Notionalölonomie.
Sechzehn Briefe von E. Dühring. Breslau, Trewenbt.
1867. Gr. 8. 1 Thlr.
8. 3. St. Mill's Anfichten über die fociale Frage und die an⸗
geblihe Ummwälzung der Socialwiſſenſchaft durch Carey.
Bon F. a 9% Duisburg, Fall und Lange. 1866.
Gr. 8.1 r.
4. Carey's Socialwiſſenſchaft und das Mercantilſyſtem. Cine
fiteraturgefchichtlicde Parallele von Adolf Held. Würzburg,
Stuber. 1866. ©r. 8. 1 Thle. 6 Ngr.
5. Der Broletarier. Drei BVorlefungen zur Orientirung in
der fpeialen Frage. Bon Johannes Huber. Münden,
Lentner. 1865. 8 15 Nor.
6. Die confervative Sociallehre. Mittels Erörterung von Tages»
fragen erläutert von M. von Lavergne- Peguilben.
Erſies Heft: Die Concurrenz und die Gliederung der Staaten.
Berlin, 5. Schulze. 1868. Gr. 8 15 Nor.
7. Die Eomfumvereine, ihr Weien und Wirken. Nebſt einer
raftiihen Anleitung zu deren Gründung und Einrichtung.
uf Beranlafjung des ſtändiſchen Ausichuffes der deutſchen
Arbeitervereine herausgegeben von Ednard Pfeiffer.
. Stuttgart, Kröner. 1865. 16. 15 Nr.
8. Die auf Selbſthülfe gefügten @enoffenfchaften im Handwerker⸗
und Arbeiterfiande. Borträge, gehalten im Fortbildungs-
verein für Buchdruder in Wien am 25. Februar, 4. umd
11. März 1866 von Mar Menger Bien, Czermak.
1866. Gr. 8. 6 Rgr.
Es ift faft unmöglich, fi in der Literatur der mo-
dernen Volkswirthſchafter zu [bewegen, ohne von dem
Barteiwefen präoccupirt zu werden. Borläufig wird auch
fchwerlich jemand den Muth haben, fich bereit darüber
ſchlüſſig zu machen, ob eine Ausgleihung der nah Mill
und Carey vertretenen Gegenſätze ber Socialwiſſenſchaft
zu erwarten fteht, ob nicht. Man ift in der That auf
beiden Seiten zu fehr mit der Offenfiv-Defenfive gegen
die andere Seite befchäftigt, als daß man recht ernfthaft
daran. arbeitete, die eigenen Kernpofitionen unangreifbar
zu machen. Die ganze focialwifjenfchaftlihe Bewegung
gleicht einem wilden Kriegsgewühl, deſſen frategifche
Situationen um fo ſchwerer Marzuftellen find, als bie
Bannerzeichen und das Feldgeſchrei auf beiden Seiten die⸗
felben find, während die gleichen Farben und die gleichen
Worte da8 Entgegengeſetzte bedeuten.
Es kann nun nicht entfernt unfere Abficht fein, an
diefer Stelle eine Ueberficht des Kampfes zu geben, oder
ung auf die eine oder andere Seite der Kämpfenden zu
fielen. Wir berühren nur flüchtig einige Erfcheinungen
der bierhergehörigen Literatur, wie fte eben ber Zufall
auf dem Büchertifche zufammengeführt Hat. Manche die-
fer Schriften hätte, was durchaus nicht in Abrede ges
ftellt werden mag, wol ſchon früher ihre Titerariiche An⸗
zeige finden follen, wenn nicht die politifchen Ereigniffe
der legten beiden Jahre, indem fie den Geſammtbeſtand
der enropäifchen Ordnungen theils ſchon mobdificirten,
theils weiter in Frage ftellten, die Discuffion der focialen
Reform in den Hintergrund gebrängt hätten. Sekt eben
erhebt ſich dagegen die fociale Bewegung, theils als ſolche,
theils als politifche Exrfcheinungsform, allenthalben zu
neuem Aufſchwung. So fordern nicht nur die reforma-
toriſchen Theorien auf dem Gefammtgebiet, fondern auch
die praltifhen Beftrebungen zu Berbeflerungen, welde
man vom Standpunkt der Wiſſenſchaftlichkeit blos als
Palliative in fpeciellen Richtungen der Gefammtfrage aufr
faſſen mag, ihre ernenerte Berüdfichtigung.
ALS einen der eifrigften Verbreiter und Erläuterer des
Carey'ſchen Syftens ift man gewohnt E. Dühring in
Berlin zu betrachten. Seine „Briefe über Carey's Um-
wälzung der Volkswirthſchaftslehre und Socialwifjenfchaft”
baben jenen jedenfalls überaus bebeutfamen Volkswirth⸗
Ichafter zuerft in Deutfchland populär gemacht. Nach-
dem dann Dühring in „Sapital und Arbeit; neue Ants
worten auf alte Tragen“ (Nr. 1), mit Feſthaltung des
Carey’fchen Syſtems, ſich gegen die von ihm als anti⸗
ſocial bezeichnete Richtung gewendet hatte, rettete er für
Carey namentlich auch die Priorität gewiſſer Aufftellun«
gen, die er früher ſelbſt Baſtiat's „Delonomifchen
Zur focialreformatorifchen Literatur.
Harmonien” zugeftanden hatte und bie auch das volls⸗
wirthfchaftliche Fublkum Baftiat zuzuſchreiben nur allzu
gewohnt war. Ob die Bezeichnung Baſtiat's als eines
Plagiarius mehr Werth al den einer polemifchen Formel
hat, bleibe unentfthieben. Unzweifelhaft verdanken mir
dagegen Dühring den Haren Nachweis der Thatfache,
daß Garey’s öfonomifches Syſtem fid) als folgerichtige
Weiterentwidelung und Confequenz der Liftjchen Grund»
züge darſtellt. Carey felbft Hat die and) niemals in
Abrede geftellt und dies noch jüngfthin in feiner „Review
of the decade 1857—67 mit den Worten anerkannt:
„Das deutſche Europa wird das Monument Friedrich
Lif's fein” Dühring fügt dazu die Ueberzeugung: „Unfer
Liſt wird als der erfte nationalöfonomifche Denker erfannt
werden, welchen die Alte Welt im 19. Jahrhundert hervor»
gebracht hat; von dieſer Erkenntniß wird das weitere Schid«
al der Theorie abhängig fein, und das, was wir jet als
Theorie im vollen Bewußtfein feiner Tragweite feitftellen,
wird unter der Fahne des deutſchen Geiftes die Jahr⸗
Hunderte anfflären und civilificen helfen.”
Daß ein fo begeiftertes Apoftolat ber Carey'ſchen
Doctrin nicht ohne Polemik gegen andere fociafmifjen-
Tchaftliche Richtungen beflefen Kann, ift felbftverftändlich;
es ſchließt motäwendig jede eklektiſche Gonceffion aus.
Dühring hat fehr viel in biefem Sinne gefämpft, doch
dabei zugleich Carey's Hauptwerfe und die verſchiedenen
Entridelungsftudien feines Syftems durch Ueberfegungen
und Erläuterungen dem deutſchen Publikum nahe gebracht.
„Die Berleinerer Carey’8 und die Kriſis der Natio«
nalöfonomie" (Mr. 2) madjt num in ungebundener Brief
form faft nad alfen Seiten gleichzeitig Tront. Und for
gar nicht allein gegen die principiellen oder zufälligen
Widerſacher Careys, fondern man Könnte beinahe fagen,
gegen jeden, der im großen und ganzen oder auch nur
im Einzelheiten eine von Carey abweichende Anficht ver-
tritt. Alle ſechzehn Briefe find durchaus polemiſcher Natur.
Sie follen zeigen, „was bie haupiſächlichſten feiner Ber»
Heinerer find ober vielmehr nicht find“, nachdem ber Ber«
faſſer in feinen Briefen über „Carey’s Ummälzung der
Boltswirtäihaftslehre und Socialwiffenschaft” dargelegt
Habe, „was Carey iſt“. Die erſten zehn Briefe wenden
fich indeffen namentlich gegen Baftiat und deſſen Mei-
mungsgenoffen, dann gegen Stuart Mil und Roſcher.
Die legten ſechs Briefe gelten vorzugsweiſe ben Kritifen der
von Dühring vertretenen Standpunkte hinſichtlich der von
ihm demonftrirten Kriſis der Nationaldfonomie. In ber
Form und Abficht diefer brieflichen Expectorationen mag
68 liegen, daß ihr bitterer Humor und ihre Gereiztheit,
ihr Aneinanderreihen des Verſchiedenartigſten und ihr Aus-
einanderreißen des Zufammengehörigen für die Betroffenen
möglicherweife recht ſchmerzhaft ift; dem unbetheiligten
Lefer dagegen, welcher fi vorurtheilsfrei unterrichten
möchte, erfcheinen fie namentlich in ihrer erften Hälfte
weder belehrend noch erquidlich, weder überzeugend für
Carey oder Dühring noch entfräftend gegen andere Stand»
punkte. Die Perfonenibolatrie und ihr Gegenfag find der
wiffenfchafflichen Üeberzeugungskcaft immer feindlih. Daß
das Werk der wiſſenſchaftlichen Begründung einer focialen
Reform und neuen Vollswirthſchaftͤlehre bei einem größern
Publitum dadurch gefördert werde, möchten wir lebhaft
331
bezweifeln. Bei denen aber, welde Mil, Carey, Baftiat,
Rofcher, Lange, Dühring u. f. w. zum Gegenftand ihrer
fo eingehenden Studien gemacht haben, wie fie bie Briefe
des Verfafſers offenbar vorausfegen, werden wiſſenſchafi -
liche Anflagen, welde blos durch aus dem Bufammen-
hang gerifjene Säte belegt find, ebenfo wenig als flüchtige
Spöttereien mühfam gewonnene Ueberzeugungen brechen
oder neue Anfchauungen begründen. Wer allzu viel be»
weifen will, fommt leicht in bie Gefahr, nichts zu be
weifen. „Dan merkt bie Abſicht“ u. ſ. w.
Daß in der —— Broſchüre namentlich auch
Albert Friedrich Lange zu denen gehört, über deren Wiſſen
und Konnen ſich die Schale ihres Zorns, oder wie man
es ſonſt nennen mag, reichlich ergießt, verſteht ſich nad
der befannten Stellung Lange's zu den Lehren MilPs fo
ziemlich von felbft. Ya, es fcheint, als ob die Arbeit
Lange's über „I. St. Mill's Anfihten über die fociale
Frage und bie angebliche Ummälzung der Socialwiſſen-
haft durch Carey“ (Mr. 3) einen Hauptanſtoß zu den
Dühring’fchen Briefen gegeben habe. Es ließ fih von
Garey’8 unbedingten und fanatiſchen Anhängern, die fi
doch wiederum ärgerlich dagegen wehren, als deffen Nach-⸗
beter ober Apoftel aufgefaßt zu werben, freilich aud nur
ſchwer erträgen, daß Lange die allgemeine Antsendbarkeit
der Carey ſchen Lehren in Abrede ftellt, indem er „mit
voller Sicherheit” ausfpricht: „daß Carey's Werk auf dem
Boben der amerifanifhen Literatur als eine bebeutende
Erſcheinung gelten und als ſolche auch von uns anerfannt
werben durfte; daß dagegen die Ueberfhägung feiner po⸗
fitiven Leiftungen in Dentfchland eins der traurigften
Zeichen wiſſenſchaftlicher Verwilderung ift, welche die lege
ten Jahrzehnte hervorgebracht Haben“. Indeſſen ift Lange,
wie überhaupt fein doctrinärer Fanatiler, fo durchaus kein
perfönlicher Widerſacher Dühring’s. Im Gegentheil, er
ſtimmt mit ihm in der wiſſenſchaſtlichen Verurtheilung
Mar Wirth’, Schulze's von Deligfch und anderer, der
Mancheſterſchule naheftehenden Vollswirthſchafter überein,
infofern als diefe den Carey’fchen Optimismus in einem
Sinne gebrauchen, „der Carey's eigenen Grunbfägen völlig
fremd ift“, während er zugleich die volle Anerkennung
dafür hat, daß Dühring ſich bemüht Habe, „Carey in
feinem wahren Lichte zw zeigen, und zugleich verfucht,
auf Carey's Grundfägen felbft auch weiter bauend, ge-
ade die reformatorifche Seite dieſes Syſtems hervor-
zufehren“. Allein ſchmerzlich mag allerdings der Zuſatz
berühren, „daß Dühring mit feinen eigenen Borfclägen
dem gefchmäßten DIN weit näher fteht als Carey; ja,
daß fogar ber Anſpruch der Neuheit, ben er fir feine
Reformvorfchläge erhebt, von Mill — und theilweife von
dem noch viel gröber geſchmähten Laſſalle — mit Erfolg
beftritten werben Tönnte, während fid für den Zuſammen-
hang berfelben mit Carey nichts Stichhaltiges vorbringen
Täßt”. Dies wird dann aud) des Weitern entwidelt, und
zwar gerade nad den Dühring'ſchen SHauptariomen:
1) Untrennbarkeit der politif gen Wunctionen von den
wirthſchaftlichen Beftrebungen; 2) Trennung von Staat
uud Geſellſchaft; 3) Feſthaltung des eigenthümlich natio-
nalen, a mals; 4) Beſchränkung, nit Aufhebung
er Rechte.
In diefer Ausführung findet die Schrift ihren parteie
42°
332 Zur focialreformatorifchen Literatur.
mäßigen Abſchluß. Wefentlicher für den Lefer, welcher
der Discuffton der Doctringegenfäge nicht in erfter Reihe
nachgeht, erfcheinen dagegen die fonftigen Erläuterungen
des Mill'ſchen Syſtems und die daran mit lebhafter
Wärme gefnüpften Befpredjungen der „foctalen Trage“
aus dem, neben Mill, feine Eigenthümlichkeit wahrenden
Standpunkte Lange’. Weilt er auch namentlich die Be⸗
ſchuldigung gegen Mill, als fuche diefer die Frage über
die Nothwendigkeit einer focialen Umgeftaltung zu umgehen,
mit ſcharfem Geift und einfchneidender Logik nicht blos ab,
fondern wendet er fie fogar fpeciell auf Carey's Syftem an,
jo geht er doc) zugleich in feinen eigenen Anforderungen
und LRöfungsvorfchlägen noch bedeutend weiter ald Mill.
Trotzdem ift ex felbft für Carey's Verdienſte in beftimm-
ten focialreformatorischen Richtungen Teineswegs blind.
Beſſere VBollserziehung, ein Gefchichtsunterricht, welcher
nicht von „Berherrlihung der brutalen Gewalt und der
Berhöhnung und Berleumdung des zertretenen Edelmuths“
ftrogen dürfe, Verlegung des Mittelpunfts des Volks⸗
unterrichts „in die zum Fortlommen bienlichen Kenniniſſe“,
Zurückdrängung der „religiöfen” Erziehung, welche aller-
dings „rei an guten Elementen” fei, aber aud) „zur
Befeftigung einer Herrfchaft diene, die mit der Entwür-
digung der Erwachſenen dasjenige zwiefach wieder ver-
dirbt, was mit der Pflege der Jugend gut gemacht wird’ —
dies gilt ihm als Element der focialen Zufunftsreform.
Für die Gegenwart follen Geſetze gejchaffen werden, welche
den freiwillig entftehenden communiſtiſchen und focialiftis
fchen Genoſſenſchaften volle Freiheit der Bewegung geben
(Coalitionsrecht); die Vererbung fol nur in gerade ab-
fteigender Linie erfolgen; die Freiheit des Vermächtniſſes
mit einer ftarfen Erbichaftsftener verbunden fein u. f. w.
Man hat der Lange’fchen Schrift von verfchiedenen Sei-
ten den Borwurf gemacht, dag fie die Erhöhung des
Arbeitspreifes zu fehr als Poftulat und Selbſtzweck hin⸗
ftelle, ohne daß fie bedenke, wie deren factiſche Verallge⸗
meinerung, durch ein Steigen aller Preife und ein Sin-
fen des Geldwerths, einen Theil ihrer in Ausficht ge»
nommenen Wirkung fofort vereiteln müffe, womit natür-
Ich aud das ganze geftellte Verlangen befeitigt werde.
Man kann auch nicht in Abrede ftelen, daß die Lektüre
des Buchs diefen Eindrud macht, und daß ſich den Lefer
eben nur aus biefem unfichern Standpunkt heraus erklärt,
wie „als höchſter Act der Selbſthülfe“, deren wichtigfter
Theil dennoch, wie nad Lafjalle, der politifche fein fol,
die Staatshilfe beanfprucht werden mag.
Da es nicht in der Aufgabe diefer Zeilen Liegen ann,
den einzelnen Anfichten der intereffanten Lange'ſchen Schrift
weiter zu folgen, erwähnen wir an diefer Stelle fofort
eine Inanguraldisputation Adolf Held's, melde unter
dem Titel: „Carey's Socialwiſſenſchaft und das Mercantil-
ſyſtem“ (Nr. 4) fih zur Aufgabe fest, in literatur-
gefchichtlicher Parallele das Gemeinfame bei den Schrift«
ftellern verfchiedener Jahrhunderte in Bezug auf die Frage
nad) der relativen Berechtigung der Schußzölle und dem
jelbftändigen Einfluß der circulivenden Geldmenge nad)»
zuweiſen. Wir haben es zunächft mit der objectiven Ueber-
fit der diesfallfigen hervorragendften Literarifchen Be-
mühungen aus den letten Jahrhunderten und bei den
bauptfächlichften Culturvöllern zu thun, ohne bie vom
Verfaſſer daraus felbftändig gefolgerten Anſichten anders
als in allgemeimen Andeutungen Iennen zu lernen. Dies
ift dem Weſen einer Inauguralſchrift freilich angemeſſen.
Indeſſen läßt deren zweite und drittes Buch, welche ſich
mit Carey fpeciell befchäftigen, keinen Zweifel darüber,
daß Held defien Standpunkt in Bezug auf das Mercantif«
ſyſtem als einen Nüdjchritt betrachtet, der nur durch
wiſſenſchaftliche Inconfequenzen der Lehre und fehr fpes
cielle Conceſſionen an die Praris der gegebenen Berhälts
niffe Amerilas erklärbar werde.
Wenn aber die bisher berührten Theorien, fo ver
Schiedenartig auch ihre Ausgangs⸗ und Zielpunkte fein
mögen, eine Aenberung der Thatfächlichkeit unſers Staats«
und Gefellfchaftswefens als unumgängliche Vorausſetzung
der Möglichkeit ihrer Verwirklichung im Auge halten, ſo
darf doch auch jener Standpunkt nicht außer Acht ge—⸗
Laflen werben, welcher in den beftehenden politifchen und
nationalöfonomifhen Zuftänden die natirlihen Grund»
lagen zur Entwidelung der Wohlfahrt der arbeitenden
Volksſchichten erkennt. Johannes Huber, als con«
jervativer Socialpolitifer fchon genugfam befannt, Hat
auch in feinen unter dem Gefammttitel „Der Proletarier‘‘
zuſammengefaßten „Vorlefungen zur Orientirung in der
focialen Frage“ (Nr. 5) diefen Standpunkt feftgehalten.
Der Schwerpunft feiner Ausführungen liegt in dem Nadj-
weile, daß die Wohlfahrt des Proletariats nicht mit der
focialen Demokratie, fondern mit dem conftitutionellen
Königthum folibarifch verbunden fei. Staatshilfe, foweit
möglich, für die Affociationen, in denen er das vorzlig-
lichſte Kettungsmittel für die Arbeiterklaſſen erkennt, ift
die aufgeftellte Borderung. Aber fie nimmt dafür aud
da8 Hecht des Staats zu einer überwachenden Regelung
ber Ermwerbsthätigleiten in Anſpruch, durch welches allein
eine Organifation der Arbeit, eine proportionale Annähe⸗
rung zwifhen Production und Confumtion, ermöglicht
werden könne.
Daß diefe radicale Umkehr aller jetzt praftifch gelten
den Beftrebungen auf focialem Gebiet eine Hoffnung auf
Berwirkliihung Habe, ift kaum denkbar. Um fo inter-
eflanter erfcheint aber „Die confervative Sociallehre”
(Nr. 6), welche von dem auch politifch befannten M. von
Lavergne-Peguilhen „mitteld Erörterung von Tages⸗
fragen erläutert“ werden fol. Denn ber Berfafier Hält
fpeciell die norddeutjche Bundesverfaffung im Auge, welde
„überall den Grundgefegen ber confervativen GSociallehre
entfpricht”, fodaß letztere „‚ebendeshnlb” berufen fei, „den
weitern Ausbau des Bundeskörpers vorzuzeichnen“, wobei
in Betraht komme, daß „die zur Bunbeseinheit vor«
gejchrittenen Staaten durch den Einfluß des Liberalen
Delonomismus, refp. der Specialprincipien von 1789 mehr
oder weniger erkrankt find, daß das Gedeihen des Bun-
de8 auf der Heilung feiner Glieder beruht, daß dieſe
Heilung gleichzeitig mit der weitern Entwidelung des
Bundesförper8 anzuftreben iſt“. Der Berfafler will nun
in feinem Buche „die dieferhalb zu verfolgenden Wege im
Detail beſtimmen“. Bisjetzt Tiegt jedoch nur das erfte
Heft unter dem fpeciellen Titel: „Die Concurrenz und
die Gliederung der Staaten”, vor, welches fich wieber in
acht Abfchnitte zerlegt, deren weitern Erörterungen zu
folgen der uns zugemeflene Raum verbietet, Bemerken
EA
Ds ME 55— — —
Eine Ueberſetzung der „Bhagavad-Gita“. 333
wir nur, daß die betreffenden Aufſätze bereits in den
Glaſer'ſchen „Jahrbüchern“ abgedruckt waren.
Wenngleich die moderne Socialwiſſenſchaft den Schulze⸗
Delitzſch'ſchen Beſtrebungen zur aſſociatoriſchen Drgani-
ſation der Selbſthülfe aus ihrem theoretiſchen Standpunkt
eine mehr als ephemere und palliative Bedeutung zuzu⸗
geſtehen nicht geneigt iſt, ſo wäre es doch mehr als partei⸗
blinde Befangenheit, ablengnen zu wollen, daß das Schulze’
ſche Genofienfchaftswefen in dem focialen Leben ber heu⸗
tigen Ürbeiterbevölferung einen Factor von überaus wich⸗
tiger Tragweite bildet. Mag man demnach aus jener
focialreformatorifchen Perfpective heraus, die den factiſch
gültigen Grundlagen unferer focialpolitifchen Zuftände —
und ficherlich nicht ohne ethifche Berechtigung — den Krieg
erklärt, dieſe Beftrebungen zur Berbeflerung der Tage des |
Handwerker» und Arbeiterftandes befehden, dem nicht»
politiichen Gefchäftspraftiler werben die deutfchen Arbeiter
vereine fortdauernd einen der höchſten Beachtung würdigen
Gegenftand bilden, deren Entwidelungen und Geftaltungen
er aus dem Kreife feiner Berechnungen nicht ausjchließen
darf. Je vielfacher und fanatifcher aber zugleich die Be»
firebungen derjenigen focialen Agitatoren find, welche die
Arbeitermaffen fiir die Laſſalle'ſchen und verwandte Bes
wegungen zu gewinnen unb fie mit glänzenden Zukunfts⸗
hoffnungen von der freilich nüchternen und glanzlojen
Arbeit für die bloße Erleichterung ihrer gegenwärtigen
Bfonomifchen Tage abzulenken fuchen, deſto willlommener
erfcheinen diejenigen Erläuterungen des Schulze'ſchen
Syſtems und feiner praftifchen Organijationen, welche
in gemeinverftändlicher Einfachheit deren Mittel, Wege
und Endziele nad) den verfchiedenen Richtungen der orga-
nifirten Selöfthülfe dem zunächſt betheiligten Publitum
vor Angen ftellen. Diefe Auffafiung mag es rechtferti⸗
gen, wenn wie aus ber zahlreichen Literatur bierherge-
böriger Schriften ein paar herausgreifen, welche unjers
Erachtens diefem Zweck befonders entſprechen. Die eine
davon, wenn auch ältern Datums, Tann man wol als
einen praltiſchen Katehismus der Schulze» Deligfch’fchen
Affociationsbeftrebungen bezeichnen. Es ift die im Auf-
trag des ftändigen Ausfchuffes der deutjchen Arbeiter-
vereine von Eduard Pfeiffer bearbeitete Darftellung:
„Die Confumvereine, ihr Weſen und Wirken; nebft einer
praftifchen Anleitung zu deren Gründung und Einrid)-
tung” (Nr. 7). Sie geht von einer Einleitung aus, welche
objectiv die nach den verfchiedenen Verhältniſſen und Tän-
dern verfchiedenen Geftaltungen der genoflenfchaftlichen
Beftrebungen ſchildert und dann vornehmlich die englischen
Confumvereine ins Auge faßt. Aus einer hiſtoriſchen
Ueberficht ihrer Oeftaltungen in Deutſchland, Frankreich
und der Schweiz entwidelt fih dann ungezwungen die
Erörterung ihres Zwecks und Nugens, fowie die Ver⸗
gleihung ihrer Organifationen. Der ausführlichen „prak⸗
tiſchen Anweifung zur Einrichtung der Confumvereine”
find als praftifche Schemata die Statuten des Manchefter-,
Delitzſch'ſchen und ftuttgarter Confumvereins angefügt.
Trotz der, wie jedermann weiß, liberrafchenden Ause
dehnung und Berbreitung, weldhe das Genoffenfchafts-
weien nad) Schulze’fchen Principien im deutſchen Hand⸗
werler- und Ürbeiterpublilum binnen relativ kurzer Zeit
gewonnen hat, fonnte fich dafjelbe in Defterreich, befon-
ders auch in deffen deutfchen Landen, eines gleichen oder
auch nur ähnlichen Erfolgs Teineswegs erfreuen. Es
fommen bier freilich fo verfchiedenartige Lebensgeftaltungen
und Bildungsftufen in Frage, daß felbft heute, da poli«
tifche Hinderungen der genoffenfchaftlidhen Entwidelung
fogar weniger als in Deutſchland entgegenftehen, ſchwer⸗
lich ſchon in nächſter Zeit eine Stärke und Lebhaftigkeit
der aflociatorifchen Beſtrebungen zur Verbeſſerung ber
öfonomifchen Lage der Arbeiterbevölferung, gleich der deut⸗
fhen, zu erwarten if. Um fo Iebhafter find aber bie
Bemühungen patriotifcher Nationaldlonomen anzuerkennen,
um fie aud) Bier in Gang zum bringen. Und im biefer
Beziehung nehmen die Vorträge Mar Menger’s im
wiener Yortbildungsverein fir Buchdruder, welde unter
dem Zitel: „Die auf Selbfthlilfe geftütten Genoſſenſchaf⸗
ten im Handwerker⸗ und Arbeiterſtande“ vorliegen, eine
höchſt beachtenswerte Stelle ein. Sie behandeln ihr
Thema binfichtlich der allgemeinen Gliederung bes hifto-
riſchen Theils ähnlich wie das Pfeiffer’fche Bud. Aber
dem weitern Zwed ihrer Darftellung entjprechend, widmen
fie den Borfhuß-, Konfum-, Nobftoffvereinen, fowie ben
Bangenofienfchaften, Productivvereinen und Magazin-
vereinen je befondere Erörterungen, um ſchließlich die
Anwendbarkeit der befprochenen Genoflenfchaftsformen unter
den fpeciellen Berhältniffen Defterreih8 noch befonders zu
beleuchten. Allerdings bat es indeß etwas Beichämenbes
für die Deutfchen Defterreihs, wenn Menger zum Schluß
feiner Vorträge das Bekenntniß ablegt: „Die Führer der
andern Volksſtämme in den deutfch-öfterreichifchen Ländern
haben die Bedeutung des auf Selbfthülfe geſtützten Ge⸗
noſſenſchaftsweſens mit richtigem Blick erkannt. Mögen
die Deutfchen in Oeſterreich in ihrer focialen Entwide-
lung nicht zurückbleiben.“
Anrelio Buddeus.
— — — — —
Eine Ueberſehung der „Bhagavad- Gita“.
Die Bhagavad-Gita. Ueberſetzt umd erläutert von F. Lorin-
fer. Breslau, Aderholz. 1869. Ler.-8. 3 Thlr.
Nachdem befonder® durch das Berbienft der beiden
Schlegel die Aufmerkjamfeit auch des größern Publikums
ſich auf die indifche Literatur zu richten begonnen hatte,
mußte fi) das Berlangen geltend madjen, von wenigften®
einem ber beiden großen indifchen Nationalepen, des „Ma—⸗
habharata“ und des „Ramajana“, eine ſichere Anſchauung
zu gewinnen. Nach dieſer Seite machte ſich vor allen
der unermüdliche Rückert durch die anziehende Ueber⸗
tragung der berühmten Nalas⸗Epiſode verdient; aber das
war im wejentlihen auch alles, was vorläufig geleiftet
wurde, bald trat das Drama in den Vordergrund und
wurbe feitbem von den Veberfegern fat ausjchlieglich be»
vorzugt. Der Grund liegt darin, daß die Dramen im
Heinern Umfange ein gefchloffenes Ganzes bilden, während
884
bie and zähllofen Epifoden unregelmäßig zufammengefeg«
ten Epen ſchon ihres Toloffalen Umfangs wegen (das
„Mahabharata” zählt über 100000 Doppelverfe) an eine
volftändige Webertragung faum denken Lafien, jedenfalls
aber in derartiger Wiedergabe, die von Hippolyte Fauche *)
verſucht worben tft, anf feinen bedeutenden Leferkreis rech⸗
nen dürfen. Schad bat indeß in feinem „Firduſi“ den
richtigen Weg geaeigt: es müſſen ans den von zahlreichen
und umflnglichen Interpolationen verunftälteten Gedichten
die berborragendften Stellen ausgewählt und das Fehlende
durd) eine kurze profaifche Weberficht ergänzt werben. So
kann auch der 2ale einen Ueberblick über das Ganze ge
winnen, ohne fi) durch eine ermüdende Maſſe unbeben-
tender Gtüde bindurdarbeiten zu müflen. In biefer
Weife gibt uns das vorliegende Werk einen ſchätzens⸗
werthen Beitrag zur Kenntniß des berühmten indifchen
Epos. Die „Bhagavad-Gita” („Der Gefang des Ber-
ehrungswürdigen”, d. h. bes Kriſchna) ift nämlich eine
allerdings ziemlich fpät eingefchobene, aber in mannid)-
facher Beziehung hervorragende Epiſode bes „großen
Köonigsgedichts“, die uns von Lorinfer in verbienftuoller
deutfcher Bearbeitung vorgeführt wird, und beren Stelle
innerhalb des Epos ein voransgefchidter, freilich etwas
trodener und befonders im Bergleid mit der ühnlichen
eleganten Darftellung Schack's im „Firduſi“ ſtiliſtiſch
ziemlich ſchwacher Auszug ans dem „Mahabharata” bezeich«
net. Det Inhalt unfers Bruchſtücks ift nun folgender.
Die beiben verwandten, aber unter fich entzweiten Königs⸗
gejchlechter der Pandaba und Kaurava ftchen fi zum
wntjcheidenden Kampfe - gegenüber; da wird Ardſchuna,
der erfte Held ber Pandava, von Zweifeln ergriffen, ob
es nicht fiimdlich fei, gegen feine eigenen Verwandten zu
fümpfen. Krifchna, der Hauptheld des Volks der Jadava
und ber nahe Freund Ardſchuna's, fucht ihn durch ein
pbilofophifch-theologifches Gefpräch ven der Unrichfigfeit
feiner Anſichten zu überzengen; und indem er darin bie
zur Darlegung bed innerftien Wejens der Gottheit fort-
geht, erweift er fi dem Ardichuna felbft als Incarnation
des höchſten Gottes Viſchnu. Die ganze Epifode zerfällt
in drei Haupttheile umd achtzehn „Leſungen“, deren ges
ringfter Theil erzählenden Inhalts iſt; hauptſfüchlich wird
in den erften ſechs Leſungen abgehandelt, was die rechte
Urt fei, gottjelig zu leben; der ftebente bis zwölfte Ab⸗
Schmitt befchäftigt ſich mit dem Weſen der Gottheit ſelbſt,
und gipfelt in ber Offenbarung Kriſchna's als göttlicher
Perſon; in den letzten ſechs Leſungen folgt dann eine im
Gegenſatz zu den poetifcher gehaltenen frühern heilen
mehr ſyſtematiſch ausgeführte Auseinanderſetzung über
Gegenſtände und Art des Erfennens und Olaubens, welche
der Veberfeger mit Recht als nicht unmittelbar zu dem
Borangehenden gehörig, wenngleich wahrſcheinlich von dem⸗
felben Verfaſſer angefügt zu bezeichnen fcheint.
Es würde zu weit führen, den philofopbifchen Inhalt
diefer eigenthümlich fehönen Theodicee hier näher zu er⸗
örtern; nur auf einen Punkt wollen wir binmweifen, auf
den auch der Bearbeiter das größte Gewicht legt. Dad
myfifch-pantheiftiiche Syftem des philofophifchen Verfaſſers
zeigt entfchieden das Beftreben, zwifchen den verfchiedenen
-.
Mahä-Bhäörata traduoit
*) „Le r Ilimmolyle Fauche" (London, Williams
und Forgate); die zum ſechrien ppolyie (eondon, Willie
anbe vorgeſchritten.
Eine Weberfegung der „Bhagavad-Gita“.
Philoſophenſchulen zu vermitteln; daher fchließt er ſich
war im wefentlichen an diejenigen an, welche vollfonmene
Ueberwindung aller irbifchen Neigungen und gänzliches
Aufgehen in Gott fordern, will aber anbererfeits durch-
aus Feine Abkehr von den Pflichten ber verfchiedenen
Lebensberufe zum Zwecke eines durchaus einfieblerifchen
Büßerlebens, fondern verlangt nur, der Menſch jolle zu
den Dingen biefer Welt ohne Begierde, aber aud) ohne
Haß ſich verhalten. Klingt ſchon diefe Theorie in alle
gemeinen fehr an das „haben als hätten wir nicht“ des
Apoftels an, fo begegnen wir an ber Hand unfers Tun»
digen Führer bald einer nicht geringen Anzahl fürmlicher
Reminiſcenzen von ganz ſpeciell chriftlichnenteftamentlichen
Lehren und felbft Ausdrüden, ans deren Geſammtein⸗
drude folgt, daß der Berfaffer unferer Epifode mit dem
Neuen Zeftament bekannt gewefen fein muß. Wie dies
möglich gewefen fei, weift der Ueberſetzer unter Hinzufli-
gung einer Zufammenftellung aller einfchlägigen Stellen
nah, zu welcher er als Theolog in bejonderm Maße
befähigt war, und gegen welche jedenfall nur im einzel«
nen Einwendungen ftatthaft fein können; damit gewinnt
er zugleich ein chronologifches Datum für die Abfaſſungs⸗
zeit des Gedichts und fomit für den Abſchluß des
„Mahabharata“ überhaupt, das ben indifchen Literarhiſtori⸗
fern willfommen fein wird; auch die Kicchengefchichte dürfte
von biefem Nachweis einigen Gewinn ziehen.
Aber nicht aus biefen Gründen allein ift die Arbeit
Lorinfer’8 danfenswerth; vielmehr Liegt gerade dad Haupt»
intereſſe derſelben für nicht fachgelehrte Kreife an einer
andern Stelle. Nicht nur gibt das Gebicht trotz der im-
imerhin nicht zu tief eingreifenden chriftlichen Reminifcenzen
ein Bild von indifcher Weiſe zu denken und zu empfin-
ben, das in uns bie höchſte Theilnahme zu erwecken ge⸗
eignet ift, fondern auch der poetifche Werth deflelben ift
felbt vom Standpunkte abendländifhen Geſchmacks aus
ein fehr bebeutenber. Keine Theodicee einer andern Li⸗
teratur wird erhabenere Verſe aufzumeifen haben, als biefe
Anrede Ardſchuna's an „ben Erhabenen” (Krifchna), d. h.
die geoffenbarte Gottheit:
Mit Net, o Lodenhaupt, an beinem Ruhme erfreut bie
Welt fi und iſt dir ergeben.
Die Riefen fliehn erfhroden dur die Räume; es beten an
dich aller Sel’gen Scharen.
Weshalb verehrten fie dich nicht, Großgeifl’ger, der beſſer du
als Brahına, erfier Schöpfer? _
Unendlicher Götterherr, Hans der Welten! Einfach bift du,
was iſt nnd nicht ift, Höchſtes.
Dun HM der Höcfte Bott, der Geiſt, der Alte; du diefes
Weltalls allerhöchſtes Kleinod,
Der Wiſſeude und was zu wiſſen, höchſtes Haus, bes Alls
Gründer, Unenblichgeftalt’ger!
Wind bift dir, Tod, Fener und Mond und Waffer, der Schöpfung
err bift du, und der Urvater;
Anbetung fei dir, taufenbmal Anbetung! Und wiederum
Anbetung bir, Anbetung!
Es ift befonderd anzuerkennen, daß der Ueberfeger
die Zuthaten neuerer Verskunſt bei ber Wiedergabe dieſer
eigenthümlichen Dichtung anzuwenden verſchmäht hat, durch
welche der letzte Ueberſetzer eines Theils dieſer Epifode
(Borberger im Programm der Realſchule zu Erfurt,
1863) dieſelbe unfern Gewohnheiten näher zu bringen ver⸗
fucht Hat, Will man die Schütze orientalifcher Literatur
Feuilleton. 535
weitern Kreifen zugänglich machen, fo muß man auch bie
äußere Form foviel als irgendmöglih dem Original an«
zunähern fuchen, und daß dies felbft bei den merkwürdi⸗
gen Metren der Inder möglich ift, zeigt Lorinſer's Ueber-
tragung, die fi in dem originalen Metrum der Sloken
und des Triſchthubh ziemlich frei bewegt; e8 mag genügen,
über diefe Metra auf das von dem Ueberfeger ©. 12
Geſagte zu vermweifen. Auch im übrigen bat fich die
Vebertragung möglichfte Treue zum Geſetz gemacht, und
wir möchten zulegt gegen diefes Princip Einfpruch er-
heben: nur muß die Durchführung befielben da eine
Schranke finden, wo fie dem Genius der deutfchen Sprache
wiberftreitet. Diefe Grenze hat der Berfafler nicht immer
gewahrt; behält er zu Anfang bie für uns Außerft Läftige
Menge bedeutuugslofer Flickwörter, von denen fich ber
indiſche Epenftil nun einmal nicht freimadyen Tann, in
ermiübender Weife bei (3.98. ©.7: „da fah der Prithafohn
fie ftehn, bie Väter, die Großväter da, die Lehrer, Brü⸗
der, Oheim' al’, die Söhne, Enkel, Freunde da’ u. f. w.),
fo Hat ihn auch die Syntar des Sanskrit oft zu fehr
harten Conftructionen verleitet, wie Leſ. 1, SI. 43: „bie
Kaftenmifhung fo bewirkt“, was franzöfifh, und ebend.,
Sl. 39: „daß uns von Sünd' fi zu enthalten iſt“, was
lateiniſch, aber nicht deutfch if. Nicht geringere Härten
finden fih 2, 42—44. 46. 64; 3, 3; 29. 35;
5, 6 u. ſ. w. Nichtsdeſtoweniger ift die Uebertragung
im ganzen als eine gelungene zu bezeichnen, deren volles
Verſtändniß bei der Ausführlichkeit des äußerſt fleißig
gearbeiteten Commentars feine Schwierigkeiten hat. Let-
terer ift zugleich beftimmt, die Ueberfegung wiſſenſchaftlich
zu rechtfertigen, und gibt, wie es feheint, das dazu nöthige
Material in vielleicht etwas zu großer Vollſtändigkeit bei
jeder controverfen Stelle; über die Berechtigung der Auf-
faflung des Weberfegers in jedem einzelnen Fall müſſen
wir und des Urtheils enthalten; body ‚macht feine Kritif
und Eregefe, foweit wir ihr zu folgen vermögen, den
Eindrud der Vorſicht und Gewiffenhaftigkeit.
So darf denn die vorliegende Arbeit als eine fehr
werthvolle Bereicherung ber leider immer noch zu ſpar⸗
ſamen Literatur bezeichnet werben, welche die Refultate
fpecieller Studien für das Geiſtesleben der Nation zu
verwerthen beſtimmt ift, deren befondere Eigenfchaft es ja
| von jeher war, aus dem geiftigen Material felbft fcheinbar
entlegener Eulturgebiete nicht immer nur das augenblid-
lich durch teügerifchen Glanz Beftechende zu entnehmen
und zue Erweiterung des eigenen Geſichtskreiſes zu ver-
arbeiten.
Auguſt Müller.
Fenilleton.
Volksthümliches aus dem Vogtlande.
Trotz feiner Beſchränkung auf einen engen Umkreis, auf
das Bogtländifhe, den öſtlichen Zweig bes fränkischen Dialekte,
nimmt eine Meine Arbeit von Hermann Dunger, demſelben
jungen Gelehrten, dem wir auch eine Ichrreihe Abhandlung
Über die Trojanerjage verdanken, ein. allgemeines Intereffe in
Aufprud. Im einem Bortrag, gehalten im Saale der Ge-
ſellſchaft Erholung zu Plauen im Jannar 1870, der jet
als Broſchüre vorliegt, fpridht Dunger „Ueber Dialelt und
Bolfalied des Bogtlands“ (Planen, Neupert, 1870) und
bietet ana bier einen kleinen Beitrag zur deutfhen Mund»
ortforfhung und zur Literatur des deutſchen Volksliedes.
Nur wenige Bemerfungen werden gegeben zur Grammatik,
mobei fih Danger angelegen fein ‚läßt, ſprachliche Alter
tbümlichkeiten hervorzuheben, welche gemeinhin als Sprach⸗
fehler angeiehen werden, als Berderbniffe der Schriftſprache.
Dann fpricht er non dem Wortichate des Bogtländifchen und
feinem Wortreichthum. Der zweite Theil des Bortrags hat»
delt don ben vögtländifchen Bollsliedern, unter denen zwei
Sruppen zu nuterſcheiden find. Die längern mehrftrophigen
Lieder und Die biergeiligen. weile den Schnadahüpflu ent- |
teen. Die längern Bolfslieder flimmen zum großen Theile
berein mit den Liedern, welche auch in andern Theilen Deutſch⸗
lands gelungen werden, doc finden ſich auch manche Lieder,
welche dem Bogtlande eigenthlimlich zu fein ſcheinen. Diefe
Lieder find, wie auch anderwärts, in der Schriftſprache abge-
faßt, nur bier und da klingen dialektijche Bormen durch. Ih⸗
rem Inhalte nach find es Überwiegend Liebeslieder, oft balla⸗
denähntich; auch Lieder der Geſelligkeit, Trinklieder u. ſ. w.
ſind ziemlich häufig; geiſtliche Lieder, welche meiſt aus der ka⸗
tholiſchen Zeit ſtammen, kommen ſeltener vor; ein reiches Ka⸗
pitel machen ferner die Soldatenlieder aus; weniger vertreten iſt
natürlich das Gebiet der hiſtoriſchen Volkslieder, von dieſen hat
Dunger nur einige wenige aus der ältern Zeit aufgefunden. |
Die Melodien diefer Bollslieder find nah Dunger's Urtheif | ft
zum großen Theil ſehr anfprechend, oft wirklich ergreifend. Ei⸗
nige Proben von Liebertegten werben uns mitgetheilt. Dany gebt
Gebhardi.
ber Sammler zu den Schnadahupfln über, welche das Vogtland
ebenfalls aufzuweiſen bat. Auch von dieſer Gattung werden
Proben gegeben und zwar in ziemlich reicher Anzahl.
Dunger beabfidtigt eine Sammlung vogtländifcher Volks⸗
tieder herauszugeben, und fpricht am Schluſſe feines zunächſt
anregenden Vortrags aud die jpeeielle Vitte aus, ihn durch
Beiträge zu unterſtützen. Gr möchte nicht gerne eher ab«-
ihließen, als bis er wenigftens eine annähernde Bollftändigkeit
erreicht habe.
Bibliographie.
ch, W., Der Naturwille in ſeinem Grundgeſetze und das Ge⸗
Brauba
wiſſen nach Urſprung, Natur und Berlauf. Leicht — ndlih und kurz
8. 10 Nor.
De Elifabeth v., Die Hboptiv « Geigwifter. Roman.
Wien, Kirſch. Br. 8.30 Nor. .
& C., Der Oruppenführer im zerſtrenten Gefecht und die
auseina ndergelegt. Neuwied, Henſer. Gr.
ner,
| Derttih eit8-Sefechte. Würzburg, Staudinger. 8. 7, Ror.
8
eonrob Iga Treifrau v. (geb. v. Schaezler), Berſchiebene Wene
und ein Biel. ' Koman Dr ber Sage. 3 OA ae :
r.
Maria Therefia un ber ſchwarze Papfl. Roman. ıfte unb Ste Lief.
Wien, Hartleden. Gr. 8. a4 .
‚Mafaidel, F., Gimpelmeyer beim Konzil. Illuſtrirt von E. Juch.
Wien, v. Waldheim. 8. 5 Rat.
e, H., Dalmatien unb feine Spielwelt nebft Wanderungen durch
leben. 8. Ir. 20 Ngr.
| De
bie ihwarzen Berge. Wien, Bartleb
Oppe
. Opp mann, A., Hundert Yahre. 17 0—- 1870, Zeit» und Res
benäbilber aus brei Generationen, Ster Thl. Leipzig, Brodhaus, 8. 1 Thlr.
r.
alin, 8 Karl Gottlob Schönborn. Eine Lebens⸗Skizze. Breslau,
tr. 8. 6 Agr
gr.
ng, M., Götter und Götzen. Roman. 4 Bde. Berlin, Haus⸗
freund»Erpebition. Gr. 8. 5 Thle. 10 Ngr.
Shentel, D., Luther in Worms und in Wittenberg und bie Er-
neuerung der Kirche in der Gegenwart, Ciberfeld, Friderichs. Er. 8,
1 r.
Schwetſchke, ©., Bismardias. Didactiſches Epos. é6te Aufl.
Halle, Schwetigte. Gr. 16. 5 Nur.
Shakeſpeare's W,, dramatifhe Werte, Ueberfett von F. Boden⸗
edt, F. veillgrath, D. qiinemeißer 2c. Nach der Zerirevifion
und unter Mitwirkung von R. Delius, Mit Einleitungen und Aumer-
tungen. Herausgegeben von F. Bodenftebt. 2aſtes Bochn.: Die beiden
Beronefer. Ueberjegt von ©. Hermegd. Leipzig, Brochaus. 8. 5 Ngr.
884
bie and zahllofen Epifoden unregelmäßig zufammengejet«
ten Epen ſchon ihres koloſſalen Umfangs wegen (das
„Mahabharata“ zählt über 100000 Doppelverfe) an eine
vollftändige Webertragung kaum denken laflen, jedenfalls
aber in derartiger Wiedergabe, die von Hippolyte Fauche *)
berfucht worden iſt, atıf feinen bedeutenden Leferkreis rech⸗
nen dürfen. Scad bat indeß in feinem „Firduſi“ dem
richtigen Weg gezeigt: es müſſen aus den von zahlreichen
und umflnglichen Interpolationen verunftalteten Gedichten
die bervorragendften Stellen ausgewählt und das Fehlende
durch eine kurze profaifche Weberficht ergänzt werben. So
kann auch der Laie einen Weberblid über da8 Ganze ges
winnen, ohne fi durch eine ermübende Maſſe unbeben-
tender Stücke hindurcharbeiten zu müſſen. In diefer
Weiſe gibt uns das vorliegende Werk einen ſchätzens⸗
werthen Beitrag zur Kenntniß des berühmten inbifchen
Epos. Die „Bhagavad⸗Gita“ („Der Gefang des Ver⸗
ehrungswürdigen“, d. h. des Kriſchna) iſt nämlich eine
allerdings ziemlich fp&t eingeſchobene, aber in mannich⸗
facher Beziehung hervorragende Epifobe des „großen
Königsgedichtö“, die uns von Lorinſer im verbienftvoller
deutfcher Bearbeitung vorgeführt wird, und deren Stelle
innerhalb des Epos ein voransgefchidter, freilich etwas
trodener und bejonders im Vergleich mit ber ühnlichen
eleganten Darftelung Schad’s im „Firduſi“ ſtiliſtiſch
ziemlich ſchwacher Auszug ans dem „Mahabharata” bezeich⸗
net. Der Inhalt unfers Bruchſtücks ift nun folgender.
Die beiben vermaridten, aber unter fich entzweiten Könige
geſchlechter der Pandaba und Kaurava ftehen fi zum
entfcheibenden Kampfe gegenüber; ba wird Arbichuna,
ber erite Held der Pandava, von Zweifeln ergriffen, ob
es nicht ftindlich fei, gegen feine eigenen Verwandten zu
fümpfen. Krifchna, der Hauptheld des Voll! der Jadava
und der nahe Freund Ardſchuna's, fucht ihn durd ein
philofophifch-theologifches Geſpräch von der Unrichtigfeit
feinee Anfiten zu überzeugen; und indem er darin bis
zur Dorlegung des innerften Wefens der Gottheit fort-
geht, erweiſt er fich dem Ardſchuna ſelbſt als Incarnation
des höchften Gottes Viſchnu. Die ganze Epifode zerfällt
in drei Haupttheile und achtzehn „Leſungen“, beren ges
ringfter Theil erzählenden Inhalts ift; hauptſüchlich wird
in den erften ſechs Leſungen abgehandelt, was die rechte
Art fei, gottfelig zu Teben; der fiebente bi zwölfte Ab⸗
fchmitt befchäftigt fich mit dem Weſen der Gottheit ſelbſt,
und gipfelt in der Offenbarung Kriſchna's als göttlicher
Perſon; in den leiten ſechs Leſungen folgt dann eine im
Gegenſatz zu ben poetifher gehaltenen frühern Theilen
mehr ſyſtematiſch ausgeführte Auseinanderfegung über
Gegenftände und Art des Erfennens und Ölaubens, welche
der Ueberfeger mit Recht als nicht unmittelbar zu dem
Borangehenden gehörig, wenngleich wahrſcheinlich von dem⸗
jelben Verfaſſer angefügt zu bezeichnen fcheint.
Es würde zu weit führen, den philofophifchen Inhalt
diefer eigenthümlich ſchönen Theodiee bier näher zn er⸗
Örtern; nur auf einen Punkt wollen wir hinweiſen, auf
den auch der Bearbeiter das größte Gewicht legt. Das
myfifch-pantheiftiiche Syſtem des philofophifchen Verfaſſers
zeigt entfchieden das Beftreben, zwifchen den verſchiedenen
*) ‚Le Mahä-Bhärata traduit par Ilipnolyle Fauche” (London, Williams
und Sorgate); BIS zum fehäten Bande vorgeigritten, l
Cine Ueberfegung der „Bhagavad-Gita“.
Philoſophenſchulen zu vermitteln; daher fchließt er ſich
war im wefentlichen an biejenigen an, welche vollkommene
Ueberwindung aller irdiſchen Neigungen und gänzliches
Aufgehen in Gott fordern, will aber andererfeits durch⸗
aus Feine Abkehr von den Pflichten der verfchiedenen
Lebensberufe zum Zwecke eines durchaus einfieblerifchen
Büßerlebens, fondern verlangt nur, der Menſch folle zu
ben Dingen diefer Welt ohne Begierde, aber and) ohne
Haß ſich verhalten. Klingt ſchon diefe Theorie im all»
gemeinen fehr an das „haben als Hütten wir nicht” bes
Apoſtels an, fo begegnen wir an der Hand unfers kun⸗
digen Führers bald einer nicht geringen Anzahl fürmlicher
Reminifcenzen von ganz ſpeciell chriftlicheneuteftamentlichen
Lehren und felbft Ausdrüden, aus deren Gefammtein-
brude folgt, daß der Berfaffer unferer Epifode mit dem
Neuen Zeftament befannt geweſen fein muß. Wie dies
möglich gewefen fei, weift der Ueberfeger unter Hinzufli-
gung einer Zufammenftellung aller einfchlägigen Stellen
nad, zu welcher er als Xheolog in befonderm Maße
befähigt war, und gegen welche jedenfall® nur im einzels
nen Einwendungen ftatthaft fein können; damit gewinnt
er zugleich ein chronologiſches Datum für die Abfafjungs-
zeit des Gebichts und fomit für den Abſchluß des
„Mababharata” überhaupt, das den indischen Titerarhiftori-
fern willfommen fein wird; auch die Kircheugefchichte dürfte
von biefem Nachweis einigen Gewinn ziehen.
Aber nicht aus diefen Gründen allein ift bie Arbeit
Lorinfer’3 dankenswerth; vielmehr Tiegt gerade das Haupt-
intereſſe derſelben für nicht fachgelehrte Kreife an einer
andern Stelle. Nicht nur gibt das Gedicht trotz der im⸗
merhin nicht zu tief eingreifenden chriftlichen Reminifcenzen
ein Bild von indifcher Weife zu denken unb zu empfin-
ben, das in uns die höchſte Theilnahme zu erwecken ge-
eignet ift, fondern auch der poetifche Werth deflelben ift
ſelbſt vom Standpunkte abendländifchen Geſchmacks aus
ein ehr bedeutender. Seine Theodicee einer andern Li⸗
teratur wird erhabenere Berfe aufzumeifen haben, als dieſe
Anrede Ardſchuna's an „den Erhabenen‘ (Krifchna), d. h.
die geoffenbarte Gottheit:
Mit Recht, o Lodenhaupt, an deinem Ruhme erfreut die
Welt fih und ift dir ergeben.
Die Rieſen fliehn erfchroden burch bie Räume; es beten an
dich aller Sel’gen Scharen.
Weshalb verehrten fie dich nicht, Großgeiſt'ger, der beffer du
als Brahma, erfter Echöpfer?
Unendlicher Sötterherr, Hans der Welten! Einfach bift du,
was iſt und nit ift, Höchſtes.
Dan biſt der höchſte Bott, der Geift, der Alte; du diefe®
Weltalls allerhöchſtes Kleinod,
Der Wiſſende und mas zu wiſſen, höchſtes Haus, des Alls
Gründer, Unendlichgeſtalt'ger!
Wind biſt du, Tod, Feuer und Mond und Waſſer, der Schöpfung
Herr biſt du, und der Urvater;
Anbetung fei dir, taufendmal Anbetung! Und wiederum
Anbetung dir, Anbetung!
Es iſt beſonders anzuerkennen, daß ber Ueberſetzer
die Zuthaten neuerer Verskunſt bei ber Wiedergabe dieſer
eigenthümlichen Dichtung anzuwenden verſchmäht hat, durch
welche der letzte Ueberſetzer eines Theils diefer Epifobe
(Borberger im Programm der Realſchule zu Erfurt,
1863) diefelbe unfern Gewohnheiten näher zu bringen ver
fucht Hat. WIN man die Schäge orientalifcher Literatur
a
weitern reifen zugänglich machen, fo muß man auch hie
äußere Form foviel al8 irgendmöglid dem Original an«
zunähern ſuchen, und daß dies felbft bei den merkwürdi⸗
gen Metren der Inder möglich ift, zeigt Lorinſer's Ueber«
tragung, die fi) in dem originalen Metrum der Slofen
und des Trifchtäubh ziemlich frei bewegt; es mag genügen,
über diefe Metra auf da8 von dem Weberjeger ©. 12
Sefagte zu verweifen. Auch im übrigen bat fi die
Uebertragung möglichite Treue zum Gefeg gemacht, und
wir möchten zulegt gegen dieſes Princip Einſpruch er⸗
heben: nur muß die Durchführung deffelben da eine
Schranfe finden, wo fie dem Genius der beutfchen Spradje
wibderftreitet. Diefe Grenze Hat der Berfaffer nicht immer
gewahrt; behält er zu Anfang die für uns üußerft läſtige
Menge bebeutungslofer Wlidwörter, von denen fich der
indifhe Epenftil nun einmal nit freimachen kann, in
ermüdender Weife bei (3.8. ©.7: „ba ſah der Prithafohn
fie fiehn, die Väter, die Großväter da, die Lehrer, Brü⸗
der, Oheim’ al’, die Söhne, Enkel, Freunde da’ u. f. w.),
fo hat ihn auch die Syntar des Sanskrit oft zu fehr
barten Conftructionen verleitet, wie Xef. 1, SI. 43: „bie
Kaſtenmiſchung fo bewirkt“, was franzöfifch, und ebend.,
Sl. 39: „daß uns von Sind’ ſich zu enthalten iſt“, was
lateiniſch, aber nicht deutfch iſt. Nicht geringere Härten
Feuilleton. 333
finden fih 2, 42—44. 46. 64; 3, 3; 29. 35;
5, 6 u. ſ. w. Nichtsdeſtoweniger ift die Uebertragung
im ganzen als eine gelungene zu bezeichnen, deren volles
Verſtändniß bei der Ausführlichkeit des äußerſt fleißig
gearbeiteten Commentars keine Schwierigkeiten hat. Let»
terer iſt zugleich beſtimmt, die Ueberſetzung wiſſenſchaftlich
zu rechtfertigen, und gibt, wie es ſcheint, das dazu nöthige
Material in vielleicht etwas zu großer Vollſtändigkeit bei
jeder controverſen Stelle; über die Berechtigung der Auf⸗
faſſung des Ueberſetzers in jedem einzelnen Fall müſſen
wir ung bes Urtheils enthalten; doch macht feine Kritik
und Eregeje, foweit wir ihr zu folgen vermögen, ben
Eindrud der Vorſicht und Gewiffenhaftigkeit.
So barf benn die vorliegende Arbeit als eine fehr
werthoolle Bereicherung der leider immer noch zu ſpar⸗
famen Literatur bezeichnet werden, welche die Refultate
fpecieller Studien für das Geiftesleben der Nation zu
verwerthen beftimmt ift, deren befondere Eigenfchaft es ja
bon jeher war, aus dem geiftigen Material felbft jcheinbar
entlegener Culturgebiete nicht immer nur das augenblid-
Ih duch trügerifchen Glanz Beftechende zu entnehmen
und zur Erweiterung bes eigenen Geſichtskreiſes zu ver-
arbeiten.
Auguft Müller.
Feuilleton
Volksthlümliches aus dem Bogtlande.
Trotz feiner Beſchränukung anf einen engen Umkreis, auf
das Bogtländifche, den üfllihen Zweig bes fränkiſchen Dialekte,
nimmt eine Heine Arbeit von Hermann Dunger, demjelben
jungen Gelehrten, dem wir aud eine lehrreiche Abhandlung
ber die Trojanerfage verdanken, ein. allgerheines Intereffe in
Anſpruch. Im einem Bortrag, gehalten im Saale der Ge⸗
ſellſchaft Erholung zu Plauen im Januar 1870, der jetzt
als Broſchüre vorliegt, ſpricht Dunger „Weber Dialekt und
Boltalied des Bogtlands‘ (Plauen, Neupert, 1870) und
bietet uns bier einen kleinen Beitrag zur dentichen Mund⸗
ortforfhung und zur Literatur des deutſchen Bolksliedes.
Nur wenige Bemerkungen werden gegeben zur Grammatil,
wobei fih Dunger angelegen fein läßt, ſprachliche Alter-
thümlichkeiten hervorzuheben, welde gemeinhin als Sprach⸗
fehler angelehen werden, als Berderbniffe der Schriftipradhe. |
Dann fpricht er non dem Wortſchatze des Bogtländifchen und
feinem Wortreichthum. Der zweite Theil des Bortrags han»
delt von den vögtländifchen Bollöliedern, unter denen zwei
Gruppen zu unterfcheiden find. Die längern mehrſtrophigen
Lieder und die vierzeiligen, melde den Schnadehlipfin ent
rechen. Die längern Bollslieder flimmen zum großen Theile
berein mit den Liedern, welche aud) in andern Teilen Deutſch⸗
Lande gefungen werben, doc finden ſich auch mande Lieber,
welche dem Vogtlande eigenthümlich zu fein ſcheinen. Diefe
Lieder find, wie auch anderwärts, in der Schriftiprache abge-
faßt, nur bier und da klingen dialeltiſche Formen duch. Ih⸗
rem Inhalte nad; find e8 Überwiegend Liebesliede
Senähnlich; auch Lieder der Gefelligkeit, Trinklieder u. ſ. w.
find ziemlich Häufig; geiftliche Lieder, welche meiſt aus der Ta-
tholiſchen Zeit ftammen, fommen feltener vor, ein reiches Kar
pitel machen ferner die Soldatenlieder auß; weniger vertreten ifl
natürlich das Gebiet der hiftorifchen Volkslieder, von diefen hat
Dunger nur einige wenige aus der ältern Zeit aufgefunden. |
Die Melodien diefer Bollslieder find nad Dunger's Urtheil
zum großen Theil ſehr anfprechend, oft wirklich ergreifend. Ei⸗
nige Proben vom Lieberterten werden uns mitgetheilt. Dann gebt
eölieber, oft balla- |
der Sammler zu den Schuabahlipfin liber, welche das Vogtlaud
ebenfalls aufzumeifen bat. Auch von diefer Gattung werben
Proben gegeben und zwar in ziemlich reiher Anzahl.
Dunger beabfitigt eine Sammlung vogtländiicher Volls⸗
lieber herauszugeben, und fpricht am Schluſſe feines zunächſt
anregeuden Vortrags aud die fpeeielle Bitte ans, ihn durch
Beiträge zu unterfliken. Gr möchte nicht gerne eher ab⸗
ſchließen, als bis er wenigſtens eine annähernde Bolftändigfeit
erreicht habe.
Bibliographie.
Braubach, W., Der Naturwille in feinen Grund ejebe unb bag Ge⸗
wiflen nad Uiprang, Natur und Verlauf. Leicht verk ndlih umb kurz
auseinandergelegt. Nenwied, Heuſer. Gr. 8. 10 Dar.
@rottbuß, Elifabeth v., Die Aboptiv »s Geihwifter. Roman.
ie Kitt . Br. an 835 aih im zerſtrenten Gefecht und d
ner, : Der Oruppenführer im euten Gefecht und bie
Dertlihleits. Gefechte. WW bung, ringen. . TYy Nor.
Leonrod, Diga Freiran v. (geb. v. Sgaglen, Berichiedene Wege
Dr ein Bier, Roman au der Sehenicaft. de. bin, Bachem. 8.
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D. Wigand. 8 5 Nor,
Maria Therefia und ber ſchwarze Papſt. Roman. iſte unb Ste Lief.
Wien, Hartleden. Gr. 8, A 4 Ngr.
Mafaidel, F., Simpelmeyer beim Konzil. Muſtrirt von E. Juch.
Wien, v. Waldheim. 8. 5 Rat.
‚No, H., Dalmatien und feine Snielweit nebft Wanderungen tur
die [hwarzen Berge. Wien, Bartleben. 8, Thle. 20 Net.
ındert Jahre. 1770— 1570, Zeit» und Les
j apermann, D: A., Hund
bengbilber aus brei Generationen. dter Thl. Leipzig, Brodhaus, 8. 1 Thlr.
r.
alm, Karl Gottlob Schönborn. Eine Lebens⸗Skizze. Breslau,
r. 8. 6N
Gebhardi. 6 Nur.
ng, M., Götter und Göken. Roman. 4 Bde. Berlin, Hands
freund»&rpebition. Gr. 8, 5 Täler. 10 Ner. . .
Shentel, D., Luther in Worms unb in Wittenberg und die Er⸗
nenerung der Kirche in der Gegenwart. Elberfeld, Friderichs. Gr. 8.
egu etſchke, ©., Bismarckias. Didactiihes Epos. é6te Aufl.
Halle, Schwetigte. Gr. 16. 5 Nur.
Shakeſpeéare's W., bramatifche Werte, Ueberſetzt von iz Boden»
ſtedt, 9. Greitl rath, DO. Gildemeifter zc. Rad der Ze
und unter D
336
Unze
Anzeigen, ü
igen.
— —
Yerlag von *. X. Brockhaus in Keipzig.
Soeben erfdien:
Kleine Scul- und Baus-Bibel,.
Geſchichten und erbauliche Leſeſtücke aus den heiligen Schriften ber
Israeliten.
Von Dr. Jakob Auerbach.
Zweite, verbeſſerte Auflage.
I. Abtheilung. Bibliſche Geſchichte.
II. Abtheilung. Leſeſtücke aus deu Propheten und Hagiographen.
8. Jede Abtheilung geheftet 20 Ngr. Gebunden (in einem
Bande) 1 Thlr. 20 Ngr.
Bon diefem als vorzüglich bekannten Lehr. und Lejebudhe,
das ebenfo wol zum praltifhen Unterrichtsmittel in Schulen
dient wie zum Borlefen in Familienkreiſe geeignet ift, liegen
jetst beide abtheilungen in der vom Berfaffer gründlich durch⸗
gejehenen zweiten Auflage vor. Trotz ber fehr wejentlichen
Bermehrung des Umfangs wurde der billige Preis beibehalten,
damit das Buh um fo leichter in Schulen Eingang finde,
Für das Haus und die Familie fowie zu Geſchenken empfiehlt
fid) vorzugsmeife die gebundene Ausgabe.
Neu erfchienen im Verlage von Heinrich Matthes in Leipjig:
Morik von Dranien - Haffan.
Hiftorifches Drama in 5 Acten
von
Carl W. Bah.
8. 1 Thfr.
Sm Berlage von Hermann Costenoble in Iena ift er-
ſchienen:
Das heilige Land.
Bon
_ William Sepworth Dixon,
Verfaſſer von „Neu⸗Amerika“ und „Seeleubräute”.
Autoriſirte Ausgabe für Beutfchland.
Rah der vierten Auflage
aus dem Englischen
von
I. € A. Martin,
Cuſtos ver Großherzogl. Geſammt-Univerfitaͤt zu Jena.
Mit 15 Illuſtrationen nad Originalzeichnungen und Pho-
tographien.
Gr. 8. leg. broſch. Preis 2 Thlr. 20 Sgr.
Diron, ſchon durch fein „ Neu» Amerila‘ und feine
„Seelenbräuie“ in weiten Kreifen befannt, widmet feine Reis
fen hauptſächlich dem Studium des religiöfen Sektenweſens.
Hier läßt er uns eineu Blid auf Sprien werfen, „die Duelle‘,
wie er fagt, „aus der faft alle Religionsfyfleme der
Welt entfprungen find".
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Die deutfhe Rechtſchreibung
in der Schule |
und deren Stellung zur Schreibung der Zukunft.
Mit einem Berzeihnifle zweifelhafter Wörter,
Bon Rarl Julius Schröer.
8 Geh. 20 Nor.
Borliegende Schrift wurde infolge eines Auftrags bes
öfterreihifhen Minifleriums für Cultus und Unterricht verfaßt
und Bat den Zweck, in die deutfche Orthographie der Volks⸗
und Mittelfchulen Ordnung uud Einklang zu bringen. Der
Berfafjer gebt dabei von dem Grundfag aus, daß die Schreibuug,
die in der Schule zu lehren ift, dem herrſchenden Schreib»
gebrauch ſich anfchliegen müffe. Sein Bud empfiehlt ſich fo-
wol zum Gebraud beim Unterricht, als für jedermann zum
Nachſchlagen in zweifelhaften Fällen. .
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Beiträge zur Charakterologie.
Mit befonderer Berüdfichtigung pädagogifcher Fragen.
Bon Dr. Inlins Bahnſen.
Zwei Bände. 8 Geh. A Thlr.
Zum erſten mal wird in biefem nicht blos theoretifch,
jondern auch praftifch wichtigen Werke die Erforfhung des
menfchlichen Charakters als eine befondere Wiſſenſchaft be-
Handelt. Der Berfaffer Inlipft dabei an die von Schopen-
bauer ausgeſprochenen Grundgedanken iiber den Charakter an
und gibt überall zu feinen Betrachtungen die pädagogiſche Nutz⸗
anwendung, weshalb das Werk die Theilnahme der Pädagogen,
der Sriminaliften und Seelenärzte, der Ethiler und Philofophen,
fowie jedes Gebilbsten in hohem Grade in Aufprud nimmt.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Die deuffhen Republikaner
unter der franzöſiſchen Republik.
Mit Benugung der Aufzeichnungen ſeines Baters Michel Venedey
dargeftellt von
Jakob Benedey.
8 Geh. 2 Thlr. 10 Nor.
Das vorliegende Memoirenwerk füllt eine Lüde in der
Geſchichtſchreibung aus, indem es fiber eine bisher dunkle Par⸗
tie in den polittfchen Gefchiden des deutfchen Volks helleres
und authentiiches Licht verbreitet. Die harten Kämpfe der deut»
chen Bevdlferungen von Strasburg, Mainz, Koblenz, Bonn,
Köln, Trier n. |. w. zu Ende des vorigen Sahrhunderts bile
den den Gegenftand der Darftellung, welche theils auf eigener
Forſchung des Berfaffers, theil® auf zeitgenöffiichen Erinnerun⸗
gen fußt und, mit ben Borboten der Hevolntion in den rheini-
— Kurſtaaten beginnend, bis zum 18. Brumaire ſich er⸗
reckt.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Druck und Verlag von F. A, Brockhaus in Leipzig.
Blätter
für
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
a Ar, 22, Br
26. Mai 1870.
Inhalt: rudwig Uhland's gelehrte Werke.
Geſchluß.) —
Bon Reinbold Berhein. — Geſammelte Effays.
ie Kaiferlich Leopoldiniſche Aladernie. — Seuilleton. (Otto Ludwig's geſammeite Werke.) — Bibliographie. —
Bon Rudolf Gottſchal.
Anzeigen.
Zudwig Uhland’s gelehrte Werke.
Uhland's Schriften zur Gedichte der Dichtung und Sage.
Dritter unb_ vierter Band. Stuttgart, Cotta. 1866-69.
Gr. 8. 5 Thlr. 26 Nor.
Nun endlich ift der lang erfehnte vierte Band ber
„Schriften“ Uhland's erſchienen.*) Mit ihm findet die bes
rühmte Liederfammlung ihren Abſchluß, foweit dies über-
haupt dur) Uhland's üterariſche Hinterlaffenfchaft ge⸗
ſchehen Tonnte. Zugleich vervollftändigt er die im vorher-
gehenden dritten Band gegebene „Abhandlung“ zu den
Bollsliebern, deren Anzeige und Beſprechung wir deshalb
bisjegt verzögert und aufgefpart hatten.
Diefer dritte Band der „Schriften“ führt aud) typo⸗
graphifch nod einen beſondern Titel; ex bildet den zwei⸗
ten Band der „Alten hoch- und nieberbeutfchen Volislie⸗
der“, deren erfter in zwei Abtheilungen in den Jahren
1844 und 1845 erfchienen iſt. Uhland verhieß damals,
als er feine Liederfammlung herausgab, ſowol auf dem
Titel als and; in feinem Vorwort eine Abhandlung über
die deutfchen Volkslieder und fodann Anmerkungen, „welde
zur Rritit, Erläuterung und Gedichte einzelner Lieder
noch dienlich erfcheinen“; aber eine Verbindlichkeit zur
wirklichen Lieferung dieſer vervollftändigenden Beigaben
Iehnte er ausdrüdiih ab. Uhland gelangte befanntlich
nicht zur Ausführung feines Vorhabens, nur einzelne
Theile aus feiner Abhandlung ließ er in Pfeiffer's „Ger-
mania” veröffentlichen. Glüdfichermeife Hat ſich noch mehr
in feinem Nachlaß vorgefunden, Zwar bilden dieſe Stüde
Teider nur einen Theil, etwa nur die Hälfte des urfprüng«
lich beabſichtigten Ganzen, doch ift diefer Theil nicht nur
äußerlich vollftändig abgefhloffen, fondern auch innerlich
vollendet.
Die Herausgabe übernahm Franz Pfeiffer; e8 war
eine feiner legten Arbeiten. Sein Antheil bejchränft ſich,
außer der Beifügung der inzwiſchen zugewachſenen Lite⸗
ri Pefel. we bie früher erſchienenen Bände Nr. 7, 14 und, 2 a.
1870. 2.
ratur und der Eitate nad; neuern Ausgaben, weſentlich
auf Ordnung des durch die vielen Nachträge und Zufäge
mandmal etwas aus den Fugen gerathenen Manuſcripts.
Mit vollem Recht hat Pfeiffer die fehr ausgedehnten No—
ten hinter den Tert geftellt.
In feinem Vorwort erzäplt und der Herausgeber,
wie früh fon in Uhland der Gedanke an eine Arbeit
über das Volkslied geleimt habe, wie zu Ende der zwan-
iger Jahre nach Abſchluß feiner Arbeiten über die beutfche
Helbenfage der Plan zu einer Sammlung und hiſtori-
fen Betrachtung der deutſchen Vollslieder gereift fei,
wie Uhland dann nach dem Aufhören feiner leider nur
fo kurzen afabemifchen und bald darauf auch feiner ftän«
diſchen Wirkſamkeit feine freie Muße benugte, um da und
dort feine Sammlungen zu vervollftändigen. Die erfte
diefer Liederfahrten führte ihm im Sommer 1835 der
Rhein hinab nach Köln; drei Jahre fpäter (1838) eine
andere die Donau entlang nad) Wien. „Bon dieſer Zeit
an galten faft alle feine jährlichen Ausflüge und Reifen
der Erreichung diefed mit feltener Beharrlichfeit verfolgten
Ziels, und man darf jagen, daß es von den Alpen bis
zuc Norbfee kaum einen, hierfür irgendwelche Ausbente
verfprechenden Ort gibt, den Uhland nicht auf Tängere
oder kürzere Zeit befucht Hätte.“ Wo er felbft nicht aus
den Quellen ſchöpfen fonnte, nahm er die Mitwirkung
von Freunden und Fachgenoſſen in Anfprud.
Das in folder Weife zufammengebrachte Material ift
in hohem Maße umfangreich), beinahe vollftändig. Daß
es aber mit der Sammlung nicht allein getan fei, fon»
dern daß das Gefammelte ſoweit möglich ergänzt und aufe
gehellt werden müſſe, das hat Uhland empfunden und hat
diefen Gedanken zumächft auch auf einem einzelnen Blatt,
auf weldem er den Plan einer Arbeit über die Volts-
lieder kurz fligziete, niedergefchrieben. Nach biefer Skizze
war Uhland’8 Aufgabe’ ungemein groß angelegt; er betont
die Herbeiziefung des Volisgeſangs verwandter Stämme,
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das Eingehen auf das Wejen und den Grund aller Volks⸗
poefie. Danach würde feine „Abhandlung“, wenn ihm
ihre Vollendung vergünnt geweſen wäre, nicht blos eine
Gefchichte des deutſchen Volksliedes, ſondern gewiller-
maßen eine vergleichende Geſchichte des indoenropätjchen
Bollsgefangs geworden fein. An diefer groß und ſelbſt
zu weit angelegten Aufgabe ſcheiterte Uhland; aber wir
dürfen uns glüdlich preifen, daß bie vicr erſten Abjchnitte,
bei deren Abfaffung er ſich engere Grenzen ftedte, voll:
ftändig ausgearbeitet vorliegen. Ein fünfter ift nur be=
gonnen.
Auf jener Skizze ift Gliederung und Inhalt der Abhand-
lung folgendermaßen angegeben: „Sommerfpiele = My.
thus; Fabellieder — Thierfage; Wett- und Wunſchlieder
— Sängerkümpfe; Liebeslieder — Minnefang;, Tage—
lieder — Minnefang; Gefchichtslieder — Heldenfage, poli-
tifche Lieder, Reimchroniken; Scherzlieder = Schwänke;
Geiftliche Lieder = Evangelien, Legenden (Spruchgedichte).“
Bon den ausgearbeiteten Kapiteln der Abhandlung Liegen
mandmal mehrere Niederfchriften vor, die Einleitung aber,
welche da8 Ganze eröffnen follte, fcheint Uhland nad) den
dazu genommenen zahlreichen Anläufen zu ſchließen, die
meifte Mühe und Ueberlegung gekoftet zu haben. Erſt
nach Erſcheinen der Liederfammlung brachte er fie zu
Stande. Sie ift nun aber auch in der That nad In:
halt und Form ein Meines Meiſterwerk.
Diefe „Einleitung haben wir zunächft ins Auge zu
faffen. Bei aller Kürze und Gedrungenheit ift fie von
sehr belehrendem Inhalt und reich an anregenden Gedanken.
In unſerm Mittelalter befteht vor und neben dem
Hof» und Kunftliede das Volkslied. Durch den Funft-
mäßigen Betrieb ber Lyrik eingeengt und in Schatten
geftellt, erſtarkt das Volkslied wieder, als die höfifche
Dichtung ſich ansgelebt. In Menge jedod) kommen Volks⸗
Lieder aller Art erft mit dem Eintritt des 16. Jahrhun⸗
derts zum Borfchein, nicht blos in Handſchriften, fon
bern auch durch die neue Erfindung des Druds, welde
alten und neuen Liedern den weiteften und raſcheſten Um-
{auf verfhaffte. Befördert wurde das Bolfölied durch die
Luft am Geſang und durch die Pflege, welche e8 bei den
efchulten Muſikern fand. Diefer lebhafte Betrieb fegt
ch bis in das 17. Jahrhundert fort, wo die Liederdich-
tung dann andere Bahnen einjchlägt.
Wenn die Sammlung der Bollölieder auch zumeift
auf Druden und Handfchriften des 16. Jahrhunderts bes
xubt, fo gehören doch viele Stüde ihrer Entſtehung nad)
einer weit frühern Zeit an. Solche ältere Erzeugniſſe
find faft niemals in ihrer urjprünglichen Geftalt liberlie-
fert. Wie manches fi) auch aus der frühern Periode in
die jüngere hinübergerettet haben mag, fo ift doch ber
Berluft vieler Lieder der ältern und zugleich dichteriſch
belebtern Gattung zu beftagen. „Erſcheint hiernad) die
Sammlung“ — und hier ſpricht Uhland ziemlich denfel-
ben Gedanken aus wie in jener Skizze — „als ſolche
Lüdenhaft und bruchſtückartig, jo ift es um fo möthiger,
daß die Forfchung erläuternd und ergänzend ſich bei»
efelle.” on
or Es gilt, die Lieder mit der Geſchichte der deutſchen
Boefie ültefter und mittlerer Zeit in Beziehung zu fegen.
Zweitens wendet fi) die Forſchung nad) den Volksdich⸗
Ludwig Uhland's gelehrte Werke.
tungen des Auslandes, zunächſt des ſtammverwandten
Anslandes; aber auch die fremdern Sprach⸗ und Lieder⸗
ftämme, die vomanijchen, die flawifchen und der neu-
griechifche, felbft noch die zurüdgedrängten celtifhen und
finnifchen, laden zu mannichfacher Aufnüpfung ein. Die
mittellateinifchen Dichtungen volfsthüimlichen Inhalts dür⸗
fen nicht als fremde gelten. Der britte Weg der Erläus
terung ſenkt fich hinab in das innere Leben und Wefen
des Volks, das die Lieder gefungen hat. Dadurch macht
ſich zugleich bemerklich, daß aud) umgekehrt das Volt ohne
Beiziehung feiner Poeſie nur unvollftändig erkannt werde.
Wie in der Einleitung zu jeinen literarhiftorifchen Vor⸗
lefungen ſpricht es aud) hier Uhland aus, daß nur im
Lichte der Poeſie eine Zeit Mar werben könne, deren Gei⸗
ftesrihtung weſentlich eine poetiſche geweſen ſei. Und
mit folgenden ſchönen Worten beſchließt er feine Einlei⸗
tung:
Das dürftige, einförmige Dafein wird ein völlig anderes,
wenn dem friihen Sinn die ganze Natur fich befreundet, wenn
jeder geringfügige Befit fabelhaft erglänzt, wenn das prunflofe
Feft von innerer Luft gehoben ift: ein armes Leben und ein
reiches Herz. Erzählt die Geſchichte meift von bfutigen Käm⸗
pfen, fprechen die Geſetze von roher Gemwaltthat, fo läßt das
Lied, die Sage, das Hausmärden im die ftillen Ziefen des
mildern Gemlüths bliden. Beſonders aber wird im alten Göt⸗
‚ terreih und im weiten Gebiet des Aberglaubens fich manches
vernunftgemäßer ausnehmen, wenn es vom Standpunkt ber
Poeſie beleuchtet wird. Die Herrfchaft des dumpffien Irrwahns
hebt eben da au, wo bie poetiſchen Vorſtellungen im Wandel
ber Zeiten zum Gefpenfteripuf verbunfelt oder zu unverſtandenen
Formeln erſtarrt find. Es ift des Berjuchs werth, diefen Baum
zu löfen und dem gebundenen Geift, wo er e8 fordern kann,
in feiner Freiheit herzuftellen.
Der erfte Abfchnitt der „Abhandlung zeigt und das
poeftereiche Gebiet von „Sommer und Winter. Ent⸗
fprechend der Ungabe auf dem Skizzenblatt Hatte Uhland
diefe Betrachtung anfänglich „Mythiſche Nachflänge” über⸗
fchreiben wollen, was er dann in „Sommerfpiele” um⸗
änderte, bis ſchließlich der jet angenommene, jedenfalls
pafjendfte Titel von ihm gewählt wurde. Diefer Abfchnitt
it hier in den „Schriften bis auf einige Seiten am
Schluß aus Pfeiffer’s „Germania” (V, 257 fg.) wiederholt.
Den großen Gegenfag im Naturlchen, der durch alle
Liederklaſſen fpielt, der Streit zwiſchen Sommer unb
Winter, jenen beiden Zrägern ber alten Jahrestheilung,
will Uhland hier an die Spige treten laffen, zunädft in
feinem allegoriſchen Ausdrud, den auch die hriftlicye Zeit
offen fich aneignen durfte, dann allmählich zurücgeleitet
an die Grenze feiner verhülltern, heidniſch⸗mythiſchen
Geftaltungen.
Am Sonntag Lätare war noch in neuerer Zeit, haupt⸗
fächlih auf beiden Seiten de8 Ober⸗ und Mittelrhein,
ein ländliche Kampffpiel üblich zwifchen zwei Winter und
Sommer vorftellenden und entfprechend coftiimirten Per-
fonen. Ein ſolches Gefprächslied finden wir in Uhland's
Bolfsliederfammlung (Nr. 8) aus dem 16. Yahrhunbert
mitgetheilt. „Sommer und Winter treten an dem fröh-
lichen Tage, da «man den Sommer gewinnen mag», in
einem Kreiſe von Zuhörern einander entgegen zu raſchem
MWortwechfel: wer des andern Herr oder Knecht fei. ‘Der
Sommer zieht «aus Defterreih», dem fonnigen Oſten,
daher, und Heißt den Winter fi) aus dem Lande zu heben,
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}
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Diefer fommt aus den Gebirg und bringt mit ſich den
fühlen Wind, er droht mit einem frifhen Schnee und
will ſich nicht verjagen laſſen.“ Beide ftreiten dann mit-
einander über ihre Vorzüge, ſchließlich aber behält der
Sommer recht, der Winter erflärt ſich für überwunden;
Darauf endet der Sommer den Streit und wünfcht allen
eine gute Nacht.
Diefes Singgefpräd Tannte man noch in Schwaben
in einer Umbdichtung Anfang des 17. Jahrhunderts, aud)
in der Schweiz war e8 neuerlich noch gangbar. Und wie
in die Gegenwart hinab, fo läßt es fich in hohes Alter
Binauf verfolgen. Bekannt ift Hans Sachs' „Gefpräd)
zwifchen dem Sommer und Winter“, doch weicht es etwas
vom Bollsgebrauch ab. Auch in einem Liede meilter-
fängerifcher Gattung ans dem 15. Yahrhundert brechen
troß der ungelenken Schulform dichteriſche und volfe-
mäßige Klänge von jenem Zwieſpalt hervor. Aus dem
14. Jahrhundert betreffen dieſen Widerftreit ein wahr⸗
ſcheinlich nieberrheinifches Lieb und ein nieberländifches
Schauſpiel. Altfranzöfifh, aber auf engliſchem Boden,
begegnet das Streitgefpräd) um den Anfang bes 14. Jahr⸗
hunderts. Sogar eine fanctgallenfche Urkunde von 858,
in welcher Wintar und Sumar ald Namen zweier Brüder
zujanmenftehen, fcheint die Belanntfchaft mit dem Som-
mer- und Winterfpiel zu verrathen. Deutlicher Tpricht
ein lateinifches Gedicht in Herametern aus dem 8. oder
9. Sahrhundert, welches unverkennbar bie „Eklogen“ Vir⸗
gil's zum gelehrten Vorbild Hat, und diefem liegen dann
wieder Theokrit'ſche Idyllen zu Grunde. Hier wie in Alt
england ift der Knkuk Träger des Frühlings, in Deutſch⸗
land ift es gewöhnlich die Nachtigall. Der allegorifche
Wettſtreit der Jahreszeiten belebt fich noch weiter durd)
Gegenfüge aus dem Pflanzenreihe: in England zwifchen
Hulſt und Epheu, in Deutschland zwiſchen Buchsbaum
und Felber.
In fämmtlichen bisher aufgezählten Spielen und Kampf⸗
geſprächen find Sommer und Winter Tediglich allegorifche
Berfonen, fie erfchemen mit ihren nadten begrifflichen
Namen oder doch nur in leichter Verhüllung. Diejelbe
Geſprüchsform brauchen vollsmäßige Lieder fir mehrerlei
Segenfäge, z. B. des Waſſers und des Weines, der Faſten
und Nichtfaften, geiftliche Dichtungen für den des Leibes
und der Seele. In ber Mythenwelt des norbifchen Heiden-
thums find Winter und Sommer nicht minder allegorifc
beichaffen, als in den deutſchen Weitftreiten.
Auch begrüßt wird der Sommer, empfangen, „ges
wonnen“. Am ftattlichften geſchieht die Einführung bes
Sommers in der „Maienfahrt”, dem Mairitt, und zwar
hauptfählich in Skandinavien und in Norddeutſchland.
Außer folden Zengniffen theilt Uhland noch weitere Bei-
Spiele der Maienfahrt mit. Beſonders war hier der ge=
ſchichtlich denkwürdige Ausritt des deutfchen Königs Als
breit am 1. Mai 1308 zu erwähnen. Ein zweiter hi⸗
ftorifcher Mairitt gefchah von den Bürgern zu Soeſt im
Jahre 1446 während ihrer Fehde mit dem köluer Erz-
bifchof. Hierher gehört auch der „Walperzug” (Zug am
Balpurgistage) der Bürger von Erfurt. Zum Schluß
gebenft Uhland der Götterfage des heidnifchen Nordens,
welche den großen Gegenfag der Jahreszeiten als einen
Luüdwig Uhland's gelehrte Werke. 339
Sieg des jommerkfräftigen Thor, des Donnergottes, über
die Winterriefen faßte, und diefer Grundzug geftaltet ſich
zu einer Reihe durchgedichteter Einzelmythen, auf welche
zurüdgegangen werden muß, um denjelben müthifchen
Zufammenftoß noch im beutfchen Volksgeſange heraus⸗
ftellen zu können.
Der folgende Abfchnitt ift der Thierfage im Vollslied
gewidmet und betitelt fi: „Fabellieder.“ Während das
Thierepos die Thiere auf dem feften Boden ausgeführter
Handlung und firenger Charakteriftit darftellt, Hat das
Volkslied mehr noch bie urfprüngliche Gefühlsftiimmung
bewahrt und, mo es biefelbe weiter entwidelt, feine Inf»
tigern Wege theils in das Märchenhafte, theils in bie
finnbildfiche Vergeiftigung genommen.
Zuerft befpricht Uhland verfchiebene Walbgeifter, den
Waldmann, die Wolfmutter, ben Thiermann und die
Thiermutter, welche bald mehr als Leiter und Begünſti⸗
ger der Jagd, bald mehr als Pfleger und Beſchirmer
des gejagten Wildes hervortreten. Der Jäger ift zugleich
der Freund und Bewunderer der Thiere. Im Alterthum
ahnte man eine hinter diefen Geſchöpfen ftehende Höhere
Gewalt, ein aus ihren Augen blidendes dämoniſches We-
fen. Wie diefe Stimmungen und Gegenfäße in ber Volks⸗
poefie mannichfach ſich ansfprechen und ineinanderfpielen,
will Uhland an denjenigen Waldthieren, mit denen bie
Lieder fich vornehmlich befaflen, der Reihe nach darthun.
So betrachtet er den Büren, den Eber, den Wolf,
den Hafen und ben Schwan. Das Klagelied des ge⸗
bratenen Schwans führt auf eine befondere Liedergattung,
die Thierflage, welche mit der Anficht zufammtenhängt,
daß den Thieren Antheil an den Gütern der Erbe und
in der Noth der Schu der Menſchen zukomme.
Im Gegenſatz zu Liedern und Sagen von der Noth
der Thiere ftchen die heitern Lieder von ben Thierhoch⸗
zeiten. Uber wie zum SHochzeitzuge, fo werden fie auch
zu Leichenbegängnifien eingereiht.
Lieblinge des Liedes find die Vögel, befonders die
Heinen gefangfundigen. Mancherlei ſchwankartige Lieder
befingen den Zaunfönig, ebenjo find das Rothkehlchen und
der Kukuk Gegenftand des BVollsgefange. Vor allen an-
dern Befchwingten aber ift in unfern Vollsliedern, " wie
ſchon im Minnefang, die tönereiche Nachtigall beliebt und
hochgehalten.
Die folgende Betrachtung über diefe poefiereihfte Sän-
gerin des Waldes und des Hains kannten wir fchon aus
Pfeiffer’ 8 Germania’ (III, 129 fg.) unter ber Veber-
ſchrift: „Rath der Nachtigall”. Konnte man gerabe bie
fer Arbeit unter allen kleinern Abhandlungen Uhland's,
auch die zur ſchwäbiſchen Sagenkunde und die zur deut⸗
fchen Heldenſage mit inbegriffen, einen befonders hohen
Rang megen ihres poetifchen Dufts zugeftehen, fo leuchtet
eben dieſe Betrachtung inmitten des ganzen Buchs nicht
minder hervor.
In echt dichterifcher Weife fehildert und preift uns
Upland gleich zu Anfang das Weſen und den Werth ber
Sängerin. „Sie wird bald innig und zutraulich bie Liebe,
viel liebe Nachtigall geheigen, bald erhält fle den Ehren⸗
namen Frau Nachtigall und wird mit Ihr angeredet. Ihre
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Stimme dringt ja am tiefften ins Gemüth; je ſchmächti⸗
ger und misfarbiger, um fo feelenhafter erfcheint die Sän⸗
gerin, deren mächtige Töne die zarte Bruſt zu fprengen
drohen; aus der Dämmerung des Morgens oder in der
ſtillen Nacht erfchallt ihr Gefang zauberhaft und ahnungs-
voll.’
Bon den Mahnungen, dem Kath der Nachtigall han⸗
delt eine Reihe finniger, weithin anfnüpfender Lieder, welche
ſich meift in lebendiger Wechjelrede bewegen. Solche Lie-
der finden wir unter dem gemeinfamen Titel „Nachtigall
in Uhland’8 Sammlung mitgetheilt. In einem ertheilt
bie Nachtigall eine heilfame Warnung oder einen tröften-
ben Rath. Anderwärts, wie in einer Sage von St.
Bernhard hHervortritt, wirft der Nachtigallengefang ver»
führeriſch und Teidenfchaftlih aufregend. Eigenthümlich
erſcheint die Macht des Nachtigallengeſangs in der fran⸗
zöſiſchen Poeſie, wo er ſelbſt den Heldengeiſt weckt und
zur Rache reizt. Auch die nordiſche Poeſie kennt ähnliche
kriegeriſche Mahnrufe der Vögel, doch geſchieht dies hier
nicht von der wohlſingenden Nachtigall, ſondern von der
heiſern Krähe.
Der morgenländiſchen Fabel von den drei Lehren der
Nachtigall kamen Anklänge des heimiſchen Vollsgeſangs
entgegen. In jener waltet der Lehrzweck vor, die Volks⸗
lieder find lebhafter empfunden.
Beiderlei Arten des bedeutfamen Vogelfange, der aufs
reizende und der lehrhafte, werden als „Rath“ bezeichnet.
Dem Eindrud der Vogelſtimme gefellt fich derjenige
bes Flugs, und auch ihn haben vielerlei Lieder, ernft oder
fpielend, zur Darftellung gebracht. Die Poeſie überträgt
den Vögeln den Dienft der Botjchaften. Als Liebesbotin
wird befonders die Nachtigall verwenbet. Auch der Rabe
wird zur Kundſchaft und zur Brautwerbung beigezogen.
Die Vögel find ferner Zeugen heimlicher Liebe, fie ver-
fünden das künftige Schidfal prophetifh. Die Sprade
der Thiere, namentlich der Vögel, verfiehen, war dem
Altertfum verfchiedener Bölfer ein Ausdruck für den tie-
fern Einblid in daB Wefen der Dinge, wodurd die Gabe
der Weiflagung bedingt war.
Am Schluß gedenkt Uhland des Aberglaubene vom
Bilwiz. Mit diefen Namen wird ein geſpenſtiſches We-
fen bezeichnet, da8 aus einem Berge nad den Dienfchen
fchießt, die Haare verwirrt und verfliht. Die Mahnun-
gen und Rathſchläge dieſes Weſens Fommen denen der
Bogelftimme nahe.
Dom dritten Abfchnitt, betitelt „Wett- und Wunfch-
bieder“, haben wir bisjetst nichts kennen gelernt, obwol
fi) auch einzelne Partien in ihm finden, welche ſich zu
einer gejonderten Mittheilung geeignet hätten.
Stammte bie vorher betrachtete Fiedergattung aus dem
einfamen Walde, jo ift diefe im gefelligen Verkehr ent-
fprungen und erwachfen. „ragen und Antworten, Auf
gaben und Löſungen, Begrüßungen und Empfünge, Wer-
bungen und Ausflüchte, gute und fchlimme Wünſche,
Scherzreden und Wettfpiele mannichfaltiger Art bilden
den Inhalt biefer Erzengniſſe. Weitgereifte Pilger, Wan⸗
bergefellen, Fahrende Sänger und Spielleute, abentenernde
Freier führen das Wort; die Schwelle des gaftlichen
Daufed, die Zunftherberge, die Tanzlaube find der Schau-
p ag,"
Ludwig Uhland's gelehrte Werte.
Die „Rüthfellieder” find ein altes Erbgut germani⸗
her Stämme. Befondern Werth bat das fogenamnte
ZTraugmundslieb, welchen fich der Reimfprud vom Mei-
fter Irregang anreiht, fowie die dänifche Ballade vom
jungen Bonved. Wie in biefen Dichtungen Frage und
Antwort wechfeln, fo auch in den Handwerksgrüßen,
Weibfprühen und Empfahungen der Sänger. Die hei-
terfte Blüte des Ruthſelweſens entfaltet fich in den fo-
genannten Sranzliedern.
Manche der von Uhland beſprochenen Käthielaufge-
ben nähern fich ſchon merflich einer weitern Gattung des
Witzſpiels, den Liedern „von unmöglichen Dingen‘, die
fih dann in förmliche Lügenlieder zufpigen. Hier be
gegnen uns bie beitern Lieder vom Schlaraffenland, weldje
Schon in das Märchenhafte hinüberſpielen.
Märchenhaften Dingen gefellen fi) die „Wunfchlieder”,
Dem Wunſche, der aus bewegter Seele, zur rechten Zeit
und in feierlihen Worten, andgefprochen war, traute das
germanifche Altertum eine bedeutende Kraft zu, mochte
derjelbe nad) oben ala Gebet, nad) außen als Beſchwö⸗
rung, Gruß, Segen oder Fluch gerichtet fein. Die fol«
gende Betrachtung Uhland's, welche ſich an viele kleine
und unjcheinbare, fonft nur nebenbei behandelte Denkmäler
anlehnt, ift im hohem Grabe beachtenswerth. Sie zeigt
und den Aberglauben in feiner poefievollften Innigkeit.
Erft fpäter erftarren die Wunfchlieder zu todten Formeln.
Eine wohltäuende Erſcheinung inmitten dieſer Heinen Lite⸗
ratur find die volfsmäßigen Liebesgrüße. Die Verwün⸗
ſchungen Hungen auf einer Seite mit dem Zanberweſen
zufammen, auf der andern ſtehen fie mit alten Rechts
formeln in Beziehung.
Biele Sagen nnd Lieder uehmen zum Ziele des
Wunfches die Berwandlung in böfem und gutem Sinne,
Reich an Berwanblungen find namentlich die ſchwediſch⸗
dänischen Märchenlieber. Die Wünfche nad) Verwand⸗
lung werden aber aud) frühzeitig in die Poefte eingeführt,
wo fie nur zu dichterifchem Bilde dienen.
„So lang es nicht eine greife Jugend gibt, wirb
ſtets das Liebeslied die Blume der Lyrik fein.” Mit die
fen fhönen Worten eröffnet Uhland den letzten Abſchnitt
über die „Liebeslieder“. Ziehen fich die Liebeslieder durch
alle Theile des deutfchen Vollsgefangs, fo haben fie and
ihr eigened Gebiet, ihre befondere Heimatftätte, wo ſie
wacjen und woher fie flammen, und anf diefem Boden
will fie Uhland jest erfaflen und zur Beſchauung bringen.
Wir. zweifeln nicht, daß gerade diefer Abfchnitt wegen
feines allgemein anziehenden Gegenftandes fich beporzugter
Theilnahme erfreuen wird.
Die erften Spuren vollsmäßiger Tiebeslieder in deutfcher
Sprache zeigen fich in Berbot und Berwerfung welt.
lichen Geſangs. Die Anzeigen der ehemaligen volls⸗
mäßigen Liebeslieder find dürftig und fie ſetzen fich Lange
nicht bi8 zu dem Zeitpunfte fort, von welchem an, um
die Mitte des 12. Jahrhunderts, der ritterliche, der Kunft-
dichtung angehörende Minnefang fich entfaltet. Die Grund-
lage des Minnefangs aber ift eine volksmäßige. So künſtlich
er ſich weiterhin ausbildete, fo blieb ihm dennoch ein Wahr-
zeichen angeftammter Natürlichleit in der bald tiefer
empfundenen, bald herfümmlich fortgelibten Berfegung ber
innern Stimmungen mit den Wanblungen ber Jahreszeit,
Ludwig Uhland's gelehrte Werte. 341
In der Charakteriftit des Minnefangs nad} diefer Seite
hin betrachtet Uhland vornehmlich die Höfifche Dorfpoefie
Nithart’s.
Nachdem der Höfifche Minnefang verffungen war,
fanden die Liebeslieder von neuem Gehör und allgemeine
Geltung. Sie find nicht ein Nachklang des abgeftorbenen
Kunftgefangs, fonbern berüßren fi) weit mehr mit ben
älteften volföthümlich friſchen Minneliedern. Diefen jün-
gern Bollsfiebern ſchenlt Uhland eine fehr ausführliche
Betrachtung, wobei auch der vorher nur flizziete Dinne-
fang ſich in einzelnen Zügen verwandt und hülfreich er»
zeigen fol.
Liebeslieber und Tanzlieder berühren ſich mannichfach.
Die Tanzluft der frühern Zeit Außert fi fogar in frank-
hafter Weile, und fo gebenft Uhland auch des Johannis -
tanzes und des Beitötanzes, weldem bie Tarantella ber
Staliener entjpricht. .
Nicht mur bie Luft des Sommers und ber Liebe
tönt in dem Liedern wieder, auch die Trauer und das
Leid, Liebeslieber, die beide Stimmungen vereinen und
weldje gleihfam bie ganze jugendliche Liebe barftellen,
find nicht minder verbreitet. Sie handeln gewöhnlich
von „zwei Gefpielen“ (b. 5. Liebenden). Die folgende
Betrachtung über dieſe Tiebergattung hat Uhland zur
Mittheilung in Pfeiffer's „Germania“ (II, 218— 228)
benugt. Hier im Rahmen einer allgemeinern und aud«
gebehntern Betrachtung des Liebesliebes tritt fie noch
farbenreicher hervor. .
In der Vollsliederſammlung ift ein Stüd mit der
Ueberfchrift „Zwei Gefpielen“ in hochdeutſcher und nieber-
landiſcher Faffung mitgetheilt:
Zwei liebende Mädchen gehen Über eine grünende Wieſe,
die eine führt einen friſchen Bun, die andere trauert fehr;
auf die frage jener fagt fte den Grund ihrer Trauer: fie ha⸗
ben beide einen Knaben lieb, und damit können fie fi nicht
heilen; lann das nicht geſchehen, meint die erfte, fo wolle fie
ihres Baters Gut und ihren Bruder dazu der Gefpielin_zu
eigen geben, biefe Bat aber ihren Freund viel Lieber denn Sül⸗
ber oder rothe® Gold; der Knabe fleht unter einer Linde und
Hört das Gefpräd, Hilf Ehrift vom Himmel! zu welder foll
er ſich wenden? endet er fi zur Reichen, fo trauert die
SHübjhe; die Reihe will er fahren laſſen und die Hübfche ber
Halten; wenn die Reiche das Gut verzehrt, fo Hat die Liebe ein
Ende: „Wir zwei find nod jung und flark, groß Gut wollen
wir erwerben.“
Im heutigen BVoltsliedern finden ſich auch noch Spu-
zen biefer Fieber. Im 16. Jahrhundert iſt es aud in
Frankreich befannt, wenn aud) vom Deutſchen mannich-
fach abweichend, doch in der Grundidee übereinſtimmend.
Zwei Geſpielen find auch Gegenſtand ber altfrangöfif—hen
Erzählung von vlorance und Biancheſlor, ebenſo im der
zweiten Bearbeitung beffelben Stoffs, in dem Bruchſtüde
von Eglatine und Hueline, ferner in einer mittellateinie
ſchen Behandlung vom Anfang des 13. Jahrhunderts,
in dem Sireite zwiſchen Phyllis und Flora. ü
Mannichfach und weitgreifend ift im ber alten Lieber-
Dichtung die Bedentjamfeit ber Blumen. Die Kranzlieber
beſprach Uhland ſchon in einem der vorhergehenden Ab -
ſchnitte. Am meiften befaſſen ſich bie Lieder mit dem
Blumenlefen, Rofenbreden, Kranzwinden.
Die Blumen als Symbole jugendlicher Anmuth und
Zriſche, Liebe und Freude find fir ſich verſtändlich. Mit
dem Anfang des 14. Jahrhunderts geftaltet ſich eine volle
ftändige Farbenlehre, die jeder einzelnen Farbe fir die
Angelegenheiten der Liebe einen beſondern Ginn beilegt
und dieſen auch je auf die Färbung der Blumen über-
trägt. Das 15. Zahrhundert entfernt ſich noch weiter von
dem unmittelbaren finnlichen Eindrud, indem e8 ſprechende
Blumennamen auf die Empfindungen und Gefchide der
Liebenden anwendet.
Die Kranz und Blume, fo wird aud der Garten
als Bild der Liebe gebraucht. Erfrorene Blumen und
das vermüftete Gürtlein dienen als Bilder des durch Tren-
nung oder Untreue zerflörten Liebesglüds in den zahl-
zeichen Abſchiedsliedern.
Das nüchterne 16. Jahrhundert gab die Weife des
alten Liebesliedes nicht auf. Im den Liederbüchern aus
biefer Zeit finden ſich nicht bloße Ueberreſte echter älterer
Vollslieder, fondern daneben auch eigene moderne Erzeng«
niffe, welche bei aller Weitläufigfeit und Künſtlichkeil der
Formen doch friſchen Sinn und muntere Beweglichkeit
nicht entbehren. Uhland wählt am Schluſſe einige diefer
anmuthigen Volkslieder aus, welche zum ‘heil von dem
befannten Georg Orinewald, dem Sänger am Hofe des
Herzogs Wilhelm von Mimchen, herrühren. Bon diefem
berühmten Muſiler und Componiften, der auch ein guter
Zechbruder war, erzühlt Georg Widram in feiner
„Rollwagenbitcjlein“ genannten Schwanffammlung ein füft«
liches Geſchichtchen. Diefer Grünewald nennt fih, öfters
in feinen Gedichten, läßt aber auch öfters feinen Namen
im Zerte felbft ducchbliden. „Aus bem grünen Walde
ſtammt die alte, naturtreue Vollsdichtung, der legte
Sänger dieſer Weife geht in dem grünen Wald wies
der auf.”
Diefer Bericht gibt nur eine ganz flächtige Andeutung
von dem reichen, mannichfaltigen und poeflevollen Inhalt
des Uhland'ſchen Werke. Die Gelehrfamfeit und Bele—
fenheit Uhland's zeigt fi auch Hier im glänzendften Lichte.
In bie Darftellung aber find nur die Ergebniffe verwebt,
auf bie Quellen weifen uns bie beigefügten Anmerkungen,
die mitunter fogar zu Meinen Ercurfen ausgedehnt find.
Im noch höherm Grade als in feinen Borlelungm zeigt
ſich hier Uhland’s beinahe inftinctive Begabung, das edit
Voltsmäßige aus der fünftlerifch geftalteten oder aus ber
formal vernadläfjigten Dichtung, aus ber fagenhaften
Ueberlieferung und ſelbſt aus ben unſcheinbarſten Andeu-
tungen herauszufinden und zu erfennen. Auch Hier
müfjen wir feine Kraft und Schönheit der Darftellung
bewundern. Jeder, ber ſich in biejes Werk mit Exnit
und Hingabe vertieft, wird Franz Pfeiffer's, des verdien-
ten, nun auch dafingegangenen Herausgebers Urtheile von
ganzem Herzen beiftimmen, welches lautet: „Hier haben
der Gelehrte und der Dichter fi verbunden, um ein
Werk zu ſchaffen, das in unferer Literatur, und ich glaube
nicht in unferer allein, feinesgleichen nicht Hat; denn noch
niemals ift die Vollspoeſie mit folder Gründlichleit und
Tiefe, mit fo viel Innigkeit und Wärme erfaßt und in
fo bollendeter Form dargeftellt worden.”
Beziehen ſich die im dritten Bande enthaltenen
Anmerkungen nur auf die Abhandlung, fo knüpfen bie
„Anmerkungen zu ben Bolteliedern" im vierten Bande,
342 Ludwig Uhland's gelehrte Werke.
zu welchem wir uns jetzt wenden, an die Stücke ber
Liederſammlung an. Sie dienen, wie ed Uhland felbft
bezeichnete, „zur Kritik, Erläuterung und Geſchichte ein⸗
zelmer Lieder. Aus diefen feinen Worten ergibt fi
zugleich, daß keineswegs alle Lieder mit Anmerkungen
bedacht werden follten, und fo enthält denn auch in der
That das zum Abdrud gelangte Manufeript nur Er»
läuterungen zu einem heile der 368 Nummern ber
Sammlung.
Die Herausgabe diefer Anmerkungen batte ebenfalls
Franz Bfeiffer übernommen; mitten ans feiner Arbeit
wurde er abgernfen; an feine Statt trat Wilhelm Lud⸗
wig Holland.
Es verfteht fi, daß diefe Anmerkungen, welche bie
Quellen der Lieder nachweifen, Lesarten bieten, ſchwierige
Stellen beſprechen und erläutern, die verwandte Literatur
zur Bergleichung heramziehen, nicht für bie größere Lefe-
welt beftimmt find, fondeen für die Gelehrſamkeit, welcher
fie Hoch willlommen fein müffen. Erſt jet ift Uhland's
Hauptwerk, feine Liederfammlung, wahrhaft nutzbar ge-
macht. Für die Hiftorifchen Volkslieder, die auch in
diefer Sammlung berüdfichtigt find, bieten willlommene
Ergänzungen die Schriften von Soltau und Hilden⸗
brand und namentlich das große Werk von R. von
Liliencron.
Dem urſprünglichen Plane nach ſollten in dieſem
vierten Band diejenigen Theile aus der Abhandlung über
den „Minneſang“ aufgenommen werden, welche nicht ſchon
im dritten Bande daraus vorweggenommen ſind. Das
iſt nun nicht geſchehen, ſondern der noch übrige Raum
wurde benutzt zur Wiederholung der bedeutſamen gelehrten
Erſtlingsſchrift Uhland's, der Abhandlung „Ueber das
altfranzöſiſche Epos”. Sie erſchien bekanntlich in Fouqué's
und Neumann's Zeitjchrift „Die Muſen“ im Jahre 1812.
Denn auch eine Ingendarbeit, ift diefe Abhandlung doch
von hohem und bleibendem wiſſenſchaftlichen Werthe,
weshalb fie in den „Schriften unbedingt Aufnahme
finden mußte. Ihr Wieberabdrud wird aud) deshalb fehr
erwünfcht fein, weil Eremplare jener Zeitfchrift zu den
größten Seltenheiten gehörten. Hat dod), wie uns ber
Herandgeber Holland mittheilt, Uhland felbft das betreffende
Heft lange Zeit. nicht mehr beſeſſen und die eigene Arbeit
erft in ben funfziger Jahren wieder erworben.
Uhland will in dieſer Abhandlung, die er befcheiden
einen Berfuch nennt, ausführen und belegen, daß in der
alten nordfranzöſiſchen Sprache ein Cyklus wahrhaft epi«
fchee Gedichte ſich gebildet habe. Bon einer Erörterung
über den Begriff des Epos, welcher dabei zu Grunde
gelegt ift, fieht er ab, nnd will nur zeigen, „wie jene
Gedichte durch Darftelung einer mächtigen Heldenzeit,
durch Bildung eines umfaſſenden Kreiſes vaterländifcher
Kunden, durch Objectivität und ruhige Entfaltung, ſowie
durch angemeffene Haltung des Stils und Beftändigkeit
der Bersweife, endlich durch Beſtimmung für den Gefang
fi als ein Analogon ber Domerifchen Gefünge und des
Nibelungenfreifes bewähren”.
Sodann wird der Unterfchieb feitgeftellt, welcher zwi⸗
hen den Heldendichtungen, die ſich um Karl den Großen
und feine Genofjenfchaft bewegen, und den Contes und
Fabliaur, ben allegorifchen und abentenervollen Romanen
und Erzählungen, waltet. „Die wefentlichfte Unterfcheidung
wäre: epifcher Gefang und bloße Erzählung.‘
Dem eigentlichen Epos, der Heldendichtung, gilt die
Betrachtung. Uhland disponirt ben Stoff dahin, daß er
zuerft einen allgemeinen Umriß dieſes Fabelkreiſes nad)
feinem Umfang und Zufammenhang geben, ſodann bie
dazugehörigen einzelnen Gedichte namhaft machen will, welche
ihm näher oder entfernter befannt find. Nachdem bierdurd)
der Stoff gegeben ift, wird von den Versarten, dem Stil
und dem muſikaliſchen Vortrag biefer Poeſien gehandelt
werden. Hierauf follen Bemerkungen über die Gefchichte
des Gedichtkreifes folgen und endlich feine Beziehungen zu
einigen andern Tabelfreifen berührt werden. Die folgende
Ausführung ift in Hohen Maße gebiegen, fie zeugt von
bedeutender Umfiht und Beherrſchung des Materials,
was um fo mehr Anerkennung - verdient, als damals
keineswegs zahlreiche Ausgaben altfranzöfifcher Dichtungen
zu bequemer Benugeng zur Hand gelegen, Uhland Hat
vielmehr ebenjo wie er es fpüter bei feiner Schrift über
Walther von ber Vogelweide that, feine Kenntniß zumeift
aus unmittelbaren Duellenftudien, aus den Handſchriften
geſchöpft. |
Uhland, das kann getroft behauptet werben, war einer
der Begründer der romanifchen Studien. Seitdem hat
in Srankreich die Forſchung nicht geruht; aber auch in
unferm Vaterlande erwachte fchon damald eine Lebendige
Theilnahme file Sprache und Literatur der Romanen, ins⸗
befondere der Yranzofen, und biefes Studium verband fich
mit dem der deutfchen Vorzeit. Ya, deutjche Gelehrte ha⸗
ben den Ruhm, in die Beichäftigung mit dieſem Wiffens-
gebiete die ftrenge und wiſſenſchaftliche Methode getragen
zu haben.
Zahlreich find die Anmerkungen und literarifchen Nach
weife, mitunter auch Berichtigungen, welche der auf dem
Gebiete des Romanifchen hochverdiente Herausgeber der
Abhandlung Uhland's mit auf den Weg geben Tonnte,
wodurd fie einmal auf den Standpunkt der heutigen
Wiſſenfchaft emporgehoben wird, andererfeit8 aber zugleich
and) in ihrem Werthe noch beffer erfannt werben Tann;
denn diefe Zugaben führen ja auch näher aus und be=
gründen zulegt, was Uhland zuerft nachgewieſen hat.
Auf die Abhandlung ließ Uhland in einem folgenden
Hefte der „Mufen” „Proben aus altfranzöfifchen Gedichten”
folgen, nämlich aus dem Helbengediht von Viane, woraus
er wieder einen Theil, aber mit mannichfachen Aenderun«-
gen, unter feine Gedichte eimreihte unter der Weberfchrift:
„Roland und Alda.“ Auch biefe „Proben“ find natürlich
im vierten Bande ber „Schriften” wiederholt. Uhland hat in
feinem Exemplar der Zeitfehrift diefe Uebertragung mit
handſchriftlichen Henderungen verjehen, die nun an ber
Stelle der frühern, in bie Anmerkungen verwiefenen
Lesarten in den Zert aufgenommen wurden.
Vielen wird die Abhandlung Uhland's über das alt=
franzöftjche Epos in diefer Geſtalt zum erftenmal vor Au»
gen fommen. Wenn fie aud) die Wärme entbehrt, welche
die folgende Schrift über Walther auszeichnet, fo iſt
fie doch bei aller Gelehrſamkeit vorzitglid gut geſchrie⸗
ben. Beſonders feinfinnig ſcheinen mir die Bemerkungen
über die poetiſche Form und den Stil jener alten Dich
tungen zu fein.
Gejammelte Ejfays. 343
Der Einfluß diefer altfranzöfifhen Studien auf Uh—
land's Dichtkunft war ein bedeutender ſowol hinſichtlich
der Wahl der Stoffe ald aud) der angewandten Formen.
Zugleich aber biente ihm jene Beihäftigung mit dem
Dichtergeifte eines urſprünglich verwandten Volks wejente
lich zur tiefern Crkenntniß unferer heimifchen Poeſie.
Reinhold Bechſtein.
Gefammelte Effays.
Geſchluß ans Nr. 21.)
1. Studien und Kritifen zur Philofophie und Aeſthetik. Bon
Robert Zimmermann, Zwei Bände. Wien, Braumliler.
1870. Gr. 8. 4 Zhlr.
2. Englifce Üharatterbilder. Bon Eriedrih Althaus.
Bu Bände. Berlin, von Deder. 1869. Gr. 8.
5 Thlr.
an Taufenden Webſtuhl der Zeit." Bon Feodor Wehl.
ei Bünde, Leipzig, Matthes. 1869. 8. 2 Thlr.
terarifcher Nachlaß von Friedrih von Raumer. Mit
dem photographirten Bildniß des Verfaſſers. Zwei Bände.
Berlin, Dlittler und Sohn. Gr. 8. 2 Thle.
5. Lichte und Tonmellen. Ein Bud) der Frauen und Dichter.
Aus dem Racjlaß der Fofepha von Hoffinger. Heraus
gegeben und mit einer Lebens · und Sharatielligge verjehen
duch Johann von Hoffinger Wien, Prandel.
1370. 8. 1 Thlr.
6. Kritit der Schiller», Shalfpeare» und Goethe ſchen Frauen⸗
haraltere von Julie Freymanı. Gießen, Roth. 1869.
©r. 16. 1 Thir.
Borlefjungen von Bogumil Golk. Zwei Bände. Berlin,
Sanfe. 1869. Gr. 16. 2 Thir.
Der „Literariſche Nachlaß“ von Friedrich von
Raumer (Nr. 4) it glüdlicherweife nicht der Nachlaß
eines Berflorbenen. Friedrich von Raumer hat am
14. Mai 1870 feinen neunzigjährigen Geburtötag gefeiert;
feine Freunde und Berehrer brachten ihm eine folenne
Gratulation dar und überreichten feine Büfte, welche von
dem Bildhauer Drake meifterdaft in Marmor ausgeführt
worden if, Wir freuen uns an dem Glüd eines fo hohen
Alters, das einem namhaften deutſchen Gelehrten be»
Tchieden it, und begrüßen daher in feinem „Nachlaß“
eine Sammlung von Auffägen, Briefen und Notizen,
welche und das vielfeitige und reiche Leben eines noch
immer fortarbeitenden vegen Geiftes in erfreulicher Weife
darlegt; denn in einer Zeit der „Specialitäten“, die man
in vieler Hinfiht als geiftige Sfolichaft, als pennfyloa-
niſches Zellenfpftem der Wiffenſchaft betrachten Tann, find
Gelehrte von umfaffender Bildung doppelt hoch zu achten.
Was in unferer claffifchen Zeit die Regel war, muß jegt
als Ausnahme betrachtet werden.
Der Hiftorifer der Hohenflaufen hat in feinem „Liter
rariſchen Nachlaß“ nicht nur geſchichtliche Auffäge ger
fammelt, ſondern auch äſthetiſche und literariſche, Reiſe-
ffiggen, Randglofien zu naturwiſſenſchaftlichen Studien
und Gebanfenfpäne über die verſchiedenſten Bereiche des
geiftigen Lebens. Ueberall zeigt ſich der Selbftdener, der
fi) aud) auf ferner liegenden Gebieten bie .geiftige Autos
nomie wahrt, fid) anregen läßt, ohne auf die Worte des
Meifters zu ſchwören, und alle zerftreuten Strahlen feiner
Studien im Brennpunkte einer Weltanfhauung ſauimelt,
deren charalteriſtiſches Kennzeichen eine ſchöne und milde
Humanität iſt.
Nach den autobiographiſchen Mittheilungen Raumer’s,
die mandjes Interefjante enthalten, finden wir zumächft
S
Briefe Alerander von Humboldt's an Naumer, welcher
in der Vorrede die Bemerkung macht, daß das in diefen
Briefen über ihm ausgeſprochene allzu große Lob nicht
mit dem übereinftimmt, was ſich gleichzeitig in Varnhä-
gen's Nachlaß vorfindet. Das Lob in dem Briefen ift
allerdings ein fehr glänzendes. So fagt Humboldt in
Betreff von Raumer's Schrift über Stalien:
Schon Habe id; den Genuß gehabt, einen großen Theil
Ihres „Stalien’, mein hodverehrter Freund und College, geleſen
m Haben. Das if ein großes, lebeudiges Bild der Nation
und der jehigen Zufände unter partifularen Herrfchereinfläffen,
Darftellung des eruften Kampfes, der fi) bereitet. Ein folhes
Werk fonnte nur von dem ausgehen, der fo tief in die Ge—
jchichte der Völter eingedrungen, im Mittelalter einheimifd) ift
umd zugleid) einen fchönen Theil feines Lebens im Staatsdienfle
au einer Zeit Heilbringend wirlſam war, wo man einmal in»
terimiftifd; glaubte, die Regierungen follten nicht immer an dag
Sälepptau ber zufälligen Begebenheiten gefefjelt jein. Das
wenige Gute, das man zu zerfören firebt, und nicht den Muth
hat, ganz zu zeflören, ift aus jener Beit, Ihr Werk if das
Refultat einer zwiefachen, gediegenen Natur: dazu vol Würde
der Darftellung, voll Mäßigung in den freieften Urtgeilen. Sie
Haben dur den Eindrud, den Ihr Ruf und Ihre Perſönlich-⸗
keit gelaffen, die merkwürdigſten, ſelbſt numeriihen Elemente
des großen Staatshaushalts ſammeln Lönnen. Welche Quellen
für den Gefhichteforicer, wenn er für jedes Jahrhundert drei
bie vier folder Schilderungen der Nationalzuftände hätte!
. Bon ben Cfaffifeen Weimars fagt Humboldt bei
Gelegenheit eines feharfen Urtheils, das Schiller über
Herder gefällt: „Da oben werben bie großen Geifter ſich
zwifden dem Gewölf vermeiden.“ Die politifhen Aus-
Sprüche Humboldt'8 in den Jahren 1849 und 1850
find zum Theil fo ſcharf wie in dem Varnhagen'ſchen
Nachlaß.
Die „Geſchichtlichen Aufſätze“ Raumer's zeigen die
Klarheit und Gewandtheit ber Darſtellung, bie aud) feinen
größern Geſchichtswerken eigen ift. Nirgends das Fünfte
üche Aufthücmen von Perioden, geſuchten Worten, felt-
ſamen Inverfionen, in welcher mande neuern Hiſtoriker
die Witrde darſtellender Kunft ſuchen; alles ſchlicht, ein»
fach, verftändig, ohne jedes Raffinement auch im Auf-
ſuchen der Motive und ihrer Verkettung, ohne jenen oft
verkehrten Pragmatismus, der über die Köpfe der han-
delnden Perfonen hinweg die feinen Gefpinfte der Welt
lage und unzerreißbarer maßgebender Berhältniffe wirft.
Der erſte Auffag: „Reife nach Südamerika“, ift
ein mühfames Mofaitbild, in welchem bie Lefefrüchte aus
einer Reihe von Reiſebeſchreibungen in jenen Gegenden
mit - Sorgfalt zuſammengetragen find. Diefe Art vom
Mofaikbildern empfiehlt fih für unſere Journale, indem
das Gefammtbild von Land und Leuten aus ſolcher ethno⸗
graphifchen Gedantenharmonie in ſcharfen Umriſſen her ⸗
voririti. Doch erfordert die Arbeit eine gefchidte Hand.
344
Es wäre zu wünfchen gewejen, daß Raumer vor bem
Druck die zahlreichen Ergänzungen durch neue Reiſewerke
mit aufgenommen hätte; denn gerade liber Südamerika
haben wir feit 1854 fehr wichtige neue Aufſchlüſſe er-
halten.
Der zweite Auffag: „Zur neuern Gefchichte Spaniens‘,
ſtellt, nach allgemeiner gefchichtlicher Einleitung, Hauptfäd)-
(ich die Begebenheiten dar, welche gegen Ende des vori-
gen Bahrhundert“ nd am Anfang des jegigen die ſpa⸗
nifche Halbinfel ın den Kreis der großen europäifchen
Demegung zogen. Karl IV., Berdinand, vor allem der oft
verfannte Friedensfürſt Emanuel Godoi find treffliche
Porträts. Bon Godoi heift es:
Emanuel Godoi, geboren am 12. Mai 1767 von abelichen
nicht reichen Aeltern, ward forgfältig, jedoch zunächſt für den
Soldatenſtand erzogen. Alte Literatur und Geſchichte waren
ihm indeffen nicht fremd. Als Offizier der königlichen Leib»
wache erregte er durch unlengbare Gewandtheit und fein ein-
nehmendes Aeußere die Aufmerkfamkeit der Königin, und der
König Hoffte an derı Tediglih durch feine Gnade erhobenen
Mann einen durchaus treuen Freund heranzuziehen. Allmählich
wuchs Godoi's Einfluß; er ward allmädhtiger Miniſter, Haupt
bes Heer umd der Flotte, Herzog von Alcudia und verheirathet
mit einer Prinzeffim des Löniglihen Hauſes. So gewiß dieſe
Begüuſtigungen das gewöhnliche Maß weit überfliegen und
durch außerordentliche Borzlige des Geiſtes und Charakters nicht
binreihend begründet waren, fo gewiß find mande der gegen
Godoi erhobenen Beſchuldigungen unwahr und ungerecht. Der
übertriebenen Borliebe des Königs und der Königin flellte ſich
üibertriebener Haß entgegen, und dem Gunſtling ward nicht
6108 zur Laſt gelegt was er ſelbſt verſchuldet, ſondern all das
Uebel, was feit Jahrhunderten unbezwinglich emporgewadjen.
Der Gang feines Lebens führte Godot zu Selbfivertrauen umd
Eitelleit, mühelos erworbener Reichthum zur Begier, ihn un-
ebliprlih noch mehr zu vergrößern, und zu leichtſinniger Be⸗
Banblung des Finanzweſens; etliche Liebfchaften endlich waren
Folge feiner Natur und allzn bequemer Gelegenheiten. Doch
blieb fein äußeres Benehmen in den Grenzen des Anftandes,
und es fehlte ihm nicht an Scarffinn und Menichenkenntniß.
Er war von Natur leinesiwwegs böſe oder graufam, und das,
was man ihm in vielen Beziehungen bitter vorwarf, ift nach⸗
mals von feinen Anklägern und Feinden in weit verbammlicdherer
Weiſe geübt worden. In Neapel, Sardinien, Spanien (unter
Serbinand VII.) haben Berfolgungen flaitgefunden,, gegeu welche
oboi’8 Regierung milde und menſchlich erjcheint. Allerdings
war er der ihm gewordenen großen Aufgabe nicht gewachſen,
ihm fehlte der erforderlihe Muth, die tiefere Einfidht, die un⸗
bezwinglihe Thatkraft; wo aber gab es einen Staatsmann,
das Schiff durch die Stiirme von 1793 — 1808 unverletzt hin⸗
durchzuführen? Selbft innere, umnleugbare Berbefferungen fan-
den oft unüberfleigliche Hinderniffe, und eine von Godoi ver-
ſtändigerweiſe eingefetzte Behörde zur Erforfhung vorhandener
Uebel und Heilmittel brachte deshalb nicht die gehofften Früchte.
„Sch mußte‘, Hagt Bodoi, „meine Berbeflerungsplane insgeheim
nur wenigen Perfonen anvertrauen, um file nicht fogleich- zu
vereiteln.“ Mebr als im mancher frühern Zeit geſchah für
Wiſſenſchaft, Kunft und Gewerbe; aber fhon die Einführung
befferer Lehrmethoden in den Schulen, ober der Kuhpoden-
impfung, ward getadelt; aud waren in der That die Zeiten,
welche Ferön einen Mann wie William Pitt vor größern Neue-
rungen zurückſchredten, denfelben am wenigften in Spanien
günſtig. Als Godoi z.B. die Rechte und Misbräuche der In⸗
quifttion beſchränkte und Verhaftungen ohne lönigliche Erlaubniß
verbot, ward er Atheift gefcholten und von der Imanifition in
Aufprud genommen.
Napoleon’8 Eingriffe, die Regierung des ebelgefinnten
JZoſeph, der fpanifche Aufftand und Krieg werben un in
Yebendiger, antheilheifchender Darftellung vorgeführt. Bon
Gefammelte Effays,
der neuern Gefchichte Spaniens erhalten wir, fowie von
feiner ältern, nur einen flüchtigen Umriß.
Der Auffag: „Zur neuern Geſchichte Roms”, gibt
einen Abriß der Bewegungen, welche feit der Thron⸗
befteigung des Papſtes bis zum Jahre 1850 in Rom
ftattfanden, nach zahlreihen Quellen. Die Reformtheorien
Balbo’8 und Gioberti's werden nach ihren Hauptwerken
entwidelt, der Aufftand in Rom, Roſſi's Ermorbung,
die Vertheidigung gegen die Franzoſen lebendig dargeftelt.
Am Schluß des Auffates jagt Raumer:
Aus den großen Bewegungen diejer Jahre ift für Stalien
durch die Italiener leider faſt nichts hervorgegangen, nichts von
dem gegründet, was fie wünſchten oder —** Deshalb
ſagt Ceſare Balbo: „In Italien iſt Verſtand und Einficht weni⸗
ger zur Hand als Phantafle, und die Phantafie weniger als die
eidenſchaften.“ — „Wir waren“, fchreibt Eoletta, „nicht reif für
freiere Einrichtungen. Sie gehen hervor aus den Sitten, nidt
aus Gejegen, nit aus revolutionären Sprüngen, fonbern aus
Fortſchritten echter Bildung. Deshalb ift der Geiegeber weiſe,
welcher hierfür den Weg bahnt und die Gejellichaft nicht auf
ein deal Hintreibt, für welches die Einheit der Köpfe, bie
Wünſche der Herzen und die Gewohnheiten des Lebens nicht
paſſen. Bekennen und hoffen wir, daß wenig fidy fchidt und
wenig genügt den meiften Italienern; fie find nicht genug oder
zu viel gebildet (troppo civili) für die Unternehmungen der
Freiheit. — Durd) diefe bittern Wahrheiten und eruften Warunn⸗
gen wollten zwei vaterlänbifch gefinnte Italiener keineswegs zu
völliger Verzweiflung oder zu fauler Unthätigleit Beranlaffung
geben; fondern auf das hinweiſen, was dem ſchönen Lande,
dem geiftreichen Bolt wahrhaft fehlt und noththut. Nicht aus
übereilten Ummälzungen, nicht durch leidenſchaftliche, verblen⸗
dete Schreter oder rückläufige tyrannifivende Fürſten, Zions-
wächter und Beamte wird eine neue glückliche Zeit hervorgehen,
fondern durch Unterordnung des eigenen Intereſſes unter das
gemeinjame ‚ duch Lebendige Bewegung innerhalb gefetlicher
Kranken, Unterfcheidung des Möglichen vom Unmöglicdyen und
echter Freiheit von hochmüthiger, phantaftifcher Willkür!
Wir glauben nicht, daß nach diefem Recept Stalin
feine Einheit erobert haben würde.
der Rom vertheidigte, bat biefe Einheit auf dem Wege
gewaltjamer Revolution erobern helfen. Am Schluß des
Auffates über „Sicilien und Palermo‘, welcher eine kurze
Darftellung ber hauptſächlichſten Aufſtände anf dieſer In⸗
ſel gibt, ſcheint Raumer ſich mehr für die Idee Gioberti’s
und Napoleon's, für einen italieniſchen Staatenbund zu
begeiftern, als für den Einheitsftant, obgleich diefen Ich» .
tern her die geſchichtliche Entwidelung felbft eingeſchla⸗
gen hat.
Die Reifeflizzen aus Dänemart, Schweden und
Norwegen, aus ber Türkei und Griechenland find
durchaus anſpruchslos, ſchildern manches perfönliche und
gleihgültige Erlebniß, aber werfen auch frappante Licht-
blide auf Gegenden, Städte und Staatseinrichtungen.
Konftantinopel wird uns nicht blos nad) feiner Kichtfeite,
fondern aud nad, feinen unbehaglihen Schattenfeiten
ſehr im Detail gefhilbert. Vom Meer her, von außen,
ift e8 wol eine einzige Pradt. Im Innern gibt e8 in
ganz Europa Feine häßlichern, unbequemern und Yang:
weiligern Städte als Konftantinopel und Pera. Ueber
den Drient felbft urteilt Raumer:
Vom Orient habe ich kaum eine Klaue gefehen, darf aljo
nicht wagen, ex ungue leonem zu beurtheilen. Reihe ich aber
daran, was andere berichten, jondere ich mit ruhiger, geſchicht⸗
licher Kritit, fo ftellen fich einige Ergebniſſe immer deutlicher
heraus. Siehe ich eine Linie von Kairo, fiber Serufalem, Da-
masfus, Aleppo, Ikonium, Bruſſa nah Konflantinopel, und
Derfelbe Garibaldi,
————⏑ —
Geſammelte Eſſays. 345
nenne bie eingeichloffenen Länder den Orient, fo glaube id)
weder, daß die vernacjläffigte, verbraudte Natur (mit Ans⸗
nahme einzelner glänzender Dafen) ſich jemals wieder zu frü«-
berer Fruchtbarkeit und Schönheit verjüngen wird, nod daß
die dortigen dünn zerfireuten Menjhenftämme berufen find,
eine wahrhaft neue und gefunde Entwideluug der Menſchheit
hervorzurufen. Alle Hoffnungen beruhen auf dem abendlichen
Europa und dem nördlihen Amerika; verfehlen dieje ihren er-
babenen Beruf, fo geht alles rückwärts! Indien, China, Japan
lönnen uns nicht erziehen; es ift vielmehr ihr Glück, wenn fie
fi) der Einwirkung einer höhern Bildung nicht länger entzie-
ben lönnen.
Aus dem Hiftorifch-politifchen Brief Raumer's an
Nudolf Köpfe fieht man mit Vergnügen, daß der Hiflo-
ziter ein Parteigänger der neuen Ordnung der Dinge ift
und daß die unerwartet großen Ereigniſſe des „Jahres
1866 in ihm die tröftlihe Hoffnung und das Bertrauen
erweden, daß Preußen und Deutjchland nicht dem ge-
fürchteten oder ſchändlich gewünſchten Untergang, fondern
einer herrlichen, glüdlichen Wiedergeburt und Zukunft
entgegengeben.
In Raumer’s wiffenfchaftliches Atelier führen uns
bie „Bemerkungen zu Profeſſor Erdmann's Gejchichte der
Philoſophie“, die „Randglofſſen eines mehr ale adhtzigjäh-
rigen Studenten zu naturwiffenfchaftlichen Studien”, die
„Proben deutfchen Stils“ und die „Gedankenſpäne“ ein.
Aus den Bemerkungen, welche Scolien zur Geſchichte
der PBhilofophie bilden, erfehen wir, daß Raumer fich zu
einer eklektiſchen Nichtung, jedenfalls mehr zu den No—
minaliften als zır den Realiften, zu Ariftoteles mehr ale
zu Plato, zu Loge und Zrendelenburg mehr als zu den
Hegelianern hinneigt. Er macht Einwendungen gegen die
‚Theorie, daß jeder neue Meifter den Fortſchritt zu einer
Höheren Stufe bringe. „Man vergißt ganz, daß die Dinge
in der Welt gewöhnlich einmal culminiren und nad) dem
Steigen auch wol ein Sinfen eintritt.”
Auch zu den Proben ſchlechten Stils, die uns Rau-
mer mitteilt, müſſen die neuen Philofophen ein zahl-
zeiches Eontingent ftellen.
Die „Randglofien zu naturwifjenfchaftlichen Studien‘
enthalten mandje interefjante Bemerkung. Der „alte
Student” ift ein Skeptiker gegenüber manchen Refultaten
diefer Wiſſenſchaft und macht namentlid) allerlei Frage⸗
zeichen hinter die Behauptungen der Chemiker. ‘Die Be-
tradtungen über Seelenheilfunde und gerichtliche Arznei
Zunde zeugen von dem lebendigen Intereſſe, welches Rau⸗
mer an diefen, noch nicht genugfam durchgearbeiteten Dis-
ciplinen nimmt.
Die „Gedankenſpäne“ find meiftens von dem Ber-
faffer mit allerlei Zuthaten eingelochte Leſefrüchte. Es be»
finden fich darunter rein perfönliche Drientirungsverfudhe,
welche vielleicht befler dem Publitum wären vorenthal-
ten worben, aber auch finnreiche Reflerionen. Die poli»
tifchen Betrachtungen gehören meift der neueften Zeit an;
fie betreffen unter anderm Napoleon III., den Krieg von
1866, die neuen Ereigniffe in Italien und Spanien.
Bon dem letztern Lande Heißt es:
Der Sturz der Königin Ifabella ward dadurch weſentlich
erfeichtert, daß fie nicht bios große Regierungsfehler beging,
fondern and) einen tadelnswerthen Lebenswandel führte. Doch
iR ihr Sturz nur der Anfang einer Revolution. Das Ber-
wideltere, weit Schwierigere ift nod zu thım übrig, und faum
za erwarten, daß fo viele und fo verjchiedene Perfonen, daß
1870. 22. u
alle Theile des von Madrid nicht (mie Frankreich von Parie)
beherrfchten Reichs liber Mittel und Zweck lange werben einig
bleiben. Nur große Perfönlichkeiten (wie Heinrih IV., Wil
beim von Oranien, Waſhington) können fo Getrenntes, Aus-
einanderfahrendes einigen und beherrſchen. Ich Halte es fiir
höchſt unwahrſcheinlich, daß ſich eine föderative ober einheit-
liche Republik auf die Dauer in Spanien erhalten könne. Aber
ebenjo unwahrſcheinlich if e8, daß ein mittelmäßiger, durch
Berfafjungsformen bejhränfter, von einer neu fi, erhebenden
Samarilla ringsum eingejchloffener Monarch nothiwendige und
wahrhaft Heilfame Beſſerungen zu Stande bringe. eshalb
wäre e8 vielleiht am wünſchenswertheſten, wenn die kühnen
Republifaner zunächſt obflegten und echte Reformen fo weit
durdfegten, daß Leine Reaction die frühern elenden Zuſtände
berfteflen könnte. Gebe der Himmel, daß nach Sahrhunderten
von bejammerns- und verdbammenswerther Misregierung der
Habsburger und Bourboniden die Spanier endlich das wlr-
dige Ziel erreichen, nad) dem fie fo oft vergeblich firebten.
Pilant find die Betrachtungen über Sitten, ode
und manches andere, was in das Departement des ewig
Weiblichen gehört. ine Heine alphabetifche Bildergalerie
mit den Porträts berühmter Männer, namentlih aus
neuefter Zeit, ift mit manchen treffenden Unterfchriften
ausgeftattet. Bon Wilibald Aleris heit es:
Häring’s dramatische Arbeiten zeigten Talent, jedoch fein
überlegenes, ſodaß der Beſchluß gerechtfertigt war, vorzugsweiſe
Romane zu fchreiben. Nun erweift aber eine lauge Erfahrung,
daß alle Romane (faft nur mit Ausnahme des „„Don Quigote‘‘)
ein furzes Leben haben, bald aus der Mode fommen und daun
gar uicht mehr gelefen werden, ober wenn einzelne die® ver-
juchen, fo fehlt dod) die ehemalige Wirkung. Es kam alfo dar⸗
auf an, ein Mittel zu finden, diefem frühen Tode zu entgehen.
Mit großem Süd und Geſchick fahte Häring den fehr Töblichen
Beſchiuß, vaterländifche Romane zu fchreiben, wo ſchon der Ju⸗
halt eine Bürgihaft unverwüftlider Dauer gibt. Ja wenn
manche fpäter beliebte Romane der Bergefjenheit anheimfallen,
werben die Häring’8 wieder zum Tageslicht durchdringen. Aller-
dinge mußte Dichterifches zu dem Geſchichtlichen hinzuerfunden
werden, und fo ſchwierig und gefährlich dies Unternehmen aud)
it, fo gewiß einzelner gegrändeter Zadel ſich ausiprechen Täßt,
hat Häring doch im ganzen und großen beide Beftandiheile har-
moniſch zu verbinden gemußt und den Charakter fowie die
Betrachtungsweiſe den verjchiedenen Zeiten angemeſſen dar-
‚geftelt. Ja es gelang ihm, die Art und Weile ausgezeichneter
Schriftſteller mit großer Gejchiclichleit bis zur Täuſchung nad»
zuahmen. AU viefem großen Lobe darf id, einige Bedenken
binzufiigen, die ich gegen unfern Frennd öfter ausgeſprochen
habe. Wefentlid) trug cr dazır bei, daß der Hauptbeftandtheil
des Romans, die Erzählung, in den Hintergrund getreten if,
und flatt deffen eine Geſprächsform vormwaltet, melde das Zu⸗
fanmengehörige in unzählige Heine Bruchſtücke zerfpaltet, zu
einer leicht ermlidenden Weitläufigkeit führt und den Eindruck
ſchwächt. Die ftete Unruhe des Stile zeigt nicht das wahre
Leben, und größere Einfachheit wiirde den Inhalt wirkfamer
hervorheben. Man erreicht nur den Schein des Dramatifchen,
ohne defien wahre Kraft. Verhehlen darf ich indeflen nicht,
das, was mir an der Schreibart mangelhaft erjcheint, werde
von etlichen als ein Vorzug bezeichnet.
Auch für das Theater hat Raumer zeitlebens das
regfte Intereſſe gehegt. Intereſſant find die Notizen über
das römifche Theaterwefen, und die „Briefe an Ludwig
Tieck über das Theater”. Sie tragen freilich ein etwas
veraltetes Datum (1824); die damaligen Tcheaterverhält-
nifje befinden fi) noch fo im Stande der Unſchuld, daß
Raumer als von einem wichtigen Ereigniß von der Er-
Öffnung eines zweiten Theaters in Berlin fprechen Tann,
was gegenwärtig, nach einer Errungenfchaft wie die
Theaterfreiheit, ſehr mythiſch klingt. Dennoch enthalten
44
346
die Briefe über die Stellung des Theaters, des Schau-
fpielerftandes u. |. w. Bemerkungen von allgemeiner Gültig»
feit, die an Feine Zeit gebunden find.
Der Einfluß Ludwig Tieck's, mit welchem Raumer
in langjähriger inniger Freundſchaft lebte, auf die üfthe-
tischen Anfichten des Hiſtorikers ift unverfennbar, Auch
unter den mitgetheilten Briefen find diejenigen Raumer’s
an Tieck wol bie intereffanteften. Doc, ‘hält fich jener
von allem frei, was wir al8 das romantische Zopfthum
bezeichnen möchten. Seine Bewunderung für den Dichter
fprit er in den folgenden Zeilen aus:
Beim Rückblick anf ein längeres Leben findet jeber, daß
nicht alle Knospen zur Blüte fommen und nicht alle Blüten
Frucht anfeten — es kann und foll in der Natur nicht anders
fein. Wenige Menſchen in der Welthaben jedoch fo viel gedacht,
gefühlt, geleiftet, erihaffen wie Sie, und die Dankbarkeit Ihres
Geiſtes und Herzens für all das Gute, was Gott Ihnen zu⸗
theil werben ließ, ift vielleicht der ſchönſte Edelſtein Ihres reichen
Beſitzes. Ja, Krankheit, Schmerz, Sorge mandyerlei Art redjne
ich ebenfalls zu den Gaben, die Ihr Leben reicher, mannichfal:
tiger, poetifcher machten. Shalipeare, Camoens, Dante find
Ihre Brüder auch in diefer Beziehung, und ich weiß nicht, ob
Goethe's Außerlihe Allgenugfamkeit dagegen nicht als etwas
erkünftelt könnte bezeichnet werden. Jene angeftrebte oder vor»
handene Allgenugfamleit hat für mid) etwas Beunrnhigendes,
Abſchreckendes, umd wenn Sie anf unfere vieljährige trene Freund⸗
ſchaft Werth legen, jo darf ich wol fagen: wären Sie mir wie
ein Heros oder Titane entgegengetreten, dieſe Art von Kraft
hätte mid) aus der Sonnennähe in die finftere Nacht wieder
hinansgeichleudert.
Tieck felbft tritt felten in der Correfpondenz redend
auf. Bemerkenswerth ift feine Anerkennung Raupach's:
Für Raupach habe ih eine aufrichtige Neigung gefaßt.
Bir treffen doch in mehr Punkten zuſammen, als ih es je
glauben konnte. Die große Verſchiedenheit bleibt deswegen dod).
Er ift aber nicht unbillig, und das ift ſchon viel, viel für einen
Mann, der jeßt der einzige Blihnenbichter iſt, von manchen
geehrt, von noch mehrern geliebt wird. Den Shalfpcare ver»
fteht er auf feine Weife. Was er gegen ihn bat (darauf läuft
ja andy Goethe’ Demonftration hinaus), ift eigentlich, daß
unfer Bublitum zu ungebildet ift, ihn fo zu verftehen, wie er
if. Anders ihn zu fpielen, wie er ift, ift aber meiner Einficht
nad nicht der Rede wertd. Sagen Sie bei Gelegenheit Rau-
pach, mie ſehr ich ihn achte und eine gewiſſe Zärtlichkeit für
ihn befommen babe. Sie wiſſen, daß ih nicht mit ſolchen
Complimenten a la... Lügenhandel treibe.
Wenn wir noch die Beziehungen Raumer's zu frem-
den, franzöfifchen und englifchen, Gelehrten erwähnen, die
in dem Briefwechfel vertreten find, und auf die Feine
"Novelle „Marie” und die ganz pilanten „Unabgefendeten
Briefe eines Thoren“ hinweiſen, fo haben wir die ein«
“zelnen Poften diefer geiftigen Haushalt- und Tagebücher
eines vielfeitigen Gelehrten erfchöpfend aufgtzählt: Poſten,
deren Summe immerhin einen glänzenden geiftigen Etat
repräfentirt, wenn fie auch oft in der Heinften Münze
berausgabt wird.
Joſepha von Hoffinger, beren „Licht- und Ton⸗
wellen (Nr. 5) der Bruder herausgegeben hat, gehört
leider nicht mehr, wie Raumer, zu den Lebenden, ſodaß
wir ihren Nachlaß erben könnten, ohne ein Gefühl der
Trauer um den Verluſt. Aus der pietätvollen Einleitung
des Bruders erfahren wir, daß die Dame, welche bisher
in weitern Sreifen nur al8 Dante» leberfegerin und durch
ihre Betheiligung bei Begründung der Dante-Gefelljchaft
—
Geſammelte Eſſays.
in Dresden bekannt geworden iſt, von Jugend auf ein
ſehr reges geiſtiges Leben geführt hat, in ben Geiſt frem⸗
der Literaturen, namentlich der engliſchen und italieniſchen,
tief eingedrungen iſt, eine Zeit lang als Erzieherin wirkte
und, lange kränkelnd, am 25. September 1868 ſtarb.
Die „Licht- und Tonwellen“, ein etwas pretiöfer
Titel, der und auf geiftige „Undulationen” und ihre
pibrirende Unruhe zu ſehr hinweiſt, enthalten zunächft bie
Anfichten der Schriftftellerin über die Frauenfrage, die
fie nad allen Seiten Hin beleuchtet, und zwar weniger in
eingehender Erörterung als in ſchlagkräftig aphoriftiicher
Weife. Der Standpunkt der Reflerionen ift ein religiöſer;
aber die Berfafferin Hat auch tüchtige philofophifche Stu⸗
dien gemacht und begnügt ſich nicht mit einer kahlen und
trodenen Dogmatif. Gleihwol verwirrt das fortwährende
Hereintragen religiöfer Anjchauungen alle diejenigen Yra-
gen, weldye einer felbftändigen Löfung durch Bernunft«
gründe bedürfen. Wenn Joſepha von Hoffinger die Ehe
ohne Liebe eine „legale Proftitution” nennt, fo fann man
ſich diefer Uebereinftimmung mit den fonft von ihr ver⸗
worfenen Schriftftellerinnen, wie Öeorge Sand u. a., nur
erfreuen; wenn fle aber diefe Liebe zulegt wieder in ber
religiöfen Harmonie fucht, fo wird die Frageſtellung da⸗
durch verwirrt und die Antwort einfeitig. Für bie wahre
Bildung der Frauen ift auch Joſepha von Hoffinger
begeiftert:
Bewußtſein ihrer felbft und ihrer Beziehung zur Ges
ftaltung ihrer Zeit, ift die Aufgabe, welche die Bildung der
Frauen erfüllen fol, von der aber der bei weiten größere Theil
der Mütter und Erzieherinnen feine Ahnung hat. Die weib-
lie Bildung liegt im argen; bemußtlofe Natur und Unnatur
find bie Klippen, zwifchen denen fie hin» und bergeworfen wird.
In den befiern und feltenern Füllen wird das Mädchen zur
guten Haushälterin erzogen; in den weit häufigern fchlimmern
aber läuft ihre fogenannte Erziehung auf ein bloßes Abrichten
u allerlei fcheinbaren Fertigkeiten hinaus, die als Nebenfadyen
ihre Geltung Haben, aber alle zufammen nicht fo viel werth
find als das cine, was noth thut: ein felbfibewußter, Flarer
Wille. Früher modjte es dahingehen, daß die Frauen ver»
gaßen, rauen zu fein; denn auch die Männer hatten ihrer
Mannheit vergefien. Sept aber, wo fie fid) ermannt und mit
einem Schlage das alte Gemäuer niedergeriffen haben, und wo
fle fi rüften zur ungeheuern Arbeit des ans eines neuen;
jegt, wo die große Zeit großen Sinn erfordert, fie zu verfichen,
und großen Muth, die großen Opfer zu bringen, die file auf⸗
erlegt, und nicht zu jagen, weil die Glut der Some uns trifft
unter dem weggeriffenen Dache, und die Stürme die Trümmer
erfhüttern, unter denen wir wohnen, und der Staub der ab«
gebrochenen Steine umnfere Augen blendet — jetst thut es noth,
daß auch die Frauen erwachen aus den Träumen ihrer Tän⸗
deleien, und das faft erlofchene Feuer des Ideale wieder anfachen
auf dem Altare ihres Innern als eine leuchtende und wärmende
Flamme im Sturme der Zeit.
Sie geifelt die jegige Erziehung und die jegigen Frauen⸗
arbeiten in treffender Weife:
Wahrlich, nicht die Pflichten ihres Berufs find es, welche
die Mädchen an dem Erwerben wahrer Geiftesbifdung hindern,
fondern bie vier großen Modethorheiten, aus denen das finnlofe
Moſaikgemälde ihrer fogenonnten Erziehung fi zufammenfligt;
und zwar erſtens das Geplapper in fremden Zungen, zweitens
das tägliche vielftündige Geflimper, wodurch bie Midastöchter
fi zum Wettftreit mit den Mufen bilden möchten, drittens das
Getändel mit ziwedlofen Arbeiten, die bei den praftiihen Eng⸗
ländern mit Recht nicht „ſchöne Arbeiten‘, fondern Lamen⸗
Arbeiten‘' (fancy-work) beißen, viertens das unwürdige Sagen
nad Verſorgung, das fi in dem Umhertreiben auf Bällen, in
Geſammelte Eſſays. 347
Geſellſchaften u. ſ. w. zeigt, und das nebſt dieſem Hauptzwecke
auch das Ausfüllen ihrer innern peinlichen Leere zum Zwecke
hat. Räumt diefe vier Hinderniffe weg, und ihr habt alles
gewonnen.
Gleichwol Tehnt fie die Betheiligung der Frauen an
ber Bolitit ab, und will auch den weiblichen Erwerböfreis
nicht jo weit ausgedehnt fehen, wie dies im Durchſchnitt
gegenwärtig verlangt wird: „Im Materiellen ift das Weib
von allen Beſchäftigungen ausgeſchloſſen, die entweder
ihrer fittlichen Beſtimmung oder ihrer Förperlichen Schwäde
widerſtreben. Es bleibt ihnen alfo kaum etwas anderes
übrig als die Land» und Hauswirthſchaft, die Kranfen-
pflege und die Berfertigung der Wäſche und der weib-
lichen Sleidungsftüde.” in freilich fehr beſchränktes
Repertoire gegenüber dem großen Rollenfreife, der z. B.
in Daul's Werk über die Yrauenarbeit ber weiblichen
Arbeitöfraft eröffnet wird. Treffende, oft aber auch durch
einfeitige Chriftlichkeit fchielende Bemerkungen enthalten
die Abfchnitte über „Drei weibliche Lebenskreiſe bei Goethe”,
„Voltaire, Kouffeau und die rauen”, „Rahel, ©. Sand
und Bettina” u. a. Den genialen Frauen verbietet die
Berfafjerin die Ehe, will ihnen aber damit keineswegs die
freie Liebe geftatten.
In allen diefen Aphorismen fpricht fi) ein energi«
fcher Geift ans, und daß Joſepha von Hoffinger ſich auch
auf die wichtigern Fragen der Liebe und Ehe einläßt, ſich
nicht blos auf die rein praftifchen Erwerböfragen beſchränkt,
wie ſehr diefelben auch durch die Noth des Lebens in den
Vordergrund gebrängt werden: das gibt ihren Keflerionen
eine tiefere geiftige Bedeutung. * Das täglide Brot ift
zwar das MWichtigfte, doch nur, weil e8 das Unentbehr-
lichſte iſt. Wenn man dem Leben nichts abkämpft als
die Exiſtenz, das Heißt die Möglichkeit des Lebens,
führt man noch immer nicht ein mienfchenwürbiges
Dafri
aſein.
Der zweite Abſchnitt der Sammlung enthält äſthetiſche
Aufſätze, voll mancher geſunder Gedanken, im ganzen aber,
wieder durch das Betonen des chriftlichen Principe ein-
feitig und beſchränkt. Shakſpeare erhält ein befferes
Zeugniß in Bezug auf fein Ehriftenthum ausgeftellt als
Schiller und Goethe. Uns erfcheinen biefe Unterſuchun⸗
gen ebenfo überflüffig wie diejenigen, ob Shakſpeare
proteftantifch oder Tatholifch gefinnt war. An große
GSeifter fol man nur ihren eigenen, feine fremde Maß⸗
ftäbe anlegen; jeder bedeutende Kopf hat feine eigene
Sonfeffion. Ueber Schaufpiel und Theater fagt Joſepha
von Hoffinger manches Treffende:
Die Schaufpiele, die wir gewöhnlich zu jehen befommen,
limmern fih freilich wenig um die geforderte Entfaltung bes
menſchlichen Dafeins, fondern zu Zffland’s Zeiten konnte man
die Geller'ſche Lebensbeichreibung eines berühmten Mannes:
„Er lebte, nahm ein Weib, und flarb‘, mit folgender Abän-
derung auf das rührende Scaufpiel anwenden: „Er lebte,
bungerte, und ward geſättigt.“ Hingegen auf das moberne
Schaufpiel läßt fih anwenden: „Er lebte, ward zerriffen und
wieder geflidt.” Doc weder jenes alte, noch diefes moderne
Schauſpiel erquicdt den Geift: jenes nidjt, weil das Leben nicht
um der Speife, fondern die Speife um des Lebens willen da
iR; dieſes nicht, weil wir lieber ein fidy entfaltendes Dafein
hauen mögen als ein geflidtes, das immer eine [pitalmäßige
Empfindung erregt.
Die modernen Zerriſſenheitsſtücke mit ihren ſchwan⸗
fenden Helden werden durch diefe Bemerkungen ſcharf
genug gegeifelt. Auch fpäter wendet fi der Wit ber
Berfafferin gegen „den Ragenjammer der Gegenwart, der
von einem Mitmiauenden als intereflanter Weltſchmerz
ſympathetiſch dargeftellt wird”. Zu den modernen Heiden
werben Wieland, Schiller, Heine, Byron gerechnet, Goethe
aber fein moderner, fondern ein volllommen hellenifcher
Heide genannt mit feinen unvergleichlicden Formenſinn
und feiner naiven Naturauffafjung. Laube, Gutzkow als
die „Modernen“ erhalten gelegentliche notae levis maculae;
von Hebbel wird nur „Agnes Bernauer‘ als in fittlicher
und äſthetiſcher Hinficht gleich ausgezeichnet gerühmt. „Yon
unbedingten Xobeserhebungen hält feine Maßlofigfeit in
äfthetifcher und feine dem pofitivern Chriftentfum zwar
nicht feindliche, aber doch aud nicht zugewandte Richtung
in religiöfer Hinfiht ab.” Ueber „wahren und falfchen
Humor“, „wahre und falfche Romantik”, „poetifche Ten⸗
denziagdb und Tendenzſcheu“ ergeht ſich die Verfaſſerin
in theologifch-philofophifchen Betradjtungen, denen e8 an
epigrammatifch fcharfen Wendungen nicht fehlt. Im ganzen
fönnen wir indeß in der Bewunderung der modernen
und hellenifchen Beiden, bei dem Tadel ihrer antichrift-
lichen Gefinnung, feine echte Confequenz finden. Stellt
man fi; einmal auf den theologijchen Standpunkt, fo
mag man auch den Muth Haben, wie Hengftenberg und
Bilmar, in unfern großen Dichtern Werkzeuge der Bor«
fehung zu fehen, „die es menſchlich dachten übel zu
machen, während die Führung aus der Höhe es gut durch
fie gemacht bat“.
Noch ſchärfer „katechiſirt“ Julie Freymann (Nr. 6)
Schiller, Shakſpeare und Goethe in einer Kritik ihrer
Frauencharaktere. Yulie Freymann ift Feine Miß Anna
Samefon, welche die Porträts Shakfpeare’fcher Frauen⸗
Schönheit mit hingebender Treue nachzeichnet; fie geht
biefem Dichter, wie unfern großen deutfchen Genien, ernft«
ch zu Leibe, indem fie vom fittlich-äfthetifchen Stand-
punkte ihre Yrauengeftalten prüft und dabei öfter auf
den Mangel an Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit, auf
eine fubjectiv entftellte und deshalb ſchwankende Dar«
ftelung ftößt. Allgemeine Betrachtungen über die Dich⸗
ter und die Haupttragddien gehen ber fpeciellen Charal-
teriftit voraus. Die Elifabeth im „Don Carlos” wirb
in ihrer innern Einheit, nad der Anfiht von Yulie
Freymann, von ihrem Höhepunkte herabgezogen dadurch,
daß fie dem Prinzen bei der geträumten Befreiung der
Niederlande nit nur den Beiftand Frankreichs und
Savoyens, fondern fogar auch zu bem nöthigen Gelbe
Kath zu ſchaffen verfprechen läßt. Noch fchärferer Ta-
del trifft die Schlußfcene, wo Eliſabeth wie ein junges
noch nicht berangereiftes Mädchen unter dem Kuſſe des
Geliebten fteht und ſich nicht empor zu der „Männergröße“
des Don Carlos wagt, wo fie zulegt vor dem Könige,
dem Großinquifitor und ber männlichen Berfammlung
des fpanifchen Hofs als die Verbrecherin erfcheint, als
welche die Intrigue des Stücks fie zu bezeichnen ver-
fuchte. Auch im Charakter der Thekla findet die firenge
Richterin diefelbe Inconfeguenz: „Thekla, die erft ein tief
begründetes Prineip der Familie zu verwirklichen ver-
ſpricht, müſſen wir, nad) des Dichters Anlage, zulett
auf den Pferden, die ihr der Stallmeifter willig borgt,
romanhaft aus dem Stüde rennen fehen.“
44 *
348 Geſammelte Effays.
Die Schiller’fche Heuchlerin Elifabeth wird der gro⸗
gen gefchichtlichen Königin gegenübergeftelt. Die Mord-
und Heuchelfcene, die fih durch das Ganze fortjpielt,
drehe fich eigentlih nur um den Streit zweier Weiber
um einen Mann, „das Niebrigfte, dad wir doch nur
unter den Berworfenen ihres Gefchlehts vorausfegen
dürfen“. Sehr ſchlimm ergeht es der „, Heiligen “
Maria Stuart:
In keiner feiner Frauengeflalten bat der Dichter feine
ſchwache Anſchauung des Weibes fo verrathen wie in Maria
Stuart. Denn wo Berfiellung, Mord und fittlihes Sinken
als vorbergegangene leicht zu begreifende und zu verzeihende
Fehltritte des Weibes dargeftellt find, im alle es fih nur
wieder Tiebend (?) einem Manne, wie bier Leicefter, in die
Arme liefert und nad) dem Schillerihen Abſchluſſe: daß ihre
„Schwachheit der Müännerkraft" eines Bothwell nicht Habe
widerftehen können, zu der Seitigen wird, wie wir fie im Stüde
wiederfinden, da muß doch der Dichter jede Verantwortung flir
die zur That hinnausgetragenen Regungen hinweggenommen haben.
Das Gefammturtheil über Schiller's Frauen lautet:
Schillers männliche Dichternatur hatte ſich noch zu wenig
zu rein menſchlichem Schauen gefammelt, als daß fle ungeftört
von eigenen Regungen fich zu der Erfenntniß defien, was bie
erwige Pate im Weibe niedergelegt, hätte erheben können, nm
die Formen des bewegten Gedankenreichs nad) der Plaſtik einer
innerften weiblichen Welt durch das Material des Wortes im
Drama entfheidend heraufzuflihren.
Shakſpeare dagegen trifft der Tadel, daß er in feinen
Dramen allzu oft „Grauen als blinde Werkzeuge feiner
Abfichten einführt‘:
Eine Cordelia und Desdemona fallen ohne jede Rechtfer⸗
tigung den wilden Leidenfchaften der fie umgebenden Welt zum
Opfer; die Kataflrophe begräbt auch fie unter den Trümmern
diefer Welt, ohne daß uns der Gedanke ihres Dafeins, der doc)
fein befonderes Recht in fi) trug, zum freien Bewußtſein werde.
Dagegen verräth uns eine Julie Capnlet, im Gegenfage zu
Haß und Streit, die jelbfibeftimmende Seelenfraft, nad) welcher
der Geiſt ihrer Liebe aufgeht und ihr eigenes Geſchick bereitet —
freilich einer Liebe, die, bezeichnend für den anglilanifchen Geift,
erft nur anf dem praltiichen Wege zum Befige des Gegenſtan⸗
des unummunden vorwärts jchreitet. Und eine Lady Macbeth
verräth die tiefere Anjchauung des Dichters, die hier liber die
offenbaren Erſcheinnugen der Wirklichkeit hinaus das Weib als
das nah dem Rechte des eigenen Dafeins gefchaffene Weſen
erlannte, und nad) weldyer Shalſpeare daffelbe in feiner jelbfl-
beftiimmenden Richtung — in diefem alle des Böſen — dar-
flellte, es nicht blindling® den Abfichten einer fremden Welt
opferte. Hat fi) des Dichters Anfhaunng in diefen tragiichen
vanengeftelten am freieften entfaltet, fo wird fie bei Lady
—* und Ophelien, nach willkürlicher Durchführung der
gegebenen Motive, zur entſchiedeuen Verneinung des weib⸗
lichen Dafeins in feinem unlöslihen Zufammenhange alles
Menidlichen.
Lady Macbeth wird von Joſepha von Hoffinger wie
von Julie Freymann nach Berbienft gewürdigt. Die er⸗
flere nennt die Lady ein abfcheuliches ausgeartetes Weib,
das, weil es tiefer im Naturboden wurzelt, auch tiefer
ſinkt als der Mann, und tadelt die äfthetifch-[entimentale
Berkehrtheit, die in ihr eine liebevoll hingebende Frau
erbliden will. Nach Zulie Freymann bat Shaffpeare in
der Lady Macbeth durch den Gegenfag feine höchſte
Anſchauung des Weibes zu erkennen gegeben: — das
Böfe Hebt das Dafein des Weibes auf. Bei Julie
Capulet macht die Berfafferin mit Recht auf die Refle⸗
rionen aufmerlfam, welche der Dichter bei der Anrede
an die Nacht dem liebenden Mädchen in den Mund legt.
Wir müffen befennen, daß Verſe wie:
Dis. fheue Liebe kühner wird und nichts
Als Unſchuld fieht in inn’ger Liebe Than —
durchaus fir den Standpunkt eines unſchuldigen Mädchens
nicht paſſen, ſondern einer fchon ziemlich weiſen Erfahrung
in ber Liebe angehören.
Goethe's weibliche Gebilde werden zwar aud vor das
Forum der Kritik gezogen, auch an Klärchen und Gretchen
wird gemäfelt; aber fie gelten doch für die ſchönſten dichteri⸗
hen Gebilde. Dieſem dichterifchen Genius ging das Weſen
des Weibes in feinen innern Beziehungen auf: Oenialität,
diefes unmittelbare Schauen des Geiſtes der Dinge, ift
bem weiblichen Geiftesleben zunächſt verwandt. Doch die
entfprechende männliche Würde war ihm nicht aufgegan-
gen; feine Münner geben fi) an die Macht der Ber
hältniffe und an bie Gewalt ihrer Leidenfchaften hin.
Die Kritik der Frau Julie Freymann iſt eine ſtrenge
censura morum, keinesfalls aber eine Apotheoſe, und der
Beweis felbftändigen Urtheils, das dem Verftändniß unferer
Claſſiker nur förderlich fein kann.
Bogumil Golg gibt uns in feinen „Vorleſungen“
(Nr. 7) ebenfalls eine Sammlung von Eſſays, unter
denen fich zwei üfthetifch-kritifche befinden: „Shakſpeare's
Genius und die Tragödie Hamlet“ und „Das deutſche
Bolfsmärchen und fein Humor“. Die Eigenthümlichkeit
des Autors verleugnet fich aud in dieſen „Borlefungen”
nicht; es ift berfelbe, oft geiftreich beredte, oft barod
fpringende Stil, der Jean Paul'ſche Bilderreichthum, ein
überans anregenbes Hinundherbligen von Gedanfenmeteoren,
Feuerkugeln und Sternfchnuppen durcheinander, ein mit
Lebenserfahrungen gefättigter Humor, ein oft treffender,
oft etwas frivoler Wig, biefelbe nirgends über das Apho-
riftifche hinausgehende Darftellungsweife, die deshalb oft
manierirt erfcheint. Leicht ermüdet ein Reflexionshumor,
der wohl das Talent der Schilderung, aber nicht das der
Geſtaltung befitt, der an die Dinge ftets mit ben bun⸗
teften Laternen heranleuchtet, aber nichts von innen heraus
mit dichteriſcher Schöpferkraft geftaltet.
Auch über Shakſpeare's Genius fagt uns Golg nichts
Neues; aber er fpricht über den britifchen Dichter mit
Beredfamleit, mit Begeifterung. Colt hat feine ausge
fprochenen Antipathien gegen gelehrte Weisheit, gegen
Literaturpoefie und Literaturkritif; fobald er dies Katzen⸗
fell fteeihelt, fprüben gleich) elektrifche Funken heraus.
Wenn es fich un angelernten Gelehrtenfram, akademiſche
Bormenpoefie und philofophifche Kormelnanbetung handelt,
kann man ihm nur recht geben; boch wirft er mandes
mit in den Zopf, was nicht hineingehört, und was er
nur aus autodidaltifhen Trotz gegenüber vegelrechter
Geiftesbildung verurtheilt. Shaffpeare ift ihm ein Ber-
treter der Lebenspoefie; er rühmt feine Philofophie, feinen
Humor, feine tieffinnige Myſtik; in der Natur, in Homer
und Shakſpeare find die Ausgangspunfte für eine neue
Kunft und Fiteratur. Gegen Rümelin vertheibigt unfer
Humorift den englifhen Dichter, er beſchuldigt den Kri⸗
tiler „claffifcher Marotten“, der Kunſtprüderie und meint,
dag Formenharmonie, Afthetifche Delonomie und claſſiſcher
Stil Forderungen von zweiten und brittem Hang find;
er meint, daß nur Sunftpebanten oder Kumftfimpel alle
Augenblide an ein Kunftganzes, an eine durchgreifende
Idee erinnert fein wollen. Dagegen fieht er die Tugenden
Gefammelte Efjans. 349
und Schwächen Shakipeare’s als eines urgemwaltigen Poeten
in feiner tiefen Natur, in feinen elementaren Leidenſchaften,
in feiner alle Lebensreiche veprobucirenden Phantafie. In
Dezug auf Motivirung proteftirt Goltz gegen den kahlen
Saufalnerus: wir hätten felten von den nächſten Motiven
unferer Handlungen ein Hares Bewußtjein, und mit ſchein⸗
bar einfahen Motiven und Intentionen verbänben ſich
unzählbare mwahlverwandte Impulſe unferes Naturells.
Diefe Myſterien könne kein Dichter zur Klarheit bringen,
auch wenn er ein Piychologe vom reinften Wafler fei.
Shalipeare habe num eben den glüdlihen Takt gehabt,
den Wirrwarr der innern Motive und ihre Verſchlingun⸗
gen mit den äußern Berhältniffen ſehr enthaltfam und
reſervirt darzuftellen, da8 Helldunkel ſtehe der Poeſie un-
endlich beſſer zu Geſicht als eine fichtbar und taftbar
gemachte pfychiſche Maſchinerie.
Uns ſcheinen dieſe Urtheile einer wildwachfenden
Aeſthetik nicht gerade den Nagel auf den Kopf zu treffen.
Ein Helldunkel bei dramatiſchen Charakteren würde ſie
um unſern Antheil bringen. Ohne ſtarke, allgemein ein⸗
leuchtende Motive läßt ſich kein packendes Drama zu Staude
bringen, und Shakſpeare's Prarxis proteſtirt auch gegen
die Lehre von einem Wirrwarr der Motive, welche da⸗
gegen ſehr viele confuſe Dichterlinge für ihre in zweifel⸗
after Beleuhtung ftehenden Schöpfungen in Anfprud)
nehmen könnten. Rümelin's Zabel trifft auch weniger
die Motivirung der Charaftere als diejenige der Situa-
tionen, mit denen es Shaffpeare, geſtützt auf feine ver-
wandlungsfähige Scene, leichter nimmt, als einem die
wirflichen Lebensverhältniffe fcharf ins Auge fäflenden
Realiften annehmbar erfcheint. Die Motive, welche bie
Handlungsweiſe feiner Perfonen beftimmen, find ſtark und
mit echt dramatischer Fracturfchrift hervorgehoben,
Goltz ifl gegen alle äfthetifchen Rubriken eingenommen.
Nachdem er das „unergründlic einzig ſchöne“ Drama
„Hamlet“ und feine Helden in einer Auffaffung, welche
der Viſcher'ſchen am nächſten fommt, erläutert bat, fügt
er am Schluß Hinzu:
Sn diefem „Hamlet“ werben wir endlich von den unpoetifchen
Grenzſcheiden erlöſt, welche die Poetik zwiſchen der Iyrifchen,
der epiſchen und der dramatiſchen Poeſie, zwiſchen den fittlichen
und den poetiſchen Intentionen, zwiſchen der naiven und ſenti⸗
mentalen Dichtung gezogen bat. Dieſe Shakſpeare'ſche Wunder⸗
Tragödie iſt plaſftiſch und muſikaliſch; ſie Hat einen antik im⸗
manenten Verſtand und nicht minder eine romantiſch traus⸗
ſcendente Seele. Ein antikes Schickſal rächt nicht nur die ge⸗
meine Miſſethat, ſondern zermalmt auch den Träger einer freien,
verfeinerten Bildung und Organiſation, welche über die Cultur
und Forderung der Nation wie der Zeit hinauswuchern will.
Dies ſymboliſche Drama iſt lyriſch und dramatiſch in demſelben
Athem; lyriſch im Helden und ereignißſchwanger in der Fabel.
Die Mifſſethat rollt von den Gletſchern geflihlloſer Selbſtſucht
wie ein Eisſtück herab, das zur Lawine geworden bie bewohn⸗
ten Thäler zerfiört. Hamlet felbft ift ein epifcher Held, nur
mit dem Unterjdhiede, daß er Löwen, Schlangen und Draden
in feinem eigenen Bufen, mit Bernunft und Mitleidenfchaft zu-
gleich, alſo in potenzirter Geſtalt befümpfen muß. Er ift ein
nach innen gefehrter Hercules, der fi von Anfang bie Enbe
ſelbſt —— indem er Mutter, Onkel, Jugendfreund, Geliebte
und ſeine eigene weich geſchaffene Seele, ja ſeine Vernunft⸗
bildung, mit einen ihm vom Schichkſal aufgezwungenen brutalen
Heldenthum zu Grunde richten muß.
Wir fehen, der Humorift liebt es, alle Dichtgattungen
in einen poetifchen Urbrei zufammenzurühren, im Gegen-
ſatz zu Leffing, der auf ſcharfe Sonderung mit Recht das
Hanptgewicht legte. Es kommt aber bei dieſer Geift-
reichigfeit nichts Haltbares zu Tage. Das Schidfal von
Hamlet ift durchaus fein antikes, jondern ſteht im Gegen-
fag zum antilen Fatum der Dreftie. Daß das Drama
„lyriſch im Helden” und der Held felbft dabei ein
„epifcher Held“ iſt — diefe Behauptungen laufen doch
nur auf ein verwirrendes Spiel mit unflaren Begriffen
hinaus. Golg mag bie Poetik ignoriren, doch nicht ihr
Handwerkszeug verkehrt anwenden,
Anfprechender ift der Auffag: „Das beutfche Volks⸗
märchen und fein Humor.“ Colt hat feinen und tiefen
Sinn für das Leben des Volks und das Leben der Kind⸗
beit; bier aber ift die Heimat bes Märchens. Die „Er-
innerungen aus der Kindheit” find fehr anfprechend; das
Alter aber wird nicht fo weihevoll und mit vielem Mis-
behagen gefchildert, obgleich eine Fülle pfychologifch feiner
Bemerkungen und jcharfer Beobachtungen in diefe Schil-
derung verwebt find. Goltz befennt von fich felbft, daß er
jest Todesgrauen, Gewiflensängftigung und feine rechte
Lebensgegenwart mehr babe.
Der ganze erfte Band ift einer Sittenfchilderung der
Ehe wie der Frauen gewidmet; es ift dies die Biccolo-
flöte, welche der Humor von Golg mit befonderer Bir-
tuofität zu blafen verfteht. Hippel und Jean Paul ha-
ben in unferm Humoriften hier einen ebenbürtigen Nach-
folger erhalten. Das Grundthema feiner Orientirungs-
verſuche ift, daß er die Männer als die Träger des Gei⸗
fies, die Frauen als die bevorzugten Organe ber Natur
erfaßt. Auf das Thema laſſen ſich alle Variationen zu-
rüdführen. Daß es den gelehrten Frauen babei nicht fon=
derlich gut ergeht, ift von felbft einleuchtend; doch den
Stubengelehrten geht es nicht befier. Weibliche Detail-
züge aneldotiſcher Art, fein beobachtet und Heiter dargeftellt,
bilden die Arabesfen eines Gemäldes, das felbft wieder
aus krauſen Arabesken eines funkelnden Humors und ſei⸗
ner leuchtfäferartigen Flüge befteht.
Zu bedauern find nur bie häufigen Wiederholungen,
die bei forgfältiger Redaction ſich wohl hätten ausmerzen
laſſen. Richt blos einzelne Gedanken, jondern ganze große
Gleichniſſe wiederholen fih. So finden ſich die nachfol-
genden Säge fowol in der Einleitung zu den Anden-
tungen über allerlei Frauenmalheur (I, 255) als auch
in der Einleitung zu dem Auffage über das deutſche
Bollsmärchen (II, 221):
Wer Frauen und Menſchen aus der Maffe des Volks
Ihärfer ins Auge faßt, den erinnern fie an die Gartenkünſte
um altfranzöflichen Stil: — berfeümittene Heden und gefchorene
Laubwände, liniirte, mit Kies geebnete Gänge; alle Naturwüch⸗
figfeit ſcheinbar gezähmt und regulirt: aber im Untergrumde
werden die Wurzeln vom Erdreich und in den Lüften die
DBaumfronen ernährt, und wenn's ein naffes Jahr gibt, oder
die Gartenkunſt Paufen madıt, fo wächſt in ſechs Boden eine
Wildniß, welche nicht nur die Spatiee und Gänge übertondhert,
fondern aud) den marmornen Weltweifen mit den Liebesgöttern
in die Wette grüne Alongenperrüfen macht.
Man kann nichts dagegen haben, wenn Schriftfteller
ſich ſelbſt beftehlen, wie der nachtwandelnde Geizige in
der Novelle von Balzac; doch in derfelben Sammlung
müßten derartige Wiederholungen vermieden werden.
Rudolf Gottſchall.
Die Kaiferlih Leopoldinifhe Akademie. — Feuilleton.
Die Kaiferlicd) Leopoldinifche Akademie.
Zur Berfländigung aller der bei der letzten Prüſidentenwahl
entflandenen Misverfländniffe und Misgriffe. Allen Mit-
gliedern der Kaiſerlich Leopoldinifc, - Karoliniihen Alademie
dentfcher Raturforfcher vorgelegt von &.Hermann Schauen.
bnrg. Quedlinburg, Baſſe. 1870. Gr. 8. 6 Nr.
Die Lepoldinifche Afademie iſt nicht nur eins der
älteften Inſtitute der Art in Deutfchland, fondern auch
ein urjprünglich ſehr bevorzugtes und felbftändig freies.
Ihr lag und liegt nur die Cultur der Naturwiffenfchaften,
nicht deren Lehre ob; zu Mitgliedern wurden und werben
nicht altverbiente Forſcher und Denker ernannt, fie für
ihre Leiftungen zu belohnen, fondern jugendliche Geifter
vol ernften, echten Eifers für die Wiflenfchaft, fie zu
weitern und belangreichen Arbeiten anzufpornen, fie ma-
teriell zu unterſtützen und jedenfalls für geeignete Drud-
legung ihrer Schriftwerle zu forgen. So war die Ale:
bemie eine höhere Stufe der Univerfitäten, denen zugleich
mit der Cultur die Lehre aller einzelnen wiſſenſchaftlichen
Disciplinen obliegt.
Jedenfalls ift dieſe Akademie ein echt beutjches In⸗
ftitut, ihren Privilegien und Statuten gemäß eigenthüm⸗
lich in feiner Art und feinen Aufgaben.
Es TYiegt in der Natur wie aller Dinge fo aud
folder Inſtitute, daß auch fie fi dem Forderungen der
vorſchreitenden Zeit anzubequemen haben, daß auch fie
Borfehritte machen milſſen; allerdings nicht in ihren Auf⸗
:gaben, die ihr Weſen find und die fie nicht modi-
ficisen dürfen, ohne dieſes eigenthümliche Wefen und ihre
ganze: Exiftenz zu geführden. Aber hinſichtlich der rein
änerlichen Art und Form muß die Alabemie fi ent-
wirfelungsfähig machen und erhalten, denn nur dadurd)
erhält fie fih im der Lage, ihre Aufgaben erfüllen zu
nen.
Diefem Ziele zuſtrebende Schritte find feit geraumer
Zeit verfucht, aber ohne Anwendung der richtigen Mittel
und ber erforderlichen Energie und deshalb ohne Erfolg.
Denn man muß ſich Mar machen, dag Alademiereform
identisch ift mit Vergichtleiftung auf namhafte Privilegien
feitens der akademiſchen Beamten, ſowol des PBräftdenten
als der Adjuncten, und daß demnächſt bie alademifchen
Aemter anfhören werden glänzende Sinecuren zu fein,
fondern ſchwierige Arbeit fordern.
Es fei nur kurz darauf hingewiefen, daß die Reopoldinifche
Akademie unter der Regierung ber Präfidenten feit Wendt
und Nees in ihren Aemtern faft nur Votaniler, refp.
Specialiften in den Seitenzweigen der Bippofratifchen
Wiſſenſchaft gehabt hat, daß in den afademifchen Schrife
ten nur andnahmöweife die eigentliche Medicin bedadıt
wurde. Wichtiger ift e8, daß feit Einführung des Scröf-
ſchen Wahlmodus, der die Adjuncten allein mit ber Wahl
des Präfidenten beauftragt und das Collegium der Afa«
demifer nur als contribuens plebs behandelt, eine innere
eigentliche Akademie der Adjuncten entflanden ift gegen-
über der äußern, re vera imagmären Alademie ſämmt⸗
licher Mitglieder, zur Zeit über. 300, während e8 nur
etwa ein Dutend Adjuncten gibt, untereinander befreum-
dete und fich gegenfeitig begünftigende Beamte, zum Theil
wirklich gelehrte und verdiente Männer. Die Dligardjie
derfelben artete oft in derart kleinliche Cameraderie aus,
daß Männer wie E. H. Weber, Bunſen u. a. aus ber
Adjunction fi) zuritdzogen und das Eingehen der Ala⸗
demie als eine felbftverftändfiche und gleichgültige Sache
betrachteten.
Seit Fahresfrift nun hat Kiichenmeifter, Medicinal⸗
vath in Dresden, gegen biefen auf abuflve Wahlformen
bafirten Schlendrian eine glänzende Fehde begonnen und
aud) den Nachfolger des Präfldenten Carus, Gcheimen
Hofrath 2. Reichenbach, von ber Richtigkeit feiner Reform:
ideen zu überzeugen gewußt; er ftcht in rühmlicher Oppofie
tion feft gegen das Kollegium ber Adjuncten, welche auf
ihre Prärogative nicht verzichten wollen und in dem Ad⸗
juncten Behn einen geeigneten Gegenpräfidenten aufgeftellt
zu haben glauben. ‘Die Umtriebe behufs Seitenerwählung
Behn's erzäglt und beleuchtet obengenannte Schrift von
Schauenburg, Kreisphufitus in Ouedlinburg, und, da fie
überall nur Thatfahen ſprechen läßt und auf Briefe des
Prüfidenten Reichenbach und des Senioradjuncten Bifchof
geftügt ift, fo liberzeugend, daß eine Widerlegung kaum
noch möglich) erſcheint. Braun, Botaniker in Berlin, hat
deshalb auch auf jede Widerlegung iu feiner letzten Schrift
verzichtet und Tämpft nur gegen Stüchenmeifter und Re⸗
naud für die Hinfälligen Privilegien der Adjuncten, vor»
ausſichtlich ohne Erfolg.
Fenilleton.
.Otto Ludwig's gefammelte Werte.
Otto Janke's „Nationalbibliothekt neuer deutſcher
Dichter“ enthält in zwanzig Lieferungen (fünf Bänden) „Otto
Ludwig's gejammelte Werke”. Es erfcheint als verdienſtlich,
daß biefe Rationalbibliothet durch ſolche Geſammtausgabe Dich-
tungen in weitern Kreiſen verbreitet, beren Popularität nod)
nicht im Berhältniß zu ihrem inmern Werthe fieht. Die geifl-
volle Einleitung von Guſtav —— welche unſers —3*—
bereits in deu Grenzboten“ zum Abdruck gekommen iſt, zer⸗
gliedert die Eigenthümlichkeiten von Otto Ludwig's dichteriſchem
Schaffen mit feinem Verſtündniß. Nur ſcheint uns nicht genug
der fomnambule Zug hervorgehoben, ber in biejen vifionären
Farberrerfheintungen liegt, die nad) des Dichters eigenem Be⸗
fenntniß fein inneres Schaffen und Geftalten begleiteten.
Angeordnet ift die Sammlung von Dr. Lücke; dabei ifl das
eigenthümliche, aber entſchuldbare Malheur paffirt, daß zwei
Zrzählungen mit aufgenommen worden find, welche einen au-
dern Bertaffer haben, den vollftändig gleichnamigen Kreisrid:
ter Otto Lubwig ans Reichenbach in Schlefien, und aus beffen
Nachlaß veröffentlicht worden find. Diefe Srzählungen erſchie⸗
nen in dem von F. A. Brochaus herausgegebenen Taſchenbuch
„Urania“ und zwar die eine: „Der Todte von Gt.» Auna’s
Kapelle‘ in dem Jahrgang 1840, die andere: „Neden ober
Schweigen” in dem Sahrgang 1848. Die Brodhaus’iche Ber-
lagsbuchhandlung glaubte jelbft an die Identität des Verfaſſers
mit dem eißfelder Otto Ludwig, bis ſich aus ihren Archiven
der wahre Sachverhalt herausſtellte. Aeußere Gründe wiber-
ſprachen anfangs der Aufnahme nicht; bei genauer Prüfung
—— —üe — —— — —
ẽ
Feuilleton. 351
der Stoffe, des Stils und der Darſtellungsweiſe hätten indeß
dem Herausgeber doc Bedenken aufſtoßen ſollen; denn die Ge⸗
ſellſchaftskreiſe, melde der Gerichtsafjefjor (hifdert, lagen dem
einfamen thüringifhen Dichter gänzlich fern; die eingehende
Darftelung der Gerihtsverhandlungen befundete den Fachmann,
und der Stil jelbft war zwar frifh, aber conventionell, ohne
die unverlennbaren Eigenthlimlichkeiten der oft harten, unge
lenken, aber an originellen Bildern reihen Proſa des {hlicingie
ſchen Dichters.
Bon dem Dramatiter Dtto Ludwig enthält die Samm-
lung einige Fragmente, ein ganz und ein halb ausgeführtes
Stüd, die bisher noch nit zum Abdrud gelommen waren
nnd für den Entwidelungsgang des Dichters von Interefie find.
Namentlich zeigt das nad "Hoffmanns Erzählung verfaßte,
vollendete Stüd: „Das Fräulein von Seudery'“, die Abhängig-
keit des Dichters von der romantifhen Schule. Der Stoff iſt
ohne wahrhaft tragifches Intereffe; die Charaktere, namentlich
derjenige des bizarren Goldſchmieds, der ſeine Kunden ermor⸗
det, um ſeine Juwelen wieder zu haben, erinnern an ähnliche
abnorme pſychologiſche Eharalterrounder der nenfranzöftichen
Schule, wie wir fie namentlih bei Balzac und Bictor Hugo
finden. Die Ausführung gibt die ſchönſten Proben ‚jener, dra-
matiſchen „Kraftdramatil”, die wir in unferer „NRationalliteratur”
als eine durchgehende Richtung des neuen deutihen Dramas
bezeichneten. Neben genialen Gedanken von tiefer Urſprüng⸗
lichkeit gebt die geſchmackloſeſte Bizarrerie einher, und die dich⸗
teriſche Form ift ebenfo oft verzerrt umd nnfhön, als bedeutfam
und im Lapidarſtil ausgeprägt.
„Das Fräulein Seudery“ ging den befanuteften Werken
von Otto Ludwig vorans, dem „Erbförfter" und ben „Malka⸗
bien‘. Die andern Fragmente find von fpäterm Datum.
Driginell ift das bis über die Hälfte vollendete Schaufpiel:
„Der Engel von Augsburg‘, concipirt. Die Heldin, Agnes
Bernauer, ift nicht das holde traute Bürgermädden, das fid)
in Liebe dem hoben Herrn Hingibt, wie wir gervöhnt find es
in andern Stüden bargeftellt zu fehen, welche dies Thema be⸗
handen. Es ift eine Schöne von ehrgeigigem Streben, die
glei; mit der Schauftellung in einem SHexenfpiegel anftritt.
Bom romantiſchen Hcrenfpiegel bis zur modernen Drehſcheibe
ift fein fo gewaltiger Sprung. In dem Streben, feine Heldin
nit nad) der Schablone zu zeichnen, ift e8 nun aber dem
Dichter paffirt, daß er einen ziemlich unliebenswärdigen Gras-
affen aus ihr gemacht bat.
Aug) Friedrid) deu Großen wollte Otto Ludwig zum Hel⸗
den eines Schauſpiels machen, von welchem nur das Vorſpiel:
„Die torgauer Heide‘, vorliegt, ein Srieg- und Lagerbild im
Stil von Grabbe's Schlachtendramen. Das bedeutendfle Frag⸗
ment ift der erſte Act eines „Tiberius Gracchns“; es enthält
Stellen von großer dichterifher Schönheit; nur war nad) ben
Mittheilungen aus dent Nachlaß Ludwig's zu beflicchten, daß
er den Charakter feines Helden nad) allzu peinlicher drama⸗
turgifcher Analyſe verlünftelte. Dieſer uns befannte Nachlaß
enthält, außer allerlei Ercerpten und Schulſludien doch fo viel
dramaturgifch Intereffantes, für Ludwig's einfeitige und befon-
ders fchillerfeindliche Kichtung Bezeichnendes, daß wir geru
eine Auswahl aus demſelben den ‚„‚Gefammelten Werken“
hätten einverleibt geſehen.
Bibliographie.
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a en 10 Nor
Sa Sie ‚Sorte a zum Be an ben Er Ha Todes»
an rchtegott Geller ern, Huber u. Com Nor,
108 & ii n is 9. d., Die Geliebte des Prinzen. Novelle. Bern,
L .8. 5 Re
i as heilige and: Autorifirte Ausgabe für Deutſch⸗
tend. Rad der Men m a auf. ‚ud dem bem Gnsligen von I AR. —S
a Pr 2 Das Ber ältaih © —3 zum Chriſtenthum. Bor⸗
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Ein Beitrag zur hebräischen Aorthamskunde, Halle, Buchhandlung des
a mibt, ae 12 N ei g
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Dunder u Humblot. &r. 8. 2 Thir. 20 Near ſerer 8 pꝛis.
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Weibed. Roman nadı einer wahren Begebendeit. iſte und 2te Lief. Ber⸗
Un, Sacıs Nachſ. Gr. 8. à 3 Nur.
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dem —— überfegt von 3. N. Heynrichs. Antorifirte Ausgabe.
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ie Unfehlbarkeitsfrage. Eine Beleuchtung ber in ben ‚oreölaner
Hansblättern” enthaltenen Gloſſen zum Banken Dölfingers in der Un«
teblöazteitöfrage er ben Suftimmungdabreffe beutfcher eh Bres⸗
au, Mar u. Comp. Gr. 8
Ungarns Staatdmänner, Bariheifüßrer und ubliciften ber nationalen
unb Raatti en Wiebergeburt 1825-— 1870. ert für beutie Leer
Berfaffer_ber Werte: „Moderne Sinbere —* „Franz ir 3.
(1ftes Heft.) Berlin, Eichler. Gr. 8. 10 Nr.
Usiuger, R., Das Köni a der Ottonen und Baller. Kiel, Uni-
versitätsbuchhandlung. 4. 3
Virchow, R., Die siamesischen Zwillinge, Vortrag. Berlin, A,
Hirschwald,. Gr. 8. 5 Ngr.
Voigt, G., Die Denkwürdigkeiten (1207—1238) des Minoriten Jor-
— von Giano herausgegeben uud erläutert. Leipzig, Hirzel. Hoch 4.
gr.
Populär - naturwissonschaftliche Vorträge über neuere Forschungen.
6tes Heft: Ueber Luftelektricität, Nebel und Höhenrauch. Nach Unter-
suchungen (les Verfassers von F. Delimann. Kreusnach, Voigtländer.
r. 8, gr
or. Win adelband, W., Die Lehren vom Zufall. Berlin, Henschel,
8. gr
Die Zukunft Polens. Eine ethnographisch - histerische Studie von W,
N. Breslau, Gebhardi. Gr. 8. 5 Ngr.
Anze
—
Verſag von S. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Der Nibelunge Nöt
ınit den Abweichungen von der Nibelunge Liet, den Lesarten
sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuch
herausgegeben von Karl Bartsch.
Erster Theil. Text. 8 Geh. 1 Thlr. 10 Ngr.
Diese grössere kritische Ausgabe des Nibelungen-
lieds von Karl Bartsch bildet den Abschluss von dessen
Forschungen über unser altdeutsches Nationalgedicht. Sie
enthält in dem vorliegenden ersten Theil den Text beider
Bearbeitungen, sodass aus der Nebeneinanderstellung klar
wird, wie sich beide zueinander und zu ihrer gemeinsamen
Quelle verhalten. Der zweite Theil, der bald nachfolgen
soll, wird den vollständigen kritischen Apparat und ein
den Wortvorrath erschöpfendes Wörterbuch bringen.
Durch den sehr billigen Preis für diesen (27 Bogen
gr. 8. umfassenden) ersten Theil wird die Einführung des
Werks in Gymnasien und der Gebrauch bei akademischen
Vorlesungen erleichtert.
Derfag von 5. A. Brockhans in Leipzig.
Soeben erschien:
Altdeutsche Grammatik,
umfassend die gothische, altnordische, altsächsische,
angelsächsische und althochdeutsche Sprache.
Von
Adolf Holtzmann.
Erster Band. Erste Abtheilung. Die specielle Lautlehre.
8 Geh. 1 Thir. 20 Ngr.
Der berühmte Gelehrte übergibt mit diesem Werke die
Resultate seiner vieljährigen Studien der Oeffentlichkeit.
Neben ausführlicher Darstellung der obengenannten fünf
altdeutschen Sprachen wird auch das Friesische, Niederlän-
dische, Mittelhochdeutsche u. s. w. im allgemeinen Theil
‘der Grammatik berücksichtigt, und jede Regel ist durch
zahlreiche Beispiele erläutert. Das Werk soll drei Bande
umfassen, doch bildet der vorliegende Theil, die specielle
Lautlehre der einzelnen Sprachen enthaltend, auch für sich
ein geschlossenes Ganzes.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Wahrheit, Schönheit und Liebe,
Philoſophiſch⸗äſthetiſche Studien von
Bichor Granella.
8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Ngr.
Der Verfaſſer, ein katholiſcher Geiſtlicher, Hat in den reli⸗
giöfen Gedankenreihen dieſes Buchs — das fich bereits zahl⸗
reiche Freunde erworben hat — mit tiefer Einfiht auf den
Dualismus zwifchen der Geiftesfreiheit des Evangeliums
und der Uufreiheit des kirchlichen Standpunkts hin-
gewiefen und die Ideale ewiger Wahrbeit, Schönheit und Liebe
mit durchſichtiger Klarheit beleuchtet.
Anzeigen.
igenm
— —
:Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erſchien:
Bunfen’s KBibelwerk,
Sechster Band.
(Eifter und zmwölfter Halbband.)
Herausgegeben von Heinrich Sulius Holymann.
Inhalt: Die Jüngern Propheten und die Schriften.
8. Geh. 2 Thlr. 20 Ngr. Geb. 3 Thlr.
Bunſen's Bibelwerk liegt hiermit vollendet vor; der
flebente bis nennte Band find ſchon früher erfchienen. Das
berühmte Werk ift jetzt vollffändig auf einmal, gebeftet
und gebunden, oder in drei Abtheilungen (die aud) einzeln
—5— werben), oder in 18 Halbbänden durch alle Bud-
andlungen zu beziehen. |
Um die Aufhaffung des Werks noch mehr zu erleichtern,
veranftaltet die rd demnädft eine
neue Audgabe in 30 Sieferagen zu je 20 Ngr.,
worauf ſchon jeßt Unterzeihnungen angenommen werden.
Bunfen’s Bibelwert foftet vollfländig in 9 Bän-
den geh. 20 Thlr., mit Bibelatlas 21 Thlr.; geb. 23 Thlr.,
mit Bibelatlas 24 Thlr. Die erfie Abtheilung (Bibelüber-
fegung) in 4 Bänden koſtet geb. 10 Thlr., geb. 11 Thlr.
10 Ngr.; die zweite Abtheilung (Bibelnrkunden) iu 4 Bän-
den geh. 8 Zhlr. 10 Ngr., geb. 9 Zhlr. 20 Ngr.; die dritte
Abtheilung (Bibelgeihichte) in 1 Bande geh. 1 Thlr. 20 Ngr.,
geb. 2 Thlr.; der Bibelatlas cartonnirt 1 Thlr.
Derlag von 5. A. Brockhans in Leipzig.
Dr. Slügel's
Praktiſches Wörterbud
Englifhen und Deutfegen Sprade.
Dritte Auflage, neunter dur geeſehener nnd verbefferter
ru U}
Zwei Theile. 8. Geh. 5 Thlr. Geb. 5 Thlr. 20 Near.
Engifg-deutfher Theil: geh. 2 Thlr., geb. 2 Thlr. 10 Nor.
Deusfhenglifher Cheil: geh. 3 Thlr., geb. 3 Thlr. 10 Nor.
Flügel's englifch-deutfches und deutfchenglifches Worterbuch
(früher Berlag von Joh. Ang. — In Sambnrg) gilt all⸗
gemein als das vorzligliäfte für den praftiichen Gebraud. Es
iR in feinen verſchiedenen Auflagen immer mit den Bedürf⸗
niffen der Zeit fortgefchritten und enthält die Ausdrücke des
täglichen Berlehrs ſowie die im Handel und in den Gewer⸗
ben, in ber Kunft und in den Wiffenfchaften gebränchlichen
Wörter in größerer Vollſtändigkeit als andere viel umfängfichere
und theurere Werke.
Verlag von 5. A. Broddaus in Leipzig.
Gedichte
von
Adolf Ritter von Tſchabuſchnigg.
Dritte Auflage. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Rgr.
Die Gedichte Tſchabuſchnigg's (gegenwärtig öſterreichiſcher
Dinifter), bereit6 im zwei Auflagen verbreitet 8 liegen ve m
einer bedentend vermehrten dritten Auflage vor.
Berantivortlicder Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Druck und Berlag von 8. A, Brockhaus in Leipzig.
cd
Blätter
literariihe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
—e Ar. 23. Pr-
2. Juni 1870.
Inhalt: Neue lyriſche Gedichte. — Preußifhe Geſchichte.
Bon Sand Prug. — Johann Georg Hamann.
Bon Morig
Carrier. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen.
Vene Iyrifche Gedichte.
. Reue Gedichte von Wilhelmine Gräfin Widenburg-
Almafy. Wien, Gerold’s Sohn. 1869. ®r. 16. 1Thir.
. Gedichte von Elifabetb Guzkowski. Berlin, Ebeling
und Plahn. 1869. ®r.16. 1 Zhlr.
Gedichte von Augufte Zind. Berlin, Arnold, 1869.
®r. 16. 20 Nor.
Gedichte von F. Manfried. Berlin, Mittler und Sohn,
1869. 16. 20 Ror. J
Jugendparadies. Dichtungen für Iung und Alt von Emil
Taubert. Neu-Ruppin, Petrenz. 1869. 8. 15 gr.
Gedichte von Theodor Goltdammer. Berlin, v. Deder.
1869. 16. 22%, Nor.
. Ate Bilder und junge Blätter. Sonette von Georg von
Dergen. Wismar, Hinftorff. 1869. 8. 20 Rgr.
. Seite von F. 3 F. Hohmuth. Luxemburg, Brüd.
1869. ®r. 16. 6 Ngr.
. Beachte von Wilhelm Stein. Stuttgart, Böfchen.
9. 8. 15
1869. 8. 15 Nor.
10. Gedichte und —* von C. Hoffmann. Stuttgart, J. F.
Steinkopf. 1869. Gr. 16. 18 Ngr.
11. Offenes Biſir! Zeitgedichte von Friedrich Kraſſer. Ham⸗
burg, DO. Meißner. 1869. ©r. 16. 10 Nr.
12. Perpetna. Erzahlendes Gedicht in drei Gefängen von
Guſtav Bafig. Schneeberg, Goediche. 1869. 16. 10 Nur.
Der Kritiler, wenn er das Gebiet der modernen Lyrik
betritt, befindet fi in einer ähnlichen Lage wie jener
Philoſoph von Sinope, da er in den Gaſſen von Athen
mit feiner Laterne nach einem „Menſchen“ fuchte. Denn
eine eigengeartete, groß und energijch ausgeprägte Dichter-
phyſiognomie ift felten, felten wie der „Menſch“ des Dio-
genes, Im der Lyrik ift e8 einzig die Hinter den Pro⸗
ducten ftehende bedeutende Perfönlichfeit des Dichters,
welche denſelben ihren Werth verleiht, indem fie ihnen,
wie die Muſchel der feuchten Thonerde, ihr eigenes, ſcharf
umriffenes Bild aufprägt, zugleich aber das Colorit ihrer
Zeit mit hinübernimmt in diefe Producte.
Wir finden nad) Maßgabe dieſer principiellen Boraus-
ſetzung in der ganzen Serie der uns heute vorliegenden
Lyriker alten und nenen Datums neben einigen beachtungs-
werthen Talenten nur eine einzige volle dichterifche Phy-
1870. 23.
SS OO 1 nn m an m m
fiognomie. Das alte Klagelied vom Pygmäenthum ber
Poeſie von Heute wollen wir nicht mit anflimmen —
der Bogel Apollon’8 war eben von je und zu allen Zeiten
eine feltene Erjcheinung unter den Dohlen des Marktes.
Aber es flötet unter ihnen dennoch mancher hübſche Vogel
fein Lied, und wir laſſen es uns gefallen, lauſchen ihm
und — vergeſſen es.
Die ritterliche Galanterie erheiſcht es, daß wir bei
unferer heutigen kritiſchen Revue dem ſchönen Gefchlecht
ben üblichen Bortritt laſſen. So führen wir denn zuerft
drei Damen in die Inrifche Arena, von benen die erſte
bereit8 durch eine frühere Ebition von „Gedichten“ vor-
theildaft befannt ift, bie beiden andern aber unfers Wif-
ſens mit den vorliegenden poetifchen Sammlungen debuti«
ren: Wilhelmine Gräfin Wickenburg⸗Almäſy, Elifabeth
Guzkowski und Augufte Zind. Diefe Dichterinnen ge-
bieten alle drei in gleichem Maße tiber eine gewandte,
leichtfließende poetifche Form, die fich bei der erftern, dem
tiefern Gedankeninhalt ihrer Poefie gemäß, hier und da
zu kühnern und freiern Strophenbildungen erhebt, wäh-
rend fie bet unfern beiden Debutautinnen nur ganz ver-
ag über die Einfachheit des fangbaren Liebes hinans-
greift.
Wilhelmine Gräfin von Widenburg-Almdfy
documentirt in ihren „Neuen Gedichten“ (Nr. 1) ein ſchätz⸗
bares Talent. Mit dem Auge des Denkers vertieft fie fich
nad) allen Seiten hin in das Weltleben, inden fie e8 bald
objectiv betrachtet und nachgeftaltet, bald in den bewegten
Wogen fubjectiver Empfindung feine Gebilde wiberfpiegelt.
Es weht eine geiftige Atmojphäre in diefen Gedichten.
Uber fie gehen weniger in den Kern der Dinge ein, als
fie die Peripherie derjelben mit finnreichen Arabesken
Ihmüden. Sie find mehr poetifche Studien eines feinen
Kopfes als Fünftlerifche Thaten einer originellen Perſdulich⸗
feit. Sie verrathen viel Geift und Herz, viel ©efin-
nung und Geſchmack, aber es fehlt ihnen jene prägnante
45°
354 Neue lyriſche Gedichte,
Eigentbitmlichfeit des Genies, welche fie vor andern Produc⸗
ten ihrer Gattung auszuzeichnen im Stande wäre. Für die
große Formgewandtheit der Verfaſſerin fprechen Gedichte
wie „Waldesdunkel“, welches durch wirkungsvolle Alli-
terationen excellirt. ‘Dagegen erfcheint uns die Form bes
Gedichts: „Sich dem Glück dahinzugeben“, virtwofenhaft
und gemacht. ALS befonders Ar ungen find Hervorzuheben:
„Die Wolken Binfaufend”, „Mondgeſicht“, „Glück“ und
„Geweihter Tag‘. Die „Ungarifchen Volkslieder” treffen
den. nplfsthütmlichen Ton glücklich und bieten viel des
Anmuthigen. Als charakteriftifche Proben der dichterifchen
Doppelnatur der Gräfin Almaͤſy mögen hier zwei Gedichte
ſtehen, von benen das eine eine faſt männliche Thaten⸗
fehnfucht, das andere eine echt weibliche Hingebung athmet:
Schließ dich auf, bewegtes Leben,
zu dich meinem Sehnſuchtsblick!
haten leihe meinem Streben
Und ein reicheres Geſchich!
Müuͤde bin ich dieſes Träumen,
Diefes Bauu im Wollendunft;
Lebenswellen hör' ih ſchäumen
Nur im Traumbereich der Kunfl.
Nur ein Ahnen und Errathen,
Bie in Dämmerung gehüllt!
Kein Erleben, keine Thaten,
Nur ein Sehnen unerfüllt.
Nur ein inneres „Sichfühleu“,
Eine glühnde Thatenluft,
Und die Schmerzen, die da wählen
In der fehnjuchtsvollen Bruſt.
Nur ein fill ermüdend Ringen,
Und kein Kampf, der Ruhm verleiht,
Nur ein Spielen mit den Dingen,
Und der Eruft nicht, ber fie weißt.
Schließ dich auf, bewegtes Leben,
Zeig’ did meinem Sehnſuchtsblick!
Thaten leihe meinem Streben
Und ein reicheres Geſchick!
Ferner:
Du bifl der Stamm, ich bin die Kante,
Du ſteheſt feſt, auch ohne mich;
Sch aber, Liebſter, beb’ und wanke
Und finke kraftlos — ohne did).
Und darf ich fchmliden and dein Leben
Und did) umklammern inniglid),
Du mußt mich fligen, heben —
Du bifl der Stamm — die Ranke id).
Wenn die eben befprochene Dichterin durch Geiſt und
Reflerion glänzt, fo beweift dagegen Elifabeth Guj-
kowski in ihren „Gedichten“ (Nr. 2) mehr Empfindung
ala Geift. Ihre hübſchen Lieder fließen wie ein klarer
Waldbach aus der Tiefe bes Frauenherzens, finnig unb
zart, wie eben nur ein ſolches fie hervorbringen Tann.
Am meiften haben uns in diefer Sammlung bie „Lieder der
Braut“ angefprochen. Dean höre aus ihnen das folgende:
Meine Liebe.
Meine Lieb’ iſt eine Tanbe,
Die den Flug zum Himmel hebt, °
Losgelöt vom Erdenſtaube
Seguend dir das Haupt umfchwebt.
Meine Lieb’ iſt eine Roſe,
Dir nur fpendend ihren Duft,
Daß di ſchmeichleriſch umlofe
Selbſt im Winter Frühlingsluft.
Fr}
Meine Lieb’ ift eine Duelle —
Durd den Wüfteufand der Welt
Rinnt fie kühl und ſilberhelle,
Zur Erquickung dir beftellt.
Meine Liebe ift ein Beten,
Dir geweiht — zu jeder Frift
Did im Himmel zu vertreten,
Bis du dort einft heimifch bifl.
Was diefe anmuthigen, aber freilich wenig eigenarti»
gen Gedichte noch beſonders der Beachtung empfizhlt, iſt
der edle Zwed, dem fie ihre Herausgabe verdanten: der
Ertrag derfelben ift den vom Miswachs betroffenen Eften
beftimmt. .
Ein den liebenswürdigen Poeſien Eliſabeth Gujlows-
ki's verwandtes Talent bekundet die Liedergabe Augufte
Zind’8 (Nr. 3) Auch Hier iſt es die Welt des Her-
zens, jene enge aber fo unendlich reiche Welt der Frau,
welde und aus den gemüthvollen Strophen der Berfaflerin
anfpridt. Es Liegt über ihnen die Beleuchtung tiefer
Wehmuth ausgegoffen und man fühlt e8 ihnen an, daß
an dem Lebenshimmel der Berfafferin manche ſchwarze
Wolfe vorüberzog, Aber eine gläubige Milde geht ver-
ſöhnend durch alle diefe Heinen Lieder. Wer fühlte fi
nicht zugleich gehoben und gerührt durch das folgende
Gedicht?
Meine Mutter.
Sie iſt nun alt, ihr Haar iſt längſt ergraut,
Und manches ſchwere Leid bat fie ertragen:
Drum bitt’ ih euch, wenn ihr die Mutter ſchaut,
Der alten Yrau ein freundlih Wort zu jagen.
Und wenn dort draußen Liegt der Sonnenſchein,
Denn Blumen blühn und wenn die Fluren grünen,
Ein Sträußchen legt zum Yenfter ihr hinein,
Damit fie weiß, der Frühling fei erfchtenen.
Wenn's jemand wagt und mir die Mutter kränkt,
Daß ihr die Alte wader dann vertheidigt:
Sie hat ja auch, folang’ fe lebt und denkt,
Nicht eine Seele auf der Welt beleidigt.
Und ift der Weg, auf dem fie wandelt, rauh,
Dann mäßt ihr gütig fie ein Stück geleiten,
Damit auf ſchlimmem Pfad der alten Fran
Die ſchwachen, müden Füße nicht entgleiten.
Und leidet fie — ich weiß, daß ſie's verfchweigt,
Sie klagte nie — dann gebt doch zu der Kranken:
Was ihr der Mutter Liebes je erzeigt,
Das will ich ench, folang’ ich lebe, danken.
Bon andern Tiederblüten erwähnen wir noch: „Sprich
milde Worte” und „Hoffnung“. Unbebentend ift die bei-
gegebene kurze Profa» Novellette: „Dem Andenken Friedrich
Curſchmann's“.
Wir glauben nicht zu irren, wenn wir die „Gedichte“
von F. Manfried (Nr. 4) ebenfalls als von weiblicher
Hand gefchrieben bezeichnen, eine Bermuthung, zu welder
ung der weiche Grundton derſelben Beranlaffung gab.
Bon ihnen gilt das bereitS an den Liedern der beiden
vorher befprochenen Dichterinnen Gerühmte. Sie find,
ohne originell zu fein, meiftens warm empfunden und
Iefen ſich gefällig,‘ Doc Läuft noch viel Unbedeutendes
mit unter, weshalb eine Sichtung dringend geboten gewe⸗
jen wäre. Als Probe aus den Manfried'ſchen Gedichten
ftehe bier:
Der höcdfte Feiertag.
Das ift ein rechter Feiertag,
Wenn Herz zu Herz fi neigt —
Was ſchen im Schacht der Seele lag,
In Wort und Blick ſich zeigt;
Doch dann erſt feiern wir entzückt
Das allerhöchſte Feſt,
Wenn Lieb' durch Liebe voll beglückt
Kein Wort uns finden läßt.
Als das Geſchenk eines wirklich aus innerm Drange
fchaffenden Talents begrüßen wir das „Jugendparadies“
von Emil Kaubert (Nr. 5), dem Sohne des befannten
berliner Componiſten. Diefer Dichter, welcher bereits
früher „Gedichte und „Ein Brautgeſchenk“ veröffentlicht
bat, gemahnt ums in der vorliegenden Sammlung lebhaft
an ben liebenswürdigen alemannifchen Dichter Hebel.
Denn wie jener entnimmt auch Taubert feine Stoffe der
Heinen friedlichen Welt bes Dorfs, der Kinderftube und
des Feldes. Es weht uns der warme Odem reiner,
frommer Kindlichkeit und naiver Friſche ans biefem
„Jugendparadies“ an. Wie reizend find Gedichte wie:
„Mein Gärtchen”, „Große Wäſche“ und „Störenfried”!
Ein wahres Cabinetſtück poetiſcher Kleinmalerei ift das
folgende Liedchen:
Dorffiraße am Morgen.
Laut tönt der erſte Hahnenfchrei,
Da fehlitteln ſich die Linden,
Erzählen ihre Tränmerei
Neugier’gen Morgenmwinden.
Dorfftraße fchläft noch ernft und flumm,
Die Dorfuhr ruft hernieder.
Thurm hängt den Nebelmantel um,
Es fröfteln ihm die Glieder.
Die Büſche Ingen regenſchwer
Durch morſcher Zäune Lücken.
Ein frühes Kätzlein ſchleicht daher
Und gähnt und ſtreckt den Rücken.
Nur dann und wann klingt aus dem Stall
Ein Wiehern und ein Brüllen.
Die Gänle träumen Peitſchenknall,
Und Wiefenluft die Füllen.
Bei aller Trefflichkeit ſolcher Poefie der Kindlichkeit
und Unfchuld darf die Kritil, zumal bei Dichtern wie
Zanbert, die fich bereits in bebentendern Iyrifchen Tönen
bewährt haben, dennoch nicht unterlaffen, darauf Hinzu-
weifen, daß diefelbe dem poetifchen Bebürfnig der Gegen-
wart in feiner Weife entgegenlommt. Unfere Zeit weift
die Dichter vornehmlich anf die fünftlerifche Hebung und
Flüffigmahung des ihr innewohnenden Gedankenſchatzes
hin: eine Aufgabe, welche zu Löfen vor andern Gattungen
dev Poeſie namentlich ber Lyrik vorbehalten bleibt, eine
Aufgabe, welche aber leider in unfern Lagen wenige
Apoftel gefunden hat. Zwar darf die Dichtung nirgends
und zu feiner Zeit ben Accent des Herzens entbehren,
aber. die wahre dichterifche Weihe können ihr immer nur,
zumal in unferer auf das Gedankenleben gerichteten Zeit,
die energifchern Farben des Geifte® und ber Gefinnung
geben. Das möge auch Taubert beherzigen!
Einen Anlauf. nad) biefer zeitgemäßen Richtung ber
modernen Lyrik bin, aber keineswegs einen glüdlichen,
machen die „Gebichte” von Theodor Goltdammer
(Mr. 6), einem Poeten, welcher bei allem anerkennungs⸗
Nene Iyrifhe Gedichte. 355
werthen Streben nad) dichterifcher Geſtaltung ben Geiſt
echter Infpiration nur zu oft vermiffen läßt. Goltdammer
bat feine Hohenzollern-Loyalität bereits frither in feinen
„Preußenliedern“ an den Tag gelegt, einer Sammlung
wohlgemeinter patriotifcher Lieder, welche den vorliegenden
„Gedichten“, und zwar um einige neue Nummern ver⸗
mehrt, einverleibt if. Auch aus diefen neuen „Gedichten“
weht e8 und oft wie berliner Hofluft an. Man fithlt
bei der Lektüre derfelben zu oft, daß fie ihre Entftehung
einer äußern Beranlafjung verdanfen, nicht aber mit
innerer Nothwendigfeit dem Drang des Herzens entſprun⸗
gen find. Diefes Gefühl aber hat etwas Erfültendes.
Am beften leſen fich diejenigen Poeflen Goltbammer’s,
welchen ein Balladenfloff zu Grunde Tiegt, wie „Der
nächtliche Heiter und „Das Mädchen von Stubbenlammer”.
Unter den „Preußenliedern” heben wir den „Nächtlichen
Appell auf dem Wilhelmsplage” hervor. ine eigene
Phyſiognomie fehlt den Gedichten Goltdammer's gänzlich.
Seine Form grenzt oft an das Chronitenhafte und Trockene.
Ganz hübſch ift das folgende Lieb:
Wiegenlied
(am 27. Januar 1859, dem Geburtstage des älteſten Sohnes
bes Kronprinzen von Preußen).
Schlummre füß,
Sohu der Hohenzollern,
Hörft den lauten vollern
Inbelruf noch nicht,
Der von tauſend Zungen
Grüßend dir erllungen,
Hörſt ihn fhlummernd nicht.
Schlummre füß!
Schlummre füß,
Su roßer En
Unter ıhren Fahnen
Ruht es fi jo ſchön.
Lug an deiner Wiege
Das Panier der Siege
Deine Stimm ummehn.
Sälummre füß!
Bade auf!
Herzensſohn ber Preußen,
Friedrich fotlft du heißen,
Wachen einft wie er;
Solft den Namen erben,
Un den Lorber werben,
Den er trug fo hehr!
Bade auf!
Die Goltdammer'ſchen Gedichte find von Reichardt,
Grell und Taubert vielfach componirt worden.
Wenn wir den Gedichten Goltdammer's im ganzen
eine gewiſſe chronifale Yürbung vorwerfen mußten, fo
gilt dies in noch höherm Grabe von den „Alten Bildern
und jungen Blättern” von Georg von Dergen (Rr. 7),
welche in einer etwas nüchternen Form viel Unklares und
Berworrenes produciren und ein bichterifches Unvermögen
befunden, welches in der hier gewählten Sonettenform,
die bekanntlich neben der ſtrengen Folgerichtigkeit und ge⸗
drungenen Gliederung ihres Gebanfeninhalt® namentlich
eine fein herausgemeißelte Architektonik in ihrem formellen
Bau erfordert, um fo mehr bervortritt. Wir bitten ben
Verfaſſer, einmal unbefangen das Sonett auf ©. 103,
namentlih aber deſſen Schlußterzett zu prüfen. Dann
wird er uns zugeftchen müflen, daß unſer nbfülliges
46 *
356 j Neue lyriſche Gedichte.
Urtheil über ſeine Poeſien ein gerechtfertigtes ſei. Georg
von Oertzen zeichnet ſich, wie wir bereitwillig und gern
geſtehen, durch eine humane Geſinnung und ein wohl⸗
wollendes Herz aus; aber dieſe Vorzüge, welche aus vie⸗
Ien feiner Sonette fprechen, machen noch feinen Dichter.
Zu ben befjern gehört das folgende Sonett:
Sohmohlgeboren.
Durch Arztes Hand in unfre Welt gelommen,
Dies feine Kind, gefillt von einer Amme
In bunter Tracht ans Fräft’gem Bauernſtamme,
Wächſt zierlid auf und wird in Zucht genommen
Bon Kriftlihen Hausfehrern, die beflommen
Und Höflih find. Erhitzt von feiner Flamme,
Ja nicht gelämmt mit einem rauhen Kamme,
Bon feiner Arbeit jemals übernommen:
So Iernt es, an gebratne Tanben geben
Sein offnes Mäulchen, lernt auch tanzen, reiten
Und wärbevoll nad) Eleganz zu fireben.
Doch braufen Stürme, dann, wo Männer ftreiten,
Entſchlüpft e8 aus dem Garn von Lieb’ und Leben
Kühl in die Aalhaut glatter Höflichkeiten.
Man muß zugeben, daß bei aller Ungefügigleit der
Form und Manierirtheit des Ausbruds aus diefen Stro⸗
phen ein Stachel gefunder Satire hervorblidt, der um fo
mehr Achtung verdient, da Hr. von Derten felbft zu den
„Hochwohlgeborenen“ gehört, deren in der That mitunter
höchſt verfchrobene pädagogijche Marimen er hier geifelt.
Die „Gedichte von F. 3. F. Hochmuth (Mr. 8),
in welchem wir, wie aus dem Gedicht „An die Muſe“
hervorgeht, einen noch ſehr jugendlichen Dichter kennen
lernen, find nad) der formellen Seite hin ziemlich gewandt,
zeigen aber in ihrem geiftigen Gehalt noch eine gewiſſe
Unreife, welche fih namentli in dem Mangel an con-
cifer und einheitlicher Compofition der meiftend etwas
langathmigen Gebichte documentirt. Wo Hochmuth re
flectirt, da geräth er meiftens in jene unklare Zerfahren-
heit und feraphifche Verzückung, welche durch Kiopftod
und feine Schule in unferer Fiteratur repräfentirt wird,
eine längft überwundene Phafe der Lyrik, gegen welde,
wenn fie als Anachronismus noch einmal wieder auftaucht,
die moderne Kritik energifch proteftiren muß. In den
Adern unferer Dichter fol das Blut der Gegenwart pul⸗
ſiren. Glücklicher ſchafft Hochmuth meiftend da, wo er
geftaltet, fo in „Komeles Traumgeſicht“, „Johann der
Blinde“ und namentlih in dem ſehr ſchönen Gedicht
„Farnimund“. Die Länge diefer Gedichte, die ihren Werth
beeinträchtigt, macht e8 uns Leider unmöglich, fie hier
folgen zu laſſen. Bon tiefem und innigem Gefühl zeugt
die „Elegie am Grabe eines Freundes“, in welcher e8 heit:
Alle deine Träume find zerronnen,
Sind verblüht fon in des Lenzes Pracht;
Alle deine goldig-füßen Wonnen
Sanfen mit dir in die Grabesnacht.
Aber deine Liebe bat gezäindet,
Lächelt ewig uns mit ſüßem Schein;
Sie bat dir ein ſtolzes Mal gegründet,
Zaubervoller ale von Erz und Stein.
Wenn die Todten auferflehen,
Wenn der Geift den Körper nen befeelt,
Werden wir uns wieberjehen
Ewig durch der Liebe Band vermäßlt.
Unfer jugendlicher Dichter wird vielleicht einmal etwas
Tüchtiges Leiften. Nur muß feine Mufe zuvor lernen,
mit den Yactoren des wirflichen Lebens zu vechnen und
prägnanter zu geftalten. In Bezug auf die Hochmuth'ſche
Form miüfjen wir noch erwähnen, daß Heime wie: „ftehe”
und „Höhe“, „Leiden und „Zeiten“ und „möllen” und
„welken“, Beute, nachdem ein Platen unfere Sprache von
ben profodifhen Schladen unferer claffifchen Literatur-
periode gereinigt hat, vor dem Fritifchen Hichterftuhl Feine
Gnade mehr finden dürfen. Aud) find Hochmuth's Verſe,
wie die letzte Strophe des angeführten Gedichte beweift,
nit immer correct gebaut. Wir möchten den talentvol-
len Berfafler, und viele andere Poeten mit ihm, bei Pla-
ten in die Schule fehiden. Das Ferment bes Eigenarti-
gen fehlt auch Hochmuth's Gedichten.
Im Gegenfag zu der durchweg ernftgeftimmten, con«
templativen Natur bes eben befprochenen Dichters tritt
diefes Moment faft ganz zurlid in den „Gedichten von
Wilhelm Stein (Nr. 9), aus welchen eine blühende
Sinnlichkeit ſpricht, welche, aller Reflerion abhold, mit
den kecken Farben einer gefunden Erotik zu malen ver-
fteht, ohne inbeffen immer die gebotenen Grenzen der
Decenz immezubalten. Die in nicht ganz correcten Difti-
hen gejchriebene „Idylle“ und das Gedicht „Diebe“ find
taktlos und lasciv. Die erftere gehört entfchieden in die
Rubrik „des Nadten”. Das „Mädchenkummer“ über-
ſchriebene Gebicht ift gerabezu unmoraliſch zu nennen.
Stein fcheint durch das feinen Poefien eigene, vorwiegend
finnlihe Colorit befonder® auf erotifch gefürbte Balladen-
ftoffe Hingewiefen zu werden, und man muß geftehen, daß
er in biefer Gattung ſchon in der vorliegenden Samm-
lung Lesbares geleiftet Hat, wie die beiden folgenden Pro-
ben beweijen mögen: Ä
Die Räuberbrant.
„Leg auf bie Seite den Roſenkranz,
Geh mit zum Tanz!
Schon Klingen die Flöten und Geigen,
Was willſt du dich denn nicht zeigen?” —
„Ich bin fo matt, id bin jo müd',
Mein Blut, das glüht,
Ih hatt? einen Traum, einen herben,
Mir iſt's jo weh zum Sterben.
„Mir träumte fon dreimal um Mitternacht,
Die Thür ginge facht,
Ich fühlte ein kühles Wehen
Und konnte doch niemand fehen.
„Ich fühlte auch auf der Bruft — gewiß —
Einen ſcharfen Biß (!)
Und fplrte in heißen Wellen
Mein Herzblut langſam entquellen.
„Und was e8 war — id) ahne es ſchier —
O, bete mit mir!
Mein Schag, dem den Tod ich gegeben,
Er fommt und entzieht mir. das Leben.
„Ich hab’ ihn verratben um bianles Gold,
Was nie ich gefollt;
Ums Hochgericht flattern die Raben;
Dort bleihet er unbegraben.“ —
„Hilf, Simmel, o rufe den Pater glei!
Du wirft fo bleich.“
Zu fpät, zu fpät kommt die Reue;
Der Tod rächt gebrochene Treue.
Neue lyriſche Gedichte.
Mag man über die ſprachliche Einfleidung dieſes Ge-
dichts denken wie man will, jedenfalls bat e8 den echten
Tenor der Ballade. Dafjelbe gilt von:
Senora.
Senora, Ihr feid Tran.
Berändert feid Ihr ganz —
Wie habt Ihr Leidenfchaftlich
Geliebt den Zanz.
Sonft, wenn Muſik erklang,
Habt Ahr geftrahlt vor Glück,
Jetzt fchleicht Ihr lei davon
Mit finferm Blick.
Senora, wißt Ihr noch,
Wie ich einft um End warb?
Wie Ihr mid habt verfhmäht,
Wie Liebe ftarb?
Senora, denkt Ihr nod
An jene Nacht jo warm,
Wie Ihr dem fremden Mann
Geglüht im Arm?
Senora, hättet Ihr
zwei Degen kreuzen ſehn —
a8 bebt Ihr denn fo fehr?
Es ift gefchehn.
Senora, Blut vertilgt
Nicht Liebe und nit Haß —
Senora, Yhr feid krank,
Ihr ſeid fehr bla.
Daß unfer Dichter indeſſen auch fanftere Töne an-
zufchlagen verfteht, beweift das hübſche Lied: „Zu bir.‘
In Bezug auf die Form läßt auch Wilhelm Stein manches
zu wäinjchen übrig. Hier und ba ift in feinen Verſen
ein Fuß zu viel oder zu wenig, und unreine Reime lau-
fen häufig mit unter. Stein, welcher bereits früher frifche
Gedichte in ſchwäbiſcher Mundart unter dem Titel: „Us
’m Nederdhal”, veröffentlichte, Hat Talent, aber feine
Bhyfiognomie — die alte Leier! Er theilt diefen Mangel
mit den ſämmtlichen vor ihm in diefer Revue beſprochenen
Dichtern und Dichterinnen.
Auch die „Gedichte und Lieder” von E. Hoffmann
(Nr. 10) find ohne eine frappante Phyſiognomie, aber fie
fügen in hohem Grade Ehrfurcht ein vor dem Charal-
ter ihres Verfaſſers. Hoffmann lebt in Yaffa in Palü-
fina, „in ber ſchwierigen Aufgabe begriffen, Bahn für
eine Hriftfiche Eolonifation im Heiligen Lande zu brechen”,
wie er in der Vorrede jagt, und jendet feine Gedichte,
welche meiftens biblifche Stoffe in Legendenform behandeln,
als einen poetifhen Gruß in die ferne deutſche Heimat.
Diefelben ftanımen mit wenigen fpätern Ausnahmen aus
den dreißiger und vierziger Jahren diefes Jahrhunderts —
der Berfafler fand erft jetzt Muße, fie zu fammeln —
und befunden durchweg dichterifches Weſen und Form⸗
gewandtheit. Sie haben einen gewiflen großen Zug und
gemahnen uns wie Fresken aus der heiligen Geſchichte.
In den „Cedern des Libanon” fingt Hoffmann:
Des Berges Furſten find gefallen,
Geraubt ıft Libans Herrlichkeit,
Und Afche find des Tempels Hallen,
Dem er den grünen Schmud geweiht.
Kahl blickt der Libanon zum Thale,
Gehüllt in finftres Wollenmeer.
Kahl raucht, gedörrt vom Mittageflrahle,
Des Tempels Stätte, ewigleer.
357.
Seit Golgatha, mit Blut begofien,
Der Früchte Fönfichfte gezeugt,
Sn fer des Himmels Thor verichloffen
Dem Libanon, ber trauernd fchweigt.
Berhallt ſchon längſt find jene Töne,
Die ihn belebt mit Luft und Schmerz;
Stumm drüdt er feine legten Söhne
An fein zerrifines Feljenherz.
Mag unter ihm der Schlachtlärn walten,
Schneelleib verhlillen fein. Geſicht,
Der Bligftrahl feine Gipfel fpalten,
Es mwedt ihn aus der Trauer nidt.
Um feine legten Cedern wehen
Die Stürme wol in finfirer Nadt;
Dod feine leiten Cedern fiehen
Und trogen aller Stürme Macht.
Wenn einft Judäas letzter Sproffe
gern draußen im der weiten Welt,
er Heiden frevelnder Genoffe,
Bom Glauben feiner Bäter fällt,
Dann hört man weitumher verhallen
Dumpf rollend feines Donners Ton,
Und feine legten Cedern fallen
Sieht dann der flolze Libanon.
(Gedichtet 1834.)
Dos ift echte Poeſie! Es ſpricht etwas Grandiofes
aus der lapidariſchen Kürze diefer Strophen, etwas Welt-
weites und Fernhinſchauendes. Aber die Perle der Samm⸗
lung ift das den Gedichten beigegebene Iyrifhe Drama
„Maria” (1843 gedichte), welches von dem chriſtlichen
Geiſt des edeln Dichters voll ift und, namentlich in der
wuchtigen Gewalt feiner Chöre, etwas Ehrfurchtgebieten-
bed bat. Es behandelt die Baffionsgefchichte Chrifti. Und
dennoch — bei aller ihrer Gebanfentiefe und Formſchön⸗
beit haben diefe paläftinifchen Gedichte, obgleich der Weih⸗
rauch des Heiligen Grabes aus ihnen duftet und vielleicht
eben deshalb, für den Lefer der Gegenwart etwas Fremd-
artiges, Vormärzliches. Man fühlt es ihnen an, daß
fie meiſtens vor mehr als zwanzig Jahren gefchrieben wor-
den. Sie haben nichts vom Pulsichlag der modernen
Dichtung, melde unmöglich den Beruf haben Tann, Le
genden im Munde, fi rüdwärts zu träumen in die ver-
ftaubten Bahnen aftatifchen Eulturlebens, fonbern welche
den Blick nad) vorwärtd gezogen fühlt in die Zukunft und
finnend über den großen Gedanken der Zeit fikt.
Die großen Gedanken ber Zeit, ber Gegenwart — das
ift die Lofung, welche derjenige Dichter auf fein Banner
gefchricben hat, welcher als der einzige unter den bier
beſprochenen die Mar ausgeprägte Phyſiognomie energifcher
Männlichkeit und felbftbewußter dichterifcher Miſſion trägt,
das ift die Lofung Friedrich Kraſſer's, des Verfaffers der
Zeitgedichte: „Offenes Bifir 1” (Nr.11.) Welch einen Gegenfag
zu den paläftinifchen Legenden Hoffmann’ — mit Refpect
vor denſelben ſei's gejagt! — bilden dieſe freimüthigen poeti⸗
ſchen Proteſte gegen alles Verkommene und Veraltete in
Geſellſchaft und Staat; Gedichte, welche in faſt makel⸗
lofer Form fi) zu Sachwaltern der edelften Tendenzen
des Zeitgeiftes machen. 8 ift nicht die Einfeitigkeit einer
fhalen Idealität, welche fich die Unzulänglichkeiten und
Schäden ber Gegenwart mit einer ertränmten „beffern
Zukunft” übergoldet, es ift nicht der Stoicismus eines
zahmen Optimismus, ber die Welt geduldig nimmt wie
fie ift, und zu den Dingen ſpricht: „Ihr feid gut, wie
358
ihr feib“, fondern es ift der unbefangen und unbeſtochen
mit den realen Zuftänden calculirende Scharfſinn des
Philoſophen, welcher in Kraſſer's Poefien, das poetiſche
Wort geſchidt als Waffe handhabend, Fronte macht gegen
die Unnatur und Unwahrheit dieſer Tage und unter der
Fahne der Freigeiſterei für eime freie Entwidelung der
Menſchheit freitet. In bem Gedicht „Berwegener Wunfcd”
jagt Kraffer:
Ich wollt’, es wär’ mein Genius
Ein Feuergeiſt voll Licht und Flammen
Und unter feinem Lavaguß
Sänf jedes ‚Sroingherem Bau zufammen;
Es tilgte feine Heil’ge Glut
Verheerend in gewalt’gem Brande
Der dh age Schlangenbrut,
Des ÜAberglanbens eio’ge Chan!
Id wollt’, es wurd' zum Schwert fofort
Mein Lied in feinem wilden Grimme,
Ein Donnerfeil mein zürnend Wort,
Ein Racheblitz des Sängers Stimme;
Und Donner, Blig und Schwert zugleich
Fuhr' in die Herzen der Zeloten
Und fänberte mit einem Streich
Die Welt von Mudern und Deöpoten!
=: En ein Lieb, Ins retten Tann, ?
in Schwert, die ettern
Um biefen heil’gen a m
Bolt’ ringen fr mit Sturm und Wettern,
Wollt’ pilgern um das Erdenrund,
Vom eigen Pol zur Glut der Tropen,
Bolt’ tauchen in des Aetna Schlund
Zur Feuereffe der EyMopen!
Som iſt die Geſchichte ein ewiges Ringen und Sehnen
der Menſchheit nad) Vefreiung und Freiheit. Noch liegt der
— im ben Banden des Aberglaubens und der Knecht
haft:
Jahrtauſende find drüber Hingegangen,
Ob jenem tiefen Weh, das ihm verzehrt,
Er bat Jahrtauſende mit Todesbangen
Des Elendẽ Üübervollen Kelch geleert;
Es war von je fein Leben und fein Streben
Ein wilder Kampf mit Leib» und Geelennoth,
Ein finftrer Dämon ſchuf ihn zum Verderben,
Und fein Erldſer war allein der Tod.
O fpredit mir nicht von Glüclichen und rohen!
Der Meufäheit ‚große Waſſe war es Age -_
Es janten ihre edelften Heroen
Durh Sceiterhaufen, Krenz und Hochgericht;
Die wen’gen aber, die fi wohlgemuthet
Des Lebens freuten, hatten wol fein Herz,
Sonft hätten fie gelitten und gebintet
Bei Ahrer Brhder mugehenerm Schmerz.
Dat hat das Dogma je geleiftet,
Das iht den BI ‚pflangtet ins Gemüth?
Der if’, der zu behaupten ſich erbreiftet,
Daß Dies auch eine Wahrheit nur errieth?
Banı 8 je anf unſre bangen Fragen
Endgültigen und zedfichen Beſcheid?
Warn hat es je die Welt vom Noth und Plagen,
Den Geif vom Alp ber Zweifelfucht befreit?
Kraſfer's Polemik gegen ben Mofticismus Hat etwas
Imponirendes. Im dem Gedicht „A basl” rufi er aus:
Hinab mit end) zum tiefften Grund,
Ihr Helden der Soppiftit!
Sing mit dir vom Erdenrund,
u Ruttencorps der Mufil!
heidniſche Geliebte, Perpetua an den ftolzen
Neue tyriſche Gedichte.
Die Freigeit ſoll um ihren Thron
Sorten die Bölter ſcharen,
ie Zyrannei mit Schimpf und Hohn
Zu allen Teufeln fahren!
Bon der Wiffenfhaft und der Mlarheit des Denkens
erwartet er das Heil in Kirche, Schule und Staat:
Ohne Shumen laßt das Träumen,
Drans bes Irrthums Onellen [Häumen —
Bollt ihr Menſchen fein, humane:
zer im Wiflensaltorane,
In dem Bud) voll Licht und Marheit,
S gibt fein ander Buch der Wahrheit —
mperismus, Communismus
Brachte euer Myſticismus.
Zitternd wanfen ſchon die Schranken
Bor dem Sturmiauf der Gedanken —
Sträubt vergebene eud; nicht länger,
rürften, 5 iefter, Geiftesbrän, er
'aßt der Venſchheit heißes Ringen
Nad; Glüdfeligkeit gelingen.
Bebend wanken alle Schranten
Bor dem Heerbann der Gedanken.
Die bichterifche Begabung Kraffer’s ift ohne Zweifel
eine vielverfprechende. Die gemeinen Talente des, Alltags
gehen ohne igenartigfeit in den ausgetretenen Gleiſen
dichterifcher Production einher — und verfchwinden. Wer
aber ſchon bei feinem erften Auftreten fo felbftändig aus
den geiftigen Strömungen ber Gegenwart zu ſchöpfen und
feine poetifcen Gebilde mit fo eigenem Aroma zu um
gießen weiß wie Kraffer, der berechtigt zu Lühnern Hoffe
nungen. Wein das Intereffe und die Empfänglichkeit bes
Bublitums für die gedanlenvolle Lyrik if in unfern Ta⸗
gen bis auf den Gefrierpunft herabgefallen. Wird man
auch gegenüber den Poeſien Kraſſer's zur Tagesordnung
übergehen? Wir birfen bier die angenehme Brig des
Kritifers, anf tüchtige Erſcheinungen aufmerkfam zu machen,
nicht verfänmen: wir empfehlen die vorliegenden Zeite
gedichte von Friedrich Kraſſer einer alfeitigen Würdigung;
denn fie haben etwas vom echten Kunftftil und find mit
den Ideen der Gegenwart gefättigt.
Schließlich mögen hier noch einige Worte ber An
erfennung über bie in Mangvollen ottave rime geſchriebene
Dichtung „Perpetua”, von Guftav Pafig (Nr. 12),
Plag finden, da die Beurtheilung berfelben ſich wegen
des vorwiegend lyriſchen Colorits der hübſchen Erzählung
an diefe Beſprechung lyriſcher Gedichte paſſend anjchließt.
„Perpetua“ derſetzt uns in bie Zeit der erſten Chriſten-
gemeinben und hat Karthago zum Schauplag. Der poetiſche
onflict der Dichtung liegt in ber Collifion bes aufblügen
den Ehriftentfums mit dem untergehenden Heibenthum:
einem weithiſtoriſchen Kampfe, welder uns hier in bem
Seelenftreit ber beiden Hauptträger der Erzählung, der
edeln Perpetua und ihres Bruders Placidus, welche beide
die Taufe der Ehriften eınpfangen haben, mit Gejchid in
der äußern Anordnung der fortfchreitenden Handlung und
mit vielem Feuer in der dichteriſchen Geftaltung der han-
delnden Charaktere auf der ſchmälern Baſis der Familie
veranſchaulicht wird, ohne uns tiefere Perfpectiven in bie
geſchichiliche Conſtellation der damaligen Zeit zu eröffnen.
Beide Geſchwiſter find durch zärtliche Leidenſchaft an
Taufns,
Preußiſche Geſchichte. 359
Placidus an die ſchöne Blanda, gebunden. In beiden ſiegt
der Glaube über die Liebe; ſie ſterben auf Geheiß des
Proconſuls mit der ganzen karthagiſchen Chriſtengemeinde
unter den Zähnen der Beſtien des Circus. Ohne weiter
auf die Einzelheiten der Handlung der Heinen Dichtung
einzugeben, bezeichnen wir den Ausgang des zweiten Ge
fangs als befonbers gelungen, wie aud) das Schlußtableau
des Ganzen, bie höchſt lebhafte Schilderung des Blut⸗
bades im Circus eine effectvolle Wirkung nicht verfehlt.
Der Berfaffer hat in diefer intereffanten poetifchen Er⸗
zäblung eine hübſche Zalentprobe abgelegt, die geeignet
wäre, die Aufmerkſamkeit des Bublitums auf ihn zu len-
fen, wenn die poetifche Erzählung in unfern Tagen über-
haupt noch ein Publikum hätte,
Preußiſche Geſchichte.
1. Geſchichte des preußiſchen Staates und Volles unter ben
Hohenzollern'ſchen Fürſten. Nach den beften Quellen bear-
beitet und den Gebildeten aller Stände des preußifchen und
deutfhen Volle gewidmet von E. von Coſel. Erſter bie
dritter Band. Leipzig, Dunder und Humblot. 1869. Br. 8.
Jeder Band 1 Thlr. 24 Ngr.
2. Geſchichte Friedrich's II. von Preußen, genannt Friedrich
der Große von Thomas Carlyle. Deutfh von J. Neu-
berg, fortgefeßt von Friedrich Althaus. Fünfter und
fester Band. Mit 7 Tafeln in mehrfarbigem Stein.
— Berlin, von Decker. 1869. Gr. 8. 5 Thlr.
r.
—8 des preußiſchen Staats. Bou Felir Eberty.
Zweite Abtheilung. Erſter und zweiter Band. 1740-63.
(Des ganzen Werkes dritter und vierter Band.) Breslau,
Trewendt. 1868. 8. 2 Thlr. 15 Near.
4. Geſchichte des Bairifchen Erbfolgekriegs. Bon E. Rei⸗
mann. Seipig, Dunder und Humblot. 1869. Gr. 8.
1 Thlr. 10 Nor.
Seitdem die Ereigniffe des Jahres 1866 in bie bis
dahin mehr und mehr zum Stillſtand neigende Gefchichte
Preußens und Deutfchlands neue Bewegung gebradjt und
an Stelle der bisher herrfchenden trägen Langſamkeit ein
krüftiges pulficendes Leben erwedt haben, hat auch die
Geſchichtſchreibung einen nachdrücklichen Antrieb mehr
empfangen, fich gerade der Entwidelung Preußens zuzu-
wenden und in der Bergangenheit des nunmehr an die
Spige Deutſchlands getretenen Staats die erſten Keime
und Anfänge des endlich weuigftens theilweife verwirklich⸗
ten beutfchen Staats anfzufuchen. Hat doch die preußi-
ſche Geſchichte, welche bisher in einem ſehr wohlgemeinten,
aber feineswegs nützlichen Patriotismus oft der erclufio-
flen Art befangen und ſchon deshalb für den Nichtpreußen
oft mit einem unangenehmen Beigeſchmack behaftet war,
jegt eine ganz anbere Bedeutung gewonnen, da das, was
früher einige wenige Einfihtsuolle erfannten, andere nur
unklar fühlten, eine allgemein einleuchtende, durch bie
Gewalt wuchtiger Thatfachen auch den fih Sträubenden
völlig zur Erkenntniß gebrachte Wahrheit geworden ift, daß
nämlich Preußen der Staat der deutſchen Zukunft ift und
daß bie Zukunft Deutfchlands nur in ber Preußens ge=
wonnen werden kann. Eine nicht unbedeutende Anzahl
von Werken über die preußifche Gefchichte find, von die⸗
fem durch die jüngfte Vergangenheit jo nachdrücklich her⸗
vorgehobenen Gefichtöpunft ausgehend, während der letzten
Hahre in die Deffentlichkeit getreten; ältere Werke, deren
Anfänge bei ihrem größern Umfange noch vor die Ereig⸗
niffe von 1866 zurildreichen, find ebenfalls durch ben
gewaltigen Umſchwung des merkwürdigen Jahres weſent⸗
lich beeinflugt worden, und haben, indem fie zu der jo
entfcheibenden jüngften Vergangenheit klar und beflimmt
5
Stellung zu nehmen genöthigt wurden, ein neues Intereſſe
gewonnen. Daß aber eins von dieſen Werlen ſich auf
die Höhe der Zeit zu erheben und dem dieſelbe beherr⸗
ſchenden und durchdringenden Gedanken völlig gerecht zu
werden vermocht hätte, kann nicht behauptet werben;
vielmehr bleiben die meiften fehr weit hinter den An
ſprüchen zurüd, die man an ein diefen Stoff behanbeln-
des Bud; machen muß, wenn dafielbe wirklih ans den
Ideen, welche bie Zeit erfüllen, hervorgewachfen fein fol.
Unfere preußifhe Geſchichtſchreibung Liegt noch — und
daraus zunächft erklären ſich viele auch noch ben neueften
bierhergehörigen Werken anbaftende Mängel — in bem
Bann einer althergebrachten, für bie Anforderungen ber
neuen Zeit viel zu engen Gchablone, wie fie durch
die erſten bedeutendern Verſuche auf biefem Gebiete feft-
geftellt worden ift. Wir Haben fchon mehrfach Gelegen-
heit gehabt, auch in d. Bl. auf die Gebrechen hinzu⸗
weiſen, aus denen dieſes Zuridbleiben der preußifchen
Geſchichtſchreibung hinter der ſtaatlichen Entwidelung
Preußens und Deutfchlands zumeift zu erflären ift, und
auf die Art und Weife, in welcher nach unferer Meinung
eine den Anforderungen ber Zeit entſprechende Gefchichte
Preußens angelegt werben müßte. Die meiften fogenann«
ten preußiſchen Geſchichten find nämlich weniger Geſchich⸗
ten des preußifchen Landes und Volles, als vielmehr ber
Hohenzollern’schen Herrſcher des brandenburgiſch⸗preußiſchen
Staats. Die untrennbare Zufammengehörigleit von Fürſt
und Bolt abzuleugnen, wird keinem in den Sinn kommen,
am wenigften gerade in der preußifchen Gefchichte, wo
die perfünlihe Bedeutung des Herrſchers entjcheibender
zur Geltung gelommen ift als in manchen andern Staa
ten. Eben aus biefem Verhältniß aber erklärt ſich bie
überwiegend perjönliche Färbung, welche den Bearbeitun⸗
gen ber preußifchen Geſchichte bis in die neueſte Zeit
eigen geblieben if. Hat dieſe Art der gefchichtlichen
Auffaffung an und für ſich fchon ihr Bedenkliches, fo
muß fie vollends zu ganz abfonderlichen Confequenzen
führen, wo es fid) um thatfächlich nicht bebeutende und
binter den Aufgaben ihrer Zeit zurücdgebliebene Regenten
handelt. Bei biefer ganzen Richtung Liegt die Gefahr
nahe, daß die Gefchichtfchreibung auch ba in einen pane⸗
gyriſchen Ton verfällt, wo derfelbe am allerwenigften an«
gebracht ift, und ihre Aufgabe nicht in ber Ueberlieferung
ungefchminkter Wahrheit fucht, fondern in officiellen und
oft übermäßig loyalen Lobpreifungen. Wollten wir die
lange Reihe hierhergehöriger Werke buxchgehen, bei der
Mehrzahl — defien find wir ficher — würben diefe Eigen-
thiimlichkeiten auf den erften. Bli in die Augen fallen.
. ad . 7.4 CE
ee N 2 6 Ras AR
we. rim: 2 .
PO FOR rt il .
ra. 2
* I
360 Preußiſche Geſchichte.
Den Gegenſatz zu dieſer Art, die preußiſche Ge⸗
ſchichte zu einem fürſtlichen Ehrenſpiegel umzuwandeln,
möchte man nicht mit Unrecht in jenen Werken ſehen, in
denen bie hiſtoriſchen Verhältniſſe, des perſönlichen Mo—⸗
ments faſt ganz entkleidet, mit diplomatiſtrender Spitz⸗
findigkeit zu lauter „Fragen“ zurechtdeſtillirt werben;
den ſichern Boden realer Verhältniſſe verliert man in
ihnen ſehr bald unter den Füßen und fühlt ſich verſetzt
in die von lauter Hypotheſen erfüllten Regionen der allein
im Geheimniß der Cabinete und in den Chiffren der
Depefchen arbeitenden höhern Politik. Man möchte dieje
beiden Ertreme miteinander zu einem neuen Ganzen ver⸗
fchmelzen: es Tüme dann wenigſtens etwas VBrauchbareres
heraus. Solange aber einerfeits das dynaftifche Moment
fo ausſchließlich betont, anbererfeits bie Geſchichte ver-
flitchtigt wird zu Complicationen, in denen außer fchreib-
feligen Diplomaten niemand etwas Bedeutendes an wahr⸗
haft geichichtlichem Leben zu erlennen vermag, folange
werden wir auch feine preußifche Gefchichte befiten, welche
den herrlichen, für die nationale Entwidelung unſers
Volks fo hochbebeutenden Stoff in feiner ganzen Wirk.
ſamkeit zur Geltung zu bringen geeignet ift. Die welt-
biftorifche Bedeutung folcher Perfjönlichfeiten, wie bie
preußiſche Gefchichte uns im Großen Kurfürften und in
Friedrich dem Großen darftellt, anzuzweifeln, wird nie
mand verfuchen; wenn aber diefe Gejchichte zugleich bie
Geſchichte ihres Staats, ja ihrer ganzen Zeit ift, fo fin«
bet ein gleiches Berhältniß doch bei feinem andern Für⸗
ften bes Hohenzollern’fchen Haufes flat. Der erfte und
größte Antheil an dem, was aus Preußen geworden,
muß dem preußifhen Volle angerechnet werben, denn
diefes hat feinem Baterlande, dem von den Hohenzollern
regierte Staate feine ehrfurchtgebietende Stellung in
kriegeriſchen Mühſalen fowie in friedlicher Arbeit erftritten
und errungen.
Auch in den oben verzeichneten neuern Werfen über
die Geſchichte Preußens finden wir flir die eben entwidel-
ten Bedenken ber Belege genug: diejenigen gerade, Die
am entjchiedenften mit der Abſicht populär zu werben
auftreten, werben dieſe Abfiht am wenigften erreichen,
weil fie am meiften und am auffallendften alle die Ge⸗
brechen an ſich tragen, von denen wir erwähnten, baß
fie ber preußiſchen Gefchichtfchreibung im allgemeinen
anhaften.
Gleich das an erſter Stelle aufgeführte Werk:
„Geſchichte des preußiſchen Staats und Volkls unter den
Hohenzollern’schen Fürſten“ (Nr. 1), von E. von Coſel,
ift dur) das oben im allgemeinen Geſagte fo gut wie
vollftändig charakterifirt.. Daß der Berfaffer die ein-
fhlagende Literatur gewiffenhaft ftudirt und dadurch ein
recht reichhaltiges Material zuſammengebracht bat, wird
ihm niemand ableugnen. Doc ift er damit noch nicht
weiter gelommen, als daß er eine umfangreiche Compi⸗
Iation geliefert hat. Neues, eine Bereicherung unferer
Renntnig von dem Thatſächlichen konnten wir nirgends
bemerken. Auch in der Darftellung der Friegerifchen
Begebenheiten, für welche in dem beigegebenen Pro—
fpect auf die dem Verfaſſer zu Gebote ftehenden Ma-
terialien des preußifchen Generalftabes als eine befonders
werthoolle Duelle verwiefen wird, ift une, foweit das
Werk bisjetzt vorliegt, Fein wefentlich neues Moment auf-
gefallen; ja, wir müſſen gleich hier bemerken, daß gerade
diefe Seite an einigen befonders wichtigen Stellen nicht nur
Inapp, fonbern geradezu ungenügend behandelt ift: wer wird
3. B. aus dem, was hier über die Schlacht bei Leuthen ge
jagt wird, ein Bild von dem Gange bes merkwürdigen
Kampfes gewinnen, da felbft der befannten ſchrägen Schlacht⸗
ordnung auch nicht mit einem Worte gedacht wird?
Bon dem Werke, welches der Verfaſſer den Gebil-
deten aller Stände des preußifchen und des beutfchen
Boll widmet, alfo zu einem Volksbuche beftimmt,
wie daflelbe denn auch im Profpect nicht blos ben
Kriegsfchulen und abettenhäufern des Norbdeutichen
Bundes, fondern auch der Bibliothek jeder gebildeten
Familie empfohlen wird, Liegen uns bisjett drei Bände
vor, in denen die Gefchichte Preußens bis zum Tode
Friedrich Wilhelm’s I. geführt wird. Zwei Bände follen
nachfolgen, und zwar fol der Stoff auf diefelben fo
vertheilt werben, daß der vierte die Geſchichte Friedrich
Wilhelm's II. bis zur Beendigung der Befreiungskriege,
und der fünfte die Zeit von 1815—66 behandeln wird.
Das ift fiir ein Werk, welches feine Leſer in der großen
Menge der Gebildeten fucht, ein etwas gewaltiger Umfang:
durch fünf fo compreß gedrudte Bände ſich hindurchzu⸗
arbeiten wird es in diefen SKreifen ben meiften wol an
Geduld fehlen. Auch die Darftellung ift nicht der Art,
daß fie den mächtigen Umfang vergeffen machen und ben
Lefer unmerklih von einem Bande zum andern gelangen
lafien könnte. Es fehlt derjelben vor allem an Einheit,
an klarer Ordnung und Weberfichtlichkeit; dabei Leibet fie
an einer Ungleichmäßigfeit der Ausführung, bie oft über-
rafhen muß. Zuſammengehöriges wird getrennt, an
fpäterer Stelle exſt Vorzubri zu Ehen
eingefhoben mit ber 6i8 zur Ermüdung wieberfehrenden
Wendung „der VBolftändigfeit halber möge bier gleich bes
merkt fein”; was früher hätte erwähnt werden müſſen,
kommt erſt da vor, wo es eigentlich ſchon als befannt
vorausgefet werden mußte. Fortwährenb behält fo der
aufmerffame Lefer den Eindrud einer nicht völlig verar-
beiteten Compilation, deren einzelne Beſtandtheile nicht zu
einem Ganzen zufammengewachfen, fondern rein äußerlich
aneinandergefügt find; die zahlreichen, immer befonbers
bervorgehobenen, oft ganz unndthigen Citate ftören geradezu.
ragen von der größten Wichtigkeit werden entweder nur
beiläufig berührt oder auch ganz mit Stillſchweigen über-
gangen, an andern Stellen dagegen wird nicht zur Sache
Gehöriges mit ermübdender Breite eingeflochten. So wird
einmal die doch im wefentlichen als befannt vorauszufeßende
Geſchichte der Reformation mit unnöthiger Ansfüthrlichkeit
erzählt, die Gefchichte Preußens bis zu feiner Bereinigung
mit Brandenburg dagegen jo obenhin abgefertigt, daß
niemand zu der Einficht kommen wird, daß erſt die Ver⸗
einigung mit Preußen Brandenburg zum Staate gemacht
und ftreng genommen die Wiege des preufifchen Staats
als eines folchen nicht an der Spree, fondern an ber
Weichfel geftanden Hat. Später wird bie Gefchichte des
Dreißigjährigen Kriege mit einer bier in feiner Weiſe
begründeten Ausführlichleit erzählt; von dem für die Ges
ſchichte des Großen Kurfürften fo hochwichtigen polnifch-
fchwedifchen Kriege dagen erfährt der Lefer kaum das
— nu — —
Preußiſche Geſchichte.
Allernothdürftigſte. An vielen andern Stellen werden
dann Ereigniſſe, die nicht an ſich, ſondern nur durch ihre
Stellung inmitten der eigenthümlichen Verwickelungen der
ganzen Zeit eine größere Bedeutung beanſpruchen können,
von dieſem Zuſammenhange gelöſt und daher jo darge⸗
ſtellt, daß man ihren eigenthümlichen Werth gar nicht zu
begreifen vermag. So hat das Auftreten des falſchen
Waldemar (1348), wie es hier berichtet wird, gar nichts
hiſtoriſch Denkwürdiges; von wirklicher Bedeutung wird
daſſelbe erſt, wenn man es erkennt als den Höhepunkt
des damals in ganz Deutſchland zwiſchen den Luxemburgern
und Wittelsbachern durchgefochtenen Kampfes. Selbſt der
Zülich⸗Cleveſche Erbfolgeſtreit, ein Ereigniß von europäijcher
Bedeutung, das ohne den plöglichen Tod Heinrich's IV.
von Frankreich den Kampf zum Ausbrudy gebracht Hätte,
der zehn Jahre fpäter durch bie Vorgänge in Böhmen
erregt wurde und Deutſchland für die nächften dreißig
Jahre namenlofen Greueln preißgab, finkt, jo aus dem
großen Hiftorifchen Zufammenhang herausgerifien, wie er
bier vorgetragen wird, zu einem aus rein dynaſtiſchen
Intereffen geführten Zwiſte herab.
Mit diefer Oberflächlichkeit und Ungleichmäßigkeit fteht
dann in einem um fo auffallendern Contrafte die ermüdende
Breite, mit der an andern Stellen durchaus unnöthiges Detail
vorgebracht wird. Daß der kurfürftliche Günftling von
Burgsdorf bei der Taufe des erften Sohnes bes Großen Kur⸗
fürften in elf verfchiebenen Prachtgewändern erfchienen tft,
wird den meiftenLefern wol völlig gleichgültig fein, ebenfo wie
die Notiz, daß der Große Kurfürft als Yüngling bei einem
von dem Minifter von Schwarzenberg gegebenen Feſtmahl
ſehr wenig geteunfen hat; auch die Feſtlichkeiten bei der
Königsfrönung Friedrich's I. wird niemand gerade in die
fer Ausführlichkeit kennen zu lernen wünſchen. Der ganze
dritte Band, der auf 541 Seiten die furze und ruhmloſe
Regierung Friedrich Wilhelm's II. behandelt, leidet an
einer Weitfchweifigteit, welche ihn gerade den Leferkreifen,
auf die das Werk zunächſt berechnet ift, völlig ungenieß⸗
bar machen muß; die Häglichen Feldzüge gegen Frankreich
1792—94 werben mit einem Detail erzählt, das felbft
den Militär von Fach nicht mehr intereffiren Tann.
Wie will der Berfafler, wenn er folcden Dingen fo viel
Raum gewährt, dann mit einer Periode wie die ber
Befreiungskriege jemals fertig werben? Auch fällt gerade
in diefem Bande die Werken dieſer Art fo oft anhaftende
Schwäche der Urtheile auf: die Beurtheilung Friedrich
Wilhelm's II., Wöllner’8 und Biſchofswerder's find fo
verclaufulirt und auf Schrauben geftellt, daß man den
Iopalen Verſuch, auch ſolche Männer noch zu verthei-
digen, nicht verfennen kann. Endlich muß noch die Ab-
weſenheit jeder fcharfen, ins einzelne durchgeführten Ord⸗
nung gerügt werden; im Durcheinanderwerfen der ver-
fhiedenften Dinge wird zuweilen geradezu Unglaubliches
geleiftet, felbft da, wo einfach an die chronologijche Reis
henfolge der Ereigniffe fi zu halten nöthig war, um
einen völlig genügenden innern Zuſammenhang berzuftellen.
In dem kurzen „Rückblick anf die legten Jahrhunderte
in Bezug auf Cultur und Sitten‘, der nad) der Darftellung
der Regierung des Kurfitrften Johann Sigismund einge-
Schaltet if, wird zuerft die Entwidelung der Reformation
nach Luther gelennzeichnet, dann bie Gefchichte der Erfin-
1870, ®.
361
dung ber Buchdruderkunft erzählt, auch unnöthig aus-
führlich, jedoch ohne der Entftehung der exften Drudereien
in der Mark Erwähnung zu thun, und daran reiht fich
dann eine Schilderung der geographiſchen Entdedungen.
Hier ift die Hiftorifche Ordnung doch geradezu auf den
Kopf geſtellt. Daß dabei Columbus als der erfte Ent-
decker angeführt wird, läßt fich doch auch nicht redhtfer-
tigen. An ähnlichen Fehlern aber ift namentlich in den
die ältern Zeiten behandelnden Partien des erften Bandes
Ueberfluß: König Heinrich J. wird der Finkler, Albrecht
der Bär gar Kurfürft genannt, Ulrich von Hutten wird
zufammen mit Hans Sachs als dentjcher Liederdichter
angeführt; daß das ganze fchweizerifche Volt ſich zur
Lehre Zwingli’s bekannt habe, ift doch eine unerlaubte
Hyperbel; daß das Religionsgefpräc zu Marburg 1527
und die Verlegung des Sites des Hochmeiflers des Deut-
jhen Ordens nad) Marienburg 1306 angefegt wird,
find wol Drudfehler für 1529 und 1309, obgleich fie
nicht als folche berichtigt find. Weiterhin wird gar
Wilhelm von Oranien, der fpätere König von England,
mit feinem großen Ahnherrn, dem Gründer der nieber-
ländifchen Freiheit, verwechjelt, und als „der Schweigfame“
bezeichnet. Was in einer Anmerkung bei Gelegenheit des
Zwiſtes des Kronprinzen Friedrich mit feinen ftrengen
Bater Friedrih Wilhelm I. über das Ende des Don
Carlos und des unglüdlichen Alexei gejagt ift, ift theils
unrichtig, theild ungenau; ebenfo unrichtig wird bei einer
ähnlichen Gelegenheit der die Schladht bei Cannä überlebende
römische Conful ftatt Varro Varus genannt.
Doc) genug der Einzelheiten, die nur deshalb hier an-
geführt find, um das oben im allgemeinen auögefprochene
Urtheil zu begründen. Freier von ſolchen Berftößen find
die fpätern Abjchnitte, obgleich auch da vieles angeführt
wird, was nad) dem heutigen Stande der Forſchung als
antiquirt oder als völlig ungegründet bezeichnet werden
muß. Auch. vermißt man oft die Benutung der neneften
einfchlägigen Arbeiten. So ift 3. B. in dem zweiten
Bande, der die Geſchichte Friedrich's des Großen enthält,
die tiefgreifende Umgeftaltung, welche zwifchen dem zweiten
Schleſiſchen und dem Siebenjährigen Kriege in der euro-
päifchen Politit eintrat, keineswegs in einer ihrer Bedeu⸗
tung entfprechenden Weife erörtert worden, wie überhaupt
die Entftehungsgefchichte des Siebenjährigen Kriegs weit
hinter den Anforderungen zurüdbleibt, welche man an ein
Buch Stellen muß, welches bie treffliche Arbeit Arnold
Schäfer's über diefen Gegenſtand ſchon hat benugen kön⸗
nen. Müffen wir demnach die Abſicht, in welcher der
Verfaſſer des vorliegenden Werts an feine Arbeit gegan⸗
gen, anerkennen, und können wir auch bie eifrig patrioti-
ſche, zuweilen freilich etwas ſtark militärifch-abfolutiftifch
gefürbte Gefinnung, die aus der Darftellung ber preufi-
ſchen Gefchichte uns anweht (man vergleiche die ent-
ſchieden nicht berechtigte VBerdammung der „Demago-
gen” Rothe und Kalfftein und ihres Auftretens fir bie
Rechte der preußischen Stände gegen bie abfolutiftifchen
Neuerungen des Großen Kurfürften und den Stoßfeufzer
über Preffe und Parlamentarismus, III, 484), rübh-
mend hervorheben: im ganzen und großen wird das
Werk, wie e8 bisher vorliegt, ber zu Löfenden Aufgabe
nicht gerecht.
46
1
362 Preußiſche Geſchichte.
Weit größeres Intereſſe als das Coſel'ſche Werk zu
erwecken im Stande iſt, wird einem jeden der mit dem
fünften und ſechſten Bande nunmehr vorliegende Schluß
der „Geſchichte Friedrich's IL. von Preußen“, von Tho-
mas Carlyle (Nr. 2), einflögen. ‘Der eigenthlimliche, ja
man möchte jagen abjonderlihe Charakter des merkwür⸗
digen Buchs ift aus den erften vier Bänden befannt
genug. Es ift zunächſt durch und durch engliſch; damit
ift eigentlich alles gejagt. Eine Rüdficht auf den Leſer,
ſei er nun ein englifcher, fei er ein deutfcher, Tennt der
Berfafler nicht: während der Gefchichtfchreiber fich fonft
bemüht, ſchon durch die Form der Darftellung feine Lejer
für den behandelten Gegenftand zu gewinnen und den⸗
felben einem allgemeinen Verſtändniß möglichſt zugänglid)
zu machen, rührt fi Carlyle nicht aus feinem Ich, und
wer fich ihm nicht anbequemen, fich nicht in feine Härten
und Schärfen, Schrullen und Wunderlichkeiten fügen will,
der läßt es eben bleiben und wird von dem vornehmen
Autor wol zu den „schlechten Leſern“ gerechnet werden,
von denen am Schluß ebenfo wie von den guten Abſchied
genommen wird. Selten dürfte ein auf einen größern
Leſerkreis berechnetes Buch in einer foldhen Yormlofig-
feit in die Deffentlichleit gelommen fein; doch Täßt fich
dabei nicht leugnen, daß auch in diefer Yormlofigfeit
ber bedeutende Geift des Autors ſich geltend macht.
Zuweilen freilich iſt das ein Geift fehr fonderbarer Art
and wird die Darftellungs- und Betrachtungsart geradezu
barod. Die Ausbrudsweife ift hier und da jo wunder⸗
(ich, dag man nicht recht weiß, was des Verfaſſers eigent-
liche Auficht ift: der faft durchweg tronifche, Hier und da
fogar fatirifhe Ton macht den Eindrud, als ob der
Gefchichtichreiber nur ungern, nur wiberftrebend die Größe
feines Helden anerkennt. Aber diefer Kalte, fpöttelnde,
alles bewigelnde Geift erhebt fich doch, von der Größe
ſeines Stoff8 ergriffen, aud zu einem wärmern und
vollen Gefühle. Beſonders eigenthümlich ift die ftellen-
weife den Ton der Erzählung völlig aufhebende Neigung
zum. Dramatifiren: es wird nicht mehr erzählt, fondern
das Ereigniß felbft wird als ein Kleines Drama dar⸗
geftellt; daß dabei das Hiftorifche vielfach durch die
Individualität des Autors gefärbt wird, ift natürlich,
denn der Gefchichtfchreiber fteht nicht mehr über ben von
ihm behandelten Vorgängen, fondern nimmt gleichfan
perſönlich Antheil am denfelben: er hält mit bem großen
König und deſſen Feldherren Zwiegeſpräche, verhandelt
mit- ihnen bie Schlachtpläne, wirft ihren Maßregeln feine
Bemerkungen, feine Warnımgen und Bedenken entgegen,
ja feitenlang erzählt er ald ob er feine eigenen Er-
lebniſſe berichtete und fpricht von Friedrich und deilen
Armee in der erften Perfon: „Wir thun nun dies" —
und „Wir werden nun fo und jo handeln”. Daß bies
originell iſt, wird nicht geleugnet werden können; der
beutfehe Leſer aber findet fi) nur ſehr fchwer in biefe
Manier und wird ein Gefühl des Befremdens, des
Mishehagens nicht völlig los werden. Die draftifche,
berbe Art Carlyle's offeubart fich ſchon in den Ueber⸗
Schriften der einzelnen Kapitel, nach denen man zumerlen
meinen follte, ber Lektüre eines komiſchen Romans entgegen«
zugehen. „Reichs⸗Donner, flüchtige Ueberſicht deſſelben,
nebſt Frage: wohin? wenn überhaupt irgendwohin?“
„Von dem abſonderlichen quaſi⸗behexten Zuftande Englands”,
„Was thut der ſtändige Präſident Maupertuis dieſe ganze
Zeit über? Iſt er noch in Berlin, oder wo in der Welt
iſt er? Ach armer Maupertuis!“ — das iſt nur eine
kleine Blumenleſe aus den Abſonderlichkeiten, die uns in
dieſer Hinficht geboten werden. An ähnlichen Derbheiten
ift die Ausdrudsmeife reich; namentlich in Vergleichen und
Bildern wird Starkes geleiftet. Wir heben auf gut Glüd
ein paar Stellen heraus; V, 35:
Die prager Salat, eine jener fürchterlichen Weltfchlachten,
laut wie der Jüngſte Tag — fon ihre finnbilblihe Darſtel⸗
lung, von energifchen fFrauenzimmern auf dem Klavier ausgefiihrt,
jagt die Menjchheit, die ihre Ohren Tiebt, in bie Flucht.
V, 11:
Eine Allmacht des Brummens vermifht mit grellem Ge⸗
ſchrill, welches das Univerſum nicht auf wohlthuende Weile er⸗
füüllt. Bon den Tiefen der Tonleiter an bis wieder hinauf zu
ihren fchrilen Höhen — ein Brummen, das etwas vom Cber
oder Wildfehwein an fih bat. Dean denke fi) alle. milden
Schweine in der Welt verfammelt, alle oder den größten Theil,
und jedes mit einem Meffer in ber Seite, das ein nur zu
befannter Mifjethäter foeben Hineinftieß, fo bat man einen
Begriff von dem Zon diefer Dinge —
der Reden nämlich, die in Regensburg von Defterreih
und andern gegen Preußen geführt wurden! Dan fieht,
faft craffer noch als in den frühern Bänden des Carlyle'⸗
chen Werks ift Hier aufgetragen: der Ton ift ftellen-
weife für den Exrnft der behandelten Sache und die Größe
des Stoffs ein geradezu unangemefjener und macht faft
den Eindrud der Poſſenreißerei. Es ift fchabe, daß
Carlyle fi fo ganz in diefe Manier verliert. Daß ihm
ein fchlichter, ernfter, ber Hoheit des Gegenſtandes ange»
mefjener Ton nicht verfagt ift, zeigt er oft genug: wie
ſchön und würdig, wie ergreifend ift bie ganz ſchmuckloſe
Darftellung, die er von dem Tode bes großen Königs
gibt. Der fir gewöhnlich angefchlagene Ton ift aber
um fo befremdlicher, al8 die Auffafjung und die Urtheile
Carlyle's meiftens durchaus zutreffend find und ſich auch
don jeder nationalen Beſchränktheit frei halten, felbft da,
wo er, Ereignife der neueften Zeit berührend, auf Fragen
zu fprechen kommt, für welche auch heute noch fehr vielen
Engländern die richtige Einfiht abgeht. Charakteriftifch
in dieſer Hinſicht ift die Würdigung, welche er bem
Siebenjährigen Kriege angebeihen läßt und welche zugleich
auf die jüngfte Vergangenheit und die demnächſt zu Id«
ſenden politifchen Probleme ein Mares Licht wirft. Als
erſtes bedeutendes Ergebniß des gewaltigen Kampfes hebt
er nümlich folgendes hervor:
Es if unmöglich, diefem Manne Schleftien zu entreißen,
unmöglich, ihn in die orthodoren alten Grenzen einzuzwängen;
er und fein Land find bandgreiflich Liber diefelben hinausge⸗
wachſen. Defterreich entfagt der Aufgabe: „Wir haben Schlefien
verloren!” Ia, und was ihr faum wißt, und was — wie
ih merke — Friedrich felbft noch weniger weiß —, Deutfchland
hat Preußen gefunden. Preußen, ſcheint es, kann nicht erobert
werden, obgleich die ganze Welt es verfucht; Prenßen Bat feine
Senertaufe zur Befriedigung der Götter und Menfchen beflan-
den und ift Hinfort eine Nation. Im und gehörig zu bem ar-
men aus den Fugen geriffenen Deutſchland, gibt es hinfort
eine der Großmächte der Welt, eine wirkliche Ration. Und
eine Nation, die ſich nicht auf erlofchene Traditionen, Perrüken⸗
thum, Papſtthum, unbefledte Empfängniffe gründet, nein, fon-
dern auf lebendige Thatfachen — Thatſachen der Arithmetik,
Geometrie, Sravitation, Martin Luther's Reformation und das;
jenige, woran fie wirllid glauben kann — zum wuendlichen
— — —
Preußiſche Geſchichte. 363
Bortheil beſagter Nation und des armen Deutſchland. Eine
Nation zu ſein, das zu glauben, wovon ihr überzeugt ſeid,
ſtatt euch zu ſtellen, als glaubtet ihr, wozu bie Teufel um euch
ber euch beflochen und eingefchlihtert Haben — was für ein
Vortheil für alle Betheiligten! Wenn Preußen feinem Sterne
folgt — wie es wirklich zu thun verſucht, troß gelegentlichen
Strandelns! Um Dentihlands willen hofft man immer, daß
Preußen e8 thun werde, und daß es feine verfchiedenen Kinder-
krankheiten überfiehen möge, ohne Tod: obgleich es traurige
Sturze und Krifen gehabt hat — und vielleicht gerade jest ſich
in einem feiner ſchlimmſten Slußfteber befindet, dem Flußfieber
ber parlamentarifchen VBeredfamfeit oder der Wahlurne ine
ber gefährlichften Krankheiten des nationalen Wachsſthums; ge-
genwärtig äußerſt vorherrichend in der Welt — in der That
anvermeidlid), aus Gründen, welche einleuchtend genug find.
„Sie itur ad astra’; alle Nationen find liberzeugt, daß ber
Weg zum Himmel im Abftimmen Tiegt, tm bevedten Bewegen
ber Zunge in den Parlamentshänfern. Krankheiten, wirkliche
oder eingebildete, erwarten Rationen wie Individuen, und
laſſen ſich nicht zurückweiſen, fondern müffen befianden und
durchgemacht werben, fo gut e8 eben gebt. Maſern and Bräune,
ihr könnt fie auch bei Nationen nicht verhindern. Und felbft
Moden, bie Mode der Erinolinen 3. B. (mie unendlich viel
mehr die der Wahlurne und bes vierten Standes), könnt ihr
ſelbſt die verhindern? Ihr müßt Geduld dabei haben und Hoffen !
Noch eine andere Stelle wollen wir hier hervorheben,
bie uns befonders bemerkenswerth erfcheint, wegen bes
entfchiebenen Gegenfages, in welchem wir da Carlyle mit
ber von der überwiegenden Mehrheit feiner Landsleute
vertretenen Anſicht über die Polen und deren Schidjal
finden. Die Beurtheilung bes polnifchen Volks und Staats,
die er bei Gelegenheit der erften polnifchen Theilung gibt,
wird zu einer fcharfen und rückhaltloſen Berurtheilung.
Carlyle fpricht ſich deutlich genug aus:
Die Bolen geben diefem allen eine ſchöne Färbung und
find fehr zufrieden mit ſich felbft. Die Ruffen betrachten fte
als ein weſentlich untergeordnetes, barbarifches Volk, und bie
auf diefen Tag kann man zornige poladifche Herren in dieſel⸗
ben Phrafen ausbrechen Hören: „Noch Barbaren, mein Herr;
keine Cultur, Teine Literatur‘ — untergeordnet, weil fie feine
Berfe mahen, die deu unfern gleihlommen! Wie es mit den
Berjen fein mag, will ich nicht entfcheiden: aber die Ruſſen
ſtehen unvergleichlich viel höher darin, daß fle in einem unter
ben Rationen feltenen Maße die Gabe befigen zu gehorchen und
ſich befehlen zu laſſen. Das poladifhe Nittertfum rlimpft bei
der Erwähnung einer ſolchen Gabe die Naſe. Das poladifche
Kittertfum empfing arge Streihe wegen des Mangels an die-
fer Gabe. Und wurde endlich zu Tode gepeitſcht und ans ber
Belt Hinausgeworjen, weil es gegen jenen Mangel blind blieb
und fich die Gabe nie erwarb.
Wie abweichend von andern Autoren, bie fi in hohlen
Declamationen ergehen, Carlyle über die Theilung des in
„pHosphorefcirende Fäulniß“ geratbeuen Polen urtheilt,
ergibt fi) danach von felbft. Als beſonders charalteriſtiſch
fei ferner noch die allgemeine Auffaffung hervorgehoben,
welche Carlyle von ben fpätern Regierungsjahren bed Großen
Königs und dem politifchen Zuftande der ber Fran⸗
söfifchen Revolution — „jenem allgemeinen Aufbrennen
des Lugs und Trugs“ — entgegeneilenden Welt vor-
trägt, wenn aud da die Abfonderlichkeit der Form den
tiefen Gedankeninhalt zu verhlillen und unkenntlich zu
machen geeignet if.
Was den fachlichen Gehalt des Carlyle'ſchen Werks
betrifft, fo zeigen auch diefe beiden Bände den emfigen
und erfolgreihen Sammlerfleig, mit dem ber Berfafler in
einer für einen Ausländer vollends feltenen Bollftändigfeit
das gefammte, fehr umfangreiche Material ſich zugänglic)
zu machen gewußt Hat, natürlich nur das gebrudt vor-
hanbene; denn bisher unbenutzte Quellen haben ihm nicht
zur Derfügung geftanden. Neue Auffchlüffe über die hi-
ftorifchen Thatſachen werden daher hier auch vergebens
gefucht werden; doch ſchweift Carlyle gelegentlich, nament⸗
ch da, wo die Verhältniſſe Englands ins Spiel kommen,
etwas bon der Sache ab und geht auf eigentlich ferner
liegende Fragen näher ein: fo wird gleich im Beginn bes
fünften Bandes bie Gefchichte der Belagerung von Prag
unterbrochen durch eine ausführlichere Erzählung von ben
Anfängen Pitt's. Aehnliche Epifoden find auch fonft noch
vielfach eingefhoben. Befondere Sorgfalt ift durchgehende
der Kriegsgeſchichte gewidmet: die Schilderungen ber
großen Schlachten des Siebenjührigen Kriegs find Teben-
dig und anfchaulich, namentlich dadurch, daß uns durd)-
gehends zunächft ein genaues Bild des Schlachtfeldes ge-
geben wird, welches Carlyle in vielen Fällen aus eigener
Anfchauung ergänzen und ausführen kann. Man ver-
gleiche einmal dieſe Carlyle'ſchen Schlachtenbilder, z. 2.
das von dem Kampfe bei Leuthen, mit den entſprechenden
Partien des Coſel'ſchen Werls, und man wird ſehen,
wie weit ber Ausländer und Laie den preußischen Militär
binter ſich läßt. Die forgfältig gearbeiteten Karten»
ffizzen, welche bie wichtigern heile bes Kriegsſchauplatzes
und die Hauptſchlachtfelder barftellen, tragen weſentlich
zum Verſtändniß biefer oft complicirten Sragen bei. So
ift denn ſchließlich der Eindrud, mit dem wir son dem
gleich bei feinem erften Erfcheinen zu fo viel Controverfen
Anlaß gebenden Werke Thomas Carlhle's ſcheiden, bei
aller abfonderlichen Eigenartigkeit befjelben ein befriedi-
gendes und bedeutendes; und unfer nationales Gefühl
wird angenehm berührt, wenn wir fehen, wie auch ein
fo eigenfinniger und fleptifcher, babei fo ironiſcher Geiſt
ſich vor der Heldengröße Friedrich's beugt umd derſelben,
wenn aud) zuweilen mit unverlennbarem Wiberftxeben,
feine eben dadurch doppelt werthvolle Huldigung darbringt.
Bergefien wir über den Autor aber nicht des Dante,
den wir dem Weberfeger dafür fchulden, daß er dieſes
merkwürdige Werk der Geſammtheit des deutfchen Publi-
kums zugänglid) gemacht hat. Yulius Neuberg, den wir
die Uebertragung der erſten vier Bünde verdanken, ift vor
Bollendung des ganzen Werks durch den Tod abgerufen;
die Sachkenntniß, Ausdauer und Liebe, womit er ſich der
wahrlich fchwierigen Aufgabe gewidmet, ift alljeitig aner-
fannt worben und fihert ihm bei allen freunden bes
Carlyle'ſchen Werks auf bie Dauer ein chrenvolles An-
denken. Bon dem flinften Bande rührt nur die Ueber-
jegung des achtzehnten Buchs noch von Neuberg her;
vollendet ift die Arbeit in gleichem Sinne, mit glei
warmer Hingebung und daher auch mit gleich günftigem
Erfolge von dem als Kenner der englifchen Literatur und
Sprache längſt rühmlichſt befannten Friedrich Althaus.
Mit Recht hebt derfelbe gewiß bie freundliche Unterſtützung
hervor, deren fo wie einft Neuberg auch er ſich von feiten
Carlyle's felbft zu erfreuen gehabt Bat: fle mag weſent⸗
lich mit dazu beigetragen haben, daß die Ueberfegung uns
den wunderlichen, harten, zerhadten, dabei doch fo ala aus -
Einem Geift wirkenden Stil Carlyle's in fo treuer und
dabei dem Genius ber beutfchen Sprache doch nirgends
widerftrebender Weife nachgebildet hat.
46 *
— — — — —— — —
364
Bon ber „Geſchichte des preußifchen Staats” von
Felix Eberty (Nr. 3), deren dritter-Band, die Jahre
1740—56 behandelnd, uns vorliegt, ift früher ſchon bei
dem Erfcheinen der beiden erftn Bände ausführlich in
d. DI. die Rede gewefen. So wenig wir und mit der
für ein populäres Wert durchaus unpafjenden umfang»
reihen Anlage einverfianden erflären Tonnten, und fo
fehr die Ungleichmäßigkeit der Arbeit, in der Auswahl
und Anordnung des Materiald cbenfo wie in der Form
der Darftellung, als verfehlt und ftellenweife geradezu
ungenießbar Bingeftellt werden mußte, fo darf doc, nicht
verfannt werden, daß diefer dritte Band in all diefen
Hinfihten weit über feinen beiden Vorgängern fteht.
Augenfcheinlich bewegt ſich der Verfaſſer bier auf einem
Gebiete, auf dem er fich beimifcher fühlt als auf dem
der ältern brandenburgifch- preußifchen Geſchichte. “Die
Literatur ift im wefentlichen gebührend ausgebeutet und
namentlich find auch die neueſten Forſchungen nicht über-
fehen. In der Darftelung find und nicht wieder fo
grobe Verſtöße begegnet, wie fie in den beiden erften
Bänden in bebenflicher Menge enthalten waren. Den⸗
noch ift die Erzählung nod immer allzu breit, ergeht fich
zu behaglih in Nebendingen und läßt daburch das wirk⸗
lich Bedeutende und Entfcheidende ungebührlich oft in
den Hintergrund treten. *)
Nach Aulage und Charakter wefentlich verſchieden von
den bisher befprochenen Werken ift das oben an letter Stelle
genannte: „Geſchichte des Bairifchen Erbfolgekriegs“, von
E. Reimann (Nr. 4). Der durch feine Studien über
das 16. Jahrhundert rühmlich bekannte Verfaſſer deflelben
behandelt darin monographifch einen an fich eigentlich wenig
anziehenden Stoff, der jedoch wegen feiner hohen politi-
fchen Bedeutung und feiner entfcheidenden Wichtigkeit für
die Entwidelung der öfterreichifch-preußifchen Beziehungen
ein größeres Intereſſe zu erweden im Stande fein wird.
Die Gefchichte des fogenannten Bairifchen Erbfolgefriegs
ift, jo Iehrreich fie für den Militär von Fach fein mag,
im ganzen do arm an jedem irgend bedentendern Er-
eignig und fleht in diefer Hinficht in einem eigenthüm⸗
lihen Gontraft zu der an gewaltigen Vorgängen faft
überreichen Geſchichte der frühern Kriege des Großen Kö—
nigs. Als Krieg unbedeutend und ſchon von den Zeit
genoffen dur) die Spottnamen „der Kartoffelfrieg‘ oder
„der Zwetfchenrummel‘ dem Gelächter preiögegeben, hat
er jedoch, vom allgemein politifchen Standpunkte aufgefaßt,
eine eminente Bedeutung, Mit diefem Kriege eigentlich
beginnt : da8 bewußte Antipodenthum zwiſchen Preußen
und Oeſterreich; es ift dies der erfte folgenreihe Anlauf,
den die preußifche Politit nahm, um Oeſterreich und die
egoiftifche habsburgiſche Politik nicht blos in der Ber-
wirklihung ihrer VBergrößerungsgelüfte zu verhindern, ſon⸗
bern auch aus bem auf das vielgefpaltene Deutſchland
geüibten Einfluß zu verdrängen. Eben biefer Geſichts⸗
punkt ift c8 auch, von dem eine neue Behandlung die⸗
fe8 ange vernacdhläffigten Stoffs gerade in unfern Ta-
gen als ein bejonders dankenswerthes Unternehmen er⸗
Scheint, und zwar um fo verdienftlicher, als bie deutjche
Geſchichtſchreibung aus Leicht begreiflichen Gründen ge-
rade diefe Borgänge jahrzehntelang ganz unbeachtet hat
=) Inzwiſchen ift aud ber vierte Band erfggienen. D. Red.
Preußiſche Geſchichte.
beiſeiteliegen laſſen. Die einzige Geſchichte des Bairi⸗
ſchen Erbfolgekriegs, die wir bisher beſaßen, war die von
dem bekannten preußiſchen Staatsmann Dohm im Jahre
1814 veröffentlichte, Welche Fülle neuer und höchſt
werthuoller Materialien aber ift feitdem und namentlid)
in den legten Jahren veröffentlicht worden! Die Dent-
wiürbigfeiten bes Grafen von Görg, der in den während
des Erbfolgefriegs geführten Unterhandlungen cine höchſt
bedeutende Rolle gefpielt, und ähnliche Memoirenwerke,
die von 8. W. von Schöning veröffentlichte militärifche
Correfpondenz Friedrich's I. mit feinem Bruder Heinrich),
vor allem aber die neuerdings durch den um die öſter⸗
reihifche Geſchichte ſo Hochverdienten Ritter von Arneth
herausgegebene Correfpondenz Maria Thereſia's mit ihrem
Sohne Kaifer Zofeph eröffnen und in das Innere diejer
merkwürdigen Vorgänge einen Blick, tiefer und klarer,
als felbft die beftunterrichteten der mitbetheiligten Zeit
genoffen ihn jemals haben thun fünnen. Wir haben ben
nicht hoch genug anzufchlagenden Vortheil, in beide Lager
zu ſehen und die Abfichten und Beweggründe der han«
delnden Hauptperfonen genau zu erlennen. Auf Grund
diefer koſtbaren Duellen und mit gewifienhaftefter Be-
nugung aller einfchlägigen Hülfsmittel — von archivali⸗
chen abgefehen, aus denen gewiß für mandje auch jebt
noch nicht ganz are Partien ein helleres Licht zu gewin⸗
nen gewefen wäre — entwirft uns Reimann ein leben«
diged und forgfältig bis in das Heinfte Detail ausgeführ⸗
tes Bild des Bairiſchen Erbfolgekriegs.
Nach einer Haren Darlegung der öfterreichifch-bairi«
ſchen Beziehungen und namentlich der ftreitigen öfterreicht«
chen Anſprüche werden uns die ſchlau angelegten und
anfangs aud einen fichern Erfolg verfprechenden Jutri⸗
guen Joſeph's II. und Kaunitz' bargeftellt, dann die ſeit der
Intervention Preußens fich zu einer wirklich europäifchen
Krifis fleigernden Berwidelungen bis zum Ausbruch der
Veindfeligfeiten verfolgt. Die Gefchichte der an fi un⸗
bedeutenden wmilitärifchen Operationen wird mit der aller
größten Genauigkeit gegeben. Für einen weitern Leſer⸗
kreis wirb bie Rolle von befonderm Intereſſe fein, melde
Maria Therefia in diefen Fragen fpielt: fo fehr man ba
auf der einen Seite betroffen wird durch die zumeilen
geradezu fanatiſche Leidenjchaftlichkeit des die Herrfcherin
noch immer gegen Preußen und namentlich gegen Fried⸗
rich II. felbft erfüllenden Haſſes, fo kann man fi) doch
auf der andern Seite des Mitleids nicht erwwehren, wenn
man fieht, wie Maria Thereſia mit fteigender Angft bie,
unbefonnenen Schritte ihres Sohnes verfolgt, und wie fie
angefihts der Gefahr, Defterreih am Ende gar einer
europäifchen Coalition gegenüber zu fehen, faft von Ver⸗
zweiflung ergriffen wird.
Beſonders ergreifend ift die Art des Verkehrs ber
Kaiferin mit ihrem Sohne, den fie mit Ausbrüchen müt-
terlicher Zärtlichkeit beftürmt, für den fie fich abängftigt
und um beflen Leben und Gefundheit fie jeden Augen-
blid von banger Sorge ergriffen iſt, um von dem launen⸗
baften und eigenfinnigen, heftig aufbraufenden und empfind-
lichen Joſeph dfters in wahrhaft verlegender Weife ab»
gewiefen und zurechtgewiefen zu werden. Auf ber andern
Seite find e8 die Figuren bes greifen Friedrich und fei-
nes Bruders Heinrich, die unfere Aufmerkſamkeit zumeift
Johann Georg Hamann.
anf fich ziehen und unſer Intereſſe befonders lebhaft
erregen. Was die Handlungsweife Friedrich's II. in dem
Bairifchen Erbfolgekriege betrifft, fo legt Reimann mit
vollem Rechte befondern Nachdruck darauf, zu zeigen, daß
der König weit davon entfernt gewefen ift, fich wie die
Sache wol hier und da irrig aufgefaßt ift, zum Bor-
fümpfer der verrotteten und ja durch ihm felbft erft zwei
Jahrzehnte früher vollends niedergeriffenen Reichsverfaflung
aufzuwerfen, fondern daß er ausſchließlich aus egoiftifchen
Motiven handelte, daß feine Politik Keine deutfche oder
gar deutjch - fürftliche, fondern einzig und allein eine
prenfifche war, d. h. dictirt von der Erfenntniß, daß
jede Vergrößerung Defterreich8 zugleich eine Schwächung
Preußens fei. Beſonders eingehend werben auch die mili-
tärifchen Beziehungen Friedrich's und des Prinzen Heinrich
erörtert; das Ergebniß jedoch, zu welchem unfer Geſchicht⸗
fchreiber Hier kommt, fcheint uns nicht" das richtige. Hei
mann ftellt nämlich den Prinzen Heinrich” dar als den
365
Urheber der gänzlichen Erfolglofigleit des Feldzugs; er
fchließt fi darin dem Urtheil an, in dem Zriebrih I.
jelbft fich gefiel, womit derfelbe aber feinem um ihn fo
bochverdienten Bruder ein fchweres Unrecht that. Friedrich
felbft war nicht mehr der Alte, er war weder Förperlich
noch geiftig den Aufgaben, die der Krieg ihm ftellte, ge-
wachſen, wie er felbft das gefühlt. und auch mehrfach
offen ausgefprochen hat. Des Königs Unentſchiedenheit
und Langſamkeit lähmte auch die Thätigfeit des Prinzen
Heinrich, der außerdem noch auf dem ihm zugewiefenen
Kriegsichauplage mit den ärgerlichften Hinderniffen und
Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen hatte. In diefem
einen Punkte können wir der Auffaffung Reimann's nicht
beipflichten,; in allem übrigen hat er mit feiner fcharf
eindringenden Kritik aus einer geiftvollen Combination
die Erkenntniß eins der lehrreichſten Stüde deutfcher Ge-
ſchichte weſentlich aufgeflärt und unfere Literatur um ein
werthvolles Werk bereichert, Hans Pruß.
Johann Georg Hamann.
Johann Georg Hamann’s Briefmechfel mit Friedrich Heinrich
Sacobi. Mit einem einleitenden Borworte und Anmerkungen
herausgegeben von C. 9. Gildemeiſter. Gotha, F. A
Perthes. 1868. Gr. 8. 3 Thlr. 10 Nor.
„Hamann ift ein wahres AU an Gereimtheit und Un⸗
gexeimtheit, Licht und Finfternig, Spiritwalismus und
Materialismus“, fo ſchrieb Jacobi von dem Manne, zu
dem er mit verehrender Freundſchaft emporſah; was wun-
der, daß die Literaturhiftorifer je nach ihrer Sinnesart
den Stab über ihn brechen oder den Magus aus Nor»
den zu den Sternen erheben? Gottes Spur und Siegel
in allen Dingen fehen, alle Dinge zugleich mit dem Ge-
fühl und dem Berftand auffaflen, Erfahrung und Offen-
barung vereinigen, in der Poefie die höchfte Weisheit, die
Mutterſprache der Völker erkennen, das war es, was
Hamann im Sinne Hatte; oder wie Goethe in feiner
pofitiven großartigen Weife fagt: „Alles, was der Menſch
zu leiften unternimmt, es werde nun duch That oder
Wort oder fonft bervorgebraht, muß aus jämmtlichen
vereinigten Kräften entfpringen, alles Bereinzelte iſt Stück⸗
werk.” Uber Hamann fam aus dem Durdjeinandergären
diefer Elemente niemald zur ruhigen Klarheit; ftetS den
Eindrüden der Außenwelt verhaftet, ſprach und fchrieb
er gelegentlih, ohne fein Denken in geordnetem Zu-
ſammenhang darzulegen; und fo Hat er funkenſprühend,
bfigartig erleuchtend in räthſelhaften fibyllinifchen Blättern
auf ©eifter, welche fie zu deuten wußten, welche die An-
regungen ausbildeten, einen befruchtenden Einfluß gewon-
nen. Franz Baader war ihm vielfach verwandt, und
überragt ihn; fermenta cognitionis bringen beide.
Hamanu hat neuerdings an E. H. Gildemeifter einen
Biographen gefunden, der, zugleich ein Ausleger und Ord⸗
ner feiner Schriften und Ideen, in einem vierbündigen
Berl die Summe feines Lebens und Denkens gezogen hat.
Zur Kenntniß des Mannes hatte der Briefwechfel mit
Jacobi viel beigetragen; Jacobi hatte mit feinem Takt
daraus das Intereſſante, Werthoolle ausgezogen. Yet
legt uns Gildemeifter auch bier das Ganze vor, in einem
Bande von 700 Seiten, und ich muß befennen, die Aus-
bente des Neuen ift gering. Wäre Hamann ein Geift
erften Range, wie Goethe ober Shaffpeare, Leibniz oder
Kant, dann möchten wir fagen, es fer alles wichtig, was
er geichrieben; fo aber heißt e8 ber Gegenwart viel zu⸗
muthen, ſich mit dem Heinen Detail zu befchäftigen, das
biee nachträglich veröffentlicht wird. Gildemeifter - fagt
zwar, e8 jei mit dem Ausziehen und Abkürzen von Brie-
fen eine eigene Sache; dem einen fcheine wichtig, was
der andere entbehrlich finde; und fo wollen wir die Ge-
meinde ber Hamannianer nicht flören, wenn fie fich immer
und immer von neuem beftätigen laſſen, was Hamann
ſelbſt fagt:
Meine Briefe find ein Tebendiges Gemälde meiner wüflen
Lebens- und Denkungsart, daß ich zu feiner Ruhe kommen
kanu, immer von innen nad) außen, von vorn und hinten hin⸗
und bergemworfen werde. Mit dem beften Willen ordentlich
zu fein, bin ich eins der confufeften Gefchöpfe.
Im Begriff, feine Brofchüre von Niemand dem Kund-
baren zu fchreiben, äußert er:
Ein Schroefelregen Über Sodom und Gomorrha! Ich Liege
beinahe der Wuth unter, die in allen meinen Adern podt und
tobt, und erichrede vor meiner eigenen Kraft, bie einem higigen
Bieber ähnlich iſt und mir ſelbſt nicht natürlich vorfommt. Der
eſſel meines brauenden Gehirns ſchäumt fo entfelich, daß ich
beide Hände nöthig habe, den Unrath abzufhäumen und das
Ueberlanfen zu verhindern.
Dann fagt er:
Das Manufcript ift fein Kinderfpiel, fonbern der ganze
Schat meines Kopfes, meines Herzens und fämmtlider Ein-
geweide, die pudenda nicht ansgeichloffen.
Es ift etwas Großes, ſich immer ganz zu geben, feine
Individualität voll auszuprägen, wie dies z. B. Schiller
thut; aber diefer flellte und erfüllte auch früh die For⸗
derung, daß die Perfünlichkeit fi zur Humanität, zum
allgemein Menſchlichen läutere, zur Freiheit, Klarheit,
Schönheit ih bilde. Hamann dagegen befennt von ſich
in feiner preiswerthen Offenheit:
366
Aus dem ekeln Detail meines Lebenslaufs erhellt ſattſam
meine Unfäbigleit im geriugftien Zuſammenhang. Inwendig
find Magen, Herz und Kopf in ewigem Zwieipalt; auswendig
geht's nicht befier... .. Ich bin volllommen überzeugt — äußert
er ein andermal —, daß blos bie infarctus meiner Eingeweide an
meiner fonberbaren Unbermögenbeit zu denen ſchuld find, unb
daß alles oben wie in ber Mitte Schleim, Moraft und Eru-
bitäten ſtockend und verflopft ift..... Mein verfluchter Wurfiftil,
der von Berftopfung herkommt und von Lavater's Durchfall ein
Gegenſatz ift, macht mir Grauen und Ekel.
Wenn er fihrieb, fo machte er feine hypochoudriſch⸗
bumoriftifchen Aufpielungen auf alles, was der Tag mit
fi brachte, ob e8 das „Königsberger Wochenblatt‘ oder
Kant's „Kritik der reinen Bernunft”, Friedrich der Große
oder ein herumreifender Duadfalber war; da mußte er
denn befennen, daß ihm die eigenen Schriften felbft un⸗
verftändlich wurden. Gelegentlich einer Sendung feiner
Auffüpe an die Fürſtin Gallitzin bemerkt er:
Sid in alle die Situationen zu verfegen, welche bieje
Irrwiſche hervorgebracht, ift eine wahre Seelenfolter, und ich
babe allen Appetit verloren, an eine fo berculiiche Arbeit zu
denfen, als erfordert würde, einen folchen Miſtſtall auszukehren
und anfzuräumen, und mich anf alle bie Heinen Anläſſe zu
befinnen, welche Einfall und Ausdrud mit und ohne Fug
erzeugt. '
Edel und wahr ſpricht er über fi felbft in einem
Brief vom 4. November 1786, den aber, wie alles Wich⸗
tige derart, Jacobi Längft mitgetheilt bat:
Das Individuelle meiner Autorfchaft und ihres Ausgangs
bleibt immer mein Eigenthum, das mir nicht entwendet wer⸗
beu Tann. Kommen andere auf die Spur meines Ganges, der
jedem nahe und offen Tiegt, jo gewinmt meine Abſicht durch
audere mehr, als vieleicht durch meine eigene Ausflibrung der-
felben. Diele Ausführung ift noch immer zu unzeitig, für mid
ſowol als für die öffentlichen Leer. Beide haben nod nicht
die Reife. Wenn ich auch als hinkender Bote endige, was ich
als Vorläufer angefangen, fo wird mein fliegender Brief troß
aller widerfprehenden Mobificationen in ber Form feinem In⸗
halt nad) das bleiben, was er werben follte: Entkleivung mei⸗
Feuilleton.
ner Heinen Schriftſtellerei und Verklärung ihres Zwecks, das
verkannte Chriſtenihum und Lutherthum zu ernenern und bie
denſelben enigegengeſetzten Misverſtändnifſe aus dem Wege zu
räumen, und dem Drachen von Babel einige Küchlein von
Pech, Fett und Haar, untereinander gelocht, in den Rachen zu
werfen.
Gewinnen wir etwas, wenn zu den harten Worten
über Moſes Mendelsfohn, die Hamann während Jacobi's
Kampf über Leſſing's Spiuozismus, in den er ſich ein⸗
miſchte, wiederholt ſchrieb, und die Jacobi veröffentlicht
bat, auch noch eine von ihm unterdrüdte Stelle fommt ?
„Sin Jude, ein Sophift — und point d’honneur und
Delicatefje!” Mochte Hamann im Aerger ſolch eine Ros
heit entjchlüpfen; fie ohne feinen Willen dem Publikum
mitzutbeilen, beißt ihm einen fchlechten Dienſt ermeifen.
Halten wir uns lieber an einige Ausſprüche Hamann's
von allgemeiner Bedeutung :
Ein guter Schrififteller hat Gegner und Feinde aud) nöthig,
muß gegen folche dankbarer fein als gegen die blinden Bewun⸗
berer. Die firenge Gerechtigkeit felbft ıft nicht Tieblos. Selbfl-
erfenntniß ift und bleibt das Geheimniß echter Autorfchaft. Sie
ift der tiefe Brunnen der Wahrheit, die im Herzen, im G@eifte
liegt, von da in die Höhe fleigt und fi wie ein dankbarer
Bad durh Mund und Feder ergießt, mohlthätig ohne Ges
räuſch und Ueberſchwemmung.
Auch Irrthümer und Ketzereien, auf die man bona fide kommt,
find bisweilen lehrreicher, als der alte Sauerteig der Orthodorie,
den man mala fide mit dem Munde befemnt ohne Antheil des
Sewiffene. Die Wahrheit muß aus der Erde herausgegraben
werden und nicht aus der Luft geſchöpft, ans Kunfwörtere,
fonbern aus icdifchen und unterirdifchen Gegenfländen ans Licht
ebracht werden durch Gleichniſſe uud Parabeln der Höchften
Speer. Die Schulvernunft theilt Ih nur in Idealismum und
Realismum; die rechte und echte weiß nichts von biefem er.
dichtetem Linterjchied, der nicht in der Materie der Sache ge-
gründet ift und der Einheit wiberfpricht, die allen unfern de
griffen zu Grunde Tiegt oder wenigſtens liegen follte.
Hlorik Carriere.
Fenilleton.
Notizen.
Das dreiundzwanzigſte und vierunbzwanzigfle Bändchen ber
von Friedrich Bodenſtedt herausgegebenen neberjehung von
„Billiam Shaffpeare’8 Dramatifhen Werken‘ (Leipzig,
Brodhaus, 1870) enthält zwei Luftfpiele: „Was ihr wollt oder
Heiliger Dreilönigsabend”, überfeht von Otto Gildemeiſter
und „Die beiden Beronefer", eins der ſchwächern Luſtſpiele
des britifchen Dichters, Überfet von Georg Herwegh.
Es ift jedenfalls intereffant, einen politifchen Lyriker fich mit
einem romantischen Luſtſpiel Shakſpeare's beichäftigen zu fehen.
Nach den neneften Proben der Herwegh'ſchen Lyrik bat fich der
Dichter indeß ganz auf bie Heinifirende Pointe verlegt und das
politifche Pathos mehr an den Nagel gehängt ober mindeſtens
die Freiheitsſonne nur zur Erzeugung von Negativbildern ver-
wendet. Man darf aljo von ihm erwarten, daß er die Poin⸗
ten und Euphnismen des Shalſpeare'ſchen Lufipieldialogs in
angemeffener Weife wiederzugeben vermag. Ueber die Theater:
zufläude der Gegenwart und Über einige Eigenthümlichkeiten
der Shatfpeare’ihden Luſtſpieldichtung fpricht er fih am Schluß
der Einleitung mit folgenden Worten ans:
„Konnten «Die beiden Beronefer» in unfern Tagen noch
mit Erfolg aufgeführt werden? Ic glaube ſchwerlich. Die
Berwidelung iſt unjerm Thenterpubliltum nicht verwidelt ge
ung; für die Porfie in einem Drama ift bei demfelben wenig
Sinn vorhanden; aud die Zahl der Schaufpieler, die einen
wohllautenden Vers zur Seltung zu bringen verſtehen, ift nicht
ſehr groß. Haltpunkte an fogenannten (dönen Stellen erlaubt
unfere Eifenbahnperiode auch auf dem Theater nicht mehr; nnd
da, wie jemand richtig bemerkt, gerade in den Shakſpeare'ſchen
Luftipielen der Weg ebenfo wichtig ift wie das Ziel, fo werden
wol die meiſten derjelben nach und nad) ad acta gelegt werben.
Mit der Selbfiherrlichkeit des dichteriſchen Wortes iſt es nad)
den neneften Kunſtdogmen ohnehin vorbei. Es fcheint, die
Mufit und befonders die Dper will ſich der ganzen menſchlichen
Empfindungsiphäre allein bemädtigen. Von der fogenannten
roßen Welt ihres äußern Bompes wegen vorzugsweiſe gehät-
Net, macht fie ſich mit einer Unverihämtbeit breit, die ans
Groteske grenzt, und beanfprudit einen größern Bla im mo⸗
bernen Leben, ale alle Künſte zufammen zu beanfpruchen bes
rechtigt find, da es noch anbere als kimſtleriſche Fragen gibt,
von denen umfere Zeit beivegt wirb.‘‘
Ueber das Weſen des romantischen Luftipiels Altenglands
fagt Gildemeiſter treffend in der Einleitung zu „Was ihr wollt‘:
„Die altenglifhe Bühne hat eine ganz eigenartige Gattung
der Komödie entwidelt, welde man in Grmangelung eines
beffiern Namens die «romantifche» nennen könnte. Im Gegen-
fat zu ber Moliere'ſchen und der moberuen Komödie jucht
ihre Stoffe nicht im der bürgerlichen Geſellſchaft ihres Zeit»
alters und nicht im eigenen Baterlande, fondern im einer fin-
girten Welt, in jenem phantaftifchen fernen Lande, welches die
S enilleton. 367
olte Novellendichtung Syrien, Böhmen oder Cypern oder den
Ardennerwald oder Navarra nennt. Im folder Umgebung, frei
von den hinderlichen Wahrſcheinlichkeitsregeln der Alltäglichkeit,
fäßt fie die menfchlichen Affecte in Iuftigem Conflicte miteinan-
der und mit den Nedereien des Zufalls fi tummeln, und fie
verleiht ihnen, in Stil und Vortrag, den vollen dichteriſchen
Shmud, den andere Bühnen vorzugsweife der Tragödie vor-
behalten. Die Fabel, welche fie darftellt, ift faft immer roma⸗
niſchen Urjprungs oder wenigftens durch romaniſche Erzähler
nad) England gebracht, und ein Hauch füdenropäifcher Eleganz
ſcheint den Stoff dorthin begleitet und die englifchen Poeten bei
der Behandlung diefer welſchen Geſchichten infpirirt zu haben.
Eine gewiſſe fhimmernde Localfarbe, welche an das Mittellän-
diſche Meer erinnert, fheint haften zu bleiben, fo wenig Fleiß
auch die Engländer auf Coſtüm und landſchaftliche Correctheit
verwenden; dagegen tritt alles national Eigenthümliche im den
Hintergrund und, wie in ben italienifchen Novellen jelbft, tra»
gen die Perfonen nur das Gepräge einer allgemein enropäiichen
höſtſchen Cultur, in einer ganz beſtimmten, conventionellen
Stififirung. Ein and dem Stoffe nad englifhes Luftipiel
eriftirt allerdings anf den londoner Theatern des 16. Jahrhun-
derts — was find die «Luftigen Weiber von Windfor» andere?—,
aber das romantifche Luftipiel hat ungleich reichere Blüten ger
trieben. Auch entbehrt es Teineswegs der national» engliſchen
Ingredienzien. Der Zug der engliihen Poefie zu dramatiſcher
Bertiefung, zur Darftellung menſchlicher Charaktere, und das
englische Behagen an den komiſchen Seiten des gemeinen Lebens
folgen dem Dichter im jene phantaſtiſche Welt conventioneller
Prinzen, Cavaliere, Edeldamen und Pagen, und drängen ihn,
die fhablonenhaften Geftalten der Novelle und des italieniſchen
Intriguenſtücks mit dem Fleiſch und Blut natürlicher Menſch⸗
üchkeit anszuſtatten nnd ſie mit derbern, der Wirklichkeit näher⸗
ſtehenden Fignren, den Trägern voltsthlimlicher Komik, zu um⸗
geben. Dies letztere volksthümlichere Element läßt ſich aller⸗
dings in den Sklaven⸗ uud ſpäter in den Bedientenrollen der
antifen und der romanifchen Komödie entdeden, es gewinnt aber
auf der altenglifchen Bühne eine jo ungleich höhere Bedentung,
daß hier von Nachahmung fremder Mufter kaum mehr geiprochen
werden Tann.‘
Daß die Ueberſetzungen die ganze Sprachgewandtheit be-
funden, durch welche ſich Gildemeiſter al8 Ueberſetzer und Her⸗
wegh als Dichter ausgezeichnet haben, braucht wol nicht erſt
beſonders hervorgehoben zu werden.
Bon der neuen Originalausgabe ber Werle Shalſpeare'e
von Nik olaus Del ins liegt die zwanzigfte bis vierundzwanzigſte
Lieferung vor, welche bie legten Königsdramen; „König Hein⸗
rih VI.*, drei Theile, „Richard III.“ und „Heiurich VILL‘
enthalten. SIntereffant find die Unterfuchungen von Delius über bie
beftrittene Autorichaft Shalſpeare's, was das Drama „König
Heinrich VI.“ betrifft. Delius erklärt ſich entſchieden für dieſelbe
und will aud) den erſten Theil des „König Heinrich VL" als
eine Jugendarbeit dem großen Dichter zugelprochen willen. In
den Einleitungen theitt Delins die beiden alten Dramen mit,
welche denfelben Inhalt haben, wie der zweite und dritte Theil
von „König Heinrich VI”, oder vielmehr die erflen Bearbei⸗
tungen, die Shalfpeate feinem Thema zutheil werben ließ. Er
kämpft auch gegen die von Marlowe und ben andern Kriti⸗
fern anfgeftellten innern nnd äußern Gründe, welche ber Quart⸗
ausgabe den Shakſpeare'ſchen Urſprung abſprechen, und ſagt am
Schiufſe feiner Beweisführung:
„Das Reſultat unſerer Unterſuchung if demnach, daß He⸗
minge und Condell im Jahre 1623 mit demſelben vollen Reqte
die drei Theile de «King Henry VL» als echt Shakſpeare'ſche
Schöpfungen in ihre Golioansgnbe aufnehmen durften, mit
weichen fie den «King Richard III.», der nad) feiner ganzen
Anlage ohne die drei vorhergehenden Schaufpiele gar nicht ger
dacht werden kann, darauf folgen ließen; daß ferner etwaige
Ungleicgheiten des Stils oder ber Charabteriſtik, die man zwi⸗
ſchen diefen Dramen bemerken will, fi) genügend ans der in
einem längern Zeitraum und durch fortſchreitende Uebung ſich
immer mehr entwidelnden und ansbildenden Kunft bes Did
ters erflären; daß endlich der First Part of the «Contention»
u. f. w. und die True Tragedie u. ſ. w. ber Quartausgabe ſich
zn dem «King Henry VI.» Second Part und Third Part
ebenfo verhalten, wie die erften Ouartausgaben bes «Hamlet»,
des «Romeo and Juliet». und des «King Henry V.» (vgl. bie
Einleitungen zu diefen drei Dramen) zu dem «Hamlet», dem
«Romeo and Juliet» und zu dem «King Henry V.» der Folio.“
Die dem Text der Dramen vorausgefchidten Mittheilungen
aus dem Chroniken von Hal nnd Holinfheb dienen dazu, bie
Art und Weiſe zu erläntern, wie Shalipeare ben überlieferten
Chronitfloff iu dramatifche Handlung umzuſetzen fuchte, wobei
er, nad) unferer Anficht, doch mit einem Fuß in der Chronik
fieden blieb und auf dem Boden der „Hiftorien‘ nicht die echt
fünftferifche Freiheit errang.
Bibliographie.
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Inngögeiege im Univerfum unb bie Entfiefung be Menf engeihlehtd.
Di & ner rüfung der Glaubensbekenntnifſe. Leipzig, Brodhaus. 8.
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Renan, &, Das Leben Jeſu. Autorifirte deutſche Ausgabe. Dritte
Auflage, vermehrt mit neuen Borreben des —5 — und einem Anhan
nad den Iehten Ausgaben des Originals. Leipzig, Vrockhans. Gr. 8.
1 Zhlr. 20
— — Daſſelbe. Supplement, neue Borreden des Berfaflers un» ein
Anhang über da® vierte Evangelium enthaltend. Autori a deutſche —*
x.
Sau e und Müller in ber Schweiz. Humoriſtiſche Neifebilber.
u BER Menlar ein Sem tan ur
ulae=De ‚, Der inbduftrielle efig nnd die Arbeiter⸗
bewegung in Deutichland mit befonberer Hinweifung auf bie Gewerk⸗Ver⸗
eine Pre . Setn. — dos 2 Bar. webinr Fo
erin, Fran a Gräfin oder? un u man.
2 Bde. Leipzig, Kormank. 8. 2 Tüte. 15 Br Mi
wider, I. H., Die Katholiken » Autonomie in mgarn. Weſen,
Geſchichte und Aufgabe derſelben. Beh, Aigner. Er. 8. Nor.
Vermehren, M., Piatonische Studien. Leipzig, Breitkopf u, Här-
tel. Gr. 8. 24 Ngr.
Virchow, R., Ueber Gesichteurnen. Vortrag. Berlin, Wiegandt u,
Hempel. Lex.-8, 7!/, Ngr.
18 N ogt, T., J. d. u's Leben. Wien, Gerold’s Sohn. Lex.-8.
gr.
Wagner, A., Die Abschaffung des privaten Grundeigenthums, Leip-
zig, Duncker u. Humblot, Gr. 8, 12 Ngr,
Zimmermann, H. O., Leipzigs Varzeit bis zum fünfzehnten Jahr-
hundert, Ein Beitrag zur deutsched Städtegesthichte. Leipzig, Hinrichs.
' Gr. 8. 7, Ngr.
ae te u ° =
Fi
368 | Anzeigen.
Unzeigen.
— —
Derfog von 5. A. Brockhaus im Leipzig.
Soeben erfdien:
Das keben Iefn.
on
Erneft Renan.
Autorifirte deutfhe Ausgabe.
Dritte Auflage,
vermehrt mit nenen Dorsreden des Derfaffers nnd einem Anhang nad)
den feßten Ausgaben des Originafs.
8. Geh. 1 Thlr. 20 Nor. Geb. 2 Thlr.
In die vorliegende Dritte Auflage ber autorifirten deut-
ſchen Ausgabe von Renan's „Leben Sein‘ (frliher Verlag von
Georg Wigand in Leipzig) wurden des Verfaſſers Borworte
zur 13. franzöftfchen Auflage (1867) und zur illuſtrirten fran⸗
zöſiſchen Vollsausgabe (1870) ſowie ein beſonders wiqht ger
Anhang: „Ueber das vierte Evangelium‘ aufgenommen: Er⸗
gänzungen, welche in feiner andern beutichen Ausgabe ent-
halten find. Ungeachtet der Hierdurch veranlaften bedeutenden
Bermehrung des Umfangs (um 6 Bogen) blieb der bisherige
Preis des Werks unverändert.
As Supplement zn allen frühern Ausgaben
von Renan's „Leben Jefu' ift zugleich ein Separatabdrud
jener Ergänzungen erfhienen umb zum Preife von 10 Nor. in
allen Buchhandlungen zu haben.
Verlag von Eduard Trewendt in Breslau.
Soeben erſchien und iſt durch alle Buchhandlungen zu be⸗
ziehen:
Anſichten vom Leben.
Ein Verſuch
von
ſigmund Scott.
Gr. 8. 20 Bg. Eleg. broſch. Preis 1 Thlr. 15 Sgr.
Inhalt: Bon der BVergänglichleit. — Bon der Trauer
um Todte. — Bon den Frauen. — Bom Herzen. — Bom
Gottvertrauen.
Die tiefſten Geheimniſſe des menſchlichen Weſens, ſeine
Borzüge und Mängel legt der Verfafſer, ein ſcharfſinniger,
vorurtheilsfofer Beobachter des Lebens, dar, indem er fich nicht
blos auf eigene Forſchung ſtützt, fondern aud) das, was vor
ihm die bebeutendften Denker Über die Menfchennatur ausge»
fproden haben, näher erörtert. Jeder Gebildete wird in die»
jem Bude anregendfte Belehrung finden und daffelbe wird
fiher ebenfo günftig beurteilt werben, wie dies mit Schott's
vorangegangener Schrift: ,
„Bon menfchlichen Schwächen“
der Yall war:
Neu erichienen im Berlage von Heinrich Matthes in Leipjig:
Mori von Oranien - Naſſau.
Hiftorifches Drama in 5 Acten
von
Carl W. Bah.
8 1 Thlr.
Desfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Vollständiges Handwörterbuch
der deutschen, französischen und englischen Sprache
zum Gebrauch der drei Nationen.
Erste Abtheilung: Frangais- allemand - anglais.
Zweite Abtheilung: English, German, and French.
Dritte Abtheilung: Deutsch - Französisch - Englisch.
Neunte vollständig umgearbeitete und verbesserte Auflage.
8. Cart. 2 Thir. 20 Ngr. Geb. in Halbfranz 3 Thlr.
In der vorliegenden neunten Auflage erscheint das
rühmlichst bekannte Werk, das mit seiner so bequemen
Vereinigung der drei Weltsprachen einzig dasteht, innerlich
wie äusserlich den Bedürfnissen der Gegenwart gemäss
umgestaltet. Es bietet ein vorzügliches Hülfsmittel des in-
ternationalen Sprachverkehrs, indem es bei der Lektüre wie
„bei der Conversation, zu Hause wie auf der Reise gleich
‚gute Dienste leistet.
Soeben erschien und ist in allen Buchhandlungen zu
haben:
Musikalischer Hausschatz. 15,000 Exemplare verkauft.
Concordia.
Anthologie classischer Volkslieder
für Pianoforte und Gesang.
1—12 Lieferungen a 5 Groschen.
Diese Sammlung, deren Absatz für ihre Gediegenheit
bürgt, enthält über 1200 unserer herrlichen Volkslieder
und bietet allen Freunden volksthümlicher Musik eine will-
kommene Gabe.
Leipzig. Moritz Schäfer.
Im Verlage d , ter’
ade der Br. Hurterigen Buchhandlung in
Allgemeine Weltgeſchichte
Cäfar Cantu,
nad) der flebenten Originalausgabe für das katholiſche Deutfch-
land bearbeitet von Dr. I. 4, M. Brühl, Profeffor Dr.
Weiß in Gra und Dr. Cornel. Wilt,
und verweilen wir auf die vereinigten Stimmen ber auerkann⸗
teften Journale, die ſämmtlich Cantu's Werk als eine ber
ausgezeichnetfien Leiftungen anf dem Felde der Geſchichte begrüßt
haben. Umfaffende Forſchungen und Ouellenftudien vereinigen
fi bier mit genialer Behandlung des Stoffe und dem ebelften
Charakter. Die neue gänzliche Umarbeitung trägt namentlich
der dentſchen Gefhichte mehr Rechnung und flellt damit
das Werk auf die Höhe der heutigen Forſchung.
Erſter Band, erſte Abtheilung.
Zweite durchgeſehene und verbeſſerte Auflage
von Prof. Dr. 3. 8. Weiß in Grab.
Gr. 8. 54 Kr., oder 15 Sgr.
CE Die zweite und bite Abtheilung erſcheinen im nächfen
onat,
Berantwortliger Redactenr: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Verlag von S. A, Brockhaus in 2 eipzig.
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— — — — — — —
rn
Blätter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Goittſchall.
Erſcheint wöchentlich.
ae Ar,
24. — 9. Juni 1870.
Inhalt: Biographiſches. Bon Alexander Jung. — Deutſche Romanliteratur. Bon I. J. Sonegger. — Die ſchwediſchen
Nordfahrten. Bon Richard Audree. — Vom Buchertiſch. — Fenilleton. (Engliſche Urtheile über neue Exfcheinungen ber
deutſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Biographifches.
1. Luther, Guflav Adolf und Marimilian I. von Baiern.
Biographiſche Skigzen. Bon Heinrich W. I. Thierſch.
Nördlingen, Bed. 1869. Gr. 8. 27 Nor.
Durch diefe Schrift, die ſchon der Name des Ber-
faſſers empfiehlt, wird der Gefchichtsfrennd vollauf be
fätigt finden, daß da, wo das gewöhnliche Wiflen-
wollen Längft zur Genüge gelangte, das ungewöhnliche
ber Befriedigung erſt noch entgegenfieht. Die Vorgänge
einer biftorifchen Periode ober der Geſchichte als folder
Ennen in ihren Örundzügen über allen Zweifel feftgeftellt
fein, da aber, wo es fi) um die auferordentlihen In⸗
bividuen handelt, welche jene herbeiführten, fie lenkten,
zum Austrage brachten, beginnt erſt die eigentliche Un-
endlichleitsrehnung der Geſchichte, bie erſt im höchften
Sinne intereffante Gefchichtsforfhung und - Erledigung.
Der einzelne Borgang läßt fich ermitteln oder nicht. Iſt
er ermittelt, fo läßt ſich über ihm weiter nichts jagen.
Er if das Enblihe des hiftorifchen Procefſes. Ganz
anders verhält es ſich mit den hervorragenden Meenfchen,
mit den Ideenträgern, mit den die Ereigniffe berbeifüh-
renden, über fie gebietenden Charakteren der Gefchichte.
Sie willen, was ihre Miſſion ift, werden nie irre baran,
fie ftellen fich felbft ihre Aufgaben, Löfen fie jedenfalls,
wenn fie Geifter erſten Rangs find; dennoch werden fie
durch folche Löfung noch keineswegs befriedigt, neue Plane
geben ihnen auf, erfüllen fie bis zu ihrem Lebensende,
Dies ift die unendliche Größe ihrer Wirkſamkeit. Daher
fie auch Unerfchöpfliches dem Forfcher darbieten. Preis
wärdig der Hiſtoriler, ber fi auf die Ideen verfteht,
welche feinen Helden erfüllten. Jener kann erſt Jahr⸗
hunderte fpäter geboren werden, als diefer gewirkt hat. Er
aber bringt den Zeitgenoffen feinen Helden erft zum Ver⸗
ſtändniß, indem ex Geſichtspunkte für ihn faßt, Motive,
Zwede in ihm entbedt, durch Thatfachen beweift, von
welchen frühere Hiftorifer keine Ahnung hatten. So fehen
wir, dag man auch in ber Gefchichte mit dem bloßen
Realismus nicht ausreicht.
1870. 2.
Das obige, vortrefflihe Buch ift, wie wir dem Vor⸗
wort entnehmen, aus Wintervorlefungen entftanden, bie
der Berfaffer zu München einem Kreife auserwählter Zu-
börer hielt. Es war gerade Hier Feine gewöhnliche Auf-
gabe, außer einem Fatholifchen auch zwei evangelifche Hel«
den zu feiern, bon benen der eine die Reformation ins
Leben gerufen, durchgeſetzt, der andere fie mit dem Schwert
vertheidigt, fogar fein eigenes Leben dafür eingeſetzt hatte.
Die Aufgabe war um fo delicater, als unter den Zu⸗
börern, ungeachtet auserlefener Bildung, doch mancher
fein mochte, der Luther und dem Schwedenklönig ihre volle
Größe zuerkennen beim beiten Willen nicht Tonnte, da
ſchon bie Ergebniffe vieljähriger Studien ihn daran hin⸗
derten. Uber eigentliche Vorurtheile ließen ſich ablegen,
gewiſſe Annäherungen ließen fid) wol erreichen, wenn der
Borlefer gerecht, Human im Sinne einer hriftlichen Welt-
anfhauung war, wenn er jeder Eonfeffion ihr Hecht ließ,
vielleicht fogar, jeder Trennung unter wahrhaften Chriften
abhold, über das einzelne Jahrhundert, auch das heutige,
Binausdachte. Alles das zeichnete den Bortragenden aus,
wie es dem Berfaffer des Buchs eigen iſt. Er läßt fi
in feinen geiftreichen, wahrhaft populär gehaltenen Skizzen
mit Recht auf das hiſtoriſche Detail nicht ein, gleichwol
zieht er mit gefchidter Hand alle die Facta heran, welche
den fruchtbaren Boden abgeben, aus bem feine Helden
heranreifen. Dies beweift ex an Luther fogleich, wie er
auch auf das Genenlogifche der Aeltern und Borältern
zurüdgeht, wie er und die Jugendeindrücke des Tünftigen
Reformatord vergegenwärtigt. Die mwejentlichften, hiftori⸗
chen Momente treten genugfan hervor, kurze Reflerionen
erläutern die Thatfachen, bringen die Charakterziige oft
in eine ganz andere Beleuchtung, als jede bisherige, jo-
dag man fich überzeugt, ein Dann wie Tuther, ber ganze
Berlauf der Reformation, von welchen fo viele meinten,
es jei Über beide nichts Neues mehr zu fagen, werben von
unferm fcharfblidenden Hiftorifer in völlig neuer Weiſe
gewürdigt. Dergleichen ergiebige Momente find: Luther
47
er ce ———— EHEN ae ;
Tat . sn 0. hans
BE
370 Biographiſches.
auf der Schule bei den Franciscanern in Magdeburg,
harte Behandlung, reiche Ausſaat zu religiöſer Melancholie;
Eiſenach, erfreulichſte Zeit für unſern Martin; Frau
Cotta und das deutſche Bürgerthum; Univerſität Erfurt,
Luther Auguſtiner⸗Eremit; Staupitz, Studium des Au⸗
guſtiuus, ſcholaſtiſche Theologie; Friedrich der Weiſe;
Luther in Rom. Dieſer Aufenthalt in der Ewigen Stadt,
dieſes lange von Luther's Gemüth geforderte höchſte Er⸗
lebniß, welches ihn durch eine Generalbeichte von allen
Leiden erlbſen, ihm das Paradies wiederbringen ſollte,
war für ihn der tiefſte Niedergang in ſich ſelbſt, aber
auch die Eröffnung deſſen, was er ins Werk zu richten
berufen ſei. Die durchweg klare, ſtets wichtigere Ereigniſſe
in ſich hereinnehmende Darſtellung des Verfaſſers wird
von Seite zu Seite ſpannender. Mit wahrhaft hiſtori⸗
ſcher Kunſt bildet der Autor das, was ſeinen Helden
unaufhaltſam weiter führt und zwar faſt wider deſſen
Abſicht, wie das, was mehr Staffage der Umgebung, des
Zeitalters iſt organiſch ineinander, ſodaß beides ſtets zu
unterſcheiden iſt und doch gegenſeitig auf eine Wieder⸗
geburt der Kirche hinarbeitet. Beachtenswerth ſagt der
Verfaſſer: „Die Vereinigung der geiſtlichen und weltlichen
Macht wirkte zu allen Zeiten nachtheilig auf die Träger
derſelben.“
Wir erhalten aufs neue weitreichende Einblicke in das
damalige Italien, bie dann wieder nach Deutſchland zurüd-
lenken. Dieſe Italiener von Intelligenz, dieſe Lebemänner,
dieſe Gelehrten, Denker, Dichter, theils Epiluräer, theils
Platoniker (wir würden heute ſagen: Materialiſten und
Idealiſten), dieſe Humaniſten und Zeloten gleichen auf
ein Haar den gegenwärtigen, ſodaß man ſieht, die Menſch⸗
beit erhält fich immer vollfländig, und derer, die nicht
einfeitig, die ohne Vorurtheil und univerfell find, gibt es
ſtets nur wenige. Der Verfaſſer charakterifirt kurz, aber
glücklich, mit feiner Pointe Man vergleihe ©. 31 fg.:
Erasmus, Mutianus Rufus, die „Epistolae obseurorum
virorum“, die Bauernkriege, Hutten. Der Berfafler hat
einen Liberalen, fcharfen, politifchen Blick, nirgends ift
er parteigängerifch befchränkt; auch in Parallelen trifft er.
Schon bei den erfien Erhebungen der Bauern ruft er
ans: „ES waren Zeichen einer fchweren Krankheit im
Reichskörper, nicht bedentungslofe Regungen, fondern
Borzeichen einer größern Erſchütterung, wie der unter«
irdiſche Donner eines nahenden Erdbebens.“ Und fo führt
er an uns im Folgenden die nngeheuere Satajtrophe ber
Reformation, den Zufammenftoß der Geiſter in Kirche
und Reich vorüber, und aus allem hebt fich Luther in
ganzer Figur und Größe umbeirrt umd fiegend hervor,
fodag wir von bem Manne in ber Umrahmung einer
bloßen Skizze ein meifterhaftes Titelbild erhalten. Außer
dem lernen wir Luther in ber Politik, in der Literatur,
ale Bibelüberſetzer, in feiner fprachfchöpferifchen Gewalt,
als Gatten und Familienvater kennen. Auch feine Diän-
gel, pofitiven Fehler werben keineswegs verjchwiegen, ſo⸗
daß Licht und Schatten in dem Gemälde die Wirkung
gar erfreulich verftärten.
So find wir, ehe wir es merlen, im nächſten Jahr⸗
Bunbert angelommen. Der deutjche Krieg mit feinen maß⸗
Iofen Berwäjtungen, feinen Beillofen Folgen nimmt feinen
furchtbaren Berlauf. Wir haben es mit einem Reprä-
fentanten des Proteftantisimus, Guſtav Adolf von Schwe-
den, und einem des Katholicismus, Marimilian I. von
Boiern, zu thun. Wir dürfen uns im Volgenden kurz
fafien, da der Verfaffer all die edeln, glänzenden Eigen-
haften, auf die wir hingedeutet haben, auch in der Dar⸗
ftellung ber in Rede ftehenden Helden darlegt. Wir wer⸗
den und daher damit begnügen, hier nur einige Proben
zu geben, die unfere Lejer zur Lektüre des Ganzen an«
reizen. Impoſant ift die denkwürdige Prophezeiung bes
Tycho de Brahe, der im Sternbilde Kaffiopeia Guftav
Adolf bereits kommen fieht. Da aber vielen Mobdernen
neben dem Impoſanten aud) das Pilante erwünſcht if,
jo wollen wir aud damit dienen als Beweis, daß der
Autor in den Soireen feiner Borlefungen aud) mit der
artigen Gängen zu regaliren weiß. - Zudem noch, obwol
auf einen groben Angriff ein feines Schweigen meiftens
das Beſte ift, kann doch jeder in den Tall gerathen, grob
antworten zu müſſen. Der Berfafler teilt uns eine ber-
artige Antwort mit, an deren genialer, claffifcher Grob⸗
beit Studien zu machen wir biermit Gelegenheit geben.
Wir erfehen aus beiden Citaten, mit weldyer Kraft bie
nordifchen Helden nicht blos das Schwert, auch die Weder
zu führen wußten. Keine energifchere Einleitung kann zu
den Großthaten Guſtav Abolf3 gedacht werden. Deſſen
Bater, Karl IX., war mit Chriſtian IV. von Dänemark
und Norwegen in Spannung gerathen. Noch dazu wurde
er jest vom Schlag gerührt. Dennoch fordert ex ben
Dünenkönig zum Duell heraus. Er fchreibt ihm:
Bir, Karl IX., König von Schweden, laſſen dich wiſſen,
daß du nicht ala ein chrifllicder und ehrlicher König gehandelt
haft. Stelle dich nad) der alten Gewohnheit der Bothen wider
uns im freien Felde zum Kampfe ein, mit zwei beiner Kriegs⸗
Iente. Wir werden bir in Iedernem Koller ohne Helm und
Harniſch, blos mit dem Degen in der Kauft, begegnen. Wo⸗
fern du dich nicht einfellft, fo halten wir dich für keinen ehr⸗
liebenden König, viel weniger für einen Soldaten.
Der König Dünemarks antwortet;
Wir laffen dich wiffen, daß uns bein grober Brief durch
einen Trompeter überliefert worden if. Wir merken barans,
daß die Hundstage nod) nicht vorbei find und daß fie mit aller
Macht auf dein Gehirn wirken. Wir haben daher beſchloſſen,
uns nad dem alten Sprichwort zu richten: Wie man in ben
Wald fchreit, jo ballet es wider. Was den Zweikampf bes
trifft, fo kommt uns bein Verlangen höchſt lächerlich vor, weil
wir willen, daß du nöthiger Hätteft, Hinter dem warmen Ofen
zu figen. Weit geſünder wäre dir eim guter Arzt, der bein
Gehirn zurechtbrächte, ald ein Zweilampf mit uns. Du follteft
dich ſchämen, alter Narr, einen ehrliebenden Herrn anzugreifen.
Du Haft wahrſcheinlich ſolches Gewäſch von alten Weibern ge-
lernt. Nimm dic in Acht, daß du nichts anderes thuſt, als
was du ſollſt.
Gewiß, wer in der Polemik, mag es fich um ein
Duell, um einen Schlachttanz oder um einen bloßen Feder⸗
krieg handeln, einen ſolchen Gegner findet, wird ſich
plötzlich aller Luft beraubt ſehen, ben ‘Degen zu ziehen,
er wird mit dem Gewinn zufrieden fein, daß felbft ein
eigener Schlaganfall dur einen derartigen Gegenfchlag
jo gut wie gehoben ift.
Im Folgenden find Guſtav Adolf, Wallenflein, Tiiy
u. a., wenn einige auch nur kurz, alle jedoch mit Meifter-
ſtrichen charakteriſirt, Beberzeihnungen, die auch dem
grändlichften Kenner ber Geſchichte höchſt willlommen fein
werben, da das Maſſenwiſſen fo leicht das feine Gepräge,
Biographiſches.
die Eigenart großer Individuen in Vergeſſenheit bringt.
Die ſaubere Skizze des Verfaſſers wird oft Gemälde.
Geber, der das Heine Bild fieht, wird auch ohne Unter⸗
ſchrift ausrufen: das iſt Tilly! Auch die Gefchichte hat
wie die Natur ihre wunderbaren Analogien, eine Wieder-
fehr der Geftalten, der Situationen und boch feine Wieder-
holung. Niemand merkt fie oft. Unfers Autors Sinnig⸗
feit entgehen fie niemals. So wenn er bei dem zurüd-
gezogenen, grollenden Wallenſtein an den Homeriſchen
Achilleus gemahnt. Wir haben ſchon vor Yahren, bei
Gelegenheit Lord Byron's, auf diefes fchöne Analogon
aufmerffam gemacht. Auch auf ftrategifche Darftellungen
verfteht fich der Berfafier; dabei ift feine Umficht in dem
Ganzen damaliger Politik ftets fo durchdringend, daß ihm
nichts entgeht, auch die Winkelzüge und offenbaren An⸗
maßungen franzöfifcher Diplomatie und Eroberungsſucht
nicht. Auch wirft ihm felbft jene heillofe Berwültungs-
geihichte Deutfchlands immer noch einiges für die Cultur
ob. Nicht blos der proteftantifche Guſtav Adolf, aud)
ber Tatholifche Maximilian wird mit unparteitfcher Würdi⸗
gung in Betracht gezogen, obmol ber legtere im ganzen
diefer Skizzen weniger hervortritt, weil die Ungunft der
Umftände ihn zur vollen Ausgeftaltung deſſen, was er
wollte, nie gelangen ließ. Dagegen fteht und bewegt ſich
der Schwedenkönig in ben Unterhandlungen mit Fürſten,
Feldderren und Bürgern, im Lager und in ber Schlacht
bi8 zu feinem Heldentod in einer ſolchen Glorie von Fröm⸗
migfeit, Brapbeit, moralifcher mie Friegerifcher Ehrenhaf-
tigteit, daß auch das heutige Schweden unferm deutjchen
Hiſtoriker Dank fagen wird, daß berfelbe einen ber größ-
ten Heroen aller Zeiten fo nad) Gebühr verherrlicht und
lebendig der Nachwelt überliefert hat.
2. Heinrich Friedrich Karl von Stein. Bon 9. Benedey.
Iſerlohn, Bädeker. 1868. Gr. 8. 1 Thlr.
Dieſes biographiſche Buch iſt ein nicht minder rühmens⸗
werthes als das eben betrachtete, wenn auch der ganzen
Ausführung nach durchaus anderer Art. In raſcher Ab⸗
folge reiht der Verfaſſer kurze und daher leicht überſchau⸗
liche Abſchnitte, die aber nie flüchtig gehalten ſind, unter
prägnanten Ueberſchriften, bie oft ſehr frappiren, an⸗
einander. Sein Stil iſt gewichtvoll, mannhaft kurz, ent⸗
ſchieden, nie zerfloſſen, beſtimmt gefaßt und dennoch fließend
und nie geſucht. Die Ueberſchriften ſind ſchon von vorn⸗
herein vielſagende, lockende, nicht geiſthaſchende Deviſen auf
dem Denkmale, welches der Autor ſeinem Helden ſetzt. Sie
packen den Leſer gerade durch ihre Einfachheit, bisweilen
‚durch Antitheſe. Nur einige Proben führen wir auf:
„Stantsmännifche Vorſchule““, „Die Franzöſiſche Revo-
Intion“, „Uebergang ohne Umkehr”, „Schlacht bei Jena“,
„Stein und Daru. Diplomatenzüge‘, „Das Morgen»
roth der Befreiung“, „Le nomme Stein — genannt Karl
Frücht“, „Napoleon’s höchſte Macht. Deutſchlands tieffte
Schwach”, „Die Sonnenwenbe im Geſchick Napoleons“,
„Stein’3 Berufung nad) Rußland”, „Stein’s Rüdkehr
nach Deutfchland”, „Das Dachſtübchen im Scepter zu
Breslan”, „Auf dem Ieipziger Schlachtfelde“, „Der Par
zifer ‚Friede, „Der Wiener Congreß“, „Die ftänbifche
Berfaffung der Einzelftnaten Deutſchlands“, „Zweiter
Barifer Friede”, „In Naſſan und auf Sappenberg“,
„Die Imlixevolntion”, „Die legten Tage”.
371
Der Berfafler zeigt fi) überall vom reinften Patrio«
tismus für Deutfchland begeiftert, daher er aud) ganz
dazu geeignet ift, das Leben und die Thaten eines Man-
ned wie Stein zu befchreiben, der von echt deutſchem
Schrot und Korn war, der für Preußen, für Deutſch⸗
land Zeit feines Lebens erglüßte und, wie oft aud) unter«
broden in der Verwirklichung feiner Plane, fie immer
wieder aufnahm, fortjegte und zuletzt fogar über den
fiegte, der feinerzeit foft allgemein für unboſiegbar galt.
Wie jeder, der fich felbit Feine Grenze zieht, ober gar
über ganze Nationen dahinfährt, als wären fie nur dazır
da, ſich ihm zu ſchmiegen, zu dienen, von ihm despotiſch
beherrjcht zu werden, ficher fein darf, daß ihm gegen-
über einer erfteht, ber ihn zuerft mit der Macht der
‚dee, dann und faft gleichzeitig mit dev Macht ‚eines wohl⸗
überlegten Handelns zurüdwirft, fo follte das Napoleon I.
an dem Freiherrn von Stein ‚erfahren. Noch dazu war
Napoleon verblendet genug, darauf zu dringen, daß Hr.
von Stein preußifcher Minifter würde. Und wenn Na-
poleon, der faft allen Furcht einflößte, ex, der eine Furcht
zu kennen fchien, dennoch die deutjchen Ideologen fürch⸗
tete, die fi in Fichte dem eltern zu Berlin verlkör⸗
pert, aljo doch reakifirt hatten, jo follte der Diann wahr⸗
baft „ohne Menſchenfurcht“, Hr. von ‚Stein, die Idee der
Bölferfreiheit dem Kaifer bald fo ſchnell und maflenhaft
verfürpern, daß er ihm bie Heere Europas heraufbeſchwor,
die ihn von feiner Höhe flürzten, ihn zweimal nad) Paris
zurüdwarfen, auf daß er im Exil feinen Tod fünde. Wie
das ‚alles im Schritt der Allmählichkeit heranmwuchs, wie
einer der gewaltigften Eroberer, der zulegt alle Unter⸗
bandInngen ablehnte, auch in Perfon fcharf, ſchneidend,
iprüde wie Glas war, wie der in einem beutfchen Ebel-
mann den Edelftein fand, den Diamanten von reinften
Waſſer, der den gläfernen Corficaner und Weltbezwinger,
troß alter und junger Garde, zerfchnitt und wieder zer⸗
Schnitt, das ftellt unfer Autor in einer Galerie von klei⸗
nen hiftorifchen Bildern dar, die unfere Aufmerkſamkeit
ununterbrochen feithalten und uns, je weiter wir lefen,
erquiden und freimachen, als hätten wir felbft noch vor
Inrzem das Napoleonifche Joch getragen. Aber ‚night
allein diefen Proceß der neuern Geſchichte fehen wir .in
obigen Blättern vor ſich geben, fondern auch ben einer
andern Reform und Umgeftaltung deutfchen Stantenwefens,
Der Freiherr von Stein wollte die deutſchen Staaten
nicht blos befreien, er wollte fie auch neu organiftet wifien.
Die Bolfövertretung, der wahrhaft conftitutionelle Staat,
zur Sicherheit, zum culturgefchichtlichen Gebeihen, zum
Wohle in jeder Hinficht der Fürſten wie der Völler, war
eine feiner Hauptidbeen. Wie er fih damit teug, wie er
Anſatz auf Anſatz nahm, in fchriftlichen und mündlichen
Dorlegungen fi Mühe gab, bie Nothwendigkeit folder
Umwandlung aud) andern zur Ueberzeugung zu bringen,
der Berwirklihung näher zu rüden, fie womöglich noch
jelbft zu erleben, auch das ift der ſpaynende Inhalt, jener
Abfchnitte. Endlich ſehen wir in ihnen. einen Mann groß
werben, der wohlerzogen, mwohlgefhult, von geſunder
Trömmigkeit erfüllt, keuſch, fittlich und ehrenwerth in jedem
Betracht, gewiffenhaft, taktvoll, Har in allen Wechjelfällen
des Lebens, auch in den äußerſten Berwidelungen und
jelbft Gefahren feiner eigenen Berfon war. Doch — wir
47*
372
verweilen noch einige Yugenblide bei einzelnen Momenten
der vorliegenden Biographie. Sehr bebeutfam dafür, daß
Hr. von Stein der Eckſtein werden follte, an dem bie
wilde Sroberungsflut der Franzoſen ſich brach und Na⸗
poleon ſelbſt zerjchellte, treffen wir beim Berfafler gleich
am Anfang ber Yugendgefchichte feines Helden die Stelle:
„In dem Haufe der Freiherren von Stein wurden Shal-
ſpeare'ſche Dramen aufgeführt, und Karl übernahm in
einem bdiefer Stüde, in bem «Sommernaditstraum», die
bochwichtige Rolle des Wald. Er Hatte nur die Worte
zu fagen: «I am the wall.» Go fehr dichtet der Ge-
nins für eine unendliche Zukunft und wird Prophet für
kommende Geſchlechter, fogar für den einzelnen Menjchen.
Der Knabe erhält eine vielfeitige Ausbildung. Hr. von
Stein widmet fich fpäter den Studien der Rechtswiffen-
haft, bejchäftigt fi) aber auch viel mit Gefchichte, Po-
litik, Staatsreht, der Nationalökonomie. Er lernt ver-
fchiedene Höfe unmittelbar Tennen, verweilt aud einige
Zeit in Wien. Bon Berlin aus erhält er eine Anftellung
im Bergfade. Ein mehrmaliger Aufenthalt in England
ift gewiß für feine Wirkſamkeit ald Staatsmann entfchei-
dend gewejen, wie e8 der Kal war bei einem ähnlich
GSefinnten, dem preußifchen Burggrafen Hrn. von Schön.
Zwanzig Jahre wirkte Stein in der Grafſchaft Mark im
Berg- und Hüttenwefen. Bon großem Belang ift ferner
feine Sendung nah Mainz und feine Berührung dafelbft
mit Dalberg und Metternih. Hier mag wol, wie uns
glanbliche Gejdide für ihn noch im Schofe der Zukunft
Ihlummerten, diefe [don manchmal an ihm wie in einem
Geſicht vorübergegangen fein. Mit dem Ausbruch des
Terrorismus der Revolution kündigt fi) in Stein bereits
in aller Entfchiedenheit fein Anti» Sranzofenthum an, um
nie zu verjchwinden, wol aber mit den Jahren ſich zu
fteigern. Eine Parallele zwifchen den Herren von Stein
und von Schön, auch im Verhalten den Franzoſen und
Napoleon gegenüber, würde fehr belehrend fein. Seit
Stein’8 Oberpräftdentichaft in Weftfalen nimmt fein Ein-
fluß auf bie politifchen Ereigniffe fo zu, daß folder in
einem bloßen Referate gar nicht mehr überfehen werden
Tann, fondern in dem überaus interefianten Zuſammen⸗
hang des Buchs gelefen werden muß. Und überall fteht
Stein im Vorbertreffen, wie denn derjelbe Dann auch
unermübet thätig ift, neue Mittel zu entdeden, den öffent»
Iihen Verkehr für Handel und Gewerbe zu erweitern,
den Bauer und Bürger zu fürbern, das Beamtenthum
zu veredeln, wo e8 baranf ankam, auch als Sittenrichter
gegen Hohe und Niedere aufzutreten.
Inzwiſchen ift Friedrich Wilhelm II. König von Preu-
Ben geworden. Ein fo edler König wußte Stein zu
ſchätzen. Auh wird Stein preußifcher Tinanzminifter.
Die Neugeftaltung des Zollſyſtems, das ftatiftifche Bureau,
Stein's Denkſchrift an den König, fowie feine weitern
Plane werben vorgeführt. Napoleon tritt jest immer
Teer hervor, Stein zurüd. Hr. von Stein wird wieder
Minifter. Napoleon felbft empfiehlt ihn den König von
Preußen mit den Worten: „Prenez donc monsieur de
Stein, c’est un homme d’esprit.” Das heißt denn wol:
unbewußt fich felbit feinen Untergang bereiten! Preußens,
Deutfchlands Wiedergeburt im umfafjendften Sinne, bie
Befreiung der Bölfer Europas vom ſchmachvollen Joche
Biographiſches.
des franzöſiſchen Kaiſers, und was fich nach dem Wiener
Eongreß des Tranrigen und wieberum Erhebenden, von
Reaction und Evolution zu Gunften des Fortſchritts und
insbefondere des deutſchen Verfaſſungsweſens daranfnüpft,
wird in den folgenden Abjchnitten, unter dem Wechfel
mannichfaltigfter Geftalten und Ereigniffe zur Darftellung
gebracht. Vollsvertretung in Preußen, Bollövertretung
in allen beutfchen Landen, parlamentarifche Wechfelwir-
fung und parlamentarifcher Austaufch der Ideen in ganz
Dentfchland, und zwar in einem in fich einigen, nad
innen unb außen Hin ftarfen Deutfchland, ift Stein’s
erfter und legter Gedanke, ift dasjenige, worauf er in
Denkſchriften, in Noten, in öffentlichen Verhandlungen,
in Briefen immer wieder zurüdfommt. Diefer "Staats
mann ift fo ficher in allem, was er fordert, fördert, ab«
lehnt und einrichtet, er ift fo frei von aller Menſchen⸗
furcht, weil er fo rein in feinem Gemiffen if. Er war
überhaupt in feinem Leben ſtets von ftreng fittlicher Energie
und zugleich von zartefter Empfindung, ſogar Empfindlich⸗
keit. Es gibt bekanntlich Naturen, welche ungebrocdenfte
Männlichkeit und jungfräuliches Weſen in fi) vereinigen.
In ihrer Umgebung darf fein Wort fallen, welches aud)
nur im geringften gegen das Decorum anläuft, auch nit
im Scherz oder vollends mit einer ausnahmsweifen Nederei,
mit einer fpaßigen Anspielung zur Unterhaltung perjön-
(ich wird, und wäre es auch nur die Stegreifdichtung des
Augenblicks. Ein ſolches Naturell, forgfältig ausgebildet,
batte Hr. von Stein. Kam fo etwas an ihn heran, fo
verbat er es fich mit Entjchiedenheit, und man wußte nun
ein für allemal, baß man dergleichen in feiner Nähe nicht
anbringen dürfe. Sitte und Sittlichkeit waren bei ihm
aus Einem Guf. Ein folder Mann war auch in ethie
cher Hinficht dazu berufen, Staatsmann zu werden, tn
jedem Betracht ftärfer als jeber feiner Feinde zu fein,
fein Boll von Grund aus zu erziehen, ihm die volle,
urangeftanmte Freiheit wiederzugeben, einem ganzen Heer
von Feinden gegenüber. Außerdem war er unterneh-
mend im Unglüd, vorfihtig im Glüd, während es her⸗
gebracht ift, da man im Unglüd verzagt, im Glüd
übermüthig und tolfühn wird.
Doc in ber ganzen zweiten Hälfte unſers Buchs drän-
gen fich die Tugenden, bie Berdienfte, die im Kern ftets
gediegenen, foliden, in der Außenwelt unbeabfihtigt glän«
zenden Kigenfchaften feines Helben fo dicht zuſammen,
daß die entfprechende Würdigung und Hochſtellung eines
derartigen Mannes nur aus der Lektüre felbft hervorgehen
kann. Da wird es denn bem Leſer hell vor die Seele
treten, welche ftaatsmännifche Größen auch Deutfchland
aufzuweifen hat, die leider fo vicle meift nur dem Aus⸗
lande zuzugeftehen geneigt find. Der Leer wird auch
bier wahrnehmen, daß die Ebenbürtigen ſich gegenfeitig
anziehen, daß die Größe Größen um fi verfammelt,
daß ein großer Gedanke oft der Vater von vielen großen
Inftituttonen iſt. Der felbft fo verbienftvolle Deinifter
von Schön, der aber vielleicht eine zu einjeitige Vorliebe
für England hatte, pflegte im gejelligen Kreiſe gern bie
Anforderung auszufprehen: „Nennen Sie mir einen gro«
Ben deutjchen Staatsmann!" Man hätte ihm Hrn. von
Stein nennen müſſen, freilid) auch noch andere in Era
wühnung bringen dürfen, Nun ging allerdings Schön,
Deutfhe Romanliteratur. 373
der noch Kant gehört hatte, davon aus, daß jeder wahr- | Vorgänger, Verfündiger, Erwecker ber heutigen Philofophie
bafte Staatsmann vor allem auch Philofoph fein müſſe. | der ZThatfachen.
Indeſſen gibt e8 auch eine praftifche Philofophie. Stein
war ein praftifcher Philoſoph. Er war in der That ein
Alexander Jung.
(Der Beſchluß folgt in ber nächſten Nummer.)
Deutfche Romanliteratur.
1. Die Grafen Barfus. Hiftorifher Roman von U. E. Brad»
pogel. Vier Bände. Leipzig, Dürrfhe Buchhandlung.
1869. 8. 5 Thlr.
Eine ganz tüchtige Arbeit! Es ift eine ftarf mit
‚biftorifchen Berwidelungen durchflochtene Familiengefchichte,
die den in zwei Oenerationen Frebsartig um fid) freffen-
den und die trübften VBerwirrungen erzeugenden Haß der
Marfchälle von Schöning und von Barfus, zweier Paladine
des Großen Kurfürften, behandelt. Die Epoche durchläuft
die Regierung der beiben erften Preußenkönige, die Nach⸗
Hänge der Heldentage von Tehrbellin und ber ruhmwür⸗
digen Mitwirkung an den Türkenkriegen, bis hinem in
die leuchtenden Anfänge der Regierung des großen Friedrich.
Dabei verfolgt der Autor auch die Schliche der kaiſer⸗
lichen Bolitif, vertreten durch die Gefandten von Frydank
und von Sedendorf: Macjinationen, aus denen er den
politifch und menjchlic tief gegründeten Haß erklärt,
welcher den Ausbruch der großen preußifch-öfterreichijchen
Kriege ſchürte. Die gefchichtlichen Geftalten der beiden
Marſchälle, jowie des Minifters Dandelman unb des
tüchtig originellen greifen Feldmarſchalls Derfflinger mit
dem Anbängfel ber übrigen Yamilienglieder auch aus den
verwandten Gefchlechtern Dohna und Dönhoff, vor allen
aber die piychologifch furchtbare der Marfchallin von
Barfus, die durch den mächtigen Zerftörungseinfluß ihrer
unbändigen Leidenſchaft felber eine Art gefchichtlicher
Größe wird, find meilterhaft gezeichnet. Was man etwa
die Moral bes Stüds heißen darf, Liegt in folgendem
Sat ausgeſprochen: „Die vorgeführten Charaktere muß-
ten nothwendig von dem wilden Kampfe der Leidenfchaften
und Intereſſen, von der Berblendung ihres Hafles zu
ihlımmen Thaten fortgeriffen werden, damit ihr eigenes
Schickſal fie verfühnend reinige!” Das ift eben das Intereffe,
dag wir dem an fpringendem Leben reichen Proceß ber
vernichtenden Leidenschaften, Haß und Stolz, von feinem
Auffeimen bis zur rafenden Höhe und dann umgekehrt
der Verſöhnung durd) die Tiebe bis ans menſchlich ſchöne
Ende gefpannt folgen. Die tragifche Berwidelung, welche
fo bedeutende Lebens» und Familienſchickſale freiwillig und
unfreiwillig in ihren Strudel ziehen follte, beginnt gleid)
zu Anfang am Kreuz von Bonn unter ſchwer padenden
Umftänden, die das wmerbittlihe Verhängniß herbei⸗
rufen, und der Knoten ſchürzt fich mit dem Augenblide,
da die fchöne und hodymüthige Leonore von Dönhoff von
ihrem ebenfo eigenfinnigen Vater zur Heirath mit dem
nachherigen Marfchall gezwungen und die von da an
gradweiſe finfterer und tigerhafter werdende Jungfrau
uns in der ganzen verhängnigvollen Eigenrichtigkeit ih-
res Weſens vorgeführt wird. Eine eigene, pſychologiſch
tief bewegende, ja erſchütternde Complication, die Wen⸗
dung zur Löſung, mifcht fich aber mit dem Augenblicke
ein, wo Eugen Barfus durch befondere Schidfalsfitgung
zufammentrifft mit der Tochter Sophie des von feinem
Bater geſtürzten Todfeindes Schöning und beide fid)
lieben. „Unter dem Dad eines Schöning verbrachte
Barfus’ Sohn feine erfte Nacht auf ber Reiſe, eine
Höllennadt. In ihm ging etwas Süßes‘, unendlich
Zrauriges, etwas Grauenhaftes vor.” Es ift, nur mit
äußern Varianten, das alte Lied von Romeo und Julie;
zwei Leben werden einem nicht zu tröftenden Schmerze
bingeworfen und innerlich fi) Gehörende äußerlich für
immer getrennt, einem großen und fchweren Opfer zu Liebe,
und der Conflict löſt fich nur durch den Tod. Die Scene,
wo Sophiens Bruder, den Sohn bes Zodfeindes erfen-
nend, erft in furchtbarer Leidenſchaft Vergeltung von ihm
fordert, dann wie ein Edler dem Edeln gegenüber den
Manneswerth anerkennt und voll hoher Trauer den be-
freundeten Feind in die Arme preßt, ift eine von ben
menſchlich⸗ſchönen, die und immer paden, treffen wir fie
nun im Leben oder in der Schrift. Die Seelenkämpfe
des Marſchalls aber, der, von feinem Dämon Leonore
geftachelt, dem Ehrgeize zu Xiebe, ein infames Berbrechen
auf fich Iud, bis zur Höhe des Conflicis, wo er feinen
und Eugeniens, feines erften und beffern Weibes Sohn,
in zürnender Tiebe aus dem Haufe treibt, gibt ein trübes,
aber ſcharf und confeguent gefaßtes Lebensbild. Das
ganze Leib eines fehuldbewußten Herzens, das noch nicht
völlig im Falten Stolz erftarrt ift, gipfelt in den an ben
Sohn gerichteten Worten: „Bete zu Gott, daß du mid)
nicht wieberfiehft denn als Leiche! Weg! Bringt ihn zu
feinem Pferde! Eugeniens Sohn fol mid mit ‚grauem
Haar nicht als — Schächer vor fich ſehen. Mag. dich
der Ewige beſſer leiten als mi!” Und doch foll das
gefchehen, was der Alte in fortwährendem Beben abwen-
den will; auch äußerlich. ereilt ihn die unaufhaltfame
Race, ale der Marſchall für infam erflärt wird vor eben
demjelben Sohn, der den geächteten Vater niederftechen
will, um deflen Schande in Blut zu Löfchen. Das
Furchtbarſte, die Peripetie der Gefchichte ift der Tob der
„ſchlimmen Marſchallin“, die aus Haß auf den eigenen
Stieffohn, meil er ſich mit der verfeindeten Familie ver-
bündet hat, ihr prächtiges Schloß mit feinen Schägen
verbrennt, während der Sturm heult und die nur noch
von der innern Unruhe des Rachegeiſtes Zehrende halb
wahnfinnig und erjchöpft flirbt. Damit ift der Fluch
der Leidenſchaft gelöfcht und die fühnende Liebe tritt in
ihr Recht. 0
So wird das Gemälde überwiegend finfter und er-
jhütternd, und doch find der fchönen und Hochherzigen
Züge genug, um daſſelbe nicht in ein monotones Nachtbild
umſchlagen zu laſſen.
Eine höchſt eigenthümliche Geſtalt iſt der Türke Schamir,
ſeltſam durch ſein Schickſal und ſeinen Geiſt, des bei
Spalankament von Barfus gemordeten Veziers Köprili
Bruder, der nachher dem Mörder als Diener folgt, be-
herrſcht von einem blinden Glaubenswahn, und über das
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Hans beſſelben eigene Rache und doch auch wieder eigenen
Segen bringt.
Ueberraſchend nehmen fi Heute, nad) 1866, in des
Minifters Danckelman Munde, der vor dem blendenden
Trugbilde ber Königsfrone warnt, bie jet zwar post festum
ben bloßen Lauf der gefchehenen Dinge belenchtenden,
aber trogdem den Eindrud einer Prophetie machenden
Worte aus:
Bern man doc Then genug if, den Glückswürfel fo auf
vie Karte gu werfen, fo ſei man aucd gleich großartig in feinen
Kiffen! Vreche man doc den Reichsverbund, kündige man
Habsburg Erhn, Eid und Kur! Menue man die Hohenzollern
Könige von Oftgermanien und ſende 20000 brandenburgifche Beute
mit ebenfo viel Millionen Thalern an den Main! Man wird
Deutſchland zerreißen, beutiches Bint gegeneinander ine
Id gefſthrt, eines Weltfriege Bluifackel entzlidet haben, aber
die Tebende Generation ladet männlich denn doch auf ſich alle
Gefahr umd Berantwortung, ſchlägt wenigſtens jetzt ritterlich
einen Streit, ber höchſtens vertagt, hingehalten werden mag,
aber einft doc Tommen wird, blutig imd verzweifelt, ımd ben
‚Sohn, Enkel und Arurenkel in eimer langen jammervollen Reihe |
von Kriegen deshalb werden befiehen müfien, weil Preußens
Flrſten die Hand zu früh nad) der Krone ausfredten. Einſt |
tommt die Stunde, wo Einer nur in Deutichland beflehen
tan, ſoll's nicht für Immer auseinanderfallen. Habsburg ı
“ober Hohenzollern wird dann ans den dentſchen Guuen 'ge-
worfen fein.
2. Schellen⸗Moritz. Deutſches Leben im 18. Jahrhundert.
Hiſivriſcher Roman von George Heſekiel. Drei Bünde.
Berlin, Rule. 1869. 8. 4 ls. |
Das Stüd deutſchen Lebens, da8 ums ba vorgeführt
wird, begreift das flabtblirgerliche Treiben und Denten,
wie es im einer Mittelſtadt fich geftaltete; enger 'genom- :
"ten if es das Tpecififche Leben der alten Stadt Halle
und am dllerengften das ‚ganz eigenartige, bis auf bie
narefe. Zeit in Tracht und Sitte - abfonberliche tes
Hallorenguartiers mit feinem erbthumlich zuſammenhalten⸗
den Volllein der Hallburſchen oder Salzwirkerbritberfchaft.
Getreulich immer in diefen felben Sreifen ſich bewegent,
führt and der Roman, ber von eigentlich gefchichtlichen
Elementen nicht gar viel, mehr dagegen von ſittengeſchicht⸗
lichen aufgenomuten, an einem durchgeführten Lebensbilde
"von den ‚Kinderfpielen anf ben Moritzkirchhof bis ans
Grab daſelbſt.
Unſer Held Schellen⸗Moritz ſelbſt, bus Kind der Liebe
von vornehmer Geburt, das dem ſchwer "verfolgten Vater
und der eigengearteten fürſtlichen Mutter ein Gegenſtand
fchweren Leides "und 'Kanmmers werden follte, wird durd) ı
eine Reihe von Kreuz⸗ und Duerfahrten übers dentſche
"Baterland ‘hingeleitet, bis er als waderer Oberftlieutenant ,
und als Kirchenvorfteher der ehrſamen Stadt Halle im
glucklicher Ehe lebt und flicht. Das freundliche Jugend⸗
[eben im forgjam pflegenden reife, das Studententreiben,
illuſtrirt durch eine enthuſiaſtiſche Jugendliebe, und her⸗
na eine ziemlich thotichte und anf ein Haar ſchlimm
endende Cavaliersliebe, dann die offidiell zu Leben und
Bildung der Zeit gehörende Wanderſchaft, die fogenannte
Cavalierſtour, ausgeſchmückt mit allerlei feltfamen Aben-
teuern ud Berflechtungen, mormiter ein ſchlecht angelegter
Berſuch der Belehrung zum Katholiciemus, einige der
nun einmal heilloferweife nicht aus der Romancompofition
„zu verbrängenden, halb wunderbaren und ganz unglaub⸗
lichen Erkennungeſcenen, bie langen Anffchlüffe über das
zwiſ
Deutſche Romanliteratur.
traurige Geſchick des todten Vaters und der verſchollenen
Mutter, ein Raubanfall, der den jungen Mann ebenfalls
wie dur ein Wunder ins Schloß der Mutter und in
bie Nähe des geheimnißvollen Allwiſſers und ZTanfend-
fünftlers Grafen Saint-Germain führt, Kaffeehaus» und
Spielauftritte in fehr gemifchter Gejellichaft, dann allerlei
Militärfcenen aus dem Siebenjährigen Krieg, welche die
wieder auf einen flarfen Glauben berechnete Situation
herbeiführen, daß bei einem Ueberfall die Mutter durch
den Sohn gerettet wird, und zum erſten und letzten
mol ihn fehend und erfennend in feinen Armen flirbt,
mehreres aus dem Leben eines armen Landebelmanne,
Struenfee3 Größe und Fall und endlich im Gegenſatze
zu diefen bewegenden Scenen der friedliche Reſt eines
wohlgenügten und ehrbaren Bitrgerlebens: diefe Dinge
machen das Gerüft des Gebäudes aus.
Bon hiſtoriſch bedeutenden Perfonen iſt e8 außer
dem. als feiner Studiofus vorgeführten jungen Struenſee,
'deffen fpäteres merkwürdiges Geſchick den ftärfften Faden
wirklich geſchichtlichen Einſchlags liefern fol, nur noch der
alte Muſikheros Händel.
Der FKammerpräfident von Dieskau, Struenfee unb
Saint-Germain jollen drei hervorragende Geiftesrichtungen
des 18. Jahrhunderts darftellen und der Held bes Ganzen,
ebenfalls ein echtes Kind des Jahrhunderts, im Gegenſatze
zu ihnen allen die vierte. Ihre Grundzüge faßt der Autor
etwa in folgenden Sägen:
Was Dieskau fagte, war nichts anberds als eine bürre
"Abftraction im Geift jener Tage, der unklare Begriff einer Pflicht,
die von Gott nichts wußte, und doch ber Menfchheit dienen
wollte ober ihr zu dienen vermeinte, ber Ausfluß der gauzen
Philofophie des Jahrhunderts. Es war in dem Lächeln, mit
welchem Dieskan die Priefe fehnupfte, die er ſchon eime Weile
hen den Yingerfpigett gehalten, etwas Hochmiithiges und
Fanuniſches zugleich —, das feine, aber bittere Lächeln einer alt
gewordenen Gejellichaft, die an Feine warmen, ehrlichen Regun-
gen der einzelnen mehr glauben wollte, weil fie jelbft greifen
dat verknöchert war. Daher der faunifhe Zug neben dem
ochmlithigen in feinem Lächeln; umd dieſe Miſchung ift ftereotyp,
man betrachte nur Bilder aus der zweiten Hälfte des vorigen
Sahrhunderts; fie haben jehr oft ein Lächeln, Männer wie ffranen,
welches kaum vorher, felten naher erfcheint, ein Lächeln, doe
dem Beſchauer Herzweh macht.
Zwiſchen Dieslau und Struenſee war ein großer Unter⸗
ſchiebd, aber auch eine beſtimmte Verwandtichaft. Jener war ein
edler Charakter, der fi) aus hochmüthiger Menſchenverachtung
in dürre Abftractionen verloren hatte, Struenfee ein finwlicher
Büfling, der in hochmüthiger Selbſtüberſchätzung zum frivolen
Spötter geworben. Beiden hochbegabten Männern aber fehlte
erabe das, mas die wahre Größe gibt, Begeifterung, Schwung,
fauben. So war denn der eine ein Pedant, der andere ein
Poltron, unb .beide waren en
Auch von Saint-Germain fühlte ſich Schel-Morik abge
en, weil ihm in demfelben eine britte Perfonification des
gen,
Geiſtes des 18. Jahrhunderts entgegentrat. Es war die Ger
"heimmißfrämerei, die abenteuerliche
liche Spiel mit Kräften und Mächten der Natur, die ih damale
der Wiſſenſchaft noch ‘ganz entzogen
derthuerei, das gejähr-
Schell-Morig felber war das Kind des 18. Jahrhunderts,
gens und gar, durch nnd durch. Verhältnifſe wie die geheime
he feines Vaters mit ber Prinzeffin waren nur im jener Zeit
dentbar. Gr repräfentirte die männliche Kraft, den gefunden
Sinn,:die Frömmigkeit und Tüchtigkeit, die auch damals neh
im bentichen Leben lagen und eine weitere Entwidelung zum
Beſſern verbürgten, aber inter den falfchen Glanz der Aug
wücfe nnd den verblendenden Strahl der großen Irrthümer
zurücktraten. Weil aber Mori mitten in einer Bat fand,
Deutfhe Romanliteratur.
gerieth er nicht in den Kampf mit dem gewöhnlichen Sammer
jener Zogt, der Enge des bürgerlichen Lebens, der vornehmen
Liederlichleit und der plumpen Gemeinheit.
Bon trüben Sitten- oder Unfittenbildern der Zeit
werden uns da die Stäupung einer Diebin und das
Spießruthenlaufen eines Deferteurs in aller Nadtheit vor⸗
geführt. Man vermeilt nicht gern bei den immer gleid)
geundhäßlichen Scenen, fondern wendet fich Lieber ganz
andern, freundlich ans Herz fprechenden zu, als beren
Mufter 3. B. das Ende des greifen Kirchenvorſtehers und
Mufiffreundes Gruner angeführt fei, der den Zod des
Gerechten ſtirbt (I, 229). Uebrigens ift der Ton ziem-
fich ungenirt, um Eleganz fehr unbekümmert. Man höre
z. B. wie ber Verfaſſer ſich das Spiel anfteht:
Ei! Wie kunſtverftändig die winzigen Frauenzimmer die
Wechſelfälle des Spiels beurtheilten! wie eifrig fie bie Stärke
oder die Geſchicklichteit des „großen Bruders’ bewunderten,
oder, bereit8 einer zärtlichen Regung folgend, Nachbars Karl
und Teller's Frigen flir befiere Ballipieler erklärten, ale Krus⸗
nes Wilhelm und Fad’s Guſtel. Mande drei Küfe hohe Mine
oder Tine war fogar fhon unwillig oder gar traurig, wenn
der Gegner ihres Schätschens den Ball fiegreich ins Loch trieb,
und fühlte fich fehr geneigt, bei dem oft entfiehenden Zänlereien
Bartei zu nehmen, nicht nur mit eifernden Worten, fondern
mit ben Meinen unſaubern Fäuften nnd den durchaus nicht
mehr ganz ungefährlichen Nägeln. Die Jungen dagegen küm⸗
merten fi), mit dem ganzen Stolz ihrer Knabenhaftigleit be»
waffnet, durchaus nicht um bie zärtlichen Dirnlein, wieſen fie
brutal zurück, oft handgreiflich fogar, nnd war je einmal einer
unter ihnen, der ſchon eine zartere Regung fpürte gegen das
ihöne Geſchiecht, fo ſchloß er fie vorſichtig ein in feinem Her⸗
zen, denn tm alle der Kumbgebung wäre der volle Hohn der
GSefammtheit über ihn gelommen, uud nichts if jo unbarm⸗
herzig wie der Junge, nichts jo empfindlich gegen den Hohn
der Genoffen wie wiederum ber Junge.
Aber gerade diefe Kinderfpiele, das ganze frohe Ju⸗
gendtreiben einer gejund und kräftig aufwachſenden Ge
neration, find mit viel Jovialität und Natur wiedergegeben,
bis auf die unfchuldigen Wortfpiele und Nedereien herab.
Die Charakterzeichnung ift zuweilen vecht gelungen
man nehme als Exempel die alte Kreuzmannin, ein Weib,
wie fie häufig find, und als Gegenbilb ihre wadere Tochter,
die Bertramin.
Das Ganze ift in ruhigem, gleichmäßigen Ton gehalten,
der felten eine ſtarke Erſchütterung aufkommen läßt, aber
auch felten tiefer bewegt; man möchte ihm den Ton beö
bürgerlichen Lebens heißen, in dem wir und vorwiegend
bewegen. |
Faft wäre man verfucht, dem Autor eine beftimmte
Abſicht zuzufchreiben, wenn er uns nicht minder als zwei⸗
mal mit großer Beftimmtheit die von der aligewohnten
Ueberlieferung abweichenden Anſichten über den Urjprung
der Hohenzollern auseinanderfegen läßt. Darüber gibt
IL, 197—200 Auſſchluß.
Bewegten wir ung mit den zwei angeführten hiſtori⸗
fhen Romanen im 18. Jahrhundert, in defien Hofe und
Bürgerleben, fo werden und nod) zwei andere, mobernften
Stils, in die unmittelbare Gegenwart hineinführen, beren
Gepräge fie vollauf entwideln.
3. Drei Gefellen. Eine heitere und ernſte Erzählung von
Ernſt Pas qué. Bier Bünde. Jena, Coftenoble. 1869.
8 4 Thlr. 15 Nur.
Erzähfung oder Roman, der Name thut nichts zur
Sache! Jedenfalls iſt die Gefchichte ganz modern, ziem⸗
375
lid) ſtark à la frangaise gehalten, ſpielt aud) zum größten
Theil in ber Stadt der Abenteurer und der Speculanten,
in Paris, ber Großftadt des gefammten neuen Romane;
faflen wir nun Schrift oder Leben ind Auge. In jedem
Zuge find es Licht und Luft und Farbe unſerer Tage,
wie fie fi in jenem Mikrokosmus der ganzen Weltbewe⸗
gung wiberjpiegeln. Ernſt und heiter in ber That!
Wir werden in allen Schattirungen be Tons herum-
geworfen, vom Wurchtbaren bis zur faft zigennerhaften
Luſtigkeit.
Die Geſchichte fußt auf folgenden Grundzügen: Elſen,
nachher als Mr. John Harley auftretend, Kaſſirer eines
Bankierhauſes in einer Rheinſtadt, durch untergeſchobene
Briefe betrogen, glaubt ſein Weib in ehebrecheriſcher Ver⸗
bindung mit dem Sohne des Chefs und entflieht heimlich
feinem Elend, um nad Auftcalien zu gehen. Dan Omen,
nachher Mr. d’Auvent, Buchhalter defielben Geſchäfts und
Elſen's angeblicher Freund, bat bem doppelten Schurlen⸗
ſtreich begangen: erſtlich hat ex jene Briefe gefälſcht und
ſeinen Freund zur Flucht perhetzt, dann beſtiehlt er in
derſelben Nacht, da dieſer entweicht und auf Koſten von
deſſen Ehre, bie Kaſſe bes Geſchäfis, das ex nach einiger
Zeit verläßt, um in Paris als großer Herr zu lehen.
Die beiden treffen wir nach einem langen und verſchie⸗
denen Lebenslauf, innerhalb deſſen ſich Elſen als thätig⸗
tüchtiger Chrenmann ein großes Vermögen erworben,
während Owen als Gutsbeſitzer und Börſenſpeculant in
ſchlechten Streichen und Ausſchweifungen feine Jahre ver⸗
bracht, im Alter wieder, zu einer Zeit, wo die rächende
Gerechtigkeit den furchtbaren Knoten löſt. Die drei Ger
ſellen aber, um deren Laufbahn ſich's handelt, find fair
gende: Friedel (Fridolin Grein), ein tüchtiger Schreiner,
ernft und gefegt, eine Träftige Arbeitsnatur, der Sohn
eines in eben jenem MBanliergaufe zus Zeit des perübten
Verbrechens angefiellten Kaſſendieners; Heinrich Remy,
fein Ingendfreund, leicht und lebensluſtig, übrigens ehr⸗
bar und gutmüthig, ber das Handwerk aufgegehen und
fih ald Sänger eine glängende Laufbahn machen wi;
endlich Gerhard Elfen, der Sohn jenes Kaſſirers, der
Laufmann geworben, bann wegen bed auf feinen Namen
liegenden Makels Unglüd bat, in der Hüften Roth auf
Zuredben Remy's, ber ihn in der Weltbaupiflabt trifft,
ſich entfchliegt, ebenfalls Muſiker (artiste) zu werben,
endli amf Verwenden jeines ihm unbekannten Batexa
wieber eine folide Stellung findet und glücklich wird.
Wir geleiten diefe drei jungen Leben, bis Friedel, dem
zuexft Dir. Harley aufgeholfen, nachdem er fein Gejhäft
ind Große ausgedehnt und viel Geld erworben, als glüd-
licher Gatte einer lieblichen und braven Pariſerin auf
einer Campague am Rhein den Heft feiner Tage .vexlebt;
Gerhard Ehen, vereint mit Bater and Matter, die fih
ausgeſöhnt, ehenfalld reich und glücklich, wohnt in feiner
Nüpe. Das Pilantefte an feinem Leben if, daß ex ſich in
bie herzensgute Tochter jenes Schurken d'Auvent verliebt
und nad manden Schwierigkeiten ihre Hand gewonnen
hat; Remy, der fi) in der halben Welt Herumgetrieben
und Kurze Zeit als Sänger geglängt, hat feine Stimme
verloren und ift fhwindfüchtig geworden, er lonumt zuckd,
arm und verlaflen, um auf Friedel's Landfit, wo man
ihn noch die kurzen guten Tage über pflegt, zu ſterben.
Are Mer
. 7
TTS» z
874 Deutfhe Romanliteratur.
Hans deſſelben eigene Rache und doc) auch wieder eigenen
Segen bringt. |
Ueberrafchend nehmen fich heute, nad) 1866, in des
Minifters Danckelmun Munde, der vor dem blendenden
Trugbilde der Königsfrone warnt, die jegt zwar post festum
den bloßen Lauf der gejchehenen Dinge beleuchtenden,
aber trogdem den Eindrud einer Prophetie machenden
Worte aus:
Wenn man doch kühn geung iM, den Glückswürfel fo anf
die Karte zu werfen, fo fei man anch gleich großartig in feinen
Wuirhtüifien! Vreche men doch den Reichsverband, kündige man
Habsburg Erhn, Eid und Kur! Nenne man die Hohenzollern
e von Öftgermanien und jenbe 20000 brandenbnrgifche Leute
mit ebenfo viel Millionen Thalern an den Main! Man wird
' Deutſchlemd zerreißen, beutiches Bint gegeneinander ins
Bild gern, eines Weltkriegs Blutfackel entzlinidet Haben, aber
ende Generation ladet männlid denn boch auf fi alle
Gefahr umd Berantwortung, ſchlägt wenigſtens jet ritterlich
einen Streit, der hochſtens vertagt, Hingehalten werden mag,
aber einft doch kommen wird, blutig und verzweifelt, ımd den
"Sohn, Enkel und Ürurenfel in einer Iangen jammervollen Reihe |
von Kriegen deshalb werben befiehen miüffen, weil Preußens
Flrſten die Hand zu früh nad der Krone ausfredten. Gift |
lommt die Stunde, wo Einer nur in Deutſchland beflehen .
fon, ſolls nicht für immer auseinanderfallen. Habsburg ı
öder Hohenzollern wird dann aus dem bdeutfchen Gmien ge⸗
orfen fein.
2. Schellen⸗Moritz. Deutſches Leben im 18. Jahrhundert.
Hiſivriſcher Roman von George Hefetiel. Drei Bände.
Berlin, Sanle. 18069. 8. 4 Vhlr.
Das Stüd 'deutfchen Lebens, das uns ba vorgeführt
wird, Begreift das fladtblirgerliche Treiben und Denken,
wie es in einer Mittelftedt fich geftaltete; enger genom⸗
"men iſt es das fpecififche Leben ber alten Stadt Halle
nund am dllerengften das ganz eigenartige, bis auf bie
narefe. Zeit in Tracht und Sitte abfonberliche tes
"Halloretigttartiers mit feinem erbthumlich zufammerrhalten-
den Volktein der Hallburſchen oder Salzwirkerbritberfchaft.
Getreulich immer in dieſen felben Sreifen fich bewegend,
führt and ber Roman, ber von eigentlich gejchichtlichen
Elenenten wicht gar viel, mehr dagegen von fittengejchicht«
Then aufgenommen, an einem durchgeführten Lebensbilde
‘von den ‚Kinderfpielen anf bem Moritzkirchhof bis ans.
Grab 'dafelbft.
Unfer Held Schellen-Morig fetbft, bus Kind der "Liebe
von vornehmer Geburt, das dem ſchwer "verfolgten Vater
und der eigentgearteten fürftlichen Mutter ein Gegenftand
ſchweren Leides und Kummers werden follte, wird durch
eine Reihe von Krenz⸗ und Querfahrten übers bentfche.
"Baterland "hingeleitet, bis er als wackerer Oberſtlieutenant
und als Kirchenvorſteher der ehtſamen Stadt Halle im.
glucklicher Ehe lebt und flicht. Das freundliche Jugend⸗
leben im forgfam pflegenben Kreiſe, das Studententreiben,
illuſtrirt durch eine enthuftaftifche Jugendliebe, und her⸗
nach eine ‚ziemlich thörichte and auf ein Haar fchlimm
“endende "Eavaltersliebe, dann bie offitiell zu Leben und
Bildung der Zeit gehörende Wanderſchaft, die fogenannte
Savalierstour, ausgeſchmückt mit allerlei ſeliſamen Aben-
teuern und Verfleihtungen, mormiter ein fchlecht angelegter
Berſuch der Belehrung zum Katholicismus, einige der
nun einmal heilloferweife nicht aus der Romancompofition
„zu verbrängenben, halb wunderbaren und ganz unglaub-
‘Tigen Erkennungeſcenen, die langen Anffchlüffe über das
traurige Geſchick des tobten Vaters und der verſchollenen
Mutter, ein Raubanfall, der ben jungen Mann ebenfalls
wie dur ein Wunder ins Schloß der Mutter und in
bie Nähe des geheimnißvollen Allwiſſers und Tauſend⸗
fünftlerse Grafen Saint-Germain führt, Kaffeehaus- und
Spielauftritte in fehr gemifchter Geſellſchaft, dann allerlei
Militärfcenen aus dem GSiebenjährigen Krieg, welche bie
wieder auf einen flarfen Glauben berechnete Situation
herbeiführen, daß bei einem UWeberfall die Mutter durch
ben Sohn gerettet wird, und zum erften und letzten
mal ihn fehenb und erkennend in feinen Armen ftirbt,
mehreres ans dem Leben eines armen Landebelmanne,
Struenſee's Größe und Fall und endlich im Gegenſatze
zu diefen bewegenden Scenen der friedliche Reſt eines
wohlgenützten und ehrbaren Bürgerlebens: diefe ‘Dinge
machen das Gerüft des Gebäudes aus.
Bon Hiftorifch bedeutenden Perſonen iſt e8 außer
dem. als feiner Studiofus vorgeführten jungen Struenfee,
deſſen fpäteres merkwürdiges Geſchick den ftärkten Faden
wirklich geſchichtlichen Einſchlags liefern ſoll, nur noch der
alte Muſikheros Händel.
Der Kammerpräfident von Dieskau, Struenfee und
Saint-Germain follen brei hervorragende Geiftesrichtungen
des 18. Jahrhunderts darftelen und der Held bes Ganzen,
ebenfallß ein echtes Kind des Jahrhunderts, im Gegenſatze
zu ihnen allen die vierte. Ihre Grundzüge faßt der Autor
etwa in folgenden Sägen:
Was Dieskau fagte, war nichts anderes als eine dürre
"Abftraction im Geift jener Tage, der unklare Begriff einer Pflicht,
bie ‚von Gott nichts wußte, und doch ber Menfchheit dienen
wollte oder ihr zu dienen vermeinte, der Ausfluß der ganzen
Philofophie des Jahrhunderte. Es war in dem Lächeln, mit
welchem Dieskan die Prieſe fchnupfte, die er ſchon eine Weile
zwiſchen den Fingerſpitzen gehalten, etwas Hochmüthiges und
Fauniſches zugleich —, das feine, aber bittere Lächeln einer alt⸗
gewordenen Gefellichaft, die an keine warmen, ehrlichen Regun⸗
gen der einzelnen mehr glauben wollte, weil fie felbft greifen»
haft verfnöchert war. Daher der faunifche Zug neben dem
bochmlithigen in feinem Lächeln, und dieſe Miſchung ift flereotyp,
man betrachte nur Bilder aus der zweiten Hälfte des vorigen
Sahrhunderts; fte haben ſehr oft ein Lächeln, Dlünner wie Dranen,
welches kaum vorher, felten nachher erfcheint, ein Lächeln, das
‘dem Beſchauer Herzweh macht.
Zwiſchen Dieskau und Struenſee war ein großer Unter-
ſchied, aber auch eine beſtimmte Verwandtſchaft. Jener war ein
edler Charakter, der ſich aus hochmüthiger Menſchenverachtuug
in dürre Abſtractionen verloren hatte, Struenſee ein ſinnlicher
Wüſtling, der in hochmüthiger Selbſtüberſchätzung zum frivolen
Spötter geworden. Beiden hochbegabten Männern aber fehlte
gerade das, was bie wahre Größe gibt, Begeifterung, Schwung,
fanben. So war benn der eine ein Pedant, der andere ein
"Beltron, und beide waren Junggeſellen.
Auch ‚von Saint-Germain fühlte ſich Schell⸗Moritz abge-
ftoßen, weil ihm in bemfelben eine dritte Perfonification des
Geiſtes des 18. Jahrhunderts entgegentrat. Es war die Ge⸗
heimnißkrumerei, die abenteuerliche dertänerei, das gefähr-
liche Spiel mit Kräften und Mächten der Natur, die ich damals
der Wiffenfchaft noch "ganz entzogen.
Schell⸗Moritz felber war das Kind des 18. Jahrhunderts,
anz und gar, durch und durch. Verhältnifſſe wie die geheime
Ebe feines Vaters mit der Prinzeffin waren nur in jener Zeit
benfbar. Gr repräfentirte die männliche Kraft, den gefunden
Sinn,:die Frömmigkeit und Tüchtigleit, die auch damals meh
im deutfchen Leben lagen und eine weitere Entwidelung zum
Bellen verbürgten, aber Hinter den falſchen Glanz der Aus-
wüchſe und ben verblendenden Strahl der großen Srrthlimer
zuriitraten. Weil aber Morit mitten in einer Zeit Rand,
Deutſche Romanliteratur. 375
gerieth ex nicht in ben Kampf mit dem gewöhnlichen Sammer
jener Tage, der Enge: des bürgerlichen Lebens, der vornehmen
Liederlichleit und der plumpen Gemeinbeit.
Bon trüben Sitten» oder Unfittenbildern der Zeit
werden uns da die Stäupung einer Diebin und das
Spiefruthenlaufen eines Dejerteurs in aller Nadtheit vor⸗
geführt. Man verweilt nicht gern bei den immer gleich
grumdhäßlichen Scenen, fondern wendet ſich lieber ganz
andern, frennblic) and Herz fprechenden zu, als deren
Minfter z. B. das Ende des greifen Kirchenvorftehers und
Mufiffreundes Gruner angeführt fei, der den Tod bes
Gerechten ftirbt (1, 229). Uebrigens ift der Ton ziem-
lich ungenirt, um Eleganz fehr unbekümmert. Dan Höre
3. B., wie der Berfaffer ſich das Spiel anfteht:
Ei! Wie kunftverftändig die winzigen Frauenzimmer die
Wechſelfälle des Spiels benrtheilten! wie eifrig fie die Stärke
oder die Gefchidtichkeit des „großen Bruders’ bemunberten,
ober, bereits einer zärtlihen Regung folgend, Nachbars Karl
und Teller's Fritzen für befjere Ballipieler erklärten, als Krus⸗
peis Wilhelm und Facks Guſtel. Manche drei Küſe hohe Mine
oder Tine war ſogar ſchon unwillig oder gar traurig, wenn
der Gegner ihres Schätzchens den Ball ſiegreich ins Loch trieb,
uud fühlte ſich ſehr geneigt, bei dem oft entſtehenden Zänkereien
Bartei zu nehmen, nicht nur mit eiferuden Worten, fondern
auch mit den Heinen unfaubern Fäuften und den durchaus nicht
mehr ganz ungefährlichen Nägeln. Die Jungen dagegen küm⸗
merten fih, mit dem ganzen Stolz ihrer Knabenhaftigleit be»
waffnet, durchaus nit um bie zärtlihen Dirnlein, wiefen fle
brutal zurück, oft handgreiflich fogar, und war je einmal einer
unter ihnen, der ſchon eine zartere Regung ſpürte gegen das
ſchöne Geſchlecht, fo ſchloß er fie vorfichtig ein im feinem Her⸗
zen, denn im alle der Kundgebung wäre der volle Hohn der
Gefammtheit über ihn gefommen, und nichts ift jo unbarm⸗
herzig wie der Junge, nichts fo empfindlich gegen den Hohn
der Genoffen wie wiederum der Junge.
Aber gerade diefe Kinderfpiele, das ganze frohe Ju⸗
genbtreiben einer geſund unb kräftig auſwachſenden Ge⸗
neration, find mit viel Jovialität und Natur wiedergegeben,
bis anf die unſchuldigen Wortfpiele und Nedereien herab.
Die Charakterzeichnang ift zuweilen vecht gelungen;
man nehme als Erempel die alte Kreuzmannin, ein Weib,
wie fie häufig find, und als Gegenbilb ihre wadere Tochter,
die Bertramin.
Das Ganze ift in ruhigem, gleichmäßigem Ton gehalten,
der felten eine ſtarke Erſchütterung auflommen läßt, aber
auch felten tiefec bewegt; man möchte ihn den Ton des
bürgerlichen Lebens heißen, in dem wir und vorwiegend
bewegen.
Faft wäre man verfucht, dem Autor eine beſtimmte
Abſicht zuzufchreiben, wenn er ung nicht minder als zwei-
mal mit großer Beftimmtheit die von der aligewohnten
Ueberlieferung abweichenden Anfidjten über den Urſprung
der Hohenzollern auseinanberjegen läßt. Darüber gibt
II, 197—200 Auffchluß.
Bewegten wir uns mit ben zwei angeführten hiftoris
hen Romanen im 18. Yahrhundert, in befien Hof⸗ und
Bürgerleben, fo werden uns noch zwei andere, modernften
Stils, in die unmittelbare Gegenwart bineinführen, berem
Gepräge fie vollauf entwideln.
3. Drei Gefellen. Cine heitere und ernfle Erzählung von
Ernft Basqud. Bier Bände. Jena, Eoftenoble. 1869.
8 4 Thlr. 15 Ngr.
Erzählung oder Roman, der Name thut nichts zur
Sade! Iebenfalls ift die Geſchichte ganz modern, ziem⸗
lich ſtark à la frangaise gehalten, fpielt auc zum größten
Theil in ber Stadt der Abenteurer und der Speculanten,
in Paris, ber Großſtadt des gefammter neuen Romans;
faffen wir nun Schrift ober Leben ins Auge. In jebem
Zuge find es Licht und Luft und Farbe umferer Lage,
wie fie fi in jenem Mikrolosmus der ganzen Weltberogs
gung widerfpiegeln. Ernſt und heiter in ber That!
Wir werden in allen Schattirungen des Tons herum⸗
gemorfen, vom Furchtbaren bis zur faſt zigeunerhaften
uſtigkeit.
Die Geſchichte fußt auf folgenden Grundzügen: Elſen,
nachher als Mr. John Harley auftretend, Kaſſirer eines
Bankierhauſes in einer Rheinſtadt, durch untergeſchobene
Briefe betrogen, glaubt ſein Weib in ehebrecheriſcher Ver⸗
bindung mit dem Sohne des Chefs und entflieht heimlich
ſeinem Elend, um nach Auſtralien zu gehen. Van Owen,
nachher Mr, d'Auvent, Buchhalter deſſelben Geſchäfts und
Elſen's angeblicher Freund, hat den doppelten Schurlen⸗
ſtreich begangen: erſtlich hat ex jene Briefe gefälſcht und
feinen Freund zur Flucht verhegt, dann beſtiehlt ex in
derfelben Nacht, da diefer entweicht und auf Koſten won
befien Ehre, bie Kaffe des Geſchäfts, das ex nad riniger
Zeit verläßt, um in Paris ale großer Herr zu Ichen.
Die beiden treffen wir nad einem Jangen und perſchie⸗
denen Lebenslauf, innerhalb deſſen ſich Elfen als thätig-
tüchtiger Ehrenmann ein großes Bermögen eripprben,
während Owen als Gutsbefiger und Börfenfpeculant in
ſchlechten Streichen und Ausichweifungen feine Jahre ver⸗
bracht, im Alter wieder, zu einer Zeit, wo die rächende
Gerechtigkeit den furditbaren Knoten löſt. Die drei Ger
jellen aber, um deren Laufbahn fich's Handelt, find falr
gende: Friedel (Fridolin Grein), ein tüchtiger Schreiner,
ernft und gejeßt, eine kräftige Urbeitönatur, der Sohn
eines in eben jenem Vankiechnuſe zur Zeit des peräbten
Verbrechens angeſtellten Kaſſendieners; Heinrich Remy,
fein Ingendfreund, leicht und lebensluſtig, übrigens ehr⸗
bar und gutmüthig, der das Handwerk aufgegeben und
ſich als Sänger eine glängende Laufbahn machen wii;
endlich Gerhard Elfen, der Sohn jenes Kaſſirers, der
Kaufmann geworben, bann wegen bes auf ſeinem Namen
liegenden Malels Unglück bat, in ber hüchſten Noth auf
Zureben Remy’s, der ihn in ber Welthaupfflabt trifft,
ſich entſchließt, ebenfalls Muſiler (artiste) zu werden,
endlich amf Verwenden ſeines ihm unbelanuien Vaters
wieder eine ſolide Stellung findet und glücklich wird.
Wir geleiten dieſe drei jungen Leben, bis Friedel, dem
zuerſt Mr. Harley aufgeholfen, nachdem er fein Geſchüft
ins Große ausgedehnt und viel Geld erworben, als glüd-
licher Gatte einer lieblichen und braven Pariſerin auf
einer Campagne am Rhein deu Heft feiner Tage werlebt;
Gerharb Een, vereint mut Bater and Mutter, die ih
ausgejöhnt, ebenfalls reich und glücklich, wohnt in ſeiner
Nähe. Das Pilantefte an feinem Leben iR, daß ex ſich in
die herzensgute Tochter jenes Schurken d'Auvent verliebt
und nach manden Scwierigfeiten ihre Hand gewonnen
hat; Remy, der ſich in der halben Welt herumgetrichen
und kurze Zeit als Sänger geglänzt, hat feine Stunme
verloren und ift ſchwindſüchtig geworden, er fommt zurkd,
arm und verlafien, um auf Friedel's Landſitz, wo man
ihm noch bie kurzen guten Tage über pflegt, zu ſterben.
376 Deutſche Romanliteratur.
Führen wir dieſe fünf inhaltſchweren Lebensſchickſale an
und nehmen wir hinzu, daß mit ihnen noch eine Reihe
untergeordneter ſich eng verknüpft, ſo wird uns klar, daß
ſich da reiche und mannichfache Gemälde entfalten müſſen.
Folgende kurze Aufzählung mag eine Vorſtellung geben
von dem Wechſel der Scenen und Gefühle, in denen wir
förmlich herumgeſchüttelt werden.
Nach dem einleitenden Nacht- und Nebelbilde des
Diebſtahls geleiten wir die jungen rüſtigen Männer Frie—
del und Remy bei hellem Sonnenſchein in die Straßen
und Dachſtuben von Paris, lernen die treuherzige Arbei-
terin Annette und die leichtfüßige Griſette Agapita kennen,
treffen nad einer jener entfcheidenden Begegnungen un-
fere drei Helden beifammen, geleiten den ehrlichen Fries
del in feine Manfarde auf den Weg ber Liebe und den
Shwärmenden Remy zum Nafchen von der Liebe Luft,
werden in eine „SKünftler”-Colonie geführt und machen
deren gutmüthig-phantaftifches Treiben und Iuftige Armuth
im Haus und Feld mit, was einige der weitaus anzie
benbften und gelungenften Genrebilder liefert, und ftoßen
auch auf die beiden alten Herren, den Schelm und den
Betrogenen, bei ihren befrembenden Gängen. Nachdem
er uns fo alle Hauptperfonen nahe gebracht, ſchließt der
erfte Band. Don da an verflicht fi) die Erzählung im-
mer mehr mit Dir. Harley’8 geheinmißvollem und groß⸗
müthigem Thun, das bald mächtig in Friedel’8 und Ger-
hard's Leben eingreift; wir geleiten die drei jungen Freunde
auf neuen Bahnen und treffen im d'Auvent's Landhaus
eine ehemals entführte, dann furchtbar mishanbelte Ge⸗
liebte und in deffen Logis in der Stadt die uns bereits
befannte Agapita als feine jegige Maitreſſe. Damit ift
der zweite Band zu Ende Mit dem dritten, „Harley
an der Arbeit”, beginnt die Entwidelungsgefcicte.
Elfen ftelt mit aller Energie und onfequenz eines
feines Rechtes und feiner Witrde bemußten Mannes
feinen gejchändeten Namen wieder ber und entlarvt
den Verbrecher, defien Halbeynifcher Zodesfampf „Das
Iegte Glas”, bis er fih durch Gift ind — Nichts
hintiberbefördert, eine der furchtbarften, nervenerjchüt«
ternden, ja wild abftoßenden Scenen ift, jo neuroman-
tiſch als irgendeine bei den im diefer Malerei fo
ftarfen Franzofen. Der Kampf der beiden feltfamen
Münner, des einen um feine Ehre, des andern Übrigens
bereit3 vom Himmel Gefchlagenen und Geläßmten um
fein Leben, bat in feinem ganzen Berlaufe des Aufregen-
den und Gewaltfamen fo viel, daß diefer lebenswahr durch«
geführte Proceß eine unausgefegte fieberhafte Spannung
bildet. Am Ende treffen wir die Guten in glüdlichem
Frieden, auch der leichte, fonft brave und talentvolle Remy
findet wenigftens nad; harten Prüfungen noch einen fried⸗
lichen Lebensabend: damit ift nad) allen Seiten die poe«
tifche und menjchliche Gerechtigkeit hergeftellt.
Man kann fi) des Eindruds nicht erwehren, daß
diefe Geſchichten, wie fie, abgerechnet die Zuthaten der
Bhantafie, ganz in die losgebundene Gejellichaft des
Augenblids paſſen, auch vollitändig im Stil des fran-
zöſiſchen Romans concipirt und wiedergegeben find, Fehler
und Vorzüge beffelben theilend. Wer an biefem nur
Böfes fieht, der wird auch Pasqué's Hier entwideltes
Lebensbild nicht verwinden; wer aber die Schilderungs-
fähigfeit, die Kraft und Parbenfrifche, die Energie auch
in der Seelen- und Gefühlsmalerei nicht gering anfchlägt,
wird umgefehrt diefe Erzählung ebenfo anziehend und ſpan⸗
nend — ängftliche Moraliften würden fagen verführerifch —
finden als irgendeine.
Doc, fei eines Hauptjehlers noch bejonders erwähnt.
Wir hatten oben ſchon Anlaß, uns ftreng gegen ein mid
bräuchliches Hauptmittel der neuern Nomanfchreiber aus
zufprechen: das find die mafjenhaften Perfonenbegegnungen
und Erfennungen, bet denen der Zufall eine jo plumpe
Rolle fpielt, daß er aufs Haar dem nadten Wunder
gleichlommt. Das wohlfeile Mittel ift um fo verwerf⸗
licher, wenn e8 für die Gefanumntentwidelung nicht einmal
nothwenbig iſt, fondern blos dazu dient, eine pilante
Epifode anzufpinnen. Natürlid) drüdt fih darin immer
die Armuth an Logifher Motivirung aus. Auch Pasque
bat förmlichen Misbrauch damit getrieben, fo oft foll die
Manier aushelfen, theil® um den ftodenden Gang weiter
zu führen, theils auch blos, um uns mit einer Ueber⸗
rafhung zu beſchenken. Wir würden das geradezu als
den unverzeiblichen Hauptmangel in der Compofition bes
zeichnen. Es geht uns wie bei dem überrafchten Gerhard
Elfen; wir gerathen bei ben Entbedungen und Enthül⸗
lungen und Berwandlungen, die und da ganz unbor«
bereitet aufgetifcht werden, in ein „gemwaltiges, fprachlofes
Erftaunen”, denn die Dinge gehen über den Begriff einer
logischen Folge der Thatſachen.
Auf anderer Seite dagegen Tiegt fo ziemlih das
Hauptverbienft. Der Berfaffer weiß und Scenen von der
tollften Heiterfeit fo drollig hinzumalen, daß fie ein köſt⸗
liches Lachen erweden. Man nehme einmal bie Scene,
wo einer der impropifirten „Künftler” auf die Bitten einer
gefühlvollen Witwe, die ihres feligen Mannes wegen dem
Serpent liebt, das dubidfe Inftrument handhabt:
Der lange muftlaliihe Tauſendkünſtler fette das gewaltige
Snftrument an den Mund und begann zu blajen. Beim erften
Ton, der laut wurde, wurde die Gefellichaft ebenfalls laut,
und helles luſtiges Lachen ertönte von alt und jung, denn der
Geſang des ledernen Inflruments war zu drollig, und fein
Bläfer, wie er in feiner langen Figur daftand und beu Ser-
pent mit Gefühl bandhabte, hatte etwas Urkomiſches, das den
ärgfien Hypochonder zum Laden bringen mußte. Madame
Sodard war anfänglich recht entrüftet über dieſe Seiterfeit,
welche ihr eine Sünde gegen ihr Lieblingsinftrument dünken
mochte; doch fchließlich Härte fi ihr Antlig wieder auf, fie
mußte fogar im Berein mit den Übrigen lachen, denn der
Bläſer fchien feine höchſt Iamentable Melodie nur an fie zu
richten. Er ſchaute fie zugleih mit feinen großen Augen fo
gefühlvoll an, mährend feine Baden fi furdtbar anfblähen
mußten, um den nöthigen Wind für den gemaltigen Leib des
Serpents zu finden, daß die allgemeine Heiterkeit immer größer
wurde, bejonders als nun die hohen, überans kläglich uud
herzbrechend lautenden Töne in das allertieffte Brummen über⸗
ingen. Auch Hold fonute endlich feine Ruhe nicht mehr ber
bauten, er mußte mitlahen und — das Gerpentconcert war
zu Ende.
Die Scene berührt um fo drolliger, wenn wir uns
erinnern, daß der ange bald darauf bei der biden, ges
fühlvollen Witwe die Stelle ihres Seligen einnimmt und
fie für ben Berluft ausreichend tröftet., Nicht minder
koſtbar ift der draftifche Auftritt, da Remy, der feiner
leichtfertigen Schülerin Agapita verjprochen, fie empfeh-
lend dem großen Componiften Auber vorzuftellen, diefelbe
Deutfhe Romanliteratur. 377
im miſerabel zugeftugten „Salon“ der Künftlercolonie
empfängt, und bie mitgefonmene Alte, empört über die
Nichtachtung des Talents ihrer hoffnungsvollen Tochter,
aus fettiger Zeitungshülle ein angefnabbertes Cervelat-
würftchen, das fich der improvifirte Componift zum Diner
aufgejpart Hatte, herauswidelt.
Jetzt richtete Mutter Morel fi) in ihrer ganzen Größe
ober vielmehr Breite auf. Ihr Auge, ihr ganzes Geficht
flammte wie das Feuer ihres Herdes, und ihr armes, unfchul-
diges, mishandeltes Kind an den weichen Dutterbufen dridend,
bielt fie mit der Nechten das angelnabberte Knoblauchwürſtchen
hoch empor, alfo eine wahrhaft tragifche Gruppe bildend, welche
ihre Wirkung jelbft auf den in feinem blau damaftenen Schlaf-
rocke fi nicht mehr recht behaglich fühlenden falichen Auber
nicht verfehlte. Nachdem fie den Mann, der ihre Tochter zur
Choriſtiu hatte berabwürdigen wollen, mit unfaglicher Beradytung
gemefjen, ſprach fie mit Wlirde und einem wahren Pathos:
Weine nit, mein Kind! Ein Mann, ber foldye miſerable
Zwei⸗Sous⸗Würſte mit Knoblauch verjpeift und die Reſte fogar
noch in eine alte Zeitung widelt, kann uns nicht beleidigen.
Kommen Sie, Herr Remy! Auch dir, mein armer Junge, hat
er Unrecht gethan. Wir wollen heimgehen und werden aud)
fon ohne ihn auf die Bühne kommen, aber als etwas Befjeres
denn eine Choriftin, wie wir auch — Gott fei Danf! — noch
Befferes zu frühftliden vermögen als eine Knoblauchwurſt! —
Dabei warf fie dem langen großen Dann die angebifjene Wurſt
mit einer fuperben Bewegung vor die Füße und wendete fidh,
um das ſchiefe Stubirzimmer zu verlafien-
Wir meinen, dergleichen Auftritte könnten einen argen
Hypochonder zum Lachen bringen.
4. Königstren. Roman von Karl von Kefjel. Zwei Bände.
Leipzig, Srunow. 1869. 8. 2 Thlr. 20 Ngr.
Der Kritiker weiß nicht recht, wie er ſich zu dieſem
Broduct ftellen fol. Es kommt fehr darauf an, was er
eigentlich fucht und ſchätzt, und noch mehr, ob er eigene
gefeftete Welt⸗ und Lebensanfchauungen den etwas un»
beftimmten des Autors entgegenzufegen bat, und welche?
Mit Rüdfiht auf die Compofition muß zunächft auf
fallen, daß diejenige Perfon, die dem Zitel nad) als der
Held des Stüds erfcheinen follte, nichts weniger als biefe
Rolle fpielt, ja wir ftehen tief im erften Bande drinnen,
ehe fie nur geboren wird, und auch fpäter nimmt biejer
jedenfalls nad) einem fonderlichen Einfall fo geheißene
„Konigstreu“ ale Minifterialrath nur eine untergeordnete
Stelle in der Erzählung ein. Iſt aber nicht er der Held
des Stüds, fo fragt ſich's, ob überhaupt einer da fei?
Nein. Am eheften käme die Rolle noch dem Hauptmann
von Woldeck zu, der flarf in alle vorgeführten Lebens»
verhältnifle eingreift und fo ziemlich überall den Netter
fpielt; aber im Grunde Haben wir feine eigentlich herr-
fchende Hauptperſon. Es ift eine ganze Reihe von Fa—
miliengefchichten, die nebeneinander durchgeführt werden,
und daneben gehen noch allerlei Scenen aus der Revo⸗
Iution von 1848 mit, aber blos als politifche Zuthat.
Auf dem Schlachtfelde von Tigny treffen wir den
Hauptmann und deflen Begleiter Stein, einen reichen
Bauernſohn, bie beide nachher in die Heimat entlafjen
werden. Der Autor führt uns in ihre Yamilien ein;
dabei erfahren wir gleich zu Gunften des fehr bevorzug-
ten Charakters des abelihen Hauptmanns, wie er für
einen fterbenden Soldaten feiner Compagnie und deſſen
Geliebte Elsbeth und fpäter auch deren Kind beforgt ift.
Stein gewinnt zu Haufe mit Hülfe feines Oheims, eines
1870. 24
hageſtolzen Sonderlings, gegen ben Willen feiner im
Banerngeldftolz befangenen Aeltern ein armes, aber bra-
ves und tüchtiges Mädchen zur Frau. Woldeck, in ein
Fräulein von Rhinow verliebt, findet biefelbe als eman«
cipivtes Weib wieder, das mit dem Abvocaten Willenberg
in die Welt Hinausreift, ein Kind bekommt und heimlich)
zurüdläßt, nachher vornehme Frau und fromm und gut
confervativ wird; er felbft bleibt nach diefer Erfahrung
unverheirathet und erzieht die aufgefuchte und in fein Haus
aufgenommene Tochter feiner einftigen Geliebten. Die Els⸗
beth findet er todt; von ihrem Herrn Isbert verführt und
dann verftoßen, hat fie einen Knaben hinterlaffen, der
trog Wolded’8 Borforge ein mit Gott und der Welt zer-
fallener, Bagabund wird. Darauf werben wir des Nähern
in die Familien Skine und Isbert eingeführt, zweier
reihen Yabrilanten, die gleich geldftolz, hochmüthig, hart⸗
berzig und erbürmlich find, nur daß Isbert noch den
Scheinheiligen fpielt. Diefer, zuerft durch einen un⸗
gerathenen Sohn gedemüthigt, wird in der Nevolution
gänzlich geſtürzt. Jener wird nach allerlei Prüfungen
durch einen curiofen Stiefbruder, den Amerikaner Walter,
zur Bernunft und Humanität zurüdgeführt. Willenberg
fallt in der badifchen Revolution. Die gereinigten Fa⸗
milien blühen in ihren Kindern fort.
Was die Zendenz fein fol, verftehen wir nicht recht:
jedenfalls wird eine gut confervative und loyal⸗ monarchifche
Geſinnung als da8 Rechte gelehrt; im übrigen erfcheinen
fo ziemlich) alle Elemente, mit Ausnahme des im der
Doppelfamilte Woldeck gefeierten Adels, in fchlechtem Licht.
Die gelöftolze Bourgeoifie und Yabrilantenklaffe zeigt in
ben Skine und Isbert fo ziemlich ihre fchlechteften Exem⸗
plare, die Arbeiterwelt erfcheint in Lumpen, die Revo⸗
Iution führt uns nur ihre carifirt-vagabundirenden Aus-
wüchſe vor, and) die Reaction hat verehrt über die Schnur
gehauen. Was ſoll denn Recht und Beftand Haben? Wir
gehen umnbefriedigt vom ganzen Zeitbilde meg.
Eins aber erfrent und ift allerdings hoch anzuſchla⸗
gen, nämlich eine am „Patinenpapa”, „Tantchen Unver⸗
zagt”, Waller u. |. w., vor allen aber an ben Stine geübte
meifterhafte Perſonencharakteriſtik. Man fehe ſich einmal
folgende wie ausgemeißelte Figur an:
Hr. Stine war ein Mann von mittlerer, gebrungener
Geſtalt, mit einem runden, rothen Geficht und einem berans-
fordernden Blick, mit einem ſchwarzen Badenbart, welcher in
Hufeifenform an feinen Mundwinkeln auslief und auf den er
fehr viel zu halten ſchien, denn jeden Augenblid fuhr er fid)
mit einer gewiffen Kofetterie mit den Fingern durch denfelben,
und zum Ueberfluß hatte er auch noch die urſprüngliche röth-
liche Farbe defjelben auf künſtlichem Wege in ein glänzendes
Schwarz verwandelt. Hr. Stine war der Egoifl vom reinften
Wafſer, und wenn man ihn mit ausgefpreizten Beinen, den
Kopf herausfordernd zurückgeworfen und beide Hände in den
Hofentafchen, auf dem Piedeflal ftehen ſah, welches er fich in
jeinem Hochmuth und feiner Eitelkeit felbft errichtet hatte, fo
gewann man die unfehlbare Weberzeugung, daß alle übrigen
Menſchen nur dazu da feien, um ftaunend zu der Höhe der
Unfehlbarkeit, auf deren oberfter Spite Hr. Stine fand, empor-
zubliden. In der That, es gehört eine andere Feder als die
unfere dazu, um die Erhabenheit zu befchreiben, mit welcher
Hr. Stine durchs Leben ſchritt, und die Blicke zu ſchildern, mit
denn diefer würdige Repräfentant des Kapitals mit Mitleid
und Geringihägung auf alle Menſchen herabblidte, welche das
Unglüd hatten, fi) in Ermangelung einer Anzahl wohlgefüll⸗
ter Geldfäde auf andere Hülfsmittel fügen zu müffen, um
48
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378
anftändig durchs Leben zu kommen. Hr. Stine durfte es ſich in
feiner Erhabenheit und Unfehlbarteit jogar erlauben, mit dem
Himmel zu rechten, wenn diefer e8 einmal unterlaffen hatte,
feinen Wünfchen entgegenzufommen, oder wenn das Scidjal
einmal fo verwegen geweſen war, ihm einen Stein in den Weg
zu vollen, fiber weldyen ex hätte ftolpern können. Weshalb war
es 3.8. nicht fhöne, reine Luft, wenn Hr. Skine in den Gar⸗
ten trat?... Hr. Sfine wollte doch den Morgen genießen, und
es hätte deshalb jedenfalls reine Luft fein müffen — Pahl...
Barum ſchien Hrn. Stine die Sonne ins Geſicht, während ihn
dies doch incommodirte? Der Himmel hätte unflreitig daran
denlen müſſen — Pabl... Weshalb fing es denn gerade an
Die ſchwediſchen Nordfahrten.
zu regnen, als Hr. Sline ausfahren wollte? Dies war ein
umverzeihliches Bergehen, welches Hr. Sline nimmer vergeflen
würde — Pah!... Weshalb fette fi ihm eine Mücke auf die
Nafe? — Bahl... Warum incommodirte ihn jetzt eben eine
Sliege? — Babl... Kurz, Hr. Stine war aus lauter Pahs
zufammengefett, und bei jedem Pah wurde fein Blick hoch⸗
müthiger und niederfchmetternder u. f. w.
Glänzend, vortrefflih! Solder Pah⸗Skines gibt e8
beutigentags auf Schritt und Tritt, nur find fie in ber
Regel noch unverbefjerlicher als unfer Muſterexemplar.
3. 3. Gonegger.
Die Schwedischen Nordfahrten.
Die ſchwediſchen Expeditionen nad Spigbergen und Bären-
Eiland, amsgeführt in den Jahren 1861, 1864 und 1868
unter Leitung von DO. Torell und A. E. Nordenſkisld.
Aus dem Schwebilhen überſetzt von 2. Baffarge Nebft
9 großen Anfichten in Tondruck, 27 Illuſtrationen in Holz
fchnitt und einer Karte von Spipbergen in Farbendruck. Jena,
Coſtenoble. 1869. Gr. 8. 2 Thlr.
Spitzbergen, ſo hat man mit Recht geſagt, iſt heut⸗
zutage bekannter und beſſer erforſcht, als manche Land⸗
ſchaft auf dem europäiſchen Continent. Nachdem die Zeit
der großen Fiſcherei dort vorüber, das Vorkommen der
Walfiſche ein ſeltenes geworben war, Hatte jene Inſel⸗
gruppe für die große Menge ihr Intereſſe verloren.
Wiſſenſchaftlich waren bort jedoch noch wichtige Aufe
gaben zu löſen und mit danfenswertbem Eifer haben die
Schweden dies aud) gethan. Ihnen log ja Spigbergen
recht eigentlich vor der Thür; von Tromſö in Norwegen
bis zur Sübfpige jenes arktifchen Landes beträgt die Ent⸗
fernung in geraber Linie nur 100 deutſche Meilen, und
biefe wurben alljährlich oft felbft von Heinen Fifcherbooten
zurüdigelegt, die auf den Robbenſchlag auszogen. Inner
halb des legten Decenniums haben denn die Schweden
nicht weniger als vier Expeditionen nach Spigbergen ge»
fandt: im Sommer 1858 die kleine Recognofcirungsfahrt
von Torel, Duennerftedt und Nordenftiäld; dann 1861
mit Unterflügung der Regierung und ber Akademie ber
Wiffenfchaften die vortrefjlich ausgerüftete Expedition des
Heolus und der Magdalena mit einem Gtabe von
elf Gelehrten. Zu ben vielen Aufgaben, welche diefer
zweiten Spigbergenfahrt geftellt waren, gehörte eine vor⸗
läufige Aufnahme fir die fpätere Meflung eines Meridian-
bogen® durch die ganze Länge der Infeln; aber wegen
ungünftiger Winde und der Tage des Eiſes Tonute man
diefe Aufgabe nicht vollftändig löſen und es wurde daher
1864. eine neue Expedition unter Nordenffiöld auf dem
Schiffe Arel Thordſen ausgefandt. Diefen beiden Ey-
peditionen, die unter anderm ausgedehnte geographijche
Meffungen und Beobachtungen anftellten, verdanlen wir
eine neue Karte Spitbergend. Als dann die Norbfahrten
eiffiger in Gang famen, wurde 1868 der Dampfer Sofia
abermals in die norbifchen Gewäfler gefandt. Er war
gleichzeitig mit der Deutfchen Erpedition bei Spitzbergen
und erreichte die höchſte mit einem Schiffe gegen Norden
gewonnene Breite 81° 42°.
In dem vorliegenden Werke nun ift die erſte Recog⸗
nofeirungsfahrt nicht berührt, die Expedition von 1868
nur fehr kurz und vorläufig, fogar kürzer als ber fchon
in Deutfchland publicirte Bericht bes Kapitäns von Otter.
Titerarifch genommen ift die Arbeit gerade fein Meifter-
ftüd, denn fie wirft zufammengehörige Gegenſtände aus
einander, behandelt ein unb diefelbe Sache oft an em
Dutend , verjchiebenen Stellen, ftatt fie ein für allemal
abzumachen. Seehunde, Walroffe, Eisbären, Henthiere,
Gletſcher, Eis u. f. w., alles wird zerftveut, nirgends in
abgerundeten Bildern befprodhen. Das ermüdet oft; aber
trogdem ift das Buch durch die Fülle bes gebotenen und
viele hübſche, äußerſt anfprecjende und auch gut geſchil⸗
derte Partien immerhin zu ben befiern über die Polar«
regionen zu rechnen. Die Ausflattung, im ganzen trefi-
Ti), leidet doch an Mängeln. Hierhin rechnen wir eine
Anzahl der in den Text gebrudten Holzjchnitte, welche
(S. 129, 136, 257 u. ſ. f.) in Zeihnung und Aus-
führung fo ſchlecht find, daß fie noch aus der Zeit
zu ftanımen fcheinen, in welcher die Zylographie in ben
Kinderſchuhen ftand; aber die größern Bilder find gut.
Endlich die Karte. Sie flammt aus Petermann’s Er⸗
gänzungsheft Nr. 16 vom Jahre 1865. Seitdem if
unfere Kenntniß Spigbergen® wefentlich vermehrt worden.
Es fehlen die Ergebniffe ber Expedition von 1868 daher
gänzlich, mithin die Kichtigftelung der innern Theile des
Eisfjords, des Forelandſunds, der Liefbebai; es fehlen die
deutfchen Eorrecturen im füblichen Theile der Hinlopen⸗
frage. Das find unfere Ausftellungen. Gehen wir nun
auf einzelnes ein.
Die große Trage, welche bei allen Norbfahrten zu-
nächſt in Betracht fommt, ift jene: Gibt es eim offenes
Polarmeer oder nicht? und Hierin flehen fi bekanntlich
zwei Anfichten fchroff gegeneinander über. Die Schwes
on fagen „Rein“, bie Deutfchen „Ja“. Zorell fchreibt
(S. 117):
Manry Bat aus rein tbeoretifchen Gründen zu beweifen
geſucht, daß das Polarmeer offen und fchiffbas fe. Petermann
trat ihm bei und bezog fid) auf die bis dahin gemachten Er»
fahrungen. Mit Ausnahme von Kane und Hayes hat indeffen
feiner von den Männern, welde ſelbſt das Polareis beobachtet,
diefe Anficht getheilt. Im Gegentheil, Sir Leopold M’Elintod,
vieleicht die erfte Autorität auf dieſem Gebiet, hat die Eriftenz
eines offenen Polarmeers beſtimmt in Abrede gefiel. Die
aufgeſtellte Theorie ift indeffen, infolge des großen, wohlbegrün⸗
beten Anfehens der Männer, welche fie adoptirt haben, zu einer
wichtigen Streitfrage in der Wiffenfhaft geworden und kann
nur auf empiriſchem Wege gelöft werden. Ich fe meinen
Theil bie durch die für die Eriftenz eines Polarmeers ange
führten Gründe nicht überzeugt, und dba meine erſten Eindrücke
und Wahrnehmungen in Spigbergen flir das Gegentheil fprachen,
—— — — — — — — — — — — — —
Die ſchwediſchen Nordfahrten. 379
ſchloß ich mid unbedingt der Anficht au, daß das nördliche
Polarmeer mit Eis bedeckt, obwol nicht ohne größere und geringere
offene Stellen fei.
Noch fchärfer fpricht Nordenſkiöld fih aus, welder
bie Borftellung eines offenen Polarmeers „offenbar eine
nicht haltbare Hypotheſe“ nennt. Nach ihn ift der einzige
Weg, den man mit ber Ausficht den Pol zu erreichen
betreten mag, der von den Englänbern vorgefchlagene:
nad einer MUeberwinterung im nörblihen Spitbergen
oder im Smithjunde, im Frühjahr auf Schlitten nord-
wärts borzudringen.
Wenn wir volle Auftlärung liber bie ſchwebende Frage
auch erft auf dem Wege der Thatfachen erwarten dürfen,
fo geziemt es uns doch, die minbeftens ebenfo beredhtig-
ten Anfichten unfers bier angegriffenen Landsmanns kurz
zu recapituliren. Nach Petermann ift das Meer zwijchen
Spigbergen und dem Nordpol ein ebenfo ſchiffbares als
bas am Südpol jenfeit des 66° ſüdl. Br., welches ein fo
ausgezeichneter Seefahrer wie Cook als „undurchdringlich
und als eine bis zum Pol reichende fefte Eismaſſe“ an»
nahm, welches aber Roß 12 Breitengrade über 66° Hin-
aus, in einem größern Raume als dem zwiſchen Spih-
bergen unb dem Nordpol, ſchiffbar fand. Wie die ſchwe⸗
difchen Forſcher fprechen, fo ſprach and) Cook, bis ein
tätiger Mann wie Roß kam und die alten Vorurtbeile
zerſtörte. Das Urtheil der Schweden ſtand feft, ſchon
ehe fie 1868 mit der Sofia nach Norden vorzudringen
fuchten. Aber was beweift das? Lütke, der berühmte
ruſſiſche Admiral, der vor emigen vierzig Jahren auch
zwiſchen Nomwaja-Semlja und Spisbergen nad Norben
ſchiffen wollte und umkehren mußte, fagt ganz richtig,
daß vereinzelte Berjuche nichts beweifen, und Meteorologen
erften Ranges treten aus wifjenfchaftlichen Grlnden
unbedingt für Petermann ein. Doch laſſen wir bie
Controverfe und betrachten wir bie wichtigften Ergebniffe
der Expeditionen.
Faſt alle Karten Spitzbergens, bie bisher vorlagen,
berudten auf alten Zeichnungen und Aufnahmen, die vor
hundert und mehr Jahren von holländifchen und englifchen
Walfiihjägern gemacht waren. Sie erſchienen ſtümper⸗
baft, und find nun durch Duner's und Nordenſtidld's
dem Buche beigegebene Karte erfegt, die, wie ſchon bes
merkt, durd) die Aufnahme von 1868 noch einige wefent-
Tiche Berbefferungen erhalten hat. Die Karte beruht auf
aftronomifchen Beobachtungen, welche an 80 verfchiedenen
Küfenpunften mit guten Inftrumenten ausgeführt wur-
den. Auch wurde das halb fagenhafte Land im Often
von Spigbergen, Gillisland, von bem 3000 Yuß hohen
Weißen Berge gejehen und in bie Karten eingetragen.
Es war ſchon von bem norwegifchen Walroßfänger Carl-
en und dem aberdeener Fiſcher Birkbeck gefehen, dann,
— wir hinzu, 1868 von Kapitän Koldeway. Es iſt
ſomit vorhanden, wenn auch noch keineswegs erforſcht.
Eine andere Frage iſt die, ob im Norden von Spitzbergen
fich noch ein unbekanntes Land findet? Auf deſſen Da—
ſein kann wenigſtens dadurch geſchloſſen werden, daß im
Frühjahr große Scharen von Vögeln von den SKüften
Spitzbergen aufbrechen und nach Norden ziehen. Wohin
nehmen biefe alfo ihren Flug? Die Söhe der fpigen
Berge, weldie dem Lande ben Namen geben, ift durd)
die Schweden beflimmt worben. Unter den gemeflenen
Gipfeln ift ber Hornfund-Pil mit 4560 Fuß englifch der
hochſte. Aus den Erceurfionen, bie vielfach ins Innere
gemacht wurden, ergab ſich, daß biefes ein ebenes, nur
bier und da von Felfen unterbrocdhenes Eisplateau, bildet,
das feinen Abflug durch die riefigen Gletſcher hat, welche
faft überall an den Küſten in das Meer niederftürzen
und in den Polargegenden die Rolle der Flüſſe milderer
Zonen übernehmen.
Befondere Bereicherung haben die Geologie und Mi-
neralogie, die Zoologie und Botanik Spigbergens erfahren.
Stark magnetiſche Gefteine, welche in verfchiedenen Thei-
fen in ungehenern Maſſen vorlommen, machen jene Ge-
genden ungeeignet zu magnetifchen Beobachtungen, befon-
ders in der Hinlopenſtraße, wo große Maſſen flarf
magnetifchen Hyperits, abwechfelnd mit Kalle und Sand⸗
feinen, auftreten. in Yängerer Aufenthalt auf Spitz⸗
bergen würde mit großen Schwierigkeiten verbunden fein,
wenn man nicht an vielen "Stellen Treibhol; und na-
mentlich Kohlenlager anträfe. Das reichte Kohlenlager
bat Blomftrand am Kohlenhafen in der Kingbai gefunden.
Es befindet fi) unfern der Küfte, ift horizontal und Liegt
zum Theil frei, bietet alfo Dampfern Gelegenheit, ihre,
Borräthe zur ergänzen.
Am Saurierhoof und andern Stellen wurde die Trias⸗
formation, die bei uns in Schwaben und Thüringen am
beften entwidelt ift, nachgewiefen, mit Neften von unter
gegangenen Rieſeneidechſen. Weber bie foffilen Pflanzen
Spitbergens, welche bie Schweden mitbrachten, hat der
befannte jchweizer Baläontologe Oswald Heer eine mufter-
gültige Abhandlung geliefert.
Was die lebende Pflanzenwelt angeht, fo wurden, ab»
gejehen von Moofen, Algen, Flechten, Pilzen, gerade 100
höhere Gewüchſe aufgefunden, von denen faft die Hälfte
auch in den PByrenüen, den Alpen, dem Kaukaſus, den
Gebirgen Perfiend und Tibets und im SHimalaja vor⸗
fommen, gewiß ein wichtiges Ergebniß für bie Verbreitung
der Gewächſe. Auf dem niedrigen Lande fchmilzt übri—
gens der Schnee im Sommer vollftändig, dann grünt die
nordifhe Zmergvegetation, die an einzelnen Stellen bis
zu 2000 Fuß Höhe Hinaufgeht, im allgemeinen jedoch
beginnt die Grenze des ewigen Schnees bei 1500 Fuß.
Wir finden in dem Werke fehr Lebhafte Schilderungen
der ungeheuern Bogelmengen, bie in thatfächlich unabfeh-
baren Scharen, ein auf Stunbenweite hörbares Gefchrei
berurfachend, an den Uferflippen niften und buchſtäblich
gleich Wolken die Sonne verfinftern, wenn fie anffliegen.
Die ſchöne Eiderente ift infolge der raſtloſen Nachftel-
lungen dem Ausfterben nahe, auch das Walroß wird fel-
tener, da es von den Fiſchern allzu fehr verfolgt wird.
Das Renthier — eine eigene Spielart auf Spitzbergen
bildend — gibt die wichtigfte Fleiſchnahrung ab und zum
Glück eriftiren dieje ftattlichen Thiere dort noch im großer
Zahl. Man fieht fie in allen Theilen des Landes von
den Steben Inſeln im Norden bis zum Südcap gelegent-
lich; nur im Nordweften erfcheinen fie felten. Polar-
bären treten am Bäufigften im Norden und Often auf.
Wenn der Eisbär nicht kurz vor feiner Erlegung von
einem balbverweiten Seehund gefrefien bat, jo ift fein
Fleiſch, obwol etwas grob, doch ſchmachhaft und keineswegs,
48 *
380
wie ältere Keifebefchreibungen angeben, der Geſundheit
nachtheilig. Wer Vergnügen an Bürenabentenern hat,
findet im vorliegenden Buche vollauf Befriedigung.
Die Fiſche find von Malmgren bearbeitet worden.
Sie kommen an den Küften nur in geringer Anzahl vor,
und man fann nicht darauf rechnen, aus biefer Quelle
einen Beitrag zur Tafel zu erhalten. Weiter nad) Sü—⸗
den, nad) der Büreninfel hin, bietet die Fifcherei aber
eine unerfchöpfliche Duelle des Reichthums. Wir Tennen
jest 22 Meerfifche, unter denen ein Heiner Hai, der
Haaljäring, vortrefflichen Leberthran liefert. Heiligbutten,
Dorſche, Schellfifche, Marulten können in ganz ungeheuern
Maſſen gefangen werben. Es unterliegt gar keinem Zwei-
fel, daß diefe Vorräthe einft ausgebeutet werden, ja es
ift anzunehmen, daß bie Norweger, denen jenes Meer
vor ber Thür Liegt, ihre Rechnung dabei finden werben,
zumal wenn fie auf der Bäreninfel (Füblich von Spitzbergen)
eine Station errichten. Am intereffanteften ift Yolgendes.
In der Umgebung der Aldert-Dirkfes-Bucht fanden die
Schweden einige Süßwaflerfeen, und in dieſen präd-
tige Lachsforellen, diefelbe Art, die in unfern Alpen
borlommt.
Man fieht fchon aus obigen kurzen Anführungen,
daß es nicht an Leben und Reichthum in jenem arktifchen
Lande fehlt. Wenn doch exft die falfchen Borftellungen
Bom Büchertiſch.
von todten Eiswüſten, unerträglicher Kälte u. ſ. w. ver-
Ihwinden möchten, die fo vielfach mit den Borftellumgen
von den Polargegenden verfnüpft find! Die Lektüre der
ſchwediſchen Nordfahrten wird gewiß dazu beitragen, und
da auch fejlelnde perfönliche Abenteuer nicht fehlen, fo
wird gewiß niemand das Bud, unbefriedigt ans der
Hand legen. Aufgefallen ift uns nod der ftarfe Slan⸗
dinavismus, ben die Erpeditionsmitglieder bis in die arfe
tifchen Regionen Hineingetragen haben. In der Moffal-
bai feierten fie das ihmen allen heilige Yohannisfeft, fie
zündeten ein Freudenfeuer von Zreibholz au, einen ge-
waltigen Balderbäl, und ließen die jtandinavifchen Flaggen
im uordifhen Winde wehen. Auf einem mit Flechten
überzogenen Felsblod wurde dann Renthierbraten fervirt
und Skandinaviens Wohl getrunken:
Es war ein echt flandinavifches Feſt, unvergeßlich flir je—⸗
den, ber daran theilgenommen. Die vier nordiſchen Bölfer:
Schmeden, Rorweger, Dänen und Finnen waren bier vertreten,
und ſelbſt Lappländer fehlten nit. Der Scheiterhaufen, die
Sohannisftange und die feltfame vom Feuer beleuchtete Geſell⸗
haft, der Hügel mit den alten Gräbern, das unüberſehbare
Padeis, über welchem die Mitternacdhtsionne recht im Norden
an dem wolfenfreien Himmel ftrahlte, mild und verheißend —
diefes alles bildete ein wunderbares Gemälde, das mit feinen
Contraften einen unauslöfchlichen Eindrud auf uns made.
Richard Andree.
Vom Büchertifc.
1. Die nächſten Aufgaben für die Nationalerziehung ber @egen-
wart mit Bezug auf Friedrich Fröbel's Erziehungsiuften.
Eine teitifch päbagogifcie Studie von 3. H. von Fichte.
Berlin, Lüderitz. 1870. ®r. 8. 8 Nor.
Die päbagogifche Literatur wächſt von Jahr zu Jahr.
Auch auf unſerm Büchertiſch nimmt fie einen beträcht⸗
lichen Raum ein, und nicht die ſchlechteſten Leſefrüchte find
es, die wir aus der Lektüre des pädagogiſchen Theils die⸗
ſes Büchertiſches davontragen. In vorliegender Schrift,
die der Wiederabdruck einer im Juliheft 1869 der „Deut⸗
ſchen Bierteljahrsfchrift‘ erjchienenen Abhandlung ift, tritt
die Philoſophie für die Tröbelfchen Ideen ein. Fröbel
war, wie Fichte richtig hervorhebt, wie alle genialen Er⸗
finder und inftinetiv Begeifterten, ſelbſt unfähig, feinen
tiefen und wahren Grundgedanken die volljtändige willen
Schaftlihe Form und eben damit die durchgreifende Klar⸗
heit zu geben, welche das eigentlich Entfcheibende defiel-
ben, frei von allem Beiwerk und angeflogenen Yormel-
weſen hingeftellt hätte Daß eine große püdagogifche
Mojorität und darunter auh Immanuel Fichte in Frö⸗
bel's Lehre den einzig richtigen Ausgangspunft für die
Nationalerziefung der Gegenwart findet, ift begreiflid.
Fröbel fand, daß das Spiel das Vorbild und Nachbild
des gefammten Menfchenlebens ift; er betonte zuerft mit
Nachdruck, dag das Kind unter den Einflüffen der Natur
groß werden müſſe unb eben bie große Bedeutſamkeit die-
fer Lehren weiß Fichte jehr richtig Hervorzuheben. Wenn
der berühmte Sohn eines berühmten Philofophen erklärt,
daß Fröbels Erziehungsmarimen fortan die leitenden
Grundfäge der Staatspädagogif werben müßten, fo Hat
diefer Ausfpruch weitgehende Tragweite; er conftatirt auch
eben wieder, daß eine neue Weltepoche naht, für melde
die alten Formen der Erziehung fich ungenügend erweiſen.
2. Pudagogiſche Wanderungen von A. Wittſtock. Kaffel,
C. Ludhardbt. 1870. Gr. 8 1 The.
Der Berfaffer Hat in verjchiedenen europäifchen Rän«
dern und an den verfjchiedenartigften Schulen als Lehrer
gewirkt. Daß durch diefe felbftverftändlich reichen Erfah-
rungen das vorliegende Buch ein doppeltes Intereſſe ge⸗
winnt, ift natürlich. Befonders das erfte fittengefchichtlich und
pädagogisch interefjante Bild: „Eine pädagogifche Schwei«
zerreife”, fellelt durch die Wahrheit einer urſprünglichen
Anſchauung. Dabei Tennzeichnet den Autor ein verftän-
diger Bli fir Literarifche und culturhiftorifche Zuſtände,
jowie er fi aud durch eine ſehr belebte Schreibweife
beim Leſer beftens einzuführen weiß. Die „päbagogifchen
Briefe aus Paris” zeigen, daß die Franzoſen im Felde
der Schulerzichung und bed Volksunterrichts noch viel
von den Deutfchen Iernen können. So ift der Unterridt
in Geſchichte und Geographie eine der ſchwächſten Seiten
des franzöfifchen Unterrichts; die neuefte Gefchichte Franlk⸗
reichs beſonders wird, wie zu erwarten ift, tendenzibs
entftellt. Auf einem päbagogifchen Ausflug nad) Eng-
laud Hat Wittftod wieder Gelegenheit, die Wahrnehmung
zu machen, daß in England die Kenntniß der Pädagogik
als einer felbftändigen Wiffenfchaft noch ganz fehlt. Gegen
den Schluß feines Werks ftellt der Berfaffer mehrere
Hauptpunkte für ein allgemeines deutſches Schulgefeg auf.
Wie weit diefe Thefen Berüdfichtigung finden werben, ift
abzuwarten; jedenfalls zeigt Wittftod, daß er zu be.
obachten und zu berichten verfteht, ein Vorzug, den nicht
Vom Büchertiſch.
alle deutſchen Pädagogen in fo hervorragendem Maße
als der Berfaffer der ,„‚Püdagogifchen Wanderungen”
befigen.
3. Aus Diefterweg’8 Tagebuch von 1818-22. linter Zur
fimmung der Familie herausgegeben von E. Langenberg.
Frankfurt a. M., 3. &. Hermann. 1870.
Goldene Worte, die der jüngere Mann in Frankfurt,
Elberfeld, Mörs aufzeichnete. Langenberg hat das Ber-
dienft, die körnige Lebensweisheit diefer Aufzeichnungen
dem jüngern Gefchlecht übermittelt zu haben. Eine tiefe
Religiofität ſpricht aus diefen Zeilen, die nicht nur fr
den Pädagogen, auch für den Piychologen von tiefgehen«
dem Intereſſe fein müſſen. Leider ift unfer Raum zu
befchränft, um aus dem reichen Vorrath diefer Tagebuch⸗
notigen ein paar Aphorismen als Proben herauszunch-
men. Praktifche Winke für den Lehrer und den Erzieher
finden fi darin genug. Wir können bier nur mit dem
Herausgeber zur Lektüre einladen und den Wunſch hegen,
daß biefelbe dem Lefer reiche Früchte fchaffen möge!
4. Wie mir’s erging. Antobiographiſche Sklizzen von Augufl
Biegand. Halle, Nebert. 1870. 8. 20 Nur.
Der Selbftbiograph, ehemals Lehrer der Mathematik
and Raturwifjienfchaften an mehrern höhern Unterrichts-
anftalten der Provinz Sachſen, ift jetzt technifcher Director
ber Lebensverfiherungs-Gefellihaft Iduna zu Halle an
deu Saale. Es ſcheint ihm nad) langen Kämpfen und
Sorgen gelungen zu fein, in einen friedlichen Hafen, ber
ihm eine behagliche Eriftenz fichert, einzulaufen. Seine
Autobiographie bietet nichts Ungewöhnliches, nichts originell
Empfundenes, nichts neu Gedachtes; es ift das Lebens⸗
ſchickſal eines deutfchen Lehrers, der, wie Zaufende feiner
Collegen, fiir fchwere Mühe und Geiflesarbeit fchlechtes
Brot erhalten Hat und der mit deuticher Geduld doch
unabläffig bemüht gemwefen ift, fein Amt treu und ge-
wifienhaft zu verwalten. Preilih hätte derjelbe ohne
ſchriftſtelleriſche Thätigkeit, die fih in der Abfafjung
mathematifher und naturhiftorifcher Lehrbücher äußerte,
wol kaum fein und ber Seinen Leben friften können. Die
Honorare deutſcher Buchhändler, unter denen Philipp
Reclam in Leipzig ſich vortheilhaft auszeichnete, find hier
wieder im ihrer lächerlichen Winzigfeit erwähnt; nichte»
deftoweniger fchreibt der unermübliche Autor Iuftig darauf
fort, bis e8 ihm gelingt, in der Verſicherungsbranche eine
Schriftftellerifche Autorität zu werden. Als der Sohn
eines armen Bauern bat er fi rüftig in die wiſſenſchaft⸗
liche Laufbahn Hineingearbeitet; befonders für den prafti-
fchen Lehrer werden die auf ©. 62— 71 mitgetheilten
Erlebniſſe nebft den daraus gezogenen Refultaten hochſt
Iehrreich fein,
5. Religion und Chriftentfum. Sechs Borträge gehalten von
WBilhelm Müller. Berlin, Henfchel. 1870. 8. 24 Nur.
Bon dem Linken Centrum bes Proteflantismus kommt
die vorliegende Schrift, aber fie Fämpft nicht mit den
meift beliebten Angriffswaffen der proteftantifchen Rechten.
Der Berfafler denkt jehr Har und wie er fich felbit Ge⸗
wißheit über das Weſen der von ihm beantworteten Fra⸗
gen verjchafft Hat, fo ift es ihm auch darum zu thun,
feinen Leſern eine folgerechte Entwidelung des veligiöfen
Begriffs, der dem Autor mit dem chriftlichen nicht überall
381
ibentifch ift, zu geben. Die Kirche, bie der geiftuolle Ver⸗
faffer im Sinne hat, beruht auf echter Frömmigkeit und
innerfter Hingebung an das chriftliche Gottesbewußtſein;
fie fucht und gibt für den fittlichen Ausbau des Lebens
auf allen Gebieten Kraft. Und fo kommen biefe Unter-
fuchungen auf den Entfcheid, daß die Kirche der Zukunft
weder Kirchenftaat noch Staatskirche fein dürfe: fie gehen
alfo auf das Ziel jeder unabhängig denkenden Theologie,
auf bie freie Kirche hinaus.
6. Gedächtnißrede auf Alerander von Humboldt. Im Auftrage
der Töniglichen Alademie der Wiffenfchaften zu Berlin ge-
halten in der Leibniz⸗Sitzung am 7. Juli 1859 von C. ©.
Ehrenberg. Berlin, Oppenheim. 1870. ©r. 8. 10 Ngr.
Bei weiten die bebeutendfte und intereffantefte lite⸗
rarijche Leiftung auf unfern heutigen Büichertifch ift Ehren.
berg’8 Gebächtnißrede auf den damals eben verfchiedenen
Neftor der Naturmwiffenichaften. Mit feinem Blick für
Perſonen und Zuftände, mit liebevollem Eingehen auf die
Iugendgefchichte des großen Geiftes, deffen Säceularfeier
wieder in erneuertem Maße die öffentliche Aufmerkſamkeit
anf feine Lebensumftände gerichtet bat, fchildert der. be=
rühmte berliner Naturforfcher, wie fein anderer dazu bes
rufen, beſonders eingehend die drei erften Decennien von
Alerander von Humboldt'8 Leben. Zum Theil verdanken
wir eine Menge intereflanter Specialnotizen den Briefen
Alexander von Humboldt's an den fpäternsöniglich füchftfchen
Berghauptmann Freiesleben, welche in bie Zeit der neun-
jiger Jahre fallen und aus denen Ehrenberg mehrere Aus-
züge mittheilt. Ueberall zeigt fi uns der Schöpfer bes
„Kosmos“ als ein warm empfindender, fehnell faflender
und alles umfaffender Geift, der fchon in früher Jugend
die Seime feiner fpätern Größe zeigt. Es ift neben dem
Neuen zumeift der angeregte Ton, den Ehrenberg’8 „Ge⸗
dächtnißrede“ athmet und der feinerfeitS eine anregende
Wirkung auf den Leſer nicht verfehlen dürfte.
7. Bon der Univerfität. I. Die Dortoren-Collegien. II. Er«
innerung an die Doctoren: Karl Freih. von Hod und
M. Hörmes; Victor Aime Huber und Heinrich Ritter. Bon
: Fi Bollinger. Bien, Mayer und Comp. 1869. Gr. 8.
Die berechtigte Eigenthlimlichkeit der Doctorencollegien
an der wiener Univerfität legt dem fcheidenden Dekan ber
philofophifchen Facultät die Pflicht auf, ein Refumd ber
wichtigern Borkommnifje feiner Yunctiongzeit zu verdffent«.
lichen. Hoffinger hat, als er das Dekanat fiir das ver-
flofjene Jahr niederlegte, jener Pflicht entfproden. Er
ift einmal für die Organifation, beziehentlich Reorgani⸗
fation der beftehenden Doctorencollegien eingetreten, und
darüber ift Hier nicht der Ort, mit ihm zu rechten; er
bat aber andererfeits in den Nekrologen vier dahingeſchie⸗
dener Mitglieder des Collegiums einen danlenswerthen
Beitrag zur Gefchichte der Wiffenfchaft in Defterreich
gegeben. Der Mineraloge Dr. Morig Hörnes (1815—68),
der Gefhichtjchreiber und Staatsmann Karl Freiherr von
Hod (1808— 68), der geiftreiche Publicift und Touriſt
Bictor Aime Huber (180069), endlich ber göttinger
Philoſoph Heimih Ritter (1791 — 1869), fie alle (zu-
mal Huber, deſſen Lebensabriß ſehr ausführlich behandelt
ift) erhalten in ben biographiſchen Ausführungen Hoffin⸗
ger’3 ein würdiges literarifches Denkmal, das um fo mehr
382 Vom Büchertiſch.
allgemein intereſſiren wird, als die beiden letztgenannten
Männer auch über die Grenzen Oeſterreichs hinaus ſich
eines weitverbreiteten Namens erfreuten.
8. Semmlung gemeinverſtändlicher wiſſenſchaftlicher Borträge
heransgegeben von R. Virchow und Fr. von Holgen-
dorff. ierte Serie. Heft 3— 98. Berlin, Lüderitz.
1870. &r. 8. Jedes Heft 5 Nor.
Heft 93. Das Eifenhlittenwefen. Erſte Abtheilung: Die Er-
— bes Roheiſens. Bon H. Wedding Mit 2 Holz⸗
nitten.
Nachdem uns der Verfafler über das Eifen und feine
Berbindungen des Nähern belehrt hat, kommt er fpeciell
anf die Erzeugung des Roheiſens zu fprechen, welches bie
Grundlage für die Darftellung aller Sorten Eiſen ifl,
mit mas für Eigenſchaften nder Formen biefelben aud in
ben Berkehr treten mögen. Er zeigt ung fehr anfchaulid)
die Procefje, welche zur Austreibung ber Waſſer⸗ und
Kohlenſäurt aus den Eifenerzen führen; fo fchildert er
die Röftung in ben Röftäfen und die für die Eifenhütte
höchſt wichtigen Operationen der Verlohlung des Holzes
und der Berlofung der Steinfohle. Die beigegebenen
Holzſchnitte perbeutlichen ung bie Eonftruction ber Hoc»
öfen, beren Thätigkeitserllärung ber leute Theil bes Vor⸗
trags gewidmet ifl.
Heft M. Die Eitzeit der Erde. Bon Alexander Braun.
Nachdem uns Prof. Zaddach in einem ber frühern
gete die Tertiärzelt ber Erbe gefchildert, thut Alerander
raun das Side mit der fogenannten Eiszeit. Einen
rogen Raum bed Bortrags nehmen die Ermittelungen
ohann von Charpentier's, weiland Salinendirectore zu
Der im Waadtland, über die fogenannten erratifchen Blocke
der Schweiz ein. Braun erflärt bei biefer Gelegenheit
die Gletſcher nicht fitr Eisberge, ſondern Eisftröme, welche
die Thäler erfüllen. Uebrigens finden ſich Spuren der
Eiszeit and) im Norben Europas unb im Norden der
Neuen Welt. Auf ber füdlichen Hemijphäre haben Dar-
win und Hochſtetter nachgewiefen, daß bie dortigen Glet⸗
ſcher einft bis zum Meere herabgereicht haben. Daß die
Wifienfchaft durch die Lehre von ber Eiszeit neue Ein-
blide in die Vertheilung des Pflanzen- und Thierreichs,
ja in die Urgeſchichte des Menfchengefchlechts jelbft Hat
thun Lafien, geht aus Braun's anregendem Vortrag deut⸗
lich hervor, |
Heft 95. Englands Preffe. Bon Kranz von Holgendorff.
Bon der Behandlung naturwiffenfchaftliher Themen
kommen wir zu einem Bortrage focialer Natur. ‘Der
getviegte Kenner des englifchen Strafrechts und Gefüngniß⸗
weſens gibt uns einen Einblid in die Welt der englifchen
Preſſe. Die einzelnen intereffanten Notizen über biefe
Großmacht entziehen fich der detaillirten Berishterftattung,
nur fo viel fei erwähnt, daß in England, anders als in
Dentichland, die Wirkfamkeit bes Literaten in ihrer vollen
ſtaatlichen Bedentung erlaunt wird, Holgendorff fagt:
Die begabtefien Staatemfinuer veriämähen es nicht, in
der Preſſe mitzuarbeiten an dem großen Werke einer niemals
vollendeten Aufklärung. Der Dienft des Schriftflellers, der
gewifienhaft prüft, bes Forfchers, der fein Wirken zum @e-
meingut macht, iſt allemal ein Staatedienfl. Unermeßlich ift
ber Nutzen, ben eine freie Preffe für England geftiftet hat und
fortbauerub fiftet.
Heft 96. Menſchen⸗ und Affenſchüdel.
Mit 6 Holzichnitten.
Die beiden Herausgeber der vorliegenden Sammlung
haben Bintereinanber zwei wichtige Themata der Gegen-
wart fi) zur Behandlung gewählt: Holgendorff die Zu⸗
flände der englifhen Preſſe, Virchow das vielbefprochene
anthropologifche Thema, für deffen Erörterung die Schübel-
formation meift den Ausfchlag gibt. Da ber Menſch
nur einen vernünftigen Geiſt hat, infofern und infoweit
er Gehirn befist, und letzteres wieberum nur, infofern
er Wirbelthier ift, fo fpielt die Schädelbildung, aus welcher
man auf das Gehirn zurückſchließen Tann, eine wichtige
Rolle. Ueber Kielmeyer's, bes Vaters der vergleichenden
Anatomie, und jMedel’8 Theorien kommt Virchow zu ber
Darwin’fchen Lehre und fucht hier Karl Vogt's Ausben-
tung der Darwin’fchen Thejen zu widerlegen. „Es liegt
auf der Hand”, fagt Virchow, „daß durch eine fortſchrei⸗
tende Entwidelung des Affen nie ein Menfch entftehen
fann. So ift der Mikrocephale wol ein durch Krankheit
veränderter Menſch, aber Fein Affe.” Es führte Hier zu
weit, die geiftvolle Virchow'ſche Beweisführung Glied an
Glied zu wiederholen; es genüge, daß aus dem Vortrage
die Thatſache hervor di ein Nachweis der Abſtammung
des Menfchen vom } en fei bisjegt noch nicht geliehgrt
worden.
Heft 97. Mythos und Religion. Von H. Steinthal.
Eine der Koryphäen der vergleichenden Sprachwifſen⸗
ſchaft gibt lichtvolle Aufſchlüſſe über das muthifche Den-
fen und bamit den Schlüffel zu vielen Träumen ber
Völkerkindheit. Den phyſiſchen Urſprung der Götter-
mythen weift Steinthal als einen fpäterhin aus bem Zu=
ſammenhang geriffenen und unverftandenen nad. So
erlitt der Mythus allmählich das Schiefal, daß bie in
den ober fi) fortwährend wiederholenden
Thaten himmliſcher Perfönlichkeiten für einmalige Begeben⸗
heiten unter Gbttern oder Menſchen gehalten wurden.
Die Menſchengeſchlechter, in denen ſich ſalcher Wandel
des Mythus vollzog, blieben in ihrer Naivetät ohne jedes
Bewußtſein darüber, daß in ihrem Geifte ſich etwas ge⸗
ändert babe, daß alte Erzählungen umgeftaltet worden.
Daß aber auch der Mythus, der überall noch heute fort-
lebt, auch religiös geworden iſt, zeigt bie zweite Hälfte
des Steinthal'ſchen Vortrags, wenn auch nur im abftracter
Weiſe. Die Befeitigung des Mythus aus ber Religion
ftelt Steinthal als wlnfchenswerth hin, wenn er aud
erffärt, daß Hier mit roher Bilderſtürmerei noch nichts
gethan ift.
Heft 98. Phyfioguomit und Phrenologie. Bon W. von Wittid.
Der befannte königsberger Phyſiolog gibt in vor⸗
genanntem Aufſatz eine hiſtoriſche, fehr ergögliche und in.
ftructive Weberfiht der Phafen, in welche die phrenolo⸗
giſche „Wiſſenſchaft“ (7) feit ihrem Entftehen getreten ift.
Erft gegen den Schluß Hin übt er felbftändige Kritif und
findet, worauf ſchon Lichtenberg hingedeutet hat, daß eine
wiſſenſchaftliche Phyſiognomik ſich an die beweglichen Theile
de8 Antliges, nicht an die ruhenden wird zu machen
baben, Es würde ſich alfo bei einer begründeten
Bon R. Birdom.
Benilfeton.
Vhyſiognomielehre um die phyfiologifche Beziehung gewiffer
Bewegungen des Gefichts zu beitinmten Sinnegempfin ⸗
dungen und den ihnen folgenden Vorſtellungen handeln.
383
Der Wittich ſche Vortrag dürfte feines Stoffe wie der
feffelnden Ausführung
halber auch für weitere Kreife von
größtent Intereſſe fein. .
Fenilleton.
Engliſche Urtheile über nene Erfheinungen der
deutſchen Literatur.
Ueber W. Roßmann's „Vom Geflabe der Cyllopen und
Sirenen” fagt die „Saturday Review" vom 21. Mai: „Es
möchte ſchwierig feinen, über ein fo abgenugtes Thema ein
auzichendes und wirklich Nenes enthaltende Werk zu ſchreiben;
dus die Schwierigteit fo ſiegreich Mberrunden worden, ift_ber
feltenen Bereinigung der dazu nöthigen Eigenſchaften im Ber«
faffer zu verbanfen. Inu Romann vereinigen ſich nämlich
philologiſche und ardäologijce Belehrfamteit mit einer aus-
gebreiteten Bildung, Sreifinnigfeit der Gefinnung, Phantafie,
jeläuterten Geihmad und Liebe zur Kunſt. Diefe mannich-
Fatigen Gaben und Kenntniffe befähigen ihn, abwechſelnd jede
Seite feines unendlich mannicfaltigen Gegenftandes zu befeud;«
tem; mährenb bie zahlreichen Webergänge jo gefdjidt gehandhabt
find, daß der Eindrud, den das Werk hervorbringt, dem gleicht,
welden das vom Lande felbft dargebotene große und unmert-
lich fi verändernde Panorama macht. Aud die reine und
duvchſichtige Diction erzeugt fortwährendes Vergnügen, Im den
Gegenfländen felbft kann man nailirlich feine Neuheit erwarten;
der eig liegt in ihrer Behandlung. Neapel, Pompeji, Capri
und ber Aeina bieten Beranlafjung zu einer Reihe glänzendes
Gemälde; die ihres Inhalts wegen intereffanteften Kapitel,
melde zugleih am meiften Neues bringen, find vielleiht die
über Paͤſtum und über die Verwandlung der alten Götter in
FR Jungfrau und bie Heiligen der heutigen italieniſchen My-
thologie.
‚Dr. Sqchenkel's «Luther in Worms und in Wittenberge";
Heißt e8 in demfelben Vlatte, „iſt weniger eine Biographie
als eine Pazteifejrift, bie inbeffen Dusch des Berfaffers Stellung
als einer der herborragendften Vertreter des liberalen Pro—
tefantismus in Deutjhland große Bedeutung erlangt. Soweit
ſie biographiſch ift, enthäft fie weder Nenes: nod Wichtiges,
außer dem Eifer, mit welchem die ganz befondere Bedeutfams-
Zeit des frühern Theils der reformatorifchen ige Luthers
betont wird, während es eher angedeutet als behauptet wird,
daß er fpäter einigermaßen von feiner anfänglichen Pofltion
zurudwich. Der wirtlich wichtige Theit des Werte if der
Schluß, in welchem Schenkel den Pfad vorzeichnet, den der
deuiſche Proteftantismus feiner Meinung nad) verfolgen follte,
wenn ex im Geiſte Luther's wirken und feine Arbeiten bie zu
ihrer logifchen Eonfequenz fortfegen möchte. Die hauptſachlich
hervorgehobenen Punkte find die Berwerfung der gegemmärtig
in den Lutheriigen Kirchen geltenden falramentalen Dogmen
und die Trennung der Kirche vom Staate. Diefe Ichtere
Frage if bisher im Deuticjland wenig beadptet worden.. Es
wird intereffant fein, zu beobadten, immiefern Schenkel die
allgemeine Gefititung der deutfchen Protefanten vertritt.‘
„Des zweite Theil von Büchner's «Die Stellung des
Menfen in der Natut» it fo Mar, fo febendig nnd ebemo
feicht wie der erſte. Es ift nicht ein neuer Gedanke im Bude;
die nähe Annäherung zu einem folchen verdankt der Berfafler
dem Profeſſor Schanfhaufen, der — zwar beim europäifchen
Bublifum noch fein Gehör verſchafft Hat, defien Bemerkungen
über die Verwandtſchaft der Bimana und Quadrumana gewiſſer
Gegenden aber unzweifelhaft Aufmerkſamkeit verdienen. Büdj«
ner’s eigene Antwort auf die zweite gleich auf dem Litelblatte
geſtellie Frage, if Turz und einfah: «Affen» Cr ift der An
fht, daß der Menfc dem Unterichted zwifchen fih und feinen
befeeidenern Verwandten auf nugerehtfertigte Weile übertreten
Habe, und verfehft teine Gelegenheit, ifım zuzurufen: «Erinnere
dig, dag du ein Affe bill» Er fagt, er fei im Befige einer
großen Anzahl von höchſi intereffanten Thaiſachen, welche dazu
dienen, uns von der Intelligenz der Thiere eine höhere Mei»
nung beizubringen, und hat allerdings eine große Zapf fehr
gweifelgafter gejammelt, welde die der Wilden in einem un
gänfigern Lichte erfheinen laſſen. Diefer Iegtere Theil der
Streitfage wird gewöhnlich auf beiden Seiten vermittels einer
den Streitenden fehr natürlichen «Maturahl» gefühet, und befteht
darin, aus den lodern Angaben von Reifenden und Miffiona-
ren dasjenige auszuwählen, was für die befondern vom Ber-
faffer gehegten Anfigten zufällig paffend if, und alles übrige
zu ignoriven. Büdner folgt im diefer Hinſicht dem üblichen
Gebraude. Beſonders flark witd die Darwin’fce Theorie bes
nugt, und ihre Anwendbarkeit auf das Menſchengeſchiecht wird
als von felbft einleuchtend angenommen.”
Bibliographie.
Atadı ib. i
in ———
Erhard, Seg Rriepsgefgigte van Bayern, Praklen, Barz und
Sgwaben von der älte 4 25, .: — um
re e ire
und. Nomen,
—8—
8. Dr 22", Nor.
— Di, Der beit inien. & J
RE aeg an ge
Se ac. 6. DE ‘
eregrin, Das vaticanfge Concil und bie Peiefterche, Zugla
in Deitag zuE Galnr- uud eitengelgigte, ike a Werhih
1.6. ;
Kachele M., Reimbrechang und Dreireim im Drama dos Hans
— und andrer gleichzeitiger Dramatiker. Freiberg, Eugelhardt. 4.
Stichart, P, O., Brasmus von Rotterdam. Beine Stellung zu der
Kirche und zu den kirchlichen Bewegungen seiner Zeit. Leipzig, Brock-
Be 1 Thir. 9 N; ar Die veutfe Oßfe Brovi %
iefenhaufen, on, ie em fee« Pre jen be
und die Aut € Sowtnalifit, Grmicberung auf dir Beunpei —
„üerelnigung ber baltiigen Psooinzen mit Rußland” Ta Ber 1ei
ber Wiodiawjgen Beitung vom 3%. Sunt 186%, Leipilg, Eteinader. Gr. &
» ——8 Zypen und Efigen. Bon 9. ©. D. Bella, dante. 6.
ber ben Urjprumg unb bie Dauer bes Die, zul
und die griflige Offenbarung. Relpaler Qnebladı 8. Ip pure welt
Dent{ges Wanverbüdlein. Cine poctiice Weifedegleitäng für Rature
fteunde. Berlin, Wiegandt u Grieten, &x. 16. 20 De.
Webeltaedt, d., Entwurf eined neuen Lanbebveriheibigungs « Gp«
me Daft „auf ber gängtigen Gatfeigung fämmiiger Etantiefungen.
tig, D- Bigen, One. is War,
m Rinterlehbr nn ‚Srmsresten fü: Gopha me> Gifenbapn «Come.
. Berlin, Ber, *
Ziemffen, ẽc. Umwege zum Ginc. Romau. Verlin, Iante. 8,
1 Thir.
Unze
Anzeigen.
igem
— —
Verſag von 5. 4. Brockhans in Leipzig.
Soeben erfdien:
Dichtungen von Hans Sachs.
Erfter Theil.
Geiflliche und weltliche Kieder.
Herausgegeben von Karl Goedeke.
8. Geh. 1 Thle. Geb. 1 Thlr. 10 Nor.
Hans Sachs’ Dichtungen werben in der vorliegenden
Sammlung drei Theile umfaſſen, von deinen der erfte Geiftliche
und weltliche Lieder (Meiftergefänge), ber zweite Sprudhgebichte,
der dritte Schau» und Faftnadhtipiele enthält, ſodaß die ver-
fhiedenen Dichtungsarten dieſes deutjchen Volksdichters vollftän-
dig darin vertreten find. Durch die gründlichen und ansflihr-
lichen Einleitungen der Herausgeber ſowie durch die beigefügten
Worterklärungen ift jedem Leer das Verſtändniß in literarifcher
wie in ſprachlicher Hinficht Fat gebradit.
Der erfte Theil von Hans Sachs' Dichtungen bildet zu-
gleich den vierten Band der Sammlung:
Dentſche Dichter des Techzehnten Jahrhunderts,
Mit Einfeitungen und Worferklärungen.
Herausgegeben von Karl Goedeke und Iulins Zittmann.
Die erften drei Bände enthalten:
I. Liederbuch aus dem fechzehnten Jahrhundert.
I. Schaufpiele aus dem jechzehnten Jahrhundert. Erſter Theil.
III. Schaufpiele aus dem jechzehnten Sahrhundert. Zweiter Theil.
Im Verlage von F. Tempsky in Prag ist soeben
erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Die Wissenschaft des Geistes
von
Dr. G. Biedermann.
Dritte ganz umgearbeitete Auflage.
Gr. 8 Geh. 3 Thlr.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Dictionnaire Tresor Praktiſches Wörterbuch
francais-allemand et allemand- ; ber franzöfifhen und deutſchen
francais, Sprade.
Bon Jakob Heinrich Kaltfchmidt.
Zweite Auflage.
Zwei Theile. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor.
Franzöfifch-Dentfcher Theil. 24 Ngr.
Deutfh-Franzöfifher Theil. 1 Thlr. 6 Nor.
Kaltſchmidt's Praktifches franzöfiſch⸗ deutfches und dentſch⸗
frangöfifches Wörterbuch (früher Berlag von Georg Wigand
in Leipzig) zeichnet fid) beſonders dadurd aus, daß es neben
den für die Lektüre und Converfation nöthigen Wörtern aud)
die technifchen Ausdrücke, welche in den Wiffenfchaften, Künften
und Gewerben vorlommen, in großer Bollftändigkeit enthält.
Der Preis ift außerorbentlid billig geftellt und jeder Theil
auch einzeln zu haben.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erjdien:
Die Serben an der KHdria.
Ihre Typen und Trachten.
100 Taſeln in lithographiſchem Sarbendruk, in 20 Lieferungen
a 5. Tafeln.
Mit einem Terte von circa 60 Bogen Kteinfolto, in 12 Lieferungen.
Preis jeder Lieferung ber Tafeln und bes Textes je 2 Thlr.
Erfte Lieferung der Tafeln.
Dieſes Prachtwerk wird einen werthuollen Beitrag zur
Kenntniß der den Küftenftrih von Fiume bis zur Nordgrenze
von Albanien bewohnenden Südſlawen bilden. Der ungenannte
(den höchſten Kreifen angehörende) Herausgeber bringt darin
eine Reihe vorzüglicher, nach an Ort und Stelle aufgenomme-
nen Aquarellen ausgeführter Typen» und Trachtenbilder aus
jenen Gegenden zur Darſtellung. Die Nationaltradhten der
Bergbewohner von Dalmatien und Montenegro zeichnen ſich
durd) originelle Formen⸗ und Karbenzufammenftellung vor denen
aller andern Völker Europas aus, und eine Bereinigung diefer
Trachten, wie joldhe in diefem Werke ftattfinden wird, ift gewiß
geeignet, das lebhaftefte Intereffe zu erregen.
Zunächſt erfcheinen die Lieferungen der Tafeln, der erläus
ternde Text folgt erft fpäter. Ein ausführlicher Proſpect if
gratis durch alle Buchhandlungen zu erhalten.
Im Berlage von F. Tempsky in Prag ift ſoeben er-
ſchienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Der Maid,
feine Abftammung und Gefittung
im Lichte der Darwin’schen Lehre
von der Art- Entftehfung und auf Grundlagen der neuern
geologischen Entdedungen dargeftellt
von
Dr. Friedrich Rolle.
Zweite Ausgabe mit 36 Holzfchnitten. Gr. 8. Geh. 24 Ngr.
Im Verlage von Wiegandt « Grieben in Berlin ift foeben
erihienen und durch alle Buchhandlungen zu erhalten:
Deutſches Wanderbüchlein.
Eine poetiſche Reiſebegleitung für Naturfreunde.
20 Sgr.
Im Verlage von F. Tempsky in Prag iſt erſchienen
und in allen Buchhandlungen zu haben:
Don Inan und Fanſt.
Eine Tragödie
von
Chr. D. Grabbe.
Zweite Auflage. 8. Geh. 6 Ngr.
Berantwortliher Rebacteur: Dr. Eduard Brodhaus, — Drud und Verlag von S. A. Brockhaus in Leipzig.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
a Nr. 25. ÿöæ
16. Juni 1870.
Juhalt: Umſchau anf dem Gebiete naturwifſenſchaftlicher Unterhaltungsleltüire. Bon Seinrich Birnbaum. — Biographifches.
Bon Alexander Jung. Geſchluß.) — Aus der erzühlenden Literamr der Neuzeit. Bon Feodor Webl. — Feunilleton. (Notizen.) —
Bibliographie. — Anzeigen.
Umſchau anf dem Gebiete naturwiſſenſchaftlicher Anterhaltungslektüre.
—2
. Geſchichte und Beſchreibung der vulkaniſchen Ausbrüche bei
Santorin von der älteſten Zeit bis auf die Gegenwart.
Rad) vorhandenen Quellen und eigenen Beobadhtungen dar⸗
geftellt von W. Reif und A. Stübel. Heidelberg, Bafler-
mann. 1868. Gr. 8. 2 Thlr.
Obgleich diefes Werk nicht eigentlich in die Klaffe der
notırewiffenfchaftlichen Unterhaltungsleltüre gehört, fondern
ganz den Charakter der Fachgelehrſamkeit an ſich trägt,
fo enthält es doch vieles, wofür fich ein großer Kreis von
allgemein gebildeten Leſern lebhaft intereffirt, und zwar
auf eine jedem zugängliche Weiſe beſprochen, ſodaß wir fein
Bedenken getragen haben, dafjelbe in ben Kreis unferer
Unterhaltung zu ziehen. Die vullkaniſchen Ausbrüche im
Solf von Santorin, welde im Jahre 1866 die ganze
gebildete Welt in Staunen jegten, find von den Berfaflern
und einigen andern befreundeten Sachverſtändigen an Ort
und Stelle unterſucht. Diefe Unterfuhung nebft Des
fhreibung bildet die Hauptgrundlage des Werks. Da
aber da8 genannte Schredensereigniß an den bezeichneten
Orte nicht allein fieht, fondern eine große Reihe von
Borgängern hat, die felbft noch beinahe zwei Jahrhunderte
über unfere Zeitrechnung hinausgeht, fo haben die Ber-
faſſer es nicht unterlaffen, das Hiſtoriſche des Ganzen
anfzufuchen und mit Sorgfalt zufammenzuftellen, wodurd
wir nun über Santorin eine ebenfo zufammenhängende
Geſchichte erhalten haben, wie wir fie [don vom Aetna
und Befun befigen. Seit der vielbewunderten Entjtehung
der Nea⸗Kaimeni auf der Weſtſpitze der Inſel waren nicht
weniger denn 150 Jahre verfloffen, als ſich im Jahre
1866 die Kunde über ganz Europa verbreitete, daß die
vulkaniſche Thätigkeit im Golf von Santorin aufs neue
vor fi gehe, und zwar ohme Erdbeben. Die Inſel
Nea⸗Kaimeni, welche den Scauplag biefed Ereignifjes
abgab, ift nur im Sommer bewohnt, während im Winter
fi hier blos ein Wächter mit feiner Familie aufhält,
am die Häuſer und Kirchen zu überwachen. Dadurch
find wahrſcheinlich die erften Anzeichen des Ausbruchs
1870, 25.
unbeachtet geblieben. Erft am 30. Januar des genannten
Jahres, als fih in den Mauerwerken und ‘Deden der
Häuſer Riffe zeigten, als plötzlich große Welsblöde von
dem 3—400 Fuß hohen Nea-Kaimeni-Kegel herabrollten,
wurde die Aufmerkfamfeit rege. Am 31. Januar bemerkte
man eine auffallende Unruhe im Meereswaſſer:
Eine Menge Gasblafen fliegen durch das Wafler auf und
verſetzten daffelbe in wallende Bewegung, weiße nach Schwefel
und Schwefelwafferftoff riehende Dämpfe erhoben fi) von der
Waſſerfläche. Während diefer Zeit fenkte fih ganz allmählich
und ohne irgendwelde Erdſtöße jene Landzunge, melde die
Vulkanobucht auf der Nordfeite begrenzt. Bis dahin war der
Berlauf der Erſcheinung feineswegs auffallend genug, um all-
gemeine Beſorgniß zu erregen; als aber am 1. Februar mor-
gens gegen 5 Uhr während einer ganzen Stunde eine eigen-
thlimliche Feuererfcheinung in der Vulkanobncht fich zeigte, welche
von Decigalle, nach dem Berichte des noch auf der Juſel wei-
enden Wächters, ale 4—5 Meter hohe Flammen beichrieben
wird, da verbreitete ſich Schreden auf der ganzen Infelgruppe,
und einige der höhern Beamten der Iufel verfügten fi in
Begleitung des Herrn Derigalla nad) der Nea-Kaimeni, um an
Ort und Stelle ſich felhft von der Wahrheit der umlaufenden
Gerüchte zu liberzeugen.
Sie fanden alles beftätigt. Durch das Senken der
Südfpige hatten fich vier Heine Seen zwifchen den La⸗
vablöden gebildet, die bald fi noch um einige ver-
mehrten. Das Waſſer war falzig wie das Meer, aber
Har und duchfichtig, während das Meerwafler roth ge⸗
färbt und trübe erſchien. Die unterirdifche Thätigkeit
fteigert fich nun von Tag zu Tag. Am 4. Februar wird
eine neue Inſel aus dem Waſſer gehoben, aber immer noch
ohne Erdbeben, ohne unterirdifches Geräufch:
Inzwiſchen war bdiefe neue Imfel, Georg I., dergeftalt au»
gewachſen, daß fie fi bereits am 6. mit ber Nea⸗Kaimeni
vereinigte, und ihre ſchwarze, langſam fich fortbewegende Blod-
maſſe das Land der alten Inſel überdeckte. Wie groß der
Georg um diefe Zeit war, läßt fi kaum angeben, da bei der
immer fortdauernden Senkung der Südſpitze Nea⸗Kaimenis
die Vulkanobucht eine weſentliche Vergrößerung erfahren ha⸗
ben mußte.
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886 Umſchau auf vem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsteftüre,
Am 11. Februar waren ſchon 30 Häufer am Bulkans⸗
hafen unter der Lava begraben, welche der Georg mit.
brachte, und deren Spalten und Riſſe bei Nacht glühten.
Am 13. Februar wurde wieder eine neue Infel, Aphrocifa,
aus dem wallenden Waffer gehoben. Diefe Inſel ver-
größerte fich im derſelben ruhigen Weife wie der Georg,
und war wie diefer ein Vulkan, der feine Lavamaſſe von
der Mitte nach der Peripherie hinſandte. Vom 19. Fe—
bruar an entwidelten fi auch mit Donnergetöfe Heftige
Erbftöße, die Temperatur des Bodens fteigerte fih um
12° C., und die bes Meeres ftieg fogar bis zu 85° ©.
Die weitere Entwidelung dieſes großartigen Ereignifles
durch den ganzen Februar und März hindurch wird dann
Schritt vor Schritt genau verfolgt und befchrieben. Dom
23. April bis zum 31. Mai find die Verfaffer dann
felbft auf dem Schauplage. Es ift nicht möglich Hier
alles mitzutheilen, aber das bereits Gegebene wird genil⸗
gen, um zur Lektüre der höchft intereffanten Schrift zu
veranlafien.
2. Ausflug nad) den vulfanifhen Gebirgen Aegina und Methana
im Jahre 1866 von W. Reiß und U. Stübel, nebft
mineralogifhen Beiträgen von 8. von Fritſch. Mit
einer Karte. Heidelberg, Baffermanı. 1867. ©r. 8.
1 Thlr. 18 Ngr.
Wir haben e8 hier mit einer Art Fortfegung bed unter
Nr. 1 befprochenen Werks zu thun. Nachdem die Berfafler
die vulkaniſchen Ausbrüche des Santorin beobachtet hatten,
wurden fie durch den Ausbruch des Kriege zwifchen
Preußen und Defterreih noch länger als fie es wünſchten
auf der Inſel feftgehalten. Der Verkehr zu Waffer lag
plögih ganz danieder. Da entſchloſſen fie fi, von
Athen aus einen kleinen Ausflug nach dem Peloponnes
zu unternehmen, um die vulfanifchen Gebilde von Aegina
und Methana zum unterfuhen. Ste mietheten einen Kaik
zur Weberfahrt nach Aegina und fegelten am 12. Yuni
nachmittags ab. Die Hoffnung, an demfelben Tage noch
nad) Aegina zu kommen, ſchlug aber fehl, weil der Wind
nicht günſtig war.
Um Mitternacht erwedte uns ein heftiger Stoß. Lautes
Nufen, unruhiges Hin- und Herlaufen, vor allem aber die
Bewegungsfofigleit unſers Fahrzeugs veranlaßte uns auf das
Ded zu fleigen, um die Urſache diefer plöglichen Veränderung
zu erforfhen. Im der ſternhellen Nacht fahen wir dicht vor
uns die dunkeln Bergmaffen Aeginas, auf deffen weit in das Meer
fid, erfireddenden Klippen das von den ſorglos fchlafenden Griechen
fi felbft überlaffene Schiff feſtſaß.
Dann wird die Inſel Aegina befchrieben, welche
ziemlich im Mittelpunfte des Golfs von Athen gelegen ift,
die Stadt und das Treiben ihrer Bewohner in Augen⸗
ſchein genommen. Bei Bejchreibung der Weiterreife zu Pferde
merkt man fogleich den Herren ihr Handwerk an, fie legen
überall nur geologifches Interefie an ben Tag. Hierin
find fie aber in ber That ausgezeichnet, und für LXefer,
welche vulkaniſche Bergformationen und deren Steinarten
ftudiren mögen, hat dann die Reife ungemein viel An⸗
ziehendes, fie eignet ſich aber befler zum Gelbftlefen als
zu Mittheilungen.
3. Ueber die Skmmerbewegung. Bon Th. W. Engelmann.
Mit einer Tafel. Leipzig, Engelmann. 1868. Gr. 8.
Yih? Ngr.
Für die Phyſiologen von Fach, welche fi) ganz ſpe⸗
ciell für dieſe Art der Naturthätigkeit intereſſiren, enthält
das Buch ſicher einen reichen Schatz der wichtigſten Be
obachtungen und Forſchungen. Für dieſe möchte es aber
ſchon genügen, wenn wir darauf aufmerkſam machen, daß
daſſelbe die Beſchreibung einer Gaskammer für mikroſko⸗
piſche Unterſuchungen enthält, und daß ſich die angeſtell⸗
ten Unterſuchungen auf Verſuche 1) an Flimmerzellen von
Wirbelthieren, 2) an Flimmerzellen wirbelloſer Thiere, 3) an
Spermatozoen beziehen. Was wir übrigens unſern Leſern
von dem Inhalte noch wiittheilen könnten, möchte ſich
fhwerlid der allgemeinen Aufmerfjamkeit erfreuen, fo
klar und gründlich auch die Gegenftände darin behandelt
worden find.
4. Elektron, oder Über die Vorfahren, die Verwandtſchaft und
den Namen ber alten Preußen. Ein Beitrag zur älteften
Sejichichte des Landes Prengen. Bon William Pierjon.
Berlin, Beifer. 1869. Gr. 8 1 Thlr. 10 Ngr.
Der Berfaffer ift unverkennbar ein ſehr titchtiger
Geſchichtsforſcher, dem befonders bie Erforfchung der Ur—
gejchichte feines Baterlandes am Herzen liegt, wobei bie
Fundorte de8 Bernfteins und die darauf bezogenen Quellen
des Alterthums den Leitfaden abgeben. War nun die
vorhergehende Schrift ganz vorzugsweife den Phyfiologen
gewidmet, jo gehört die vorliegende ebenfo ausſchließlich
den philologifchen Hiftorifern. Diefe finden darin eine
anlodende Heimat; für alle andern gebildeten Leſer ift
fie wol zu fpecififch gelehrt. Webrigens können wir nicht
unterlaffen, die Arbeit Herzlich zu begrüßen, ba fie un.
geachtet ihres philologiichen Standpunftes doch fehr ge
neigt ift, ſich mit der Naturkunde auf einen freundfchaft-
Iihen Fuß zu ftellen. Wir haben folche Annäherung
bei den Willenfchaften ſchon mehrfach bemerkt und auch
gehörig gewürdigt. Dies fol nun auch Hier nicht fehlen.
5. Zur Bhyfiographie des Meeres. Ein Verſuch von A. Gareie
und A. Beder. Mit 2 Karten und 15 Figuren. Trieſt,
Schimpffl. 1867. Gr. 8. 2 Tlr.
Gleich bei dem erſten Auffchlagen und Durchblättern
erinnert died Wert an Maury's „Phyſiſche Geographie
des Meeres”, welche mit folder Anerkennung ihres wiſſen⸗
Haftlihen und praftifchen gediegenen Werthes aufgenom-
men worden tft, daß in dem Furzen Zeitraum von fechs
Jahren ſchon zehn Auflagen nöthig waren. Und bei nd«
herer Prüfung ftelt fih denn aud) heraus, daß baffelbe
ein Geitenftüd hierzu oder richtiger eine Crmweiterung
und weitere Feſtſtellung abgeben fol. Es war fchon
längft befannt, daß ungeachtet der allgemein anerkannten
Bortrefflichleit des Maury'ſchen Werks doch noch man⸗
cherlei Lücken und ſogar Unrichtigkeiten darin vorkamen;
man wird es den Verfaſſern der vorliegenden Schrift
daher nur danken können, wenn fie fi) zu der gewünſch⸗
ten Bervollitändigung und Berichtigung verftanden haben,
denn fie find tüchtige Fachmänner, die der fchweren Auf⸗
gabe volllonımen gewachfen zu fein fcheinen. |
Die Berfaffer find in den drei eriten Kapiteln, welche
von der allgemeinen Ueberficht der geologischen Wirkungen
des Wafjers und der Luft, von den Hauptgeſetzen der
Meteorologie, umd von den Urfachen, welche Wind und
Waflerftrömungen nad ſich ziehen können, ganz ſelb⸗
ftändig und neu; während fie ſich in den acht übrigen
Kapiteln — über den Golfftrom, über die Zags- und
Jahresbewegung der Erde, über oceaniſche Ströme, über
bie Ditielmeerftrömung, über Driftftrömung, über locale
unterfeeifche Strömung, über Sondir-Inftrumente, über
den Kreislauf der Winde — mehr kritiſirend auf andere,
befonder auf Maury, bezichen. Ueberall bleibt aber
bie ganze Schrift belehrend und intereffant.
Um vom Buche felbft eine Heine Probe zu geben,
wählen wir aus dem Kapitel über Sondir«Inftrumente
eine Stelle, die fi auf eine neue Erfindung der Ver⸗
fafier bezicht, von welcher man in der That wünſchen
muß, daß fie forgfültig erprobt werde. Es ift von dem
allgemein befannten und bisjegt beften Broole'ſchen Tief⸗
meſſer die Rede gewefen, wobei ſich die Kugel, wenn fie
den Meeresgrund erreicht hat, von der Sondenfchnur los⸗
Löft, damit diefe wieder heraufgewunden und zu neuen
Berſuchen benutt werben kann. Die Berfafler fligen
dann hinzu: . *
Sollte es aber nicht möglich fein, noch Vollkommeneres zn
Stande zu bringen und ein Inſtrument zu conftruiren, welches
von der Strömung unabhängig ift, folglih die wahre Tiefe
und den Moment anzeigt, in weldem es den Grund berührt,
fowie and) eine Grundprobe heraufholt, und außerdem mit
geringern Koften verbunden ift? — Bei biefer Gelegenheit wäre
es vielleicht nicht unintereffant zu zeigen, auf welche Idee wir
vor fünf Jahren in diefer Beziehung verfielen; wir conftruirten
nämlich ein Sondir-Iuftrument, deffen PBrincip wir fpäter bei
einem andern wiederfanden und das bei gehöriger Ausführung
vielleicht geeignet wäre, allen Anforderungen zu entſprechen ...
Bei unferm Lothe, welches gleichzeitig die Temperatur der ver⸗
ſchiedenen Wafferfhichten anzeigen fol, wird deffen Ankommen
am Grunde durch ein fehr verlaflihes Zeichen bemerkbar. Es
fchließt fi nämlich beim Anlangen am Boden eine eleltriiche
Kette und verurjaht die Ablentung der Magnetnadel eines
Multiplicatore. Der Sondir-Apparat zerfällt in drei Theile:
a) das eigentliche Loth, welches durch feine Berührung des
Grundes die Kette fchließt und eine Grundprobe heraufholt;
b) die Leine, welche zur Leitung der Elektricität eingerichtet
fein muß; c) die Rolle mit ber elektrifchen Batterie und dem
Multiplicator.
Das Weitere bezieht fid) dann auf eine fpeciellere
Beſchreibung und Abbildung, wovon bier natürlich nicht
die Rede fein kann. Die Sache hat aber in der That
eine große Wahrfcheinlichkeit des praftifchen Gelingens
für fih, und es käme daher nur noch auf die wirl-
lihe Ausführung an. Man kann nit vecht begreifen,
warum diefelbe nicht fchon längſt zu Stande gebracht
worden ift.
6. Kraft und Wärme der Organismen entftammen einer Quelle.
Der Refpirationsproceß ift die Urfache befländiger Abküh⸗
Yung. Bon Guſtav Manu. Stuttgart, Kod. 1866.
8. 12 Nor.
Die ganze Arbeit deutet überall auf eine ſehr hoch
gejpannte Naturphilofophie.e Es wird vorausgeſetzt, daß
Die Molecule der fämmtlihen Naturftoffe fi) nirgends
unmittelbar berühren, fondern dur eine umgebende
Atmofphäre von Aether voneinander getrennt auftreten.
Die Möglichkeit, einem Körper durch Drud Wärme zu
entloden, nimmt ab mit dem Grade feiner Didhtigleit,
folglih) muß die größere oder geringere Atmofphäre im
nahen Zufammenhange zur Wärmeerzeugung fichen. Die
Begriffe von Kraft und Wärme find diefelben, wie wir
fie durch Dr. Mayer in Heilbronn Eennen gelernt haben,
fodaß beides nur Bewegungsarten find, ‚welche bald als
Urſache, bald als Wirkung auftreten, aber nie in nichts
zerfallen Fönnen. Der Verfaſſer jagt:
Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftliher Unterhaltungsleftüre, 387
Freiherr I. von Liebig ftellt den Satz auf, daß, wo und
wie der freie Sauerftoff mit dem Kohlen- und Waflerfloff des
tbierifchen Körpers fich verbinde, die befannten Wärmemengen
frei werden müffen. Ich zolle dem enormen Wiffen und der
Geiſteskraft dieſes Mannes die größte Hochachtung und Verehrung.
Diefen angeführten Sat kann ich nicht anerkennen. Diefer
Sat ſetzt voraus, was bewiejen werden foll, daß nämlich die
Refpiration gleichviel bedeute wie Verbrennung.
Das ift ein Angriff auf Leben und Tod der fo
lange vielbewunderten Liebig'ſchen Theorie der Thierchemie.
Damit charakterifirt ſich das Büchelchen als eine ent-
jchiedene Streitfchrift gegen fehr viele Anfichten, welche
man als eine glüdlihe Errungenschaft der heutigen Che-
mie und Phyfiologie betrachtet hat. Da man indeß fchon
drei volle Jahre darüber bat hingehen Lafien, ohne von
diefer Einrede viel Notiz zu nehmen, fo fcheint es fat,
als wolle man fi) dadurch nicht beirren laffen. Und im
Grunde genommen bat ein folcher Kampf der Anfichten
und Hypothefen wenig Werth für die Wiffenfchaft, jolange
da8 Schwert der Thatjachen nicht entjcheidend drein«
ſchlagen fann, um ben Sieg zu entfcheiden. Der Ber-
faffer läßt e8 nun allerdings nicht an Bezugnahme auf
Thatſachen fehlen, aber fie jcheinen noch nicht vollwichtig
genug zur Entfcheidung des Kampfes zu fein,
7. Der Weinbau im Rheingau. Bon Karl Braun (Wies-
baden). Nach einem am 20. Februar 1869 in Berlin ge
haltenen Bortrage. Berlin, Lüderit. 1869. Gr. 8. 6 Nr.
8. Das mechaniſche Wärmeäquivalent, feine Refultate und
CSonfequenzen. Bon H. Toepfer. Berlin, Lüderitz. 1869.
Gr. 8 6 Nur.
9. Der Streit Über die Entflefung bes Baſaltes. Bon 4.
von Laſaulx. Berlin, Lüderitz. 1869. ©®r.8. 6 Nor.
Alle drei Nummern gehören zu der „Sammlung gemein-
berftändlicher wifjenfchaftlicher Vorträge‘, welche ſchon feit
einiger Zeit von R. Virchow und 5. von Holtendorff heraus»
gegeben werden. In diefer Sammlung find meiftens fo aus-
gezeichnete Arbeiten zum Vorſchein gelommen, daß man
darauf mit einem hohen Grade von Achtung blidt. Alles
ift populär gehalten und paßt für das gefammte gebildete
Volk Deutfchlande, aber es ruht auf ftreng wiflenjchaft-
licher Baſis, ſodaß es ein vollgültiges Charakterbild des
Fortſchritts der Wiffenfchaften unſers Jahrhunderts ab-
gibt. Das Unternehmen fteht in fchönfter Blüte. Wir
wünſchen ihm aud) ferner Glück und Gedeihen.
Die erfte diefer drei ſehr intereflanten Schriften beginnt
mit der Naturbefchreibung des Rheins im Vergleich mit
den anmohnenden Menſchen und kommt dann auf ben
Rheingau, wo der Wein zwifchen Waſſer und bewaldeten
Bergen vor kalten trodenen Winden geſchützt in ber vollen
Kraft der deutfchen Sonne wächſt und zur Reife gedeiht, wo er
eine Grundlage des mittelrheinifchen Schiefergebirgs befitzt,
welche der Natur des Weinwuchſes fo recht eigentlich zu⸗
jagend if. So kommt der Verfaſſer zum Weine jelbft,
der, fo verfchieden er auch auftritt, doch immer mit bem
eigenthlimlichen fehönen Bouquet, mit ber Tieblihen Milde
neben einer derben Kraft auf feine Freunde wirkt. Er fagt:
Ich erinuere mid, in einem Feuilleton von Jules Ianiu
eine fehr gelungene Schilderung der verjchiedenen franzöflichen
Weine gelefen zu haben. Er vergleicht den Burgunder mit
einem misvergnlüigten, unrubigen Frondeur, den Bordeaur mit
einem falten, glatten und indifferenten Weltmanne, den Cham-
Pagner mit dem branfenden Leichtfertigen Pariſer; dabei erwähnt
er aud) den rheingauer Wein, indem er ihn charalteriſirt ale
49 *
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388
einen musfelträftigen, tapfern Soldaten mit großem Schnurr⸗
bart uud Hingenden Sporen, der jederzeit bereit ifi, vom Les
der zu ziehen und durchzuhauen. So gefährlich iſt nun gerade
der Rheingauer doch nicht, aber es läßt fich demſelben nicht
abfprechen, daß er im Bergleich zu den franzöfifchen Weinen
einen weit ernftern und fräftigern Charakter hat.
Mir find dem geiftreichen, deutfchgefinnten Manne für
diefe begeifterte Schilderung unſers ſchönſten deutſchen
Weins von ganzem Herzen zugethan und geftehen gern,
dag wir lange feine fo wahren warmen Worte für eine
durch und durch gute deutfche Sache vernommen haben.
Indem wir uns nun zu Nr. 8 wenden, müſſen
wir und and der patriotifchen Begeifterung der vorigen
Nummer erft wieder zurechtfinden, damit wir den ruhigen
Ernſt, womit uns bier die größte wiffenfchaftliche That
unſers Jahrhunderts entwidelt wird, gehörig würdigen
und in uns aufnehmen können. Das darin behandelte
Thema ift viel befprocdhen, aber fo kurz und gründlich
und dabei doch fo leichtfaßlich, Mar und beftimmt Hat es
faum ein anderer durchgeführt. Ich kann e8 mir gar
nicht auders denken, als daß felbft ein Mayer, Joule,
Helmholtz, Tyndall mit Freude darauf bliden werden.
Toepfer ift ein ganzer Dann des Wiſſens, das bemeift er
durch die Meifterfchaft, da populär zu fchreiben, wo
eigentlich die Münner der Wiffenfchaft noch mitten im
Ausbau einer ihrer allerfchwerften Aufgaben begriffen find.
Der Berfaffer fagt 5. B.:
Da Bewegung Wärme erzeugt, oder befier, fich in ſolche
verwandeln kann, fo muß fie jelber Bewegung fein, nicht eine
Bewegung des erhigten Körpers in feiner Gejammtheit, aber
eine befondere Form ſchwingender Bewegung ber Heinften Kör-
pertheile, der Molecule.
Und damit macht er fi nun an die Erffärung ber
gefammten Wärme, von ber wir nur noch ein Wort über
Iatente Wärme, die fchwerfte Klippe für die neue Lehre,
bier mittheilen wollen:
Bel dem Vebergang aus einem niebern in einen böhern
Aggregatzuftand wird Wärme verwandt, die Atome auseinander«
zutreiben, fie in neue Stellungen zu bringen; fie verwandelt
fih in Spanntraft gerade fo, wie fie fi, zum Heben eines
Gewichts gebraudt, in Fallkraft umſetzt. Wenn umgelehrt
Dampf zu flüffigem Wafler wird, oder dieſes zu feftem, fo
flürzen die Molecule wieber aufeinander, ihre Spannkraft wird
als Wärme frei, als genau fo viel Wärme, wie vorher zum
Auseinandertreiben der Molecule verbraudht wurde.
Wir wollen dem Buche, das uns viel Freude bereitet
bat, viel Glück zu feiner literarifchen Reife wünfchen.
In Nr. 9 iſt die Hiftorifche Entfaltung eines fehr
alten geologifchen Streit8 gegeben und mit der Wagfchale
einer unparteiiſchen Kritik umd fichern Gelehrjamteit er-
wogen. Bor dem großen Werner Hatten ſich ziemlich)
alle Gelehrten von Fach darin geeinigt, daß die Bafalte
bildung einen vullanifhen Weg durchgemacht habe. Da
veröffentlichte diefer von allen Seiten angeftaunte Geolog
am 20. October 1788 in Nr. 57 ber „Allgemeinen Lite
raturzeitung‘ feine Entdedung, wonach das Entſtehen des
Bajalts ueptunifcher Natur fei. Er erwarb einen großen
Kreis von Anhängern, befonders in der Heimat, aber es
fehlten auch bie Gegner nicht, unter denen fich befonbers
die Engländer mit den Nachweiſen von widerftreitenden
Thatfachen Hervorthaten. Er mußte es fogar erleben,
daß feine größten Schüler, Alerander von Humboldt und
Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftliher Unterhaltungsleftüre.
Leopold von Bud, ſich mit feinem älteften Schiller Boigt
in Weimar verbanden und einer entgegengefeßten Hypo⸗
thefe anbingen. Alles andere möge man in der Bro«
ſchüre felbft leſen.
10. Geognoſtiſche Wanderungen im Gebiete der Trias Fran⸗
tens. Bon Karl Zelger Mit einem lithographifhen
Ouerprofil. Würzburg, Staudinger. 1867. Gr. 8. 24 Ngr.
Der Verfaſſer ſcheint ein eifriger geologifcher For⸗
ſcher ſeiner Heimat zu ſein. Wir finden dies ſehr
natürlich und beklagen nur, daß eine ſolche Heimats⸗
liebe nicht allgemeiner vorlommt. An ein Veröffentlichen
feiner Forfchungen dachte er urjprünglich nicht, alles For⸗
ihen und Sammeln geſchah nur aus Liebe zur Wiſſen⸗
Ihaft, aus Liebe zu dem Grund und Boden, auf dem
er wanderte, in bem alle feine Gedanken wohl und
glücklich gefühlt Hatten. Seine Freunde, welche das Wif-
jen und das emfige Yorfchen bewunderten, ruhten nicht
eher, als bis fie ihn dazu beftimmt Hatten, feine Yor«
dungen herauszugeben, was nun in dem vorliegenden
Werke in gedrängter Kürze geſchieht. Für die Minera-
logen und Geognoften von Fach enthält das Werk ficher
einen reihen Schag von Erfahrungen, Sammlungen und
Mittdeilungen; für unfere Abficht, einen Beitrag zur
naturwiſſenſchaftlichen Unterhaltungsleftüre darin zu finden,
ift aber wenig zu holen. Wir können nur noch den Fleiß
und die Ausdauer rühmen, womit ber Verfaſſer fein Feld
bebaut bat.
11. Natur» und Eulturbilder von Karl Ruß. Mit zwei ſan⸗
ber in Holzfchnitt ausgeführten Titelbilbern nad Zeichnun⸗
gen von Robert Kretſchmer. Breslau, Trewendt. 1868.
Gr. 8. 2 Thlr.
Es gewährt uns jedesmal eine große Freude, fo oft
wir mit ben Geiftesproducten bes fleifigen Berfaflers zu⸗
jfammentreffen, denn überall bringt er anmuthige be-
Ichrenbe Genüſſe, tft er frifh und anregend für feine
efer.
Das vorliegende Werk zerfällt erftens in „Schilderungen
aus dem Natur» und Thierleben” und zweitens in „Schil-
derungen aus dem Mienfchenleben”. Dort bringt es
„Jahreszeitenbilder der beutjchen Vögel, Hansbilder von
Hund und Kate und der Geflügelwelt des Hofs, Bilder
des zoologifchen Gartens und allerlei Jagderlebniſſe; hier
finden wir in bunter Reihenfolge Gemälde von Land und
Leuten der Heimat und der Fremde, von hiftorifcher Ente
widelung aller Verkehrsmittel.
Um dem Buche felbft Gelegenheit zu geben, fich zu
empfehlen, wählen wir aus den Bildern vom Hühnerhof
etwas von der Tanbe. Nachdem von den verjchiedenen Arten
und ber Eigenthümlichkeit diefer Thiere in gemüthlicher Aus⸗
fügrlichkeit gefprochen worden ift, kommt der Verfaſſer
auch auf die Brieftanben. Man verwendet dazu am
fiherften blaue Feldtauben, weil biefe am fchnellften flie-
gen und nicht leicht von Raubvögeln gefangen werden:
Sie werden dazu ohne große Mühe abgerichtet, indem
man fie in einem offenen Behälter nad) dem fremden Ort bringt.
Keine Taube fliegt jedoh Hin und zurüd, weil fie eben mur
nad) der Heimat eilt. Auch darf jede flets nur für ein nnd
denfelben ch benutt werden. Der Brief wird auf ein Kleines
leihtes Stüd Papier gefchrieben, diefes gegen Regen in Del
getaudt, dann in eim leichtes Leinwandbeufelchen geftedt und
der Zaube an den Fügen feftgenäht. Eine gute Brieftaube fliegt
Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsleftüre, 389
dann in der Stunbe gegen 10 Meilen. rüber befland ein
regelmäßiger Zaubenverlehr zwifchen London, Paris, Amſter⸗
dam, Antwerpen und vielen andern Städten. In neuefter Zeit
iſt derjelbe jedoch dem Telegraphen gewichen. Uebrigens ift ber
Gebrauch der Brieftaube befanntlich ein ſehr alter, denn bereite
im Sabre 44 v. Chr. bediente fih, wie Blinius erzählt, De⸗
cimus Brutus ihrer, als er von Antonius in Mutina belagert
wurde. In Aegypten Hatte man eigene Thürme erbaut, zu
welchen von Strede zu Strede die Taubenpoften flogen.
Beſonders anziehend find aber die Yagdbilder; hier
fcheint der Verfaſſer jo recht in feinem Lieblingselement
zu fein. Um aud hiervon eine Kleine Probe zu geben,
wählen wir etwas aus der reizenden Befchreibung, welche
„Mein erfter Meifterfchuß‘‘ betitelt iſt. An einem rauhen,
ftürmifchen Herbftabend begibt fih Hr. Trig auf den
Entenanftand. Der befreundete Förfter warnt den jugend⸗
lichen Jäger, fi ja zu hüten, feine Diana für einen
wilden Erpel anzufehen, wie dies fein Lehrling vor kurzem
gethan babe. Der Ort des Anftandes ift aber nad) der
Bollsfage ein ſehr unheimlicher, und das lange nächtliche
Warten am finftern Waldfaum ruft allerlei Phantafiebil-
der in dem Gemüth des unerfahrenen Weidmanns her-
vor, welde wol nicht ganz frei von Angft fein mögen:
Huhuhu! rief plötlich dicht neben mir eine große Eule
und huſchte in der Nähe bei mir vorüber. Und im nächſten
Angenblide tauchte von dem Spiegel des Sumpfes vor mir ein
Menichenlopf empor. Dies war feine Schöpfung meiner er:
regten Einbildungsfraft. Ganz deutlich fah ich die Umriffe und
Beroegungen des Spuks. Und nun erft erinnerte ich mid, daß
auf biefer Stelle im vorigen Jahre ein betrunfener Jägerburſche
im Bruce feinen Tod gefunden, und daß viele Leute das Ge⸗
fpenft des einft fo ruchlofen Menichen, der natürlich in feinem
naſſen Grabe feine Ruhe finden konnte, bier umgehen gejehen
haben wollten. ... Ganz deutlich Tonnte ich es unterfcheiben,
wie er feinen runden Kopf aus dem Waſſer erhob und wieder
fenfte, ja, ih glaubte Iogar ganz Tebhaft zu fehen, wie er mit
feinen entfeßlich flieren Augen mich anglogte.e Da mit einem
mal erhob er fi) gar aus der Flut, höher und höher... und
im nämlidhen Augenblid, mir jelbft fat unbewußt, knallten
meine beiden Schüffe los und ich ftürzte ohnmädhtig bintenüber.
Es ergab fi dann, daß ein großer Fiſchotter Die
Beranlaffung des Spuls geweſen war, der gut getroffen
mit Jubel als Siegeszeihen aus dem Waller gezogen
wurde. Der Verfaſſer verhehlt e8 nicht, daß er biefe
Geſchichte nacherzählt habe. Das thut ihr aber keinen
Abbruch. Im ähnlicher Weife ift das ganze Bud) voll
der angenehmften Unterhaltung.
12. Das Leben des Menſchen in feinen Lörperlihen Beziehun.
gen für Gebildete bargeftellt von I. Wallad. Zweite
uflage. Mit zahlreichen Holzfhnitten. Erlangen, Ente.
1869. Gr. 8 1 Thlr. 14 Nor.
Das Werk ift eine ärztliche Mitgabe für das Yamilien-
Leben aller Gebildeten. Es fehlt uns an vortrefflichen
Leiftungen diefer Art jegt wahrlich nicht, dennoch wollen
wir uns hüten, über Weberfluß zu Magen, jondern
darin viel lieber den fehr erwünſchten Beweis flir die
rege Theilnahme des gebildeten großen Publilums an den
Studien über den menfchlichen Körper erbliden. Der
Berfaffer trant feinen Lefern ſchon etwas mehr zu, er
gibt keine leicht vorüberfliegende Unterhaltungslektüre, fon
dern verweilt bei jedem Gegenftande bis zu feiner gründ⸗
lichen Erkenntniß und verfteht es bei diefer Gelegenheit
doch meifterhaft, nie ermüdend breit zu werden. Das
Buch Hat fich in der erſten Auflage ſchon einen namhaf-
ten Freundeskreis erworben und wird dies jebt um fo
mehr thun, da es wefentlich verbefjert und inzwifchen
auch die Neigung ber Leſer fir folche Gegenftänbe be-
dentend gewachſen ift.
Die Einleitung des Buchs bezieht fih auf die ben
Menfchen umgebende Natur als Bedingungsgebiet für bas
eigene Leben. Dann befpricht e8 die Nerventhätigleit, den
Kreislauf des Bluts, die Athmungsthätigkeit, die Thätig⸗
feit der Haut, die Nahrungsaufnahme und Berbauung,
die Thätigkeit der Sinne, die Willfürbewegung, die Thätig-
keiten und die Stufenfolgen der Entwidelung bed Men⸗
hen, die Grenzen des menjchlichen Lebens. Bei jedem
Abfchnitt wird auf die dazugehörenden Möglichkeiten der
Erkrankungen und deren Berhütung bingewiefen. Man
fieht, das Buch ift gerade fo eingerichtet, wie man es in
denfenden verftändigen Bamilienfreifen wünſcht. Keincs-
wegs ift fein Zmed, ben Arzt entbehrlich zu machen, fon-
dern es will ihn nur unterftügen durch allgemeiner ver-
breitete beffere Naturkenntniß des menfchlihen Körpers
und feiner Leiden, durch beffere Einfiht in das Wefen
und die Thätigfeit der Tebensorgane in und an und. Und
damit dies um fo ficherer erreicht werde, unterftütt es
feine Befchreibungen und Aufflärungen zugleich mit
ganz vortrefjlichen Abbildungen. Doc nun wollen wir
das Buch noch etwas näher Teunen lernen. Nachdem es
nachgewiefen, daß das Gehirn das Organ ift, in welchem
fih alle unfere Empfindungen vereinigen, kommt es
auch auf die Nothwendigkeit, biefem Organ die erforder-
liche Ruhe zu geben, welches nur durch einen gefunden
Schlaf möglich ift:
Zwei Bemerkungen dürfen bier jedoch nicht unterdritdt
werden. Erſtens ift es nicht blos die Erfchöpfung, welche zum
Schlaf geneigt macht, fondern es gehören Gerber fämmtliche
Borgänge, welde die zur Empfindung erforderlihe Beſchaffen⸗
heit des Gehirns beeinträchtigen. Belanntli ruft fchon eine
reihlihe Mahlzeit, ja felbft die wagerechte Lage unjers Körpers
einen gewiffen Grad von Schläfrigleit hervor. Es ift hier ein
verftärkter mechaniſcher Druck, welcher hemmend auf die Ge⸗
hirnthätigkeit wirkt. Auch beobachtet man bei krankhaftem Aus⸗
tritt von Blut oder Waſſer in das Gehirn Betäubung und
Schlafſucht; und endlich bewirken mande chemiſche Einflüffe
eine Schwächung in der Empfindungsfähigleit des Gehirns, wie
aus der einfchläfernden Wirkung des Opiums, des Ehloroforms
und ähnlicher Gifte hervorgebt.... Sodann ift die den Schlaf
erzeugende Erſchöpſung niemals eine vollfländige, denn eine
folche würde nicht Schlaf, fondern den Tod zur Folge haben.
Bielmehr entfleht der Schlaf, wie e8 die Anftrengung der ver-
fhiedenen Körpertheile mit fi bringt, ans ungleicher Erſchö⸗
pfung der Empfindungsvorgänge, wobei nod eine gewiſſe Er-
vegbarkeit übrigbleibt. IA nämlich die zu den Gehirnverrich⸗
tungen erforberliche Beſchaffenheit der Molecule durch angemeffene
Ruhe wiederhergeftellt, fo erlangen die Vorgänge, von welchen
wir fonft Empfindungen zu erhalten pflegen, von neuem ihren
Einfluß und wir erwachen unter Rückkehr des Bewußtſeins.
Dann wird aud der Traum und das Nachtwandeln
im Sclafe beſprochen und gezeigt, wie die Krankheit des
Irrſinns ebenfalls ein traumartiger Zuftand ift, wobei
nur die Wiederkehr des Maren Bewußtfeins verzögert wird
oder gar nicht wieder eintritt. Die Urſachen der Schlaf-
loſigkeit Liegen nad) der Anficht des Berfaflers meiftens
in ungewöhnlichen Aufregungen oder in krankhaften Vor⸗
gängen des Stoffwechſels im Gehirn. Im dem weitern
Berlauf der Unterfuhung der Nerventhätigkeit fommt dann
noch ſehr vieles vor, von dem man wünſchen fünnte, daß
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Per.
1
ir
390 Biographiſches.
es recht allgemein bekannt und beherzigt würde. Daſſelbe
läßt fi auch von den Betrachtungen über den Kreislauf
des Bluts, tiber Athmungsthätigkeit, über die Thätigkeit
der Haut u. f. w. fagen.
In Hinfiht der Grenzen des menſchlichen Alters
ſchließt fih der Berfaffer den befannten Anfichten der
heutigen Statiſtiker an und theilt auch die erforderlichen
Tabellen mit:
. Die Kraft der Bölfer gibt fig nicht unmittelbar im der
Geburtsziffer zu erkennen, vielmehr berußt diefelbe auf dem
Verhältniß, in welchem die gefunden arbeitsfähigen Klaffen fo-
wie Bildung und Gefittung vertreten find. Es ift daher auch
die Frage nad) den Grenzen, bis zu welchen fi eine Bevöllke⸗
rung vermehren kaun ohne in Elend zu verfallen, feine ein-
fahe. Die Beantwortung fett jederzeit voraus, daß man das
Verhältniß zwifchen der Erwerbsfähigfeit und ber Bollszunahme
ferne. Eilt lettere der erſtern voraus, fo ift ein bafdiger Unter⸗
gang des jüngern Nachwuchſes die unausbleiblihe Folge, falle
nicht Auswanderungen in großem Mafftabe der ſich vermehren
den Sterblichfeit vorbeugen.
Solche vernünftige Winke für das Wohl ganzer Völler-
ſchaften fommen viele im Buche vor.
Damit befchließen wir nun überhaupt unfere Heutige
Umſchau. Hoffentlih haben unfere Leſer darin einiges
gefunden, was ihnen zufagt, was anregend ift fürs Les
ben, für die Liebe zur Natur, und follten fie dadurd
auch noch zu einem felbftändigen tiefern Eingehen in die
empfohlenen Schriften veranlaßt werden, fo wäre unfer
Hauptzwed vollftändig erreicht.
Heinrich Sirnbaum.
Biographifches.
(Beſchluß aus Nr. 24.)
3. Karl Mathy, großherzoglich badiſcher Staatsminifler der
Finanzen und Bräfident des Staats- nnd Handelsminifte-
rinms. Gin Lebensbild. Zugleich ein Beitrag zur Ge⸗
fhichte der deutfchen Bewegungsjahre. Bon E. H. Th.
Huhn. Tanberbiſchofsheim, Lang. 1868. Gr. 8. 18 Ngr.
Es ift feinem Zweifel unterworfen, daß die Biel-
ftagtigfeit eines Landes, zumal wenn es wie unfer Deutſch⸗
land ein fo ganz eigenthilmliches Grundgepräge barbietet,
eine gute, aber auch eine fchlimme Seite hat. Wie heute
die Öffentliche Meinung fich kundgibt, werben manche die
Borzüge vieler verfchiedener Staaten in einer und berjelben
Nation zu leugnen nicht den geringften Anftand nehmen; je
boch bei näherer Prüfung ſehr übereilt. Schon dies wäre von
Gewicht, daß eine Nation, die fich der reichften Anlagen
erfreut, deren Individuen bon Intelligenz fi nie und
nimmer unter eine, blos politifche Benennung bringen
Iofien, für die Ausbildung derfelben bei weitem mehr
Gelegenheit findet in dem Nebeneinander großer und klei⸗
ner Staaten. Allerdings führt die Vielftaatigfeit dieſer
Art auch wieder ben Uebelftand herbei, daß fie der Tum⸗
melplag für Neid, Misgunft, Rivalität und Intriguen⸗
fpiel wird. Das Borhandenfein Heiner Staaten innerhalb
Einer Nation gibt endlih dazu Beranlafjung, daß in»
dividuelle Größen eines Heinen Landes über defien Grenze
hinaus oft kaum gelannt find, daß deren Verdienſte dem
gefammten Nationallörper zwar zufließen, aber doch lang-
fam, und ebenjo langſam und fpät der Name des Ber:
dienftoollen in der ganzen Nation populär wird. Da gibt
es nur zwei Mittel, das Nebeneinander großer und Heiner
Staaten nit blos unfchädlih, vielmehr heilbringend zu
machen: ein großer, das Ganze der Nation umfafjenber
Berfafiungsorganismus, und die mit Wahrheitsliche, Ge⸗
wifien und Gefchidlichkeit verwaltete Preffe, welche das
Sefammtbewußtfein einer Nation befeftigt, hebt, mit jedem
Tage erweitert, alfo die Cultur ftetig befördert. Wir
befinden uns in Betreff alles beffen erft auf dem Wege
allmählicher Annüherungen.
Es verbient unfern Dank und weitere Beachtung, daß
ber obengenannte Autor in Karl Mathy der deutfchen
Nation einen Staatsmann vorführt, ber feinerzeit Außer
ordentliches gewirkt, in der feit Yahren fo überaus leb⸗
baft vor fi) gehenden, politiichen Entwidelung Badens
eine bedeutende Rolle gefpielt hat. Iſt jener Mann aud
viel in Zeitungen, in politifchen Brofchliren und Büchern
genannt worden, jo dürfte feine ganze Xhätigfeit doch
noch lange nicht genugfam belannt geworden fein. Noch
aber ift Bier ein anderer, durchaus denkwürdiger Umftand
zu bemerken. Karl Mathy ift einer von ben in Deutſch⸗
land höchſt feltenen Xiteraten, in ber Bedeutung unfers
modernen Zeitalters, welche allen Ernſtes Carriöre, Staats»
carriere gemadt haben. Das Bud, ift fiir die Gefchichte
der neuern Politik in Deutfchland nicht zu umgehen, es
verarbeitet ein reiches Material, es ift überaus inftructiv,
es gewährt dem Publiciften und jetigen wie künftigen
Hiſtoriker eine fehr mannichfaltige Ausbeute, e8 wirft felbft
dem Freunde leichter Lektüre, dem Dilettanten in ber
Politik, manche Anekdote, ein fo buntes Vielerlei von
Vorgängen ab, daß der Mann der Tageöfeder, des Stu«
diums wie der Liebhaberei bier feine volle Rechnung finden
wird — und dennoch müffen wir eine Heine Rüge ung er-
lauben bei aller Anerkennung, die wir fonft dem cdeln,
ebenfo kenntniß⸗ wie geiftreichen Berfaffer zollen. Die
Darftelung des Buchs, die ganze Einrichtung defjelben
ift nicht leicht überſchaulich. Unfer Autor hätte mit we—
nigem nachhelfen können. Diefes wenige fehlt, und wir
find nicht durchweg befriedigt. Die an fid) Meine Schrift
leidet an einer gewiffen Ueberladenheit. Manche Notiz,
manches Detail hätte der Autor bdreift weglaffen dürfen,
jein Erzeugniß hätte dadurch um vieles gewonnen. Es
find meift zwar fo wichtige wie feſſelnde Mittheilungen,
die wir erhalten, dann jedoch ermüden wir wieder, fchon
weil es uns fcheint, daß unfer Führer unter einer ges
wiffen Ueberlaft, mit der er fich trägt, ermattet. Wir
ſehen uns nad) einem Ruheplag um. Unfer Autor ge
währt ihn mit einem neuen Abfchnitte, und ift nad) dies
ſem auch ſogleich wieder frifch geworden, wir mit ihm.
Hätte der DVerfaffer die Abtheilungen feines gehaltvollen
Buchs mit gedrängten Ueberfchriften verfchen, es würde
fogleich überfichtlicher geworben fein. Hätte er auch nur
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Biographiſches. 391
ein Inhaltsverzeichniß beigegeben! Ungeachtet dieſer kleinen
Unebenheiten und Mängel iſt das Ganze mit vielem Fleiß,
mit Sachkenntniß und Geſchicklichkeit behandelt.
Karl Mathy, 1807 zu Manheim geboren, erhielt
feine erſte Ausbildung befonder8 in der Mathematik vom
Bater. Er ſtudirte im Heidelberg zumal die Kameral⸗
wiffenfchaften und die neuern Spraden. Später inter-
effirte er fich Lebhaft für den Befreiungskrieg der Neus
griehen. Er nahm einen längern Aufenthalt in Paris,
der gewiß für feine ganze Zukunft entfcheidend wurde,
kehrte dann im feine Heimat zurüd, und erhielt, nad
rühmlichft abgelegtem Eramen, bald eine amtliche Stellung
als Praktifant im Finanzminiſterium. Schon jet machte
er fi) auch als Autor bemerkbar durch eine Schrift:
„Vorſchläge über die Einführung einer Bermögenfteuer in
Baden” (Karlsruhe, Müller, 1831). Sie bietet manches
dar, was jchlagend beweift, daß die Politif, das Yinanz-
weſen neuerdings Einblide gewonnen, Fortſchritte gemacht
haben, mit denen fich Feine frühere Zeit vergleichen darf.
Mit Karl Mathy gehen nun fchnell hintereinander, mit
Einfluß der angedeuteten, die verfchiedenften Metamor⸗
phofen vor, er übt die abmweichenditen WYunctionen aus,
inden er ſich überall raſch orientirt, über jede Niederlage
erhebt, in allen Wandlungen feinen Charakter bewahrt.
Er wird Journalift, Publiciſt, Schriftfteller aud) im wei»
tern Sinne, Buchhändler, er liegt mit der Cenſur in
mehrfachen Kampfe, betheiligt fich lebhaft an politifchen
Berfammlungen, kommt in Unterfuchung, wir jehen ihn
als Lehrer wirffam in der Schweiz, er ift fleißiger Mite
arbeiter an dem Rotted» Welder’ichen „Stantslerilon‘‘, kehrt
nad) Baden zurüd, wird Abgeordneter in der Kammer
u. f. w.
In den Deputirtenverhandlungen und überall, wo
er öffentlich auftritt, ift er einer der felbftlofeften, edel-
ften, berebteften Sprecher, die jemals gehört worden, und
es find diefe Reben ſchon allein Köftliche Seiten unſers
Bude, Mufter politifcher Beredfamteit, von jeder Eitel-
Zeit und Oftentation frei, nur auf das Staatswohl be-
dacht, dabei aber doch mit Yovialität und Humor ge-
würzt. Gleichwol drängt er fich nie vor, tritt felten als
Redner auf; fpricht er aber, fo übertrifft ihn feiner. Nach
vielen Hemmungen, die man ihm in den Weg legt, be-
ginnt nun Karl Mathy feine glänzende Laufbahn, deren
Erlebniſſe, Triumphe, bedeutende Refultate der Tefer in vor»
Itegender Schrift gründlich aufgezeichnet finden, mit Wohl⸗
gefallen und Nuten kennen lernen wird. Zur Charakteriſtik
unſers Staatsmannes fagt der Verfaſſer unter anderm:
Mathy war eben nicht der Mann, der einreißen und zer-
Rören wollte, wie man aufänglich von ihm beflicchtet Hatte,
fondern fein Haupiftreben ging dahin, wirkſame und nütliche
Reformen zu fördern, das gefammte Staatsweſen auf einen
durchaus gejetlichen Boden zu ftellen und weiter aufzubauen
an dem Staate im Sinne des echten conftitutionellen Syſtems.
Auch in der Gefchichte der deutfchen Preſſe hat fid)
Mathy einen ehrenvollen Namen gemadt. Was er für
bie freie Prefie gethan, gefchrieben, geſprochen Hat, ift
im höchſten Grad erquicklich. Mit Teinem Wort ift in
neuerer Zeit wol mehr Misbrand) getrieben worden als
mit dem Ausdrud liberal, fodag im Misbrauch des
Bielfagendften, in der Verwirrung der Vorftellungen und
Begriffe der wahrhaft Freiſinnige oft auszurufen fich ge⸗
nöthigt ſah: wer möchte denn nicht liberal fein, im höch⸗
ften Sinne des Worts! Es ift uns um fo wohlthuender,
bier, im Charakter, in der ganzen Gefinnungd- umd
Aeußerungsweiſe eines Mannes wie Karl Mathy den
Tiberalen, wie er unter allen Umftänden, auch dem Gegner
gegenüber, fein fol, auftreten, fchreiben, handeln, fprechen
zu jehen und zu Hören.
Merktwürdig und für die Eigenthilmlichleit unfers
Helden ſpeciell charakteriftifch ift es, dag durch dem tiefen,
echt patriotiſchen Ernſt, der fid) überall in ihm kundgibt,
ein Faden von Jronie mitten bindurchgeht, der aber nie
dem Ernſt umd der Sache Eintrag thut, wohl aber bie
' jedesmalige Situation und Scene lebendiger macht. Ebenfo
charakteriſtiſch iſt es, daß, je verhängnißvoller die Zeit
wurde, Mathy flets entfchieden — die Folge beweilt es
immer mehr — von jedem Ertrem, aber auch freilich von
jeder Iauen, Traftlofen Mitte fi fern hält. Ein politi⸗
ſches Drama von höchſtem Intereffe beginnt in unferm
Buche mit dem dritten Abfchnitte, mit dem Ausbruch der
Vebruarkataftrophe in Paris, ein Drama, deſſen einzelne
Aufzüge man aber durch die Feder des Verfaſſers felbft
fi! vor Augen bringen laſſen muß, da jeder Bericht
ihren feften Zufammenhang zum Nachteil unterbrechen,
auch einen zu großen Raum Hier einnehmen würde. Bon
jeßt ab treten die bereitS von uns angedenteten treffe»
lichen Eigenfchaften unfers werdenden Stantsmannes in
ihr volles Licht. Unfer Autor führt bie Vertheibigung
Mathy's gegen die Beichuldigungen exaltirter Radicaler
in der rühmlichſten Weife. Sehr beachtenswerthe Aeuße⸗
rungen über Preußen, aus der Feder Mathy’s, leſen wir
©. 104. Sie bewähren ihn fogar als Propheten. Es
beißt unter anderm bajelbft:
Der Anſchluß an Preußen ift für das übrige Deutſchland
die unerlaßlihe Bedingung feiner Sicherheit und feines Gedei⸗
bene.... Was Preußen einbüßt, wird Überall als ein Verluſt
für Dentihland betrachtet, und auf der andern Seite ftellt
N yo Preußen gewinnt, ſogleich als eine deutſche Errungen-
a T. .
Und zwar äußerte ſich ber Berfafler über Preußen
bereitö fo im Jahre 1854, in feinen „Vaterlänbifchen
Heften”. Xraurig genug, daß noch immer viele in dem
Grade verblendet, durch bie kleinlichſten Vorurtheile be-
ſchränkt find, um jenem fcharfblidenden, wahrheitslieben«
den, gerechten Publiciften nicht aus vollfter Seele bei-
zuftimmen !
In der Folgezeit befchäftigte fih Karl Mathy wieder
viel mit dem Finanzweſen, ftets jeboch fo, daß er bie
Borgänge auf dem Gebiet der Politik, der Kirche, der
Induſtrie, des Zollvereins, bes Handels in weitefter Bezie-
dung im Uuge hatte, feine Anfichten, Ratbfchläge dar-
über niederfchrieb oder bei Gelegenheit ausſprach. War
fein Aufenth TE jet ſchon lange im verfchiedenen beut-
Ihen Städte.., zulegt in Leipzig, gewefen, fo fehen wir
mit dem fünften Abfchnitte unfern Staatsmanu wieder
nad Baden zurücklehren, und hier verfolgte und vollendete
er feine Laufbahn mit einer Kaftlofigkeit und Kühnheit,
daß alles, was er begann und ausführte, wie z. B.
feine Wörderung der Eifenbahnunternehmungen in ben
weiteften Dimenfionen, bis zu des trefflihen Mannes
Tode faft eine fymbolifche Bedeutung erhält.
Der Verfaſſer rundet feine Schrift durch den Nachruf,
ar
Ende aus gejehen auch jene Heinen Ermüdungen jetzt
faft als Schönheiten der Darftellung erjcheinen, indem fie
die auch nur momentanen Entmuthigungen des Gefeierten
trem abfpiegeln, welche ihn ergriffen, wenn die Unbill
feiner Feinde ihm mit ſchnödem Undank lohnte. Auch
die Beilagen, der „Anhang“, bieten uns ebenfo Inter⸗
effantes wie Wichtiges unter dem Ueberfchriften: „Das
Tinanzgefeg und die Armee”, „Die Centralgewalt”, „Das
Wahlrecht“, „Zur Durchführung der Reichsgewalt“. Es
find in gedanklicher wie ſprachlicher Hinfiht Muſterſtücke
ftantsmännifcher Rebegewalt. Kurz, die ganze von und
zur Unzeige gebrachte Schrift verbient eine allgemeine
Verbreitung in Deutfchland, und darf noch bejonders
zum Befig und zu wiederholter Lektüre empfohlen wer-
den jedem Deputirten zu einer Landtags⸗- oder zur Reichs⸗
tagsverfammlung. *)
4. Mittheilungen aus dem Tagebuch und Briefwechſel der
Fürftin Adelheid Amalia von Gallitzin nebſt Fragmenten
und einem Anhaug. Mit dem Bildniß der Fürſtin. Stutt⸗
gart, S. ©. Liefhing. 1868. Gr. 8. 1 Thlr.
Darin waltet zwifchen Franzoſen und Deutfchen, wie
fehr fie fi) fonft voneinander unterfcheiden, eine merf-
würdige Achnlichkeit, daß beide ihre Literatur- und Bil»
dungeinterefien bi8 in den Umgang, in das Geſpräch
hinausmünden laſſen, daher denn auch, unfers Willens,
fich bisjegt nur bei diefen Nationen der literarifche Salon
in bie Erfcheinung gejegt hat. ‘Die eigentliche, höhere
Sefelligkeit, die aus Ideen ober auch nur aus Gedanken,
ans der Culture nad allen Richtungen bin, wobei aber
die Thatſachen nie ausgefchloffen find, den Aufwand ihrer
Unterhaltung bezieht, Rang, Ceremoniell, Etikette ver-
gefien läßt, indem ihr nur Bildung bie Eintrittsfarte zur
guten Geſellſchaft ift, diefe Kreife auserwählter Conver⸗
jation finden fih im Durchſchnitt nur in Sranfreih und
Deutſchland vor, es müßte denn, nach dem, was wir
hören, in einem Theil von Amerila, wo die beutjche
Intelligenz immer weiter vordringt, namentlich in einer
Stadt wie Bofton, etwas Analoges in der Geftaltung
begriffen fein. Wo unter Franzofen und Deutfchen aud)
ber Salon nicht ausreichte, um den Austaufc der Ge—
danken fir beide Gefchlechter zu vermitteln, inneres wie
ünßeres Leben, wenn zunächſt auch nur fitr fich ſelbſt oder
für Freunde, zu objectiviren, da Half ſchon früher bei
den Branzofen das Memoire, bei den Deutſchen das
Tagebuch, bei beiden der Briefwechſel weiter aus, bis
wir Deutfche fo fehr uns vervollftändigten, daß wir an
Zahl und an Werth der Memoiren unfere Nachbarn
bereit8 eingeholt, in Tagebüchern und Briefen fie über»
flügelt Haben. Varnhagen ſchon allein beweift fo fehr
das Geſagte und die Yortdauer feines Werks, daß er
eben im Begriff ift, fich felbft nach feinem Tode noch zu
einer ganzen Bibliothef von Memoiren, Tagebüchern,
Briefen auszulegen; feine Productionen im reichiten Um⸗
gange, in ber Selbftbetrachtung, Diplomatie, Strategie,
Biographie, fogar im Roman, in der Novelle, im Ges
dicht find unerfchöpfliche Denkwürdigkeiten. Es hat auch
*) Guſtav Frehtag's Biographie Karl Mathy's bat durch ihre Tlinfileri-
i9e Bofung un, altung — ige —* mas in Ben Kintergrun
gebrangt. Bgl. bie Beſprechung in Nr. 6 b, DL. «Ned.
Biographiſches.
den er ſeinem Helden weiht, aufs ſchönſte ab, ſodaß vom
in Deutſchland feit dem vorigen Jahrhundert ſehr beden⸗
tende Salons gegeben. Warum der eigentliche Salon in
der Gegenwart entſchieden zurücktritt, wer ihm für Fran⸗
zoſen und Deutſche auf lange hin ein Ende gemacht
bat, worin poſitiv die wahrhaft höhere Geſelligkeit be-
fteht, darliber ditrfen wir uns des Raumes halber hier
nicht ausſprechen. Auch haben wir e8 an einem andern
Orte bereits gethan. *)
Der Kreis, den die Fürſtin Amalia von Galligin in
und bei Münfter um fidy zu verfammeln pflegte, gehört
ſicher zu den fehr eigenthümlich gearteten wie einflußreichen.
Sie übte hier die edelfte, vorurtheillofefte Gaftfrenndichaft
aus. Jeder Gebildete, wiefern er ſich vor allen als ein
Wahrheitliebender, auch an feinem fittlichen Heil Arbeiten-
der auswies, wurde willlommen geheißen. Es war eine
Art geiftlich «weltlichen Hoflagers, welches die Fürftin hier
unterhielt, indem man Seelforge mit Bildungsbeflifjenheit
in jeder Hinficht verband. Wir begegnen in biefer Sphäre
hervorragenden Männern mie Hemfterhuis, Jacobi, Over
berg, Dalberg, Spridmann, Fürftenberg, Hamann, F. L.
Stolberg, Buchholz, und es wird aud) an entjprechenben
Frauen nicht gefehlt haben. Fremde kehrten ab und zu
ein. Wir wiffen, aud) Goethe nahm einigen Aufenthalt.
Im Geſpräch erging man ſich völlig ohne Gene Dies
jpiegelt fich denn auch in den vorliegenden Tagebüchern
und Briefen aufs beutlichfte und anmuthigfte ab. Die
Fürſtin, lebhaft wie fie war, lenkte unbeabfichtigt das
Ganze. E8 herrichte Hier feiner, aber e8 herrſchte eine
fo großartige, naive Zoleranz, daß man jeden gewähren
ließ, daß jeder feine Meinung, Anficht, feine Zweifel
ausfprechen durfte Die Fürſtin felbft, ungeachtet ihres
Rangs, fühlte fi fo fehr die Gleiche unter Gleichen,
daß fie ihrer anfrichtigen Demuth nie Einhalt that, und
doch ſtets ihre Würde behauptete, Die Fürſtin von Galligin,
geborene Comtefje von Schmettau, war eine rau von
außerordentliden Anlagen, von zartem Gemüth, von hel⸗
lem Berftand, aber mehr aneignender als fchöpferifcher
Natur. Sie hatte ein enormes Gedächtniß, machte mit
Schneller Auffaffung Studien in alten und neuen Spradgen,
in der Medicin, Mathematit, Metaphyſik. Sie bedurfte
jedoch fletS eines Seelen- und Gewiffensrathes. Diefe
Käthe und Beiftände in der Philofophie waren ihr Hem-
ſterhuis und Jacobi, ihre geiftlichen Väter und Seelforger
in der frühern Zeit Hamann, fpäter auch Dverberg und
Fürſtenberg. Trog des katholifchen Belenntniffes der
meiften, welches fih aus dem Hintergrunde bemerkbar
macht, nahn man fogar Heidnifches mit herein, huldigte
dem Sokrates und Plato ebenfo lebhaft wie Leibniz, war
gegen Proteſtanten ebenfo zuvorkommend wie gegen fatho-
liſche Glaubensgenoſſen, dennoch mitterte der Scharf
blidende, Feinſpürige hier eine gewiffe, wenn auch äußerft
delicate, fern gezogene, klerikale Donanenlinie, die um⸗
ſchauend überwachte, wo und wie viel Contrebande über
die Schwelle Tam, und es ftets im Ange behielt, daß
in dem Magus aus Norben ein Ketzer eingetwandert war,
der ſich häuslich Hier niebergelaffen hatte und in feiner
neuen Heimat als Proteftant fogar ftarb.
Aus dem Tagebuche der Fürftin Können wir fogleid
e) Man vergleige: „Borlefungen über focialed Leben und ere Ge⸗
senfateit Bon Wlegander Jung”, (Danzig, erben, 1844). vo
—
m — —— — ——— —
Biographiſches. 393
eine Stelle citiren, die eine ſo heitere, rein menſchliche
Duldſamkeit ausſpricht, daß ſolche manchem finſtern Ze⸗
loten von heute alle Ordnung des Weltganzen zu gefähr⸗
den ſcheinen wird. Es heißt dort:
Ich beurtheile die Menſchen blos nach der Beſchaffenheit
ihres Willens; wäre dieſer rein und ganz nach dem Beſtreben
auf beſtändige Beſſerung hingerichtet, ſo könnten feine Meinun-
gen nie die geringſte Veraͤnderung in meinen Geſinnungen gegen
ihn, in meiner Neigung und Liebe zu ihm zu Wege bringen, er
könne katholiſch, lutheriſch, mohammedaniſch, ein Idealiſt oder
Realiſt, ein Stoiker oder Epikuräer feinen Meinungen nad) fein,
wenn er nur mit Wahrhaftigkeit irrt. Kurz, wenn nur feine
Handlungen mit feinen Dleinungen übereinflimmten oder wenn
er nur nach biefer Hebereinftimmung ftrebte, fo märe er mir
ehrwürdig.
Wir finden in dieſen Tagebüchern eine Diätetik der
Seele in Ausübung gebracht, welche in hohem Grade
Anerkennung und Nachahmung verdient; dennoch war hier
ein Aeußerſtes zu vermeiden, was wol nicht immer ver⸗
mieden worden if. Wie man fich in Selbftbeobachtung,
in Belenntniffen an andere, im Gefpräd über die gegen-
feitigen Seelenzuftände nie genug thun konnte, fo führte
biefes zulegt etwas Krankhaftes mit fi, mas jogar ge-
führlich zu werden drohte. Man wollte dem Wohlgefallen
an ſich ausweichen, und beabfichtigte e8 unbewußt. Man
wollte Pflichten erfüllen, und fegte fi der Gefahr aus,
darüber andere Pflichten zu überfehen. kan veflectirte
auf den jtttlihen Verdbauungsproceß, und ftörte ihn da-
durch. Man wollte das moralifche Seelenauge rein hal⸗
ten, und rief gerade durch zu minutidfe Beobachtung
Sleden in ihm hervor. Es wäre dem zu vergleichen,
wenn jemand jene frankhaft wechjelnden Yigurationen des
pꝓhyſiſchen Auges, die man mouches volantes nennt, forg-
fältig beobachtete, zählte und fie dadurch erſt recht in ſei⸗
nen Geſichtskreis citirte. In obigem Sal entging es der
Fürftin keineswegs, weldhe Syrien bier drohten, ſodaß fie
vor jeder Schönfeligkeit zurückbebte. Auch Jacobi und
Hamann, der Magus, warnten in der Nähe. So lejen
wir im Tagebud) die Aufzeichnung:
Bei Gelegenheit eines Streits zwiſchen Buchholz nnd Ha⸗
mann war es, daß Hamann folgende Worte fagte, die mir tief
ins Herz fuhren: „Wenn id einen Samen in bie Erbe für,
40 bleibe ich nicht flehen und horche und fehe zu, ob er aud)
wachſe, fondern ich füe und gehe don dannen, weiter zu fäen,
and Überlaffe Gott das Wachen und Gebeihen.‘ Ich fühlte
mid in meinem Innerſten durch diefen erhabenen Grundſatz
gerührt und getroffen.
Hamann wird überhaupt in diefen Kreifen wie ein
hriftliches Drafel gehört. Wir fehen aber auch, wie ein
gewaltiger Naturmenfc in ihm nod immer im Born auf»
zubraufen vermag, um freilich von feinem chriſtlichen Ich
fogleich wieder niedergeworfen zu werden. Hamann's Tod
wird von ber Fürftin ergreifend gefhildert, was fi) nod)
fleigert, da Hemfterhuis zum Beſuch anlangt, erkrankt,
amd ebenfalls dem Tode faft erliegt. Es kommen im weis
tern fehr tiefe, überaus feine Bemerkungen über Chriften-
thum vor, befonders da, wo die Fürftin fozufagen bes
Gegenfages gedenft zwifchen Afcefe und Genuß. Sie
fährt fort, mit Hamann, mit defien Schriften, auf deren
Tieffinn und Werth ja auch Herder, Yean Paul, Jacobi
und Goethe ein fo flarfes Gewicht legten, Umgang zu
pflegen, und es bleibt ſtets denkwürdig, wie eine Frau,
die Ratholikin im ftrengften Sinne des Worts war, in
1370, 9.
dem proteftantifchen Magus aus Norden eine fo unend-
liche Welt fand. |
Sie macht von ihrem Landfige bei Münfter einen Ab⸗
ſtecher nach Düſſeldorf, und vermweilt gewiß oft bei Ja⸗
cobi und deſſen Schweſtern in Pempelfort, wo der Eul-
tus einer auserwählten Gefelligfeit ebenfalls begangen
wurde. Wir Iennen die Reize des Umgangs mit Friedrich
Jacobi aus Goethe's „Dihtung und Wahrheit“. Bei«
läufig fei bemerft: das Deutſch der Fürſtin im Tage—⸗
buche ift bisweilen etwas weitfchichtig und ungelent, wenn
im einzelnen Ausdrud auch oft fehr glüclich, geiſtvoll
und tief. Vielleicht war jener Umftand bei ihr eine Yolge
davon, daß fie in ihrer ariftofratifchen Stellung nur zu
häufig mündlich und fchriftlich franzöfifch fi) vernehmen
lafien mußte, und daß ihr die anhaltende Beihäftigung
mit andern Spradhen den Genius ber deutfchen um ein
Beträchtliches entfernt hatte. Menſchliche Schwächen an
andern, felbft an den Größten, wie an fich zu entdeden,
aufzuzeichnen, führt die trefflihe Frau aud hier fort.
Sie beſucht fpäter Hamburg und Claudius; auch bei F. L.
Stolberg und den Seinigen verweilt fie längere Zeit zu
gegenfeitiger Erquickung.
Aud in dem Briefmechfel, den fie in weiter Ausdeh-
nung unterhielt, erfreuen wir und einer großen Mannich-
faltigkeit des Intereflanten wie Charafteriftiichen und Be⸗
beutenden. Der Inhalt, die Ausdrudsmeifen diefer Briefe
find allerdings fehr ungleich. Oft find fie überladen mit
Complimenten, Elogen, bie einer fo edeln, bochgebildeten,
felbftlofen Frau nur läftig fein konnten; dann drängt ſich
in ihnen wieder ein folcher Reichthum des Innen- und
Außeulebens, ſogar der damaligen Politik und Diplo»
matie zujammen, daß der Empfängliche fort und fort
angezogen, unterhalten wie belehrt wird. rau von Gallitin
erfcheint uns oft wie eine regierende Fürſtin an der Spitze
einfichtspoller Miniſter. Alle holen und finden bei ihr Rath,
alle, auch noch jo verwidelte Fäden ihres Eulturftants laufen
in ihrer Hand zufammen, werden von ihr entwirrt. Einer
ber edelften Männer feiner und aller Zeiten, Hr. von
Fürſtenberg, fteht bemundernswürbig vor uns, wir hören
ihn fprechen, fehen ihn Handeln; fogar angefeindet bleibt
er fich ſtets gleich, und darf als das Muſter eines Staats»
mannes, Eulturbeförderers und chriftlichen Weifen bezeichnet
werden. Auch das eigenthümliche Berhältnig der Fürſtin
zu Hemfterhuis tritt neu hervor und gewährt uns den Ein-
Fa in den Verkehr zweier wahrhaft ſchöner, platonifcher
eelen.
Un unfern Leſern eine Borftellung von der Bielfeitig-
feit diefer ganzen Correfpondenz zu geben, wie bier bie
verjchiedenartigften Dinge von den entfernteften Stand-
punkten her zur Sprache kamen, erwähnen wir von ben
Briefjendern nur folgende: Kaiferin Katharina von Ruß—⸗
land, Goethe, Dohm, Heyne, Johannes von Müller,
Sömmerring, Hamann.
Bon Sömmerring find e8 vier Schreiben aus Kaſſel.
Es handelt fi) unter anderm um nichts weniger als um
„einige Präparate in Spiritus”, ja um Anatomie über-
haupt. In welcher Art der trefflihe Mann von ber
Erhebung fpricht, welche ihm die Naturwiſſenſchaft ge-
währt, dürfte dem heutigen Stodrealiften zu vernehmen
bon einigem Gewinn fein. Er fehreibt der Fürſtin:
50
394
Das Wiffen gibt nur allein Nahrung und erhält uns auf
recht. Alles fonftige Äußere Vergnügen wird doch zu manden
Stunden gleichgültig, unangenehm, jelbft ſchmerzlich, die Wonne
hingegen, die uns Wiffen gewährt, ift dauerhafter, in jedem
Augenblide angenehm, wird nie bereut, gehört uns am eigen-
ften und ift feinen äußern Zufällen auögejegt, und das, weil
fih’8 allein Übers Körperliche erhebt und daher feiner Beränbe-
rung nnterworfen if. Das Studium der Anatomie wiirde nie
fo leicht, und das blos um fein felbft willen, ſelbſt zur Leiden»
Schaft werden, wenn es blos Betrachtung der Schale wäre,
nicht von der Einrichtung des Haufes auf defien edlere Be-
wohner oft mit Sicherheit gefchloffen werden könnte und müßte.
Indem er das blos Aeußere abweift, fährt ex fort:
Wie viel erhabener aber find nicht die Geſinnungen und
Abfihten, die Euere Durchlaucht Außern, und nad welchen
Höchſtdieſelben Kenntniffe und Wiffenfchaften lieben und beför-
dern, nicht um des eiteln Wiffens willen, fondern um bamit
zu nüten und darauf vor allem bie Perfectibilität des Indivi⸗
duums zu bauen und zu erhöhen, und fi fo, was das Be-
fireben aller Weiſen war, dem Urweſen zu nähern.
Es ift belannt, in welchem Grade aud Goethe bie
Fürftin von Oalligin auszeichnete, ihr vor allen andern
Frauen fein Bertrauen ſchenkte. Daß die Fürftin auch
für die Antife ein fo feines Anempfinden und Berftändniß
batte, daß fie auch zur Philofophie ſtets wieder zurüd-
Aus der erzählenden
Es ift eine Heine Gruppe von Romanen, Erzählun«
gen und Novellen, die wir einer kurzen Beſprechung un⸗
terwerfen wollen, um unfere Leſer auch auf dieſem Ge⸗
biete einigermaßen im Zuge zu erhalten. Freilich haben
wir dabei nicht don irgendeiner epochemachenden Arbeit,
von einem wirklich genialen Wurfe oder einer neuen Kraft,
die Großartiges wenigftens in Ausficht ftellt, zu berichten,
wohl aber find Leiftungen zu erwähnen, die immerhin
einer freundlichen Beachtung und Anerkennung werth fein
dürften. Zwar der eigentliche Titerarifche Beteran unter
den hier zu beurtheilenden Schriftftellern, Auguſt Lewald
nämlich, ift keineswegs derjenige, deſſen Buch:
1. Anna. Bon Anguft Zewald. Mit einer Mufilbeilage
von Fanny von Hoffnaas. Schaffhauſen, Hurter. 1868.
Br. 8. 2 Thlr. 24 Ngr.
wir fehr zu rühmen im Stande wären. Die Erzählung
ift breit, langjfam und jchwerfällig, und dabei in der
Darftellung weder von tief pfychologifhem Werthe nod)
poetifchem Reize. Der Berfafler fhildert uns eine Che,
die badurd) getrübt wird, daß ein jüngerer, ziemlich ver-
wachfener und Liederlicher Bruder des Gatten dem ſchönen
und heitern Weibe nadjftellt, und es durch diefe Nach⸗
ftellungen und die damit verbundenen Intriguen beinahe
bi8 zum Bruce zwilchen dem Paare bringt. Zum
Süd ift jedoch eine Freundin der Frau, eine Blinde, da,
welche durch ruhige und feinfinnige Yutention alles wie
der in bie Reihe bringt und eine tragifche Kataſtrophe
vereitelt.
Man wird uns einräumen, daß für ungefähr drei⸗
bundert Seiten diefer Stoff nicht wohl ausreiht und
Bebentung nur durch eine geiftvolle und pilante Einklei⸗
dung hätte erhalten können, die indeß hier leider durch⸗
weg vermißt wird. Nirgends belebt fi das Werk durch
Aus der erzählenden Literatur der Neuzeit.
fehrte, während fonft von nicht wenig Gläubigen bildende
Kunft und Philofophie oft mit Enghexzigkeit und Verdacht
abgelehnt werden, beweift den meiten Horizont, den fie
beherrfchte. Ihr Glaube war feft, aber fie mußte, daß auch
Kunft und Wiſſenſchaft auf demfelben feften Grunde ruhen.
Wir empfehlen obiges Buch fehr angelegentlih. Ks
it reich an Menſchen⸗ und befonders an Selbftbeobad-
tung. Die Fürſtin Hatte fich die wichtigfte aller Auf⸗
gaben gewählt, täglich an der Lauterkeit ihrer felbft und
ihrer Umgebung zu arbeiten, und Hatte dies Problem
gelbſt. Schließlich verweifen wir auf die köſtliche Dar-
ftellung, in der Goethe feinen Beſuch der Fürſtin zu
Münfter in der „Campagne in Frankreich” jchildert, und
machen auch noch befonders aufmerffam, daß man doch
ja den originellen „Anhang“ unferer Schrift nicht überfehe,
in welchem eine edle Matrone aus ariftolratifcher Per⸗
fpective bie Jugendzeit unferer Heldin aufnimmt und
zeichnet, faft bis zu einer Hochzeit gelangt, und das alles
mit ganz apartem Geift in einem fchätbar treuherzigen
Franzöſiſch⸗Deutſch vorträgt, welches uns ergögt und zu
aufrichtigem Dank auffordert.
Alexander Jung.
Literatur der Wenzeit.
tiefe umd überrafchende Gedanken, durch erſchütternde
Herzenswahrheiten und gemwinnenden Zauber des Stils
ober erhebenden Schwung der Sprade. Es ift im gam«
zen, wie wir ehrlich bekennen müſſen, von gewöhnlichen
Schlage und durch nichts befonder8 ausgezeichnet. Um
jedoch dem Autor und feiner Schöpfung nicht unrecht zu
thun, bleibt daneben zu befennen, daß die letztere in jeder
Beziehung den durchweg angenehmen und erwärmenden
Eindrud macht, zur Befeftigung der Sitte und Moral
gefchrieben zu fein. Der Hauch deutſcher Ehrbarkeit und
häuslicher Tugend tritt dem Xefer in wohlthuendſter Art
daraus entgegen und flempelt damit die Erzählung zu
einem lobenswerthen Gegenſatze der frivolen Senfationd«
romane, die man ſich nur zu eifrig bemüht, in Nachahmung
franzöſiſcher Muſter bei uns einzubätrgern.
Auch eine bei weitem jüngere Kraft, Edmund Hoefer,
beftrebt fi) nicht ohne Erfolg, einen ſolchen Gegenfat zu
liefern, wie die folgende Erzählung beweift:
2. Der verlorene Sohn. Eine Geſchichte von Edmund Hoefer.
Stuttgart, E. Hallberger. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
Diefer verlorene Sohn tft ein preußifcher Junker, ber
die ſchmachvolle Schlacht bei Jena mitgemacht und infolge
derſelben, weil man ſich in dem Unglück jener Tage nicht
die Mühe gibt, fich von feiner eigenen Schuldloſigkeit zu
überzeugen, von feiner Familie gewiffermaßen in Acht
und Bann gethan wird. Ex felbft verhilft dieſem Bann⸗
ſpruch und diefer Aechtung dadurch zu einer gewiſſen
Zuftändigkeit, daß er bie Miene vollftändigfter Unempfind-
lichkeit und Gleichgültigkeit gegen die Gefchide feines
Baterlandes annimmt. Im Grunde aber ift er ein ange
gezeichneter Patriot und ein Dann, der unter der Masfe
politiſcher Imdifferenz ein warmes Gefühl für die Ehre
Aus der erzählenden Literatur der Neuzeit. 395
feines Bold bewahrt und im ftilen mit ausdauerndem
Eifer an defien Erhebung mitarbeitet.
Daß diefer Borwurf ein anziehender und fpannender
ift, wird fich leicht erkennen laſſen; nur ſchade, daß Ed»
mund Hoefer nicht Sorge getragen bat, durch tiefer
gehende Hiftorifche Studien feiner „Geſchichte“ einen höhern
Werth und vollere Bedeutung zu geben. Hätte ber
liebenswilrdig und ſtets gefällig ſchaffende Novellift feine
Erfindung mehr mit dem Geift und Leben jener denk⸗
würdigen Jahre durchtränkt, mehr die Menfchen und
Begebenheiten berjelben hervortreten laſſen, fo würde ohne
Zweifel das Ganze nicht: nur ergreifendere Gewalt, fon-
bern auch imponirendern Ausdrud gewonnen haben. Im
allgemeinen bleibt die Phyfiognomie diefes Werks, fo fehr
e8 auch wiederum das Talent des Dichters im feiner
Zeichnung und Ausmalung bekundet, doch zu unvertieft
und novellenhaft, um den Zeitcharafter voll und treu
wiederzugeben, in bem es feine eigentliche Weihe und fein
höchftes Pathos zu finden hätte.
8. Die Dorflolette. Eine Erzählung von Friedrich Spiel:
bagen. Schwerin, Hildebrand. 1869. 8. 1 Thlr.
Es ift dies. eine Heinere Arbeit bes Berfaflers, der,
nicht weniger fleißig als Hoefer, doch für gewöhnlich ſich
in Productionen von größerm Umfange auszugeben pflegt.
Seine Erzählung, mit der wir e8 hier zu thun haben,
verräth aud gerade in ihrer Hauptlataftrophe ftärkere
Ausdrudsweife und Contouren, als diefelbe eigentlich ver-
trägt. Ein verfchloffener, hart geprüfter und von ber
Welt fcharf mitgenommener Menſch, der fih von einem
bübfchen und gefallfiichtigen Landmädchen nur ziemlich
wiberwillig hat erobern lafjen, und nachher erfahren muß,
daß fie auf dem beiten Wege ift, fi) an einen erbärm-
lichen Geden wegzuwerfen, den fie mit ihrem Lärvchen
gleichfalls in fich vernarrt zu machen wußte, läßt ſich im
feiner Entrüftung dazu hinreißen, dies Mädchen dadurd
in ihrer Schönheit zu beeinträchtigen, daß er ihr die
Ohren abſchneidet. Diefer Act der Brutalität wird ein
wenig in zu grandiofen Strichen und fo gezeichnet, daß
ber Lefer im erften Moment nicht anders meint, als daß
es fih um Mord und Todtſchlag handelt. Auch ift das
alte unheimliche Weib, welches Konrad zu diefer Gewalt-
thätigkeit aufftachelt, ein wenig zu fpät und zu plöglic
in den Gang der Handlung eingeführt. Das pfycholo-
giſche Problem, bas Spielhagen ſich zum Vorwurf ge-
ftellt, ift ganz fücher intereffant und fpannend, aber in ber
Behandlung nicht ganz von der künſtleriſchen Subtilität,
welche dafür erwünjcht geweien wäre.
4. Der Regenbogen. Gieben Erzählungen von Wilhelm
Raabe. Zwei Bände. Stuttgart, E. Hallberger. 1869.
Gr. 8. 2 Thlr. 15 Nor.
Diefe Erzählungen vermögen wir nicht gerade zu den
gelungenern Erzeugniffen des Berfaflers zu zählen. „Die
Hämelfchen Kinder“, welche die Sage vom Rattenfänger von
Hameln novelliftifch verwertet zeigen, find chronitenmäßig
breit und im. Grunde doch zu einer ziemlich nichtsſagen⸗
den und gewöhnlichen Liebesgefchichte ausgefaſert. Mit
„Elfe von der Tanne‘ ift e8 dafjelbe. Unter den Greneln
des Dreißigjährigen Kriege hatte fich zu Wälrode im
Eiend ein geheimnigvoller Mann, wahrjcheinlih ein Arzt
oder Aftronom, im Walde, fern von Dienfchen, mit fei-
ner Zochter niedergelaffen. Friedemann Leutenbecher, der
Diener Gottes in jener Gegend des Harzes, gewinnt ein
inniges Intereſſe für diejes Mädchen, muß dafjelbe aber
leider unter dem Haß und den Mishandlungen der aber-
gläubifchen Menge zu Grunde gehen fehen.
Stil und Yarbenton fcheinen uns bier von ebenfo er-
fünftelter Härte und Dunkelheit, wie iu der modernen
Keifenbenteuergefchichte „Keltiſche Kochen” der Humor
erzwungen und wirkungslos. „Sanct⸗Thomas“ ift eine
jpanifche Novelle, die einen gewillen romantifchen Heiz
befigt und ſich gleichfam fchattenhaft in Naht und Fin-
ſterniß abſpielt. Die Menfchen handeln alle wie in
Träumen und Biftonen; da aber diefe Handlungen und
ber ſchwarze Hintergrund, auf dem fie vor ſich gehen,
nicht ohne grell auffladernde Beleuchtungen bleiben, fo
muß der Gefchichte doch jedenfalls ein durchgehender Zug
von Pilanterie zugeftanden werden: ein Zug freilich, der
nicht felten in Effecthafcherei ausartet, aber durch frap⸗
pante Ausprägung des fpanifchen fowie des niederländi-
ſchen Vollkscharakters einen höhergehenden Werth erlangt.
„Die Gänſe von Bilgow“ bringen eine medlenburgifche
Kleinftadt-Emente, bie ihr Ergötzliches, aber in breitfpuriger
Detailausmalung auch ihr Misliches hat. „Gedelrike“
ift eim tragifcher Pendant dazu, und, wenn bier und
da von unheimlich verwifchten Colorit, doch don über-
raſchend glüdlichen Einzelheiten. „Im Siegeskranz“ bie-
tet die Leidensgefchichte einer armen Wahnfinnigen, die
ihren Geliebten zum vorzeitigen Aufftand gegen bie Fran⸗
zojenherrfchaft von 1809—12 anftadhelt, und als derfelbe
dann hierbei feinen Untergang findet, in geiftige Umnad)»
tung verfällt, welche unfer Autor wahrhaft erfchütternd zu
ſchildern und über manchen widerwärtigen Eindrud hin⸗
weg zu verfühnendem Ausgange zu bringen weiß.
Eme ähnliche, mit einer entjchiedenen Hinneigung zu
dunkler Romantik verfehene Begabung begrüßen wir in
einem nenern Autor, Wilhelm Jenſen mit Namen.
Es liegen uns von ihm drei Bücher zur Beſprechung
vor:
5. Die braune Erica. Novelle von Wilhelm Jenſen.
Berlin, X. Dunder. 1868. 16. 15 Ngr.
6. Das Erbtheil des Bluts. Erzählung von Wilhelm Ien-
| en r?rlin, Erpedition des Sonntags⸗Blatts. 1869. 8.
T
7. Rene Novellen von Wilhelm Ienjen. Stuttgart, Kröner.
1869. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Ngr.
„Die braune Erica” (Nr. 5) ift eine Art von novel»
liſtiſchem „Sommernachtstraum“. Es herrſcht darin eine
ſchwüle, märchenhafte Stimmung, ein myſtiſches, ſchlaf⸗
trunkenes Leben, ein phantaſtiſcher Zug von Ludwig Tieck,
Achim von Arnim und Clemens Brentano. Die Welt
liegt wie im Dämmer, und was ſich darauf bewegt, iſt
wie Schemen und Schatten, die langſam und geſpenſter⸗
haft vorüberziehen. Das Ganze erweiſt ſich nicht ohne
Poeſie, aber es iſt die Poeſie, welche unter dem Alpdrucke
ber Romantik liegt, der fo lange eine ganze Schule be-
ſchattete und eine Dichtung erzeugte, die ſich wie im
Fieber umherwälzte und unverftändliche Dinge in Berfen
fowol als Profa lallte,
„Die braune Erica” zeigt von dieſem Trankhaften
überreizten Zuflande mancherlei Symptome auf. Der
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396
Inhalt ift dunkel und überwacht, fchwerfällig und ſchwan⸗
end im Gang der Entwidelung, verworren und unklar
im Ausdrud, Es ruht wie Nacht auf dem Werken;
Wolken verbüftern den Mond und beängftigende Stille
breitet fich überall aus. Die Berfe, die fid) aus der
Proja hier und da erheben, lafjen ſich wie ein jchläfriges
Bogelzirpen an, das zu zeiten wie aus der Erde oder
aus der Luft zu ertönen fcheint, einen Augenblid andauert
und dann wieder langjam erlijcht und ftirbt.
Höre man den Hergang: Ein Brofeffor der Botanik,
deſſen alte Haushälterin zu Pfingiten das Haus ſäubern
und lüften will, wird durch diefe aus feinem Studir⸗
zimmer vertrieben und weit hinaus ſcheucht auf die timasger
Heide, wo er Erica janthina ſuchen geht, und ftatt ihrer,
ſich zu einer Zigeunerfamilie verivrend, ein braunes Heiden-
mädchen findet, das ihn durd; feine natitrlihe Schönheit,
feinen abenteuerlichen Geift und feine wunderbare Naivetät
fo anzieht und fefjelt, daß er fie als gefundenes Blümchen
Wunderhold mit nad) Haufe nimmt und heirathet.
Es liegt poetifher Duft und Zauber über der Ar-
beit; aber bieje find nicht ganz gefund und wirken be»
Hemmend und bedrückend. Es iſt eben die dide, jchwere
Luft der romantifhen Schule,. die mitternächtig darüber
ſchwält und brütet.
Bon der Erzählung „Das Erbtheil des Bluts“ (Nr. 6)
gilt dafjelbe. Es fpielt darin die grausliche Geſchichte
einer Doppelheirath. Ein adeliher Gutsbeſitzer Hat in
ftürmifcher Naht fih in feiner Schloßfapelle mit einer
Schaufpielerin trauen laffen, wie er meint, von einem
verfappten Gauner; aber es ift der wirkliche Paftor des
Nachbarguts, der in aller Form das Paar zufammengibt.
Diefer Paſtor wird von dem Zwifchenträger, einem
Kammerdiener bes Junkers, vergiftet, berichtet vorher aber
den dunkeln und geheimnißvollen Vorgang noch einem
Collegen, der ihn in feinem Tagebuche aufzeichnet und,
nachdem er der Nachfolger des Geftorbenen geworben ift,
fpäter, natürlich ohne es zu wiflen, jenen Gutsbeſitzer
mit einer reichen, vornehmen Dame nod einmal bei hellem
Tage traut. Die erfte, auf fo ſchändliche Weife betrogene
Gattin, welche den Betrug inzwilchen inne geworden, ift
ans dem Schloß, in dem man fie verftedt hielt, ent-
wichen und trägt ein Zöchterchen, das fie bald darauf
geboren, den Paftorleuten zu, die es nebft einem Sohne
des unglüdlihen Borgängers in demfelben Predigtamte
aufziehen.
Der zweite Abjchnitt der Erzählung gibt nun die
Gefchichte diefer beiden Kinder. In dem Mädchen regt
fih des Blutes Erbtheil, d. H. der abenteuerliche, Fünft-
lerifche Trieb der Mutter. Das einfame, ftille Leben auf
dem Lande und bie ehrbare Erziehung der Pflegeältern
bedrüden ihren Geift, und ba man diefen einſchränken
und auf ebener Bahn chriftlicher Häuslichleit bewahren
will, empört fie ſich und verleitet ihren Pflegebruber, mit
ihr in die Stadt zu gehen. Hier begibt fie fi unter
die Schaufpieler, ohne indeß auf der Bühne durch etwas
anderes als -ihre Schönheit Glüd zu machen. Der
Stieffohn ihres Vaters, ein wüſter, Tiederlicher Menſch,
fucht fie zu verderben. Das Mädchen ift in eine Gefell-
ſchaft von ſchlechten Menjchen und Dirnen gerathen und
auf dem Punkte, durch diefelbe Liſt und Borfpiegelung
Aus der erzählenden Literatur der Neuzeit.
wie ihre Mutter zu fallen. Aber biefe Mutter, die, von
Stufe zu Stufe gefunten, für ihr Kind doch noch ein
beſſeres Gefühl bewahrt bat, rettet fie in Gemeinfchaft
mit dem Pflegebruder vom zeitlichen und ewigen Ber.
derben. Schließlich kehrt die Heldin zu den Paſtor⸗
leuten zurüd und fieht fih als Kind des Edelmanns
anerkannt.
Auch diefe Erzählung iſt, wie fih ohne Zweifel zur
Genüge aus unferer flüchtigen Darftellung des Inhalts
ergibt, von romantifcher Dunkelheit, ſchroff wirfend und
herzbeklemmend.
Deſſelben Autors „Neue Novellen“ (Nr. 7) ſind es
nicht weniger, zum mindeſten einige davon. „Aus dem
Heu“, eine ſchläfrige Geſchichte, wie fie der Dichter fel-
ber nennt, erinnert an „Die braune Erica”, nur daf fie
tindlih naider und mehr wirkliches Märchen ift, ein
Märchen, das von zwei Kindern auf dem Heuboden ge=
träumt wird. Der phantaftifche Zug zur Erlöfung der
verwunfchenen Prinzeſſin ift wahrhaft reizend und in ſei⸗
ner Urt ein Kleines Meifterftüd.
„Valenzia Gradonigo“ ift eine in keden Strichen hinge⸗
zeichnete Epifode aus der Gefchichte Venedigs. Eine vornehme
junge Dame diefer alten Meerftabt liebäugelt mit einem Dich»
ter, den fie infolge dejlen auf Anordnung ihres eigenen Baters
meuchlings ermordet fehen muß, obſchon in der That ihr
Herz weit mehr für Antonio Yoscarini, den freund bes
Dichters, fchlägt. Nach dem Tode des Poeten lernt An-
tonio Balenzia erft wirklich kennen, verliebt fich im fie
und will fie heirathen. Aber ein Werkzeug des Gradonigo,
der ftille Vollftreder von deſſen biutigen Gedanken, der
jelber die Signora liebt, ftedt dem Bräutigam ihr Ber
hältniß zu Xeonardo, dem Sänger, und veranlaßt dadurd)
Foscarini, fi von Valenzia noch vor dem Altare los⸗
zufagen. Der alte Gradonigo wüthet über biefe feinem
Kinde und fi felbft angethbane Schmah und ruht
nicht eher, als bis der junge Patricier angeffagt und
zum Tode verurtheilt wird. Aber feine Tochter, die ihn
aufrichtig und leidenſchaftlich liebt, eilt ihm zu befreien,
wobei fie indeß mit dem Unglüdlichen vereint den Tod
findet, in dem Augenblide, in dem ihr Vater gerade das
Fe feiner Wünfche erreicht und ben Stuhl des Dogen
efteigt.
„Die Liebe der Stuarts“ ift weniger grell und viel
zarter im Ton. Die Feine Novelle gibt die Geſchichte
einer Halbſchweſter von Karl IL, die, an einen Theo⸗
logen verheirathet, den jungen Stuart beim Ausbruch
der Revolution retten hilft. Der Eingang ber Erzählung
ift intereffant und von fpannendftem Reize, aud die Er-
zählung felbft voll feiner Züge und geiſtvoll; nur daß
der neu eingejettte König, um feine Aehnlichkeit mit ber
inzwijchen geftorbenen Halbfchwefter mehr in die Augen
fallend zu machen, biefelbe in weiblicher Kleidung feiner
Hofumgebung zum beften gibt, will uns unpaflend und
beeinträchtigend für den Eindrud vorlommen. Ohne die
fen Mummenfhanz und die birecte Cinmifchung von
Karl I. würde fi, unferm Bebiinfen nad, die ganze
Sade ungezwungener und mehr zum Herzen fprecend
machen.
Die am reinften und beften wirfende Schöpfung dies
je8 Novellenbuchs ift ohne Zweifel aber „Das Buch Ruth“;
Aus der erzäblenden
benn über biefer Meinen, fchlicht und einfach vorgetrage⸗
nen Liebesgefchichte zwiſchen einem Chriften und einer Jü⸗
din lagert ein wahrhaft idyllifcher und tief verſöhnender,
man möchte jagen biblifcher Hauch, der auf edlere Ge-
müther ganz ficher von erhebendem Einfluſſe fein wird.
8. Novellen von Adolf Wilbrandt, Berlin, Serk. 1869.
8. 2 Thlr.
Diefe Novellen find mehr der modernen Welt ent«
nommen und infolge deffen in ihren Motiven weniger
romantifch, aber dafür vielfach wahrjcheinlicher. Die Er-
findung ift zwar weder fehr neu noch originell, aber die
Darftellung doch fo, daß ſich derfelben mit Antheil fol-
gen läßt. In der Erzählung „Die Brüder” wird uns
ein Mädchen vorgeführt, in das ſich ein Brüderpaar zu
gleicher Zeit verliebt. Obſchon dieſes Mädchen nun ihr
Herz eigentlich dem jüngern Bruder zugewendet bat, hei-
rathet fie do, durch Misverſtändniſſe und fonftige Um⸗
ftände veranlaßt, den ältern, mit dem fie denn auch in
ruhiger und äußerlich glüclicher Ehe lebt, indeß ber
geliebtere der beiden auf Reiſen geht und erft nad)
Jahren wiederkehrt. Cr hat umfonft verfucht, feiner
Leidenfchaft Here zu werden, und als er num mit der
Gattin feines Bruders einen Augenblid allein ift, gefteht
er derfelben fein Unglüd ein, indem er zugleich bei diejer
Gelegenheit alle die Irrthümer aufdedt, die einft vere
anlaßten, daß ihre Herzen auseinandergegangen. Der
Satte wird durch Zufall ein Obrenzeuge diefes Geſprächs,
und da er Heroismus genug befitt, fein Glüd demjenigen
des Bruders zu opfern, fo entjagt er und tritt zurüd,
um fein Weib dem Bruder zu überlaſſen. Er befteht
auf einer Scheidung und fieht dann mit Freuden die
beiden Schwergeprüften vereinigt. Dieſer Hergang ift
ein wenig umftändlid und breit vorgetragen, läßt aud
zu zeiten wirklich feine und poetifche Detailausführung
vermifien; einzelne fchöne Züge und ergreifende Momente
dürfen indeffen der Arbeit immerhin nachgerühmt werben.
„Heimat” gibt in Briefform die Liebesgefchichte eines
etwas fonderbaren Kauzes, jebenfalls eines Poeten oder
Künftlers. Herr Friedrich hat die Welt, Hat namentlich)
Stalien gefehen und ſchwärmt für Rom. Nach Haufe
zurücgelehrt, findet er eine Jugendgeliebte wieder, und
an diefer, die in kleinſtädtiſchen Verhältniſſen weiter gelebt
bat, vielerlei auszufegen. Er quält und martert das
arme Mädchen, bis es zum Bruche kommt, und als
biefer erfolgt ift, erkennt er doch erſt, was er in ihr
verloren. Selbft fein gepriefenes Welfchland vermag ihn
nicht ganz dafür zu tröften, und fo ift er glüdlih, daß
eine vernünftige Schwefter die Vermittelung zwifchen ihm
und ber aufgegebenen Jugendgeliebten übernimmt, und
er endlich‘ mit diefer, die ihm mit einer Freundin
nachgereift ift, in fein deutſches Zuhaufe zurüdfehren
kamm. Wir haben ähnliche Herzenscapriccios geiltreicher
und pilanter audgeführt gelefen, dürfen aber immerhin
befennen, daß auch diefes nicht ohne alle Vorzüge und
Berdienfte ift.
„Reſeda“, die dritte und letzte Novelle diefes Buchs,
nimmt füch faft wie die Erzählung eines Luſtſpiels ans.
Wir fehen darin einen Dichter, Herrn don Stegen, der
fi um eine fchöne, glänzende Witwe bewirbt, aber
endlich deren unfcheinbare Schwefter heirathet, weil er
Literatur der Neuzeit. 397
in dieſer eim weit begabteres und edleres Wefen hat
kennen lernen. Die Novellette ift nicht gerade durch»
meg gefhidt gemaht und im Gang ihrer Entwicke⸗
lung jedenfalls nicht ohne Gewaltſamkeiten und Härten;
aber fie entwidelt an vielen Stellen nit nur einen
oft brillanten Wi und Geift, fondern auch frifch erfaßtes
draftifches Leben.
9. Frau Lee. Roman für gebildete Frauen und Yungfrauen
von Agnes le Grave. Berlin, Habel. 1869. Br. 8.
1 Thle. 25 Nor.
Dies ift ein fogenannter Tenbenz= und bier fpeciell
ein Erziefungsroman, in welchem bie Berfafferin nicht
nur zeigt, wie man Kinder, fondern aud) Väter, alte
förrifche Leute und Leidenfchaftliche Liebhaber von ihren
Unarten, fchlechten Angemohnheiten und thörichten Ein»
bildungen nach und nad; befreit. Frau Lee, eine junge,
hübſche, geſcheite Frau, melde einen guten, braven,
aber wie es fcheint etwas unbedeutenden Mann befigt,
bemuttert fozufagen alle Welt und ift jedenfalls in ihrem
eigenen Haufe und ganzen Umgangsfreife das dominirenbe
und beftimmende Element. Da ihr Gatte ein Beamter
der Stadt oder des Staats iſt umd viele Stunden des
Tags außer bem Haufe in feiner Kanzlei zubringen muß,
fo ergreift fle die Zügel des Regiments daheim und hält
Haus und Hof, Kind und Kegel in ber gehörigen guten
Ordnung. Der Roman berichtet und erörtert, auf welde
Weife das geſchieht, und gibt fomit aufhorchenden und
achtſamen Gemüthern hundertfach Gelegenheit, ſich danach
vorkommendenfalls zu bilden. Ob dieſe Bildung nun
gerade immer die zupaſſende und richtige iſt, wollen wir
dahingeſtellt ſein laſſen; ſicher iſt, daß eigentlich neue
und überraſchende Grundſätze, Grundſätze, wie ſie z. B.
Rouſſeau in feinem „Emile“ aufſtellte, hier nicht vorhan⸗
den find. Agnes le Grave entwidelt weder ein eigent-
liches Syftem noch eine beftimmte Lehre, fondern begnügt
ſich, durch Beifpiele und Erläuterungen ihren Leferinnen
Anregungen und Anlaß zum Nachdenken zu geben. För⸗
bernd ift das Buch jedenfalls, wenn es vielleicht auch
ſchon im allgemeinen das Weib etwas gar zu felbftändig
hinſtellt, beſonders dadurch, daß Frau Lee fih einem
Ehemann zur Seite gegeben fieht, der allerwegs und
äußert bereitwillig ihren Anfichten, Planen und Anord⸗
nungen fi fügt und anheimgibt. Möglicherweife würde
das ganze Werk bedeutfamer geworden fein, wenn in
manchen Dingen die Gattin auf Widerfprud und Oppo⸗
fition bei ihrem Gatten geftoßen und fid daraus Zufam-
menflöße ergeben Hätten, die zu überwinden und auszu⸗
gleichen e8 manche Anftrengung und Refignation gefoftet
hätte. Der Kampf und die Beflegung von Hinderniffen find
in Aufgaben folcher Art gewöhnlich die beften Lehrmittel und
Tehrmeifter. Auch Agnes le Grave hat das wohl empfun-
ben unb aus dieſem Grunde in ihren Lehrroman dadurch
einen Conflict gebracht, daß fie einen nahen Verwandten
bon Herrn Lee fich fterblih in Frau Lee verlieben läßt:
eine Liebe, welche bie lettere gefchidt dadurch zu pariren
weiß, daß fie diefelbe auf ein junges Mädchen überlent,
das fie eigens für diefen Better ihres Mannes erzieht.
Dieſer Conflict ift nun freilich ſchon etwas, aber unferm
Dafürhalten nach doch nicht genug, um Fran Lee ihrem
innerfien Wefen und Wirken nad) auf die Probe zu fegen.
398
Nichtsdeftoweniger bleibt der Roman ein Tchätenäwerther
Verſuch. Dan wird ihn vielleicht ein wenig altflug,
pedantiſch und allzu ſchulmeiſternd fchelten, indeß ihm
immerhin einräumen müſſen, daß er, von verftändigen
Borausfegungen ausgehend, auf vernünftige Zielpunfte
fosftenert. Jedenfalls entipringt das Buch aus einem
fühlbaren Bedürfniß. Die Nenzeit verlangt nad) einem
beftimmten Erziehungsprincip: ein Berlangen, das die
Berfafferin in ihrem Werke wenigftens bedeutfam be»
rührt bat; dafür verdient fie unter allen Umftänden un«
fern Dank.
10. Su ben preußischen Hinterwälbern. Erzählungen von Robert
San e sel. I. Der Artſchwinger. Berlin, Sanfte. 1868.
8. gr.
Mit der Novelle „Der Axtſchwinger“ beginnt der Autor
feine Sammlung von Erzäßlungen „In ben preußifchen Hin»
terwäldern”. Die Geſchichte läßt fi mit warmem Antheil
und vollem Intereſſe lefen, namentlich in ihrem erften Theile,
der uns das Leben und Treiben jener polnischen Bollsmafle
vorführt, die unter die Herrfchaft Preußens gerathen ift. Der
eigentliche Held (Simon Bronilowsly), fein Haus, fein
Umgang, fein Thun und Laſſen, der Gegenfiand feiner
Liebe, werden uns frifh und gegenftänblich geſchildert,
eine Schilderung, die in der Spannung bis zu dem
Augenblide beftändig fteigt, in welchem Bronilowsky's
Bruder der Kugel feiner Gegner erliegt. Bon da an
verliert fi die Erzählung in die Greuel ber Niebder-
meßelung des legten polnifchen Aufftandes durch die Ruffen,
und wenn man in biefen auch noch immer die Fäden ber
Geſchichte wahrzunehmen und zu verfolgen vermag, fo
wird bie Aufmerkfamfeit doch allzu baftig und wild hier⸗
hin und dorthin gezogen, als daß man noch mit ganzer
Sammlung ausfhlieglich auf fie gerichtet bleiben könnte.
Der eigentliche Auslauf des Ganzen wird zu bunt und
Fenilleton.
raus, um noch von überall ausgeglichener und einem
Kunftwert angemefjener Wirkung zu fein.
Höher fteht in diefer Beziehung:
11. Der Bodreiter, Bine Eriminalnovelle von Adolf Muͤtzel⸗
burg. Berlin, Medienburg. 1868. 8. 25 Nor.
Es ift dies eine Diebs⸗ und Gaunergefchichte, die wir
glauben fchon früher einmal in anderer Bearbeitung ge-
lefen zu Haben, die aber in ber vorliegenden uns in ihrer
Urt nahezu meifterhaft bebünft, fo ruhig, Mar, Iebendig
und die Aufmerkfamteit des Lefers unausgejegt in Anſpruch
nehmend ift fie abgefaßt. Einfach und doch padend, wie
fie in ihrer Darftelung ift, kann fie anf bem Gebiete dies
fer Literaturgattung wol als Mufter gelten.
Zulegt fei Hier auch noch eine Üeberfegung aus dem
Franzöfifchen angeführt:
12. Der fremde Knecht. Eine waabtländifhe Dorfgeſchichte von
Urbain Olivier. Aus dem Kranzöfiichen von der Ueber-
fegerin der „Förſterstochter“. Baſel, Schneider. 1869.
8. 15 Nor.
Der auf dieſen Felde der Dichtung zu bedeutenden
Aufe gelangte Autor hat in feiner neuen Production ein
durchaus ‚lebensfrifches, wahrheitägetreues und zugleich die
Seele tief und rein ergreifendes bäuerliches Genrebild ges
liefert. Der Hergang ift ſchlicht und alltäglich, aber mit
einem ebenfo wunderbaren als natürlichen Reize erzählt.
Das Hanptverdienft der Arbeit liegt in der Charakteriſtik
der bäuerlichen Geftalten, die darin vorfommen und von
überzeugendfter Treue der Wirklichkeit fein dürften. We
nigftens empfindet man das aus der Leltüre Heraus, bei
ber man fih in die Menfchen und Verhüältniſſe einer
waadtländifchen Landſchaft in jo vollftändiger Weiſe ver-
jest fühlt, daß man ſich gleichjam von deren Athem und
Geiſt im Lefen umgeben meint, Urbain Olivier ift ber
franzöfifche Jeremias Gotthelf (Albert Bigins).
Seodor Wehl.
Fenilleton
Rotizen.
Der ahtundzwanzigfte Band der „Bibliothek der deut.
ſchen Rationalliteratur des achtzehnten und neunzehnten Jahr⸗
hunderts“ (Leipzig, Brodhaus) enthält von Moſes Men-
delsfohn die beiden Schriften: „Phädou oder Über bie Uns
ftierblichfeit der Seele“ und „Sermfalem ober über religiöfe
Macht und Indenthum“, mit Sinteitumg und Anmerkungen
herausgegeben von Arnold Bodel. ie @inleitung, die
Biographie und Charablteriſtik Mendelsſohn's ift mit vieler
Wärme gefchrieben, ohne daß ber Berfaffer ben objectiv bar»
ſtellenden Standpunkt verließe. Die Beziehungen Mendelsjohn’s
zu Leffing, Lavater, Jacobi find mit genaueſter Sachkenntniß
dargefteflt. Weber eine der wichtigften ragen, ob und inwie⸗
fern Mendelsfohn als ein Bopularphilofoph zu betrachten fei,
Kan fi) Bodek in der Vorrede in geiftvoller Weife wie
olgt aus:
„Dan bat, gerade mit befonderer Bezugnahme auf ben
«Phädonn, Menbelsfohn einen «Popularphilofophenn genaunt.
Manu bat mit diefem Worte eine verächtliche Nebenbebeutung
verbunden und ben Berfafler des «Phädon» mit Engel, Crnſius
und andern wohlmeinenden, aber allerdings fehr feichten Schrift.
ftellern feiner Zeit in eine Reihe geftellt. Ein Popularphilo»
ſoph in diefem Sinne ift Mendelsjohn nicht; er jelbft ſprach
fi offen und wiederholt gegen das damals beliebte ſyſtemloſe
und flache Bhilofophiren aus. «Man trägt ſich bentigentags»,
fo warnte er, «mit der Brille, alle Wiſſenſchaften leicht und ad
captum, wie man e8 zu nennen beliebt, vorzutragen. Dadurch
glaubt man die Wahrheit unter den Menſchen auszubreiten
umd fie wenigftens nach allen Ausmefiungen auszudehnen, wenn
man ihren innern Werth nicht vermehren kann... Mi dünkt
aber, e8 fei nichts fo ſchädlich als eben dieſer Lönigliche Weg
zu den Wiffenfchaften, den man hat finden wollen... Um bie
Beweiſe kümmert man fi wenig, weil man überzeugt fein
wollte. Die Wahrheit ſelbſt ward durch bie Art, wie man fie
annahm, zum Vorurtheile. Lieber mag fie mit ber größten
Heftigkeit angefeindet werden, ehe ſie ſich unter der Geſtalt
eines Borurtheils einen kalten Beifall erſchleichen fol!» Und im
einem fpätern Briefe (an Herder) Hagt er: «Es ſcheint, ale
wenn die feichten Metaphyſiker jet das große Wort hätten,
und man muß fih Öffentlich zumeilen mit ihnen einlaffen, fo
lange die wahren Denker nur Privatbriefe fchreiben wollen.
Man kann es in öffentlihen Schriften faum mehr wagen,
metaphyſiſch zu denken, weil diefe Sprecher der Metaphyſik bei
allen Gelegenheiten die Zähne weiſen. Man muß diefen Her»
ren nur einmal eine Art von Punſch vorfegen. Wenig meta
phyſiſche Grüindfichkeit, mit einer Menge von wäflerigem Ge
ſchwätz verblinnt, erhält allgemeinen Beifal.v Wie unrecht
thut man aljo, Mendelsjohn mit vornehmer Handbewegun
unter die philofophirenden Dilettanten zu wein! Kant fa
in ihm «ein Genie, dem es zufäme, in der Metaphyſik eine
nene Bahn zu brechen, die Schnur ganz aufs nene anzulegen
und den Plan zu diefer noch immer aufs bloße Gerathewohl
Feuilleton. 399
angebauten Disciplin mit Meifterhand zu zeichnen». Bieles
vereinigte fih, um Mendelsſohn an der Erfüllung fe hoher
Erwartungen zu hindern. Ja, er felbft geftand, daß er fid
«das Bermögen oder die Fertigkeit nicht zutraute, feine Gedan⸗
en beftändig an eine firenge ſyſtematiſche Ordnung zu binden».
Doch kann dieſes beſcheidene Bekenntniß für unſer Urtheil ebenſo
wenig maßgebend ſein, als uns dasjenige Leſſing's, daß ihm
der innere Dichterbernf fehle, in der ebergengung beirren fann,
daß in den Adern eines Mannes, der eine «Minna von Barn⸗
gem», eine «Emilia Salotti», einen «Nathan» ſchrieb, echtes
ihterblut fließen mußte, Soll aber Menvdelsfohn bucd) die
Behauptung, daß er ein Popularphilofoph geweſen ſei, nicht
zum Dilettanten geftempelt werden, foll dieſes Wort in Kürze
nur das bezeichnen, daß er der Bhilofophie ein vollsthümliches
Kleid umgeworfen und fie ans den Gelehrtenzellen, in denen
fie einfam ihr Leben friftete, Hinausführte auf den Markt des
2ebens, hinein in die Häuſer umd Herzen bes Volls: fo können
wir nicht abfehen, wo denn hier das Verächtliche liege. Denen,
die achfelzudend jene Pieihnung vor fih hinmurmeln, erwi⸗
dern wir aljo getroft mit ihren eigenen Worten: Mendels-
fohn war ein Popularphilofoph. Denn dies ift gerabe
der Punkt, durch den er fi mit unjerer Zeit berührt, durch
den er zu und herüberreicht und lebendig in unferer Mitte
wandelt. In einer Zeit, in der das Willen noch ausfchließ-
liches Eigenthum weniger bevorzugter Stände war, hielt Men⸗
delsſohn das Banner der Bolfsbildung hoch. Wußte er doch
aus eigener Erfahrung, wie weh es thut, von diefem Gute
ausgeſchlofſen zu fein, das allen Menfchen gemein fein follte,
und wel ein Zauber in feinem Befite liegt. Wie ſchwer war
es ihm geworden, bie Ungunft der Berbältniffe, die Mängel
einer acmfectigen Erziehung zu überwinden!’
Aus Friedrich Schleiermadher’8 Werken bat €. Ru⸗
borff eine Sammlung von Ausſprüchen: „Stunden der Weihe,
zufammengeftellt (Berlin, Böttcher), und zwar in den Abſchnitten:
„Des Ehriften Charakter und Wandel’, „Der Chrift als Teh-
rer und Bilder‘, „Der Ehrift im Verhältniß zu feinen Freun⸗
den und feiner Familie”, „Der Auffhwun ng der Seele zu Gott“,
„Trübſal und Tod verflärt durch den Glauben”. Geiſireich
find alle dieſe Gedanken bes Theologen; aber Schleiermacher
war im Grunde eine Natur, in welcher das Diafektifche mit feinen
feinverſchlun genen Zujammenhängen vorherrjchte, deren Bedeu⸗
tung u phorigmen nicht erihöpft werden kann.
Bon Karl Zettel’s „Edelweiß“ liegt eine dritte verbef-
ferte und veränderte Auflage vor (Eichftädt, KHül), ein Be⸗
weis, daß bie geſchmackvolle Anthologie mit ihren zahlreichen
neuen Originalgebidhten das Publikum angeſprochen hat.
Eine andere neue Anthologie ift „Hreya. Das Leben der
Liebe in Liedern und Gedanken deuticher und fremder Did
ter von Th. Buddeus (Berlin, Stilfe und van Muyden).
Die Sammlung enthält nicht blos Gedichte, fondern auch dra⸗
matiſche Liebesfcenen und Sentenzen in einer fich ergänzenden
Auswahl.
Kibliographie.
Unter Is Flock. Mittpeilungen ans ben Sehr. und Wander⸗
v 0 d, . Or. ER
daher — — Inſe er Das Aniett, nr Leben
and Wirlen in bem Dauhalte ber Natur, gemeinfaßlich bargeftellt. Soeft,
Rafie: &r. & ı Thlr. 71
Ku * .Ein ge "ai lag zur Löſung ber deutſchen Münzfrage.
r
Bad er a oekngeffin Sivcnie, Roman. 3 Bde. Leipzig, Wr. Flei⸗
fer. 8. 4 Ile.
Biähr, J. K., Ueber die Einwirkung der Reibungs - Electricität auf
das Pendel, Dresden, Türk. Lex.-8. 15 Ngr
Barené, J., Der preußifhe Staat und bie hannoverſche Kirche.
Deutſche Worte an bie Dannoveraner in Stabt und Land. Haunover,
Brandet, @®r. * 5 Nor
rtbel, K., N deu 8. Ank., dard Anm Neuzeit in elner
Reihe don Borlefungen dargeftellt. 8. Anfl., durch Anmerkungen ergänz
rl bis u, He 3. rt. ıfte Lief. Berlin, Ebeling u, Blabe.
"Hera fer © "a, 4 ber alten Fabrik. Deutſche Ausgabe. 1fte Lief.
Reipzig, t Bein, 8 8.
—X Popolo. Novellen⸗Cyklus aus Rom. Mit
—5 — ng — ereutſcht von A. Strodtmanu. 3 Bde.
Derlin, 8. nder. 8.
Bernhardi, W., Berlin im Keller und im erflen Stod. Gin Bere
liner Gittengemälbe. Bertin, Zangmann u. Comp. Gr. 16. 15 Ngr
— — Die Wollarbeiterin. Ein Sittenbild der Gegenwart, erfin,
Langmann u. Comp. Gr. 16. 15 Ngr.
Bette, W., Unterhaltungen | über einige Capieaı der möcanique cöleste
und der Kosmogonie. Halle, Neb Gr.
ra El Beuft und bie esiethantfgen irren, Eine Stimme and Un⸗
gar. Ver, Aigner. Gr. 8
ee ei Eile einge ; peutthen Kleinftäbters. ı1fter Bd. Leipzig,
® . . Tr
Karsten, —* > zer. Geschichte der Botanik. Berlin, Friedländer u.
Sohn, Hoch 4, ü Ngr
ninght Ia ber, er, es Die Grauen der bentfchen Helbenfage. Stuttgart, Grü⸗
r.
La — "Dup a ecq, E. de, Das SINE im Kriege. Eine Dent-
ſchrift. Intetinirte dee Ueberfegung aus bem ranoſiſchen von K. Ed⸗
len’ neh ler, Prag, Hunger. Or, 8, 4
pert, F., Das $ af
und —e— Bin une
tet: a J Roman Reg gem Enslilgen frei —E 2 Bde. Ber⸗
anfe. 8. 1Thlr. 10 Rgr.
Loewenthal, ©, Der Militarismus al® Urfache der Maffenverar-
mung in Europa und die enropäljge Union als Mittel einer Leberflilffig-
madung ber flebenden Heere. Ein Mahnruf a n alle aa sieibenben
Friedens und Wozbigaudee Potſchappel, Säge. Gr. 8.
Massou, H Appendix zu Schiller's Wilhelm ne oder. noth-
wendiger Reisebe egleiter in die Schweiz, wenn man die durch Schiller
verherrlichten und zu klassischen Punkten geschaffenen Oertlichkeiten und
Gegenden, mit höherem Genuss und benserem ne betreten und
beschauen will. Frankfurt a, M., Hess. Gr.
Menzel, W., Was at Beenden für Deutihlan® geleifet? Stutt⸗
gart, Kröger. Gr. 8. 1 Zhl
Die Österreichisch - -unekrlsche Monarchie und die Politik des Grafen
Beust. Ein politische Studie der Personen und der Begebenheiten wäh-
rend der Jahre 1866 bis 1970 yon, einem Engländeg. Deutsche, autorisirte
Ausgnon, Leip 2 Weber. Gr. 8, 3 Thir.
üller, * Politiſche Beigiär: ber Gegenwart. II, Das Yahr
100. Berlin ringer.
Mueller, Sp Die musikalische? Br Betz der königl. und Univer-
sitaets - Bibliothek zu Koeni sberg in Pr. Aus dem Nachlasse F. A,
Gotthold’s. Nobst Mitcthellungen aus dessen musikalischen Tagebue-
chern. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der Toukunst, 1ste Lief.
Bonn, Marcus. Hoch 4. 2 Thlr.
DObfieger io 35. Freidenker. Eine Erzählung. Wien, Gerold's
O a —*8 ber. zößte Kämpfer für Menfgenrehte. Gtutte
gart, — ®r. 16. 10 Mg. pie fü enrech
Der Panſlav —*8 Wien, Gerolde So) Lex.⸗8. Rat.
Duitinne, 1 Nur. Driefe vom Conclil. ifte Lief. ‘m nen, Ol⸗
dentzutg
eſchichte der Literatur des rhäto⸗romaniſchen oe
mit Da — e und Character deſſelben. Frankfurt a. M
aperli änder. Gr, 8,
eigaspt-Gttombers, Mathilde, Wranenreht und Frauen⸗
zus, ine Antwort auf Eon. 5 gewaid⸗ 8 Briefe „ und wider bie
rauen”. Bonn, Cohen u, 8, Nor.
Reichenbach, O., Die eisltung er Erdoberfläche nach bestimm-
ton Gesetzen. Berlin, Lüderits. Gr. 8, 15 Ngr.
Reumont, A. v., Geschichte der Stadt Rom, Ster Bd. Von der
Rückveriegung des heil, Stuhls bis zur Gegenwart. Ne Abth. Das mo-
derne Rom. Berlin, v. Decker. Lex.-8. 5 Thir. 20 N
Ritter, AL Re Leben und Wirken. Bortran. Glarnus, Senn
u. Gr
e Unfehlbarkeit bes * und die Stellung der in
honefpiet | in —— Zur Führung
Deutfihland Sin tbeologifgen Lehrbücher zu biefer Lehre. Durh
getzeue Auszüge und Neberjegungen bargeftellt. ünfter, Rufſel. Gr. 8
Fan im Berhör. Ein Syivefter- Müferium. Wufgeführt in einer
Stabt Defterreigs am 31. December 1869. Leipzig, Priber. 16. 7'/, Ner.
Schwierigleiten der Lehre von ber päpftligen Unfehlbarteit und (re
Löſung dur bie modernen Infauibiti ften. „don einem Prieſter der Diö-
ceje Saverborn, Münfter, Brunn. 8. 5
n Seel vor Gottes Füßen lag. Seriht ans dem Anfang bes XIV.
Dahrhunderts übertragen von A. Freybe. Leipzig, Nanmanı. Gr. 16.
Senn, W., Charaktorbilder schweizerischen Landes, Lebens und Otro-
bens, Nach den besten Musterdarstellungen der schweizerischen und aus-
ländischen Literatur und eigenen Teobachtungen zu einer bildenden Lek-
ar für Jedermann. Liste Serie. Glarus, Senn u, Stricker. Hoch 4.
r.
Shakeſpea re's, W., bramattjdhe Werte, Neberie t Fk F. Bo⸗
denſtedt, F. Freil Ilg rath, DO. Bil bemeif ſt er ac. der Text⸗
reviſion und unter Mikwirkung von Bi. D einleltungen *
Anmerkungen beransgegeben von %. Bobenfiebt. 25fte8 und 26ſtes
Bochn.: Hamlet, Prinz von Dänemart. Aeberient von B. Bodenftedt.
—— — Liebewuge Ueberſetzt von Idemeifter. Leipzig,
rochaus. 8. à gr.
Todesurtheil und Sinrigtung. Kriminaliftifhe Yenilletone. Bon
einem Breunde der Wahrheit und bes Rechte. Krems, Löhner. Br. 8
—9 — aus Denn Meer ber Gnade in Liedern und PBarabeln von ©.
N. T. Breslau, Dülfer. Br. 8. 22'/, Ngr.
us hagen von nie, K. A., "Tagebücher. ins dem Naglab
bes Berta Klee ı2ter Bdb. Hamburg, sffmenn u. Ca .8. Ir.
olff, P., au blätter aus ser alem vom Novem mber und December
2 Stuftga elfer. —
tegler, — E "ein otläufer ber Rejoemation. Derlin,
Henſchel. 8. 8 Kar.
400
Anze
Anzeigen.
igem
———
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Natur und Gott,
Stubien über die Entwidelungsgefege im Univerfum und die
Entftehung des Menſchengeſchlechts.
Mit einer Prüfung der Glaubenöbelenntnifie.
Bon
Zeinrich Baumgärtner.
8 Geh. 2 Thlr. 20 Ngr.
Der Berfaffer gibt bier eine populäre Ausführung ber
Theorien, welche er in frühern Werfen auf fireng wiſſenſchaft⸗
lichem Wege entwidelt hat. Indem er der Darwin’schen Lehre
iu beflimmter Umgrenzung Berechtigung zuerkennt, wird aber
auch gezeigt, daß die Neubildungen und die Typenverwandlun⸗
gen in den organifchen Reichen unter einem allgemeinen Na⸗
turgefeße vollbracht wurden, welches ſelbſt in den Entwide-
Inngsvorgängen am Himmel zu erkennen if. Zugleich werden
vom Standpunkte det freien Naturforfhung die Satzungen der
religidjen Glaubensbelenntniffe geprüft, was zur Beſeitigung
mancher Borurtheile und Irrthümer wefentlidh beitragen ınag;
insbejondere wird gezeigt, daß der Infallibilitätslehre die Na⸗
turgeſetze fchroff entgegenftehen.
Don dem Derfaffer erfhien früher in demfelden Verlage:
Die Naturreligion oder: Die allgemeine Kirche. Zweite
Auflage. 8. Geh. 16 Nor.
Im Verlage von F. Tempsky in Prag ist soeben
erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Metaphysik
in ihrer Bedeutung
für die Begrifiswissenschaft
von
Dr. Med. et Phil. G. Biedermann.
Gr. 8. Geh. 12 Ngr.
Neun erfchienen im Berlage von Heinrich Matthes in Kripzig:
Moxitz von Oranien - Waffau.
Hiftorifches Drama in 5 Acten
von
Carl W. Kat.
8 1 Thlr.
Im Berlage von F. Tempsky in Prag if foeben er-
Schienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Napoleon
oder
die hundert Tage.
Ein Drama in fünf Aufzügen
von
Chr. D. Grabbe.
Zweite Auflage. 8. Geh. 10 Nur.
"26. Bändchen.
Derfag vou 5. A. Brockhaus in Leipzig.
William Shaleſpeare's Dramatifche Werke.
Ueberſetzt von
Sriedric, Bodenfledt, Nicolaus Delius, Serdinand Sreilig-
rath, Otto &ildemeifler, Georg Herwegh, Paul Heyſe,
Hermann Aurz, Adolf Wilbrandt.
Nach der Tertrevifton und unter Mitwirkung von Nicoland Delius,
Mit Einleitungen und Anmerkungen.
Herausgegeben von
Friedrich Bodenſtedt.
In 38 Bündchen. Jedes Bändchen geh. 5 Ngr., cart. 7Y, Nor.
Soeben erfdien:
25. Bändchen. Hamlet, Prinz von Dänemark, Ueberſetzt von
Friedrich Bodenfledt.
Verlorene Liebesmüh. Ueberfegt von Otto
Bildemeifter.
Die Borzlige der von VBodenftedt im Berein mit den nam⸗
bafteften deutſchen Dichtern und Textkritikern herausgegebenen
neuen Shafefpeare-Ueberfegung find allgemein anerkannt, wes⸗
Halb fie ſich and) einer fortwährend fteigenden Verbreitung er-
freut. Jedes Bändchen enthält ein vollftäudiges Drama nebft
ausführlider Einleitung und erläuternden Aumerlungen;
26 Bändchen liegen bereit vor, die Übrigen 12 find zum Theil
ae ſchon im Drud und werden in furzen Swifchenränmen
olgen.
Nenefle Erfcheinungen der ,„Welt-Bibliothek“.
Liebeszanber. Hiftorifhe Novelle aus der Zeit Au«
guſt's des Starken von Claire von Glümer. Preis
10 Ser.
Die Geheimniffe einer kleinen Stadt. Humoriſti⸗
jche Novelle von Mar Ring. Preis 10 Sgr.
MN. Leſſer, Verlagsbuchhandlung in Berlin.
Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Das sgrossherzogl. Orientalische Münzcabinet
zu Jena,
beschrieben und erläutert von
D. Johann Gustav Stickel,
Senior der Universität Jena,
Zweites Heft.
Aelteste muhammedanische Münzen bis zur Münzreform
Abdulmelik’s.
Mit einer lithographirten Tafel.
4. Geh. 4 Thir.
A. u. d. T.: Handbuch der morgenländischen
Münzkunde. Zweites Heft.
Das vorliegende Werk hat den Doppelzweck, dem An-
fanger in der muhammedanischen Numismatik eine Bei-
hülfe zu gewähren, und den neuen überaus reichen und
bedeutenden Stoff für die Erweiterang der Wissenschaft zu
verwerthen. Das erste Heft (1845, 2 Thir.) enthalt die
Omajjaden- und Abbassidenmünzen.
Berantwortliher Redacteur: Dr. Eduard Grokhaus, — Drud und Berlag von 8. A, Srodhaus in Leipzig.
Dlätter
literariſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottfchall.
Erfcheint wöchentlich.
— a Ar, 26, >
23. Juni 1870.
Inhalt: Karl Gutzkow's neuefte Werke. Bon Rudolf Gottſchall. — Militärifcher Büchertiih. Bon Karl Bullav von Berned. —
Aeltere dentfche Literatur. Bon Geinris Mäder. — Feuilleton.
(Englifhe Urtheile Über neue Erſcheinungen der deutſchen
Literatur; Eine deutfche Literaturgefhichte für Schulen) — sSibliographie. — Anzeigen.
Karl Gutzkow's
1. Die Söhne Peſtalozzi's. Roman in drei Bänden von
Karl Gutzkow. Berlin, Janke. 1870. Gr. 8. 5 Thlr.
20 Nor.
Lebensbilder von Karl Gutzkow. Erſter und zweiter Band.
Erfter Band: Durch Nacht zum Licht. Zweiter Band:
Novellen x tinen. Stuttgart, E. Hallberger. 1870.
r.
80
Gr. 8.
Die Vollendung von „Hohenſchwangau“, „Die Söhne
Peſtalozzis“ und ber „Lebensbilder“ beweiſen, daß Gutzkow
wieder mit friſcher Kraft in die Reihen der rüſtig Schaf⸗
fenden getreten, daß der düſtere Bann, der eine Zeit lang
über feinem Leben lag, vollſtändig gebrochen iſt. Wir
freuen uns diefer Wiederverjiingung; denn wir haben in
Gutzkow ſtets einen der bedeutendften Vertreter des neuen
Dramas und Romans gejehen und eine nachhaltige pro-
ductive Kraft, deren Verſiegen, trotz der in unſerer Bel⸗
letriſtik Herrjchenden Waffersnoth und Ueberſchwemmung,
Ichmerzlih empfunden worden wäre.
Gutzkow gehört jedenfalls zu den eigenartigften Roman-
antoren der Neuzeit, fein Stil hat ein Arom von feiner
WBlrzigkeit, feine Weltanſchauung einen bedeutfamen Zug.
Er geht öfter auf die Ideenjagd, als ben gewöhnlichen
Romanleſern lieb ift; aber er ift fein Sonntagsjäger auf
dieſem Gebiete. Wir begegnen ihm am liebſten mitten
im den geiftigen Bewegungen der Neuzeit, die er ja auch
in feinen umfaffenden Zeitromanen, diefen großen Eultur-
gemälden, gefchildert hat. Sein neuefter Roman ift ein
päbagogifcher, und zwar im engern Sinne ald Auerbach's
„Landhaus am Rhein‘; denn er begnügt fich nicht damit,
und eine vom idealen Standpunkte aus geleitete häusliche
Erziehung darzuftellen, er führt uns ein in den Haus-
halt eines pädagogifchen Inſtituts, zeigt und die verjchie-
denen Richtungen, bie fi) noch mit größerer prismatifcher
Bielfarbigkeit in den verfchiebenen PBerfönlichkeiten brechen,
und Stellt uns in einem Findling ein päbagogijches Pro-
blem auf, welches ja feinerzeit auch die Wiſſenſchaft in
hervorragender Weife befchäftigt hat.
1870. 26.
neneftle Werke.
Es war ein kühner Griff Gutzkow's, Kaspar Haufer
in einer frei erfundenen Fabel, welche ſich an einige
Hauptereigniffe feines Lebens anlehnt, für die Roman⸗
dichtung zu erobern. Es ift zwar jet längft Gras ge-
wachen über den Gefchiden des Findlings; aber ihre
romanhafte Abentenerlichkeit bleibt ebenfo unleugbar wie
das pfychologifche Intereſſe, das fie darbieten. Gutzkow
läßt zwar den gefchichtlihen Mordanfall auf feinen Kaspar
Haufer, der den Namen Theodor Waldner führt, ftattfinden,
aber den Betroffenen dabei nicht zu Grunde gehen, ſon⸗
dern errettet werden zu gefichertem Xebensglüd. Cine
vornebme Mutter, die fi) von ihrem Gatten jcheiden
will, verleugnet das Kind, das fie von ihm unter dem
Herzen trägt, um ihr großes Vermögen ungejchmälert in
die neue beabfichtigte Ehe hinüberzuretten. Sie will den
insgeheim geborenen Sohn nach Amerifa bringen lafien;
do er wird von dem wüſten Theilnehmer des Ver⸗
brechens in ihrer Nähe aufgezogen oder vielmehr im
Verſteck aufgefüttert, ohne jede Anregung der Bil
dung und menfhlihen Strebens, als ein Wald- und
Urmenfd).
Das erfte piychologifche Räthſel, das der Dichter
bierbei zu Löfen Hat, ift, das Herz einer foldhen Raben-
mutter zu ergründen, die jchlimmer als Medea ihr eigenes
Kind finanziellen Rüdfichten opfert. Die Gräfin Jadwiga
fteht von vornherein im Mittelpunkte des Romans —
und das Schwierige dabei ift, daß der Dichter uns ihr
abjcheumwürdiges Verbrechen in einer Weife motiviren muß,
welche doch nicht alle Theilnahme für diefelbe ausfchliet.
Aus innerer Unbefriedigung in der Ehe mit dem kenntniß⸗
reihen Sonderling, dem Grafen Wildenfchwert, aus ver⸗
blendeter Neigung für einen Unwürdigen, Otto von Fernau,
begeht Jadwiga die frevelhafte That. Die Borgefchichte
ſchildert uns den Charakter der feheidungsluftigen Gräfin,
ihrer Helfershelfer, ihres erften und zweiten Gemahls in
glaubwürdiger Weiſe. Die Motive der That find gegeben,
61
> x .
u .Nt ne
.
—34
402 Rarl Gutzkow's neueſte Werte.
aber doch nicht ausreichend genug, um fie pſychologiſch
ganz zu erllären.
Das zweite Buch führt uns in eine fiebzehn Jahre
jpäter liegende Zeit; feine Kataftrophe ift die Entdeckung
bes Freveld. Ohne Trage ift e8 das gute Recht bes
Romandichters, ein Hecht, auf welchem ein großer Theil
der Spannung berubt, Ereigniffe in ein geheimnißvolles
Dunkel zu hüllen, ans welchem fie erft allmählich hervor⸗
tauchen und fo die Gegenwart durch die immer lichter
werdende Bergangenheit zu erhellen. Doch auf den eigent-
lihen Duellpunft des Romans muß früher oder fpäter
ein concentrirtes Licht fallen. Dies ift Hier der Entſchluß
der Mutter, das eigene Kind preiszugeben, ein Entſchluß,
der jo im Widerſpruch mit den Gefühlen der Natur fteht,
daß er ohne ſchweren Kampf doch nicht ausgeführt wer⸗
den konnte. Das geſammelte Licht, das auf biefen Ent⸗
ſchluß fällt, vermiffen wir in dem Roman, wir jehen
zwar fpäter Reue und Buße, die Strafe der Schuld in
innerer Unfeligfeit, in unglüdlicher Ehe, in dem vor dem
‚ Rebensende eintretenden Wahnſinn; aber das tieffte pfycho-
logische Myſterium tft doch der Kampf, der dem moralis
fchen Kindesmord vorausging — und gerade dies bleibt
für den Roman ſtets nur eine gegebene Thatfache,
zu der wir uns in den Berbältniffen und Charakteren
den Schlüſſel fuchen müſſen.
Noch bebenklicher ift das Beſtreben des Dichter, une
für das unheimliche Medufenantlig diefer Jadwiga ſym⸗
pathiſchen Antheil abfchmeicheln zu wollen, wir find in-
deß nur allzu geneigt, dem Grafen Wildenfchwert vecht
zu geben, wenn er bei der Enthüllung des Freundes
ausruft:
Das iſt ja fürchterlich! Das erinnert ja an die alten
Geſchichten von Medea, die wir auf den Schulen nicht
haben glauben wollen! Eine Mutter mordet, einem Manne
zum Zroß, ben fie haft, ein Kind, das fie fein nennt vou
ihm — das war die alte Zeit! Die neue fett noch Hinzu:
Nicht aus Haß gegen den frühern Mann thut fie es, fondern
ans Liebe zu dem Buhlen, der ihre neue Leidenjchaft wird!
Was ſchreibt fie da? Sie, fie hätte ihm nicht ermordet?
Sie wäre nicht betheiligt an den neuen Verſuchen, meinen Sohn
aus der Welt zu fchaffen? Im Gegentheill Sie bat die
eine That vollbracht und die andere. Die Furcht ift die Ver⸗
anlaffung diefes Briefs, die Furcht vor dem Anwachſen der
Schuld, die Beſorgniß vor dem überlaufenden Gefäß, dem Ge-
wiflen der Frau des Schurken Willfing. Den folk ich in mei⸗
nen Dienſten behalten? Hahahaha! Und fie ſchwört zu Gott,
Fernau wäre unſchuldig? Der Bube Hat ihr das Meifter-
nüd der Berftellungstunit, eine Mutter, die auf Reiſen ein Kind
wie aus Verſehen liegen Täßt, gelehrt, es ihr angerathen!
Begegne ih ihm, ich floße ihm nieder oder rufe ihm den
Mördernamen zu und vermweigere ihm Batisfaction. Kein
Ehrengericht der Welt wird mich zwingen, fie ihm zu geben.
Großmuth! Nicht um einen rotden Heller Übe id) Großmuth
an diefen — mehr al8 Banditen! Denn der Bandit ift ohne
Bildung und mordet friſchweg ohne alles Raffinement.
Nachdem der Findling feinem Dunkel entriffen wor-
den, läßt der Dichter fünf Jahre vergehen, che er uns
den jungen Theodor Waldner als Zögling und Hülfs-
lehrer des von einem Jünger Peſtalozzi's, Lienhard
Neffelborn, geleiteten Inſtituts wieder vorführt. Wir
hätten indeß gerade dies Entwidelungsftadium bes neu-
geborenen Siebzehnjährigen gern in nächſter Nähe mit
durchgemacht und glauben, daß der pädagogifhe Roman
gerade den Proceß der Inoculation menfhliher Bildung
auf dieſen Wildling uns nicht ohne Einbuße an unmittel-
barftem pfychologiſchen Intereſſe erft in einer immerhin
lüdenhaften Rüdfchau vorführen durfte. Wie verheigungs-
voll fpannend auf diefen Entwidelungsgang ruft Lienhard
am Schluſſe des erften Bandes aus:
Bater, diejer Knabe ift mein! Das ift der Urmenſch —
die Tafel, die noch des Lebens verworrene Runenſchrift nicht
befrigelt hat mit den Borurtheilen von Sahrtaufenden! Das
iR der Dienich, der neugeborene, der noch nicht das Licht, nicht
die Luft erträgt, nicht die Luft der Zeit, nicht das Licht diefer
Welt! Er jammert zurück in den Leib feiner Mutter, in die
Nacht des Friedens, in den Traum eines ſchönern Dafeins!
Bater, Bater, den will ich erziehen zum Muſter der Menſch⸗
heit — zur Glorie unjerer Meifter Sirach, Sokrates, Ehriftus,
Baco, Rouſſeau, Peſtalozzi! Himmliſches, ewiges Licht vom
Urſitz der Ideen, gib mir deinen Segen zu dieſem Werke, Vater,
gib du ihn mir! O mehr verlange ich ja nicht. Behalte
bein Geld nund dein Gut! Ich bin gefommen und nehme
reihen, reichen Gewinn mit, Gewinn über alles! Cine
Seelentnospe, einen reinen, unentweihten, vom Leben, von ber
Schule, vom Staat, von Kirche, Haus, Geſellſchaft noch uuder»
gifteten — Begriff! Den, den werde Ich zum Menfchen
machen, den merde ich erziehen !
Wir fehen den Findling halb ohnmächtig in den Ar⸗
men der Gensdarmen liegen, jammern und rings herum
alles mit Entſetzen betrachten:
Selbft die ſchmeichelndſten, fanfteften Worte fchienen dem
armen Sünglingsfinde wie ſpitzes Schuf zu fein, an das der
dinger nicht reifen kann, ohne die Nerven des ganzen Körpers
verletst zur fühlen. Licht, Schall, Geruch, alles that ihm weh.
Der Knabe jammerte nur nad) feinem Spielzeug, den Pferbchen,
und nad) „den Mann“ Das follte Heunenhöft fein, fein
Mörder. Seine Sprade bradte immer nur biefelben Worte
„Pferd“ und „Mann und „Mann und „Pferd. Diefe ber
deuteten ihn Baum und Haus, Thier und Menjchen, Himmel
und Erbe. Es war der Menſch, der noch in der Krippe Liegt,
ber neugeborene — doch ſchon vielleicht ſiebzehn Sabre alt.
Das Entjegen der Menſchen verwandelte fih in Andacht.
Selbſt den Männern traten die Thränen in die Augen über
eine Feierſtunde der Natur, Über die wie unmittelbar empfun-
dene Nähe der allwaltenden Gottheit.
Der Sprung von diefer „Feierſtunde der Natur“ über
ein ganzes Luftrum des Menfchenlebens hinweg wird uns
nur durch einige nachträgliche püdagogifche Mittheilungen
über Nefjelborn’s Peſtalozzi'ſche Erziehungsmethode erläus
tert, über den Aufenthalt Theodor's auf dem Rande, na⸗
mentlic) aber über den Antheil, den ein weibliches Weſen
auf die Bildung des Jünglings ausübt, ein Wefen, das
ihm Zuneigung, aber nicht Liebe einflößt.
Diefe Gertrud ift offenbar eine LXieblingsgeftalt des
Dichters; zwei Lehrer des Inſtituts verlieben fich in fie;
der alte Graf Wildenſchwert zeigt ſich ganz hingeriffen
von ihrer Liebenswürdigkeit und Energie; als die wohl⸗
thuendfte Erzicherin des Yindlings ift fie die eigentliche
Mufe des pädagogifhen Romans, und Peſtalozzi's Geift
ſcheint ſich noch mehr auf fie als auf ihren Onkel Lienharb
vererbt zu haben. Sie fieht auf Zucht und Ordnung im
Inftitut, fchreitet energifch ein gegen jede Abirrung und
Ausfchweifung der Zöglinge und ift dabei in gewinnenden
Contraft geftellt zu den beiden fofetten und gefallfiichtigen
Töchtern des Directors.
Gleichwol erinnert uns diefe Gertrud an einen weib⸗
lichen Charakter Gutzkow's, der ſich allerdings zu Gertrud
verhält wie Lucifer zu einem Cherub — wir meinen bie
Pr
Karl Gutzkow's neuefte Werke, 403
Lucinde im „Zauberer von Rom”. Diefe ift freilich
in Nacht getaucht, Gertrub von Licht verklärt, es find
Gegenſätze in Betreff ihres moralifchen Werthes; aber
gewiffe Grundzüge des Charakters find doc, beiden ge-
mein. Sie find beide unliebenswürdig; wir behaupten
dies von Gertrud auf die Gefahr hin, den beiden Lehrern
Hellwig und Bechtold umd felbft dem Grafen Wilden-
ſchwert widerfprechen zu müſſen; fie find beide fehr ſcharf,
fehr beftimmt, refolut und Hug: die eine in ihren Liebes⸗
abenteuern, die andere in ihrer pädagogiſch⸗-haushälteriſchen
Wirkſamkeit; aber dieſer Altklugheit ohne Reſerve fehlen
die Grazien. Ihr Beſuch bei dem Grafen Wildenſchwert,
aus rühmenswerther Entſchloſſenheit und dem eifrigen
Streben, für Waldner zu wirken, hervorgegangen, zeigt
alle dieſe Eigenſchaften, die der Dichter ſelbſt als Vor⸗
züge hinzuſtellen geneigt iſt, im grellſten Licht. Wie ſie
da in der Dorfſchule herumrumort und dem Grafen Vor⸗
leſungen hält über die beſten Einrichtungen der Schulen;
wie ſie demſelben beweiſt, daß ſeine Beſitzungen ſich mehr
für die Viehzucht als für den Getreidebau eignen; wie
ſie vom Hegen des Wildes, vom Verfolgen des Borken⸗
käfers, von der Nothwendigkeit, das Heu umzuwenden
docirt; wie ſie bei einem Huhn als Hebamme auftritt und
dafſelbe eines Eis entbindet: das ſpricht alles für ihre
praktifche Tüchtigkeit, für ihre Kenntuiffe, für die durch⸗
greifende Energie ihres Charakters — aber wir verftehen
Theodor Waldner, wenn er bdiefer Pädagogin von Ge-
burt und Fach wol ein dankbares Herz entgegenbringt,
aber von keiner LXiebesleidenfchaft zu ihr ergriffen wird.
Der Reiz des Weiblichen, namentlich in der Yugend,
liegt in einer gewiffen unausgefprodhenen Naivetät, in dem
Knospenartigen, das Hinter zarter Hille ſich zu entfalten
zögert; die unbedingte Klarheit eines regelrecht entwidelten
Berfiandes, welcher für alle Dinge der Welt das erfte
und letzte Wort ftets bei der Hand Hat, gleichſam das
Lineal, das er an alles anlegt und mit dem cr gelegent-
ich auf jeder Art von Irrthum Herumfuchtelt — dieſe
Klarheit fließt den Reiz und Zauber der Liebe und
Leidenschaft aus, die nur im Helldunkel, in welchem
" Natur und Geift, Schatten und Licht verweben, fid) träu⸗
meriſch bebeutend entfaltet.
Dem Dichter brauchen wir indeß kaum wegen ber
unverfchleierten Borliebe für foldhe Naturen einen Vorwurf
zu maden; die Moral feiner Fabeln gibt und recht.
Nicht der junge, zum Grafen entpuppte Waldner, fondern
der Pater Graf erhäft die Huge Gertrud zum Weib, und
in der That, diefe Gertrud iſt vom Dichter von Haus
ans fir einen alten Herrn gefchaffen, dem fie eine titchtige
Begleiterin durch das Leben fein wird.
Neben diefer‘ Jüngerin Peſtalozzi's, deren Stellung
in einem Knabeninſtitut doch eine fehr ausnahmsweiſe ift
und eine gewilfe Emancipation von weiblichen Lebens⸗
bedingungen zur unvermeiblicdhen Folge haben muß, grup«
pirt fih nun eine Zahl von Lehrern, deren Richtungen
etwas von Peſtalozzi in größern und geringern Dofen
bis zu homdopathiſcher Winzigkeit beigemijcht if. Der
Director der Anftalt ift ein wmohlgetroffenes Lebenebild;
die Sorgen um Eriftenz und Glanz des Inſtituts drän⸗
gen ihn immer mehr von ber freien, humanen Richtung
des Beftalozzi’schen Syſtems hinweg in eine ängftliche, mit
frömmelnden Elementen verfegte Stimmung, ohne daß er
deshalb fi den Schulmodulativen und ihrem Bertreter
Bögendorf ganz in die Arme würfe. Peftalozzi felbft
hatte eine Ähnlihe Wandlung durchgemacht und feinen
Heiligen „Humanus“ zu Ounften einer fpecififch religiöfen
Richtung in den Schatten geftellt. Gegen bie „Schul«
modulative“, denen ber officiele Name „Sculregulative‘‘
nicht gefchadet Haben wiirde, geht eine gefinnungsvolle
Dppofition durch das ganze Wert, an welder ſich gele⸗
gentlih auch Gertrud betheilig. In der Zeit des
jugendlichen Glanzes feiner päbdagogifchen Begeifterung
fagte Lienhard Neffelborn:
Die Geiſtlichen beanſpruchen das Auffitsrecht über bie
Schule, ohne etwas vom Yugendunterricht zu verftehen. Das
find noch Reſte jener Zeiten, wo Friedrich der Große feine
Unteroffiziere als Schulmeifter abcommandirte. Seitdem in uns
fern Tagen das Schidjal aller Staaten, die nur irgend nennens⸗
werth, darauf bingewiefen bat, daß fi in den tiefften Unter⸗
lagen des Volkslebens alles erneuern, erfräftigen, in feiner
Leiſtungsfähigkeit fteigern müßte, ift auch die Bollefchule über
den Horizont der gelehrten oder Tateinifchen Bildung hinaus⸗
gewachſen. Es ift leicht gefagt: Leſen, fchreiben, rechnen ler⸗
nen — man vergißt, welche Schwierigkeiten felbft mit der rich⸗
tigen Anbahnung diefer einfachen Disciplinen verbunden find!
Dil man entgegnen: Auch, die alte Zeit hat diefe Fähigkeiten
zu Stande gebradht ohne den neuen — Schwindel, wie Sie es
wol nennen, Herr Graf! fo fragt fih: An wie viele gelangte
denn damals die Austheilung des Heiligen Geiſtes? Und aud)
das fragt fih: Was waren diefe Pfingfigaben — wirflid vom
Himmel gefahrene feurige Zungen, oder ein bloßer Mechanismus,
ver den Menſchen felbft nicht ergriff, ihm weber eine moraliſche
noch eine weitere intellectuele Ausbildung gab? Lehren, das
muß zugleich Erziehen beißen, Wiffen, das muß zugleich Können
werden. Der Elementarunterricht muß die Keime einer weitern
Entwidelung mit ſich bringen, und die individnelle Menſchen⸗
bildung muß Hand in Hand gehen mit dem Belaflen des Ge⸗
bächtniffes, dem Ueben und Stühlen der geifligen Fähigkeiten.
Wahrlih, unfer großer Meifter Heinrich Peſtalozzi, der edle
trefflihe Schweizer, hat zwar von feiner Methode gefagt, fie
ließe fi) wie ein Mechanismus, wie ein förmlicher Rechenknecht,
ein Küchenrecept jelbfi von einem Stümper anwenden. Dod
hat er damit nur den Folgen des traurigen Zufalle, daß mehr
Lehrer nötig find als geboren werden, vorbeugen wollen.
Wie dem fei, auch diefer Mechanismus ift nicht leicht, er will
gefannt, angewendet, nad) den Umftänden gemodelt fein. Das
find alles Gebiete, durch welde wir Theologen, die wir nur
vom metrifchen Aufbau eines Sophofleifhen Chors und von den
verfchiedenen Lesarten an einer verfänglichen Stelle im Römer-
brief wiffen, wie in finfterer Nacht dahintappen.
Wie anders lautet die Anficht des Schulraths Bögen-
dorf, welcher Nefjelborn zwar nicht beiftinnmt, welcher
er aber doch Heine Zugeftändniffe zu machen gezwun-
gen ift:
Der Geift Peftalozzi’s ift der der Serbngereäitigteit, des
Hin⸗ und Hertaumelns zwifchen Alleswollen und Nichtsvoll⸗
bringenfönnen! Die ganze Schule habt ihr auf eine ſchwin⸗
deinde Höhe gebracht! Der Verſucher ift es gemweien, der
Tauſenden von dummen Lehrern den Kopf verwirrte und ihnen
zurufen wollte: Diefe Schäte da find euer, fo ihr niederfallt
und mid; anbetet! Sie haben angebetet, fie haben die Schätze
des Wiffens in weltlicher Macht, Ueppigteit, Großmäutligfeit,
Unabhängigkeit von Kirche und Staat gefunden! Sie find
niedergefallen und haben den Fürſten der Hölle für den Erlöſer
genommen! Auch du Tiebäugeli mit dieſen Welt- und
Menfchheitsverbeflerern, die den Fluch unferer Zeit, jebe Em-
pörung, jede Sünde des Zeitgeiftes auf dem Gewiſſen haben!
51 *
1
\
SO EREB TE Gegen
-.. .garn, ” m Wi n..
TIEREN
— TE
404 Karl Gutzkow's
Du weißt es, daß unſere Regierung das Uebel erkannt hat, es
ans der Wurzel heraus bat heilen wollen, neue Grenzbeſtimmun⸗
gen, ein Bis-hierher-undnichteweiter für die Vollsſchule, Real-
und GEymnafialſchule aufftelte! Du Haft mir hundertmal
geftanden, dur bewunderteſt den @eift, der die Modulative redi-
girt, den erſten Entwurf gemadt bat, das Ganze in beftimmte
Geſichtspunkte ordnnetel Du haft mir felbft geftanden, daß es
mit dem Befalozzt’fhen Lehrertfum bis zur Affenfchande ge
biehen war, bis zum dilnfelvolifien Mitfprechenwollen bei allen
Angelegenheiten, bis zum Sichvordrängen felbft vor die Männer
der Wiffenfchaft, bis zum Abtrumpfen den Ordnern der Ge⸗
meinde gegenüber, ja bis zum Berwildern auf der Bierbant
des Wirtbeshaufes und in noch ſchlimmern Wucherflätten fitt-
lichen Unkrauts — und dennoch, dennoch bleibt dein Gebaren
immer noch kühl gegen deu Geift, der der einzige gewaltige
gegen deinen Geift ift, den Geift, der da heißet: Ehriftus, ber
Herr, aus welchem heraus allein die Schulreform im erfter
Linie gelingen fann! O wohl, aud du nenuſt ihn zuweilen,
den Namen des Mittlere und des wahren Meiftere, läſſeſt dem
Herrn wenigftens die Auszeichnung, die ihm aus dem Setzer⸗
kaſten einer Druderei zutbeil werden kann, aber im übrigen
bleibt du durch und durch weltlich, fragmentarifch, halb, unzu⸗
reihend in allem!
Ueber diefen Schulrath und den Meinungsumfchlag,
der durch Beeinflufjungen von feiner Seite veranlaßt wird,
erfahren wir noch einiges Nähere:
Neffelborn fchlug das Herz. Diefer alte Gtubiengenofje
erfchien ihm fein böjer Dämon. In jeder Schwierigfeit, bie
ihm in den Weg trat, fpielte diefer Mann mit dem flereotypen
Läheln eine Role. Bögendorf war doppelzüngig, faljd bis
ins innerfte Herz. Neffelborn kannte ihn und doch mußte er
fih vor ihm winden, ihn ſchonen, fogar ihn auszeichnen. Wie
wehe wurde ihm, wenn er an den förmlichen Bund dachte jener
berporragenden und einflußreihen Schulmäuner, bie fich jekt
von Nord bis Std, von Of bis Welt unter dem Symbol des
Angelommenfeins beim ‚wahren Meifter” zum Bereintwirken
und zum unduldfamen Ansfchließen jedes „Meifterlofen‘ die
Hände reihten! Noch Hatte man foeben bier und da im
Schulleben einen friihen grünen Baum auf der Höhe geiehen,
einen Träger feiner flolgen Zweige im Revier der Borurtheils-
lofigkeit, der fchönen Idealität, die Peſtalozzi in die Herzen der
Lehrer wie ein ewiges Morgenroth hat leuchten laffen — und
mit einem einzigen Schulprogramm, mit einer gelegentlichen
Lehrertagrede, mit einer Borrede zu einem Lefebuch bringt man
eine wunderbare Umkehr in Erfahrung. Auch diefer frifche,
fröhliche, freie Belenner ſtammelt plöglih die Sprache vom
„wahren Meiſter“ und macht gleihfam gewifje Freimanrer-
zeichen, freilich in einem ber Freimaurerei entgegengelegten Sinne,
offen hinweg über bie verwunderten Köpfe und die überraſcht
dreinfchanenden Angen der Menjchen, Zeichen, dem Bunde der
Erleucdteten und Wiedergeborenen gegeben, von denen dann —
bie Gnaden und die Beförderungen fommen! O, alle diefe
Renegaten wieberholten die Anekdote, die fie fr verblirgt er-
Härten, Peſtalozzi hätte am Abend feines Lebens, achtzigjährig
und felbft ein Kind geworden, die Kinder im pietiftifch geleiteten
Rettungshanfe zu Beuggen in der Schweiz einen Choral fingen
hören, dazu gemeint und antgerufen: Das ift der rechte Weg,
den and ih hätte wandeln follen! Darauf bat man dann
das Erbe Peſtalozzi's unterfchlagen. Seine Baftarde haben jeine
echten Söhne verdrängt.
Die Charaktere der Lehrer der Anftalt find gejchidt
gezeichnet und gruppirt. Gutzkow ift ein Meifter darin,
die verfchiedenften geiftigen Richtungen mit feltenfter Fein⸗
beit aufzufafien und zu analyfiren; er wendet in Bezug
hierauf eine Art von geiftiger Spectralanalyje an, welche
die Bedeutung derfelben in den leifeften Yarbenlinien
auffängt. Diefe Kunft hat er bereits im feinen großen
Romanen bewiefen, in denen alle Strömungen zeitgendf«
fifcher Theologie in beiden Confeſſionen bis in das feinfte
neuefte Werke.
Geüder ihrer Syſteme aufgefangen und wiebergegeben
wurden. Durch biefe Kunft unterjcheibet fi Gutzkow von
den Realiften, deren photographifches Atelier nicht bis in
die Welt des Geiftes hineinreicht, fonbern nur an ben
äußern Lebenserfcheinungen haftet.
Die Lehrercharaktere des Nefielborn’schen Inftituts bil⸗
ben eine pädagogifche Flora mit den bunteften Varietäten.
Der geledrte Humanift, Hr. Zipfel, der Humorift, ber
felten in einem Xehrercollegium fehlt; Wehrmann, bas
bequeme Hausfactotum, der Ueberdauerer ber Genera-
tionen, der mit den Penfionären eine berühmte Schwei-
zerreife unternommen halte; das treue Freundespaar Bed-
told und Hellwig, das in gemeinfamer Liebe für die praf-
tifche Gertrud entbrennt — das find alles Federzeichnun⸗
gen von feinften Linien! Und welche treffende Ironie Liegt
darin, daß Frau Hedwig Neffelborn, die Wirthstochter
aus dem Mohrenkopf, in Gemeinſchaft mit ihrem Gatten,
troß Peſtalozzi und aller Heiligen der Pädagogik, zwei
Töchter erzogen hat, die ganz im Stande finb jedes
Erziehungsinftitut zu ruimiren, fortwährend Verhältniſſe
mit den vornehmen Zöglingen „anbänbeln”, und in der
Walachei als Gefelfchaftsfräuleins einer rumänifchen Für-
flin oder eines rumänischen Fürften ihre Lebenschronik mit
neuen pilanten Kapiteln bereichern, über welche der Dich⸗
ter, „wie Maro, fittfam von Natur‘, einen leifen Schleier
ausgebreitet hält. Etwas verjchoben hat ſich diefer Schleier
in der Schilderung ber Tänzerfamilie Lindenthal, der
folgen Asminde und der göttlihen Cora; beide find
echte Balletphotographien, wie wir fie in den Ladenfen-
ſtern erbliden, vol pilanter Lebenswahrheit.
Die Charaktere aus dem Boll, der wüfte Hennenböft,
defien erfte Einführung fehr charafteriftifch ift, der Yör-
ſter Wülfing und feine Gran, die Bartel’fche Vagabunden⸗
familie, die liederliche Marlene, die Portierfamilie — das
find alles Zeichnungen, die nirgends ind Groteske verlau-
fen, nirgends an die Dickens-Cruikſhank'ſchen Vorbilder
erinnern, deren Copien auf diefem Gebiet faft unvermeid⸗
lich erjcheinen in den deutſchen Romanen, fonbern die
ohne Aufdringlichkeit fi in den Rahmen des Ganzen
einreihen.
Der nene Roman von Gutzkow zeigt durchaus feinen
Rückſchritt gegen die frühern; im Gegentheil ift feine
Haltung prägnanter, die Begebenheiten find romanhaft
fpannend, bie Kataftrophen der Handlung: der Tod bes
Wilddiebes, die Entdeckung des Findlings, die Mord⸗
anfälle auf denfelben und anderes, werden mit großer Les
bendigkeit gefchildert. Was bie Genremalerei betrifft, fo
find die Scenen aus der Nefjelborn’fchen Erziehungsanſtalt
gewiß den beten ebenbürtig, welche Didens in feinen
Erftlingsromanen zur Charakteriftit englischer pädagogi«
her Anftalten gezeichnet Hat, obfchon die ganze Darftel-
Iungsmanier eine wefentlich verfchiedene ift.
Daß eine Fülle geiftreicher päbagogifcher Reflexionen,
wie wir fie namentlich auch in Jean Paul's Romanen
finden, in denen allen ein Stüd der „Levana“ Iatent
erfcheint, auch überall in Gutzkow's Roman zerftrent if,
bebarf bei der Tendenz des Romans und ber feinfpitrigen
Eigenthlümlichleit des geiftreichen Antors wicht erſt der
Erwähnung.
Karl Gutzkow's neueſte Werke. 405
Karl Gutzkow's „Lebensbilder“ (Nr. 2) find eine
Zufammenftellung von Novellen und Skizzen. Der erfte
Band enthält eine größere Erzählung: „Durch Nacht zum
Licht”, die als ein Heiner biftorifcher Roman betrachtet
werben könnte, wenn nicht das Gefchichtliche mehr den
Hintergrund eines im Grunde anefdotifchen Gemäldes bil-
dete. Denn im Mittelpunft der Handlung fteht hier eine
eigenthümliche Art der londoner Induftrie, die und an-
fang® durch geheimnißvolle Weberrafchungen fpannt, bis
wir ihr eigentliches Weſen Tennen lernen. Nach biefer
Seite hin Fünnte man den Roman fogar ald ein genre-
bildfiches Gegenftüd zu den „Söhnen Peſtalozzi's“ be=
traten; denn wie e8 ſich in diefem um einen gefundenen
Menſchen handelt, jo Handelt es fich in dem andern um
„gefundene Sachen“. Die Induftrie John Robertfon’s,
feine nachtwandelnden Spaziergänge durch die Straßen
Londons, feine Societät mit dem Trödler Merdaunt —
das alles beruht auf dem finden verlorener Sachen,
welche ber lettere verlauft. Die Jakobitiſche Verſchwörung
gegen das Haus Hannover bildet nur einen hiſtoriſchen
Dintergrund, welcher fiir anfgefundene Brieftafchen mit
hochverrätherifchen Inhalt von Wichtigkeit if. Die bei⸗
läufige Art und Weife, mit welcher einer der Haupt⸗
beiden der Erzählung, Samuel, in dieſe Kataftrophe ver-
widelt und vom Dichter befeitigt wird, zeigt am deutlich“
ften, daß die gefchichtlihen VBerwidelungen, fowie alle
andern Figuren, mit fo feiner und fauberer Charafteriftif
fie gezeichnet fein mögen, nur Rahmenbegebendeiten und
Kahmengeftalten fiir den anckdotifhen Mittelpunkt find,
Gutzkow harafterifirt feine völlig anfpruchslofe Erzählung
ſehr treffend in der Vorrede mit folgenden Worten:
Auf dem Gebiet der „Erzählung" oder „Novelle“ haben die
Ießten Jahrzehnte unferer literariihen Entwidelung jo eigen.
thumliche Hervorbringungen erlebt, die Gelee alles bichteri-
ſchen Schaffens find in fo unmittelbar nahe Berührung mit
deu Bedingungen der Pflege diefes Zweige, und body wol nur
eines Nebenihößlingse am Baum ber Literatur, gebracht worden
und einzelne hervorragende Birtuofen der Erzählungstunft haben
fi, beftärft durch glänzende Erfolge, ihr bejonderes Leiften und
Bermögen dermaßen fchablonenartig ausgebildet, daß fich bei⸗
nahe mit einer Art Entfchuldigung novelliſtiſche Mittheilungen
einführen müſſen, die lediglih nur aus dem Xriebe hervor»
gegangen find, eine mehr oder minder abenteuerliche Bermwide-
Jung anfpruchslos, falls nur fpannend wieberzuerzählen. Die
Mauieriften, denen die literariihe Kritik und der Geſchmack
des Publikums in der Regel die meifte Auszeihnung zutheil
werden läßt (die Gefchichte ber deutihen Novelle in den lebten
dreißig Sahren ift ein befonderer Beitrag zur Gefchichte der
poetiihen Manieren), können nicht jeden, wenn noch fo aneldo-
tiſch intereffanten epifhen Stoff benugen. Wir möchten fehen,
wie N. N. und N. N. mit einem Novellenſtoff aus dem Mittel»
alter, ans der Zeit der Renaiffance fertig werben wollten! Der
Berfaffer der vorliegenden Erzählung belennt von fi, daß ihm
die Novelle eine Dichtungsform iſt, wo nicht nur die Art der
Behandlung Iediglih vom Charakter des zufällig gefundenen
Stoffs abhängt, fondern aud Überall der Stoff da gegeben vor⸗
Tiegt, wo fidy eine Anekdote natlirlih anlegt, entwidelt, flei-
gert und löſt.
Wir Haben diefer Selbftcharalteriftil nur hinzuzufügen,
daß die Darftellung eine freie und bewegliche, daß fie
ganz in die Stimmung der londoner Stadtatmojphäre
getaucht ift, daß bie beiden geheimnigvollen Induſtrieritter
mit recht tüichtigem Realismus gezeichnet find, der un
an ähnliche paradoxe Geftalten der Balzac'ſchen Erzäh⸗
lungen erinnert, und daß über den Liebesfcenen fo viel
poetifcher Duft Tiegt, wie er nur hinter Londons ruß«
geſchwärzten Häufermauern in feine fohlengefättigte Luft
durchzudringen vermag.
Der zweite Band der „Lebensbilder“ bringt zunächſt
eine Novelle: „Das Opfer”, ein häusliches Stimmungs-
bild, wie es nur ein deutfcher Autor fehreiben Tann, mit
den einfachſten Motiven auf das Gemüth wirkend, eine
leife Diffonanz, die nur als ſchwärmeriſche Erinnerung
bereintönt in eine fonft harmonifche Eriftenz, auflöfend in
volles eheliches Glück. °
Die Skizzen: „Das Kaftanienwälbchen bei Berlin“ und
„Aus Empfangszimmern‘, find autobiographifcher Art; fie
zeigen und den Autor der „öffentlichen Charaktere” mit
ber umverlorenen Kraft feinfter Auffaſſung. Die erfte
Skizze gilt der alademifchen Jugendzeit Gutzkow's; es
find Porträts der berliner Univerfitätsprofefforen; Schleier«
macher, Neander, Marbeinefe, Lachmann, Hagen, Rante,
Raumer, Beneke, Michelet, Henning, auch der Demagogen-
feind von Kamptz, ein Gönner des jungen Studenten,
treten in greiflicher Lebenswahrbeit vor uns hin. Bon
dem diesjährigen Säcularphilofophen Hegel erzählt Gutzkow:
pe entgegengejett zur Vortragsweiſe aller diefer be-
rühmten Männer, die wir bisher geſchildert haben, war die-
jenige Hegel's, der noch in voller Kraft ſtand und nicht ahute,
daß eine noch damals in Aflen weilende Seuche, die Cholera,
und einige nad) einem Souper verzehrte Melonenſchnitte feinem
Leben jo bald ein Ende machen follten. Die einzige Weiſe
Schleiermacher's kam dem Charakter nad) dem Bortrag Hegel’s
glei, falls man nit fofort eine Ungehörigkeit darın finden
will, die große Virtuoſität im Bortrage Schleiermacher's mit
dem lahmen, jchleppenden, von ewigen Wieberhofungen und
zur Sache nicht gehörenden Flidwörtern unterbrochenen Bor»
trage Hegel’3 verglichen zu ſehen. Die Gleichartigkeit Liegt
darın, daß bei beiden die Redeweiſe den Charalter der Im⸗
provifation trug, beide gleichfam ein Herausſpinnen bes
Vortrags aus einer erfi im Moment vor den Augen der
Hörer thätigen Denkoperation gaben. Die andern gaben fer-
tige Ergebniffe vorangegangener Meditation, Schleiermacher
ſowol wie Hegel erneuerten, um dies oder jenes Refultat zu
gewinnen, den Denkproceh, Hegel vollends wie eine Spinne,
die in der Ede ihres Netzes verborgen liegt und ihre Süden,
nad außen immer weiter hinaus, nad) innen immer enger zu⸗
fammenzuziehen ſucht. Die Weife, wie in einem meiner Jugend⸗
verſuche, „Nero“, ber dritte unter den dafelbfi auftretenden So⸗
pbiften feinen Schülern Sein und Denken paralichfirt, ifl wört-
li die Kopie der Hegel'ſchen Bortragsweile mit ihren mehr-
maligen Wiederholungen des eben Gefprochenen und einem
ſtereotypen „alſo“ nach jedem dritten Wort. Der Gedanten-
gang ſchiebt fich da langſam vorwärts, geht immer wieber einen
halben Säritt zurück nad) einen ganzen Schritt vor. Dabei
lag der Kopf der, proportionirten, männlich gereiften Erſchei⸗
nung dicht auf Yen Pult des Katheders und ließ die Augen,
die fich gleichfang von innen mit Flören bebedten, unſicher und
ausbrudslos im Kreife feiner etwa adhtzig bis hundert zählenden
Zuhörer umherirren. Es waren die fcheinbar ausdrudelofen
Denferaugen, die nad innen leuchten. Im wefentlichen war
Hegel’8 Aeußere immer noch nad der Weile eines ſchwäbiſchen
Magifters. Ottilie Wildermuth würbe ihn für ihre ſchwäbiſchen
„Pfarrhäuſer“ Haben brauchen können. Oft erzählte mir in
jpätern Jahren eine Schwefter Wilhelm Hauff's, des ſchwäbi⸗
Shen Dichters, daß fie im Kloſter Schöuthal vor „des Hegel‘
Cynismus, feinem Verſchmähen aller Sauberkeit, Ordnung und
Seife ein „Horreur“ gehabt Hätte. Gleiches berichtete man aus
Frankfurt Über den Kaufmann Gogel'ſchen Hauslehrer am Ed
des Roßmarkts und der Deihabiergafie, wo Hegel in die ele-
gante Sphäre des Romans feines Landsmannes Hölderlin ein-
trat. Und daheim, in feiner am SKupfergraben belegenen
406
Wohnung, den damala noch nicht erifirenden Mufeen gegenüber,
trug er eine runde breitrandige Sammtmüge wie ein „Mayfter
der freien Klinfte”’ aus den Tagen bes Mittelalters. Er behielt
im Sprechen immer eine gleid mürriſche, abgefpannte Miene.
In der zweiten Skizze: „Aus Empfangszimmern“,
führt uns Gutzkow in eine Galerie meift vornehmer DBe-
rühmtheiten, bei denen er im Laufe feines Lebens mit
weißer Halsbinde Beſuche gemacht. Metternich, der Groß-
herzog von Weimar, der Herzog don Gotha, ber öfter-
veihifche Bundestagsgefandte Münch von Bellinghanfen,
Militärifher Büchertiſch.
Guizot, Thierd und manche andere hervorragende Perſön⸗
lichkeiten werden uns mit fcharfen Zügen und gfüdlicher
Beobachtungsgabe geſchildert. Die Sammlung fchlieft
mit einer anziehenden Novelle: „Die Witwe von Bologna.“
Wir wiederholen am Schluß unferer Kritif, was wir
am Anfang ausfpracdhen — wir freuen und, eine fo fein
finnige, in ihrer Eigenart unerſetzliche Schriftftellernatur
wie diejenige Gutzkow's in fo vielfad) erneuter Bewährung
auf dem Gebiete unferer fchönen Titeratur wieder zu bes
grüßen. Rudolf Gottſchau.
Militärifher Büchertiſch.
Wir beginnen unfere Heutige Weberfiht mit cinem
Werke, das zwar fchon vor drei Jahren gefchrichen, uns
aber erft jegt zu Geſicht gelommen ift:
1. Die Freiheitsfriege Heiner Böller gegen große Heere. Bon
Franz von Erladj. Bern, Haller. 1867—68. 8. 1 Thlr.
18 Ngr.
„Allen Bölfern, die frei find und es bleiben, und bie
e8 nicht find, aber werden wollen! Den Böllern, vom
neugeborenen wimmernden Bettlermägblein an warmer
Mutterbruft — bis zum ftolzen Kaifer im kalten glänzen⸗
den Krönungsſchmuck, diefes Buch!“ So beginnt der Ber-
faſſer. ALS Repräfentanten jener beiden Gruppen von
Bölfern find auf dem Umſchlage Eidgenofien, obenan
Tell mit feinem Knaben, auf der andern Seite Polen,
beide einander zuwinkend, dargeftellt, zwifchen ihnen die
Sreiheit mit dem Banner, den Fuß auf dem Lictorenbeil,
unten ein Weib mit bloßem Schwert, das Knie auf einen
erfchlagenen Kriegsknecht geftemmt. Der Verfaſſer Hat
das Buch gefchrieben, „weil er für dafjelbe Ziel gegen-
wärtig nicht handeln kann, wie er im Jahre 1863 in
Polen gethan; er will nicht zeigen, was gefchehen fei,
fondern was fiir die Freiheit gefchehen könne“, verwahrt
fih aber am Schlufle, ein Syftem oder eine Theorie der
Freiheitöfriege, ein Necept, wonach der Staatdapothefer
einen Freiheitäfrieg zurechtbrauen, oder ein Reglement,
wonach der Militär von der Schule oder vom Handwerl
im eintretenden Fall operiren könnte, gefchrieben zu haben.
Er ift zufrieden, wenn in feinem Bud für künftige Frei
heitöfriege etwas weniges an Stoff und Samen gefunden
wird, und hofft, daß es ihm noch vergönnt fein werde,
mit Wort oder Wert, mit Rath oder That, mit Feder
oder Wehr und Waffe über und für einzelne Freiheits⸗
friege der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft etwas
arbeiten zu Fünnen.
Wir haben mit des Verfaſſers eigenen Worten die
Tendenz und den Geift bes Werks bezeichnet. Der
Stoff ift nach logiſch geordneten Kategorien gruppirt.
Der Berfafler Hat nit die Abficht gehabt, die ganze
zufammenhängende Geſchichte jedes oder nur der beden-
tendften einzelnen Sreiheitöfriege zu ſchildern, er meint,
das würde, um es gehörig zu thun, weit mehr Zeit und
Kaum erfordert haben. Wir find nicht damit einverftan«
den. Das Werk hätte durch zufammenhängende Darftel«
lung nur gewonnen, es wäre dadurch eine große Zer-
ftüdelung und die vielfache, ermiüdende Wicderholung ein-
zelner Thatſachen vermieden worden. ine allgemeine
Ueberfiht nad) denfelben Kategorien, die der Berfafler
gewählt, mit feinen, von wahrer Einfiht in das Weſen
der Kriegskunſt zeugenden Bemerkungen erläutert, hätte
ben Schluß bilden können, um die Charakteriftif, die An«
forderungen und bie Durchführung ber Freiheitskriege
recht anfchaulid) in ihrer organischen Verbindung zu zei⸗
gen. Der Berfaffer hat einen andern Weg eingejdjlagen,
den er für beſſer gehalten. Er befpricht als Einleitung
die Macht der Freiheit in der Ieblofen Welt, in der Thier⸗
und Menfchenwelt und in den Völkern, ferner die Innern
Zuflände der um freiheit kämpfenden Völker (Leibes-
befchaffenheit, Ernährung, Lebensweife, Verſtandesbil⸗
dung, Sitten, Glaubensleben, Staatsverfafiung und
Sefege, Wehrweſen, Kriegsipiele und Feſte, Erziehung),
dann geht er zum eigentlichen Thema über. Die ver⸗
ſchiedenen Urfachen und der Ausbruch der denkwürdigſten
Vreiheitöfriege werben gefchildert, mit befonberer Vorliebe,
was wir erflärlich finden, aber fehr einfeitig, wie aud
polenfreundlihe unbefangene Leſer zugeben werden, bie
polnifche Revolution von 1863. Doc fagt der Berfafler
felbft: „Daß der Dolch, vielleiht auch Gift im Polen-
aufftand von 1863 berechnete Anwendung fanden, fchwächte
bedeutend feine fittliche Kraft, fchuf ihm viele Feinde und
trug deshalb viel zu feinem Mislingen bei. Die Mord⸗
thaten der Hüngegensdarmen ftellt er dagegen als fem⸗
gerichtliche Executionen, durch Urtheilsfpruc der geheimen
Regierung fanctionirt, dar! In den Betrachtungen, die
er an das Kapitel knüpft, fordert ex für den Freiheits⸗
frieg ein Ideal, das ſich wol nur höchſt felten wie bei
feinem eigenen Bolfe, bei den Polen aber nie finden wird:
Einigfeit des ganzen Volks.
Der Gang der Freiheitskriege nad) der bedingenben
Bolfsthümlichkeit, hervorragende Mannesthaten einzelner
und gemeinfame Thaten mehrerer, denfwirbige Gefechte
und Schlachten, Beriheidigung von Städten und Felten,
das Brechen ber Burgen im eigenen Sande und die tal
tifchen Berhältniffe nebft der Sorge für die Erhaltung,
die Führung, die Seelforge, Freiheitsthaten der Schwachen
im Bolfe (Kinder und rauen) bilden den Inhalt ber
folgenden Gefchichtsbilder. In den Anfichten über Füh—⸗
rung weicht der Verfaſſer wol von allen Kriegskundigen
ab, nicht daß er den Werth der einheitlichen Führung
verfennte, fondern nur, weil er auch hier ein Ideal auf
ftellt: „freie Führung durch den Gefammtwillen“; die
Kriegsgemeinde oder der Kriegsrath werde ohne eigentliche
einzelne Anführer im Sriege ſich ſchon zurechtfinden, bie
Theilnahme des Volls ober der Mannfchaft, fer es durch
Mitrathen oder Mitwählen der Führer ſei eins der weſent⸗
Milttärifher Büchertiſch.
lichſten Erforderniffe zum Gelingen ber Freiheitskriege.
Wir erwarten erft noch die Hiftorifche Verwirklichung
dieſes Ideals: Beifpiele aus alter Zeit beweifen nichts,
denn fie paflen nicht auf die neuere Entwidelung ber
Kriegskunſt und die koloſſalen Kriegsmittel der Gegenwart,
die ein aufftändifches Volk nicht befigt. Von einem or-
ganifirten Kriegsweſen, wie das fchmeizerifche, reden wir
natürlich nicht, wir finden feine Wehrverfaflung eines
Milizheers den Verhältniffen der Schweiz durchaus an-
gemeflen und haben von jeher die lebhafteften Sympathien
für die Freiheitskriege der Eidgenofien gehegt. Das Wert
hat aber eigentlih nur Bollserhebungen im Sinne, die
fi nicht auf eine beftehende Organifation fügen. “Die
Kriegsgeſchichte hat jedoch gezeigt, daß ſolche Volkserhe⸗
bungen wol durch Ueberrafhung, begünftigt von der Lan⸗
desbejchaffenheit und bejondern Umftänden, gegen regel
mäßige Truppen einige Bortheile erlangen, dieſe aber nicht
behaupten und ihren Zwed nie erreichen lünnen. Man
nenne und doc) eine folche‘ in neuerer Zeit, welche glück⸗
lich abgelaufen wäre.
Bon den Darftelungen des Verfaſſers haben uns die
aus den Kriegen der Eidgenoffen und der wenig befannte
Kampf der Waldenfer, um fich ihre Heimat wieder zu
gewinnen, am meiften intereffirt. Die Sriege der Juden
zur Eroberung und Behauptung von Kanaan finden wir
der dee bes Werks nicht entjprechend: die Juden waren
doch frenıde Eindringlinge gegen die Stämme der Kanaa⸗
niter, bier würden letztere vielmehr, die Bertheidiger ihrer
Heimat, ald Freiheitslämpfer gelten! Wie die Hure Nahab
zu der Ehre kommt, gerühmt zu werden, begreifen wir
num gar nicht: mach der Heiligen Schrift verrieth fie ihre
Baterftadt Jericho an die Juden; ift das nachahmenswerth?
Ein Motiv dazu gibt die Bibel nicht, das Hat ihr erft
ein neuerer Dichter, Dar Waldau (Spiller von Hauen⸗
ſchild), draftifch genug erjonnen. Und Judith! Wir tra⸗
gen gewiß der Zeit Rechnung und find vollkommen mit
dem Verfaſſer einverftanden, daß Thaten nur aus ihrer
Zeit und ihrem Volle beurtheilt werden können, aber des⸗
halb können wir Judith doc) ninmermehr chriftlichen
Frauen als Borbild aufftellen! Ihre Gefchichte füllt am
Schlufſe des Werks acht Seiten. Mit dem Urteil, daß
fie in vielen Stüden gewaltiger ſei als die mehr „ſchwär⸗
merifche und träumerifche” Jungfrau Johanna d’Arc, wer-
den wol nur wenige, welche die Thaten des heldenmüthi⸗
gen Mädchens von Orleans kennen, übereinftinmen.
In den Bemerkungen, welche der Berfaffer den ein»
zelnen Kapiteln Hinzufügt, Bemerkungen über das Weſen
des Vollkskriegs und deflen Durchführung (Kampfweife,
Märſche, Formen des Angriffs u. ſ. w.), finden wir die
Früchte gediegener kriegswiſſenſchaftlicher Studien und
eigener Sriegserfahrung; die Darftellung ift frifch und
lebendig, frei im Ausdrud und treffend. Wir haben das
Berk, wenn wir auch mit manchem nicht einverftanden
tein konnten, mit Intereſſe gelejen.
2, Skizzen aus dem Leben Friedrich David Ferdinand Hoffe
bauer'e, weiland Paſtors zu Ammendorf. Ein Beitrag zur
Geſchichte des Lützow'ſchen Korps von J. A. Boigt. Halle,
Buchhandlung des Waiſenhauſes. 1869. Gr. 8 1 Zhlr.
15 Ngr.
Dir möchten das Werk nicht blos einen Beitrag zur
407
Geſchichte des Lützow'ſchen Corps nennen, es gibt in fei-
nem Zert und befonders in feinen umfaffenden Anmer-
fungen einen inhaltreichen Beitrag zur Charafteriftil jener
großartigen Zeit der Erhebung Deutjchlands gegen das
Fremdjoch und des Geiftes, von welchem jene Zeit durch⸗
weht war. Davon ift befonders im erften und zweiten
Abſchnitt viel zu leſen, wenn aud) Einzelheiten über die
lateiniſche Schule in Halle und das Studentenleben auf
der dortigen Univerfität nur file die noch lebenden Ge—
noffen defjelben oder ihre Angehörigen, weil viele Perfön-
lichkeiten genannt find, Intereſſe haben mögen. Der dritte
Abfchnitt erzählt die Ankunft Hoffbauer’8 und feiner Ge»
führten in Schlefien, wohin fie fich heimlich unter vielen
Gefahren begeben, um als Freiwillige in das Lützow'ſche
Corps zu treten; er fhildert die Organifation defjelben
mit all den Misgriffen und Fehlern, welche dabei geſche—
ben, den Aufbruch des Corps und feine Thatenloſigkeit
bi8 zum Ueberfall von Kitzen. Das Urtheil über den
Führer, das fich feit jener Zeit fchon allgemein gebildet
bat, wird durch das, was man hier Lieft, nur beftätigt:
er war feiner Aufgabe nicht gewachfen und troß vieler
glänzenden perjänlihen Eigenfchaften nit ber Mann,
dem jene Schar, in welder fo edle Elemente fich ver-
einigten, hätte anvertraut werben follen. Die ganze un«
glüdliche Kataftropge von Kigen, zum großen Theil durch
jeine forglofe Führung troß aller Warnungen vor ber fran-
zöſiſchen Hinterlift verfchuldet, ift ein Beweis dafür.
‘Der Herausgeber fchildert diefen Ueberfall im vierten Ab⸗
Schnitt nach allen Quellen, die er darüber Hat benuten können,
wie nach mündlichen Mittheilungen noch lebender Augen⸗
| zeugen und bemüht ſich, die Widerfprüche, denen er
natürlich begegnen mußte, zu löſen. Dadurch hat freilich
die Darftellung etwas Schleppendes und Weitjchmeifiges
befommen, das ihr Eintrag thut: der Herausgeber fuchte
aber vor allem nach Wahrheit. (Vgl. Nr.42 d. Bl. f. 1863.)
Hoffbauer wurde mit andern bei Kitzen verfprengten
Lütowern von polnischen Ulanen gefangen und nad) Leipzig
gebradt. Bier fperrte man fie auf die Pleigenburg, von |
wo fie nad) Mainz transportirt wurden, um vor ein
Kriegsgericht geftellt zu werden, da Napoleon ihnen das
Schickſal der Schill'ſchen Gefangenen, die auf die Gale⸗
ren gefchiclt wurden, bereiten wollte Im Berhör follte
bewiefen werden, daß das Lützow'ſche Corps nur eine
Art Räuberbande ohne militärifche Orgamifation gewefen,
die in Sachſen mordend und brennend umhergezogen fei
und eine Revolution babe bewirken wollen. Das Gericht
ging aber auf diefen Unfinn nicht ein, und das Los der
59 Gefangenen war, als foldye nad) Frankreich trans⸗
portirt zu werden, wo fie in der Feſtung Feneftrelles bis
zu Napoleon’s Sturze blieben. Hoffbauer und ein Freund
von ihm, Weber, erkrankten auf dem Marſche und kamen
in Kaiſerslautern ins Tazareth, nad) ihrer Genefung wur-
den fie weiter gefchafft, aber nicht zu ihren Kameraden,
fondern nah Meg, fpäter nad Limoges und Bellac.
Die perfünliden Schiäfale Hoffbauer’8 in der Gefangen-
haft, das häusliche Leben und die Sitten damaliger Zeit
in Frankreich werden fehr genau und anſchaulich gefchil-
dert, und diefe Partie des Buchs wird auch einem
größern Leſerkreiſe von Intereſſe fein. Nach dem Siege
der Berbündeten wurden die Gefangenen befreit, Hoffbauer
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408 Milttärifher Büchertiſch.
kam in Belgien wieder zu feinem Corps, melbete fich bei
Lützow, erbat aber zugleich feinen Abſchied und kehrte
mit Weber in die Heimat zurüd, we er feine Studien
wieder aufnahm. Beim Ausbruch des Kriegs von 1815
trat er nochmals freiwillig ein und zwar beim 8. Hu⸗
farenregiment unter Colomb. Nach dem Trieben wurde
er als Offizier entlaflen. Das Merkwürdigfte in feinem
Feldzuge ift wel, daß er, der Kandidat ber Theologie,
als Hufarenunteroffizier in Blois, weil kein Feldprediger
beim Corps geweien, auf Colomb’8 Wunſch die Kanzel
beitiegen und im Dolman gepredigt hat.
3. Loſe Skizzen aus dem öſterreichiſchen Solbatenleben von
Ludwig Rihard Zimmermann. Graz, Pod. 1869.
8. 20 Nor.
Der ehemalige Brigantenddef (vgl. Nr. 12 d. BL.)
wibmet feine heitern Blätter der lefetundigen Dienfchheit
im allgemeinen und feinen alten guten Sameraben vom
öfterreichifchen 14. Infanterieregiment Großherzog von
Heſſen im fpeciellen; er wünſcht, daß man nach Möglich⸗
keit über diefe aus dem ftehenden Heer gefchöpften Ideen
lachen möge; „denn“, fagt er, „bie Zeit ift wol nicht
mehr fo fern, in welcher man laden wird über die Idee
ber ſtehenden Heere ſelbſt.“ Damit warten wir aber nod)
ein Weilchen, wie? Der Berfafler, ein geborener Rhein⸗
beiie, war als DOffiziersafpirant in öfterreihifchen Dienft
getreten und erzählt aus diefem viel Luftige Gefchichten,
über deren mande auch wir herzlich gelacht haben, ob-
gleich mehrere befier auf mündliche Mittheilung befchränft
geblieben wären. Der Oberſt Strengau ift eine höchſt
ergögliche und dabei doch ehrenhafte Figur; ob der da⸗
malige Commandant des Regiments Großherzog von
Heflen das Original dazu geliefert hat, und die anbern
al8 Caricaturen gezeichneten Offiziere, beſonders Major
Schleiherle, fi) in demfelben vorgefunden, werden bie
Kameraden, denen die Skizzen gewibmet find, wiſſen. An
Ausfällen gegen die Ariftofratie und bie höhern Befehls⸗
baber in der öflerreichifchen Armee fehlt e8 nicht; fie
find aber wigig und erreichen darum ihren Zweck der
Erbeiterung.
4. Erinnerungen ans dem preußifhen Kriegslazarethleben von
- 1866. Beiträge zur Sumanität und Chirurgie für Laien
und Aerzte von Hermann Schauenburg. Altona, Ber-
lags⸗Bureau. 1869. 8. 1 Thlr.
. Das Gebiht „Kriegäbente”, welches bem exnften
Buche vorangeftellt ift, bildet eine feltfame Introduction.
Die Kriegöbeute ift der Schädel eines „Zigeunerjungen“,
ber im Lazareth geftorben, nachdem er einem vor ihm
verſchiedenen Kameraden das Portemonnaie geftohlen und
fterbend auf feinen Kaifer gefchimpft bat, ber ihm noch
2 51. 20 Kr. ſchuldig fei. Wozu das hier? Das Wert
verfolgt den Zwed, die Mängel des Lazarethweſens, die
karge Belöftigung in den Lazarethen, und die Nachteile
des Evacuirungsſyſtems, defien entjchiedener Gegner der
Berfafler ift, aufzudeden, um die Erfahrungen von 1866
verwerthen zu helfen. Im Vorwort lefen wir allerdings
au), daß der Verfaſſer während feiner Dienftleiftung als
fiellvertretender Stabsarzt im Reſervelazareth zu Görlitz
mit feinen ärztlichen Borgefegten in Mishelligkeiten ges
sathen ift, welche den Generalflabsarzt ber Armee be»
mwogen, auf feinen Mebertritt in den Militärdienſt zu ver⸗
zichten. Dem friegäminifteriellen Schreiben, welches ihm
diefe Eröffnung gemacht, fett er ein höchſt ehrenvolles
Zeugniß feines directen Chefs, des Generalarztes Wagner,
über feine Thätigfeit entgegen. Wir können alſo das vor⸗
liegende Buch, dem noch ein zweiter Band folgen fol,
auch als eine Rechtfertigung biefer Thätigfeit, dem Urtheil
der Laien und Aerzte vorgelegt, betrachten. Doc tritt
biefer Zweck keineswegs flörend hervor, fondern der Ber-
faffer erzählt neben feinen ärztlichen Operationen und
Euren aud) feine perfönlichen Exlebniffe, feine Begegnun⸗
gen mit bedeutenden Perfönlichkeiten, die Erjcheinung der
Königin und der Prinzeffin Karl in den Lazarethen u. f. w.
in frifcher und anziehender Weife, ſodaß er fein Werl
mit Recht nicht blos den Kachgenofien, fondern auch bem
allgemeinen Leferkreife gewidmet hat. Das Hauptſtück iſt
aber natürlich der Eriegschirnrgifche Theil, und biefer wird
freilich auf Laien oft denjelben Eindrud machen wie ber
Blid in das Operationszimmer auf bie ſchöne Hofbame
der Prinzeffin Karl (Gräfin ©.?), welche äußerte: „So
muß es unter der Guillotine ausfehen.” Dem ärztlichen
Publilum werden dagegen bie chirurgifchen Erörterungen
ſehr lehrreich fein.
Den Krieg von 1866 vorzugsweiſe zum Gegenſtande
hat ein ſcharfkritiſches Werk unter dem Titel:
5. Die Strategen und die Strategie der neueſten Zeit. Kriege⸗
geisiäige Skizzenbuch von Eduard Ruffer. Prag,
atow. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Rgr.
Als Eingang ſagt der Verfaſſer, daß die Strategie
oder Heerführung wol auf den Militärakademien vor⸗
getragen, aber nicht erlernt werden fünne. Wir ſtimmen
ibm darin volllommen bei, geht er wel zu weit,
wenn er behauptet, „es fei unmöglich, jemand zum Heer
führer zu machen, dem die Heerführung nicht ſchon im
feinen früheften Knabenſpielen fi als unwiderftehlicher
Hang, ald geheimnigvolles Drängen feiner innern Eigenart
geltend machte”. Die Beifpiele, die er anführt, Napo—
leon und Alerander, laſſen wir gelten, es gibt deren noch
mehr, aber e8 gibt auch vicle große Feldherren, die als Sena-
ben, einem ganz andern Berufe gewidmet, nicht entfernt
jenen Drang gefühlt Haben. Die Verhältniffe entwidelten
jpäter das Talent, das in ihnen gefchlummert hatte. Vor⸗
handen muß es gemwejen fein, barin geben wir dem Ber«
faſſer volllommen recht, wie in allem, was er über bie
„Belöherren don Gottes Gnaden“ fagt. Sein Skizzen⸗
buch beginnt mit Napoleon’s Feldzügen und hebt dann
Suworow hervor (Hier immer Suwarow genannt), von
bem der Verfaſſer rühmt, daß er durch feine Energie und
durch feine Taktik, bei jedem Angriff immer in Ueber⸗
macht zu fein, fo große Erfolge erzielt habe. Die DMa-
rimen feiner Heerführung hat er einem feiner Vertrauten
dictirt, fie Lauteten: „Nur Offenfive, fchnelle Märſche,
Nahdrud beim Angriff, blanke Waffe, kein Methobil-
angenmaß, volle Tsreiheit dem Obergeneral, den Feind im
Felde aufzuſuchen und zu fchlagen, feine Zeit mit Bela⸗
gerungen verlieren.”
Haben biefe ftrategifchen Grundſätze nicht, mit Ans⸗
nahme der in den Vordergrund geftellten blanfen Waffe,
noch heute volle Geltung, und find fie nicht 1866 von
Militäriſcher Büchertifch.
preußischer Seite angewendet worden? Wir machen hier
gleich unfere militärifchen Lefer auf die vielen eingeftreuten
ftrategifchen Bemerkungen des Berfaffers aufmerkjam, fie
find ebenfo treffend als fcharffinnig und zeugen von hoher
Einfiht in das Weſen bes Kriegs und der wahren Kriege-
funft. Die Kriege unfers Jahrhunderts bis zu dem von
1866 ffizzirt er in Bezug auf die Heerführung nur kurz,
es lag nicht in feiner Abficht, fie eingehend zu analyfiren;
fänger verweilt er bei dem polnifchen Infurrectionskriege,
weil diefer lehrreich beweift, „daß ſehr tüchtige, taftifch
wohlgebildete und felderfahrene Generale mit dem beiten
Material und dem heroifchften Muthe ihrer Streitkräfte
nicht8 auszurichten vermögen, wenn ihnen in fehwierigen
Berhältniffen die ſtrategiſche Conception und Schnellfraft
fehlt”. Die öfterreichifchen Kriege von 1848 und 1849
find noch ausführlicher behandelt, die Feldherren in Un-
garn einer fcharfen Kritik unterworfen. Bon Radetzky
fagt der Berfafler: „Wenn er auch für Defterreih in
damaliger Zeit alles war, fo ift er doch in der Geſchichte
der Strategie nicht epochemachend.“ Bon Haynau heißt
8: „Sein Name war fchon ein ganzes politifch - militäri«
ſches Programm, er bedeutete den fchonungslofen Krieg
bis ans Mefler. Haynau war, abgefehen von feinen
Eigenthiimlichkeiten, ein gar nicht zu verachtender Stra-
tege. Schnell wie böfes Wetter Hinter dem Feinde ber,
wußte er and) größere Combinationen ganz hübſch zu ent-
werfen.” Dem SKrimkriege wibmet das Werk nur eine
kürzere Betrachtung, weil er Fein bejonberes ftrategifches
Intereffe darbietet, indem er eigentlich in einen Belage⸗
rungskrieg ausartete. Dagegen wird daran die politifche
Bemerkung geknüpft, daß niemand daran denken folle,
Rußland zu bekämpfen, wenn er nicht entjchlofjen ift,
Bolen zu befreien. Defterreich, fagt er, babe jegt bie
Formel in der Hand, durch den Föderalismus das Na-
tionalitätSprincip zu paralyfiren, und e8 hänge nur von
ihm ab, in Gongrekpolen wie auf ber Hämushalbinfel
den großen „öfterreichifchen Gedanken’ zu weden und zu
einer furchtbaren Waffenmacht zu geftalten: es fei jeßt,
bei einer gefunden innern Politik, eine beitändige ſtrate⸗
giſche Gefahr für Rußland: „Der Tag, wo Rußland
auf Defterreich flogen wird, rüdt mit verhängnißvoller
Wucht näher und näher heran. Wo find die Strategen
in Wien, die ſchon jest an bie Vorbereitung des Siegs
denfen ?'
Ein größeres Interefie als der Krimkrieg bietet dem
Berfaffer der Srieg von 1859, „weil das, was dort von
öfterreichifcher Seite geſchah, ficd im vergrößerten Maß-
Rabe im legten böhmischen Kriege nur wiederholte”. Er
führt das weiter aus und rügt befonbers, daß die Defter-
reicher Feine Gelegenheit benugt haben, in die Taktik ihrer
Gegner einzudringen. „Napoleon IM. mußte die feinigen
aber gründlich kennen, um jenen Zug feines großen Oheims,
der zum Siege von Marengo führte, an Bermefjenheit
noch zu übertreffen, als er eine Operationsbafis wählte,
die allen ftrategifchen Lehrſätzen ins Geficht ſchlug.“ Den
Feldzug Garibaldi’8 in Süditalien 1860, ſowie den ber
Auftro= Preußen 1864 in Scleswig-Holftein übergeht
das Werk, da fie zwar für den Strategen ganz inter-
eflantes Material bieten, aber doch zu fehr gegen den
1870. 286.
409
fetten ebenfo kurzen als großen Krieg zuriictreten, „welcher
den Namen des Deutjchen Kriegs davongetragen hat, weil
er ein Erztind der deutſchen Bolitif war”. Seit dem
Hubertusburger Frieden ftand er bevor, und ber Berfafler
findet alle Berlufte, die er Defterreich auferlegt hat, nicht
zu theuer, weil er „Defterreih von zwei Vampyren be»
freit hat, von Venedigs zehrendem Befig und der Leichen⸗
umarmung des Deutfchen Bundes”. Diefer Krieg wird
num in firategifcher Beziehung ausführlich), mit dem ſchärf⸗
ften und geiftreichften Urtheil beleuchtet. Der Schilderung
find die Werke der gegenfeitigen Generalftäbe zum Grunde
gelegt, welche kritiſch mebeneinandergeftellt werden, um
fi) zw ergänzen. Seitdem find auch von Baiern und
Sachſen Berichte erfchienen, welche fi durch Offenheit,
Unparteilichleit und Klarheit auszeichnen. Geftütt auf
jene officielen Beröffentlihungen, die ihm überall die
Belege zu feiner unerbittlichen, oft wahrhaft vernichtenden
Kritik Liefern, ftellt der Verfaſſer die Thatſachen, ihre
Beranlaffung und ihren Zufammenhang dar und bedient
fich daber auch der Waffe bittern Humors und fchneiden-
der Satire.
Mas er Über Defterreihs Politit, die Schäden und
Mängel feiner Kriegsverfaffung, die leitenden Kreife in
Wien und bie Heerführung fagt, ift wol das Stärkſte,
was von einen Defterreicher dariiber ausgeſprochen wor⸗
den if. Wir können hier nicht einzelnes aus dem Zu⸗
fammenhang reißen, nur ein paar Heine Proben wollen
wir geben:
Der technifche Ausdrud für unfer paſſives Verhalten lau⸗
tete damals, man müſſe die Preußen bereinloden: ein Syſtem,
das fich trefflich bewährte, denn die Preußen waren in ber
That jo unvorfiätig, fi bis Wien und Presburg loden zu
laffen. Hr. von Henifftein und Conforten fpielten dieſen leicht»
finnigen Blauröcken gegenüber geradezu den Rattenfänger von
Hameln. Die hätten fi, wenn man nicht Frieden mit ihnen
gemacht, wol noch bis an die türkiſche Grenze locken laſſen.
Und über „das in feiner Art unerhörte” Telegramm
vor der Schlacht von Königgräg, das den Kaifer drin-
gend bat, um jeden Preis Frieden zu ſchließen, weil eine
Kataftrophe für die Armee unvermeidlich, fagt er:
Wie weit mußte der Feldherr Benedek ſchon an feiner
Aufgabe irre geworben fein, um an feinen Kriegsherrn eine
ſolche Bitte zu richten? Wo ift der Held Rüſtow's, der bei
Solferino feinen Kaifer beinahe zum Siege gezwungen bätte?
Die Militärveclame war zu Ende, der ſtrenge Dann des Heinen
Dienftes erſchrak vor der. ihm obliegenden geiftigen Rieſenauf⸗
gabe bis zum, fagen wir e8 offen heraus, bis zum Kindiſch⸗
werden.
Der Berfaffer geht bei feiner fcharfen Kritit, wie er
zum Schluß feiner Schrift fagt, von dem aufrichtigen
Beftreben aus, auf eine Reform des öfterreichifchen Heer-
weſens im Geifte des Erzherzogs Karl hinzuwirken, darum
bat er die neuefte Strategie „draſtiſch“ vorgeführt. Die
Reform ift im vollen Gange; ob aber jener Geift über ben
Waſſern ſchwebt, ift die Frage.
6. Der Krieg in Neufeeland. Bon Guſtav Droege Mit
einer Keingsfarte, Bremen, Kühtmanu und Comp. 1869.
gr.
Seit zwölf Jahren ift auf der Inſel Neufeeland ein
Krieg zwifchen den’Eingeborenen, die fih Maoris nennen,
b2
410 Militärifcher
und den engliſchen Coloniſten entbrannt, über welchen
die enropäifchen Zeitungen periodiſch abgeriffene Berichte
gebracht Haben. Dieſe find, wie der Verfaſſer mit Recht
fagt, parteiifch, weil fie nur aus englifchen Quellen ge⸗
schöpft find. Er bat es daher unternommen, etwas mehr
Licht über die dortigen Verhältniſſe zu verbreiten, und ift
dazu durch einen langjährigen Aufenthalt in Neufeeland
und den benachbarten auftralifchen Colonien wohlbefähigt.
„Fuür Nenfeeland”, fagt er, „mit feinen romantifchen Land»
Schaften, feinen hohen mit ewigem Schnee bebedten Ge⸗
birgsfetten, feinen Lieblichen Tälern, feinen vielen feuer-
fpeienden Bergen, feinen malerifchen Landfeen, und vor
allem mit feiner geiftig und phyſiſch jo hochbegabten ein-
geborenen Kaffe, fühlte ich von jeher eine befondere Bor-
liebe.’
Neuſeeland wurde 1642 entbedt, aber erft 1769 von
Cook genauer erforfcht, und fpäter von Sidney aus durd)
entlafjene Verbrecher und zahlreiche Abenteurer colontfirt.
Diefe Menfchen wurben von den Maoris freundlich auf
genommen, bald aber hallte die ganze Inſelgruppe von
ihren Schandthaten wider, Es war als ob der ganze
Auswurf der Berworfenheit und des Laſters hier den
Eulminationspunft erreicht hätte. Die inzwifchen nad)»
gefommenen Miffionare fahen mit Entfegen die täglichen
Borgänge und mußten Fein befieres Schugmittel dagegen,
als foviel als möglich das Zufammenleben ber Weißen
und Maorid zu verhindern. Sie fagten den letztern,
unter denen die Belehrung fo raſche Fortjchritte machte
wie ſouſt nie und nirgends, daß fie fo viel beffere Dien-
fchen ſeien als die Weißen und mit ihnen unter feiner
Bedingung Gemeinfhaft pflegen müßten: eine Lehre,
welche den Nationalftolz der Eingeborenen wedte und viel
zu der Erbitterung des fpätern Raſſenkampfes beigetragen
hat. Die Difftonare forderten dann die englifche Regie»
rung auf, bie nenfeeländifche Infelgruppe dem Colonial-
befig der englifchen Krone einzuverleiben. Dies gefchah
1842 durch einen Bertrag mit einer fogenannten Föde⸗
ration von Hänptlingen, welche, ohne dazu von ihren
Stämmen bevollmädtigt zu fein und nur im geringften
zn begreifen, um was es fich handelte, die Souveränetät
ihres Landes der britifchen Krone cedirten. Seitdem
firömte eine große Menge von Auswanderern dorthin
und begann die lange Reihe der Landberaubungen dur)
Lift und ſchnöde Verhöhnnng alles Rechts, welche bald
zu Blutvergiegen und Greuelthaten und enblih, als die
Maoris fi einen König gewählt und bie Briefter einer
neuen Religion, bie unter ihnen ſich fchnell verbreitete,
fie zum wildeften Fanatismus aufgeftachelt hatten, zum
offenen Kriege führte. England ſchickte nach und nad)
16000 Mann feiner beften Truppen und feche Kriegs⸗
Büchertiſch.
ſchiffe dorthin, und es iſt ihm bis auf den heutigen Tag,
wenn es auch den Krieg für beendigt erklärt hat, nicht
gelungen, die Maoris vollſtändig zu unterwerfen, Die
ungünftigen Berichte, welche die Zeitungen bald wieder
brachten, nachdem England feine Truppen bis auf zwei
Regimenter (d. h. Bataillone) zurüdgezogen und der Co-
lonie erklärt hatte, daß fie fortan auf keine militärifche
Unterftügung vom Mutterlande mehr zu rechnen habe,
fowie die jüngfte Nachricht, daß Unterhandlungen mit
dem Könige der Maoris zur Begründung friedlicher Ber
hältniffe angelmüpft worden, beweifen, daß legtere nod)
nicht eingetreten find,
Dean wird der Heinen tapfern Nation feine Achtung
für ihren Kampf nicht verfagen, wenn man erfährt, daß
fie, die im Erlöfchen begriffen ift, kaum noch 45000 Sees»
len zählt. Der Berfafler hat nad) feiner Berficherung
den Krieg ganz unparteiifch gefchildert, obgleich er ftir
die Eingeborenen, denen fo empörendes Unrecht gejchehen
ift, Sympathien bat; in der That verfchweigt er aud)
die Orenelthaten nicht, deren fie ſich, fanatifirt durch die
Priefter ihrer neuen Religion, einer Mifchung hriftlicher,
mofaifcher und budöhiftifcher Lehren, ſchuldig gemacht
baden. Zum Schluß feines Buchs fpricht er die Hoffe
nımg aus, der Weg werde nod gefunden werden, bie An«
ſiedler zu ſchützen, ohne die urjprünglichen Beſitzer dieſer
herrlichen Inſeln auszurotten.
Mehrere Werke über Waffenkunde, welche uns zu
gegangen find, können wir hier nicht eingehend befprechen,
weil dies den Fachjournalen überlaſſen bleiben muß. Wir
begnügen uns, ihre Titel für unfere militärischen Lefer
zu noliren:
7. Die Kriegswaffen in ihrer biftorifchen Entwidelung von ber
Steinzeit bis zur Erfindung des Biindnavelgeweßre. Ein
Handbuch der Waffenkunde von Auguft Demmin. Mit
circa 2000 Illuſtrationen. Leipzig, Seemann. 1869. 8.
3 Thlr. 6 Nor.
8. Kriegsfeuerwaffen. Praktiſche Studie über die Hinterladungs⸗
ewebre, die Kugeliprige und ihre Munition. Bon €. 3.
oda 6 Mit Genehmigung des Berfaflers aus dem Fran⸗
zöſiſchen überſetzt von Oden. Kaffel, C. Ludhardt. 1869.
Or. 8. 2 Thlr. 10 Ngr.
9. Geſchichte der Waffen. Nachgewieſen und erläutert durch
die Eulturentwidelung der Boͤller und Beſchreibung ihrer
Waffen aus allen Zeiten von F. A. K. von Spedt. Kaffe,
C. Luchhardt. 1869. Sr. 8. Im Lieferungen zu 1 Tilr.
Wir machen befonders auf das lettere Werk aufmerlk⸗
fam, das fich eine umfafjende Aufgabe, von böhern Ge⸗
fihtspunkten ausgehend, geftellt hat und daher auch für
allgemeine Kreife von Intereſſe fein dürfte.
Karl Guſtav von Berned.
— — — — ————— — —
Aeltere deutſche Literatur. 411
Aeltere dentſche Literatur.
1. Deutsche Classiker des Mittelalters. Mit Wort- und Sach-
erklärungen. Begründet von Franz Pfeiffer. Siebenter
und achterBand: Gottfried’s vonStrassburg Tristan.
Herausgegeben von Reinhold Bechstein. Zwei Theile.
Leipzig, Brockhaus. 1869. 8. Jeder Band 1 Thir.
2. Deutſche Dichter des 17. Jahrhunderts. Mit Einleitungen
und Anmerkungen. Herausgegeben von Karl Goedeke und
Zulins Tittmann. Erſter Band: Ausgewählte Dich⸗
tungen von Martin Opit, herausgegeben von Julius
Zittimann. Zweiter Band: Gedichte von Paul Fleming.
Herausgegeben von Julius Tittmann. Dritter Band:
Sinngedichte von Friedrih von Togan. Herausgegeben
von Önftav Eitner. Leipzig, Brodhaus. 186970. 8.
Seder Band 1 Thrl.
Die Publication der erften der beiden Sammlungen ift
in d. Bl. fchon öfters befprochen worden. An Walther von
der Vogelweide, ihrem in jeder Hinficht würdigen Schuß»
patron und Bahnbrecher, reihten ſich bisher die „Nibelnn-
gen“, Kudrun“, Hartınann von Aue. Mit Gottfried’8 von
Strasburg „Triftan” und dem in nächſte Ausficht geftellten
„Barzival” und „Titurel“ Wolfram’s von Eſchenbach, fowie
einem Bande „Erzählungen und Schwänfe” wäre der ur«
ſprünglich von dem verewigten Begründer bes Unternehmeng,
Franz Pfeiffer, vorgezeichnete Rahmen ausgefüllt. Doch liegt
bei der bisherigen großen Theilnahme, welche daſſelbe gefun⸗
den, die Erwartung nahe, daß man ſich nicht innerhalb dieſer
Grenzen halten werde. Vor ſeinem Beginnen mochte es
gerathen ſein, ſie ſo enge zu ziehen. Da ſich aber durch
unwiderlegliche Zahlen herausgeſtellt hat, daß es im
eminenten Sinne zeitgemäß war, fo wäre das, was ur⸗
ſprünglich als eine verftändige Selbftbefchränfung gelten
konnte, jegt nur noch ein pedantijcher Eigenſinn. 1864
erjchien Franz Pfeiffer's erfte Ausgabe Walther's, heute
Tiegt eine dritte vor, von Karl Bartfch bejorgt, im weſent⸗
lichen natürlich noch das Werk des erften Herausgebers
bemwahrend, wiewol im einzelnen felbftändig fortgebildet.
Bon den „Nibelungen“ und der „Kubrun“, beide von
Bartſch Herausgegeben, gibt e8 auch fchon je eine zweite
Auflage, und daß Hartmann von Aue bisher nur eine
einzige erlebt bat, erklärt fi) weder durch die geringere
Theilnahme bes Publilums noch durch das geringere Ver⸗
dienſt bes Herausgebers, Fedor Bech, fondern nur durch
Das langſamere Erjcheinen diefer bisher umfänglichften Pu-
biication, deren drei relativ ftarfe Bünde von 1867 —69
ausgegeben worden find. Ohne Zweifel werden die näch⸗
ſten Yahre auch Hier die unverminderte Nachfrage durch
nene Auflagen darthun *), wie man es aud) ohne alle Pro-
phetengabe für die allerlegte Publication, die zwei Bände
von „Triſtan“, vorausfagen kann.
Der das urfprünglihe Programm Franz Pfeiffer’s
jet einmal wieder nad Ablauf von mehr als ſechs Jahren
durchlieſt, und ſich erinnert, welche Bedenken damals da-
gegen von feiten mancher um bie Wiſſenſchaft hochverdien-
ten Männer Laut geworden find, wird jett mit leichter
Mühe ein abgeflärtes Urtheil über die Gegenfüge, die
einſtmals recht fchroff aneinanderftiegen, auszuſprechen
vermögen. Es iſt nicht zu leugnen, Pfeiffer hatte die
Bebürfnigfrage, deren Löfung er auf bem von ihm ein«
* Bine zweite Auflage des „Erec” ift bereits unter ber Preſſe. D. Red,
geichlagenen Wege anftrebte, mit einer gewiſſen herben
Einfeitigkeit, nicht ohne einen Anflug von Trankhafter
Ditterfeit, einfeitig auf die Spite getrieben. Dente, nach⸗
dem ein allzu früher Tod ben hochverdienten Dann hin⸗
weggerafft bat, weiß e8 ober könnte es jedermann wiſſen,
dag ein gutes Theil davon nur auf Rechnung eines ver⸗
bängnißvollen körperlichen Leidens zu fetten und der dadurch
beherrichten Stimmung der Seele und des Gemüths zu⸗
zufchreiben war, alfo keineswegs fo hart und fchroff zu
perftehen ift, wie bie Worte klingen. Die Xheilnahm-
loſigkeit des Publikums gegen die germaniftifchen Studien,
ihre Iſolirung und infolge defien ihre Berfnöcherung wa-
ren ihm zu einer Art von Schredgefpenft geworben, das
ihn fortwährend verfolgte Er vermifchte, eben infolge
des finftern Schleierö, der fich immer feindfeliger über
feine einft fo frifche und freudige Seele legte, allerlei
objectiv wohlbegrünbete Wahrnehmungen mit fubjectiven
Wünſchen und Befürchtungen, und geftaltete ſich daran
ein Phantom, über welches feine Gegner es leicht hatten
zu lachen, während es doch im Grunde nur ein rührendes
Zeugniß von der ernften und tiefen Irene des Gemüths ge
wefen ift, mit welcher er — nicht blos, wie fo viele in der
Gegenwart, mit dem fühlen und nüchternen Kopfe — feiner
Wiffenfchaft bis zu feinem Ketten Athemzuge ergeben blieb.
Denn ohne Zweifel war es richtig, daß jene durd-
fhlagende Wirkung der altdentfchen —E*— und jene
begeiſterte Theilnahme weiter Kreiſe nicht eingetreten war,
auf die 3. B. von der Hagen im Jahre 1819 in fei-
nem befannten Buche „Die Nibelungen, ihre Bebeutung
für die Gegenwart und fir immer“, mit großartiger
Sicherheit zählte. Die altdeutjche Literatur hat ſich höch⸗
ſtens in Ueberjegungen einiger ihrer Hauptwerle ein be«
ſcheidenes Plätchen neben der breiten Maſſe, bie, von
allen Seiten herangefchwenmt, den Markt und den Ge-
ſchmack in Deutfchland beherrjcht, fichern können, und fie
wird in ihn mehr geduldet als begünftigt. Auch hat fie
weder Homer noch auch nur Birgil aus den Schulen zu
drängen vermodt und wird und foll e8 and) niemals
vermögen. Wer alfo fi von jenen erften hochfliegenden
Hoffnungen nicht trennen wollte, der konnte mit Recht
über ihr gänzliches Fehlſchlagen fich befümmern, und es
Scheint faft ala fei Pfeiffer, ohne e8 beftimmt auszufprechen,
für fi immer in biefem alle geweſen, indem er das,
was ihm ans Gemüth gewachfen war, auch fiir etwas
hielt, das allen mit Fug und Recht ebenfo and Gemüth
gewachſen fein ſollte. Aber ftatt jener geftaltlofen, wenn
auch bunt ſchillernden Phantafte Hatte ſich etwas Unfchein-
bareres, doc um fo Gehaltvolleres und Lebeuskräftigeres
beraudgebildet, eine firenge eracte Wiflenfchaft, eine deut⸗
ſche Philologie, welche felbft wieder, wie jeder Unbefangene
anerkennen muß, die LTehrmeifterin mancher viel älterer
Schweftern und die Erzeugerin anderer ganz neuer Zweige
ber wiflenfchaftlichen Tchätigkeit geworben if. Davon fah
man 1819 nod feine Spur, und wäre der Weg weiter
verfolgt worden, der damals als der allein heilfame ge⸗
priefen wurde, fo wäre ſie auch fpäter niemals entftanden.
Selbftverftändlih aber brachte e8 der firenge Bann ber
Methodik einer wirklichen Wiffenfchaft mit fi, daß fie
52 *
412 Aeltere deutſche Literatur.
zünftig wurde, d. h. daß fie bie ganze Kraft bes Geiftes
und der Thätigkeit des einzelnen, der ſich ihr Bingab,
beanfpruchte. Wer eine Frucht von ihr genießen wollte,
der mußte fi) auch zu der ſauern Arbeit des Pflügens
und Säens verftehen, und die Arbeit wurde hier um fo
mühfeliger, als das Feld noch einen wahren Neubruch
darftellte, einen Urwald voll Geftrüppe und Gefchlinge, der
felbft dann, wenn er in Fruchtboden verwandelt worden
war, in genug fiehen gebliebenen Strunfen und Storren
feine urfprüngliche Natur deutlich kundgab. Weußere
Neizmittel, um zahlreihe Hände zu feiner Bewältigung
heranzuziehen, fehlten Hier gänzlich. Entweder vornehm
ablehnendes Ignoriren, oder dünkelhaft fpöttifches Herab⸗
fehen war die gewöhnliche Stimmung, die außerhalb Herrjchte,
wenn es galt, die Bedeutung und Berechtigung dieſes
neuen Stubdienkreifes theoretiſch und praktiſch zu firiren.
Sp Tonnten e8 nur wenige, aber durchaus nur berufene,
in felbftlofee Hingebung arbeitende Hände fein, die fich
feiner annahmen. Allmählich find durch ihr Verdienſt
und ihre Zähigfeit die meiften jener Außeru Sinderniffe
befiegt, und es ift wenigftens an Schule und Univerfität
und ebenfo auf dem Literarifchen Markt die Berechtigung
der Germaniftit nicht mehr in Frage geftellt. Bon bie
fem Standpunft aus gefehen, kann aud ihr. eifrigfter
Bertreter nur zufrieden mit ihren bisherigen Erfolgen
und ihrer gegenwärtigen Stellung fein. Daß fie nad)
allen Seiten hin einer weitern Berbefjerung fähig ifl, ver⸗
ſteht fih von felbft, und an irgendeine Art von Stilftand
ift bier, wie einfach ſchon jeder Meßlatalog zeigt, we⸗
niger als in irgendeinem anbern Fache, das mit annähernd
gleicher Kraft betrieben wird, zu denlen.
Ein wirklicher Fortſchritt ift es num auch geweſen,
als Pfeiffer verjuchte, die Ergebniffe ber fireng zunft-
mäßigen Gelehrfamfeit einem weitern Kreiſe von Gebil-
beten zugänglich zu machen. Seine „Dentſchen Claſſiker
des Mittelalters” follten fi an diejenigen wiſſenſchaftlich
gebildeten Leſer adreffiren, denen es zu ihrer eigenen
Törderung oder für ihre auf ein anderes Fach gerichteten
Studien darauf anlommen mußte, die authentiſche Geftalt
unferer wichtigften ältern Literaturdentmäler fo weit felb-
ftändig zu benugen, ald man dies ohne Fachmann zu fein
vermag. Es follte aljo vor allem eine Brüde zu den
zahlreihen Hiftorifern und Literarhiſtorikern geichlagen
werden, die täglich mehr das Bedürfniß, fi) eingehend
von unjerm Altertfum zu unterrichten, empfanden, und
bie e8 doch mit den bisherigen Hilfsmitteln, die natur-
gemäß von Zunftgenofjen für Zunftgenofien gemacht find,
nicht recht Tonnten. Infofern Können die „Deutſchen Elaf-
filer des Mittelalters” alfo nicht direct die Anforderungen,
die dieſe an eine für fie beftimmte Herausgabe eines alt«
deutſchen Sprachdenkmals ftellen, erfüllen, aber wie das
bisher Geleiftete gezeigt Hat, find fie neben ihrem Haupt-
zwed doc auch im Stande, einen werthvollen Beitrag zu
der Tertesreftauration und Erflärung für die zunftmäßige
Wiſſenſchaft zu liefern, nur nicht gerade in den Formen,
welche diefe herfümmlich dafür zu gebrauchen pflegt. Kein
Tachgenoffe kann, falls er fich nicht lächerlich machen will,
jene „populären“ gelben Bändchen ignoriren, die für alle
darin eingefchlojienen Autoren die neuefte Bhafe der ftreng
wifienfchaftlihen Durcharbeitung repräfentiren.
Was ſür die Vorgänger gilt, gilt auch für Bechſtein's
„Triſtan“. Es ift jedenfalls diejenige Ausgabe, nad) welcher
auch der eingefleifchtefte Bachmann zuerft greifen wird,
wenn er im einzelnen oder im ganzen fi in felbftändiger
Forſchung mit diefem Gegenftande befchäftigt. Freilich ift
damit nicht gefagt, daß er jedem bier auf Grund um«
faflender Neudurcharbeitung des handfchriftlichen Materials
recipirten Verſe oder jeder Wortgeftalt unbedingt beipflichten
ober die fprachlihen und fachlichen Erlänterungen des
Herausgebers überall als zutreffend anerkennen wird. In
der einen wie in der andern Beziehung wird jeder, und
Referent nicht am wenigften, in jehr vielen und relativ
ſehr wichtigen Punkten fich feine felbftändige, von der des
Herausgebers abweichende Anſicht wahren, worauf jedoch
bier begreiflich nicht eingegangen werden Tann, Denn jo
fanften Fluſſes Gottfrieb’8 Verſe und fcheinbar aud) feine
Gedanken dabingleiten, jo häufig man fie auch einer auf⸗
gereihten Schnur an Farbe und Größe zum Bermwechjeln
ähnlicher Perlen verglichen Hat, fo viel verborgene Spiten
und Haken eines nicht blos originellen, fondern, wie es
vielleicht weniger zugegeben werden dürfte, überfeinen und
verzärtelten Empfindens und Fühlens enthalten fie doch.
Die Poeſie des abendländifchen Mittelalters bietet dazu
fein völliges Gegenftüd, und wir müßten bis in unfere
modernfte Literarifche Phaſe berabfteigen, wenn wir ein
ſolches finden wollten. Außerhalb des Kreiſes der abend-
ländifchen Welt finden fi) namentlich in der gleichzeitigen
perfifchen Lyrik überrafchend ähnliche Stimmungen und
daraus geborene Geftaltungen, wobei wol nicht ausdrück⸗
lid) gefagt zu werben braudt, daß am irgendeine Art
von Außerm Zujammenhang gar nicht gedacht werden
fann, Aber c8 wäre nicht ohne Werth für die tiefere
Erfaffung der Eulturgefhichte, wenn man ben innern
Zufammenhängen oder vielmehr den innerlid verwandten
und doch wieder nicht blos ränmlid und ethuographifch
fo eigenartigen Seelenſtimmungen emimenter poetiſcher
Talente, die zeitlich ungefähr zufammengehören, nach⸗
geben mollte.
Keine Frage, daß eine ſolche verfchlungene Subjecti=
pität, ein folches bis in die feinften Nervenfpigen feines
aparten Gefühlsraffinements bewußtes Wefen jeder andern
Subjectivität immer ald etwas anderes erfcheinen muß,
und darum ift hier, wenn man nicht mit dem Dünkel
bes unfehlbaren Pedanten herantritt, in unzähligen Fällen
nicht blos die Möglichkeit einer verfchiedenen Erflärung
zuzugeben, fondern auch, daß mehr als eine davon ebenfo
rihtig wie die andere fein kann. Der neuefte Heraus
geber jcheint dies gerade fo, wie wir e8 hier ausfprechen,
auch empfunden zu Haben. Wir fchliegen e8 aus dem
Umftande, daß er Häufig mehrere Erklärungen einer Stelle
nebeneinanberreiht, häufig anch die eine oder die andere
oder alle zufammen mit einem Tragezeichen begleitet, wol
um das anzudeuten, was eben von uns ausgeführt wurde.
Denn dies ift doch noch etwas anderes, ald was man
von jedem echt poetifchen Gedanken oder Worte, ja genau
bejehen, von jedem echten Gedanken behaupten Tann, näm⸗
ih daß er unerſchöpflich und niemals völlig ausſprechbar,
infofern alfo auch niemals ganz durch eine, wenn aud)
nod fo gründliche Paraphraje oder Erklärung zu bewäl«
tigen fei. Lerifon und Grammatik aber, überhaupt dag
Aeltere deutſche Literatur. 4138
bloße gelehrte Wiſſen wird verhältnigmäßig für Gottfried’s
Berftändniß weniger in Anſpruch genommen als für je-
den andern feiner Fünftlerifchen Zeitgenoffen. Während
z. B. Wolfram meift — aber nicht ausſchließlich — des⸗
halb jo ſchwer verftändfich fir uns ift, weil er aus der
unmeßbaren Ziefe einer Sprache fchöpft, die wir fonft
nur nad) ihrer geglätteten Oberfläche kennen, verſchmäht
Gottfried alle folche Mittel zu befonderer Wirkung. Sein
Sprachmaterial ift jo ganz plan unb gemeingültig, daß
es als folches eigentlich von jedem, der nur einige Vor⸗
ſtellung von den äußern Sormunterfchieden zwifchen der
Sprache bes 13. und der des 19. Yahrhunderts befigt,
ohne alle weitern Hülfsmittel erfannt, aber freilich noch
nicht verftanden werden kann. Auch in der äußern
Scenerie der Begebenheiten, in dem Zufchnitt der Cha⸗
raltere und Situationen ift, abgefehen von der Fabel jelbft,
die der Dichter aber nicht erfunden hat, fondern als eine
fertige hinnimmt, nichts oder fo viel wie nichts, was einer
befondern Berbeutlihung und Annäherung an unfere
Degriffe, Denkweife und Zuftände bedürftig fcheint, und
infofern hat eim Erflärer auch in dem fachlichen Theile
ein unendlich leichteres Geſchäft als wieder bei Wolfram,
ben man doch mit Recht, wie e8 ja Gottfried ſelbſt un-
übertrefflich geiftvoll gethan, al8 feinen felbftverftändlichen
Segenfap immer ihm entgegenzuftellen verfucht if. Und
doch kehrt fich bei tieferm Eindringen aud; da das Ver⸗
hältnig um. Befäßen wir ober könnten wir in den Be-
fig des dazu nöthigen Apparat an cultur- und fitten-
geichichtlichen Notizen gelangen, fo würben fi Wolfram’s
ſachliche Dunkelheiten meift ebenſo zerftreuen laſſen wie
ſeine ſprachlichen; je weiter wir aber bei Gottfried in den
Kern der Thatſachen eindringen, deſto ſchwieriger wird es,
fie zu verſtehen, weil ſie auf der Grundlage eines in ſeinem
Kerne ſo ganz unfaßbaren, ebenſo reichen wie abſonder⸗
lichen Geiſteslebens ruhen.
Neben ben „Claſſikern des deutſchen Mittelalters“ ſchrei⸗
tet nun auch die dritte der vier gleichzeitig und im ganzen
nach gleichem Plane angelegten Sammlungen, die „Deut⸗
Then Dichter des 17. Yahrhunderts”, rüftig fort und hat
es innerhalb zweier Fahre ſchon zu drei Bänden gebradit,
die an ber Spite diefes Artikels genannt worden find.
Es fcheint, als wenn ſich auch für diefen wenig begün⸗
fligten Abfchnitt unferer Literatur doch eine größere Theil»
nahme findet, ald man bisher vorausſetzte. Hier hat die
firenge Zunftgelehrfamfeit noch fehr wenig vorgearbeitet;
kaum daß die eracte Kiterargefchichtliche Forſchung, die
etwas anderes ald die gewöhnliche Literargefchichtfchreibung
ift, hier und da einmal, nicht ohne gewifje Referven und
Entfchuldigungen ob des wenig anmuthenden Gegenftandes,
ihn von der Seite her geftreift hat. Nur für einen der
bier aufgenommenen Dichter, für Paul Fleming, hat Lap⸗
penberg in feiner gewöhnlichen gründlichen und zuver⸗
Täffigen Art durch Ausgabe und Commentar Muſter⸗
gültiges geleiftet, für Opitz ift e8 biöher nur bei ber
bloßen Abficht und einigen vorläufigen Anfägen geblieben,
und Logau war noch ganz vernadhläffig. Denn mas
auf Leifing’8 Anregung Ramler einft für ihn gethan,
darf fiir die Gegenwart als unbrauchbar bezeichnet wer:
den, fo verdienſtlich e8 auch damals war, eine fo ganz
pergefiene und doch fo bedeutende Geftalt unferer Literatur
förmlich) wieder entdedt zu haben. Form und Gehalt
diefer Literaturperiode find aber dennoch nicht fo gering,
als daß manche ihrer Erzeugniffe nicht aud) an fi, und
nicht blos im Zuſammenhang ber ganzen deutſchen lite-
rarifhen Entwidelung als ein zu ihrem Berftändniß
nothwendiges hiftorifches Hülfsmittel, eine gewiſſe Bedeu⸗
tung beanfpruchen dürften.
Dies gilt freilich am wenigften von Opig, dem man
nur gerecht werben fan, wenn man ihn ganz und gar
in 2iteratur- oder ulturgefchichte auflöfl. Denn ab
gejehen von einigen kleinern lyriſchen Producten, in denen
er aber auch nicht originell, fondern nur ein gefchidter
Uneigner fremden, ſei es volfsthümlich dentfchen oder
franzöfifchen Gutes gemwefen ift, hat er, wie man wol, ohne
MWiderfpruch zu gewärtigen, behaupten darf, aud nicht
eine Zeile gebichtet oder gefchrieben, bie, fo wie fte dafteht,
noch jegt unmittelbar wirkt und der Phantafle und dem
Gemüth die Befriedigung gibt, die aus jedem echten
Dichterwort herausftrömt, auch wo e8 durch die befondere
Umbüllung feiner Zeit oder feines Erzeugers nicht am ſich
durch und durch verſtändlich ober faßbar für den fpätern
Lefer if. Daher möchten wir, fobald fich, wie zu Hoffen
fteht, die Beranlaffung zu einer zweiten Bearbeitung
diefer vorliegenden Ausgabe ergibt, den Wunfd aus»
ſprechen, daß dieſelbe noch in durchfchlagenderer Weife
als die erfte fozufagen blos literargeſchichtlich behandelt
werde. Die ausführliche Einleitung des verdienftvollen
Herausgebers deutet zwar alle die mefentlichen Geſichts⸗
punkte an, aus welchen es ſich erklärt, daß ein an fid) fo
unproductives und innerlich unpoetifches Talent‘, wie es
Opig war, jene in ihrer Art fo einzige Wichtigkeit für
die geſammte deutfche Literatur erlangen konnte, die ihm
heute fein vorurtheilefreier Kenner derfelben mehr beftreitet.
Dod würden ſich biefe Andeutungen zum Nuten der
Lefer ohne große Mühe viel weiter ausführen und, was
und die Hauptfache fcheint, aud) in greifbarere Beziehung
zu den gleichſam nur als Belege zu benugenden Driginal«
productionen des Mannes fesen lafjen, woburd auch dieſe
erſt in die rechte ihnen gebührende Beleuchtung gerüdt
würden. Wer felbft ſchon eine etwas tiefere Kenntniß des
innern Lebens unferer damaligen Literatur und des gan«
zen deutfchen Volksgeiſtes befitt, bedarf folder Hülfs-
mittel zwar nicht, aber auf die Heine Zahl ſolcher ift diefe
Sammlung fo wenig berechnet, wie die analoge der „Deut⸗
Shen Claſſiker des Mittelalters‘ auf die drei oder bier
Dugend literarifch oder dom Katheder thätiger beutfcher
Philologen. Und da, fo fonderbar es auch Hingen mag,
ed doch feftfteht, daß dem Durchichnitt der heutigen wiſſen⸗
Ihaftlih, aber nicht fachmäßig Gebildeten das 12. und
13. Jahrhundert im ganzen und großen doch durchſichti⸗
ger und befannter find als die Epoche vor und um den
Dreißigjährigen Krieg — unbefchadet deffen, daß ſie un⸗
zweifelhaft mehr einzelne Notizen, Namen und Zahlen
aus der Zeit des 17. Jahrhunderts im Gedächtniß tragen
als aus dem 12. und 13. Jahrhundert —, fo liegt darin
aud) noch eine weitere Verſtärkung des von uns oben vor⸗
getragegen Wunſches. Bei Fleming dagegen, der minde-
ftend in einigen feiner geiftlichen Lieder noch bis heute
lebendig geblieben ift, und bei Logan, deſſen biedere Ver⸗
ftändigfeit und ſchlichte Herzensgüte auf ein deutſches
416
Unze
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Bollffändig erfhien foeben:
Dolltändiges Bibelwerk für die Gemeinde.
In drei Abtheilungen.
Bon Ehriftian Carl Yofias Bunſen.
Neun Bände 8.
Geheftet 20 Thlr., mit Bibelatlas 21 Thlr.
Gebunden 23 Thlr., mit Bibelatlas 24 Thlr.
Erfte Abtheilung: Die Bibel oder die Schriften des Alten und
Neuen Bundes nah den Überlieferten Grundterten überſetzt
und für die Gemeinde erflärt. Sm vier Theilen. Geheftet
10 Thlr. Gebunden 11 Thlr. 10 Ngr.
Zweite Abtheilung: Bibelurfunden. Geſchichte der Bücher und
Serflellung der urkundlihen Vibelterte. In vier Theilen.
Geheftet 8 Thlr. 10 Ngr. Gebunden 9 Thlr. 20 Nor.
Dritte Abtheilung: Bibelgefchichte. Das ewige Reich Gottes
und das Leben Jeſu. Herausgegeben von Heinrih Ju⸗
lius Solgmann. In einem Bande. Geheftet 1 Thlr.
20 Ngr. Gebunden 2 Thlr.
Bibelatiad von Henry Lange (10 Karten). Eartonnirt 1 Thlr.
Das berühmte Werk liegt jetzt vollendet vor und ift voll»
ſtändig auf einmal, geheftet und gebunden, oder nad und nad)
in neun Bänden ober 18 Halbbänden, oder in drei Abtheilun-
gen (die andy einzeln abgegeben werben) zu beziehen.
Der verewigte Berfaffer hatte es fi) zur Lebensaufgabe ge-
macht: dem deutihen Bolke das Bud der Büder
wirklich zugänglich zu maden, demfelben die weſentlichen
Ergebniffe der biblifchen Wiſſenſchaft in allgemein verftändlicher
Darſtellung mitzutheilen.
Die Ueberſetzung iſt eine fireng getreue Wiedergabe des
Bibeltertes in der allgemein verfländlihen Mufterfpradhe Lu⸗
ther'e, aber mit Berbefferung der anerfannten vielfachen Män⸗
gef feiner Meberfegung. Die Erklärung der Bibel (in An-
merkungen unter dem Zexte) bildet eine fortlaufende Erläuterung
fowol der Gedanken als der Thatfachen des Bibeltertes. Außer-
dem enthält das Werk eine zufammenbhängende geſchichtliche
Darftellung und Erklärung, fowie eine weltgefhidt-
lihe Betrachtung der Bibel nebft einem Leben Jeſun.
Nah dem Tode des Berfaffers wurde das Werk mit Be-
nutung feiner Borarbeiten von Prof. Kamphauſen in Bonn
und Brof. Holtzmann in Heidelberg fortgeſetzt und vollendet.
Bunfen’s Bibelmerk, das ſchon während feines allmählichen
Erſcheinens eine weite Verbreitung gefunden bat, ift troß ein-
zelner Anfeindungen von Tatholifher und orthodorer proteftanti-
ſcher Seite allgemein als ein höchſt bedeutendes Unternehmen
anerfarıt worden, da8 bie vollfte Beachtung nicht nur
der theologifhen Welt, fondern der weiteften Kreife
des dbeutfhen Volks verdient.
Als Separatabdrud ans bem Werke erfchien:
Das Neue Teftament. Nach dem überlieferten Grund»
terte überfegt von Chriftian Carl Yofias Bun-
fen. Herausgegeben von Heinrih Julius Holk-
mann. 8. Geheftet 15 Ngr. Gebunden in Lein-
wand 24 Ngr., in Leder mit Goldſchnitt 1 Thlr.
Diefe Ausgabe des Neuen Teftaments wird nicht nur allen
Freunden Bunken’s willfommen fein, fondern auch zahlreichen
weitern reifen, welche fein Bibelwert noch nicht kennen.
Selbfiverftändlich ift es nicht die Abficht, durch diefe Ausgabe
die im deutſchen Volke mit Recht eingeblirgerte Luther'ſche
Ueberfegung verdrängen zu wollen. Aber gewiß wird fie
auch neben diefer allen willfommen fein, welde das Neue
Teftament in einer dem jegigen Stande der Wiflenfchaft ents
fprehenden Ueberfegung leſen wollen.
Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brodihaus. —
Anzeigen.
igenm.
Deutfche Allgemeine Zeitung.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Die Deutſche Allgemeine Zeitung ift ein entſchie⸗
ben Liberaleö und nationales, nah allen Seiten
nnabhängiges Degen und gehört zu den verbreitet:
ten Blättern in Mitteldentfhland. Sie hat zahl:
reihe DOriginalcorrefpondenzen und Depefden, ein
reihhaltiged Yentlleton und Driginaimittheilungen übe
gandet und Induſtrie. Außer dem Norddeutfde
unde, Süddentſchland und Defterreid widmet
namentlich den Uugelegenheiten Mitteldentfhlauds u
ſpeciell Sachſens eine beiondere Anfmerkiamteit uud I
als banptiädhlichfte Drigiunlauelle darüber den weite
Kreifen des Ju- und Anslandes empfohlen werden,
Mit dem 1. Juli beginut ein neues Abonnement af
die Deutfche Allgemeine Zeitung, und werben deshalb alle aus-
wärtigen Abonnenten (die bisherigen wie neu eintretende) erſucht,
ihre Beftellungen auf das nächſte Vierteljahr baldigft bei dem
betreffenden Poflämtern aufzugeben, damit feine Verzögerung
in der Ueberſendung ftattfinde. Der Abonnementspreis
beträgt vierteljährlih 2 Thlr.
ie Deutihe Allgemeine Zeitung erſcheint außer Sonn
tags und Feiertags täglich nachmittags mit dem Datum des
folgenden Tags. Rad auswärts wird fie mit den nächſten
nah Erſcheinen jeder Nummer abgehenden Poften verjandt.
Inſerate finden durch die Dentfche Allgemeine Zeitung,
welche zu bdiefem Zwecke von den meiteften Kreiſen und ua
mentlich einer Reihe größerer induftrieller Inftitute regelmäßig
benußt wird, die allgemeinfte und zwedmäßigfte Berbreitung;
die Inſertionsgebühr beträgt für den Raum einer viermal ge
fpaltenen Zeile unter „Anlündigungen‘‘ 1%, Ngr., einer drei
mal gefpaltenen unter „Eingeſandt 2, Nor.
Bon 1870 an haben die Herren Haafenftein & Bogler
in Leipzig, Berlin, Breslau, Frankfurt a. M., Köln, Hamburg,
Stuttgart, Wien, Bafel, Zürich, Genf, St.- Gallen und Dres
den den ausſchließlichen Inferatenbetrieb für die Deutſche All⸗
gemeine Zeitung übernommen und find alle Injerate an eins
diefer Etabliffements zu fenden.
Im Verlage von F. Tempsky in Prag ist soeben
erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:
Christi Leben und Lehre
besungen von
Otfrid.
Aus dem Althochdeutschen übersetzt von
Johann Kelle.
Gr. & Geh. 2 Thir.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Gedichte
von
Adolf Ritter von Tſchabuſchnigg.
Dritte Auflage. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor.
Die Gedichte Tſchabuſchnigg's (gegenwärtig öfterreichiicher
Minifter), bereits in zwei Auflagen verbreitet. liegen —*
einer bedeutend vermehrten dritten Auflage vor.
— — — — — — — —
— —
Druck und Verlag von S. A, Brochhaus in Leipzig.
Blätter für literarifde Unterhaltung.
3ahrgang 1870.
Zweiter Band.
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Blätter
für
literarifche Unterhaltung.
Jahrgang 1870.
Zweiter Band.
Iuli bis December.
(Entpaltend: Nr. 27—52.)
Leipzig:
5 U Brodhans.
1870.
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Blätter
für
literarifche Unterhaltung.
Jahrgang 1870.
Zweiter Band.
Iuli bis December.
(Enthaltend: Nr. 27—52.)
Leipzig:
5 U Brödhans.
1870.
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Blätter
literarifche Unterhaltung,
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
—4 Ar. 27. er
1. Juli 1870.
Die Blätter für literariſche Unterhaltung erfäeinen in woͤchentlichen Lieferungen zn dem Sreife von 10 Ahlen. jährlich, 5 Zhlrn.
bafbjährlih, 2%, Thlrn. vierteljährlig. Alle Buchhandlungen und Hoflämter des In» umd Unslaudes nehmen Beſtellungen an.
Inhalt: Revue neuer Lyrik und Epik. Bon Rudolf Gottſchall. — Neue fpiritnaliftifche Schriften. Bon Marimilten verty. —
Neue Romane. Bon Jeanne Marie von Gapette Georgend. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen.
Reuge nener Lyrik und Epik,
1. Stil und bewegt. Zweite Sammlung der Öebichte bon
Karl Bed. Berlin, H. Schneider. 1870. 8 1 Thlr.
Auch auf die Liebe zu Dichtern paßt das Sprichwort:
„Alte Liebe voftet nicht.” Seit den „Nächten“ von Karl
Bed, in benen trog jugendlicher Veberſchwenglichkeit und
Unflarheit ein fo glühender dichterijcher Puloſchlag Icbendig
war, ſeit dieſen geharnifchten Liedern des jungen Stu»
denten, welche auf den jüngern Gymnaſiaſten einen fo
bewältigenden Eindrud machten, daß er fie neben ben
Glaffifern ſtets zu recitiren pflegte und daß ihre kühnen
Strophen ihm beftändig vor den Ohren ſchwirrten, ift
uns die Muſe Karl Becks ſtets fympathifch geblieben,
fowenig ſich verfennen Tieß, daß das Teuer der Jugend
längft emer fehr maßvollen Beſonnenheit gewichen iſt,
welche ſich bin und wieder ſogar in einer künſtelnden
Cabinetslgrif gefällt. Ueber diefe Wandlung fpricht fid
ber Dichter felbft in feinen Elegien „Züubchen im
Neft” aus, welche wir früher beiprochen haben und welche
in diefe neue Sammlung mit aufgenommen find. Außer
bem finden wir „Myrten und Cypreſſen⸗ (1847 -534),
eine Nachleſe aus früherer Zeit, welche im weſentlichen
den Charakter der „Stillen Lieder” trägt, „Geſchichten“
(1847 — 61) und „In meinem Herbfte (1861 —69),
zeifere Igrifche Trauben in jüngfter Zeit gefeltert.
In den „Myrten und Cypreſſen“ herrſcht ein weicher
und zarter lyriſcher Ton vor; es find Herzenderlebnifle,
welche der Dichter befingt, das Glück einer Liebe und
Ehe, und die Klage über fein rafches Borüberraufchen;
benn die frohen Liebeslieder werben bald abgelöft durch
elegifche Gedenkhlätter, durch Todtenkränze, die der Did
ter auf das Grab feiner jungen Gattin legt. Wie zart
einzelne diefer Lieber find, beweife das folgende:
1870, 27.
Bo Tauben find.
Laß ai mit meinem eh,
Laß mid mit meiner düſtern Glut:
Ich wäre nur der Tropfen Blut
Auf reinem Schnee.
Di fucht, was fromm und Kind;
Was fromm und lind, das ſuche du
Denn ſieh, es fliegen Tanben zu,
Wo Tauben find.
Doch die Beck'ſche Muſe liebt auch den orientalifchen
Hymnenton; fie beginnt wol ein melobifches, file Mufit
gedichtetes „Schlummerlied“ mit ber Strophe:
Schwört jo mander Kuabe hohe Schwüre
Bor der ae hohe Sqh
Ad, fie ſchließt der Liebſten Haus;
Lockend tönt die Mandoliue
In die Sommernacht hinaus:
Nahe bin ich dir,
Truͤume hold von mir! —
aber ſie beſchließt eine ſolche Serenade mit einer hohe⸗
prieſterlichen Geſte:
Nur den Somenaufgang deiner Augen
Will ich ſangen,
Will eh m geläntert fein:
Alfo harret ein Bromine
Stumm im Tempel und allein —
Naht das große Licht,
Raufcht zu arfenflängen fein Gebicht.
Ganz in den Odenton und feine freiefte Rhythmik
ergießt fich das Gedicht „Vermählt“, ein ſchwunghafter
Hymenäos, wie die folgenden Verſe beweifen:
Gekettet war ich jahrelang
Bom flarren Troß,
Bon mürriſcher Einfamtelt,
Bom ſchadenfrohen Gelüſt
Der Selbſtvernichtuug —
53
—
. ee ar . De Pr . j +
er a Vera GE IR . are Pong .—
ae Pr Br ww e En fd WEBER —— LEER AN . . \ .
er. Den a % — N X * Fl z. Pc ED “a
ie Ne Es I A RE a 44
418
Da lam die Liebe,
Die Liebe fa,
Und gab mir die Freiheit,
Und gab mir das Leben!
Da rief id mir zu mit quellenden Augen:
Ergib did), ergib dich,
Du trutiges, tapferes Herz dul
Schön fiehn dir die Wunden,
Geſchlagen vom Schidſal
Mit mäfender Schneide
Im athemfofen, im täglichen Kampf;
Nun aber ergib di mit inniger Demuth,
Dein Rüfen und Brüſten
Kann dir nit frommen, .
Ein Wunder if über did) gelommen!
S fenfe nur alle die folgen Fahnen,
Weit öffne dich, weiter, bepwungene® Herz!
Einzicht mum die Liebe mit Rofen befrönet,
Bon Palmen umfähelt, von Pjalmen umtönet;
Etenuſt du nicht in ihrem Geleit
Die Jugend mit der Unfterbfichteit?
Gefunde
Im diefer vom. Göttern gejegueten Stunde!
Unter den „Geſchichten“ finden ſich einige, melde
an die „Lieber vom armen Mann” erinnern, Gefchichten
aus dem Voltsleben, wie „Arm Trautchen“, „Poste re-.
stante”, mit der Lieblingswendung des Dichters, ber
Freude des zum Herrn gewordenen Knechts und ber
Magd, welche felbft zur Herrin wird, „der am eigenen
Herd die eigenen Pfähle ſich heben“, wie es in dem be
lannten fchönen Gedicht Becks: „Knecht und Magd“, heißt.
Einige dieſer Geſchichten kranken indeß an zu weiter Aus-
führung. So behandelt das Gedicht: „Die Blume bes
dritten Friedrich Wilhelm", eine Anekdote, die an und für
ſich anfprechend ift, mit einer Fülle dichterifher Aus-
Ihmüdung, melde den eigentlichen Kern und die Pointe
nicht feharf und bedeutſam genug Hervortreten läßt. Dafe
felbe gilt von dem Gedicht: „Getauft“, einer Variante
auf Schiller's „Taucher“. Ein Hymnus auf Sohneslicbe
find die Situationsbilder „Mit der Feder“. „Der blinde
Geiger”, „Der Dorfſchulmeiſter“ find Genrebilder, von
denen das legtere einen gewiſſen grandiofen Zug hat. Die
befte dieſer poetifchen Erzählungen ift offenbar das Ges
dicht: „Los.“ Hier ift der Anekdote die Prägnanz be
wahrt, und die finnbildliche Bedeutung tritt ſcharf hervor.
Kaifer Franz ift bei dem Ungarbaron Weffelenyi zu Gafte.
Diefer erbittet fi von ihm als befondere Gnade, ben
Wagen des Kaifers mit feinem ungarifchen Biergefpann
lenten zu dürfen. Der Zug fauft beflügelt, „gleih Stür-
men und Sommergewittern‘; zulegt wirft der Vaſall die
Zügel hin und entfeffelt völlig die Pferde:
Sie brauſen in Haft dem Weiher zu —
Da ftöfut in bitteren Nöthen
Der greife Monarch: „So trachteſt du,
Verräther, den König zu töbten?'‘
Nun — Jeſus Maria — mun droht der Schwall
Den dampfenden Zug zu verfchlingen —
Da läßt Weffellugi mit lauten Schall
Beſchworend ben Pfiff erklingen.
Aufhorgen die Renner, ſtehn gebaunt,
Und jharren zahm mit dem Hufe,
Sie haben des Meiflers Gebot erianut,
Und folgen gewohnt dem Rufe.
Revue neuer Lyrik
und Epik.
Dranf hat ſich der Lenker tief verneigt:
„Mein ürft, und wolle vergeben!
Dir Hab’ ih im Bilde Mar gezeigt
Magyariſches Walten nnd Weben.
„Dir Hab’ id} gezeigt mit fefter Hand
Mein König an diefen vieren,
Wie du da8 gewaltige Ungarland
Begeiftern mußt und regieren.
„Frei laß es gewähren, wie Gott es ſchuf,
So geftern, fo heut und morgen,
Dann folgt es im Nu des Meifters Ruf,
Und Fürft und Bolt find geborgen!"
Dies Gediht ift ein gelungener Pendant zu dem
ſchönen Gedichte Becks: „Das rothe Lieb‘, beide ge»
mahnen wie feuriger Tokaier; dort findet die Elegie des
Prätendententhums einen flimmungsvollen Ausdrud; hier
die politifche Weisheitslehre eine treffende Allegorie. Aus
den Gedichten: „In meinem Herbft”, ſpricht eine ebene
mübigfeit, bie fih in den Schlußgedichten wieder zu ver⸗
jüngtem Schwung aufrafft; ein Hauch der Pietät durd-
weht wohlthuend diefe Gedichte. Eine ſchöne Gefinnung
ſpricht aus den Strophen:
O, ſchaffen, ſtets beſcheren,
Und lufiern nicht begehren
Nach Dank und Opferrand);
Berborgen in der Wolfe
Eiu Tröfter fein dem Volle,
Ein Hort nad Geiſterbrauch;
Ein Blatt vom Zweige ſchwinden,
Im Kranz fi wiederfinden,
Ergänzend umd ergänzt;
ie One mi ralhen Sinten
Im Strome fi verbfuten,
Den bald das Meer begrenzt;
Mit wachfenden Gebanfen
Sih um das AU zu ranten,
Im Ganzen aufzugehn:
Das if die volle Glte,
Das Menſchenherz in Blüte,
Das große Auferftehn!
Auch der „Abſchied vom Landhaufe” enthält Stro-
phen von Lapibarem Gepräge:
Gerumptih ie der Biking lächeln
ine Welt, bie längft erflactt,
Und den Hauch der Götter fächeln
Um den Schweiß der Gegenwart.
Zartes Empfinden fpricht aus dem Gedicht „Getroft“:
Wenn das am dürren Baum geſchieht,
Was jet dein feuchtes Auge ficht,
Dann athme ferner nicht beflommen:
Urplöglih wird in filler Radıt
Auch Über did mit ganzer Pracht
Die Zeit der grünen Oftern fommen.
Was ihm der Regen, o das ift
Die Thräne die zu diefer Wrift,
Befrudhtet dich mit neuen Xrieben;
Getroft, und wieder blühft du bald:
Denn minder ala das Holz im Wald
Wird Gott ein Menſchenherz nicht lieben!
Wol fehlt es in biefen Gedichten nicht an Stellen,
an benen der dichteriſche Ausbrud mehr gefucht als ge⸗
funden erfdeint, das Gezierte das Natürliche verdrängt
und überladene Schildereien mit zerftreuender Wirkung
den eigentlichen poctifchen Kern arabeöfenhaft überwuchern ;
aber aus einem echten Dichtergemüth ift all diefe Pocfie
Pr
beransgeboren und bisweilen find in ihr jene Klänge an»
gefchlagen, durch welche ſich das urfprünglice Talent
von dem gewandteften Dilettantismus unverkennbar unter-
fcheibet.
2. Lieder und Bilder. Neue Dichtungen von Julins Sturm.
Zwei Theile. Leipzig, Brockhaus. 1870. 8 1 Thlr.
18 Ngr.
Der beliebte Sänger geiftlicher Lieder, welche durd)
ihre geſunde Frömmigkeit fo lebhaften Anklang gefunden
baben, hat die Zionsharfe mit ber profanen Lyra ver-
taufcht und eine Sammlung von Liedern und Bildern
veröffentlicht, im welcher durchweg biefelbe Wärme ber
Empfindung und die Anmuth und Melodie geglätteter
Formen vorherrfcht. Ansgejchloffen find alle unruhigen,
pridelnden, titanischen Elemente der Zeit; bie Liebe tritt
ftets als „teufche blonde Minne“, nicht als glühende Lei⸗
denfchaft auf; in andern Gedichten herrſcht häusliches
Behagen vor; der Dichter läßt die Kleinen zu fich kom⸗
men und plaudert mit ihnen, erzählt ihnen Märchen und
Fabeln. Es ift der milde, priefterliche Geift, der diefe
Sammlung zu einer lyriſchen Hauspoftile geeignet macht;
die Diffonanzen des Lebens tönen nur wie von fern ber-
en in dieſe ftillzufriedene Welt; jchlicht und einfach, oft
warm und gefühlsinnig, von feinem Hauch der Stepfis
getrübt, find diefe Gedichte das weltliche Gegenbild zu
den geiftlichen Liederflängen des Autors, welche ſich aud)
von aufdringlicher Theologie fo fern wie möglich halten.
Tür den fchlichten Charakter diefer Lyrik ift das „Lied“
die geeignetſte Form; im ihren Reichen wachjen mehr
Veilchen, Maßliebchen und DBergigmeinnicht als ofen
und andere prunfende Gartenblumen. In ber That ift
dee erſte Liederftraußg „Aus Feld und Wald” gefammelt;
eine große Zahl von Frühlingsliedern duftet und entgegen,
aber auch Herbftlieder, Morgen» und Abendlieder werden
angeftiimmt, die Wollen, die Wetter, Alpen und Sem,
Hinmel und Erde befungen — alles Inapp, oft an bie
Karl Mayerichen Wanberlieder erinnernd, oft nur leifer
poetifcher Anflug, flatternde Blättchen, vieles geeignet für
mufitalifche Begleitung, weldye dem Inospenhaften Empfin⸗
den eine vollere Entfaltung im Reiche der verwandten
Kunft gönnt. Wie ſtimmungsvoll einige diefer „Lieder“
find, beweife das folgende:
Sm Walde.
D wel ein friedlich Wandern,
Wenn fih der Tag geneigt,
Ein Böglein nad dem andern
Im grünen Walde ſchweigt,
Hoch auf der Fähre Gipfel
Der Amel Lied verklingt
Und laufchend durch die Wipfel
Das erfte Sternlein blinkt!
Nun ranſcht in dunkeln Zweigen
Der Abendwind allein,
Und tiefer hüllt in Schweigen
Der Wald ſich träumend ein;
Mir aber iſt, als ſtünde
Hier ewig ſtill die Zeit
Und wüßten dieſe Gründe
Nur von Waldeinſamkeit.
Sehr ſinnig iſt das Gedicht:
Revue neuer Lyrik und Epik.
419
Bergeblid.
Feuchter Nebel wogt im Thal,
Hebt und ſenkt fich wieder;
Bleih und mit gebrochnem Strahl
Blidt die Sonne nieder.
Schnee verhüllt der Saaten Grün,
Reif umzieht die Heden;
Dennoch if’ vergebnes Mühn,
Lenz, dich zu verfteden.
Zu dem grauen Nebelmeer
Ueber jungen Saaten
Hat ein jubelnd Lerchenheer
Längft dich mir verratben.
Freilich unter dem Unfcheinbaren findet ſich auch man-
ches Unbebeutende, viel Anflingendes an belannte Dichter-
worte. Wenn e8 am Schluß der „Wetterwolle“ Heißt:
Ber kennt das Ziel von Gottes Wegen
Und wer ergründet feine Wahl?
Aus einer Wolke träuft fein Segen.
Und zudt fein glühnder Wetterfirafl —
fo werden wir doch an bie Schiller’fchen Verſe in dem
„Lied von der Glocke“:
Ans der Wolfe
Strömt der Regen,
Duillt der Segen;
Aus der Wolfe
Ohne Wahl
Zuckt der Strahl —
um fo nachdrücklicher erinnert, als die Neminifcenz an
den Schluß des Gedichts als feine hervorgehobene Pointe
geftellt if. Die Form diefer Lieberchen ift fo einfach wie
möglich; fie laufen meift auf zwei, brei, vier iambifchen -
oder trochäifchen Versfüßen, and nur eine fapphifche Ode
und ein Ghaſel finden fi) als vornehmere Formen unter
dem leichtfüßigen Vollchen.
Die Liebeslieder haben nichts mit Hafis und Anakreon
gemein; wir halten fie für die ſchwächſte Partie der
Sammlung Es pulfirt in ihnen fein voller Strom der
Empfindung; e8 find mehr feichte Wäflerchen, dur die
man ſchon oft gewatet ift. Der Dichter will „ihre Lieben
Augen” fragen, ob fie feine Sterne fein wollen; ein
andermal findet er mit Shaffpeare in „Romeo und Julia‘
in der Nacht ihrer Augen zwei vom Himmelsbogen herab-
gezogene Sterne; dann fieht er wieber des Himmels Thore
dur den Blick der Geliebten aufgethan; Nachtigall nnd
Roſe halten diefelbe Zwiefprache wie in den Gärten von
Schiras, eine Zwieſprache welche Heinrich Heine bereits
glücklicher belaufcht Hat.
In dem Heinen Cyklus: „Aus dem Haufe“, findet fich
ein Gedicht: „O pflegt das Heimgefühl in euern Kindern“,
das in dem Ton feiner fünffligigen rveimlofen Jamben
an ähnliche Dichtungen Leopolb Schefer’3 erinnert. Die
„Gedenkblätter“ find namentlih Friedrich Rückert und
den Dichter Petöft geweiht, einem im feiner eigenartigen
Sangesweife von unferm frommen Sänger fehr verjchie-
denen Dichter, deſſen Schwung indeß ben Feiernden aud)
zu vollern Klängen anregt:
Du bift die Nachtigall, die tief im Haine
Das fühe Weh der Liebe klagt der Nadıt;
Ich lauſche dir am thymianduft’gen Raine,
Berauſcht von deines Liedes Zaubermadit.
53 *
420
Du bif die Schwalbe, die den zarten Jungen
Ein muntres Liedchen zwitichernd fingt am Neſt;
Ich lauſche dir, und R: dein Lieb verflungen,
Hab’ ich mein Kind an meine Bruſt gepreßt.
. Du bift die Lerche, die im Morgenrothe
Ihr Lieb dem Frühling und der Freiheit fingt;
Ich Yaufche dir, und fühl’ wie jede Note
Als glühnder Tropfen mir zum Herzen dringt.
Du bift der Aar, der am verfalluen Bronnen
Den morgen Ballen ſich gewählt zum Sit;
Ich aber leſ das Lieb, das du erfonnen,
Das wilde Lied in deines Auges Blitz.
So wogt um mid) die Fülle deiner Lieber,
Unb jedes ift an nenen gen reich;
Und doch bift du, Petöft, immer wieder
Sn jedem Liebe nur dir jelber gleich.
Die patriotiſchen Gedichte des Abſchnitts „Aus ber
Zeit” find in ähnlichem Ton gehalten, doch immer lieder
artig, zur Compofition heransfordernd. Die Schatten⸗
feiten ber, Zeitpoefle bezeichnet der Dichter ſchlagend in
dem folgendeu Bere:
Do wer zu feines Liebes Kern
Die Gegenwart erloren,
Dem ſchlagen Alt und umge gern
Die Leier um die Ohren.
Der patriotifche Geift diefer Gefänge ift kernhaft; der
fromme Sänger proteflirt gegen einen fanlen Frieden umd
feiert die Stege von 1866.
Allerliebft find die „Kinderlieder fiir meine Kleinen“,
ein lyriſcher Chriſtbaum, reich behangen mit ben niedlich⸗
fin Sächelchen. Hier trifft ber Dichter den muſtergülti⸗
gen Ton! Wie wiegenlieberartig, märchenhaft anheimelnd
beginnt das Gedicht „Schneewittchen“:
Säneewittgen hinter den Bergen,
Bei den fieben Zwergen, ”
Macht fieben Bettchen mit flinfer Hand,
Beftrent das Stäbchen mit golduem Sand.
Wie kindlich Ted, wie volksthümlich fangbar iſt „Der
Heine Yäger“:
| Das ew’ge Buchſtabiren,
Das fleht mir gar nit an;
Ich Lauf’ mir eine Flinte
Uub werd’ ein Jügersmann.
Huſch! ans dem Federbette,
Wenu laum der Morgen tagt,
Das if im grünen Walde
Die befte Zeit zur Jagd!
Ich ſchleiche dur die Tannen,
Dis an den fillen See;
Ein Wild muß ich erjagen,
Ein Hirfchlein oder Reh.
Doch kommt ein Wolf gelaufen,
Ein Ziger oder Bär,
Dann wäre mir’s doch lieber,
Wenn id zu Haufe wär”,
Der Werth ber „Bilder“ ift ungleih. Bei Stoffen,
bie eine gefättigtere Särbung verlangen, wie 3.8. „De
rodes der Grauſame“, erfcheint die Art und Weiſe des
Dichters doch als eine Aquarellmalerei, welche diefe tiefere
Sättigung und das Abtönen der Contrafte zu jehr ver⸗
miffen läßt; einzelne Bilber erfcheinen ſogar gänzlich ver-
blaßt; ambere erinnern zu beutlich an beftimmte Muſter,
wie 3.8. „Die nächtliche Ueberfahrt ber Zwerge”, „Der
große Wind zu Weißenberg” und „Wendewein“ an ähn⸗
Revue neuer Lyrik und Epit.
liche Gedichte von Kopiſch. Wohl aber finden wir aud
bier manches Poetifhe und Sinnreiche. „Allem im
Walde” ift eine Tindlihe Waldphantaſie, vol Walbbin-
menduft, frifch und würzig wie Maitrank und an die ges
fundeften Waldfymphonien der romantifchen Schule er-
innernd; „Mumienweizen“ ift ein gedankenvolles Gedicht
in prägnanter Faſſung. Die Weizenlörner ans der Hand
der Mumie werben in die Furchen gefüet und fproffen
üppig auf:
Und fie ſtaunten ob des unbe, daß nach fo viel taufend
ren
Nicht des Lebens zarte Keime in dem Korn erftorben waren,
Und ein Greis ſprach felig lächelnd: „Heut' erfi warb der
prud mir Mar:
Bor dem Herrn find taufend Jahre wie ein Tag, ber ge
ſtern war.”
„Die Verlaſſene“, deren Tagebuch Julius Sturm uns
mittheilt, fchlägt durchaus fchlichte, elegifche Klänge an,
oft von einer Einfachheit, die an das Unbedentende grenzt,
bisweilen aber auch in anmuthiger Yaflung, z. B.:
Letter Wunſch.
Wenn bies Herz bat ausgefchlagen,
Mögt ihr’s fill zu Grabe tragen;
Spart am Garge Kranz nnd Zier,
Nur ein Kreuz vergönnet mir.
Pflanzt auch Leine duft’gen Roſen
Auf das Grab der Freudeloſen,
Wählt für meine Schlummerftatt
Immergriin nnd Epheublatt.
Daß Sturm zulegt auch als lyriſcher Yeldprediger
auftritt und Lieber „Aus dem Goldatenleben” bichtet,
wird vielleicht bei dem fanften Sänger befremden. Gleich
wol haben diefe Lieber — denn das „Lieb” überwiegt in
‚| biefem Abſchnitt das „Bild“ — frifchen, kriegerifchen Talt,
echte Marfchmelodie, und das „Stückchen vom alten ie
then” zeigt, daß die Mufe Sturm's auch gelegentlich in
deu Bahnen Scherenberg’8 und einer martialifch- humori«
ſtiſchen Schuurrbartöpoefie zu wandeln weiß.
Durchweg ift in diefen Gedichten die Klarheit umd
Durchſichtigkeit von Form und Inhalt zu rühmen, welche
allerdings bei mangelnder Tiefe leichter dem anmuthenden
Sänger erreichbar ift.
8. Die Brant bes Ril. Erzählendes Gedicht von Oscar Elsner,
Koburg, Riemann. 1870. Gr. 16. 10 Nor.
Die Braut des Nil ift die Tochter bes Hoheprieftert;
welche dem Strom als Tribut der Dankbarkeit geopfert
werben fol. Rhodopis aber, das beflimmte Opfer der
Wogen, wird von einem Jüngling geliebt, der als alt«
ägyptiſcher Treigeift die Glaubensfagungen fiir Wahn, bie
Geremonien für Thorheit hält. Diefer Jüngling Apiftes
ruft ihr im Stile Feuerbach's zu:
Und wer gebot e8 bir, die Bahn
Des jungen Lebens zu verlafien?
Ein Bhantaftegebild, ein Wahn
Der Sinne — und ber Bollesmaflen!
Bor ſelbſtgemachte Götter treten
Sie hin und beugen fid zum Staub,
Sie ſtets beſtürmend mit Gebeten —
Allein die Götter bleiben taub.
Und nimmer brachen fie das Schweigen,
Kein Bötterwort iſt noch erichallt,
ob fi) die Völker ihnen neigen,
Ob nit — die Steine läßt es Kalt!
Revue neuer Lyrik und Epik.
Und weiterhin fett er wie ein Anhänger Moleſchott's
die Kraft auf den Weltenthron: Ä
Der Völker Angſt und Furcht erſchuf
Die Götter nur und ihre Throne.
Drum laß die todten Steingeſtalten,
Erfaſſe, daß im Weltenreich
Nicht Weſen, die dir ſelber gleich,
Der Herrſchaft höchſtes Amt verwalten.
Die wahre Gottheit lerne kennen,
Die um dich ber wie in dir ſchafft —
Und foll ich ihren Namen nennen:
Es ift die ew'ge Heil’ge Kraft!
Wohl wurde früh fie ſchon erfaunt,
Doch niemals noch in voller Klarheit;
Man nahm die Formen, ihr Gewand,
Kür ihres Kernes Lichte Wahrheit.
Er will mit der Geliebten fliehen, und fliehend ſchlägt
er Hapi's Marmorbild in Trümmer; die Priefter eilen
herbei, bie Flucht wird vereitelt, die feftlich geſchmückte
Rhopodis dem fegenfpendenden Strome geopfert. In
correcten, fließenden, oft ſchwunghaften Verſen, mit dem
ganzen büftern Bomp bes altägyptifchen Colorits, ohne
zögerndes Verweilen und frhleppendes Ermüden bewegt
fi diefe Erzählung, welche uns das Talent des jugend-
lichen Dichters, das wir bereit3 in feiner Tragödie „Bar:
Kochba“ ſchätzen lernten, in günftigem Lichte zeigt.
4, Gedichte von Adolf Stern. Zweite vermehrte Auflage.
Leipzig, Matthes. 1870. 16. 1 Thlr. 15 Nor.
Wenn es zwei Gattungen von Dichtern gibt, die eine,
in welcher der Maler, die andere, in welcher der Muſiker
überwiegt, fo kann man zu der erftern, welche ihre Gel⸗
tung behält, ohne mit Leſſing's „Laokoon“ in Conflict zu
gerathen, den Dichter Adolf Stern rechnen. Er ift ein
geſchmackvoller und glänzender Colorift, wie fihon feine
Projaerzählungen beweifen, und wir möchten daher feinen
epiihen Dichtungen vor den Inrifchen den Vorzug ein⸗
räumen. Gleichwohl enthalten aud, die „Lieder und
Träume manches anziehende Gedicht — nur daß auch
hier der Hauptton mehr auf dem Gedankenvollen, bild-
lih Bedeutſamen ruht, wie 3. B. in dem Gedicht:
Melufine
Des Knaben Traum verläßt mid) nit,
Die Märe von ber Delufine;
Mir ift, als wenn das Mondenlicht
Durch deine Fenfler ſchimmernd ſchiene.
Ich ſchau' hinein, violenfarb
Koſt das Gewand um deine Glieder,
Die Lippen, drum ich flehend warb,
Sch ſeh' fie dunkelblühend wieder.
Doch ſchwebt ein Lächeln drauf —, bei Gott! —
Es liegt das Haffen und das Minnen,
Die Sehnſucht und der bittre Spott
In diefem einen Lächeln innen.
Und bangend frag, id: gilt mir da8?
Dann muß ich dich anf Immer meiden!
Gib ganze Liebe, ganzen Haß —,
Doch nicht das Lächeln zwifchen beiden!
Auch überwiegt oft im den Liedern das Maleriſche,
obſchon ſtimmungsvoll und Iyrifch berechtigt, wie gleich in
dem erften, gelungenen Gedicht:
421
Borfrähling zwifhen Bergen.
Unter mir die Waldung des Thals,
Bor mir die Gruppen der Tannen,
Die im Glanze des Sonnenftrahle
Moofige Felſen umſpannen.
Ueber mir des Himmelsdachs
Blaue wölbige Runde,
Und von ferne das Rauſchen des Bachs
In dem felſigen Grunde!
Rings verſchwindet das Wintereis,
Um mich fallen die Tropfen,
Iſt mir doch, als hörte ich leis
Pulſe der Erde klopfen!
Jedes Tropfens gelöfter Kryſtall
Lockert die ſtarre Rinde,
Und es kundet fein blitzender Fall
Nahende Frühlingswinde!
gs — beſceiten Revier
onn ie zackige Fichte —
Tief im — —*
Iubelnde Lenzgedichte!
Die zwei an Jone gerichteten Liebesliederchkien erin⸗
nern nit an Tibull umd den verwegenen Properz; es
find gefälige, finnige Liebesgedichte mit warmer Empfin-
dung, welche die Stimmungen des Naturlebens in ihre
Kreife zieht und fi von ihnen anregen läßt; aber Größe
und Kühnbeit der Leidenfchaft würden wir vergeblich in
ihnen fuchen. '
In den „Tagebuchblättern“ finden fih Gedichte an
Franz Liſzt, Robert Schumann, Friedrich Hebbel; das
zweite, an ben lettern gerichtete Sonett lautet: .
Dn fankft dahin im frendigfien Entfalten,
Erfüllt vom Räthſelſpiel der Weltgejchide,
Umgeben noch im Todesaugenblide
Bon bleihen Schatten mächtiger Geſtalten.
Sie ſchwirrten um did, ſuchten dich zu Halten,
Daß deine Glut mit Leben fie erquide,
Sie drängten fi vor deine letzten Blicke,
Um nun mit dir au fchmwinden, zu erlalten!
Die Götter zürnen! Keiner fol vergleichen
Sich heut mit Meiftern aus beglücten Tagen —,
Du firebteft raftlos, muthig, ohne Weichen
Dem höchſten Ziele zu, mit ſtolzem Wagen;
Weil fie gewußt, du würdeſt es erreichen,
So Tiegft du nun vom Götterblitz erfchlagen!
Bon den „epifchen Dichtungen“ fteht „Thais“ in erfter
Reihe; dies „Frauenbild“ Hat Schwung und gefättigte
Shut. Auch „Ada Vitella“ iſt mit Tebendigem Kolorit
und finnvoll behandelt. „Andre Chenier“ ift in bewegten
Rhythmen gehalten und verherrlicht den Bund der Freiheit
und Schönheit:
Die Schönheit bleibt des Lebens Licht,
Der Henker von Arras verſchencht fie nicht,
Sie wird fi) neue Jünger werben,
Und Tieß man noch hundert Dichter ſterben.
Und Bis die Freiheit nicht erkennt,
Daß von der Anmuth, der Schönheit getrennt
Zum Spotte werden die Güter des Sebens,
So lange kämpft und ringt fie vergebens.
Ein militärifches Bravourſtück ift die „Sonne von
Aufterlig", „Jagello“ ein polnifches Nachtſtück: der Knecht,
ber ſich wegen einer Strafe an bem Herrn rächen wollte
und die Wölfe durch die auögeftreuten Stücke einer er-
offenen Hirſchkuh auf den Pfad lockt, opfert ſich ſelbſt
422
für die ihm freundlich gefinnte Tochter und gibt ſich der
wilden Meute preis. Die unheimliche winterliche Be⸗
leuchtung ift hier glücklich wiedergegeben. Ebenſo trefflich
ift das fimmungsvolle Colorit in den „Strandräubern‘,
welche ein Schiff ans Ufer Loden durch verrätherifchen
Tadelglanz, um das gefcheiterte zu plündern, Die Ringe,
die fie ben Todten rauben, zeigen ihnen dann, daß der
eigene Sohn unter den Opfern iſt. Diefe Wendung ift
tragifch, aber nicht genugfam ausgebeutet. Mit heroiſchem
Pofaunenflang wird der „Hal von Maſada“ gefchildert,
ein Epilog zu ben frübern Maflabliertragddien. „Der
Schweizer“ führt uns in bie Franzöftfche Revolution und
die Schreden des Tuilerienſturms, welche in Contraft
geftellt find mit den Naturbildern der Heimat, bie der
Sohn des Alpenlandes Iebendig vor ber Seele ſchweben.
Das Schlußgedicht „Eldorado“ ift ein Gegenbild zu
Heinrich Heine’s „Bimini“; doch während das lettere mit
einer elegifchen Diffonanz fchließt, führt das erftere zu
harmonischen Abſchluß. In der Sehnfuht nad ber
BZauberinfel Bimini und ihrem verjüngenden Wunderquell
altern die feefahrenden Pilger, ohne e8 zu merken; das
Grab zeigt fih als das wahre Bimini. Bei Abolf
Stern aber fucht der Jüngling das golbumflofjene, filber-
bligenbe Eldorado, die Stadt mit den Demantthoren, und
trennt fi von ber Geliebten, um ihr ein reiches Glück
zu gewinnen. Nach langer endlofer Wanderung fieht
er Gold die „Waldung ſäumen“, erblidt zwifchen den
Zweigen einen lichten Spiegel, ben er für den See von
Silbererz hält; er glaubt fein Ziel erreicht zu Haben
und fieht wieder — San Maria’ Bucht, von der er
ausgegangen war;
Hell ſchimmernd Liegt die Stadt am Strande
Mit Hänfern Inftig, keck umd leicht,
Die erfle auf dem feften Lande,
Das jüngft Colombo's Kiel erreicht,
Neue fpiritualiftifhe Schriften.
Er ſchaut die Palmen am Geflabe,
Die Blütengärten rings umher,
Er fieht die Hänfer, die Poſade,
Die weißen Segel auf dem Meer.
Am Strand, im Schmud des leichten Flores,
Die Jungfrau, die zum Meere fchaut,
Er kennt fie wohl, es ift Dolores,
Die bangende verlaffne Brant.
Und fand er erft zum Tod betroffen,
Als fo fein Tränmen fi verlor —,
So wird ihm dod die Seele offen,
Aus Thränen jauchzet er hervor:
„D 0b des Wahns, der mid gebunden!
Das Eldorado ift erreicht,
Im eignen Herzen wird's gefunden,
Es liegt fo nah, der Pfad iſt leicht,
Do braucht e8 Kampf, das Herz zu Ienfen,
Daß es im LZiefften Har erkennt
Das Land des Glückes im Beichränfen
Und Frieden die Erfüllung nennt!“
Und auf dem oft betretnen Pfade,
Mit Dank zur Himmelsfönigin,
Eilt nun der Wanbrer am Öefade
Zur Stätte der Geliebten bin;
Sein Arm hält glübend fie umwunden,
Zur Ferne ſchaut er nicht zurüd —,
Sein Eldorado iſt gefunden,
An feinem Herzen ruht das Glück!
In der That ziehen wir diefe pofitive Löfung jener
jteptifchen vor, welche in Heine’s „Bimini“ uns am Schluß
jo ironisch lächelnd den Becher Lethe als Berjüngungs-
trank credenzt.
Rudolf Gottſchall.
(Die Fortſetzung folgt in ber nächſten Rummer.)
Jene fpiritnalifiifche Schriften.
1. Die Prineipien der Natur, ihre göttliche Offenbarung und
eine Stimme an die Menſchheit. Bon Andrew Jacſon
Davis. Ans der breißigfien Ausgabe des amerilanifch-
englifhen Originals mit Autorifation des Verfaſſers ins
Deutſche Überfett von Gregor Konflantin Wittig und
mit einem Vorwort nebft Anhang herausgegeben von A. Ak⸗
fätom. Zwei Bände. Leipzig, Wagner. 1869. 8. 6 Thlr.
20 Nor.
Seit mehr als zwanzig Yahren bat in der Union ein
fogenannter Seher fo bedeutendes Auffehen erregt und
feine Schriften haben fo große Verbreitung gefunden, daß
in d. BL abermald von ihm gefprocdhen werden foll.
Mag man den Spiritualismus oder Spiritismus, dem
namentlid in Amerifa Millionen anhängen, für eine phan-
taftifche Erfcheinung der Zeit anfehen, oder mit feinen An⸗
bängern für ben Vorboten eines neuen Weltalters, für
die Morgenröthe eines beffern Zuftandes der Menſchheit —
immer bleibt derſelbe eine bemerkenswerthe Aeußerung des
mobernen Geiftes.
Um Davis ben Leſern näher befannt zu machen,
wurbe das obengenannte Wert gewählt, auch nad) dem
Urtheil des verdienten Ueberſetzers Wittig fein wichtigftes
fowol der Entftehung als dem Inhalt nad. Ein neunzehn-
jähriger ungebildeter Jüngling von der bitrftigften Her-
funft und Erziehung entwidelt im magnetifchen Schlafe
in 157 „Borlefungen” ein vollftändiges Syflem der Natur-
und Geiſtesphiloſophie und erörtert alle Haupterfcheinun-
gen in der materiellen Schöpfung und in ber Gefchichte
der Menfchheit. Er behauptet, hierzu „beeindrudt“, in⸗
jpirirt worden zu fein, und feine Vorlefungen bilden ein
großes zufammenhängendes Syſtem, während er im
wachen Zuftande kaum einen Sat richtig fprechen Tann,
feine eigenen Dictate aus dem magnetifchen Schlafe nicht
begreift und fie erft mühſam verftehen lernen muß. An
Betrug von irgendeiner Seite ift in feiner Weife zu den⸗
fen. Davis, geb. 1826, war als Knabe in einer Mühle
befchäftigt, wurde dann Ladenburſche, Hirt, Yeldarbeiter,
Scufterlehrling, bis ihn 1843 der Schneibermeifter Le—
vingſton magnetifirte, wo er dann Kranke „mit über-
vafhendem Erfolg” behandelte und als „der Scher von
Poughlkeepſie“ bekannt wurde. Wenigftens vor den „Prin-
cipien der Natur" hat Davis feine witjenfchaftlichen Bücher,
fondern nur einige Yugendfehriften und leichte Romane
Neue fpiritualiftifde Schriften.
gelefen, aber nicht Lange nad) der Entwidelung feiner
Heilfraft wurde (1844) aud) feine intellectuelle Fähigkeit
im magnetifhen Zuftand ungemein erhöht und er ſchien
alle Wiflenfchaften zu verfiehen. Am 7. März 1844 fiel
‘er, ohne magnetifirt zu fein, zwei Tage in einen ganz
ungewöhnlichen Zuftand, war gefühllos für die äußern
Dinge, lebte nur in der innern Welt, erhielt dabei „durch
den Geift Swedenborg“ eine Belehrung über feine eigen-
thünlihe Sendung in die Welt und wurde zu feinen
Vorträgen angeregt. Er wird in diefer Zeit von feinem
fpätern Secretär Fiſhbough als ein junger Menſch von
äußerft wenig Schulbildung und großer Herzenseinfalt
geihildert, mit zarter Empfänglichkeit und befähigt, Natur⸗
principien zu erfaflen, wie nur wenige feines Alters. Im
November 1845 bezeichnete Davis, der ſich nad) Neuyork
begeben hatte, den Arzt yon als denjenigen, ber ihn
magnetifiven follte, und den Baftor Tifbough als ben
Protofollführer; beide hatten dieſes weder erwartet nod)
gewünſcht. Außer diefen wählte Davis noch drei beftän«
dige Zeugen, neben welchen aber noch eine Menge an-
derer Perfonen zeitweife den Sieungen anmwohnten, fodaß
die „Prineipien der Natur‘ von 267 Zeugen unterzeichnet
wurden, unter welchen fich Geiftliche, Richter, Gelehrte
befanden, von befanntern Namen Bufh, Profeſſor der
hebräiſchen und orientalifchen Sprachen, die Richter Par⸗
fons und Edmonds, Dr, med. Lee, Coleman, ber Her-
ausgeber bes „Spiritual Magazine”, der englifche Ver⸗
leger von Davis’ Werken Chapman m, f. w. Jede ber
157 Borlefungen dauerte 40 Minuten bis etwa 4 Stun⸗
den, in jeder dictirte Davis 3—15 große enggefchriebene
Seiten. Die erfte fand am 28. November 1845, bie
letzte am 25. Januar 1847 ftatt. Fiſbough wurde wegen
des von ihm mniedergefchriebenen Werks Unglauben und
Materialismus vorgeworfen; er erklärte aber noch 1869,
daß er Fein Urtheil über den innern Werth der Lehren
von Davis fälle, fondern nur bezeuge, daß fie jo aus-
gefprochen wurden, wie er fie blos mit grammatiſchen
und Stilverbefferungen niedergefchrieben habe. Er habe
aber nicht wiedergeben können „die feierliche Eindringlich-
kit und himmliſche Reinheit‘ der Vorträge.
Im Heüfehenden Zuftande, wo Davis dictirte, lag er
talt und ſtarr wie tobt mit ftodendem Athem und ſchwachem
Puls, und er behauptete, daß fein Förperliches Leben nur
noch durch den mit ihm verbundenen Magnetiſeur erhal
ten werbe und fein Geift nicht mehr in den Körper zurück⸗
fchren könnte, wenn durch einen Zufall die Verbindung
mit dem Magnetifeur aufgehoben würde. Dr. Lyon, den
das Magnetifiren fehr angriff, proteftirt gegen die An»
nahme, etwa ihm oder den andern Anwefenden die außer»
ordentlichen Einfichten zufchreiben zu wollen, welche Davis
entwidelte. Diefer ftand im magnetischen Zuftand mit
den Engeln und Geiftern der zweiten Sphäre, wie er fid)
ausdrückte (nämlich der zunüchſt auf diefes Leben folgen-
den), in Derbindung und fehaute ihre Zuſtände. Sowie
er einen deutlichen „Eindruck“ erhalten hatte, kehrte fein
Geiſt zum Körper zurück und brauchte die Sprachorgane
zur Mittheilung; nad) jedem Sage ſchwieg er, um wieder
nener „Beeinfluſſung“ zu harten. Er bereitete fi) mandj-
mal durch Faſten auf dns Helljehen vor, wodurch fein
Blut ganz ruhig und er der innern Concentration fähig
423
wurde, und fprah don der himmlischen Freude im ben
Stunden des Hellſehens. Die Frage, ob er fich nicht
häufig in perjönlicher Berührung mit geiftigen Wejen be-
fände, verneinte er, weil er ſonſt phyfifch und geiftig nicht
gefund bleiben könnte. Er fchrieb an Akſaͤkow: „Der
Inhalt der « Principien der Natur» gelangte Wort fiir Wort
durch meine Lippen, ohne die geringfte Vorüberlegung
oder Erziehung auf meiner Seite und während id) äußer-
lich deffen ganz unbewußt war, was innerlich durch mich
in die Form üÜberging, in der Sie e8 haben.” Reverend
Ripley fchreibt itbertreibend: „Wenn biefer junge Mann
auch nur als ein philofophifcher Poet betrachtet würde,
welcher fein Epos vom Univerfum gefungen hat, fo müß-
ten Dante und Milton wol ihre Häupter vor ihm ver⸗
bergen.” Reverend Harris bezeugt, daß ihn Davis von
| einer gefährlichen Krankheit geheilt, feine geheimften Ge
danken gelaunt und ihm erftaunliche Dinge vorhergefagt
babe, die genau eintrafen.
Davis beginnt mit der Vernunft und fieht bie einzige
Hoffnung für BVerbefferung der Welt im freien Gedanken
und der unbefchränkten Forfhung Er ift Deift, die
Natur weift ihn auf eine erfte Urfache, „den großen
pofitiven Geift” Bin, ber aber eigentlich doch nur den
erſten Anftoß gibt, denn Davis führt alles auf Bewe⸗
gung und Entwidelung zurück. Er ftellt die Behauptung
auf, daß jede Subftanz nur die unter ihr fiehenden Sub»
ftanzen, aber nicht fich felbft begreifen fünne, weshalb
er da8 Weſen und Princip des Geiftes offenbaren müſſe.
Bon der menfhlihen Drganifation gibt er eine höchſt
unbebolfene und unrichtige Darftellung, weil hierzu pofitive
Kenntniffe gehören; wenn es ſich aber um allgemeine,
durch die Vernunft erfennbare Dinge handelt, trifft er
oft das Richtige, fo wenn er behauptet, daß keine menſch⸗
the Kunft einen Organismus zu erzeugen vermöge, daß
Bemwußtfein und Intelligenz kein Refultat ber Organi«
fation fei, daß in allem ein intelligentes bewußtes Princip
walte, oder wenn er fagt, der wahre Anatoın werde nicht
die Theile des Ganzen vereinzeln, wenn er zu allgemeinen
Prineipien gelangen wolle, fondern er werde aus ben
Theilen das Ganze erforfchen. Die, welche ben Geift
aus der Materie entftehen laſſen, irren darin, daß fie
die Wirkung mit der Urfache verwechjeln; das erfte ift
der große pofitive Geift, und die Natur ift feine Wirkung,
die er benugt, um den menſchlichen Geift al8 letzten Zweck
bervorzubringen. Der große Geift beſitzt unbegreifliche
Macht und Kraft, göttliche Weisheit, unendliche Güte,
volllommenfte Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, ewige
Wahrheit. Ganz unvolllommen ift, was I, 145 über die
Kunft gejagt wird.
„Sm Anfang war das Univercölum oder der All-
himmel ein einziger grenzenlofer, unerdenfliher Dcean
von flüffigem Feuer.“ Die wiffenfchaftlihe Kosmologie
Läßt Hingegen das Teuer erft durch Anziehung und Reis
bung der materiellen Theilchen entftehen. Dieſe „fichtbare
Kugel“, der Allhimmel, wird nun mit bem großen pofi-
tiven Geiſte identificirt, mit feinen Eigenfchaften aus«
geftattet, ‚fo war das Ganze der Weltprincipien in einen
einzigen ungeheuern Wirbel reiner Intelligenz, bewußter
Geiſtigkeit vereinigt, defjen Entwidelung ewige Bewegung
iſt“. Hierdurch entflanden verjchiedene Cirkel von Welt.
424 Neue fpiritualiftifde Schriften.
törpern, und es follen Sonnen, die noch Feine fefte Con⸗
fiftenz gewonnen haben, „flammende Kometen” fein. In
der Eonftruction des Sternhimmels finden ſich eine Menge
ganz ımhaltbarer Borftelungen, und bie Regelmäßigfeit
der Weltenvertheilung, welche Davis ftatuirt, eriftirt nicht.
Alle Sonnen follen fi) um eine Centralfonne bewegen
und bie durch Mädler erwiejen fein, während dieſer
doch nur die Hypotheſe aufftellte, daß die Plejadengruppe
der Gravitationspunft für die Sonnen bes Milchſtraßen⸗
foftems fei, welches befanntlich nur eins der unzählbaren
Sternfyftene if. Davis ſpricht von einem achten umd
neunten Planeten, und weil um dieſe Zeit Neptun er⸗
rechnet und wahrgenommen wurbe, fo wird dies als etwas
Erftaunliches dargefiellt, aber Davis konnte ebenfo gut
ftatt von acht oder neun von zwölf Planeten fprechen und
immer behaupten, die legten wilrden nod) entdedt werben.
Uebrigens hatte ja bereit 1821 Bouvard aus der Be:
wegung des Uranus auf einen noch unbekannten flörenden
Planeten gefchlofien. Die Beleuchtung des Neptun durch
die Sonne foll erftaunlich hell, fiir das menjchliche Auge
ganz unerträglich fein, während doch ihr Licht im Qua⸗
drat der Entfernung abnimmt unb fir Neptun über neun⸗
hundertmal geringer als für die Erde if. Die Bildung
des Sonnenſyſtems, wie Davis fie darftellt, ift die be=
kannte Kant» Laplace’fche, welche ihm auf irgendeine Weiſe
zur Kenntniß gelommen fein muß. Wenn er die Pflan-
zen, Thiere umd intelligenten Weſen auf den fernen Pla-
neten in abentenerlicher Weiſe jchildert, fo hat dieſes kaum
mehr Werth als die wieder ganz anders lautenden Ans»
gaben mancher Somnambulen, welche Sonne, Mond und
Sterne durchreift Haben. Die Wfteroiden läßt er nad)
einer früher angenommenen, jegt befeitigten Hypotheſe
duch Zerfprengung eines größern Planeten- entfliehen.
Die urfprüngliche Form der Erde fol edig geweſen fein,
was nach dem Gravitationsgeſetz bei einer flüffigen Maſſe
unmöglih if. Der Granit beſitzt nad ihm etwa bie
Dichtigkeit des Duedfilbers, der am meiften verdünnte
Endzuftand der Atmojphäre ift das „Fluorin“, noch dünner
find die imponderabeln „Elemente Magnetismus und Elek⸗
tricität, eine längft befeitigte Borftellung. Der Diamagne-
tismus, wobei er Faraday nennt, wird als ein neuentded-
tes imponberables Element bezeichnet. In der Steinfoh-
lenzeit ſoll fich der früher viel größere Umfang der Erbe
durch Verdichtung bereit8 auf 435 geographifche Meilen
vermindert haben, während er doch jetzt noch 5400 Mei-
Ien beträgt. Und ©. 380 will Davis nachweiſen, daß
Ebbe und Flut nicht auf der Anziehung von Mond und
Sonne beruhen, „weil die Anziehung nicht über die At⸗
mofphäre eines Körpers hinansreiche‘‘!
Davis ſpricht von Stigmarien und Sigillarien, von
den großen foffilen Sauriern, unter anderm von einem
„Pleitheoſaurus“ (wol Plateofaurus); der Megalefaurus
bat zwei Beine, „welche infolge ihrer gefpreizten und zu⸗
fammengefetten Form Schwingen genannt worden find,
er hat auch zwei Floſſen“. Er will in der Paläontologie
die Lage der Geneſis anbringen, während er ſich doch
früher gegen den Begriff der Schöpfung erklärte und nur
Entwidelung annahm, und läßt am Schluß der ſechs Tage
die lebenden Arten zerflört werden: ebenfalls eine ver-
laſſene Meinung. Er glaubt ferner, daß feine Darftel-
Iung ben biblifchen Urbericht über die Schritte und Grabe
der Schöpfung unbeftreitbar bewahrheite, während er bie
Bibel fonft doch ſcharf kritifirt und nicht den richtigen
Begriff von ihr Hat, weshalb Richter Edmonds beklagt,
daß Davis fo wenig orthodor fei. Die Glieberthiere follen
aus der erften Ordnung der Mollusfen entfliehen, bie
Vierhänder waren am erften Theil bes fechsten Tags
fehr von den jetigen verfchieben und glichen denen auf
dem Planeten Saturn. Höchſt phantaftifche VBorftellungen
folgen fi bis zum Schluß des erfien Bandes. Dabei
ift immerbin fehr merkwürdig, daR ‘Davis trog dem ge⸗
finnungstüchtigften Darwinianer den Keim des Dienfchen
in den niederften Formen des Thierreichs entbedt und ihn
allmählich durch den großen vielverzweigten Stamm der
thierifchen Schöpfung als deſſen Frucht fi entwideln
läßt. Freilich wurden fchon von Lamard, Dfen m. a.
verwandte Anjchauungen ausgeſprochen. Die niebrigere
Form des Menfchen läßt Davis in Afrika, bie höhere im
Alten entftehen: eine Möglichkeit, bie ich, ohne von Davis
zu willen, bereitö 1863 in meinen „‚Anthropologifchen Vor⸗
trägen‘‘, ©. 91, beiprochen habe. Die fünf Blumenbach'⸗
hen Raffen Hält Davis für ganz correct und feiner Modi
fication bedürftig. Sehr unrichtig ift ein oft von ihm
ausgefprochener Grundfag, dag nur die allgemeinen Ideen
wirklich feien, „bie Einzelheiten aber nur die unwirkliche
und auswüchſige Berzweigung allgemeiner Principien“,
und jene allein der Betrachtung würdig, was an Hegel’fche
Anfchauung erinnert, wo ber Begriff als das Wefentliche,
die veale Eriftenz der Dinge als der wertblofe Schein
gilt, während die Sache ſich umgekehrt verhält.
Was im zweiten Bande, wo bie fchon im erſten be»
gonnene Geſchichte der Urvölker fortgefegt wird, über
beren Entftehung und Schickſale, fowie über beren Reli-
gionen, Meinungen, Sitten, die hervorragenden Männer,
namentlich Religionsftifter und Philofophen, gefagt wird,
muß als eine zwar mandjmal großartige, aber meift ganz
phantaftifche Kombination erflärt werden. Bei der Pro-
phetie muß nad) Davis die Perſon in Gemeinschaft ſtehen
„mit der urfprünglichen Abficht bes göttlichen Schöpfers
und mit den Gefegen, welche feine Abficht erfüllen“, in-
dem alles das Reſultat unveränderlichee Gefege ſei — eine
theilweiſe berechtigte Anſchauung. In Davis’ Kopfe be»
gegnen ſich ſehr verfchiedene Auffaffungen der Welt und
die Gedanken fehr verjchiebener Denker, ſodaß es nicht
wundern darf, auch die Swedenborg’sche Vorſtellung zu
finden, daß das Univerfum als Ganzes einen großen
Menfchen bilde, was dadurch möglich werde, daß es von
dem großen pofitiven Geifte bejeelt fe. Bon einem Sün⸗
denfall, von Erlöfungsbedürftigteit des menſchlichen Ge
ſchlechts will Davis nichts willen; Jeſus, obwol vollkom⸗
mener als je ein Menſch vor ihm, fei wie alle durch
bie Naturgefege entftanden, und da das Menfchengefchlecht
nichts verloren, nichts verwirkt habe, bebürfe es Feiner
Erlöfung, fondern nur fanfter Belehrung Das Neue
Zeftament wurde nicht vom Alten eingegeben und die
Propheten fahen erfteres nicht vorher, die Bibel Habe
feinen göttlichen Urfprung und fei keineswegs das Gen»
trum aller Wahrheit. Webernatürliche Dinge, d. h. folche,
welche den Naturgefegen zuwiberlaufen oder fie tberftei-
gen, gebe es nicht; behaupten, daß die Wunder von einer
Neue fpiritualiftifde Schriften.
übernatürlichen Kraft bewirkt wurden, heiße fie von einem
Nichts ableiten. Sehr verkehrt wird Charakter und Be-
fiimmung der Apoftel aufgefaßt. Davis zweifelt die Wun⸗
der der Bibel an und verlangt doch für jene, welde er
berfündet, Glauben.
Bon ©. 898 an wird nun ber Menſch nad, feiner
phyſiſchen und geiftigen Seite noch genauer betrachtet,
wobei Wahres und Falſches vielfach gemifcht find. Es
follen bie edigen Formen der Mineralwelt, die Freisrun-
den dem Pflanzenteiche, die fpiraligen dem Xhierreiche,
die geiftigen und himmlischen der Menfchenwelt entjprechen.
Schön ift, was Davis über das Sterben und ben Tod
ſagt. Die Anſchauungen jenfeitiger Zuftänbe find bei
jedem Biflonär anders, obwol alle, auch Davis, von einer
Bnfammengefellung der Abgeſchiedenen nach Sympathien,
von einer Ölieberung in niebere und höhere Vereine nad)
den Graben der Bolllommenheit fprechen, wie benn Davis
ſechs Stufen oder „Sphären” annimmt: die natürliche
(da8 gegenwärtige Leben), die geiftige, himmliſche, über⸗
natürliche, übergeiftige, überhimmlifche, und fpäter noch
eine fiebente, „ben unendlichen Wirbel der Liebe und
Weisheit und die große Sonne bes göttlichen Geiſtes,
welche alle geiftigen Welten erleuchtet” und welcher Davis
einmal jo nahe kam, daß feine Fähigkeiten eine Störung
erlitten Hätten, wäre er nicht ſchnell aus dem magneti-
hen Zuftand befreit worden — Angaben, wie fie aud)
bei einigen andern Biftonären fi finden.
Der letzte Abſchnitt mit der Ueberfchrift: „Eine Stimme
an die Menfchheit”, ift eine Art Socialphilofophie, wo
Davis die traurigen Zuftände, die Unvolllommenheit und
die Lafter der Menfchheit betrachtet, als Duelle alles
Elends den Egoismus und den Widerftreit der Intereſſen
bezeichnet und nach feiner Weiſe praftifche VBorjchläge zur.
Berbefferung madt. Er glaubt, die Menfchheit werde
zulegt zu „vertheilender Gerechtigkeit und Harmonie” ge-
langen, und beruft fich Hierbei auf Swebenborg und Fou⸗
ir. Schlecht kommen die Geiftlichen weg, welchen alles
Elend, alle Streitigkeiten, Kriege und Berwüftungen zu-
geihrieben werden. Jeder Menſch fei jegt ein Gegner
des Wohlſeins und Glücks der andern; die Menfchheit
müßte fo organifirt werben, daß die Stellung eines jeden
dem Natur⸗ und göttlichen Gefeße entſpricht, „Fortſchritt
ift ber Name des Erlöfers der Welt, den der Spiritis-
mus offenbart, welcher ber Welt wahre Medicin ift”.
So viel ift richtig, daß viele Amerikaner, welche durch
das Chriftenthum nicht befriedigt find, ſich zu den Schrif-
ten von Davis, überhaupt zum Spiritismus wenden.
Davis’ „Principien der Natur” find jedenfalls eins
der merkwürbdigften Producte bes magnetifchen Zuftandes,
eine Berbindung von Erkenntniffen der pofitiven Wiflen-
haft mit eigenen, häufig unhaltbaren Combinationen,
vielen Irrthüumern, wie auch Bufh und Chapman an-
erlennen — nnd zugleich genialen Einbliden in das Syſtem
der Welt, ſoweit foldhe ohne empiriſche Forſchung durch
die Intelligenz allein möglich find und wozu unter anderm
der Grundgedanke gehört, daß alle fihtbaren Dinge Aus-
drud der innern erzengenden Urfachen, “der geiftigen We⸗
jenheiten find. Nach meiner Meinung kann und fol die‘
pofitive Erkenntniß der finnlichen Welt nur dur den
finnlichen Menſchen zu Stande kommen; es gehören hierzu
1870, 37.
426
mit einem Organismus ausgeftattete Geifter. Noch nie
find dur Seher und Somnambulen finnliche Berhältniffe
der materiellen Welt als folche erfannt, noch nie ift auf
biefem Wege eine empirifche Wahrheit der Naturwifien-
haft entdedt worden. Die Gegner wollen den unver-
ſöhnlichen Widerſpruch bedenken, in welchen fie fich mit
ihrer Meinung befinden. Der Clairvoyant (alfo auch
Davis) Liegt unempfindlich für die äußere Welt mit ge-
ſchloſſenen Sinnen da und foll doch ©egenftände der
materiellen Welt auf finnliche Weife erkennen. Nur
Phantafieanſchauungen und Ideencombinationen von ber
materiellen Welt find in jenen Zuftänden möglich, welche
wahr oder auch faljch fein können. Anders ift e8 mit
der Erkenntniß metaphyſiſcher Wahrheiten und mit ben
Beziehungen auf das geiftige Reich, aus welchem Grunde
manchmal in der Ekſtaſe menfchliche Schidjale und Er-
eignifje geſchaut werden, welche räumlich entfernt vorgehen,
früher eingetreten find oder auch erft eintreten follen.
Wenn ein Biflonär uns über Verhältniffe der materiellen
Welt belehren zu können glaubt, jo befindet er fi in
einer für diefen Zuſtand charakteriftifchen Selbſttäuſchung
und feine Kundgebungen können nur den Unwiſſenden und
Halbgebildeten imponiren.
Wie find aber die piychologifch jo merkwürdigen „Prin⸗
cipien der Natur” zu Stande gelommen? Die Spiritiften
zweifeln feinen Augenblid daran, daß fie Davis von
Geiftern mitgetheilt wurden, allerdings wie Chapman
meint, wegen ihrer vielen Irrthümer von folden, die
zwar „einige Grade” über der höchſten menſchlichen In⸗
telligenz erhaben, aber doc dem Irrthum unterworfen
find. Davis felbft erflärt, daß er nicht wörtliche Ein-
gebungen von höhern Geiftern erhalte, fondern nur
Eindrücke aus einer höhern Sphäre, die er in feine geiftige
Anſchauung aufnehme, innerlich verarbeite und dann mit feinen
Worten barftelle.... Der befondere Einfluß und Schuß geifti-
ger Weſen ift fozufagen nur eingefchaltet in die unabhängig
geichriebenen Kapitel unſers Dafeine.... Meine Belehrung ift
nicht hergeleitet von irgendwelchen Perfonen, die in der Sphäre
eben, in die mein Geiſt eintritt, fondern fie ift das Refultat
eines Geſetzes der Wahrheit, das von dem großen pofitiven
Geifte ausgeht und alle Sphären des Dafeins durchdringt.
Und an einer andern Stelle jagt er (I, 67 fg.):
Meine innere Lebensiphäre ift gejellt mit dem Iettten Zu-
fländen oder Wirflichkeiten aller gröbern Subftanzen, und durch
eine folhe Verbindung verfolge ih die Subjecte oder Gegen⸗
fände analytifch, doch angenblicklich von ihrer Urſache zu ihrer
Wirkung, und diefes verfieht mich mit der Kenntniß, welde
auf enern Geift und Berftand den Eindrud macht, als wlirde
fie von einem birecten übernatürlichen und geiftigen Verlehr
hergeleitet... Urfahe und Wirkung ftellen ſich mir faft im
felben Augenblid dar und verleihen mir das Vermögen, vom
Allgemeinen auf das Befondere zu fließen.
Deutlicher konnte Davis nicht ausdriden, daß feine
eigene gefteigerte Intuition, welche ihn das Innere der
Dinge und die caufalen Berhältniffe durchdringen Täßt,
feine Erfenntniß herbeiführe. Wenn wir in allen folchen
Fällen e8 mit Geiftern zu thun haben follen, warım
zeigen fih denn dieſe nah Zeit und Bildungsgrad fo
verjchteden: greulich oder läppiſch und kindiſch bei den
Heren bes Mittelalters, bet Beaumont, Anna Jefferies
u. f. w., hingegen menfhli und anftändig bei den Spi-
ritiften unferer Zeit? Man will PBroductionen wie die
von Davis durch Geifter Abgefchiedener hervorbringen
64
7
lafien, weil man die Kraft des Iebenden Menſchen zu
gering anfchlägt, während doch viele Heroen der Wiſſen⸗
ſchaft und Kunft, wie Rafael, Mozart, Schiller n. f. w.
in einem verbältnißmäßig kurzen Leben der Welt eine
Fülle der bebeutendften Schöpfungen gefchentt haben. Man
vergißt die Macht des Genius, der oft mit wenig Hülfs-
mitteln ohne lange Vorbereitung Außerordentliches Leiftet.
Davis ift ohne Zweifel in feiner Art ein Genie, befien
Geiſt wol lange vor dem Dictiven der „Principien“ inner«
lich viel gearbeitet hat. Hierzu kommt dann die Er-
böhung der Seelenkräfte beim Helljehen, wo alles, was
je gejehen und vernommen wurde und durch Seelen»
gemeinfchaft mit den Anwefenden gewonnen wird, zur
leiten Dispofition ficht. Aber jo ganz ohne äußere
Hülfsmittel, Kenntniffe zu erwerben, war Davis doch
nicht. In jedem Zeitungsblatt werden jetzt wiſſenſchaft⸗
liche Gegenftände befprochen,, in jeder Converfation Flingen
folde an. Und ein Brief von Bartlett an Fiſbough von
1847 lehrt uns, daß der junge Davis ein forfchender
Geiſt war, die Bücher, befonders die religiöfen Streit⸗
ſchriften liebte und ein guter Denker geworden fei, weldyer
die Gejellfchaft erfahrener Männer fuchte, gern und viel
fragte, zugleich ein höheres Streben offenbarte und ganz
wahrhaft war.
Und doch werden durch all diefes allein die Pro⸗
ductionen von Davis wie ähnliche nicht erflärt, fondern
es muß noch das magifche Vermögen des Menfchen Hinzu-
fommen. Diefes befähigte einmal Davis, im magnetischen
Zuftande im Geifte der Anweſenden zu lefen und bis zu
einem gewillen Grade an ihren Gedanken und Erinne
rungen theilgunehmen, und zweitens, auf eine außerordent«
liche Weife felbft von Büchern Kenntniß zu erhalten, die,
wie es fcheint, auch den Anweſenden unbelannt "waren.
Frau Mary Davis ſchreibt an Alſakow unter dem 6. Ja⸗
nuar 1869, ihr theuerer Gatte habe bisjetzt nie Bücher
gelejen, er leje aber wie immer die Zeitungen. Manchmal
lefe fie ihm einen Mufterroman vor, aber ihm fei das
Lefen widerwärtig, er könne ja mit den Verfaſſern birect
Belanntichaft machen:
Wenn er Über einen Gegenftand fchreibt, fo ſcheint er zu
wiffen, was darüber von andern gejchrieben worden iſt, und
kann ans ihren Blichern citiren, ohne diejelben zır fehen. Er
thut diefes, wenn dergleihen Bücher nicht Leicht zugänglich find;
wenn fie aber zur Hand find, fo ſchlägt er die betreffende Seite
auf, von der er eine inftinctive Kenntniß hat.... Aber obgleich
mein geliebter Jackſſon Feine befondere Berehrung für Bücher
und nie ein wiflenfchaftliches, philofopHifches oder theologifches
426 Neue Romane.
Werk außer den Correcturbogen feiner eigenen Werle gefefen
bat, fo ift er dennoch durch feine innere Methode bekannt mit
den Gedanken vergangener und gegenmwärtiger Schriftſteller,
felbN mit ihrem Gemüth, ja noch tiefer, mit deu Tendenzen
ihrer geifligen Natur. Daher ift ihm Platon fein Fremdling,
nod) Galen, noch Smwebenborg, noch Emerfon jebt.
Prof. Buſh führt an, Davis habe im magnetischen
Zuftand mit außerorbentlicher Genauigkeit Worte und
Sätze aus alten Sprachen citirt, von denen er im Wwa-
hen Zuftand nicht die mindefte Kenntniß beſaß. Es if
bier nicht der Ort, diefe außerordentliche Fähigkeit weiter
zu erörtern, und ich will nur anführen, daß einige wenige
analoge Fälle befannt find, und daran erinnern, was in
meinen „Bliden in das verborgene Leben bes Menfchen-
geiftes” von Herfch- Dänemark gefagt ift, und an den von
Delrien berichteten Fall („Myſtiſche Erſcheinungen ber
menfchlichen Natur”). Wenn man night Mittheilung duch
individuelle Geifter mit den Spiritiften annehmen will,
fo bleiben nur zwei Annahmen zur Erklärung. Entweber
iſt nämlich die Erfenntnißfphäre eines Menfchen in folchen
außerordentlichen Zuftänden ungewöhnlich erweitert umd
es treten bei ihm Kräfte in Wirkung, welche im gemöhn-
lichen Leben latent find, oder er participirt für beftimmte
Gegenflände am Wiffen des univerfalen Geiftes, vor dem
alles offen Liegt.
Nach Parſons war der wache und magnetifche Zuftand
bei Davis bis zum 16. Mai 1847 ftreng gefchieden, aber
von jest an trat eine Vermiſchung beider Zuftände ein,
d. 5. wenn ich vecht verftehe, es fand Erinnerung mb
Einwirtung aus dem magnetifchen in das wache Leben
ftatt. Bom December 1847—68 entwidelte nun Davis
eine ungemeine Thätigkeit als Schriftfteller, indem er eine
Menge von Werken herausgab, Artikel in die Zeitjchrift
„Univercölum“ ſchrieb, eine Zeit lang den von) ihm ges
gründeten „Herald of Progress’ redigirte, was alles Hof-
rath Alfalow in feiner Einleitung zum erften Bande der
„Principien“ dargeftellt hat. Bon William Green erfährt
man, daß Davis 1850 bei ihm Wohnung nahm, wo er
die „Große Harmonie” fchrieb, täglich unter den Bäumen
im Garten figend und mit einem Bleiftift fo ſchnell ſchrei⸗
bend, al8 ex zu fchreiben vermochte, worauf er das Ges
fchriebene Tag für Tag drudfertig für die Preſſe ins
Haus brachte. Man ficht, daB Davis, obſchon nicht
magnetifirt, doch fortwährend in dem Zufland war, in
welchen man beim fogenannten „Geiſterſchreiben“ ift.
, Maximilian Perlp.
(Der Beichluß folgt in der nächſten Numıner.)
Hene Romane.
1. Das Geheimnig der Frau von Niya. ine Gefchichte
aus den Testen Lebensjahren Ludwig's XIV. von Emile
Mario Bacano. Jena, Coftenoble.. 1869. 8,
1 Thlr. 15 Nor.
Warum nicht gleich auf dem Titelblatt jagen: Cine
Siftmifchergefchichte? das würde jedenfalls lockender fein.
Denn bie Zeit Ludwig's XIV., durch unzählige Romane
und Novellen, Luſt⸗ und ZTrauerfpiele wie durch ebenfo
viele bedeutende und unbedeutende Autoren und Schau-
fpieler uns unabfäffig in das Gedächtniß gerufen, ift
nachgerade erfchöpft, und fie ınuß etwas ganz Abnormes
darbieten, um das Intereſſe fiir die Maitreffenregentfchaft,
unter welcher Frankreich zu jener Zeit faulte, immer wies
der zu weden. Ludwig XIV. ift in dem vorliegenden
Buche nicht viel mehr als eine DMarionette mit bidem
Bauh auf dünnen Beinen, einer Alongeperrüfe und
einem Stod, ben er in einer wüthenden Stimmung
über ein auf ihm gemachtes Pasquill zum Prügeln eines
Bedienten benukt.
Auf eine für die Sfandalintrigue immer empfängliche
Neue Romane 427
!efewelt rechnend und mit Hülfe eines flets die Neugier
pridelnden Gcheimnifjes ift die Gefchichte der Frau von
Nizza — mit den grünen Augen und ben rothen Haaren
und den erft bronzenen, dann aus Zerftreutheit des Autors
blütenweißen und ſchließlich ſogar alabafterweißen Hän⸗
den — zuſammengekünſtelt: eine Verbrechergeſchichte,
die ebenfo gut an jedem andern Ort, mit jeder andern
Staffage als der jenes verkommenen Hofs hätte erzählt
werden können. Und wie iſt ſie erzählt? Mit einem
Aufwand von Abſurditäten, der uns vorkommt wie die
mouches ridicules, wodurch ſich ein fades Geſicht inter⸗
eſſant zu machen ſucht, mit einer Sofetterie des Stile,
welche das gefchraubtefte Salongeplauber unferer Moder-
nen noch überbietet, und dabei mit einer Farbenver⸗
jhwendung bei Ausmalung des Ekelhaften, welches die
Nervöfen, die nah Vacano greifen, nur noch nervöfer
machen muß.
Als wir Vacano zum erfien mal in einem Journal
antrafen, glaubten wir einem fatirifhen Schriftfteller zıf
begegnen, der es fich angelegen fein laſſe, feine fchon
outrirenden Autoren⸗Collegen noch zu überbieten; nad)
und nad) find wir aber von diefer Anficht zurückgekommen,
obwol wir und noch immer nicht davon losmachen können,
daß Bacano fi über das Publilum, für welches er vor»
zugsweiſe fehreibt, luſtig machen will, daß er es gewiffer-
maßen auf die Probe ftellt, wie weit man es im Unfinn
treiben Tönne, indem er babei mit ſtiller Genugthuung
wahrnimmt, wie er nur immer heißhungriger verfchlun-
gen wird,
Einige Sprachverriidtheiten, die wir aus der „Frau
von Rizza” geben, find nicht etwa jenen einzelnen Worten
Talleyrand's zu vergleichen, mit denen er einen unfchul«
digen Menſchen an den Galgen zu bringen ſich vermaß;
nein, fie find die gäng und gebe Miinze, mit der Bacano
übermüthig klimpert. Aber man büdt fi) nach diefen
andgeftreuten Euriofitäten, da e8 wirklich Seltenheiten find;
denn wo findet man fonft als bei ihm „eine Nafe, die
Witze macht”, „Vorhänge, welche niederragen”, „Augen,
welche dunkle Lichter ſprühen“, „von Gedanken überfchwellte
Augen”, „tugendhafte Blumenbeete”, „lachende und knixende
Buchsbaumgewächſe“, „Lüchelnden Sammt“, „einen apoplek⸗
tiſchen Seſſel und eine affectirte Hand”? wo ſtirbt man,
wie bei ihm, „zum todten Leben des Augenblicks Bin‘?
Und dabei glogt und lechzt, fröftelt und rauſcht, Klingt,
peitjcht und kriecht e8 bei ihm auf fo eigenthümlich Bacano’sche
Weiſe. „Die Bäume fröfteln‘, „die Menfchen fröfteln
biß in die Lederüberzüge der Möbel”; der Himmel glogt
dazu und der Spiegel glotzt; da8 Laub der Bäume rauſcht
wie Schuppen gegeneinander, und die Engel umraufchen
die Menfhen; das Blut eined Ermordeten kriecht am
Schleppfehleier einer Dame in die Höhe, und die Augen
einer Lefenden Friechen über die Lettern des Gebetbuches;
die Stimme Hlingt wie Dornen, die man zertritt, das
Schilf wuchert in den Bafen, da8 Geld riefelt, der
Schleier rinnt, bie Lippen find feft verbiffen, die Heirath
wird gejchlihtet, der Sturm brüllt die Dame an umd
peitfcht die Locken in ihrem Naden, benn es ift „eine
winmernde Sturmnacht“, und fo werden bie Leſer von
Seite zu Seite gefoppt.
Doch nun zu ber Zabel ſelbſt. Bacano fcheint aud)
der Anficht zu fein: daß alles begreifen auch alles ver-
zeihen ift; denn: „Was ift Sünde?“ fragt feine geheimniß-
volle Frau von Nizza, durch die eben drei Menfchen
vergiftet wurden, obwol fie nur auf ihre Nebenbuhlerin
pointirt hatte. „Warum war fie nicht in einer norbiichen
Hütte geboren, unter den ziehenden Wolken eines ruhigen
Himmels, einer friedlichen glüdlichen Ehe, oder einen
einfomen ergebenen Alter entgegengewachſen?“ Bei
Bacano wachen die Menfchen demnah noch im Alter,
wie die Bäume in den Himmel. „War es ihre Schuld”,
fragt die Giftmifcherin weiter, „daß fie, mit Flammen im
Herzen, ihm begegnete?“ der fie zum Morden veranlaßte.
Demnach könnte man allen denen, die unter einem ſüd⸗
lichen Himmel geboren find und Flammen im Herzen
haben, das Morden und Giftmifchen verzeihen, das bei
den nordifchen Frauen unverzeihlich bleibt. Das ganze
Geheimnig der Frau von Nizza befteht nämlich darin,
daß fie, weil fie die Tiebe des Malers Rene Jadien, für
den fie Flammen im Herzen Hat, nicht erzwingen kann,
die Gunſt Ludwig's XIV. dazu benutzt, das unſchuldige
Mädchen, das der Maler liebt, an einen unausſtehlichen
Gecken zu verheirathen, und da dies nichts fruchtet, indem
Rene auch an die Verheirathete mit der gleichen Liebesglut
denkt, jo wird diefe durch vergifteten Schnupftabad von
der Gräfin: von Nizza aus dem Wege geräumt.
Da alle Welt am Hofe Ludwig’s XIV. and Refpect
gegen die Maintenon ſchnupft, und die Dofe zufällig noch
in bie Hände von zwei andern Perfonen kommt, die
daraus fchnupfen, fo fterben biefe beiden auch. Das
Geheimniß der Frau von Nizza bleibt nicht unverhüllt,
aber e8 fehlt der Beweis ihres Verbrechens; fie verläßt
mit ihrem fiebzigjährigen Gatten Paris und wird von ihm
nach Holland geführt, wo der alte Herr, der bisher
als durchaus edel gefchildert war, ben Maler Rene zu
Leyden in einem Garten ermordet, und dann feine ftraf-
bare Gattin — der er immer noch Hand und Stirn
füßt, obmwol er weiß, daß fie fih Rene angetragen hat,
von ihm zurüdgewiefen wurde und dann das unfchuldige
Weib vergiftete, das ihr im feinem Herzen im Wege
war — wie zu einer Üeberrafhung an das Bosket in
leydener Garten führt, wo der ermordete Rene in feinem
Blute ſchwimmt, das bis „in die Spigen feiner Hals-
krauſe kriecht“.
Der edle alte Graf alſo mordet den ſchuldloſen Maler
Rene, obgleich dieſer keine Beziehungen zu Frau von Nizza
haben wollte, nur um Beatrice durdy den Anblid des
Todten von ihrer wahnfinnigen Liebe zu curiren und fich
ben Nebenbuhler vom Halſe zu fchaffen. Iſt das nicht
mehr wie roh und abſcheulich? fteht die Giftmifcherin aus
flammender Yugendleidenfchaft dem greifen Mörder nicht
erhaben gegenüber, ſodaß er mit Recht ihr noch ehr-
furhtsvoll bie Hände küſſen kann? Warum der Mord
in Holland und gerabe an einem Sonntag Nachmittag,
bei hellem lichten Tage, während alles in Leyden tanzt,
fidelt, lacht und fcherzt, ausgeführt werden muß, bleibt
unerklärlich; vielleicht war die Schilderung eines Sonntags
in Holland fchon früher für eine holländiſche Novelle ge-
fhrieben und wurde Bier nur zur Verlängerung des
Buchs eingefchoben. Daß nun — wie lebendig und far-
benrichtig auch bie Schilderung fein mag, die nur zu viel
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4928 Neue Romane,
Aufgeftillptes bringt, denn die fetten Holländer haben
nicht blos aufgeflülpte Nafen, fogar aufgeftlilpte Gefichter —
diefes Bild gemüthlichen Sonntagsbehagens als Einleitung
zu dem fcheuglihen Mord ausgemalt wird, zeugt von
einer Barbarei der Aefthetik, fir die wir Feine Bezeichnung
haben, ebenfo wenig wie für bie umnfittliche Tendenz der
gemeinen Berbrechergefchichte jelbft.
Kommen wir nun zu dem Fetten und Magern, wo-
durch Ludwig XIV. und feine Umgebung in der Geſchichte
der Frau von Nizza gezeichnet find: „Das alte Weib, die
Lavalliere, Freuzt die dürren Arme über ber Bruft und
öffnet den zahnlofen Mund in dem gelben eingetrodneten
Geſicht“; dagegen erjcheint Ludwig „in feiner felbft be-
wußten Bette, in feinem verfallenden öligen Greifentfum
der ausgebörrten ehemaligen, Öeliebten gegenüber”. Vacano
„lorgnirt den König nur in feinem fetten Erlöfchen, denn
der liche Gott wird ihn richten nad feinen Wurzeln‘,
Er malt deshalb das Fettbild des Königs jo unäfthetifch
genau aus, „weil er nichts Widerwärtigeres Tennt als
die Frivolität deutfcher und franzöflfcher Romanfchreiber,
welche die volliten Namen bernehmen, um eine Heirath
zu ſchlichten, ober ein Verbrechen zu ftrafen, ohne daß
ihr Auge jemal® auch nur bis zur Hüfte diefer hiſto⸗
riſchen Geftalt oder diefer Hiftorifchen Weone gelangt
wäre”,
Sehr viel anderes Magered und Fettes wechſelt bei
andern Perfonaljchilderungen. Auch wird ganz commun
geplaubdert, denn Ninon de l'Enclos, welche der Frau von
Nizza gute Lehren aus eigener Erfahrung gibt, bemerkt
unter anderm: „Die Frauen würden ſchlecht fahren, die
nichts weiter hätten als ihre Schönheit.‘
VBacano's Novellen mögen in allen Salons und Pepfions-
anftalten mit Wolluft verjchlungen werden und der Autor
mag aus diefem Grunde der Begehrte aller Journale fein,
wir müffen bedauern, daß ein geiftreiher Schriftfteller wie
er fi) nicht auf einem würdigern Felde und mit edlern
Mitteln die Herzen feiner Lefer zu erobern ſucht. So
viel wird er als erfahrener Mann felber willen, daß die-
jenigen, welche Bacano- Novellen goutiven, durch diefe ihr
faltes Inneres nur galvanifiren, nicht aber erwärmen, daß
fie durch folche Koft ihren nad Pilantem hungrigen Geift
momentan wol Fe und neden, aber nicht bilden und
erheben. Bielleiht gibt e8 beren, welche diefe Novellen
dennoch bejonders den Damen empfehlen !
2. Künftlerfireihe. Roman von Wilhelm Jäger. Drei Bänbe.
Leipzig, Kollmann. 1869. 8. 3 Thlr.
Wenn es die Aufgabe eines Kritikers fein foll, unter
ber Titerarifchen Spreu ben Weizen zu finden uud unbe
fannte Autorennamen zu Ehren zu bringen, fo ift es
wol zunädhft die Aufgabe der Unbelannten, fich felbft
einen Ehrenpreis zu erringen. Übgefehen davon, daß
man Erſtlingswerke ſtets nachfichtiger beurtheilt als fpätere
aus derſelben „Feder“ — denn auch das Schriftftellern
madt ſich nicht fo von felbft, wie viele meinen, die ruhm⸗
und geldgierig an das Zintenfaß appelliren —, fo gibt es
doch Erftlingswerke, die das Prognoftilon der Uunbe⸗
dentendheit für alle jpätern fo umnbezweifelbar herans-
ftellen, daß fich Feinerlei Hoffnung für ſolche möglicher-
weife noch erfcheinende hegen Läßt.
Indem wir uns hier bei einem unbebeutenden: Werke
deshalb Länger aufhalten, als daſſelbe feinem Juhalte nad)
beanfpruchen darf, handeln wir im Intereſſe des Leſe⸗
publitums, da8 vor der Nachfolge zu fehlen ift, wie aud)
im Intereſſe folher Autoren, die viel Beſſeres und Nütz-
licheres thun können, als ohne Poefie und Phantaſie Ein-
tagsromane zu fehreiben.
„Künftlerftreiche” nennt Wilhelm Jäger einen Roman,
der feiner Einbildung — wir unterfcheiben das Wort
von Einbildungsfraft — entjprungen, und will durch
diefen genial Eingenden Titel locken, während er doch nur
damit täufcht; denn in dem ganzen Buche — drei Bünde
in Einem Umſchlag — kommt aud nicht ein einziger
Künftlerftreich vor, dagegen viele andere Streiche, deren
genauere Bezeichnung uns erlafen fein möge, die aber
beſſer geftrihen wären. Unäfthetifches miſcht fid) mit
Frivolem und Abenteuerlihen. Einem entlanfenen Leib⸗
eigenen, einem Böhmen und Sagottbläfer, ber feinen deutſchen
Namen Pider in ben italienifch Hingenden Carbonelli un
gewandelt, follen bie Vorderzühne zur Strafe für fein
Weglaufen und Namenwechfeln ausgebrochen werden; bie
Brechſtange ſchwebt ftets wie das Schwert des Damofles
nicht blos in effigie, fondern in Wirklichfeit über dem
Haupte des Unglüdlichen, nämlich in der Hand eines ge
bungenen Zahnausbredgers, der in unbewachten Diomenten
fein Attentat auszuüben beabfidhtigt. Ein verbeiratheter
Advocat taufcht mit einer Zukunftsjchanfpielerin, inzwischen
noch Kammerjungfer, Küſſe im Poſtwagen auf eine nichts
weniger als belicate Weife. Cine Zugendheldin und
Heldin des Romans will fi in das Waſſer ftürzen,
weil fie eine unglüdliche Liebe zu einem von fern am
Genfter gefehenen Studenten hegt, und wird von einem
Gärtner gerettet, der diefes Mädchen in feine Wohnung
aufnimmt, da e8 einer Zwangsverlobung und dem vüter«
lihen Haufe entflohen ift. Ein regierender Fürſt, der die
Maitreſſen begünſtigt und Hübfchen jungen Mädchen nad)-
ftellen läßt, ein Orgelbauer, ein penfionirter Lieutenant,
das find die Hauptfiguren, bie fih in dem Roman tiber
Muſik, Staatsintereffen und Liebe unterhalten und Heine
Intriguen anzetteln.
Einzelne geſchichtliche Figuren in einem fonft ganz
ungefchichtlichen Roman nehmen ſich immer fehr lomiſch,
wie mit den Haaren berbeigezogen aus; fo auch bier
der Abt Vogler, den jeder andere Drgelfpieler hätte
vertreten können, und der Kurfürſt Karl Theodor von
ber Pfalz, der ein beliebiger frivoler Fürft X fein
onnte.
Hätte Wilhelm Jäger, ftatt ſolche Relieffiguren herbei⸗
zuziehen, bie ſich ihm bieten, bie Motive beffer zu benuten
gewußt, jo würde der Augenblid, in welchem Klara durch
den heimlich geliebten Studenten bei tiefftem Dunkel ans
einem Bollögedränge gerettet wird und er zum erften mal
ihr Angeficht zu jehen befommt, als fie in feinen Armen
ruht und eben der Mond durch die Wolfen bricht, zu
einem hochpoetifchen ſich haben fteigern laſſen. So bot
fi) bei der Lebensrettung Klara's durch ben Gärtner
ebenfall8 eine Gelegenheit, die Heilung der Unglüdlichen
dur die Befchäftigung mit den Blumen im Garten auf
poetifhe Weife berbeizuführen. Statt befien aber fin
det ſich nirgends ein pfychologifches Eingehen, fondern nur
Neue Romane,
ein buntes Durcheinander, das verfchiedenen Ehebünd⸗
niffen entgegeneilt, wodurd diejenigen Leferinnen, wel«
den das Eheftiften im Blute liegt, auf ihre Rechnung
lommen.
3. Das Erbe Tosbka's.
Erzählung von T. S. Braun.
Ziel Bünde. Leipzig, Grunom. 1870. 8. 2 Thlr.
r.
4. Eine angene Eur. Bon T. S. Braun, Leipzig, Grunow.
1870. 8. 1 Zhlr. 10 Nor.
Die beiden Romane von Braun, obwol beide in
weiblich anmntdiger Weife gefchrieben, find doch einander
ganz unähnlid, indem der erftere von Anfang bis zum
Schluß im höchſten Grade ſpannend ift, der zweite nicht
einen Moment der Spannung enthält, nur ein heiter
lachendes Bild eines Badeaufenthalts und des Zufammen-
lebens von acht Perfonen bietet, ans denen vier Ehepaare
werden. Das Piychologifche bei der „Gelungenen Eur“
liegt zwifchen den Zeilen, der Leſer kann es ſich ergänzen,
der Erzählung damit Füllung geben. Nicht der Gedanke
allein, daß das Aufeinanbersangewiefen-fein in einem Heinen
Badeort das Sprichwort wahr werden läßt: Umgang made
Liebe, wie Gelegenheit Diebe, ift hervorzuheben, es kommt
auch noch das zweite Moment hinzu: daß der Anblid von
Liebenden den Wunſch, ebenfo geliebt zu werben, erweckt.
Diefer Wirkung zufolge wird denn aud ein fonft pro«
faifch denkender Witwer durch das „Angefhwärmtwerden‘
feiner beiden Töchter, die er gerabe deshalb in das Heine
Bad Le Preſe geführt, um fie vor Freiern zu ſchützen,
veranlaßt, felber zu ſchwärmen und einer tugendhaft
tranernden Witwe, die fi) aber erweichen läßt, fein Herz
und feine Hand anzubieten, Desgleichen hat ſich ein bis
dahin gegen Amorsmwaffen hieb⸗ und ftichfeft gebliebener
bierzigjühriger Engländer in ein Berliebtfein bineinlorg-
nettirt und läßt fich mit einer malade imaginaire höchſt
dramatifh am Waflerfall trauen. Die beiben jungen
Mädchen machen bie beiden jungen Männer in dem
Badeort glüdlih, und alles ift befriedigt bei ber Abreife
von Le Preſe — und dem Schluffe des Buchs,
Weniger ift bie der Fall bei „Toska's Erbe“. Die
je8 Erbe befteht in dem durch eine gemeine Abſtam⸗
mung überfonmenen Hang zur Intrigue, zur Gelbgier
and zum Stehlen. Die vornehm erzogene Toska ſchau⸗
dert vor fich felbft, als fie den erften Griff in einen
fremden Beutel gethban, und obwol fie das entiwendete
Geld unter einem raſch erfonnenen Vorwand haſtig wie-
der zurüdgibt, thut fie nichtsdeftoweniger ben zweiten.
Dabei ift diefe geborene Diebin hinreißend geiftreih, ta-
lentvoll, kokett und pilant; fie fefjelt und flachelt, reizt
junge und alte Männer, macht den tranernden Witwer
feiner erſt beftatteten Gattin untreu, entreißt der unſchul⸗
digen Braut ben Bräutigam, kurz ift gewifjenlos nad)
allen Seiten bin und hält niemand ber Berückſichtigung
werth, wo es bie Befriedigung ihres Egoismus gilt.
Zosfe endet in dem Buche mit den Belenntniffen ihrer
Schlechtigkeiten und will, nachdem fie fi in einem
anftändigen Haufe unmöglich gemacht Hat, einen neuen
Lebensweg einfchlagen, von dem wir jedoch nichts mehr
erfahren. So fehlt auch die frühere Entwidelung des
im Zuchthauſe geborenen und dann von einer Herzogin
angenommenen Kindes, fowie bie des fpäter in dem
| nn u... mn
429
Haufe eines Majors erzogenen Mädchens; wir erfahren
nicht, ob fich die Begierde zu ftehlen ſchon in dem Kinde
regte und wie man ihr im ber Erziehung begegnete.
Wie num trog des Zugs zum Gemeinen Toska durch
ihr vornehmes und berechnetes Weſen imponirt und bien-
bet, das ift Fünftlerifch durchgeführt und macht das Bud)
im höchſten Maße interefjant. Die Fortfegung von
Tosta's Leben können wir der Berfafferin jedoch nicht er-
lafien, will ſie nicht, daß wir diefes Werk nur als ein
Fragment betrachten follen.
5. Die Rofe von Urach. Eine Erzählung in drei Bänden von
Gottfried Flammberg. Stuttgart, 3. F. Steinfopf.
1869. 8. 2 Thlr. 6 Ner.
Diefer dreibündige Unterhaltungsromean ift von ten-
denziöfen Standpunfte aus mit fpeciell confeffioneller
Värbung abgefaßt. Gottfried? Flammberg nennt fein
Werk eine Erzählung. Immerhin, die Sache bleibt ſich
gleih. Das romantifch Rohe und das roh Romantifche
ift jo ſtark in dieſer „Roſe“ vertreten, welche den großen
literariſchen Roſenkranz nicht um ein Zwergröschen, viel-
mehr um eine recht dide volle Klatſchroſe erweitert,
dag wir der Erzählung mit gutem Recht für „die
Berfchlingenden” den Lodtitel Roman geben dürfen, Ge-
wöhnlid find die ZTitelrofen von Romanen und Erzäh-
lungen junge Mädchen, in welche ſich fämmtlihe in
dem Roman auftretende junge Männer verlieben. Ss
auch bier. Pfarrersröschen von Urach, kaum im Auf
Inospen, hat der Freier bereit zwei, von denen fie den
einen zu lieben glaubt, doch aber aus Dankbarkeit fir
eine Ehrenrettung fi mit dem andern, einem muntern
Soldaten, verlobt und den mürrifchen Scholaren fahren
läßt, der dann fpäter der Meuchelmörber des Borgezo-
genen wird,
Röschen, das ſich immer noch quält, ob fie nicht un«
recht gethan, den Georg zu wählen, den fie eigentlich
nicht liebt, und den Richard nicht gewählt zu haben, den
fie eigentlich Tiebt, verliebt fih dann endlih in „ben
Rechten”, den fchönen frommen Fohannes, ber erft Pfarrer
werden und eine Buhldirne des Gutsheren, der bie
Pfarrftelle zu vergeben hat, mit heirathen fol, wozu er
ſich auch feſt entfchließt, nur um feine arme Mutter zu
verforgen, dann aber genöthigt ift, unter bie Soldaten
zu gehen, und, bildhübſch in der fchwedifchen Uniform,
KRöschen’3 Herz erobert.
Aber auch von biefem Geliebten ihrer Seele wird fie
wieder getrennt. Johannes geräth durch fonderbare Kreuz⸗
und Querzüge in dem Roman zu einem Geiler, deffen
Tochter Cordula er im Begriff fteht zu lieben umd zu
beirathen, als er das Pfarrersröschen vorübergehen ſieht und
nun nicht begreift, wie er diefe Roſe jemals habe ver«
geſſen können. Doc die Auflöfung des Knoteus iſt Leicht
bewerfftellig. Cordula, des Seiler Tochter, liebt den
bildſchönen Johannes gar nicht, fondern den armen Her⸗
mann, ber feit Jahren Seilergefelle bei ihrem Vater ift,
und die Berlobung mit diefem ift raſch durch Johannes
bewerfftelligt, der num wieder Rofa im Berzen trägt, die .
inzwifchen mit Richard, dem Meuchler, zufanmengetroffen,
dem fie immer nod) unrecht gethan zu haben vermeint.
Endlich kommt alles an den Tag. Richard, Roſa's erfte
En Ze 3 Bi 2 A Se Ze D
rn urn
F 0 .
430 Teuilleton.
Liebe, der Mörder ihres erfien Bräutigams, wird zum
zweiten mal wahnfinnig und beunruhigt glei einem wil⸗
den reißenden Thier die Gegend, in der er bis zu feinem
Untergang herumſtreicht.
Auffallend ift in dieſem Roman, daß fein reiner und
Harer Charakter darin gezeichnet ift, dag an jedem ein
Flecken haftet, felbft an dem feiner Roſa untrew werben«
den Johannes und an Rofa felbft, die inımer im Un⸗
Haren mit fi ift. Ebenſo ſchwankend erjcheinen die reli-
giöfen Auffafjungen. Daß Gott alles zum Beten Hin-
ausführe, ift die eine Maxime, auf welcher der Autor
fein Gebäude von Coincidenzen zufammenftelt und auf.
führt; außerdem wirb aber außerordentlich viel Spaß mit
kirchlichen Dingen getrieben. Die Tatholifchen Geiftlichen
werden gefoppt wie die Heinen Kinder; e8 werden Teufeld-
und Engelöverheißungen und »-VBerfleidungen benugt, um
den Geängfteten Hinter ihrem Rüden die fetten Braten zu
ftehlen, die fie eben verzehren wollten. Sie find gewifjer-
maßen bie lomifchen Figuren im Roman, und wer an
dergleichen Scherzen, wie an Blut und Eifen, oder Morden
und Rauben, Brennen und Stehen Geſchmack findet,
wird feine volle Befriedigung in dem Buche mit dem
zarten Titel und dem Raubritter⸗ und Bagabundenmwefen
auf den Landftraßen haben.
Der Stil ift fließend und correct, ftellenweife poetifch
und feſſelnd, und die Iocalen Schilderungen find mit fol-
der Orts⸗, ja Terrainkenntniß gegeben, daß es für den
Lefer etwas Peinliches Hat, fi in dieſen gewundenen
und ineinandergefchlungenen Pfaden, Schluchten, Höhlen,
Wäſſerchen und Waſſern, zwifchen denen man fich verftedt,
auf Beute ausgeht und heimliche Diorde ausführt, zurecht»
zufinden, mit zufriechen, zu lauern, zu waten. lieber-
haupt feßt der Autor viel Geduld und Ausdauer bei dem
Lefer für Derhältnifie und Zuftände voraus, die im gan«
zen doc) nur fehr wenig interejfiren können und die wir
heute nur in einem hochpoetifhen Gemande, wie von
Schiller im „Wallenflein“, oder von Scheffel und ähnlichen
Meiftern der Dietion und Darftellung gern vorgeführt
Sehen. Das Auslofen der Deferteure, das Hauen, Sau-
fen, Lüdern, wie es im Dreißigjährigen Kriege feine
volle Auslebung fand, Liegt außerhalb der anmuthigen
Unterhaltungsleltüre neuerer Zeit. Wir verweilen Schil-
derungen folcher Art in das Gebiet der epifchen Dichtung
oder in das der wiffenfchaftlichen Gefchichtfchreibung.
Wer den „Dreißigjährigen Krieg” von Schiller gelefen, hat
jedenfalls feine Zeit genußreicher und lehrreicher ausge⸗
füllt al8 ber, welcher die drei Bände der „Roſe von Urach“
durchgefnetet. Dennoch werden fich immerhin noch Leſer
genug finden, welche dieſes letztere Werk mehr goutiren
als die Sprache und die Gedanken Schillers.
Nichts weniger als praktiſch erfcheint uns die Sitte, ,
drei Bände in Einem Umſchlag geben. Die volumi«
nöfen Bücher find unbequem für ben Leſer zu hal
ten und reißen ungebunden noch leichter auseinander ale
andere. Auch die Leihbiblioihelen, fiir welche diefe Werte
bauptjächlich beftimmt find, dürften mit ber Einrichtung
nicht einverflanden fein, die fie in ihrer Einnahme bei dem
Verleihen verkürzt.
Jeanne Marie von Gapelie- Georgenz.
Fenilleton,
Notizen.
Die von Martin Perels beransgegebene „„Dentfhe Schau.
bühne‘, welche jetzt bereits den elften Jahrgang erreicht hat,
bringt in jedem ihrer Hefte nad) wie vor ein neues Stüd,
verfchiedene Aufſätze, Kritilen und Gedichte und einen kurzen
Rückblick auf die Leiftungen der deutihen Bühne. Das vierte
und fünfte Heft des Jahrgangs 1870 enthalten einige Interefjante
Mittheilungen, namentlih Alfred Meißner's „Erinnerun-
gen an Wien”. Diefe ‚Erinnerungen‘ betreffen vorzugsmeife
die Aufführungen der Meißner'ſchen Stücke am Burgtheater
und geben zugleich einen Kommentar zu der bedauerlichen That⸗
ſache, daß Meißuer fih ganz von der dramatifhen Production
zurüdgezogen bat. Es ift dies mit andern namhaften Drama-
titern, wie mit Oußlomw, ebenfo der Fall — auch der letztere hat
nad großen Erfolgen jetzt feit fait fechzehn Jahren der Produc-
tton für die Bühne entjagt. Die deutfche Bühne weiß die Talente,
die fich ihr zumenden, nicht zu feſſeln; ja es macht oft den
Eindrud, als ob die Intendanten und Directoren es als eine
befondere Bergünftigung den Dichtern gegenüber betrachteten,
wenn fie deren Stücke überhaupt zur Aufführung bringen,
Eine nit durchſchlagende Borftelung an einem erfien Theater
ift aber, jo fehr fie oft durch ein Zufammentreffen wenig gün⸗
figer Zufälle bewirkt fein mag, genügend, um ein Stüd ber
Bergeffenheit zu überliefern. Meißner, deſſen beide Dramen:
„Reginald Armſtrong oder die Welt des Geldes“ und „Der
Brätendent von Horl' am Burgtheater nur einen succes d’estime
ae agen baben, fpricht ſich hierüber ſehr ſachlich und tref⸗
end aus:
„Die beiden Dramen find bald nach den Aufführungen
im Drud erfhienen. Das ift freilich eine höchſt ungenligende
Appellation an eine andere Inflauz, denn welde Wirkung bat
ein gedrudtes Zraueripiel? Was nüht es, daß jebe Literatur.
geihichte beide Dramen unter den charakteriſtiſchen Erzeugniffen
ber Epoche anführt, befpriht, analyfirt? Für die Bühne find
fie wie nit vorhanden. Denn das Theater macht nur einmal
den Proceß mit einem Drama durch, gibt fein Verdict ab und
dies ift nicht zu caffiren, fondern wird aufrecht erhalten, follte
e8 ſich auch fpäter für jedermann berausftellen, daß die Jury,
die darliber geſeſſen, unter den flörendften Einflüffen zuſammen⸗
trat. Was vom tarpejifhen Felfen gefloßen wurde, lebt nidt
mebr, mag das Urtheil ein gerechtes oder ungeredhtes newefen
fein. Nur in den feltenften Fällen wird bei einem Dichter
wert eine Reviſion des Procefieg vorgenommen, bann aber
gleicht dieſer fait immer den fpätern Reparationen der Ge⸗
Ichichte, die nicht einen der Diitfebenden mehr am Leben treffen.“
Siebzehn Jahre nachher kam Meifiner wieder nah Wien
und fand dort eine junge, ihm in Gedanken und Ueberzeuguns
gen fumpathifche Beneration:
„Das einzige Object Wiens, das mir völlig unverändert
vorkam, war das Burgtheater. Da faß ich faft auf derfelben
Stelle wie ehemals und blidte auf dafjelbe Haus und auf diefel-
ben Decorationen, und vor mir bewegte ſich eine Handlung,
bie mir ſchon vor flebzehn Jahren total veraltet vorgelommen
wäre. Ic fah 3.8. ein Stüd, in welchem eine wilde Opern-
zigeumerin vorkam und allerhand wilde Flüche umberfchleuderte.
Und dabei gab es bald einen Sonnenaufgang, bald Mondlicht
auf ben Wellen, bald läuteten die Bloden zur Kirche, bald
flammte ein Abendrotb auf. Man hätte meinen follen, es
gelte, Kindern eine Freude zu machen. Und wenn bie Lente
in dem Städe etwas Entjcheidendes unternehmen wollten, fo
fingen fie e8 immer auf die verfehrtefte Weife an, unb fo ent-
Banden jhrediihe Mieverſtändniſſe, die mit einem balben Gran
Feuilleton.
Berſtand gelöſt werden konnten. Da aber ſämmtliche am Stücke
Betheiligte dieſen halben Gran Verſtand nicht hatten, ſo wurde
die Sache immer tragiſcher, ich aber hielt es nicht länger aus
und lief davon. Deine Aufregung aber war heiterfter Art.
Ich machte die pfychologiihe Erfahrung, daß ich die glüdlichen
Dramatiker nicht mehr um ihre Kränze beneide, und dankte
dem Geſchicke, daß es mic vom Theater weg auf eine andere
Bahn und auf eine andere Kunflform gewiejen: auf die große,
edle, zulunftreiche Bahn des deutihen Romans.’
Es ift dieſelbe Bahn, welche Karl Gutzkow und mehrere andere
Dramatiker nachher betreten haben. Dennoch halten wir die
dramatiihe Schöpfung in ihrem Wefen wie in ihren Wirkun-
gen flir bedeutender al8 den Roman, und bedauern aufridtig,
daß gerade begabte dramatifche Schriftfteller, abgefchredt dur
die Ungunft der Verhältnifſe, dem Theater den Rüden kehrten,
um der firengen und ftraffgefpannten Kunftform de8 Dramas
gegenüber fich in der läffigern, aber für die freie Entfaltung
einer umfafjenden Bildung und einer reichen Phantafie will»
lommenern des Romans zu bewegen.
Freilih, an nenen Anläufen fehlt e8 auf dramatifchem Ge-
Biete nicht. Einer der productioflen unter den Jüngern ift
Adolf Wilbrandt, deſſen Schaufpiel: „Der Graf von
Hammerftein am berliner Hoftheater eine fehr günftige Aufe
nahme fand und der auferdem mit mehrern Luflipielen an
verfchiedenen Bühnen mit ungleichem Erfolg bebutirte. Da
Wilbrandt auch als Novellift aufgetreten ift und fi durch
Ueberfegungen mehrerer Stüde Shakſpeare's in der von Bo⸗
denftedt Herausgegebenen Shaffpeare-Veberfeßung bekannt ger
macht hat, fo werden die biographiſchen Notizen fiber den Aus
tor, welche die „Deutſche Schaubühne“ an anderer Stelle bringt,
gewiß unſern Lejern willlommen fen. Wilbrandt if am
24. Auguft 1837 in Roftod geboren.
„Der Bater Wilbrandt’s war Mitangellagter in dent bes
kannten mecklenburgiſchen Hochverrathsproceß und zwei Jahre
in Unterfuchungshait; Adolf war ein lebensfroher Junge, kecker
Reiter, kühner Schwimmer, ftudirte in Roftod, Berlin und
Münden, und befchäftigte fi ans einem von früh auf flarken
Triebe nach möglihft vielfeitiger Entwidelung mit Spraden,
Surisprudenz, Philofophie und ganz befonders Geſchichte. Spä⸗
ter war MWilbrandt zwei Jahre hindurch Mitredacteur der Brater’-
fhen «Siddeutichen Zeitung», und ging dann, ganz in die
Künfte und Antike vertieft, feinem angeborenen Schönbeitsfinn
folgend, auf ein Jahr nad) Italien und Südfranfreih. Außer
dem fchrieb Wilbrandt eine treffliche Biographie Heinrih von
Kleif’s, einen dreibändigen Roman, deſſen Autorihaft er aus
Gründen verleugnet, eine Flugſchrift für Schleswig - Holftein
(1864), die in mehr Eremplaren erſchienen ift, als alle andern
Wilbrandt'ſchen Werke zuſammen je aufbringen dürften; ferner
hat er die Werke des Sopholles und Euripides (in zwei Bän-
den) mit Nüdfiht auf die Bühne bearbeitet, umd eine Reihe
von Novellen und Theaterflüden verfaßt, die theils im Buch⸗
handel geſammelt erſchienen find, theils erfcheinen werden, von
den Heinern Bühnenſtücken iſt am bekannteſten «Unerreichbar I»
Den Sommer Über lebt Wilbrandt bei ſeinen Verwandten in
Stadt und Land in Mecklenburg und beabſichtigt vor Herbft ab
jeinen bfeibenden Aufenthalt in Berlin zu nehmen.
Am 5. Juni farb in Berlin Friedrid Wilhelm Gu-
big, ein Beteran der berliner Journaliftit uud Theaterkritik,
dem es das Schickſal nicht vergönnt Hatte, feine „Erlebniſſe“
noch Erinnerungen und Aufzeichnungen, deren zwei bisher er»
ihienene Bünde wir in Nr. 49 d. Bl. f. 1868 befprochen
haben, zu Ende zu führen. Gubi war am 27. Februar 1786
in Leipzig geboren und perſönlich mit den Häuptern unferer
cloffiichen und romantifchen Literaturepocdhe befaunt. Sein „Ge⸗
ſellſchafter“ war lange Zeit das einfinfreichfte berliner Journal,
welges auch viele Scriftfieller, wie Heinrich Heine, in bie
Literatur einführte, Seit 1806 war Gubitz, ein Meiſter der
Holzſchneidekunſt, Mitglied der berliner Alademie. Bis in die
neneſte Zeit hinein war er der Theaterkritiler der „Voſſiſchen
Zeitung“, und wenn auch die Form feiner Kritiken oft fleif,
ſpröde und verſchnörkelt bis zum Ungenießbaren erſchien, fo
— — — — —
431
war doch der Inhalt ſehr oft ſachgemäßer und treffender als
die Urtheile, welche jüngere Schriftſteller in eleganterer Ein:
kleidung ausſprachen. Dem Theaterkritiker Gubitz hat Karl
Frenzel in der „Nationalzeitung“ ein pietätvolles Feuilleton
gewidmet, und mit Recht; denn bis in ein ſo hohes Alter einer
der ſchwierigſten und undankbarften Aufgaben Iiterarifcher Thä⸗
tigfeit gerecht geworben zu fein, ift eim anerfennenswerthes
Berdienſt. Der Theaterfrititer nimmt den erponirteften Poſten
der Literatur ein, er fteht mehr in der Breſche als auf der
Schanze, und e8 gehört viel Begeifterung für die Kunft dazu,
— Jahre hindurch unerſchütterlich auf dieſem Poſten aus⸗
zuhalten.
Bibliographie.
Bernhardi, W., Walded ber Mann bes Bolkes! Sein Leben und
Wirken, jein Tod und Begräbniß. Berlin, Bergmann. Ör. 8. 2'/, Ngr.
Bibliothek der deutihen Nalionalliteratur des achtzehnten und neun
er —R Neunundzwanzigſter Band: Gedichte von Ludwig
& viRop Hölty. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben
von Karl Balm. zeinis, DBrodhaud. 3. 10 Ngr.
auer, &,, Die Mörderin aus Woluft oder Giftlüge und Gifttoft.
n. Nach den Alten bes berühmtelten Criminalptoceſſes bearbeis
tet. gie bis He Lief. Berlin, Köppen. Gr. 8 AI N
a 3 Nor.
Gr. — 8 W. Freih. v., Ein Pilgerſtrauß. inebach, Junge.
arm⸗
8. 15 Ngr.
ernau, R., Das A und das O ber Vernunft. Leipzig, DO. Wigand.
&r 3. 3 Thlr.
Fonck, F,, Chile in der Gegenwart,
. Berlin, Landau. Gr. 8, 10 Ngr.
Frommann, %., Zur Kritit bed florentiner Uniondbecrets und feiner
bogmatifchen Sermwertpung beim vatifanifhen Conzil der Gegenwart. Leip⸗
dig, Lißner, Gr. 8.12 War.
j he r kr nu, P., Der Brievendengel. Roman. 3 Bde. Berlin, Janke.
. r.
Gauvain, H. v., Der lautere Beweggrund und das zerſtörte Male⸗
part er Beige, Sr. 7 F A t zeiß
erſtenberg, K. v., Die Kirche und da riſtenthum der Zukunſt.
Ein VBortrag. Zurich⸗ Reumünſter. Gr. 8. ſtenth 3
Goeben, A. v., Das Gefecht bei Dermbach am 4. Iuli 1866. Darm»
flabt, Zernin. Gr. 3. 15 Bar.
Grund, O., Die Wahl Rudolfs von Rheinfelden zum Gegenkönig.
Leipzig, Duncker u. Humblot. Gr. 8. 20 Ngr,
Guden, 8, Johann Chriſtiau Edelmann. Gin Beitrag zur beutfchen
— und Firgengeſchichie im 18. Jahrhundert. Bortrag. Hannover,
eher. 8, r.
Hammer, P., Was es um bie Stellung gewiſſer deutſcher Wrofefio-
ven zum Concil ein abſonderlicher Standpunkt iſt. Soeſt, Raſſe. 8. 5 Kar.
arleß, ©. 6. A. v., Jatob Böhme ynd die Alchhmiſten. Ein Bei⸗
trag zum Berftändniß I. Böhme’s. Nebſt einem Anhang: 3. G. Gichtel’s
Leben und Irrthümer. Berlin, Schlawitz. Gr. 5. 1 Zhlr.
Haupt, R., Die äußere Politik des Euripides. iſie Hälfte. Berlin,
Galvary u, Comp. Gr. 4. 20 Jigr.
Hausmann, R., Das Riugen der Deutschen und Dänen um den
Besitz Estlands bis 1227. Leipzig, Duncker u, Humblot, Gr. 8. 24 Ngr.
Novellenftrauß. Aäter Vd.: Orangenblüte von Baula Herbft. Leip⸗
sig, Kötſchle. 8. ı Thlr.
Oppermann, H. %., Hundert Jahre, 1770—1870. Zeit» und Les
ae aus brei Generationen. Ster Thl. Leipzig, Vrockhans. 8.
r. r.
Ring, a. Die Geheimniffe ciner Heinen Stabt, Humoriſtiſche No»
velle. Berlin, R. Lefier. 8. if Nor. . v ſtiſch
Sacher⸗Maſo g: Das Bermächtniß Kains. Novellen, iſter Thl.
Die Liebe. 2 Bde. Stuttgart, Cotta. 8. 8 Thlr.
Sgloenbach, A. Handbuch der beutihen Literatur ber Neuzeit.
2te Aufl. 7 Bde. Hildburghauſen, Bibliogr. Inſtitut. Br. 8. 3 Thlr.
15 Ngr.
Egmib’s, 9., gelammelte Schriften. Volks⸗ und Familien » Aus-
abe. 2ifter Bd.: Friebel und Oswald. Roman aus der Tyroler⸗Ge⸗
dichte. iſter zu. veipnig, Keil. Gr. 16. 7% Nor.
Schu de: . ®., Ueber romanifitende Tendenzen. Ein Wort zum
Brieden. Berlin, Stille u. van Muyden. Gr. 8. 1 Thlr. 20 Nor.
Steub, L., Die oberdeutschen Familiennamen. München, Olden-
bonrg: 8. 1 Thlr
16 traeter, T. Graf Strafford. Trauerfpiel. Münden. 1369. Br. 8.
r.
erena, Ss pie Ueber Alles bie Pflicht. Noman. 3 Bde. Ber
r.
alded, M., Bom Norbfeeftrand zum Wüftenfand. Eulturgefchichts
liche Blider aus Deutſchland, Btalien und Aegypten. Berlin, Laugmann
u. Comp. Gr. 3. 1 Zhle.
Die Welturkunde, Metaphysiologie des menschlichen Gehirnes, Die
Welt-Regung in ihrem Gruud- und Ausbau zu der regen Welt des Anub-
havan-Ahamkrita-Bauppa. ister Thl.: Anubhävan& : die Welt-Auffaszung
in Erkenntnis und Sprache, Leipzig, M. Schäfer. 1869. Gr. 8. 2 Thlr.
20 Neger.
Wirth, ®., Die Fortſchritte ber Naturwiffenfcgaften mit befonberer
Berüdfigtigung ihrer prattiihen Anwendung, 1ftes Heft. Langenjalza,
Greßler. 8, 12 Ster.
In einem Vortrage geschil-
Unze
Anzeigen.
igem.
— —
Yerlag von F. A. Brockhaus In Keipzig.
Soeben erschien;
Sprachvergleichende Studien
mit besonderer Berücksichtigung der
indochinesischen Sprachen
von
Dr. Adolf Bastian.
8. Geh, 2 Thlr. 15 .Ngr.
Dieses neue Werk des berühmten Ethnographen und
Sprachforschers enthalt, nebst einer allgemeinen sehr interes-
santen Einleitung, die folgenden vier Kapitel: I. Das Flüssige
schriftloser Sprachen, ihre Wechsel und Mischungen; II. Das
Birmanische; III. Das Siamesische; IV. Die Sprachgestal-
tung. Eine ausserordentliche Fülle neuen werthvollen Stoffs
wird darin für die Wissenschaft zu Tage gefördert und in
anregender Weise dargeboten.
Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
| Premier livre
de lecture, d’eeriture et d'instruction allemande
a [usage de la maison et des &coles.
Par B. Sesselmann,
Professeur à l’Kcole superieure de Nancy.
Seconde edition. In-8. Geh, 6 Ngr.
Ein bereits in zweiter Auflage vorliegendes Elementar-
buch, das, nach einer höchst praktischen Methode bearbeitet,
‚die französische Jugend mit Leichtigkeit in die ersten Grund-
lehren der deutschen Sprache einführt.
| Im Anschluss hieran erschien:
Second livre de leeture, de version et d’instruction alle-
mande à l’usage des familles et des &coles frangaises
pouvant servir de themes aux eltves allemands. Par B.
Sesselmann. In-8&. Geh. 12 Ngr.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Erasmus von Rotterdam.
Seine Stellung zu der Kirche und zu den kirchlichen
Bewegungen seiner Zeit.
Von
Franz Otto Stichart.
8. Geh. 1 Thlr. 24 Ngr.
Die gegenwärtige an Conflicten auf dem confessionellen
Gebiete. so reiche Zeit wird dem vorliegenden Werke,
einem geistigen Bilde des Erasmus von Rotterdam, das der
Verfasser aus dessen zahlreichen Schriften geschöpft, be-
sondere Theilnahme schenken. Erasmus geiselte die Ge-
brechen der Kirche und die Unsitten der Geistlichkeit mit
ebenso viel Witz und Geist als Klarheit und Scharfe; und
was er von seiner Zeit gesagt, passt noch vielfältig auf die
Gegenwart.
Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Theorcliſch - praktifcher Lehrgang
zur Erlernung der italieniihen Sprache
für dentfhe Schulen und zum Selbſtunterricht.
Bon
Heinrich Wild,
Director der Handelsſchule in Mailanp.
Zweite vermehrte und verbefierte Anflage.
8. Geh. 16 Nor.
‚.. Ein auf die Ahn'ſche Methode bafirtes, aber biefelbe man-
nichfach vervollfommmendes Lehrbuch der italienifhen Sprade,
das bereits in vielen Schulen eingeflihrt ift und hier in zwei-
ter, weſentlich vermehrter Auflage vorliegt.
Verlag von 5. A. Broddens in Leipzig.
Bunſen's Bibelwerk,.
Sechster Band.
(Eifter und zwölfter Halbband.)
Herausgegeben von Heinrich Iulius Holkmann.
Inhalt: Die Jüngern Propheten und die Schriften.
8. Geh. 2 Thlr. 20 Ngr. Geb. 3 Tür.
Bunſen's Bibelwerf liegt Hiermit vollendet vor; der
fiebente bis neunte Band find fchon früher erjchienen. Das
berühmte Werk ift jet vollftändig auf einmal, gebeftet
und gebunden, oder in drei Abtheilungen (die auch einzeln
geliefert werden), oder in 18 Halbbänden dur alle Bud
bandlungen zu beziehen.
Um die Anfhaffung des Werks noch mehr zu erleichtern,
veranftaltet die Berlagshandlung demnächſt eine
nene Ausgabe in 30 Sicherungen zu je 20 Ngr.,
worauf ſchon jetst Unterzeihnungen angenommen werben.
Bunfen’s Bibelwerk koftlet vollftändig in 9 Bän-
den geh. 20 Thlr., mit Bibelatlas 21 Thlr.; geb. 23 Thlr.,
mit Bibelatlas 24 Thlr. Die erfte Abtheilung (Bibelüber-
feßung) in 4 Bänden foftet geb. 10 Thlr., geb. 11 Tülr.
10 Ngr.; die zweite Abtheilung (Bibelurkunden) in 4 Bän-
ben geh. 8 Thle. 10 Ngr., geb. 9 Thlr. 20 Ngr.; die dritte
Abthetlung (Bibelgefhichte) in 1 Bande geb. 1 Thlr. 20 Ngr.,
geb. 2 Thlr.; der Bibelatlas cartonnirt 1 Thlr.
Derfag von 5. A. Brodidaus in Leipzig.
Lao-tse Täo-te-king.
Der Weg zur Tugend.
Aus dem Chinesischen
übersetzt und erklärt von
Reinhold von Plaendkner.
8. Geh. 2 Thlr.
Die erste vollständige deutsche Uebersetzung dieses
berühmten Werks des Philosophen Lao-tse, eines Zeit-
genossen des Confucius. Durch ausführliche Erläuterungen
zu jedem Kapitel hat der Uebersetzer das Werk dem Ver-
standniss deutscher Leser möglichst nahe zu bringen ge-
sucht.
Verantwortlicher Redaeteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Berlag von F. A, Brohhaus in Leipzig.
Blätter
für
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
7. Juli 1870.
Erfcheint wöchentlich. —3 Ar. 28. —RB
Inhalt: Revue neuer Lyrik nnd Epik. Bon Rudolf Gottſchall. (Fortſetzung.) — Zur Geſchichte des Jeſuitenordens. Bon
Aubpif Doehn. — Neue ſpiritualiſtiſche Schriften. Von Maximilian verty. (Beſchluß.) — Senilleton. (Benedir »- Fonds und
Benedir⸗Feſt.) — Sibliographiee — Anzeigen. |
Revne neuer Lyrik und Epik.
(Kortfegung aus Nr. 27.)
5. Sonnenfhein auf dunklem Pfade. Gedichte von Moritz
Heydrich. Leipzig, Matthes. 1870. 16. 1 Zhlr. 15 Ngr.
Morig Heydrich zeigt fich in diefen Klängen als ge-
müthooller Dichter; es ift viel Herziges und Inniges in
ihnen: warmes Heimatögefühl, tiefe8 Empfinden ehelichen
Glücks, die Leiden der Krankheit, die Freuden der Gene
fung, die Seligkeit idylliſcher Beſchränkung — das alles
tritt und aus diefen Gedichten anmuthend entgegen.
Freilich, es Liegt im Weſen des Gemüths, feine
Empfindungen zu überfchägen, und es ift Aufgabe ber
Dichtung, auch andern folche Ueberfchägung glaubwürdig
zu machen. Bei Heydrich aber vermilien wir oft die
dichterifche Kraft, welche dem eigenen Empfinden foldhe
allgemeine Glaubwürdigkeit zu geben vermag. Wir füh-
len, es kommt ihm das alles vom Herzen; es find feine
unerquidlihen Reden, in denen fih der Menfchheit
Schnitzel Fräufeln — aber tro& des Goethe'ſchen Spruchs
genügt es nicht, daß das Wort vom Herzen kommt, um
zum Herzen zu dringen, wenigftens in ber Dichtkunft
nidt. Das wahr und warm Empfundene wird zwar
fiet8 einen Nachklang in uns weden; aber uns zu be«
geiftern und binzureißen, fih uns unauslöſchlich einzu-
prägen, dazu bedarf es ſtets der höhern Ddichterifchen
Weihe. Wir wollen Heydrich bieje nicht abjprechen; aber
infolge mangelhafter Sichtung fteht die Zahl der Gedichte,
in denen fie bervortritt, nicht im Verhältniß zu der gan«
zen Mafje des Deitgetheilten. Celegenheitspoefie, die ſich
gemüthlich gehen läßt, die es nicht fo genau nimmt mit
dem künſtleriſchen Ausdruck und der unerlaglichen Prägnanz
der Poeſie, überwuchert das Beſſere mit einer Yülle von
Zrivialitäten; die häuslichen Gelegenheitögedichte gemahnen
oft etwas hausbaden, und die verjchiedenen Yeftgedichte, in
denen Prof. Ludwig Richter, Prof. 3. Hähnel, das
Shakjpeare-Fubiläum in Weimar, Dtto Ludwig's Grab,
Kapellmeifter Dorn u. a, m. bejungen werden, erinnern
zu fehr an die Gedichte, die man bei Felt- und Zweck⸗
1870. 28.
effen vorzutragen pflegt; fie find aus lebhaften Antheil
hervorgegangen, aber auf eine Hand voll Gemeinpläge
kommt es bei ihnen nicht an, ihr Bau ift loder, ihre
Form bequem und etwas breitfpurig; das Finftlerifche
Deficit muß buch die Geſinuung gededt werben.
Ueberhaupt geben in formeller Hinſicht die Gedichte
Heydrich's Veranlaſſung zu vielen Ausſtellungen; nament-
[ih erklären fi) in ihnen die unreinen Reime in Per-
manenz. „Höhen — gefehen”, „Seligkeiten — Freuden“,
„Freude — heute”, „Lied — zieht”, „Bild — enthüllt‘,
„Freund — meint“, „Grün — hin”, „wohl — fol”,
„Kelchen — ſchwelgen“: dergleichen Reime find nicht
Ausnahmen, wie man fie fi gefallen läßt bei unvermeid»
lichen Collifionen, wo der Gedanke nur durch Aufopfe-
rung ber Yorm in feiner Kraft bewahrt werden Tann,
fondern ber Dichter gebraucht fie mit einer durchgängigen
Läffigfeit und principiellen Nichtachtung des „reinen Reims“,
gewiß mit ftillfchweigender Berufung auf das Volkslied
und die vielfachen Licenzen unferer Claſſiker.
Gleichwol enthält die Sammlung des Gelungenen viel,
namentlich) aus dem Bereiche des treuherzigen Liedes,
D.:
d-
Srühlingsgebet.
Laßt uns fill im Frühling beten,
Wenn's am ſchönſten um uns blüht,
Daß die Menſchen nicht zertreten
Still erblühendes Gemüth;
Daß fein wildes, neid’fches Auge
Auf die Blumentnospe fällt,
Der beim fanften Frühlingshauche
Ahnung bang den Buſen ſchwellt.
Stört die Engel im Gemlithe,
Die drin weben jpät und früh,
Stört fie nit, damit die Blüte
Nicht verdorre, noch verblüh'!
55
434
Denkt daran, wie man zertreten
Eud die Blumen im Gemüthb, -
Laßt uns ſtill im Beihling beten,
Wenn ein Herz fi einfam blüßt.
„Ständchen”, „Frühlingsengel“, „Frühlingstöne“ und
andere Gedichte eignen fi ganz zu mufilalifcher Com⸗
pofition, fie athmen eine comcentrirte Innigfeit des Ge⸗
fühls. Eine wackere, tüchtige Geſinnung ſpricht aus an⸗
dern Gedichten, wie;
Lebensziel.
Was in dir war und lebte,
Was in dir rang und ſtrebte,
Das bringt die Zeit ans Licht!
Das Haſten und das Jagen,
Das trotzige Verzagen,
Das bringt die Reife nicht!
Biſt du dir treu geblieben,
Im Haſſen und im Lieben
Dem Edeln zugethan,
Haft du in büflern Tagen
Den Schmerz getroft ertragen,
Tren der erwählten Bahn;
Dann laß die Wunden brennen,
Laß alle di verkennen,
Hart’ aus! Harr au das Licht!
Was dich getäuſcht, betrogen,
Auf wilden Lebenswogen
Das war dein Ziel ja uicht!
Was ewig bleibt bein eigen,
Das wird getrem ſich zeigen
In Freuden wie im Leib,
Das if das Ziel im Leben,
Nach dem wir follen fireben
Treufich zu jeder Zeit!
Berwandten- Inhalt bat bas Gedicht: „In Sturms
zeit; anmuthig ift „Das Erwachen“:
Du ruhteſt wie in einem’ Traume,
Und läcelteft jo mild und fill,
Wie wen am zarten Mandelbaume
Die erfte Knosp' erblühen will,
In deinem Ange ſtand's gejchrieben,
Daß du fchon oft an mid gedacht,
Und daß ein innig zartes Lieben
In deiner Seele ſei erwacht.
Da war es mir, als ob ſich ſtille
Der Frühling rege auch in mir,
Und eine wunderbare Fülle
Des Herzens trieb mid Hin zu dir.
Und immer Tichter warb dein Auge,
Und immer milder warb dein Blick,
Still, wie beim erften Frühlingshauche
Fühlt' ich ein nie geahntes Stüd u. |. w.
So umfangreich das Bändchen ift, fo beſchränkt ſich
doch der Inhalt auf Lieder und Gelegenheitsgebichte im
engern Sinne; Oben und Hymnen, Balladen und Er⸗
zählungen und alle andern Formen der Lyrik fehlen. Der
Dichter fingt und plaudert Empfindungen und Erlebnifje
aus, nirgends verjucht er, „fein eigen Selbſt zum Selbft
der ganzen Menſchheit zu erweitern”.
Achnliches gilt von der folgenden Sammlung:
6. Was mir die Stunden bradten. Dichtungen von Georg
Sid. Köln, DuMont- Scauberg. 1870. Br. 8. 24 Nor.
Nur ift in diefer Sammlung die Yorm reiner und
gefeilter. Sie beginnt mit einer Ouverture von kind»
Revue neuer Lyrik und Epik.
lichem Ton: „Vaterſchmerz“ und „Vaterglück“, zeigt in
dem traulichen Genrebild „Daheim“ daſſelbe Heimats-
gefühl, welches mehrere Gedichte Heydrich's durchweht,
und enthält einzelne Lieder von kryſtallklarer, von der
Empfindung durchleuchteter Form, wie z. B.:
Abendgang.
Wieder, wie vor langen Jahren,
Als wir angelobt und waren,
“Sind wir traut binausgewallt
Auf diefelben flillen Wege,
Bo aus dunkelm Laubgehege
Nachtigallgeſang erichallt.
Weißt bu no, wie ba im Dunkeln
Nur des Glühwurms Tieblih Funleln
Unfre einz’ge Leuchte war?
Wie ein herrlich Goldgeſchmeide
N ih, uns zur Augenweibde,
iv die Fünkchen in das Haar.
Jahre find ſeitdem verfloffen, ”
Und wir haben reich genofien
Unfrer Liebe Leid und Luft,
Haben in den langen Jahren
Biel erlebt und viel erfahren,
Aber eins iſt mir bewußt:
Wie in jenen frühen Zeiten
As wir koften, al8 wir freiten,
Schlägt in Freuden und im Schmerz
Sanz fo warm und ganz fo innig,
Ganz jo feurig und jo minnig
Dir entgegen dieſes Herz.
Uubd fo foll es fein und bleiben,
Bis in ſpater Zeit fi ſchreiben
Uns ins Buch der Todten ein —
Noch das letzte meiner Worte J
An des Jenſeits dunkler Pforte .—
Sol dein füßer Name fein! -
.. Hin und wieber verfüllt der Dichter in einen kindlich
tändefndeun Ton, der die Liederchen wie ladirtes nürn⸗
berger Spielzeug erfcheinen läßt. Die Rückert'ſchen Di⸗
minutive tänzeln dann durch die Strophen mit allzu her⸗
ausforbernder Harmlofigleit, wie 3. B. in bem Gedicht
„Dunkle Stunden“:
Wandelſt nun an meiner Seite
Wie der Mond in dunkler Nacht,
Sternlein gibt er das Geleite,
Weun er dur die Wollen lacht.
Ach, fo brich auch du durch meine
Zrüben Wollen hell hervor!
Mit der Aeuglein Sternenſcheine
Lichte meiner Seele Flor! —
Gediht „Zur Wiederkehr“ :
Blümden von der Heimat Flur
Wagen's, dich zu grüßen,
Wenn die armen Dinger(]) nur
Nicht den Frevel büßen.
Wir haben diefen kindlichen Tändeleien ſelbſt bei
Rückert nie Gefchmad abgewinnen können; die Poefie Tann
findlicdh fein, ohne im Kinderſchuhen zu gehen.
Ernfter und weihevoller befingt Hick die Mleifter Uh—⸗
land und Arndt, den deutfchen Dom und das beutfche
Baterland, melde fchon die politifche Lyrit am Anfang
ber vierziger Jahre in poetifchen Zufammenhang brachte:
oder in dem
Revue neuer Lyrik und Epik.
O ſchöne Zeit, wenn einft der Boden Lünten
Die deutfhen Völker ruft von fern und nah,
Und ihre Yubelflänge dann bedeuten:
Der dentſche Dom fteht ganz vollendet ba!
D, daß wir dann and endlich uns erfreuten
Des Wunderbaus, den noch fein Deutidher fah:
Des Dölterdoms, gebaut aus dentihen Staaten,
Der nie mehr an die Zwietradht wirb verrathen !
Shakſpeare wird nicht nur in einem Sonett, fondern
auch in einem Feſtſpiel gefeiert, in welchem Germania
und Britannia, al8 „derſelben Mutter reichbegabte Kin⸗
der”, geloben, in Einigkeit zufanmenzuhalten, nachdem
fie in ſtolzem Wetteifer ihrer Berdienfte gebachten.
Die Balladen find unbedeutend. Der Verſuch einer
humoriſtiſchen Epiftel in Diftihen: „Aus ben hinter
Iaffenen Papieren eines alten Sournaliften“, bringt eine
mit Unrecht verwaifte Dichtform wieder zn Ehren, wenn
au die oft cäfurlofen Herameter mehr rhythmiſche Plaftit
efäßen.
7. Sadowa. Bon Leo Boldammer Berlin, Goldammer.
1869. ©®r. 8. 25 Nor.
Ein glänzendes und großartiges Thema filr ein
Schlachtgemüälde von Hiftorifcher Bedeutung mit weitreichene
den politifchen Perfpectiven! Selten genug find die Ent»
ſcheidungsſchlachten, in denen ſich die Gefchichte felbft wie
in einer bedeutfamen Pointe zuſammenfaßt. Sadowa
ift eine folche Entſcheidungsſchlacht; auf den Hügeln von
Chlum und Prim, an den Thalrändern der Biſtritz und
Zrentina ift ein Abſchnitt deutfcher Gefchichte gm Abſchluß
gekommen. Sadowa iſt aber auch eine Schlacht von
dramatiſcher Spannung und glänzender Ueberraſchung
und hierin nur mit Belle⸗Alliance vergleichbar. Leider
entſpricht das epiſche Gedicht von Goldammer, trotz ein⸗
zelner gelungener Stellen, nicht den Erwartungen, die
ein ſo günſtiger Stoff rege macht; es fehlt ihm an orga⸗
niſcher Gliederung, an Klarheit und Anſchanlichleit; es
iſt zu fehr Chaos, zu wenig Helief; der Nebel von Ehlum
Schwebt auch über diefem Gebiht! Es find dissolving
views; die Bilder heben ſich nicht Scharf genug voneinander
ab; die großen Wendungen und Kataftrophen der Schladht
treten nicht ſpannend und fchlagend genug hervor.
Der Grund hiervon Liegt zunächſt in dem traditionel-
Im Stil der prengifchen Bataillenpoefie, welcher Scheren-
berg mit feinem oft genialen Griff in Bezug auf gran-
dioſe Bildlichkeit und erhabene Lalonismen des Ausdruds
als Mufter vorleuchtet. Scherenberg ift aber ein origi⸗
neller Dichter, der ſchon, wo er fich felbft nachahmt, in
Manier verfällt und defien Gefchmadlofigkeiten man nur
feiner oft glüdlichen Kühnheit zugute hält. Das Harte
und Zerhadte feines Stils, feine oft bärbeißige Bravour,
das Gemifh von Kalembourg, Anekdote und Hymne,
das fi durch feine Dichtungen Bindurchzieht, machen ihn
ganz ungeeignet zum Stifter einer Schule. Bei ben nad)-
eifernden Jungern treten diefe Fehler als Manier ftörend
hervor; die Lalonismen verwandeln ſich in einen bomba-
ſtiſchen Krafiftil, und die Härten der Form find fehr
haufig. Man höre z. B.:
435
Er komme nur! Achthundert Hunde hellen
Ihm einen wirbelwind'gen Gteticherfähn
Aus Batterien von Terraſſenſchwellen,
Auf deren Blatten ihre Krater ſtehn,
Und feine Mähne foll der Föhn zerzaufen
Mit einem flählernen Granatenfanım,
Soll durch die Wälder auf ihn nieberfaufen
Die Keulen Simſon's, Knorrn ans AR nnd Stamm!
Dber:
Drum Übers Hanpt wirft er ihm einen Reigen
Bon Tänzern, bie von Blei und Eiſen find,
Die fi zugleich als Mufltanten zeigen
Rah Noten, blind gefchrieben in den Wind;
Sie ſchwirr'n wie Bremfen, ſchrill'n wie Bogelpfeifen,
Sie brummen au, ber Bär, die Bombe kann's,
Sie ſoll'n ine Ohr ihm gel’n, ins Herz ihm greifen
Nach feiner Serle für den Tobtentanz !
Allzu Tede Katachrefen, wie: „Hunde, die einen Glet⸗
ſcherföhn bellen“, find hier ebenfo flörend, wie bie
harten Üpoftrophirungen, bie ſich durch das ganze Gedicht
binziehen, 3. B.:
Die Kugeln kommen, Schwarm auf Schwarm wie Zanben,
Und bell'n der Uhu Bell'n in bleicher Nacht,
Sie fall'n und krachen, platzen, pruften, ſchnauben,
Knarr'n, kuurr'n und Häffen, eur wie wilde Jagd —
und oft in den Reim geftellt find, z. B.:
Der Pfaffenwis bat von je erdreiſtet
Bi m ont w — Bi m fell’n;
In weldem Volk das meifte er geleiftet,
Das will id drum zerfchmettern heut, zerſchell'n.
Bon diefer oft ungeläuterten dichterifchen Form ab»
gefehen ift es aber auch die von Goldammer in Anwen-
dung gebrachte „Gdttermafchinerie”, welche die Klarheit
der Darftellung trübt. Es ift ein Zwiſchenreich der Hel-
den umd Halbgdtter, welches in dies Schlachtgeinälde aus
dem Gewölk mit eingreift, ähnlich wie dies in den Pyr-
ker'ſchen Epen ber Fall if. Wir meinen, daß es dem
Dichter auch in einem modernen Schlachtenbild gelingen
mag, für politifche Ziele und Ideale einen poetifchen Aus-
drud zu finden, der fi zu traumhafter PBerfonification
fteigern darf. Wenn dem Kaifer Franz Joſeph die „Öyäne
bon Brescia” mit dem rothblonden Rieſenſchnurrbari im
Halbtraum erfcheint, fo ift dies eine bichterifche Erfin⸗
dung, welche vollkommen berechtigt ift, denn fie fchweift
nit aus dem Gedankenkreiſe des Kaifers hinaus; wenn
ihm aber dann ein ©eftaltenpaar aus Allwalter Wodan's
Himmel erfcheint, diefelben Schwanenjungfrauen, welde
dann auch dem König von Preußen erjcheinen, fo werden
wir gänzlid) aus dem Coſtüm und dem Gebanfengang
ber Gegenwart berausgeriffen — was foll die altgerma-
nifhe Mythologie, welche den Kämpfern von Königgräg
fowie dem Vollsglauben unferer Zeit gänzlich fremd ift,
in einer Schilderung diefer Schlaht? Wenn Prinz Eugen
und der Alte Brig fih in den Wolken unterhalten, fo
läßt man ſich dies eher gefallen, obgleich uns and) eine
derartige Perfonification zu handgreiflich erfcheint und
nicht flimmungsvoll genug aus dem Gemüth der Han-
deinden herausgeboren. Dffenbar ift aber durch diefe
directe mythologifche Einmifhung der Gang der Hand-
lung etwas verdimfelt und die Schwierigfeit, bie in ber
allfeitig Haren Entfaltung eines fo umfaflenden Schlacht
| bildes liegt, vermehrt,
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436 Revue neuer Lyrik und Epik.
Wir unterfchäten diefe Schwierigkeit um jo weniger,
als die fortgefchrittene militärische Technik ber Neuzeit
eine Menge von Detailfchilderungen nöthig macht, zu
deren dichterifcher Belebung cin Talent von nicht gewühn-
licher Energie gehört, ein Talent, wie «8 Victor Hugo
und Freiligrath befigen, welche auch die anfcheinend pro»
faifche Specialität, zum Beifpiel aus dem Gebiet des
Marineweſens, bdichterifch zu adeln willen. Niemals dür⸗
fen Verſe wie gereimte Parolebefehle gemahnen, wie der
folgende:
Acht Stunden lang durch Cerekwitz marſchirten
Nach den Rapporten vierzigtanſend Mann,
Die im Sadowagrund ſich coucentrirten
Mit andern mehr als hunderttanſend dann,
Und diefer Zahl Hinzugezählt die Sachſen,
Beil deren Fahnen ſchon um Problus wehn,
Auf zweimalhunderttanfend angewachſen
Bird. hinterm Biſtritzbach fie vor uns ſtehn!
Bei Nachod, Skalitz, Trautenau, drei Tage,
Wich vor dem Kronprinz Marihall Benedek,
Bom Norden ber bekannt muß ohne Frage
Ihm nuſer Anmarſch fein nad Ziel und Zweck;
Drei andre Tage trieb aus Wer zur Eile
Ihn Friedrich Karl von Turnau bis Gitſchin,
Und beider Fühlnng trennt nur eine Meile
Noch zwiſchen Kön’ginhof nnd Miletin.
Ebenſo wenig wollen wir fchlecht ftilifirte Leitartikel
leſen:
en will ih rechnen mit der deutfchen Rage
Nah Billigkeit mit ihrem Einbeitstrieb;
Koftfpiel’ge Ambaffaden - Spionage
Fällt beim Suffrage- — beim Jenachdems⸗Princip;
Bon vierzig Fürften mögen mit ben Welfen
Noch drei bis vier Herrn bis zur Elbe fein —
Sch will ihr Deutfchland einiger machen helfen .
Und dafür mauf’ id — mauſ' ih mir den Rhein?
Der gleichmäßige Adel der dichterifchen Haltung muß
ſich durchweg bewähren, auch wo bie Darftellung zu
voilsthümlichem Humor oder techniſchem Detail herabfteigt.
Dies vermiffen wir bei Scherenberg felbft, noch mehr
aber bei den oft forcirten Nachahmern des Waterloo-
ſängers.
Gleichwol enthält „Sadowa“ von Goldammer manchen
glücklichen Gedanken, manches treffende Bild, manche
ſchlaghafte Wendung, und es bleibt nur zu bedauern, daß
das Ganze nicht mehr aus dem Brouillon herausgearbeitet
iſt. Selbſt in ben mythologiſchen Bildern, in den Ge⸗
wölkgruppen findet ſich manches, was für dichteriſche
Intuition Zeugniß ablegt; doch das Ganze macht einen
ungeklärten Eindruck, es fehlt alle Oelonomie der Dar⸗
ſtellung, jede künſtleriſche Gruppirung, und der hyper⸗
boliſche Sturm fegt eine Maſſe entblätterter und verwelk⸗
ter Metaphern in trüben Wirbeln an uns vorüber.
8. Aus der Aſche. Neue Gedichte von Ada Chriſten. Ham⸗
burg, Hoffmann und Campe. 1870. 16. 15 Ngr.
Die. „Lieder einer Berlorenen” gaben uns Veranlaf-
fung, von ber Dichterin eine Photographie zu entwerfen,
gegen welche ber Berleger und fie felbft glaubten prote-
ftiren zu müſſen. Die darin gefchilderten Drgien fchienen
uns allzu beutlic) auf zweidentige Localitäten hinzuweiſen,
fobaß wir daraus glaubten Schlüffe ziehen zu müflen
auf die Perfünlichkeit der Verfaſſerin. Wir bekennen alfo,
daß wir uns hierin geirrt haben, um fo lieber, als auch
die vorliegenden „Nenen Gedichte” einen gemäßigtern
Charakter tragen.
Freilich, der Trotz gegen bie Gefellfchaft und der
Hohn gegen die „Sitte oder vielmehr gegen das, mas
für fittlich gilt, iſt fich unverändert gleichgeblieben. Die
Dichterin verfpottet die biedern „Hausfrauen“:
Sol ih es nochmals wiederholen?
Ihr Habt mich ja fo oft gefragt
Und taufendmal hab’ ich auf Ehre
Die volle Wahrheit euch gejagt. —
Sa, tch bemundre eure Tugend,
Und id bewundre eure Kinder,
Bewundre eure magern Mügde,
Bewundre eure fetten Rinder;
Bewundre mehr noch eure Männer,
Bewundre eure kluge Stummbeit,
Bewundre eure feine Wäſche —
Beneide euch um eure Dummheit.
Sie verhöhnt die fittliche Beuchelei:
Belle Hel£&ne!l
Belle Helene! Belle Helene!
Altberlihmte Griechen- Schöne,
Did) bewundern unfre Bäter,
Dich verehren unſre Söhne!
Die entblößende Gewandung,
Sie begeiftert unſre Schönen,
Unten kurz und oben kürzer —
Wer wird nicht der Mode fröhnen?!
Unfere Frauen, unſere Töchter
Freuen ſich der Menelaufe,
Und die Paris- Studien treiben
Sie sans gene im eignen Hanje!
Und von der „Goldſchnittlyrik“ Heißt es:
Hubſch gelaffen und hübſch zahm
Und der Sitte hübſch gehuldigt,
Die um jedes wahre Wort
Sich zehntaufendmal entſchuldigt!
Iſt der Pegaſns and lahm
Und gehörnt anſtatt geflügelt,
Trabt er hübſch ſolid doch fort,
Galopirt nie — ungezligelt!
Dieſe ſatiriſchen Liederchen ſind nicht bedeutend, weil
ſie das Urbild Heinrich Heine's allzu wenig verlenguen.
Dagegen enthält die Sammlung mehrere ſtimmungs⸗
volle Lieder, die von einem unleugbaren Talent Zeugnif
ablegen, und wenngleich auch fie an Heine erinnern, fo
doch nur an feine befjern einheitlichen Gedichte, 3. B.:
Todte Liebe — kalte Aſche!
Armer , längft zerſtobner Traum —
Wie ein geifterhaftes Mahnen
Weht es durch den dden Ranm!
Oft ift mir, als müßt’ ich hüten
Dich, wie einft mein fierbend Kind —
Doch ein Luftzug — und die Aſche
Hliegt Hinaus in Nacht und Wind! —
Dber:
Durch die dicht verhängten Fenſter
Dringt das dumpfe Wagenrollen
Und verſcheucht die Nachtgeipenfter,
Die im Traum mir nahen wollen,
Aber rauſchend durch mein Zimmer
Wogt ein Meer von wirren Tönen,
Und aus all dem Schmerzgewimmer
Hör’ ih meine Seele ftöhnen!
Hör’ id meine Seele weinen —
Nicht um diefes Leibes Sterben —
Doch es bangt ihr vor bem kleinen,
Müden, einfamen Verderben.
Revue neuer Lyrik und Epit.
Ohne Frage liegt in Abjectiven, wie dieſe legten, eine
gewiſſe dichteriſche Energie, da fie bezeichnend, ungemwöhn«
üch und kuhn find. Einfach rührend ift die poetiſche
Anrede an ein geftorbenes Kind:
Weſen, Meines, längſt verflärtes,
Stern in meines Lebens Nacht,
Neingeliebtes, heißentbehrtes,
Sprich zu mir im Traume fat!
Schlinge deine Heinen Arme
Um die Bruft fo glüdberaubt,
An mein Herz, das Iebenswarme,
Leg’ dein tobtes Taltes Haupt!
Die Melandolie, die über fehr vielen diefer Gedichte
brütet, hat etwas Dumpfes und Bleifchweres, es fehlt
ihr zu fehr die poetijche Verflärung. Doch verdient bie
Sammlung vor ber erftern bei weitem ben Vorzug, bie
Haltung 4 maßvoller, und in der Form find bie aufe
fallenden Incorrectheiten vermieden, bie ſich in dem frü-
been Gedichten zeigten. .
Kein größerer Gegenfag gegen diefe leck emancipirten
umb dabei dem perfönlichften Herzensgeſchick mit ausſchließ ·
Hier SHingebung geweihten Lieder als bie folgende
Sammlung:
9. Gedigte von Clifabeth Gräfin Zedlig Trützſchler.
Altenburg, Bonde. 1870. 16. 2 The.
Man könnte dieſe Gedichte mit Schwertlilien verglei-
hen; fie haben etwas Männlic;-Energifches, einen heroiſchen
und kriegeriſchen Grundton; nichts Weiches, Ueppiges,
Sentimentales findet fid) in ihnen, und was bei den Ges
Dichten einer Dame gewiß auffallend if, fein einziges
Liebesgedicht; nur bie ſchwärmeriſche ehelicde Treue wird
in dem Gedicht: „Der Schidjalsftern“, gefeiert. Im
Übrigen wird aufopfernde Menfchenliebe, das Samariter-
t5um und Johannitertfum verherrlicht, und jene heilige
Landgräfin Elifabet von Thüringen, melde vom ber
Mufit und Malerei gleichmäßig zur Heldin künſtleriſcher
Schöpfungen auserleſen wurde, hat auch unfere Dic-
terin zu einem Balladencyflus begeiftert, dem es nicht
an Iegendarifcher Innigkeit fehlt.
Gleichwol ift nicht die mittelalterliche Zaubermacht
und die verfunfene Traumwelt ber Romantik bie Muſe
unferer Dichterin, obwol fie Stoffe wie „Boabdil“ mit
orientalif—her Glut auszuftatten weiß und aud) Heinrich
den Seefahrer, ein Gemälde, deſſen Ausführung ebenfalls
zum Theil ein erotifches Colorit verlangt, zum Helden
ritterlich heldenhafter Romanzen macht. Diefer fühne
Seefahrer hat ja nichts romantiſch Träumerifches, es pul»
firt in ihm modernes Blut; er ift ber Ahnherr der mor
dernen Entdekungsreifenden, jener Helden der Neuzeit,
welche im Dienfte ber Cultur und der Menſchheit fo viele
fangeswitrdige Thaten vollbringen.
Die Dichterin wählt aber auch mit Vorliebe ihre
Stoffe ans der jüngften Vergangenheit und aus der Beite
geihichte. Das Jahr 1866 begeiftert fie zu mehrern
Kriege- und Siegägefängen; wir theilen einen berfel»
ben mit:
Der dritte Juli 1866.
jumendem Renner, in ftürmifcher Nacht,
= renden Sporn jagt der Rufer zur Schiacht.
„Entfaltet die Fahnen zum blutigen Strauß,
Fra siehe d Br gerüftet Hinaus,
437
Zu ihnen im Siegen und Sterben gefeltt,
D Königsfohn, führ’ deine Krieger ing Feld.“
Da ziehen fie ſchweigend durchs böhmiſche Land,
Die Augen und Herzen gen Weften gewandt,
Entgegen des Kampfes wildmorbender Wuth,
Entgegen dem Tode mit preußifem Muth.
Dumpf rufen Kanonen den reifigen Troß,
Da zügelt der Kronprinz fein ſchnaubendes Roß.
„Der Baum auf der Höhe, er weift uns bie Bahn.
Die Brüder, fie Haren, Ihr Zapfern, Hinanl'
Laut Mingt im dem Herzen fein ritterlich Wort.
Dort drüben, ba wüthet die Rieſenſchlacht fort.
In lämpfender Helden gelichtete Reihn
Fällt donnernd der eherne Schlachtgruß hinein.
„Ihr bintigen Streiter auf biutigem Pfad!
Nun vorwärts noch einmal! Die Hütfe, fie naht."
Der Himmel ift dunkel, die Exde ift roth,
Und graufige Ernte hält wilrgend der Tod.
Doch ſiegreich erhebt der preußiſche Aar
ur Yale er Vin, Dentgtann In Math’und Gefahr.
Du fühlft deine Stärke, die Feſſel zerbrach,
Das Mündet Sadomas gewaltiger Tag.
Die Dichterin befingt „Die Kinder Frankreichs” in
einem elegifchen Gedicht, das dem. dafür geeigneten Stoff
volllommen gerecht wird; fie widmet Lord Byron zwei
ſchwunghafte Gebichte in wechfelnden Rhythmen, bei denen
nur, wie bei dem oben mitgetheilten Gedicht, zu bedauern
bleibt, daß die Daftylen unrein find und allzu häufig
duch Längen getrübt werben. Die lyriſche Ouderture
des Gedichis, in welcher der Sturm, die Nacht und die
einfom flatternden Möven dem Dichter das Wiegenlied
fingen, erſcheint ung befonders gelungen. Auch die „Her-
zogin von Orleans“ wirb in einem Gedicht befungen.
Die Gedichte gehören mit wenigen Ausnahmen der
erzählenden Gattung an; einige, wie „Guſtav Maja”,
„Die vier Heinriche“, Könnte man faſt iyriſche Hiftorien
nennen. Bon ben mehr balladenartigen hat „Gesril bei
Duiberon”, ein Gedicht, das einen modernen Negulus
feiert, heroiſchen Schwung und „Das Feuer” eine ſpan—
nende Peripetie. Der Stoff bes legten Gedichts, die
Strandräuberei, ift derfelbe, wie in dem oben befprodje-
nen Gedicht von Adolf Stern.
Die Form der meilten Gedichte ift Mar und gefeilt,
wenig leuchtend durch originellen Glanz, aber aud alles
Bizarre und Geſchmackloſe glüdlich vermeidend.
10. Schloß Herzberg. Ein Harzgediht von €. Helm. Ber-
lin, Gaertner. 1869, Gr. 16. 1 Thlr. 10 Nor.
Diefe Dichterin unterfcheidet fi wieberum von den
voransgehenben; fie ift weber fleptifch-frivol, noch heroiſch⸗
patriotifch; fondern fie entfpricht dem Durchſchnittscharaf -
ter beutfcher Weiblichkeit, fie ift fentimental, voll von
Naturempfindung, eifrige Blumiftin, gleich bewandert in
der freien Flora des deldes wie in den Varietäten der
Sartencultur und von einer barmlofen Rebfeligkeit, die
allein es möglich machte, einen für eine poetische Erzäh-
lung von wenigen Seiten ausreichenden Stoff zu einem
Bändchen von 247 dicht mit Berfen bedrudten Dctav-
feiten auszudehnen.
Und biefe Gedichte felbft Hat dem Fehler, daß der
Eonflict fowol wie feine Loſung etwas trivialer Art find.
438 Revune neuer Lyrik und Epit.
Mir wenigſtens intereffiren uns durchaus nicht dafiir,
bag der junge Prinz Georg von Lüneburg⸗Celle von
einer nicht flandesgemäßen Liebe, die fein Thronrecht ge-
führbete, durch den glüdlichen Zufall gerettet wird, daß
feine Geliebte, ein fchlichtes Kind der Berge, ſich als die
Prinzeffin von Darmftadt entpuppt, gerade als diejenige
Prinzeffin, deren Hand ihm eventuell beflimmt ift und
feine Throufolge ſichert. Wir finden dies ebenfo wunder-
bar wie erfreulich, ohne uns für dies der celler Dynaftie
günftige Zufallsfpiel zu enthuflasmiren. Eine Agnes Ber-
nauer flößt uns gerade beshalb Theilnahme ein, weil fie
des Barbiers Töchterlein ift, und biefe Theilnahme wilrde
augenblidlich erlöfchen, wenn fi) das Mädchen aus dem
Bolle durch irgendeinen Märchenfpul in eine geheimniß-
volle Prinzeffin verwandelte.
Auch für die dynaſtiſchen Erbſchaftshändel in Celle
Lüneburg, fo breit diefelben behandelt find, Hegen wir
nicht das geringfte Intereſſe, fowie auch bei den ver-
ſchiedenen Beſitztiteln anf Schloß Herzberg, die uns
genealogiſch⸗hypothekariſch mit archivariſcher Trockenheit
vorgetragen werden, die Muſen jedenfalls am leerſten
ausgehen:
Im Jahre tanfenb ſchon baut’ einft da droben,
Bo jetst Schloß Herzberg ſtolz und würdig thront,
Graf Fauterberg ein Jagdſchloß, das erhoben
Zur Burg dann ward, die fort und fort bewohnt
Bon Sproffen edler Hänfer war feit langen.
Sier fa der Löwe Heinrich kühn und groß,
Und feiner Söhn’ und Enkel Namen prangen
Sechshundert Jahre jest in jenem Schloß.
Doch als die Linie Braunſchweig⸗Wolfenbilttel
Erloſchen war in ihrem lebten Stamm,
Und Herzog Philipp Wappen, Schild und Titel
Als letzter Sproß mit in die Grube nahm, .
Da warb durh Kaiferfpruch in jenem Lande
Zum Erben Lüneburg nun eingefekt,
Und feiner Söhne jüngften drauf entſandte
Ins neue Reich der Herzog Wilhelm jebt.
Dergleichen ſchlechte Berfe find allerdings felten in
dem Gedicht; in der Regel find die Berfe fließend umd
wohlklingend, aber von jeder geiftigen Prägnanz verlaffen
und überreich an Gemeinplägen. Die Vedute vertritt oft
bie Stelle des Gemäldes, und nur wo bie Dichterin ben
Naturftimmen oder Märchen des Harzes lauſcht, gewinnt
ihre Darftellung poetifchen Reiz. Der alte Pfarrer un-
ter feinen Blumen, in dem Paradies im Sieberthal,
gibt ein idyllisch anfprechendes Bild, und die theils an
Shakſpeare's „Königin Mab“, theils an die Naturbilber
der Drofte-Hülshoff erinnernde Schilderung einer Blumen-
hochzeit, die nur weiterhin in dem botanifchen Turnier
etwas zu gefucht und manierirt erfcheint, hat namentlich
in der erften Hälfte viel Anmuthendes und fpricht für einen
zarten Raturfinn bei der Verfaſſerin:
Und wie das Mädchen jetst bie zarten Wangen
Auf Moos und Thymian bettet, länger dann
Die Blicke finnenb hebt, da war's, als drangen
Melodiſch füße Töne danu und warn
Zu ihrem Obr, und Blüten, Gras und Kräuter,
Die fie umblühn in üppig reicher Pracht,
Begrüßen fih mit Stimmdhen froh und heiter
Und feinen alle wie vom Schlaf erwacht.
Der wilde Roſenſtrauch erzittert leiſe,
Und lieblich, wie der erfie Morgenſtrahl,
Hebt ans der Blüte fi mit einem mal
Ein Elfenkind. Das ſchauet rings im Kreife
Entzückt umher; dann winkt es mit der Haud,
Und aus den Blumen fhllipfet rings gewandt
Der Heinen Elfen wunderholde Schar
Und bringet jener ihre Dienfle bar.
Bom Blatt der Rofe legt man ihr ein Kleid
Geſchäftig an, und Schleier buftig weit,
Gewebt von Heinen Spinnen früh und fpät,
Durchwirkt mit Perlen, die der Than gefätt,
Sie ſchmücken dann das feine Köpfchen traut
Der lieblih jungen Meinen Rofenbraut.
Geſchäftig eilt die Spinne nun Hinfiber
Zum andern Straud, auf dem der König thront,
Und eine Brüde fchlägt fie raſch herliber
zu ihm, ber fern von feinem Liebchen wohnt.
a kommt, von einer Mückenſchar gezogen,
Ein Benuswagen raſchen Fluges jet
Zum Dienft der Braut hoch durch die Luft geflogen ;
Ameiſen find als Diener ihr geſetzt;
Die halten ſchützend zartes Farrenkranut
Zu Häupten dort der ſchönen Königebraut;
Goldfliege ſchwebt als Bote fchnell davon,
Und ihre Blüten ſchwingt Ai; ellem Ton
Die Slodenblume jest. Mit lautem Summen
Umſchwebt die Biene fie, und fröhlih Brummen
Erhebt die Hummel mit dem fanımtnen Kleid,
Die ſchön geputzt der Braut gibt das Geleit.
Jetzt ſchickt der König ſeine Diener aus,
Die Holde zu empfahn. Ihm ſelbſt voraus
Schwärmt dicht gedrängt der Roſenkäfer Zahl,
Und alle Schmetterlinge ringe vom Thal,
Sie führen ihre Herrin hold und fein
zum Thron des Königs fröhlich jetzt herein.
aber zieht voll Wonne und Entzücken
Die —5 — an ſein Herz mit ſtolzen Blicken,
Und jubelnd tönt es ringsum in der Runde:
„Hoch unferm König! Hoc dem Liebesbunde!“
Das iſt recht niedliche poetiſche Schnitzarbeit; nur
find die Blumen In dem Gedicht poetiſcher als bie Men⸗
hen, deren Charakteren jede feinere Nuancirung und je⸗
des tiefere Colorit fehlt.
11. Herbfiblumen. Rene Gedichte von K. G. Ritter von Leitner.
Stuttgart, Kröner. 1870. 8. 20 Nr.
Die neuen fowie bie ältern Gedichte von Leitner bar
ben etwas Anziehendes fchon dadurch, daß fie ganz frei
von Manier und Gefuchtheit, daß fie fchlicht, einfach und
kernhaft find. Freilich fehlt es ihnen dafür an melodifchem
und einſchmeichelndem Reiz, und mande Härte ber Form
trübt den äſthetiſchen Genuß.
Die neue Sammlung befteht aus fünf Büchern, in
denen meiften® Inrifche und epifche Gedichte in buntem
Wechſel fih ablöfen. Nur bas dritte Buch: „Die
Sennerin von Kaiſerau“, bringt eine Dorfgefchichte im
Berfen, die Liebe eines Yand- und Bergmädchens zu einem
Maler, die kein glüdliches Ende nimmt. Nach der Ehe
kehrt die Berlaffene zu altgewohntem Thun in die heimat«
Iihen Berge zurüid. Die Farben der Darſtellung find
nicht fentimental verſchwommen, fonbern es herrſcht eine
gefunde Tüchtigkeit darin vor. Das Landmädchen muß bem
Maler figen, fo fehr fie ſich anfangs davor fchent:
Wie dranf er ihr zärtlich ins Aug’ oft fchaut,
Da wird ihr gar ſüß beflommen,
Es wogt ihr Buſen, ihr Herz Hopft Iaut;
Doch fucht fie nicht mehr zu entkommen,
— — — ©
— — — — —— —— — ——— nn
Revue neuer Lyrik und Epik.
Und kaum, daß ein Paar der Lage vorbei,
So lächelt ſchon — roth das Mieder,
Und blau das Rödlein — ihr Eonterfei
Gar lieb von der Wand hernieder.
Sie ſchrickt zuſammen, und fhreit: „Flurwahr!.
Das bin ich, zum Reden, ja felber,
Setroffen fo gut und beffer fogar,
Als dort die Kühe und Kälber.”
Da zieht er fle lachend an feine Bruſt,
Und hält fie im Arme’ gefangen,
Und macht erglüben mit Küffen der Luft
Der Sträubenden Lippen und Wangen.
Drauf lispelt er traulich Teil ihr ins Ohr:
Und willft du nicht ganz mein werden?
„Das will ich“, ruft fie mit Thränen empor,
„Und eines andern auf Erden!“
Das vierte Buch ift das Buch der Sonette und
Canzonen. Diefe Dichtformen haben etwas Stühlernes in
Leitner’8 Behandlung ; fie erinnern dadurd) an die Sonette
von Rückert und Hebbel, die fich aud) in der üppig reichen
Gewandung nicht ganz wohl zu fühlen fcheinen und ſich
bisweilen auf die Bersfchleppe treten. Mindeſtens wird
der melodifche Fall, der auf harmonifchen Vollklang des
Reims fehnfüchtig Hinftrebenden Berfe fehr beeinträchtigt
dich Einfchachtelungen wie die folgende:
Sind diefe Dinueweilen dir zumiber,
So fol, if Rofen fummend zu umringen
Selbft Bienen gleich geftattet, doch verklingen
Mit diefem Reim das letzte meiner Lieber.
Gerade die Funftuoliften Reimgebäude verlangen ben
leichteſten Bau, und die Muſe muß gleich einer ausge⸗
zeihneten Akrobatin lächeln, wenn fie die größten Schwie-
rigfeiten überwindet. Auch darf nirgends der Reim als
ein ber harten Notwendigkeit gebrachted Opfer gemahnen.
Beam es in dem Sonett „Umarmung“ beißt:
So bift du endlih mir ans Herz gefunfen,
Und meines pocht mit deinem froh zufammen;
Aus felgen Augen Ichlagen loh die Flammen,
Die lang’ nur glommen in verfiohluen unten.
Du, die mit Kaltfinn erft noch ſchien zu prunken
Und jeden Schein von Milde zu verdammen,
Du duldeft diefer Arme, dieſer firammen,
Umfangen nun faft willenlos wie trunfen —
fo ift der vierte Reim, der uns die Arme des Liebenden
als „ſtramm“ fchildert, doch nur ein ſehr unpoetifcher
Nothanker.
Unter den Diſtichen finden ſich manche finnige und tref⸗
fende; wir theilen bie vier legten „Aufſchriften“ mit:
Anf ein Herbarinm.
Fördernd dein Willen bewahrt Hier getrodnete Blumen
Gelehrtheit;
Duftig und farbig im Kranz reicht ſie allein dir
die Kunſt.
Auf eine Lampe.
Weck in dem Erdöl hier, das dem Dunkel entſtammt,
nur die innre,
Ewige Lichtnatur: leuchtend erwacht es zum Licht.
Anf eine Sonnenuhr.
Weiſ' ich die Stunden dir gleich nicht alle; bedenle doch
dankbar:
Die id), Sterblicher, bir weiſe — ſind ſonnige nur.
439
Auf eine Laube. |
Liebenden fliht Hier traut aus dem elütengeranf ſich
i dach.
ein
Raſch nun, ihr Blöden, geküßt! Haus und Bewohner
verblühn.
Die erzählenden Gedichte der andern Bücher behan⸗
deln theils hHeitere Anekdoten, theils ernſtere Stoffe, die
auch nit weit über das Anekdotiſche hinausgehen.
„Der Bürger von Hildesheim” gehört ganz zur erftern
Gattung und ift eine Art Nachzügler ähnlicher Gedichte
von Kopiſch. Modernen Balladenton hat „Die leberfahrt“;
in dem Öfterreichifchen General, der freudig flicht, weil
er den Kaiſer Napoleon zittern fieht, Liegt ein ftarker Zug
von Patriotismus. Einen unheimlich gefpenftigen Cha-
rakter und den Ton der altjchottifchen Romanzen zeigt
das durch biefe ſcharf ausgeprägte Eigenheit gelungene
Gedicht:
Die ſchöne Brigitte.
Die ſchöne Brigitte, die Füße bar,
Schweift irr durch die Nacht mit loſem Haar.
Sie ſchweift durch die Nacht voll Jammer, un) lauſcht,
Was nahe hier wispert, was fern dort raufcht.
Die blitenden Sterne bedrohen fie: „Du!
Bir fanden hier Wade, nnd fahen dir zu.‘
Der Mond lacht hümiſch: „Der See ift naß.
Drin feh’ ich es liegen; du weißt ſchon was.“
Sie ſchleicht dur die Au’, und das Blümchen weint:
„Sch habe mit ihm zu fpielen gemeint.‘
Sie Himmt auf den Felſen, da mahnt das Moos:
„Ich hätt’ es fo weich gebettet im Schos.“
Sie Täuft in den Wald; der fllftert: „Geſcheit!
Nun brauchſt du kein Bäumchen zur Weihnachtzeit.“
Sie fpringt davon, da frächzet ein Rab',
Ein fchwarzer, ihre nah: „Kopf ab! Kopf ab!“
Sie rennt und rennt durch Buſch und Straud,
Bis vanfhet der See: „Nun hab’ ih di auch!“
Etwas zu breit ausgefiihrt erfcheint und dagegen die
Erzählung: „Bauerntod“, deren glückliche Pointe vielleicht
durch eine mehr Iafonifche Faſſung gewonnen hätte. Ernſt
und ſchwunghaft ift das Gedicht: „Der Dombaumeifter“;
legenden⸗ und märchenhaft find: „Ave Maria” und
„Hirtin und Schlange”; bie „Königin des Balles“ tritt,
trog ähnlicher als Refrain wieherfehrender Pointe, gegen
„Die ſchöne Brigitte” fehr zurüd.
Der eigentlich Iyrifhe Klang, das melodifche Lied,
liegt dem Leitner'ſchen Talent fern; wir finden aus dies
fem Bereich wenig Beachtenswerthes; ed überwiegt das
Erzählende und Genrebildliche, die Schilderung und An-
ſchauung in oft kräftiger, bisweilen harter und berber
Yorm.
12. Sromm und Fröhlich. Dichtungen von Wilhelm Jerwitz.
Dresden, Burdad. 1869. 16. 15 Ner.
Bor kurzem ift der fchwäbifche Wanderfänger, Karl
Mayer, in hohem Alter geftorben; was er bichtete, das
waren alles Heine fliegende Blätter der Liederpoeſie, un-
erſchöpfliche Miniaturlyrit in Bezug auf ben Inhalt und
nicht auf das Yormat. Wilhelm Jerwitz jchließt fich
diefem Vorbild an; er dichtet diminutive Gedichtchen.
Freilich, auc große Gedanken brauchen nicht viel Raum,
und man kann in zwei Zeilen etwas Unfterbliches fagen.
440
Dod) diefe Liederchen und Sprüchlein treten nicht fo
prätentid8 auf; e# find einfache Gefühlchen, ſchlicht, warn,
treu und traut: im erften und zweiten Abſchnitt, der in
Profanpforismen fein Kleingeld ausgibt, Herzftärfende
Tropfen gefunder Frömmigkeit; in ben fpätern muntere
Klänge, „Blumenfcerze‘, „Maiengrün“; oft find bie
Gedanfen winzig wie ihr lyriſches Format, Nipptiſch-
figiirlein vol appetitlicher Nichtigkeit, oft von anziehender
Anmuth, 3. B.:
Grau ift heut der weite Himmel,
Weißer Reif dedit alles Grin:
Aber doc regt ſich im flillen
Toufendfältiges Erblühn.
Und die Schar der Sangesbrüder
Zwitfgjert Sant ihr Frühlingefich,
Ahnend, daß der Reif muß fcmelzen,
Benn bie Wolle fich verzieht.
Armes Herz, fei drum nicht bange,
Laß die alte Fitanei:
Bolle wird auf Wolfe ziehen,
Glaubſt dur fe an deinen Mail
13. Dichtungen von €. N. von Gerbel.
Leipzig, Matthes. 1869. 16. 1 Thle.
Im den Gedichten des deutſchruſſiſchen Poeten über»
wiegt das erotiſche Element, das don einer keuſchen blon-
den Minne nichts weiß. Bioweilen prägt es ſich friſch
und feurig aus; bisweilen mit jener frivolen Blaſirtheit,
die wie ein Echo aus den petersburger Salons gemahnt.
Das deutſche Elbflorenz ſteht im Mittelpunkte dieſer
„Gedichte. Die ſchöne Umgebung Dresdens wird mit einem
Dichtergeuß angefungen: „Das Heimweh nad Dresden“
tagt ſich in Diftichen aus; der Brühl’fchen Terraſſe wird
ein Hymnus geweiht. Namentlich aber ift es die dred«
dener Bildergalerie, welche nicht nur das größte Gedicht
der Sammlung, eine Art von verfificirtem Katalog auf
die Benuß- und Dianen-, Madonnen- und Magdalenenbilder,
auf die Gemälde, welche den Eultus des ewig, Weiblichen
vertreten, veranlagt hat, fondern außerdem auch noch
einzelne Gemälde durch befondere poetiſche Inſchriften
verherrlicht.
Wir halten diefe Galeriegedichte nicht für die Glanz«
partie der Sammlung. Theile nimmt die Dichtkunſt als
Auslegerin ber Kunftwerke der Malerei nur eine dienende
Stellung ein, theil® ift der Tom biefer Gedichte allzu
profaijc, erflärend und großen Kunftwerken gegenüber oft
zu profan. Man fann die Madonnen Rafael’s und
Tizian’8 Venusbilder nicht auf eine gleich finnliche Infpi»
ration zurüdführen. Vorherrſchend ift der Standpunkt
des frivofen parifer „Rococo“, ber für große Meifter-
werfe nicht den geeigneten, am wenigften den poetifchen
Maßſtab hergibt.
Dagegen athmen die feinern erotiſchen Gedichte eine
Glut der Leidenfhaft, die und nad dem „überfinnlich-
finnlichen“ Fiebeögetändel moderner Minnepoeten nur will-
tonmen fein Tann und trog einzelner unreiner Reime
und Katachreſen und allzu häufiger Fremdwörter doch
in dem Bann einer poetifchen Stimmung feftgält. Unfer
Erſte Sammlung.
Revue neuer Lyrik und Epik.
„Anakreon“ ſtößt zwar oft die Seufzer eines mohlconfer«
dirten Greiſes aus, ben die Damen nicht mehr mögen
und der von „Erinnerungen“ zehren muß; gleichwol feiern
die „Kleinen Gedichte" Rofen, Wein und Mädchen in echt
anakreontiſchem Stil oder auch — in hafiſiſchem:
Nicht zu weile muß man fein |
Und zu viel nicht ſchwarmen; .
Mandmal auch an Lieb’ und Wein
Muß man fi erwärmen,
In Gedanken und in Wort
Sei nit metaphyſiſch
Und bes Lebens immerfort
Freue dich hafifiſch.
Keine Luft darf uns entgehn:
So kann man uns preifen,
Daß zu leben wir verfiehn,
As die rechten Weifen.
Der Weiſe will mit der Liebe nur ſcherzen:
Willſt du weife fein, danu fpiele
Mit der Liebe froh und friſch:
Denn der Schönen gibt es viele,
Amor if} gebieterifd).
Für das erotif—he Feuer, das auf dem Altar ber
Gerbel'ſchen Mufe Ioht, ſpreche das folgende Gedicht:
Schön iſt der Abendröthe Brangen, |
Des Mondes träumerifhes Licht —
Doch ſchöner mir dein Angeficht,
Wenn trantes Sehnen, ſühes Bangen
Mit vofgem Feuer es umflicht.
Schön ift der Seele füße Reine
Bom Liebeshaude nie Burigfüht:
Doch Holder deine Aumuth blüht,
Benn füge Luft die, Siebe Kleine,
Begehriich durch die Seele zieht.
Schön if, o Mädchen, beine Tugend,
Die nie der Wonne ſich geſchmiegt:
Doch ſchöner, wenn fie, fanft beflegt,
Dem holden Drange füßer Jugend
In meinen Armen unterliegt.
Schön bift du felbft wie Hauch der Hofe,
Schön wie der Sonne golbne Pracht:
Doch ſchöner, wenn im fliller Nacht,
Im heimlich traufihem Gelofe
Der Liebe Glut ſich dir eutfacht.
Und in der Dämm'rung fügen Schweigen
Am jhönfen möchte ich dich fehn,
Wenu bei der Zephyrlüfte Wehn
Sid Sonn’ und Abendröthe neigen —
O Mädchen, kannſt du widerftehn?
Die Muſe des Dichters erhält Fluß und Guß, je
bald fie das erotifche Feuer befeelt. Auffallend find bie
in ben Tert gedrudten Noten, profaifche Erläuterungen
zu oft ſehr befannten Stoffen, melde der Dichter ſich
gewählt hat. Wir wünſchten in einer zweiten Auflage
diefe Noten nicht blos unter den Text, fondern im einen
Anhang verwiefen zu fehen. Dabei könnten und die Nor
ten über Frau von Maintenon, Machiavelli, Savonarola
u. a, biligerweife erlaſſen werden. J
Rudolf Gottſchall
(Der Beſqhlaß folgt in ber nähen Rummer.)
Zur Gefhichte des Jeſuitenordens.
441
Zur Geſchichte des Iefnitenordens.
Studien Über das Inftitut der Gefellichaft Jeſu mit befonderer
Beridfihtigung der pädagogifhen Wirkſamkeit dieſes Ordens
in Deutfhland. Bon Eberhard Zirngiebl,
Fues. 1870. Gr. 8. 3 Thlr.
Biele Hunderte von Büchern find für und wiber bie
Geſellſchaft Jeſu gefchrieben, und in manchen ift über
biefen Gegenftand viel ZTreffliches und Beherzigenswerthes
gefagt worden. Dennoch kann man die in Rebe ftchende
Schrift nur mit aufrichtiger Freude begrüßen, da fie das
umfangreiche, äußerft intereffante Material in der fleißig.
fien Weife zufammengefaßt und mit Umfiht und gediege-
ner Schärfe verarbeitet bat. Einer befondern Recht—⸗
fertigung bedarf das Erjcheinen des Buchs nicht, da ge-
sade die gegenwärtigen Zeitverhältniffe daſſelbe als eine
höchſt zeitgemäße Arbeit erfcheinen laſſen. Der Ber-
faſſer Hat bei der Ausführung feiner „Studien vornehm⸗
fih auf eine möglichft objective und unparteiifch gehaltene
Berwerthung des vorhandenen Hiftorifchen Materials und
der vorhandenen kritiſchen Beurtheilungen Bedacht ge-
nommen; er enthält fich in hohem Grade aller gehäffigen
Polemik, vermeidet mit Vorſicht confeſſionelle Einfeitig-
kiten und haſcht nicht duch pifante Erzählungen nad)
dem Beifall des großen Haufens, Dafür aber läßt er
mit unbeftechlicher Wahrheitöliebe die Thatſachen felbft
ſprechen, und dieſe fprechen allerdings in dem vorliegen«
den Falle laut und deutlich genug. Der Autor Hat bei
der reichen Fülle des hiftorifchen Stoffs feine Studien
über den Jeſuitenorden weſentlich auf Deutſchland be»
ſchränkt, und uns auf dieſe Weife Ichrreiche, aber auch
ebenfo ſchmerzenreiche Erinnerungsblätter aus der Ce»
fhihte unfers Baterlandes aufgeſchlagen. Möchte fich
das Werk in die weiteften Kreiſe hinein Bahn bredjen
und der Anſicht den Sieg verfchaffen helfen, daß in der
That nur der allein „zur größern Ehre Gottes“ kämpft,
wer da kämpft im Geifte der Liebe und der Wahrheit,
der Gerechtigkeit und der Freiheit.
In dem Bormworte feines Buchs weift der Verfaſſer
mit Recht darauf hin, daß in dem großen Kampfe, der
in unfern Tagen von Rom aus wider die Ideen, melde
den modernen Staate zu Grunde liegen, in Scene gejekt
werd umd der ebenfo fehr die ſtaatliche Selbftändigfeit
wie die individuelle Freiheit, die Parität der verfchiede-
nen Confeffionen im Staate und die humanen Tendenzen
auf dent Gebiete des Unterrichts und der Erziehung ver»
nichten fol, die Jeſuiten offenbar die hervorragendſte
Rolle fpielten. Sie waren und find unleugbar die intel
lectuellen Urheber diefer umfangreihen Reaction inner-
halb der katholiſchen Welt und jener großen Begriffs⸗
verwirrung, nad) welcher nur noch der Jeſuit und
Jeſuitenfreund (alfo der fogenannte Ultramontane) das
Prädicat eines guten Katholifen verdienen fol; fie find
dies, wie Zirngiebl behauptet, zumeift aus zwei Gründen:
einmal ift der Kampf wider alles, was nicht ihres Cha-
rakters und Weſens ift, gemwiffermaßen der Athmunge-
proceß der Societät; fodann ift nur zu gewiß, daß der
enblihe Sieg ſolch einer Reaction der Societät allein
den Lömwenantheil der Beute zuführen würde. Infolge
1870. 28.
Leipzig,
des Sieges nämlich würde die Geſellſchaft Jeſu, wie fie
ift und weil fie fo conftituirt ift, das unentbehrlichfte
Element in der Fatholifchen Kirche werden; der Sieg
würde eine geiftlihe Gewaltherrfchaft, einen geiftlichen
Militarismus fchaffen, deffen abjchredendes Vorbild un-
fchwer in der Prätorianerherrfchaft während der römifchen
Kaijerzeit zu erkennen fein dürfte. Wenn man jagt, daß
gegenwärtig ber fogenannte Cäſarismus in einigen Staa»
ten drohend fein Haupt erhoben hat, fo unterliegt es
ſicherlich keinem Zweifel, daß der Jeſuitismus faft überall
in noch viel geführlicherer Weife und unter den verfchies
denften Formen feiten Fuß zu fallen bemüht ift.
Das vorliegende Werk zerfällt in fieben Abfchnitte
oder „Studien“, denen jedesmal befondere Anmerkun-
gen mit zahlreichen literarischen Nachweifungen beigefügt
find.
Die erite Studie behandelt den „Bau und die Ten»
denzen der Gefellfchaft Jeſu“. Zu Anfang des 16. Jahr⸗
hunderts war das Anſehen der Kirche tief von der Höhe
berabgefunfen, welche e8 zu der Zeit des Mittelalters
eingenommen; der Papft Hatte fein oberſtes Schieds-
richteramt in den politifchen Zwiſtigkeiten der chriftlichen
Höfe und Völker verloren, denn fchon feit dem Streite
der Päpſte mit Ludwig dem Baier Hatte ſich das Ver⸗
hältniß von Kirche und Staat zu Gunften der Selbftän-
digfeit des letern zu Hären begonnen, Die Kirche war
lange nicht mehr das eigentliche Herz des Chriftenthums,
und der Geift, der einft von ihr ausftrahlte, alle Bezie-
bungen des Lebens durchdrang und felbft die Inſtitu⸗
tionen, die er nicht gefchaffen, wenigftens fürbte, war
nahezu ganz vernichtet. Die Korruption, melde Haupt
und Glieder der Kirche ergriffen und tief angefreflen hatte,
war bie Urſache von reformatorifchen Wünfchen und Be-
ftrebungen gewefen. Wir erinnern an die Waldenfer,
die Begharden, die Spiritualen, Fraticellen, Gottesfreunde
und andere myſtiſche Selten, welde gegen die Ber-
berbtheit und Berweltlichung der Kirche Fronte machten.
Männer, wie Meifter Edart, Tauler, Sufo, Ruysbroed,
Gerfon, Eufanus u. a. eiferten gegen die moralifche Ver⸗
funfenheit und Unwifjenheit des Regular- und Gäcular-
Herus und erfchütterten die Herzen des Volks mit ihren
fhwärmerifchen Predigten; felbft gegen die firchlichen
Heilmittel trat in den Wlagellanten ein entjchiedenes
Mistrauen zu Tage. Wichffe rief der weltlihen Macht
zu, die günftige Zeit zur Reformation der Kirche zu
benugen, und vindicitte dem Volke das Recht auf die
heiligen Schriften; ähnlich fprad) und handelte der Böhme
Matthiad von Yanow. Johann Huß und Girolamo
Savonarola ftarben den Ketzertod in ben Tlammen.
Am 31. October 1517 flug Dr. Martin Luther feine
95 Süte gegen den Ablaßhandel an die Schloßliche zu
Wittenberg. In der Schweiz erhoben fid) Zwingli und
Calvin. Ehe Rom fih nur recht befann, waren ſchon
neun Zehntel des deutfchen Voll von der Reformation
ergriffen, und bald drangen die Strahlen dieſes neuen
Geiſtes ins Ungarland, in die Niederlande, nad Frank⸗
reich, England, Spanien und Italien, felbft innerhald der
56
”.. r en ı LA ... .. ..-
442 Zur Geſchichte des Jeſuitenordens.
Mauern Roms that ſich ein Prediger im neuen Geiſte
hervor. Der Stuhl Petri wankte. Aber er ſollte nicht
zuſammenbrechen. Ohne alles Zuthun der Päpfte ſam⸗
melte ſich ein Heerhaufe, der, für die mittelalterliche Idee
der päpftlichen Allmacht bis zum Fanatismus begeiſtert,
derſelben Gut und Blut zu opfern bereit war und, in
dieſer Begeiſterung viele feiner Zeitgenoſſen mit ſich fort⸗
reißend und am ſich ziehend, zum mächtigen Koloß an⸗
wuchs, aber als ſolcher ſchließlich nicht blos dem von
Luther erwedten und von dieſem ſowie von Zwingli und
Calvin geſtalteten Reformationsgeiſte, ſondern überhaupt
jeder den Ideen der Neuzeit Rechnung tragenden Re⸗
formation einen verderblichen Damm entgegenſetzte.
Drei Jahre, nachdem Luther im deutſchen Wittenberg
alle Längft angefammelten Sturmesfräfte gegen Rom und
feine hierarchiſch⸗kirchliche Heilsanftalt ins Feld geführt,
vollzog fi auf einem unfcheinbaren Stammfige, auf
Loyola im ſchönen Spanien, ein unſcheinbares Ereigniß;
und doch follte gerade diefes Ereigniß eine Haupturfache
davon fein, daß fich feit Mitte des 16. Jahrhunderts
eine immer mächtiger anfchwellende, in Dentjchland zum
Dreißigjährigen Kriege drängende ©egenrevolution für
dafjelbe Rom offenbart. Die durch das Leſen von
Heiligenlegenden bis zum Uebermaß gereizte Phantafie des
kranken Ignaz von Loyola legte den Grund zum Orben
ber Jeſuiten.
Im kriegeriſchen Schmucke verläßt der ſüdliche Cavalier
ſein Stammſchloß, zieht nach dem Kloſter Mont⸗Serrat,
ſchenkt daſelbſt einem Bettler ſeine Kleidung, zieht ſelbſt
ein ſchon vorher erfauftes Büßerhemd an, umgürtet mit
einem Stride die Tenden und nimmt einen Pilgerftab in
die Hand. So kehrt er.in die Kirche zurüd, Im ber
Naht vor dem Feſte Mariä Berkündigung weiht ex fid
durch den alten Gebrauh der Waffenwahe zum Ritter
der Heiligen Jungfrau, hängt beim Anbruch des Tags
Schwert uud Lanze an einer Säule des Altars auf,
nimmt bie heilige Communion, vermacht dem Kloſter fein
Pferd und bezieht unweit von Manreſa erft ein Hospital
für Arme und Kranke, dann eine ſchwer zu entdedende
Höhle — zur Abtödtung, Kafleiung und geiftigen Samm⸗
ung. In diefer Höhle erfand und übte Ignaz an fich
jelbft die befannten „Exercitia spiritualia” des Jeſuiten-
ordend; er fol fpäter einmal zu Lainez gefagt haben:
„Eine einzige Stunde des Gebet zu Manrefa bat mir
über göttliche Dinge mehr Aufſchluß verſchafft, als die
Lehren aller Doctoren zufammen es vermochten.“
Am 27. September 1540 geſchah die Einfegung der
Geſellſchaft Jeſu durch die Beftätigungsbulle Paul's IIL:
„Regimini militantis Ecclesiae”. In einem Senbfchreiben
vom 26. März 1553 an die Mitglieder des Ordens
beißt e8:
Der Gehorſam ift die einzige Tugend, weiche die übrigen
Zugenden in bie Seele ſäet und die eingeſäeten bewacht. Im
der Berfon des Obern erblicdt ihr Leinen DMenfchen, welcher
Irrthümern und Armſeligkeiten unterworfen if, fondern Chri⸗
fins ſelbſt. Der Ordensmann muß fi) für eine Leiche Halten,
weicher kein Wille und feine Einſicht eigen ift, flir ein verklei⸗
nertes Bild des Gelreuzigten, melcyes, wohin immer gewendet,
beliebig ſich legen läßt, für deu Stod eines Greifes u. f. w.
(perinde ac cadaver, vel similiter atque senis baculus).
F. J. Buß, biefer unermüdliche Advocat jeſuitiſchen
Wirkens, iſt — wie unſer Autor S. 13 hervorhebt —
von der Zucht des jeſuitiſchen Inſtituts und feiner Ge—
treuen jo überzeugt, daß er den Hal für undenkbar hatt,
daß etwas an fid) Unrechtes oder Böfes befohlen würde;
dennoch fügt er zur Gewiſſensberuhigung bei, daß ja
„nicht der Gehorchende, fondern der Obere, dem jener folgt,
die Berantwortlichkeit trägt”.
Die Mitgliederzahl des Ordens follte nach der Beſta⸗
tigungsbulle Paul's II. die Zahl 60 nicht itberfchreiten;
diefe Beſchränkung wurde indeß bald aufgehoben, fowie
die Rechte und Privilegien der Gefellfhaft im Laufe der
Zeit bedeutend erweitert wurden. Der Hanptorganifator
des Ordens war Übrigens Rainez; ihm ift es vornehmlich
zuzufchreiben, daß die directen Eingriffe des Papſies in
die Gefchide der Böller dem mächtigen Einfluffe ber
Jeſuiten gegenüber fo bald zurüdtraten. Schon ber britte
General, Franz Borgia, unterhielt einen eigenhändigen
Briefwechfel mit den Fürften Europas, die ihn in kirchlichen
und faatlihen Dingen um Rath fragten.
Während die Geſellſchaft Jeſu im Dienfte der fire»
tenden Kirche fand, Hatte fie als ſolche Dienerin eine
dreifache Wirkfamteit: eine lirchlich⸗politiſche, eine religide«
ſittliche, und endlich eine pädagogifche. Auch noch jekt
befigt und übt fie diefe Wirkſamkeit ans in einem Maße,
wie gerade Zeit, Ort und Umftände es erlauben.
Die firhlich-politiiche Aufgabe des Ordens gipfelt ſich
nad) Zirngiebl „in der Reftauration und Ausbreitung bes
mittelalterlichen Katholicismus“; und da der Proteftantisumg
in fo vielfacher Hinfiht mit dem kirchlich Hergebrachten
brach, hielten es die Yefuiten für ihre weſentlichſte Anfe
gabe, „den ſchärfften Ausdruck bei der Ausſcheidung,
Unterfheidung und Gegenüberftellung bes Katholicisinns
gegen den Proteflantismus zu vertreten — alfo jene
Pofitton, welche der proteftantifchen Auffaffung im ber
ausgeſprochenſten Antitheſe gegenüberftand”. Darum tres
ten denn auch die Jeſuiten gegenwärtig wieber in ber
entſchiedenſten Weife für bie Allgewalt des Papſtes und
für deſſen Unfehlbarkeit auf. Der Bapft iſt den Sefuiten
infalliblee Interpret des in der Kirche anfgeftellten gött-
lichen Lehrwortes und höchfter Richter in allen Glanbend-
ſachen. So oft der Papft in Glaubensfachen ex cathedra
ſpricht, ift fein Ausſpruch als infallible Lehrentfcheidung
anzuerkennen, und alle Gläubigen Haben fich bemfelben
zu unterwerfen. Deshalb geht es nach der Anficht der
Jefuiten wohl an, vom Concil an den Papſt, nicht aber
umgelehrt vom Papft an das Concil zu appelliren. Im
jefuitifchen Geiſte ift jede Staatsgewalt eine ungehörige,
alſo rechtlich (im Firchenpolitifchen Sinne) zu befämpfende,
fobald fie nicht die Macht und das Anfehen der römischen
Kirche mehrt. Aus diefem Grunde hat der Orden das
bebeutjame Wort „Bollsfouveränetät” nicht felten dazu
benugt, fih in die Gunſt der Maſſen einzufchmeiceln
und zugleich den Fürſten zu imponiren. Wenn es baber
wirklich wahr ift, daß ein hochgeſtellter norddeutſcher
Staatsmann feit 1866 den Yefuiten wohl will, weil fie
bie Lehre vom „unbedingten Gehorſam“ predigen, fo follte
er nicht vergeffen, daß diefe Lehre in Bezug auf bie
weltlichen Machthaber fehr dehnbar iſt. Sehr entſchieden
trat die lirchlich⸗politiſche Tendenz des Jeſuitenordens ſchon
in dem Verhalten feiner Mitglieder auf dem Concil von
—— — ——————— — —— ee N EEE —
Zur Gefhichte des Jeſuitenordens.
Trient hervor; bier redete bereitS, wie unfer Autor ©. 37
bemerkt, Lainez der Idee der Vollsfouveränetät das Wort
(1562), und gegen Ende des 16. Jahrhunderts gaben
einzelne Iefniten dem Volke, ja fogar einem Privatınanne
das Hecht, in gewiffen Fällen einen Tyhrannen zu tödten.
Auf der andern Seite follten fi) aber auch gewiſſe
Bollöbeglüder vorfehen, einen zu innigen Bund mit den
Ultramontanen und Jeſuitenfreunden zu ſchließen, denn
die Jeſuiten becomplimentiren ein „fouveränes Volk“ nur
fo lange, als fie ficher find, daß fich diefe Sonveränetät
unter die Fittiche jefuitifch-Firchlicher Tendenzen ſtellt.
Der Verfaſſer ftütt fi auf unanfechtbare Belege, wenn
ex Sagt:
Die Iefuiten waren — wo immer ihnen bie Macht ger
geben — die Zuchtmeifter derjenigen Individnen, welde ſich
anger ber Tatholifchen Kirche zu fielen erdreifteten; fie athmeten
Rebellion gegen Tirchenfeindliche Fürſten; fie befämpften bis
aufs Meſſer ungefügige Corporationen, ja felbft für felbftherr-
fie Metropoliten hatten fie furchtbare Waffen bereit. Sie
fümmern fih nicht um die befle Staatsform, nit um ber
Boͤller materielles Wohl und Berderben; ihnen ift der Despot
fo Tieb wie ber Republifaner, der Bauer fo lieb wie ber
Melihde — wenn fie ihrem letzten Zwede dienen. Wie die
Kirche fich mit der Monardie, mit der Ariftofratie, mit der
Demokratie unter der Vorausſetzung verträgt, daß fie dem
Reihe Gottes (der Kirche nämlich) Huldigen: fo aud die
Gefelihaft Jeſn, wenn fie nur die Gelbfiherrlichkeit der auf
den Schwingen des Ordens getragenen römifchen Kirche gefichert
weiß; denn alles andere ift wandelbar und mobdificirt ſich nad
den Bebingungen der Zeiten, der Dertlichleiten und der Per-
fonen. Selbft der Papft kann nur fo weit auf ihre Unterfligung
rechnen, als feine Haltung ihren (dem mittelalterlich-Tirchlichen)
Juterefſen entſpricht.
Wie die lirchlich⸗politiſche Wirkſamkeit der Societät
Jeſu ſich als eine in theokratiſchem Abſolutismus tief⸗
begründete Praxis gezeigt hat, fo tritt nun ihre religids⸗
fittliche Wirkfamfeit und als eine durch und durch an»
thropomorphiftifche entgegen. Der nächfte Grund dieſer
Berfinnlichung alles Religiöſen Tiegt, wie Zirngiebl meint,
in der Auffafjung der Kirche als des in die Erfeheinung
getretenen und durch den Papft vermittelten göttlichen
Kegiments, das im Jenſeits nur volllommener, aber nicht
weientlich verfchieden fich fortjeßt; ein anderer Grund
befteht aber darin, daß der fübländifche Himmel die Bhan-
tafie mehr als das Herz anregt, daß derſelbe — im all»
gemeinen — bie Menfjchen mehr verfinnlicht als verinner-
licht. Thatſache if, daß aus diefen und andern Grün⸗
ben im Laufe der Zeit in der Tatholifchen Kirche das
Imerliche über dem ſich aufblähenden Aeußerlichen völlig
verloren ging. Namentlid) gaben ſich die jefuttifchen
Schriftfteller alle erbenkliche Mühe, zum Begriffsvermögen
des rohen Haufens Herunterzufteigen. So fandte 3. B.
da8 „goldene Almofen“, ein Tatholifcher Bücherverlag,
Tractate und Tractätlein in bie Welt „zur Bildung des
Geiftes und bes Herzens”, deren Inhalt jedes nur einiger«
maßen zartfühlende Menfchenherz mit Efel erfüllen muß.
Die Andachtsübungen athmen nicht weniger wie die Rath-
fhläge zur Bezähmung der finnlichen Gelüfte, die Tugend⸗
beifpiele, die Hymnen u. ſ. w., den roheften Sinnengenuß,.
Es kann bier nicht der Pla fein, biefen Gegenftand wei⸗
ter zu erörtern; doch führen wir ein charakteriftifches
Beifpiel, welches Zirngiebl ©. 50 gibt, an:
Die Abgdtterei, welche Maria zutheil wurde, zieht ſich
448
durch fo und fo viele Eongregationsfhanfpiele, erhebt fih aber
perabezu nit mehr über die Roheit indianiſcher Fafſungsweiſe
n dem Hymnus „am die heiligen Haare Mariens”:
Doch Maria, deine Loden
Mich zu deiner Lieb’ anloden,
Schönfte Iungman, beine Streinen «
Pfleg’ ich allzeit anzuflehnen.
Die im Hochenlieb zu leſen,
Seynd der Branthaar Pfeil geweſen.
Ich befehl’ mich deinen Haaren,
Die dem GEſpons fo angenehm waren.
Steh uns bei in all Gefahren,
Ded’ und zu mit deinen Haare,
ühre uns an deinen Loden
die Stadt, wo all’ frohloden.
Mit diefer religidfen Veräuferlichung fteht die ethifche
oder vielmehr umethifche Wirkfamleit der Gefellfchaft Jefu
im innigften Zuſammenhang. Die Bedeutung der Moral-
principien für das chriftlich- fittliche Leben wird von einer
raffinirten und durch die Jeſuiten in eine andgebreitete
Praris übergegangenen Caſuiſtik überwuchert. Im diefer
Beziehung jagt Zirngiebl:
Wie den Iefniten die Religion im Grunde nur Mittel zum
Zwed, um gerade die von der Kirche verheißene ewige Selig.
feit zu erlangen, ift, fo ift der Gebrauch dieſes Mittels zum
ausſchließlichen Zwed der Kirche Tugend. Ohne Heilsmittel
feine Tugend. Jedes Mittel bat aber Überhaupt keine abfolute,
fondern nur eine relative, dur den Zweck felbft modificirte
Bedeutung; und hinwieder richtet fidh der Gebrauch nach dem
Mittel und Zwed zugleich. Es ift tief im Weſen der Societät
begründet, daß das —* in der That keine andere Tugend
als ein durch den Zweck geheiligtes Mittel anerkennt und au⸗
erkennen kaun; denn alle Einrichtungen, alles Leben und Stre⸗
ben, im Inſtitut und durch dafjelbe, ift getragen und geheiligt
durch den Zwed, und namentlich gibt diefer für den Gebrauch
der Mittel (Tugend) das Maß her. Aber biefe Behauptung
ift mit der gleihnamigen vnlgären Beſchuldigung nicht identiſch;
fie erklärt jedoch Iettere und zeigt, mie ein Abirren ins Un-
moralifhe nicht allzu ferm Liegen mochte, nachdem einmal der
urſprünglich reine Zwed verloren gegangen; denn nicht heilige,
jondern nur fheinheilige Zwecke, nicht Zwecke des allgemeinen Be-
fen, fondern nur egoiftifche vertragen fich mit verderbten Mitteln.
Hinfihtlih der päbagogifchen Thätigkeit griffen bie
Jeſuiten, wie der Berfaffer ©. 58 bemerkt, von Anfang
an nur in das Lehr» und Erziehungswejen ein, weil und
foweit es ihrem Zwecke bienlih war. Das Ziel ber
jefuitifchen Pädagogik ging dahin, tüchtige umd mohl-
geübte, vor allem aber mohldisciplinirte und an ftrenge
Subordination gewöhnte Streiter heranzubilden, bie theils
als Glieder der Gefellichaft, theils außerhalb derfelben in
den verfchiedenften Lebensftellungen ben einen Ordenszweck
zu fördern bereit wären. Nicht für bie Schule wurde
von ihnen der Menfc erzogen, aber auch nicht für das
Leben, nicht für das Zeitliche, nicht für das Emige, nicht
für das irdifche Vaterland, aber auch nicht für das Neid,
Gottes, fonderi file die römische Kicche, für das Reich
des Papftes, oder eigentlich in letzter Inſtanz für ben
Orden felbft, der ja nach Umftänden feine Zwede fogar
noch über die der Kirche und des Papſtthums zu ftellen
weiß. Der Jeſuitismus will weder die Religion, noch
die Wiffenfchaft, noch die Kunft um ihrer felbft willen,
er will alles nur um der Kirche oder vielmehr um feiner
felbft willen. Das Subject mit allen feinen Anlagen,
Bebürfniffen, Intereſſen ganz und gar in die Peripherie
56 *
444
der römischen Kirche, in die Dienftbarkeit des Ordens
zu ziehen und im diefer Umgrenzung feftzuhalten, alſo
daß der Jeſuit oder jeſuitiſch gefchulte katholiſche Chrift
nichts thut, nichts redet, nichts denkt wider die Kirche
und wider die Autorität der Obern, daß er, was fen
Auge ſchwarz fieht, weiß zu nennen bereit ift, wenn die
. Kirche e8 gebeut — dies macht das eigenfte Wefen und
Streben des Jeſuitismus aus, das ift auch fein oberftes
Erziehungsprincip. (Bol. Wagenmann in 8. U. Schmid’s
„Encyklopädie des gefammten Erziehungs- und Unterrichts-
weſens“, 1862, II, 743.) Es beißt bei Birngiebl:
Sn den Schulen ber Jeſuiten ift jene Disciplin Hebel ımd
Kunft, welche die Menjchen nicht zur Freiheit und Selbfländig-
feit beranbildet, fondern ihnen vielmehr die kirchliche Zwangs⸗
jade jo angemöhnt, daß fie derſelben zeitlebens entbehren weder
fönnen noch wollen. In diefer Intention liegt auch eine an«
dere, von der Geſchichte anfs evidentefte bewiefene Thatſache
begründet, nämlich bie, daß die Sefuiten den eigentlichen Volks⸗
unterricht, foweit er nicht pafloraler Natur war, ganz außer
Acht gelaffen, dafür aber ihre Gymnaſien in Bauſch und Bogen
mit Schülern vollpfropften, um die größtmögliche Auswahl
für ihren Zweck tauglier Individuen zu haben, nicht Bios in
Bezug auf das Inftitut felbft, fondern aud) im Beziehung auf
den Staat und feine Regierung. In dieſer Intention Tiegt
endlich auch jenes Hafen und Drängen nad Alleinherrfchaft,
nah Monopolifirung ihres Unterrichts ſowol nad) Inhalt als
nad) Form — ein Berfahren, wie es uns in den Geichichten
der einzelnen Univerfitäten nur zu oft entgegentritt, welches
nichts vom Geifte Ebrifti, wol aber viel von „jüdiſchem Han⸗
delögeifte‘ im gemeinen Berfländnig enthält, und welches auf
bittere Klagen ber freiburger Univerfitätsprofefioren bin der
vorberöfterreihifhe Statthalter Freiherr von Pfirdt alfo tref-
fend charakterifirt: „Die Bäter der Geſellſchaft Jeſu beſäßen
einen langen Arm, fländen allenthalten bei Fürſten und Her-
ren in Snaden und könnten alles durchſetzen; die weltlichen
Profefforen dagegen feien ſehr ſchwarz angeſchrieben“ u. f. w.
Der Zwed if in den Augen der Societät der heiligſte von
der Welt; denn die Wiſſenſchaft ift nur Heilig und wahr im
Dienfte der Kirche, das Amt zu ehren folglich ausſchließliches
Eigenthum der Kirde. Die Mittel freilih waren nur heilig
in Rückicht auf den Zwed.
Der ung zugemefjene Raum verbietet e8 uns leider,
den Inhalt der folgenden Studien genauer anzugeben ;
wir mäfjen uns daher begnügen, auf einzelne darin ent-
haltene Hauptpunfte aufmerlfam zu machen. Der Bere
faffer verfolgt die Grundfäge und gefeglichen Einrichtun«
gen des Ordens diberall von ihren erften Anfängen bis
in die neuefte Zeit herab, wo ein Roothaan ober ein
Bedr theils tänfchende Zugeftändniffe dem modernen Zeit
bewußtfein machten, theil8 jede freifinnige Negelung des
Schulweſens zu Bintertreiben bemüht waren.
In der zweiten Studie befpricht der Autor die Ge-
ſchichte, die Tendenz und den Bau der „Ratio Studiorum”,
diefes vielerwähnten und vielgetabelten alten Lehrplang,
den die Jeſuiten durchweg im Geifte ihres Inſtituts
meiſterlich anszubeuten verftanden. Die dritte Studie
enthält eine genaue, quellenmäßige Darftelung des Colle-
gium Germanicum in Rom, bejpriht das Gemina-
riendecret der tridentiner Synode, die römifch-Fatholifche
Propaganda (Congregatio de propaganda fide) n. f. w.
Der Berfaffer beſchränkt fich Bier nicht auf eine Ge-
Schichte der jeſuitiſchen Seminarien in Deutſchland, fon-
Zur Geſchichte des Jeſuitenordens.
bern ſchildert auch die Gründung derfelben in Spanien,
Tranfreih, Italien, in den Niederlanden u. ſ. w. Die
vierte Studie bietet und eine ausführliche Geſchichte der
Einflhrung und Ausbreitung des Jeſuitenordens in alle
Theile von Deutfchland bis zum Beginn des Dreißig-
jährigen Kriegs. Die fünfte Studie behandelt die Thätig«
feit der Jeſuiten während des Zeitraums vom Ausbruch
des Dreißigjührigen Kriege bis gegen die Mitte bes
18. Jahrhunderts. Diefer Zeitraum bezeichnet die un-
befchränfte Herrfchaft des Ordens im Tatholifchen Deutid-
land; er wird aber auch zugleich durch einen gänzlichen
Berfal der Wiffenfchaft charafterifirt, die fowol durch
den Staat wie durd) die Kirche gefeffelt wurde, durch bie
Ueberhebung de8 Romanismus über ben Germanismus
in Sitte, Sprache, Politik und Religion, durch confelfio«
nellen Fanatismus, duch Hexenprocefie, Teufelsaustrei⸗
bungen und Aberglauben jeder Art. Auch im proteftan«
tifchen Norddeutfchland war der geiftige und fittliche Zu⸗
ftand in, diefer Periode ein beffagenswerther, bis mit dem
Anfang des 18. Jahrhunderts ein literarifcher Frühling
bier anbrach, aus deſſen Blüten die Früchte reiften, an
denen die Gegenwart noch vielfach zehrt. Die fechste
Studie ſchildert die Zeit des Niedergangs der Geſellſchaft
Jeſu bis zw ihrer Aufhebung durch Papft Clemens XIV.
im Jahre 1773. Sämmtliche bourbonifche Höfe forder⸗
ten in Rom die Aufhebung des Ordens. GSelbft in Baiern
begann e8 durch den energifchen Johann Adam Ydftatt
und deſſen Gefinnungögenoffen zu tagen. Die fichente
Studie endlich gibt uns ein höchſt intereffantes und lehr⸗
reiches Bild der Wirkſamkeit der Jeſuiten während des
18. und 19. Jahrhunderts, namentlich auch in Rußland,
in der Schweiz, in Belgien, Neapel, Sicilien, England,
Spanien, Portugal: und Franfreih. Die aus Rußland
vertriebenen Väter Jeſu fanden fofort in Defterreich eine
Zufluchtöftätte und reichlihen Erſatz für das Verlorene;
fie Haben Defterreich dafür gedankt, indem fie e8 an den
Rand des Verderbens brachten. Nicht fo glücklich mie
in Oeſterreich war der aus. dem Grabe erftandene
Zefuitenorden in den übrigen beutfchen Territorien; höch⸗
ftens hat Preußen davon in neuerer Zeit eine nicht genug-
zu beffagende Ausnahme gemacht, wie zuverläffige ftati«
ſtiſche Angaben beftätigen.
Die Jeſniten find geblieben was fie waren: das lehrt
uns die Geſchichte unferer Tage, das lehrt uns das vor:
liegende Bud, Aber auch über fie wird das Weltgericht
hereinbrechen. Mag General P. Nicci oder Papft Cle⸗
mens XIU. gerufen haben: „Sint, ut sunt, aut non sint!“ —
da8 Echo des richtenden Weltgeiftes kümmert fich nicht
um die rufende Perfönlichleit, es hat Har und vernehm«
lich für alle, die Ohren haben zu hören, fein „Non sint!“
zurückgerufen.
An Zirngiebl's Buche iſt nur zu tadeln, daß ſich dann
und wann unnöthige Wiederholungen finden und der Stil
häufig etwas holperig und ſchwerfällig ift. Doch thun biefe
entjchieden mehr üußerlichen Mängel dem innern Gehalt
und Werth bes Buchs wenig oder gar feinen Abbruch.
Rudolf Doehn.
Neue fpiritualiftifhe Schriften.
445
Ueue fpiritnaliftifche Schriften.
GBeſchluß aus Nr. 27.)
9. Poſitive Pneumatologie. Die Realität der Geifterwelt, fo-
wie das Bhänomen der birecten Schrift der Geifter. Hifto- -
riſche Ueberficht des Spiritualismus aller Zeiten und Böller.
Bon Baron Ludwig von Güldenſtubbe. Stuttgart,
Lindemann. 1870. Gr. 8 2 Thlr.
Das vorliegende Buch ift eine deutfche bereicherte
Bearbeitung der 1857 zu Paris erfchienenen „Pneuma-
tologie positive et experimentale” des Verfaſſers, worin
die Experimente und Betrachtungen über die „Geiſter⸗
schriften" (die man nicht etiwa mit dem fogenannten Geiſter⸗
fhreiben verwechfeln wolle) bi8 zum „Jahre 1868 fort
geführt, eine Anzahl von Hauptſtücken umgeftellt und die
„Pensees d’outre tombe“, welche früher in einem eige-
‚nen Schriftchen erjchienen waren, aufgenommen find; die
Facfimiles der Geifterfchriften, deren Zahl in dem fran-
zöfiſchen Werke 67 betrug, find Hier auf 30 reducirt.
Der Hanptzwed des Berfafjers ift, die Eriftenz einer
überfinnlichen Welt aus dem Glauben und der Tradition
oller Bölfer und zugleich aus bem merkwürdigen Phä—⸗
nomen der birecten ſogenannten Geifterjchriften zu erweifen.
Indem er ferner alle Hiftorifchen Religionen nur als ver⸗
ſchiedene Entwidelungsftufen der Menſchheit betrachtet,
„die den gleichen himmlischen Urjprung haben und fänmt-
fi überfinnliche Geifter- und Göttermittheilungen ent-
halten“, wie er ın einem Briefe vom 24. März 1865 an
mid, ausführt, und ihnen allen nur einen relativen Werth
zugefteht, macht er, wie auch im feinem Werke „Morale
universelle“ den Verſuch zur Gründung einer allgemei-
nen Religion im wahrhaft univerfalen Geifte des Spiri-
walismus und fegt als Motto auf: fein Buch die Worte
von Lamennais:
Töt ou tard une grande religion, qui ne sera qn'une
phase de la religion, immuablement une, aussi ancienne
que le genre humain, aussi invariable dans ses bases essen-
tielles que Dieu même, sortira du chaos aciuel et realisera
parmi les hommes une plus vaste unité que lo pusse n’en
connüt jamais. .
. Nach dem Verfaſſer wäre das Chriftentfum im Ver⸗
fall begriffen, und diefer habe ſchon im 3. und A. Yahr-
hundert begonnen; Priefter, welche den Gottesdienft als
Broterwerb handwerksmäßig betrieben, hätten die infpirir-
ten Apoftel und Propheten erfegt. Er äußert fi oft
in ungerechter Weife über die Geiftlichen aller Kriftlichen
Sonfeffionen und fpricht fi) namentlich gegen die Fatho-
liche Kirche feindjelig aus.
Hr. von Güldenſtubbe follte bedenken, daß die Re—
figionen nicht ohne Kirche beftehen können, und daß letztere,
indem fie zugleich eine menſchliche Inftitution fein muß,
nothwendig auch an der Unvollkommenheit des menjd)-
fihen Wefens theilnimmt. Er tabelt fehr die Orthodoren,
weil fie die Phänomena des Somnambulismus, Spiri⸗
tmalismms u. ſ. w. nicht gebührend würdigen, fie ſelbſt
als verdächtige Producte dämonifcher Weſen anfehen, wie
3. B. ber proteftantifche Paftor Adolf Monod in Paris
in feiner letzten Krankheit vom Lebensmagnetismus feinen
Sebraud zu machen magte, „weil er als engherziger
Ehrift diefes Heilmittel für ein Höllifches Product pythi⸗
ſchen Geiſtes Hielt umd die Behandlung feines Bruders
borzog, eines Arztes, der fogar die Symptome der Blat-
tern mit denen des Typhus verwechfelt Hatte“. Hr. von
Güldenſtubbe will fogar die Verblendung der Ortho⸗
doren dem „Einfluß des Fürſten der Yinfterniß ſelbſt“
zufchreiben.. Wenn de Mirville fürdte, daß durch den
Spiritualismug eine Rückkehr zum Polytheismus an⸗
gebahnt werde, fo meint Hr. von Giülbenftubbe, unfer
Jahrhundert habe Hierzu feine Neigung, wol aber zum
Atheismus und Materialismus. Diefe Richtung der Gegen-
wart veranlaßt Hrn. von Güldenftubbe zu bittern Klagen;
niemals, meint er, fei die Berfennung, die Leugnung alles
Ueberfinnlichen, die Anbetung ber Materie, da8 Streben
nad) blos irdiſchem Wohlfein fo meit gegangen wie in
der Gegenwart, jelbft in der verborbenen römiſchen Kaifer-
zeit wurden noch die Orakel und andere überfinnliche
Dffenbarungen von vielen berühmten Männern Hochgefchägt.
In dem Beftreben, möglichft viele Stützpunkte für feine
Anfihten von Kundgebung überfinnlicher Mächte aus ber
Geſchichte der alten Bölfer zu gewinnen, geht ber Ber-
fafler jo weit, felbft die Memnonsfäulen als fprechende
Drafel anzuführen, deren Töne doch auf dem durch Tem⸗
peraturwechfel bewirkten Zerfpringen einzelner Steintheil⸗
hen beruhen. Er tadelt die Einfeitigfeit der jetzigen Natur-
forfher, deren geiftige Sinne durch Mikcoffopie und
chemiſche Analyſen abgeftumpft feien und fie unfähig
machten, felbft nur Phänomene aus dem Xagleben ber
Seele zu beobadjten. Im Jahre 1863 zum Präfidenten
einer pfychologifchen Gefellfchaft von Naturforſchern und
Alademilern gewählt, deren Beftätigung fpäter „die des—
potiſche Regierung Bonaparte’8“ verweigerte, habe er be-
obadhtet, daß fogar Kinder von ſechs bis acht Jahren in
experimentalen pſychologiſchen Sigungen ergraute Akade⸗
mifer täufchten und zum beiten hielten. Ex eifert gegen
den Phyſiker Babinet, der behauptet: „que la volonte ne
franchit pas l’Epiderme“, was ſchon der Mesmerismus
widerlege.
Güldenſtubbe verſichert, er habe ſeit 20 Jahren viele
tüchtige Somnambulen gebildet, welche ſich nicht blos
durch das Durchſchauen der Gedanken anderer Perſonen,
ſondern auch durch ihre Fernſicht auszeichneten, er habe
deren Blicke vorzüglich auf die Geiſterwelt gelenkt und
ſei ſo allmählich in das Gebiet des Spiritualismus ein⸗
getreten, deſſen zwei Grundideen die Unſterblichkeit der
Seele und die Offenbarung einer Geiſterwelt feien, welche
beide in innigem Zuſammenhang mit der Idee Gottes
ftehen, Durch das Zuſammenwirken des Berfaffers mit
feiner Schweſter, einer entfchiedenen Geifterfeherin, feien
bi8 1855 die medianimifchen Kräfte beider ſehr erhöht
worden, fodaß fie ein Piano in ber entgegengefetzten Ede
de8 Zimmers in Bibration fegen konnten; 1856 folgten
die Tiſche dem Willen des Verfaſſers unbedingt und be=
mwegten fich Ichenden Wefen gleich nach jeder beliebigen
Richtung. DOdifche Tenerkugeln mit Negenbogenfarben ver-
wandelten ſich allmählich in Säulenformen, aus denen
nad) und nad) fchattenartige Menfchengeftalten fi ent-
widelten, Graf d'Ourches brachte „mit Hülfe feines
446
Familiengenius“ die Kfingeln aller Thüren bes Verfaſſers
in heftige Bewegung, wenn er nicht jelbft zum Berfafler
fommen konnte, aber den lebhaften Wunfc hatte, ihn zu
ſehen, wo dann der Berfaffer und feine Schwefter öfters
den Grafen d'Ourches in ätheriſcher Geftalt in das Zim⸗
mer treten ſahen. Auch der Verfaſſer und feine Schwe-
fter können fid) al8 Doppelgänger nach Belieben an fremde
Drte verfegen. Die vorzüglichften Zeugen diefer Erfchei-
nungen waren der Deputirte Hr. von Rance, der preußi⸗
ſche Geſandtſchaftscavalier von Voigts⸗Rheetz, der Alabe-
miter Matter, Graf d'Ourches, General von Brewern,
der Prinz Dimitri Shakowskoy, der Literat Delange,
Hr. Wilfinfon, Redacteur des „Spiritual Magazine‘, und
viele andere auch in der Wiſſenſchaft und Literatur ber
kannte Perfonen.
Dereitd 1850 hatte dem Verfaffer bie amerifanijche
Hellfeherin d'Abnour aus Neuorleans „die frohe Botfchaft
der Entdedung eines experimentellen Verkehrs mit der
Geifterwelt durch das Klopfen gebracht”. Es gelang ihm,
mit ihr einen Cirkel nad amerikaniſchem Muſter zu bil»
den, aber die Magnetifeure in Paris arbeiteten mit aller
Macht dagegen und erflärten das ©eifterflopfen für Thor⸗
beit; ebenfo verfagte Cahagnet mit feiner Hellfeherin Adele
die Mitwirkung; blos Rouftan und deſſen Somnambnle,
Madame Japhet, welche fpäter Allan Kardec das „Bud
der Geiſter“ dictirte, ſchloſſen fih ihm an. Im Yahre
1853 bemerkte Hr. von Güldenftubbe fremdartige Schrift.
züge auf ganz reinem in feinem Pult verfchloffenen Schreib-
papiere und „dies feltfame und myſteriöſe Geſchreibſel“
wiederholte ſich jo oft, daß ihm manchmal fein reines
Papier mehr zum Brieffchreiben blieb. Er begann nun
(1. Auguft 1856) mit feiner Schwefter zn experimentiren;
zugleich verfchlog ex reines Papier mit einem Bleiſtift in
ein Käftchen und übergab dem abreifenden Grafen d'Ourches
bie Schlüffel. Als man e8 nad) deſſen Zurückkunft öffnete,
fand man am 14. Auguft in demfelben mehr als zehn
Geafterfchriften, darunter eine in eſtniſcher Sprache, die
man in ben baltifchen Provinzen, dem Baterlande des
Berfaflers, ſpricht; diefe Schrift war von der Hand feines
verftorbenen Vaters. Graf d'Ourches verlangte aber eine
directe Antwort in Geifterfchrift auf eine von ihm auf
ein Blatt Papier gefchriebene Frage. Erſt nad ſechs⸗
maligem Verſuch antwortete der Geift bes Vaters des Ver⸗
faffers, am 16. Auguft, am Jahrestag feines Todes, um
11 Uhr abends bei hellem Kerzenfchein in franzöftfcher
Sprache auf demſelben Blatt: „Je confesse Jesus en
chair“, ſodaß die Schrift unter den Augen des Orafen
d'Ourches fich bildete, und er unterzeichnete mit den ge⸗
wohnten Anfangsbuchftaben feines Namens mie im Leben.
Bon 1856 — 69 erhielt nun der Berfafler in Gegen-
wart von mehr als 250 Augenzeugen, denen e8 frei ftand,
das Papier felbft zu liefern, mehr als 2000 birecter
Geiſterſchriften. Er legte Papiere anf die Antilen im
Louvre, in ber Kathedrale von St.» Denis und anbern
Kirchen und Friebhöfen von Paris, in den Parks von
Berfailles, Trianon, St.-Cloud, Compiègne, Rambonillet
und En, in den Ruinen des Schloffes von Argues bei
Dieppe, im Britiſchen Mufenm und in der Weftininfter-
abtei in London, in ber Yrauenfirche und Glyptothek in
Münden, in feiner Wohming, Im Yahre 1858 ope-
Neue fpiritnaliftiihe Schriften.
tirte er mit dem Amerilaner Dale Owen in ber Könige
gruft von St.-Denis, die ihm aber durch das Kapitel
plötzlich verfchloffen wurde, weil die Journale zu häufig
von ber Sache fprachen und weil er „‚die Ruhe der Königs-
gruft ſtöre“. Im Jahre 1859 verbot die Regierung das
Erperimentiren im Louvre und im Schloß von Berfailles;
de Mirville bezeichnete den Berfafjer als einen gefährlichern
Feind der Kirche als felbft Renan ſei. Im Jahre 1859
bildeten fich in den Sonnabendfreifen des Berfaflers in
feiner Wohnung auf dem Parket vor den Augen aller
Anweſenden bei 30 Kerzenlichtern große Figuren von ver⸗
ſchiedenen Farben, welche man entftehen und vergehen fah;
bie Frauen der großen parifer und londoner Welt eilten in
Scharen herbei, um diefe Phänomene zu fehen. Diefe
Parketfiguren dauerten bis 1861, wo der Berfafler er-
franfte; 1863 geſchah dieſes auch ſeiner Schwefter, und
feitbem gaben „die Schußgeifter bes Verfaſſers“ nur felten
Erlaubniß zu folhen Experimenten. Zur Erflärung biefer
Schriften und Figuren behauptet der Berfaffer, die Geis
fter vermöchten direct auf die Materie einzuwirken durch
den bloßen Willen, ohne materielle Werkzeuge, wie wir
fie nöthig haben, indem fie eine eleftrifhe Strömung
auf die Gegenftänbe richteten. Er und feine Schwefter
ſehen hierbei faft jedesmal Geftalten von Geiftern im
Coftiim ihres Zeitalters, und die Identität ber Handfchrife
ten könne vielfach conftatirt werben. Theils erfcheinen
Geifter von Anverwandten, theils foldye von Freunden
oder von Perſonen, welche durch gleichartige geiftige Rich
tung angezogen werben. Der Berfafier gibt übrigens zu,
dag man öfters von Geiftern niedriger Ordnung getäufcht
werde, welche fich für berühmte hiftorifche Berfonen aus⸗
geben, wie dieſes namentlih den Anhängern Kardec's,
den fogenannten Spiritiften, mit dem angeblichen heiligen
Ludwig und St.- Auguftinus begegnet fei. Wenn Hr. von
Süldenftubbe von Heilungen fpricht, welche durch bie
erwähnten auf dem Fußboden erfchienenen magifhen Figu-
ren bei gewiffen Perfonen bewirkt wurden, wie 3. 2. bei
dem Hiftorifer de Bonnechoſe, Bruder des Cardinal⸗Erz⸗
biſchofs von Rouen, fo gehören dieſe Heilungen in biefelbe
Kategorie wie jene bei Wallfahrtöbildern oder durch Be⸗
rüßrung von Reliquien bewirlten: fte kommen durch die
Kraft der glänbigen, auf den Organismus influenzirenden
Seele zu Stande und find häufig nur vorübergehend.
Die griechifchen und lateiniſchen Geifterfchriften find
meift in Sapidarfchrift gefchrieben, weil der Verfaſſer, wie
er fagt, fie meift in den Mufeen der Antiken erhalten
bat, indem er Stüde leeren Papiers auf die Dentmale
und Statuen legte. Die Iateinifchen Ramensunterfchrife
ten der alten Könige von Frankreich, von Dagobert bis
Ludwig XI., ebenfo; die Namensunterjhriften der nemern
Könige, von Franz I. bis Karl X., dann jene von Ludwig
Philipp und den verftorbenen Gliedern der Familie Or⸗
leans follen wirklich die Identität erkennen laſſen, ebenfo
die don Boltaire, Montesgnien, d’Alembert, Diberot,
Roufſeau, Schiller und Wieland; der Berfaffer erhielt
auch Schriften von Plato, Cicero, Virgil, Iulins Cäfar,
Germanicus, Euripides, den Apofteln St.» Fohannes, dem
heiligen Panlus, Abälard, ferner von Maria Stuart,
Marie Antoinette, Pascal. Er ift volllommen überzeugt,
daß die Schriften von jenen Berftorbemen herrühren. IE
Beuilletom.
babe bereit an andern Orten zu erweifen gefucht, daß
diefe Schriften, wie viele andere Phänomene des Spiri«
tualismus, wahrfcheinlicher durch die unbewußt wirkende
magische Kraft der lebenden Menfchen zu Stande kommen,
und al8 Grund Hierfür angegeben, daß die Schriftfteller
und Heroen des Altertbums, von denen Hr. von Gillden-
ftubbe Schriften erhalten Hat, eben ſolche find, deren
Werke er kannte, und daß er fehr charakteriftifch zwar
Schriften von St.⸗Johannes und Paulus erhielt, welche
die Proteftanten voranftellen, aber Feine von Betrus.
Diefe Schriften find ferner nur in Sprachen gefchrieben,
welche Güldenftubbe befannt find: griehifh, lateinifch,
eftnifch, ruſſiſch, englifh, franzöfifch, deutſch, und ent-
halten nur Sätze aus der Bibel und aus Claſſikern, mit
denen er vertraut iſt. Dabei ſoll jedoch das große Ver⸗
dienst nicht in Abrede geftellt werden, welches ſich Hr. von
Güldenſtubbe durch die Entdeckung und Berfolgung eines
jedenfalls höchſt mierfwürdigen Phänomens erworben hat,
welches er mit den Geſetzestafeln Mofis, der von Daniel
ausgelegten Schrift beim Gaſtmahl Beljazar’s (mo man
bie Finger einer ütherifchen Hand fah, wie bei manchen
Prodbuctionen Homer’3 u. f. w.), mit den Bedas, ber
Geheimlehre der Aegypter, den Draleln Griechenlands —
fämmtlih nach ihm DOffenbarungen einer Geifterwelt —
im Zufammenhang bringt. Wenn Hr. von Güldenftubbe
und feine Schwefter ein Piano in der entgegengefegten
Zimmerede zum Tönen bringen Tonnten, wenn der ab-
weiende Graf d'Ourches alle Klingeln in der Wohnung
Guldenſtubbe's in Bewegung fegen und als Doppel⸗
447
gänger in feinen Galon treten konnte, fo zeugen biefe
Phänomene wie fo viele andere fiir die magifche Kraft
lebender Menſchen, und es ift in zahlreichen Fällen offen-
bar unnöthig, die Wirkung BVerftorbener hierbei anzuneh-
men. Man darf dabei nicht verſchweigen, baf die von
ſolchen gegebenen Aufflärungen weder über diefe noch eine
andere Welt uns weſentlich Neues gelehrt haben.
Die Spiritualiiten und Spiritiften, welche ich Kennen
gelernt habe, find übrigens felfenfeft von der Kealität der
Dffenbarungen einer Geifterwelt in allen möglichen Fällen
und in den verjchiedenften Formen überzeugt. Sie ge
hören faſt ſämmtlich — mit Ausnahme eines Homöopathie
hen Arztes — der Ariſtokratie an, in deren Preifen
jene Erperimente und Beobachtungen vorzüglich geübt wer-
den, während die eigentlichen Gelehrten ihnen viclleicht
zu wenig Beachtung widmen. Die Anſichten der Spiri⸗
tualiften find allerdings in Uebereinftimmung mit großen
Wahrheiten, welche die Menſchheit nie wird entbehren
können, und wenn e8 ihnen auch nicht gelingen follte, auf
ihre Art die Gültigkeit berfelben in umnmwiderfprechlicher
Weile, mit mathematiſcher und phufitalifher Evidenz,
wie fie glauben, gegen bie verneinenden Mächte zu er-
weilen, fo verdient doch das Streben danach Anerken-
nung, vorausgeſetzt, daß es fi) von ben Auswüchſen
der Schwärmerei und Frömmelei freifält, welche fo leicht
auf diefem Gebiet fich einftellen. Die Freiheit für alle,
foweit fie nicht das Wohl des Ganzen gefährdet, bürfen
fiher auch die Spiritualiften wie ihre Gegner in Anſpruch
nehmen. Maximilian Pertp.
Fenilleion.
Benedir-Fouds und Benedir⸗Feſt.
Zu einer Ehrengabe für Roderich Beuedix fordern in ber „Gar⸗
tenlanbe‘' eine Zahl namhafter Männer, darunter Laube, Eduard
Devrient, Baron von Münd, Geheimrath von Wächter, Ernſt
Keil u. a. auf. Diefe Gabe foll dem Dichter am 21. Sannar 1871,
wo er fein fechzigftes Lebensjahr vollendet, überreicht werden. Im
der Aufforderung heißt es: „‚Dreißig Jahre hat Benedir für
die dentihe Bühne gewirkt, mehr als neunzig Stüde hat er
geihrieben, und mit feinen Stüden ift er überall willtommene
Grundlage des jeigen deutſchen Theaterrepertoires geworden.
Roderich Beuedix vertritt eine ferndeutfche Richtung in feinen Dra⸗
men nnd wirft dadurch gefund und wohlthätig auf den Geſchmack
unferer Nation. Der Grund feiner Arbeiten ift fittlich rein,
Form und Ausdrud derjelben find allgemein verſtändlich, bei
ho wie niedrig wirkfam. Darum find auch feine Stüde
auf den erflen Theatern heimiſch wie auf ben Heinften Büh⸗
men, ja felbft für die Darftelung in Familienkreiſen find
fie geſucht. So ift Benedir im wahren Sinne des Wortes
ein dramatiſcher Volksdichter. Das deutſche Bolt bat das
überall anerkannt, denn eine große Anzahl der Benedir’ichen
Stüde, obſchon in ihren Mitteln von her größten Einfachheit,
find Zug- und Kaffenfiidle geworden, und die Nation, welcher
er angehört, hat wol die Verpflichtung, fold einem, auch von
allen Nachbarvölkern Überfegten, weil auch dort hochgejchägten
Dichter einen Ausdrud des Dankes zu bieten. Cs if in
Deutſchland Teider nicht wie in andern Ländern Brauch, daß
der Staat Sorge trage flir verdiente Schriftfieller, namentlich)
dann diefelbe Sorge trage, wenn das Alter ihre Erwerbstraft
verringert. Wir haben and) feine Alademien, welche verdienft-
vollen Schriftſtellern Breife und Gehalte zuerfennen. Ergän⸗
zen wir darum diefen Mangel durch freie Sammlung, erfüllen
wir eine Ehrenpflit, indem wir das Alter eines unferer be
Ttebteften dramatifhen Dichter zu erleichtern und forgenfrei zn
machen fuchen.‘
Infolge diefer Aufforderung fand in Leipzig im Schützen⸗
Banfe eine Benedix⸗Feier flatt, welche die Räume defielben fiber.
füllt Hatte. Die Feſtrede hielt Paul Lindan im leichten,
muntern Zon, nit im pomphaft oratorifhen Stil; fie war
eine anfprechende und geiſtreiche Canſerie, nud wurde den Ber-
dienften des Dramatifers volllommen gerecht, was um jo mehr
anzuerfennen if, als Lindau im feinen eigenen Productionen
eine weſentlich verſchiedene Richtung verfolgt. Auch das Feſt⸗
gedicht von Franz Hirfc war voll von Schwung und Esprit.
Wir wünſchen dem Benebir- Fonds die reichten Zuflüſſe
und bem Dichter ſelbſt, daß er friih und munter feinen Ehren.
tag eriebe.
Bibliographie.
Sqhasler, M., Hegel. Populäre Gedanken aus feinen Werken. Ein
Beitrag zur Weiler der hunbertjährigen Wiederkehr feines Geburtötages für
die Gebildeten aller Nationen zu ammengeftellt und mit einer kurzen Les
benebeihreibung, verieben. ‚Berlin, Loewenftein. Or. 8. 1 Thlr.
Zenner, 8. &. Gedichte. Darmftadt —5 Gr. 16. 2 Nar.
Zrofhte, X. Weib. d., Skigge der Mllitair » Piteratur feit den Be-
eiungsfriegen enthalten in ber f- Rede bei ber Jubiläumsfeier ber
Itiunv-Elteratur- Jeitun am 28. Februar 1870 gehalten. Berlin, Mittier
und Sohn. Gr, 8. gr.
83 bed. Eine biographiſche Skizze mit Porträt. Berlin, F. Duncker.
8 ING
Wanner, M., Die Revolution des Kantons S i
—2* afrpaufen, plane: Br ch Ber. i —— im Jahre
aſſmanusdor . Se ulen (d. aus unb is-
echten) der Marrbrüber und Federfe ter aus De Zope 1573 —R
Ürnberger Fechtſchulreime vom Jahre 1579 und Röfener’s Gedicht: Chr
ventitel unb Lobſpruch ber Wedtlunft vom Jahre 1589. Cine Vorarbeit zu
dner Geſchichte der Margbrüber und Feberfechter. Heidelberg, 8. &roo8.
Te 8, 16 Nor.
Wilbrandt, A. Dramatifge Schriften. I. .
Berlin, Laffar. Br. 8 W ya drifte Unerreigbar. Luſtjpiel.
448
Anze
Anzeigen.
igen.
— —
Derfag von S. A. Brocihaus in Leipzig.
Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur
des 18. und 19. Iahrhunderts.
Neue, jhön ausgefattete, correcte Ausgaben der
Schatze der deutſchen Nationalliteratur,
von den angefehenften Schriftftelern der Gegenwart heraus⸗
gegeben mit Einfeitungen und Anmerkungen.
Unter Mitwirkung von
Sartfdı, Kiedermann, Buchner, Carriere, Dünker, Ebeling,
Frenzel, Gervinus, Gordehe, Gottſchall, tgetiner, Möhler,
Sermann Aur, Max Müller, Morig Müller, Oeferlep,
Küdert, Julian Schmidt, Carl Schwarz, Tittmann, Zöll-
ner und Andern.
Soeben erfäien ber 29. Banb:
Hölth's Gedichte. Mit Einleitung und Anmerkungen
herausgegeben von Karl Halm.
Die frühern Bände (1—28) enthalten:
Scyleiermadjer'3 Reben Über die Religion, von Earl Schwarz;
Kopitod'3 Oben, von Dünger;
Mufäns’ Bollsmärden, von Morig Müller (Doppelband);
Kortum’s Jobſiade, von Ebeling (Doppelband);;
Ernft Schulze's Bezauberte Roſe, Poetiſches Tagebuch, von
Tittmannz
Leſſing's Minna von Barnfelm, Emilia Galotti, Nathan, von
Hettnerz
Wieland's Oberon, von Köhler;
Maler Nüler'd Dichtungen, von Hettner (zwei Theile);
Körner'd Leier und Schwert, Zriuy, NRofamunde,
Gottſchall;
Forter’8 Auſichten vomn Niederrhein, von Buhmer (zwei Theile);
Herder's Eid, von Julian Schmidt und Karoline
Midaslis;
Seume's Spaziergang nad) Syrakus, von Defterley;
Wilhelm Müller's Gedite von Mar Müller (zwei Theile);
Goethe's Fauſt, von Carriere (zwei Theile);
Bürger's Gedichte, von Tittmann (Doppelband);
‚Herder’d Ideen zur Geſchichte der Menſchheit, von Julian
Schmidt (drei Bände);
Boß' Luife, Ioylen, von Goedeke;
Schleiermacher's Monologen, Die Weihnachtsfeier, von Earl
Schwarz;
wu Nendelsſohns Phadon, Jeruſalem, von Arnold
Bodel,
von
Ein Band koſtet geheftet 10 Ngr., in elegantem Leinwand»
band 15 Nge.; Doppelbände geheftet 20 Ngr., gebunden 1 Thlr.
Jeder Band if aud) einzeln zu haben und die Käufer find
nicht zur Abnahme der Übrigen Bände verpflichtet.
‚Die erfdienenen 29 Bände find nebſt einem Brofpert
über die Sammlung in allen Buchhandlungen vorräthig.
Dertag von 5. 4. Brocihaus in Leipsig.
Bollftändig wurde foeben:
Sdiller- Halle.
Alphabetifch geordneter Gedanken - Schatz aus
Schillers Werken und SKriefen.
Im Berein mit Gottfried Frigfhe und Mar Moltle
herausgegeben von
Dr. Aoritz Bille,
Divector des Gefammt« Gpmnaflume zu Leipzig.
8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor.
Die „Sciler- Halle” ſtellt alle bedeutfamen Ausfprüde
Säiller’s, nad) den Gegenfländen oder Stihworten alphabetifd
geordnet, in bequemer Weberficht zufammen, bildet alfo gewiſfer⸗
maßen eine Real-Encyllopädie aus und zu Schiller's fümmt-
lichen Schriften, eine Art von Schiller-Eonverfations-
Lexikon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’ eigenen Worten
geihriebener Erläuterungs- und Ergänzungsband zu
Sciller’8 Werten gemaunt werden, ber jedem Beſiher
derfelben zur Anfchaffung zu empfehlen if. Auch zur Berwen-
dung als Schulprämie iſt das Werk vorzüglich geeignet.
Verlag von 5. A. Brocthaus in Leipzig.
Soeben erſchien:
Der Neue Pitaval,
Eine Sammlung der intereffanteften Criminalgeſchichten
aller Länder aus älterer und neuerer Zeit.
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3. €. Hihig und W. Häring (Bilidald Alexis).
Fortgeführt von Dr. A. Vollert.
Neue Serie. Sünfter Band. Zweites Heft.
8 Geh. 15 Nor.
alt il . . 1869.) —
ren In Oi Genies in den
Die Procegverhandlungen wider den achtfahen Mörder
Troppmann (Traupmann) in Paris werden hier zum erfen
mal vollftändig im Zufammenhange dargeftellt und vom Stand«
punfte des deutichen Criminalverfahrens beleuchtet.
Der „Neue Pitaval“ if in vierteljährlichen Heften zu
15 Ngr. ober in jährlichen Bänden zu 2 Thle. durch alle
vuchhandlungen zu beziehen.
Dering von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Alfred de Musset.
Eine Studie von
Karl Eugen von Ujfalvy,
Professor am kalserl, Lyceum su Versailles,
8 Geh. 1 Thlr.
Mit dieser Schrift beabsichtigt der Verfasser, den grossen
franz; en Lyriker Alfred de Musset dem Verständniss des
Publikums näher zu bringen, indem er die einzelnen Diehtungen
im Zusammenhange mit dem Leben des Dichters vorführt und
sie mit sprachlichen und ästhetischen Erläuterungen begleitet.
Verentwortlicher Redacteur: Dr. Eduard BSrockhhaus. — Druck und Verlag von F. A. Brochhaus in Leipzig.
Blätter
literarifhe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich).
—e Ar. 29, e—
14. Yuli 1870,
Inhalt: Rußland und die deutichen Oſtſeeprovinzen. Bon Edwart Kattner. — Revue neuer Lyrik und Epik. Bon Rudolf
Gottſchall. (Beſchluß.) — Fenilleton.
(Die Leopoldiniſche Alademie.) — Sibliographie. — Anzeigen.
Rußland und die deutfchen Oſtſeeprovinzen.
1. Rußlands ländlihe Zuftände feit Aufhebung der Leibeigen-
ſchaft. Drei ruffifche Urtheile, Überfet und commentirt von
Sulius Edardt. Leipzig, Dunder und Humblot. 1870.
®r. 8. 1 Thle. 24 Nor.
2. Juri Samarin’s Anklage gegen die Oſtſeeprovinzen Ruß⸗
lands. Ueberſetzung aus dem Ruſſiſchen. ingeleitet und
commentirt von Julius Edardt. Leipzig, Brodhaus.
1869. ©®r. 8 2 Thlr.
3. Livländiſche Beiträge. Herausgegeben von ®. von Bock.
Neue Folge. Erſter Band. Erſtes bis drittes Heft. Leipzig,
—— und Humblot, 1869—70. Gr. 8. Jedes Heft
r.
4. Livländiſche Antwort an Herrn Juri Samarin von C. Schir⸗
—F Leipzig, Duncker und Humblot. 1869. Gr. 8. 1 Thlr.
10 Ngr.
5. Offener Brief an Herrn Prof. Schirren Über deffen Bud:
Liolandiige Antwort. Bon Pogodin. Aus dem Ruſfſi⸗
fhen des Golos. Berlin, Behr. 1870. GEr. 8. 10 Ngr.
6. Der deutfh-ruffiihe Conflict an der Oftfee. Zukünftiges,
eigen im Bilde der Vergangenheit und ber Gegenwart.
on W. von Bod. Leipzig, Dunder und Humblot. 1869.
®r. 8. 24 Nur.
Die Tragen, welche zwifchen den europäischen Völkern
ſchweben, namentlich die Grenz⸗ und Herrfchaftsfragen,
find wefentlich zugleich Fragen der Eultur, und da die
ſelbe nichts Unbedingtes, fondern etwas Bezügliches (Rela⸗
tives) ift, Tragen der höhern oder niedern Cultur. Bölfer,
welche eine gleiche Höhe in ihr einnehmen, verftändigen
fi troß der Berjchiedenheit der Sprache fehr leicht, ja, fic
vermögen auch ein gemeinfames Staatswefen zu bilden,
wie das in der Schweiz thatjächlich erwiefen iſt. Es
erhellt daraus zugleich, daß Franzoſen, Deutſche und
Italiener, wenn fie gegeneinander Billigfeit üben, ebenfo
friedlich im großen nebeneinander Leben können, wie fie
es im Kleinen in der Schweiz thun. Anders ift das Ver⸗
hältniß der Ytaliener zu den Südſlawen und das der
deutfchen Nation zu ihren zahlreihen Nachbarn im Oſten.
Hier überall find die Deutfchen und Italiener die Träger
einer weit höhern Cultur und einer damit verbundenen
focialen und politifchen Ueberlegenheit. Dieſe Auffaſſung
1870, 9.
wird nicht dadurch widerlegt, daß einzelne verfprengte
deutfche Bruchtheile unter der großen Uebermacht der
rohern Nachbarn zur Zeit zu einer untergeordneten poli-
tifchen Stellung verurtheilt find.
Das ift der Grund, weshalb in den Herrſchaftsſtreitig⸗
feiten zwifchen uns und unfern bezeichneten Nachbarn von
beiden Theilen der Beweis geführt oder wenigftens ber-
ſucht wird, daß man in der Eultur im ganzen, oder doch
in den wichtigften Zweigen derfelben, höher ſtehe. Mean
will dadurd vor der öffentlichen Meinung Europas er-
weiſen, daß man das Hecht der politifchen Herrſchaft auf
feiner Seite habe.
In einer der ſchwierigſten diefer Fragen, welche fort-
während an Bedeutung gewinnt, der baltifch-ruffifchen,
wird es den Ruſſen nicht leicht, dieſe innere Berechtigung
den Deutfchen gegenüber zu erweifen. Schon daß fie
feinen eigenen Mittelftand befigen, berfelbe vielmehr ein
fremder, beſonders deutjcher ift, zeigt hinreichend, daß
ihnen eine felbftändige Eulturentwidelung abgeht. Die
Städte find die Werfftatt jeder Eultur und ber Mittel-
ftand ift der fchaffende Werkmeifter in ihr. Wenn diefer
Werkmeifter in Rußland ein Ausländer (Deutfcher) iſt,
fo widerlegt ſich ſchon allein dadurd der Anſpruch der
culturlichen Ueberlegenheit oder Ebenbürtigleit der Rufſen
den Deutfchen gegenüber im Innern bes Reiche, aber
noch mehr in den Oſtſeeherzogthümern.
großen und ganzen geben es die Ruſſen denn
auch auf, ſich in ben wichtigſten Eulturzweigen neben uns
zu fielen; indeg haben fie in nenerer Zeit ein Eultur-
gebiet entdedt ober vielmehr durch uns (Freiherr von
Harthaufen) entdeden laffen, auf welchen fie uns ein
Borbild zu liefern vermeinen. Es ift dies das fociale
und wirthichaftliche Berhältnig der Bauern und Ländlichen
Ürbeiter. Sie rühmen ſich, in dem Gemeindebeſitz des
Grund und Bodens, welcher in Europa einzig noch bei
ihnen erhalten geblieben ift, ein Mittel zu befigen, durch
welches der Berarmung und dem BProletarierwefen der
57
ww 3 .:$+ 3
5
rag —
450 | Rußland und die deutſchen DOftfeepropinzen.
gefammten arbeitenden Klaffe des Volks vorgebeugt wird.
In den Oftfeeprovinzen ſtehen die Rechts- und Wirth-
fhaftsverhältniffe der Landbevölferung völlig auf derfel-
ben Grundlage, wie im ganzen weftlichen Europa, näm⸗
(ich auf der des perfünlichen Eigentums. Zwar ift der
Bauernftand bisher noch zum geringen Theil im eigen-
thümlichen Befig feiner Höfe, doch ift dem Webergange
aus dem Pachtverhältniß, welches durch alte, feit-
gewurzelte Sitte weſentlich ein Erbpachtverhältniß ift, durch
die Gefeßgebung freie Bahn geſchaffen, und alles ift im
guten Zuge, um dort in wenigen Jahrzehnten einen ebenjo
kräftigen und reichen Bauernftand zu fchaffen, wie er nur
fonft irgendwo in Europa zu finden ifl. Allerdings hat
weitaus ber größte Theil des Landvolks feinerlei DBefig-
recht an den Boden, fondern ift für feinen Broterwerb
auf feiner Hände Arbeit angewiefen, welche ihm aber bei
Gutsbefizern und Bauern reihlidh und zu gutem Lohn
dargeboten wird — eine Sadjlage, wie fie im ganzen
Welten ähnlich vorhanden if.
In Innerrußland Hingegen bildet der loſe Arbeiter-
ftand des platten Landes einen geringern Bruchtheil der
Bevölkerung; der weitaus größere verfügt über Grund
und Boden, allerdings nicht als perfönliches Eigenthum,
fondern als Befig der Gemeinden; und au für den
beſitzloſen Arbeiterftand gibt e8 in Sibirien und in den
mittelafiatifchen Eroberungen, ſowie aud in den ältern
Brovinzen umnermeßliche Ländereien, welde entweder
Staatseigenthum oder völlig herrenlos find, leichte Ge⸗
Iegenheit zum Landbefig zu gelangen. Dieſes anfcheinend
günftige wirthfchaftliche Verhältniß des ruſſiſchen Land—
volts, biefe anfcheinende Sicherheit der Dafeinsbedingun-
gen wird von den Ruſſen der angeblihen Armuth und
Dafeinsunficherheit der größten Mehrzahl unter den Yand-
[euten Europas im allgemeinen und der Oftfeepropinzen
insbefondere als ein glänzender Beweis überlegener, eigen«
artiger Cultur angepriefen. Die deutſchen Gutsbefiger
der baltifchen Herzogthiimer dagegen werden für die Befig«
Iofigfeit der Eften und Xetten von ihnen verantwortlich
gemadjt; fie werden ohne Umfchweife Räuber des natür«
lichen Befigrehts der Bauern, Tyrannen, Blutfauger
u. f. w. genannt. Es wird von. ber nationalen Partei
unabläffig in die Regierung gedrungen, daß fie dem bal-
tifchen Adel feinen Raub, d. i. feinen Landbefig, wieder
entreiße und ihn dem enterbten Bauernftande, d. 5. aljo
den befiglofen, ländlichen Arbeitern übergebe, damit er
denfelben nach ruffifchem Recht, d. h. im Gemeindebefig,
benuge und fo ber ruffifchen Nationalität zugeführt, die
Deutjchen aber wirthſchaftlich zu Grunde gerichtet, wenn
nicht von den racheentflammten Bauern vernichtet werben.
Es ift die Trage, ob diefer Ländliche Gemeindebefig
der Ruffen, wie in ihrer Tagespreile und in der Theorie,
auch in Wirklichkeit und Praris, fi) als eine fo vorzüg-
liche Inſtitution bewähre, daß er auf die ländlichen Ber-
bältniffe der Dftfeeprovinzen ohne Bedenken anmendbar
erſcheint und eine wejentliche Verbeſſerung derjelben her⸗
beizufüthren verſpricht. Es ift fehr. verdienftlih von Yu-
lius Edardt, daß er in ber Schrift: „Rußlands länd-
liche Zuftände” (Nr. 1), uns drei Abhandlungen von ruſ⸗
ſiſchen Schriftftellern über den genannten Gegenftand in
deutfcher Weberfegung vorführt. Die drei Verfaſſer, auf
fehr verfchiedenen Barteiftandpunkten ftehend, entwerfen
dennoch übereinftimmend ein höchſt trauriges Gemälde von
dem Zuſtande Rußlands auf dem Lande. Hr. P. von
Tılienfeld, welcher unter der Chiffre B. L. die Brofchüre
„and. und Freiheit“ im Jahre 1868 fchrieb, ein Ruſſe
von deutfcher Abftantmung, gegenwärtig Civilgouverneur
von Kurland, fteht wefentlih auf dem Standpunkte des
ruſſiſchen Conſervativen. U. Koſchelew, der Verfaſſer
der Schrift: „Ueber die gegenwärtige Lage des ruſſtſchen
Bauernſtandes“, gehört zu der Slawophilenpartei, nur
paſſen ſeine auf eigener Erfahrung beruhenden Mitthei⸗
lungen in der Schrift nicht in das Programm, zu welchem
er ſich bisher bekannt hat. Der dritte Aufſatz, welchen
Edardt überjetst hat, ift älter, er ftand fchon im Yahre
1866 in der „Moskauer Zeitung‘, in biefem berühmten
und berüchtigten Blatte, welches unter feinem Leiter Kat
kow eine ganz eigenthümliche Richtung bewahrt, bie
weder mit der liberalen, noch mit der flawophilen, nod
mit der confervativen Partei genau übereinftimmt. Dies
fer „Brief vom Lande” ftraft aber merkwürdigerweife bie
optimiftifchen Darftellungen von den ländlichen Berbält-
niffen Rußlands empfindlid) Lügen, die gerade durch die-
jes einflußreihe Journal gehegt und gepflegt, fozufagen,
zur politifchen Religion Rußlands gemacht waren. Seine
Schilderung ſtimmt vollftändig, faft wörtlich mit den An-
gaben der beiden andern Auffäge überein. Um den In«
balt von allen dreien zu Tennzeichnen, wollen wir hier
einige hauptfächlihe Parallelftellen folgen laffen. Bor
allem find die drei Schriftteller darin einig, daß die
ruffifche Landbevölkerung, die anſäſſige wie die lofe, welche
bei den großen Gutähefigern in Lohn und Brot fteht,
unglaublih roh, Tiederih, faul, unzuverläſſig, trunk⸗
ſüchtig, diebifch, überhaupt unfittlih if. Der Brieffteller
der „Moskauer Zeitung‘ fpriht unter anderm ©. 245
von der „Liederlichleit und Zuchtlofigkeit”“ der gemietheten
ZTagelöhner :
Kein Landwirth Tann fiher fein, daß nit am nädften
Morgen alle jeine Arbeiter auf» und davongehen, ohne Pferde
und Vieh getränkt und gefüttert, ohne die Defen geheizt zu
haben, und zwar davongehen nicht infolge eines Streits oder
einer Unzufriedenheit mit ihm, fondern weil in einem Nachbar
dorfe in 10 oder 15 Werft —A gerade Feiertag iſt und
weil Wanka dem Fedka geſagt hat: „Gehn wir Kamerad, bei
uns iſt heut’ ein Brauntweinchen angeführt, du ſollſt ſehen!“
Dem Fedla folgt auch der Stepan; Jegor und Nikita aber
balten es für eine Schande, flir andere zu arbeiten und ver:
ſchwinden gleichfall® nad einer andern Seite hin u. ſ. w. Der
ganze Haufe kehrt nad) drei oder auch vier Tagen wieder, aber
unterdeß ift das Vieh crepirt oder wenigſtens eine dringende
Arbeit liegen geblieben. Das alles verfieht fich gleichſam ganz
von jeldft, und daß der Landwirth für feinen Verluſt ſchadlos
gehalten werde, gehört zu den undenkbaren Dingen. Man findet
entweder keine Behörde und müht ſich vergebens ab, ober, was
noch ſchlimmer ift, die Schuldigen werden einer angeblichen
Strafe unterzogen, und dann ftehlen fie euch euere Pferde weg
oder fteden euere Koruſchober in Brand, um euch die Luf am
Klagen zu benehmen! |
©. 248 zeigt der Berfaffer, daß der eigentliche Bauer
Sommer und Winter viel Gelegenheit zum Geldverdienſt
bat, aber fie aus Zrägheit nicht benugt. Weiter ſpricht
er von der entjeglichen Dieberei auf dem Lande. Mit
noch größerer Strenge ſpricht ſich Lilienfeld über die
Untugenden und Lafter des ruffiihen Bauern aus:
— — — — — — — — — —
⸗
Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen.
Mord, Raub und Diebflahl nehmen in unglaublichem
Maßſtabe zu; Entfittlihung, Trunkſucht, Bettel- und Baga-
bundenweſen geben mit diefen Verbrechen Hand in Hand. Mit
der Nichtachtung des Eigenthumsrechts iſt e8 auf dem flachen
Lande bereits fo weit gelommen, daß gemiffe Zweige der Land-
wirthichaft, die in andern Ländern noch zu den Attribnten eines
balbwilden Zuflandes gerechnet werden, in unjern Dörfern
wit mehr gebeihen. Erben, Rüben, Möhren und andere
Gemilfe, Gartenfrlichte, wie Obft, Beeren u. f. w., werden
gegenwärtig nicht mehr gezogen, weil e8 nicht möglich ift, fie
vor Heinen und großen Dieben zu fchligen. Der ruſſiſche Dorf.
bewohner, der ſich mit der Anlage von Gemlife- und Frucht⸗
gärten abgeben wollte, würde nicht für fi, fondern für andere
arbeiten. Nur wo Anlagen diefer Art von ganzen Dörfern
als Gewerbe betrieben werden, können diefelben jetzt noch ge-
Deiben, denn in ſolchem Falle find die Interefien des einzelnen
und der Geſammtheit diejelben, und wird die Unverletlichkeit
fremden Eigentums einigermaßen refpectirt. Die meifteu rujfl-
ſchen Bauern müffen das Gemüfe und die Früchte, deren fie
bebärfen, Taufen, und die Möglichkeit, aus dieſem Zuftande
Berauszulommen, ift infolge der Zerrüttung aller Berhältniffe
auf unbeflimmte Zeit hinansgeſchoben. Auf den Höfen der
GSutsbefiger werden Gemüfe und Früchte nur unter dem Schutze
Hoher Zäune und ſtarker Wachen gebaut; auf offenem Felde
wären fie dem Diebftahl der Bauern bedingungelos preisgegeben.
Aehnlich äußert fi Koſchelew ©. 212 fg.:
Man muß auf dem Lande eben, um felber zu jehen, bis
zu welch entfeglicher Höhe die Völlerei fich gefteigert hat; nicht
nur au Sonn⸗ und Feiertagen wälzen Trunkene fih auf allen
Gaffen, auch in der Woche nnd namentlid) an den Montagen
ſteht man ganze Scharen Tanmelnder. Selbſt Weiber und
Kinder tragen das Geld, das fie erworben haben, in die Schente
und faufen, bis fle umfallen. Auf die Folgen brauchen wir nicht
weiter einzugeben, denn wer wüßte nicht, daß fie in Raufereien,
Diebflählen und Ausſchweifungen aller Art beftehen.
Ueber die Rechtspflege und Berwaltung geben unfere
Smwährsmänner übereinftimmend in gleichem Maße troft-
Ioje Berichte. In dem „Briefe vom Lande” heißt es
©. 251 über bie Rechtöpflege:
Sollte die Klage auch wirklich von einer Perſon als be-
gründet erachtet werden, jo gibt e8 doc fein Mittel, dem er-
Littenen Verluſt erfeßt zu erhalten ober wenigftens den Schul⸗
digen zur Vollendung der von ihm im Stich gelaffenen Arbeit
zu zwingen. In meiner Nachbarſchaft ereignete fich folgender
Fall. Ein Kronsbauer Hatte fich bei dem Gutsbefiger ©. für
irgendeine Arbeit verbungen, hatte Handgeld genommen und
zwar trotzdem ausgeblieben. Es ergab fi, daß er bei einem
andern Herrn in Arbeit getreten war, der höhern Lohn zahlte.
Auf die Klage des S. wurde er verurtbeilt, das Handgeld her-
auszugeben; dies fchien ihm fo ungeredht, daß er dem Kläger
ein Gebäude in Brand ftedte.
Bir müſſen e8 uns verfagen, eine draſtiſch erzählte
Wegeausbeſſerungs⸗Geſchichte Lilienfeld’8 (S. 177) bier
wiederzugeben und laffen nur noch nachftehende Schilde-
zung Kofchelew’s von den bäuerlichen Bezirksgerichten
S. 210 folgen:
Der zweite Grund der Berarmung nnd moraliſchen Ber-
tommenheit unferer Bauern ift in der Abmefenheit jeder Art
von Auftiz in den bäuerlichen Bezirksgerichten zu ſuchen. Auch
bier if der Branntwein der einzige Richter, d. 5. regelmäßig
gewinnt die Partei, weldje das größte Branntweingnantum
fpendet. Bon Achtung des Eigenthumsrechts und der Sicher-
heit der Berfon ift auch nicht die Rede, und die Bauern jelbft
Magen über ihre Gerichte am meiften.
Es liegt auf der Hand, daß bei ſolchen Zuſtänden
Die Landwirthfchaft in hohem Grade leiden muß. Ueber
Diefen Gegenftand jagt der DBrieffteller der „Moskauer
Zeitung“ in Betreff der großen Güter ©. 246:
451
Die einen verpadten es (ihr Gut) um einen Spottpreis
und müſſen gejchehen laflen, daß es völlig ausgeſogen wird,
da von Düngung feine Rede if; die andern arbeiten mit hal«
ber Wirthichaftsfraft und verwenden daher auch nur die Hälfte
Dünger, obgleich auch diefes hHomdopathifhe Quantum zufam-
menzubringen ſchwer wird, da bei der Liederlichleit der Hof-
dienerfchaft eine ordentlidye Biehzucht fo gut wie unmöglich if;
bie dritten laffen ihr Aderland Steppe werden und benutzen es
als Rinderweide, wodurch wenigftens das Kapital für künftige
Generationen ungeſchmälert bleibt. Die dritte Methode, die
an die Zeiten unſerer Erzväter erinnert, erweiſt ſich als die
vortheilhafteſte, läßt ſich aber leider nur in der Nähe der Städte
oder der großen Ochſendurchzugsſtraßen anwenden. Im übrigen
weiß ich nicht, worüber ich Hagen joll, über bie letzterwähnte
Einfhränfung oder über den Rückgang unferer Civilifatton
überhaupt, infolge deffen die Steppe und die Steppenwirth-
Kr das dlomomijche Ideal geworden iſt, dem wir zuznftreben
aben.
Hr. von Lilienfeld fchließt aus der wachſenden Zahl
der Misernten, daß in Rußland die Landerträge fich feit
Jahrhunderten vermindert haben, was wol hauptfächlich
als eine Folge des Gemeindebefiges und der damit ver-
bundenen Bobenausfaugung anzufehen if. ©. 66 berichtet
er Folgendes:
Nah von der peterhofihen Kreisverwaltung (Bonverne-
ment Petersburg) gefammelten zuverläffigen Nachrichten war
im Jahre 1865 auf 11 von ben in diejem Kreife befindlichen
63 Privatgütern, die Ackerwirthſchaft vollfländig gefchloffen -
und der Biehſtand bebentend vermindert worden, obgleich der
peterhofſche Kreis bezüglich feiner Bodenbefchaffenheit, des Ab⸗
ſatzes von Producten, der Gommunicationswege n. |. w. un⸗
gleich günfliger geftellt ift, als die entferntern Kreiſe des peters⸗
nrgifhen, nowgorodiſchen, plesfauifchen und andern nördlichen
Souvernements; in biefen Provinzen gehen die Gutswirthichaf-
ten unwiederbringlih jammt allen auf biejelben verwandten
Kapitalien zu Grunde; eine erneute Fruchtbarmachung derfelben
wirb bei unferm nördlichen Klima große Schwierigleiten haben
und längere Zeit erfordern.
Bon den drei bier zufammengeftellten Verfaffern hat
zwar derjenige des „Briefs vom Lande” auch einen
tabelnden Hinweis auf den Gemeinbebefit gegeben, Hr. von
Lilienfeld erklärt ihn, wie ſchon vor ihm Schedo⸗Ferotti
in „Le Patrimoine du peuple‘ ohne Bedenken für eine
der Haupturfachen der bedenflichen Ländlichen Zuftände auf
dem Lande in Rußland, namentlih in den nördlichen
Theilen. S. 100 fagt er über ihn:
Der Gemeindebefig bat eine hohe, unüberſehbare und noch
nit genug anerlannte Rolle in der Gefchichte des ruffischen
Volks geipielt, namentlich für die Eolonifation noch unbewohn⸗
ter Gegenden, indem er zur Ausbreitung der Bevölkerung bes
trächtlich beitrug. Jene plögfichen Eolonifirungen im Süden
und Südoſten Rußlands, die ohne Geräufh und ohne heftige
Erjhlitterungen vor ſich gegangen find und eine mächtige, un-
aufpaltfame Bewegung bildeten, die ſich nah Often hin nod)
gegenwärtig fortfegt, Haben mit diefem Inſtitut im engften
Zuſammenhang geftanden. Aber nur fo lange die erſte Periode,
das Zeitalter der Ausbreitung des Volls Über einen ungeheuern
Flächenranm, dauerte, Hatte der Gemeindebeſitz eine Berechti⸗
gung, für die jpätern Stadien erweift er fi) als hemmend und
ſchädlich. Die Gemeinfamkeit des Beſitzes am Grund und
Boden mwird zum Hemmſchuh der Entwidelung, und die Schäd-
lichkeit dieſes Hemmſchuhs nimmt in demfelben Maße zu, in
weldem die Forderung moraliſcher und materieller Entwidelung
des einzelnen Individuums für das progreffive Wachsthum des
Gemeinde » und Stantsorganiemus dringender wird. Der
Gemeindebefit droht gegenwärtig bie mächtigen Kräfte des ruf-
ſiſchen Volks für die Dauer zu feffeln und gerade die verfländig-
nen Maßregeln der Regierung in todte Buchflaben zu verman-
e nn,
57 *
452 Rußland und die deutſchen Dftfeepropinzen.
Es gehört für einen ruſſiſchen Publiciften, der denn
doch menigften® von den Mittheilungen der Zagesliteratur
und von den einfchlagenden Ylugfchriften in ruffifcher
Sprade, alfo aud) von dem vorftehend charafterifirten,
Kenntniß befigen muß, viel Verwirrung der Begriffe, viel
Kurzfichtigkeit, viel blinder Fanatismus dazu, um für
Nebenländer feines Baterlandes, insbefondere für bie
Dfifeeprovinzen, die ruffifhen ländlihen Einrichtungen
und Berbältniffe ala Muſter aufzuftellen. Dennoch thut
dies Juri Samarin in der am Cingange angeführten
Schrift: „Anklage gegen die Oftfeeprovinzen Rußlands“
(Nr. 2). Die Emführung der ruffifchen ländlichen Ge-
meindeverfaflung , der Ländlichen Verwaltungs» und Rechts⸗
orbnung und der Landwirthſchaft ift allerdings nicht der
einzige Beftandtheil der Ruffifictrung, welche er in ben
baltischen Landen durchgefett wiffen wil. Wir wollen
uns aber zunächft hiermit befchäftigen, indem wir alsdann
noch in befchränfterm Maße auf die andern Punlte feiner
Anklagen und Hebereien zurückkommen werben. Im all-
gemeinen fann man feinen Ausführungen über die größere
Güte der ruſſiſchen Einrichtungen in ber Theorie oft fehr
wohl beipflichten; es ift nicht zu leugnen, daß die rufftfche
Geſetzgebung feit dem Jahre 1860 auf diefen wie auf
andern Gebieten meiſtens nach den Orundfägen oder
wenigſtens nad) den Schablonen des weitlihen Europa
und des 19. Jahrhunderts abgefaßt ift, während die ent-
fprechenden Einrichtungen in den Dftfeeprovinzen noch
immer, wenn auch in geringerm Maße, das Geprüge
älterer Zeiten an fi tragen. Was aber Samarin ganz
überfieht, das ift das Ergebniß der ländlichen Verfaſſung
öftlih und weftlic vom Peipusſee. Wie e8 dort ausfieht,
haben wir foeben nach den Ausfagen von Augenzeugen
dargelegt. Samarin ift jedoch vol fittliher Entrüftung
über die entmenfchten Ariftofraten Liv-, Eft- und Kur⸗
lands; über ihre Standesfelbftfuht, über ihre Ränke,
welche verhindert haben, daß die demofratifchen Principien
der ruffifchen ländlichen Gemeindeordnung und Selbſt⸗
verwaltung in den baltifcden Serzogthümern Anwendung
gefunden haben. Er führt nämlich die Behinderung einer
volftändigen Ruffificirung diefer Provinzen in Geſetz⸗
gebung, Berfaffung, Religion, Sprade und Net, wie
fie von der national=rufftfchen Partei feit einigen Jahr⸗
zehnten betrieben wird, anf die fogenannte „baltiſche In⸗
trigue” zurüd. Diefe „baltifche Intrigue“ befteht nad)
ihm in einem theils verabrebeten, theils ſtillſchweigenden
Complot zwifchen den baltifchen Deutfchen, namentlich den
dortigen adelihen Gutsbeſitzern, Iutherifchen Geiftlichen
und Beamten, denen ſich die Mehrzahl der ruſſiſchen
MWiürdenträger deutfcher Abkunft im ganzen Reiche an⸗
* Schließen, und von welchen ſich ſelbſt Staatsdiener ruſſi⸗
ſcher Abkunft mit oder ohne Bewußtſein als Werkzeuge
benugen laflen. Das Ziel diefes Complots ift nad
Samarin nit blos die Bewahrung der bisherigen,
Scharf abgegrenzten Sonderftellung der Herzogthümer dem
eigentlichen Rußland gegenüber, fondern fogar in ber
vollftändige Loslöfung derfelben vom Reiche und die
Herbeiführung einer preußifchen Beſitzuahme. Samarin
wendet eine große Kunft ber Umdeutung, Berdrehung
und Fälfhung der Thatſachen an, um feinen ruſſiſchen
Lefern dieſe Vorftellung glaubwürdig zu machen. Cs ift
far, daß er um fo mehr Glanben finden muß, wenn er
die einflußreichen Stände der Oftfeeländer in einem mög.
Tichft gehäffigen, freiheitsfeindlichen Lichte darſtellt. Das
gejchieht denn auch Hauptfächlih durch Entwerfung eines
möglichſt düftern Gemälbes von dem Zuftand ber länd-
lichen Bevöfferung in denfelben.
Ein Hauptgewicht legt ex bei feiner Darftellung dar⸗
auf, daß die Pacht der Bauerhöfe nicht geſetzlich fefl-,
geftelt, fondern der freien Vereinbarung anheimgegeben
if. Folgt man feinem Bericht auf Treue und Glauben,
fo wird man nicht errathen, ja es fogar nicht einmal
für möglid) halten, daß in den baltifchen Herzogihlimern
der abziehende, bäuerliche Pächter nad) dem Geſetz eine
jo genügende Entfchädigung erhält, daß er zu feiner Klage
Beranlaflung findet, und daß der Grundbeſitzer es nicht
jo leiht auf eine Löfung des Pachtverhältniffes durch
Uebertheuerung anlommen läßt. Es ift aus der Dar
ftellung Samarin’8 ferner keineswegs erſichtlich, daß durch
Abſetzung eines Pachters dem Bauernftand überhaupt nicht
der geringfte Nachtheil gejchieht, indem der Gutsherr nicht
berechtigt ift, einen ſolchen pachtloſen Bauerhof einzuziehen,
fondern gefeglid; gezwungen, den abziehenden Pachter wieder
durch einen andern und zwar aus ber Mitte des Bauern
ftandes zu erfegen. Statiftifche Berechnungen erweifen fer-
ner, daß trog der allerdings ftetig wachfenden Höhe der
Pachten von 35699 livländifchen Pächtern im Verlauf der
fetten fünf Jahre nur 190 (d.h. O,,; Procent der Geſammt⸗
zahl) die in Befig gehabten Pachthöfe aufgaben, obgleich die
Pachtſumme in dieſem Zeitraum von 3 Rubel 92 Kopelen
Silber für den Thaler (d. 5. für einige Morgen) Landes anf
6 Rubel 62 Kopelen Silber geftiegen find. Doch Tehren
wir zu unferın Vertheidiger der baltischen Bauern zurück;
er ſchwingt fih noch zu folgendem Ausbruch fittlicher
Entrüftung über bie Verwandlung der Frone in Geld
pacht auf (S. 74):
Eudlich hat der Lebergang von der Frone zur Pacht bei
nne an dem Anrecht der Bauern anf den Grund und Boden
nichts geändert; dieſes fteht vielmehr umnerjchütterlich feſt. Daſ⸗
jelbe Zerritorium, das die fronleiftenden Bauern befafien, haben
die pachtzahlenden behalten, fobaß ihnen aus dem Webergang
von der Frone zur Geldpacht in diefer Beziehung kein Schaden
erwächſt und aud nicht erwachlen kann. In den baltifchen Pros
vinzen bot die Einführung des Pachtſyſtems den Grundbefigern
einen neuen Vorwand bazu, die Bauerwirthe ans ihren Gefin-
ben zu vertreiben. Auf Grund der für Liv», Eft- und Kur⸗
land beftehenden Agrarverordnungen eröffnet der Gutsbeſitzer
dem Wirthe einfach, daß er, der Gntsbefiter, die Frone nan-
mehr in eine fo und fo hohe Geldpacht verwandeln wolle und
fragt dann den Bauer, ob er dieſe Pacht zu zahlen geneigt fei?
Der Bauer ſchwört und betheuert, baf er Kein Geld Habe, daß
e8 ihm noch an der Zeit gefehlt, fich einzurichten, und flebt,
ihn doc ein oder zwei Jahre noch in dem Fronverhältniß zu
belafſen; allein der Gutsbeſitzer fchlittelt den Kopf und fpridt:
„Ich Tann nicht, mein Lieber, und ich will nicht; die Frone
it mir ein Greuel; fie ift eine veraltete, nichtonntzige Einrich⸗
tung und, indem ich fie bei mir abichaffe, erfülle ich außerdem
ben Willen der Regierung. Eniſchließe did alfo oder räume
dein Gefinde; Liebhaber find genug da und das Gefinde wird
nicht leer bleiben: der und ber drängt fi) mir fchon auf. Der
eingeſchüchterte Bauer bietet die Hälfte oder ein Drittbeil der
geforderten Summe, indem er erflärt, er fei aus dem und bem
Grunde außer Stande, mehr zu zahlen; der Gutsbefiger bleibt
nnerbittlih, und unterwirft fid) der Bauer den an ihn geftellten
Forderungen nicht, fo wird er vertrieben und das Befinde geht
r
Rußland und die deutfchen Oftfeepropninzen. | 453
an einen andern, leichter zu liberrebenden, bemitteltern oder
minder vorfidhtigen Bauerwirth Über.
Eckardt berichtigt diefe Darſtellung Samarin’s in fol-
gender Weile:
Jedem Kenner baltiicher Agrarzuftände, ja jedem denkenden
Dienfchen, muß diefer Paſſus Über die Greuel der Fronabolition
geradezu lächerlich erfcheinen. Fanatismus oder Kurzfichtigleit —
wir überlaffen die Wahl zmifchen dieſen Erflärungsgründen
dem Leſer — drüden unfern Autor auf einen Stanbpunft volls⸗
wirthichaftlicher Ignoranz herab, der felbft für unſere zähen
und Neuerungen abgeneigten Bauern Tlängft ein Übermwundener
iſt. Die Eonverfion der Frone in Geldpacht ift von ber ge-
fommten gebildeten Bevölkerung Liv», Eſt⸗ und Kurlands und
nicht zufegt von den Bauern diefer Provinzen als ungeheuerer
Kortichritt begrüßt worden, und nur die reactionären Guts⸗
befißer, welche fich diefer Umgeftaltung bornirterweije wider»
fegten, haben den Muth gehabt, dieſe Maßregel für eine Schü⸗
digung der bäuerlichen Intereffen auszugeben. Nur unter der
Herrſchaft „halbbarbariſcher“ Zuftände und Anfhauungen Tann
außer Augen geſetzt werden, daß die Arbeitspadht ſchon wegen
des nothivendigen Zeitverluftes, den fie dem Pachter verurfacht,
eine der [Hädlichften Hemmungen wirthihaftliher Entwidelung
if. Freilich gibt es Länder, in welchen freie Zeit nicht Geld,
fondern Berluft ift, weil diefelbe herkömmlich nur zur Böllerei
benußt wird. Die Oftfeeprovinzen können diefen Ländern leider
nicht mehr zugezählt werden, denn die wefteuropäifche Bilbungs-
franfheit Hat auch ihre Bauern ſchon fo weit inficirt, daß die
jelben Zeitverfuft ebenfo hoch anfchlagen wie Geldverluft, und
auszurechnen verftehen, daß fechs freie Arbeitstage mehr werth
find als drei Arbeitstage. Wir werden es wahrſcheinlich ſchon
in einigen Jahren erleben, daß die auf dem Bauernflaude ru-
henden Laften (Wegebau, Fuhrenſtellung u. |. m.) mit Gelb
abgelöft werben.
Zur weitern Berichtigung der Samarin’shen Anſchul⸗
digungen führen wir noch nah von „Yung-Stilling:
„Statiftifches Material zur Beurtheilung Livländifcher
Banernverhältniffe” (Petersburg 1868), einige Thatjachen.
über den Erfolg der baltifchen ländlichen Gefeßgebung
und Verwaltung an. Der Erfolg kann doc ſchließlich
über den Werth beider allein die Entjcheidung abgeben,
Auch Huer gilt das Wort des Apoftels: An den Früchten
ſollt ihr fie erkennen. Wenn Samarin die ihm fabelhaft
hohen Breife der Gefinde (Bauerhöfe) beim Verkauf an
die Bauern dem Eigennute der Gutsherren zur Laft legt,
fo wirb diefer Vorwurf dadurch leicht widerlegt, daß in
Livland von den 4002 bis zum Frühjahr 1868 in bäuer⸗
liches Eigenthum übergegangenen Höfen nur zwei wegen
Bankrott der Käufer zum öffentlichen Verlauf gelommen
find. Wenn nım aud) der Durchſchnittspreis einer Deffätine
Bauerlandes in Livland 61 —66 Rubel, in den Gou⸗
vernements Petersburg 1 Rubel 831, Kopelen, Perm
1 Rubel 56 Kopeken, Smolenst 1 Rubel 22°/, Kopelen,
Nowgorod 351/, Kopelen, Twer 26%/, Kopelen, (Niſhnij⸗)
Nowgorod 5 Kopelen beträgt, jo Tann wol nur ein fo
turzfichtiger und verworrener Kopf wie Samarin daraus
fhließen, daß dort der Bauer arm, gedrüdt und aus⸗
gejogen, bier überall dagegen wohlhabend und menjdjen-
freundlich behandelt if. Wir willen aus den Auszügen
bes Edardt’fchen Buchs, wie es mit Wohlhabenheit und
Gerechtigkeit bei den ruſſiſchen Bauern fteht.
Auch der Lohn für den Ländlichen Arbeiter ift in
Kivland ftetig geftiegen; im Jahre 1868 betrug der bem
verheiratheten Bauernknecht gezahlte Arbeitslohn durch»
ſchnittlich 106 Rubel 89 Kopelen, während berfelbe in
Preußen durchſchnittlich nur 105 Thle, 29 Sgr., in
Belgien 81 Rubel 35 Kopefen betrug. Das Bermögen
der livländiſchen Gemeinden bat fi) von 199583 Aubel
41%, Kopeken, welche 1849 in ben Gemeindekaſſen vor-
handen waren, binnen 18 „Jahren auf 997928 Rubel
56 Kopelen gefteigert, d. 5. von 75 Kopeken pro Kopf
auf 3 Rubel 40 Kopeken. Ueber den Bermögensftand
der in Gemeinbefig wirthfchaftenden ruſſiſchen Landgemein⸗
den fehlen uns ftatiftifche Ueberblide; wir können aber
aus den Schlaglidhtern unferer obigen Anführungen auf
folche fattfame Schlüffe ziehen. .
Ein zweites Heft von Samarin’3 „Ruffifhen Grenz⸗
gebieten”, enthaltend die angeblichen Denkwürdigkeiten eines
ruffificirten Letten Indrik Straumit, ift uns von Edardt
mit dem erften Heft nicht zugleich überfegt worden. In
Schirren's „Livländifcher Antwort“ findet ſich ein Auszug
daraus, welcher eine Anpreifung Rußlands gegenüber den
Dftfeeländern aus dem naiven Munde von xufflfchen
Arbeitern enthält, die mit den vorftehenden Thatſachen
ſchlecht ſiimmt. Wir müſſen fie bier übergehen und
bemerken nur noch, daß biefelbe nach Indrik Straumit
und Samarin in den vierziger Fahren des Jahrhunderts
den Erfolg Hatte, die Leiten und Eften von ber Uns
wahrheit des Proteftantismus zu überzeugen und fie dem
höhern Lichte der ruffiichen Rechtgläubigkeit zuzuführen.
Samarin jagt: daß damald in dem ganzen baltifchen
Bolfe ein „freier Zug zu Rußland“ hervorgetreten fei
(ein Zug, hervorgegangen aus unbefriedigten geiftlichen
Bedürfniſſen und gleichzeitig aus tiefem Unwillen tiber
die Stodung, welche in den damaligen Bauernverhältnifien
eingetreten war). Diefen Zug habe Kaifer Nikolaus er⸗
kannt, welcher beſonders befähigt gewefen fei, „ben Inſtinct
der Bollsmafjen mit Sicherheit zu errathen“. Er babe
den Leuten ben bentfchen Bebrüdern gegenüber freien
Spielraum für ihr Streben gewährt, bald aber fei bie
„baltifche Intrigue“ doch wieder fo mächtig geworben, bie
Bewegung einzudämmen. „Zwifchen allen Baftoren, Guts⸗
befigern, Polizei» und Berwaltungsbeamten und Richtern
beftand ein geheimes Einverftänbniß, das unwirkfam zu
machen keiner Kraft möglich geweien wäre.” Sa kam
es denn, daß „die neubelehrten Letten und Eſten fich
nit nur nit in ihrem Glauben befeftigten, fondern
daß fie fi ihm gegenüber gleichgültig, ja feindlich ver-
halten und den Kaifer anflehen, ihnen die Rückkehr im
das Lutherthum zu geftatten“. Man fieht, die baltischen
Deutfchen find wirklich treulofe und gefährliche Hoch—
verräther. Woldemar von Bold macht in feinen „Livlän-
difhen Beiträgen” und andern Schriften wiederholt dar⸗
auf aufmerkfam, daß Bekehrungen zu der Rechtgläubigkeit
niemal8 ohne eine greifbare Beilage, die er Prämie nennt,
borfallen, möge diefelbe in einer Landparcelle, in Abgaben-
freiheit oder aud in Fünftlichen Perlen und Tüchern,
oder gar nur in einem Meffingfnopf beitehen. Bon
einer Erhellung des Geiſtes und Länterung des Herzens,
al8 Mittel zur wahren Kirche zu belehren, hat fein
ruſſiſcher Glaubensapoftel nur eine Ahnung, auch Yuri
Samarin nidt.
Der Widerftand der Balten gegen eine Verſchmelzung
mit Rußland beſchränkt ſich aber nicht auf die beiden
genannten Punkte, fondern, fie wollen auch ihre ange-
erbte Sprache, ihre Verfaſſung (Landesitant), ihr ange
464 |
ſtammtes deutſches Hecht bewahren und nicht ber
„Reichseinheit” opfern. Sie verlangen ſogar ein befon-
deres baltifches, von dem ruffiihen Senat getrenntes
Dbertribunal. Und barin find fie, wie der Tribun Sa⸗
marin feftftelt, den Polen völlig gleichzufegen. Zwar
fingen fie nicht „revolutionäre Hymnen“ in den Kirchen,
zwar gehen „dieſe Gefänge ben Proceffionen in ben
Straßen nicht voraus“ unb es „folgen diefen wieberum
bewaffnete Banden in den Wäldern nicht nach“, auch
drehen die Lioländer den Schnurrbart nicht in die Höhe
=
Revne nener Lyrik und Epil.
und tragen feine „zurlidgefrämpte Aermel“; doch verfichen
fie ſich um fo befier auf „jene allgemeinen Kunſtgriffe
politifcher Intrigue, vermittel$ deren manchmal revolutio-
näre Minen gelegt werben, manchmal aber, mit andern
Mitteln, und zwar ganz fill, ohne jegliche Verlegung bes
Anftandes, ohne Alarm und ohne geftidte Fahnen, der
Geiſt eines ganzen Landes umgemwälzt wird”.
Edwart Kattnır.
(Die Fortſetzung folgt in der nächſten Nummer.)
Reune nener Lyrik und Epik.
(Beihiuß aus Nr. 28.)
14. Neue Gedichte von Stephan Milow. Stuttgart, Krö-
ner. 1870. 8 20 Rer.
Ein ernfter Gedankenſchwung, eine philofophifche Welt⸗
anfhanung, welche nicht mit abftracten Wendungen Hap-
pert, fondern ihren Betrachtungen dichteriſches Fleiſch und
Dint zu geben weiß, charakterifirt diefe „Neuen Gedichte‘
bes öfterreichifchen Sängers. Auch in ben „Liedern“,
vielleicht Hier zu Ungunften des einfach innigen und ſtim⸗
mungsvollen Gefühlsauspruds, überwiegt die Neflerion,
oft von büfterfler Färbung, wie fie dem von Milow in
einem längern Gedicht gefeierten Grofmeifter der Welt-
Ichwermuth, Arthur Schopenhauer, Ehre machen würde,
Einjames Los.
Drünend flarrt vor mir das Leben,
Dunkler Schredgeftalten voll,
Wie ein Fluch, dem unentriunbar
Yh zuın Opfer fallen fol.
Einſam will mein Los ich tragen,
Welcher Schmerz mich auch durchwühlt,
Wil fogar den Troſt entbehren,
Daß ein andrer mit mir fühlt.
Und entſchlüpft mir eine Klage,
Wenn mein Herz zu bange fchlägt,
Sei's ein Schrei in einen Abgrund,
Den fein Echo weiter trägt.
In den „Gebenkblättern“ ſpricht fi) die ernfte Ge
finnung des Dichters in mehr betrachtender Darftellungs-
weife ohne didaltifche Nitchternheit aus. Der Dichter
erflärt e8 für einen Vorzug und einen Beſitz zu leiden;
er verſenkt fi in die Erinnerung der Sinderzeit, in den
Morgentranm bes Lebens; er betont die Einfamleit unter
tanfend andern, von denen jeder eine eigene Welt; er
fehnt fih Hinaus aus dem treibenden Gewühl begieriger
Menfchen in friſchen Waldesbuft:
Hinaus, hinaus! Gern will ich alles Lafien,
Was mich noch reizt, wo ich fo lang’ gewohnt,
Auf nenem Boden will ich Wurzel faffen,
Und üÜberreichlich Bin ich einft belohnt,
Wenn mir and nichts die neue Stätte gab,
Als nur in ihrem Frieden, weich und lind,
Bi mid ein ftilles, waldumfränztes Grab
nd eine beitre Heimat für mein Kind! Ä
Ueberall tritt aud) der heitern Lebensluft das Me-
mento mori entgegen:
Was iſt's, das uns fo wunbderfam ergreift,
Wenn wir dem regen Frühlingstreiben Taufchen,
Wenn unfer Auge durch die Weiten ſchweift
Und taufend Stimmen unfer Obr umraufchen?
Da geht ein heil'ges Flüſtern durch die Bäume,
As küßte fie ein Hauch der Ewigleit,
Ein Summen, Weben füllt die fonn’gen Räume
Und bunte Bögel fingen weit und breit;
Sie fingen forglos, fingen luſtdurchglüht,
Als blieb’ es ewig geahing, ewig Fig ‚
Als bliebe ftets die Erde überblüht
Vom Schmud, der rings aus allen Knospen bridt.
Und wir — wir jauchzten gene mit dem Chor,
In uns and) lebt, was hell da draußen fchallt,
Es wogt in ung und ſchwillt und drängt hervor
Unwiderſtehlich, heiß, mit Allgewalt,
Als firebt’ es ohne Schranken iu den Himmel;
Bie ſchlägt das Herz, entzüctt dahingegeben,
Ganz eins mit all dem fröhlichen Gewimmel,
Es kennt nur Luft und ew’ges volles Leben —
Doch adj! darüber brütet unfer Geift,
Und Tod ift nnd Bernichtung, was er finnt;
Er fließt, daß alles nur auf Öräber weh
Und Wehmuth faßt uns und bie Thräne rinnt.
Stephan Milow ift, wie biefe Gebichte beweifen,
wefentlich Elegiker und Reflerionspoet; auch in den „Ber
mifchten Gedichten”, den „Dden’ und „Sonetten“ ift die
fer vorberrfchende Zug unverkennbar. Erhaben und bie
Form der Diftihen mit künſtleriſcher Gicherheit aus
prügend, ift die
Kosmifhe Phantafie.
Heiß umflutet vom Scheine des ſommerlich glühenden Mittags,
Schwimmt, als träumte fie füß, ſchweigend die Erbe im Licht,
Gänzlich zerſchmolzen erfcheint in quellendes Feuer die Some,
Daß fie den Erdball nur wärmend ummoge mit Gut,
Und wie trinten die Wälder, die ringsum fproffenden Kluren,
Leis ſich dehnend, das Licht innig begehrlich in fich!
Rieder vom Gipfel des Berges saufen ich die fchmweifenden
ide
'
Und dies gligernde Meer, welches vor mir fi erftredt,
Lullt mir felber den Sinn mit mächtigem Zauber in Träume,
Und ins Schauen gelöſt, ſchwimm' ich befeligt dahin.
Ad, wer denlt's! daß fern jet riefige Welten ſich drehen,
Haftig fi} ſuchen und fliehu, eilend in ſchwindeludem Flug!
Daß in nnendlihen Fernen vieleicht jet Sterne zerſchellen,
Schaurig mit Dounergekrach, ſiäubend dahin in den Raum,
Während aus gärendem Nebel fi neue verdichten und rollen;
Daß im weiteflen Kreis alle Bewegung und Kampf,
Und wer denkt's! daß einem begnadeten höheren Geifle,
Slög’ er erleuditeten Augs ſchauend bahin durch das UN,
Diele von Licht und Wonne durchzitterte Runde nichts wär,
Als ein verfhollener Fleck, welder des Blickes nicht wert.
Bon gleich tadellofem Gepräge, Erguß eines echten
Talents, ift das Gedicht: „Auf einer Bergesfpige”, wie
die folgenden Strophen beweifen mögen:
Revue neuer
Und nicht mehr wie aus anderm Sein verichlagen
Ein Fremder, Eingedrungner fieh’ ich bier,
Das Starrfte will mir was Bertrautes jagen
Und heilt das Antlis auf und lächelt mir;
Die fernfien Spiten glaub’ ich leicht zu greifen,
Mit holdem Gruße niden fie mid) an,
Bis zu des Horizonts verſchwommnen Streifen,
So weit im raſchen Flug die Blide ſchweifen,
Erſcheint mir alles liebend unterthan.
Hier ruht die Wolle, die im Niedertriefen
Der Erde Durft mit reihem Segen ftillt,
Hier meilt, noch ungetrübt vom Dunft der Tiefen,
Der Sonnenftrahl, der aus dem Wether quillt;
Nicht Dlumen gibt es bier, nicht zarte Sprofien,
Todt fcheint der weite Kreis und ohne Zier,
Uud doch — was unten prangend ausgegoffen,
Dem ift von bier der Odem zugefloffen,
Und alles Leben mifcht fih wogend hier. ,
Man könnte an dieſen ſchönen Berjen nur den rhyth⸗
mich unklaren Beginn der erften Zeile und den nicht ganz
Haren Reim „an und „unterthan‘ tadeln.
In den „Oden“ find asklepiadeiſche, ſapphiſche und
alcäifche Strophen mit großer Formgewandtheit, ohne
Inverfionen, Wortungeheuer und den grammatifchen und
ſyntaktiſchen Schwulſt behandelt, der fi) Häufig in den
dentſchen antiken Oden findet.
Liebe“, den „Weltverband“; er geiſelt die „Entartete
Jugend“:
Doch es kommt der Ernſt und die Zeit zu handeln,
Und den Jugendloſen gebricht die Mannheit;
Einſtens Stürmer, ſchleichen fie jetzt verkümmert,
Platte Geſellen.
„Treuga Dei“ fleht einen Gottesfrieden herab für den
Erdenſtreit, einen Gottesfrieden „auf Minuten“. Die
„Liedgenoſſen“ fordert der Dichter auf, nicht zu klagen,
eilen:
So bleib’ es einſam! nur dem Bedurft'gen ſtets
Ein Troſtesaublick; reiner beſteht's vielleicht,
Weil im Begegnen, erdenblinden
Auges, die andern es nicht erkennen.
Auch die in ihrer Form ſaubern „Sonette“ enthalten
manchen ſinnigen Ausſpruch. Sehr treffend wird „Den
Männern des Effects“ das ſtille Wirken des Schönen
gegenübergeſtellt:
O laßt verborgen, nach des Lenzes Weiſe,
dortwirten eure ſtill gehegten Träume,
o werden fie, gleich ihm, die Welt durchdringen.
Da ift nichts greifbar, heimlich regt ſich's, Teile,
Unſichtbar weht's befruchtend durch die Räume
Und plöglic blüht's und taufend Stimmen klingen.
Die „Sprüche und Diftichen“ find zwar nicht epigram-
matiſch ſcharf, ſchneidend und beißend; aber fie geben dod)
den Gedanken genugfam marfirte Contraſte. Die „Zeit
gedichte” athmen öfterreichifchen Patriotismus, der ſich
in dem Gedicht: „Nettes Heil”, in die vielfagenden Worte
zulammenfaßt:
Wir brauden Unglüd, daß wir weiſer werden,
Der Dichter erfehnt einen ganzen, großen Helden, ber
alle Willkür, alles Uebel wegfegt; den falfchen Patrioten
ruft er zu, daß es wahrer Größe bedarf, um das Bater-
land zu retten:
Uns frommt fein Schleihen und kein Klügeln,
Wir dringen nur mit fühnen Flügeln
Trotz jedem Hinderniß voran.
Lyrik und Epif.
Der Dichter feiert „Dobe |
daß die meiſten kalt, verſchloſſen am Schönen vorüber⸗
455
Sehr ſchön iſt der „Epilog“:
Die ihr, zerſtreut in weiter Runde,
Das Ew'ge hütet, feſtbewußt,
Trotz jedem Widerſpruch der Stunde,
Eud) allen Gruß aus voller Bruft!
Die ihr, und wär's im Wliftenbranbe,
Und zudte noch fo müd' der Fuß,
Fortwallt nach dem Gelobten Lande,
Auch allen, allen diefen Gruß!
Wir brauden Zeichen nicht zu tanfchen,
Es braucht des Drudes nicht der Hand,
Im Strahl des Lichts, im Waldesraufchen
Liegt, was uns fanft umfchlingt als Band.
Uns eint, was wir als Leben achten,
Uns eint des tiefften Herzens Schlag,
Das gleiche Fühlen, Hoffen, Trachten,
Die nichts zu einen fonft vermag.
So mög’ uns unfer Schat erquiden,
So Iodre hell, was in uns brennt,
Und laßt uns nit mit Hochmuth bliden
Auf jene, die von uns getrennt;
Was iſt's denn mehr ale ein Almofen
Des Himmels, fill, in fel’ger Glut,
Zu fchauen jedes Lenzes Rofen,
Zu lieben treu, was ſchön und gut?
Bie follten wir uns Überheben,
Beil unferm Sehuen, ewig laut,
Bard der Erflilung Traum gegeben,
Der Troſt in unfre Herzen thaut;
Weit über uns wir Götter fpüren,
Die für ein andachtsvoll Gebet
Uns warm mit ihrem Hauch berühren,
Denn um uns Falter Schauer weht?
Und wie fich alles rings verwirre,
Unb ſcheint au), was wir begen, Wahn,
Empor den Blid! daß nichts uns irre,
Und ungebroden fort die Bahn!
Und wird uns nie der Tag geboren,.
Ro wir erfüllt die Träume ſehn,
Uns bleibt doch alles unverloren,
Denn wir im Glauben untergehn.
Die Sammlung diefer Gedichte nimmt unter den
in unferer Revue beſprochenen einen hervorragenden
Rang ein.
15. Aus alten Tagen. Gedichte von Karl von Thaler.
Hamburg, 93. F. Richter. 1870. 16. 15 Ngr.
Das Märchen „Germania” und die poetifche Erzäh—⸗
lung „Die Fahrt nach Canoſſa“, die beiden Gedichte
Karl von Thaler's, werden durch die Einheit des Gedan-
tens verbunden, welche ber Dichter in dem Widmungs-
gedicht ausſpricht:
Welſche Lift und deutſche Zwietracdht
Reichten fi) die Hand zum Bunde,
Dran das fühne Streben Heinricy’s
Und er felber ging zu Grunde.
Welle Fift und deutſche Zwietradht
Sind bis Heut’ der Fluch geblieben,
Der in Schande, Schmah und Jammer ’
Unfer Baterland getrieben.
Welſche Fit und deutſche Zwietracht
Ringen ſchon durch taufend Jahre,
Daß ſie grinſend zimmern könnten
Für Germania die Bahre.
Wehe euch, feid ihr nicht wachſam,
Seid ihr nicht zum Kampf gerüftet,
Wenn die beiden dunkeln Mächte
Nah dem Opfer neu gelüftet.
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456 Revue neuer Lyrik und Epif.
Baht! ſonſt möchte einſt der Dichter
Nach dem deutfhen Volle fragen
Und bei Heinrich's bleichem Schatten
Um den Schatten Deutfchlands Hagen!
Das erfte Gedicht: „Germania“, das der Dichter als
ein Märchen bezeichnet, ift im Grunde eine Allegorie und
leidet an dem unvermeidlichen Fehler der Allegorien, daß
fih Geftalt und Begriff niemals ganz deden; die Niren
und zarten Elfen, welde ber Dichter herbeibeſchwört,
haben im Grunde mit einer poetifchen Allegorie wenig zu
thun. Die Borgejchichte des Märchens bildet ein Liebes⸗
handel der Europa mit einen aus dem Orient fommen-
ben großen Unbelannten, der ſich fpäter als der Geift
der Geſchichte enthüllt. Europa ik im Grunde mehr ein
geographifcher Begriff als eine Fee, und unfere Phantafle
gibt fi) ungern dazu ber, diefe Europa in einem Waldfee
in der Nähe des baltischen Geftades baden, ihre weißen
Glieder füßlodend aus den Wellen herborfchimmern zu
jehen, ihre Liebesfeufzer zu hören, bis ein hoher Götter⸗
jüngling fie erhört. Die Frucht ihrer Liebe ift Germania.
Der Fremde verlangte, daß nie die Geliebte frage, wer
.er fei, weil er, fie jonft verlaffen mülfe. Europa ift neu»
gierig, wie alle Feen und alle Weiber; fie fragt ihn den-
noch nad, feines Weſens Grund, und er verjchwindet,
nachdem ex ſich als ben Geift der Gefchichte offenbart hat,
ein Fremdling aus ben Hegel’fchen Eollegienheften, in den
fi fo leicht Feine blühende Jungfrau verlteben dürfte.
Die Weltgefchichte geht indeffen fort ohne „Geiſt“. Ger-
mania verfällt der böfen Fee Discorbia, und machtlos
und verftogen gräbt fie aus der Berge Schacht das Gold
zu Tage, bis: im Sturme des Vaters Stimme ihr ertönt:
Mein Kind, mein Kind, wo iſt dein Schwert?
Die Stunde naht, die du begehrt.
Discordia ift frank zum Sterben,
Jetzt mußt du wieder dir erwerden
Den alten Glanz, den du verlorft,
Als ſchlechte Bahnen du erkorſt.
Heraus aus tiefem dunkeln Schacht
Mit deines Geiftes hoher Macht,
Laß deinen alten Adler fliegen
Sa ſtolzem Schwung zu Ruhm und Siegen,
Die Krone hole bir zurüd,
Die dir entriß das falſche Süd.
Es fol mein unbefiegter Wagen
Zum größten letzten Kampf dich tragen,
Und wankſt du müd' im heißen GStreite,
Dann ſteh' ich fhirmend dir zur Seite.
Die Geifter regen ſchon die Schwingen,
Um ihre Hälfe dir zu bringen,
Die Welt durchzuckt ein wildes Gären,
Sie will die neue Zeit gebären;
Sie windet fih in fchwerem Krampfe
Und zittert vor dem nahen Kampfe.
Germania, du trittfi voran
Der Erde Bölfern auf der Bahn
Der Zulunft, wenn du erft mit Macht
Discorbia den Tod gebradt,
Und ewig ſchön und ewig jung
An Kraft und hohem Geiſtesſchwung
Sch’ ich dich ſtrahlen göttergleich
Und new erblühn dein altes Reich,
Den Eichenkranz auf deinem Haupt
Mit grünen Knospen frifch belaubt; —
Ertönet in der rechten Stunde
Das Zanberwort aus deinem Munde,
Zerreißeft du mit ſtarker Hand
Die böſe Madıt, die dich umwand!
Es brauft der Sturm ber Weltgeſchichte,
Ich fie wieder zu Gerichte
Und werfe deine Trauerllage
Hin anf der Zeiten große Wage.
Sermauia, fein Zaudern, Säumen,
Kein unnütz Zögern jet und räumen,
Erringe dir die alte Macht
Und füge einer Krone Pracht
Und Herrſcherglanz für alle Zeit
Zur geiftigen Unfterblichkeit !
Was Germania darauf erwidert oder getfan — bare
über läßt uns ber Dichter zunächft im Dunkeln. Sehen
wir don den unvermeiblichen Schattenfeiten jeder Allegorie
ab, welde der letztern ein für allemal das Prädicat
„ſtrohern“ zugezogen haben, fo ift die Darftellung belebt
und ſchwunghaft und athmet, wie bie mitgetheilten Berfe
beweifen, einen feurigen Patriotismus. “
Das zweite Gebicht führt uns ftatt allegorifcher Fign-
ren biftorifche Geftalten -von Fleifch und Blut vor. In
einer Zeit, in welcher Anaftafins Grün das öſterreichiſche
Concordat ein gedrudtes „Canoſſa“ nannte, war es gewiß
nabeliegendb, auch einmal die Hiftorifche Königsfahrt nad)
Sanoffa dichterifch zu beleuchten. Die Romanzen begin⸗
nen mit einem Alpenhymnus voll Schwung und führen
ung dann auf die Harzburg, wo uns Heinrich's üppige
Buhlerin Adelheid und feine fromme Gattin Bertha als
zwei fcharf contrajtivende Frauengeſtalten entgegentreten.
Als dritte veiht fich ihnen fpäter die große Gräfin Ma-
thilde an, welche ber Dichter mit befondberer " Vorliebe
ſchildert:
Prachtvoll war ſie anzuſchauen
Ya dem ſchwarzen Trauerkleide
Ganz umwallt vom Witwenſchleier,
Reich an fürſtlichem Geſchmeide.
Schon ſeit funfzehn Jahren ſtrahlte
Ihrer Schönheit Glanz bewundert;
Welſchlands mächtigſten und reichſten
Fürften naunt' fie ihr Jahrhundert.
Klugen Sinne regiert’ Mathilde;
Saß im Rath wo Männer dadıten,
Gab Geſetze, liebt’ die Künſte,
Führte ſelbſt ihr Volk in Schlachten.
Mutter war ſte ſtets den Armen,
Milde Pflegerin den Kranken,
Stab und Stütze den Bedrückten,
Sich am ihr emporzuranken.
Denken zündeten und Wiſſen
Ihres eignen Geiſtes Funken;
Königin an Macht verſchmähte
Mit dem Namen fie zu prunfen.
Wollte ihres Volles Rechte
Nur als Gräfiu unterfhreiben —
Mag fie drum fir alle Zeiten
Auch die große Gräfin bleiben.
Auch räth Thaler's Mathilde dem Papft ab von
einer chmachvollen Demüthigung Heinrich's; Lieber möge
der deutfche König gewonnen und verföhnt werben. Gregor
hört nicht auf den Rath der ſchönen Freundin; die fehr
anſchaulich gefchilderte Buße im Schloßhof zu Canofla
findet flatt; die fpätern Scidjale des Kaifers werden nur
in einem kurzen Epilog gejchilbert.
Beide Dichtungen legen Zeugniß ab von cinem fein
gebildeten Geifte, der bie dichteriſchen Formen beherrſcht,
Revue neuer Lyrik und Epik,
und von einem patriotifch beutfchen Sinn, der uns bei
einem öfterreichifchen PBubliciften doppelt erfreulich if.
16. Gedichte von Friedrich Marc, Dritte Auflage. Leipzig,
Briber. 1868. 16. 20 Nor.
‚ Diefe bereits in dritter Auflage vorliegenden Gedichte
find bisher in d. Bl. nicht bejprochen worden. Der Ber-
faffer Hat fie, wie das anınuthende Widmungsgebicht mit⸗
iheilt, in London verfaßt:
Ro maftenbededt, wo bautenbefrängt,
Durch Meeresgewog in dem Laufe beherricht,
Bald flutet zurüd, bafd firömt zu dem Meer
Die den Böllern befreundete Themſe;
Wo alles umwöllt durch ſchwärzlichen Rauch,
Der auffteigt rings in gewaltiger Stabt,
Zu dem Himmel ſich hebt, bleifarben ihn deckt
Und den Nebel verdidend, herabfinkt:
Hier, Blumen des Liedes, hier wuchſet ihr auf,
Wenn eilernen Gangs auch feffelte mich
Alltägliches Werk in der tojenden Stadt,
Und ihr barbtet, der Pflege bedlirfend.
Helffarbigen Scheins mid habt ihr ergökt,
Süpduftend zugleich mir die Sorgen verfüßt;
Trenliebenden Blicks oft habt ihr geſchenkt
Mir ein Glück in verdüſterten Stunden.
In dem Sonett „London” fingt er:
Ich glaubte mid für diefen Ort geboren,
Ein heiter freies Leben zu gewahren,
Und daß mir diefes Ziel vom Glück erloren.
Berwehter Traum! Ih muß nun Leid erfahren,
Im Bolke, das nad Schätzen jagt, verloren,
Das ftürmend raft, wie Dante’s Geifterfcharen.
Er fehnt fi) nad) den bdeutfchen Aheingeftaden umd
Niefenfoppen. Diefe Sehnſucht wird ihm zur begeiftern-
den Muſe, ſodaß er namentlid einen längern Cyklus
von Diftichen heimatlichen Erinnerungen an die Main-
landſchaft weiht („Waldmühle”, „Mühlberg“, „Oberrad“,
„Aepfelallee”, „Offenbach'“).
Gefühl für landſchaftliche Eigenthümlichkeit bewähren
auch die Anapäſte, in denen Norwegens wilde Natur ge⸗
feiert wird, die Gedichte an den Rhein, die Sturm⸗ und
Meexrbilder der zweiten Abtheilung. Dagegen jcheint uns
in dem Cyklus „Paris“ die Vedute über das Bild vor-
zuwiegen und ber Frembenführer über die poetifche Ver⸗
geiftigung. |
Der Berfafler verräth in den gewählten Formen und
der reichern Rhythmik, welche Anapäfte, Diftichen und
die antiken Odenſtrophen aufnimmt, gediegene claffifche
Bildung; die Oden „Endymion” und „Sappho” haben
eine edle, der antiten Mufter würdige Haltung, wie die
erften Strophen des „Enbymion‘ beweijen mögen:
An MWaldeshöh’, in nächtiger Schlummerluft,
Auf weihem Moos fanft ruht ein Hellenenſohn,
Wo qellbethaute Blumen farbHell
Lodten zu wonniger Raft den Füngling.
Aus Felſen ſtürzt ein rauſchender Duell herab;
Die Nymphe pflegt holdlränzendes Blumenbeet.
Hinmurmeln fteilab gleich zum Thale,
Ueber Gerölle, die Wellen büpfend.
Hochſtrebend ſchmückt den grünenben Bergeshang
Ein Eichenhain von mächtigem Riefenwuche.
Leis ranſcht ein Traumlied durch die Laubnacht,
Liehlichen Zaubers wie Klang des Orpheus,
1870, 9.
457
Und Todt herbei füßtänfchender Träume Chor,
Die gern der Unfhuld bringen die Seligfeit.
Da flreift ein Lächeln leicht dem Schläfer
Ueber gefchloffene Hofenlippen.
Bom Haupte rollt fein üppiges Haargelock,
Mit goldnem Glanz, braunfarbige, weiche Bier
Umfängt den ftolzen Hals, die Schultern,
Hüllend wie Blätter die reiche Blüte.
Die Frühlingslieder und die andern leichten Klänge
enthalten viel Unbedentendes,
17. Gedidhte von Heinrih Falkland. Wien, Faeſy und
Sid, 1870. 16. 1 Thlr.
Diefe Gedichte find unglih an Werth; auf dem
Gebiete der Gedankenpoeſie findet ſich in den „Elegien und
Inſchriften“ manche anfprechende Gabe, wie 3. 2.:
Im Hochwald.
Rauſchende Wipfel, durchwogt vom Winde, was wollt ihr
| verkünden ?
Schauer erfaffen das Herz, Ahnung bewegt das Gemlith.
Wie zu Dodona im Hain, durchwehen die ſchwaukenden Kronen
Worte verborgeneg Siuns, nur dem Geweihten vertraut.
Zal vom Geheimniß der Welt, vor dem die Herzen erbangen,
Hlüftert, ein Seher im Zraum, bier der verlaffene Wald.
Auch in dem Abfchnitt „Betrachtung“ Haben die Ge⸗
dichte: „Allleben“, „Vanitas vanitatum”, „Unbeftand“,
„Sehnſucht“ u. a. einen Zug finniger Befchaufichkeit, der
uns anmuthet. Daß der Dichter eine reihe Sprach⸗ und
Literaturfenntniß befigt, zeigen die griechifchen, italieni«
ſchen, ſchwediſchen Mottos vieler Gedichte, die uns aller«
dings etwas zu aufdringlich gemahnen.
In den größern Liederchklen: „Jünglingsliebe“, „Man⸗
nesliebe”, „Mädchenliebe“, „Tageszeiten“, erjcheint ung
manches zu jehr nad) der Schablone gefchaffen; auch
mifcht fich zu viel Spreu in den Weizen. Unfere Lyriker
follten jeden Gedanken und jeden Vers vor dem Nieder-
fohreiben genau prüfen, ob er nicht eine matte Wieder-
holung ſei; e8 würde und unendlich viel DBersgeflingel
damit erjpart werden. Namentlich die „Mädchenliebe“,
ein Cyklus, in welchem fich der Dichter in das Herz einer
jungen Maid, in ihre Ball» und Liebesgefühle hinein-
verſetzt, enthält viel Triviales, jene poetifchen Cotillon-
orden, die man in jedem Laden kaufen Tann.
In den „Sonetten“ macht fich oft ein harter, fogar
die Grammatik entftellender Reimzwang fühlbar:
Ya, die ihr ſchnell ihn zu befritteln wagt,
Glaubt mir, ein flärkres Herz ift ihm gebrochen,
Als mancher wol von eud im Bufen tragt(l) —
Oder:
Schon verglühn der Wolken Purpurſäume,
Abſchiedsgrüße, die der Tag gewunken.
Selbſt die Winde find in Schlaf gelunfen n. |. w.
Ausdrüde wie: „Mit dieſem Glück will ich mein Herz
durchtränken“, fiheinen aud nur bed Reims wegen
da zu fein. Unfchön find wegen der matten oder zwei⸗
deutigen, in den Reim geftellten Wörter Verje wie der
folgende:
Im Land des Nils fieht oft mit ſtillem Grauen
Der Wandrer Grab an Grab in Felfen gähnen,
Da ruhn viel Hundert Jahre die, von denen
Mit vielem Fleiß fie wurden ausgehauen.
Manche Sonette find indeß mohlflingend und Klar,
wie z. B. das zweite „Grabſonett“:
58
458
Bange Lüfte wehn mit leifer Klage
Um das Grab, wo blaue Blumen ſchwanken
Zart im Abendlichte, wie Gedanken
Der Erinnrung an vergangne Tage.
Roſen blühen in dem nahen Hage
Zraurig bleid) wie Wangen eines Kranken;
Hangen läßt die Weide ihre fchlanken
Zweige, ale ob Gram ihr Mark zernage.
Mutter, könnteſt meinen Dank du wiffen !
Keine Frenden konnte dir ich ſchenlen:
Biel zu früh Bat dich der Tod entriffen.
Ah! was Hilft e8 jet, den Schritt zu lenken
u dem ®rab, anf feinem Rafenfiffen
einend deiner treuen Lieb’ zu denken!
Auch an Katachrefen fehlt e8 nicht, wie in dem Ge⸗
dicht „Wiebertraum”, wo der Dichter „die Wellen ſich
im filbernen Mondſchein baden läßt“.
Unter den Bildern und Erzählungen hat uns befon-
ber das Gedicht „Buddha“ angeſprochen. Die politifchen
Gedichte wie: „Ein Tagebuchblatt“, „Fragment aus einer
Epiſtel“, find aus einer, der neuen politiſchen Entwicke⸗
lung Deutjchlands feindfeligen Gefinnung hervorgegangen.
Die Terzinen des erftern gehören an und fiir fich zu ben
formell gelumgenften Gedichten; doc der Inhalt gipfelt
vorzugsweiſe in den Schmähungen auf „preußifches Jun⸗
kerthum“, „Frechen Raub” u, |. w., wie man fie aus vielen
fübdentfchen Blättern keunt. Gegen den Grundfag: „Ers
folg ſchafft Recht”, eifert der Dichter mit Entrüftung.
Dan muß fi) aber doch einmal klar machen, daß jeder
Fortſchritt der Geſchichte unmöglich würde, wenn ftets
bie beftehende Ordnung und das beftehende Recht für alle
Zeiten unangetaftet bliebe. Kriege und Umwälzungen
ändern in jedem Jahrhundert die Phufiognomie Europas
und hier entfcheidet nur ber Erfolg, von bem ein Fran»
zoſe fo geiſtreich ſagt: „Rien ne r&ussit que le succès.“
18. Römifhe Sonette. Mit Roten zum Text. Ein Beitrag
zum Öölumenifchen Concil von Guſtav Kühne. Leipzig,
Hartknoch. 1869. Br. 8. 12 Nor.
Guſtav Kühne's neunzehn Sonette find ein lyriſcher
Proteſt gegen das Papfttgum und feine Unfehlbarkeit, eine
Berherrlichung der politiichen und geiftigen Rebellen, die
ſich gegen die Kirche auflehnten, eines Arnold von Brescia,
Giordano, Bruno, Cola Rienzi u. a.; er verſammelt fie
alle auf Sanct- Betri Ruf:
Sanct- Petrus ruft. Wohlen, wir kommen alle,
Aus fernften Zonen aller Zungen Boten,
Und aud die flillen, Tangverfiummten Todten
Wie zum Gericht bei dem Pofaunenfchalle.
Und in der buntgeſchmückten Prieſter Schwalle
Sieht man, zur großen Disputa entboten,
Auch Arnold, Rola, Bruno, Huß in rothen,
In Flammenkleidern treten in die Halle.
„Was wollt ihr?’ fpricht der Wirth zu diefen Bäften.
Blutzeugen thun aud) noth zu Kirchenfeften:
So fpredhen wir, und was wir einft geiprochen,
Iſt unfer Wort noch Heute, ungebrochen.
Bir fprachen’s unter bittern Zodesfchmerzen:
Gebt frei den Glauben, frei die Menſchenherzen!
Diefe Sonette haben unlenugbaren Lapidarftil und in
ihren poetifchen Geften etwas Großes und Bebentfanes,
freilich oft auf Unkoſten zartmelodifchen Falles. Die je
vier Reime der erſten zwei Strophen bewegen fich bis⸗
weilen in freieen Berjchlingungen, als die ftrengere Archi⸗
Revue neuer Lyrik und Epik.
tektonik des Sonetts erlaubt. Die Noten enthalten eine
Fülle von thatfählihen Material, welches, auf Papſt⸗
thum und Concil bezüglich und auf die Biographien römi-
ſcher Freiheitshelden und Freideuker, gegenwärtig allgemet«
nes Intereſſe beanipruchen darf.
19. Freimaureriſche Dichtungen. Bon Emil Rittershaus,
eipzig, Sindel. 1870. Gr. 16. 10 Ngr.
20. Gedichte von Emil Rittershaus. Dritte vermehrte und
verbefjerte Auflage. Breslau, Trewendt. 1870. 16. 2 Thlr.
Emil Rittershaus Hat fich durch die „Gedichte“, bie
und in dritter Auflage vorliegen, in weiteften Kreiſen bes
fannt gemacht; ber frifche, gejunde Ton berfelben, eine
durch nichts angekränfelte Empfindung, ein Fluß und Guß,
welche frifches Hervorftrömen aus unmittelbarfter Ein-
gebung befunden, Haben den Dichter zum Liebling großer
Kreife gemacht. Ä
Als Ergänzung zu biefer bereits mehrfach beſprochenen
Gedichtſammlung läßt Rittershaus jegt Freimaureriſche
Dichtungen“ erſcheinen, deren Reinertrag, wie wir aus
einer Vorbemerkung des Verlegers erfahren, der Central⸗
hülfskaſſe des Vereins deutſcher Freimaurer zufließen ſoll.
Die Gedichte enthalten ſchwunghafte Verherrlichungen ber
Vreimaurerei, von denen und meniger bie weitausgeführ-
ten: „In der Nacht”, „Zur funfzigiährigen Jubelfeier der
Loge Hermann zum Lande der Berge”, und andere, die
nicht ganz von freimaurerifcher Nedjeligkeit und den mit
diejem Eultus verbundenen conventionellen Ausdrücken frei
find, zufagen, als das kürzere Gedicht: „Zum Johannis⸗
feite.” Drei Strophen in demfelben erſcheinen uns als
die gelungenflen der Sammlung:
Fa a yenteon ulm.
au aus der. Johannisna
Sat dem men, der erblindet,
Neues Augenlicht gebradt;
Hat dem Sieden Kraft gegeben,
Den die Krankheit Hingefiredt,
Und zu neuem, friſchem Leben,
Nener That ihn aufgeweckt.
Liebe Brüder, feſtlich frohe
Bauer an dem Tempelbau, '
Iſt das Maurertfum, das Hohe,
Nicht fol ein Sohannisthan ?
Bon dem Auge nahm's die Binde,
Die gefloten Trug und Wahn,
Zeigte dem verirrten Kinde
Die verlaffne Sonnenbahn.
Stärkung gab es, Balfamfpenden
Jedem, der bie Kraft verlor,
Und es bob mit Bruderhänden
Den Gefallnen gern empor.
Gib, o Himmel, daß erblühe
Unfer Bund in jeden Gau
Daß auf alle Häupter {prüße
Lenchtender Johanniethau!
Humboldt wird in ſchwunghaften Terzinen gefeiert:
Nicht will die Menfchheit mehr an Träume klammern
Ihr Süd und Heil! Mit fliegenden Standarten
Zieht aus der Geift aus der Gelehrten Kammern.
Er führt das Bolt aus feiner ron, der harten,
zum freien Denfen und zum freien Leben
nad ſchafft die Welt ihm um zum NRofengarten.
Seht, wie des Wahnes flolze Burgen beben! —
Ein Feldherr war in jenem NRiefenftreite
Der Dann, dem heut' den Kranz die Wölfer geben.
ti u u u —
#1 WET ur — — ı ——⏑—————⏑ 96
DE ⏑ ⏑ —— —
Revne neuer Lyhrik und Epik. 459
Auch Leſſing find zwei Gedichte gewidmet, das eine
im weit ausholenden, pomphaften modernen Nibelungen⸗
vers, das andere in mehr liederartiger Haltung. Sehr
ſchön ſind die lapidariſchen Schlußworte des Gedichts
„In böſer Zeit”:
In der fluchtigen Erſcheinung
Gilt der ew'ge Kern allein;
Nur die Liebe ſchafft Bereinung,
In dem heißen Kampf der Meinung
Bleibe ſtets die Seele rein.
Das Gedicht: „Zu Hülfe“, für die Verwundeten von
1866, athmet warme Empfindung, und hat dabei den
müchtigen Ton, deſſen die Poeſie des Forums, die ſich
an ein großes Publilum wendet, bedarf.
Die Pietät mahnt uns, des poetiſchen Erinnerungs-
males nicht zu vergefien, welches Rittershaus dem frühern
Rebacteur d. Bl, Hermann Marggraff, errichtet und
welches mit den folgenden Verſen beginnt:
Noch alles ift, wie's war, als ich zuletzt
Im Haufe vor der Stadt deu Freund gejehen! —
Ich Ihau’ ihn noch im Geifte vor mir flehen,
Den bleihen Dann, von Sorgen müd' gehetzt,
Die Stimm gefurdt — 0, jede Furche war
Wohl einer Freude file Leichengrube! —
Und do, wie war das Auge mild und Mar,
Und wel ein tranter Frieden, wunderbar,
Umwehte mid in dieſer Heinen Stube!
Neun Mägdlein und ein Bnbel Weld ein Schwarm
Sich Abends um den Lieben Bater drängte!
Au Seſſels Lehne fi der Knabe Hängte,
Eins hing am Knie, ein andres lag im Arm.
Und er, er fah fo felig froh barein
Als Ienchtet’ ihm ein Himmel im Gemüthe,
Als kehrten alle Engel bei ihm ein,
Und freundlich Areicheit ‘er dann groß und Hein
Die Zoden und der Wangen Rojenblüte —
Noch alles if, wies war. Am Fenſter ſtehn
Wie damals noch die grünen Blumentöpfe;
Die Holden, hlondgelockten Kinderköpfe,
Noch Tann ich alle fie beifammen jehn.
Doch abends, wenn das graue Dämmerlicht
Geſchlichen lommt, dann grüßt vom Kindermunde
Ein helles Jauchzen jenen Wadern nidit,
Dann grüßt der Mond mand) thränenfeucht Seit! -
Todt Tiegt der Bater in dem Grabesgrunde.
21. Album fchlefliher Dichter. Herausgegeben vom Berein
für Poefle unter perjönficher Redaction des Vorſitzenden
R. Finckenſtein. Mit drei Iluftrationen in Kupfer von
Bernhard Mannfeld. Siebente Folge. Breslau, Mälzer.
1870. Gr. 16. 1 Thir.
Schleſien ift das Land der Dichter und der Dichter⸗
Schulen, feine Geſangesfreudigkeit bewährt ſich aud in
jüngfter Zeit. Bon allen deutſchen Ländern iſt es das
einzige, welches feit fieben Jahren regelmäßig fein lyriſches
Album ans Licht fördert und in welchem ein „Berein
für Poeſie“ beſteht — fonft eine Seltenheit in unferer
vereinsluſtigen Zeit.
Die meiften Sänger, bie uns auch in diefem Album
entgegentreten, zeigen Phantafie und geiflige Beweglichkeit,
wie fie dem fchlefifchen Naturell eigenthümlich find, auch
verkennt man nicht, daß fie fi) an guten geiftesverwandten
Muſtern herangebildet haben. Daß die Gedichte ungleich
an Werth find, ift ſelbſtverſtändlich; doch iſt gänzlich
Verfehltes ansgefchlofien, und hierin bewährt fi eine
anerfennenswerthe kritiſche Ueberwachung von jeiten bes
Dereins und der Redaction. Wahrhaft Bedeutendes zu
leiften, ift ſtets nur einzelnen vorbehalten; aber wo es
fi um ein Vorrücken en masse handelt, verlangt man
mindeften® eine correcte poetifche Taktik, welche fich von
auffallenden Fehlern frei hält.
Sehr beliebt ift in der Sammlung die poetiſche Er⸗
zählung, die ein gewiſſes farbenreiches, mitunter exotifches
Solorit verlangt. So befingt gleich der erſte Dichter,
Wilhelm Ehrenfeld, der fi, wie eine Ueberjegung
aus Byron's „Giaur“ beweilt, zum Theil an dem britifchen
Dichter herangebildet hat, den „Pag von Somo⸗Sierra“,
eine Epifode aus den franzöfifch-fpanifchen Kriegen, ben
fühnen Reiterangriff der polnifchen Legion auf fpanifche
Geſchütze. Die Berfe find fließend und ber polnifche
Patriotiemus findet in der Schlußwendung einen poetifchen
Ausdrud. Der Wechfel vier- und fünffüßiger Jamben
erinnert an Byron's Vorbild, der auch in Meinen poetifchen
Erzählungen mit dem Rhythmus zu wechjeln pflegt. Zu
empfehlen iſt er nicht; am wenigſten aber iſt das willlür⸗
liche Hereinſchieben einzelner fünffüßiger Jamben in den
Gang der vierfüßigen zu loben. Der Redacteur des
Albums, Rafael Finckenſtein, bringt außer einer
dramatiſchen Schillerſeene: „Der Traum des Dichters“,
eine größere Erzählung: „Wilhelm und Emma”, in mehrern
Gefängen und achtfüßigen Trochäen. Der Stoff ericheint
und, troß der friegerifchen Epifode aus dem nordamerifa-
nifchen Kriege, nicht reich genug für die breite Behand-
lung, und der dichterifche Ausdrud verfällt oft in das
Profaifche, 3. B.:
Und die Bomben ſchlagen krachend im die langen Glieder
ein,
Kein Geſtränch und kein Gemäner Tann den Leuten
edung leihn.
Die Schillerfcene enthält manchen ſchwunghaften und
melodifchen Vers.
Adolf Freyhan's poetifche Erzählung: „Seeska“,
ift eine Indianergeſchichte, die Ermordung eines Häupt«
lings durch fein mishandeltes Weib, und die Rache, die
dafiir an ihr genommen wird, gibt den Stoff zu bem
Gedichte Her. Es pulfirt in dem Gedicht wildes Blut,
namentlich ift der Ritt des trunkenen Häuptlings und feiner
Schar mit ftürmifcher Bewegtheit gefchildert:
Am Waldesrande wirbelt hoch der Staub in dunleln Wol-
en au
Bon weiter Ferne tönt es wilb, wie Sturmesbraus den Strom
herauf,
Mit tobendem Geheul daher ftlirzt eine dunkle Reiterſchar,
Wie flattert wild im Abendwind das ſchwarze, das zerzaufte
aar, —
Wie weht der bunte Federſchmuck im Sturmesfluge hin und
er,
Wie blitzt im lebten Sonnenftrahl fo bintig foth der blanke
eer
Dem wilden Reiterzug voran ſprengt eine müchtige Geſtalt,
Den Leib verhüllt ein reiches Kleid, auf hochgewundnem
Scheitel wallt
In ausgewählter Farbenpracht die Federkrone ſtolz empor,
Aus reichgeſchmücktem Gürtel blitzt er fharfe Tomahawk
ervor,
Wie muthig bie gewalt’ge Fauſt das Meffer in den Läften
w t,
Imdeß die Linke, kraftgewandt, fih um des Koffes Mähne
ſchlingt.
bg *
460
Der ſchlanke, vorgefiredte Leib, hängt an des Pferdes Hüfte
m
aum,
Das fliegt in wilder Haft dahin, bededt mit Schweiß und
Staub und Schaum,
Des Reiters tolle Luft vergönnt dem müden Fuß nicht Haft,
So jagt dem heimatlichen Herb Banter, der Sehlängentönig,
Bom fernen, luſt'gen Kriegestanz fehler mit feiner Schar
Wie düftres Flammenblitzen ſprüht's enden wit in feis
Denn als zum wüften Trinkgelag' ſich niederließ die braune
Da bot der weiße Mann den Krug, gefüdt mit Seuerwafler
Der fühne Häuptling fürchtet nicht des Gries wunderbare
Er ſchlürft mit langem durſt'gem Bug den. Trant voll Gier
und Leidenfchaft,
Big wilder Tanmel ihn erfaßt, da ſchwang * lärmend fich
aufs Ro
Bon dannen ging's im Sturmesflag, ihm tobend nad) der
trunkne Tro
Die Versbehandlung wäre tadellos, wenn nicht den
achtfüßigen Jamben oft die Cäſur fehlte und fie nicht
durch diefen Mangel fi in endlos Frabbelnde Bers-
ungeheuer verwandelten, z. B.:
Das if. des ſchwarzen Schlangenkünigs zügelloſe Reiterſchar,
Im bleihen Mondenſchimmer flattert das geipenfterhafte Haar.
Heiter parobiftifch find die poetifchen Erzählungen von
Adalbert Harnifch, namentlich „Des Ganymebes Him-
melfahrt” im Blumauer⸗Offenbach'ſchen Stil, 3. B.:
Apoll faß vor der Himmelsthür
Behaglich da und rauchte,
Indeß in Nektar für und für
Ambrofla Bachus tauchte.
„Das Zeng wird immer fchledhter jetzt
Und paßt für Menfchenlumpen‘‘,
Sprit Bacchns Ärgerli und ſetzt
An feinen Mund ben Humpen.
Und trinfet aus und fchenfet voll
Und läßt Frau Venus leben.
„Schon wieder leer”, fo fchreit er toll
Und fieht ſich um nach Heben.
Jedoch fo weit fein Ange reicht,
Iſt Hehe nit zu ſchauen.
„Das Wettermäbel ift vielleicht
Im Bouboir der Frauen,
„Wo Suno hält ihr Frühlenee,
Im Schmadten, Schwören, Fluchen
Sich übet Mars und in den Thee
Sie tunken Sträußelkuchen.“
„Die Erfindung der Geige“ von Eliſabeth Mente
iſt nach einer walachiſchen Sage nicht ohne Form⸗
gewandtheit gedichtet, doch viel zu weit ausholend. Daſ⸗
ſelbe gilt von der Gebirgsſage: „Der Schatz im Iſergebirge“,
welche Ludwig Schweiger dichteriſch behandelt Hat. Für
foldye ins Breite gehende Behandlungsweife ift die Pointe
nicht bedeutend genug. Die Berje find übrigens correct
und nit unmelodifd.
Guſtav Dtto, der. das anmuthige Schleflerthal in
wohlflingenden Berfen feiert und eine melodifche „Bar⸗
carole” fingt unter Neapel Prachthimmel, läßt im Ge⸗
dicht „Am Paara’ die Klage eines braunen Knaben um
ein weißes Mädchen in Berjen anstünen, benen es nicht
Revue neuer Lyrik und Epit.
an Empfindung und melodiſchem Ausbrud fehlt. eben
falle gehört der Dichter zu den beften Coloriften ber
Schleſiſchen Schule. Siegbert Pniower's „Rebella”,
eine milde Ghettogejchichte, ift zu gebehnt und zu breit
ausgeführt, bei anfchaulichen Einzelheiten auch nicht
immer correct in der Behandlung des Daktylus. Das
gelungenftr erzählende Gedicht der Sammlung it „Mac
arthy's letzter Gang“ von Sylvins Radig, ber auch
in den andern mitgetheilten Gedichten Formgewandtheit
und mehr Eigenthümlichkeit zeigt, als die meiſten übrigen
Dichter des Albums. „Mac Karthy's letzter Gang“ iſt
eine Ballade im ſchottiſchen Romanzenſtil, voll duſterer
Färbung und unheimliher Anſchaulichkeit. Mac Karthy
bat die Geliebte in den Elfenmoor geftürzt; er wandelt
über die Heide zur Nachtzeit:
Es wechſeln die Lichter und Schatten
Im Srlengebiih und im Robr
Und biiden anf die Matten
Wie nadte Befpenfter hervor.
Sie bengen fi) und neigen
Das Haupt im Mondenſchein,
Und tanzen in tollem Reigen
Durd Ried und Heide und Hain.
Und fieh, wie im Elfenmoore
Der Rebel fi formt und ballt!
Es winkt aus bem flüfternden Rohre
Eine grauenhafte Geftalt.
Ihr Antlig if vom Harme
Entftelt nud tobtenblaß.
Sie Hält anf ihrem Arme
Ein Kind, vom Nachtthau naß.
Die Geftalt winkt ihm in den Weiber:
Mac Karthy fleigt die Röthe
Des Zorns ins Angefſicht.
„Weun ich di zweimal tödte,
Iſt meine Schuld es nicht.
Hinunter, Hinuuter zur Hölle!
Hinunter, du bleiches Weib!
Sinunter, fonft zerfchelle
Ich firads deinen Schattenleib 1’
As er den tödlichen Stoß ausführen will, verfinft
er im grundlofen Moor. Schade, bag unreine Daftylen,
unflare Wendungen wie: „bein Borwurf zu lange gebulbet“,
„das Schemen“ für „den Schemen” und ühnliches mehr,
das fonft ſchöne Gedicht entftellen.
Der politifche Lyriker der Sammlung ift Adolf Weiß;
er feiert den Jahrestag der Union und bie Helden von
Mentana, die letztern mit Nero und Kraft:
Da Tiegt die Saat. Der Schnitter wantlt.
Kein Lorber feine Stirn umranft:
Es war ein ehrlos Schlachten,
Kein Eannä war's, fein Hannibal
Schwang hier den flolzen Siegerſtahl:
Es war ein ehrlos Shlahten!
Einft gräbt fih aus Mentanas Erd’
Stalia ihr flärkres Schwert,
Und gürtet ihre Lenden!
Einft reißt Mentanas Todesfchrei
Stola und Kaiſerkleid entzwei
Mit taufend Rächerhünden.
Mentanas Race trifft ench all,
Die ihr bejauchzt der Helden Fall:
Denn Blut zerfrißt die Ketten!
Denn aus den dden Tuilerien
Die Geier und die Eulen fliehn:
Ber ların, wer wird euch retten! —
Revue neuer Lyrik und Epif, 461
Schlechte Reime, noch dazu mit harten Apoſtro⸗
phirungen, wie „Erb’ und Schwert” entftellen das Ge⸗
dicht. Deutſche Kriegsbilder fchaffen Jakob Gottftein:
„Bor Königgräg”, Alerander Schabenberg: „Am
Abend vor der Schladht”, und Theobald Noethig:
„Nach der Schlacht“, das letztere befonders ein anfprechen-
bes Senrebild. Julian Wohlgemuth bichtet Räthfel und
Eharaden, Hugo Söderſtröm zeigt in feinen Gebichten,
3.2. „Es zudt ein Wetterleuchten“ Tühnere Anjchauung.
Anfprechend ift das folgende Gedicht:
O fchonet fie, die wellen Kränze!
Zerftört fie nicht mit fllicht’ger Hand —,
Ihr wißt nicht, welchem goldnen Lenze
Sie einft geraubt als Beilig Pfaud.
Welch Herz voll Liebe und Vertrauen
In dieſen Blüten einſt geſchwelgt,
Und ob mit ihrem Herbſt, dem rauhen,
Nicht eine Seele auch verwellt; —
Verblichen iſt ihr Lenz für immer,
Doch ihrer ſtummen Sprache Wort
Setzt ihren längſt erſtorbnen Schimmer
In unſerm tiefften Herzen fort.
Dort Heibet er mit hellem Glanze
Das Herbfllaub ber Erinnerung,
Und jedes Blatt an diefem Kranze
Träumt ſich noch einmal wieder jung. —
Drum ſchonet fie, die welken Kränze,
Zerftört fie nicht mit fllicht'ger Hand; —
Ihr wißt nit, welchem golden Lenze
Sie ein geraubt ale heilig Pfand.
Eigenartig find die Gedichte eines in einem franzd«
fischen Trappiftenflofter verftorbenen Deutfchen, Theodor
Falkner. Der Stil iſt außerordentlich gedrängt, mar-
fig, lakoniſch, oft unſchön, aber doch nicht unbedeutend.
Zu ben beiten Gedichten der Sammlung gehört das
folgende: |
Nenn’ groß es Unvermeibliches zu tragen,
Und eh'rnen Herzens jedem Schichſal ftehn,
Groß, wo des Todes bleiche Fahnen wehn,
Berblutend ſterben aber nicht verzagen.
Doch ſchön auch if’s, von Sehnſucht fortgetragen,
Sinwallen zu bes Lebens Soumenhöhn,
Und wiledig dann dem Heiligen nah’ zu ſtehn,
Und für das Höchſte feine Kraft zu wagen.
Sieh! diefen Zwiejpalt ringender Gewalten |
Hat meine Bruſt zum bin fi erwählt,
Die, rubelofer als Harpyien, ſchweben,
Nie flegend, nie befieget um ein Leben,
zu ſchwach das Große in ſich feſtzuhalten,
u arm, daß fi das Schöne ihm vermählt.
Den Hymnenſchwung vertreten die Dichterinnen. Do⸗
rothea Erfiling fingt eine Hymne in frei ergoffenen
Rhythmen mit Schlußreimen, ähnlich wie der Dichter
Zendrini die Heine'ſchen „Nordfeebilder‘‘ überſetzt hat.
Malwine Beister feiert in wohllautenden ottave rime
„Die Erſcheinung“, die ihr Gott, Religion, Unfterblichkeit
verkündet. Schlichter find die Klänge von Franziska
Weirich⸗Dohms, welde in anmuthigen Verſen das
„zobte Veilchen“ befingt und ihr Aſyl unter hohen Tannen
am branfenden Waldſtrom ſucht. Männlihen Ton haben
die Gedichte von A. Somme; Albert Teihmann
zeigt lebhaften fchlefifchen Patriotismus. Von den Ge-
dihten von Heinrich Pleban ift „Abjchied von ben
Dergen” das gelungenfte; es athmet frifche, gejunde
und Sprüche”.
Naturempfindung; von Johannes Puchat's Beiträgen
verdient das Gebicht „Maimorgen“ den Vorzug; es ift
mit Ausnahme eines unreinen Reims tadellos:
Rings ein Winken und ein Grüßen,
Sede Knospe nickt und lacht,
Wenn der Mai auf leiſen Füßen
Durch das Land die Runde macht.
Ringe ein Winken und ein Grüßen
Sn dem fhönen weiten AU!
Süßes Flüftern, zartes Sprießen
Beim Concert der Nachtigall.
Laue Früblingsläfte Lofen,
Sonnenftrablen bliten hell
Um die Kelche junger Rofen;
Leife mnrmelnd eilt der Quell. —
Ale Schmerzen müflen fehweigen,
Jede Schuld ift voll gejlihnt,
Denn es in den jungen Zweigen
Paradieſiſch knospt und grlnt.
Rings, fo weit die Blicke reichen,
Grünt und blüht die junge Welt!
Eine Wonne ohnegleihen
Herz und Sinn gefangen hält.
Auch unter den nicht erwähnten Gedichten findet fich
manches, was Yormgeübtheit und tüchtiges Streben be⸗
kundet. Zu den meiften findet zwar der Titeraturfundige
leicht die vorjchwebenden Mufter; immerhin aber ift es
erfreuliher, wenn es im fchlefifchen Dichterwald von
| allen Zweigen fingt, al® wenn in andern beutfchen
Gegenden die Theilnahme an ber Lyrik erlofchen zu
fein fcheint. |
22. Aus einem Dicterleben. Lieder und Sprüche aus den
Jahren 1860-68 von Inlius Altmann. Zwei Bände,
Berlin, Moeſer. 1869. 8 2 Zhle. 15 Nor. 0
Zwei bide Bände Lyrik, der erſte von 536, der zweite
von 346 Seiten, erheben an die Genußfähigfeit des deutſchen
Publitums in Bezug auf Lyrik größere Anſprüche, als
diefe zur befriedigen vermag. Und wenn in diefen umfang-
‚reichen Bänden wenigftens größere, erzählende Gebichte,
Oden und Hymnen, humoriſtiſche Epifteln enthalten wären!
| Do keins diefer Gedichte überfchreitet das Maß einer:
Seite; es find lauter kurzathmige, Teichtgeflügelte „Lieder
Ihrer atomiftifchen Menge gegenüber
kann ſich die Kritit kürzer fafien, als man bei diefem
Bolumen vermuthen follte. Es ift befannt, daß fich die
Heinften Inſekten in den größten Schwärmen einfinden —
und über die Unerjchöpflichleit gnomifcher Lyrik wundern
‚wir uns nicht mehr, feitbem wir Rückert's Vorbild in ber»
artiger Probuctivität kennen. Doch ift mit einem Exemplar
leicht die ganze Species charafterifirt.
Der legte Abjchnitt der Sammlung: „Dies Bud)
gehört den Dichtern“ enthält eine Poetik in Verſen, aus
der wir den Standpunkt des Dichters am beften erkennen.
Er betont die Fräftige und jcharfe Geftaltung des Liedes,
die ftille Sammlung des Gemüths, erflärt fich gegen die
„Drommete” in bie Poefie, gegen die politifche Lyrik,
gegen die ©eifter der Berneinung, gegen das Sturmläuten
und das SHereinziehen des Ungewohnten in die Poeſie,
gegen die Verberrlichung des eigenen Ich, gegen den engen
Scitlerwig, gegen den Bilderfehmud, das Flitterwerf,
mit welchem die Armuth ihre Blöße zu verbergen fucht,
7 u — — —
460
Der ſchlanke, vorgefiredte Leib, hängt an bes Pferdes Hüfte
m
aum,
Das fliegt in wilder Haft dahin, bededt mit Schweiß und
Staub und Schaum,
Des Reiters tolle Luft vergönnt dem müden Fuß nicht Haft,
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&o jagt dem beimatlichen Herd Wankee, ber Schlangentönig,
zu.
Vom fernen, luſt'gen Kriegestanz kehrt er mit feiner Schar
aurug,
Wie düftres Flammenbligen ſprüht's unheimlich wild in fei-
nem Blid,
Denn als zum wüften Trinkgelag' ſich nieberließ die braune
Da bot der weiße Mann ben Krug, gefüllt mit Fenerwafler
ar;
Der kühne Häuptling fürchtet nicht bes Geifles wunderbare
Er ſchlürft mit langem durſt'gem Zug ben Trank voll Gier
nnd Leidenfchaft,
Bis wilder Tanmel ihn erfaßt, da ſchwang a end fi
a 0
Bon bannen ging's im Sturmesflug, ihm tobenb nad) ber
trunkne Tro
Die Versbehandlung wäre tadellos, wenn nicht den
achtfüßigen Jamben oft die Cäſur fehlte und fie nicht
durch diefen Mangel fih in endlos krabbelnde Vers⸗
ungeheuer verwanbelten, 5. B.:
Das ift.des ſchwarzen Schlangenkönige zligelloje Reiterſchar,
Im bleihen Mondenſchimmer flattert das gejpenfterhafte Haar.
Heiter parodiftifch find die poetifchen Erzählungen von
Adalbert Harniſch, namentlich „Des Ganymedes Hin-
melfahrt” im Blumaner-Dffenbach’fchen Stil, z. ®.:
Apoll jaß vor der Himmelsthlir
. Bebagli da unb rauchte,
Indeß In Nektar für und für
Ambrofia Bacchus tauchte.
„Das Zeng wird immer fchlechter jett
Und paßt für Meufchenlumpen‘‘,
Sprit Bachus Ärgerli und ſetzt
An feinen Mund den Humpen.
Und trinfet aus und fchenfet voll
Und Täßt Frau Venus leben.
„Schon wieder Teer‘, fo fchreit er toll
Und fiedt ih um nach Heben.
Jedoch fo weit fein Auge veicht,
Iſt Hebe nit zn ſchanen.
„Das Wettermäbdel iſt vieleicht
Im Bouboir der Frauen,
„Wo Suno hält ihr Frühlevée,
Im Schmadten, Schwören, Fluchen
Sich übet Mars und in den Thee
Sie tunlen Sträußelkuchen.“
„Die Erfindung der Geige“ von Eliſabeth Mente
ft nah einer walachiſchen Sage nicht ohne Form⸗
gewandtheit gedichte, doch viel zu weit ausholend. Daſ⸗
ſelbe gilt von der Gebirgsſage: „Der Schag im Bfergebirge”,
- welche Ludwig Schweiger dichterifch behandelt Hat. Für
foldye ins Breite gehende Behandlungsweife ift die Pointe
nicht bedeutend genug. Die Berfe find übrigens correct
und nicht unmelodifch.
Guſtav Otto, der. das anmuthige Schlefierthal in
wohlflingenden Verſen feiert und eine melodifche „Bar-
carole” fingt unter Neapels Prachthimmel, läßt im Ge-
diht „Am Paara“ die Klage eines braunen Knaben um
ein weißes Mädchen in Verſen austönen, denen es nicht
Revue neuer Lyrik und Epik.
an Empfindung und melodiſchem Ausdruck fehlt. Seven
falls gehört der Dichter zu den beften Coloriften der
Schleſiſchen Schule. Siegbert Pnio wer's „Rebekka“,
eine milde Chettogefchichte, ift zu gebehnt und zu breit
ausgeführt, bei anſchaulichen Einzelheiten and) nicht
immer correct in ber Behandlung des Daktylus. Das
gelungenfte erzählende Gedicht der Sammlung ift „Dar
Karthy's letter Gang” von Sylvins Radig, ber au
in ben andern mitgetheilten Gedichten Yormgewandtheit
und mehr Eigenthümlichkeit zeigt, als die meiften übrigen
Dichter des Albums. „Mac Karthy's letzter Gang” ift
eine Ballade im ſchottiſchen Romanzenftil, voll büfterer
Färbung und unheimlicher Anſchaulichkeit. Mac Karthy
hat die Geliebte in den Elfenmoor geftitrzt; er wandelt
über die Heide zur Nachtzeit:
Es wechſeln die Lichter und Schatten
Im Erlengebüſch und im Rohr
Und biiden auf die Matten
Die nadte Geſpeuſter hervor.
Sie beugen fi) und neigen
Das Haupt im Mondenſchein,
Und tanzen in tollem Reigen
Durch Ried und Heide und Hain.
Und fieh, wie im Elfenmoore
Der Rebel fi formt und ballt!
Es winkt aus dem fläfteruden Robre
Eine grauenbafte Geftalt.
Ihr Antlig ift vom Harme
Entftelt und todtenblaß.
Sie hält auf ihrem Arme
Ein Kind, vom Nachtthau naß.
Die Geſtalt winkt ihm in den Weiher:
Mac Karthy fleigt die Röthe
Des Zorns ins Angefidt.
„Wenn ich dich zweimal tödte,
Iſt meine Schuld es nit.
Hinunter, hinunter zur Hölle!
Sinunter, du bleiches Weib!
Hinunter, fonft zerfchelle
Ich ſtracks deinen Schattenleib 1.’
As er den tödlichen Stoß ausführen will, verfinkt
er im grumdlofen Moor. Schade, daß unreine Daltyien,
unflare Wendungen wie: „dein Borwurf zu lange geduldet”,
„das Schemen“ für „den Schemen“ und ähnliches mehr,
das fonft fchöne Gedicht entftellen.
- Der politifche Lyriker der Sammlung ift Adolf Weis;
er feiert ben Jahrestag der Union und die Helben von
Mentana, die letztern mit Nero und Kraft:
Da Tiegt die Saat. Der Schnitter wankt.
Kein Lorber feine Stirn umrantt:
Es war ein ehrlos Schlachten,
Kein Eannä twar’s, kein Hannibal
Schwang bier dem ſtolzen Siegerſtahl:
Es war ein ehrlos Sclasten!
Einft gräbt fi) aus Mentanas Erd'
Stalin ihr ſtärkres Schwert,
Und gürtet ihre Lenden!
Einf reißt Mentanas Todesfchrei
Stola und Kaiſerkleid entzwei
Mit taufend Rächerhänden.
Mentanas Rache trifft ench all’,
Die ihr bejauchzt der Helden Fall:
Denn Blut zerfrißt die Ketten!
Benn aus den dden Tuilerien
Die Geier und die Enlen fliehn:
Ber Tann, wer wird euch retten! —
Revue neuer Lyrik und Epik. 461
Schlechte Reime, noch dazu mit harten Apoftro-
phirungen, wie „Erd' und Schwert“ entftellen das Ge-
dicht. Deutſche Kriegsbilder ſchaffen Jakob Gottftein:
„Bor Königgrätz“, Alerander Schadenberg: „Am
Abend vor der Schlacht”, und Theobald Noethig:
„Rad der Schlacht“, das letztere befonders ein anfprechen-
bes Senrebild. Iulian Wohlgemuth dichtet Räthfel und
Charaden, Hugo Söderſtröm zeigt in feinen Gedichten,
3.2. „Es zudt ein Wetterleuchten“ Tühnere Anfchauung.
Anfprechend ift das folgende Gedidt:
O fchonet fie, die welken Kränze!
Zerftört fie nicht mit flücht'ger Hand —,
Ihr wißt nicht, welchem goldnen Lenze
Sie einft geraubt ale Bei Pfand.
Welch Herz voll Liebe und Bertranen
In diefen Blüten einft gefchtwelgt,
Und ob mit ihrem Herbſt, bem rauhen,
Richt eine Seele auch verweilt; —
Berblichen ift ihr Lenz fiir immer,
Doch ihrer ſtummen Spradye Wort
Setzt ihren längſt erflorbnen Schimmer
In unjerm tiefften Herzen fort.
Dort Heidet er mit bellem Glanze
Das Herbfllaub ber Erinnerung,
Und jedes Blatt an diefem Kranze
räumt fi) noch einmal wieder jung. —
Drum ſchonet fle, die welken Kränze,
Zerftört fie nicht mit flücht'ger Hand; —
Ihr wißt nicht, welchem goldnen Lenze
Sie einft geranbt ale Heilig Pfand.
Eigenartig find die Gedichte eines in einem franzd«
ſiſchen Xrappiftenklofter verftorbenen Deutfchen, Theodor
Falkner. Der Stil ift außerordentlich gebrängt, mar-
tig, lakoniſch, oft unſchön, aber doch nicht unbedeutend.
Zu ben beiten ©ebichten der Sammlung gehört das
folgende:
Nenn’ groß e8 Unvermeidliches zu tragen,
Uud eh'rnen Herzens jedem Scidfal ftehn,
Groß, wo des Todes bleihe Fahnen wehn,
Berbintend fierben aber nicht verzagen.
Doch ſchön and iſt's, von Sehnfucdht fortgetragen,
Hinwallen zn des Lebens Sonnenhöhn,
Und würdig dann dem Heil'gen nah’ zu flehn,
Und für das Höchſte feine Kraft zu wagen.
Sieh! diefen Zwiejpalt ringender Gewalten
Hat meine Bruſt zum — ſich erwählt,
Die, ruheloſer als Harpyien, ſchweben,
Nie ſiegend, nie befieget um ein Leben,
Ei ſchwach das Große in ſich feftzuhalten,
u arm, daß fi das Schöne ihm vermäßlt.
Den Hymnenſchwung vertreten die Dichterinnen. Do⸗
rothea Erftling fingt eine Hymne in frei ergofjenen
Rhythmen mit Schlufreimen, ähnlich wie der Dichter
Zendrint bie Heine’fchen „Norbjeebilder‘’ überſetzt hat.
Malwine Beisker feiert in mwmohllautenden ottave rime
„Die Erfeheinung‘‘, die ihr Gott, Religion, Unfterblichkeit
verkündet. Schlichter find bie Klänge von Franzioka
Beirih-Dohms, melde in ammuthigen Berfen das
„Todte Veilchen“ befingt und ihr Afyl unter hohen Tannen
am branfenden Waldftrom fucht. Münnlichen Zon haben
die Gedichte von A. Somme; Albert Teihmann
zeigt lebhaften fchlefiichen Patriotismus. Bon den Ge-
dichten von Heinrich Pleban ift „Abjchieb von den
Bergen” das gelungenfte; es athmet frifche, gefunbe
Naturempfindung; von Johannes Puchat's Beitrigen
verdient das Gedicht „Maimorgen” den Vorzug; es ift
mit Ausnahme eines unreinen Reims tadellos:
Rings ein Winken und ein Grüßen,
Jede Knospe nickt und fact,
Wenn der Mai auf leifen Füßen
Dur das Land die Runde mad.
Rings ein Winfen und ein Grüßen
In dem Schönen meiten Al!
Süßes Flüftern, zartes Sprießen
Beim Concert der Nachtigall.
Laue Früblingslüfte koſen,
Sonnenſtrahlen bligen heil
Um die Kelche junger Rofen;
Leife murmelnd eilt der Quell. —
Ale Schmerzen müfien ſchweigen
Jede Sun vo een gen,
Wenn es in den jungen Zweigen
Paradiefiſch knospt und grünt.
Ringe, fo weit die Blicke reichen,
Grünt und blüht die junge Welt!
Eine Wonne ohnegleichen
Herz und Sinn gefangen bält.
Auch unter den nicht erwähnten Gebichten findet fidh
manches, was Yormgeübtheit und tüchtiges Streben be⸗
kundet. Zu den meiften findet zwar der Literaturkundige
leicht die vorfchwebenden Mufter; immerhin aber ift es
erfreuliher, wenn es im fchlefifchen Dichterwald von
allen Zweigen fingt, ald wenn in andern beutfchen
Gegenden die Theilnafme an der Lyrik erlofchen zu
fein fcheint.
22. Aus einem Dichterleben. Lieder und Sprüdie aus ben
Jahren 1860-68 von Inlius Altmann. Zwei Bände,
Berlin, Moeſer. 1869. 8 2 Thlr. 15 Nor.
Zwei dide Bände Lyrik, der erſte von 536, der zweite
von 346 Seiten, erheben an bie Genußfähigkeit des deutſchen
Publitums in Bezug auf Lyrik größere Anfprüche, als
diefe zu befriedigen vermag. Und wenn in diefen umfang-
reichen Bänden wenigftens größere, erzählende Gedichte,
Oden und Hymnen, humoriftifche Epifteln enthalten wären!
' Doc; keins dieſer Gebichte überſchreitet das Maß einer
Seite; es find lauter kurzathmige, leichtgeflügelte „Lieder
"und Sprüche”. Ihrer atomiflifchen Dlenge gegenüber
kann fi) die Kritik kürzer faſſen, als man bei dieſem
Volumen vermuthen ſollte. Es iſt bekannt, daß ſich die
kleinſten Inſekten in den größten Schwärmen einfinden —
und über die Unerſchöpflichkeit gnomiſcher Lyrik wundern
wir uns nicht mehr, ſeitdem wir Rückert's Vorbild in der⸗
artiger Probuctivität kennen. Doc iſt mit einem Exemplar
leicht die ganze Species charalteriſirt.
Der letzte Abſchnitt der Sammlung: „Dies Bud
gehört den Dichtern“ enthält eine Poetik in Verſen, aus
der wir den Standpunkt des Dichters am beſten erkennen.
Er betont die kräftige und ſcharfe Geſtaltung des Liedes,
die ftile Sammlung des Gemüths, erklärt ſich gegen bie
„Drommete“ in die Porfie, gegen die politifche Lyrik,
gegen bie Geifter der Berneinung, gegen das Sturmläuten
und das Hereinziehen des Ungewohnten in die Poefie,
gegen die Berherrlihung des eigenen Ich, gegen den engen
Schülerwitz, gegen den Bilderfhmud, das Flitterwerk,
mit welchen die Armuth ihre Blöße zu verbergen fucht,
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462 Revune neuer Lyrik und Epik,
gegen die Glut des Farbenſcheins u. f. f. Wenn wir
aus diefer Polemik gegen verfchledene Gattungen und
Richtungen der Lyrik das Facit für die eigene Poefie des
Dichters ziehen, jo ergibt es fi), daß diefelbe Leiben-
ſchaftlicher Glut und dem Reichthum des Colorits, ſowie
allen Stoffen von tiefer greifender Bedeutung abgeneigt ift
und fih auf den einfachen Gefühldausbrud, auf Lied und
Bild oder eine ſtimmungsvolle Verfnüpfung von beiden
beſchränkt. Damit ift aber zugleich der Vorwurf einer
Armuth ausgefprochen, die ſich fowol in Bezug auf ben
Inhalt als auf die Form, durch den Mangel aller größern
und kühnern Rhythmik verräth und gegen einen Versſpruch
der Altmann’schen „Poetik“ fündigt:
Ausfpanne weit der Dichmug Reifen,
Verſuche dich in allen Tönen;
Es muſſen in die Arme greifen
Sich Liebenb fümmtlihe Camdnen.
Auch ein anderer Reimſpruch hätte von dem Dichter
bei der Sichtung feines Lieberftoffs mehr beherzigt wer⸗
ben follen:
Nicht Iege Werth auf alles, was du fingeft,
Du haft gebichtet dies, dies nur gefchrieben,
Beſcheiden nicht, noch klug bift du, verlangefl
Dun, daß wir alle deine Werle lieben.
Das Gepräge biefer fragmentarifchen ars poetica ift
bisweilen Har und fcharf; oft werden aber auch die Verſe
durch philoſophiſche Termini entftellt, die fie geradezu
ungenießbar madıen, 3. B.:
Laß mir bein Heines Ich mr aus bem Spiele,
R Du mußt in Objectivität bi Hüllen —
oder:
Univerfalität if nur zu loben —
oder: -"
Du mußt dich felber identificiren,
Mit deinem Gang aus freier Dichtermacht.
Da Neigung und Theorie den Dichter auf bie Pflege
des fangbaren Liedes hinweiſen, fo finden wir auch auf
diefem Gebiete unter den „Melodien“. bie beften Gaben
feiner Diufe, und auch die „Romanzen“ und „Genrebilder“,
fowie die mehr politifchen Lieder bes Abfchnitts „Libertas‘
verleugnen meiftens die fangbare Fiederform nit. Kine
große Zahl dieſer Lieder ift, wie ein am Schluß bei-
gefügtes Regifter beweift, von verjchiedenen Componiften
bereits in Muſik geſetzt worden — und in der That
eignen fie ſich dafür durch die fchlichte, einfach innige
Faſſung. Es finden fi in beiden Theilen der Samm⸗
lung Lieder, welche hierin den Uhland'ſchen Vorbildern
fehr nahe kommen. Liebesglüd, Liebesſchmerz an Gräbern,
Naturbilder mit finniger und inniger Empfindung beleuch⸗
tet, Wanderluft, idyllifches Glück ber Beſchränkung —
das bildet den Hanptinhalt diefer in dichten Schwärmen
außfliegenden Lieder. Für den Ton berfelben ſpreche das
folgende Lieb: |
Gruß Gott, du golbengrliner Hain, .
Grüß Gott, ihr blanken Stämme!
riſch weh’ auf euch die Luft Berein
er fonn’gen Bergesfämme.
Ihr Sitberquellen all herbei,
Auf, Hinget glodenhelle.
Es if in Lenz, es if d Mat,
Da finge Wald und Welle,
Ihr Bögel all heran, heran,
Wie dürftet ihr denn ſäumen!
Der Winter legt die Welt in Bann —
Im Lenz da gilt fein Träumen.
Ihr Quellen fpringt, ihr Vögel fingt,
Du Wald magft raufchend Klingen:
Und wenn uns heut fein Lied gelingt,
Wird's nimmermehr gelingen,
Die Farbung zeigt manchen Teden originellen Strich
auch in ſprachlicher Hinfiht; die Rhythmik, welche die
drei= und vierfüßigen Verszeilen und die vierzeiligen
Versſtrophen faft ansfchließlich Tiebt, ift im ganzen flie
Bend und correct.
Die „Lieder einer Braut” im zweiten Theil erinnern
uns an ähnliche lyriſche Studien in andern Sammlungen;
man follte indeffen dergleichen Stoffe billigerweife ben
Dichterinnen überlaffen. Wie einer Braut recht eigentlich
zu Muthe ift — das willen doch nur die Frauen, und
derartiger Singfang der Männer hat oft etwas Geziertes.
Unter den „Aguarellen” finden ſich einige Alpeubilder,
welche an die beiten ſchweizer Schilderungen in Mat-
thiſſon's „Gedichten“ erinnern. Hier und dort fehen wir
zwar die Vedute flatt des Gemäldes, doch die Mehrzahl
diefer Bilder ift flimmungsvoll, .B.:
Abendlondiäaft.
Des Abends Lichter glimmen
Schon mild am Himmelsthor;
Blaugolöne Strahlen ſchwimmen
Gedämpft um Ried und Rohr.
Den grünen Seesaipie el
Ummweht kryſtallne af
Auf fernem Felſenhũgel
Ruht lilagraner Duft.
Nur an des Dorfbühls Schwelle,
Umfäumt vom Waldeskranz,
Strahlt noch die Berglapelle
Hochpurpurroth im Glanz.
Aufleuchten ſonnumbebet
Die Fenſter, das Portal,
Doch um das Chriſtbild ſchwebet
Der allerhellſte Strahl.
Unerſchöpflich wie der Liederquell iſt auch der Quell
der Gnomen und Epigramme, der in dieſer Sammlung
fprudelt. In Vierzeilern, Alexandrinern, Diſtichen ſpendet
uns eine „Laienagende“ ihre Weisheitsfchäge; ſtatt Uhland's
wird bier Rüdert das Vorbild; es fehlt diefer gnomiſchen
Lyrik nicht an prägnanter Faſſung und einem fernhaften
Inhalt, und wir möchten diefem Abjchnitt den Vorzug ver
allen andern geben; wir theilen bier einige Proben in
den verfchiedenen Versformen mit:
Jage nicht nad flücht’gen Schemen
Steebe Sein — ee
Gib dich Hin und laß dich nehmen,
Eine Welle trägt die andre.
Sitzt gleich der Rief im Thal, der Zwerg anf hohem Ber
Doch Bleibe der Riefe groß und winzig bleibt —S
Beide verbüllen ſich uns, Vergangenheit alſo wie Zukunft
Die mit dem Witwengewand, die nit dem Schleier de Braut,
— —
Wenn Gott will ſeine Frommen ſegnen,
Laßt er's im ihre Blüten eguem
Feuilleton.
Was die eigentlich fatirifchen Epigramme und Gnomen
betrifft, jo geben wir denjenigen, bie in Diftichen gedichtet
find, den Borzug. Die Madrigale an Adele, die Reim⸗
verfe, welche bie Geizhälfe und Aerzte und die langen
Naſen, Harpar und Star und Bav geifeln, erjcheinen ung
etwas veraltet und erinnern an die Mufter des vorigen
Jahrhunderts.
Man wird in Altmann's „Aus einem Dichterleben“
ftets mit Befriedigung blättern, fih an einem Lied, an
einem Weisheitöfpruh in gelungener Form erfreuen.
Nur muß man diefe ganze Verscascade fih nicht auf
einmal ins Geficht fprigen laſſen — «8 ift fonft eine
nleberfül des Sleichartigen, welche nur ermüdend wir
en Tann.
463
23. Gedichte von Adolf Glaßbrenner. Fünfte vermehrte
und verbefferte Auflage. Illuſtrirt von ©. Heil. Berlin,
Brigl. 1870. Gr. 8 1 Thlr. 10 Ngr.
Zum Deffert nach diefem an Gängen reichen Iyrifchen
Diner empfehlen wir die längft befannten, eben in neuer
Auflage vorliegenden fatirifchen Gedichte Glaßbrenner’s,
in vieler Hinficht Muſter ihres Genres, pilante Deffert-
weine, bumoriftifche Knackmandeln, fchäumende Couplets,
wie fie der Bater des berliner Wites feinem jet fehr
groß und ungeberdig gewordenen Rinde in die Wiege ge-
legt. Manches vormärzlihe Straf» und Rügelied zeigt
uns den Yortfchritt der Zeit. Glaßbrenner's Satire
fuchtelt nicht in der Luft umher, fie geht ans echter Be-
geifterung fiir Humanität unb Freiheit hervor.
Kudolf Gottſchall.
Fenilleton.
Die Leopoldiniſche Akademie.
An unſer Referat in Nr. 22 d. Bl. anknüpfend, bemerken
wir, daß ſeitdem wieder eine ganze Flut polemiſcher Schriften
und amtlicher Circulare gefolgt if. Ob die Partei des Prof.
Braun in Berlin glaubte, auf deffen zweite Beurtheilungs-
fchrift werde die gejeßestreue Partei die Waffen fireden uud
Aber fih und die Alademie ergehen Taffen, was Herr Braun
und Genoffen im hohen Rathe für gut befänden — wir willen
es nicht, aber es muß wol fein, denn zu Anfang Juni ver-
fandte Herr Behn, der fi noch immer nicht entfchließen konnte,
grieden zu fchliegen und in einen Kompromiß zu willigen, ein
irenlar mit der unrichtigen Angabe, der Friede fei ohne Com⸗
promiß bergefiellt und er im Beſitz der alademifhen Präfldial-
gewolt. Wie wenig das wahr und wirklich ift, beweifen nicht
nur die vier Schriften Klichenmeifter’8 und die zweite Schauen
burgche Berfländigungsjchrift (Quedlinburg. Bafle), fondern
vor allem der gleichzeitig, d. h. ebenfall® Anfang Juni ver-
fandte: „„Elenchus operum scriptorumque editorum ab Aca-
demise C. L-C. @. N. C. legitimo praeside Ludovico Rei-
chenbach in et pro Academia ipsa rite electi primarium
oficiam‘, — ein Blicherverzeihniß eines einzigen Autors, das
wol Erflaunen erregt, da diefe Werke, zu je einem Exemplare
gefauft, 1025 Thaler koſten! Wie unbedentend muß fi da-
gegen Herr Behn mit feinen wenig befannten fieben Four»
nalauffägen vorkommen. Faſt ein Jahr lang bat jebt Herr
Behn vergeblich um den Präſidentenſtuhl gelämpft — er jollte
nunmehr den Kamıpf aufgeben, die Alademie in Frieden laffen
und zu feinem Rücktriit fi entichließen.
Bibliographie.
C., Theorie und Praris auf dem Gebiete ber Päbagogit.
lautern .8, 4 Nor.
n Briefen. (Bon ®, 2. Plitt.) ter Bb.
irzel. ©r. 8. 9 zu. 20 Nor.
enfey, e Stellung Bayern® zur beutien Frage. Genb-
Igreiben an bie norddeutſchen Gefinnungsgenoſſen. Münden, Fritſch.
.8. T,
Deife, P., Die Königin Luiſe von Preußen und ihre welthiftorifche
—*s] Säle, Bäbeler.. Gr. 8. 10 NE
Brömel, A., 305. Geo. Hamann. Ein Literaturbild bed vorigen
Sahıfunberts. Berlin, S Iawiß. Gr. 8. 10 Ngr.
in Elage . d., Reue Kovellen. 1fter unb 2ter Bb.: Geborgenes
Strandgut. „zrene Seelen.” Leipzig, Schlide. 8. a1 Zhlr. 15 gr.
Dollhopf, 8., Der Ring der Nibelungen von R. Wagner. Sach⸗
Lige und fpradplie Griäuterungen mit einer kurzen Sharakterifit ber
Diätung. Münden Fritſch. Gr. 8. 6 Nr.
Eggers, F., an € auf bie Sunftrihtung ber Gegenwart, Bortrag.
an. 8, 7%, Nor.
+ Die Naturlebre be Staates ala Grunbiage aller Staats⸗
zig, C. F. Winter.” ®r. 8. 1 Thlr. 20 Ylgr.
. Ein Da 2 zur Geſchichte des
nl » Blätter aus dem
. f a
nn,
u \
ahm, M.,
menſchlichen Geiftet. Berlin, Gaertner. Br. 8.
ilder, ©., Ein friebliger Feldzug. Tagebu
Jahre 1866, Berlin. Gr. 8. 10 Ngr.
& 8 end J., Mifflonsvorträge. 2 Bde. Paderborn, Schöningh.
"Sinüber, 9., Dämmerungen. Sentimentale und burſchiko .
Böttingen, Eli en. 16. IN 3 richitoſe Lieber
Jahrbuch der deutschen Shakspeare - Gesellschaft im Anftrage des
Vorstandes herausgegeben durch K. Elze. Ster Jahrgang. Berlin, Asher
u Comp. Lexz.-8. 3 Thir.
Janisch, J., Washington. Historisch-epische Dichtung in vier Ge-
An eu. ned geschichtlichen Erläuterungen. Leipzig, M. Schaefer. 4.
r. gr.
und Sort —— — Sein een und Keine Werte, aus ‚Zagebüßern
riefen an feine Familie aufammengeftellt. erandgegeben von ©.
au a 8.) 2 —* ee erg. —* 8. 3 5 88
as Kapital unb bie Arbeit. Bon einem denkenden M .
wien Ri, "rt ) Woi N Autorifirt —
avanagh, Zulia, via. Roman. Autorifirte Ausgabe. 6 Bbe.
Leipuig —* 8. 4 Thle. 15 Ngr. R 8 .
ein, H. 3., An den Nordpol. Schilberung ber arktiſchen Gegen⸗
ben und ber Norbpolfahrten von ben älteften Zeiten bis zur Gegenwart.
Krengnad Boigtländer. Er. 8. 22, Ngr.
obler, 4., er Slorian Bande, ein Iefuit in Paraguay (1748—
1186.) Rag beilen eigenen Aufzeihuungen. Regenoburg, Bufle. Gr, 8.
., Das Zeugniß ber Natur für Gottes Dafein.
r; N ß für Go afein. Freiburg
9 %
König,
im Br. Herder. gi
Krasicki, L Graf, Der Mönche-Krieg Dronnohomachin). Komisches
Heldengedicht in Stanzen. Aus dem Polnischen von A. Winkiewski.
Berlin, Oehmigke. Gr. 16. 15 Ngr,
Kraszewski, J. J., Dante. Vorl en über die göttliche Comö-
die gehalten in Krakau und Lemberg 1867. Ins Deutsche übertragen von
8. Bohdanowioz. Dresden, Kraszewski. Gr. 8, 1 Thir. 10 Ngr.
Der Krieg gegen Breußen im Iahre 1866 bis zur Schlacht von Kö⸗
er Fategifche Skizze vs Foo... Belnn, Inifer, 1869,
Srü er, g., amburger Raubodgel. Dem Leben nacherzählt. ⸗
velle, —2 —— — 8. 3 Nar. Gergähtt. Do
eof Die materielle Lage des preußiihen Richterſtaudes. Wittenberg, Her⸗
[+] 4— “ t.
—B6 E., Der Wald im Haushalt der Natur und der Mensehen.
Vortrag. Zürich, Schulthess. Lex.-8. 9 Ngr.
Lenor, Anna, Blätter und Blüthen. Einfache Geſchichten. Bre⸗
En aan er ne} Ficte der Gtäbteverfaffung in D
aurer, G. 8. v., Ge everfaffun .
3ter Dr. gelangen, Ente. .8. 4 Thlr. 24 Nor. 8 In Deutſqhland
8 Bei ner, A., Die Kinder Roms. Roman. 4 Bde. Berlin, Tante.
. r.
Meyer, J. B., Philoſophi e & . ,
PERL) u 3; ®- auf phiſche Zeitfragen. Bopuläre Auffäge,. Bonn
Me rm. Duell uub Ehre. Roman. 2 Bde. ipzig,
28 4 2 Thlr. —* pr. « Seipalg, Durriche
s. et F., Im Foyher. die ne Bühnen-Briefe. Münden, Merhoff.
2 v. -
Müller, 5. A., Briefe über die chriſtliche Religion. Stuttgart,
lie, en Die Pfliht. Zwei Vorträge. Aus d ö
a e, &., Die Pfli orträge. Aus dem 3 .
Augsburg, Kolmann. Gr. 16. 9 Ngr. 8 Branzöffgen
Nenmaun, R., Die Rache des Scheintobten, ober: Ein Fürſtenſohn
als Leichenhändler. Ein wahrheitögetreuer Roman mit forgfältiger Be⸗
nugung euffifher Sitten. ıfte bis 6te Lief. Berlin, Köppen. Gr. 8.
a r.
—* ruhig Blut! Mahnwort an die Völker Oesterreichs. Von einem
Oesterreicher. Wien, Wallishausser. Gr. 8. 4 Ngr.
Ring, M., In der Schweiz. us und Novellen. 2 Bbe. Leip⸗
ig, Dürriie Buchandfung. 8. 2 Thlr. 7°, Nor.
Wille, R., Die Rieſengeſchütze des Mittelalters und ber Neuzeit.
Berlin, Mittler u. Sohn. ®r. 8. ud Nor. ae
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Chronik als Quelle bezeichnet, andere von ihm benugte
Bücher deutet der Chronift felbft hier und da an, ohne
daß file genauer zu erkennen find; der weitgreifenden Be⸗
nngung der Chronik des Martinus wurde bereits gedadht.
Für den Abſchnitt über die Sicilianifche Vesper, welcher
zu Ende des Werlks zwifchen florentiniſche Gefchichten
epifodifch eingefchaltet ift, weiſt der Verfaſſer die „Historia
conspirationis Johannis Prochytae“ als leitende Duelle
nach unter überzeugender Widerlegung Amari's, welcher
das Urfprungsverhältnig beider Erzählungen geradezu
umkehren möchte. Als Hauptvorlagen für die SDarftellung
der heimiſchen Gefchichten zwifchen den Jahren 1107 —
1259, wo meiftens von Jahr zu Jahr die Confuln und
Podeftk der Stadt angegeben find, werden florentinifche
Annalen erfannt, doch mit vielfältigen Einfchiebungen und
andern als actenmäßigen Quellen; die Glaubwürdigfeit
jener Annalen erfcheint nad) den archivalifchen Forſchun⸗
gen T. Wüſtenfeld's unanfehtbar, wie auch durch die von
Perg herausgegebenen annaliftiihen Aufzeichnungen aus
dem 12. Jahrhundert beftätigt. Die hierauf folgenden
Kapitel, von der Gefandtfhaft Brunetto Latini's an bie
zum lUntergange Konradin's, weifen dagegen in ihrer
Bollftändigfeit und Oenauigleit, abgejehen von einzel
nen Unricdhtigfeiten, auf befondere unmittelbare Duellen-
bezüge hin.
Die Benugung der „Istoria” durch Giovanni Billani
anlangend, ift von früher Ber bekannt, daß berfelbe faft
das ganze Wert der Malespini, ohne Namensnennung,
feiner Chronik einverleibt hat; wie er dabei zugleid ver»
beffiernd und ergänzend zu Werke gegangen, auch bie
Duellen ber Malespini felbftändig eingefehen und noch
anbere verwendet, erfahren mir erft aus gegenmwärtiger
Darlegung. Zu einer Anzahl Stellen bei Billani glaubt
der DVerfafler den Anlaß in Dante's „Commedia’ ent»
bet zu haben; wir müffen bier, nad) genauer Erwägung
diefer Stellen, einigen Widerſpruch erheben. Die meilten
derfelben beftehen bei Dante in fo kurzen Andeutungen,
daß die umfünglichern Erzählungen Villani's ſich nicht
ohne Zwang auf fie zurückführen laflen; auch die „Inci-
denza” vom Eonte Raimondo und Romeo (Billani, VI,
Kap. 91) erfcheint einfach genug motivirt durch den aus⸗
brüdlichen Rüdbezug auf das vorangehende Kapitel, worin
von der Gemahlin Karl's von Anjon, ber Tochter des
Grafen Raimondo, die Rede ift, abgejehen davon, daß
die Erzählung felbft wieder vollftändiger ale bei Dante
und in dem einen Punkte, nämlich der Zahlenaugabe von
der Vermehrung ber Einkünfte des Grafen durch die red⸗
liche Verwaltung Romeo's, abweichend von biefem be⸗
richtet („Paradiso”, VI, 138). Die Uebereinftimmung bes
Verihts von dem Hungertode des Grafen Ugolino bei
Billani (VII, Kap. 121, 128) und Dante („Inferno“,
XXXIII) hatte bereit8 Dönniges („Kritik der Quellen fir
die Geſchichte Heinrich’8 VII. des Luxemburger”) nad
gewiefen; doch ift ſowol dieſem als dem Berfaffer gegen-
wirtiger Schrift der Widerſpruch in ben angeflihrten bei
ben Kapiteln entgangen, indem znerft drei Enkel des
Grafen angegeben werben, bann nur zwei, und trogbem
bei Angabe diefer Leuten Zahl anf jene erſte mit den
Borten Bezug genommen wird: „Siccome addietro fa-
cemmo menzione.” So bat die Editio princeps von
466 Zur italienifhen Literatur.
1587, jo Muratori und die triefter Ausgabe von 1857;
nur ald Variante des einen Coder fiihrt Muratori unter
dem Tert den Wortlaut der zweiten Stelle mit der An.
abe von drei Enkeln an. Dante felbft weiß nichts von
nteln des Grafen, fondern nennt vier Söhne deffelben,
die mit ihm verhungerten.
In dem legten Abfchnitte, der von befonderm Intereſſe
für alle Dante» Befliffene fein wird, führt der Verfafſer
den überzeugenden und im ganzen unwiberleglichen Be
weis, daß der Dichter eine gewifje Anzahl von Thatjachen
und Schilderungen lediglich aus der „Istoria” von Ma»
lespini geſchöpft haben miüffe; auch Unrichtiges in ber
„Commedia”, wie 3. B. daß Konftanze, die Gemahlin
Heinrich's VI., gemaltfam zur Berheirathung aus dem
Klofter gezogen worden fei, ift auf diefe Quelle zurüd⸗
zuführen. Nur in einem Falle weicht der Dichter von ihr
ab, indem er nämlich den Abt von Beccheria des Verratht
ſchuldig erkennt (‚„Inferno”, XXXIII, 118 fg.), trotzdem
daß Malespini (Kap. 159), welchem dann auch Giovanni
Billani (VI, Kap. 65) beiftimmte, ausdrücklich feine Un-
Schuld bezeugt. Schließlich gibt der Verfaſſer anheim,
ob nicht der Umftand, daß die Benutzung der „Istoria”
erft von dem zehnten Gefang des „Inferno“ an erfichtlich
wird, mit ins Gewicht falle für die Exrflärung der noch
zweifelhaften Anfangsworte von „Inferno“, VII: „lo dico
seguitando”. Der Referent ift nicht der Meinung; denn
einmal ift das von dem Berfafier gewonnene Reſultat in
Detreff des fchriftftellerifchen Abfchluffes der „Istoria” nur
eine Wahrfcheinlichkeitsrechnung; dann gilt ja bie Frage,
wann der Dichter die „Commedia’ begonnen, ebenfalls
noch als eine offene, und drittens boten vielleicht die erften
neun Öefänge des „Inferno“ dem Dichter keinen Anlaß
zum Einblid in die „Istoria“. Doc könnte e8 im Gegen
theil aud nicht ſchwer werden, ſchon im zweiten Geſang
eine Spur von dem Einfluß des ältern Malespini zu ent-
deden: wenn nämlid) Dante in Bers 13 ben Aeneas als
„di Silvio lo parente” bezeichnet, während er ihn in dem
viel fpäter gejchriebenen „Convito“ (IV, Rap. 26) nur als
Bater des Ascanins Tennt, fo fcheint es, als ob er jene
frühere Bezeichnung direct von Malespini entnommen
babe, welcher (Kap. 10) von feinem andern Sohne bes
Aeneas als von Silvins berichtet. Freilich bleibt Hier
auch der Ausweg anzunehmen, der Dichter babe fid in
diefem alle, wo es ihm darauf anlam, ben Aeneas als
Stammvater Roms zu feiern, lediglich an fein Vorbild
Birgil gehalten, nad deflen Darftellung („Aen.“, VI,
760 fg.) nicht Ascanius, fondern Silvins Gefchleht und
Herrſchaft fortleitete,
Der Berfafier gibt felbft zu, wie oben erwähnt, daß
feine Forſchung fi vielfach nur auf bloße Bermuthungen
flüge; zieht Dies der Benrtheiler der Schrift mit in Rech⸗
nımg, wie er bei dem vorliegenden Gegenſtande und ber
Spärlichleit und Unficherheit der vorhandenen Quellen
nicht anders Tann, fo wird er, im Hinblid auf die von
dem Berfafier gewonnenen Refultate im ganzen, bie Lei⸗
ftung deflelben als eine höchſt dankenswerthe anerlenuen
müflen, fowol bezüglich der beiten Chroniften an ſich, als
noch insbefondere zur gründlichern Erforſchung Dante's
und des ftofflichen Urfprungs der „Commedia”,
7 u BE EEE. 02 — — u Bd 2 En Er GE EEE. re EEE —— — 5575—
v
Zur italieniſchen Literatur. 467
2. Jahrbuch der Deutſchen Dante⸗-Geſellſchaft. Zweiter Band.
Mit Dante's Bildniß nach einer alten Handzeichnung. Leip⸗
zig, Brockhaus. 1869. Gr. 8. 3 Thlr.
Der Inhalt diejes zweiten Bandes des Dante⸗-Jahr⸗
buchs gibt Zeugnig von dem rüftigen Yortbeftehen der
vor nun vier Jahren zu Dresden gegründeten Deutfchen
Dante- Gefelihaft. Während das Mitgliederverzeichniß
des erften Bandes die Zahl von 90 aufwies, beträgt die-
jelbe in dem gegenwärtigen bereit8 121; leider find da-
von zugleih 7 als in letter Zeit durd) den Tod aus
gejchieden verzeichnet, nämlich) der Senior der deutſchen
Dante⸗-Forſcher, 2. ©. Blanc in Halle, Fräulein Joſepha
von Hoffinger in Wien, durch ihre Leberfegungen der
„Commedia” und einer Reihe italtenischer Iyrifcher Ge⸗
dichte in werthem Andenken, der Maler Vogel von Vogel»
ftein in Münden, A. Doerr in Darmftadt, Abegg in
Breslau, von weldem der erfte Band eine umfangreiche
Arbeit enthielt, E. Gerhard in Berlin und Giovanni
Tamburini in Imola. Am Schluß des vorliegenden Ban-
bes befinden fich längere und kürzere Tebensnachrichten von
diefen Berftorbenen; Hervorragendes Intereſſe bieten die
Nekrologe der Joſepha von Hoffinger und 8. ©. Blanc's,
jener von Huber, diefer von dem Herausgeber K. Witte
verfaßt. Auch der Bericht über die zu Dresden auf-
gefammelte Dante» Bibliothek, allerdings noch in ihrem
Beginn, von dem Bibliothelar der Gejellichaft Dr. Petzholdt,
zeigt einen guten Erfolg.
Die wiflenfchaftlihen Arbeiten des Bandes find wie:
berum von mannichfaltigfter Art, theild allgemeinere Wün⸗
{he und Bedürfniffe befriedigend, theils jpeciel auf den
Dante⸗Forſcher berechnet, die einen von beträdhtlicher
Ausdehnung, eine Dienge anderer aus kurzen Notizen und
Andeutungen beftehend, alle zufammen ſowol des Did
ters perfönliche Berhältnifie als Bedeutung und Urfprung,
Form und Fiteratur feiner Werke betreffend. Den weiteft-
greifenden Inhalt hat der Auffag: „Dante, ein Schattenriß“,
von B. A. Huber. Derfelbe fchildert des Dichters Lebens»
entwidelung, Charakter und Wirkſamkeit: auf dem Grunde
der politifch»kirchlichen, der literarifchen Berhältnifje der
Zeit erhebt fich die energiſche Staatsweisheit, der heilige
Zorn gegen die entartete Kirche, die fchöpferifche Dichter-
kraft; der Geift des claffifhen Alterthums, die Offenba-
rung des göttlichen Worte, die Liebe zu Beatricen ver-
einigen fich zur wunderbarften Harmonie in der „Gött⸗
lien Komödie“, dem Epos der Weltfhöpfung und Welt-
erlöfung. Alles das finden wir hier anziehend dargelegt,
nad) allen Seiten entwidelt, und der Aufſatz würde fo
einen vollkommen befriedigenden Eindrud hinterlaflen, wenn
der Verfaſſer die nicht ohne Gewaltſamkeit herbeigezogene
Oelegenheit vermieden hätte, feinem Berdruß an dem
Parlamentarismus und Conftitutionalismus der Gegen-
wart, ſowie an der ftaatlichen Neugeftaltung Italiens auf
leidenfchaftlich» parteiiiche Weife Luft zu machen. Die
zwei auf diefen Aufſatz folgenden Gedichte: „Dante's
Gattin“, von Joſepha von Hoffinger, und das Sonett:
„Dante und Jacopone“, von Julius Sturm, find wie
liebliche Blüten zwifchen die übrige Maffe geftreut und
gewähren eine anmuthige Abwechfelung.
Mit des Dichters äußerer Perfönlichkeit und wie die⸗
jelbe. von den Mit- und Nachlebenden bildlich dargeftellt
worden, befchäftigt fich fpeciel die Abhandlung des unter-
zeichneten Referenten: „Dante's Borträt.” Ueber den
Werth diefes Verſuchs, fern von Italien, von Florenz,
der Heimat des Dichters, die derfchiedenen Bildniffe deſ⸗
jelben zu charafterifiren und in eine hiftorifche Folge zu
bringen, in&befondere die Einwendungen gegen die Authen-
ticität des Giotto- Bildes zu widerlegen, mögen anbere
urtheilen.. Wenn e8 ſich verwirklicht, was von Florenz
aus verlautet, daß die Herren Maggi und d’Aucona ben
Auffag in das Italieniſche überfegen, fo dürfte die Er-
wartung weitergehender Forſchungen und Aufflärungen
über den Gegenftand gerechtfertigt erfcheinen; für jetzt Ent
der Verfaffer nur noch die Notiz beizufügen, welche er
wiederum Seymour Kirkup in Florenz verdankt, daß
außer dem Dante» Porträt im Bargello auch das Miche⸗
lino'ſche Zafelbild im Dom die Unbilden einer Marini'⸗
ſchen Reftaurirung zu erleiden gehabt Hat — diejelbe be>
traf, wie es fcheint, ausſchließlich das Untergewand, jo-
weit diefes an der Geftalt fichtbar, und gefiel fi in der
Bertaufhung der grünen wit blauer Yarbe. Außerdem
müflen wir dem Zitelporträt, geftochen von J. Thüter,
das Zeugniß einer forgfültig treuen Nachbildung der im
der münchener Sammlung vorhandenen Zeichnung, an⸗
geblich von Mafaccio, ausftelen; über den wahrſchein⸗
lichen Urſprung des Bildes ift in dem Auffate eine Ver⸗
muthung gewagt, welcher die hinter dem Titelblatt ge-
gebene Erörterung des berufenen Kunfthiftoriters E. För⸗
fter in München nicht wiberfpridht.
Bon Alfred von Reumont bringt diesmal das „Jahr⸗
buch” einen Auffag über „Dante's Familie“, in welchem alle
Nachrichten von Dante’8 Eigenthumsverhältnifien, feinen
Borfahren, Gefhwiftern, Kindern und Nachkommen bis
zum Ausfterben des Dannsftammes im Jahre 1563 und
in der dem gräflicheri Haufe Serego angeheiratheten weib⸗
lichen Linie bis zur Gegenwart, aus den gelegentlichen
Bemerkungen des Dichters felbft und den Berichten der
Chroniften und DBiographen, fowie aus vorhandenen Urs
funden gejchöpft, überfichtlich zufammengeftellt find. ‘Der
Verfaſſer erhebt nicht den Anſpruch, etwas Neues gefun-
den zu haben; aud) zeigt die Bergleichung der beigefügten
Geſchlechtstafel mit der ausgeführtern in Pelli's „Memorie“
feinerlet wefentliche Abweichung — als Verdienft der Arbeit
aber ift die Vollſtändigkeit, Genauigkeit und lichtvolle Dar⸗
legung des Materiald anzuerlennen.
Alle übrigen Aufjäge befaffen fich mittelbar oder un⸗
mittelbar mit Dante’8 „Commedia“, entweder mit der
Interpretation und Deutung einzelner Beftandtheile der-
felben oder mit ihren woahrfcheinlichen Vorbildern und
Duellen, auch mit analogen Geiftesproducten, oder endlich
mit ihrer Literatur und Zerteskriti. Nachträge am Schluf
des Bandes von K. Witte liefern hierzu, genauer genom⸗
men zu der einen Hauptarbeit des vorigen Bandes von
demfelben, noch einige VBervollfländigung. "Hervorragende
Bedeutung auf dem Gebiet der Interpretation haben die
Arbeiten von Oiambattifta Giuliani: „Dante spiegato con
Dante”, und von F. 4. Scartazzint: „Dante's Bifion im
irdiichen Baradiefe und die biblifche Apokalyptik.“ Erſtere,
in ttalienifcher Abfaffung, ift die Fortſetzung einer von
dem audgezeichneten Dante« Forfcher längft in Angriff
genommenen, von Terzine zu Xerzine fortfchreitenden
59 *
zes ne Fi u or 20%
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B .
468 Zur italieniſchen Literatur.
Erflärung des Zertes aus analogen Stellen ebendeſſelben
und dem Zuſammenhange des Ganzen, fowie aus ben
übrigen Werfen Dante's, in zweiter unb britter Linie aus
den von dem Dichter angezogenen Schriften anderer und
den älteften Commentatoren und Chronographen. Der
hier vorliegende Abjchnitt betrifft den dreizehnten Geſang
des Inferno”; voransgefchidt ift die Einführung und Be⸗
grünbung der ungewöhnlichen Lesart „froda“ flatt „ſonde“
im bierundvierzigften Berfe des elften Geſangs, wonach auch
in die Abtheilung der Gewaltihätigen an dem eigenen Be-
fige, wie in den vierten Höllenkreis, der Gegenjag von
Berfhwendung und Geiz gebracht und jo allerdings für
die am Schluß des dreizehnten Geſangs aufgeführte Berjon
eine pafjendere Rolle gefunden wird. Der Referent hält
dies fir eine überaus gelungene Auskunft. Abweichender
Anſicht iſt er dagegen in nachftehenden zwei Punkten. Bes
züglich des anfcheinend tändelnden „lo credo ch’ei cre-
dette ch'io credesse” in Ber8 25 mag es von Intereſſe
fein, auf ganz Aehnliches bei Boccaccio und Arioft hin«
zuweifen; die Hauptſache bleibt indeß immer, die Correct⸗
heit des Ausdruds aus Dante's eigenem Sinne berzulei-
ten, und dies feheint nicht fehwierig, indem der Dichter
auf keine frappantere Weife das zmweifelnd ſpürende Auf-
bliden des Schauenden zu feinem Yührer ausdrüden konnte,
als durh Hin» und Hermwerfen des Meinens auf feiner
und Virgil's Seite. Dann findet der Referent die auf
das Verhältniß der drei menjchlihen Vermögen, der ve-
getativa, sensitiva und ragionativa, gegründete Analogie
der Höllenftrafe für die Selbftmörder nicht ohne Zwang
durchführbar; denn wenn es auch der Intention des Dic-
ter8 gemäß ift, daß der Selbfimörber ſich nicht blos von
der ragionativa, fondern auch von der sensitiva fcheidet,
fo ift doch nicht einzufehen, auch durch feine Aeußerung
Dante’8 belegt, wie er nad) Vernichtung des Körpers doc)
die potenza vegetativa — „per la quale si vive“, wie
Dante felbft jagt — noch behalten fünne, woraus ber
Interpret die Verwandlung in Pflanzengeftrüpp berleitet.
Auch die zweite Hälfte des fiebenten Kapitels im „Con-
vito” (tratt. IV) ſpricht nicht fir, fondern bagegen, daß
der Dichter das Pflanzenleben dem animaliſchen Tode
conform gedacht wiſſe wolle.
Auf die Einzelheiten der Auslegung der Dante’fchen
Viſion am Schluffe des „„Purgatorio” von Scartazzini fann
hier nicht eingegangen werden; ber Gegenftand ift für
wenige flüchtige Bemerkungen ein viel zu fchwieriger, und
forderte, wenn man ihm gerecht werden wollte, die hin-
gebenfte Aneignung heraus. Die gründliche, in allen ihren
Theilen auf die beften Beweismittel geftüste, forgfältig aus⸗
geführte Arbeit mag deshalb ohne weiteres dem Studium
der Dante⸗Freunde empfohlen werben, nicht weniger aud)
der fih daran anſchließende Auffag von Leopold Witte
mit beadhtenswerthen Einwendungen gegen gewifle Punfte
bei Scartazzini. Wird vielleicht in biefen Dingen nie=
mals die Stufe der zweifelfreien Gewißheit erreicht, fo
bleibt doch die fortgefegte Uebung des Scharffinns an
denfelben keinesfalls ohne Frucht für die Erforfchung der
„Söttlichen Komddie” im ganzen. Die bieranf folgende
Eregefe des fiebenten Geſanges bes „Paradiso“ von 6. F.
Goeſchel, ein Vortrag aus dem Jahre 1853, iſt in der
an dem Verfaſſer befannten inbritnftig-liebevollen Weife
gehalten, die fo unvermerft dad Anbeten an die Stelle des
Forſchens fest und ſich ohne Bedenken der von Schloffer
gewährten Licenz bedient, nad) welcher e8 weniger dar⸗
auf anfommt, die Gedanken bed Dichters zu finden, als
vielmehr nur, eigene aus den Worten defielben heran
zufpinnen,
Auf den Grund und Boden wirklicher Unterfuchung
ftelt uns dagegen wieder der in englifcher Sprade ge-
fchriebene fürzere Auffag „The Matilda of Dante“ von
Henry Clark Barlow; es ift derfelbe, welchem die Dante
Forſchung die vor vier Jahren erfchienenen „Critical, hi-
storical and philosophical contributions to the study
of the divina commedia” verdankt. Der Berfafler ſtellt
den Charafter der Erſcheinung Mathildene in bem
Paradiefesgarten des „Purgatorio‘ feit und prüft danach
in vollftändiger Reihenfolge die verjchiebenen gefchichtlichen
Deutungen ihrer Perſon; er gelangt dazu, aud die all-
gemeinere Annahme zurüdzumeifen, daß die Friegsluftige,
den weltlichen Beflg des Papſtthums verftärfende Gräfin
von Toscana zur Zeit Gregor’s VII. als das Prototyp
der fingend blumenpflüdenden Frühlingsjungfrau gelten
müffe, bie mit ihren fchönen Händen dienend voraus
wirkte, was Beatrice mit ihren fchönen Augen an Dante’
Vorbereitung für das Anfchauen Gottes vollendet. Wenn
der Berfafler e8 anßerdem nicht wahrjcheinlich findet, dag
Dante bis in eine fo frühe Zeit zurüdgegangen fa,
um für eine Zeitgenoffin von fi) eine Gefährtin zu ſu⸗
chen, fo hat diefer Umſtand offenbar wenig zu bedeuten,
da er ja die Genofjenfchaft für fich felbft gar ans bem
claffifchen Altertum heransgreift.
Zur Interpretation der „Commedia‘ dient aud) der wer
fentliche Inhalt des Aufjages „Michel Arıgelo und Dante*
von Moriz Carriere; denn, abgefehen won einer trefien-
den Hervorhebung des Berhältnifies beider Mürnmer zu⸗
einander und der zwei Sonette am SchIuffe, bietet der⸗
felbe nur die intereflanten Mittheilungen aus Donate
Giannotti's Geſprächen mit Michel Angelo vom Jahre
1545 über bie in die „Commedia” eingeführte Zeitrechnung:
der große Künftler führt darin hauptſächlich das Wort,
und läßt uns erkennen, gleichviel ob die Aufzeichnungen
authentifch oder nicht, eine wie unbegrenzte Verehrung
für den Dichter die Zeitgenoffen ihm beimaßen. Was
bie zwei Sonette betrifft, jo ift das eine im drei verſchie⸗
denen Zerten mitgetheilt, von denen der erfte im vierten.
der zweite im fiebenten Verſe kaum mögliche Lesarten
enthalten; diefer fiebente Vers ftimmt übrigens mit bem
Abdrucke bei Adolf Wagner im „Parnasso Italiano” nicht
überein, trotzdem daß beide Herausgeber den,,Codex Vaticano”'
al8 Duelle angeben. Der Tert des andern Sonetit-
lautet bei Wagner ebenfalld anders als hier; ſeltſam
daß die nachfolgende dentſche Weberfegung von Harry,
abgejehen von den legten beiden Berfen, weit mehr bem
Wagner’ihen als dem hier abgebrudten Texte entfpridt.
In diefelbe Reihe terterflärender Arbeiten mag bier noch
‚der Bortrag des Herausgebers K. Witte: „Die Thierwelt
in Dante's göttlicher Komödie“, geftelt werben: in ein
facher Aneinanderreihung legen die feinen und lebensvollen
Charateriftiten von Lamm, Ziege, Stier, Hund, von
Geſang, Klug und Wanderung ber Vögel, von Faltenjagd,.
Froſch, Eidechje, Ameife und Biene —* ab fir ben.
De Ve EEE. SEE
Zur italieniſchen Riteratur. 469
ſcharf erfaflenden Naturfinn, jene eigenthümliche Gabe
unfers Dichters, die befonderd bazu mitwirft, feinen
Sebilden das frifchefte Gepräge der Wahrheit und Wirk⸗
lichkeit zu verleihen. | |
Eine Anzahl anderer Auffäge, meift von geringeru
Umfange, enthalten Dittheilangen über Analogien und wahr-
fcheinlihe Duellen der „Commedia”. So meift Guſtav
Wolff ans Aeußerungen vordantejcher Schriftfteller nad,
wie der Dichter dazu kommen konnte, Cato den Jüngern,
anftatt ihn in den Höllenfreis der Selbfimörder zu ver-
fegen, zum Hüter des Reinigungebergs zu beftellen, Rein⸗
hold Köhler bringt zu dem OMO im Menfchenangeficht
(‚„Purgatorio‘, XXI, 32) eine überraſchende Parallelftelle
aus Berthold von Regensburg, der freilich jede beftimmte
Durchbildung fehlt; Eduard Boehmer erhärtet die Ver⸗
muthung Hillebrand’8 in Donai, daß der Veltro ans dem
erften Geſange des „Inferno“ urfprünglich von dem Veltre
ber faiferlichen Traumgefichte im nordfrangöfifchen Rolands-
lied flamme, durch bezügliche Mittheilungen aus demfel-
ben, widerlegt dagegen die Behauptung Rathery's von
der Priorität der Terzine bei Adam de la Halle und
Rutebenf um ein halbes Jahrhundert vor Dante; eben-
derfelbe theilt Auszüge aus dem mit einigen Dante'ſchen
Merkmalen ausgeftatteten allegorifch-moralifchen Gedicht
„lintelligenza“ mit, und macht ald Schöpfer deſſelben, ab-
weihend von Ozanam und Hillebrand, welche dem floren-
tinifhen Gefchichtfchreiber Dino Compagni das Gedicht
zufchreiben, vielmehr deffen gleichnamigen Großvater
geltend. Der kurze Auffag über die Benugung ber
„Istorie fiorentine” des Ricordano Malespini in Dante's
„Commedia” ift nur ein Excerpt aus der foeben erfchienenen
Schrift des Berfaflers über denjelben Gegenftand, in welcher
das Berhältniß der beiden Malespini zu ihren Quellen,
zu ihrem Nachfolger Giovanni Billani und zu Dante
vollftändig und überzeugend nachgewieſen ifl. Ueber die
von Dante benugten provenzaliihen Quellen, bezüglich
beren früher der Romanift Dahn eine Arbeit für das
Jahrbuch in Ausſicht flellte, hat nın K. Bartſch, haupt⸗
ſächlich den Spuren in Dante's Schrift „De vulgari elo-
quentia” folgend, nicht blos einen Nachweis geliefert, fon
dern dieſen durch fcharffinnige Combination bi8 zu dem
Punkte präcifirt, daß ihm felbft die nähere Bezeichnung ber
Handſchrift, deren fich Dante bedient haben mag, gelingt.
Endlih find noch drei kleinere Mittheilungen, der
DantesLiteratur und Dandfchriftenkunde angehörig, zu er⸗
wöhnen. Die eine, von A. 3. U, berührt die frühern
englifchen Ueberfegungen der „Commedia‘ und bleibt dann
bei der in legter Zeit erfchienenen von dem amerilanijchen
Dichter Longfellow ftehen; doch ift die Beurtheilung feine
eigene, jondern der Wochenjchrift „Chronicle” entnommen;
am Schlufle folgen, in zweifacher dentjcher Weberfegung,
von dem Berfaffer und von Panline Schanz, die fünf
herrlichen Sonette, womit Longfellow feine engliſche De-
arbeitung der „Commedia’ einleitet. Die beiden andern
Mittheilungen, von Hermann Grieben und dem Heraus⸗
geber K. Witte, geben Auskunft tiber einige Handſchriften
der „Commedia” in der Eapftadt, in Ronftantinopel und in
Sagliari: die zwei am erfigenannten Oste, ein Gefchent
des Gouverneurs George Grey, find bereitd von K. Witte
in deu „Dante-Forfchungen" nad) ihrem Werthe geſchätzt;
die im Serail verfchloffen gehaltene erfcheint faft unnah-
bar, und die ficilifche, laut den daraus befannt gewor-
denen Lesarten, verfpricht nur geringe Ausbeute für die
Kritik des Textes.
Zum Schluffe fann Referent nicht unterlaffen, ber
Rebaction des „Jahrbuch“ abermals den dringenden Wunſch
an das Herz zu legen, daß fie in den nachfolgenden
Jahrgängen für die Aufnahme einer regelmäßig fortlau-
fenden Bibliographie der nen erfcheinenden Dante-Titeratur
möglichfte Fürforge treffen möge. ‘Das Bedürfniß einer
folchen Ueberficht wird jedem, der fi) arbeitend mit Dante
befchäftigt, immer fühlbarer.
3. Hundert ausgewählte Sonette Francesco Perrarca’s,
überfegt von Julius Hübner. Mit einem Titelkupfer.
Berlin, Nicolai. Br. 8. 1 Thlr. 15 Nur.
Eine Uebertragung der feinfinnigen, jedes Wort, jeden
Klang wähleriſch verknüpfenden Sonette Petrarca’8 in
das Deutfche mit Tefthaltung der dem Sonett eigenthüm-
lichen Reim⸗ und Strophenform ift ein bedentliches Unter-
nehmen, deflen Gelingen immer nur in einzelnen von
glüdlicher Stunde beginftigten Fällen zu erwarten ifl.
Es werden deshalb in einer folhen Sammlung bie daß
Drigingl in allen Beziehungen tren wiedergebenden und
dabei leiht und anmuthig lesbaren Stüde ftets in der
Minderzahl fein; bei den Hbrigen hat der Ueberſetzer ent
weder, um den Worten bed Dichters tren zu bleiben,
fprachlid) unbequem werden oder charakteriftifche Züge des
Originals fallen laſſen müffen, um mit fauerm Schweiße
die erforderlichen zweimal vier Reime aufzubringen. Ber-
gleiht man dann hier und da Driginal und Nachbildung
genau miteinander, fo ift e8 Häglich, wie zugerichtet in
dem einen Tal ein folches Sonett fih ansnimmt oder
wie wenig im andern alle von den dichteriſchen An-
ſchauungen und ihrer zarten Verknüpfung in das neue
leidlich glatt polirte Gefäß fi) Hinübergerettet. Die
Noth um Reime wirb meiftens zum Fluche für unfere
Ueberfegungstunft. Was die vorliegende Ueberjegung von
mehr als hundert ausgewählten Sonetten Betrarca’8 an-
fangt, deren Driginaltert zugleich der Verſaſſer überall
beigefitgt hat, jo find vortrefflich gelungene Nachbildungen
darnnter, 3. B. ©. 34, 92, 102, 108. Dagegen finden
ſich audy Stellen, wo marfirte Ausdrudsweilen und Bil
der des Driginaltertes, denen da8 Recht auf Yorteriftenz
in dem neuen Gewande nicht beftritten werden könnte, in
der Ueberfegung verwiſcht find. Dahin gehört S. 22, 23,
wenn der Dichter die Geliebte, die ihn nicht erhört, als
feinen Tod bezeichnet und ausruft: „Ich will nur auf
denjenigen hören, der von meinem ode ſpricht“ (Ne
mi lece ascoltar chi non ragiona Della mia morte),
wofür der Ueberfeger den Liebenden fehr alltäglich fa-
gen läßt: |
Nicht will ich mehr von allem andern hören,
Als nur von ihr.
Dder wenn der Dichter (S. 30, 31) nad) dem himm⸗
Iifchen Urbilde für Laura's Antlig fragend von lekterm
fagt, die Natur babe in demfelben hienieden (laggiü)
zeigen wollen, was fie droben (lassü) vermödte, fo
wollte er offenbar damit einen Gegenſatz bezeichnen, den
der Ueberfeger nicht iguoriren und verwifchen durfte, was
der unfrige jedoch thut, indem er überjegt:
470
(Wo nur im Simmel entlehnte die Natur dag Ideal der Züge)
Zu ihrem Antlit, daß es beides trüige,
Den Stempel höchſter Allmacht, fanfter Milde! —
Dafielbe findet S. 110, 111 flatt, wo der Dichter
den frübzeitigen Tod der Geliebten mit ben Worten be-
agt, fie habe fcheidend auf Erden die irbifche Schale
zurüdgelafjen, und fih in nadter Schöne zum Himmel
erhoben (lasciando in terra la terrena scorza — bella
e nuda al ciel salita), während unfer Ueberfeger, ohne
Rückſicht auf die bezeichnenden Gegenfüte des Originals,
offenbar dem Zwange des Reims nachgebend, die Stelle
weniger anfchaulich und prägnant fo überfegt:
Berließ mein Leben diefer Erde Nacht,
Zaura flieg auf zum Sig der ew’gen Güte —
woran fi) allerdings noch, mit dem folgenden Gate zu⸗
fammenhängend, anfchließt: „in reiner Schöne”. Die
Reimnoth ift dann noch weiter an manden Entftellun-
gen und Abſchwächungen des urjprünglichen Wortfinns
Schuld: der Verfaſſer wiirde fonft gewiß nicht von der
Abficht fprechen, fi den Tod zu „verleihen“, nicht von
einem Blumenbeet, das bunte Schlangen „ſpendet“,
würde nicht dem Dichter den unedeln und Tomijchen
Ausdrud in den Mund legen: „ob ich mich ins fernfte
Thal verfröche”, würde fih auch gewiß nicht, wie
©. 94, die unmögliche Dativform „dem armen Herz”,
anftatt „Herzen“, erlauben. Dazu gefellen ſich hier und
da mangelhafte Reime, die man allenfalls in einem lan-
Rußland und die veutfhen Oftfeepropninzen.
gen epijchen Gedicht hinnehmen würbe, nimmermehr aber
im Sonett, bei welchem die eine Hälfte feines ganzen
Werthes in der rein durchgeführten Vers⸗ und Reimform
befteht: Reime, wie „reden — Nötben”, „hörte —
gewährte”, „Kameraden — verrathen” find tm Gonett
entſchieden verwerflih. Dagegen hat der Berfafler recht
daran gethan, daß er einigemal ben Zwang ber vier-
fahen Reimung aufgegeben und, nach Shakſpeare's Bor-
gange, von der Erleichterung der paarweilen Reimung
Gebrauch gemacht; es wäre zu wünſchen, er hätte fid
zu Gunften des Hauptzwecks dieſe Bequemlichkeit viel
öfter erlaubt. Der italienifche Text ift nicht ohne Druds
fehler, z. B. S. 11, 2.7: alra fl. altra, ©. 15, V. 14:
chiarmarmi ft. chiamarmi, ©. 25, 3. 10: di fl. di,
©. 27, B. 4: piance ft. pianse, ®. 13: bo ft. ho,
S. 53, B. 8: arriechirma ft. arricchirmi, ®. 12: de ft. del,
©. 101, V. 8: ricercagli ft. ricercargli. Die budhänd-
lerifche Ausftattung des Werkchens verdient alle Aner-
kennung; die Geftalt Laura's auf dem Titelfupfer ift em
Phantafiebild von gemereler Natur, wie folde Titel:
illuftrationen meiftens; was endlich das einleitende So—
nett von dem Derfafjer felbft betrifft, fo bedauern mir,
erflären zu müflen, daß uns das Organ fehlt, um
die ungleichartigen und auseinandergehenden Einzelbor⸗
ftellungen bes Gedichts zu einem harmonifchen Ganzen
verfnüpfen zu können.
Theodor Paur.
Rußland und die dentfchen Oſtſeeprovinzen.
(Fortſetzung aus Nr. 29.)
1. Rußlands ländliche Zuftände feit Aufhebung ber Leibeigen-
ſchaft. Drei rufftfche Urtheile, überfegt und commentirt von
Sulius Edardt. Leipzig, Dunder und Humblot. 1870.
®r. 8. 1 Thlr. 24 Ngr.
3. Juri Samarin’s Anklage gegen die Oftfeeprovinzen Ruß⸗
lands. Ueberſetzung aus dem Nuffiihen. Cingeleitet und
commentixt von Iulius Edardt. Leipzig, Brockhaus.
1869. ®r. 8. 2 Thlr.
3. Livländifche Beiträge. Herausgegeben von W. von Bod,
Nene Folge. Erſter Band. Erſtes bis drittes Heft. Leipzig,
— und Humblot. 1869—70. Gr. 8. Jedes Heft
1 Thlr.
4. Kivländifche Antwort an Herren Juri Samarin von C. Schir⸗
ren. Leipzig, Dunder und Humblot. 1869. Gr. 8. 1 Thlr.
10 Ngr.
Offener Brief an Herru Prof. Schirren Über deffen Bud:
Linfändifhe Antwort. Bon Pogodin. Aus dem Auffi-
fen des Golos. Berlin, Behr. 1870. GEr. 8. 10 Ngr.
6. Der deutſch⸗ ruſſiſche Eonflict an der Oſtſee. Zuflinftiges,
eſchaut im Bilde der Vergangenheit und der Gegenwart.
Bon W. von Bod, Leipzig, Dunder und Humblot. 1869.
©r. 8. 24 Ngr.
As Samarin’s Schrift „Die Grenzgebiete Rußlands“
erfchien, war es W. von Bod, welcher zuerft vom balti-
fhen Standpunft aus ihm entgegentrat. Das geichah in
den zweiten Bande der ültern „Livländifchen Beiträge”.
Seine Widerlegungen erftrediten fih dort hauptfächlich auf
die falſchen Darſtellungen des Moskowiters über die bal-
tischen Banernverhältniffe, über die kirchlichen Zuftänbe
und die Lanbesgrundgefege (Capitulationen). Auch in’
2
Titel wir oben angegeben haben (Nr. 3), befchäftigt fid
W. von Bock befonders in feiner einleitenden „Umjdan“
vielfach mit der Polemik gegen Samarin. So kommt er
im erften Heft auf deffen Vorwurf zurüd, daß die bal«
tifche Kitterfchaft von der Kegierung „eine radicale Ab-
ſchaffung aller frühern Beftfegungen, welche den Gutsherrn
in feiner Berfligung über das Bauerland und in Erke
bung der Frone befchränkten”, im Jahre 1819 erbeten
babe, wodurd die Unantaftbarkeit des Bauerlandes und
die verbindende Kraft der ſchwediſchen „Wackenbücher“
(d. i. Grundbücher, welche die Grenzen und die Laften
der Bauerböfe der Grundherrfchaft gegeniiber feftftellten)
erloſch. Dieſer Borwurf des ruffifhen Schriftftellers
wird in feiner Nichtigkeit erwiefen; es wird beſonders
darauf aufmerffam gemacht, daß die Ritterſchaften 1819
nur darum Aufhebung der alten, fchwedifchen „Waden-
bisher‘ bei Alexander I. beantragten und erlangten, weil
neue und berichtigte an die Stelle ber gegen 200 Jahre
alten und deswegen zum Theil veralteten, treten follten,
was auch geſchah. Die neuen „Wadenbitcher‘ blieben
denn auch in Kraft, bis die Frone der Geldpacht voll
ftändig Plag machte, was im Jahre 1869 geſchah. Die
Angriffe auf die Wadenbücher, welche allerdings in ben
legten Jahrzehnten vielfach unternommen worden find,
gingen nad; von Bock nicht von der baltifchen Ritterſchaft,
fondern von der ruſſiſchen Regierung ans.
der Neuen Folge der „Livländifchen Beiträge”, deren: Kurz nad W. von Bock hob auch Profeſſor Karl
/
mi
Rußland und die deutſchen Oftfeepropinzen.
Schirren den Handſchuh Yuri Samarin’s auf. Scirren
war in Dorpat zuerft für Statiftif und Staatswirthfchaft
angeftellt, bewarb fich aber fpäter um den freigewordenen
Lehrſtuhl der ruffifchen und baltifchen Geſchichte, um von
der dentfchen Hochſchule die Anftelung eines Ruſſen ab»
zuwenden, und erreichte fein Ziel. Seine große, wiſſen⸗
Ichaftliche Thätigfeit war feitdem noch mehr, als es fchon
vorher der Tall gewejen, auf Erforſchung der Geſchichte
der baltifchen Herzogthümer gerichtet, wovon eine Menge
Urkundenherausgaben und andere gefchichtlihe Werte
Zeugniß geben. Seine alabemifche Lehrthätigkeit war für
die Belebung der deutſchen Gefinnung der findirenden
Yugend von großer Bedeutung; feine Vorlefungen gehör-
ten zu ben befuchteften der Hochſchule; fchon feit einer
Reihe von Jahren war fein Name in allen wiſſenſchaft⸗
lichen und vaterländifch-ftrebfamen Kreiſen der baltischen
Lande hochgefeiert. Die ſchnöden und böswilligen Beſchul⸗
Bigungen trafen den wadern Dann wie ein Fauſtſchlag
in das Geſicht; er vermochte die Berleumdungen feines
Heimatlandes und feines Stammes nicht ohne Abwehr
binzunehmen, obwol die Angriffe weniger jeine bürgerlichen
Standeögenofien, jondern vielmehr den Abel trafen, an
deffen Privilegien er keinerlei Antheil hatte. Schirren ift
aber ein viel zu einfichtiger und umeigennügiger Patriot,
am dem gemeinjamen Feinde durch innere Zwiſtigkeiten
umd Eiferfüchteleien Gelegenheit zur Yußfaflung im eigenen
Lager zu geben; er weiß, daß die baltifche Ritterfchaft
im Kampfe mit dem Ruffentyum mit nichten vorzugsweife
ihr Standesinterefle, fondern das Intereſſe des Landes
vertritt, daß es nicht an der Zeit iſt, von ihr Verzicht
auf ihre Standesrechte und demokratiſche Berfafiungs-
xeformen zu verlangen, welche die Ruflen nur zur weitern
Beeinträchtigung der beutfchen Nationalität und Cultur
benugen würden; er weiß, daß den baltifchen Adel preis-
geben das Deutjhthum der Provinzen preißgeben heißt.
Mit dem Haren Bewußtfein, daß er feine fchöne, befrie-
digende und einträgliche alademifche Lehrthätigkeit opferte,
unterzog er Samarin’8 Anklagen einer fcharfen, gründlichen,
niederfchmetternden Kritik; feine „Linländifche Antwort‘
(Rr. 4), in Leipzig erfchienen, kam in Zaufenden von Erem-
plaren nach Dorpat, um feiner eigenen Entfcheidung über die
Zulaſſung zum ruſſiſchen Buchhandel unterworfen zu wer-
den, da er gerade das Amt eines Cenſors verwaltete; er
gewährte diefe Genehmigung und in wenigen Tagen war
die Auflage vergriffen, zugleich aber auch auf telegraphi-
fihem Wege ihm feine Amtsentfegung aus Petersburg
angelimdigt. Um meitern VBerfolgungen zu entgehen und
freie Hand in der Wirkfamkeit für fein Heimatland zu
erhalten, entſchloß er fich, nach Deutſchland auszuwandern,
beiam aber erft nad; längerer Zögerung feinen Paß.
Jetzt weilt er im unferer Mitte, indem er die wichtigften
Staatsarchive, welche tiber Johann Reinhold Patlul’s
Schicſal Auskunft geben, durchforſcht, da ex eine Geſchichte
diefes großen Livländers und feiner Zeit zu fchreiben im
A ikr elandiſche Antwort“ iſt in zehn Abſchnitte ge⸗
theilt, welche handeln: 1) Von dem Angriffe auf die
Prodinz, 2) von den Converſionen der vierziger Jahre,
3) von der neuen Brovinzialpolitit der Regierung, 4) von
dem Syſtem der Ruſſificirung, 5) von dem Rechte des
471
Landes gegen die herrſchende Kaffe, 6) von dem nordi⸗
hen Kriege und den Capitulationen, 7) von dem Angriffe
auf die Capitulationen, 8) von der fortdauernden Geltung
der Capitulationen, 9) von dem Bruce des Landesrechts
dur Polen und Schweden, 10) von der Entwidelungs-
fühigfeit des Landesrechts. Ä
Den Kernpunft der Kritik Schirren’8 bildet ber iro⸗
nifche Hinweis auf die Unvernünftigkeit der Aufftellung
Samarin’s, daß dem „Inſtinct“ bes ruſſiſchen Stammes
alle Güter der Eultur geopfert werden müſſen, wenigftens,
was die von Rußland abhängigen, nicht ruſſiſchen Völker
angeht. Auf den „Unftinet der Kaffe” kommt er immer
wieder zurüd.
Der Kreuzzug, welden Sie, Herr Samarin, heute gegen
das Recht der Provinz predigen, erllärt aller Rechtsorduung
und allem Gefege im Reiche den Krieg. Wer den Juſtinct
einer Rafje zum oberften Geſetz erhebt, bedroht alles, was den
Inftinet zu zůgeln berufen if, mit Untergang. So ſchmeichleriſch
und hofiſch Ihre Rede, der Inſtiuet fragt weder nad Majeflät
noch Berträgen, Einmal auf Zerflörung gerichtet, durch Erfolge
gereizt, findet er weder Grenze noch Di
Treffend find folgende Schilderungen der Tage in ben
Oftfeeprovinzen (©. 15):
Wenn das Berlangen, mit Verſtändniß gerichtet zu werben,
nicht allzu unbillig if, fo bietet fi in der Einrichtung eines
baltischen Obertribunals, ein ebenfo natur- wie traftatenmäßiger
- Ausweg. Ueberall empfiehlt fi Theilung der Arbeit. — Sie
legen Ihr Beto ein. Verſtändniß ift Ihnen ein Grenel. Wer
nah Berfländuiß traditet, ift Pole, wer Berftändniß vermittelt,
Berräther.
Weiterhin verbolmeticht Schirren die Auslaffungen Sa»
marin’8 und Genoſſen in folgender Weile (S. 84 fg.):
Nicht der geringftie Zwang iſt euch zugedacht, mas ge»
ſchieht, verſteht ſich alles von ſelbſt. Fügt euch und ihr wer»
det bald fehen, wie wohl euch wird, Erf wo der Wiber-
ſtand andebt, begimmt der Zwang. Es hängt alles von euch ab.
Eure Behörden müſſen freilich ruffifh werben; enre Schulen
nicht minder; untereinander dürft ihr euch aber deutich unterhalten,
umd die beutiche Sprache behält ihre Rechte. — Die Gewiſſens⸗
freiheit werden wir denen, die fie nicht mehr haben, fo leicht nicht
wiedergeben; aber das geht euch nichts an. Ihr könnt thun, was
euer Gewiſſen euch vorfchreibt und die orthobore Kirche nicht Übel
nimmt. Um anderer Leute Gewiflen habt ihr euch nicht zu
fimmern. — Eure Ritterfchaft werben wir ſich felbft überlaffen;
es ift billig, daß fie das and) andern gönnen, und wenn fie
ihre politifißen Rechte allmählich verlieren, jo bleiben fie immer
noch als adeliche Clubs mit eigenen Statuten in allen Ehren
und Würden. — Ihr habt die Bauern nicht zu germanifiren
verftanden; ihr habt fle nur gebildet. Jetzt werden wir euch
ablöfen, und nun mögt ihr es mit anfehen, wie man ruffiflcirt.
Die Mittel find einfach; ihr könnt uns dabei nicht belfen,
nur zufehen und ſchweigen. — Euch jelbft wollen wir die Genfur
gern lafen. Sie wird euch wie bisher berathen und beſchir⸗
men. Alles Erlaubte dürft ihr fagen, und ihr werdet doch
nit fagen wollen, was unerlaubt it? — Und num ergehen von
allen Seiten offtciöfe, vertrauliche, freundſchaftliche Stimmen:
Nur ſchweigen! Nur ja mit Reden nicht reizen! Nur ja fi
auf nichts anderes berufen, als dringendſtenfalls auf bie
„politiſche Utifität”, auf das „Staatsinterefje‘. Ums Himmels
willen nicht gar die „Rechtsfrage“ wie einen „Feuerbrand in⸗
mitten des Zundſtoffs des bfinden und übermüthigen Fanatis-
mus, welcher zur Zeit hoch und niedrig beherrſcht, fchleudern”.
Nur ſchweigen.
Wahrhaft claſfiſch iſt folgende Charakteriſtik der ſla⸗
wiſchen, beſonders der ruſſiſchen Eigenart, (S. 102):
Ber die Stimmführer der Slawen befragt, vernimmt, wo
die Stimme des Uebermuths fchweigt, nar Jammer und Klagen.
412
Wenn flawifhe Stäume ihren Geift nicht fo entfaltet, ihre
Cultur nicht fo entwidelt, ihre Kirche nicht fo weit ausgebreitet
haben, als ihnen erwünſcht wäre: immer find die Umflände
daran ſchuld, oder fremde Stämme haben e8 zu verantworten;
bald die Türken, bald die Deutſchen; bald hat es der PBapfl
auf feinem Gewifſen. Bollends von allen Seiten angefallen
und bedrfidt, hat das riefige Bolf ber Ruſſen fein kümmerliches
Dafein gefriftet; von Often haben e8 die Mongolen geplagt;
von Siden Zataren und Türken, von Weften die Bolen, die
Schweben, die Dentihen. So lange das her fein mag: der
Inſtinct lehrt: es gibt keinen Weg zur Freiheit und zur Cultur,
als mitten durch die Revanche, und feinen würdigern Gebraud
der wiebergewounenen Cigenbewegung, als num die Mongolen
und Türken zu plagen, die Polen, die Schweden, die Deutichen
grnblint wieder zn drüden. Nur fo kommt die Nation zum
ewußtſein ihrer ſelbſt. Auch in dieſem Amte verleugnet fich
bie urflawifche Paſſion nicht, fich leidend zu fühlen und flir ange-
griffen zu halten. Die Uebermadt darf noch fo erbrlüdend fein,
die Zerfiörungswuth mag bie legten Schranfen niederreißen:
auch die wildefte Laune behält die hyſteriſche Miene gefränfter
Unſchuld. Das ift der Inftinet der Kaffe: ein großes Bolt
wüthet und weint dabei Über fein unverdientes Los. Da iſt
mebr als Ziberius.
Zwei ruffifche Entgegnungen auf Schirren's epoche-
machendes Werl find uns durch Webertragung ine
Deutfche zugänglich gemacht worden. “Die eine ift von
dem befannten Panjlawiften Profeſſor Pogodin in
Moskau (Nr. 5) — ein fehr ſchwaches Machwerk. Der
gute Moskowiter fcheint, gleich Jakob I. von England,
anzunehmen, daß Wiederholen einer wiberlegten Behaup-
tung diejelbe beweifen beißt: er thut nichts, als daß er
Stellen aus Samarin’s Schrift wieder abdrudt und dann
binzufügt: fein Gefinnungsgenofje habe dennoch vedit,
denn die frühern ruſſiſchen Beamten und redtgläubigen
Biſchöfe in Riga hätten es ihm gejagt. Um feinen ruf-
ſiſchen Leſern zu zeigen, ein wie böjer Mann Scirren
fei, führt er ferner eine Anzahl der ftärkften Zornes⸗
ausbrüche der „Livländifchen Antwort“ auf, und fegt da⸗
zwifchen nur einige Ausrufungen, durch weldye die Lefer
zum Haß gegen bie Deutjchen ber baltifchen Herzogthümer
gehett werden. Die eingeflocdhtenen Bemerkungen zeugen
von einer leidlichen Unwifjenheit des moskauer Profeſſors
der Gefchichte, wenn er 3. B. durch Tilly Nürnberg zer-
ftören läßt. Nicht übergangen foll e8 werden, daß in
der uns vorliegenden Weberfegung ein Ausfpruch der Ur-
fchrift des biedern Gelehrten unſerer Kenntnißnahme ent⸗
zogen ift, den wir nicht entbehren wollen. Nach den
neueften „Livländijchen Beiträgen“ (I, 3) jagt Pogodin
nämlich von Schirren: er habe die „Livländiſche Antwort“
gefehrieben „trunfen vom Genuffe eines Gemifches von Tinte
und dem Geifer eines — tollen Hundes!“
Eine andere Antwort von ruffifcher Seite hat uns
W. von Bod in den „Lioländifchen Beiträgen” (I, 2)
überſetzt; fie führt den Titel: „Antwort auf die Livländi⸗
ſche Antwort Schirren’s. Die ruſſiſche Urſchrift ift als
Brofhüre anonym in Dresden erſchienen. Der Verfaffer
ftelt ſich als Unparteiifcher zwiſchen die Balten und ihre
mogfowitifchen Gegner, namentlih Samarin; er theilt
sach beiden Seiten fcharfe Hiebe aus. Indem er das
rechtsverachtende Berfahren und Andrängen der legtern
und der ruffifchen Regierung feineswegs billigt, behaup-
tet er dennoch: die Balten hätten fi ihre Bedrängniß
ſelbſt zugufchreiben, indem fie ftets mit rückhaltloſem Ei⸗
fer dem Despotismus des Zaren gedient und das rufſi⸗
Rußland und die deutſchen Oftfeeprovinzen.
ide Bolt unter dem Joche zu halten beigetragen
(S. 119): getragen hätten
So oft uns bie Luft ankam, jemand zu würgen, dam
wart ihr Deutſche immer bei der Hand und halft ung herzhaft
in Keinrußland, im Kaukaſus, in Sibirien, in Bolen, fefbft in
Defterreih, von Rußland gar nicht einmal zu reden. t
Dienft um Dienft — wollen wir euch helfen — euch feihf in
erwärgen. Mit wem haben euere Großväter und Urgroßpäter
accordirt? Mit der unbegrenzten Gewalt, mit der Willfir
deshalb haben euere Privilegien keinerlei Kraft. Wir rathen
euch, das werthloſe Papier zu verbrennen, denn das Selbſt⸗
herrſcherthum ſchafft alte Geſetze ab und gibt neue immer nur
nad eigener Cingebung. Wenn ihr fo einfache Dinge mi
begreift, fo gereicht da8 euerer Aufflärung, auf die ihr fo ſtoi
ſeid, nicht zur Ehre.
Wollten die Balten dem ruſſiſchen Volke gegenüber
im Rechte ſein, dann ſollten ſie ſich vom Despotismus
abwenden und jenen helfen ſich zu befreien. „Die Liebe
zur flaatlihen und kirchlichen Freiheit ſei den Rufen
immer theuer geweſen.“ Das freie vuffifche Voll werke
den Balten die nmöthigen Sonberrechte gern bewilligen.
In diefem Verſprechen liegt einer ber vielen innern
Widerſprüche der Brofchüre; denn vorher har der Ber
faffer mit großer Bitterkeit gegen die „Privilegien“ der
Balten —* indem er fle als Standesprivilegien be
handelt, da fie doch nichts anderes ald Lanbesprivilegien
find, und Hier verfpridht er ihmen wiederum gerade folde
Landesprivilegien vom ruſſiſchen Volle. „Die Balten“,
fagt von Bod, „vermögen nicht einzufehen, wozu fie mit
ihren nöthigen Sonderinterefien ſich freiwillig follten in
Paufe feßen, wenn es wirflih wahr wäre, daß man
ihnen biefelben nach der Paufe wiedergeben will.“ Wenn
wir ferner davon abfehen, daß fein Europäer, aljo aud
kein Balte, begreifen wird, worin ſich die „Liebe ber
Ruſſen zur „Freiheit“ erwiefen bat, und daß es dem⸗
nah auch den Balten unbegreiflidh fein muß, auf melde
Weife fle dem ruffifchen Freiheitsdrange zu Hülfe lom⸗
men können, fo fpricht der Verfaſſer ihnen ſelbſt auch
noch jede Befähigung, fih in bie ruſſtſche Eigenart zu
finden, ab.
Eine höchſt fonderbare Vorſtellung muß der Berfafler
auch von der „Wiſſenſchaft“ haben, die bei den Ruſſen
„befondere Principien“ babe, welche „wenig bekannt“ feien.
Wir meinen, daß eine Wiflenfchaft, welche nur Einem
Volke begreiflich und zugänglich ift, weil fie auf „beſon⸗
deren Principien” beruht, feine Wiffenfchaft ift; denn es
gibt nicht nad) der Nationalität verſchiedene, fondern mır
Ein allgemeines und gleiches Denkvermögen aller Menſchen,
alfo auch nur Eine Wiſſenſchaft.
In demfelben dresdener Verlage und wahrfcheinlic von
bemfelben Verfaſſer, wie die „Antwort“ auf Scirren's
„Antwort“ erſchienen, ift auch eine Flugſchrift in rufe
her Sprache herausgelommen unter dem Titel: „Ende
der bdeutfchen Herrſchaft.“ In dem nemeften Hefte ber
„Livländiſchen Beiträge” (Bd. 1, Hft. 3) gibt ung W. von
Bock aud) davon eine deutfche Ueberfegung. Es zeigt ſich
in dieſem Auffag noch mehr als in dem erften ein chr⸗
licher, offener, patriotifcher, aber unklarer Charakter. Die
Deutfchen Rußlands werden darin überwiegend in Shut
genommen, wenn aud) andererfeitö mit vielen ‚und keines
wegs immer gerechtfertigten Vorwürfen überhäuft. Ne
mentlih wird niemand anders als ihnen das Unter»
ee. EEE er ee _ tt TE
Rußland und die deutſchen Oftfeepropinzen. 473
liegen Rußlands im Krimkriege zur Laft gelegt. Der
umgenannte Berfafler fagt von ben Deutfchen in der Zeit
vor dem Falle von Sebaftopol:
Die Ruſſen galten ihnen nichts; fie blidten auf das ruf-
fifche Bolt, wie auf ein gedankenloſes Werkzeug, von der Bor-
ſehnng verliehen — nit zur Ausbreitung der großen Ideen
der abendländiſchen Civiliſation, nein, alle Propaganda hatten
fie Tängft aufgegeben, fondern als ein Werkzeug zur Erlangung
von ReichtHümern, Aemtern und Staatewürden u. |. w....
Die Deutihen haben uns bezanbert durch den Glanz ihrer Knöpfe,
durch das Ebenmaß in ihren Bewegungen; die von ihnen in
Gang gebradte Stantsmafchine ging richtig, und verſetzte alle
unfere enropäiſchen Nachbarn in Schreden, welche vor dem
nordiſchen Koloß erzitterten und fi ohne Widerfiand vor ihm
verneigten. ,
Der Autor mag mel vet haben, daß die Niko-
lai'ſchen Deutſchen zu viel anf die Form, das Aenfere
gejehen und in die Staatsmaſchine zu wenig Geift gebradht
haben. Die Aufgabe war aber eine äußerſt ſchwierige,
diefen geiftigen Inhalt zu beſchaffen; denn der ganze
Geift, der damals in Rußland vorhanden war, ftedte
eben in den dorthin verfprengten Deutfchen, und es ift
noch heute kaum andere. Es ift faum eine Frage, ob
es bei Sebaftopol beiler gegangen wäre, wenn fie alles
in Unordnung, Unfauberkeit und Rauheit gelafjen Hätten.
Die Einführung der rufflfhen Sprade in den Oſtſee⸗
provinzen hält der Berfafier aus bem Grunde für un-
möglid, weil e8 feine ruſſiſchen Spracdlehrer gebe. Er
fchlägt vor, die Balten auf eine andere Weife ald dur
Gewalt für Rußland zu gewinnen; indem er behauptet,
daß „Duldfamkeit” und „Billigkeit“ der herporftechendfte
Charalterzug der Rufen fei, empfiehlt ex diefelbe gegen
die abhängigen Bölfer anzuwenden. Auf das Ruſſiſch⸗
Sprechen ift es auch von ihm abgejehen. Nun, wir haben
Dagegen auch nicht einzuwenden, wenn zur Erreichung
dieſes Ziels feine andern Mittel angewendet werden,
als „Duldſamkeit und Billigkeit“; wir fehen aber nod
nicht die Leifefte Spur zu einer Wenduug auf dieſe
Bahn.
In demfelben dritten Heft der „Livländiſchen Beiträge”
berichtet der Herausgeber auch von einer Stodung in ber
Nuffificirung der Oftfeeprovinzen:
Richt daß wir ein offenes, ehrliche Aufgeben beiber ver,
derblichen Plane zu melden in der Lage wären, d. h. Berzicht
anf Einführung der ruffifhen, als der Unterrichtsiprache in
deutſchen Schulen, Beſchränkung des obligatorischen ruffifchen
Sprachnnterrichts auf das vom örtlichen Beblrfniffe wirklich
erforderte und mit den Anforderungen der wichtigern Unterrichts»
gegenftände gar wohl verträgliche, fehr befcheidene Maß, und
tbatfächlihe Anerfennung des unzweifelbaften Rechts ber Pro-
vinzen, von octroyirten, nicht ihrem eigenen Rechtsleben ent-
fprofienen Iuftigreform-Schablonen verfchont zu bleiben, vielmehr
ihre eigenen, fehr umfafjenden und „dem Gonvernement“ ſchon
vor länger als fünf Jahren „präfentirten‘ Iuftizreform-Projecte,
obue alle krankhafte Eentralifatioustendenz berfdfichtigt zu ſehen;
o nein, fo weit find wir nod lange nit! Aber das Aujfifi-
cationstreiben ift in ein gewifles, verlegenheitvolles Stoden se
rathen. Im Stadium der Ausführung erſt fcheint man eine
dunkle Ahnung von allen Schwierigkeiten nnd Gefahren alles
deffen gewonnen zu haben, was anfänglich, in dem wohlfeilern
and fühern Stadium der Erfindung ober Conception, mit fo
viel officielem und offlciöfem Lärm, mit jo viel Beradjtung
alles befiehenden Rechts, mit fo viel Geringſchätzung jeber be-
ſcheidenſten und Ioyalfien, aus den Provinzen felbft hervorge⸗
gangenen Oppofttion, oder and nur Warnung in Angriff war
genommen worden, um die baltiſchen Landesrehte vor dem
1870. 30.
Inſtinete der Raſſe verſchwinden zu machen. So verfäumt bie
moslauer Zeitung neuerdings feine Gelegenheit, mit tiefer Ent-
mutbigung und Berfiimmung zu bekennen, daß die Ruffification
der baltiihen Schule nit von der Stelle rückt. Bald klagt
fie, daß man dabei flehen geblieben fei, neben den deutſchen
Gymnaſien ruffifche zu errichten, bald wieder, daß in die Land⸗
voltſchule immer nod nicht die ruffifche Sprache eingeführt ſei.
Nur if ihre Erflärung eine falfche: nicht an der Lauheit bes
Auffificationseifers liegt es, ſondern einfah an der Wahrheit
Des Spruchs: „Wo nichts if, bat der Kaiſer fein Recht
verloren !"
Unter dem 4. Januar 1870 klagt dafjelbe Blatt:
In der für Rußland künſtlich geichaffenen fogenannten hal⸗
tiſchen Frage if im Laufe des verwichenen Jahres keine Ber-
änderung vorgegangen, d. 5. fie hat in antiruffiiher Richtung
Fortſchritte gemacht. Na wie vor, unter der Einwirkung ber
Örtlichen fſündiſchen Mächte, jedoch auch der mittlern und hö⸗
bern Kromunterrichtsanftolten, führt die ungeheuere Mehrzahl
der Bevöllerung, ungeachtet ihres Zugs zu Rußlaud Hin und
ihres Berlangens nah ruffliher Sprache, fort, unwillkürlich
fi) zu germaniftren und wird zu dem benachbarten Deutfchland
bingezogen.
Ehe wir uns von Woldemar von Bod, biefem
überans thätigen und fruchtbaren Vertreter der baltifchen
Herzogthiimer verabjchieden, haben wir nod einer ein-
fchlagenden Schrift von ihm zu erwähnen. „Der deutſch⸗
ruffiſche Conflict an der Oftfee (Nr. 6) enthält im
wefentlichen zwei Borträge von Bod’8, welche er in
Quedlinburg in dem dortigen wiſſenſchaftlichen Berein
gehalten hat. Der eine behandelt „Die erften Begegnun⸗
gen der Deutfchen mit den Ruſſen in Livland‘, und bes
trifft den Srieg, welchen der Heermeiſter Walter von
Plettenberg im Anfange des 16. Jahrhunderts mit Iwan I,
von Mosfau, dem Großvater Iwan's I., des Schredlichen,
geführt, nnd in welchem er in der Schlacht bei Pleskan
eine der glänzendften Waffenthaten der Geſchichte voll«
bracht hat. Bemerkenswerth ift das Urtheil des Biographen
Plettenberg’, des Freiheren Schoulz von Afcheraden, aus
dem vorigen Jahrhundert über dieſen Helden; es lautet
nah von Bod folgendermaßen:
Man hat durchgängig dieſem Regenten den Beinamen dee
Großen zuerlannt; ja einige Baben ihn gar Alerander dem
Großen und Yulins Eäfar zur Seite geftellt. Ich ſelbſt, von
dem allgemeinen Borurtbeile eingenommen, hatte mir vorgefett,
durch die Beichreibung feiner Regierung meinem Kleinen Ber-
fuche einen Relief zu geben. Ich babe daher alles, was von
ihm gejagt worden, mit vielem Fleiße zuſammengeſucht, und
mehr als einmal Überlefen, muß aber dennoch gefiehen, daß
ih zu meiner Veftärzung diejenige Größe nicht gefunden, die
ich wir eingebildet hatte. Ein jeder wird hHierüber ſelbſt ur-
theilen können, wenn er das von mir entworfene Bild feiner
Regierung, darin gewiß fein einziger vortbeilhafter Zug über⸗
gangen ift, anfieht. Hatte er fi anfangs durch die erfochtenen
zwei Siege als ein kunſtverſtändiger Kriegeheib fignalifirt, fo
effipfirte doch wiederum der große General ganz und gar, fo-
wol in bem gefchlofjenen nachtheiligen Frieden, als anch in den
nachher vernadläffigten Bertheidigungsanftalten. Was er zur
Berbefjerung der innern Staatsverfafiung getban, befteht in
den von mir angeführten drei Verordnungen. Im librigen
Iebte er mit den Biſchöfen in Frieden. Das war rühmlich,
aber noch Tange nicht groß. Woher ift denn ber große Ruf
entflanden? wurde die Welt durch das dunkle Gerlicht
von feinen Giegen frappirt. In der That war e6, wenn man
den Bortheil des groben Geſchützes nicht in Betracht zieht, recht
erftaunlih, dag eine Hand voll Volle die ganze und in mehr
als 100000 Mann beflehende Kriegsmacht eines großen Reichs
anfs Haupt gefchlagen Hatte. Daß aber diefer erfte Ruf auch
nachher in der umfländlichen Geichichte foutenirt worden, daran
60
474 a
mag wol folgender Umfanb fdyuld fein. Walter begünftigte
bie Einführung ber Iutherifhen Religion. Die livländifchen
Shronilenichreiber Rüffom nnd Kelch, beide Prediger, hielten es
alfo flir eine Pflicht ihres Berufs, ihn dafiir bis in den Himmel
zu erheben. Sie fhrien: der Sroßel und die Welt fchallte
wieder: der Große! Ih glaube aber, daß fein Ruhm am
richtigſten appreciret fein wird, wenn man fagt: Er war ein
tapferer General und ein frommer Regent. Biel! in den ba»
maligen Zeiten, aber lange nicht genug!
Der andere Bortrag von Bock's enthält eine Ver⸗
gleihung der livländifchen und der ruffifchen Landgemeinde.
Die Grundlage der Verſchiedenheiten in beiden findet
aud) von Bock in dem perſonlichen Grundbeſitz — fei es
Eigenthum oder Pachtung in jenen und in dem Gemeinde⸗
deftg von dieſen. Schon ber Freiherr von Harthaufen
bat vielfach darauf Hingewiefen, daß aus dem Gemeinde⸗
befig, die dem rufflichen Bauern eigenthümliche Abneigung
und Geringſchützung des Aderbaues herzuleiten iſt. Da⸗
mit zufammen hänge auch bie verächtliche Nebenbebeutung
des Wortes Smerd, Aderbauerr. Der ruffifhe Bauer
‚ Reifeliteratur.
treibt den Ackerbau nur aus Noth, ergreift daher jehen
andern Lebensberuf lieber als biefen, und zwar ben am
wenigiten jeßhaften am liebften, nebenbei ift er zu allen
andern Handarbeiten aufgelegt und geſchickt, wenn au
nur oberflächlich. Der beliebteſte Beruf iſt ihm der Schacher.
Der livländiſche Dauer dagegen, d. h. der Gefindepäcter
und ber Lostreiber, d. 5. deſſen Afterpachter von Land⸗
parcellen, liebt feinen Acker und feine Wiefe, und betrachtel
es ala ein Unglüd, von der ererbten Scholle weichen zu
möüflen; er ift ein eifriger Landwirth und lußt es ſich
angelegen fein, feine Bodenerträge zu fteigern. Bon
feiner undergleichlich höhern Gefittung und Bildung den
ruſſiſchen Standesgenofien gegenüber haben mir ſchon
mehrfach gejprohen. Einen ähnlichen Unterfchied wie
zwifchen den Bauern findet von Bock auch zwifchen dem
Adel Rußlands und Livlands, überhaupt der Oſtſee⸗
provinzen. Edwart Mattuer.
(Der Beſchluß folgt in der nachſten Nummer.)
Reifeliteratur.
Eine Reife durch Bosnien, die Sapeländer und Ungarn. Bon
— Maurer. Berlin, C. Heymann. 1870. Br. 8.
L
Der Verfaſſer einer Ueberſetzung der Keifeerinnerun«
gen des fchwedifchen Dichterd Atterbom, welche fi in
ierlihen Yormen an das maßvolle Driginet anfehmiegte
befchreibt bier in gröbern Umriffen eine Reife, bie er fe f
mehr oder weniger im Dienfte der Publiciftit gemacht Hat.
Jene Ueberfegung führte: uns in die Linder Europas,
welde fi am meiſten durch Kunft und Wiſſenſchaft aus
gezeichnet Haben. Dur dies Originalwerk werben wir
mit Bölfern näher belannt, welche weder durch ihre gegen⸗
wärtige Culturſtufe, noch durch flaunenswerthe Hefte einer
großen Vergangenheit die Reiſenden anzuloden pflegen.
Atterbom's Heife nach Dresden und Italien fteht in einem
ziemlich ſchroffen Gegenfage zu Maurer's Reife in Land⸗
ſchaften, deren politifche Geltung noch von ber größern
oder geringern Energie abhängen wird, die ihre den Kün⸗
fin und den Wiſſenſchaften noch immer nur wenig zu-
gewandten Bewohner zu entwideln im Stande fein werden.
Es Tag unter diefen Umftänden dem Berfaffer der
obenangeführten Schrift ganz fern, eine Reifebejchreibung
zu liefern, welche etwa felbft den Eindrud eines Kunſt⸗
werts machen könnte. Mit dem, was er in diefer De-
ziehung (ſtolz darauf, daß von feinem Buche wenig oder
nichts vorher in Zeitfchriften veröffentlicht iſt) über Tou⸗
riftenfeuilletons einfließen läßt, jagt er manches Wahre,
verſchüttet aber doch beinahe fchon das Kindlein mit dem
Bade. Es ift gewiß: von den größern oder geringern
Naturfchönheiten einer Gegend ober den Kunftichönheiten
einer Stadt wird nur eine felbft den Geſetzen der Aeſthetik
untergeordnete Darftellung und ein treues Bild geben kön⸗
nen, alfo ein Buch, das zur Veröffentlichung in Feuille⸗
tons wol geeignet iſt. Das Heifehandbud freilich, welches
und fagt, wie wir am beften an einen Ort gelangen unb
wie wir einen kurzen Aufenthalt an demfelben einzurich⸗
ten haben, dieut une bem alltäglichen Bedürfniß. Es
bat keineswegs bie Aufgabe, uns durch Schilderungen
einen Antbeil an den poetifchen Genüſſen zu verfchaften,
die e8 verzeichnet. Zwiſchen den ftatiftifchen Nachweiſun⸗
gen der Reiſehandbücher und zwiſchen den äſthetiſchen
Schilderungen der Yeuilletonreifen Liegen jedoch noch die
Beichreibungen ber literarifchen Pfadfinder, melde, wen
ihnen auch die eigentlichen Entdecker Tängft voraufgegan⸗
geu find, noch eine Menge neuer Notizen aus dem weniger
bekannten Ländern und Landfchaften nachzuholen Haben,
Auf der andern Seite aber pflegen folche Befchreibungen
noch viel zu unvollftändig zu fein, um uur als Grund⸗
lage für ein fyftematifches Reiſehandbuch zu dienen oder
gar ein folched zu erjegen. Das Reiſehandbuch erzielt
Bollftändigkeit, kaun diefelbe aber blos Durch feine weſent⸗
lich nur tabellarifche Form erreichen. Mit den Charakter
der Reiſebücher jener dritten Art läßt ſich die Vollſtändig⸗
feit nicht vereinigen. Ihre Form ift weder ftatiftifch noch
poetifch, fondern in ber Regel die Form der breitem
pbilofophifchen Entwidelung, welche ihre Principien immer
nur an einzelnen Beifpielen barlegt.
Zu den Büchern diefer dritten Art rechnen wir das
vorliegende Reiſewerk von Franz Maurer. 8 bietet fah
nur die eigenen Erfahrungen feines Verfaſſers dar. Denn
wenn derfelbe auch tüchtige ethnographifche und lingniſtiſche
Borftindien zu feiner Keife gemacht hat, fo muß ihm biefe
boch eben dazu dienen, die Nefultate feiner häuslichen
Studien zu prüfen und zu ergänzen.
Franz Maurer nennt fi einen „Niederunger“, nicht
etwa von Niederungarn, fondern von der norddeutſchen
Niederung. Er ift zu Klein⸗Dedeleben an der preufifd-
braunfchweigifchen Grenze geboren und lebt jet in Ber-
In. Er fcheint anſehnliche Reifen in Nordweſteurope
gemacht zu baben. Einer gewifien Wärme in bem vor-
liegenden Buche aber merft man es immerhin an, daß
er Ha ihm feine erfle größere Reiſe in fitblicher Richtung
erzählt,
Der Verfaſſer bejchreibt zunächſt bie Reiſe über Dres
“
Vom Büchertifch.
den, Prag, Wien, Marburg und Steinbrück. Der fol⸗
gende Abſchnitt handelt über Kroatien und die Militär⸗
grenze. Uns hat in demſelben beſonders intereſſirt, was
ex über die Trachten der Kroaten ſagt. Nicht minder,
bag die Kroatoferben ihren Kindern vorſprechen, ihre neu⸗
geborenen Gefchwifter feien von ber Zigennerin gekauft.
Freilich ift diefe Auffafjung wol nicht damit zu vergleichen,
baf jest in den Städten Deutſchlands der Klapperſtorch
die Kinder bringt. Man muß dabei eher an die ältere
und auf dem platten Lande in Deutjchland gewöhulichere
Auffaffung denfen, wonad bie Kinder bis zu ihrer Ges
durt in einem Sinderbrunnen ober Dorfteiche bei der
Woflerfrau figen. Zur Zeit ihrer Geburt werden fie von
der Hebamme aus dem Teiche geholt. Diefe deutſche
Bauernfage ift namentlich in phyfiologiſcher Hinficht viel
interefjanter, al8 die vom Klapperſtorch oder von der
Zigeunerin.
Die Haltung der Grenzerfolbaten erklärt der Verfaſſer
in dieſem Abſchnitte für vortreffih. Bei der Einübuug
follen fie fich feiner Darftelung nad) als fehr geſchickt zeigen.
Der nüchfte Abjchnitt handelt von Bosnien. Außer
eimer gewiſſen Wichtigkeit biefes Landes, welches ja auch
in Maurer's Buche ald Ziel dafteht, verpflichtet uns eigent-
lid) eine gerade zu diefem Abfchnitte angefertigte Routen⸗
farte von Kiepert zu längerm Verweilen bei diefem Ka⸗
pitel. Allein, durch eigene Reifen oder anderweitige Lek⸗
türe über Bosnien nicht näher informixt, bitten wir um
Entfhuldigung, wenn wir und zum nähern Eingehen auf
das Hauptfapitel zu ſchwach fühlen nnd auch dasjenige
Kapitel übergehen, welches ſich unmittelbar baranfchliekt.
Dagegen möge e8 uns erlaubt fein, an ben Schluß ber
Anzeige von Maurer's trefflichem Buche, die Riüdreife
durch Ungarn, nad) einer nähern Kenntniß von Ungarn
durch eigene Reifen und verwandtjchaftliche Beziehungen
einige Bemerkungen anzulnüpfen.
Franz Maurer erzählt uns, daß Räuber in Ketten
zum Mitfahren auf das Schiff gebradht feien, auf dem
er bdonanaufwärts fuhr. Bon den ungarischen Banern,
bie fich auf dem Schiff befanden, wurden fie „bewunbert“.
Da gewährt dann freilich aud die Schilderung ber jetzt
mehr als früher allgemein gewordenen ungarifchen Volks⸗
tracht (des vielgefalteten kurzen Hembes, der noch mehr
gefalteten Beinkleider, der Stiefeln mit hohen Scäften
und des befannten ungarifchen Gutes) dem Freunde bed
Bollslebens Teine rechte Befriedigung mehr. Und doch —
wie hat uns dieſe bis im die vierziger Jahre des Gäch-
475
lums hinein in Karl Beck's „Tahrendem Poeten“, auch wol
in deſſen „Janko““, und bei Nikolaus Lenau entzückt! Erſt
gegen das Ende ber vierziger Jahre gab man der ver⸗
fländigen Erwägung Raum, daß aud die Deutfchungarn,
denen die Dagyaren in Ungarn fo vieles verdanken, ge
wiß einiges Intereſſe verdienen. Die Deutfchungarn, ge-
führt von einem hochbegabten Belletriften, entfalteten da⸗
mals auch eine verhältnuigmäßig nicht unbedeutende Reg⸗
famkeit. Ihre Agitation blieb jedoch immer eine Litera-
rifhe, während es einer politifchen Agitation für das
dentfche Element in hohem Grabe beburft hätte Bon
ben fiebenbürger Sachſen fehen wir bier ab. Über fogar
biefe Sachſen fchloffen fih faſt ſtets an Defterreih an.
Da die Agitation ihren Sig in Presburg hatte, fo waren
ihre Vertreter den Wienern ftammperwanbt, was befaunt-
lich bei ben tiefer in Ungarn wohnenden dentjchen Berg⸗
und Hittenleuten Teineswegs der Fall if. Während nun
die Führer der Deutichen in Ungarn ihre Stüge nur im
Defterreich fuchten, fanden die Magyaren felbft ihre Stütze
in Norddeutſchland. Deshalb erlangten die Magyaren
durch das Jahr 1866 eine Unabhängigkeit von —*
reich, welche fie früher durch die Revolution vergeblich
erftrebt hatten. Seitdem vermag Defterreich dem beut«
fchen Element in Ungarn noch weniger Schu zu gewäh⸗
zen als früher. Ein engerer Anfchluß der meiften Deutſch⸗
ungarn, welche nicht blos für Goethe ſchwärmen, fon»
bern auch in politifcher Hinficht echt deutſch gefinnt find,
an bie Magyaren war daher vor und nach 1866 natür⸗
lich. In diefem Augenblid ift die Gefahr einer immer
mehr machfenden Magyarifirung und eines allmählichen
volftändigen Verſchwindens bes deutfchen Elements in
Ungarn nicht zu verlennen.
Wie jeher wir es auch bedauern, daß die Deutfchen
in Ungarn zu ihrem größten Nachtheil fiir Preußen im
allgemeinen nicht einmal ebenfo große Sympathien gehegt
Haben als die Magyaren: fo ift body eben jet das Ber:
halten der Norddeutſchen gegen die deutjch-ungarifchen
Brüder von ber größten Bichtigteit, um benfelben eine
möglicäft ehrenvolle Stellung unter den Magyaren zu
bereiten.” Möchten daher Publiciften, welche Ungarn be«
reifen, ja nicht verfüumen, forgfältig über das dortige
dentfche Element zu berichten! Ehe die Norddeutſchen für
die Deutfchungarn ſich intereffiren können, müffen fie erft
wieder ausführlicher über deren jetzige Verhältniſſe belehrt
werden. Hier Hätte gerade fir Franz Maurer eine ſchöne
Aufgabe gelegen. Heinrich Pröhle.
Dom Büchertiſch.
1. Die Regeneration der dentfchen Stubentenfchaft. Bom Ber-
fafjer der Broſchüre: „Die dentſche Studentenſchaft; eine
otabenifge Zeitfiudie Würzburg, Studer. 1869. 8.
gr.
Den verftändigen und zur Sache redenden Ton feiner
erfien Brofchüre hat der Verfaſſer vorliegenden Schrift.
chens and) wieder durchweg gewahrt. Ex geht, ohne zu
weit nad) rechts oder links abzufchweifen, den Webel-
ftänden bes ſtudentiſchen Corporationsweiens zu Leibe,
ohne fich in blos negirender Polemik zu verlieren. Im
Gegentheil, es muß uns, bie wir bei der Beſprechung
der „dentfchen Studentenfchaft” die Aeußerung nicht unter-
brüden konnten: „Der Worte find genug gewechjelt, laßt
uns nun endlich Thaten ſehn“, freudig überraſchen, daß
der Autor im zweiten Abjchnitt feiner Broſchüre ganz
entichieden, mit der Anfnahme unfers Citats als Motto,
zu pofitiven Organifationsvorfchlägen kommt. Er ſchlägt
einen allgemeinen Studentencongreß zur Wegelung der
gegenwärtigen Parteiverhältnifie vor, der die drei Car⸗
dinalpunkte: „Geſelligkeit, Wiſſenſchaft, Politik“, zu
60 *
476
debattiren hätte. Oder vielmehr, blieben nach firengerer
Sonderung ale Discuffionsgegenftände übrig: „Wiſſen⸗
fchaft“, „Regelung ber Ehrenftreitigleiten‘‘, „Betheiligung in
alademifchen Angelegenheiten.” Bei der Realifirung des
zweiten Punktes wird — fo fürchten wir, ohne zu peſſi⸗
miſtiſch zu fein —, falls ein foldher Congreß zu Stande
füme, die alte beutfche Uneinigkeit wieder zu Tage kom⸗
men. Denn die vorgefchlagene Ehrenjury, die aus Der
legirten der gefammten Stwdentenfchaft zufammenzufegen
wire, würde ficher am Widerſtand des SC. fcheitern.
Und wenn dann auch ſchließlich, wie der Verfaſſer S. 40
meint, fih ber SC. von einer Betheiligung an dieſer
Inſtitution ausfchliegt und allein die andern Parteien ihre
Maßregeln in der Duellfrage treffen follen, fo ift damit
eben noch feine Einigung und in der Duellfrage keine ein»
heitliche Auſchauung über die Satisfaction, diefen Brenn-
punkt aller ftudentifchen Fragen, gefchaffen. Sollte indeß
einmal ein folcher Congreß zujammentommen, fo wären
immerhin die fehr zwedmäßigen Vorfchläge, die der Ver⸗
fafler auf den letzten Seiten feiner Broſchüre gibt, zu
acceptiren. Nur wird der fonft fo kaltblütige und ficher»
blickende Autor fich wol nicht mit verderblichem Optimis⸗
mus. verhehlt haben, daß nirgends Reformvorſchläge auf
fo fteinigen Boden fallen, wie in demjenigen Theil ber deut-
chen Studentenfchaft, welchen der Paukboden und bie
Kneipe noch immer der unerfchütterliche Rechtsboden bleibt,
2. Gottesidee und Kultus bei den alten Preußen. Ein Bei⸗
‚ trag zur vergleihenden Spradhforfhung. Berlin, Beier,
1870. ©r. 8. 12 Nr.
Während die bisherigen Bearbeiter der altpreußifchen
Götterlehre fich faft ausfchlieglih darauf befchränften, bie
Nachrichten der Chroniften zufammenzuftellen oder über
die in der Form crafien Aberglaubens erhaltenen Hefte
des Bollsglaubens zu veferiven, ſchlägt der Berfafler des
genannten Werks einen entgegengejeßten Weg ein. Cr
geht von der Anfiht aus, daß jene, von den mönchiſchen
Chroniften gebrachten Nachrichten zum Theil auf unver-
ftandenen Wahrnehmungen beruhen und daß auch die
Bollsüberlieferungen nur ein Zerrbild geben, welches
keineswegs die urfprängliche Religionsidee der. altpreußi«
(chen Vorzeit barzuftellen vermag. Um diefe Idee in
ihrer Reinheit zu ermitteln, hat der Autor den Weg ber
vergleichenden Sprachforſchung eingefhlagen und gelangt
jo zu durchaus neuen Refultaten. Sich an bie For⸗
ſchungen Bröal’s, Grimm's, W. Müller's, Preller's an⸗
lehnend, unterzieht er Mythus und Cultus der alten
Pruzen einer eingehenden Unterſuchung. Ex weiſt ſehr ge⸗
ſchikt nad), wie die religiöſen Begriffe und Vorſtellungen
des Volks mit denen der Inder und Griechen zufammen-
hängen, und kommt fo auf die allgemeine Duelle arifcher
Mythologie zurüd. Auch die Eultusgebräuche werden
genaueſter Erörterung unterzogen und manche Aehnlichkeit
mit griechifchen Gebräuchen nachgewieſen. Gebr inter
effant ift das neue Ticht, das bie vorliegende Unterfuchung
auf die vagirenden Sänger der Pruzen wirft. Bon ber
bürgerlichen und bierarchifchen Organifation entfaltet der
Berfafler ein anfchauliches Bild, überhaupt erfcheinen die
religiöfen, wie bie ftaatlichen Inflitutionen des merkwür⸗
digen Volls in einer von der bisherigen Auffaffung ab-
weichenben Darftelung, durch welche in vielen Punkten
Vom Büchertiſch.
die Vorſtellungen berichtigt werden, welche ſeither auf
dieſem Gebiet Geltung hatten.
8. Deſterteichs jüngſte Kriſts. ine Märzbetrachtung vom
Ernuſt ***, Leipzig, Lißner. 1870. Gr. 8. 7% Re
Eine Märzbetradhtung! Da wir diefes nieberfchreiben,
ftehen wir erft im April und fchon Hat fich die wiener
Hofburg wieder für ein ganz anderes Cabinet entſchieden,
als das von Ernft *** verherrlichte! In Oeſterreich jagen
fi die Minifterien wie die Kinder beim Blindekuhſpiel
der Berfaffer diefer Brofchitre begrüßt frendig das Mint-
fterium Hasner mit allen Hoffnungen auf eime gefunde
Zukunft Deutfch -Defterreiche, und nun ift die Nachricht
von dem neuen Ausgleihöminiftertum Potocki ſchon wieher
eine alte Gegenwart. Ja fie wird vielleicht beim Abdrud
diefer Zeilen fchon eine Bergangenheit fein und das nenefte
wird das neue Cabinet verdrängt haben! Schade um bie
forgfame Auseinanderfegung der Öfterreichifchen Verhält⸗
niffe, um die fachgemäße Entwidelung der jüngften Si⸗
tuationen, um die warme Tcheilnahme am dem gehofiten
freiheitlichen Aufſchwung des Donaureichs, ſchade um
dieſe, den anonymen Verfaſſer auszeichnenden Eigenſchaften,
da ſein Buch doch ein in vieler Hinſicht vergebliches iſt.
4. Berner Taſchenbuch auf das Jahr 1870. Gegründet von
Ludwig Lauterburg. Im Verbindung mit Freunden fort⸗
geſetzt von G. Ludwig. Nennzehnter Jahrgang. Mit
2 Abbildungen. Bern, — 1870. 8. 1 Thlr. 2 Nor.
Der jegige Herausgeber des „Taſchenbuchs“, Pfarrer
Ludwig, hat es an mannichfaltigen Beiträgen feffelnder
Art nicht fehlen laſſen. Beſonders werthvoll find die
Memoiren des Generals Hahn über feine Betheiligung
am griechifchen Freiheitslampfe von 1825—28. „Das
Herenweien im Canton Bern” ift eine forgfältige archi⸗
valifche Studie; ebenfo zeichnet fi Hagen's Mittheilung
eines „Stammbuchs aus dem Ende des 16. Sahrhunderts”
durch große Wichtigkeit fiir die Sittengefchichte der Schweiz
aus. Daſſelbe Lob verdient ein Auffag über „Die Ger
jellfchaft zu Möhren“, den man einen Beitrag zur Ger
chichte des Zunftwefens nennen kann. Die Wälder der
Stadt Bern erfahren auf ©. 240 fg. eine eingehende
Beichreibung; felbft das dramatische Element ift nicht ver»
gefien; wir meinen den breiactigen dramatiſchen Berfuß:
„Die Limmatfchäfer”, von Alfred Hartmann, dem, um
die Grenzen des Verſuchs zu tiberfchreiten, zwar nicht
der inhaltreiche Dialog, wol aber die. Handlung fehlt.
5. Meine Religion in ihren Grundzligen. Gewidmet allen
denen, welche im alten Schriftglauben keine genligende Br
friedigung mehr finden, welche aber auch der neuen Lehre
des Unglaubens nicht zu buldigen vermögen. Bon A. Hein
fius. Verbefſerte und zum Theil umgearbeitete zweite
Auflage. Koburg, Sendelbah. 1869. Br. 16. 10 Rgt.
„Wie anders wirft dies Zeichen auf mid) ein!” würde
L. Büchner ausgerufen haben, wenn er nad) Daumer’s
Polemik gegen ihn die Heinfins- Religion zu Geſicht be
fommen bättel Dem Büchlein vorgebrudt ift eine lobende
Anerkennung beffelben vom vielberufenen Verfaſſer von
„Kraft und Stoff”. Daumer hingegen würde fid über
Heinſius nicht ärgern, er würbe lachen. Nachdem Daumer
in feinen „Charakteriftilen und Kritiken“ mit anerkennens⸗
werther Ausführlichkeit die Beweiſe neuerer Naturforſcher
für die Nichtidentität des Gehirns und der Seele
— — — — —— — — —
wage ge — — — —— —
— — — — — — nem nn
ö— —— — — — — —
Vom Büchertiſch.
beigebracht hat, erzählt uns Heinſius mit gläubigem Ges
mäth die materialftifge Fabel von dent Sit ber Seele
im Gehirn. Erſt auf ©. 58 u. fg. entpuppt fidh die
Religion Heinfin®’ ans einer negativiſchen Hülle als poſi⸗
tiver Pantheismns, der nur durch eine ſtark anthropo-
centriſche Beimifhung ins Theiftifche hinüberſpielen dürfte,
Da das Büchlein menfhlih und vernünftig ftilifiet
iſt und ſich von theologiſcher Ueberfchwenglichkeit wie
von philoſophiſcher Confuſion fern hält, ſo dürfte es
ficher auf einen denkenden Leſerkreis rechnen können.
6. Schriftlehre und NYamrwigenſgott Neun Vorleſungen im
Winter 1868 gehalten von A. Stüler. Mit zehn Illuſtra⸗
tionen. Berlin, Nicolai. 1869. Gr. 8. 1 Thlr.
Wenn man die Behandlung, die Stüler, Paſtor zu
St.⸗Johannis in Neuftabt-Eherswalde, feinem Stoffe an-
gedeihen läßt, eine wohlthuende nennt, fo thut man dem
ernft und redlich gemeinten Buche nicht zu viel. ‘Der
Standpunkt, die Schriftlehre mit den Refultaten neuerer
Wiſſenſchaft zu verfühnen, ohne doch dem Wiffen gegenüber
den Ölauben Terrain verlieren zu laffen, ift bei der Lebens⸗
ftellung des Autors ein begreiflicher. In der That find
die Kenntniſſe Stüler's in der eracten Wiffenfchaft fo um⸗
faflend, daß er getroft eine Unterſuchung des wiſſenſchaft⸗
lichen rundes biblifcher Lehre beginnen kann, ohne zu
fürdten, ſchon auf der zweiten Seite durch eracte Gegen⸗
bemeije jeine Theorien bloßgeftellt zu ſehen. “Der Tos-
mologiſche Theil des Buchs zerfällt in die Erörterung
der Schöpfungsgefchichte, wobei Tyell und Darwin mit
Moſes confrontirt werden und die merkwürdigen Eigen⸗
thümlichkeiten im mofaifchen Schöpfungsbericht näher her-
vorgehoben werden. Der zweite, anthropologijche Theil
des Werks bejchäftigt fi mit der Urgejchichte des Men⸗
fchengefchlehts, mit den Fragen nad bem Weſen des
Geiſtes und den Conſequenzen des Materialismus. ‘Der
Schwächfte Theil ift der apologetifche Schluß, der von ber
feinen Detailunterfuchung der frübern Borlefungen (das
Bud ift ans Vorlefungen entftanden) auffallend abfällt und
fi in einer fehr allgemein gehaltenen Belämpfung des
Materialismus und des Vorzugs des Willens vor dem,
Glauben verliert. Nichtsdeftoweniger nöthigt uns bie
vielfeitige Bildung des theologifchen Autors hohe Achtung
ab, wenn wir aud) nicht der Meinung find, die das Motto
des Autors ausfpridt: „Denn der Unglaube in einem
Zeitalter das Uebergewicht gewinnt, geht dieſes feinem DBer-
derben entgegen”, fo müſſen wir doch anerkennen, daß
die vorliegende Schrift fic durchweg von der Gehäffig-
Zeit und den Schmähungen der Partei fernhält, die meift
ein Zeichen des günzlichen Unvermögens find, die Quelle
entgegengefegter Lebensanſchauung zu erkennen.
7. Ueber die fittlihe Werthſchätzung menſchlicher Größe. Vor⸗
trag von Wilhelm Krämer. Gera, Strebel. 1870.
Gr. 16. 7%, Nor.
Die Gymnafiallehrer, zu denen der Autor wol zu rech⸗
nen ift, haben meift eine fo erhabene Anſchauung über
fittlihe Werthſchätzung, daß die andern Sterblichen bor
dem abftracten Pathos, der über jenes Thema in der
Programmen- und Bortragsliteratur zu Zage gefördert
wird, nur eine ſchaudernde Hochachtung empfinden kön⸗
sen. ‚Um fo mehr find wir dem Autor vorliegender
477
Schrift zum Dank verpflichtet, daß er und feine gewiß
höchſt achtungswerthen Theorien nicht in dem üblichen
Duartformat, das meift für die fittliche Größe als noth⸗
wendig erachtet wird, fonbern in befcheidenem Kleinoctav
geſchenkt hat. Wir bewundern das Geſchick des Verfaſ⸗
ſers, der es verſtanden hat, auf 29 Seiten gar nichts
zu ſagen; der noch auf dem Standpunkt des Verdam⸗
mens oder Nichtverdammens weltgeſchichtlicher Erſcheinun⸗
gen ſteht und in Betreff deflen wir der Geſchichte nur
wünfchen können, daß fie nie von Krämer gefchrieben
werden möchte.
8 Die Lehren vom Zufall von asitdeim Winbelband.
Berlin, Henſchel. 1870. GEr. 8. 15 Nor.
Auch jüngere Verleger wagen doch nod ben Verlag
philofophifcher Monographien. Das ift doch noch ein
erfreuliches Zeichen von dem Idealismus der Zeit, ber
uiht nur dem ſchnöden Mammon nachgeht, wenn es
auch immerhin zu ber „Lehre vom Zufall” gehören dürfte,
wenn ein nichtphilofophifcher Leſer fich das obengenannte
Bud anfchaffen follte. Für den Nichtphilofophen von
Fach wird aus der Windelband’shen Unterfuchung wol
zumeift der Umſtand Intereſſe Haben, daß die Statiftik
nach bes Verfaſſers Angabe auch für die Philofophie von
größtem Werthe if. Bon dem Zufälligen möchte bem
Autor die ariftotelifche Bezeichnung des rap @ucıv
(neben der Natur her) Gefchehens als keine unebene De-
finition gelten. Danach wäre der Zufall gleichſam ein
Nebenfprößling, den die Natur wie in überquellender
Kraftfülle neben der organifchen Entfaltung ihrer Zweck⸗
thätigkeit in blinder Cauſalnothwendigkeit Gervortreibt; fo
wäre das Zufällige das, was die Natur in dem Reich.
thum ihrer Oeftaltungetraft an bem Wege ihrer Thätig⸗
feit nebenherfireut — Spüne gleichfam, wie fie abfallen,
wenn des Sünftlers Hand aus dem an fidh werthlofen
Material die vollendete Oeftalt feiner zwedthätigen, ſchöpfe⸗
riſchen Phantafte bildet. Die Eriftenz des Zufälligen bleibt
damit doch immer feftgeftelt, und um fo mehr müſſen
wie uns ber Meinung des Verfaſſers anfchließen, daß
alles wifjenfchaftliche, alles moraliſche, alles künſtleriſche
Leben ein unermüblicer und menigftend an einzelnen
Punkten ftets fiegreiher Kampf gegen die Zufälligkeit. ift.
9. Ueber die Methode und die Grundlagen ber arifotehfihen
Ethik von R. Euden. Berlin, Weidmanı. 1870. Gr. 4
12 Nor.
Hier haben wir es mit einem jener obenerwähnten
Programmwerke zu thun, die dem Bewußtſein des Ver⸗
fafjers gewöhnlich mehr wohlthun, als dem Hinter einen:
angehäuften Büchertiſch vergrabenen Schreiber dieſer Zeilen.
Indeffen, wenn wir gewöhnt find, jeder Abhandlung über
den Weifen von Stagira den Nebentitel „Trendelenburg und
fein Ende” geben zu können, fo macht Euden’s Unter
fuhung eine Löbliche Ausnahme, Der Autor, der nidt.
gerade Neues beibringt, hat fi) mit großem Fleiß feiner.
Aufgabe unterzogen und fo an Ausführlichleit der Dar⸗
ftellung nichts zu wünſchen übrig gelafien. Noch heute‘
will der pietätvolle Autor das ethifche Yundament des’
Ariftoteles nicht verlaffen wiſſen, wenngleich er nicht ver⸗
fennt, daß zur Gewährung religidfer Borausfegungen bie
immanente Xeleologie des Ariftoteles troß ihrer eminenten-
IC Zu 2 SEE
478 Fenilleton.
(immanent und eminent — ein philoſophiſcher Calembourg!)
Bedeutung für die Ethik nicht ausreicht.
10. Ludwig Borne. Lichtſtrahlen aus ſeinen Werken. Mit
einer Biographie Börne's. Bon Ouſtav Karpeles.
Leipzig, Brochhaus. 1870. 8. 1 Thlr.
Zu ben mannihfachen eflektifchen Sammlungen, welche
die DVerlagshanblung aus ben Werken epochemachender
GSeifter unter dem Namen „Lichtftrahlen” veranftaltet
bet, tritt vorliegende Auswahl Börne’fcher Ausſprüche
hinzu. Gerade Börne mit feinem aphoriftifchen reflecti⸗
senden Geift eignet ſich vorzugsweife zum Ertract für
diejenigen Lefer, die am Baume geiftvoller Anſchauung
der Zuſtände und warmer vaterländifcher Geſinnung ihre
Tiebften Lefefrüchte fammeln. Karpeles gibt eine ver⸗
ſtändige und eingehende Biographie, und bat es ver-
fanden, die Sentenzen aus Aperçus bes großen Publi-
ciften in wohlgemefjene Ordnung zu bringen. Die An⸗
thologien haben noch immer ihr Bublitum und das Publi-
kaum, das diefer Blumenleſe aus Bbrne's Werken feine
Theilnahme fchentt, wird nicht das fchlechtefte fein.
11. Hans - Abum. Loſe Gkiggenblätter von Eliſe Polko.
Leipzig, Hartleben. 1870. 8. 1 Thlr. 10 Ngr.
Es ift ber fechöte Band ber „Dentichen Frauenwelt“,
der bier vorliegt. Die allezeit rübrige nnd Mädchen⸗
berzen rührende Dichterin bat wieder einige ihrer belichten
Eifenbeinmalereien verſucht, die mehr pilant wären, wenn
fie weniger füß fein würden. ie brauchen fo viel Zuder,
diefe Figlirchen, denen ein Kiftorifche® Gewand umgethan
wird, und die fi) dann mit zuderfühem Munde durch
die empfindfame Lefewelt durchfreſſen müſſen! Die Witwe
Scarron, Andrea del Sarto, Maria Thereſia, die Her⸗
zogin von Berry, Windelmann, Händel u. a. — es find
fehr viele und bunte ©eftalten, die uns ‚begegnen. Ras
türlih find es wieder ſehr viel „weiße ſchöne Frauen
hünde“, die irgendwo ruhen (meift auf dem Haupte de
Helden), ſehr viel dunkelaugige Yrauenaugen und ſehr
viel Meine zierliche Frauenfüße. Die Geſchichte vom
Schuh der Herzogin von Berry ging: wieber zur felben
Zeit durch die Blätter, als das „Haus⸗Album“ erſchien;
übrigens ift die Gefchichte doch noch ein Mein wenig anders,
als fie die liebenswürdige Berfafferin erzählt. Bewun⸗
berungswürbig ift das Zalent von Elife Polko. Wo aus
dere Erzähler vor Furt, immer daſſelbe zu erzählen,
verzweifeln würden, erlahınt der unerfhöpflichen Fabuli⸗
zerin nie da3 Thema und nie das wirllich bedeutende
Reprobnctionstalent. Nur möchte man an ber Tafel der
Polko auch ansrufen: Toujours perdrix!
Senilletion.
Notizen.
Die Verlagsbuchhandlung F. A. Brodhaus in Leipzig läßt
ihrer Goethe⸗, Sciller- und Leifing-Galerie jet eine „Shale-
fpeare-Galerie‘ folgen, „Charaktere und Scenen aus Shate-
fpeare’8 Dramen, gezeichnet von Mar Adamo, Heinrich Hofmann,
Hanns Makart, Friedrich Becht, Fritz Schwoerer n.a. Sechtund⸗
dreißig Blätter in Stahlſtich, geſtochen von Bankel, Goldberg,
Raab, Schultheiß u. a. Mit erläuterndem Text von Friedrich
Pecht.“ Die Galerie fol in 12 zueferungen zu je 3 Blatt nebft
dem dazu gehkrigen Tert erfcheinen. Die erſte Lieferung ent-
hält „Heinrich .", gezeihnet von Pecht, geflohen von Raab;
„Die Iufligen Weiber von Windſor“, gezeichnet von Malart,
geſtochen von Goldberg; „Der Kaufmanı von Benedig’‘, ge-
zeichnet von Hofmann, geflohen von Goldberg.
Ohne Biss ift Shakſpeare's reiche Futafie auch ein
nnerfhöpflider Quell für Geſtaltungen der zeichneuden und
malenden Kunſt und ergiebiger noch für eine charakteriſtiſch
ſcharfe Auffafſung, als die Dichtungen Goethe's und Schiller's.
Deshalb Tann man dem neuen Unternehmen nur das beſte
Horoſtop ſtellen. Mit Recht macht der Brofpect darauf anf-
merliam, daß Shakſpeare's Charaktergeftalten, foviel fie auch
von der bildenden Kunft benugt worden, noch nie eine jo glück⸗
liche Darfiellung fanden, daß ihre Kuffaflung eine typiſch feſt⸗
—5 — geworden wäre, wie dies mit denen der Bibel nnd bes
aters der griechiſchen Götter längft ber Fall if. „Hat es in-
deſſen funfzehn Jahrhunderte erfordert, bis Michel Angelo den
BWeitichöpfer, Leonardo Chriſtus und bie Apoflel, Rafael bie
göttliche Mutter fo überzeugend zu geftalten vermodten, daß
voransfichtlic Fein Maler mehr über fie hinausgehen ober fie
nur ignoriren können wird, fo bleibt uns offenbar nod ein
weiter Spielraum, bis Shakſpeare's Hamlet oder Kalftaff,
Lear oder Lady Macbeth, Shylock ober Julia ihre erichöpfende
Berlörperung durch den Binfel oder Stift gewonnen haben
werden, obwol aud fie unzmeifelhaft ganze Klaffen von Indi⸗
vidnen in mufterbildlicher WBeife perfonifictren.‘‘
Die „Shaleipeare- Galerie‘ unterfcheidet fi von den frli-
bern Dichtergalerien durch zweierlei: einmal ift ihre Darſtel⸗
Iungeform eine erweiterte, indem fie nit einzelnen Perfonen,
fondern ganze Scenen zus Darfiellung bringt; bann aber {fl
es nicht Pecht allein, fonbern ein Berein von Künflern, ber
biefe re Aufgaben zu Idjen ſucht. Hierüber heißt
es im Profpect:
„Weil Shaffpeare der dramatifchfte aller Dichter if,
Garakterifiren ſich auch feine Menſchen vorzugsweiſe durch
ihr Handeln und Thun. Sie nicht in ber Bewegung, nit
in ihrem nn e zu andern, fondern mur als Einzel⸗
eflalten vorzuführen, hieße fle von vornherein eines gro
en Theils ihrer Charalteriftif berauben. Wer kann
einen Lear ruhig denken, einen Coriolan ohne Gegner, eine
Iulia ohne Romeo? Wer fühlt nicht, daB ein ich V.
einen Falſftaff als Gegenſatz braucht, wie Caſar einen Brutn?
Schwerlich dürfte aber ein einziger Klinfiler, und wäre er and
mit der Ieuchtbaren Phantafte begabt, dem fibermwältigenden
Geftaltungsreichtäum dieſes Dichters gewachſen fein, w
von einer Bereinigung künſtleriſcher Kräfte zu erwarten if,
daß eine jede in der Richtung, die ihrem Naturell und Zalent
vorzugsweife entipricht, Erfrenliches Leiften werde. Bedingen
doch die komiſchen Sloffe eine ganz andere Ader als bie tragie
fen, die hiſtoriſchen eine andere Begabung als die phanta
fen und märchenhaften, in welch allen wol ein Shalipeare
gleich Unüibertreffliches ſchaffen konnte, jeder Nachſchaffende aber
der Gefahr einer gewifſen Eintönigleit und Manier mur zu
leicht verfallen müßte.”
Die Erläuterungen zum Text wollen nit den Anſpruch
machen, Über Shalfpeare Neues zu fagen, fjondern nur, bie
Auffaffung des den Dichter wiedergebenden Künftlere darm⸗
legen. Durch diefe Betrachtung des Dichters von ber maleri⸗
ſcheu Seite tritt indeß von felbft biefer oder jener bisher weni⸗
ger beadhtete Zug in den Vordergrund.
Die vorliegenden Bilder beftätigen die Angabe des Pro
fpects von ber ungewöhnlichen Begabung der mitwirlenden
fller für ihre Anfgaben. Heinrich VILL und Anna Bo
leyn find anf dem Pecht'ſchen Bilde durchaus anzichend
und charaktervoll dargeftelt, ebenſo Shylod und Seffile auf
dem Hofmann’fchen. Imtereffant ift das Makart'ſche Bild:
„Die Iuftigen Weiber von Windſor“; es erſcheint ums faſt u
grazibs für den Stoff, zu italienijch ſtilvoll, während die Situm
tion eine berb niederländiſche Bebandlungsweife verlangt.
1
m
Feuilletou.
Wer über die Maler und Kupferſtecher, die ſich an der
„Shakeſpeare⸗Galerie“ betheiligen, nähere Auskunft wünſcht,
den verweiſen wir auf den „Ergänzungeband‘ zu F. Müller's
„Reueftem Künftlerlerilon‘‘, bearbeitet von A. Seubert (Stutt-
det Ehner und Eeubert), ein Band, von dem foeben die ab»
chließenden Lieferungen erfchienen find. Diefer Ergänzung
band enthäft eine alphabetifhe Weberfiht der Küuſtler der
Gegenwart und ihrer Leiftungen. Die Lebensnachrichten find
allerdings ‚oft lüdenbaft, auch fehlt eine beträchtliche Zahl von
Künftlern, welde der Aufforderung, ihre Selbfibiographie mit-
äutbeilen, nicht entſprachen. Die Urtheile Über die Künſtler
find maßvoll und fuchen mit wenigen, aber feften Zügen zu
Soralterificen,
Die neueflen Aeferungen der „National»Bibliothef
neuer dentſcher Dichter”, welche D. Janke in Berlin her-
ausgibt, beginnen die Veröffentlichung von Friedrich Spiel-
hagen's „Sämmtlihen Werten‘, welche in 10 Bänden oder
etwa 9% Lieferungen zunächſt abgefchloffen ſein follen, ſoweit
von einem derartigen Abſchluß bei einem raſtlos productiven
Autor die Rede ſein kann.
Bon Oskar Paul's „Handlexikon der Tonkunſt“ (Leip⸗
x5. Weißbach) liegt die zweite und dritte Lieferung vor. Das
erk if vollſtändig und handlich zugleih. Die terininologifchen
Srllärungen, die kunſttheoretiſchen Begriffsbefimmungen find
kutz gefaßt und treffend, das biograpbifdhe Material iſt eben-
falls moglichſt zufammengedrängt.
Bon der „Coſtlmkunde. Handbuch der Geſchichte der
Tracht und des Geräthes vom 14. Jahrhundert bis auf die
Gegenwart. Bon Hermann Weiß" (Stuttgart, Ebner und
Senbert) liegt die fiebente und achte Lieferung vor, welche das
Coſtüm des 16. Jahrhunderts, die Trachten und Waffen, die
Derriher- und Amtsornate, die Kuuftbandwerfe und die Ge-
räthichaften behandelt.
Die „Schiller-Halle. Alphabetiſch geordneter Gedauken⸗
ſchatz aus Schillers Werfen und Briefen. Im Berein mit
Sottfried Frigfhe umd Max Moltke herausgegeben von
Morit; Zille“ (Leipzig, Brockhaus) ift jet mit der fünften
und fechöten Lieferung abgefchloffen und erweift fich als eine jehr
fleißige Arbeit. Die alphabetifde Anordnung läßt biefe oder
jene geſuchte Sentenz raſch auffinden. Namentlich aber find
aud die Correſpondenzen Schillers reichlich benutzt und dadurch
maude Gedankenſchätze ans Licht gefördert, die fonft nicht fo
offen zu Tage liegen. Es finden fih manche wenig bekannte
Stellen; wir mödten z. B. auf eine fehr bezeichnende Mitthei-
Iung aus dem Briefwechſ
Hier fpricht fih Schiller Über das Publikum fehr bezeichnend aus:
„Dos allgemeine und revoltanie Olück der Mittelmäßigfeit
in jeßigen Zeiten, die unbegreifiiche Inconjequenz, welche das
z Elende auf demſelben Schauplatze, auf welchem man vor⸗
der das Bortrefflihe bewunderte, mit gleicher Zufriedenheit auf-
nimmt, die Rohigkeit auf der einen und die Kraftlofigfeit auf
der andern Seite, erwecken mir, ich geſtehe es, einen folchen
Stel vor dem, was man öffentliches Urtbeil nennt, daß es
mir — vielleicht zu verzeihen wäre, wenn ih in einer unglüd-
lihen Stunde mir einfallen ließe, dieſem beillofen Gefhmad
entgegenwirken zu wollen, aber wahrlich nicht, wenn ich ihn |
zu meinem Führer und Muſter machte; daß ich mich für ſehr
unglücklich halten wärde, für diefes Publikum zu fchreiben, wenu |
es mir überhaupt jemals eingefallen wäre, für ein Publikum
zu fchreiben.‘
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Abth. — —T— —— 11 Ar N Sröffnung des eu
n, er “ 17 [ c
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Mitgliedern der kaiserl. Leop. - Carol. deutschen Akademie der Naturr
forscher vorgelegt. iste Fortsetzung. Quedlinburg, Basse. Gr. 8. 6 Nr,
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(4te Sammlung.) Berlin, Hoffmann. 8. ı Zhir. 10 Star.
Semper, H., Donatelio, seiue Zeit und Schule. ister Abschultt,
Die Vorläufer Donatellos. Leipzig, Seemann.. Gr. 8. M Neger.
epp, Das Hebräer-Evangelium oder die Markus- und Matthäusfr
und ihre friedliche Lösung. München, Lentner. Gr. 8. 20 Ngr. .
Spielberg, D., Discrete® und Indiscretet. Cauſerien. Berlin,
Saxngmann u. Gomp. Gr. 16. 15 Rat.
— — Berliebte Herzen. Berlin, Langmann u, Comp. Gr. 16. 10 Ngr,.
— — Lebensanfiäten eines Sonberlings. Berlin, Langmaun u. Comp.
: Ur. 16. 15 Nor.
Bpir, A., Kleine Schriften. Leipzig, Findel. Gr. 8 1 Thlr, R
i R., Berliner Brojpecte und Ponfiognomien. Eruſte und
. r.
r, A., Soethe’s —— Ste vermehrte a abe. Mit
einem Anbang: Minna Herzlieb, Goethe's „Ditilie” Wahlverwandt⸗
Iaften uud dem Facſimlle eines von Goethe. an biefelbe gerichteten Ge⸗
Dicpte. 3 Bde. Bellin, Önttentag. Gr. 8. 2 The
’ Str auß, D. F., Voltaire. Gehs Borträge. Leipzig, Hirzel. Or. 8.
r.
Strodtmann, A., Gedichte. 2te, ſtark vermehrte Ausgabe. Ham⸗
burg, Soflmann u. Gamya Gr. 16. 1
——— —
_ _ "u A _ 5...
Ange
Anzeigen,
igen.
— ——
Verlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Natur nnd Gott,
Studien über die Entwidelungsgefege im Univerfum und die
Entftehfung des Menſchengeſchlechts.
Mit einer Prüfung der Glaubensbelenntniſſe.
Bon
Heinrih Baumgärtner.
8 Geh. 2 Thlr. 20 Nor.
Der Berfofler gibt bier eine populäre a — der
Theorien, welche er in frühern Werfen anf ſtreng wiſſenſchaft⸗
lichem Wege entwidelt hat. Indem er der Darwin'ſchen Lehre
in beflimmter Umgrenzung Berechtigung zuertennt, wird aber
auch gezeigt, daß die Neubildungen und die Typenvermandluns
gen in den organifchen Reihen unter einem allgemeinen Na⸗
turgejege vollbracht wurden, welches felbft in den Entwide-
Inngsvorgängen am Himmel zu erkennen if. Zugleid werden
vom Standpunkte der freien Naturforihung die Satzungen ber
religidjen Glanbensbekenntniſſe geprüft, was zur Befettigung
mander Borurtbeile und Irrthümer weſentlich beitragen mag;
insbejondere wird gezeigt, dag der Iufallibilitätslehre die Na⸗
turgefege ſchroff entgegenftehen.
Don dem Derfaffer erfchien früher in demfelden Derlage:
Die Naturreligion oder: Die allgemeine e. Zweite
Auflage. ig Geh. 16 Nor. 18 emne 3
ERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 2. Juliheft.
@eschiehte: Historische Literatur, von Dr. J. J. Honeg-
ger. — Die Slovenen und ihre Bestrebungen, von Dr. Rich.
Andree. — Nekrolog.
Rechts- und Staatswissenschaft: Das norddeutsche
Strafgesetzbuch, von Dr. Dühring. — Nekrolog.
Literatur: Das moderne französische Drama und die
Sitten, von Dr. A. Wittstock. — Nekrolog.
Kunst: Moriz von Schwind, von C. A. Regnet. — Ne-
krolog.
@eeographie: Nekrolog.
Zoolbein: Die Untersuchungen über das Thierleben in
der Meerestiefe, von Fr. Ratzel.
‘ Botanik: Die Bewegungen der Schleimpilze. — Das
Reifen der Weintrauben. — Nekrolog.
Mineralogie und Geologie: Die ältesten Reste organi-
schen Lebens (Eozoon), von Fr. Ratzel. — Die Kalisalze
von Kalusz in Galizien.
Velkswirthsehaft: Der amerikanische Socialismus, von
. Dühring. — Aus den Südstaaten der Union.
Landwirthschaft: Der Dampfpflug. — Australisches
Fleisch auf dem Londoner Wochenmarkt. — Trüffeln und
Trüffelbau in Frankreich.
Kriegswesen: Moncriefis Gleichgewichtslaffete, von
Chr. v. Sarauw. — Nekrolog.
Technologie: Manganlegirungen. — Beleuchtung. —
Weinverbesserung mit Glycerin. — Nekrolog.
Illustrationen: Bathybius, Diseolithen, Coccosphäre. —
Pentacrinus Caput medusae. — Terebratula Caput serpen-
tis. — Eosoon canadense. — Geschütze mit der Moncriefi-
schen Laffete.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Berantwortlicher HRebactenr: Dr. Eduard Brockhaus. —
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Das Leben Iefn.
Bon
Erneft Renan.
Autorifirte deutfhe Ausgabe,
Dritte Auflage,
vermehrt mit neuen Vorreden des Derfaffers und einem Anhang nah
den ſetzten Ausgaben des Originals.
8. Geh. 1 Thlr. 20 Ngr. Geb. 2 Täler.
Im die vorliegende dritte Auflage ber autorifirten dent⸗
chen Ausgabe von Renan’s „Leben Jeſn“ (früher Verlag von
Georg Wigand in Leipzig) wurden des Verfaſſers Vorworte
zur 13. franzöflfhen Auflage (1867) und zur iluftrirten fran⸗
zöſiſchen Bollsausgabe (1870) ſowie ein befonders wichtiger
Aubang: „„Ueber das vierte Evangelium” aufgenommen: Er⸗
änzungen, welche in feiner andern deutichen Ausgabe ent
alten find. Ungeachtet der hierdurch veranlaßten bedeutenden
Deren des Umfangs (um 6 Bogen) biieb der bisherige
Preis des Werks unverändert.
As Supplement zu allen frühern Ausgaben
von Renan’s ‚Leben Jeſu' ift zugleih ein Separatabdrud
jener Ergänzungen erfhienen und zum Preife von 10 Nor. in
allen Buchhandlungen zu haben.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Altdeutsche Grammatik,
umfassend die gothische, altnordische, altsächsische,
angelsächsische und althochdeutsche Sprache.
Von
Adoif Hoitzmann.
Erster Band. Erste Abtheilung. Die specielle Lautlehre.
. Geh. 1 Thlr. 20 Ngr.
Der berühmte Gelehrte übergibt mit diesem Werke die
Resultate seiner vieljährigen Studien der Oeffentlichkeit.
Neben ausführlicher Darstellung der obengenannten fünf
altdeutschen Sprachen wird auch das Friesische, Niederlän-
dische, Mittelhochdeutsche n. s. w. im allgemeinen Theil
der Grammatik berücksichtigt, und jede Regel ist durch
zahlreiche Beispiele erläutert. Das Werk soll drei Bände
umfassen, doch bildet der vorliegende Theil, die specielle
Lautlehre der einzelnen Sprachen enthaltend, auch für sich
ein geschlossenes Ganzes.
Dertag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Theorelild - praklifcher Lehrgang
zur Erlernung der italieniihen Sprade
für dentſche Squlen und zum Selbftunterriät.
on
Heiurih Wild,
Direstor der Handelsſchule in Mailand.
Zweite vermehrte und verbefierte Auflage.
8 Geh. 16 Nor.
Ein auf die Ahn'ſche Methode bafırtes, aber diefelbe man-
nichfach vervollfommmendes Lehrbuch der italienifhen Gprede,
das bereits in vielen Schulen eingeführt iR und hier in zwei.
ter, weſentlich vermehrter Auflage vorliegt.
Drud und Berlag von 8. A. Brodhaus in Leipzig.
4 Karl Immermann.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
—4 Ar. 31. -
28. Juli 1870.
Inhalt: Literariſche Porträts. Bon Rudolf Gottigal. — Rußland und die deutſchen Oflfeeprovingen. Bon Edwart Kattner
(Beſchluß.) — Erzählungen und Romane. Bon Rudolf Sonnenburg. — Kleine philojophiiche Schriften. — Feuilleton. (Engfifche
Urtheife Über neue Erſcheinungen der bentichen Literatur; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Kiterarifche Porträts.
1. Lord Byron. Bon Karl Elze. Berlin, Oppenheim. 1870.
®r. 8. 2 Thlr.
2. Waſhington Irwing. Gin Lebens» und Eharakterbild von
Adolf Zaun Zwei Bäude. Berlin, Oppenheim. 1870.
8 2 Thlr. 10 Nor.
3. Emanuel Geibel. Bon Karl Goedeke. Erſter Theil.
Mit dem Bildniffe Geibel's und einem Facfimile. Stutt⸗
art, Cotta. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
Sein Leben und feine Werfe ans
Zageblichern uud Briefen an feine hemuie zuſammengeſtellt.
Herausgegeben von Guſtav zu Putlitz. Zwei Bände.
Berlin, Hertz. 1870. Gr. 8. 3 Thlr.
5. Adalbert Stifter's Briefe, herausgegeben von Johan⸗
ze⸗ prent. Drei Bände. Peſt, Heckenaſt. 1869. 8.
3 r.
6. Gräfin Ida Hahn⸗Hahn. Ein Lebensbild nah der Natur
gezeichnet von Marie Helene, Leipzig, Fr. Fleiſcher.
1869. 8. 27 Nr.
7. Friedrich Rüdert. Ein biographifches Denkmal. Mit vielen
bisjegt ungedrudten und unbelannten Actenftüden, Briefen
und Poeflen Friedrich Rüderts. Bon K. Beyer. Frant-
furt a. M., Sanerländer. 1868. GEr. 8. 2 Thlr.
8. Dichter, Patriarch und Ritter. Wahrheit zu Rüdert’s Dich⸗
tung. Bon €. Kühner. Frankfurt a. M., Sauerländer.
1869. Gr. 8. 1 Thlr.
Das „literarifche Porträt” übt einen doppelten Reiz
ans. Einmal gibt e8 der Xiteraturgefchichte, die fi gern
in den Schematismns allgemeiner Richtungen verzettelt,
den friihen Halt individuellen Lebens. Dann aber feflelt
e8 zugleich als ein Lebensbild die Theilnahme, welche wir
ſtets einem einzelnen Gefhid zuwenden. Denn lehrreid)
und intereffant zugleih ift jedes Mienfchenleben, wenn
wir es in feinem Zuſammenhang, in feiner Entwidelung,
in feinen Kriſen und Glückswechſeln nüher ins Auge
foffen — nm fo intereffanter das Leben bedeutender Men⸗
fen, welche in ber Gefchichte, Cultur⸗ oder Titeratur-
gefchichte eine Spur zurüdlaffen.
Das Intereſſe für die letztere ift jetzt in Deutfchland
fo lebendig, daß auch das literarifche Porträt auf befon-
dern Antheil rechnen darf. Wünfchenswerth ift nur, daß
1870, 31.
e8 zu den Dichtern und Schriftftellern ebenfo wie zu ihren
Werken Hinführt und nicht jene ſchlechte Genügfamtfeit
hervorruft, mit der man einen Poeten vollftändig zu ken⸗
nen glaubt, wenn man feine Biographie und die Charak⸗
teriftif feiner Gedichte gelefen hat, ohne biefe Kenntniß
jelbft aus der Duelle feiner Poeften zu fchöpfen. Lite»
raturfunde aus zweiter Hand — das wäre ein bebauer-
liches Verhängniß der Gegenwart; denn mit ihr hängt
das Urtheil aus zweiter Hand, die Begeiſterung aus
zweiter Hand zufammen. Und das find alles GStieflinder
des menſchlichen Geiſtes. An die Stelle des Genufles
tritt die Gelehrſamkeit — und doch laſſen fich äfthetifche
Genüfje jo wenig definiven wie materielle, an deren
Scattenbildern fich noch Feine menfchliche Seele wahrhaft
erquidt hat.
Die vorliegenden literariſchen Porträts find mei-
fiens vom, fremder Eundiger Hand entworfen; nur einzelne
beruhen mehr auf Selbftporträtirung durch Briefe und
Tagebücher, ſodaß die Herausgeber nur ergänzend und
erläuternd auftreten.
Das Interefie für Lord Byron ift durch den neueften
literarifhen Standal, mit welchem die fromme Mrs,
Beecher- Stowe das englifche Publikum in Aufregung
brachte, wiederum ein fehr lebhaftes geworden. Wir
glauben nicht zu irren, wenn wir hierin den Grund
fuchen, daß Karl Elze eine neue Biographie des eng⸗
liſchen Dichters (Nr. 1), nach Eberty und andern eng-
liſchen Vorgängern, unternahm, weil er früher kaum be⸗
rührte Punkte, Punkte von großer Wichtigkeit für den
Charakter und das Leben des Dichters, jegt einer einge
henden Erörterung unterwerfen konnte. Elze ftellt ſich
in Bezug auf diefelben ganz auf die Seite Lord Byron's
und ſucht die Anfchuldigungen der Mrs. Beecher-Stowe zu
widerlegen, wie dies ein großer Theil der englifchen
Dlätter und auch Friedrich Althaus in dem Xrtikel:
„Die wahre Gefchichte von Lord Byron's Leben“, in
61
482
„Unfere Zeit“ (Jahrgang 1870, erftes Heft) gleichfalls zu
thun beftrebt find. Bekanntlich Hat ſich Mrs. Beecher-Stome
zu: biefen nachträglichen Enthüllungen durch die Memoiren
der Terefa Guiccioli, der Geliebten Byron's in Italien,
beftimmen laſſen, indem fie Lady Byron gegen die An«
Hagen der italienischen Gräfin dur die fchweren An-
fhuldigungen in. Schuß nahm, die fie gegen den Dichter
erhob. Es Handelt fih ganz einfach um einen Ineceſt,
den Byron mit feiner Halbſchweſter Angufta Leigh be-
gangen haben fol. Schon zur Zeit von Byron’s Eher
fheidung war biefe Anjchuldigung ein öffentliches Ge-
beimniß; die Prefje verglich den Dichter damals jchon
mit Nero, Apicius, Caligula, Heliogabalus, wie er jelbft
in einem Briefe ſchreibt. Byron ftellt dieſe Anklagen
mit einem bisjunctiven Schluß in Abrede, der freilich
bei feiner merkwürdigen Yafjung den Zweifel nicht aus»
ſchließt: „Ich fah ein, daß ich ungeeignet für England
war, wenn das, was geflüftert, gezifchelt und in die
Ohren geraunt wurde, wahr war; war es im Öegentheil
unwahr, fo war England ungeeignet für mich.” Es bleibt
immerhin eine jehr milde Selbftbeurtheilung, wenn der
Dichter fiir den Fall, daß jene Gerüchte wahr ſeien, nur
meint, daß er dann „ungeeignet für England war‘; wie
überhaupt diefe logifche Zwidmühle eigentlich weder eine
Beftätigung noch eine Ableugnung enthält. her können
einzelne Stellen aus Byron’s Gedichten, die Elze anführt,
als Zeugniffe fiir die Reinheit des gefchwifterlichen Ver⸗
bältniffes gelten. Lady Byron felbft glaubte anfangs,
daß der Dichter an geiftiger Störung leide, als fie fi
von ihm entfernte und zu ihren Weltern begab. Go
lange fchien eine Ausſöhnung möglih, Erft als die Lady
von dem Verhältniß der Geſchwiſter unterrichtet war:
ein Sachverhalt, den fie den eltern verſchwieg und
nur ihrem Advocaten Dr. Tufhington mittheilte, erfchien
die Trennung als unvermeidlih. Karl Elze will bie
ganze Anklage auf Hallucingtionen der Lady Byron zurüde
führen und meint, daß Mrs. Beecher-Stowe fich fowol
wie die Lady durch die Veröffentlihung diefer Anlagen
compromittirt hätte. Es bürfte ſchwer fein, über die
Thatfachen felbft ins Klare zu kommen. Wenn bie, Gründe
der beiden Damen nichts beweifen, fo geht es den Gegen-
gründen nicht befier. Weibliche Logik läßt ſich Leicht ad
absurdum führen — damit ift aber eine Thatſache felbft
nicht ans der Welt geſchafft. Lady Byron war offenbar
von diefer Thatſache überzeugt. Man muß mit ben
Bertheidigern des Dichters annehmen, daß dieſe Ueber-
zeugung eine fire Idee war, wenn man ihr jede Beweis-
kraft nehmen will. Manches in der Welt Täßt fich eben
nicht mit mathematifcher und juriftifcher Evidenz beweifen,
und doch bilden ſich Ueberzeugungen aus Inſtincten, aus
einer Menge Heiner einzelner Züge, die fpäter wieder
in Bergefienheit geraten. Unabweislich ift manches
Unbeweisbare.
Wenn Byron’s Teftamentsvollftreder nur durch gänz«
liche Bernidtung der Memoiren zu befriedigen waren,
wenn Walter Scott diefer Mittheilung binzufügt: „Es
war ein Grund vorhanden — premat nox alta!” wenn
Lady Byron und Mrs. Leigh wünſchten, die Memoiren
an fih zu bringen, fo läßt dies alles doch kaum einen
andern Schluß zu, als daß Byron in denfelben über
Literarifhe Porträts.
fein Verhältniß zu Augufta Leigh Enthüllungen gemacht Habe,
welche die Erecutoren des Teftamentsbeitimmten, die Memoiren
zu vernichten, während die beiden Frauen das gleiche Inter.
effe hatten, weldes nur von der Neugier auf die Faſ⸗
ng jener Mittheilunget itberwogen wurde. Hätte Byron
jene Anlagen in feinen „Memoiren widerlegt, fo wäre
ja das Benehmen der Teftamentsereeutoren gänzlich unbe,
greiflich und ungeredhifertigt gewefen. Mrs, Beecher⸗Stowe
(priht von einem Kinde der Sünde, das dem blutſchän⸗
derifchen Umgange zwifchen Bruder und Schwefler ent»
fprungen fei, und welches Lady Byron zu fich genommen
und gepflegt habe, bis fie durd) ben Tod defielben von
der übernommenen Berantwortlichkeit befreit worden ſei.
"Dies ift denn doch eine Thatſache, die tiber alle Hallnci⸗
nationen erhaben if. Das Kind, Medora Leigh, iſt die
Heldin einer ſehr tragischen Gefchichte, welche neuerdings
Charles Maday in feinem Buch „Medora Leigh“ mit:
getheilt Hat, allerdings nicht mit der Abficht, des Dichters
Schuld darzuthun, fondern in der Ueberzeugung, daß fie
eben nichts für diefelbe beweife :
Die ältefte Tochter der Mrs. Leigh, Georgiana, beirathete
im Sabre 1826 einen entfernten Berwandten, Henry Trevanien,
ber ohne Bermögen und nicht ſehr verträglichen Temperamenis
war. Nach dreijähriger Ehe zog fi das Paar auf ein Landhaus
beit Canterbury zurlid, das ihnen Lady Byron zur Berfügung
ftellte, und wo Georgiana ihre bevorftehende Entbindung ab-
warten wollte. Zur Pflege und Gejellihaft nahm biejelbe ihre
vierte Schwefter, die damals vierzehnjährige Elifabeth Medora,
mit fi. Medora wurde hier, fo unglaublich es Mingt, binnen
furzer Zeit von ihrem Schwager verflihrt, ſah fich gezwungen
ſich ihrer Schwefter zu entdeden und ging mit ihr umd ihrem
Schwager nad) Ealais, wo fie heimlich entbunden wurde. Nach
England zuritdgefehrt, fegte fie ihr Verhältniß mit ihrem Schwa-
ger fort und fam wiederum in die Lage, ſich nicht nur ihrer
Schmefter, fondern aud ihrer Mutter entbeden zu möüflen.
Oberſt Leigh, deffen Lieblingstochter fie bis dahin gewejen war,
bradte fie jetzt ohne ihr Wiffen und ihren Willen in eine
Privat-Irrenanflalt, von wo fie unter Trevanion's Berfand
entfloh und ihm nad der Normandie folgte, wo beide unter
dem Namen Herr und Frau Aubin lebten. Georgiana wollte
fich nunmehr ſcheiden laffen, wenigftens ftellte fie ſich fo, viel-
leiht nur um ihre Schwefter zu beſchwichtigen, die dann Tre⸗
vanion heirathen follte. Da nun nad dem englifchen @efepe
ein Mann die Schwefter jeiner verftorbenen ober gefchiebenen
Frau nicht heirathen darf, jo theilte das wlirdige Ehepaar, um
der armen Mebora nicht alle Hoffnung zu rauben, ihr mit, daß
Oberft Leigh nicht ihr Bater fei, ohne ihr jedoch zu fagen, wem
fie da8 Leben verdanfe. Medora fand dies glaublich, da fe ſo
wenig als ihre Gejchwifter jemals zu Achtung und Liebe gegen
ihren Bater angehalten worden war. Da jebody die Scheidung
nit zu Stande fam, gewann fie nad) der abermaligen Geburt
einer Tochter die Kraft, fi von dem unwürdigen Verhältniß
zu ihrem Schwager zu befreien. Bon ihrer Mutter ohne bie
erforderliche Unterſtützung gelaffen, wandte fie fich in ihrer Roth
an ihre Tante Lady Byron, welche ihr Tiebevollen Beiſtand ver-
hieß, mit ihr in Tours zufammenfam und fie umd ihr Kind mit
nad Paris nahm. Bon da gingen fie nad Fontainebleau, wo
Lady Byron erkrankte und ihrer Nichte entdeckte, daß fie bie
Tochter ihres Oheims Lord Byron fei (1840). Sie fügte Hinzu,
daß fie aus dieſem Grunde die innigfte Theiluahme und Liebe
für fie fühle und flets fühlen werde.
Doc lebte Medora nachher lange in Südfrankreich,
fpärlih von Lady Byron unterftügt, fam dann nad)
London, wo ihre Berwanbten und ihre Mutter nichts von
ihr wiſſen wollten, verfchwand 1843 wieder aus der eng-
liſchen Hauptftadt und ftarb bald darauf.
Man muß hier die Thatfachen von der Beleuchtung
— — — — —— —
Literariſche Porträts. | 483
fondern, in welche die Darftellung fie rüdt. Die leßtere
zeigt zum Theil abfonderliche Logik. Georgiana habe fich
„jo geftellt, als wolle fte fich fcheiden Lafien, vielleicht nur
um ihre Schwefter zu befchwichtigen“. So ausnehmend
zarte Rückfichten find bei einem derartigen Verhältniß
doch fonderbar. Man follte glauben, daß eher Georgiana
ala Medora hätte „beichwichtigt” werden müſſen. Daß
fie in foldem Streben nad) Beſchwichtigung fogar um
die Möglichkeit einer künftigen Ehe zwiſchen dem Ehe⸗
brecher und feiner Geliebten befiimmert waren und des⸗
halb der Ießtern enthüllten, daß fie nicht die Schweſter
Seorgiana’s, nicht die Tochter des Oberften Leigh war —
ericheint ebenfalls unmwahrfcheinlih. Die. Thatfache bleibt
aber doch befichen, daß Medora dem Trevanion'ſchen
Ehepaar nicht fir die Tochter des Oberften Leigh galt,
und daß Lady Byron ihr felbft ſpäter mrittheilte, fie ſei
die Tochter Lord Byron's. Uns jcheint das mit ziemlich
ſchwerem Gewicht in die Wagfchale zu fallen. Daß Lady
Byron gerade Medora für biefe Tochter hielt, dazu
müffen doch Gründe vorgelegen haben, bie über die bloße
Hallucination binausgingen. "
Elze führt in diefem Abfchnitt alles Thatfächliche mit
Sorgfalt an, wenn auch feine Beweisführung zu Gunften
Lord Byron's für uns nicht übberzengend if. Im übri⸗
gen ift das Werk maß- und gefhmadvoll ausgeführt;
wir ftoßen nirgends auf Längen, die aus bem Hervor⸗
beben des Unweſentlichen hervorgehen, nirgends anf über⸗
flüffige Ercurſe, zu denen es keineswegs an verlodender
Gelegenheit fehlt. Die Darftelung, welche alle neu
erſchlofſenen Duellen mit benugt, gibt em Bild des Dich⸗
ters, in welchem Licht und Schatten mit werfer Mäßigung
vertheilt find. Die Charakteriftit ber einzelnen Werte
verwandelt fi nirgends im üfthetifche Abhandlungen, was
bei einem vorzugsweiſe biographifchen Werke ſtörend wäre.
Gleichwol entwirft Elze in einem der Schlußlapitel em
literarifches Gefammtporträt des Dichters, welches das
vorausgehende Charakterbild bes Menſchen in Harmonifcher
Weiſe ergänzt. Wenn Elze indeß, auf eigene Bemerkun⸗
gen Byron's tiber feine Doppeleriftenz geſtützt, behauptet,
daß Leben und Poefie bei ihm unvermittelt nebeneinander
bergingen, jo muß man gegen diefe Behauptung doch ben
fubjectiven Charakter feiner Poefie anführen, die eben
gerade fein eigenfte8 Leben fpiegelte. Elze felbft hebt den
improvifatorifchen Charakter feiner Poefte hervor, fowie
dag er nur an Ort und Stelle jchreiben konnte oder doch
an Drt und Stelle bie Infpiration zu feinen Dichtungen
empfangen mußte; er fagt, daß das äußere und innere
Erlebniß die Grundlage für Byron's Poeſie bildete: wo
fol da bei Byron der Gegenfat zmwifchen Leben und
Boefie Herfommen? And flieht die Behauptung Elze's:
„Seine Boefte verhält fich zu feinem Leben wie fein eigener
Apollofopf zu feinen Satyrfüßen“, offenbar auf der Spike.
Doß auch feine Poefie Satyrfüße Hat, beweift jein
„Don Inan“ zur Genüge, und daß fein Leben auch
von der Begeifterung des Mufengottes durchdrungen war,
das zeigt feine lebhafte Betheiligung an den poli»
tifhen Beſtrebungen für bie Freiheit Italiens und
Griechenlands.
Byron’s Stellung in ber Literatur wird indeß von
Elze mit feinem Berftändnif gefchildert. Er vergleicht
ihn in Bezug auf die englifche Fiteratur mit einem Me-
teor; der Dichter babe viel mehr die Hauptnahrung für
feine Poeſie und feinen eigentlichen Schwerpuntt außerhalb
Englands gefunden und darüber jenen mütterlichen Boden
eingebüßt, in welchem ‘Gerz und Poeſie am ficherften ge⸗
deihen. Auch vor den englifchen großen Dichtern hatte
er Feinen fonderlichen Refpect. Shakſpeare wird oft bitter
bon ihm getadelt:
Selbft wenn er ihn Iobt, wie im „Don Inan““, XIV, 75,
wo er ihn Se, britifche Gottheit nennt, klingt heimlicher Aerger,
Spott und Neid hindurch. Er erflärt ihn zwar flir den auffer-
ordentlihften Schriftfteller, aber für das fchlechtefte Borbild; er
zweifelt, ob er wirklich ein jo großer Genius gemwefen ſei, ale
mofür man ihn halte, und meint, die Mode habe zu feiner
Ueberfätung geflihrt; er bezeichnet ihn als einen Barbaren
und verfteigt fi bis zu der Behauptung, daß die Engländer
noch gar Fein Drama gehabt Hätten. Shaffpeare wie Milton,
fagt er, haben ihr Auffteigen gehabt und werden ihren Nieder-
gang haben. Segen bie Gräfin Bleffington äußerte er, Shäl-
fpeate verdante die eine Hälfte ferner Volksthümlichkeit feinem
niedrigen Urfprunge, welcher bei dem großen Hanfen eine Dienge
Sünden zubede, und die andere Hälfte der zeitlichen Gerne, durch
die er von und getrennt fei.
Dagegen widmete er Pope feine ganze Sympathie
und Berehrung und nannte ihn den „Nationaldichter der
Menſchheit“; er verwechfelte bei diefem Urtheil offenbar
die Correctheit und Schönheit der Form mit der geiftigen
Bedeutung. Sehr fein weift Elze die Urſache dieſer
Sympathie in der Geiftes- und Charakterverwandtſchaft
der beiden Dichter nach. Die neuere englifche Poeſie Hielt
Byron für herabgefunten und nahm feine eigenen Gedichte
nicht aus. Am meiften verhaßt war ihm die „Seeſchule“,
und von diefen „Teichdichtern“ verfolgte er namentlich
Southey mit Haß und Hohn. Diefer rächte fi), indem
er Byron's Poefle als die „fatanifche Schule” bezeichnete
und fie eme Mirtur von Obfeönität und Blasphemie
nannte. Nur zu Walter Scott und Shelley ftand Byron
in achtungsvollſtem Berhältniß, fowie er mit Thomas Moore
dne dauernde Frenndfchaft verbunden bfieb.
Das Urtheil Elze's über Byron’d Dramen ift fehr
gutreffend. Das Suritdgreifen zu den claſſiſchen Feſſeln
der Einheiten, der Compofitionsftrenge wird zum Theil
motivirt durch den Einfluß der italienifchen Poefie und
namentlich Alfiert’s, mit welchem fi Byron in mannich⸗
facher Hinſicht zu vergleichen Tiebte: im Hinficht anf feine
ariftofratifche Rebensftellung, auf feine Wreiheitsliebe, fogar
auf fein Liebesverhältniß. „Marino Falieri“ und „Die bei-
den Foscari” find in der That Dramen ohne Reben, von
nüchterner Correctheit. Dagegen verdient „Sardanapal”,
dem auch Elze Charakterentwidelung nachrühmt, in Bezug
auf Grundgedanken und Ausführung immerhin den Na⸗
men eines bedeutenden Werte.
Der „Don Yuan” wird von Elze als das Epos
bes epikurfifchen Nihilismus bezeichnet; wir meinen, daß
da8 Gedicht mehr eine Satire auf die wechfelnden
Bolksfitten, namentlich in Bezug auf die Liebe iſt und
fih mit Recht dagegen zur Wehr fest, in der Sitte
etwas Abſolutes zu fehen, indem es die Abgötterei
verbößnt, melde jedes Volt mit fernen befonders gemo-
delten Gögen treibt. Eine folche Satire ſcheint wird nidht
unberechtigt und nicht nihiliftifch zu fein; denn file trifft
mit den Kern, nur bie Schale, nicht das Weſen der
16*
484 Literarifhe Porträts, J
im, d das jenes oft nenng ! nen Schilderungen einer uns neuen, transatlantiſchen Welt.
— nen nur ihr Coftiim, durch das jen ſt genng Frühere m een in bie zu dee ahnt
"12 0: og: der romantifchen Schule und kamen mit ihren märchenhaften,
q Mari vorn ⸗ Biographie & —— eine banfbare —— und ſentimentalen Stoffen unſerer damaligen
cin Doman iR. At Die Yutoren, VOOrae, Willen, | Duckelung nt Sunsehigen Beiginnt uiadfala der
Dettinger u. * haben Abſchnitte aus vhrows Leben für baflir fi, entwicefnden Sinn entjprah. Irwing war eine
- m: eit lang faft fo populär bei uns wie Walter Scott, fein
die movelliftifhe Behandlung benugt. Elze erzählt gut kenne befondere war in aller Händen, und jeder bon
und fließend ; feine durch fleißige Duellenforfchung unter: der damals ; innert it welder ®
ſtützte Wahrheitsliche entkleidet freilich manchen Abfchnitt a wunderfame Gefehichte ——— ip cher Pla
in Byron's Leben feines nonelliftifchen Reizes. Die | gelefen. Irwing bat nicht wie Walter Scott eine Schule ge.
Orgien von Newſtead⸗Abbey werden auf ein befheideneres | fiftet und eine neue Gattung geſchaffen. Er war der Fort
Maß zuridgeführt; dafür erfahren wir etwas von einer entwickler der ältern engliſchen humoriſtiſchen Weife, hat die
N. ‚ . elbe aber mit neuen romantifhen Elementen verſetzt und i
" Jugendgeliebten Byron s, welche den Studenten in männ- re ein Vorgänger —5* Humoriften, tem M
2 lichem Anzuge begleitete. Auch über den mehr platonifchen | England geworden. Auf Didens, der ihn bald auch bei ung
ge Neigungen zu Mury Duff, zu Margarethe Parker und | verdrängte, bat er einen unverfennbaren Eiufluß geübt.
w zu Mary Ana Chaworth, von denen die legtere im Ge⸗ Zaun belennt, daß es weniger der, große Schriftfteller
de müth des Dichters die flärkften Wurzeln ſchlug, erhalten | Irwing als der liebenswürdige Menſch geweſen fei, der
dr wir nähere Mitteilung. Die Reife nad) dem Orient, | ihn zum Entwurf des vorliegenden Lebensbildes veranlaft
Ehe und Ehefcheidung, der Aufenthalt in der Schweiz | Habe Im Vergleich mit Lord Byron's Leben ift das
und in Venedig, der Stadt der wildeften LTiebesabentener | jenige Irwing’s arm an Abenteuern, an effectvollen Gi.
des Dichters, das Verhältniß zu Tereſa Guiccioli, die | tuationen, an fpahnenden Kriſen; es iſt eim eigentliches
NRüftung für Griehenland und der Tod vor Miſſolunghi — Schhriftftellerleben, in welchem mur ein diplomatifches In-
das alles zieht vor unferer Seele im feljelnden Bildern | termezzo eine interefiante Unterbrediung bewirkt. Dot
vorüber, deren Umriſſe zwar befannt find, Die aber | ift der Autor vielfach mit hervorragenden Zeitgenoſſen in
bier im jo lebendiger Farbengebung einen neuen Reiz | Berührung gelommen, er bat fie fcharf beobachtet und
ausüben. treffend geſchildert. Zahlreiche Stellen aus Irwing's
Kein größerer Gegenſatz gegen Lord Byron als | Briefen zeigen ein mildes und doc; richtiges Urtheil. So
Waſhington Irwing, von dem uns Adolf Tann ein | Lieft ſich diefe gutgefchriebene Biographie, ber wir diefelbe
„Lebend» und Charakterbild” (Mr. 2) entwirft. Aus dem | maßvolle Haltung und Schägung des dargeftellten Autors
Bereich eines vullanifchen Charakters, einer an Eruptio- | nachrühmen müfjen wie der Elzeichen Biographie Byron’s,
nen reichen Poefle treten wir im die mildefte Geiſtes- recht angenehm und ift ein nicht unwichtiger Beitrag zur
temperatur; folratifche Seelenruhe, horaziſche Lebensweis⸗ Kenntniß einer literarifchen und politifchen Epoche, deren
beit Löfen die himmelftürmenden Ergüſſe eines Fauft- | Ausläufer noch vielfach im die Gegenwart Bineinreichen.
Don Yuan ab. Auch Wafhington Irwing ift ein Welt⸗ Waſhington Irwing war am 3. April 1783 in Neu
fahrer, aber fein Childe Harold, Fein Enthuſiaſt, Fein york geboren und zeigte ſchon früh eine ſcharfe Beobadh-
Elegiker, fondern der Dann ruhiger Beobachtung, deren | tungsgabe für das Komiſche fowie große Vorliebe für
Kefultate er mit feinfinnigem Humor und in warmer | die Leltitre von Neifebefchreibungen:
Schilderung der Welt mittheilt. Während freilich Byron's Wie früh er ſich ſchon verliebt hat, zeigt folgendes komi⸗
Merle noch in den meiteften reifen ihren poetifchen Zau⸗ ſches Ereigniß: Bei einer Schultheater- Aufführung wurde ihm,
ber ausüben, find diejenigen von Wafhington Irwing, | dem Zehnjährigen, bie Rolle des Juba in Addiſon's „Late
welche eine Zeit lang zu den literariſchen Modeartikeln N ontatudhen unit ber mt Höhmort ihn af Di
ber europäijchen Nationen gehörten, jegt etwas in Ber- | Zähne rief, um eine Rede zu halten, die aus beim mit ber
f&hollenheit gerathen. Die Zeit der „Slkizzenbücher“ ift | braunen, Mlebrigen Materie gefliliten Munde nicht eher heraus
vorüber — mindeftens würde e8 heutzutage unmöglich fein, | wollte, als bis ex letztere zum Gelächter.des Publikums heraus.
durch ein Skizzenbuch, fei e8 noch fo geiſtreich und ge» | gesogen Hatte. Dies Unglüd verhinderte ihm aber nicht, fd
0: in ein großes Mädchen, welches die Marcia fpielte, zu der
ſchmadvell abgefaßt, weitreichenden Ruhm zu erwerben. lieben; bie Erdffnungen, die — ihr machte, — —* mit
Irwing's Schriften, ſagt Laun in ber Vorrede, ger | per Bemerkung, „er fei zu Hein’, zuruahewieſen, das dänpfte
hören feiner beflimmten Kunftgattung an. Trotz feiner | feine Gint. „Ich entfagte”, fo erzählt er, „meiner großen
Beſchränkung auf eine Mittelgattung zwifchen PBoefie und | Geliebten und kehrte zu meinem Honigkuchen zurüd.‘
Profa rief er doch eine neue Aera der amerilanifchen Sehr früh begann Irwing zu dichten und zu ſchrift⸗
Literatur hervor. Vor allem war er bahnbrechend in | ftellern, auch feine Verſuche anonym drucken zu laflen.
geihmadvollerer und anziefenderer Behandlung der Ge» | Mit dem- vier Jahre ültern Paulding arbeitete er an
ſchichte, und von ihm datirt die Hiftorifche Kunft, in der | einem Stücke, das auch wirflic zur Aufführung kam.
die Amerifaner jegt anerfanntermaßen mit dem beften euro- | Merkwürdigerweife ift Irwing auf die dramatifche Pro-
päifchen Hiſtorikern ſich meſſen fönnen. Ueber den Ein- | duction nie wieder zurüdgelommen. Mit dem ſechzehnten
flug auf die Beitgenofjen jagt das einleitende Vorwort: Sabre galt feine Erziehung für vollendet, er kam ald
Waſhington Irwing und Cooper belehrten zuerft Europa | Schreiber zu einem Abvocaten. Einige Ausflüge an ben
darüber, daß es eine amerifaniihe Literatur gäbe, ober daß Hubfon- und Lorenzfluß brachten angenehme Abwechſelung
eine folche mwenigftens im Entſtehen begriffen fe. Beide wur | wi, . , ce ,
den vor einigen Decennien viel bei uns gelefen; im Cooper fah in die eintönige, poetifch nicht anregende Thätigleit. Jn
man ben ameritaniſchen Walter Scott und erfreute fi an fei- zwiſchen fchrieb Irwing eine Reihe humoriſtiſcher Artikel
Literarifhe Porträts. | 485
für die neuyorfer „Morning Chronicle“, die viel Aufjehen
machten und fpäter, ohne fein Wiffen und Wollen, als
„Old-style Papers“ herausgegeben wurden. Ein Bruft«
leiden veranlaßte ihn zu einer Reife nah dem Süden
Europas; er befuchte Italien und Eugland und kam ge-
fund nad Amerika zurüd, wo er alsbald als felbftändi-
ger Advocat auftrat und brollige Beiträge zur Zeitjchrift
„Salmagundi” gab. Eine Yugendliebe zu einem anmu⸗
thigen und geiftvollen Mädchen, Mathilde Hoffmann,
war die einzige derartige Epifode in Irwing's Leben,
welche befannt geworden ift; er blieb zeitlebens ein Jung⸗
gefelle und wahrte ber frühverftorbenen Geliebten eine
rührende Anhänglichfeit.
Irwing’s erſtes größeres Wert war „Knickerbocker's
humoriſtiſche Gejchichte von Neuyork.“ Dies luſtigſte
und wigigfte Werk des Dichters ift in Europa am menig-
ften befannt:
Die erfte Anregung zu diefem Werke, das er mit feinem
Bruder Beter, der aus Europa nad einjähriger Abweſenheit
zurüidgefehrt war, entwarf, war der Iuflige Einfall: Dr. Samuel
Mitchel's „Gemälde von Neuyork“, das foeben erfchienen war,
ins Burleafe zu ziehen. Zu dieſem Zwecke fammelten die bei«
den Brüder eine gewaltige Maſſe gelehrter Notizen, um mit
jenem Werke, das mit den „„Aborigenes’' begann, zu wetteifern.
Sie begannen deshalb mit der Erfchaffung der Welt, wie ja
auch unfere Stäbtechronifen thun, gaben dann eine Beſchrei⸗
bung der Erde, fpraden von Noah und feinen drei Söhnen,
der ein unverzeihliches Berfehen darin beging, daß er feine vier
hatte, von der Eutdedung Amerikas und behandelten die Frage
der erften Bevölferung defelben u. ſ. w.; fie entfalteten dabei
eine fabelhafte Gelehrfamkeit mit Eitaten aus allen möglichen
alten und neuen Schriftftelleen, natlirlic) alles nur zum Spaß,
etwa in der Art wie Sterne feine Gelehrfamteit zum be»
fen gibt.
An dem. Kriege gegen England 1813 — 15 betheiligte
ſich Irwing als Stabsoffizier und Oberft, ohne befondere
©elegenheit zu militärifcher Auszeichnung zu finden, wohl
aber zu allerlei ernften und humoriſtiſchen Betrachtungen.
In dem Jahre 1815 unternahm Irwing feine zweite
Reife nad; Europa, wo er fiebzehn lange Jahre verweilte.
Diefer Aufenthalt wird uns von Laun in einer Weihe
von Kapiteln gefchildert, welche durch interefjante Stellen
aus Irwing's Briefen ihre eigentliche Würze erhalten.
Bon allen Perfönlichkeiten, mit denen Irwing zufammen-
traf, war ihm Walter Scott am meiften ſympathiſch;
auch diefer nennt Irwing's Belanntfchaft die befte und
angenehmfte, bie er feit langer Zeit gemadt habe. Ir⸗
wing ſchreibt über Scott an feinen Bruder Peter:
Was Scott anbetrifft, fo kann ich meine Yreude über fei-
nen Charakter und fein Wefen gar nicht ausbrüden, er if ein
alter, echter, goldherziger, würdiger Mann, voll jugendlicher
Fröhlichkeit, mit einer Phantafle, die immer nene Bilder vor⸗
führt, und von einer Einfachheit des Benehmens, die jogleich
macht, daß man ſich bei ihm zu Haufe fühlt. Es war mir
eine Frende, zu fehen wie er mit feiner Familie, feinen Nach⸗
barn, feinen Bedtenten, ja mit feinen Kagen und Hunden um-
ging; alles, was unter feinen Einfluß kommt, fcheint von dem
Sonnenſchein, der um fein Herz fpielt, berührt zu werben.
Ih war mit Scott vom Morgen bis zum Abend zufammen,
wir wandelten durd; Berg und Thal, und jeder Punkt rief in
ihm eine alte Gefchichte oder eine malerische Bemerkung hervor.
Es ift ein wahres Idyll, Scott umd feine Hausgenofjenichaft
abenbs verfammelt zu fehen. Die Hunde liegen am Fener aus⸗
geſtreckt, die Kate fauert auf einem Stuhl, Frau Scott und
die Mädchen nähen, und Scott Tieft entweder eine alte Romanze
vor oder erzühlt eine Grenzgeſchichte. Mitunter fingt auch
Sophia, die ältefte ber beiden Töchter, die im Minftrelgefang
ebenfo bewanbert ift wie ihr Bater.
Die genauere Schilderung findet man in Irwing's
belannter Schrift: „Abbotsford and Newstead-Abbey.“
Großes Auffehen machte „Gottfried Crayon's Skizzen⸗
buch“. Zaun fagt hierüber:
Die Gattung der humoriftiichen, miscellenartigen Eſſays,
zu denen e8 gehörte, war feit Aodifon, Steele, Smift, Sterne
und Goldſmith nichts Neues, und es Tieß ſich Yeicht erkennen,
daß Irwing fi) nad ihnen gebildet hatte, wenn auch die Art
feines Humors und feiner Darftellungsmweife eine andere war.
Es ift wol anzunehmen, daß die Schilderungen Euglande, eng-
liſchen Lebens, englifher Sitten und englifcyer Charaktere, wie
fie ih im Auge eines Fremden und noch dazu eines, Kindes
der Neuen Welt fpiegeln, fir John Bull etwas Auziehendes
hatten, zumal bie Skizzen mit fo milden Striden und jo ge
dämpften Farben gemalt waren, daß er nicht dadurch verlett
werben fonnte. Der liebenswürdige, faft zu beicheidene Zon,
der anmuthige Stil, die Reinheit und Eleganz der Sprache
gewannen zum voraus umd ließen bie flellenmeilen Schwächen
des bier und da leichten und gewöhnlichen Buchs, eine gewiſſe
weichlihe Sentimentalität, Breite und Zerfloffenheit, einen
weniger friihen und Fräftigen Humor, als er in feinen frühern
Schriften gezeigt, und eine mangelnde Tiefe und Schärfe der
Charakteriftil, in der ihn Dickens fpäter übertreffen follte, über⸗
ſehen. Bor allem aber litt das Bud infolge des periodifchen
Erſcheinens an Abrundung und Einheit; die verſchiedenen Skiz⸗
zen find gar zu bunt durcheinaudergemwäürfelt nnd entbehren des
Yeitenden Fadens, wie er fich in feinem nächften Werte „Brace-
bridge Hall’ dod) bis zu einem gewiffen Grade zeigt.
Dieſe Charakteriftit ift faft erfchöpfend fiir Irwing's
Productionsweife, fobald wir von feinen mehr Hiftorijchen
Werken abfehen.
Bon England begab fi) Irwing nad) Paris und von
dort nach Spanien, einer Aufforderung des amerifanifchen
Sefandten dafelbft, Alerander Everett, folgend, der ihm
den Vorjchlag machte, nach Madrid zu kommen und Na⸗
varete’8 „Reife des Columbus” zu überjegen. Er fchrieb
ftatt deſſen felbft eine Biographie des Columbus. Sehr
anregend waren weitere Reiſen in Spanien und nament-
lich fein langer Aufenthalt in der Alhambra, dem wir
fein poeflereichftes Werk, die Schilderung des altmauri-
chen Herrfcherfchloffes, verdanken. Außerdem verfakte er
eine Chronik der Eroberung Granada.
Nach Neuyork zurüdgelehrt, wurde Irwing feftlich
empfangen. An eimem großen Feſtmahl ihm zu Ehren
nahmen alle feine alten Yreunde und die Hervorragend»
ften Perfonen der Stadt theil. Er machte dann eine
Reife durch den Norden und Süden der amerilanifchen
Freiftaaten und in die Prairien. Dann befchloß er, fi
an den Ufern bes heimatlicdyen Stroms, des Hudfon, ans
zufiedeln, baute fi ein Landhaus, dem er fpäter ben
poetiihen Namen „Sunnyſide“ (Sonnenfeite) gab:
Es wurde zn einem fhmuden, maleriſchen Giebelgebäude
mit fo vielen Eden und Winkeln wie ein dreiediger Stülpbut,
um die Wände wanden fich wilde Rofen und Sclingpflanzen,
und die Bäume, die Irwing dort pflanzte, umſchatteten es
fpäter fo, daß, wie er gewünſcht hatte, es ein immer verfted-
terer Ruheplatz für feine alten Tage wurde.
Hier verfaßte er die „Aftoria”, ein Wert, das feinen
Namen dem reichen Kaufmann Aftor und der von ihm
gegründeten Colonie am Stillen Meer entlehnte, eingehende
Aufklärung gab über alles Land jenfeit der Rocky⸗Moun⸗
taind und der Ufer des Columbiafluffes und aud die
484 Literarifhe Porträts.
Liebe, fondern nur ihr Coſtüm, durch das jenes oft genug ! nen Schilderungen einer uns neuen, transatlantiihen Welt.
entftellt wird.
Lord Byron's Biographie ift infofern eine banfbare
Aufgabe für einen gewandten Erzähler, als fie fich wie
ein Roman Tiefl. Wie viele Autoren, d’Israeli, Willlomm,
Dettinger u. a., haben Abfchnitte aus Byron's Leben für
die novelliftiiche Behandlung benutzt. Elze erzählt gut
und fließend; feine durch fleißige Quellenforſchung unter»
ftüste Wahrheitsliebe entkleidet freilich manchen Abjchnitt
in Byron's Leben feines novelliftifchen Reizes. Die
Orgien von Nemftead-Abbey werden auf ein befcheideneres
Maß zurüdgeführt; dafür erfahren wir etwas von einer
Yugenbgeliebten Byron’s, welche den Studenten in männ-
lichem Unzuge begleitete. Auch über den mehr platonifchen
Neigungen zu Mary Duff, zu Margarethe Barker und
zu Mary Ana Chaworth, von denen die letztere im Ge—
müth des Dichters die flärkften Wurzeln fchlug, erhalten
wir nähere Mitteilung. Die Reife nad) dem Orient,
Che und Ehefcheidung, der Aufenthalt in der Schweiz
und in Benedig, der Stabt der wilbeften Liebesabentener
des Dichters, das Verhältniß zu Tereſa Guiccioli, die
Rüftung für Griechenland und der Tod vor Miffolunghi —
das alles zieht vor unferer Seele in feilelnden Bildern
vorüber, deren Umrifie zwar befaunt find, die aber
bier in fo lebendiger Farbengebung einen neuen Reiz
ausüben.
Kein größerer Gegenfag gegen Lord Byron als
Bafhington Irwing, von dem uns Abolf Laun ein
„Lebens⸗ und Charakterbild” (Nr. 2) entwirft. Aus dem
Bereich eines vulkaniſchen Charakters, einer an Eruptio-
nen reihen Poefle treten wir in bie mildeſte Geiftes-
temperatur; fofratifche Seelenrube, borazifche Lebensweis-
beit Iöfen die bimmelftürmenden Ergüſſe eines Yauft-
Don Yuan ab. Auch Wafhington Irwing ift ein Welt-
fahrer, aber fein Childe Harold, fein Enthufiaft, kein
Elegiter, fondern der Mann ruhiger Beobachtung, deren
Refultate er mit feinfinnigem Humor und in warmer
Schilderung ber Welt mittheilt. Während freilich Byron's
Werke noch in den meiteften Kreifen ihren poetifchen Zau-
ber ausüben, find diejenigen von Wafhington Irwing,
welche eine Zeit lang zu den literariichen Modeartikelu
der europäifchen Nationen gehörten, jettt etwas in Ber-
fhollenheit gerathen. Die Zeit der „Slizzenbücher“ ift
vorüber — mindeftend würde es heutzutage unmöglich fein,
durch ein Skizzenbudh, fei es noch fo geiftreich und ge-
ſchmackvoll abgefaßt, weitreichenden Ruhm zu erwerben.
Irwing's Schriften, jagt Laun in der Vorrede, ge-
bören keiner beftimmten Kunftgattung an. Trotz feiner
Beichränfung auf eine Mittelgattung zwifchen Poefie und
Proja rief er doch eine neue Aera der amerikanifchen
Literatur hervor. Bor allem war er bahnbrechend in
geihmadvollerer und anziehenderer Behandlung der Ge⸗
fhichte, und von ihm batirt die hiſtoriſche Kunft, in der
die Amerikaner jest anerlanntermaßen mit den beften euro»
pätfchen Hiftorifern fich mefjen fünnen. Ueber den Ein-
fluß auf die Zeitgenoſſen fagt das einleitende Vorwort:
Waſhington Irwing und Cooper belehrten zuerft Europa
barliber, daB es eine amerilanifche Titeratur gäbe, ober daß
eine ſolche wenigftens im Entflehen begriffen fe. Beide wur⸗
den vor einigen Decennien viel bei uns gelefen; in &ooper ſah
man den amerikaniſchen Walter Scott und erfreute fi an fei-
Irwing's frühere Schriften fielen in die Zeit des Nachklangs
der romantifchen Schule und famen mit ihren märcenhaften,
phantaftifhen und fentimentalen Stoffen unferer damaligen
Geſchmackrichtung entgegen, während die genveartige, realiſtiſche
Darftelung mit humoriſtiſchem Beigeſchmack gleichfalls dem
dafür fich entwidelnden Sinn entſprach. Irwing war eine
Zeit lang faft fo populär bei uns mie Walter Scott, fein
„Skizzenbuch“ bejonders war in aller Händen, und jeder von
uns, der bamals jung war, erinnert fi, mit welcher Wonne
er die wunderſame Geſchichte des fchläfrigen Rip van Winfie
gelefen. Irwing bat nicht wie Walter Scott eine Schule ge-
ftiftet und eine neue Gattung geſchaffen. Er war der fort
entwidler der äÄltern englifchen humoriſtiſchen Weiſe, bat die
felbe aber mit neuen romantifchen Elementen verfett und if
dadurch ein Vorgänger jlingerer Humoriften, wenigſtens in
England geworden. Auf Didens, der ihn bald aud bei uns
verdrängte, bat er einen unverlennbaren Einfluß gebt.
Zaun befennt, daß es weniger der. große Schriftfleller
Irwing als der liebenswürdige Menſch gewefen fei, der
ihn zum Entwurf des vorliegenden Lebensbilbes veranlaft
babe. Im Vergleich mit Lord Byron's Leben ift das
jenige Irwing's arm an Abentenern, an effectvollen Si⸗
tuationen, an fpahnenden Frifen; es ift ein eigentliches
Schriftftellerleben, in welchem nur ein diplomatijches In-
termezzo eine interefjante Unterbrechung bewirkt. Doch
ift der Autor vielfach mit hervorragenden Zeitgenoflen in
Berührung gekommen, er bat fie fcharf beobachtet und
treffend geſchildert. Zahlreiche Stellen aus Rwing's
Briefen zeigen ein mildes und doch richtiges Urtheil. So
lieft fich diefe gutgefchriebene Biographie, ber wir biefelbe
maßvolle Haltung und Schägung des dargeftellten Autors
nahrühmen müffen wie der Elze'ſchen Biographie Byron’s,
recht angenehm und ift ein nicht unwichtiger Beitrag zur
Kenntniß einer literarifchen und politiichen Epoche, deren
Ausläufer noch vielfach in die Gegenwart hineinreichen.
Waſhington Irwing war am 3. April 1783 in Nen-
york geboren und zeigte ſchon früh eine fcharfe Beobach⸗
tungsgabe für das Komiſche fowie große Vorliebe für
die Leltitre von Keifebefchreibungen:
Wie früh er fi ſchon verliebt hat, zeigt folgendes komi«
ſches Creigniß: Bei einer Schultheater- Aufführung wurde ihm,
dem Zehnjährigen, die Rolle des Juba in Addiſon's „Cato
zutheil. Er war gerade hinter der Coulifje mit dem Verſpeiſen
eines Honigfuchens befhäftigt, als fein Stichwort ihn auf bie
Bühne rief, um eine Rede zu halten, die aus dem mit ber
braunen, Mebrigen Materie gefüllten Munde nicht eher herauf
wollte, als bis er letztere zum Gelächter. des Publikums heraus
gezogen Hatte. Dies Unglüd verhinderte ihn aber nicht, fd
in ein großes Mädchen, welches die Marcia fpielte, zu ber
lieben; die Eröffnungen, die er ihr machte, wurden jedod wit
ber Bemerkung, „er fei zu klein“, zurlidgewiefen; das dämpfte
feine Gint. Ich entfagte”, fo erzählt er, „‚meiner großen
Geliebten und Tehrte zu meinem Honigkuchen zurück.“
Sehr früh begann Irwing zu dichten und zu fahrift-
ftellern, auch feine Verſuche anonym drucken zu laflen.
Mit dem vier Jahre ältern Paulding arbeitete er an
einem Stüde, das auch wirklich zur Aufführung kam.
Merkwürdigerweiſe ift Irwing auf die dramatiſche Pro-
duction nie wieder zurüdgelommen. Mit dem fechzehnten
Jahre galt feine Erziehung für vollendet, er kam als
Schreiber zu einem Advocaten. Einige Ausflüge an den
Hudfon- und Lorenzfluß brachten angenehme Abwechſelung
in die eintönige, poetifch nicht anregende Thätigkeit. Im
zwifchen fchrieb Irwing eine Reihe humoriſtiſcher Artikel
Literarifhe Porträts. 485
für die neuyorfer „Morning Chronicle“, die viel Auffehen
machten und fpäter, ohne fein Wiffen und Wollen, als
„Old-style Papers“ herausgegeben wurden. Ein Bruft-
leiden veranlaßte ihn zu einer Reife nach dem Süden
Europas; er bejuchte Italien und England und kam ge
fund nad) Amerika zurüd, wo er alsbald als felbftändi-
ger Advocat auftrat und drollige Beiträge zur Zeitfchrift
„Salmagundi” gab. Eine Yugendliebe zu einem anmu-
thigen und geiftvollen Mädchen, Mathilde Hoffmann,
war die einzige derartige Epifobe in Irwing's Neben,
welche befannt geworden ift; er blieb zeitlebens ein Jung⸗
gefelle nnd wahrte der frühverftorbenen Geliebten eine
rührende Anhänglichkeit.
Irwing's erſtes größeres Werk war „Knickerbocker's
humoriſtiſche Geſchichte von Nenyork.“ Dies luſtigſte
und witzigſte Werk des Dichters iſt in Europa am wenig⸗
ften befannt:
Die erfte Anregung zu diefem Werke, das er mit feinem
Bruder Peter, der aus Europa nad einjähriger Abwefenheit
zurlidgefehrt war, entwarf, war der luftige Einfall: Dr. Samuel
Mitchel’8 „Gemälde von Neuyork“, das foeben erichienen war,
ins Burleafe zu ziehen. Zu dieſem Zwecke fammelten die bei«
den Brüder eine gewaltige Maſſe gelehrter Notizen, um mit
jenem Werke, das mit den „Aborigenes“ begann, zu wetteifern.
Sie begannen deshalb mit der Erſchaffung der Welt, wie ja
auch unſere Stäbtechronifen thun, gaben dann eine Beſchrei⸗
bung der Erde, fpraden von Noah und feinen drei Söhnen,
der ein umverzeihliches Berſehen darin beging, daß er feine vier
hatte, von der Entdedung Amerilas und behandelten die Frage
der erfien Bevölkerung deffelben u. ſ. w.; fie entfalteten dabei
eine fabelhafte Gelehrſamkeit mit Eitaten aus allen möglichen
often und neuen Schriftfielern, natlirlich alles nur zum Spaß,
etwa in der Art wie Sterne feine Gelehrſamkeit zum be-
ſten gibt.
An dem Kriege gegen England 1813 — 15 betheiligte
fih Irwing als Stabsoffizier und Oberſt, ohne befondere
Gelegenheit zu militärifcher Auszeichnung zu finden, wohl
aber zu allerlei ernften und humoriſtiſchen Betrachtungen.
In dem Jahre 1815 unternahm Irwing feine zweite
Reiſe nad) Europa, wo er fiebzehn lange Jahre verweilte.
Diefer Aufenthalt wird uns von Laun in einer Reihe
von Kapiteln gefchildert, welche durch interefjante Stellen
ans Irwing's Briefen ihre eigentlihe Würze erhalten.
Bon allen Perfönlichkeiten, mit denen Irwing zufammen-
traf, war ihm Walter Scott am mieiſten ſympathiſch;
auch diefer nennt Irwing's Bekanntſchaft bie befte und
angenehmſte, die er feit langer Zeit gemacht habe. Ir⸗
wing fchreibt über Scott an feinen Bruder Peter:
Was Scott anbetrifft, fo kann ich meine Freude über fei-
zen Charakter und fein Weſen gar nicht ausdrücken, er ift ein
alter, echter, goldherziger, wlrbdiger Mann, voll jugendlicher
Fröhlichkett, mit einer Phantafie, die immer neue Bilder vor-
führt, und von einer Einfachheit des Benehmens, die ſogleich
madt, daß man ſich bei ihm zu Haufe fühlt. Es war mir
eine Frende, zu jehen wie er mit feiner Familie, feinen Nach⸗
barn, feinen Bedienten, ja mit feinen Katen und Hunden um-
ging; alles, was unter feinen Einfluß kommt, fcheint von dem
Sonnenfdein, der um fein Herz fpielt, berührt zu werden.
Ich war mit Scott vom Morgen bis zum Abend zufammen,
wir wandelten durch Berg und Thal, und jeder Punkt rief in
ihm eine alte Gefchichte oder eine malerifche Bemerkung hervor.
Es ift ein wahres Idyll, Scott und feine Hausgenofjenichaft
abends verfammelt zu ſehen. Die Hunde liegen am Fener aus⸗
gefiredt, die Kate fauert auf einem Stuhl, Frau Scott und
die Mädchen nähen, und Scott lieft entweder eine alte Romanze
vor oder erzählt eine Greuzgeſchichte. Mitunter fingt auch
Sophia, die ältefte ber beiden Töchter, die im Minftrelgefang
ebenfo bewandert ift wie ihr Bater.
Die genanere Schilderung findet man in Irwing's
befannter Schrift: „Abbotsford and Newstead-Abbey.”
Großes Aufſehen machte „Gottfried Crayon's Skizzen-
buch”. Laun fagt hierüber:
Die Gattung der humorififchen, miscellenartigen Eſſays,
zu denen e8 gehörte, war feit Addifon, Steele, Swift, Sterne
und Goldſmith nichts Neues, und es ließ fich leicht erkennen,
daß Irwing fich nad ihnen gebildet Hatte, wenn auch die Art
feines Humors und feiner Darftellungsmweife eine andere war.
Es ift wol anzunehmen, daß die Schilderungen Englands, eng-
liſchen Lebens, euglifher Sitten und englifcher Charaktere, wie
fie ih im Auge eines Fremden und noch dazu eines, Kindes
der Neuen Welt fpiegeln, für Iohn Bull etwas Anziehendes
hatten, zumal die Skizzen mit fo milden Strichen und fo ge-
dämpften Farben gemalt waren, daß er nicht dadurch verlett
werden konnte. Der liebensmwürdige, faft zu beicheidene Ton,
der anmutbhige Stil, die Reinheit und Eleganz ber Sprade
gewannen zum voraus und ließen die flellenweilen Schwächen
des bier und da leichten und gewöhnlichen Buchs, eine gewiſſe
weihlihe Sentimentalität, Breite und Zerfloffenheit, einen
weniger friſchen und kräftigen Humor, als er in feinen frähern
Schriften gezeigt, und eine mangelnde Tiefe und Schärfe der
Charakteriftif, in der ihn Didens fpäter übertreffen follte, über-
fehen. Bor allem aber litt das Buch infolge des periodifchen
Erfheinens an Abrundung und Einheit; die verfchiedenen Skiz⸗
zen find gar zu bunt durcheinandergewürfelt und entbehren des
leitenden Yadens, wie er fich in feinem nächſten Werte „Brace-
bridge Hall’ doch bis zu einem gewiffen Grade zeigt.
Diefe Charakteriſtik ift faſt erfchöpfend für Irwing's
Productionsweife, fobald wir von feinen mehr hiftorijchen
Werfen abfehen.
Bon England begab fi) Irwing nad) Paris und von
dort nad Spanien, einer Aufforderung des amerikanischen
Sefandten dafelbft, Alerander Everett, folgend, der ihm
den Vorfchlag machte, nad Madrid zu kommen und Na⸗
varete’8 „Reife des Columbus” zu überfegen. Er fchrieb
ftatt deſſen felbft eine Biographie des Columbus. Sehr
anregend waren weitere Reiſen in Spanien und nament-
lich fein langer Aufenthalt in der Alhambra, dem wir
fein poefiereichftes Werk, die Schilderung des altmauri»
chen Herrfcherfchlofles, verdanken. Außerdem verfaßte er
eine Chronif der Eroberung Granada.
Nah Neuyork zurückgekehrt, wurde Irwing feftlich
empfangen. An einem großen Feſtmahl ihm zu Ehren
nahmen alle jeine alten Freunde und die bervorragend-
ften Perjonen der Stadt thel. Er machte dann eine
Reife durch den Norden und Süden der amerilanifchen
Sreiftaaten und in die Prairien. Dann befchloß er, ſich
an den Ufern des heimatlichen Stroms, des Hudſon, an«
zufiedeln, baute fich ein Yandhaus, dem er fpäter den
poetiihen Namen „Sunnyſide“ (Sonnenfeite) gab:
Es wurde zu einem ſchmucken, malerifchen Giebelgebäude
mit fo vielen Eden und Winkeln wie ein dreiediger Stülphut,
um die Wände wanden fi wilde Roſen und Schlingpflanzen,
und die Bäume, die Irwing dort pflanzte, umfchatteten es
fpäter fo, daß, wie er gewünſcht hatte, es ein immer verfted-
terer Ruheplatz für feine alten Tage wurde.
Hier verfaßte er die „Aſtoria“, ein Werk, das ſeinen
Namen dem reichen Kaufmann Aſtor und der von ihm
gegründeten Colonie am Stillen Meer entlehnte, eingehende
Aufklärung gab über alles Land jenſeit ber Rocky-⸗Moun⸗
tains und der Ufer des Kolumbiafluffes und auch die
wunderbaren Abenteuer ber Colonie zu Land und Meer
erzählte:
Das Werk gibt zugleich eine reiche Charalteriſtik der Theil⸗
nehmer und Anflihrer diefer beiden Expeditionen, der Trappers,
Jäger, Pelzhändler und indianiſchen Krieger, ihrer Eigenthiim-
fichleiten, Sitten und Coftlime und eine anſchauliche Beſchrei⸗
bung der großartigen Ianbichaftlichen Scenerie, der Pflanzen
und Thiere m. f. w., kurz, es bat das erreicht, was Irwing
fih vorgeſetzt Hatte, es iſt bei aller durchgeführten biftorifchen
Darlegung und genetifchen Entwidelung der Greiguiffe zugleich
ein unterbaltendes Lejebud für ein gebildetes Publikum.
Das Stilleben auf Sunnyſide wurde dur manchen
intereffanten Beſuch unterbrochen, wie 3. B. den des
Prinzen Ludwig Napoleon, der, nah dem ftraäburger
Attentat, einige Donate lang Staatsgefangener auf einem
franzöfifchen Kriegsichiff gewelen und im Frühling 1837 in
Norfolk an der virginifchen Küfte in Freiheit geſetzt wor⸗
den war. Irwing, ber fih für den Gaft und deſſen
eigenthlimliche Lage intereffirte, war fehr freundlich gegen
ihn, fand ihn aber äußert ſchweigſam. Ueber den Staats-
ſtreich ſprach ſich Irwing fpäter fehr günftig aus, wäh.
rend er aus den Erinnerungen feines zweiten fpanifchen
Aufenthalts das Bild der Kaiſerin und ihrer Familie fich
heraufbeſchwor:
Ich glaube, ich habe dir erzählt, daß ich den Großvater
der Kaiſerin gekannt babe, deu alten Kirkpatrick, der amerikani⸗
icher Eonful in Malaga war. Ich brachte einen Abend in fei-
nem Haufe zn, nahe bei Adra an der Küfte des Mittelländifchen
Meeres. Einige Zeit darauf war ih im Haufe feines Schwie-
gerfohns, des Grafen Teba in Granada, eines Höflichen, intelli-
genten Mannes, der im Kriege viele Wunden davongetragen, ein
Auge verloren Hatte und an Hand und Bein gelähmt war.
Seine Frau war abwefend, aber er hatte mehrere Heinere Töchter
um fih. Die jüngſte derjelben muß die jetige Kaiferin gewe⸗
fen fein. Mehrere Jahre darauf wurde ih in Madrid zu
einem großen Ball im Haufe der Gräfin Montijo, einer der ton-
angebenden Damen, eingeladen. Als ich ihr meine Verbeugung
machte, war ich erflaunt, von ihr wie ein alter Freund empfan-
gen zu werden. Sie berief fid auf meine Belanntichaft mit
ihrem verflorbenen Gemahl, dem Grafen Teba, fpäter Mar-
quis Montijo, ber, wie fie fagte, oft mit großer Wärme von
mir geſprochen Babe, und führte mi dam zu den Mädchen,
die ih in Granada gelannt hatte und die nun fafbionable
Schönheiten in Madrid waren. Darauf fam ich öfter in ihr
Haus, eines der luftigften der Hauptſtadt. Die Gräfin und ihre
Töchter ſprachen engliſch. Die älteſte Tochter verbeirathete
ſich in Madrid (Irwing's Gegenwart bei der Hochzeit wurde
ſchon erwähnt) mit dem Herzog von Alba und Berwick, die
jüngfte fist uum auf dem Throne von Frankreich.
Er Inüpft gleich darauf an diefe Erinnerungen noch
die folgenden Bemerkungen:
Ludwig Napoleon und Eugenie Montijo, Kaifer und Kai-
ferin von Srantreich! Den einen babe ich als Gaſt in Sunnyfide
ebabt, die andere habe ich als Kind anf den Knien gejchaufelt!
Das ſcheint doch der Höhepunkt des Dramas zu fein, welches
:A86 Literatifhe Porträts,
fi während meiner Lebenszeit in Paris abgefpielt Hat, %
babe öfter geglaubt, der jebesmalige Theatercoup fei der I
den ich zu erleben hätte, aber es folgte immer eim noch über.
rafheuderer darauf; was wird nun der nächſte fein, wer kam
e8 ahnen! Ale in Eugenie Montijo zulegt in Madrid ſah,
war fie eine der Ballköniginnen, und fie mit ihrem Iufligen
Kreife riß mir meine junge reizende Freundin, die ſchöne had
gebildete R., in ihre modischen Zerſtreuungen mit fort. Sept
figt Eugenie auf dem Thron, und ihre Freundin, die N., hat
fih freimillig in ein Kloſter von ber firengften Hegel begeben.
Die arme N.! Bielleicht ift jedoch ihr Los ſchließlich das glüd⸗
fichere von beiden. Die Stürme find für fie vorliber, umd fe
ift in Ruhe, die andere von einer See, die wegen ihrer Stchif⸗
brüche Übel berlichtigt ift, an eine Küſte geworfen, von ber 8
feine Heimkehr gibt. Werde ich noch lange genug leben, um
die Kataftrophe ihrer Laufbahn und das Ende bdiefes plotzlich
heraufbeſchworenen Kaiſerthums zu fehen, das aus ſolchem Stoff
zu fein fcheint, aus dem die Träume gewoben werden? Kb
geftebe, daß meine perfünliche Bekanntſchaft mit den Perjonen,
die in diefem biftorifchen Roman figuriren, mein Intereffe daran
bedeutend erhöht, aber ihr Los jcheint mir voll Unbefändigkät
und Gefahr und zu fo abenteuerfihem Schichſalswechſel be⸗
lan zu fein, mie fie in Alexander Dumas’ Romanen vor
ommen.
Der zweite fpanifche Aufenthalt, den wir erwähnten,
wurde veranlaft durch die Ernennung Irwing's zum
Geſandten in Spanien 1841. Er gerieth hier in eine Epoche
politifcher Bewegung, der Revolutionen, Deilitärrevolten,
Cabinetsintriguen, welche uns von Zaun, zum Theil nad
Irwing's Aufzeichnungen, recht lebendig dargeftellt wird.
Espartero, Narvaez und andere fpanifche Staatsmänner
ftehen im Mittelpunkt des Gemäldes. Im Jahre 1846
fehrte Irwing von feinem Poſten in die Idylle vom
Sunnyſide zurüd, wo er bis zu feinem Tode 1859 febte
und noch die fünf Bände feiner Biographie Wafhingten’e
vollendete. Eine milde Beleuchtung ruht auf diefen letz⸗
ten Lebensjahren:
O holde Einfamleit, du Freundin des zur Neige gehenden
Lebens! Wie glücklich ift mein Los geweien, daß ich es fo veil-
kommen babe genießen können, daß ſich das, was ich mir ols
bloßes Phantafiebild ausmalte, realifirt Hat! Könnteft du doch
das Fleine Sunnyſide in diefer Jahreszeit fehen! Es ift ſchöner
denn je, die Bäume, die Sträucher, die rankenden Weinföde
üppiger denn je. Nie hörte id) fo viele Vögel in meinen Ger
büſchen fingen, und immer find Kolibris unter meinen few
ſtern Hinter dem Geißblatt und den es überhangenden Schling⸗
gewüchſen.
Die Charakteriſtik, die Laun von dem Schriftſteller
Irwing entwirft, iſt durchaus zutreffend und frei von
Uebertreibungen, die ganze Schrift überhaupt durch ſchlichte
und doc graziöſe Haltung eine anſprechende Lektüre.
Rudolf Gotiſchal.
(Die Yortfegung folgt in ber nächſten Nummer.)
oe — — — — — — — —
Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen.
Rußland und die dentſchen Oſtſeeprovinzen.
(Beihluß aus Nr. 80.)
7. Baltifche und ruffifche Eulturftudien aus zwei Jahrhunderten
von Julius Edardt. Leipzig, Dunder und Humblot.
1869. Gr. 8. 3 Thlr. 6 Nor.
8. Aus baltifcher Vorzeit. Sechs Vorträge Über die Geſchichte
der Oflfeepropinzen von $: Bienemann. Leipzig, Dunder
nnd Humblot. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 6 Nor.
9, Bürgerthum und Bureaufratie. Bier Kapitel aus der neue⸗
ſten livländiſchen Gefhichte von Julius Edardt. Leipzig,
‚ Dunder und Humblot. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
Wir haben am Anfange diefes Aufjages darauf aufs
merkſam gemacht, daß das ruffifche Volk aus feiner Mitte
feinen Mittelftand hervorgebracht hat und daß deshalb im
eigentlihen Rußland auch keine Städte im weftenropäifchen
Sinne vorhanden find: „Es find Refidenzen, Häfen, Dör-
fer, ihre Bürger find keine Bürger”, jagt Schirren. Im
Gegenſatz dazn befigt das Baltenland feit dem Anfang
feiner deutfchen Beſiedelung einen Fräftigen Bürgerftand
in mehr oder weniger jelbfländigen, mauerumfchlofjenen
Städten. Mehrere von diefen, namentlid) Riga, Dorpat,
Reval und Narwa, nahmen im Hanfabunde eine geachtete
und zum Theil mächtige Stellung ein. Riga hat vermöge
der natürlichen Vortheile feiner Tage niemals alle Beden-
tung als deutjche Handelsftadt verloren; dagegen haben
Narwa und Dorpat nach mehrmaligen, vollftändigen Zer⸗
ſtörungen durch die Ruſſen längere Zeit ihr Dafein nur
fünmerlich gefriftet, bis in den letzten Jahrzehnten das
erftere durch feine Großinduftrie und das legtere als Sit
der baltiſchen Hochichule fich wieder mehr und mehr auf-
geſchwungen Hat. Reval, welches niemals jo mächtig ald
Riga, aber dennoch lange Zeit die bebeutendfte Stadt
nördlich von diefem gewefen ift, Tann ſeit der Erbauung
von Petersburg die Concurrenz diefer Reichshauptſtadt
nicht beftehen und nicht wieder zu Kräften kommen.
In den drei obengenannten Werken von Edardt und
Bienemann werden uns theils Abriffe der gejammten
Geſchichte, tHeild ausführliche Erzählungen aus Perioden
ber drei bebeutendften von den vier genannten Städten
Livlands und Eftlands mitgetheilt. Aus Eckardt's „Balti⸗
{chen und ruffifhen Eulturftudien‘ (Nr. 7), einer Samm-
Inng von Auffägen über die verfchiedenten Gegenftände
auf ruſſiſchem und baltifchem Gebiet, beachten wir bier
zunächft den Gefchichtsabrig von Dorpat. Dieſe malerifch
auf Anhöhen am Embach, unweit des Peipusfees gelegene
Stabt gibt in ihrer Gefchichte im verkleinerten Maßſtab
ein Spiegelbild von ber Geſchichte des ganzen Landes.
Etwas abweichend ift der Urfprung des deutichen Dorpat
von demjenigen anderer beutjchen Städte Altlivlands da-
dur, daß vor feiner Gründung an der Stelle nicht eine
Wohnftätte der Urbewohner, jondern die Raubburg eines
ufflihen Großen geftanden hat, durch welche die um—⸗
wohnenden Eften in Zributpflichtigkeit und Unterwürfig⸗
feit gehalten wurden. Bon Einführung des Chriftenthums
oder irgendweldher Cultur war nicht die Rede; dennoch
gründete fich Hierauf der Anfpruh Iwan's I., fowie
Ywan’s II. im 16. Sahrhundert, anf den Beſitz oder
mwenigftens die Zributpflichtigleit der Stadt und der Um-
gegend. Jener ruffifche Bojar Wjäczlo wurde im Jahre
1223 von den Schwertrittern aus Yurjew, fo hieß das
Raubneſt, vertrieben und die Feſte verbrannt, An deren
Stelle gründete der Landesherr, Erzbiſchof von Riga,
eben die Stadt Dorpat. Sie wurde zum- Gig eines
Suffraganbifchofs gemacht und blühte raſch auf, indem
man einen großen Theil des Handels des nördlichen Ruß⸗
land nach ihr über den Peipusfee leitete. In der zwei—
ten Hälfte des 13. Jahrhunderts bricht die Olanzepoche
Dorpats an.
Ueber die Bevölferungsverhältniffe, die Zahl der Ge-
büude u. dgl. befigen wir ans der bifchöflihen Zeit feine
genauern Angaben. „Eine Borftellung von denfelben kann
man fid) aber danad) maden, daß ein Chronift behaupten
fonnte, eine einzige Seuche habe in Dorpat 15600 Men⸗
ſchen hingerafft, und daß ſich noch am Anfang des 17. Jahr⸗
bunderts, nachdem Dorpat bereitd von der Höhe feiner
Bedeutung berabzufteigen begonnen hat, elf Kirchen nad):
weisen ließen.”
Wie das raſche Aufblühen, fo hatten Stadt und Bis-
tum Dorpat auch die innern Ywiftigfeiten und Kämpfe
mit Witlivland gemein, von dem fie von Anfang. an bie
beften Kräfte aufzehrten:
Aber das Gericht über die hadernden Fürſten und Stände
Livlands blieb nicht aus: Iwan Waſfſiljewitſch III., den die
Auffen den Großen oder auch den Sammler (Sobiratelj, d. 5.
denjenigen, der die Theilfürſtenthümer fammelte) nannten, hatte
das Mongolenjoch gebroden, die Einheit der ruſſiſchen Mon⸗
ardhie begründet, die Macht der flolzen Republik Nowgorod für
immer zerflört und zog mit großer Seeresmadt heran, den
durch innern Hader ohnmüchtig gewordenen Livländifchen Bundes-
float zu vernichten. Raucherde Trümmer bezeichneten feinen
Weg, und das Bisthum Dorpat, das noch im Jahre 1487 den
Landmeifter Borch bei einer Unteruehmung gegen die Ruffen
ſchmählich im Stich gelaffen Hatte, war der am meiflen be-
audige am ſchwerſten bedrohte Theil des Bundesſtaats. Nur
der Muth und die weiſe Politik des großen Plettenberg wand⸗
ten das Unheil noch einmal ab. Er ſtellte den Frieden inner-
halb des Landes ber und ſchlug die ruſſiſchen Heere in zwei blu⸗
tigen Schlachten, 1501 vor Fellin, 1502 bei Plestau.
Der funfzigjährige Frieden, den Plettenberg ſchloß,
wurde jedoch mit einem Xribut, melden das Bisthum
Dorpat an den Zaren leiften follte, erkauft. Es ift ein
viel und oft ausgefprochener Vorwurf, den man Pletten-
berg und den Altlivländern mit Recht macht, daß fie diefe
lange Zeit der Ruhe nicht zur Herftellung einer feften
politifchen Organifation und der Wehrfähigleit des Lan⸗
des nach außen benugt haben. Indeß zog dafjelbe dar-
aus doch einen Bortheil, der in ihm die Herrſchaft des
deutfchen Geiftes auf unabjehbare Zeit ficherte und aud)
heute den Hauptftügpunkt des Deutſchthums gegen die an-
drängende Ruſſificirung bildet — wir meinen die Einfüh-
rung der Kirchenverbeſſerung. Dorpat verdankt fie haupt-
ſächlich dem fchwäbifchen Kürfchner Meldior Hofmann.
Im übrigen dauerte die Zerfplitterung des Landes in ein-
zelne Türftenthlimer und Städte fort, und es wurben nicht
unerhebliche Fehden zwiſchen diejen mittelalterlihen Ge—
meinwefen geführt. Inzwiſchen war auf den Thron von
Moslau der furdtbare Tyraun Iwan der Schredliche
gelommen; er verlangte im Jahre 1555 ben Tribut ber
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488 Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen.
Dorpater, den ſogenannten Glaubenszins, der ihm ſchon
lange vorenthalten worden war, und als man ihm den⸗
ſelben verſprach, aber das Wort nicht hielt, fiel, er im
Jahre 1557 mit einer xuffifch-tatarifchen ungeheuern
Horde in das Stift und hauſte darin in einer ſeines
Namens würdigen Weiſe. Im Yahre 1558 unterlag die
Stadt felbft nach einer kurzen Belagerung der Gewalt der
Barbaren. Die Eapitulation wurbe nicht gehalten, viel-
mehr wilrgten die bintgierigen Rotten die Bitrgerichaft
faft bis auf den legten Mann ab, Der Krieg, der das
unglüdliche Land zerfleifchte, blieb nicht auf die Rufſen
befchränft, vielmehr wurde Altlivlandb der Zummelplag
des Kriegsvolls aller nordifchen Staaten, der Polen und
Litauer, der Schweden und Dünen, neben ben Mosko—
witern. Im Jahre 1561 unteswarf fih der Haupttheil
des Landes, das heutige Livland, der Herrfchaft des Kö⸗
nigs von Polen, während der legte Landmeiſter, Gotthardt
Kettler, das heutige Kurland als erbliches Herzogthum
behielt und Eftland den König von Schweben zu feinem
Schutzherrn wählte, die Infel Defel aber von einem däni⸗
fchen Prinzen als erbliches Fürftentfum erworben wurde.
Erft im Jahre 1582 gelang es den Polen, die Ruſſen
ans Dorpat zu vertreiben. Indeß wurde dadurch keines⸗
wegs für die Stadt eine befjere Zeit herbeigeführt, fon
dern mit dem polnifchen Heere zogen zugleich die Jeſuiten
ein und begannen fofort die furchtbarſten Glaubens.
bedrüdungen und Berfolgungen. Daß die Stadt bei
folder Wirthſchaft größtentheils wüft liegen blieb, läßt
fi, denken; um das Jahr 1606 befanden ſich dort nur
etwa 30 Bürger. An äußern Feinden fehlte e8 auch nicht;
mit kurzen Unterbrechungen wütheten Kriege mit den
Schweden, Rufen und Dänen während der ganzen Zeit
der polnifchen Herrſchaft. Dazu traten noch wiederholte
Fenersbrünſte, welche die ganze Stadt in Afche legten.
Ein furchtbares Schickſal, aber nicht weſentlich unterjchie-
den von demjenigen bed ganzen Landes. Endlich im Jahre
1626 wurde man die argen Bebrüder los; Guftav Adolf
befreite das ganze Land nnd, mit ihm diefe unglüdliche
Stadt. Unter ſchwediſcher Herrichaft erfreute man ſich
im ganzen eines geordneten Staatelebens und in der leg-
ten Zeit auch eines dauerhaftern Friedens. Mit dem
Beginn des 18. Jahrhunderts fand diefer wieder ein Ende
und es begann eine neue Zeit des Ruſſenſchreckens. Der
Zar Beter, fpäter der Große genannt, hatte fi mit den
Königen von Polen und Dänemark vereinigt, um gemein-
ſam über das ſchwediſche Keich herzufallen und es jeiner
werthvollſten Provinzen zu berauben. Der junge König
Karl XU. von Schweden ſchlug zwar nacheinander bie
Dünen, die Ruflen, die Polen und Sadfen aufs
Haupt, erlag aber zulegt der Uebermacht. Während er
in Südrußland gegen Peter operirte, fiel der Zar im
Livland und Eflland ein und ließ es auf eine entſetzliche
Weiſe verheeren, indem die Bewohner zum Theil nad dem
Innern von Rußland getrieben, zum Theil mit kaltem
Blut ermordet wurden. Dorpat wurde im Jahre 1705
eingenommen und im Jahre 1708 zum größten Theil: zer-
ftört, die Bürgerfchaft in das Imnere von Rußland ge
ichleppt. Indeß änderte fich das Berfahren Peter’ gegen
die beiden Herzogthümer: er entſchloß fi, fie für fid
zu behalten und nicht, wie in den erften Verträgen mit
dem König Auguft von Polen abgemacht war, fie an die.
fen auszuliefern; fomit lag feine Beranlaflung mehr vor,
fie zu verheeren. Als keine Ausficht mehr zu einer Wieder-
eroberung durch die Schweden vorhanden war, erhielten
die dorpater Bürger, fo viel ihrer noch übrig waren, bie
Erlaubniß zur Rückkehr in ihre Vaterſtadt; es war im
Jahre 1714. Dem traurigen Dahinftechen des ftäbtifchen
Lebens wurbe erft 1802 dadurch gründlich Einhalt gethan,
daß in Dorpat die baltifche Hochjchule errichtet wurde,
welche die Stände ber drei Provinzen feit deren Vereini⸗
gung mit Rußland mit Anftrengung und Ausdauer er-
ftrebt und unter bedeutenden Opfern von Alexander 1.
endlich erlangt Hatten.
Nicht im gleichen Maße wie Dorpat gibt uns die
Geſchichte von Reval, wie fie uns aus Bienemann’s
„Aus baltifcher Vorzeit” (Nr. 8) in einzelnen Bildern ent
gegentritt, ein Spiegelbild der Geſchichte der gejammten
Dfifeeprovinzgen. Schon daß Reval nit von Deutſchen,
fondern von Dünen (1224) — wol der einzige Fall biefer
Art — gegründet worden ift, bildet eine Eigenthümlichfeit
der Stadt. Sie hat, während Livland und Kurland bis
zum Berfall des Ordensſtaats (1561) ununterbrochen
unter deutfcher Herrfchaft flanden, zweimal im Laufe des
13. Jahrhunderts in Gemeinfhaft mit dem Herzogthum
Eftland zur dänifhen Monarchie gehört, wenn auch die
Bürgerfchaft der Stadt und bie Ritterfchaft des Landes
niemals itberwiegend däniſch, fondern vielmehr deutſch ges
wefen find. Abweichend von Dorpat ift Reval aud nit
mals von feindlicher Macht, am mwenigften unter fo ſchred⸗
fihen Umftänden wie jene Schweiterftadt eingenommen
worden, was feinen Grund in der natitrlichen Yeftigfeit
des Platzes hat. Ein einziges mal capitulirte Reval mit
dem Belagerungsßeer, es war im Jahre 1710; die Ca
pitulation war aber zugleich ein Friedens⸗ und Unter
werfungsvertrag, welcher abgejchloffen wurde, nachdem
ſchon ganz Livland ſich bemfelben Feinde ergeben hatte
und biefer, der Zar Peter der Große, bei der völligen
Ohnmacht der bisherigen Schutzmacht Schweden fich felbft
ſchon nicht mehr als Feind, fondern als Schugheren der
beiden Herzogthümer betrachtete.
Im meitern glitdlihen Gegenſatz zu Dorpat ift die
eftländifche Stadt auch nicht von furchtbaren Feuersbrün⸗
ften heimgefucht worden, was wol der maffiven, feuerfeften
Bauart der dortigen Gebäude zugufchreiben ift. Dexfelbe
Kalkfelfen, welcher der Stadt eine fo unüberwindlide
Feftigkeit gibt, bietet ihr auch den vortrefflichen, dauer.
haften Bauftoff für ihre Bürgerhäufer, die unverändert
zum Theil feit 5— 600 Jahren ber Gegenwart erhalten
find. Der größte Theil der Stadt trägt den Charalter
der erften Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bienemann fagt:
Das war bie Zeit Adam Kraft’s, Dürer’s, Peter Biider's,
da die Bormbolienbung der italieniſchen Künſtler and auf die
Werke der dentfchen Meiſter einwirkte, da die äußerfle Spät
gothit von Motiven, die der Renaiffance entnommen ware,
durchhrungen wurde. Wir find Hier in umferer Architektur nicht
über den Stil des 14. Jahrhunderts Kinausgelommen. Rur
der lichte Chor von St.-Dlat zeigt die Struͤctur der Spät
gothik, wie fie im 15. Jahrhundert fi) Bahn gebrochen. Die
Formen derſelben treten zuerft in Hans Paul's Gedächtnißmahl
vom Jahre 1513 an der Außenwand der erwähnten Kirde auf;
fie waren entfchieden Bier das Neneſte, denn fie fehren nur noch
Wirnn — ⸗—— —ñ— — — —
Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen. 489
1539 am Wappenſchilde des großen Strandthors wieder. Um
ein Jahrhundert etwa ift das Denkmal zuridgeblieben.
Zur Charakteriſtik unſers Schriftftellers bemerken wir,
daß. uns aus feinem Werke ein Geift der Baterlandsliche,
des deutfchen Nationalgefühls und des Mannesmuthes ent«
gegenweht, wie wir zu unferer Freude aus den Oſtſee⸗
provinzen mehr als aus irgendeinem andern beutfchen
Gebiet in faft allen öffentlichen Aeußerungen bemerken,
und worauf wir die zuperfichtlihe Hoffnung bauen, daß
diefe alten deutfchen Lande unferer Nation nimmer durch
die Slawen entfremdet werden künnen. Wenn wir be-
denken, daß diefe „Sechs Vorträge” von Bienemann wirk⸗
lich in Reval gehalten worden find, während vielleicht die
ruſſiſchen Trommeln feine Worte unterbrachen, ſowie Fichte
im Jahre 1811 zu Berlin von franzöflihen Trommeln
bei feinen „Neben an die deutfche Nation‘ geftört wurbe,
fo werben wir einigermaßen an diefes zündende, gewaltige
Werk und feinen großen Meifter erinnert, wenn wir in
Bienemann’s Vorträgen auf Stellen ftoßen wie diejenige,
wo er Deutfhland — aljo niht Rußland — das „Vater⸗
and“ ber Balten nennt, eine Aufftellung, welche von den
Ruſſen einftimmig als Landesverrath angefehen wird. Es
dürfte wol fein Fehlſchluß fein, wenn wir nad dem
vorliegenden Geſchichtswerk den Charakter der baltifchen
Tagespreſſe beurtheilen, da Bienemann, bis Ende 1869
Dberlehrer am Gymnaſium in Keval, feitdem Redacteur
der „Revalſchen Zeitung” geworden ift.
Bon der größten und wichtigften Stadt der fänmtlichen
drei Oftfeeprovinzen, von Riga, bieten die uns vorliegen-
den Werfe nicht wie von den beiden vorerwähnten
Schwefterftäbten eine Ueberfiht der ganzen Gejchichte,
auch nicht die allerfürzefte; es find vielmehr nur vier
Epifoden aus der neueften Zeit, welche ung Edardt in
„Bürgertum und Bureaukratie“ (Nr. 9) in Aufzeichnun-
gen von Zeitgenoffen vorführt. Er Hat diejelben unver»
ändert veröffentlicht, fie jedoch mit erläuternden Einlei-
tungen verjehen. Die Bureaufratie, mit welcher es die
Rigaer zu thun und weldje fie meiftentheils zu befümpfen
hatten, iſt jelbftverftändlich die ruffifche. In das Vor⸗
handenfein und das Fehlen einer ſolchen, al8 der mädhtig-
ſten Boltsflafle, fette Edardt den wefentlichiten Unter-
ſchied der politifch-foctalen Zuftände des eigentlichen Ruß-
Iand und ber deutfchen Oftfeeprovinzen, während anderer:
ſeits dort wieder ein Mittelftand fehlt und Hier vorhanden
if. Mit Recht verwirft er, als Unterfcheidungsmerfmal,
die Machtſtellung, welche die baltifche Kitterfchaft den
übrigen Ständen gegenüber bier einnimmt, denn der bal«
tifche Adel befige allerdings eine feltene politifche Macht,
biefelbe finde aber nicht blos im der ruſſiſchen höhern
Bureaufratie, fondern auch in den größern Städten und
ihren intelligenten Bürgerfchaften ihre entjchiedene Begren-
zung, während der ruſſiſche Adel in Innerrußland mit
der Vureaukratie ziemlich in eins zufanmenfalle, faft un⸗
umfchränfte Macht ausübe. Einen Hauptanlaf zu den Con»
flieten der ruffiichen Regierung mit den Herzogthümern
findet Edardt in der Eigenthümlichkeit der Bureaufratie,
daß fie jedes felbftändige Leben neben ſich Haft und ver-
folgt. In neuerer Zeit hat man von der Dina und dem
Beipusfee Hauptfählih nur von Kämpfen zwijchen der
Ritterſchaft und ihren Organen einerfeits und der ruffi-
1870. 31.
chen Regierung und ber ruffifchen Nationalpartei anderer-
feitö gehört. Die Städte des Baltenlandes find aber des»
wegen durchaus nicht von Anfechtungen feitens der legtern
freigeblieben. Borfälle der Art find der Gegenftand ber
Edardt’fchen Beröffentlichungen.
Der letzte derſelben fand unter dem berüchtigten
Generalgouverneur Golowin ftatt, welcher allem Deut
ſchen mit Einſchluß des Proteftantismus den Tod ge-
ſchworen Hatte, und unter dem die betrügerifchen Belch-
rungen von 80000 livländiſchen Eften und Leiten vor
ih gingen. Auch Riga blieb nicht unangefodhten:
Wührend das Land noch unter dem Drude der kirchlichen
und agrariſchen Wirren und unter dem Cindrud der neuen
Schreckensnachricht ftand, daß in Petersburg die Aufhebung der
Univerfität Dorpat vorbereitet werde, begannen die Tage jener
aus Beamten des Minifteriums des Iunern zufanmmengejegten
Revifionscommilfion, welche (nad der treffenden Bejeihuung
des Grafen P. D. Kiffelem) „vor Riga zog‘, d. 5. die über⸗
fommenen deutſchen Lebensformen aud bier zu Falle bringen
wollte. Es war direct daranf abgefehen, alles, was fih von
Misbräuchen und Uebelſtänden feit einem Bierteljabrhundert
aufgejammelt hatte, mit ‚‚fittliher Enträftung‘ ans Tageslicht
zu ziehen und im Namen der allgemeinen Wohlfahrt den Um⸗
fur; der alten Stadtverfaffung und die Einführung einer
„Duma“ nad ruffiſchem Reihemnfter zu proclamiren. Ale
jet man in Feindesland und nicht in einer Provinz, deren Zu-
fände, trog aller Mängel, immer nod fiber denen ber innern
Gouvernements fanden und deren Loyalität über allen Zweifel
erhaben war, wurden alle beftehenden Autoritäten mit Mistrauen
und Geringihägung angeſehen, die alten Korporationen wie
Berſchwörerbanden behandelt, die Zuflände, die man vorfand,
blos nad ihren Schattenjeiten geprüft und die Regierten förm⸗
lich eingeladen, vorzubringen, was fie gegen ‚die Regierenden
auf dem Herzen hätten.
Ale diefe Bemühungen, welche befonders von einem
ritterfchaftlichen Weberläufer, von Stadelberg, und von
einem rigaifchen Berräther, Bürgermeifler Timm, eifrig
betrieben wurden, blieben jedoh in ber Hauptſache
ohne Erfolg; fie prallten machtlos an der Kraft der
deutſchen Inftitutionen und des wieberermachten Bürger-
finnee ab.
Zulegt werden no in dem Eckardt'ſchen Buche die
Zuftände bei den rufflfchen Altgläubigen in Riga, nad)
den Aufzeichnungen eines ruffischen Beamten, der von
einem ausnahmsweife wohlwollenden Minifter zum Be-
richte darüber dorthin gefandt war, dargeſtellt. Dieſe
Sektirer haben fi ſchon in vorruffiiher Zeit vor den
jchweren Berfolgungen der orthodoxen Popen nad) diefer
deutjchen Stadt gefliichtet und wurden von deren Rath
menfjchenfreundlich aufgenommep und geſchützt. Auch ge-
gen die ruffifchen Beamten und die hinter ihnen flehen-
den Pfaffen hat der Magiftrat fie bis auf die Gegenwart
immer möglichſt in Schug genommen, was diejelben ihm
und überhaupt den Deutfchen durch große Anhänglichkeit
und Treue dankten. Indeß reichte dieſer Schutz doch
nicht aus, um ſie unbehelligt zu erhalten, vielmehr ver⸗
ſuchte man, fie durch allerhand Gewaltmaßregeln in die
rechtgläubige Kirche zurückzuführen. Empörend ift es,
daß ihnen mwiederholentlich die Schulen gewaltfam entriffen
und der Unterricht der Jugend in Privathäufern bei
ſchweren Strafen verboten wurde. Dean hat e8 dadurd)
erreicht, daß die Unglüdlichen zum größten Theil fih in
einem furchtbar vermahrloften geiftigen und fittlichen Zu-
ftande befinden. Wir bemerken hierbei, daß I. Edardt in
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490 Erzählungen
einem Artikel feiner „ulturftudien” über die Sekte der
griechifch-orthodoren Kirche, namentlich über deren neuefte
Geſchichte, Höchft intereffante Aufſchlüſſe erteilt.
Bon andern Auffägen dieſes Buchs machen wir noch
auf folgende befonders aufmerkſam; zunächſt auf den
erften: „Die deutjch-ruffifchen Oftfeeprovinzen.” Eckardt
vertheidigt darin fein Heimatland gegen das abfprechende
Urtheil des Hrn. Heinrich von Treitſchke, welches in der
Hauptſache auf Unfenntniß beruht. Der gelehrte Pro»
feſſor verdankt feine Anſicht Hauptfählih ruſſiſchen
Quellen und ſeit Merkel's Zeiten bei uns eingeroſteten
Borurtheilen, die er kritiklos angenommen und wieder
weiterverbreitet hat. Danach befindet ſich das baltiſche
Landvolk auf einer Culturſtufe und in einem wirthſchaft⸗
lichen und Sittlihen Elend, wie beides ungefähr Samarin
barftellt/ auch hegt daffelbe gegen die Deutfchen einen Haß
noch fürchterlicher, als diejer behauptet, und verdankt die
Befferung feiner Rage in neuerer Zeit lediglich den Ruſſen.
Es Fällt Edardt nicht ſchwer, folhe Behauptungen auf
ihren wahren, geringen Werth zurüdzuführen.
Sehr intereffant ift ferner auch befien Auffag über
die „Baltiſchen Aus- und Einwanderer”; es ift gar nicht
bekannt, welche große Anzahl von Balten nad Weiten,
beſonders nad) Deutfchland, gegangen find uud dort her-
vorragende Stellungen eingenommen haben. Unter ihnen
befinden fi in frühern Jahrhunderten vorzugsweife viele
Generale und höhere Offiziere; bekannt find von biejen
namentlich der dfterreichifche Feldmarſchall Laudon und
der franzöftfche Roſen. aß aus den Oſtſeeprovinzen
‚feit ihrer Vereinigung mit Rußland zahlreihe Männer
nach diefem Lande gegangen und dort ihr Glüd gemacht
baben, das weiß man bei uns allerdings, Edardt gibt aber
über einzelne von ihnen nach Berbienft nähere Auskunft,
für uns im Weflen fehr oft bie erfte.
10. Baltiihe Briefe. Bon B. ©. Werren. Hamburg, Hoffe
mann und Campe. 1870. 8. 20 Nor.
Wie fehr das Imterefie für das verlaffene deutſche
Tochterland fich bei uns ausbreitet und vermehrt, dafür
Erzählungen
1. Aus Stadt nnd Dorf. Zwei Erzählungen von Auguft
Beder. Berlin, Janke. 1869. 8. 20 Nor.
2. Das Muttermal. Roman von Bonfon du Terrail.
Berlin, Brigl. 1869. 8. 10 Nor.
3. Hohenzollern und Welfen. Hiſtoriſch⸗politiſcher Roman aus
der Gegenwart von Edmund Hahn. Drei Bände Wirz-
burg, Sulien. 1869. 8. 3 Thlr. 18 Nor.
4, Das Schloß an der Oftfee. Erzählung von Adolf Mützel⸗
burg. Berlin, Brigl. 1869. 8. 10 Nor.
5. Winifrid Bertram und die Welt, in der fie lebte. Bon ber
Berfafferin der „Familie Schönberg - Cotta’. Aus dem Eng-
lichen von Charlotte Philippi. Zwei Bände Baſel,
Schneider. 1869. 8. 1 Thlr. 20 Nor.
6. Wie man regiert. Humoriſtiſche Erzählung nach thatfäch-
fihen Borgängen au kleinſtaatlichen Höfen aus der Kriegs:
eit 1866 von M. Anton Niendorf. Berlin, Gold-
chmidt. 1869. 8. 22%, Nor.
7. Georg ber II. und die ſchöne Minette. Erzählung aus ber
erften Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bon der Berfafferin
von „Ein Pfarrhaus vor 50 Jahren”. Berlin, Janke.
1868. 8 1 Thlr.
„Aus Stadt und Dorf” von Auguſt Beder (Nr. 1)
und Romane,
gibt auch die vorftehende, foeben erfchienene Schrift einen
Beweis. Es ift anfcheinend ein Süd⸗ oder Weſtdeuiſcher
welcher, angeregt durch Samarin's „Grenzgebiete und
Schirren's „Livländiſche Antwort”, auch ein Wort der
Sympathie für die bedrängten Stammverwandten an die
Deutſchen im Mutterlande richtet. Er fagt wenigfteng,
daß er fein „Balte, fondern ein Deutſcher aus ven fern
ften und von Rußland am wenigfter bedrohten Gauen
germanifcher Erde fe“. Seine Darftellung der baltischen
Verhältniſſe bringt, mit den vorfichenden Grörterungen
über denjelben Gegenfland zufammengehalten, nichts er.
beblich Neues. Er fchliegt mit einem Aufruf, weldem-
auch wir uns anfchließen, indem er fagt:
Um fo mehr muß aber diefes Berhältuig (Unterdrkdung
des baltifhen Deutſchthums und Proteſtantenthums) entrüften,
als es eine Nation ift, welche ſich eine chriſtliche nennt, die anf
unfere proteftantifhen Glaubensgenoffen an der Öftfee einen
Druck ausübt, welcher demjenigen um nichts nachſteht, ben die
Mohammedaner Konftantinopels auf den byzantinifchen Chriften,
die noch unter ihrer Macht fiehen, Taften lafien. Wenn man
ferner fieht, wie die Ruffen noch jegt im echt aflatifher Weiſe,
nad dem Beifpiele der einftigen Affyrier und Babylonier, die
unglüdlichen Polen in weit entfernte Länder und öde Steppen
wegführen, und dadurch bemeifen, daß der Geift, der fie zu
ſolch barbarifger Handlungsweiſe fhon in frühern Zeiten, wie
bei der Eroberung und vandalifchen Verwüſtung Livlands am
Anfange des vorigen Jahrhunderts, trieb, wo fie die Bewoh⸗
nerichaften einer Menge verbrannter Städte mit Weibern und
Kindern wegichleppten — wenn man, wie gejagt, fieht, daß
diefer uralte afiatiſche Geiſt noch immer in ihnen lebt um
wirkt, fo kann aud ber Weſteuropüer nichts fehnlicher wünſchen,
als dag es dem ruſſiſchen Reiche ebenfalls ergebe wie einf dem
afiyrifhden und babyloniſchen, damit die ſtets drohende Gefahr,
feinen wilden Horden and) zur Beute zu fallen, von den Stan
ten und Ländern der civilifirten Welt abgewendet werde. —
Darum erhebe fi) alles, was noch in germanifchen Landen
Sinn für Freiheit und Liebe zum gemeinfamen Vaterlande und
ein Herz für die bedrängten &laubensbrlider an der Offer im
Bufen trägt, zum Schuß diefer Bormauer gegen rohe Bar»
barei und umerfättliche Herrichfucht, diefer Außerften Borpoften
deutfher Sitte, deutſcher Sprache, deutichen Glaubens und
deutſcher Eultur.
Edwart Kattner.
und Romane.
enthält zwei Erzählungen: „Todt und lebendig, eine Er-
zählung aus der münchener Cholerazeit”, und „Zigeuner
ftoffele, eine Abventgefchichte”. Der Held der erften Er⸗
zählung ift ein leidenfchaftlicher Kaffeehausmenſch, der
bon fich zu fagen pflegte: „Todt und lebendig lanf' ich ine
Kaffeehaus. Glaubt ficher, man fieht mich noch dan,
wenn ich einmal geftorben bin.” Er ift in München als ein
böchft origineller und ungewöhnlicher Menſch befannt, und
feine ganze Exiſtenz iſt in ein gewiſſes romantifches Duntel
gehüllt. Er wird Doctor titulirt, führt eine Literaten
eriftenz und brütet über großartigen Planen, wie er durch
fchriftftellerifche Productionen Geld und Anfehen erwerben
will. Er ftirbt plöglih an der Cholera, und nun fcheint
fein prophetifcher Ausſpruch zur Wahrheit werden zu fol
len, denn von glanbwürdigen Leuten in München wird
behauptet, fie hätten den Doctor in dem Kaffeehauſe wieder:
gefehen. Zuletzt erfcheint diefe gefpenfterhafte Perfönlid”
feit, von welcher ganz München fpricht, in einer Geſell⸗
haft, welche fi in ber Neujahrsnacht in dem Kaffee -
Erzählungen und Romane.
hauſe zu verfammeln pflegt, und an welcher auch der
Doctor theilgzunehmen gewohnt war. Nun klärt fidh end-
ih) das KRäthfel auf. In einer nicht fehr entfernten Stadt
wohnt des Doctor Better, welcher ihm auffallend ähnlich
fieht; diefer Better ift nach dem Tode des Doctors einige-
mal nad) München gelommen, um bie Angelegenheiten
befielben zu ordnen, und ift. jedesmal in dem Kaffeehauſe
eingefehrt, in welchem der ‘Doctor Stammgaft war. In⸗
folge hiervon entftand in Münden das Gerlicht, der
Doctor fei aus dem Grabe wiedergefehrt. Dies bildet den
Angelpunlt der Erzählung und gibt zu jpannenden Situa-
tionen Veranlafjung.
In „Zigennerftoffele” ift einfach und getren eine Ge⸗
ſchichte erzählt, welche uns einen Blick in das Familien⸗
und Volksleben des gofjersweilerer Thals werfen läßt, das
fih in jener rauhen, grotesfen Schönheit Hinter dem Berg-
gelände von Klingenmünfter durch die Wellen bes Was-
gam zieht. Der Berfafier bat fi) ganz auf den Stand-
punft jener armen, gutmüthigen Gebirgsbewohner geftellt;
ihre naiv⸗kindlichen Glanbensanfhauungen boten ihm Ge⸗
legenheit zu verjchiedenen poetifchen Zügen, die hoffent⸗
lich dem Xefer fo zu Herzen fprechen, wie fie es ver-
dienen. Wer, auf einem „höhern Standpunkt“ fich wäh⸗
nend, fpöttifch über jo manches davon lachen wollte, möge
bedenken, ob nicht diefer vermeintlih Hohe Standpunkt
noch viel mehr Seiten zum Belächeln böte.
In der Wohnung eines armen Waldhüters, welcher
eine fehr zahlreiche Familie hat, wird während feiner
Abwefenheit in der Chriftnacht ein Zigeunerfind ausgeſetzt.
Der Waldhüter zieht es groß, und dies Kind wird fpäter
für ihn der Retter aus der Noth. Dies iſt der Stoff
ber Erzählung.
Der Berfafler hat eine fehr anfprechende und lie
benswürbige Erzählungsgabe Auffaffung und Darſtel⸗
fung find fräftig und lebendig, fern von jeder jentimen-
talen Schönthuerei und moderner Öeziertheit, und dabei
ift das Ganze phantafle- und gemüthvol. Der Verfafſer
verſteht es, aus einem einfachen Stoffe ein anziehendes
abgerundetes Ganzes zu machen.
Der Roman „Das Muttermal” von Ponfon du
Terrail (Nr. 2) fpielt in der neuern Zeit. Bor etwa
neun Jahren lebte bei Terolles, eine Biertelftunde von
der Loire, eine Müllerin, welche einen einzigen Sohn,
Lorenz, hat und eine hübjche Pflegetochter, Naẽmi. Beide
lieben fi) und wollen ſich heirathen. Da nuß Lorenz,
welcher feine Militärzeit abbient, plöglich mit nad) Italien
gegen die Defterreicher. In der Schlacht bei Magenta
wird er verwundet, geräth in Gefangenfchaft und wird
in eine Citadelle an der Donau gebradt. Bon bier ent-
fliegt er und nimmt feinen Weg durch die Türke. Nach
einer mühjeligen und gefahrvollen Wanderung erreicht er
eine Hafenftadt, wo der franzöſiſche Conful ſich feiner
annimmt und ihn zu Schiffe nad Frankreich zurüdichidt.
Seine lange Abwefenheit hat fein Milchbruder Michel,
ein Tangenichte, dazu benugt, um ihn aus dem Haufe
feiner Mutter zw verdrängen. Michel's Mutter ift bie
Amme von Lorenz gewefen; diefe bat, wie Michel's Vater
der Müllerin nachweift, auf dem Sterbebett das Belenntniß
abgelegt, der echte Sohn der Miüllerin ſei Michel, und
fie habe die beiden Kinder vertaufcht; zum Beweiſe diene
491
ein Muttermal, welches Michel auf dem Rücken trage.
Da auf Michel’8 Leibe diefes Mal wirklich fichtbar ift, fo
muß die Müllerin ihn wohl oder übel für ihren richtigen
Sohn Halten. So ftehen die Sachen als Lorenz wieder-
kehrt. Es beginnt num von feiten des letztern ein Höchft
geſchickter Operationsplan, um bie Betrüger zu entlarven.
Die Eompofttion des Romans ift fehr geſchickt an⸗
gelegt; der Stil ift mufterhaft; bie Darftellung hat eine
gewiſſe objective Ruhe, verbunden mit Lebendigkeit und
Anfchaulichkeit. Die Charaktere find richtig und interefiant
geichildert und confequent durchgeführt. Der Roman ges
hört zu derjenigen Klafje der neuern franzöfifchen Roman⸗
literatur, in welcher gediegene Einfachheit und Natürlich
keit jowie innere Wahrheit bei Darftellung der Charaktere
angeftrebt wird. Die Ueberſetzung ift recht lesbar.
Auf den Inhalt des hiftorifch-politiichen Romans von
Edmund Hahn: „Hohenzollern und Welfen” (Nr. 8),
gehen wir nicht näher ein, ba die Ereigniffe, welche er
behandelt, im ganzen allgemein befannt find. Der erfte
Band erzählt von Friederike von Medlenburg -Strelig und
Ernft Auguft, Herzog von Cumberland; der zweite Band
ſchildert das Leben bes Königs Ernft Auguft von Hanno»
ver und feines Hofs; im dritten Bande wird König
Georg V. vor und nad der Schlacht bei Langenfalza dem
Lefer vorgeführt. Die Compofition des Romans ift man-
gelhaft, e8 ift eine etwas bunte Mofaifarbeit. Am mei-
fin wird er den rauen gefallen, welche aus Bildern
diefer Art Häufig ihre gefchichtlichen Kenntuiſſe zu ver-
vollftändigen pflegen. Als folche Lektüre kann das Bud)
empfohlen werden, zumal aud der Standpunkt bes
Verfaſſers ein durchaus gemäßigter ift und ſich von ver»
blendeter Parteifucht fern hält.
Die Erzählung von Adolf Mützelburg: „Das Schloß
an der Oſtſee“ (Nr. 4), ift mit einer gemwiffer routinirten
Geſchicklichkeit gefchrieben und wird gewiß ihr Publikum
finden; vom Standpunkt der Kritif aus kann man fie
indeß nicht fehr loben. Das Ganze ift etwas fchablonen-
haft; die Charaktere und die einzelnen Handlungen be-
ruhen mehr auf romanbafter, nad Effect hafchender Be⸗
rechnung als auf Natürlichkeit. Der Inhalt der Erzäb-
lung ift ungefähr folgender: Ein Hr. von Ernedomw
hat in dem falfchen Wahne, er müſſe die Ehre feiner
Familie rächen, auf grundlofen Verdacht Bin einen Ver⸗
wandten niedergeftochen. Er glaubt ihn getödtet zu haben;
doch ein Diener feines Hauſes hat ihn gerettet, da bie
Wunde nicht tödlich gewefen if. Diefer Diener bewahrt
fein Geheimniß feinem Herrn gegenüber audy da noch,
als Pflicht und Menfchlichkeit längſt gefordert hätten, ihm
Aufllärung zu verichaffen. Nach langen Jahren rettet
Ernedow einem Schiffbrüchigen auf der Oftfee das Leben.
Dies ıft, wie fich herausftellt, der Verwandte; und e8
erfolgt nun, da Ernedow tiefe und wahre Reue zeigt,
eine Berföhnung. Die meiften Handlungen und deren
Berfnüpfungen beruhen auf Unnatürlichkeiten und innern
Unwahrfcheinlichkeiten.
„Winifrid Bertram und die Welt, in der fte lebte”
(Nr. 5) ift mehr ein Erbauungsbud ald ein Roman; in
der Form ift e8 daher ganz verfehlt, da die Handlung
jo gut wie feine if. An trivialen Borlommniflen bes
Lebens wird gezeigt, wie der wahre Chrift fich verhalten
62 *
492
fol; zu gleicher Zeit wird dargethban, wie das Gebet und
die Gnade Gottes den Menfchen zum rechten kichhlichen
Glauben bringen. Manche einzelne Gedanken find recht
gut; das meiſte ift indeß in einem Katechismustone ge-
halten, der fi in einem Romane wunderlich ausnimmt.
Das Bud ift, wie es bei fo verfehlter Form nicht an-
ders fein kann, von einer ermübdenden monotonen Breite.
Es eignet fich jedenfalls vortrefflich für englifche Sonn⸗
tagslektüre.
„Wie man regiert” (Nr. 6), eine Erzählung von
M. Anton Niendorf, beruht, wie ausbrüdlich mit-
getheilt wird, als hiftorifche Erzählung auf thatfächlichen
Borgängen an Hleinftaatlichen Höfen. Dies glauben wir
ſehr gern; aber iſt alles Thatſächliche auch darum
interefjant ? Die Thatfächlichkeiten, welche bier erzählt
werden, find trivial und unbedeutend; auch find fie nicht
in beſonders anjprechender Form dargeftellt. Stellenmweife
find fie in nicht gerade glüdlicher Weife carilirt. Schließ-
lich iſt die Erzählung ohne eigentliche Pointe, und es ver-
läuft alles im Sande. Es werden die Kächerlichkeiten und
Thorheiten an dem Hofe eines Heinen Fürſten gefchildert,
welcher eine große Freundſchaft fiir Oeſterreich hegt, aber
ezwungen wird, in dem Annerionsjahre 1866 fidh an
Beeußen anzuſchließen.
In Nr. 7: „Georg I. und bie ſchöne Minette“, iſt
Minette die Tochter eines Oberamtmanns in Thedinghaufen,
welcher außer ihr noch drei andere Töchter hat. Da der
Amtmann rei) und die Töchter berühmte Schönheiten
find, fo kommen Freier in großer Zahl. Doch der Vater
will fehr hoch hinaus und weift fie alle zurüd, da fie
ihm nit vornehm genug find. Die Töchter, im Ein-
vernehmen mit ber Mutter, verloben fich ohne fein Wiffen
Kleine philoſophiſche Schriften.
und warten auf eine günftige Zeit, um vom ihm feine
Einwilligung zu erhalten. Einft macht der Amtmann
mit feinen Töchtern eine Reife nad) Hannover, um den
Feſtlichkeiten beizumohnen, welche bei Gelegenheit der An-
wefenheit von Georg II. veranftaltet werben. Seine Töd-
ter machen in der Hauptftadt das größte Auffehen; die
ſchöne Minette zieht felbft die Blicke des Königs auf fid,
welcher eine Neigung für fie faßt und ihr Anträge zwei»
deutiger Natur macht. Der Vater, dem dies Hinterbradt
wird, ift außer fich, und gepeinigt von der Furcht, feme
Töchter Könnten die Maitreflen von Fürſten werben, finnt
er darauf, fie fobald wie möglich zu verhgrathen. Durd
—* Umſtand erreichen die Verlobten ſehr leicht ihren
weck.
Die Erzählung würde recht hübſch und ſpannend ſein,
wenn ſie nicht in einem gänzlich ungenießbaren Stile ge⸗
ſchrieben wäre. Die Perſonen ſprechen durchweg einen
Jargon von deutſch⸗franzöſiſch, wie er im vorigen Jahr⸗
hundert theilweiſe in Deutſchland Mode war. Dies iſt
ein großer Misgriff. Wenn auch im Anfang, um den
Charakter der Zeit zu zeigen, die Perſonen mit dieſer
Sprade eingeführt würden, fo hätte doch im Verlauf der
Erzählung dies widerlihe Gemiſch aufgegeben werden
müſſen. Dazu kommt noch, daf die franzöfifchen Redens⸗
arten zum Theil aus dem Lerifon in unverftändiger Weile
zufammengefucdht und daher Häufig ganz falſch find. Auch
ftrogt das Franzöſiſche von groben orthographiſchen und
grammatifalifchen Fehlern. Iſt das auch mit Abficht ger
macht? Wie kann ber Gefchmad fich fo verirren! Man
könnte e8 jemand als Strafe zuerfennen, ein foldes Buch
durchzuleſen.
Rudolf Sonnenburg.
— — — — — —
Kleine philoſophiſche Schriften.
1. Die Solidarität alles Thierlebens. Vortrag gehalten in
der feierlichen Sitzung der kaiſerlichen Akademie der Wiſſen⸗
ſchaften am 31. MRai 1869 von Karl Rokitaunsky. Wien,
C. Gerold's Sohn. 1869. 8. 5 Ngr.
Es ift ein erfreuliches Zeichen der Zeit, daß mehr
und mehr bie renommirten Naturforfcher fich wieder ge-
drungen fühlen, ihre Specialforihungen als beftimmten
Theil einer philofophifchen Gefammtanfhauung der Welt
und zunächſt der Natur aufzufaflen, ein Umſchwung gegen
früher, der wefentlic dem Weiterumfichgreifen des Dar⸗
winismus zu verdanken ift, durch welchen zuerft wieder
die Naturforfcher auf den großen Yujammenhang der
Lebewelt in nicht abzulehnender Weife Hingewiefen wurden.
Der vorliegende Bortrag gibt hierzu einen Beleg, denn
er bietet gewiffermaßen eine Raturphilofophie nach mo⸗
dernem Zufchnitt in nuce. Der Berfafler ſelbſt faßt
am Schluß die Zwede feines Vortrags folgendermaßen
zufammen: 1) zu zeigen, daß bie Wurzeln alles Thier-
lebens und Thierverkehrs von den höchſten Streifen herab
. in das protoplasmatifche Urthier reihen; 2) zu zeigen,
worin weſentlich die unveräußerliche, in ihrer empirischen
Entfaltung an Gefege gebundene Thiernatur beftehe, und
wie folche eine durchgreifende Solidarität des Thierlebens
begründe; 3) zu zeigen, daß wir in naturgemäßem fort
ſchritte begriffen fein. Als die Urphänomene des Thier-
lebens entwidelt der Berfafler Hunger und Bewegung —
den Hunger als Reaction auf die empfindlich gewordenen
Stoffverlufte, welche der nie raftende Stoffwechſel mit
fich bringt, und die lebendige Bewegung, welche ſich da-
durch don der Bewegung im Reich der anorganiſchen
Natur unterfcheidet, daß fie als Folge einer Perception
von Reizen erfcheint. „Hunger und Bewegung find aljo
zwei Dinge, die nothwendig auf ein Bewußtwerden bed
innern Zuftandes und einer Außenwelt in feinen erften
dumpfen Anfängen binweifen” (©. 6). Dabei verkennt
der Verfaſſer keineswegs die Bebentung einer unbemußten
Zwedthätigkeit, fei e8 in den erften Lebensregungen pro:
toplasmatifchen Urftoffs, ſei e8 in den höchften Aeuferun
gen des menfchlichen Intellects, wobei er ſich auf Wundt
und Carpenter beruft. Aus Hunger und Bewegung ald
Urphänomenen ergibt ſich die fchlechterdings aggreffive
Natur des Thiercharakters. Schopenhauer’3 Hungriger
Wille zum Leben und Darwin’s Kampf ums Daſein
werben bier in berebter Weife zu einer einheitlichen An-
ſchauung zufammengefchmolzen, ihre abfolute Herrſchaft
von dem niedrigften Anfängen bes Thierreichs bis zu den
u Fenilleton. 493
höchſten Regionen des menſchlichen Geſellſchaftolebens dar⸗
gethan, und die Allgemeinheit des Leidens als die noth-
wendige Folge dieſes aggreifiven Thiercharakters aufgezeigt.
Daß der Verfaſſer die Solidarität des Leidens im ftreng-
ſten Sinne zu nehmen ſucht, ift hoch anzuerlennen, in-
befien gehört zur erntlihen Durchführung dieſes Gedan⸗
tens doch nothwendig die Borausfegung eines in allen
Lebeweſen identifchen Subjects des Leidens, da ohne die
ſes die behauptete Solidarität allzu ſehr an die fataliftifche
Auffaffung der Gefammtfumme des einem beftimmten
Menjchenleben zugemefjenen Leides erinnert, welche zur
Folge hat, daß 3. B. der Ruſſe fich über jede neue Anzahl
empfangener Knutenſtreiche als über ein von der ihm
vorherbeftimmten Gefammtfumme von Kuutenhieben ab-
gefponnenes Penſum freut.
Den Fortſchritt des Weltprocefies fucht der Ver⸗
faſſer fehr richtig allein auf dem Gebiete der Intel⸗
ligenz, welche im Stande ift, den Willen durch Vor-
haltung geeigneter neuer Motive in neue Bahnen zu
Ienfen. Der aggreifive Charalter des Willens ſoll
nicht vernichtet, der Kampf ums Dafein nicht auf-
gehoben werden — denn aus ihm allein Tann der Fort⸗
ſchritt entfpringen — , fondern er fol nur eingefchränft
werden auf das abfolut nothwendige Gebiet, wo er das
relative Minimum von Leiden verurjacht, auf bie pro-
ductive Arbeit, und foll befeitigt werden für das Gebiet,
wo er nuglofe Qual fihafft, oder wo er mehr ſchadet
als nutzt. Mit andern Worten: der aggreffive Charalter
und die Concurrenz fol auf das wirthichaftliche Gebiet
der Production (im weiteften Sinne) befchränft, für alle
andern Gebiete aber als unftttlih und den Rechten der
Benachtbeiligten wiberfprechend befeitigt werden. Daß
felbft zum Zweck der Production ein partieller Berzicht
auf unbefchräntte Concurrenz behufs der freien Afjociation
möglich ift, deutet der Berfafler allerdings auf S. 34 an,
unterläßt aber die Ausführung, daß gerade auf diefem
Gebiete die nüchfte Zukunft Hoffen darf, ihre fchönften
Palmen zu pflüden und das humane Bewußtſein der
Solidarität als Gegenmotiv gegen das bisher herrſchende
Tauftreht des unbefchränkten Egoismus in noch zu
findenden Formen auch in das mirtäfchaftlihe Gebiet
einzuführen.
2. Die Gefundheit der Seele von Bernhard von Beskow.
Nach der zweiten Auflage des ſchwediſchen Driginale fber-
fegt und mit einem kurzen biographifchen Abriß des Ver⸗
fafjfere verfehen von Chriſtian von Saraumw. Berlm,
C. Dunder. 1869. 16. 12 Rer.
Sp nahe verwandt auch die fchwebifche Nationalität
der deutfchen, mamentlich der norbdeutfchen tft, fo wenig
pflegen wir uns um das zu befümmern, was jenfeit der
Oſtſee vergeht. Es ift deshalb fchon vom culturgefchicht-
lichen Gefichtspunfte aus mit Dank zu begrüßen, daß
der in weitern Streifen als gewandter Militärfchriftfteller
befannte Weberfeger es unternommen bat, uns mit
einer Probe der jchwedifchen Literatur von allgemeinem.
Intereffe befannt zu machen. Allerdings würde man
vergebens in diefer Fleinen Schrift nene und epodhe-
madende Gedanken ſuchen; das ſchwediſche Geiftesleben
ift überhaupt nur als ein Planet um die Sonne bes
deutfchen zu betrachten, wenn man auch zugeben muß,
baß es die englifchen und franzöfifchen Leiftungen auf-
merffamer verfolgt als wir felbft umd theilweife fi in
eigenthümlicher Weife entfaltet hat. Der Berfafler iſt
ein vor einem Jahre als fünfundfiebzigjähriger Greis
verftorbener Dichter, welcher noch mit Goethe in freund-
ſchaftlichem Briefwechfel geftanden hatte. Im der vorlie-
genden Schrift hat er die behagliche Lebensanfchauung
eines jederzeit vom Geſchick begünſtigten Greifes niedergelegt,
der fein Glück ſtets mit der Weihe einer poetifch-Yeligiös-
philoſophiſchen Stimmung genofien hat. Eine zwar nit
tiefe, aber edle, feine und liebenswürdige Natur fpricht
aus diejen Betrachtungen, die fi) angenehm und fließend
in ber eleganten Ueberjegung lefen. Der Gedankenkreis
bewegt fich etwa in ber Sphäre der frühern beutjchen
Vopularphilofophen (man denfe an Engel's „Philoſoph
für die Welt“), obwol der Stoff uns fofort ind Moderne
verfegt. Wenn auch der auf der Höhe der beutfchen
Bildung ftehende Mann manche fo behaglich vorgetragene
Wendung trivial und das Gefichtöfeld etwas fpiekbür-
gerlich finden wird, fo ift doch das Publikum, welches
gerade diefe Gattung von Lektüre nicht nur mit Nuten
lieft, fondern auch eifrig fucht, groß genug, um das
Heine Büchlein einer Empfehlung werth zu halten, zumal
es ſich in feiner eleganten Ausftattung ganz befonders
zum finnigeu Geſchenk an Frauen oder Yünglinge eignet.
Feuilleton.
Englifhe Urtheile Über neue Erfheinungen der
deutfhen Literatur.
„Karl Eize’s «Lord Byron»“, fagt die «Saturday Re-
view» vom 18. Juni, „das Buch könnte mit Nuten ine Englifche
überfegt werden, da e8 einem wirklichen Bedürfniß in unſerer
Literatur abhilft, dem nämlich einer gebrängten und handlichen
Biographie, welche das Wejentliche von der Moore's enthält, zu-
glei) aber mit Hilfe von Seitenquellen viele Lücken berfelben
ergänzt und gründlich auf ben Fritiichen Theil des Gegenftandes
eingeht. Eine vortreffliche kurzgefaßte Biographie, die von
Cherty, ift allerdings bereits im Dentihen vorhanden; bod)
haben neuere Erörterungen ein anderes Werk nöthig gemadit.
ir lönnen zwar nicht jagen, daß Elze's Arbeit ganz befriedi-
gend wäre; fie trägt zu viele Spuren übereilter Zubereitung
an fi, um einem Bedürfniß entgegenzulommen, vom dem der
Berfaffer beforgt zu Haben fcheint, es möchte nur vorübergehend
fein. Deffenungeachtet verdient fein Werk das Lob eiues verflän-
digen, Iesbaren und im allgemeinen genauen Compendiums;
wenig brauchbare Duellen feinen ihm entgangen zu fein, und
feine ausgebreitete Belanntihaft mit der kritiſchen und dichteri-
chen Literatur Europas bat ihn in den Stand gefett, viele
werthvolle Erläuterungen aus diefer Quelle herbeizuziehen. Eine
der anziehendften Partien des Buchs ift da8 Kapitel Über By-
ron’s Einfluß auf die Literatur des feftländifhen Europa.
Elze's eigene Beurtheilungen find nüchtern und einfach, ohne
auf Tiefe oder Originalität Anſpruch zu maden. Sein Urtheil
über Byron als Menfch fcheint uns zu günſtig, und zwar nicht
deshalb, weil er etwa die glänzenden umb intereffanten Eigen»
ſchaften feines Helden übertreibt, als vielmehr weil er eine be-
ftändige Geneigtheit zeigt, alles andere zu ignoriren. Das muß
1
0, mit na
494
indeſſen flets der Kal fein, wenn der Gegenfland der Haupt⸗
ſache nach von der üſthetiſchen Seite betradjtet wird; doc muß
man allerdings einräumen, daß eine Biographie, welche den
Dichter dem Menſchen unterordriete, weder des Schreibens noch
des Lefend werth wäre. Biel Raum iſt dem jlingfien Skandal
gewidmet, welcher, wie zu flirten if, dem Buche fiberbaupt
erſt Entſtehung gab. Er wird jedodh in einem maßvollen und
geziemenden Zone beiprodhen. Wie alle, die auf dem Feftlande
darliber gefchrieben Haben, erklärt der Berfafler Lady Byron's
Beſchuldigung für unnnterſtützt durch Außern nnd unglaublich
nad innerm Beweis. Nur in zwei Hinfichten weicht er von
andern ab: er räumt ein, daß die gegen Mrs. Stowe gemachte
Enthülung aller Wahrjcheinlichleit nach biefelbe war wie die,
welche urfprünglich dem Dr. Lufhington anvertraut wurde; und
dann bat er eine eigenthümliche Erffärung flir den Wahn ber
Lady Byron, weldyer aus ihrer Übertriebenen Eiferfucht auf den
Einfluß, den Mrs. Leigh auf ihren Bruder gehabt, entftanden
fein fole. Wir halten nun zwar dieſe Anfiht von der Sache
für ganz unhaltbar; man muß indefien zulaffen, daß Lady By-
ron alles Recht verwirkt babe, fich Über irgendeine Bermuthun
zu beflagen, welche ein Biograph im feiner Berlegenheit, fi
ihr rätbjelhaftes Benehmen zu erflären, ergreifen mag.’
Ueber Julian Shmidt’s „Bilder aus dem geifligen
Leben unferer Zeit‘ lefen wir mie folgt: „Julian Schmidt ift
der Apoflel des Realismus in der kritiſchen Titeratur des beu-
tigen Deutfchland. Was diefes fen Hauptkennzeicheu betrifft,
fo fünnte man den talentvollen Kritiler faſt ale einen zur Un⸗
zeit geborenen bezeichnen, denn von allen nur möglichen Mah⸗
nungen, die an die zeitgenöſſiſchen Schriftfteller Deutichlauds
gerichtet werden können, ift mol die gegen den Misbraud; der
dichteriſchen Begabung die überflüffigfe. Im der That, wenige
von ihnen Haben eine ſolche Begabung zu misbrauchen, und
Schmidt würde feinen Landsleuten mehr Dienft leiſten, wenn,
anftatt immer wieder auf die unleugbaren Schwächen der ro-
mantifhen Schule zurädzulommen, er ihuen etwas von dem
poetifchen Geifte einflößen könnte, welcher den Leiftungen diefer
letztern ſolchen Zauber verlieh. Solche Begeifterung ift ans
den nächtlichen Betrachtungen eines trodenen, Haren, profaiichen
Berſtandes nicht zu ſchöpfen. Julian Schmidt’s Stelle in der
Literatur iſt deſſenungeachtet feine unbedeutende, denn findet
ſich auch nur wenig echte Phantafie in der deutſchen Belletriftik,
fo gibt es dod) gegenwärtig genug ſchwächliche Erhenchelung
einer ſolchen nnd jogar noch weniger gefunden Realismus und
Naturtreue. So if denn aud die pofitive Seite feiner Kritik
wertbuoller als die negative. In Ermangelung des fchöpferi-
fhen Dranges, ber nicht nad Belieben hervorgerufen werden
kann, kann vielleicht das Studium der engliſchen Schriftfieller,
das er fo dringend empfiehlt, eher als alles andere einen heilfamen
Erfolg haben. Die Efjays fiber englifche Literatur find übrigens
unter dem mannichfaltigen Inhalt diefe® Bandes die forgfältigft
ausgearbeiteten. Scott ift ausflihrlicher behandelt al8 irgend»
ein anderer, und Schmidt's hohe und richtige Schägung feines
Genie lünnte mit Nugen bei uns fludirt werden. Der Eſſay
über Bulwer unterhält durch die ernſte, fcrupulöfe und ach⸗
tungsvolle Aufmerffamleit, die bier einer Maske gewidmet wird,
welche die anfgeflärte Meinung bei uns längſt mit der Imfchrift
versehen hat: «Pulchra species, cerebrum non habet.» @eorge
Eliot wird ebeufalls ausführlich gewürdigt, und wenn e8 tirl-
ih wahr if, wie der Berfaffer jagt, daß ihre Werke in Deutſch⸗
land nur als unterhaltende Novellen betradjtet werden, fo ver-
dient fein Berſuch, deren Bedeutung ans Richt zu ftellen, um
fo wärmerer Anerfennung. Doch ſcheint e8 uns, daß er dabei
einen zu niedrigen Ton anfchlägt. Alles, was er über die
fittlihe Ziefe und den religidfen Anftrih ber Eliot'ſchen Ro⸗
mane fagt, if} vortrefflih; allein er wird weder ihrem Stil,
ihrem Qumor, noch ihrer Beobachtungsgabe gerecht; and) ber
rührt er nicht einmal dasjenige, was, wie man hätte erwarten
follen, einem geiftreihen Kritiker zu allererft aufgefallen fein
würde, nämlich die Weite und das volllommene Gleichgewicht
ihres Verſtandes. Turgeniew nnd Sainte-Benve bilden ben
Inhalt zweier fehr guten Abhandlungen, auch finden wir eine
höchſt unterhaltende Skizze Über Schelling’8 perſönliche Be⸗
Feuilleton.
ziehungen zu den vorzäglichften Schriftflellern ber romantiſchen
Schule, mit befonderer Bezugnahme auf die fehr unregelmäßi-
gen Eonjugationen derjelben.
Ueber Alfred Reumont's „Geſchichte der Stadt Rom“
fagt das Blatt: „Das große Werk iſt endlich, vollendet. In
deifen fo groß es auch ift, fo hätte e& doc im doppelten
Sinne des Wortes noch größer fein können. Wir können näm-
lich nicht umhin zu bedauern, daß Über den letztern Theil, vom
Tode Sirtus’ V. bis auf unſere Zeit, fo hinweggeeilt worden
if. Ermangelt aud die Geſchichte dieſes Zeitraums allerdings
des Glanzes der vorhergehenden Epochen, fo verdiente doc
ihre Wichtigkeit gerade in Bezug auf dem eigentlichen med
bes Reumout'ſchen Werts eine ausführlichere Behandlung. Die
Sache jedoch ift, der Verfaſſer liebt augenſcheinlich die Einzel
heiten der Archäologie und Zopographie nicht fehr. «Bethlirmte
Städten gefallen ihm weniger, als «das geichäftige Summen der
Menichen», das Gewirr der Politik, die Entwidelung der Literatur,
das Malerifche individueller Porträtirung. Der größere Theil
diefes Werks ift der glanzvollſten Periode des neuern Rom gemib-
met. Das Bild ift voll, doch nicht Überladen, von glänzenden
Geftalten, und die Empfindung, die man dabei bat, iſt, als ob
man einer prächtigen Maskerade beimohue, im welcher "der
Papft, die Cardinäle, die Conftabler, der gekrönte Dichter umd
die Künſtler raſch vorlibereilen, Reumont's Porträts find
meifterhaft, befonders die hervorragend intereflanter Geftalten,
fowie der Päpfte des 15. und 16. Jahrhunderte. Im als
gemeinen beurtheilt ex ihren Charakter mild, vielleicht zu mild
für die Strenge der hiſtoriſchen Wahrheit oder dem fittlichen
Maßſtab des 19. Iahrhunderts, Der Hiſtoriker kann ſich in⸗
defien damit entihuldigen, daß ein folder Maßſtab nicht mit
Hecht an die Männer der Renaiffance angelegt werden fönne,
und mit dem Geifle diefer Epoche hat er fich fo viel, ale es
für einen, der den Verluſt der alten geiftlichen Oberherricaft
Roms bedauert, möglich ift, identificirt und betradjtet diefe Ich
tere in dem Lichte, in welchem fie von den aufrichtigen Katho⸗
liken jener Zeit angefehen wurde. Der Rüdfchlag, welcher auf
die Reformation und die Plünderung Roms erfolgte und feinen
Ausdrud in der vom Concil zu Trident zu Stande gebradten
Halbreformation fand, ift gut geichildert. Unter den Kapiteln
don weniger allgemeinem Intereſſe, die aber mehr zu dem ein-
geftandenen Zweck des Werks flimmen, mögen die fiber bie
päpftlihen Finanzen, bie ſtädtiſche Verwaltung Rome, die
Campagna, gelehrte Gejellichaften, Muſeen, die Peterskirche
und die reichlichen Notizen Über die vorziglichfien Künftler, die
durch ihr Leben oder ihre Werte mit der Emigen Stadt in
Verbindung flehen, erwähnt werden.’
Ueber E. von Hartmann’s „Schelling’s pofitive Philo-
fophie ale Einheit von Hegel und Schopenhauer‘ beißt es dar
ſelbſt: „Einer der origineüſten philofophifchen Denter Deutid
fonds, deffen frlheres Wert uns veranlaßt haben würde, ihn
der Hauptfadhe nad) für einen Jünger Schopenhaner’s zu hal
ten, bringt auf einmal Schelling als ben Bermittler vor, m
welchen die Halbwahrheiten Hegel’8 und Schopenhauer's in
Uebereinflimmung gebracht werden. Er erflärt, daß die Nach⸗
weiſung fi nicht auf die frühern unter dem Einfluß der to
mantifhen Schule geichriebenen Werke Schelling’e, nod anf
das myſtiſche und theofophifche Element in feinen fpätern Schrif-
ten anmwenden lafle. Es möchte nad mehren Anzeichen ſchei⸗
nen, als ob auf die lange Bernadläffigung, mit der Schelling
behantelt worden if, eine Reaction zu feinen Gunften folgen
follte.‘'
_ „E. Edftein’s «Schad der Königin»', heißt es ferner,
„if einer der am wenigſten mislungenen von ben vielen ver⸗
fehlten Berfuchen, die man gemacht hat, die Manier des Don
Juan nachzuahmen. Das Gedicht befitzt ſowol Anmuth wie
auch Humor; ber Hauptfehler if ein Mangel an Kern, was
den Dichter zu allerlei Behelfsmitteln treibt, um feine Octaven
auszufüllen. Die Strenge ber claſſiſchen Form ift nicht überal
ee was ſchon an fich ein bedenfliher Mangel m
edicht iſt.“
Feuilleton.
Notizen.
Das dritte Heft des Jahrgangs 1970 der „Deutſchen Viertel⸗
jahrefgrift‘‘ enthält einen größern Juſag von 9. Dünger:
„Boethe's Eintritt in Weimar“, in melden nicht nur das
bieher Befannte Mar gruppirt und zufammengeflellt if, fondern
auch mandes Neue aus bisher nicht erfchloffenen Brief
Ihägen und Tagebüchern findet. Wie der junge frankfurter
Dichter, mit feinem Sturm und Drang und feinem flurme
fnellen Auffteigen im Staatedienſt, der Held dieſer Mitthei-
Iangen, fo if rau von Stein, die goldene rau, welche die
Herzen nicht mit „Pfeilen“, fonbern mit „Netzen“ befiegt, die
Heldin derfelben. Dünger theilt ein bisher unbefauntes Scherz.
gebicht von ihr mit, „Ryno, ein Scaufpiel in drei ae
dam en‘ (1776). Die mittoirtenden Perfonen find: Ryno (©: u
jeide — Mutter), Thusnelde (Fräulein Göchheim,
ha Scham), migunde (rau von Mother), Gertrud (fra
von Stein). Frau von Stein, die fpäter in der —S g
gehörige fatirifche Krallen zeigt, ſtreichelt den Dichter hier nı vu
fa jerahaft nedend, obgleich auch Hier ſchon humoriſtiſche Funken
HE Kegno führt fi mit den Worten ein:
Stud da eine Menge Geſichter herum,
Seiten alle veht adelid gänfebumm.
Gertrud fagt dem Dichter nad), daß er auf aller Frauen
Spur gehe und wirklich das fei, mas man eine „Kofette”
nenne, daß ihm Liebe immer forttreibt und daß er an jedem
zuen Ort einen neuen Ge, genanb findet. Alle mitwirfenden
eigen ihre diden Briefpadete. Frau von Stein verzieh
dem ug ter den Don Juan, aber die Heirat mit der Schwägerin
des „Rinaldo Rinaldini" bat fie ihm nie verziehen.
Wie das „Athenaeum” aus Nordamerika mittheilt, hat eine
Junge und unternehmende Buchhandlung, Lippoldt umd Holt
euyorf, die Abficht, eine Reihe ausländifcer Autoren in
Ueberfegungen zu bringen, ein ähnlides Unternehmen, wie das
von Tauchnitz in Europa if. Die Firma hat zunächft Ueber»
fegungen der Romane von Auerbach und Spielhagen gebracht,
und merlwurdigerweiſe mit großem äußern Exfolg, mährend
die Ueberfegungen von Balzac, George Sand und felör Dumas
fich als erfolglofe Unternefmnngen erwiefen haben. Anerbad's
„Landhaus am Rhein‘ hat ihm in Amerika einen Namen
gemadt, a Spieß en’ „Problematifhe Naturen‘,
eur Nacht zum Licht‘, „In Reh und Glied und „Hammer
umd Amboß‘ die Gunft des Publitums in unerwarteter Weiſe
gewonnen haben. Auch von Heſeliel's „Leben Bismard's" iſt
eine Ueberfegung ericienen.
Bon Friedrich Wilhelm Schlofier’s „Weltgeſchichte
für das deutſche Bol’ (Oberhaufen, Spaarmann) erſcheint eine
mene vevidirte Volfsausgabe, mit Zugrundelegung der Bears
heitung von Dr. ©. 2. Rriegt. Die Revifion übernehmen
Dr. D. Jäger und Prof. Th. Ereigenad, während Dr. Er
Bernhardt das Wert bis auf die Gegenwart fortjegt. Die
Borzüge Schioſſer's; Wahrheitsſinn, Schärfe der fittlien
Krint, Mare und beſtimmte Darftelung, fennzeichnen auch dies
Rationafiwert,
Bibliographie.
'r, L., Vertrauliche Briefe aus dem Zollparlament (1868 -
reslau, Günther. 8. ‚20 Ngr.
A Sn Das and gas er retten im be @ Gr
rn gt, 1. Bamburg, Seolle. 8,
mein Be — en 0 un! ae nee —ã — ber Gebidte. 2te — —
— uf an,da nei — Theorie des Bewusstseins. Berlin,
es 8. 1 Thir, 10 Ngr.
Dı, EI paso de las auimas. Roman. 2 Bbe. Leipzig,
er ©. & File 10 ter.
n, @., Pragmatische und hesrifwwiorgnechaftliche
der Philosophie, Fre, Tem —* —*8 16 Ngr.
lichen enge
B —A I Die ——————— —— u ua im
—— Ev Gorgeiiiig. Auliutfortige Rovelle. Meinz,
—— — und Wette, Inaugural-Dissertation. Greifs-
wald.
2 in, @oroiamer. HiRari
mat ana ug Kayan u in olbſe Diſtoriſcher Ro·
495
Das Carmen de bello Sazonico oder Gesta Heinriei IV. nen heraus-
gegeben von G. Waitz. Göttingen, Dieterich. Gr. 4. 1 Thlr.
Das Jatipatala. Lehrbuch des Jatäpätha
®
ie. SIG: Alter Grund. Distumgen. Ban, $.
feuohter, B., Die Annalen von Niederaltaich, Eine q
lenuntersschung, Göulogen, Vandenhoeck u. Ruprecht. 8. 16 Ner.
Die Gegsawart und Zukunft der Mrei in, Deutschland, Yon einem
aan Logenbruer. Lei, Final :
mm iſtoriſhe Kar 08. 8. 1 Thu.
elne, ge * —* Seien. 16, 15 Mar. ’
oder Fachschule Rede. Zürich,
—* —— Burton „ Qeiemmeite Novellen und Humoresten,
amthorne, ®. Binde Sin Kamen, Dauft von &. D.Be-
Per} Bremen, Fübtmann u. Comp, 8. 1 Zhle. 15 Fa
‚Heiteres aus Eile, Altes und Neues in —E und nee
jger Muntart, Caflet, Volmann, 8 3 Bag,
elmuth, Aus alten Tagen ber eig
Zraltilonen vet Garnlion Burn; ci — —E
SB bem vorigen Jabrhubert, "Burg,
üider Roman, 4 Die.
Die Bank des Verdi M
Says, M., Boltetputt une peeriefen. Vortrag. Berlin, Dünme
Meyer u, Zeiler, Gr’ &, 10 N
Brite, Yausfreunbe@rpeniin. 6 5 Eike D
ler. Gr. 8. Nor,
3 „ Die O) Erbi }. I, Die ober ‚Ra teuer
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. Wi — ‚von Rgiten an Erpbljof zu Galı
— im Kompfe Mi 9 m Seh mas Are tiert Eat Kae bene
i .d gaalan bes 17. ——
open
* — Dürr’fge Buch. S. au 1
en. 1. formen F ne "ng W. Bir.
u ga — Beger. 4 Rs. n “6
— ———— ‚Europas von Augustus hie aut
Karl den Öfouen, Nach der Da vorbomerten Auf male Han des
Verlagsere übersalet von Be Yolowien. Astar Bd, Leipeig, 6, F- Wine
ver. „Gr, 8. „1 Thlr, 34 Mar
Yy.M. A,, — Studien. 4tes Heft. Breslau, Schletter.
@r. 3. 7 Kar. 103,
Lochner, G. K., Die Personen - Namen in Albrecht Dürer's
Briefen aus Venedig, nürnberg, Korn. Gr.
Wider den Stadel. Bramatifhe Bitung. Leipsig,
Deutschlands Geschlohtsquellen im Mittelalter von der
1 Me zur Mite des riarsshoten Jahekundaru, Ta
2% —* — — eienen — Geist. Ham-
— NS sch weiseriechen hintrlschen Volks-
15, Jahrhunderte: Vortrag. Mit einem Aubang: Fünf Altort-
om Epoche in deutscher Uebersetzung. Zü-
lieder &
sche Lie
—S An der Calturgeschichte. Lier Bd.
Me Hälfte. Berlin, Behr. Gr. 8. 3 Thlı
—— Rev Su, am 3. ai 1870 von
Battiae, Moltte, Zeit, Anfammengeheit un mit einem Bormort
Begleitet von ©. Jahn. Berlin, Zortlamp Rat.
Ongaro, F. dall', Phasma, —— F nauder edichtet.
Aus dem —8 übersetst von F. Baerenspru: ichwerin,
Ser ige be en etc reines Bufenfreundes Stubirkud:
einige beim Kustehern von meinet Bufenfecane be
aufgetelen” Srehumetertal u Sldaparat für Die Brennenbe Oiulfenge,
Bond. ©. — —*
es "slac ver beten Mufl, des Orte
—
jramm ber Zukunft. Mrabemifae Stu ‚Stubie, —F bie hentige
1870, % ig, D.
* Br a e
BET ah er Jeseigang vom Rebenben zum
zigid, D, feine Deife nad Bhtelte, Wagdehtit, Beinrigt-
ee oder Dice, Zune von
von Bern. Sarg —V —
suche. Ulm,
ed Weib. Bon ber —S son
dem & gülden von Sephie Besen.
ee, Shniger. 8. 2 2hln. 18 Apr.
Satire Aus
anne Bubgater 3 Die
496 Anzeigen,
Anzeigen.
Derfag von 5. 2. 9 Brodfaus in —
Sprachvergleichende Studien
mit besonderer Berücksichtigung der
indochinesischen Sprachen
von
Dr. Adolf Bastian.
8 Geh. 2 Thir. 15 Ngr.
Dieses neue Werk des berühmten Ethnographen und
Sprachforschers enthält, nebst einer allgemeinen sehr interes-
santen Einleitung, die folgenden vier Kapitel: I. Das Flüssige
schriftloser Sprachen, ihre Wechsel und Mischungen ; II. Das
Birmanische; III. Das Siamesische; IV. Die Sprachgestal-
tang. Eine ausserordentliche Fülle neuen werthvollen Stoffs
wird darin fur die Wissenschaft zu Tage gefördert und in
anregender Weise dargeboten.
BEE Ieue intereffante Erfcheinungen! "u
Soeben erſchienen im unterzeichneten Berlage und find
borräthig in allen Buchhandlungen:
Cumtoni der reiwillige. .
Geſchichtlicher Roman von General Giuseppe
Garibaldi.
2 Bände, Gleg. geh. 1 Thlr. 10 Sgr. = 2 Fl. 10 Kr. oõ. W.
Unter seifliden Finde.
Roman aus den Ruinen reines Schloffes von Isidor
Gaiger.
leg. geh. 38 Sgr. er 47 Kr. o6. W.
Die kleine Life,
MAumorififcher Roman von Paul de Kock.
33 Egr. = 1 81.417 8.5. W.
Carl v. Ke— el. Dar a aa auf Beifen. Roman, 3 Bbe.
Michael Pal —* ET FR ea 38 ei -
life Pollo. %% am SCH TE
5
p Imatien und feine Infelmelt
Heinrich Not. durg die Sämaryen Serge. 1 Eile, yon
Arthur Stahl. 2 — an „Novellen.
General Garibaldi. EL aft des Mönie, „ Barte-
A. Hartleben’s Verlag in Wien.
Desfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Gedichte
bon
Adolf Ritter von Tſchabuſchnigg.
Dritte Anflage. 8 Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor.
Die Gedichte Tſchabuſchnig ap (gegenwärtig öſterreichiſcher
Minifter), bereits in zwei Auflagen verbreitet, liegen hier in
einer bebeutend vermehrten dritten Auflage vor.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Erasmus von Rotterdam,
: Seine Stellang zu der Kirche und zu den kirchlichen
Bewegungen seiner Zeit.
Von
Franz Otto Stichart.
8. Geh. 1 Thlr. 24 Ngr.
Die gegenwärtige an Conflicten auf dem confessionellen
Gebiete so reiche Zeit wird dem vorliegenden Werke,
einem geistigen Bilde des Erasmus von Rotterdam, das der
Verfasser aus dessen zahlreichen Schriften geschöpft, be-
sondere Theilnahme schenken. Erasmus geiselte die Ge-
brechen der Kirche und die Unsitten der Geistlichkeit mit
ebenso viel Witz und Geist als Klarheit und Schärfe; und
was er von seiner Zeit gesagt, passt noch vielfältig auf die
Gegenwart.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Rleine Schul- und, Bans-Bibel,
Geſchichten und erbauliche Tefeftlicke aus ben heiligen Schriften der
Seraeliten.
Bon Dr. Jakob Auerbach,
Zweite, verbejferte Auflage.
I. Abtheilnug. Bibliihe Geſchichte.
II. Abtheilung. Leſeſtücke ausden Propheten und Hagiographen.
8. Jede Abtheilur⸗ geheftet 20 Nor. Gebunden (in einem
ande) 1 Thlr. 20 Nr.
Bon diefem als —* bekannten Lehr⸗ und Leſebuche,
das ebenfo wol zum praktiſchen Unterrichtsmittel in Schulen
dient wie zum Borlefen im Familienkreiſe geeignet if, liegen
jest beibe aötheilungen in der vom Berfaffer gründlich durch⸗
gefeheuen zweiten Auflage vor. Troß der fehr wejentlichen
Vermehrung des Umfangs wurde ber billige Preis beibehalten,
damit das Buch um fo leiter in Schulen Eingang finde.
Für das Haus und die Familie fowie zu Geſchenken empflehlt
ſich vorzugsweiſe die gebundene Ausgabe.
Derfag von 5. 4. Brockhaus im Leipzig.
Premier livre
de lecture, d’ecriture et d’instruction allemande
a lusage de la maison et des &coles.
Par B. Sesselmann,
Professeur & I’Ecole superieure de Nancy.
Seconde edition. In-8. Geh, 6 Ngr.
Ein bereits in zweiter Auflage vorliegendes Elementar-
buch, das, nach einer höchst praktischen Methode bearbeitet,
die französische Jugend mit Leichtigkeit in die ersten Grund-
lehren der deutschen Sprache einführt.
Im Anschluss hieran erschien:
Second livre de leeture, de version et d’nstraction alle-
mande & l’usage des familles et des ecoles frangaises
pouvant servir de themes aux élèves allemands. Par B.
Sesselmann. In-8. Geh. 12 Ngr.
Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von 5. A, Brochhaus In Leipzig.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erjcheint wöchentlich,
Inhali: Naturwiffenfchaft und religidfer Glaube. Bon Julius Srauenftäst. — Literarifche Porträts.
—e Ar. 32, #9
4. Auguft 1870.
Bon Rubolf Gottſchall.
Gortſetzung.) — Der malaiifhe Ardjipel. Bon Richard Audree. — Feuilleton. (Motizen.) — Biblisgraphie. — Anzeigen.
Noturwiffenfhaft und religiöfer Glaube.
1. Die freie Naturbetradhtung gegenübergeftelt der materiali-
ftifhen Lehre von Stoff und Kraft. Wegweiſer zum Frie⸗
den zwiſchen Ehriftenthum und Naturwiſſenſchaften mittels
unpartetiiher Benrtheilung des Dr. 2. Bücdnerihen Werts
„Kraft und Stoff". Bon Ionas Rudolf Stroheder.
Fur alle Gebildete. Augsburg, Kollmann. 1869. 8. 25 Ngr.
2. Die Darwin’ihe Theorie und ihre Stellung zu Moral und
Heligion. Fünf Vorträge von G. Jäger. Stuttgart, Thiene-
manı. 1869. Gr. 8. 21 Nor.
Die Gefchichte bezeugt, daß überall, wo die Wiffen-
haft frei ift und fortfchreitet, fie mit dem religidfen
Glauben in Conflict geräth — ein Beweis, daß die reli-
giöfen Dogmen aus einer andern Quelle entfpringen als
die wiffenfchaftlichen Urtheile. Denn entfprüngen beide
aus einer und berjelben Duelle, woher alddann der
Conflict?
Die Dogmen entfpringen aus dem Herzen, bie wiſſen⸗
ſchaftlichen Urteile dagegen aus dem Kopfe. Der Con⸗
flict zwifchen Glauben und Wiſſen ift alfo im Grunde
nur der Conflict zwifchen Herz und Kopf. Das Herz
verlangt 3. B. Wunder und Gebetserhörung; es will einen
perfönlichen theilnehmenden Gott, der das herzlofe Walten
der Naturmächte zum Beften des Menfchen durchbrechen
fonn; es verlangt auch perfönliche Unfterblichleit und
MWiederfehen nad dem Tode. Der Kopf dagegen fagt,
daß der Menfh nur ein Glied eines Gliedes bed Uni»
verfums ift und feinetwegen die gefegmäßige Naturordnung
nicht durchlöchert werden kann. Das Herz ift egoiftifch,
der Kopf univerfaliftifh. Die aus dem Herzen entfprin-
genden Dogmen machen das menfchliche Individuum zum
Mütelpunkt des Univerfums, laffen die ganze Welt ſich
um das Individuum drehen; die aus dem Kopfe entjprin-
genden wiſſenſchaftlichen Säge dagegen machen das In⸗
bividuum zu einem verjchwindenden Moment des Ganzen.
Es iſt nun Har, daß in dieſem Conflict zwifchen
Glauben und Wiffen an eine Ausſöhnung fo lange nicht
zu benfen ift, als das Herz auf feinen egoiftifchen,
der mifienfchaftlich erfannten Ordnung der Dinge wider
1870. 32.
ftreitenden Wünfchen und Bedürfniſſen beſteht. Soll der
religiöfe Glaube mit der Wifjenfchaft nicht blos fcheinbar,
fondern wahrhaft und nachhaltig in Einklang gebracht
werden, fo muß vor allen Dingen das Herz ſich refor-
miren, muß feinen engen egocentrifchen Standpunkt auf-
geben, muß feine Wünſche und Bebürfniffe mit der phy⸗
ſiſchen und moralifchen Weltorbnung in Einklang bringen.
Eine Berföhnung des Glaubens mit dem Wiffen alfo,
ohne dem Glauben ein Haar zu krümmen, ift nicht mög⸗
Ih. Doppelte Buchhaltung ift ebenfalls nicht möglich.
Denn der menfchliche Geift ift kein Behälter von Schub-
füchern, in deren eines egocentrifcher Glaube, in das
andere Hingegen umiverfaliftifches Wiſſen fich unterbringen
läßt. Bon zwei einander widerftreitenden Annahmen kann
im Geifte immer nur eine herrſchen. Entweder alfo treibt
das herrſchende Willen den ihm widerftreitenden Glauben,
ober der herrfchende Glaube das ihm widerftreitende Wiflen
aus. In der That fehen wir auch in denjenigen Kreiſen,
wo em Knak Herrfcht, Kopernicns nichts gelten, in ben»
jenigen Kreiſen hingegen, wo Kopernicus herrfcht, Knak
nichts gelten.
Bon biefem Standpunkt aus müſſen wir den in der
Stroheder’fchen Schrift: „Die freie Naturbetrachtung
gegenübergeftellt der materialiftifchen Lehre von Stoff und
Kraft” (Nr. 1), gemachten Verſöhnungsverſuch zwifchen
Stauden und Willen roh und ungefchidt nennen. Stro⸗
hecker verbindet mit materialiftifchem Naturalismus religid-
fen Supranaturalismus auf eine höchſt unphilofophifche
Weile. Beſſerer Art dagegen ift, wie wir fehen werben,
HN Zäger’sche Verſöhnungsverſuch zwifchen Glauben und
iffen.
Strohecker's Anficht ift folgende. Das Chriftenthum
wird nicht, wie Büchner mit vielen andern meint, von
ben Naturwifienfchaften beeinträchtigt und die Naturwiſſen⸗
ſchaften nicht durch das Chriſtenthum, denn ber chriftliche
Glaube und naturwifienfchaftliches Wiſſen fchließen fich
gegenfeitig nicht aus, fondern beftehen ruhig nebeneinander —
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fie find gegenfeitig imdifferent. Nicht der Unfriede, wie
Büchner meint, fondern der Friede zwiſchen Chriſtenthum
und Naturwiffenfchaften ift das Reſultat einer unpartei-
lichen Unterfuchung über das Verhältniß zwifchen beiden.
Die „Thatſache der Schöpfung” wird von Stroheder
der Büchner’fchen Behauptung von der Ewigkeit des Stoffs
entgegengeftellt; die Schöpfung foll fein bloßer Glaubens⸗
artikel, ſondern chemiſch bewieſene Thatſache fein. Der
Berfaſſer bezeichnet ſich ſelbſt als Chemiker und wirft
Büchner mangelhaftes chemiſches Wiſſen vor:
Hr. Büchner hat ganz recht, wenn er ben Beweis jeiner(!)
Unfterblichleit des Stoffs, d. i. der Kreislauf des Lebens ober
der Stoffwechſel, unferu Wagen und Retorten zufchreibt ; jedoch
haben Letstere auch bewiejen, daß die Welt ihren Schöpfer hat,
und zwar als diefen den Geift, welchen Hr. Büchner und Ge⸗
nofjen aus reiner Unwiſſenheit oder vielleicht auch Willkür leug⸗
nen.... Recht bat Hr. Büchner, vielen religions-naturphilofo-
phiſchen Berfuhen von Naturforfhern und Philofophen un⸗
glüdtiche Refultate nachzureden; aber durch diefe zwar logiſchen,
jedoch fachlich falſchen Reſultate aus falſchen Borausjegungen
foflte er nicht veranlaßt tworben fein, den Schöpfer — den Geber
der Naturgeſetze — zu leugnen, fondern vielmehr, als Mann
feines tüchtigen Berftandes, ſchärfer geblickt Haben. Er gebt in
feinem Borurtheile fo weit, daß er die ganze Thatjache der
Schöpfung, von weldier ein Ehemiler fo fchr überzeugt ift, als
Glaubensgegenftand bezeichnet, wogegen fie doch ausſchließlich
Gegenftand des Willens if.
Man ift, nachdem man diefes beim Verfaſſer gelefen
bat, gejpannt auf feinen chemifchen Beweis des Dafeins
Gottes und der Schöpfung. Nun, diefer Beweis ift fol-
gender; Die Chemie hat mit größter Ausführlichkeit, durch
Taufende und abermals Taufende von Thatjachen gelehrt,
daß die ganze Welt aus chemifchen Berbindungen beftebt,
welche leßtern wieber von den chemifchen Elementen (Ur⸗
oder Orundftoffen) zufammengefegt find; jebe chemiſche
Berbindung befteht nicht, ohne aus der thatfüchlichen gegen-
feitigen Einwirkung von Elementen hervorgegangen zu fein.
Woher die Welt, wie fie vor uns liegt, woher bie chemi-
chen Verbindungen ftammen, welche die Welt zujammen-
fegen, wiflen wir genau durch bie Chemie; jedod) die
Frage, woher die Elemente find, kann uns feine Natur-
wiſſenſchaft beantworten, denn dies gehört auf das Gebiet
der Religions» und Naturpbilofophie, auf welchem wir
uns bier befinden. Die chemiſchen Elemente (Ur⸗ oder
Grundſtoffe), Körper, welche nicht weiter trennbar, d. i.
nicht zuſammengeſetzt, fondern abfolut einfach find — kön⸗
nem nicht von ungefähr gelommen fein, fie müſſen eine
Duelle haben. Sie könuen ſchon deshalb nicht von Ewig⸗
feit fein, weil fie ſich einmal miteinander verbunden haben
und zwar in bemfelben Angenblid, in welchem fie auf-
getreten find. Das Antecedens der Elemente muß mäd)-
tiger fein, ala alle Elemente e8 find. Wie die Elemente
mit ſinnlich wahrnehmbarer Kraft die Verbindungen, aus
denen die Welt befteht, fchaffen, fo muß eine höhere Kraft
die Elemente gefchaffen haben.
Dieje letzte Kraft ift die Schöpferkraft oder der Schöpfer,
welcher durch die Chemie, unter Anwendung des Gaujalitäts-
princips, ein für allemal ale das Antecebens ber Elemente,
alſo der ganzen von dem Materialismns für ewig erflärten
Welt, hiermit nachgewieſen. Hierin feiern die Raturwifjenichafe
ten, zugleich mit der Religion, den höchſten Triumph über den
Atheismus, der in der Schöpfung — wo er feine Baſis juht —
als ein Frevel an der höchſten Wahrheit fich darfellt.
Der Augenblid, in welchem Gott der Schöpfer bie
Naturwiffenfhaft und religiöfer Glaube,
Elemente in das Dafein rief, ift nach dem Verfaſſer „je-
dem Chemiler klar“; die Wiflenfchaft der letzten Natur-
principien — die Chemie — habe feinen Zweifel mehr
über eine Thatfache, welche durch die gegenfeitige Berüh—
rung der Elemente bedingt if. Die Elemente haben im
Augenblid ihrer Schöpfung in statu nascente, d. h. im
Augenblick ihres freien Auftretens fich befunden, ein Zu⸗
ftand, in welchem die Elemente die höchfte Fähigkeit haben,
hemifche Verbindungen zu bilden.
Es ift uns nun — durch die Chemie — Mar, daß zu die
ſem Borgange nur ein Augenblid — kaum eine Secunde —
nötbig geweſen ift, benn ein chemifcher Proceß ift Überhaupt
eine Sache eines Augenblids, von umberechenbarer Kleinheit.
Ein Heiner Gedanke erfordert fo viel Zeit, als nöthig geweſen
ift, daß Gott geiprodhen Hat: Es werde, und die Elemente ge-
worden find, indem diefe zugleich fih verbunden Haben.
Den Schöpfungsact näher ausmalend, jagt der Ber-
faſſer, es fei Har, welche ungeheuere Temperatur in dem
Augenblid der Schöpfung beftanden hat; die Elemente,
in statu nascente ſich berührend, haben unter.der Heftig«
ſten Fenererfcheinung, in dem glühendften Zuftande, weichen
man fih nur benten kann, fich verbunden; alles, was es
damals gegeben hat, ift in gasförmigem Zuftande geweſen,
der allmählich) theilweife in den feuerflüffigen überging.
Das Wafler war glühender Dampf, die Metalloryde in
einem -glühenden gasförmigen Zuftande, wie wir fie heute,
durch die Spectralanalyfe, in der Sonnenatmofphäre fin-
den, und die ganz ſchwer ſchmelzenden Metalle — Blatin
und Blatinoide, Silber, Gold und das flüffige Queck⸗
füber — waren nit chemiſch verbunden (weil fie in der
Hige ſich nicht verbinden Tönnen) und auch als Dampf
im Weltraum verbreitet. „Welcher Chemiker kann gegen
diefe detaillirte Schöpfungslehre einen Einwand erheben ?”—
Keiner!" ruft der Derfafler triumphirend aus.
Sehen wir und nun biefen chemifchen Beweis des
Dafeins Gottes näher an, fo finden wir, daß es weiter -
nichts als der alte kosmologiſche Beweis in modernem
hemifhen Gewande if. Durdy Anwendung des Cauja-
litätsprincips, wie der Verfaſſer felbft eingefteßt, ift er
von ben chemifchen Elementen zu Gott al8 deren Urheber
aufgeftiegen. So roh kann aber eben nur ein Chemiler
pbilofophiren, der nichts von Kant's und Schopenhauer’s
zermalmender Kritik des Tosmologifchen Beweiſes des Da-
jeins Gottes weiß, der nicht gelernt hat ober nicht ein-
fieht, daß das Caufalitätsprincip nur immanente, nicht
transfcendente Gültigkeit hat, d. 5. daß es nur Gefeß der
Verknüpfung der innerweltlicden Erſcheinungen ift, nicht
aber über die Welt als Ganzes Hinausführt zu einer
überweltlicden Urſache derfelben. Es ift vom Verfaſſer
durhaus nicht bewiefen, daß die chemifchen Ur⸗ ober
Grundſtoffe, aus denen alles in der Welt befteht, von
einem au germweltlihen Schöpfer ins Dafein geſetzt worden,
vorher alſo nicht eriftirt Haben; denn das wird man doch
für feinen Beweis halten, daß er fagt, bie dhemifchen
Grundftoffe „Lünnen nit von ungefähr gefommen fein,
fie müffen eine Duelle Haben”. Was hindert denn, bie
chemiſchen Grundftoffe als ewig, als unerfchaffen, als
den Urfprung aller Dinge zu denfen? Die Chemie gewiß
nicht. Der Verfaſſer befennt ja felbft, daß die Chemie
nicht weiter führe, als bie chemifchen Verbindungen, aus
denen bie weltlichen Dinge beflehen, anzugeben, nicht aber
NRaturwiffenfhaft und religidfer Glaube.
ir Beantwortung ber Frage, woher die Elemente diefer
Berbindungen flammen. Diefe Frage könne überhaupt
keine Naturwifienfhaft beantworten, fondern ſie gehöre
in das Gebiet der Naturphilofophie.
Wenn ſich diefes aber fo verhält, fo ift Mar, daß
andy fein Beweis des Daſeins Gottes fein chemiſcher,
fondern ein naturphilofophifcher ift. Einmal aber aufs
philoſophiſche Gebiet übergetreten, muß er ſich eine phi ⸗
Iofophifche Kritik feiner Anficht gefallen laſſen. Das Re-
ſultat einer ſolchen kann aber fein anderes fein, als bag
feine Art zu philofophiren eine höchſt rohe ift, ſodaß
man verſucht wird, ihm zuzurufen: Schuſter, bleibe bei
deinem Leiften, d. h. bei deiner Chemie.
Der Berfaffer bildet fi ein, gleich den Materialiften
alles phyſiſch aus den Kräften und Geſetzen ber Materie
erftären zu können, ohne doch darum dem Atheismus zu
verfallen. Denn, obgleid; in den chemiſchen Elementen
alle Bedingungen der Natur ſich finden, fo fei doch das
Dictum Dei, die Schöpfung ber Elemente, die Urfache
davon, daß die Elemente mit ſolchen Kräften und nad
ſolchen Gefegen wirkende geworden find, wie fie find.
Aber diefe Art der Verbindung des Materialismus oder
Naturalismus mit dem Supranaturalismus ſcheitert an
dem philofophifchen Begriffe der Kraft. »Eine geſchaffene
Kraft iſt eine contradictio in adjecto. Dem wefentlihen
Merkmal der Kraft, der Spontaneität oder Gelbftthätig-
feit, wiberfpricht e8, von einem außer ihr befindlichen
Urheber gemacht zu fein. Kräfte find das Urſprünglichſte,
was es gibt. Sie können zwar durch äußere Urfachen
gewedt, erregt, aber nimmer geſchaffen werben. Dede
äußere Wirkung oder Erregung fegt vielmehr ſchon ihr
Dafein vorans.
Nachdem einmal ber Verfafjer dem erften Schritt ge-
than, ben innerweltlichen Kräften und Gefegen, in denen
alles feinen natürlichen Urfprung Hat, ben außerweltlichen,
Abernatürlichen Schöpfer entgegenzufegen, wird es ihm
nun freilich auch nicht ſchwer, im Dualismus weiter zu
gehen und auch innerhalb der Welt wieder einen Gegenfag
3a machen zwifchen rein materiellen und fpirituellen Er-
ſcheinungen. Er verführt Hierbei ebenfa roh wie bei der
Ableitung der materiellen Welt aus Gott. Während der
Materiausmus confequent verführt, indem er die geiftige,
dem Thiere überlegene Thätigkeit des Menſchen aus dem
höhern Organismus befielben erklärt, im übrigen aber
feinen weſentlichen Unterfchied zwiſchen Menſch und Thier
macht, ſondern bie menſchliche Gattung nur für eine höhere
thierifche erflärt, iſt der Verfaſſer beſtrebt, den alten
Dualismus zwiſchen Menſch und Thier wieder aufzurich-
ten, um jenem im Gegenfatz zu biejem die Unfterblichfeit
zu fichern. Der Geift des Menſchen darf ihm alſo nicht
an die Gehirnfunction gebunden fein, fondern er muß
unmittelbar aus Gott flammen und in birecter Beziehung
zu Gott ftehen. Durch diefe privilegirte Stellung aber,
die der Berfaffer dem menſchlichen Geifte gibt, geräth er
in Wiberfprudy mit feinem fonft zur Schau getragenen
Beſtreben, gleich, den Materialiften alles natürlih, aus
den immanenten Kräften ber Stoffe zu erflären. Wenn,
obgleich die chemiſchen Grundſtoffe von Gott geſchaffen
find, doch, nachdem fie einmal gefchaffen find, fi, wie
der Berfaffer zugibt, alles natürlich ans ihren Berbin-
499
dungen erflären läßt, warum macht denn ba auf einmal
der menſchliche Geift eine Ausnahme von der natürlichen
Ordnung ber Dinge und wird vom Verfaſſer zu einem
Mebernatürlichen geſtempelt? Iſt dies confequent? Iſt es
conſequent, zu ſagen: „Die Feuerbach' ſche Meinung, daß
ein fupernaturaliftifcher Anfang eine fupernaturaliftifche
Bortfegung nothwendig bedinge, kann auf die Natur nicht,
fondern nur auf geiftige Dinge in Anwendung gebracht
werden“?
Hören wir, wie der Berfaffer die Nebernatürlichfeit
des menfdjlichen Geiftes im Gegenfag zu der Natürlichkeit
der in der Gehirnfunction ſich fundgebenden animaliſchen
Seele, die der Menſch mit dem Thier gemein habe, zu
beweifen ſucht. Nachdem er anerkannt, daß der Materia«
lismus durch natürliche Erklärung der piychifchen Vor⸗
gänge etwas Gutes geleiſtet, und daß Moleſchott nebſt
Genoſſen mit dem Sage: „Ohne Phosphor kein Gedanke" —
„Der Gedanke ift eine Bewegung des Stoffe‘, recht hüt-
ten, fährt er fort:
Gehen wir aber einen Schritt weiter, fo finden wir neben
der Thatſache der natürlichen Gehirnvorgänge noch eine andere,
von welcher die Materialiften jedoch nichts wiſſen wollen; biefe
Bhilofopgen ignoriren die Thatfadhe oder, beffer gefagt, fudhen
fie tobtaufchweigen, weil fie eben nichts bietet, was das Scal«
pell fchneiden und das chemiſche Reagens nachweiſen kann; anf
das Gehirn laſſen fi diefe Mittel zwar ammenden und kann
man damit auf die Gehirnfunction einwirken, jedoch die Sache,
welche id eben im Ange Habe, Hat Leine Eigenfdaften eines
Natürlihen, fondern nur de6 Außernatürlichen oder Geifligen.
Die Thatfache, welche ich meine, if die Stimme, bie ber
Wenſch oft in fi vernimmt, die zu feinem Berſtaude ſpricht,
ohne daß legterer eine Prämiffe gefet hat, um eine Conclufion
zu bilden. Die Stimme, welde gebieterifd), broßend, Tobend,
verheißend u. f. w. zu dem menſchüchen Berftande ſpricht, kenni
jeder Menſch, fogar der Atheift Ludwig Büchner. Napıentlich
bei ruhigem Körper, bei kühlem R fen am Gtexbebette
eines gutgefannten Menſchen, überhaupt in bedentungsvollen
Momenten vernimmt ber Menfh, ohne zu concludiren, eine
directe Diction in feinem Berftand; diefe Stimme im Menſchen
ift alfo aprioriſch, nicht apofleriorifh wie die "Schlüffe, und
ann deshalb nichts vom Gehirn Ausgehendes, d. i. nichts der
Sehirnfunetion Angehöriges, fondern muß vielmehr ein dem
menſchlichen Berftande Gegebenes fein.
Diefe Oottesftimme im Menfchen, biefe birecte, zn.
mittelbare Offenbarung Gottes, melde den Geift bes
Menden vor dem Thier auszeichnet, ift nad) dem Ver⸗
faffer der pſychologiſche Beweis des Daſeins Gottes, der
zweite neben dem erſten ober phyfilaliſchen Beweiſe aus
der Schöpfung der Elemente. Außer dem phyſikaliſchen
und pſychologiſchen führt er aber noch brittens den mora-
liſchen Beweis bes Dafeins Gottes. Richten wir nämlich,
jagt er, unſern Blick auf die Schiefale der Menfchen,
jo finden wir im ben wunderbar imeinandergreifenden,
häufig höchſt verfchiedenen Berhältniſſen die gerechteſte,
väterlichfte und zugleich allmächtigſte Würforge, ald deren
Träger wir nur den Schöpfer der Elemente erkennen
Tönnen. Dies ift der moralijche Beweis Gottes. Hin⸗
gegen den ontologifchen und teleologifchen Beweis — dieſe
beiden befannten Beweiſe des Dafeins Gottes- Hält er für
zu ſchwach, um fie dem Materialismus entgegenzuftellen.
Iſt nun nicht der Atheismus des Materielismus auf
dreifache Weife von dem Verfaſſer zerjchmettert? Und ift
durch ihn nicht die Naturwiſſenſchaft mit dem Ehriften-
thum dauernd verföhnt? Im den Augen aller fo roh Philo-
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500 Literarifhe Porträts.
fophirenden, wie ber Berfafjer, gewiß; aber in den Augen
Fritifcher Denker deſto weniger. Die Halbirung der gött«
lichen Thätigkeit in eine natürlihe und in eine über-
natürliche Hälfte, jene in der den Geſetzen der gejchaffenen
chemiſchen Elemente unterworfenen Natur (inclufive der
menfhlichen Gehirnfunction), dieſe im überanimalifchen
Geifte des Menfchen ſich Außernd, befriedigt weder das
wiffenjchaftliche noch das religiöfe Bedürfniß. Die Wiffen-
ſchaft ift moniſtiſch, nicht dualiſtiſch. Bor der Wiſſen⸗
ſchaft kaun die dualiftifche Entgegenfegung von Gott und
Delt, Materie und Geift, Menſch und Thier, die der
Berfaffer macht, nicht beftehen:
Aber nicht blos die Wiſſenſchaft perhorrefcirt ben
Dualismus des Verfaſſers, fondern auch der religiöfe
Glaube. Denn indem diefer Wunder und Gebetserhörung
annimmt, befchräntt ex die übernatlirlichen, birecten Macht⸗
erweifungen Gottes nicht, wie der Berfafler, auf das
geiftige und gefchichtliche Gebiet, fondern dehnt fie aud
auf die Natur aus. Nicht erft im Gewiſſen des Men⸗
ſchen ftieht der Gläubige bie unmittelbare Offenbarung
Gottes, fondern auch fhon in der Natur, in ben Wun-
dern, die er glaubt. Die Chemie ift dem Glauben zu«
folge fiir Gott keine Schranfe. Er kann fie durchbrechen
und durchlochern, kann Waſſer in Wein verwandeln, Tann
Todte vom Tode erweden. Halbheit liebt alfo der Glaube
jo wenig als die Wifjenfchaft. Glaube und Wiffenfchaft
find beide montftifch gefinnt, nur beide auf verfchiedene
Art. Beide müffen daher den Berföhnungsverfuch des
Verfaſſers entfchieden ablehnen. Iulins Srauenflädt.
(Der Beſchluß folgt in der nächſten Nummer.)
Literariſche Porträts,
(Fortjegung aus Nr. 31.)
1. Lord Byron. Bon Karl Elze. Berlin, Oppenheim. 1870.
Br. 8 2 Thlr.
2. Waſhington Irwing. Ein Lebens» und Eharalterbild von
Adolf Laun. nei Bände. Berlin, Oppenheim. 1870.
8 2 Zhlr. 10 Ngr.
3. Emanuel Geibel. Bon Karl Goedeke. Erſter Theil.
Mit dem Bildniffe Beibel’8 und einem Facfimile. Stutt-
art, Cotta. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
4. Karl Immermann. Sein Leben und feine Werke aus
Tagebüchern und Briefen an feine le zufammengeftellt.
Seransgegeben von Guſtad zu Putlitz. Zwei Bände,
Berlin, Herb. 1870. Gr. 8. 3 Thlr.
5. Adalbert Stifter's Briefe, beransgegeben von Johan⸗
nes Aprent. Drei Bände. Bei, Hedenafl. 1869. 8.
3 Thlr.
6. Gräfin Ida Hahn⸗Hahn. Ein Lebensbild nad der Natur
gezeichnet von Marie Helene. Leipzig, Fr. Fleiſcher.
1869. 8. 27 Nor.
7. Friedrich Rückert. Ein biograpbifches Denkmal. Mit vielen
iSjeßt ungedrudten und unbelanuten Actenfiliden, Briefen
und Poefien Friedrich Rückert's. Bon 8. Beyer. Frank⸗
furt a. M., Sauerländer. 1868. Gr. 8. 2 Thlr.
8. Dichter, Patriarch und Ritter. Wahrheit zu Rüdert’s Dich»
tung. Bon C. Kühner. Frankfurt a. M., Sauerläuber.
1869. ®r. 8. 1 Thlr.
Die ausführliche Biographie eines noch lebenden
Dichters zu fchreiben, ift eine fehwierige Aufgabe, deren
Löfung immer eine lüdenhafte bleiben wird; jebes Dien-
fchenleben hat feine Geheimnifje, deren Schleier zu lüften
den Mitlebenden kaum verftattet ift; auch läßt fi nicht
die Summe eines Dichterlebens ziehen, folange ber
Tod nicht den abfchliegenden Strid unter bafjelbe ge-
macht hat. Wie viele Wandlungen, ſelbſt im fpätern
Alter, haben namhafte Dichter durchgemacht! Der DBio-
graph Emanuel Geibel's, Karl Goedeke (Nr. 3), ver-
ſchließt fich keineswegs folder Einfiht; er fagt in der
Einleitung :
Biographien lebender Dichter, von denen ich hier eine be-
inne, fiellen, da weder ein abgefchloffener noch abgeklärter
toff zu behandeln vorliegt, eigenthümliche Schwierigkeiten
entgegen. Der fortfcgreitende Menſch verwiſcht im Laufe feiner
weitern Entwidelung manchmal die Leifiungen, die zu einem
gewiflen Zeitpunkte den Kern feiner Bedeutung ausmachten,
duch höhere und vollendetere. Der reifende Dichter, dem die
Formen feiner Kunft zu gewohnten Lebensäußerungen geworden,
entfaltet fi bei reiherm und tiefeem Gehalt, wie die fletig
andauernde Selbfibildung ihn verleiht, nicht felten von völlig
neuen Seiten. Der fiherer gewordene Blid in die Welt, die
klarere An qauung vergangener Zeiten und großer Menſchen⸗
geihide, die unbefangenere Einſicht in die innern Motive,
welche das Handeln und Leiden der Gegenwart bedingen, das
durch Gelingen und Verfehlen erworbene richtigere Gleichgewicht
zwiſchen den eigenen Kräften und ihrer Anwendung machen die
Behandlung von Stoffen und Formen möglich, die dem jün⸗
gern Talente ſich fpröde verjagen mochten. Was in der glück⸗
lihen Ingend eine halb unverftandene Gabe des Genius umd
mehr ein Treffen als ein Schaffen war, wird ein durchdachtes,
nad allen Seiten hin bewußtes Herausarbeiten des Nothwen⸗
digen und Wefentlihen. Au die Stelle des geiftvollen Ein-
fall tritt die fünftleriihe Löfung des Probleme. Der erhöhten
Lebensftufe verdankt die gehobene Kunft ihr Eutfichen. Bon
diefer Höhe Mindigt fi dann nicht jelten ein Sinten an; bie
künſt leriſche Einficht ift geblieben und oft noch reifer geworden,
während die frifche Geiftesfülle, der warme Seefenaud) ge»
ſchwunden find und das Kunftwerk, umgelehrt wie im Beginn,
äußerlich volllommener, innerlich flarrer geworden if. Welche
Unterjchiede zwifchen dem ahnenden Zalent, das mit den For⸗
men rang; dem reifen Daum, ber Korm und Gehalt zum vol⸗
len Einflang führte; dem in fefter Form erflerbenden Genius!
Und doch immer derjelbe Menfch in fletiger, naturgemäßer Ent-
widelnng, deren Epochen fi nach abgeſchloſſener Bahn und
aus weiterer Ferne deutlich mögen jondern laſſen, dem nahe»
ftehenden Beſchauer aber unmerflich ineinander verlaufen, um
fo mehr, je weniger der Umfang der Lebensentwidelung fich
hinfichtlich des Abſchluſſes berechnen Täßt.
Zu diefen innern Schwierigkeiten gefellen fih äußere.
Der lebende Dichter, möge feine Eriftenz noch jo fehr au bie
Deffentlichleit treten, bleibt von einem gewiffen Dunkel um-
büllt, da viele und zum Theil die wichtigften Momente, auf
denen jein Werden und Sein beruht, aus billigen Rüdfichten
ge en ihn fowol als gegen die Menſchen, mit denen er ver
ee, fs der Darflelung entziehen. Die Geheimniffe des
Privatlebens, von denen kaum eins ohne fürdernden oder hem⸗
menden Einfluß auf feine geiftige Bildung bleibt, und die fi
meiftens in feinen Leiftungen, im Ton des Xiebes, im Cha⸗
ralter der dramatifchen Schöpfung andeuten, gehören, folange
die Betheiligten leben, felten der Oeffentlichleit. Wer fie aus
unmittelbarer Nähe zu überſchauen vermag, wird, in der Be⸗
forgniß befangen, zu viel ober zu wenig zu fagen, und im
Zweifel, ob die eigene neobachtung das objectiv Richtige erfaunt
bat, lieber leicht darliber weggleiten als umflänblih barauf
eingeben, nicht de&halb, weil die Sache an fi, nad ihrer
gejelligen oder moraliihen Seite des verbüllenden Schleiers
Literarifhe Porträts,
bedürftig wäre; aber das ſtille Glüd zweier Herzen, die über
Standesunterfchiede erhabene Freundſchaft zweier Naturen läßt
fi den Lebenden gegenüber kaum mit voller Unbefangenheit
erörtern. Wer hätte im Goethe’s blühendem Alter fein Ber-
bältniß zu Frau von Stein, feinen Freundſchaftsbund mit
Karl Auguft darftellen mögen wie beutel Niemand, dem die
Betheiligten werth, das heißt nad ihrer vollen Bedeutung
lebendig waren, hätte die ſchonungéloſe Dreifligfeit gewinnen
können, die Lebenden wie geihichtlihe Perfonen zu behandeln.
Es würde eine Profanirung geweſen fein, deren fich gerade der
am wenigften ſchuldig machen durfte, der in die Dinge felbft
am beften eingeweiht war. Und wie viele gibt es denn,
welche die flillen Tiefen eines Dichterlebens vor dem Abfchluffe
zu überſchauen vermöcdhten?
Sleihwol glaubt Goedeke, daß eine biographifch-
literariſche Darftellung des Dichters Emanuel Geibel
feiner umftändlichen Befürwortung bedbürfe, fon wegen
der Stellung, die er als bichterifche Perfünlichkeit that⸗
ſächlich in der Literatur” der Gegenwart einnimmt. Auch
fehle es bisher an einer zufammenfafenden Darftellung
feines Lebens, und and) die Beurtheilungen der Gefammt-
erjcheinung Hätten verfäumt, feinen Entmwidelungsgang
darzulegen. Dies ift die dankenswerthe Aufgabe, der ſich
Goedeke unterzieht. ‘
Mas ihm dabei zu ftatten kommt, ift der Charalter
des Dichters felbit, der in deſſen Lebenslauf fich fpiegelt.
Seibel gehört durchaus nicht zu jenen problematischen
Naturen, die andern und auch ſich jelbit ein Räthſel
find. Wer durfte e8 unternehmen, bei Byron's Lebzeiten
eine Biographie dieſes Dichters zu ſchreiben? Auch nad)
feinem Tode bleibt fo viel Wichtiges dunkel und unent»
hüllt, und die Urtheile der Biographen gehen nady allen
Richtungen der Windrofe auseinander. Geibel's Leben
und Dichtungen dagegen find flar und durchſichtig; feine
berausfordernden Widerfprüche, feine Ader des Skepticis-
mus, keine zweifelhafte, noch weniger zweideutige Beleud)-
tung, nichts Frivoles, Hypergeniales, keine Verirrungen
wild überfhäumender Kraft — eine, wir möchten fagen,
geradlinige Entwidelung aus allgemein verfländlichen Vor⸗
ausfegungen zu ebenjo verftändlichen Zielen charakteriſirt
Leben und Werke diefes Dichters. Er ift nicht wie
Beatrice unter einem tanzenden Stern geboren — Feine
Ironie des Schickſals Hat einen Poeten von gefunden
und fhlihten Empfinden in verwidelte Lebenslagen ge-
bracht, in jene dämonifchen Zwidmühlen, die wir aus
bem Leben anderer Dichter kennen. Man vergleiche nur
3. B. das Leben Schillers mit demjenigen Geibel's.
Welder Sturm und Drang, welche Gewaltſamkeit in der
Jugend des erftern; und wie glatt verläuft die Bio—
graphie Geibel’8 durch Gymnaſium, Abiturienteneramen,
Univerfitätsfiudien, eine Haußslehrerftellung, die allerdings
dadurch einen poetifchen Heiz gewinnt, daß fie dem Dich⸗
ter im Schatten der Akropolis und an den Ufern des
Kephifſos zutheil wird! Dazu Liebe und Dichtkunſt —
beide ohne große Kataftrophen in friedlicher Entfaltung.
Der politifche Conflict in Geibel’8 Leben füllt in eime
fpätere Epoche. Der vorliegende Band fchildert dafjelbe
nur bis zum Ueberfiedelung nad) Münden. Die Dar-
flelung des münchener Aufenthalts und feines difjoniren«
den Abjchluffes wird in einem in Ausficht geftellten zwei—
ten Band erfolgen. oo
Doch auch die Einfachheit. eines folchen Lebenslaufs
501
bat ihre Klippen für den Biogsaphen. Da bie großen
frappanten Züge fehlen, wird er leicht verleitet, auf min-
der Wichtiges, wir möchten jagen Alltägliches, einen be-
Sondern Nachdrud zu legen und uns Mittheilungen zu
machen, denen in der That jede Bedeutung und damit
jede Anziehungskraft fehlt. Wir wollen ung gern in alle
Tamilienverhältniffe eines Dichter einweihen laffen, der
uns lieb geworden ift; wir wollen feinen Stammbaum,
feine Agnaten und Cognaten mit in den Kauf nehmen,
feinen Beziehungen zu Titerarifchen Größen zweiten, brit-
ten und vierten Ranges ohne Ermüdung nachgehen, weil
in ihnen doch immer eine leife Einwirkung auf feine
Entwidelung unverkennbar ift; aber wir wollen nicht jede
Ferienreife des Studenten, jeden Ausflug in der Poſt⸗
ſchnecke mit Ausführlichkeit befchrieben fehen. Wir wollen
feine Befchreibung des Ahrthals Iefen; was kümmert es ung,
ob der Student Geibel den Thurm des mainzer Doms
beftiegen hat, um einen Ueberblid über die Gegend zu ge=
winnen, oder daß er mit feinen Keifegefährten „ermüdet
und durchfroren” in Darmftadt ankam, oder fpüter, bei
Gelegenheit einer Reife nach Würtemberg, daß er bei
dem Weinhändler Lade den Wein im Seller probirte.
Eine Probe derartiger Schilderungen mag diejenige ber
Reife des jungen Studenten von Hamburg nad) Det«
mold geben:
Nachdem die übrigen Pflichtbefuche abgethan und mit Hilfe
ber Gene e die Habfeligkeiten wieder gepadt waren, rollte der
angehende Student, mit einer ſchönen Uhr, die der glitige Oheim
ihm gefchentt Hatte, im der Taſch“ zum Altonaer Shore hinaus
ans Dampfihifi, nach Harburg. Auf dem Dampffchiffe traf er
mit einem alten Senofjen, Namens Erasmi, zufammen, ber die
Univerfität Göttingen beziehen wollte und die Fahrt bis Han-
nover mitmadhte. & Harburg Iangten beide etwa um zwei Uhr
nachmittags am 23. April an. Die Poſt ging erft abends
zehn Uhr. Die langen Warteftunden wurden mit Spaziergängen
durch graue Straßen und fandige Pappelalleen des damals
fehr unbedentenden Städthens verbradt. Als fie in der Däm-
merung beimfamen, trafen fie zwei junge engliſche Literaten,
die in demſelben Gaſthauſe eingekehrt waren und bis Hannover
mitreiſen wollten. Obwol weder die Lübeder fertig engliſch,
noch die Engländer fertig deutjch ſprachen, wurben fie doch
bald miteinander bekannt und tauchten radebrechend und fi)
gegenfeitig aushelfend ihre Liebe und Bewunderung vor ben
großen Namen Shakſpeare und Byron, Goethe und Schiller
aus. Die Unterhaltung wurde lebhaft und endete damit, daß
man Puuſch forderte und die deutſchen und englifchen Poeten
leben ließ. Auch an einem fomifchen Intermezzo follte es
nicht fehlen. Plöglih ging die Zhür auf. Eine Fleiſchmaſſe
im gelben Ueberrod, mitt gedunſenem Geſicht, den weißen Hut
auf die Stirn gezogen, tritt unbeholfen ins Gaftzimmer, flarrt
alle eine Zeit lang mit ausdrudslofen Augen an und ruft
dann im englifhen Accent mit fetter breiter Stimme: „Gebt —
mid — was — zu — freſſen!“ Einige der Anweſenden konn⸗
ten fid) des Lachens nicht enthalten. Der hungrige Gentleman
braufte auf, bis fi die jungen Engländer ins Mittel legten
und ihm die LTächerlichleit feines Ausdrucks begreiflicd machten.
Um 10 Uhr abends ging die Poft ab. Die Heine Reiſe⸗
gefelichaft drückte fi in die Eden des Wagens, der Rothrock
biies die Weife des Mantelliedves, und fort ging's in die Lline-
burger Heide. Nach langer ermüdender Fahrt langte der Zug
am 24. abends 6 Uhr in Hannover an, wo die Trennung
von den Gefährten ftattfand. Crasmi fuhr nad Göttingen
meiter, wohin damals die Pot beim Beginn des Semefters oft
hundert und mehr Pafjagiere in langem Zuge beförderte. Die
glüdlichen Baffagiere des Hauptwagens behielten auf der ganzen
Route ihre Plätze, während bie in den Beichaifen Untergebrachten
auf jeder Station die Wagen wechfeln und mandmal froh fein
502
mußten, wenn fie gegen Winb und Wetter ein verdedtes Gefährt
echalten konnten. — Geibel, der nad) Detmold wollte, war
nicht fo glücklich, gleich befördert zu werden. freitags war er
in Hannover angelonmen und er am Sonnabend fpät 10 Uhr
g die nüchſte Poſt nah Detmold, Bekannte hatte er nicht
in der Stadt. Langeweile die Fülle und in dem damaligen
Haunover mehr als in einer andern Gtadt gleihen Ranges.
Aber auch diefe Prüfung ber Geduld mußte beflanden werden.
Mit einem einzigen Paffagiere wurde endlich die Fahrt nad)
Detmold fortgejet.
Diefe höchſt trivialen Begebniffe, die genaue Angabe
der Stunden, wann bie Poften abgehen und anlommen —
gehört das wol in eine Dichterbiographie? Dergleichen
wiederholt fih viel zu oft, um nicht ermübendb zu
wirken.
Anders verhält es ſich mit den Begegnungen des
Dichters mit bekannten und berühmten Perſönlichkeiten.
In Bonn traf der junge Student 4. W. von Schlegel,
mit dem fich Fein Verhältnig bildete, während zum alten
Ernſt Morig Arndt, der alle Geſellſchaften, in denen er
erichien, belebte, ein mehr als zufälliges beftand. Bon
Bonn begab ſich Seibel nad) Berlin (1836), wo er flatt
der Theologie da8 Studium der Humaniora trieb. Hier
lernte er zuerſt Steffens kennen, von dem er felbft fchreibt:
Selten babe ih an einem Menſchen eine ſolche Babe ber
Rede gefunden. Er begann leife und langſam; aber allmählich
entwidelte fih ein munderbares Leben auf feinen Zügen, die
Augen glänzten, die Bewegungen wurden heftiger, und die Worte
firömten von den Lippen wie ein Übertretender Waldbach, ber
fih ein neues Felſenbette bricht und Steine und Bäume in
Wirbeln mit fi fortreißt. °
Dann wurde er bei Neander eingeführt, ber wenig
ſprach; die Unterhaltung wurde meiftend von der Schwer
fter geführt.
Mit Lachmann machte Beibel befangenen Herzens Bekannt⸗
ſchaft. Als er den erften Beſuch abflatten mwollte, fand ihm
ein Bild vor der Seele, das von Lachmann's firengem, nur
allzu oft herbem und fchneidendem kritiſchen Charakter genom-
men war, eine Art von Hagen aus den Nibelungen. Anftatt
deffen zeigte fich ein Feiner feiner blonder Mann mit Frad
und Brille, der ihn freundlich aöthigte, neben ihm auf dem
Sofa Pla zu nehmen, und allerlei über Bonn nnd Lübeck
fragte. In der Folge wurden gelegentlich einige Spaziergänge
gemadjt; ein näheres Verhältniß bildete fich nicht.
Die folgenreichfte Bekanntſchaft war die mit Bettina:
Nachdem Geibel fie früher einmal verfehlt hatte, ging er
Mitte Inni wiederum bin und traf fie zu Haufe. Er gab einen
Smpfehlungsbrief Rumohr's ab, ließ fi) melden und wurde
angenommen. Als er eintrat, fam fie ihm freundlich entgegen.
„Sie find mir da’, fagte fie in ihrem frankfurter Dialekt, „von
jemand empfohlen, dem ich bisjegt noch nicht kenne, denn ich
faun trog aller Bemühung den Namen der Dame nicht leſen.“
Geibel Tieß fi) durch das fonderbare Quidproquo nicht verwirrt
machen, fondern fagte ihr, fie babe fich diesmal doch verſehen,
der Brieffieller babe durchaus nichts Damenartiges, es fei der
Hr. von Rumohr. Kaum war der Name geramt ‚ fo führte
fie Seibel in ein Meines mit Gemälden, Statuen und Gips
abgüiffen gejhmüdtes Zimmer, wo ex neben ihr Pla nehmen
und eine Frage um die andere beantworten mußte: was Rumohr
teeibe, wie er über ihr Buch ſpreche, ob er böfe fei, daß fie ihn
bier und dort ein wenig mitgenommen.
Wilibald Aleris wird als ein einer jchnurrbärtiger
Mann von gefetten Jahren und mohlwollendem Ausdrud
gefhildert. Bon Chamiſſo Heißt es:
Geibel’s fehnlichftee Wunfh war es, mit Ehamiffo, der
damals den „Deutichen Muſenalmanach“ rebigirte nnd ſchon
einige aus ber Ferne eingefandte Gedichte Geibel's aufgenommen
Literariſche Porträts,
batte, bekannt zu werden. Hitig, ber dies Verlangen lannte,
ſprach mit feinem alten Freunde darliber und Hindigte dem
Studenten eines Tags an, er dürfe ohne weiteres zu Cha⸗
miffo gehen. Zu Anfang November 1836 trat er bet bem
verehrten Manne ein, ber ihn freundlich bewilllonmmete und
in fein hohes, etwas düfteres, von einer Lampe wenig erhelltes
Zimmer führte. An den Wänden hingen Landlarten; Globen,
Bücher und Inſtrumente flanden umher. Der Dichter war,
wie ein Magier, in einen langen faltigen Schlafrod gehüllt,
eine große hagere Geſtalt. Geibel mußte fid) d. ihm auf ben
Sofa fegen, und bald war ein Geipräh im Gange, das Cha⸗
miſſo äußerſt lebendig, aber in einem fremdartigen franzöfifch
anflingenden Accente führte. Den Greis, der ſich nad viel-
bewegte Leben mehr und mehr im ſich gegen die Hänbel der
Belt abſchließt, wie ihn Geibel nach den letzten Gedichten und
ben Aeußerungen anderer erwartet hatte, fand er nicht; im
Gegentheil, er ftand mitten in den Dingen und manchmal brad
eine Art von Kampfluft gegen die Welt, doc ohne Berbit-
terung, weit cher als eine Jugendmuthigkeit, hervor. Kurz nnd
Har fprach er über den Zufland der Titeratur jener Zeit, über
Drama und Bühnenweien und deren Mängel; dann wieder
von fernen Ländern, der Südſee und ihren jeltjamen Menſchen
und Snfeln.
Raupad) erfcheint als ein Kleines zufammengefauertes
Männchen mit fchwarzer Perrüfe und fehmarzer Horte
brille; er madjt eine überaus wegwerfende Miene, fobald
die Rede auf irgendein neueres dramatiſches Product
fommt, wirft aud) fonft mitunter ein ziemlich gewöhnliches
Wort in die Unterhaltung und ſchnupft dabei ungebühr-
[ich ftarf. Näher wurbe das Band, welches Seibel mit
Gruppe verknüpfte, und welches zunädft mit dem Inter⸗
effe beider Dichter für bie römifchen Elegifer zuſammen⸗
Bing. Yranz Kugler’8 Gedichte hatten ſchon früher einen
tiefen Eindrud auf Geibel gemacht; die Liebenswürdigfeit
bes Menfchen z0g Seibel nicht minder an. Bald murbe
er wie ein Mitglied der Familie angefehen. Auch bie
Bekanntſchaft der Frau Mathienr, die fpäter Kinkel's
Gattin wurde, eine Frau ſo reich an Talenten, daß ſie
keins zu künſtleriſcher Vollendung ausbildete, und die
eine ganze Geſellſchaft mit Geſchichten, Späßen, Reflexio⸗
nen zu unterhalten verſtand, machte er im Salon der
Bettina.
Durch Savigny's Vermittelung wurde dem jungen
Dichter die Hauslehrerſtelle bei dem Geſandten von Ka⸗
takazi in Griechenland zutheil. Der Abſchnitt, welcher
den Aufenthalt Geibel's in Griechenland (1838—40) be
handelt, gehört zu ben interefianteften ber Goedeke'ſchen
Schrift. Wir Haben e8 hier doch nicht blos mit Pro=
fefforen und Predigern zu thım, wie im lieben Deutſch⸗
land; vornehme Griechen und Türken treten auf die Bühne;
wir bewegen und unter Platanen und in Delwäldern, und
die Nichte des Gefandten, Maria Sofiano, ein wildes,
leidenfchaftliches Mädchen, mit dunfeln Locken und bligen-
dem Ange, war mindeſtens eine angenehme Abwechſe⸗
lung für den Dichter der blonden Minne; bo er erin-
uerte fi, da er fein problematifcher Spielhagen'ſcher
Hauslehrer war, der zwifchen ihm und ihr gezogenen Kluft
und widmete ihr nur ein Sonett: „Der Ungenannten“.
Die Imfelreife nad) Paros und Naros ift ebenfalls
intereflanter al8 die von Hamburg nad Detmold, und
bier läßt man fi eine eingehendere Schilderung gern
gefallen.
Die Eindrüde, die Geibel in Griechenland empfing,
haben freilich nur auf das Colorit feiner Gedichte gewirkt.
Literariſche Porträts.
Wie ganz anders iſt dies bei Byron der Fall! Hellas
hat ſeiner Muſe einen unverkennbaren Schwung gegeben.
Doch iſt auch ein großer Unterſchied zwiſchen einem rei⸗
ſenden Lord und einem reiſenden Hauslehrer. Die Er-
fahrungen, die der Dichter im feiner untergeordneten
Stellung ſammelte, find von geringerm ntereffe, und
was wir von den Gouvernanten der gutgearteten Töchter
erfahren und von der GSelbftündigfeit, die ſich „Made—
moijelle Renard“ zu geben wußte, flößt uns auch feine
tiefer gehende Theilnahme ein,
Nach feiner Rückkehr hielt fich Geibel von 1840—52
theils in Lübeck auf, theils an verfchiedenen Orten in
Deutfhland, wohin er feinen Wanderftab ſetzte. Kin
ganzes Zahr Lang lebte er als Gaft bes Freiherrn von
Malsburg in Ejcheberg ein dichterifch freies Leben, ähnlich
wie fpäter bei mehrfachen Beſuch auf den fchlefifchen
Bütern des Fitrften Carolath, defien Belanntfchaft er in
dem Dftjeebade Häringsdorf gemacht hatte Außerdem
gielt er ſich eine Zeit lang in St.Goar als Freilig-
rath’8 Gaſt auf, in Stuttgart und Weinsberg, bier als
Yufinns Kerner's Saft. Einen feftern Halt gewann fein
Leben erft, ala er ſich 1851 mit Amande Trummer ver-
Iobt hatte und 1852 von König Marimilian nah München
als Ehrenprofefjor berufen wurde.
Seibel’ 8 Biographie bietet bis zu feiner Berufung
na München kaum eine Seite dar, welche fich nicht
andy in dem Leben der meiften Literaten und Kandidaten
fünde. Bornehme Bekanntſchaften und Protectionen be=
güinftigten den jungen Dichter, der ſchon auf der Schule
in Lübeck ein fleißiger Schüler und Primus der Prima
war und ein von allen Ertravaganzen, Abenteuern, polizei=
wibrigen Berhältnifien und Gedanken freies, regelrecht
nad) der Schnur gezogenes Leben führte. Da man bie
beutfchen Dichter bereits im ſynchroniſtiſche Tabellen ge-
bracht hat, jo wird man fie auch vielleicht einmal mit
Condnitenliften bedenken; dann dürfte Emanuel Geibel bie
erfte Nummer gefichert fein.
Was num in diefes, von feinem Sturm und Drang,
höchſtens von profaifchen Eriftenzjorgen bewegtes Leben
ein tieferes Intereſſe bringt, das ift die Entwidelung des
Dichters, die vielfach fi an die Verhältniffe und Ein-
drücke des Lebens anſchloß und wie diefes frei von jedem
Sturm und Drang blieb. Goedeke hat den Zuſammen⸗
hang der einzelnen Gedichte mit den perfünlichen Bezie-
Hungen des Dichterd mit vieler Sorgfalt aufgeſucht und
nachgewiefen; er hat jedes der Hauptgedichte einer liebe-
vollen Analyſe unterworfen, die nur felten, wie bei ber
Tragödie „Roderich“, zu Eritifchen Bedenken führt. Die
lebendige Auffafjung und Zergliederung der Gedichte von
feiten des gebiegenen Literarhiftorifers bildet den anziehend-
Ten Beftandtheil des Werks. Doc, je größer Goedeke's
Gewiſſenhaftigkeit ift, namentlich im Nachweis der litera-
riſchen Zufammenhänge und poetiſchen Vorbilder des
Dichters, defto deutlicher ift e8 und geworden, daß, wer
nigſtens in biefer erften Epoche feines dichterifchen Schaf.
Jens, Seibel durchaus ein Nachdichter aller von ber zeit
genöffifhen Literatur angefchlagenen Töne iſt und einer
wahrhaft jchöpferiichen Originalität ermangelt, die bei
andern jungen Dichtern oft minder formgewandt, oft hart
503
und ſchroff, aber doch mit den gewaltigen Exruptionen einer
urfprünglichen vullanifchen Kraft auftritt.
Wir wollen uns bei dieſem Nachweis jebes eigenen
Urtheils begeben und uns ftreng an die Ausſprüche bes
Biographen anjchliegen. Schon auf der Schule dich⸗
tete Geibel, und ein fehr wefentliches Element in ber
formalen Entwidelung feiner jugendlichen Poeſie bilbete
die Belanntfchaft mit Heine Er erlag dem Eindrud
der Heine'ſchen Lieder, weil er nod nichts entgegen«
zufegen hatte.
Berezeichnend iſt e8 aber, daß die tronifche Seite Heine’s Feine
Gewalt über ihn gewann. Das tränmerifhe Wogen des jungen
Herzens ging in den weichen Strom ber fentimentalifhen Lyrik
Heine’8 über. Da ftieg die file Rotosblume (die fpäter in eine
Wafferrofe verwandelt wurde) aus dem blauen See; da träumte
die dufterfüllte Blüte am Drangenbaum von künftigen Früchten,
wie die Blüte des Herzens von den goldenen Frlichten Liebesleid
umd Liebesluft; da waren die Sterne fromme Lämmer — nein! —
Silberlilien? Nein ; lichte Kerzen am Hochaltare? Nein: e8 waren
Silberlettern, in denen ein Engel auf das blane Tuch des Himmels
taufend Lieder der Liebe gejchrieben. Da war der Dichter das Meer,
über welches feine Lieder mie Sonnengold binziehen, während,
wie die Perlen in der dunleln Ziefe ruhen, fein dunkles Herz
ſchweigend in verborgener Bruft blutetl Daun wieder waren
die Lieder Goldpokale, darin die Liebe ala Wein Ichäumte, aus
denen bie Geliebte kurzweg zu trinken aufgefordert wurde, bis
fie dem Dichter im holden Raufche an das fehnjuchtsvolle Herz
fine. Oder num ruhten alle Wipfel und leiſe floß ber Rhein,
die blauen DBergesgipfel Leuchteten im Mondenſchein — ganz
fo, al8 ob da8 Heine'ſche Lied von der Lorelei nod einmal ge-
ſchaffen werden müſſe.
Daneben zeigen ſich Nachklänge aus Franz Kugler's
Gedichten. Bon den Gedichten ded Studenten Flingt bie
„Rothenburg in Anlage, Ton und Wendung, nad
Goedeke's Ausſpruch, an Anaftafius Grün in feinem
„Schutt“ an, während in dem kriegeriſchen Genrebild
„Der Hufar“ ein Ton Rilolaus Lenau's hindurchklingt. An
Rückert erinnerten dur ihren gleihförmigen Bau und
die ausgefponnene Bildlichkeit einige berliner Gedichte:
„Ich bin die Roſe auf der Au’ und „Wenn die Sonne
hoch und heiter Lächelt”“ umd „Der Ritter vom Rhein“,
und fpäter, wie wir Binzufügen wollen, die „Schleswig-
Holfteinifchen Sonette”. Verſe wie der folgende:
Seid eine, fonft muß ich euch gleich fpröden Erzen
Zerbrechen oder neu zuſammenſchmieden |
Im Feuer meines Zorns und eurer Schmerzen —
find ganz wie aus den „Geharnifchten Sonetten“ entlehnt.
Bon dem „Mädchen von Albano” fagt Goedeke, daß
Seibel es auch einmal in Gaudy's Manier verfuchen
wollte. Den Ton des norbifchen Heldenlieds verfuchte
Seibel in den Balladen: „Zwei Könige” und „Der
legte Stalde”. Die Einflüffe Chamiſſo's und namentlich
Freiligrath's find in fpätern Gedichten unverkennbar. In
dem Gedicht „Der Stan“ erlennt Goedeke ſelbſt eine
formelle Einwirkung ber Freiligrath'ſchen Darftellungsweife
im Bau der Strophe wie in der Iyrifchen Objectivität an.
In „Clotar“ zeigt fi) nach Goedeke in dem feinlaunigen
Gemiſch von lachender Sative und Igrifchem Schmelz die
Einwirkung des „Don Juan“ von Byron. Im claffiichen
Athen fludirte er den marmornen Dichter Platen, der ihn
zu größerer Klarheit und Schönheit der Formen führte.
Er hat Platen nicht nur mehrfach mit DBegeifterung be⸗
fungen, ex bat auch in leichten, für Freundeskreiſe be⸗
ſtimmten Gedichten, Heinen ariftophanifchen Luſtſpielen
504 Literariſche Porträts.
und Parabaſen mit ihm zu weiteifern geſucht. Zahlreiche
Nachdichtungen claſfiſcher Dichter trugen dazu bei, ber
Form Geibel's eine größere Plaſtik und Klarheit zu ge-
ben. Georg Herwegh, ein politifcher Antagonift, wirkte
in Deutichland nach der Rückkehr wiederum auf Geibel’s
Boefle. Das Lied: „Ich möchte fierben wie der Schwan“,
ft ein ſchwacher Abklatſch des Herwegh'ſchen: „Och
möchte bingehn wie das Abendroth.” Das Gegengebicht
gegen Herwegh ift ganz von Herwegh'ſchem Geiſt dictirt;
den Schlußvers hätte Herwegh felbft nicht zu verleug-
nen brauchen:
Ich fing’ um feines Königs Gunft,
Es herrſcht fein FZürft, wo ich geboren;
Ein freier Prieſter freier Kunft
Sab’ ich der Wahrheit nur geſchworen.
Die werf’ ich keck dir ins Geſicht,
Keck in die Flammen beines Branders;
Und ob die Welt den Stab mir bridt:
In Gottes Hand if das Gericht;
Gott beife mir! — Ich kann nicht anders.
Spätere Gedichte: „Der Ticherkeffenfürft”, „Der Alte
von Athen“, find eine Mifhung von Herwegh und Freir
ligrath, defjen Eigenthümlichleit bei Geibel doch in etwas
abgeblaßter Copie erfcheint, und wo Geibel eine politifche
Attitude annimmt, da fteht er auf Herwegh's Poftament.
Spanische und ferbifche Bolkslieder wirkten beftinmend
auf den Ton einzelner Geibel'ſchen Gedichte ein.
Fürwähr, eine buntere Mufterfarte von Einflüffen zeigt
wol die Entwidelung keines andern deutfchen Dichters. Alle
biefe Vorbilder: Heine, Anaftafins Grim, Rüdert, Platen,
Freiligrath, Herwegh, hatten einen unverwiſchbaren Zug
Iräftiger Eigenheit, während Geibel fih an alle der Reihe
nad anlehnte. Nur in einigen Liebesliedern fieht Goedeke
die Eigenthümlichkeit des Dichters:
Das war Geibel’8 eigenfter Ton. Diefe einfachen Seelen-
Iaute haben ihm zuerft die Gunſt gewonnen, deren er fidh feit-
bem danernd erfreut hat. Es gab Dichter genug, mit denen
er unter ben Zeitgenofjen um den Kranz zu ringen hatte, im
Liede der Liebe fand er hinter feinem zuriid. Seit Goethe
war wenigfiens feiner, felbft Uhland und Rückert nicht, fähig
geweſen, das frohe Glück der Liebe fo einfach und feelenvoll ans»
zuſprechen wie @eibel, bei dem man fühlt, daß er wahrhaft
empfindet, was er Iogt- Das Liebeslied ift nicht das Höchſte
der Lyrik, aber in aller Poeſie gibt es nichts Höheres als ven
vollendeten Anshrud defien, was den Dichter als Inbegriff der
edeln Menſchheit erfüllt.
Der Eklekticismus war das Kennzeichen jener Gedicht.
jammlung, welche von der Kritil wenig Beachtung, bei dem
Publikum defto freundlihere Aufnahme fand und jet be-
reits in der vierundjechzigften Auflage vorliegt. Die Ges
finnung Geibel's war redlich und überzengungstreu; aber
feine Weltanfhauung ging nicht weit über das Credo der
religidfen und politiichen Mittelparteien hinaus; nirgends
zeigten fich in feinen Gedichten bewegende Reformgedanken,
bie in die Zukunft binausmeifen. Erſt in feiner fpätern
Epoche gab dieſer Ellekticismus eine neue, edle und voll-
tönende dichterifche Miſchung.
Das Buch Goedeke's ift vortrefflich gefchrieben und
wird jedem Freunde des Dichters, jedem Freunde ber neuern
Literatur willlommen fein. Gefpannt find wir auf den
zweiten Band, der uns das einheitliche Gemälde des
münchener Lebens vorführen fol.
Kein größerer Gegenfag, als ber zwifchen Geibel und
Immermann; jener einer der weichſten, dieſer einer der
hürteften, ſchroffften Dichtercharaktere der nenern Zeit,
Guſtav zu Putlitz hat foeben eine eingehende Biograpfie
Karl Immermann's (Nr. 4) herausgegeben, welde mit
Benugung feiner Briefe und Tagebücher und ein Cha»
rolterbild des merkwürdigen Mannes entwirft. Und im
der That ift das Reſiduum einer ernften Gebanfenarbeit,
das uns in dieſen fchriftlichen Aufzeichnungen erhalten ift,
in vieler Hinficht interefjanter als manches der poetifchen
Werke des Dichters, die zum Theil früher Vergeſſenheit
verfallen find.
Wir konnten bei der Lektüre biefer umfaſſenden Bio
graphie ein Gefühl der Wehmuth nicht unterdrüden über
das raftlofe Streben eined begabten Mannes, liber bie
Träume von Unfterblichkeit, die ja allein einen Dichter
über die geringe Anerkennung der Zeitgenoſſen tröften kün-
nen, und dann über ein literarhiftorifches Facit, das die,
fen Träumen fo wenig entfpridht. Denken wir nur an die
dramatische und dDramaturgifche Thätigkeit Immermann's —
welch ein Aufwand geiftiger Kräfte, welch ein das ganze
Leben erfüllender Inhalt, und doch — der Reft ift Schwei⸗
gen! Diefe Stüde entfprecden alle dem Zitel des lebten;
fie find „Opfer des Schweigens” geworden. Wer fpridt
von ihnen noch? Kalt verzeichnet fie die Titeraturgefchichte,
um ihr bibliographifches Gewiſſen nicht zu fchäbigen, und
bier und dort taucht das „Zrauerfpiel in Tirol“ auf, um
nad einem errungenen succes d’estime wieder in ben
ZTheaterbibliothefen zu verfchwinden. Und auch die düfid-
dorfer Mufterbühne bleibt nur eine Quriofität unferer
Theatergeſchichte — wo find die Spuren ihres Wirkens?
Selbft das Calderon⸗Tieck'ſche Repertoire, welches ein
ihrer Specialitäten war, bat Teine Wurzeln gefchlagen auf
bem beutfchen Theater und ift ein Experiment geblieben,
Wollen wir die Spuren ber Tieck'ſchen ironiſchen Märden-
Dichtungen weiter verfolgen, fo finden wir fie jenfeit bes
Rhein in den Offenbach'ſchen Burlesken. Tieck's ironiſcher
„Blaubart“ und der burleske Offenbach's find wahlverwantt.
J
Bon Immermann's ſämmtlichen Schöpfungen Hat ſich
nur der Roman „Münchhauſen“ einer nachhaltigen Wir⸗
fung zu erfreuen und lebt noch fort in der Gegenwart,
Und doch — welch ein reicher, tiefer Geift der Dichter
war, das tritt und wieder aus dem Werke von Butlik
lebhaft entgegen. Sein Talent aber hatte etwas Spröbes
und Starres, das ſchwer in Fluß fam. Die Shaffpearo-
manie mit ihren gefuchten und verzwidten Eigenheiten war
feinen erften Dramen verhängnißvoll, wie allen feinen
Dichtungen ein Tieffinn, dem es an Durchfichtigkeit ehlte
und der bie künſtleriſche Harmonie in bedenklicher Weife
erfchwerte. Seine Harften Gedanken und fchönften Ge
ftalten Tiefen ſtets in einen romantifchen Fiſchſchwanz ans,
Ya fein Leben zeigt diefelbe Unklarheit; denn er ift fid,
wie aus der Biographie von Putlitz hervorgeht, eigentlih
Jahre lang über fein Verhältniß zur Gräfin Ahlefeldt
jelbft nit Mar geworben und bietet das merkwürdige Bei-
fpiel eines preußifchen Beamten, der allen Traditionen
feines Standes zum Trotz mit einer ihrer Standesvorrechte
vollbewußten Gräfin in wilder Ehe lebte und dann fogar
einen Abftecher auf ein Gebiet machte, das dem preußi⸗
fen Beamtenthum als ganz abgelegen gilt. Ein Gerichts⸗
Titerarifhe Borträts.
rath als Theaterdirector ift eine Anomalie in den Anna⸗
fen defjelben. Immermann erhielt zwar aus befonderer
Bergünftigung Urlaub zu diefer Directionsführung ; gleich»
wol war fie in feiner Condnitenlifte ein nicht minder
fhwarzer Fled als fein Verhältniß zur Gräfin Ahlefeldt,
und er durfte fich nicht wundern, wenn ihm im Avance-
ment immer andere Käthe vorgezogen wurden.
Abgefehen von dieſen beiben romantijhen Excurſen
feiner Neigung bietet Immermann’3 Leben wenig Abwechſe⸗
lung. Er ift, mit Ausnahme eines Beſuchs in Holland,
nicht über die Grenzen Deutfchlands Hinausgefommen und
hat nur in feiner Jugend den Weldzug von 1815 mit»
gemadt. Pecuniäre Sorgen ziehen ſich wie ein rother
Baden durch fein ganzes Leben; der Conflict zwijchen dem
Dichter und Beamten, ein innerer und äußerer Conflict
zugleih, bilden das verfiimmende Element in demfelben,
während Heine Dichterfreuden, Ausſichten auf Auffüh-
zungen ber Stüde, hier und bort errungene Erfolge,
günftige Kritifen u. dgl. m. die lichten Punkte darin aus⸗
maden.
Ueber die Entftehungsgefhichte der Biographie, welche
urfprünglich für die nicht zu Stande gelommene Gefanmt-
ausgabe der Werke des Dichters beftimmt war, theilt
Putlitz in der Vorrede Yolgendes mit:
Die Freunde Karl Immermann’s hatten längſt eine Lebens-
beſchreibung defjelben verlangt und das um fo dringender, jeit
eine andere Lebensichilderung veröffentlicht war, zwar nicht des
Dichters ſelbſt, aber doch mit eingehend in feine Schidjale, und
in dieſer war fein Bild nicht nur verzerrt, fondern dur Ent-
ſtellung der Facta fogar fein Charakter in faljches Licht geftellt.
Bas fi) dem Wunſche der Freunde entgegenftellte nnd zugleich
das vorliegende Buch entfiehen ließ, wie ich es heute dem Leſer
übergebe, ift dies: Die unumgänglid nothwendigen Quellen
zur Xebensbeihreibung des Dichters waren Briefe und Tage⸗
. büdger, die fich in den Händen feiner Familie befanden und von
diefer in faft zu weit gebender Discretion zurlidgehalten wur⸗
den oder doch nicht fremden Händen zur Benutung anvertraut
werden follten. Da fand fih im Kreife der Verwandtſchaft
ſelbſt eine Hand, die fidy muthig der mühevollen Aufgabe unter-
zog, das Material zu fammeln und aus den Briefen zu excer⸗
piren, um fo dem Biographen vorznarbeiten. So einfach das
anfangs erſchien, fo ſchwierig ftellte es fich bald Heraus. Ueberall
mußten zu den lückenhaften Einbliden, die die Briefe gewähr-
ten, die Ergänzungen und Bermittelungen gegeben werden; die
Documente, die nur dem Inhalt, nicht dem Wortlaut nad)
brauchbar erſchienen, mußten umgefchrieben, combinirt und ge⸗
Hirzt werden: und fo gewannen bie Excerpte immer vollere,
voflftändigere Geftalt, und es wurde unwillkürlich ein gejchlof-
fenes Ganzes, das einem neuen Bearbeiter faum etwas zu thun
Hbrigließ; ja die Gefahr, an der Urfprünglichfeit der Faſſung
etwas zu verderben, lag näher, al8 die Hoffnung, das zuwei⸗
fen mit der objectiven Kälte des Vorarbeitere geformte Material
wärmer beleben zu können. Nicht ohne Widerftreben fligte man
fi dem Entihluß, die fleißige Sammlung und Bearbeitung
des Materials, die jo, ohne es zu mollen, zur jelbfländigen
Biographie geworden mar, als ſolche der Deffentlichleit zu über⸗
geben; aber die Hand, bie anfangs fo ſicher die Feder geflihrt
hatte, legte diefe nieder, als eigene Erlebniffe und Empfindun-
gen ihr die Objectivität zu rauben drohten, die fie bis dahin
fo gemifjenhaft feitgehalten hatte, und fie trug num für den
letzten Abſchnitt des Werks einen andern das Dlaterial zu, um
den Bau zu vollenden, den fie faft bis zum Abfchluß feibitändig
errichtet hatte. Daß diefe letzte Aufgabe ſowie die Herausgabe
mir übertragen wurde, war wieder fein Zufall, und wenn ich
meinen Namen anf ein Bud) fee, das dem Andenken Karl
Immermann's gewidmet ift, fo ift das nicht vordrängende Ber»
mefjenheit, fondern Erfüllung mehrfacher Freundſchaftspflicht.
1870. 82. .
505
Putlig Hatte einen Hauslehrer, der ein jüngerer Mit»
jhüler Karl Immermann’s gewefen war, und wurde jelbft
ein Schüler von Immermann's jüngerm Bruder Ferdi⸗
nand. Außerdem war Putlig der jungen Witwe, mit
der er zuſammen aufgewachjen war, in treugefchwifter-
licher Freundſchaft verbunden und ift e8 geblieben. Auch
den Dichter felbjt hat er perfönlich kennen Iernen:
Karl war nad) Magdeburg gelommen zur Tanſe vos Fer⸗
dinand’s Erſtgeborenem, und ich jah ihn im Kreiſe feiner Fa⸗
milte, in dem er Marianne fennen lernte, bie ein Jahr fpäter
jeine Gattin wurde. Mit melder Spannung und Scheu trat
id, halb noch ein Knabe, dem Dichter entgegen, den ich fo
lange Hatte nennen hören, deſſen Dichtungen ich alle kannte nud
urtheilelos bewunderte. Wie imponirte mir bie fräftige Geſtalt,
die hohe gewölbte Stirn, das kluge Auge, die fchmalen aber
energisch aufgeworfenen Lippen. Und dann las er „Heinrich IV.’
von Shalfpeare mit kräftig heldenmäßigem und doch fo modu-
fattonsfähigem Organ und dramatiih anfhaulihem Bortrag-
Mit welchem überjprubelnden Humor gab er Falftafj wieder
nnd erläuterte, als die Vorleſung gejdjloffen war, feine Auf-
faffung durch allerlei Schilderungen der Wirkung bei der von
ihm geleiteten Darftellung in Düſſeldorf während feiner Theater»
leitung. Ja, er hatte jelbft einmal den Falftaff in einem Freun⸗
besfreife gejpielt.
So war die Herausgabe der Biographie ein Act der
Pietät,; die auch ans allen den ergänzenden und abjchlie-
Benden Zeilen fpridht, in denen der biographifche Inhalt
zufammengefaßt wird oder eine feinfinnige Kritik die Werke
des Dichters in ihrer Bedeutung erflärt.
Immermann war 1796 in Magdeburg geboren und
war der Sohn eines Kriegs⸗ und Domänenraths. Zu
feinen Sugenderinnerungen gehörte der Durchzug ber preußi⸗
jhen Flüchtlinge nah der Schlaht von Jena. Nach
tüchtigen Öymnaflalftudien, die durch poetifche Verſuche
und theatralifche Probefpiele nicht beeinträchtigt wurden,
bezog Immermann 1813 bie Univerfität zu Halle, um
Jurisprudenz zu ſtudiren. Die Borlefungen wurden durch
Kriegsereigniffe unterbrochen. Napoleon hob im Auguft
1813 die Univerfität Halle auf. Immermann trat in
das erfte Jägerdetachement des Leib-Infanterieregiments;
doch wurde er durch ein Nervenfieber zurückgehalten. Spä-
ter betheiligte er fi) 1815 bei den Schlachten von Ligny
und Waterloo und Tehrte als Offizier zurüd. Bei jpätern
Stubentenunruben in Halle trat er entfchieden gegen Die
Burfchenfchaft Teutonia auf, melde ſich als eine Art von
Sittengericht conftituirt hatte. Eine Eingabe, die Immer⸗
mann an ben König machte, Hatte die Aufhebung der
Tentonia zur Folge. Immermann wurde dadurch im
höchften Grade unpopulär und die Flugfchriften, die er
auf diefen Anlaß hin veröffentlichte, wurden bei dem Wart-
burgfefte mit verbrannt. " Im Jahre 1818 machte Immer-
mann fein erſtes juriftifches Examen; in dieſe Zeit fällt
eine ſchwärmeriſche „‚erfte Liebe‘. Bon Magdeburg wurde
Immermann 1819 nad Miünfter verfegt ald vortragender
Auditene beim Generalcommando. Es iſt ein pilantes
Zufammentreffen, daß Immermann's eifrigfter Mitftre-
bender in der dramatifchen Arena, Grabbe, aud) längere
Zeit Auditeur war. Im diefe Zeit fallen „Gedichte, denen
jeder melodifche Fluß fehlt, und die erften Trauerfpiele:
„Das Thal von Ronceval“ und „Edwin“, im ganzen
verfünftelte und ungenießbare Productionen. Auch das
phantaftifch tolle Luftfpiel: „Der Prinz von Syrakus“,
| wurde in Münfter abgefoßt. Außerdem erſchien eine Art
64
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506 Literarifhe Porträts.
von Roman: „Die Papierfenfter eines Eremiten‘‘, in wel-
hem ein Ton der Zeit angefchlagen wurde und der tro&
mancher Rängen und Uebertreibungen lebendig wirkte. Wenig
erfreulich ift der darin herrſchende Humor. Ueber diefe
Erftlingswerke erhalten wir die folgende Kritik:
Gedankenreich iſt feine Welt, Träftig, kühn, nicht hohle
Worte und leere Phraſen ſpricht er aus. Seine Dichtungen
find Belenntnifje feiner Seele, und in allem, was er darſtellt,
will er als Priefter anvertraute Geheimniffe im rechten @eifte
verfündigen. Noch fehlt dem flogen Bau die Vollendung, nod)
liegt um ihn zerfirent Geftein, noch entbehren feine Gebtlde die
verfnüpfende Anmuth, in der fih erft völlig die Blüte der
Schönheit entfaltet. Richt gleichgültig empfing die Kritik dieje
erſten größern Arbeiten des jungen Dichters, obmol fie vieles
on ihm tabelte und zu tadeln berechtigt war. Aber man er»
fannte an, daß ferne Irrthlimer Fehler der Kraft, nicht Mängel
der Schwäche waren, und darum regte ihn manche Öffentliche
Stimme mit ermnthigender Theilnahme an. Bei aller Ent-
fchiedenheit des Auftretens glaubte man Immermann übrigens
nicht frei von Nachahmung, namentlicd; ward ber Bormwurf laut,
er babe ſtark ſhalſpearifirt. „Zum Theil kannte ich nicht ein-
mal“, fagte er fpäter, „was ich follte copirt haben. Ich hatte,
ohne daß ih mich mit Shaffpeare zu vergleichen wage, eine
eigene freie, feltfame Weltanihanung wie er, das mag denn
Hin und wieder die Aehnlichleit, die den Schein der Nach⸗
ahmung trug, erzeugt haben. Später follte ih Schiller nach⸗
geahmt haben und zuletzt nun Goethe in den «Epigonen». Ich
habe mich nie vor Muftern gejchent und vor Reminiſcenzen,
denn ich war mir meines Eigentums bewußt und wußte übri-
gens auch, daß noch niemand mit Stiefeln nnd Sporen iſt aus
feiner Mutter Leib gekrochen, fondern daß jeder fi an Vor⸗
bilder angelehnt bat. Zweifellos trat übrigens in allen biefen
Schöpfungen der Einfluß hervor, deu die Romantil auf den
Dichter gefibt hatte. Die Willkür, die in diefer herrfchte, fagte
dem nod nicht in jenen Schranten gefaßten Geifte zu, nnd
verführte ihn, mit kühnen Sprüngen tiber die formellen und
innerlihen Schwierigleiten wegzugehen, bie ihm entgegentraten.
Der Reiz der Schule hatte feine jugendliche Bhantafte ergriffen,
ihre Poeſien klangen friſch und lieblich durch feine Studienjahre,
umd wir merben beobachten, daß er nur allmählich von einer
Einwirkung frei wurde, die ihm einen feiner Natur eigentlich
fremden Ton gab.
Die Nachahmung der Shakſpeare'ſchen Eigenheiten und
zwar gerade der baradften, die dem vergänglichften Zeit-
geſchmack angehörten, die Bhantaftereien der Romantik und
eine gewiſſe refervirte Vornehmheit Liegen diefe Werke im
Grunde als verfehlt erjcheinen, ſodaß die obige Kritik
eine viel zu günftige ift.
Die verhängnigvollite Belanntfchaft in des Dichters
Leben war diejenige mit Elife von Lützow⸗-Ahlefeldt. Der
Biograph findet, daß Hiermit eine Verbunfelung in dem
Leben des Dichterd beginnt. Im Jahre 1821 wurde
Immermann in das Hans des Generals von Lützow ein⸗
geführt. Anfangs war der Verkehr ein fchläfriger:
Erft ale bei dem Erfheinen bes „Prinzen von Syrakus“
Fran don Lützow das Stüd mit der ihr eigenen warmen
Empfindung gegen alle Angriffe vertheidigte, als allerliebfte
rothe Blättchen ın des Dichters Zimmer flogen und ihn drin-
gend zu vertraulichen Beſuchen aufforberten, begann der Antheil
der ausgezeichneten Frau anziehend und verwirrend zu wirken.
„Ich war drauf und dran‘, ſchrieb Immermann bamals dem
Bruder, „den dummften Streih in meinem Leben zu machen
und mich in eine Frau zu vergaffen und fo muthwillig das
Schöne geiftige Verhältniß zu zerflören, welches ein edles Weib
mit Vertrauen zu bilden im Sinne bat.
Bon ber Gräfin Ahlefeldt entwirft der Biograph das
folgende Bild:
Elife von Lützow gehörte zu den Erſcheinungen einer ab-
gethanen Zeitperiobe, welde der Gegenwart kaum noch ver«
ftändlih find, und auf welche die Romantik, unter deren Herr⸗
ſchaft fie fich entwidelte, einen ebenfo anziehenden als gefähr-
lichen Einfluß übte. Ste übertrug die Anſchanungen, im welchen
fi) eine geiſtreiche aber phautaſtiſche Titeratur bewegte, anf das
wirkliche Leben, und zwar zu einer Zeit, in welcher große Welt⸗
erfchüitterungen alle Berhältnifie aus ben gewöhnlichen Bahnen
riffen. Das Ungewöhnliche war damals nicht felten das Be-
rechtigte, und Eliſe gehörte zu denen, welche einen befonbern
Heiz gerade in den Berhältuiffen fanden, die fi außerhalb des
Gewöhnlichen entwidelten. Sie geriet dadurch in einen Irr⸗
tum, aus welchem ſich ihr felbft ein Schweres tragiſches Geſchick
entwidelte und durch welchen fie auch einen dunkeln Schatten
über Immermann’s Leben warf.
Man vergleiche übrigens die Biographie von Ludmilla
Aſſing, die allerdings entfchieben für die Gräfin Partei
ergreift, aber doch vielfah die Mittheilungen der vorlie
genden Lebensbefchreibung ergänzt. Die Liebenswürdigkeit
und die Vorzüge ber Gräfin werben auch von Putlig mit
Wärme anerlannt. Für Immermann’8 Scelenfrieden blieb
das Verhältniß ſtets ungenügend und ftörend. Er jelbft
ſchreibt in einigen unfhägbaren Blättern feiner jpätern
Lebensjahre darüber:
Selten bat wol das Geſchick ein jeltiameres Verhältniß
geftiftet als dasjenige, welde® die Leidenjchaft zwiſchen der
Gräfin und mir herbeigeführt Hatte. Ich nenne ımfer damali-
ges Geflihl eine Leidenichaft und vermeide dag Wort Liebe, weil
der ſtarken und beftigen Empfindung von Anfang au viel Irres
und Wirres beigemifcht war. Unſer Berhältuiß entwickelte fi
meiftentheil® von jeher wur in der Form des Kampfes zwiſchen
zwei entgegengejegten eigenartigen Naturen, denen ganze Re⸗
ionen des andern Theils dunkel und unzugänglich blieben.
azu kam, daß die Frau, in ihrem fünfunddreißigſten Jahre
fiehend, ihrem ganzen Weſen nad) fertig und abgeichloffen war,
ber Mann, 26 Jahre alt, nod mit allen braufenden Kräften
nad Entwidelung rang. Ich darf mit Wahrheit fagen, daß
ih in diefen vierzehn Sch
Bingerifjen, nie aber eigentlid glücklich geweſen bin; fern fei
e8 aber von mir, das, was mtr einft thener war und, wenn
auch in anderer Art, ewig theuer bleiben wird, zum beichelten.
Nein! Wenn ich litt, jo war es mein böfer Stern, nidt bie
Schuld der Armen, die ja oft gar nicht wußte, wie tief fie
mich verlegte! Wenn ich aud hier, wo es um Wahrheit geht,
den nnlösbaren Zwieſpalt unſers Weſens nicht verfchweigen
darf, fo muß ich doch hinzufegen, daß fie getban hat, was in
ihren Kräften fland, daß fie mir taufend Opfer gebracht Hat,
und daß ich bis an mein Lebensende ihr großes Gemäütb ver-
ehren werde. Indeſſen gleicht diefes einen ſolchen Urzwift, wie
ih ihn andeutete, nicht aus. In der Freundfchaft Tann man
den andern theilweife nehmen und fchäten, die Liebe aber ver-
langt dem ganzen Menfchen ohne Abzug und Ausnahme; umd
der ganze Menſch gehörte niemals weder ihr noch mir. Die
Grundverſchiedenheit unferer Charaktere bethätigte fich fogleich
an der Lebensfrage unfers Verhältniffes. Ich hatte von Anfang
an auf die Ehe gebrungen, al® das einzige Heil. Nach heftigen
Scenen jhien fie fi meinem Verlangen zu fügen, plöglidh
aber fprang fie in da8 Entgegengefegte über — meinen Wunſch
entichieden verjagend.
Die Gräfin wollte mit Immermann nur ihren Ge—
fühlen leben und weigerte fich entſchieden, eine Ehe
mit ihm einzugehen. Eine foldhe erfchien ihm nicht un⸗
bedenklich, aber doch als ber einzig fittliche Ausweg, wel-
her den geheimen Kriegszuftand- endete, in dem er mit
den Menſchen lebte. Bon Jahr zu Jahr wuchs die Ber-
ſtimmung zwifchen beiden, bis in ber jugendlichen Ma-
rianne dem Dichter die Erlöfung kam, feiner Freundin aber
durch diefe Liebe und die Ehe mit ihr ein tiefer Seelen⸗
ven zwar oft angeregt, entzlidt und
Der malaiifche Archipel.
ſchmerz bereitet wurde. Die legten Kapitel des zweiten
Bandes behandeln diefe geiftig verjlingende Liebe, einen fpät
eintretenden Lebensfrühling, der durd den frühen Tod
des Dichters ein plögliches Ende fand. Dieſe Kapitel
gehören zu den anmuthigften der Biographie. Immer»
mann gibt fid) Übrigens damals viel Mühe, fein Ver⸗
hältniß zur Kirche und zur Religion fich felbft und feiner
Braut auseinanderzufegen. Faſt jcheint es, als ob er
fi) in der Lage des Fauſt befunden hätte, der von feinem
Gretchen „Latechifirt‘“ wurde.
Im Iahre 1824 wurde Immermann Eriminalrichter
in Magdeburg, wo er mit feiner Mutter zufammenlebte;
hier verfaßte er das Trauerfpiel: „Cardenio und Celinde“,
das nur aus einem heftigen, tieferfchiitterten Gemüth her⸗
vorgehen Tonnte und ein fpröbes fchauerliches Thema rauh
und berb behandelt. Das Stüd machte mehr Auffchen
als die frühern Dramen. Im Juni 1825 machte der
Dichter fein drittes Eramen und wurde 1826 nad) Düſ⸗
jeldorf als Landgerichtsrath berufen. Borher Hatte er
noch fein „Zrauerfpiel in Tirol“ vollendet. Von dieſem
Werke fagt fein Biograph:
Mit diefem Gedichte fette er feinem Namen das erfte blei-
bende Dentmal in feiner Nation, denn die poetiihe Schönheit,
in welcher da8 Gemüth des Dichters die Geftalt Hofer’s erfaßt
und Har und Träftig dargeſtellt hat, wird allen Zeiten verftänd-
lich bleiben und immer wieder ihre reine Wirkung auf deutiche
Herzen üben. Mag auch die Kritik die Fehler nicht überſehen,
von denen das Drama leineswegs frei iſt, mag mandes ein-
zelne vergriffen fein, doch hält der Dichter die Fäden kräftig im
feiner Hand, die fih zum ſchönen Ganzen ſchlingen, und hell
und hoch Hingt durch feinen Gefang der Strom der Poefle, der
aus jeiner erregten Bruſt quillt.
Die Schilderung des Lebens in Düffelborf, welches
der Dichter, mit Ausnahme einiger Ausflüge und Reifen
bis zu feinem Tode 1840 nicht mehr verließ, mögen un-
fere Lefer in dem Werke jelbft nachleſen; fie ift ebenjo
fiebevoll eingehend wie reich an kritiſchen und dramatur⸗
giſchen Betrachtungen, die theils der Dichter in feinen Auf⸗
507.
zeichnungen macht, theil® ber Herausgeber an die Be-
urtheilung der einzelnen Dramen und Werke fnüpft. Dieſe
Kritik ift im Durchſchnitt wol zu günſtig. Immermann
war ein fcharfer Denker von großem fittlichen Ernft; als
folhen lernen wir ihn gerade aus feinen Memoiren und
Tagebüchern faft noch mehr ſchätzen als aus feinen Dicht«
werfen; aber der ſchöne Schwung dichterifcher Begeifte-
rung, ihre frifch einherflutende Unmittelbarkeit fehlte ihm,
und die romantifche Doctrin hatte feine Poeſie verwirrt.
Man vergleiche den „ Merlin‘ mit dem „Fauſt“ — und man
wird ben Unterfchied zwifchen einer Gedankenarbeit, die
fih nicht in Fleiſch und Blut umzufegen weiß, und einem
genialen Dichtwerfe leicht erfennen. Bei Immermann
herrſchte ſtarre Gebundenheit reicher geiftiger Schäge; echte
Poeſie aber ift lebendige Freiheit. Erſt auf dem Gebiete
des Romans fand Immermann’8 Mufe ſich heimiſch; hier
fam ihre geiftige Bedeutung in der freien Form zur
Geltung.
Die erfte Hälfte des zweiten Bandes enthält eine Schil«
derung von Immermann's Wirken als Theaterdirector;
fie ift ſehr lehrreich und mit einer Fülle intereffanter Be-
merkungen ausgeftatte. Aud bringt fie im einzelnen
manches Nene, wie z. B. über das Verhältniß zu Mendels⸗
fohn. Die Beziehungen zu Grabbe erjcheinen uns zu
beiläufig und nicht unparteiifch genug behandelt. Immer⸗
mann als Theaterbirector hatte etwas Dictatorifches, wie
in erhöhten Grabe es aud) Laube befaß. Sein drama-
turgifcher Eifer kannte Feine Grenzen. ALS tüchtiger Bor-
Iefer pflegte er die Schaufpieler zuerft mit dem ganzen
Stüd und dem Geift deſſelben befannt zu machen. Dod
blieb die düffeldorfer Bühne ein künſtliches Experiment
und machte, trogdem daß es Alltagswaare, Boflen,
Spectakelſtücke nicht verfchmähte, ein finanzielles Fiasco;
fie war und blieb, mit Calderon und Tieck, eine „Tochter
ber Luft”. Rudolf Gotiſchall.
(Der Beſchluß folgt in ber nähften Nummer.)
Der malaiifche Ardipel.
1. Der malatifhe Archipel. Die Heimat des Drang - Utan
und des Paradiesvogels. Neifeerlebniffe und Studien über
Land und Leute von Alfred Ruſſel Wallace. Autos
tifirte deutfche Ausgabe von A. B. Meyer. Zwei Bünde.
Mit 51 Original-Jluftrationen in Sojgnätt und 9 Karten.
Braunſchweig, Weftermann. 1869. Gr. 8. 4%, Zhlr.
2, Heilen im ofiindifhen Archipel in den Jahren 1865 und
1866. Bon Albert ©. Bidmore. Autorifirte vollftän-
dige Ausgabe für Deutſchland. Aus dem Englijchen von
3. E. A. Martin. Nebft 36 Sluftrationen in Holzſchnitt
und 2 Karten in Farbendruck. Jena, Coftenoble. 1869.
Sr. 8. 2 Thlr. 20 Nor.
3. Die Philippinen und ihre Bewohner. Gehe Slkizzen.
Nach einem im Frankfurter geographifchen Verein 1868
gehaltenen Eyflus von Borträgen von &. Semper.
Würzburg, Stüber. 1869. Gr. 8. 1 Thle. 20 Ngr.
Das größtd, wichtigſte und intereffantefte Inſelgebiet
anferer Erde if dem Dften Aſiens vorgelagert. Vom
Aequator li und von dem lauwarmen Wafler
der tropifchen Meere umflutet, zeichnet es ſich durch ein
Klima aus, das gleichmäßiger heiß und ſeucht iſt als
dasjenige irgendeines andern Landes. Die Ueberfülle der
Producte, welche dieſer Archipel erzeugt, iſt geradezu
ſtaunenerregend: die köſtlichſten Früchte und die theuerſten
Gewürze kommen von dort; die Raffleſia, die rieſigſte
aller Blumen, der menſchenähnliche Orang-Utang, die
herrlich gefiederten Paradiesvögel, dann zwei außerordent-
lich verfchiedene Menfchenrafien, die Malaien und die
Papuas, haben dort ihre Heimat. Unter den Zaufenden
von gleichſam zerbrödelten Eilanden, die fcheinbar wirr
und regello8 über den weiten Raum zerftreut find, ge=
wahren wir auch die größten Inſeln unſers Erbballs:
Borneo und Neuguinea, jede für fid) Deutfchland an
Flächeninhalt übertreffend. Oberflächlich betrachtet bilden
alle diefe Infeln ein compactes geographifchee Ganzes;
bei näherer Erwägung zeigt ſich indeffen, daß fie in zwei
gefonderte Theile zerfallen, welche in Betreff ihrer Natur-
erzeugniffe weit voneinander abweichen.
Diefe Zrennung des Archipels nachgewiefen, feine
phyfifalifchen und ethnologiſchen Berhältniffe in mufter-
64 *
508
gültiger Weife feitgeftellt zu haben, ift das Verdienſt bes
großen britifchen Naturforfchere Wallace, deifen Wert:
„Der malaiifche Archipel“ (Nr. 1), unter den in den
legten Jahren erjchienenen geographiſch⸗ naturhiftorifchen
Schriften anerfanntermaßen eine der erften Stellen ein-
nimmt. Wallace ift ein eifriger Anhänger Darwin’s, und
ein großer Theil feines Werks ift auch dem Zwecke ge-
widmet, neue Belege für die Theorie feines Freundes
beizubringen, was ihm auch in verfchiedenen Fällen außer«
ordentlich glüdte. Zu allem, mas uns das inhaltreiche
Buch Neues bringt, gefellt fich eine ſehr feſſelnde und
leichtverftändfiche Schreibweife, die der Weberfeger gut
wiederzugeben wußte. Nirgends ift der Wiffenfchaftlich-
feit des Ganzen Zwang angethan, und doch Tann jeder
Gebildete das Buch in die Hand nehmen, jo gemein-
verftändlich ift e8 wieder.
Wallace Tennzeichnet ben größten vullanifchen Gürtel
unferer Erde, der burch den Archipel zieht und einen
merfwitrdigen Gegenfag in der Scenerie der vulfanifchen
und nicht vulkaniſchen Inſeln Hervorbringt. Bon Su⸗
matra ausgehend reicht er bis zu den Philippinen, in
einer Breite von 12 deutfchen Meilen und einer Länge
bon 90 Graben. In der ganzen Region und auf beiden
Seiten derfelben find Erdbeben häufig; ſchwächere Stöße
fommen bier und da faft jede Woche vor, und ftürfere,
durch welche Verheerungen angerichtet werden, in jedem
Jahre. Im Centrum ber großen vulfanifchen Curve
liegt die große Inſel Borneo, auf welcher dagegen gar
feine Erdbeben vortommen. Auffallend find die Contrafte
im Pflanzenreihe. Auf Timor finden wir noch deutlich)
auftralifches Gepräge, weiterhin aber die üppige aftatifche
Begetation. Nicht minder auffallend find die Gegenfäge
in Bezug auf bie Tiefe des Meeres, auf die ſchon 1845
Windfor Earl hinwies. Er hob hervor, daß ein feichtes
Meer Sumatra, Borneo und Java mit dem aftatifchen
Feſtlande verbinde, mit welchem ja auch die Naturproducte
diefer Eilande übereinftimmen. Andererſeits verbindet
fol ein feichtes Meer Neuguinea und feine benachbarten
Infeln mit Auftralien. Alle dieſe letztern Eilande find
auch durch das Auftreten auftralifcher Beutelthiere ge-
fennzeichnet. Die Tiefe oder die GSeichtigfeit de8 Meeres
beftimmen die Gegenfüge im. Archipel. Wallace zieht eine
Scheibe zwifchen den Inſeln, die nach Weſten zu eine
aftatifche, nah Oſten eine anftralifche Hälfte abtrennt,
und bezeichnet diefe Abtheilungen als indo-malaitfche und
auſtro⸗malaiiſche. Er zeigt ferner, wie bie geologische
Trennung zwijchen diefen Landen in eine verhältnigmäßig
neue Epoche füllt, und wie auch das Vorkommen ihrer
Thierwelt durch geologifche Ereignifje bedingt wirb.
Nachdem Wallace die Scheidung des Archipels auf
geologifchen, zoologifchem und botaniſchem Gebiete durd)-
geführt bat, tritt er an den Menfchen heran. Waren
früher alle oceaniſchen Raſſen von der Dfterinfel bie
Sumatra ald Abänderungen eines und defjelben "Typus
bingeftellt worden, fo zeigt Wallace — was aud) andere
Schon thaten — daß Malaten und Papuas radical ver-
fchiedene Menfchen nad) ihrem phyſiſchen wie pfychifchen
Weſen find. An diefe beiden Grundtypen fchließen ſich
alle andern Völker des malaiiſchen Archipels und Boly-
nefiens an. Eine Linie, welche beide Typen boneinander
Der malaiifhe Archipel.
ſcheidet, liegt etwas üftlich von jener, welche bie beiben
zoologifchen Regionen trennt. Es erflärt fich leicht, wes⸗
halb beide Linien nicht zufammenfallen. Der Menſch
bat mancherlei Mittel, die See zu überfchreiten, welche
den Thieren abgehen, und eine höhere Raſſe hat Mittel
und Macht, eine untergeordnete zu verdrängen. Den
Malaien ift durch ihre Unternehmungen zur See und ihre
höhere Civilifation möglich geworden, einen Theil der an-
grenzenden Gegenden in Beſitz zu nehmen und die Ur-
einwohner zu verdrängen. Sie verbreiteten ihre Sprade,
ihre Hausthiere und manche ihrer Sitten und Gebräuche
weit und breit über ben Stillen Ocean, auch nad, ſolchen
Infeln, wo fie an ben phyfifchen oder moralifhen Merk⸗
malen der Bewohner keinerlei Art von Ummandlung ber
vorgebradht haben.
Das find einige der Grundzüge, die durch das ganze
vortreffliche Buch wiederflingen und in den Einzelfdhil-
derungen ihre Beftätigung finden. Die Reifen, die von
1854—62 dauerten, nahmen ihren Ausgang von Sin-
gapore, dann wendet Wallace fi) nad) der britifchen
Befigung Malaka und befteigt den Berg Ophir; es folgt
die Schilderung Borneos, das der Berfafler durch mehr
als einjährigen Aufenthalt im Gebiete des Radſchah von
Sarawak, des damals noch lebenden edeln Sir James
Brooke, Kennen lernte. Hier au Hat er ausgedehnte
Drang-Ütang-Fagden unternommen und uns mit vortreff-
lichen neuen Beobachtungen über diefen menfchenähnlichen
Affen befchenft. Er Hat viele diefer merkwürdigen Tchiere
erlegt, und auch ein Junges, wiewol vergeblid, auf
zuziehen verſucht. Der Drang-litang bewegt fi in den
Bäumen der dichten Wälder fo raſch und behende, daß
er nach Wallace's eigenen Beobachtungen in einer Stunde
bis zu ſechs englischen Meilen zurüdlegt. Bielfach ift die
Behauptung in Zweifel gezogen worben, daß der Mias —
jo lautet der einheimifche dajafifche Name — Zweige
abbreche und diefelben auf feine Verfolger herabjchleudere;
es bat aber die Sache ihre volle Richtigkeit, und Wallace
fonnte fid) mehr als einmal davon überzengen. Auch
Bat er feftgeftellt, daß der Drangelitang ein Neft baut.
Wallace ſchoß einen Mias an, ein großes Männchen,
das auf einem hoben Baume faß, und zerjchmetterte ihm
einen Arm; mit dem andern brady nun das Thier oben
im Gipfel eines mächtigen Baums Zweige ab und legte
biefelben querüber, derart, daß fie ein Neft oder Lager
bildeten. Er Hatte fih dazu eine fehr geeignete Stelle
auserforen und ging fo raſch zu Werke, daß er nad
wenigen Minuten fchon fi) bequem bergen. konnte. Ein
anderes Männchen, das fi im Laubwerk her Bäume zu
verfteden wußte, konnte, nachdem es geſchoſſen war, nur
mit Mühe durch Schütteln an den Schlitgpflanzen her-
abgebracht werden. \
Mit einem Krad und mit einem Iuftgeräufh wie beim
gel eines Rieſen ſtürzte er herab. Und er war ein Riefe;
opf und Körper hatten volle Mannesgröße. Er gehörte zu der
Art, die von den Dajald „Mias-EChappan’ oder „Mias⸗Pappan“
genannt wird und bei der die Haut des Gefichts jederfeits kamm⸗
oder faltenartig verbreitert ifl. Mit ausgeftreckten Armen maf
er fieben Fuß drei Zoll, und feine Höhe von der Spige bes
Kopfs bis zur Hade bequem gemefien betrug vier Fuß zwei Zoll
Der Körper gerade unter den Armen hatte einen Umfang von
drei Fuß zwei Zoll und war ebenjo groß wie der eines Mannes.
Die Beine waren verhältnißmäßig fehr kurz. Bei der Unter
Der malaiifhe Ardipel,
fuhung fanden wir, daß er fchredlich verwundet worben war.
Beide Beine waren gebrochen, ein Hüftgelenk und ein Theil
des Rückgrats ganz zerſchmettert, zwei Kugeln faßen plattgedrildt
in feinem Naden und den Badenfnohen! Und dod lebte er
noh ale er fiel. Die beiden Chinefen trugen ihn an einen
Stod gebunden nad Haufe, nnd ich hatte den ganzen folgenden
Tag daran zu thun, die Haut zu präpariren und die Knochen
auszulochen, um ein vollfommenes Stelet zu machen, welches jet
im Mufeum zu Derby aufbewahrt wird.
Nachdem Wallace no einige Streifzüge ind Innere
Borneos unternommen und uns mit den kopfabſchneidenden
Dajals befannt gemacht, befuchte er Java, das einem
großen Eulturgarten gleicht und das er filr das ſchönſte
Eiland der Erde erklärt. Dem Colonialſyſtem der Nieder⸗
länder läßt er volle Gerechtigkeit widerfahren; er hatte
dann Gelegenheit, dafjelbe Urtheil auf Sumatra zu wie
derholen, wo, fo weit die Herrfchaft der Holländer reicht,
jest Sicherheit bergeftellt if. Während die meiften Rei⸗
fenden die Weftküfte der zulegtgenannten Infel aufjuchen
und in Padang oder Bankulen Station machen, fehen
wir Wallace im Südoſten, in PBalembang, wo er durch
bie angeſchwemmten Ebenen bis nad; Cobo Ramon ins
Gebirge aufftieg. Weit diefer Reife ift die Schilderung
des eigentlich indo-malaiiſchen Archipels abgeſchloſſen,
deſſen naturwiſſenſchaftliche Verhältniſſe in klarer Ueber⸗
ficht ſchließlich reſumirt werden. Dann kommt die Timor⸗
gruppe (Bali, Combock, Timor) an die Reihe, und hier
find es namentlich die anziehenden Schilderungen der wil-
den papuanifchen Einwohner Timors, und der Berfall,
der im portugiefifchen Theile diefes Eilands (Delli) herrſcht,
auf die wir befonders aufmerffam machen wollen. Ce-
Iebes ift fowol im Süden (Malaffar) ale im Norden
(Drenado) von Wallace befucht worden. Auch hier wies
der, in ber Minahatta, begegnen wir einem Sichtbilde,
denn unter dem Einfluſſe ber Niederländer find bie
alfurifchen Eingeborenen binnen kurzer Zeit zu einem
wirklich ftaunenswerthen Grabe der Civilifation empor-
gehoben worden.
Sehr eingehend werben bie gewürzreichen Moluklen:
Banda, Amboina, Gilololo, Ternate, Batdhian, Caranı,
Burn, gefhildert. Hier kommt der Keifende auf vielfad)
noch unbelanntes Gebiet, und manche feiner Forſchungen,
die er auf Caram, Burn, Batchian angeftellt, führen uns
in eine völlig neue Welt.
An die Befchreibung der Molukken fchließt ſich die pa⸗
puanifche Gruppe, bei der wir etwas länger verweilen wol-
len. Die Ke⸗ und Aruinfeln, auch Waigiou find nod) nir⸗
gends fo anſchaulich und eingehend gefchildert worden wie
gerabe hier, während Neuguinea in dem berühmt gewor⸗
denen holländiſchen Werke der Etna-Erpedition zumal vom
ethnographiſchen Standpunft ausführlicher als von Wallace
behandelt iſt. Alle jene zahlreichen, von fchwarzen Men-
fhen bewohnten Eilande hat der Berfaffer in einer ein-
beimifchen Praue befucht, mit der er oft unter großen Gefah⸗
ren das keineswegs ſanfte Meer befchiffte. Wo er aber auch
zu jenen Papuas kam, er fand, daß ber Handel das
große belebende Element war, welches die verſchiedenen
Stämme zufammenführtee Auf den Aruinfeln liegt ber
Meßplatz Dobbo, es ift das Leipzig des Dftens, in dem
im Sannar der Markt beginnt, der im März feine Höhe
erreicht. Bortwährend langen Schiffe oft aus weiter
509
Ferne an, und alle zwei oder drei Tage entfteht ein neues
Haus, eine lange Straße wird gebildet, die bereit ift bie
anfcwellende Menſchenmenge aufzunehmen. Jedes Haus
wird nun zum Saufmannsladen, und bie einheimifchen
Erzeugniſſe, wie Zripang, Perlmutter, Schildpadd, efbare
Schwalbennefter, Perlen, Baradiesvögel, werden gegen bie
mannichfachften europäifchen und chinefifchen Induſtrie⸗
erzeugniffe ausgetaufcht. Morgens und abends ftreichen
die bezopften Chinefen durch die Straßen, zu ihnen ge=
fellen fi Buginefen, Malaien, einzelne Europäer — alles
wohlgekleidete Leute, die von den nadten Schwarzen felt-
fam abftechen. Es ift ein buntes wirres Bild, das die
500 nad Dobbo gelommenen fremden Menſchen der ver-
ſchiedenſten Nationalitäten hervorbringen. Sie alle wollen
dort ihr Glück machen, alle find aber mehr oder weniger
Schurken, und trogdem verläuft die Meſſe in Ruhe und
Drdnung. Die merkwürdige Erfcheinung de8 Mearlt-
friedens, die wir auf allen großen Märkten im deutfchen
Mittelalter Tennen lernten und die in der jogenannten
Meffreiheit Heute noch nachklingt — dort ift fie im fernen
Dften des Archipels noch in voller Geltung. Ohne einen
Schatten von Regierung, ohne Polizei, ohne Gerichte Lebt
diefe buntſcheckige, unwiſſende, blutbürftige und diebifche
Devölferung zuſammen; und doc), fchneiden fie einander
weber die Fehlen ab, noch berauben fie fih. Es ift der
Genius des Handels, der hier den Frieden dictirt und
vor dem jene Wilden und Halbwilden fich beugen.
Wir erwähnten, daß Paradiesvögel einen wichtigen
Handelsartifel in Dobbo ausmachen, und in der That find
die Arninfeln einer der Hauptfundorte diefer Edelfteine
unter der geflederten Welt. Wallace wibmet ihnen, wie
ſchon ber Titel feines Werks bezeugt, eine befondere Auf-
merkſamkeit, ja er gibt uns eine völlige Naturgeſchichte
diefer herrlichen Vögel, von denen er viele lebend beobach⸗
ten, andere fich wenigftens in Bälgen verfchaffen konnte.
Sie in Käfigen zu erhalten, ift ihm aber niemals gelun-
gen, bie Thiere flarben bald, und fo werden auch wir
wol darauf verzichten müſſen, fe je lebend in einem un⸗
ferer zoologifchen Gärten zu erbliden. Namentlich ift der
große Paradiesvogel von Wallace genau in feinen Sitten
beobachtet worden, doc wollte e8 auch ihm nicht gelingen,
das Neft oder ein Ei des Thieres aufzufinden, troß hoher
ausgefegter Belohnung, Im Mai find die Vögel am
fchönften, und dann Halten die Männden, um ihr Ge-
fieder zu zeigen, eine Art Ball ab:
Die Bögel hatten jet ihre Tanzgeſellſchaft begonnen; fie
findet auf gewiffen Waldbäumen ftatt, welche nicht Fruchtbäume
find, welche aber meit ſich ausbreitende Zweige und große zer-
fireut ftehende Blätter haben und den Vögeln fchönen Raum
zum Spielen und zur Entfaltung ihres Geftebers geben. Auf
einem der Bäume verfammeln fih ein Dußend bis zwanzig
voübefiederter männlicher Vögel, erheben ihre Flügel, fixeden
ihre Naden aus und richten ihr erquifites Gefteder auf, indem
fie e8 in beftändiger zitternder Bewegung erhalten. Dazwiſchen
fliegen fie in großer Erregung von Zweig zu Zweig, ſodaß
der ganze Baum mit wallendem Gefieder in großer Mannich⸗
faltigleit der Stellung nnd Bewegung gefüllt if. Diefe Ge⸗
wohnbeit fett die Cingeborenen in die Tage, mit verhältniß-
mäßig wenig Mühe das Thier zu befommen. Sie bauen fi
ein Weines Dach von Palmblättern unter den Zweigen und der
Jäger verbirgt fih vor Tagesanbruch mit feinem Bogen und
einer Anzahl in einen runden Knopf endenden Pfeilen bewaffnet,
unter demfelben. Ein Knabe wartet am Fuß des Baums, und
510 Der malaitfche Archipel.
wenn die Vögel mit Sonnenaufgang fommen nub zn tanzen
anfangen, ſchießzt der Jäger feinen ſtumpfen Pfeil fo ftarf ab,
daß der Vogel betäubt herunterfält und von dem Kuaben ge-
tödtet wird, ohne daß ein Tropfen Blut auf das Gefieder [prikt.
Die Übrigen nehmen feine Notiz davon nnd fallen einer nad)
dem andern, bi® einige von ihnen iu Angft gerathen.
Einen großen Theil des Gebiets, das den Schauplag
der claffifichen Reifen von Wallace ausmacht, Hat aud)
der Profeſſor der Naturgefchichte an der Madifon- Unis
verfität zu Hamilton im Staate Neuyork, Albert ©.
Bickmore, befudht. Aber zwifchen den Werken der bei-
den Naturforfcher ift ein himmelweiter Unterfchied. Wäre
Bickmore's Buch: „Reifen im oftindifchen Archipel in den
Jahren 1865 und 1866 (Nr. 2) nicht gleichzeitig mit
demjenigen von Wallace erfchienen, es würde unftreitig
mehr Beachtung gefunden haben; aber es behandelt dies
felben Gegenden, nur ungleich weniger geiftreih und
weniger wiſſenſchaftlich, und fteht in jeder Beziehung fehr
Binter Wallace zurüd. Wir würden aber ungerecht gegen
den Autor fein, wollten wir nicht hervorheben, daß es
fi) unterhaltend lieſt; namentlich wer nad) vielen gefahr-
vollen Abentenern lechzt, wird feine Rechnung hier finden,
und es ift wirklich ſtaunenswerth, wie oft Bickmore in
Lebensgefahr geräth. Dabei fpielt ale Schlufeffect eine
Schlangengefhichte, ein ungeheuerer Python, „ſicherlich
groß und ftarf genug, um das größte Pferd zu zerquet-
ſchen“; aber zu unſerer Verwunderung lefen wir eine
Seite früher, daß diefes Ungeheuer in einem nur andert-
halb Fuß langen Kaſten Plag gefunden hatte! Recht inter-
effant fhildert der Verfaffer feine Fahrt durch das Land
der menſchenfreſſenden Battas auf der Inſel Sumatra,
von welcher er weit mehr als Wallace kennen lernte.
Ueber die Entftehung des Kannibalismus umter den Bat⸗
ta8 theilt Bickmore folgende Erzählung mit, deren Werth
wir dabingeftellt jein laſſen wollen:
Bor vielen Zahren beging einer ihrer Rajahs ein großes
Berbrechen, und e8 Ieuchtete allen ein, daß er, jo hoch er auch
fiehe, beftraft werden müſſe, aber niemand wollte die Berant-
wortlichfeit auf fi) nehmen, einen Fürſten zu beftrafen. Nach
langer Berathung famen fie endlih auf den glüdlihen Gedan-
ten, daf er folle hingerichtet werben, aber fie wollten jeder ein
Stud von feinem Leichnam effen und auf diefe Weiſe alle an
feiner Beftrafung theilnehmen. Während des Schmaufes fand
jeder zu feinem Erſtannen die ihm zugetheilte Portion höchſt
ihmadhaft, und fie befchloffen alle einftimmig, wenn wieder ein-
mal ein Verbrecher bingerichtet würde, ihren Appetit anf die-
felbe Art zu befriedigen, und fo entftand die Sitte, die von
einer Generation auf bie andere Übergegangen ift und ſich bis
auf den heutigen Tag erhalten hat.
An die beiden Meberfegungen reihen wir die Beſprechung
eined vortrefjlichen deutfchen Originalwerks: „Die Philip-
pinen und ihre Bewohner“, von C. Semper (Nr. 3), an.
Semper, ber verdienftvolle Generaljecretär der Deutfchen
anthropologifchen Gejellfchaft, Hat mehrere Jahre hindurch
von Manila aus die Philippinen durchforſcht und nament-
lich die Vulkane biefer Infelgruppe, die Korallenriffe und
die Bewohner in ben Bereich feiner Unterfuchungen ge⸗
zogen. Was er bier in dem ſechs Skizzen un bietet, foll
nur als der Vorläufer eines größern Werks angefehen
werden, er bezeichnet e8 als „Leichte Waare“, und doch ift
es das Befte, was wir über die Philippinen in unferer
Sprache befigen, eine gründliche umd vieljeitige Arbeit.
Sehr ansführlich behandelt Semper die Vulkane der In⸗
feln, deren Natur er feftftellt und die eigentlich in ihm
den erſten Erforjcher finden, denn die berrfchenden Spa-
nier haben ſich biutwenig um die Natur des ihnen unter»
worfenen Arcdipels gekümmert. Semper hat auch die
ftetig fortjchreitende fücnlare Hebung der Inſeln in ber
ununterbrocdyenen Reihe vullanifcher Ausbrüche, wie in
den ältern und neuern Sforallenbildungen nachgewieſen.
Sämmtlihe Philippinen find von einem SKorallenfranze
umfäumt, ber fid) bald an das Ufer anlehnt, ohne ein
eiggntliches Riff zu bilden, bald aber zu echten Kiffen
wird, die num als Küftenriffe oder als Barrenriffe Die
zahllofen Meeresarıne zwifchen ben Imfeln einengen. Was
die Entftehung der Korallenriffe angeht, fo ftellt Semper
eine neue Theorie auf, die fich im vollſten Gegenſatze zu
den bisher allgemein anerkannten Anſichten Darwin’s
befindet.
Bortrefflih ift, was über die ethnographifchen Ver⸗
bältniffe gefagt wird. Namentlich, die untergehenden Ur-
eingeborenen, die Negritos, die jogar ihre Sprache ſchon
eingebüßt haben, fodann die heidnifchen malaiiſchen Stämme,
die fowol von fpanifch=katholifchen ale mohammedanifchen
Einflüffen unberührt blieben, find berüdfihtigt worden.
Semper zeigt, wie der Charakter diefer Negritoftänme
beſſer ift als ihr Auf; er macht und vertraut mit ihrer
Lebensweife, führt uns die Heinen in Schluchten und Ber-
gen umberziehenden Horbden vor, die bald einer Wurzel
nachgeben, bald eine Fijchart in den Flüſſen ſuchen und
deren ganzes Daſein ein Umherſchwärmen nad) Nahrung
if. Neues Leben theilt fi der Horde mit, wenn im
Mai die Zeit zur Einerntung bes wilden Honigs gelom-
men ift.
Jetzt find die Waben gefüllt, denn die Zeit naht, in welcher
Feuchtigkeit und Sonnenwärme die Larven der Bienen zum
Ausichlüpfen bringen. Aber ehe diefe zum Leben erwaächten,
hat der nad) Honig Tüfterne Neger durch Rauch giftiger Kräuter
den Schwarm der Bienen aus ihrem Baum vertrieben. Den
Honig läßt ſich der Negrito wohl ſchmecken, das Wache aber
preßt er in wenig gereinigte Kuchen, welche er gegen Glas
perlen, Strohmatten, etwas Reis und den Über alles geliebten
Taback an deu hrifllichen Händler verkauft. Bald aber ift ber
Reis und der Honig verzehrt, und nun geht das alte Wandern
wieder von einem Ort zum andern, raft- und rubelos, bald
am Meer, bald in den tiefiten Bergichluchten, bis ihnen endlich
im nächſten Jahre das ſtärkere Schwirren der Infelten die Rüd-
febr ihres Honigmonats anzeigt.
Mit allgemeinem Interefje dürfte zu vernehmen fein,
daß gleich fo manchen andern Reifenden Semper ben
Stab über die fpanifche Verwaltung der Philippinen bricht.
Eine fürmliche Misregierung und demoralifirende Pfaffen-
wirthſchaft Herrfcht auf dem ſchönen Archipel, ber weit
blüthender ſich hätte entwickeln fünnen, wenn bie Spanier
zu colonifiren verftanden hätten. „Seine gemeinfamen
politifchen Volksintereſſen verbinden bie Kolonie mit dem
nur uneigentlid) jogenannten Mutterlande, und ebenfo
wenig wie in der politifchen Sphäre hat der Spanier
fonft in geiftiger Beziehung großen Einfluß auf den Cha«
rafter ber Bewohner zu gewinnen gewußt.“ Auch das
Chriſtenthum hat keineswegs fo feften Boden gefaßt, wie
die Priefter oft gern glauben machen möchten. „An ein«
zelnen Orten fcheint fogar ein Rüdfall in bie alten Heid.
Feuilleton. 511
nifchen Zeiten flattgefunden zu haben.” So fehr uns die
Natur und die Schilderungen der Eingeborenen anziehen,
das Gefühl wird allemal in da8 Gegentheil verkehrt, wenn
bon ber ſpaniſchen Herrſchaft auf den Philippinen die
ede ift.
Richard Andree.
Notizen.
Die dramatifden Schriftfieller Deutſchlands
rühren fih, um eine, ihre Rechte wahrnehmende Gejellfchaft
zu begründen, ähulich derjenigen in Paris. Folgende Aufforde-
rung iſt uns zugegangen:
„Nachdem der hohe Reichstag des Norddeutſchen Bundes
in dem Geſetze, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerlen,
Abbildungen, muſikaliſchen Compofitionen nnd dramatifchen
Werten, 1. Legislaturpertode, Sigungsperiode 1870, Ar. 189,
das ausſchließliche Hecht zur öffentlichen Aufführung von dramati«
ſchen und dramatiſch⸗muſilaliſchen Schriftftücden ben Autoren und
ihren Rechtsnachfolgern geftchert, bedarf es wol kaum des Hin-
weifes, daß es an der Zeit fei, den in den Motiven zu befagtem
Belege bereits angedeuteten Weg der freien Bereinbarung zur
Regulirung der Theaterverhältuiffe nunmehr zu betreten unb
eine anf Selbſthülfe gegründete Inflitution zu fchaffen, deren
Segnungen in Frankreich unverkennbar feit einer Reihe von
ven an der Sociöte des auteurs dramatiques erfichtlich find.
Die Umnterzeichneten laden daher alle dramatiſchen Schriftfieller
und Componiften ein, fi an einer in Nürnberg am 20. Sep»
tember a. c. beginnenden Berathung von Statuten zur Grün.
dung einer Senoffenfhaft dramatifcher Autoren und Componi⸗
fen entweder perjönlich oder durch Bevollmächtigte zu betheiligen.
J. 3, Abert, Eduard Bauernfeld, Mar Bruch, Fr. Grillparzer,
5. W. Hadlünder, Paul Heyfe, Ferd. Hiller, W. Jordan,
G. Köberle, Franz Lacher, Paul Lindau, E. Mautner, Melch.
Meyr, S. H. Mofentbal, Iaques Offenbach, Guſt. zu Putzlitz,
Joach. Raff, Julius Roſen, Bernh. Scholz, Sigm. Schlefinger,
eod. Wehl, J. Weilen, Ernſt Wichert, Ad. Wilbrandt, Max
er.“
Gleichzeitig liegt uns ein Promemoria zur Bildung einer
Genofſenſchaft deutſcher dramatiſcher Schriftſteller und Compo⸗
niſten von Ernſt Wichert in Königsberg vor, mit Amende⸗
ments von Carl Batz in Wiesbaden. Dieſes Promemoria theilt
die Grundſütze mit, über welche man ſich vor der Ausarbeitung
des Statuis zu vereinigen hätte und hat das Verdienſt, auf die
weſentlichſten Punkte aufmerlfam zu machen, obgleid) es durch
die Einfhiebung der Amendements in den Tert vielfad unklar
getworben tft und gegen feine Beflimmungen jehr wichtige Ein-
wendungen geftattet.
Der foeben ausgebrochene große Krieg zwifchen Frankreich
und Dentihland, der bereits die Schließung vieler beutjcher
Stadttheater zur Folge hatte, wird wol aud) bie dramatiſchen
Schriftfieller, die vom Schidjal niemals begünftigt zu merden
pflegen, nöthigen, ihre Beſtrebungen zu vertagen.
In der Berlagsbudhhandlung des „Kladderadatſch“ (Berlin,
A. Hofmann u. Comp.) erihheinen „Luftige Werke von D. Ka-
liſch“, illuſtrirt von W. Scholz, eine Auswahl aus den humo⸗
rifttfchen Arbeiten des befannten Schriftftellers, welche theils
in den Jahrgängen und den Stalendern des „Kladderadatſch“
ſich abgedrudt finden, theils auch im dramatiſcher Form über
die deutſchen Bühnen gingen. Der Herausgeber jagt in ber
Einleitung: „Die literariihen Arbeiten des Herrn D. Kaliſch
find von fo unverwüſtlicher Natur, mit fo ungezwungener
Munterkeit und Laune, mit fo friſchem Humor gefchrieben, daß
fie der Gefahr, mit der Zeit veraltet und unſchmackhaft zu
werden, nicht ausgefett find. Man darf dies Urtheil wol
unterſchreiben; Kaliſch gebietet Über einen fchlagenden Wit und
eine treffende Satire, und nirgends flogen wir dabei auf die
Wißhafcherei um jeden Preis, auf die Gefinnungslofigkeit ber
Saphir’fchen „Klatſchroſen“ und ähnlicher vormärzlicker Bon-
bonritter des Humors, der meiftens das wohlfeilfte Genre des
Feuilleton.
Witzes, den Wortwit, pflegte. Bon der Sammlung ber Werke
von Kalifch Tiegen uns fünf Hefte vor. In dem erſten, zweiten
und vierten Heft treffen wir viele alte Belannte aus dem
„Kladderadatſch“ und freuen uns des Wiederſehens. Karlchen
Miesnick, der werdende Elaffifer, erfreut uns durch feine tief»
finnige Syntar und einen Satzbau, deſſen Vorbild die Loco-
motive mit den darangebängten Waggons iſt. Bortrefflich
find die Parodien auf die „Zrau in Beige „Gelb und Ehre‘,
den „Sokrates; es find ebenfo viele treffende uud fcharfe
Kritiken. Das dritte umd fünfte Heft bringen eine Kleine Poſſe
von Kaliſch: „Aurora in Del’, ferner „Berlin wird Weltfladt‘‘,
„Sin gebilbeter Hauskuecht“, „Doctor Peſchke“ u. a. Die be-
Tannten Kladderadatſch⸗Illuſtrationen von rot tragen dazu
bei, den Wi von Kalifch handgreiflich und anſchaulich zu machen,
denn Scholz beflgt einen witigen Crayon, der nicht der Em-
pfehlung bedarf.
Bibliographie.
Srabowsti, ©. Graf, Des Könige und der Königin Soldat. Ro⸗
man. 3 Bbe. — — Srunow. 8. 4 Ihlx.
—E und Reiſe⸗Bibliothek. ifter bis Iter Bd. Berlin, F. May. 8.
gr.
Krause, J. H., Die Eroberungen von Constantinopel im 13. und 15.
Jahrhundert durch die Kreuzfahrer, durch die nicäischen Griechen und
durch die Türken , nach byzantinischen, fränkischen, türkischen Quellen
und Berichten dargestellt. Halle, Schwetschke. Gr. 8. 1 Thlr. 5 Ngr.
Luther’s Stimme über die Concilien. Wien, Perles. Gr.8. 6 Ngr.
Roszskowski, G., Ueber das Wesen des Eigenthums. Inaugural-
Dissertation, Freiburg im Br,, Wagner. Gr, 8. 11 Ngr.
er Schak im Brunnen ober bie han ber Pyrmonter Heil⸗
quellen, ein E Ärden von einer Freundin Pyrmonts. Dannover, Bran⸗
e ® “ ®
Säulg-Egul en ſtein, ©. Bi: Der Zuftand ber Wiſſenſchaften
auf Univerfitäten im Berhältniß zur ebenöprazie mit Desiehung auf bie
Zulaffung der NRealihulabiturienten zum Untverfitätsftubium und ben Weg
dur Wiedergeburt, Berlin, Memal. Br. 8. 20 Ngr.
Shakespeare-Galerie, Charaktere und Scenen aus Shakespeare’s Dra-
men. Gezeichnet von Max Adamo, Heinr. Hofmann, Hanns Makart,
Frär. Pecht, Fritz Schwoerer u. A. Mit erläuterndem Text von F, Pocht.
iste Lief, Leipzig, Brockhaus, 4. 1 Thir. 10 Ngr.
Sierke, E., B. G. Lessing als angehender Dramatiker, geschildert
nach einer Vergleichung seines „Schatzes‘* mit dem Trinummus des Plau-
tus. Eine ästhetisch-literarhistorische Abhandlung, Königsberg, Schubert
u. Seidel. 1869. Gr. 8. 8 Ngr.
Der Staatsstreich vom 2. December 1851 uud seine Rückwirkung auf
Europa. Leipzig, Duncker u. Humblot. Gr. 8. 24 Ngr.
Streiflichter auf bie alabemifepen Gnutachten über bie uedeng von
Fealſchul⸗Abiturienten zu Facultäts-Studien. Bon einem Realſchullehrer.
Berlin, Landau. 5 Nr.
Stugau, C., ch Nacht zum Licht, Großer hiſtoriſcher Roman
aus den Jahren 1846—1866. 1fte bis 15te Lief. Zroppau, Kold. Br. 8.
Nor.
Toeppen, M., Geſchichte Maſurens. Sin Beitrag zur preußiihen
Landes» und Kultur — 55 — Nach gedruckten und ungebruckten Quellen
dargeſtellt. Danzig, Bertling. OEr. 8. 3 Thlr. 10 Ngr.
Ulrici,$. o | e. Halle, Bieffer. Gr. 8. 20 Ran.
Das Berhältnißg der Provinz Bojen zum preußiichen Staatögebiete.
H afften.) Berlin, Korttampf. Gr. 8.
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Wolff, ©. Befsißte bes brandendburg-preußiichen Staates. Langen⸗
r. 6, .
Wolzogen, U. Frei. v., Wallenftein. Zrilogie von F. v Schil⸗
ler. Als fEnfactiges Trauerfpiel für die Bühne bearbeitet. Schwerin,
Stiller. 1869. Ler.«d. 10 Ngr.
- Woermann, K., Aus der Natur und dem Geiſte. Gerichte. Ham⸗
immermann, C., Rom und seine Umgebung. In Holzschnitt
nach Skizzen und Studien, Mit erläuterndem Texte von Kühne. Iste
Lief. Leipzig, Serbo, 4. 15 Ngr.
512 Anzeigen.
Anzgeig
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschienen:
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Kar des deutsch-französischen Kriegsschauplatzes.
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Karte der deutschen Nord- und Ostseeküsten. Preussen,
Der Norddeutsche Bund und Dänemark. 5 Ngr.
Karte von Deutschland und den angrenzenden Län-
dern. Cartonnirt 1 Thlr.
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’ angaben wie durch Uebersichtlichkeit der Terrainverhält-
nisse aus und empfehlen sich deshalb ganz besonders zu
rascher Orientirung auf dem Kriegsschauplatze.
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Die „Schiller-Halle” ſtellt alle bedeutfamen Ausſprüche
Schiller's, nach den Gegenftänden oder Stihworten alphabetifch
georbniet, in bequemer Ueberſicht zuſammen, bildet aljo gemiffer-
maßen eine Real-Encyliopädie ans und zu Schillers ſämmt⸗
lichen Schriften, eine Art von Shiller-Eonverfations-
Lerilon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’ eigenen Worten
geiöriehener Erläuterungs- und Ergänzungsband zu
hiller’s Werten genannt werden, ber jedem BBefiger
derfelben zur Anſchaffung zu empfehlen ifl. Aud zur Berwen-
dung ale Schulprämie ift das Werl vorzüglich geeignet.
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In der vorliegenden neunten Auflage erscheint das
rühmlichst bekannte Werk, das mit seiner so bequemen
Vereinigung der drei Weltsprachen einzig dasteht, innerlich
wie äusserlich den Bedürfnissen der Gegenwart gemäss
umgestaltet. Es bietet ein vorzügliches Hülfsmittel des in-
ternationalen Sprachverkehrs, indem es bei der Lektüre wie
bei der Conversation, zu Hause wie auf der Reise gleich
gute Dienste leistet.
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Mit erläuterndem Text von Friedrich Pecht.
Quart. In 12 Lieferungen zu je 3 Blatt nebst Text.
Preis jeder Lieferung 1 Thlr. 10 Ngr.
Erste Lieferung:
Heinrich der Achte. Gez. von Pecht. — Die lustigen Wei-
ber von Windsor. Gez. von Makart. — Der Kaufmann von
Venedig. Gez. von Hofmann.
Die „Shakespeare-Galerie“ reiht sich den bekannten
aus demselben Verlage hervorgegangenen Prachtwerken
„Schiller-“, ‚„Goethe-“, „Lessing- Galerie“ an und darf
gleich günstiger Aufnahme wie diese bei allen Kunstfreun-
den gewiss sein. Indem nicht Einzelgestalten, sondern
Gruppen und Scenen aus Shakespeare’s dramatischen Dich-
tungen vorgeführt werden, gewinnt die Darstellung eine
Belebtheit und Mannichfaltigkeit, die dem Reichtbum der
Shakespeare’schen Charakteristik zu entsprechen vermag.
Für den Werth der Compositionen bürgen die Namen des
Herausgebers Friedrich Pecht und der mit ihm vereinigten
Künstler; der Stich wurde anerkannten Meistern in ihrem
Fache anvertraut.
In allen Buch- und Kunsthandlungen werden Unter-
zeichnungen angenommen und ist die erste Lieferung
nebst einem Prospecot über das Werk vorräthig.
Derfag von 5. 4. A. Brodßaus in Leipzig.
Die deuifche Regtſchreibung
in der 8
und deren Stellung zur kung der Zukunft.
Mit einem Verzeichniſſt te Voͤrter.
Bon Karl Julius Schröer.
8. Geh. 20 Nor.
Borliegende Schrift wurde infolge eines Auftrags bes
öfterreihiichen Minifleriums für Eultus und Unterricht verfaßt
und hat den Zmed, in die deutſche Orthographie der Sure
und Mittelfhulen Ordnung und Einflang zu bringen.
Berfaffer geht dabei von dem Grundja aus, daß die —E
die in der Schule zu lehren iſt, dem herrſchenden Schreibe
gebraud; ſich anſchließen müſſe. Sein Bud empfiehlt fi fo-
wol zum Gebraud) beim Unterridt, als für jedermann zum
Nachſchlagen in zweifelhaften Fällen.
Derfag von 5. 4. Brodifans in Leipzig.
Die Oeffentlichkeit
in den
Baltischen Provinzen.
8. Geh. 15 Ngr.
Diese Schrift enthält einen neuen energischen Ruf der
russischen Ostseeprovinzen nach Mündlichkeit und Oeffent-
lichkeit der Justiz, Beseitigung der Censur, Freiheit der
Presse und Wahrung germanischer Civilisation.
Berantwortliher Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von $. A, Brodhaus in Reipzig.
— — 7.
— u ⏑———⏑—⏑— — — — ——— ⏑ — — —— — —— 7575 —7 77 7—
Blätter
literariide Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlid).
—4 Ar. 33. ÿæ
11. Auguft 1870.
Inhalt: Literarifche Porträts. Bon Rudolf Gottſchal. (Beſchluß.) — Neue Novellen und Romane. Bon Oskar Elöner. —
Raturwiffenfhaft und veligiöfer Glaube. Bon Julius Frauenſtädt. (Beihluß.) — Vom Büchertiſch. — Feuilleton. (Notizen) —
Kibliographie. — Anzeigen.
Kiterarifche Porträts,
Geſchluß aus Nr. 32.)
er
—
Lord Byron. Bon Karl Elze Berlin, Oppenheim. 1870.
&r. 8. 2 Thlr.
Waſhington Irwing. Ein Lebens» und Charalterbild von
Adolf Zaun. Zwei Bände. Berlin, Oppenheim. 1870.
8 2 Thlr. 10 Nor.
3. Emanuel Seibel. Bon Karl Goedeke. Erfter Theil.
Mit dem Bildniffe Geibel's und einem Facfimile. Stutt-
gart, Cotta. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
4. Karl Immermann. Sein Leben und feine Werke aus
Tagebüchern und Briefen an feine Familie zuſawmengeſtent.
Herausgegeben von Guſtav zu Putlitz. Zwei Bände.
Berlin, Hertz. 1870. GEr. 8. 3 Thlr.
5. Adalbert Stifter's Briefe, herausgegeben von Johan»
us en Drei Bände. Peft, Hedenaft. 1869. 8.
3 r.
Gräfin Ida Hahn⸗Hahn. Ein Lebensbild nach der Natur
gezeichnet von Marie Helene. Leipzig, Fr. Fleiſcher.
1869. 8. 27 Ngr.
Friedrich Rückert. Ein biographifches Denkmal. Mit vielen
bisjegt ungebrucdten und umbelannten Actenfiicden, Briefen
und Poefien Friedrich Rückert's. Bon 8. Beyer. Frant-
furt a. M., Sauerländer. 1868. Gr. 8 2 Thlr.
Dichter, Patriard) und Ritter. Wahrheit zu Rückert's Dich⸗
tung. Bon €. Kühner. Frankfurt a. M., Sauerländer.
1869. Gr. 8. 1 Zhlr.
Die von Johannes Aprent herausgegebenen Briefe
Adalbert Stifter’s (Nr. 5) werben eingeleitet durch
eine Biographie bes Dichter, welche feine Correſpondenz
erläutert und ergänzt. Wenn überhaupt das Leben der
deutfhen Dichter im Durchſchnitt wenig veih ift an
änßern reigniffen, an Abenteuern und pilanten ro-
mantiſchen Borkommniffen, fo gilt dies befonders von
dem Reben Adalbert Stifter's, das im ganzen fo hand»
Iungsarm ift wie feine Romane. Bon bäuerlicher Her-
kunft, aus jenen Gegenden Böhmens ftammend, durd)
welche die obere Moldau fließt und bie er in feinem
„Hochwald“ und im „Witiko“ fo eingehend gefchildert Hat,
wurde er auf öfterreichifchen Kloftergymmafien erzogen,
kam als Hauslehrer in die ariftofratifchen Kreiſe Wiens,
wo er manche anziehende und auch für fein Fortlommen
1870, 33. |
»
m
a
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nüglihe Verbindung anfnüpfte, und begann früh durch
feine Erzählungen fid) einen Namen zu machen. Als
Schulrath in Linz brachte er eine lange Reihe von
Fahren in eifriger amtlicher Wirkſamkeit zu, die aber
oft durch Krankheiten unterbrochen war, bis er penflonirt
wurde und nach wenig „Jahren der Muße aus bem
Leben fchied.
Auch von Liebesabenteuern, von Herzensverirrungen
weiß jeine Biographie nichts. Eine treue Gattin ftand
ihm faft dreißig Yahre lang zur Seite. Diefe oder jene
„ſchöne Seele” Tebte in platonifcher Breundfchaft zu dem
Dichter des „Witiko“. Irgendwelche Spuren von Sturm
und Drang zeigen fi) nicht in feiner Entwidelmg. Wir
wiflen daher von vornherein, was wir von einer drei»
bündigen Brieffammlung Stifter’8 zu erwarten haben:
feinen Bericht über Abenteuer, Feine Geftändniffe und
Belenntniffe, Feine ausfchäumenden Gärungen des Ge-
müths, feine innern Kämpfe, feine äußern Berwidelun-
en — wohl aber die Heinen Leiden bes menfchlichen
ebens auf der einen Seite, auf der andern die Offen⸗
barungen eines auf die Erfaffung des Schönen in Na-
tur und Kunſt eifrig und verfländnißvoll gerichteten Sinns.
Den eigentlihen Ballaft in diefer Brieffammlung, wie in
allen veröffentlichten Correfpondenzen von Sphriftftellern
und Dichtern, bildet der buchhändlerifche Verkehr. Die
überwiegende Mehrzahl der mitgeteilten Briefe ift an
Stifter’8 Verleger, Guſtav Hedenaft, gerichtet, und ob⸗
ſchon fid) in diefen Briefen auch viel Gemüthvolles, viel
Allgemeingültiges befindet, jo find doch die Gefchäftsbriefe
vorherrſchend, deren Inhalt bei vielen Lefern lebhafte Un-
geduld erweden muß. Die Vorſchüſſe, welche der Autor
von feinem Verleger verlangt, die Honorarforberungen
und die Angelegenheiten des finanziellen Etats ftehen in
erfter Linie Dean follte das Publikum doch mit diefen
häuslichen und gefhäftlichen Nothwendigkeiten verfchonen.
Stifter Hatte 1500 Gulden Gehalt und Fonnte bei feinen
65
514
Liebhabereien oder Fünftlerifchen Bedürfniſſen damit nicht
auskommen. Mie oft wünſcht er fih, von feinem Amte
befreit, nur künftlerifcher Muße eben zu können. Mit
einer Rente von 1000 Gulden wollte er fchon feinem
Amte entfagen. As Kaifer Franz Joſeph ihm den
Franz⸗Joſeph⸗Orden fchenft, Tann er den Wunſch nicht
unterdrüden, ber Kaiſer möchte ihm lieber durch eine
Penfion die Muße za freiem Schaffen gewähren. Plan |
Begreift dieſe Wunſche, wie fle in ähnticher Weiſe wol
die meiſten Dichter hegen. Gleichwol können die Ver—⸗
handlungen mit dem Verleger über Honorare, über die
Auszahlungstermine m. ſ. f. für das Publikum kein
Intereſſe haben. Daſſelbe gilt von ben zahlreichen Stel⸗
fen, weiche von € , dem ruumlichen Umfang
der Manuſeripte, der Seitenzahl u. ſ. f. handeln. Im
legten Bande ſpielt namentlich der „Witiko“ eine unlieb-
fame Rolle. Der Verleger wird bisweilen ungeduldig und
die innige Freundfchaft zwiſchen ihm und dem Autor er-
leidet dadurch vorlbergeheride Störungen.
Ein anderes Leiden für die Lefer find die Bulletins,
die befonder8 im dritten Bande in den Vordergrund tre
ten. Gewiß nehmen wir Antheil aud) an dem törper-
lichen Befinden eines uns liebgewordenen Schriftftellers.
Aber wir hören fo viel von Anfchoppungen, von einem
chroniſchen Magenkatarrh, der ſich aus einem fehleppenden
Schleimhautszuſtande entwickelt hat, von der zuletzt zu
den gaftrifchen Zuftänden hinzufommenben Grippe u. f. f.,
daß wir den Wunfc nicht umterdrüden Tünnen, der
Rothſtift des Herausgebers Hütte den Muth gefunden,
diefe Bulletins ſowol wie die buchhändlerifchen Gefchäfts-
briefe ganz zu ftreichen oder doch weſentlich zu kürzen.
Für diefen Ballaſt entfchädigt uns nun der tiefere
Einblid in das Gemüth und die Richtung des Autors;
wir lernen alle feine Vorzüge ſchätzen, freilich auch die
Schranken feines Geiftes kennen, die hier noch fchärfer
bervortreten als in feinen Erzählungen und Romanen.
Jene Vorzüge beftehen in einem ausnehmend feinen Em⸗
pfinden für die Schönheiten der Natur und ber Kunft,
das fid) ebenſo in feinem eigenen Stil ausprägt und
Stifter zu dem erfien Profaifer Defterreih8 macht; dieſe
Schranken dagegen in einer felbftgenügfamen Scön-
feligkeit, welche die großen Bewegungen der Zeit nur als
perſoͤnliche Störung empfindet und jede Poefie vermirft,
welche über die idylliſche Selbftbefchränfung des Natur-,
Kunft» und Lebensgenuffes hinausgeht. Stifter Tiebte
zeitlebens Blumen und Bilder, ein Geiftesverwandter des
roßen Dichters in Weimar. Er betrieb namentlich bie
ortuszucht mit befonderm Eifer und pflegte z. B. Exem⸗
plare ‘mit fchönen violetten und weißen Stacheln“ an
feine Freundinnen zn verfchenfen, Am 29. Yuli 1858 be
richtet er an feinen Verleger: |
Mrine Cactus machen mir heuer weniger Freude als fonft,
da fie das ungleiche und daher unglinftige Wetter fehr empfinden.
Sie blühen nicht jo reichlich wie fonft. Nur zwei Stüde Echinopsis
multiplex, die jonft fehr Schwer blühen, hatten heuer die Laune, fünf
unſaglich praditvolle Blumen auf einmal zu bringen (fie öffneten
fi) alle fünf an einem Abende). Die Blume ift blaß rojenroth
biäulich, thront auf hohem Stengel ımb hatte 5° 2" Durchmeffer.
Der Anblid der fünf palmartigen Blumen, die vor einem Spiegel
fanden, hatte etwas Märchenhaftes wie aus Zaufenbundeine Nacht.
Literariſche Porträts.
Noch kurz vor feinem Tode fchreibt er:
habe ein Herz flir Gottes Herrlichkeit in ber Natur,
Seit funfzehn Iahren bin ich ein Eactuszlächter, und Sie ahnen
faum ‚von der märchenhaften Schönheit ihrer Blumen abge-
ſehen (nicticalus, uranus, hexaedrophorus), was für wunder⸗
bare Geflihle es mir oft gab, wenn ich die Unendlichleit ber
Diannichfaltigleit und Schönheit der Stacheln an einigen Sum
dert Arten mit der Lupe duechuisflerte.
Nicht minder lebhaft war Stifter’3 Intereſſe fir bil
dende Kımfl; zahlreiche Briefe gene den Bewmeis hierfür.
Bald begeiftert er ſich für die Holzſchnitzwerke von Rint
und berichtet über diefelben mit Liebevoller Detailfenntnif,
Ueber die Bilder non. Geiger, von Heinrih Bürke u. a.
finden fi) Häufige begeifterte Mittheilungen; an einen
jungen Künftler, Namens Piepenhagen, fehreibt Stifter
einen intereffanten Brief, in welchem er die Wi en
der Maler und Dichter vergleiht; mit dem Kupfer
ftecher Joſehh Axmann Iebfe er in ftetem Verkehr; bie
Sammlung bringt eine große Zahl von Briefen m ihm.
Daß Stifter oft felbft an der Staffelei faß, daß er in
feiner Jugend zwifchen der Miffion des Tandfchaftsmalers
und des Dichters ſchwankte, ift befannt, und würe es
dies nicht, fo würden feine „Studien“ e8 beweifen, in denen
meiften® das Landſchaftsbild überwiegt und bie Mienfchen
nur bie Staffage bilden, Freilich ift das ftimmungsvolle
Naturgefühl diefer Erzählungen in neuer Zeit nicht über:
troffen worden. Auch in den Briefen finden ſich tief-
empfundene Landſchaftsbilder. Aus Kirchſchlag, einem Dorf
auf hohem Berge in Oberöfterreih, fchreibt er am
22. Januar 1866:
Ih Habe ein Zimmer mit zwei großen Yenftern nad)
Süden. Die Apenkette vom Dachſteine an big über den
Schneeberg gegen Ungarn hinab liegt an heitern Tagen in
diefen zwei Fenſtern, und unzählige Höhen, Wälder und Hügel
und weithin die Ebene der Donau mit dem glänzenden Bande.
Das weitet die Bruſt und gibt erhobene Gedanken. Wenn die
Ebene Nebel bat, Haben wir den reinften Himmel mit ſcharfem
Sonnenlihte und milder Wärme Zum Jahreswechſel war
vierzehn Zage in Linz Hochnebel ohne Sonne, bier war ſtets
Sonne und Wärme Wir fehen dann ben Nebel unter uns
wie ein ſchimmerndes Silbermieer. Jetzt iſt es fchon wieder brei
Tage fo. Auch ift ein Naturgefe, dag im Winter die Höhen
wärmer, im Sommer kühler find als die Thäler.
Die Winteridylle vom November 1866 in ben Lafer
häufern wird uns von Stifter mit der in feinen Er-
zählungen bewährten Kunft gefchildert; die ungeheuere
Schneelandfchaft madjt einen gewaltigen Eindrud auf ihn.
Bon deutfchen Dichtern übten, wie aud) aus dem Brief
wechfel hervorgeht, nur Goethe und Jean Paul einen
nachhaltigen Einfluß auf ihn aus. Mit Goethe fühlte
er fih dur Natur- und Kunftfinn und einen gewiſſen
Duietismus der Weltanfchauung verwandt. Was ihn
bei Sean Paul anzog, war deſſen Naturbegeifterung und
„böhere Menſchen“, eine Lieblingswendung Stifter's, die
fi) in den Briefen deffelben öfters wiederholt. Dagegen
dürfte der öfterreihifhe Dichter kaum für ben reichen
bumoriftifch-fatirifchen Genius Jeau Pauls Sinn gefaht
haben, noch weniger für jene nationale Begeifterung, aus
welcher die „Friedenspredigten“ hervorgegangen find.
Unter den Zeitgenofjen findet Stifter nur eine einzige
Größe, die er anerkennt — Grillparzer, der ihm bis
weilen fogar „riefenhaft groß” erfcheint, Nach einer
Analyfe der „Griſeldis“ feufzt Stifter: „OD Grillparzer,
Selbft die trodenften Menfchen wurden von diefem Anblicke ergriffen. | o Grillparzer!“ Wir haben in diefem Dramatiter ſiets
Literariſche Porträts. 515
ein ſchönes Talent erblidt, niemals aber einen „großen
Dichter”, auf die Gefahr Hin, von ber gefammten öfter-
ceichifchen Kritik verkegert zu werden. Die norbdeutfchen
Literaturhiftorifer find Hierin ebenfo einftimmig. Zu einem
großen Dichter gehört Größe der Weltanfchauung; diefe ver-
miſſen wir bei Grillparzer, ebenfo wie wir fie bei Stifter
vermiſſen. Somie diefer Grillparzer bewundert, fo ver-
urteilt er fat alle andern neuen Dichter; die eingehende
Beſprechung der „Griſeldis“ fchließt er mit den Worten:
Charakter ift in dem ganzen Stüde feiner. Bercival nimmt
wohl im erfien Acte einen Anlauf, aber eben der tragiſche Kampf
zwiſchen dem feften Willen, das Angefangene durchzuführen,
and dem Schmerze um fein Weib wird flach durch keinen ein»
zigen energifchen, originellen Zug, oder dur Riſſe, die in ein
ungemeines Gemüth biiden laſſen, das fih nur färglic mit
dem Ruhme der Feltigleit panzert, nirgends ein Erponent der
Leidenſchaft, fondern der Gemeinplat des Herumſchwankens, des
Herumlehnens, Kopfhaltens, Auffeufzens u. ſ. w.... Eine
einzige Nebenfigur wäre bald ein Charakter geworden, weil er,
den wir feit dem erſten Acte ſchon vergeffen haben, plötzlich
fagt, er gebe nach Frankreich, da er nicht flürder der Ritter
feiner Dame, der Königin, fein könne; denn feine Dame müſſe
rein fein wie fein Schild, diefe Handlungsweiſe aber beflece
fie. (Es ift Lanzelot vom See.) Grifeldis ift ein mittel»
mäßiges Stüd, da® ganz in die Klaffe des poetiſchen Materia-
lismus fällt.
Den „echter von Ravenna” dagegen nennt Stifter,
trog jeiner Fehler, eins der größten beutfchen Werke
umd freut fih, daß es wieder ein „öfterreichifches“ ift;
er meint, es fei gegenüber den krampfhaften Berfuchen,
das Häßliche und Verworfene als Reiz wieder aufzutifchen,
eine gewonnene Teutoburger Schlacht:
Mein Glück wäre es, wenn ich in greifen Tagen noch er»
lebte, daß ein deutjcher Dichter aufflände, der Goethes und
Sciller’8 Geift vereinte, e8 wäre dann der größte aller bis-
herigen Zeiten; und da beide genannte Dichter fo erfchöpfend
die zwei Pole deutichen Volkes darftellen: Objectivität (die fi
in allen unfern, oft kindiſch gründlichen wiſſenſchaftlichen Ar-
beiten zeigt) und Idealflug (der in unfern oft ebeln, oft phan⸗
taftifchen Anftrengungen fi kundthut), fo ift faſt mit Noth⸗
wendigfeit zu vermuthen, ein Dichter werde einmal beides, alfo
ganz recht urdeutich fein. Wenn ih dann im Hohen Alter em
Berk von diefen Manne leſen könnte, würde ich gern fterben,
fagend: „Bin ich auch tief unter diefem Manne, ein Borlänfer
war id) doch.“
Sehr antipathiſch ift unferm Defterreicher Hebbel; es ge⸗
reiht ihm nur zum Troſt, daß diefer Fein Landsmann ift:
Auffallend ift es, daß der einzige in Oeſterreich lebende,
grotestefte und fittlich verfröpftefte und wibernatürlichfte Poet
(Hebbel) fein Defterreiher. Mir ift es faft Troſt, daß, wenn
wir auch ſchlechte Dichter haben, diefe windigen Mühlfteine,
die Hebbel für Größe hält, die aber, weil fie aus Wind be-
ſtehen und doch Mühlſteine heißen wollen, nur lächerlich find,
feinen ans Oeſterreich eingefallen find.
Ueber Freytag's „Sol und Haben” fchreibt Stifter
am 7. Februar 1856:
Freytag gebt es in ber Poeſie wie dem Birtuofen in der
Mufl. Ste fünnen meiftens in der Technik Außerordentliches
leiten, ohne daß ihr Spiel Muſtk if. Freytag macht Theile
äußerſt geichidt, ohne daß ein Hauch von Poeſie vorhanden ifl.
Theile, ſagt Jean Paul, kann das Talent auch machen, oft
beſſere als das Genie — nur auf das Ganze kommt das Ta-
lent nie. So auch Freytag. Er Hat lauter Theile, die nie ein
Bud machen, man muß in den drei Bänden ewig neu anfan-
gen, feine Begebenheit bleibt fie felber, kein Charakter bleibt
er felber, und immer hat man an Erlebniffen feine Freude.
3.8. nichts iſt trefflicher als das zähe und gebuldige Warten
des Beitel Itzig auf den Baron auf der Stiege mit dem Wed).
fel, ferner nichts natürlicher, als der Mord in der Situation
Veitel's mit dem Betteladvocaten — nur ift e8 ganz unmöglich,
daß biefelbe Perfon die zwei Dinge thut. Hätte er Beitel
entwidelt, wie er auf lauter fhlechten, aber lauter gefeßlichen
and don dem flaunenswertheften Dulden und Leiden begleiteten
Wegen endlid zum Beſitze des Gutes des Barons fommt, fo
hätte das Ding ein Meifterwerf werben mögen; hätte er hier⸗
bei die Geſchichte des Barons als eines Mannes, der von
georbneten Berhältniffen durch Lift und Schlechtigkeit der Suden
in Unordnung geräth, im die Veitel's geſchickt verflodhten, den
andern Juden als nöthige Nebenfigur und: von Beitel über-
flügelt behandelt, Fink's unter allen am loſeſten daliegende Ge»
ſchichte gar nicht eingemengt, die ehreuwerthe Firma als milde
und bindende Luft um das Ganze gegoffen, Anton’s Schidfale
mit der Baronsfamilie verflochten, manche trefflich behandelte
Comptoirsfcene nur als Entwidelungswege Anton’s behandelt;
bätte er die zwei anonymen Revolutionen, Gefechte, Selbſtmord⸗
verſuche, Spelunfen, geheimnißvolle Gewäfler und Treppen zu
ihnen hinab als ganzen fpindlerijchen Apparat weggelaffen: jo
hätte auch das Buch ein treffliches werben mögen. Dann hätte
freilich müflen der Verfaſſer Empfindung für Totalität haben.
Wie das Buch jest if, Halte ic) es troß der Virtuoſenkunſtſtücke
für Leihbibliothekfutter. Trotzdem, daß mir ein paarmal bei
Einzelheiten die Augen feucht werben mollten, halte ich doch
das Buch für eiskalt. Alles ift nur erdacht und gemadit, ba»
her nichts entwidelt und organiſch. Was die Charaktere an-
langt, halte ich Fink troß der Berfuche des Autors, ihn auf
zufteifen, für den misrathenften. ‚Er ift blos ein anmaßender,
jeichter Zaugenichte. Bon dem Baron begreift man blos
niht, warum er nicht längft zu Grunde gegangen Äfl, oder
wie er überhaupt je im georbneten Berhältniffen gelebt ha-
ben könne.
Alle diefe UrtHeile Hängen mit Stifter’8 Grundanfchau-
ungen von der Kunft zuſammen. Er denkt groß von ihr,
aber er fann fie fid) nur in olympifcher Selbftgenugfam-
feit denken. So fchreibt er am 16. October 1849:
Meinten doch auch viele, die Kunft fei dem Ernfte und
der Größe der Zeit gegenüber unbedeutend, und auf viele Sahre
hin würden fi die Menſchen mit diefer Spielerei nicht mehr
abgeben. Ich fagte darauf, die Kunfk.fei nit nur höher als
alle Welthändel, fondern fie fei nebft ber Religion das Höchfte,
und ihrer Würde und ihrer Größe gegenliber feien die eben
laufenden Dinge nur thörichte Raufhändel; wenn die Menſchen
nicht alles Selbftgefühls bar geworden find, werben fie fih
bald von dem trüben und umreinen Strudel abwenden und
wieder bie ftille, einfache, aber heilige und fittliche Göttin au-
beten. Und flebe, jo ift es. Ja, des hohlen und öden Phrafen-
thums müde und efel, werden fie baffelbe jett auch in der
Kunft erfennen, wenn e8 auftritt, werden es verſchmähen, und
es fteht daher diefem ſchönſten irdiihen Dinge der Menfchen
eine Reinigung bevor. Die Revolution ift fogar aus dem
Phraſenthume der Afterliteratur hervorgegangen. Ich babe
Briefe aus der Gegenwart zu fchreiben begonnen, fie follten
in die „Allgemeine Zeitung‘' fommen, aber ich that es nicht.
Sn denfelben wird die Revolution aus der Hohlheit unferer
Sitten und Literatur hergeleitet. Vielleicht wäre in kurzem bie
Zeit, mo eine folhe ruhige, philoſophiſche Entwidelung An⸗
Hang fände.
Am 8. Februar 1854 fchreibt er an Ottilie Wildermuth :
Unfere Zeit verlangt Großes, Nationales, Zeitgemäßes, ja
fogar Diätungen der Zukunft und wie die Worte fonft noch
heißen, und gerade diefe Dinge find das Armuthszeugniß der
Zeit. Nicht was ınan madt, iſt die Kunſt, fondern wie man’s
madt, ober ift der Elefant und der Großglockner ein größeres
Kunſtwerk als die Müde und das Sandkorn? Wer das behauptet,
fenut alle vier nit, Nur unerfahrene Kinderaugen flaunen
das räumlich Große oder das Lärmende an. Wenn eine Ge-
ftalt riefenhaft ift, aber nicht mobellirt, ift fie ſchön? In der
Zeit bes Kunftverderbniffes und der Ohnmacht ftedt man fi
hinter den Stoff, den man groß nennt, und gibt ihn roh, man
verdirbt ihn noch. Wer es weiß, wie fchwer es ift, dem lieben
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516
Gotte feine Welt, die endlich das Muſter aller Kunftwerte ift,
nachzuerſchaffen (und in winzigen Theilen thut e8 ja die Kunft),
der ift fehr furdtiam in der Wahl des Stoffs, den er er»
ihöpfen fol, und von dem er die bezeichnenden Züge alle (die
Merkmale des Lebens) bringen, und die falfchen (die Merkmale
der Unmöglichkeit) wegſchenchen fol, in wie fhimmernder Ge⸗
ftalt fie fi auch aufdrängen, er fieht feinen Stoff lange an,
ehe er ihn nimmt, und wär's aud wur der Kopf eines Bettel-
manns. Wem fid) das Wie der Kunft verbirgt, dem verbirgt
fih die Fülle des Stoffs, er muß da® daher durch die Maſſe
erfegen, und darum braucht ein fprubeluber Jüngling fat die
halbe Weltgefhichte zu feinem Xrauerfpiele, während ber den-
fende Mann beinahe verzagend vor einer einzigen Geftalt des
Altertbums fteht. Nicht Glut umd fittliche Tiefe allein bilden
den Klinftler, jondern auch das Geftaltungsvermögen, das alle
Glieder wahr, rein, harmonisch unb Tiebreich bildet. Sonfl wäre
die „Amaranth“ bie vollendetfie Dichtung, in der fo erſchrecklich
viel Schönbeitögeftrlippe wuchert und die Stämme nicht fo ge⸗
fund und einfach emporragen, als wären fie in ber That auf
dem natürlichen Erdboden gewachfen.
Die falfche akademiſche Theorie von der Gleichgültig-
feit des Stoffe liegt diefen Neflerionen Stifter's zu
Grunde Dazu kommt feine Abneigung gegen die großen
gefchichtlichen Stoffe, ja fein Mangel an gefchichtlichem
Geift, wie er ihn im „Witiko“ bekundet Hat; denn
feine Behandlung der Geſchichte ift eine archäologifche,
welche die leinmalerei eines Waffenmufeums in den
Bordergrund des Gemäldes ftellt. Die Gefchichtsbramen
Schiller's und Shakſpeare's müſſen für ihn ein Buch mit
fieben Siegeln gewejen fein; ja er mäkelt felbft an feines
Lieblingsdichterd Goethe „Egmont“, weil er dem Außer-
achtlaffen der gefchichtlichen Wahrheit bei gefchichtlichen
Dichtungen entjchieden feind ift und bei hohem Fünft«
Lerifchen Werthe einer folden Dichtung ſchmerzlich denkt:
„tie jchön wäre da8 Wert, 3.8. «Egmont» von Öoethe, erft,
wenn es auch wahr wäre”. Ein folder Standpunkt kann
nur nüchterne Gefchichtschronifen erzeugen!
In einem Brief aft Hedenaft vom 11. Februar 1858
meint Stifter, daß die Goethe’fche Liebe zur Kunft, die
innige Bingebung an ftille, reine Schönheit der heutigen
Dichtkunſt fait abhanden gelommen fei:
Heute wird wilde Luft gezeichnet, die die Welt bemegt,
oder Leidenfchaften und Erregungen. Das halten fie für Kraft,
was nur Häglide Schwäde if. Das Sittengefets allein ift in
feiner Anwendung Kraft (darum, weil e8 in Shaffpeare’s
Stüden über den Leidenſchaften thront, find fie groß, nicht
weil Leidenſchaften darin find), gelaffene Pflichterfiillung, genaue
Gewifjenhaftigfeit und ein Bid in das Leben tiber Sriege,
Staatsverhandlungen und Zeitverpraffungen hinaus ift Kraft;
darum find ihrer fo wenige, bie auf dem feflen Boden der
Pfliht und der höhern Lebensanſchauung ftehen, und fo viele,
die Leidenschaften haben.
Die Schönfeligleit des „Nachſommers“ fucht Stifter
in ein Syſtem zu bringen; ift e8 doch allbefannte That-
jache, daß jeder die Schranfe feines Zalents gern zur
Schranke der Kunft madt. Ein Dichter, der Menjchen
und Handlungen fdildert ohne leidenſchaftliche Bewegtheit,
fann es nie über die Idylle Hinausbringen; wenn aber
Stifter fih gegen die Politik in der Poeſie wehrt, fo
darf man mol fragen, mit welchem Geift er bie alten
Claſſiker ftudirt Hat, einen Aeſchylus und fein politifch-zeit-
gemäßes Trauerjpiel „Die Perfer“, die griechifchen Elegifer
und Sriegsfänger oder gar einen Ariftophanes?
Der politiihe Standpunkt des Dichters war natürlich
ein fireng confervativer, und als das Oeſterreich Metter-
faſſende Lebensbild oder
Literarifhe Porträts.
nich's aus den Fugen ging, fah Stifter nur die Ausfchreis
tungen der freiheit, nicht bie gefchichtliche Nothwendigfeit,
die eine alte, mürbe Form zerbrad. Das Jahr 1848
nennt er ein fürchterliches Jahr:
Ich babe diefen Sommer dur fo vieles Schlechte, Freche,
Unmenfhlihe und Dumme, das fih breift madte und für
Höchſtes ausgab, unfaglich gelitten. Was in mir groß, gut,
ſchön und vernlinftig war, empörte fih, ſelbſt Tod iſt ſüßer,
als fol ein Leben, wo Sitte, Heiligkeit, Kunft, Göttliches
nichts mehr ift und jeder Schlamm und jede Thierheit, weil
jegt Freiheit ift, ein Recht zu haben wähnt, hervorzubredhen,
ja, nicht blos hervorzubrechen, fondern zu terrorifiren. Das
Thier fennt nicht Vergleich mit dem Gegner, fondern nur beffen
Dernichtung. Sind diefe Menſchen frei? fragte ich oft. Früher
lag der Stein der Polizei auf ihren Laftern, jet trete
diefelben auf, und bie Befiger werden von ihnen zerrifien.
Sind fie frei? Darum gibt e8 nur ba® einzige Mittel:
„Bildung !‘
Wenn der Krieg zwifchen deutſchen Ländern den
Dichter tief betrübt, wenn er dabei die Gefinnungen eines
öfterreichifchen Patrioten hegt, fo fann man ihm das nicht
verdenken; doch verfteigt er fich offenbar zu dem ihm fonft
jo verhaßten falfchen Pathos, wenn er mit Bezug auf
Preußen ausruft: „So lange die Geſchichte fpricht, hat
Frevel nie dauernd geſiegt.“ DBerechtigter und prophe=
tijcher find die folgenden Worte an Joſeph Türk vom
5. October 1866:
Preußen riß Deutichland an fich, vielleicht reift es einmal
das ganze an fi, dann wächſt Deutſchthum dem Preußenthun
über das Haupt, es entfteht erft recht ein Deutihland, in
welchem e8 auch eine Mark Brandenburg gibt. Wie es ſei —
Gott waltet gerecht, und Europa ift fo Teichtfertig geworben,
daß e8 einer Züchtigung bedurfte, und die Züchtigung iſt noch
nit aus.
Der Briefwechfel Stifter’8 ift intereflant als Com⸗
mentar zu einer Oefinnung und Richtung, welche in der
Literatur ausgezeichnete Cabinetsftitde fchaffen konnte, aber
daran ſcheitern mußte, als fie verfuchte, aud) das ume
gar das Geſchichtsbild für das
Cabinet zu malen. |
Keine Idyllen, wie Stifter, dichtete jene Romans
fhriftftellerin, weldde uns Marie Helene in einem lite
rarifchen Porträt vorführt, die „Gräfin Ida Hahn⸗Hahn“
(Nr. 6), in ihren Romanen eine Darftellerin menfchlicher
Leidenſchaft, zulett eine mit geiftlichem Rüſtzeug gewaff-
nete Vorkämpferin der Tatholifchen Kirche. Die Biographie
ift eine Art (von Rechtfertigungsfchrift; die Verfaſſerin,
die mehrere Jahre in der Nähe der Gräfin zubrachte,
will jo manche Unbill, die man der Fran ebenfo wol
wie der Schriftftellerin zufüigte, vergiten und zum
befiern Berftändnig einer fo begabten Berfönlichkeit
beitragen:
Wie es dem Naturforfcher intereffant und belehrend ift,
in die geheime Werkſtatt alles Seins und Werdens einzudringem,
um mit rafllofer Sorgfalt aufzufinden und darzulegen, wie aus
diefer und jener Miſchung ber Elementarfubftanzen eine joldye
und feine andere Pflanze und Blume bervorleimen konnte; um
wie viel mehr muß es dem denkenden Menſchen ein Gegen-
fand nie raflenden Studiums fein, zu prüfen und zu erforſchen,
unter welchen Bedingungen nnd Berhältniffen eine menſchliche
Seele fi fo und eben nicht anders entfalten und offenbaren
mußte. Bejonders aber wol dann, wenn diefe Individualität,
in wie großem oder wie geringem Maße es immer fein möge,
Einfluß gewonnen hatte auf die Zeitepoche, im der fie Iebte.
Man kann Über den Einfluß, den die Schriften und das Leben
|
Literariſche Porträts. 517
der geiftreihen Frau, deren Biographie wir jet mit Krauen-
hand aufzuzeichnen vwillens find, verjchieden benfen und vieles
und mauches daran zu tadeln haben, immerhin ift er ein ganz
entfchiedener gemwejen, der in feinen Grundprincipien fich bie
Aufgabe geftellt Hatte: den edelften Hichtungen und Regungen
des menjchlichen Herzens Sertung zu verfchaffen. Ihr ſchien es
Beruf, der weiblichen Seele, insbeſondere im Bereich ihrer
tiefften und wahrften Empfindungen, eine Freiheit zu vermitteln
und zu erobern, wie fie, von Borurtheilen bes Standes, her-
gebrachter Sitte und Üüberfeinerter Civiliſation überwuchert, einer
Zeit unruhiger Zerfahrenhbeit und SHaltungslofigfeit wie bie
unfere, der jebes Gefühl für Recht und Wahrheit immer mehr
verloren geht, durchaus entzogen worden ift.
Die Schrift beginnt mit einer Schilderung des med-
fenburgifchen Landadels und des unruhigen, -phantaftifchen
Vaters der Dichterin, der befanntlih vom Landmarſchall
Führer einer wandernden Komddiantentruppe wurde. Wir
jelbft haben ihn, an einem Sommertheater in Altona, die
Drden auf der Bruft, an der Theaterfaffe ftehen fehen.
Die Warnungen des Großherzogs, die Ehefcheidung feiner
Gattin, die Entfremdung feiner hochgeftellten Yamilie, der
Berluft feiner Aemter und feines Vermögens — alles
dies vermochte nichts gegen feine übermächtige Paſſion.
Sräfin Hahn-Hahn vermählte ſich am 3. Juli 1826 mit
ihrem älteften Better, dem Grafen Friedrich Hahn auf
Bafedow, einem ungleichartigen Gemahl, der nur für
Pferde und Hunde Sinn hatte Die Zerwürfniffe zwi⸗
ſchen den Gatten nahmen zu; am 5. Februar 1829,
während ihres Scheidungsproceſſes, wurde ihr ein-
ziges Kind geboren, eine Tochter, die ohme alle Fähig⸗
keiten blieb, weder zu ftehen noch zu gehen oder etwas
mit den Händen feft zu greifen oder zu halten vermochte —
ein Jchlagender Beweis, daß aus liebeleeren Verbindungen
nur ein geiftesfchwaches Geſchlecht erwächſt. ALS junge
Frau fol Gräfin Ida anmuthig und fympathifch gewe-
fen fein. Im Yahre 1845 erblidte die Verfafferin ber
Schrift die vierzigjährige Braun, der fie das folgende
Signalement ſchreibt:
Sie hatte bereits das eine Auge eingebüßt, und ihre zwar
feinen Geſichtszüge waren durchaus nicht mehr anjprechend zu
nennen. Eine faft durchfichtige Hautfärbung und das erhaltene
Aug und tief blidende Auge gaben ihrer Phyfiognomie den
Ausdrud geiftiger Begabung und eines mchr als gewöhnlich
regen Seelenlebens. Ihre Figur, groß und jehr ſchlauk, war
ſehr mager, fobaß ihre eigentlich graztöfen Bewegungen zu-
weilen edig und der fefte Zritt ihres ſchmalen Fußes wol
allzu männlich zu zeiten erfcheinen konnten. Dem Fuße gleich
war ihre Hand ebenfalls lang und ſchmal, und widmete fie
diefen beiden Theilen ihres Körpers eine ganz befondere Auf-
merkſamkeit, wie fie denn auch mit Vorliebe Hände und Füße,
den ihren gleihend, an ihren Heldinnen zu ſchildern pflegte,
Sie trug damals ihr matt blondes Haar glatt gefcheitelt; ihre
Naſe war fein, der Mund friih und, troß der ſchmalen fcharf
geichnittenen Lippen, von einem fo wohlwollenden, freundlichen
Zuge oft umfpielt, daß die innere Güte des Herzens fich wie ein
rofig Licht iiber ihr ganzes Geſicht zu verbreiten ſchien.
Den „Rechten Hatte Gräfin Hahn- Hahn in dem
Baron Byftram gefunden, der ihr 25 Jahre mit edel
fter Hingebung zur Seite fland, ein Mann von männ-
lichem Aeußern und edler Bildung; fie lebte mit ihm zu«
fammen, wie die Gräfin Ahlefeldt mit Immermann, ohne
das Band der Trauung. Eine Epifode, eine Diverfion
ihrer Empfindungen war bie Liebe für den hervorragenden
Juriſten und Publiciften Heinrid) Simon, einen Mann
von ftattlichem Aeußern, ſchönen, ruhig falten Zügen und
energifcher Geſinnung. Diefe Liebe wurde von Simon
glühend erwidert; er bot ihr feine Hand an, doch fie
liebte ihren Rang mehr als den Mann, zu dem fie ſich
mit unwiderftehlicher Gewalt ingezogen fühlte. Simon
verzichtete, mit gewohnter Energie, auf diefe Liebe, Wei⸗
terhin lefen wir:
Eine jeltfame und gewiß der Erwähnung werthe Conftella-
tion im Leben des geiftvollen Mannes war e8 mol, daß er zu
gleicher Zeit von einer andern herborragenden Frau im Herzen
etragen wurde, und zwar ebenfalls, wie fie es felbft erzählt,
in leidenjchaftlichfter Weife. Aber bei ihr follte dieſe Neigung,
wie fie in früheſter Jugend begann, die tiefern Wurzeln jchla-
gen und, einen Zeitraum von zwölf Jahren umfafjend, nur mit
feinem Tode endigen. Fanny Lewald, die Couſine Heinrich
Simon’s, wurde von dem Geliebten verfhmäht und durch die
Entdedung feiner Leidenfhaft für die Gräfin Hahn tödlich ge-
teoffen. ie ſelbſt jchildert in der „Geſchichte meines Lebens‘
fehr ergreifend die Dualen der Eiferſucht und des tiefften
Herzeleids, dem fie erlegen und die fie jahrelang mit fih herum⸗
getragen. Was immer und welde Gründe die beredte Feder
für BVeröffentlihung ihres die berühmte Schriftftellerin paro⸗
birenden Romans „Diogenn‘ angeben möge, wir fühlen uns
zu der Annahme berechtigt, daß es ber Haß gegen die bevor-
zugte Nebenbuhlerin war, der fie geleitet, und der dem tief
verwunbdeten Herzen Schmähungen entlodte, die ebenjo maßlos
find wie das Gefühl, das jener Haß erzeugte.
Intereffant und zutreffend ift die Parallele, melde
Marie Helene zwifchen der Gräfin Hahn⸗Hahn und Lifzt
zieht. Als Touriſtin bereifte die Gräfin die Schweiz,
Defterreih, Italien, Frankreich und Spanien, den Orient,
Konftantinopel und Yerufalem — koſtſpielige Reiſen, die
fie allein dem Ertrag ihrer Feder verdanfte.e Im Jahre
1845 ließ fie fi) in Dresden nieber, wo fie mit ben
Bertretern der ariftofratifchen Literatur, mit Sternberg
u. a. verkehrte. Durch eine Operation Dieffenbadh’s,
oder vielmehr durch die Folgen derfelben, verlor fie 1848
das eine Auge. Der Tod Byftram’8 im Yahre 1849,
die März⸗ und Mairevolution, welche ihr höchſt wider:
wärtige und feindfelige Elemente und Tendenzen in voller
Thätigleit zeigte, der dämoniſche Einfluß einer energifchen
Perfönlichkeit, des Freiherrn von Setteler, eines jungen
leidenfchaftlichen Priefters, defien Belanntfchaft fie in
Berlin gemadht und welcher das Jahr darauf den
mainzer Bifchofsfig beftieg, bewirkten ihren Uebertritt zur
katholischen Kirche. Es wurde ihr die Gründung eines
Kloſters übertragen, das dem Schuge der gefallenen Tu⸗
gend gewidmet werden follte; in wenigen Jahren war
dass Werk vollendet, und Gräfin Hahn bezog als Klofter-
frau, nit als Nonne, dies geiftlihe Haus in Mainz.
Die Kirche gönnte ihr indeß Raum zu freiefter literari-
ſcher Wirkſamkeit; fie hat, außer Biographien der Kirchen—
väter, namentlich des heiligen Auguftinns, feit 1851
folgende Werke vollendet, deren Regiſter wir hier anführen,
weil fie, mehr der Ficchlichen als der nationalen Literatur
angebörig, wenig befannt geworben find:
„Aus Serufalem", 1851. — Ein Bändchen Gedichte:
„Unferer lieben Frau“, 1851. — „Bon Babylon nad Jeruſalem“,
im felben Jahre. — ‚Die Liebhaber des Kreuzes, 1852. —
„Sin Büchlein vom guten Hirten‘, 1853. — „Das Jahr der
Kirche‘, 1854. — Ein Bändchen zur „Legende der Heiligen‘
von Johannes Laicus, von welchem die beiden erflen 1854 und
1855 erſchienen find. — „Bilder aus der Gefchichte der Kirche‘,
vier Bände, 1856-59. — „Maria Regina‘, 1860. — „Do⸗
ralice, ein Familiengemälde aus ber Gegenwart‘, 1861. —
„Bier Lebensbilder: Sin Papft, eim Bijchof, ein Priefler, ein
N Sue
518 giterarifche Porträts.
Jeſuit“, 1861. — „Die Märtyrer”, 1862. — „Zwei Schwes
fern. Eine Erzählung aus der Gegenwart“, 1863. — „Ben
David. Ein Phantafiegentälde von Ernft Renan“, 1864. —
„Peregrin. Ein Roman“, zwei Bürbe, 1864,
Wir fügen diefen Negifter noch Hinzu: „Eudoria, die
Raiferin” (2 Bde. 1867); „Die Erbin von Eronenftein“
(2 Bde, 1869); „Die Gefchichte eines armen Fräuleins“
(2 Bde., 1869).
Das Urteil der Verfaflerin über das ungewöhnliche
Talent der Gräfin Hahn-Hahn unterjchreiben wir unbe.
dingt; fie war an urfprünglicher Energie der Empfindung
und Leidenfhaft ihren aufgeflärten, geiftreichen Neben»
buhlerinnen überlegen. Nur die excluſiven Verhältniffe,
in benen fich ihr Leben bewegte, Berhältniffe, bie ihren
Stil erdufiv, d. h. unſchön, und ihre Lebensanſchauung
einfeitig, nur der individuellen, nicht der politifchen und
Tocialen Freiheit zumendeten und fie zulegt vollfländiger
geiftiger Unfreiheit in die Arme warfen, ließen ein fo ſchö—
nes Talent zu feiner gedeihlichen Entwidelung gelangen.
Wir fchließen die Galerie literarifcher Porträts mit dem
Bildniß Friedrih Rückert's, welhem C. Beyer in Ko—
burg ein „Biographifches Denkmal” (Nr. 7) errichtet Hat,
während C. Kühner in der Schrift: „Dichter, Patriarch)
und Ritter” (Nr. 8), Berfönlichfeiten und Beizehungen aus
dem Jugendleben des Dichters eingehend charalterifirt.
Friedrich Rückert ift eine dichterifche Perjönlichkeit von
jo Scharf ausgeprägten Zügen, von fo marfirter geiftiger
Bedeutung, daß man ſtets gern zu ihm zurüdgeführt wird.
Beyer hat uns ſchon mehrfach über des Dichters Lebens-
verhältniffe genaue Ausfunft gegeben, befonders in feinem
anſpruchsloſen Buch: „Friedrich Rückert's Leben und Dich-
tungen”. In ber Borrede fagt Beyer:
Der Zwed von „Friedrich Rückert's Leben und Dichtungen‘
war neben präcijer Zeichnung des Dichters die Einführung in
ben Geift und in das Verſtändniß feiner Schöpfungen, fowie
ein beftimmter Nachweis, inwieweit die dichterifchen Erzeugniſſe
Friedrich Rückert's durch fein Leben bedingt waren. In dem
vorliegenden Buche geben wir nun mit Ausichluß einer jeglichen
Analyie eine nur den Gehalt der einzelnen Dichtungen Ruckert's
ins Auge faflende, möglichſt vollfändige Biographie Rückert's,
verbunden mit einer eingehenden Charakteriftit und Würdigung
des Menſchen und des Dichters Friedrich Rückert unter befon-
derer Berüdfihtigung und Firirung feiner Stellung auf dem
deutſchen Parnaß. Zugleich liefern wir unter Veröffentlichung
bezügliher Actenftüde und Forſchungen einen Nachweis über
bes Dichters und des Gelehrten Friedrich Rückert Geiftesentwide-
fung, und wir können fomit das vorliegende Buch als Ergän-
zung und Bervollftändigung zu „Friedrich Rückert's Leben und
Dichtungen‘, fowie al8 Supplement und Kommentar zu der
eben erjcheinenden Gejammtansgabe der Rückert'ſchen poetifchen
Werke betrachten.
Beyer hat alle Mittheilungen und Angaben, alle münd⸗
lichen und fehriftlihen Zeugniffe von Verwandten, Sreun-
den und Berehrern Rückert's, alle die vielen Zeitfchriften
in verfchiedenen deutſchen Bibliothefen benutt, um ein
erfchöpfendes Gefammtbild des Rückert'ſchen Lebens dar-
zubieten. „Wahrheit war fein erſtes Geſetz, aud) bei
der Beurtheilung ber NRüdert’fchen Gedichte, und in ber
That verleugnet das Werf zwar nirgends die Pietät gegen
den Dichter, hält fich aber frei von überſchwenglichen
Lobeserhebungen.
Rückert's Geburt im Ylußgebiet des Main veranlaft
unfern Autor zu der folgenden Bemerkung, welche zugleich
harakteriftifch ift für Rückert's Titerarifches Porträt:
Diefe wohlberufene Heimat deutſcher Borfie zählt auch dem
univerjellen Friedrich Ridert, bei dem fi) dns Vollsthümliche
der Meifterfänger mit den fünftlichen Weiſen und ber ſpielenden
Kunft der Pegnigichäferei, durchprägt von einer vollen und tie
fen Naturanihauung und SHerzenspoefle, vereinigt, zu ihren
treueften Söhnen.
In Schweinfurt geboren, zog Rückert, Idum vier
Jahre aft, nach Oberlauringen; die Anregungen des Dorf»
lebens, welche dem Kinde geiftige Nahrung boten, wer-
den von Beyer mit Fleiß zufammengetragen, fie erjtreden
fi von dem Gutsherrn und bem Pfarrer, von den Miuh-
men mit den Strohblumen im Haar, dem Gevatter Schnei-
der und dem Krautfchneider Graumann bis zur märden-
erzäblenden Frau Barbe, bis zur Knabenliebe zu der Heinen
Annel, mit der er im „Tannich“ Beeren ſuchen ging.
Wie wir von Kühner erfahren, war Annel des Ritter»
boten Steigemeier „blauäugiges, tannenſchlankes“ Tboch⸗
terlein.
Das Wert von Kühner gibt für Rückert's Knaben⸗
und Sünglingsjahre eine willkommene Ergänzung. Da
einzelne Abfchnitte deſſelben früher in Journalen felbfländtg
gebrudt waren, fo haben fie dem Beyer'ſchen biographi-
fchen Denfmal als Duelle gedient. Der Dichter auf dem
Titelblatt der Kühner'ſchen Schrift ift Rückert felbit; der
Patriarch Hohnbaum der würdige Superintendent von
Rodach; der Kitter Chriſtian Truchſeß von Wetzhauſen
auf Bettenburg. Beide letztern gewährten dem jungen
Dichter, nachdem er ſeine Studien vollendet, mehrfach
längere Gaſtfreundſchaft und leben deshalb in feinen Lie
dern fort. Wir müſſen freilih befennen, daß die Schil-
derung, die ung Kühner von dem alten Hohnbaum ent»
wirft, uns ein bei weiten ſprechenderes Porträt gibt als
Rückert's keineswegs von aller Berfünftelung freie Di⸗
ftihen. Die Tülle von Gemüt) und Humor in dem
würdigen Geiftlichen, fein volfsthümliches Patriarchenthum,
die ebenfo idylliſchen wie pifanten Züge des robacher
Stillebens haben uns weit mehr gerührt und intereffirt
in ber lebhaften Brofa der Kühner’fchen Schilderung als
in den, Überdies oft durch mangelnde Cäſuren hinfälligen
Herametern und Pentametern Rückert's.
Daffelbe gilt von dem Ritter auf der Bettenburg;
diefer wadere Ritter, „die hohe Geftalt mit der Hünen⸗
bruft und der gewaltigen Glieder reinem Ebenmaß, das
ſchöne Haupt mit weißen Locken befränzt”, in feiner finde
lichen Hingebung an feine Ideale, mit feinem patriarcha⸗
lichen Hauswefen, feiner Sorge für da8 Wohl feiner Leute,
für die fchönen Anlagen um das Schloß, mit feinem Lefe-
eifer, mit feiner großartigen Gaftfreundfchaft, welche Jean
Paul, Heinrich Voß, Ernft Wagner, Rochlig und andere be-
rühmte Männer um fich verjammelte und den Bauer
wie den Fürften mit gleicher Herzlichkeit begrüßte — diefer
geiftig ftrebende, hünenhafte Ritter erſcheint uns auch weit
bedeutender in Kühner's Schilderung als in Rüccert's
Berfen. Freilich dürfen wir nicht vergefien, daß das
große „Hochzeitsgedicht für bie Bettenburg‘, welches Rüdert
im April 1815 zur Vermählung des jungen Dietrih von
Truchſeß, eines Neffen des Dichters, mit Charlotte von
Sedendorf gedichtet hat, ein Gedicht, das mehr als tau⸗
ſend Verſe enthielt, nur im Manuſcript vorhanden ift
und nur zwei Heine Bruchftüde des Gedichte in Rückert's
Gedichtſammlungen aufgenommen find. Kühner theilt
— ger —— — — — on
Literariſche Porträts.
größere Partien aus dem Gedichte mit. Der Charakter
des Gelegenheitsgedichts wird hier nur hin und wieder durch
höhern Schwung unterbrochen, wie wenn der Dichter den
würdigen Burgherrn ſelbſt ſchildert oder die alten Reichs⸗
ritter, die zur Hochzeit kommen:
Und draußen durch den Eichenwald
In kriegeriſcher Rüfung wallt
Der alte Götz von Berlichingen,
Deß Hand ift eins mit feiner Klingen,
Ihm brüderlich zur Seite Franz
Bon Sidingen im Waffenglanz.
Der edle Burgherr hat die beiden,
Die keine Macht vermocht zu ſcheiden,
“ Borlängft verfebt in feinen Hain,
Ihr Bild geprägt auf feinen Stein;
Drum haben fie fih vorgenommen,
Zu feinem Hochzeitfeft zu kommen,
. Und.aus dem Huttenberg herbei,
‘Bor feinem Monument vorbei,
Kommt au der Ulerich von Hutten,
Der einft gekämpft mit finftern Kutten,
Und reicht dem Sidingen die Hand,
Weil er die feine treu einft fand.
O Kleeblatt, wie nicht mehr zu haben,
Ihr drei ans Frankenland und Schwaben,
Ummwandelt das geweibte Rund,
Wo jetst den feierlichen Bund
Ein Frank' und eine Schwäbin ſchließet;
Seid Zeugen ihrem Schwur und gießet,
‚ Wenn lieb euch ift der Enkel Heil,
Bon euerm Geift auf fie ein Theil.
Kühner ſagt in der Vorrede, daß er nicht eine zu—⸗
fammenhängende Sugendgefchichte gebe — nur loſe anein«
andergereihte Bilder, deren Züge er zunächſt den Dich.
tungen Rückert's felbft, andern gedrudten, aber nur wenig
befannten Ouellen und größtentheils handfchriftlichen und
mändlichen Ueberlieferungen fowie feiner eigenen Jugend⸗
erinnerung entlchnt. Gleichwol tritt die Jugend des Dich⸗
ter8 in feiner durchaus anfprechenden, lebensfriſchen Dar»
ftellung in einem Zuſammenhang vor uns hin, in welchem
fich der Tert des Biograpken und die Verſe des Dichters
auf willkommene Weife ergänzen und erläutern.
Außer den Dorf-Annel von Oberlauringen fpielen noch
drei Iugendgeliebte des Dichters in beiden Biographien
eine wichtige Rolle; doch erſcheint Bier Beyer als bie
eigentliche Duelle, aus der Kühner ſchöpft. Agnes, die
„Steruengleiche”, der Rüdert einen jo ſchönen Todtenkranz
in Sonetten gewidmet hat, war die Tochter des Juſtiz⸗
amtmanns Müller in Rentweinsdorf, Agnes Tiebte indeß
nicht den Dichter, fondern einen Freund Rückert's, Haber-
mann in Koburg, wie fte furz vor ihrem frühen Tode
befannte. Kühner meint, menn der Dichter wirklich zu
ihr Liebe empfand, fo ift e8 eine Liebe gewefen, bie erft
auf dem Grabe der Geliebten die Blütenfnospe fprengte,
Mas die Liebe zu Amaryllis, der Dorfichönen aus dem
Wirthshaus „Die Spede” betrifft, fo bezweifelt Kühner,
Daß der Dichter, was er gefungen, auch innerlich empfun-
den hat. Beyer ift anderer Anſicht und theilt ſogar bie
Abficht der Liebenden mit, die Verlobungsringe zu wech⸗
fein. Kühner jagt dagegen:
Draß ſolche aus Spinnengeweben gebrehte Zauberbande
nahe daran geweſen fein follten, in goldene Eheringe 19 zu
verwandeln — wie im „Biographiichen Denkmal“ berichtet wird —,
und daß. die Liebenden, um die Ringe ihren Fingern aupaflen
zu Iaffen, felbander bereits auf dem Wege zum ventweinsborfer
519
Goldſchmied geweſen wären, als noch zur glücklichen Stunde
die Heine Braut durch ben heilfamen Spott einer ihr begegnen
den Freundin von neuem widerfpenflig gemacht und ein unheil⸗
barer Bruch herbeigeführt wurde — ein jolcher Verlauf des Ro⸗
mans iſt aus der Dichtung felbft ſchwer erflärlih und ſcheint
uns wie an innerer, fo auch an äußerer Unwahrſcheinlichkeit
zu leiden.
Wir möchten uns auch der Testen Anftcht anfchließen;
eine Dichterphantafte dichtet fich oft das Leben zurecht für
ihre idealen Zwede; fie empfindet nicht aus ihm heraus,
fondern in daffelbe hinein. So mag e8 bei verfchiedenen
Dichterliebfchaften der Fall gewefen fein, gewiß auch bei
diefem Dorfliebchen, das überdies fi) ja gegen Rückert
fpröde genug verhielt. Gegenſeitige Neigung charakterifirt
nur das dritte Liebesverhältnig Rückert's zu dem Pfar-
rerstöchterchen Friederife aus Effelder, deren Name be-
reits clajfifche, fejengeimer Erinnerungen wachruft. Diefe
Liebesidylle habe nicht nur „Goethe'ſche“ einfame Spazier-
gänge in das „Himmelreich”‘, den nahen Kieferwald, auf«
zumeijen, fondern auch fiundenlange Piquet- und Mariage⸗
-partien, ein in Seſenheim unbelanntes Vergnügen. ‘Doch
auch dieſe Neigung, welche ſich durch die italienifche
Poeſie des Dichters mie ein rother Faden hindurchzieht,
war nicht von langer Dauer. Friederife wurde fpäter
die Frau des königlich preußifchen Geheimrathg Keßler.
Rücker“s ſpäteres Leben, feine wiffenfchaftliche und
dichterifche Earriere ift befannter; dennoch theilt das Werk
von Beyer manches Neue daraus mit, manchen anefdo-
tifchen Zug, namentlih aus dem erlanger und berliner
Univerfitätsleben. Intereffant ift die Analyſe von Rückert's
jo verſchieden beurtheilter Inauguraldiffertation. Wir er-
fehen aus berjelben, daß diefe Differtation allerdings fchon
mit Bemwußtfein und Ahnung die Wege einjchlug, welche
fpäter die vergleichende Sprachforſchung betrat, und daß
fie manche geiftreiche Perfpectiven in die Zukunft diefer
Wiſſenſchaft eröffnet, daß fie aber auch auf der andern
Seite in den etymologifchen Herleitungen von jenem Spie-
ferifchen und Verzwickten nicht freizufprechen ift, welches
auch den mislungenen Gedichten Rückert's eigenthümlich ift.
Ueber Rückert's Patriarchenleben in Neufeß mit feiner
indogermanifchen Welt» und LXebensweisheit gibt Beyer
die genauefte Ausfunft und Hat alle Berichte, melche daifelbe
ſchildern, die Mittheilungen der verfchiedenften Befucher
forgfältig zufammengetragen. Die Gejammtcharafteriftik,
welche Beyer von dem Dichter entwirft, ift von einfeitiger
Apotheofe entfernt, wird auch den Mängeln der Rüdert’-
fhen Gedichte gerecht und entjpricht im ganzen dem Cha-
rakterbild, welches wir felbft in der „Nationalliteratur‘,
in „Unferer Zeit“ und in d. Bl. mehrfad) entworfen haben.
Dem Beyer'ſchen Denkmal ift eine Auswahl aus den
bisjetzt ungedrudten Poeſien Friedrich Rückert's beigefügt,
von denen die hinkenden Jamben für MWangenheim zur
Geier der Landftände als Mufter dentfcher Choliamben
dienen fünnen, während das Gedicht an die Schwiegertochter
„Alma“, das legte Gedicht Rückert's, bei aller Gefucht-
heit der Wendungen doch noch die feltene Sprachgewandt-
beit des Poeten zeigt. Das befte diefer Gebichte ift ein
patriotifches aus dem Jahre 1814, welches werkwürdiger-
weife in die Sammlungen der Zeitgedichte nicht aufgenom-
men wurde, obſchon es viele darin enthaltene Bänfel-
fängereien dur eble ſchwunghafte Haltung übertrifit.
520
Bir theilen einige, jegt in die ernſte Bewegung ber
Gegenwart mächtig eingreifende Strophen aus demſel⸗
ben mit:
Nun ift gelommen
Die Heiße Arbeit und die firenge Tugend,
Das Kreuz genommen!
So rief der Herr, gebändigt Luſt der Jugend!
Richt mehr anf Rofen
Soll ih im Sonnenfhein die Freude beiten;
Ro Waffen tofen
Und Kämpfe ringend fid) an Kämpfe fetten,
Da ſei dein Leben!
Das if dem Mann zum höchſten Troft gegeben.
O fei willlommen!
D ſei willlommen mir, bu ernfle Freude
Du Bild der Frommen,
Auf deren Antli Liebe ſtrahlt im Leide!
Wie Harfen Hingen,
Benn Engel auf den Sternen Hymnen tönen,
Yene Novellen
1. Lieben und Leben. Neue Erzählungen von Mar Ring.
Drei Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 4 Zhlr.
Der Romanfcriftftellee verhält fih zum Novelliften
ungefähr ebenjo wie der Fredco- zum Genremaler. In
großen Zügen entwirft er fein Weltbild und führt es in
großen Linien aus. hm gilt vor allem das Ganze und
der Sefammteindrud, den fein Werk hinterläßt. Discretion
in der Farbengebung oder, wenn wir uns mufifalifc) aus«
drüden bürfen, in der Unftrumentation, wie das Eingehen
auf das einzelne und deſſen Ausführung überhaupt, wer⸗
den durch bie Größenverhältniffe von vornherein aus⸗
gefchlofien. Der Novellift ift von alledem das Widerfpiel.
Er gibt ein Weltbild im Fleinen, das aber über feinen
engen Rahmen in die Welt hinausweift. Ihm kommt «8
daranf an, mit Heinen Mitteln bedeutend zu wirken; ihre
gewifienhafte Benutzung ift daher feine Hauptaufgabe. Die
fpecififche Eigenheit diefer Form nöthigt den Schriftfteller,
der fie cultivirt, den Schwerpunft nicht, wie e8 vorzugs⸗
weile der Roman bedingt, nach außen, fondern nach innen
zu verlegen. Der enge Rahmen geftattet Feine Aneinander-
veihung bedeutender äußerer Momente, weil ihre Conje-
quenzen größer als fie felbft und zu feinem Verhältniß
untereinander, viel weniger aber zu einem harmonifchen
Ausklang zu vereinen find. Daraus ergibt fi, daß der
Novellift vorzüglich auf die Darftellung pfychologifcher
Zuftände angewiefen ift und von äußern Momenten nur
fo viel benugen darf, al8 zur Erzeugung ber von ihm
zu fehildernden innern Vorgänge unerlaßlich iſt.
Bon dieſem Geſichtspunkt aus betrachtet, find Paul
Heyſe's Novellen, wenigftens in der Mehrzahl, mufler-
gültig, und Mar Ring's Erzählungen, fpeciell die vor⸗
Yiegenden, verfehlt. Hier handelt es fi) um lauter äußere
Ereigniffe, die ohne jede innere Verbindung immer un-
mittelbar, je nachdem es dem Verfaſſer am effectvolliten
ſchien, aufeinandergepfropft find. Wir befinden ung mit
ihm auf einer wahren Hetjagd nad) Effecten. Kaum ift
ein Wild glücklich erlegt, fo zeigt ſich auch fchon ein neues
noch mehr verheißendes, und fo geht es fort durch drei
nicht eben dünne Bände Mar Ring läuft nad einigen
Neue Novellen und Romane.
So lieblih dringen
Die Laute aus des Bufens ſtarkem Sehnen,
Mit Bräutigams Wonne
Den füßen Reiz der Iugend zu umfangen,
Und wie die Lerche an ber Morgenjonne
An isrem Glanz zu hangen.
O fei gegrüßt,
Dein Baterland im blut’gen Siegeskleide!
Dein Ruhm umfließt
Dich wie die Jungfraun blinfenbes Gefchmeibe,
Wann fie den Reigen
Der bunten Früblingstage fröhlich zieren.
Du bift dein eigen,
Und darfft dich jelbft in eigner Freiheit führen.
Die welſche Rotte
Hat der Germanen Heldenarm gebündigt;
Dir ift die Ehre wieder eingehänbigt
Bom deutſchen ©otte.
Rudolf Gottſchall.
und Romane.
mwohlverbienten Erfolgen Gefahr, der Bieljchreiberei zu
verfallen.
Zu einer Analyfe der vorliegenden vier Erzählungen
baben wir keine Veranlaſſung. Nur ihren Inhalt wollen
wir furz andeuten. Die erfte: „Die Eheſcheuen“, behan⸗
delt eine Liebeögefchichte trivialer Art und vermag ihren
Titel in nichts zu rechtfertigen. Die zweite: „Im Daufe
ber Bonaparte, ſchildert Leopold Robert's unglüdlicde Nei⸗
gung zur Prinzeffin Charlotte Bonaparte. Die dritte:
„Der Sieg der Liebe“, behandelt den Bar⸗Kochba ber
Mauren, Aben-Humeya, ohne tieferes Verſtändniß feiner
gefhichtlichen Bedeutung, und die vierte: „Der Bhilofoph
von Charlottenburg”, führt den berühmten Leibniz in Schlaf-
‚rod und Nachtmütze vor.
2. Familienrache, oder: das Erdbeben von Ealabrien im Jahre
1008 Novelle von Karl Zetter. Graz, Mofer. 1869.
. gt. "
3. Die letsten Grafen Kery, oder Chriſt und Mohammebaner.
Hiftorisches Charaktergemälde von Karl Zetter. Graz,
Mojer. 1869. 8. 16 Nor.
Schon die Titel deuten an, welche Attentate der Ber
fafjer beabfichtigt. Beide Bücher find unftreitig für den
Papierkorb gefchrieben und werden dies Ziel auch ficher
erreichen. Die Kritil kann ſich mit derartigen Producten
nicht befaſſen.
4. Und fie bewegt ſich doch! Roman von Friedrich Karl
Schubert. Zwei Bände. Hannover, Rümpler. 1870.
8 2 Thlr.
Der Gattungsname Roman ift bier nicht zutreffend.
Halb Geſchichte, Halb Erfindung iſt vorliegendes Wert
weder dns eine noch das andere. Beide Elemente laufen
nebeneinander ber, ohne ſich, wie es ein Kunſtwerk boch
bedingt, gegenfeitig zu durchbringen und zu erläutern.
Der Berfafjer ift offenbar Fein Dichter, aber ein philo-
ſophiſch und Hiftorifch tüchtig gebildeter Mann. Der
Schwerpunkt des Romans Liegt in feinen fehr intereffan-
ten Gejchichtsbildern, die mit großer Anfchaulichkeit ent⸗
worfen find, und in feinen geiftvollen philofophifchen
Neue Novellen und Romane,
Ercurfen. Wenn wir noch hinzufügen, daß der Stil fließend
und ziemlich ebenmäßig ift, haben wir aller Vorzüge ges
dat. Weniger gelungen find dagegen die poetifchen An—
firengungen des Berfafjers, fowol in Bezug auf Geftal-
tung ale Combination. Galilei, das Centrum des Gan-
zen, erſcheint als ein Schatten ohne Fleifh und Blut,
unter Umftänden als bloße Staffage. Man erwartet die
piychologifche Entwidelung feiner - Lehre und namentlich
feines Widerrufs — und erhält ftatt defien nur Facta. Man
wünfcht bie gewaltige Umwälzung veranfchaulidht, welche
Galilei's Lehre hervorbrachte — und erhält eine Verflüch⸗
tigung ihrer Bebeutung zu Liebesgeſchichten, die nichts
Neues bieten und auch in Feiner Weife zur Iluftration
der Zeit dienen können. Ebenſo wenig hat das Bud)
Beziehungen zur Gegenwart, die doch fo viele übereinftim-
mende Momente mit ber Zeit, die es behandelt, in ſich trägt.
5. Der Schügling des Kaijers. Roman von Stanislaus
Graf Srabowsti. Drei Bände. Berlin, Langmann u.
Eomp. 1870. 8 3 Thlr.
Aehnlich, nur umgefehrt, verhält es ſich mit diefem
Roman; bier überwiegt die Erfindung die Geſchichte. Ein
gewiſſer finnlicher Hauch liegt über bem Ganzen, wie ſchwüle
Sommerluft, und wird dem Lefer zum Medium, durch
daß er die bunte Welt, die fi) ihm darbietet, betrachtet.
Grabowslki beſitzt ein fcharfes Auge für die Erfcheinungen
der Sinnenwelt und weiß fie lebendig zu geftalten; aber
ihm fehlt die Kraft, fie zu vergeiftigen und ſomit Fünft-
lerifch zu verwerthen.
Wir haben einen biographifchen Roman vor und. Er
beginnt mit der Geburt des Helden, oder vielmehr noch
vor feiner Geburt, und endet mit feiner Berheirathung.
In gerader Linie folgen die Ereigniſſe einander, ohne tie-
fern Grund, ohne innigen Zufammenhang. Der Held
jelbft ift fertig von dem Augenblid an, wo er in bie
Handlung eintritt, und wandelt fi) in der Folge nicht.
Er heißt Napoleon Brifjot und ift ein natürlicher Sohn
. Napoleon’s I., ein Sind der Liebe, deflen Mutter der
fpätere Kaifer treulos verlaffen. Auf dem Schlachtfelde
von Friedland macht er die erfte Bekanntſchaft feines Soh⸗
nes, der, ohne das Geheimniß feiner Geburt zu kennen,
aus innerm Drange ſich den Fahnen des Eroberere an-
gefchlofien hat und durch perfönliche Tüchtigkeit bereits
zum Corporal avancirt ift. Der Kaiſer findet feinen
Sprößling feiner nicht unwerth und zieht ihn, ohme ihm
indeß den Grund mitzutbeilen, in ſeine unmittelbare Nähe.
Brifiot wird zum Lieutenant der Adjutantur ernannt und
in ber Folge, theils zufällig, theils abfihtlih, mit ver-
fchiedenen Kurierfahrten, zunächſt nad) Frankreich, dann
nad Spanien, endlich nah Rußland betraut. Er erlebt
eine Menge Abenteuer, die meiften in Paris und Madrid,
und entwidelt vor unfern Augen eine nicht unbedeutende
Anlage zum Don Yuan. Er verftridt fid) nad) und nad)
in drei verſchiedene mehr oder minder eingeftändene Lieb-
fchaften, eine immer abentenerlicher als die andere, begeht
dann hinter der Scene zur Abwechfelung ein paar Helden-
thaten als Soldat, avancirt immer höher und begleitet
ſchließlich als Oberſt den Kaifer überall Hin, bis zu defien
Einfhiffung nad) St.- Helena. Napoleon felbfl, im übri⸗
gen nad) gewohnter Schablone gezeichnet, fcheidet aus dem
Buche, ohne ung mit der Anerkennung feines Sohnes zu
1870. 33.
521
erfreuen, und bleibt uns auch die Gründe dafür fchuldig,
weshalb ex die Iugendgeliebte, Briſſot's Mutter, in Noth
und Sorge verlommen ließ.
Natürlich fpielen eine Menge andere Gefchichten zwei
ten und dritten Ranges mit, ſodaß an eine Concentration
des Intereſſes nicht wol zu denken ift. Poetiſch muthet
die Epifode Eſtrella's an, die den argen Leichtfinn ihrer
Jugend mit dem zur Rettung des Geliebten freiwillig er-
wählten Tode an den Ufern der Berefina fühnt.
6. Ehrifline Roman in drei Bänden von D. von Pafd-
fowsfy. Haunover, Rümpler. 1870. 8. 4 Thlr.
Ein Roman von Frauenhand, aber mit mehr Talent
als viele Yrauenromane gejchrieben. Wir begegnen hier
entjchiedener Befähigung für pfychologiſche Schilderung
und einem bei Damen feltenen künſtleriſchen Yormfinn,
der inftinctiv dem äfthetifchen Anforderungen, wenigftens
im wefentlihen, gerecht wird. Die geiftige Phyfiognomie
der Berfafferin ift keineswegs eine fchärfer beftimmte, ori«
ginelle, aber fie ragt um etwas über die literarifchen
Durchfchnittsgefichter ihres Geſchlechts hinaus,
Der Roman bejchäftigt fi) mit einer Frage, die
wifjenfchaftlich noch nicht endgültig gelöft worden iſt: mit
der Trage nach dem Uebergewicht zwifchen Natur und
Gef. Natürlich kann fie auch Hier nur einfeitig ent«
fchieden werden, aber da diefe Entfcheidung gleiche Be⸗
rechtigung wie die gegentheilige hat, können wir fie ung
wol gefallen laſſen. D. von Paſchkowsky räumt der Natur
den Sieg über den Geift ein. Die Heldin ihres Romans,
Chriftine, ift ein durch und durch leidenfchaftlicher, allen
äußern Einwirkungen unbedingt unterworfener ertremer
Charalter, defjen Möglichkeit aus der Verfchiedenheit des
Geiftes der Aeltern hergeleitet wird. Alle Verfuche, diefe
wilde Natur zu bändigen, der Herrfchaft bes Geiftes zu
unterwerfen, ob fie nun im Heinen von Chriftinens An-
gehörigen, oder im großen vom Schickſal ausgehen, blei-
ben wirkungslos. Chriftine felbft gelangt zur Erkenntniß
ihres unfeligen Naturelle, aber fie ift unfähig, fich irgend-
welchen Schranken zu fügen. Es verfteht fi) demnad)
von felbft, daß fe in gewaltige Conflicte ſowol mit fid)
als mit der Außenwelt geräth, aber daraus nicht etwa
geläutert, fondern gebrochen hervorgeht. Chriftine geht
an fich jelber zu runde.
Das alles ift im fehr anfchaulicher, zumweilen drama-
tifcher Weife dargeftellt, und die Entwidelung diefes dämo-
nifhen Frauenherzens hat einen eigenen Reiz. Weniger
gelungen find dagegen die meiften andern Yiguren des
Romans; namentlich kommen die Männer über das übliche
Maß nicht hinaus. Der Bau ift im allgemeinen klar
und richtig. Unangenehm berührt die Zerfaferung bes
Schluſſes und das pathologiſch, aber nicht künſtleriſch ge-
rechtfertigte Ende der Heldin. Der Stil ift ungleih und
nicht frei von fchlimmen Gemeinplägen und Trivialitäten,
wie 3.8.1, 91: "
Im Genuß des milden Herbfitages dachte fie der Winter-
tage, an denen dieſe Kerne, in Eijfig eingemacht, dem Bruder
trefflich ſchmecken und die theuern Kapern erjegen follten. (!)
I, 121 fg.:
Als fie endlich nach einigen Jahren die Hoffnung zeigte,
ein Kindchen zu befommen (}), da war fein Entzücken vol-
lends groß.
66
| u n
520
Bir theilen einige, jegt in die ernfle Bewegung ber
Gegenwart mächtig eingreifende Strophen aus demfel«
ben mit:
Nun if gefommen
Die heiße Arbeit und die firenge Zugend,
Das Kreuz genommen!
So rief der Herr, gebändigt Luft der Jugend!
Richt mehr auf Rofen
Sol fh im Sonnenſchein die Freude beiten;
Ro Waffen tofen
Und Kämpfe ringend ſich au Kämpfe fetten,
Da fei dein Leben!
Das ift dem Manu zum bödften Troft gegeben.
O fer willlommen!
D fer willlommen mir, du ernfle Freude
Du Bild der Frommen,
Auf deren Antlig Liebe ſtrahlt im Leide!
Wie Harfen klingen,
Benn Engel auf den Sternen Hymnen tönen,
Neue Novellen und Romane.
So Tieblich dringen
Die Laute aus des Buſens ſtarkem Sehnen,
Mit Bräutigams Wonne
Den füßen Reiz der Jugend zu umfangen,
Und wie die Lerche an ber Morgenjonne
An ihrem Glanz zu bangen.
O fei gegrüßt,
Mein Baterland im blut’gen Siegesfleibe !
Dein Ruhm umfließt
Dich nie die Jungfraun biinfendes Geſchmeide,
Wann fie den Reigen
Der bunten Frühlingstage fröhlich zieren.
Du bift bein eigen,
Und darfft dich felbf in eigner Freiheit führen.
Die welfche Rotte
Hat der Germanen Heldenarm gebändigt;
Dir ift die Ehre wieder eingehändigt
Bom deutichen Gotte.
Rudolf Gottſchall.
Yene Novellen
1. Lieben und Leben. Neue Erzählungen von Mar Ring.
Drei Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 4 Zhlr.
Der Romanſchriftſteller verhält fich zum Novelliften
ungefähr ebenjo wie der Fresco- zum Öenremaler.
großen Zügen entwirft er fein Weltbild und führt es in
großen Linien aus. Ihm gilt vor allem das Ganze und
der Gefammteindrud, den fein Werk binterläßt. Discretion
in der Farbengebung oder, wenn wir uns mufilalifch aus⸗
brüden dürfen, in der Inſtrumentation, wie das Eingehen
auf das einzelne und deſſen Ausführung überhaupt, wer⸗
den durch die Größenverhältnifie von vornherein and«
gefchlofien. Der Novellift iſt von alledem das Widerſpiel.
Er gibt ein Weltbild im Kleinen, das aber über feinen
engen Rahmen in die Welt hinausweift. Ihm kommt es
daranf an, mit Heinen Mitteln bedeutend zu wirken; ihre
gemifjenhafte Benugung iſt daher feine Hanptaufgabe. Die
fpecifiiche Eigenheit diefer Form nöthigt den Schriftfteller,
der fie cultivirt, den Schwerpunkt nicht, wie es vorzugs⸗
weife der Roman bedingt, nach außen, fondern nach innen
zu verlegen. Der enge Rahmen geftattet feine Aneinander-
reihung bedeutender äußerer Momente, weil ihre Conje-
quenzen größer als fie ſelbſt und zu feinem Verhältniß
untereinander, viel weniger aber zu einem harmonifchen
Ausklang zu vereinen find. Daraus ergibt fi, daß der
Novellift vorzüglich auf die Darftellung pfychologifcher
Zuftände angewiefen ift und von äußern Momenten nur
jo viel benugen darf, als zur Erzeugung der von ihm
zu fchildernden innern Vorgänge unerlaßlich iſt.
Bon diefem Gefichtspunft aus betrachtet, find Paul
Heyſe's Novellen, wenigftens in ber Mehrzahl, mufler-
gültig, und Mar Ring's Erzählungen, fpeciell bie vor«
Tiegenden, verfehlt. Hier handelt es fich um lauter äußere
Ereigniffe, die ohne jede innere Verbindung immer un-
mittelbar, je nachdem es dem Berfaffer am effectvollften
ſchien, aufeinandergepfropft find. Wir befinden ung mit
ihm auf einer wahren Hetjagd nach Effecten. Kaum: ift
ein Wild glüdlich erlegt, fo zeigt ſich auch fchon ein neues
noch mehr verheißendes, und jo geht es fort durch drei
nicht eben dünne Bände. Mar Ring läuft nach einigen
und Romane.
wohlverbienten Erfolgen Gefahr, der Bielfchreiberei zu
verfallen.
Zu einer Analyfe der vorliegenden vier Erzählungen
haben wir feine Beranlaffung. Nur ihren Inhalt wollen
wir kurz andenten. Die erfte: „Die Ehefcheuen”, behan⸗
delt eine Liebesgefchichte trivialer Art und vermag ihren
Titel in nichts zu rechtfertigen. Die zweite: „Im Haufe
der Bonaparte”, ſchildert Leopold Robert's unglückliche Nei-
gung zur Prinzeffin Charlotte Bonaparte. Die dritte:
„Der Sieg der Liebe“, behandelt den Bar⸗Kochba ber
Dauren, Aben-Humeya, ohne tieferes Verſtündniß feiner
geihichtlichen Bedeutung, und die vierte: „Der Bhilofoph
von Charlottenburg”, führt den berühmten Leibniz in Schlaf-
rock und Nachtmütze vor.
2. Familienrache, oder: das Erbbeben von Calabrien im Jahre
1783. Novelle von Karl Zetter. Graz, Mofer. 1869.
8. 16 Ner. "
3. Die legten Grafen Kery, oder Chrift und Mohammebaner,
Hiftorifches Charaktergemälde von Karl Zetter. Graz,
Mofer. 1869. 8. 16 Nor.
Schon bie Titel deuten an, welche Attentate der Ber-
faſſer beabfichtigt. Beide Bücher find unftreitig für dem
Papierkorb gefchrieben und werden dies Ziel auch ſicher
erreichen. Die Kritik kann fi) mit derartigen Producten
nicht befafjen.
4. Und fie bewegt ſich doch! Roman von Friedrich Kart
Schubert. Zwei Bände Hannover, Rümpler. 1870.
8 2 Thlr.
Der Gattungsname Roman ift hier nicht zutreffend.
Halb Geſchichte, Halb Erfindung ift vorliegendes Werk
weder das eine noch das andere. Beide Elemente laufen
nebeneinander her, ohne ſich, wie es ein Kunſtwerk body
bedingt, gegenfeitig zu durchbringen und zu erläutern.
Der Berfaffer ift offenbar fein Dichter, aber ein philo⸗
ſophiſch und Hiftorifch tüchtig gebildeter Mann. Der
Schwerpunkt des Romans Tiegt in feinen fehr interefian-
ten Geſchichtsbildern, die mit großer Anfchaulichfeit ent⸗
worfen find, und in feinen geiftuollen pbilofophifchen
Neue Novellen und Romane.
Ercurfen. Wenn wir noch hinzufligen, daß der Stil fließend
und ziemlich ebenmäßig ift, haben wir aller Vorzüge ge-
dacht. Weniger gelungen find dagegen die poetifchen An-
firengungen des Berfaflers, fomol in Bezug auf Geftal-
tung als Combination. Galilei, das Centrum des Gan-
zen, erfcheint als ein Schatten ohne Fleifh und Blut,
unter Umftänden als bloße Staffage.e Man erwartet die
pfychologiſche Entwidelung feiner Lehre und namentlich
feines Widerrufs — und erhält ftatt defjen nur Facta. Man
wünfcht die gewaltige Umwälzung veranfchaulicht, welche
Galilei's Lehre hervorbrachte — und erhält eine Verflüch⸗
tigung ihrer Bedeutung zu Liebesgefchichten, die nichts
Neues bieten und auch in feiner Weife zur Illuſtration
der Zeit dienen können. Ebenſo wenig hat das Bud)
Beziehungen zur Gegenwart, die doch fo viele übereinftim-
mende Momente mit ber Zeit, die e8 behandelt, in fich trägt.
5. Der Schügling des Kaifers. Roman von Stanislaus
Graf Srabowsti. Drei Bände. Berlin, Langmann u.
Comp. 1870. 8. 3 Thlr.
Aehnlich, nur umgekehrt, verhält es fich mit dieſem
Roman; Hier überwiegt die Erfindung die Geſchichte. Ein
gewifjer finnlicher Hauch liegt über dem Ganzen, wie ſchwüle
Sommerluft, und wird dem Lefer zum Mebium, bucd)
das er die bunte Welt, die fich ihm darbietet, betrachtet.
Grabowöli befitt ein fcharfes Auge für die Erfcheinungen
der Sinnenwelt und weiß fie lebendig zu geftalten; aber
ihm fehlt die Kraft, fie zu vergeiftigen und fomit Fünft-
lerifch zu verwerthen.
Wir haben einen biographifchen Roman vor und. Er
beginnt mit der Geburt des Helden, ober vielmehr nod)
vor feiner Geburt, und endet mit feiner Verheirathung.
In gerader Linie folgen die Ereigniffe einander, ohne ties
fern Grund, ohne innigen Zufammenhang. Der Held
ſelbſt ift fertig von dem Augenblid an, wo er in die
Handlung eintritt, und wandelt ſich in der Folge nicht.
Er heißt Napoleon Briſſot und ift ein natürlicher Sohn
Napoleon’s I., ein Kind der Liebe, deſſen Mutter der
fpätere Kaifer treulos verlaflen. Auf dem Sclachtfelde
von Friedland macht er die erſte Belanntfchaft feines Soh-
nes, der, ohne das Geheimniß feiner Geburt zu kennen,
aus innerm Drange ſich den Fahnen des Eroberer an«
geſchloſſen hat und durch perfünliche Tüchtigkeit bereits
zum Corporal avancirt iſt. Der Kaifer findet feinen
Sprößling feiner nicht unwerth und zieht ihn, ohne ihm
indeß den Grund mitzutheilen, in feine unmittelbare Nähe.
Briflot wird zum Lieutenant der Adjutantur ernannt und
in der Folge, theils zufällig, theils abfichtlich, mit ver-
fhiedenen Kurierfahrten, zunächſt nad Frankreich, dann
nach Spanien, endlich nach Rußland betraut. Er erlebt
eine Menge Abenteuer, die meiften in Paris und Madrid,
und entwidelt vor unfern Augen eine nicht unbedeutende
Anlage zum Don Yuan. Er verftridt fi) nad) und nad)
in drei verfchiebene mehr oder minder eingeftändene Lieb»
fchaften, eine immer abenteuerlicher als die andere, begeht
dann Hinter der Scene zur Abwechfelung ein paar Helden-
thaten als Soldat, avancirt immer höher und begleitet
ſchließlich ale Oberft den Kaiſer überall hin, bis zu defien
Einfhiffung nad) St.- Helena. Napoleon felbfl, im übri-
gen nad; gewohnter Schablone gezeichnet, ſcheidet aus dem
Buche, ohne uns mit ber Anerkennung feines Sohnes zu
1870. 33.
521
erfreuen, und bleibt uns aud die Gründe dafür ſchuldig,
weshalb er die Jugendgeliebte, Briſſot's Mutter, in Noth
und Sorge verlommen lief.
Natürlich fpielen eine Menge andere Gefchichten zwei-
ten und britten Ranges mit, ſodaß an eine Concentration
des Intereſſes nicht wol zu denken iſt. Poetiſch muthet
die Epiſode Eftrella’8 an, die den argen Leichtfinn ihrer
Jugend mit dem zur Rettung bes Geliebten freiwillig er-
wählten Tode an den Ufern der Berefina fühnt.
6. Ehrifline Roman in drei Bänden von D. von Pajd-
kowsty. Hannover, Rümpler. 1870. 8 4 Thlr.
Ein Roman von Frauenhand, aber mit mehr Talent
ald viele Frauenromane gefchrieben. Wir begegnen bier
entfchiedener Befähigung für pſfychologiſche Schilderung
und einem bei Damen feltenen Tünftlerifchen Formſinn,
der inftinctiv den äſthetiſchen Anforderungen, wenigftens
im wefentlichen, gerecht wird. Die geiftige Phyfiognomie
der Berfafferin ift keineswegs eine ſchärfer beftimmte, ori⸗
ginelle, aber fie ragt um etwas über die literarifchen
Durchſchnittsgeſichter ihre Geſchlechts hinaus.
Der Roman befchäftigt fi) mit einer Frage, die
wiffenjchaftlich noch nicht endgültig gelöft worden ift: mit
der Trage nach dem Webergewicht zwifchen Natur und
Gift. Natürlih Tann fie auch hier nur einfeitig ent-
ſchieden werden, aber da diefe Entfcheidung gleiche Be⸗
rechtigung wie die gegentheilige hat, fünnen wir fie ung
wol gefallen laſſen. D. von Paſchkowsky räumt der Natur
den Sieg über den Geift ein. Die Heldin ihres Romans,
Chriftine, ift ein durch und durch Leidenjchaftlicher, allen
äußern Einwirkungen unbedingt unterworfener ertremer
Charakter, deſſen Möglichkeit aus der BVerfchiedenheit des
Geiftes der Aeltern hergeleitet wird. Alle Verfuche, dieſe
wilde Natur zu bändigen, ber Herrfchaft des Geiftes zu
unterwerfen, ob fie nun im Heinen von Chriftinens An⸗
gehörigen, oder im großen vom Scidfal auögehen, blei-
ben wirkungslos. Chriftine felbft gelangt zur Erkenntniß
ihres unfeligen Naturells, aber fie iſt unfähig, fich irgend⸗
welchen Schranken zu fügen. 8 verfteht fi) demnad)
von felbft, daß fle in gewaltige Conflicte ſowol mit ſich
als mit der Außenwelt geräth, aber daraus nicht etwa
geläutert, fondern gebrochen hervorgeht. Chriftine geht
an fich felber zu Grunde.
Das alles ift in fehr anfchaulicher, zuweilen drama-
tiſcher Weife dargeftellt, und die Entwidelung diefes dämo⸗
nifhen Frauenherzens hat einen eigenen Reiz. Weniger
gelungen find dagegen die meiften andern Figuren des
Romans; namentlich fommen die Männer über das übliche
Maß nicht Hinaus, Der Bau ift um allgemeinen klar
und richtig. Unangenehm berührt die Zerfaferung des
Schluſſes und das pathologifch, aber nicht künſtleriſch ge⸗
rechtfertigte Ende der Heldin. Der Stil iſt ungleih und
nicht frei von ſchlimmen Gemeinplägen und Trivialitäten,
wie 3.2.1, 91: "
Im Genuß des milden Herbfitages dachte fie der Winter-
tage, au denen diefe Kerne, in Eſſig eingemacht, bem Bruder
trefflich fchmeden und die theuern Kapern erjegen jollten. (!)
I, 121 fg.:
Als fie endlih nad einigen Jahren die Hoffnung zeigte,
ein Kindchen zu befommen(!), da war fein Entzliden vol-
lends groß.
66
522 Naturwiffenſchaft und religiöfer Glaube.
I, 123:
Ein Schiff wurbe gefunden und Dtto au den Kapitän
abgeliefert.
II, 228:
Niemand ift unerfehlih. Wer lange lebt, dem tritt diele
Wahrheit mit größter Ueberzengung entgegen. Jede Lücke, bie
der Tod in ınfer Reben reift, wird wieder ausgeflillt, jebe
Wunde unſers Herzens vernarbt und heilt wieder.
I, 115:
Die große Hiße hatte ihre Kräfte verzehrt(!), welche ohne⸗
hin das Alter ſchon bedeutend verringert hatte.
II, 117:
Der Schmerz wird dem Menfchen ein Frennd, an den er
fich ſchwer, aber fett gewöhnt und von dem er fih nur un⸗
bewußt (!) trennt.
III, 124:
War's das Abendroth, welches ob Antlitz fo hell erleuch»
’
tete, daß er wie illuminirt (N) ausſah?
Dies und viel Aehuliches Hätten wir gern vermißt.
Endlich find von den Perfonen des Romans drei ohne
jede Bedeutung für die Sache mit förperlichen Gebrechen
behaftet.
7. Der Löwe von Luzern. Roman von Philipp Galen.
Fünf Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 8 Zhlr. 10 Nr.
Ueber Philipp Galen fteht das Iiterarifche Urtheil be⸗
reits ziemlich fett. Er hat alles, was ihn zum Handwer⸗
fer, aber leider nichts, was ihn zum Künftler mad.
Sein nenefter Roman ift nicht beſſer und nicht ſchlechter
als frühere Arbeiten: roh in der Conception und roh in
der Ausführung. Es ift darüber nicht viel zu fagen.
. Zwei junge Kaufleute, Schweizer von Geburt und
ungertrennliche Freunde, Werner von Altftetten und Urs
nold Halder, treten, nachdem fie längere Zeit in Rio
conditionirt und dort mancherlei Abenteuer, unter anderm
mit einem gewifjen Pinto Machado, beftanden haben, als
erfte Commis in das Bankhaus Irminger, Koch und Comp.
in Luzern. Beide find wahre Mufter von Tüchtigkeit
und unterfcheiden ſich voneinander nur durch die verfchie-
dene Individualität. Arnold ift vom Verfaſſer prädefti-
nirt, fpäter Löwe von Luzern, alfo auch Löwe bed Ro—
mans zu werben; mithin muß er ein Ritter fonder Furcht
und Tadel fein. Das ift er denn auch, während fein
Freund Werner mehr ald Mond diefer Sonne fungirt.
Er dient durchgängig zur bloßen Folie. Nun fügt es der
Zufall, daß Pinto Machado nad) Luzern kommt und Hrn.
Irminger um 100000 Francs betrügen will. Die beiden
Freunde, zumeift Arnold, vereiteln das auf fehr fchlaue
Meile, verfolgen den flüchtenden Pinto Machado und
nehmen ihn auf dem Wetterhorn feſt. Er wird nad) Lu⸗
zern zurüdgebradht, entfpringt aber in einer Sturnmacht
ans dem Gefängnig und verübt einen Einbrud im Ir»
minger’f—hen Comptoir. ‘Die beiden Freunde ertappen ihn
dabei und werden in bem fich entipinnenden Kampfe ſchwer
verwundet. Nachdem fie genefen, beirathet Arnold Hrn.
Irminger's Tochter, Werner eine Freundin aus Rio,
die durch wunderbare Verkettung der Umftände gleichfalls
nach der Schweiz gelommen und zu Irminger’8 Familie
in nähere Beziehungen getreten ift. Arnold und Werner
werben darauf Irminger's Compagnons und leben, wie
der Berfafler verfihert, noch heute munter in Luzern.
Das ift der Kern, die Handlung des Romans, alles
übrige Erpofttion und Epifode. Und zur Darftellung
diefer bedeutungslofen Fabel brauchte der Verfaſſer fünf
dide Bände von zufammen mehr ald 100 Druckbogen!
Der Roman hat außer feinem Selbſtzweck auch noch
die Beftimmung, als Bädeker für Schweizerreifende zu
dienen. Alle Wirthe, bei denen Galen einmal gewohnt
und preiswürdig gegeflen bat, find mit Namen genannt,
ebenfo die tüchtigften Bergführer; auch erhält man bie
genaue Befchreibung aller fehenswerthen Punkte in und
um Interlafen. Zu den lettern gehört auch eine gewilte
„Philipps Bucht”, welche, wie die unter dem Text befind⸗
liche Anmerkung bejagt, „ihren Namen von einem Schrift.
fteller trägt, der, wenn er in Interlafen weilte, bier gern
ſaß und morgens zu arbeiten pflegte. Um ihn zugleich
zu ehren und zu erfreuen, haben feine interlafener Fremde
diefem Platz jene Bezeichnung nad) feinem Bornamen zu⸗
theil werden laſſen.“
Brave Interlakener, die das DVBerdienft anzuerkennen
wiſſen! Oskar Eisner.
4 .o
Uaturwiſſenſchaft und religiöfer Glanbe.
GBeſchluß aus Nr. 32.)
1. Die freie Naturbetrachtung gegenübergeftellt der materiali-
flifchen Lehre von Stoff und Kraft. Wegweifer zum Frie-
den zwiſchen Ehriftentbum und Naturwiſſenſchaften mittels
unparteiiſcher Benttheilung des Dr. 2. Büchner'ſchen Werke
„Kraft und Stoff”. Bon Jonas Rudolf Stroßeder.
Hr alle Gebildete., Augsburg, Kollınann. 1869. 8. 25 Ngr.
3. Die Darwin'ſche Theorie und ihre Stellung zu Moral und
Religion. Fünf Vorträge von G. Jäger. Stuttgart, Thiene⸗
mann. 1869. Gr. 8.- 21 Nur.
Ganz anderer und befjerer Art, ald Stroheder's, ift
Yüger’s Verföhnungsverfuh: „Die Darwin'ſche Theorie
und ihre Stellung zu Moral und Religion” (Nr. 2) zwi-
ſchen Glaube und Wiſſenſchaft, zu dem wir nun übergeben.
Zäger läßt fi micht anf dogmatifche Fragen ein,
fondern er fragt vom Darwin'ſchen Standpunlt aus nad)
dem Werth der Religion in dem Kampfe um das Dafein.
Der Darmwinianer, jagt er, unterfucht Folgendes: Was
leiftet die Religion für die Bildung und BVertheidigungs-
fähigkeit der Gefelfchaft, was Ieiftet fie für die Vervoll⸗
fommnung und die Vertheidigungsfähigkeit des einzelnen ?
Er wird ſich nie einlaffen auf dogmatifche Spitzfindigkei⸗
ten, nie darüber ftreiten, ob die Formulirung eines reli-
giöſen Dogmas die Kritik objectiver naturwifjenichaftlicher
Prüfung beſtehen kann, fondern er unterfucht ganz einfach:
welche Rolle fpielt die Religion für die Dienfchen als
Waffe im Kampf ums Dafein, inwiefern fteht fie im
Dienfte des höchſten Naturgefeges fiir belebte Weſen, in
dem des Gelbfterhaltungstriebes? Mit einem Wort, in«
wiefern ift fie praftifch?
Naturwiſſenſchaft und religiöfer Glaube.
Bon diefem ntiliftifchen Standpunlt aus nun geht
Züger die Naturreligionen und die ethifchen Neligionen
durch und kommt zu dem Kefultat, nicht nur daß die
Religion im allgemteinen eine Waffe in dem Kampfe um
das Dafein ift, fondern auch daß die chriſtliche Religion
im Bergleid) mit allen andern Weligionsformen hierin
das Höchſte leiſtet durch Proclamation der Nächftenliebe
and Beſeitigung bed Particnlarismus:
Mit der Proclamation der Nächſtenliebe wurde das In⸗
dividunm frei, denn fie verbietet den Zwang, damit war dem
Geſetz der individuellen Bariation, dem Princip der Freiheit
volle Rechnung getragen, und an Stelle des genealogifchen Or⸗
genifationsprincips mußte mit Naturnothwendigkeit die Orga⸗
niſation auf Grund der Arbeitstheilung treten. Weiter war
mit der Proclamation der Nähftenliebe auch die Abfchliefung
ach außen befeitigt; die Religion war nicht mehr bie eines
inzelnen Staats, eines beflimmten Dolls, fie wurde Welt.
religion, und damit war die Möglichkeit zur Bildung von Welt-
reichen gegeben. Das Chriftenthum wurde, mie fein Gründer
fagt, zum Sauerteig, der in die Welt geworfen wird.
Doch nicht blos durch Proclamation der Nächitenliebe
und Bejeitigung des jüdischen Particularismus, fondern
auch durch feine Unfterblichkeitslehre ift das Chriftenthum
nach dem Berfaffer eine werthvolle Waffe in dem Kampfe
am das Dafein. Den gleichen Werth, wie das Eigen-
thum für die individnelle Vervollkommnung und für bie
Drganifirung der Geſellſchaft Hat, Habe auch die Lehre
von ber Unfterblichleit. Denn mit bem Gebote der chrift-
Iihen Religion: „Der Menfch foll forgen für feine uns
fterbliche Seele”, trat neben dem leiblichen Selbfterhal-
tungstrieb der geiftige; die bisher gewiflermaßen unbewußt
ſich vollziehende Vervollkommnung der wichtigften Waffe
des Menjchen im Kampf ums Dafein wurde jegt zum
Gegenftand einer felbftbewußten Thätigfeit gemacht, der
Menſch gezwungen, ſich ftets feine fittlihen und intel«-
Tectuellen Aufgaben gegenwärtig zu halten und feine Hand—
lungen unter fittliche Eontrole zu ftellen. Diefe Anſpan⸗
nung bes Denkvermögens war das ficherftie Mittel zu
einer Vervollkommnung defjelben. Ferner, durch den Sag,
daß der Menſch eine unfterbliche Seele befige, wurde bie
gegenfäßliche Stellung des Menſchen gegen bie Natur
auf den höchſten Ausdrud gebradt. Damit war vie
Kluft, die den Menfchen von der Natur trennt, um eine
große Spanne erweitert und die Waffe, bie der Menſch
gegen fie führt, fein Dentvermögen, zur höchſten Schärfe
geichliffen. Endlich war die Lehre von der Unfterblichkeit
fir die Organifation und den Zufammenhalt der Gefell-
{haft von bedeutendftem Werth. Der Tod, der das In-
Dividunm aus der Gefellfehaft reift, berge eine gewiffe
Gefahr fr den Beftand derfelben, infofern als der ein⸗
zelne dadurch in Berfuchang kommen kann, bie Pflichten,
die ihm die Geſellſchaft auferlegt, nicht mehr für rechts⸗
verbindlich zu halten, wenn das Leben feinen Werth mehr
fie ihn hat, oder wenn er den Tod als ihm ohnedies
nahe bevorſtehend weiß. Zur Befeitigung diefer Gefahr
nun kennt der Berfafler fein wirffameres und einer all
gemeinern Anwendung fühiges Mittel als die Lehre von
der Unfterblichteit, melde an jeben die Forderung ftellt,
fo zu handeln, als ob er ewig lebte und fiets für fein
Thun und Laſſen zur Rechenſchaft gezogen würde. Ein
weiterer Vortheil der Unfterblichfeitsiehre fei diefer. Jede
organifirte Geſellſchaft verlange unter Umftänden von
523
ihren Mitgliedern Opfer, und deshalb fei eine Lehre,
welche die DOpferfühigkeit fteigert, der Geſellſchaft nützlich.
Die Forderung des Opfers Tönne fich fleigern bis zur
Forderung des Opfertodes. In diefen müſſe der einzelne
aber fo freudig gehen Yünnen als die Ameife, die fich
erfäuft, um mit ihrem Leib ihren Genoffen eine Brüde
zu bauen. Könne e8 nun wol etwas Einfacheres, Ziwede
mäßigeres, weil allgemeinfter Anwendung Fühiges geben,
um den Mitgliedern einer Gefellfhaft Opfermuth und
Opferfreudigfeit zu geben, als bie Xehre von der Unfterb-
Iichteit, welche dem Tode feine Schreden nimmt und den
Lohn für die gebrachten Opfer in fichere Ausficht ftellt ?
Die Einwendungen, die ſich hiergegen erheben, ver»
hehlt fich der Berfaffer nicht; aber er glaubt fie wider»
legen zu können. Zuerft die Einwendung, daß man ja
auch durch Unterweifung in Völker» und Eulturgefchichte,
durch Auseinanderfegung der gefelfchaftlichen BVerhältnifie
den Menſchen die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit
des Dpfers beibringen und fo das Wiſſen an die Stelle
des Unfterblichleitöglaubens, der doch eine naturwiffen-
ſchaftliche Unrichtigkeit enthalte, fegen künne Dem gegen«
über weift der Berfafler auf die Unmöglichkeit bin, allen
Mitgliedern der menfchlihen Geſellſchaft eine folche Unter-
weifung angedeihen zu lafien, dann darauf, daß dieſe
Art der Unterweifung viel zu abftract fei, um in ber
Zeit des Unterrichts, der Jugend, anmendbar zu fein.
An dem Gefühlsmenſchen — und das fer jeder Menſch
in der Zeit, wo er zum Menjchen erzogen werben foll —
pralle ſolche nüchterne abftracte Unterweifung ab. Auh
bleibe die Hälfte der Menſchen, das weibliche Gefchlecht,
zeitlebens Gefühlsmenfchen. Die Cultur des Gefühls,
welche in dem Familienleben eime fo wichtige Rolle fpiele,
könne durch Feinerlei nüchterne Unterweifung zu Stande
gebracht werden, fondern nur durch die Lehre von der
perfünlichen Unfterblichfeit. Ueberhaupt gewinne die Re—
ligion durch ihre Perfonificationen, alſo auch durd) die
Lehre vom perfünlihen Gott und ber göttlichen Perfon
Chriſti, Zutritt dahin, wohin fie Abftractionen nicht finden
fönnen: in das Herz der Mutter und das Herz des Kin—
des. Weiter feien es gerade die Perfonificationen, denen
wir die Wedung und Ausbildung derjenigen Seite des
menſchlichen Denkvermögens verdanken, die uns nicht nur
in den Momenten, wo wir audruhen im Kampf ums
Dafein, das Leben verfüßt, fondern die felbft der For⸗
cher nicht entbehren kann — der Phantafie, jenes un⸗
erfchöpflichen Borns für Kunft, Poeſie und echte Wiflen-
haft.
Diefen ungeheuern Vortheilen gegenüber, meint der
Berfafler, habe der Einwand der Materialiften, daß die
Lehre von der perfünlichen Unfterblichfeit vor der Kritik
ber Naturforfchung nicht beftehen könne, kein Gewicht.
Der Berfafler bemüht fich nachzumeifen, daß feiner, fei
er Gelehrter, Politiker, Gefchäftsmann oder was immer,
bes- Glaubens entbehren könne, des Glaubens nämlich als
einer „gewifien Zuverficht dei, das man Hoffe, und nicht
zweifelt an dem, das man nicht fiehet‘. Auf allen Ge⸗
bieten ſei diefer Glaube „die Fauſt, welche die Waffe im
Kampf ums Daſein ſchwingt“. Auf den Einwand ber
Gegner, e8 komme doch aber auf den Inhalt des Glau⸗
bens an, auf das, was man glaubt, entgegnet er: Wenn
66 *
mi Zur
v
524 Naturwiffenfhaft und religidfer Glaube.
der Inhalt des Glaubens von höchſtem praktifchen Werth
für den einzelnen und die Geſellſchaft ift, wie dies mit
den Lehren des Chriftentbums ber Fall fei, wer wolle
einen Stein auf ihn merfen? Der Berfafler ſcheut von
diefem feinen Standpunft aus fogar vor der Billigung
des gegen die Naturforfhung verftoßenden Wunderglan-
bens nicht zurüd. Auch der Wunderglaube, richtig an-
gewendet, fei eine Waffe in dem Kampf ums Dafein.
In Fällen der höchften Noth, mo das Denkvermögen des
Menfchen Feine Rettung mehr fieht, werde der, welcher
den Glauben bat, daß ihm ein Netter nahe, und felbft
durch ein Wunder, feine Außerften Kräfte anftrengen und
dann ficher im Kampf ums Dafein noch eher Rettung
finden al® der, welcher verzweifelnd zum Gelbftmorb
ſchreitet. Inſofern alfo der Wunderglaube eine Waffe
im Kampf ums Dafein ift, welche in Fällen, wo alle
andern Waffen verfagen, nicht im Stich läßt, dürfe man
ihn nicht angreifen. Nur da, wo der Wunberglaube bie
Energie der Selbftvertheidigung lähmt, wo er zum fata-
liſtiſchen Ouietismus führt, fei er zu verwerfen.
Auf diefe Weife, durch Sonderung des theoretischen
und praktiſchen Standpunftes, glaubt der Berfafler Wif-
fen und Glauben miteinander verjöhnen zu können. Seien
die religiöfen Dogmen auch keine wiflenjchaftlichen Wahr-
heiten, fo feien fie doch unentbehrliche Waffen in dem
Kampf ums Dafein, alfo praftifch werthrol. Da nun
nach der Darwin'ſchen Theorie die Erhaltung und Ber-
vollfommmung in dem Kampf ums Dafein durch verbeflerte
Organe oder Waffen die wichtigfte Rolle fpielt, fo glaubt
der Verfaſſer bewiejen zu haben, daß die Darmwin’fche
Theorie den Lehren der Religion nicht zuwider fe:
Ya nicht nur das: während bisher Naturforscher und Theo⸗
logen vergebliche Anftrengungen machten, eine ehrliche Verjöh-
nung zwiſchen Religion und Naturforfhung zu Stande zu brin-
gen, reißt die Darwin’sche Lehre beide aus dem unfruchtbaren,
feine Berföhnung zulaffenden Irrgängen der Dogmatik herab
auf den nüchternen Boden der Praris, auf dem eine Berfländi-
gung bei ehrlichem Streben und Abftreifung vechthaberifcher
Unduldfamleit leicht zu finden if.
Die Haupturſache des Streites zwifchen Naturwifjen-
Schaft und Theologie befteht nach dem Verfaſſer in der
Verwechſelung von objectiv und fubjectiv, ın der Un-
fähigkeit, den objectiven und fubjectiven Standpunft aus-
einanderzuhalten. Immer werbe ein gewijjer Wiberfpruc)
zwijchen objectiver Beurtheilung und fubjectiver Pflicht
ber Selbfvertheidigung beftehen. Bor objectiver Betrach⸗
tung werden die Afpirationen des Selbfterhaltungstriebes
Binfällig; andererfeit8 zwinge der Gelbfterhaltungstrieb,
der höchſtes Geſetz für Lebende Wefen ift, den fubjectiven
egocentrifchen Standpunkt einzunehmen. Der Aftronom
als Dann der Wiflenfchaft müfle ſich auf den heliocen-
triſchen Standpunkt ftellen; allein fobald er ſich auf den
Boden der Praris begibt, fobald er die Aufgabe erhält,
dem Menjchen eine Waffe in dem Kampf ums Dajein
zu jchmieden, ihm einen Kalender zu machen u. f. w., fo
mäfje er fich fofort anf den geocentrifhen Standpunkt
ftellen, er muß den fcheinbaren Lauf der Planeten berechnen,
in feinem Kalender muß die Sonne fi) bewegen, d. h.
auf⸗ und untergeben, u. |. w. In der gleichen Lage fei
der Zoolog. Der objectiven miflenfchaftlihen Zoologie
gelte der Menſch nicht mehr als der Maikäfer. Allein
wenn beim Vortrag der angewandten Zoologie der Zoolog
fi) für das objective Recht des Mailäfers auf unfere
Obſtbänme, für die Berechtigung ber Flöhe ımd Wangen,
unjer Blut abzuzapfen, ereifern wollte, fo würde ihn fein
Auditorium auslachen. Sobald es fi für den Zoologen
darum bandle, dem Menſchen eine Waffe in dem Kampf
gegen das Ungeziefer zu fchmieden, müſſe er den objectie
ven Standpunkt verlaffen und fi) auf den fubjectiven,
anthropocentrifchen ftellen.
Es ift nun nad) dem Berfaffer ein trauriger Beweis
mangelhafter alademifcher Bildung, wenn Theologen und
Naturforicher gegeneinander ftreiten, weil fie jenen Unter-
ſchied zwilchen objectiv und fubjectiv verfennen. Witrden
ſich Naturforſcher und Theologen das bargelegte, höchft
einfache Verhältniß zwifchen der objectiven Forſchung und
der jubjectiven Religion ſtets vor Augen: halten und ſich
nicht zu einer wenig Ingenium verrathenden Berwechfe
lung von objectiv und fubjectiv Hinreißen laſſen, dann
hätten fie ebenfo wenig Urſache, miteinander zu zanfen,
als der wiſſenſchaftliche Aftronom und der Kalendermader,
oder al8 der willenfchaftliche Zoolog und der Docent der
landwirthfchaftlichen Thierkunde.
Schließlich faßt der Berfaffer die Stellung des Dar⸗
wintanerd in folgenden Süßen zufammen:
Der Darwintaner ftellt ſich mit Ueberzeugung auf den
Boden des Chriftentfums, an die Seite des praftifchen
Seelſorgers, und vertheidigt die Grundlagen des Chri-
ſtenthums.
Er kämpft gegen die Unduldfamkeit nach zweierlei
Richtungen: er vertheidigt die objective Forſchungsmethode
des Naturforfchers gegen diejenigen Theologen, welche ihn
zwingen wollen, nur den fubjectiven Standpunkt einzu=
nehmen, und vertheidigt den anthropocentrifcehen Stand»
punkt der Religion gegen die unduldfamen Parteien unter
den Naturforfchern und Philofophen, welche dem Men-
ihen Berziht auf bie GSefbftvertHeidigung aufnöthigen
wollen, indem fie ihm zumuthen, ſich auf den objectiven
Standpunft zu ftellen.
Weiter kämpft er gegen den Fatalismus, möge er
wurzeln, mo er molle.
Er kümpft gegen jede faule Legalität, welche fich den
Vorderungen, welche die Geſellſchaft an ihre Mitglieder ftellt,
entzieht und den Menſchen zum Baraftten in der Gefell-
Schaft herabwürdigen will.
Er verdammt ben Ignorantiömus, weil er die Ueber⸗
zeugung bat, daß Unwiſſenheit noch niemals eine Waffe
im Kampf ums Dafein war.
Er ſtemmt fich gegen den Imdifferentismus, der eine
Gefahr ift für die Geſellſchaft; er verlangt von jeder-
mann, daß er fein Willen und feinen Glauben einige zu
einer Ueberzeugung, die für ihn eine nie verfagende Waffe
im Kampf ums Dafein fei.
Da aber bei den verfchiebenen Menſchen weder Wiffen
nod Glauben vollfländig gleich befchaffen fein können, fo
verlangt er auch Freiheit der Ueberzeugung; er haft auf
diefem Gebiet das Yauftreht, den Terrorismus der
Ueberzeugung und verweilt auf die Geſetze der indivi«
duellen Variation.
In einem Anhange ſucht Yäger noch mehrere Ein-
würfe, die gegen feine Vorträge — fein Buch befteht
Naturwiffenfehaft und religiöfer Glaube. 525
nämlich aus Vorträgen, die er gehalten — privatim und
halb öffentlih gemacht worden, zu widerlegen. Er er-
widert feinen Gegnern, welche meinten, feine naturwiffen-
fchaftliche Anfhauung bringe e8 nicht mit fih, alle in
ber chriftlichen Religion aufgeftellten Lehren von Gott
anzuerfennen:
Allerdings nit. Die Gründe diefer Anerkennung find
auch nicht naturwifjenfchaftliche, fondern rein menfchliche. Ne-
ben meiner Eigenſchaft als Naturforfcher bin ich auch Menſch,
Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft, und als ſolches verichließe
ih) mich nicht der Erkenutniß, daß ber einzelne Menſch und die
menſchliche Geſellſchaft fittlihe und intellectuelle Bedürfnifſe
bat, denen nad) meiner vollften Weberzeugung auf Teine andere
Art Genüge gefchehen kann, als durch den Glauben an einen
Gott. Ihr, die ihr die Religion für einen überwundenen Stand-
punkt erflärt, vergeßt, daß ihr Philoſophen und Naturforjcher
zur kraft des Umftandes jeid, daß ihr zuerft Menſchen gewor⸗
den, und wenn ihr euch im jene ‘Periode eures Lebens zurlid-
denken könnt, fo werdet ihr finden, daß ihr diefe erſte Erziehung
der Religion verdanft. . . . Eine Moral ohne Religion ma
fih als PBaradedegen recht gut ausnehmen, aber wenn Not
an Maun gebt, umd ihr vom Leder ziehen follt, fo zieht ihr
eine Pfauenfeder aus der Scheide, ein Ding, das nicht Haut
und nicht fit. So probirt’8 doch einmal, wenn ihr Kinder
haben werbet, und jagt ihnen vor, fie jollen brav und tugend⸗
Haft fein! Ihr werdet bald fehen, daß das nicht verfängt; aber
erzählt ihnen vom lieben Bater im Himmel, ber ins Berbor-
gene fieht, vom heiligen Chrift, der fte befchenft, und von den
Engeln, die fie beihirmen — dann merbet ihr am leuchtenden
Auge bemerfen, daß das ins Herz trifft, und daß Religion
das gprige Mittel iſt, um den Menſchen zum Menſchen zu
erziehen.
Auf den Einwand der Gegner: „Nun, da haben wir’s
ja, gut für Weiber und Kinder!“ erwidert Jäger:
Wäre das nicht allein genug, um bie Religion allen An-
fehtungen zu entziehen? Wenn ihr anerkennt, daß Weiber und
Kinder fie brauden, dann müßt ihr felbft ſofort Gebraud von
ihr maden, fo lange ihr Kinder feid, wenn ihr Weiber und
Kinder habt. Mithin kann fie niemand entbehren, der ſich
nicht zum dürren Zweig am grünenden Baum der Menjchheit
verdammen will.
Aus allem Angeführten ift zu erfehen, daß, was
Jäger anftrebt, nicht eigentlich eine Verſöhnung zwifchen
Glauben und Wiffenfchaft ihrem Inhalt nad) ift, fondern
eine Berföhnung zwifchen Gläubigen und wifjenjchaftlichen
Forſchern. Jäger fieht jehr wohl ein, daß der objective,
heliocentrifche Standpunkt der Naturwiffenfhaft und ber
fubjective, egocentrifche des religiöfen Glaubens einander
widerftreiten, daß ebenfo die naturwifjenfchaftliche Lehre
von der unverbrüchlichen Gefegmäßigfeit der Natur und
ber religiöfe Wunderglaube einander wibderftreiten. Es
fommt ihm daher auch nit in den Sinn, beide ihrem
Inhalt nad) vereinigen und verfühnen zu wollen. Aber
bie Unvereinbarfeit des fubjectiven Inhalts des Glaubens
mit dem objectiven der Wiffenfchaft ift nah ihm noch
fein Grund, ben Glauben zu verwerfen, anzufeinden und
zu vernichten. Denn es können nicht alle Menſchen auf
dem Standpunkt der Wiſſenſchaft flehen, können nicht
alle des Glaubens entbehren. ‘Diefer ſei vielmeht ein
wichtiges Erziehungsmittel fiir einen großen Theil der
Menfchheit.
Mit diefer pädagogifchen Auffaffung der Religion
fünnen wir uns im allgemeinen einverftanden erklären.
Auch, Leffing Hat ja in feiner „Erziehung des Menfchen-
geſchlechts“ die Religion ähnlich aufgefaßt. Aber aus
diefer Auffafjung folgt and erftens, daß das Erziehungs⸗
mittel von allem gereinigt werden muß, was dem Zweck,
fiir den es die Menſchen erziehen und bilden will, Hin-
derlih ift, daß alfo alle jene Dogmen der Religion, die
für den Einzelnen, fowie für die menſchliche Geſellſchaft
entfchieden nachtheilige, dem phyfifchen und moralifchen
Wohl entgegenwirkende Folgen haben, aus dem religiöfen
Belenntniß ausgemerzt werden müſſen. Schonung gegen
diefe Dogmen wäre nicht blos unwiſſenſchaftlich, ſondern
unftttlih. Ein die menfhlihe Entwidelung hemmender
Dffenbarungs- und Iufpirationsglaube, ein die menfchliche
Selbftthätigfeit und Selbfthülfe lähmender Wunderglaube,
ein vom Dieſſeits und feinen Interefjen völlig abziehender,
auf das Jenſeits verweifender und vertröftender Unfterb-
lichkeitsglaube ftreifen an jene ebenerwähnte Grenze.
Nur diejenigen Dogmen find zu ſchonen, die in ihrem
mythiſchen Gewande heilfame Wahrheit enthalten.
Zweitens folgt aber auch, daß das religiöfe Erziehungs-
mittel nicht länger feftgehalten werden darf, als bis der
Zögling fähig ift, bie ihm in mythifchen Gewande mit-
getheilten Wahrheiten rein, in Form vernünftiger Gedanken
zu faffen und zu beherzigen. Ich erinnere nur an fol-
gende Ausfprüche Leſſing's:
Ein Elementarbuch für Kinder darf gar wohl dieſes oder
jenes wichtige Stüd der Wiffenfchaft oder Kunft, die es vor-
trägt, mit Stillfhmweigen libergehen, von dem der Pädagog ur-
theilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für die er fchrieb,
noch nicht angemeffen ſei. Aber es darf fchlechterdings nichts
enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltenen
wichtigen Stüden verfperre oder verlege. Bielmehr müfjen
ihnen alle Zugänge zu denfelben forgfältig offen gelaffen wer«-
den, und fie nur von einem einzigen diefer Zugänge ableiten,
oder verurfachen, daß fie denfelben jpäter betreten, würde allein
die Unvollftändigfeit des Elementarbuchs zu einem weſentlichen
Fehler defjelben machen ... Jedes Elementarbuch ift nur für
ein gewiffes Alter. Das ihm entwachfene Kind Tänger, als bie
Meinung gewejen, dabei zu verweilen, iſt ſchädlich.... Die
Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Bernunftwahrheiten ift
fchlechterdings nothwendig, wenn dem menſchlichen Geſchlechte
damit geholfen fein ſoll.
Diefe Säge aus ber „Erziehung des Dienfchengefchlechts
follten fich ſtets diejenigen gegenwärtig halten, welche
beftrebt find, zwifchen Glauben und Wiffenfchaft Frieden
zu ftiften. Julius Srauenflädt.
526 Bom Büdertifg.
Dom Büchertiſch.
1. Deutſchland. Eine perisdifhe Schrift zur Belenchtung
deutfchen Lebens in Staat, Geſellſchaft, Kirche, Kunft und
Wiſſenſchaft, Weltgefhichte und Zukunft. Im Vereine mit
mehrern beransgegeben von W. Hoffmann. Erſter Jahr⸗
gang. 1870. Erfter Band. Berlin, Stille und van Muhden.
1870. Er. 8. 2 Thlr.
Den Reigen ber Hier zu beiprechenden Werke eröffnet
ein neues Unternehmen, das fi in zwanglofen Bänden
das Ziel einer Revue der verjchiedenen Gebiete des Eul-
turlebens zu ſtecken fcheint. Zu unferer nicht geringen
Verwunderung beweift der als theologifche Eapacität be-
kannte Herausgeber in dem einleitenden Wort „Deutſch⸗
fand“ eine fo überrafchend eingehende und überfichtliche
Kenntniß der Phyfiologie deutſchen Landes und Lebens,
eine fo gründliche Würdigung gefchichtlicher Proceſſe, daß
wir ihm zu diefer Bielfeitigkeit nur gratuliven können.
Im übrigen läßt das Unternehmen die orthodore Kid)
tung feines Herausgebers viel weniger hervortreten, als
zu erwarten war. Während Hoffmann faft nirgends den
thatfächlichen Boden der Geſchichte, deren Kenner er ift,
verläßt, leiftet ein anderer Mitarbeiter, von Bethmann⸗
Hollweg (der frühere Eultusminifter?), in jeinem Aufjag:
„Sdealismus und Realismus in Staat und Kirche‘, in
der kirchlichen Polemit bedeutend mehr. Die Thatfachen
fpielen in jenem Artikel eine ſehr fecundäre, die fubjec-
tiven Anfchauungen eine fehr große Rolle. Einen Aus»
fprudy) wie den folgenden würde ein verftändnißreicher
Hiftorifer, würde felbft der ftrengkicchliche Hochtory Hoffe
mann nit thun: „ES fehlt nur, daß auch des Eng-
ändere Budle Leugnung des freien Willens in ber Ge-
ſchichte und ihre ftatiftifche Zurücdführung auf Naturgefege
bei und importirt und zur Herrſchaft gebracht wiirde,
um unter dem Trugbild falfcher Eivilifation alle Grund»
lagen echter Eulturentwidelung zu zerflören.” Das klingt
benn doc) mie ohnmächtiger Zorn gegen eine mächtige
Theorie neuerer Gefchichtöforfchung, ‚wenn Bethmann-
Hollweg, der übrigens biblifche Citate alle Augenblide in
den Mund nimmt, fi) jo ausdrüdt. Einen viel erfreu-
lichern Eindrud macht Roſcher's Unterfuchung „Ueber die
Anfünge des Zollvereins‘, eine, wie von dem berühmten
Berfafjer zu erwarten war, höchſt gründliche inftructive
Arbeit. Rofcher ftellt den badifchen Staatsmann Nebenius
in dem mit reichem Material genarbeiteten Aufſatz geradezu
als eigentlichen Urheber des SZollvereins bin. Die „Urs
fachen der gegenwärtigen Misftimmung wider bie Kirche‘
werden von dem Serausgeber einer eingehenden Prüfung
unterworfen, die durchaus nicht blind gegen das richtige
Berhältnig von Urſache und Wirkung ift und ſich be=
rechtigten Yorderungen der Gegenpartei nicht verfchließt.
Auf ein anderes, auf das äfthetifche Gebiet leitet ber
Eſſay: „Goethe und die deutfchen Frauen von einer deut⸗
Shen Frau“, der ſachgemäß und mit einer gewiſſen Be⸗
baglichkeit an pfychologiſcher Motivirung gefchrieben ift.
Ein Seitenftüd zu den hyperorthodoxen Erpectorationen
Bethmann⸗Hollweg's bildet der „apologetifche Verſuch“
A. F. Fürer's über „Naturwiſſenſchaft und Heilige Schrift”.
Wie jede Apologie immer eine Polemik in ſich ſchließt, fo
ift e8 bier natürlich der „Fortſchritt“, fpeciell der der eracten
Willenfchaften, der gegenüber dem Autoritätsglauben berbe
Diebe ausgetheilt erhält; wenn dieſe Hiebe nicht fo ziellos
wären und die Anfichten des Verfaffers ein Duentchen
weniger confus wären, würde das oft Richtige in diefem
Verſuch weniger unter dem Wuft theologijcher Borurtheile
ber buchftabengläubigen Art begraben werden. Selbſt auf
die Gefahr hin, für einen der „ungefchneuzten Jungen‘
gehalten zu werden, auf die Fürer fo fchlecht zu ſprechen
ift, müflen wir ihm feurige Kohlen auf fein Haupt fam-
meln, indem wir ihm minfchen, feine Predigt über den
Tert des wiflenfchaftlihen Unglaubens möge nie in bie
Hände eines naturwifjenjchaftlihen Yachjournals kommen:
fie würde unbarmherzig von dem kritifchen Mühlrade
zerftampft werden. Die „Deutjchen Briefe” von Germanus
Sincerus find mit ihrer nationalen Tendenz doch viel
erquidlicher als ber Leichtſinn zu leſen, mit bem ber
Autor des „apologetifchen Verſuchs“ die Tinte und das
ſehr fchöne Drudpapier verfchwendet hat.
2. Die Schnle der Hierardjie und des Abjolutismus in Preußen.
Eine Bertheidigung des Zreimaurerbundes wider die Angriffe
ber „höchſtleuchtenden“ Großen Landesloge der Freimaurer
von Deutihland. Bon I. ©. Findel. Leipzig, Yindel.
1870. ®r. 8 9 Nor.
Germanus Sincerus muß wol unrecht haben, wenn
er für Preußen und fein Herrjchergefchleht fi) jo ein⸗
genommen zeigt. Nach Windel fcheint e8 mit der Frei⸗
maurerei und reigeifterei in Preußen doch ziemlich ſchlecht
auszufehen. Kaum bat fid) die Erde über Hengjtenberg
gefchloffen, und der proteftantifche Papft von Preußen
muß fih ſchon von einem Theile der Yreimaurer fehr
flarfe Dinge jagen laſſen. Mit der freimaurerifcher
Literatur, zu ber Findel fehr Vieles und Tüchtiges bei-
getragen hat, ift e8 ein eigen Ding. „Ihre Beſprechung
entzieht fi) den Grenzen ber Yournale, da die Frei-
maurerei in ihrer Abgeſchloſſenheit unter den nicht frei«
maurerifchen Recenſenten unmöglich auf Sachverſtäündniß
und Unparteilichkeit rechnen kann. Eine Sache, die ſich
dem Zeitalter zum Trotz noch immer in die Geheimmiß⸗
thuerei des Zeitalters der Aufklärung Hält, gehört nicht
vor das Forum einer Zeit, bie ihre Aufklärung nicht in
myſtiſchen Formen, fondern in freier Debatte zeitgemüßer
Tragen ſucht, die ihre humanitären Zwede nicht durch
Geheimbünde, fondern durch thatkräftige Unterftigung der
Deffentlichkeit gefördert fehen will. |
3. Charabteriſtiken und Kritiken, betreffend die wiffenfchaftlichen,
religiöfen und fociolen Denkarten, Syſteme, Brojecte umd
Zuftände der neueſten Zeit. Nebſt pofitiven Erörterungen
und Nachweiſen von G. 5. Daumer. Hannover, Rümpfer.
1870. ©®r. 8. 24 Ngr.
Der alte rüftige Federkämpe regt fi) wieder, diesmal
um eine Polemil gegen die Auswüchfe des Materialismus
loszulaſſen, bie indeß nirgends perſönlich wird und meift
zu motiviren verſteht. Die Partei ber Gegner bes
Materialismus wird auch unter den Nichttheologen von
Zag zu Tage größer, und auch die große Menge betet
niht mehr fo unbedingt den Ausſprüchen ber Führer
nah. Beſonders erhält Büchner arge Hiebe von dem,
freilich einer Hinneigung zum Myſtiſchen im Menfchen-
Feuilleton. 527
leben ergebenen Berfaffer vorliegender „Charakteriſtiken
und Kritiken“. Die materialiſtiſch-darwiniſtiſche Welt-
anfhauung wird mit Beziehung auf Häckel's „Natürliche
Schöpfungsgefchichte einer wenig ftichhaltigen kritiſchen
Prüfung unterworfen. Deögleichen wird Buiffon’s „Freies
Chriſtenthum“ und feine „” Kirche der Zukunft” zum
Gegenftand einer Correſpondenz mit einer Dame. Diefe
Dame muß indefjen in unferer Literatur nicht jehr be=
wandert fein, da Daumer ihr Heine's Gedicht „Frieden“
(aus den „Rordfeebildern‘) als etwas ganz Neues prüs
ſentirt. Ein Lieblingsthema des Autors, „Anfichten über
Seele, Geift und Schidfal des Menſchen nach dem Tode”,
findet zu unferer Berwunderung auf nur fechs Seiten
feine Erläuterung. Mehr fachlicher und eingehender Na-
tur find die Heimen, „Die Wunder der Natur‘ betitelten
Auffäge, die fich befonders mit intereflanten Regenerationd«
erörterungen bei Thieren befafjen. Was die junge Gene—
ration Europas und Amerikas betrifft, über die Daumer
viel zu ſchwarz fieht, ‚fo würde die Statiftif dem beliebten
Zeter Mordio, das man über die Entartung der heu-
tigen Jugend anzuftimmen geneigt ift, bei genauerer Zu-
ziehung energiſchen Einhalt gebieten.
Fenilleion,
Notizen.
Die Säcularfeier Hegel's, welde am 27. Auguft diejes
Jahres flattfinden ſollte, ift infolge des großen beutfd-franzöfl-
fen Kriegs vertagt worden. Einen Philofopken zu fetern, der
feit Tängerer Zeit nicht mehr wie früher im Mittelpunfte dev
geifligen Bewegung ftebt, fondern von den verfhiedenften Fah⸗
nenträgern vderjelben beifeitegefchoben wird, erlaubt eine kriege⸗
rifch bewegte Zeit nicht, deren Theilnahme used von
dem nationalen Kampf in Anfprud genommen wird. Gleidj-
wol ift die Philofophie Hegel's keine Sriebenöphitofophit, beren
Feier in einer Kriegsepocdhe als ein
müßte. Gegenüber der Kant'ſchen Lehre des „ewigen Friedens,
welhe ben Träumen der Dichter ebenfo wie dem Zeitalter
Roufjeau’s Rechnung trägt und dem Gewaltigen der Erde ein
Sciebögericht von Philofophen zur Löfung ihrer Streitfragen
als eine Art höherer Austrägalinftanz zur Seite ftellen wollte,
tritt Hegel in feiner „Rechtsphiloſophie“ mit einer begeifterten
Berherrlihung des Kriegs auf, welder gewiffermaßen als ein
über die Erde braufender Sturm des allgemeinen Geifles er»
fcheint, indem er dem Einzelnen und Zufälliger das ihm ge-
bührende Recht, das Recht der Vernichtung, zutheil werden läßt.
Man leſe diefe Paragraphen, die in einem ſchwunghaft groß-
artigen, faft apokalyptiſchen Stil abgefaft find, man wird fi
überzeugen, daß Hegel, der ja bie Bernünftigfeit des Wirklichen
bemeijen wollte, mehr ein philofophifcher Feldprediger als Frie-
densprediger gemejen ift. Hoffentlich wird die Hegel⸗Feier nicht
ins Unbefiimmte hinausgeſchoben. Das deutſche Volt vartheidigt
jetzt mehr als ſeine Grenzen, es vertheidigt ſein geiſtiges N
tionaleigenthum gegen die Fremdlinge, welche ihm gegenüber
wie gegenüber den Dericanern und Ehinejen die Kedheit haben,
das Banner ber „Eivilifation‘ zu entfalten. Zu diefem Na⸗
tionaleigenthum gehört vor allem der geiſtige Schag, den uns,
fere Denker ihrem Bolfe gefammelt, und unter diefen ſteht He-
gel in erfter Linie,
Bon Georg Weber's „Allgemeiner Weltgeſchichte““ (Leip⸗
sig, Engelmann) liegt die zweite Hälfte des achten Bandes vor,
welche den vierten Theil der „Geſchichte des Mittelalters‘' bil-
det. „Der Berfall der Lehnsmonarchie und des PBontiflcats und
die Herausbildung fländijcher Verfaſſungen“ (zweite Abtheilung),
und der Sieg des monarchiſchen Princips über den Feudalis⸗
mus fowie der Ausgang des Mittelalters bilden die beiden
Hauptabſchnitte des Halbbandes.
Bibliographie.
aim a mahlerı ı Gedichte. —* Trewendt. 16. 25 Ngr.
u Anna. 5 ges aus dem Lebensbilbe einer chriſtlichen Pfarrfrau. Ber⸗
in, . .
Asc hbich, Rat Die Anicier die römische Dichterin Proba,
Wien, Gerold’s Sohn, Lex,-8. 1? N
8 * Fr ‚ Zur Selbſtkritik. Vortrag. Nordhauſen, Förſtemann.
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Berlin, £ gang mann u. Comp. Gr. 16. 20 Ngr.
8 ins dritte und vierte Glied, Roman aus ber Gegenwart.
Berlin, Fangmann u. Comp. Gr. 16. 20 Ngr.
—
nachronismus eriheinen |
Bernhardi, W. Yinette oder: die Perle des Ballets. Sin, Sitten»
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Barthel, 8. 12 Ner
Deutsche Classiker des Mittelalters, Mit Wort- und Sacherklärungen.
Begründet von F. Pfeiffer. Y9ter Bd.: Wolfram’s von Eschenbach
Parzival und Titurel. Herausgegeben von K. Bartsch. 18ter Thl,
Leipeis, Drooknnus, 8. 1 Thir,
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enfoafii € "Unterfagung u vergleihenden Anmerkungen. Welmar,
bien. Tr. 8 ®
Dreves, L., Sehiäte, 3ie "Aufl, Halle, Barthel. 16. 1 Zhlr.
u? ald, 83 Die drei Nebel in Europe. Leipzig, Roßberg. 1869. 8.
gr
— — Neue Worte an bie ‚Preußen: Mit einem Anhangs: Aus dem
norddeutſchen Reichstage. Leipzig, R
örn er, &., Geſchichte ber oien nen Kunf- "ter Bd. Leipzig,
T. DO. Weigel. Gr. 5. 2 Chr. 24 Ngr.
Geldern, W. v., Bogtlanb unter den Bögten. Nach bem Tode des
Berfaffers beranöge eben von Bruno von Geldern-Erispenborf.
1fte und 2te Xief. Greiz, Henning. Gr. 8. & 7! Nor.
Gschwind Theologische Studien und Kritiken. Ein Beitrag
zur kirchlichen Tagesgeschichte. Bern, Wyss. Br. 8. 1 Thir. 4 Ngr.
Haan, W., Sächsisches Schriftsteller-Lexikon, Ein Verzeichhiss der
von den jetzt lebenden Universitäts-Professoren (theologischer und philo-
soph hischer Faeultät), Geistlichen, Gymnaslal-Professoren, Seminar-, Real-,
eren und Volksschullehrern aller Contessionen des Königreichs Bach-
von herausgegebenen Druckschriften nach alphabetischer Ordnung ihrer
Verfasser und unter Voranstellung eines kurzen Lebenslaufs derselben,
sowie Anfügung eines die Schriften systematisch ordnenden Anhanges,
lste Lief. Leipzig, Serbe, Gr. 8, gr.
Hagen, F. W., Studien auf dem Gebiete der aerztlichen Seelen-
kunde, FGemeinfassliche Vorträge. Erlangen, Besold. Gr. 8. 1 Thilr.
Haha, R. E,, Wilder aus ber Didter- unb Künſtlerwelt. Nach der
Natur gezeichnet. Leipzig, Matthes. 8. 1 Thlr.
Heije, J. P., Unsterblichkeit. Eine symphonische Dichtung. Der
holländische T Text, mit deutscher Uebersetzung von W. Berg. Berlin,
Behr. 8 Ngr.
Krones, F., Zur Geschichte Ungarns im Zeitalter Franz Rakoczi’s II.
Historische Studie nach geäruckten | er ungedruckten Quellen. iste Abth.
Wien, Geroeld’s Sohn, Lex.-8.
Krüger, W., Die onfeifionsiore Saul. Gin Dort Fi Berflänpis
gung mit Beigänfige, Barmen, Langewieſche. 8.
Kübel Die ociale uns Bote aigakrüpe & Gefeggebung bes
Alten Teſtaments unter ur moderner Anjchauungen barvges
ſtellt. Dieebader rg
!ambert, E. Die —— ih, ber freien Reiheftabt Mühlhau⸗
U
fen in Thüringen im 14. Jahrhundert nad ben Duellen des Stadtarchivs
mit einer Ein end in bie ine ber eat Muͤhlhaufen herausgege⸗
ben. Halle, Pfeffer. Er. 8. a
ender, rei Leben und wire — Böhm’s, weil. Geh. Med,-R.
und Prof, in Berlin. Berlin, Seehagen. Gr. 8. 20 Ngr.
Löbker, G. Wanderungen dur Weftfalen. 2te® 3 n. — A. u. %:
Wanderungen burch das Silderland. Münfter, Negensberg. 8. 10 Ngr.
Luthers Philoſophie von Theophilos ı1fer Thl. Die Logik.
Hannover, Meder, Sr. 8. 1 Thir.
Miklosich, Beiträge zur Kenntniss der slavischen wke-
possie. I. Die Yolksepik der Kroaten. Wien, Gerold’s Sohn. Gr.
ı T
Most, F., Die sten Predigten. Neuſtadt a. d. H. Oottſchick⸗
Witte, Gr.v. 12%,
Müller, 9, Yermiiäte Gedichte. Leipzig, Peiner. 16. 1Thlr.
Overbeck, J. J., Die providentielle Stellung des orthodoxen Russ-
land und sein Beruf zur Wiederherstellang der rechtgläubigen katholischen
Kirche des Abendlandes. Autorisirte Ense vche ebersetzung von W.
Ladinsky. Leipzig, Kasprowicz. 8.
er Be etß ch, Pre Der Tag von Smeburg. “Eine Erzählung. Harburg,
an. 2
528
Anzeigen.
igem
Unze
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
Deutsche Classiker des Mittelalters.
Mit Wort- und Sacherklärungen.
Begründet von Franz Pfeiffer.
Band geh. 1 Thlr., geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
Neunter Band.
Wolfram’s von Eschenbach Parzival und Titurel.
Herausgegeben von Karl Bartsch. Erster Theil.
Diese Ausgabe des ganzen Parzival ist der erste Ver-
such, die gewaltigste und gedankentiefste Dichtung des
deutschen Mittelalters, das Meisterwerk Wolfram’s von
Eschenbach, dem Verständniss heutiger Leser im Original-
test zugänglich zu machen. Franz Pfeiffer hatte sich
bereits viel mit den Vorarbeiten zur Herausgabe beschaftigt;
als er aber seinen Tod herannahen fühlte, überliess er das
von ihm gesammelte reiche Quellenmaterial seinem gelehr-
ten Freunde Karl Bartsch, der nun im Sinne des Ver-
storbenen das schwierige Werk vollendete. Wegen der
Verwandtschaft des Stofs wurden auch die erhaltenen
Bruchstücke von Wolfram’s Titurel in die Ausgabe mit
aufgenommen.
Inhalt des I.— VIII. Bandes:
I. Walther von der Vogelweide. Herausgegeben von
Franz Pfeiffer. Dritte Auflage, herausgegeben
von Karl Bartsch.
II. Kudrun. Herausgegeben von Kar! Bartsch. Zweite
Auflage.
III. Das Nibelungenlied. Herausgegeben von Karl
Bartsch. Zweite Auflage.
IV.—VI. Hartmann von Aue.
dor Bech. Drei Theile.
VII. VIII. Gottfried’s von Strassburg Tristan. Heraus-
gegeben von Reinhold Bechstein. Zwei Theile.
8. Jeder
Herausgegeben von Fe-
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Grundriß der hebräifhen Grammatik.
Bon Guſtav Bidell.
Ehe Abtheilung: Sprach- und Schriftgeſchichte; Lautlehre.
RNgr.
Zweite, Abtheilung: Stamm- und Wortbildungsichre; Syntar.
17
8
Der Berfaffer, Profeffor der orientalifchen Philologie zu
Münfter, beabfihtigt mit diefer Grammatik hauptſächlich zur
Berbreitung der hiftorifch-comparativen Methode im hebräiſchen
Spradunterridt fowie zu einer rationellen Begrlindung der
hebräiſchen Sprachformen beizutragen.
Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Wahrheit, Schönheit und Liebe,
Philoſophiſch⸗äſthetiſche Studien von
ictor Granella.
8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thle. 20 Ngr.
Der Verfafſer, ein katholiſcher Geiftlicher, bat in den reli-
gisien Gedankenreihen diefes Buchs — das ſich bereits zahl⸗
reiche Freunde erworben hat — mit tiefer Einficht auf den
Dualismus zwiſchen der Geiſtesfreiheit des Evangeliums
Mmit durchſichtiger Klarheit beleuchtet.
I A
zug:
und der Unfreiheit des kirchlichen Standpunkts bin-
gewiejen und die Ideale ewiger Wahrheit, Schönheit und Liebe
—
Verlag von S. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erſchien:
Die bibliſche Gefdjichte
in ihrem Zuſammenhang mit der allgemeinen Religionsgeſchichte.
Ein bibliſches Lehr⸗ und Leſebuch für die reifere Jugend.
Bon
Bernhard Kähring,
evang.⸗prot. Pfarrer.
Erfte Abtheilung: Dad Alte Teſtament.
Zweite Abtheilung: Das Neue Teftament.
8. Geh. Jede Abtheilung 20 Ngr.
Bähring’s „Biblifhe Geſchichte“, mit umfichtiger Benugung
ber neueften wifjenfchaftlichen Forſchungen und unter Zugrunde⸗
Vegung von Bunjen’s Bibelwert bearbeitet, ift zum Gebrand im
Sculiehrerfeminarien, Lateinihulen, Gewerbfääulen, höhern
Privatinflituten und Töchterfchulen befiimmt, empfiehlt fich aber
auch zu gemeinfamer Lektüre in gebildeten Familien.
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Dietionnaire Tresor ! Praktiſcheß Wörterbud
frangais-allemand et allemand- ! der franzöflihen und deutſchen
francais. Sprade.
Bon Jakob Heinrich Kaltſchmidt.
Zweite Auflage.
Zwei Theile. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nur.
Sranzöfiich-Deutfcher Theil. 24 Nor.
Deutſch⸗Franzöſiſcher Theil. 1 Thlr. 6 Ngr.
Kaltſchmidt's Praktiſches franzöſiſch⸗deutſches und deutſch⸗
franzöſiſches Wörterbuch (früher Verlag von Georg Wigand
in Leipzig) zeichnet ſich beſonders dadurch aus, daß es neben
den für die Lektüre und Converſation nöthigen Wörtern auch
die technifchen Ausdrücke, welche in den Wiffenichaften, Klinften
nud Gemerben vorlommen, in großer Vollſtändigkeit enthält.
Der Preis ift außerordentlich billig geftellt und jeder Theil
and einzeln zu haben.
Derfag von 5 N. Brockhaus in Leipzig.
Beiträge zur Charakterologie.
Mit befonderer Berüdfihtigung pädagogifcher Fragen.
Bon Dr. Julius Bahnfen.
Zwei Bünde. 8 Geh. 4 Thlr.
Zum erflen mal wird in biefem nicht blos theoretiſch,
fondern auch praftifh widtigen Werke die Erforfhung bes
menſchlichen Eharafters als eine befondere Wiſſenſchaft ber
henden Der Berfaffer knüpft dabei an die von Schopen⸗
auer ausgeſprochenen Grundgedanken über den Charakter an
und gibt überall zu feinen Betrachtungen die pädagogiſche
Nutanwenbung, weshalb das Werk die Theilnahme der Pu⸗
dagogen, der Eriminaliften und Seelenärzte, der Ethiker und
Philofophen, forwie jedes Gebildsten in hohem Grade in Aus
fprud nimmt.
Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Brochihaus. — Drud und Verlag von 8. A. Grockhaus in Leipzig.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
—#e Ar, 34, er
18. Auguft 1870.
Inhalt: Ein hinefifher Claſſiker. Bon Eduard von Hartmann. — Zur Geſchichte Napoleon’3 I. Bon Rudolf Doebn. —
Skizzen und Novellen von Frauenhand. — Seunilleton. (Ein dramatiihes Driginalgenie.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Ein dinefifcher Claſſiker.
Lao⸗tſe Tao-tö-king. Der Weg zur Tugend. Aus dem Ehi-
nefiſchen überſetzt und erflärt von Reinhold von Blaend-
ner. Leipzig, Brodhaus. 1870. 8. 2 Thlr.
Ein uralte Heiligtum des fernften Orients öffnet
feine Pforten und ruft den erflaunten Dccibentalen zu:
Tretet ein, auch bier find Götter! Nicht das Heiligthum
eined zornigen, eifrigen, blutbürftigen Gottes, von Priefter-
herrſchſucht zur Erweiterung ihrer Kaſtenmacht durch Volks⸗
einfhüchterung gemisbraucht, nein, ein Heiligthum des
ewigen namenlojen Gottes, den alle meinen und den keiner
zu nennen vermag, das friedliche Aſyl einer ftillen Ge⸗
meinde, ein Tempel fchönfter und reinfter Sumanität, nur
jo weit angebaut von dem contemplativen Quietismus
des Drients, um den ruhigen Hafen barin zu finden, in
welchen ber vom Wogendrang der Leidenſchaften und
Zagesintereffen ermüdete Menſch fi flüchten Tann. Bes
kannt ift der beruhigende Einfluß, den Goethe von Spi-
noza's „Ethik“ verfpürte; auch Hier Haben wir ein Werft,
das fih Ethik nennt, und dod in feinem erften Theil,
wie die Ethik Spinoza's, weſentlich Metaphyſik if; auch
hier einen ſtrengen Pantheismus des Einen, Abſoluten
(Taͤo), aber welch ein Unterſchied bei aller Aehnlichkeit!
Wenn Spinoza ein hartgemeißeltes, ſtarres Meduſenhaupt,
das uns verſteinernd anblickt, ſo erſcheint Lao⸗tſe wie
ein uraltes Frescobild mit halbverwaſchenen Contouren,
aber ein Bild von bezaubernder Schönheit und Weichheit,
an deſſen herzgewinnender Lieblichkeit und Milde man ſich
nicht ſatt ſehen kann.
Wenn die Entſchiedenheit des moniſtiſchen Pantheis⸗
mus nur mit Spinoza zu vergleichen iſt, fo ſteht in fei-
nem abfoluten Idealismus Lao⸗tſe unmittelbar an Plato’s
Seite, erinnert aber oft in überrafchendfter Weife an
Hegel, namentlid) an deſſen Aeligionsphilofophie. Aber
alle diefe Vergleiche betreffen nur den metaphyſiſchen Stanb-
punkt; hinſichtlich der eigentlichen Ethik kenne ih nur
zwei Schriften, die ihm ähnlih find: das, Johannes⸗
Evangelium und Fichte „Anweifung zum felgen Leben‘
1870. 3%.
(welche Tegtere felbft als eine Kombination von Spinozis-
mus und VYohannes-Evangelium betrachtet werden muß).
Hier iſt der Punkt, wo ein gewilfer Myſticismus zum
Vorſchein kommt; aber er zeigt ſich in feiner anſpruchs⸗
Iofeften Geftalt und geht durchaus nicht weiter, als bis
zu dem Maß, in welchem er für bie Ermöglihung einer
innerlichen Religiofität Bedingung if.
Die Sprache des dhinefifchen Originals ift durchweg
von epigrammatifcher Prägnanz; Bilder find fparfam ge-
braucht, aber fie treffen ftetS den Nagel auf ben Kopf,
wenn uns aud die DBergleichungsgegenftände mitunter
frembdartig anmuthen. Eine befondere poetifche Gewalt
entfaltet fi) in den Bildern nirgends (wie dies 3. B. im
Alten Teftament der Fall ift), fie dienen vielmehr immer
nur zur Veranſchaulichung der abftracten Wahrheiten, wie
in einem modernen wifjenfchaftlichen Werke. So verbindet
fich myſtiſche Innerlichkeit mit klarer Nüchternheit des
Gedankens und anfchanlicher Darftelung. Das Ganze
baut fi als ein architektoniſches Kunftwerk vor den Augen
des flaunenden Lefers auf. ‘Die kurzen Kapitel (wir wür⸗
den eher Paragraphen fagen) find in trefjlicher Gedanfen-
verbindung untereinander, und fcheinbares Abjchweifen und
Wiederzurückkommen auf den Gegenftand in fpätern Ka—
piteln ift offenbar berechnete Abficht, um den Leſer all»
mählich in ben ©egenftand einzuführen und nicht durch
längeres Verweilen bei jchwierigen Abftractionen zu er-
müden.
Der Parallelismus der Glieder, der in der hebräiſchen
Poeſie eine fo wichtige Rolle jpielt, wird auch hier fehr
viel benutzt, aber doch in einer Weife, welche eine bloße
Wiederholung deſſelben Gedankens in anderm Gewande
ausſchließt und dafiir mehr eine antithetifche Gruppirung
fegt. Der Klimar findet häufige und ſehr wirkfame An-
wendung, öfters auc der Antiklimax. Jeder Sag kann
für eine Berszeile gelten, da die Ränge der Säge nur in
ziemlich engen Grenzen differirt. Faſt jeder Sat ift zwei-
theilig gebaut, ſodaß die Sonderung biefer ‘heile ber
67
530 Ein chineſiſcher Claſſiker.
Cäfur entſpricht. Nicht ſelten finden ſich abſichtliche End⸗
reime. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Worte nach
Rückſichten des Wohlklangs und eines erhabenen Stils
gefügt ſind, und es beſtätigt ſich hiermit das allgemeine
Geſetz, daß die primitive Literatur aller Völker in poeti-
fcher Form verfaßt ift.
Die vorliegende Weberfegung enthält etwa dreimal. fo
viel Worte als das Driginal, wobei noch zu beritdfichti-
gen, daß bie chineſiſchen Worte faft alle einfilbig find.
Hiernach würde das chinefifche Driginal in Tateinifchen
Buchſtaben ohne Berseintheilung gebrudt etwa 10—15
Seiten einnehmen.
Die vorliegende Ueberfegung ift als die erfte zu be»
trachten, welche einen annähernden Einblid in den Inhalt
des Originals gewährt; denn die franzöfiiche von Stanis-
laus Julien ift völlig unbrauchbar, die von Abel Remufat
befteht nur in vereinzelten Bruchftüden. Die Wifjenfchaft
Europas Hat die Reiftung bes deutſchen Ueberjegers als
eine epochemachende That dankbar und freudig zu begrüßen,
da fie die bisherigen Anfchauungen über den Geift des
hinefifchen Volks entfchieden modificirtt. Wenn die Be-
forgniß des Herausgebers aud) unbegründet erjcheinen
muß, daß er mit feinem Wagniß bem auf China in den
Augen der ungebildeten Maſſe haftenden Fluch der Lücher-
lichkeit anbeimfallen könne, fo wird es boch nicht leicht
einen unvorbereiteten Leſer geben, ber nicht von dem In⸗
balt des Buchs auf das höchſte überrafcht würde.
Wir find nur zu fchnell bei der Hand, die facies
hippocratica, die kindiſche Greifenhaftigfeit, welche uns
die gegenwärtige chinefifche Welt zeigt, als einen dauern⸗
den Zubehör des chinefiichen Stammtypus ftatt als das
Product einer feit Jahrtauſenden flagnivenden und bis
zum Ueberdruß ausgelebten Gultur zu betrachten. Dieſes
Buch aber lehrt uns, welch ein fprudelnder Duell fri⸗
fcheften Geiſtes vor dritthalbtaufend Jahren aus dem
Genius diefes Volks entfprang; es lehrt und, daß eine
Nation, die ein ſolches Genie aus dem Schofe ihres eigen-
ften Lebens erzeugt, ihren Anlagen nad) den indogerma-
nifhen Nationen weſentlich ebenbürtig ift, und daß fie
zu der Zeit, als Lao⸗tſe und Kong⸗fu⸗tſe lebten, fich in
einer ‘Periode des Hoffnungsvolliten Auffhwungs befunden
baben muß; es lehrt uns aber auch, daß fchon damals
diejenigen Züge des Volksgeiſtes in bedrohlicher Weiſe
zum Vorfchein famen, deren Ueberwuchern im Lauf der Zeit
den Stilftand des Culturfortſchritts und den theilweifen
Rüdgang bedingte: die Indolenz, die Gleichgilftigkeit gegen
das Metaphyſiſche, Weberfinnliche und die idenlen Güter
des Lebens, und der praftifche Dlaterialismus bei cor-
rumpirten Regierungszuſtänden. Lao=tfe erkennt und
zeichnet auf das fchärffte die Grundübel feines Volks:
Kap. 80. Die Heinen Leute im Reiche find aber leider nur
zu roh, zu ungebifdet... Und wenn die Wiſſenſchaft umkehrte,
wenn man zurädginge zum Kerbholz und zu den Knötchen im
Fabden, fo wäre ihm das eben vecht, es würde auch damit aus-
tommen. Wenn nur den Leuten ihr Efjen nnd Trinken ſchmeckt,
wenn fie etiwas Hübſches amzuziehen, wenn fie eine hübſche
Häuslichkeit haben. Kurz, das Volk hat nur Freunde am Ma»
teriellen, es ergögt fi nur am Alltäglichen, es kennt nur das
Gewöhnliche, Gemeine.
Die Indolenz iſt fo groß, daß ſich kaum die Nach—
barn umeinander kümmern, ja fogar, daß das Volk ſich
aus dem Tode nichts macht, „weil es die einzigen Genüfſe,
die es kennt, die ſinnlichen, felten — oder faſt nie erreichen
und befriedigen kann“ (Kap. 75). „Das Volk freilich be⸗
kümmert fi) wenig um das Heilige und Geweihte, ihm
find die Großen der Erde das Erhabenfte, was es kennt“
(Kap. 72); es haftet blind an dem äußerlichen Ceremoniell,
und feine Sorgen erflveden ſich nicht fiber bie irdiſche
Nothdurft hinaus. „Denn das Boll im allgemeinen ift
ja doch moraliſch blind, unfelbftündig und verworren in
feinen Begriffen. Ya, fo ift e8 heutzutage, jo war «8
feit Menfchengedenten” (Kap. 58), jo wird es immer fein.
Dei diefer Unmündigfeit des Volks kommt alles darauf
an, wie ed vegiert wird; eine unredliche Regierung muß
nothwendig auch die guten Unterthanen zur Liſt und
friecdenden Schmeichelei verführen. „Weil die hohen Be⸗
amten üppig leben wollen, fo wird das Volk durh un⸗
geheuere Steuern und Abgaben gedrüdt, und deshalb muß
e8 hungern“ (Kap. 75). Die ausſchließliche Sorge für
das irdifche Wohlergehen führt „zu Ränken, Liſt unb
Detrug, Raub und Diebftahl einerjeits, andererfeits zum
Großthun, zur Prahlerei und Anmaßung“ (Kap. 53) und
zur Bollsbedrückung; obenein ift „das Aufhäufen irdiſcher
Güter ein nur allzu vergänglicher Gewinn“ (Kap. 44).
Die Hochgeftellten aber finden es für ihre Ausbeu⸗
tungszwede bequem, das Bolf in feiner Unwiffenheit md
feinem Meaterialismus zu beftärken. „Denn ein Bolf,
da8 zu viel wifle, fei jchwierig zu regieren; wolle man
daher durch Intelligenz den Staat regieren, fo verurſache
man nur Schaden und Nachtheil und begiinflige Mord
und Diebſtahl“ (Kap. 65). Dieſe weifen Negenten mei«
nen: „man müfje das Gemüth unb den Geift des Men⸗
hen leer Laffen, dafiir aber feinen Bauch füllen, man
müſſe ihm mehr die Knochen als die Willenskraft flärken,
man müſſe immer dahin ftreben, daß das Volk in feiner
Unwiſſenheit bleibe, denn dann begehre es auch nicht fo
viel” (Kap. 3). Auf diefe volfswirthfchaftliche Weisheit
| aber thun fie ſich etwas Befonderes zugute, ald wäre e8
reine Dumanität. Darum ruft Lao⸗tſe ihnen zu:
Kap. 19. Reißt euch los von diefer Hohen Weisheit, entfagt
euerer gewaltigen Klugheit, und das Bolt wird hundertmal glüd-
hier fein. Heißt euch los von euern Humanitätöprincipien,
entfagt euern jogenannten Bildungsrüdfigten, und das Boll
wird zurüdfehren zur Pietät und Liebe. Reit euch los von
dieſem blos auf Erwerb gegründeten Schaffen, entjagt euerm
Eigennußge, und die Diebe und Räuber werden ſchwinden.
Kann man e8 dem ibealiftiichen Weifen zum Vorwurf
machen, daß er in feinem Kampfe für die vernachläffigten
idealen Güter gegen die Excluſivität materieller Beftre-
bungen etwas zu weit ging, daß er bie hohe Berechtigung
der volfswirthichaftlichen Beftrebungen als einer unent-
bebrlichen Grundlage des höhern geiftigen Volkslebens ver-
fannte, wenn die Gründer des Chriftenthbums, wenn felbft
noch im vorigen Jahrhundert ein Rouſſeau und Helve⸗
tius ſich deſſelben Fehlers in noch weit höherm Grabe
ſchuldig machten?
Wenn bie Lehre bes Lao⸗tſe ſich als ein eontemplativ⸗
myſtiſcher Idealismus darftellt, fo darf man nicht ver⸗
geilen, daß fie nur die Eine Seite des chinefifchen Geiftes
ihrer Zeit repräfentirt, daß der legtere nur dann ganz ge=
würdigt wird, wenn man den jüngern Zeitgenoffen des
Lao⸗tſe, den Kong-fustfe (Confucius), als beffen polare
—
Ein chineſiſcher Clafſiker. 531
Ergünzung mit ihm zuſammenfaßt. Sind wir auch über
die Lehren des Kong-fu-tfe bisher beſſer unterrichtet ge»
wejen als über bie des Lao⸗tſe, jo wird doch auch bei
dieſem eine gerechte Würdigung erft dann möglid) fein,
wenn eine gute Ueberfetzung der Driginalwerle vorliegi.
Se viel fann man fchon jest fagen, daß Kong-fu=tfe der
Nüchternere, Rationaliftifchere, Neakiftiichere und Prakti⸗
fehere von beiden ift und deshalb and dem fpätern
Chineſenthum verftindlicher gewefen und nüher gelegen
hot, ald der mehr myſtiſche, tdealiftifche und theoretifch-
contemplative Lao⸗tſe. Das Berhältmiß ift ein ähnliches
wie zwifchen Ariftoteles und Blato oder Paulus und Jo⸗
Banned. Der comtemplativ - muftifche Idealismus muß fich
immer und überall mit einer Pleinen und ftillen Oemeinde
Begnägen, während fein Nebenbuhbler die offictelle Herr⸗
Fchaft behauptet. Bei Lao⸗tſe ift aber diefe Zurückdrän⸗
gung in China fo meit gegangen, daß feine Anhänger
ihn ſpüter nur durch eine umdentende Annäherung an den
importirten Buddhismus Halten zu können glaubten, wo⸗
durch das Verftändniß der Eigenthiimlichkeit des Lao⸗tfe
vollſtändig verloren ging. Hieraus erflärt es fih, daß
die (übrigens auch felten untereinander übereinſtimmen⸗
den) chineſiſchen Commentatoren nur mit äußerfter Bor-
Fit zu benutzen find, eine Vorſicht, am welcher es Yulien,
der franzöfifche Ueberfeger, gänzlich Hat fehlen Laffen.
Da ih vom Chinefifchen nichts verftehe, fo fteht es
mer nicht zu, über den philologifchen Werth ber vorlie-
genden Ueberſetzung ein Urtheil zır füllen, das fi) body
wur anf dasjenige ſtützen könnte, welches der Weberfetser
ſelbſt in feinem Kommentar über den genauen Wortſtun
verräth, und wo es denn allerdings manchmal fcheinen
will, als wäre ohne Roth eine längere Umschreibung ftatt
der präcifern mörtlichen Ueberfegung gewählt. Julien
dentet eine nicht vorhandene Uebereinſtimmung mit bem
Buddhismus hinein. R. von Plaendner fagt S. 219: „Abel
Remufat träumte ben Gedanken nur, weil er mit ber
vorgefaßten Meinung an das Buch herantrat, er müſſe
darın überall Analogien mit griehifchen u. f. w. Philoſo⸗
phen finden. Mein Traum ift der geworden, daß un-
gemein viel chriftliche Hdeen in dem aTäo⸗te⸗kingo find.“
Hält man diefes Bekenntniß mit folgender Stelle zufam-
men (S. 147): „Ich hätte es nicht über mich vermocht,
Anfichten niederzufchreiben, oder aud) nur andern nad.
zufchreiben, die fo fchnurftrads den meinen ... zuwider
find” — dann feheint allerdings die Beſorgniß nit un-
begründet, daß der Ueberfeger e8 nicht über fich vermocht
hat, Stellen tren wiederzugeben, welche den Grundlehren
des Chriſtenthums fehnurftrads zumider find. In einem
Tolle bin ich im Stande, dies nachzuweiſen. Dus Ab⸗
folute (Tao) bes Lao⸗tſe ift ein unperſönliches Weſen,
wie aus allem Folgenden hervorgehen wird. Nun heißt
e8 aber in Kap. 25: „Denn der Menſch ftamınt ven der
Erde, die Erde ſtammt vom Himmel, der Himmel flammt
vom Tao.” Hieraus fchließt der Commentator, daß das
Tao perfönlich fei, weil der Menſch von ihm abftamme
ober, nach altteftamentlicher Redeweiſe, „ihm zum Bilde
geſchaffen“ fei. Dann müßten doch auch Erde und Himmel
perfönlich fein, wenn überhaupt diefer Schluß zuläſſig
wäre! Das Taͤo foll ferner Schöpfer fen. Soviel id)
gefehen Habe, find es nur zwei wieberfehrende Worte, bie
Plaendner durch Schöpfer überfeht; das eine derjelben
bedeutet „Wurzel”, das andere „die Mutter, die die
Welt geboren”. Diefe Mutter kann nicht deutlicher, ale
es im Rap. 52 gefchieht, als die „Mutter Natur”, als
die natura naturans des Spinoza tm Gegenfat zur na-
tura naturata gefennzeichnet werden. Es ift ber ewige
Mutterfhos bes Werdens, die Wurzel des Dafeins.
Aber der Weberfeßer Hatte eine fo innige Freude wegen
der vermutheten Uebereinſtimmung mit mofaifchen Lehren,
daß er fein Mares Urtheil beirren Tief. Lao⸗tſe wäre
erheblich in ſeiner Achtung gefunfen, wenn er es ſich
hätte verfagen müſſen, ben perjönlichen allfiebenden Schd-
pfer in deften Lehre hineinzuinterpretrten. Wenn er auf
©. 100 jagt, daß Lao⸗tfe im Kap. 21 ben Bantheisınne
negire, jo wird diefe Bemerkung underſtändlich bleiben,
bis er Hinzufügt, mas er unter Bantheismus verfteße.
Nach diefer Probe darf man mit Recht einiges Mis-
trauen in die auf die Unfterblichkeit bezüglichen Stellen fegen.
Um es kurz zu fagen, fo ſcheint mir das Wort „Uns
fterblichkeit” den Sinn des Originals zu entftellen, da
Lao⸗tſe die Erlangung des Ewigen (Lebens) nur als eme
Tpeilnahme des (fich feiner Weſenheit und Identität mit
dem Tao inne geworbenen) Ich an der Ewigleit bes Taͤo
auffaßt, nirgends aber den bie Frage verwirrenden Zeit.
begriff hineinbringt, nirgends don eimer Unfterblichteit als
zeitlicher Fortdauer fprict.
Unter „Fortdauer“ verfteht Lao⸗tſe viekmehr etwas
dem Begriff der Uinfterblichkeit geradezu Entgegengeſetztes,
nämlich) „den Kreislauf des Lebens“. Cr fagt Rap. 16:
Um den Begriff des höchften Geifligen zu erfaffen, um zu
ihm zu gelangen, müſſen wir mit der größten geifligen Ruhr
und Klarheit beobachten, wie ale Weſen entfiehen, wachſen,
blüben, aber aud) wie fie wieder zurlidfehren in den Schos
der Natur. Wir müſſen eingedent fein, daß von allen deu
lebenden Wefen jedes wieder zu feinem Urfprung zurldfehrt,
jedes wieder in feine Grundelemente fi auflöſt. Diejes
Zurückkehren zum Urfprung, diefe® Sichauflöfen in feine Grund»
elemente nennt man „zur Ruhe kommen”. Aber diefer Rube
folgt immer ein Wiederaufleben, ein Wiederermachen zu neuem
Zwed, zu neuer Beſtimmung, zu neuem Leben. Ein Immer-
wiederfehren, ein ſtets erneutes Wiederaufleben nennt man
Fortdauer.
Dieſer Kreislauf des Lebens bei Fortdauer der fub⸗
ſtantiellen Grundelemente ift offenbar das gerade Gegen-
theil derjenigen perjönlichen Fortdauer, welche mit ber
‚Unfterblichfeit gemeint if. Diefe Kenntniß der Unerbitt-
Lichfeit der „ewigen Naturgeſetze“, welche weiß, daß alles
Geſchaffene wieder vergehen muß, macht jeben Glauben
an Unfterblihfeit im gewöhnlichen, zeitlichen Sime un⸗
möglich; daher muß der Schluß bes Kap. 7 falſch überſetzt
fein, wie auch daraus hervorgeht, daß er gar nicht zu
dem Borhergehenden paffen will. Nirgends ift von einer
Seelenwanberung bie Rede, nirgends don einem jenfeltl-
gen Leben; wohl aber wird gefagt, daß für denjenigen,
ber die Ewigkeit des Abſoluten im Kreislauf feines Lebens
erfannt Hat, der Tob bedeutungslos geworben ift, weil
er weiß, daß der Tod nur Rückkehr in den Mutterfchog
ber Natur, ein nimmermehr zu fürdtendes Zurruhelommen
if. Wer an die Realität des Sinnlich⸗Materiellen glaubt,
den map: diefe Eventualität furchtbar ſcheinen, nicht aber
denrjenigen, welcher weiß, daf das Ewige, Subftantielle der
Wefen ſelbſt das Geiftige, Tav-liche if, da ja das Taͤo
67°
532
fi dem Staube affimilirt und ibentificirt bat, ſodaß alfo
nur das Nicht⸗Täo⸗liche, die vergängliche Form, ber Ver⸗
nichtung anheimfällt, die wahre Subſtanz aber in bie
ungetrübte Reinheit ihrer ewigen Herrlichkeit zurüdkehrt,
welche zugleich die Wahrheit und das Schauen der Wahr:
heit im Lichte ift.
Nirgends Spricht Lao⸗tſe, foweit ich verftanden habe,
auch nur von einem ewigen Leben, fondern Plaendner
überjegt „da8 Ewige” durch „das ewige Leben“. Wenn
nämlich der Menſch fich der Einheit mit dem Tao be
wußt wird, fo weiß er, daß er mit feiner geiftigen Sub-
ſtanz Antheil hat am Ewigen, db. 5. er bat dann für fein
Dewußtfein. da8 Ewige erlangt. Nun Hat zwar alle,
was da lebt, fein Leben durch das Tao, aber der fittlih
reine Weife empfängt die Theilnahme am Tao noch in
eminenter Weife durch eine geiftige Verklärung, bei welcher
der göttliche Hauch fich in ihm ausbreitet; ein folcher alfo
wird nod in ganz anderm Sinne einen Antheil am
Ewigen erlangt haben, indem er das Täo in feiner To⸗
talität als Einheit umfängt. Diefes Befigen des Tao
oder des Ewigen bat aber ebenfo wenig eine Aehnlichkeit
mit der gewöhnlichen Unfterblichleitslehre wie die Yort-
dauer des Ewigen im Kreislauf des Lebens. ‘Der Antheil
des Tao, der im Menfchen tft, bleibt freilich nad) dem
Tode, aber daß diefer Menſch nicht bleiben könne, fon-
dern im Tode vergehe, ift deutlich genug ausgeſprochen.
Es verhält fich diefe Lehre von der Gewinnung des Ewi⸗
gen ähnlich wie die efoterifche Lehre des Sohannes - Evan-
geliums zur gewöhnlichen Unſterblichkeitslehre, nur daß
bei Johannes die philofophifche und die vulgäre Auffafjung
kraus durcheinanderlaufen, was mir hier nicht der Yall
zu fein ſcheint, obwol der Ueberfeger alles aufbietet, um
dem Lao⸗tſe die gewöhnliche Unfterblichfeitsiehre unter-
zufchieben.
Wenn wir in dem Bisherigen fchon mehrere vom Ueber»
feger nicht eingeräumte Abweichungen von der orthodoren
hriftlichen Lehre kennen gelernt haben, fo will ich aud)
noch diejenigen Abweichungen anführen, welche derfelbe
anerfennt. Lao⸗tſe Eennt feinen Teufel und feinen Ber-
ſucher, keine Ungelologie und keine Dämonologie, feine
Möglichkeit eines Wunders, keine äußere wunderbare
Offenbarung, ſondern nur eine innere durch geiſtige Er-
kenntniß, keinen Glaubenszwang, kein Streben einem
andern ſeine Anſichten aufdringen zu wollen, keinen Got⸗
tesdienſt durch Worte und Gebet, ſondern nur durch ſitt⸗
lichen Wandel, keine Drohungen durch dieſſeitige ober jen-
ſeitige Strafen (da der Tod den Chineſen nicht furchtbar
iſt, kann auch dieſer nicht als Drohung verwendet wer-
den). Der Gott des Lao⸗tſe ift Fein eifriger und zorni⸗
ger Gott, der bie einen erwählt und die andern verwirft,
fondern er forgt für alle Weſen gleihmäßig, er kann
„nur beglüden und fegnen, und niemand fchaben und
verderben” (Kap. 81); nicht zu feinem Ruhm und Ehre
bat er Himmel und Erbe gejchaffen, wie der orthodore
Chriftengott, nein, „er bat Fein irdiſches Verlangen‘ (mie
Ehrgeiz und Ruhmſucht) und „will nicht ihr Herr und
Gebieter fein” (Kap. 34). „Wie aber, vereinigt fich nicht
alles, was da lebt, in ihn und ift ihm unterthänig? Frei⸗
ih wol, aber denuoch will e8 (das Taͤo) nicht als ihr
Gebieter angefehen fein. Daher wollen wir e8 erhaben über
Ein chineſiſcher Claſſiker.
alles nennen. So iſt auch des Weiſen Endzweck nicht, groß
und erhaben zu erſcheinen; weil er aber vollkommen iſt
und alles weiſe einrichtet, iſt er erhaben“ (Kap. 34).
Hat je ein Europäer den Gedanken fo ſchön aus-
gejprochen, daß Gott es ablehnen muß, der Herr zu fein?
Selbft der Begriff Vater hat dem Chinefen noch zu fehr
den Nimbus der Autorität und Strenge, darum ift ihn
Gott weder Herr noch Vater, fondern nur die für alle
ihre Kinder forgende Mutter, bie alle wieder in ihren
Schos zurüdnimmt. Zwei andere Unterfchiede vom Chri⸗
ſtenthum find folgende: Lao⸗tſe kennt Feine Erbſünde und
daher kein Erlöſungsbedürfniß im chriftlichen Sinne. Sei-
nem Bott läge es fern, alle Geſchlechter der Menſchheit
mit dem Fluch unentrinnbarer Sünbdhaftigleit zu behaften,
weil ihr Urahn einmal gegen fein Gebot verftieß. Er kennt
die Sünde nur als Schwachheit, Thorheit und Unverftanb,
als ein Verkennen ber idealen Ziele und Güter des Men⸗
chen über den finnlicy- materiellen, als eine thörichte Ueber⸗
bebung der Selbſtſucht. Aber jeden Menſchen ift zu jeber
Zeit die natürliche Möglichkeit gegeben, weifer und beſſer
zu werden, und zwar das eine nicht ohne das andere,
fondern beides in Wechſelwirkung aus ſchwachen Anfän-
gen erwachfend, auch nicht auf einmal, fondern nur lang-
ſam und allmählich, aber doch ficher zum Ziele führend.
„Deine Worte find jehr Leicht zu verftehen, und ebenfo
leicht ift e8, ihmen gemäß zu Handeln“ (Kap. 70). „Es
ift Jo wenig verlangt“, dem Taͤo mit Aufrichtigkeit an⸗
zugehören (Kap. 32). Er verfennt nicht die Schwierigfeiten,
welche die Indolenz und Ungebildetheit der Mafje wie die
Corruption der Regierung dem Fortfchritt des Guten in
den Weg legen, und meiß, daß die Beflerung der Menſch⸗
beit nur fehr langſam gehen, auch wol niemals das Ideal
(des Gottesreihs auf Erden), das ihm vorſchwebt, errei-
hen wird, aber fein Glaube an den allmählichen Fort-
fhritt des Guten auf natürlihem Wege fteht unerſchüt⸗
terlich feſt, und mie Jeſus Ichöpft er Troft aus dem
Gleichniß des ftarken ſchützenden Baums, der aus Heinem
haardünnen Reis emporgewachſen, oder aus dem Anblid
des neun Etagen hohen Gebäudes, das Stein für Stein
allmählich aufgebaut worden if. Daher braucht er feine
durch ein Wunder ins Werk gefeste Erlöfungsanftalt,
jowenig er zwifchen dem Individuum und den Abfoluten,
zwifchen dem Menfchen und Gott einen Mittler brauchen
fann. Der Sünder in der Tiefe feiner Zerfnirfchung
findet am Taͤo feinen Troſt, er kann ſich unmittelbar an
demſelben aufrichten. Gott ift nicht blos droben im Him-
mel, er ift auch hier unten; man braucht nicht aus dem
Tenfter zu fehen, um ihn zu erfchauen, „er ſpricht in
ganz beftimmter und entfchiedener Weife zu uns" (Kap. 45).
Kap. 56. Wer das weiß und erkannt hat, der macht
nicht viel jhöne Worte darliber, wer viel davon ſpricht, der
weiß es nicht, der ift fi nicht Mar. Jene aber (die e8 wiffen)
juhen fid) immer mehr zn befeftigen in ihrem Glauben unb
verwahren diefem feft im ihrem Buſen. Berborgen und gebor-
en im Herzensfchrein ift das Heingeiftige; unn Löfen fi) ihre
weifel, ihre Wirren und Berwirrungen ganz, und fie fiub
durchdrungen von der Gewißheit, daß der ewige Fichtfirahl des
Taͤo fich ihnen, dem Staube, affimilirt bat. Das heißt, fie
find mahrhaft Eins geworden mit dem Unerforſchlichen;
mit dem Unerfaßlichen, der doch fo nahe ihnen ift; dem Un⸗
begreifliden, der bas AU durchbringt; dem Unergrünplichen, der
doch alles beglückt und ſegnet; dem Umnenblichen, der fo ge»
Fin chineſiſcher Claſſiker.
waltig, fo unerforſchlich und doch fo herrlich, unbegreiflich und
doch —E nn “ra q ſo herrlich greiflich
Hegel Hatte das Chriſtenthum die abſolute Religion
genannt, weil ihr Dogma in der Menjchwerdung Gottes,
in der Einheit von Gott und Menſch befteht; daß biefe
Einswerdung nur einmal ftattgefunden habe, das fei die
abzuftreifende und in den allgemeinen Begriff zu erhebende
Torm der Vorſtellung. Was würde Hegel gefagt haben,
wenn er erfahren hätte, daß ſechs Jahrhunderte vor Ent-
ftehung des Chriftenthbums ein chinefifcher Religionslehrer
und Philofoph die Einswerdbung von Gott und Menſch
als allgemeine Wahrheit in der Form des Begriffs ge-
lehrt habe?
Wenden wir und nunmehr zu ber Betrachtung ber
Erkenntnißmethode des Lao⸗tſe. Er kennt drei Wege.
Der eine ift die Tradition, die bereit damals mit dem
Nimbus einer heiligen Clafftcität befleideten Anfichten der
Alten, bie er als refervirt, als mehrdeutig aus Borficht,
als „kernig wie die Ureinfachheit felbft, und doch tief wie
ein Abgrund, und — unklar wie trübes Waſſer“ charakteri⸗
firt (Rap. 15). Er verachtet die geduldige Aufhellung diefer
Dunfelheiten nicht, verſpricht fi) aber nicht viel davon
und bewahrt fich feine volle Selbftändigteit.
Der zweite Weg ift die Naturerfenntniß. „Es gibt
ein Tao, welches jedermann verftändlich gezeigt werben
kann“; dies „ift die fort und fort erfchaffende Kraft der
Natur, die Natur ſelbſt, die Mutter alles Seienden“.
„Das aber ift nicht das ewige Tao in feiner ganzen Voll⸗
kommenheit“, das ewig Unnennbare, Namenloje, weldyes
die Wurzel oder der Urgrund der Naturkraft if. Das
irdiſche Taͤ ober die Natur ift das Tao in feinem An«
dersfein, in feiner Entänßerung, wie Hegel jagen würde;
daher führt die Naturerkenntnig nicht zur Erkeuntniß des
ewigen, himmlifchen Taͤo in feinem Anſichſein; zu dieſem
führt nur der dritte Weg, die myſtiſche Intuition oder
intellectuelle Anſchauung. Diefe wird aber verhindert,
wenn der Geift von Leibenfchaften und Begierben getrübt
amd von Sünden befledt ift; man muß daher zunächſt ſich
von feinen Fehlern und Gebredhen zu befreien und mora⸗
liſch geſund zu werden fuchen, indem man das unlautere
Begehren dem reinern und befiern Selbſt unterwirft und
fi zu einem barmonifchen Ganzen ausbildet. Erſt wenn
die Seele von allen Schladen geläutert und Mar und rein
geworben ift wie die eines neugeborenen Kindes, erſt dann
kann man Gott ſchauen und fein geiftiges Weſen ergrün-
den. Indem fich diefe Reinheit des Herzens in einer, die
ganze Menjchheit umfafjenden Liebe äußert, erjcheint die
Tiebe als das, was zum Gottſchauen und bamit zur Theil
nahme am Ewigen (Leben) führt und vor dem Tode
bewahrt.
Hat man aber einmal das unmittelbare Schauen des
Tao erreicht, dann empfängt man eben feine Erkenntniß
unmittelbar vom Taͤo ſelbſt und „blidt vollſtändig Har
und deutlich nad allen Seiten. hin“ (Kap. 10). Freilich
gejchieht auch dies nur in geweihten Augenbliden, denn
„das Erhabene ift eine Stimme, die nur jelten vernom-
men wird, und nad deren Klang ſich der Weife doch
unendlich fehnt” (Kap. 41).
Was ift nun der Fern deflen, was diefe Stimme
{ehrt ? Das Tao ift die Negation des Sinnlich-Realen,
533
ed ift alfo für uns nad der pfychologifchen Entftehung
jeines Begriffs bie höchſte Ahftraction, an ſich aber das
böchfte Ueberſinnliche. Die Negation bes Realen, oder das
„Ideale (nad) dem Johannes⸗Evangelium: das Licht), ift
aber keineswegs eine Negation des Seienden; denn „da das
All alles Seiende enthält, fo wäre ein Nichtfeiendes un-
möglich ausreichend, damit das AU zu umfaſſen“ (Kap. 48).
Diefe Negativität gegen das Reale wird des weitern aus⸗
gemalt: es ift unfichtbar, unfaßbar, überhaupt mit feinem
Sinne wahrzunehmen; es hat Fein vorn oder Hinten, es
ift formlos und geftaltlos, und unendlich. Es ift ewig,
unerfchaffen, nur von ſich felbft ſtammend, allzeitlich und
allgegenwärtig, durchaus Fräftig, ſtark und allmächtig, all⸗
erfüllend, alldurchdringend, unvergänglich und unerfchöpffich
in feiner Kraft. Es ift durchaus volllommen und höchſt
erhaben. Es ift „jo ganz unferer Vernunft entfprechend”
(Kap. 45), ja e8 Tann vielleicht am beften durch den
Johanneiſchen „Logos“ wiedergegeben werden. Es ift
immateriell, aber alles Materielle ift nur dur das
Immaterielle, hat nur in ihm fein Beftehen.
Kap. 21. Die ganze gejchaffene Natur und ihr Schaffen und
Birken ift nur eine Emanation des Tao... Diefes, obgleich an
fi) ein rein geiftiges Wefen... umfaßt doch alles Sichtbare,
obgleich immateriel und geiftig, ſchuf (?) es doch und find\ in
ihm alle Wefen. Unbegreiflih und unfihtbar wohnt aber im
ihm ein erhabener Geift. Diefer Geift ift das höchſte und voll»
fommenfte Wefen, denn in ihm ift Wahrheit, Glaube, Zuverficht.
Bon Emigleit zu Ewigkeit wird fein unendlider Ruhm nicht
aufhören, denn in ihm vereinigt fih da8 Wahre, Gute und
Schöne im hödften Grade der Bollendung.
Kap. 51. Ja, durch das Taͤo entfliehen wir, durch das
Tao werden wir ernährt, durch das Tao wachfen wir auf,
das Tao leitet uns zum Guten, e8 vervollfommnet uns darin,
es ftärkt uns in der Tugend, es läßt uns dariu feft werben,
und ſchützt uns auf allen umnfern Lebenswegen vor jeglicher
Gefahr. j
Die Welt, in welche das Tao ſich ergoffen hat, ift
ganz aus einem Guß; „es läßt ſich nichts daran ändern
noch beflern“, während doch der weiſeſte der Menfchen
nicht damit zu Stande kommen würde, eine folche Welt
einzurichten (Rap. 29).
Man flieht, die Zäolehre ift ein Monismus ober
Pantheismus des Geiftes, in welchem die Natur als bie
Entäußerung des Taͤo in einen ihm in feiner Reinheit
nicht zufommenden Zuftand aufgefaßt wird, während der
Menfh das Tao in zweifacher Weife in fich haben Tann,
einerfeits in feiner natürlichen, andererfeits in feiner rein
geiftigen Geſtalt. Das Taͤo ift die einzige und alleinige
Subitanz des Weltprocefjes, der im Kreislauf des Lebens
befteht; „der Proceß ift die Selbfibewegung des Taͤo“
(Rap. 40).
Wir kommen num zur eigentlichen Ethik des Laostfe.
Es fteht ihm über allem Zweifel erhaben der Grundfag,
dag wahre Tugend nur durch das Täo, nur im Hinblid
auf das Tao möglich if. „Nur der, welcher vom Qao
befeelt iſt“, ift fähig, feinem Egoismus Abbruch zu thun.
Aus irdifhen Motiven, aus bloßen Klugheitsrüdfichten
läßt fi allerdings ein Berhalten des Menſchen zu Stande
bringen, das in feiner äußern Erfcheinung der echten Tu-
gend fehr ähnlich fieht, aber das ift keine Tugend, es ift
eine Hülfe ohne Kern, ja fogar es kann binter bie-
ſer Hille der äußerlichen Werkgerechtigfeit ein fauler-
DE Tai et ar J
“ie ..
534 Sin chineſiſcher Elaffiler.
perberbter Sefinnungäfern fich verbergen. Sonad) hat man
zwei Arten ber Tugend, bie irdijche oder weltliche und
die himmliſche oder Tao-Tugend, zu unterjcheiden. Bao
testing heißt „Leitfaden der Tao-Tugend“. Die brei chi⸗
nefifchen Cardinaltugenden: Menfchenlicbe (Nächftenliebe),
Gerechtigkeit und Wohlanftänbigkeit (Höflichkeit), bilden eine
Neihe, deren Glieder fi immer mehr dem Irdiſchen
nähern, ſodaß Lao-tje felbit zweifelhaft ift, ob es fich
fit, die Wohlanftändigfeit mit dem ao in Berbindung
zu bringen, was übrigens durch das Zartgefühl ſehr wohl
möglih if. ragen wir, wie das Taͤo ben Menſchen
zur Tugend führt, fo ift e8 vor allem dur) Beruhigung
und Befeitigung ber Begierden und Leidenfchaften und
duch ein Gegengewicht gegen die menfhlihe Schwäche
und Derirrung, welche ſtets in Begierden und feiden-
ſchaften zu verlinken droht. Nach Befeitigung der Affecte
mürde von ſelbſt ſchon die Gefeglichleit in der Welt
herrſchen, weil jeder Anreiz zur Sünde bejeitigt wäre;
aber das Tao thut mehr als das, es gibt die Menfchen-
liebe, deren Urjprung himmliſch if. Dieſes „Einathmen
des göttlichen Hauches“, infolge deſſen das beſſere Selbft
Gewalt erlangt über den gröbern Theil unjers Seins,
nennt Yao«ife „die Verklärung“ (Kap. 36); es entfpricht
dies völlig der Paulinifchen „Wiedergeburt“. Wer fo
vom Tao erleuchtet und volllommen im Guten ift, der
gerade iſt fich deilen am meiften bewußt, daß alles das
nicht fein Derdienft ift, fondern daß er es nur dem Taͤo
verdankt, daß er aljo auch mit felbftverleugnender Pflicht.
erfüllung durhaus nur etwas Selbftverftändliches thut,
das feines Aufpebens werth. ifl.
Kap 42. Die Segnungen des Tao, die uns fein Räuber
nehmen, der innere Werth, den es uns gibt, den uns kein Wege⸗
lagerer zerfiören fann, das eben foll her Titel und der Haupi⸗
inhalt (Örundidee) meines Buches fein.
Kap. 67. Die vom Too Befeelten befiten drei Kleinode
und müfſen ſich dadurch auszeichnen, daß fie diefen Beſitz als
ihr höchſtes Gut betrachten. Das exfle dieſer Kleinode if
bie. Liebe. Das zweite iſt die Zufriedenheit, Genügſamkeit.
Das dritte ift, daß fie fid) nicht für die Erfien und Beſten ver
Belt, nicht für Borbilder ausgeben, demnach die Demuth
und Beicheidenheit. Wer aber die Liebe befist, der hat Seelen⸗
fiärke. Wer Genügfamteit befitt, Seelengröße. Wer nicht als
Safer glänzen will, ſondern Demuth, befitt, der iſt bahin ger
fammen, das Werk der Liebe an feinen NRebenmenfchen erflillen
zu köonnen, und der macht ſich fo würdig für die Ewigkeit.
Wie flieht es aber jegt in der Welt? Da vermwerfen und ber-
achten fie die Liebe und fomit die Seelenſtärke. Sie wollen
nichts wiflen von Genügjamfeit und opfern damit ihre Seelen⸗
größe. Sie wollen. nicht demüthig nachftehen, foudern jeher
drängt fid) vor, der Erfle zu. fein. Für fie alle iſt der Tob.
Jene aber, die mit den Waffen ber Liebe kümpfen, erringen den,
höchften, den ſchwerſten Sieg, den Sieg Über fi) ſelbh. Da-
durch werden fie vor allem Unheil geſchützt, vor allem Böſen
hbewahrt jein, demnach das ewige Lehen haben. Der Himmel
wird fie zum Heil führen, denn durch ihre Liebe wurden. fie
gerettet und vom Untergang bewahrt.
Wenn die Liebe die höchſte Tugend ift, jo if ea
jelhftperßänhlih, daß der Zugenhhafte nicht dabei ſtehen
bleiben, Tann, für das Heil feines. eigenen Ich zu. forgen,
fondern hie Bethätigung feiner. Liebe auf fo. weite, reife:
ausdehnen. muß, als ihm feine fasiale Stellung. geftattet,
alfo für das: Wohl der. Familie, ber Gemeinde, des Kreiſes;
dey Propinz ober womdglirh des, ganzen Reichs wirken,
nah, hier übexall das Gute und Edle pflegen wird. Denn
erft in Gemeinſchaft werden bie Menſchen ſtark, mit
Hülfsmitteln verfehen, gebildet und aufgeflärt, während ber
Bereinzelte hülflos und rathlos irrt wie ein verſchlagener
Schiffer, und nur dann kann das Ganze der Gefellfchaft
gebeihen, wenn die Großen herablafjend, Die geringen Leute
ergeben gegen bie Großen find, und die Siunde ber-
trauenspoll zuſammenwirken. (Es zeigt ſich hier, daß ber
Lao⸗tſe häufig gemachte Borwurf, über der individuellen
Ethik die ſociale Seite ber Ethik völlig anßer Acht zu
laffen, teineswegs begründet ift.) Die höchſten und am
fhwerften zu erfüllenden Pflichten find aber jedenfalls die
Pflichten des Negenten, ba, wie wir fchon eben fahen,
Laostfe dem Berhalten der Regierung im Guten wie im
Schlimmen einen ungeheuern Einfluß auf das Volk bei-
mißt. In der Urt diefer Einwirkung zeigt ſich aber
wiederum feine übertriebene Oppofltion gegen voll9wirth-
schaftliche Beſtrebungen.
Kap. 57. Durch das Einwirken auf das Immaterielle, auf
das Geiftige im Menfchen, gewinnt man die ganze Welt....
Deshalb jagt ein weifer Regent: Ich werde das Nichtmaterielle,
den Geift ausbilden, jo wird da8 Volk an feiner Beflerung ar⸗
beiten. Ich werde die Liebe zur Geiftesreinheit, Geiftesflarheit
und Gemüthsruhe in meinem Sande erweden und pflegen, fo
wird das Boll von ſelbſt gut und brav, AH werde das
Smmaterielle, @eift und Gemüth der Menichen zum Gegenftand
meiner Bearbeitung machen, jo wird das Volt in jeber Weiſe
für fich ſelbſt ſorgen können.
Dabei ſollen aber Wort und Handlungen der Men⸗
ſchen möglihft unbefchräntt fein, niemand fell eine
Lehre aufgedrungen ober aufdisputirt werden, niemand
joll herbeigerufen werben, fondern man ſoll ihn von ſich
felbft aus dazu gelangen laſſen, indem das Vorbild ber
Tugend auch in ihm die Tugend erweckt. Diefe Toleranz
wisd in China, dem Lande der abfoluten Glaubensfreiheit
und vielleicht des beften Bolksſchnlunterrichte, thatſachlich
geübt. An fich find diefe Forderungen vortrefflich; wenn
aber Lao⸗tſe glaubt, daß die Regierung damit alles gethan
babe, jo liegt eben hierin fein Irrthum, der mit fernene
contemplativen Quietismus zufammenhängt. Es zeigt ſich
bier die Achillesferfe des muftifchen Idealiſten, der in
theoretifcher Hinfiht von Kong-fustfe willig als der Höhere
anerkannt wurde, ohne daß letzterer dadurch Luſt befam,
fh zu feiner Anficht zu bekehren. Kong-fu⸗tſe wußte
ſehr wohl, was er that, abs er feinen prallifchen Renlis-
mus dem myſtiſchen Idealiomus des Lao⸗tſe entgegen⸗
ſtellte — denn ber Realiſt übt allemal größere Einwir⸗
ungen auf die realen Berhältniffe aus —, mud bie
Tolgezeit bewies, daß er den Bedürfniffen feines. Bolts
beffer Rechnung getragen bat als fein genialerev Zeit⸗
genoffe. Die Negation. gegen das Sinnlich-Realt, weiche
den Grundzug der Philofophie des Lao⸗tſe bildet, erſtreckt
ſich auch auf das. praftifche Neben; dies. iſt ein Punkt,
den ber Weberfeges vollftändig verkunnt Hat, indem ihn
feine unerquicdliche Polemik gegen Inlien dazu fortriß, in
ter Widerlegung der. irrthümlichen Auffaffung bed letztern
zu weit, zu gehen. Aber Lao-tfe ift contemplatives Quietiſt
ganz in demfelben Maße, wo nicht in noch höherm, als es.
Spinoza iſt. Schon die Nebenordunng von Genügfamleit und
Demuth neben die Liebe follte dies zeigen, da beide in einem
feft ja rigoriftifchen Sinne verſtanden find wie bei. Jeſus (vgl.
Matth. 10, 9. 105 5, 20 —41). Bon aller Sinnenluft, Begierben
Zur Geſchichte
und betäubenden Bergnügungen muß der Weiſe als von
Verunreinigungen feines Gleichmuths ſich fern Halten;
„Gunftbezeigungen, Gnadenbeweiſe, Macht, Ehren müfſen
in und ebenjo wol Bejorgniß, ein beflenımendes Gefühl
erzeugen, als Schande, Entehrung, Beihämung, Zurück⸗
fegung; hohe Würden, Hoher Stand muß uns ebenfo
beläftigen und betrüben, wie das Gefühl, daß wir über-
hanpt einen Körper haben“, woraus nämlich allein „al
unſer Gram, unfere Sorge, unfere Betrübniß entſpringt“
(Rap. 13); — in ber That eine vollfländige theoretifche
Kreuzigung des Fleiſches. Alles Streben nad Erwerb
und Befig oder gar nad) Luxus iſt fehlechterdings thöricht
und verkehrt. Was, frage ich, bleibt da übrig als Trieb-
feder des Handelns, wenn alles dies verpönt, und Zurück⸗
ftelung der eigenen Perſönlichkeit oder abjolute Selbſt⸗
verleugnung unbedingte Forderung ift? Iſt es nicht
genug gejagt, daß das deal der Tugend, das wie im
Stoicismus als „der Weiſe“ bezeichnet wird, niemals aus
feiner Gelafjenheit und ruhigen Würde heraustreten foll,
daß er fih durchaus nur mit dem rein Geiftigen beſchäf⸗
tigen und nur diejes genießen fol, und daß er fi) da—
mit tröften fol, „daß das Größte und Erhabenſte der
Welt ficher weniger durch Außendinge als durch Geiſtes⸗
kraft vollbraht wird‘? Die Demuth des Weifen fol
(wie bei Jeſus) fo weit gehen, daß er auf fein Recht
verzichtet, während er feine Pflicht erfüllt, daß er die
Rechte anderer achtet, aber nicht verfucht, diefelben zur
Erfüllung ihrer Pflichten gegen ihn anzuhalten. Sollte bei
folden Grundſätzen die Fulien’fche Ueberfegung vom Schluß
des fiebenundfumfzigften Kapitels wirklich fo weit von der
Wahrheit abliegen, wie Plaendner meint? Freilich verirrt
ſich diefer Quietismus nirgends in Askeſe, nirgends auch in
geiflige Mortification; aber doch iſt ein idyllifcher Zuftand
fein Ydeal, in dem man vom Körper und irdifchen Be⸗
ftrebungen möglihft wenig weiß und ganz einer tugend-
haften Befchaulichkeit lebt. Aber auch mit dem Wirken
blos durch den Geiſt ift ed nicht fo genau zu nehmen;
— o —
Zur Geſchichte
1. Geſchichte Napoleon's des Erſten. Von P. Laufrey. Aus
dem Franzöſiſchen von C. von Glümer. Eingeleitet von
Adolf Stahr. Erſte bis achte Lieſezung Berlin, Sacco
Nachfolger. 1869 — 70. Gr. 8. Jede Lieferung 15 Nor
2. Napoleon J. und ſein Geſchichtſchreibet Thiers. Bon Ju⸗
les Barni. Verdeutſcht von A. Elliſſen. Leipzig,
O. Wigand. 1870. 8. 1 The.
Bis auf die neueſte Zeit herab wurden die Geſchicht⸗
Schreiber Napoleon's I. bei der Darftellung der Thaten
und des Charakters biefer dämonifhen Menſchennatur
vorwiegend nur durch Bewunderung oder durch Haß ge-
leitet. Wie die Bewunderung einerfeitS zu Schmeichelei
und Abgötterei führte, fo ließ ambererfeits der Haß den
Parteileidenfchaften, mochten bdiefelben auch immerhin in
hohem Grade ihre Berechtigung haben, blind bie Zügel
ſchießen. Wenn noch vor dem Sturze des gewaltigen
Corſen in Deutſchland Johann Gottlieb Fichte mit dem
fittfichen Zorn eines edeln Patriotismus den Unterjocher
der Bölfer als einen verabfcheuungsmürdigen Deöpoten
Napoleon’s 1. 535
denn der Weife ſchätzt die Waffe an feiner Seite auch in
Griebenspeiten, und wenn e® fein muß, weiß er fie mit
Nahdrud zu gebrauchen. Dagegen polemifirt Lao«tfe
gegen ftehende Heete im Frieden und gegen offenfive
Politif; wird das Reich zu einem politifchen Defenftnfrieg
genöthigt, dann freilich foll es alle Kräfte aufbieten und
concentriren und in unmiderftehlicher ftrategifcher Offen-
five den Feind mit einem entfcheidenden Schlage nieder«
werfen, dann aber des Befiegten fehonen, wie ber Un-
bewaffneten überhaupt. Roheit und Graufamleit, Zorn
und Race ziemt fih im Krieg fo wenig wie im Frieden.
Wie weit die Humanität des Lao⸗tſe geht, erkennt man
in überrafehender Weife aus dem Kapitel 74, wo er
gegen die Nützlichkeit und gegen bie Berechtigung der
Todesſtrafe plaidirt.
Ich babe zu Gunften eines Gefammtüberblids über
die Lehre des alten chinefifchen Weifen darauf verzichten
müſſen, von der reichhaltigen epigrammatifchen Spruch-
mweißheit feines Buchs umfaffendere Proben zu geben,
melde häufig eine frappante Aehnlichkeit jelbft in den
gebrauchten Bildern und Wendungen mit befannten
Sprüchen des Neuen Teſtaments aufweifen. Es fteht zu
hoffen, daß die Sinologen die von Plaendner erfolgreich
begonnene Arbeit der Auffchließung Lao⸗tſe's mit Eifer
fortfegen werden. Zu wünſchen wäre auch, daß in einer
neuen Auflage des vorliegenden Werks in den Commen⸗
taren ftatt weitjchweifiger päbagogifcher und erbaulicher
Excurſe durchweg eine mortgetreue Leberfegung des Chi⸗
neftfchen eingefchaltet würde, welche allein dem Laien eine
gewiſſe Controle des frei überfegten Textes ermöglicht.
Ein vorn im Inder ausgeworfenes Inhaltsverzeihniß der
Kapitel würde die Meberficht weſentlich erleichtern. Ich
Schließe mit den Schlußworten bes Kapitel 58, melde
als charakterificendes Motto der Natur des alten Weifen
dienen können: „Licht, nicht Glanz!“
Eduard von Hartmann.
Mapoleon’s L
binftellte, wenn Frau von Steel in firenger, ja leiden-
ſchaftlicher Weife die Schwächen und Fehler des „Ver⸗
gewaltiger8 der Freiheit“ unbarmberzig bloßlegte, fo fehlte
ed dafür an enthufiaftifchen Bewunderern und feurigen
Zobrebnern deſſelben weber in Frankreich noch bei andern
Nationen. Im Laufe der Zeit brach ſich indeſſen Bier
und dar eine kühlere Beurtheilung Bahn, und namentlich
haben viele deutfche Gefchichtfchreiber, z. B. Schloffer,
Häuffer u. a., im den legten drei oder vier Decennten
das Bild des corſiſchen Welterſchütterers jo trefflich ge-
zeichnet, daß eine unpurteiiſche und gerechte Würdigung
defielben volfftändig ermöglicht wurde. Seit aber die
legte franzöfiiche evolution Napoleon IT. der Weg zur
MWieberaufrichtung des Kaiſerthrons in Frankreich bahnte
und die Idees Napol&oniennes dadurch wieder neue
Rahrung erhielten und dem Napobeon⸗Cultus frifche Kraft
gaben, traten vornehmlich im Frankreih Männer auf,
die mit kritiſchem Scharfblid und fittlichem Ernſte das
534
perberbter Sefinnungätern fic verbergen. Sonach hat man
zwei Arten der Tugend, bie irdijche oder weltliche und
die himmlische ober TAo-Tugenb, zu unterſcheiden. Tan
tesfing heißt „Leitfaden der Taͤd⸗Tugend“. Die drei chi⸗
neſiſchen Cardinaltugenden: Menfchenliche (Nächftenliebe),
Gerechtigkeit und Wohlanftänbigkeit (Höflichkeit), bilden eine
Reihe, deren Glieder fi immer mehr dem Irdiſchen
nähern, ſodaß Lao-tfe felbft zweifelhaft iſt, ob es fic)
jchickt, die Mohlauftändigkeit mit dem Tao in Berbinbung
zu bringen, was Hbrigens durch das Zartgefühl fehr wohl
möglih if. Fragen wir, wie das Tao den Menſchen
zur Zugend führt, jo ift e8 vor allem durch Beruhigung
und Befeititgung ber Begierden und Leidenfchaften und
durch ein Gegengewicht gegen die menfchlihe Schwäche
und DBerirrung, welche ſtets in Begierden und feiden-
ſchaften zu verſinken droht. Nach Befeitigung der Affecte
würde von ſelbſt fchon die Gefeglichleit in ber Welt
berifchen, weil jeder Anreiz zur Sünde befeitigt wäre;
aber das Tao thut mehr als das, es gibt die Menſchen⸗
liebe, deren Urfprung himmliſch if. Diefes „Einathmen
des göttlichen Hauches“, infolge deſſen das beflere Selbft
Gewalt erlangt über den gröbern Theil unfers Seins,
neunt Lao⸗tſe „bie Verklärung” (Kap. 36); es entjpricht
dies völlig der Baulinifchen „Wiedergeburt“. Wer fo
vom Tao erleuchtet und volllommen im Guten ift, der
gerade ift fich deflen am meiften bewußt, daß alles das
nicht fein Derdienft ift, fonbern daß er es nur dem Taͤo
verdankt, daß er alfo auch mit ſelbſtverleugnender Pflicht-
erfüllung durchaus nur etwas GSelbftverftändliches thut,
das feines Aufhebens werth ift.
Kap 42, Die Seguungen des Tao, die uns fein Räuber
nehmen, der innere Üerth, den es uns gibt, den uns kein Wege-
lagerer zerftören kann, das eben fol der Titel und der Haupt
inhalt (Grundidee) meines Buches fein.
u. 67. Die vom Too Beſeelten befiten drei Kleinode
und müſſen fi. dadurch auszeichnen, daß fie diefen Beſitz als
ihr höochſtes Gut betrachten. Das erſte diefer Kleinode if
bie Liebe. Das zweite if die Zufriedenheit, Genügſamkeit.
Das dritte ift, daß fie fich nicht für die Erſten und Beften ver
Belt, nicht für Vorbilder ausgeben, demnach die Demuth
und Beſcheidenheit. Wer aber die Liebe befist, der hat Seelen-
flärke. Wer Genügſamleit befitt, Seelengröße Wer nicht als
after glänzen will, fonbern ‘Demuth. befigt, der ift dahin ge»
tommen, das Werk der Liebe an feinen Rebenmenfchen erfüllen
u tönnen, und der macht ſich jo würdig für die Ewigkeit.
ie flieht es aber jegt iu der Welt? Da verwerfen und ver-
achten fie bie Liebe und fomit die Seelenſtärke. Gie wollen
nichts willen von Genligfamfeit und opfern damit ihre Seelen⸗
größe. Sie wollen nicht demüthig nachſtehen, fondern jeher
drängt fi) vor, der Erfle zu fein. Sr fie alle iſt der Tod—
Jene. aber, bie mit den Waffen der Liebe impfen, erringen. den,
höchſten, den ſchwerſten Sieg, den Sieg Über fi) ſelbh. Da-
durch werden fie vor allem Unheil geſchützt, vor allem Böſen
hewaprt fein, demnach das ewige Leben haben. Der Simmel
wird fie zum, Seit führen, denn durch ihre Liebe wurden. fie
gerettet und vom Untergang beiwahrt.
Wenn die Liebe die hoöchſte Tugend ift, jo ift ea
jelbftverBünhlih, daß der Tugenhhafte nicht: dabei flchen
bleiben, Yaun, fiir das. Heil feines, eigenen Ich zu. forgen,
ſondexn die Bethätigung feiner: Liebe auf fo. weite Kreiſe
ausdehnen. muß, ale. ihm feine fnsiale Stellung. geitattet,
alfo file das Wohl der. Familie, der Gemeinde, deö Kreiſes
dev Proninz ober womðöglich des, ganzen Neid wirken
nah, bier überall das Gute und Edle pflegen wird. Denn
Sin chineſiſcher Elaffiler.
erft in Gemeinfhaft werden bie Menſchen ftarl, mit
Hülfsmitteln verfehen, gebildet und aufgeflärt, während der
Bereinzelte hülflos und rathlos irrt wie ein berfchlagener
Schiffer, und nur dann kann das Ganze der Gefellfchoft
gebeihen, wenn bie Großen herablafiend, bie geringen Leute
ergeben gegen bie Großen find, und die Stände ver⸗
iranensvoll zuſammenwirken. (Es zeigt ſich Bier, daß der
Laostfe häufig gemachte Borwurf, über der individuellen
Ethik die fociale Seite der Ethik völlig außer Acht zu
loffen, keineswegs begründet ift.) Die böchften und am
ſchwerſten zu erfüllenden Pflichten find aber jedenfalls die
Pflichten des Regenten, da, wie wir ſchon oben fahen,
Lao⸗tſe dem Berhalten der Regierung im Guten wie im
Schlimmen einen ungeheuern Einfluß auf da Bollk beis
mit. In der Art diefer Einwirkung zeigt fid) aber
wiederum feine übertriebene Oppofition gegen vollswirth-
schaftliche Beftrebungen.
Kap. 57. Durch das Einwirlen auf das Immaterielle, auf
das Geiftige im Menfhen, gewinnt man bie ganze Welt...
Deshalb jagt ein weifer Regent: Ich werde das Nichtmaterielle,
den Geift ansbilden, fo wird das Bolf an feiner Beflerung ar⸗
beiten. Ich werde die Liebe zur Geiftesreinheit, Geiftesklarheit
und Gemüthsruhe in meinem Lande erweden und pflegen, fo
wird das Boll von felbf gut und brav. Ich werde das
Smmaterielle, Geift und Gemüth der Menfchen zum Gegenſtand
meiner Bearbeitung madjes, jo wird das Bolt in jeder Weiſe
für ſich felbft forgen können.
Dabei folen aber Wort und Handlungen der Men«
Shen möglihft unbefchräntt fein, niemand foll eine
2ehre aufgedrungen oder aufdisputirt werden, niemand
fol herbeigerufen werden, fondern man ſoll ihn von ſich
felbft aus dazu gelangen laſſen, indem das Borbild der
Tugend auch in ihm die Tugend erwedt. Dieſe Toleranz
wird in China, dem Lande der abfoluten Glaubensfreiheit
und vielleicht des beften Bollsſchulunterrichts, thatſüchlich
geübt. An fich find diefe Yorderungen vortrefflih; wenn
aber Lao⸗tſe glaubt, daß die Regierung damit alles gethan
babe, fo liegt eben hierin fein Irrthum, ber mit ſeinem
eontemplativen Duietismus zufammenhängt. Es zeigt fi
bier die Achillesferfe des myſtiſchen Idealiſten, der in
theoretifcher Hinficht von Kong⸗fu⸗tſe willig als der Höhere
anerlannt wurde, ohne daß legterer dadurch Luſt bekam,
ih zu feiner Anſicht zu bekehren. Kong-fu⸗tſe wußte
ſehr wohl, was er that, abs er feinen praktifchen Realis-
mus dem myſtiſchen Idealiomuos des Lao⸗tſe entgegen⸗
ſtellte — denn der Realiſt übt allemal größere Einwir⸗
fungen auf die realen Verhältniſſe aus —, und die
Folgezeit bewies, daß ex den Bedürfniſſen ſeines Bolle
beſſer Rechnung getragen hat als fein genialeren Zeit⸗
genofſe. Die Negation gegen das Sinnlich⸗Realt, welche
den Grundzug der Philoſophie des Lao⸗tſe bildet, erſtreckt
ſich auch auf das. praktiſche Leben; dies iſt ein Punkt,
den der Ueberfetzer vollſtündig verkunnt hat, indem ihn
feine unerquickliche Polemik gegen Inlien dazu fortriß, in
ber Widerlegung der irrthümlichen Auffaſſung des letztern
zur weit, zu gehen. Aber Lao⸗tſe iſt coutemplativer Quietiſt
ganz in demjelben Maße, wo nicht in noch Höhen, ala es
Spinoza ift. Schon die Nebenorduung von Genügfomkeit und
Demuth neben bie Liebe follte dies zeigen, da beide in einen:
faft fo rigoriſtiſchen Sinne verftanden find wie bei Jeſus (vgl.
Mattb.10, 9. 10; 5, 20 — 41). Bon aller Sinmenluft, Begierdon
Zur Gefgigte
und betäubenden Vergnügungen muß der Weiſe als von
Berunreinigungen feines Gleichmuths fi fern Halten;
„Bunftbezeigungen, Gnadenbeweiſe, Macht, Ehren müſſen
in uns ebenſo wol Beſorgniß, ein beklemmendes Gefühl
erzeugen, als Schande, Entehrung, Beſchämung, Zurüde
ſetzung; hohe Würden, Hoher Stand muß uns ebenſo
befäftigen und betrüben, wie das Gefühl, daß wir über⸗
haupt einen Körper haben‘, woraus nämlich allein „al
unfer ram, unfere Sorge, unfere Betrübniß entſpringt“
(Kap. 13); — in der That eine vollftändige theoretifche
Kreuzigung bes Fleiſches. Alles Streben nad Erwerb
und Befig oder gar nad) Lurus ift ſchlechterdings thöricht
und verkehrt. Was, frage ich, bleibt da übrig als Trieb-
feder des Handelns, wenn alles dies verpönt, und Zurlid-
ftellung der eigenen BPerfönlichkeit oder abfolute Selbft-
verleugrung unbedingte Forderung if? Iſt es nicht
genug gejagt, daß das Ideal der Tugend, das wie im
Stoicismus als „der Weiſe“ bezeichnet wird, niemals aus
feiner Gelafjenheit und ruhigen Würde heraustreten fol,
Daß er ſich durchaus nur mit dem rein Geiftigen beichäf-
tigen und nur biefes genießen fol, und daß er ſich ba-
mit tröften fol, „daß das Größte und Erhabenſte der
Welt ficher weniger durch Außendinge als durch Geiſtes⸗
kraft vollbracht wird‘? Die Demuth des Weifen foll
(wie bei Jeſus) fo weit gehen, daß er auf fein Recht
verzichtet, während er feine Pflicht erfüllt, daß er die
Rechte anderer achtet, aber nicht verfucht, diefelben zur
Erfüllung ihrer Pflichten gegen ihn anzubalten. Sollte bei
folden Srundfägen die Sulien’fche Heberfegung vom Schluß
des fiebenundfunfzigften Kapitels wirklich fo weit von ber
Wahrheit abliegen, wie Plaendner meint? Freilich verirrt
fich diefer Quietismus nirgends in Askeſe, nirgends auch in
geiftige Mortification; aber doch ift ein idyllifcher Zuftand
fein Ideal, in dem man vom Körper und trbifchen Be:
firebungen möglihft wenig weiß und ganz ciner tugend-
haften Befchaufichkeit Iebt. Aber auch mit dem Wirken
blos durch den Geift ift es nicht fo genau zu nehmen;
Zur Geſchichte
1. Geſchichte Napoleon's des Erſten. Bon P. Laufrey. Aus
dem Franzöſiſchen von C. von Glümer. Eingeleitet von
Adolf Stahr. Erſte bis achte eleferung. Berlin, Sacco
Nachfolger. 1869— 70. Gr. 8. Jede Lieferung 15 Rgrt
2. Napoleon I. und fein Geſchichtſchreibet Thiers. Bon Ju⸗
les Barni. Berdeutfht von A. Elliffen. Leipzig,
D. Wigand. 1870- 8. 1 Thlr.
Bis auf die nenefte Zeit herab wurden die Geſchicht⸗
fchreiber Napoleon's I. bei der Darftellung der Thaten
und des Charafters diefer dämoniſchen Menſchennatur
vorwiegend nur durch Bewunderung oder durd) Haß ge-
leitet. Wie die Bewunderung einerfeit8 zu Schmeichelei
und Abgötterei führte, To ließ andererfeitS der Haß ben
Parteileidvenfchaften, mochten diefelben auch immerhin in
hohem Grade. ihre Berechtigung haben, blind die Zügel
ſchießen. Wenn noch vor dem Sturze des gewaltigen
Corſen in Deutſchland Johann Gottlieb Fichte mit dem
fittfichen Zorn eines edeln Patriotismus den Unterjocher
der Bölfer als einen verabſcheuungswürdigen Despoten
Napoleon’e 1. 535
denn der Weife ſchätzt die Waffe an feiner Seite auch in
Wriedenszeiten, und wenn es fein muß, weiß er fie mit
Nachdruck zu gebrauchen, Dagegen polemifirt Lao-tje
gegen fiehende Heere im Frieden und gegen offenfive
Politik; wird das Reich zu einem politifchen Defenftofrieg
genötbigt, dann freilich ſoll e8 alle Kräfte anfbieten und
concentriren und in ummiderftehlicher ftrategifcher Offen⸗
five den Feind mit cinem entfcheidenden Schlage nieber-
werfen, dann aber des Beſiegten jchonen, wie der Un-
bewaffneten überhaupt. Roheit und Graufamkeit, Zorn
und Race ziemt fih im Krieg fo wenig wie im Trieben.
Wie weit die Humanität des Lao⸗tſe geht, erkennt man
in überrafehender Weife aus dem Kapitel 74, wo er
gegen die Nützlichkeit und gegen die Berechtigung der
Zobesftrafe plaidirt.
Ich Habe zu Gunften eines Gefammtüberblids über
die Lehre des alten chinefifchen Weifen darauf verzichten
müffen, von der reichhaltigen epigrammatifchen Sprud)-
weisheit ſeines Buchs umfaffendere Proben zu geben,
welche häufig eine frappante Aehnlichkeit felbft in den
gebrauchten Bildern und Wendungen mit befannten
Sprüchen des Neuen Teftaments aufweifen. Es fieht zu
hoffen, daß die Sinologen die von Plaendner erfolgreich
begonnene Arbeit der Auffchließung Lao-tje's mit Eifer
fortfegen werden. Zu wünfchen wäre aud, daß in einer
neuen Auflage des vorliegenden Werks in den Commen-
taren ftatt weitjchweifiger pädagogischer und erbaulicher
Ereurfe durchweg eine wortgetrene Leberfegung bes Chi⸗
nefifchen eingefchaltet wiirde, welche allein dem Laien eine
gewiffe Controle des frei überfegten Textes ermöglicht.
Ein vorn im Inder ausgeworfenes Inhaltsverzeichniß ber
Kapitel wiirde die Ueberfiht wefentlich erleichtern. Ich
Schließe mit den Schlußworten des Kapitel 58, melde
als charakterificendes Motto der Natur des alten Weifen
dienen fünnen: „Licht, nicht Glanz!‘
Eduard von Hartmann.
Hapoleon’s L
binftellte, wenn Frau von Stael im fixenger, ja leiden-
ſchaftlicher Weile die Shwäder und Fehler des „Ver
gewaltigers bee Freihert“ unbarınherzig bloßlegte, fo fehlte
es dafür an enthufiaftifchen Bewunderern und feurigen
Zobrednern deffelben weder in Frankreich noch bei andern
Nationen. Im Laufe der Zeit brach fich indeſſen bier
und da eine kühlere Beurtheilung Bahn, und namentlich
haben viele deutſche Gefchichtfchreiber, 3. B. Schloffer,
Häuffer u. a., m den legten brei oder vier Decennien
das: Bild des corfiichen Welterſchütterers jo trefflich ge-
zeichnet, daß eine unpurteiiſche und gerechte Würdigung
defielben vollftändig ermöglicht wurde. Gelt aber die
legte franzöfifche Hevolution Napoleon UI. der Weg zur
MWieberaufrichtung des Kaiſerthrons in Frankreich bahnte
und die Id&ees Napol&oniennes dadurch wieder neue
Nahrung erhielten und dem Napoledn⸗Cultus frifche Kraft
gaben, traten vornehmlih im Frankreich Männer auf,
die mit kritiſchem Scharfblid und fittlihem Ernſte das
536 Zur Geſchichte
innerfte Wefen des Gründers ber Napoleonifchen Dynaftie
enthilllten und mit überlegener Wahrheitsliebe und ziem-
{ih frei non falſchem Nationalflolze der hiftorifchen Kritik
und der öffentlihen Moral ihr Recht angedeihen Tießen.
Wie früher die Amerikaner Channing und Emerfon von
dem Standpunkte einer tiefen Sittlichkeit und erhabenen
Sreiheitsliebe den maßlofen Egoismus und den Mangel
jedes fittlichen PBrincips in dem Charakter Napoleon’s 1.
nachgewiefen haben, fo trugen, feit Napoleon III. das
second empire inaugurirte, die Franzoſen Charras, Edgar
Duinet, Duvergier be Hauranne, Scherer, Chauffour«
Keſtner u. a. durch ihre gründlichen, ein genaues Ge⸗
ſchichtsſtudium verrathenden Arbeiten nicht wenig bazu
bei, den fchillernden Nimbus des Napoleonismus zu zer»
fireuen. Wuchtigere Hiebe aber, als alle genannten Ge⸗
ſchichtsforſcher, Philofophen und Bubliciften es zu thun
im "Stande waren, verjegten jüngft dem napoleonifchen
Zobendienſte die zwei Franzoſen P. Lanfrey und Jules
arni.
Betrachten wir nun zunächſt das umfangreiche Werk
Lanfrey's, „Geſchichte Napoleon's J.“ (Nr. 1). Es
liegen uns von demſelben acht Lieferungen in deutſcher
Ueberſetzung vor, von welchen die letzte die Geſchichte
Napoleon's J. bis zur Zuſammenkunft deſſelben mit Kai⸗
ſer Alexander in Tilſit fortführt.
Der erſte Band, welcher zwölf Kapitel enthält, fchil-
dert Napoleon’8 Yugend, fein erftes Auftreten und feine
fernere Laufbahn bis zum verhängnigvollen 18. Brumaire
(9. November) 1799. Hier Heißt e8:
Der KLontraft zwiſchen dieſem außerordentlihen Manne
und dem allgemeinen Bewußtſein feiner Epoche braucht nicht
gefucht zu werden, er fpringt fofort in die Augen. Napoleon
erfcheint durch feinen Charakter, feine Ideen, befonders durch
das Ziel, das er verfolgt, als ber Sohn eines andern Zeit-
alters; aber je mehr wir ihn fludiren, um fo deutlicher fo:
men wir zu der Erfennutiß, daß nur die Theile feines Werks
lebendig geblieben find, die er dem Geiſte feiner Zeit entlehnte;
alles Übrige ift vergänglide Erſcheinung. In der Rolle, die
Napoleon geſpielt Hat, liegt alfo für die Gejchichte nichts Uner-
Härliches.
Schon Titus Livius charakterifirt die Einwohner von
Corfica ale „ebenfo ımbezähmbar wie die Thiere des
Waldes”. Und dieſen Typus trugen die Corfen noch
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, ja fie tragen ihn,
wie Lanfrey verfichert, noch jest. Mit einer unbezwing-
lichen, wilden SHartnädigleit verband ſich indeflen im
Laufe der Zeit eine gewifje, aus Italien flanımende Ge
jchmeidigfeit, mit der Energie bes Charakters vereinte
fi ein feiner, gewandter Gef. Müäßig, muthig, gaſt⸗
freundlich, aber zugleich Hinterliftig, abergläubiſch, rach⸗
fühtig — fo waren die Corſen vor Jahrhunderten, fo
find fie noch heute. Sie gleichen ihrem in den Ebenen
glühend heißen, auf den Höhen eifigen Klima: ihr Herz
ift Teidenfchaftlih, ihre Kopf kalt, und fie find ebenfo
geneigt, fih in der Diplomatie auszuzeichnen wie
im Kriege. Napoleon’s Familie ftammte aus Italien
und vereinigte in fich eine nahezu gleiche Miſchung italie-
nifcher und corfifcher Eigenfchaften, fie zeigte jene „Spu⸗
ren ber feinorganifirten, kraftvollen Rafſſe, welcher Mac-
chiavelli entfproßte”. Carlo Bonaparte, Napoleon’s Vater,
gehörte zu den Gefährten des corfifchen Patrioten Baoli;
Napoleon’s ].
und längere Zeit erſchien es dem jungen Napoleon als
das höchſte Ziel, biß zur Stellung eines Baoli emporzu-
ſteigen. Noch im Jahre 1791, wo er fein erſtes politi⸗
ſches Manifeſt unter dem Titel „Lettre a Matteo Butta-
fuoco” drucken ließ, war er, troß feiner franzöflfchen
Erziehung zu Brienne und Paris, bis in den tiefiten
Grund feiner Seele Corfe geblieben und vermochte fi
itber den Fall feines Heimatlandes nicht zu tröften. Man
erfennt in jenem Briefe an YButtafuoco, der bei ber Ver⸗
einigung Corficas mit Frankreich ein Werkzeng Choiſeul's
gewefen war, noch die Erbitterung bes Patrioten, welcher
Granfreih, trog der Metamorphofe von 1789, bie ge»
machten Eroberungen nicht verzeihen Tonnte.
Lanfrey führt nun weiter aus, wie perfönlicde Ver⸗
hältniffe Napoleon der Franzöfiichen Revolution in die
Arme trieben, wie er mit Paoli zerfiel, auf Corſica zum
Landesverräther erflärt wurde und fih nur mit Mühe
retten konnte. Der fenrige Anhänger der nationalen
Sache Corſicas wurde zum Diener der franzöſiſchen Re-
publit; aber während er die Farben und die Sprade
der Revolution annahm, theilte er doch weder ihren
Enthuflasmus noch ihren Haß. Durch Lift, Beſtechung
und Gewalt, durch diefelben Mittel, welche er in feinem
fpätern Reben noch fo oft anwandte, wußte er über feine
Porteigegner auf Corſica, Marius Peraldi und Bozzo
di Borgo, zu fiegen und feine Wahl zum Bataillonschef
der Miliz von Ajaccio durchzufegen. Bei Gelegenheit
eines Bollsaufftandes auf Corſica fprach er gegen feinen
Freund Bourienne das Bedauern aus, „den revolutionären
Pöbel nicht niederfartätfcht zu fehen”. Obſchon er das
Boll verachtete, war er doch längere Zeit ein eifriger
und mit Beifall aufgenommener Redner in Vollsverſamm⸗
ungen. Als die Alternative an ihn berantrat, fi} ent⸗
weder für die Unabhängigfeit feines Geburtslandes ober
für die Vortheile zu entfcheiden, die ihm das Feſthalten
an Frankreich verfprach, ſchwankte er nur wenige Augen-
blide. Er organifirte eine Verſchwörung, um die Citadelle
von Ajaccio zu überrumpeln und die Stadt ber fran-
zöftfchen Republik zurückzugeben. Der Plan mislang;
fein Vaterhaus wurde von den corfifchen Patrioten zer-
ftört, feine Mutter und feine Gefchwifter mußten flüchten
und ſahen ſich genöthigt, wie Napoleon felbft ein Afyl
auf dem Kontinent zu fuchen. Bald war auf ganz Cor»
fica nicht mehr ein erflärter Anhänger Frankreichs zu
finden (Mai 1793).
Nachdem Napoleon die Seinigen in Marfeille unter»
gebracht Hatte, ſchloß er fi), wie feine gegen Ende Yuli
1793 veröffentlichte Schrift „Das Souper de Beancaire“
beweift, der franzöfifchen Bergpartei an, obſchon alle feine
Sympathien, wie er felbft wieberholt geftanden hat, anf
feiten der Girondiften waren. Nicht mit Unrecht fagt
beshalb Lanfrey ©. 44:
Es ift nicht zu leugnen, daß in Bonaparte, ſobald die Ge⸗
iaicte von ihm Befitz ergreift, Berechnung und Ehrgeiz fiber
alle andern Zriebfedern den Sieg davontragen. Wir fehen
ihn — frei von jedem Gemiffensfcrupel, frei von jeber politi-
ſchen Leidenſchaft, auf dem beften Fuße mit den Siegern, ohne
den Befiegten feindlich zu fein, losgelöſt von allen großberzigen
Illufionen von ehemals — da8 unbegrenzte Feld der Thätig⸗
feit überſchauen, da® fih ihm öffnet. Der Auserwählte des
Ruhms hat nur nod einen Rathgeber: feinen unerfättlicher
u ⸗
Zur Geſchichte
Ehrgeiz; nur noch ein Geſetz: ſein eigenes Ideal von Größe
und was er ſelbſt „die Umſtünde“ zu nennen pflegt, das heißt
bie vollendeten Thatſachen, das Glück, den Erfolg. Er wird
fih, feine Gelegenheit entgehen laſſen, das Glück zu ergreifen.
Und die Gelegenheit fam nad kurzer Zeit, glänzender als er
erwarten konnte.
Mit der Belagerung von Zoulon beginnt der Name
Napoleon Bonaparte fit) dem Gedächtniß der Menfchen
einzuprägen; und bei ihrem erften Erfcheinen auf dem
Schauplatze der Gejchichte ift die Geftalt diefes aufer-
gewöhnliden Menfchen von Bildern des Schredens und
Entjegend umgeben. Napoleon wurde bald ein intimer
Freund des jüngern Robespierre; er entledigte fich aber
ſchnell der Protection der äußerſten Demokratie, als
er fand, daß ihm daraus mehr Gefahren als Vortheile
erwuchfen. Er trennte fich von biefer Partei, wie ex
fi) von der Paoli's getrennt, und zwar aus gleichen
Gründen.
Der Verfaſſer jchildert (Bd. 1, Kap. 2) Napoleon’s
Laufbahn in der itafienifchen Armee, bis er, misvergnügt
über die Behandlung von feiten des Depntirten Aubry, der an
Carnot's Stelle da8 Departement des Kriegs übernommen
hatte, mit feinen Adjutanten Yunot und Marmont, bie
ihm beide, durch fein geiftiges Webergewicht beherrſcht,
leidenſchaftlich zugethan waren und feinem Stern bereits
unbedingt vertrauten, nad) Paris ging, um dafelbft im
Bunde mit Barras in den erflen Tagen bes October
1795 die Sectionen der parifer Nationalgardiften nieder-
gulämeitern. Der 13. Bendemiaire lieferte aber ben
eweis, von welchen Gewicht der Degen eines Soldaten
zu fein vermochte; und fo gemöhnte der Unglüdstag die
Regierung daran, auf die Armee zu zählen, und bie
Armee, ſich der Regierung zu bedienen — mit einem Wort,
er bereitete der Militärherrfchaft die Wege.
Um fi) von der gefährlichen Nähe eines hochftreben-
den ehrgeizigen Menfchen zu befreien, übertrug das vom
Convent gewählte Directorium Napoleon den Oberbefehl
ber italienischen Arme. Er hätte aber, wie Lanfrey
meint, dennoch Fein fo ſchnelles Avancement gemacht,
wäre nicht feine Heirath mit Joſephine Beauharnais
Binzugelommen.
Napoleon hat ſelbſt erzählt, in welcher Weife er Frau
von Beauharnais Tennen lernte. Einige Tage nach ber
Entwaffnung der Sectionen erfchien ein Knabe von 10—
12 Yahren im Bureau des Generalftabes und bat um
den Degen feines Vaters, eines alten Generals der Ne-
publik, der auf dem Schaffot geftorben war. Diefer Knabe
war Eugen von Beauharnais. Durd) feine Thränen ges
rührt, ließ ihm ber General den Degen geben und empfing
am nächſten Morgen den Beſuch und Danf der Frau
von Beauharnais, die er nur dem Namen nad) kannte,
obſchon fie die intime Freundin feines Protector Barras
war. Ueber dies Verhältniß, fowie über den Antheil,
den Barras an den Entfchlüfjen der Frau von Beaubarnais
gehabt, beobachtete Napoleon ſelbſt ſtets ein tiefes Still-
Schweigen; die Thatſache fteht jedoch feft und wird durch
viele Zengniffe aus. jener Zeit ſowie durch Joſephine felbft
beftätigt, daß fte, die leichtfinnig unbekiimmerte Creolin,
fich vielleicht nie zu dieſer Heirath entfchloffen haben würde,
hätte nicht Barras den Oberbefehl über die italienifche
1870. 3.
537
Armee als Hochzeitgefchent verfproden. Sie ſchrieb furz
vor ihrer Verheirathung:
Barras verfichert, daß er dem General, wenn ich ihn hei⸗
vathe, den Oberbefehl über bie italienifche Armee verjchaffen
wird. Als ich geftern mit Bonaparte von dieler Beglinftigung
ſprach, die, noch ehe fie ihm gewährt iſt, das Murren feiner
Waffenbrüder erregt, fagte er: Glaubt man etwa, daß ich der
Protection bedarf, um vorwärts zu fommen? Eines Tags
werben fie fi) alle glücklich ſchätzen, wenn ich ihnen die mei-
nige gewähre. Ich habe meinen Degen an der Seite, und mit
feiner Hülfe gedente ich es weit zu bringen.
Daß die rauen auch zu jener Zeit gar viel in Paris
vermochten, und daß Napoleon dies fehr wohl erkannte,
geht zur Genüge ans einem Briefe hervor, ben er am
12. Juli 1795 an feinen Bruder Joſeph fchrieb und in
welchem folgende Stelle vorlommt:
Die Frauen find überall, in ben Theatern, auf den Pro⸗
menaden, in den Bibliotheken. Paris ift der einzige Ort der
Erde, wo die Frauen verdienen, das Steuerruder zu führen.
Die Männer find aber aud) völlig in fie vernarrt, denken nur
an fie, leben nur für fie und duch fie. Eine Frau braucht
nur ſechs Monate in Paris zu leben, um zu wiſſen, was ihr
zulommt und wie weit fi) ihre Macht erfiredk.
Es ift übrigens befannt und auch Lanfrey betätigt
es, daß Napoleon Joſephine von Beauharnais mit glüs
hender Leidenfchaft Tiebte, vielleicht die einzige, bie je fein
Herz erregte. Diefe Liebe wurbe indeffen auch noch durch
feinen Ehrgeiz genährt, da er fehr wohl wußte, daß bie
Heirath mit Frau von Beauharnais ihm einerfeits die
Stellung gab, die er am meiften erfehnte, und ihm an⸗
dererſeits einen Geſellſchaftskreis eröffnete, der fein Ent-
gegenfommen bisher mit dem größten Mistrauen auf-
genommen hatte. Als aber feine Liebe und fein Ehrgeiz
in Conflict famen, zögerte er nicht allzu lange, Joſephine
zu verſtoßen; wie gemein, falſch und Hinterliftig Napoleon
fi) wiederholt der harmloſen Joſephine gegenüber benahm,
erzählt Jules Barni in dem gleichfall oben angeführten
Buche „Napoleon I. und fein Gejchichtfchreiber Thiers“.
Die Wahrheit Hat der Amerifaner Channing in feinen
„Remarks on Napoleon Bonaparte” („Works”, Bofton
1843, I, 117) mit treffenden Worten ansgefprochen:
Die Liebe zur Macht nnd Herrſchaft nahm fein ganzes
Weſen dergeftalt in Anſpruch, daß feine andere Neigung oder
Leidenfchaft, keine Yamilienliebe, keine Privatfreundfchaft, Keine
menſchliche Sympathie, keine menſchliche Schwäche in feiner
Seele neben der Leidenfchaft zu Herrfchen und dem Wunſche,
feine Macht in glänzender, geräufchvoller Weife fundzugeben,
Play Hatte, daß vor dieſer Leidenfchaft und diefem Wunfche
Ehre, Liebe und Menſchlichkeit für ihn gleichjam ins Nichte
jerrannen.
Am 23. Februar 1796 wurde Napoleon zum Ober-
befehlshaber der italienifchen Armee ernannt, am 9. März
deſſelben Jahres feierte er feine Hochzeit, und am 26. März
erreichte er Nizza, wo fich damals das Hauptquartier der
italienifehen Armee befand.
Der uns zugemefjene Raum verbietet ung, den reichen
Inhalt der einzelnen Kapitel genauer anzugeben; unfere
Aufgabe ift es, auf die charakteriftiiche Manier, bie
gründliche Kritik und die Hiftorifche Treue aufmerkfam
zu machen, womit Lanfrey den modernen Cäſar auf
defien blutigem und fchwindelndem Lebensgange verfolgt. 5
Hierzu genügt es, einige der wefentlichflien Punkte
hervorzuheben.
NRapoleon’s 1.
68
.
538 Zur Geſchichte
Die Proclamation, durch welche Napoleon ber fran-
zoſiſchen Armee die Eröffnung des Feldzugs in Italien
anzeigte, war fern von dem Geifte, der biöher die repu-
biifanifchen Heere beſeelt Hatte. Der Krieg mußte fi
durch den Krieg ernähren; die unebelften Begierden dien»
ten al® Sporm zur Tapferkeit. An die Stelle ber
Principien trat der BVortheil, die Gewalt an die Stelle
des Rechts. Der Freiheitskrieg wurde zum Eroberungs-
krieg, wovon bie umbermeidliche Folge war, daß das
Uebergewicht in der Republit dem militäriichen Elemente
anheimfiel.
Die Reihtgämer, welde die Mehrzahl der franzöfiicen
Generale ſich in Italien erwarben, waren da® Unterpfand der
Herrſchaft, die Napoleon fiber fie ausliben wollte. Daß Na
poleon felbft inmitten fo vieler käuflichen Seelen unbefiechlich
blieb, geihah mehr aus Stolz und Hug berechnendem Chrgeiz
als aus Tugend.
In Bd. 1, Kap. 3—7 ſchildert Lanfrey die Unter
werfung Piemonts und bie Eroberung ber Lombardei, bie
Berlegung der Neutralität Venedig, Wurmſer's Nieder-
Inge, die Gründung der Cispadanifchen Republik, die
Schlachten bei Arcole, Rivoli, Tolentino u. |. w., bie
Unierhandlungen mit Neapel, Rom und andern italienifchen
Staaten, ben Präliminarfrieden von Leoben u. f. w.
Ueberall zeigte Napoleon als fühner Soldat und uner-
ſchrodener Feldherr flaunenswerthe Fähigkeiten, nicht wer
niger aber offenbarte er fi als einen gewiſſenloſen
Heuchler, einen durchtriebenen Intrignanten und einen
Menfchen, der vor feinem Mittel zurüdicredt, ſobald
dafielbe zur Befriedigung feines Ehrgeizes dient. „Die
Befreier der Völker“, wie ſich bie Franzoſen den übrigen
Nationen angekiindigt Hatten, wurden unter Napoleon in
Htalien die gewaltthätigften Eroberer und gemeinften
Räuber; und die Herren vom Directorium in Paris, den
elenden Barras an der Spike, ließen ben ehrgeizigen
General nit nur gewähren, fondern beflärkten ihn,
da er fie mit einem Goldregen überſchüttete, in bem
verruchten Plünderungsfuftem, das er Stalien gegenüber
verfolgte,
ie jene Fürften von Gottes Gnaden — fagt unfer Autor,
vom tiefften fittlichen Unwillen erregt —, die fie im ihren
Decreten fo oft gebrandmarkt Hatten, fahen fie in Italien nur
nod einen nad Möglichkeit auszubentenden Meierhof und in
den Stalienern ein ihrer Willfür preisgegebenes, ſteuerpflichtiges,
zu Srondienften herabgewürdigtes Bolt,
Mit Recht tadelt unfer Autor (Bb. 1, Kap. 8) das
verrätherifche Verfahren Napoleon’8 gegen Venedig im
Mai 1797. Ohne einen befondern Drud von außen
hatte er bie neue, mad) feinem eigenen Rath anf den
Ruinen der venetianifchen Ariftofratie gegründete, durch
einen von ihm felbft unterzeichneten Vertrag garantirte
Republik, welder er täglich Verfiherungen feines Schuges
fandte, freiwillig und ohne den geringften Verſuch, fie zu
vertheidigen, an Defterreich ausgeliefert. Und nicht zu
frieden, fie dem Haufe Habsburg ausgeliefert zu haben,
bereicherte er ſich auch an ihrem Eigenthum und verließ
fie nicht eher, als bis fie ansgebentet und zu Grunde
gerichtet war. Bon ſolcher Art war die „Erldſerrolle“,
die Napoleon und feine Soldaten in Italien fpielten.
Den politiſchen Umtrieben, welde um diefe Zeit und
etwas fpäter in Paris ftattfanden, widmete Napoleon die
hochſte Aufmerkfamteit, ſoweit feine perfönlichen Interefien
Napoleon’s L
dadurch berührt wurden. Gein Ehrgeiz war bereits jo
jewachjen, daß ihm die Rückkehr ber Bourbonen mit ber
akanft, die er für fich felbft erträumte, unvereinbar ſchien.
Die conftitutionele Partei flößte ihm faft ebenfo ſiarke
Abneigung ein, denn ihr Sieg hätte die freie Berfafjung
befeftigt und die Militärdietatur unmöglich gemacht. Auch
die Mitglieder des Divectoriums haßte und veradhtete ber
General von Grund der Seele, aber er leitete fie nad)
Gefallen und legte ihnen ein Doch auf, das fo leicht
feine andere Regierung ertragen hätte; er war überzeugt,
daß ihn bie öffentliche Meinung bereits über fie ftellte,
und daß er eines Tags berufen fein würde, ihre Erb⸗
{haft anzutreten.
Der 18. Sructidor des Jahres V (4. Sept. 1797),
an welchem bie Directorialregierung jenen Stagtsſtreich
beging, welcher die von jo vielen Veränderungen ermübete,
von den verjchiebenften Parteien jo oft betrogene und
deshalb ihrer überbrüßige franzöfifche Nation immer mehr
demoralifirte, war, wie Sanfeen treffend bemerkt, der bei=
nahe augenblidlich eintretende Gegenfchlag gegen bie heim-
tüdifhen Rechtsverletzungen, die Napoleon in Benebig
begangen Hatte. Die Proteftationen des Gefeßgebenden
Körpers riefen die drohenden Kundgebungen Bonaparte’s
und feiner Soldaten hervor; bie Aufregung ber Armeen
gab dem Directorium die Waffen in bie Hände, ohne
welche e8 ihm nie gelungen wäre, den Sieg liber die
Näthe davonzutragen, und als gerechte Sühne ſah
Frankreich feine Freiheit unter demfelben Schlage fallen,
der die Unabhängigkeit Venedigs vernichtet. Das Heer
hatte ben 18. Fructidor gemacht, fomit war die Militär
dietatur vorbereitet. Wir Können unferm Autor nur
beiftimmen, wenn er mit Bezug auf ben 18. Fruc-
tidor fagt: \
Die Hauptmaht des republikaniſchen Regime Hatte bie
dahin in der Anfrichtigfeit feines Fanatismus gelegen. Un dem
Tage, wo es verrieth, daß es nicht mehr am ſich felbft glaubte,
und feirie eigenen Grundfäge verhöhnte, indem es den National»
willen offen mit Füßen trat, verlor es als Princip feinen ganzen
Werth und exiſtirie nur noch durch die Intereffen, die es ver-
trat oder unterflügte. Jede Macht, welde biefen Jutereſſen
eine genligende Schugwehr bot, konnte vom jegt am einer guten
Aufnahme ſicher fein. Hätte fi das Directorium, flatt jo viele
Unfgulbige zu verbannen und fih über das Gele zu fiellen,
damit begnügt, die royaliſtiſche Verſchwörung niedergumerfen,
indem es biejelbe, ale Verbündete des Anslandes, dem Hab
und der Beratung preisgab; hätte es ſich zw gleicher Zeit
willig finden laffen, fomeit es fih mit der Verfaſſüng vertrug,
eine Bolitif zu verfolgen, bie erwiefenermaßen den Wünjhen
des größten Theils der Bürger entiprah, fo würde ſowol
feine moralifhe Herrſchaft wie die allgemeine freiheit im
biefer Krifis erflarkt fein, auſtatt im derfelben zu Grimde
zu gehen.
Nachdem Lanfrey (Bb. 1, Kap. 9) den Frieden vom
Campo«Formio berieben, ſchildert er im zehnten und
elften Kapitel die Expedition nad) Aegypten und den Feld»
zug in Shrien. Der Friede von Campo«Formio über-
ließ den Defterreichern, deren Kaifer ſich durch einen ge-
heimen Artikel verpflichtet hatte, alles aufzubieten um
Frankreich die Mheingrenze zu verfchaffen, befanntlich:
Venedig, Iftrien, Dalmatien und alles venetianifche Ge»
biet jenfeit der Etſch. Der Er-Doge Manin follte im
Namen feiner Mitbürger den Eid leiften; mit zerriffenem
Herzen verftand er fi dazu. Aber im Augenblid als
Stizzen und Novellen von Frauenhand.
er vortrat, um die verhängnißvolle Formel auszuſprechen,
fah man ihn fchwanken, und von Schmerz und Scham
überwältigt ftürgte er, wie vom Blitz getroffen, leblos
zu Boden. So unterlag bie Republit Benedig nad) lan-
ger, ruhmvoller Eriftenz; allein das venetianifche Bolt
ftarb nicht mit ihr, es dulbete und litt lange, bis das
Yahr 1866 das Berbrechen fühnte, welches das Jahr
1797 begehen ſah.
Weber Lanfrey noch Barni vermögen bie Expedition
nad Aegypten und den Feldzug in Syrien anders an-
zufehen als ein fluchwürbdiges Unternehmen, nur dazu
beftimmt, dem Piebeftal von Bonaparte's Ruhm eine neue
Stufe hinzuzufügen. Der Kern diefes Unternehmens,
welches fo lange die Augen ber Welt gefefjelt unb ge-
blendet hat, war der Tod und das Elend unzähliger bra-
ver Menſchen. Napoleon wollte England einen empfind⸗
539
lichen Schlag verfegen, indem er, um feinen eigenen Aus-
drud zu gebrauden, von Aegypten und Syrien aus
„Europa von hinten zu paden‘ ſuchte. Allein fein wag-
halſiges Unternehmen mislang, und er verließ feine Sols
baten, bie er tolllühn ins Verderben geführt, in heim-
licher und feiger Weife. Sowol Lanfrey wie Barni mei-
nen, daß es feine Pflicht geweſen fei, bei feinem unglüd-
lichen Heere bis zum legten Augenblid auszuharren.
Allein die Pflicht war niemal® der Regulator von Na⸗
poleon’s Handlungen. Er nahm für fi) den Ruhm und
überließ dem edeln Kleber die Gefahren und bie Berant-
wortlichleit. Und das Schidfal hatte fiir den einen ben
Dolch des Fanatikers, für den andern einen glänzenden
Thron in Bereitfchaft. Rudolf Wochn.
(Der Beſchluß folgt in ber nächſten Nummer.)
Skizzen und Novellen von Frauenhand.
1. Marimus Caſus, ber Oberlehrer von Druntenheim. Social⸗
padagogiſche Cartons von Jeanne Maria von Gayette—
Georgens. Berlin, Frank. 1869. 8. 1 Thlr.
2. Die Nebeliheuhe. Bon Marimns Caſus, Oberlehrer
zu Druntenheim. Erſte Heliade. Berlin, Frank. 1869.
Gr. 16. 5 Nur.
. Novellenftrauß. Zehnter Band: Sonnenblume von Amely
Bölte. upue, Rötſchle. 1869. 8. 1Thlr.
Gertrud von Stein. Erzählung von Clara Ulrici. Ber⸗
lin, Sanfte. 1870. 8. 20 Nor.
. Novellenſtrauß. Neunter Band: Stiefmütterden von Baula
Herbſt. Leipzig, Rötfchle. 1869. 8. 1 Thlr.
. Edle Frauen. Skizzen von Augelika von Lagerfiröm.
Gotha, 5. A. Pertbes. 1870. 8. 28 Nor.
Man bat bemerken wollen, daß Frauen keinen Humor
befiten, und in ber That zeigten ihn bigjetzt die fchrift-
ftellernden Frauen felten. Mangel an Objectivität foll
der Grund fein. Gayette-Georgens ift indeß eine
Sumoriftin, ihr „Maximus Caſus“ (Nr. 1) hat viele Kenn-
zeichen bes Wappens „der lächelnden Thräne“. Wir möch⸗
ten diefe Schrift mit den Worten Rahel’, die dieſe an
einen Freund fchrieb, als die erften Artikel von Börne
erfchienen, einführen: „Lejen Sie die Zeitfchrift von Börne,
Sie werben fi) gefund lachen.” In der That hat das
genannte Buch fo viel Wig, fo richtigen Menfchenverftand,
fo reihen Humor, daß wir die Lektüre deſſelben allen
Freunden gefunder geiftiger Nahrung von Herzen gönnen.
„Socialpädagogifche Cartons“ nennt die Berfafferin
das Buch; diefe originelle Bezeichnung entfpricht dem In⸗
halt. Das Berhältniß von Kirche und Schule, die Re-
form der Bollsfchule, die Erziehung im allgemeinen, die
Sramenemancipationsfrage wird nicht in falbungsvoll rüh⸗
render, auch nicht in abftract ernfter Weife, fondern mit
künſtleriſchem Verſtändniß lebensvoll an ©eftalten ent-
widelt. Frifhe und Unmittelbarkeit geben den trodenen
Brineipien anmuthigen Reiz, bie Gebanlentiefe und Bil.
dung der Berfafferin forgt dafür, daß auch bei den lächer⸗
lichſten Scenen und den Tomifchen Figuren der ſittliche
Grundton nicht fehle.
Caſus, der Zukunftsſchulmeiſter, hat zu ſeiner geiſti⸗
gen Ergänzung Clarifſa, die Fortſchrittspädagogin. Beide
nn pw
wollen gemeinfhaftlich die Reform der Erziehung in ber
Bolksſchule beginnen. Doc, Paftor Krälelmeier, Sabine,
des Caſus eheleiblihe Kran, früher Wirthichafterin des
genannten geiftlihen Herrn, das wadelige mit Einſturz
drohende Schulhaus ftellen ſich als Hinberniffe entgegen.
Aber Paſtor Kräfelmeier ftirbt; das Schulhaus ftürzt
unter dem Knall ber erften und einzigen Champagner-
flafhe, die e8 je in feinen Mauern gehabt, zuſammen;
Sabine, die aus des Paſtors Keller biefe Flafche mit⸗
gebracht, ftürzt gleichfalls, betäubt von dem Eindrud ber
Berfehwendung des Ehegatten, zuſammen unb wird unter
dem Schutte des Hanfes begraben. Der Denfiprud, den
Caſus aus der Ehe mit diefer „Praktiſchen“ gewonnen,
lautet: „Fluch allen Frauen, die fieden und fchmieden
glühendes Eifen ftatt häuslichen Frieden, und mit ihrer
Tugend, Ehrbarkeit und Würde find eine glühende eiferne
Bürde. Nur Fein von ſich felbft begeifterter Fleiß, ber
nicht8 von dem Bedürfniß des Nächften weiß.“
Caſus und Elarifja wandern von Druntenheim nad)
Drübenheim, wo Auerbach's Höhe fleißig von den Mit⸗
gliedern der Frauendereine beſucht wird; „bie Damen
fommen mit Irma⸗Shawls, um fie auf freiem Felde unter-
breiten und fi) malerifch ſchwindſüchtig daranf hinſtrecken
zu können“.
Sehr draftiich find die Bezeichnungen ber Bereine:
1) „Zum blauen Strumpfband”; 2) „Zu ben gebulbigen
Länımern; 3) „Zu den heiligen Bräuten”; 4) „Zu den
bimmlifchen Rofenflechterinnen”.
Es gelingt Clarifja durch ihre Beredſamkeit, einigen
ihre verfchrobenen Köpfe zurechtzufegen und Helferinnen
für bie Reformen ber Vollserziehung zu gewinnen. Die
Zufunftsfchule beginnt fehr Hoffnungsreih, um fchnell
durch Konfiftorialbefchluß zu enden. Die Keformer ziehen
fort aus dem Lande der bevormunbenben Firchlichen und
Staatögewalt und gehen dorthin, „wo in heller Morgen⸗
pracht ein freies Land (Amerika) ihnen winft, wo ſtark,
wer Kopf und Hand zur Arbeit mitgebradt.‘
Frau von Gayette-Georgens ift ſprachgewandt in Vers
und Profa; vielleicht wäre ihr in diefer Beziehung etwas
68 *
u 2 ri — —
540
Beſchränkung anzuempfehlen, denn „Würze darf nicht
Speiſe fein”. Gewiß aber verdient ihr Bud die volle
Beachtung auch des männlichen Publikums. Das Ein-
gangswort fei zum Schluß als ein berechtigtes anerkannt:
Allen ; bie fi) aufwärts ringen,
Nicht den Bortheil nur erfchwingen,
Iſt dies offene Buch geweiht,
Als ein Kind der ueuen Zeit.
„Die Nebelfcheuhe von Marimus Caſus“ (Nr. 2)
ift eine Yortfegung, aber Fein Fortfchritt auf dem fo glüd-
lich betretenen Pfade; mit Ausnahme des Schlufles, wo
die Effecthafcherei in modernen Romanen geiftreich gezeichnet
wird, rechtfertigt die „Nebeljcheuche” nicht ihren Namen;
fie verfcheucht feinen Nebel, fie erhellt fein Dunkel: fie
befpöttelt in aphoriftifcher Weife die Mängel der Erzie-
hung, Bildung und der Gefelligfeit; die Kleidernarren und
Närrinnen mit Frad und Klemmer, mit Chignon und
Schleppe werben gegeifelt, aber weder Gegenftand nod)
Behandlung flößen ein tieferes Intereſſe ein.
Ameln Bölte's „Sonnenblume (Nr. 3) ift eine
Novelle mit zwei Heldinnen. Mutter und Tochter find
beide liebreizend. Die Mutter, Frau von Tellenberg, gilt
als Witwe, und der Hausarzt, Dr. Kamftein, bewirbt ſich
um fie. Doc fie hat ſich von ihrem Manne nur durd)
eiferfüchtige Empfinbelei getrennt, bewahrt ihm aber im
Herzen treue Xiebe und weift daher den Antrag Ram⸗
ftein’8 zurüd. Die Tochter Viola langweilt fid) bei dem
Stilleben im mütterlihen Haufe, macht mit dem Bruder
und Dr. Ramftein eine Reife in die Sächſiſche Schweiz,
Iernt dort bie berühmte Slavierfpielerin Szawardy und
Arthur Lincoln, einen jungen Amerifaner, Tennen. Diefe
Belanntfchaften erregen einen Sturm von Gefühlen in
Biola’8 Bruft. Sie will Künftlerin werden. Die üblichen
Emancipationsphrafen müffen herhalten, um ben Wunfd),
nad) Paris zu ihrer Ausbildung zu gehen, zu unterftügen;
denn Arthur Lincoln geht auch nad) Paris. Die Mutter
ift nicht gewillt, diefen Wunfch zu erfüllen; doc fchnell
Löft fi alles glüdlih genug. Arthur Lincoln ift der
Pflegefohn von Biola’8 Vater. Diefer war nad) der Tren-
nung von feiner Frau nad Amerika gegangen und ift jegt
glücklich zurüdgelehrt. Dr. Ramſtein verfühnt Mann und
Frau, und Arthur und Biola erreichen glüdlicd das Ziel
der Novelle und ihrer Wünſche. Zweierlei ift uns bei
diefer anmuthig gefchriebenen Erzählung aufgefallen. Amely
Bölte fcheint eine Chiromanie zu haben; die Hand
fpielt bei ihr eine unverantwortlich große Rolle. Hatte
fie in einer frühern Novelle ein Judenmädchen wegen
häßlicher Hände (bekanntlich Fein charakteriftifches Zeichen
reicher Jüdinnen) bis zur Verzweiflung, ja bis zum Selbſt⸗
morb (wiederum gar nicht charafteriftifch für die Töchter
Ifrael's) getrieben, jo machen die weißen Hände von
Mutter und Tochter fich in dieſer Novelle gar zu wichtig.
Das zweite ift die Ausbeutung des modernen ‘Themas
von Bethätigung geiftiger Kräfte bei der Yrau. Wozu
Tendenzen aufftelen, die entweder mit fittlihem Ernſt
oder gar nicht zu behandeln find? Frau von Hillern hat
das Mögliche in ber Verfälfchung der Tendenz geleiftet;
es iſt nicht nöthig, ihr nachzuhinken. Biola ift ein ganz
gutes Mädchen und kann einfach hangen und bangen in
ſchwebender Bein, bis der Liebhaber erjcheint; muß fie
Sfizzen und Novellen von Frauenhand.
denn Sonnenblume betitelt werden, um durch einen fal
hen Titel falſche Empfindungen zu deden oder umgekehrt?
„Gertrud von Stein” von Clara Ulrici (Rr. 4)
ift eine Xendenznovelle und war 1868 in der „Kölniſchen
Zeitung“ ohne Autornamen erfchienen. Ob die Tendenz
eine Sünde gegen den heiligen Geift der Poeſie fei, dar-
über find die Gelehrten uneinig; wir halten e8 jedenfalls
für einen Vorzug, wenn der Dichter diefe Sünde offen
begeht und Fein DVerfteden mit ihr fpielt und wenn er
überhaupt nicht mit ihr — fpielt. Dieſen Borzug hat
die genannte Erzählung; fie ift tendenziös in Bezug af
die Frage nad) Stellung und Beruf der Fran; fie fi
auch in gewiflem Sinne politiſch tendenzids. Das dahr
1848 ift die Zeit, innerhalb deren fie fich bewegt, eine
preußifche Landrathsfamilie der Boden, dem fie entnom-
men. Gertrud und ihr Vater find Vertreter der beiden Ten.
denzen. Der legtere wird in die conftituirende Verſamm⸗
lung nach Berlin gewählt, und es vollzieht fich in ihm
die Wandlung vom Royaliſten zum Demokraten, damals
unverföhnliche Gegenfäge. Er verzichtet auf feine De
amtenftellung, geht ald Abgeordneter nad Frankfurt a. R.
und muß ſchließlich in die Verbannung :
Das Baterland hatte damals nicht Raum für feine beſten
Männer. Alles Mark und alle Kraft einer Generation wurde
der Fremde preisgegeben. Eine beffere Zeit bricht an für das
aufftrebende Geſchlecht. Kühn erhebt der Genius des Barı-
landes wieder fein Haupt, umd unter feinem ſtolzen vanjchenden
Fittich reiht IH Stamm an Stamm zu feſtem Bunde,
Was jene edeln Kämpfer erftxebt, „halte die Jugend
heilig: das Vaterland!” Wie hier das fittliche Pathos der
Vaterlandsliebe ſich ausfpricht, fo ſpricht ſich in Gertrud
die Wandlung von dem unbewußten, träumerifchen Leben
eined finnigen Mädchens zur bewußten Yungfrau ans:
So mögen die lieblihen Kinder der Natur, die hofde Welt
der Blumen, fi träumerifchh wiegen im Sonnenglan;, ihnen
droht fein Erwachen. Das Leben des Menſchen ift fein @arten,
wo zarte Hänbe jedes Pflänzchen forgfam ſchützen vor rauber
Berührung. Das ift ein vielverfchlungenes Labyrinth, wo «&
beißt, fich ſelbſt einen Pfad fischen mit fcharfem Blid und ſich
einen feften Punkt erobern für ben eigenen Fuß.
Gertrud ergreift zuerft das Nächſte: fie wird Eizie
berin, und zwar zieht fie als Demolcatentochter in em
polnifhes Haus, in bie Molewski'ſche Familie. Bald
vertaufcht fie diefen Beruf, der ihr feine Befriedigung
gewährt, mit dem ärztlichen, bei dem ſie ihr Bruder, ein
Arzt, unterftügt. Diefer oder vielmehr die Verfaſſerin
Öffnet ihr die Hörfäle der Univerfität, und „kein Spott
beftet fi) an ihre Werfen“. Nach vollendeten Studien
übernimmt Gertrud in ihres Bruders Anftalt für Heil
gymnaſtik die Frauen und Kinder und findet im dieſer
Thätigkeit einem befriebigenden Abſchluß ihres Strebens.
Im Anſchluß an diefe Anftalt bat die Frau des Dr. Stein
einen großen Garten, wo unter ihrer Leitung eine beden⸗
tende Anzahl junger Mädchen Kunftgärtnerei erlergen,
die einen zum Vergnügen, die andern um fi ein
Erwerb zu begründen. Auch bier ift die Abfiht Hay
die weibliche Jugend auf naturgemäße Befchäftigungen,
hinzuweifen. i
Wer aber fürchtet, daß bei all diefen Tendenzen dei
Erzählung das fo unentbehrliche und von Hegel als Ca⸗
price auf das Individuum bezeichnete Motiv der Liebe
fehlt, dem theilen wir zur Beruhigung mit, daß Gertrud
—
Pi
Feuilleton.
als echtes deutjches, finniges Mägdlein eine fehr tendenz-
Iofe Liebe zu einem Aflefior von Rödern fühlte, der aber
fi von ihr zurückzog, weil er durch Beziehungen zu einem
Demokratenhaufe feine Carriere gefährdet ſah, und daß
auch die Liebesgefchichte des Dr, Stein mit der kleinen
Kunftgärtuerin, feiner zufünftigen Frau, eine ganz aller-
liebfte Idylle ift.
„Stiefmütterchen” von Baula Herbft (Nr. 5) macht
ung mit den Liebes- und Leidensgefchichten fowie einigen
Ehefchliegungen von Sünglingen und Yungfrauen befannt,
die den Zweck haben, müßige Stunden angenehm zu ver-
kürzen. Das anfpruchslofe Weſen der Erzählung, bie
der Anmuth der Darftellung nicht entbehrt, fordert feine
Kritik heraus.
Das letztere läßt fih aud von den „Edeln Frauen‘
ber Angelika von Lagerſtröm (Nr. 6) jagen. Dabei
haben fie noch den Borzug, als wirkliche Frauen der
Geſchichte anzugehören; fo ift die Bekanntſchaft mit ihnen
eine Bereicherung. Es ift intereffant, zu erfahren, daß
Marie Edgeworth für Walter Scott eine Art von Bor-
bild in Bezug auf den Hiftorifchen Roman war, fodaf er
in der VBorrede zu feinem „Waverley“ fagt, „er fei nicht
fo vermefien, zu glauben, daß er den reihen Humor, die
Zartheit und den bewundernswerthen Takt erreichen werde,
der Miß Edgeworth's Werke durchzieht”.
Charlotte Bronte'8 Tebensgejchichte, die unter dem Na-
men Currer Bell „Jane Eyre“ gefchrieben, erwedt ein war-
541
mes Mitgefühl: es ift eine Leidensgefchichte in vieler Be⸗
jtehung.
Eine refpectable Zahl italienifcher gelehrter Frauen,
namentlich aus Bologna, werden ung vorgeführt. Laura
Baſſi⸗Verrati, 1711 geboren, 1778 geftorben. Sie war
glüdlihe Gattin und Mutter und Docentin für experi«
mentale Phyfl. Donna Morandi war 1758 Profeffor
der Anatomie in Bologna. Sie wird als Erfinderin und
Berbefferin anatomifcher, in Wachs geformter Präparate
gerühmt. Clotilde Tamborini wurde 1794 Profeffor der
griehifhen Sprache. Marie Gaetana Agnefi war 19
Jahre alt, als fie ihre philofophifchen Propofitionen her⸗
ausgab, einige zwanzig, als fie ihre Abhandlung über
Kegelfchnitte und ihre analytifchen Grundfäge fchrieb.
Das Buch ſchließt mit der Biographie von Florence
Nightingale, die buch ihre aufopferungsvolle und ener⸗
gifche Thätigkeit im Krimkriege allgemeine Berühmtheit er⸗
langt Bat.
Wir möchten die ruhige, objective Darftellung biefer
biographifchen Skizzen als nachahmenswerthes Beifpiel für
Ichriftftelernde rauen hinftellen, da leider bei uns in
Dentfchland Mangel an Originalität, Mangel an wirk⸗
licher Leidenschaft durch Bizarrerien, durch unnatürliche
und deshalb unſchöne Konflicte erfegt werden fol. Wem
aber die Gabe der Phantafie verfagt ift, der fafle die
wirklichen Berhältniffe an und fuche „die rechte Lebens⸗
arbeit“, wie fte in den „Edeln Frauen fi ausfpridt.
Fenilleton.
Ein dramatiſches Driginalgenie.
Der Herausgeber d. BI. bat im Berlag von Philipp
Reclam jun. (Leipzig 1870) auf Anregung diefer Berlags-
buchhandlung „Ehriffian. Dietrich Grabbe’s ſämmtliche
Werke“ in einer erſten zweibändigen Geſammtausgabe ver⸗
öffentlicht und mit einer läugern Einleitung, Biographie und
Charakteriſtik diefes oft genannten, aber in feinen Werken
Yet pegenwürtigen Generation faft unbefannten Bramatilers
verjehen.
Man dürfte geneigt fein, Grabbe zu den fonderbaren Käuzen
zu rechnen, die es nach dem Ausſpruch eines großen Dichters
„geben muß‘ und in jeder Nationalliteratur gibt, Spott-
geburten von Dred und Feuer, von Eynismus und Genie, die
durch ihre abfonderlichen Launen und burlest gigautifchen Ge⸗
dankenſprünge ein Ergögen hervorrufen, das wenig gemein hat
mit den officiellen Wirkungen der Tragödie, wie fie feit den
äfthetifchen Bulletins des Stagiriten als unerlaßlih für ein
regelrechtes Kunſtwerk hervorgehoben werden. Wäre Grabbe
blos fol ein dramaturgiſcher Alrobat, der topfüber von dem
Kothurn auf den Sollus und von dem Sokkus auf den Kothurn
doltigirt, jo würde man biefe Sprünge und Kunfifiläde der Ber-
gefjenheit anheimgeben können.
Doch Grabbe ift mehr als ein Sonderling und dramati-
ſcher Turnkünſtler; er ift der hervorragende Bertreter eines
Kraftftils, deffen Bedeutung für die Literatur fiets von neuem
bervortritt, wenn die Seichtigkeit der überlieferten Phraje, ein
ewiſſer Vers⸗ und Gedankentrab, ber fih wie eine ewige
Prantpeit forterbt, eine Schablonendichtung fchafft, in welcher
der Kortichritt der Literatur ftaguirt. Solche Epochen treten
immer wieder ein; eine mit technifchem Geſchick ‚ausgeführte,
aber gebantenarme Bühnendichtung ohne die Muskeln drama
tifcher Kraft und Leidenjchaft, halb gallertartige Molluste, bald
bunte leere Schale, bemädhtigt fih der Bühnen, wie dies auch
zu Grabbe's Zeiten der Fall war. Dann aber, und aud für
alle Zukunft, find Dramen wie die von Grabbe Wahrzeichen
einer urfprünglichen Kraft, und ans diefem Duell kann auch die
verirrte Bühnendichtung neue Verjüngung fchöpfen.
Ferner hat Grabbe, wenn er auch, durch fein Förperliches
Befinden und durch feine Lebensverhältniffe ſowie durch feinen
Trotz gegenüber ben beftehenden Bühnenformen verhindert, kein
ganzes Kunſtwerk gedichtet hat, einzelne Situationen von fo
marfiger dramatifher Kraft und von einem fo großen Stil
des dramatiſchen Pathos gefchaffen, daß er ſchon deshalb
unter unfern Dramatilern immerhin eine der erften Stellen
einnimmt.
Bisher find Grabbe's Werke noch nit in einer Gefammt-
ausgabe erfchienen. Ueber die Urfachen der fo frühen und be-
fremdenden Verſchollenheit des Dichters fagt die Einleitung:
„Zunächſt ift Grabbe mit feinen Dramen nicht auf die
deutfche Bühne gedrungen; ein Dramatiker aber, deſſen Stilde
nicht gegeben werden, füllt Leicht der Vergeffenheit von feiten
des Bublitums anheim, fo nahdrüdiih auch die Titerarifche
Kritik auf feine hervorragende Begabung aufmerffam machen
mag. Auch Hat nad) Grabbe's Tod feiner unferer erperimen«
tirenden Dramaturgen e8 übernommen, eins feiner Stüde für
die Bühne einzurichten umd fo dem Genius des Dichters eine
verfpätete Huldigung darzubringen, wie dies doch mehrfach bei
den Dramen von Heinrih von Kleift geihah, welche aud
während ihr Berfaffer Iebte nicht zur Auffihrung gelommen
waren, nad feinem Zode aber, im verfchiedener Bearbeitung,
die Runde über die Bühnen machten. Die meiften Dramen
von Grabbe erweijen ſich allerdings noch fpröber gegen die
Bühneneinrihtung als die Dramen von Kleift, und die letzten
Schöpfungen des Dichters verzichten mit ihren großartigen
Maffentableaur und Schlachtbildern gm auf eine Darftellung
durch fcenifche Mittel. Der zweite Grund, daß Grabbe bereits
zu einer literargeichichtlichen Größe geworden ift, deren Werke
nur dem Namen nach belannt find, Tiegt aber darin, daß nie»
mals eine Geſammtausgabe derjelben erſchienen ift, und daß
derjenige, welcher dem Dichter näher treten will, fich die
—
542 Feuilleton.
einzelnen Schriften deffelben mähfam zufammenfuchen muß, eine
Arbeit, deren ſich nur der Literaturforicher in Deutfchland unter»
zieht, während das größere Lefepublitum gegenwärtig durch be»
queme und handliche Ausgaben verwöhnt ift, welche ihm felbft
den Genuß der entiegenfien Literaturfchöpfungen in müheloſer
Weiſe vermitteln. Hierzu kommt, dab liberhaupt nur zwei
Dramen Grabbe's: «Don Juan und Yaufl» und «Napoleon
oder bie hundert Tage» in zweiter Auflage und in einer den
En er en ber Gegenwart entfprechenden buchhändleriſchen
Geſtalt erfchienen find, während die meiften Werke des Dichter
nur in einer faft ungenießbaren und nnaugänglichen Korn, nn-
revidirt, entflellt durch zahlreiche Drudfehler vorliegen, durch
Drnd und Papier ausgefchloffen von jedem Verkehr mit der
eleganten Welt.‘
Ueber die Principien, welche den Herausgeber leiteten,
heißt ee am Schluß der Kinleitung:
„Wir glaubten durchaus eine vollfländige Ansgabe ſämmt⸗
fiher Werke Grabbe’s geben zu müflen, denn was die Kenut⸗
nißnahme derfelben mwefentlich beeiuträchtigte, war ja eben bie
Mühe, die disjecti membra poõtae zufammenfuchen zu müflen,
und zwar ans veralteten nud gefchmadiofen Druden, weldhe ben
Anforderungen der Gegenwart nicht entiprechen. Es war noth-
wendig, eine gleichartige Interpunktion und Orthographie ein-
zuführen und namentlich die geſchmackloſe Häufung ber Gedanlen⸗
ftriche, fo harafterifitich fe für eine in kurzathmigen Lakonismen
fih gefallende Dichtweiſe fein mag, etwas zu mindern. Die
neuen bereits revidirten Auflagen von «Don Juan und Yaufl»
und «Napoleon» gaben hierfür erwünſchte Anbaltspnulte.
Aufgenommen babeu wir Überdies zum Abſchluß einer Folge,
in welcher die größern Werke nad) chronologifcher Anordnung
den Heinern Stüden, Luftipielen, Fragmenten voransgehen,
noch die intereffante und Höhft zeitgemäße «Abhandlung fiber
die Shaffpearomanie» und die Kritilen fiber «das Düffeldorfer
Theatern. Denn fo ephemer Theaterkritifen an fih find, und
fo vergefien bereits die Künſtler jein mögen, denen Grabbe feine
Tritijche Theilnahme ſcheulte, jo bezeichnet doc) die Immermann'ſche
Direction in Düffeldorf ein nicht unwichtiges Moment in der
Entwidelung deutfhen Theaterwefens, und anbererfeits enthal⸗
ten die Grabbe'ſchen Krititen eine Fülle geiftreiher Gedanken
und treffender Bemerkungen. So übergeben wir diefe Gefammt-
ausgabe dem Publikum in der Ueberzeugung, damit einem halb⸗
vergeflenen Dichter eine Ehrenrettung zutheil werden zu lafjen,
und gleichzeitig jedem fiir bichteriihe Schönheit empfänglichen
Gemüth eine Fundgrube reicher Genüffe zu eröffnen; denn daß
dieſe dichteriſchen Schönheiten in dramatiſcher Einkleidung
und in einer unanfführbaren Form verborgen find, kann ihrem
Werth fo wenig Eintrag thun, wie die gleiche Einfleidung
alle die genialen Byron'ſchen Sabpfungen, einen «Kain»,
«Manfred» u. a, dem Genuß der Mit- und Nachwelt ent-
frembet hat.“
Das Dichterleben Grabbe's, das mit Benukung ber ver-
ſchiedenen Mittheilungen und Sichtung der oft ſich widerſpre⸗
enden Nachrichten und Urtheile der Biographen geſchildert if,
lien fi wie ein Roman, allerdings wie ein Roman aus der
Zeit ber Sturm- und Drangepodye, wo die Hyperbel der Dich⸗
tung ſtets durch die Noth des Lebens eorrigirt wurde. ine
Fülle pilanter Anekdoten ift in der Biographie verfirent; Grabbe
ſelbſt hatte einen grotesten Schlagwitz, und feine Lebensgemohn-
beiten, fo verhängnißvoll fie flir die Entwidelung bes Diptrs
fein mochten, hatten faft alle and eine burleske Seite. Das
Kolofjale feiner Hyperbeln war Übrigens bei ihm nichts Ge⸗
machtes und Gejuchtes; es lag in feinem ganzen Weſen; auch
im gewöhnlichen Leben bediente er fich biefer tropifchen Mitrail-
leufen, wo ein anderer fih mit einem einfadhen Kernſchuß
genigen ließ. So 3. B. wünſchte er einem feiner Feinde,
„ber Kerl müßte an einem rviefengroßen Rafirmeffer in bie
Höhe Friechen‘‘, einer der frommften Wünſche, der nur in
einer an ertreme Bilder gewöhnten Phantafie Wurzel ſchlagen
onnte.
Man kann bie dramatiſche Production Grabbe's in drei
große Perioden theilen. Die erſte, die Sturm- und Drang-
periode, wenn man von einer foldhen bei einem Dichter fprechen
fann, ber zeitlebens den Sturm und Drang nicht zu Überwin-
den vermochte, wird charakterifirt durch Webertreibung in den
Handlungen, den Charakteren und des Ausdrudg, die an. Ber-
zerrung grenzen, aber and durch eine Macht des Schwungs
und der Leidenſchaft, die zu den fchönften Hoffnungen berechtigte.
Das Trauerfpiel Denon Theodor von Gothlanb‘ war das
Ingendwerk, das ſolche Gewaltſamleit zur Schau trug. Die
Einleitung nennt e8 eins der ungeheuerlichſten dramatifchen
Broducte aller Zeiten mit einer abenteuerlichen Compoſition,
einem convulfivifhen Streben nad titanifcher Größe und einem
Zieffinn, der kaum eine andere Form fand als die Blasphemie,
um fi mit dem Weltgeheimniß auseinanderzufegen. Das
Chaotiſche der Kompofltion, das Crafſe, Abftoßende, Widerwär-
tige diefer in Greueln fchwelgenden Melpomene wird ſcharf
analyfirt; dann aber heißt es: =
„Es jcheint, als ob dies Tranerfpiel nad feinem Stoff und
Inhalt, nad) feiner Anlage und Ausführung nur das Imterefie
einer Titerarifhen Euriofität haben könne und unter ben im
Spiritus aufbewahrten Misgeburten der dramatiſchen Muſe
feinen Platz finden müffe. Und nicht minder ericheint es frag.
fih, ob die Befammtansgabe eines Dichters auch den Anſprü⸗
hen zu genfigen habe, die man eben an ein literarhiftorifches
Eurtofltätencabinet ſtellt. Dennoch ift diefe in vieler Hinſicht
einem dramatifhen Monftrum vergleichbare Dichtung keines⸗
wege aus Grabbe's Schriften zu verbannen. Ihre Bedentung
für den Entwidelungsgang des Dichters wollen wir nicht ein-
mal betonen; denn es ift manches widtig für die Entwidelung
der Poeten, was doch der Nation gleichgültig fein kann, und
man müßte bei confequenter Durchführung biefes Principe
mauches Berfeblte und Schülerhafte mit aufnehmen, was doch
nur bei gelehrten, hiſtoriſch⸗kritiſchen Ausgaben ftatthaft if.
Der felbftändige Werth einer Dichtung kann allein endgültig
über ihre Aufnahme und Zurückweiſung entſcheiden. Nun ifl
aber im «Herzog von Gothland» nicht nur bereits der ganze
Grabbe enthalten, jondern das Zrauerfpiel enthält auch Stellen
von einer fo großartigen Schönheit, von einem fo berauſchen⸗
den Schwung und dämonifchen Tieffinn, daß fie verdienen,
unferer Rationalliteratur nicht verloren zu geben. Bei allem
Webertriebenen und Berzerrten des vorzugsweile hyperboliſchen
Ausdruds erreicht bie Diction an andern Stellen wahrhaften
Odenſchwung, bier und dort herrſcht ein Ausdrud der Empfin-
dung von nreigener Innigkeit und Wärme oder eine Prägnanz
und darakteriftifhe Schärfe, wie fie nur hervorragenden dra⸗
matifhen Zalenten eigen zu fein pflegt. Das Colorit der nor»
diſchen Landfchaft ift durchweg flimmungsvol und contraftirt
in fefjeinder Weife mit jenen tropifchen Phantaflen des Moh⸗
ren Berdoa, Über welchem der Gluthauch des Sübdens zittert.
Grabbe's Landsmann, Freiligrath, verdankt den Anregungen
biefer erften nrwlichfigen Tragödie des fpäter von ihm verherr-
lichten Dichters offenbar manche Infpiration zu feinen Pol»
und Wüftenbildern. Was aber an Weltſchmerzdichtung fpäter
um Vorſchein fam, erſcheint ſchwächlich neben dieſen grandio-
eu Ausbrüchen des Weltelels und einer, man möchte jagen,
gigantifchen Blaſirtheit, wie fle diefe befremdliche Schöpfung
eines jugendlichen Dichters charafterifirte, defien Muſe bald
durch ihr Mednfenhaupt entfetst, bald greifenhaft gefpenflig mit
dem Kopfe wadelt.‘'
Die zweite Epoche bezeichnet den Höhepunkt feines dichteri⸗
ſchen Schaffens, die ſchöne Mitte feiner Dichtweije. Ihr ge-
bören „Don Juan und Fanſt“ an, eine Dichtung, die einen
Byron'ſchen Geift athmet, die durch Schwung und Tiefe der
Gedanken wie durch die Borliebe für große landſchaftliche Per⸗
fpectiven und begeifterte Naturichilderung dem britifchen Dichter
verwandt if. Die Anregungen der Dichtung finden ſich bei
Nikolaus Lenau wieder, der einen „Fanſt“ und einen „Don
Yuan’ gefondert bichtete:
„Dei allen großen Schönheiten dieſer Dichtwerle mödhten
wir doch ber Grabbe'ſchen Tragödie den Vorzug geben; es iſt
mehr geniale Urjpränglichkeit und jener Lapidarfiil darin, wel⸗
her den Worten und Sentenzen ein unvergängliches Gepräge
leiht. So ln Gedanlenwurf, wie im ber erfie Faufi⸗
u
monolog auf dem Aventin in Rom zeigt, foldhe tiefe Schwär⸗
Feuilleton, 543
merei der Leidenſchaft, wie fie die Fauftfcenen zwiſchen Yauft
und Anna auf dem Montblanc athmen, werden wir in dem
Nikolaus Lenau’fhen « Fauſto vergeblich fuchen; und aud die
fede Bizarrerie in den Einfälen, Reden und Thaten Don
Juan's hält vollfommen den Bergleih aus mit allem, was
Nikolaus Lenau in feiner gleichnamigen nachgelaffenen Dichtung
bietet. Schon um diefes «Don Yuan und Fauſt» willen, ber,
wenn auch nicht neben Goethe's Dichtung, doch neben benen
Byron's und Nilolaus Lenau’s ganz ebenbirtig dafteht, verdient
e8 Grabbe, der Nation wieder nachdrücklich in Erinnerung ge-
bradt und zur dauernden Aneignung empfohlen zu werben.
In der That darf man es nur der Unbelanntihaft mit diefem
Dichter anfchreiben, wenn fo viele feiner Gentenzen, bie in
geifliger Tragweite und Iapidarem Gepräge nicht hinter deuen
Shafipeare's und Byron's zurückſtehen, bisher nicht Blrger-
redt in unfern Albums und Mottos und unter den geflügelten
Worten gefunden haben.”
Die beiden Hohenflaufendramen: „Friedrich Barbarofſa“
und „Kaiſer Heinrih VI.“, reih an Zügen von Größe und
Mächtigkeit und genialem Schwung, trog ber Ungunft des
Stoffs und der undramatifchen Zeripfitterung, und „Napoleon
oder die hundert Tage“, ein Stüd voll Frifche und Eriegeri-
ſchen Feuers, voll meifterhafter Vollsjcenen, in denen ein
wahres Feuerrad von Epigrammen fprüht, gehören ebenfalls
dieſer mittleren und beften Epoche des Dichters an, obgleich iu
der Napoleon » Tragödie, namentlich in der zweiten Hälfte der-
felben, fich bereits jene Wendung zum Parador Lafonifchen und
epifch erfahrenen bekundet, welche feine beiden legten Tragö⸗
dien charalterifiren. Ueber dieſe Dramen, welche die dritte,
mit der unglücklichſten Lebensepodhe des Dichters zuſammen⸗
fallende Periode feines Schaffens bezeichnen, fagt die Einleitung :
„Es fehlt nicht an kritiſchen Stimmen, welche den fetten
Tragddien: «Hannibal» und der «Hermanusſchlachto den Preis
ertheilen unter Grabbed Dramen. Wir Tönen uns ihnen
nicht anſchließen. Diefe Tragödien tragen den Stempel einer
zerrütteten Dichterkraft; fie find als Fragmente geboren, es
find gedichtete Ruinen. Man könnte fie auch als Tragödien
in Epigrammen bezeichnen. Alles fpikt fih in ihnen zum
Epigramm zu, der Dialog, die Situntion, Es find nicht Ste
Iete, aber e8 find bloßgelegte Muskeln der Tragödie. Hermann
Marggraff nennt irgendwo Grabbe den Michel Angelo bes
Trauerſpiels. Gewiß hat er Verwandtichaft mit diefem mar-
figen, ins SKolofjale verliebten Genius; doch in den legten
Stüden fehlt die künftleriihe Ausführung, die auch das Fühnfte
Wert des italienifchen Meiſters adelt. Ir haben es mit nur
wenig bebauenen Marmorblöden zu thun; es find Andentun⸗
gen des Genius; aber das genligt nidht in der Kunſt. Der
concentrirten gewaltigen Kraft fehlt jede Ausdehnung; und fo
wird die Erploflon ihre einzige Lebenslußerung. Die Fehler
der Shalipearomanie, welche Grabbe in feinem Auffate felbft
gegeifelt bat, ber fortwährende Scenenwechſel, das Springen
über Raum und Zeit, die gänzlihe Verachtung der übficen
Bühnenform , die in der «Hermannsichladt» ihren Gtpfelpunft
erreicht, indem ſich zufegt die Handlung nur nad Tagen und
Nächten gliedert, der Mangel an einer concentriichen Einheit,
an jeder Spannung und Entwidelung, die Auflöfung bes
Dramas in das Epos — alles das tritt in dieſen letzten Tra-
gödien im einer faft grotesfen Weife hervor, Die Berbitterung,
der Hohn, der Troß, welcher den Menſchen Grabbe erfüllte,
welcher fich vielfach im Inhalt ber Tragödien, namentlich des
«Hannibal» fpiegelt, prägt ſich auch in biefer, wir möchten fa-
gen gelledfien dramatifchen Korn aus, welche die Anforderun-
gen der Bühne wie mit grimaffirendem Spott verlacht und
alle Bermittelungen und Uebergänge, den Reiz und Schwung
der bichterifhen Einkleidung verfhmäht, welche die frübern
Stüde Grabbe's mit fo reihen Schönheiten ausſtatteten. Gleich⸗
wol enthalten der «Hannibal» und die «Hermannsihlacdht» Stel-
fen und Scenen, wie fie nur Grabbe fhaffen konnte; die Cha⸗
ralteriſtik zeigt einen grandiofen Wurf; die Lalonisıneu des Aus⸗
drucks haben ftets etwas Schlagfräftiges, oft etiwa® Erhabenes.“
Der hier erwähnte Aufſatz Über die Shaffpenromanie, ger
gen ben übertriebeuen Shakſpeare⸗Cultus der damaligen Ro-
mantiler und ihrer Schule gerichtet, ift noch Heutigentags fehr
lefenswerth:
„Die Schattenſeiten des britiſchen Dichters werden, bei
aller warmen Anerkennung ſeines Genies, mit Schärfe hervor⸗
gehoben, namentlich aber fein verhängnißvoller Einfluß auf die
ichtweife der damaligen dramatifchen Epigonen, die graffirende
Nachahmung und Nachbeterei, die Uebertreibungen der Schüler
und der Despotismus einer Kritik, welche das Unendliche in
einer Berfon, in Shalfpeare baunen will. Goldene Worte
ſpricht Grabbe gegen den Schluß hin über die Anforderungen
einer deutfchen Dramatil; er betont bie Fortſchritte des Sad
hunderts auf allen geiftigen Gebieten gegenüber dem Shaffipeare’-
fhen Zeitalter und erwartet Talente, welche Shalfpeare liber-
bieten, indem fie alle Fortfchritte der Zeit in fi aufnehmen.‘
Bon Heinern Dramen enthält die Sammlung das tragi-
[he Spiel: „Nanette und Marie”, das geniale Luftfpiel:
„Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung", das Märchen:
„Aſchenbrödel“, die unvollendete Tragödie: „Marius und Sulla‘‘,
und Heine Yragmente aus zwei Dramen: „Chriftus und
„Alexander der Große”.
Möge diefe Sammlung der Grabbe'ſchen Schriften dazu
beitragen, die todte, aus der Literaturgefchichte fchöpfende Theil⸗
nahme für ein nambaftes Talent in eine lebendige zu verwan-
deln, welche aus den Dichtungen felbft Wefen und Charalter
befjelben zu erfeunen ſucht.
Bibliographie.
Arnetd, A. v. ichte Maria Therefia’s, dter Bd. — A. u. b. T.:
Zerie —5— ——— — —1756. Wien, Braumüller.
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Abth.: Dur @eiginte grierrine I. und Yriedrih Wilhelms I. von Preu⸗
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hervorgehende a en. Berlin, Heinersporff. 8. 15 Nur.
te ber esgangenpeit Gegenwart und Zufunft. 1800. —
1870. — 1900. Ein politiider Rund (id und Dapnruf von einem preußi⸗
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Puschl, C., Ueber eine kosmische Anziehung, welche die Sonne
durch ihre Strahlen ausübt. Wien, Gerold’s Sohn, Lex.-8. 4 Ngr.
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lung der allgemeinen und nothwendigen Erfahrungsbegriffe,. Graz, Leusch-
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einem Borwort von ©. Hefeliel. Halle, Barthel. Br. 8. 1 Zhlr.
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Shlagintweit, R. v., Die Pacific⸗Eiſenbahn in Norbamerita.
Leipzig, Mapner, 8. 1 zur. 10 Nur
& 2. eigichte öhmens. 2te vermehrte und verbefierte
Aufl. Herausgegeben now Dezeine ür a? ber Deutigen in Böh⸗
. «nd, T. T
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8 ® 2 h e a 8; Luther in Rom. Roman. 3 Bde. Hanuover, Rümpler.
® t. T.
. 29 warz, F. Aus Sommertagen. Geſanmelte Novellen. Ster Bb.
er in, 9 aun, “ °
—— e Sonette, deutſch von B. Tſchiſchwitz. Halle, Bar⸗
. r.
Sonn enbürg, 8, Burg Bentheim. Nah alten Sagen erzählt.
iſte Novelle. Burgfteinfurt, Falkenberg. Gr. 8. .
Streiflichter auf die akabemiſchen Ontachten über die Zula ung von
ReatihulrAditurienien u Sacultäts-Studien. Bon einem Realſchullehrer.
Derlin, Landau. Gr. 8. 5 Nor.
Nlrici, H. Zur Iogligen Brage. Halle, Pfeffer. Er. 8. 20 Ngr.
Vahlen, J. Otto Jahn. ien, Gerold’s Sohn. 8, 4 Ngr.
Margarethe Berflofien. Ein Bilb aus ber Tatholiihen Lirde. Ban-
nober, eyer. 8. 5 gr. J
W nhußen, H. Satau's Manfefallen. Bade⸗Photographien.
Bei fra ws le Air 8 el der nenern deutihen Di
olfram, F. ndyüge e e ber neuern e ⸗
ah Bon Es Tod ge Gegenwart. Leipzig, Matthes. Gr. 8.
8
Z
r. L
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teles und bei Kant, Berlin, Weber, Gr. 8. 10 Ngr.
Zimmermann, R,, Samuel Ciarke’s Leben und Lehre, Wien, Ge-
rold’s Bohn. Lex.-8. 2 Ngr.
Zingerle, I, v., Findlinge II. Wien, Gerold’s Sohn. Lex.-8.
2a, Ngr. .
544
Anze
Anzeigen.
igen.
— —
Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipzig.
William Shaleſpeare's Dramatiſche Were.
Ueberſetzt von
Seiedri na rer Weine, en
emeij ʒeor⸗ eh,
ve German Mer, Anaıf Bien pe gert,
Nach der Tertrevifion und unter Mitwirkung von Nicolaus Delind.
Mit Einleitungen und Anmerkungen,
"_ Herausgegeben von
Friedrich Bodenſtedt.
In 38 Bändchen. Jedes Bändchen geh. 5 Ngr., cart. 7Y, Ngr.
Soeben erfgien:
27. Bänden. Zähmung einer Wiberfpenftigen. Ueber
fest von Georg Oerwegh.
28 Eanpaen. Ber Sturm. Ueberfegt von Friedrich
Bodenftedt.
Das 1.—26. Bändchen enthalten:
1. Othello der Mobr von Venedig. Ueberfegt von
Hriedrih Bodenſtedt.
. König Johann. Ueberjegt von Otto Gildemeifter.
. Antonius und Kleopatra. Ueberfegt von Paul Heyſe.
. Die Iuftigen Weiber von Windfor. Ueberfegt vom
Hermann Kurz.
Biel Lärmen um Mitd. Ueberfegt von Wbolf
Bilbrandt.
6. König Richard ber Zweite. Ueberſett von Dito
Gildemeifter.
7. Macbeth. Ueberjegt von Friedrich Bodenſtedt.
8. König inrich der Vierte. Erſier Theil. Ueberſetzt
von Otto Gildemeifter.
9. König Heintih der Vierte. Zweiter Theil. Ueber
fegt von Otto Gildemeifter.
10. Romeo und Julia. Ueberfegt von Friedrich Bor
denftedt.
11. Pr Ueberfegt von Adolf Wilbramdt.
12. Zimon von Athen. Ueberfegt von Paul Heyfe,
13. König Heintih der Fünfte. Ueberiegt von Dtto
Gildemeifter.
14. Der Kaufmann von Wenebig. Ueberfegt von Fried-
ri Bodenftedt.
15. König Heinrich ber Sechsſte. Erſter Theil. Ueberſetzt
von Otto Gildemeifter.
16. König Heinrih der Sechsſte. Zweiter Theil. Ueber»
jegt von Otto Gildemeifter.
17. König Heinrich der Sechste. Dritter Theil. Ueber
fegt von Otto Gildemeifter.
18. en Gonmernaßtstaum. Ueberfegt von Friedrich
obdenftebt.
19. König Richard der Dritte. Ueberfegt von Otto Gil⸗
bemeifter.
2%. König Kear. Ueberfeht von Georg Herwegh.
21. wönig Seel der Achte. Ueberfegt von Otto Gil-
emeifter.
22. Titus Andronicus. Ueberjegt von Nicolans Delins.
23. Was ihr wollt oder Heiliger Dreikoͤnigsabend. Ueber-
jet von Otto Gildemeifter.
24. Die beiden Beronefer. Ueberiegt von Georg Herwegh.
25. Hamlet, Prinz von Dänemark. Ueberfegt von Friede
rich Bobdenftedt.
26. Verlorene Liebesmüh. Ueberfegt von Otto Gilde»
meifter.
Die Vorzüge der von Bodenſtedt im Verein mit den nam⸗
bafteften deutichen Dichtern und Tertkritikern herausgegebenen
PpBD
*
nenen Shaleſpeare ⸗ Ueberſetzung find allgemein anerfannt, wes -
halb fie fi auch einer fortwährend ſteigenden Verbreitung er-
freut. Jedes Bändden enthält ein volftändiges Drama nebft
ausführlicher Einleitung und erfänternden Anmerkungen;
28 Bänden gen bereits vor, die übrigen 10 find zum Theil
34 ſchon im ick und werden in furgen Zwiſchenräumen
folgen.
Derlag von 5. A. Brochfans in Leipzig.
Soeben erſchien:
Tnschen- Wörterbuch
italienifhen und deutſchen Sprade.
Bon Dr. Francesco Balentini.
Siebente Auflage.
Swei Cheile. 8. Geh. 2 Thlr. 10Ngr. Geb. 2 Thlr. 18 Ngr.
Itafieniph- Dentfher Cheit· geh. 1 Täfr., geb. 1 Thlr. 5 Ngr.
Deut raenifher Tpeit: geh. 1 Tür. ft Nor, geb. 1 Thit.
gr.
Schon feit einer langen Reihe vom Jahren ift Balen-
tini’8 italienifh-demtihes und dentfd-italienifhes
Börterbucd, zum Gebraud für Deutſche wie für Italiener,
als eins ber —— geisäbt, Bie feft fih das Werk in
der Gunſt des Publitums behauptet, zeigt das Erfcheinen der
vorliegenden fiebenten Auflage. Der fehr billige Preis
ermöglicht beffen immer weitere Berbreitung.
Derfag von 5. A. Brodfiaus in Leipsig.
Soeben erſchien:
Das Staatd-Hecht der Preußiſchen Monardie.
Bon
Dr. Tudwig von Rönne,
Mopelationt-@erihte.BlceNeäpbent 5. D. und Mitglied bes Haufes ber
Dritte vermehrte und verbefierte Auflage.
Achte Lieferung.
Subferiptionspreis jeder Lieferung 20 Ngr.
Die dritte Auflage des berühmten Werks erſcheint auf
vielfeitig ausgefprohenen Wunfh in Lieferungen, um die
Anfhaffung durch allmählihen Bezug zu erleichtern. Sie
wird aus zwei Bänden beftchen, die in 16 Lieferungen ausgegeben
werden. Mit der foeben erjdienenen achten Lieferung jhliegt
der erfte Band, fodaß nun bereits die Hälfte des Werks vorliegt.
In allen Buchhandlungen it dad Erfhienene vorräthi—
nud ein Profpert gratis zu haben. u ie
Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipzig.
Die Oeffentlichkeit
in den
Baltischen Provinzen.
8. Geh. 15 Ngr.
Diese Schrift enthält einen nenen energischen Ruf der
und Wahrung germanischer Civilisation.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus, — Drnd und Berlag von 8. A, Srochhaus in Leipzig.
Blaͤtter
literariſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich. —e4 Hr. 35. ÿæ 3. Auguſt 1870.
Inhalt: Zur Geſchichte Napoleon's I. Bon Rudolf Doebn. (Beſchluß.) — Novellen und Romane. Bon Suſtav Sauff. —
Ein Fürfiinnenleben. Bon Gans Yrug. — Feunilleton. (Die Kriegslyrit von 1870; Aufdeckung einer Titerarifchen Fälſchnug.) —
Kibliographie. — Anzeigen.
Zur Geſchichte Mapoleon’s I
(Beihluß aus Nr. 34.)
1. Geſchichte Napoleon’s des Erften. Bon PB. Lanfrey. Aus | „Hätte die franzöfifche Republik (zur Zeit des 18. Bru-
dem Frauzöflihen von C. von Glümer. Cingeleitet von maire) einen Cato befefien, fo wäre ihr der Cäfar viel-
Adolf Stahr. Erſte bis achte Lieferung. Berlin, Sacco . . 4
Rechfelger 1869— 70. @r. 8. Jede Fieferung 15 Nor. leicht erfpart geblieben.” Ein moderner Cato hätte die
2. Napoleon I. und fein Geſchichtſchreiber Thiers. Bon Iu- | franzdfifche Republik ebenfo wenig gerettet, wie der alte
les Barni. Verdeutſcht von A. Elliſſen. Leipzig, | Cato die römifche zu retten vermochte. Unter der Larve
D. Bigand. 1870. 8. 1 Thlr. eined Republikaners ward Napoleon zum Mörder ber
Wir glauben zwedmäßig zu verfahren, wenn wir bei | Republik. Seinen einzigen, noch übrigen Nebenbuhler,
der fernern Befprehung des Laufrey'ſchen Werks das | den General Moreau, machte er fiir fi) unſchädlich, in-
Buch von Yules Barni: „Napoleon I. und fein Ge- | dem ex denfelben mit in fein Verbrechen verwidelte. Lan-
ſchichtſchreiber Thiers“ (Mr. 2), heranziehen; einestheils frey wie auch Barni bezeichnen die That des 18. Bru-
um Wiederholungen zu vermeiden, anderntheils weil beide | maire al8 einen Act bes Verraths, der Lüge und der
Schriftfteller nahezu denfelben Gegenftand behandeln und | Gewalt, als den Triumph des brutalen Zwangs im
meiftens zu demfelben Kefultate gelangen. Bunde mit Liſt und Trug, als das MWiederaufleben des
Das Buch von 9. Barni, welches er felbft als „eine | Cuſarismus in dem Frankreich des 18. Jahrhunderts und
Hiftorifche und moralifche Studie“ bezeichnet, Liegt ung in | der Revolution. Während Thiers in dem ganzen Ka—
der zweiten (parifer) Ausgabe vom Jahre 1869 vor; es | pitel, in dem er biefen empdrenden Gewaltſtreich ziemlich
ift, einige Anmerkungen abgeredjnet, eine getreue Repro- | treu berichtet, nit ein Wort für den damit begangenen
duction ber erſten (genfer) Ausgabe vom Jahre 1865. Frevel übrig hat, erflärte Yules Favre am 24. Juni
Den Hauptinhalt des Buchs bilden zwölf BVorlefungen, | 1870 in ber Specialdebatte über das Geſetz, betrefjenb
welche der Serieher im Jahre 1863 im Saale en Gro- | die Ernennung der Maires durch die erecutive Gewalt:
Ben Raths zu Senf hielt, und in denen er als Kritiker un der Konvent in der erfien franzöfiihen Revolution
des Hrn. Thiers die Geſchichte Napoleon's I. vom 18. Brus | pie munieipafen Freiheiten —5 bar r Eh das für mid
maire 1799 bis zu deſſen Ende auf St.» Helena verfolgt. keine —— denn —8 bertogt mehr ale ic die Ara
in und breit die „Geſchichte des niihen Maßregeln, welche iefe große Serjammlung getroffen
—— — ee von Fe ri , ſo hat. Aber der eigentliche Bernichter der Gemeindefreiheit war
. im ce . | der 18. Brumaire des Jahres 1799, und do will man jetzt
fnapp, gebrängt und kernig ift bie Darftellung von Barni, Serade am bie Gefeßgebung jener Zeit anknüpfen. Ich fürchte
der allerdings nicht zur Bergötterung des Napoleonismus | in der That, daß man in ber Huldigung zu weit gebt, wenn
beiträgt und weniger die fehler und Mängel, als die | man für eim rettendes Genie den Mann nimmt!, der Frank.
Sünden und Verbrechen Napoleon’s I. aufzählt. F ne einen ephemeren Ruhm gegeben und es |päter zum
Bon Aegypten nad) Paris zurückgekehrt, fuchte Na- win und zur Demüthigung geführt ha
poleon, der Dann des Schwerts, dor allen Dingen bie Bei diefen Worten unterbrad; Hr. Schneider, der Prä-
Hülfe von Sieyes, dem Mann ber Kirche, um das Werk | fident bes Gefeggebenden Körpers, den muthigen und elo-
des 18. Brumaire zu vollenden. Wir zweifeln, ob Lan | quenten Rebner mit der Bemerkung: „Er hat es jeden-
frey recht hat, wenn er (Bd. 1, Kap. 12, ©. 339) meint: | falls zu einem Ruhme geführt, welcher in dem Gefühle
1870. 35. 69
548 Zur Geſchichte
Kaifer durch den Helden fo vieler ruhmmitrdiger Schlach⸗
ten entzitdt wurde; er fügt aber als charafteriftifch für
Napoleon Hinzu:
Niemand konnte wie er freundlich und herrifh, einfchmeie
chelnd und hochmũthig fein, aber er war bei dem allen maßlos
wie ein Mann, der feines Eindrude fiher und gewöhnt ift, zu
bienden, binzureißen und fi immer auf der Bühne zu zeigen.
Daher wurde er auch leicht ſchwülſtig, wenn er edel, trivial,
wenn er einfach fein wollte, und war im Stande, eine italies
niſche Harlelinade mitten ‚in eine Tirade a la Talma hinein⸗
zuwerfen.
Daß ſeine bekannten heftigen Zornausbrüche häufig
fingirt waren, kann ſelbſt ſein Lobredner Thiers nicht
wegleugnen.
Die Erweiterungen und Verwandlungen ber „Napo⸗
leonifchen Legende” bezüglich alles defien, was zur Berfon
Napoleon’s I. gehört, erftreden fich bis auf feine Hirn⸗
ſchale. Es gibt nämlich au, wie Barni ©. 236 fg. ſich
ausdrüdt, „eine traniologifche Legende Napoleon's“. Diefe
Legende hat Bictor Hugo zu ben byperbolifchen Verſen
in den „Chants du cr&puscule‘ begeiftert:
Ce front prodigieux, ce cräne fait au moule
Du globe imperial! *)
Auch der Gefchichtfchreiber des Conſulats und des
Kaiſerreichs Hat nicht verfehlt, fie vorzubringen, indem er
berichtet, Napoleon habe „den größten Kopf gehabt, deſſen
Borhandenfein durch die anatomische Wiſſenſchaft confta-
tirt“ je. Nun beweift aber Barni a. a. O., daß die
anatomische Wiſſenſchaft das gerade Gegentheil conftatirt
hat, indem er das Zeugniß eines denkenden Phyſiologen
und ebenfo guten Beobachters wie geiftreihen Schriftftel-
lers, Louis Peiffe, anführt. Diefer fagt nämlich:
Was an Napoleon’8 wirklichem Kopfe zuerft auffällt, iſt
die Kleinheit des Schädelse. Die Büſte Cauova's und bejon-
ders auch die von Chaudet, fowie das Brufibild auf den Mün-
zen, haben die wahre Dimenfion des Schädels Napoleon’s und
namentlich die der Stirngegend dergeftalt übertrieben, daß gegen
dies ideale Maß gehalten der wirkliche Schädel Hein, ja winzig
ericheint. Indeſſen ift er äußerſt wohl proportionirt, ſowol tm
Berhältniß zu dem Geſicht, wie zu dem ganzen Körper. Da
fein Umfang 20 (parifer) Zoll 10 Linien beträgt, bietet feine
ganze Ausdehnung durhaus nichts Merlwürdiges dar; es ift
das eine der gewöhnlichfien Dimenflonen. Unter zehn Köpfen
erwachjener Männer beträgt bei mehr als füufen der Umfang
des Schädel 20— 21 Zoll, fodaß alſo Napoleon’s Hirnfchale,
was ihre vermeinte außerordentlihe Größe betrifft, nichts vor
der des dümmſten feiner Kammerherren voraushatte. Ich habe
den Stirmmwinlel gemeffen: er beträgt in natura, nad) der Gips⸗
larve von Antommardi, nicht Über 75 Grad, auf einer Bronze-
mebaille dagegen 90 Grad und darüber. Nun ift es begreif-
Lich, daß mit einer Zugabe von 15 Graden die Künftler ihren
Napoleon mit einer Stirn nad dem Mufter der des olympi-
ſchen Zeus mobelliren konnten. In Wirflichleit war die Stirn,
phrenologifch gefprochen, ziemlich mittelmäßig; es ift dies eine
Thatfache, die jeder aufrichtige Beobachter zugeben wird. Der
einfache Augenjchein genügt, um fi davon zu vergewiffern,
und das Maß des Winkels (von 75 Grad) iſt ein mathemati-
jcher Beweis, ber feinen Widerſpruch leidet.
Als Dr. Antommardi Gall's und Spurzheim’s phre-
nologifches Syſtem an Napoleon's Schäbel erprobte, fiel
ihm als erſtes unverkennbares Merkzeichen an bemjelben
da8 Organ der Heudjelei in bie Augen.
Auf die Frage, welche heute noch vielfeitig discutirt
*) Die wundervolle Stirn, ber Schäbel nad der Form
Des Kaiferapfels weitgewölbt!
\\
Napsleon’s J.
wird, 0b Napoleon I. Polen wiederberftellen Tonnte, und
wenn er e8 konnte, ob er es wollte, antwortet Panfıey
VI, 9 fg.: „Er betrachtete die Wiederherftellung der Un
abhängigfeit Polens nicht als über feine Kräfte gehend,
fondern er mollte fie nit.” Zu bemjelben Reſuliat
fommt auch Inles Barni ©. 255 fg. und begründet feine
Anfichten mit den beften Zeugniffen.
Vaflen wir alles Gefagte zufammen, fo können and
wir nur mit Channing ©. 11 jagen, daß, „wer feine mor⸗
derifche Hand gegen die Rechte und die Freiheit feines
Landes erhebt, wer den Fuß auf den Naden von 30 Mil⸗
lionen feiner Mitmenfchen fegt, wer ſich allein alle Gemalt
in einem mächtigen Reiche anmaßt, deſſen Schätze ver-
geubet, das Blut bes Boll wie Wafler vergießt, um an-
dere Nationen zu Sklaven und die Welt zu feiner Bent
zu machen, daß ein folder Menſch, dem fein VBerbreden
auf feiner blutigen Laufbahn fremd bleibt, in den Bann
des Menfchengefchlechts gethan zu werben und auf feiner
Stirn ein Brandmal, fo fchmachvoll wie das des erften
Mörders, zu tragen verdient”. So lautet, nad unſerer
Meinung, das Urtheil der unparteiifchen und unbeſtech⸗
Tichen Gefchichte durch die Stimme Channing’s; und wenn
man den Ufurpator fallen fieht, fallen durch eben bie
Werkzeuge, deren er ſich zu feiner Erhebung bediente
(Talleyrand, Fouche u. a. m.), dann exft glaubt man
in biefem Schaufpiele, welches allen Gewalthabern und
Machtanbetern zur Warnung dienen follte, in Wahrheit
die rächende Hand der vergeltenden Borfehung, die Re
mefis der Geſchichte zu erfennen.
Bor der ruhigen, Hiftorifchen Prüfung Laufrey’s, die
das Allgemeine wie das Einzelne mit gleicher Schärfe
umfaßt, und vor der einfchneidbenden Kritik Barni's, die
unerbittlih die Ausſchmückungen und Unwahrheiten ber
„Napoleoniſchen Legende” bloßlegt, finkt die ſchnell zum
mythiſchen Heros geworbene Geftalt Napoleon’s I. fehr zu⸗
fammen, und flatt eines großen Mannes erkennen wir in
ihm kaum einen großen General. Es ift fein Zufall, daß
die Geſchichte Napoleon I. den Beinamen des „Großen“
verjagt hat.
Zum Schluß wollen wir nur noch kurz auf die aus⸗
gezeichnete Einleitung hinweifen, welche der wohlgelungenen
Ueberfegung des Lanfrey’ichen Werts von Claire vom
Glümer vorangefchidt if. Was Jules Barni anbetrifft,
jo ift derfelbe als Verfaſſer ber „Martyrs de la libre
pensée“, als franzöfifcher Ueberfeger der Werke Kant
u. f. w. in ber literarifchen Welt rühmlichft bekannt. Sei⸗
nem im Rebe ftehenden Werke gehen zwei Vorreden des
Berfaflers und ein Borwort des talentvollen Leber,
fegerö voran. Als dankenswerther Anhang ift hinzu⸗
gefügt: 1) eine Schilderung Napoleon’s I. von 9. ©
Fichte, aus einem Vortrag „Ueber den Begriff des wahr⸗
hafien Kriegs“, gehalten im Februar 1813; 2) eine geil
volle, retroſpectide Betrachtung zum hundertſten Geburte
tage Napoleon’8 I. aus ber Feber des Ueberfegers, A. El⸗
liffen, betitelt: „Seanzöftfche Thronfolger.“ Diefe Ber
trachtung ſchildert in erſchütternden Zügen jenes eigen.
thümliche, feit Jahrhunderten und in&befondere feit den
legten achtzig Jahren über den defiguirten franzdfiichen
Thronfolgern waltende Fatum. Rudolf Wochn.
Novellen und Romane. 549
Yovellen und Romane.
1. Die Miffionare. Roman aus der Südſee von Friedrich
Gerſtäcker. Drei Bände Jena, Eoftenoble. 8. 4 Thlr.
Ein Zendenzroman gegen die Miffion, und zwar in
erfter Linie gegen die proteftantifche Miffion namentlich
ber Eugländer, im weitern Sinne aber gegen die Miffion
überhaupt, alfo auch gegen bie katholiſche. Ein adeliches
Fräulein, Bertha von Schölfe, wird durd ihren bigo-
ten Vater und einen Miffionsprediger bewogen, auf eine
Infel der Südfee zu fahren, dort fih mit einem ihr
früher ganz unbelannten Miffionar zu vermählen und
ebenfallg — in Sachen der äußern Miffion zu machen,
um diefen Ausdrud zu gebrauchen, der deswegen der
pafjendfte fein dürfte, weil nad) Gerſtäcker's Darftellung
die Miffion von den Engländern ohne tieferes Intereſſe
für Religion und Chriftentfum wie ein faufmännifches
Gefchäft betrieben wird. Die Frau des Miffionars findet
ſich bald enttäufcht: mit Uebergehung der Moral werden
ben Indianern unverftandene Glaubenslehren vorgetragen;
auf die Sabbatsfeier wird mit unnatürlicher, kleinlicher
Strenge gehalten, unjchuldige Freuden werben fireng ver-
boten, die Eingeborenen dürfen 3. B. nit Tabad rauchen,
feine Blumen in den Haaren tragen, nicht dem nationa-
Ien Zanzvergnügen fich hingeben; bei ben rauen wird
ein wunderlicher Kopfputz eingeflthrt, der, nach oben hoch
ausgefchweift, Hinten einer ftumpf abgefchnittenen Kanone
gleiht und felbft nah den Schultern hinab ein paar
Flügel fendet; De jungen Mädchen, früher gewohnt bar-
fuß zu gehen, müſſen fi) zum Tragen von Strümpfen,
die don europätfchen Miffionsfreunden ihnen zugejchidt
wurben, bequemen, kommen aber damit nicht zurecht und
haben fie bald wieder zerrifien; aus den friedlichen Natur⸗
findern werden unnatürliche Culturmenfchen mit dem gan-
zen Gefolge der modernen Civilifation; die Religion wird
von einigen Hänptlingen als Mittel zu politifchen Zwecken
benugt, und blutige Kriege zwiſchen den dhriftianifirten und
den heidnijch gebliebenen Iufulanern find im Gefolge der
Miffionsbeftrebungen. Mit der Verſicherung von der
friedlichen Ruhe der Infulaner in ihrem frühern Zuftande
will freilich nicht ftimmen, was wir III, 38 von ihren häufi⸗
gen Kriegen Iefen, die fie mit der größten Grauſamkeit [zu
führen gewohnt fein. Wir empfehlen dem Berfaffer zur
Berichtigung feiner Anſicht von der vermeintlichen Unſchuld
diefer Naturmenfchen einen gewiß unverdächtigen Schrift»
fteller, Immanuel Sant, im Anfang feiner „Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”. Das Fräu⸗
lein findet fi) natürlich enttäufht und fagt (II, 198):
Zerſtört if} die Heimat glüdficher, guter Menſchen, die
Gott mit allem gefegnet, was er au Schägen auf feiner herr-
Kihen Erde barg; muthwillig, mit teufliicher Bosheit zerfiört
von Menihen, die in dem wahnfiunigen Glanben gehalten
wurden, daß fie damit ein Gott mwohlgefälliges Werl thaten,
während fie nur den Zielen ebrgeiziger, ſchlechter Menſchen
dienten.
Beſonders empört fie fi über ben Misbrauch, der
mit der Lehre von den ewigen Höllenftrafen getrieben
wird, um die Heiden über das Los, das ihre Verwand-
ten im Jenſeits betroffen hat, zur Verzweiflung zu brin-
gen und der Miffton in die Arme zu treiben. Nachdem
ihr Gatte in dem Bürgerkriege zwifchen heibnifchen und
Hriftlicden Infulanern gefallen ift, fagt fie der Miffion
Lebewohl, kehrt mit ihrem Diener Klaus, dem Vertreter
der nüchternen, rationellen Anficht über die Miffion, nad)
Haufe zurüd und erflärt, daß fie auch aus dem in ihrem
Wohnort beftehenden Miffionsverein austrete, folange die-
fer nämlich das Ziel verfolge, „Geld und andere Artikel
bier im Lande zu fammeln unb über See zu Leuten zu
ſchicken, die fein Bebürfnig dafiir haben, während hier
im Baterlande die Armen Mangel leiden“.
In einem Tendenzroman tritt natürlich die Tendenz
dor und die Afthetifchen Anforberungen, denen jedoch ber
Verfaſſer im allgemeinen entjprochen hat, treten zurück.
Gerftäder fagt ausdrücdlich in der Vorrede, er habe faft
nicht8 erfunden, fondern nur eine Kette von Thatſachen
Bingeftellt und zwar dieſe mit den verfchiedenen Miffions-
Ichriften felber belegt. Ex hat ans eigener Anſchauung
gejehen, wie die fortwährenden Geldfammlungen für die Hei-
den zum großen Theil verwandt werben; er hat in vielen
fremden Ländern beobachten können, in welcher Weife das
Chriſtenthum verbreitet und von den verjchiedenen Stäm-
men aufgefaßt wurde:
Nichts Habe ich von den Berfolgungen der verfchiedenen
Selten untereinander erzählt, die viel, viel Blut, befonders auf
Tahiti gefoftet Haben und jogar, wie z. B. auf Neufeeland, nicht
allein zwijchen Proteftanten und Katholiten, nein, fogar unter
proteftantiihen Selten felber ftattfanden. Ich Habe tren und
wahr zu ſchildern verſucht, was wirklich geſchehen ift und noch
bis auf den heutigen Tag geſchieht.
Den objectiven Thatbeftand zu prüfen, würde und zu
weit führen. Die Heidenblätter, Miſſionsmagazine u. dgl.
Zeitfchriften mögen fehen, wie fie mit dem vielgereiften
Gerftäder fertig werden.
2. Kaufmann und Ariftofret. Roman von Wilhelm DOtto-
Zwei Theile. Berlin, Wegener. 8. 2 Thlr.
Auch diefer Roman ift offenbar ein Tendenzroman,
aber in einem ganz anbern Geift als Gerftäder’8 Wert,
denn er kämpft im Sinne Wichern’3 ober der Kreuz⸗
zeitung für bie Innere Miffion, predigt die Umkehr von
einer toll gewordenen Wiffenfchaft zum fronmen Glauben
der Väter, führt dem Kaufmannsſtand die Gefahr zu
Gemüth, durch materialiftifche Gefinnungen das Heil der
Seele zu verjcherzen, und verlangt in dem Abfchnitt, der
als lebendiger Mittelpunft des Ganzen zu bezeichnen ift,
in dem Teftament bes alten Grafen, von Abel, wenn er
überhaupt eine Zukunft Baben fol, Buße und Recht⸗
gläubigkeit. Damit ift das Buch Hinlänglic, gefennzeichnet.
Aeſthetiſch betrachtet erhebt es fich nicht über den Mittel⸗
flag. Mehrere Abſchnitte erinnerten mich Lebhaft an
Schiller's Sinngedicht auf Klopftod’3 „Meffias‘:
Religion befchenkte dies Gedicht.
Auch umgekehrt? Das fragt mich nicht.
Außerdem finden fid, mehrere Beiträge zu der immer
mehr einreißenden Sprachverwilberung; fo z. ®. I, 136:
„Aufmerkfamteit des Weins“ ftatt: „auf den Wein‘; faft
immer „wie nad) einem Comparativ, eine unberechtigte
Eigenbeit, die übrigens weit mehr im Norden als im
550
Süden Deutfhlands zu Haufe ifl; II, 169: „fich das
Lieferungsrecht begeben“, und noch viele andere faljche
Conftructionen. Der Verfaſſer merke fi, daß die
Sorge für das Heil der Seele mit der Sorge für
einen grammatiſch richtigen Ausdrud fi recht wohl
verträgt.
3. Modern. Roman von Adelheid von Auer. Zwei Bäude.
Berlin, Lefſer. 8. 1 Thlr.
Diefer Roman verfolgt einen ähnlichen Zwed wie der
von Wilhelm Dito, aber ohne die jener Richtung anflebende
Einfeitigkeit und die damit zuſammenhängende Beeinträd-
tigung des äfthetifchen Elements. Die Berfafferin fchil-
dert in Briefen — eine glüdli gewählte Form — das
von ihr miterlebte Schidfal einer Familie, die, vom
Schwindel der modernen Zeit erfaßt, ihre Tage in Wohl-
leben und Mammonsdienſt zubringt, bis durch ben plöß-
lichen Tod des Yamilienvaters die Täufchung über ben
Bermögensftand zerrinnt und die Kinder gezwungen wer⸗
den, durch eigene Thätigkeit fich eine gefelfchaftliche Stel-
lung zu erringen. Die Darftellung ift belebt und an-
ziehend. Wir führen den Schluß an:
Ein Wort wollen wir ftreigen aus dem tonangebenden
Lerilon unferer Sprache, und das ift die Mode, und ein an-
beres an die Stelle fegen, ih meine Sitte im engfien, un⸗
trennbarften Zufammenhang mit Sittfamteit; zwei andere, jebt
nicht fireng gefchtedene wollen wir zufammenzufligen verfudhen,
Bergnügen und Pflicht.
4. Aus der Ehewelt. Roman von T. ©. Braun. Drei Bände.
Leipzig, Orunow. 8. 4 Thlr. 15 Ngr.
Folgende Stelle in diefem Werke erinnert an die Klage
des foeben beſprochenen Romans über die moderne Ver⸗
bildung, und diefes Zufammentreffen ift ein Beweis, daß
ſolche Klagen nicht ganz aus ber Luft gegriffen find. Eine
Regierungsräthin in Berlin fagt:
In unfern Refidenzleben ift jeder fo überbeſchäftigt, daß
nicht alle Aeltern, wenn fie auch felbft dazu befähigt wären, fo
viel eigenes Intereffe und Sorgfalt anf die geiftige Entwide-
lung und Ausbildung ihrer Töchter verwenden fünnen. Sie
ſchicken fie in Erziehungsanftalten und Penfionate, nachdem fie
ihren erſten Unterricht in überfüllten Schulen erhalten, und bie
natlirliche Folge von biefer mafjenhaft gleichmäßigen Erziehungs-
weiſe ift allerdings das Verwiſchen jeglicher Originalität. Die
Sudividuafitäten gleihen fomit, im geringer Weife nuancirt,
einander wie ein Ei dem andern, wozu die ähnlichen Orts»
nnd Berfehrsverhältniffe noch das Ihrige beitragen. Auch der
unabläffig fleigende Lurus, der in keinem Verhältniß zu dem
meift fehr geringen Einfommen aller Beamten ſteht, welche nun
einmal einen jehr großen Theil der biefigen Bevölkerung aus-
machen, wirkt hindernd auf dem geifligen Aufſchwung ein, denn
der erforberlihe Glanz nah außen Toftet eine Menge unver-
bältnigmäßiger Opfer an Zeit und Mitteln, welche auf andere
wilrdigere Gegenftände verwandt werben könnten, bei benen
das innere Leben befjere Nahrung finden würde. Auch die herr-
fhende Vergnügungsfucht hat ihren tiefen Grund in den äußern
Berhältniffen. Die eltern! mifjen meiftens eifrig wünſchen,
ihre erwachſenen Zöchter fobald wie möglich zu verhetrathen,
um ihre Zukuuft gefihert und ſich ſelbſt pecuniär erleichtert zu
jehen; daher kommt es, daß fie fie willig von Fyeft zu Feſt be-
gleiten und die Töchter, welchen die Motive gutenfalls un⸗
befannt bleiben, an ben fortgejeßten Genuß gefelliger Vergnü⸗
guugen völlig gewöhnen,
Die Heldin unferer Erzählung freilich bat eine andere
Erziehung genoſſen, fie ift in einfachen, natürlichen Ver⸗
bältnifien aufgewachſen, hat neben den Haushaltungs⸗
Novellen und Romane.
' Lippen haltend, flüfternd Hinz, „‚e® lommt was brin vor
gefchäften die edfe Kunft der Malerei erlernt, ift fchon
mit 20 Jahren ein Mädchen von feftem Charakter und
entſchiedenen Grundfägen, geräth trog aller Verſuchungen
‚nie auf einen Abweg und weiß auch andern, mit deren
fie, nachdem fie in die größere Welt eingetreten, in Be
rührung fommt, auf den rechten Weg zu helfen. Hier
erhebt fich von felbft die Frage, ob diefes vom Zauber
reiner Idealität umflojlene Mädchen, das fich doch in der
Welt fo ficher zu bewegen weiß, nicht zu farblos geſchil—
dert ift. Unſerer modernen Anfchauumg wenigſtens ent
fpricht eine ſolche Entwidelung ohne alle tiefere Bernie
lung nicht recht. Damit hängt zuſammen, daß bie Dar⸗
ftellung überhaupt etwas breit und einförmig ift; «8 fehlt
das, was der Franzofe mit dem Worte verve bezeichnet.
Im übrigen gibt der Verfafler eine Reihe wohlgelungener
Bilder aus dem Eheleben; da find unglückliche und gläd-
liche, probehaltige und täuſchend überfirnißte Ehen, auf
diejenige Klaffe, zu der die meiften Ehen gehören, die der
balbglüdlichen, halbunglüdlichen, ift einigermaßen vertreten,
Im höchſten Himmel ehelicher Glückſeligkeit ſchwebt natür-
lich zu gutem Schluſſe die über das gewöhnliche Mädchen⸗
volk ſich weit erhebende, überall, wo ſie hinkam und hin⸗
kommt, heil» und ſegenverbreitende Heldin des Romans
Eſther Haideborn. Nur ift, wie ich fürchte, ihr Better
Ernft, der fi ohne Erfolg um ihre Hand bewarb, dur
feinen häufigen Aufenthalt bei Efther’s Aeltern, die ihn
wie ein Kind behandeln und denen er ihren Lebensabend
erheitert, noch nicht gehörig in der Ehewelt untergebradit;
diefes Bild Hat etwas nicht ganz Befriedigendes; es fehlt
zudem alle Ausſicht auf feine fernere Entwickelung.
Einer unferer erſten Lyriker ſoll gejagt haben, fo
lange es Badfifche gebe, werde es ihm wicht an einem
Publifum fehlen. Bon diefem Roman läßt fid etwas
Achnliches fagen und Hoffen. Die Haupthelbin ift bie
vom Backfiſch zur Braut und Gattin fich entwidelnde
Eſther Haideborn, um ſie ſcharen fi) alle diefe glüdlichen
und unglüdlihen Ehen. So wünſchen wir beun dem
Berfafler, daß er wenigflens ben zwanzigften Theil vom
Iiterarifchen Erfolg feines lyriſchen Geſinnungs⸗ und
Geiftesbruders erleben möchte.
Sprache und Darftellung verdienen alles Lob, fie find
gewählt und edel. Beiträge zur Sprachverwilderung der
Gegenwart fucht man vergeblich).
5. Cavalier und Jüdin. Roman von H. von Schönau Zwei
Bände. Berlin, Janke. 8. 2 Thlr. 15 Ngr.
Ich kann mich nicht enthalten, auch bier gleih zu
Anfang eine merkwürdige Partie mitzutheilen, de
unfere modernen Zuftände ein ſchlagendes Licht wit
Anna fagt in diefem Roman (I, 73):
„Denkt nur, von den «Wahlverwanbtichaften» haben fie au
efprochen, und Mama fagte mir, eine junge Dame dürfe I
Segenwart eines Herrn das Wort gar nicht erwähnen, eb ji
der Titel von einem ganz entjetlichen Buche. Ich fragte, 06
id) das Buch nicht Iefen könnte, auch nicht, wenn ich älter Ki,
aber doch mit vierundzwanzig Jahren? Nein, nie. Ware es fen
zöftfch geichrieben, ſo würde fie nichts dagegen haben, fagte Maztt
weiter, bie franzöftiche Leftfire vermehre meine Spracplenntnifi,
und zubem würde ich die beficaten Stellen auch nicht verſtehen.
Ganz fo dumm, wie die Mama glaubt, bin ic rum doch Mi
mehr! Ich verfichere euch, der nene franzoͤſiſche Roman, ben if
jest Iefe, iR bimmiifh! nnd‘, fügte fie, dem finger am Die
—E
-w—
— —
Novellen und Romane. 551
„Ss kommt was drin vor!” wiederholten die andern, beinahe
athemlos vor Wißbegierbe; „wie beißt das Buch?“ — „Ich
will e8 mit ins Kränzchen bringen, ich weiß die Stelle noch,
ih babe fie mir gemerkt, dann könnt' ihr ganz verfiohlen auch
einmal bineinfehen.‘ — „Ad ja! Aber bitte, vergiß es nicht!‘
Goethe's „Wahlverwandtſchaften“ find freilich die
Achillesferſe diefes Romans, und der Verfaſſer hätte viel-
leicht mehr in feinem eigenen Intereffe gehandelt, wenn
er diefe Parallele weggelaſſen Hätte. Bei Goethe ift eine
Wahlverwandtſchaft zwifchen Eduard und Dttilie nicht zu
leugnen; wie aber kann eine folche zwifchen dem Rittmei-
fter Walburg und Magdalene Oſthoff ftattfinden? Wal-
burg, obgleich ext gegen 30 Jahre alt, ift blafirt, Hat
eine fündenvolle Bergangenheit, wie er felbft gegen Mag⸗
dalene Ofthoff, die fich durch biefes Geftändniß in ihrer
blinden Liebe nicht beirren läßt, aufrichtig genug erflärt;
über fein Gavalierleben fagt ihm feine Sattin offen ing
Geficht:
„Eure Berufsehre iſt ein lächerliches Unding, das nichts
gemein hat mit dem wahren Ehrgefühl, welches ſich auf Moral
gründet und das die wenigſten unter euch kennen! Einen Ka-
merad (flatt Kameraden) im Duell erſchießen, im Pferbehanbel
betrligen, die fauern Erfparniffe der Aeltern in einer Nacht
verpraffen, einem Freunde im Hazard fo hohe Summen ab-
nehmen, daß er ruinirt if: dies alles, glaube ich, gehört zu
den Vorzügen eines Cavaliers! Ein armes junges Ding be-
thören; einem ebeln Mädchen das gegebene Wort nicht halten,
die fo oftmals beſchworene Liebe und Treue, weil fie euch zu
tugendhaft ift, ober ihr ein reicheres findet; den Frieden einer
fremden Ehe flören, oder die heiligen Gelübde der eigenen brechen:
nit wahr, das nennt ihr Cavalierfünden, zu denen ihr lachend
die Achſeln zudt? Die wahre Ehre würde freilich zu Schan⸗
den bei alledem, doch euere ſogenannte Berufsehre kann vor-
trefflih daneben beſtehen“ u. f. w. Wortlos flarrte fie der
Satte an.
Walburg hat nämlich die fchöne Jüdin Yudith Halel
geheirathet, theils durch ihr Geld, theils durch ihr raſches,
balbemancipirtes, ‚aber immer in den Schranken der Gitt«
lichkeit bleibendes Wefen angezogen, wird aber von plöß-
licher Liebe zu der fiebzehnjührigen Magdalene Ofthoff er-
griffen. Er bat diefe, als fie noch ein Find war, bei
einer Aufführung lebender Bilder vom Flammentod er-
rettet, von dem fie durch die Unvorfichtigkeit einer Fackel⸗
trägerin bedroht war; dadurch ſoll nun die unwiderfteh-
liche Anziehungskraft, die der alte Sünder beim erften
Zuſammentreffen auf das ald rein und unſchuldig geſchil⸗
berte flebzehnjährige Hoffräulein ausübt, erklärt werben.
Iſt dies pfychologiſch wahrfcheinlih? Hätte Ditilie, ber
doch offenbar das Hoffräulein ähneln ſoll, an diefen Ritt⸗
meifter ihr Herz verlieren lünnen? Der Berfafler tadelt
einmal (durch befagtes Hoffräulein), daß Ditilie gar feine
Gewiſſensbiſſe jpürt über ihre Liebe zn Eduard; wie man
nun über diefe objective Haltung des Goethe'ſchen Werks
denken mag, jedenfalls bat Goethe die pſychoiogiſche Wahr-
ſcheinlichkeit nicht verlegt, Durch diefen verunglüdten Zug
iſt das ganze Gemälde unſers Romans entftellt, der im
übrigen manche fchöne, rührende Scenen und gelungene
Schilderungen enthält.
6. Kunſtlerſtreben umd Alltagsleben. Roman von Feodor
Steffens. Drei Bände Berlin, Jaunke. 8 4 Th.
. 15 Nor.
Der Titel erinnerte mid; an Goethe's „Künftlers Erden⸗
wallen“ und „Künſtlers Apotheoſe“. Zur Apotheoſe kommt
es nun freilich in unſerm Roman nicht, aber doch zu
einer glücklichen, weil auf Wahlverwandtſchaft beruhenden
Verbindung eines Architekten mit einer Sängerin. Hier
kann man wirklich ſehen, was Wahlverwandtſchaft iſt und
wie die bereits geſchloſſene Verbindung zweier Weſen (des
Architekten und ſeiner erſten Braut, einer glänzenden,
aber alles tiefern Gehalts ermangelnden Weltdame) durch
ein drittes (eben die Sängerin) wieder gelöſt werben kann,
wenn e8 mit einem der fchon verbundenen in näherer
Beziehung fteht und dieſes nun feine erfte Verbindung
aufgibt, um mit dem Hinzugelommenen eine neue ein⸗
zugehen. Bon biefem wichtigen Geſichtspunkt aus ift der
Roman unanfehtbar; die piychologifche Begründung ift
gelungen,
Was nun das Alltagsleben im Zufammenftoß mit dem
Künſtlerſtreben betrifft, jo ift diefer ſchon öfter dageweſene
Gegenftand Bier, foweit dies möglich ift, originell und
bumoriftifch genug behandelt worden; z. B. IN, 216: „Die
Kunft ift fo Schön, wenn nur das Leben nicht fo ver-
dammt Foftjpielig wäre!“ | Der Berfaffer hat aber fein
Thema, nad) meiner Anficht wenigftend, zu ſehr in bie
Länge gebehnt und unterbricht ben ruhigen Gang der Dar⸗
ftellung allzu oft durch allerhand Abfprünge, Einfchiebfel,
Anreden an ben Lefer und Recenſenten. Doch ift dies
vielleicht Geſchmackſache, weswegen ich Fein zu großes Ge⸗
wicht darauf legen will. Im gauzen Lieft fich dieſer aus
ernften, komiſchen und fentimentalen Elementen zufanmen-
gefegte Roman recht angenehm. Auf den jprachlichen
Ausdrud hätte der Verfaſſer hier und da mehr Fleiß
verwenden dürfen. Ausdrüde wie: „Programms“ ftatt
„Programme (diefe franzöfirende Pluralforım greift ime«
mer mehr um fi; ich habe irgendwo einmal „Bräuti⸗
gams“ gelefen); „unſer gute Baufe ftatt „guter“ (fo
öfters im Buch); „Belobigung“ ftatt „Belobung“, find
zu tadeln. — Mehr fseilel
7. Erzählungen. Die Feuerdore, Erzählung aus dem pfälzer
Bollsleben. Der Helm von Cannd. Bon Dtto Müller.
Stuttgart, ©. Hallberger. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Nor.
Zwei Erzählungen, bie weit auseinanderliegen. Die
erfte gehört den berufenen Dorfgeſchichten an, ohne hier
eine neue Saite tieferer umd reinerer Poefie anzufchlagen.
Nach S. 149 ift die Geſchichte, die in einem etwas fal-
bungsvollen Moralton vorgetragen wird, im der Haupt-
fache Hiftorifch beftätigt — dies beweiſt aber noch nichts
für ihren poetifchen Gehalt. Hingegen ift „Der Helm
von Cannä”, d. 5. der Helm, den Hannibal bei Cannä
getragen haben fol und der 1790 auf originelle Weife
bem Haupt der Minerva pacifera im Batican zu Rom
abgenommen und auf das Schloß des Grafen zu Erbach
gebracht wurde, wo er fid) nad unferer Erzählung noch
befindet, ein Prachtſtück eines wahrhaft ergöglichen Hu⸗
mors, mag nun die Erzählung gefchichtlich beftätigt fein
oder nicht.
8. Die wilde Rofe. Eine rheiniſche Dorfgeihichte von Eugen
Senthis. Düfjeldorf, Stahl. 1869. Gr. 8. 20 Nigr,
Ebenfalls eine Dorfgeſchichte wie „Die Feuerbore“, aber
nech viel gräßlicher als dieſe. Hier zeigen ſich die meiſten
dieſer Dorfbewohner in ihrer reinen Thierheit, worauf
ſchon die Ramen: bie Füchſin, der junge und der alte
552
Htis, hinweiſen. Biel Poeſie abe ich auf diefem Ader
voll von Dornen, Difteln und Unkraut, anf dem die
Tochter der Füchſin wie eine wilde Roſe aufgewachſen
ift, eben nicht gefunden; aber auch bier beruft ſich der
Berfafier darauf, daß die Gefchichte wirflich in dem Orte
Heiderich am Rhein vorgefallen fei, und meint zum Schluß:
„Und da fomm’ mir einer mit der Behauptung, daß es
im Leben keinen Roman gebe!” Indeſſen fcheint mir ber
Berfaffer nicht immer fireng bei ber Geſchichte geblieben
zu fein; denn ©. 59 ſtirbt der „Malzbauer“ eines gemalt-
famen Todes, ©. 83 lebt er noch und erkundigt ſich nach
dem Schidjal feines Sohnes. Diefer Sohn, der Geliebte
der milden Rofe, muß nach ©. 57 als Soldat nadı
Schleswig. Holftein, nach ©. 83 wird er bei Langenſalza
verwundet. Das find doc Widerſprüche!
9. Ins Kloſter. Ein Familienbild aus den Rheinlanden. Ro-
den Den eitgelm Freimuth. Düffeldorf, Stahl. 1869.
. t.
Auf die Dorfgeſchichten folgt eine Kloſtergeſchichte, in
der und die Menſchennatur mehr nad) ihrer Schwäche
und Beftimmbarfeit entgegentritt. Auch dieſer Roman (von
130 Seiten) fpielt im Sommer des Jahres 1866. Er
enthält eine wohlgemeinte Warnung vor dem Klofterleben;
die Hauptperfon, bie durch priefterliche Borfpiegelung Nonne
geworben ift, wird durch die Macht der Liebe «dem Leben
wiedergegeben. Der Schluß lautet: „Veritatem secutus
stultitiam pugnavi“, und legt eben kein günftiges Zeugniß
für die Schulbildung des Berfafiers ab.
10. Der legte Maktabäer. Hiſtoriſcher Roman. Aus den Ba-
pieren eines Berflorbenen. Drei Bände. Hannover, Klind⸗
worth. Gr. 8, 2 Thlr.
Ber diefer „Verftorbene” ift, wird nicht angegeben, unb
feine Spur im Buche weift deranf Hin. Der Titel leitet
irre; denn e8 Handelt fi Hier nicht um den legten Maf«
Tabäer allein, der erft gegen das Ende auftritt, fondern
um den Kampf ber Juden gegen die Uebermacht der Syrer
unter dem Heldengefchleht der Mallabäer. Der letzte
Maflabäer wäre eigentlich Iohannes Hyrkanus, Sohn des
von feinem Schwiegerſohn Ptolemäus ermordeten Simon
Moffabäus. Eine bei weitem bedeutendere Rolle als die⸗
fer Johannes fpielt der erſte Maflabäer Judas. Wozu
alfo der irreführende Titel?
Im Vorwort wird bemerkt:
In der Geſchichte des Heldengeſchlechts von Matathias offen.
bart fi die Wahrheit aller Zeiten: jede Nation bringt vor
ihrem gänzlihen Verfall Repräfentanten ihrer Nationalität,
patriotifch erglühte Charaktere hervor, und an diefe fnüpft fid
die Glanzperlode des bahingefunfenen Bolls, Ihre Namen find
die Träger des feinigen. Es gibt wol fein Beifpiel in der
Geſchichte, das uns den Contraft zwiſchen den Juden der Jetzt⸗
zeit und denen, die ber Malfabäer Zeit- und Kampfgenofjen
waren, fo deutlich vor bie Seele führt, ale wir bei mur flüch-
tigen Bergleich ihn erfennen müffen. Darum ermählte ich mir
da genannte Heldengefhlecht zum Gegenftanb diefes biflorifchen
Romane, und man wird au in vorliegendem Buche die tiefe
und auf alle Zeiten bezügliche Bedeutung der bibliichen Ge—
ſchichte erkennen.
Dies alles gilt weit mehr von dem Kriege der Juden
mit den Römern, in dem Iernfalem zerftört wurde. Im
diefem Kriege ließen e8 bie Juden gewiß an Tapferkeit
ebenfo wenig fehlen wie-in bem ſyriſchen Krieg, wenn
fich gleich fein Heldengeſchlecht bejonders in ihm hervor⸗
Novellen und Romane,
that, und biefer Krieg dauert im feinen Wirkungen uoch
weit mehr fort als jener ſyriſche, der für Nicjtifraeliten
feine beſondere Anziehungskraft hat. Das „auf alle Zi»
ten Bezügliche ber bibliſchen Gefchichte” zeigt fid ;. ©.
1, 108, wo ber fterbende Matathias, der Water der Male
tabäer, die Kreuzigung Jeſu, die Kreuzzüge und nod,
Späteres, freilich ohne alle pfgchologifche Meotivirung, vor
ausſagt. Der erbittertfte Feind der Maftabüer ift a
Keren Ofal, ein von Iſrael abtrünniger Räuber, Sflaven-
händler und Falſchmünzer, ber zulegt, von Johannes, bem
legten Maflabäer, befiegt, anf einem Thurm fich jelbft
den Tod gibt. „Er breitete die Arme weit aus, ben
ſelbſtgewahlten Tod (in ben Flammen) an bie Ichenemüde
und doch muthige Bruft zu drüden — fo war er anju-
ſchauen wie ein Gekreuzigter!“ Die Juden ſchrien mit
Entfegen: „Höre, Irael! Der Herr — !" Da ftürgte ber
Thurm mit Donnerfrahen zufammen.
Hier fchließt das Bud. Diefer Ha Keren Ofal if
offenbar ein prophetifches Zerrbild des Iſa Ben Miriam
Geſus, Sohn der Maria), wie der Erlöfer einmal ge—
nannt wird. Aber Zweck und Zufammenhang diejer Er
findung ift mir nicht ganz Mar geworden. Der Berfafier
war offenbar Sfraelit, aber zugleich Freund des Chriften-
thums umd Verehrer Jeſu. Das Ganze ift eine rheioriſche
Erweiterung. und Ausſchmückung des erſten Buchs der
Maltabäer.
11. Der deutſche Michael. Hiſtoriſcher Roman von A E.
Brahvogel. Bier Bände. Berlin, Janke. 8. 5 Thlr.
20 Nor.
Der Titel ift zwar nicht irreführend, aber doch un
beftimmt. Der Held dieſes hiſtoriſchen Nomans ift ein
Erzeugniß der Phantafie des Dichters, womit natiirlid
durchaus Fein Tadel ausgefprochen fein fol. Der heilige
Michael ift ber Schugpatron ber Dentfchen, ber Engel
des Lichts, der die Finfternig und Lüge befiegte; unler
Michael Felgentren ift Kämpfer gegen Aberglauben, Un-
recht, Gewalt und Hinterlift im NReformationgzeitalter,
entflieht aus dem Kloſter Zinna bei Jüterbog, in das er
widerrechtlich geftoßen war, belämpft den Ablafträmer
Tegel, errichtet in Yüterbog eine neue Stabtmiliz, ver-
breitet Luther's Säge gegen den Ablaß, Hilft die Refor-
mation in Süterbog einführen, flegt bei Franlenhauſen
über Münzer, tritt mit Luther und Melanchthon in Ber-
bindung, hilft der wegen ihres evangelifchen Glaubens
von ihrem Gatten verfolgten Kurfürftin von Brandenburg
ur Flucht nad) Sachſen und kämpft mit Glüd gegen die
Türen. Er will den bei Mühlberg gefangenen Kurfürften
Iohann Friedrich befreien, doc) ber Anfchlag mislingt und
Michael ſoll zwiſchen den Spießen laufen, wird aber
wunderbar errettet, zeigt ſich anf einmal wieber als Gtrei-
ter gegen ben flüchtigen Karl V. im Schmalfatdifdjen Kriege,
wird aber bier von feinem frühern Freund und fpätern
Feind Krähenfutt durdbohrt. Diefer Michael ift der gute
Genius der deutſchen Nation in jener wichtigen Zeit, nad)
den Worten des Kaifers Karl V.: „wie Puther umanteft-
bar, ein granitner Mann in feinem Trotz bes Rehtt,
furchtbar in dem Bewußtſein feiner Zeit und feines Dolls,
unüberwinblicher als Glaubengeiferer als fonft ein Mann.“
Das Denfen freilich, ift feine Stärke nicht, wienol
wir I, 225 Iefen, er fei vom vielem Denken gebantenlos
Ein Fürftinnenleben.
gewefen. Ihn treibt ein gewiſſes biderbes ritterliches Pathos
für Gerechtigkeit und deutfche Freiheit. Desgleichen hat
er feine Entwidelung, die eine Verwidelung wäre und
ihn in tiefe Kämpfe mit fich felbft führte, ex ift ja das
irbifche Abbild des Schutengels der Deutſchen. Freilich
muß man fid) verwundert fragen, warum denn biefer
Michael Telgentreu gerade bei den erzählten und nicht
auch bei andern wol noch widtigern Kämpfen zugegen
gewejen fei, warum er 3.8. beim Reichstag in Worms
fehle. Wir befommen eine Reihe von Gemälden aus der
Reformationszeit, die durch den Antheil, ben ber biedere
Ritter Michael an ihnen nimmt, zufammengehalten wer⸗
den. Dffenbar fehlt e8 dem Roman an wahrer Einheit,
und diefer Mangel läßt fi durch die glänzendften Bra⸗
vourftüde nicht erfegen. Es kommt aber nod) etwas in
Betracht. Der Roman ift halb eine pathetifche Verherr⸗
lichung, halb eine Anklage des Lutherthums. Beim Ka⸗
pitel vom Banernfrieg macht der Berfafler einen Anfat
zu einer freifinnigen Kritik des Lutherthums. Der biderbe
Michael weiß freilich auf die Anlagen, die der flerbende
Münzer gegen das Lutherthum fchleudert, nur mit nichts»
fagenden Allgemeinheiten zu antworten; aber II, 209 fagt
Brachvogel felbft:
Der allmächtige Schreden des Bauernanfftandes war der
Damm des freien Gedankens geworben. Luther trat mit fi
felhft in Widerfprud, wurde dem großen Grundſatze ungetreu,
den er gegen Cajetan fo glänzend vertheidigt hatte, „daß der
Menic feinen Gewiflen, dem Gott in fi allein zu geboren
babe”. Indem er jest in fich felber eine neue unfehlbare Au⸗
torität aufftellte, den Glauben unter die politifche Imriediction
des Staats fegte und die Fürften zu feinen Wächtern, hatte er
die Bewegung geftaut und fein ganzes weiteres Leben wurde
553
nur ein Kampf gegen das, was er al® „zu viel’ bezeichnete.
In diefem Eutihluffe, wahrhaft tragifcher Natur, an dem das
Herz des großen Mannes fortan frauen follte, lag der Keim
zu all den Tünftigen Wirren des deutſchen Weſens, und der
Grundſatz: „Weſſen das Land, deffen die Lehre”, wurbe bie
Wurzel unferer nationalen Spaltung, die Mutter der — Klein-
ftaaterei. Hier ber PBapft, dort Thomas Münzer, das war lei⸗
der die Alternative; Martin aber ging eifern zwifchen beiden
durch, beide vernichtend, und rettete jo nur das evangelifche Pa⸗
nier für fpätere Geſchlechter.
Da flimmt ja ber Berfaffer ganz mit dem fterbenden
Münzer überein; wie reimt ſich aber mit biefen und an»
dern Stellen die abftracte Berherrlihung Luther’3, Die
anderswo angeftimmt wird? Wie paßt diefe ſcharfe Kritik
zu bem biberben Pathos, das fonft im Roman waltet?
Wie kann der Berfafjer namentlich am Schluß IV, 323
fagen: „Der Baflauer Vertrag brachte Deutſchland nicht
nur bie freie Xehre in aller Schönheit wieder, fonbern
aud) das Kleinod der Barität, der Gleichberechtigung“?
Wurde denn nicht durch den Augsburger Religionsfrieden
1555 der vom Berfofler fo fireng getabelte Grundfag:
„Cujus regio, ejus religio“, erft recht befeftigt ?
Sonſt ift uns aufgefallen das häufig vorkommende
„Sonftl“ ftatt „Concil“ (Kirchenverfammlung), „Iuden‘‘ ftatt
„lugen“ (Drudfehler?), die Erflärung ber Redensart: „Die
Sade hat einen Halen”, von dem Ritter Hale, ber bei
güterbog dem Mönch Tegel feinen Kaften auf eine Weife
wegnahm, die allerdings nicht ganz gebilligt werben Tann,
Ueber legteres mag ſich der Verfafler mit dem Grimm’-
[hen Wörterbuch; auseinanderfegen, das von diefem Ur-
fprung der genannten Redensart nichts weiß.
Sufan Hauff.
Ein Fürſtinnenleben.
Jakobäa von Baiern und ihre Zeit. Acht Bücher nieberlän-
difcher Geſchicht von Kranz von Löher Auf Beranlaj-
fung und mit Unterffügung Seiner Majeftät des Königs von
Baiern Marimilian U. Zwei Bünde. Nördlingen, Bed.
1869. ®r. 8 5 Thlr.
Keine Beriode der Geſchichte ift von ber in unfern
Tagen im allgemeinen doch fo regſamen und fhöpferifchen
Hiftorifchen Wiffenfchaft bisher fo auffallend wenig berüd-
fichtigt worben, wie die merkwürdige Zeit, in welcher die
Bildungen des Mittelalters im Gebiete des Stantslebens,
der Geſellſchaft, der Literatur und Kunft zu ſchwin⸗
den beginnen und zwifchen und anf den aufgehäuften
Trümmern bie erftien Schößlinge einer neuen Zeit empor»
zufproffen anfangen. Und doch bat die Erfenntniß gerade
dieſes Mebergangs aus dem Mittelalter in die neuere Zeit
einen befondern Werth, da wir nur von ihr eine voll»
flündige Bloßlegung der eigentlichen Orundpfeiler, auf
denen die Cultur der neuern Zeit fi) aufgebaut hat, zu
erwarten haben. Eben darin aber liegt zugleic) der Grund,
weshalb gerade auf diefem Gebiete verhältnigmäßig fo
Selten eine bebentendere Leiftung zu verzeichnen iſt. Wer
die Gefchichte des 14. und 15. Jahrhunderts fchreiben
will, der muß nicht blos in dem von ihm darzufiellen«
den Zeitraum völlig heimiſch, fondern auch dieffeit und
jenfeit deflelben, mit der voraufgehenden und der nach⸗
1870. 8.
folgenden Zeit fo vertrant fein, daß er das Ineinander⸗
übergreifen, die Bermifchuug verfchiedener Enlturperioden,
die im folcden Webergangszeiten ftattfindet, durchdringen
und in ihre verfchiedenen Zeitaltern angehörigen Beftand-
theile zerlegen Tann. Das fett aber nicht blos ein ebenfo
umfangreiches wie tiefes Wiſſen voraus, jondern auch eine
Congenialität des Darftellers mit dem Stoff, ein finniges
Sichvertiefen in die Vergangenheit, die Fähigkeit, mit den
Menfchen entſchwundener Jahrhunderte zu denfen und zu
fühlen, zu lieben und zu baflen, zu leben und zu leiben,
wie fie doch nur einigen wenigen Auserwählten aus ber
großen Schar der Jünger der hiftorifchen Wiffenfchaft
verliehen ift. Ein anderer Umftaud kommt noch hinzu,
der nämlich, daß gerade für dieſe Zeit des Webergangs
aus dem Mittelalter in die nemere Zeit e8 mit ben
Duellen, aus denen die Darftellung zu fchöpfen hat,
außerordentlich ſchlecht beſtellt ift und im biefer Hinficht,
von einigen wenigen Ausnahmen abgefehen, eigentlich nicht
weniger als alles zu thun if. So werden denn immer
ungewöhnlich günftige Umſtände zufanmentreffen mitfien,
wenn biefer noch jo wenig erſchloſſene Theil der Gefchichte
im einer nicht blos den Fachgelehrten, fondern allen Ges
bildeten zufagenden Weife und zugleich zum Nutzen der
Wiſſenſchaft jelbft behandelt werden fol. Kiner ſolchen
Conftellation verdanken wir denn aud das Erfcheinen bes
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554 Ein Fürftinnenleben.
obengenannten Buchs über „Jalobia von Baiern und
ihte Zeit” von Franz bon Löher, welchem wir unter
den jene merkwürdige Uebergangäpertode behandelnden Wer-
ten ohne Bedenken einen sche hervorragenden, ja geradezu
den erften Plag einräumen. '
Auch in dieſem vortrefflichen Buche, deſſen erfter Band
Schon vor mehren Jahren erſchien, und ſich allfeitigen
Beifals erfreute, auch fofort in fremde Spradhen über⸗
Ist wurde, begrüßen wir bon neuem die tiefgehende
hregung und bie wahrhaft Königliche Förderung, welche
der feinem Volke und der von ihm beſchützten Wiſſenſcha
allzu früh entrifjette Kbnig Marimilian II. von Baiern
wie jedem hoben geiſtigen Streben, fo nantentlid) ber
deutſchen Peſzihchrehung hat zutheil werden laſſen.
Wenn auch zunächſt dad Inteteſſe art der Vorgeſchichte
jenes, des Wittelsbuch'ſchen Hauſes, den hochſinnigen König
eſtimmt haben mag, eine genaue quellenmäßige Bars
ftelung des Lebens feiner Ahnfrau Jakobän dort Balech
zn. veranlaſſen, jo zeigt doch diefe Wahl zugleich ein
tiefes Verſtündniß Für das wirklich Bedeutende, Epoche⸗
machende in der Geſchichte; denn eine Biographie Yalo-
bin’! mußte, in großem Sime gefaßt und in wahrhaft
hiſtoriſchem Stil ausgeführt, zugleid eine Geſchichte der
europaiſchen Cultur in ber erften Hälfte des 15. Jahr⸗
hunderts twerben. Beſſern Händen aber als denen Löher's
Tonnte, wie der Erfolg zeigt, die in biefein Sinne gu
idſende Aufgabe nicht anderträrt werden; denn Bier fegen
wir, der Neigung des geſchichtskandigen Königs ent⸗
fprechend, die hiſtoriſche Perfönlichteit aufgefaßt wirklich
im Lichte ihrer Zeit, und die Zeit betrachtet auf beit
Hintergrunde der leitenden Ideen, welche mit frühern
Sahrhunderten verknüpfen und in die folgenden hineinführen.
Mit treuer Hingabe und mit feinfühligem Verftändnig hat
ſich der Gefchichtjchreiber in die Zeit feiner Heldin, in das
ganze Leben und Weſen derſelben vertieft; nicht blos koſt⸗
vare Quellenmaterialien, weiche bisher unbekannte That⸗
fachen ergaben oder doch bisher berfantite in dad richtige
Dicht Teen, hat er durch die auf Beranlafſfung und met
Unterftägung König Marimiltan’s IL. unternommenen For⸗
ſchungstriſen zu Tage gefötbert, ſondern er Hat ſich um
ie genaue Bekanntfchaft ertvorben mit der eigenthüm⸗
Then Natur des Landes, welches der Schauplatz ber
VGiſchichte Iatobäa’s ift, und mit bein fo Apeneztigen und
felbſtndigen, Fehroffen und doch wieder Tiebenswlirbigen
und anziehenden Charukter der Menſchen, in deren Mitte
das Wentendrreiche Leben ber fchönen Wittelsbucherin Fich
abfpltte. Aus dem eingehenden Studium von Land und
Lernen hat fi) dem Gefſchichtſchteiber, der bis in bus
Teinfte Detail der Cultur des vitteefichen und bürgerlichen
Pebens jener Zeit eingedvangen iſt, ein jo lebensvolles und
anfchanliches Bild ber Bergangenheit ergeben, daß «er ıhit
beſonderer Vorliebe, aber Auch init befonders günftigem
Srfolge in ſaftigſtet Farbengeberng den Hitttergrund ums
ut, Auf dem die Perſoönlichkett der vielgepeuften
Sctebta vun Batem Handelnd and Ixibend Fi abhebt.
Gerede diefe eulturgeſchichtliche Seite feines Stoffs hat
Loher angenſcheinlich befditbers angezogen, und im ihrer
uberdus friſchen und glücllichen Dehandlung fehen wir das
Hauptverdienſt ſeines Töten Werka. Daß ber Ber-
faſſer ſelbſt darüber die eigentlich hiſtorifche Entwickelung
hier und da beinahe fallen läßt und mit behaglicher Breite
ſich im Ausmalen und Schildern ergeht, wird ihm nie⸗
mand zum Vorwurf machen, denn gerade in ſolchen
Abſchnitten tritt uns fein glänzendes Darſtellungstalent
amt erfreulichften und wirkungsvollſten entgegen. Freilich
wollen wir nicht verhehlen, daß diefe breiten und farben-
präditigen Schilderungen, welche das höfiſche und ritter-
liche Leben des 15. Jahthunderts in plaftifcher Auſchau⸗
Cichleit vor uns erflchen laſſen, bier und da fo im den
Borbergrund gefihoben zu fein feinen, um die zumeilen
zweifelhafte oder dach zeitweife ſehr fragliche Hiftorifche
Bedeutung der eigesitlichen Heldin gewiſſermaßen zu ver⸗
decken und den Leſer in der liebenswürdigſten Weife über
Abfchnitte Hinwegzuführen, wo er, ohne durch fo intereſ⸗
jante Schilderungen völlig in Anſpruch genommen zu fein,
dem Gejchichtjchreiber ficher im Geifte mit der Frage
entgegeitieten würde, warum denn gerade Jakobäa von
Baiern gur Trägerin diefer ganzen Periode gemadgt um®
in den Mittelpunkt der Darftellung einer Zeit gerüdt jet,
deren darakteriftiiche Eigenfchaften zu repräfentiren andere
Perfönlidgkeiten ſehr viel mehr berufen erſcheinen. Phi⸗
lipp von Burgund, der glückliche Gegner Jakobäa's, hätte,
wie es uns ſcheint, feiner ganzen hiſtoriſchen Bedentung
nach ſehr viel mehr ein Recht darauf gehabt, als der
Träger der ganzen Cultur der uns hier geſchilderten Zeit
auch in den Mittelpunkt der Darſtellung derfelben gerückt
zu werden; denn er repräſentitt vor allem das in den wil⸗
den Kampfen jener Zeit klarer hervortretende monarchiſch⸗
abſolutiſtiſche Princip des Fürſtenthums. Gerade dieſen
Zug aber vermiſſen wir in Jakobäa von Baiern, wie
Köher ſelbſt von feiner Heldin fagt, fie fei „doch mehr
Weib als Fürftin und fchöpfe ihre Kraft aus dem Herzen,
jodag ihre Kraft dahin war, ſobald fich dieſes fröftelnd
zufammenzog”. Wi es und denmacd, wenn der Maßſtab
wirffich hiſtoriſcher Bedeutung allein gelten fol, nicht ganz
gerechtfertigt erfcheinen, daß diefe Frau, welcher die eigent-
liche Herrfchergröße abgeht, die ihrer Zeit keinen fort-
wirkenden Impuls gegeben, auch Leine neue Idee im die-
felbe gepflanzt Hat, zur Reprüſentantin einer ganzen
Culturepoche gemacht wird, fo erklärt ſich dies doch Leicht
einmel aus der Beranlaffung, auf die Hin das Bud
entftanden At, und damı ans den: Zauber, welchen ber
die poetifch reizende Geſtalt der ſchönen und unglücklichen
Fürftin umftraflende Nimbus ber Romantik auf jeben,
der dem Stoffe näher tritt, auoiben witd. Liber feleſt
fugt von feiner Heldin, „ſie Hade ben alten Xitterthuuu
noch era flatterud fern Basiaer vdrangetragen, ihre
Ideale aber ſeien uatergegangen, weil der ſtaatorechtliche
und ſociale Boden, auf dem fie beharoten, brüchig ge
worden“. Die durch und durch romantiſche Etſtcheinug
der abenteuerlichen Wittelsbacherin ragt doch nur wie die
einzige Berttsterkn einer fremden, vergangenen, ſchon dem
Untergange verfallenen Belt in das Zauhrhundert der poli⸗
Hichen und ſoeialen Neubildungen herein; fie kann wech
unſerer Meinung nicht als die ſelbſtihätige Vertreberin
eines beſtimmten hiſtorifchen Princips gebten, fondern üſt
vom SäHifal dazu verurtheilt geweſen, ohne vigene Schuld
und ohne eigene bedentende That die Murcyrerin der
ren Zeit zu werden, die ſobche Furſtinnen nicht mehr
brauchen konnte. |
Ein Fürftinnenleben.
Nur durch ihre Abſtammung aus dem wittelsbacher
Haufe hängt Jakobäa mit Baiern zuſammen; durch ihr
Leben unb Leiden ift fie gerabe mit ihrem Stammlande
niht in Berübrung gekommen. Der Schauplag ihrer
wechfelvollen, ja geradezu abenteuerlichen Geſchichte iſt das
Land, welches, in den frühern Jahrhunderten bes Mittel»
alters wenig berportretend, gegen das Enbe beflelben der
Sig einer bejonders glänzenden Entwidelung im politifchen
Leben ebenfo wol wie im jocialen und geiftigen, und dann
endlich jozufagen die Wiege bes mobernen Staats gewors
den if. In den Niederlanden und deren Berhälmnifien
haben wir die Grundbedingungen für Jakobäa's Gefchichte
zu fuchen. Bon der Schilderung Hollands nad) Land
und Lenten geht daher auch Löher's Darfiellung aus;
aus den Parteilämpfen des Mittelalters, dem Gegenfage
zwifchen den auf dem Lehensftaate beruhenden Adel unb
Ritterthum und dem in ben Städten zu herrlicher Ent-
faltung kommenden Bürgerthum wird bie tiefgehende
Porteifpaltung hergeleitet, die mit bem Kampfe zwifchen
Hoeks und Kabeljaus Holland zerriß und zu einer fo
tiefen und feindfeligen Zerflüftung des Volls führte,
„daß mit feinen Süften und feinem Blute zugleich ber
Parteihaß dur feine Adern rann und jedes Creigniß
und jeder Charakter feiner Gefchichte die Spuren bavon
trägt”. Dann wird die Herrfchaft der durch Ludwig's
des Baiern glüdlihe Hausmachtspolitit nach den Nieder-
landen verpflanzten Wittelöbacher in dem ihnen ſo frem⸗
den Gebiete gefchilbert. Anziehende, lebensvolle Bilder
werden uns in diefen Abfchnitten, namentlih von der
ritterlicden Gefellfchaft und ihrem Treiben, den Banketen,
Turnieren und Tehden entworfen. So lernt der Leſer
gleichjam die Rebensluft kennen, welche Jakobäa, die 1401
geborene Tochter des Herzogs Wilhelm, von gend auf
athmete; die Schilderung ihres Jugendlebens, ihrer Er⸗
ziehung, ihrer frühzeitigen Verlobung mit Johann, dem
zweiten Sohne des blödfinnigen Karl VI. von Frankreich,
ihr Leben an dem damals fo tief gejunfenen franzöfifchen
Hofe, die Berflehtung ihrer Stellung mit dem großen
englifch = franzöfifchen Erbfolgefriege, ihre Erhebung zur
Dauphine und künftigen Königin Frankreichs nah dem
Tode bes ültern Bruders ihres Gemahls, die daneben
hergehenden Streitigkeiten wegen Hollands, in denen
Jalobäa ſchließlich die Nachfolge zugefichert erhält, bilden
den erften fozufagen präludicenden Abfchnitt zu dem be⸗
wegten Leben, befien Bild uns bier entrollt wird: mit
der Vergiftung ihres Gemahls, welcher bie fechzehnjührige
Jakobäa zur jammernden Witwe macht, und in dem jü-
hen Tode ihres Vaters findet derſelbe einen grauenhaften
Abſchluß. Weiterhin wird dann Yalobän gefchilbert als
Herrin Hollands, an der Spitze ber ritterlihen Partei
ber Hoeks gegen bie Kabeljaus, die reichen Städte und
deren Anhang kümpfend, in ihrer Herrſchaft gefährdet
durch ihren gewaltthätigen Oheim Johann von Baiern
und den mächtigen Herzog von Burgund; wie in einem
Kaleidoflop wechfeln die bunteften Bilder in fchneller Folge,
und bie ganze Zeit mit ihrem gewaltthätigen unb rohen,
babei doch ritterlichen nnd romantifch ſchwärmenden We⸗
ſen fteht vor und, als ob wir mit und in ihr lebten.
Bon ihren Gegnern überwältigt, jucht Jakobäa durch bie
Bermählung mit ihrem Better, dem jungen Herzog von
—————— ——— — — — — — — — — — — — — — — —— — — — — — — — — —
555
Brabant, einem elenden Schwächling an Leib und Seele,
eine Stütze zu gewinnen. Wieder entfaltet Löher hier
vor uns ein farbenglänzendes und an feſſelndem Detail
reiches Bild von dem Leben an dem brabanter Hofe zu
Brüſſel. Hier gewinnt man auch für feine Heldin, felbſt
wenn man die gejchichtliche Bedeutung derſelben nicht allzu
hoch anfchlagen mag, doch ein tebfaftes, rein menjchliches
Mitgefühl. Durch die Flucht entzieht fich Talobia end⸗
fi den Demütbhigungen, denen fie am Hofe ihres ganz von
ihren Gegnern beherrſchten Gemahls ausgejegt iſt; weil
der Papft den früher ertheilten Dispens zurüdgenommen,
feheidet fie eigenmädhtig ihre Ehe mit Johann von Bra»
bant, flieht abenteuernb nad) England, wo fie Schug
und Aufnahme findet und ſich endlih mit Humfried
Herzog von Glocefter, dem ſchönen und ritterlihen Bru⸗
der Heinrich's V., vermühlt. Damit erreicht der Conflict
eigentlich feinen Höhepunkt: Johann von Brabant ver-
langt feine Frau zurüd, welde ihre Ehe mit ihm als
anfgelöft anfteht; ein fürmlicher Proceß wird zwiſchen
Johann und Humfried um Yalobün’s Beſitz vor ber
päpftlichen Curie geführt. Die Schuld, welche die ſchöne,
an einen unwürdigen Gemahl gefeffelte Frau auf fi
geladen batte, iſt ſchwer an ihr gerächt worden. Hum⸗
fried, für den fie mit Leidenfchaftlicher Liebe ſchwörmte,
fieß fie, old er im Kampfe zur Wiebergewinnung ihres
Erbes fein Glück gehabt Hatte, allein zurüd und ging
nach England, wo er bald ganz unter den Einfluß ber
ſchönen Eleonore von Cobham gerieth und fchließlidh froh
war, feine Ehe wit Jakobäa vom Papft als ungitltig ver⸗
worfen zu fehen, da er nun feine Buhlerin zur recht⸗
mäßigen Gattin machen Tonnte.
Wir müſſen e8 uns leider verfagen, den bunt beweg⸗
ten Lebensgang Yalobla’s nad) der Darftellung Lüher's
weiter ins einzelne zu verfolgen; niemand wird ohne das
größte Intereſſe Iefen, wie die merkwürdige Frau endlich
ihren Gegnern erliegt und gefangen gehalten wirb, wie
fie fih in Mannskleidern durch eine lan geplante und
fühn ausgeführte Flucht aus dem Gefängniß befreit, von
neuem an der Spige ihres mehr und mehr zujammen-
ſchmelzenden Anhangs den Kampf um ihr Erbe beginnt,
um ſchließlich doch in der Hauptſache zur Nachgiebigkeit
und zur Anerfennung des Willens ihrer übermächtigen
Widerfacher gemöthigt zu werden. Bei der Xheilnahme,
welche Löher durch feine warme und lebensnolle Dar⸗
ftellung für das Geſchick der ſchönen Zalobäa in jebem
feiner Lefer zu erweden weiß, bat es etwas Beruhigen⸗
bes und Wohlthuendes, zu fehen, wie and) diefer viel-
verfolgten Fran ſchließlich noch ein neues, wenn auch
befcheideneres Glück erblüht. Durch den Tod Johann's
von Brabant von der Kette befreit, in der fie bisher ge⸗
ſchmachtet und deren — Löſung ber Grund
alles über ſie hereingebrochenen Elends geworden war,
findet Jakobäa ſchließlich in der Che mit dem edeln
Ritter Franz von Borfjelen ein neues Glüd, das bis zu
ihrem Tode im Jahre 1436 ungetrübt beftand; auf die
einft fo hartnädig vertheibigte Herrfchaft über die Nieder«
Iande hatte fie Berzicht geleiftet und den Anſpruch aufe
gegeben auf eine Stellung, bie auszufüllen fie nicht ſtark
genug und überhaupt in jener kampfdurchtoſten Zeit ein
Weib nicht berufen war.
70 *
556
Mit Iebhaftem Dank, der fowol dem Andenken bes
königlichen Förderers dieſes Werks wie dem hochver⸗
dienten Verfaſſer gilt, ſcheiden wir von der ſchönen
Biographie; nur einen Wunſch möchten wir nod aus
fprehen, den nämlich, daß es und vergönnt fein möge,
Löher bald mit einem Werke hervortreten zu fehen, das
fih als die natitrliche Yortjegung des bier beſprochenen
darftellen würde. Die Geſchichte der Niederlande unter
der burgundiſchen Herrſchaft, die durch die Verdrängung
Jalobüa’8 von Baiern begründet wurde, würde faſt noch
Feuilleton,
Iehrreicher und intereffanter fein als die in ber hier be-
bandelten Periode; denn in bem burgundifchen Staste
Philipp's des Guten und Karl's des Kühnen kommt alles
das zur Entfaltung und reift zur Frucht, was in ber
Zeit Jakobäa's erſt keimend und fchwellend erfcheint, ſehen
wir das Mittelalter zuerft ganz überwunden und bem
modernen „been gemäß die Monardie ſich entwideln.
Diefen merkwürdigen Proceß zu fchildern wäre niemanb
jo berufen wie der Gefchichtfchreiber Jakobäa's von
Baiern. Yans Drug.
Senilleton.
Die Kriegsiyril von 1870.
Einge wem Gefang gegeben
In dem deutſchen Dichterwalb —
die Kriegslyrik von 1870 macht diefe Uhland'ſche Mahnung
wiederum zur Wahrheit. Myriaden von Liedern und Ge-
dichten find bei den Redactionen der deutfchen Hauptzeitungen
eingelaufen und ſchlummern dort zum großen Theil in den
Redactionspulten den Schlaf ber Gerehten. Doch aud bie
Zahl der abgedrudten Gedichte ift Legion; jedes deutfche Local»
blatt füllt feine Spalten mit Erzeugniffen freundnachbarlicher
oefle.
Die Einmlithigkeit der deutjch-nationalen Gefinnung, von
der fih nur die Vertreter des engherzigſten Particularismus
ausfchließen, und bie gerechte Enträftung über den Uebermuth,
mit dem Frankreich einen fo furdtbaren Krieg vom Zaun brad),
wurden alsbald zu infpirirenden Mufen der deuntſchen National»
Igril; da es in der Kunft indeh auf das Können und nidt
auf das Wollen, die Geſiunung, ankommt, fo fcheidet fich
fogleidh eine ungehenere Maſſe gutgemeinter lyriſcher Maculatur
von den werthuollern Gedichten ab. Auch dieje Poefle hat in-
deß ihren, nur außerhalb der Kunſtſphäre Iiegenden Werth als
Ausdrud der Gefinnung und als eine in alle Kreife dringende
Propaganda patriotifcher Gefühle,
Damit ift indeß nicht gejagt, daß gerade bie namhaften
Dichter unbedingt in diefem Iyrifhen Concurs den Sieg liber
die andern davontragen. Oft thnt eim unbelannter Poet auf
diefem Gebiet einen glüdlihen Wurf, während die Kriegs⸗
Per manchem begabten Poeten nicht fonderlih zu Ge⸗
ficht lebt.
Anh an Sammlungen fehlt es nicht, fo jung noch
diefer Federwein ber Kriegsiyrif if. Im einer Stereotypans»
gabe erſcheint: „Alldeutſchland. Nene Lieder zu Schuß uub
rußg im Jahre der deutſchen Erhebung 1870. Sefammelt von
Müller von der Werra und Wilhelm Baenſch“ (Leipzig, Baenſch,
1870). Uns Tiegt das „fiebente Tauſend“ vor; jeder neue Ab⸗
drud wird durch bie inzwiſchen erfchienenen Gebichte vermehrt.
In dem unferigen fehlen noch mehrere Hauptgedichte, nament⸗
ih die von Geibel und Freiligrath. Im Übrigen ift die
Sammlung fleißig zufammengetragen unb bat auch manches
gelungene humoriſtiſch⸗volkothümliche Lied von anonymen Ber.
faffern aufgenommen.
Der „Preußiſche Staatsanzeiger‘ kündet ebenfalls eine
Sammlung der neuen Kriegslieder an und bat die deutfchen
Dichter zur Einfendung der bereits in den Blättern abgedrud-
ten Erzeugniffe aufgefordert. Der bei A. W. Hayn's Erben
in Berlin erjheinende Feld- Solbatenfreund gibt ale Beilage
ein Album: „Leier und Schwert für 1870“ heraus, welches
jehr viele nenere Kriegslieder enthält. Eine Sammlung auto-
graphiſcher Kriegslieder veranftaltet die Verlagsbuchhandluug
von Franz Lipperheide in Berlin unter dem Xitel: „Lieder
zu Schng und Trutz.“
Wenn es fi blos um die Zufammenflellung der Maſſen⸗
Igrit handelte, fo wiirde das Jutereſſe ſolcher Sammlungen
nur eim cultur« und zeitgefchichtliches fein; doch enthalten die⸗
felben auch werthuolle Gaben, denn bie ferrig aufgehenbe
Kriegsfonne Hat Gedichte gezeitigt, welche wol für den National-
hat beutfcher Literatur bleibend errungen find unb den Ver⸗
glei mit ben Gedichten der Befreiungsfriege nicht zu ſcheuen
rauhen, obwol e8 feinem unferer Dichter vergöunt war, wie
Theodor Körner, die Leier mit dem Schwert zu vereinigen.
Seltfamerweife ift das volksthümlichſte diefer Gedichte, wel⸗
ches hauptſächlich den Demonftrationen patriotiſcher Sefinnungen
dient, bereits von alter Herkunft. „Die Wacht am Ahern“
ſtammt aus dem Fahre 1840; gegenwärtig hat fie fiber das viel
fernigere Becker'ſche Aheinlied deu Sieg davongetragen. Der
Dichter, bis vor kurzem unbelannt, ift der im Sabre 1851 ver⸗
flordene Mar Schnedenburger aus Würtemberg gewefen,
der zulegt im Cauton Bern ein Etabliffement der Eiſeninduſtrie
beſaß. „Die Wacht am Rhein‘ war das einzige Gedicht bes
Dichters. Durch die Compofition von feiten des Muflfdirectors
Wilhelm brang das Lied in weitere Kreife und hat gegenwärtig
faft den Rang einer deutfchen Bollshymme errungen. Der erfte
Bers des vielgefungenen Liedes lautet:
Es brauſt ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deuten Rhein!
Wer will bes Stromes Hüter fein?
Lieb Vaterland, magſt ruhig fein,
Ger fteht und treu bie Wacht am Rhein.
Namentlih der Refrain, der in aller Mund if, bat
das Glüd des Liedes gemacht, obwol die an die ſüßminnig⸗
lichen Gedichte der Romantiler erinnernde Wendung: „Lieb
Baterland‘‘, dem emergifchen Stil einer Vollshymue wenig
pridt.
Cs bedarf ſtets einiger Zeit, ehe Liedercompofitionen in
das Bolt dringen; kanm dürften die jetzigen Kriegsgedichte, von
denen mehrere, 3. B. das Kriegslied Geibel's, das Kriegslied
des Herausgebers d. BL. u. a., zum Theil don nambafteır
Componiften componirt find, noch fiir den jetigen Feldzug
vollstHüimlihe Bedeutung gewinnen. Bei diefer Gelegenheit
fcheint es angemeflen, einen weit verbreiteten Irrthum aufe
zuflären, ber in Bezug auf die Körner’ichen Lieder herrſcht.
Dan glaubt faft allgemein, daß bie Lützower bie „Wilde Jagd‘‘,
ehe fie ins Feuer eilten, fo gefuugen haben, wie wir fie fingen.
Die Wahrheit ift, daß die Körner’fchen Gedichte damals unr
yanbferiftlich verbreitet fein Tonnten. Componirt bat fie Karl
via vom Weber erſt gegen Ende 1814, alfo länger als ein
Jahr nah Körner’s Tod. Dagegen iſt Schiller's Reiterlied,
das ja ſchon von 1799 ſtammt, in den Befreiungsfriegen ge-
jungen worden.
Bon den jet gebichteten Kriegsliedern ſteht in erſter Linie
das von Emanuel Geibel durd feinen ſchlicht edeln Stil,
feine gehaltene Kraft. Der erfte Vers lautet:
Empor, mein Bolt! Das Schwert zur Hand,
Und brich hervor in Haufen!
Bom beil’gen Zorn ums Baterlanb
Mit Teuer laß bi taufen!
Der Erbfeind beut bir Schmach und Spott,
Dad Maß ift voll, zur Schlacht mit Gott !
Borwärte !
Feuilleton. ' 557
Beſonders energiſch und volksthümlich find die beiden
legten Berſe:
Boran denn, Fühner Preußenaar,
Boran buch Schlacht und Grauſen;
Wie Sturmwind ſchwellt dein Flügelpaar
Vom Himmel ber ein Brauſen;
Das ift des alten Blücher's Geiſt,
Der bir bie rechte Straße weit.
Borwärts!
Flieg, Adler, flieg! Wir firmen nad,
Ein einig Bolt in Waffen ,
Wir flürmen nad, ob tauſendfach
Des Todes Pforten klaffen.
Unb fallen wir: flieg, Adler flleg!
Ans unſerm Blute wächſt ber Sieg.
Borwärts !
Sehr erfreut hat es allgemein, als auch Ferdinand
Beeiligrath, der als ein Gegner der preußiſchen Hegemonie
elaunt ift, in die Arena der deutſchen Kriegefänger trat, und
zwar mit dem Gedicht „Hurrah, Germania‘, welches weder
die wilden Impulſe noch das glänzende Colorit des Dichters
verlenguet; das letztere fpricht fi noch mehr in feinem, mehr
rhetoriſch ſchwunghaften zweiten Gebicht aus, Wenn fir
„Hurrah, Germania‘ umter die jchärfere äſthetiſche Lupe neh⸗
men, jo finden wir allerdings, daß für ben Charakter des Lie-
bes, der dur den Refrain klar bezeichnet iſt, die maleriſche
Darfellumgeweile zu fehr in den Vordergrund tritt, wie gleich
im erſten Bere:
Hurrah, du ſtolzes, ſchönes Weib,
Hurrah, Germania!
Wie kühn mit vorgebeugtem Leib
Am Rheine ſtehſt du da.
Auch find bisweilen unbedeutende Worte in den Reim ge-
ſtellt, 3. B.:
Da warf bie Sichel du ins Korn,
Den Aehreukranz dazu.
Da fuhrſt du auf in hellem Zorn,
Tief athmend auf im Nu.
Andere Verſe, wie die Mobilmachung der deutſchen Flüſſe,
haben geläuterten Schwung:
Da rauſcht das Haff, da rauſcht der Belt,
Da rauſcht das beutihe Meer,
Da rüdt die Ober breift in Felb,
Die Elbe greift zur Wehr,
Near und Weſer flürmen an,
- Sogar bie Ylut des Mains.
Bergefien ift ber alte Span,
Das deutſche Bolt if eine.
Hurrah, hurrah, hurrah!
Hurrah, Germania!
Ausnehmend friſch find die Gedichte von Emil Ritters-
hans; fie haben kriegeriſchen Klang und vollsthümlichen Hu⸗
mor, wie 3. B. das Gedidt: „Der erfte Sieg‘, deffen drei
erfte Berfe lauten: .
Ein erfter Sieg! Herüber ſchallt's
Und füllt die Bruft mit Wonne:
Uns ftrahlte in ber ſchönen Pfalz
Bon Waterloo die Sonne!
Wie hat's das deutſche Herz erfrifcht!
Ein donnernd Hoch den Truppen,
Die unferm Feinde aufgetiſcht
Die erfien Brügelfuppen!
Wie warft ihre Ted dem Kugelblitz
Die breite Bruft entgegen!
Glüdauf, du Sproß vom alten Fri,
Du tühner, junger Degen!
Durch Waffenlärm und Pulverraud
Erklingt bie frofe Märe,
Und Deutſchlaud hört's, im Blauen Aug’
Die heiße Yreubenzähre!
Sie fuhren drein wie Wirbelminb !
Es zeigten unfre Braven,
Dat Leine Eifenfrefier finb
Die Turcos und Zuaven.
Der erſte Zweig zur Loxberkcom’,
Doch Lauter Iubel warte!
Wir gaben Herrn Napoleon
Erf die Bifitentarte.
Ebeuſo friich ift das „Neue Rheinlieb”. Das große Gedicht:
„Wider Bonaparte“, ift eine ſchwunghafte Kriegserflärung:
Ein einig Deutfhland! Ad wie lang’ begehrt,
Wie oft erfleht in unfrer Träume Dämmen! —
Nun droßt ber Fremdling beutihem Hof und Herb,
Und es if da! Nun muß das Frantenihwert
Mit einem Schlage und zufammenhämmern!
Die Söhne Deutihlande find von mander Urt,
Doc feit der Mutter Schmad geboten warb,
Gibt's Leinen Grenzſtrich mehr auf unfrer Karte,
Da kennen wir unr einen Schrei der Wuth
Und einen Lampf aufs Mefier, bis aufs Blut!
Nur einen Wahlſpruch: Nieder Bonapartel
Bortreffiih ift das Gedicht „Generalmarſch“ von Ju»
lius Große; es bat etwas von Beranger'ſchem Elan und
Marſchtakt:
Tambour, ſchlag an! Laßt hoch die Fahnen ragen,
Ein Sturmwind brauſt herauf ans alten Tagen,
Und alte Wunden bluten nen. —
Wie Geiſterruf Hör ich's bei Nachtzeit Hagen:
Sind Friedrich fon und Blücher Märchenſagen?
Starb deutſche Ehre ſchon und deutſche Treu?
Hält euch ein Corſe wiederum im Bann?
Hellauf, e8 will der Morgen tagen!
Tambour, ſchlag an!
Tambour, ſchlag au! Laßt donnern die Kanonen,
Was liegt uns an Hiſspaniens Tand und Thronen,
Haut gilt's das deutſche Kaiſerreich! —
Daß wir im Glanze deutſcher Freiheit wohnen,
Daß einig wurden vierzig Millionen —
Das machte Gallien krank und frech zugleid.
Und wenn ein Strom von Heldenblut verraun,
Seht Raum den beutfchen Bataillonen!
Tambour, flag an!
8 Ebenſo prägnant, wie dieſe beiden erſten, iſt der letzte
ers:
Zambour, ſchlag an, Laßt blaſen bie Trompeten.
Ob morfhe Throne au in Staub verwehten,
Wir bau'n am nenen beutihen Reich!
Uns hilft kein David, helfen nit Propheten,
Zum zweiten mal nicht laffen wir zertreten
Die Ehre Preußens, Deutſchlauds Hort zugleich.
Hilf Blut und Eifen, und was helfen Tann!
Erſt nad dem Siege laßt und beten! —
Zambour, fhlag an!
Weit ſchwächer ift das „„Deutiche Soldatenlied zum Feldzug
na Frankreich“. Aud der Dichter des Mirza⸗Schaffy, der
Sänger friedlicher Lebensmeisheit, Friedrich VBodenftedt,
ift mit Kriegsgedichten aufgetreten, die im derb voltsthlimlichen
Stil gehalten find, wie der Schlußvers bes „Neuen Kriegslied‘
beweiſt:
Wenn der Kaiſer wackelt auf ſeinem Thron,
Läßt er ſtolz ſeine Schnapphähne kollern.
Hier handelt ſich's nicht um Hispaniens Kron'
Und den Prinzen von Hohenzollern:
Wir kämpfen für Freiheit und Vaterland
Und ſchlagen dem Räuber das Schwert auß ber Hand,
Originell ift jedenfall der neue Reim auf „Bobenzollern”.
Altgermanifh, ſchwerwuchtig, ftahlhart ertönt Wilhelm
Jordaun's Kriegslied mit dem Schlußvers:
Ein heilig ernfle® Rüften fei
Bom Riemen bis zum Rheine,
Bom Schneeberg zu ben Küften fei
Nur Eine Kampfgemeine,
Ein waltend Wort,
Ein Herr, Ein Hort,
Ein Regen und Ein Singen.
So werben wir, ob fih die Welt
Euigegenftelli,
Das deutſche Reich erzwingen.
Inlins Rodenberg fingt ein Sturmgedidt: „Nach Baris‘‘,
558 Feuilleton.
in welchem namentlich der Siegeseinzug mit lebhaften Karben
ausgemalt wird:
Nah Paris — und nicht eher fol raften ber Fuß,
Dis hoch vom Montmartre her bonnert der Gruß,
Bis die Fahne, die flatternd voran uns geht,
Bon dem Dache der Tuilerien weht,
Der deutfihe Reiter das Roß, das er Ientt,
Aus tem breiten Bette ber Seine träntt,
Bis der Sieger im Luremburg Lorber pfiüdt,
Bis der Eorfe daliegt, im Staube zerbrüdt,
Bis die deutſche Fauſt ihn zerſchlug und zerftieß —
Wohlanf, für den Rhein! Nah Baris, nach Paris!
Das Gedicht von Albert Traeger: „Cäfar, die Todten
grüßen dich”, iſt eim poetifches Lebensgemälde des Kaiſers,
das durch den Refrain Igrifche fee Gliederung erhält. Der
Schlußvers Lantet:
Ein Schatten noch if feiner Gruft entſtiegen,
Nicht Ruhe läßt's ihm bei den Invaliden,
Die beutfche Loſung: Sterben oder Siegen!
Sat einft auch feinen jähen Sturz entichieben ;
Im grauen Node mit dem Tleinen Hute
Zum Abmarſch fertig ſtebt der Ahnherr da,
Dog blidt er nit in wilden Kampfesmuthe,
Er deutet rüdwärts auf Sanct⸗Helena,
Als ſehnt' er nach dem flillen Grabe fh —
EAfar, bie Todten grüßen pic!
Auch der religiöfe Sänger Inlius Sturm dichtete ein
choralartiges „Deuiſches Bebetlied‘‘ und ein Kriegslied von ſehr
comprefier Form:
Preußen voran!
Mitten durch feindliche Heere
Hau'n wir mit bligenber Wehre
Kühn uns die Bahn.
Ringsum bebroht
Folgen wir ruhmreichen Ahnen,
Rufen unb fhwingen bie Fahnen:
&ieg oder Tod! —
Zahlreich find die Inrifchen Gaben bes Herausgebers von
„Alldeutſchland“, Müller von der Werra; man kann dieſe
Gedichte am beflen charalterifiren, wenn man fagt, daß bie
meiften die jhmarzsroth-goldenen Farben tragen und das alte
Deutjche Reich mit dem neuen bichterifh zu verfchmelzen fu-
hen. Diefe Zendenz fpricht fi namentlih in dem Gedicht
„Barbarofja's Erwachen“ ans. Der beransgefenhete Zwerg
meldet dem Katjer, baf der alıe Feind, der uns oft frech beraubt,
uns wieder aufs Haupt fchlagen will:
Zornflammend fpringt der Kalfer vom Stuhl empor und ſchwingt
Sein Schwert in bem Kyffhäufer: „Mein Reich fei neuverjüngt!
Hurrah! ihr alten Braven, ihr Kämpen, anf! erwadt!
Sr ſollt nit länger Ichlafen, vorüber iſt bie Nacht!
„Verfluchet fei ber Scherge, wohlan! zum Kampf und Streit!” —
Da wirb e8 bel im Berge, er öffnet fi gar weit.
Und Wome Über Wonne, ber Kaiſer figt zu Roß,
Berläßt im Glanz der Sonne daß alte Felſenſchloß.
Er zieht mit mächt'gem Heere in® Frankenland Binein,
Sein Lofungswort, ba hehre: „Ganz Deutſchland fol es fein!“
Und jauchzend, voll und voller, erflingt’8 von Fels zum Meer:
Wilhelm dem Hobenzoller, vem König, Ruhm und Chr’!
Bon den Übrigen Gedichten Müller's erwähnen wir bie
Bidmung zu „Alldeutjchland‘‘, die fangbaren Lieder „Wach' auf‘,
„Döllerfrühling” und „Germania“.
—— J Müller von Königswinter hat ein Lied:
„Zum heiligen Krieg‘‘, gedichtet, von ftühlernem Klang und feft-
gegliedert mit dem Refrain:
Habt Acht, ber böfe, böſe Feind,
Der grimme Eorfenwolf erſcheint,
> Die Trommel ruft, die Fahne fliegt,
N Gälagt zu, 5i8 ber Tyraun erliegt!
‚Zum Cifen, zum Eijen!
Das „Kriegslied“ von Dtto Roquette if im Ton nidit
frifh und muthig genng, während das fonft ſchwunghafte Ge⸗
dicht von Adolf Strodbtmann: „An Deutihlands Krieger”,
durch den folgenden, ftillofen Bere entſtellt wird:
Was confervativ? Wir alle
Sind heute confervativn,
Weil und zum Schug vorm Falle
Daß Baterland berief.
Georg Heſekiel's „Kriegelieder“ tragen ein ſpecifiſch
preußifches Gepräge, das ihnen eine gefättigte Färbung fichert.
Wir erwähnen: „Gott mit uns, „Der Meg der Bäter“,
„König Wilhelm in Ems“. Auch der Dichter der „Amaranth‘,
Oskar von Redwig, hat ein Gedicht „Un Napoleon‘ ver»
öffentlicht, das fih von dem Gezirpe feiner Jugendlieder ſehr
Er cheidet und den an Anathemien gewöhnten Kraftfiil zeigt.
Wie Über beinen Ohm und Namensvetter
Wirb Fluch um Fluch auch über dich ergehn
Und wie bei Leipzig einft ein Schlachtenwetter,
Das big vernichtet: das ift unfer Flehe!
Trefilic find die ernfien und heitern Gedichte des „Klad-
deradaiſch“. Hochpathetiſchen Schwung hat: „Untergang
der Lügenbrut“ und „Gegen den Tyrannen‘‘, Iehteres mit dem
Schlußverſe:
Berlöſcht die Leuchten! Doch unlöſchbar lodert
In deutſchen Herzen der Begeiſterung Flamme.
Noch ſteht die dentſche Eiche unvermodert,
Und neues Leben quillt im alten Stamme.
Ya, friſch belaubt fleht fie in neuem Glanze
Und wi mit Friedensſchatten euch umjpannen.
Auf denn zum Wettlampf nach bem Eichenkranze,
Zum letzten Kampfe gegen ben Tyrannen,
Das „Ehaffepotlied‘ ift im humoriſtiſchen Genre das befle
don denen, bie bisher erfchienen find, mit dem foldatiichen Kraft.
refrain:
Immer frif, frei, fromm und froh
Haut fie auf den Chaffepot,
Chaſſe — pot — pot — pot — pot — pot —
Auf ven Chaff’pot mit Hurrah! ,
Ein Kriegslied von Fritz Ohneſorge im Stil der Arndt'-
chen oder Rückert'ſchen Spottlieder bat folgende ſehr glücliche
Schlußwendung:
Was kann's denn weiter Eoften, das iſt fo ſchrecklich nicht:
Denn höchſtens zwei Napoleons und Schmarren im Geiſicht.
Einige frifche Kriegslieder von May Moltfe, 2. Pedretti,
Zreitfchle (ein „Lieb vom ſchwarzen Adler‘), Rudolf Genée
(„Das Kaiferreich der Friede‘), Hoffmann von Fallers-
leben („Wir find da‘), ſowie die uns nicht zugänglich gewor-
denen Gedichte von Gruppe („Unfere Sendung‘), Wilhelm
Dunder („Kriegslied“), Simrod („Hiebe auf Diebe‘), Ague®
Le Grave („Zwei Buß- und Bettage‘) wollen wir Bier nod
erwähnen.
Der Heransgeber d. BI. hat vier Lieder bisher erfcheinen
loffen. Das erfle, das „Kriegslied“, beginnt mit der Strophe:
Die Bahnen wehn — anf ins Gewehr!
Den Säbel in die Fauſt!
Das beutfhe Bolt ein großes Heer,
Das von den Alpen bis zum Meer
Ein zürnend Wetter brauft.
Es Hopft an unire Pforten an
Des Fremblings Uebermuth;
Da opfert jeder beutfhe Mann
Mit Freuden Gut und Blut —
und endet mit der Strophe:
Und nabt der Tod, wir Jagen nidt.
Leb wohl, du ſchöne Welt!
Nacht decke unſer Angeficht,
Doch ringsum wird von freud'gem Licht
. Da® beutige Land erhellt.
Und Rorb und Süd vereint zum Bund
Der Main, ein Silberbaud.
Wir legen einen feften Grund
Dem ein’gen Vaterland.
Der „Deutſche Schwur“ (unter dem Titel: „Schild der
Pr Ehre‘, von Karl Reinede componirt) beginnt mit ber
tropbe:
Wir ftehn vor Gott und ſchwören,
Das Schwert in unfrer Hand,
Dir einzig zu gehören
Du theures Vaterland,
Feuilleton.
Zu leben und zu ſterben
As deines Ruhmes Erben.
‚Heil Flingt vom Gele zum Meere
Der SHild der deutſchen Ehre,
Das „Reiterlied‘ und die „Rache für Waterloo" haben
bewegtere, ſtrmiſche Rhythmen.
ſieher — faſt ansfchliehlich im unſerer Kriegspoefle
die Liederdichtung mit Refrain und ſchlichter Faſſung; 2 wir
zweifeln nidt, daß auch die Ode, die Elegie, die Blgere und
gedantennolie Lyrik mit ihrer mehr architeltoniſchen als fang-
yaren Rhythmit durch die Zeitereiguiffe ta bebewtfamer Weife
befruchtet werden wird.
Aufdedung einer literarifgen Fälfhung.
Bor etwa zwei Jahren erregte eine in bem „Comptes
rendus‘ von Chaoles mitgetheilte alte Eorrefpondenz zwiſchen
Bascal und Newton gerwaltiges Auffchen, weil darans kiar
hervorging, daß alle Bisher dem Newton zugeſchriebenen großen
wiffenigaftlihen Berdienfte mit ihm, fondern —æ—
dem vascal zulämen. Jener ertlärt darin, wie er Descartes
für den größten Gelehrten des 17. Jahrhunderts halte, von
dem er alles gelermt habe, was er wiſſe, mie er füh durch
eifrige Benugung ungedrudter Manufcripte vou Galilei, Kep⸗
ier und Leibniz einen geaditeten Namen erworben Habe. Und
aus Pascal's Briefen folgt auch nod die Mar und ſcharf aus
efprohene Idee der allgemeiten Gravitation, woranz fid alle
Geivegungögeiege der himmlischen Körper mit mathematifher
Stderheit ganz von felbft ergäben. Gomie man man ameh-
men durfte—doß dieſer Briefwechſel ungefüliht wahr fei, fo
fant ale 9 acqhtung vor Nemton in ein erbärmlides Nichte
jufammen, : ward zu einem Plagiarins, zu einem ehrlojen
iebe der fh sifhen Mechte umd Thaten amderer. Das war
eine harte Ba Idigung. Die franzöſiſche Mabemie der Wiſ-
fenihaften ern te fofort eine Commilfion zur Prüfung des
ihochwichtigen 4 egenflandes, und dieſe erklärte daun, daß fie
außer Gtande fehe, ein eutſcheidendes Uethen fiber bie
Echtheit oder Unechtheit abgeben zu können. Nur eine einzige
Stimme erhob fi zum Schuy de Newton, diefe rührte von
Sur her umd fiel gar menig ine Gewicht, da derfelbe fein
itglied der Mfabemie war. igte man MA in Frankreich,
nun [don ziemlich allgemein zu dem Glauben am die Wahrheit
und Ridkigfeit der Gcriftfllüde, fo war dad in England nicht
eine einzige Spur der Zuſtimmung amzut Wan trat hier
mit patriotifcher Einfimmigfeit dem umparteiifchen Metheile eines
David Breifler, eines Robert Grant bei, welche als gun
zweifeltos eine Falſchung der Correipondenz canftatirten.
iedtere erflärte in feinem vom 18. September 1867 daticten
Briefe an die „Times“: „There is only one possible solu-
tion of the diffieulties which I have proposed, and it is
this: The entire mass of the documents, communicated to
the Academy of Sciences by M. Chasles, are pure forgeries.”
Die Correfpondenz reihe von 165862, falle alſo in eine Zeit,
wo Newton da jugendliche Alter von 11 bis 20 Jahren durd-
Tebt habe, und es fei unbegreiflich, wie ein anerfaunter Gelehrter
von europäif—em Rufe wie Pascal es nicht unter feiner Würde
gehalten haben follte, mit dem namenlofen Knaben und Sing.
ing Newton über hodwiffenfchaftliche Gegenfände in Brief-
wechfel zu treten. Aud wife man aus den Schriften Pas-
cal g genau, daß er fi mie fo fpeciell mit ſpecifiſch
aftronomifgen Fragen beihäftigt Habe, wie jene Manufcripte
ihm zuſchrieben. Frau er, die Schweſter Pascal’,
welche feine Biographie gefhrieben und ihn bie zu feinem Le
bensende trem verpflegt Hat, berichtet uns, daß ihr Bruder
mit dem breißigfien Jahre alle ſtreng wiſſenſchaftliche Beihäf-
tigung aufgegeben habe, weil er zu Kaut und ſchwach geworden
jet, daß die legten zehu Jahre nm veligtöfen Gedanken gemid-
met geivefen wären, die er wegen feiner großen Leiden nicht
einmal eigenhändig Babe niederfchreißen Tönen. An der Txme
amd Wahrgeit biefer ausgezeichneten Lebensbeidhreibung Hat bis
her nod wiemand gezweifelt. Pascal if 1623 geboren; als er
30 Jahre alt war, das ift 1653, beginnt gexade bie angegweifefte
559
Correfpondenz, welche dann in fireng wiſſenſchaftlichen Untere
fajungen neun Jahre lang eigenhändig geführt fein fol. Das
war eine zu freche Lüge. ferner find bie Zahfenangaben Pas-
cal'8 über die Dictigkeiten, Maſſen und Failgeſchwindigteiten
für Erde, Jupiter und Saturn ım Bergleich mit der Some
offenbar aus der dritten Ausgabe ber Nemwton’sdhen „Brincipien‘'
genommen, welde 1726 erjchienen if, und in welder Fefftelun-
gen von lamfteed, Bradley und Pound vorfommen, die erft zwane
zig bis dreißig Jahre nach Pascal’8 Tode befannt fein fonnten.
Diefe_umd noch einige andere Wiberfprädie waren es, melde
den Glauben an bie Cihfheit der Correfpondenz nicht blos ftark
erfhütterten, fondern ganz vernidteten. Aber dennoch fehlte
nod immer die endgültige pariſer atademiſche Erklärung, daß
das ige eingereidhte umd von ihr geprüfte Manufcript des
Briefwechſels ein wirkliches Falfum ſei. Man glaubte ſchon,
die Anderie würde die ihr fehr unangenehme Angelegenheit mit
Schweigen begraben, wie fie dies in ähnlichen Fällen ſchon
öfters gethan bat. Diefe Bermutgung ging tmdefjen micht in Er⸗
füllung. Cs hat nämlich Chales der verfammelten Aademie
vor kurzem freimitgig erilart; dafs es ihm endlich nad langem
vergeblihen Bemühen geglüdt fei, die Unedjtheit der genanuten
Correfponbenz wirklich zu erforfchen, er fei durch einen gemei»
nen Füulſcher gröblich betrogen worden.
teroton, dem beinahe zwei Jahrhunderte hindurch die
eminenteſten Denker feines Fachs die allerhöchſte Bewunderung
gezollt Haben, von dem der unſterbliche Halley einſt in tief-
gefühlter Begeiſterung ausrufen konnte:
Nimmer iſt Denen vergsönnt, ſich mehr den Göttern zu napen! —
in welchem Männer wie Laplace, Gauß, Beſſel ſtets mit ehr-
furchtsvollem Staunen ihren geniafften Meifter verehrten —,
Newton hatte aber auch Rivalen, Neider und feinde, wie
fie kaum ein anderer Gelehrter je befeffen hat. Wir erinnern
in diefer Hinfigt nur am feine erften Widerfacher Hoole,
Hungens, Caffini, an Feibuig, der ſich im der dibe des Streits
einft fo weit vergefien und ermiebrigen konnte, unfern Newtou
des Plagiats zu beihuldigen, und an Goethes Polemik, von ber
wir ans Hohahtung vor dem großen Didter aufritig wlin-
fen müffen, daß fie mie gefdrieben fein möchte. Doc alle
diefe Gegenlämpfer find befiegt, und Newton ſteht da in feiner
ganzen Gerrtigkit und Größe. Und wir innen es nur ber
dauern, daB es in unferm aufgeffärten Jahrhundert mod mög»
lich gemwefen if, einen fo unmärbigen Standal vor die Oefiente
lichteit zu bringen, mie er duch bie geflffdhte Eorrefpondenz
in Scene geſeti worden if.
Siblisgraphie.
ide diefer Etadt. ©
Nach ver Bf ch de. Lei)
a e.
“ Beten, A 2. ein ri Da
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Uingen, Bau
Sanfe
nen, €, Der Deltsug bes Jahred 1A0E in Meite und Eihbe
uDeH, &., Der Aeldgug bes Gabred 1806 in Weite .
Tan, fi a —
Belfner, 6 "
eber eine® Heim it. Beleg, Bröwer,” 9, 15 Mar.
— sende Uber Kunf unb Batſaz. Nücn«
ee era a Hrte und verbeffeete Auf. Paberb
re, d., Gedichte. 2te vermeprte und veröeffeete Aufl. Paderborn,
(einen ak, ia Yan. er
Save, C., Zur Nibelungensage. Siegfriedbilder beschrieben und er-
schen überavtat und mit achträgen versehen
Hamburg, O. Meissner. Gr. 8. 24 Ngr.
‚ Kabitalisens und Eoclalismue mit befonderer
Esäffte, u €
Ri Geigäfte- und een. Borträge B —
Fe —* —————— * m—e — —8 I. *
Krütifge und unfeitiihe Wanderungen über_bie Gefegtäfeiber ber
——— ——— Ge. Das N Haean,
Belle Witer u. Sohn. "Gerd 35 Rgr-
Weyho-Eimke, A Freih. v., Die historische Persönlichkeit des
Max Picoolomini im Schilier’schen Wallenstoin und dessen Ende in der
Bohlacht bei Jankau am 6. März 1645. Eine geschichtliche Quellenstudie
aus dem Schlossarchive zu Nachod, Pilsen, Bteinhauser u. Korb. Gr. 8.
8 Bar.
560 Anzeigen.
Anze
igen
———
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschienen:
gc=” KRIEGSKARTEN =
von
Henry Lange.
Karte des deutsch-französischen Kriegsschauplatzes.
(Bis Paris reichend.) 5 Ngr.
Karte von Frankreich. (Mit einem Carton: Umgebung
von Paris.) (5 Ngr.)
Karte der deutschen Nord- und Ostseeküsten. Preussen,
der Norddeutsche Bund und Dänemark. 5 Ngr.
Karte von Deutschland und den enden Län-
dern. Neue revidirte und vervollständigte Ausgabe
(1870). In Umschlag gefalzt 20 Ngr. Cartonnirt 1 Thir.
Diese Karten zeichnen sich durch Genauigkeit der Orts-
angaben wie durch Uebersichtlichkeit der Terrainverhalt-
nisse aus und empfehlen sich deshalb ganz besonders zu
rascher Orientirung auf dem Kriegsschauplatze.
Derlag von 5. X. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
NUOVO METODO PRATICO E FACILE
per imparare
LA LINGUA TEDESCA
dai
Dr. F. Ahn e Prof. Enrico Wild.
Seconda edisione emendata.
Corso primo, dal Dr. F. Ahn. 12 Ngr.
Corso secondo, dal Prof. Enrico Wild. 16 Ngr.
Traduzione tedesca dei temi nei due corsi. 8 Ngr.
Vorliegende drei Bändchen bilden zusammen eine voll-
standige Anleitung für Italiener zur leichten Erlernung
der deutschen Sprache. Der erste Cursus ist von Dr.
F. Ahn verfasst; nach dessen Tode bearbeitete Professor
Heinrich Wild, Director der Handelsschule zu Mailand,
unter genauem Anschluss an die bewährte Ahn’sche Me-
thode, den zweiten Cursus, wie derselbe auch die soeben
erschienene zweite verbesserte Auflage beider Curse
herausgegeben und mit einem Schlüssel vermehrt hat,
Derfag von 5. N. Brockhaus in Leipzig.
Das Seben des Generals von Shamhorfl.
Nah größtentHeils bisher unbenugten Quellen
dargeſtellt von
Georg Heinrih Klippel.
Erſter umd zweiter Theil. Mit dem Bildniffe Scharnhorfts.
8 Geb. 3 Thlr. 15 Nor.
Eine Biographie Scharnhorft’s, diefes echt dentfchen
Mannes, von Arndt ‚Der Deutſchen Waffenſchmied“ genannt,
darf gerade in unfern Tagen auf die wärmfte Theilnahme rech⸗
nen. Das vorliegende Wert hat aber um fo größern Werth,
weil der VBerfafler ein ſehr reichhaltiges handſchriftliches Mate-
rial bemigen Tonnte, das den frühern Biograpfen Scarn-
horſt's verichloffen war. Es verdient nicht blos Militärs und
Hiftorilern, jondern den weiteften Kreifen bes deutſchen Volks
empfohlen zu werben.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Hundert Jahre.
1770— 1870.
Zeit» und Xebensbilder aus brei Generationen.
Bon
Heinrich Albert Oppermann.
Siebenter Theil. 8 Geh. 1 Thlr.
(Der erfte bis fechste Theil Koften zufammen 7 Thlr. 10 Nar.)
Die bisher erfchienenen Theile diefes von dem kürzlich ver»
ftorbenen befannten Dlitgliede des prenfiiden Abgeordneteuhauſes
Ibergerihtsanwalt Oppermann aus Haunover verfaßten cul⸗
turbiftoriihen Romans haben in der gefammten —5 ſelbſt
von ſeiten der politiſchen Gegner des Verſtorbenen, ſehr warme
Anerkenuung gefunden. Sider. wird der eben ausgegebene
fiebente Theil, in welchem die Ereigniſſe des Jahres 1848 dem
geihichtlichen Hintergrund bilden, das allgemein günſtige Ur⸗
tbeil noch mehr befeftigen.
Der achte und neunte Theil, womit da8 intereffante Wert
abfchließt, befinden fich bereits im Drud.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Dichtungen von Hans Sachs.
Erfter Theil, "
Seiflliche und weltliche Lieder.
Herausgegeben von Karl Goedele.
8 Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Nor.
Hans Sachs’ Dichtungen werden in der vorliegenden
Sammlung brei Theile umfaflen, von denen der erfte Geiftliche
und weltliche Lieder (Meeiftergefänge), der zweite Spruchgedichte,
der dritte Schau» und Faftnachtſpiele enthält, ſodaß die ver-
ſchiedenen Didytungsarten dieſes deutſchen Bollsdichters vollſtän⸗
dig darin vertreten ſtnd. Durch die gründlichen und ausführ⸗
lichen Einleitungen der Herausgeber ſowie durch die beigefügten
Worterklärungen iſt jedem Leſer das Verſtändniß in literariſcher
wie in ſprachlicher Hinficht nahe gebracht.
Der erfte Theil von Hans Sachs' Dichtungen bildet zu-
glei den vierten Band der Sammlung:
Deutſche Dichter des fechzehnten Jahrhunderts,
Mit Einfeitungen und Worterklärungen.
Herausgegeben von Karl Goedeke und Julius Tittmann.
Die erften drei Bände enthalten:
I. Liederbuch aus dem fechzehnten Jahrhundert.
III. Schaufpiele aus dem jechzehnten Jahrhundert. Erſter Theil.
II. Schaufpiele aus dem fechzehnten Jahrhundert. Zweiter Theil.
Für ein größeres encyllopädifhes Wert wird bie
Betheiligung eins . .
Hiforikers
geſucht. Gründliche wiflenihaftlihe Bildung, Gewandtheit in
der eneytlopädiſchen Form und umfaflende Kenntniß der neuern
and neueften Geſchichte find die Hauptbebingungen. Gef.
frco. Anträge unter N. Q. 665 befördert die ucen-Erpebition
von Hanfenftein & Vogler in Frankfurt a. M.
Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Berlag von $. A. Brockhaus in Leipzig.
Blätter
für
literarifde Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
—4 Ar, 36. #9
1. September 1870.
Inhalt: Woligang Menzel's neue Schriften. Bon Rudolf Gottſchal. — Aſtronomiſches. Von Seinrich Birnbaum. — Vom |
Bücertiih. — Feuilleton. (Englifche Urtheile über neue Erfcheinungen der deutſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Wolfgang Menzel’s nene Schriften.
ad
. Bas bat Preußen flir Deutfchland geleitet? Bon Wolf-
gen Menzel. Stuttgart, Kröner. 1870. Gr. 8.
T
2. Kritik des modernen Zeitbewußtfeins. Bon Wolfgan
Menzel. Frankfurt a. M., Heyder und Zimmer. 1869.
Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
Wolfgang Menzel, „der Franzoſenfreſſer“, wie ihn
Ludwig Borne feiner Zeit benannte, der Anfläger des
Jungen Deutſchland, der Gegner eines andern Wolfgang,
den er fir die Emancipationstheorien feiner Jünger ver-
antwortlih) machte, hat inzwifchen in Hiftorifchen und
literarhiſtoriſchen Werken, die von allzu fchroffer Einfeitig-
Reit frei find und denen man Friſche der Darftellung und
reſolutes, jelbftändiges Urtheil nachrühmen muß, einen
anerfennenswerthen, auf Popnlarifirung der Geſchichte ge-
zichteten Fleiß bekundet. Freilich, ben alten Adam wird
man fo leicht nicht los und der alte Zopf hängt dem
Autor immer hinten. Das Motto feiner Werke könnte
man dem Luftfpiel eines von ihm anfangs protegirten,
nachher angefeindeten Schriftfteller8 entnehmen, dem Luft-
jpiel Gutzkow's „Zopf und Schwert”. Beides vereinigt
fi) bei Menzel: das Schwert feines Geiſtes ift ſcharf
und fehneidend; aber er wendet e8 nie dazu an, feinen
Zopf damit abzufchneiden.
So ungleich find auch feine beiden neuern Schriften:
in der erften zeigt er ein volles Verſtändniß des hiftori-
fchen Geiftes, ſoweit es ſich um die politifche Entwidelung
Deutſchlands handelt; die zweite aber ift eine Kapuzinade
gegen den modernen Geift, eine Straf- und Bußprebigt
vol von Afchermittiwochägebanfen, in denen das Kind mit
dem Bade auögefchüttet wird.
In dem erflen Werke verfuht Wolfgang Menzel, der
ſich feines Hiftorifhen Willens rühmt, eine gedrängte
Revifion der beutjchen Acten. Er fagt in ber Ein-
leitung:
Zwiſchen der geſchloſſenen Einheit des franzöſiſchen Bolte,
welches zugleih nad der Hegemonie im ganzen Gebiete ber
romanischen Raffe firedt, und dem Hiefenreihe der Ruſſen und
1870. 38.
ihrem Panflawismus in der Mitte, ift die germaniſche Raffe im
hoben Grade bebrobt und bat auch bereits nach beiden Seiten
hin Einbuße gelitten, indem ſowol jenfeit des Rhein als an
der Oſtſee dentiche Provinzen in bie Gewalt bier der Franzofen,
dort der Auflen gefallen find. Wenn num in der weltbiftorifhen
Entwidelung, weldhe das Raflen- und Rationalitätenprincip zur
Geltung gebracht hat, das dentfche Bolt zurlidbleibt, jo wird es
faum einer fortdauernden Beſchränkung und Berfleinerung und
fchlieglich feiner ftaatlihen Auflöfung entgehen können, wie aus
gleicher Urſache das in viele Staaten und göberationen geteilte
alte Griechenvolk politifh umtergegangen iſt. Deshalb kommt
alles darauf an, daß der einzige fefte Verband, der unter uns
Deutſchen befteht, der Norddeutihe Bund, fi) ausbehne, und
Süddentſchland mit Norddeutſchland fid) verſöhne, fi) an daf-
ſelbe als der ſchwächere Bruder an den flärfern anfchließe.
Indem id) für den Nordbentihen Bund fchreibe, ſchreibe ich für
ganz Deutfhland, nicht als Kleindentfcher, fondern als Groß⸗
deutfcher „in des Worts verwegenfter Bedeutung”. Mir galt
immer nur da8 ganze große Deutihland. Schon in früher Jugend
nahm ich feurigen Antheil an der deutfchen Begeifterung bes
Zahres 1813, verließ aber Preußen fleben Jahre fpäter, weil es
damalß feiner deutſchen Politik entſagt und jene Begeifterung für
Deutfhland in den Bann gethan hatte. Sobald es aber zu
feiner deutfchen Politik zurlidfehrte, Habe ich mich ihm aud in
Liebe wieder zugewendet und um fo freudiger, al8 mid) langjährige
Geſchichtsſtudien überzeugt hatten, daß Preußen den deutſchen
Beruf ſchon lange in fi) trug und unter äͤußern Widerwärtig-
feiten und aud mancher innern Fahrläffigfeit dennoch an ihm
fefthielt und ihn mit immer mehr Energie verfolgte.
Die ganze erfte Hälfte des Buchs ift dem Nachweis
gewidmet, wie Preußen die nationalen Intereſſen nad)
außen gewahrt habe. Das glänzende Schlußfapitel zu
diefem Abſchnitt fchreibt die Gegenwart — zu fpät für
das Werk, aber nicht zu fpät um feinen Inhalt zu bes
flätigen. Die machtvolle Organifation eines gewaffneten
Deutichland, die glänzende Führung, die glorreichen Siege
von Weißenburg, Wörth, Saarbrüden und Meg, denen
ſich noch andere anſchließen werben, find beweisfräftiger als
alles, was Menzel felbft aus der frühern Geſchichte an-
führt, um zu zeigen, wie Preußen nad) außen Deutſchlands
Intereſſen vertreten hat. Und daß die deutfche Ehre ein
noli me tangere für König Wilhelm ift — das bewies
71
562
wol die Energie, mit welcher der greife Monarch die
beransfordernde Bevormundung de8 second empire zu—
rückwies. Niemand wird nad den letzten Ereigniſſen
den folgenden Worten Menzel’8 ein Pragezeichen bei«
fügen wollen:
Das ſchwäbiſche Gefchlecht der Hohenzollern Hat unter allen
deutſchen Dynaftien am beften ben Beruf erkannt, ben von
Rechts wegen jeder deutfche Fürſt haben follte und könnte, feine
andere Politik zu treiben als die nationale, die deutſche. Das
Geſchlecht der Zollern allein hat fid) aus dem Verderben und ber
Fäulniß unfers Reichs emporgearbeitet zu einer Macht und zu
einem Bewußtſein, die es ihm möglich machen, Deutſchland zu
verjüngen, den Gedanken Karl’s des Großen und der fächftichen
Dttonen wieder ins Leben einzuflihren und unferm großen Volt
eine Zufunft zu fihern, die endlich feiner würdig fein wird.
Das Unglüd und die Schande der Nation, die wir leider jahr-
hunderte lang als jcheinbar unaufhörliche Gegenwart befeufzen
mußten, fangen endlid an in die Vergangenheit, die nicht
wiederkehrt, hinabzufinlen.
Der Ertract brandenburgifch=preußifcher Geſchichte,
den uns Menzel mittheilt, um den deutjch-nationalen Zug
der Hohenzollern in den Jahrhunderten ihrer werdenden
Macht nachzumeifen, verleugnet allerdings nirgends das
Etikette des Werks und ift mit forgfältiger Ausjcheidbung
aller Ingredienzen zufammengebraut, welche die reine
Wirkung bed Tranks ftören könnten. Jedenfalls muß
der Hiftorifer doch unterfcheiden zwifchen den Fürſten in
Preußen, welche mit vollem Bewußtfein Schild und
Schwert der deutfchen Nationalität waren, und folchen,
welche im Grunde nur an Sicherung und Vermehrung
ihrer Hausmacht dachten, oder durd die Kreignifie,
duch den Gang der Gejhichte felbft zu einer ihrem
Denken und Wollen fremden nationalen Bedeutung er»
höht wurden.
Zu den erjtern gehört jedenfalls der Große Kurfürft,
welcher, gegenüber der franzöfiichen Räuberpolitik und
den zahlreichen Füriten, die fi) ihr anfchloffen und ihr
Vorſchub leifteten, feſt zu Kaifer und Reich hielt. ins
feiner früheſten Manifeſte lautete:
Ehrliher Deutjcher, dein edles Vaterland war leider bei
den leßten Kriegen unter dem Vorwand der Religion und reis
heit jümmerlich zugericätet. Wir haben unfer Blut, unfere Ehre
und unfere Namen dabingegeben, und nichts damit ausgerichtet,
al8 daf wir uns zu Dienftlnechten, fremde Nationen berühmt,
uns des uralten hohen Namens faft verluftig, und diejenigen, die
wir vorher faum kaunten, damit herrlich gemacht haben! Was
find Rhein, Elbe, Wefer, Oderftrom nunmehr anders, als frem-
der Nationen Gefangene? Was ift deine Freiheit und Religion
mehr, denn daß andere damit fpielen!
Daß aber die Politit des Großen Kurfürften aud
gegen Defterreich Fronte zu machen fuchte, und zwar durch
einen Yürftenbund, der nicht blos die katholiſchen Fürften
umfaſſen follte, das jehen wir aus der Biographie des
Grafen Georg Friedrih von Walde von Erdmanns-
dörfer (vgl. Nr, 14 d. BL) Diefer Vorgänger Bis-
marck's erftrebte die Verbindung einer feftgefchloffenen
Union unter brandenburgifcher Leitung und kann jomit
als der erfte Borkämpfer der Hegemonie der Hohenzollern
in Deutſchland betrachtet werben.
Einen fehr ftarfen nationalen Zug zeigt auch König
Triedrih Wilhelm I., bekanntlich ein Gegner alles fran-
zöfifchen Weſens, der fih nicht nur für den erſten
Staatsdiener, fondern auch für einen „NRepublifaner‘‘ er—
Härte, inden er nur für da8 „gemeine Weſen“ (res
Wolfgang Menzel’s neue Schriften.
publica) lebe. Er hafte die Nachahmung der franzöfifhen
Moden und rief einmal aus: „Meinen Kindern will ich
Degen und Piſtolen ſchon in die Wiege legen, daß fie
die fremden Nationen aus Deutſchland Helfen abhalten.“
In die franzöfifchen Dioden Heidete er feinen Profos.
Weniger wird e8 gelingen, die national-dentfche "Ges
finnung des größten preußiſchen Königs außer Frage zu
ftellen. Friedrich der Große mochte auf die Eroberung
Schleſiens ein noch nicht verjährtes Erbrecht, auch infolge
der Unterdrüdung des Proteſtantismus und der Gefinnung
der Schlefier jelbit ein moralifches Recht Haben; er Hat
den Ruhm, die Franzoſen in einer Entſcheidungsſchlacht,
und zwar wie im Spiel gefchlagen zu haben — aber
fein Tosmopolitifher Sinn, das Weltbürgertfum eines
Genies, da8 auch bei allen andern Nationen nur die
verwanbten großen Geiſter aufſucht, Hinderte ihn, ein be-
wußter Vertreter deutjchen Nationalfinns zu fein, wie er
denn auch franzöfifche Sitte und Fiteratur bevorzugte.
Das Refultat feines Wirkens kam freilih Deutjchland
ugute:
zug Preußen blieb der deutſchen Natur treu, handelte im dent⸗
fhen Imtereffe, und der glitige Gott verlieh eben deshalb dem
Zollern'ſchen Fürftenffamm mehr Talt und Genie als andern.
Sonft wäre Deutſchland Tängft zu Grunde gegangen. Man
muß fi nur erinnern, daß das ganze Norbbentichland noch zur
Anfang des vorigen Jahrhunderts entweder fremden, Deutſchlaud
feindlichen Mächten des Auslandes angehörte, oder wenigfiene
unter deren Einfluß fland. Und wenn im Siebenjährigen Kriege
Friedrich der Große nicht geftegt hätte, wären aud Ofl- und
Weftpreußen ruffifch geworden. In Königsberg hatte fi) Damals
die ruſſiſche Kaiferin ſchon huldigen Taffen.
Unter Friedrih Wilhelm II., der gegen Frankreich
einen unglüdlihen Krieg führte, wurde der DBafeler
Frieden 1795 gejchlofen, der die Niederlande, das ganze
überrheinifche Deutfchland, wie auch Franken, Schwaben
und Baiern der Ueberſchwemmung dur franzöfifche
Sansculotten preisgab und Preußen alle Sympathien in
Deutſchland Toftete.
Die Niederlage Preußens 1806 unter Friedrich Wil-
helm "III, der glänzende Auffhwung der Befreiungsfriege
find befannt; ebenfo daß in der darauffolgenden Reſtau—
rationgepoche die deutſche Gefinnung für ſtaatsgefährlich
galt. DBegeifterung für die Herrlichkeit deutfcher Nation
darf man am wenigften König Friedrich Wilhelm IV.
abjprechen, er hat ihr mehrfach einen dichterifch beredten
Ausdrud gegeben; aber ihm fehlte in fchwieriger Zeit die
Energie, Beitrebungen, die nach dem gleichen Ziel, aber
bon abweichendem Standpunft aus gerichtet waren, für
den gemeinfamen Zweck zu benugen. Was auf parla-
mentarifchem Wege und durd) den großartigen Aufſchwung
deutfcher Gefinnung in den Revolutionsjahren nicht zu
erreichen war, das follte auf dem Wege großer, blutiger
Kriege, durch „Blut und Eiſen“ verwirklicht werben. Es
ift ein trauriges Geſetz der Gefhichte, daß die Wirklich
feit dem deal hart und fpröde gegenüberfieht, und daß
ed der ernften Arbeit von Gefchlechtern bedarf, un ben
Gedanken ins Leben einzuführen. Sagt doch Schiller
Thon treffend:
Leicht beieinander wohnen die Gedanlen,
Dod hart im Raume ftoßen fid) die Dinge.
Welch ein Unterfchied zwifchen der beutjchen Kaiſer—
frone, die von einer Deputation des franffurter Par-
Wolfgang Menzel’s neue Schriften.
laments frieblich nach Berlin gebraht und dem König von
Prenßen gleihjam auf einem weichen Kiffen präfentirt
wurde, und der andern, die auf den Schladhtfeldern von
Königgräg, Wörth, Met durd) den Opfertod vieler
Taufender als Krönung des Gebäudes deutfcher Einheit
erobert wird.
Dem erſten Abfchnitt der Schrift fehlt mit dem
gegenwärtigen deutfchefranzöfifchen Krieg noch die glorreichfte
Seite und der enticheidendfte Abſchluß. Nachdem der
Autor Bismard’8 Beftrebungen und den Kampf des
Parlaments mit dem Minifterium gefchildert und der
Stahl⸗Gerlach'ſchen Partei, welche ihm durch ihr fpe-
cifiſches Chriſtenthum ſympathiſch iſt, den Vorwurf eines
höchſt einſeitigen preußiſchen Particularismus gemacht hat,
ſchließt er ſeine Skizze der „Geſchichte Preußens“ mit
den Worten:
Im Übrigen war in der Einigung Norddeuitſchlands ber
feftefte Grund zur Einigung aller Deutſchen gelegt. Man braucht
nur den gegenwärtigen Xerritorialbeftand mit dem zu vergleichen,
wie er noch vor hundert Jahren war. Damals waren die Elb⸗
herzogthlimer dänifh, Vorpommern, Bremen und Verden ſchwe⸗
diſch, Hannover englifh, die Sänder am Mittel- und Nieder-
rhein mehr oder weniger rheinbündiſch, Sachſen dem deutjchen
Intereſſe durch feine Verbindung mit Polen entfremdet. Ganz
Norddeutſchland war innerlich zerriffen und zum Theil dem Aus-
fand untertban. Davon ift nun jest feine Spur mehr übrig.
Das ganze Norddeutihland ift mit Ausnahme des ehemaligen
burgundiſchen Reichskreiſes (Belgien und Holland) wieder eins,
ein mächtiger deutſcher Gefammtftaat, finanziell und militäriſch
mufterbaft organifirt. Zum erjten mal feit dem Untergang der
Hanſa biüht die feit Jahrhunderten vernachläffigte deutjche See-
macht an der Nord» und Oſtſee wieber auf. Nah außen bin
iſt der Norddeutihe Bund flark genug, nm jedem Angriff zu
trogen. Defterreich ift durch Ungarn gehindert, fich wieder ftörend
in die Einigung Deutfchlands einzumiichen. Nur Rußland und
Frankreich, die romaniſche und die ſlawiſche Großmacht, vermögen
nod) die germaniſche Großmacht, zu welcher Preußen tm Nord-
deuiſchen Bunde herangemwachjen ift, zu bedrohen; allein jede von
beiden hat wieder ein Intereffe, es mit uns Deutfchen nicht zu
verderben, nicht nur weil die orientalifche Frage beide trennt
und in Spannung hält, jondern auch weil wir Deutſchen ſtark
enug find, aud mit wenigen Allürten, zu denen jedenfalls
England gehören würde, uns beider zu ermwehren. Alfo bat
das Hans Zollern den Beruf erfiillt, der ihm ſeit Jahrhun⸗
derten mehr und mehr zum Bemwußtjein gelommen ift, den
großen Beruf, Deutſchland aus feiner jahrhundertelangen Zer-
fplitterung zur Einheit zurückzuführen.
Die Bedrohung von feiten Frankreichs iſt inzwifchen
zu einer Thatjache geworden; die Gegenwart fchreibt mit
blutigen Zügen die Gefchichte der fiegreichen deutſchen
Abwehr. Rußland indeß ift zunädft fein Gegner
Deutſchlands, das auch ohne Alliixte, zu denen jeden-
falls England nicht gehört, über Frankreich den Sieg
bavontragen wird.
Sehr düfter ift das Gegenbild entworfen: was
Defterreich für Deutfchland gethan und nicht gethan hat,
führt ung Menzel in Hiftorifcher Folge vor; nod) jchlim-
mer ergeht es dem Welfenregime. Das Benehmen König
Georg's wird auf das fehärfite gebrandmarkt. Dabei
theilt der durch feinen Sammlerfleiß auh auf dem
Gebiet der Euriofitäten hervorragende Autor das folgende
Suriofum mit:
Beiläufig noch eine kleine Frage: warum ber bepoffebirte
König Georg von Hannover nad) Hieking gezogen iſt? Im
Nicolai's berühmter „Reife durch Deutfchland‘‘, III, 96, leſen
563
wir von dem Dorfe Hieting bei Wien: „Als bei ber erften
türfifhen Belagerung von Wien 1529 die Feinde allhier ihr
Lager hatten und die Kirche ausplünderten, flieg ein Türke auf
den Altar, um dem hölzernen Viarienbilde die Krone abzunehmen.
Das Bild aber rief ihm auf gut Öfterreihifh zu: Hütts eng!
d.h. Hütet euch! Der Türke erjchraf dermaßen barüber, daß er
nicht allein die Krone nicht raubte, fondern auch den chriſtlichen
Glauben annahm und eın Märtyrer wurde. Es ift fonderbar
genug, daß die Jungfrau Maria öfterreichifch fprad und daß
der Türke das Deflerreichifche verfiand. Doc dem fei, wie ihm
wolle! Bon der Zeit an gab der Aberglaube dem Dorje den
Namen Hütte eng und die Kirche ward ein berühmter Gnaden⸗
ort. Die Wallfahrer bildeten fih ein, von dem Marienbilde
marianifhe Gnaden zu erhalten.’ — Daraus erflärt ſich die
Wallfahrt des Königs von Hannover nad; Hieging auf die
natürlichfte Weife von der Welt. Wer felber eine Krone vers
loren bat, wohin follte fi} der eher um Schub hinwenden
als zu der hölzernen Statue, die fih ihre Krone nidjt nch-
men ließ?
Was Preußen jpeciell für Baiern und Würtemberg
gethan Hat, faßt Menzel in folgender Weiſe zuſammen:
Defterreich hat blutige Angriffstriege gegen Baiern geführt.
Immer war es Baiern ein bedrohlicher Nachbar, und im vo—
rigen Sahrhundert wollte e8 befanntlicd, Baiern annectiren und
fi mit dem Kurfürften Karl Theodor in der Art abfinden,
daß derjelbe ftatt Baiern die öfterreichifchen Niederlande befommen
hätte. Damals nahm Preußen Batern in Schut, und Friedrich
der Große fing fogar deshalb den fogenannten Bairifhen Erb-
folgetrieg au. Defterreich gab nad und Baiern blieb felbtländig.
Daffelbe Wohlwollen hat Preußen Baiern immer bemwiejen und
e8 niemals angegriffen, obgleic, es von Baiern im Siebenjährigen
Kriege, im Jahre 1806 und im Jahre 1866 angegriffen murde,
ohne Baiern irgend gekränkt zu Haben. Daſſelbe gilt von
Würtemberg. Dieſes proteftantifche, Herzogtfum wurde lange
Zeit von Defterreich begehrt. Zur Zeit der Reformation erhielt
es eine Öfterreihifche Verwaltung. Daffelbe wiederholte ſich im
Dreißigjährigen Kriege nad der Schlacht bei Nördlingen. In
der erften Hälfte des vorigen Jahrhunderts wollte Herzog Karl
Alerander, der fatholifch geworden war und in Defterreich ge»
dient hatte, das Würtembergerland katholiſch machen. Diefes
Land if, wenn man es auf der Lanblarte von Deutichland be-
fieht, nur ein Heiner füdlicher Ausläufer des in Norddentſchland
ausgebreiteten Proteftantismus, überall von katholiſchen Nachbarn
umgeben, ſchien alfo aud) leicht vom proteftantijchen Gebiet ab-
gejhnitten werden zu können, und der Plan Karl Alerander’s
wäre wahrjcheinfich gelungen, wenn nit fein ſchneller Tod
und die Dazwiſchenkunft Preußens es verhindert hätten. Denn
Friedrich der Große nahm ſich des proteftantiihen Volks und
jeiner Stände an und den jungen würtembergiſchen Thronfolger,
Herzog Karl, eine Zeit lang fogar zu fih nad Berlin. Wer
auder® hätte Würtemberg diefen Schuß gewähren können und
wollen? And bat Preußen niemals feindlih gegen Würtem⸗
berg gehandelt, obgleich würtembergifche Truppen gleich den bai-
rifhen in der Reichsarmee des Siebenjährigen Kriegs, 1806 un-
ter den Rheinbundstruppen und 1866 im Bunde mit Deflerreich
Preußen angriffen. Hätte Preußen den beiden ſüddeutſchen
Staaten im vorigen Jahrhundert feine wirkſame Hülfe nicht
geleiftet, jo würden fie öfterreiifch Haben werden müſſen.
Das Haus Wittelsbadh würde zwar zum Erfat für Baiern die
öfterreichiichen Niederlande erhalten haben, aber anf wie lange?
Würternberg würde Fatholifch gemadt worben fein. Und mas
würde gefchehen, wenn fein Preußen, fein Norddeutſcher Bund
mehr eriftirte? Würden fih Baiern und Würtemberg, um
fich Oefterreich8 zu erwehren, an Frankreich aufchließen, um
ſchließlich wie die Eifäher und Lothringer ihre deutſche Ab-
flammung zu verleugnen? Der echte Baier, der echte Schwabe
kann nur in deutfcher Luft athmen, würde fich felbft aufgeben,
feinem eigenften Weſen entfremdet werden, wenn er der Helote
eines undentjchen Herrſchervolks würde, fei es eines franzöfi⸗
ſchen oder magyaro⸗ſlawiſchen. Nur im Anſchluß an die nord-
deutfchen Brüder Lönnen die Süddeutſchen auf die Dauer freie
Deutſche bleiben.
71*
564 Wolfgang Menzel’s neue Schriften.
In Bezug auf den zweiten Abfchnitt: „Die Wahrung
der nationalen Interefien im Innern“, können wir une
fürzer faflen; er zerfällt in brei Theile: „Die confeffionelle
Neutralität”, „Die materiellen Intereſſen“, „Die Pflege
des Geiftes”. Während ber zweite Theil eine Reihe von
Thatfahen in ihrem Zufammenhang mit beweisfräftiger
Unbefangenheit vorführt, zeigt fi im erften und dritten
die ganze infeitigkeit der Menzel’fchen Richtung. Es
flingt ſeltſam, und doch ift e8 die ganze Wahrheit, daß
Menzel von ben, was Preußen für den Geift gethan,
gar keinen Begriff dat. Hr. Eichhorn und Hr. von Raumer
find ihm die Großmürdenträger der preußischen Intelligenz,
die „Regulative“ die Großthaten derfelben. Der glor-
reihe Geift ber Forſchung und Wiſſenſchaft aber wird
von dem Obfeurantismus Menzel's in Bann gethan.
Zur rechten Zeit füllt e8 uns ein, was Menzel an
Goethe u. a. gefündigt hat; fein ganzes Fritifches Nacht⸗
wächtertHum tritt zu Tage, wenn er mit feinem Spieß und
lärmblafenden Horn auch in diefer Schrift wieder einen He⸗
gel und Humboldt arretirt und als Ruheſtörer auf die
Hauptwache der orthodoren Nachtwächter fchleppt. Aus
der feindfeligen Kritik des Altenſtein'ſchen Minifteriums
brauchen wir nur die folgende Stelle anzuführen, zum
Beleg, daß diefe Abfchnitte Menzel’8 einer eingehenden
Beiprehung unwürdig find:
Die Männer, deren fi Altenflein zur Durchflihrung feines
Programms bediente und von deren Gutachten die Belegung aller
Lehrämter abhing, waren folgende. Zuerft der berühmte Alerander
von Humboldt, Mitglied der franzöfiichen Alademie, der ſeine
Werke franzöftich fchrieb, ſchon 1814 bei der erfien Eroberung
von Paris den König überredet hatte, alle von den Franzoſen
aus Deutfchland geraubten Kunftwerke nicht zurüdzufordern,
fonderu den Branzofen zu lafien, und als Liebling und Ber-
trauter des Königs in Berlin nicht nur die Alademie ganz nad)
feinem Willen Ientte, fondern auch fonft jede Anftellung durch⸗
ſetzen oder hintertreiben fonnte, und doch faft täglich mit dem
unendlich, fufflfanten Barnhagen im Haufe reicher Jüdinnen, die
ihn anbeteten und mit Delicatefjen fütterten, über feinen guädigen
König fpottete und hohnlachte. Derfelbe große Humboldt kannte
feinen Gott in der Natur und glaubte an feinen Schöpfer. Sofern
er die Natur für etwas hielt, das von felber entflanden fei,
und Bewunderung nur für die Naturforfcher in Anſpruch nahm,
die immer Neues in der Natur auffanden, er felbft aber für den
größten Naturforfcher gehalten wurde, ſcheint es, er habe dem
Schöpfer nur escamotiren wollen, um fi) ſtatt feiner anbeten
zu laſſen. Kurz, er wollte von Feiner Pflicht weder gegen das
Baterland nod gegen Gott etwas wiffen. — Der zmeite Hand»
langer Altenflein’s war Hegel, der Philofoph, der den Trumpf
auswarf, die Studenten in Berlin würden dur) Anhörung
feiner Borlefungen zn Göttern und wären von da an fiber alle
Menſchen hoc erhaben. In der That ein Überrafchender Coup.
Daß die Aueſicht, ein Gott zu werden, für viele dumme Jun⸗
gen etwas außerordentlich Anziehendes hatte, ift leicht begreiflich.
8 verband fi) aber damit auch nody die irdiſche Ausficht,
ſchnell zu einer Anftelung im Staate zu gelangen, wenn man
Hegel gehört Hatte und für ihn begeiftert war oder ſich wenig⸗
ftens für ihn begeiftert ftellte. Denn weder Theologen, nod)
Zuriften, noch Studenten der philoſophiſchen Facultät Hatten
Ausfiht auf Beförderung, wenn fie nicht Anhänger Hegel's
waren, nnd folhe Anhänger wurden maffenhaft auf allen Uni⸗
verfitäten und Gymnaſien angeftellt, um ben Geiſt Hegel’s fo
ſchuell und weit als möglich zu verbreiten. Nur die Regierung
trifft dabei die Schuld. Unter andern Umftänden würde Hegel
mit feiner verrückten Selbfivergötterungsiehre von der Regie⸗
rung abgemwiefen und von den Studenten felbft verlacht worden
fein. Sofern aber Altenftein ihm zu feinem politifchen Zwecke
benugte, ihn daher hochſtellte, auf alle Art begünftigte und
gewiffermaßen mit der Autorität der Regierung (ef umfleidete,
ja felbft Theologen und einige ber erſten Würbenträger der
unirten Kirche Hegelianer wurden, war es fein Wunber, daß
aud die Studenten an ihn glaubten und iu dem ungehenern
Hochmuth von alademiſchen Prätoriauern fchwelgten.
Außerdem werben noch Lachmann und Diefteriweg als
gemeinfchäbliche Handlanger Altenſtein's denuncirt.
Wenn ber vortreffliche erfte Theil der Menzel'ſchen
Schrift ſchon durch die gehäfftgen Kinfeitigleiten des
zweiten entitellt wird, fo ift das ganze zweite Werk:
„Die Kritit des modernen Zeitbewußtjeins” (Nr. 2)
geradezu eine Ausgeburt des Obfcurantismus zu nennen,
der um fo bedauerlicher und unbegreiflicher erfcheint bei
einem Autor, der für den politifchen Fortfchritt der Zeit
ein fo gründliches Berftändniß zeigt.
Als ob das geiftige Leben ſich theilen Liege wie Die
Glieder der Würmer und Mollusten, ald ob eine poli»
tifch große Zeit im übrigen den moberduftigen Hauch
geiftiger Verweſung athmen fünnte! Wir meinen, daß
Menzel Hier durch das Stedenpferd der Orthodorie, das
er mit folchem Behagen reitet, auf migliche Abwege ge-
rathen if. Wir verlennen nicht, daß fein Buch trog
deffen manche trefiende Wahrheit euthält, und daß der
Ihlagfräftige Stil, wo er fatirifch die Mängel der Zeit
geifelt, hin unb wieder einen juvenalifchen ‚Charakter
annimmt; aber die Grundſtimmung des Werts ift eben
eine ganz verfehlte. Menzel malt mit dinefifher Tuſche
in tiefftem Schwarz und der dhinefifche Zopf hängt ihm
hinten. Wie der Abgefandte eines Inquifitionstribunals
jpürt er mit unermüblicher Kegerriecheret die „falſchen
Meinungen” auf. Das ganze Buch iſt die Enchelica
eines verrotteten Literariichen Papftthums, das fi mit
dem Anathem der LUnfehlbarkeit waffnet. Da werden
die „falſchen Meinungen von der Natur“, die „falfhen
Meinungen von der Beſtimmung des Menfchen‘ ver-
urtdeilt und verworfen und alle Schriften, die fie ent⸗
balten, auf den index librorum prohibitorum geſetzt;
ja felbft der Papſt iſt dieſem Kiferer nicht päpftlich
genug, und die „heidnifche öttermafchinerie des Va⸗
ticans” wird dem Papſtthum zum fchweren Borwurf
gemacht.
Die Grundzüge der Naturphiloſophie, nach denen
Menzel die falſchen Meinungen der irrgläubigen Natur-
forfcher corrigirt, faßt er in der Einleitung in folgender
Weife zufammen:
Wie diefe Wiffenfchaft vom Aeußern ausgeht, fo gehen wir
vom Innern aus. Wie fle lehrt: im Anfang war die Materie,
jo lehren wir: im Anfang war der Geiſt. Wie fie die Ma-
terie in Urftoffe fcheidet und aus biefen allmählich organifche
Bildungen, aus der Pflanze das Thier, aus dem Affen zulett
deu Menfchen entfiehen läßt, fo laffen wir zuerſt aus Gott den
Menfhen entfliehen und nur um des Menſchen willen, nur als
Mittel für feinen Zwed, die zu feiner Eriflenz und vollſtändi⸗
gen Entwidelung erforderliche räumliche und zeitliche, unorga»
nifhe und organifhe Umgebung ihm vorangehen. Wie jene
Wiffenfchaft einen leeren Raum vorausſetzt, der um jeden Preis
babe gefüllt werben müffen, jo fegen wir nur eine göttliche
Kraft voraus, die ans dem innerflen Keim ber Dinge berans
die zu ihrer Eriftenz erforderliche Materie, den für fie nöthigen
Raum, die fiir fie nöthige Zeit ins Nichts bineinfchafft, nur
um diefer Dinge willen, nur al® eine relative, nicht als eine
abfofute Materie, als einen nur relativen, nicht als einen ab»
foluten und ewigen Raum; denn es gibt einen Raum und eine
Wolfgang Menzel's neue Schriften
Zeit nur fo viel und fo lange, als fie für die von Gott ge-
ſchaffenen Wefen nöthig find.
Das wird nun in dem erften Buche näher auseinan-
dergeſetzt. Was unfere großen Denfer über das Nichts
und den Raum gejagt, wird gründlich ad absurdum ge
führt. Wir erfahren, daß, wenn Gott die Welt aus
nichts ſchuf, dies nur fagen will, daß er die Welt fchuf,
die vorher nicht dawar; daß er bie Körper nicht fchuf,
um den Raum auszufüllen, fondern der Raum nur der
Körper wegen dawar, bie ſich darin befinden follten.
Eine fehr bequeme Philofophie fr die Weftentafche! Die
tiefften Probleme, die feit Kant und feiner „transfcenden-
talen Aeſthetik“ ale Denker befchäftigten, werden von
Menzel im Handumdrehen zurechtgebreht wie die Düten
von einem Materialmaarenjüngling. Weiterhin fpricht
Menzel von der „fogenannten Natur“. Er ruft aus:
wo eriftirt diefe „Dame Natur”? Diefe Art von Stepfis
ift wenigftens neu. Dann bricht Menzel eine Lanze für
die teleologifche Weltanfchauung, obgleich ex die Perfecti-
bilität der Natur leugnet. Eine Philippifa wird gegen
die pedantifchen Naturgrammatifer gerichtet:
Die Natur, wie fie fih uns in einer reihen Landſchaft
mit dem über ihr gemwölbten Himmel darſtellt, gleicht einem
funftreihen Gemälde, einer wundervollen Dichtung, welche die
Seele tief ergreift und an deren Urheber man nicht ohne Be-
munderung denken fann. Nun verhalten ſich aber die vulgären
Raturforfher zu diefem Kunſtwerk nicht als vernunftbegabte
Kritiler, nicht als Kenner des Schönen, Bewunderer des Er-
babenen, fondern als pedantifhe Silbenftecher. Sie verfahren,
wie ein gemeiner Grammatiker verfahren würde, der in den
göttlichen Werken des Homer, Dante und Shalfpeare nur gram⸗
matiſche Regeln und Ausnahmen ängftlich zufammentragen wollte.
er blos daran dädte, an biefer Stelle braucht Homer einen
Aorift oder nicht, oder hier weicht feine ionifche Mundart ab,
der wlirde damit beweifen, daß ihm der Sinn für das Gedicht
fehlt. Wer an einem Gemälde Rafael's nur die darin gebrauch⸗
ten Farben Llaffificiren oder die Profile mit dem Zirkel nad)
meffen wollte, würde damit beweifen, daß ihm bie Schönheit
und der Geift des idealen Werks fremd geblieben fei. Aber
die meiflen Naturforſcher verfahren nicht anders.
Diefe Tiraden find lächerlich. Daß der Naturforfcher
das Geſetz der Natur und die Eigenthilmlichfeit der Er»
fcheinung zu ergründen ſucht, ift doch wol jelbftverftänd-
lich; er braudt deshalb keineswegs eines tiefern Natur-
gefühls zu entbehren; dies aber hat er nicht nöthig zur Schau
zu ftellen, wo es willenfchaftlihe Unterfuchungen gilt.
Ein Chemiker iſt eben fein Landichaftsmaler.
Das zweite Buch: „Die falfhen Meinungen von der
Beftimmung des Menfchen‘, leitet Menzel mit folgender
Charafteriftit des Zeitgeiftes ein:
Dem heutigen Zeitgeift ift nichts mehr zuwider als die
Mahnung an ein Jenſeits. Hier im Dieffeits Haben die Maul-
beiden freies Revier. Hier können fie raifonniren, renommiren,
debattiren, majorifiren und vernünftige Leute tyrannifiren nad)
Herzensluft. Aber in jenem dunleln Jenſeits, was für eine
geheimnißvolle Macht könnte dahinterfieden, die ihnen ihre
Ohnmacht fühlbar machte oder fie wol gar zur Verantwortung
zöge? Wirf dich in die Bruft, Fortſchrittsmann! Das Hier ifl
dein, aljo laß es nicht fahren und fpotte des Satzes: ‚Mein
Reich iſt nicht von biefer Welt.” Aide toi! fei deine Loſung.
In deiner Bruft find deines Schickſals Sternel Bade die Welt
nur herzhaft an und fie ift dein. Haft du nicht ſchon fo vieles
erreiht? Freiheit im allgemeinen, Freiheit im befondern und
alferbefonderften, Redefreiheit, Lehrfreibeit, Preßfreiheit, Par-
lament, Deffentlichleit und Mündlichkeit, die ganze liberale
Schablone? Und was kannſt, was wirft du nicht noch alles
565
erreichen? Die Weltrepublit ohne Zweifel, bie gleiche Austhei-
fung aller Exdengliter und deren Verfeinerung und Vervielfäl⸗
tigung durch fabelhafte neue Entdedungen in der Phyfik und
Chemie. Ans eigener Kraft wirft du, o Menfchheit, die Erbe
wieder zum Paradiefe umgeflalten.
Eine Widerlegung diefer Anſchauungen fuchen wir
vergebens bei Menzel; nur triviale Raifonnements, wie
man fie in manden Mifftonstractätlein findet, ziehen fich
wie ein rother Baden durch dies ganze Bud. Der „Bibel-
haß“ und der „Chriſtushaß“ werden als Zeitkrankheiten
gegeifelt. In dem Abjchnitt über „Die Ieifetretenden Ver⸗
mittler und die Zoilettentheologie” nimmt ſich Menzel des
Zeufeld an, von dem zu fprechen der gebildete Zeitgeift
für unanftändig umd lächerlich hält. Weber die „Toiletten⸗
theologie“ jagt der Verfaſſer indeß einiges Treffende:
Die jentimentalen Erzieher meinen, weil fie junge Mädchen
vor fi Haben, gegen die man allemeg galant und zart und
ſüß fein müffe, müfſe aud Gottes Wort ihnen verzärtelt, ver-
dünnt und verfüßt werden. Die Sprache der Bibel fcheint
ihnen viel zu rauh und unmanierlich, alfo zieht man wie von
fräftigen Gebirgsfräutern nur ein Tröpfchen Effenz davon ab,
miſcht es mit Zuder, padt e8 in feines Poftpapier mit einer
niedlihen Devife und gibt es als gottfeliges Bonbon dem lie⸗
ben Beichttöchterchen zu jchluden. Auf diefe Weife wird der
zarten Flora der Stabt, oder der Penfion, oder des Hofs die
ganze Religion glatt und zuderfüß beigebradt. Der Gott des
Schredens, der Donnerer vom Sinai darf die lieben Mädchen
nicht erfchreden, darum faltet er feine Blitze zierlich zufammen
und dämpft den Donner in leihthinfhanfelndem Versmaß. Die
Schauer des Grabes und die Qualen der Hölle dürfen die lie-
ben Mädchen nicht erfhreden, fie werden zugededt durch einen
antilen Sarlophag mit Matthiffon’fchen Basreliefs und ein
Ihöner Genius fentt mit graziöfer Tournure feine Fadel.
Den SKernabjchnitt diefes Buchs bildet das Kapitel:
„Von der Sünde der Philofophie.” Dem labyrinthifchen
Wahngebäube der Philofophen wird die „reelle Kirche Got-
tes“ gegenübergeftellt. Die ganze moderne Philoſophie ift
unferm Autor nur ein „bewußter Abfall von der geoffen-
barten Wahrheit“. Zuerft erhält Kant das Lineal auf
die Finger:
Zu feinem Syſtem bildet der Menſch allein das A und
das DO, und es würde von Gott gar nicht die Rebe fein kön⸗
nen, wenn nicht im Menſchen etwas von einem Streben nach
dem höchſten Gute vorgefunden würde, wenn ber erhabene
Menih anf dem Thron der Erde nicht die Hand ausftredte und
ausriefe: Begriff des höchſten Gutes und demnad) vielleicht auch
des höchſten Wefens, du bift zum Handkuß gnädig zugelafien!
Das ift in der That die Kant'ſche Beicheidenheit. Blos wegen
unfers Bedärfniffes, wegen unſers Wunfches ift fo etwas mie
Gott möglih und wahrſcheinlich.
Schelling's erfte Philoſophie wird als ein optifches
Erperiment, und bie Vorftellung eines „Wiederzuſammen⸗
flidens des Gottes“ als kindifch bezeichnet. Am ſchlimm⸗
ften ergeht e8 Hegel, deſſen berüchtigte Selbftvergötterungs-
lehre das Wahnfinnigfte genannt wird, was die Philo-
fophie jemal8 ausgehedt habe. Bon Schopenhauer, einem
der geiftreichften Philoſophen, Heißt es, er fei bei dem
Mislingen aller Verſuche, die gemeine Menfchheit mit
dem philofophifchen Wahnfinn zu eleftrifiren, in eine Art
von Berzweiflung gefallen. Gegenüber dieſem Beblam
der deutfchen Philofophie, verkündet Menzel das A und
D der ſcholaſtiſchen und encycliſchen Weisheit mit den
Worten: „Die Philofophie hat nur eine Berechtigung ale
Borfchule und Dienerin der Theologie.’
566
Der Abjchnitt: „Bon der Geſchichtsverfälſchung“, wen-
det ſich gegen die Parteilichkeit, mit der alles Claſſiſche,
der hellenifche Geift und die römische Tugend gepriefen
und höher angefchlagen werden als das Chriftliche. Unter
den „faljchen Idealen“ Führt Menzel fosmopolitifche, re—
publifantfche, ſocialiſtiſche und communiftifhe an. Die
Bergötterungsfucht, der Servilismus der Fortſchrittsmän⸗
ner fpricht fih nach feiner Anfiht im „ultus bes
Genius“ auß: |
Die größte Zahl der Vergdtterten haben immer die Par-
Iamente geliefert. Diefe Berühmtheiten eines Tags ober doch
nur weniger Sabre fommen und verſchwinden wieder, verdrängt
durch andere. Fünfhundert große Männer der Paulskirche fahen
die Schauläden Frankfurts; es war unmöglid, alle ihre un-
fterblihen Namen in der Geſchwindigkeit zw behalten. Man
konnte fie nur in Bauſch und Bogen in Unfterbliche mit Bart,
und in Unfterbliche ohne Bart eintheilen. Seht find fie alle
bis auf ein Halbdutzend Namen vergeſſen.
Wo Menzel den „pädagogifchen Schwindel” charak⸗
terifirt, da werden namentlich Rouſſeau und Dieftermeg
die Leviten gelefen; das Verlangen einer Unabhängigfeit
ber Schule von der Kirche wird zurüicigewiefen, die Ueber-
bildung und Standeshoffart unferer Seminariften gegeifelt.
Einen Heinen Beitrag zur Charakteriftil unferer Poeſie
liefert der folgende Pafjus aus bem Abfchnitte, der „Vom
Weltſchmerz“ handelt:
Der Weltſchmerz in den gebildeten Klaffen der Neuzeit hat
gewöhnlich nur einen perjönlichen Grund. Der Heißhunger des
böjen, unfittlichen Triebes kann nicht befriedigt werben, obgleich
er immer neu gereizt wird. Das cdarakterifirt vornehmlich die
fentimentale Donjuanerie fo vieler unjerer modernen Dichter.
Eine Geliebte ift ihnen nit genug, fie wollen da8 ganze fchöne
Geſchlecht zu ihrer Dispofition haben, und e8 fehlt ihnen doch
alles, um der indifche Gott Kriichna fein zu können. Oder fie
haben ihr Herz verzärtelt und lünnen nicht begreifen, warum
diefes koſtbare Herz nicht in einer Monftranz von aller Welt
angebetet wird. Anftatt num einzig fich jelber anzuffagen, kla⸗
gen fie Gott nnd bie Welt an und Halten ſich zu gut filr Diefe
Welt. Daß fie nicht alle ihre unfittlichen, oft fogar unnatür⸗
lichen Begierden flillen Können, oder zu entnerbt find um fie
noch ftillen zu können, erfüllt fie mit einer Melancholie, mit
ber fie dann fo viel als möglih in ſchönen Berfen kokettiren.
In Deutſchland Hat zuerft Goethe's „Werther“ diefe moralifchen
Schwädlinge in die Mode gebracht, niht um vor ihnen zu
warnen, fondern um fie zu fanonifiren, wie denn Goethe über⸗
haupt in feinen fo überſchwenglich gepriefenen Dichtungen dem
deutſchen Volk eine Menge füge Gifte gemifcht Hat.
Bon ben übrigen Abfchnitten des Buchs erwähnen
wir noch dem über die „Zodesftrafe”, für welche Menzel
natürlich) mit großem Eifer eine Lanze bricht, und die
jenigen, welde „Vom unnatürlichen Hinauffchrauben der
Geſellſchaft“ und „Bon den liberalen Philiftern“ handeln, in
denen beiden fi) manches Salz- und Pfefferförnlein von
pikanter Wirkung findet.
Das dritte Bud: „Chriftenthum und Vernunft im
Einflang in Bezug auf den. fittlichen und ewigen Beruf
Wolfgang Menzel’s neue Schriften.
des Menfchen”, enthält, gegenüber den fatirifchen Negativ
bildern, nun bie pofitive Dffenbarungsphilofophie Wolf.
gang Menzel’s, nach der Kritil des Falſchen die Apotheofe
der Wahrheit. Es werben über das Ienfeitd, in welchem
ſogar mufteirt werben und der Genuß der landfchaftlichen
Schönheit nicht aufhören fol, Vermuthungen aufgeftelt,
welche bie Feuerbach'ſche Theorie vom religiöfen Glauben
vollfommen beftätigen. Einen apofalyptifhen Schwung
nimmt Menzel in jenen Abfchnitten an, welche von ben
„Hieroglyphen der Weltgefchichte”, von dem „Rothen Ges
ſpenſt“, ebenfalls eine Hieroglyphe der Weltgefchichte, und
vom „Antichrift” Handeln. Als Hauptvertreter des Anti⸗
chriſt erſcheiint Proudhon mit feinem Cultus des Satans.
Zum Schluß heit es:
Eine andere finnreihe Sage faßt den Antichrift nicht ale
ben von ber Menfchheit unabhängigen Dämon, fondern als ein
Product der Menfchen felbft, als eingeborenen Sohn der fün:
digen Menjchheit auf, als den vereinigten böjen Willen aller
Menſchen in einer Perfonification, welche vollkommen folgeredt
dem Chrift als Antihrift gegenüberfieht. Es ift eine alte Sage,
von den Inden des Talmud aufbewahrt oder der Offenbarung
Sohannis nur nachgebildet, jedenfalls entftanden unter den Ein-
drücken der tiefften heidniſchen Corruption im römiſchen Kaiſer⸗
thum. In den legten Zeiten, fo berichtet Die Sage, wird man
eine weiblihe Statue von weißem Marmor finden, fo fchön,
daß alle Männer auf Erden von ihr werden bezaubert fein,
nicht von ihr laſſen könuen und mit ihr buhlen werden. Da-
durch wird Leben in den Marmor fommen, die Statue wird
wachſen und endlid; einen ungeheuern Rieſen gebäreu, genanut
Armillus, den die Menſchen für ihren Herrn erfennen werden
und der fie alle beherrjchen und durd ben das Maf der Sim-
den auf Erden erfüllt werden wird, bi8 Gott Feuer vom Him⸗
mel wird regnen laffen, um die Böfen alle zu vertilgen. Diele
fagenhafte Variante der Apofalypfe ift infofern bedentfam, als
fie die verführeriiche Leibesfchönheit als Hauptimotiv der Sünde
und ses Verderbens betont. So fahten ſchon die alten Griechen
das erfie Weib, die Pandora mit dem Gefäß, worin alle Uebel
enthalten find, und die ſchöne Helena, das reizvollſte aller Wei⸗
ber, auf. Diefelbe Helena war e8 wieder, die in der geiftvollen
Fanſtſage am Schluß des Mittelalters die aus dem Grabe ge-
wedte antife Schönheit, den Zauber der Renaiffance bedeutete.
Denfelben Sinn hatte die wunderjhöne weiße DMarmoritatue
auf dem Bilde des Spagnoletto, deffen wir früher gedadıt
haben. Und dieſes ſchöne Bild verfolgt die Menjchheit bie zum
Ende der Erde, e8 wird die Mutter des Antichrifl.
Mit diefer legten Hieroglyphe der Weltgejchichte, die
übrigens in Offenbach's „Schöner Helena” ſehr durd-
fihtig und fehr wenig räthfelhaft erfcheint, fchließt Men⸗
zel feine Kapuzinerpredigt gegen die Berirrungen, Frevel
und Greuel der Neuzeit. Für ihre Fortſchritte Hat er
nur Achjelzuden, für ihre großen Männer nur Invecti⸗
ven. Es gab eine Zeit, wo folche Geifelgiebe den Geifel-
fchwinger gefürchtet machten; jest verhallen diefe Straf:
predigten fpurlos. Mögen fie noch jo redlich gemeint,
no) fo haarfträubend beredt fein — die Zeit hat beflere
Dinge zu thun, als fi) von den Orthodoren katechiſtren
zu laffen. Rudolf Gottſchall.
-
Altronomifches. 567
Aftronomifdes.
1. Handbuch der allgemeinen Himmelsbejchreibung vom Stand»
punlte der kosmiſchen Weltanfhauung, dargeftellt von Her⸗
mann. Klein. Erſter Theil: Das Sonnenfyflen nad)
dem gegenwärtigen Zuftande der Wiffenfchaft vom Stand⸗
punkte der kosmiſchen Weltanſchauung, dargeftellt von Her⸗
mann J. Klein. Mit 3 Tafeln Abbildungen. Braun-
ſchweig, Vieweg und Sohn. 1869. Gr. 8. 2 Thlr.
Der zweite, noch nicht erfchienene Theil wird die Topo-
graphie des Firfternhimmels bringen. Weber den vorliegen-
den erften ift unfer Urtheil ein fehr günftiges. Das Werk
erfaßt feinen Gegenftand mit ganz befonderer Vorliebe
und behandelt ihn kurz und bündig und für jedermann ver⸗
ſtändlich. Der BVerfaffer it Dann von Fach, welder
überall den neueften Forfchungen und Fortfchritten feiner
Wiſſenſchaft Rechnung zu tragen verfteht, aber auch dahin
firebt, daß jeder Gebildete eine Klare Einficht derfelben er-
halte. Mit diefer Eigenſchaft wird ſich das Werk recht
bald einen großen Kreis vom Freunden erwerben. Von
den fogenannten populären Aftronomien unterjcheidet es
ſich weſentlich, da e8 gar nicht in feinem Plane liegt, die
Unterweifung in ben Anfangsgründen felbft mit geben zu
wollen. Diefe ſetzt es voraus. Aber ungeachtet diefer Vor⸗
ausfegung paßt die Darftelung dennoch für das denkende
große Publifum. Die ganze Arbeit charakterifirt fich
al8 ein aftronomifches Gemälde im kosmiſchen Sinne,
wie e8 und Alerander von Humboldt in den lebten Bän-
den feines unfterblichen „Kosmos“ jo meifterhaft vorgeführt
bat. Da indeß die aftronomifche Rundfchau des großen
Berftorbenen ſchon ein Alter von 20 Jahren befißt, fo
entjpricht diefelbe unferm heutigen Wiffen und Anfchauen
nicht mehr. Eine Fülle von ganz neuen Erfahrungen,
von ganz neuen Forfchungsmitteln ift feitdem hinzugekom⸗
men, movon Humboldt noch gar nichts wiſſen und ahnen
fonnte. Darin lag der Grund, daß der Berfaffer fich
dazu entfchlofien hat, einen allgemein faßlichen Bericht über
die neneften Errungenfchaften in der Sternkunde zu geben.
Man darf in diefer Hinfiht nur daran erinnern, was
in unfern Tagen die Spectralanalyfe, die Photographie
zur Erforfchung der phyſiſchen Natur der Himmelsförper
Großes geleiftet hat, um fogleich überzeugt zu fein, daß
Dumboldt’3 Standpunkt ein veralteter, ein ungenügender
geworden if. Das beruht auf Thatſachen des Hiftorifchen
Fortſchritts und kann der Pietät für den unfterblichen gro-
gen Naturforfcher auch nicht den Tleinften Abbruch thun.
Im Gegentheil ift dies gerade im Geifte des großen
Mannes; hat er doc; in ganz ähnlicher Weife das „Systeme
du monde” von Taplace, feinem hochbewunderten Vorbild
und Meifter, vielfach abändern und verjüngen müſſen,
damit bafjelbe feinem befjern Wifien genau entjprad).
Noch richtiger ift Übrigens das vorliegende Werk als eine
neuefte Gefchichte der Aftronomie zu bezeichnen, welche
fih der von ©. A. Jahn in jeder Beziehung würdig an⸗
ſchließt und gewiffenhaft dasjenige weiterführt, was ſeit 1842
auf dem Gebiet der Sternkunde Neues geleiftet worden iſt.
Diefer hiſtoriſche Standpunkt beherrſcht und belebt das
Ganze viel mehr als die fosmifche Weltanfchauung. Doc)
find wir weit entfernt, mit dem Berfaffer darüber zu
rechten. Das Bud ift gut und kann mit dem beiten
Gewiſſen als ſolches empfohlen werden, mag auch fein
Titel oder Standpunkt fo oder fo bezeichnet fein.
Nach einer das Ganze überblidenden furzen Einlei⸗
tung faßt der Autor fogleich feinen Hauptgegenftand, die
Sonne, ind Auge, beipricht die Beftrebungen zur Erfor⸗
jung der Größe, Entfernung und Rotation diefes Him-
melskörpers und kommt dann auf die Wahrnehmungen
und Deutungen der Sonnenfleden. Darauf geht er über
zu den Altern und neueften Anfichten über die phyſiſche
Natur der Sonne, wobei natürlich die fpectralanalytifchen
Unterfuchungen zulegt den Hauptausſchlag geben. Nachdem
nun aud) von den neweften Beobachtungen bei der Sonnen»
finfterniß die Nede gewefen, wird die Aufmerkfamfeit auf
dag räthjeldafte Phänomen des Zodiafallichts gelenkt und
die Wahrfcheinlichkeit ausgeſprochen, daß daſſelbe ein zwi«
Shen Erde und Mond circulivender Nebelring fei. Der
Berfafler bemerkt:
Bei dem gegenwärtigen Zuftande unfers Wiffens bleibt es
ſchwierig, zu entjcheiden, was von diefen Wahrnehmungen ob»
jectiv, in der Natur begründet, was fubjectiv, ein Refultat
mebrerer,, oft ſehr vermidelter Urſachen iſt. Im ganzen aber
findet fich die Hypotheſe (Heis’), welche in dem Thierfreislichte eiuen
innerhalb der Mondbahn unfere Erde umkreiſenden Ring flieht,
nod am beflen mit den Beobachtungen in Webereinftimmung.
Nur bleibt es nad) derjelben noch unaufgellärt, weshalb der
Gegenſchein des Thierfreistichts auch im Herbft und Winter fo
felten und unbeflimmt erfcheint, weshalb man ihn dann nit
bon bderfelben Intenfität wie das eigentliche fogenannte Zodiakal⸗
licht erblickt. Alle Eigenthiimlichkeiten biefes geheimnifvollen
Phänomens müffen in füdlichern Regionen, befonders an Orten
bon bedeutender Sechöhe, unterfucht werden, vor allem zur
Zeit unferer Sommermonate,
Er maht dann auch noch darauf aufmerffam, daß
die günftigften Regionen zur Beobachtung die auftralifchen
SInfeln der Südſee find, wo die Erfcheinung in den
Monaten Juni, Yuli und Auguft morgens und abends
fehr Har fich darftellen muß; auch werden die Hochebenen
von Peru und Mexico faft ebenfo dringend empfohlen,
und zugleich die Punkte angebeutet, welche die Beobachter
borzugsweife ind Auge zu fallen haben. |
Darauf behandelt das Werk ebenfo fpeciell alle Pla-
neten und Nebenplaneten, gibt deren nenefte Elemente,
ihre Bahnen und überhaupt alle Größenbeftimmungen;
auch unterläßt e8 nicht, die wichtigften hiſtoriſchen Notizen
beizubringen und zu zeigen, wie weit man, hier in der
Erforſchung der phyſiſchen Natur diefer Himmelsförper
durch die Spectralanalyje vorgefchritten ift.
Hieran ſchließt fi dann eine fehr eingehende Unter»
juhung über die Kometen. Bekanntlich herrſcht noch
vielfach Dunkel und Unficherheit unſers Willens, fobald
es auf die Natur und Stellung diefer Himmelskörper
anfommt; daher Hat die ganze Kometentheorie durch die
neueften Unterfuchungen von Schiaparelli, Leverrier, Weiß
u. a. eine ftarke Erſchütterung erfahren, worauf natürlich
von unjerm Werke mit Nachdrud hingewiejen wird.
Den Schluß bildet das fehr intereflante Kapitel über
die Meteoriten. Außer einem umfafjenden Bericht von
den biftorifch bewahrheiteten Beobachtungen über das Fallen
der Meteorfteine und ihrer chemifch »mineralogifchen Unter«
A
i
i
u
4
E
ST m ee N:
568 Aftronomifhes.
ſuchung wird auch ihre Identität mit den fogenannten
Sternfchnuppen außer Zweifel gefegt, wobei dann One»
telet’8 Anficht über die Natur bdiefer Körper am meiften
Glauben verdient. Die Höhenbeftimmungen durch Heis und
Secchi, welche jegt allgemein zu Grunde gelegt werben,
faßt ber Verfafſer beſonders ins Auge, und ebenfo aud
die periobifche Wiederkehr ber Sternfänuppenfämirme:
Die Meteoriten bieten uns in vielfachen Beziehungen noch
Näthfelhaftes dar. Manches if durch die andauernden, verein ⸗
ten Bemühungen einer großen Zahl ſcharfſinniger Forſcher wiffen-
ſchaftlich erkannt worden, aber mod; bleibt vieles zu erforichen
übrig. Bon dem Punkte aus, bis zu welchem man vorgedrungen
if, hat man neue Regionen in ungewiffenm Dämmerſchein her-
überbliden fehen. Daß ift der Faden, ber ſich durch die gefammten
Naturwiſſenſchaften hindurchzieht, daß von jedem Gtandpunfte
aus eine immer neue Perfpective des zu Erſorſchenden ſich er-
öffnete, daß niemals der Kreis des Wiffens als ein genetifd) ab»
geichloffener betrachtet werden kann. Wie das Unendfihe, nah
dem Ansbrud des fharffinnigften, confequenteften Denfers, Gauß,
nurt als ein ewig Unvollendetes aufzufafien ift, fo aud) die Wil-
ſenſchaft, bie eine immer größere Summe des Endlichen im Un-
endlichen ber Natur intellectuell zu begreifen unternimmt.
Das ift ein ebenfo vortreffliches als beherzigenemwerthes
Schlußwort, weldes zugleich die Gebiegenheit des gan-
zen Werks fpiegelt.
2. Die Widerſprüche in der Aftronomie, wie fie bei ber An⸗
nahme des Kopernicanifen Syfiems entftehen, bei der ent«
gegengejegten aber verſchivinden. Bon Karl Schöpffer.
Mit einem Borwort von A. rang. Mit einer Kithographir-
ten Figurentafel. Berlin, Bed. 1869. Gr. 8. 12% Rgr.
Der Uebergang von ber Beſprechung des vorigen
Buchs zu dieſem erwedt ein tief empfundenes Bebauern,
denn der Gegenſatz ift fo fhroff, wie er in der Welt
nur gedacht werben kann. Hatten wir dort überall Ge-
Tegenheit, über bie wiſſenſchaftliche Gründlichkeit und
ZTüchtigfeit und über das gewiflenhafte Streben nach dem
Foriſchritt der menſchlichen Erfenntniß. uns aufrichtig zu
freuen, fo müfjen wir bier die confufe Oberfläcjlichfeit
und die leidenſchaftliche Sucht, die Wifienfchaft im bie
traurige Zeit des finftern Mittelalter zurüdzuführen,
ſchmerzlich beflagen. Doch beftätigt ſich auf allen literari«
ſchen Gebieten die gleiche Thatſache, daß es ſolche Känze
gibt, welche Unfinn fchwatzen. Die Weder firäubt ſich,
nur in bie Nähe eines ſolchen Auginsftalls geführt zu
werben, und würde geradezu den Dienft auffagen, wollte
man ihr bie Herculedarbeit de Ansmiftens zumuthen.
Der Verfaſſer ift Tängft befannt. Geit 20 Yahren
arbeitet er unabläffig an der Aufgabe, die Erde wieder
gm Stillſtehen zu bringen. Seine Brojhüren: „Die
rde ſteht ef“, „Die Bewegung der Himmelskörper“,
„Blätter der Wahrheit“ u. |. w., find Zeugniffe feines
Streben. Und als nun gar der famofe Streit zwiſchen
dem Paſtor Knak uud dem Prediger Lisco ausbrach, fo
belam feine Schriftftellermühle aufs neue Oberwaffer, - er
trat mit dem vorliegenden Machwerk auf, in der Hoffe
nung als gfüdlicher Sieger zu glänzen. Wir mögen num
nicht gern einem Menfchen die Freude verderben oder
die Hoffnung rauben, darum flören wir aud Karl
Schöpffer in feinem vermeinten Triumphe nit. Er mag
mit feinen Olaubensgenoffen und Sinnvermandten nad
Herzensluft fcwelgen, die verftändigen Männer von Fach
werden fich darob fein graues Haar wachſen laſſen, auch
werben fi darüber bie verftorbenen Großen, melde er
fo platt und niedrig verleumbet, verhöhnt, gejcholten hat,
im ihren Gräbern nicht umgefehrt haben.
Der Verleger, bei dem auch einige Werke Knal's er-
ſchienen find, hat an U. Srang, welcher mit unferm
Berfaffer aus derſelben Pofaune bläft, die Aufforderung
ergehen lafien, zu dem vorliegenden Werke ein Vorwort
zu fehreiben. Dem ift num mie es ſcheint fehr bereitwillig
gewilfahrtet. Denn dies Vorwort ift eine Kapuzinade, wie
fie die Welt noch nicht erlebt Hat. Wir können ung die Freude
nicht verfagen, ben Leſern etwas davon mitzutheilen:
Wer hat die unmittelbare Beobachtung gemacht, daß die
Sonne wider allen Augenfdein wirklich ſtiüſtehe, und die Erde
wider alle Wahrnehmung in einer doppelten Bewegung ſich
abmühe? Man hat dem philofophifchen Stein des Kopernicus
immer höher mit Gerüflen umbaut und von diefem Gerüfte
herab den Stein gemeffen, berechnet, mit Teleflopen betrachtet,
darüber Eonjecturen gemacht, Hypoiheſen erfonnen und wun⸗
ders viel gerühmt, mas für einen köftlichen Ebelftein man im
diefem Gerlifte eingepferdht habe; aber feiner kann jagen, ob er
ein Edelftein ober ein Kufusei fei.... Am GEnbe ift vom dem
ganzen Univerfum nichts übriggeblieben als die Vorſtellung
einer todten Mafchine, deren Räderwerf durch die Gravitation
im Bewegung gefegt wird. Der Himmel iR nichts Befonderes,
die Geftirne find nichts Befonderes, ihre Bewegung ift nichts
Vefonderes, die Exbe if nichts VBefonderes; der Menih ift es
nicht, fein Leben, fein Denten ift es nit; und was hat im
diefer vereinerleiten Welt Gott zu tfun?... Es iſt ſchier mit
Händen zu greifen, wie mit biefer Aſtronomie der Atheismus
verwandt ift und feine Gtüße in ihr hat. Und doch — gegen
diefe atheiſtiſche Königin, d. i. gegen diefen Gögen menichlicher
BWiffenfgaft die Anklage erheben, „daß fie läge“: das jolte
ein Berbredien fein gegen die heutige Eultur und Bildung und
gegen den prächtigen Pfauenfhweif der Raturwiſſenſchaft, der
[77 darin aufthint® ... So wollen wir biefer Wifjenihaft umd
biefer Bildung wenigfiene die Erflärung nicht fhuldig bleiben,
daß fie heidniſch — und ſchlechter als Genie) if. Gott be-
wahre uns in Gnaden vor biefer neuen Finfterniß und jegue
auch diefe Schrift (des Berfaffers) zu Geines Namens Ehre!
Dies Probchen Berebjamfeit lodt an und macht be-
gieig, das Wert felbft zu ſtudiren. Wir können unfern
'efern aud; nur dazu rathen, dies Studium ja nicht zu
unterlaffen. Langweilig ift e8 durchaus nit, im Gegen-
theil durchweg amufant, auch ift die Warnung vor der Au⸗
ftedung durch feine Irrthümer unnöthig, da e8 überall ſelbſt
dafür forgt, das fo leidenfchaftlich befämpfte Wahre uud
Gute in Schu zu nehmen und als bleibendes Eig
thum zu bewahren. Uebrigens ift nicht in Abrede zu fiel-
len, daß ber Berfaffer ein umfangreiches aftronomijches
Wiffen beherrfcht, und daß er oft mit Geift und Geſchick
zu fechten verſucht, dennoch ift er flet® wieder mit Hohn
und Schmähworten aufzutrumpfen bemüht, wenn er bei
feinen Beweifen an bie Ungläubigen dent, welde da-
durch nicht überführt werben bürften.
Das Intereffantefte vom ganzen Buche bildet aber
unftreitig der Abſchnitt, welcher bie Ueberſchrift „Zu mei ·
ner Rechtfertigung” trägt. Hier erfahren wir, daß der
Verfaſſer ſchon in ben früheften Jahren, wo er im ber
Schule ven Schülern und Schülerinnen den Umlauf der
Erde um die Sonne zu verfinnlichen hatte, es ſehr ſchwer,
ja geradezu unmöglich fand, die tägliche Umdrehung mit
dem jährlichen Umlauf in einen vernünftigen Einklang zu
bringen. Kein Handbuch, keine Nachfrage wollte genügen.
Da entfhloß er ſich, ein Lehrbuch der Phyſik für Lehrer
und Schülerinnen der höhern Töchterfchule auszuarbeiten,
mobei die Punkte über die Bewegung der Erde und der
Aſtronomiſches.
übrigen Planeten und Nebenplaneten ſo recht faßlich und
deutlich abgefaßt ſein ſollten. Das machte indeß die
Schwierigkeit noch viel größer. Um dieſelbe Zeit kam
anch Dr. Menzzer nad) Quedlinburg, um den Yancault'-
fhen Pendelbeweis für die Umdrehung der Erde zu wieder-
holen. Das Pendel wurde angebunden, der Faden durch⸗
brannt, die Schwingungen begannen, aber die Abweichung
war links flatt rechts. Auch war fein Glaube an bie
Kopernicanifche Lehre gerade durch ben Vortrag des
Dr. Menzzer und duch deflen mislungene Pendelverfuche
Schon ſehr ſchwankend geworden. Jetzt ſuchte er bei Alexan⸗
der von Humboldt Belehrung und Stütze:
Er empfing mich ſehr freundlich und ſagte die denkwürdi⸗
gen Worte: „Das babe ich auch längſt gewußt, daß wir
noch feinen Beweis für das Kopernicaniihe Syſtem haben, aber
als erfter e8 anzugreifen, wiirde ih nie wagen. Stoßen Sie
nicht in dieſes Wespenneſt. Sie werden fi nur ben Hohn der
urtheilsloſen Meuge zuziehen. Erhebt ſich einmal ein Aftronom
von Namen gegen die heutige Anfchaunung, fo werde auch ich
meine Beobadhtungen mittheilen, aber als erfter gegen Anſichten
auftreten, die der Welt Tiebgeworden find, uerfplire ich nicht
den Muth. Mich aber ermuthigten diefe Worte, denn ich er-
launte aus ihnen, daß der berühmte Gelehrte ebenfalls feine
Bedenken babe. °
Bei Ende wurde er weniger freundlich aufgenommen;
verdrießlich erklärte derfelbe, dag die Aftronomen andere
Dinge zu thun hätten, als fi mit Hypotheſen abzugeben ;
er babe nicht die Zeit, jeden, der irgendwelche Zweifel
hätte, zu belehren; es gäbe Bücher genug über Aftronomie,
die möchte er nachleſen. Diefe harte Abweifung begrün-
dete einen bittern Haß gegen Ende, den er im meitern
Berlaufe des Buchs noch oft frei walten läßt. In Mün«
hen wird er von Tamont ähnlich wie von Ende abgefer-
tigt. Jetzt faßt er den Entfhluß, auf ein Jahr nach
Göttingen zu gehen, um die dortige Bibliothef zur Be-
antwortung der Frage zn benugen, ob Kopernicus oder
Tycho recht habe. Da befuchte er auch Gauß, dem theilte
er feine Bedenken und alle vergeblichen Berfuche, biefelben
zu befeitigen, mit, erwähnte auch Humboldt's Worte.
Gauß Hörte alles ruhig mit an, ohne bie geringfte Ein-
rede zu thun, nur bemerkte er, daß auch ihn jede neue
Entdedung in der Aftronomie mit neuen Zweifeln an dem
herrfchenden Syſtem erfüllt habe.
Die Verſammlung deutfcher Naturforfcher und Aerzte
wollte gerade in Göttingen tagen, als Schöpffer ſich da-
ſelbſt ſtudirenshalber aufhielt ; da beſchloß berfelbe in
diefer Berfammlung die Frage anfzuwerfen: „Warum man
nit aus den Eigenthümlichkeiten des SKometenlaufs fo»
wie aus der mathematifchen Unmöglichkeit elliptifcher Bah⸗
nen der Weltlörper längft den Grundirrthum des Koperni-
canifchen Syſtems erlannt habe?" Es hing nun davon
ab, ob er dazu die Genehmigung erlangen Tonnte, denn
ohne diefe würde er ſich nicht haben entfchliegen können,
ein Mitglied der Gefellichaft zu werden. Er begab fi
daher zu dem erften Gefchäftsführer, Dr. Baum, von dem
er zu dem zweiten, Dr. Lifting, gewiefen wurde, Diefer
meinte, der Berfafjer möchte zur Verhütung von Un⸗
annehmlichleiten die Frage lieber nicht einreichen. Auf die
Aeußerung des lettern, daß er vollfländig gerüftet ſei,
allen Einwendungen zu begegnen, machte ber Profeſſor
den Verſuch der Belehrung, „aber im Gefühl ber Ohn⸗
1870, 36.
569
macht mit niedergefchlagenen Augen“. Der Verfaffer war
nicht verlegen, gehörig zu antworten. Er erzählt:
In dieſem Augenblid trat die Frau Profefforin herein und
fagte, ihr Mann babe noch nicht zu Mittag gegeffen. (Es war
3 Uhr nachmittags und in @öttingen pflegt man früher zu
Mittag zu effen.) Ueberdies muß ich aud aus dem Umftande
ichließen, daß die Fran Profefjorin nur auf ein mir unbemerkt
gebliebenes Zeichen des Herren Gemahls zu deſſen Erlöſung
herbeigeeilt war, weil fie, obgleih ich mich fofort erhob und
zum Gehen anſchickte, doch mindeftens fehemal wiederholte,
daß ihr Mann no nicht zu Mittag gegeffen habe und der
Menſch doch nothiwendig zu Mittag effen müfſe.
Er wurde an Weber gewiefen, den er in feinem Gar-
ten antraf. Auch diefer wollte ausweichen und ihn an
Baum und Lifting zurädichiden, er entfchuldigte ſich auch
damit, daß Aftronomie nicht eigentlich fein Fach fei. Der
Verfaſſer fagte:
„Es ift wahr, Sie find Phyſiker. So beantworten Sie mir
denn die rein phyfilalifche Frage, ob fi} die Kepler'ſchen Ellip-
feu mit der Newton'ſchen Gravitation vereinigen laffen, da diefe
im Berbältniß des Duadrats der Entfernung abnehmen fol
und gleihwol erlaubt, daß die Erde aus der Sonnennähe in
eine Sonuenferne entflieht, dann aber aus der Sonnenferne
in die Sonnennähe zurückkehrt?“ — „Das überlaffe ich Ihnen“,
antwortete der Profefior, der kaum zur Noth athmen konnte,
und retirirte Über das fchönfte Blumenbeet des Sarteus. — „Ge⸗
ftehen Sie lieber, daß Ihre Wiſſenſchaft nicht ausreicht‘, ant-
wortete ich ihm und ging.
Aus der ganzen weitern Meittheilung geht benn zur
Genüge hervor, daß ber Verfaſſer ein ziemlich Läftiger Que-
rulant war, mit dem man ungern zu thun bat, und in
biefem Geifte machte er fi) denn endlich an die Arbeit,
das vorliegende Werk abzufafjen.
3. Die kosmiſche Bebeutung der Xerolithen, namentlich) gegen-
über der Sonne, den Eiszeiten und dem Magnetismus der
Himmelskörper. Im gedrängter Darſtellung von ©. Zeh⸗
fuß. Frankfurt a. M. Hermann. 1869. GEr. 8. 3 Ngr.
Die vorliegende Heine Arbeit bildet eine Vorlefung,
welche vor einem gemifchten Publitum gehalten worben
ift, und fügt fich auf einen wiffenfchaftlichen Vortrag, ben
dev Berfafler 1867 vor der zu Frankfurt tagenden Ver⸗
fammlung der Naturforfcher gehalten hat. Sein Stand⸗
punkt ift der von J. R. Mayer, mwonad) die Sonne ein
Feuerball ift, zu dem die Meteorfteine des Thierkreislichts
da8 Brennmaterial liefern. Der Berfaffer fagt:
Für diejenigen, welche bie heutzutage durch Helmholtz,
Claufius u. a. über allen Zweifel erhobene Mayer'ſche Wahr-
beit nicht kennen, klingt es freilich erſtaunlich, daß Steine ein
Heizmatertal fein follen. Könnten wir aber auf unferer Erbe
diefe Steine nur in die Bedingungen verjegen, welchen fie in
der Nähe der Sonne unterworfen find, fo hätten wir nicht
nöthig, einen fofffpieligen Aufwand zur Heizung unferer Defen
zu maden. Die Bebingung beſteht in einer koloſſalen Ge⸗
ſchwindigkeit, mit welder ſich die Steine zulegt in ihrer Um⸗
laufsbewegung auf die Oberfläche des mächtigen Sonnenlörpers
ſtürzen. dem fie alsdann die ihnen innewohnende —
geſchwindigkeit verlieren, verwandelt fich die letztere nach Mayer's
Hauptſatz zum größten Theil in jene feine, heftige, ſchwingende
Molecularbewegung, welche wir Wärme nennen,
Damit ift die Grundlage bezeichnet, auf weldye der Vor⸗
trag feine weitern Betrachtungen und Entwidelungen ftügt.
Das Ganze zeichnet ſich aus durch ein Leichtfaßliches tie-
feres Eingehen in einen Gegenftand der neueften phufifchen
Aftronomie, für welche eben jetzt ein ſehr Iebhaftes allge-
meines Intereſſe erwacht ifl.
72
570 Aftronomifches.
4. Grundzüge zu einer Theorie der Erdbeben und Bulkan-
ausbrüche. In gemeinfaßlicher Darftellung von Rudolf
ar Zweite Lieferung, Graz, Pod. 1869. Gr. 8.
r.
Belanntlich leitet der Verfaſſer feine neue Theorie von
der Ebbe und Flut bes fenrig-flüffigen Erbinnern ab. Diefe
Oypotheſe ift jedenfalls ganz originell und hat ungeachtet
vielfacher Einreden doch das Glüd gehabt, daß mehrere
Vorherſagungen wirklich in Erfüllung gegangen find und
daß gerade das Jahr 1869 eine ganze Reihe von Bei⸗
fpielen Lieferte, welde ftets neu an diefe Falb'ſche Theorie
erinnerte und ihr befonder8 im großen Publitum einen
gläubigen Anhang verſchaffte. Im dem vorliegenden Hefte
ſetzt der Verfaſſer feine im erften begründeten Anfichten
als bekannt voraus und ſucht num feine Lehre durch eine
Reihe von Hiftorifch feftgeftellten Thatſachen weiter zu be
wahrheiten. Dazu wählt er bie zwanzigjährigen Beobad)-
tungen von 1848—68, über die Er in feiner „Wochen ⸗
ſchrift fur Aftronomie, Meteorologie und Geographie”
und Bolger in feinen „Unterfuchungen über das Phäno-
men der Erdbeben in der Schweiz“ berichtet haben. Der
Berfaffer hat diefe Fälle ohne Ausnahme alle vorgeführt,
um fi vor dem Verdacht zu fihern, als wähle er nur
das, was zu Gunften feiner Theorie fprehe, aus. Der
Berfaffer meint:
Manche davon dürften allerdings Iocale Urſachen haben,
aber jedes Erdbeben, von welhem nur fpärlihe Nachrichten
vorliegen, als locales zu betrachten, bagegen firäubt ſich der
gefunde Menfchenverftand. Wir wiflen ja, wie viele Beben in
fpärlic bewohnte oder uncultivirte Gegenden fallen, wie viele
den Meeresboden treffen; ſelbſt in dem cultivirteften Orten wer»
den bie ſchwächern Beben nicht von jedermann wahrgenommen.
In den Ländern der heißen Zone, wo Erdbeben Häufig find,
gibt man ſich aud gar nicht meht die Mühe, jeben Fall zu
notiren oder nad; Europa zu beriäten. Alles dieje® und der
Umftand, daß die Wirffamfeit de Druds and) von der Boden-
beſchaffenheit abhängt, macht ſehr wahrſcheinlich, daß viele von
den Erdbeben, welde als locale zur Eriheinung fommen, that
faafich doch eine fehr allgemeine Urfadhe haben. Das Wort local
ift viel raſcher ausgeſprochen als erwielen.
In dem Werke felbft wird nun für jeden Monat, wo
innerhalb des bezeichneten Zeitraums ein Erdbeben wirklich
ftattfand, eine Tabelle gegeben, in der die Stellung der
Sonne und des Mondes jowie ihre jedesmalige Entfer-
nung von ber Erde oder, wie ber Verfaſſer es richtiger
benennt, der Miteinfluß und das Gewicht der Haupte
factoren numerifch bezeichnet find. Daran ſchließen ſich
dann einige kurze, aber für bie neue Lehre ſehr charafe
teriftifche Bemerkungen. Wir haben das Ganze mit un«
geteilten Aufmerkſamleit ftudirt und können kaum anders,
als der neuen bee unfern Beifall, unfere Anerkennung
ſchenlen. ebenfalls Haben wir hier etwas, was bie
Widerfprüche der alten Hypotheſe nicht in fich fchließt
und dennoch damit in einem ber wichtigften Punkte genan
übereinftimmt, wir meinen bie Annahme des feurig-flüfe
figen Innern der Erde. Allerdings dürfen wir dabei
nicht unerwäßnt laffen, bag man in nenerer Zeit auch
fon wieber viel an dieſer durch Leopold von Buch und
Aerander von Humboldt ehrwilrbig gewordenen Annahme
gezweifelt und gemeiftert hat. Man Hält nur beshalb
daran noch feft, weil alles andere, was man dafür in Vor«
ſchlag gebracht Hat, noch weniger haltbar war und von
anderer Seite ebenjo ftarfe Widerfprüche herbeiführte.
5. Das Nord» oder Bolartiät, wie es iſt und mas es if.
Eine Zufammenfelung von Thatſachen über daffefbe und
dieſem verwandte Seiceinungen der Atmofphäre. Nah Be
sbactungen in Bern & erinigen, Staaten von Nord.
amerifa von F. ©. J. ers. Hamburg, I. 5.
1870. Gr. 8. 15 Sigr. % 3. 8 Riten.
Dem Verfaſſer kann ber Vorwurf eimer übertricbenen
Beſcheidenheit nicht gerade gemacht werden, er gehört aljo
nad; Goethe s berühmten Ausſpruche auch nicht in die
Llaſſe der Lumpen. Mit einem felbftgefälligen innen
Behagen glaubt er der Welt etwas ganz Neues, noch nie
Dagewejenes verkünden zu müfjen. Der Lefer wird durch
diefe Miene der Wichtigfeit erwartungsvoll gejpannt, aber
recht bald auf das unangenehmſte enttäufcht, denn er
findet gar nichts, was ihm nicht ſchon längft und viel
beffer befannt wäre, nämlich tabellariſche Aufzeichnungen
über das Vorkommen des Phänomens in Verbindung wit
Wetterbeobachtung. Nur eine kurze Probe von der Art
der Behandlung:
Die firahlende Wärme des Erdbodens verfüngt fih in den
Nebeldunſiſchwaden und ſchwellt die Dampfbläshen gleihfen
zum Zerplagen an. Das Nordlicht verwahrt fid denn au
nod) in biefem legten Zuge gegen ben Berdacht einer Gonter-
natur und tritt hier wie überall innig vermuͤhlt dem Reigen
der Witterungsfälle, der denfenden Erfenutniß gegenüber. Wir
haben uns beftrebt, das Phänomen des Polarlichts dem Lefer
don einem Standpunkte vorfberzuführen, welchen die Ratur
felöft dazu eingeräumt Hat. Diefe Blätter fühlen ſih damit
ihrer Anfgabe erledigt.
Auch die unferige dürfte nach diefer kurzen Mitthei-
Tung erledigt fein.
6. Die Somne. Zwei phyſikaliſche Vorträge, gehalten in der
Rheinifen naturforihenden Geſellſchaft au Mainz. Neät
einer neuen Sonnenfleden- Theorie. Bon Paul Reit.
Leipzig, Ouandt und Händel. 1869. 8. 15 Kar.
Das ift eine fehr intereffante Schrift. Sie dient mit
ganzer Hingebung nur dem allerneueften Fortſchritte der
Aftronomie. Darin lebt und webt fie und verficht es
auch ihre Leſer dafiir zu begeiftern. Wir Lönnen es nur
beklagen, daß fie für ihre Zwede ſich räumlich gar zu
eng beſchränkt Hat. Es ift zwar dankenswerth, daß fie ad
Vorbereitung und Grundlage aud ein erflärendes Bart
über die Spectralanalyfe bringen will, aber dam
mußte dies eingehender, gründliche gefchehen, ober gan;
wegfallen und auf andere Leiftungen vermwiefen werden,
welche diefen höchſi wichtigen Gegenftand ausſchließlich für
ſich behandeln. Wir geben, um etwas näher mit dem
Buche bekannt zu maden, eine Heine Mittheilung aus
der neuen Sonnenfleden- Theorie:
Für bie Bildung der Sonnenflede önnen nur von Interefit
fein die Verbindungen derjenigen Stoffe, die fid im größerer
Menge in der Sonnenhülle Aiiden, alfo bie Berbinbung dei
Eiſens und Wafferftoffs. Diefe zwei Stoffe aber verbinden fa
nicht direct miteinander, fondern nur duch Wermittelung di
Sauerfioffe, während zugleich das Vorhandenſein des Waftt-
Moffs das Eifen und den Sauerftoff beiwegt,. fich im größerer
Menge zu einem gm beftimmten Stoffe, dem Cifenorgbulbutrat
oder Roſt, zu verbinden. Wir haben nun ſchon Be, daß in
der Sauerftoffihicht fih Eifen und Wafferfloff befinden, abe
nur in fo geringer Menge, daß eine Bildung vom graben
Mengen großer und dider Sonnenſieden hierdurch undenldar
iſt. Die Berbinsung von Eifenorybhydrat ann nur dann in
gelte: Menge ftattfinden, wenn an die Eifenfauerftoffihihte
jafferftoff im größerer Menge Herautritt. Diefe Bedingung
aber durd die Protuberanzen erfüllt; denn ſowol much der
Aſtronomiſches. 571
ſpeetralanalytiſchen Unterſuchungen der Protuberanzen am 18. Au⸗
uſt, wie auch nach den Beobachtungen, die ſeitdem nach der
nfien’ihen Methode ausgeführt wurden, bat ſich ergeben, daß
die Protuberauzen hauptfählih aus Wafjerftoffläulen von mehr
oder minder großer Höhe beftehen.
So kommt der Berfaffer feiner Hypotheſe allmählich
näher und näher, bis er in den Sonnenfleden nichts ale
Eifenorybulhydrat, Roft, erkennen läßt, von dem befannt ift,
daß fein Schmelzpunft weit Höher liegt als der des metalli-
fchen Eifens. Es muß daher überall der braune Roſtſtaub
entftehen, wo fid) das Waſſerſtoffgas zwifchen die Eifen-
fauerftofffchichten Hindurchdrängen Tann. Und damit ift
die Möglichkeit des Entſtehens der Sonnenflede und zu-
gleich ihre Natur angedeutet. Der weitere Verfolg dieſer
Theorie legt wie das ganze Werk Mar an den Tag, daß
der Verfaffer mit den allerneueften Forſchungen und An⸗
fihten über die phufifche Natur der Sonne genau be-
kannt if. Wir können daher fein Wert allen denen,
welche Hiermit auf eine ebenjo angenehme als Leichte
Beife bekannt zu werben wünfchen, aus befter Ueber⸗
jeugung warm empfehlen.
7. Reben und Abhandlungen liber Gegenflände der Himmels⸗
kunde. Bon 3. H. von Mädler. Berlin, Oppenheim.
1870. Gr. 8. 2 Zhlr. 20 Nor. |
Dex Verfaſſer diefes Werts hat ſich ſchon Längft
einen anerlannt günftigen Ruf ſowol unter feinen Fach⸗
genofjen als unter dem gebildeten großen Publikum er-
worben. Dean erwartet von ihm nur das, was jeden
aftronomifc, gebildeten Denker lebhaft intereffirt. Er ift
ein Meifter in der Weiterförderung feiner Wifjenfchaft,
zugleich aber auch ein begeifterter Freund einer po»
pulären Verwerthung derſelben. Und gerade in dieſem
zweiten Punkte verſteht er ganz ungemein zu feſſeln.
Seine Mitwirkung in den der allgemeinen Bildung die-
nenden Bormeinung wird überall mit Freuden begrüßt,
weil er ftetS nur Anziehendes auswählt und dies leicht⸗
foplih und elegant zu behandeln weiß. Nach diejem
Urtheil erwartet man von dem Berfafler nur Gediegenes,
daher geht dem vorliegenden Werfe fchon überall eine
jehr günftige Bormeinung voranf, welche aber während und
nad) dem Lefen zu einer wohltäuenden innern Befriedigung
umgewandelt wird.
Das Bud) bringt 25 Reden und Abhandlungen des
Berfaffers, von denen aber ſchon 11 früher als Beiträge der
ſtuttgarter „Deutſchen Bierteljahrsfchrift” und der wiener
„Smternationalen Revue” veröffentlicht find. Es iſt alfo
mehr als die Hälfte des Inhalts neu, und bei dem
andern hat es der Berfafler nicht an zweckmäßig zuge
fügten Anmerkungen und Bervollftändigungen fehlen laſſen,
ſodaß daffelbe gerade wie das erfte genau dem Stande
der wiflenfchaftlichen Gegenwart entjpridt. Den Anfang
bildet des Verfaſſers Antrittsrede bei feiner 1840 erfolg-
ten Heberfiedelung von Berlin nad) Dorpat, in der er daß
bebeutungspolle Thema: „Die Zukunft der Aftronomie‘,
geiſtreih und für jeden Gebildeten Mar und verftänd-
Pi behandelt. Der Berfafler ruft am Schluſſe feiner
ede aus:
Ich Habe ein Bild der Zukunft vor Ihnen entwidelt, wie
es meinem Geifte Tebendig vorfchwebte an dem Tage, wo Ihr
ehrenvoller Ruf an mid gelangte. Die ganze Größe meiner
Verpflichtung und Berantwortlichkeit erkennend, fragte ich mid),
auf welhem Wege es mir gelingen würde, Ihrem Bertrauen
zu entfprechen, und die bedeutenden Mittel, die in meine Hände
elegt wurden, fo zu benugen und anzumenbden, wie es den
weden der Wiffenihaft am förberlichfien ſei. Noch ſchwerer
aber ward diefe Verpflichtung, wenn ich bedachte, wie Großes
mit ihnen bereit® geleiftet worden und welchen hohen Ruhm
diefe Anftalt ſchon errungen hatte. So entwarf ih mir die
Grundzlige eines Zulunftsbildes der Aftronomie, um innerlich
vorgebildet, mit beflimmten Plänen für meine hiefige Thätig-
feit in Ihren Kreis eintreten zu können. Einfl, wenn id zu-
rüdbliden Tann auf vollbradjte Jahre des Wirfens unter und
mit Ihnen in Kraft und Gejunbheit, jei e8 mir vergdunt, an
diefer Stelle Rechenſchaft zu gebeu und nicht wie heute nur von
Soffnungen, fondern von Thaten zu ſprechen.
Zwölf Jahre fpäter redete der Berfaffer auch wieder
vor den verjammelten Profefforen der Univerfität Dorpat,
bei der funfzigjährigen ubelfeier ihrer neuen Begrün⸗
dung durch Alerander I. Er wählte das Thema: „Die
Aftronomie des Unſichtbaren“, für das fi die fcharffin-
nigften Denker dieſer tieffinnigen Wiffenfchaft am leb⸗
bafteften intereffiren. Beſſel legte hierzu 1845, ein Jahr
vor feinem Tode, ben Grund durch eine ebenſo benannte
Abhandlung. Die Beranlaffung dazu gab ganz vorzugs⸗
weife die damals noch unbelannte Urfache der Störungen
in der Bewegung de8 Uranus, von denen fchon Beſſel ver-
muthete, daß fie durch einen noch unfichtbaren, unentded-
ten Planeten herrühren könnten, deſſen Bahn noch über die
des Uranus hinausliege.e Der Berfaffer jagt:
Noch iſt mir ein Geſpräch im lebhafter Erinnerung, welches
ih und einige Freunde der Aftronomie 1834 in Berlin mit
Befjel Über diefes Thema führten. Schon damals ſprach Beffel,
gegen den ich jene Bermuthung erwähnte, ſich mit großer Be⸗
fimmtheit dahin aus, daß die unvereinbaren Abweichungen im
Uranuslaufe in der Wirkung eines ſolchen Planeten einft ihre
hauptſächlichſte Erledigung finden blirfte.
Es ift befannt, mie einige Jahre fpäter Beſſel wirk-
lich Hand anlegte, den unbelannten Störenfried durch
Rechnung aufzufuchen, daß ihn aber Kränklichkeit und
dringendere Geſchäfte verhinderten, das fehr fchwierige
Werk zum Schluß zu bringen. Im Sommer 1844 kam
Mädler noch einmal mit Beſſel zufammen:
Wir ſprachen liber die Bewegungen der Doppelfterne und
die daraus zu ziehenden Refultate. „Sa, lieber Freund‘, fuhr
er fort, „das alles ift wol recht ſchön und wichtig. Aber
ich werde Ihnen bald noch ganz andere Doppelfterne zeigen,
von denen Sie nichts ahnen. Die Bewegungen der Firfterue
find nicht jo einfah, als wir bisher angenommen haben.‘
Näher fprah er fih nit aus, nur daß er fi über bie
Unzuverläffigfeit der Masklyne'ſchen Beobadtungen, die ihm
eine ſehr große und gleichwol erfolglofe Mühe gemadjt, mit
einiger Bitterfeit äußerte. Im folgenden Jahre erfchien end-
ich die wichtige Abhandlung, der ich das Thema meiner heu⸗
tigen Rede entlehnte.
Damit bat er nun das Feld bezeichnet, auf welchem
die heutigen Aftronomen fo emfig thätig gewefen find.
Die weitere Entwidelung ift ganz vortrefflih und muß
dem Selbftlefen auf das angelegentlichfte empfohlen werden.
In diefelbe Kategorie gehört auch die Rede, welche der
Berfafier am 23. September 1844 vor dem Ofterthore
in Bremen zur Einweihung des Plates für das Olbers⸗
Denkmal gehalten Hat. Hier wird mit Furzen kräftigen
Zügen ein Lebensbild von dem großen Manne entwidelt,
welches niemand ungelejen laſſen follte, der fich für die
Thaten unferer deutſchen Aſtronomen wahrhaft intereffirt.
Durch Olbers' Vorbild und begeifternden Einfluß entftand
12”
En
574 Bom Büchertiſch.
mit «Elend» zu verfuppeln pflegt”, zu jprechen kommt;
oder wenn er Friedrich dem Großen das Beiwort human
abjpricht, weil „auf feiner Stirn die Bandmark «Mojeftäts
ſteht“, jo ftößt uns nicht-radicale Europäer das fofort
feiner Form wegen ab, von ber Berechtigung des Inhalts
nod gar nit zu reden. Indeß ift der Schluß von
Heinzen’8 Bortrag wol geeignet, das deutſche Na⸗
tionalgefühl mit den groben Auswüchſen der Gefinnung
des Verfaſſers zu verfühnen. Wenn ber Ultraradicale
dem „defecten und lüdenhaften Denken ber Amerilaner
das confequente und umfaflende der Deutſchen“ gegenüber-
ftelt, wenn ex geradezu auf die Frage: Was iſt Huma-
nität? die Antwort gibt: „Es ift der vielgefchmähte deutfche
Radicalismus”, fo if} diefer Schlußtrumpf vielleicht dazu
angethan, dem Büchlein mehr Freunde zu jchaffen — unter
den „deutjchen Radicalen”.
5. Der Schaufpielerberuf in künſtleriſcher, geſellſchaftlicher und
fittlicher Beziehung. Borlefung, gehalten im „Wifſenſchaft⸗
lichen Cytlus“ zu Dresden am 22. November 1869 von
Emil Walther. Dresden, Türk. 1870. ©r.8. 7% Nor.
Eine oratio pro domo, allerdings mehr abftract als
ing Detail gehend. Aber Wärme für die Ehre des Stan-
des, Meberzeugung von der hohen Aufgabe des Berufs
und Glaube an die fittliche Wirkung des Theaters ſpricht
aus diefen Worten. Nur hat der Redner etwas zu vofig
über gewiſſe fittliche Verhältniſſe feines Standes hinweg⸗
gefehen. Wenn wir aud) die Entfchuldigungen gelten lafjen,
die er für das Vorkommen folcher Fülle wie des auf S. 24 fg.
erwähnten vorbringt, fünnen wir doch nicht jo optimiftifch
über jene Zuftände denken wie der VBerfaffer; er müßte denn
eine Statifti der Theaterfittlichkeit beibringen, deren Zahlen
uns von unferm Unglauben belehren würben. Ganz ſtim⸗
men mir mit dem Autor überein, wenn er ©. 33 fagt:
Wenn das Bublitum dem Theater gegenüber aufhören wird,
mir ben pridelnden Reiz nach immer neuen, pilanten Unter»
haltungsfloffen zu empfinden, wenn es aufhören wird, nur
immer neue, ſeltſame Schaufpielerleiftungen jehen und bemun-
dern zu wollen, und dagegen Intereffe nehmen lernen an einer
wahrhaft großen, auf der Bühne dargeftellten Geſammthand⸗
lung, wo alles einfach und natirli zueinander paßt und har-
moniſch mit- und durdheinander wirkt: dann werben auch die
Schauſpieler aufhören, auf deu Sirmenlitel des Bublilums be-
rechnete Einzelerfolge erzielen zu wollen, dann werben ſie gleich-
mäßig durhdrungen werden von der wirklichen Größe und Be
deutendheit ihres Bernfs und werbeu erfennen lernen, baß es
fih dabei in der That noch um etwas anderes handelt als bie
bloße Unterhaltung des Publikums, und daß es no einen
höhern Ruhm für den Schaufpieler gibt als den, der Liebling
bes Publikums zu fein!
6. Aphorismen über das Drama von E. von Hartmann.
Berlin, Müller. 1870. 8.
Diefe neuefte Schrift des fchnell befannt gewordenen
Philofophen ift ein Abdrud aus der „Deutſchen Biertel-
jahrsſchrift“ (Nr. 129). Weil Uriftoteles und Hegel ſich fo
eingehend mit der Uefthetil des Dramas bejchäftigt haben,
bat e8 auch den Philofophen „des Unbewußten“ getrieben,
feine Gedanken über die Gefege der dramatifchen Kunſt⸗
form der Deffentlichfeit anzuvertranen. Mit unleugbarer
Klarheit und Eleganz bes Stils bat Hartmann fein
Thema durchgeführt. Er beginnt mit der Beſprechung
des Dramenftoffs und definirt des Nähern feine Forde⸗
rungen: nad) ihm muß der Stoff 1) poetifh, 2) dra-
matiſch, 3) bühnenfähig, 4) verftändlih, 5) einfach fein.
Die Borzüge der Diction fest Hartmann zumeift in die
Deutlichleit; wenn der Ausdrud treffend fei, fo fei er
ſchön. Dem Rührenden wie dem Gräßlichen werden, wie
dem Mitleid und der Erſchütterung, geiftvolle und er-
ſchöpfende Discourfe, die durchaus nichts Aphoriftifches
haben, gewidmet. Natürlich ann bei der Erörterung tiber
das Weſen des Tragifchen die Ariftoteliiche Katharfis nicht
unbefprochen bleiben. Hartmann meint ſehr ketzeriſch, es
ließe fih wol conftatiren, was Wriftoteles mit jeiner
Katharfis nicht gemeint habe, aber nicht mit Gewißheit
befiimmen, was er mit berfelben gemeint habe. Ganz
verkehrt findet es der Autor, bei Betrachtung eines Dicht⸗
werks von moralifchen Gefichtspunften auszugehen, und
der Gewinn, ben die Xefthetif aus dem Disconrs darüber
zieht, ift nicht minder bedeutend als die Stelle, wo Hart⸗
mann auf das Weſen des Humors zu fprechen kommt.
Ueberhaupt ift flir die üfthetifche Begrenzung der drama⸗
tifchen Form der Heine Eſſay des talentvollen Philofophen
gewiß jo werthvoll wie ganze Bände dramaturgifcher
Gelehrſamkeit oder gar die eine ganze Bibliothek aus⸗
machenden Werke über die Katharfis des Ariftoteles.
7. Ueber Grimm's Wöorterbuch in feiner wiſſenſchaftlichen und
nationalen Bedeutung. Borlefung gehalten am 24. April
1869 zum Antritt einer anßerorbentlichen Profefjur für
beutfche Literatur von R. Hildebrand. Leipzig, Hirzel.
1869. GEr. 8. 5 Nor.
Wie lange hat e8 gewährt, bis man die großartige
Bedeutung des Grimm'ſchen Unternehmens im Lande der
Denker und Dichter gewürdigt Hat? Und wie lange, bis
man dem ortfeger bes gewaltigen Werks, dem kennmiß⸗
reichen Rudolf Hildebrand, die Mittel gewährt bat, um
das unvollendete Werft im Sinne der Wiffenfhaft und
der Nation fortzufegen! Da faß er, der unermübliche,
liebenswitrdige und geſchmackvolle Gelehrte, an die dornen-
volle Eriftenz eines deutſchen Gymnaſiallehrers gebunden:
gewiß milde von der täglichen Schulmeifterarbeit und doch
nimmer müde, mühjam und forgfam für den Ausbau
des Doms deutfcher Sprade thätig zu fen. Nun bat
der ſprachkundige Dann Ruhm und Muße für fein Schaf-
fen gefunden, und mit einem würdigen und warmen Wort
(man verzeihe uns die unmwillfürliche Jordan'ſche Allite-
ration) tritt er feine außerordentliche Profefiur an. Ueber
das Werk deutfchen Fleißes und beutfcher Gelehrfamleit,
über Grimm's Wörterbuch) fpricht er, das ihm zumeift
am Herzen liegt — und aud) ung allen. Denn das Wör-
terbuch „arbeitet zugleich, es mag wollen oder nicht, an
einer wichtigen Ergänzung, ich möchte jagen Unterbanung
der politifchen Geſchichte, an einer deutfchen, in gewiſſem
Sinne europäifchen Sulturgefchichte, die die Königin der
Wiffenſchaften zu werden ſich anfchidt”. Und wenn, wie
Hildebrand a. a. D. meint, „das Große und. Neue unſerer
Zeit mit darin liegt, daß fie das philofophifche Begreifen
der Weltdinge erjetst oder doch ergänzt durch ein ſtreng
biftorifches Begreifen, daß das abftracte Denken über bas
Lebendige ſich umfegt in ein gefchichtliches Denken, fo
wollen wir im dieſer heilbringenden Strömung ber Zeit
tapfer mitſchwimmen“. Oder follen wir im Bewußtfein,
welch nationales Wahrzeichen wir in und an der Spradye
haben, Hinter dem Mittelalter zuritdbleiben, wo man für
Feuilleton. 575
Nationalität kurzweg „Sprache“ ober „Zunge“ fagte?
Und müffen wir ung erft von einem Böhmen des 14. Jahr-
hunderts (Dalimil's „Böhmiſche Chronik“, 96, 25) fagen
laflen: „einem iclichen ist daz herze zü siner zungen
gröz“ (jeder hängt mit vollem Herzen an feiner Na»
tionalität)?
Feuilleton.
Englifhe Urtheile Über neue Erfheinungen der
deutfhen Lfteratur.
Ueber bie „Tageblicher“ von 8.9. Barnhagen von Enfe
fügt die „Saturday Review’ vom 16. Juli: Sie verfolgen
ihren Lauf, und obſchon fie jet nahe an dem Zeitpuntt hinan«
reihen, wo der unermüdliche Verfaffer die Feder für immer
beifeitelegte, fo Hat er dod immer mod fo viel einzutragen,
daß wahrſcheinlich noch Stoff genug für zwei ober drei Bände
vorhanden if. Im allgemeinen bleibt der Charakter des Werts
das, was er bisher geweſen. Es ift das Erzeugniß eines ein ⸗
gewutzelten Frondeure, deſſen natürlicher Yang zur verneinen»
den Kritif durd, ‚Gntttufgungen im Leben, geiftige Einfamteit,
fociale Abgeſchloſſenheit und Ältersſchwächen bedeutend vermehrt
werd. GB ift wirklich, bemerfenswerth, daf; das Tagebuch trot
diefer vielfahen Veranlaffungen, das Gefühl der Langenweile
zu erregen, doch fo wenig langweilig und der Eindrud im
ganzen dem Berfafjer fo vortgeilgaft if. Varnhagen ift dem
geröhnfihen Schidjal derjenigen nicht entgangen, welche, in-
dem fie fi} bemühen, die Schwächen anderer zn Tage zu för-
dern, ihre eigenen bloßftellen; doc läßt es ſich Taum beftzeiten,
daß die Veröffentlichung feines Tagebuchs feinem Andenken
von Nugen gemwefen if, und der Grund davon liegt in der
Entfaltung einer geifigen Kraft, wie fle in feinen Jahren nur
felten it, und einer gleich unbefiegbaren und in feinen Lebens“
verhältnifien noch feltenern Liebe zırc Freiheit und Aufklärung.‘
Bir lafjen den Übrigen Theil der Beiprehung, der mehr
Inhaltsangabe als Beurtheilung if, unüberfegt und gehen auf
die nächfte Über: „Aus der alten Regifiratur der Staatstanzlei.
Briefe politifchen Inhalts von und au F. von Geng her-
ausgegeben von €. von Klinfowfiröm‘. „Das Werk ift
weniger anziehend, als man hätte Hoffen Munen, und wir ere
fahren daraus nicht viel Neues über den Mann und feine por
Kitifche Thätigfeit. Das Intereffantefte find acht oder zehn an den
Grafen Kolowrat und einige an den engliſchen Geſchafteiräger Fr
Zeit des unglüdtichen agramfelbiuge gerißtek Briefe. Sie
Taffen une die günftigften Seiten von Geng' Charakter erbliden,
den thätigen, unverwüßllihen Widerfprudjsgeift nämlich gegen
fremden Angriff; ein Zug, der uns mit feiner fſyfteriatiſchen
Selbftbefriedigung, feiner gelegentlichen Käufiichteit und bem von
Panique ergriffenen CEonjervatismuß feiner letztern Tage aus-
föhnt. Sie zeugen nebenbei aud von Scharffinn und politie
jchem Talt, und in feinen dringenden Abmahnungen gegen bie
Berlängerung eines hoffnungsloſen Kampfes liegt viel gefunder
Berftand. Cine etwas feltfame Seite der Diplomatie wird in
dem Briefwechſel mit dem Prinzen Karadja, Hospodar von der
Walachei, beleuchtet. Gen ſcheint als eine Art nichtamtlihen
SefGäftsträgers für biefen rumänifen Hospodar am Hofe
Biens fungirt und einen beträchtlihen Theil feines Einfom-
mens von biefem Poften bezogen zu haben. Es ift ebenfo
amnfant wie Harafteriftiich,, — in einem nach varis geſchrie -
benen Geſchaftsbriefe eine Bitte ganz privater Natur pour une
petite provision d'une drogue pour les dents einfdjließen zu
finden.“
Ueber „riebrid, Chriftoph Dahlmann“‘, von Anton Sprin«
ger, fagt die „Saturday Review’: „Der verftorbene Dahimann
war ohne Zweifel ein bedeutender Mann, hervorragend als Belchr-
ter und als patriotifcher Staatsmann. Seine —S— in der
ietztern Eigenſchaft rührte indeß nicht ſowol von wirklichen Leiftun-
en als von dem Gericht feines Charakters und einer rauhen Ge⸗
Annungeihitigteit her, bie merkwürdigerweiſe mit einer iden-
ifizenden Geiftesrihtung gepaart war, was ihn zu einem vor⸗
trefflichen Vertreter des Nationaldaraktere in defien Kraft
und Schwäche machte. Diefe Züge berechtigen ihn nubezweifeit
zu einer Biographie; allein der Mangel an andern als häus-
Kris Ereiguiffen während eines beträchtlichen Theils feines
Lebens macht des Biographen Arbeit ziemlich ſchwierig. Sein
Gelehrtenleben war nicht ereignißvol; ale Staatsmann
wird man fi, feiner hauptfädfid der Rolle wegen erinnern,
die er im frankfurter Parlament im Jahre 1848 gefpielt hat,
bis wohin Springer’s Biographie freilich nod) nicht gelangt
if. Der Berfaffer hat in jeder Hinficht feinen Gegenfland gut
verarbeitet und feines Helden Freundfchaft mit Niebubr, das
intereffantefte feiner intimern Werhältniffe, geicidt benußt.
Die politifhen Kämpfe, in welde Dahlmann bald nad) feiner
Habilitirung in Göttingen im Jahre 1829 verwidelt wurde,
find, wie fie auch die Selbftändigfeit und das Männliche eines
Weſens beleudten, wegen ihres localen Charakters und des
gänzlichen Berfhwunbenfeins Hannovers und hannoderſcher
Bolitit vom Schauplag Europas, verhältnißmäfig uninterefe
fant. ... Die zweite Hälfte der Biographie wird wahrideinfid)
mehr Stoff von allgemeinem Intereffe enthalten. Die Leir
fung ift eine ehrenwerthe; Stil und Geift derfelben find gleich
vortrefflic).*
Ueber eine andere Biographie, „Auguft Schleier" von
©. Lefmann, lefen wir: „Auguft Schleicher, wenn auch ein
guter Patriot, nahm doch feinen wigtigen Antheil an öffente
lichen Angelegenheiten, und fein Biograph hat es für rathſam
befunden, fid) zu befcränfen. Cr hat ein anziehendes Bild
don dem wunderbar fleißigen, Idarffinnigen und emergifchen
Bhifologen entworfen, defjen Kraft zuweilen in Rauheit ausartete
und veifen grammatiiche Fähigleit von feinem entjprehenden
Einblid im die Feinheiten der Spradje begleitet war. Schilei-
her pflegte feine Wiffenfhaft im Geifte eines Datpematiters,
cher als im dem eines Gelehrten, und feine Schriften werden
nicht weit über dem Kreis der Philofogen von ad) Hinaus
ſtudirt werden.‘
Sibliographie.
Bächtold, J., Der Lanzelet des Ulrich von Zatsikhoven, Frauen-
feld, Huber. Ar. 8, 10 Ner,
Bernbarbi, W., Die Banbiten des Salons. Roman aus ber Ge»
genwart, 2 Bbe.' Berlin, Cangmann u, Comp. 8., 1 Thlr.
Born, D., Deutihlands Bertheidigungstampf gegen Frantreich im
Sapre 1870. 1fte Lief. Berlin, Gerjgel. 8. 5 Nar.
ie fünf Einfamen auf den Audlandsinfeln. Bafel. 8. 3 Nor.
J Ri
Koniedi, D., Trübfal und Troft. Shidberg. ®r. 9. 7Y, Ngr.
id, ®., Bom Kurhut_bid zur Königsfrone. GEpifoden aus *
—
ittershaus, €, Vorwärts! Nah Paris! Drei Kriegslicder nah
Bolteweifen für bie beutfhen Soldaten. Wpeydt, Sangewieihe. 8. 27, Rat.
Nittingbaufen, M., Gocial- bemokratifge Abhandlungen. Ates
gef, Neber Sie Organifation der direien Gefehaebung tund das Bolt,
in, 8. 5.Ng
Be ber Bermaltungsiehee und be& Bermaltungs-
h 9
Stein, 8.
sets mit, Bergl
England und Deut
Gotta. Gr. 8. 2 ar. e
Säge, 9%, Samuel Heinide. Sein Leben un Wirten. Leip-
18 Nr,
Eyset, 9. 2. Oefdiäte ber Revolutionspeit van 178 . dter
8. Un 8, 2,5 Ocidihte der Revolutionsgeit von 1795-1800. After
nn ber Siferatus und @efehgebung ben Frantreig,
(hland. As Grundlage für Vorlefungen. Stuttgart,
Ir, 20 Net,
Db._Düffeldorf, Subbeus. Cr. 8. 3 Zhlr.
Zenupfen. — reuise-Klage. Hai Ai Zennpions in mens,
riam" frei übertragen von R. Walbmüller- Duboc. Pamburg, Grür
wing, 16. 1 &hle, «
Tpornton, W. T., Die Arbeit, ipre unberegtigten Anfprüce und
;e berechtigten Forberungen, ihre wirflige Gegenwart und ihre mögliche
jutunft. it Autorifation bes Berfafjers aus dem Englifhen übertragen,
fowie durd Unmerfungen erläutert und vermehrt von d. Schramm.
eipnig, Küintharbt. Or. 8. I.
Ubiene * Säriften zur Geißigte ber Digtung und Sage. Ster
Br. Stuttgart, Cotta, Gr. 5. 2 Zplr. 24 Nor.
-
576
Anze
verlag von S. A. Brodfans in Leipzig.
Der Raub
der
drei Kisthümer Meb, Tull und Verdun
im Jahre 1552
bis lien Abtretui frei
u klare Sri a Santınh
Der Verrat; Strasburgs an Frankreich
im Jahre 1681.
Bon $. Säerer.
Die genannten Auffäge verdienen gegenwärtig erneute Be-
achtung, da in ihnen ur kundlich und fo eingehend wie
in feinem Geſchichtswerke dargelegt wird, durch melde
Mittel des Trugs umd der Gewalt frankreich die beutſchen
Länder Elſaß und Lothringen an fich gebradt Bat. Der
Berfaffer fhfießt mit der Mahnung, daß e& eine Pflicht des
deutſchen Volkes fei, die dem Vateriaude zugefligte breihundert»
Aue Unbill duch Wiedergewinnung jener Provinzen zu
men.
Die zwei geſchichtlichen Monographien find in Friedrich
von Rolmere „Siforifhem Tafhenbud‘, Jahrgang
1842 nnd 1843, enthalten; jeder dieſer beiden Jahrgänge ift
zum ermäßigten Preife von 1 Thlr. 10 Nor. (früher
2 Thlr.) durch alle Buchhandlungen zu beziehen.
Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipgig.
Beiträge zur Charakterologie.
Mit befonderer Berüchſichtigung padagogiſcher Tragen.
Bon Dr. Iulins Bahnſen.
Bwei Bände, 8. Geh. 4 Zhlr.
Zum erflien mal wird in biefem nicht blos theoretiſch,
fondern auch prattiſch wichtigen Werke die Erſorſchung bes
inenſchlichen Charafiers als eine befondere Wifſenſchaft ber
handeit. Der Berfaffer Inlipft dabei an die von Schopen-
Hauer ausgeſprochenen Grundgedanken über den Eharalter an
und gibt überall zu feinen Betrachtungen die padagogiſche
Nuganmendung, weshalb das Wert bie Theilnahme der Pä-
dagogen, der Criminaliften und Seelenärzte, ber Ethiler und
Philofophen, ſowie jedes Gebildsten in hohem Grabe in An»
ſpruch nimmt.
ir ein größeres eneyklopädiſches Werk wird bie
Betheiligung eines . .
Hiforikers
geſucht. Gründfiche wiffenfhaftlihe Bildung, Gewaudtheit in
der enenttopdbiihen Ari und ee Kenntniß der neu or
d e e ie Haı en. .
—* unter N. Q. 665 befördert die nuanen-Expenition
don Haafenftein & Vogler in Frankfurt a. M.
Anzeigen
igen.
— —
Verlag von F. A, Brockhaus in Leipzig.
Elöments du droit international
par
Henry Wheaton.
Qustrieme edition. 2 volumes. 8. Geh. 4 Thir.
In diesem bekannten, bereits in vierter Auflage
vorliegenden Werke sind die Verhaltungsregeln zusammen-
gestellt, deren Beobachtung der wechselseitige Verkehr der
Nationen in Kriegs- wie in Friedenszeiten erheischt. Ge-
stützt auf Entscheidungen in der Praxis vorgekommener
Fälle, auf unparteiische Urtheilsspräche von Staatsrechts-
lehrern und Schiedsgerichten, auf Verhandlungen zwischen
den Cabineten und auf parlamentarische Debatten in den
gesetzgebenden Körperschaften der verschiedenen Nationen,
bilden sie in ihrer Gesammtheit einen Codex des jetzt gel-
tenden internationalen Rechts, der von keinem Diplomaten
und Staatsmann entbehrt werden kann.
Histoire des progrös du droit des gens
en Europe et en Amerique
depuis la paix de Westphalie jusqu’a nos jours
par
Henry Wheaton.
Quatritme edition. 2 volumes. 8. Geh. 4 Thlr.
Auch dieses Werk desselben Verfassers erscheint be-
reits in vierter Auflage, der vollgültigste Beweis seines
grossen praktischen Werthe. Unter Zugrundelegung einer
dem Institut von Frankreich überreichten Preisschrift gibt
der Autor in der Einleitung einen Abriss des Völkerrechts
von den Zeiten Griechenlande und Roms bis zum Westfü-
lischen Frieden und schliesst daran eine vollständige Ge-
schichte des Entwickelungsgangs, welchen das europäische
Völkerrecht vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener
Congress und von da bis auf die Gegenwart genommen hat.
Commentaire
sur les Elöments du droit international et sur l’Histoire
des progrös du droit des gens de Henry Wheaton.
Pröcöd6 d’une notice sur Is carridre diplomatique de
M. Wheaston.
Par William Beach Lawrence,
Anclen ministre des Htats - Unis d’Amörique ä Londres,
Tomes I et II. 8. Geh. Jeder Band 2 Thlr.
Dieser lang erwartete Commentar zu den zwei obi-
gen Werken des amerikanischen Stastsmanns Wheaton
gibt nicht blos Zusätze und Erläuterungen zu denselben,
sondern führt zugleich die Geschichte und die verschiedenen
Materien des Völkerrechts bis auf die neueste Zeit fort.
Berantwortliger Rebactenr: Dr. Eduard Grodhaus. — Drud und Verlag von F. A, Srochhaus in Leipzig.
een ee nn
Blätter
für
literariihe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
— a Ar. 37. e—
8. September 1870.
Inhalt: Poetifhe Weberfegungen. Bon Hans Serrig. — Hiftorifches und Hiftorienhaftes. Bon Hermann Schauenburg. —
Religionsgeihichte. — Neue Romane. Bon Wilbelm Undrei.
— Fenilleton. (Die deutſche Rechtſchreibung in der Schule;
Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Poetifche Heberfehungen.
1. Die Dame vom Ger. Dichtung in ſechs Gefängen von
Walter Scott. In den Bersmaßen des Urtertes über-
tragen und mit ben nothiwendigftien Bemerkungen verjehen
von 2. Freytag. Bremen, Kühtmann und Comp. 1869.
Gr. 16. 20 Nor.
L. Freytag hat ſich bereits als gewandter Ueberjeger
zweier Gedichte Eſaias von Tegner's, der „Frithjofsſage“
und der „Nachtmahläfinder”, den Beifall der Kritik er-
worben. Auch die vorliegende Verdeutſchung verdient im
reihen Maße Anerkennung. In einem kurzen Bormorte
entwidelt er die babei befolgten Principien. Wie viel es
ihm auf Treue und Reinheit ankommt, beweift folgender
Sag:
Die Reime find durchweg männlich. Einmal findet ſich
bei Scott ein Reim, den man weiblich nennen kann; wer dies
benugt, um, mo es ihm belicht, weibliche Reime einzuſchmug⸗
geln, verführt noch Ülliger als der kluge Maler, der jemand
porträtiren follte, und einen Zintenfled, den der jemand zu-
fällig auf der Naſe hatte, gewifjenhaft verewigte.
Mit diefem Rigorismus können wir uns indeflen nit
einverftanden erklären; den Reim durchweg männlich zu
bringen, heißt dem Genius der neuhochdeutſchen Sprache
Gewalt anthun; im Mittelhochdeutſchen noch war bies
anders, wie denn das „Nibelungenlied” ja nur männlich
reimt. Die engliihe Sprache ift infolge ihrer Einfilbig-
feit arm an weiblichen Reimen und faft nur auf Parti-
cipien und Doppelreime angewiefen; die deutfche hält bie
Mitte zwifchen ihr und den romanifchen Idiomen. Wie
e8 nun aber gewiß zu weit ginge, italienifche Ottaven rein
weiblich) nachzubilden, jo muß es auch einer Weberfegung
englifcher Poeſie geftattet fein, flatt lauter männlicher ab-
wechſelnd weibliche Reime eintreten zu laſſen. Auch einer
andern Anficht Freytag's können wir nicht zuſtimmen, die
ebenfalls die Gefege des Reims betrifft. Er Hält nämlich
Keime wie „Held — Welt‘, „hätten — Ketten‘, „Noth —
Tod”, „Bord — Ort” fiir tadelhaft und muß demnach
glauben, bie Media am Ende eines Worte werde wirklich
1870. 87.
als Media gefprodhen, da es doc eine bekannte Regel ift,
daß die labiale und dentale Media ftets als Tennis, die
gutturale nur nad einem n, fonft aber als Afpirata an
diefer Stelle erklingt. Auch das A und e in „hätten“ und
„Ketten haben genau bdenjelben Ton, da fie beide Ab-
laute von a find, hätten von haben und Fetten von ca-
tena. Der Freytag'ſche Irrthum ift übrigens weit ver-
breitet; befonders auf Bühnen befommt man oft eine hor-
rende Ausſprache zu hören. Die Deutfchen können ihre
Pedanterei auch darin nicht verleugnen, daß fie fich ein-
bilden, die Ausſprache müſſe fi) nad) der Schrift richten,
ftatt daß es Höchftens umgekehrt der Sal fein follte. *)
Ueber die Dichtung felber, die bereits in ben ver⸗
ſchiedenſten Meberfegungen feit ihrem erften Erfcheinen vor-
liegt, noch etwas zu fagen, wäre überflüſſig. Freytag
bat jedenfall® feine fänmmtlichen Vorgänger und Borgän-
gerinnen übertroffen, und wir wünſchten, daß er mit ſei⸗
nem andgezeichneten Zalente fi einmal an ben „Mar⸗
mion“ machte. Derfelbe fteht uns weit höher als „Die
Jungfrau vom See”, die ihre größere Popularität wol
vor allem dem Antheil des fchönern Geſchlechts verdantt.
Da dies Bündchen ben fechsten Theil einer Miniatur-
bibliothet claffifcher Schriften des In⸗ und Auslandes
bilbet, fo bereichert ſich dieſe vielleicht auch mit einer
Ueberfegung des „Marmion“.
2. Shalfpeare’s Heinere Dichtungen. Deutſch von Aleran-
der Neidbardt, Berlin, Hofmann und Comp. 1870.»
Gr. 16. 7% Ngr.
Bekanntlich bedauerte ein zeitgenöffifcher SKritiler des
großen Briten mit einem Scharffinn, der diefem Gefchlecht
den Mitlebenden gegenüber eigenthümlich if, daß ber
Dichter fi mit der unfruchtbaren Mühe des Tragödien⸗
jchreibens abgebe, während er doch die Palme ber Un-
fterblichleit hätte erringen Tünnen, falls ex bei feiner
*) Was bie Reinheit der anslautenden Reimconſonanten betrifft, Tön-
nen wir mit dem gecehrten Referenten nit Abereinſtimmen. D. Red.
78
578
italienischen Manier geblieben wäre. Wenn nun aud das
deutfche Publilum nicht ganz diefem Urtheil zuftimmt, fo
möchte man doc faft annehmen, daß e8 beide Manieren
auf gleiche Stufe ftellt: fo viele Ueberfegungen der Poe-
fien diefer „italienifchen” Epoche erfcheinen. Befonders die
GSonette jcheinen unfere Ueberfeger gar nicht ruhen laſſen
zu wollen. Wir können nicht einfehen, was dazu jo reizt.
Denn wenn fie auch als einziges Denkmal der Shaffpeare'-
Shen Subjectivität — dafür erflären fie wenigftens un»
fere Shakſpeare-Weiſen, obgleich ein unbefangener Lefer
auch in den Dramen genügend Subjectivität findet, über-
haupt Poefie ohne darin mwaltende Subjectivität des Dich-
ters ein Unding ift — hohes Intereſſe verdienen, fo ift
ihr poetifcher Werth, mit wenigen Ausnahmen, keines⸗
wegs ein folder, daß fie immer und immer wieder auf
den Markt gefchleppt zu werden brauchten. Nach ihrem
Inhalt find fie fhwülftig und dunkel, ihre Sprade ift
meiftentheil® gefucht, oft gefehmadlos, ihre Form ift eben
feine Sonettenform. Schopenhauer meint zwar in dem
binären Heimen eine Weinheit zu entdeden, weil das Ohr
„nur einen binären Reim erfaßt”, und biejenigen, bie in
Cordelia eine Schuld hineininguiriren, das Ende Romeo's
und Julia's dem Zufall abfprechen und in Hamlet's fchließ-
Iichem Untergang dramatische Motivirung fehen, werden ihm
beiftimmen. Hierzu gehören wir nicht und erlauben uns daher,
unfer Urtheil über die Sonette auch auf die beiden epifchen
Dichtungen zum Theil auszudehnen, wenn auch hierin das
gewaltige Genie des Berfaffers ſchon mehr zu Tage tritt.
Neidhardt Hat ſich fehon mehrfach als tüchtiger Ueber⸗
feger documentirt, und auch vorliegende Arbeit legt von
feiner Befähigung Zeugniß ab, wenn wir ihr aud) Boden-
ftedt’8 Ueberſetzung und beiden die Jordan's vorziehen.
Neidhardt findet naturgemäß feine Ueberjegung vortreff-
licher als bie Bodenſtedt's, er würde fie ja fonft nicht
unternommen ober wenigſtens nicht edirt Haben. Daß ihn
indefjen dieſes verzeihliche Selbſtgefühl verleitet, im einer
Bollsausgabe in derartiger Weife gegen feinen Vorgänger
zu polemifiren, verdient eine ernfte Rüge. Die Sonette
werden nämlich von einer laufenden Reihe Anmerkungen
accompagnirt, in denen die theils wirkliche, theils angeb⸗
lihe Unrichtigfeit Bodenſtedt'ſcher Weberfegungen nad).
ewiejen werden fol, ſodaß wir förmlich deilen ganzes
erf mit in Kauf befommen.
3. Aylmer's Field von Alfred Tennyſon. Aus dem Eng-
Iifhen übertragen von H. A. Feldmann. Mit einem
Vorwort von Emanuel Beibel. Hamburg, Grüning.
1870. 16. 15 Nor.
4, Aylmer's Field. Ein Gedicht von Alfred Tenuyion.
Ueberfegt von F. W. Weber. Leipzig, Naumann. 1870.
Gr. 16. 10 Nr.
Das Hier vorliegende Gedicht Alfred Tennyſon's:
„Aylmer's Field“, ftammt aus der Yugendperiode des Lau⸗
reatus, prägt aber ſchon den vollen Charakter deſſelben
aus, den Charakter, der nicht nur ihn, fondern die ganze
hdhere englifche zeitgendfftfche Literatur in Feſſeln gejchla-
-gen bat und alles euer, alle That» und. Erfindungsfraft
ih in Senfationsrönianen und Schauermelodramen ruini⸗
ren läßt. Swinburne, ein Poet voll glühender Begeifte-
rung, aber leider von größerm Wollen als Können, hat diefe
Richtung treffend definirt: die englifche Poefte kennt nur noch
Boetifhe Ueberfegungen.
ein Genre: das der Idylle. Und fo verwandelt fich denn
dem Koryphäen der Epoche alles in Idylle: fogar die
alten romantifchen Sagen von König Artus und der Tafel-
runde, von Parcival und vom heiligen Gral; während
fih in Deutfchland Richard Wagner bemüht, bie Schüge
der Sage zu heben, und ihre Geftalten in funkelndem
Harniſch Hinter das Licht der Lampen ftellt, fucht Tenny-
fon das Verſchwommene noch verfchwommener, das Ro⸗
mantifche noch romantifcher, das Phantaftifche zum Bu-
koliſchen zu machen.
Weit genießbarer ift der Poet deshalb, wenn er das
Idylliſche da auffucht, wo es wirklich zu finden, in den
Genrebildern des alltäglichen Lebens. Auch diefe bieten
einen weiten Spielraum: von der erhabenften Tragik zur
ausgelafjenften Komik, von fpießbitrgerlicher Abgeſchloſſen⸗
beit bis zum regſten Antheil an den Creigniffen der
draußen vorgehenden Geſchichte. Hier erweiſt fidh
nun der große Vorzug Tennyſon's, ein Sohn des
meerbeherrfchenden Albion zu fein, in einem Sande zu
leben, wo die Dialoge der politifchen Parteien fo laut
erihallen, daß fie gehört werden müffen, mollte man fich
jelbft, wie einft Odyſſeus, das Ohr mit Wachs verffeben.
Wie anders fein deutfches Ebenbild, Seibel, der zu einer
Zeit groß ward, wo von flantlichem Leben in Deutſch⸗
land nicht zu ſpüren, unſer Baterland nad Heinrich
Heine's Ausſpruch einer „Kinderſtube“ gli, darin gefpielt
und Schularbeiten gemacht werden durften, während die
erwachſenen Völker mannhaften Geſchäften nacdgingen.
Bei Seibel werden wir deshalb auch nie, wir wollen nicht
jagen ein politifches Gedicht, aber doch faft nie eine Zeile
finden, in welcher ber Pulsſchlag des gefchichtlichen Le—
bens fühlbar wäre. Er hat feinen Ueberzeugungen viels
fach Ausdrud gegeben, in legterer Zeit fogar beöhalb lei⸗
den müflen, aber was er brachte, war nur die Geibel’fche
Form, der Inhalt erhob fi) nicht über das Niveau eines
Leitartikels. Diefer Vorwurf wird Tennyfon nie treffen,
und auch „Aylmer's Field“ zeigt fein Talent, die Fragen
des Tags ind Gewand der Poefie zu hüllen. Das Thema
ift ein für Deutfchland allerdings ziemlich abgedroſchenes:
die Mesalliance; für England jedoch, wo es eine wirkliche
Ariftofratie gibt, von größerm Intereſſe. Edith, die ein:
zige Tochter des alten Sir Aylmer, wächſt mit dem fünf
Jahre ältern Leolin Averill, dem Sohn des Geiftlichen
auf ihres Vaters Befigung, zufammen auf:
Die beiden wurden miteinander groß,
Diefelbe Amme hatte fie genährt,
Erft Leolin und nad) fünf Jahren Edith:
Um fo viel war der Knabe ihr voraus;
Doch als er doppelt ihre Jahre zählte,
Da, in Ermanglung andrer Spielgenoffen,
Weil anderthalb Defaden jünger er
Als Averil *), und ihre Aeltern todt,
Warf er den Ball und ließ deu Drachen fleigen,
Und trieb den Keif zur Luft für Edith nur;
Mit ihr auf hochgeſchwungner Schaufel ſchoß
Er dur die Luft; ihr macht' er Blumenbälle
Und Mafliebränze; pflegte ihren Garten,
Sät’ ihren Namen in lebend’gen Letter .
Und hielt ihn friſch; erzählt ihr Feenmärchen;
Zeigt’ auf dem Grafe ihr der Elfen Spur,
Im feuchten Grund die Primeln, Elfenpalmen,
*, Sein älterer Bruder und Amtönachfolger des Vaters.
Poetiſche Ueberfegungen. 579
Den winz'gen Wald des Schafthalms, Elfenfichten;
Blies von der feingenarbten Scheibe aud),
Bas einem Schwarm von Eifenpfeilen güch
Nac; einem Punkt gezielt und feiner fehlend,
In feiner und im Edith’s Phantafie.
Aud) dacht’ er fidh, doch das war fpäter ſchon,
Vagh Kuabenart Geſchichten aus von Schiacht
Und fühnem Wagniß, Schiffbruch, Kerter, Flucht
Und unerhoffter Rettung, treuer Liebe
Setrönt nad Prüfung: Stigzen, roh und ſchwach —
Doc lag vielleicht {—hon eine Leidenschaft
Noch ungeboren, unbemwußt darin,
Wie das Concert der Mondnadht fhlummernd Liegt
Im unfheinbaren Ei der Nachtigall.
(Seldmann’fde Ueberſetzung.)
Diefe Leidenfchaft ſtellt fi natürlich ein; der alte
Sir Aylmer aber fommt dahinter und wirft Leolin aus
dem Haufe. Derfelbe verläßt fein Heimatsborf, um ſich
der Jurisprudenz zu widmen und fo Anfehen und Ehre
zu erwerben. Die Correfpondenz ber Liebenden wird dem
eiferfüchtigen Baron ebenfalls verrathen, der nun durch
Spott, Hohn und ſchlechte Behandlung feine Edith von
ihrer Liebe abzubringen fucht. Aber er Hat einen un.
erwünſchten Erfolg: Edith ftirbt an einem Nervenfieber.
Als Leolin von ihrem Tode benachrichtigt wird, töbtet er
fich ſelbſt. Sein Bruder muß, als Geiftliher Sir Ayl-
mer’s, Edith eine Leichenrede halten, aber hierbei gebenft
er auch feines hingeopferten Bruders; über den Spruch:
„Sieh, euer Haus ift wüſte euch gelaſſen“ (Matth. 23, 35;
Luc. 13, 35; 1 Kön. 9, s), prebigend, verdammt er
mit mächtigen Worten den ſchnöden Stolz und Hochmuth,
der in ariftofratifcher Hartherzigfeit mit Glück und Leben
der eigenen Kinder fpielt:
Nie, feit ein Meer ward unfre böfe Erbe,
Das übergoß der Stolgen Thlrm’ und alle,
Die nicht erfannten den Iebend’gen Gott —
At blieben, eine reinre Welt zu gründen —
Bann ſchuf jeitdem Flut, Brand, Erdbeben, Donner
Soich Weh und Unheil, ale der Gögendienft,
Der von dem niedern Licht der Sterblichkeit
Zum höchſten Himmel feine Schatten hob
Und feine Nacht als feinen Gott verehrte?
„Schneid dic zur Ehre Baal’s, des Thiers, du Priefter,
Und opfre felbft dich deinem ärgern Seibſt,
Dein aͤrgſtes Selbft ift deines Gottes Kleid.”
Dann am ein andrer, ganz ungleidh dem Baal;
Nun wird das Kind den Löwen führen, num
Die Wildniß gleich der Roſe blühn. — O kröne
Dich felbft, du Wurm, anbetend deine Füftel —
Kein klotzig plumper Gott der Felder ſteht
An deinem Thor, daß du vor ihm did irlimmeſt;
Dein Gott it weit gedehnt in prächt'gen Wäldern,
Im — — Gütern, grünen Au’n,
Im Haufen glühen Golds, bie täglich wachſen,
Im Pergamenturkunden, flolgen Wappen,
Im folder Bildung fiehft du deinen Gott.
Du jchneiden nicht dein Fieiſch für ihm, dein Fleiſch
rührt wohl, in zarten Leinen, nicht ein Härchen
ommt aus der ar auf deimer Haut ; dieweil
Sie, die beherrſcht dein ſterblich Haus, die ew'ge,
Verwundet {ft zum Tod, der nimmer flirbt,
Und ob du gleichwol zum Gefolge zählft
Deß, der da rief: Laß alles, folge mir.
Di, weil fein Licht dor deinen Hagen leuchtet,
Did), dem ins Ohr lant feine Botſchaft Mingt,
Did; wird dein Bruder, er, der Herr vom Himmel,
Der Dorfmald Lind, der Sohn des Zimmermanns,
Der Friedensfürft, der mäct’ge Gott, ber Hehre,
Den ſchlechtern Gögentneht von beiden nennen,
Graufamer nodj: nicht Leiber treibft du durch
Die Gfut, nein, Seelen — deiner Kinder — durch
Den Oualım, den Brodem ſchnöder Gier, und ſchwärzeſt
Zu deinesgleichen beine Brut.
Weberſche Ueberie
Edith's Mutter ſtirbt mit gebrochenem H
Aylmer aber
ung.)
en, Sir
Verfiel
In Stumpifinn; wüſte war fein einz'ges Ban;
Todt war er ſchon zwei Jahr vor feinem Tod.
Ums Weihnadtefett im zweiten Jahr entfloh
Er feinen Wägtern und des Schweigens Dual,
Doch noch ein tiefres Schweigen ſucht' er auf
Im enger dunkler Gruft bei Weib und Kind,
Und nit verfagte feinem Ende ſich
Der jhwarze Troß, des Todes Huldigung
An goldnen Schwellen; nod von zartern Herzen,
Die ein erlofchnes Haus betrauerten,
Mitleid das Veilden am Torannengrab.
Ganz abgebrohen ward hernad; das Schloß,
Der folge Wald zu Pachtungen vertheilt,
Und wo bie zwei für Edith’ Wohl geplant,
Niftet der Habicht, wirft der Maulwurf auf,
Gräbt fi) der Igel unterm Wegrid) ein,
Die Natter kriecht, das ſchlanke Wiefel jagt
Die Maus, und überall ift offnes Feld.
Feldmann.)
Aus den mitgetheilten Proben werden unfere Leſer
bereits entnommen haben, daß die beiden Ueberſetzungen
einander ziemlich die Wage halten und beide Lob verdie-
nen. Sollen wir etwas tadeln, fo ift es die oft allzu
ſehr verfchräntte Wortftellung und Sagfügung, die das
Verſtändniß erft nad meßrmaligem Durchleſen erlaubt.
Dergleichen ift bei einem Versmaß wie der reimloje Qui«
nar, ber fih der Sprade faft von felbit aufdrängt,
immerhin leicht zu vermeiden. Wird die Verszahl des
Originals dadurch alterirt, fo ſchadet dies unſers Er—
achtens einer ſolchen ungefchloffenen, ſich rein novelliſtiſch
gebenden Form gegenüber durchaus nichts.
5. Das Leben ein Traum. Schanfpiel in fünf Acten von Cal -
deron de la Barca, Aus dem Spanif—en neu überjeht
und für die deutfche Bühne bearbeitet von Paul Herith.
Berlin, Schröder. 1868. 8. 22%, Ngr.
Der Ueberfegumg ift eine Iehrreihe und interefjante
Einleitung vorausgeſchidt. Herlth nimmt ſich darin warm
der jetzt don einigen aufs ſchroffſie verdammien ſpaniſchen
Bühne an und piaidirt für ihren nüglichen Einfluß aufs
deutfhe Drama, falls man nur ihre Vorzüge in objecti
ver, Fritifcher Weife würdigen wolle und nicht mit jenem
Tatholifirenden Enthufiasmus herantrete, wie ihn einft
Schlegel zur Schau getragen. Wir können ihm nicht
unrecht geben. Wenn denn einmal immer das Auslän-
difche Hervor- und in die Höhe gehoben werden muß, jo
laſſe man and) die gewaltigen Genien eines Lope, Alar-
con, Tirfo de Molina und Ealderon gelten und bilde ſich
nit ein, in Shalfpeare das A und d der dramatischen,
ja womöglich aller Kunft zu befigen. Was die Form des
fpanifchen Dramas anbetrifft, kann es nur ein Blinder
unter das englische ftellen, da es daffelbe durch Gejchlofien-
heit und Harmonie der Form, wahrhaft dramatijche Durd;-
führung des Conflict® und feiner Löfung bei weiten
übertrifft. Un Gedanfenreichtfum möchte and, Calberon
ſchwerlich Hinter Shaffpeare. zurüdftchen. Die Melt-
73 *
580 Poetiſche Ueberfegungen.
anfchauung, aus der die caftilifchen Poeten herausdichte-
ten, fteht allerdings der modernen vielfady fern; allein
daß auch dies oft ein bloßes Vorurtheil ift, weiſt Herlth
ſchlagend an Lope's grandioſem „Stern von Sevilla” nad),
den unfere Kritiker faft alle nur in ber traurigen Be-
arbeitung des Baron von Zeblig zu kennen ſcheinen, fo
3.8. der frühere Leiter des wiener Burgtheaters. In einem
allerdings find die Engländer den Spaniern überlegen —
das ift die Charafterifti. Ob jedoch diefe „englifche‘
Charakteriftil, das Reſultat einer dramatifchen Kunftform,
bei der alles auf die einzelnen Perfönlichkeiten anfam und
alles wahrhaft Bühnliche fortfiel, fiir das Drama unerläßlich
fei, das möchte denn doc) noch fehr dayingeftellt fein. Die
Feinde des „decorativen Luxus“, der „ſchnöden YAugenluft”
u. f. w. jehen natürlich in diefen ärmlichen, mit Teppichen
verhängten Scheunen das Ideal des dramatiſchen Kunſtwerks.
Wir hegen in deſſen ſtarke Zweifel an der Berechtigung dieſes
äſthetiſchen Dogmas, zumal es nur aus dem einen Factum
abſtrahirt iſt, daß die Engländer eine ſolche detaillirte Cha⸗
rakteriſtik anwandten und die Deutſchen — vielleicht zur
Beeinträchtigung ihrer wirklichen Fähigkeiten — es ihnen
nachzumachen ſuchten, andere Nationen aber, die Griechen,
die Spanier, die Franzoſen, ſich ganz gut ohne dieſelbe
beholfen und ſie dem Romane überlaſſen haben.
Ueber die Geſchichte des vorliegenden Calderon'ſchen
Meiſterwerks in Deutſchland macht uns Herlth folgende
Mittheilungen:
In Deutſchland begann Leſſing (1749) zuerſt eine Ueber⸗
tragung des unſterblichen Gedichts, die indeß unvollendet blieb,
während 1750 zu Strasburg eine freie Bearbeitung „Das Le⸗
ben als ein Traum“ von D. F. H. W. M. ans Licht trat. Im
Jahre 1760 fpiefte man auf dem k. k. Stadttheater zu Wien
als Novität: „Das menichliche Leben ift Traum, in fünf Xcten,
aus dem Stalienifchen überlegt und im deutiche Verſe (Aleran-
driner) gebracht durch M. Julius Friedrich Scharfenftein”, umd
20 Jahre fpäter erſchien im einundzwanzigiten Bande der
Stege'ihen „„Schaubühne‘ eine fi [don durch den Titel felbft
harakterifirende Nachbildung: „Sigismund und Sophronie, oder
Graufamleit aus Aberglauben, Scaufpiel in drei Acten von
Bertrand. Die nächfidem zu nennende, eigentlich erfte deutjche
Driginaliberfegung rührt von dem al® Lebemann und Schön-
geift am weimarer Hofe vielbeliebten Präfidenten des Ober-
Appellationsgerichts zu Jena von Einfledel ber, eine treue, bem
Spanifhen fih eng auſchließende Arbeit, die 1812 von Goethe
auf die Bühne gebracht murde. Julian Schmidt iſt daher im
Irrtum, wenn er in feiner beutichen Literaturgefchichte ale
Berfaffer der von Goethe infcenirten Uebertragung Gries nennt,
der exit fpäter (1815) die Herausgabe der „Schaufpiele Ealde-
ron's“ mit „Das Leben ein Traum“ begann umd darin, im
Grunde genommen, nichts anderes gab als ein Plagiat von
Einfiedel. Hierauf ergriff Schreyvogel (E. A. We) bie Arbeit
von Gries, dehnte die Trochden durch Zuthat einiger Süben
zu iambifhen Rhythmen ans, verfllichtigte durch ſolche Aus-
fülung und Abſchneidung alles Poetiichen und echt Dramati-
Ihen in ber Diction die Ibee und den Gehalt der Dichtung,
und bradte jo am 4. Zuni 1816 fein „dramatiſches Gedicht
in fünf Aufzügen nad) dem Spanifchen des Ealderon, bearbeitet
von C. A. Weſt“, im k. k. privilegirten Theater au der Wien
zum erften mal mit einem Erfolge zur Aufführung, der feit-
dem das Stüd auf allen Theatern Deutfchlande, befonders auf
der berliner Hofbühne einbüirgerte.
Herlth unterfcheibet fih nun fowol nad Form wie
nah Inhalt feiner Bearbeitung von feinen Vorgängern.
Wenn wir ihm auch zugeben wollen, daß feine Verſifi⸗
cation gefehidt und feine Accomodationsverfuche theilmweife
‚gelungen find, fo ift es body noch eine Frage, ob eine
jolhe vadicale Veränderung überhaupt noch Ueberfegung
zu nennen iſt. Statt der Trochäen hat er den Jambus
gewählt und fucht diefes durch verfchiedbene Gründe zu
rechtfertigen. Es ift wahr, wenn er fagt:
Der deutſche Trochäus, wie ihm Schlegel und Gries an.
gewendet, ift fo ziemlich das völlige Gegentheil der ſpaniſchen
Bersart: bärenhaft ungelen! und geiſtlos im Affonanzentan;,
erdrüdt er vollends in der Zmangsjade feiner Reimform ale
dramatifche Bewegung, während er im Übrigen anch nicht einmal
die Kraft hat, einen vollern Strom der Perioden ſtilvoll zu⸗
ſammenzuhalten und wohllautend in das Ohr des Hörers zu
eiten.
Dies iſt wahr, doch eben nur mit der Einſchrän⸗
kung: „wie ihn Schlegel und Gries angewendet“. Daß
felbft der Trochäus mit Reimverſchlingungen im Dent-
ſchen fehr melodiöss gehandhabt werden kann, beweiſt Grill⸗
parzer's „Ahnfrau“, die von ſeiten der Sprache untadel⸗
haft zu nennen iſt. Aſſonanzen allerdings find im Deut⸗
hen unangemefjen: fein Menſch Hört fie heraus, zumal
jelbft Schlegel fi die Freiheit nimmt, Längen und Kür
zen afjoniren zu laſſen, was natürlich alle Affonanz zer-
ftört. Aber ginge es nicht anftatt der aflonirenden,
meinethalb auch ftatt der gereimten Trochäen, falls es dem
Ueberfeger zu ſchwer fällt die letttern nachzuahmen, reim⸗
lofe zu gebraudhen? Daß diefer Vers alle die von Herlif
aufgezählten Fehler entbehren Tann, hat Heinrich Heine
glänzend bewiejen, denn kaum möchte es einen Poeten
geben, der „ftilvoller den Strom ber Perioden zuſammen⸗
hielte“ al8 er. Aber Herlth Hat nicht nur die Trochäen
beifeitegefhafft, jondern auch die fogenannten liras, ge
reimte Mifchungen von Duinaren und kürzern iambiſchen
Berjen, die im Deutjchen nit nur nicht ſchlecht, fondern
geradezu höchſt mufifalifch klingen; nur ein paar Stanzen
haben vor feinen Augen Gnade gefunden. Hierdurch ift
der ganze Charakter der Poefie verloren gegangen, ja, wie
er jelber zugefteht, die ganze Diction hat fürmlih um⸗
geftaltet werden müflen: vom wahren Calderon ift nur
noch wenig übriggeblieben. Man Iefe den berühmten
Monolog des Sigismund, der mit den Worten enbet:
E los suefios sueno son —
bei Gries:
Und die Träume felbf find Traum —
bei Herlth:
Und felbft das Träumen it — nur Traum —
ob da nicht die Calderon’fche Muſe einen Eindrud madt
wie ein Schmetterling, dem aller Schmelz vom Flügel
geftreift ift, um ihn für eine Sammlung zu präparicen?
Sollte dies wirklich nöthig fein, um ihn dem beutfchen
Theater zu gewinnen? Dann laßt ihm Lieber feine freiheit!
Auch an die innere Structur des Stüds hat Herlth
feine germanifche verbefjernde Haub gelegt. Aus bem wil-
den Polen hat er die Acteure nad) dem „goldenen Hes—⸗
perien“ geſchickt, in das ja alle Dichter ber Exde für und
eine Welt der Wunder hineingedichtet Haben! Tiefergrei⸗
fende Abänderungen befpricht er felbft auf S. xx ber
Einleitung. Wenn man fein Princip anerlennt, muß man
fie billigen. Aber eben gegen diefes Princip fträuben wir
uns. Gewiß, der deutfche Dramatiker kann und foll von
den Spaniern lernen, und wie Mozart, um feine unſterb⸗
lichen Meifterwerfe zu fchaffen, Italiens und Dentfchlande
Poetifhe Ueberfeßungen. 581
Kunſt zu einer ſüßen Harmonie verband, dadurch aber
der Schöpfer und Begründer einer neuen Kunſtentwicke⸗
lung ward, ſo iſt es ſeine Pflicht, aus dieſer anſcheinen⸗
den Antitheſe des ſpaniſchen und engliſchen Theaters eine
höhere Einheit zu produciren. Das Wort Schiller's,
das Herlth citirt, daß er und Goethe, wenn ſie Calderon
früher gekannt, viele Fehler vermieden haben würden, kenn⸗
zeichnet ein Bedürfniß unſerer Poefie; aber dieſer Einfluß
der fremden Literatur darf fih nur auf die Form er»
fireden, den Inhalt gebe der Dichter als die Denkkraft
des eigenen Jahrhunderts. Will man die fremden Dra-
men auf die Bühne bringen — unfere Bühne ift ja num
leider einmal mehr fozufagen eine Chreftomathie der Welt-
literatur als ein nationales Inftitut —, fo gebe man fie
uns auch in ihrer Eigenthümlichkeit, font fteht es ſchlecht
an, über „Sigismund und Sophronie, oder Grauſamkeit
aus Wberglauben” zu lachen.
6. Die Lufiaden des Luis de Camoens. Deutſch in der
Bersart der portugiefifchen Urfchrift von 3. I. C. Donner,
Dritte, vielfach verbefierte Auflage. Leipzig, Fues. 1869.
8. 10 Ngr.
Die Güte der Donner’fchen Ueberfegung ift genugfam
anerkannt, ſodaß wir und des weitern —* entheben
können. Dieſe neue Auflage hat mannichfache Verbeſſe⸗
rungen durch den fleißigen und genialen Ueberſetzer er⸗
fahren. Was Camoens ſelber betrifft, ſo iſt es über⸗
flüſſig, über ſeinen Werth noch ſprechen zu wollen: wir
verweiſen auf die vortreffliche Charakteriſtik, die Julian
Schmidt von ihm gibt, und die ebenſo dem großartigen
Schwunge feiner Poeſie gerecht wird, als auch die Un-
vollkommenheit hervorhebt, die num einmal aller Renaifſance
anflebt, und welche die Epiker jener ftrebjamen Jahrhun⸗
derte ftetS ihren Pegafus nur innerhalb der Manege Pir-
gil'ſcher Regelxechtigfeit tummeln ließ.
7. Lieber und Chanfons von Béranger. Uebertragen von
Adolf Zaun. Bremen, Kübhtmann und Comp. 1869.
Gr. 16. 20 Nur.
Wenn irgendein Schriftfteller ſchwer zu überfegen ift,
fo ift e8 Beranger, denn feine Poefie — und feine Poefte
faft allein — ift aus dem Genius der franzöfiſchen Sprache
geboren. Lamartine und Muffet, jo vollendet auch ein-
zelne Berfe fein mögen, find Kosmopoliten: die Gedanken
fonımen ihnen aus fremden Literaturen; aber Beranger
ift ganz Yranzofe:
J’aime, qu’un Russe soit Russe,
Et qu’un Anglais soit Anglais;
Si l’on est Prussien en Prusse:
En France soyons Frangais! —
er ift e8 in feinem Leichtfinn, in feiner Sinnlichkeit, er
ift e8 in feiner GSeelenglut, in feinem Cultus der Frei-
beit und des Baterlandes, aber nicht eines nebelhaften
Baterlandes wie es dereinft in Jahrhunderten fich ge
ftalten Fünnte: der Sohn des Schneiders, ber Gefangene
von Saint» Pelagie ſchwärmt für Napoleon und die große
Armee, für den Ruhm und das Anfehen feiner Nation.
Er ift ein Chauvinift, würden die heutigen Doctrinäre
fagen. Bielleiht ift das für fie ein Schimpfwort; ein
nationaler Poet aber fann nichts anderes fein, und daß
Beranger e8 war, bemweift, daß er ſich nicht in Grübe-
leien über Bölferwohl und die befte Verfaſſung vertiefte,
fondern daß er ein Dichter war.
Laun bat feine Aufgabe im ganzen vortrefflich gelöft,
jeine Berdeutfchungen lefen ſich weit fließender und melo-
difcher als die Chamiſſo's und Gaudy's und Seeger's,
von denen Silbergleit’8 zu ſchweigen. Daß natürlich die
unnahahmliche Nonchalance der Beranger’fchen Diction,
die zauberhafte Melodie feiner Verſe in der deutfchen ge»
regelten Scanfion verloren gehen muß, tft nicht zu ver⸗
hindern. Die Ueberfegung gibt immer nur eine ſchwache
Borftellung vom Original, zumal wenn man fich dies,
wie ber Dichter will, gefungen denkt. Einige Chanſons
haben wir unter der Sammlung ſchmerzlich vermißt, z. 8.
das erhabene
On parlera de sa gloire
Sous le chaume bien longtemps etc.
8. Sternlofe Nächte. Nuits sans Etoiles. Bon Emanuel
Slafer. Paris, Lemerre. 1869. 8. 24 Ngr.
Mit diefem Buche iſt e8 uns fonderbar gegangen;
wir fehlugen e8 auf, ohne den Titel genau angefehen zu
haben. Da finden wir anf der einen Seite beutfche Verfe,
auf der andern franzöfifche Proſa. Wir verglichen bei-
des und merlten, daß der Inhalt bei beiden derfelbe war,
nur mit dem einen Unterfehied, daß die Profa melodifch
und durchweg flinnmungsvoll, die Poefie hingegen holperig
und platt war, 3.8. ©. 84 fg.:
Mit ihre träumt’ ih bimmlifche, göttliche Träume,
Mit ihr wurden Palmen Sibiriens Bäume,
Mit ihr ſchuf aus Schlamm ih ein Sternengezelt,
Mit ihr aus dem Chaos mie Gott eine Welt.
Par Elle je revais de celestes, de divins röves; par
Elle devenaient des palmiers des arbres siberiens; par
Elle je tirais du limon une tente d’etoiles, par
Elle du chaos, comme Dieu, un monde.
Wir famen alfo auf den Gedanken, daß bier profaifche
Dichtungen eined Franzoſen vorlägen, bie ein Deutſcher
in Reime gebracht. Allein das Titelblatt enttäuſchte uns.
Die deutſchen Gedichte rühren von Emanuel Glaſer her
und ſind original, die Proſa iſt eine von Catulle Mendez
verfaßte Ueberſetzung, und das Ganze iſt den Manen
Heinrich Heine's gewidmet. Unglücklicher Catulle Mendez!
beklagenswerthe Manen! Das Papier ift vortrefflich, die
Ausftattung verdiente eine Ueberfegung ins Deutſche.
Hans Gerrig.
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582 Hiftorifhes und
Hiftorienhaftes.
Hiftorifches und Hiſtorienhaftes.
1. Haus», Hof» und Stantsgefhichten. Ans vergangenen Ta»
en. Bon Iulius Ebersberg. Drei Bände. Prag,
Bellmann. 1869. Gr. 8 2 Thlr.
Bon den nicht fireng gelehrten und doch anf fleißiger
eigener Forſchung beruhenden Geſchichtswerken des legten
Luſtrums hat fih faum eins folchen Beifalls zu erfreuen
wie die jegt in vier Bänden, refpective fünf Theilen voll⸗
ftändig erfchienenen „Bilder aus der deutfchen Vergangenheit‘
von Guſtav Freytag, und es ift Fein leicht wiegendes
Zeugniß dieſer wohlverdienten Anerkennung, daß es bei
dem Preife von faft zehn Thalern fchon zum fünften
male new aufgelegt werden mußte. Sole Schöpfungen
find es, die unfer biftorifches Wiſſen nicht blos mit
Fleiſch und Blut befleiden, fondern ihm auch Athem und
Geift einhauchen, ſodaß wir das Thatjächliche, für das
wir ein wachjendes perfünliches Intereſſe empfinden, aud)
mit unfern Sinnen zu erfaffen vermögen und jelbit mit
zu erleben glauben. In meld, anderer Art Behje- ar-
beitete, der deshalb öffentlich auch nur ephemere Theil-
nahme erwecken konnte, ift befannt. Er publicirte die
chronique scandaleuse der Dynaſtengeſchlechter, und da
er nicht eben glimpflih zu Werke zu gehen liebte, fo
mußte er vielfach, Anftoß erregen. Einen Pla zwifchen
den beiden genannten Schriftftellern möchten wir Julius
Ebersberg anmeifen, der in feinen 23 Geſchichten aus
dem Haus-, Hof- und Staatsleben der lettverflofjenen
Sahrhunderte ſowie des gegenwärtigen nicht blos von
pifanten, ſondern auch von wiſſenſchaftlich intereffanten
Einzelheiten den Schleier hebt und dabei mit dem Stre-
ben nad) Hiftorifcher Treue überall leichte, feffelnde und
wohltäuend anmuthende Darftellung glücklich zu verbinden
weiß. Er fagt felbft im Vormorte, daß diefe Schilderun⸗
gen und Bilder ohne bedächtige Auswahl einer großen
Anzahl ähnlicher Auffüge entnommen feien, die fich feit
zwanzig Jahren als Früchte fleigiger Auszüge und Ercurfe
gelegentlich tieferer gefchihtlicher Studien in feinem Pulte
angefammelt hätten. Dann fährt er fort:
Ich Hatte diefe Mojaikarbeiten, wie fie am eheflen genannt
zu werden verdienen, nicht für bie gelchrte Welt, urfprünglid)
nicht einmal für die Oeffentlichkeit beſtimmt, als ich fie ohne
Haft und Eile in behaglichen Mußeftunden und Lediglich zu
meinem Bergnügen zu Papier bradte. Wenn id) fie jet dem
Drud libergebe, fo Teitet mich ber Wunſch, jenen, die eine an⸗
genenme und nicht unnüge Unterhaltung ſuchen und denen die
ektüre der Romane feine erwünjchte Nahrung für Geift und
Herz ſcheint, bier zu bieten, was fie freumdlich anſprechen und
nicht unbefriedigt laffen möge.
Diefen Lefern zu Liebe Hat der Verfaſſer von dem
Onellenpompe, dem übrigens auch in gelehrten Werken
nur noch das zufländige Maß geftattet wird, gänzlich
Abftand genommen; er erzählt, was er vielfach vergilb-
ten Documenten in flaubigen Archiven entnommen hat,
sine ira et studio und in dem Vertrauen, daß der Lefer
ihm glauben und ihn nicht für einen bloßen Schönrebner
halten möge. Einzelne diefer Auffäge Haben wir fchon in
Beitfchriften gefunden, denen fie zur Sierde gereichten,
anderes war ungedrudt. Aber alles — welcher Stoff
wäre e8 für die Feder einer Mühlbach geweſen! Wir
mußten an diefe überfruchtbare Dame denken, da das
Material des erften Aufſatzes „Die Frauen Joſeph's II.“
auch ihr in die Hände zu fallen das Unglüd gehabt.
Ebersberg läßt und erfennen, daß es wirklich eine
der trübften Schattenfeiten im eben Joſeph's II. war,
daß ihm die Freuden bed häuslichen Herdes, aus denen
der Mann einen großen Theil feiner Kraft, Ruhe und
Heiterkeit fchöpft, verfagt waren. Die Infantin von Parma,
Sfabella, wurde ihm zuerft von feiner Mutter vermäßlt;
aber wenn fie andy nicht ohne Reize und begabter als
die Erzherzoginnen war, wenn fie auch oft Anläufe nahm,
ihrem Gatten in ded Wortes wahrer und höherer Beden⸗
tung Frau und Freundin zu fein, e8 nagte ein Trübfinn
an ihrem Herzen, defjen wahre Urſache niemals ficher er»
| mittelt worden ift, der aber die Ehe zu einer vollfändig
unglüdlichen machte und an bem frühen Tode Ijſabella's
ſchuld war. Joſeph's Kummer über ihren Verluſt war
fo heftig, daß er untröftlich zu fein und alle Herrfchaft
über fi) verloren zu haben fchien. Damals beging feine
Schwefter Marie Chriftine -die große Zaftlofigleit, durch
die fie ihn wieder aufrichten zu fünnen vermeinte, ihm zu
fagen: „Die Frau, welche Sie fo ſchmerzlich betrauern
und bie Sie mit jo viel Sorgfalt und Zärtlichkeit behan⸗
delt haben, gab fi) nur den Anfchein der Zärtlichkeit für
Sie und hat Sie nie geliebt.” Es ift bekannt, daß Ehri-
ftine fehr glüclich verheirathet war, daß dieſer ülteften
Tochter die fo pebantifche Maria Thereſia eine reine Nei⸗
gungsheirath mit einem tief untergeordneten Prinzen ge⸗
ftattete; es ift nicht unwahrscheinlich, daß Chriſtine von
einer heimlichen und abgeſchworenen Liebe ihrer Schwägerin
in Italien Kenntniß hatte.
est hätte Joſeph noch glüdlicd werden können, denn
feine refolute Mutter zögerte nicht, für ihren erſt drei«
undzwanzigjährigen Sohn fofort von neuem Brautſchau
zu halten. Bier Prinzeſſinnen famen auf die engere Wahl —
und die gewählte, Joſepha, eine Schwefter Mar Joſeph's
von Baiern, war wieder nicht bie rechte Partie fiir den
geiftvollen Kaiferfohn:
Zuerfi Hatte man an bie reizende Elifabetb von Braune
ſchweig gedacht, die man bald darauf mit dem Neffen und Nach»
folger Friedrich's IL. vermählte, eine Art von Bitellius, der
dieſe liebenswürbige Dame nicht verdiente. Sie war nicht blos
ſchön von Geflalt und Geficht, jondern hatte auch viel Geift
und tanzte zum Entzliden. Gerade ihre Talente und Reize
waren vielleicht die Urſache, daß fie von der Wahl ausgeſchloffen
wurde; von Natur etwas eiferfichtig, mochte Maria Zherefia
fürchten, verdunfelt zu werben. Ueberdies war Wilhelm Fer⸗
dinand von Braunſchweig, einer der beften Generale des preu⸗
Bifhen Heers, der Bruder der jungen Dame, und — bie Kaiſerin
wollte nicht von ihr reden hören. Für die Prinzeffin und Io-
feph II. war dies ein Unglüd. Bon ihrem Gatten bald an-
geelelt und durd feine Ausfchmweifungen gereizt und ermächtigt,
fi) einige Freiheiten zu erlauben, wurde fie nad vier Jahren
verfiohen und im die Feftung Küftrin eingeſchloſſen, wo ihre
natürliche Heiterkeit fle nicht gegen die Langeweile zu fchligen
vermochte. Sie überlebte ihren Gatten um 43 Jahre und ftarb
94 Jahre alt im Sabre 1840.
In diefer ruhig Maren und faft überall parteilofen
Weiſe erzählt der Derfafler ſtets. Bon Joſeph II. berich-
ten wir ferner deſſen tragifches Geſchick: Seine erfte Frau,
die er anbetete, batte Feine Zuneigung zu ihm, und bie
zweite, die er nicht leiden konnte, liebte ihn leidenfchaft-
Hiftorifhes und Hiftorienhaftes,. 583
lich. In der Hoffnung, fein Herz zu rühren, trieb fie
die Gefäligfeit und ben Gehorfam gegen ihn bis zur
Demuth. Vergebliche Mühe! Ihre Zürtlichfeit machte
ihn nur um fo älter, und als vollends ein Skorbutanfall
ihr Geficht ſehr bald häßlich machte und ihren Körper
entftellte, founte er ihren Anblid fo wenig noch ertragen,
daß er eines Tags zu einer Bertrauten fagte: „Meine
Frau wird mir unausſtehlich...“ Bezüglich der mancherlei
Einzelheiten miüffen wir bie Lefer auf das Wert felbft
verweifen. Es befreite den unglüdlichen Kaifer die be-
fonders für das Haus Habsburg jo verhängnißvolle Poden-
krankheit, die Joſepha fortraffte:
Dan erinnerte fi feiner Zeit, in ber drei Mitglieder
derjelben zugleich die Blattern gehabt hätten, denen im 18. Jahr⸗
hundert ein Kaifer (3ofeph I.), zwei Kaiferinnen, ſechs Erzher⸗
zoge und Erzherzoginnen, ein Kurfürft (von Sadfen) und der
legte Kurfürft von Baiern erfagen, da man die Krankheit nicht
zu behandeln wußte.
Jofeph II. ließ jeinen Neffen Franz nad) Wien kom»
men und beftimmte ihn zu feinem Nachfolger. Er jelbft
verzichtete, wenn aud) wol ungern, auf ein dritted Ehe⸗
bündniß, Ließ fir fein Förperliches Bedürfniß nur einfache
Nymphen zu, mit denen ber Verkehr trog Brambilla’s
Vorſorge ihn in ftetem Siechthum erhalten Haben fol,
und ftand fpäter filr die idealen Regungen feines reichen
Herzens mit einem Kreiſe von fünf ausgewählten Damen,
bie jämmtlich verheirathet waren, in einer ebenſo jchönen
als feltenen Verbindung, die bis zu feinem Tode währte.
Diefe Damen waren bie zwei Fürſtinnen Liechtenftein,
die Fürſtin Klary, Gräfin Kaunitz und bie „himmlifche‘
Therefe Kinsky. Ernſte Befprechungen über Wifjenfchaf-
ten und Künſte wechfelten in diefem traulichen Cirkel mit
barmlofem Scherz, Borlefungen intereffanter Bücher mit
muftlalifhen Aufführungen. Charakteriftifch und rührend
ift der Brief, mit dem er auf feinem Zodbette (18. Fe⸗
bruar 1790) von diefen Freundinnen Abjchied nahın. Er
trägt die liebenswürdig galante Adrefje: „Aux cinq da-
mes da la societe, qui m'y toleraient”:
Mein Ende naht heran. Es ift Zeit, Ihnen durch diefe
Zeilen noch meine ganze Erkennilichkeit für jene Güte, Politeffe,
Freundfchaft und angenehme Feinheit zu bezeigen, die Sie mir
während fo vieler Fahre, welche wir in Geſellſchaft miteinander
zugebracht haben, zu ermweijen und amgedeihen zu laffen bie
Gewogenheit hatten. Ich bereue keinen Tag, feiner war mir
zuwider. Das Bergnügen, mit Ihnen umzugehen, ift das einzig
verdienfllicde Opfer, das ich darbringe, indem ich die Welt ver»
laffe. Haben Sie die Güte, fi) meiner in Ihrem Gebete zu
erinnern. Ich kann die Gnade und unendliche Barmherzigkeit
der Borfehung in Anbetracht meiner nicht genug mit Dank an-
erfennen; im Bertrauen auf fie erwarte ich mit ganzer Refig-
nation meine leute Stunde. Sie werden meine unlelerliche
Schrift nicht mehr Iefen können. Sie bemeift meinen SuRum.
ojeph.
Auch die nächſtfolgenden Berichte handeln von Unglück
und viel bald häßlichen, bald mehr komiſchen Kämpfen in
den Familien alter Fürſtengeſchlechter. Zunächſt wird die
Abdankung Victor Amadeus’ von dem piemonteſiſchen Throne
eingehend behandelt und der unfelige Zwift, der zwifchen
ihm und feinem Sohne entbrannte, als er fid) wieder in
den Befig der Krone verfegen wollte. „Die letzten Heffen-
Homburg” feffelt in noch höherm Grade, weil jeder Freund
der Gefchichte für diefes Dynaftengefchlecht, aus dem in
den legten zwei Jahrhunderten eine Reihe von Helden
und Feldherren bervorging, Intereſſe haben muß, das
denn der Berfaffer durch manche pilante und neue Ein-
zelheiten wefentlich zu fteigern weiß. „Eine unglüdliche
Ehe aus Mangel an Delicateſſe“ behandelt eingehend das
wibderlich triviale und doc gefpreizte Benehmen der Prin-
zeſſin Charlotte in ihrer Ehe mit Karl Ludwig von der
Pfalz, die 1650 abgefchloffen war. „Der legte Eſte“,
Hercules Rainald, ift auch wieder eine mehr tragifomifche
Figur, obgleich er oft unerwartet glüdliche Anläufe nahın.
So berichtet der Verfaffer unter anderm:
Als Hercules die Regierung antrat, fand er, daß die Ge-
neralpächter dur alle nur möglichen Bedrüdungen das Volt
und den Staat arm gemadt batten. Hercules, von feinen
Berleumdern wol mit den aflatiihen Despoten verglichen, ver»
hielt fi) ganz anders als diefe. Er nöthigte die Generalpächter
durch einen gerichtlichen Ausſpruch, das von ihnen unrechtmäßig
Erworbene zurüdzuzahlen, und behielt nur was ihm zulam;
er ließ den Gemeinden, was ihnen widerrechtlich genommen
war, wiedererftatten und felbft die Summen, welche man feit-
ber Berflorbenen gegen das Geſetz entriffen hatte, ihren Erben
ohne den mindeften Abzug zuftellen.
„Eine falſche Königin von England‘ macht uns mit
einer Abenteurerin befannt, welche als flüchtige Königin
Anna von England, Heinrich's VII. Gemahlin, an ver-
fchiedenen Heinen deutfchen Höfen Ehre und Geld zu er-
preffen wußte, bis fie ald Gefangene zu Grunde ging.
Bielleicht hat man ihr aud) die Freiheit wiedergefchentt, als
Herzog Johann Friebrih von Gotha 1567 das Land
räumen mußte. „Eine Feindin der Etikette führt uns
an den fpanifchen Hof zur Zeit Philipp's V. (1701—46),
der an einer ber feltfamften Berrüdtheiten litt:
Ohne eigentlih Trank zu fein, wollte er bisweilen fechs
Monate hintereinander weder das Bett verlajjen, noch den Bart
ſcheren, noch die Nägel abfchneiden, nod die Wäſche wech⸗
feln, und wenn ihm endlich das Hemd felbft vom Leibe faulte,
fo zog er nicht eher ein veines an, ale bis die Königin es zu⸗
vor getragen, aus Furcht, er möchte durch die reine Wäſche
vergiftet werden u. |. w.
An den Hof diefes Potentaten kam als Schwieger-
tochter im Jahre 1722 die dreizehnjährige Tochter Phi-
Iipp’8 von Orleand, des Hegenten von Frankreich, direct
aus dem Klofter, und bald nach der Thronentfagung Phi⸗
lipp's V. fonveräne Königin. Ihr leichtes franzöfifches
Blut empörte fi gegen den Zwang ber Etikette ſehr bald,
die denn auch abfonderlich genug war. Wollte der Ge⸗
mahl fie nachts beſuchen, jo mußte es in folgendem fo-
miſchen Aufzuge gefchehen:
Die Schuhe mußten eingetreten fein, der Mantel Über der
Schulter hängen, eine Art von Schild hing an einem Arme,
am andern an der Schnur ein filbernes Nadıtgefhirr. In der
einen Hand hielt der König einen großen ſpaniſchen Degen, in
der andern Hand eine Vlendlaterne, und jo mußte er — gleichſam
beimlih — ſich zur Königin jchleichen!
Bon den vielen Thorheiten der jungen Königin wollen
wir fehweigen, ebenfo von dem „Geheimniß der Kurfürftin‘
von Sachſen, das an Abjcheulichkeit nicht wol zu über-
treffen ift und um fo fchlimmer erfcheint, ale die hohe
Dame ſich wahrfcheinlich nur felbft verleumdet und ihr
Berbrechen erlogen hatte, um an Ehre und Reichthum zu
wachen.
Wir verzichten auf Skizzirung der in den folgenden
zwei Bänden enthaltenen Geſchichten, überzeugt, dem Lefer
db. BL. duch das Gefagte ſchon zur Genüge gezeigt zu
+ .. 5 *3 ..
ne Te
584 Religionsgefchichte.
haben, wie viel des Lehrreihen und Pilanten er in dies
fem Werke finden wird, das der Berfafler als heitere
Nebenarbeit gefchaffen Hat und das er fortzufegen fid)
vielleicht beftimmen läßt.
2. Zwei mecklenburgiſche Herzoge oder Pflicht und Leidenſchaft.
Hiflorifcher Roman ans dem 18. Jahrhundert von I. Will⸗
born. Zwei Bände Malin, Wendt. 1869. 8. 2 Thlr.
Wir bedauern, in der medlenburgifchen Geſchichte nicht
zur Genüge heimifch zu fein, um mit Sicherheit die Grenze
zwifchen Wahrheit und Dichtung in obigem Werke erken⸗
nen und bezeichnen zu können. Aber wir ftehen nicht an,
das Heine Werk den Beten an die Seite zu ftellen, was
die bändereihe Mühlbach raftlos liefert, in ruchtbarkeit
der Webtiffin von Maubuiſſon Luiſe Hollandine nicht un⸗
ähnlich, die nicht anders zu ſchwören pflegte, als „bei
ihrem Leibe”, der vierzehn außereheliche Kinder getragen
hatte.
Beſonders am Schluß des zweiten Bandes, der die
feindlich getrennten Brüder wieder vereinigt, entwickelt die
Verfaſſerin oft eine tragiſche Kraft, die für etwaige fer-
nere Urbeiten zu ben fchönften Hoffnungen bereditigt. _
3. Eines Könige Dank. Hiftoriiher Roman aus der Zeit des
legten fpantfhen Kriege aus dem Haufe Bourbon. Bon
E. Heufinger. Drei Bünde. Leipzig, Rötſchke. 1869.
8 3 Thlr.
Ueber dieſen fogenannten hiſtoriſchen Roman Tünnen
wir nit in derſelben anerfennenden Weife uns äußern,
denn je gemauer uns die betreffenden Kapitel aus der
Geſchichte unfers Jahrhunderts befannt find, um jo we-
niger find wir mit der romanhaften Berquidung einvers
ftanden, welche Heufinger uns bietet. Nur felten erhebt
er fi) zur feflelnden Darftelung eigentlicher Handlung,
aber Erpofitionen folgen eimander nnausgefegt und bie
zum Schluß, ber teineswegs der Spannung gerecht wird,
in die der Leſer von vornherein verfegt werden follte und
in die er fich bei ſchon vorhergewonnener Kenntniß diejer
äußerft unerquidlichen Gefchichte vielleicht felbft verſetzt
hatte. Einige male fcheint es als follten perfönlihe Er.
lebniffe erzählt werden, aber bald wieder erkennen mir,
daß wir es nur mit Dingen zu thun haben, die — „einer
jelbft gemacht Hat“. Zu erzählen verfteht ber Verfaſſer
nit, in „Eines Könige Dank” Hat er wenigftens feinen
Beweis davon gegeben.
4. Gebilde und Geftalten. Bon A. Mels. Drei Bänke,
Leipzig, ®runow. 1869. 8. 4 Thlr.
Zu unbebingtem Xobe find wir wieder verpflichtet bei
Berichterftattung über die Gabe von A. Mel, die er auf
die frühern Sammlungen: „Erlebte8 und Erdachtes“ (wei
Bände) und „Herzenskämpfe“ (drei Bände), nunmehr als
dritte Sammlung feiner ganzen beletriftifchen Vergangen⸗
beit folgen läßt. Bier ift überall feine Beobachtung und
feine Darftelung, Vermeidung alles Mitfchleppens von
Ballaft, der nur Bände macht, Charakter und Eleganz
im einzelnen wie im ganzen, ſodaß wir nicht zweifeln,
dag Kritif und Publikum diefer legten Gabe bes hoffent-
ih auch fernerhin fleißigen Autors dieſelbe Gunft zu
wenden wird wie feinen frühern Werfen.
Der erfte Band bringt uns die Erzählung „Clelia“,
„Im Pfarrhauſe zu Köftrig” und „Beim Zeichner bei
deutfchen Haufes“, über die durchweg das obige Urtheil gilt,
auch da, wo rein Hiftorifches berichtet wird. Der zweite
Band führt uns die anfchaulichjten Skizzen, die bedeu
tendften „Geſtalten aus dem zweiten Saiferreiche” vor:
Canrobert, Mac Mahon, Montauban, Rouber, Berfigup,
I. Favre, Berryer, Thiers, Otrardin, Haufmann, Moc-
quard, Nigra und — Ludwig XVIL.?, alles Charafterbil.
der, fharf und pifant nach dem Leben gezeichnet und aud
unfern deutſchen Diplomaten und Politifern zur Lektüre
getroft zu empfehlen. Der dritte Band plamdert wieder
und erzählt in liebenswürdigſter Weife tiber ſpaniſches
Schmugglerleben und bringt Scenen aus der afrilaniſchen
Fremdenlegion, die bis auf den legten Strid, mie es
fcheinen muß, dem Leben entnommen find.
Hermann Schauenburg,
— — — — — —
Keligionsgeſchichte.
Die Religion, ihr Weſen und ihre Geſchichte, auf Grund des
gegenwärtigen Standes der philoſophiſchen und ber hiſtori⸗
ſchen Wiſfſenſchaft dargeftellt von Otto Pfleiderer. Leipzig,
Fues. 1869. ©r. 8 4 Thlr.
Diefes Erzeugniß eines jüngern, vielverfprechenden
Gelehrten, hervorgegangen aus alademifhen Vorlejungen
in Tübingen, zerfällt, wie fchon fein Titel befagt, in
einen pbilofophifchen und in einen hiftorifchen Theil, deren
jeder einen eigenen Band von A10 und von 495 Geiten
ausmacht.
Der erfte Band theilt fi in einen erften Untertheil:
„Pſychologie der Religionsphilofophie oder Darftellung des
Weſens der Religion als eines menfchlichen Verhaltens“,
und in einen zweiten: „Metaphyſik der Religionsphilofophie
ober Darftellung des Weſens der Religion als eines gött-
ih» menschlichen Berhältnifjes". Die Piychologie der Re⸗
Yigionsphilofophie befpricht nad) einer Kritik des philofo-
pbifchen Religionsbegriffs die Frömmigkeit, ihre Genefis
und Bethätigung im Gemüth, ihre Beziehungen zu den
Seiftesfunctionen des Erkennens und Wollens, d. h. zu
dem Denken über die Religion und zur religibs⸗ſittlichen
Praris, ihre Ausbreitung zu einer Gemeinfchaft, bei der
jelbft wieder ihre Entftehung und ihre Selbftbarftelung
im Cultus unterfchieden wird. Die Metaphufil der Re
Iigionsphilofophie enthält die drei Abfchnitte: „Gott mb
Welt“; „Der Menſch“; „Die göttliche Offenbarung”. Der
Abſchnitt „Gott und Welt” behandelt die Beweiſe für
Gottes Dafein und bie verfchiedenen Lehren über das Ver⸗
hältnig Gottes zur Welt. Der Abfchnitt vom Menſchen
erörtert den Anfang und das Endziel der Menſchheit
(Unfterblichfeit), der von der Offenbarung außer dem
Dffenbarungsbegriff auch die dogmatifchen Begriffe: Wun⸗
der, Weiflagung, Inſpiration. Fügen wir zu biefer An
gabe, in der ſchon die beiden Iegten Begriffe für bie Ke
figionsphilofophie überflüffig erfcheinen önnten, hinzu, daß
diefe Metaphyſik den Raum von S. 159— 410 einnimmt,
Religionsgeſchichte.
und daß Lehren wie Unſterblichkeit und Wunder nicht
allgemein religionsgeſchichtlich, ſondern nur philoſophiſch⸗
theologiſch behandelt ſind, ſo dürfte es nicht zu gewagt
ſein, zu behaupten, daß der dogmatiſche und apologetiſche
Stoff, zumal auch durch die ausgedehnte Erörterung der
göttlichen Eigenſchaften, über Verhältniß angewachfen iſt.
Das religionsphiloſophiſche Credo des Verfaſſers, mit
dem er ſich auf der Höhe der Zeit zu ſtehen ausmeift,
ift ausgefprochen in der Borrede ©. xıu:
Es iſt feine noch fo abgelegene, noch fo wunderlide Er-
fheinung der vordhriftlichen Aerigionsgejchichte, die nicht im der
Geſchichte unfers eigenen religidjen Lebens ihre Analogien fände
in frommen und unfrommen Empfinduugen und Borftellungen,
und umgefehrt ift feine Tiefe und Höhe in unferm chriftlichen
Bewußtfein, die nicht ihre Borflufen und Vorbilder, wenn and
nur als abgeblaßten oder grobgezeichneten Umriß, in der vor»
chriſtlichen Religionsgefchichte hätte.
Sein philofophifches Credo ift der confequent durd)-
geführte Theismus der nach⸗Hegel'ſchen Philofophen, zu
dem er fi), in der Hand die Beweiſe für das Dafein des
„perfönlichen” Gottes, durch cine mit viel Schärfe und
Klarheit durchgeführte Kritif der anti» und pfendo «-theifti-
fhen Syſteme vom indifchen Pantheismus an bis auf bie
nenefte Zeit den Weg gebahnt hat, um auf demfelben fein
ganzes Syſtem der theologifchen Anthropologie und So—
teriologie zu erbauen. Ohne mit dem Berfafler über diefe
feine Weberzeugung rechten zu wollen, möchten wir nur
auf das ziemlich inbividwaliftifche Gepräge feines Theis⸗
mus aufmerffam machen. Bei der perfünlichen Fortdauer,
deren Solidarität mit dem Glauben an den perfönlichen
Gott verfochten wird, ift völlig von allen Intereſſen der
Gemeinde, die doch von den legten Dingen ihre und bes
Reiches Gottes Vollendung erwartet, abgefehen, und bei
der Berurtheilung der religionslofen Sittlichkeit Kant's
und Fichte's ift dem Verſuch Hegel's, der Sittlichkeit
eine religiöfe Grundlage, nicht zwar an einem überwelt⸗
fihen ®ott, aber doch an der auf menfchlichem Boden
gegenwärtigen Gottesordnung der objectiven Mächte ber
Wirklichkeit zu fchaffen, lediglich feine Beachtung gejchentt;
es ift unbejehen der punftuelle abſolute Wille Gottes als
Grund aller fittlichen Verpflichtung feftgefegt. Dagegen
ift das bogmatifche Credo des Verfaſſers frei von theo»
fogifchen Borurtheilen; er verhält fih zu Schrift und
Kicchenlehre Fritiich und weiß den ethifchen Menfchheits-
proceß, der fi der Vorſtellung als ein äußerliches Ge-
ſchehen darſtellt und in beftimmte zeitliche Acte auseinander-
gezogen wird, in der Simtltaneität und Iunerlichfeit fei-
ner Momente aufzufaſſen.
Die kritiſche Analyfe der Standpunkte und Meinungen
ift eine Hauptftärke des Buchs. Die Darftellung der verfchie-
denen Yaflungen des Religiond-, Gotted- und Offenbarungs«
begriffs, die in der Gefchichte zu Tage getreten find, ift
anſchaulich und läßt nichts Wefentliches außer Acht; das
Urtheil ift eindringend und durch Präcifion und Beſtimmt⸗
beit überzeugend. Dan vergleiche hierzu die Stelle S. 377fg.,
die wir bier ausheben wollen:
Wir haben alfo bei Hegel Leine Offenbarung Gottes an
den von ihm perſönlich unterjhiedenen Menſchen, fondern nur
ein fi felbft Offenbarwerben Gottes unter der Form bes menjch-
lichen Selbſtbewußtſeins. Bei Schleiermacher hatten wir ums
gelehrt nur ein Sichhoffenbarwerden der menſchlichen Natur,
das nur auf eine göttliche Urfächlichfeit bezogen, alfo unter der
1870, 3.
585
Form eines göttlichen Acte® aufgefaßt wird. Bei Hegel haben
wir nur ein Thum Gottes in Beziehung auf fidh felbft, nicht in
Beziehung auf den Menſchen als ein wirfliches Anderes gegen
Gott, das daun auch feinerfeits wieder ſich zu Gott in ein ent-
ſprechendes Berhältnig fegen könnte; wir haben mit andern Wor⸗
ten blos Offenbarung, aber nicht Religion; denn Religion ift
eben dies der Offen rung entiprehende Berbalten des Men-
Ihen zu Gott. Bei Schleiermacher umgekehrt haben wir blos
Religion, aber nicht Offenbarung, blos ein piychologijches Ber-
balten des Menſchen ohne enifprechendes metaphyſiſches Ber-
bältniß Gottes zu ihm. Beiden alfo fehlt eins der nothwen⸗
digen Glieder des Wechjelverhältuifies, das wir in der Religion
nothwendig fefthalten mäffen: dort, bei Hegel, fehlt das end⸗
liche Subject, bier, bei Schleiermader, das unendliche Object
der Religion, oder: dort fehlt das Object, bier das Subject
der Offenbarung.
Auszeichnen möchten wir ferner das Reſultat der Un-
terfuhungen über die Frage von Glauben und Wiflen,
wie e8 ©. 106 fg. gezogen ift, wo der Proceß, den bie
Religion in der Dogmenbildbung durchzumachen Hat, gut
verfinnlicht iſt; ſodann die Rettung der Urfprünglichkeit
religiöfer Neufchöpfungen gegenüber der von Hegel an-
genommenen geradlinigen Yortentwidelung ©. 139 fg., und
nicht weniger die glüdliche Verfechtung einer anfangslofen
Schöpfung S.271fg. Ausftellen möchten wir bei der Revue,
welche wiederholt Philofophen und Theologen pafjiren müſ⸗
jen, daß bei dem Religionsbegriff nicht ſchon mit Wolf,
dem Bertreter der einfeitig theoretifchen Anfchauung an-
gelangen, bei der Dffenbarungslehre Leſſing's „Erziehung
des Meenfchengefchlechts" ganz übergangen, Fichte mit ſei—
nen beflimmten Hinweifungen anf die Wurzeln des reli«
giöfen Gefühlslebens, z. B. im Anfang der „Rüderinne-
rungen“, nicht mehr, als es gefchehen ift, als ein Uebergang
zu Schleiermacher betrachtet und dieſer felbfl mehrmals
verfannt worden if. Der Berfaffer achtet nämlich die
löbliche Behutjamkeit des geiftuollen Empirikers und Piycho-
Iogen nicht, wenn er Schleiermacher ©. 75 die Leugnung
des Seligkeitsgefühls als eines in der Erfahrung gegebenen
Acts verargt, wenn er ihn ©. 99 fg. darob anläft, daß
er die Erlöfungsidee nicht in der Religion als folder fin-
den wolle, wo doch das Princip diefer Ihre, die voll
ſtündige Entbindung des höhern Selbſtbewußtſeins, erſt
in der ethiſchen Vertiefung des Paulinismus mit der
Emancipation des nveip.a über die sapE vor das Be⸗
wußtfein treten kann; wenn er endlih ©. 132 fg. gegen-
über feinem vorfichtigen Ublehnen der ſchlechthinigen Boll-
kommenheit einer einzelnen Religion Hegel mit feiner „ab.
foluten Religion‘, richtig verftanden mit feinem abfoluten
Syftem, recht gibt.
Unferm bisherigen Referat zufolge ift e8 eine einheit-
liche, gründlich methodifche Arbeit, die und Pfleiderer über
das Weſen der Religion geliefert bat. Aber es bewährt
fi in feinem Erſtlingsverſuch recht, wie ftarf zwar die
Kraft der Abftraction in der Jugend ift, wie wenig fie
aber noch das Bedürfniß concreter Beobachtung fühlt.
Es ift nit von ohngefähr, daß Hume feine unfterblichen
„Unterfuchungen” über ben menſchlichen Berftand und Strauß
fein „Leben Jeſu“, beides Denkmale einer fyftematifchen
Confequenz, vor dem breißigften Jahre gefchrieben haben,
An diefe Thatſache erinnerte uns das auffallende Ausblei-
ben der empirifhen Forſchung mit ihrer gemüthlichen
Behaglichkeit in dem uns vorliegenden Erzeugniß einer
reifen, wunderbar gewandten Dialefti. Da ift durchweg
74
586
ein Hineilen aufs Princip, ein raftlofes Ringen nad) einer
philofophifhen Conftruction des Thatbeſtandes, ohne daß
der gehörige Raum gegönnt wäre fir die verweilenden
Ruhepunkte der fich mit Liebe in die gefhichtlichen Be-
fände vertiefenden Phantaſie. Dan fage nicht, die Ne«
Tigionsphilofophie fordere nicht empirifches Detail; fie ge
ftattet nur nicht, daß es logiſch ungeordnet aufgenommen
werde, aber fie verlangt anfchauliche Bilder vom religiöfen
Leben unter den begrifflichen Rahmen gebracht. Man leſe
nur einmal in Hegel’8 „Neligionsphilofophie‘‘, die es doch
gewiß nicht am Dedneiren und Conſtruiren fehlen läßt,
Abſchnitte wie die von den Culturformen ober von ber
von Hegel als allgemeines Geiftesphänomen aufgefaßten
Zauberei. Schilderungen wie fie dort gegeben find, con-
cret, Iebendig und unter allgemeine Rubriken untergebradit,
fönnen uns über die ungefähren Anforderungen an die
Religionsphilofophie aufllären. Sol die Religion an
ihrer Duelle ſtudirt werben, fo muß ihr in den ganzen
Compler der von ihr herporgerufenen ober mitveranlaßten
Gemüths⸗ und Dafeinszuftände nachgegangen werden.
Daß eine Arbeit, die fi in diefer Hinficht Teine Har
bewußte Aufgabe ftellt, einen ftarfen Abgang an Mate-
rial ausweifen muß, liegt auf der Hand. Unſer Ber-
fafler redet wol vom religiöfen Gefühl; aber wo zählt
er die religidfen Gefühle, nieberfchlagender und erheben-
der, phyſiſcher und ethifcher Art, Gemüthserregungen und
Gewifjensregungen, wo bie religiöjen Geiftesthätigleiten,
wie Andacht, Sammlung, Entſtehung des frommen Ein«
druds, Verwerthung der Eindrüde in den Willensacten
des Borfates, heiligen Entfchluffes, vor allem bes &e-
lübdes, das ja allein ſchon eine ganze Geſchichte Hat,
anf? Wo bekommen wir ausreichende Auskunft iiber bie
religiöfen Uebungen, nicht blo8 des üußerlichen Menfchen,
fondern auch des innern in der Meditation, Gelbftprüfung,
Tagebuchführung, oder über die verfchiedenen Stadien des
der Menjchheit über die Sünde und ihre Tilgung auf
gegangenen Bewußtfeins, von dem Ekel vor dem phyſiſch
Unreinen des Todes und der gemeinen Enblichleit an bis
zur unendlihen Tiefe wirklicher Selbſt- und Gitnden-
erfenntniß, von der Wegichaffung des äußern Greuels
und Makels in den Weihungen uud Sithnen an bis zur
innern Belehrung in der Buße und im Glauben hinauf?
Wohl wird bier und da ein Anfag zur Detailzeichnung
genommen, worunter wir die Zuſammenſtellung des
Drientalen, Griehen und Chriften bezüglich der front.
men Geberbe und die Darftellung des Cultus als Her-
bes der fittlichen Gemeinschaft rechnen. Aber warum
beim Beten e8 nicht erwarten Können, bis das Princip
richtig geftellt it (S.141)? Wäre ja doch fo manches aus ber
Geſchichte und Pſychologie des Betens beizubringen ge⸗
weſen! Warum bei der Solidarität des Cultus und der
Cultur nicht ein wenig länger verweilen? Das hätte auf
den Zuſammenhang zwilchen Gottesverehrung und con-
creter Lebensweiſe, auf die verfchiedenen Stellungen, bie
der Gottesdienft und das Werktagsdafein in den verfchie-
denen Religionsftufen und Formen einer und derjelben
Religion, wie der chriftlichen, gegeneinander annehmen,
geführt. Ueberhaupt find die realen Zuftände fehr ver»
kürzt. So hätte der freundlichen ober feindlichen Bezie⸗
bung, die ſich die Religionen zur bildenden Kunft gegeben
genommen werben.
Religionsgefchichte.
haben, ein befonderer Abjchnitt gebührt; fo hätte die reli—
giöfe Gemeinfchaft bis in die Formen ihrer äußern Orb-
nung: Theofratie, Priefterfiaat, Hierarchie, Cäfareopapte,
Staatskirche, und bis in die vielfach conftanten Schickſale
ihrer Geſellſchafts- und Xehrentwidelung, wie fie in Re—⸗
ligionsurfunden und Symbolen, Kegereien und Schiemen
zu Tage liegen, hinein verfolgt werden follen.
Die gerügten Mängel fallen im zweiten Bande, ber
„Geſchichte der Religionen‘, natürlicherweife weg, weil bier
der Stoff von felbft dem Geſchichtſchreiber die Hand führt.
Nach einer gründlichen, gedrängten Einleitung über die
Geneſis der Religionen und bie verfchiedenen Theorien
hierüber, bei der wir dem Verfaſſer befonders danlen,
daß er dem fonft manchmal überfehenen Hume gerecht
geworben tft, und etwa nur den bizarren Dupuis „De l'ori-
gine de tous les cultes“, vermiffen möchten, wirb ın die
gejchichtliche Darftellung eingetreten. Hiftorifher Sinn,
feine Combination, deutliche und gewandte Zeichnung,
Meifterfchaft über das pofitive Dlaterial, völliges Zuhauſe⸗
fein in der vergleichenden Religionskunde zeichnen dieſen
Theil des Werks vortheilfaft aus. Die gelungenfte Partie
möchte neben der ganz befriedigenden, auf hiſtoriſch⸗kriti⸗
fher Baſis unternommenen Darftellung des Judenthums
und, joweit e8 aufgenommen ift, des Chriſtenthums bie
Schilderung der griedifchen Religion fein, deren Ehren⸗
retter der DBerfaffer insbefondere dadurch geworden iſt,
daß er bie reinern veligiöfen Vorſtellungen, wie fie bei
Pindar und den Zragifern im ©egenfat gegen den Ho⸗
merifchen Götterglauben zu finden find, gewiffenhaft anf-
gefucht Hat. Dagegen dürfte die Darftellung des Islam,
die überhaupt etwas Zerhadtes hat, was allgemeine maß⸗
gebende Geſichtspunkte betrifft, am meiften vermifien laflen.
Es fei bei diefer Gelegenheit an die eindringende Charak⸗
teriftil, die 8. T. Pland in feinen „Weltaltern” vom
Islam gibt, erinnert. Ihm ift derfelbe die Zurüdführung
des chriftlichen und jüdifchen ©ottesbemußtfeins auf dem
bloßen Geiſt des Drients, oder ber unter ben geſchicht⸗
lichen Vorausſetzungen des Judenthums und bed morgen-
ländifhen ‚Chriftenthums fi als Selbftawel zum Ber
wußtfein gefommene, einfache Geift des Orients. Pflet-
derer hat ibm, wenn er ihn ©. 369 „einen Segen filr
Millionen Menſchen auf Sahrhunderte hinaus” nennt, fo-
zufagen fein localed Recht gelaflen, nicht aber daran ge=
dacht, ihm ebenfo auch fein meltgefchichtlichee Recht zu
wahren. &8 hängt dies damit zufammen, daß er das
Chriſtenthum nicht im ganzen’ Fluſſe feiner Entwidelung
verfolgt bat, fondern mit einiger Willtür bei Auguftin
halt macht. Es muß aber der Islam als Gegenftrd-
mung gegen die morgenländifche, auch ins Abendland
berüberreichende Strömung der Kirche begriffen unb feine
Ueberwindung wit der Verjelbftändigung und Vertiefung
der abendländifchen Entwidelung, wie fie mit. ber Refor:
mation auf ihren Höhepunkt gelommen ift, zufammen-
Doch die Rubricirung der Religionen
ift überhaupt die ſchwache Seite diefes zweiten Bandes.
Im guten Zutrauen zu den eigenen Maßſtäben, dem
idealen Religionsfactor der Freiheit und Abhängigkeit und
bein realen ber Beziehung und Stimmung gegen die Natur,
bat der Berfafler offenbar die Vorarbeiten, unter denen
wir namentlih das obige Pland’ihde Wert und den
Religionsgefchichte.
gebrängten Auffag von H. Paret über die Eintheilung der
Religionen in Ullmann’s „Studien“ von 1855 empfehlen
möchten, nicht gehörig berüdfichtigt.. Er macht die fehon
etwas üußerlihe und mit den Rubriken: natürlih und
ethiſch, zu vertaufchende Unterfcheidung: Heidenthum und
monotheiftifhe Religionen. Das Heidenthum wird in bie
drei Abjchnitte: „Religionen der unmittelbaren Natitrlic)-
feit”, „Religionen der cultivirten Natürlichkeit”, „Reli
gionen des Mebernatürlichen”, getheilt. 1) Der unmittel-
baren Natürlichkeit wird die Naturreligion a) unter dem
überwiegenden Typus der Abhängigkeit: Semiten und
Aegypter; b) unter dem überwiegenden Typus der Frei⸗
heit: Arier am Indus und in Deutfchland, und im An⸗
bang Fetiſchismus und Schamanismus, zugewiejen. 2) Der
cultivirten Natürlichkeit wird die Eulturreligion a) unter
dem - überroiegenden Typus der Freiheit: Griechen und
Römer; b) unter dem überwiegenden Typus der Ab-
hängigteit: Chinejen, zugetheilt. 3) Unter der Religion bes
Uebernatürlichen wird befaßt: a) Brahmanismus und
Buddhismus als Erhebung über die Naturabhängigkeit
durch negativ-fittliche Selbfterlöfung; b) Parfismus als
Erhebung über die natürliche Freiheit durch pofitiv-fittliche
Beziehung auf das göttlich Gute.
Auf den erften Anblid dürfte in diejer Ueberficht das
Berweifen des Fetiſchismus und Buddhismus in einen
Anhang, das Hinausdrängen der Aegypter mit ihrer im«
menfen, im Dienft der Religion verwendeten Arbeits.
fraft, die freilich der Verfaſſer auch mit feinem Wort
berührt, aus der Reihe der Eulturreligionen und Zurüd«
weifen in die Ordnung der Naturreligionen, fowie die
Zurüdftelung der Griehen und Römer und verhältniß-
mäßig ftarfe Bevorzugung ber Chinefen auffallen. Auch
möchte man geneigt fein, in der Bezeihnung: Religionen
des Uebernatürlichen, und in dem Vornhinftellen der indi-
ſchen Religionen eine theologifche Vorliebe für die an-
fcheinende Transſcendenz dieſer Phafen der Geiftesentwide-
lung zu erbliden. Jedenfalls möchten wir theil8 die ziem⸗
lich apofryphe Erklärung der Egoitätsreligion der Zau-
berei aus einem gejellfchaftlichen Zerjegungsproceß, ſowie
bie durchgängige Zufammenwürfelung von Orient und
Decident rügen. Das erfte in der Gefchichte ift der
Atomismus, und erft da8 zweite die Gemeinſchafts⸗
bildung, nicht umgekehrt, wie es ber Verfaſſer, um
Fetiſchdienſt und Schamanenthum zu erflären, wenig-
ftens auf Einem Punkte annimmt. Warum nicht mit
Hegel die Religion mit diefen beiden, dem Glauben an
Zaubermittel und an Zauberer, anfangen lafien? Was
ift denn am Kind, alfo doch wol auch an der Menfchheit
als Kind, natürlicher als das Geltendmachenwollen des
eigenen Begehrens bei völliger Unkenntniß aller Natur-
fchranten, was das Bezeichnende bei den Religionen ber
Zauberei ift? Wenn fodann die Pland’ihe Anſchauung
von China als dem ulturfuften des urfprünglich ato-
miſtiſch vorhandenen Zauberwefens, wofür übrigens unter
anderm die Berantwortlichkeit ber Regierung für alle
Naturcalamitäten ſprechen würbe, zu kühn fein follte, fo
diirfte wenigftens der Ort, an den China zu ftellen ift,
von da weg nicht weit entfernt liegen. Die Auseinander-
haltung des Orients und Occidents — bort ber Religionen
der Subſtanz, der felbftlofen Hingebung an die höhere
— — — —
587
göttliche Naturmacht, der Gottheiten mit dem vorherr⸗
ſchend uraniſchen Typus; hier der Religionen der Sub⸗
jectivität, des Bewußtſeins freier Selbſtheit, der Gott⸗
beiten mit dem vorherrſchend telluriſchen Typus — drängt
ſich ſo feſt den Sinnen auf, daß es nur befremden
muß, warum bis daher nicht mehr Ernſt damit gemacht
wurde. Es mag wol der Umſtand daran ſchuld ſein,
daß man immer auf eine ſucceſſive Reihenfolge reflectirt
bat, ſtatt ſachentſprechend Orient und Occident zu coordi⸗
niren, wie z. B. auch H. Paret kein Bedenken trägt, Bud⸗
dhismus und altgermaniſche Religion als negative Vor⸗
bereitungen auf die ethiſche Religion einander gleichzuſtellen.
Richtig liegt deshalb auch dem Plane des Verfaſſers
die Gleichſchätzung des orientaliſchen und occidentaliſchen
Heidenthums, an der uns die Vorliebe für die griechiſche
Welt nicht verhindern darf, zu Grunde. Aber innerhalb
ihrer ſelbſt haben die beiden parallelen Reihen wieder je
ihre beſondere Entwickelung. Auf ſeiten des Occidents iſt
feine Stufenfolge. Der ſkandinaviſche Norden mit dem
Kampf der freien Selbftheit gegen die ihr anhaftende na-
türliche Endlichfeit in den grotesfen Mühen und Genüffen
des Reckenthums; das Germanenthum in feiner heroifchen
Bertrautheit mit der Natur und feinem Eingeftändniß ber
Endlichkeit feiner Götterwelt in der vom Verfaſſer S.101 fg.
weit nicht nad) Gebühr gemwürbdigten Götterbämmerung;
Griechenland mit feiner Weberwindung ber Natürlichfeit
durch die geiftige Yorm; Rom mit dem fi als Selbft-
zwed fegenden endlichen Inhalt feines Wollens — fie alle
ftehen mit gleichem Gehalt und Werth nebeneinander. Aber
in der orientalifhen Reihe iſt ganz unzweidentig eine
Stufenleiter vorhanden. Sie beginnt mit dem Hinduis-
mus, der in feiner erften Erfcheinung, dem frifchen und
vom Verfaſſer friſch gefchilderten Naturpantheismus der
Bedas, allerdings im Intereffe des Indogermanismus viel-
fach an die altdeutſche Religion erinnert, bereit3 aber in
dem ausgebildeten Gebets⸗ und Opferdienft, der den wohl- .
thätigen Naturmächten gewidmet wird, das fpecififche Ge⸗
präge des Drients bat und darum vom Brahmanismus,
fowie diefer vom Buddhismus, abgelöft werben kann. Der
Fortſchritt über Indien hinaus fchließt fi nicht an bie
beiden lettern als folhe an, fondern an das Refiduum
der Bolfsreligion, das von ber Priefter- und Mönchs⸗
religion ber Brahmanen und Buddhas nicht ganz weg-
ebracht werden kann und in einem finnlich- phantaftifchen
aumel bes Cultus und der Lebensweiſe befteht. Die
ſyro⸗phöniziſche Religion, der demnach eine viel höhere
Stelle gebührt, al8 ihr in unferm Buche zugetheilt
wird, fchreitet dazu fort, da8 Moment der Endlichkeit in
dem vergötterten Naturleben zu firtren, den Gott fterben
zu laffen, mit der fchredlichen Difjonanz des Todes und
der Trauer zu fließen, nm in der ägyptiſchen Verewi⸗
gung des Natnrlebens, beziehungsweife in einem wirk-
lichen Culturleben, theoretiich, fowie in der Beſeitigung
des Endlichen und Böſen in ber perfifchen Lichtreligion
praftifch aufgehoben zu werben.
Mag es an diefen allgemeinen Grundlinien genligen,
tHeild um durch eine ſachgemäßere Zufammenftellung der
Religionen den Verfaſſer zu berichtigen, teils aber auch, um
dadurch dem Publikum zu eigener Orientirung in feiner ans
fprechenden, gründlichen Detaildarftellung Luft zu machen.
74 *
}
588 Neue Romane.
Vene Romane.
1. Kaifer Iofeph und fein Laudetnecht. Hiſtoriſcher Roman
von Suife Mühlbach. Cafe Abtheilung. Bier Bände,
Leipzig, Dürr’fhe Buchhandlung. 1870. 8. 5 Thlr.
2. Die Frau des Nebellen. Roman von I. D. H. Temme.
Zmei Bände. Leipzig, Dürrfhe Buchhandlung. 1870. 8.
2 Tolr.
3. Schloß Hrawodar. Roman aus den Jahren 1842 —50,
von R. Edmund Hahn. Drei Bände. Berlin, v. Deder.
1870. 8. 3 The.
4. Fried Eigenreich oder die Schule des Lebens. Roman von
arl von Kefjel. Zwei Bände. Leipzig, Dürrfhe
Buchhandlung. 1870. 8. 2 Thlr. 7, Nor.
5. Das Rind aus dem Chräergang. Roman in zwei Bänden
von Adolfine Boldhaufen. Stuttgart, Vogler und
Beinhauer. 1870. Gr. 8. 2 Thlr.
6. Blühendes Leben. Roman in zwei Büchern von Auguft
Corrodi. Bern, Haller. 1870. Br. 8. 1 Thlr. 10 Ngr.
7. Ein Thron und kein Geld. Hiftorifhe Erzählung von
Fa gouue. Zwei Bünde. Leipzig, Matthes. 1869.
8 2 Zhle.
8. Loreley. Roman von Egon Fels. Bier Bände. Jena,
Coftenoble. 1870. 8. 5 Thlr. 15 Ngr.
Der Held des Romans „Raifer Joſeph und fein Lands-
Enecht, von Luiſe Mühlbach“ (Mr. 1), ift ein Student,
der durch fein leichtſinniges Leben und beſonders durch
die Entführung der jungen Frau eines alten, reichen
Herrn in allerlei Widerwärtigkeiten geräth und zulegt
Soldat, oder wie die Verfafferin fagt, Landsknecht bei
dem Kaifer Joſeph wird. Hiermit fließt die aus vier
Bänden beftehende erfte Abtheilung ded Romans.
Frau Mühlbach Hat ihre Stoffe großentheils der
Öfterreichifchen Geſchichte und zwar der legten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts entnommen und zu dieſem Behuf
den „Defterreichifchen Plutarch“ von Hormayr mehr als
gut ift ausgebeutet. Sie führt uns in dem vorliegenden
Romane aber auch noch andere Ouellen an, unter anderm
mehrmals ben „Rheiniſchen Antiquarius”. An Geſchichts-
ſtudien zur Bearbeitung ihrer „Hiftoriichen Romane“ hat
es bie Verfaſſerin nicht fehlen laffen, aber das eigentliche
Weſen eines geſchichtlichen Romans Hat fie dennod nicht
erfaßt; denn anftatt die von der Gefchichte gegebenen mar-
tirten Pinfelftriche im Geifte der Hiftorie und im Sinne
des Zeitgeiftes weiter auszuführen, die vorhandenen Lücken
auszufüllen und auf diefe Weife ein abgerundetes Gemälde
zu ſchaffen, derwiſcht und verändert fie die gegebenen
Umriſſe nach ihrem Wohlgefallen, fodaß ein ganz anderes
Bild als das von der Gelchichte vorgezeichnete unter ihren
Händen entfteht, mit andern Worten, fie entftellt häufig
die Hiftorifchen Thatſachen, fie legt ſich die Gefcichte zu
ihrem Zwed zureht. Dazu kommt in dem vorliegenden
Romane noch der Mangel an Sitten und Coftimfunde,
Luife Mühlbad läßt die Studenten des vorigen Jahre
hunderts bei ihren Gelagen und in ihrem ganzen Wefen
und Treiben auftreten wie etwa die Studenten aus den
dreißiger Jahren unſers Jahrhunderts, Luftig, frivol, bur«
ſchilos! Wir wollen der Verfafferin nur im geheimen ver»
trauen, daß eine weibliche Geber die Gelage der fogenann-
ten Mufenföhne des vorigen Jahrhunderts nicht zu zeich
nen im Stande ift, aber wenn fie es märe, aus Echam«
gefühl es nicht dürfte. Außerdem möge die Berfaferin fi
gefagt fein laſſen, daß die Herren Studenten zur Zeit ber
Maria Therefia weder Koller nod Kanonen, weder
Sammtrod noch Cerevismüge trugen, fondern Schuhe und
Strümpfe mit Schnallen, Unausiprehlihe, bie bis an die
Knie reichten, ziemlich lange Röde mit großen Flapp-
tafchen und — Dreimafter! Solche Anahronismen find
ebenfo ftörend wie die incorrecte Pluralbildung „die Me-
dicus“ ftatt „die Medici”. Dan fann ein vortrefilides Er⸗
zahlungstalent befigen und im Stande fein, auf einige
Stunden dadurch recht angenehm zu unterhalten, man
Tann fogar fämmtlihe Commis-voyageurs, die ihre Hifto-
riſchen Kenntniffe aus den Werten der Luife Mühlbach
zu fchöpfen pflegen, zur Begeifterung hinreißen; aber da=
mit ift den höhern Anforderungen wiſſenſchaftlich und be-
fonders äſthetiſch gebildeter Leſer noch fein Genüge ge»
leiſtet. Wir müſſen in dieſer Beziehung auch nod) die
in Romanen überhaupt gänzlich verwerflichen, häufig vor=
kommenden Monologe tadeln, die gleihfals als Lücen-
büßer eingefchoben werden, um Motive Har zu legen, die
aus der Handlung felbft hervorgehen follten.
Wie meiland Karoline Pichler, weiß Luife Mühlbach
leicht über ale Hinderniffe Hinwegzufpringen. Stellt ſich
einmal eine Schwierigkeit ein und hat fi die Berfafferin
mit irgendeiner aufgeführten Perfon in einer Sadgafie
feftgerannt, fo erfcheint auch fofort ein mitleidiger deus
ex machina, der den unglüdlichen Verierten — in die-
ſem Falle dem Helden des Romans mit der entführten
jungen Frau — zur Rettung herbeieilt‘ und fie fogar
mitten in der Stadt Paris ind Freie ſchlüpfen läft. Und
wenn das fündige Paar eine ſolche Rettung noch verdient
hätte! Die Baftille für dafjelbe, aber nicht die Freiheit
und noch weniger die den Ehebruch beſchönigende Feder
der Schriftftellerin!
In dem Roman von I. D. H. Temme: „Die Frau des
Rebellen“ (Nr. 2), ift der Rebell ein zur Zeit der Fremd -
herrſchaft von den Franzoſen verfolgter und, weil er eine
Misheirath getan, von feinem Bater verfloßener junger
Freiherr, ber aber durch die aufopfernde Liebe feiner Frau
und durch einige andere deutfchgefinnte Berfonen in demjelben
Augenblide, ala Kofaden erſcheinen, gerettet wird. Der
nicht unintereffante Stoff, der für eine Novelle von mittel-
mäßigem Umfang ausgereicht haben würde, ift trotz der
befannten kurzen Säge des Verfaſſers, deren jeder ge-
wöhnlich den Raum einer Zeile nicht überfteigt, ja im
vielen Fällen nur ein Wort ausmaht, zu einem Noman
von zwei Heinen Bänden ausgedehnt worden. Temme
ſchreibt wie ein Kind erzählen würde: „Der Wagen fuhr
iangſam. — «Barthel, fteig’ vom Bods, befahl er dann. —
Der finftere Mann ftig vom Bod. — «Werben wir noch
verfolgt, Barthel?» — «Die Reiter find noch Hinter ung.» —
«Barthel, gehe ins Haus.» — «Man fol mir nicht mit
Lichtern entgegentommen. Noch beffer, du allein empfängft
ung am Portal.» — Barthel ging voraus zum Schlog. —
Das Schloß war dunkel“ u. f. w.
Schließlich fei noch benerft, daß die in dem Koman
vorfommenden Franzoſen ebenſo geläufig deutſch reden wie
der Verfaſſer. Nun, eine Unwahrſcheinlichkeit Liegt nicht
darin.
Neue Romane.
Der Roman: „Schloß Hramwodar“, von Edmund
Hahn (Nr. 3), erfchien zuerft im „Berliner Fremden»
und Anzeigeblatt“, und es wurde ihm ein Beifall zutheil,
der weit über die Erwartung des Verfaſſers ging, wie
derfelbe in der Borrede bemerkt. Wir glauben Hahn
gern, denn der Roman gehört zu den beften, bie wir zur
Beurtbeilung feit langer Zeit in Händen gehabt Haben.
Er ift ein Bild aus dem eben der legten Jahrzehnte
und fchließt auch das Jahr 1848 mit in fi; jedoch Hat
ber Derfaffer mit feinem Zakt jene bewegte Zeit nur ober-
flählih berührt, nur im großen Ganzen, fofern fie näm-
lich auf das Gefhid der in dem Romane vorgeführten
Berjönlichkeiten Einfluß ausübt. Er ift ein prächtig ab-
gerundetes, im einzelnen wie im großen fünftlerifch faft
vollendetes Ganzes. Keine Perſon, auch nit die un-
bedeutendſte ift überflüſſig, Teine füllt aus ihrer Rolle. In
einer beutfchen Landftadt beginnend, endet die Erzählung
auch dafelbft, obfchon fie meiftens in Ungarn und Böh-
men, fowie auch in den verjchiedenften Lebenskreiſen jpielt.
Daß auch der öfterreichifche Erzherzog Stephan als ein»
facher Privatmann und Liebhaber mit in die Entwide-
lung der Erzählung eingreift, verleiht diefer noch einen
befondern Reiz. Der Inhalt des Romans ift fo reih
und manntidfaltig, daß wir e8 uns verfagen müſſen,
denfelben in feinem Umriffe den Leſern mitzutheilen. Wir
verweijen fie auf das Buch felbit, das ihnen ficherlich einen
hohen Genuß gewähren wird.
„Bried Eigenreich”, von Karl von Kefjel (Nr. 4),
ift cin recht waderer, gut erfundener, gut durchdachter und
in gebildeter Sprache auch gut ausgeführter Roman. „Die
Scyule des Lebens“ Hat ber Verfaffer ihn genannt. Aller
dings hat der junge Kaufmann Eigenreih, der Held der
Erzählung, den wir mit feinem Jugendfreunde Heimchen
bis zur jelbftändigen LTebensftellung und bis in den Che-
ftand begleiten, mehrere Schidfalsjhläge erlebt, aber
Iediglih durch eigenen Leichtfinn. Der Verfaſſer hätte
aber bedenken follen, dag Eigenreich's jugendliche Ver⸗
irrungen allein ihn noch nicht würdig machen, und den-
felben ald aus den Kämpfen mit dem Schidfal geläutert
hervorgegangenen Mann Hinzuftellen. Unannehmlichkeiten,
die durch eigene Schuld, aus jugendlichen Leichtfinn ent-
fprangen, bat wol jeder gereifte Dann durchgemacht.
Anders wäre e8, wenn Yried auch mit Entbehrungen,
mit Noth, Sorgen und Misgefchid anderer Art zu käm⸗
pfen gehabt hätte. Dies ift aber nicht der Fall, im Gegen-
theil, ex erhält fchon als Lehrling von feinem reichen
Onkel, den er, wie er weiß, auch beerben wird, ein für
feine Verhältniſſe fo rveichliches Gehalt, daß feine Lebens⸗
Schule eine fehr leichte und bequeme war und er die ihm
wiberfahrenen Unannehmlichkeiten und felbft Unbilden fi, |
Lediglich felbft zuzufchreiben hat. Bei einer ſtets gefüll-
ten Börfe und bei der tröftenden Ausficht, dereinft einen
reihen Kaufmann zu beerben, gehört wahrlich nicht viel
Muth dazu, „fi in bie Welt zu wagen und mit Stür-
men fi herumzuſchlagen“!
Eine andere Ausftellung, die wir an dem Romane
zu machen haben, ift der Umftand, daß der Verfaſſer
die Knaben in ebenfo gewählter Sprache reden läßt als
Erwachſene, ja als erwachfene gebildete Menfchen. Auch)
hätte die poetifche Gerechtigkeit es verlangt, daß der durch
589
Fried's Freundfchaft gehobene und durd Fleiß und Spar-
famfeit zu einem reihen Mann gewordene Heimchen das
Out in feiner Heimat gefauft hätte, damit feine jugend«
lichen Träume völlig verwirklicht worden wären.
Die Charakteriftit fämmtlicher Berfonen, befonders aber
die der alten geizigen Tante, des erfindungsreichen Plum⸗
pert und des fingenden Schuflmeifters, ift meifterhaft und
erinnert an Boz.
Wir wenden und zu dem Roman: „Das Kind aus
dem Ebräergang“ von Adolfine Boldhaufen (Nr. 5).
Der „Ebräergang“ ift eine enge, ſchmuzige Gaſſe in Ham⸗
burg, wo das Lafter und das Elend ihren Si auf-
gefchlagen Haben. Hier wurde der Held des Romans,
der uneheliche Sohn eines reichen jungen Kaufmanns und
eined recht armen Mädchens, geboren. Der Vater lebt
zur Seit der Geburt feines Kindes in Merxico, überſendet
aber für feine arme Geliebte an den Haußsfreund feiner
pietiftifch gefärbten Familie, an den hoch in Anfehen
ftehenden Paftor Gravenfund, die Summe von 1700
Marl. Der Geiftliche, ein Hauptvertreter der fogenann-
ten Innern Miffion, aber ein proteftantifcher Tartufe,
entledigt fich des Auftrags nur infofern, als er die Wöch⸗
nerin auffucht und für diefe einer Verwandten bderjelben
einen Yünfthalerfchein einhändigt, indem er fid natürlich
das Anfehen gibt, als fei er felbft der mitleidige Geber;
den großen Reft des Geldes läßt er zur größern Ehre
Gottes und der Kirche — in feine Tafche fteden. Aus
diefem fcheußlichen Betrug entipringt, da die Mutter noch
in derfelben Nacht ftirbt, ohne den nur. von dem Paſtor
gefannten Namen ihres Verführers verrathen zu haben,
die Verwidelung des höchſt fpannenden Romans. Der-
jelbe „beanfprucht nicht auf die äſthetiſche Höhe des Kunft-
werks geftellt zu werden und eine Rolle in der Titeratur-
gefhichte zu fpielen”, wie die Verfaflerin befcheiden meint,
ift jedoch, wie in der Vorrede fehr richtig von einer an-
dern Feder bemerkt wird, „im beiten Sinne des Worts
ein Zendenzroman‘, in welchem der pfäffifchen Heuchelei,
die noch immer ihre Herrfchaft über Yamilien und ganze
fociale Schichten zu behaupten und unter dem Schuge hei⸗
liger Autorität ihre Lafter und Verbrechen der ftrafenden
Gerechtigkeit zu entziehen weiß, unbarmherzig Maske und
Mantel abgeriffen wird. Mit glücklichem Griff bat die
Berfafjerin Charaktere und Situationen dem vollen Men-
fchenleben entnommen, und deshalb macht der Roman aud)
den Eindrud ber volften Wahrheit, zumal bet benjenigen
Leſern, welche die in den Hanfeftädten neben der größten
Hreifinnigkeit fi) breitmahende Muderwirthihaft aus
Erfahrung fennen. Wir empfehlen die Lektüre diefes Ro⸗
mans angelegentlid).
Für den Roman „Blühendes Leben“ von Auguft
Corrodi (Nr. 6) wäre der Titel „Buntes Reben‘ pafjender
gewefen, denn bunt genug geht e8 in demfelben ber. Er
fpielt in der Schweiz und handelt von Jugendluſt und
Liebe, Zreulofigfeit und Liebesfehnfuht, Trennung und
MWiederfehen, Suchen und Finden, ſchönen Mädchen und
Sibyllen, Landbewohnern und Städtern, von Theologie
und Bhilofophie, von Kunft und Natur. Die Scenen
wechſeln wie in einem Saleidoffop die Farben, ohne daß
jedoch der ‚häufig abgerifjene Faden ber Fabel verloren
geht. Der Berfaffer ift ein claffifch und vielfeitig gebils
590 Teuilleton.
deter Mann, der in feiner ganzen Art und Weile des
Erzäßlens — den feinen Humor mit einbegriffen — viel-
fad an Jean Paul erinnert und wie diefer und auch eine
ganze Mufterfarte von Gelehrfamteit und befonders Re-
minifcengen in ben verſchiebenſten Sprachen auskramt.
Abgefehen aber von dieſen legten Ungehörigkeiten, die ja
befanntlih Sean Paul vielen und felbft unferm Schiller
unleidlich machten, und abgejehen ferner von den unzäh-
ligen Provinzialismen, bie in dem Roman vorkommen,
bietet er dennoch viel Schönes und gebildeten Leſern —
aber aud) nur ſolchen — eine angenehme, anregende Lektüre.
Der Roman: „Ein Thron und fein Geld” von Amely
Bölte (Mr. 7), geifelt die Affenkomödie eines deutſchen
Duodezſtaats des vorigen Jahrhunderte. Der Held deſ-
felben ift der verwitwete Markgraf Georg Karl Friedrich
von Baireuth, welcher ſich das ſchwere „metier d’etre
Prince“ durd eine Liebfchaft mit der Erzieherin feiner
Großtochter zu verfüßen fuht. Seine Abſicht, ſich bier
felbe an die linfe Hand trauen zu laſſen, wird durch
feinen Tod vereitelt. Die Schilderung biefes verfhulde-
ten Fürftenpopanz von Gottes Gnaden, feines Hofe und
feiner Heinftädtifchen Reſidenz ift geſchichtlich ziemlich treu
gehalten, nicht minder auch die feiner Schwiegertochter,
Friederile Wilhelmine, der Schweſter Friedrich's des Großen,
die ſich bei ihrer Neigung zum Lurus und zur Reprä
fentation in ihren bejcränften Verhältnifien grenzenlos
unglücllich fügt. Die Erzäßlung ift eine fehr einfache;
ruhig wird der Faden derfelben abgefponnen ohne alle
und jede Verwidelung, ſodaß fie auf den Namen eines
poetifchen Kunftwerfs, ja nicht einmal auf den eines
Romans einen Anſpruch machen kann. Dem großen Leje-
publifum wird fie aber trogdem eine unterhaltende Lel-
türe fein.
Die falſche Appofition ©. 2 in den Worten: „vertieft
in Erinnerung an eine abweſende Geliebte, einem roth«
wangigen Landmädchen“, ift wol nur ein lapsus calami.
Was die „Loreley“ von Egon Fels (Nr. 8) betrifft,
fo hätte der erſte Theil — ober vielmehr der ganze Roman —
mit dem zweiten Kapitel des zweiten Bandes feinen Ab»
ſchluß finden müſſen, weil bis dahin bereits die Haupt»
perfonen der Erzählung bis auf zwei Söhne und zwei
Töchter des Grafen Ferenzy geftorben und ermordet find,
und auch bie Heldin (eine in Indien erzogene junge Eng ·
länderin, die, gleich ihrer fagenhaften Namensjchwefter,
durch ihren Gefang, mehr aber noch durch ihre Reize bie jun»
gen Männer ins Berberben zieht) den freilich durch Zufall
vereitelten Sauptzwed ihres Lebens, die Vergiftung ihres
Stieffohns, erfüllt zu Haben glaubt. Alle ihre übrigen Nichts»
würbigfeiten find bei den Haaren herbeigezogen, um den
Roman auszubehnen. Dit dem dritten Kapitel des zwei-
ten Bandes beginnt gleihfam ein ganz neuer Roman, im
welchem e8 toller als bei einem Herenjabbat hergeht. Die
Ungehenerlishfeiten in ben modernen berliner Fabrikaten
von Pitawall und Dorn find nichts dagegen. Der Ber-
faffer fennt nur Engel und Teufel, wirflihe Menſchen
fuchen wir in diefem fogenannten Roman vergebens, der
nur wenig pſychologiſch Wahres enthält, aber uns alle
vier Bände hindurch auf die Folter fpannt. Bier Bände!
Freilih, man führt ein paar adelihe Familien von den
Großvätern bis zu den Enkeln Hinab fammt ben dazır
gehörigen bienftbaren Geiftern vor, man ftiftet Liebſchaften
mit Hinderniffen, ſchildert Scenen der Race, der Ent«
führung und Verführung, rührt noch etwas pifante Sauce
von Duellen und geheimnigvollen Morbthaten hinzu, er-
zähft alles recht weitſchweifig, ja diefelben Thatſachen,
die ſich fchon vor des Leferd Augen abgewidelt haben,
in bialogifher Form noch einmal, läßt bie wenigen, die
ganze Sündflut überlebenden Perfonen ſich am Ende
teiegen“, und — ber vierbändige Roman ift fertig!
Incorrectheiten wie: „Sie haben wahrſcheinlich im
Haufe darauf vergefien“, oder: „An was ftarb er?“ oder:
„Zu was ich das Geld benuge?“ Können bei ſolchem
Quodlibet faum noch in Betracht kommen und einer Rüge
werth gehalten werden. Wilhelm Andreä,
Fenilleton.
Die deutſche Rechtſchreibung in der Schule.
Die Reformbeſtrebungen auf dem, Gebiete der deutſchen
Rechtſchreibnng find zahlreich und mannidfah. In den Kreifen
der Lehrerwelt hauptfachlich werden orthographiſche Fragen er⸗
örtert umd nicht felten mit Entidjiedenheit, ja ſelbſt mit Exbit-
terung verfodhten. Cine Einhelligkeit ift nicht erzielt worden,
die Anfihten gehen oft ſchroff auseinander, fodaß in den Squ⸗
Im, auf — — der theoretiſche Kampf zunächkt feinen Einfluß
äußert, im Gegenfage zu der in der Literatur im großen und
ganzen herrihenden Einheit die buntefte Mannichfaltigkeit der
orthograpifchen Regeln gefunden wird. Es konnte nicht feh-
Ten, daß auch von Staats wegen die Rechtſchreibung vorſorglich
ins Auge gefaßt wurde, daß Fachmänuer amtlihe Gutachten
abgeben mußten. Auch das öfterreihiiche Miniflerium für Cul ⸗
tu8 und Unterricht ſchenkte diefer Angelegenheit feine Theil»
nahme und erteilte bem befannten @ermaniften Karl Iu-
Lius Scähröer in Wien, der fi namentlich buch feine For-
gungen auf dem Gebiete der bentfch -ungariihen Mundarten
Berbienfte erworben, ben Auftrag, eine Schrift abzufaffen, „die
den Zwed haben foll, in die deutiche Orthographie der Bolls-
und Mittelſchulen Ordnung und Einklang zu bringen“. Diefe
Schrift if vor kurzem im Buchhandel erſchienen unter dem
Titel: „Die deutſche Rechtſchreibung im der Schule und deren
Stellung zur Schreibung der Zufuuft. lit einem Berzeih-
niffe zweifelgafter Wörter” (Leipzig, Brodhaus, 1870). Schröer
bat fein Werfen dem Manne zugeeignet, ber in Sachen der
Orthographie als erfle Autorität anerfannt wird, Rudolf von
Raumer; ſchon aus dieſer Widmung wird von vornherein jeder,
der bie betreffende Literatur nur einigermaßen verfolgt hat, zu
ſchliehen geneigt fein, daß ber Berfaffer das Princip der herr-
ſchenden Kechtſchreibung vertrete und Gegner der fogenannten
hiſtoriſchen Schreibung fei.
Obwol Sqhrder es night fr wünſchenswerth hält, daß ein
einzelner deutſcher Staat eine fefte Norm ber Rechtſchreibung dicta-
torifch anbefehle, hat er doch jenen Auftrag übernommen. Ihm iR
es nicht darum zu thun, „Das Schwankende zu regeln'‘ oder
„sine feſte Norm aufzuftellen‘‘, fondern er fucht ſeinerſeits das
hin zu wirken, daß man in den Lehrerkreiſen zu der beruhigen»
den Erfenntniß gelange, daß nicht im der Literatur, fondern
nur in der Schule ein allerdings heilloſes Schwanken einge
tiffen fei; er will die Weberzeugung hervorrufen, daß im Un-
terricht nicht die Schreibung der Zukunfi, alfo eine problematifche
Feuilleton. 591
Screibung, Sondern die Schreibung der Gegenwart, wie
fie bei der Mehrheit der ſchreibenden Welt Geltung hat, gelehrt
werden müfle.
Die kurzgefaßte „Einleitung fucht unter anderm datzu-
tun, daß eine — uuferer Rechtichre ibung wünfdhens-
werth fei, daß fie ſich aud von ſelbſt, wenn au langſam
vollziehe. Gin weiteres Kapitel beipricht „Ausſprache, Schreie
bung und Unterricht“. Kapitel III behandelt „Die Laute, ihre
Screibung und Ausiprade‘ im eimgelnen. Hier wird ung
ewiſſermaßen eine Heine Grammatik des Neuhochdeutſchen auf
jiftorifcher Grundlage geboten, welche fehr viel Lehrreiches ente
ält und warn empfohlen werden fann, wenn es aud nicht
an einzelnen Punkten fehlt, welde eine andere Auffaflung zu-
loffen. Auch die „Fremdwörter“ und die „Silbentrennung‘‘
werben bier erörtert, nicht minder „Der Apoftropf‘ und die
Sroßen Anfangebuchflaben".
Den größten Raum der Schrift nimmt das „Wortver-
zeichniß‘‘ a weiches fehr bramgbar eingerichtet if, auf die
Ältern Formen mitnnter Rüdficht nimmt, aud) die Fremdiodr-
ter wit Angabe der Ausiprache heranpieht. Auc) hier werden
fich einzelne Widerſprüche nit unterdrüden Lafjen, jelb wenn
man mit der Theorie des Berfaffers im gamgen übereinftimmt.
Derartige Differenzen find aber ſchlechterdings nicht zu vermei⸗
den, benn wenn ein anderer andere Schreibart aufftellt, fo
werden au ihm Einwendungen gemadt werden. Dem Werthe
diefer fleißigen und wohlbedahten Zufammenftellung zweifele
Hafter Wörter gefchieht kein Eintrag durch etwaige Nichtannahme
der oder jener angefegten Schreibung.
Indem wir diefe nach der theoretifhen wie nad der praf-
tifhen Seite Hin gleih werthoolle Schrift Schröer's allen
Hütfefuhenden und namentlih um ihrer principiellen Tendenz
willen den Schulmännern angelegentlih empfehlen, wollen wir
den Rath, welhen der Berfaffer am Schluffe feiner Einleitung
eriheift, hier mütheilen: „Und fo möchten wir denn dem Lehe
zer vor allem empfehlen: zu fchreiben wie es herkömmlich if,
d. i. wie man allgemein fcreibt. In dem meiften gällen
herrſcht fein Zweifel, und neue Zweifel zu idaffen, iſt vor
allem nicht Sage der Schule. Wo aber Zweifel vorhanden
find, Kat der Lehrer ſich umzufegen, ob denm nicht doc die
Medrheit bereits einer der verfchiedenen Schreibungen fih mit
Borliebe zumendet, und diefer hat er dann ſich anzufgließen.
Bo die Sprachforſchuug leicht erfennbare Irrtpümer aufgehellt
Hat, wird die richtigere Wortdarſtellung gewiß immer allgemei»
mer werden. Die Schule wird aber aud im folden Fällen,
wo Abmeihungen vom Schreibgebrauch dadurch nothwendig
werden, nicht vorangehen, fondern nachfolgen, denn nicht der
Säule flieht die Eutſcheidung zu, ſondern der Literatur.’
Daß e8 der Schrift von Sqhrber nicht an gegnerifhen
Stimmen fehlen werde, können wir vorausfihtlih annehmen.
Benn dur fie auch mander Theoretifer fozufagen vor den
Ropf geftoßen wird, fo wird fle um fo dankbarer von der All-
gemeinheit aufgenommen werben, weil fie fih der Allgemeinheit
anfließt, nicht aus Bequemlichkeit, fondern auf Grund eines
wiffenihaftlihen Principe.
Notizen.
Bon Ludwig Scälefinger’6 „Gelgihte Böhmens'
(rag, Berfog be6 Vereine für Gefüge ber Deutihen in
Böhmen, 1870), einem Bert, weldes in Nr. 29 d. DL. f.
1869 nad) Berdienft gewirdigt warden iſt, liegt bereite eime
weite vermehrte und verbefierte Auflage vor. ie wir aus
dem Vorwori zu berielben exfehen, iſt die erſte bereits acht
Boden nad; dem Erſcheinen vergriffen worden. Gelegenheit
zu Berbefferungen boten dem Berfaffer die inzwiſchen erſchiene ·
nen einfglägigen Werten Rante's, Gindely’s, Wolfe u. a., ab⸗
geiehen von gerfirenten Auffägen und fcht lichen Mittheilungen
wiffenfhaftliher Freunde. Der Berfoffer ſchließt feine Borrede
mit den Worten: „Der ſchönſte Kohn m wird mir der Gedanke
bleiben, wenn die "ehrliche Forfhung ein Scherflein dazu bei»
getragen hat, durch Vorfüßrung der ſtolzen Vergangenheit das
nationale Bewußtfein der Deutfhböhmen im ber Gegenwart
zu kräftigen und ihre Thatkraft nicht blos im beißen Kampfe,
fondern vielmehr noch im jener höhern Friedensmiffton zu fläre
ten, wozu fie das Schidjal berufen hat.“
Die Berlagsbuchhandlung von D. Jane in Berlin hat
„Dito Ludwig’s gefammelte Werke. Mit einer Cinfeitun;
von Guflao Freptog in vier Bänden“ (Berlin 1870) jept aus
in einer Gearatausgabe eriheinen laffen, im welder felbfle
verfländlic die Erzählungen des Sreißrihters Dti Ludwig
aus Reichenbah, welche in der „Nationalbibliothef neuer deut«
fer Dichter“ Ludwig's BVerten ans Berſehen eingereift war
ten, nicht mit aufgenommen find.
Bibliographie.
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— ER ee ven Blech. Daran De ar
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ie Rote! U bed Krieges von @. We
öfterreichife ie je
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Frontreig! ‚oder ber Xrieg ber Deutigen
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ws Die Bran; Hu im Fi 1870. After Zpl. Der beglanende Rampf.
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Ihe Kir to A— euere Sonette an u deut
Sonata, ürfae Skutm-Bieber gegen ben Granofen. Dresden,
er, . a
— —*— Er Erden Neue gefemmelte Erzablangen.
nn ., All t von Graefe. Berlin, G. Reimer. Gr. 8.
t, B. Bilpelmi Becih. v attilh! —
ui Sylt, Sin Wa. Be ge Prailß Origtnet
sen —— und Bemaffaung. „it
einem Anh, si — Flotte. Bon © or... Bilde
Furagaufen, ig ——
ften»Zuromo, Sat olitiſche Berichte über
Be e — ehe u» bad frangfilge Bolt, pe I a
—— %, MWutimmen. even. I. Wien, Herzfeld u. Bauer.
2, Der Feieg Deatiäiunde gegen Brantreid im gehre
Reffel
10000 Ale ie Beer *
Der beutihe franjöfice Krieg Im Oafte 1870 ober Dentfäfands Brei-
— geaen Krantse Senalı daft. Siedle maähte von 9.
artmanı
Der kant ie — e— Wöcpte und ihre Intereffen.
N ———— "fatgeifge Zuieghkilder, Ar. 1m. 2. Berlin, Sießling.
wor —8 macht des norddeutschen Bandes und Frankreichs, An-
1970. Von ion, Seldel u. Sohn, Gr. 8. 1 Thlr. 10 Ngr.
ed etfse a Mlufrirte Blätter vom Krieg 1870. Wr. 1.
ol.
—— —2*— *
nr Jaben beutjdher Dichter aus ber Ju
Su — —— —
Sbseheid, W,, Das polische Testament Patare den Gromen.
Be, — 2 Eertentepre. Gemeinfaßtig bargefeit.
— Baßhol u. Bibel a. 1a RaE “
de tionalfrieg. 1870, fen Geft. Lelpzis, Ouandt u.
Düne E%
Opa In. d, M., Qundert Jahre, 1770-1870. Bit. und ter
bat ber aus Drei @enerallonen. Mer Acht. Leipiig, Brodhant. 8
Biene, U. Ge ziuB niebee! Ginrmglodennufe wider den Einireger,
Berlin, By Ra,
Eisien, 2% 5*8* in Bi nnd Gprug. Berlin, Hofmann
” Bom Wiener, yachtertage 15T. Berlin, Biohn, de © 3 Rec,
Pf har, Üußrirte Beitgronif. Rr. 3 uml Rei
a Rein! Ani if. IM
— Be gut un Beuth, keiner —
be Sin, n A ch atatieg. Hefskce Egiberun-
19 De Berbannte. Qufeiliges Ghaufpiet.
Eau us. 8.
Wellzer, — Stuen. Bien, v. Walbfein.
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* En Drentivung Ihe ie frayOfide mer. Berlin, Mitier n. Cohn.
Gr. ie. 5 Ren.
—*
ipälg,
592
Unze
— — —
Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
Geſchichte
Krieges von 1813 in Dentſchland.
Bon
Oberſtlieutenaut Charras,
Antorifirte deutfhe Ueberfegung.
Mit zwei Tithographirten Karten. 8. Geh. 2 Thlr.
Der durch feine politifhe und militäriſche Laufbahn fo be-
rühmte, vor einigen Jahren im Eril in ber Schweiz verftorbene
Berfafier hat mit dieſer Gefchichte des Kriegs von 1813 ein
Werk binterlaffen, dem gerade in der Gegenwart das lebhaftefte
Intereſſe des dentichen Publikums gefidert if. Denn zum
erften mal wird hier ans der Feder eines Franzoſen der fieg-
reiche Kampf gegen die Heere Napoleon’8 in unpartetifcher Weiſe
dargeftelt, werden bie lügenhaften Verfälſchungen, deren fidh
franzöfiſche Geſchichtſchreiber ſchuldig gemacht haben, in ihrer
ganzen Blöße enthüllt. Mit Recht empfiehlt daher die Hiftorijche
Kritit das Charras’sche Werk als eine epochemachende Bereiche⸗
rung der Geſchichtsliteratur. DBorliegende antorifirte Ueber.
jegung macht dafjelbe allen dentſchen Leſern zugänglich.
Das franzöfifhe Original erichien in demjelben Berlage
unter dem Titel:
Histoire de la guerre de 1813 en Allemagne.
tes speciales.. 8 Geh. 2 Thlr. 10 Ngr.
Hieran ſchließt fih das ebendaſelbſt erjchienene und jetzt
bereits in fünfter Auflage vorliegende Wert des Berfaflers:
Histoire de la campagne de 1815. Waterloo. 5mwe edition,
revue et augmentee de notes en reponse aux assertions
de M. Thiers dans son recit de cette campagne. 2 vol.
Avec un atlas nouveau. 8. Geb. 2 Thlr.
Avec car-
Derlag von $. A. Brockhaus in Leipzig.
Hregor von Tours
und ſeine Zeit,
vornehmlich aus ſeinen Werken geſchildert.
Ein Beitrag zur Geſchichte der Entſtehnug und erſten Entwickelung
romaniſch⸗ germanifher Verhältniſſe
von
Johann Wilhelm £oebell.
Zweite vermehrte Auflage.
Mit einem Borwort von Heinrich von Spbel,
8 Geh. 2 Thlr. 10 Nor.
Brof. Heinrih von Sybel fagt in der VBorrebe, womit
er diefe zweite Auflage von dem Werte feines verftorbenen
Freundes begleitet: „Das treffliche Buch bedarf feiner Empfeb-
lung — die beſte Legitimation trägt das Bud in fich jelbft
und in dem Umftande, daß es auf dem vielbewegten literari-
ihen @ebiet, auf dem es auftritt, mehr als zwanzig Jahre
hindurch feine Stellung behauptet hat, baß es heute mie zur
Zeit feiner Entftehung allgemeines Intereſſe erwedt und bes
lohnt. Die von Dr. Theodor Bernhardt hinzugefügten
Bermehrungen, welche die wichtigſten Ergebniffe der einfchlägi-
gen neuern Literatur enthalten, fihern dem Werke auch ferner-
hin einen ehrenpollen Pla in der wiſſenſchaftlichen Welt.
Anzeigen.
igem
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Der Nibelunge Nöt
mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet, den Lesarten
sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuch
herausgegeben von Karl Bartseh.
Erster Theil. Text. 8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr.
Diese grössere kritische Ausgabe des Nibelungen-
liedes von Karl Bartsch bildet den Abschluss von dessen
Forschungen über unser altdeutsches Nationalgedicht. Sie
enthalt in dem vorliegenden ersten Theil den Text beider
Bearbeitungen, sodass aus der Nebeneinanderstellung klar
wird, wie sich beide zueinander und zu ihrer gemeinsamen
Quelle verhalten. Der zweite Theil, der bald nachfolgen
soll, wird den vollständigen kritischen Apparat und ein
den Wortvorrath erschöpfendes Wörterbuch bringen.
Durch den sehr billigen Preis für diesen (27 Bogen
gr. 8. umfassenden) ersten Theil wird die Einführung des
Werks in Gymnasien und der Gebrauch bei akademischen
Vorlesungen erleichtert.
In demfelden Verlage iſt erichienen:
Das Nibelungenlied. Mit Wort- und Sach-
erklärungen herausgegeben von Karl Bartsch.
Zweite Auflage. 8. Geh. 1 Thir. Geb. 1 Thlr.
10 Ngr.
Diese Ausgabe des Nibelungenliedes im Originaltert —
die zugleich den IH. Band der von Franz Pfeiffer begrün-
deten Sammlung „Deutsche Classiker des Mittel-
alters“ bildet — ist mit allen Hülfsmitteln zum sprach-
lichen Verständniss versehen und erscheint in so gefalliger
ausserer Ausstattung, wie sie bisher noch nie den altdeut-
schen Dichtungen zutheil geworden. Sie hat in kurzer Zeit
die weiteste Verbreitung gefunden und liegt bereits in zwe-
ter, vom Herausgeber sorgfältig revidirter Auflage vor.
Das Nibelungenlied. Ueberſetzt von Karl Bartid.
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Neger.
Karl Bartfch’s Uebertragung des Nibelungenliedes ins Hod-
deutſche bat wefentliche Vorzüge vor allen bisherigen Ueber
fegungen. Während fie fih in der Bersform enger am das
Original anfchließt, vermeidet fie dagegen, ohne jebod die Lo⸗
calfarbe zu verwiichen, die Beibehaltung altdeutſcher Ausdrüde
und Wendungen, melde dem mit dem alten Idiom nicht bers
tranten Lefer das Berftändniß erfchweren würden. Im einer
borausgehenden Einleitung gibt der Weberfeter banfenswerthe
Auffhlüffe über den Stoff und die Entſtehungségeſchichte des
Nibelungenfiedes.
Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig.
Grundriß der hebräifhen Grammatik,
Bon Guſtav Bicell.
Erfte Aotgeitung: Spradh= und Schriftgeſchichte; Lautlehre.
2
7 gr.
Zrcie Abtheilung: Stamm: und Wortbildungslehre; Eyniar-
r.
Der Verfafſer, Profeſſor der orientaliſchen Philologie ji
Münfter, beabfihtigt mit diefer Grammatik hanptjählid zur
Verbreitung der Hiftorifch-comparativen Methode im hebräiſchen
Sprachunterricht ſowie zu einer rationellen Begründung der
hebräifhen Spradformen beizutragen.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von $. A, Brochhaus in Leipzig.
Blätter
literarifche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—4 Ar, 38. Pr
15. September 1870.
Inhalt: Zur Eharakteriftit des 2. December. Bon Mudelf Gottſchal. — Literaturgeſchichtliches. Bon Sitvelm Buchner. —
Romane von Mölgaufen, Brachvogel und Hoefer. Bon Jeanne Marie von Bayette-Beorgene. — Eine Biographie aus dem
Mittelalter. Bon Heineig Mädert. — Seuileton. (Zur Kriegslyrik.) — Kihllographle. — Anzeigen.
Dur Ehnrakterifik des 2. December.
De — vom 2 Desember 1851 und feine Ridnir-
mg auf Europa. Leipzi um. d Humblot. 1870.
er er um Gum
Die vorliegende Schrift enthält wichtige Actenftüde
zur Charakteriftif des Staatsſtreichs und ber furzen Epoche,
die zwifchen ihm und bem Kaiſerthum felbft liegt, Acten-
ftüce, welche befonbers bie Aufnahme dartfun, bie
Ludwig Napoleon’s kühne und vom fittlihen Standpunkt
aus verbrecheriſche Politik bei den europäifchen Cabineten
fand. Aus dieſen diplomatifchen Eorrefpondenzen, welde
für die Gegenwart erhöhtes Intereſſe bdarbieten, gebt
unzweidentig hervor, daß ein getheiltes Gefühl damals
die Staatsmanner des legitimen Europa beherrſchte. Auf
der einen Seite begrüßte man in dem Prinzen den Wier
berherfteller der focialen Ordnung in Frankreich und frente
fich der Rückwirkung diefer geſeüſchaftlichen Rettung auf
das übrige Europa; auf der andern fonnte man ſich ge»
wiffer unheimliche Gefühle nicht erwehren bei dem de
danken, daf wiederum ein Napoleon die Geſchicke Frant-
reichs in Händen halte, und daß die Erinnerungen der
„großen Nation“ wieder erwachen und Europa in neue
Kriege ftürzen Könnten. Darüber, daß der 2. Decem-
ber der erfte Schritt fei zur Wiederherftellung des Kaifer-
thums (weldes der 4. September 1870 geftürzt hat),
machte ſich die Diplomatie von Haus aus feine Illuſionen.
Der Berfaffer der Heinen Schrift fagt in bem kurzen
Vorwort:
Die nachftehenden Ausführungen beruhen auf einer Reihe
ungebrudter widtiger Actenftüde, die dem Berfaffer zur Bers
fügung geftellt find. Derfelbe fieht voraus, daß manche feiner
Behauptungen beftritten werben dürften; indeß bieten die in
dem Anlagen wörtlid; mitgetheilten Staatsſchriften wol hin⸗
veihende Blirgichaft dafür, daß die ganze Arbeit nur auf Grund
guverläffigen diplomatifhen Materiald unternommen ift und es
vielmehr als eine Pflicht der Discretion gegen noch Iebende
gürten und Staatömänner angefehen wurde, die Zahl jener
ocumente nicht uoch erheblich zu vermehren. Da, wo ber
Berfaffer nicht in der Lage war, mad authentifhen Actenftüden
au urtheilen, hat er dies offen gejagt.
1870. 38.
Im der Einleitung heißt es über die parifer Impro-
vifation der Repnblit, die Nation Gabe ſich willenlos
und betäubt durch einige Ideologen und Radicale eine
Staatsform aufzwingen laſſen, melde ihrer unermef-
lichen Mehrheit zuwider war und deren Dauer die ganze
Geſchichte und Bildung Frankreichs unmöglich machte”.
Daß: die Februarrepublit fcheiterte, lag indeß mol an ans
dern Gründen als an der Unmögfichkeit der Republit in
Frankreich. Bor ſolchen Algemeinheiten follte ſich über-
haupt ein die Thatſachen guellen- und actenmäßig be—
handelnder Hiftoriter hüten. Daß bei der Prüfidenten«
wahl durd; das allgemeine Stimmrecht ein, Napoleon ge
wählt werden würde, hatte ſchon in den vierziger Jahren
ein fharfblidender Schriftfteller, Peauger, bei einer da-
mals rein theoretifchen Discufflon über das allgemeine
Stimmrecht vorausgefagt: „Das allgemeine Stimmrecht
fann nur diejenigen wählen, die es fennt, und follte man
eines Tags zu einer Wahl des Stantsoberhaupts kommen,
fo wird ber befanntefte Candidat der Erbe Napoleon’s
fein.”
Die widerſpruchsvolle Lage des neuen Präfidenten be—
fand darin, daß er zwar unumfchränft über die ganze
Verwaltung gebot und über Heer und Marine verfügte,
dagegen ein für die Repräfentation nicht ausreichendes
Gehalt von nur 400000 Francs bezog und fein Veto
hatte, auch nicht das Meinfte Corps perſonlich befehligen
und die für drei Jahre gewählte Nationalverfammlung
weder auflöfen noch vertagen konnte.
Auf diefe Weife befand eine principiell fonveräne Verſamm⸗
fung, der aber jede Madıt fehlte, ihrem Willen materiellen
Nahdrud zu geben einem Präfdenten gegenüber, welcher nichts
weiter fein follte als ihr ausführendes Organ, der aber that-
fichlich die ganze Macht eines ceutralificten Staatöweiens in
feiner Hand vereinigte. Damit war die Nothwendigteit eines
Eonflicts zwiſchen beiden Factoren faſt unvermeiblic gegeben,
audh ein felbfllofer Republifaner wie Cabaignae wäre ihm ſchwer⸗
ũg auf die Länge entgangen. Rum aber Iegte das Volt dieſe
Machtfülle der cutionsgewalt in bie Hände eines Mannes,
der ſich ſelbſt unter ben unglinfigfien Umfländen mit fataliſtiſcher
75
— —
594 Zur Charafteriftil des 2. December.
Eonfequenz als Prätendenten und Erben des Kaiſerreichs be-
zeichnet, defjen Namen durch zwei Schilderhebungen gegen ben
Julithron befannt geworden war und der nicht nur Die napo⸗
leoniſche Politik in zahlreihen Schriften verherrlicht hatte, ſon⸗
dern der auch feine Bertheibigung vor dem Pairshofe mit den
Worten beichloffen: „Je reprösente une cause, celle de l’Em-
pire, un principe, celui de la souverainete da peuple, une
defaite , Waterloo.‘
Wie in dem Programm des Prinzen, ben Idées Na-
pole&oniennes, fpielt aud in diefer Rebe die Niederlage
von Waterlooo eine Hervorragende Rolle. Die Rache des
Napoleonismus an dem verbiindeten Europa zu vollziehen,
welches den großen Saifer befiegt und auf die Inſel im
Weltmeer verbannt hatte, hielt Prinz Napoleon ftets für
den wichtigften Theil feiner Sendung. Es war nad) aufßen-
hin die Krönung des Gebäudes der Idées Napol&onien-
nes, bie Sieger bei Waterloo zu züchtigen. Und nach⸗
dem Rußland und Oeſterreich beflegt waren, blieb nod)
Preußen übrig, der gefährlichfte Gegner. Es fehlte gleich-
fam die legte wichtigfte Nummer des Progranıms, und als
fi) die Möglichkeit bot, durdy Ausführung derjelben zu-
gleich die wanfende Popularität im Innern zu fichern,
wurde der Krieg vom Zaun gebrochen mit einer Will-
fürlichkeit, mit einer Unkenntniß der deutſchen Verhältniffe,
mit fo ungenligenber eigener Borbereitung, daß ber Cäſar
in feine Teinesfalls „blöden“ Jugendeſeleien von Stras⸗
burg und Boulogne in bedauerliher Weife zuriidzufallen
ihien, nur mit dem verhängnißvollen Unterfchied, daß
dies legte Abenteuer zwei große Nationen in einen bluti-
gen Krieg fegte und vor dem Richterſtuhl ber Geſchichte
als ein finnlofes Verbrechen bafteht.
Schon bei der Wahl zum Deputirten ber National-
verfammlung zeigte Ludwig Napoleon das Doppelfpiel,
das feiner Politik ftetd eigen war. Er lehnte anfangs
das Mandat ab, wobei er betonte, er habe nicht die ge«
ringften ehrgeizigen Abſichten; und als Cavaignac bei die-
ſem Schreiben bemerkte, daß in demjelben das Wort
Republik nicht vorfomme, beeilte fi) der Prinz, einen
zweiten erflärenden Brief nachzufenden, in dem er ver⸗
fiherte, er wünſche die Erhaltung einer weifen, großen
und intelligenten Republif. Bei mehrfacher Wiederwahl
nahm er indeß das Mandat an, und mit eifriger Ver⸗
fiherung feiner Ergebenheit gegen die Republif trat er
als representant du peuple in die Berfammlung ein.
Die Gefchichte der Präfidentfchaft Ludwig Napoleon’s
ift befannt. Er verhielt ſich als Präfident fehr ſchweig⸗
fam und galt damals fiir einen befchränften Kopf; defto
thätiger war er als Verſchwörer gegen die Republik, eine
Verſchwörung, die er mit allen Hitlfsmitteln der Staats-
gewalt in Scene fegen konnte. Die Verſammlung arbei«
tete ihm durch ihre Parteifämpfe, namentlich durch bie
Aufhebung des allgemeinen Stimmredts in die Hände.
Napoleon blieb ein Vorkämpfer befjelben, in dem er bie
fiherfte Grundlage feiner Macht fah; überdies gewann
er damit eine Popularität, welche den Mitgliedern der
Nationalverfammlung verloren ging. Ueber die Verſchwö⸗
rung bes 1. December im Einfee, über welche Bürger
Beron in feinen „Denkwürdigkeiten“ fo manche interefjante
Mittheilung gemacht bat, theilt unfere Schrift den ergän-
zenden Bericht eines Augenzeugen mit:
Geſtern Abend fand der gewöhnliche Montagsempfang beim
Präfidenten im Elyſée flatt; in der Couverſation des Präfiden-
ten und in feinem ganzen rubigen Weſen war auch nicht das
geringfte Anzeichen von den: bemerkbar, was damals ſchon in
der Ausführung begriffen war und wobei furdhtbar viel auf
bem Spiele fteht; eine folche äußere Ruhe in ſolchem Augen-
blick ift vielleicht beifpiellos. Es war mir auffallend, daß un-
gewöhnlich viele Offiziere die Salons füllten, während fehr
wenige Repräfentanten gegenwärtig waren. Gpäter ging ich
zum Serzog von Broglie, wo viel über einen GStaatsfireich
geicherät wurde, wo aber niemand an eine fo ſchnelle Verwirk⸗
ihung badıte.
Das Plebisctt vom 20. December ratificirte den Staats⸗
fireich; der Klerus, durch die Expedition gegen Rom ge-
wonnen, feierte ben Präfidenten als das auserwählte Rüft-
zeug zur Rettung der Religion und Geſellſchaft, uud Fürſt
Metternich), der Vertreter der alten Stantöweisheit, fagte
über den Staatöftreih: „Je ne lapprouve pas, je ne le
bläme pas, je l’accepte.“
Hier find wir bei dem eigentlichen Kern unferer Schrift
angelommen; fte beantwortet die frage, wie ſich die Ca—
binete Europas zu den Decemberereignifien ftellten. Die
Mehrzahl fah darin einen Sieg bed Legitimitätsprincips.
„Wenn auf der einen Seite‘, fchrieb ein wohlunterrichteter
Gefandter am 9. December aus Frauffurt, „ſich ein gewiffes
Bedauern zeigt, daß die Sache der Legitimität fo wenig Chancen
in Frankreich zu haben fcheint, fo bat doch der Triumph ber
milttärifhen Gewalt und der Schlag, welder der parlamenta-
riſchen Regierung verfegt ift, die rückhaltloſeſte Befriedigung
verurſacht.“
Dieſe Auffaſſung war natürlich in einer Zeit, in
welcher die größten Staaten Europas dem Abſolutismus
Buldigten. Auffallender war die Zuflimmung der beiden
bedeutenditen Liberalen Staatsmänner, Palmerfton und
Cavour, zu dem Staatsftreih. Unjer Autor fagt hier-
über:
Cavour's Scharfblid erkannte, daß nach der Beflegung der
Anardie Napoleon auf die auswärtige Politit werde hingelenkt
werben: „L’Europe va rentrer en mouvement“, ſchrieb er
und begriff fofort, von welcher Wichtigkeit es für feine Plane,
für die Befreiung Italiens fein müſſe, fi) gut mit dem neuen
Machthaber in —8*— zu ſtellen. In anderer und doch ähn⸗
licher Lage befand ſich Palmerſton. Seine Politik hatte in den
letzten Jahren bei allen Schwanknngen doch die ſehr beſtimmte
Richtung verfolgt, ſtetig dem ruſſiſch⸗öoſterreichiſchen Einfluß
entgegenzutreten. Er bielt für diefe Politik die Unterftligung
der oppofitionellen Richtungen in ben abfolutifiifch regierten
Staaten als ein wirkfames Mittel, war aber eben dadurch den
betreffende Regierungen befonders verhaßt geworden. Bei der
Wendung der Dinge in Franfreih, die in Wien und in Pe
ter8burg mit großer Befriedigung gefehen ward, ſchien es nun
Palmerflon von entfheidender Wichtigleit, jenen beiden Cabi-
neten zuporzulommen und den neuen Gewalthaber für fid zu
gewinnen. Er ſprach deshalb nicht nur privatim, fondern auch
officiell in einer Depeihe an Normanby feine Zuftimmung zum
Staatsftreih aus und beglückwünſchte den franzöfifchen Bot⸗
Ihafter in London. Dies brachte die ſchon Tauge beftehende
Differenz zwiſchen Palmerfton und feinen Kollegen zur Krifis.
Das Whigminifterium bekannte in feiner überwiegenden Ma-
zorität fi fireng zum Princip der Nichtintervention und mie
billigte die Neigung des auswärtigen Secretärs zur antiabfos
lutiſtiſchen Tendenzpolitik, es hielt ein beſtimmtes Gutgegen«
wirken gegen Oeſterreich und Rußland nicht im Interefſe Eng-
lands und wollte mit beiden Staaten auf gutem Fuße bleiben,
jolange nicht engliiche Intereſſen direct im Spiel waren. Dem
Princip der Nichtintervention gemäß beſchloß das Minifterium
denn auch, ſich jeder officiellen Aeußerung über den Staats⸗
ſtreich zu enthalten, obwol die meiften englifchen Politiker bei»
der Parteien benfelben für nothwendig anerfannten. Als
Zur Charafteriftil des 2. December. 595
Palmerſton im offenen Widerſpruch mit dieſem Beſchluß ſich förm⸗
lich für Napoleon ausſprach, ließ ihm die Königin durch Lord
Sohn Ruſfſell die Siegel des auswärtigen Amts abfordern; der⸗
ſelbe ſchrieb ihm hierbei ausdrücklich December 17), daß bie
materielle politiſche Frage dabei gar nicht berührt werde.
Am rüdhaltlofeften ſprach Fürſt Schwarzenberg feine
Anerkennung des Staatsſtreichs aus in einem Memoire
vom 29, December 1851, defjen Zert in den Beilagen
vollftändig enthalten ift.
Er faßte fofort die Wahrfcheinlichkeit ins Auge, daß fich
ans dem Stantöflreich das Kaiferreich entmwideln werbe, und bes
ſprach dieſe Eventualität im Hinblid auf eine zwifchen den Ca»
bineten von Wien, Berlin und Petersburg zu trefiende Ber-
fändigung. Der gegen bie Napoleoniden gerichtete Bertrag
vom 20. November 1815 fet durch die veränderten Umftände
feinem Buchſtaben nad entlräftet. Die monardifche Gefinnung
Ludwig Napoleon’s fei jetzt eine beffere Garantie der Ordnung
als die Bourbons mit ihrer Neigung zum Conftitutionalismus,
Ueberbies fei e8 jett fchon zu fpät, den Vertrag zur Anmen-
dung zu bringen. Ludwig Napoleon fei bereits im Beſitz der
böchften Gewalt und die Annahme des Kaifertitel® würde eben
nur eine Aenderung des Namens fein; wolle man die Anerken⸗
nung weigern, fo möüfje man fi) zu einem unabjehbar langen
Kriege entichließen. Zudem werde man ausbrädlih nur die
Thatfache, nicht ein Recht anerkennen. Jetzt feien die Bonr⸗
bonen unmöglid, vielleiht aber bahne Ludwig Napoleon der
Reftanration derjelben unter günſtigern Berhältniffen den Weg
durch die vorherige Befeitigung des Parlamentarismus. Durch
die Anerfennung des Kaiferreihe würden die drei Mächte ihren
Principien nichts vergeben, aber Napoleou gewinnen und Eng-
fand iſoliren. Eine wohlverftandene Intereſſenpolitik gebiete
alfo ſich Aber alle Bedenken hinwegzuſetzen, welche fi} dagegen
geltend machen lünnten, einem „individu tel que Louis Na-
poleon‘ Ranggleichheit zuzugeſtehen. Auch rathe er nur, die
Anerkennnng unter der Borausjegung erfolgen zu laſſen, daß
vorher Napoleon die befimmte Verfihernng gebe, daß die Ver⸗
änderung feines Herrichertitel® die durch die Verträge beſtimm⸗
ten auswärtigen Berhältniffe, namentli die territoriale Be-
renzung der Staaten unberührt laſſen folle und baß er die
Eroberungspofitif feines Onkels nicht wieder aufnehmen werde,
Man wiirde ihm zugleich warnen, daß er gegen eine ſolche
Politik die drei Höfe ſtets vereint finden werde.
Kaiſer Nikolaus zollte dem Staatsſtreich warmen Bei⸗
fall, aber er wollte darum die Sache der Legitimität nicht
anfgeben. Er fah deshalb die Lage Frankreichs im Herbſt
1851 nit fo gefährlih an und meinte, das Land fe
durch den Kreislauf der Revolutionen, die e8 durchgemacht,
fo ermattet, daß es beginne, Ruhe und Ordnung ale das
böchfte Gut anzufehen.
Frankreich, äußerte er Mitte October gegen einen bei ihm
beglaubigten Geſandten, ift nicht mehr was es war, als es zu-
legt Europa Überrannte, und Europa iſt noch weniger was es
damals war. Sch wünſche aufrichtig, Frankreich ruhig, blühend
und mächtig zu. fehen, aber, recht verfanden, bei fich zu Haufe,
nicht bei audern („chez elle, pas chez les autres‘‘),
Zu dem portugieflfchen Gefandten Baron Paiva fngte
ber Kaifer im December, daß er dem Unternehmen Lud⸗
wig Napoleon’8 den beften Erfolg wünfche, nur möge er
weife fein und fi zum Präftdenten ernennen lafien,
felbft auf zehn Jahre, felbft fiir Lebenszeit, aber nie»
mals daran denken, fi) zum Kaiſer zu machen, weil dies
gegenüber den beftehenden Verträgen den Anlaß zu ern-
ſten Berwidelungen geben könnte.
Die Mraßregein, welche vajch den Weg zum Empire bahn⸗
ten, die Wiedereinführung der Napoleonifhen Berfaflung, die
Annahme der Adler als Armeeflandarten, die Inftallation in
ben Tuilerien, machten inzwifchen auch den Kaifer Nikolaus
fiugig. Am Abend bes 19. Januar ließ er ben franzöfiichen
Gefandten General Kaftelbajac zu ſich fommen, fette ihm feine
Gründe gegen die Annahme des Kaifertitels auseinander und
ln ihn, diefe der Aufmerkfamleit des Präfldenten zu em⸗
pfehlen.
Die Depefche ging ab. Im Januar folgte ein Schrei«
ben des Kaifers Nikolaus als Antwort auf bie Mitthei-
lung des Prüfidenten in Betreff der ihm durd; den 2. Des
cember übertragenen Befugniffe. Dies Antwortfchreiben, das
unter den Xctenftüden des Werks mitgetheilt wird, ift adref-
firt: „ANotre grand et bon ami, Monsieur le president
de la Republique francaise, le prince Louis Napoleon’‘,
und berührt am Schluß in freundfchaftlicher Faſſung ge-
jchict die Verträge unb die Unabhängigkeit der Staaten.
England hatte den Vorſchlag Rußlands abgelehnt,
durch gemeinfame Vorftelungen gegen die Annahme des
Kaifertitel® zu wirken. Die englifhen Staatsmänner
fürdhteten, daß, wenn Napoleon fich mit feiner Stellung ale
lebenslänglicher Präfident begnüge, Kaifer Nikolaus in
feiner reactionären Schwürmerei geneigt fein werde eine
enge Allianz einzugehen, die für England möglichermeife
ſehr bedenklich werden une, daß aber die Annahme des
Raifertiteld von feiten Napoleon’s die Iegitimiftifchen Ideen
des Zaren verlegen und das Verhältniß zwifchen Paris
und Petersburg zu einem gefpannten machen werde.
In der zweiten Hälfte des Februar erhielt der ruf-
ſiſche Sefandte, Hr. von Kiffeleff, den Auftrag, Ludwig
Napoleon die Bedenken feines Gebieterd gegen die Her-
ftellung des Empire officiell mitzutheilen.
Hr. von Kiffeleff ſuchte befonders fi) den Weg zur Erfül-
fung diefer plößliden Aufgabe dadurd zu bahnen, daß er bie
Stellen feiner Inftruction, von bemen er vorausjah, fie könn⸗
ten an höchſter Stelle verlegen, vorher dem ansmwärtigen Mi⸗
nifter und feinem Unterftaatsjecretär Hrn. Thouvenel mittheilte,
damit fie den Präfidenten vorbereiten fünnten. Beide fuchten
ihm den Gedanken auszureden, daß Napoleon beabfihtige, den
Kaifertitel anzunehmen, ohne indeß die Möglichkeit beſtimmt zur
verneinen. Bei feiner Aubienz fand Kiffeleff demgemäß ven
Prinzen vorbereitet und fuchte bejonders hervorzuheben, daß
die Broclamirung bes Kaiferreih8 deu Frieden gefährden müffe,
bie franzöfifhe Armee wilde dadurch von Enthuflasmus flir
ihre große Zeit ergriffen werden und nicht mehr zu zügeln fein,
Napoleon aber würde, wenn er anf biefe Weife zum Kriege
ebrängt werde, ganz Europa gegen fidh vereinigt finden. Der
Bräfident wies diefe Befürchtungen als unbegründet zurüd, be-
merfte aber, daß er jeden Verſuch, bie Würde und Unabhängig.
keit Frankreichs, wie fie in feiner Perfon vertreten feien, anzu⸗
greifen (d’attaguer la dignite et l’ind&pendance de la France,
representees dans ms personne), zu vereiteln wiſſen werde.
Der Prinz umging jede Zufage und betonte feine un-
umſchränkte perfönliche Stellung.
„Ueber den Eindrud, den der Staatäftreich in Preußen
macht, erfahren wir, daß er bem in Petersburg ähnlich war:
Mat..frente fich der Niederlage ber Revolution, und eine
gleich bernach erjchienene Ueberſetzung ber Napoleoniſchen Flug⸗
hrift: „La revision de la Constitution‘, die durch die Deder’-
the Geheime Oberhofbuchdruckerei nicht blos verlegt, fondern
mit Rabattpromefjen verbreitet warb, ſprach in ihrem Vorwort
die feftle Ueberzeugung aus, daß Napoleon am 2. December die
partamentar ice egterung auf dem europäifchen Kontinente für
mer vernichtet habe. Aber auf der andern Seite waren nicht
nur bie 2egitimitätsbebenfen am preußiſchen Hofe ſehr fark,
fondern die Befirchtungen, daß der Präfident feine unumſchränkte
75 *
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—
596 Zur Charakteriſtik des 2. December.
Macht zu einem auswärtigen Kriege benutzen könne, mußten be⸗
greiflicherweiſe bei der einzigen Großmacht, die zugleich Grenz⸗
macht Frankreichs war, beſonders ſtark hervortreten.
Ein eingehender Abſchnitt unſerer Schrift, der auch
durch mehrere Actenſtücke in beweiskräftiger Weiſe illuſtrirt
wird, behandelt das händelſüchtige Auftreten Frankreichs
gegen Belgien, die Schweiz und Sardinien. Oeſterreich
ſtand dabei ſtets auf Frankreichs Seite.
Hr. von Bismarck, der bekanntlich in Frankfurt raſch von
ſeiner Vorliebe für Oeſterreich zurückgekommen war, behauptete
ſogar Beweiſe zu haben, daß das wiener Cabinet Frankreich
zum Vorgehen gegen die Schweiz, Belgien und Sardinien an⸗
ſtachle, daß es im Bunde mit Frankreich Preußen überrennen
wolle, ehe eine ruſſiſche Armee demſelben zu Hülfe kommen
könne.
Weiterhin ſchildert uns der Verfaſſer, wie Ludwig
Napoleon ſich drängen ließ, die Kaiſerkrone anzunehmen,
wie er nur durch eine „offenbare Nothwendigkeit“ zur Füh⸗
rung dieſes „titre pompeux“ ſich wollte zwingen laſſen.
Die neue Verfaſſung, „welche die Willkürherrſchaft des
Staatsoberhaupts mit der Volksſouveränetät zu dem
Princip der populären Tyrannis des Cäſarismus zuſam⸗
menfchmiedete”, verhalf der Regierung zu einer unbedingt
willfährigen Kammer. In feiner Anſprache an die Ma⸗
giftratur bemerkte der Prinz- Präfident, daß er ſchon durch
das die erbliche Kaiferwürde einführende Plebiecit von
1814 als heritier de l’empire bezeichnet fei. Im Herbfte
fand dann die große Reiſe in den Süben ftatt, welde
die Frucht des Kaifertfums zeitigte. Das Boll wurde
nad) der Rückkehr in die Comitien berufen und erklärte
fi) mit 8 Millionen gegen 253000 Stimmen für das
Kaiſerthum, das am 2. December 1852 proclamirt wurde.
Wie verbielten fih nun die Großmächte gegenüber
diefem fait accompli? Rußland fette eine fcharfe Fritifche
Brille auf, um das neue Kaiferreich zu beäugeln. Die
vertrauliche Depefche des Grafen Neffelrode an Kiffeleff,
welche unter den Actenftüden dem Wortlaut nad) mit-
getheilt wird, wendet ſich mit der Kleinlichkeit einer dyna-
ſtiſchen Etikettenfucht gegen die Ziffer III. Alles andere
fei innere Angelegenheit Frankreichs; diefe Ziffer verftoße
gegen die Gefchichte und gegen die Intereſſen Europas.
Der Sohn Napoleon’8 I. habe, mochte der Kaifer auch
zu feinen Gunften 1815 dem Thron entfagt haben, in
den Augen ber übrigen Welt weder de jure noch de
facto geherrſcht. Ein foldyes doppeltes Staatsrecht, wie
es in der Annahme des Titeld als Napoleon III. Liege,
könne Europa nicht dulden. Weit wichtiger aber als dieje
Frage ber gefchichtlihen Kontinuität war die herab-
geftimmte Anſchauung über die Verdienſte der Rettung der
Geſellſchaft, als deren Preis Napoleon die Krone vers
langte. Diefer Preis für einen Dienft, welchen ber
Kaifer der Sache der andern Staaten wie feiner eigeneu
geleiftet haben wollte, erfchien auf einmal zu hoch. Da
ruft der Staatsfanzler aus: „Wie groß auch der Einfluß
fein mochte, den Frankreich auf feine Nachbarn ausgeübt,
fowol im Guten wie im Böfen, e8 ift nicht bemiefen, daß,
wenn die Anarchie, welcher der 2. December ein Ende
machte, im Jahre 1852 triumphirt hätte, das ganze
Europa nun unmiberruflic) verurtheilt gewefen wäre, mit
feiner Eivilifation in denſelben Abgrund zu verfinfen. Möge
man nicht vergefien, daß infolge der 1848 überall eingetre-
tenen Ummälzungen ganz Europa bereits ſich durch feine
eigenen Kräfte gerettet Batte, und daß, während Frank⸗
reich allein fich abarbeitete unter dem Drude einer un⸗
möglichen Conftitution, die andern Regierungen bereits
mit der demokratiſchen Partei fertig geworden waren.” Ganz
entfchieden wehrt fich die ruffifche Regierung gegen irgend⸗
welche Berpflihtungen der Dankbarkeit für den Staats-
ftreih, die ihrer Würde nicht entfprähen. Dronin de
Lhuys wollte in feiner Entgegnung feine Discnffion über
eine vollendete Thatſache zulaffen und erflärte, daß er
über die Neſſelrode'ſche Depefche nichts weiter jagen könne,
als daß er die Eleganz ihres Stils bewundere. Der
Berfaffer fagt über da8 Verfahren Rußlands:
An ih Hatte die ruſſiſche Regierung in ihrer Kritif gewiß
recht, aber wenn fie entichloffen war, fchließlich doch Napoleou III.
anzuerkennen, mozu ihn dann erft durd eine derartige Lektüre
verlegen? Wenn man die Anerkennung als eine Niederlage der
Legitimität empfand, warum die Demüthigung durch ohnmäch⸗
tige Klagen verftärten? Der Bertrag vom 20. November 1815
war doch ſchon beifeitegefhoben, denn er ſchloß, wie Fürft
Schwarzenberg in feiner Denkſchrift vom 29. December 1851
ganz richtig bemerkte, die Napoleoniden nicht blos vom Throne,
fondern von der oberften Gewalt in Frankreich aus; die oberfte
Gewalt aber hatte Napoleon mit dem Staatsſtreich und ber
Berfaffung von 1852 unzweifelhaft am fi geriſſen; damals in-
deß dachte man nicht daran, jene Ausichliegung geltend zu
machen, fondern beglüdwlünichte den neuen Machthaber Biber
das vollbradhte Wert. Wie wollte man nun, de es fih um
die Anerkennung des erblichen Kaifertitel8 handelte, diefe dem⸗
jelben Manne verweigern, den man als unumfchränttes Staats
oberhaupt mit Jubel begrüßt hatte? Nicht daß, fondern wie
das Kaiſerthum proclamirt ward, war die Frage, auf die alles
anlam. .
Die englifche Regierung vereinigte fich mit Defterreich,
Preußen und Rußland in einem geheimen Protokoll von
3. December 1852 zu einer Erklärung, daß fie mit Frank⸗
reich Freundſchaft halten wollten, daß die Beſtimmungen
von 1815 nicht mehr anwendbar feien, baf fie aber über
die Erhaltung des territorialen Statusquo wachen würben.
Ueber den letztern Punkt beruhigten bas englifche Ca⸗
binet alsbald Erklärungen der franzöfifchen Regierung, und
am 6. December bereits erfolgte die Anerkennung Eng⸗
lands. Die andern Mächte, auch die beutfchen Mittel
ftaaten, ließen noch den ganzen December hindurch mit ihrer
Anerkennung warten. Preußen bemühte fih, England für
ein Separatbündniß zu gewinnen; bie englifchen Dinifter
entgegneten, fie würden für die Aufrechthaltung der Ver⸗
träge einftehen, könnten fid) aber darüber hinaus durch⸗
aus nicht binden. Das Nähere findet fih in den am
Schluß der Schrift mitgetheilten Actenftiiden.
‚Jedenfalls ift die Schrift fehr lehrreich, indem fte zeigt,
wie die Mitfchuld am 2. December mehr oder weniger auf
den Cabineten Europas laftet und die Anerkennung diefes
Gewaltſtreichs als einer rettenden That eine faft allgemeine
war, während bie öffentliche Meinung fih von Haus aus
gegen ein Attentat empörte, dad nur der Ausfluß eines
politifhen Macchiavellismus fein Tonnte.
Rudolf Sottfchall,
Literaturgeſchichtliches. | 597
kiteraturgefchichtliches.
1. Goethe's Unterhaftungen mit dem Kanzler Friedrich von
Müller. Herausgegeben von ©. A. 9. Burkhardt.
Stuttgart, Cotta. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 14 Ngr.
Der neuen Auflage von Edermann’s „Geſprächen mit
Goethe” folgt Hier eine willlommene Ergänzung in den
„Unterdaltungen Goethe's mit dem Kanzler von Müller‘.
Jedes Werk, welches den großen Dichter von einer neuen
Seite beleuchtet, erſcheint als ein Gewinn. Jede Ver—⸗
öffentlichung über Goethe zeigt demjenigen, welcher fich
ihrem Eindrud offenen Herzens hingibt, das Bild einer
bei manchen Eigenheiten überwältigend großen und lie-
benswerthen Natur; und wenn der Dichter, welcher den
zweiten Theil des „Fauſt“ fchrieb, nicht mehr die Spann-
fraft des jungen Mannes hatte, jo war und blieb er
bi8 zum legten Athemzuge ein Mann von unvermwültlicher
Geiſtes⸗ und Lebensfülle, von einer Kraft des Schaffens,
Aneignens, allfeitigen Theilnehmens, von einer Fähigkeit
de8 Anregens, von einer perfönlich gewinnenden Anmuth,
wie fie fchlehthin einzig erfcheint. Was haben nniere
Väter, was haben wir von Goethe empfangen!
Geboren 1779 in Franken, trat Müller bereits 1801
in weimariſche Dienfte und erwies ſich fehr bald als eine
überaus tüchtige Kraft; Müller's aus den „Denkwürdig-
keiten“ wohlbefannte Thätigfeit nad) der Kataftrophe von
Jena ließ ihn um fo rafcher emporfteigen; noch nicht
dreißig Jahre alt ward er bereit8 Geheimer Regierungs-
rath, ward dann geadelt, trat mit 35 Jahren als Kanz⸗
ler an die Spite der Landesjuſtiz. Das will viel fagen
in einem Lande, weldes einen Karl Auguft zum Herr⸗
her Hatte. Fortan entfaltete Müller faft drei Jahrzehnte
lang eine bedeutungsvolle ZThätigfeit; im Jahre 1848
bat er um feine Entlaffung; im Herbſt 1849, 70 Jahre
alt, ward er durch den Tod Hinweggenommen.
So mußte Mitller’s Verhältnig zu Goethe ein ganz
andere® fein als dasjenige Eckermann's. Miller war
nicht der junge Autodidakt, der allezeit verehrende Gehülfe
bei den Studien und bei der Redaction der Werle; er
trat dem greifen Dichter allerdings auch als 30 Jahre
Jüngerer gegenüber, aber doc mit der Berechtigung,
welche eine geachtete Stellung, eine bedeutungsvolle Wirk⸗
jamleit, eine reife Bildung gewähren. Beide jlingere
Freunde aber begegnen ſich in der liebevollen Verehrung
ded großartigen Mannes, der wie menige es verfland,
jedem der Seinen gegenüber diejenige Seite feines unend-
(ih reihen Weſens hervorzufehren, welche denjelben wie.
der zu der Entfaltung eigenften Weſens anregte,
Kanzler Müller zeichnete feine Gefpräche mit Goethe
alsbald auf; er trat dem Dichter fo nahe, daß diefer
ihn zum Bollftreder feines legten Willens ernannte; er
hat den Goethe» Reinharb’fhen Briefwechſel veröffentlicht.
Das Ausfterben der Familie des Kanzlers ift die Urſache,
daß erft jet, 20 Jahre nach Müller's Tode, diefe Unter-
baltungen in die Deffentlichkeit treten. Der Herausgeber
hat das Buch, wie es bereitd von Müller drudfertig
bergeftellt vorlag, durch manche darin übergangene Noti-
zen aus den Zagebüchern vervollftänbigt; Hin und wieder
berechtigen ausgedehnte Lücken zu der Vermuthung, daf
and Müllers Aufzeichnungen nicht vollftändig find, mie
3. B. das Jahr 1820 nur mit zwei kurzen Notizen
vertreten if. So umfafjen diefe Unterhaltungen zwar
den Zeitraum von 1808 bis zu Goethe's Tode, aber die
letzten zwölf Wahre bilden den bei weiten größten Theil,
alfo diefelbe Zeit, welche uns in Eckermann's Wert vorliegt.
Wenn ein geiftreiher Mann feinen Verkehr mit einem
großen Dichter aufzeichnet, fo wird immer Bedeutendes
zum Borfchein kommen. Und fo treten des Kanzlers
„Unterhaltungen” würdig neben Edermann’s „Geſpräche“.
Goethe's Bild kommt uns ans beiden gleichartig ent-
gegen: bei Edermann mol etwas mehr der Dichter und
Naturforscher, bei Miller mehr der an der Entwidelung
des ftantlichen Lebens Antheil nehmende Mann, der Welt
philoſoph. Eckermann ift der bei dem Schaffen und Ordnen
emfig biülfsbereite tägliche Hausgenofje, Müller mehr der
allgemein gebildete hochgeftellte Hausfreund. Ein wefent-
licher Unterfchted ift im Grunde nicht vorhanden, denn
Goethe blieb immer er felbft, wählte feine Stoffe dem
eigenen Bedürfniß der Unterhaltung entjprechend, hatte
mehr die greifenhafte Liebhaberei des Docirens als der
belebten Wechſelrede. So kommt ung aus biefen Unter-
baltungen und Geſprächen überall dafjelbe Bild entgegen,
das Bild des alten Goethe, welcher für die verjchiedenartig-
ften Intereſſen ein offenes Auge fich erhält, täglich durd)-
Ichnittlich feinen Band durdjlieft, auf ben mannichfachen
Gebieten der Kunft, Poefte und Naturmiffenfchaft weiter
arbeitet, unermüdlich thätig, und mit jener wechjelnden
Stimmung des Alters bald mild und liebenswürdig, bald
bumoriftifch-fcharf ift, ein Charafterzug, der, um es ge=
fegentlic) zu erwähnen, in Edermann’s „Geſprächen“ min-
der häufig entgegentritt. Es Hat feine Schwierigleit, aus
folden Unterhaltungen einzelnes herauszuheben, doch mag
dies und jenes Wort um feiner Bedeutſamkeit oder Ab⸗
fonderlichkeit willen bier wieder erfcheinen:
Seht, Tiebe Kinder, was wäre ich denn, wenn ich uicht
immer mit Mugen Leuten umgegangen wäre und von ihnen
gelernt hätte? Nicht aus Blichern, fondern aus Tebendigem.
Ideentauſch, burch heitere Gefelligkeit müßt ihr lernen. —
Die Erziehung ift nichts anderes als die Kunft zu lehren,
wie man über eingebildete oder doch Leicht befiegbare Schwier
rigfeiten binauslommt. —
Die Conftitutionen find wie bie Kuhpocken; fie führen
über einmal graffirende Krankheiten leichter hinweg, wenn man
fie zeitig einimpft. —
Ja wenn man in der Jugend nicht tolle Streiche machte
und mitunter einen Buckel vol Schläge mit wegnähme, was
wollte man im Alter für Betrachtungsſtoff haben?
Mit dem fehr fchroffen, nad) einem Wort Goethe's
an Zelter „in Widerſpruch erfoffenen“ Fr. A. Wolf
„machte ich Befuch bei Goethe, der heute ſehr launig war
und Wolf ironifirte‘:
Ihr Diötfehler it gar nicht fchuld an Ihrem Uebelfein;
es ift ein bloßer Ausflug Ihrer Höflichkeit, weil Sie zu Hofe
geweien und den Großherzog nicht herab zu fi in den Schloß-
hof beftellt haben. Ueberhaupt geht die Krankheit den Menſchen
gar nichts an; er muß fie ignoriren, nur die Gejundheit ver-
dient remarquirt zu werden. —
Ih weiß, was id kann und nicht kann, und will nur
das, was ih kann. —
h will Ihnen etwas fagen, woran Sie fih im Leben
haften mögen. Es gibt in ber Natur ein Zugänglides und
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598
ein Ungugängliches. Diefes unterfcheide und bebente man wohl
und habe Rejpect. Es ift uns ſchon geholfen, wenn wir e6
überall nur wiffen, wiewol es immer fehr ſchwer bleibt zu ſehen,
wo das eine anfhört und das andere beginnt. Wer e8 nicht
weiß, qualt fich vieleicht Lebenslängli am Unzugänglihen ab,
ohne der Wahrheit nahe zu kommen. Wer es aber weiß und
Ang ift, wird fih am Ingängliden Halten, und indem er in
diefex Region nad) allen Seiten geht und fich befeſtigt, wird er
joe: anf biefem Wege dem Unzugänglihen etwas abgewinnen
Snnen, wiewol er bier doch zulett geftehert wird, daß manden
Dingen nur bis zu einem gewiffen Grabe beizulommen if,
und die Natur immer etwas PBroblematifches hinter fich behalte,
welches zu ergründen die menfchlichen Fähigkeiten nicht hinreichen.
Ein Frankfurter, Hr. F., wurde angemeldet und ab»
gewieſen:
Man muß den Leuten abgewöhnen, einen unangemeldet
zu Kberfallen, man bekommt doc immer andere fremde Ge⸗
danfen duch ſolche Beſuche, muß fi in ihre Zuftände Hinein-
denken. Sch will Feine fremden Gedanken, ich Habe an meinen
eigenen genug, kann mit biefen nicht fertig werden.
Ein Student aus Berlin, nad) Paris reifend, war
bei ihm biefen Nachmittag eingefprochen und fofort an»
genommen worden:
Ich fehe ſolche Leute gern, man thut dabei einen Blick in
die weite Welt hinaus und bat die behagliche Empfindung,
nicht felbft reifen zu müflen. —
it ich Feine Zeitungen mehr leſe, bin ich ordentlid)
wohler und geiftesfreier. an kümmert fi doch nur um
das, was andere thun und treiben, und verfäumt, was einem
zunächſt obliegt.
Was die Cultur der Natur abgenommen habe, dürfe
man nicht wieder fahren laſſen, e8 um feinen Preis auf-
geben. So fei aud) ber Begriff der Heiligkeit der (Ehe
eine ſolche Culturerrungenfhaft des Chriſtenthums und
von unfhätbarem Werth, obgleich die Ehe eigentlich un⸗
natürlich Set:
Sie wiffen wie ih das Chriſtenthum achte, oder Sie wiffen
e8 vielleicht auch nicht: wer tft denn noch heutzutage ein Chrift,
wie Chriftus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr
mid gleih für einen Heiden haltet, Genng, dergleichen Cul⸗
turbegriffe find den Böllern nun einmal eingeimpft und laufen
dur alle Sahrhunderte; Überall bat man vor ungeregelten
ebelojen Liebesverbältniffen eine gewiffe unbezwingliche Scheu,
und das ift recht gut. Man follte nicht fo leicht mit Eheſchei⸗
dungen vorfdreiten. Was liegt daran, ob einige Paare fi
prügeln und das Leben verbittern, wenn unr ber allgemeine
Begriff der Heiligkeit der Ehe aufrecht bleibt. Jene würden
doch auch andere Leiden zu empfinden haben, wenn fie dieje
los wären. —
Ich will nichts von den Freuden der Welt, wenn fie
mih nur auch mit ihren Leiden verihonen wollte. Wenn
man etwas vor fi bringen will, muß man fi Inapp zu-
fammennehmen und fi wenig um das kümmern, was ans
bere thun.
So könnte man von jeder Seite irgendein treffen-
des Wort entlehnen, irgendeine Yeußerung, welche zur
Kenntniß von des Dichters Leben, Charakter, Anſchanung
von Werth if. Die reife Lebensweisheit, die troß der
bin und wieder hervortretenden Bitterfeit ober Weltmüdig-
feit vorwaltende Menfchenliebe, der Ernſt in Betrachtung
fittlicdee oder religiöfer ragen, die Freude an jedem
Guten und Schönen, der nicht felten fehr zutreffenbe
olitifhe Blick, fie zeigen fich ebenfo unverhüllt wie bie
nluft an den neuen Auftänden in Politik, Literatur und
Naturwifienfchaft, welche dem Hochaltrigen wiberftrebten
oder ber Keuntnißnahme nicht mehr werth erjchienen. So
Literaturgefhichtliches,
dürfen wir diefe „Umterhaltungen‘ als einen willflommenen,
andy neben Edermann bedeutungsvollen Beitrag zur Kennt⸗
niß Goethe's bezeichnen.
Der Herausgeber hat bie Geſpräche mit einer biogra-
phifchen Einleitung über Müller verfehen. Die im Texte
wünſchenswerthen Erlänterungen über Berfonen, Bücher
u. f. w. find in kurzen Anmerkungen beigefügt. Die
Correctur erfcheint hin und wieder nicht ganz zuverläffig.
Sp werden S. 15 die „ſturmumregten“ Fichten wol „um-
wogte“ fein; die Mölnifche Kirche ©. 43 heißt „St.-Euni-
bert“, nicht „Humbert“. Brecioja’s „Einſam bin ich nicht
alleine“ (S. 110) bat Goethe ſchwerlich eine „reichliche“,
fondern eine „weichliche fentimentale Melodie” genannt.
„Klopftod war Hein, beliebt, zierlich“ u. ſ. w. (S. 114),
ſoll wol „beleibt‘ beißen.
2. Sandblichlein für Freunde des dentſchen Volksliedes. Bon
a. 5. C. Bilmar. Zweite Auflage. Marburg, Koch.
1868. Gr. 8. 24 Nr. .
Ans Bilmar’s Nachlaß find in der legten Zeit meh»
rere Meinere Schriften veröffentlicht worden, welche ihre
Entftehung Borträgen verdanken. Derart ift das al8bald
zu beiprechende Büchlein über Taſſo, derartig das vor-
liegende über das deutſche Volkslied. Was uns auch der
Berfaffer bringen mag, wir werden immer, foweit ihm
nicht feine theologifhe Anſchauung im Wege fteht, die
eingehende Kenntniß, den guten Gefchmad zu ſchätzen
willen, und befonders in Bezug auf die ältere deutſche
Kiteratur gehört er zu denjenigen, welche vor vielen an-
dern mitzufprechen berechtigt find. Ueber die Aufgabe,
die fih der Verfaſſer in dieſer Schrift zu löſen vor-
genommen, fagt das Vorwort:
Die Aufgabe befland darin, den weſentlichen Charakter
des volfemäßigen ‚Liedes an deffen ältern Erfcheinungen nachzu⸗
weifen, nnd bier und da deſſen geſchichtliche Entwidelung umd
Umgeftaltung fowie deſſen Zuſammenhang mit der modernen
Kunſtdichtung anzudenten. Diefe Nahweifung mußte der Natur
der Sache gemäß vorzüglih an dem ältern hiſtoriſchen Volls⸗
liede, in deffen engerm und weiterm Sinne, volljogen werden,
weshalb denn dieſes auch den größten Raum in Anſpruch zu
nehmen batte,
So beipriht Vilmar zumächft die Hiftorifchen Volks⸗
lieder, welchen er die gefammte vollsmäßige Balladen-
dihtung anſchließt. Darauf folgen, zufammen nur bie
halbe Seitenzahl des erften Abfchnitts beanjpruchend, bie
Liebeslieber umd die Lieder der Gejelligkeit. Bon ben ver⸗
fchiedenen Arten diefer Volkslieder hebt der Sammler eine
Anzahl als befonders charakteriftifch heraus, theilt fie mit
und begleitet fie mit kurzen gefchichtlichen oder fprachlichen
Erläuterungen. Da nun die Menge der neuerdings ge⸗
fammelten Bolfslieder ganz außerordentlich groß ift, wird
es vielen wünſchenswerth fein, eine Anzahl der beften und
bauptfählichen Vertreter in bequemer Zufammenftellung
vereinigt zu finden. Die einleitenden Abfchnitte find von
befonderm Werth und laffen ben gründlichen Kenner ber
ältern beutfchen Dichtung und Sage wohl erkennen; wo Bil-
mar im einzelnen moderne Zufäge annimmt, läßt fich freilich
mit ihm rechten. Wer über das weite Gebiet bes beutfchen
Bollsliedes einen Maren Ueberblid wünſcht, wem es von
Werth ift, eine beträchtliche Anzahl der wichtigften Volkb⸗
Iteder in ihrer echten Geftalt gefammelt zu befigen, mit
den Einleitungen und Erläuterungen eines geſchmackvollen
— — —
Literaturgeſchichtlich es. 599
Kenners, wird in dem Buche finden, was er ſucht. Be⸗
reits im zweiter Auflage erſchienen, läßt ſich das Büchlein
fehr wohl betrachten als eine bie Vollsdichtung behan-
delnde Ergänzung zu des Verfaſſers „Literaturgefchichte”.
3. Bon der Bollspoefie. Nebft ausgewählten echten Bollslie⸗
dern und Umbdichtungen derfelben. Zweite verbeflerte Auf-
lage. Zugleich ein Supplement zu „SKleinpaul’s Poetik“.
Bom Ausarbeiter ber legtern. Barmen, Laugewieſche. 1870.
8 22%, Nor.
Das Buch mit dem langen Titel ift ein munderliches
Buch. Kleinpaul’s „„Poetil“ iſt ein bekanntes Werk, welches
durch eine Reihe von Auflagen feine Brauchbarkeit erwie⸗
fen hat. Dem Berfafler ging bet der Bearbeitung der
weitern Auflagen ein ungenannter Freund zur San,
der nun das Bedürfnig empfand, den kurzen Abſchnitt der
Poetik über dag Volkslied in einem Ergäuzungsbändcdhen
weiter auszuführen. Auf dem Titel der vor zehn Jahren
erfchienenen erften Auflage nannte ſich der Verfaſſer Rein⸗
hard Wager, da er die Veröffentlichung derſelben „für
eine Art Wagniß hielt”. Diefe zweite Auflage erjcheint
ohne das Pſeudonym, vielleicht weil der Verfaſſer nad
mehrern, feiner Auffafjung des Volksliedes günftigen Be⸗
urtheilungen das Ausſprechen feiner Anfiht nicht mehr
als ein Wagnif betrachtete; den Namen bes Schriftitellere
und Dichters dagegen vermiſſen wir noch immer.
Der Leſer verzeihe den nothgedrungen langathmigen
Bericht über den langathmigen Titel. Der Berichterftatter
fieht eigentlich nicht recht ein, weshalb eine Abhandlung
des ungenannten Verfaſſers über das Bollslied gerade
ein Supplement zu Kleinpaul’s „Poetik“ fein muß, melche
nur um ein Drittel der Seitenzahl größer ift. Indeß
gegen Thatſachen läßt ſich nicht ftreiten; alfo betrachten
wir da8 Supplement zu Kleinpaul’8 „Poetik“ felbft.
Das Buch enthält zunähft zwei Abhandlungen. Die
erfte: „Ueber Begriff, Umfang, Eintheilung, Entftehung,
Eigenthümlichkeit, Werth und Bedeutung der Vollspoefie“,
umfaßt 42 Seiten. Wir find im wefentlichen mit der-
felben einverftanden, auch mit der Polemik gegen den
nebelhaften Begriff der Vollspoeſie, welcher in die Be-
trachtung der Homerifchen Gedichte, des Nibelungenliedes
a. f. w. jo gewaltige Verwirrung gebracht hat.
Die zweite Abhandlung betrachtet die Frage, „inwie⸗
feen eine kunſtgemäße Abänderung und Umdichtung volls-
poetiſcher Producte unzuläffig, umd inwiefern fie zuläffig
md wünfchenswerth ſei“. Der Berfafler will ins Klare
jegen, „ob e8 erlaubt und erfprießlich fer, beflimmte Pro⸗
ducte der Bollspoefie, namentlich Volkslieder, formell zu
verbollflommmen, mit andern Worten, fie nad) den be
vechtigten Regeln der Poetik umzudichten”. Er weilt dar-
auf Hin, daß bie BVollsdichtung dem Jugendalter eines
Bolls entiproffen, dem Iieblichen Lallen, Stanmeln und
unvollkommenen Sprechen unferer Kinder ähnlich fei, daß
aber zwifchen dem oft wahrhaft tiefen poetifchen Gehalt und
der Empfindungs- und Aeuferungsweife des Volksliedes
ein gewiſſer Contraſt beftehe; er hält daher gute Umdich⸗
tungen, die ſich als folche geben und keinen Anſpruch
auf volfspoetifche Echtheit machen, nicht nur für erlaubt,
fondern auch, fofern fie gelingen, für durchaus dienlich
im Intereſſe des Volls und des poetifchen Genuſſes aud)
der Gebildetern. Er beruft ſich dabei auf vortreffliche
Autoritäten, auf Herder, Burns, Bürger, Goethe, welcher
legtere in feinem „Heidenrbslein“ ein muftergültiges Vor⸗
bild einer folchen guten Umdichtung eines Vollsliedes ge-
geben babe; er empfiehlt neuern Umbdichtern, fich diefe
Arbeit Goethe’ zum Mufter zu nehmen, und bemerkt:
Bei der Umbichtung ohne Noth und Erſatz auf wirkfiche
Schönheiten eines vollspoetifhen Driginals zu verzichten, wäre
ſelbſtredend thöricht; aber die Hauptaufgabe, gegen die jede
Rückficht auf Einzelheiten des Bolksliedes zurlicdtreten barf, muß
dabei doch immer die fein, ein wirklich ſchönes Ganzes herzu-
ſtellen. Die den nahfolgenden echten Bollsliedern gegenüber⸗
gebrudten, meiner Feder entfloffenen Umdichtungen wollen fei-
neswegs als vollflommene Mufter, fondern zunähft nur ale
Berſuche gelten.
Mit diefer Entwidelung, deren Bejcheidenheit wir gern
anerkennen, rechtfertigt der Verfaſſer den Berfuh, im
Anflug an Goethe eine Anzahl dentſcher Bolkslieder
umzudichten, welche ben Heft bes Buchs, etwa 130 Sei-
ten, ausfüllen.
Nun find wir mit der Entwidelung des Berfafjers
theoretifh ganz eimverftanden und fchlagen mit nicht ge«
ringer Erwartung feine Umbichtung einer Reihe unferer
befannteften Volkslieder auf, wobei bie linke Seite das
Original, die rechte die Umdichtung enthält.
Es find nun bald 25 Jahre her, da brachte der Bes
richterftatter dem Haren fcharfen Lachmann eine Abhand⸗
lung zur Beurtheilung. Lachmann war mit dem Ergebniß
ganz einverflanden und meinte nur: „Sie dürfen nicht
jo von vornherein fagen, was Sie beweifen wollen; Sie
müffen den Leſer von felbft daranf hinführen!” Der Fuge
Dann hatte fehr recht; aber es gibt im Menfchenleben
Augenblide, wo man alle umftändlide Entwidelung in
den Wind wirft und wie ein Student gerade aufs Ziel
losgeht: und fo rufe ich hier aus: „DO du mein Himmel!
wie hat der Herr Reinhard Wager unfere lieben deutfchen
Bolkslieder erbärmlich mishandelt!“
Worin beſteht der Reiz des Volksliedes? Darin, daß
es der Empfindung und dem Gedanken den kürzeſten Aus⸗
drud gibt, alles Unweſentliche beifeiteläßt; es ift fo aus-
fchlieglih Sprache der Empfindung, daß es, um diefelbe
fo frifh wie möglich auszufprechen, auf Regelmäßigfeit
bes Reims völlig Verzicht Leiftet, ihn nach Belieben durch
den Klangreim erfegt, reimlofe Zeilen einmifcht, Vorſchlag⸗
fülben zufligt, die Berfe ganz zwanglos baut, allezeit das
einfachtte Wort wählt. Und wie fein Dichter die drei
Worte: „Ich Liebe dich!" ſchöner ausdrüden, Tein Muſiker
den ©efang der Nachtigall auf Noten jegen, kein Philo⸗
ſoph den Rofenduft definiren kann, fo läßt ſich auch das
Bolfslied nicht einfach dadurch „fir gebildete Lefer um⸗
dichten”, daß man an bie Stelle feiner Unregelmäßigfei-
ten die ftraffe Form ber Kunftdichtung fegt. Aber Goethe
bat es gethan! Quod licet Jovi, non licet bovi, fagt der
Lateiner.
Gleich Nr. 1 iſt das alte herzige: „Kein Teuer, keine
Kohle thut brennen ſo heiß.“ Die ſechs Strophen des
Liedes ſind hier auf acht erweitert; die Ueberſchrift „Liebes⸗
geplauder“ und die ganze Anordnung zeigt, daß dreierlei
Berfonen, „ver Dichter und die beiden Liebenden auftreten;
Strophe 2 und 7 werben Hinzugearbeitet und fo kommt
denn jchließlich eine „Umbichtung” zu Stande, der wir hier,
wie im Folgenden, das urjprüngliche Gedicht voranjegen:
J Bi en ir $a- N on , :
e. = Ar ee. \
BEER u ASP Id Br Zu — — 7543
‘ . -
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nt.
DR >
m *
R
4
4
1
E
x
600
Kein Gem, feine Kohle
Thut brennen fo heiß,
Als Heimliche Liebe,
Bon ber niemand nichts weiß.
" Xeime Rofe, feine Relte
Thut blühen fo jhön,
AS wenn zwei verliebte Geelen
&o beieinander ſiehn
Wie's Bögelein fingt,
Benn der Frühling aumeht,
&o bringt mir ins Herze
Deine Kiebticje Red.
Zwei Sternlein am Himmel,
Fi Röslein im Gag;
ein Herz und das deine
Sind vom felbigen Schlag.
Und willſt du es wiſſen,
Wie treu id es mein’,
So fiel! einen Spiegel
Ins Herz mir Binein.
Unb der Spiegel wird's weiſen,
Es if nichts darin,
As Liebe und Treue
Und ehrlicher Sinn.
Umdichtung:
Die fenrigfe Kohle
Brennt nimmer jo heiß,
As heimliche Liebe,
Da niemand drum weiß.
So muß fi ja öffnen
Dem Herzen das Herz;
Sonft mödt' es zerfpringen
Bor Wonn’ und vor Schmerz.
„Hör, wiäh du es wi
Ei
So fiel? einen Spiegel
Ins Herz mir Hineiu.
„Di igt bir der Spiegel,
Daß nichts iR Darin, 5
Als treuliche Liebe
Und ehrlicher Sinn.“ —
„Wie Vögeleins Singen,
Benn Lenzeshaud; weht,
So thut mid, burKbringen,
O Freund, deine Red’!
„Mein Herz und daß deine
Sind gleich fih an Schlag,
E Zöglein im Hame,
wei Röslein im Hag.“
Kein Bogel im Walde
Kann fingen fo hold,
Wie Liebe mit Liebe
Bol plaudern wollt.
Nicht Rofe noch Nele
Kann blühen fo fhön,
Bie folde zwei Seelen
uf Liebeshöhn.
Wenn jemand bie „feurigfte Kohle” und die
beffer gefallen, fo ift das Gefchmadsfade,
Nr. 3, „Des Müllers Gram“, Tautet:
Da broben auf jenem Berge,
Da flieht ein Hohes Haus,
Da fhanen wol alle frühmorgen
Drei ſchöne Jungfrauen herans.
„Liebeshöhn"
Nun weiter.
Literaturgeſchichtliches.
Die eine, die heißet Suſaune,
Die andre Anna Marei,
Die dritte, die tu’ ich micht nennen,
Die fol mein eigen fein.
Da drunten im tiefen Thale,
Da treibet das Waffer ein Rad,
Mic aber, mid, treibt die Liebe
Bon Morgen bis Abend fpat.
Das Mühlrad if zerbrochen,
Die Liebe hat doch kein End’;
Und wenn fi zwei Herzlieb ihun ſcheiden,
So reichen fle fih die Händ’,
AG Scheiben Scheiben, aı jeden!
Be hal Dog 3 a” =
Der hat mein jung friſch Herze
So frühzeitig traurig gemacht.
Umbichtung:
Da droben auf jenem Berge,
Da fteht ein vornehm () Hans,
Da fhauen an jedem Morgen
Drei freundliche Mädchen (I) heraus.
Die eine, die Heiget Sufanne,
Die andre Anna Marie;
Die dritte, die will ih nidt nennen,
Mein Herz ſchlug einzig für fie. (1)
Hier unten im engen Thale
Trieb Waſſers Gewalt ein Rad;
Mid) felbft aber trieb die Liebe,
Die ſchier mich zerrieben Hat. (1)
Das Rad ift num zerbroden,
Zerbrochen auch mein Gemüth, (N)
Beil meine herzige Liebſte
Für mid nun nicht mehr bluht. (1)
AH Scheiden und Meiden, o fagt mir, (1)
Wer hat dod euch wol erdacht?
Ihr Habt mein jugendfrifh Herze
So früh ſchon zur Trümmer gemacht. (1)
Der Berichterftatter zwingt fein Herz und lieft weiter;
aber es ift ihm übel zu Muth. Gottlob, da kommt Nr. 7,
das jüße Lieb: „Morgen muß ich fort von hier“, das
wir Studenten vor langen Jahren fo manchmal mit be-
benber Seele fangen, indem wir unfer ganzes Herz in diefe
wenigen fehmerzerfüllten Zeilen ergoffen. Wir glaubten
damals ziemlich gebildet zu fein, lafen Sophofles und
Shaffpeare, und hatten unfere innige Freude an dem un-
vergleihlihen, in feiner Einfachheit und Herzenswärme,
in feiner unbeſchreiblich wehmüthigen Weile jo einzigen
Liede. Wie manchmal Hat die ſtille Nacht unfer Abjchieds-
ſtundchen gehört! Vergangene Zeiten!
Nun, wie lautet das Lied hier? Die drei Strophen,
weldje der Berfaffer eingeflebt Hat, dürfen wir ihm fchen-
ten und nur die alte Form, und was er daraus geftaltet
bat, hierherfegen:
Morgen muß ich fort von hier
Und muß Abfcieb nehmen.
DO du allerihönfte Bier,
Scheiden das bringt Grämen.
Da id dic) fo treu geliebt
Ueber alle maßen,
Soll ih dich verlaflen.
Wenn zwei gute Freunde find,
Die einander Tennen,
Soun’ und Mond bewegen fih,
Ehe fie fi trennen,
Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Hoefer.
Noch viel größer if der Schmerz,
Wenn ein trem verliebtes Herz
Im die Fremde ziehet.
Küffet dir ein Lüftelein
Wangen ober Hände,
Dente, daß es Seufzer fein,
Die ih zu dir fende.
Tauſeud ſchick ich täglich ans,
Die ba wehen um dein Haus;
Unbiätung Weit ich dein gedente.
it :
Morgen muß ich fort von hier,
Muß num Äbſchied nehmen; —
Abſchied nehmen — id) von bir:
Gibt's noch größtes Grämen?
Alles, alles bi bu mir,
Kann es felbf nicht faffen,
Und ich fol dich lafien!
Wenm ein treues Freundepaar
Sic fortan ſoll meiden,
Re, ale wollte man Ein Herz
Im zwei Städe fdjneiben. (I)
eher noqh iſt doch der Schmerz,
Wenn zwei Liebesleute
Scheiden, wie wir heute.
Küffet dir ein Luftelein
Künftig Stirn und Hände,
Denke, daß es Seufzer fein,
Die ich zu dir fende.
Zaufend ſchick ich täglich aus,
Unb um did; zu finden,
Fahren fie anf Winden, (1)
601
„Beim böllifchen Elemente! Ich wollt, ich wüßte
was Xergres, daß ich's fluchen könnte!” Heißt das um-
dichten? If das nicht um aus der Haut zu fahren,
wenn ein ſchwaches SKunftpoetlein fol ein Volkslied,
das feit zwei=, bdreifundert Jahren auf allen Gaffen
von ungebildeten und „gebildeten" Fiebesleuten gefungen
wird, dadurch zu verfchönern meint, wenn er es zur bop«
pelten Lunge firedt, den ganzen Holden Schmelz der Poefie
abwifcht und uns dafür durch nüchternfte Fraubaſerei ent»
ſchadigen will? Goethe würde fi im Grabe umdrehen,
wenn er fähe, wie darum, weil er ein etwas unzartes
Vollslied mit leifefter Hand verflärend berüßrte, jetzt ſolch
ein Wafferpoet meint, umfere wunberbollen alten Bolls-
lieber, babei die herzigſten und füßeften Klänge der Poeſie
„für Gebildete umdichten“ zu dürfen. Es ift ein Graus!
In biefer Weife find 36 umferer ſchönſten Volkslieder
zurechtgemacht worden, etwa für ein Krunzchen von ges
bildeten Backfiſchen, bei Thee und Butterbrot zu fingen.
Dem es Vergnügen macht, Iefe die weitern nad. Es
gibt Hoffentlich auch fernerhin beſchrünkte Gemüther, bie
ſich an einen ungeſchidten Reim, an ein ſchlichtes altes
Wort nicht kehren, die ſich freuen können an dem Maren
duftigen Goldtrant unſers Volksliedes und der Pome-
ranzenſchale und des Zuders nicht bebürfen. Und wenn
es noch das wäre! Aber das Mare Brunnenwaſſer!
Wilhelm Buchner.
(Der Beiglaß folgt in der nägfen Rummer.)
Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Horfer.
1. Das Hundertgufdenblatt. Erzählung von Balduin MöIlI-
banfen. Zwei Abtheilungen & drei Bünde. Berlin, Janke.
1870. 8. 9 hir.
Im Mittelalter hatte man eine mi-parti-Tracht, fpä-
ter gab man fie den Gefangenen; jegt hat man mi-parti-
Bücher. Ein ſolches ift der obige Roman, in deſſen er⸗
ſten drei Bänden man ebenfo wenig von der „Heilung
des Kranken”, dem berühmten Gemälde Rembrandt's, das
einer Anekdote zufolge das „Hunbertguldenblatt“ genannt
wurde, wie in ben drei legten von ber Heldin ber
drei erflen, jener zarten jungen Dame mit den „halblangen”
Haaren und dem wundervollen Sammetteint, erfährt, bie
ihre Sklaven blutig peitf—hen läßt und mit dem Helden
des Romans, bem liebenswürdigen jungen Mann, ber bie
Yugendkroft des Damenritterd und den Gehorfam bes
Sohnes gegen die Mutter repräfentirt, ein tofettes
Augenfpiel treibt; die auf ber Menfchenjagb, unter
zufammengefchoffenen Pferden und Leihen ganz heil und
munter herborfommt und num in theatralifher Weife
Kranke befucht, den Helden Wilmot, den fie feurig Lie
benden, im Schlafe fügt, darauf zu dem Sklavenhalter
und Vater zurüdtehrend, bei Nacht verſchwindet und fi
ſchließlich in tieffter Verſchleierung den Augen des Helden
und bes Leſers entzieht, dem nur noch angebeutet wird,
daß biefes widerwärtig ſchöne Weſen Schaufpielerin ge⸗
worben fei umd fi mit einem WVBühnenhelden verhei-
rathet habe.
1870. 38.
Nachdem alfo in den drei erften Theilen des „Hunderte
gulbenblattes” die Neger gründlich mafjacrirt worben,
Spione ihr wiberwärtiges Handwerk getrieben, die er⸗
niebrigte Menſchheit vor der ſich felbft buch den
Sklavenhaudel erniebrigenden kroch und winfelte, zugleich
aber auf Hintergehung und Berrath fann, Ränke fpann,
zerriſſene Briefblättchen auf Holzbreter zufammenklebte
umb dadurch Ueberfallplane erfpähte und das Intereſſe
des Lefers, das eben in der Sklavenfrage Fuß zu fa
fen begonnen, mit Blut und Leihen erlaufie, fommen wir
plöglich in Band 4 zu harmloſen dentſchen Nähtermäd»
hen mit ihren Liebhabern, zu Trödleen mit langweilig
breiten Hausgefpräden, ärmlichen Kunſtſammlern und
reihen Kunftliebhabern, kurz in eine ganz andere ziemlich
nüdterne Geſellſchaft. Was kümmert «8 den für bie
unglüdfichen gepeitfchten Schwarzen im mitleidsvoller
Sympathie Entbrannten, ob der ſchwarze Schloffergefell,
der Liebhaber von Luischen Spranger, am Gonntag,
wenn er fi gewafcen Hat, ganz anders als am
Berktag ausfieht, oder ob der alte „Runfllauz“ fi
auf das für 10 Sgr. in einem Xröblerladen gefaufte
Hımbertguldenblatt beim Butterbroteſſen Fettflede macht!
Nein, das überſteigt die „Lefegebuld“ und niemand wird be⸗
greifen, wie Möllhauſen „Geduld“ haben konnte, dergleichen
zu „ſpinnen“. Wenn nur erlaubt ift was gefällt, fo ift
eine ſolche Romanfchreiberei ficherlich unerlaubt, wenig-
ſtens iſt das fechebändige — glüdlicherweife nicht neun.
76
602
bändige Hunbertguldenblatt weber ein Nebeneinander noch
ein Nacheinander, felbft nicht einmal ein Durcheinander,
nur ein Yuseinander.
Wilmot Mutter und Sohn treten allerdings im
BDerlauf von Band 4—6 wieder auf, und der Roman⸗
knoten löſt ſich auch infofern ganz glimpflich, als die
frühere Pugmaderin, fpätere Mrs. Wilmot, ſchließlich
noch ihre erfte Liebe — zur zeit fchon einen contracten
ältlichen Deren — heirathet und das Pfeudonym Wilmot
für den Helden fällt, weil diefer nunmehr in dem zweiten
Gatten der hochverehrten Mutter zu feinem rechten Va⸗
ter und Namen gelangt; aber das gibt feine Entfchä-
digung für die große dreibändige Introduction, ebenfo
wenig wie der Uebergang des Helden von den ſchwarzen
zu den blauen Augen, von Flora, der Stlavenhalterin, zu
der fleißigen Iſſe, dem Großtöchterlein des alten Kunft-
kauzes. Das find Spielereien der Sinne, bei denen we-
der die Phantafie noch das Gemüth des Leſers Befriedigung
finden Tann.
Hätte Balduin Mölhaufen das Motiv wie es
fih zu Beginn des Romand ganz gut anließ, den
Kampf des Sohnes zwifchen der edeln Weiblichkeit der
Mutter und der Unweiblichleit der fchönen Geliebten, mit
ſychologiſcher Schärfe und Vertiefung in diefe Herzens-
—* durchgeführt, ſo wäre damit etwas Neues und
Ganzes, kein mi-parti geboten worden. Wäre ferner
Mölldanfen auf amerilanifhem Boden, wo er ja beben-
tende Rocalfenntniffe befigt, daher nicht wie fo viele
andere Amerikamüde nur aus der Phantaſie fchöpfen
durfte, geblieben und hätte Naturbilder ftatt Hundert-
guldenblätter — e8 kommen deren zwei in dem Roman
vor, natürlich ein echtes und ein falfches Blatt — ge-
boten, fo würden wir ihm fir die Wahrheit der groß-
artigen Urwaldsnatur gern die Kunftfchäge in der Dad)-
fammer geſchenkt haben. Wir überlafien dem Lefer, auf die
Brage, ob „Das Hundertguldenblatt” ein zeitgefchichtlicher,
ein pfychologifcher, ein Künftler- oder ein Intriguenroman
fei, fjelber zu antworten; unferer Anficht nad ift der
Roman, obwol darin fehr viel gejchlachtet wird, ohne
Fleiſch und Blut.
2. Ludwig ber Bierzehnte oder die Komöbdie des Lebens. Ro⸗
man von A. E. Brach vogel. Bier Bände. Berlin, Janke.
1870. 8 6 Thlr.
Das erfte, was uns bei einem Buche Beranlaffung
wird es zu Iefen, ift deſſen Titel, folange der Autor
noch eine unbelannte Größe ift, fonft aber der Name des
Verfaſſers ſelbſt. Wir müfjen zugeben, daß uns „Ludwig
der Vierzehnte“ nicht reizen würde, der Stoff ift allzu
befannt, allzu viel bereits bearbeitet und variirt, und vor
furzem erft legten wir Vacano's „Geheimniß der Fran
von Nizza’ aus der Hand, in welchem die befannten Ge-
falten des Königs, welcher jelbft der Staat ift, der Ninon,
der Lavalliere u. ſ. w. an uns vorüberzogen; demnach
ift e8 bei dem hier in Beſprechung gezogenen Buche der
Name des Verfaſſers, der uns ermuthigt, die vier Bände
romantischer Gefchichte oder gefchichtlicher Romantik durch.
zulefen. Brachvogel ift ‘Dramatiker und bleibt es in dem
Roman, der, wie ja fchon fein Titel befagt, die Komödie
beoingt. Unferer Anſicht nach wäre nun der bezeichnen-
dere Titel für das und vorgeführte politifche Intriguen«
Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Hoefer.
jpiel, da8 von der ſchönen Anna von Orleans einge-
leitet wird und an dem Betpult der WMaintenon en-
det, „Frauenpolitik“ gewefen; denn wie glänzend auch
immerhin da8 Auftreten Ludwig's XIV. iſt, mag er
hinter dem goldenen Gitter in ber ihn verlängernden
Perrüfe fpeifen ober fi auf der bezauberten Inſel an-
beten laſſen, er bleibt doc, ftetS eine an den Drähten
der Frauenpolitik geleitete Puppe, wodurch gewifjermaßen
die Frauen felbft, die, fo ſcheint es, mit ber größten
Leichtigkeit das Regiment führen — bei ber Maintenon
kann man fchon fagen den Pantoffel ſchwingen —, ſich
herabfegen. Die Schmeicheleien, von denen aller Lippen
überfliegen, erfcheinen faft wie eine Verhöhnung bes eiteln
Monarchen, und wenn e8 ber Autor nicht verftanden
hätte, bei Ludwig's Exfcheinen alles Licht in feiner Perſon
zu concentriren, von ihr ausſtrahlen zu laſſen, ihn zur
Sonne des Romans zu machen, würbe der große König
wie ein willenlofer Schwädling erfcheinen.
Ueber die Grenze des Romans ift der Autor beinahe
binausgefchritten, indem er uns ein Herrfcherleben vom
erften Beginn aufwärts bis zur legten Stufe abwärts
vorführt. Der Roman verliert dadurch feinen Charaf-
ter als folder, er wird eine gefchichtliche Biographie.
Sehen wir doch Ludwig XIV. in dem Bracdhvogel’fchen
Roman zuerft in dem neuen Sindermobdecoftiinm, dem
haut de chausse, welches fich feine noch jung fein wol-
lende Mutter fir den fiebzehnjährigen Jüngling aus
gedacht, und fchliegli als „Gebete plärrenden Greis“.
Dabei find die Zeitabfchnitte, die Uebergänge nicht chro-
nologifh Far, es werden oft längere Zeiträume über⸗
Schritten, ohne daß man begreift, wie man fo plötzlich
den Siebenmeilenftiefelfchritt gethan ; das aber wieber
zeigt die VBerwandtichaft diefes Romans mit dem Drama.
Alles vollzieht fich in draftifcher, fnapper Gefchwinbigfeit,
ſodaß wir nicht blos in der Komödie Moliere's, welche
fi) neben der Füniglichen Komödie im Lonvre durch den
Roman zieht, ftets im Theater zu fein wähnen, daß wir
Handlung auf Handlung an und vorüberdrängen fehen
und fowol mit breiten Naturfchilderumgen wie andern
Ueberladungen von Bildern und Vergleichen — eine Ge
ſchmackloſigkeit, die bei vielen unferer modernen Koryphäen
bis zur widerlichen Manie ansgeartet ift — verfchont blei⸗
ben. Brachvogel fchreibt ohne allen Bombaft, nirgends
findet fih bei ihm ein Schachtelſatz oder ein bei ben
Haaren herbeigezogener Vergleich. Aufgefallen in diefer
Beziehung ift uns nur die Gtelle, wo das Beifalle-
gelächter des Publikums. für den Schaufpieler mit Tauf⸗
waſſer verglichen wird; außerdem, „daß Ludwig XIV. bie
ganze Bürde der Regierung auf feine hohen Schultern
nehmen wollte”, wodurch man einen hochjchulterigen König
bekommt. Ferner fcheint und in dem Sage: „Leider
floffen beide feheinbar ſich wiberfprechende Gedanken ans
berjelben Quelle und waren eines fo abfoluten Monarchen
gleich würdig, der eben nur feinen eigenen Bortheil im
Glücke feines Volks ſuchte m. |. w.“, das „gleich würdig“
nit ridtig angewandt. Abſolutismus, der im Egoismus
wurzelt, ift niemals eines Königs würdig.
Was und im der Konception aufgefallen, ift bie
Unmöglichkeit, mindeftens Unmwahrfcheinlichkeit, daß Anna
Stuart, diefer glänzende weibliche Geift, diefes intriguante
Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Hoefer.
fchöne Wefen, diefe mit fiebzehn Tahren allen Prunk eines
Maskenballes verbunfelnde Schönheit, zwei Jahre zuvor
noch fo abfchredend reizlos und linkiſch dem König er-
ſcheinen konnte, daß er flatt für fih, für feinen Bruder
um diejenige warb, die er dann Jahre hindurch unglüd-
lich liebte. Es ift, wie gefagt, nicht denkbar, daß ein fo
bezauberndes Weſen jelbft in einem bürftigen Anzuge
nit auch noch Hinreißend fchön fein könne; im Gegen⸗
theil trägt ja oft die Macht bes Contraftes noch dazu
bei, eine Schönheit zu erhöhen. Daß Anna fpäter bie
Heldin des Romans wird, gibt diefem eine gewiſſe Noblefie;
die Herzogin von Orleans, zu welcher fie —* gemacht,
ſteht heroiſch und rein inmitten der unſaubern Geſell⸗
ſchaft von Schleichern, Schmeichlern, Giftmiſchern und
Maitreſſen. Dennoch ſtirbt mit ihrem Tode das Intereſſe
für das Buch nicht ab, was häufig bei Werken der Fall
iſt, in denen ein Nebenheld oder eine Nebenheldin zu
früh aus dem Gang der Erzählung tritt; denn das Haupt⸗
intereffe nimmt eben doch Ludwig für fi) in Anfprud).
Es iſt nicht der König, es ift auch nicht der Menſch,
der uns dieſes Intereſſe erzeugt, jondern die in ihm
wurzelnde Idee bes Jahrhunderts: das Streben, in der
Perfon des Königs die Gloire des ganzen Reichs durch
übermäßigen Prunk, gewaltthätige Eigenmacht, beraufchende
Großmuth, vernichtende Befehlskraft darzuftellen.
Daß wir dieſe majeftätifche Deajeftät in dem Roman
balb als unglüdlich Liebenden, der Herzogin von Orleans
gegenüber, und andererfeitd als Sultan feinen Maitreſſen
gegenüber jehen, bringt einen Dualismus in die Königliche
Erſcheinung, vor der alles tiefgebückt fteht oder „ausein⸗
anderftiebt‘; wir befommen dadurch eine Berguidung von
Romantik und Materialismns, die deshalb fo uner-
quicklich ift, weil wir die Liebe und von der finnlichen
Genußſucht und jene von diefer getrennt denken müſſen.
Die unbedeutend gefchilderte Herzogin von Lavalliere,
die als Dedmantel für das romantifche Verhältniß des
Königs zu feiner Schwägerin bienen muß, fpielt dadurch
eine halb lächerliche, halb verächtliche Rolle. Ganz pro-
ſaiſch ift die Anknüpfung mit der Montefpan; die Yon-
tange muß auch noch mit hinein, während die bettelnde
Scarron fih ſchon den Dispens vom Papſt zu einer
Trauung mit Ludwig an der Iinfen Hand erwirkt: aller»
dings ein gefchichtliches Factum, das fidh aber doch wol
nicht mit folder Sicherheit voransfehen und gejchäfts-
mäßig vorbereiten Tief.
Neben Ludwig und Anna von Orleans erwedt Mo⸗
tiere die Theilnahme des Lefers, weniger durch fein Schau
fpielerleben und feine unglüdlichen häuslichen Berhältnifie,
al8 durch den piychologifchen Nachweis der Entitehung
feiner berüifmt gewordenen Komödien. Indem wir den
Komddianten und Komödbdienfchreiber in feinen Beziehun-
gen zur Ninon, zur Herzogin von Orleans und zum
König felbft Tennen lernen, erfcheint die Entwidelung fei-
ner Stüde eine vollkommen natürliche und zeitgemäße, ja
mit ihrer praftifchen Unterlage ein Stüd Gefchichte jelbft,
benn früher machten ja eben bie Könige bie Gefchichte;
wer bas Wort ausfpracdh: l’ötat c'est moi, war ſich befien
mehr bewußt mie jeder andere, und indem Ludwig ben
603
armen Komdbianten an feine Tafel 309, ehrte er zugleich
feinen eigenen Gejchichtfchreiber.
ragen wir nun, zu welchem Zweck Brachvogel das
Bud) gefchrieben, von weldjen Beweggründen er bei diefer
Ürbeit geleitet gewefen, fo möchten wir ftatt feiner ant-
worten: um uns ben Gegenſatz der Gefchichte von da-
mal® und jetzt zu zeigen; von damals, mo fie in ber
Hofintrigue ihre Duelle hatte, und von jett, wo fie als
die Entwidelung des Menfchengeiftes gefaßt und begriffen
wird und an die Stelle der Komödien. an den Höfen ber
Könige die fociale Bewegung der gefammten Menfchheit
getreten ift.
3. Aus Kriege» und Friedenszeiten.
Edmund Hoefer. Zwei Bände.
1870. 8 3 Zhle. 15 Ngr.
Der Titel läßt darauf fchließen, daß vorzugsweiſe
Bilder ans dem Kriege und als Gegenſütze folche des
ſtillen Friedens gegeben, daß die Contrafte diefer verfchie-
denen Zuftände hervorgehoben werden und ein Zuſammen⸗
bang zwiſchen beiden nachgewiefen wird. Das iſt aber
nicht der Fall, die Geſchichten ftehen in keiner Berbin-
dung unter fi; auch find fie in ruhiger, faft zu leiden-
fchaftslofer Weife erzählt, fie erregen keinerlei Spannung
und bringen Feine überrafchende Apergus. E8 geht ein Geift
der Nefignation durch die meiften diefer Gefchichten und
der Schluß derjelben gleicht Häufig einer Diffonanz, welche
beim Anhören eines Mufilftüds, wenn dieſes mit einer
ſolchen abbricht, ein unbefriedigtes Gefühl zurüdläßt.
So haben wir uns z. B. in der Geſchichte „Zer-
brochen“ mit einem Zweifelnden und Liebenden von Seite
zu Seite gequält und befommen endlich doch keinen Auf-
ſchluß über das Schickſal und den Charakter de Mäd⸗
chens, für welches die lebhafteſte Theilnahme zu weden
des Autors Abficht war. Ebenſo ergeht e8 uns mit der
„Goldenen Rofe”, wir erfahren nichts Beftimmtes über diefe
etwas plumpe Berfüihrungsgefchichte, ebenfo wenig wie
über die Unfchuld des Mädchens in dem zweidentigen
Haufe, wo heimlich Bank gehalten wird: wir follen ver⸗
muthen und errathen,
Diefe Art von Myſtification Hat viel Entmuthigendes;
dazu kommt etwas Gebehntes, Weitandgefponnenes, was
oft den Lejer die Gebulb verlieren läßt, denn es find
Nebendinge mit einer zu großen Wichtigkeit behandelt und
Hanptfachen zu kurz abgethan, gleichjam als fomme es nur
auf den Weg, nicht auf ben Zweck und das Biel der
Keife an. Das mag in manden Fällen ganz richtig fein,
wenn der Weg wirklich fo fchön ift, daß feine mwechjeln-
den Reize uns vergefien laflen, wo wir eigentlich hin⸗
wollen und was wir vorhaben; ja eine entzüidende Land⸗
Schaft vermag einen Naturſchwärmer felbft auf der Keife zu
einem fterbenden Freunde fo zu erheben, daß er auf Augen-
blide feinen Kummer vergißt und in dem Anblid des
Schönen ſchwelgt. In einem Buche aber, das nur den
Zwei bat zu unterhalten, wollen wir nicht viele einförmige
Streden durdwandern, um hier und da ein Ruheplägchen
zu finden. Wir find überdem durch das Drängen und
Treiben, das unfere Zeit mit fich bringt, nicht mehr
| 76”
Neue Gedichten von
Breslau, Trewendt.
U
604 Eine Biographie aus dem Mittelalter.
innerlich ruhig genug, haben in Wahrheit nicht Zeit genug
übrig zur bloßen Beſchaulichtkeit.
Jedenfalls aber find diefe „Neuen Geſchichten“ mehr
dem mannlichen ald dem weiblichen Geſchmad entfprechend,
Eine Biographie ans
Friedrich der Freidige, Markgraf von Meißen, Landgraf von
Aheingen, und die Wettiner feiner Zeit. (1247— 1325.)
Ein Beitrag zur Geſchichte des deutfchen Reiches und der wetti⸗
nifgen Länder von Franz X. Wegele. Nördlingen, Bed.
1870. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Nor.
Friedrich der Freidige ift der Mehrzahl der Gebilde»
ten unter der Bezeichnung „Friedrich mit ber gebiffenen
Wange” eine mohlbefannte Geftalt. Schon Tängft hat
zwar die Kritik jenen romantiſchen Nimbus von ihm ab-
geftreift, mit welchem ihn die echte Volksſage, oder die Ge-
ſchichte in volfsthümlicher Auffaffung, bekleidet Hatte, aber fein
hiſtoriſch berechtigtes Prädicat „der Freidige“ ſcheint doch
noch immer nur innerhalb des eigentlich gelehrten Kreiſes
Geltung zu haben. Hochſtens daß es in falſchverſtande ·
ner Auslegung ſchon im vorvorigen Jahrhundert einmal
in der „Freudige“ verballhornt und fo im die Literatur
eingefchleppt und von ihr mit fortgefdhleppt worden ift.
Und wi paßt auch das Prädicat freidig, mit feinem
auf der Grenze zwiſchen gut und bös fehmebenden
Sinne, den man am beiten durch „ein Mann, mit dem
es nicht gut ift Kirfchen zu effen“ geben wird, nicht wohl
zu dem vom Bollögemüth fo fentimental aufgefaßten
Sohn der unglüdfeligen Kaiferstochter. Der hiſtoriſche
Friedrich dagegen war ein freidiger Mann in des Wortes
verwegenfter Bebeutung, ja fogar in feiner älteften, wo
es den landfluchtigen, von Beute fi nährenden Partei
gänger bezeichnet; aber er war aud) etwas mehr ala das,
ein verftändiger, hartgefottener, phyſiſch und moraliſch
tapferer Mann, ein echter Sohn einer finftern und har»
ten Zeit, des Interregnums im Reiche und der in Meinerm
Kreife ebenfo verhängnigvollen Exbfolgeftreitigkeiten über den
reichen Nachlaß der ritterlichen Nachlommen Ludwig's des
Värtigen, geftäßlt in ben nicht minder verberblichen häus ·
lichen Wirren innerhalb ber Familie der damaligen Wet
tiner, des vielbefungenen und doch fehr wenig poetiſchen
Heinrich des Erlauchten, feines Sohnes, des zerfahrenen
und launiſchen Albrecht, des wahren Typus der unfuoge,
wie fie ſchon feit Walther von der Bogelmeide mehr und
mehr die deutſchen Fürſtenhöfe befchmuzte, und wiederum
feiner Söhne, unter denen eben bdiefer Friedrich felbft
und fein Bruder Diezmann allgemein befannte Geftalten
geblieben find, weil fi die Volfsfage ihrer bemächtigte,
die doch ihren Großvater Heinrih, aber nicht feinen
Sohn Albrecht, freilich zu feinem Schaden vergefien
burfte.
Bon jeher Bat die Particulargeſchichtſchreibung mit
einer gewiſſen Vorliebe bei der Geftalt dieſes Friedrich
jerveilt, und begreiflich genug. Iſt ex doch ber typiſche
epräfentant des vom Olüde gefrönten offenen Wider
ſtandes des Territorialfürſtenthums oder ber fürftlichen
Hauspolitit gegen die Reichspoiitik oder das Kaiferthum.
Zwei —* Könige, die, als bloße Männer gewogen,
namentlich werben ältere Leute, insbeſondere auch Militär-
perfonen, barin manches Bild an ſich vorüberziehen jehen,
das fie mit befannten Dingen in vertraute Beziehungen
fest. Ieanne Marie von Gapetie- Georgens.
dem Mittelalter.
bei aller ihrer Verſchiedenheit untereinander doch zu ben
tüchtigften zählen, welche das damalige Deutſchland Her-
vorbringen konnte, Abolf von Naffau und Albrecht, Au-
dolf's von Habsburg nicht umebenbikttiger Sohn, hatten
es vergeblich verfucht, geftügt auf das formale Recht, ge-
gen ihn bie Anfprüce des Reichs, wenn es im Hinter«
grunde eigentlich auch nur ihre Plane zur Ermeiterung
der eigenen Territorialmacht waren, durchzuſetzen. Beide
find von dem einen Fürften befiegt worden, und wenn
auch fein Sieg erft durch unberechenbare Zufäle, durch
den anderweitig veranlaßten gewaltfamen Tod beider Kö-
nige zu einem entſcheidenden geftempelt wurde, fo ift er
doch in feinen Folgen ein folder gewefen. Bon da an
ſteht die territoriale Legitimität des Haufes Wettin im
Thüringen, dem Ofterlande und Meißen unangefochten
feft, und niemals hat ein fpäterer Träger der Srone
Karls des Großen baran gedacht, die formell unanfecht-
baren Rechtstitel zur Execution zu bringen, auf melde
ſich Adolf und Albrecht ftügten.
Begreiflich ruht das Hauptinterefie einer geſchichtlichen
Darftellung- des Lebens Friedrich's auf biefem feinem
Kampfe gegen das Reich oder bie Könige. Iſt ja doch
in Wirklichkeit der größte Theil feiner ungemeinen Kraft
und Begabung dafür eingefegt worden. Und jo hält
aud) dies meuefte Buch bie allgemeinen Gefidtspunfte
vorzugsweife feft, ohne doch das Particulare, die innern
BVerhältniffe und Beziehungen Friedrich's zu feiner Familie,
zu Land und Leuten, außer Augen zu laſſen. Es bedarf
Taum ber Bemerkung, daß der Verfaffer mit aller Gründ-
lichkeit und Umficht einer durchweg ben lauterften und
urjprünglichften Quellen nachgehenden Kritik und, foweit
dies möglich ift, erſchöpfend den Stoff behandelt, jegen
wir hinzu, auch in anfprechender und durchgebilbeter
Eonception und Darftellung.
Die neuere beutfche Gefchichtfereibung ift bekanntlich
geneigt, im jedem Conflicte zwiſchen dem Barticulare
fürftentfum und der faiferlichen Gewalt des Mittelalters
für diefe legtere Partei zu nehmen, und fo aud hier.
Markgraf Friedrich erſcheint unfern ghibelliniſchen Hifto-
tifern, einem Böhmer, Kopp, Lorenz, nicht viel beſſer
als ein vom Glüd begünftigter Rebell, während er der
Landesgeſchichtſchreibung noch immer als das Ideal eines
Helden und Fürften gilt. Ein Rebell müßte er nun
freilich auch dem unbefangenen Urtheil eines ſolchen er-
fcheinen, welcher fich von allem Phrafennebel des gefchicht«
lichen Doctrinarismus frei gemacht hat, wenn man nad)
Iandläufigem Sprachgebraud, darunter einen Mann ver
fteht, der fich gegen das formelle Recht mit den ‚Waffen
in der Hand erhebt. Aber es hat allerlei Rebellen vom
befonderer Art gegeben, melden die Geſchichte jals das
wahre Gottesgericht mehr als bloße Amneftie, eine voll ·
Eine Biographie aus dem Mittelalter.
ftändige Upologie und Apotheoſe zutheil werden läßt.
Bar nun Friedrih ein Hebel diefes Schlag? Wir
meinen ed nicht, trogdem wir und von allem roman⸗
tiſchen Ghibellinismus frei wiſſen. Jene von der Gefchichte
fanonifirten Rebellen empörten fi im Namen einer großen
Idee, wie fie fie verftanden, gegen ben ftarren und hohlen
Formalismus der Legitimität; biefer ,‚freidige Mann‘, :
ein echter Strauchritter dieſer claffiichen Epoche des
Stegreifritterthums, kannte nichts weiter als bie nüchtern⸗
ften Intereffen des Befiges und des Privateigennutes, der
zufällig bei ihm auf die embryonifchen Elemente ſtaats⸗
rechtlicher Verhältniſſe baſirt war, weil es fi um das
Mein und Dein einer Familie handelte, die flaatliche
Yunctionen in Privatbefis gebracht hatte, oder, wie man
das technisch nennt, zum Keichefitcftenftande gehörte. So
iſt und bleibt er, troß unleugbarer Kraft des Willens
und ebenfo unleugbarer Tüchtigleit der That, doch ein
durch und durch profaifcher Geſelle, und die Weltgefchichte
ift num einmal fo fonderbar gelaunt, nur ideale oder im
tiefften Sinn poetifche Geftalten, verfteht fich beileibe
nicht folche, die Verſe gemacht Haben, fondern eher einen
Percy als einen Owen Glendower, ber
framed to the harp
Many an English ditty, lovely well —
ber Heroenanbetung würdig zu erflären. Nicht alfo weil er
gegen das Reich arbeitete, wird er auch von uns nicht zu
den großen Seftalten der Vorzeit gefegt, fondern weil er es
in beſchränktem Sinne that, gleichviel ob er damit un«
willkürlich das eigentlich Zeitgemäße traf, d. 5. das, was
nach Lage der realen Dinge nothwendig Ausfiht auf
äuferliches Gelingen haben mußte. Denn jene faiferliche
Politik, die er befiegte, wäre, wenn fie wirklich das be⸗
abſichtigte, was ihre modernen Xobpreifer mwähnen, das
denkbar verfehrtefte Ding von der Welt gewejen. Aber
fie bat, auch felbft wenn ihre Träger ſich darüber ge-
täufcht haben follten, einen ganz andern wirklichen Inhalt
gehabt. Rudolf I. gibt ja dafür das bdeutlichfte Zeugnif.
Wenn irgendeinem, jo war es ihm Ernft mit dem kaiſer⸗
tihen Gedanken. Und woranf lief diefer fchließlich hinaus?
Daß er feiner Yamilie eine flattliche, hübſch abgerundete
Hausmacht hinterließ. Ein Adolf brachte es freilich nicht
fo weit, eben weil er fein Rudolf war. ber !die Er-
oberung des wettinfchen Samilienbefiges, wenn fie geglückt
wäre, hätte nur eine neue Familie von Territorialherren
groß gemacht, dem eich ober der Idee des Kaiſerthums
wäre damit nicht geholfen worben. Ihnen war überhaupt
nicht mehr zu helfen, und ber Inſtinet davon mag es
gewejen fein, ber auch in diefem- Kampfe der Territorial⸗
gewalt ihr die Sympathien der Bevöllerung ficherte, nicht
wie wir e8 von moderner Denkweife aus anzunehmen ges
neigt find, ein wirkliches Band des Gemüthes, etwa jene
von unfern Barticulariften auch in das Mittelalter hin-
eingefälfchte Liebe und Treue zu den „Angeftammten“.
Dazu war die Zeit zu Bart und zu nüchtern, und bie
Angeftammten forgten durch unaufhörliche Kaufe, Taufch-
und Pfandgefchäfte, die alle mit mehr als jüdiſcher
Betriebſamkeit als ihre Hanptlebensaufgabe behanbelten,
605
genugjam dafür, daß ſich das ruhige Gefühl der Zuſam⸗
mengehörigfeit zwifchen Herren und Unterthanen nicht bil
den konnte. Wenn nnd wo bie legtern die erflern gegen
Kaifer und Reich unterftügten, geſchah es, meil fie im
ihnen doch noch einen beflern Halt fahen als im jenen
fhon zu Schemen gewordenen Mächten. Go viel als
der Geift der Nation damald vom Staate wollte und
ertragen konnte, genau, fo viel gewährte ihm das Terri⸗
torialfürftenthum, freilich wenig genug in unfern Augen,
aber doch nody genug, um die völlige Auflöfung ber
Angehörigen des beutfchen Volks in blos fociale und
gänzlich flaatlofe Atome zu verhindern. Denn ein ge-
wiſſes Staatsbebürfnig hat fich doch immer und in allen
Situationen ber deutichen Gefchichte ald das eine große,
fie beftimmende Moment bethätigt; das andere, ihm ge
rade entgegengefegte ift das der abfoluten Staatslofigkeit,
welches gleichfalls von Anfang an dagegen Tämpfte. Die
Phaſen ihres Kampfes bedingen die Ereigniſſe, die man
deutfche Gefchichte nennt. Damals ftand e8 fo, daß das
Kaiſerthum, wenn auch dem Namen nad) eriflirend, dem
Staatsbedürfnig bes Bolksinftinctes nichts mehr bieten
tonnte; hundert Fahre früher mochte dies noch zweifelhaft
fein, folange dies Kaiſerthum felbft noch nicht fein Geſchick
erfüllt Hatte. Dies beftand darin, daß es in dem gleich“
zeitigen Verſuch ber Löfung zweier innerlich unvereinbaren
Aufgaben ſich aufrieb. Die Idee bes Univerſalreichs
und die innerlich entgegengeſetzte des Nationalſtaats hat
alle großen Geſtalten unferer deutſchen Herrſcher zu einem
ebenjo großartigen, wie zunächſt und vor allem für ihr
eigenes Bolt verhängnißvollen Ringen gegen die Natur
fozufagen getrieben. Fragt man aber, woher es kam,
daß fo tüchtig angelegte, alfo auch felbftverftändlich von
feiten der Intelligenz reich ausgeftattete Männer auf einer
fo vernunftwibrigen Bahn fich bewegten, fo ift die Ant⸗
wort nur aus einer richtigen Einfiht in die legten
Grundlagen der pfychologiſchen Eonftruction des deutfchen
Boltscharalters, oder der deutſchen Volksſeele ald dem
Subftrat des Charakters, zu entnehmen. Die Ungezogen-
beit des fubjectiv fi) zur Außenwelt verhaltenden Ger
müths, bie felbft nad der fehonungslojen Zucht einer
zweitaufendjährigen Gefchichte noch jegt die weſentlichſte
Signatur der deutfchen Art bildet, hat im Mittelalter
den Bau eines deutfchen Staats, der nad) den Begriffen
der Zeit diefen Namen verdient hätte, vereitelt, aber das
Bedürfniß nah ftaatliher Zuſammenfaſſung war doch
mwenigftens auch ftark genug, um das völlige Aufhören
des Dolls, was mit dem Aufhören feiner ftaatlichen
Formen hätte eintreten müflen, zu verhüten. In der-
jelben Weife fümpfen ja aud) jett noch beide Momente
mit unleugbarer Erftarkung des letztern, das, wenn über«
haupt das deutſche Volk ſich phufiich behaupten will, in
der von ber gegenwärtigen Weltlage geforderten Form
des ftricten Einheitsſtaats sans phrase ſich realifiren muß.
Aber wenn wir dies auch Mar erkennen, oder weil wir
dies thun, können wir auch einer fcheinbar nad) der ent»
gegengefegten Richtung ſtrebenden Geftalt der Vergangen⸗
heit wie Friedrich der Freidige gerecht werben.
Heinricd, Rücert.
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. .. * J [2
1
606 Fenilleton.
Fenilletan.
Zur Kriegslyritk.
Die drei erſten Hefte der „Lieder zu Schutz und Trug”,
welche in Berlin im Berlag von Franz Lipperheide erfchienen
find, bringen eine Zahl bisher unbelannter Driginalgebichte,
welche eine erweiterte Rundſchau Über das gewaltige Iyrifche
Aufgebot der Neuzeit geflatten. Wir können bier nicht alle
Poeten nambaft machen, welche jet das Banner ber Kriegs⸗
Igrit hochhalten; die Thatſache ſteht feſt, daß kaum ein Name
von literarifcher Bedeutung in ihren Reihen fehlt, ja daß felbft
diejenigen Schriftfteller, deren Miffton flir bie Lyrik zweifelhaft
ift, ausnahmsmeife den Pegafns zum Ritt in das vomantifche
Land der Strophen und Reime fatteln. Unter den patriotifchen
Lyrikern finden wir fogar die Hauptvertreter der jungdentſchen
Proſa, Karl Gutzkow und Suftan Kühne, welder letztere
Autor allerdings in jlingfter Zeit die Lyrik mehr pflegt als in
ben Tagen feiner Sugend. Auch Dramatiler und Novelliften,
wie Roberich Benedir und Guſtav zu Putlig, finden fi
unter den Lederfängern ein. Der erſte befiugt in humoriſti⸗
cher Weiſe den „Spaziergang nad Berlin‘. Einige bdiefer
Strophen find bereits in Erfüllung gegangen, fo z. B. bie
gereimte Doppelgeile:
Bielleiht auch jehen wir Daun Ihn
Auf dem Spaziergang nad Berlin.
Guſtav zu Putlitz fingt in ſchwunghaftern Strophen:
Dem Herrn der Schlachten ſei empfohlen
Fürs Vaterland der heil'ge Krieg;
Er Tommt, wenn auch auf blut'gen Sohlen,
Ia, er muß Tommen — und ber Sieg,
Die tobumranichten Lorberreifer
Dann füget alle Zweig an Zweig,
Zur Krone für ben deutſchen Kaiſer,
Zum Breiheitsbaum im deuntſchen Reich.
Auch an einzelnen Euriofitäten fehlt e3 in der Sammlung
nicht; wir rechnen dazu, ohne der tüchtigen Gefinnung zu nabe
zu treten, die Verſe, im denen der alte Maßmann „Ernft
Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn“ herbeibeſchwört;
die ganze Dichtweiſe gemahnt jo altburſchenſchaftlich wie ein
Geiftergruß aus der Zeit der verfemten Turnerei:
Ich wollt', ih könnt' euch weder,
Ernft Morik Arndt nnd Jahn,
Euch treue Zwillingsreden,
Zur neuen Siegesbahn;
Was ihr gewollt, gewaget
In fchwerer, ſchwüler Zeit,
HM nun beraufgetaget
Zu ſfichrer Herrlichkeit.
Ihr Habt der Corſen Erften
Geftürzt von feinem Thron;
Nun gilt’8 bem Liebeleerften,
Dritten Napoleon,
Dem Lügner, ber die Laufbahn
Begonnen mit Meineib,
Und nun ben welfden Raufbahn
Läßt 108 auf deutſcher Heib.
O Körner, ruf nun wieder
Den Geiſt von Dreizehn wach;
Ernen're beine Lieber
Und Rogau's Shwur zur Nach’!
Und riefen, ſchwinge fröhlich
Nun deinen Flamberg blant!
Gewiß, ihr blicket felig
Auf unfern Schwertergang.
Auch plattdeutſche Kriegslieder enthält die Sammlung,
Klaus Groth fingt ein Lied: „Bun alle Bargen, de Krüz
un Queer“. Auch der unpolitiſche Liederdichte Hoffmann
von Fallersleben ſtimmt ſeine Leier nach alter Voiksweiſe
und aͤngt ein Lied: „Wir find da'“,, deſſen erſte Strophe
autet:
Friſch auf, friih auf! Zu den Waffen
Rufet uns das Baterland.
Komm, Kalfer der Franzoſen,
Mit deinen rothen Hofen !
Nun, wolan, kommt heran!
Wir find da Daun für Mann,
Ohne Zagen ench zu fchlagen, euch zu jagen weit vom Rhein,
Sucher ihr follt dran denken!
Guſtav von Meyern fingt ein fräftiges Lieb:
Herunter vom Sattel ben Reiter,
Du feurig franzöſiſchet Roß!
Auf, Bäume dich, trag’ ihn nicht meiter,
Bon dem unfer Herzblut floß-
Ein frifches Landwehrlied theilt H. Biehoff mit; dagegen
gemahnen die ‚, Dentjchen Schlagwörter” von Ludwig Baner
mit " deutfche Diebe, deutfche Keile, deutſche Wichfe”, etwas
trivial.
Wenn wir in unferm vorigen Bericht über die „Kriegslhrit
erwähnten, daß bisher das Kriegslied faft ausſchließlich gepflegt
werde, fo können wir jetzt bereits mehrere Kriegsgedichte in
gemäbiteren Kunftform, in Odenſtrophe und Sonett, regiftrien.
on Julius Grofſe, ber in der „Dentfchen Allgemeinen Zeitung"
ein Gedicht im freien Ahythmen: „Auf die Kuiee, Franteeid
veröffentlichte, und der fich Überhaupt zu der pomphaften, voll⸗
tönenden Dichtweiſe Hinneigt, findet fich im den „Liedern zu
Schug und Trug‘ noch ein Sang in Terzinen: „Ihr habt's ge
wollt‘, welcher der verfchlungenen reflectirenden Strophenform
einige energiiche Wendungen abnöthigt:
Ihe habt's gewollt! Die Eifenwärfel rollen —
Europa bebt. Es wogt die Bölterflut
Des Rieſenkampfes, bes verhängnißvollen.
Ihr habt's gewollt! Auf euer Haupt Dies Blut,
Nicht zehnfach Löfcht es biefe SchredensBrände,
Die ihr entfacht mit frewelhaften Muth.
Ihr Habt’s gewollt! Die ränberlichen Dande
Ruchloſer Gier, wahnfinniger Eiferfucht
Ausftredtet ihr nach friedlichem Gelände.
Ihr habt's gewollt! Weil uns bie heildge Frucht
Der Einheit reifte und ber deutſchen Treue,
Entfefielt ihr des Kriegs Dämonenwucht —
Ihr wollt's — iſt doch bie Rechnung Teine neue:
Zweihundert Jahr ſchon prahlt ihr mit dem Raub
Bon dentſchen Ländern ohne Scham und Scheue.
Noch blüht die Schmach, ſolang der Eiche Laub
Im Elfaß grünt, und deutſche Roſen fprofien,
Solang in Strasburg ſchlummert Ermin’s Staub,
Ihr habt's gewollt! Diesmal wird abgeſchlofſen
Die große Rechnung auf dem Blutaltar
Mit jedem Wahn, der euch ins Hirn geſchoſſen.
Zwei kräftige Sonette widmet Oswald Marbach den
Franzoſen und ihrem Imperator, welcher der „würdigſte Dictator
der Schafalhunde‘ in dem zweiten Sonett genannt wird.
Daſſelbe fchließt mit den Zerjen:
Dein „Bott der Schlachten” führt auf biutigen Wegen
Dig, feinen Sohn, durch Nacht dem Ziel entgegen:
Der leidige Satan gibt bir feinen Segen!
Wir halten's mit dem heiligen Yriebensgotte,
Den bu verhöhnft mit übermüthigem Spotte;
Er wintt — und du zerftiehft ſammt beiner Rotte!
Eine Ode in ſapphiſchen Strophen richtet Heinrich
Pröhle an Franfreih, eine andere Julins Sturm. Un
ſcheint indeß mehr die alcäifche als die fapphifche Strophe für
Kriegsgefänge geeignet.
Unter dem Titel: „Deutichlands Traum, Kampf und Sieg",
bat Hans Mindwit geharnifchte Sonette nebft einem Anhang
vaterländifcher Gedichte (Leipzig 1870) herausgegeben. Der größere
Pr
Feuilleton. 607
Theil diefer Gedichte ift ſchon vor bem deutſch⸗franzöfiſchen Krieg
geiäte, aber auch in diefem fpricht fich die Ueberzeugung bes
rfaffers aus, daß nur durch Preußen die nationale Einheit,
Freiheit und Sröße herbeigeführt werden fann. Die gehar⸗
niſchten Sonette haben den flählernen Klang der Rückert'ſchen;
fie wenden fi an die Particnlariften, an die Süddeutſchen, an
die Radicalen; fie feiern Preußen und die Bolitit von Blut und
Eifen. Das erfle, treffliche Sonett: „Germania“, lautet:
Sn einem Thale lag ein fhöner Garten,
Drin viele junge, ſchlanke Bäume fproffen:
Gie wurden von ded Himmels Flut begoffen,
Und Sonnenftraßlen jhoflen, fie zu warten.
Sie wuchſen, grüne, rauſchende Standarten,
Bon Blurtenreichthum herrlich oft umfloſſen,
Doch ſtanden, ach! fie eng und eingeſchlofſen
Wild durcheinander in dem Grund, dem harten.
Drum konnten nidt bie volle Pracht fie zeigen,
Da nit genug fie Raum und Sonne hatten,
Und viele mußten fih dem Tode neigen.
Dog eine Eiche firedii empor den glatten,
Gewalt’gen Stamm mit laubgeſchmückten Zweigen
Und fpeudet weit ergnidend Ihren Schatten.
Unter den „Baterländifchen Liedern” Hat „Vater Arndt’s
Todeslied den lebhafteſten Schwung, mie die erflen Berſe
beweifen mögen:
Weine nicht, wenn ich gefchieben, weine nicht, mein Baterlanb, -
Wenn dein wärmftes Herz erfaltet, wenn bein treufter Sänger ſchwand.
Laß mi ſtil hinüberziehen, denn mein Herz ift faft verzagt,
Da von heut bein Tag ber Freiheit ſtets auf morgen fich vertagt.
Ad, für pi hab’ ich gelitten, wie für dich kaum Einer litt,
As Tyrannentrug und Schlaffheit tief in beine Wurzel ſchnitt.
Für das Licht, für alles Große ſandt' ich glühend mein Geſchoß:
Klang mein Lieb, in das ich meiner Seele ganzes Feuer gof.
Deine Hoffnung war mein Pulsſchlag, deine Wunbe war mein Schmerz,
Deine Größe war mein Ringen, beine Schmach brad mir das Herz!
Schön ift das im „Neuen Blatt‘ mitgetheilte Gedicht von
Albert Roffibad: „Der Krieg” Form und Inhalt haben
den Reiz der Originalität. Es beginnt mit der Strophe:
D Glülck der Menfchen, auferbaut im Yrieben,
Beſcheibdnes Bauwerk du auf engem Raum,
IR alfo jäh dein Sturz? BiR du bienieben
Kurz wie vom Gaſtmahl eines Bettlers Traum?
Millionen fah ich ſchaffen und vollenden
Die Urbeit, bie bes Wriebens Tag erlaubt —
Da fiel aus eines Einz'gen ſchlaffen Händen
Das blante Schwert raſſelnd auf aller Haupt.
Sehr erfreulid if es, daß jegt auch bie öfterreichiichen
Dichter in bie Arena treten zum Wettgefang mit den Lyrikern
Deutſchlands. Alfred Meißner dichtet ein Strafgedicht:
„An die Deutfch-Defterreicher‘‘, deffen erfte Strophen lauten:
War das ein Singen und Sichbrüſten
Am Fürftentag, am Schultzenfeſt,
Ein ſchwarzrothgoldnes Fahnenrüſten,
Als Deutſchlands Krone ſchien das „Beſt“!
Da war in allen deutſchen Gauen
Nichts deutſcher als Deutſch⸗Oeſterreich,
Es kam dem Stamme „an ber blauen,
Der jhönen Donau“ Teiner gleich.
Dort fand „feit Babenbergerzeiten”
Des Reiches Wehr, des Reiches Ruhm;
De „blübte in des Marchfelds Welten
Der Biinnefang, das Ritterthum“!
Es war „das Land ber Nibelungen“,
Bol Lit und Sang und ®lodenerz,
In tanfend Liedern fon befungen —
Die Oſtmark war „bad beutfge Herz“.
Und nun, da unter Strömen Blutes
Ganz Deutihland Tämpft ums höchſte Ziel,
Seht ihr dem Ringen Höfen Muthes
Nur zu wie einem Schachbretſpiel?
Berboten iſt's, zu deuten Siegen
Zu jauchgen, denn es kränkt zumal
Boladen, Gzehen und Jazygen —
Aud if die Loſung ja: neutral!
Anaftafins Grün fingt „Zeitllänge, im Sommer 1870°,
drei Sonette, von denen wir das dritte mittheilen wollen.
Wenn auch der erfien Verszeile deſſelben ein Fuß fehlt, fo wird
bies durch die enthufiaſtiſche Bewegung ber übrigen hinreichend
wieder eingeholt:
Doch nein! — Wie arg das Leib auch wäre,
Ob um bie Wipfel Nebelbünfte jagen,
Die Sumpfluft auf ben Höhn fol nicht verklagen
Das Thal und feines Stromes Wellenkläre.
Im Thal, bei ſchlichtem Bolte, wi ich fragen
Nah Rettern, nad ben Rädern beutfiger Ehre:
Ha, mie Ein Wetterſtrahl flammt alle Wehre
Und Eines Sinns die Herzen alle fchlagen!
Wo ſolcher Zorn auf Männerflirnen lodert,
Sol edler Trutz das Net, fein Recht nur fobert,
Berzage, büben, brüben, ber Bebränger!
Wer dieſes Volkes Ringen und Vollbringen
Einft jubelnd darf den freien Enteln fingen,
Set mir begräßt ald glüdlichfter der Sänger.
Wie viele Perlen die lyriſche Sturmflut des Jahres 1870
zu banerndem Gewinn an ben Strand gemorfen bat: das wird
er eine fpätere Sichtung entfcheiden; jedenfalls if neben vielem
Unbedeutenden auch viel Zreffliches fowol der Form als bem
Subalt nad) gebichtet worden. .
Bibliographie.
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Der Rhein fol deutih verbleiden! Ka eber und
si Eine Mit abe für a Brave Srieger Fa Mars
he nah Fraukreich. Halle, Herrmann. 8. 2 Nor.
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Bahn ———— u. Muhlb Breit, ®r. 8. 24,, Ner. 5
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Der protestantische Standpunkt. Bedenken eines Protestanten. Nebst
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Gerold’s Sohn, Lex-8. 7, Ngr.
Uhde, AT Weimard Tünflleriihe Glanztage 26.— 29, Mai unb 19,
— 29. Juni 1870. Ein Erinnerung$blatt. Leipzig, Kabnt. "& 8. 5 Ngr.
er
DS aa: 2 1 2 0 27 BUS FE ER Bel
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* — ern.
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608 Anzeigen.
Anzeigen
Seit Januar d. J. erscheint:
Mittheilungen
von
F. A. BROCKHAUS m LEIPZIG.
Verlagshandlung — Sortiment — Antiquarium —
Commissionsgeschäft — Bucohdruckerei — Schrift-
giesserei — Stereotypie — Galvanoplastik — Xy-
lographische Anstalt — Lithographie — Stahl-
druckerei — Stempelschneiderei und Graviranstalt —
Mechanische Werkstätte — Buchbinderei.
Durch die „Mittheilungen‘‘ beabsichtige ich, zunächst
meinen Geschäftsfreunden im In- und Auslande von
den Unternehmungen und Leistungen der verschiede-
nen Zweige meines Etablissements vollständigere, über-
sichtlichere und zusammenhängendere Kenntniss zu
geben, als es durch vereinzelte Circulare, Anzeigen,
Berichte u. s. w. geschehen kann. Indem abwechselnd
bald aus diesem bald aus jenem Zweige speciell be-
richtet wird, sollen die „Mittheilungen‘‘ in ihrer Folge
das Ganze des Geschäfts zur Anschauung bringen.
Inbalt von Nr. 1—4.
Nr. 1. Verzeichniss der im Jahre 1869 im Verlage von
F. A. Brockhaus in Leipzig erschienenen Schriften. —
Aus anderm Verlag in den von F. A. Brockhaus in Leipzig
übergegangene Werke. — Verzeichniss von Recensionen
in deutschen und ausländischen Zeitschriften. — F. A.
Brockhaus’ Sortiment und Antiquarium, Buchhandlung
für deutsche und ausländische Literatur. Antiquarische Ka-
taloge und Antiquarische Anzeiger. — Die technischen
Geschäftszweige von F. A. Brockhaus in Leipzig.
Nr. 2. Neuester Verlag, Januar und Februsr 1870. — Preis-
ermässigung. — Unter der Presse befindliche Werke, —
Verzeichniss von Recensionen in deutschen und ausländi-
schen Zeitschriften. — Uebersetzungen von Werken aus dem
Verlage von F. A. Brockhaus. — Prospect über die elfte
Auflage des „Conversations-Lexikon‘ und den Umtausch
alterer Auflagen. — Neuigkeiten der ausländischen Lite-
ratur, zu beziehen durch F. A. Brockhaus’ Sortiment und
Antiquarium.
Nr. 8. Neuester Verlag, März 1870. — Aus anderm Ver-
lag in den von F. A. Brockhaus übergegangene Werke. —
Neuigkeiten der ausländischen Literatur, zu beziehen
durch F. A. Brockhaus’ Sortiment und Antiquarium. —
Neuer. antiquarischer Anzeiger. — Desideratenliste. —
Prospect über „Unsere Zeit. Deutsche Revue der Ge-
genwart“. — Prospect über das Werk: „Die Serben an
der Adria. Ihre Typen und Trachten“,
Nr. 4. Neuester Verlag, April 1870. — Preisermässigung. —
Königlich Sächsisches Gesetz, die Presse betreffend, vom
24. März 1870.
Nr. 5. Neuester Verlag, Mai 1870. — Neuere Publicationen
der Congregatio de Propaganda Fide in Rom. — Preis-
ermässigung und Inhaltsangabe von Friedrich von Rau-
mer’s „Historischem Taschenbuch“. Vierzig Jahrgänge:
1830—69. — Norddeutsches Bundesgesetz, betreffend das
“ Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musika-
lischen Compositionen und dramatischen Werken. Vom
11. Juni 1870.
Nr. 6. Neuester Verlag, Juni 1870. — Künftig erscheinende
Werke. — Neuigkeiten der ausländischen Literatur: Its-
lien. — Prospect über die „Shakespeare-Galerie“, heraus
gegeben von Friedrich Pecht. — Prospect über Bunsen's
Bibelwerk. — Kriegskarten. — Für Zeitungsverleger.
Literaturfreunden, welche sich für meinen
Verlag interessiren, lasse ich auf ihren Wunsch
die in der Regel monatlich erscheinenden Num-
mern der „Mittheilungen“ gratis zugehen.
F. A. BROCKHAUS.
Den Smtereffenten ber
Genoſſenſchaft Dramatiiher Autoren und
Compomiften
bringt zur Kenntniß, daß die flir den 20. September a. c. nach
ruberg anberaumte Conferenz in Rüdficht auf die Kriege
verhältnifje bis auf weiteres vertagt iſt und mähere Anzeige
durch dies Blatt fpäter wieder erfolgen wirb.
Biesbaden, Ende Auguft 1870.
Der interimiftifche Schriftführer
Carl W. Sat.
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipgig.
Soeben erfdien:
Hundert Dahre.
1770 —1870.
Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen.
Bon
Heinrich Albert Oppermann.
Achter Theil. 8 Geh. 1 Thlr.
(Dex erfte bis fiebente Theil Toften zufammen 8 Zhlr. 10 Rpr.)
Die bisher erſchienenen Theile dieſes von dem Hifi
verfiorbenen Mitgliede des preußifhen Abgeordnetenhauſes
Obergerichtsanwalt Oppermann aus Hannover verfaßten cul⸗
turhiſtoriſchen Romans haben in der geſammten Preſſe, ſelbſt
von ſeiten der politiſchen Gegner des Verftorbenen, jehr warme
Anerfennung gefunden. Sicher wird ber ebem ausgegebene
achte Theil, in welchem die Ereigniſſe von 1848 bie 1852 den
geſchichtlichen dinte gund bilden, das allgemein günſtige Ur⸗
theil noch mehr befefti
Der neunte Theil, "mit welchem das intereffante Werl ab⸗
ſchließt, befinden ſich bereits im Drud.
Derfag von 5. 4. Brockhans in Ceipzig.
Soeben erschien:
Paris als Waffenplatz.
Plan von Paris und seinen Festungswerken.
2'/, Ngr.
Ein nach sorgfältigen Aufnshmen in Stahl gestochener
Plan von Paris nebst Umgebung, auf welchem alle Fortifi-
cationen durch Farbendruck hervorgehoben und die wich-
tigsten Gebäude, Plätze, Brücken u. s. w. namentlich an-
gegeben sind.
J
Berantwortlier Redactenr: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Berlag von $. A, Brockhaus in Lefpzig.
t
———
Blätter
literariihe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—e4 Ar, 39. #—
22. September 1870.
Inhalt: Neue Effays von Heinrich von Treitſchke. Bon Audolf Sottſchal. — Literaturgefchichtlicdes. Von Wilhelm Buchner.
GBeſchluß.) — Bergleihende Erdkunde. Bon Rigard Andre. — Senileten. (Sin Wörterbuch zu Luther’s deutſchen Schriften;
Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Uene Eſſays von Heinrich von Ereitfchke.
Siftorifche und politifche Auffäe von Heinrich von Treitſchke.
Neue Folge. Zwei Theile. Leipzig, Dirzel. 1870. Gr. 8.
2 Thlr. 24 Ngr.
Unter ben politifchen Effayiften nimmt Heinrich von
Treitfchle eine hervorragende Stellung ein; er bat das
os magna sonaturum, Schwung und prophetifche Geften,
und befleifigt fich einer von Parteiftandpunkten unabhän-
gigen Kritik, welche nur bisweilen in ihrer vornehm ftaats-
münnifchen Haltung der abweichenden Anficht gegenüber
allzu überlegen ablehnend erjcheint. Daß mehrere Pro-
phezeiungen feiner erſten Effays fich inzwifchen erfüllt ha⸗
ben, fpricht dafür, daß die Vegeifterung diefes ſchwärme⸗
riſchen Unitariers die Ziele unferer politiichen Bewegung
rihtig erfaßt Hat.
Außer den politiihen Efiays finden fich in ber
vorliegenden Sammlung biftorifhe Abhandlungen und
ein paar literarhiftoriiche Porträts, lettere allerdings
von geringer Bedeutung. Was Treitſchke über Kleift,
Hebbel und Otto Ludwig fagt, ift mit größerer kriti⸗
her und charakteriftifcher Schärfe bereits öfters aus-
gefprochen worden. Die Vornehmheit, mit welcher
Hr. vom Treitfchle die deutſche Kritik mishandelt, ift
gegenüber feinen eigenen Leiflungen auf biefem Ge»
biete fehr wenig motivirt; wenn er fagt: „Wir empfinden
für den Kritiker fogar eine gewiſſe Hochachtung, wenn er
die Kenntnifje eines angehenden Oberfecundaners entfaltet‘,
fo darf man wol fragen, welche Yenilletonkritit er dabei
im Auge bat? Denn die Yeuilletonkritifer unferer erften
Zeitungen ftehen auch nicht um eines Haares Breite hin-
ter der geiftigen und wiſſenſchaftlichen Befähigung des
Hrn. von Treitfchle zurück, und dies hochtrabende Herab-
fehen wird dadurch nicht befier, daß es fich in vager
Allgemeinheit Hält und ehrenwertfe Ausnahmen aner-
kennt.
Die literariſchen Porträts von Kleiſt, Hebbel und
Ludwig,
allen —Se — mit der Entwickelung unſerer neuern
1870. 8.
welche Treitſchke entwirft, ſind überhaupt ohne
Literatur hingeſtellt. And macht die Wahl den bedenk⸗
lichen Eindruck, als ſei ſie durch ein literariſches Coterie⸗
weſen beſtimmt; denn Kleiſt, Hebbel und Ludwig werden
in gewiſſen Zeitſchriften fortwährend beleuchtet und in
allen möglichen Attituden porträtirt, gleich als wenn es
außer ihnen keine dramatiſchen Dichter von Bedeutung
gäbe und die Fortentwickelung unſers Dramas ſich aus⸗
ſchließlich an dieſe Namen knüpfte, während doch das
Gegentheil der Fall iſt und dieſe an ſich bebeutenden Ta-
lente theil® eine krankhafte, theils eine paradore und ver-
fehrte Richtung vertreten, welche bei der Nation wenig
Anklang findet und von den allein zufunftspollen Bahnen
des Schiller'ſchen Dramas abführt.
Die biftorifchen und politifchen Auffüge Haben alle
einen Mittelpunkt und einen Zwed: theild durch Vorfüh-
rung geſchichtlicher Vorbilder, theild durch Kritik Fremden
und eigenen Verfafjungswejens die Kortentwidelung Deutfch-
lands. zu einen parlamentarifchen Einheitsftaat zu fördern.
Treitſchke weicht vielfältig von der conftitutionellen Scha-
blone ab, und gerade in diefer Hinficht ergänzen ſich die
Hauptauffäge des Werks: „Frankreichs Staatsleben und
der Bonapartismus‘ und. „Das conftitutionelle Königthum
in Deutſchland“. Die Kritit des Julikönigthums ſowol
wie diejenige ber preußifchen Liberalen im Landtage zeigt,
daß Treitichle den Ruhm eines Realpolitifers in Anſpruch
nimmt, der in die conftitutionelle "PBarteidogmatit Brefche
zu Schießen fudht.
Treitſchke's Darftelung bes Bonapartismus ift aller-
dings durch die jüngften Ereigniffe, welche eine fo fcharfe
Kritit des Napoleonifchen Regierungsſyſtems und feiner
innern Fäulniß liefern, in vieler Hinficht veraltet, min⸗
deftens fehlt ihr der entſcheidende Abſchluß. Sie trifft
in vielen Punkten mit der eingehenden Analyfe zufammen,
welche Heinrich Blankenburg in „Unfere Zeit” ber Ber-
faſſung des second empire gewidmet hat. Beide Auto⸗
ten —* in dem demokratiſchen Imperialismus eine
Staatsform, welche vor dem engliſchen Parlamentarismus
77
[2
610
und feinen Nahbildungen in den Charten der Bonrbons
und Ludwig Philipp’s fowie in ben deutfchen Berfaflun-
gen manche Vorzüge und minbeftens den Werth der Ori-
ginalität voranshat. Die jüngfte Politik des Kaiſerreichs,
feine Liberale Wendung, das Plebiscit und feine Folge,
der dentfch-franzöfifche Krieg, Ereigniſſe von einer feltenen
weltgefchichtlichen Tragweite und zugleich vom der größten
kritiſchen Bedeutung gegenüber dem Syftem bes Bonapar-
tismus, fallen noch außerhalb des Rahmens der Treitfchle'- |
fchen Abhandlungen, genügen aber, das Facit derfelben
wefentlich zu erſchüttern.
Der Autor beginnt feine Abhandlungen mit einer Ber
merkung über „Heroenverehrung“ und dem Nachweis, wie
auch der jegige Kaifer der Franzoſen dem Eultus des
Genius huldige:
Seit er die Kaiſerkrone trägt, hat Napoleon III. nur felten
durch ein achtlos entfallenes Wort verrathen, weld ein ſtarkes
cäfarifches Selbſtgefühl er Hinter ſchweigſamer Hülle birgt: jo
bei jenem Geipräche zu Plombieres, als er zu Cavounr jagte:
„In Europa leben nur drei Männer, wir beibe und noch ein
dritter, dem ich nicht nennen werde.“ Da trieb ihn einmal
Titerarifche Eitefleit ganz und gar aus jener Zurüdhaltung her-
aus, welche gelrönten Häuptern anftebt; zu den vielen Räthſeln,
die er dem Zeitgenoffen aufgegeben, fligte er ein neues, größtes.
Unverhohlen füindete er die Lehre von ben bevorredhteten Weſen,
die, Hoch erhaben über der gemeinen Regel des Sittengeſetzes,
wie Leuchtthürme im die Nacht der Zeiten ragen und mit dem
Siegel ihres Genius eine neue Yera fiempeln. Jedermann las
in den Zeilen, daß der Kaifer felbft das Recht feines Thuns
von der erlauchteften Ahnenreihe herleitet, bie ein Menſch fi
wählen fann, von Eäfar, Karl dem Großen, Napoleon. Alle
die alten fadenfcheinigen Kraftworte des Bonapartismus, die
man dem Prätendenten verzeihen mochte, hörten wir mit Be»
fremden wieder aus dem Munde des KHaifers: das verfchworene
Europa Bat, ruchlos und verblendet, feinen Meſſias gelreuzigt,
aber das Werk des Erlöfers, das Kaiſerreich, tft wieder auf⸗
erftanden! Und diefe Worte unbeimlicher Meberhebung flanden
in der Vorrede eines verunglüdten hiſtoriſchen Werts, deffen
unbeftreitbare Schwäche deu wohlerworbenen fchriftftellerifchen
Ruhm des Verfaffers nahezu zu vernichten drohte. Sie waren
geichrieben zur Verherrlichung eines politiihen Syſtems, das
freilich einigen edeln und vielen gefährlichen Neigungen der
Sranzofen entfpricht, aber den Beweis feiner Lebenskraft und
auer noch zu führen hat.
Einige prophetifche Anwandlungen, denen die Gegen⸗
wart recht gibt, und zugleich die Beſtimmung der Zwecke
des Eſſay finden wir in den folgenden Zeilen:
Noch jedes politiſche Syſtem des modernen Frankreich
wähnte fich in dem Augenblick am ficherften, da feine Tage be⸗
reit® gezählt waren. Als die Adler des rüdlehrenden Napoleon
von einem Kirchthurm Frankreichs zum andern flogen, verfiherte
Talleyrand in Wien: Millionen Fäuſte würden fi) erheben
wider den Ruheſtörer. Mit zmeifellofer Zuverficht harrte Karl X.
auf den Erfolg ber Iuliordonnanzen, und kurz vor dem Februar
1848 fchrieb General Radowitz, unter dem Cindrud der Ge-
ſpräche mit Guizot, das Julikönigthum babe niemals fefer ge
fanden. Sollte dieſe unheimliche Erfahrung, deren regelmäßige
Wiederkehr auf einen Grundſchaden im franzöſiſchen Staate hin-
weift, heute ſich wiederholen? Sollte das zweite Kaiferreich be
reits am Borabend feines Falls ftehen, während es feinen höch⸗
Ren Trumpf ausfpielt und den größten Namen aus den An-
nalen der Monardie auf fein Bauner fhreibt? Wir Überlaffen
andern, ben Schleier der Zukunft zu lüften, und begnügen ung,
bie Fragen zu erwägen: If der Bonapartismus in hem Cha⸗
ralter und der Geſchichte des franzöflihen Wolle begrlindet?
Bildet er den endgültigen Abſchluß von zehn Revolutionen?
Und welches Recht haben dieſe 8 rtee, brüft: it
dem Ruhme rg erhabenen Seerihes. —— vr *
Neue Eſſays von Heinrich von Treitſchke.
ſchreckliche Wort des Ariſtoteles bewührte, das Wort: nur ein
Gott fanı Käxig fein?
Eine kritifche Reviſion der hiſtoriſchen Acten Frauk⸗
reichs ſeit der Zeit des erſten Napoleon leitet die Kritik
bes Bonapartismus ein. Treitſchke findet in der franzd-
ſiſchen Nation ftarke monacchifche Neigungen. Die Wieder-
berftellung der Monarchie durch Napoleon I. war indeß
feineswegs vine Neftauration der alten Ordnung: der
Raifer erkennt die Vollsfonveränetät an und leitet feine
Gewalt von dem allgemeinen Stimmredt her. Er be-
trachtet ſich als ben Vertreter der Nation. „Niemals
bat ſich die innige Berwandtſchaft von Demokratie und
Tyrannis gewaltiger offenbart.” Mit Recht fagt ber
Neffe: „Es if die Natur der Demokratie, ſich in einem
Manne zu perfonificiren.” Der Selbfiherrfcher vollendet
indeß den Lieblingsgedanken der franzöfifchen Demokratie:
die Idee der Gleichheit.
Die nähern Ausführungen biefer Punkte fowie ber
centraliftrenden Thätigfeit Napoleon’8 auf dem Gebiete bes
Rechtsweſens, der Finanzen, des Heerweſens, auf weldes
das Princip der Gleichheit nicht in ber allgemeinen Wehr⸗
pfliht Anwendung findet, die gauze Charafteriftit der
innern Politik des Kaiſers enthält wenig Neues, gruppirt
aber das Belaunte gefchidt unter die wichtigen Geſichts⸗
punkte. Die auswärtige Politik Napoleon's L wird mit
Entfchiedenheit verurtheilt; er babe feit bem Jahre 1801
ben Frieden in Ehren wahren und feinen Staat auf einer
nie zubor erreichten Höhe der Macht und des Ruhms
erhalten können; nur feine Erobererwuth habe ihn weiter
von Sieg zu Sieg getrieben. Xreffeud find hierbei bie
folgenden Betrachtungen unſers Autors:
Der glühende friegerifche Ehrgeiz dieſes Bolls marb mon
altexsher verftärkt durch eine eigenthlämliche Berirrung bex natio⸗
nalen Phantafle, die man das Römerthun der Kranzofen nen⸗
nen mag. Dit entfchiedener Misgunft Bat fi) längf ber Ge⸗
nius der Nation von den germaniſchen Elementen abgewendet,
denen Frankreich doch einen guten Theil feiner Srbße ſchulbet.
Sieyes ſprach nur ein allgemeines nationales Vorurtheil aus,
ala er dem adelihen Deutjchen, den Zwingherren der bürger-
lichen Gallier und Römer, Fehde ankllindigte, und felb ber
nüchterne Guizot weiß von dem esprit gaulois Wunderdinge
zu erzählen. Noch beftimmiter Kerrfcht in der Nation der Blanbe,
daß fie bie Erbin fei altrömiſcher Traditionen. Wer berühren
bier eins der feinften Geheimniſſe des Volksthums. Wir Ger»
manen verftehen nicht leicht, wit welchem dämonifhen Zauber
die Größe der alten Roma noch heute das Herz der romaniſchen
Bölter erſchüttert. Glorreiche Erinnerungen aus ber römifen
Geſchichte, für uns ein Gegenftand Fühler gelehrter ng,
Haben für jene noch bie Gewalt leibhaftiger Wirklichkeit: ſchier
anderthalb Yahrtaufende nad dem Fall der Gracchen konnte der
roße Name tribunus plebis das neurdömilhe Bolt in leiden»
—** Erregung bringen. Auch den Gramofen bietet das
römifche Weſen manche Charakterzüge, die ihrer eigenen Mater
entſprechen: Nationalftolz, wmilitäriichen Ehrgeis, ftraffe Staats»
einheit. Die Geſchichte Roms, entſtellt oe fe iſt burg Die
Schulxhetoren des Afterthums, muß mit ihrem heroiſchen Pathos
binreißend wirken auf ein Bolt, beffen Phantafie immer mehr
und von Baris aus die Welt bezwang.
rögne! jauchzten beflifiene Hofpseten dem vierzehnten 2 u.
Immerdar fonnte ich das Selbfigefähl des Hefe ums 258
Neue Effays von Heinrih von Treitſchke.
an dem Glanze der Eifaren. Die Nation war nie befriedigter,
als wenn fle ihren eigenen Herrſcherſtolz in einer großen Far
flengeftaft verlörpert wieberfand. Selbſt den erſten Bourbonen-
Lnig nennt die Inſchrift feine® Denkmals an der neuen Brlide:
Henricus magnus, imperstor Gallise. @in Boltaire kriecht,
gebiendet von Ludwig's Eäfarenruhme, bewundernd im Stanbe
vor dem Todfeinde hugenottiſcher Glaubensfreiheit. Ludwig
Napoleon ſprach der Mehrzahl feiner Nation aus der Seele,
als er einft Lamartine zurief: „Wir danfen Rom alles, alles,
bis auf den Namen.”
Ebenfo treffend ift es, wenn Treitſchke bemerlt, daß
Rapoleon’s Kriege doh nur wie ein letter gigantifcher
Ausbruch jener Kabinetspolitit des 18. Jahrhunderts er⸗
feheinen, welche, jedes Recht, jedes Volksthum misachtend,
nah Fürftenlaune mit den Völkern umfprang wie mit
Schadhfiguren. Einige letzte bezeichnende Striche im Cha⸗
raltergemälde des Kaiſers enthält die folgende Stelle:
Wir beginnen zu zweifeln, ob diefem Genie, das fein Maß
zu halten weiß, ein Pla gebühre unter ben reinen hiſtoriſchen
Größen; unfere Zweifel mehren fi, wenn wir die Perfon des
Helden fchärfer ins Auge faflen. Die Armutb der Sprade,
von tiefern Geiftern feit langem ſchmerzlich empfunden, reicht
am wenigften aus für bie Charakterzeichnung. Im modernen
Raturen mifchen fi; widerſpruchsvoll taufend feine Züge, und
anfer Auge, das längſt gelernt, diefen leiſen Karbentönen der
Seele mit reizbarem Verſtändniß zu folgen, ſucht umfonft nad
Worten für den Tieffinn der pfychologifchen Betrachtung. Klingt
es nicht Tächerlich,, zu fagen, daß der größte Mann des Jahr⸗
bunderts tm Grunde geifllos war? Und body muß das Ab⸗
geihmadte ausgeiprochen werben. Diefer erhabene Berftand,
deffen Macht, Schärfe, Sicherheit Über das Maß des Menſch⸗
lichen hinausreicht, hat nie einen Blid getban in den geheimniß⸗
vollen Kern des Dafeins, nie geahnt, daf die Menfchheit etwas
anderes iſt ale eine wohlgeordnete Mafchine, daß ein Boll unter
firaffer Verwaltung, mit georbneten Finanzen und fchlagfertigen
Soldaten fih bis zur Berzweiflung unglüdlih fühlen Tann.
Das Höcftperfönliche im Leben des einzelnen wie der Völler,
die Welt der Speale blieb ihm unfaßbar. Die weite Welt durch⸗
ſchante die Gründe feines Stnrzes, er allein nicht; denn wie
follte der Heimatlofe verfiehen, daß den Völkern felbft die hei⸗
miſche Unfitte theuerer ift als die fremde Sitte? Erwägen wir
dies, fo ertennen wir die fchrediiche Wahrheit in dem tollen
Dort Blüher’s: „Laßt ihn machen, er iſt doch ein dummer
Ueber die Darftellung der Reftauration können wir
raſcher hinweggehen; die Kritif der Regierung und ber
Parteien erfcheint als eine zutreffende. Gegen den Irr⸗
thum Guizot's und der Doctrinäre; das Inſtrument, die
Charte, fei vortrefflich gewefien, nur daß es an geſchick⸗
ten und wohlgefinnten Handwerkern gefehlt habe, macht
Treitſchke geltend, daß die jüngere, durch eine herbe Er⸗
fohrung über den Zuſammenhang von Verwaltung und
Berfaffung belehrte Generation kaum noch begreife, wie
man diefen „buntjchedigen Staatsbau“, defjen Glieder
einander „anheulten“, als „das englifche Syſtem“ preifen
konnte.
„Die goldenen Tage ber Bourgeoiſie“, das Yulifönig-
thum, wird von Treitfchle mit einem wenig verhehlten In⸗
grimm geſchildert, wie wir ihn bisher nur bei focialifti-
ſchen Schriftfiellern zu finden gewohnt find. Das Regi-
ment Ludwig Philipp’S erfcheint ihm als ein Regiment ber
Halbheit, der Unwahrbeit:
Das Dafein der Krone ift ein nnabläffiger Kampf um das
Dafein, ein Kampf, der jeden Gedanfen an eine fchöpferifche,
für die Dauer wirkende Staatsfunft im Keime erflid. Schon
die Namen der politifchen Syſteme, welche unter dem Bürgers
611
könige einander ablöfen, lafſen errathen, wie biefe Krone von
vornherein mit dem Fluche der Unfruchtbarkeit gefchlagen if.
Da finden wir eine Bolitit des Zugeftändniffes, eine Politik
bes Widerflandes, der Berföhnung, des Gehenlaffens, durchweg
ein Leben aus der Hand in den Mund, durchweg das ohn-
mächtige Bewußtſein, daß die treibenden Kräfte der Zeit außer»
halb der Regierung flehen.
Das Yuliregiment war die Herrfchaft des Mittelftan-
des und der Mittelparteien:
Die bat die Bourgeoifie diefe Probe beftanden? Sie ber
währte nicht nur eine fehr geringe Begabung zur Leitung bes
Staats, fie offenbarte and) eine Roheit der fländiichen Selbft-
fucht, welche den fchnödeften Verirrungen des alten Adelshod;-
muths würdig an bie Seite tritt. Das in allen Eolonien feft-
ſtehende Urtheil, daß ein kaufmänniſches Regiment die Meinlichfte
und engherzigftie Form ber Mißregierung fer, iſt durch die fran⸗
zöſiſche Bourgeoifie nicht widerlegt; die in ber Republik ber
Niederlande erprobte Erfahrung, da der Mittelfiand eine fühne
auswärtige Politik nicht zu führen vermag, ift durch Ludwig
Philipp abermals beftätigt worden.
Weiterhin heißt es:
Wenn wir biefe Bourgeoifie betrachten, wie fie, verknöchert
in ihrer Selbftfucht, ihrem Dünkel, auf der weiten Welt nichte
feben mag denn allein ſich felber, jo erinnern wir uns unmwill-
arlich jener adelihen Damen des alten Regime, die ſich un⸗
befangen in Gegenwart ihrer männlidjen Diener entkleideten,
weil ihnen der Gedanke ganz fern lag, daß die Canaille ſozu⸗
fagen auch zu den Menfchen gehöre. „Wir“, ruft Guizot feinen
Getreuen zu, „wir, die drei Gewalten, find die einzigen geile» '
fihen Organe der Bollsfouveränetät; außer uns gibt es nur
Ufurpation und Revolution.‘ Mag der Pöbel um Hülfe ſchreien
und fi) zufammenrotten zu verzweifelten Kampfe, um arbeitenb
zu leben oder Tämpfend zu fierben — das pays legal, bie Kam
mer und bie reiche Wählerfchaft, hält zu dem Syfteme, darum
fteht dem Bürgerkönig feft die pensee immuable, daß jeber
Schritt Über die beftehende Oligarchie hinaus zur Zerrüttung
der Geſellſchaft führt. Die DOrönungsliebe der herrichenden
Klaſſe fleigert fh zum Fanatismus der Ruhe; für das arme
Bolf erfindet das Geldprogenthum den nieberträditigen Ausdrud
„die gefährlichen Klaffen'‘. Gleich den Arbeitern behandelt bie
Oligarchie auch alle Übrigen focialen Elemente, die nicht zu ihr
gehören, mit vollendeter Geringſchätzung.
Die Staatsmünner des Julikönigthums, Guizot mit
feinem öden Doctrinarismus verfallen fcharfer Berurthei-
lung, ebenfo die auswärtige Politik Ludwig Philipp’s, die
zwar nie eine wahre Großmachtspolitik, aber doch eine
Griedenspolitif war. Ludwig Philipp pflegte zu fagen:
„Der Krieg ift die Revolution”, ein Ausſpruch, der in
jüngfter Zeit in-bemerfenswerther Weiſe fich beftätigt hat;
das zufannmenbrechende second empire empfindet feine
Wahrheit. Treitſchke hebt dagegen bie „hochherzigen Im⸗
pulſe“ hervor, welche ſich „in der Phantafterei der
franzöfifchen Kriegsluſt unzweifelhaft verbergen‘. Wir
verdanken diefen „hochherzigen Impulſen“ jedenfalls auch
den mörberifchen Srieg von 1870 und find daher gewiß
nicht geneigt, in dies Xoblied mit einzuflimmen, das
noch einmal in der folgenden Bartation erklingt:
Nur der Haß kann leugnen, daß dem propagandiftiichen
Triebe der Sranzofen nicht allein eitle Ueberhebung, fondern
and ein weitherziger Idealismus zu Grunde lirgt — ein hoch⸗
finniger Zug, der durch tauſend Trübungen hindurch in dem
Groberungezügen des Convents, in dem italienischen Feldzuge
Napoleon's III. nnd vor allem in dem fittlich reinflen Kriege
des neuen Sranfreih, in dem Kampfe für die Unabhängigkeit
Nordamerifas, unverkennbar hervortritt, Auch jet riefen edle
und verwerfliche Leidenschaften, Ruhmſucht und Habgier, Hoch⸗
muth und Schmwärmerei für Völlerbeglüdung, und am aller
77*
TERROR
.. u ”
x
u ad SEIN
612 Neue Effays von Heinrih von Treitſchke.
lauteſten die unftete Neuerungsfucht diefes nervbs aufgeregten
Geſchlechts nad) einem großen Kriege für die Freiheit.
Das Charalterbild Ludwig Philipp's felbft, welches
Treitfchle entwirft, ift fo wenig geſchmeichelt, es Gebt mit
ſolcher Borliebe die ungünftigen Züge hervor, bag wir
dem von Gervinus entworfenen Porträt wegen geredhterer
Bertheilung von Licht und Schatten den Vorzug geben.
Treitſchke fagt:
Wie das Syſtem felber, fo vermochten auch die Perfonen
feiner Träger nicht, diefem Soldatenvolfe ins Herz zu wachſen.
Mochten des Könige Schmeichler den Helden von Jemappes
feiern, diefe äme toute frangaise, bie nie das Schwert gegen
Fronfreich geführt — der Herzog von Chartres Hatte body die
lorreichſten Tage feines Landes nicht mit feinem Wolle verlebt.
—* war, als ob der Inſtinct der Maffen etwas ahnte von der
längft vergefienen Thatſache, daß diefer Schüler Dumouriez’
während bes Kaiferreihs mehrmals fi) zum Kriegszuge gegen
das Vaterland erboten hatte Auch an den Orleans haftete
etwas von dem Bourbonenflude, ein nationaler Herrfcher if
Ludwig Philipp nie gewefen. Nachdem die Heinen Künfte bes
königlichen Regenſchirms vernugt waren, verfpottete bie Prefie
die Berfon des Köuigs und feinen Birnenlopf mit einer erbit⸗
terten Ironie, einer Kecheit, die ſelbſt gegen Karl X. nie ger
wagt worden. Das Mistrauen der dffentlihen Meinung folgt
jedem feiner Schritte, madt ihn zum unfreieften Manne feines
Bolls; er wagt nicht einmal ein Opernunternehmen zu unter»
ſtützen, aus Furcht, die Nation werde gemwiunfüdtige Specu⸗
lation dahinter mwittern. Man mag in alledem die Wilbheit
eines fleberifchen Parteilampfes tabeln — ein rechter Franzofe
war biefer König nicht, der fchlane Handelsmann, der nie jung
eweſen, ber durch kleine feige Ränke hindurch den Weg zum
Ehrone geihlihen war und als König noch die alten ſchon
dem Prinzen unziemlihen Krämerkünfte übte, ber mit all feiner
Welterfahrung die begeifternde Macht der Ideen nie gelannt,
bei al feiner Sanftmuth die fchönfte Pflicht des Königthums,
bie velnütung der VBedrängten, nie begriffen bat und bei all
feiner bitrgerlichen Solidität do im Stande war zu Gauner-
ftreichen, vote zu jenem Wortbruche gegen ben gefangenen Abd⸗el⸗
Kader. Selbft die Tugenden feines bürgerlich -(hlihten häus-
lichen Lebens blieben biefem ritterlichen Bolle unverſtändlich.
Im Zufammenhang der Darftellung macht die ver-
nichtende Kritik des Julikönigthums doch den Eindrud,
als ob fie der darauffolgenden Charafteriftit des second
empire zur Folie dienen follte, fowie das Porträt Ludwig
Philipp's demjenigen des dritten Napoleon. Diefer wird
uns in feiner Jugend als homme carr6, als doux en-
tete geſchildert, phlegmatifch als ob Holländifches Blut in
feinen Adern flöffe, ein unfranzöftfches Temperament, das
tiefe nachhaltige Leidenſchaften Teineswegs ausschließt. Die
Attentate von Strasburg und Boulogne werben in ihrer
Lächerlichkeit dargeftellt; aber ben publiciftifchen Arbeiten
des Prinzen wird eine Anerfennung gezollt, der man mit
einiger Einfchränfung nur zuftimmen kann:
Uns, bie wir heute bie Schriften des Prinzen minder be-
fangen überbliden, erjcheint fchier unbegreiflih, wie man die
jen Autor jemals misachten konnte. Denn fie entfpredden nicht
nur keineswegs den Erwartungen, die man gemeinhin ben lite-
rarifgen Sünden eines Prinzen entgegenbringt, fie verdienen
ſchlechthin einen ehrenvollen Plag in der Geſchichte der Publi⸗
ciſtik. Nicht ein geiftreicher, aber ein eminent praftifcher Kopf,
nüchtern und fiher im Beobachten, fet und felbfländig im Ur⸗
tbeilen, bat fie gefchaffen. Auch die Darſtellung ift Mar und
bündig, von echt franzöflicher nettet6; der Prinz weiß feine
Lefer raſch zu orientiven, allen feinen Säten eine praftifche
Spige zu geben. Der Ioeenreihthum, das Pathos der Wahr-
baftigfeit, die Macht der Phantafie, bie den Hiftorifer machen,
find ihm verfagt; doch er verfteht vortrefflih, iu discuffiver
Darſtellung, mit Gewandtheit und ohne Gewiſſensbedenken, bie
biftorifchen Borausfegungen ber Gegenwart für feine Zwecke fi
zurechtzulegen. Kurz, er zeigt fi als ein begabter Journaliſt;
und wer da wußte, daß diefe Schriften nicht Itterarifch etwas
bedeuten , fondern das Programm einer praktiſchen Staats kuuſt
bilden ſollten, der mußte bei einiger Unbefangenheit bekennen, adß
bier ein ungewöhnliches ftantsmännifches Talent ſich offenbare.
Der Prinz verlangte in dem berühmteften feiner Aus-
fprüche von dem Politiker, er folle an der Spike der
Ideen feines Jahrhunderts fchreiten, auf daß fie ihn nicht
ftürzen. Mit Recht meint Treitfchle, daß es biefer For⸗
derung nur halb genügt habe. Die Bebeutung bes vier-
ten Standes und der focialen Frage habe er wohl erkannt;
aber jene Mächte des Idealismus, bie auch unferer nlid}-
ternen Epoche nicht fehlen, feien ihm fremd geblieben.
In der That kennt Napoleon III. nur einen Iealismue,
den der „Napoleonifchen Ideen“, und dieſer muß ver-
dächtig erfcheinen, weil er mit den perfönlichen Intereſſen
feines Bertreters vollftändig zuſammenfällt.
Einen Heinen, bier eingejhobenen Excurs über deutſche
und franzöfiihe Sitten wollen wir unfern Lefern wicht
porenthalten, da er einen oft nicht genug beachteten Ge⸗
fihtspunft in den Vordergrund ftellt. In der heutigen
Epode ift dies um fo nöthiger, als bie gerechte Ent-
rüftung über den vom Zaun gebrochenen Volkskrieg Leicht
bazu geneigt machen dürfte, mit dem Vollshaß auch wie
der die früher beliebte „Franzofenfrefierei” in Schwung
zu bringen. Daß wir uns von den fhlechten franzöfljchen
Einflüffen und Sitten emancipiren, iſt gewiß in der Ord⸗
nung; keineswegs aber dürfen wir alles, was von einem
jo bedeutenden geiftigen Culturvolk wie die Franzoſen
zur Entwidelung der Menſchheit beigefteuert worden iſt,
geradezu misachten oder ganz über Bord werfen. Treitſchle
wendet fid) gegen den „pharifüerhaften Dünkel“, mit wel-
chem oft über die Unzucht der Sitten und Schriften un«
ferer Nachbarn abgeſprochen wird:
Wir wollten fie wahrlich gern entbehren, jene tugendhaf-
ten Urtheile tdealer Kritiler liber das reale Lafter des nenen
— „welche heute ehrenfeſt in ben Feuilletons unferer
eitungen einherſtolziren und — alsbald dem allgemeinen Hohn⸗
gelächter verfallen würden, menu die anonymen Berfafler ihre
eigenen reinen Namen enthüllen wollten. Am lauteſten pflegt
das VBerbammungsurtheil Über das neu-franzöflihe Babylon in
den wiener Blättern angefiimmt zu werden — in jenem Wien,
das fittlih unzweifelhaft tiefer fiebt als Parts, denn an ber
Donau wird fhwerlich weniger geiinbigt und gewiß weit weniger
earbeitet ale an der Seine. Die Urbeber folcher wohlfeiler
oralpredigten vergeffen, wie tief wir einft felber, zur Zeit
bes Zungen Deutichland, in die Netze der parifer Sirene ver⸗
fridt waren. Sie vergeffen, daß das Urtheil gerabe Über bie
feinften ſittlichen Fragen, troß des Chriſtenthums und tro bes
ſchwunghaften Weltverlehrs, ein je nach dem Bollsthum ver-
ſchiedenes fein und bleiben muß. Das ungeftlinre Blut unferer
Jugend liebt einmal, beim Zehen und Kaufen, das Feuer der
jungen Sranzofen, in galanten Abenteuern ſich auszutoben; und
die Frage, welche biefer nationalen Schwächen für baltlofe Na⸗
turen verderblicher fei, ift keineswegs leicht, fie ift jedenfalls
nicht für alle Menſchen auf die gleiche Weiſe zu beantworten.
Wir bleiben ein tm jedem Sinne ſchwereres Voll denn unfere
Nachbarn.
Die Februarrevolution hat nach der Anficht unfers
Autors „gar nichts des Bewunderungswürdigen“, bie Zer⸗
rüttung der Verhältniffe, die allgemeine Verlogenheit, bie
bare Gedankenlofigkeit der Todesangſt gehören zur Signa-
tur der Epoche; der Sieg ber Yunitage, „des furchtbar⸗
ften focialen Kampfes, den bie neue Gefchichte feit dem
Neue Effays von Heinrih von Treitſchke.
deutſchen Bauernkrieg gejehen bat”, war ber Sieg ber
Dourgeoisrepublil, die zur Monarchie zurüdtrebte. Die
neue republikaniſche Verfaflung nennt Treitſchke „die wider⸗
finnigfle unter den vielen todtgeborenen Conſtitutionen jenes
Jahres“. Wir haben diefe Konftitution, fowie die innere
und äußere Bolitit der Zeit erft vor kurzem in d. BL.
befprochen; bie innern Widerfprüche berfelbeu werben von
Treitfchle in ganz ähnlicher Weife auseinandergefegt, wie
von dem Berfaffer der Schrift über den „Staatsſtreich
vom 2. December‘. Die Abvocatur für diefen Staats⸗
ftreih übernimmt Treitſchke indeß in einer Weife, die
doch wol nur die Ueberhebung ftaatömännifcher Ueber-
weisheit ift; denn wenn er auf ber einen-Seite fagt, daf
der 2. December eine Nothwenbigfeit gewejen fei könne
fein Dann von politifchem Urtheil beftreiten, und dann
wieder eine Verfchwörung, bie bon ben Hütern bes Ge-
ſetzes ausgeht, die häßlichſte aller Rechtsverletzungen nennt,
weldhe durch bie fittliche Nichtigkeit der Gefellen des Prä-
fidenten faft unfühnbar geworben fei, wenn er die maß-
lofe und unnüge Brutalität in der Ausfilfrung des Staats-
ſtreichs tadelt, fo erhält fein Urtheil doch etwas Scielen-
des und politifche Weisheit und moralifche Entrüftung
bilden eine ungelöfte Diffonanz. Hier lefen wir, daß
der Staatöftreih eine Nothwendigkeit war; dort, das
Schredliche der Kataftrophe Liege in der Thatſache, daß
die Mehrheit der Nation ihn billige. Warum follte die
Mehrheit der Nation nicht eine „Nothwendigkeit“ billi»
gen? Tann in diefer Bewährung des „politifchen Ur⸗
theils“, in dieſer Vorwegnahme deutfcher Profefjoren-
weisheit denn etwas fo „Schredliches” Tiegen?
Die Conftruction der faits accomplis als „politifcher
Nothwendigkeiten“ gehört zu den Erbfrankheiten unferer
Gelehrſamkeit; ihr zu Grunde liegt eine misverftändfiche
Anwendung des Hegel’fhen Sates von der Vernünftigfeit
des Wirflihen und im Grunde die unerquidliche Xobprei-
fung bes Erfolge. Der 2. December war ein Berbre-
hen, keine Nothwendigfeit, vielleicht eine Nothwendigkeit
für den Präfidenten Bonaparte, obgleich auch dies beftrit-
ten und die Wahrfcheinlichkeit feiner immerhin verfaffungs-
widrigen Wieberwahl von vielen Seiten behauptet wird.
Für diejenige ſtaatsmänniſche und mitfchuldige Weisheit,
welche in dem 2. December einen Act politifcher Noth⸗
wendigkeit fieht, zahlen wir noch im Jahre 1870 die
Schul und Kriegsfoften. Es ift Zeit, daß diefer legte
Reſt der Napoleonifchen Legende aus den Köpfen unferer
Staatsweifen entfchwinde.
Die Kritit der „perſönlichen Tyrannis“, des verant«
wortlichen Kaifers als des homme-peuple, bed ganzen
Berfaffungsinftems als eines gouvernement indiscutable
leugnet nicht, daß das KRaiferreich eine Gewaltherrſchaft
und ein vechtlofer Zuftand geblieben ift, daß der geiftige
Adel der Nation ſich mit fittlihem Ekel von ihm ab-
wendet, fie analyfirt das dem Anjchein nach conjequente
Berfaffungsgebände und feine Körperſchaften; doch fie
ſucht das Heil nicht in entfchlofjenem Einlenfen in die
Bahn bes parlamentarifchen Syſtems, in welcher ber
"Raifer und fein Miniſter Olivier neuerdings jelbft die
Krönung des Gebäudes erblidten, nicht in der Theilung
der Gewalten, fondern in der Beichränfung der Staats-
gewalt durch Selbftverwaltung, in der Decentralifation,
613
welche das Schlagwort einer großen franzöſiſchen Bubli-
ciftenfchule geworden iſt. Xreitfchle findet das größte
Hindernig der Selbftverwaltung in ber Herrſchaft des
vierten Standes. In der Begünftigung diefer Herrſchaft
liegt ein SHauptcharalterzug des neuen Bonapartismus,
in der Sorge für das Wohl ber arbeitenden Klaffen
vielleicht fein Hauptverdienft.
Einer Charakteriftit der induftriellen Unternehmungen,
des großen Creditſchwindels, der an bie Law'ſchen Zeiten
erinnert, während der Handelövertrag mit England von
ZTreitfchle mit Recht als eine von den undankbaren Zeit-
genoffen halb vergefiene große That des Kaifers gefeiert
wird, einer ffizzirten Darftellung ber Eultur- und Literatur⸗
zuftänbe des second empire, ber kirchlichen Reaction, die
als furchtbare Feindin ber geiftigen Bildung der Nation
in fortwährendem Wachsthum begriffen ift, folgt ein Ueber⸗
blick über die auswärtige Politik des Kaiſerreichs, welcher
durch die neueften Ereignifje vielfach Tüdenhaft und un-
haltbar geworden if. Wenn KXreitfchle behauptet, daß
ber Deutſche mit begreiflicher Theilnahme auf bie Napo-
Teonifche Mittelpartei unter Ollivier's Führung fehe, jo hat
fi) diefe Napoleonifche Mittelpartei, welche in dem „libe⸗
ralen“ Minifterium Dllivier ans Ruder fam, durch bie
freche, günzlich unmotivirte Kriegserflärung gegen Deutfch-
land Längft um jeden Reft der Theilnahme gebracht und
ftatt derfelben gerechten Haß eingeerntet. Wenn Treitſchke
an einer andern Stelle fagt: „Wir vermuthen nicht mehr,
nein, wir haben feit dem Sommer 1866 die actenmäßige
Gewißheit, daß die Höfe des Aheinbundes nad der erften
Niederlage Preußens augenblidlih bereit fein werden,
abermals das Joch des Fremden zu tragen, und bas Bolt
im Süden befigt weder die Macht noch den feften Willen,
fie daran zu hindern“, fo hat bie Vegeifterung unb bie
Treue gegen bie Verträge, welche die Yürften und Stämme
bes deutjchen Südens gleichmäßig befeelte, und welche bie
ſüddeutſchen Truppen mit ihrem Blute befiegelt haben,
jene mistrauiſchen Vermuthungen glänzend wiberlegt.
Treitfchle ift Übrigens von der Triedensliebe bes Kaifers
volllommen überzeugt, im Gegenſatze zu unfern Lyrifern,
welche den Käfer allein verantwortlich machen fiir alle
Greuel des Kriegs; er jagt an einer Stelle:
Die vielverfpottete Berficherung des Kaiſers: ’empire c’est
la paix, war von Haus aus ernft gemeint. Alle Schöpfungen
des monarchiſchen Socialigmus verlangen ben Frieden, auch die
ernfte, gedanlenreiche europäiſche Politik Napoleon’s IH. bat
mit roher Schlagluft nichts gemein. Und doc bedarf er der
freubigen Hingebung feiner Soldaten, und doch verdanlt das
Kaiferreih dem Cultus des Kriegsrubme fein Daſein. Man
pflegt von Amts wegen bie chauviniſtiſchen Gedauken. In allen
bedenklichen Zeiten müffen die balbamtlichen Blätter die Rhein⸗
frage anregen, um die unrubigen Köpfe in Boll und Heer zu
befhäftigen — fo unmittelbar nad dem Staatsftreidde, jo nad
dem Zage von Königgrätz. Im der Militärichule von St.-Eyr
trägt Hr. Lavallee die Lehre von deu natlrlichen Grenzen mit
erflaunlider Plumpheit vor. Sogar der Minifter Duruy, der
Beſchützer der friedlihen Aufffärung, kommt in feiner Einleitung
au franzöfifhen Geſchichte immer wieder mit leidenfchaftlicher
ntrüäftung zur auf „jene ungeheure Lücke in unfern Grenzen“,
die fi von Lauterburg bie Dunkirchen ansbehnt. Die deutſche
Sprade im Elſaß if ihm nur ein unberedhtigtes rohes Patois;
und allein dem perſonlichen Billigkeitsgefühle des Kaiſers ver-
danlen die Elſafſer, daß ihre Sprache aus den Schulen nicht
verſchwunden ift.
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612 Neue Effays von Heinrih von Treitſchke.
lanteſten die unftete Neuerungsfucht diefes nervös aufgeregten
Geſchlechts nad; einem großen Kriege für die Freiheit.
Das Charakterbild Ludwig Philipp's felbft, welches
Treitfchle entwirft, ift fo wenig gefchmeichelt, es hebt mit
folcder Borliebe die ungünftigen Züge hervor, dag wir
dem von Gervinus entworfenen Porträt wegen gerechterer
Bertheilung von Licht und Schatten den Vorzug geben.
Treitſchke jagt:
Wie das Syſtem felber, fo vermochten auch die Perfonen
feiner Träger nicht, diefem Soldatenvolfe ins Herz zu wachſen.
Mochten des Könige Schmeichler den Helden von Jemappes
feiern, diefe äme toute frangaise, die nie das Schwert gegen
Frankreich geflihrt — der Herzog von Chartres Hatte doch die
lorreichſten Sage feines Landes nicht mit feinem Volle verlebt.
Es war, ale ob der Inflinct der Maffen etwas ahnte vou der
längft vergefienen Thatſache, daß diefer Schliler Dumouriez’
während des Kaiferreihs mehrmals fid zum Kriegszuge gegen
das Vaterland erboten hatte. Auch au den Orleaus haftete
etwas von dem Bourbonenfluche, ein mationaler Herrfcher iſt
Ludwig Philipp nie geweſen. Nachdem die Heinen Künſte bes
töniglichen Regenſchirms vernugt waren, veripottete die Prefie
bie Berfon des Königs und feinen Birnenkopf mit einer erbit-
terten Ironie, einer Keckheit, die felbit gegen Karl X. nie ge-
wagt worden. Das Mistrauen der Öffentlihen Meinung folgt
jedem feiner Schritte, macht ihn zum nnfreieften Manne feines
Bolls; er wagt nicht einmal ein DOpernunternehmen zu unter-
ſtützen, aus Furt, die Nation werde gewinnfüctige Specu-
lation dahinter mwittern. Man mag in alledem die Wilbheit
eines fieberiichen Parteilampfes tadeln — ein rechter Franzoſe
war biefer König nicht, der fchlaue Handelsmann, der nie jung
eweſen, der durch Heine feige Ränke hindurch den Weg zum
Ehrone geihliden war und ale König noch die alten fchon
dem Prinzen unziemlichen Krämerfünfte übte, der mit all feiner
Welterfahrung die begeifternde Macht der Ideen nie gelannt,
bei al feiner Sanftmuth die fchönfte Pflicht des Königthums
die Beſchützung der Bedrängten, nie begriffen bat und bei a
feiner bitrgerliden Solidität doc im Stande war zu Gauner⸗
ftreichen, wie zu jenem Wortbruche gegen ben gefangenen Abörel-
Kader. Selbft die Tugenden feines bürgerlich⸗ſchlichten häus-
lichen Lebens blieben dieſem ritterlihen Volke unverfländlich.
Im Zufammenhang der Darftellung madt die ver-
nichtende Kritik des Julikönigthums doch den Eindrud,
als ob fie der darauffolgenden Charakteriftil des second
empire zur Folie dienen follte, fowie das Porträt Ludwig
Philipp's demjenigen des dritten Napoleon. Diefer wird
ung in feiner Jugend als homme carr6, al® doux en-
teto gefchilbert, phlegmatifch als ob bolländifches Blut in
feinen Adern flöffe, ein unfranzöfifches Zemperament, bas
tiefe nachhaltige Leidenfchaften keineswegs ausſchließt. Die
Attentate von Strasburg und Boulogne werben in ihrer
Lücherlichkeit bargeftellt; aber den publiciftifchen Arbeiten
des Prinzen wird eine Anerfenuung gezollt, der man mit
einiger Einfchränfung nur zuftimmen kann:
Uns, die wir ‚heute die Schriften des Prinzen minder be-
fangen Überbliden, erſcheint fchier unbegreiflich, wie man bie
fen Autor jemals misachten fonute. Denn ſie entſprechen nicht
nur keineswegs den Erwartungen, die man gemeinhin den lite-
rarifhen Sünden eine® Prinzen entgegenbringt, fie verbienen
ſchlechthin einen ehrenvollen Platz in der Geſchichte der Publi⸗
eiſtik. Nicht ein geiftreicher, aber ein emiuent praltifcher Kopf,
nüchtern und fiher im Beobachten, feft und felbfländig im Ur⸗
theilen, bat fie gefchaffen. Aud die Darfiellung if Mar und
biindig, von echt franzöfticher netteto; der Prinz weiß feine
Lefer raſch zu orientiren, allen feinen Süßen eine praktiſche
Spite zu geben. Der Ideenreichthum, das Pathos der Wahr-
baftigkeit, die Macht der Phantafte, bie deu Hiſtoriker machen,
find ihm verfagt; doch er verfteht vortrefflih, in biscuffiver
Darftellung , mit Gewandtheit und ohne Gewiſſensbedenken, die
biftorifchen Borausſetzungen ber Gegenwart für feine Zwecke ſich
zurechtzulegen. Kurz, er zeigt fi als ein begabter Journaliſt;
und wer da wußte, daß biefe Schriften nicht Iiterarifch etwas
bedeuten, fondern das Programm einer praktiſchen Staatskunſt
bilden follten, der mußte bei einiger Unbefangenheit befennen, adß
hier ein ungewöhnliches ſtaatsmänniſches Talent ſich offenbare.
Der Bring verlangte in dem berühmteſten feiner Aus-
fprüche von dem Politiker, er folle an ber Spige der
Ideen feines Jahrhunderts fchreiten, auf daß fie ihn nicht
ftürzen. Mit Recht meint Treitſchke, daß er diefer For⸗
derung nur halb genügt habe. Die Bedeutung bes vier-
ten Standes und der focialen Frage babe ex wohl erfannt;
aber jene Mächte des Idealismus, die auch unferer nüch⸗
ternen Epoche nicht fehlen, feien ihm fremd geblieben.
In der That kennt Napoleon III. nur einen Idealismus,
den der „Napoleonifhen Ideen‘, und biefer muß ver»
dächtig erfcheinen, weil er mit den perfönlichen Iutereffen
feines Vertreters vollftändig zuſammenfällt.
Einen Heinen, bier eingefchobenen Excurs über deutfche
und franzöftfhe Sitten wollen wir unfern Lefern nicht
porenthalten, ba er einen oft nicht geung beachteten Ge⸗
fihtspunft in den Vordergrund ſtellt. In der heutigen
Epoche ift dies um fo nöthiger, als bie gerechte Ent⸗
rüftung über den vom Zaun gebrochenen Bollskrieg leicht
bazu geneigt machen dürfte, mit dem Volkshaß aud) wies
der die früher beliebte „Franzoſenfreſſerei“ in Schwung
zu bringen. Daß wir und von den fchlechten franzöflfchen
Einflüffen und Sitten emaucipiren, iſt gewiß in ber Orb
nung; feineswegs aber dürfen wir alles, was von einem
fo bedeutenden geiftigen Qulturvoll wie die Franzoſen
zur Entwidelung der Menſchheit beigefteuert worden ifl,
gerabezu misachten oder ganz über Bord werfen. Treitſchke
wendet fich gegen den „phnrifäerbaften Dinkel“, mit wel
chem oft über die Unzucht der Sitten und Schriften un⸗
ferer Nachbarn abgefprodyen wird:
Wir wollten fie wahrlich gern entbehren, jene tugendhaf⸗
ten Urtbeile idealer Kritiler Über das reale Lafter des nemen
Frankreich, welche heute ebrenfeft in den Feuilletons unferer
Zeitungen einberftoßiren und — alsbald dem allgemeinen Hobn-
gelächter verfallen würden, wenn die anonymen Berfaffer ihre
eigenen reinen Namen entbüllen wollten. Am lauteften pflegt
das Berdbammungsurtheil über das neu⸗franzöſiſche Babylon in
den wiener Blättern angeftimmt zu werden — in jenen Wien,
das fittlich unzweifelhaft tiefer ftebt ale Paris, beun am ber
Donau wird ſchwerlich weniger geilindigt umd gewiß weit weniger
earbeitet ale an der Seine. Die Urheber folder mwohlfetler
oralpredigten vergeffen, wie tief wir einft felber, zur Zeit
des Jungen Deutihland, in die Nete der parifer Sirene ver-
firidt waren. Sie vergeffen, daß das Urtbeil gerade über bie
feinften fittlicden Fragen, trog des Chriftentbums und troß bes
ſchwunghaften Weltverlehrs, ein je nach dem Bollsthum ver
ſchiedenes fein und bleiben muß. Das ungeftlime Blut unferer
Jugeud liebt einmal, beim Zehen und NRaufen, das ener ber
jungen Frangofen, in galanten Abenteuern ſich auszutoben; und
die Frage, welche dieſer nationalen Schwächen für baltlofe Na⸗
turen verberblicher fei, ift keineswegs Leicht, fie ift jedenfalls
nicht für alle Menſchen auf die gleiche Welfe zn beantworten.
Wir bleiben ein tn jedem Sinne ſchwereres Boll denn unfere
Nachbarn.
Die Webruarrevolution hat nad ber Anficht unfers
Autors „gar nichts des Bewunderungswürdigen“, die Zer⸗
rüttung der Verhältniſſe, die allgemeine Verlogenheit, bie
bare Gedankenloſigkeit der Todesangft gehören zur Signa⸗
tur der Epoche; der Sieg der Yumitage, „des furchtbar
ften focialen Kampfes, den die neue Gefchichte feit dem
Neue Effays von Heinrih von Treitfchle.
dentſchen Bauernfrieg gefehen hat“, war ber Sieg ber
Dourgeoisrepublil, die zur Monarchie zurückſtrebte. Die
neue republifanifche Berfaffung nennt Treitfchte „die wider-
finnigfte unter den vielen todtgeborenen Conftitutionen jenes
Jahres“. Wir haben dieſe Konftitution, fowie die innere
und äußere Politit der Zeit erft vor kurzem in d. BL.
befprochen; bie innern Widerfpritche berjelben werden von
Treitfchle in ganz ähnlicher Weife auseinandergeſetzt, wie
von dem DBerfaffer der Schrift über den „Staatsftreich
vom 2. December”. Die Abvocatur für diefen Staats
ftreih übernimmt Treitſchke indeß in einer Weife, bie
doch wol nur die Ueberhebung ftaatemännifcher Leber-
weisheit ift; denn wenn er auf der einen-Seite jagt, daß
der 2. December eine Nothwenbigkeit geweſen fei könne
fein Dann von politifchem Urtheil beftreiten, und dann
wieder eine Berfchwörung, die von ben Hütern bes Ge-
ſetzes ausgeht, die häßlichſte aller Rechtsverlegungen nennt,
welche durch die ſittliche Nichtigkeit der Gefellen des Prä-
fidenten faft unfühnbar geworben fei, wenn er bie maß⸗
Iofe und unnütze Brutalität in der Ausführung des Staats»
ftreich8 tadelt, jo erhält fein Urtheil doch etwas Schielen-
des und politifche Weisheit und moraliſche Entrüftung
bilden eine ungelöfte Diffonanz. Hier lefen wir, baß
ber Staatsftreih eine Nothwendigkeit war; bort, das
Schredliche der Kataftrophe liege in ber Thatfache, daß
bie Mehrheit der Nation ihn billigte. Warum follte die
Mehrheit der Nation nicht eine „Nothwendigkeit“ billi-
gen? kann in diefer Bewährung bes „politiichen Ur⸗
theils“, in diefer Vorwegnahme deutfcher PBrofefioren-
weisheit denn etwas jo „Schredliches” Tiegen?
Die Conftruction der faits accomplis als „politifcher
Nothwendigkeiten“ gehört zu den Erbkrankheiten unferer
Gelehrſamkeit; ihr zu Grunde Liegt eine misverftändliche
Anmendung des Hegel'ſchen Sages von der Vernünftigkeit
des Wirklihen und im Grunde die unerquidliche Lobprei⸗
jung bes Erfolge, Der 2. December war ein Berbre-
hen, Teine Nothwendigfeit, vielleicht eine Nothwenbigfeit
für den Präftidenten Bonaparte, obgleich auch dies beftrit-
ten und die Wahrfcheinlichkeit feiner immerhin verfaffungs-
widrigen Wiederwahl von vielen Seiten behauptet wird.
Für diejenige flaatsmännifche und mitſchuldige Weisheit,
welche in dem 2. December einen Act politifcher Noth-
wenbigfeit flieht, zahlen wir noch im Jahre 1870 die
Schul« und Kriegskoſten. Es ift Zeit, daß diefer legte
Reſt der Napoleonifhen Legende aus den Köpfen unjerer
Staatsweiſen entjchwinde.
Die Kritik der „perfünlichen Tyrannis“, bes verant«
wortlichen Kaifers als des homme-peuple, bed ganzen
Berfaffungsfuftems als eines gouvernement indiscutable
leugnet nicht, daß das Kaiferreich eine Gewaltherrſchaft
und ein vechtlofer Zuftand geblieben ift, daß der geiftige
Adel der Nation fih mit fittlihem Ekel von ihm ab⸗
wendet, fie analyfirt das dem Anſchein nach confequente
Berfaffungsgebäude und feine SKörperfchaften, doc fie
ſucht das Heil nicht in entfchloffenem Einlenken in die
Bahn des parlamentarifchen Syſtems, in welcher der
Kaiſer und fein Minifter Olivier neuerdings felbft die
Krönung des Gebäudes erblicten, nicht in der Theilung
der Gewalten, fondern in der Beſchrünkung ber Staate-
gewalt durch Selbftverwaltung, in der Decentralifation,
613
welche das Schlagwort einer großen franzöftfchen Publi⸗
ciftenfchule geworben if. Treitſchke findet das größte
Hindernig der Selbftverwaltung in ber Herrfchaft des
vierten Standes. In der Begünftigung diefer Herrſchaft
liegt ein Hauptcharalterzug bed neuen Bonapartismus,
in ber Sorge für das Wohl der arbeitenden Klafien
vielleicht fein Hauptverdienft.
Einer Charakteriftit der induftriellen Unternehmungen,
des großen Creditſchwindels, ber an die Law'ſchen Zeiten
erinnert, während ber Sanbdelövertrag mit England von
ZTreitfchle mit Hecht als eine don ben undankbaren Zeit-
genoffen halb vergefiene große That des Kaifers gefeiert
wird, einer ffizzirten Darftellung ber Cultur⸗ und Literatur-
zuftände des second empire, der kirchlichen KReaclion, bie
als furchtbare Feindin ber geiftigen Bildung der Nation
in fortwährendem Wachsthum begriffen ift, folgt ein Ueber⸗
blid über die auswärtige Politik des Kaiferreichs, welcher
durch die neueften Ereigniffe vielfach Lüdenhaft und un⸗
haltbar geworben if. Wenn Treitſchke behauptet, daß
der Deutfche mit begreiflicher Theilnahme auf die Napo⸗
leonifche Mittelpartei unter Ollivier's Führung fehe, fo hut
fi diefe Napoleonifche Mittelpartei, welche in dem „libe⸗
ralen” Minifterium Ollivier ans Ruder kam, durch bie
freche, günzlich unmotivirte Kriegserklärung gegen Deutfch-
land längſt um jeden Reſt der Theilnahme gebradjt und
ftatt derfelben gerechten Haß eingeerntet. Wenn Treitſchke
an einer andern Stelle jagt: „Wir vermuthen nicht mehr,
nein, wir haben feit dem Sommer 1866 die actenmäßige
Gewißheit, daß die Höfe des Rheinbundes nad) ber erften
Niederlage Preußens augenblidlih bereit fein werben,
abermals das Joch bes Fremden zu tragen, und das Bolt
im Süden beflgt weder die Macht noch den feiten Willen,
fie daran zu hindern“, fo Hat die Vegeifterung und die
Treue gegen die Verträge, welche die Fürften und Stämme
bes beutjchen Südens gleihmäßig befeelte, und weldje die
füddeutſchen Truppen mit ihrem Blute beftegelt haben,
jene mistrauifhen Bermuthungen glänzend widerlegt.
Treitſchke ift übrigens von der Triedensliebe des Kaifers
volllommen überzeugt, im Gegenfate zu unfern Lyrikern,
welcye den Cäſar allein verantwortlich) machen für alle
Greuel des Kriege; er fagt an einer Stelle:
Die vielverfpottete Berfiherung des Kaiſers: l’empire c’est
la paix, war von Haus aus ernft gemeint. Ale Schöpfungen
des monarchiſchen Socialismus verlangen den Frieden, auch die
ernfle, gedanlenreiche europäiſche Politik Napoleon’s ILL. bat
mit roher Schlaglnft nichts gemein. Und doch bedarf er der
freudigen Hingebung feiner Soldaten, und doc verdankt das
Kaiferreih dem Cultus des Kriegsrubme fein Dafen. Dan
pflegt von Amts wegen die chauviniſtiſchen Gedanken. In allen
bedentlihen Zeiten müfſen die halbamtlichen Blätter die Rhein-
frage anregen, um bie unrubigen Köpfe in Bolt und Heer zu
befhäftigen — fo unmittelbar nad dem Staateftreidhe, jo nad
bem Tage von Königgräg. In der Militärihule von St.-Eyr
trägt Hr. Lavallee die Lehre von dem natierlichen Grenzen mit
erflaunlicher PBlumpbeit vor. Sogar der Minifter Duruy, ber
Beſchützer der friedlichen Aufflärung, fommt in feiner Einleitung
zur franzöſiſchen Gefchichte immer wieber mit leibenfchaftlicher
Enträftung zuräd auf „jene ungeheure Lücke in unfern Grenzen“,
die fi von Lauterburg bis Dunkirchen ausbehut. Die beutiche
Sprade im Elſaß if ihm nur ein unberechtigtes rohes Batoie;
und allein dem perfönlichen Billigleitsgeflihle bes Kaiſers ver»
danken die Elfaffer, daß ihre Sprache aus den Schulen nicht
verſchwunden ifl.
me.
— — — — — —
v
614 Neue Eſſays von Heinrich von Treitſchke.
Und an einer andern Stelle heißt es:
Die Mäßigung und Weisheit bes Kaiſers iſt noch immer
der befte Berblindete, den wir im Frankreich befigen. Was
auch der biplomatifhe Klatſch fi zuraunen mag von ber
Schlummerfuht des Kaifers, die nur durch einen Schlag von
mächtiger Hand auf Augenblicke geftört werden könne — fo tief
ift der bedeutende Mann doc nicht gefunfen, daß er bie furcht⸗
baren Gefahren eines Kriegs mit Deutfchland nicht fehen ſollte.
Seine Freunde wahrlich find es nicht, die das Kriegsgeſchrei
am Tauteften erheben; nicht bei den Thiers und Jules Favre
und den andern falfchen Göten einer urtheilslofen öffentlichen
Meinung ift der Rath zu finden, der Frankreich frommen mag.
Der Kaiſer hat in den lombardifchen Ebenen gelernt, daß ihm
die Gaben des großem Feldherrn verfagt find und and) feine
Leibestraft für einen zweiten Feldzug ſchwerlich ausreichen wird,
ür das Haus Bonaparte aber ift ein vom Rheine flegrei
eimfehrender franzöfticher Marfchall kaum minder gefährtt
als ein zum dritten male in Paris einziehender preußiſcher
Seldherr. So ſtehen wir Heute: jeder neue Tag friedlicher
Being befeftigt freilich die Sicherheit Europas, bach zulegt
hängt die Ruhe der Welt noch immer an dem unberedhenbaren
Spiele ber politifhen Kräfte im Innern Frankreichs. Wie der
Kaifer den Ultramontanen zu Liebe das Schwert ziehen mußte
gegen die Italiener, fo tönnen ihn auch jet ſteigende Verlegen⸗
beiten der innern Politik in die Arme der Chaupviniften, zu
einem ruchloſen Raubzuge gegen Deutfchland treiben. Nach
fiebzehn Jahren ungebeuerer Arbeit ift er dahin gelangt, daß
jein Regiment biefjeit wie jenfeit der Grenzen wieder einem
ebenfo allgemeinen Mistrauen begegnet wie einft nah dem
2. December. Die Krankheit des franzöfifchen Staats bat für
ben ganzen Welttheil einen Zuſtand bauger Spannung ger
ichaffen, der dieſes Hochgefitteten Jahrhunderts nicht würdig ifl.
Noch einige Schritte weiter, und der Name Napoleon III.
kann bei der Nachwelt einem Rufe verfallen, den er nidt
verdient.
In den legten Sätzen zeigt fi) wieber die propheti«
ſche Ader unfers Autors. Auch was die Ausfihten für
bie Zukunft Frankreichs betrifft, fo ift die folgende Cha⸗
rakteriſtik der politifchen Parteien durch den jeßigen Krieg
keineswegs veraltet, fondern in den Vordergrund des eu⸗
ropäifchen Intereſſes gerückt:
Und doch ſehen wir keinen Mann und keine Partei, welche
im Stande wären, den Kaiſer zu erſetzen. Die herbe Gering⸗
ſchätzung des Selbſtherrſchers gegen ſeine Feinde, gegen den
Schaumwein ber Oppofitionsreden iſt nur zu begreiflich. Die
alten Parteien fcheinen vernußt, neue find nicht entflanben.
Die Monarchie der Bourbonen und ber Drieans bildete Repu⸗
blitaner, die Republik erzog ein Geſchlecht von Reactionären;
unter dem Kaiferreiche bat der Geift des Widerfpruchs zwar
der Ungnfriedenen viele, boch nicht eine ſtarke Liberale Partei
mit feften Zielen geichaffen. Die Herrfchaft der Legitimiften ifl
in dem neuen Frankreich unmöglich — wenn anders wir das
gefährliche Wort auf die unberechenbaren Zuftände diefes Reiche
anwenden dürfen. Die Orleaniften haben wenig gelernt. Nicht
blos ihre Flüchtlinge verzehren fi in unfrudtbarem Hafſe,
wie jener eimft jo befonnene Dunoyer, ber in feinem Werke
über das zmeite Kaiſerreich nur finnlofe Zornreden und das
ewige quiconque est loup agisse en loup zu fagen weiß.
Aue die daheim geblieben, find den Ideen verfchollener Tage
nicht entwachſen: verantwortfiche Minifter und eine feindfelige
Haltung gegen Deutſchland würden ihnen genligen. Die ge⸗
mäßigten Republifafter zählen nocd immer wie vor zwanzig
Jahren viele hochachtbare mannhafte Namen, aber die Mafle
fteht nicht Hinter ihnen, und auch fie leben weniger in neuen
Gedanken als in dem alten Hafle gegen den 2. December,
„der fein Datum, fondern ein Verbrechen iſt“. Bon den Ra⸗
dicalen find die einen übergelaufen zu dem rothen Prinzen, bie
andern beranſchen fih an Xraumbildern, die jeden Staat, jede
Ordnung der Geſellſchaft zerftören müfjen.
Als das Refultat der umfaffenden Darftellung des Bo⸗
napartismus wird die Anſicht ausgefprochen, daß die Ge
danken bes Repräfentativfuftems durch den Bonapartismus
wicht überwunden find, und daß wir hoffen dürfen, es
werde fich für ihren unverwüſtlichen Kern eine moderne
Form finden lafien. Studien über die Entwidelung des
Syſtems in der Gegenwart und das Ziel, dem biejelbe
zuftrebt, beflimmen die Phyſiognomie bes Auffages über
„das conftitutionelle Abnigthum im Deutſchland“, von bem
ber Berfaffer im Vorwort fagt:
Er bat feinen Zmed erreicht, wenn er den Lefer beftärkt
in dem Bertrauen, daß das conflitutionelle Syſtem auf dent-
fhem Boden eine lebensvolle, nationale Ausbildung empfangen
wird. Noch find der Gebrechen, welche das unfertige porla-
mentarifche Leben des preußifchen Staats entftellen, nur allzu
viele. Es frommt nicht, die bereditigten Klagen, welche den
deutfchen Markt erfüllen, zu verftärfen durch doctrinäre Launen;
es frommt nit, diefen deutfchen Staat darum zu fchelten, weil
er einem willkürlich aus der Fremde entlehnten Idealbilde nicht
entfpricht und nicht entſprechen barf.
Die Abhandlung beginnt mit einem Hiftorifchen Rück⸗
blick, fehildert dann die confervativen Kräfte im preußiſchen
Stante, die Krone, das Heer, da8 Beamtenihum, ritifirt
als falfche Ideale die Parteiregierung und das nnbe-
ſchränkte Steuerverweigerungsrecht, ftellt dagegen als er-
reichbare Ziele rechtliche Schranfen für die Berwaltung,
Selbftverwaltung ber Provinzen und Gemeinden und die
Freiheit der geiftigen Bildung, als fchönes Ziel dentfcher
Entwidelung aber den deutſchen Gefammtftaat Hin.
Zreitfchle verlangt eine lebendige monarchiſche Gewalt.
Das Herrſcherhaus der Hohenzollern habe feit zwei Jahr⸗
bunberten ben deutfchen Staat vertreten; es fet fat die
einzige politifche Kraft, welche die moderne Welt mit ber
Bergangenheit verbinde; deshalb dürfe eine trene und
gerechte Nation einem Herrſcherhauſe von folder Ver⸗
gangenheit nicht jenes Mistrauen eutgegenbringen, das
nad der alten conftitutionellen Theorie die vorherrſchende
Empfindung eines freien Volls fein folle:
Die monardifche Gefinnung mwurzelt felfenfeft in umjerer
Nation, fie ift die männlide Empfindung eines freien Volle,
fie entfpringt der dankbaren Erfenntniß, daß unfere Krone bie
hoben Pflichten, um derentwillen fie befteht, immerdar erfüllt
hat. In foldem Sinne ift nichts von myſtiſchem Aberglauben;
die blinde Ergebenheit gereint nit mebr in unſerm handfeſten
Jahrhundert, das ſchon einige hundert deutſcher Fürſten⸗ nnd
Herrenfronen zerfchlagen hat und in diefer löblichen Arbeit ohne
Zweifel fortfahren wird.
Dffenbar verlangt Treitichle von den Unterthamen ber
zerfchlagenen „beutfchen Fürſtenkronen“ das Gegentheil der
„monarchiſchen Geflnnung”, was bie Allgemeingültigkeit
bes Priucips mefentlich beeinträchtigt. Doch diefe mo⸗
narchiſche Geſinnung ift weit entfernt von Berberrlihung
des Legitimitätsprincips:
Der Name Legitimität mar in Preußen immer nur eine
leere Phraſe. Die Macht diefer Krone rubte von jeher auf
befjern Rechtstiteln, als Erb- und Kaufverträge gewähren können.
Wie fie ihre Serrfhaft im Serzogthum Preußen einer Revolution,
der That Martin Luther’s', verbantte, fo ift fie auch fernerhin
gewachſen durch die lebendigen Kräfte der beutichen Geſchichte,
oftmals im offenen Kampfe mit dem Reicht⸗ und Bundecrecht.
Bis zum Jahre 1866 blieb ihr mindeftens ber Troft, daß fie
fein Dorf befite ohne die Zufimmung Europas. Doch durd
den deutfhen Krieg warb der Bruch mit der Legitimität, ber
fat in allen europäifhen Staaten den Beginn einer freiern
Epoche bezeichnet, förmlich vollzogen; es ift heute nicht mehr
Neue Eſſays von Heinrih von Treitfchte.
möglid , zualei) ein treuer Preuße und ein Legitimift zu fein.
Seitdem beginnt felbft das dunkle Gefühl der Maflen das We⸗
fen diefe® nationalen Königthums zu verftehen; fie ahnen, daß
diefe Macht der Zradition zugleich eine Iebendige Kraft des
Fortſchritts, der Mehrer des Reiche, der Vorkümpfer der deut-
hen Einheit if. Die uralte Ehrfurcht vor Kaifer und Neid,
welche die Stürme der Jahrhunderte nicht ausrotten Tonnten
aus dem treuen Herzen unfers Volls, die alte deutiche Sehn⸗
ſucht nad einem Schirmherrn des Rechts in dem zerriffenen
Baterlande — fie vedeten aus dem Jubel jener braven frieflichen
Bauern, die fi in Wilhelmshaven um König Wilhelm dräng-
ten und ihre Buben auf die Schultern hoben, um fi ben
beutfchen König "mal anzuliefen.
Mit der DBegeifterung für eine „ſtarke Monarchie‘
geht natürlich die Polemil gegen die Parteiregierung und
das Stenerverweigerungsredht, in welchen: Dahlmenn ein
unentbehrliches Nothrecht und das abfolute Beto ber
Bolliwertretung gefunden, Hand in Hand, fowie eime
Iharfe Kritik der liberalen Parteien der preußifchen
Kammer. Die Doctrin vom abfoluten Steuervermeige-
rungsrecht fchließt, nach unferm Autor, eine grobe Rechts⸗
verletzung in fi:
Sie geht aus von jener franzöfifchen Borftellu d: als ob
erſt mit der gefchriebenen Berfaflung das wahre Leben bes
Staats, die berühmte &re de 1a liberte, begiune und alle an-
beru Nechtsverbindlichkeiten des Gemeinweſens zurüdftehen müß-
ten hinter den Vorſchriften der Charte. Aber das verfafjungs-
mäßige Budgetgeſetz tft offenbar nicht der Rechtsgrund, Traft
deſſen der Staat feine Ausgaben leiſtet. Wenn jenes Geſetz
nicht zu Stande kommt, fo bleibt der Staat nichtsdefloweniger
verpflichtet, feinen Gläubigern die Zinfen, den Beamten bie @e-
halte, dritten Staaten die vereinbarten Zahlungen zu gewähren;
deun dieſe Berbindlichkeiten beruhen anf ältern Geſetzen, auf
Berträgen, auf einer Waffe gültiger Rechtstitel, die ein Par-
lamentsbeſchluß gar nicht befettigen kann. Daher hat während
des Conflicis auch der eifrigfte Yortihrittsmann unter unfern
Beamten unbedenflih feinen Gehalt angenommen, und mit
Recht. Wer das unbebingte Stenerverweigerungsrecht fordert,
der will nicht nur den Beſtand bochwichtiger für die Dauer
beſtimmter politifcher Inflitutionen, fondern auch eine Menge
en Rechte alljährlich der parlamentariſchen Willlür
überlaffen.
Außerdem aber fei der Beſchluß, bie Steuern zu ver⸗
weigern, eine Unwahrheit, er wolle nicht, was er fage,
fonft müßte er die DVernichtung des Staats wollen,
während er boch nur durch gewaltfame Drohung andere
Zwecke, den Sturz eines Minifters u. f. f., zu erreichen
fuche. Das Budgetrecht der preußiſchen Berfaflung fei
eine Muſterkarte politifcher Fehler. Das Heilmittel fin-
det Treitfchle, im Anſchluß an einen Blan Karl Mathy's,
in einer Theilung des Budgets:
Man muß in jedem Titel des Budgets die auf Geſetzen
und Berträgen beruhenden Ausgaben abfondern von den be-
weglichen Poften; jene bat bae Parlament nur nad) ihrer Ge⸗
ſetzlichkeit zu prüfen, biefe au) nad) ihrer Zwedmäßigkeit, jene
einfah anzuerfennen, dieſe nad) Ermefjen herabzuſetzen. Die
Summe der permanenten Ausgaben wird natürlich geringer
fein als die der beweglichen; denn zu diefen zählen auch alle
Poſten, welde zwar nad) ihrem Rechtsgrunde, doch nicht nad
ihrem Betrage feſtſtehen. So erhält die Krone eine Blirg-
ſchaft gegen den Misbrauch des Ausgabebewilligungsredhte, und
fein vernünftiges Bedenken hindert mehr, aud) das Einnahme
budget bergeflalt neu zu ordnen, baß den permanenten gejch-
lichen Einnahmen einige bewegliche Poſten hinzutreten, welche
ber freien Bewilligung des Unterhauſes unterliegen. Auf dieſem
Gebiete ericheimt bie Weisheit der engliſchen Verfaffnug wahrbaft
bewunderungsveittdig.
615
In feiner Begeifterung fir ben Krieg gebt unfer
Autor noch über Fichte und Hegel hinaus. Der ſchüler⸗
bafte Denker Kant wird vornehm zurechtgewieſen, benn
auf ihn beziehen fi) doch jebenfalls die Worte mit:
„Wer vom ewigen Frieden träumt, verlangt nicht ‚mx
das Unausführbare, fondern den Unfinn; er begeht einen
ſchülerhaften Denkfehler.” Weiterhin erfahren wir, daß
die Hoffnung, den Krieg aus der Welt zu vertilgen,
nicht nur finnlos, fondern „tief unfittlich” fei, und dann
beginut ein Hymnus auf den Krieg, der fich ohne große
Mühe in ein Dbenversmaß bringen ließe. Und dod
wehren fich die humanen Inſtincte des Jahrhunderts ge-
gen die Anfchauung, daß ber Krieg nicht bloß-eine poli⸗
tifche Nothwendigkeit der Gegenwart, fondern aud) das
Ideal aller Zukunft fei. Unſere tapferften Heerführer
und Soldaten fprechen ohne Zögern ihren Abſcheu vor
ben Greueln des Kriege aus; wir aber glamben nicht, daß
der „Staatsfanatismus“, wie ihn andy Treitſchke vertritt,
das legte Wort der Menſchheit fet.
Der berbe Tadel, welchen Treitfchle über die Politik
der Südſtaaten ünfert, iſt durch die legten Creigniffe im
wefentlichen entkräftet worden. Der Aufſatz fchließt mit
den folgenden ſchwunghaften Wendungen:
Große politiiche Leidenfchaft if ein Mftliher Schatz; das
matte Herz der Mehrzahl der Menſchen bietet nur wenig Raum
dafür. Glüchſelig das Geſchlecht, welchem eine fzenge Noth⸗
wendigkeit einen erhabenen politiſchen Gedanken auferlegt, der
groß und einfach, allen verſtändlich, jede andere Idee der Zeit
in ſeine Dienſte zwingt! Ein ſolcher Gedanke iſt unſern Ta⸗
gen die Einheit Deutſchlands; wer ihr nicht dient, lebt nicht
mit feinem Volle. Wir n im Lager; jeden Augenblid
kann uns des Feldherrn Gebot wieder unter die Waffen rufen.
Uns ziemt nicht, den tanſend und taufend gligernden Freiheits⸗
wäniden, die dies Zeitalter ber Revolutionen durchflattern, in
biinder Begierde nachzujagen. Uns ziemt, zufammenzufiehen tm
Manngszucht und GSelbfibefhränfung, und ben Hort unferer
Einheit, das dentſche Königthum, treu bewahrt den Söhnen zu
übergeben, welche — forgenfreier vielleicht, nicht glüdlicher ale
ihre hart ringenden Bäter — den deutſchen Staat bereinft aus⸗
ſchmücken werden. Für Deutichlande Einheit fümpfen heißt bie
Kreigeit des Gedanlens verteidigen wider röomiſche Herrſchſucht;
die deutiche Einheit vollenden heißt ein jugenbliches und fit
liches Boll, das noch faum im zweiten Viertel feiner wunder⸗
vollen Geſchichte lebt, ſich felber zurückgeben. Erfüllen wir
biefe Pflicht, fo bleibt den Ideen parlamentarischer Freiheit auf
demtfcher Erde eine ſtolze Zukunft gefichert.
In dem biographifchen Porträt Cavour's wirb bas
Ideal eines Staatsmanns vorgeführt, das Ideal eines
pofitiven Geiftes, erfüllt von dem fichern Inſtinet fiir das
Möglide. Dies Portriit ift mit vieler Liebe außgeflihrt,
und gibt uns zugleich einen Umriß der italienifchen Ein⸗
heitsbeftrebungen. Doc das Bild ift allzu fehr Licht im
Licht gemalt; daß Cavour ein Minifter biplomatifcher
Doppelzängigleit war, umd daß bie Verfchadjerung von
Nizza und Savsyen do eine That der feelenverfaufenben
Gabinetspolitit war, kann unfern Autor nicht beftimmen,
das Bild feines Helden etwas dunkler zu retouchiren.
Die Darftellung der „Republik der vereinigten Nie⸗
berlanbe” iſt eine Abhandlung, in welcher die publiciſti⸗
ſche Tendenz bie biftorifche überwiegt. ‘Der Autor will
uns die Entwidelung der Berfaffung biefes denkwür⸗
digen Gemeinweſens darftellen — des einzigen Staaten«
bunbes ber Befchichte, ber zum Einheitsſtaate warb, des
einzigen alfo, der dem Norddeutſchen Bunde verwandt ifl.
616 Literaturgeſchichtliches.
Er läßt dabei alles Dramatiſche in den Charakteren,
Kämpfen und Kreigniffen außer Acht; er zeichnet eben
nur bie Linien ber Entwidelung — eine für eine berartige
Abhandlung nicht zu verwerfende Darftellungsmeife, die fich
aber auch in vielen neuen Geſchichtswerken geltend macht und
ihnen einen blutlos unlebendigen Anftrich gibt.
Treitſchke's Stil ift durchweg edel und ſchwunghaft,
nur etwas ermübend durch die fortwährende patheti⸗
ſche Geberde und an einzelnen Stellen zur Unzeit mehr
rhetorifch glänzend als ſachgemäß entwidelnd,
Rudolf Gotifchall.
Kiteraturgefchichtliches.
(Beichluß ans Rr. 38.)
8. Edouard Schuré's Gefchichte des deutfchen Liedes. Ein⸗
geleitet von Adolf Stahr. Alleinberehtigte deutſche Aus-
gabe. Berlin, Sacco Nachfolger. 1870. Gr. 8. 1 XThlr.
10 Ngr.
Wenn man flieht, wie ein Deutfcher die Volkslieder
feiner Heimat mishanbelt, fo ift e8 doppelt erfreulich,
einem Franzoſen zu begegnen, welcher für das bentfche
Volkslied und feine Bedeutung fir unfere gefammte Kunft-
dichtung das rechte Berftändnig hat. Und das zeigt uns
das Buch von Schuré. Allerdings iſt diefer eigentlich
fein echter Franzoſe, fondern ein Elfaffer, geboren auf
demfelben Boden mit dem Bollslied vom „Heidenröslein“,
ein Mann franzöflfhen Namens aber dentfchen Blutes.
Ein geborener Strasburger, befchäftigte ſich Schure früh⸗
zeitig mit Leffing und Herder, Goethe und Schiller, ver-
weilte dann mehrere Jahre in Nord⸗ und Süddeutſch⸗
land und machte ſich näher mit ber Gefchichte ber deut⸗
ſchen Literatur und Tonkunſt befannt. Der deutfchen und
franzöfifchen Sprache gleich mächtig, bot er feinen politi-
chen Landeleuten, ben Franzoſen, in diefem Buche dar,
was er liber die Dichtung feiner geiftigen Landsleute er⸗
forfcht und empfunden Hatte Zu Berlin mit dem Ber-
fafjer befannt geworden, übernahm es Abolf Stahr, die
Berbeutfchung diefer franzöfifchen Geſchichte des deutſchen
Liedes durch ein Vorwort in die Lefewelt einzuführen.
Gegenüber ben meiftens höchſt oberflächlichen Anfichten
ber parifer Feuilletonfchreiber über Deutichland und beut-
ſches Geiftesleben ift e8 erfreulich, von Zeit zu Zeit Fran⸗
zofen zu begegnen, deren Blid frei genug iſt, um in
Deutfchland nicht blos das Land der Kafernen und Zünd⸗
nabelgewehre, fondern auch das Land zu fehen, welches
in Hinſicht auf vielfeitige und felbftändige geiftige Arbeit
dem in Gentralifation verfnöcherten Frankreich getroft zur
Seite treten barf, ja vor bemfelben mandherlei Vorzüge
bat. So hat denn Schure in biefer „Geſchichte des deut⸗
ſchen Liebes” e8 unternommen, feinen Landsleuten die Ent-
widelung unferer neuern Inrifchen Poeſie auf dem Grunde
des alten Volksliedes darzuftellen und nachzuweiſen, welche
Duelle ewiger Tugend unfere Lieberbichtung in dieſem
Naturboden befigt, der ben Franzoſen fehlt ober fo gut
wie gar nicht von ihnen benugt worben ift. Betrachten
wir ben dabei eingefchlagenen Weg näber.
Das einleitende Kapitel handelt von den Wefen ber
Bollspoefie und zwar zunächſt der deutfchen, welche burch
Herder zuerſt ihre Würdigung gefunden. Das beutfche
Lieb ift individuell, während der Gallier von jeher „einen
unwiderſtehlichen Hang zur officiellen Poefie hatte. Selten
verleugnet ſich das Autoritätsbedürfnig in unferer Riteratur-
geſchichte. Es ift der galliſchen Kaffe eingeboren, durch
die römifche Tradition befördert und von der katholiſchen
Kicche forgfältig genährt. Ob der Yranzofe eine Sorbonne,
eine Alademie oder das Haupt einer Schule anerkennt,
immer ift e8 das Bedürfniß nach Autorität, das einen höch⸗
ſten Gerichtshof verlangt, um zu derbammen oder Beloh⸗
nungen auszutheilen.“
Scure erlennt alfo jehr wohl den Gegenfat zwiſchen
der germanischen und romaniſchen Dichtung. Au der
Hand der deutfchen Literaturgefchichte weift er nach, wie
neben der Kunftdichtung der Höfifch- gebildeten Stände
frühzeitig eine Volkspoeſie aufblühte, und wie jene bei die⸗
fer immer aufs neue Jugendkraft und Yugenbfrifche findet.
Bon ben Liedern auf die ſempacher und murtener Schlacht
geht er über zu den vollsmäßigen Stimmungsliedern, in»
dem er ſich hauptſächlich anlehnt an das Wunderhorn,
Uhland und Simrod. Naturfinn und Weltabentener,
Liebesleid und ⸗Luſt, das religidfe Leben des Volks ziehen
in wechjelnden Bildern an uns vorüber, und wir erken⸗
nen mit rende, mit welchem. wahrhaft beutfchen Ver⸗
fländniß und zugleich mit welcher echt franzöftfchen Ge⸗
ſchicklichkeit der Behandlung Schure aus dem fo mannidh-
faltigen Stoffe runde lebensvolle Bilder geftaltet bat. Wir
fehen, wie biefe Funftlofen, durch ihre Wahrheit und
Schönheit jo wirkſamen Lieber ihre Wirkung anf ein
offenes und treues Gemüth allezeit bewahren und wie
fehr diefer Reichthum aud dem Frembling imponirt. Dann
geht Schurd über zu Tod und Auferftehung bes Liebes;
Herder’8 Berbienfte finden geziemende Würdigung, Goethe
begeifterte Feier. Eingehend weift Schure nad, wie bie
Rückkehr zu der Art des Bollsliedes den größten Reiz in
der Dichtung Goethe's wie der Romantifer bilbet; Eichen»
borff, Heine, Uhland und ganz kurz einige ber bedeutend⸗
ſten Lyrifer der Gegenwart werben fein und fchön be-
handelt; nur daß Geibel noch immer als Dichter der
Backfiſche erfcheint, mag einigermaßen wunbernehmen.
Schure ſchließt mit folgenden Worten, welche zugleich als
Zeugniß für die Anmuth und Frifhe der Darftellung,
wie fiir die fichere Freiheit ber Ueberfegung hierftehen
mögen:
Die gelehrte Poefte ift ein Lurus für Leute, die nichts zu
thun haben, eine Liebhaberei der Gelehrten; die volksthümliche
Poefie (ich meine damit diejenige, die kräftig aus dem Gel
und den Formen ber einfachen Poefie gefchöpft hat) iſt ein
Element des focialen Lebens, der freie Ausbrud der Seele der
Nation. Die erfiere ift taufend Gefahren ausgeſetzt, denn nur
zu leicht artet fie in handwerksmäßige Spielerei aus, verirrt
fih in Modethorheit, metaphyfiſche Abftractionen, in Unwahr⸗
beit und hohle Aufgeblafenheit; die andere fchreitet auf bem
— — m
P”
Literaturgeſchichtlich es. 617
feſten Boden der Wirklichkeit fort und findet in ihren Vorbil⸗
dern die drei Geheimnifſe der höchſten Kunſt verkörpert, Kraft,
Einfachheit und Wahrheit. Die eine ift gefchrieben und eriflirt
nur auf dem Papier, die andere wird gefungen und Iebt auf
allen Lippen. Jene ift ein Salonvergnligen, ein Zeitvertreib
für Kenner, die fih mit dem prunfenden und leeren Namen
der „Kunſt um ihrer felbft willen“ ſchmückt, diefe ein Wert für
alle, das in der Hütte des Armen wie im Fürftenichloß hei-
mifh ift, die freude eines ganzen Volks, die menſchliche und
für die ganze Menſchheit beitimmte Kunſt. Diefem Ideal ent-
ſpricht das deutſche Lied, und ihm verdanft es feine wunder-
bare Lebenskraft. Man fingt e8 am häuslichen Herd, auf der
Schulbank, der Univerfität, in Städten, auf den Bergen, bei
Schligenfeften und felbft bei großen Boltsverfammlungen. Bon
dem einfamen Boetenftübchen fliegt es zum Tanzplatz im Dorf,
von dem Gipfel der Alpen in den Salon der Weltdame, die
fih Herz und Geiſt erfrifcht, indem fie im Dialelt des Hod-
landes die einfachen Lieder der Sennerin fingt. So ift das Lieb
gewiffermaßen ein verfnlipfendes Band zwiſchen allen Schichten
der Geſellſchaft geworden, eine glüdbringende, fruchtbare Be⸗
rühbrung. Denn wenn das Gemlith des Volks immerdar das
der gebildetern Klaffen zu beleben und zu verjüngen vermag,
jo können dieſe wiederum bie urfräftigen Regungen des Volks
dem Ideal zumenden. Iſt e8 daher zu verwundern, daß in
Deutichland die Beziehungen des Handwerlers zu dem Manne
des Gedankens, zwiſchen dem Landmann und dem Städter,
dan? dem gemeinjamen Gefange, inniger und freundlicher als
bei uns find? Man gehe nur an einem Sonntage durd) die
Berggegenden MWürtembergs, Thliringene, Schwabens oder der
Rheinlande, und man wird ein erfrenlichese Schauſpiel fehen.
Die jungen Leute aus der Stadt, die abends von den mit alten
Ruinen und Wäldern befränzten Höhen herabfleigen, fingen
oft die alten Liebeslieder des Bolls, und die Bänerinnen ant-
worten fern im Thal mit Hauff’s „Abſchiedslied“, Eichendorff’s
„Mühle oder Heine’8 „Lorelei“. Iſt das nicht ein freund:
licher und zugleich ſchelmiſcher Gruß, mit dem fie fagen wollen:
Wenn ihr um unfere Liebe und um unfere Lieder wißt, fo
fennen wir dafür bie euern, und wer weiß, ob uniere Söhne
euch nicht einſt noch übertreffen‘?
Auf das einzelne näher einzugehen, dürfte bier wol
überflüffig erfcheinen; Ulrich von Hutten beifpielömeife
würde faum in emer Gefchichte der volfsthiimlichen deut-
ſchen Dichtung vermißt werden. Als befonders gelungene
Bilder aus der Gefchichte der deutjchen Dichtung heben
wir hervor die Abfchnitte über Goethe und Heine; ale
zufammenfaffendes Urtheil aber läßt e8 fich ausſprechen,
daß das Buch nicht allein mit eingehender Kenntniß, fon-
dern mit einer liebenstwürdigen Frifhe und Wärme ge-
ſchrieben ift und dadurch fefthält und fortzieht; es fpricht
ih, möchte man fagen, in der ganzen Auffafiung und
Darftellung bes wie es fcheint noch jugenbfrifchen Ber-
faflers jener belebende Hauch der Freiheit und Reinheit,
jener Drang zum Idealen, jene Luft am Forſchen und
zugleich jene Wreudigfeit im Genuſſe des Schönen aus,
wie der Berfafler fie auf deutfchen Hochſchulen kennen
lernen konnte. Die Berdeutfhung iſt fehr gewandt und
left fi völlig wie eine Urfchrift; als einziges Kleines
Berfehen ift dem Berichterftatter aufgefallen, daß Her⸗
wegh's „‚Reiterlied” hier das „Lieb des Cavaliers“ genannt
it; doch dürfen wir einer Dame nicht übel nehmen, daß
fie das Reiterlied des Lebendigen nicht Tennt.
Um feinen Landsleuten einen Hand dom Geift des
deutſchen Volksliedes zu geben, hat Schure eine Anzahl
deutjcher Lieder ins Branzöfifche übertragen und als An-
hang beigefügt. Ein ſchweres Unternehmen, welches aber,
joweit der Deutſche urtheilen kann, im ganzen faft wohl
1870, =.
gelungen iſt. Als Beiſpiel ftche Hier bie Uebertragung
von Goethe's „Gefunden“:
Dans la for&t profonde
J’allais tout à loisir,
Ne cherchant rien au monde,
Au gre de mon desir.
Je vis debout a l’ombre
Fleurette eclose au jour,
Ses beaux yeux d’un bleu sombre,
Deux etoiles d’amour.
J’etends la main vers elle;
La fleur dit a ravir:
Quoi! je suis jeune et belle, .
Et je devrais mourir!
Je sortis la fleurette
Du sol bien doucement,
Et portai la pauvrette
Dans mon jardin charmant.
J’y plantai la mignonne
Dans un endroit cheri;
Toujours elle bourgeonne,
Toujours elle deurit.
Möge das Buch in feiner franzöfifchen Geſtalt un-
fern Nachbarn willlommen fein und dazu beitragen, daß
fie deutfches Wefen gerechter würdigen, als eg oftmals
ber Tall ift; möge e8 in diefer Verdeutſchung auch unter
uns die warmen Treunde finden, bie e8 verdient.
4. Die moderne Nibelungendihtung. Mit bejonderer Rüdficht
auf ©eibel, Hebbel und Jordan. Bon ©. R. Röpe. Ham-
burg, D. Meißner. 1869. 8. 24 Ngr.
Lehrer an der Realſchule des hamburger Johanneums,
hat der Verfaſſer 1865 ein Schulprogramm gefchrieben
über die dramatifche Neudihtung der Nibelungenfage in
Geibel's „Brunhild“ und Hebbel’s „Nibelungen“; ein an»
beres Oſtern 1869 über Jordan's neues Nibelungen»
epos. Dieſe beiden Abhandlungen, vielfach erweitert und
durch einen Auffag über die alte Nibelungendichtung ein-
geleitet, bilden das Buch; fo ift e8 auch den beiden hier
behandelten Dichtern, welche noch unter ben Lebenden
find, Geibel und Jordan, gewibmet.
Betrachten wir ben Inhalt näher. Die einleitende
Abhandlung befpriht kurz die dem „Nibelungenlied“ zu
Grunde liegenden Mythen und den gegenwärtigen Stand
der Forfchungen über das Gedicht, wenn man es einen
Stand nennen darf, daß jeder Germaniſt feine eigene
Haus» und Leibanfiht hat. Der zweite Abfchnitt gebt
nach einem raſchen Blid auf Hans Sache’ und Raupad)’s
Dichtungen über zu Hebbel’8 Trilogie und zu Geibel’s
„Brunhild“, welche beide eingehende Entwidelung und Be-
urtheilung erfahren. Der dritte und legte Abfchnitt be-
ihäftigt fich in befonderer Ausführlichleit mit Jordan's
alliterirender Dichtung; ein Schlußwort faßt den Stand»
punft des Verfaſſers nochmals zufammen und weilt die
Grundidee bes Chriſtenthums in Jordan's Epos nad).
Röpe ift ein begeifterter Berehrer der genannten Dich—⸗
tungen. Allerdings weift er der alten „Nibelunge nöt‘
nicht die Fünftlerifche Bedeutung zu, welche wol die mei-
ften dieſer großartigften Heldendichtung bdeutfcher Zunge
beimeffen; der Mangel feinerer pſychologiſcher Motivirung,
die Berwifchung des zu Grunde liegenden Sagenftoffs,
die mannichfachen Rängen und Härten find Gebrechen, die
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618 Literaturgeſchichtliche s.
ihn unſers Erachtens die überwältigende Großartigkeit des
Gedichts nicht in verdientem Maße genießen und ſchätzen
laſſen. Dagegen iſt es erfreulich, einen gef—hmad- und
tenntnißreihen Mann über Dichtungen der Gegenwart
mit dem vollen Bruftton bewundernder Empfindung reben
zu Hören, in einer Zeit, die unbilligerweife von manchen
Kunſtrichtern Lediglich als eine Zeit der Epigonen betrachtet
wird. Des Berfafiers eingehende Beurtheilung, feine
wahrhaft liebevolle Beſprechung vom erften Wort bis zum
legten: „Mit der deutſchen Poefie ift’s, Gott fei Dant,
noch nicht zu Ende!” Hat ſchon darum befondern Werth,
weil fie über dem Guten ber Vergangenheit das Gute ber
Gegenwart nicht misachtet.
Dagegen ift das Buch in anderer Hinfiht etwas
mwunderlid. Warum wir es jo nennen, das mag ber
Verfaſſer felbft erläutern. Er fagt im Vorwort:
Im anderer Hinficht aber werde ich dem Tadel ſchwerlich ent-
gehen. Ich jhäme mid des Evangeliums von Chrifto nicht
und habe die hier beſprochenen Dichtungen nad) den Grund»
fägen des Chriftentbums beurtheilt. Der Apoftel Paulus fagt
1 Kor. 2, 15: „Der Geiftliche richtet alles und wird von mies
mand gerichtet.‘ Das heißt nun allerdings nicht, daß jeder
tathotifhe Priefler und jeder Lntheriihe Pfarrer, weil er ein
Geiſtlicher Heißt, das Recht habe, alle Erſcheinungen auf dem
Gebiete dp8 Geiſtes nad) der kürzern ober längern Eile feiner
Orthodorie zu mefjen, und dem, was darliber hinausragt, fein
damnamus oder anathema zujurufen. Das heit es aber aller⸗
dings, daß das Chriffentfum, da e8 ſich ale ervige göttliche
Wahrheit gibt, auch Anfprud darauf macht, das Maß aller
Dinge zu fein; und wer nun wirklich in Jeſu Ehrifto den Men-
ſchen anerkennt, in dem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig
wohnt, der fann nun einmal nicht andere, ais das Maf dieler
Ueberzeugung an alle geiftigen Dinge, alfo aud an die Dichter-
werte fegen, die ihm durch Form und Inhalt, entziidt haben.
Aber ich frage, kann denn in geiftigen Dingen irgendein Menſch
jemals anders als nad feiner Ueberzeugung urtbeilen? So
beftreite man mir wenigftens nicht mein jubjectives Recht, wenn
man aud mein objectives Urteil vermirft.
Wir find weit entfernt, den Verfaſſer um biefer An«
ſchauungsweiſe willen zu tabeln ober ihm fein fubjectives
Recht dazu zu beftreiten, um fo weniger, da er biefen
feinen Maßſtab nicht fowol zu dem Ende anlegt, um bie
Dichtungen, über welche er handelt, zu verurtheilen, fon-
dern um bie barin verborgene hriftliche Idee nachzuwei ⸗
fen. Ex ſpricht in diefer Dinſicht die gewiß beherzigene-
werthen Worte:
Wenn aljo ein gläubiger Chriſt bei Betrachtung der reli-
giöfen Anfichten anderer Zeiten und Wölter ſich aud ihrer Ber
ſchränkung, ihrer Irrthümer Mar bewußt wird, fo fann er
fich doch auch vor den offenbaren Wirkungen Gottes in den
Herzen der Menſchen, felbft der entartetften, nimmer verfchlier
gen; wenn er fi) mum aber gar in die Ideen bedeutender Män-
ner, die mitten in ber Chriftenheit feben, verjenft, jo kann er
unmögli, in ihren religidfen 2ebensanfhauungen die Einwir-
tung des göttlihen Geiftes verfennen, jelbft wenn diefe Män-
ner von der Hiftoriichen Entwidelung des Reiches Gottes und
den fpecifiihen Wahrheiten chriſtlichet Dogmatif mit bewußter
Abfihtlihteit abgefehen Hätten. Und es if doch wahrlich; er«
freulicher und erfprieficher, anftatt immer und ewig mur bie
Unterfheidlingen Hervorzuheben, auf das Uebereinftimmende und
Wahre, wo e8 ſich darbietet, Tiebevoll zu achten.
Dir haben es alfo mit einem Schriftfteller zu thun,
welcher ftreng auf dem Boden bes pofitiven Chriſtenthums
fteht, aber weitblidend genug ift, um bie Spuren deſſel⸗
ben aud) in den hervorragenden Werken ber ältern und
neuern deutſchen Literatur zu erkennen, wenn ex aud) be»
reitwillig einräumt, daß diefelben nicht mit bewußter Abe
ſicht in diefelben hineingelegt worden. Es ift nicht jeder
manns Sache, wo es ſich um ein Urtheil über künſtleriſche
Hervorbringungen handelt, ſich in häufiger Wiederholung
auf das Gebiet der Theologie, auf die dunfeln Fragen
der Sünde und der Erlöfung Hingeführt zu jehen; aber
wir haben jedenfalls die Pflicht, bereitwillig anzuerkennen,
daß des Verfaffers Standpunft, obwol ein pofitiv chrift-
licher, ein ganz anderer ift als derjenige jener Zeloten,
welche unfere gefammte claſſiſche Dichtung, unfere moderne
Wiſſenſchaft als einen Heillofen Abfall won Gott betrach-
ten, über einen Leſſing und Humboldt mit Grimm ober
mitleidigem Lächeln den Stab bredjen, oder wie jener bie-
dere Wupperthaler „bei Goethe und Schiller nur Trä-
bern gefunden Haben“; mandje gewagte Behauptung Röpe's
möchte wol ein Rüchſchlag fein gegenüber dem auf allen
Gaffen erfchalenden Geſchwätz zungenfertiger Prediger
der materialiftifchen Schule. Wem der Berfaffer zu
pofitiv erfeheint, der mag bedenken, daß es zahlreiche und
mächtige Vertreter der Anficht gibt, Röpe's Anſchauungen
feien zw weitherzig; der Freund deutſcher Dichtung aber
wird fich freuen, einen Bundesgenoſſen zu finden in einem
Lager, wo er ihn ſicherlich am wenigften erwartet hätte.
5. Ueber Goethe's Taffo. Bon A. F. €. Bilmar. frankfurt
a. M., Heyder und Zimmer. 1869. Gr. 16. 12 Ngr.
Der Berfafler der bekannten „Riteraturgefchichte‘‘ hielt
im Jahre 1845 einige Vorträge über Goethes „Taflo“,
welche nunmehr in Seftalt einer fortlaufenden Entwicke ⸗
lung herausgegeben vorliegen. In dem Beſtreben, die
Vorzüge der Dichtung zu allgemeiner Anerkennung zu
bringen, bezieht ſich das Büchlein auf mandje Urtheile,
welche dem Publikum vor 25 Jahren befannt jein mochten,
uns jet aber fehr fern gerüdt find. Vilmar entwidelt
mit dem ihm eigenthümlichen Feinfinn die Entftehung des
Gedichte, Taſſo's Lebensgefhid, und knüpft daran eine
umfafjende Befprehung des Ganges wie der Charaktere
des edeln Werks. Diefelbe Iegt Zeugnig ab vom ſchönſten
Verftändniß, wenn fie gleih unſers Erachtens Taſſo's
Schuld etwas zu leicht mißt. Wer Goethe's herrliche
Dichtung kennt und liebt, wird an der ſchön durchdachten,
ſchön dargeftellten Entwidelung fid erfreuen.
6. Dicterharaltere. A. Chenier, Beranger, Burns u. |. w.
Bon Adolf Saum. Bremen, Kühtmann und Comp. 8.
24 Nor.
Unter diefer Ueberſchrift vereinigt ber Verfaſſer eine
Reihenfolge von Auffägen — um das ebenfo beliebte als
bebeutungslofe Wort Eſſays zu verdeutſchen — über
A. Chenier, Beranger, Burns, Gray, Luis de Leon,
Bryant, Günther und Ehamiffo. Die Vorrede bemüht
ſich zu erweifen, daß dieſe Dichter „‚mandes Gemein-
fame, fie einander in Beziehung Bringende haben. Sie
find vorzugsweife Lyriler und haben als ſolche einen be-
deutenden, meift reformirenden Einfluß innerhalb ihrer
jedesmaligen Literatur ausgeübt.“ Es ift nicht zu ver-
Tennen, daß ber Baden, welder einen jo correcten Kunfl-
dichter wie Chenier mit einem fo vollſtändigen Vollspoeten
wie Burns, einen Gray mit Beranger verbindet, etwas
loder ift; doch fol uns das nicht Kindern, uns der adıt
Dichterbilder zu erfreuen. Der Berfafler gibt einen ein-
Bergleihende Erdkunde. 619
gehenden Bericht über Lebensgeſchick und dichterifche Eigen-
thümlichfeit eines jeden und fügt feiner Darftellung der
nichtbeutfchen Dichter eine Reihe wohlgelungener Ueber⸗
tragungen befonders befannter oder harakteriftifcher Dich⸗
tungen hinzu. Wie die Beiprehung der Dichter von
tiefer Kenntniß und feinem Berftändnig Zeugniß ab»
legt, jo wirken bie mitgetheilten Gedichte in ihrer fichern
und gewandten Ueberjegung mit der Friſche des Drigie
nals, foweit folches überhaupt möglih ift, und laſſen
ums der im Vorwort als demnächft erfcheinend angefün»
digten Sammlung ausgewählter Lieder von Beranger und
Burns mit Erwartung entgegenfehen.
1. Einführung in die dentſche Literatur von ihren erften An-
füngen bis zur Gegenwart. Biographien und Proben. Bon
A. Droefe. Langenfalza, Greßler. 1868. Gr. 8. 1 The.
Ein überaus dilettantifches Bud. Weufterftüde aus
dem weiten Gebiet der deutſchen Literatur von Ulfila bis
Prutz; dazwifchen jehr unbedeutende und unwiljenfchaft-
liche biographifche und beurtheilende Einleitungen. Die
Reihenfolge nimmt, wie es jcheint, Iediglich auf das Ge-
burtsjahr Rüdfiht; nur fo erflärt es fi, daß Göthe
(denn fo fchreibt Droefe für Goethe) mitten zwifchen die
Hainbündner, Arndt zwifchen die beiden Brüder Schlegel
eingefchoben ift; inmwiefern die Menge des dargebotenen
Stoffs der Bedeutſamkeit eines Dichters entfpricht, erhellt
daraus, daß Walther von der Vogelweide dreiviertel Seite
erhalten hat, Langbein drei Seiten. Die bem Berfafjer
beimohnende Kenntniß ift fehr befcheiden. Bei dem König
Etzel des „Nibelungenliebes‘ fügt er als Bermuthung bei:
(Attila?); Konftanze Peutinger wird „das artigfte und
Schönfte Mädchen Augsburg‘ genannt; gleich danach heißt
Hutten kurz und ficher der Verfaſſer der „Epistolae ob-
scurorum virorum”. Daß Hebbel bereitd 1863 geftor-
ben ift, fcheint dem Verfaſſer unbekannt. Das Nonplus-
ultra, mwodurd eigentlich jedes weitere Wort überflüffig
wird, ift, daß Klopſtock's berühmter „Zürcherſee“ fehr
behaglich in feiner ganzen Ausdehnung als ein Gedicht
von Bodmer mitgetheilt if. Wer felbft noch das A⸗b⸗c
der Fiteraturgefchichte nicht kennt, follte nicht darüber fchrei-
ben. Kurzum, ber Verfaſſer verfteht es, Edelfteine, die
bei uns jeder zufammenlefen kann, in werthlofefter Faſſung
darzubieten.
8. Geſchichte der deutjchen Literatur von der älteften bis auf
die neuere Zeit mit Beifpielen aus den beften Werfen der
Boefle und Profa. Bon Klotilde von der Horfl. Zum
Gebraud für Schulen und zum Selbflunterridt. Drei
Theile. Detmold, Meyer. 1869-70. Gr. 8. 3 Thlr.
15 Rgr.
Die Berfaflerin berichtet im Vorwort, daß fie in ihrer
frühen Jugend bereit8 den Wunſch gehegt Habe, eine
— u
Literaturgefchichte zu fchreiben, die zugleich als Leſebuch
dienen fünne. „Neue Anfichten und Gefichtspunfte über
die Titeraturgefchichte zu geben, lag mir fehr fern, auch
würbe daͤs meine Kräfte weit überfchritten haben.“ Als
Richtſchnur hat ihr neben andern Büchern vornehmlich)
Bilmar’s Literatur gedient. Sie hat ihr Manufcript an
Vilmar geſchickt, welcher erflärte, dag er das Buch fir
ein wohlausgearbeitetes, zur Lektüre filr jüngere Damen,
wie namentlich in Penfionen und Töchterfchulen, ſehr
empfehlenswerthes Werk halte: ein Zeugnif, welches auf
der Rückſeite des Umſchlags abgedrudt. if.
Der erfte Theil behandelt die deutjche Literatur bis
zu Opitz; der zweite Theil die literariſchen Erjcheinungen
des 17. und die ältern Dichter des 18. Jahrhunderts; der
dritte Theil geht von Klopitod, Leifing, Wieland nebft
ihren Mitftrebenden und Anhängern über zu Herder,
Goethe, Schiller, welchen gleichfalls eine Anzahl von An-
hängern beigefügt find. Daran reihen fi) in verfchie-
denen Gruppen die Romantifer und Nachromantiker, bie
Treiheitsdichter, die ſchwäbiſche Dichtergenofjenfchaft, von
den Dichtern der neuern Zeit Heine und Nikolaus Lenau.
Die noch lebenden, in diefem Jahrhundert geborenen Dich⸗
ter find nicht berüdfichtigt, da man „das Werdende und
noch nicht Fertige wol beurtheilen und Fritifiren, doch
nicht gefchichtlich darftellen fann“. Wir können diefen
Grund nicht für ganz zutreffend erfennen, um fo weni«
ger, da auch die vorliegenden Bünde auf die Bezeichnung
einer gefchichtlichen Darftellung ſchwerlich Anſpruch er-
heben dürfen. Wer ſich eine ſolche Mufterfammlung er»
wirbt, wünfcht darin auch Kunde zu finden itber die her-
vorragendften Erfcheinungen unjers Jahrhunderts, welches
feine Jugendjahre bereits ſtark überjchritten hat. Warum
Iiterarifche Erfcheinungen wie Geibel, Freiligrath, Reu⸗
ter, Freytag u. a., weil fie in diefem Jahrhundert ge=
boren find und noch leben, nicht der Kenntniß zugeführt
werden follen, ift fchwer erfindlih. Wichtiger möchte
der Grund fein, daß das Buch durh ein Weiterführen
bi8 auf die neuere Zeit zu feinen drei anfehnlichen Thei—
len noch einen vierten befommen hätte, und aud) fo darf
man mol den Zweifel ausfprechen, ob dafjelbe ſchon um
feines Umfangs willen für den Gebrauch in Schulen
geeignet ſei. Wenigitens feheint und der Stoff vielfach
zu umfafjend; bie Gruppirung läßt mandjes zu wünjchen,
beifpielsweife erfcheinen Spindler und Hauff unter den
Anhängern Goethes und Schillers. Doch das beiher.
Die Berfafferin bat jedenfalls ihren Stoff forgfam zu-
fammengetragen und lesbar verarbeitet, aud) die Muſter⸗
beifpiele entjprechen ihrem Zweck.
Wilhelm Buchner.
Vergleichende Erdkunde.
Neue Probleme der vergleihenden Erdkunde als Verſuch einer
Morphologie der Erdoberfläche von Oskar Peſchel. Leip-
jig, Dunder und Humblot. 1870. Gr. 8. 1 Thlr.
Im Jahre 1866 begann Oskar Peſchel im „Ausland“
bie hier gefammelt vorliegenden Auffäge zu veröffentlichen.
Jeder Gingeweihte mußte fofort ben bedeutenden Fort⸗
ſchritt erkennen, der in biefen elegant gefjchriebenen und
gleichzeitig von immenjer Gelehrſamkeit Zeugnig ablegen-
den Arbeiten fi kundthat. Hier waren in der That
neue Bahnen bejchritten und die ungemein vielfeitigen
Ergebnifje eines höchſt mühevollen Studiums niedergelegt.
Wir wüßten aber aud) keinen zweiten Mann in Deutfch-
land zu bezeichnen, der e8 hätte wagen können, an eine
ſolche Arbeit heranzutreten, die ein Eingehen in die
78 *
.
Fans ln Zr SEE 58
n
620 Vergleichende Erdkunde.
verſchiedenartigſten Wiſſenſchaften verlangt, welche alle bis
zu einem gewiſſen Grade bewältigt ſein wollten, ſollte das
vorliegende, nur wenig umfangreiche Werk geſchaffen wer⸗
den. Was der Verfaſſer des „Kosmos umfaſſen mußte,
das alles Hatte auch Peſchel zu berüdfichtigen, und mir
bewundern in der That, wie diefer anregendfte unter den
deutfchen Geographen gleich bewandert in der Geologie,
Botanif und Zoologie erſcheint, wie er phyſikaliſche und
hemifche Fragen erörtert und überall eine große Ber-
trautheit mit den neueſten Fortſchritten dieſer Wiſſen⸗
ſchaften offenbart. Es iſt zu beklagen, daß ein ſolcher
Mann nicht einen Lehrſtuhl auf einer der erſten deutſchen
Hochſchulen innehat, von dem aus er befruchtend auf
die Jugend wirken und einer Wiſſenſchaft neue Jünger
zuführen könnte, die, zur Schande unſerer Univerfitäten
fei es gefagt, fich faft nur in die geographifchen Gefell-
fchaften und Journale flüchten muß, während eine lange
Keihe weit weniger bedeutender Disciplinen fid) breit macht
und oft doppelte und dreifache Xehrftellen aufmweilt.
Peſchel ift fich der Neuheit feiner Arbeit wohl bewußt,
welche auf die Geftaltungen der Erdoberfläche dafjelbe
Unterfuhungsverfahren anwendet, wie Goethe auf die
Morphologie der Pflanzen, Cuvier auf die Anatomie,
Bopp auf die Sprachwiſſenſchaft, und er bittet dabei um
Nachſicht, „da das Vetreten neuer Pfade mit den Keizen
immer auch die Gefahren eines Abenteuerd vereinigen
wird“. Uns find nur wenige Stellen aufgeftoßen, bei
denen gelinde Bedenken wach wurden, aber dem Ganzen
gegenüber, das trefflich begründet daſteht, verfchwinden
fie, und fo laſſen wir die Kritik beifeite umd verjuchen
e8, einen allgemeinen Ueberblid des Werl zu geben,
damit ber Leſer menigftens deſſen reichen Inhalt ahne,
der mit Leichtigfeit von dem Verfaſſer zu einem dicken,
von Citaten ftrogenden Buche hätte ausgedehnt wer-
den können. Aber in der Befchränfung zeigt fi der
Meifter.
Der Ausdrud Bergleichende Erdfunde wurde zuerft
von Ritter angewendet; Pefchel zeigt uns nun, daß der
Altmeifter der Erdkunde keineswegs eine vergleichende
Geographie fchrieb, wenigftens nicht in dem Sinne, wie
wir das Wort „vergleichend‘ heute in den Wifjenjchaften
anwenden. Er gab vielmehr eine geographifche Zeleologie,
einen Berfuh, Schöpferabfichten aus dem Gemälde des
Erdganzen zu ergründen. Anders Peſchel. Er legt feinen
Unterfuchungen naturtrene Karten zu Grunde, die er als
die Darftellung biftoriicher Vorgänge auffaßt. Er hält
zunächſt die Vermuthung feit, daß nicht der Zufall die
Tündergeftalten zufammengetragen habe, jondern daß im
Gegentheil jede, auch die geringfte Gliederung in den
Umriſſen oder Erhebungen, jedes Streben der Erdober⸗
fläche feitwärts ober aufwärts irgenbeinen geheimen Sinn
babe, den zu ergründen er verſucht. Das Verfahren zur
Löfung feiner Aufgabe befteht nun im Auffuchen ber
Aehnlichkeiten in der Natur, wie fie vom Landlartenzeichner
dargeftellt wird. Er überblidt eine größere Reihe folcher
Achnlichkeiten, deren Örtliche Verbreitung ihm meift Auf:
ſchluß über die nothivendigen Bedingungen ihres Urſprungs
gibt. Den Beginn macht Peichel mit den Fjorden, die
am beutlichften in die Augen fpringen und am leichteften
zu ergründen find.
Forde werden zunächſt durch ihre örtliche Anhäufung
und ihr gefellige® Auftreten charakterifirt; fie zeigen ſich
wejentlich, wenn auch nicht ausnahmelos, an den Nord»
und Weſtküſten und werden nur in hohen Breiten ge⸗
funden. Grönland, Norwegen, die Weſtküſte Patagoniens,
Britifch-Columbien, die Weſtküſte der Südinfel Neuſeelands
find die näher erörterten Beifpiele. Sie finden ſich auch
an Infelgruppen im füdlichen Theil bes Indifchen Oceans,
auf den Erozet-, Serguelen-, Yalklandbs-, Süd⸗Sandwich⸗,
Siüd-Drfney- und Süd-Shetlandinjeln, in Schottland,
Irland, Island. Peſchel jagt auch deren zufünftiges
Auffinden an Küften voraus, bie auf unfern heutigen
Karten mit glattem Rande verlaufen, nämlih an den
arktiichen Spitzen des afiatifchen Continents, am Taimyr-
und Zfcheljusfin-Cap. Ohne auf die Begründung hier
näher eingehen zu können, führen wir an, daß nad)
Peichel die Fjorde klimatiſche Erfcheinungen find, deren
Bildungsbedingung in niedrigen Temperaturen zu ſuchen
ift. Niegends fehlen den Fjorden die Eismaflen und ihre
mechanifchen SKräfte; denn entweder find fie noch gegen-
wärtig die Ninnfale von Gletfhern, oder wir treffen
Gletſcher in ihrer Nühe. Die Fjorde find nun die leeren
Gehäuſe ehemaliger Eisftröme, und mit diefer Erflärung
an der Hand wird es auch möglich, andere geologijche
Erfcheinungen zu enträthfeln, nämlich die Entftehung ge⸗
wifjer enger Gebirgsfeen, namentlich der norditalienifchen,
die nach Peſchel einfach die Fjorde eines ehemaligen, num
duch Land ausgefüllten lombardifhen Meeres find.
Tiorde fehlen nirgends, wo eine fteile Aufrichtung der
Küfte, eine hinreichende Polhöhe, wie fie das Auftreten
der Eiszeit erheifcht, und ein reichlicher Niederfchlag,
wie ihn eine ergiebige letfcherbildung verlangt, vor⸗
handen find. .
Der Berfaffer wendet fi) dann der Entftehung der
Infeln zu. Er beklagt, daß unfere deutſche Sprade nur
zwei gleichbedeutende Wörter, Inſel und Eiland, für die
größten und Heinften Infelgeftaltungen habe. Das liegt
in der Natur der Sache, da Deutichland nicht viele Inſeln
an feiner Küfte befist, unb die wir haben, find alle Hein,
Aber für diefe kleinern Haben wir doch eine recht man⸗
nichfaltige Bezeichnung: Hallig, Doge, Holm, De. Der
verfchiedene Urfprung der Infeln in der Nähe vom Feſt⸗
land drüdt fi durch ihre Phyfiognomie fo deutlich aus,
daß man fogleid alle Infeln, die Trümmer von Küften
find, von jenen unterfcheidet, die dadurch entftanden, daß
fih an ben Rändern ber Feſtlande durd) Senkung und
Ueberſchwemmung der See größere oder kleinere Stüde
von dem Hauptlörper ablöften. Kitfteninfeln nennt Befchel
jene Trümmer, wie z. B. die von Weftichottland abge»
löften Hebriden, die Lofodden vor Norwegen, ben Ban-
couver⸗Archipel vor Britifch-Columbien. Völlig verfchieden
von ihnen, dem Urfprung nach wie. durch Gliederung und
Größe, find die durch örtliche Senfungen vom Feſtland
abgelöften Infeln. Die Merkmale einer folden Entftehung
zeigen fich am reinften bei Großbritannien und Irland;
ein Seitenftüd gewährt Neuguinea, dur die jeichte
Torresftraße von Auftralien getrennt; ferner bie großen
Injeln Borneo, Sumatra, Yava, die, wie Wallace zeigt,
erft zu Alten gehörten, von dem fie nur durch ein feichtes
Meer getrennt find. Die Grenze ber auftralifchen und
Bergleihende Erdkunde.
afiatifchen Welt, die in glängender Weife von Wallace
botanifch und zoologiſch feftgeftellt wurde, verläuft zwifchen
den Eilanden Bali und Lombol. Noh auf ein merk
würdiges Gefeg, das beim Anblid der Karten ins Auge
fullt, macht Peſchel aufmerkfam:
Während die Inſeln auf vulkaniſchen Spalten und bie
Koralleneilande unter ſich eine unverfennliche Aehnlichkeit ihrer
Einzelkörper zeigen, finden wir Zufammenfcharungen folcher
Inſeln, deren Einzelwefen durh Gliederung und Mannid)-
faltigleit der Umriffe imdividualifirt find, nur da, wo durch
Zerftörung eines ältern Zufammenhangs von Feftländern Inſel⸗
welten entflanden find.
Soldier Zufammenfcharungen, bei denen weder Ko—
rallenbauten noch vulfanifche Kräfte thätig waren, zählt
Beichel folgende auf: die malatifche Gruppe zwiſchen
Auftralien und Südaſien, die großen Antillen zwifchen
Norb- und Südamerifa, den griechiſchen Archipelagus,
die dänifchen Inſeln.
Ganz verſchieden find die vulfanifchen und die Korallen⸗
infeln von den eben bezeichneten; fte finden fih nur auf
der hohen See. Die vullanifchen Infeln find durch ihre
Reihenfolge und Anordnung leicht zu erfennen und finden
fih am vegelmäßigften an den Rändern des Stillen Meers
von der Halbinjel Alaska in Nordamerila bis zu den
Philippinen. Auf diefer Strede bilden die leuten,
Rurilen, Japan, bie Liu-Fin, Yormofa und die Philippinen
eine „Inſelguirlande“, wie Pejchel bezeichnend fagt. Vul⸗
kaniſche Inſelſchnuren find auch die Boningruppe, die
Marianen, die Salomonen, Neuen Hebriden, die Mandana-
infeln n. f. w. „Allen diefen vulfanifchen Infelfchnuren
ift e8 gemeinfam, daß fie nad) dem Ocean zu gemölbt
(conver), nach dem Lande zu Hohl (concav) find.” Ueber
die Koralleninfeln und deren fon durch Darwin erläu-
terte Entftehung brauchen wir nichts hinzuzufügen, fie ift
befannt genug; nur erwähnen wollen wir, daß fürzlich
Profeflor Semper in Würzburg mit einer neuen Theorie
ihres Urſprungs hervorgetreten ift.
Die Summe der Unterfuchungen Pefchel’8 über bie
Entftehung der Inſeln ift folgende: Alle Inſeln, die
einem Teltlande nahe liegen, find nichts anderes als ent-
weder abgefprengte Bruchftüde der nächften Küften, oder
Anfhwenmungen jungen Landes, ober Ablöfung eines
ehemaligen Continentalgebiet8 durch langſame Senkung
unter den Meeresfpiegel. Alle andern Infeln liegen im
Deean und find, mit Ausnahme von nur zwei Erbräumen,
entweder durd; Bauten ven Korallen entflanden oder durd)
vulkaniſche Erfcheinungen auögezeichnet. Jene beiden Aus-
nahmen find Madagasfar und Ceylon. Erſteres ift keine
vulkaniſche Schöpfung, noch weniger ein abgelöftes Stüd
Afrikas, denn Fauna und Flora laflen es als eine Fleine
Welt für ſich erſcheinen; und Ceylon zeigt troß feiner
großen Annäherung an das indifche Feftland doch fo viel
Selbftändiges, daß es gleichfalls nicht als ein Stüd der
vorderindiſchen Halbinſel betrachtet werden kann. Was
aber mit diefen beiden anfangen? Peſchel erklärt:
Wir haben in Madagaskar und in Ceylon die Testen Ueber-
refte vormaliger Weltinfeln, die mit unferer Erdfeſte nicht ver-
bunden waren, bie aber vielleicht ehemals unter ſich zufammen-
hingen, und zwar Über die Sejchellen, granitifhe Infeln im
Norden und in der Verlängerung von Madagaskar gelegen.
Daß ehemals dort ein Welttheil Über Madagaskar, bie Mas⸗
karenen mit ber Granitinfel Rodriguez, die Sejchellen, die
621
Malediven und Cehlon ſich ausbreitete, ja fi oftwärts bis
Celebes erfiredte, freilich in den älteften Xertiärzeiträumen, zu
diefer Annahme werden alle Anhänger der Lehre von der Ein-
beit der Schöpfungscentren gezwungen fein, da fidh die Lemu⸗
rinen ober Fuchsaffen und die ihnen naheflehenden Faulaffen,
überhaupt faft alle Halbaffen auf jene Inſeln beichränfen, wes⸗
halb Sclater vorgeichlagen hat, jenes verſchwundene Feſtland
„Lewuria“ zu nennen. Celebes bezeugt durch feine wenigen an⸗
dern Säugethiere, injofern fte Anllänge an afrikaniſche Formen
zeigen, daß es mit den fernen weftlichen Ländern einen Zuſam⸗
menhang genofjen Haben muß.
Wir fehen, welche Rolle hier ber Zoologie zugemwiejen
if. In der That gewinnen viele der von Peſchel bezüg-
lich der Entftehung der Infeln aufgeftellten Behauptungen
erft ihre Begründung, wenn die Fauna und ebenfo bie
Flora der Infeln mit jener der Feſtländer verglichen wird.
Dies führt ihn zu einer neuen gleichfalls höchſt anregen-
den Unterfuchung „Ueber die Thier- und Pflanzenwelt ber
Inſeln“. Hier offenbart fih, daß auf den Gefchöpfen,
welche die Infeln bewohnen, ein eigenes Berhängniß ruht,
welches ſich nicht blos auf ihre phnftfchen Trachten allein
befchränft, fondern dem ſogar die Bewohner in ihren
geſchichtlichen Schiefalen, ihren Sitten und ihren Sprachen
unterlagen. Namentlich find e8 die Eingriffe de8 Men⸗
ſchen in die Thier- und Pflanzenwelt ber Infeln, die ben
Berfaffer hier bejchäftigen und die er mit einer großen
Anzahl intereffanter Beifpiele belegt, die Zeugnig von
feiner immenfen Belefenheit ablegen. Auch das Ausfter-
ben vieler Infelvölfer wird hier behandelt, wobei Pejchel
folgenden wahren und geiftreihen Ausſpruch thut:
Denn der NRafientod alle Urbewohner der Süpfeeinfeln,
ja felbft einer Weltinfel wie Auftralien vielleicht noch vor
Ablauf des gegenwärtigen Jahrhunderts vertilgt haben wird,
fo faun man aud) von allen diefen Menfchenftämmen behaup-
ten, fie fein, als fie mit den Continentalvöllern wieder
offiin. 8 famen, nichts anderes geweſen als befeelte
0 .
Der Berfaffer handelt von den Bedingungen, unter
benen feftlänbifche Thiere und Pflanzen auf die Infeln
gelangen; er zeigt‘, wie viele feitländifche Gewächfe ben
Uebergang zum Inſelklima nicht überftehen können und
mit der von ihnen abhängigen Thierwelt zu Grunde gehen.
Geräumige Infeln verhalten fich indeffen wie die Feſt⸗
lande, denn fie werden ihren Bewohnern immer eine
Anzahl von begünftigten Zufluchtsſtätten bieten. Hier
wird darauf Bingemwiefen, daß in Irland manche Säuge⸗
thiere fehlen, die in England noch vorkommen. Als
einen Schreib» oder Weberfegungsfehler müſſen wir es
anfehen, daß dort (S. 52, Anmerkung) angegeben wird,
das Murmelthier fei in England heimiſch.
Mit dem Auftreten des Menfchen auf vorher unbe-
wohnten Inſeln beginnt ein neuer geologifcher Zeitabfchnitt,
oder vielmehr die letzten Accorde einer ältern geologifchen
Zeit verklingn. Es ift aber nicht gleichgültig, welche
Menfchenrafje auftritt — große und jühe Wechfel er-
folgten erft mit dem Auftreten der Weißen.
Auch in den „geographifchen Homologien‘ (der glüclich
gewählte Ausdrud rührt von Agaffiz her) erörtert der
Berfaffer ein neues Problem, wenn auch gerade hier ſchon
andere Forſcher ihm vorgearbeitet Hatten. Es Handelt
fi) um die Wiederkehr der nämlichen Oeftaltungen, fei
es in den flachen Umriffen, fei es in ben Bodenerhebun⸗
gen, die wir auf den Tänbergemälden unferer Erbe abge-
620
verfchiedenartigften Wiflenfchaften verlangt, welche alle bis
zu einem gewiſſen Grade bewältigt fein wollten, jollte das
vorliegende, nur wenig umfangreiche Werk gefchaffen wer-
den. Was ber Verfaffer bes „Kosmos“ umfaſſen mußte,
das alles hatte auch Pefchel zu beritdfichtigen, und wir
bewundern in der That, wie diefer anregendfte unter den
deutfchen Geographen gleich bewanbert in der Geologie,
Botanif und Zoologie erfcheint, wie er phyſikaliſche und
chemifche Fragen erörtert und überall eine große Ver-
trautheit mit den neueften Fortſchritten diefer Willen
ichaften offenbart. Es ift zu beflagen, daß ein folder
Mann nicht einen Lehrftuhl auf einer der erften deutjchen
Hochſchulen innehat, von dem aus er befruchtend auf
die Jugend wirken und einer Wiſſenſchaft neue Jünger
zuführen Könnte, die, zur Schande unferer Univerfitäten
fei -e8 gefagt, fich faft nur in die geographifchen Gefell-
ſchaften und Journale flüchten muß, während eine lange
Reihe weit weniger bedeutender Disciplinen fid) breit macht
und oft doppelte und dreifache Lehrſtellen aufweiſt.
Peſchel ift fich der Neuheit feiner Arbeit wohl bewußt,
weiche auf die Geftaltungen der Erdoberfläche daſſelbe
Unterfuhungsverfahren anwendet, wie Goethe auf bie
Morphologie der Pflanzen, Cuvier auf die Anatomie,
Bopp auf die Sprachwiſſenſchaft, und er bittet dabei um
Nachſicht, „da das Betreten neuer Pfade mit den Keizen
immer auch die Gefahren eines Abenteuerd vereinigen
wird”. Uns find nur wenige Stellen aufgeftoßen, bei
denen gelinde Bedenken wach wurden, aber dem Ganzen
gegenüber, das trefflich begründet dafteht, verjchwinden
fie, und fo laſſen wir die Kritik beifeite und verſuchen
ed, einen allgemeinen Weberblid des Werks zu geben,
damit der Lefer wenigftend deffen reichen Inhalt ahne,
der mit Leichtigkeit von dem Berfaffer zu einen diden,
von Citaten ftrogenden Buche Hütte ausgedehnt wer-
den fünnen. Aber in der Beſchränkung zeigt ſich der
Meiſter.
Der Ausdruck Vergleichende Erdkunde wurde zuerſt
von Ritter angewendet; Peſchel zeigt uns nun, daß der
Altmeiſter der Erdkunde keineswegs eine vergleichende
Geographie ſchrieb, wenigſtens nicht in dem Sinne, wie
wir das Wort „vergleichend“ heute in den Wiſſenſchaften
anwenden. Er gab vielmehr eine geographifche Teleologie,
einen Berfuh, Schöpferabfichten aus dem Gemälde des
Erdganzen zu ergründen. Anders Pefchel. Er legt feinen
Unterfuhungen naturtreue Karten zu Grunde, die er als
die Darftelung Hiftorifcher Vorgänge auffaßt. Er Hält
zunädft die Vermuthung feit, daß nicht der Zufall die
Kändergeftalten zujammengetragen habe, jondern daß im
Gegentheil jede, auch die geringfte Gliederung in ben
Umriſſen oder Erhebungen, jedes Streben der Erdober-
fläche feitwärts ober aufwärts irgendeinen geheimen Sinn
babe, den zu ergründen er verſucht. Das Berfahren zur
Löſung feiner Aufgabe befteht nun im Auffuchen ber
Achnlichkeiten in der Natur, wie fie vom Landlartenzeichner
dargeftellt wird. Er überblidt eine größere Reihe jolcher
Aehnlichkeiten, deren Örtliche Verbreitung ihm meift Auf
ſchluß über die notäwendigen Bedingungen ihres Urjprungs
gibt. Den Beginn macht Pejchel mit den Yjorden, bie
am dentlichften in die Augen fpringen und am leichteften
zu ergründen find.
Vergleichende Erdkunde.
Fjorde werden zunächſt durch ihre örtliche Anhäufung
und ihr gefelliges Auftreten charakterifirt; fie zeigen ſich
wefentlih, wenn auc nicht ausnahmslos, an den Norb-
und MWeftfüften und werden nur in hoben Breiten ge-
funden. Grönland, Norwegen, die Weſtküſte Patagoniens,
Britiih-Columbien, die Weftküfte der Südinſel Neuſeelands
find die näher erörterten Beiſpiele. Sie finden fid) auch
an Inſelgruppen im füdlichen Theil des Indischen Ocean,
auf den Erozet-, Serguelen-, Falllands-, Süd⸗Sandwich⸗,
Süd-DOrkney- und Sibd-Shetlandinfeln, in Schottland,
Irland, Island. Peſchel fagt auch beren zukünftiges
Auffinden an Küſten voraus, die auf unſern heutigen
Karten mit glattem Rande verlaufen, nämlich an den
arktiſchen Spitzen des aſtatiſchen Continents, am Taimyr⸗
und Tſcheljuskin-Cap. Ohne auf die Begründung hier
näher eingehen zu können, führen wir an, daß nach
Peſchel die Fjorde klimatiſche Erſcheinungen ſind, deren
Bildungsbedingung in niedrigen Temperaturen zu ſuchen
iſt. Nirgends fehlen den Fjorden bie Eismaſſen und ihre
mecdhanifchen Kräfte; denn entweder find fie noch gegen-
wärtig die Rinnſale von Gletfchern, oder wir treffen
Gletſcher in ihrer Nähe. Die Fjorde find nun die leeren
Gehäuſe ehemaliger Eisftröme, und mit dieſer Erklärung
an der Hand wird es auch möglich, andere geologiſche
Erjcheinungen zu enträthfeln, nämlich die Entjtehung ge-
wiſſer enger Gebirgsjeen, namentlich der norbitalienifchen,
die nach Peſchel einfach die Fjorde eines ehemaligen, nun
duch Land ausgefüllten lombardifchen Meeres find.
Tiorde fehlen nirgends, wo eine fteile Aufrichtung der
Küfte, eine hinreichende Polhöhe, wie fie das Auftreten
der Eiszeit erheifcht, und ein reichlicher Niederjchlag,
wie ihn eine ergiebige Öletfcherbildung verlangt, vor⸗
handen find. .
Der Berfaffer wendet fih dann der Entftehfung der
Infeln zu. Er beklagt, daß unſere deutfche Sprache nur
zmwei gleichbedeutende Wörter, Inſel und Eiland, für bie
größten und Hleinften Infelgeftaltungen habe. Das liegt
in der Natur der Sache, da Deutichland nicht viele Infeln
an feiner Hüfte befist, und die wir haben, find alle Hein.
Aber für diefe Meinern haben wir doch eine recht man⸗
nichfaltige Bezeichnung: Hallig, Doge, Holm, De. Der
verfchiedene Urfprung der Inſeln in der Nähe vom Teft-
land drückt fich durch ihre Phyfiognomie fo deutlich aus,
daß man fogleih alle Infeln, die Trümmer von Küften
find, von jenen unterjcheidet, die dadurch entftanden, daß
fih an den Rändern der Feſtlande durch Senkung und
Ueberſchwemmung der See größere oder Feinere Stücke
von dem Hauptlörper ablöften. Küfteninjeln nennt Peſchel
jene Trümmer, wie 3. B. bie von Weftfchottland abge-
löften Hebriden, bie Lofodben vor Norwegen, ben Ban-
couver⸗Archipel vor Britifh-Columbien. Völlig verfchieben
von ihnen, dem Urfprung nad) wie durch Gliederung und
Größe, find die durch öÖrtlihe Senkungen vom Feftland
abgelöften Infeln. Die Merkmale einer ſolchen Entftehung
zeigen fi) am reinften bei Großbritannien und Irland;
ein Seitenftüd gewährt Neuguinea, durch die feichte
Torresitraße von Auſtralien getrennt; ferner bie großen
Infeln Borneo, Sumatra, Yava, bie, wie Wallace zeigt,
erſt zu Aften gehörten, von dem fie nur durch ein feichtes
Meer getrennt find. Die Grenze der auftralifchen und
Bergleihende Erdkunde.
afiatifchen Welt, die in glänzender Weife von Wallace
botaniſch und zoologifch feftgeftellt wurde, verläuft zwifchen
ben Eilanden Bali und Lombok. Noch auf ein merk.
würdiges Gefeg, das beim Anblid der Karten ins Auge
füllt, macht Pefchel aufmerkjam:
Während die Infeln auf vullanifchen Spalten und bie
Koralleneilande unter ſich eine unvertennliche Achnlichleit ihrer
Einzellörper zeigen, finden wir Zufammenfcharungen folder
Inſeln, deren Einzelmefen durh Gliederung und Mannid)-
faltigfeitt der Umriffe inbividualifirt find, nur da, wo bdurd)
Zerftörung eines Altern Zufammenhangs von Feftländern Infel-
welten entflanden find.
Solder Zufammenfcharungen, bei denen weder Ko—
rallenbauten noch vulfanifche Kräfte thätig waren, zählt
Peſchel folgende auf: die malaiiſche Gruppe zwijchen
Auftralien und Südaften, die großen Antillen zwifchen
Nord» und Südamerika, den griechifchen Archipelagus,
die dänischen Inſeln.
Ganz verjchieden find die vulfanifchen und die Korallen-
infeln von den eben bezeichneten; fte finden fi) nur auf
der hoben See. Die vulkaniſchen Inſeln find durch ihre
Keihenfolge und Anordnung leicht zu erkennen und finden
fid) am regelmäßigften an den Rändern bes Stillen Meers
von ber Halbinfel Alaska in Nordamerila bi zu den
Philippinen. Auf dieſer Strede bilden bie Aleuten,
Kurilen, Japan, die Liu⸗-Kiu, Formoſa und die Philippinen
eine „Inſelguirlande“, wie Befchel bezeichnenb jagt. Vul⸗
kaniſche Inſelſchnuren find auch die Boningruppe, bie
Marianen, die Salomonen, Neuen Hebriden, die Mandana⸗
infeln u. f. m. „Allen diefen vullanifchen Inſelſchnuren
ift e8 gemeinfam, daß fie nad) dem Ocean zu gemölbt
(conver), nad) dem Lande zu Hohl (concav) find.” Weber
die Koralleninfeln und deren ſchon durdy Darwin erläu-
terte Entftehung brauchen wir nichts Hinzuzufligen, fie ift
befannt genug; nur erwähnen wollen wir, daß kürzlich
Profeſſor Semper in Würzburg mit einer neuen Theorie
ihres Urfprungs bervorgetreten ift.
Die Summe der Unterfuchungen Befchel’8 über bie
Entftehung der Inſeln ift folgende: Alle Inſeln, die
einem Feſtlande nahe liegen, find nichts anderes als ent-
weber abgefprengte Bruchſtücke der nüchften Küften, oder
Anſchwemmungen jungen Landes, ober Ablöfung eines
ehemaligen Continentalgebiet® dur; langſame Senkung
unter den Meeresfpiegel. Alle andern Infeln liegen im
Deean und find, mit Ausnahme von nur zwei Erbräumen,
entweder durch Bauten von Korallen entftanden oder durd)
vulkaniſche Erfcheinungen ausgezeichnet. Jene beiden Aus-
nahmen find Madagaskar und Ceylon. Erfteres ift Feine
vulkaniſche Schöpfung, noch weniger ein abgelöftes Stüd
Afrilas, denn Fauna und Flora lafien e8 als eine Heine
Melt für fich erfcheinen; und Ceylon zeigt troß feiner
großen Annäherung an das indifche Feftland doch fo viel
Selbftündiges, daß es gleichfalls nicht als ein Stüd der
vorberindifchen Halbinfel betrachtet werden Tann. Was
aber mit diefen beiden anfangen? Pefchel erklärt:
Wir haben in Madagaskar und in Ceylon die letzten Ueber⸗
refte vormaliger Weltinfeln, die mit unjerer Erdfeſte nicht ver-
bunden waren, die aber vielleicht ehemals unter ſich zuſammen⸗
hingen, und zwar über die Sefdellen, granitifhde Infeln im
Norden und in der Verlängerung von Madagaskar gelegen.
Daß ehemals dort ein Welttheil über Dadagaslar, die Mas⸗
farenen mit der Granitinfel Rodriguez, die Sefchellen, bie
621
Malediven und Ceylon fi ausbreitete, ja fi oflwärts bie
Celebes erfiredte, freilich in den älteften Tertiärzeiträumen, zu
diefer Annahme werden ale Anhänger der Lehre von ber Ein-
beit der Schöpfungscentren gezwungen fein, da ſich die Lemu⸗
rinen ober Fuchsaffen und die ihnen naheftehenden Yaulaffen,
überhaupt faft alle Halbaffen auf jene Infeln befchränfen, wes⸗
halb Sclater vorgeichlagen hat, jenes verſchwundene Feſtlaud
„zemuria‘ zu nennen. Celebes bezeugt durch feine wenigen an-
dern Säugetiere, injofern fie Anklänge an afrifanifche Formen
zeigen, daß e8 mit den fernen weftlichen Ländern einen Zuſam⸗
menhang genofjen haben muß.
Wir jehen, welche Rolle hier der Zoologie zugewiejen
if. In ber That gewinnen viele ber von Pefchel bezlig-
lich der Entftehung der Infeln aufgeftellten Behauptungen
erft ihre Begründung, wenn die Fauna und ebenfo bie
Flora der Infeln mit jener der Feftlänber verglichen wird.
Dies führt ihn zu einer neuen gleichfalls höchft anregen-
ben Unterfuchung „Ueber die Thier- und Pflanzenwelt ber
Inſeln“. Hier offenbart fih, daß auf den Gejchöpfen,
welche die Infeln bewohnen, ein eigenes Berhängniß ruht,
welches fich nicht blos auf ihre phyſiſchen Trachten allein
befchränft, jondern dem fogar die Bewohner in ihren
geſchichtlichen Schidfalen, ihren Sitten und ihren Sprachen
unterlagen. Namentlich find es die Eingriffe des Men-
chen in die Thier- und Pflanzenwelt der Infeln, die ben
Berfafjer hier befchäftigen und die er mit einer großen
Anzahl intereffanter Beifpiele belegt, die Zeugniß von
feiner immenfen Belefenheit ablegen. Auch das Ausfter-
ben vieler Inſelvölker wird hier behandelt, wobei Peſchel
folgenden wahren und geiftreichen Ausſpruch thut:
Wenn der. Raffentod alle Urbewohner der Südſeeinſeln,
ja felbft einer Weltinfel wie Auftralien vielleiht noch vor
Ablauf des gegenwärtigen Jahrhunderts vertilgt haben wird,
fo fann man aud von allen dieſen Menſchenſtämmen behaup-
ten, fie jeien, als fie mit den Kontinentalvöllern wieder
a ng famen, nichts anderes gewefen als befeelte
0
Der Berfaffer Handelt von den Bedingungen, unter
denen feftländifche Thiere und Pflanzen auf die Infeln
gelangen; er zeigt, wie viele feitländifche Gewächſe den
Uebergang zum Inſelklima nicht überftehen können und
mit der von ihnen abhängigen Thierwelt zu Grunde gehen.
Geräumige Infeln verhalten ſich indefjen wie die Feſt⸗
lande, denn fie werden ihren Bewohnern immer eine
Anzahl von begünftigten Zufluchtsftätten bieten. Hier
wird darauf Bingewiefen, daß in Irland manche Süuge-
thiere fehlen, die in England noch vorlommen. Als
einen Schreib⸗ oder Weberfegungsfehler müſſen wir es
anfehen, daß dort (S. 52, Anmerkung) angegeben wird,
das Murmelthier fei in England heimiſch.
Mit dem Auftreten bes Deenfchen auf vorher unbes
wohnten Infeln beginnt ein neuer geologifcher Zeitabjchnitt,
oder vielmehr die letzten Accorde einer ältern geologifchen
Zeit verflingen. Es ift aber nicht gleichgültig, welche
Menſchenraſſe auftritt — große und jähe Wechfel er-
folgten erft mit dem Auftreten der Weißen.
Auch in den „geographifchen Homologien“ (der glücklich
gewählte Ausdrud rührt von Agaffiz her) erörtert der
Verfaſſer ein neues Problem, wenn auch gerade bier ſchon
andere Forſcher ihm vorgearbeitet Hatten. Es handelt
fi um die Wiederkehr der nämlichen ©eftaltungen, ſei
es in ben flachen Umrifien, fei e8 in den Bodenerhebun⸗
gen, die wir auf den Ländergemälden unferer Erde abge-
622
bildet finden. Die Iehrreichften Aehnlichkeiten find in den
Umriffen Südamerikas, Afrilas und Auftraliens wahr
zunehmen, wobei man die Inſel Tasmanien als Sübfpige
Auftraliens betrachten muß. Die gemeinfamen Familien⸗
züge laſſen ſchließen, daß ihre horizontale Geſtalt völlig
unabhängig von ihrer fenkrechten Gliederung erfcheint,
die bei jedem der drei Feſtlande verjchieden ift. Dieſe
Aehnlichkeit trog der Verſchiedenheit der fenfrechten Glie⸗
derung lehrt uns, daß die großen Umrifje der Feſtlande
von andern Ffrüften geftaltet wurden, als diejenigen waren,
welche das Auffteigen ber Gebirge Hervorriefen, oder mit
andern Worten, die Feftlande find älter als die Gebirge,
die fie tragen. Der gleichen Anfchauung, die feharf for
mulirt und bewiefen zu haben Peſchel's Verdienſt iſt,
Schließen fih an Humboldt, früher d'Aubuiſſon und C.
F. Naumann. Eine geographifche Homologie ferner, die
jedem, der aufmerffam die Karte betrachtete, in die Augen
gefallen fein muß, ift endlich die bedeutungsvolle Aehn-
lichleit ber Inſeln Borneo, Celebes und Gilolo oder
Halmahera. Diefelbe fcharf ausgeprägte Injelform wieber-
bolt fih in raſcher Folge dreimal hintereinander. Noch
jehen wir feine Mare Erläuterung vor Augen, aber
Peſchel meint:
Wir unfererfeits fehen in Celebes ein abgemagertes Bor⸗
neo, welches längft verſchwunden wäre, wenn nidt feine Ge-
birge als Beingerüft uns die ehemaligen Umriffe des Landes
noch zu ziehen erlaubten. Bei Gilolo endlich iſt das Ber-
hängniß ſchon weiter fortgefchritten. Für die Anfchauung, daß
wir in jenen Iufeln die Reſte geſunkener Rändermaflen vor uns
haben, ſpricht auch die Sefchichte jener Erdräume, foweit fie ſich
aus den Pflanzen und Thierreften- ermitteln Yäßt.
In der folgenden Abhandlung: „Die Abhängigkeit des
Tlächeninhalts ber Feftlande von der mittlern Tiefe ber
Weltmeere“, zerftört Vefchel den Wahn von großen
Mafjengebirgen und Thälern, die auf dem Boden der
Oceane borlommen follen; er zeigt, wie allein das Nord-
atlantiiche Meer geräumig genug fei, alle Körpermafien
ſämmtlicher Feſtlande der Erde, wenn fie bis zum See
jpiegel abgetragen wilcden, aufzunehmen, ohne dadurch bis
zum Rande troden gelegt zu werben. Mit Zahlen wird
das Thema diefer Arbeit erhärtet und ſchließlich wieder⸗
holt, daß unfere Feſtlande nur als gewaltige Hochebenen
über die Sohle der Occane emporragen. „Das Auf
fleigen der Gebirge an den Feftlandsrändern“ wird an
der Hand geologifcher Thatſachen erörtert, und darauf
Bingewiefen, daß ſchon vor der Erhebung der Gebirge
die Umriffe der Feſtlande gegeben waren. Ueberaus reich
mit DBeifpielen der anziehendften Art belegt ift die Unter
juhung „Ueber das Auffteigen und Sinken der Küſten“.
Auf dem Antlig unfers Planeten ruht noch nicht eine
tödliche Erftarrung, fondern es verändert noch fortwährend
feine Züge, infofern die Umriffe der Infeln und Feftlande
beftändig jchwanfen, hier ſich verfürzen, bort fich aus-
dehnen, und zwar mitunter fo beträchtlich, daß fich ſchon
im biftorifcher Zeit vieles anders geftaltet hat. Im der
ſich Hieran reihenden Abhandlung „Ueber die Berfchiebungen
der Welttheile feit den tertiären Zeiten” erkennen wir,
daß die Verluſte, welche die Feſtlande feit den tertiären
Zeiten erlitten Hatten, wieder durch Zuwachs in andern
Räumen ausgeglichen wurden, und daß das Flächenver⸗
hältnig zwifchen Waffer und Land, welches etwa wie 5:2
Bergleihende Erbfunde
jegt ermittelt worden ift, in frühern Erbdzeitaltern das
nämliche gewefen fein mag. Aber das Land war vormals
anders vertheilt ald heute. Die nördliche Halblugel hat
mehr Land gewonnen als verloren, bie fübliche mehr
Land verloren als gewonnen. Im allgemeinen ergibt fi
aus diefer Unterfuchung, daß die verlorenen Gebiete alle
öftlih von den jegigen großen Welttheilen Liegen, die neu
erworbenen bagegen weſtlich, daß alfo das Trockene nad)
Welten flieht, weshalb auf ihrer Oftfeite die alten Yeft-
lande immer abgelöfte Stüde Hinter fid) zurüdlaflen,
während ihre weftlichen Uferlinien faft gänzlich frei von
Inſeln find, abgefehen immer von den vullanifhen Bau⸗
werfen, bie örtlich wirkenden Kräften ihren Urfprung danken.
Pefchel gebt nun auf die Flüſſe über und erläutert
zunächft die verfchiebenartigen „Deltabildungen‘, dann den
„Bau der Ströme in ihrem mittleren Laufe“. Er theilt
die Flüſſe in zwei Oattungen ein, in Querftröme, die
ftet8 vom Innern einer trodenen Erdfeſte mehr oder
weniger fenktrecht und auf dem kürzeſten Wege nach der
Küfte fließen, und in Längenſtröme, die parallel mit der
großen Achſe continentaler Erhebungen fließen. Wie nie
etwas bei Peſchel troden ift, und er dem fcheinbar dürr⸗
ſten Gegenftande eine geiftige Seite abzugewinnen weiß,
fo auch hier.
In der Eulturgefhichte Haben die Querſtröme cine ver»
ſchiedenere Rolle geipielt als die Längenfiröme. Die erftern
nämlich find auf den niedern Stufen der Entwidelung ethno⸗
graphifche Grenzlinien geworden. So ſchied der Ziber, wenn
auch nicht ganz fcharf, Etruster und Römer, der Rhein nod
zu Cäſar's und Tacitus' Zeiten Germanen und Gallier, die
Eider Deutiche und Dänen, ja felbft noch heutigentags trennt
der Lech den ſchwäbiſchen vom bairishen Volksſtamm, ſoweit ſich
die Unterfchiede in Tracht und Mundart erhalten haben. Der
Senegal war, ſoweit die Geſchichte zurückreicht, die Bölkerfchrante
zwifchen Berbern und Negern. Längenftröme haben viel jeltener
diefe Macht ausgeübt.
Wir möchten in biefer Beziehung hier noch von einem
Tängenftrome, der Donau, reden. Auf ſie findet beides
Anwendung, benn in ihrem Laufe durch das Land deut—⸗
ſcher, magyarifcher, flawijcher, vomanifcher und türfifcher
Bölfer ift fie nur einmal ethnographifche Grenzſcheide,
und zwar im untern Laufe, wo fie faft haarſcharf die
Rumänen von den Bulgaren und Türken trennt; nur
im Delta und nad) Serbien hin greift das ungemein
erpanfionsfähige rumänische Elemertt etwas über.
Zum Schluſſe werden die „Chalbildungen“, dann
„Wüften, Steppen, Wälder” in vergleichender Weife be-
handelt. Was die letztern angeht, fo bezeichnen dieſe
drei Begriffe Steigerungen an Pflanzenreichthum in den
trodenen, feuchten und naflen Erdftridgen, denn ihr räum-
liches Auftreten hängt fireng zufammen mit der örtlichen
Bertheilung der mäfjerigen Nieberfchlige in der Geftalt
von Nebel, Than, Regen oder Schuee. Ihre Bertheilung
wird aber. genau beftimmt durch die Gäftalt des Trodenen
und Feften auf einem fugelfürmigen Kikeper wie bie Erde,
der fih von Weften nad) Often mit der , höchften Geſchwin⸗
digfeit am Aequator, mit der geringften an den beiden
Polen bewegt. Einzelheiten aus dem \organifch geſchloſ⸗
fenen Ganzen diefes Aufſatzes Tünneh wir hier nicht
bringen, aber wir mahnen noch zu reich lohnenden
Lektüre bes epochemachenden Heinen Werts.
Bidard Andree.
Feuilleton. 623
Fenilleton.
Ein Wörterbud zu Luther's deutſchen Schriften.
Bei_der hohen Bedeutung, welche die Sprache Luther's
in der Entroidelung des deutfchen Geifteafebens erlangt Hat,
iſt es gewiß ein banfenswerthe8 Unternehmen, feinen Sprache
ebrauch in einem umfafjenden Wörterbuche darzuftellen. Schon
Fer iR Luthers Wortihag Gegenftand der Aufmerlamteit
geweſen, aber erſt jeit Grimm ift eine ausgedehntere Samm«
tung der Luther'ſchen Ausdrüde verſucht worden. Es liegt
in der Natur eines ſolch weit angelegten Werks wie das
Grimm'ſche Wörterbug, daß Hier keine unbebingte Bolftändig-
keit erzielt und aud erwartet werben fonnte. Zu einer mono-
grophiihen Sammlung des Luther'ſchen Sprahihages war
daher nit allein noch Raum übrig, fondern das Grimm’ihe
Wörterbuch, mußte aud mit Anlaß fein, biefe von den Um-
fländen gebotene Lüde auszufüllen. daß ein ſolches Werk,
welches fid) die Aufgabe felt, den gefammten Wortvorrath ur
ther’8, wie derfelbe in feinen deutſchen Schriften mit Einihluß
der Bibelüberfeguug niedergelegt iſt, zu verzeichnen und die
verfdiedenen Formen und Beneutungen der einzelnen Wörter
mit jorgfältig ausgewählten Beifpielen zu belegen, im höchſten
Grade ſchwierig und mlhfem ift, wird von bornherein jeder«
mann empfinden. Und ber, welcher ſich einer fo gewaltigen
Arbeit unterzieht, verdient gewiß Dani und Anerkennung.
Bor zwei Jahren trat B. Dietz in Marburg mit einer erflen
Lieferung von einem „Wörterbud zu Dr. Martin Luther’
deutfgen Schriften“ (Leipzig, Bogel) hervor, und jet (1870)
iſt der erfte Band, beftefend aus vier Lieferungen umd veichend
bis zum VBucftaben F inclufive, vollendet, Die jchwere Aufe
jabe ift in mireigfier und trefflichſter Weiſe gelöf worden.
Sa dem Bormorte gibt der Serifograph aud) eine „Kurze Charakterie
fiil_ der wefentlichften Eigenthlimlichleiten der Sprache Luther’s‘',
wobei er jedoch von gammaiiser Bolftändigkeit ganz und gar
abgeſehen hat. Mit Recht. Denn eine grammatiihe Darftellung
ift eine Aufgabe für ſich und erfordert ſelbſt einen ausgebehn.
teen Raum, als er einem Borworte gegeben if. Dann folgt
das „Duellenverzeihniß‘‘, in welchem mamentlid eine Menge
Heiner Flugſchriften Luther's Bbibliographiih angeführt find.
Muß diejes Wörterbud; von Die den Oprahforigern will
tommen fein, fo haben aud alle Theologen Beranlaffung, an
diefem Werke ein Interefje zu nehmen. Aber auch über diefe
gelehrten Kreife hinaus verdient es beachtet und benutzt zu
werden.
Notizen.
Aus Barnhagen von Enfe’s unerſchöpflichem Nach-
laß ift von Ludmilla Affıng nun aud eine franzöſiſche Briefe
ſammlung ans Licht gefördert worden: „Lettres du Marquis
A. de Cnstine & Varnhagen d’Ense et Rahel Varnhagen
d’Ense accompagndes de plusieurs lettres de la comtesse
Delphine de Custine et de Rahel Varnhagen d’Ense‘ (Brüf-
fel, Mugquardt, 1870). Der Briefwechjel umfaßt einen fehr
großen Zeitraum, von 1816—46, und enthält über literariſche
und politifhe Creigniffe und Perfönlichteiten im Bedjelverkehr
zwiſchen Paris und Berlin mande interefiante Bemerkung.
Tuftine iſt ein ſcharfer Kopf und bt eine fehr unbefangene
Keitit, Man darf der Herausgeberin beiftimmen, wenn fie in
dem Vorwort fagt, baß biefe Briefe eine glänzende Beſchrei⸗
bung der franzöftjhen Gefellihaft bieten, deren Details voll
Reiz und Seife find, indem Guftine ebenfo viel Geift wie
Schwung in der Erzählung pilanter Anekdoten beweiſt. Die
Serausgeberin derwirft das ungünftige Urtheil, das Cuſtine
über Victor Hugo fällt, den fie einen ber größen Poeten un.
ſers Jahrhundert6 nennt, der aus. feinem Eril heraus bie
Sympathien und bie Berrunderung aller edeln Seelen zu ge:
winnen verfanden habe. Sie hat dieſen Brief nicht unter-
drüct, wie fie fi im der Borrede rühmt. Dies ift eigentlich
felbRverfländlig, beun wozu folkte eine Redaction führen, melde
nad) den Meinungen des Herausgebers die überlieferten Briefe
und Scriftfllide zurechtſchneiden wollte? Das Zutreffende ein⸗
zelner Urtheile Cuſtine's hat die Folgezeit bewiejen, fo wenn
er den Meinen Girardin einen „politiihen Robert Macaire "'
nennt, dem alles fehle, um ſich über fein Jahrhundert zu er«
heben: bie Beredſamkeit und die Weberzeugung. Er werde
in feinem gangen deben ſich in einer faljehen Tage befinden, in
der Lage eines Märtyrers ohne Glauben. Zunächſt fei er das
Ichneumon des Krofodils Thiere.
Aus einem huzem Lebensbild von Barnhagen erjahren
wir, daß Mfolphe Marquis de Cuftine (geb. in Paris 1793,
gef. in St.-Gratien bei Enghien den 26. September 1857)
der Entel des berühmten franzdfifchen Generals if, und daf
fein Bater wie fein Großvater auf dem Schaffot während ber
Revolution flarb. Möglich, daß fid) daher jene zeligiöfen und
politifhen Borurtheile fhreiben, melde bie Herausgeberin in
der Borvede bedauert. Sein Hauptwerk ift jedenfalls: „La
Russie en 1839“, ein Wert, das durd) feine freimüithigen Ir»
theile Auffehen erregte. Außerdem Kat er zwei Romane ver»
faßt: „Lo monde comme il ost“ und „Ethel“, und ein @Werf:
„L’Espagne sons Ferdinand V]
Bon nemen deutſchen — in Nordamerika ermäh-
nen wir: „Der deutfhe Pionier. Cine Monatsſchrift für
Erinnerungen aus dem deutſchen Pionierleben in den Bereinig-
ten Staaten, herausgegeben vom deutſchen Pionierverein (Cin-
einnati, Ohio). Bon der Zeitfhrift liegt uns ber erfte Jahı-
gang vor; fie ift weſentlich biftorifh und fucht die bahnbrechen-
den Thoten und fortfhreitenden Cuftureroberungen ber beute
ſchen Einwanderung im einer Flle einzelner Abhandlungen
darzuftellen.
Bibliographie.
Die Armee Sadjens Er u Zorddeutſches Armeecorps im ante
(gen Gelbyuge 1670, Sag ben Mittpeltungen eigener Berißterltter, Sor«
Fefpenbenten und —— ie © 3 Feinzig, Minde,
ru turned. Bon_ber Berjafjerin von “ Dapemen fe
—E— deutjche Musa jabe. us dem gnglifhen von
e 2 be. Seinnig, Sälide. 2 208. W gr.
ante’s Hölle der Verlleblen deutsch gereimt At elnigen Bemer-
jen und einer Belegstelle aus dem, Roman du Lancslot von R. Minz-
Ir — Hahn. Gr. &.
5 ehrt Haidlüge_ Aphorismen. 21 Otüd,
ui Hilger Geipräge Göthes mit Edermann. Gumbinnen. 4.
©
Beigiäte des, — dom Dahre 1870. iſtes Heft. Stutt -
gert, ® —
an * Die ball ehe Reform und das erste Vatican-Con-
ei. —
* engen in feiner perföntichen und weltges
wianig em — 9. Cine naturwilfenfhaftlige Seelentunde uns
baranf inet: Weilknfganung. ifte Mbth. Leipzig, Thomas. Gr. 8.
ı ei
Ei in pbilofoy jer, politif unb nationaler Bes
aba ii as — a barscheile Seine kung in Pi
.$ TÜR ber Liebe. Novelle. Altona, Berlagd-Bürcan.
s BE. Eipis, Bon Rom nah Creta. Neifefkigge. Iena, Reuen-
. & e.
in gmer, ©. © v., George Sirifopg von Raten, Ghel der weißen
& — Ein Beitren dur [bite der Armee Friedrich II. Hannover,
Pi
Bere länge ans Böhmen. Zeitgebißte. Cine Apotheofe
flo.“ 2te Muft. Leipzig, Matthep, 16. 224, Nat.
franzönische und deutsc jearbeitung der
Amel, "perl, — Comp. 1869. Gr. 8. 8 Ngr.
„© @ lichte dos europäischen (Besveräicherungerechts,
8 ER Gr. 8. 9 Thlr,
der zweite December und dag Raiferreid. Naqh Ring-
Late’ he es Srlmtriges auß dem Gngliigen übertragen. Ihehoe,
Rufe, Sur
x Deutforen Max im dahre 1870 in Wort und
Berlin, Mlönne,
Srellentein, 8 v., Daß entlarote Yubenthum ber
Nengeit. 1. Die Iuben in —E am Main. Zürig, Berlagsmagazin.
3 10R
Wallace, A. R., Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl,
Eine Reihe von Essais. Autorisirte deutsche Ausgabe von A, B, Meyer.
Erlangen, Besold, Gr. 8. 2 Tale
Ttber, &.. Rapoleon IL, — Saite oder;
ver Step der Kapfe tigen. Suuftrirter bioriier Roman aus dem
ige ie N Elan Ife und Ste &ief. Berlin, Humburg u. Comp.
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Anze
Anzeigen.
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Deutfche Allgemeine Zeitung.
Verantwortlicher Redacteut: Prof. Dr. Karl Biedermann.
Derfag von 5. A. Brochfans in Leipsig.
Während des ) genenmärt| en Kriegs hat ſich die Deut
ſche Allgemeine Zeitung bemüht, den erhöhten Anforderungen
nad) allen Seiten hin zu entipreden: duch Zugabe einer
tägligen Ertra=Beilage, vermehrte telegraphiide
Depeiden, OrigiualberigteuomKriegsihanplage,
aus Paris, London zr., Mittheilung der amtlihen Bes
richte and den Hauptquartieren, Veigabe von Karten nnd
länen, täglide Leitartikel und Ueber ſichten. Sie
at and die Genugthuung gehabt, daß die Zahl ihrer
Abonnenten bedentend geftiegem und aus der Mitte
derfelben mehrfach die vollſte Belriehigng über die Reich⸗
hattigteit Fe ie ganze Haltung des Blattes ausgeſprocheu
worden
Redaction und Verlagäpandlung werden in, biefem Ber
ſtreben nicht ermüden. Inöbefondere werden fie bemüht fein,
über die voransfihtiih bald an die Stelle der Kriegsercig-
niſſe tretenden diplomatifhen und Friedensverhand-
Iungen ebeufo rafdy und gefintet wie über jene zu be=
richten, wober ihnen mehrfeitige zuverläffige DVerbindungen
zur Seite ftehen. Sie dürfen daher hoffen, daf der neu ge=
wonnene Lefertreis der Deutfhen ‚Algemeinen eitung ihrem
alten Stamme getrener Lejer und Abonnenten dauernd Hinz
zutreten werde,
Mit dem 1. October beginnt ein neues Abonnement
auf die Deutfce Allgemeine Zeitung, und werben deshalb alle
auswärtigen Abonnenten (die bisherigen wie nen eintretenbe) ex»
fuht, ihre Befellungen auf das nägfte Vierteljahr baldigft
bei den betreffenden Poftämtern aufzugeben, bamit ‚feine Ber-
zögerung in der Heberfenbung flattfindet. Der Abounements-
preis beträgt vierteljährlid, 2 Thlr.
Die Deutihe Allgemeine Zeitung erſcheint, folange es
bie pafiiiäen Berhäftniffe wänfdenswerth maden, täglid
zweimal (Sonntags einmal): vormittags 9 Uhr (Sonntage
11 Uhr) und nahmittags 3 Uhr, vefp. (mit tefegraphifchen
Börjenberichten) 5 Uhr. Nach auswärts wird fie mit den
nädften nad Erfheinen jeder Nummer ober Ertra-Beilage
abgehenden often verfandt.
Inſerate finden durch die Deutſche Allgemeine Zeitung,
melde zu biefem -Zivede vom den weiteflen Kreifen und na
mentlic, einer Reihe größerer induftrieller Inſtitute regelmäßig
benußt wird, die allgemeine und ziwedmäßigfte Werbreitung;
die Imfertionsgebühr beträgt für den Raum einer viermal ger
fpaktenen Zeile unter „Ankündigungen“ 1Y, Ngr., einer drei—
mal geipaltenen unter „‚Eingefandt‘ 2%, Ngr. Die Herren
Haafenftein & Vogler in Leipzig (Dresden), Hamburg,
(Lübed), Berlin, Frankfurt a. M., Breslau, Köln, Stuttgart,
Dien (Prag), Bafel (St.-Gallen), Züri, Genf (Laufanne)
haben den ausfhliehlichen Iuferatenbetrieb für die Deutſche Alle
gemeine Beitung übernommen und find deshalb alle Inferate an
eins dieſer Etabliffements zu fenden.
Derfag von 5. 9. Brodfians in Leipzig.
Paris als Waffenplatz.
Plan von Paris und seinen Festungswerken.
2%, Ngr.
Ein nach sorgfältigen Aufnahmen in Stahl gestochener
Plan von Paris nebst Umgebung, auf welchem alle Fortifi-
cationen durch Farbendruck hervorgehoben und die wich-
tigsten Gebäude, Plätze, Brücken u. s. w. namentlich an-
gegeben sind.
Derfag von 5. A. Brodfans in Leipsig.
Bilder - Atlas.
Ilonographiſche Encyklopädie der Wiffenfchaften
und Künfte.
Ein Ergänzungswerk zu jedem Eonverfations-Lerikon.
Zweite vollländig umgearbeitete Auflage.
500 Taſeln in Staßrfih, Holzfänitt umd Lithographie. Med er»
fäuterndem Cexte.
Im Lieferungen zu 7, Sgr.
Soeben erfdien:
Bierzigfie Lieferung.
Arqitektur (von Effenwein), Taf. 28; Zoologie (von Bogt),
Taf. 15; Botanik (von Willfomm), Taf. 12; Baumejen (vom
Heyn), Taf. 15; Piaſtit und Malerei (von Carriere),
Taf. 13.
Erfie Lieferung des Erläuternden Tertes:
Seewefen. Bearbeitet von Kapitän zur See R. Werner.
(S. 1-28.) — Phyfi. Bearbeitet von Profeſſor Dr. 9.
Müller. (&. 1-48.)
Gleichzeitig mit der 40. Lieferung der Tafeln erhalten die
Subferibenten die 1. Lieferung des Erfäuternden Tertes.
Sie behandelt die Abtheilungen „Seewefen“ und „Phyſit“,
von welchen beiden Fächern mit feter Bezugnahme auf die
Tafeln eine gedrängte, aber volfländig abgerundete Darftellung
des BWiffenswürdigften vom Standpunkt der neueften Forjhung
aus dargeboten wird. Der Erlänternde Tert ericeint in Lie⸗
ferungen von 5—6 Bogen Lerifonoctan zum Preife von 7Y, Sgr.
und ſoll einen Band von etwa 60 Bogen umfafjen.
Der „Bilder- Atlas“ bietet in Diefer zweiten, vom dem
tüchtigfen Fahmännern bearbeiteten Auflage eine notbmwen-
dige Ergänzung zu jedem Converfations-Lerifon,
ift aber zugleid) ein Werk von völlig felbftändigem Werthe,
das im feiner fofematifgen Orbnung den mannichfadften Bil-
dungszweden entipriht.
„sn allen Buchhandlungen ift das Erſchienene vor:
täthig und werden Unterzeihuungen auf das Werk
angenommen.
Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipzig.
Diplomatifche Geſchichte
der Jahre 1813, 1814, 1815.
Zwei Theile. 8. Geh. 4 Thlr. 10 Nor.
Eine diplomatifche, vom deutfhen Standpunft
aufgefaßte Gefhiähte jenes hochwichtigen Zeitabichnittes, in
der, wie e8 im vorliegendem Werke geſchieht, unter nothwendi ⸗
ger Bezugnahme auf die friegerifhen Ereigniffe die dadurch
veranlaßten Blindniffe, Verhandlungen und Friedensihlüffe einer
auf die betreffenden Urkunden geftügten Beurtheie
fung unterworfen werden, war bisher noch nicht vorhanden,
Sie wird weſemlich dazu beitragen, irrige, hauptfächlic, vom
franzöfifhen Geidigti—reibern verbreitete Meinungen zu ber
richtigen und die Thatfachen ſowol wie die Motive, aus benen
fie entfprangen, mieber in ihr Hiorifches Recht einzufegen.
Die Urkunden, welde mit der geſchichtlien Darftellung ver-
webt find, gewähren nebft der nothmendigen Beweisführung
and den Reiz unmittelbarer Aufjafjung der Ereigniffe durd)
die zunächft betheiligten Zeitgenoffen.
Berantwortliier Redacteur: Dr. Eduard Srodhaus, — Drud und Verlag von 5. A, Srohhaus in Leipzig.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich. —4 Ar. 40. #8 1. October 1870.
Die Blätter für literariſche Unterhaltung erfheinen in wöchentlichen Lieferungen zu dem Sreife von 10 Thlrn. jährlich, 5 Thlru.
bafbjährlig, 2%, Thlrn. vierteljäͤhrlich Alle Buchhaudlungen und Poſtämter deB In- und Auslandes nehmen Beſtellungen an.
Iuhalt: Ebeling's Sküzen aus Paris. Bon Mudolf Sottſchal. — Cine neue Gefchichte Oeflerreihs. Bon Hand Prutz. —
Neue Romane und Erzählungen. Bon Mobert Springer. — Senilleton. (Die Reclam’sche „Univerfalbibliothet; Zur Kriegslyrif;
Zur Gefdichte der deutſchen Rechtſchreibungsfrage; Notizen.) — Sibliographie. — Anzeigen. '
Ebeling’s Skizzen aus Paris.
Neue Bilder ans bem modernen Paris. Bon Adolf Ebe- | gleiche Mitſchuld. Thiers hat vor dem Kriege geivarnt,
oe: ger —* zweiter Band. Paderborn, Schöningh. doch nur weil der Augenblidk ihm nicht geeignet erſchien.
gebe Runde aus dem modernen Paris, welche dazu Der frühere Diinifter bee Suitimigthumg, dem wir das
beiträgt, uns bie Eulturzuftände ber Weltftadt unter dem a m Yahız 1866 and ben — —SeS
serond empire zu erläutern, iſt in jetziger Zeit doppelt (6° der eifriafte Vorfä ner Fri 8 fiti
willlommen; denn in diefen Zuftänden mefentlich ift ber erbet " nelche pi — —A— — ideen ne
Schlüfſel zu den großartigen Niederlagen des Yahres f 8° re
1870 zu ſuchen. Die Wallfahrt ber Fürften und Natio- Dies Paris bes second empire, das jegt bald nur
nen im Jahre 1867 zu dem großen Friedenstempel des ber Geſchichte angehören wird, dies Paris der großen
Marsfeldes und der Vormarfch der deutfchen Armeen im Cultur-⸗ und Friedensfeſte wie ber unfinnigen Sriegs-
Fahre 1870 nad) der Yaiferlofen Hauptftadt bilden einen | abenteuer in fremben Zonen und des unfinnigften Er—
merfwitrdigen Pendant. Die kriegeriſche Nation, ſiegreich oberungszugs an ben Rhein, barg im fid) bie intereffan-
teften Qulturphänomene der Neuzeit, mag man in ihnen
im Frieden und befiegt im Kriege — wel ein Wider- inen hinter glänzenden Phrafen verftedten Werm
mit ben Traditionen Frankreichs! Doc der Eultur | nur einen Hinter glänzenden Phrajen berfiedten Berme-
ſpruch nd eich och der Cultur ſungsproceß oder die ſchimmernde Repräſentation des
des Friedens einen Tempel bauen in dem einen Jahre, proce E —
in dem andern fie leichtſinnig preisgeben für vagen Kriegs⸗ materialiftifchen Weltprincips erbliden. Jeder Beitrag zu
ruhm, der ſich unter der Hand in Schmach der Nieder- feiner Charakteriſtik muß uns daher willfommen fein.
lagen verwandelt — das heißt ein Spiel treiben mit den Adolf Ebeling hat bereits in einer ganzen Serie don
höchſten Gütern der Nationen, ein Spiel, welcdes die Bänden „Lebende Bilder aus dem modernen Paris‘ uns
Züchtigung durch die Eifenfauft des deutfchen Volks ver- | vorgeführt, und zwar find alle diefe Skizzen mit großer
dient! Unvergeflen wird es unferm Volke bleiben, daß es | Detailfenntniß gearbeitet. Die GOrnndſtimmung des Ver⸗
zwar mit Begeifterung in ben Krieg z0g und biefen glän- | faflers ift eine dem Kaiſerreich durchaus freundliche, offen-
zend und glüdlich führte, daß aber ber Zorn über die | bar weil der Bonapartismus den Firchlichen Intereffen
freche Friedensftörung nicht geringer war, daß es nicht | ftetd Rechnung getragen Bat. Darum aud) die Verherr⸗
triegte um des Kriegs willen, fondern um ſich vor Ueber» | lichung der Kaiferin, dieſer Schutzgöttin des Baticang,
füßen zu fihern, welche die humanen Intereffen, die Fort⸗ der „Spanierin‘‘, gegen welche fi ber Vollkshaß jett
Schritte geifliger Arbeiten auf allen Gebieten des Willens | nicht minder heftig wendet wie vor zeiten gegen die
und der Kunft ſtets von neuem gefährden. „Oeſterreicherin“. Ebeling läßt feine Gelegenheit vorüber:
Immerhin bleibt Paris der Herd der ganzen Bere- | gehen, wo er ihr einige ftiliftifche Blumen auf den Weg
gung; aber nicht blos bie Tuilerien, fondern das Palais- ftreuen Tann. Gleichwol ift fein Ultramontanismus nicht
Bourbon, die Prefle und ihre Heißfporne, ein Emile de | anfdringlich, fondern tritt nur gelegentlich hervor, und
Girardin an der Spige, bie ganze Nation tragen bie | bei aller Bewunderung für das second empire, die ber
1870. 40o. 79
—
626 Ebeling’s Skizzen aus Paris,
Autor hegt, laſſen feine unbefangenen Schilderungen des
Bolfslebens die Achilleusferfe des modernen Cüfarismus
durchaus nicht verfennen.
In den vorliegenden Bänden fpielen indeß Kaifer und
Kaiferin keine hervorragende Rolle; nad) der legten großen
Rataftrophe möchte man ihnen gern einmal näher ins
Auge ſehen. Merkwürdiger noch als das wechjelnde
Süd, welches den Kaifer von Abenteuer zu Abentener,
in das Gefängniß, auf den Thron und jegt wieder in
die Kriegsgefangenfchaft verfolgte, ift das ebenjo wechjelnde
Urtheil der öffentlichen. Meinung über ihn. Der PBräten-
dent von Strasburg und Boulogne galt in den Augen
der Welt für einen Narren; der Präfident der Republik
für einen beſchränkten Mann, der nad, der höchften Macht
firebte, um ſich ihren Genüffen Hinzugeben; der Kaiſer
galt lange Zeit für den Träger aller politifchen Weisheit,
für das Orakel Europas und aller Cabinete, fir den
Vertreter der MWeltherrfhaft der romanifchen Nationen.
Seit dem verfehlten Kriegszuge nah Mexico begann
diefer Ruhm zu fchwinden; jest aber ift man allgemein
geneigt, wieder zu der erften Auffaſſung zurüdzufehren
und einen vom Zufall begünftigten, fonft unbedeutenden
Glüdsritter in ihm zu fehen. Daß die dentjchen Waffen
und Federn nad) dem leichtſinnig heraufbeſchworenen Kriege
den Cäſar nicht fchonen, ift felbftverftändlich und berech⸗
tigt; doch das unbefangene Urtheil der Gefchichte wird
in Napoleon II. immer einen Stantemann von hervor-
ragender Befähigung erbliden, der das Princip des Mac⸗
chiavellismus durch gefchidte Ausbeutung der Zeitideen in
der innern und äußern Bolitit mit feltener Kunft zur
Anwendung bradjte und, indem er bie dynaftifchen Inter⸗
effen zu ftüten fuchte, aud) dabei manche wahren Inter⸗
efien des Volks fürderte.
Noch mehr aber als fein Oheim zeigt der dritte Na-
poleon die Wahrheit des franzöftfchen Satzes: „Rien ne
reussit que le succes!” In den Augen der Welt ward
er zum Narren und zum Weifen, je nachdem er Nieder-
lagen oder Giege erlebte. Niemals in der Gejchichte
wechjelte das Urtheil jo mit dem Erfolg, gleich als ob
der Charakter feinen innern Werth, fondern nur einen
äußern Preis hätte, den die Umftände allein beftimmten.
Ebeling führt uns einmal den Kaiſer vor bei dem
großen Rennen im Bois de Boulogne, wo Frankreich ein
neues „Waterloo“ durch den Sieg bes englifchen Pferdes
„Ceylon“ erleben follte: '
Die Majefäten verließen die rothen Sammtfanteuils ihres
Pavillons und mijchten fich unter die Spaziergänger; aber wenn
der Kaifer, noch dazu in fchlichter Civilkleidung, jeiner Gemahlin
den Arm gibt, fo fieht er nie fehr gut und nichts weniger als
impofant aus: er ift zu Hein umd von zu unterjegter Statur;
der Lefer weiß längſt, daß der Kaifer zu Pferde und in Uni»
form gejehen werden muß, um zu gefallen. Ohnehin kann
man fi einen Napoleon nicht wohl anders denfen. Ludwig
Philipp trug gern Tichtgraue Kaſimirbeinkleider, weiße Wefte
und einen braunen Frack mit goldenen Knöpfen und Samnıt-
fragen, dazu einen Spazierfiod oder gar bem hiftorifch gewor⸗
benen Regenihirm. Aber man ftelle fich einen Napoleon in
ſolchem Coftüm vor! Die Kaiferin Hingegen, wo fle erjcheint,
ift immer die wahre Majeftät, eine moderne Maria Thereſia.
Sie trug an jenem Tage ein weißes Kleid mit lila, nach wie
vor ihre Kieblingsfarben, und war entſchieden unter den unter
dem Pavillon verjammelten, etwa zweihundert Damen am ein-
fachften gefleidet. Aber fie durfte dies wagen, denn ber Der:
zoginnen, Fürſtinnen, Oräfinnen u. f. w. zählte man nach allen
Seiten bin zu Dutzenden, und da mußte fchon eine die andere
durch eine ſtets Toftbarere und brillantere Toilette zu überbieten
und auszuftechen fuchen, nur, um in der glänzenden Menge
nicht ganz unbeadhtet unterzugeben.
Wie fehr Ebeling für die „Spanierin” ſchwärmt, be«
mweife die folgende Schilderung ihrer Triumphe im Yahre
1866:
Die Kaiferin — Ehre, dem Ehre gebührt, und wir ſetzen
Ihre Majeftät gern in diefem Kapitel obenan — iſt zurlidgefehrt
von ihrem Triumphzuge; denn diefen Namen verdient ihre
Rundreiſe nad) Ehälons und Nancy, die wirklich eine fünftägige
glänzende Dvation der dortigen Bepölkerung war, fo glänzend,
wie kaum je eine zu Gunften der Napoleonifchen Dynaftie flatt-
gefunden bat. Den Kaifer hielten feine „Geichäfte‘‘ (er Hat ja
immer alle Hände voll zu thun) in den Zuilerien zurfid, : wo
faft ein permanenter Minifterrath etablirt war, und bie Reiſe
der Kaiferin gewann fomit eine doppelte Bedeutung: fie ftellte
den zufluftigen Thronerben zum erften mal offlciell dem Bolle
vor und repräfentirte zugleich ihren abweienden Gemahl. Wol
noch nie ift in frankreich eine Monarchin derartig gefeiert wor⸗
ben: die ganze Reife ging unter Ehrenpforten, Blumenguirlan⸗
den und Blättergewinden, das kleinſte Dorf war wie zu einem
Nationalfefte geſchmückt, in Nancy felbft zählte man über zwei⸗
malhunderttaujend Gäfte von nah umd fern. Biele Taufende, die
weder in den Gafthöfen noch in den Privathäuiern ein Unter-
fommen finden konnten, campirten unter Zelten im Freien,
und die öffentlihen Gärten und Promenaden waren in Bibuaks
und Sclafftätten verwandelt. Im Chälons nahm die Kaiferin,
wie eine zweite Maria Therefia, die Revue der Lagerarmer,
gegen 27000 Mann, ab und vertheilte Ehrentreuze uud Mes
daillen; Überall mifchte fih in die Acclamationen „Vive l’Im-
peratrice, vive le Prince Imperial!‘ der Zuruf: „Vive la
heroine d’Amiens!" — eine Anfpielung auf die nenlidge Heife
der Gefeierten nad Amiens zum Beſuch der dortigen Chofera-
kranken. Stundenlang dauerten jeden Vormittag die Öffentlichen
Audienzen, zu denen jeder zugelaflen wurde: die herzgewinnende
Freundlichkeit der Kaiferin, die auf jede Anrede eime pafſſende,
gemüthoolle Antwort hatte, verfcheuchte oft dergeftalt bie Eti⸗
fette, daß Männer und Frauen aus dem Boll ihr bdreift die
Hand gaben oder den Prinzen umarmten, der auch feinerfeits
Heine Reden bielt, d. h. ihnen von Paris erzählte und fie iu
die Tuilerien einlud. Bei der kirchlichen Feierlicjfeit in Nancy
wurde eine Pracht entfaltet, wie man fie, nach Berfidderung
bon Augenzeugen, in Notredame felbft bei folcheu Gelegenheiten
nie ſchöner und glänzender geſehen; fünf Bifchöfe mit zahls
reichem Gefolge umgaben den Erzbifhof von Paris, und nit
weniger als fehshundert Priefter vom hohen und niedern Klerus
waren gegenwärtig. Die Kaiferin ift nad) wie vor für die fran-
zöfiſche Geiftfichkeit bie große und einflußreiche Bermittlerin
zwiichen Rom und dem ZTuileriencabinet.
Wenn der Kaifer in Vichy iſt, präfibirt die Kaiferin
dem Miniſterrath:
Zwei Minuten genügen, um den Herrn Gemahl von allen
Beichlliffen in Kenntniß zu feßen, und zwei andere Minuten,
um feine Antwort zu erhalten. Wenn der erfie Napoleon ſolche
eiftige Commmnicationsmittel gehabt hätte! Der Neffe hat fein
rbeitszimmer in Saint-Cloud ganz mit den alten Möbeln
feines großen Oheims einrichten laſſen; der Schreibtifch mit
den grünbefchirmten Bronzecandelabern ift derfelbe, die präd-
tige Pendule, eine Erdlugel, auf welcher der Senfenmann Chro-
no8 die eilenden Stunden anzeigt, beögleihen; aber wenn er
Leben bätte, der alte, vergoldete, bärtige Gott, fo würde er
fid) gewaltig verwundern über das, was man jet in einer
einzigen feiner Minuten, oder gar feiner Stunden abmadıt.
Und Batte der Kaifer nicht ganz recht mit feinen Worten beim
fetten Montagsempfang der Kaiferin, an eben jenem Xage, wo
[9 die Börfe beim endlichen Ausbruche des Kriegs wie eine
erzweifelnde geberdete: „Ich begreife wirklich nicht, weshalb
wir in Paris nnd in Frankreich nicht ruhig und guter Dinge
fein follten, wenn fih aud die andern da drüben im den
Ebeling’8 Skizzen aus Paris.
Haaren liegen?‘ Er konnte dies librigens leicht fagen, denn er
hatte vermutblich Teine fälligen italienifchen Coupons.
Auch die Illuminationslämpchen der Anekdote werden
angeftedt, um das Bild der Saiferin jo glänzend wie
möglich hervortreten zu lafjen:
Im Theätre du Gymnafe wird feit einiger Zeit ein neues
Schauſpiel von Gondinet gegeben: „Le Eomte Jacques.‘ Gon-
dinet ift nur ein eines Kerzchen im Vergleich zu dem großen
Gaskronlenchter Augier; aber feine Städe find dafür anfländi-
ger und fehr amufant. Im „Comte Jacques‘ bat namentlich
ein junges Landmädchen eine niebliche Rolle. Das ganze Un-
glück der Kleinen ift, Teine 1000 Franken zu befigen, um hei⸗
rathen zu können; denn fo viel verlangt der Bater ihres Ge-
tiebten al® Ausſteuer. Die Noth und die Klagen des armen
Kindes find fo natürlich und allerliebft, daß die Schaufpielerin,
noch dazu eine junge Debutantin, durch ihr naives, hübſches
Spiel allgemeinen Beifall erntete. „Wenn nicht anders‘, fo
heißt es in ihrer Rolle, „ſo gehe ich in die Elyſeiſchen Felder
und warte, bis die Kaiſerin vorbeifährt. Dann werfe ich ihr
meine Bittfchrift in den Wagen. Sie ift ja fo reich und fo
gut; fie kann mir leicht die taufend Franken geben. Alle Blicke
richteten fih bei diefen Worten auf die kaiſerliche Loge; denn
die Majeftäten wohnten zufällig der Borftellung bei. Die Kai⸗
ferin lächelte und midte der Meinen Bäuerin freundlich zu.
Während des Zwifchenactes fh fie den Director zu ſich bitten
und erfundigte fi) nah der Debutantin. Die Auskunft war
fehr befriedigend: die angehende Künſtlerin ift die Tochter einer
unbemittelten Witwe und unterflügt mit ihrer Gage die Mut⸗
ter und einen jüngern Bruder. „In diefem Falle”, jagte Ihre
Majeftät, „grüßen Sie doch die Bäuerin von mir und melden
ihr, daß ich ihre Bittfchrift angenommen babe und ihr die fo
ſehnlich gewünſchten taufend Franken ſchenke.“ Am andern Mor-
en brachte ein kaiſerlicher Lakai der Kleinen die Summe. Die
roßen und Reichen biefer Erbe haben es freilich fehr leicht
und billig, Ontes zu thun; aber es kommt aud) noch auf die
Art und Weife an, wie file es thun, umd darin kann die Kair
ferin wirklich als Muſter dienen. Ich für meine Berfon wünſche
jest nur nod), daß die Heine Bäuerin auch in Wirklichkeit einen
Schatz habe, ben fie num heirathen kann, ſchon weil mir eine
verheirathete Schaufpielerin lieber ift als eine ledige.
Unter der Ueberfchrift: „KRaiferliches Amufement”, wird
uns bie folgende Anekdote erzählt, die fiir den faft tür:
fischen Dienfteifer der kaiſerlichen Behörden ein rühmliches
Zeugniß ausftellt:
Wenn man ein hoher Herr ift, oder gar der allerhödifte
im Lande, jo bat man oft die originelliten Amnfements und
Ueberrafchungen. Dahin gehört die Meine Geſchichte von den
acht Bäumen, die dem Kaifer kürzlich in höchfteigener Perſon
paffirt iſt. Er machte nämlich vor feiner Abreije nad) Biarrit
der Prinzeffin Elotilde einen Abichiebsbefuh im Palais-Royal,
nachdem er ben Neubau der Zuilerien infpicirt hatte. Im
Borbeifahren wirft ber Kaifer einen Blic auf den neuen, gerade
vollendeten Plag vor dem Theätre francais, wodurch die ſüd⸗
weftliche Seite des Palais⸗Royal frei geworben if. Se. Ma⸗
jeftät läßt den Wagen einen Augenblid anhalten und fagt zum
General Fleury, der ihn, wie faft immer, begleitet: „Der Plat
ift hübſch, aber etwas kahl; man hätte dort recht gut einige
Bänme binpflanzen lünnen. Weiter fagt der Kaifer nichts und
fährt hinein in den Hof bes Palaftes, macht feinen Beſuch und
nimmt fogar, als außerordentliche Gnade, die Einladung feines
Betters an und bleibt zu Tiſche. Alfo ganz wie ein gewöhn⸗
fiher Bürgersmann; vielleicht daß er gar nad Saint-Eloud
geihict Hat, nm der Kaiferin fagen zu laſſen, fie folle nit
mit der Suppe anf ihn warten, er fei fonftwo eingeladen und
dinire in Paris. Nach der Zafel, gegen 8 Uhr, vermuthlid
bei einer Taſſe Kaffee mit einer Cigarre, tritt der Kaifer, wie
von ungefähr, auf den füdmeftlichen Balkon hinaus und [haut
hinab auf den erwähnten freien Blat. Aber diefer ift wie durch
ein Zauberwort verändert: acht hohe ftattliche Bäume fliehen zu
beiden Selten; man pflanzt gerade noch dem letzten, und die
627
Arbeiter bringen dem Kaifer, den fie recht gut erkennen, ein
lautes Lebehoch. Dieſer läßt fogleih durch die Lakaien einige
Dugend Flaſchen Wein Binabtragen, die vermuthlich fein Ge⸗
. wäds aus Suresne oder Puteaur waren, und num geht das
Anftoßen und das Vive l’Empereur! dort unten los, ale wenn
e8 der 15. Augufi wäre. Die Borlibergehenden bleiben neu-
gierig ſtehen, zu Hunderten und Zaufenden, denn die dortige
Gegend ift eine der belebteften von ganz Paris, und fein Menſch
weiß, was dieje Bacchanalie zu bedeuten hat. Am nächften
Morgen lieft man die Geſchichte in den Zeitungen und madt
dem General Fleury ein Compliment Über jeine Aufmerkfamteit,
ohne ſich indeß weiter den Kopf zu zerbrechen, wie es möglich
gewefen ift, diefe ‚„„Decorationsveränderung‘ fo fchnell zu be=
werfteligen. Dem Lejer will ich fie aber doch Tieber mit zwei
Worten erflären. Eine fofortige ittbeilung Fleury's an Mon-
sieur Alphand, inspecteur general des embellissements de
Paris (ein Dann, fo gejhidt, wie fein Zitel lang ifl), und
bie Weilung, daß man ihm höchftens drei Stunden Zeit lafſe.
In drei Stunden kaun aber Monfieur Alphand viel thun. Nach
ehn Minuten ift der Platz bereits abgeiperrt und ein Meines
egiment Arbeiter erſcheint; je zwölf Dann graben eins der
acht tiefen Löcher, in welche die Bäume gepflanzt werden fol-
Im. Im faum einer Stunde find die Löcher fertig. Ein an-
beres „Regiment“ hat mittlerweile in der Baumſchule der Tui»
lerien acht große Kaftanienbäume ausgegraben, & zwanzig Mann
für jeden Baum, ebenfalls das Werk einer Stunde. Darauf
erfcheinen die zu dieſem Behufe conftruirten Wagen und heben
mit ihren Ketten, Stangen und Rädern die Biume ſammt dem
fie umgebenden Erdreihe heraus und fahren fie durch die Aue
de Rivoli hinüber nad) ihrem neuen Wohnplatze. Monfieur
Alphand, zu Pferde, fprengt wie ein General ab und zu, come
mandirt, treibt zur Eile an und hält dabei die Uhr in ber
Hand: er hat nur noch 50 Minuten; aber frhon iſt der erfte
Baum gejegt und nad weitern 20 Minuten bie übrigen.
Schnell werben die Löcher. zugeworfen, der Plat wird geebnet
und gefänbert, und die „Regimenter“ ziehen mit ihren Haden,
Spaten und Schaufeln Ieife wieder ab, wie fie gelommen.
Monfleur Alpband hat noch Zeit, in der Mitte des Plates
einen venetianijchen Maft mit wehenden Tricoloren aufzurichten
und die Paffage wird wieder freigegeben, als wenn gar nichts
paiftrt wäre. Da öffnen ſich aber auch fhon oben die Balkon⸗
thliren — e8 war mithin die höchfte Zeit, denn die leßten zwanzig
Arbeiter waren, wie gejagt, noch am adıten Baume beichäftigt,
zum Aerger freilich des Imfpectors, aber zur Beruhigung des
Kaifers, der denn doc jah, daß alles mit natürlichen Dingen
jugegangen war.
Der Beſuch des Königs von Preußen in Compiegne,
ein Beſuch, den Napoleon III. bisher nicht erwidert hatte
und jest auf Wilhelmshöhe als unfreimilliger Gaſt des
Königs ſehr gegen feinen Willen erwidert, gewinnt in
folder Beleuchtung durch die Ereigniſſe der jüngften Zeit
ein erneutes Intereffe. Ebeling fam einen Tag nach dem
Beſuch des Könige nah Compiegne und murde durd)
einen Caftellan in das Schloß hineingefchmuggelt:
So ging id denn keck die breite escalier d’honneur hin-
auf, eine prächtige Doppeltreppe ganz aus weißem Marmor,
auf der ſich der roth-geflammte Teppich wunderſchön ausnahm.
Im großen Empfangsſaale war noch alles wie an jenem Abende,
wo ihn der König von Preußen mit der Kaiferin am Arme
zuerft betreten. In den hohen koſtbaren Vaſen die feltenften
ausländifhen Blumen, die man aus den botanifhen Gärten
von Marfeille, Lyon nnd Paris mit großen Koften und noch
größern Umftänden hatte kommen laffen; die Vaſen jelbfl,
mande mit ihrem Unterfaße aus Goldbronze gegen 10 Fuß
hoch, und die Gemälde auf einigen im Werthe von über
20000 Frances, kurz, das Reichſte und Schönfte, was Stores
je geliefert; die Gobelins ferner an den Wänden, lebhafter und
ausbrndevoller als die Rubens'ſchen Gemälde im Loupre,
und bie Hinterwand des Saals in ihrer ganzen Höhe und
in ihrer halben Breite eim einziger ungeheuerer Spiegel;
rechts und links bis hinauf an ben goldenen Fries der Dede
79 *
——
628
bluhende Topfgewachſe: Farbenglanz, Blumenduft, Reid-
thum, Eleganz — man meinte, alle Schlöffer Frankreichs
hätten ihr Schönſtes und Koftbarftes hergefandt, dieſen einen
Saal anszufgmüden. Und nun denke man fi diefen Raum,
belebt von mehr als dreifundert Berfonen ber höchſten Ständel
Schimmernde Uniformen und bligende DOrdensflerne, Gold»
Ridereien und eberhilte, und dann die Damentoiletten in
Sammt und Spigen, und die Hauptſache! die Juwelenpracht,
vorzüglich die Diamanten, alles im feuer von mehr als zweie
taufend Kerzen — furz, der Empfang des Königs muß wunder»
vol gewefen fein. Und ein Etwas fam hinzu, das diefen Em⸗-
pfang vor allen Übrigen ausjeihmete, die der Kaiſer Napoleon
ſchon andern gefrönten Häuptern bereitet hat. Das waren bie
feinen Aufmerfjamkeiten und zarten Rüdficten für ben könig -
lien Gaft, die fi überall fundgaben, ohne die geringfte
Prätenfion und wie abfichtslos, die aber den König felbft, der
fie fofort verſtand, erfrenten umd rührten. &o die Vorliebe
des Königs für Blumen, für gewifſe Mufitfüde und Opern-
texte m. few. Die ganze Terrafje vor den königlichen Gemädhern
war in einen Blumenflor verwandelt, wie eben nur die kaifer-
lien Zreibhäufer einen ſolchen aufgpweifen haben; man hatte
die Orangen und Granatbäume im Sreien gelaffen, fodaß
man fi mitten im Sommer glaubte, und das herriichſte Wet»
ter begünfigte die Täufhung. ud; in das Schlafimmer
wagten wir uns Binein: alles in Blau, „la couleur de la
Prusse‘, fagten die parifer Feuilletons pathetiſch. Auch die
Hofdamen jollen an jenen Tagen viel Blau in ihrer Toilette
getragen haben, mas fogar einzelne Oppofitionsblätter auf
eigenthümliche Weife commentirten, ale wäre man in der Eour«
toifle zu weit gegangen. Cine große Albernheit, fofort einige
blaue Bänder und Kleider eine polinſche Rolle fpielen zu Laffen,
aber echt frangdflich! Der alte Frangoiß ging nod; mit mir in
das Privatcabinet des Königs, eim alleriichfte® Boudoir, ganz
mit veilhenbfauem Sammt ausgeſchlagen; an den Wänden
reizende Medaillons aus Stores, der Plafond aus farbigen
Kryftallplatten zufammengefet, der Kronleuchter aus getriebe»
nem Silber. Auf dem prädtigen Bureau ftand noch das file
berne Schreißgerätg, und ein paar gewöhnliche Federn lagen
in der Achatmufcel. Ic konnte der Berfuhung nicht wider»
fehen, mir eine diefer Federn anzueignen, zumal ihre mit
Tinte gefchwärzten Spigen augenf—einfid, bewiefen, daß, man
ich ihrer bedient Hatte. Mein Führer fächelte, als ich heimlich
und verfioßlen eine jener Federn in die Brufttafde meines Rode
edte, und Kieß den unfgufdigen Diebftahl ruhig geichehen.
Sehr fpärlih find die Silhouetten franzöfifcher Ab-
ggocbneter und Staatsmänner in ben beiden Bänden.
ur ein Befuc im Corps legislatif gibt eine Heine Aus-
beute an parlamentarijchen Porträts:
Tags zuvor hatte Thiers geſprochen und ebenfalls reiche
Lorbern geerntet. Thiers if wirklich ein Phänomen, wenig-
ſteus eim oratoriſches. Seine Stimme ift troß feines hohen
Alters umd feines zarten Körperbaues fräftiger, Marer und ein⸗
dringlier denn je. Wenn er fpricht (matlirlich bei einer Stille,
daß man eine Fliege im Saale jummen hören könnte), fo Hin»
gen die Worte deutlich und fharf bis in die entlegenften Eden;
man verliert nicht ein einziges Wort. Bon ihm gilt, wol mehr
als von irgendeinem andern Rebner, der Ciceroniſche Ausſpruch:
„Er beherrjäit fein Aubitorimm.“ "Dabei geficufiet er lebhaft
und viel, feine Augen bligen, die ganze Heine Figur ift Leben
und Feuer. Auf feinem Plage iſt er ebenfalls in fleter Ber
mwegung, aber den Blick immer auf die Tribline gerichtet; No»
tigen macht er faſt gar nicht. Nur manchmal ſchnellt er im die
Höhe: „Je demande la parole!" Dann wenden fi unmill-
Mrlich alle Koͤpfe nach feiner Seite. — Yufes Favre if der ernfe,
ſtrenge, unerbittlihe Cato, wozu fein bitterböfes Geſicht und
feine harte, obwol fehr verfländlie Stimme nit wenig bei«
trägt. Wenn er auf ber Tribüne fiet, mit feiner flarten,
großen Figur, dem wilden, bufchigen Haar, während der Rede
gewöhnlich den einen Arm drohend emporgehoben, wie wenn
er ein Schwert barin hielte, fo meint man einen Griminalrichs
ter zu fehen und erfchridt. Cine Toga, einen ehernen Seſſel
Ebeling's Skizzen aus Paris.
und im Hintergrunde die dumfeln Fluten des Styr: fo dachten
fi die Alten die Richter der Unterwelt. Daheim, im Schos
feiner ie foll Jules Favre ein liebenswürdiger, heiterer Ge-
felfchafter fein und fogat Verſe maden. Mid erinnert er da»
bei flets an Meperbeer. — Berryer if in diefem Jahre fehr alt
geworden, feine Stimme hat etwas Schwanfendes, Zitterndes;
aber feine ehrmürdige Erſcheinung erwedt ftetß diefelbe herzliche
Sympathie: er ift der Ehrenmann ohne Furt und Tadel,
charalterfeſt und Üübergeugungstren, und al reis doppelt ehr-
würdig. Große Senjation machte es, al® Berryer nad der
Thiero ſchen Rede aufftand, feinem Gegner die Hand drüdte und
ihn fat umarmte; er, der freund des Grafen Chambord, dem
ehemaligen Minifter Ludwig Philipp’s! — Glais + Bizoin ſict
mittlerweile und kramt und fichtet in einem Wuſt von Papie-
ren, motirt viel und wirft vom Zeit zu Zeit eine ſpitze oder
biffige Bemerkung in die Debatte. Größere Reden hält Glais-
Bizoin mur felten; aud hat er ſchon feit dem vorigen Jahre
viel von feiner frühern Bedeutung verloren. Die ehrlichen
Bretonen, feine Wähler, find ihm gram, weil er die Bermin-
derung der Tabadspreife nicht, wie er e8 ihmen damals ver-
ſprach, durchgefegt hat. Als wenn das möglich, gewejen wäre!
In der Bretagne dürfte er deshalb wol nicht wieder gewählt
werben, aber dafür in Paris jelbft nicht geringe Chancen ha-
ben. — Diggt neben ihm fügt Sarnier-aget, ein Mitglied der
proviforifhen Regierung von 1848 und in mehr als einer Ber
ziehung ein Geitenftüd zu Jules Favre. Auch feine Mede
(natürlich gegen die römiſche Expedition) fiel noch im die erfte
Decemberwode und machte viel böfes Blut. Er nannte ſich
File und faut ein Kind der Revolution und apoftrophirte den
inifter Rouber mit den kecken Worten: „Was find Sie denn
anders, und was können Sie anders fein?’ Die Herren von
der Linken geniren ſich nicht, wie man fieht, das Ding beim
echten Women zu nennen; aber s mic ipnen and gut zud«
gegeben. .
Auch die literariſchen Porträts find fpärlich in dem
Werke verteilt. Ebeling hat feine Antipathien, zu die
fen gehören natürlich Gegner ber Kirche, wie Victor Hugo
und Erneft Renan. Bon den „Travailleurs de la mer jagt
er, daß fie ald Roman weit hinter den „Miscrables” zu«
rüdftänden. Der bleibende individuelle Eindrud hafte auch
nit an dem Buche jelbft, fondern wende ſich auf die
Perſon des Berfafiers, der in dem dämoniſchen Zwielichte
hier eines überfpannten, bort eines irrfinnigen Greijes
erſcheine. Ebeling citirt Edmund Abont, welcher die
„Miserables“ als Zigerbraten mit Weinfauce arafterifirte
und von den „Travailleurs de la mer“ gejagt haben foll:
„Sanct- Johannes und Polichinell, d. h. die Apofalypje
auf einem Puppentheater”. Nenan wird ein „phrajen«
großer” Mann genannt, feine Werke „romantiſche Schrei»
bereien“, welche bald genug das Miniaturſchickfal ereilen
werde. Dabei wird die folgende Anekdote erzählt:
Die Reife dürfen wir nicht mnerwähnt lafjen, die Reman
im verfloffenen Hecht nad) Baläfina und Syrien gemach Hat,
um an Ort und Stelle nod; verſchiedene Nachforſchungen zur
haften. In Damaskus wird er von Abd-el-Kader gaſtlich auje
genommen, nud der Emir bringt alsbald das Gejpräd auf das
„Leben Zeju”. „‚Kennen Sie denn das Buch?“ fragt Renan
erftaunt. „Ob ic es kenne?“ ruft Abd-el- Kader; „ich habe
es wenigfiens zehnmal durchgeleſen, und das nicht allein, denm
ih habe es auch von Anfang bis zu Ende mit Anmerkungen
verſehen.“ Dabei zeigt er ihm den Band, der aud wirklich,
vol von Notizen if. „Das Merkwürdigſie dabei’, fligt der
Beriterftatter hinzu, „if der Umſtand, daß der Emir das
dergeftalt anmotirte Werk heranszugeben gebentt.‘
Wenn Bictor Hugo und Renan für Ebeling „Nullen“
find, fo Hat man ein Recht, ſich nad) feinen „Größen“
umzufehen. Glüdlicherweife begegnet uns alsbald Louis
Benillot mit feinen „Odeurs de Paris“, ein „böjer Mann“
Ebeling’s Skizzen aus Paris, 629
mit einem „böfen Buche”, welches dennoch als bedeutende
Erfcheinung begrüßt und einer Kritif, die e8 „herausfor-
dert”, auf mehrern Bogen gewürdigt wird. Ebeling ift
zwar der Meinung, daß es in Paris noch immer nicht
jo ſchlimm ausfieht, wie es Veuillot jchildert. Er ver-
gleicht jein Wert mit dem trübgelben hochgejchwollenen
Seinefluß, darüber den dunkelgrauen melancholiſchen Wol⸗
fenhimmel, und endlofen Schmuz in allen Straßen; er
vermißt darin den blauen Himmel und Sonnenſchein, den
man doc auch in Paris begrüßen kann. Im Grunde
aber ftimmt er mit dem fcharfen, unerbittlichen Logiker
Beuillot fehr überein in dem Urtheil über Zuftände und
Perfönlichkeiten.
Nicht in dem politifchen und Literarifchen Porträt find
die Borzüge des Ebeling’schen Werks zu fuchen, fondern
mehr in einer intimen Oenremalerei aus dem Volksleben
und in ber Fülle mitgetheilter Anekdoten aus der parifer
Geſellſchaft.
Zu den echten pariſer Größen gehört die Alcazar⸗
Diva Teéreſa. Dergleichen Erſcheinungen können nur in
einer Zeit vorlommen, in welcher ein Raffinement herricht
wie in der Herenwelt, wo „schön häßlich“ und „häßlich
Schön" ift, wenn wir nämlich zwei großen Dichtern wie
Shaffpeare und Schiller glauben dürfen:
Die Sängerin Terkfa, die faum den Namen einer Sän⸗
gerin verdient, hat weder Talent noch Stimme, ift weder ſchön
noch gebildet, und machte und macht dennod allabendlich ein
zum Erdrücken und Erfiiden volles Haus, bei dreifach erhöhten
Eintrittspreifen, trog Pfeifen» und Cigarrenqualm, und Bier
und Punſch; beides, Tabad wie Getränt noch dazu von der
letzten Sorte. Und die Löſung dieſes Räthſels? Sie ift einfach,
ja für den, der Paris und die Parifer kennt, ift es gar fein
Räthſel. Große Sängerinnen hat man längft gehabt. Laſſen
mir daher einmaf eine Sängerin auftreten, die eben feine ift,
die dabei aud nicht ſchön, jondern häßlich, nicht graziös, ſon⸗
dern plump ift, die ftatt des feinen Spiels jchlechte Manieren
hat, und legen wir ihr fehließlich flatt zarter Verſe unjaubere,
zweideutige Bänkelfängerlieder in den Mund... mer weiß, mer
weiß, wir könnten vielleidht renffiren. Weiter nichts? entgegnet
man und Dergleichen Subjecte gibt e8 auch anderswo, und
in den Kneipen und Zanzlocalen Tester Klaſſe kann man ſolch
fümmerlihe Waare in allen Städten autrefien und braucht des-
halb nicht nach Paris zu gehen. Das wohl, aber das findet
man in feiner andern Stadt der Welt, daß eine ſolche „Künſt⸗
lerin“ Mode wird und Epoche madt, und daß man ihren Ra-
men mit Popularität wie mit einem Nimbns umgibt.
Doh auch ein vornehmes Publitum kommt in die
Räume des Alcazar, um die Diva zu bewundern:
Schon Petron erzählt uns, wie zur Zeit der Decabenz bie
vornehmen Römerinnen heimlich und verkleidet in zweideutige
Häufer gingen, um den Orgien der Freigelaffenen zuzufchauen.
Sollen doch fogar die Herren und Damen den Kaijer gebeten
haben, die Tereſa nad; Compiegne kommen zu laffen, und wer
weiß mas geichehen wäre, denn Se. Majeftät ift überaus
liberal gegen feine Gäfte und gewährt ihnen, wie Girardin
fürzlich Togte., alle die Freiheiten, die er dem franzöfifhen Bolfe
entzieht. Aber die Kaiferin legte mit ihrem gewöhnlichen Takt
ein energiſches Veto ein. Dürfen wir uns nad) folchen Vor⸗
gängen Über die hochrothgefürbten Haare der Loretten und Über
ihre blau ober grün angemalten Schoehunde, beides ebenfalls
Errungenfcaften der Demi- Monde aus den verflofjenen Jah⸗
ren, wundern? Auch in diefer Beziehung können wir einen
römiſchen Schriftfteller citiren, Suvenal, der von einem Decret
berichtet, welches allen feilen und Teichtfertigen Weibern Roms
befahl, ihre Haare roth zu färben. Bon den Hunden fagt
Auvenal nichts; aber etwas müſſen wir Modernen doc auch
vor den Alten voraushaben. Das Repertorium der Tereja wird
man mir wol in feinen Details erlaffen. Ein Sappeur, der
in eine Köchin verliebt if; ein Tambour⸗Major, ber von feiner
Heinen Daitrefie geprügelt wird; ein Droſchkenkutſcher, der ein
verliebtes Baar in die Rue de Paradis fahren foll, aber dem
Weg verfehlt und im der Rue d’Enfer anlommt — daß find die
Bravourarien der Diva des Alcazars, die für jede Rolle eine
befondere Stimme hat, die Weiber zumeift dur die Fiftel
fingt und für die Männerpartien einen nie dagemwejenen Alt
entwidelt. Die Geften und Stellungen entfprechen natürlich
dem Gefange, und der unvermeidlihe Cancan, in höchſter
Rigolboche⸗Vollendung, bildet jedesmal den Schluß.
Es ift fiir einen Berichterftatter nur ein Schritt von
ber Terefa bis zur Fürſtin Metternich; denn beibe machen
gleich viel von fich fprechen. Ein Eulturbiftorifer des se-
cond empire wird den Abfchnitt „über die Frauen’ mit
der Raiferin beginnen und dann der Fürſtin Metternich,
die fi zu einer parifer Berühmtheit acclimatifirt hat,
ebenfo wie der Alcazar- Diva ein befonderes Kapitel wid-
men müſſen. Ebeling berichtet über einen Maskenball bei
der Fürftin:
Die Fürſtin Metternich, welche in ber diesjährigen Saifon
mehr ale je den Ton angibt, hatte eine ganz eigenthlimlidye
Geſellſchaft geladen: die Herren einfach im rad, wie zu einer
gewöhnlichen Soirde, und die Damen im Domino und mas⸗
fir. Es wurde weder getanzt, noch Muſik gemadt, nod
Theater geipielt, wie fonft bei folchen Gelegenheiten. Die
Herren führten vielmehr die unbelannten Damen in den Sälen
und Galerien umher; man jeßte ſich in den verſchiedenen Sa-
ons zu einer Cauferie nieder; man intriguirte und wurde in-
triguirt, und infofern wurde allerdings Theater gejpielt, denn
es follen fich dort die feltfamften und fpaßhafteften Scenen zu-
getragen haben. Auch der Kaifer war gegenwärtig; und in
einem blaßrothen Domino, dem man Überall ehrerbietig Platz
machte, vermuthete man .die Kaiferin. Aber die Herren find
der Fürftin troß des amufanten Abends fehr gram geworden.
Denn man denfe fi die Enttäufhung, als beim Souper, das
jeder als den glüdlihen Moment herbeifehnte, wo endlich die
Masten fallen und alle Räthſel fich Idfen würden, dies eben
nit gefhah, fondern jämmtlide Damen masfirt blieben und
ihre zierlichen florfeidenen Halbmasten, die fie nit am Eſſen
und Trinken binderten, noch fefter banden, um nidt erfannt
zu werden. Man fand diefe Prüfung zu hart, und es märe
faft zu einer Verſchwörung gelommen, wenn nicht die Damen
durch verdoppelte Liebensmärdigleit die armen Getäufchten mit
dem allzu ftrengen Incognito verföhnt hätten. Daun fam nod)
der tröſtliche Umſtand Hinzu, daß jedem Gaft für die nächfte
Woche eine Einladung zu einem großen Concert in der Am-
baſſade zugeftellt wurde, mo fi dann diejelbe Gefellfchaft von
Angefiht zu Angefiht fehen folltee Da war man denn wol
gezwungen, fich zu fügen, und lonnte doch wenigftens um eine
Hoffnung reiher nad Haufe fahren; aber der Fürftin Metter-
nid muß man das Privilegium lafien, daß fie fih auf Erfin-
dung pilanter Situationen verfteht.
Andere Kapitel zur Charalteriftif der Frauenwelt unter
Napoleon IH. bringen die Skizzen: „Eine Lorettengräfin
vor Gericht“, „Schon wieder ein Lorettenproceß“, „Ein
Heirathsbureau“, „Eine Damenfchneiderrehnung”. Eine
Beichreibung des im Jahre 1866 modijchen „chapeau
Lamballe” lautet:
Er ift nicht viel größer ala ein Barbierbecken, d. h. als
ein Meines; und ein ſolches würde auch fehr gut die pafjende
Form bieten, natürlich mit weißem oder roſa Tüll überzogen
und mit Pfauenfedern garnirt; zu beiden Seiten fallen die mehr
al8 zwei Dieter langen und mehr als einen Fuß breiten (ich
übertreibe um feinen Zoll), buntgeflammten Atlasbänder herab,
die ebenfalls mit Meinen Tüllpuffen und Pfauenfedern eingefaßt
find. Das ift der chapeau Lamballe. An fi, Jelbſt in der
pariſer Zoilettenwelt, die ja ſtets die ercentrifchften Dinge er»
findet und verbreitet, Fein großes Ereigniß; aber die begleitenden
%
DIL EHI ** I7* az TB TE ET J
5, „"... Kan . . " . fun tn i
628 Ebeling’s Skizzen aus Paris.
blühende Topfgewächſe: Farbenglanz, Blumenbuft Reich⸗
thum, Eleganz; — man meinte, alle Schlöfſer Frankreichs
hätten ihr Schönſtes und Koſtbarſtes hergeſandt, dieſen einen
Saal auszuſchmücken. Und nun denke man ſich dieſen Raum,
belebt von mehr als dreihundert Perſonen der höchſten Stände!
Schimmernde Uniformen und blitzende Ordensfterne, Gold⸗
ſtickereien und Federhüte, und daun die Damentoiletten in
Sammt und Spitzen, und die Hauptſache! die Juwelenpracht,
vorzüglich die Diamanten, alles im euer von mehr als zwei⸗
taufend Kerzen — furz, der Empfang des Königs muß wunder-
vol gemeien fein. Und ein Etwas fam Binz, das diefen Ems
pfang vor allen Übrigen auszeichnete, die der Kaifer Napoleon
Ihon andern gefrönten Häuptern bereitet hat. Das waren die
feinen Aufmerffamfeiten und zarten Rüdfichten für den könig⸗
lichen Gaſt, die fi überall kundgaben, ohne bie geringfie
Prätenfion und wie abfichtslos, die aber den König felbft, der
fte fofort verfland, erfreuten nud rührten. So die Vorliebe
des Königs für Blumen, für gewiffe Mufikſtücke und Opern-
terte u. |. w. Die ganze Zerraffe vor den königlichen Gemädern
war in einen Blumenflor verwandelt, wie eben nur die faifer-
lichen Treibhäufer einen ſolchen aufzuweiſen haben; man hatte
die Drangen- und Granatbäume im fsreien gelaffen, fodaß
man ſich mitten im Sommer glaubte, und das herrlichfte Wet⸗
ter beglinftigte die Täuſchung. Auch in das Schlafzimmer
wagten wir uns hinein: alles in Blau, „la couleur de la
Prusse”, fagten die parifer Feuilletons pathetifh. Auch die
Hofdamen follen an jenen Tagen viel Blau in ihrer Toilette
getragen Haben, was fogar einzelne ÖOppofitionsblätter auf
eigenthämliche Weiſe commentirten, als wäre man in der Cour⸗
toifie zu weit gegangen. Cine große Albernbeit, fofort einige
blaue Bänder und Kleider eine politifhe Rolle fpielem zu Laffen,
aber echt franzöſiſch! Der alte François ging nod mit mir in
das Privatcabinet des Königs, ein allerliebftes Boudoir, ganz
mit veilhenblauem Sammt ausgefhlagen; an den Wänden
reizende Medaillons aus Stores, der Plafond aus farbigen
Kryftallplatten zufammengefettt, der Kronleuchter aus getriebe»
nem Silber. Auf dem prädtigen Bureau fiand noch das file
berne Schreibgeräth, und ein paar gewöhnliche Federn lagen
in der Achatmuſchel. IH konnte der Verſuchung nicht wider»
ftehen, mir eine diefer Federn anzueignen, zumal ihre mit
Tinte gefhwärzten Spiten augenſcheinlich bewielen, daß man
fi) ihrer bedient hatte. Mein Führer lächelte, als ich heimlich
und verftohlen eine jener Federn in die Brufttafche meines Rode
fiedte, und ließ den unfchuldigen Diebftahl ruhig gefchehen.
Sehr fpärlih find die Silhouetten franzöfifcher Ab⸗
geordneter und Staatsmänner in den beiden Bänden.
Nur ein Beſuch im Corps Legislatif gibt eine Kleine Aus-
beute an parlamentarifchen Porträts:
Tags zuvor hatte Thiers gefprochen und ebenfall® reiche
Lorbern geerntet. Thiers ift wirklich ein Phänomen, wenig-
ften® ein oratoriſches. Seine Stimme ift troß feines hohen
Alters und feines zarten Körperbaues fräftiger, klarer und ein-
dringliher denn je. Wenn er fpricht (natlirlich bei einer Stille,
dag man eine Fliege im Saale fummen hören könnte), jo Hin-
gen die Worte deutlich und fcharf bis in die entlegenften Eden;
man verliert nicht ein einziges Wort. Bon ihm gilt, wol mehr
als von irgendeinem andern Redner, der Ciceroniſche Ausſpruch:
„Er beberricht fein Auditorium.” Dabei gefticulirt er lebhaft
und viel, feine Augen bligen, die ganze Meine Figur ift Leben
und Feuer. Auf feinem Plage ift er ebenfalls in fleter Be
wegung, aber den Blid immer auf die Zribline gerichtet; No⸗
tizen madıt er fa gar nidt. Nur manchmal ſchnellt er in die
Höhe: „Je demande la parole!“ Dann wenden fi unmwill-
kürlich alle Köpfe nach feiner Seite. — Jules Favre iſt der ernfte,
firenge, unerbittliche Cato, wozu fein bitterböfes Gefiht und
feine Harte, obwol ſehr verfländlihe Stimme nicht wenig bei-
trägt. Wenn er auf der Tribline fieht, mit feiner ftarfen,
großen Figur, dem wilden, bufchigen Haar, während ber Rede
gewöhnlich den einen Arm drohend emporgehoben, wie wenn
er ein Schwert darin hielte, fo meint man einen Eriminalrichs
ter zu fehen und erfhridt. Cine Toga, einen ehernen Seffel
und im Hintergrunde die dumfeln Fluten bes Styr: fo dachten
fi) die Alten die Nichter der Unterwelt. Daheim, im Schos
feiner Familie fol Jules Favre ein liebenswlrdiger, heiterer Ge⸗
jelfchafter fein und fogar Berje machen. Mid erinnert er da-
bei ftets an Meyerbeer. — Berryer ift in diefem Jahre fehr alt
geworden, feine Stimme hat etwas Schwankendes, Zitternbes;
aber feine ehrwürdige Erſcheinung erweckt ftets diefelbe Herzliche
Sympathie: er ift der Ehrenmann ohne Furcht und Tadel,
‚Harakterfeft und Überzengungstreu, und als Greis doppelt ehr-
würdig. Große Senjation madhte es, als Berryer nad der
Thiers'ſchen Rede aufftand, feinem Gegner bie Hand drückte und
ihn faft umarmte; er, der Freund des Grafen Ehambord, dem
ehemaligen Minifter Ludwig Philipp’s! — Glais - Bizoin figt
mittlerweile und framt und fichtet in einem Wuſt von Papie⸗
ren, notirt viel und wirft von Zeit zu Zeit eine fpite oder
biffige Bemerkung in die Debatte. Größere Reden hält Slais-
Bizoin nur felten; auch hat er ſchon feit dem vorigen Jahre
viel von feiner frühern Bedeutung verloren. Die ehrlichen
Bretonen, feine Wähler, find ibm gram, weil er die Vermin⸗
derung der Tabadepreife nicht, wie er e8 ihnen damals ver-
ſprach, durchgefet hat. ALS wenu das möglich geweſen wäre!
In der Bretagne dürfte er deshalb wol nicht wieder gewählt
werden, aber dafür in Paris ſelbſt nicht geringe Chancen ha-
ben. — Dicht neben ihm figt Garnier- Pages, ein Mitglied ber
proviforifchen Regierung von 1848 und in mehr als einer Ye
ziehung ein Seitenſtück zu Jules Favre. Auch feine Rede
(natürlich gegen die römiſche Expedition) fiel nod in die erfle
Decemberwode und machte viel böfes Bint. Er nannte ſich
offen und laut ein Kind der Revolution und apoftrophirte deu
Minifter Rouher mit den keden Worten: „Was find Sie deun
anders, und was fünnen Sie anders fein?" Die Herren von
der Linfen geniren ſich nicht, wie man fieht, da® Ding beim
zechten Namen zu neunen; aber es wird ihnen auch gut zurkd»
gegeben. .
Auch die Literarijchen Porträts find fpärlich in dem
Werke vertheilt. Ebeling hat feine Antipathien, zu bie
jen gehören natürlich Gegner der Kirche, wie Victor Hugo
und Erneft Renan. Bon den „Travailleurs de la mer” fagt
er, daß fie als Roman weit hinter den „„Miserables” zu«
rüdftänden. Der bleibende individuelle Eindrud hafte aud)
niht an dem Buche felbft, ſondern wende fi auf bie
Perjon des Verfaſſers, der in dem dämonifchen Zwielichte
biex eines überjpannten, dort eines icrfinnigen Greiſes
erfcheine. Ebeling citirt Edmund About, welcher bie
„Miserables” als Zigerbraten mit Weinfauce charakterifirte
und von den „Travailleurs de la mer“ gefagt haben fol:
„Sanct = Johannes und Polichinell, d. h. die Apofalupfe
auf einem Puppentheater”. Renan wird ein „phrafen-
großer” Mann genanut, feine Werke „romantifche Schrei-
bereien”, welche bald genug das Miniaturſchickſal ereilen
werde. Dabei wird die folgende Anekdote erzäglt:
Die Reiſe dürfen wir nicht nnerwähnt laffen, die Renan
im verfloffenen Herbft nad PBaläftina und Syrien gemacht hat,
um an Ort und Stelle noch verihiedene Nachforſchungen zu
balten. In Damasfus wirb er von Abd-el-Kader gaſtlich aufe
genommen, und der Emir bringt alsbald das Geſpräch auf das
„Leben Jeſu“. „Kennen Sie denn das Bu?" fragt Renan
erflaunt. „Ob ich e8 kenne?“ ruft Abdrel- Kader; „ich habe
es mwenigfien® zehnmal durchgelejen, und das nicht allein, denn
ih habe es aud von Anfang bis zu Ende mit Anmerkungen
verſehen.“ Dabei zeigt er ihm den Band, der auch wirflid
voll von Notizen if. „Das Merkwürdigſte dabei”, flügt der
BVerichterflatter Hinzu, „ift der Umſtand, daß der Emir da6
bergeftalt annotirte Werk herauszugeben gedenkt.“
Wenn Bictor Hugo und Renan für Ebeling „Nullen“
find, fo hat man ein Recht, fi) nad) feinen „Größen“
umzufehen. Glücklicherweiſe begegnet uns alsbald Louis
Beuillot mit feinen „Odeurs de Paris”, ein „böfer Dann“
Ebeling’s Skizzen aus Paris.
mit einem „böfen Buche”, welches dennoch als bedeutende
Erfcheinung begrüßt und einer Kritik, die e8 „beraudfor-
bert”, auf mehrern Bogen gewürdigt wird. Cbeling ift
zwar der Meinung, daß es in Paris noch immer nicht
fo fhlimm ausfieht, wie es Veuillot fchildert. Er ver-
gleicht fein Werk mit dem trübgelben hochgefchwollenen
Seinefluß, darüber den dunkelgrauen melandolifchen Wol⸗
fenhimmel, und endlofen Schmuz in allen Straßen; er
vermißt darin den blauen Himmel und Sonnenſchein, den
man doch auch in Paris begrüßen kann. Im Grunde
aber ftimmt er mit dem ſcharfen, nnerbittlichen Logiker
Benillot fehr überein in dem Urtheil über Zuftände unb
Perjönlichkeiten.
Nicht in dem politifchen und Literarifchen Porträt find
die Vorzüge bes Ebeling’schen Werks zu fuchen, jondern
mehr in einer intimen Oenremalerei aus dem Volksleben
und in der Fülle mitgetheilter Anekdoten aus der parifer
Geſellſchaft.
Zu den echten pariſer Größen gehört die Alcazar⸗
Diva Terefa. Dergleihen Erfcheinungen können nur in
einer Zeit vorkommen, in welcher ein Raffinement herricht
wie in der Herenwelt, wo „schön häßlich“ und „häßlich
Schön” ift, wenn wir nämlich zwei großen Dichtern wie
Shakſpeare und Schiller glauben dürfen:
Die Sängerin Zerkfa, die faum den Namen einer Sän⸗
gerin verdient, bat weder Talent noch Stimme, if weder fchön
nod gebildet, nnd machte und macht dennoch allabendlidy ein
zum Erdrücken uud Erfliden volles Haus, bei dreifady erhöhten
Eintrittspreifen, trotz Pfeifen- und Cigarrenqualm, und Bier
und Punſch; beides, Tabad wie Getränt noch dazu von der
legten Sorte. Und die Löſung diefes Räthſels? Sie ift einfach,
ja für den, der Paris und die Parifer kennt, if e8 gar fein
Räthſel. Große Sängerinnen hat man Tängft gehabt. Laſſen
wir daher einmal eine Sängerin auftreten, die eben feine ift,
die dabei auch nicht ſchön, ſondern häßlich, nicht graziös, jon-
dern plump ift, die ftatt des feinen Spiels ſchlechte Manieren
bat, und legen wir ihr ſchließlich flatt zarter Verſe unfaubere,
zweidentige Bänfelfängerlieder in den Mund... wer weiß, wer
weiß, wir lönnten vielleicht venffiren. Weiter nichts? entgegnet
man uns. Dergleihen Subjecte gibt e8 auch anderswo, und
in den Kneipen und Tanzlocalen letter Klaffe kann man ſolch
fümmerlihe Waare in allen Städten antreffen und braudıt des»
batb nicht nad) Paris zu geben. Das mohl, aber das findet
man in feiner andern Stadt der Welt, daß eine foldhe „Künſt⸗
lerin“ Mode wird und Epoche macht, und daß man ihren Na⸗
men mit Popularität wie mit einem Nimbus umgibt.
Doch aud ein vornehmes Publitum kommt in die
Räume bes Alcazar, um die Diva zu bewundern:
Schon Petron erzählt uns, wie zur Zeit der Decadenz die
vornehmen Römerinnen heimlich und verkleidet im zmeidentige
Häufer gingen, um den Orgien der Freigelaſſenen zuzujchauen.
Sollen doch fogar die Herren und Damen den Kaifer gebeten
haben, die Terfa nach) Compiegne kommen zu lafjen, und wer
weiß was gejchehen wäre, denn Se. Majeftät ift überaus
liberal gegen feine Gäfte und gewährt ihnen, wie @irardin
lürzlich —8* alle die Freiheiten, die er dem franzöſiſchen Volke
entzieht. Aber die Kaiſerin legte mit ihrem gewöhnlichen Takt
ein energifches Veto ein. Dürfen wir uns nad ſolchen Bor-
gängen Über die hochrothgefärbten Haare der Loretten und über
ihre blau oder grün angemalten Schoshunde, beides ebenfalls
Errungenfcajten der Demi- Monde aus den verfloffenen Jah⸗
ren, wundern? Auch in biefer Beziehung künnen wir einen
römiſchen Schriftfieller citiren, Juvenal, der von einem Decret
berichtet, welches allen feilen und leichtfertigen Weibern Roms
befahl, ihre Haare roth zu färben. Bon den Hunden fagt
Suvenal nichts; aber etwas müſſen wir Modernen doch aud)
vor den Alten vorausbaben. Das Repertorium der Tereja wird
— —— —— —
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man mir wol in ſeinen Details erlaſſen. Ein Sappeur, der
in eine Köchin verliebt iſt; ein Tambour⸗Major, der von ſeiner
Heinen Maitreſſe geprügelt wird; ein Droſchkenkutſcher, der ein
verliebtes Baar in die Rue de Paradis fahren joll, aber deu
Weg verfehlt und im der Rue d’Enfer ankommt — das find die
Bravourarien der Diva des Alcazars, die für jede Rolle eine
befondere Stimme hat, die Weiber zumeifi durch die Fiftel
fingt und für die Männerpartien einen nie dagewejenen Alt
entwidelt. Die Geften und Stellungen entſprechen natürlich
dem Gefange, und der umvermeidlide Cancan, in höchſter
Rigolboche-Bollendung, bildet jedesmal den Schluß.
Es ift fiir einen Berichterftatter nur ein Schritt von
der Terefa bis zur Fürftin Metternich; denn beide machen
gleich viel von fich fprechen. Ein Eulturhiftoriler des se-
cond empire wird den Abfchnitt „über die rauen’ mit
ber Kaiferin beginnen und dann ber Fürftin Metternich),
die ſich zu einer parifer Berühmtheit acclimatifirt hat,
ebenfo wie ber Alcazar- Diva ein befonderes Kapitel wid-
men müſſen. Ebeling berichtet über einen Maskenball bei
der Yürftin:
Die Fürfiin Metternich, welche in der diesjährigen Saiſon
mehr als je den Ton angibt, hatte eine ganz eigenthlimlicdhe
Gejellichaft geladen: die Herren einfach im rad, wie zu einer
gewöhnlichen Soirde, und bie Damen im Domino und mas⸗
firt. Es wurde weder getanzt, noch Muſik gemadt, noch
Theater geipielt, wie fonft bei folchen Gelegenheiten. Die
Herreu führten vielmehr die unbelannten Damen in den Sälen
und Galerien umber; man feste fih in den verjchiedenen Sa-
lons zu einer Eauferte nieder; man intriguirte und wurde in⸗
triguirt, und infofern wurde allerdings Theater geipielt, denn
es follen fidh dort die feltfamften und ſpaßhaftefſten Sceuen zu»
getragen haben. Auch der Kaifer war gegenwärtig; und in
einem blaßrothen Domino, dem man Überall ehrerbietig Platz
machte, vermuthete man .die Kaiferin. Aber die Herren find
der Fürſtin trog des amufanten Abends fehr gram geworden.
Denn man denfe ſich die Enttäufchung, als beim Souper, das
jeder als den glüdlihen Moment berbeifehnte, wo endlich die
Masken fallen und alle Räthſel ſich löͤſen würden, dies eben
nicht geſchah, fondern fämmtlihe Damen maslirt bfieben und
ihre zierlichen florfeidenen Halbmasten, die fie nit am Eſſen
und Trinken binderten, noch fefter banden, um nidt erkannt
zu werden. Dan fand diefe Prüfung zu hart, und es wäre
faft zu einer Verſchwörung gekommen, wenn nit die Damen
durch verdoppelte Liebensmürdigfeit die armen Getäufchten mit
dem allzu ftrengen Incognito verföhnt hätten. Dann fam nod
der tröflihe Umftand hinzu, daß jedem Gaſt für die nächte
Woche eine Einladung zu einem großen Concert in der Am-
bafjade zugeftellt wurde, mo ſich dann diefelbe Geſellſchaft von
Angeficht zu Angefiht fehen folltee Da war man denn wol
gezwungen, fich zu fügen, und konnte doch wenigftens um eine
Hoffnung reiher nad Haufe fahren; aber der Fürftin Metter-
nid) muß man das Privilegium laffen, daß fie ſich auf Erfin-
dung pilanter Situationen verfteht.
Andere Kapitel zur Charalteriftif der Frauenwelt unter
Napoleon I. bringen die Skizzen: „Eine Lorettengräfin
vor Gericht”, „Schon wieder ein Lorettenproceß”, „Ein
Heirathsbureau“, „Eine Damenfchneiderrehnung”. Eine
Beichreibung des im Jahre 1866 modifchen „chapeau
Lamballe” lautet:
Er ift nicht viel größer als ein Barbierbeden, d. 5. ale
ein Meines; und eim folches wiirde auch fehr gut die pafjende
Form bieten, natürlich mit weißem oder roſa Tüll überzogen
und mit Pfauenfedern garnirt; zu beiden Seiten fallen die mehr
als zmei Meter langen und mehr als einen Fuß breiten (ich
übertreibe um feinen Zoll), buntgeflammten Atlasbänder herab,
die ebenfalls mit Keinen Tüllpuffen und Pfauenfedern eingefaßt
find. Das ift der chapeau Lamballe.. An fi, jeibit in der
parifer Toilettenwelt, die ja ftets die ercentrifchften Dinge er-
findet und verbreitet, Fein großes Ereigniß; aber die begleitenden
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630 Cheling’s Skizzen aus Paris,
Nebenumftände find interefjant genug, um fie unfern Les
ferinnen kurz mitzutheilen. Die Erfinderin des Huts, ich fage
dies nicht ohme einen gewiflen patriotifchen Stolz, iſt eine
Deutihe, Madame Riel, eine der erſten Putmacheriunen im
Quartier Lofitte, dem fogenannten Rothſchilds⸗Viertel. Sie
ift auch Lieferantin der Fran Baronin, was ich beftimmt ver-
bürgen kann; Feine Kleinigkeit! Aber Madame Kiel hätte faft
ihre Reputation durch jenen unglüdlihen Hut verloren; denn
fowie er erſchien, erhob fi ein allgemeines Pereat in den
Tagesblättern iiber das miſchöne Ding, und viele beantragten
eradezu, und zwar im Namen bes fchwerverletten guten Ge-
chmacks, die Erfinderin in Anflagezuftand zu feßen und das
corpus delicti in die Acht zu erllären. Leichtfertig fligten fie
hinzu, Madame Kiel fei eine Deutſche, wie wenn fle dadurch
ihre eigene Nation vormurfsfrei machen wollten. Aber Dta-
dame Riel blieb die Antwort nidht ſchuldig; fie erflärte einfach,
daß fle den Hut genan nad einem Porträt der Prinzeffin von
Zamballe copirt habe, was jeber in der Galerie von Berfailles,
wo jeues Bild hängt, controliren könne. Dieſe Controle hat
ftattgefunden und die Nichtigkeit der Behauptung erwiejen. Noch)
dazu datirt das Porträt vom Jahre 1780, einer Epoche, wo
die franzöfiichen Moden mehr als je flir das ganze elegante
Europa maßgebend waren. Die voreiligen Kläger mögen num
unferer Landsmännin Abbitte thun, wollen fie anders nicht ale
Berleumder daftehen ; unfere Pflicht aber war es, zu conflatiren,
daß das deutjche Element bei diefer Geſchmacksverſündigung nicht
betheiligt if. Denn häßlich iſt der Hut, troß der Schönheit
derjenigen, bie ihn einft getragen; und wenn er dennoch hier
in Paris in Aufnahme fommt, fo beweift dies wieder einmal,
daß die Barifer nicht unfehlbar find, umd daß wir wohl daran
thun (d. h. Sie, verehrte Leferinnen), ihnen nicht alles nach⸗
zumaden. In den erflen Magazinen der Boulevarbs fieht man
ſchon einige Sremplare, auf Ehre, nicht größer als ein Meines
Untertäßchen.
Als Beitrag zu der Schilderung des Luxus und ber
neneften Schönfärberei der parifer Weltdamen mag bie
folgende Skizze über den Violet'ſchen Parfumerielaben
dienen:
Violet ift ber Lieferant ber Kaiferin, und fein neues Eta⸗
biiffement führt den Titel: A la reine des abeilles. Ihre
Majeſtät ift fogar lürzlih in Perfon dort geweſen, um Eins
füufe zu maden; das jagt alles.” Es ift auch wirklid) der Mühe
werth, einen Moment vor den 20 Fuß hehen Spiegelſcheiben
ſtehen zu bleiben und hineinzuſchauen. Dies Etabliffement
ift nämlich wieder etwas ganz Neues; es ift fein Laden und
fein Magazin, es ift ein Salon und zwar ein Salon
Louis treize. Die Herzogin von Galiera, deren Hotel man
immer ſprichwörtlich als das ſchönſte in ganz Paris bezeichnet,
und deren Salons aud ich unwürdiges Menfchenfind mand-
mal betreten, bat feinen Salon, glaube ich, der deu Vergleich
aushielte mit dem Salon biefes Parfumeurs. Auch ift die Kai-
jerin, fo viel id) weiß, nie bei der Herzogin von Galiera ge-
weſen, wohl aber, wie id) eben fagte, bei Violet. So gehi's
in der Welt, mwenigftens in der parifer, und ein Pommaden⸗
fabrifant ift eine bedentende fociale Perfon. Dies Nonplusultra
von Salon bildet eine große Rotunde und iſt ganz mit rothem
Sammt ausgefhlagen; das Dedengemülde, eine fehr phanta-
ftifhe Apotheofe, ift von Petit, dem berlihmten Fresfenmaler,
der unter 10000 France gar feine Leiter an irgendeinen Pla-
fond fegt. Die Möbeln find ſümmtlich von Ebenholz mit Gold
eingelegt, und in Schränken von ähnlicher Arbeit ruhen in
Kryſtall und Porzellan, oder auch in koſtbaren Käſtchen aus
Lad oder Seide die Wunber der parifer Barfumerie, der erften
der Welt. Wäre die franzöfifche Nation doch nur in allem fo
groß wie in ihren Seifen, Pommaden und Effenzen! Wenn
denn auch diefe leßtern etwas weniger vollkommen und voll
endet wären, wir würden uns fchon zu tröften wiffen. Auf
dem Kronleuchter in ber Mitte brennen allabenblich, genau ges
zählt, hundert Flammen — fein plebejiſches Gas, ſondern rothe
Wachskerzen, mie in ben Tuilerien bei ben Soirden ber Kai-
jerin. Solche Kerzen koſten juft einen Franken das Stüd; «8
muß fi alfo bei den Seifen und Pommaden viel Geld ver⸗
dienen laſſen. Neben dem großen Salon iſt ein kleinerer, ein
fogenanntes Bondoir Pompadour, und neben dieſem ein dritter,
das Allerheiligſte, in das kein profanes Auge ſchauen und noch
weniger ein profaner Fuß treten darf. Wir find aber dad
darin gewejen. Hinter feidenen Borhängen, und aud nur m
Gegenwart der Eingeweihten, werden dort beim Kerzenfceine
einzelne koſtbare Specifica und Kosmetica an zarten Wangen,
Brauen und Lippen probirt. Manche ältliche, bleiche Dame,
die ſchüchtern und verfchleiert dort ankam, verläßt mad einer
halben Stunde zog an jugendfrifh, und Rotabene, nun mit
zurückgeſchlagenem Schleier, jenes myſteriöſe Bondoir, und...
honny soit qui mal y pense. Wenn fie nur beim Cinfleigm
in ihren Wagen der armen zerlumpten Frau, mit dem krauen
Kinde auf dem Arm, ein Almoſen gibt, fo wollen wir fie nicht
verdbammen. Abends auf dem großen, glänzenden Ball in ber
Chaufjee d’Antin oder ſonſtwo geht alsdann ein erflauntes
Flüfern dur den Damenfreis: man findet die Gräfin X, um
zehn Fahre jünger geworden nnd fragt neugierig nad) der Adreſſe
ihres „Hactotums”, um nöthigenfals den Künſtler aud zu con
fultiren. Dann geht der Name Biolet Teife von Mund zu
Mund, und fein Ruf fleigt täglich. So kann ſelbſt ein Bar-
fumeur zu hoben Ehren gelangen.
Doch nit alle Pariſerinnen denken nur am ihren
Putz und ihre Schönheit; manche denken auch an bie
Armen. Die Damen des Faubourg St.» Germain wer-
ben wegen ihrer Wohlthätigkeit bejonders gerühmt. Do
die Art und Weife, wie fie diefelbe ausüben, erinnert an
die Wohlthätigfeitsreclamen der wiener „Grille“, welde
den „Dummen-Jungen-Orden”, der zu ihrer Fahne ges
fhworen, fiir die „Armuth“ brandfchagte als Verkäufern
in einem Bäderladen und in ähnlicher Weife. Cheling
erzählt uns eine Anekdote, wie man im Faubourg Gt:
Germain Unterftügungsgelder einkaffirt:
Die Fürſtin B. bat eine neue Idee im diefer Hinfiht ger
habt und mit dem glänzendften Erfolg realifirt. Sie ließ eines
Tags das ganze untere Stockwerk ihres Palaftes in ein Kaffee
haus verwandeln; der Leer erflaunt, aber es ift wirflid io:
in ein Kaffeehaus, d. h. in ein parifer Kaffeehaus mit Billard
zimmern, Eflaminets für die Raucher, Lefecabineten mit in»
und ausländifchen Zeitungen, einem Divan flir die Schad- und
Dominofpieler u. |. w. Der große Saal in ber Mitte bildete
das Centrum, das eigentliche Cafe. Die Furſtin felbft ſaß am
Hauptbüffet, als Dame du Comptoir, wie dies in dem parlier
Kaffeehänfern Mode ift, von Taffen, Kryſtallflaſchen und Silber⸗
geräthen umgeben; die ſämmtliche Dienerfchaft des Haufes war
in Kellnertradt; und Befuchende kamen umd gingen und zwar
in folder Menge, daß man am zweiten Abend gegen funfjehnhun
dert Perfonen zählte. Alle biefe Gäſte gehörten den höchſten
Ständen an und mußten theuer bezahlen, denn anf ben überall
ausgelegten Karten waren bie Preife anferordentlic hoch netitt;
bie einfache Zaffe Kaffee Loftete 2 Francs, ein Glas Eis
5 France u. ſ. w. Auch wurden die Beſuchenden gebeten, beim
Sortgehen das Zrinfgeld nicht zu vergefien. Drei Tage dauerte
diefer großartige Scherz, von weldem die ganze bormehme
parifer Welt ſprach und der gegen 60000 France eingebradt
baben foll, und deſſen ernfte, ſchöne Seite mit zwei Worten
dieſe ift: Die Kürftin bewohnt im Sommer ein Schloß in der
Normandie; in dem zu biefer Herrihaft gehörenden Dorfe brach
im vorigen Jahre eine Feuersbrunft aus, welche die Pfarrwoh⸗
nung in Aſche Tegte und der angrenzenden Kirche bedeutenden
Schaden zufügte. Die erftere ließ die Fürſtin (fie if Witwe
und fchon im vorgerückten Alter) fofort auf ihre Koften wieder
aufbauen, und fr die Kirche, verſprach fie bem betrübten Pfar-
rer, werde fie forgen, wenn fie in Baris fei. Und wahrlich,
fie bat ihr Wort furſtlich gelöft, und dabei ift ihr Bermögen
feineswegs fo koloſſal, wie das vieler anderer Familien Im
Fanbourg Saint» Germain.
Die Anekdote und das Genrebild find überhaupt in
Ebeling’8 Skizzen aus Paris.
Ebeling's ‚Neuen Bildern” vorherrſchend; doch denken
wir nicht gering von ihnen. Wir willen, daß ganze
Städte auf einem durch Infuforienpanzer gebildeten Boden
aufgebaut find? — „die Macht des Kleinen’ aber ift in
der Gefchichte und der Eulturgefchichte nicht geringer als
in der Natur. „Vive la bagatelle!” ruft überall der For⸗
her; denn oft gewinnt er durch einen Bagatelleproceß,
was er durch einen Monſtreproceß nicht zu gewinnen ver-
mag. Und alle diefe Kleinen Begegniffe und Creigniffe
weiß unfer Autor mit einer den franzöfifchen Cauſeries
abgelernten Leichtigkeit zu erzählen. Daß die Franzofen
aus einem „Nichts ein „Etwas“ zu machen willen, be-
weift ihr Feuilleton nicht minder wie ihre Kriegs⸗ und
Siegsbulletins.
Gern folgen wir Ebeling zu den Vollsfeſten ber
parifer Wäfcher und Wäfcherinnen am Mitfaftentage, zu
den Wettrennenfeften von Longchamps, in bie Billa Pom⸗
peji des Prinzen Napoleon, zu dem Löwen im Circus
und zu den Löwinnen der parifer Trinkhallen, in die Kunſt⸗
ausftellungen und die Volkstheater, zum Niagarafönig
Blondin und zum Feuilletonkönig Trimm, dem Gebieter
des „Petit Journal“, Wir könnten überall pilante Aus»
züge geben, wenn es der Kaum erlaubte. Nur bei dem
Militärfpectafelftüd: „Les Volontairs de 1814” müſſen
wir etwas verweilen. Die Epoche, in welcher jenes Stüd
fpielt, hat mit der allernächften Gegenwart eine auffal«
Iende Wehnlichkeit; freilich die Gefchichte liebt die Varian⸗
ten, jonft würde fle fi in Wiederholungen von ertöbten-
ber Einförmigkeit erjchöpfen; aber die Aehnlichleit der
bauptfächlihen Züge auf dem Schachbret ift oft über-
rafhend. Napoleon I. in Yontainebleau, Napoleon IH.
in Sedan — ift die etwas anderes als eine Variante?
Sejour ſpricht in feinem Stüd, wie jest Gambetta
und Yules Favre fprechen:
Er macht der Stadt Paris ben harten Vorwurf der Lau-
heit und ber Gleichgültigkeit, ja der heimlichen Freude bei
Annäherung der Berblindeten, der „Koſacken“. Nach ihm hätte
fih ganz Paris wie ein Dann erheben follen, um den „Erb⸗
feind“ zu verjagen; Weiber und Kinder will er bewaffnen zum
Schutze des heimatlichen Herdes; eine Vertheidigung etwa wie
diejenige Karthagos gegen die Römer. Cine jolde Anomalie
tonnte man aber unmöglich geftatten; denu die Gejchichte fteht
falt und umerbittlich Hinter uns und erzählt uns das Gegen-
theil. Man braucht nur in Vaulabelle nachzuleſen (‚Histoire
des deux restaurations“), um ben wahren moraliichen Zuftand
der franzöfifchen Hauptftadt beim Einzuge der Alltirten kennen
zu lernen. Dabei ift Baulabelle, obwol Royaliſt, durchaus
unparteiifh; er berichtet nur Thatſachen und belegt fie mit
Actenftüden. Da leſen wir denn (I, 161): „Rod am 27. März
war Paris ganz unbeforgt und ruhig; man ladjte, wenn einer
von der Möglichkeit ſprach, daß die Verbündeten auf Paris
rücken könuten, und der König Iofeph hielt auf dem Carrouffel-
plaß eine Revue ab Über die neugefchaffene Nationalgarde, Auch
noch am folgenden Tage herrjchte diefelbe Zuverfiht. Man er-
zählte fich freilich, daß ein deutfches Armeecorps unter Blücher
bis nad Meaur (vier Meilen binter Fontainebleau) vorgerlicdt
fei; aber man wußte den Kaijer in DMontereau, und die Zei-
tungen meldeten bereits die neuen Siege des Imperators. Am
Dienstag Morgen hieß es, Napoleon, Überall fiegreich, rücke
in Eilmärſchen auf Paris, zum Entſatze feiner Hauptftadt.
Abends 8 Uhr fanden 180000 Berblindete vor den Thoren
631
und hatten bereits die 13000 Manu zuridgebräugt, bie fidh
ihnen unter Marmont und Mortier entgegenfellten. Jet end»
lich verftand fi der König Joſeph dazu, eine Proclamation an
bie Bevölkerung von Paris zu erlaffen umd auch noch zögernd,
weil er «feinen beſtimmten Befehl» vom Kaifer erhalten. Alle
männlichen Einwohner wurden zu den Waffen gerufen; aber
es waren feine Waffen da, und felbft noch in diefem fchredlichen
Moment vermweigerten der Kriegsminifter und der Stadtcom-
mandant die Definung der Arjenale. «Ich bleibe bei euch»,
hatte Joſeph pathetiich im feiner Proclamation gefagt; aber die
Wagen und Eguipagen ftanden fchon bereit, um den König mit
feiner Familie und Suite nad) Blois zu bringen.“
Uebrigens begann die damalige Proclamation ber Ber-
bünbeten mit den Worten: „Nous ne faisons pas la
guerre a la France.” Möglich, daß biefe Erinnerung
ben parifer Zeitungen und den Männern der propifori-
hen Regierung vorfchmwebt, wenn fie behaupteten, König
Wilhelm babe daffelbe erflärt. Ueber die „Volontaires de
1814“ ftelt Ebeling folgende Unterfuchungen an:
Zuerft die einfache und naive Frage: Gab es denn Überall
im Sabre 1814 gut Zeit der „Invaſion“ Freiwillige in Frank⸗
reih unb Paris? Keineswegs. Das beißt, Seehoillige, wie
wir fie zur Zeit des Befreiungskriegs in Deutichlaud und
namentlih in Prenßen gejehen; Männer, jung und alt, „von
ſechzehn bis ſechzig Jahren”, wie der biedere Arndt fich ausdrückt,
die dem Rufe ihres Königs folgten und zu den Waffen eilten
zur Erlöfung aus unwürdigen Banden — „Kuechtſchaftsbanden“,
wie Rotted fagt? Dergleichen „Freiwillige gab es damals in
Frankreich nicht, ſchon aus dem einfachen Grunde, weil der
höhere moralifde Impuls fehlte, um fie hervorzurufen. Das
ganze große Kaiferreih war matt und milde von den beinahe
zwanzigjährigen Kriegen, die Über eine Million Menſchen ges
toftet hatten, man ſehnte ſich nach endlicher, endlicher! Erlöfung,
aber nad) Erföfung bon der eifernen Hand des Gewaltigen,
beffen umerjättlichem Ehrgeize alles zum Opfer gefallen war,
und deſſen hochfliegenden Planen nichts, nichts genligte, nicht
einmal die europäische Weltherrſchaft; denn feine Worte find
befannt, die er fogar dem General Bertrand noch auf Sauct-
Helena wiederholte: „Une fois l’Europe pacifise (die® «pacifide»
ift wirklich ftark!), j’aurais attaque l’Angleterre aux Indes.“
Die Volksbewegung in Frankreih, im Jahre 1814, war mit-
bin eine ganz andere und von durchaus untergeordneter Art, da
fie fih faft ebenfo fehr nad innen gegen den Ufurpator, als
nad) außen gegen die „Feinde“ richtete. Dabei wollen wir bem
PBatriotismus der Franzofen gern volle Gerechtigkeit widerfahren
laſſen, und als der fchredliche, nie für möglich gehaltene Mo⸗
ment erſchien — Hannibal ante portas! — thaten die Barifer
ihre Schufdigkeit, d. h. fomweit und fo gut fie konnten, denn,
wie fon ermähnt, es fehlte überall an Waffen. Wer weiß
was gefchehen wäre, wenn die Bevöflerung von Paris bewaffnet
und militärifch organifirt geweſen; jedenfall® hätten die Ber-
bündeten einen harten Stand gehabt, mo fie jet mit Hingen-
den Spiel und von wehenden Tüchern und mit Bivatrufen
begrüßt ihren feflichen Einzug halten Lonnten.
Dos neue, befeftigte Baris mit dem bewaffneten Volk,
den innern Seflungen der Kaſernen, welche die weitgebehn«
tin Linien der Faiferlichen Boulevards beherrfchen, dürfte,
wenn die Barifer den Heroismus haben, den die Leit-
artifel der republifanifchen Zeitungen athmen, allerdings
erft nad einem hartnädigen und blutigen Kampf erobert
werden, und der Einzug der Deutfchen wird jedenfalls
eine jehr abweichende Variante von dem Einzug der Ber-
bündeten im Jahre 1814 bilden.
Rudolf Gottſchall.
a \
632
Eine neue Geſchichte Defterreichs.
Eine nene Geſchichte Oeſterreichs.
Geſchichte Defterreihs vom Auegange des wiener October»
aufftandes 1848. Bon G. von S....n. I Die Belagerung
und Einnahme Wiens. October 1848. II. Revolution und Reac⸗
tion im Spätjahr 1848. Mit urfundlichen Beilagen und einer
Ueberfichtslarte. Prag, Tempsky. 1869—70. Gr. 8. 6 Thlr.
Die nene Aera, welche infolge des blutigen Tags von
Königgräg für Defterreich begonnen hat, und durch welche
ein, wie es augenblidlich ſcheint, vollftändiger Bruch mit
der von Wirrmniſſen aller Art erfüllten Vergangenheit der
habsburgifchen Monarchie herbeigeführt und dieſe, ihres
ehemals jo zuverfichtlih und ftolz behaupteten Charakters
entfleidet, nad) dem Siege der bualiftifchen Richtung in
eine Öfterreichifch- ungarifche Monarchie verwandelt mwor-
den ift, bezeichnet in der Entwidelung des nationalitäten«
reichen Staats, wenn auch ficher noch nicht den Beginn
einer völlig geficherten und zur Daner berufenen Orbnung,
fo doc) jedenfalls den Eintritt in ein ganz neues und don
allen frühern wefentlich verfchiedenes Entwidelungsftadium.
Welches der Ausgang bdefjelben fein wird, muß die Zu-
Zunft lehren: fürs erſte fcheinen alle Zweifel, bie gegen
den Beftand und die wirkliche Lebens- und Entwidelungs-
fähigfeit der Schöpfungen des vielgewandten und von raft«
loſem Tchätigkeitsdrange erfüllten Grafen Beuft aus-
geſprochen werden, nur allzu begründet zu fein, und man
Tann e8 feinem verdenken, der in diefer neuen Aera auch
nur eins von den vielen Experimenten fieht, deren Gegen⸗
ftand die Ränder biefjeit und jenfeit der Leitha von jeher
gewefen find, und demfelben daher ein ebenjo klägliches
Ende vorausfagt, wie ein folcyes feine Vorläufer faft aus«
nahmslos getroffen hat. Jedenfalls aber fordert der Ein⸗
tritt in eine neue Phafe der ftaatlihen Entwidelung dazu
auf, fi) riidwärts zu wenden und namentlic in ber jling-
ften Vergangenheit diejenigen Momente aufzufuchen, die
für die Bildung der gegenwärtig berrfchenden Verhältnifie
maßgebend gewefen find, und die Yactoren Far darzulegen,
bie, in den Schidfalen der legten Jahrzehnte begründet,
zugleich als treibende und fchaffende Kräfte in der Ent-
widelung der Gegenwart mitwirken. Auch für Defterreic)
bildet da das Jahr 1848 mit feinem unruhigen Stürmen
und Drängen, feinem unreifen Braufen und Güren ben
epochemachenden Abſchnitt, auf den zu einem tiefern Ver⸗
ftändniß der Gegenwart wird zurüdgegangen werben milf-
fen. Bolle zwei Jahrzehnte Liegen num zwifchen dem Jetzt
und dem Damals; aber wenn die Reidenfchaften auch aus⸗
getobt und die Hitze des Parteilampfes allmählich einer
nücdhternern und kältern Anſchauung und Beurtbeilung
Plag gemacht Hat, fo fehlt doch noch immer fehr viel
daran, daß die Ereigniffe jener wirren und ftürmifchen
Zeit frei von jeder Parteifärbung, von einem völlig ob»
jectiven Standpunkt aus, gleichfam als Ereigniffe an fid)
dargeftellt worben wären. Es ift das natürlich nicht in
dem Sinne gemeint, als ob eine Gefchichtfchreibung ohne
jegliche Gefinnung, ohne jegliche politische Weberzeugung,
alfo anch ohne jegliche Parteinahme des Gefchichtfchreibers
überhaupt möglich ſei — und follte fie durch einen wun⸗
derlich gewaltſamen Deftillationsproceg möglich werden,
fo wäre fie wahrlih nicht wünſchens- und nicht empfeh-
lenswerth —, jondern nur darauf kommt es an, daß ber
Geſchichtſchreiber, gleichviel welcher Partei er angehört
und gleichviel ob er gegen biefe oder gegen jene Kid.
tung fi) wenbet, die Thatſachen felbft unbedingt ber
Wahrheit gemäß, foweit wie es möglich ift, in der Ge
ftalt, die fie zur Zeit ihres Geſchehens Hatten, ber Nad.
welt zu überliefern bemüht ift. Geſchieht dies, fo ift im
übrigen jebe Parteinahme fir den allgemeinen Werth ſei⸗
ner Darftellung gleichgültig und wird niemals als eine
zu verwerfende Parteilichleit erjcheinen.
Diefer Gefihtspuntt ift e8, den man gegenüber bem
vorliegenden neuen Werke über die „Geſchichte Def
reichs vom Ausgang des wiener Octoberaufftandes 1848“
einnehmen muß, um ben Werth und die Bedeutung befil-
ben richtig zu würbigen. Denn wenn wir bem politiichen
PBarteiftandpuntt des anonymen Berfaflers aud) nicht the
len und daher eine Menge von Urtheilen, bie er über
Perſonen und Zuſtände fällt, als nicht richtig zurüchwei⸗
fen müffen, fo ftehen wir doch im übrigen nicht an, fein
Merk dem Beten zuzuzählen, was in der letzten Zeit über
die Geſchichte des Jahres 1848 in Oeſterreich in bie
Deffentlichkeit gelommen if. Daffelbe Hat biefen Zweig
der biftorifchen Literatur wirklich bereichert, denn bie noch
immer fo zweifelhafte und lückenhafte Kenntni der ver-
hängnißvollen Vorgänge in und vor Wien, am kaiſerlichen
Hoflager zu Olmütz und in Ungarn ift durch diefe Dar
ftelung in zahlreichen Punkten ergänzt und vervollfländigt
ober geläutert und berichtigt. Mit außerordentlicher Eorg-
falt find alle einfchlagenden Quellen benugt: nicht blos
von den zahlreichen Memoiren und Tagebüchern, die zum
Theil auch anonym, ihrem Werth nach durchgängig höchſt
zweifelhaft, nach der Kataſtrophe erfchienen find, fondern
auch von den zahllofen Flugblättern, von den in allen
möglichen Zeitfchriften zerftreuten einzelnen Auffägen wird
dem fleißigen Verfaſſer faum eins oder das andere ganz
unbedeutende entgangen fein; befonders wertvoll erſcheint
die eingehendfte Benugung der während jener flurmbeweg-
ten Wochen in Wien erfchienenen Zeitungen. ber augen
fcheinlich Haben dem Verfaſſer noch andere Quellen zu
Gebote geftanden: täufchen wir und nicht, fo fpridt der-
jelbe an mehr als einer Stelle als Augenzemge und zwar
als ein mit Schärfe und Unbefangenheit beobadtender
Augenzeuge; anbererfeitS verdankt er werthvolle Mitthei⸗
lungen über das Detail einzelner bisher weniger befann-
ter Borgänge folchen Perfonen, die nicht blos Augen.
zeugen, fondern felbft als Mithandelnde dabei beteiligt
waren, und zwar müflen des Gefchichtfchreiberd der
bindungen im ziemlich hohe Regionen hinaufgereicht haben,
wie das auch aus den im Buche angefügten Beilagen
hervorgeht, in denen die Orbre be Bataille und bie Die
location des gegen Wien operirenden Heers vom 28. Och⸗
ber früh, dann die Windifchgräg’fche Dispoſition zum
Angriff gegen Wien und enblich die Detaildispofitionen
Zellachich's fir die Schlacht bei Schwechat mitgetheilt wer:
den. Ausdrüdlich verfichert unfer Anonymus zwar, bob
ihm feine officiellen Angaben zu Gebote geftanden haben;
jebenfalls aber find die ihm gemachten Mittheilungen, f
wenn fie noch nicht einmal officiöß fein follten, aue guten
Fine neue Geſchichte Oeſterreichs. 633
Duellen geflofien und um fo werthvoller, ald man auf
bie Erfchliegung wirklich amtlicher Quellen und die Er-
öffnung der Ardive zum Studium der Vorgünge des
Jahres 1848 aud in dem Defterreich der neuen, Beuft’-
ſchen Aera vergebens warten würde. Aus diefen umfang-
reichen, ihrem Werth nach freilich im höchſten Grabe un⸗
gleihen Materialien hat der Berfafjer mit einer troß ſei⸗
nes ausgeſprochenen Barteiftandpunktes fachlih durchaus
unparteüfchen Kritik den wirklichen Gang der ‘Dinge, fo-
wol der vielfach Höchft zweifelhaften Zeitfolge nach wie in
Rückſicht auf ben oft noch fraglihern Inhalt und Cha⸗
rafter, zu ergründen gefucht und zwar mit dem beften
Erfolge. In Einzelheiten mag mandjer, der gleichfalls als
Augenzeuge ober gar als Mithandelnder Zeugniß abzulegen
berufen ift, von ber bier gegebenen Darftellung abzumweichen
Grund haben: es wird ihm aber wie jedem, der tiefer
auf die Sache eingehen will, Gelegenheit geboten, bie
Gründe kennen zu lernen, weshalb der anonyme Geſchicht⸗
fchreiber des wiener Octoberaufftandes das fragliche Er⸗
eigniß gerade fo und nicht anders dargeftellt hat, da der-
felbe in zahlreichen, zum Theil kritiſch auf die verjchie-
denen lUeberlieferungen eingehenden Aumerkungen die An-
fit, die er fich gebildet, rechtfertigt und in ihrer logi-
fhen Entftehung nachweiſt. Ueberall die Wahrheit ernſt⸗
lich fuchend, ift der Verfaſſer doch zugleich befcheiden genug,
fich Teineswegs für unfehlbar zu halten; andern Meinun-
gen gegenüber nichtS weniger al8 hochmüthig abjprechend,
drüdt er den Wunfch aus, daß man ihn in denjenigen
Punkten, wo er troß aller angewandten Sorgfalt doch
geirrt babe, berichtige und fo die von ihm geſuchte Wahr-
heit an ben Tag bringe.
Diefe unparteiifche und ernfte Bemühung um Erkennt.
niß der hier fo viel getrübten und oft abfichtlich gefälſch⸗
ten Wahrheit ehrt den Berfafler unjers Werts um fo
mehr, als man diefelbe keineswegs allen Geſchichtſchrei⸗
bern nachrühmen Tann, die fo fcharf und entjchieden ben
Parteiftandpunkt einnehmen, auf den er fich von An-
fang an ftellte. Ein Anhänger des alten Defterreich, ein
„Schwarzgelber” in der Sprache bed Jahres 1848, ift
er ein ausgeſprochener Gegner der Partei und der Mün-
ner, welde in jenen wildbewegten Jagen in die Höhe
famen und als mehr oder minder leitende Perfönlichkeiten
auch mehr ober minder mitgewirkt haben, auf das glän-
zende und lebensluftige Wien das Verhängniß herabzube-
ſchwören, deſſen furchtbares Bild uns Hier in den lebhaf-
teften Farben entworfen wird. Daher finden wir denn,
fo hoch wir fachlich den Werth des Buchs anjchlagen, in
ben Betrachtungen und Urtbeilen, welche fi) dem Ge-
ichichtfchreiber aus den von ihm erzählten Ereigniſſen er-
geben, manches, was eben nur von dem Parteiftandpunft
des Verfaſſers aus gerade fo, gerade in diefem günſtigen
oder ungünſtigen Lichte erfcheinen mußte. Wenn er gleich
im Eingang feiner Darftellung das fennzeichnende Merk⸗
mal deflen, was fi) 1848 im Mittelpunkte des üfter-
reichifchen Saiferftants abfpielte, in den Ausbrud „Ge⸗
dankenloſigkeit“ zufammenfaßt und „von unten leichtfinni«
ge® Hingeben, von oben unbebachtes Nachgeben, einzig
von den vorüberraufchenden Eindrüden bes Tags be-
herrſcht“, als Signatur der Zeit hervorhebt, fo hat das
eine gewiſſe Berechtigung; wenn er weiterhin von Wien
1870. 40.
behauptet, es fei demfelben im Jahre 1848 gänzlich das
Bemußtfein abgegangen, die Hanptftadt eines großen
Reichs zu fein und diefe Stellung behaupten zu müſſen; wenn
er die Thätigkeit des von den Galerien aus beeinflußten und
durch die draußen lürmende Menge beherrfchten Reichs⸗
tagsrumpfs draftifch als „gehorfames Pagodenthum“ be⸗
zeichnet, und von der Studentenfchaft, deren Haltung im
übrigen auch die gebührende Anerkennung gezollt wird,
memt, fie jei mehr ein misbrauchtes Werkzeug als ein
jelbftändig anregender Factor des Aufftandes gemejen: fo
wird dem auch von jeden unbefangenen Anhänger der
entgegengejetten Partei zugeflimmt werben können. Bes
denflicher dagegen und eben nur als Ausflüſſe der ihn
erfüllenden ftreng kaiſerlichen Barteianficht zu erflären
find andere Aeußerungen und Anſchauungen unfers Ge-
ſchichtſchreibers. Wir heben nur einzelne Punkte hervor.
Ganz entfchieden ins Schöne gemalt ift das Bild,
welches von Jellachich, dem Banus von Kroatien, entworfen
wird: der unbedeutende und den großen Berwidelungen,
in die er bineingeworfen wurde, durchaus nicht gewachjene
General, deffen militärifche Befähigung ſchon jehr gering
war, und der fein momentanes Emporlommen nur dem
Zuſammenwirken fehr eigenthilmlicher Berbältniffe, an
denen er ſelbſt durchaus nichts gefchaffen, zu ver-
danken hatte, durfte nicht als eim bedeutender Srieger
und bedeutender Staatsmann dargeſtellt und nicht im
eine fo glänzende, fait blendende Beleuchtung gerüdt
werden; das brauchte nicht zu gefchehen, um zu zeigen,
daß von feiten der wiener Revolution dem Banus aller-
dings Unreht gethan worden war, wenn dieſe ihn in
ber öffentlichen Meinung als Räuber und Mordbrenner
zu brandmarten ſuchte. Ein Gleiches gilt und zwar faft
in noch höherm Grade von der Charakteriftil, welche von
dem Befieger des wiener Aufftandes, dem Fürſten Windifch-
gräg, entworfen wird; auch da hat den Berfafler feine
ftreng kaiſerliche und entſchieden antirevolutionäre Geſin⸗
nung verleitet, feine Vorliebe für die Sadje auch auf die
diefelbe vertretende Perfon zu übertragen und das Bild
der legtern daher ins Schöne zu malen. Windifchgräg’
Lebensgefchichte wird ein bedeutender Raum gewährt. Die
Laufbahn, die derfelbe durchgemacht, erflärt allerdings das
Gewaltfame und Schroffe, das Herrifche und Despotifche
in feinem Wefen; eine Rechtfertigung feines Verfahrens
gegen Prag in den Yunitagen und dann gegen Wien ift
damit jedoch noch nicht gegeben, ebenfo wie bie Ueber-
hebung des ftolzen Ariftofraten und die ihn erfüllende
Beratung gegen das Bürgerthum und alles damit
Zufammenhängende dadurch noch nicht als böswillige Er-
findung der wiener Revolutionäre erwiefen ift, daß ge-
zeigt wird, jenes dem Fürſten nachgefagte Wort: „Der
Menſch fange erft mit dem Baron an“, ftehe bereits in
dem über hundert Yahre alten Buche „Vademecum für
luſtige curieuſe Leute”. Intereſſaut und charakteriftifch iſt
die Parallele, welche der Verfaſſer zwiſchen Windiſchgrütz
und Wallenſtein zieht; dieſelbe trifft nicht blos darin zu,
bag wie Wallenſtein's, jo auch Windiſchgrätz' Charakter⸗
bild, von der Parteien Gunſt und Haß verwirrt, in der
Geſchichte ſchwankt, ſondern auch darin, daß Windiſchgrätz,
als er ſeine Truppen aus dem aufſtandsluſtigen Böhmen
ziehen ſollte, ſich deſſen offen weigerte und dem Kriegs⸗
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634
. minifter Latour, ber fpäter ein fo entjetliches Ende fand,
mit Auflündigung des Gehorſams drohte — ein Schritt,
den Latour geradezu durch den Hinweis auf die Rebellion
MWallenftein’8 beantwortete. Auch den Marſch anf Wien
trat der Fürſt zumächft ohne Befehl dazu an, auf eigene
Gefahr und Verantwortung, und fehlieglih mag man auch
feine unumfchränfte bictatorifhe Gewalt, durch melde
das von feinem Träger und feinen Stüten preisgegebene
Kaiſerthum gerettet wurbe, mit der Stellung vergleichen,
welche ber "Herzog von Friedland einft zur Seite Ter-
dinand's II. oder eigentlich über bemfelben eingenommen
hatte. Noch einen Punkt Heben wir gleich bier Heraus,
in welchem der fonft fo billig und Mar urtheilende Ver⸗
faffer durch die mit feinem Parteiftandpunkt fo leicht fich
verbinbende Boreingenommenheit zu einer entfchieden un⸗
Haren Auffaffung und infolge davon zu einem nicht mehr
unparteiifchen Urtheile verleitet worden ift: es betrifft dies
die Perfünlichkeit, die Thätigleit und das Ende Robert
Blum’s, über den wir hier nur den Parteimann, nicht
mehr wie fonft in dem Buche faft überall den Geſchicht⸗
fchreiber urtheilen hören, Recht anfprechend und mit
fihtlichee Teilnahme find die Charakterbilder der Haupt⸗
führer des wiener Aufftandes gezeichnet; der unklar ſchwär⸗
mende und allein in fchwülftigen Phrajen ftarfe Meſſen⸗
baufer, ber dem ihm zugefallenen Plage aud) nicht im
geringften gewachſen war, der unheimliche, abenteuernde
Pole Bem, der kalte und klare, vor nichts zurüdichredende
Tenneberg, der das Zeug zu einer Art von Nobespierre
in ſich Hatte, fowie andere Perfönlichkeiten der wiener
Revolution werben uns in lebensvollen und anziehenden
Bildern nahe gebradit.
Auf den materiellen Gehalt des Buchs einzugehen
und die in ihm erzählten Ereigniffe in ihren Hauptzügen
näher zu verfolgen, ift Hier nicht der Ort. Gern wird
jeder der lebendigen und anfchaulichen Darftellung folgen,
welche, durch ein reiche® und intereffantes Detail noch
anziehender gemacht, den Leſer fortdauernd in Athen er«
hält und demjelben die erzählten Vorgänge mit echt dra-
matifcher Lebendigkeit vor Augen ſtellt. Eben in diefer
Kunft der Darftellung jehen wir ein Hauptverdienft des
Berfafferd: nirgends verliert man die Mare Weberficht über
den fo verworrenen Gang ber Ereigniffe, man fteht faft
von Stunde zu Stunde die Entwidelung fid) der gewal-
tigen Rataftrophe nähern. Dieje Abfchnitte find es, denen
durch die perfünlichen Anfchanungen und Erfahrungen bes
Berfaflers und mehrerer feiner Freunde ein befonderer Werth
verliehen wird, und bier erfennt man erft recht, wie rich.
tig der Berfaffer in der von „jenfeit bes Waldes’ ba-
tirten Vorrede fein Werk bezeichnet als „eine Mofailarbeit,
zu welcher von den verfchiedenften Seiten bunte Steinchen
zufammengetragen und zu einem Geſammtbilde ineinander-
gereiht wurden“. 8 liegt eben darin eine der auszeich⸗
nenden Cigenthümlichkeiten diefes Werks: auf Grund
fritifcher Forſchung und Sichtung der zunädft faft nur
in Parteifchriften enthaltenen Weberlieferung wird der
vielfach unfichere oder auch abſichtlich unrichtig dargeftellte
Thatbeftand mit möglichfter Genauigkeit nachgewiefen, und
infofern entlehnt, wie der Berfaffer bemerkt, fein Bud
die Form von der Hiftoriographie, im übrigen aber fann
ed faft der Memoirenliteratur zugerechnet werben. Leß«
Eine neue Geſchichte Defterreich®,
teres kommt auch der Darftellung mejentlih zu gute: au
Friſche und Lebendigkeit, an Anfchaulichkeit und gleichſam
greifbarer Plaftif werden ſowol aus der eigentlich hiſto⸗
riſchen Xiteratur wie aus der Waffe älterer und neuerer
Memoiren nur jehr wenige diefem Werke an die Saite
geftellt werben köͤnnen, und man kann daher dem Ber-
faſſer nur aufridhtig dafür danken, daß er feine vortreff⸗
liche Arbeit nicht, um fie ald opus posthumum erfceinen
zu laſſen, vielleiht nod jahrelang im feinem Pulte
zurüdgehalten bat. Um unſern Lefern von der Art der
Dorftelung einen Begriff zu geben und fie durch biefe
Probe zugleich zu dem lohnenden Studium bes ganzen
Werks einzuladen, theilen wir eine Stelle mit, in welder
der Höhepunkt des Kampfes während des am 28. De
tober unsgeführten allgemeinen Angriffe auf Wien ge
ſchildert wirb:
Jet glaubte General Frauk den Zeitpunft gekommen,
einen entfcheidenden Sturm gegen die Kirhenbarrilade unter
nehmen zu laſſen. Major Schneider mit feinen Schönballern,
Grenabiere von Kaiſer und Schönhals rliden von neuem duırd
die Praterfiraße vor. in mörderifches Feuer empfängt bie
Truppen, die von ihren Offizieren zu muthiger Ausdauer angeeifert
werden. „Vorwärts, Schönhals! Bormärts, erfle Compagnie!“
ruft Hauptmann Theobald, der, bereits an der rechten Haud
verwundet, deu Säbel in der linken führt. Ein Häuflein Uns
erichrodener folgt ihm, das ein dichter Kugelregen überſchüttet;
da ſinkt der tapfere Hauptmann, am Kopfe tödlich getroffen,
bewußtlos nieder; fein Lieutenant ſtürmt meiter und nimmt bie
nädften Häufer. Es war der Höhenpunkt des Kanıpfes. Die
Commandorufe ber Führer, das leidenfchaftlide Toben der
Kämpfenden, das Aechzen, Stöhnen, Wimmern, alle die
Schmerzensiante der Berwundeten und Sterbenden, das Jam-
mergeichrei der rauen und Kinder, die ſich aus dem heftigfen
Feuer in Sicherheit zu bringen fuchten, widerhallten gräßlich
in dem Schmettern einzelner Trompetenſtöße, dem Wirbeln der
Trommeln, dem umaufhörlichen Heulen der Sturmgloden, dem
Knattern des Gemwehrfeners, dem Donner der Gefchüte, dem
Gekrache auffliegender Pulverlarren; dazu das Brafjeln der in
Flammen flehenden Häufer, das Berſten einfilirzgender Manern,
das donnerähnliche Herabſtürzen der Balken, das “Pfeifen der
fliegenden, das Abprallen der einſchlagenden Kugeln, das Ge⸗
klirr zertrümmerter Fenſterſcheiben; alles das faſt unaufhörlich
eingehüllt in undurchdringlichen Pulverdampf, daß ſich die
feindlich gegenüberſtehenden Kämpfer kaum erblicken fonnten,
und wenn ſich der Rauch auf Augenblicke verzog, der ſchauder⸗
volle Anblick der entfeſſelten Leidenfchaflen und ihrer Folgen:
die Wuth in den Blicken der Streiter, das Hinftlirgen einzelner,
die Maffenden Wunden, die vom Tod verzerrten Mienen ber
Gefallenen, große Blutlahen allenthalben auf dem Boden. Su
ber innern Stadt lag breiter heller Sonnenſchein auf den leer⸗
gefegten Straßen, ın deren Stille nicht blos die dumpfen
Schläge der Kanonen, fondern felbft der wirre Lürm der Strei⸗
tenden herlibertönten; in den der Leopoldftadbt näher gelegenen
Stabttheilen klirrten die Fenfter und erzitterten die Gemäner
von der ungehenern Lufterfhütterung. Wer aber vermödte al
die verfchiedenen Scenen zu überbliden, die Züge von Tapfer⸗
feit, Geiftesgegenmwart, von heldenmüthiger Ausdauer, von denen
nur die wenigften in dem rafenden Getümmel bemerkt und ber
Bergeffeubeit entrifjen wurden!
Um das von ihm entworfene bdetaillirte Bild ber
wiener Revolution zu vervollftändigen, gebenkt der Ber-
fafler auch der ähnlich gearteten Bewegungen auf andern
Schauplägen, jedoh nur in aller Kürze. Die Berhält-
niffe der übrigen Provinzen bes Kaiferftants, die Bor-
gänge namentlich) in Ungarn, aber auch die in Frankfurt
und Berlin werden kurz gefchildert, um den Hintergrund
zu vervollftändigen, auf dem ſich das blutige wiener Drama
t__— —
Nene Romane und Erzählungen. 635
abfpielt. Der zweite Band, der in drei Abſchuitten: „Allge⸗
meiner Gang und Charakter der mitteleuropäifchen Bewe⸗
gung des Jahres 1848”, „Die Nationalitätenfrage” unb
„Annus confusionis“ zerfält, bat diefelben Vorzüge und
Schattenſeiten wie der erſte, enthält aber einige pikante cul«
turgefchichtliche Kapitel. Der Berfaffer nennt ſich auf dem
Titel befjelben mit feinem vollen Namen; e8 ift Joſeph
Alerander Freiherr von Helfert.
Ehe wir von dem interefianten und wertvollen Buche
für jetst fcheiden, müflen wir noch einen Punkt hervorheben,
der uns mehrfach Anftoß gegeben hat. So gut nüm-
fh der Berfafier im ganzen fchreibt, fo haften ihm doch
eine ziemliche Anzahl zum Theil recht förender öfterrei-
hifcher Provinzialismen an, ja felbft an Spradjfehlern
ift Fein Mangel. Als foldhe feien „ämtlich“ ftatt amtlich,
„zeitlich morgens”, die ,Wägen”, „inner die Linie”, „Erläſſe“,
„Bedung“ herausgehoben. Zahlreicher noch find Abfonber-
lichkeiten wie: „es mit jemand verſchütten“ “flatt verder⸗
ben; „ſchüttere Reihen”; fie „überfetten” die Donan auf
„plätten‘; „nnmweltläufig”; die „Rückwärtigen“ u. f. w.
Wollte man boshaft fein, fo könnte man angefichts dieſer
Blumenlefe fih auf die einmal von dem Berfafler ge-
machte Bemerkung berufen, daß nämlich) auch heute noch
bochgeftellte öfterreichifche Offiziere der dentſchen Sprache
nicht fo ganz Herr feien und fi) daher nicht immer
richtig auszubrüden wüßten, und darauf die Vermuthung
gründen, es ſei das zugleich eine beiläufige oratio pro domo
und er felbft gehöre im diefe Kategorie. Hans Pruß.
Uene Romane und Erzählungen.
1. Das Haus Bernhard. Roman von 3. Hallervorden.
Zwei Bünde. Leipzig, Grunow. 1869, 8 2 Thlr.
20 Nor.
Die Handlung bewegt fih in bürgerlichen reifen.
Johannes Bernhard, der Sohn eines reichen Fabrikherrn,
hat eine Geliebte, der er insgeheim feine Neigung gewid-
met, durch den Tod verloren und zugleich die fehmerz-
The Pflicht übernehmen müſſen, fein Kind, das ihm bie
Scheidende Hinterlaffen, ohne Wiſſen des firengen Vaters
zu verforgen. Auf den Wunſch des- legtern geht er ein
Ehebündniß ein; dieſes wird aber bald geftört durch das
alte und fchroffe Benehmen der Gattin, welche die
Iugendverirrung ihres Mannes erfahren hat. Nachdem
ber alte Bernhard plöglich geftorben, fieht ſich Johannes
in ein gefchäftiges, praktiſches Leben verfett, dem er ſich
um fo mwilliger Bingibt, als bie Gattin ſich von ihm
zurückgezogen hat und feine Zochter ihm durch ein ſchänd⸗
liches Ränkeſpiel aus den Augen entrüct worden if.
Die Schwefter feiner verftorbenen Geliebten, ein felbft-
füchtiges Weib, tritt nämlich mit einem ſchurkiſchen Arzte,
Dr. Beit, in Berbindung, um dem Pater fein Kind
vorzuenthalten und zugleich eine jährliche Rente, vorgeb-
ih zum Unterhalte defjelben, zu erprefien; nebenbei
wird auch die Witwe Bernhard, in dem Olauben daß
die Geliebte ihres Stieffohns noch am Leben fei, von
den Betrügern um bedeutende Summen geprellt. Nad)
vieler Jahren erft, als Bernhard's Tochter herangewad)-
fen ft, findet ihr Vater fie auf; die Betrüger werden
entlarvt; das junge Mädchen vermählt ſich mit einem
wodern Manne; Johannes findet endlich feine Gattin
verföhnlich geftimmt und beginnt, freilich fpät, ein glüd-
licheres Familienleben.
Zu den Mängeln des Romans gehört der unmwahr-
ſcheinliche Umſtand, daß Magdalene ihrem Bater trog
allen Nachforſchungen ſo lange verborgen bleiben konnte;
ferner bie höchſt mittelmäßige Zeichnung einer trivialen
Schurkennatur, wie der Dr. Beit iſt. Abgefehen von fol-
hen Mängeln und obgleich die Hauptperfon, der junge
Bernhard felber, ein matter Charakter ohne Energie if,
läßt fi der Roman doc mit ntereffe Iefen, da die
Handlung Antheil erwedt, die Charaktere größtentheils
treffend gezeichnet find und durch die Verſchiedenartigkeit
der gefchilderten Lebensverhältniffe für zwedmäßige Ber-
tbeilung von Licht und Schatten geforgt if. Dadurch
erhalten auch die Nebenfiguren eine anfprechende Bedeu⸗
tung, wie unter andern Sufanne, eine von Bernhard’s
Stieffchweftern, welche fi) ber entnervenden Erziehung im
mütterlicden Haufe entzieht und zu einer kräftigen Jung⸗
frau beranreift, während ihre Schwefter Angelifa, aus-
ſchließlich dieſen verweichlichenden Einflüffen unterworfen,
ſiech und geiſtig gebrochen zu Grabe geht. Der Gegen⸗
ſatz zwiſchen dem praktiſchen Leben des Mittelſtandes und
dem nichtsnutzigen Streben nach Vornehmheit, welches in
dem Hauſe der Stiefmutter des Fabrikherrn vorwaltet,
iſt in ſehr gelungener Weiſe gezeichnet; die naturgemäße
Erfindung des Stoffs wie die klare Darſtellung der
Perſonen und Lebensbezüge entſchädigen für den Mangel
an hochſtrebenden Tendenzen und genialen Pointen.
2. Aus Welt und Haus, von St. Graf Grabomsti.
Zwei Bünde. Leipzig, Grunow. 1869. 8. 2 Thlr.
20 Nor.
Der gewandte und vielgelibte Verfaſſer veröffentlicht
unter diefem Titel eine Sammlung Erzählungen und Novellen
verjchiedenartigften Inhalte.
„Pyramus und Thisbe“ ift ein humoriſtiſcher Schwant
aus dem Militärleben, welcher dem Verfaſſer, der fich
bier auf vertrautem Terrain bewegt, wohl gelungen ift,
infofern er die Heinlihen Berhältniffe des Offizierlebeng
innerhalb des engen Garnifondienftes in muntern Farben
barftellt, die ungeachtet einiger Tomifcher Uebertreibun⸗
gen, doc nicht ber Lebenswahrheit ermangeln. Nicht
übel, wenngleich zu breit gehalten und weniger inter-
effant, ift die auf gleichem Gebiet fpielende Novelle: „Die
Antipoden”, in der die Eiferfüichteleien zweier Lieutenants,
die fih um die beiden Töchter eines Commerzienraths
bewerben, geſchildert find.
„Die Heine Königin” betitelt ſich eine hiſtoriſche Er⸗
zählung aus der Zeit Karl's VI. von Frankreih. Sie
ſchildert das verworfene Leben am Hofe des wahnfinnigen
Königs und den merkwürdigen Einfluß eines Kindes aus
dem Bolfe, der befannten Odette, welcher es gelang, die
verberblichen Neigungen des wahnfinnigen Monarchen
durch Sanftmuth und Tiebenswürbigleit zu zügeln. Die
Heine Königin farb übrigens nicht vor Karl VI., wie
der Verfaſſer erzählt, jondern überlebte den König unb
wurde nach feinem Tode, als die Engländer Herren
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636
des Landes geworden waren, in das Tempelgefängnig
eſetzt.
8 Der Sohn der Steppe ift eine intereffante Epifobe
aus bem verzweifelten Vertheidigungskriege der Tſcher-
teffen, in theil® grellen, theils büftern Farben gehalten,
die indeſſen der Wildpeit des Schauplages und ber beiden
tümpfenden Nationalitäten ganz entiprehenb find.
„Zweite Rlafje“ gibt uns eine zu breit liniirte Humoreske,
deren Motiv in dem Irrthum einer jungen Dame beruft,
welche einen Gerichtsaſſeſſor, mit dem fle in einem
Eifenbahncoupe allein fährt, für einen entflohenen Zucht ·
hausfträfling Hält.
„Bruder und Schwefter”, eine Erzählung aus der
Zeit der Franzoſenherrſchaft im Königreihe Weftfalen,
ſchildert die zerfahrenen Zuftände einer Heffifchen Stadt
zu jener Epoche, wo ein Theil der Bevölferung in heim-
lichem Patriotismus grollte, und ein anderer fid zu allen
Niederträchtigkeiten bergab. Die Erzählung vermag wol
eine ziemlich vichtige Vorſtellung jener Verhältniffe zu
verleifen, wenngleih die Compofition nur ſchwach ift
und bie handelnden Perfonen nur wenig Antheil erweden,
am wenigften der eigentliche Held, ein junger Kaufmann,
der, bald von Patriotiemus, bald von nichtöwitrdigem
Ehrgeiz angetrieben, zwifchen den entgegengefegten Rollen
eine Empörers und eines Polizeifpions Hin- und her-
ſchwanlt.
„Eine militäriſche Execution“. Die Meuterei eines
Regiments der franzöſiſchen Beſatzung von Livorno ver⸗
— den Kaiſer, feinen Schwager Murat abzuſenden,
damit er firenge® Gericht über die Empörer Halte.
Diefer wird jedoch durch eine vagivende Mufilantin, die
Geliebte eines der Nüdelsführer, zum Mitleid bemogen
und läßt zwar drei Meuterer erſchießen, aber nur zum
Stein: die Musteten find blind geladen und die Ge-
falenen ſtehen nachher wieder auf. Die Erzählung ift
fpannend, beruht aber wol nur auf einer vomantijchen
Erfindung, denn wir wiſſen, daß bie Gehülfen bes
Schlachteniaiſers ebenfo wenig fentimental waren wie jener
felöft, den Kleber fehr treffend le general A dix mille
hommes par semaine nannte.
„Peter Wiebe von Meldorf” ift eine knapp concipirte,
hübſch gefchriebene Seeräubergefichte aus dem 15. Jahr⸗
hundert, die auf der Inſel Helgoland fpielt und auf
hiſtoriſcher Wahrheit beruht.
3. Berfehlte Ziele. Roman von C. Löwenherz. Bier Bände.
Berlin, Langmann und Comp. 1870. 8. 5 Zhlr.
Es ift feine gewöhnliche Unterhaltungsleftüre, mit ber
wir es hier zu thun haben, fondern ein focialer Tendenz«
roman, in welchem bie Emancipation der rauen das
Hauptthema bildet: jene fogenannte Emancipation, die in
neueſter Zeit wieder zu fpufen angefangen hat nnd barin
beftehen fol, daß man das Weib an den Pflichten und
Laſten, angeblih an den Vorrechten der Männer theil-
nehmen laſſe. Die Frage wird bier in der ſchidlichſten
Weiſe gelöft: bie edle Beftimmung bes Weibes, dem
Hausftande und ber Kindererziehung vorzuftehen und dafür
des Vorzugs einer rein menfchlihen individuellen Exiftenz,
ungetrübt don den Pflichten des Staatslebens und ben
Sorgen und Kämpfen des Weltgetriebes, zu genießen —
Neue Romane und Erzählungen.
diefe Beftimmung behauptet ihr Recht gegen alle ver-
ſchrobenen Emancipationsideale: eine Löſung, die um jo
mehr anzuerfennen ift, als das Werk allem Auſchein
nad von weiblicher Weber verfaßt if. Letzteres ift er-
fihtlih an der mübhfemen und faubern Ausführung ein-
zelner Details, an ber fhmwungvollen, nicht immer maß-
haltenden Diction, an den edeln, echt weiblichen Motiven,
die doch noch immer umter bem wild aufgeſchoſſenen Ge-
firlipp überreizter Phantafiegebilde zu erfennen find, an
dem NRofettiven mit den verfchiedenartigften Bildungs-
elementen, und endlich an einzelnen Berftößen gegen den
geläuterten Gefhmad, die ſich eben felber nur als ein
Ergebniß weiblicher Emancipation erflären laſſen.
Aus diefem wunderlichen Roman, obgleich er ſchon
vier Volumina umfaßt, ließen fi doch noch wenigſtens
ſechs gelungene Senfationsromane mobernfter Art heraus-
ſchneiden, und es ift der BVerfafferin vor allen Dingen
anzurathen, fünftig ihre Mittel in Öölonomijcherer Weiſe
zu verwenden. Die Handlung iret auf jo verjchiedenen
Schauplägen — von den Wülten Aegyptens bis auf bie
Boulevards von Paris und die Squares von London —
und in fo wibderfprechenden Lebensverhältniffen umber,
daß der Leſer kaum im Stande if, den Plan der Con-
ception zu verfolgen; man wird fo irr und wirr dabei,
als hörte man eine Zufunftsoper, ober betrachtete jene
berühmte „Pet in Florenz“, ober, proſaiſcher aus-
gedrüdt, als ginge einem ein Mühlrad im Kopfe
herum. Diefer verwidelte Verlauf des Romans macht
es auch unmöglich, in einer kurzen Kritik auf die Anlage
der Eompofition und die Zeichnung aller einzelnen Figuren
genauer einzugehen, und wir müffen nnd auf wenige
Andeutungen bejchränfen.
Die beiden wichtigſten Vertreterinnen der Frauen -
emancipation find Mariam und Clementine. Mariam
zieht Hofen an, tritt als Mann auf, malt, bilbhauert,
jecirt Leichname, macht chirurgiſche Operationen und ſchlägt
fh auf Piſtolen — es fehlt nur noch, da fie einen
Senjationsroman ſchreibt, um alles gethan zu haben, was
fi nicht für ein Weib ſchickt. Zu letzterm ift fie aber
zu fürmifch; fie begnügt fi damit, ihre Marimen
mündlich von fich zu fprubeln, wozu ihr ber Widerſpruchs ·
geift Leonor's oft genug Gelegenheit bietet. Leonor Richter
ft nämlich ein fvebfamer Denfa, aber viel zu bernünf-
tig, um dem flürmifchen Gange der geiftig Cmancipirten
folgen zu können, die er überdies in ihrer Verlleidung
für einen eraftirten Stngling hält.
Aehnliche Anfichten wie die Mariam’s vertritt die feurige
Elementine, die einen Theil ihrer Marimen in folgenden
Worten kundgibt:
Mid) dauert die arme Kirche, die gezwungen ift, täglich
ſolche gebrochene Eide zu Hören und ſolche, die ſchon mit der
Abfiht gethan werden, fie nie zu halten. Warum gibt man
dem Weibe nicht eine Tätigkeit, die fie davor bewahrt, ſich im
die Ehe wie in einen Sriedenshafen flürzen zu müfjen? Die
eine ſcheut den Spott ber Welt, melde Über eine alte Jungfet
ſtets die Nafe rimpft, weil man fie doch immer nur als über-
faftgee Mitglied der Menjchheit betvachtet; die andere treibt
die Noth im fremde Männerarme; die dritte heiratet aus
purer Langeweile den erften beften
dem glaubt, daß es nicht anders geht. Gebt dod) den Frauen
einen Wirfungsfreis, ben ein Weib leicht auezuflillen vermag;
verfgließt ihr mit mit Männeregoismus den Ileinen Plag,
mm und weil fie aufer-
Neue Romane und Erzählungen. 637
ben fie am Steuer der großen Welt einnehmen Tann; Üüberlaßt,
ihr einen Theil der Befchäftigungen, die ihren Kräften und
Fähigkeiten angemefjen: dann wird wol feiner mehr über
eine alte Jungfer laden, weil fie dann ein nütliches Mitglied
der menſchlichen Gejellichaft if. Dann blickt euch juchend um:
die Ehe der bloßen Convenienz wird wie ein libermucderndes
Unfraut von dem Erdboden fortgemäht fein; ihr werdet nur
glüdlih lachende Gefichter fehen, bie allein die innigfte Liebe
aufammengeführt, uud gute, brave Kinder find ſicher die fchönfte
Frucht folder Ehen. So wird felbft die Einſame glücklich, die
zu dem großen Weltenwerfe auch die Hände regen darf und
fh nicht mehr als überflüffiges Weſen auf der Erde fühlt.
Befragen Sie doch die Lehren der alten, erforfchen Sie die
Spfteme der modernen Philofophen, und dann beantworten Sie
mir offen die Frage, ob ihnen nicht fchließlih die Pſyche aller
der Geſchöpfe, deren Geiflesorganismus und Seelenfunctionen
die Hauptgegenflände ihrer Unterfuhung ausmachen und bie fie
zwar üußerlid in männliche und weibliche getheilt haben, nur
Pſyche blieb, gleichviel ob fie in der Hülle des Genus mas
culinum ober femininum lebte; ob fie bei ihren gelehrten For⸗
{Hungen eigentlich überhaupt ein höheres piychologiihes Pro-
blem Tannten als die Löſung der Frage Über die Wefenheit
des Individunmse? Ebenfo follte die Gefellichaft verfahren; fie
müßte ıms niit eintheilen in Dann und Weib, fie müßte uns
als Ganzes betrachten, nicht Heinlich jedem Gefchlecht das Maß
feiner Beſchäftigungen zumeifen, fondern jeben frei wirken und
handeln lafſen ans fich heraus, je nach eigenem Bedürſniß und
innerm Berufsdrange. Sie follte nicht im engherzigen Egois⸗
mus dem Weibe ewig Grenzen ziehen wollen, ſondern dieſes
ſelbſt enticheiben lafſen Über fein Thun und Handeln; fie follte
das freie Gottesgeſchöpf nicht einzwängen im jene lächerlichen
veralteten Regeln von Sitte und Anftand, die doch für feine
derſelben ans ſich ſelbſt herans eriftiren , die fie ſelbſt kaum in
fi) fühlt und die troßdem von jeder edeln Frau in noch fo
zweifelhaften Berhältnifien, noch fo unfauberer Umgebung ficher
aufrecht erhalten bleiben dürften.
Der armen Clementine ift folcher Herzensergug um
fo mehr zu gönnen, als le von ihrem Manne nicht ver-
ftanden werden Tann; von diejem gibt fie jelbft folgende
wenig fehmeichelhafte Schilderung:
Denke dir eine kleine dürre Geſtalt, bie ſich durch thurm⸗
hohe Schuhabſätze und einiges Halsrecken gewaltſam größer
machen möchte. Ein dürres, ganz abgelebtes Antlitz, welches
eine Maske ſtereotypen ſlißen Lächelns trägt und gern Bla⸗
firtheit zeigen möchte. Das alles eingezwängt in geckenhaft
modiſche Kleidung, und das Lorgnon als unzertrennlicher Be⸗
gleiter in das erloſchene Auge geflemmt. Die Sprache flü⸗
fternd, füßlih, Tispelnd, da er immer aufs Tächerlichfte den
Ariftofraten fpielen möchte. Zu Zähnen, Mund und Haaren
ift mein Ange noch nicht gelangt, da ich die Nähe und Berüh⸗
rung diefes Menſchen wie die eines garfligen Reptils fcheue.
Er ift graufam, hart, ohne Mitleid, verfchwendet wo es feiner
Citelfeit dient, weift dem ‚Armen Hingegen ſtets die Thür.
Die arme Mutter führt in feinem Haufe nicht das angenehmfte
Leben, da fie da8 Wort Gnade täglich aus feinem Munde hören
muß. Das ift das große Süd, um das die Menfchen mid)
fo vielfach beneiden, das den Haß fo vieler auf mid) zog. Ich
taufchte e8 gern gegen meine frühere Armuth ein.
Beide Nepräfentantinnen ber Emancipation, Mariam
und Clementine, unterfcheiben ſich jedoch noch weſentlich
voneinander, und dieſer Unterſchied iſt meiſterhaft gekenn⸗
zeichnet: während ſich nümlich Clementine einer glühenden
Liebe zu ihrem Verführer hingibt, bannt Mariam ſolches
läſtige Frauengefühl aus ihrem Buſen und ſtrebt nur
nach männlicher Thatkraft.
Die Vertreterinnen der echten Weiblichkeit, jener
Emancipation gegenüberſtehend, find Lady be Courecy,
Mariam's Mutter und ihre Coufine Edith, vor allem
aber die liebenswürdige, mit anfprechenden Farben ge=
ſchilderte Amable, bie ſich einem viel ältern, aber edeln
und retfchaffenen Manne, dem Dr. Greenwood, ver-
mählt. Außer legterm und dem erwähnten Leonor Richter
find die, übrigen Männer faft alle Tangenichtſe. Baron
Rothenburg, der Wüſtling, ift übrigens naturwahr und
treffend gezeichnet; Graf Powills, den die Berfafferin,
als einen in ben fchmerzlichften Kämpfen des Lebens gehär-
teten Mephiſto, mit einer glimpflichen Theilnahme behan⸗
delt, ift dagegen zum überwiegenden Theile ein „Sonnen-
bruder‘, deffen zerriſſener Mantel eher den Eckenſteher ala
ben Diogenes durchjehen läßt.
Ohne bem vielfach verfchlungenen Faden der Colli⸗
fionen zu folgen, wollen wir nur anflihren, daß in der
Kataſtrophe die echte Weiblichkeit zu ihrem echte gelangt,
während bie fürperliche und die geiftige Emancipätion zu
Schanden werden. Edith, Lady de Courcy und Amable
gewinnen die Männerliebe, welcher fie ſich unterorbnen;
dagegen findet Mariam durch die Hand der Rache ihr
Grab in den Fluten, und Clementine fällt, geſchmäht und
verachtet, als Dpfer der Sinnenluft.
Abgefehen von einzelnen Berftößen, die eben ale
Mangel an geläutertem Geſchmack oder vielmehr ale
Mängel weiblicher Berbildung anzufehen find, ift der Stil
Mar und finnig. Ueberhaupt läßt fid) aus dem, was wir
bier nur kurz andeuten konnten, wol genugſam erfehen,
daß dem Lejer hier ein bedeutendes Werk vorliegt, das
reich an genialen Zügen ift und fogar theilmeife von
pigchologifcher Tiefe zeugt. Wenn unfere Bermuthung,
daß der Roman das Product eines weiblichen Geiftes fei,
fi beftätigt, und überdies bes alten Hippel Behanptung:
fein Weib lafie ſich beffern, überall zutrifft, jo wird
freilich) auch die Mahnung vergeblich fein, die wir der
begabten Schriftftellerin hiermit in wohlwollendſter Abficht
ertheilen: fie möge ihr überaus reiches Talent nicht fer-
nerhin zu überfpannten, vermwidelten und vorzugsweiſe
auf den Effect berechneten Compofitionen verwenden, fon-
dern fih an claffifhen Muftern beranbilden zu edler
Einfachheit und Klarheit bes Plans und zu einer natur-
getrenen und kunſtgemäß idealifirten Darftellung, die
einer feflelnden Einwirkung auf den Leſer immer gewiß
fein Tann.
4. Gegen den Strom. Roman von I. Weftrig. Zwei Bänbe.
Leipzig, Rötſchke. 1870. 8. 2 The.
Wenn dem vorgehend genannten Roman eine zu ver-
widelte Anlage und eine zu üppige Häufung von fpan-
nenden Scenen zum Vorwurf gemacht werden mußte, fo
finden wir in dem vorliegenden das Gegentheil: eine ein-
fache Handlung in deutſchem bürgerlichen Kreife; wenige
Perfonen, die aber die verfchiedenften Charaktere und
Beftrebungen darftellen und dennoch ohne allen Zwang,
durch die matürlichften Beziehungen miteinander in Ber-
fehr treten. Freilich fpielt bie leidige Politif eine Nolle
bei der Berwidelung, inbeffen nur infofern fle, wie es
in der Wirklichkeit gefchieht, einen Einfluß auf die bür-
gerlichen Verhältnifſe ausübt und die Menfchen nöthigt,
ihren Charakter und ben Standpunkt, den fie überhaupt
in der Bildung einnehmen, unverhohlen kundzugeben.
Aus diefem Grunde ift der Roman, wenngleich jene poli-
tifchen Einwirkungen fih maßgebend darin geltend machen
638
und ber entfchieden ‚liberale Standpunkt des Verfaſſers
der entgegenftehenden Partei wenig zufagen wird, doch
Fein eigentlicher politifcher Tendenzroman, fondern berubt
vorzugẽweiſe auf pſychologiſchen Motiven.
Emmi, die Toter eines reihen Kaufmauns Bor-
nemann, fließt ſich mit jungfräulicher Neigung an ihren
Lehrer, den Dr. hoben, und die Xeltern willigen bor«
laufig in eine fünftige Verbindung. des jungen Paare.
Während Rhoden's Abweſenheit lernt Emmi jeboch einen
jungen Fabrikherrn, Namens Arnftedt, kennen, ber fie
durch Reichthum, Liebenswürdigleit und gefellige Begabung
zu feffeln weiß und von ber finnigen Einfachheit, die
allein dem Charakter Rhoden's entſpricht, allmählich ab-
lenkt. Rhoden findet die Geliebte bei feiner Riickehr
verändert, gibt aber das Verhältnig noch nicht auf, bis
ihn die politifchen Ereigniffe zur Theilnahme reizen und
er dadurch in eine undaltbare Stellung zum Bornemann’-
ſchen Haufe geräth. Während er als entjchiedener Fibe-
raler ſich der Oppofition gegen die Regierung anſchließt
und deshalb ein Opfer der Verfolgung wird, machen die
übrigen Perfonen, von der Fürftengunft angelächelt, eine
Schwenkung zur reactionären Partei. hoben, der von
einer gleihgefinnten und mitfühlenden Braut erwartet
hatte, daß fie ihm Theilnahme ſchenlen, feine Gefinnung
ehren und feine Handlungen billigen werde, muß endlich
in Emmi nur ein oberflählihes, vergnügungsfüctiges
Mädchen erbliden, das ſich von dem Iebensluftigen Arn ⸗
Feuilleton.
ftedt in höherm Grabe als von ihm, dem ernften Denker
und entſchiedenen Politiker, angezogen fühlt. Elfriede
dagegen, eine verwaifte Verwandte der Bornemann’schen
Bamilie, welde fih in dem weltlichen, oberflächlichen Lurus
des Haufes unbehaglih und unglüdlic fühlt, wibmet ihm
ganz unbeachtet eine tiefe Neigung.
Die misliebige Stellung, in welche Rhoden zur Re
gierung geraten, läßt die Bornemann'ſche Familie end-
ich eine Löfung feines Verhältniſſes zur Tochter wün«
ſchen. hoben tritt zurlid und Emmi vermählt ſich mit
Arnftedt. Nachdem Rhoden, vielfach geprüft und ver
folgt, Elfriede's Liebe und Aufopferungsfähigfeit keunen
gelernt hat, ſchließt er mit ihr ein glüdliches Bundniß
für das Leben. Emmi fühlt bald tiefe Neue, als fie die
ſchnell vergängliche Zuneigung ihres Gatten erfalten ſieht
und fid durch Tofette Eroberungen zu entjchädigen ſuchen
muß. Daß die Untrene des lebtern und fein Verhältnig
zu feiner Schwägerin Luife, einer Iebensluftigen gemüth-
Iofen Frau, nur vorübergehend und ambeutend erwähnt
wird, gehört zu ben Feinheiten der Ausarbeitung, gegem
welche einzelne Schwächen, wie Arnſtedt's Auftreten ale
Rhoden’3 Denunciant, nicht in Anfchlag kommen.
Diefe einfache Handlung, wie wir fie Hier angegeben,
hat der BVerfaffer in finniger und feflelnder Weife und
durch die gelungene Charakterifirung der mitwirfenden
Berfonen zur Anſchauung gebradt.
Koberi Springer.
Feuilleton.
Die Reclam’fhe „Univerfalbibliothet.
Wenn die Popularifitung unferer Nationalliteratur das
Ziel iR, welches feit der Freigebung unferer Claffifer von zahl.
reichen Unternehmungen bes Verlagsbuchhandels angeftrebt wirb,
fo Äudht Die Verfagebughandfung von Bhilipp Reclam jun. in
Leipzig in ihrer „Univerfalbibliothel“ auf der breileſten
Grundlage das Ziel zu erreichen; denn jedes der von ihr ans⸗
gegebenen ‚Heften bringt zu dem Preife von 2 Nor. irgendein
volfändiges Wert, von Schiller, Goethe ober andern Dichtern,
und fo wird bie clafflfche Gebdankenfant auch auf einen Boden
ausgeftrent, der bisher folder Befruchtung nicht zugänglich war.
Es, liegen uns gegen 260 Bandqhen diefer „Univerfaß-
bibliothek” vor, die nod im rüfigem Fortgang begriffen if.
Offenbar überwiegt bisher das Drama und die Erzählung —
und zwar gewiß aus dem einfachen Grunde, weil der Umfang
biefer Productionen dem normalen Umfang der einzelnen Bände
EA entfpeicht. Zwar finden ſich auch größere Romane, wie Jean
aul s. Flegeljahre", Müler’s „Siegfried von Lindenberg‘ ı1. a.;
doch find dies in dem bisher erjdienenen Heften der Sammlung
nur Ausnahmen. Während die Dramen bon Leffing, Schiller,
Goethe, Shafipeare vollfändig, fehr zahlreich die Eile von
Mland, Kogebue, Moliere, Müller, Blaten, Raimund, Grabbe,
Beer, felbf ältere Stide von Babo, Gerftienberg, Klinger, Leifewig,
and unbebeutendere von Albini, Angely, Steigentelh u. a. ver»
treten find, fpielt die Sprit darin eine fehr untergeordnete Rolle.
Bisjett fehlen ſelbſt Goethes und Schiler's Gedichte, und wir
bemerken nur Blrger’s Gedichte Körner’s „Reier und Schwer
ZYurns’ Lieder und Balladen, Hebel’ „Alemannifhe Gedich
Emald Cärifion don Kleif’8 Werke, Matthiffon’s Gedichte, die
Sonette von Midiewicz, Wieland's „Oberon“ und „Mufarion‘,
Blumauer’s „Aeneis" und Schufze's „Bezauberte Rofe‘ auf dem
I night fehlen. Dis deutſche Geſchichtſchreibung if bisher durch
Archenholg’ „Gedichte des Siebenjährigen Kriegs“ allein ver-
treten. Es wäre infhenswerth, wenn aud) andere populäre
Geſchichtswerle folgten, ſo fehr die voluminöje Production der
deutichen Hiftorifer ihte vollsthhümliche Verbreitung erihwert
aan ndehens bürften bie Schilerfden Geihictswerke nicht
chlen.
Die „Univerfalbibtiorhel" beſchränkt fih indeß micht bios
auf die ältern Schrififieler,\ fie bringt and) ganz neue x
werke, namentlich Dramen, \wie „Sacobäa von Baiern
„Dlgmpias von Marz, dei Bauernkrieg“ von Seh
„König und Dichter“, „Blatek in Benedig‘‘, „Die
nigvolle Perrüte” von Cornelius, „Die Waldenſe
Sovean, „Jacob Molay“ und das Gedicht „Muhamed“ von
Nüben. Wir werden auf biefe werie in einer ſelbſtandigen
Kritik zurückkommen. \
Jedenfalls verdient ein Unternehmen bie befte Förderung,
das ben Befitz geifig anregender Werke aud den ärmern
offen ermöglicht. \
Zur Ariegetyril.
Außer den zahlreichen Kriegagebihten im den Zeitungen
erfheinen einzefne Heine felbRändig gedrudte Ciederfammlungen.
Johann Fafenrath läßt 15 Kriege, und Siegeslicder unter
dem Titel: ‚Die deutſchen Helden von 1870 (Leipzig, €. 9.
Mayer, 1870) erſcheinen, die mit der Dithyrambe beginnen:
An den fein, an ben Rhein, an ben Beiligen Mhein
‚Im Beiligem Zorne geflogen! \
Deutfg, deutih find des Meines Wogen!
6 tritt ſelbſi ber Amabe fürs Baterland, Ct —
Repertoire dieſet 260 Bänden. f ift, baf die
Sumoriften wie Jean a ee nme I Nah and Die 1
Konnt’ vom Branzmann fo fuel fhon wergefien fein
Das Iafr agtyehnhundertunbbreigehn? .
Feuilleton, 639
Es finden fi in den Gedichten die beliebteften Zeitwitze,
die „Moltlencur‘, die „anderthalb Napoleon”, die „Ihöne
Helene‘, fie haben bin und wieder populären Humor, fonft
feine ausgeprägte Bbnlogusmic. Rudolf Kulemann befingt
„Germania“ (Nürnberg, Korn, 1870) in ottave rime, denen e6
nicht an Schwung und Kraft fehlt. Hin und wieder erſcheint
bie Allegorie nicht farbenreich genug. Sechs Kriegelieber aus
Stddeutfchland“ von Ferdinand Wilferth (Lindau, Lud⸗
wig, 1870); einzelne derfelben, wie das „Auf den Sieg von
Ihnviner haben eine durch zahlreiche Anaphoren gehobene
raft:
Die die Windsbraut jäplings die Flur burhfauft,
Bie der Hagel nieder auf Gaaten Braut,
Die bie Feneröhrung mächtens bie Släfer fredt,
Wie die Wafferfint fhwellend bie Simſe Iedt;
Bie das frieblige Lamm ber gierige Kar,
Die den wehrlofen Wanbrer der Mölle Shar:
&o, mit fatanifger At über Rat,
Stürmte auf und bed deindes Mad.
Wenig bedentend find die Kampflieder von Theodor
Gesky: „Der Rhein foll deutſch verbleiben" (Halle, Her-
— 1870); am gelungeuſten erſcheint die „Ode am ben
in“.
Zur Geſchichte der deutſchen Rechtſchreibungsfrage.
Nach der trefflichen Schrift von K. I. Schröer in Wien:
„Die beutfce Rehtfcreibung in der Gcule“ (Leipzig, Brod-
haus, 1870), auf weiche wir früher die Aufmerkjamteit hin»
gelenkt haben (vgl. Ar. 37 d. BL. f. 1870), lernten wir eine
ebenfalls aus Wien flammende Abhandlung Über deutſche Recht ⸗
ſchreibung fennen, welde nicht minder Beachtung verdient.
Während Scäröer ein praftifches Buch bietet, wenn aud mit
Darlegung und Entwidelung theoretiſcher Grundfäge, iſt dieſe
Abhandlung eine „geſchichtliche Studie“, wie fie auch der Titel
nennt. Sie gibt einen Ueberblid über „Die Reformbeftrebungen
auf dem Gebiete der deutſchen Rechtſchreibung'“ (Wien 1870).
Urfpränglich in ber „Zeitfchrift fiir öfterreichifche Oymnafien"
fhienen, ift diefe Arbeit jet dur befondern Abdrud weitern
Kreifen in banfenswerther Weile zugänglich gemadt. Denn
die_gefammte Lehrerwelt nimmt an der Frage Über die Ber-
befferung unferer Seatigreibung theil, ja e8 wird bon dieſer
Frage nicht allein die Schule berührt, fie if gemiffermaßen
jHon zu einer nationalen geworden. Der Derfaffer der
„geiigtligen Studie“, Alois Egger, Profeflor am atade-
milgen Gymnafium zu Wien, will mit jeiner hiſtoriſchen Dar-
ftellung zur Klaͤrung der Anfihten über Wefen und Ziel der
orthographifchen Bervegung beitragen. Nur wer ben Berlauf
des Etraıe ganz Üiberjehe, fei berufen, auf dem gegenwärtigen
Standpunkte ein beffimmendes Wort zu ſprechen. Aber wir
meinen, daß auch folhe, deren Beruf fie nicht zur directem
Betheiligung an der Streitfrage veranlaßt, aus Egger's Schrift
vieles zu — Orientirung gewinnen lönnen. Nach kurzem
Nüdbfid anf die orthographiſchen Beſtrebungen vor Grimm's
Grammatit entwidelt der Berfaffer die Stellung, welhe Grimm
zur Rechtfcreibungefrage einnahın, ferner die entgegengefegten
Anfihten Heyfe's. Dielen Ehorführern ſchloſſen fih Anhänger
an, die fi gegenfeitig befämpften. Die fogenannte hiſtoriſche
Rechtſchreibung/ die auf Grimm's Anfhauungen zurlidgeht,
verfochi am nachdrdlichſten Weinhold. Ihm trat ale eben-
blrtiger Gegner Nudolf von Raumer entgegen, der ſtatt des
hiftorifh-etgmologifchen Principe das hiftoriich-phonetifhe zur
Seltung zu bringen fuchte. Jakob Grimm, vom dem ber erfte
Impul® ausgegangen war, trat in den Hintergrund. Man
fann wol dem Berfafler recht geben, wenn er behauptet, daß
es unter ben wiffenfhaftligen Parteien die Hiforifche fei, welche
feither an Boden und Anjehen beträchtlich verloren habe. Die
Literatur Über deuiſche Rechtihreibung ift ſchon eine ungemein
große, dazu fommt, daß aud die Staaten der Sade um des
interricht8 willen ihre Fürſorge zumenden mußten und Gut-
achten von Gachverfländigen ausarbeiten liefen. Selbſt unter
den Anhängern eines und deſſelben Princips treten im einzelnen
Gegenſäthe und Abweihungen hervor, ſodaß auf diefem Gebiete
die buntefte Mannichfaltigteit herricht, welche zum Glüd in der
Praris fid) nicht allzu ftörend erweif. Mit Schröer befindet
fi, Egger nicht durchaus im Cinffang.
Notizen.
Die Kürzlich im Verlag von O. Wigand erfhienene Bro-
fhüre von Rudolf Doehn: „Der Bonapartiemus und der
beutfd) «frangöfiihe Conflict vom Jahre 1870", wird, wie wir
hören, von Pietro Birano, Profeffor an der Univer-
fität zu Turin, ins Stalienifche überjegt. Der italienifhe Pro-
fefor ift_ ein Freund von Arnold Nuge und tmohlbewandert in
der deutſchen Literatur,
Bon dem Praditwerfe: „Die Urſchweiz, claffiiher Bo-
den der Telljage, verherrlicht durch Schiller's Freiheitsjang‘*
(Bajel, Krüfi) liegen uns vier Lieferungen vor, melde in
zahfreihen eleganten Stahlftihen landſchaftliche Bilder aus
dem Kreis der Tellsfage: Altdorf, Fllielen, Tell’8 Geburtshaus
in Bürglen, Steinen, Walter Flr’s Haus u. a. vorführen.
Der. hiftorifdh-topographif—e Text, der oft an die Worte der
Scilerihen Digtung anfnüpft, zugleich aber die genauefte
Kenntniß der ſchweizer Geſchichte bekundet, ift von dem als
Juriſten wie als Tonriften rühmiich befannten Profefjor E. Dfen-
brüggen. Das Wert foll 60 Siahiſtiche enthalten und in 15
Lieferungen abgeichloffen fein,
Bibliographie.
Der Franzofenfrieg im Jahre 1970 oder Deutſchlands
Beder, .,
Seuerprobe. " Siftorifg-romantiiche —22 bes beutjen Nationallanıs
pies gegen Brantreig. Aftes und 2ied Deft. Berlin, Serhagen. Gr. 8.
a3 Nor.
Sohlmann, D, Die Briebene-Bebingungen und ibre Bernertfung.
Eine Stizze. Ifte und 2te Aufl. Berlin, 9. — Gr. 8. 5 Ngr.
Vragmentarifcper Briefiwecel der Kaiferin Eugenie mit ihren Bertraus
den une Greunden. & ———
etsch, R.,
15 Ner,
Grazer, in Wort ber Erinnerung an Abregt v. Graefe. Hall,
ippert. &r. 8." 5 Na,
Hense, O., Heliodoreische Untersuchungen, Leipzig, Teubner.
Gr. 8, 4 The 10 Nr,
mautd. %,, Mveutigtand., Distergrüße am Kuferhungsmorgen
bes geeinigten Beutfhlands im Pocjommer des Jabres 1870. In forge
füttiger Auswahl dem deutfgen Bolte Dargeboten. 1ftes . Langen
falza, Berlags-Comptoir. 5 Nor.
Knobelsdorff, O. v., Die keltischen Bestandtheile in der eng-
lischen Sprache, Eine Skizze. Berlin, Weber. 8. 10 Ngr.
Menzel, ®., laß und Lothringen find und bleiben unjer. Stutte
gart, Kröneı 3. 10 Nor.
— Du Deutlglands Traum, Kampf und Sieg. Sehot
el
1.
einem Anhang vaterländifger Cefänge. Leipzig,
Br. Ri Pr a co
Müblfeld, I, Der deuti- franzöfiihe Krieg von 1870. Chronik
ber Ereignifie. Bogen 1-4. Bielefeld, Thiele u, Comp. Br. 8. &1Y, Nr.
1 Märgenbud. Ajgpersleden, 8, 20 Nr.
Des Der Grangofenkrieg. 1870. Ifte Cief. Berlin, D3. For
Bed. 8 Npr
— — Gewalt und Lift Franfreihs gegen Deutſchland feit dreihundert
Yabren. Gefhichtsbilder. I. Berlin, Kaftner. 16. 2%, Nor.
Der moderne Sozialismus und Communismus im Bergleih zu dem
Sozialismus und Gommunismus ber lehten zwei Jahrtaufende (von I.
Frühauf.) Halle, Buhbanblung ber Watfenhaufee. Gr. 5. 6 Mar.
baulomw,©., Acten ben bundertjährigen Geburtstag Hegel’s be—
treffend. Aftes Heft. Kiel, Univerftätsbußanblung. Gr. 8 he
Treitihte R2 d., Was fordern wir von Frankreich? Berlin,
Ir. 8. 6 Npr
—*
I. Reis
auf beutfer Kriege» und freie
eld und Haus gefammelt. EIbing,
Kristenthums.
Festschrii Buchhandlung des Waisenhauses. Gr. 8, 7./, Nar.
Bittftod, %, Paris. Haus, Grau, Familie im Babel an ber Seine,
2 Boe. Berlin, Cangmann u, Comp. 5. 1 Zhlr.
Geflügelte Worte von &. M. Arndt, opftod, Stolderg, Herder,
Nüdert und Geibel an die Deutjen. Giterstoh, Bertelsmann, Gr. 8.
10 Nor.
46
640
Anze
— — —
verlog von 5. A. Brodfaus in Leipsig.
William Shaleſpeare's Dramatiſche Werke.
Uederſeht von
ig oobenft,. Fre Delius, ee
——— — aa ie >
Nach der Tertrevifion und unter Mitwirkung von Nicolaus Delind.
Mit Einleitungen und Anmerkungen,
Herausgegeben von
Friedrich Bodenftedt.
Im 38 Bändchen. Jebes Bänden geh. 5 Ngr., cart. 7Y, Ngr.
Soeben erfgien:
Die Komödie der Irrungen.
von Georg Herwegb.
Die Vorzlige der von Bodenftedt im Verein mit den nam⸗
hafteften beutfchen Dichtern und Tertkritikern herausgegebenen
neuen Shafefpeare-Ueberfegung find allgemein anerfannt, wes
Halb fie fl aud) einer fortwährend fleigenden Verbreitung er ·
freut. Jedes Bändchen enthält ein vollftändiges Drama nebſt
ausführlicher Cinleitung und erläuternden Anmerkungen;
29 Bändchen liegen en bereite vor, die übrigen 9 find zum Theii
u ſchon im Drud und werden in kurzen Zwiſchenräumen
folgen.
29. Bänden. Ueberfegt
Wieland’s Oberon.
Alustrirt mit vier grösseren Molschnitten
and gmölf kleineren im Cexte,
nad) der großen Pradjtausgabe.
Tafdhenformat, elegant gebunden.
Preis Thlr. 2. 20., oder Sl. 4. 30,
Durch alle Buchhandlungen zu beziehen.
Verlag der 6. I. Göſchen ſchen Verlagshandinng.
in Stuttgart.
Anzeigen.
igen.
Derfag von 5. A. Brochhaus in Leipzig.
WER“ 70000 Abdrücke hinnen ärei Wochen! gr
Paris als Waffenplatz.
Plan von Paris und seinen Festungswerken.
2% Ner.
Allgemein ist dieser Plan von Paris und den die Stadt
umgebenden Fortificationen als der anschaulichste bei Ver-
folgung der Belagerungsoperstiongn empfohlen worden. Er
ward daher sowol zum Beilegen in deutschen wie auswär-
tigen Zeitungen (z. B. nach Petersburg, Odessa, Pesth u. s. w.)
als auch für den Privatbesitz in so grossen Partien bezogen,
dass ea der grössten Anstrengungen bedurfte, um die ver-
langten Abdrücke — 70000 binnen drei Wochen — immer
prompt zu liefern. Jetzt sind indess die umfassendsten
Massregeln zur Herstellung getroffen, sodass jeder Auftrag
unverzüglich ausgeführt werden kann.
Dertag von 5. X. Broddans in Leinig.
Lehrbücher der, deutschen Sprache
für Franzosen.
Ahın, F. Nouvelle möthode pratique et facile pour apprendre
1a langue allemande. 8.
29° &dition.
Premier co
Second cours.
Troisieme cours,
Traduction des thömes —X
cours. 7° edition. 5 Ngr.
—— Grammaire allemande bborique et pratique.
tion. 8. 24 Ngr.
—— L’Allemagne poẽtique ou choix des.meilleures podsies
allemandes des deux derniers siveles. Classces par
ordre chronologique et pröcädees d'un apergu historique
de la podsie allemande depnis Haller jusqu’a nos jours.
8. Geh. I Thlr. Geb. 1 Thlr. 8 Ngr.
Belloe, L. de. De la formation des mots en allemand.
Complöment indispensable de toute Grammaire allemande.
Ner.
B. Dislogues frangais et allemands, accom-
une traduction interlineaire, a Pusage des deux
2° edition, revue et augmentde. 8. 12 Ngr.
Sesselmann, B. Premier livre de lecture, d'éeriture et
struction allsmende & Pusage de la maison et des &coles.
2° edition. 8. 6 N;
— Second livre de Teeture, de version et d’instruction
allemande & l’usage des familles et des &coles fran-
gaises pouvant servir de themes aux dlöves allemands.
2° edition revue et corrigei
Premier et second
3° edi-
Derfag von 5. A. Br
Die Oeffentlichkeit
. in den
Baltischen Provinzen.
8. Geh. 15 Ngr.
Diese Schrift enthält einen nenen energischen Ruf der
russischen Ostseeprovinzen nach Mündlichkeit und Oeffent-
lichkeit der Justiz, Beseitigung der Censur, Freiheit der
Presse und Wahrung germanischer Civilisation.
Verantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brodhaus.
— Drud und Berlag von 8. A. Brohhaus in Leipzig.
pr u U A — — — 2 —
Bla
tter
r
iterariſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
- Ar. 41. ÿæ
6. October 1870.
Inhalt: Kleine Schriften zur Zeitgeſchichte. Bon Rudolf Gottichall. — Ein Drama Deblenjchläger’s. Bon Auguft Kretzſchmar. —
Geſchichte der Hannoverjhen Armee. Bon Karl Buflev von Berneck. — Fenilleton. (Die Bibliothek Friedrich von Schillers.
Bon Alfred Meißner.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Kleine Schriften zur Beitgefchichte.
1. Der Bonapartiemu® und der deutſch⸗franzöfiſche Conflict vom
Jahre 1870. Eine biftoriihe Studie von Rudolf Doehn.
Leipzig, D. Wigand. 1870. 8. 10 Nor.
Der Berfofier Hat zu feiner Schrift, welche noch vor
ber Entfcheidungsfchlaht von Sedan abgefaßt war, bie
Werke von P. Lanfrey, Jules Barni und Eugene Tenot
über den erften und dritten Napoleon benutt; er beginnt
biefelbe mit „Bruchftücden aus der Gefchichte Napoleon’s 1."
Durch allerlei Anekdoten wird das Bild des erften Cäſars
nicht gerade mit bengaliihen Ylammen beleuchtet. Wir
erfahren, baß er ſich in feiner Jugend mit einer Dame
über Turenne unterhielt, und als diefe dem General
wegen der graufamen Berwüftung der Pfalz Vorwürfe
machte, ganz ruhig antwortete: „Nun, meine Theuere,
was liegt daran, wenn biefer Brand und diefe Grauſam⸗
feiten für feine Entwürfe nöthig waren?” Laſayette theilt
in feinen „Memoiren folgenden Ausſpruch des Kai«
jers mit:
Cäfar war nichts weiter als eim Held; er handelte nad
Gemütbseingebungen, überließ ſich feiner Einbildungskraft und
hat fi den Mörderdolchen preisgegeben, Auguſtus war ihm
weit überlegen und ein wahrhaft großer Mann; er verftand
gramfam zu fein, wenn es noththat, und gnädig, wenn das
für feine Lage paßte. Er war ein wahrhaft politiiher Kopf,
der fih darauf verfland, den Leuten Dinge einzureden, an bie
er jelbft nicht glaubte, und Sefinnungen zur Schau zu tragen,
die ihm gänzlich fremd waren.
Ex ungue leonem! So faftte Napoleon ben Begriff
des großen Mannes auf. Als Beweis für die Taktlofig-
feit und Unzartheit des erften Napoleon kann die folgende
von Barni mitgetheilte Anekdote dienen: |
Gemein war es jedenfalls, daß Bonaparte, als er während
feines Feldzugs in Aegypten mit der Gattin eines feiner Offi⸗
ziere eine intime Berbindung gejchloffen Hatte, verlangte, daß
fein Stieffohn Eugen, der als Adjutant bei ihm in Function
fand, ihn auf feinen Spazierfahrten mit diefer Frau begleitete,
Da derfelbe fich weigerte und um feine Berfegung in ein Re
giment —2 um der ſchiefen Lage zu entgehen, in welche
er durch die fo Öffentlich zur Schau getragene Liebſchaft feines
1870, 41.
Stiefvaters gerieth, fo überließ fi Bonaparte einem heftigen
Zornausbrude gegen ihn. Später, ale er fi von der Ge⸗
fährtin feines Lebens trennen wollte, um eine öflerreichtiche
Erzberzogin zu beirathen, wählte er Sofephinens eigenen Sohn,
eben diefen Eugen, zum Vermittler. Er berief ihm eigens zu
-diefem Zmede, ohne ihm jedoch irgendeine vorläufige Anden-
tung darüber zu geben, ans Italien nach Paris, ertheilte ihm
den Auftrag, Sofephine zu dem Opfer, da8 er von ihr ver
langte, zu bewegen, und nöthigte ihn, feinen Pla im Senat
an dem Tage einzunehmen, ba man diefem Staatskörper bie
Auflöfung der Ehe feiner Mutter officiel befannt machte. Be-
fanntli wurde dem Brinzen Eugen auch die Rolle des fürm-
lichen Freiwerbers K4 die Hand der Erzherzogin Marie Luiſe
für den gewefenen Gatten feiner Mutter anvertraut.
Bon dem „Eäfarenwahnfinn“, ber aud) in Napoleon 1.
fich regte, gibt Doehn folgende Proben:
Seldft die grauenvolle Niederlage des Jahres 1812 und
die begeifterte Erhebung des preußifhen Volks im Sabre 1813
waren nit im Stande, Napoleon's thörichten Uebermuth zu
heilen und ihn auf den Eongreffe zu Prag (5. Inni bie
10. Aug’ ft 1813) für den Frieden günſtig zu flimmen. Der
öfterreis ſche Minifter, Hr. von Metternich, fagte z. B. nad)
einer U «terredung mit ihm im Dresden am 28. Juni 1813 (dem
Todestage des edeln Scharnhorft), in welcher er vergebene ihn
zur Unterzeichnung des Friedens zu bewegen gefucdht, zu Ber⸗
thier, ber ihn fragte, ch er mit dem SKaifer zufrieden ſei: „Ja,
ih bin zufrieden mit ihm, denn er Bat mich ins Klare gejekt,
und id) SAmdre Ihnen, Ihr Herr bat den Berftand verloren !"
Napoleon beharrte in übermüthigem Trotze dabei: „Nicht ein
Dorf foll von dem franzdfifchen Kaiferreihe mit allen ihm ein-
verleibten Provinzen abgerifjen werden!“ Cr hatte Übrigens
fhon früher Zeichen einer an Wahnſinn fireifenden Gemüths⸗
verfafjung gezeigt, eine Erſcheinung, die — wie Jules Barni
nicht mit Unrecht bemerkt — eine gewöhnliche Wirkung des
Cäfariemus if. Schon im Jahre 1809 fagte der Marine-
minifler Decres zu Marmont, der damals fehr verwundert war,
eine ſolche Sprade zu vernehmen: ‚Der Kaifer iſt verrüdt,
völlig verrlüdt.... Und die ganze Geſchichte wird ein Ende
mit Schreden nehmen. Im der eben erwähnten Unterrebung,
welche Napoleon mit Metternich hatte, fprach erflerer and)
Worte, bie den legten Zweifel dariiber heben, was ihm ein
Wenſchenleben galt: „Sie find nit Militär”, fagte er zu
Metternid, „Sie haben feine Soldatenfeele wie ih, haben
81
IR
642
nit im Felde gelebt, nicht gelernt, das Leben anderer und
Ihr eigenes, ſo's noth ift, zu veranten.... Was fheren mich
200000 Mann! Metternih war, wie Hr. Thiers, der dieſen
Auftritt berichtet, duch diefe Worte tief erjchlittert und rief:
„Wir wollen Thliren und Fenſter öffnen, damit ganz Europa
Sie höre, Sire, und die Sache, die ich bei Ihnen vertrete,
die Sache des Friedens, wird fi) dabei nicht fchlechter ſtehen!“
Der Faden, der dieſe Bruchftücke verknüpft, ift ber
Nachweis, daR das Syſtem Napoleon’8 ber Despotis-
mus nach innen und die Eroberung nach außen gemefen,
und daß der Träger diefes Syſtems durch Heuchelei,
Hinterlift und Grauſamkeit unmwerth fei der Vergötterung,
welche man lange feiner „Größe gezollt Bat.
Das zweite Kapitel bringt: „Bruchftüde aus der Ge⸗
ſchichte Napoleon's IH.“ Es find befannte Daten und
Actenftiide, bie aber, im Zuſammenhang mitgetheilt, ein
vollftändiges Bild der Geſchichte des dritten Cäſars geben.
Die Zufammenftellung der franzöfifchen Allianzvorſchläge,
welche die Begehrlichkeit nach dem Erwerb fremden Gutes
fo deutlich darlegen und deren Veröffentlichung durch Bis⸗
mord eine ber fchmerzlichiten Niederlagen für den Bona⸗
partismus war, tft ebenfo lehrreich, wie die Gelegenheit
zur Bergleihung einiger Reden Ollivier's, die und von
Doehn geboten wird. In der begeifterten Friedensrede
am 15. Mai 1868 fagte diefer Staatsmann:
Anftatt den größten Theil der Reffourcen des Budgets zur
Entwidelung der innern Wohlfahrt zu verwenden, anftatt eine
Bolitil des Friedens und ber Entwaffnung zu ergreifen, verfolgt
die franzöfifhe Regierung eine Politik, die nicht der Krieg, die
aber auch nicht der Friede if. Es gibt nur zwei Wege, aus
diefer Lage heranszulommen. Der erfte ifl ber wrien. Biele
Leute glauben, der Krieg fei nothwendig, es ſei eine Ehrenſache
zwifchen Fraukreich und Deutfchland zu erledigen. Dies wird
gejagt, gefchrieben und verbreitet. Aber meiner Anfidht nad
wäre der Krieg ein Unglüd. Ich fprecdhe nicht im Namen der
Brüberlichleit, im Namen der Gefühle, welche mit der Politik
nichts zu fehaffen Haben; ich fpreche im Namen der Intereffen.
Die Erfahrung bat jenes Wort Montesquieu's beftätigt: „Die
Diänner des Kriege find es, die Europa tuiniren werben.‘
Der Krieg Hat niemals irgendetwas gethan, nie eine Frage
gelöſt. Vergeblich würdet ıhr fegreich fein, vergebens hättet
ihr Deutihland zurückgedrängt, ben Rhein erobert. Nach dem
Siege würdet ihr meniger leicht entwaffnen fünnen als vor
dem Kriege. Ihr würdet no gemötbigt fein, euere Armeen
zu vergrößern, nnd das Misbehagen der Welt wiirde nicht auf-
hören. Der Krieg tft fomit meiner Anficht nach eine unpral⸗
tijche, verberbliche Löſung, eim taftender Ausweg. Die wahre
Löͤſung ift der Friede, aber der Friede mit ber Entwaffnnng,
ber Friede mit der Freiheit, ohne welche der Friede weder glor-
reich noch ſicher if.
Das ift derfelbe Friedensmann, der in der Unter-
redung mit dem preußifchen Gefandten ausrief: „I ya
mnenace de guerre!“ Und mährend am 19. Juli bie
längft geplante frauzöfifche Kriegserklärung an Preußen er-
laſſen wurde, hatte Ollivier die Stirn, noch am 30. Juni
1870 im Gefeggebenden Körper über bie auswärtige Po-
litik der Regierung die folgende Erklärung abzugeben:
Die franzöfiiche Regierung ift in keiner Weife beunruhigt.
Ich darf erflären, daß zu einer Zeit die Erhaltung des Frie⸗
bens mehr gefichert war als gegenwärtig. Nirgends gibt es
eime aufregende Frage; die Cabinete begreifen, ah bie Verträge
aufrecht erhalten werben müffen. Der Barifer Vertrag von
1856 und ber Prager Frieden werben als Verträge betrachtet,
welche refpeetirt werben urlffer. Wenn man fragt, was bie
Regierung gethan babe, fo erwibere er, fie habe viel gethan,
‚fe babe die Freiheit entwidelt, um den Frieden zu fichern, fie
babe etwas noch Wirkfameres gethan, indem fie die zwiſchen
Kleine Schriften” zur Zeitgeſchichte.
ber Nation und dem Souverän herrſchende Einigkeit zum äußern
Ausdrud gebracht habe. Mit einem Wort, die Regierung bat
das franzöſiſche Sadowa gewonnen, nämlich das Plebiscit.
ALS Preis des deutſchen Siege verlangt Doehn bie
uns widerrechtlich entriffenen „burgumdifchen und lothrin⸗
gifchen Lande”, jedenfalls eine zu weitgehende Yorberung,
wenn bamit das alte Burgund gemeint iſt; doch au
„mach innen“ verlangt Doehn einen Preis des Siege:
Das deutſche Bolt hat den ihm von dem blutigen December-
mann fredy und frivol hingeworfenen Handſchuh mit feltemer
Einmüthigkeit aufgenommen, es ift dem Hufe feiner Flirſten
gefolgt und bereit, mit feinem Herzblut dafür einzuftehen, daß
der ruchloſe Napoleonide, nnd wenn auch erft nad hartem,
wechlelvollem Kamıpfe, bie längfiverbiente Strafe erhält. Aber
indem es den bonapartiftifchen Eäfarisınus zu Boden ſchmettern
wid, ift es nicht gewillt, im feinem eigenen Haufe, an feizem
eigenen Herb die rohe Gewalt eines deutfchen Cäfarismns anf-
fommen zu laffen. Der gegen beu meineidigen und blutbefled-
ten Urheber der modernen Militärdictatur, ber die Soldaten
als die ‚Auserwählten der Nation“ bezeichnete, gerichtete Kampf
auf Zod und Leben, er muß auch in Deutfhland, im ganzen
Dentſchland die rohe Soldatenherrſchaft zu Kal bringen. Nur
erſt wenn der unerträgliche, entfittlichende Militärdruck von ben
Schultern der Völker Europas genommen ift, können Induftrie
und Handel, Wiffenfchaft und Kunft durch die Segnungen bes
Griedens und der Freiheit in ungeahnten Maße blühen. Köig
ilhelm I. von Preußen hat gefagt, daß er „dent deutihen
Bolle Treue um Treue entgegenbringe und unwandelbar halten
werde”. Hoffen wir, daß diefe ſchönen Worte ſich ſtets in der
That bewähren werden, und daß nad der Niederwerfung des
dritten Rapoleon keine neue „heilige Allianz’ entftehen möge,
e8 fei denn bie heilige Freiheitsallianz der Völker.
Leider läßt uns der Autor in Ungewißheit, was er
unter der „Soldatenherrfchaft” verfteht, wie iiberhaupt im
der Schrift Bin und wieder die pathetifche Begeiſterung
mit der Phraſe feuerwerkert, ftatt fachliche Kernſchüſſe
zu thun.
Dei der Beurtheilung des Bonapartismus, den Zreitfchke,
Blankenburg u. a. al8 ein politifches Syſtem nicht ohne
gewiſſe Vorliebe darakterifirten, ift ber moraliſche Maß-
flab, welchen Doehn anlegt, gewiß nicht zu entbehren.
Doch ſcheint und dabei eine Seite nicht genugfam hervor-
gehoben. Ein tief in unferer Zeit liegender Zug ift der
Eultus des Erfolgs; diefen Cultus bat der Bonapartie-
mus mehr begünftigt, als irgendeine frühere Epoche; deun
er felbft beruht auf abenteuerlichen, märdhenhaften Erfol-
gen. Natürlich fehlt au) der Kevers der Münze nicht —
mit dem erften entfcheidenden Miserfolg verweht feine
Macht wie Spren im Winde, Zwiſchen den Thaten bes
erftien Napoleon und feinen Erfolgen herrfchte noch ein
logiſches Verhältniß; es war in ihnen gleichſam eine wohl⸗
motivirte dramatiſche Steigerung. Anders bei dem dritten
Napoleon! Da fielen die Erfolge wie Ueberraſchungen
aus dem Lostopf und gingen den Thaten voraus. Darum
drückte feine Machtſtellung der ganzen Epoche das Ge—⸗
präge des Glücksritterthums auf, überall, in den Cabine⸗
ten, an der Börfe, in den Boudoirs, ja felbft auf dem
Katheber und auf der Bühne. Tief in alle Berbältuifie
drang die Unart, den Werth allein nad dem Erfolge zu
meflen, und bie heiße Gier nach Erfolgen, welche jebes
ruhige Streben beeinträchtigt. Hoffentlich haben bie deut⸗
hen Heere bei Sedan nicht nur den Cuſariemus befiegt,
ſondern auch das Princip des „Glücksritterthums“, eine
unheimliche Signatur der Zeit.
Kleine Schriften zur Zeitgeſchichte. 643
2. Abrehnung mit Frankreich. Bon Kranz von Löher.
Silnbneghaufen ‚ Bibliographifches Inftitut. 1870. Gr. 8.
gr.
Der tüchtige Hiftorifer gibt in biefer Heinen Schrift
eine nicht unwichtige Grundlage für bie Friedensverhand⸗
lungen mit Frankreich, das er keinesfalls leichten Kaufe
ans biefem Krieg entlaffen will. Es handelt ſich nad
feiner Anfiht um eine alte Abrechnung, bie fi auf län-
ger als Hundert Jahre erftredt. Zu einer naturgemäßen
und dauerhaften Ordnung unfers Verhältnifies mit Fran
reich Hält er zweierlei für nothwendig: erftens Sicherheit
anf unferer Weflgrenze, zweitens daß unferer nationalen
Ehre Genüge gefchehe. Was die Grenze zwiſchen Deutſch⸗
land und Frankreich betrifft, fo ſtellt fich nach Löher Har
zu Ungunften Frankreichs eine doppelte Thatfache heraus,
eine geographifche und eine Biftorifche:
Die geographiſche beſteht darin, daß alles Land, welches
Frankreich vom Rhein, Mofel-, Maas⸗ und Scheldegebiet be-
figt, ihm mehr Tünftlich als natlirlich angegliedert erjcheint. In
volkswirthſchaftlicher Hinficht find die Lebensbedingungen der
Sandestheife, die man mit Recht als das germaniſche Frankreich
bezeichnet Hat, nicht an das Übrige Frankreich geknüpft. Die
geihichtliche Thatſache ftellt ſich noch mächtiger dar. Im Leben
der chriſtlichen Böller zählt ein und das andere Jahrhundert
wenig. Das Schwergewicht der Völker ſchwankt hin und her,
bier läßt es ein Gebiet frei, dort ergreift es ein fcheinbar ver⸗
Icfjienes wieder. Nun ift e8 gar nidt fo lange her, nur zwei⸗
hundert, zum Xheil erft etwas Über einhundert Sabre, daß
die natlirliche Grenze zwifhen Deutihland und Fraukreich —
einen ichmalen Küftenftrid am Kanal ausgenommen — zu uns
jerm Nachtheil verrüdt wurde, und zwar nicht durch eine ethno-
taphifche oder natürliche, ſondern durch eine rein politifche
inie.
Die natürliche Grenze beginnt mit dem leichten Höhen⸗
zug, der in ber Mitte zwifchen Boulogne und Calais am
Borgebirge der Grauen Naſe anfest und fi breit nad
beiden Seiten abdachend bis ins Duellengebiet ber Lys,
Scelde, Somme, Dife und Sambre zieht. Es ift bie
Wafferfcheide. Löher unterfuht nun, was hüben und
drüben von diefer Naturgrenze zu Deutſchland gehörte
und was es von Rechtswegen wieder fordern muß; er
führt feinen Leſern vier Gruppen vor: das Ahönegebiet,
die belgiſchen Grenzlande, Lothringen und Elſaß. Das
prachtvolle Ahönegebiet deshalb, weil e8 im Mittelalter
zum Deutfchen Reiche gehörte, wieder zu verlangen, könne
zwar niemand einfallen; anders aber verhalte es fich mit
der Freigraffhaft Burgund und ber gefürfteten Graffchaft
Mömpelgard, und deutfche Politik möge dafür forgen,
dag das altberühmte Völkerthor zwifchen Vogefen, Jura
md Schwarzwald vollitändig unter deutfchem Berfchluffe
bleibe. Ueber die „belgifchen Vorlande“ gibt der Ver⸗
fafier eine kurze gefchichtliche Weberficht; hier könne es
fh nur um Erwügung des militäriſchen Berjchluffes
banbeln.
Ganz anbers verhält es ſich mit Lothringen, welches
über 1000 Jahre zu Deutſchland und feit anderthalb Yahr-
hunderten zu Frankreich gehört. Löher meint, für das
legtexe gebe e8, wie fchon ein Blick auf die Karte zeige,
feine genügenden Gründe; beun:
1) Alte Yotdringifchen Flüffe laufen nad) Norden, und zwar
ans Frankreich Hinaus nad Deutichland Hin. Man fol fich
aber wohl Blüten, die obern Flußläufe in Händen eines fremden
Bolls zu laſſen. Denn wie das Waffer abwärts läuft, ziehen
feine Gedanken mit ihm und traten immer, das weiter unten
liegende Laub auch zu erobern.
2) Das Iothringer Land paßt nicht zu dem Gebiet und
Beruf, welde die Natur den Franzoſen angewieſen. Fraukreich
bat feine Stellung zwiſchen Ocean und Mittelmeer. Dorthin
öffnet fich fein flinfgliederiges Flußſyſtem des Adour, der
Garonne, Loire, Seine und Somme; hierhin dffuet ſich das
Rhönethal. Beide Theile ergänzen ſich und fließen fi ab.
Das Gebiet aber, welches Frankreich von Deutſchland abgeriffen,
bat mit jemen beiden nichts zu thun, und fein Beſitz dient nur
dazu, die Franzoſen immer mey: in Eroberungsgedanken nad)
Deutichland hineinzuziehen. Es if body gewiß eine Mahnung
der Natur, daß im jelben Grade, als die Franzoſen ihr Stre-
ben nad Deutichland Hin richteten, fie ihre überſeeiſchen Be⸗
fisungen verloren.
3) Die Naturgrenze, welche Lothringen von Dentfchlandb
ſcheidet, ift in dem lang ſich hinziehenden rauhen und unweg⸗
famen Waldgebirge der Argonnen auf das deutlichſte gezogen.
Ale Gewäfjer jenjeits fließen Frankreich zu, die Seine, Aube,
Marne, Aisne, Aire, Oiſe. Alles, was biefjeits entipringt,
gebt zur Maas, Mofel und Saar.
Die Naturgrenze und auch bie Spracdhgrenze gibt
Löher ähnlih an, wie Richard Böckh in feinem grimblich
eingehenden Auffag: „Die natürlichen Grenzen Deutjch-
lands und Frankreichs“ in „Unfere Zeit” (Neue Folge, VI, 2,
3583 fg.); aber er kommt in Betreff der Annexion zu an⸗
bern Refultaten. Während Vöckh die Sprachgrenzen fireng
gewahrt wifjen will und deshalb die gewaltige Feftung
Mes von dem zu annectirenden Gebiet ausſchließt, meint
Löher, wir bürften nicht fo arge Philologen fein unb die
alte Reichsſtadt Met aufgeben, blos weil fie außerhalb
der Sprahgrenzen liegt. Und da fi, wenn wir Dies
behalten, der Mofellauf nicht entbehren Täßt, fo müßten
wir auch Nanzig behalten, und es bliebe bann der Ar-
gonnenwalb die Naturgrenze. Dagegen herrſcht über den
Ekſaß feine Meinungsverfchiebenheit unter den „Annerione«
gelehrten”.
Bei ben andern Kechnungspoften, der Entfhädigung
der baaren Auslagen für Ausrüftung und Verpflegung
mehrerer Bunderttaufend Soldaten, file birecte Berlufte
durch Kapereien und Bombardements und die Verbannung
unferer Landsleute aus Frankreich, für die Invaliden und
die ganze Störung des Nationalwohlftandes wirft Franz
Löher fein Auge nad) den „Heinen überfeeifchen Colonial⸗
ändern” ber Franzofen, ben Kleinen Antillen, den Inſeln
Reunion und Ste.-Marie, Pondihery u. a Elſaß und
Lothringen wieder deutſch zu machen, daflir erſcheinen
ihm die geeignetften Mittel die in allen Aemtern, Ges
richten und Zeitungen wieder eingeführte beutfche Sprache,
das beutfche Beamtenthum, Befreiung der Confefftonen,
namentlich der Proteftanten, von jeder Art Polizeidrud,
gute deutſche Schulen auf allen Dörfern, wohlbefegte
Gymnaſien und eine deutſche Univerfität wieder m Stras⸗
burg, ſowie die Erleichterung der Anfiebelung der jungen
Kauf» und Gewerbsleute.
Die beiden Testen Abjchnitte behandeln die „Noth⸗
wendigfeit der Schwächung Frankreichs“ und „Deutſch⸗
lands Machtſtellung“. Hier fchlägt Loher einen dithyram⸗
bifhen Ton an; er fieht in diefen Tagen den zweiten
berrliden Sonnenaufgang des beutichen Volks, Deutſch⸗
land wieder als das Hauptland mit der Hegemonie in
der enropäifchen Politit, und in ben Iesten Schlachten
ben fiegreichen Kampf des germanifchen Geifte® gegen den
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644
überhandnehmenden Romanismus. Die Heine Schrift ift
mit genauer Geſchichtskenntniß, mit Eleganz und Schwung
abgefaßt.
Noch fpecieller in das ftatiftifche Detail eingehend ift
die Schrift:
3. Elſaß und Lothringen und ihre Wiedergewinnung für Deutſch⸗
Yand von 4. Wagner. Leipzig, Dunder und Humblot.
1870. 8. 12 Ngr.
Der Berfafier geht in feinen Anforderungen nicht fo
weit wie Löher und ſtimmt mehr mit Richard Böckh
überein. Er geht davon aus, daß Frankreich unfer Feind
ift, das franzöftfche Volk, nicht Napoleon; der Weftfälifche
Frieden, dieſe Beflegelung unferer tiefften Erniedrigung,
müffe, foweit e8 unjer Rationalinterefie erheifcht, wieder
befeitigt werben:
Wahrlich, wir werden aud im größten Siege das deutſche
Maßhalten nicht vergefien. Kein Menſch denkt bei uns an
eine Wiederherftellung des Heiligen Römifchen Reiche im mit-
telalterlihen Umfange Unter deu Folgen folder verkehrter
römischer Weltreihspolitit haben wir lange genug gelitten.
Deun unfere ehemaligen Ueberfchreitungen unfers natürlichen
nationalen Machtgebiets, den Stalienern wie den Franzoſen
gegenüber, haben mächtig zu jener Reaction diefer Bölter gegen
ung mitgewirkt, buch die ber Zerfall unſers Staats mit
herbeigeführt wurde. Niemand möchte, etwa als Vergeltung
für 1811, wo Frankreichs Grenzen bis an die Mündung der
Elbe und Trave vorgefhoben waren, aus dem franzöfiichen
Nationalgebiet Stüde berausfchneiden, Verbundenes trennend,
Arembartiges verbindend. Rein, womöglich fein franzöfliches
orf wollen wir nehmen, foweit e8 der nothwendige Grenzzug
irgend vermeiden läßt. Mögen die Franzofen behalten, mas
von Natur und Rechts wegen ihr Eigen if. Aber womöglich
auch fein deutfhes Dorf, das fie ſtahlen und verdarben, ſollen
fie behalten. Was dieffeit unferer Natnrgrenze und innerhalb
unfers Sprachgebiet® Ttegt, muß wieder unfer, der Rhein wie-
der Deutſchlands Strom werden, nicht länger, wenigſtens
gegen Frankreich nicht länger, Dentſchlands Grenze bfeiben!
o kümpfen wir für uns, aber wir kämpfen für eine Spee
zugleich, fir das NWationalitätsprincip, das ihr, Franzoſen,
fiets mit Füßen tratet, oder nur befolgtet wo e8 euch nüßtzlich
war. Wir wollen auch jetst nicht weiter geben, als jene hobe
Idee geftattet.
Auch Wagner verlangt, wie Bödh, dag die Sprach⸗
grenze im ganzen zur Staatögrenze erhoben werde. In
der Annerion eines größern ober wicdhtigern nationale
franzöfifchen oder völlig franzöſirten Gebietstheild an
Deutfchlandb findet er die Keime zu nenen Kriegen.
Weitergehende Wünfche in Bezug auf Lothringen will
Wagner nicht befürworten; über Metz beißt es:
Eruftlliher wird von dentfcher Seite wol nur die Rüd-
erwerbung von Metz in Frage fommen. Die großartige mili-
tärifche Bedeutung diefer Stellung, für dem Angriff und für
die Vertheidigung gegen Deutichland, bat die weltgeſchichtliche
furchtbare dreitägige Schlaht vom 14., 16. und 18. Auguft
vom nenem ermwiefen. Es wäre auch wol eine gerechte Sühne
für das vergoffene Blut, weun diefes Bollwerk gegen Deutſch⸗
land in ein Schutzwerk für dafjelbe verwandelt würde, wenn
die Stabt wieder deutjch wiirde, von der es einft Karl V.
gegenliber bieß:
Die Meg und bie Magb (Magbeburg)
Haben dem Kaifer ben Tanz verfagt.
Met Tiegt no heute nur 2 Meilen von der Sprachgrenze
entfernt, was die Germaniſirung erleichtern wlürbe. Aber den-
nod hat die Erwerbung große Bedenken. Die Stadt iſt ein-
mal fo gut wie ganz —* und wegen ihrer Größe
(55000 Einwohner) nicht Teiht zu amalgamiren. Ob ihre mi-
litäriſche Bedeutung nicht durch Diedenhofen und das hboffent-
Kleine Schriften zur Zeitgeſchichte.
lich wieder deutſch werdende Luremburg ausgeglichen werden
kaun, mögen die Berufenen wenigſtens erwägen. Könnte nicht
vielleicht eine Friedensbedingung ſein, dab Granfreich dem
Erwerb von Luremburg dur Deutichland Leine Schwierig.
feiten entgegenftellen darf? Ließe fidy nicht, wenn Meg tm
frauzöſiſchen Händen uns zu gefährlich, bleibe, auf der Schlei-
fung der Feſtung beftehen und die völferredhtliche Servitnt des
Nidtwieveraufbaues auf den Platz legen (wie nad dem Krim-
friege auf Bomarfund)? Muß Mes wirllich vom Sicherheits
geſichtspunkte aus zu Deutſchland kommen, fo follte doch zur
fo viel weiteres franzöftihes Gebiet mit ihm überuommen
werden, als unbedingt nothwendig fi, um bie Stellung
zu ſichern.
Auh in Bezug auf das von Löher heruorgehobene
Bölkerthor zwifchen Bogefen, Yura und Schwarzwald ift
Wagner anderer Meinung. Dort wohnt eine compact
franzöfifche Bevölferung, namentlich in dem franzöfifchen
Sprachgebiet, in welchem das fefte Belfort liegt:
Das Nationalitätsprincip wird möglichſt gewahrt, wenn
man die Wafferjcheide zwifhen Doubs und IU zur Staate-
grenze erhebt, aljo Belfort bei Frankreich läßt. Cine gute
Naturgrenze findet ſich in diejer Segen nicht, auch wenn man
weiter nad) Nordmeften vorgeht. Aber Belfort bedt befanntlidh
den Durchgang vom Rhone- zum Oberrheinthal. Die militä-
rifhen Rüdfigten werben daher bier wieder mit entfcheiden
mäüffen, wo die Stantögrenze zu ziehen if, ähnlid wie bei
Met. Die geringe Bedeutung Belforts ale Stadt veranlaßt
auch weniger Bedenken gegen die Annerion, wie in bem Fall
von Det. Dennoch möchte auch Hier die möglichſte Berück⸗
fihtigung des Nationalitätsprincips zu empfehlen fein. Das
Berlangen, Belfort definitiv zu fchleifen, könnte ja auch deutſcher⸗
ſeits geftellt werben, wenn es bei Frankreich bleibt.
Ueber die „Wiederentwelfchung von Elſaß und Lothrin⸗
gen” fpricht fi) Wagner in ähnlicher Weile ans wie
Löher; nur daß er noch eingehender bie ſtatiſtiſchen
Grundlagen berüdfihtig.. Er weiſt darauf hin, daß
innerhalb des deutfchen Sprachgebiets, das an Deutſch⸗
land zurüdfallen fol, eine nad) Zahl und Bebentung
nicht wmerhebliche, wirklich franzöftfche Bevölkerung Lebt,
theild eingewanderte Nationalfranzofen und deren Nadı-
fommen, theils franzöfirte Deutjche, daß ferner gegen⸗
wärtig der größte Theil ber nicht franzöftrten Deutfchen
im Elſaß und in Lothringen in politifcher Beziehung
ganz franzöfifch gefinnt if. Die Maſſe der Landbevöl⸗
ferung und der Kleinſtädter ift weniger franzöfirt als
man denkt:
Unfere Solbaten find allgemein verwundert, auf dem
Lande im Elſaß und weit hinein nad Lothringen faft nur bie
deutſche Sprache zu finden. Die wenigen, welche ſich bisher
in Deutfhlaud um die Kenntniß folder Dinge kümmerten,
wußten das wohl, im Volke, bei der großen Mehrzahl der
Gebildeten war e8 aber faſt unbelannt oder wurde unglänbt
angehört. Die Erfahrung war ber Lehrmeifler. Eharakterifiii
find aud die Mittheilungen jener winbigen parifer Sonrnaliften,
welche die promenade a Berlin hatten mitmachen wollen und
ftatt deffen in die wilde Klucht von Wörth und Saarbrücken
verwidelt wurben. Was fie erzählen, ift komifh genug und
doch befchämend für uns Deutſche, die wir einen noch fo faft
ganz dentſchen Stamm vor dem Kriege fat ſchon endgültig auf-
gegeben batten. Dank der unfinnigen Aufftachelung flohen je
die Bollsmaflen mit und verwirrten badurd vollends Mac
Mahon's flüchtige Scharen. „Alles ſprach deutid um uns
herum, wir verftanden fein Wort und niemand verfland uns,
und wir waren glüdfich, einmal einen Menſcheü zu finden, der
franzöſiſch ſprach. Wir famen dur eine Menge beutfche
Drtichaften, aber wer lann ihre verbammten deutſchen Namen
behalten” — fo Eagten die Barifer über ihre „Landelente“ auf
bem Weg durch die Bogefen ins Departement Meurthe hinein.
Kleine Schriften zur Zeitgefhichte.
Barbarus hie ego sum, quia non intelligor ulli, Tonnte der |
„Reurömer" im eigenen Lande fagen. Gibt es bei Ihnen
wirklich mur Franzofen? jo darf man den Chef der amtlichen
franzöſtſchen Statiſtik fragen.
Stärker iſt das franzöſiſche Element in den größern
Städten und Heinen Induſtrieorten. In jenen find die
Mitglieder der Staatsverwaltung, das Berwaltungsperfonal
ber großen öffentlichen Unternehmungen, die Lehrkörper
ber höhern und niedern Schulen meift franzöftfch, ebenfo
der Großhandel und die Großinduftrie, bie fich allerdings
mehr in den Händen von franzöftrtien Elſäſſern und
Schweizern befinden. Mehr deutſch ift das Handwerk
und die Heine Induſtrie, während die ftädtifche Arbeiter»
klaſſe und die Fabrikarbeiterbevöllerung vorzugsweife fran-
zöſiſch iſt. Wagner empflehlt diefelben Mittel zur Ent»
welfchung wie Löher in dem betreffenden Abſchnitt: deutfche
Einwanderung, Einführung der Parität in den confeflto-
nellen Berhältniffen, außerdem Aufhebung der ertödtenden
Centralifation.. Entſchieden erklärt er fich gegen das
Selbftbeftimmungsrecht nationaler Bruchtheile, wie ber
Elfäffer und Lothringer, und gegen die Erhebung von
Eifaß-Lothringen zu einem neutralen Zwiſchenſtaat zwi⸗
Shen Dentfchland und Franfreih. Sehe ſcharf fpricht
er fich dabei über die bisherigen „neutralen Zwifchenftaaten“,
namentlich iiber Holland aus, welches „bie Wacht am Rhein“
fie Deutfchland übernehmen und gleichzeitig die „ſchöne
Idee” von Zwiſchenſtaatspuffer zwifchen Frankreich und
Deutfchland verwirklichen follte. Er nennt Holland einen
berfrämerten deutſchen Mitteljtaat, der in jeder Hinficht
Mäglich Fiasco "machte.
Intereffant ift der Hinweis darauf, daß Frankreich in
der Bollsvermehrung und dem davon abhängigen volfs-
wirthfchaftlichen Fortjchritt, daher auch in der Entwidelung
feiner Staatsmacht auferorbentlich zurüdgeblieben, und
ſchon dadurch fei das Machtverhältnig zwifchen Frankreich
und Deutfchland weſentlich ander geworden:
Die Bollssznnafme war jedoch innerhalb Deutfchlanbs
wieder fehr verjcieden, nämlich ſehr raſch in Sachſen und
Breußen, aljo Im größten Theil Norddeutſchlands, erheblich
langfamer in Deutſch⸗Oeſterreich, faſt noch langfamer als im
Frankreich fogar in Südmeft- Dentfchland und dem Reſt der
norbdeutfchen Länder (Hannover, Kurheſſen, Medienburg).
Daraus erklärt fih die außerordentliche Berfchiebung des poli⸗
tiſchen und volfswirtbfchaftlihen Schwerpunfts unjerer Nation
innerhalb Deutſchlands — eine auch felten genligend gewür⸗
digte, den meiften nicht einmal befaunte mitwirkende Urjache
der neuern politifchen Geſchichte unfere Vaterlandes. Für
Frankreich war dieſe deutſche Volkszunahme alſo doppelt peni⸗
bei, weil fie dem politiſch bereits geeinigten Theil unſers Bolks
traf. Und gleichwol daneben, wie in England, dieſe kolofſale
Answanderung, duch melde in Nordamerika ein neues germa⸗
niſches Weltreich, defien Macht Frankreich in Merico bereits zur
e keunen fernen follte, entflanden ift und in Auftralien
ein ähnliches fich vorbereitet. Wo hat die gallifche Kaffe etwas
nur entfernt Aehnliches geſchaffeu! Es klingt wie Spott,
645
Algier nur zu nennen. Dahin fendet ja Franfreih kaum
Menſchen, fondern dort refrutirt e8 feine ciuififatorifchen Heere,
za deren Ausfüllung feine eigene Bevölkerung nicht ausreicht.
Wenige Zahlen zeigen die broßartige Bedeutung des erwähnten
Moments. Die mittlere jührliche Volkszunahme war (nach den
forgfältigen Berechnungen im gothaer Almanach) in Frankreich
1821—61 0,47, in Sübweftveutiland 1834—64 0,42, dagegen
in England und Wales 182161 1,30, in Preußen 1822-61
1,18, ın Sadjen 1834—64 1,24 Proc. Danadı ergibt ſich bei
entſprechender Andauer biefer Zunahme eine Berdoppelungs-
periode der Bevolkerung in Sranfreich von 147,6, in Suddeutſch⸗
land von 167,2, in England von 53,8, in Preußen von 59,9,
in Sadjen von 56,1 Jahren. Die Volkedichtigkeit ift in Frank⸗
reich von 1816—66 nur geftiegen von 3110 auf 3897 Ein-
wohner auf der Duadratmeile, in Preußen (ohne Annerionen)
von 1816-67 dagegen von 20560 auf 3879: ehemals auf der
gleich großen Fläche des zum Theil ftiefmütterlich ausgeflatteten
Bodens von Preußen 1060 Menſchen weniger, jetst ebenfo viel
als auf der gefegneten Erde Frankreichs. Im ganzen Deutfchen
Bunde war die Bollsdichtigkeit 1816 aud nur 2630, 1864 das
gegen 4100 auf die Duadratmeile. Welch verjhiedenes Tempo
in diefen Fortjchritten, wie weit vorauseilend Deutſchlaud vor
Frankreich!
Der Deutſche Bund und Frankreich gingen aus der
großen Territorialregelung von 1814 und 1815 faſt genau
mit derſelben Einwohnerzahl hervor: beide mit 30 Mil⸗
lionen. Dieſe Zahl ſtieg bei Frankreich bis 1866 auf 37,45,
beim Deutſchen Bunde bis 1864 auf 46,6 Millionen,
d. h. der Deutſche Bund hatte um die Zeit feiner Auf-
Löfung faft 10 Millionen Einwohner mehr ale Frankreich.
Durch den Austritt Oeſterreichs verlor Deutjchland
14,35 Millionen Deutfh»Defterreiher. Dank der Volks⸗
vermehrung ſteht indeß auch das jegige Deutichland,
der Norddeutſche Bund mit den ſüddeutſchen Staaten, an
Bevölkerung gegen Frankreich nicht zurüd. Dieſes hat
38,19 (inclufive Savoyen und Nizza), Deutſchland 38,51
Millionen Einwohner. Nur Schleswig (0,0 Millionen
Einwohner) und die Provinzen Preußen und Pofen (zu-
fammen 4,63 Millionen Einwohner) find hinzugekommen,
damit dies Refultat erreicht werden konnte.
Diefe Daten der Statiftil find außerordentlich Lehr-
rei; fie zeigen, daß der gefchichtlihe Schwerpunkt weder
durch den Zufall no durch eine, wir möchten jagen
tdeologifche Gewaltſamkeit verrüdt wird, fondern daß
bie Logik der Thatfachen und der Zahlen dies hervorruft.
Abgefehen von dem ftatiftifchen Fleiß erfreut die Wagner’
Ihe Schrift durch eine energifche patriotifhe Haltung,
und wenn fie in ber Charakteriftif der franzöſiſchen Na-
tionalität zu fehr nur die Schattenfeiten hervorhebt und
allzu gering von der geiftigen Miffton diefes Volks denkt,
fo entfchädigt dafiir wieder das Mafhalten in Betreff
der Forderungen, welche Wagner der deutſchen Diplo»
matie ald Grundlage fir den abzufchliegenden Yrieden
vorſchlägt.
Rudolf Goitfdall,
644 Kleine Schriften
überhandnehnenden Romanismus. Die Heine Schrift ifi
mit genauer Geſchichtskenntniß, mit Eleganz und Schwung
abgefaßt.
Noch fpecieller in das ftatiftifche Detail eingehend ift
die Schrift:
3. Elſaß und Lothringen und ihre Wiedergewinnung für Deutich-
land von U. Wagner. Leipzig, Dunder und Humblot.
1870. 8. 12 Ngr.
Der Berfaffer geht in feinen Anforderungen nicht fo
weit wie Löher und ſtimmt mehr mit Richard Böckh
überein. Er geht davon aus, daß Frankreich unfer Feind
ift, das franzöftfche Volk, nicht Napoleon; ber Weftfälifche
Frieden, diefe Beflegelung unferer tiefften Erniedrigung,
müffe, foweit e8 unjer Nationalinterefie erheifcht, wieder
befeitigt werden:
Wahrlich, wir werden aud im größten Siege das deutſche
Mafihalten nicht vergeffen. Kein Menſch denkt bei uns an
eine Wiederherftelung des Heiligen Römiſchen Reihe im mit-
telalterlihen Umfange. Unter den Folgen folder verkehrter
römifher Weltreihspolitit haben wir lange genug gelitten.
Deun unfere ehemaligen Weberfchreitungen unfers natürlichen
nationalen Machtgebiets, den Italienern wie den Franzoſen
gegenüber, haben mächtig zu jener Reaction diefer Bölter gegen
ung mitgewirkt, durch die ber Zerfall unfers Staats mit
herbeigeführt wırrde, Niemand möchte, etwa als Vergeltung
für 1811, wo Frankreiche Grenzen bis an die Mündung ber
Elbe und Trave vorgefhoben waren, aus dem franzöflichen
Nationalgebiet Stüde herausihneiden, Verbundenes trennend,
Bremmbartiges verbindend. Nein, womdglich fein franzöfifchee
orf wollen wir nehmen, foweit e8 der nothiwendige Grenzzug
irgend vermeiden läßt. Mögen die Franzofen behalten, was
von Natur und Rechts wegen ihr Eigen if. Aber womöglich
auch kein dentihes Dorf, das fie ſtahlen und verdarben, ſollen
fie behalten. Was diefjeit unferer Naturgrenze und innerhalb
umjere Sprachgebiets liegt, muß wieder unfer, der Rhein wie-
der Deutihlands Strom werben, nicht länger, wenigflens
gegen Frankreich nicht länger, Dentſchlands Grenze bieiben!
So kümpfen wir für uns, aber wir lämpfen für eine Idee
zugleich, für das Nationalitätsprincip, das ihr, Franzofen,
fiets mit Füßen tratet, oder nur befolgtet wo e8 euch nützlich
war. Wir mollen auch jeßt wicht weiter geben, als jene bobe
Idee geftattet.
Auch Wagner verlangt, wie Bödh, daß bie Spradh-
grenze im ganzen zur Staatögrenze erhoben werde. In
der Annerion eines größern oder wichtigern national-
frangöfifchen oder völlig franzöfirten Gebietötheils an
Deutſchland findet er die Keime zu nenen Sriegen.
Weitergehende Wünfche in Bezug auf Lothringen will
Wagner nicht befürworten, über Diet Heißt es:
Ernftliher wird von dentſcher Seite wol nur die Rück⸗
erwerbung von Met in Frage fommen. Die großartige mili-
tärifche Bedeutung diejer Stellung, für den Augriff nnd für
die Bertheidigung gegen Dentichland, hat die meltgefchichtliche
furchtbare breitägige Schlaht vom 14., 16. und 18. Auguft
von neuem erwielen. Es wäre andy wol eine gerechte Sühne
für das vergofiene Blunt, wenn bdiefes Bollwerk gegen Deutſch⸗
land in ein Schutzwerk für dafjelbe verwandelt würde, wenn
die Stadt wieder deutſch würde, von ber es einft Karl V.
gegenliber hieß:
Die Mes und bie Magb (Magbeburg)
Haben bem Kaifer den Tanz verfagt.
Met Liegt no heute nur 2 Meilen von der Sprachgrenze
entfernt, was die Germanifiruug erleichtern wirbe. Aber den⸗
no bat die Erwerbung große Bedenken. Die Stadt ift ein-
mal fo gut wie ganz *— und wegen ihrer Größe
(85000 Einwohner) nicht leicht zu amalgamiren. Ob ihre mie
Utärifche Bedeutung nicht durch Diebenhofen unb das hboffent-
zur Zeitgeſchichte.
fi wieder deutfch werdende Luremburg ausgeglichen werben
fann, mögen die Berufenen wenigſtens erwägen. Könnte nicht
vielleicht eine friedensbedingung fein, da rankreich dem
Erwerb von Luxemburg durch Deutſchland Feine Schwierig-
feiten entgegenftellen darf? Ließe fig nit, wenn Meg in
franzöfiihen Händen uns zu gefährlich bleibt, auj der Schlei⸗
fung der Feſtung beftehen umd die völferrechtlihe Servitut des
Nidtwieberaufbaues auf den Plat legen (wie nad dem Krim⸗
kriege auf Bomarfund)? Muß Mey wirklich vom Sicherheits⸗
gefichtspunfte aus zu Deutſchland kommen, fo follte doch nur
fo viel weiteres franzöfiiches Gebiet mit ihm übernommen
werden , al8 unbedingt notbiwendig if, um bie Stellung
zu fidhern.
Auch in Bezug auf das von Löher hervorgehobene
Bölkerthor zwifchen Bogefen, Jura und Schwarzwald ift
Wagner anderer Meinung. Dort wohnt eine compact
franzöfifche Bevölkerung, namentlich in dem franzöfifchen
Sprachgebiet, in welchem das fefte Belfort liegt:
Das Nationalitätsprincip wird möglichſt gewahrt, wenn
man die Waſſerſcheide zwiihen Doubs und IU zur Staate-
renze erhebt, aljo Belfort bei Franfreih läßt. Eine gute
Naturgrenze findet fih in diefer Segen nit, auch wenn man
weiter nad) Nordweſten vorgeht. Aber Belfort deckt befanntlidh
den Durchgang vom Rhone⸗- zum Oberrheinthal. Die militä-
rifhen Rüdfihten werden daher Hier wieder mit enticheiden
müffen, wo die Stantögrenze zu ziehen if, ähnlich wie bei
Met. Die geringe Bedeutung Belforte als Stadt veranlaßt
auch weniger Bedenken gegen die Annerion, wie in dem ‚gen
von Det. Dennoch möchte auch hier die möglichſte Berück⸗
fitigung des Nationalitätsprincips zu empfehlen fein. Das
Berlangen, Belfort definitiv zu fchleifen, könnte ja auch dentſcher⸗
feits geftellt werden, wenn e8 bei Yranfreich bleibt.
Ueber bie „Wiederentwelfhung von Elſaß und Lothrin⸗
en“ fpricht fih Wagner in ähnlicher Weile ans wie
öher; nur daß er nod eingehender die ftatiftifchen
Grundlagen berückſichtigt. Er weiſt baranf Hin, daß
innerhalb des deutfchen Sprachgebiets, das an Deutjch-
land zurüdfallen fol, eine nad Zahl und Bebeutung
nicht unerheblihe, wirklich franzöftfche Bevöllerung Lebt,
theild eingewanderte Nationalfranzofen und deren Nad}-
fommen, theils franzöfirte Deutfche, daß ferner gegen-
wärtig der größte Theil der nicht franzöftrten Deutfchen
im Elſaß und in Lothringen in politifcher Beziehung
ganz franzöftfch gefinnt if. Die Maſſe der Landbevöl⸗
ferung und der Kleinftäbter ift weniger franzöfirt ale
man denkt:
Unfere Soldaten find allgemein verwundert, auf dem
Lande im Elſaß und weit binein nad; Lothringen faft nur bie
deutfche Sprache zu finden. Die wenigen, welde ſich bisher
in Deutichlaund um die Keuntniß folder Dinge kümmerten,
wußten das wohl, im Volke, bei der großen Mehrzahl ber
Gebildeten war es aber faſt unbelannt oder wurde unglänbi
angehört. Die Erfahrung war der Lehrmeifler. Eharakterifif
find aud die Mittheilungen jener winbigen pariſer Sonrnaliften,
welche die promenade à Berlin hatten mitmachen wollen umd
ftatt deffen in die wilde Klucht von Wörth und Saarbrüden
verwidelt wurden. Was fie erzählen, ift komiſch genug unb
doch beſchämend für uns Dentfche, die wir einen noch fo faſt
ganz deutfchen Stamm vor dem Kriege faſt fhon endgültig auf
gegeben hatten. Dank der unfinnigen Aufftachelung flohen ja
die Bollsmaffen mit unb verwirrten dadurch vollends Mac
Mahon's flühtige Scharen. „Alles ſprach deut um uns
herum, wir verftanden fein Wort und niemand le une,
und wir waren glüdli, einmal einen Menſcheñ zu finden, ber
franzöſiſch ſprach. Wir kamen durch eine Menge beutiche
Ortſchaften, aber wer taun ihre verbammten beutfihen Namen
behalten’ — fo Eagten die Barifer über ihre „Landelente““ auf
bem Weg durch die Bogejen ind Departement Meurthe hinein.
Kleine Schriften
Barbarus hie ego sum, quia non intelligor ulli, Tonnte der .
„NReurömer" im eigenen Lande fagen. Gibt es bei Ihnen
wirklich nur —— ſo darf man den Chef der amtlichen
franzöſtſchen Statiſtik fragen.
Stärker iſt das franzöſiſche Element in den größern
Städten und kleinen Induſtrieorten. In jenen find die
Mitglieder der Staatsverwaltung, das Verwaltungsperſonal
ber großen öffentlichen Unternehmungen, die Geßrförper
der böhern und niedern Schulen meift franzöftfch, ebenfo
der Großbanbel und die Großinduftrie, bie fich allerdings
mehr in den Händen von franzöfirten Elſäſſern und
Schweizern befinden. Mehr deutfch ift das Handwerk
and bie Heine Induſtrie, während die ftädtifche Arbeiter-
Hoffe und bie Fabrikarbeiterbevöllerung vorzugsweiſe fran-
zöfiſch iſt. Wagner empfiehlt biefelben Mittel zur Ent⸗
welfhung wie Löher in dem betreffenden Mbfchnitt: deutiche
Einwanderung, Einführung der Parität in ben confeſſio⸗
nellen Berhältniffen, außerdem Aufhebung ber ertödtenden
Centralifation. Entſchieden erflärt er fich gegen das
Selbfibeftimmungsreht nationaler VBruchtheile, wie ber
Elſaſſer und Lothringer, und gegen bie Erhebung von
Elfag-Lothringen zu einem neutralen Zmifchenftaat zwi«
Shen Deutfhland und Frankreich. Sehr ſcharf ſpricht
er ſich dabei über die bisherigen „neutralen Zwiſchenſtaaten“,
namentlich iiber Holland aus, weldjes „bie Wacht am Rhein“
fie Deutjchland übernehmen und gleichzeitig die „ſchöne
Idee” von Zwiſchenſtaatspuffer zwilchen Frankreich und
Deutfchland verwirklichen follte. Er nennt Holland einen
verfrämerten bdeutfchen Mittelſtaat, der in jeder Hinficht
Mäglich Fiasco machte.
Intereſſant iſt der Hinweis darauf, daß Frankreich in
der Volksvermehrung und dem davon abhängigen volks⸗
wirtbfchaftlichen Fortjchritt, daher auch in der Entwidelung
feiner Staatsmaht außerordentlich zuridgeblieben, und
ſchon dadurch fei das Machtverhältnig zwiſchen Frankreich
und Deutſchland weſentlich anders geworden:
Die Volkszunahme war jedoch innerhalb Deutſchlands
wieder ſehr verſchieden, nämlich fehr raſch in Sachſen und
Preußen, alſo im größten Theil Norddeutſchlands, erheblich
langfamer in Deutſch⸗Oeſterreich, faſt noch langſamer als in
Fraukreich ſogar in Südweſt⸗Deutſchland und dem Reſt der
norbdeutfchen Länder (Hannover, Kurheſſen, Mecklenburg).
Daraus erklärt fi die außerorbentlihe Berfhiebung des poli-
tifchen und volfswirthfchaftlihen Schwerpunfts unferer Nation
innerhalb Deutſchlands — eine auch felten genügend gewür⸗
digte, den meiften nicht einmal befannte mitwirkende Urfache
der nemern politiihen Gefchichte unſers Vaterlandes. Für
Frankreich war dieſe deutſche Volkszunahme alſo doppelt peni⸗
bel, weil fle dem politiſch bereits geeinigten Theil unſers Volks
traf. Und gleihwol daneben, wie in England, dieſe Loloffale
Auswanderung, durch melde in Nordamerika ein neues germa⸗
niſches Weltreich, deſſen Macht Frankreich in Merico bereits zur
Senlige kennen lernen ſollte, entflanden ift und in Auftralien
ein Ähnliches fidh vorbereitet. Wo bat die galliiche Rafſe etwas
nur entfernt Aehnliches geſchaffen! Es klingt wie Spott,
zur Zeitgeſchichte.
645
Algier nur zu nennen. Dahin ſendet ja Frankreich kaum
Menſchen, fondern dort rekrutirt e8 feine civtftiatorifchen Heere,
zu deren Ausfüllung feine eigene Bevölkerung nicht ausreicht.
ı Wenige Zahlen zeigen die großartige Bedeutung des erwähnten
Moments. Die mittlere jührlihe Vollszunahme war (nach den
forgfältigen Berechnungen im gothaer Almanach) in Frankreich
1821—61 0,47, in Sübweftveutfchland 1834—64 0,42, dagegen
in England und Wales 1821—61 1,80, in Preußen 1822-61
1,18, ın Sachſen 1834—64 1,24 Proc. Danach ergibt fi) bei
entfprechender Andauer dieſer Zunahme eine Berdoppelungs-
periobe der Benäfferung in Frankreich von 147,6, in Süddeu G
land von 167,2, in England von 53,8, in Preußen von 59,9,
in Sadjfen von 56,1 Jahren. Die Volkedichtigkeit iſt in Frauk⸗
reih von 1816-66 nur geftiegen von 3110 auf 3897 Ein-
wohuer auf der Duadratmeile, tn Preußen (ohne Annerionen)
von 181667 dagegen von auf 3879: ehemals auf der
gleich großen Fläche des zum Theil ſtiefmütterlich ausgeftatteten
Bodens von Preußen 1060 Menſchen weniger, jetzt ebenfo viel
al8 auf der gefegneten Erde Frankreichs. Im ganzen Deutfhen
Bunde war die Bollsdichtigfeit 1816 auch nur 2630, 1864 das
gegen 4100 auf die Quadratmeile. Welch verfchiedenes Tempo
in diefen Kortfchritten, wie weit vorauseilend Deutſchland vor
Frankreich!
Der Deutſche Bund und Frankreich gingen aus der
großen Territorialregelung von 1814 und 1815 faſt genau
mit derſelben Einwohnerzahl hervor: beide mit 30 Mil⸗
lionen. Dieſe Zahl ſtieg bei Frankreich bis 1866 auf 37,45,
beim Deutfchen Bunde bis 1864 auf 46,6 Millionen,
d. 5. der Deutfhe Bund hatte um die Zeit feiner Auf-
löfung faft 10 Millionen Einwohner mehr als Frankreich.
Durh den Austritt Defterreiche verlor Deutfchland
14,35 Millionen Deutſch⸗Oeſterreicher. Dank der Bolls-
vermehrung ſteht indeß aud das jegige Deutjchland,
der Norddeutſche Bund mit den füddeutſchen Staaten, an
Bevölkerung gegen Frankreich nicht zurüd. Dieſes hat
38,19 (inclufive Savoyen und Nizza), Deutfhland 38,51
Millionen Einwohner, Nur Schleswig (0, Millionen
Einwohner) und die Provinzen Preußen und Pofen (zu-
fammen 4,63 Millionen Einwohner) find Hinzugelommen,
damit dies Refultat erreicht werden fonnte.
Diefe Daten der Statiftif find außerordentlich lehr⸗
reich; fie zeigen, daß der geſchichtliche Schwerpunkt weder
duch den Zufall no durch eine, wir möchten fagen
tdeologifche Gewaltſamkeit verrüdt wird, fondern daß
die Logik der Thatfachen und ber Zahlen dies hervorruft.
Abgefehen von dem ftatiftifchen Fleiß erfreut die Wagner’
fhe Schrift dur eine energifche patriotifhe Haltung,
und wenn fie in der Charalteriftif der franzöſiſchen Na—
tionalität zu fehr nur die Schattenfeiten hervorhebt und
allzu gering von der geiftigen Miffton diefes Volks denkt,
fo entfchädigt dafiir wieder das Maßhalten in Betreff
ber Forderungen, welche Wagner ber deutſchen Diplo»
matie ala Grundlage für den abzujchliegenden Frieden
porfchlägt.
Rudolf Gotifchall,
646
Ein Drama Oehlenſchläger's.
Ein Drama Gehlenfchläger’s.
König Helge. Eine Norblandeage. Bon U. Dehlen-
ſchläger. Ueberfest von Gottfried von Leinburg.
IL Yrſa. Eine Tragödie. Berlin, Allgemeine deutjche Ver⸗
Yage-Anftalt. 1869. 8. 18 Nor.
Man kann e8 nur als einen erfreulichen Beweis des
fih immer univerfeller geftaltenden Bildungsgangs unferer
Nation betrachten, daß ausländiſche Geifteswerke, welche
infolge ihrer eigenartigen und von dem, was und bon
andern Seiten her geboten wird, nad Form und Inhalt
wefentlich abweichenden Befchaffenheit bisjegt verhältniß-
mäßig geringe Beachtung gefunden, in neuerer Zeit mit
einem Intereſſe aufgenommen werden, welches bie Autoren
und ihre Vermittler, die Meberfeger, zu fernerer Thätige
feit ermuthigen muß.
Eine biefer in früherer Zeit von nur wenigen beach⸗
teten und gepflegten Literaturen ift die flandinavifche, die
dem großen Lefepublitum faft nur in ihren Erzeugniflen
leichterer Gattung, in Romanen, Novellen u, dgl. be⸗
lannt war.
Der Hauptgrund, aus welchem die gebiegenern Werke
des unferm Vaterland gleichwol fo nahe verwandten Nor⸗
dens erft in neuerer Zeit allgemeinern Anklang finden,
lag darin, daß es an Uebertragungen mangelte, welche
dem Geift und der Form ber Originale vollftändig ge»
recht geworben wären und die zugleid) durch begleitende
Anmerkungen und Erflärungen dem Leſer das richtige
Berftändniß diefer Dichtungen erfchlofien hätten.
Seit einigen Jahrzehnten ift dies anders geworden;
und ſeitdem Zegner’s „Frithiofsſage“ nahezu an dreißig
mehr oder minder glücdliche Ueberjeger und Commentato-
ven gefunden, find auch andere ebenbürtige oder nod)
höher ftehende Gaben ber flandinavifcdhen Literatur von
Bearbeitern uns angeeignet worden, die ihren Beruf zu
Löſung diefer oft ungemein fchwierigen Aufgabe auf die
glänzendite Weife documentirt haben.
In allererfter Reihe diefer Bearbeiter ſteht Gottfrieb
von Leinburg, der befannte Verfafjer der erften ſchwedi⸗
ſchen Literaturgefchichte und Anthologie, nicht nur in
Deutfchland, fondern in Europa, die unter dem Xitel:
„Hausſchatz ber ſchwediſchen Poefie und Proſa in Proben
mit gegenüberftehendem Urtert und kurzen literarhiftori-
ſchen Einleitungen und Charafteriftilen”, in ſechs Bänden
erfchien, nachdem er eine überaus gelungene Ueberſetzung
der „Frithjofsſage“ geliefert, deren günftige Aufnahme be⸗
reits eine vierte Auflage nothwendig gemacht Hat.
Ein befonders glüdlicher Gedanfe war e8 von ihm,
zunähft A. Oehlenſchläger's „König Helge“, das bis da⸗
bin unüberfeste Hauptwerk des däniſchen Dichterfönige,
ja vielleicht da8 Hauptwerk der ganzen dänifchen Poeſie,
bem deutſchen Leſepublikum im einer Geftalt vorzuführen,
bie nicht verfehlen Tann, der großartigen Dichtung gleich⸗
begeifterte Freunde zu gewinnen wie in ihrer engern
Heimat.
Diefe Dichtung befteht bekanntlich aus drei genau mit-
einander zufammenhängenden Theilen und zwar: I. „Helge“,
einem Gebiht in 21 Romanzen, ähnlich benen der
„Frithiofsſage“ und gleichfalls in nad) Form und Inhalt
wechjelnden Versmaßen; II. „Yrſa“, einer Tragödie in
—
antiken Trimetern mit prächtigen Chören und Gefängen;
und III. der „König Hroers⸗Sage“, einem Roman in
Proſa, im Ton und Stil der echten Rordlandsjagen,
nur reiher an Inhalt und intereffanter, mit vielen iu
ben Text eingeflochtenen Liedern und Romanzen.
Diefe von echt dichteriſchem Geift durchwehte Trilogie
verfetst, wie ein anderer Sritifer bei Gelegenheit des Er-
ſcheinens der Verdeutſchung ihrer erſten Abtheilung fehr
richtig bemerkte, den Leſer mit gewaltigem Flügelſchlage
auf die Höhen des altjtandinavifchen Wilingerlebens; fie
ift, fozufagen, das männliche Seitenftüd zur „Frithiofs⸗
ſage“, deren Verfaſſer felbft geftand, daß er ohne „Helge“
fein Wert gar nicht hätte fchreiben können, und zu welder
es fih verhält wie die „Ilias“ zur „Odyſſee“, wie das
„Ribelumgenlieb“ zur „Gudrun“. Das uralte däniſche Leben
ragt in feiner ganzen Kraft und Wildheit hervor, denn
die dem grauen Altertfum angehörende Bollsfage, weldye
dem Gedichte zu Grunde liegt, führt Weſen und Dämo-
nen anderer Orbnung als gewöhnliche Dienfchenkinder der
neuern Zeiten handelnd darin ein. Es ift die Auffaffung
des „Nibelungenliebes‘, nur viel düfterer und geiwalt-
famerer Art. |
Auch wir haben in Nr. 4 d. BL. f. 1866 der Ueber⸗
fegung des erften Theils diefer großartigen Dichtung ge-
bührende Aufmerkjamfeit erwiefen und eine Beſprechung
mit einer angemefjenen Auswahl von Citaten gebradt.
Heute Tiegt ung die angenehme Pflicht ob, dies aud) iu
Bezug auf bie zweite Abtheilung, die Tragödie „Yrſa“,
zu thun, und wir freuen uns, glei bon vornherein er»
Hären zu können, daß bie Verdeutfhung diefer Ahthei-
lung derjenigen der erfien in Feiner Weiſe nachſteht.
Wir werben dem Lefer fogleich Gelegenheit geben, ſich
felbft Hiervon zu überzeugen, und kommen nur erft mit
furzen Worten auf den Schluß von „Helge“ zurüd, um
den Anfnüpfungspuntt für bie Beſprechung von „Dre“
zu gewinnen.
„Helge“ ſchließt mit dem Hachegelübbe der Königin
Dluf von Sachsland, welche der Wilingerfönig, nachdem
er von ihr a la Brunhildis behandelt worden, doch nod
überliftet, indem er fie auf fein Schiff lockt und zwingt,
mehrere Nächte hintereinander fein Lager mit ihm zu
theilen, um fie dann mit Schimpf und Schmach beladen
ans Land und in ihr Schloß zurüdkehren zu Iaffen.
Die Frucht der gezwungenen Hingebung Oluf's am
König Helge ift eine Tochter, welche fie mit Hülfe ber
Meerfrau Scilflieb, die früher einmal ebenfalls Helge’s
Liebe genoffen und dann von ihm verfchmäht und ver
ftoßen worden, zur Welt bringt und einem alten Fifcher
zur Erziehung übergeben läßt.
Die Tragödie „Yrfa“ fpielt fechzehn Jahre fpäter-
Die handelnden Perfonen bderfelben find: König Helge;
die Königin Oluf; Yrſa, die von beiben erzeugte und
in Unbefanntfchaft mit ihrer Abftammung aufgewachfene
Tochter; ihr Pflegevater, der alte Fiſcher Follwar; Helge's
Freund und Begleiter Reigin; die vorhin erwähnte bienft-
fertige Meerfrau Schilflieb; und die Göttin Yreia, bie
nordifhe Denus. Außerdem treten noch der Chor ber
Ein Drama Dehlenfhläger’s.
Meerfrauen, Kämpen des Königs Helge, fowie Herolde
und weibliches Gefolge der Königin auf.
Der Schauplag des Dramas ift eine waldige Bucht,
mit Eichen und Buchen im Vorder⸗ und dem Meer im
Hintergrund. Auf einem jchroff in die See hinaushän⸗
genden Felſen erblidt man das Schloß ber Königin Dluf
mit feinen rohen angeljächfifchen Mauern und Thürmen;
Fr dem Strande, hinter Gebüfch und Geſträuch, eine
öble.
Das Drama felbft beginnt mit einem Monolog der
Königin Oluf, defien Anfang lautet:
Mit Angft und Grauen nah’ ih mi, mit leifem Tritt
Der dunkeln Höhle diefes Waldes, die ich num
In fechzehn langen Jahren nicht mehr wiederjah;
Wo mid die Meerfrau damals, mich, die ſchon dem Tod
Unbeimgegebne, diefem Leben wiedergab;
Wo fie die Frucht von Oluf's und von Helge's Schimpf
Aus meinen fhwaden Armen riß, und dann das Kind
In Hut und Pflege jenem Fiſcher übergab.
Geheimer Schimpf ift darum doch nicht minder Schimpf
Und färbt mit dunkelm Mohnblut Stirn und Wangen roth,
So oft die Seele wieder ſchamvoll dran gebenft.
In diefer Waldſchlucht, ja, iu biefer Hüte war's,
Wo ich der argen Meerfrau damals ſchwor den Eid:
u baffen jenen Helge, grimm die Baftardfrucht
un baffen diefes Leibes, und das Rächeramt
Ihr felbft zu Yaffen.
Sie erwähnt hierauf, daß fie fich infolge einer ihr
von der Meerfram gefendeten Botfchaft heute bier ein»
gefunden, und ſpricht bie Ahnung aus, dag die Mitthei-
lung, die ihrer harre, eine unbeilvolle fein werde.
Es dauert nicht lange, fo erfcheint Schilflieb, die
Meerfran, und fragt die Königin, ob fte noch bereit fet,
den vor fechzehn Sahren geleifteten Schwur zu halten.
Die Königin bejaht diefe Trage, und Scilflieb fordert
fie dann auf, Yrſa, wenn aud bios als Sklavin oder
Magd, an ihren Hof zu rufen, warnt fte aber zugleich:
Der Lieblichen zu fchaden, und ein Blütenblatt
Der Lilie zu rauben.
Dluf verfpricht zu thun wie die Meerfrau von ihr
begehrt, und diefe fagt ihr nun, daß Helge'8 Wiederkunft
nahe bevorftehe, worauf fie hinzufetst:
Klopft der Held
Als Saft an deine Pforte, dann — verſprich mir das,
D Königin! — thu freundlich gegen ihn, und was
Er will von bir, und was er es von dir erflebt,
Gewähr’ es ihm und gib’s ihm.
Nachdem die Königin das verlangte Verſprechen ge
geben und durch Handſchlag bekräftigt, kehrt fie in ihr
Schloß zurüd, während die Meerfrau ſich wieder in das
Innere der Höhle zurüdzieht.
Unmittelbar hierauf erfcheinen ber alte Fiſcher Folk⸗
war und feine Pflegetochter Yrſa. Er fagt ihr, bie
Königin habe jedenfalls von Yrfa's Schönheit gehört und
ihm deshalb befohlen, fie hierherzubringen, wahrſcheinlich
um fie nicht wieder im ihre zeitherige Heimat zurückkehren
zu laffen. Yrſa erflärt, daß fie, dafern auch Folkwar
bedacht werbe, gern zu bleiben bereit fei, denn oft ſchon
babe fe im Traume biefes Königsjhloß gefehen, und
Folkwar ſagt bei fich ſelbſt:
Bei Zeiten wächſt der jungen Adlerin die Kraft
Der flogen Flügel! Mächtig fühlt und ſchlägt fie fie,
Db manches Jahr im Grab des fernen Dünenjande
Auch lag das Königsvogelei in tiefem Schlafe.
647
Die Königin tritt, diesmal mit Gefolge, wieder auf,
und der Unblid Yrſa's, die ihrem Water gleicht, ent-
zündet im ihrem Herzen wieder den alten Haß und Groll,
obſchon die folge Haltung der Jungfrau ihr zugleich Be
wunderung abnöthigt. Sie nimmt fie als ihr Eigenthum
in Anſpruch, indem fie fagt:
In meinem Schloß gebar di eine Sklavin mir,
Die mit dem Tod braadiie deiner Tage Licht.
Gerlihrt von deiner Unſchuld, übergab ich did
Zur Bflege diefen Fiſcher. Darum achte dich
Br feine freie J Bon Geburt mein eigen fon,
ordr’ ich dich jegt, mein Heilig Eigenthum, zurück. |
Yrfa’s flolzer, unabhängiger Sinn empört ſich gegen
ben Gedanken, daß fie eine Sklavin fein folle, und ganz
befonders entfett fie fih vor der ihr mun drohenden Ge⸗
fahr, den Lockenſchmuck ihres Hauptes zu verlieren. Die
Klage, in welche fte hierüber ausbricht, ſcheint ung eine
der gelungenften Stellen der Originaldihtung ſowol ale
der Mebertragung zu fein. Sie lantet:
So foll ich euch verlieren, goldene Flechten, ihr,
Die ihr fo flolz vom meinen Achſeln niederhängt?
Denn nicht if einer Sklavin langes Haar erlaubt.
Wie oft am frühen Morgen wuſch id) in dem Quell
Und ſtrählt' ih mit dem Goldkamm euern reihen Schwall!
Wie waren meine Finger fo darin gelibt!
Des Spiegels nicht bedurft’ ich eines blanken Schilde
Und nicht des Wogenfpiegels, iu das Gold hinein
Mir anmuthvoll zu winden Bänder blau und roth.
Nicht lieblich mehr umſchwankt ihr meine Schläfe nun,
Mein Haupt num muß ich beugen Oluf's Herrſcherſchwert;
Und gleich dem Mann bes Tods, der da am Rabenſtein
Den Henterfchlag empfangen fol und dem das Haar
Bis niederwärts zur Grube feines Halsgenide
Geſchoren wird geflihlfos ruhig — mäht der Stahl
Mit einem Schnitt den Flor von fechzehn Lenzen ab.
Auf das Harte graufame Gemüth der Königin äußert
jedoch feloft diefe rührende Klage keine Wirkung und fie
ſteht fchon im Begriff, das entehrende verunftaltende
Werk mit eigener Hand zu verrihten, als plöglicher Don⸗
ner und beginnender Meeresſturm fie an das der Meer-
frau gegebene Berfprechen, „der Lilie kein Blütenblatt zu
rauben“, erinnert, ſodaß fie ihr Vorhaben erfchroden auf-
gibt und Yrſa fo, wie fie it, mit in ihr Schloß nimmt.
In der näcdftfolgenden Scene — das Ganze ift nicht
in mehrere Ucte, fondern nur in Scenen abgetheilt —
lenkt König Helge's Drachſchiff in die Bucht herein und
wirft am Geftade Anker. Der König Tpring! mit fernen
Kämpen ans Land und naht ſich mit feinem Begleiter und
Fremd, dem Jarl Reigin, dem Vordergrund.
Obſchon der Schimpf, den er der Königin Oluf an-
getban, nur eine Vergeltung des ihm früher von ihr zu.
gefligten gewefen, jo hat ihn doch fehon feit längerer Zeit
die Sorge um ihr fpäteres Geſchick gequält. möchte
Ob im Verzweiflungsichmerze fie den Tod geſucht?
Ob fie fich jelber damals in die See —
Ob eines Kindleins holde Frucht ihr Schos gebar?
Ob es am Leben, ob esf % hingewelkt?
Ob es ein Knabe? Ob's in füher Unſchuld Glanz
Ein Mägdlein hold und lieblich?
Die Meerfrau Schilflieb erſcheint und weiß, um ihren
eigenen Racheplan zu fürbern, Helge's verfühnliche Geſin⸗
nung gegen Diuf in neuen Groll umzuftinmen, indem
fie ihm erzählt, dag die Königin das Andenken ihres
648
Siegs über ihn noch alljährlich durch ein feftliches Gelag
feiere, während fie das Geheimniß ihrer eigenen Niedere
lage und Schmad) Hug zu wahren verftanden habe. Dies
fei ihr um fo leichter geworden, als Helge's Umarmun-
gen für fie ohne Folgen geblieben oder vielmehr die dem
„baßerzwungnen Brautbett” entjprungene Frucht fofort
wieder vernichtet worden fei, ſodaß man nichts von ihrem
„lüngſt verlorenen Kranze” ahne. Schilflieb entfernt fich,
nachdem fie Helge noch den gleißnerifchen Rath gegeben,
fi) mit der Königin, anftatt ihr zu zürnen, lieber aus-
zufühnen.
Nıfa tritt auf, mit einem Eimer auf dem Kopfe, um
am nahen Brunnen Waſſer zu holen. Helge, auf den
ihre Schönheit den gewaltigſten Eindrud macht, verlangt
von ihr einen frifchen Trunk, den fie ihm bereitwillig
zeit. Es folgt ein Zwiegeſpräch, in welchem Helge fi
wiederholt erbietet, Yrja mit nad Dänemark zu nehmen.
Er fpricht zugleich, obſchon Reigin ihn vor Webereilung
warnt, den Borjag aus, fie zu feiner Gemahlin zu madıen;
ehe jedoch Yrja Hierauf, eine beftimmte Antwort geben
kann, erfcheint die Königin, vor welcher fie fich fchen
zurückzieht.
Oluf und Helge wechſeln einige Worte, in welchen ſie
dem fie gegeneinander befeelenden Haß und Groll. Aus-
druck leihen, bis erftere, ſich gewaltfam faffend, fagt:
Genug des Streits! Willlommen am Geflade mein!
Bitt eine Freumdfchaftsgunft dir, eine Gnade aus: —
Wenn ich e8 kann, die höchfte felbft gewähr’ ich bir.
Helge antwortet, daß er ſich jet nicht mehr fehnt
Nach dem Blid und Kuß bethörend üpp'ger Fraun —
fondern nad einem R
— — Fromm holdfel’gen liebenden Gemahl —
und ſchließt feine Bitte mit den Worten:
So wenig in ber That wie früher, Königin,
Lot mid, die Morgengabe ber Erwählten jetzt,
Noch ſtachelt mi Gewinnfucht neuen Gnts und Rande: —
Genug bes Landes hab’ ih an der Offee Strand
Und feine Grenze kenn' ih in ber Heerfahrt Flug.
Was frag’ ich nach dem Glanz und Reichthum meiner Braut?
Veber die Frauen wirft zuleitt der Mann das Los,
Und durch die Heirath Hebt er fie zu ſich empor,
Sleihwie am Ulmbaum fi) empor die Rebe ranft.
So nehm’ ich dich bei deinem Königewort benn, und
Bor deinem ganzen Hofe bitt' ich dich hiermit:
Laß deine Hirtin Yrſa frei, und gib fie mir!
Nachdem Diuf ihrem Erftaunen über biefes Berlan-
gen Worte geliehen, willigt fie in Helge's Begehren und
murmelt dann mit heimlihem Triumph bei fi felbft:
Ha, du Herrſcherin
Im Schaum ber Salzflut! Schaudernd nım verfeh’ ich dich.
Du kuhlſt die Rache ſchrecklich, doch du kühlſt fie.
Helge bedeckt Yrſa's Haupt mit dem Schleier, nach⸗
dem er von ihr das Geftändniß ihrer Gegenliebe empfan-
gen, und fagt:
Eh’ neu erglängt des Tages Purpurſchein,
Als Helge's Weib erwachſt du in ben Armen mein.
Komm! Ber fein Glück will, läßt der Spottfucht feine Zeit:
Das, was geichieht, wedt flets der Thoren Haß und Streit.
Geſchehnes Toben fie zuletzt; fo iſt die Welt,
Die dann das Wunderbare für alltäglich Hält.
Er geht Hierauf mit Yrſa und feinen Kämpen dem
Strande zu, und bie Königin ſchlägt mit ihrem Gefolge
Ein Drama Deblenfchläger’s.
den entgegengejegten Weg ein, welder nad ihrer Burg
binaufführt.
In der nächftfolgenden Scene gibt ber Chor der von
verfchiebenen Seiten herfommenden Meerfrauen feiner
Frende über bie gelungene Lift der Gebieterin Ansbrud.
Als lauter Feftiubel Hinter der Scene verkündet, daß
die biutfchänderifche Vermählung des Vaters mit ber eigenen
Tochter wirklich vollzogen ift, verftummt ber Chor ber
Meerfrauen und Scilflieb ergreift das Wort, indem fie
ausruft:
Wehe! Wehe!
Hör’ ich nicht dorten
Herab von dem Ded des
Konigedrachen
rohes Gejauchz' und
örnerſchall?
Ja, wehe, wehe,
Dreimal wehe
Dir dann, du ſtolzer
Schildungenenkel!
Denn dann ifl’3 geſchehn,
Und volbradt if meine
Und Stufe Race!
Geſchmückt von Lole’s
Und Hela’s Händen
Iſt Helge’s und Yrſa's
Graunvoll ſchreckliches,
Unerhörtes
Und ſchändliches Brautbett.
Die Meerfrauen und ihre Gebieterin verſchwinden und
Königin Oluf tritt auf, gefolgt von einem Herold, welcher
ihr meldet, daß der von ihr an König Helge gefendete
Bote bereits zurüd ift, und daß der König, dem fie rufen
laffen, ihm auf dem Fuße folgt. Oluf bereut jet, was
fie getan. Die Che des Baters mit der Tochter er-
ſcheint felbft ihr bei Fälterer Ueberleguug als etwas fs
Ungebenerliches, daß fie davor erfchridt und es, bafern
nod Zeit, verhindern will. Helge tritt mit ungebulbiger
Eile auf und fragt, was die Königin von ihm begehre,
daß fie ihn aus den Armen der ihm nun vermählten
Braut hinwegrufe. Oluf, welche nun weiß, baß das
Entfeglihe ſich unwiderruflich vollzogen, verkündet ihm
die Wahrheit mit den nieberfchmetternden Worten:
Hör's, du Stolzer! Ahnungslos
Haft du in dem Brauibett enblidh deiner Bade rucht gepflüdt,
Meine Leibesfrucht und deine, Yrja, heimgeſührt als Brant.
Helge kann e8 nicht über fich getwinnen, diefer Schreckens⸗
kunde fofort Glauben beizumelien, fondern antwortet:
Das war leines Weibes Rede, das war nächtlich Wolfsgeheuf!
Oluf erzählt ihm num in ihrer Rene und Zerknir-
fhung, wie fie von Scilflieb, der Meerfrau, zu Wuth
und Race angeftachelt worden, und nun nichts heißer
berbeiwünfche als den Tod. Zugleich fordert fie Helge
auf, ihr den Dold in die Bruft zu fioßen. Er weigert
fi, dies zu thun; er will felbfl flerben, aber nicht ge-
meinſchaftlich mit Oluf, welcher ex zuruft:
Bahr hinab in beine Nächte! Deine Wege wall’ ich nicht,
ift'ge Schlange meines Lenzes, Irrlicht meiner Tage du!
— ME Ci CE (un ——————— — ibm GAMES <EM> ü GE (EBD
Bleibe dn in deiner Höhle! Selber jchnfft du dir die Qual
Gramumwölkt, in fangen en tanzen Scemen da
umber,
Welche dir erzählen werben von der Nacht des Tobtenlande,
Wo bereits von weidhen Schlangen Hela bir ba® Bett gemadt.
Ein Drama Dehlenfhläger’s.
Auf Oluf's Trage, was mit Yrſa werden folle, ent-
gegnet Helge, Balder in Walhalla werde über dem Haupt
der Unfchuldigen wachen, deren Auge fi nicht trüben
bürfe, wenn fie des Rachewerks gedenke, welches den un-
glüdfeligen väterlichen Bräutigam befchimpfe. Er felbft
aber werde mit feinen Kümpen ausziehen, um feines Ar-
mes legte Kraft zu verfuchen:
Eia, Steven gegen Steven! DR, an Maſt nnd Ded an
e
Laß den Aar ins Schiff bes Beinben Hagen feine Kupfer-
au
n
Und wenn dann der Quell des Blutes purpurn durch den
Panzer ſpritzt,
Lachen wir des Tods und reiten gen Walhalla mit Geſang!
Nachdem er fich entfernt, tritt Folkwar, Yrſa's Pflege
vater, auf. Schilflieb hat ihm mitgetheilt, daß fie Yrſa
erzählt hat, wer ihr Gatte und Bater fei, und ift dann
mit den übrigen Meerfrauen gen Sikild davongezogen.
Als die Königin Oluf dies vernommen, ftürzt fie in wil-
ber Verzweiflung ab. Yrſa ericheint mit einem Dolch
in der Hand, fpricht deu Entſchluß aus, fi zu tödten,
und verfentt fi, zu Folkwar gewendet, in bie Erinne-
rung an ihre glüdliche Vergangenheit:
O ſchöne Tage,
Da ich es war,
Dein liebes Kindlein,
Im Haus am Strand,
So harmlos glückich
In meiner Armuth,
Eine Fiſcherin!
Da wußt' ich noch nichts
Von Pracht und Herrlichkeit,
Von Gold und Seiden.
Da ſchritt ich des Morgens
So heiter zum Strande,
In meinem armſel'gen
Woll'nen Kleide,
Im Arm die Angel,
In Händen den Ehonfrug
Voll fühlenden Frühtrunks,
Geſchöpft am perlenden
Duell des Gebirge.
Sie erklärt nochmals, die Schmach, das Weib des
eigenen Vaters zu fein, nicht ertragen zu fünnuen, und
fteht ſchon im Begriff, ſich den Dolch in die Bruft zu
ftoßen,, da erfcheint Freia, die Erhalterin der Welt, Die
Soldhanrige im blauen Gewand, und verkündet Yrſa,
daß auch ihr noch das befte, höchſte Glüd des Weibes
bejchteden fei, nämlich das der Mutterfreude.
Yrſa bedeckt fi, als fle diefe Kunde vernimmt, mit
beiden Händen fchaudernd das Antlig, Freia aber begrün-
det ihre Verheißung mit den Worten:
Was grauenhaft empfangen ward, fol ſchön erblühn.
Auf Lavabergen reifen Purpurtrauben oft,
Und wunderbar zu ſchauen glüht im Sumpf und Moor
Dft eine Goldfrucht hell. Darum fei wohlgemuth !
Der Sohn, den bu in deinem reinen Schos empfingſt,
GSereicht einmal zum Ruhme dir; und nicht unr dir,
Dem ganzen Infeloolf des fchönen Dänenlands;
Und wieder nicht nur Dänemarks hochherz'gem Bolt:
Dem ganzen Norden, von der Pracht der Eideran,
Bis wo an Thules Hipp’gem Strand die Iöfuln ſpei'n.
Sein Name wird ergfänzen durch der Zeiten Nacht
Bleih einem Stern bes Himmels, und fein Ruhm erwedt
Ein ipätgeborenes Geflecht von Sängern noch
Zu Lob nnd Preis: Hrolf Krale ſoll fen Name fein,
1870. 4.
649
Urſa fühlt fi durch diefe troftreichen Worte wunder-
bar aufgerichtet und dankt ber mächtigen, hulbreichen
Göttin, die ſich in die Luft erhebt und verfchwindet.
Reigin, der Freund und Begleiter des Königs Helge,
tritt mit einem Gefolge dänifcher Kümpen auf und naht
fi Yrfa mit der Krone des Könige. Auf ihre Trage,
wo diefer ſei, antwortet Reigin, Helge habe, anftatt wieber
wild ins Meer hinauszuſtürmen, wie er fih anfangs vor⸗
genommen, den Tod auf andere Weife gefucht und ge-
funden. Geharniſcht, mit Helm, Speer und Schild Habe
er fih auf fein Streitroß geſchwungen und fet in ein
von unbehauenen riefigen Felsblöcken errichtetes Grabmal,
welches die Königin Oluf für fich felbft erbauen laſſen
und vor deffen Thür, umgeftürzt im Gras und mit Moos
bededt, der Schlußftein des Gemwölbes gelegen, hinein»
geritten:
Raſch! Wälzt den Stein
Bors Grab! Ich bin des Gankelſpiels der Erde müp’,
Id will Hinunterfteigen im die Nacht des Todes —
babe er gefagt, und dann, nachdem man feinen Befehl
vollzogen, habe man gehört, wie er noch heiter fein
„Bjarkemal“ gefungen, währenb der Hengft ftolz wiehernd
mit den Hufen gefchlagen; dann fei alles ftill geworben.
Reigin bietet hierauf Yrſa die Krone, die fie annimmt,
nachdem fie noch erfahren, daß Dluf, ihre Mutter, von
Berzweiflung und Gewiſſensangſt getrieben, ſich von einem
Felſenriff ind Meer geftürzt habe.
Folkwar, der alte Fiſcher und Yrſa's Pflegevater, be⸗
gleitet feine Tochter in ihr neues Reich, nach welchem fie
mit den dänifchen Kämpen unter Segel geht, und Reigin
Tchließt die Tragödie mit den Worten:
So fegeln wir heimwärts
Mit günſtigen Winden,
Heimmärts im Fluge
Zum lieben Geftade
Der Buchen und Erlen,
Dem freundlich holden.
Gefäll'gen Hauches
Biäft Aegir bereits
Ins frührothfunkelnde Segel.
Die in Vorſtehendem mitgetheilten Proben der deut⸗
ſchen Bearbeitung dieſes ſchwungvollen nordiſchen Dicht⸗
werks geben den Beweis, daß der Ueberſetzer ſeine Auf⸗
gabe auf eine Weiſe gelöſt hat, die kaum zu übertreffen
ſein dürfte.
Ueberfetzungen aus ben flandinavifchen Sprachen ha⸗
ben, wenn ſie nicht blos ſinngetren, ſondern auch metriſch
tren gehalten fein ſollen, in noch höherm Grade als die
aus dem Engliſchen mit dem Uebelſtand zu kümpfen, daß
die Kürze der Wortwurzeln, die ungeheuere Menge ein⸗
ſilbiger Wörter, die Knappheit und Einfachheit der Fle⸗
rionen und die Fähigkeit, den Artikel und allerhand an-
dern etymologifchen Apparat entweder ganz auszuſcheiden
oder eine höchft unbedeutende Nebenrolle fpielen zu laflen,
es oft geradezu unmöglich machen, den Inhalt des Ori⸗
ginal® innerhalb ebenfo fnapp gezogener Grenzen wieder«
zugeben.
Daß Gottfried von Leinburg in biefer Hinficht, fowol
was bie hier vorliegende als die früher von ihm geliefer-
ten Weberfegungen betrifft, da8 Menfchenmögliche geleiftet
82
———
— ger namen un
—
um rasen
ve
650 Geſchichte der hannoverſchen Armee,
Hat, Kann ihm niemand abſtreiten; und wenn auch einige
Stellen, wie z. B. ©. 84, wo es heißt:
Sqh bin die Difa, die die Welt erhält —
nit nehm ins Ohr fallen, fo wird ber Lefer für
dieſe —F geradezu unabſtellbaren el durch bie feine,
gewifienhafte und ſaubere Arbeit bes Ganzen ſowie durch
den darin herrſchenden Adel und Schwung der Sprache
zeihlid) entjchäbigt.
Den dritten Tfel der Oehlenſchlager'ſchen Trilogie
bildet, wie ſchon oben erwähnt worben, bie „Hroers ⸗
Sage", welche, in Proſa gejchrieben, den Tod des edeln
Könige Hro, des Bruders Helge's, erzählt; und ben
Scäeußftein des Ganzen bildet das epiſche Gedicht von
Geſchichte der han
Geſchichte der königlich haunoverſchen Armee. Bom General»
Heutenant 2. von Sihart. Ürfer bie dritter Band.
Hannover, Hahn. 1866-70. Gr. 8. 6 Thlr.
Die Hannoverfche Armee Hat eine fo ruhmvolle, mar
kelloſe Gefchichte, daß wir eine Darftellung derfelben mit
Freuden begrüßen. Das Werk ift von einem hochgeach ·
teten Veteranen, welcher jener Armee angehört hat, ſchon
vor der Kataftropfe von 1866 begonnen worden, und es
macht dem Lefer, der mit Antheil den underfäufdeten
Untergang bes tapfern hannoverſchen Heers erlebt hat,
einen traurigen Eindrud, im Vorwort zu lefen, was ber
Berfaffer, nit ahnend, daß fein Thema nad wenig
Monaten einen ſolchen Abſchluß fir immer finden werde,
als Mahnruf zu Tinftigen Wafferrthaten geſchrieben Hat.
Den Söhnen Hannovers, den hannoverſchen Regimentern
unter Preußens Fahnen, werden in künftigen Kriegen
zuhmvolle Waffenthaten nicht fehlen; eine hannoverſche
Armee jedoch wird nicht mehr im Gelbe erfcheinen!
Ueber diefe veränderten Verhältniſſe hat ſich der Berfafler
im Vorwort zum zweiten Bande 1868 ausgeſprochen und
wir Können mit allem, was er darin gefagt hat, voll-
tommen einverflanden fein, vorzüglich aber damit, daß er
fein Werk nad bem urfprüngligen Plane fortgefegt Hat,
„weil es als em Denkmal für die Armee anzufehen fei,
bie als ſolche zu beſtehen aufgehört habe“. Ein witrdigeres
Denkmal tonnte ihr nicht gefegt werben.
Die Einleitung fpricht ſich ‚her den Plan des Werks
und bie Zeiträume für die Gefdichte der Armee aus.
Bir finden den exflern ſowol abs die Eimtheilung ehr
richtig. Eine eigentliche Kriegögefchichte Tann bier nicht
gegeben werben, nur diejenigen Ereiguifle, bei weichen ſich
hannoverſche Truppen ausgezeichnet haben, werben je nach
ihrer Wichtigkeit oder dem Jutereſſe, das fie erregen,
möhr oder minder vollftändig gefchildert. Die Armer-
defchichte iR im fieben Abfepnitte getheilt: 1) von Trrich
tag ‚der erſten ſtehenden Truppen bis zum Weſtfäliſchen
Srieden, 2) bis zum Erlbſchen bes Mannsftamms der
celejägen nie 1706, 3) 338 zum Unfange des Gieben-
jährigen Kriegs, 4) bia zur Franzbfiſchen evolution,
5) bis zur Befegung Hannovers durch die Franzoſen
1803, 6) 56 gar Wiederbefreiung :1818 (Gefhichte
der Töniglich «beutfchen Legion), 7) dis auf bie neuefte
Hrolf Krale, des von Helge und feiner Tochter Yıfa er-
zeugten Sohnes.
Die „König Hroers-Sage“ iſt bereits von Dehlen-
fötige felbft deutſch herausgegeben worden, Gottfried
von Leinburg ſtellt jedoch am Schluß feines Commentars
zu „Drſa“ au von der ebengenaunten Pichtung eine
eigene neue Bearbeitung in mahe Ausficht, und nach dem,
was er fchon auf biefem Felde geleiftet, Tann man biefer
Arbeit, im welcher er fein tiefes Verſtändniß des Origi
nals und feine Meiſterſchaft im Berdeutigen ohne Zweifel
abermals bethätigen wird, nur mit Intereſſe und Span-
nung entgegenfehen.
Augufl Archfchmar.
moverſchen Armee.
Bei der Darftellung ber beiden erften Zeiträume hatte
der Berfaffer mit Benteißen Schwierigkeiten zu kämpfen,
welche ſich jedem Geſchichtſchreiber, der die Wehrzuftände
früherer Zeiten fhildern will, in den Weg ftellen. Die
Quellen find dürftig, unzuverläffig, in wefentlichen Punt-
ten einander oft widerfprechend. Wir willen das Ber-
dienft des Verfaſſers, die vom ihm benugten kritiſch ge -
fitet und möglichftes Licht über die Anfänge ftehender
Truppen in den getheilten braunfchweig « Lüneburgifchen
Landen verbreitet zu haben, um fo anerfennender zu
würdigen, weil auch wir und zuweilen ähnlichen mühe-
vollen Arbeiten unterziehen mußten. Dantenswerth ift
die geſchichtliche Ueberſicht der vier Linien, welche im
Anfange des 17. Jahrhunderts die Lande Braunfchmeig-
Luneburg unter fid) getheilt Hatten. Als Stamm der Hanno-
verfchen Armee find die fechs Regimenter — drei zu Pferd,
drei zu Fuß — anzufehen, welche Herzog Georg aus dem
Haufe Füneburg-Celle nad dem 1631 zu Würzburg mit
Guftav Adolf von Schweden geiätoflenen Tractate er ·
richtete. Im Haufe Lüneburg⸗Celle war nach dem Beir
fpiel anderer Fürſtenhäuſer der meitern Zerfplitterung
duch einen Vertrag Chriſtian's des eltern mit feinen
fünf jüngern Brüdern vorgebeugt, nach welchem dem äl-
teften Defcendenten immer das ganze Farb ohne fernere
Erbtheilung zufallen und von den übrigen nur derjenige
ſich eberbürtig vermäßlen follte, melden das Los dazu
beituumen würbe.. Das Los entſchieb Hier fiir Herzog
Georg. Er felbft, wie wir hinzufligen, beftieg zwar dem
angeftammten Thron nicht, weil bei feinem EN 1641
noch her regierende Herzog, fein älterer Bruder Friedrich,
lebte, wol aber folgte Iegterm, der feine fucceffionsfähigen
Kinder hinterließ, 1648 Georg's Sohn Ehriftian Ludwig.
Diefer ſchlug feine Refidenz in Hannover auf und
wurde der Stammater der jlingern melfiiche Linie,
welche 1714 die engliſche Krone erwarb und 1866 tie
hannoverfche verlor. Die ältere Linie der Welfen, in
Braunfchweig, wird mit bem jegt regieremben Herzog
ausfterben. E
Dir Ihren zu unferm Werke zurüd, das die Thaten
des Hergog6 Beong mit feinem Aetnen trefflic, organiſit
ten Heere in der Haren anſchaulichen Weife ſchildert und
beurtheilt, welche den einſichtsvollen Militär und geretften
Mann befundet.. Die Darftellung ber Begebenheiten
Geſchichte der hannoverſchen Armee.
entfpricht im ganzen Werke dem Charakter, ben wir als
hannoverſche gute Eigenart fo treffend in der Biographie
Sir Yulius von Hartmann's von deſſen Sohne, jegt preußischen
General, bezeichnet finden (dgl. Nr. 46 d. Bl. f. 1858).
Herzog Georg kam mit feinen Truppen nicht zur Schladht
von Tüten, die fonft vielleicht nicht die erften Wechſel—
fälle, weldje den verhängnißvollen Witt des Schweden⸗
königs mit geringer Begleitung nad dem gefchlagenen
Flügel und feinen Tod verurfachten, gehabt hätte, wir
lefen bier aus den Urkunden, abweichend von Deden’s
Darftellung, was den Abmarfch des Herzogs verzögerte.
Diefer ſtarb 1641, und die drei braunfchweigifchen Her-
zoge ftellten ihre vereinigten Streitkräfte nun unter den
Dberbefehl bes Lanbgrafen von Darmſtadt. Ein Theil
derfelben, mit den Schweden vereinigt, half den Sieg bei
Wolfenbüttel erfämpfen, welcher ihren Bürften, bie ins⸗
geheim ſchon mit dem Raifer um Frieden unterhanbelten,
fo ungelegen kam, daß fich Herzog Auguft der Züngere
ſogar beim erierzeg Leopold Wilhelm über den Sieg
entſchuldigte!! Die Schlacht, ſagt der Verfaſſer, bot das
ſeltſame Schaufpiel, daß bie ſiegreichen Truppen in der⸗
ſelben ohne eigentliches Haupt waren, der Gewinn
derſelben wurde nur den ausgezeichneten Oberſten der
Regimenter und der Tapferkeit der Truppen zugeſchrieben.
Haben wir Aehnliches nicht auch erlebt, noch zu tiefern
Chargen als die Oberſten hinabgehend? Mit der Zügel⸗
führung ber Feldherren in den neuern Schlachten, die,
wie die Sriegsgelehrten ſich ausdrüden, zu „Partial⸗
Tämpfen bdiscreter Haufen‘ geworden find, ift es ein
eigened Ding.
Der zweite Zeitraum unfers Werts 1648 — 1705
bot dem Berfafler noch größere Schwierigfeiten ale der
erfie. Das Haus Braunfchweig-Füneburg zerfiel in vier
Linien: Celle, Hannover, Dsnabrüd und Wolfenbüttel,
die „Völker“ derfelben, welche mehrfach getheilt, vereinigt,
wieder feparirt und theilmeife überlaffen wurden, mußten
nad unklaren Duellen einzeln feftgeftellt und betrachtet
werden. Die ſchwierige Aufgabe durchzuführen ift dem
Berfafjer wohl gelungen; dem Kenner wird nicht entgehen,
welche Mühe ihn das gefoftet hat. Im zweiten Raub»
kriege Ludwig's XIV. waren die welfifchen Fürſten trau⸗
rigerweife umeins, der von Hannover war mit Frankreich
verbindet, die beiben andern ftanden auf deutfcher Seite.
Der franzöfifche König zahlte jenem für jeden Keiter 50,
für jeden Dragoner 40, für jeden Fußſoldaten 15 Spe-
cieöthaler, außerdem monatli 30000 Thaler und bie
Werbeloften. Dieſe Bortheile bewogen den Herzog, fein
Corps bis auf 15000 Mann zu vermehren. Weber bie
Formation deffelben und feine Reduction nad) dem Fries
ben lefen wir nad) den vorhandenen Quellen bie genaue⸗
ften Details mit den Namen der betreffenden Stabsoffiziere,
Hauptleute und Rittmeifter, wie denn der Verfaſſer diefe
Perfonalien durch das ganze Buch durchgeführt Hat, weil
e8 für die Nachkommen jener Krieger Interefle Hat. In
gleicher Weife werden bie Truppen ber andern braunfchweig-
Lüneburgifchen Fürften vorgeführt und nad) ihrer Rekru⸗
tirung, Ausrüftung, Ausbildung und Unterhaltung be-
fproden. Die ehrverhäftnifi hatten Hier denſelben
Gang genommen wie in andern Ländern: es waren jebt
ftehende Truppen, welche im Kriege vermehrt, nad) dem
651
Trieben rebucirt wurden. Auch das vielberufene Ueber»
lafjen und Berfchenten ganzer Regimenter fam vor:
Georg Wilhelm von Celle überließ 1668 feine drei
Snfanterieregimenter der Republik Benedig zum Sriege
auf Candia gegen die Türken; Auguft von Wolfenbüttel
ſchenkte Ernft Auguft von Hannover, als biefer in den
Befig von Dsnabrüd fam, drei Compagnien; der Kur⸗
fürft von Köln gab dem Herzog von Eelle 1671 ein im
Lüttichſchen gemorbenes, ans Wallonen beftehendes und mit
polnifchen Pferden berittenes Dragonerregiment. Neben
ben „geworbenen Völkern‘ beftand aber noch eine Miliz-
einrihtung, nach welcher der neunte Mann „zum Ans
ſchuß befchrieben” und einexercirt wurde, beflimmt, im
Kriege die feften Städte und Päffe zu befegen, dem ur⸗
ſprünglichen Gedanken der Landwehr gemäß. Aus ben
damaligen Dienftreglements werben die wichtigſten Vor⸗
ſchriften mitgetheilt, was den militärifchen Xefern von
Intereſſe fein wird; ebenfo die Uniformirung: die Cavalerie
hatte weiße, die Infanterie mit Ausnahme weniger Regie
menter rothe Röde. Ein Bataillon, das fih 1704 bei
Hochſtädt ſehr ausgezeichnet, aber auch große Verlufte erlit«
ten hatte, erhielt zum Andenken an diefe Berlufte ſchwarze
Rabatten, Auffchläge, Unterfutter und Weften. Na den
organifatorifchen Berhältniffen werden die Friegerifchen
Ereignifje von 1648—1705, an denen braunſchweigiſch⸗
lüneburgifche Truppen theilgenommen Haben, dargeftellt.
Diefe Haben ruhmvoll gekämpft gegen die Türken in Une
gern und im venetianifchen Solde, beim Entfage von
remen und Hamburg, in vier Kriegen gegen Ludwig XIV.,
auch gegen Dänematk und Schweden. Aus den Teld-
zügen gegen Frankreich werden intereflante Einzelheiten
von den hannoverfchen Truppen erzählt, die fi) nament-
lich bei Enzheim (Enfisheim) mit einem friegerifchen
Enthuſiasmus gefchlagen haben, daß Turenne geiufert
haben fol, ex würde befiegt worden fein, wenn die ganze
alliirte Armee ebenfo tapfer als die Lüneburger gefümpft
hätte. Beſonders zeichnete fi) das Regiment Molleflon
aus, das von den Franzoſen wegen feiner grünen Uniform
mit rothen Schößen das „Papagaienregiment“ genannt
murde. Ein anderes Regiment, Melleville, aus „Aus—⸗
ſchuß“ (Miliz), Compagnien gebildet, war nicht uniformirt
und trug auch im Kriege gewöhnliche Bauernfleidung.
In der Naht nad) der Schlacht bei Enzheim entfleideten
die Soldaten deffelben die Todten, gleichviel ob von der
Infanterie oder Cavalerie, und erfchtenen bei Tagesanbruch
uniformirt, wenngleid in Montirungen von verfchiedenem
Schnitt und verfchiedener Farbe. Ihr Herzog lachte
herzlich, nahm das Regiment unter feine ftehenden
Truppen unb Tieß fogleih Uniformen für baffelbe aus
Celle fommen.
Aus dem Feldzuge von 1674 unter dem Oberbefehl
des Großen Kurfürften hätte noch erzählt werben können,
wie nad) der Schlaht bei Türfheim die Defterreicher ihre
deutfchen Verbündeten im Stich ließen, indem ſie heimlich
in ber Nacht den Rückzug nad) dem Rhein antraten, ohne
fie davon zu benachrichtigen. Der Herzog von Lüneburg«
Selle brachte die Meldung, bie ihm endlich von feinen
Poften zugelommen war, beftürzt und zornig dem Kur⸗
fürften in die zerflörte Mühle, wo diefer die Nacht zu-
bradjte. Es blieb den Brandenburgern und Liineburgern
82 *
652
nun auch nichts übrig, als abzumarfchiren und den
Elſaß, das alte deutfche Reichsland, das ſchon wieberer«
obert war, zu verlafien!
Nachwehen aus dem Dreißigjährigen Kriege finden
fi neben ehrenhaften Sriegerthaten an nod. Die
Wirthe in den Winterguartieren, wie angegeben wird,
mußten den Colbaten nicht blos Eſſen und Trinken
„ſatt und vollauf”, fondern auch große und Heine Mon⸗
tirung „hinlänglih und überfläffig” und beim Abmarſch
jedem Mann 4 harte Thaler baares Geld geben. Dafür
behielten die Kriegäherren den Sold ein. Wir haben
diefen faubern Brauch anderswo nicht erwähnt gefunden.
Zwei wolfenbütteliche Regimenter verlangten num aber
1675 neben dem „Winterbenefiz‘ auch ihre Löhnung, ver-
jagten, als fie abjchlägig beſchieden wurden, ihre Offiziere
und marſchirten unter einigen Corporalen eiligft nad) dem
Hildesheimifchen zurüd, wo ihnen, wie General von Sichart
in den Acten des Föniglichen Archivs gefunden, der Herr
von Münchhaufen entgegengefchidt wurde, um — fie
zu befänftigen und nad Haufe zu führen. Aus ben
Türkenkriegen verfagen wir uns ungern Details, die hier
der Vergeſſenheit entriffen werden, mitzutheilen; aus dem
dritten Hauptkriege gegen Ludwig XIV. heben wir ale
befonder8 gelungen die Darftellung der Schlacht von
Neerwinden hervor.
Der zweite Band umfaßt den Zeitraum von Erlöfchen
der cellefhen Linie 1705 bis zum Siebenjührigen Kriege,
alfo den Epanischen und Defterreihifchen Erbfolgekrieg, und
wir find aufrihtig mit dem Verfafler einverftanden, wenn
er im Vorwort dieſes Bandes fagt, daß die Reihe der
biutigen Schlachten und Gefechte, an welchen die hanno⸗
verſchen Truppen einen nicht unmwefentlichen Antheil ge-
nonımen und dabei ihrem Namen ftet8 Ehre gemacht
haben, den Beweis liefert, daß auch Truppen, welde
einer Hleinern Armee angehören, file ihre Waffenthaten
ein Blatt in der Sriegögefchichte in Anfpruch nehmen
dürfen. Die Hannoveraner haben ihr Recht dazu voll»
gültig dargethan.
Während des Spanifchen Erbfolgefriegs farb 1705
Herzog Georg Wilhelm von Celle ald letzter feiner Linie,
und die Befigungen nebft den Truppen berfelben gingen
an das Kurhaus Hannover über. Bon 1705 an kann
alfo die hannoverſche Armee als ein Ganzes in ihrer
Geſchichte dargeftellt werden. Nach denjelben Gefichts-
punkten wie früher wird ihre Formation, Rekrutirung,
Ausbildung, Ausrüftung und Unterhaltung gefchildert;
militärischen Lefern wird das taftifche Kapitel beſonders
intereflant fein, der wichtigſte Abſchnitt ift aber ber
dritte, welcher die kriegeriſchen Ereignifje enthält. Im An«
fang des Spanifchen Erbfolgefriegg Hatte Braunfchmeig-
Wolfenbüttel, das die Erhebung der jüngern Linie zur
Kurmürde nicht verſchmerzen konnte, ein Bündniß mit
Frankreich gefchlofien. Ein überrafchender Einfall celle-
bannoverfcher Regimenter mit Genehmigung bes Kaifers
in das Braunfchweigifhe und die Bermittelung anderer
Vürften bewogen aber ben Herzog Anton Ulrih von je-
nem Bündniß abzuftchen und das Hülfscorp8 von etwa
9000 Dann, das zum Heer des Herzogs von Marl«
borough in den Niederlanden ftoßen follte, konnte nun
ohne Gefahr abmarfchiren. Daffelbe kämpfte mit Aus-
Geſchichte ver hannoverſchen Armee.
zeihnung in allen Feldzügen unter dem großen britifchen
Heldheren; feine Waffenthaten find hier in der trefflichen
Darftelungsweife des Verfailers fo ausführlich gejchildert,
als die archivaliſchen Quellen geftatteten, bei jeden Gefecht
und jeder Schlacht auch die oft fehr großen Berlufte mit
namentlicher Angabe der getöbteten und verwunbeten Of—-
fiziere. Daß diefe Waffenthaten im Zufammenhange mit
den Operationen und dem Gange der Schlachten nicht
herausgeriſſen dargeftellt find, gibt dem Werke einen größern
friegsgefchichtlichen Werth. In der Schlacht bei Höchſtüdt
1704 eroberte da8 Regiment Bothmer zwei Paulen der
franzöfifchen maison royale (Gardecavalerie), ein fpäterer
Chef bes Regiments fchenkte fie 1773 der Univerfität
Göttingen, wo fie noch jegt in der Aula aufbewahrt find
und bei ben alabemifchen Actus und Concerten gebraucht
werden. Jede derfelben trägt eine Infchrift in altem
claffschen Latein von dem berühmten Philologen C. ©.
Heyne, worin auch erwähnt ift, daß fie turmis gal-
licis cataphractis Praetorianis viclis fugatisque, cum
aliis insignibus (erobert) feien. Es wurden in der Schladit
aber auch andere eigenthilmliche Eroberungen gemacht,
3. B. 34 Kutſchen mit Damen. Bei Ramillies 1706
wurde das ftolze „Haus des Königs”, die Elite der
franzöfifchen Reiterei, abermals von einem hannoverſchen
Regiment, Beng, geworfen. Dabei fiel ein achtzigjähriger
Reiter, der fchon bei St.Gotthard in Ungarn 1663 ge-
fümpft hatte. Als Defterreihs Verbündete 1713 mit
Frankreich Frieden gefchloffen hatten, wurben die hanno⸗
verfhen Zruppen vom Prinzen Eugen mit einem höchſt
anerfennenden Schreiben, das hier mitgetheilt wird, ent:
lafien. Im Jahre 1719 mußte Hannover mit Braun«
ſchweig die Reichsexecution in Medlenburg vollftreden,
wo der Landesvater rufftfche Truppen, welche ber nod
nicht beenbigte nordiſche Krieg in fein Land geführt, zur
Durchführung feiner Gewaltmaßregeln gegen feine Stände
benutte. Dann nahm ein hannoverfches Corps an tem
thatenlojen Reichöfriege von 1734 und 1735 gegen Frank⸗
reich theil. Im Defterreichifchen Erbfolgekriege kämpften
die Hannoveraner mit den Engländern verbunden unter
ihrem gemeinfamen Landesheren Georg II. für Maria
Therefia.
Es wird unfere Leſer intereffiren, daß die oft wieder⸗
holte Gefchichte aus der Schlacht von Fontenoy, wo bie
englifche und franzöfifche Garde, fi) an Courtoiſie über.
bietend, dem Gegner die erfte Salve anzucomplimentiren
geſucht haben foll, eine Hiftorie, welche jüngft Garibaldi
in feinem Aufmwiegelungsbriefe an die franzöfifche Armee
wieder vorgebracht hat, in das Reich ſchöner Erfindungen
gehört, wie Cambronne's „La garde meurt et ne se
rend pas” bei Waterloo. Nad dem Schlachtbericht find
bie Engländer unter dem euer der Franzoſen, ohne einen
Schuß zu thun (im damals üblichen langſamen Schritt
von 75 in der Minute!) bi8 auf 30 Schritt im Bor»
rüden geblieben und Haben dann erft gefeuert. Gegen
den Marfchall von Sachſen konnten aber bie Verbündeten
bei mangelhafter Führung weder dieſe noch eine andere
Schlacht gewinnen.
Der dritte Band enthält die Geſchichte der hannover⸗
Shen Armee von 1756—89. Bei ber Weichhaltigfeit bes
Stoffe wurde es nöthig, denfelben in zwei Abtheilungen,
Geſchichte ver hannoverſchen Armee.
welche ziemlich ſtark find, erfcheinen zu laſſen. Die Dar-
ſtellung mußte fih nämlich aud auf die Leiſtungen der
leichten Truppen erftreden, „bie unter einem Luder,
Freytag, Scheither u. a. der Art gemefen find, daß fie,
wenn auch die Kriegführung ſich wejentlich verändert Hat,
auch jet noch für Parteigänger nnd Führer Fleinerer
gemifchter Truppenkörper als ein glänzendes Vorbild da⸗
ftehen werden.“ Diefem Urtheil fönnen wir nur voll«
kommen beiftimmen, und empfehlen darum diefe Partie
des Werts als bejonders lehrreich den weiteften militärt-
fchen Leſerkreiſen. Unfere modernen leichten Truppen
lönnen von den alten noch fehr viel Iernen!
Die erfte Abtheilung des dritten Bandes bringt bie allge-
meinen Berhältnifie der Armee fir den ganzen Zeitraum und
aus dem Siebenjährigen Kriege die Feldzüge der Hanno»
veraner von 1757, 1758 und 1759. König Georg II.
war jet mit Friedrich II. verbindet. Preußens wenige
deutsche Verbündete ftellten 1757 ein Heer von 45000 Mann
auf, deſſen Commando der Herzog von Cumberland über-
nahm. Es beftand aus Hannoveranern, Heflen, Braun⸗
fhweigern und Büdeburgern, die erftern machten weit
über die Hälfte aus. Bekanntlich verlor der Herzog ge-
gen die doppelt fo ftarfe franzöftfche Armee die Schlacht
von Haftebed, in welcher der hannoverfche Oberft von Brei«
denbach mit zwei Schwadronen feines Dragonerregiments
und drei Infanteriebataillonen, zur Dedung der Flanke
beſtimmt, das feindliche Corps, auf das er ftieß, fo ent⸗
ſchloſſen in Flanke und Rüden angriff, daß dieſes, vier-
zehn Bataillone ftark, feine Gefchlige im Stich Laffend, die
Flucht ergriff, und der Marfchall d’Etrees, der fi um⸗
gangen glaubte, den Nüdzug für die ganze Armee an«
ordnete. Leider hatte aber auch der Herzog von Cum⸗
berland, der die Schlaht verloren gab, die Retirade
angetreten, Breidenbah wurde nicht unterftügt, fondern
erhielt Befehl, fich derfelben anzufchließen, worauf bie
Sranzofen wieder umkehrten und die Verfolgung begannen,
allerdings num zu ſpät. Breidenbach's Bericht, der we»
nig befannt geworden, ift in unferm Werke mitgetheilt.
Die Folge der Niederlage war die Convention von
Klofter Zeven zur Einftellung der Feindſeligkeiten und
Auflöfung der Armee, die aber in dem Xefcript bes
Königs Georg eine „unglückliche und höchſt misfällige“
genannt und von der Regierung nicht ratificirt wurbe.
Der Herzog von Cumberland nıufte nach London zurüd»
tehren, um ſich zu rechtfertigen, wo ihn fein Bater höchſt
ungnädig empfing; den Oberbefehl über die Armee erhielt
nun nad Berhandlungen mit dem Könige von Preußen
der Herzog Ferdinand von Braunfchweig, der fih an
ihrer Spige in fünf ſiegreichen Feldzügen als ausgezeich⸗
neter Feldherr bewährte.
Zur Geſchichte diefer Feldzlige hat der Verfaſſer alle
in neuerer Zeit erfchienenen Werke, weldye die Kreigniffe
auf dem weftlichen Kriegstheater behandeln, von Renouard,
Weſtphalen, Kneſebeck u. ſ. w. mit felbftändiger Kritik
benugt, und aus den Ücten bes Archivs nebft andern
Duellen für feine Darftellung wertvolle Angaben ge⸗
ſchöpft. Intereſſante Originalberichte werden aud) im
Auszuge eingefchaltet. Den einzelnen Schlachten folgen
ſtets umter der DBezeihnung „Denkwürdigfeiten‘ ſowol
kritiſche Bemerkungen als befonderd Hervortretende Er⸗
653
fheinungen oder Momente bes Kampfs. Wie fehon er⸗
wähnt ift den Leiftungen der leichten Truppen eine fpe-
ciele Aufmerkſamkeit gewidmet, unter deren Filhrern
Ludner wol das meifte Intereffe auf ſich zieht, fchon
wegen feines fpätern Scidfals im franzöfifchen Dienfte.
Tür glüdliche Conps erhielten diefe Leichten Corps aus
der Contributionsfaffe anſehnliche Donceure, der Führer
in der Regel 1000 Thaler, jeder Kapitän oder Ritt⸗
meifter 100 Dukaten und fo herab bis zu den Gemeinen,
welde 2 bis 3 Thaler befamen. Die großen Operatio-
nen find im Zuſammenhange bargeftellt, ihre Brennpunkte,
die Schlachten, in ihren Hauptmomenten fehr anſchaulich
geſchildert. So bei Minden der denkwürdige Angriff der
englifch-hannoverfchen Infanterie auf die franzöſiſche Ca⸗
valerie. Diefe bildete ausnahmsweife das Centrum ihrer
Armee, daher traf jene beim Vorrüden nicht, wie doch
fonft immer nach der herrfchenden Schlachtordnung der Zeit,
auf Infanterie, fondern auf Reiterei, von ber fie zwar
wiederholt heftig angegriffen wurde, ſich aber, alle Attafen
durch Teuer auf nächſten Abftand abweifend, im Avanci-
ren nicht aufhalten ließ, ſodaß endlich die feindliche Ca⸗
valerie das Schlachtfeld räunte. Der letzte Angriff wurde
von 18 Schwadronen Gensdarmen unb Carabiniers, welche
„Die Blüte des franzöfifchen Adels und der Stolz Frant-
reichs“ waren, unternommen, fie burchbradhen fogar das
erfte Treffen, wurben aber fchließlih doc mit großem
Berlufte zerjprengt und ließen 50 todte und gefangene,
39 verwundete Offiziere zurüd. Neun Standarten, welche
die Hannoveraner genommen, wurden in ber Garniſon⸗
firche zu Hannover mit einer Gedenftafel aufgeftelt, von
den Franzoſen aber 1803 entfernt, wie 1806 das Dent-
mal vom Schladhtfelde von Roßbach. Die fliegenden
Corps thaten dem Feinde auf feinem Rückzuge noch viel
Schaden, befonders an Pferden, Urff nahm die ganze
Veldequipage de8 Prinzen Xaver von Sachſen und bie
ſächſiſche Kriegskaffe, unter Freytag's Beutepferden foll
fi) eins des Marſchalls Contades mit einem goldenen
Tliegennete, 15 Pfund ſchwer, befunden haben; Luckner's
Hufaren brachten täglich Beute ein. Herzog Ferdinand
verlieh an die Truppentheile, die fi in der Schlacht
bejonder8 ausgezeichnet hatten, beträchtliche Geldgeſchenke;
von einer Dragonerfchwadron erhielt der Kapitän, von
dem Busfche, 1000 Thaler, jeder Offizier 100 Thaler,
jeder Unteroffizier 2 Dukaten, jeder Dragoner und Tam-
bour 1 Dukaten. Luckner's Huſarencorps wurde 1760
auf vier Schwadronen gebracht und zum Regiment „becla-
riet”, der Führer zum General ernannt. Die Armee
erhielt eine bedeutende Verſtärkung durch engliihe Trup⸗
pen, auch wurde cine fogenannte legion britannique von
fünf leichten Bataillonen und fünf Dragonercompagnien er⸗
richtet, welche feltfanermeife jedes eine andere Uniform
trugen. Mehr und mehr war ſchon früher das Führertalent
des Erbprinzen von Heflen hervorgetreten, deſſen Unter⸗
nehmungen eingehend gefchilbert werden. Er legte Hier den
Grund zu feinem Ruhme, der ihm fpäter 1792 und 1806
ben Oberbefehl der preußifchen Armee verfchaffte, zu deren
und feinem cigenen Unglüd. Ludner, der unermitdliche,
wurde nun auch zu größern Zwecken gebraucht und war
meiſt glücklich. Mit der Feder mußte er allerdings
nicht fo gut umzugehen, wie mit dem Gäbel. So
654
berichtete ex 1761 aus Halle (buchftäblih dem Original |
entnommen):
Euer Excell. habe die Ehre Zu Berichten, wie daf id
heute das glückh gehabt habe 3 bifferente Langer® zu defogieren,
eines nach dem andern, daf erfle wahr Caraman, felber pliirte
fih anf Ehabbo, diefen tonrnirte ich) Zu Eſchershauſen, felbe
pliirten fih nad Stabtoldendorfj, ich machte es Bten eben fo,
fo fannte der Feint vor gut, alle 3 Laagere zu quitieren.
Noch in demfelben Jahre 1761 avancirte Ludner
zum Oenerallieutenant, erſt 39 Jahre alt. Wir bedauern,
das originelle Schreiben wegen feiner Tänge nicht mit-
tbeilen zu Können, in welchem er, geftügt auf ein Ver⸗
fprechen des Königs, dem General, welcher 1000 Gefan⸗
gene einbringen würde, ein außergewöhnliches Avancement
zu verleihen, daflelbe für fi in Aufprud nimmt. Im
legten Feldzuge des Kriegs führte er dann ein Corps
von 8 Bataillonen und 22 Schwadronen. Am 15. No
vember 1762 machte ein Waffenftillfiand den Feindſelig⸗
feiten ein Ende, dem fpäter der Frieden folgte.
Feuilleton.
Unter Ferdinand von Braunfchweig hatten ſich bie
Hannoveraner, welche faft die Hälfte feiner Armee aus-
machten, unverwelflihe Lorbern gefammelt. Im Jahre
1775 ließ Gcorg IM. fünf hannoverfche Bataillone im
englifchen Sold treten, um damit ebenfo viele englifche in
Gibraltar und Minorca ablöfen und letztere gegen feine
aufftändifchen nordamerifanifchen Colonien verwenden zu
können. In Gibraltar hatten fie die lange Belagerung
auszuhalten und kehrten erft 1784 nach dem Frieden von
Berfailles in ihr Vaterland zurüd. Auch nah Oftindien
gingen hannoverfche Truppen, welche die Oſtindiſche Com⸗
pagnie nach erhaltener Genehmigung des Königs 1781
in ihren Sold nahm. Es waren zwei Kegimenter, welche
dort in dem Sriege gegen bie Sranzofen und Tipoo Salb
verwendet wurden und bis 1792 blieben. Damit fchliekt
ber dritte Band. Wir fehen der Fortſetzung des treffe
lichen Werks mit großer Erwartung entgegen.
Karl Guflen von Berned.
Fenilleton.
Die Bibliothek Friedrih von Schiller's.
Alfred Meißner fendet uns aus Bregenz die folgende
Mittheilung zu:
IH glaube, es geht nod) vielen andern fo wie uns,
denen bei bebeutenden Männern immer die Frage intereflant
war, was ihre Bibliothek geweſen? Die Bücherſammlung, die
diefer oder jener große Mann befefien, gibt freilich feinen
Schluß auf feine Leltüre, mander hat mit Vorliebe Öffentliche
Bibliotheken benutzt oder, durch feine finanziellen Berhältnifie
bewogen, feine Lektüre mehr leihweiſe bezogen; dennoch aber
hat die Bücherei eines geiſtigen Führers ber Nationen immer
mehr Werth ale den bloßer Reliquien. Die Bucher, die er
fi) anſchaffte und zu eigen gehabt, hat er gewiß geleien, es
dürften fih darunter feine Lieblinge finden. Iſt er ein Schrift-
fteller geweien, jo werden die Bücher im allgemeinen wie im
befondern Aufichlüffe Über feine Probuctton geben und vieles
erffären, was feine biographifche Darftellung enthält. Was
gäben wir drum, die Bücherſammlung Shalipeare’s beifammen
zu haben! Unzählige Controverjen der Kritifer und Commen⸗
tatoren wären mit Einem Sclage gelöft.
Bon einem unferer theuerfien Namen ift die Bibliothek
faft noch vollftändig beifammen. Wir meinen die Friedrich von
Schillers. Einzelne Bände mögen fortgelommen fein, der
Hanptſtamm derfelben ift noch im Befitz feines Enkels. Diefer,
der peufionirte öÖfterreichifche Rittmeifter Friedrich Freiherr von
Schiller, hat fi Bregenz zum Wohnort gemählt, das Städtchen
am Bobenfee, das dem ſchwäbiſchen Lande gewiffermaßen mit
angehört. Da ſtehen fie, von fpätern Erwerbungen jorgfältig
gelgieben, in einfachen, meift recht abgenugten und verblaßten
inbänden, die Bücher, die ihm gehörten, und nie bin ich, der
Ri denjelben Ort bewohne, vor den Schranf, der fie birgt,
ohne eine gewiffe Ehrfurcht getreten. Es ift ein Schag auf
einem ganz unbeacdhteten, gar wenig befuchten Plate und fiber-
dies ſchwer zugänglich. Im einer großen Stadt wäre er der
Zielpunft von Wallfahrten; hier wiffen felbft die Mitbürger
fanm etwas von feiner Exiſtenz. Ich glaube ben Literarbifto-
rifern des Baterlandes einen intereffanten Stoff zum Nachden⸗
fen zu geben, indem ich die Lifte mitiheile; jedenfalls wird es
für kommende Zeiten, wenn bie Sammlung etwa getheilt wer⸗
ben follte, wichtig fein, zu wiflen, was der ſichere Beſtand
der Schiller'ſchen Bibliothet war.
Archenholz, Flibuſtier. — Guſtav Wafa nebſt einer Schilde
rung des Zuſtandes von Schweden, 2 Thle. Tübingen 1801.
Ahelung, J. C., Wörterbuch der hochdentſchen Mundart, 4 Bde.,
Leipzig 1774—86,
Abraham a Sancta Efara, Judas, der Erzfchelm. *)
Bed, Anleitung zur Kenntniß der Weltgefchichte, 2 Bde.
Bourret, Reife in Savoyen.
Bauer, Hiftorifches Jahrbuch.
van Bylen, Libellorum parcorum Index.
Balzac, J. L., Lettres choisies,
— Entretiens.
Bossuet, Oraisons funtbres. — Flechier, Oraisons funebres.
Bourdaloue et Mascaron, Oraisons choisis.
Brodmann, Gedichte, .
Beibers, Haudlungs- und Handwerkierilon.
Bode, Der geftirnte Himmel.
Bunting, Brauſchweigiſche Chronik.
Birker, Ehrenſpiegel des Hauſes Oeſterreich.
Chas de Nimes Bonaparte. j
Ducoe, Geheime Memoiren von Lonis XIV. und XV.,
Dalberg, Grundjäge der Aeſthetik.
Ebel, Gebirgsvölker der Schweiz.
Eichen, Horaz lyriſche Gedichte, 2 Bde.
Forfter, Ozasman's Reiſe.
auft, Geſchlechtotrieb des Menſchen.
oethe, Götz. — Was wir bringen. — Benvenuto Cellini. —
Propyläen.
Godwin, Erlebniffe Williams. (?)
Grimsco, Luther's Leben,
Gall's Theorie der Phyſiognomik von 2, F. Froriep, Weis
mar 1802.
Gozzi, Theatralifche Werke. **)
Haman, Poetiſches Lexikon, ober nützlicher und brauchbarer
—A “*) von allerhand poetiſchen Redensarten, Leipzig
Hoven, Epidemiſche Fieber.
Hufeland, Beförderung der Geſundheit.
— Kunſt, das Leben zu verlängern.
Heſſe, Kaiſer Günther von Schwarzburg.
Heppe, Elementarnaturlehre, 2 Bde.
Heilmann, Thucidides.
Fer * dn *
auſe, Geſchichte des Dreißigjährigen Kriegs.
Körte, Briefe an Bodmer. giahris
u Rapuzinerprebigt im „Wallenſtein“.
—2 so underliches Buch — ine Sammlung von poeti⸗
eine Sa g von po
{den Präbicaten gu allen möglichen Eubjecten. Mit Augeunbelegeng v
85 iuß, Eobenkein, — FE dus euung ver
Feuilleton. 655
Nlopftod’s Oben. Denkiolirdigkeiten aus der Regierum; ung Beinei IT I. von Frankreich.
Lavater, Anatomiſche Kenutniſſe. Reifen ber Väpſte (von J. van ar er), 1782.
Lapide, Dissertatio de ratione. &mor, der Tyrann.
Leffing’® Schriften, 4 Bde., neue Auflage, Berlin 1796. Briefe eines jungen Gelehrten.
Lemercier, N. L., La journde d'une conspiration, comedie. | La soirde du Jubyrinthe.
Lorenz, Euclid’s Elemente. & agmente jur Stoatengeigiäte,
Monnier, Expos& de ma conduite dans Yassembl&e nationale. | Tälringifhe Chronit.
Macchiavelli, Historia forentiga. La vie du Comte de Tottleben.
+Mercier, Der Defesteur. Amusemens serieuses et comiques,
Moriz, Nahahmung des Schönen. La vie de Corneille Tromp.
Murr, Beichreibung der Reichskleinodien. Friedrich Karl, Fürft von Rudofftadt.
Ru Sr 16 der tflabt und dem Iumern Fraukreiche. ©: des Ri
Mäder, 9. ——— BR | ee
Dann, esfäresung des Kriege. Neifebeihreibungen für die Jugend.
Gnfav III. von Schweden, Bra 1798, Lebensbeſchreibung von Sebaftian Schärtliu.
- kur des hiſtoriſchen Gemälb Sändertheitung de8 fähfifhen Haufes.
_ der Seren 1798, Teig ir. Klio, Monatſchriſt. A
Pütter, Staatsverfafjung. Les 'Liaisons dangereuses (von Choberlos de Laclos) 1782. *)
Is Penle, Berkin Duc de York. *) Beimariiher Hofkalender.
Bram, © de überfegt vom Knebel, Leipzig 1798. **) Richelieu, Mazarin et Colbert.
je rebus Suecicis. Kutdestungsreijen.
Rollin, Histoire ancienne. Grundrig der Fürftenkunft. i
Zeat Melchior Striegel, ein Sedicht. Listoire politique et litteraire, 2 Bde. ;
Rousseau, Confessions; Paris, Didot. Der neue Sammler. 9
Rabatt, Weltgeſchichte des 17. Jahrhunderts, 5 Bde. Thalia. 12 Hefte. +
Demoiren. — Manuscripts de Necker pulis par sa | Autimacdjiavel, Haag 1740. 8
en 1805. Biographien fr die Jugend. ı
Schidzer, Stagtsgelehrheit. Die tragiihen Theater der Griechen. !
Sprengel, Staatenkunde, Briefe Über das ſchweizeriſche Hirtenlaud. N
Schiller, Abfal der Niederlande. — Pitaval. Le cosmopolite. j
— Geldiäte des Malthejerordens. ***) Gedichte von Louvbois. '
— Hiforifhe Memoiren. Athenor, ein Gedicht. }
Seibold, Selectiora Adagia. Actes de la paix de Ryswick.
Serres, Inventaire de l'histoire. Acta rerum belgicarum. !
Scuberth's Englische Balladen. — Othello. Schriften der furfürftlichen Gefelfaft zu Münden, 2 Bde. i
Stolberg, Ehr. von, Aeſchylus' Tragödien. Esprit des croisades, 4 Bbe. j
Sälegel, Shatipeaseo Bert Feige — — — Athendum. Stammtafel der europäifchen Reiche und Fürſtenhäuſer.
Topographie der Nheinpfalz.
Schmidt, 8537* der nid Aristipp et Lais.
Schüg, Gefgihte der Republi Frantreich. Der deutſche Merkur, 10 Bde. a 25 Hefte.
Schwan, Deutid-franzöfifcher —E —— Würtemberger Repertorium ber Literatur. —
Sartoriue Fr des hanſeatiſchen Bundes. mm Seäntüicer Mertur von * von Soden.
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— Beſchichte von Würtemberg nnter den Grafen und Herzo- | Zimmermann über (Friedrich den Großen. — —
gen, @öttingen 1282. Aus diefen Büchern fegt fid die Bibfiorhet Friedrich von
— Entwurf ir Geſchichte der europäiſchen Staaten, 1793. Schiller's zufammen, ‚Gewiß eine beicheidene Sammlung, und
Schaal, Tafjo’s Befreites Jeruſalem. doch weiß ich, daß der intereffantefte Aufſatz gejchrieben werden
Spenner, Geſchichte der deutſchen Regenten. fönnte, wenn man die Einflüffe derfelben auf Schillers Pro-
Vatel, Pieces diverses. duction eingehend zu fSildern und ihren Zufammengang mit
Dion, Geographiſche Belufligung. der Perfönlichkeit Schiller's darzuftellen unternehmen wollte.
de Ia_Veau, Nuits champötres. Dazu gehörte alleraings eine Gelehrfamfeit umd zumal eine
Voltaire, Romans, 2 Bde., Paris, Dibot. Kenntnig Schiller's, über die ich nicht verfüge. Ich habe das
Birgilius, Zoylen. Meinige gethan, wenn ich auf diefen Punkt die Aufmerkfamteit 2
Burmb, Reiſen in Oftindien. (2 Erempl.). bingelenkt und zum Berftändniß einer, wie man glauben möchte,
me Briefe an Wolzogen. bereits don allen Seiten beleuchteten Perfönlidkeit, fiber die j
Bethes, Konradin von Schwaben. nichts Nenes mehr zu fagen ſcheint, noch etwas herbeigebracht }
Bood, Homer’s Driginalgenie. babe, was neu ift, weil es bis heute unbeadhtet geblieben. j
8 Die Fi des en, PR re \
ielaub, Lucian von Samofata, 8 *) Eins der beruchtigiſten Bucher im Befig des idealen Digters. !
— Betifges Mufeum, ©. 1. —- Arifipp, 5 Bor. Ri ERSTEN "
Sämmtlihe arte, 84 Bbe., Leipzig, Goſchen. Bibliographie. }
— Cicero's Briefe, 5 Bde. ee
Biedeburg, Koemolo; PR ATI HIN 8, ®., dramatijhe Werke. Ueberſegt von 0»
Eeitignat u. MAD ber Gere ion und
mh Di Y Ki Sinneng —* und Aenertungen.
Bodn.: Die Komödie der
Winkelmann, aan von ‚den zieneflen harlulauiſchen Ent · ge Pihoirtung von
deefungen, Geungest Hebertept von ©. 5. Keinygr Srotpeut. 6 UM
” gen. fegt von erwe Fin todbaus. 8. jr.
Woltmann, Aelare Menfrmgefäiie. (2 Area.) mutiüign, Korea Re
en Dt: le 'icola; t. *
= Sei he Beratung. ieaten. —— Lieber. iſter Thi. die Mafl, eipsig, Broa
Sat. Er « * mpeL iM 1 14 — — —R dei Mögern nah 57 Jahren ‚im
Wartet“, 70, "Wittenberg, oe Y
FT 1 Bien „Dur — „ia Beberfegungen vor. —D er 3 Deut — ber franzöftiben Zeit. Berlin, G. #ei-
* — der „Beltpeler“, Rat.
656 Anzeigen.
Anze
igem
— —
Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipzig.
Soeben erjdien:
Der Nene Pitaval.
Eine Sammlung der interefanteften Criminalgeſchichten
aller Länder aus älterer und nenerer Zeit.
Begründet von .
3. €. Hipig und W. Häring (Wilibald Alexis).
Vortgeführt von Dr. A. Dollert.
Reue Serie. Sünfter Band. Drittes Heft.
8 Geh. 15 Nor.
ee a)
Einen überaus Iehrreihen Cinblid in den Eharafter ber
franzöſiſchen Geſellſchaft kurz vor Ausbrud des gegenwärtigen
Kriegs gewährt der Proceß des Prinzen Pierre Rapo-
Teom wegen Töbtung Victor Noir's, wie er im März d. I.
vor dem Gtaatsgeritshof zu Tours verhandelt wurde. An
die Mare und authentiihe Darftellung des berühmten Falles
Inlipft der Heransgeber des „Pitaval” noch ſcharffinuige Ber
merfungen über das flattgehabte Procefverfahren im Vergleich
mit der dentihen Criminaljuſtiz.
Der „Reue Bitaval‘' if I einzelnen Heften zu 15 Ngr.
oder in jährlichen Bänden zu 2 Thle. durch ale Buchande
Tungen zu beziehen.
Im Berlage d J audl: ü .
— — —
eeziehen:
Ueber Erziehung und Bildung.
Nach ſelteneren Schriften großer Pädagogen und Welt⸗
weiſen bearbeitet und herausgegeben
von
Dr. N. A. Müller.
Oetad. Geheftet. 1870. 27 Sr.
Von F. A. Brockhaı
Leipzig ist zu beziehen:
Leitfaden
zum
leichtern Erlernen der rumänischen Sprache,
für die Beamten der rumänischen Eisenbahnen
und
für das deutsche in Rumänien reisende Publikum
herausgegeben von
Sortiment und Antiquarium in
Glaise,
Dragoman des Norddeutschen Bandes- Consulats in Galatz.
Galatz 1870. 8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr.
Der Mangel eines praktischen Lehrbuchs der rumäni-
schen Sprache für Deutsche, der sich zunächst bei den ans
Deutschland nach Rumänien berafenen Eisenbahnbeamten
fühlbar machte, hat dem Verfasser zur Bearbeitung des
vorliegenden Leitfadens Anlass gegeben. Die Schrift ent-
‘spricht daher einem unmittelbaren Bedürfniss, darf aber
um so mehr auch auf weitere Verbreitung rechnen, je ge-
wisser die Eröffnung der rumänischen Eisenbahnen einen
lebhaften Verkehr mit Dentschland hervorrufen wird.
Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipzig.
Das Keben Iefu.
Erneft Renan.
Autorifirte deutfhe Ausgabe.
Dritte Auflage,
vermehrt mit neuen Dorseden des Derfaffers nnd einem Anfang nad)
den letzten Ausgaben des Originals.
8. Geh. 1 Thlr. 20 Nor. Geb. 2 Thlr.
Im die vorliegende dritte Auflage der autorifirten deut»
Shen Ausgabe von Renan’e „Leben Jein“ (früher Verlag von
Georg Wigand in Leipzig) wurden des Berfallers Borworte
zur 13. franzöfifchen Auflage (1867) und zur iluftrirten fran«
— Bolleansgabe (1870) ſowie ein beſonders wichtiger
mhang: „Ueber das vierte Evangelium‘ aufgenommen: Cr-
jänzumgen, welde in feiner anderu deutſchen Ausgabe ent»
Falten rd. Ungeachtet der Hierdurch veranlaßten bedeutenden
Bermehrung des Umfangs (um 6 Bogen) blieb der bieherige
Preis des Werts unverändert.
Us Supplement zu allen frühern Ausgaben
von Renan’e „Leben Jeſu'“ if zugleich ein Separatabdrud
jener Ergänzungen erfgienen und zum Preife von 10 Ngr. im
allen Buchhandlungen zu haben.
Don dem Derfaffer erſchien in denfelden Derlage:
Die Apoftel. 8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
Paulus. Mit einer Karte. 8. Geh. 2 Thlr. Geb.
2 Thlr. 10 Nor.
Derfag von 5. A. Brochaus in Ceipsig.
Die deutſche Rechtſchreibung
in der Schule
und deren Stellung zur Schreibung der Zulunft.
Mit einem Berzeiäuiffe zweifelhafter Wörter.
Bon Karl Iulius Schröer.
8. Geh. 20 Nor.
Borliegende Schrift wurde infolge eines Auftrags des
Öfterreihiihen Minifteriums für Enftus nnd Unterricht verfaßt
und bat den Zmed, in die deutſche Orthographie der Wolke»
und Mittelfhulen Ordnung und Einklang zu bringen. Der
BVerfaffer geht dabei von dem Grundfag aus, daß die Schreibung,
bie in der Schule zu lehren ift, dem herrſchenden Schreibe
gebrauch ſich anfchliegen mäffe. Sein Bud; empfiehlt fi for
wol zum Gebrauch beim Unterrit, als für jedermann zum
Nacfhlagen in zweifelhaften Fäden.
Im Verlage der Hahn’schen Hofbuchhandlung in Han-
nover ist soeben erschienen und durch alle Buchhandlun-
gen zu beziehen:
Dante’s Hölle der Verliebten.
Deutsch gereimt, Mit einigen Bemerkungen und
einer Belegstelle aus dem Roman du Lancelot
von
Dr. Rudolf Minzloff,
Kais, Russ, Staatsrath und Oberbibliothekar ete.
Lex.-Format. Geh. 16 Sgr.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Srochhaus. — Drud und Verlag von $. A, Brodhaus in Leipzig.
Blätter
für
literari
ſche Unterhaltung,
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
—a Ar, 42, ö—
13. October 1870.
Inhalt: Sermanifche Literaturdenkmäler. Bon Karl Bartſch. — , Ein deutſcher Satirifer. Bon Rubolf Gottſchal. — Neu-
gewonnene Hälfsmittel zum beffern VBerfländniffe Pindar’e.
Bon Karl Fortlage. — Vom Büchertiſch. — Senilleton. (Zur
Kriegslyrik.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Germanifche Literaturdenkmäler.
1. Der Heltand oder die altjähfiihe Evangelien⸗Harmonie.
Ueberfegung in Stabreimen nebft einem Anhauge von
C. W. M. Grein. Zweite durchaus neue Bearbeitung.
Kaſſel, Krieger. 1869. 8. 24 Nygr.
Unter den chriſtlichen Dichtungen des germanifchen
Mittelalters nimmt der altfächfifche „Heliand“, d. 5. der
Heiland, eine hervorragende Stellung ein. Es ift der
erfte Verſuch, die Gefchichte bes Neuen Teftaments epifch
zu geftalten, und diefer erfte ift feither von feinem fpätern
nit nur nicht übertroffen, fondern von feinem erreicht
worden. Klopſtock's einft vergötterter, aber ſchon bei
Lebzeiten des Dichters mehr bemunderter als gelefener
„Meſſias“, den heutzutage gelefen zu haben fchon zu den
Merkwürdigkeiten gehört, und der nur in unfern Litera⸗
turgefchichten eine Stelle findet, ift alles, nur fein von
wahrhaft epifchem Geifte erfülltes Gedicht. Aber auch von
ben Bearbeitungen des Mittelalters kann Feine mit bem
„Heliand“ fi mefjen. Die interefjanteften Vergleichungs-
punkte mit ihm gewährt Otfried’ „Evangelienbuch“, fchon
deshalb, weil beide Dichtungen bdemfelben Jahrhundert
angehören. Beide gehören dem Zeitalter an, welches bas
Chriſtenthum erft zu allgemeinem Siege über das ger-
manifche Heidenthum gelangen fah, in welchem noch zahl-
reiche Belenner des Heidenthums fortlebten und fortwirf.
ten, in welchen die Bollsbichtung noch wefentlic einen
beidnifchen Inhalt hatte. Das Chriſtenthum zum leben⸗
digen Bewußtfein der germanischen Völker zu bringen,
war eine der jchönften Aufgaben der damaligen Zeit; die
deutfche Poefie bemächtigte fich deffelben, und wir fehen
auf deutſchem Boden zwei Dichter des 9. Jahrhunderts an
ihrer Röfung fich verfuchen. Aber mit wie verfchiedenen Mit-
teln, in wie verfchiedener Weife! Difried mit dem ganzen Ap⸗
parat hriftlicher Dogmatik und theologifcher Gelehrfamteit,
mit der ganzen fcholaftifchen Anfchauung und Auffaflung
der Bibel, und doc in dem guten Glauben, mit feinem
Were den cantus laicorum obscenus, der fo vielen
1870. @.
frommen Gemüthern ein Anſtoß war, wenn er aud
nichtS weniger als etwas Obfcönes im Beutigen Sinne
des Worte® bedeutet, zu befiegen und zu verdrängen.
Der Dichter des „Heliand‘ dagegen, in der allererften Form
der Bolfapoefie, im alliterirenden Gewande fich bewegenb,
in al ben epifchen Yormeln und Wendungen, bie dem
Volke feit Jahrhunderten lieb und vertraut waren, und
feinen Chriftus zu einem beutfchen Chriftus machend,
ihn darftellend als einen deutfchen Vollsfönig, um ben
feine Jünger wie trene Lehns- und Gefolgsmannen ſich
fharen — mie ganz anderd mußte eine ſolche wahre
Berdeutfhung der biblifchen Geſchichte in Fleifh und
Blut bes Volks eindringen und melde Förderung für
das Eindringen bes Chriftenthums fein, welchem gerade bie
Sachſen fo hartnädigen Wiberftand entgegengefet hatten!
Somit ragt die Bebeutung des „Heliand“ über bie eines
poetifchen Werks unjers Alterthums hinaus in bie
Geſchichte unſers Volks: er ift eine That in ber Ent-
widelung des rveligiöfen Lebens unferer Vorfahren. Nie
wieder hat es em Dichter verftanden, das Chriftenthum
in fo fchlichter volksthümlicher Weife zu prebigen, fobaß
bei aller Uebertragung auf deutſche Anfchauungen, bie
allein dem Volke die Erlöfungsgefchichte verſtändlich ma-
chen konnten, der wahre Inhalt des Neuen Teſtaments
doch unangetaftet blieb.
Es ift daher begreiflich und gerechtfertigt, daß man nicht
allzu lange nad; dem Wieberbefanntwerden des herrlichen
Werts daran dachte, daſſelbe durch Weberfegungen auch
weitern Kreifen zugänglich zu machen. Die erſte Ueber-
fegung lieferte Kannegieger (1847); ihm fchloffen ſich mit
ungleichem, aber jedenfalls beſſerm Erfolge Simrod, Koöne,
Rapp an. Grein felbft Hat ſchon vor 14 „Jahren eine
Ueberfegung veröffentlicht; dieſelbe Tiegt jet in gänzlich
umgearbeiteter Yaflung vor. Daß ber Ueberfeger bie
Form der Alliteration beibehalten bat, darf als felbft-
verftändlich kaum befonders bemerkt werden. Heutzutage
83
658
find wir durch die Simrod'ſche Ueberfegung der „Edda“,
und neuerdings "dur die Anwendung ber Alliteration
auf felbftändige Dichtungen, wie W. Jordan's „Nibe-
lungen“ und 2. Weiß’ „Neue Edda“ (meld letzterer den
eigenthümlichen Verſuch macht, Aliteration und Reim ;
miteinander zu verbinden), fo fehr wieder an biefe uralte
Kunftform der germaniſchen Völker gewöhnt, daß in ber
That die Zeit gelonimen zu fein ſcheint, wo mir an ein
mehr als Fünftlic erhaltenes Reben derfelben glauben
dürfen. Daß Grein ebenfo wie Simrock die Aliteration
nad) den ftrengen Regeln behandelt, die wir in unfern
alten Poeſien jelbft vorgezeichnet und beobachtet finden,
ift bei einem ermaniften von Fach ebenfalls felbfivere
ſiändlich: ich würde es nicht befonder8 Kervorheben, wenn
nicht andere Dichter in diefer Hinficht fich Freiheiten ger
ftattet hätten, bie über jene Regeln hinausgehen und
ein theilweife neues Princip ber Alliteration aufftellten.
Ueber das Weſen des Stabreims hat der Ueberfeger felbft
in einer kurzen Borrede orientirt; in einigen Punkten,
die jedoch nicht wefentli find, Hat fi Grein, nad
Simrod’8 Borgange, Freiheiten erlaubt, z. B. darin, daß
er bie ftrenge Regel, ſp nur mit fp, fi nur mit fl, nicht
diefe Lautverbindungen untereinander alliteriren zu laſſen,
aufgegeben hat. Wir wollen das nicht tadeln, weil jene
Regel in der That dem Ueberfeger große Schwierigfeiten
auferlegt; weniger befreunden können wir und indeß mit
Bindungen wie db und t, g und k, denn es will uns
feinen, daß dadurch das Weſen der Alliteration, die doch
eben im gleichen Inlaut beftcht, allzu fehr beeinträchtigt
würde. Wenn man ſchon Reime wie „leiden — gleiten”
heutzutage kaum mehr billigen wird, fo find dieſelben
doch noch eher zu extragen, weil der Reim bon ber
Affonanz, alfo dem Vocale ausgegangen und der auf
die reimenden Bocale folgende Conſonant relativ weniger
weſentlich ift; hier aber, in der Alliteration, ift der Con»
fonant die Hauptfache, diefer muß alfo gleich fein. Wir
würden in folchen Yällen daher ein Aufgeben der Einned-
treue, ein etwas freiere® Wiedergeben des Gedanfene
vorgezogen haben. Die alliterivenden Worte oder die
Stäbe, wie man fid) auadrüdt, find im Drucke nicht ber
ſonders bezeichnet; nur ba, wo fie einer Dervorhebung
bebürftig erfchienen, ift dies durch gefperrte Schrift ger
ſchehen. Das ift in der Regel dann der Fall, wenn die
iogiſche Wortbetonung dem als Stab dienenden Worte
einen nicht genügend Hohen Ton geben würde. Aber
darin liegt ein Heiner Mangel: denn bie Alliterationge
poefie hängt aufe immigfte mit dem logiſchen Princip der
Betonung zufammen und bindet baher nur ſolche Worte,
bie and) dem Einne nad) einen hohen Ton im Satze
Haben. Wenn der Ueberfeger (©. 112) 3, 3946 fg.
überträgt:
Ich zeige end) von Gott felbR des Guten doch fo viel
mit Worten und mit Werfen mn wollt ihr mid, allhier
ſtrafen flarren Sinnes und mid mit Stein werfen,
mid) (öfen von meinem Leben —
fo müffen in der zweiten Zeile die Worte: Worten —
Werken — wollt, alliteriren. Auf „wollt“ liegt aber fein
logiſches Gewicht, und dies hat der Ueberfeger empfunden,
daher das Wort geiperrt gebrudt. Trotzdem wird man,
ohne den Sinn zu beeinträdtigen, „wollt“ nicht fo ſtark
Germanifge Literaturdentmäler.
hervorheben dürfen, um es zum Alliterationsſtabe zu ma-
hen. Das Original hat auch das Berbum „wollen“, aber
nicht biefes, fondern der davon abhängige Infinitiv bildet
den Stab:
wordö endi werkö: nu williad gi mi witnön her.
Aber williad — wollt affiterirt nicht mit, jondern witnda
mit wordö und werk& Schon das hätte ein Fingerzeig fein
follen, daß bier cin anderer Stab zu ſuchen war, Nicht
anders verhält es fi mit Ber 3986:
Es fagte der Sohn des Herrn zu feinem.Gefolge.
And) Hier liegt auf „feinem“ fein logiſcher Nahdrud, und
vergleicht man das Original, fo findet man vielmehr,
daß Hier entſprechend dem richtigen Tonverhältniß das
Wort, welches dem „Gefolge“ entfpricht (gisidon), die
Wliteration trägt. Trotz folder Meiner, ich geftehe es,
nicht ohne Schwierigkeit zu vermeidender Mängel, deren
Befeitigung aber ein nochmaliges Durcharbeiten doch wol
erreichen dürfte, Lieft ſich die Meberfegung ſehr gut und
fließend. Wir erlauben uns, ein paar Meine Stellen
herauszuheben, welche zugleich für die deutfche Auffaffung
befonder& charakteriftiich find und eine Vorfiellung von dem
Charakter des Originald wie der Ueberfegung geben wer«
den. Bere 3924 fg.:
Da ſprach einer der Zwölfe,
Thomas darauf, ein tuchtiger deld,
des Fürften rufmreier Gefolgemann: „Nicht follen wir
ihm das Vorhaben tadeln,
Taßt uns aushalten mit ihn,
daß iſt eines Helden Preis,
flehe feR aufanımen,
thun wir drum alle fo,
ob wir im Boll aud) fterben
fo wollen wir unfer Leben
dann lebt der Nahruhm ums
doc drauf,
&o wurden die Mannen Chrifti,
einmüthigen Siunes
ihn abhalten von feinem Willen!
beharren bei unferem Herrn!
daß er mit feinem Furſten
und fierbe ihm zu Ehren;
folgen wir feiner Fabrı!
mit unferm lieben Herrn,
doch nichts dagegen adıten!
dor Menichen gute Worte.“
die edelgebernen Helden
dem Herrn zu Willen.
Die zweite Stelle ift die Rebe des Petrus, ale
Chriſtus den Verrat den Süngern anfünbet, und Chrifti
Entgegnung, Vers 4638 fg.:
Da ſprach Simon Petrus
der Dienftimann zu feinem Fürften mit dreiften Worten
ans Huld zu feinem Herrn: „Wenn diefe Heldenihar
aud all von dır abfällt, will ich doch immer mit dir
im allen Bedrängniffen dufden und außharren.
Id bin gamı und gar bereit, wenn Gott mir's zuläßt,
daß ich zu deiner Hllie beharrlich ſtehe:
Wenn in dem Kerker dich mit Ketten und mit Banden
das Wehrvolt audı verwahrt, dach hab’ id) wenig Zmeifel,
daß ich bei dir in den Banden bieiben werde,
dort fiegen bei dem fo Lieben! Wenn fie vom Peben dann
did durch der Schwerter Schärfe ſcheiden mollen,
wein Herr, du guter, fo geb’ ich Bahin mein Feben
an der Waffen Spiel fir di. Nicht wurdig dunm es mir,
dee zu vermeiden, fo lange mic nur außhält
Herz und Hanpdfraft." Da fprad) ihm fein Herr entgegen:
„Du trauft dir zu fürmahr zweifellofe Treue
und fühne Dinge, HaR eines Kümpen Giun,
dein Wille ift wol gut! Doch fag’ ih dir, wie es mod
J J werben foll,
daß dur wirftfo weichmlithig, obgleich du es nicht wähneſt alfe,
daß du verleugneft dreimal
deinen fieben Herrn,
Heint vor dem Hahnenſchrei und fagR dei ic) dein Ger
nicht fei,
veradteft meine Obhut." Zur Antwort gab ber Maun:
Germanifhe Literaturdenfmäler.
„Wenn in ver Welt das je
daß ich mit dir zuſammen
umd tapfer den Tod erleiden,’
fo werden follte,
dürfte fterben
doch wiirde der Tag nicht
fonmen,
daß ich dich verfengnete, den lieben Herrn,
gern vor diefen Juden.‘
Ein Anhang von mehrern Kapiteln behandelt unter
anderm: bie Quellen, welche der Dichter benugte, und
unter welchen die Evangelienharmonie des Tatianus bie
erfte Stelle einnimmt; die Zeit der Abfaſſung, welche ber
Ueberfeger abweichend von den Refultaten des Dr. Win-
diſch vor 820 fegen möchte; endlich die im riner latei⸗
nifchen Aufzeihnung und überlieferte Entftehungsgefchichte
des Gebichts, in welcher wir eine Nachahmung desjenigen
erbliden dürfen, was Beda über den angeljüchftichen
Evangeliendichter Cudmon berichtet.
2. Ban deme Holte des billigen Eruzes. Mittelniederdeutſches
Gedicht mit Einleitung, Anmerkungen und Wörterbudy, ber»
ansgegeben von Karl Schröder. Erlangen, Beſold. 1869.
&r. 8. 20 Nor.
8. Brnwenlof. — Ban Sunte Marinen. Mittelniederdeutſche
Gedichte, herausgegeben von Karl Schröder. Erlangen,
Beſold. 1869. Gr. 8. 10 Ngr.
Der niederdeutſchen Literatur des Mittelalters hat
man in den letzten Jahren größere Aufmerkſamkeit als
bisher zugewendet: es ſteht dies einerſeits im Zuſammen⸗
hange mit der größern Ausdehnung, welche die germaniſti⸗
{hen Studien gewonnen haben, mit der wachſenden Zahl
der Mitforfchenden und Mitftrebenden, mit der Marer
berportretenden Nothwendigkeit einer Theilung der Arbeit,
einer Beſchränkung des einzelnen auf ein beftimmtes Ge⸗
biet, andererjeits mit der literarifchen Hebung der nieder-
deutſchen Mundarten der Gegenwart, die wir namentlich
Fritz Reuter und Klaus Groth verdantn. Die nieder-
deutfchen Dichtungswerke des Mittelalters Haben nicht bie
weitgreifende Titerarifche Bedeutung, die einem heile ber
mittelhochdentfchen Werke zukommt; fie halten fih auf
einer gewiffen Mittelhöhe, durch Einfachheit vortheilhaft
abftehend gegen die gejchraubten mittelhochdeutjchen
Dichtungen der Berfallzeit, aber freilich meift aud ohne
höhern bdichterifchen Schwung. Neben dem fpradjlichen
Intereſſe, welches hier fchon deshalb mehr in den Vorder»
grund tritt, weil die Zahl der veröffentlichten Dentmäler
eine geringere ift als in der mrittelhochdeutfchen Literatur,
bleibt den meiften der niederdentfchen Dichtungen doch aud)
ein Jiterarifches Intereffe, welches fi) entweder an ben
Stoff oder an die Behandlung knüpft.
In beiden Ritdfichten verdienen die hier von Karl Schrö-
ber herausgegebenen Gedichte eine Beachtung. Unbekannt
waren biefelben den Forſchern allerdings nicht, allein fie
erfcheinen hier zum erften male in gereinigter und ur»
Tundlicher Form, auf Grundlage einer forgfältigen Ver⸗
gleihung der Handſchriften, aus denen fie entnommen find.
Die erfte Dichtung war bereits in der erften Hälfte
des vorigen Yahrhunberts dur; Staphorſt in feiner
„Hamburgiſchen Kirchengefchichte” (1731) abgedrudt, aber
äußerft unzuverläffig und fehlerhaft. “Die einzige Hand⸗
fchrift verdanfen wir der im Jahre 1392 geftifteten
Brüpderfchaft des heiligen Leihnams zu St.-Johannes in
Hamburg, auch die Wlanderfahrergefelfhaft genannt.
Denn fchon der Name derfelben auf nahe Beziehungen
J —— —— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —— —— re, — — — — —
659
zu den Niederlanden Hindentet, fo gibt ihre literariſche
Thätigfeit noch mehr von einer folgen Berührung Kunde,
Sie veranftaltete mater dem Titel „Hartebok“ eine
Sammlung geiftliher und weltlicher Gedichte, welche faft
alte une dem Niederländifchen überfett zu fein fcheinen.
Die Handfchrift. galt lange fir verloren, bie 1847
Bappenberg fie in der Lade der Brüberfchaft fand. Bon
dem vorliegenden Gedichte hat das niederländifche Original,
das als Borbild diente, fi erhalten und läßt uns fomit
die Art und Weife der Uebertragung ertennen. Bei fo
nahe verwandten Dinleften, wie das Niederbentfche und
Niederländifche find, war eine folche Hebertragung in den
meiften Fällen nicht mit zu großen Schwierigkeiten ver-
bunden, inbeß es fehlte doch auch nicht an Stellen, wo
eine bloße Umfchreibung in niederdeutihe Spradformen,
nicht ausreichte, namentlich wenn bie niederländifchen
Reime feine nieberdeutfchen ergeben hätten ; in diefen Fällen
mußte ftärfer geändert, oft die ganzen Verſe wmgearbeitet
werden. Doc auch abgefehen von diefen nothmendigen
Wenderungen, hat der Ueberjeger theils in Zufügen, theil®
in Weglafjungen größerer und kleinerer Stellen fid) ziem⸗
liche Freiheiten geftattet, wie ſolche in den meiften Ueber-
fegungsverfuchen des Mittelalter8 begegnen.
Die Sage, welche das Gedicht behandelt, gehört zu
den im Mittelalter ſehr weit verbreiteten; wir Tennen
und befigen Bearbeitungen in allen neuern Sprachen.
Die Einleitung fpricht eingehend davon; freilich iſt der
Stoff bei weiten nicht erfchöpft, und eine demnächſt er-
fcheinende Abhandlung von A. Muflafia über die Seth»
Legende wird zu dem von Schröder beigebracdhten Material
gar manche Nachträge zu liefern haben. Die Legende
brachte da8 Kreuz, an welchem Chriftus flarb, in Bezie-
bung zu dem Baume bes Lebens, dem Baume der Er»
fenntniß des Guten und Böfen. Ein Zweig von demjelben
wurde nad) Jeruſalem verpflanzt und erwuchs zu einem
hohen Baume, aus welchem das Kreuz Chrifti gezimmert
ward. Damit im Zufammenhange fteht eine andere
Ueberlieferung, nach welcher Adam in ſchwerer Krankheit
feinen Sohn Seth ind Paradies fendet, um entweder
Früchte oder heilendes Del dorther zu holen. Seth bringt
ein paar Truchtlörner des Baums mit und pflanzt die»
felben ein; zur Zeit des Salomoniſchen Tempelbaues
foßte der daraus erwachlene Baum bei diefem verwendet
werden, blieb aber unbenugt liegen und fand nachher
anderweitige Verwendung, wie als Steg über einen Bad).
Das Beftreben, bedeutend hervortretende Ereigniffe und
Perfönlichleiten des Alten und Neuen Teftaments durch
die Sage in Berbindung zu feßen, hat mehrfache Varia⸗
tionen des alten Sagenftoffe veranlaßt, die in ihren
Berzweigungen zu verfolgen von großem Intereſſe iſt.
Nicht allein die Einleitung, fondern aud, die Anmerkungen
des Herausgebers geben Hier reichliches Material, indem
die verfchiedenen abweichenden Punkte hervorgehoben wer»
den. Ein forgfältiges Wörterbuch bildet den Schluß bes
Buchs und wird auch demjenigen, der die alte nieder-
beutfche Sprache nicht näher kennt, das PVerftändniß der
finnigen Dichtung erichließen, deren Inhalt den fymboli»
firenden Geift des Mittelalter wie wenig andere Legen»
den zur Anfchauung bringt. Zu ihrer Empfehlung fei
noch angeführt, daß auch Herder's feiner Geift ihr
83 *
662
Wellgunde's (Stiame von oben).
Boglinde, wachſt du allein?
Woglinde.
Mit Wellgunde wär’ ich zu zwei'n!
(Run tommt die noch nicht publicirte Fortſetzung h
Bagnermwogner (mallend auf Wogen des weſtlichen Windes).
Und mit Bülobuble zu drei'n!
Honolulu!
Bilobulu!
Lulu, lulu!
Binfelnde Winde
Bagalaweia!
2 Selinde,
O Eieleia!
M das nicht mwunderfhön? Das ift die wahre Porfie
der Zufunft „mallafa, weiala, meia’! Diefe feine Perfiflage
der Synagoge fonnte nur dem Hirne deffen entipringen, dem
das Jahrhundert „Das Judenthum In der Muſit“ zu ver»
danten hat.
Die Parodie auf ein Gedicht von Johannes Minckwitz:
„Die Völkerſchlacht“, brachte den Kleinftädter, wie wir
aus einem abermald parodiftifch gefaßten Proceßbericht
erfehen, fogar in Conflict mit den Gerichten, weil er nicht
deutlich genug hervorgehoben hatte, daß er feine eigenen
traveftirenden Verſe und nicht diejenigen von Mindwig
mittheile. Im übrigen erfcheint hier die Satire weniger
berechtigt, weil fie ſich nur an Einzelheiten Mammert, die
aus dem Zufammenhang gerifien werden.
Mehr auf das Große und Ganze geht die elfte
Epiftel, in welcher Karl Vogt abconterfeit wird, und zwar
in der Form eines Beſuchs, den dieſer ſich ſelbſt abftartet.
Auch Hier ift die Satire parodiftifch; denn fe nüpft an
die Schilderung an, die Vogt von einem Beſuche bei
Alexander von Humboldt entworfen hat. Ebenſo ift fie
einfeitig; denn fie wird den Berdienften diefes geiftreichen
und glänzenden Kopfes nur wenig gerecht. Doc, indem
fie ſich gegen die „Wandervorlefungen“ richtet, berührt
fie einige Punkte von allgemeinem Interefie. Vogt jagt
zu Bogt:
„Aber Überfhägen wir die Vorträge, ihre Wirkung und
Ihre Berunderer nicht zu fehr, hüten wir uns, die wir ung
zu Mpofteln der freien Forſchung und zu begeifterten Berlün«
digern des Coangeliume der Gelbferfenntnig machen, hüten
wir uns vor Gelbfitäufhung. Dienen Ihre Vorträge vor-
nehmlid) dem Intereffe der Eipenfaft, oder hat das, mas
eigentlid, Nebenſache fein follte, die damit verbundene Einträg-
figjfeit, einen beflimmenden Einfluß auf Form und Subflanz
derfelben gewonnen ? Ich verlange von feinem Menſchen, auch
von dem gelehrteften night, daß er für feinen Beruf heiden-
mäßig verhungere, aber auf der andern Seite möchte id and,
nicht zugeben, daß das, was einfad ein gutes Geſchäft ift, als
Wiffenfhaft gefeiert und dem Tribunal des gefunden Laien
verflandes entzogen werde. "Ic finde es fehr dantenswerih,
daß der gelehrte Forfcher jetzt beftrebt in das Refultat feiner
Studien der Allgemeinheit zugute fommen zu laffen, aber ich
muß mir aud) fagen, daß bei der Prägung des in der Tiefe
der Erde gefundenen edein Metalle in allgemein gültiges Cou«
vant viel unedie Subflanzen Hinzugefegt werden, und daß von
dem edefn Metall, wenn es den Proceß der „Gangbarmayung'
beftanden hat, bisweilen verwünfdt wenig übrigbleibt. Ich
will mid, Marer ausdrüden: die Wiflenfchaft, fo meit vorge
ſchritten fle auch ift, liefert gerabe über bie Urgeichichte des
Menfeen nod ſehr unbeftiedigende Refnitate, unbefriedigend
twenigftens für den Saien. Das iharffinnige Geflige mehr oder
minder beredhtigter Oypotheſen bietet für das große Publikum
nur geringe Reize dar. Die anſpruchsbolle Menge verlangt ber
Rimmte Thatfagren, umd der Wiffenfchafter, weicher ſich dazu
Ein dentſcher Satiriker.
bequemt, den Anfpräcen dieſer Menge zu genligen, tommt
wider Willen dazu, an die Stelle der Bermuthungen beſtimmte
Behauptungen treten zu laffen und Hypotheſen für Thatſachen
auezugeben. Darin liegt die Gefahr derartiger apopulärer»
Vorträge. Wenn der Bortragende nur das fagte, was er weiß
und was er vor feinem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen verantworten
tann, fo wilde das Auditorium fih Iangweilen und ziemlich,
enttäufcht ausrufen: «Der weiß ja eigentlih gar nichts» Um
das Publitum zu fefleln, um die Bänfe vor dem Katheber zu
füden, müffen Conceifionen gemadt werben, und zwar auf
Koften der Grünblichkeit, der Wiffenſchaft. Und das geihieht;
am erſten Abeud Heißt es: «Nehmen wir an, daß fi bie
Soden fo und fo verhalten»; am zweitın Abend heißt es:
«Wir haben geftern bewieſen, daß fi die Sachen jo ımb fo
verhalten.» Und auf dieſer, jet auf einmal als thatſächleche
Grundlage voranggeiegten Hnpothefe wird weiter gebaut. Auf
dieje Weiſe wird Stodwerf auf Stockwert gejegt, bie ſchließlich
der Affe als Krönung des Gebäudes das funfvolle Ganze
fließt. Und auf den Affen fommt es ja hauptiädjlid au.
Auf ihm wartet das Publitum fünf Vorträge lang mit feigen-
der Ungebuld, und e8 würde ſicher ſchon beim dritten dapon»
laufen, menn nicht die Iicbenswürbige Vefie, welde im der
magiſchen Beleuchtung des Schlußvortrage in ihrer vollen Grazie
erſcheint, fon an den Borabenden ihre Orgenmwart in dißcreter
Weiſe verriethe. Bringt doch jeder Abend die mwißbegierigen
Zubörer dem erfehnten Ziele, dem Affen, näher. Dies färkende
Bewußiſein erhält die Geifter in Friſche umd Lebendii —
„Sind Sie bald fertig?" fragte id) mich, während id) umge-
Duldig auf meinem Stuhl hin« und herriidte und mir ſwarf
ins Auge ſah. — „Blei“, antwortete ih mir und fuhr fort:
„Webrigens haben Sie außer dem Affen nod) ein anderes Reize
und euer ittel für den großen Haufen, und aud) dieſes
Mittel halte ich für etwas bedenflih und nicht ganz; wiſſen-
f&afılih: ich meine die Pointen, mit weldien Cie Ihre Bor-
träge wurzen. Sie dürfen verfiert fein — und Cie wiſſen
es auch ganz gut — daß die Mehrzahl Ihrer andächtigen Zur
börer fi weniger um das beflimmert, mas Sie jagen, ale
um bie Art und Weife, wie Sie es fagen. Man wartet fürn
lich darauf, daß Sie einen Wig maden, und der Beifall,
melden Ihre geifreihien Improvifationen Anden, veranlaßt Sie,
damit night zu fargen. Beiehen Gie fih rinmal Ihre Gönner
in der Wähe, umd fragen Sie fle nach dem Schiuß Ihrer Bor-
träge, was fie von denfelben profttirt umd im Gedächtniß ber
halten haben. Man wird Ihnen die meiften Ihrer glücdlichen
Einfälle ganz getreu wiederholen und hinqufegen, daf mir im
dem Affen einen verwahrloften Bruder zu begrüßen die Ehre
Haben. Damit bafta. Im Übrigen haben Sie die Zahl der
dunteln Begriffe und confulen Auffafungen, die in den Schü-
dein der Menſchen niften, um einige neue vermehrt, und das
eben nennt man: aufflären. Das Publifum, das auf die
Bointen fanerte, ift fhließlid) zu der Annahıne gelangt, daß die
Vorträge der Pointen wegen da find, und die Wiſſenſchaft ift
die Dienerin des faulen Wiges geworden.“
Im ganzen überwiegt die literariſche Satire, wenig-
tens in diefem erften Bändchen. Auch die „Picder einer
Berlorenen" von Ada Ehriften werden einer eingehenden
Beurteilung unterworfen und zwar einer ſehr ſcharfen.
So wird ihnen moraliſche Codonnerie zum Vorwurf ger
macht, das kunſtvoll verfificirte Renommiren mit Gewiſſens-
qualen. Daß „Ada Chriſten“ feine Myſtification ift,
wie der Doctor in der Epıftel des Kleinſtädters meint,
haben wir bereits in d. BI. erwähnt. Damit fällt auch
die weitere Argumentation:
Ich Halte die Geſchichte zunächſt für eine Moftification,
Irgendein pfiffiger Spaßvogel, der feinen Heine in- und aus-
wendig fennt, hat fi vermuthlih den Scherz erlaubt, in
Heine’fcher Manier einige ziemlich gleihglftige Berje zufammene
juichreiben, und um die Geſchichte pifant zu machen, feinen
ehrlichen Namen mit dem einer Dame vertaufht — e
D, lat fie wid) nicht nennen, tenfge Sternel
Nengewonnene Hälfsmittel zum beffern Berftännniffe Pindar's.
‚ Sole Berfe lann id, auch machen, und zwar zu jeher
Zeit, z. B.: |
Du bift wie eine Tulpe
So fromm und rein und hold,
Du heft Diemanten und Berlen,
Haft Kupfer, Silber und Solb.
Und gehſt mit einem Anbern!
Das finte ich gemein.
96 ſchau' did an und Wehmsty
Schleicht mir ind Herz bineln.
Wir höchſt moraliihen Deutfchen hatten bereits das
Lorettentyum in Tönen — Offenbach; es wer witzig, toll,
anfprud;elod, und deshalb Taffe ich's mir gefallen. Wir hatten
ferner die Liederlichleit in Yarben — Malart; fie war geiſt⸗
vol, künftlerüch, genial, und deshalb habe ich dagegen abielut
nicht8 einzumenden. Es fehlte noch die Proftitution in Worten,
und in Ada Ehriften ift uns eine Soppho der Mufenhalle er⸗
Randen; ihr Gewinſel ift Iignerifch, fentimental, anſpruchsvoll
und deshalb unerträglich.
Mende, Schweiger und die dentfchen Soctaliften, bie
Gournier’fche Ohrfeige, das Concil mit feinen Canones,
Hournaliften» und Muflfertage bieten dem Stleinftädter
Stoff für ferne fatirifchen Randglofien. Eine Refolution
des Mufilertage lautet bei ihm:
„In Erwägung, daß vor allem auf dem Mufilertage ein
Hengewonnene Hülfsmittel zum
Bindar’s Siegesgeſänge. Mit Prolegomenis Über Pindarifche
Kolometrie und Textkritik von Morig Schmidt. Erfter
Band. Olympiſche Siegesgefänge griechiſch und dentſch. Jena,
Mauke. 1869. Gr. 8. 2 Thlr.
Dieſes gelehrte Werk bringt uns den großen griechi⸗
ſchen Dichter in zwiefacher Hinſicht näher, in muſikali—⸗
ſcher und poetiſcher; in muſikaliſcher auf dem Wege müh-
ſamer Forſchung, in poetiſcher auf dem Wege eleganter
Ueberſetzung.
Pindar's feſtliche Siegeshymnen wurden in Begleitung
von Zithern und Flöten von Singchören vorgetragen. Es
iſt dem Verfaſſer gelungen, auf dem Wege anhaltender
Studien, Vergleichungen und Berechnungen das Grund-
geſetz für den muſikaliſchen Vortrag derſelben zu entdecken,
welches bisjetzt völlig unbekannt geblieben war; ein Geſetz,
welches zugleich auch für den Bortrag der Chöre in ben
dramatifchen Aufführungen feine Geltung hatte. Es ift
diefes ein Geſetz, welches auch für den, der nicht im
Stande ift, felbft die dornigen Pfade der philologifchen
Beweisführung mit zu durchwandern, ſchon allein durch
feine ungezwungene Einfachheit und natürliche Grazie
etwas unmittelbar Einleuchtendes und das Gefühl An-
fprechendes hat, indem e8 uns in den Stand fegt, das
Berhältniß der antifen Muſik zur modernen in Beziehung
auf Takt und Rhythmus fo feftzuftellen, wie e8 mit den
übrigen Charakterzügen diefer grundverſchiedenen Zeitalter
im beiten Eiuflang flieht. Denn den Gegenfag des ftreng
gefchloffenen, vollendet geformten, maßvollen antiken We⸗
fend gegenüber dem ungebundenern und entfefleltern Wefen
ber modernen Welt fehen wir in Betreff des antiken und
mobernen Rhythmus uns bier auf das lebendigfte vor
Augen treten.
Bei uns fteht das Metrum oder Versmaß eines Ge⸗
bichts, welches von einem Mufiler componirt wird, mit
663
guter Tor harrſchen muß, beichlieht die Berſammlung, baf,
wenn irgendein Individuum uicht den Takt befigt, zu nermei«
deu, daß eine Diffonanz im Durchgang norlommt — wodurch
natfrlih die Harmonie und der Einklang geflört werden wärs
den —, daffelbe zunähft mit einem S⸗Schlüſſel zu verſehen if.
Wird dieſe Anfpielung nicht verfianden, fo läßt die Berfammiung
eine Pauſe von einigen Secunden eintreten, dann aber zieht fie
andere Seiten auf und ergreift, ſobald fie überzeugt if, daß
feine enharmonifche Verwechſelung eintreten kann, mit einer
Schwingung den Imculpaten und wirft ihn ohne Intervalle,
in gefteigertem Tempo und mit einem leiſen Nachſchlag derart
die Scala berauf, daß er ohne Accompagnement, aber nicht
ohne Tremolo auf dem Refonauzboden ankommt.“
Die harmlofen Epifteln unfers Satirikers verrathen
ein ganz unleugbares Talent, das fid) namentlich in der
Perfiflage und JIronie, in der Parodie und Traveſtie
äußert. Die Abweichung von den gewohnten Gleifen
des Feuilletonhumors, die felbftändige Einkleidung, die an
unfere beffern Mufter, Sean Panl, Immermann u. a.,
erinnert, machen die Erfcheinung des Kleinſtädters auch
zu einer literarifck bemerfenswerthen und ermweden die
beten Hoffnungen für die Fünftigen Reiftangen einer fo
fchneidend fcharfen Begabung. Audolf Gotifchall.
befern Verſtändniſſe Pindar’s.
der Wahl und der Eintheilung des Taftmaßes nicht im
einem vorherbeftimmten Verhältniß. Der Muſiker darf
bei ung mit den Worten ganz fchalten wie es ihm ge-
fält. Er darf Worte wiederholen, die der Dichter nicht
wiederholt hat; er darf Silben auf das längfte ausdehnen,
auf das kürzeſte zufammenzichen, wie er es für gut findet;
er darf fogar bei feinen. beliebigen Wiederholungen Säge
abfürzen, Slidwörter (mie „ja” oder „nein“) eimfchieben;
wir haben über alles diefes Feine beftimmte Regel. Die
unmittelbare Folge hiervon ift bei uns, daß überall, wo
Muſik und Dichtkunſt zufammenwirken, die erfte die Herr»
Schaft ausübt, welcher ſich die letztere als Dienerin zu
fügen hat. Im griechifchen Altertfum fand das Gegen-
theil Hiervon ftatt. Obgleich auch bei ben Griechen die
Inftenmentolmufif der Saiten- und Blasinftrumente (wie
Harfen und Klarinetten) ſich ſchon zu einer für fich allein
beftehenden Kunftübung, zu einem wahren Birtuofentguu
gefleigert Hatte, fo trat doch überall, wo Muſik und
Dichtkunſt zuſammenwirkten, die erftere als Dienerin zurüd,
die leßtere als Herrſcherin hervor. Die Mufil Hatte in
diefem Falle dort nicht, wie bei ung, die Gewalt über
ihren eigenen Takt. Dieſen empfing fie vielmehr von ber
Dichtkunſt; ihr einziges Geſchäft war, das empfangene
Taktſchema des Metrums durd die Erfindung einer dazu
pafienden Melodie Höher zu färben.
Um nun aber die Metra richtig zu lefen, d. 5. fo zu
lefen, daß fie nicht ſowol für den fprechenden, als viel-
mehr für den fingenden und von Inftrumenten begleiteten
Vortrag fih brauchbar zeigen, dazn gehört die Grund»
norm eines conftanten Taktmaßes, in welches ſich die
Bersfüße einorbnen, und welches uns vom Alterthum
nicht ausdrüdlich überliefert worden ift, weil es ſich fei-
ner großen Einfachheit wegen bei den alten Schriftitellern
nur ganz von felbft verftand. Es muß aus gelegentlichen
664
Bemerkungen, indirecten Anzeichen, Bergleihung befann-
ter Yale mit unbelannten, befonders aber durch anhal-
tendes Einftudiren in ben immer wiederkehrenden Tonfall,
welcher auch in den complicixteften Maßen dem geübten
Ohr noch immer als ein und derfelbe durchklingt, be-
rechnet und ertaftet werben. Die Yorderung wurde ge-
ftellt von Bödh; weiter wurde auf diefem Wege mit wech⸗
felnden Erfolgen gearbeitet von Weftphal. Durch Morig
Schmidt fcheint barum wol das Ziel wirklich erreicht wor-
ben zu fein, weil man fi etwas Natürlicheres und Ein-
facheres, etwas der noch unerfchloffenen Blüte unferer
mufitalifgen Kunſt Entfprechenderes nicht wohl vorftellen
ann.
Warum rundet ſich bei uns bie Melodie jedes Wal-
zers, überhaupt jedes einfachen Tanzes, in acht Talten
ab? Warum bemerken wir dafjelbe Gefeß herrſchend bei
den meiften Melodien einfacher Volkslieder? Ohne Zweifel
darum, weil diefe unter allen möglichen Taktgruppirungen
biejenige ift, welche am leichteften und natürlichften in
das Ohr fällt, welche einem einfachen und kindlichen
muſikaliſchen Gehör von befchränkterer Faſſungokraft am
meiften zufagt. Nun wohl! dieſes Geſetz, welches bei
und nur die einfachfte Norm fiir den Naturgefang bildet,
war nad) der Beweisführung von Morig Schmidt bei
den Griechen bie allgemeine Norm für allen, felbft für
den höchſten Kunftgefang. In dieſes Maß, das ein»
fachfte was es gibt, die mannichfaltigften Tonfälle und
Bersfüße bald in üppig wucernder Fülle auszufchütten,
bald in fparfam zurüdhaltender Weife gleichfam tropfen-
weife einzulaffen, darin beftand der Zauber des antiken
Kunſtgeſangs.
Schon in ſeiner frühern Verdeutſchung vom Konig
Oedipus“ des Sophokles (Jena 1862) hat Moritz Schmidt
die Chöre nach dieſer Theorie überſetzt. Und au r
wieder hat er die erſte und vierzehnte olympiihe Ode
des Pindar in bdiefer Art im Versmaße des Originals
getreu wiedergegeben. Aber weil wir lefend immer bie
Worte nur fprechen und nicht fingen (wie die Alten tha-
ten), fo Hilft uns eine ſolche Sangbarmachung derfelben
ohne muſikaliſche Compoſition nicht viel und verlohnt
faum bie nicht geringe Mühe, welche eine folche Weber-
feßung koſtet, befonders wenn diefelbe nicht nur ſinn⸗,
fondern auch möglichſt wortgetreu fein fol. Die einzig
mögliche Art, uns den antiken Chorgefang zu veranfchau-
lichen, ift die durch moderne Compofition antiker Chöre,
wie fie zuerft Mendelsſohn verſucht hat. Leider fielen
jeine Verſuche in eine Zeit, wo das Grundgeſetz des an⸗
tifen Rhythmus noch unbelannt war, und daher die Don-
ner’fche Ueberfegung noch nicht zum fichern Führer auf
diefem Wege taugen konnte. Daher fam es, daß durch
Mendelsfopn und feine Nachfolger Tanbert und Laffen
zwar wol mit genialem Inftinct in einzelnen Partien das
Richtige getroffen werben konnte, im ganzen aber noth»
wendig über das wahre Ziel weit hinausgejchofjen werden
mußte. Wie dagegen ein antiker Chor in feinem echten
Rhythmus wirklich gelungen hat, laſſen zwei völlig correcte
Eompofitionen, welche dem Schmidt'ſchen Werke anhangs-
weiſe zugegeben find, in höchſter Lebendigkeit und An-
Ihaulichleit erfennen. Die eine ift ein Chor aus dem
Euripibeifhen Satyrfpiel „Der Cyklop“, die andere ein
Neugewonnene Hälfsmittel zum beſſern Verſtändniſſe Pindar's.
Chor aus dem Sophokleiſchen „König Oedipus“, beide
nach der Schmidt'ſchen Ueberſetzung und correcten Takti⸗
rung des Originals. Um bei dem zweiten Chor den
Gegenſatz antiker und moderner Compoſttionsweiſe dent»
licher vor Augen treten zu laſſen, iſt als Gegenbild die
in ihrer Art vortreffliche, nur vollkommen ungriechiſche
Compoſition beffelben nad der Domner'ſchen Meberfegung
durch den Kapellmeifter Laffen mitgetheilt worden.
Aber es gibt aufer dieſem birecten noch einen in-
directen Weg, den füßen mufilaliihen Wohllaut Pindari-
fer Sefänge in unferer Mutterſprache nachzuahmen, und
and) diefer ift von Moritz Schmidt hier verfuchsweife mit
Glück eingefchlagen worden. Sowie die griechifche Dicht⸗
funft vor der unferigen den Zauber muſilaliſch gebachter
Metra voraushatte, welcher uns verloren ift, jo hat die
unferige dafür mit dem Eintritt ihrer gefanglofen Sprech⸗
periode einen Sprachzauber anderer Art gewonnen, von
welchem die Griechen nichts wußten, ben Rem. Auch
der Reim ift als eine füße Muſik ber Silben unferm
Ohre nicht minder einfchmeichelnd, als wie e8 bem griedhi-
ſchen ein Pindarifches Metrum war. Auch ber Reim
bindet die Verszeilen mit ähnlicher eftigfeit, wie bei
Pindar das durchgehende und conftante muftlalifche Takt⸗
maß thut. Auch der Reim rundet die Strophen ebenfo
deutlich zu einander entſprechenden Berögruppen ab, als
das Schema einer adhttaftigen Melodie. Daher ift ber
neugewonnene Sprachzauber gewiß am beften geeignet,
den altverlorenen zu erſetzen, bei fonftiger möglichft wort-
getrener Weberfegung des Originale. Schmidt hat dieſes
Berfahren beobachtet bei ſechs olympifchen Oben, nämlich
bei der zweiten, dritten, jechsten, fiebenten, neunten und
elften. Die Wirkung ift eine vollkommen gelungene zu
nennen. Ya, man darf wol behaupten, daß gerade bie
erhabenen religiöfen Stellen weldje ben Schwing ber
Bindarifchen Mufe am ftärkften kennzeichnen, durch diefes
Mittel in unferer Spradhe einen Glanz befommen, welcher
die hohe Fürbung des Originals vollkommen wiedergibt.
Man beihaue z. B. in biefem neuen Gewande, daß nicht
ichöner gewählt werben konnte, die in der zweiten olym-
pifchen Ode enthaltene Stelle, welche den Zuſtand der
unfterblichen Seelen nach dem Tode befchreibt. Sie lautet:
Doch ein Dajein voller Frieden ift dem Edelen bienieden
Und im Hades zugedadht: und berfelben Sonne Pradit,
Die dem Tag auf Erden lat, leuchtet ihrer Todesnacht.
Keine Sorge, keine Noth um des Leibes kärglich Brot
Knechtet ihn, das Feld zu pfllügen und die Woge zu befiegen.
Um die Gottgeehrten jchweben thränenlos in Ewigkeit
Fromme Schatten, die im Leben band bes Eides Heiligkeit.
Doch der Frevler harrt daB Bar Qualen gräßlid) anzu»
aun.
Aber wer von Schuld und Fehle rein bewahrte feine Seele,
Wer zum dritten mal beftand, Hier und dort im Schatienland,
Wandelt frei auf Jovis Pfade nad) Saturnus hohem Bau,
Wo um felige Geſtade koſen Luft und Wellenthau;
Wo der Farbenſchmelz der Dolde funtelnd glüht im Blumer
golde,
Aus des Baumes fiolzer Höh' ih am Feſtland vom ber
weigen
Goldne Blütenkelche neigen, Blumengold entſprießt der Se.
Sefigeroinde, bunte Kränze windet draus die fromme Sant
or dem treubewährten Richtertribunal des Rha damanık,
Welchen Zeus, der Göttervater, Rhea's Gatten zugefellt,
Neugewonnene Hälfsmittel zum beffern Verſtändniſſe Pindar's. 665
Auf dem Thron am Saum ber Welt, feinen einfligen Be⸗
rather.
Belens auch und Kadmos zuhlen bort im Reigen frommer
eelen.
Und Achilles, defien Hand Kylnos im den Tod gefandt,
Der den Heltor, Trojas mächt’ge wandellofe Säule, brach,
Dem Aurorens Sohn, der nächt'ge Aethioperfürft, erlag,
Gönnet Zeus, von Thetie' Flehn tiefgerlihrt, dort einzugehn.
Es ift diefes eins von den fehönften der mannich⸗
faltigen, abwechfelnden, oft in fehroffen Gegenfäten ein⸗
ander ablöfenden Gemälde ober lebenden Bilder dieſes
großen Dichters, welche gleich Bifionen oder aud wie
auf hohen Bergen die Kandfchaften ans den trüben Nebeln
unter und emportaucdhen, um minutenlang im hellften
Sonnenfchinmer zu ftrahlen. Sole Gemälde nehmen
fih im Deutfchen in gereimten Verſen weit befier und
der Schönheit des Originals entfprechender aus als in
irgendeiner Nachbildung des griechischen Bersmaßes. Yu
ihnen gehört unter andern die Geburt des Wahrjagers
oder Propheten Jamos dur die jungfräuliche Evadne
in der fechsten Ode, die Geburt der Athene aus dem
Hanpte des Zens und das Emporfteigen der Infel Rho⸗
dus dom Meeresgrunde in der flebenten, die Bevölkerung
der Erde nach der großen Flut durch Deufalion und
Pyrrha in der neunten. Hierher gehört befonders auch
in der elften die frübefte Stiftung der Olympifchen Spiele
durch Herafles, nachdem diefer Held die tollkühnen Söhne
der Molione, die Tirynthier, welche ihm den Paß nad)
Elis verfperrt hielten, den Kteatos und Eurytos, erfchla-
gen hatte. Er Iegte die Beute aus diefem Kampfe in
Pifa nieder am Grabe des Pelops, weihte den olympi-
jhen Boden dem Zeus, und pflanzte mitten im freien
Felde den Dlivenhain Altis, aus welchem von geheiligten
Bäumen bie Kränze ans Delblättern geflochten wurden,
mit denen man die Stirnen der Sieger fchmüdte:
Aber er, der wadre Streiter, Jovis vielgeliebter Sproß,
Hegt in Pifa drauf die Beute und dem ganzen Kriegertroß.
Dem erhabnen Bater weihet heil’gen Boden bier ber Held;
Drauf umfriedet er die Altis mitten in dem freien Feld,
Gibt den Plan, der die Umfriedung rings umfpannt in wei
tem Kreis,
Dem gefammten Bolt als Feftfaal, dort fein Mahl zu rliften,
preis.
Der Wettlampf wird nun durch Herakles eröffnet,
ans welchem die erften olympifchen Sieger hervorgehen,
und zwar im Schnellauf, im Ringen, im Yauftlampf,
im Wagenrennen mit dem Biergefpann, im Speerwurf
und im Schleudern des Diskus, worauf ein Beifallfturm
bes verfammelten Volle erbrauft: '
Indeß des Mondes weiches Zauberlicht
Mit ſüßem Liebreiz durdy die Dämm’rung bridt:
Und bald erklingt der meite Feftpla wieder
Vom Siegesjubel froher Tafellieder.
Die nähere Beſchreibung der Pflanzung des Oliven⸗
hains Altis durch Herakles enthält die dritte Ode. Denn
es war ein Hauptverdienſt, welches dieſem Helden nad)«
gerühmt wurde, daß er durch die Anpflanzung dieſes aus
Platanen und Oelbäumen beſtehenden Gehölzes die Gegend
von Olympia, welche früher kahl geweſen war, zu einem
anmuthigen Aufenthalt umgeſchaffen hatte:
Des Mondes Mitte war es, die Altäre
Für Vater Zeus, fie waren längft geweiht,
Und mählich war in ſtiller Abenbdzeit
1870. «4.
Auf goldnem Kahn der Mond beraufgefhwommen
Und vollen Auges ob der Welt erglommen.
Doch noch entiproß Fein ſchönbelaubter Baum
Der weiten Trift im Kron'ſchen Pelopsthale;
Ein ſchattenloſer, Tahlentblößter Raum,
Ein Zummelplag dem heißen Sonnenftrahle
Bedüunkt es ihm — und in bes Helden Bruft
Erwadte neu die alte Reijeluft
ns Land des After, wo Latona’s Kind
Bor Zeiten huldreid ihn willlommen hieß,
Die Rofjefreundin, als er Thalgewind’
Und Bergeshöhn Arkadiens verlieh,
In Iovis Auftrag, wie Euryſth befohlen,
Die Hindin mit dem Goldgemweih zu holen.
Anf ihrer Jagd erblickt' er die Gefilde,
Wo machtlos flirbt des Nordes eifig Wehn,
Und blieb gefeffelt von dem holden Bilde
.2; Der grünen Baumpradt ftillverfunfen flehn.
Und ihn ergreift ein mächtiges Gefühl,
Sold Reis zu pflanzen, wo im Hippodrom
Die Wagen zwölfmal donnern um das Ziel.
Gern weilt er jet nod) bei dem Feſt am Strom,
Und mit ihm nahn die göttlihen Genoffen,
Ein Zwillingspaar, der ſchlanken Leda Sprofien.
Denn ihm vertraut’ er, zum Olymp verklärt,
Das Hüteramt der flaunenswerthen Schenkung,
Wo fih der Mann in feiner Kraft bewährt
Und im Geſchick behender Wagenlenkung.
Nicht minder ſchön nimmt fi in Reimen ans das
ftolze Selbftgefühl des Dichters in der flebenten olympi⸗
chen Ode:
Ich Huldige mit ſüßen Geiftesfrüchten,
Die id) an preisgelrönte Männer fende,
Mit Deufenfeim und reicher Neltarjpende
Dlympias und Pythos Siegeshelden:
Und felig der, von dem die Lieder melden.
Doch läßt der Sieg bald da bald dort ſich nieder,
Mit Santenffang und vollen Flötentönen
Der Menſchen Leben wonnig zu verfhönen —
oder in der neunten:
Bei Gott, im Lichtmeer meiner Lieber fol
Der Lolrer tbeure Mutterftadt ſich ſpiegeln!
Den ftolzen Renner will ich überflügeln
Und fchneller noch als auf des Schiffes Schwingen
In alle Welt die Siegestunde bringen.
Ich pflege ja mit gottgemweihter Hand
Die Feengärten in der Aumuth Land;
Und fie allein verleihet Reiz dem Leben,
Die Muth und Weisheit auch nur Götter geben —
und ähnlich in der zweiten:
Unter meines Armes Bogen flarıt der Köcher von Geſchofſen;
Sprade reden fie bem Klugen, alöben ift ihr Sinn ver⸗
offen.
Hechter Weisheit Wiffensfchäte find die Mitgift ber Natur,
Angeborne Geiftesgabe; angelernte plappert nur
Mit geläufigem Geſchwätze zungenfertig, wie die Raben,
Wenun ihr müß’ger Schwarm im Kreis flattert um den Aar
des Zeus.
Soldier ſtark ausgefprochdene Sängerſtolz darf uns
nad) unferer feinern Sitte freilid) überfpannt erfcheinen.
Doch muß man dabet nicht außer Augen laffen den über-
aus anmuthigen Dämpfer, welcher ihm dadurch aufgefegt
wird, daß er im weiten Zuſammenhange immer einen
religiöfen Auftrich befommt. Denn er enthält eigentlich
nur ein Rob des Gottes, welcher in dem Schwachen mächtig
ift und ben Sänger zu Herborbringungen befcelt, die
fich durchaus wicht lernen laſſen und folglich feine eigene
84
u ——
——
666 Neugewonnene Hülfsmittel zum beſſern Verſtändniſſe Pindar's,
menſchliche Kraft weit überſteigen. Nur bie Mufenbegei-
fterung Hilft. Aller Geift fommt von oben, ift eine
Naturgabe der Götter, niemals ein Werk der Kunft; wie
e8 heißt in der neunten Ode:
Bollendet prangt, was die Natur erichaffen:
Und wähnt audy mander der Vollendung Schimmer
Durch anerlerntes Können zu erraffen,
Ihm ſchweigt das Lied, die Gottheit fucht ihm nimmer.
O fünd’ ich jebt des rechten Wortes Weifen,
Bom Sit der Mufen mein Geſpann zu leiten,
Und möchte Kraft und Kühnheit uns geleiten,
So Gaſtlichkeit wie Heldenmuth zu preifen!
Auch die prächtigen Anreden an bie Götter und Hel-
den nehmen fich vortreffli in Keimen aus, wie die in
der zmweiten Obe:
Siegeshymnen tönt die Leier! Welchem Gotte, fagt mir an,
Welchem Heros gilt die Feier, melden Mann?
Preis dem Zeus, Piſas Hort; hoch Heraͤkles, der ihm dort
Aus der Beute heißer Schlacht weiht der Spiele heitre Pracht —
oder in der eliten:
Ja, Breis dem Gotte, der im Wettergrollen
Sich offenbart in feines Donners Rollen,
Aus deffen Fauſt der Blige Feuerſchwert
Den Sieg verkündend zudend niederfährt.
Herrli runden fih in diefer Form auch ab die
häufig eingeftveuten Sentenzen und Gittenfprüdhe. So
3. B. finden wir das Lebensglüd überall als unficher be-
zeichnet, nnd ftreng davor gewarnt, ſich darauf irgend zu
verlafien, wie in der flebenten Ode:
Des Menfhen Herz umgaufelt Wahn auf Wahn,
Und feines Sterblichen Verſtand ermißt,
Wie weit in Zukunft ihm zum Glück gereicht,
Was ihm das Heut in rof’gem Lichte zeigt.
Der Wechfel des trüglichen Gefchids wird auch be
fohrieben in folgenden Worten der zweiten:
Aber ad, fein Menfch ergrlindet, wann der Tod fein Tager
ndet:
Wird der Tag nur, da die Sonne, morgens friedlih) uns
gelacht,
Uns in ungetrübter Wonne auch vergehn, wie wir's gedacht?
Eine Strömung nad) der andern dringt im Wechfel auf uns ein;
Muß der Frohfinn von und wandern, kommt die North mit
ihrer Bein.
Für das Höchſte und Preiswürdigſte im Leben gilt
dagegen die Tugend, melde durch Mühſal zum Siege
Schreitet, wie e8 heißt in ber fechsten Ode:
Nichts yilt im Staat, nichts an des Schiffes Bord,
Ber fonder Wagniß ſich emporgeſchwungen.
Nur der allein lebt im Gedächtniß fort,
Der feine Größe mühvoll fi) errungen.
Auf die Mühe der Siegesarbeit aber gehört auch der
Siegesruhm, ohne welchen der Sieg unvollftändig bleibt,
wie es heißt in der elften:
So hat auch der vergeblich nur gefront
Und fieht des Lebens lange Mühe nur
Mit kurzer Luft, Agefidam, gelohnt,
Der Hanglos einzieht in des Hades Nacht,
Nachdem er glorreih wadre That vollbradit. .
Doch dich, o Hochbegnadeter, begrüßt
Der Laute Klang, der Flöte ſchmelzend Spiel;
Die Bieriden felber find erfchienen,
Die Töchter Iovis, deinem Ruhm zu dienen.
Auch die Schönheit der Körperform wird als göttlich
verherrliht. So beim Sohne bed Archeftratos, eben bie-
ſem Ageſidamos von Lokri, bem Sieger im Fauſtkampfe
der Knaben, in berfelben Ode:
Noch ſeh' ich ihn in voller Iugendfrifche
Sn feiner Formen Liebreiz vor mir prangen:
Gleich Ganymedes, der, dem Tod entgangen,
Sn Eros’ Armen ruht am Göttertiſche.
In diefer einheimischen Form uns näher gebracht,
begreifen wir in unferer Mutterſprache erſt auf anſchau⸗
liche Art das Anmuthige der Pindarifchen Gefänge, welches
in andern Formen, 3. B. der Ueberfegung des berühmten
Thierſch, uns dem größten Theile nach unverftanden bleibt.
Ein anderer angenehmer Eindrud, welcher ſich hieran
knüpft, ift die Aehnlichkeit des Pindariſchen Schwungs
mit dem Schiller'ſchen, welche uns hierbei beſonders ins
Auge ſpringt. Wir beſitzen in Schiller unſern Pindar.
Die Erhabenheit der Empfindung, die Großheit ber Bil-
der, das Sententiöfe der Redeweiſe, das Ethiſche des
Standpunfts, verbunden mit der Süßigfeit der Metaphern
und der grazidfen plaftifchen Abrundung in der Zeich—⸗
nung der Meinen anfchaulichen Züge der Gemälde ift bei«
den gemeinfam. Auch ein früherer Nachahmer des Piu⸗
dar (Petri) hat diefe Bemerkung fchon darin ausgebrüdt,
daß er zur Wiedergabe Pindarifcher Gedanken Schiller'⸗
[ches Versmaß wählte, wie folgendes hübfche, von Schmidt
angeführte Beifpiel verdeutliht. Der Schluß der erſten
olympifchen Dde lautet im Versmaße des Originals bei
Morig Schmidt:
Mir verleiht der
Muſe mächtiger Speer Wunberfraft.
Anderer Macht entjpringt anderen Quellen. Auf dem Gipfel
bes Lebens
Stehn die Fürſten. Drüber hinaus firebe nicht. Genug,
Wenn fonnige Höhn entlang deine Straße zieht, mid des
trauten Verkehrs wilrdig hält
Sold ein Mann, und rings meiner Geſänge Ruhm leuchtet
in Hellas’ Bauen.
Derfelbe Schluß lautet in ber zwar nicht wortgetreuen,
wohl aber finngetreuen glüdlichen Nachbildung von Petri
(Rotterdam 1852):
Die Mufe begabt mich mit firebenber Kraft,
Noch mehr der Geichoffe zu fenden.
Ein andrer ja immer fid) andres jchafft,
Des Lebens Ziel zu vollenden.
Des Fürften Krone zu oben firahlt,
Ihm haben die Göitter ſchon vol gezahlt;
Was mehr ift, laß es beifeiten.
Und während ich finge dein herrliches Los,
Ich finge mid felbft mit dem Könige groß, |
Schweb’ body auf dem Strome der Zeiten.
Karl Sortlage.
l
t
u
Vom Büchertiſch. 667
Dom Büchertiſch.
1. Anſichten vom Leben, Ein Verſuch von Sigmund Schott.
Breslan, Trewendt. 1870. 8. 1 Thlr. 15 Nor.
Ein gutes Buch, voll gefjunder Gedanken und fittlicher
Wärme, das uns faft auf jeder Seite liebgewordene An⸗
ſchauungen reproducirt. Zwangloſe Aperçus, ſorgſame
Erörterungen über abſtracte und concrete Gegenſtände
bringt uns dieſer gelungene „Verſuch“, der von der Ver⸗
günglichkeit, von der Trauer um Todte, der von ben
Frauen, vom Herzen und vom Gottvertrauen fo anregend
zu plaudern weiß. Dabei zittert ein wehmüthiger Ton
durch das Buch), als wäre alles Irdiſche ein mildes Abend⸗
roth, das fanft und allmählih dahingeht, um in bie
Nacht des Chaos oder des ewig Räthſelhaften zu ver-
finten. So etwa ift der Eindrud, den wir von dem
erften Eſſay, bem „Bon der Bergünglichkeit“ erhalten.
Reizend, fein beobachtet und voller Fülle menfchlichen
Verſtändniſſes ift der Auffag, der über die Frauen han-
delt. Lehnt fich der Verfafler auch, wie er es in feinem
Buche durchweg gethan, an Citate aus aller Herren Län⸗
bern, geht er befonders häufig auf die Ausſprüche der
Roland und Stael über ihr Gefchlecht ein, fo weiß er
doch fehr viel Driginelles, Treffendes beizubringen. Die
Detailtenntniß der menfchlichen Dinge verleugnet fd) eben
nirgends; befonders tritt in dem Eflay „Vom Herzen“
ein wahrhaft liebevolles Verftändniß file die feinen Gewebe
menfchlichen Fühlens, fiir den wunderbaren Organismus,
der im Kampf mit dem Denten lebt und fi nur in ſel⸗
tenen Fällen mit jenem vereinigt, hervor. Am unbedeu-
tendften find uns Schott's Anfichten vom Gottvertrauen
erfchienen, die wenig Urfprüngliches bieten und die wiſſen⸗
fchaftliche Ethik zu wenig berüdfichtigen. Indeſſen wollen
wir diefe Eſſays, die abfiracte Schemata mit feltener
Grazie und fchriftfteleriichem Geſchick behandeln, dem den-
enden Publikum angelegintlid empfohlen haben.
2. Die neue Zeit. Freie Hefte für vereinte Höherbildung ber
Wiffenichaft und des Lebens, deu Gebildeten aller Stände
gewidmet. Im Geifte des PBhilofophencongrefjes unter Mit-
wirkung von Gefinnungsgenoffen herausgegeben vou Her-
mann Freiherrn von Leonhardi. Zweites Heft. Prag,
Tempely. 1870. ©r. 8. 26 Nur.
Was interefjirt uns jegt der Philofophencongreß, wäh⸗
zend die Kugeln faufen und das Blut in Strömen fließt,
während das abftracte Denken der Nation von Dentern
und Dichtern fi umfegt in eine concrete Begründung
deutfcher Einheit und Freiheit, in den neuen beutfchen Staat!
Was kann uns Hr. Geh. Hofrath Profefior Dr. Schliep-
bade über „den fubjectiv-analygtifchen, d. i. zur Gewißheit
der Gotteserkenntniß als höchſten Wiſſenſchaftsprincips
emporleitenden Theil der Philoſophie“, oder über „den Be⸗
griff des Geiſtes nach den Thatſachen des Selbſtbewußt⸗
ſeins“ Neues ſagen, was wir nicht aus den philoſophiſchen
Katechismen Herbart'ſcher Confeſſion bereits wüßten? Und
wenn gar die Frauen zu Philoſophinnen werden, dann
wird uns unheimlich: mag der verehrliche ſchönere Theil
der Schöpfung Arzt, Wahlmann, Stadtverordneter, oder
wie in Wisconfin Geſchworener fein, zum Philoſophen
dürfte der concrete Charakter holder Weiblichkeit fich ſchwer⸗
lich eignen, Frau Julie Hoff aus Bajel möge und denn auch
— — —
verzeihen, wenn wir ihre auf dem prager Philoſophen⸗
congreß gehaltene Vorleſung über Idealismus und Ma⸗
terialismus (ein weitſchichtiges Thema, das fie übrigens
auf brei Seiten erledigt) als nicht über das Gebiet ba-
naler Phrafe berausgehend bezeichnen. Wie die meiften
Damen, die ſich für Philofophie begeiftern, ift auch Julie
Hoff eine warme Anhängerin des vielfach überfchägten
Kraufe. Der Schlußfag und fromme Wunfc der Red⸗
nerin ift etwas unflar: „Da beſonders jest‘, fagt Julie
Hoff, „die Frauen fich geiftig jo wader Hervorthun, fo
wäre es wünſchenswerth, daß die Männer auch in in-
tellectuellen Verhältniſſen fig mit ihnen harmoniſch ver-
einigten.“
Hohlfeld bringt auf ©. 89 fg. einige fehr Logifche
Auseinanderjegungen über die Begründung des Religions-
begriffs, und ber Herausgeber theilt eine Folge von Sägen
über Glauben und Wiſſen und fodann Anmerkungen zu
diefen Süßen mit. Diefe Markfteine der philofophifchen
Anficht Leonhardi's enthalten viel Beherzigenswerthes und
rihtig Gedachtes. So 3. B. bie nachfolgende Stelle
(Sag 57):
Biele „Gebildete“ und im Sinne der Schule Kant’ „Auf⸗
geffärte‘' find nicht nur der Meinung, fondern thun fi) noch
etwas zugute darauf, zu behaupten, das fogenannte Religiöfe
beftehe, fofern e8 Werth babe, allein in Moralität. Was Über
legtere binausgehe, weiſen fie als „für überflüffig‘ und als
„Aberglauben‘ von fih. Daran haben fie unrecht. Nur fo viel
darf ihnen zugegeben werden, daß vollendete Religiofität auch
zu vollendeter Moralität führt, und daß eine religtöfe Bethäti-
gung, die nicht auch fittliche Früchte trägt, mindeftens eine un-
vollfommene oder frankhafte ift; wie denn das Auflommen jener
Meinung geihichtlic, nachweisbar nur eine Reaction ift gegen
die Moralität vernadhläffigende confelfionelle Einfeitigfeit.
Das ift eine Wahrheit, die noch immer gegenüber bem
blinden Kantianismus, der mit der Epoche des 18. Yahr-
hunderts wol feinen Abſchluß gefunden hat, zu beherzigen
if. Die Unfähigkeit jener philofophifchen Partei, einen
objectiven Maßſtab an ethifche Berhältniffe anzulegen, die
ſchon Schleiermader und Hegel Mar nachgewiefen haben,
documentirt ſich nicht fchlagender als eben in der Beur-
theilung des Religionsbegriffs.
3. Das Manifeft der Bernunft. Diverfionen eines Beteranen
im Freiheitsfampfe der Geiſter. Cine Stimme der Zeit in
Briefen an eine Schöne Moftilerin von $. Clemens. Zmeite
gänzlich umgearbeitete Auflage. Berlin, Grieben. 1870.
8 1 Thlr. 10 Nor.
Die erfte Ausgabe diefes Buchs ift uns nicht zu Ge»
fiht gelommen. Schon vor 35 Yahren, „al® noch alles
unheimlich fill ringe im Reiche ber Geifter war und ber
Pietismus in ungeftörter Sicherheit feinem Fifchzug im
Trüben nachging“, erließ der Verfaſſer fein „Manifeſt der
Bernunft“, Während die Weisheit der andern ungenieß-
bar war, wie ungereifte Brombeeren, gab %. Clemens
ber Menfchheit „die neueften Früchte vom Baume der
Erkenntniß“ zu koſten. Die Form, in die der zuber-
fihtlihe Autor feine Ergüſſe Hleidete, die filbernen Sca-
len, in die er feine goldenen Erkenntnißäpfel legt, ift
nun eben feine originelle, es ıft die Briefform. Clemens
Bringt auch feine Weisheit nicht an den Mann, fondern
an die Tran: feine Briefe find an „Madame“ gerichtet.
84 *
—— —
668 Vom Büchertiſch.
Madame ſcheint eine alte Betſchweſter geworden zu ſein
und ihre Jugend ganz vergeſſen zu haben. Nun Cle—⸗
mens macht ihr den Standpunft unermüblid Mar. Er
gehört zu jenen vorurtheilslofen Beiftern, welche die Ber-
nunft über das Dogma, die Ucherzeugung über bie. Tra-
dition fegen. Ihm tft das Chriſtenthum eine misberftan-
dene Natur» und Humanitätöreligion, die des guten Kerns
nicht entbehrt und die nur in Priefterhänden gemisbraucht
ward, Das ift eben fein neuer Standpunft, aber ber
Verfaſſer weiß feine Belege für die Widerfinnigfeit bes
heutigen verfälfchten Chriftenthums in forgfamer Dar-
legung und fließender Sprache beizubringen. Zum Schluß
gibt der Autor, der ein Stüd Poet zu fein ſcheint, unter
dem Titel: „Der Sonntag- Morgen‘, fehr hübſch und
würdig gehaltene Dichtungen, theils dithyrambifcher, theils
elegifcher Art dem Leſer in den Kauf.
4. SH. Ein Selbfigeifpräh. Fragment von 8. v. R. jun.
Zürih, Orel, Füßli und Comp. 1870.
Ein wunderliches Büchlein, ungebunden im Inhalt,
gebunden in der gefchiet gehandhabten Yorm. Dem klei⸗
nen Werfchen ift die Photographie eines ältern Mannes
mit energifchen Zügen vorgebeftet, die die Unterfchrift
trägt:
i Die Menge wird mich nicht entziffern,
Den Freunden red’ ich nicht in Chiffern;
Der Menge bleib’ ich pfeudonym,
Den Freunden offen und intim.
Wallenftadt, den 13. Juni 1870. 2. Bernold. Oberſt.
Wir gehören nun zu jener Menge und wollen un
auch nicht die unnöthige Mühe geben, das „Sch“ des Hrn.
Dberften zu entziffern. Daß der feltfame Autor in einer
„Zueignung an %. A. Brodhaus in Leipzig“ den „Geiſtes—
thaten” des Wiffensborns, dem „Converſations⸗Lexikon“,
der „Gegenwart“ und „Unfere Zeit“ ein „wohlberathenes
halb Jahrhundert verdankt‘, ift ein aufrichtiges Zeugniß
für den großen allgemein bildenden Werth der Brodhaus’-
ſchen encyflopädifchen Unternehmungen. Nichtsdeftoweniger
vermögen wir nicht recht einzufehen, welche neuen Gedan⸗
fen der Autor mit feinem in gereimte Jambenform ges
brachten Selbftgefpräcd hat anbringen wollen, oder welchen
Einfluß er fich von feinen gutgemeinten, aber nicht gerade
originellen Ideen über Gott, Welt, Zufall und nod
einiges verfprochen hat. Sehr ehrenwerth ift es von dem
Berfafier, daß er feinen Monolog mit militärifcher Kürze
auf einen verhältnigmäßig Kleinen Raum bejchränft hat,
der für die überfichtliche Recapitulation befannter geiftiger
Bervegungen volllommen ausreicht.
5. Beiträge zur Pädagogif. Bon A. Hartung. Wittenberg,
Herroje. 1869. GEr. 8. 10 Nor.
Der Berfaffer, der fi der Grimm'ſchen Schreibweife
befleigigt, Hat doch nicht über Grimm'ſche Klarheit und
objective Anfcyauung der Dinge zu gebieten. Ein ſpecifiſch
chriſtlicher Standpunkt, der den Autor oft über gemifje
Borbedingungen pädagogischer Praris ungerecht urtheilen
läßt, hindert denfelben, die Einfeitigfeit kirchlicher Lebens—
anfchauung aufzugeben und einen unabhängigen pädago-
giſchen Weg einzufchlagen, der nichts von confeffionellem
Streite weiß. Theilen wir gleich die Polemik gegen mate-
rialiftifche Tendenzen, die aud) auf pädagogiſchem Gebiet
allzu geneigt find, zu verwäffern, fo Halten wir dod bie
Anlehnung an eine directe Confeffton, wie die proteflan«
tifche, in Betreff des Erziehungsprincips für verfehlt. Es
ſpukt ein wenig Hegel in der Schrift Hartung’s, aber
nicht der Hegel freien Denkens, deſſen Säcularfeier wir
ftill in diefem Jahre begangen, fondern der berliner Hegel
fpäterer Jahre, der mit Glackhandfchuhen das Verhältniß
des Glaubens zum Denen anfaßte und fi) mit der
Kirchlichkeit vortrefflich abzufinden wußte.
6. Das Zeitalter der Novelle in Hellas. Bon Bernhard
Erdmannsdörffer. Berlin, G. Reimer. 1870. Gr. 8.
8 Nor.
Borliegende Arbeit ift zuerft für einen Vortrag im
Berliner wiffenfchaftlichen Verein unternommen nnd fpäter
in den fünfundzwanzigiten Band der „Preußifchen Jahr⸗
bücher” übergegangen, aus dem fie in vorliegender Form
feparat abgedrudt wurde. Eleganz und Sadlenutniß der
Darftelung zeichnen dies neueſte Opus des berliner Ge-
[ehrten vortheilhaft aus. Es ift die Zeit zwifchen Homer
und Solon, die Zeit zwifchen der mythiſch-heroiſchen
Epoche und der Blüte der ältern griechiſchen Tyrannis,
von der uns Erdmannsdörffer erzählt. Die epifche Form
des Herameters genügte ſchon nit mehr, man fuchte
beweglichere Formen poetifcher Stoffe. Archilochus ift
ein fchlagendes Beifpiel. Seine Rügelieder, die ihre Pa-
rallelen in der romantjchen Rügeliederliteratur des Mittel⸗
alter8 finden, bringen einen jo fubjectiven Ton im bie
Poefie, etwas fo Urfprüngliches, daß man nun alle For-
men gelten läßt, die fi) von der objectiven Ruhe bes
Hexameters entfernen. Und ſchon arbeiten eine Menge
Sagen- und Märchenſtoffe im Volksgemüth der Umwoh⸗
ner des Archipels. Die milefifchen Novellen, die ſyba⸗
ritifhen Erzählungen, die Thierfabeln, die anekdotenhaften
Geſchichten kleinaſiatiſcher Bauernkönige, wie Gorbios
und Midas, Kandaulos-Gyges, der Sagenkreis, der ſich
um Kröſus ſchließt, die Brautfahrt des Hippokleides,
die Schwänke des dummen Margites, die Sagen um
Periander und Polykrates u. a. m. gaben eine Fülle von
Stoff für die helleniſche Phantaſie ab. Der Verfaſſer
weiß uns ſehr eingehend und mit dem Verſtändniß des
Geſchmacks von der Formung und Umformung jener
Themata zu berichten. Die Abhandlung lieſt ſich leicht,
iſt inſtructiv für das literariſche Leben einer frühen Cultur⸗
zeit, erreicht völlig ihren Zweck, nämlich den: zu erweiſen,
wie auf dem Grunde analoger culturgeſchichtlicher Voraus⸗
fegungen — bier im griedjifchen Altertfum, dort im
Mittelalter (das fleifig angezogen wird) — eine Anſchauung
von Welt und Leben erfteht, zu deren eigenften Wefen
neben vielen andern gleich charafteriftifchen Zügen e8 ge—
hört, jenes leichte Genre fait unbewußter Dichtung her⸗
vorzubringen, weldes wir mit dem Namen Novellen be—
zeichnen.
7. Das Baffionefpiel in Oberammergan. Zur Führung und
Drientirung von Friedrich Lampert. Würzburg, Stu-
ber. 1870. 8. 7%, Nar.
Dem merkwitrdigen Ueberreft mittelalterlihen Schau-
ſpiels, dem oberammergauer Paſſionsmyſterium, ift durch
den Krieg ein plößliches Ende gemacht worden, Vielleicht
wird, wie e8 beabfichtigt zu fein fcheint, das nächſte Jahr
—ñ—Nñ ——
Vom Büchertiſch. 669
eine Fortſetzung des unterbrochenen Schauſpiels geben.
Ansführlicher und liebevoller, als es der bairiſche Ab⸗
geordnete Lampert gethan, kann man kaum dem literar⸗
hiſtoriſchen Unicum, das vor den Augen von fern und
nah herbeigeeilter Schauluſtiger in die Erſcheinung tritt,
das Wort reden. Der Lefer erhält einen Maren Weber»
bli® über Entftehung, Inhalt und Ausführung des volls⸗
thämlichen Dramas, da8 voll ergreifender Momente und
überrafhender Effecte iſt. Auch anf die oberbairifche
Landſchaft, die das Paffionsfchaufpiel fo forglih bis in
unfere Zeit hinein gepflegt, fällt manch intereffantes Streif⸗
licht. Die Literatur des oberammergauer Spiels, bie in
diefem Sommer wieder mächtig angewachſen if, bat
durch Lampert's Skizzen einen neuen werthoollen Beitrag
erhalten.
8. Beter Arbues und die fpanifche Inquiſition. Hiſtoriſche
Skizze, zugleih Erläuterung zu W. von Kaulbach's Bilde
„Arbues“. Münden, Adermanun. 1870. Gr. 8. 6 Nor.
Das Kaulbach'ſche Bild, das eine ftarfe Polemik ber
münchener Drtbodoren gegen den Meiſter bervorrief, er-
regte bekanntlich die Aufmerkfamkeit der ganzen gebildeten
Welt. Der berühmte Hiftorienmaler, dem es ebenfo wie
Richard Wagner befchieden war, in der bairifchen Haupt-
jtadt von ultramontaner Seite angefeindet zu werden,
hatte ein Hiftorijches Genrebild mit der Hauptfigur des
berüchtigten fpanifchen Kegerrichterd gefchaffen, der einem
Auto de Fe präfidirt und in voller Glorie ein paar
Keger gen Himmel brennen fieht. Da jenes Gemälde
viel von fi) reden machte, hielt man es vermuthlich für
pafiend, eine Erläuterung zu geben, in der man bed
Arbues Leben, deffen Zeitalter in den Ausgang des Mit-
telalter8 fällt, zum Gegenſtand biographifcher Darftellung
machte. Yreilih Hat der anonyme Verfaſſer ſich nicht
geſcheut, vüdhaltlofe Kritif zu Üben und dem von Ales
ander VII. felig, von Pins IX. Heilig gefprochenen In—
quifitor energifch zu Leibe zu gehen. Ein Torquemada
war ein harmloſes Kind gegen einen Arbues: die Ströme
von Blut, die der fromme Aragonier (geb. 1441, geft.
1485) zur Ehre des Glaubens fließen ließ, haben ihm
den Verruf eined aufgellärten Zeitalter8 und ebenfo wie
feinem Geiftesverwandten Konrad von Marburg den Tod
durch Mörderhand zugezogen. Die Darftelung des Ver—
faſſers wirft grelles Licht auf eine finftere Zeit und deren
fanatifchen Sohn. Intereſſant dürfte auch für unfere Lefer
die Beichreibung von Kaulbach's vielbefprochenem Gemälde
fein, das, foviel wir willen, noch in feiner photographi«
ſchen oder xylographifchen Vervielfältigung vorhanden ift.
Man höre den Text zu Kaulbach's Wert:
Er (Arbues) ift aus der Pforte des Inquifitionspalaftes,
an deſſen Fronte ſich vecht harafteriftifch eine Statue der ger
benedeiten SIungfrau, dieſer ZTröfterin der Betrübten, zeigt,
berausgetreten, um eine Schar Keber in Empfang zu nehmen,
welche durd) zwei Spione in Möudshabit ihm zugeführt mor«
den find. Ihm zu Füßen liegen neben der Biblia sacra, bdie-
fem Bemeisinftrument aller Keter, die confiscirten Geldbeutel,
Schmudjahen und aus edelm Metalle gefertigten Gefäße; gierige
Hände befchäjtigen fich bereits nit der Hinwegräumung bdiefer
Koftbarkeiten. Im Hintergrunde — für die Gefangenen wahr-
lich eine bitter fchmedende Tröftung auf ihr fommendes Schick—
fal — zeigt fi) der brennende Holzftoß, hoch Über demjelben
an Pfähle gebunden bereits abgeurtheilte Leidensgefährten, den
Tod durch die züngelnden Flammen ermwartend. Im weiten
Kreis aber um deu flammenden Scheiterhaufen proceffioniren
Blalmen fingend mit brennenden Kerzen in der Hand fanatifche
Mönchsgeſtalten — hinter dem Bildniß des Gekrenzigten, ber
noch am Kreuze ben veuigen Sünder die Aufnahme ins Para-
dies verheißen und feinen Süngern die Feindesliebe zur heilig-
fien Pflicht gemacht Hatte.
9, Die Corps der deutſchen Hochſchulen nebft einer eingehenden
Darftellung findentifher Verhältnifſe. Anhang: Die mo-
dernen Burfcheufchaften. Leipzig, Liner. 1870. Gr. 8.
20 Nr.
Die fiudentifche Berbindungsfrage nimmt momentan
einen faft ebenfo großen Raum in Anſpruch wie die Ar-
beiterfrage.. Nach den vielen Broſchüren von burfchen-
fchaftlider Seite kommt und auch einmal eine Bertheidi-
gung der Corps vom Corpslager aus zu Geſicht. Aller
dings müſſen wir eingeftehen, daß die vorliegenden Erör-
terungen, was Stiliſtik, logiſche Gliederung und Rede—
vermögen sans phrase anbetrifft, den burfchenfchaftlichen
Brofhüren den Rang ablaufen. Mag e8 nun an ber
gefchloffenern Phalanz bes beutfchen SC. vefp. CC. Liegen, mag
die Logik der Thatfachen mehr für die Corps fprechen,
mag ben Burfchenjchaften, ähnlich wie dem Liberalismus
unferer Tage, fo inhaltreih er ift, weniger die knappe
und treffende Redeform zu Gebote ftehen als dem ge-
mäßigten Confervatismus, genug, diefe Corpsbroſchüre ift
gejchichter gefchrieben als eine aus dem gegnerifchen La—
ger. Nur müfjen wir gegen eine Menge Befchuldigun-
gen, die der Anhang gegen die Burfchenfchaften vorbringt,
Verwahrung einlegen. Freilich find die Burfchenfchaften
niht mehr das, was fie im Sinne ihrer erften Stifter
bütten werden follen, fie find eine ftudentifche Halbheit
geworden und darin liegt da8 Schwarze, in welches alle
Pfeile der Corpsbroſchüre treffen; aber ſie enthalten doch
noch einen Kern der intelligenten Studentenfchaft und ein
wefentliches Kontingent der beften Vertreter alademifcher
Tugend. Und von diefem Standpunft aus muß man es
zum mindeften als eine harte Ungerechtigkeit bezeichnen,
wenn der anonyme Autor vorliegender Schrift die mo-
dernen Burfcenfchaften als „Brutftätten der Heuchelei im
ftudentifchen Leben‘ bezeichnet.
10. Sammlung gemeinverftändlicher wifjenfchaftlicher Vorträge
herausgegeben von R. Virchow und $. von Holken-
dorff. Hefte 91, 99, 100, 102 und 103. Berlin, Lü⸗
derig. 1870. 8. Jedes Heft 5 Nor.
Heft 91. Ueber den Barafitismus in der organifhen Natur
von Marimilian Perty.
Der vielfeitige Verfaffer führt uns diesmal in das
unheimliche Teben der Schmarogerthiere ein und gibt in-
tereffante Auffchlüffe über diefe Plebejer der Inſektenwelt.
Ob der zartfühlende Xefer fich diefer Lektüre gegenüber
immer wird des Efel8 erwehren können, muß freilich da-
bingeftellt bleiben. Andererſeits erhalten wir zwar von
der Planmäßigfeit der Natur einen Begriff, wenn wir
erfahren, daß die Paraſiten theilmeife beflimmt find, die
felbitändigen Organismen in Schranken zu halten, ihrer
Fülle und Ausbreitung entgegenzutreten und injofern dem
gleichen Zweck zu dienen wie viele felbjtändige Organis—
men, welche durch ihre größere Energie und Kraft ſchwächere
Geſchöpfe unterdritden und vernichten. Aber wir müſſen
doch vor unferm Primat in der Schöpfung bange wer-
den, wenn wir erfahren, daß ber Menſch, ber die größten
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6.70 „ıteuilleton
und ſtärkſten Raubthiere bezwingt, die Heinen Schma⸗ſachlich gehaltene Schriftchen bietet eine gute Ueber⸗
rotzer trotz ſeinen Waffen und feiner Wiſſenſchaft nie | ſicht über bie hiſtoriſche Entwickelung der ärztlichen
wird ganz bezwingen können. Praris.
Heft 102. Ueber die Arbeitsvorräthe der Natur und ihre Be⸗
nuntzung. Bon Karl Zöpprip.
Sorglichkeit der Stoffverwerthung und bie Bemühung
nach Dentlichkeit find biefem Bortrage nicht abzufprechen,
wenn auch die Behandlung des Gegenftandes eine ziemlich
trodene ift. Wer die Behandlungsweife kennt, bie fran«
zöflfche Gelehrte, 3. B. Arago, folchen Stoffen zutheil wer⸗
den laflen, der wird uns nicht des Verlangens nad, Un⸗
möglichen zeihen. Vielleicht lernt man aud) mehr aus
biefen drei Bogen als aus einem breitleibigen phyſilali⸗
fhen Compendinm, und wäre e8 auch nur die Erfahrung,
dag in Iegter Inſtanz die Sonne die Erzeugerin aller
irdifchen Arbeitsvorräthe if.
Heft 103. Ariftoteles und feine Lehre vom Staat. Bon Wil-
heim Oncken.
Ariftoteles und kein Endel D. BI. haben nicht bie
Prätenfion, ein Refume der eleganten Darftellung zu ge-
ben, die Onden von der Staatötheorie des griedhifchen
Weltweifen entworfen hat. Ob Onden nicht zu viel weiß,
wenn er don Ariftoteles (mie Stilling von Goethe) be=
hauptet: fein Herz, das nur wenige Yannten, jei jo groß
gewejen wie fein Berftand, den alle kannten — das
überlaffen wir einen pfychologifchen Philologen, der uns
vielleicht ungeahnte Auffchlüffe über das Gemüthsleben
des Philofophen geben wird.
Heft 99. Das Zwölfgätterfgfiem der Griechen und Römer von
C. Beterfen.
Der Berfafler zieht andere arifhe Stämme nicht in
den mythologiſchen Vergleich, er ſpricht nur von den claf»
fiichen Völkern und erwähnt zu Anfang kurz einige Zwölf.
götteranalogien der Semiten. Was der Autor über die
plaftifche Darftelung der Götter unb bie Kalendarien der
Alten beibringt, ift zwar nicht nen, aber anfchauli und
faßlich wiedergegebey.
Heft 100. Der ärztlihe Beruf von Robert Bol;.
Eine Gefchichte der Aerzte in nuce, mit Geift und
Sorgfalt gefchrieben. Bon ©. 33 an kommt ber Ber-
faffer auf die moderne Stellung ber Aerzte zu fprechen,
und erörtert eingehend Vortheile und Nachtheile der neuen
Zeit. Die deutfchen Aerzte, die bis zur Mitte unfers
Jahrhunderts in gewiſſem Grade dem Staat verpflichtet
blieben, find jest nach Erfüllung ihrer wifjenfchaftlichen
Pflihten frei und nur noch „der Menfchheit und ihrem
Gewiſſen verpflichtet‘. Der Norddentſche Bund ift im
Hinblid auf die medicinifchen Reformen anderer Länder
fogar noch weiter gegangen: er hat nad) Freigebung der
ärztlichen Praris in dem Vorbehalt einer Prüfung für
perfönliches Belieben fich englischen Berhältniffen genähert,
wenn er auch dadurch nicht, wie Volz meint, ein „Auf-
heben der wiflenfchaftlihen Gewähr” veranlaft hat. Das
LT ——————— —— —
Fenilleton.
Zur Kriegslyrik. Du wirb bie F nad Kriegẽgewittern,
Friedrich Bodenſtedt hat „Neun Kriegslieder“ (gedruckt n großes Bbiterwunder ſebn⸗
Das ein'ge Frankreich wird zerſplittern,
in dieſem Jahre bei Belhagen und Klafing in Bielefeld und Ein einig Dentfhlanb auferftehn.
Leipzig) herausgegeben, von denen einige aus den Zeitungen
und Sournalen befannt und zum Theil ſchon von uns erwähnt
find. Das erfte Gedicht: „Warum, warum troß alledem?"
beginnt mit dem Vers:
‚Neues Kriegslied‘‘, „Der Auemarfc zum Rhein”, „Nie
wird ber Rhein franzöfiich fein‘, die Humoriftiiche „„FZeldinftrnction
Napoleon bat Macht und Gelb, über die Zuaven“, „Er umd wir. Der Grundton der Ge-
It groß in Thaten und in Worten, dichte ift behaglich und friih; man flieht unter dem Kriegshelm
Er iſt der klügſte Mann ber Welt, die Züge Mirza⸗Schaffy's hervorfhimmern.
Man rühmt und preift ihn allerorten ;
Ihn ſchmückt ein Katjerbiadem Das neuefte fünfte Heft der „Lieder zu Schug und Trup‘“
Und Ruhm folgt feiner Feldſtandarte — einer Sammlung, die fi) al® ein Repertorium der Kriegsigrif
Warnm, warum troß alledem erweift, bringt außer dem großen Freiligrath’ichen Gedicht:
Berachtet man ven Bonaparte? „Hurrah Germania”, Bedichte von Alfred Meiner, Wil⸗
und fehließt nad eimer Reihe fragender Strophen mit ber | beim Ienjen, Mori Carriere, Morig Blandarte,
Antwort: Sriedrih Bed ua. Auch Berthold Anerbad hat fid
Weil er Europas Hohn und Fluch, durch ben Kriegslärm auf den Iyriihen Pegaſus binaufnöthigen
Weil morſch der Grund von feiner Größe, lafjen und ein „Lied ber deutſchen Soldaten im Elſaß“ gedich⸗
weu FB 33 Trug, tet, das ſehr volksthümlich ift, aber doch nicht genügen wird,
Sein Name if ber Püg” Emblem, hun einen Platz unter den Lyrilern der Gegenwart ein.
* ſpielt —8 Spiel mit falfiher Karte: "
arum, trotz Kron' und allebem, - M. Evers bat „Vorwärts. Sieben gebarnifchte Sonette
Berachtet man ben Bonaparte. an das deutfche Voll’ herausgegeben —E Schulze
. n 50 N )
Die andern Gedichte find: „Auf Frankreichs Kriegserkläärung“, | die nicht gerade originell, aber doch auch nicht Übel find.
en te salutant‘‘, „Deutſchlands Auferfiehung‘‘ mit dem | Wir theilen zur Probe das fechste nit: 2 ſ
ußvers:
Bald wird am Rhein die Schlacht geſchlagen, Wohlan zum Kampf! wenn wir nun einmal ſollen,
Ganz ausgelämpft ber alte Streit, Dann wollen fämpfen wir mit deutſchem Muthe!
Davon man fingen wirb und fagen Färbt fi die Erd’ dann mit der Brüder Blute, —
Dis in der ſpät'ſten Entel Zeit. Euch Frevelmüth’gen wird's ber Himmel zollen!
Teuilleton.
: Huf jet durch Bäß' und Gtröme — angeſchwollen
Sind fle wie Bald von unferm Herpeneblutel —
Dem Geind enigegenl Schmag, wer ba nod rabte,
Bo Sgmerier Hiren und Ocladtenbonner teen!
Borwärts! Roch wehen hoch und ſtoli bie Fahnen!
„Vorwärts!“ erigallt bes Gelbferrn Donnerflimme
Breit dung) den Geind end Tühne Giegeäbahnen!
Stärit euqh auf ihn mit allgemaft'gem Grimme
Unb jeder ringe — was fol id nad mahnen? —
Daß er zuerft des Gegners Hay erfiimmel,
Zum Schluß bringen wir Hier die in vielen Zeitungen
mitgetheilte poetiſche Aatwortsepiftel auf den Brief, dem der
franzöfifhe Dichter an das deutſche Bolt gerichtet hat, von dem
Herausgeber d. Bl.:
Un Bictor Hugo.
Aufgeſcheucht aus beined Patmos ftillen Träumen ſenbeſt du
Einen Brudergruß der Bölter jet dem beuticen Bolte zu,
Cine Taube mit vem Delgwelg aus der Gänpflut Wogendrang —
DLR mit prießerligen Worten Heinmen unfeer Waffen Gang.
Frieden, beitig Wort des Lebens, alle Bergen fhlagen bir!
Siöner ale des Lorbers Kronen winkt uns deiner Palmen Bier;
Dog de jegt mit Dlut und Tpränen fig dem Saoe des Kriegs entringt,
„IR der ew’ge Frieden nimmer, ben das Lieb ber Dichter ſingt.
Wenn auf Raub die Geier flogen, tommt der Taube Ging zu fpät.
Wrantreig erntet jept mit Syaudern, was nur Franfreih ansgefät,
Eines blut'gen Krieges Würfel warft ihr Hin im Knabenfpiel,
Und ihr weigert jept den Ginfap, weil für un® der Würfel fiel!
Nigt den Marſch der Legionen pemmte tuhner Freifelt That
Damalt als bie free Dropung jedes Böllerredt gertrat;
Nimmer hat fie da ihr Banner uns zum ferud’gen Gruß geſchwentt
Und im Dom der Invaliben der Gäfaren Ruhm verjentt!
Und des Gänger® Fenerruthen, feiner Büdtigungen Hohn,
Sind ein Drandınal für ven Zodten, bem Lebend’gen eitle® Drohn.
Dein Napoleon der Kleine blieb mod immer groß genug,
Bis die Macht der deutſchen Heere feinen Herrſcherihron gerihlug.
Habt ihr nit den müben Caſar in dem letzten Kampf gebeht,
Ihn, der vor der Matabore rothem Zuge fih entjegt?
Mär’ ex ale ein Banderobrer heimgefefrt mit Glanz und Ruhm —
Aqh 100 blieb der Freiheit Banner und bes Friedens Prieftertfum?
Und du ſelbſt, ein wandelbarer Gänger wefelveller Zeit,
Belefe in den Sugenbliebern eines Cäfars Perrligteit;
Gleicpwie vor der Bundeslade David tanzenb Hymnen fang —
Um die erzue Raiferfäule tanztef du mit Harfenflang.
Selbſt der Nähte bleiher Sänger Rimmt in folgen Yubel ein,
Und von ſeines Siebe Champagner flog der Pfropfen nach dem Mein.
Self dad Bürgerreic) des Qui brütet folpe Seidenfaft —
3a, ber Rhein iR Granfreige Wahnflun, und der Rhein if Dentfglande
Kraft,
Einmal ſchon den Brief des Friedens ſqrieb ein Dichter gleich wie bu,
Allen Böltern warf die junge Republik bie Rofen zu;
Bald gebrocpen lag bie Ayra vor den Stufen eined Throns,
Und ber Mdler bed Gopannes weicht dem Kar Napoleon’.
Täglich Haft du andre Saunen, Friedensgruß und Lriegesjorn,
Zrägt ein Beilden Heut im Wappen, morgen [pon ben Ritterfporn,
rantreid, wanbelbarer Proteus! Wehsle Garden und Bealt —
Dog wir Haben dig und Halten dich mit eiferner Gemalt.
Hunberttaufend Helden fallen nicht für einen Obolus,
Den der Tod dem bielgen Hährmann für bie Faprt bezahlen muß.
Feantreig Yämpfte mit dem Gäfar, Branfreid heile fein Gefgid:
@i6 heraus den Kaub ber Xönige , feiebensfel’ge Nepubtifl
GIB Heraus bie veutfhen Sande, unſers Keiges Erb’ und Gut,
Unfer werde jegt die Erbe, wo der Heiden Mfdhe ruht!
Die verlornen Kinder lege wieder an der Mutter Herz, —
Sähne für das Blut der Eveln, der Berlaffenen Roth und Schmetz.
Haft zugleich du mit der neuen deine alte Sauld beyaplt,
Dann zum Bölferfrievenstempel, der im Glanz des @eiftes Rrafit.
Iede Rache fei begraben, nie entweiht der Brudergruß;
Zwei vereinte Bölter fegnet dann der Meufheit Genius.
Sonf — zum legten Kampf! Wir nahen erumpangert, fiegegemiß,
Und fo werde Garagoffa, Mbermäth'ges Sybarie |
Böllermutter, welge graufam jegt die Unfrigen verflich,
Höpuend deines Sängers Preislied, weltvergiftendes Paris!
671
Du Bultan, ber plöglig wieber feine Senerfäufen hob,
Der fo lang’ nur graue Mjde über alle Bölter ſtod,
Das Berbrechen der Zerfiörung und ber Flach fommt über big,
Denn dein ift das Wort bes Griebens — ber Beflegte beuge fih!
Souſt in deinen üpp'gen Flitter ſchlägt die deutſche Cifenfauft !
Hbe, wie fhon das Gälahtgemitter um die Giegehbagen brauft!
Dichter, häng’ bie Harfe jammerub an ben Weiden Babels auf;
Denn die Weltſtadt eng umtlammernd nimmt Verderben jeinen Lauf.
Bibliographie.
Baumbach, E., Gedichte. te veränderte Anflage. Mitau. 5. 1 Thlr,
Baum arten ‚9., Wie wir wieder ein Bolt geworden find. Leip⸗
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Elimenreioh, A., Acht Kriegslioder zu Schutz und Truiz. Ge-
widmet den deutschen Volke, dem drutschen Hecre zum 5 ‚gonnenen
Feldzoge wider den Fransmann, Leipzig, G. Schulze. 16 2 Nar.
Eitefter, %, $., Worte der Berfändigung, des Beiebens und des
Be denne ie Deffen Nadlafe von $ Mitter. Berlin, Deu
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Benfigen, D. 5, Et 1 Briegsieder. Berlin, Großer. 6. 1 Nr.
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Volowin, L, Runland unter Alezander IL, Original - Ausyabe.
Welpe, Krehbeig, "Gr. 8. 1 Thlı
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Di, m gejchriebbener Gehreibe » Brief von Iant Mauſes
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ae zit Brankreig. —— Biblio»
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EEK, Salberöelein Ein Averfranf. Bindury, Doc.
1 Payılan U, Fiugt aus Mep nah Paris, Leipzig, ©. Schuhe.
olger, ®., Bolten: ‚Bele! n Unterhalt
F Me — — ——— Irns und Unterhaltung,
beutigen anhenjleher. Bei dem nähen Yeievenefhluß zu belichiser
jen Kannenjlei u
Bennhung vor Herrn Srafen von Bifmerd. ihweig, Hug. Gr. 5.
Wagtel, 9, Afener Boat on Herrn Dr. Gel Bee
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fein, Hiferiiges Edanpiet-
672 Anzeigen
Anze
igen.
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Deriag von 5. A. Brodfaus in Leipaig-
Wörterbücher der neuern Sprachen.
Deutsch, Französisch und Englisch.
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allemand et allemand-frangais. — Bolfländiges Tajchen-
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et allemand-frangais. — Praltiſches Wörterbud) der fran«
zoſiſchen und deutſchen Sprache. Zweite Auflage. Zwei
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and German Languages. — Bolfländiges Tajhen-Wörter-
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Blätter
literariide Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—A Ar. 43. on
20. October 1870.
Inhalt: Die romantiſche Schule in nener Beleuchtung. Bon Nudolf Gottſchal. — Ein neuer Band der „Anthropologie der
Raturvölter”. Bon Maximilian Berty. — Ein Beitrag zur opel des deutfchen Nordens und Südens. Bon Sranz Sirfh. —
Alfred de Muffet.
Bon #. von Bobenbanſen. — Kleinere philofop
Ihe Schriften. — Fenilleton. (Englifche Urtheile über nene
Erſcheinungen ber deutfchen Literatur; Eine Ueberfegung des „Spiel von den zehn Inngfrauen“.) — Sihlingraphie. — Anzeigen.
Die romantifche Schule in nener Beleuchtung.
Die romantifhe Schule. Ein Beitra
[hen Geiftes von R. Haym.
Gr. 8. 4 Thlr.
zur Geſchichte des deut⸗
erlin, Gaertner. 1870.
Ein Werk von faft 1000 Seiten über bie „roman⸗
tifche Schule” berechtigt gewiß zu der Borfrage, ob bie
Bebentung diefer Schule eine fo eingehende und gelehrte
Behandlung rechtfertigt, ober ob diefelbe nur einer jener
beliebigen Stoffe ift, welche bie deutſche Gelehrfamteit
fih ausſucht, um fie durch ihr Fortwälzen zu lapinen-
artigen Maſſen anfchwellen zu lafien.
Zunächft muß hervorgehoben werden, daß die Kluft,
- welche in Deutfchland zwifchen Titerarhiftorifcher und na⸗
tionaler Geltung befteht, gerade bei der romantifchen
Schule ſcharf in die Augen fällt. Keine andere Nation
bat etwas Achnliches aufzumeifen. In Frankreich und
England befchäftigt fich bie Literaturgefchichte mit Vorliebe
mit den von der Nation anerlannten Dichtern; in Deutſch⸗
Iand muß man ihr umgekehrt eine befondere Vorliebe für
die verfannten und vom Publikum nicht beachteten Poeten
nachfagen. Daß bies auf ein Trankhaftes Element in
unferer Literatur deutet, ift fraglos — danach aber zu
forfchen fällt den gewifiendafteften Forſchern nicht ein.
Sie nehmen die Thatfache als gleichgültig hin und fahren
fort, die Kluft durch ihre Gelehrfamleit zu erweitern.
Um die Dichter der „romantifchen Schule” hat es
immer fchief geftanden; denn fie hatten kein Publikum.
Welche Dichtung von Ludwig Tied hat auch nur eine nene
Auflage erlebt? Welde Buchhandlung würde e8 wagen,
von Tieck's gefanmelten Werken eine neue Ausgabe zu ver-
anftalten? Welche der neuen „Nationalbibliothelen‘‘, die der
deutfchen Nation geiftige Schäte fammeln, hat nur irgend»
eins ber Tieckſchen Dichtwerke aufgenommen ? Und Ludwig
Tieck ift doch der Meifter vom Stuhl der romantifchen
Poeſie! Die Journale der Schlegel, aus denen uns Kober-
ftein und Haym fo umfafjende Anszitge mittheilen, find
aus Abonnentenmangel immer bald felig entfchlafen und
1870. 43.
batten ftets ein ſehr Kleines exclufives Bublilum. Dem
großen Publilum werden fie nur befannt durch Berfpot-
tungen auf der Bühne und in gelefenen Schriften.
Ein Homer und Pindar, ein Aeſchylus und Sopho-
kles, ein Shalfpeare und Schiller waren große Dichter
und ſchon vollstbüimlich bei ihren Beitgenofien, andere
Dichter, wie Goethe, beſaßen eine Größe, die den hervor⸗
ragenden Geiftesperwandten ihres Zeitalters imponirte und
in ber Betrachtung der fpätern Gefchlechter von Zahr zu
Jahr wuchs; doch Ludwig Tieck und die Schlegel waren
weder volksthümlich noch große Dichter, und auch die fo
eingehende Kritik von Haym ift weit davon entfernt, ihrem
Piedeſtal auch nur einige Fuß Höhe zuzufegen, was ihre
dichterifche Bedeutung betrifft. Wir mitfien befennen, daß
wir ſchon in Koberſtein's Literaturgefchichte die Behand-
lung der romantiſchen Schule gerade wegen ihres forg-
fältigen Fleißes und des aufgehäuften Materials in er⸗
flaunlidem Misverhältniß zu dem Plan des Werks fan-
ben. Was uns bei den Claſſikern, das heißt bei großen
Dichtern, intereffirt, darf bei den Romantifern, das heißt
bei ſehr mittelmäßigen Dichtern, nicht entfernt das gleiche
Intereſſe beanfpruchen. Eine Sleichartigkeit der Behand-
fung bei fo ungleihen Berbdienften um die Nationallitera-
tur erfcheint uns nicht als recht und billig; geht fie aber
aus gleich Hoher Schägung hervor, fo müßten wir gegen
ſolche Afthetifche Begriffsverwirrung proteftiven. Bann
follen wir in einem Werke, welches bie beutfche National-
literatur behandelt, diefe zahlreichen Excerpte aus den
Briefen der Romantiker mit in den Kauf nehmen?
Etwas anderes ift es mit einer Monographie, die ein
jelbftändiges Recht in Anſpruch nimmt. Wer fi für
die „romantifche Schule” nicht intereffirt, mag fie un-
gelefen laſſen. Ueberdies Tündet R. Haym fein Wert
als einen „Beitrag zur Geſchichte des deutſchen Geiftes“
an. &8 Handelt fi in demfelben aljo um eine Dar-
legung der Gedankenfäden, welche in ber romantifchen
85
674 Die romantifhe Schule in neuer Beleugtung.
Schule einen neuen Knotenpunkt geiftiger Entwidelung bil«
beten. Es ift dies eine Darftellung, die im Grunde für
eine Gefchichte der Philofophie mehr paßt als filr eine
Kiteraturgefhichte; und in der That erinnert das Merk
von Haym ebenfo oft am bie erfte als an die zweite, ja
feine eigentlichen Vorzüge liegen nad; jener Geite hin.
Die Aufgabe der Literaturgefchichte findet Haym darin,
die Wandlungen des Ideenlebens einer Nation darzuftele
Ien; doch fie ift eine andere: fe fol die vorhandenen
Literaturbenkmäler allerdings aus ber Entwidelung der
Dichter erflären, aber dieſelben mit aligemeingtfigem
üfthetifchen Maße meſſen und das volle Lebensbild der
Dichter mit feiner, endgültiger Charafteriftif und vorfüh-
zen. ine Fiteraturgefchichte, welde den Hauptnaddrud
auf jene geiftigen Linien legt, in denen die Ideen
fortbewegen, wird der Bedeutung ber einzelnen Dichter
um fo weniger gerecht werben, als fie bie Bedeutung des
urfprünglichen Talents in feiner „Einzigkeit“ anerkennt.
Diefe Darftelungsmweife paßt nur für diejenigen Kapitel,
in denen die Literaturgefchichte die Entwidelung der Phi⸗
Tofophie und der Wiſſenſchaften vorträgt. Hayın felbft gibt
zu, daß nicht die Dichtung, fondern die Wiſſenſchaft durch
die romantifche Revolution eine nachhaltige Bereicherung
und Vertiefung erfahren habe, obgleich auch Hier Fort-
ſchritt und Rüchſchriit, erfrifchende Begeifterung und ver»
wirrende Trübung fi) dicht nebeneinander finden. Es ift
daher die wiſſenſchaftiiche Seite der Romantik, welche im
feinem Wert befonders Bervorgehoben wird.
Ohne Frage ließ ſich indeß daffelbe um einen neuen
Band von 1000 Seiten vermehren; denn Haym ftellt
eigentlich nur die grundlegenden Anfänge der Schule
dar, in welde er, bei den fließenden Grenzen derſelben,
nit nur Schelling und Schleiermacher, fondern auch
Hölderlin ganz mit Hereinnimmt. Wol aber ift bie ganze
weitere Entwidelung der Schule ausgeſchloſſen, die ſich
gerade nach poetifcher Seite Hin üppig entfaltet. Wir
erfahren nichts von Tiecks fpätern novelliſtiſchen Pro-
ductionen, nichts von Brentano's ungehenerlichen Dich-
tungen, von Arnim's phantafievoll finnigen Romanen und
baroden Puppenfomödien, von Fouquè's zierlichen Ritter-
poefien und manieristen nordiſchen Redendramen, nichts
von Heinrich von Kleiſt's fo vielgepriefener dramatifcher
Wirkfamfeit, nichts von Amadeus Hoffmann’s grellen
Nachtſtücken und groteöfen Zerrbildern. Ebenſo wenig
erfahren wir von der Auflöfung der Romantik, von ben
Faden, welde in die Heine ſche Dichtung, in die jung-
deutiche Emancipationsliteratur hineinreichen, von den Ein«
flüffen, welche die romantiſche Schule auf fpätere Dichter,
auf Immermann, Grabbe, Hebbel ausübte. Noch mehr
in ber Tendenz des Autors hätte e8 gelegen, den Nach-
weiß zu führen, wie die Gedanken der Romantiker alle
mahlich in der germaniftifchen Wiffenfchaft, in der ver-
gleihenden Sprad- und Riteraturfunde, in der nachfol-
genden Weberfegungstunft, in dem fortiuchernden Shak-
fpeare»Eultus, in der Pflege der romanijden Literatur
zu pofitiven Reſultaten führten, wie fie in der Rechts· und
Staatsphilofophie einer großen Partei zu politifcher Geltung
kamen, welde Rolle fie in Preußen fpielten unter dem
Testen Momantifer auf dem Thron Friedrich’s des Großen.
Durch ſolche erſchöpfende Darftellung wäre der „Beitrag
zur Geſchichte des deutſchen Geiſtes“ erſt ein vollitändi-
ger geworben, der Einfluß der romautiſchen Schule auf
die Gegenwart Marer Herborgetreten. Haben doch jelbft
ihre Sünden und Frevel eine Nachlommenſchaft aufzuwei -
fen, die noch unferer Zeit nicht zum Heil gereicht! Der
pasquillartige Ton der Fournaliftit, der ſchonungsioſe Wit
der Kritik, die Abhängigkeit von perfänlichen Einflüffen
in Lob und Zabel, alle journaliſtiſchen Kniffe, von der
Anwendung bes praltiihen Sprihwort® Manus manum
lavat bis zur Kunft des vornehmen Todtſchweigens, find
von den Schlegel in ihren Journalen bereits mit meijter-
hafter Birtuofität zur Anwendung gebracht worden. Ha-
ben biefelben doc; felbft Schiller todtgelchwiegen — mit
welchem Exfolg, ift weltbekannt und lehrreich fir die jour -
naliftifchen und Literarhiftorifchen Nachfolger der Schlegel,
welche auch namhafte Dichter durch Todtſchweigen aus
der Welt zu fehaffen glauben.
Wenn wir das alles erwägen, mas fir eine boll-
fländige Darftellung der romantif—hen Schule unerlaßlich
wäre und was in dem Werke von Haym fehlt, jo er-
ſcheint das letztere nur als eine volumindfe Skizze. Es
iſt zwar das Recht des Verfaſſers, ſich ſein Thema mit
jeder” möglichen Beſchränkung zu ſtellen; aber der Titel des
Werts ſcheint doch derartige Beſchränkungen auszufcließen.
Die Darftellungsweife Haym's ift aus feinen Werken
über Hegel, Wilhelm von Humboldt und Schopenhauer
bekannt; fie ift feinſpurig, geifteih, Mar und im ganzen
geſchmadvoll, wenn wir don einigen tberfliiffigen und
etwas abenteuerlichen Fremdwörtern abiehen, denen wir
gern das Bürgerrecht im deutſchen Werfen verweigern
möchten. Eine zufammenfaffende Charatteriſtil der ein
zelnen Dichter und Denker fällt außerhalb ber Methode
der Haym’fchen Darſtellung, welche Stein auf Stein zur
fammenträgt und uns mitthätig an dieſem Aufbau helfen
läßt. Er macht nur den Strich unter die einzelnen Poften
und läßt uns felbft die Summe ziehen. Vollftändig tritt
eigentlich nur das Bild von Novalis, Hölderlin und den
beiden Schlegel vor uns Hin; annähernd ift die Bedeu-
tung Schleiermacher's erfhöpft; von Tieck und Scelling
wird nur bie erfte Zeit ihres Wirkens charalteriſirt. Was
die erfte, im Bezug anf grundlegenbe Theorien wichtigſte
Epoche der Romantit betrifft, ift das Wert vom Hayın
jedenfalls das gründlichſte und fleißigfte von allen bisher
erfchienenen.
Seine Vorgänger läßt Haym in ter Einleitung die
Revue paffiren. Das ſtizzenhafte Gemälde, welches Ger-
vinus von der romantiſchen Schule im furzen Schluß.
abſchuitt feiner „Geſchichte der deutfchen Dichtung“ ent-
worfen Hat, wird gerühmt wegen der weitgreifenden Um-
fiht, mit welder die Grundlagen und Zufammenhänge,
die Wirfungen und Charakterzüge diefer Bewegung an«
gedeutet werden. Hettner's Schriftchen über die roman-
tifche Schule erhält Lob wegen der geiſtreichen Durchfüh -
rung eines einzelnen Geſichtspunktes, des innern Zufame«
menhangs der romantiſchen Schule mit Goethe und Schil ⸗
ler. Yulian Schmibt’8 „fett und Hart zugreifendes Ür -
theil“, fein eindringender Scharffinn, bie gefunden Grund«
anſchauungen feiner Kritik follen die Biftoriiche Betrach-
tung der Romantik weſentlich gefördert haben. Uns fällt
auf, daß Haym von Julian Schmidt nur die „Geſchichte
Die romantifhe Schule in neuer Beleuchtung.
der deutfchen Literatur‘ erwähnt und nicht das Haupt«
wert diejes Autors in Bezug auf die Romantif: „Ges
fhihte der Romantik im Zeitalter der Reformation
und Revolution.” Koberftein’s eiferner Fleiß und un⸗
vergleichliche Gewiflenhaftigfeit erhalten Haym's dankende
Anerkennung; fein eigener Verſuch wäre ohne Koberſtein's
Borgang nie unternommen worden. Wir hätten an bie-
fer Stelle auch das Ruge⸗Echtermeyer'ſche Manifeſt gegen
die Romantik in den „Halliſchen Jahrbüchern“ gern er⸗
wähnt gefehen, welches doch in Fritifcher Hinficht das be-
deutendfte Actenftüd unferer Riteraturgefchichte gegenüber
der Romantik ift und an welches namentlich die Julian
Schmidt'ſche Kritik der Romantik fortwährend erimnert.
Auch Heine's Schriftchen über die romantifche Schule
durfte nicht übergangen werben. Geine Flüchtigkeit in
der Darftellung der literarhiftorifchen Entwidelung, der
philofophifchen Grundgedanken u. |. w. ift zwar haarfträn-
bend; doch defto treffenden ift fein Urtheil über bie ein-
zelnen Dichter ber Schule.
Den Standpunkt feines eigenen Werks beftimmt Hayın
mit den folgenden Worten:
Eins am meiften wird die folgende Darftellung von denen
der Vorgänger unterjcheiden. Aud diefe zwar — mit Aus
nahme etwa von Hettner, ber wenigflend den Urfprung der
Schule ausſchließlich im Poetifhen fucht — find_auf den Zu-
ſammenhang der poetiſchen mit den wifſenſchaftlichen und praf-
tifchen Beftrebungen berjelbeu eingegangen. Daß es den kecken
Nenerern nicht einzig um die Poefie, fondern um eine ganz
neue Bildung zu thun war, als deren Mittelpuntt nur ihnen
die Poefie galt, if von ihmen felbft fo beflimmt ausgeſprochen
worden, ihr idealiſtiſcher Unverſalismus und Eucyflopäbismus
liegt fo offen zu Tage, daß auch eine befchränktere Faſſung der
Literaturgeichichte fortwährend gezwungen war, von der Ge-
ſchichte der Dichtung auf die dieſelbe mannichfach krenzenden
Wege des pbilofophifhen Denkens, des religiöfen und fittlichen
Lebens abzubiegen. Jener culturgeſchichtliche Standpunkt, wel-
hen mit Recht die Darftellung von Julian Schmidt für bie
Literatur Überhaupt anftrebt, wird bier geradezu zur Noth-
wendigfeit, und es gilt nur, auf der einen Seite vollen Ernſt
damit zu machen, auf ber andern nicht zu vergeffen, daß den-
noch de Literatur eines Bolls oder einer einzelnen Periode
nit die Cultur digfes Volks oder biefer Periode ſelbſt, fon-
dern nur die Spiegelung derjelben in profaiichen und poetijchen
Serborbringungen fein ann. Immer baben feit dem Beginn
unferer großen Literaturepodhe in Deutihland Dichtung nnd
Philofophie zufammengearbeitet und lebhaft ineinandergegriffen.
Niemals jedoch Haben fie fi dergeftalt durchdrungen mie im
den Befrebungen der Grünber der romantiihen Schule. Je
flacher die Wurzeln find, welche die Dichtung diefer Zeit im
Boden des Lebens, bie Philofophie im Boden des Realen Hatte,
um fo mehr verjchlingen bieje beiden ihre Wurzeln ineinander
und fuchen eine ans der andern Nahrung zu ziehen. In dieſer
änßerften Geiftigfeit, in dem Sneinanderfließen des Phantafle-
und Gedantenlebens befteht geradezu, wenn es doch einmal
unter eine Kormel gebracht werben joll, das We en ber Ros
mantil, ımd Hierin wieder lag die Möglichkeit, daß die feinften
Ausftrömmngen des Seelenlebens, die Regungen ber Frömmig⸗
teit ſich friedlich damit verbinden Tonnten. Wie fih in ber
Romantit Dichtung, PHilofophie und Religion bie Hände zum
Bunde reihen, jo muß fih and in der Darftellung dieſes
revolutionären Idealismus die Gefchichte der Dichtung mit ber
Geſchichte der Philofophie und der Religion begegnen. Die
Geſchichte der Romantik kann ſchlechterdings nit gründlich ge-
schrieben werden, wenn nicht neben ber Bewegimg, bie Bier von
der Goethe'ſchen zur Tieckſchen Ditung vor fi ging, ebenfo
die Bewegung verfolgt wird, die vom der Fichte ſchen zur Schelling'⸗
ſchen Philofophie, von dem Pietismus ber Brüdergemeinden zu
der Religionsverfündigung Schleiermacher's hinüberführte.
675
In derartiger Gefchichtfchreibung findet Haym die
zufammengejegtefte und zartefte Aufgabe Die fchrift-
ftellerifchen Werke find ihm nur „Kreuzungs- und Knoten⸗
punkte gleihfam der durcheinanderfchiegenden Fäden“; in
ihnen jegt fich nur fcheinbar „die zwiefache Bewegung bes
allgemeinen und individuellen Geiftes zu einem feſten Nies
derſchlag ab; es ift die eigentliche Aufgabe der Geſchicht⸗
fhreibung, dieſe Werfe nach vorwärts und rückwärts
flüffig zu machen“. Diefe Anwendung der Dialektik auf
die Literaturgefchichte erfcheint uns als höchft einfeitig und
nur anwendbar auf fecundäre Talente, bei denen äußere
Einflüffe, die Bedingungen der Epoche, die Einwirkungen
der Mitftrebenden vorzugsweife entfcheidend find. Bei
dem großen Genius fpielen fie nur eine untergeordnete
Rolle. Seine Meifterwerke brauchen nicht flüſſig gemacht
zu werden; ihr innerfter Kern widerfteht jeder chemifchen
Zerfegung. Derartige Literaturgeſchichtſchreibung würde
bier nur am Beiwerk berumtappen. Bei den Romantikern
j es etwas anderes. Bon ihnen kann Haym mit Necht
agen:
Die Reflexion anf ihr eigenes Thun, die Bewußtheit und
Abfichtlichkeit ihres Probucirens iſt ein außzeichnender Zug und
eine der Schwächen diefer Männer. Gerade jene Ueberflille
geiftiger Strebungen, hinter denen die Lebensſchickſale der Nation
ganz in die Ferne rücken, biefe franfhafte Erregung gerade bes
eiftigen Organismus gewährt die beiehrendften Auffchlüffe fiber
einen Bau. Die Nerven des dentſchen Geiftes liegen hier gleich“
fam entblößter vor den Bliden des Beobaditers, und wenn
jenes Ineinandergreifen von Dichtung, Philofophie und Reli⸗
gion das Gefichtsfeld ins Weite dehnt, fo leiften die verſchie⸗
denen Ricätungen dem, der nad) den Xriebfebern ber literari-
fhen Bewegung fplirt, zugleich den Dienft, fich wechfelfeitig zu
beleuchten, ja durdhfichtig zu machen.
Die Geſchichte der romamtifchen Schule, einer Lite⸗
raturrevolution, die ebenjo wol als ſolche gemeint war
wie fie als folche gewirkt Hat, hat Haym in drei Bücher
getheilt. Das erfte Buch fchildert uns „Das Entftehen
einer romantischen Poeſie“; das zweite Buch: „Das Ent-
ftehen einer romantifchen Kritil und Theorie”; das britte
bei weitem ausführlichfte: „Die Blütezeit der Romantik.“
Der Held bes erften Buchs ift Ludwig Tied mit fei-
nen Freunden Wadenroder und Bernhardi. „Die An«
fünge Tied’8”, „Die Märchen⸗ und Komödiendichtung“,
fein Verhältniß zu Wadenrober und „Sternbald’8 Wande-
rungen“ werden uns in drei Kapiteln vorgeführt; über
„Senoveva“ finden wir freilich erft das Nähere im drit⸗
ten Kapitel des dritten Buchs, über „Octavian“ im Schluß-
fapitel des ganzen Werks. Ludwig Tied begann mit einer
handwerlsmäßigen Yabrilation für Leihbibliotheken; er war
überhaupt der am meiften „unclaffiiche Kopf“ der ganzen
Schule. Sol der Zuſammenhang bderfelben mit den
Claſſikern nachgewiefen werben, fo ift Tied’s Entwidelung
für folhen Nachweis am wenigften ergiebig. Gervantes und
Shalfpeare waren frübzeitig feine Meiſte. Sein Roman
„Sternbald’8 Wanderungen‘ weift allerdings auf „Wilhelm
Meifter‘ Hin. Außerdem bat er einmal Goethe feine
„Genoveva“ vorgelefen, und diefer hatte für dies kindliche
Weihnachtsgeſchenk der Poefte ein herablaffendes Lob:
Goethe war bamals ganz Freundlichkeit und Entgegenlom-
men gegen die junge Schule. Auch fein Urtheil Über die „Ge⸗
noveva‘ war höchft ſchmeichelhaft für den Berfaffer. Zu feinem
neunjährigen Sohne aber, welcher ber Borlefung beigewohnt
85 *
p-
»
676 Die romantifhe Schule in neuer Beleuchtung.
hatte, wandte er fi mit den Worten: „Nun, was meinft bu
denn zu allen den Karben, Blumen, Spiegeln und Zauber-
fünften, von denen unfer Freund uns vorgelefen hat? If das
nicht recht wunderbar?” Die Worte waren fidherlich nicht ge»
ſprochen, um einen Zabel auszudrücken, aber fie enthielten ein
fehr zweifelhaftes Lob und fte geben höchſt charakteriftiiich den
Eindruck wieder, den noch heute jeder unbefangene, zu Wohl-
wollen und Anerkennung geflimmte Lejer der „Genoveba“ das
vontragen wird.
Schärfer urtheilte Schiller nad) der Lektüre der „Ge⸗
nopvepa‘,
daß der Verfafſer eine grazidfe, phantaftereiche und zarte Natur
fei, daß es ihm aber an Kraft und Xiefe fehle und gewiß
immer daran fehlen werde; er fand dieſes wie bie frühern
Werke Tiel’s voll Ungleichheiten und voll Geſchwätzes; er be-
klagte, daß ein fo großes Talent fo wenig für die Zukunft ver-
fpreche, denn wohl könne die rohe Kraft und das Gewaltiame
fih läutern, aber niemals gehe der Weg zum Bortrefflichen
durch die Leerheit und das Hohle.
Tied fah fpäter in Schiller nur einen „fpanifchen
Seneca“.
Dem Urtheil, welches Haym über die erſten Pro-
ductionen Tieck's fält, kann man nur beiftimmen. Spu-
ren der Warbenkfledjerei, welche Tieck für feine literarifchen
Tabrifarbeiten brauchte, finden fih auch in diefen Ro⸗
manen. Der eigenthümlich düftere Zug derfelben wird
von Haym in geiftreicher Weife betont und erklärt:
Schon den Knaben hatten die erften Anwandlungen des
Trübfinns gequält, damals zuerft, wenn er fah, daß fein phan-
taftifches Bedürfnig nad Freundſchaft fih in der Wirklichkeit
nicht ſtillen wolle, wenn fein überfhwengliches Werben um
Theilnahme und Liebe troden, kalt, ſchnöde zurückgewieſen
wurde. Dieje kindiſchen Schmerzen waren vergangen. “Die
jugendliche Natur Hatte fih unter dem Einfluß reicher An-
regungen und Zerſtreuungen wieder geholfen. Aber eben die
Fülle diefer Anregungen, ber Geiſtesluxus, dem er fich ergab,
hatte im flillen neuen Krankheitsſtoff gehäuft. Die äfthetilche,
der Schuldisciplin zum Trotz getriebene Schwelgerei, verbun⸗
den mit dem öden Rationalismus, der ihn umgab, hatte feinem
erregten Geiſte den Halt geraubt. Leidenfchaftlicher, endlofer,
aufreibender nee war alles, wa® dem auf eigene Hand
Grübelnden übrigblieb. Dazu trübe Erlebniffe, wie der raſch
aufeinanderfolgende Berluft zweier Freunde. Die alte Krankheit
Hypochondrie, fie, die es an der Art Hat, daß fie, oft lange
zuräüdgedrängr, von Lebeneluf, ja von ausgelaffener Laune
überwältigt, plöglid) wieder ausbricht, der alte Zrübfinu flellte
fi von neuem und in verflärktem Maße ein. Derfelbe nährte
fih jetzt, bei dem gereiftern Süngling, an immer ausgebilde-
tern, immer üppiger wuchernden Zweifeln. Zumeilen wol
wirft die Natur, die Hoffnung einer jugendlichen Liebe, am
öfteften bie Poefie beſchwichtigend und heilend auf die verſtimm⸗
ten Lebensgeifter. Allein der Phantafiebegabte ift beffer und ift
Schlimmer daran als andere. Nicht blos Iöfend und errettend,
ebenfo oft bindend und quäfend erjchienen ihm die einbildfamen
Geifter. Set führten fie ihn gaufelnd von feiner Schwermuth
hinweg, jetzt wieder verwandelten file gerade feine Zweifel und
Aengfte in Bilder, die nun doppelt peinigend und erdrüdend
auf feiner Seele laſteten. Tieck bat oft, noch in fpäterer Zeit,
diefe Seelenzuftände, diefe „Schatten, die fich über fein Gemüth
ausbreiteten‘‘, felbft gejhildert. Er deutet an, wie in ben Zei⸗
ten folder Berfiimmung das Grauen de Todes, die Angft
vor der Bernichtung ihn erfaßt babe, Die Grundfragen alles
Daſeins warf er, deffen Denken ungeſchult, aber angeftedt von
dem umlaufenden Gifte materiafifiiicher Philofophie war, vor
fi) auf. Er fand keine Antwort auf das Wie und Warum
der Eriftenz. Vergeblich, im tödliche Angft, fuchte er Gott.
Sein Suchen endete in völliger Zroftlofigleit. Liebe, Schön-
heit, Ordnung, alles Ideale erichien ihm dann als etwas Trü-
geriſches, das fi gleißend vor die eigentliche Wirklichkeit hin⸗
ftelle, und diefe fogenannte Wirklichkeit hinwieberum gähnte ihn
als das Nichts, als ein ungeheuerer leerer Abgrund an. Und
wenn fi dann fein Kopf in folchen Grübeleien zermarterte,
fo fühlte er zugleich den Drud des erhigten Blute. Die aus
gangslofen Gedanken brachten Schwindel und Ohnmachten zu
Wege. Die Arbeit feines Gehirns‘, die Wallungen feines Bluts
verwandelten fi ju Geſtalten und Geipenfter, die er auf fi
zuſchreiten ſah. Zuftände der verzmweifeltfien Anfregung wech⸗
felten mit Zuftänden bemußtlofer Berfuntenheit. Zumeilen fühlte
er fi) dem Wahnfinn nahe, zumeilen fam ihm der Gebanfe
des Selbfimorbes. Bis in fein fpäteres Mannesalter ift Tied
von folhen Berbüfterungen periodenmweife heimgeſucht worden.
Die Krankheit ift feine VBegleiterin durchs Leben geblieben, mur
daß fie im Alter mildere Formen annahm.
Das waren bie Orundzüge feines „Abdallah“, des
Trauerfpield „Karl von Berne“ und namentlich der
„Geſchichte des William Lovell“, die er felbft als „das
Manfoleum vieler gehegten und geliebten Leiden und Irr-
thümer“ bezeichnet. In ber frühen Beichäftigung mit
Shakſpeare und Ben Jonſon ſchon in ber Yugenb lag
eine künftige Lebensaufgabe angedeutet.
Pilant ift das Verhältniß des Romantikers zu dem
Hauptvertreter des Aufflärihts, F. Nicolai, ber anfangs
al8 befreundeter Brotgeber erfcheint, fpäter aber als der
Hauptzielpunft der Tieck'ſchen Satire, wie fie fid) nament-
lich in der Märchen- und Komddiendihtung Tieck's aus-
ſprach. Was diefe betrifft, fo findet Haym in ihnen
mol eine Bewährung von Tieck's „improviſatoriſchem Ta-
Ient”, findet aber für und „den Spaß ſchal und ab-
geftanden”. Treffend ift die Bergleichung zwifchen Tied
und Ariſtophanes:
Das größte Unrecht jedenfalls begehen diejenigen au dem
berliner Luftfpieldichter, die ihu ummittelbar mit dem großen
Athener, dem „ungezogenen Liebling der Grazien“, zufammen-
fielen. Nein, fo leicht ift die Gunſt der Grazien nicht zu er»
obern. Wahrlich nicht „in einigen heitern Stunden‘ bat Ari-
ftophanes feine „ Wollen”, „Sröfche”, „Bögel“ aus dem Aermel
gefchäittelt, und nicht fo mühelos ift ihm bie vollendete Kunftform,
die Anmuth feiner Jamben, die Muſik feiner Ehorgejänge aus
dem Griffel gefloffen. Fremd — mas Tied auch felber darüber
fage — ift dem Ariftophanes jene Selbftironie, mit weldjer der
Dichter des „Geſtiefelten Katers” jeden Augenblick ſich ſelbſt
unterbricht und, in den Spiegel feiner eigenen Laune lachend,
jein Wert nur zu bilden fcheint, um das gebildete wieder zu
zerftören. Ariftopbanes befittt dagegen, was unjerm Roman
titer fehlt.‘ Er ift der Allverfpotter, weil das eruftefte, inhalt⸗
vollfte Pathos feinem Muthwillen das Gegengewicht hält. Die-
fer Grundbaß der kombdiſchen Melodie, der fo ergreifend ins
befondere aus feinen Parabajen beraufllingt: wo wäre ber bei
dem berliner Ariftopbanes? Auch biefem fliegen die Pfeile des
Spottes leicht vom Bogen, aber die Federkraft diefes Bogens
tft nicht der Ernft einer großen Gefinnung, nicht die Leiden-
haft des Hafjes und der Liebe, die er vielmehr als „Geiſt der
Partei“ von fi, ablehnt. Zahm und oberflächlich wie fein
Spott ift, fo fehlt au viel, daß ex ein Allverjpotter wäre,
Die Komödie ift univerjell, und fie wird national nur, wenn
fie in der Komddirung der Stantszuflände und des öffentlichen
Lebens gipfelt. Dahin zielt alles beim Ariftophanes, jene
Angriffe auf die Staatsmänner fo gut wie die auf die fophi-
ſtiſche Erziehung und die ſophiſtiſche Dichtung. Was will es
dagegen jagen, wenn im „Geſtiefelten Kater’ der Bopanz ‚„‚Geiet“‘
fi) in eine Maus verwandelt, die Hinze verzehrt, um Freiheit
und Gleichheit und die Herrichaft des Tiers- Etat zu proclami-
ren? Literatur und wieder Literaturl Biel mehr aber: nm „Iff⸗
land und Kotebue”, um die „Zauberflöte und den „Spiegel
von Arkadien““ — um literariiche Nichtigkeiten und Modeartitel
brebt ſich alles.
Die romantiſche Schule in neuer Beleuchtung.
In der That find alle diefe Stücke fir uns unge
nießbar, ja einzelne, wie bie „Verkehrte Welt“, waren von
Haus aus nur als albern zu bezeichnen.
Die Beziehungen zwifchen Tieck und Wackenroder wie
das Porträt des Kloflerbruders werden von Haym mit
vieler Liebe gezeichnet. „Sternbald’8 Wanberungen‘‘ wer-
den der erſten Abficht nach als eine Ausführung der
Ideen bes Kloſterbruders bezeichnet; der Roman wurde
unwillkürlich nach Inhalt und Form ber erfte bebeu-
tendfte Nachklang, den in unferer Literatur der Goethe’fche
„Wilhelm Meiſter“ fand. Den frühern Schöpfungen, na-
mentlich dem, Lovell“, Tiegt der „Sternbald” gegenüber durch
fein pofitives Pathos, die Verehrung ber Kunft, die fromme
Hingebung eines anbächtigen Gemüths. „Im «Sternbald»
zuerft conftitwirte fi der romantifche Geift nach feinen
beiden am meiften charakteriftiichen Clementen , bem
Elemente der frommen Kunftandadht und dem Klemente
her hyperidealiſtiſchen Poetifirung der Welt und bes
ebens.‘‘
Bon Ziel führt uns Haym im zweiten Buche zu
den Schlegel. In Bezug auf diefe Hat unfer Autor bie
genaueften Stubien gemacht, auch noch, wenn ſchon nicht
in ber erften Hälfte des Werks, den handfchriftlichen
Schatz benugen können, der fi aus dem Nachlaß U. W.
Schlegel’8 in den Händen Eduard Böcking's in Bern be-
findet. Namentlich für den Anhang, für einen Anbau
von Ergänzungen und Berichtigungen konnte er diefen
Schat benuten. Ueber die Schlegel haben wir bisher
noch nie fo genaue Auskunft erhalten. Das ganze zweite
Bud) ift ihnen gewidmet, aber auch das eingehende fünfte
Kapitel des dritten Buchs, in welchem A. W. Schlegel’s
berliner „Borlefungen‘ ausführlich und zum erften male
analyfirt werden. Die Schlegel waren die Doctrinärg
und Programmfchreiber der romantifchen Schule. U. W.
Schlegel erfcheint auch bier im ganzen maßvoller und
liebenswürdiger als ber Erfinder „der göttlichen Frechheit‘,
Friedrich Schlegel, defien Anmaßung mit poetifcher
Ohnmacht gepaart war, der aber allerdings an Wit
und genialen Einfällen, an revolutionärem Trieb und
Drang dem Bruder überlegen war. Cine Über von
Sriebrih Schlegel finden wir in Heinrich Heine wieder,
eine andere in den berliner Yungbegelianern, Edgar Bauer
u. a., welche die freche Doctrin auf ihr Banner gefchrie-
ben hatten. Die Anfänge der beiden Schlegel hängen
aufs engfte mit unferer claffifchen Literaturepoche zu⸗
ſammen. 4. W. Schlegel's Recenflonen in ber „Literature
zeitung” zeigten indeß bereits einen vielfach abweichenden
Standpunft:
Die Bertrautheit mit der poetifchen Literatur der modernen
Böller brachte nicht blos eine ſchätzbare Erweiterung des Geſichts⸗
freifes unjers Kritilers Über den Hellenismus Goethe’ und
Schillers mit fi, fondern fie drohte, im Zufammenhang mit
der Ueberfchägung des Yormellen und der formalen Phantafie-
thätigfeit, feine äfthetifhen Principien allzu meit und weich zu
machen. Doc das nicht allein waren bie Urfachen einer Ber-
ihiebung feines Standpunktes, Perfönliche Verbältniffe und
Eindrüde wirkten wefentlih mit. Am meiften und unmittel-
barften das Berhältnig zu feinem Bruder Friedrich. Schon
im Auguft 1796 war diefer von Dresden gleichfalls nach Jena
iibergefiedelt. Der neue Ankömmling wurde zum Störenfrieb.
Durd feine ungefhidte und rückſichtsloſe Weiſe geſchah «6,
daß zwilchen den beiden Schlegel und Schiller eine Spannung
677
eintrat, die nicht wenig dazu beitrug, die Stellung auch des
älteru der beiden Brlider zu dem Goethes Sciller’fchen Claſſicis⸗
mus zu verändern umd die fih bald in der ganzen literarifchen
Haltung deffelben abfpiegeln jollte.
Gerade das Berhältnig der Schlegel zu Schiller,
welchem ein ganzes Kapitel des Anhangs gewidmet ift,
zeigt die Hohlheit eines aus perfünlichen Rüdfichten ver-
götternden -und abfallenden Journalismus, In jener
erften Epoche iſt Friedrih Schlegel ein entfchiedener
Bewunderer des Schiller'ſchen Geiſtes. Später findet er,
daß Schiller bei allem geiftigen Gehalt doch abgeriffen und
unnatürlich fei, doch ehrt er noch in ihm den großen
Dann. Der ältere Bruder, der fir die philoſophiſch⸗
fritifchen Arbeiten Schiller’8 gar feinen Sinn hatte, zog
fogar ſchon Bürger’s Naturalismus vor. Allmählich wird
aber auch für Friedrich Schlegel der Dichter Schiller
dur” Goethe verdunkelt. Der Bruch war durch bie
Recenjententhätigleit der Brüber gegeben. Der ültere re⸗
cenfirte die „„Doren‘, der jüngere den „Muſenalmanach“.
Der letztere vermißte in der Recenſion des Bruders die
„sententius vibrantes fulminis aestas‘, er meint, eine
Recenſion müffe, um e8 lucrezifch zu fagen, tota novum sal
fein. Gleichwol wünſchte Friedrich Schlegel noch bei
Schiller in Gnaden zu bleiben, um die Mitarbeiterſchaft
an den „Horen“ nicht zu verlieren. Schiller nahm indeß
einen Aufſatz über „Cäſar und Alerander” für die „Horen“
nit an. Dadurch wuchs die Verftimmung gegen Schiller,
den er früher mit Pindar verglichen, dem er „Stärke
der Empfindung, Hoheit der Gefinnung, Pracht der Phantafle,
Würde der Spracde, Gewalt des Rhythmus“ nachgerühmt
hatte. In den „XZenien” geifelte Schiller das „geniale
Gefchleht der Sonntagskinder“, die „gefährliche Nach.
folge” u. ſ. f. Damit war der Bruch ausgefprocen.
Ueber den Prolog zu Schillers „Wallenftein‘, der im
„Mujſenalmanach fir 1799” erſchien, fagt Friedrich
Schlegel:
Ras Schiller betrifft, fo bewundere ih nächſt der beiden
miütbigen Selbfientäußerung in bem Goethe'ſchen Prolog, ber
mir wie eine ausgehöhlte Fruchthülſe vorkommt, nichts fo fehr
wie die Geduld. Denn einen ſolchen laugen Draden in Pa-
pier, in Worte und Reime auszufchniten, dazu gehört doch eine
impertinente Geduld. Uebrigens erinnert mich fein Glück an
fein Unglüd, daß ihm die äfthetifchen Briefe nicht rein heraus⸗
famen und geftört wurden. Die fteden ihm nun im Geblüte
und die ganze Würdeanmuth ift auf die innern Theile gefallen.
Auch vergeht felten eine fange Zeit, daß er fich nicht einiger
Gedichte, die äſthetiſcher als dichterifch find, Luft macht. Weun
das eine Eilftel feines „Wallenftein‘‘ fo Göthesk iſt wie der
Prolog, fo bin ich auf alle eilf Eilftel nicht fehr begierig. Ich
kann mir denken, daß eine ſo angeſtrengte Nachahmung bei dem
Spiel und Anblick und erſten Eindruck täuſcht: aber beim Leſen
muß dann die Tauſchung wegfallen. Ich hatte gehofft, er würde
etwa im Dreißigjä eigen Brlege eine Mittelgattung zwifchen feiner
alten und neuen Tollheit entdeden.
Später ftellt er ihn neben Jacobi und betrachtet ihn
ale den Don Duirote von Goethe, wie diefen als den
don Fichte; er wundert fich über „die Nachficht der Großen
gegen diefe beiden‘ und hält „dieſe beiden halbirten Don
Duirotes Jacobi und Schiller fiir die vornehmften Re⸗
präfentanten bes böfen Princips in der beutfchen Literatur”.
Es gehörte in der That eine göttliche Frechheit dazu,
gegen bie eigenen frühern Urtheile folde Impietät zu be
weifen: der große Mann von 1793 verwandelt fich ſchon
— — — ——
ne
678 Die romantifhe Schule in neuer Beleuchtung.
1799 in einen Don Quirxote. Friedrich Schlegel
vertritt das böfe Princip des deutſchen Journalismus,
das eine große Nachkommenſchaft aufzumeifen hat: bie
Schlechte Wandelbarkeit der Anfichten aus perſönlichen
Motiven.
Die Begriffsbeftimmungen der romantischen Poeſie, die
man anfangs einfach für Romanpoeſie fegte und in denen
Friedrich Schlegel befonders unermübli Mar, mag man
in Hayın’d Werke felbft nachlefen. Im November 1797
fchrieb Friedrih an Wilhelm: „Meine Erffärung des Wor⸗
tes romantiſch Tann ich dir nicht gut ſchicken, weil fie —
125 Bogen lang if.” In ber That blieb der Begriff
ein ſchwankender, auch nachdem er längſt ein literarhiftorifches
Stichwort geworden war.
Die Darftellung der Blütenzeit der Romantik beginnt
mit einer Charakteriſtik Hölderlin's, der als ein Seitentrieb
ber „romantifchen Poeſie“ gefchildert wird; man Fünnte
ihn mit gleichem Recht für einen Seitentrieb der claffifchen
Schule erflären; denn das Fieber der Gräcomanie war
body nur eine Lebertreibung biefer Richiung. Bor allen
Dingen aber ift Hölderlin als Lyriker durdy den Adel
der Runftform, den vollen Guß und fchlanfen Bau feiner
Gedichte geradezu als ein Jünger Schiller's zu bezeichnen
und den Romantifern bei weitem überlegen. Webrigens
hätten wir in dem Sapitel eine häufigere Rüdfichtnahme
auf Alerander Jung's treffliches Werk über Hölderlin
gewünfcht, das nur einmal in einer Note erwähnt wird.
Mit befonderer Vorliebe ift Novalis behandelt, in der
That der poetifch begabtefte Romantiker; das Triebwerk feines
Geiſtes charakterifirt Haym in folgender Weife:
Sein unverborbenes I fein reizbarer Sinn wirb von
irgendeinem Eindrud, einer Erjcheinung in Beſchlag genommen,
Sofort ftreift fein Enthuflasmus dem Gegenftanbe alles Uwoll⸗
fommene ab; fein Tiebendes Auge flieht nur die Bolllommenbei-
ten; die Liebe beflicht feinen VBerfland nnd erwärmt feine Ein⸗
bildungstraft; er kann nicht anders als unbebingt idealifirem,
um unbedingt glauben, lieben und verehren zu können. In
dieſem kindlich⸗ unſchuldigen Berehrungsbedlirfniß ruft er uns
wieder Wadenroder in Erinnerung. Den Zug in die Höhen
bes Ideals theift er mit Hölderlin, aber der Glanz feiner eigenen
Gefichte Schlägt ihn nicht, wie diefen, nieder, fonbern hebt ihn
wie auf leichten Wollen empor. Auch bei einem ganz andern
Manne endlich, bei Friedrich Sälegel, haben wir dieſe Sucht,
das Bedingte willfürlih und im Augenblide zum Unbebingten
u fleigern, angetroffen. Wirklich begegnen fid an biejem
untte die beiden Freunde fortwährend; fie find nur darin
gänzlich verjchteden, daß jener zur Verfeſtigung feiner Unbe-
dingtheiten Fein anderes Mittel ale den pointirenden Berfland
bat, während biefer bie Erzeugniffe feiner Schwärmerei im
Herzen trägt und fie glänzend mit den Fäden feiner Phantafte
umſpinnt.
Die Fichte'ſche Grundlage des Gedankenſyſtems von
Novalis wird einleuchtend dargelegt, ſein „Heinrich von
Ofterdingen“ eingehend analyſirt und namentlich die Be⸗
ziehungen des Helden auf Novalis' eigene Lebensſchickſale
überzeugend hervorgehoben. Novalis war in Bezug auf
urfprüngliche Infpiration ohne Frage der begabtefte unter
den poetifchen Denkern der romantischen Schule.
Zwei intereffante Abfchnitte behandeln Schleiermacher
und Schelling und ihre Beziehungen zur Romantik.
Was den erftern betrifft, fo tritt das Bild dieſes eigen-
artigen Dannes, in welchen ebenfalls eine fo ftarfe re-
volutionäre Ader und die Meigung zu „allerlei Teufeleien“
fo lebendig mar, hier in fehärfern Umriſſen vor uns bin,
als fie jonft in feinen Idealporträts beliebt werden, und
zwar nicht durch Urtheile des Berfaflers, ſondern durch
die Oruppirung der Meinungen und die Analyje ber
Werke de8 Theologen felbft.
Die Rolle, welche die Frauen in ber romantifchen
Schule fpielm, ift feine unbedeutende; die „Wreigeifterei
der Leidenfchaft” war im Schwang. Der Dichter ımb
der Ereget ber „Lucinde” beweifen zur Genüge, daß
fie jeder Prüderie fremb waren. Henriette Herz war
Schleiermacher's und Friedrich Schlegel's Mufe. Doro-
then Veit, mit welcher ber lettere fpäter lange in freien
Berhältniffen lebte, und Karoline Böhmer, erſt Auguft
Wilhelm Schlegel’s, fpäter Schelling’8 Gattin, Iebtere
namentlich nicht ohme Literarifche Begabung, vertreten das
„ewig Weibliche”, wozu indeß minder begeifterte Sterbliche
auch den Klatſch und die Intrigue rechnen, in einer
im ganzen unerquidlichen Weiſe. Der rothe Faden bie
fer weiblichen Einflüffe läßt ſich durch die Kapitel ber
Haym'ſchen Schrift hindurch verfolgen.
Neben Schleiermadher wird eine originelle, wenig be»
kannte Perfönlichkeit der Schule, U. 2. Hülfen, charaf-
terifirt, fowie neben Schelling, befjen naturphilofopgifche
Schriften fowie das Identitätsſyſtem eingehend beſprochen
werden, I. W. Ritter und Hemif Steffens. Die Soli-
barität der Naturphilofophie mit der neuen Poefie und
Kritik trat befonbers hervor, als Schelling die Poeſie für
das Höchfte und Letzte erklärte. Durch das Ydentitäts«
fuftem langte Schelling auf der Höhe der romantifchen
Tendenzen an. Haym fagt hierüber:
Es verbindet nicht nur den Fichte'ſchen Idealionus mit
der Goethe'ſchen Poeſte, fonbern es wird zugleich dem im der
letztern enthaltenen Moment der Naturanjhaunng gerecht. Bon
allen Elementen der Romantik fehlt nur das miyſtiſche, wie es
borzugsweife durch Schleiermacdher vertreten wurbe — jo body,
bag in meiterer Entwickelung auch Schelling fi demfelben
nicht entziehen konnte, während umgelchrt Schleiermacher, unter
Steffens’ Einfluß, zur Anlehnung an die objectivere Welt⸗
auſchauung und an bie ſymmetriſchen wiſſenſchaftlichen Figuren
Schelling's gedrängt wurde. Erſichtlich iſt ferner, wie ſich das
Sdentitätsiyften auf halben Wege mit der Theorie und Praxis
der Schlegel begegnete. Stärker auf die Seite Fichte's neigend,
lehrte Friedrich, daß der wahre Dichter mit hefler, transicen-
bentaler Bewußtheit bichten müſſe. Stärker auf die Seite
Goethe's neigend, lehrte Schelling, daß der wahre Philoſoph
bie ganze Welt wie ein Poem mit bichterifgem Auge anfehen
müſſe. In den Dichtungen der Schlegel wurde bie poetifche
Empfindung an die Heflerion, die Schönheit der Gemüthe⸗
bewegung an die formelle Kunft verrathen. Iu dem Syſtem
des Identitätsphiloſophen wurde das wiflenfchaftliche Erkennen
durch Poefie verborben und die Poeſie hinwiederum zur ab⸗
firacten Formel heruntergebradht. Aber e8 war eine Univerjal-
formel. Zugleich ein Seiten- und ein Gegenftlid zu ber roman»
tifchen Poefie mie zn der romantifchen Religion und Ethik, war
das Identitätsfgftem gleichſam eine Eodiflcation des Geiſtes ber
Romantif Überhaupt. Es vomantifirte das ganze Univerfum.
Es war wie ein philoſophiſcher Auszug und wie das allgemeine
Programm jener Univerfalpoefie, welche Friedrich Schlegel ge-
fordert Hatte, und war zugleich die Berwirklichung jener Ench⸗
fopädie, welche dieſem fowol als Hardenberg im Sinne lag.
Wie von einem höchſten Gipfel liberfhanen fih von biefem
Syſtem ans die ſich begegnenden, fich frenzenden und ergänzen.
ben Beſtrebungen des ganzen romantiſchen Kreifes. ine un⸗
baltbare und vergängliche Bildung, im Entflehen ſchon zerfallend,
war es nit weniger eine nothwendige und epochemachende Er⸗
Iheinung. Ein Denkmal fieht es da für die Innere Berechtigung,
Ein neuer Band der „Anthropologie der Naturvölker“.
ein Zeugniß ift e8 durch feine fpätere Geſchichte für das Schickſal
der Romantik geworben.
Das letzte Kapitel: „Befeftigung, Ausbreitung und
Bertheidigung des romantischen Geiſtes“, zeigt uns zunächft
die raftlofe Journalproduction Friedrich Schlegel’s; die
verſchiedenen Projecte und Plane, der „Alarcos“, dieſes
romantifche Monftregedidht, das Gefpräcd über die Poeſie,
die Rede über die Mythologie werden uns eingehend
vorgeführt — wir bewegen uns bier in bem Gebiet des
Poetifch - Paradoren, einer Titeraturrevolution mit ewig
mechfelnden Stihwörtern. Selbft das romantische Dogma
von her Yronie, die im Wechfel mit Enthuſiasmus für
die Seele der Romantik galt, wird umgebogen in das
non der allegorifhen und didaltiſchen Deftimmung der
Poefie.
A. W. Schlegel als der Praktiker der Schule wird
zunächſt als Dichter gewürdigt. Bei dieſer Gelegenheit
wird der Schlegel⸗Tieck'ſche Muſenalmanach mit Recht
einer ſcharfen Kritik unterzogen; er iſt der ausgeſprochene
Bankrott der romantiſchen Schule auf dem Gebiet der
Lyrik. Die ansgebreitete Thätigfeit der Schlegel in ben
verjchiedenften Zeitfchriften, dem „Athenäum‘, ber „Al-
gemeinen Titeraturzeitung‘, der „Erlanger Literaturzeitung“,
die poetifchen und Theaterzeitungen Bernharbi’s und Tieck's
679
zeigen einen raſtloſen Trieb der Propaganda. Doch weit
wichtiger find die bisher unbelannten Borlefungen A. W.
Schlegel's; man wird fie in Auszug bier mit Onterefie
verfolgen. Schlegel erfcheint hier klarer in feinen Be⸗
griffsbeftimmungen, vielfeitiger in feiner literarhiſtoriſchen
Würdigung, als dies in feinen andern Schriften, mit
Ausnahme feiner ‚ Borlefungen über die dramatifche
Literatur” der Fall iſt. Intereſſant ift der nähere Nach⸗
weis, wie die germaniftifche Wiffenfchaft aus der roman⸗
tifchen Schule hervorgegangen iſt. Der Anhang enthält
Näheres über die Jugendgeſchichte Friedrich Schlegel’,
über die erſte Berührung ber beiden Schlegel mit Tied,
über die Gründung und Fragmente des „Athenäum“,
* W. Schlegel's Urtheil über das Nibelungenlied u.
m.
Das Werk Haym's iſt jedenfalls ein Schatz für den
Literarhiſtoriker, der hier die Bewährung eingehenden
Quellenſtudiums in geiſtreichen Entwickelungen und Grup⸗
pirungen findet, aber auch für das größere Publikum
anziehend durch eine geiſtreiche, doch nie ſpringende Dar⸗
ſtellung, welche uns das Bild einer Literaturepoche,
wenngleich nur in ihren Anfüngen, mit anziehendem
Pragmatismus entrollt.
Rudolf Gottſchall.
Ein nener Band der „Anthropologie der Naturvölker“.
Anthropologie der Naturvolker. Bon Theodor Waitz. Mit
Benutung der Borarbeiten des Verfafſere fortgejegt von
G. Berland. Hlnfter Theil: Die Völker der Südſee.
Ethnographiſch nnd culturhiftoriih dargeſtellt. Mit einer
Karte. Leipzig, Fr. Fleifher. 1865-70. Gr. & 3 Täler.
Umüberfteigliche Hinderniffe haben das Erjcheinen der
Schluflieferung des fünften Theils dieſes wichtigen Werks,
deflen vier erfte Theile in den Jahrgüngen 1859 — 64
d. BL beſprochen worden find, bisjegt verzögern laſſen.
Wir begrüßen die Vollendung bes vorliegenden fünften
Theil um fo mehr, als auch der fechste und letzte be⸗
reits fih unter der Preffe befindet und noch im Laufe
des gegenwärtigen Jahres ausgegeben werden fol. Der
fünfte und feste Theil behandeln die Bölter der Süd⸗
fee, der erſtere namentlich die Malaien, die Mikroneſier
und nordweſtlichen Polgnefier, und die legtern beiden
Böllergruppen find felbftändig, jedoch im Geifte und in
der Haltung bes Leider fo früh verftorbenen Theodor Waig,
von ©. Gerland bearbeitet.
Waitz ſpricht ſich im Eingang feiner gründlichen Yor-
ſchung gegen die Anfiht von Crawfurd aus, die Malaien
als den wahren Typus und urfprünglichen Stamm zu
betrachten, aus welchem die verwandten Völker des Indi⸗
fchen Archipels und Stillen Dceans hervorgegangen wären,
weldge vielmehr wie bie Malaien als Abzweigungen eines
emeinfhaftlichen ältern Stammes anzufehen find. Die
prachen ber Südſee-Inſulaner find nicht aus der malati=
ſchen entftanden, fondern Haben einen mehr urfprünglichen
Typus und alterthümlichen Bau bewahrt; . wegen ihrer
Ifolirtheit find die Polgnefier auf einer frühern Stufe
chen geblieben, Waitz faßt fie und die Malaien der
oftindifchen Infeln als malaiifche Raſſe zufammen und
betrachtet fie al8 deren beide Hauptabtheilungen. Für die
Bevölferung der oftindifchen Inſeln durch die Malaien
vom aſiatiſchen Kontinent ans fprechen Feine Biftorifchen
Thatfachen, und doch Bleibt kaum eine andere Annahme,
wenn man nicht für fie ein eigenes Schöpfungscentrum
im Indiſchen Archipel behaupten wil. Verwerflich ift
ber Berfuch mancher Gelehrten, die Bevölkerung der in⸗
diſchen Unfeln von denen des Großen Oceans herleiten
zu wollen, indem alle Umftände darauf deuten, daß Poly-
nefien von Welten ber bevölkert worden ift; auch feine
Eulturpflanzen und wenigen Hausthiere weifen auf Aſien
bin. Nah Buſchmann fehlen in den Sprachen der Poly⸗
nefter fandkritifche Elemente, welche die malaiiſchen Spra⸗
hen befigen und die man felbft noch in den Sprachen
der Zagalen und Madegafien, obfchon in geringer Zahl
findet. Die Polyneſier müſſen fi aljo von dem gemein-
ſchaftlichen Urſtamm zu einer Zeit abgelöft haben, als auf
diefen noch keine Einwirkung des Sanskrit flattgefunden
batte, nämlich vor dem Anfang der chriftlichen Aera.
Wilhelm von Humboldt theilte die Sprachen der ma,
laiiſchen Völker in drei Klaſſen: jene der Polynefier, der
Tagalen und Madegaſſen, und die der eigentlihen Dia-
laien. Leyden, deſſen Eintheilung von Lajjen angenommen
worden ift, ftellte hingegen folgende Gruppen auf: 1) Die
Sprache der Bewohner von Malakka, welche viele für
die echten und urfprünglichen Malaien halten und die bei
ihrer Einwanderung in Malalla nad) der Angabe ihrer
Annalen („Sejara Malayu‘) feineswegs die Siamefen im
Defig des Landes gefunden zu haben fcheinen, und weil
680
fie deshalb auf Heinen ernfllichen Widerſtand ftiefen,
eine Anzahl Staaten dafelbft gründeten, welde ihre Be-
pölferung meift von Menanglabao, dem Hauptlande der
Malaien auf Sumatra, und zwar im 13. Jahrhundert
erhielten. Jedoch trafen fie in Malakla auf tieferftehende
malaiiſche Stämme, von deren Herkunft man nichts weiß,
und die durch fie von ben Küften in bas Innere gedrängt
wurben. Diefe Stämme, weldye man ald Drang-Benua,
Binna oder Binuma zufammenfaßt, find vielleicht bie
zeinften Repräfentanten des urfprünglichen Malaienthums.
2) Die Sprachen der Malaien von Sumatra, wo file bie
Hauptvölfer bilden als Atjinefen, Battas, Küftenmalaten,
Redjangs und Paſſumas, Lampongs. Eine mit indifchen
und mohammedaniſchen Zufägen vermiſchte Sage führt
die Abftammung der Sönige von Menangkabao auf den
Halbgott Ikſander, d.5. Aleranber den Großen zuritd. Von
Jaba ber erfolgte eine fehr ftarfe Einwirkung, namentlich
auf den jüdlichften Theil von Sumatra. 3) Die Sprachen
auf Java, wo die malaiifche Eultur ihren höchſten Gipfel
erreicht bat, alfo jene der Sundanefen und Javaneſen
im engern Sinne, von welchen die legtern die gebildetern
find und viel mehr Sanskritelemente enthalten als die
fundanefifhen Idiome. Namentlich haben die brahmani«
ſchen Einwanderer aus Vorderindien feit den erften Jahre
hunderten der chriſtlichen Aera ungemeinen Einfluß auf
die Entwidelung der Civilifation von Java geübt. 4) Die
Spraden von Borneo ober jene ber Dajals, für beren
eine wenigftens der malatifche Charakter ficher erwiefen
iſt. Borneo fol in früherer Zeit in drei große Reiche
getheilt gewefen fein, unter welchen das Reich von Bruni
bei der Ankunft der Europäer auf der Höhe feiner Macht
- Hand, wofelbſt fie die Cultur von Malallka und eine glän-
zende Hofhaltung fanden. 5) Die Sprachen der Sulu⸗
infeln, welche von den malaiifchen fehr abweichen, aber
dem Bifaya auf einem Theil der Philippinen fehr nahe
verwandt oder fogar mit diefem identifch find; das Ta⸗
gala, die Hauptjprache der Philippinen, fol unter allen
malaüfchen Idiomen die ausgebildetfte Grammatik haben.
Indiſche Eultur wirkte durch Vermittelung von Malaien
oder Javaneſen fchon früh auf die Philippinen ein. 6) Die
Sprade von Celebes, nämlich das Bugi, das Malaflar
und Manbhar, welche nebft den Sprachen bis über Timor
hinaus gleichfalls zur malatifchen Gruppe gehören. 7) Die
Sprachen der Moluffen, obſchon noch malaiiſch, find jehr
ftark mit fremden Elementen verfegt. Auf Amboina und
den benachbarten Inſeln wurden die urfprünglichen Spra⸗
hen durch malaiifche Idiome von Weiten kommender Ein-
wanderer verdrängt. Malaien finden fi auch auf Ceylon,
zweifelhaft find fie auf den Nilobaren. 8) Auf Mabagas-
far fol nur eine Sprache berrjchen, welche zum malaii-
fhen Stamm gehört und wahrſcheinlich durch javanifche
Einwanderer zu einer Zeit bahin gelommen ift, wo in-
difhe Eultur noch nicht nad) Java gedrungen war, in⸗
dem das Madagaſſiſche nur wenige Sanskritworte enthält.
Die phyſiſche Befchaffenheit der malaiifch- polyneftichen
Bölfer weicht bedeutend ab, und es ift kaum möglich, eine
treffende allgemeine Charakteriſtik berfelben zu geben, wie
eine folche jedoch Hombron in d'Urville's Reiſewerk zu
geben verfucht hat. Das Richtige fcheint Yvan getroffen
zu haben, wenn er diefe Völker fir einen Mitteljchlag
nn
Ein neuer Band der „Anthropologie der Naturvölker“.
zwifchen der Taufafifchen und Negerrafje erklärt, obſchon
infolge von Miſchungen mit aſiatiſchen Völkern es bei
ihnen an mongolifhen Zügen nicht fehlt. Den malaii-
chen Völkern fcheinen als Urbevölferung des Indiſchen
Archipels ſchwarze kraushaarige Völker voransgegangen zu
fein, welche nie eine höhere Cultur erreicht haben, von
denen fih Spuren am norböftlichen und am nordweſt⸗
lichen Ende der Malaienländer finden und zu welden
auch die Heinen fchwarzen kraushaarigen Stämme des
Bindjhagebirgs in Borberindien gehören. Selbft auf
manchen der großen Inſeln zeigen fich zwifchen ben ma-
lauschen Völkern bedeutende phufifche wie nicht minder
eiftige Unterfchiede, wie namentlih auf Java zwifchen
Sabanefen und Sundanefen; unter den Bifayas der
Philippinen fol e8 ganz weiße rauen geben.
Die Eulturverhältniffe der malaiifchen Völker laffen die
größte Abftufung wahrnehmen, indem bie einen auf fehr nie-
dern Stufen ftehen geblieben find, die andern ſehr Hohe er-
reicht haben, welche Unterfchiede fich, abgefehen von ben
geichihtlichen Schidfalen diefer Bölker, theild aus dem geo-
graphiſchen und Himatifchen Berhältniffen, theils aus ber
Einwirkung erflären, welche Inber, Chinefen, Araber und
Europäer auf fie geübt haben. Die älteſten Hiftorifchen
Sagen finden ſich gefammelt in den „Sejara Malayu“, und
nad) ihnen Hätten die Malaien in Borderindien ihren Ur-
fprung gehabt. Ein indifcher Fürftenfohn aus dem Stamme
Alexander's des Großen fei aus feinem Baterlande zu der
Zeit, als das Sanskrit in voller Blüte fland, andgewan-
dert, babe mancherlei Länder befucht und zulegt das Reid
von Menanglabao auf Sumatra geftifte. Sri Zribuane
gründete im Jahre 1160 n. Chr. Singapura und fett
dieſer Zeit hieß die Halbinjel Malakka Tanah Malayu,
das Malaienlend. Im Yahre 1252, nad) Eroberung
Singapuras durch bie Javanen, gründeten die Malaien
das mächtige Reich Malakla, und die bortigen Fürſten
nahmen im Jahre 1276 den Yelam an — alles Anga-
ben, bie jedoch nur bis auf einen gewiflen Grab glanb-
würdig find, ba bie „Sejara Malayu“ erft kurz nach bem
Jahre 1612 niedergefchrieben wurden. Sumatra iſt wahr-
ſcheinlich von Indien ber colonifirt worden und andy bie
altjavaniſche Cultur ift indiſch. Menangkabao war ber
älteſte und berühmteſte Malaienſtaat und die nad Su-
matra verpflanzte indiſche Cultur ging von da auf Me-
lakka über, wo mit der Belehrung zum Islam erſt bie
eigentlich Hiftoxrifche Zeit der Malaien beginnt, die fid
dann dur Handel und Eroberung über den ganzen in-
difchen Archipel verbreiteten. Am glünzendften entfaltete
fih die Macht und Cultur der Malaien in 16. Jahr
bundert in Malafla, Atjin und Bruni unter Einwirkung
indifcher und arabifcher Elemente.
Sifcherei, Handel und Seeraub waren von alter® her
Lieblingsbefchäftigungen der Malaien, welche mit Landbau
und Viehzucht fich viel weniger abgaben. Ihre Nahrung
befteht Hauptjächlih aus Vegetabilien, namentlich eis,
dann aus Fiſchen. Waig gibt don ihrer Xebensweife,
ihren Sitten, Bamilienverhältnifien, politifcden und reli-
giöfen Berfaffungen ausführliche Nachricht; aber die alten
Einrichtungen find unter der Einwirkung der Holländer
in fortwährendem Verfall begriffen. ‘Die Malaien-Sul-
tone auf Borneo find übrigens zu habfüdhtigen umb
Ein neuer Band der „Anthropologie der Naturvölker“.
wollüftigen Tyrannen geworben, welche zunächſt die Reichen
und Vornehmen bebrüden, die fi dann wieder durd)
Erprefiungen am Volke ſchadlos Halten. Die heiße Leiden-
fhaftlichkeit des malaiifchen QTemperaments in der Liebe,
wie im Haffe und der Race find befannt und finden
auch in dem fogenannten Amoflaufen einen Ausbrud, wo
einzelne, von blinder Wuth ergriffen, fortftürzen und alles
niedermadhen, bis fie felbft, wilden Thieren gleich, erlegt
werden. Wait fchlägt offenbar bie geiftige Begabung ber
Malaien etwas zu hoch an, während Crawfurd von ihnen
bemerkt, daß auch die audgezeichnetften nicht über die
Mittelmäßigfeit civilifirter Europäer binausreichen, und
jedenfalls fo viel richtig ift, daß fle Fremdes zwar ziem-
fich leicht fi) aneignen Fünnen, aber faft nichts Eigenes
hervorgebracht haben. Bei manchen, namentlich den Bat-
ta8, ift der Kannibalismus eine fehr alte Inftitution und
hängt mit dem Rachegefühl zufammen, weldes durch eine
Beleidigung oder ein Verbrechen hervorgerufen wird.
Aus der Vorrede der von Gerland bearbeiteten Schluß-
Iieferung des fünften Theil erfährt man, daß es ‚nur
möglich war, in demfelben die Schilderung der Mikro⸗
nefier zu geben und die allgemeinen Borfragen für Poly-
neflen zu erörtern, ſodaß ein fechster und legter Band
die fpecielle Schilderung der Polynefier, Melanefier und
Auftralier enthalten fol. Wenn ©. vı gefagt wird, daß
das Wert von Waig „bie Grundzüge der Lehre Darwin’s
und ihre wichtigften folgenfchwerften Conſequenzen auf das
allerbedeutfamfte und fchlagendfte beftätigt und ergänzt”,
ferner ©. vı und x, daß es als Grundlage einer fpätern
Philoſophie, beziehungsweiſe Religionsphilofophie, für wel-
chen Zweck eigentlich Waitz ſeine große Arbeit unternahm,
dienen werbe, fo Tünnen wir unſere Uebereinſtimmung
mit diefen Behauptungen nicht ausfprechen. Das Grund⸗
prineip der Darwin'ſchen Lehre ift die Entwidelung neuer
Arten aus den alten durch Trangmutation dieſer legtern,
und deren äußerſte Confequenz ift das Hervorgehen des
Menfchen aus niedrigern, refpective thieriſchen Formen.
Bir lernen in diefer Beziehung aus Waig’ Werke nur,
was man fchon lange wußte, daß niedriger und höher
organifirte Bölfer in den mannichfachſten Abftufungen
nebeneinander eriftiren und auch früher eriſtirt haben,
aber nichts, was für Darwin’s Theorie, nichts, was gegen
ſie ſpräche. Und wenn der ſelige Waitz die „Anthro⸗
pologie der Naturboller“ deshalb zu ſchreiben unternahm,
um eine fefte Grundlage für die Philofophie, namentlich
die Religionsphilofophie zu gewinnen, fo hat derfelbe einen
ſehr weiten und wie uns bünft unndthigen Umweg ge-
nommen, indem alles für dieſen Zwed Nothwendige ſchon
gefammelt und vorbereitet, größtentheils aud) ſchon ver.
werthet ift. Das große Verdienft von Waitz befteht darin,
daß er die Ethnologie ber Naturbölfer nad den umfaf-
fendften Studien in einer Bollftändigkeit und Ueberſichtlich-
keit dargeftellt hat, wie früher nicht gefchehen if, und fo
können wir mit Freuden ben büftern Worten, bie er nad)
S. xu in feiner legten Krankheit geſprochen, entgegnen:
Nein, fein Leben war fein verlorenes, voll Arbeit zwar,
aber nicht ohne Wirkſamleit, welche freilich nur allmählich)
ihre Früchte bringen wird.
Serland unterfcheidet als brei Hauptgruppen der poly-
nefifchen Völker: die Mikronefter im Nordweften, den Ma⸗
1870. 4.
681
laien näher ftehend; die Bolynefier im engern Sinne im
Dften, ben Samoa» und Zongn-Ardipel, Neufeeland,
die Coofsinfeln, die Gefellfchafts-, Auftral- und Baumotu-
infeln bis zur Ofterinfel, die Markeſas⸗ und Sandwid)-
infeln u. f. w. bewohnend; endlich den Fidſchi⸗Archipel mit
theilweife melanefifcher Bevölkerung. Manche betrachten
Polynefien als die Reſte eines verſunkenen Continents,
und auf den Slarolinen dauert die Senkung jest nod) fort.
In ganz Polynefien finden fich Feine Metalle und auf
den meiften Infeln als Baumaterial nur Korallenkalkftein,
in deſſen Hößlungen fi das Regenwaſſer jammelt; auf
dem ganz waflerlofen Oatafu und im Paumotu-Archipel
fehneidet man Löcher in die Kofospalmen, um das Regen-
waſſer darin aufzufangen. Die Armuth an nütlichen
Pflanzen und Thieren, das häufige Fehlen des Süßwaſ⸗
jer®, die öftern Weberflutungen ber niedern Imfeln durd)
die See, die fteil anfteigenden unfruchtbaren Berge vieler
hohen Inſeln machen Polynefien höchſt ungünftig für die
Entwidelung des Denfchengefchlehts; Chamifjo nennt das
Leben dafelbft eintönig und ermüdend. Die Trennung
ber Inſelgruppen durch weite Waflerwüften macht ben
Verkehr fehr fchwierig und läßt in Verbindung mit den
andern genannten Umftänden böbere Culturſtufen nicht
erreichen. Nur einige Inſeln, wie Tahiti und Hawaji,
find mehr begünftigt. Der Mangel anderer befjerer An-
regungen hat die Neigung zur Wolluft verftärft. Die immer
fi) gleichbleibenden Umftände haben eine ftaunenswerthe
Beharrlichkeit der Sitten, Einrichtungen, Sprachen Herbei-
geführt; Tahitier und Nenfeeländer verfiehen ſich, obſchon
feit ihrer Trennung vom gemeinfchaftlichen Urftamm Jahr⸗
taufende verfloffen fein mögen.
Unnöthige Schwierigkeiten, um die Einwanderung in
Polynefien von Weften her unmöglich erfcheinen zu laſſen,
haben Moerenhout, Crawfurd, Scirren erfonnen, und
doch deuten alle Umftände darauf; man leugnete den Zu-
fammenhang ber Polynefier mit den Malaien, und Scir-
ren wollte für erftere ein eigenes Schöpfungscentrum im
Großen Ocean annehmen. Flora, Yauna und die Spra-
chen Polyneſiens weifen auf Aften bin; von den Sunda⸗
infeln Haben die Auswanderer da8 Schwein, den Hund,
die DBorftenratte, dad Huhn nah Polynefien gebradit.
Bermuthlich ftammen, wie diefes Hombron und Rienzi
behaupten, bie Bolynefter unmittelbar von den Dajaks ab.
Dabei ıft durchaus nicht wahrfheinlih, daß fie auf den
Infeln des Großen Oceans bereit eine negritifche Ur-
bevölferung vorgefunden haben, wenn auch auf vielen der-
felben Individuen ſich finden, welche durch dunkle Farbe
und fraufes Haar an bie Melaneſier erinnern, bei denen
bie Schiffahrt fo wenig entwidelt war und die kaum je
größere Seefahrten unternommen haben, Dieſes Borlom-
men von dunkeln kraushaarigen Individuen erflärt ſich
viel leichter aus klimatiſchen Einflüſſen und aus ber be-
deutenden Beränderlichkeit des polynefifchen Typus. Findet
man ja auch unter den Malaien alle Wbftufungen der
Farbe vom Hellgelb bis zum Schwarz. Die exfte Bevöl-
ferung ber eigentlich polgnefifchen Infeln geſchah alfo durch
die Polynefter, und eine Mifchung mit melanefifchen Stäm-
men hat allein im Fidfchi-Archipel ftattgefunden.
Gerland gibt zuerft eine Schilberung der Mifronefier
und beginnt mit den Marianen, deren Bevölferung burd)
86
682 Ein Beitrag zur VBerftändigung des deutfhen Nordens und Südens.
die Spanier ſchon im Anfang bes 18. Jahrhunderts aus-
gerottet worden if. Man muß Hierbei jedoch nicht der ⸗
geffen, daß den erften Anſtoß zu den Conflicten ein Chie
neje gab, der marianiſcher Priefter geworden war und
den Einfluß der einheimifchen Priefter durch bie atholi«
ſchen Miffionare bedrogt fah; der Fehler diefer Legtern
beftand darin, die weltliche Macht ihrer Nation zur Ber
hauptung ihrer Stellung in Anfprud zu nehmen, wie
diefes Häufig genug im Großen Ocean auch von proter
ſtantiſchen Sr fionaren geſchehen ift. Uebrigens hat bie
Ankunft der Europäer in Polynefien auf die Eingeborenen
wie faft überall verberblich gewirkt, und es find unter
ihnen tödliche, früger unbefannte Krankheiten ausgebrochen.
Man Iefe nur, was ©. 163 fg. hierüber gefagt wird.
Die Tätowirung hat nad) der Verfiherung der Mir
krouefier eine veligiöfe Bebentung und wird bei den Bor-
nehmen reichlicher und volltommener ausgeführt, weil diefe
für „göttlicder“‘ gelten als bie Geringen, ebenfo reichlicher
bei den Männern als bei den rauen. Die ©. 72 er
wähnten merkwürdigen Bauwerke in Matalanien, aus
mädtigen Wälen von Bafaltgeftein mit unterirdifchen
Gewölben beftehend, find nicht don den ſpaniſchen Ent-
dedern, fonbern von den Eingeborenen ausgeführt worden,
was aud von den Steinpyramiden, Terraſſen, Mauern,
Bildſaulen vieler polyneſiſchen Infeln gilt, von melden
©. 223 fg. gefprochen wird. Die Bewohner der Maria
nen waren nicht ohne Beredfamfeit, und die Rede bes
Chamorri Djoda, womit er feine Landsleute zum Auf -
ftand gegen die Spanier anfeuerte, wie jene des Hurao
und Aguarin, zeichneten ſich durch Klarheit und Energie
aus. Das Eharakterbild, welches Chamiſſo von feinem
Freunde Kadu, einem Eingeborenen der Karolinen, gegeben
hat, feheint das mikroueſiſche Weſen überhaupt fehr gut
auszubrüden, namentlich wenn man noch das Binzunimmt,
was ©. 104 nad) Hale hierüber gefagt ifl. Wie bei den
Bolyneftern unter dem Namen Areois, fo gab es auch
auf den Marianen eine zügellofe Adelslaſte, die Ulitaos,
welche mit allen beliebigen Frauen im freieften Umgang
lebten; und wie die Areois die Kinder, namentlich von
niedern Frauen tödteten, fo war bei den Ulitaos Fünft-
licher Abortus im Schwang. Sie ftellten zugleich eine
religiöfe Sekte und geſchloffene Geſellſchaft dar, welche
den Göttern näher ſtand, und bie üppigen Lieder bei ihren
Feſten wurden in einer ältern, dem Volle unbelannten
Sprache gefungen. Wie in Polynefien, fo war auch in
Mikroneften das niedere Volk feelenlos, ohne Recht und
Eigentfum, ale Macht in den Händen des den Göttern
naheftehenden Adels und der göttlich verehrten Könige,
die mit andern Worten angerebet wurden als die übrigen
Menſchen und alles Beiligten, was fie berührten. Im
Segenfag zu Polynefien Hat fih in Mikronefien der
Annenenltus fehr ausgebildet. Die Marianer glaubten
an perfönliche Fortdauer, an Paradies und Hölle, gute
und böfe Geifter; auf den Karolinen gab es Priefter,
welche mit den Seelen der Verſtorbenen verkehrten, aud
Krankheit und Tob verurfachten. Das Tabu in Mikro
nefien unterfcheibet fi vom dem polyneſiſchen durch viel
geringere Strenge und Allgemeinheit.
Ruüdſichtlich Polynefiens werden am Schluß diefes
Theils nur gewiſſe Vorfragen und allgemeine Berhältmifie
behandelt, während bie ethnologifche Schilderung dem
festen und Schlußtheile, dem wir mit Berlangen ent ⸗
gegenfehen, vorbehalten bleibt. Unter ben Sprachen, welche
ſich alle fehr gleichen, nimmt das Tonga, welches zugleich
ein Verbindungsglied mit den weftlichen Sprachen ift, den
erften Play ein, dann folgen die Idiome von Neufeeland,
Rorotonga, Tahiti, den Markeſas und zulegt die von
Hawaji. Nach Hale find die Polynefier von Malaifien
her eingewandert und haben ſich vom Samoo-Ardipel aus
über den Großen Dcean verbreitet. Ein fpäterer Aus-
gangspunft wurde dann Tahiti, von welchem aus Nufu-
hiva, Hawaji, Paumotu, die Auftral- und Herveyinfeln
bevölfert wurden. Alle Wanderfagen weifen nach ber
Samoogruppe, und ber Name von deren Hauptinjel:
Savaji, kehrt wieder im jeder einzelnen Iufelgruppe des
Großen Deeans, nur dialektiſch umgeftaltet. Ueber bie
Zeit diefer Wanderzüge läßt fi Hingegen faum etwas
Beftimmtes ausmitteln; Miller, welder den Linguiftifchen
Abſchnitt der Novara-Reife bearbeitet hat, fett die Tren -⸗
numg des malaiiſchen und polyneſiſchen Zweige etwa auf
ein Iahrtaufend vor Chriſtus, weil die malaiifchen und
javaniſchen Sprachen ſchon im Anfang der chriſtlichen
Aera ihre jeßige idelung hatten und doch geraume
Zeit nöthig war, um hierzu von jener Einfachheit zu ge-
langen, welde bie polynefiichen Sprachen beibehalten
haben. Gerland weift aber, wie und dünit, mit triffigen
Gründen nad), daß jene Trennung in einer noch frühern
Zeit ftattgefunden Hat; die Einwanderung in Polynefien
vollzog ſich natürlich erft im Laufe mehrerer Jahrhunderte.
Maximilian Pertp-
Ein Beitrag zur Verkändigung des deutfchen Nordens und Lüdens.
1. Nord und Süd. Geographifd-etänographifge Studien und
Bilder. Als Beitrag zur Berfänbigung allen Gebildeten
der deutfhen Nation gewidmet, zugleich als Reiſehandbuch.
Bon Emil Shagmayr. Braunſchweig, Bruhn. 1869.
©. 8. 25 Nor.
2. Deutſchlauds Horden und Süden. Geographiige Skigen
von Emil Schatzmayr. Zweite umgearbeitete Auflage.
Braunfchweig, Bruhn. 1869. Gr. 8. 20 Nor.
Mit Abneigung und Groll ſchafft man feine gengra-
phifch-ethnographifchen Werke, ‘am wenigften ſolche, die
zur Verfländigung des deutjchen Nordens mit dem Süden
führen follen, wie das Hier zu beſprechende Buch. Groll
und Unwillen find vielleicht fr die geharnifchte Poefie
brauchbare Fugredienzien — facit indignatio versum —,
allein aus dem Unwillen über einen ganzen beutjchen
Stamm Tann fi bie ethnographiſche Gerechtigkeit feinen
Bers und die deutſche Volkskunde Fein Kapital machen.
Ein merkotirbiges Buch, biefes „Nord und Süb‘'; wie
es fi in der erften Auflage nennt „ein Beitrag zur Ber-
ftändigung”, der „allen Gebilbeten der deutſchen Nation“
gewidmet ift. Und Hinter biefer Berfläudigung lauert die
Ein Beitrag zur Berftändigung bes dbeutfhen Nordens und Südens.
blindefte Wuth gegen den dentfchen Norben, dem wir
boch immerhin noch etwas mehr als nur dem deutſchen
Staat verdanken. Welch verfühnenden aufflärenden Ein-
fluß könnte ein derartiges ethnographiſches Buch Haben,
wenn es nicht einfeitig nur ben Süddeutſchen feine Liebe
zumwendete und die Norbbeutjchen nur nah Hören»
fagen beurtheilte, wie es das vorliegende Opus Emil
Schatzmayr's thut! Wie Härend könnte bei den fprachlichen
Kenntniffen und ber richtigen Beobachtungsgabe des Au⸗
tor8 fol ein Buch wirken! Aber während Schagmayr
forgfam in die Schadhte fitddeutfchen Volksthums hinab⸗
fteigt und Goldadern und Edelſteine köſtlicher Art darin
findet, bleibt er Norddeutſchland und fpeciel Preußen
gegenüber ganz auf der Oberfläche, ohne zu ahnen, welche
Schätze gerade das tiefangelegte norbdeutfche Bolt für den
Forſcher germanifcher Sitte und germanifcher Sprache
birgt.” Er bleibt immer auf der norddeutſchen Ebene,
graft ein paar Blumen ab, und ba er dabei einige
Brenneſſeln findet, fo vergißt er nicht, fi dafür zu
rächen. Der Autor macht, wie auch jein Name anbeutet,
den Eindrucd eines Sitddeutfchen, dem (wie in ber Vorrede
zur erften Auflage angedeutet) während feines Studiums
in Halle ein Unrecht gejchehen ift, da8 er nun den ganzen
preußtfchen Staat entgelten läßt. Er macht den Eindrud,
al8 ob er von diefem vielverfpotteten preußifchen Staat
nichts ale Halle kennt und vielleicht — was zweifelhaft
bleibt — einen kurzen Einblid in Berlin gethban hat;
vermöge feines jegigen Wohnfiges Elberfeld ift ihm nie
derrheinifches und weftfüliiches Vollsthum befannt, da⸗
gegen mangelt ihm felbft die oberflächlichite Kenntniß bes
dentfchen Nordoftens, den er jo gern im Munde führt.
Wir ditefen hier nicht verjchweigen, daß das Werk über
Sübdentfchland fo hübſche Bemerkungen, richtige Beob⸗
achtungen und charalteriftiiche Anführungen bringt, daß
die ftiefmittterliche Behandlung des Nordens dagegen um
fo ftärfer abftiht. Auch das wollen wir nicht verſchwei⸗
en, daß die ein Jahr jüngere zweite Auflage mefentliche
aricaturen norddeutſchen Wejens weggelajien hat, daß
fie bebeutende Milderungen jener abſprechenden Urtheile
enthält; baß fie dagegen fein Wort des Zufages, fein
Wort des anerlennenden Lobes der guten Seiten bes
Norboftens bringt, von dem der deutfche Staat der Zu⸗
kunft feinen Anfang genommen bat. Und fo dächten wir,
eine Beleuchtung dieſer ethnographiſchen Skizzen, die
einen Beitrag zur Berfländigung deutjcher Stämme geben
folen und nur eine ftille Liebe für den bairifch-
öfterreihifchen Stamm an die große literarifche Glocke
hängen, wäre zeitgemäß und beiden Parteien zu Nug
und Frommen.
Die erfte Auflage, die, wenn fie auch in dem pater
peccavi ber zweiten umgearbeiteten Auflage eine Abdäm-
pfung erfahren bat, doch von Hunderten gelefen worden
ift, bei denen von den Berbächtigungen des Nordens
semper aliquid haeret, ift fo preußenfrefferifh, daß fie
die Henilletons des münchener, Volksboten“ ſchmücken könnte.
Um nicht den Vorwurf des Verfaſſers zu verdienen, wir
hätten uns geflifſentlich nur an die erſte, überwundene
Auflage gehalten (die der Autor übrigens ſicher für die
gelungenere hält), werben wir ſchneller über dieſelbe hin-
weggehen. Wir werben nur lurz einige charalteriſtiſche
683
Merkmale des Nordens, wie ſie ſich in des Autors Auf⸗
faffung ſpiegeln, wiedergeben. Der Norden iſt natürlich
viel zugelnöpfter, verfnöcherter, froftiger, fteif und fteifer
froftig als der Süden. Im Norden iſt e8 eine Unſitt⸗
lichfeit, befannt zu werden ohne vorgeftellt zu fein: bie
Mordgefhichte von den zwei Liebenden, die ſich nad)
Jahren vergeblichen Sehnens endlidy in einer Gartenlaube
zufammenfinden, unb die man des andern Morgens, weil
fie einander nicht vorgeftellt find, verfchmachtet findet, ift
natürlich in Preußen paffirt. In Berlin, der wendifchen
Stadt, ift die Bevölkerung ein Viertel Slawe, ein Viertel
Franzoſe, ein Viertel Germane und — ein Viertel Mofes
Menbelsfopn! Der Norboften ift überhaupt halbflamwifch,
das erfahren wir auf jeder Seite. Tortwährend wird
von ben ſchmählichen Borurtheilen des deutſchen Nordens
gegen den Süden geredet und nie vom Gegentheil, wäh-
rend doc das ganze Schagmayr’fche Buch ein einziges
Borurtheil gegen den Norden if. Nur die Sübländer
können Geographie, dort würde es nicht vorkommen wie
in norddeutfchen Gymnaſien, daß man Kärnten für bie
Hauptitabt von Tirol hält. Der gerühmten norboftdentfchen
Logik des Halb wendiſchen Berlin theilt der Berfafler,
fo oft er kann, Seitenhiebe aus, und doch vergißt er die
einfache logiſche Schlußfolgerung anzumenden, die er jelbft
den Norbdentfchen zuruft: Wahrheit gegen Freund und Feind.
Es finden fi) grobe thatfächliche Unrichtigkeiten in feinen
Skizzen. Wenn wir aus feinen Behauptungen anführen, daß
im Norboften eine Tanne eine Kiefer oder Fichte bedeute,
wenn er Medlenburger wie Berliner fprechen läßt, wenn er
keine Ahnung von dem Urfprung latinifirtee Geſchlechts⸗
namen bat und die Magnus, Crufius, Curtius u. ſ. w.
deshalb für „beliebt” im Norden hält, weil bie ent-
fprechenden beutfchen Namen — zu demofratifch klingen,
fo ift das nur eine fehr geringe Blumenlefe ans der
großen Zahl von Unrichtigkeiten, deren fi) der Berfaffer
wiffentlich oder unwiſſentlich ſchuldig gemacht hat. Diele
lapsus find auch nicht fo fchlimm wie die Geftnnung
des Werks. Oder klingt das Nachfolgende nicht wie
Erpectorationen gewifjer ſüddeutſcher Zeitungen: „Es
icheint als ob der Norden, oder wenigſtens ber Nord⸗
often, noch eine Antwort auf 1866 erwarte — eine Ant»
wort in Keilfchrift, um erft den nöthigen Reſpect vor
dem Süden zu befommen!?“
Der zweiten umgearbeiteten Auflage, deren Vergleichung
mit der erften bei dem Mangel einer Sapiteleintheilung
ein gutes Stüd Arbeit ift, müſſen wir nachſagen, daß fie
die meiften jener oben gerügten Zendenzftellen ausgemerzt
bat. Mit dem Verſchweigen allein ift aber noch nichts
gethan: der Charakter des Buchs ift noch berfelbe ge-
blieben, vielleicht nicht aus Abficht des Verfafſers, fon-
dern aus mangelnder Kenntniß norddeutſchen Landes und
norddeutſcher Leute. Der rheiniſch⸗weſtfäliſche Gau, in
dem der Autor lebt, ift noch lange nicht ale Typus des
Nordens aufzufaffen, und wie oben erwähnt, ift ihm ber
Nordoften und, wie wir vermuthen müſſen, auch ein gut
Theil Mitteldeutfchlands terra incognita. Um Ethnograph
zu fein, muß man jedoch, wie Goltz und Wiehl, fi per-
fönlich über Menfchen und Dinge informiren, die man
Schildern will. Während Schatzmayr's Anfichten über den
Süden auch in der zweiten Auflage fcharf gefchaut und
86 *
684 Alfred de Muffet.
warm wiebergegeben find, wimmelt es aud) dort in Be-
zug auf den Norden wieder von Irrthümern gröblicher
Art. Daß fih in Oft- und Weftpreußen ein wunder
fames Gemifd; von flawifchen, germaniſchen und „romani«
ſchen“ Stämmen vorfindet, war und bisher fo unbelannt,
wie dem Berfaffer der Umftand, daß die Öfterreihifche
Mundart in der That eine Abart ber bairiſchen ift, daß
das öfterreihifche Donauland von bairiſchen Coloniften
befiebelt wurde, und dag man noch immer von einem
bairifch-öfterreichifhen Bolls- und Spracdftamm redet.
Wieder wird uns die alte längft überwundene Geſchichte
aufgetifcht, daß oftwärts von der Elbe die Bewohner
Deutſchlands germanifirte Slawen mit mehr oder minder
ſlawiſchen Sitten, flawifhem Typus und Charakter feien.
Bas das Bottewirigfäoftige betrifft, fo ift keineswegs,
wie Schagmanr meint, der Tabad ein ausſchließlich füd-
beutfches Gewähs; was würden mol bie wadern Uer-
mörfer zu dieſer Fühnen Behauptung fagen! Das Ohr
des Autors muß fir fprachlichen Wohlffang eben nicht
ſehr offen fein, da er dem Süden mehr volltönende,
reine Bocale als dem Norden zufcreibt. Naher noch
Tiegt jedoch dem Lefer ber „Geographiſchen Skizzen“ eine
andere, fr den Autor eines ethnographifchen Werks nicht
fehr günftige Bemerkung. Es ſcheint nämlich als ob der
Verfaſſer beharrlich den oberſuchſiſchen Sprachſtamm ind-
befondere die Mundart des Konigreichs Sachſen, rund-
weg mit den Mundarten der nordöftlichen preußifchen
Provinzen ibentificirt. Wenn er anführt, daß das füb-
deutſche Papa, Mami, Salät u. f. w. im Norden
Pappa, Mamma, Sällat u. |. w. laute, wenn er den
Nordoften eechal ftatt egäl, ſchöne und fcheene ftatt ſchön
ſprechen läßt, wenn er als harafteriftifche Namen des
Nordens Frigiche, Nitzſche u. a. m. aufführt, jo erinnert
das doch fo ſtark an dem fpecifiich meißniſchen Dialekt,
daß wir mol dem Autor eine oberflächlicde Kenntniß des
Konigreichs Sachſen, nicht aber die Spur einer aus eigener
Anſchauung erwachſenen Belanntfchaft des Nordoſtens
zugeſtehen iünnen. So iſt auch hier wieder Sachſen der
Sundenbock zwiſchen dem deutſchen Norden und Siüben-
geworben. Die Worte, mit benen Schagmayr unfern
Schiller ablanzelt, weil er in bem befannten Diſtichon es
Baiern an Salz gebrechen läßt (vieleicht hat er attifches
Salz gemeint!): „Unfer guter Schiller bedachte wol nicht,
daß, wer einen Mitmenſchen be» oder gar verurtheilen
will, den zu Verurtheilenden vor allem felbft gejehen und
gehört Haben muß, und daß es unendlich, leichter und
bequemer ift, mit dem großen Strome als, der Wahrheit
zur Ehre, auch mal gegen ben Strom zu ſchwimmen!“ —
diefe Worte find wörtlich auf ben Berfafler von „Deutjch-
lands Norden und Süden” anzuwenden.
Es ift ein großes und fhägbares Kapital etönogra-
phifcher Darftellungsgabe in dem Schatzmayr'ſchen Buch,
teog einer vielfach vermorrenen Durdeinanderwerfung
verfchiedener Elemente und dem Mangel einer fyitemati-
fen Ordnung. Uber es bleibt immerhin bebauernswerth,
daß das vorliegende Werk nicht zur Berftändigung, jon-
dern zum Misverftändnig zwifchen Nord und Süd führt,
alfo trog aller Phrafen am Schluß feinen Zwed verfehlt
hat. Was könnte der Norden, wenn er ſich revandiren
wollte, nicht vom Süden fagen, was noch jchlimmer wäre
als die Schroffheiten des „gelobten Landes ber Ruaate
und ber Zaſtrows“, wie ber Autor das vielgehafte
Altpreugen zu nennen beliebt! Aber der Norden ijt ver-
ſöhnlich und gerecht. Wie viel Könnten folhe ſachgemäße,
warm und beiden Theilen gerecht werdende Studien
nügen, wie viele Vorurtheile bejeitigen, wie viel herzliches
Berftändniß ftammeserblicher Eigenthiimliäfeiten vom ob»
jectiven Standpunkt aus vermitteln! Vieleicht wäre Hr.
Emil Schagmayr doch noch der rechte Autor für ſolch
ein Bud), vielleicht ſchafft er eine neue, dritte Auflage,
in der er nicht blind den Norden höhnt, wie in der
erften, nicht mit Weglaffung der ärgften Stellen das
Nöthige getfan zu haben glaubt, wie in der zweiten,
fondern auch die guten Eigenfchaften des deutſchen Mor-
dens mit bderfelben Wärme und Vorliebe hervorzuheben
verfteht wie bie Fiebensmwürbigkeiten feiner geliebten Süd«
deutfchen! Nach dem von Nord und Sitd im Berein
geführten Kriege wäre ber günftige Zeitpunkt für ein
folches Werk gefommen. .
San Yirfdh.
Alfred de Mufet.
Afred de Muffet. Eine Studie von Karl Eugen von
Ujfalvy. Leipzig, Brodhaus. 1870. Gr. 8. 1 Thlr.
Bol noch nie ift eine Kritik mit fo dichteriſchem Geift
jefchrieben worden wie diefe Studie über Alfred de Muffet.
En Dichter hat über den andern Gericht gehalten und
ift als Dolmetfcher für ihn eingetreten. Das Verftänd-
niß für Alfred de Muffet wird duch Hrn. von Ujfalvy
in Deutſchland in eine ganz neue Phafe treten; man
Yannte ihn eigentlich bis dahin nur aus vereinzelten Dich.
tungen und hielt ihn mehr für einen Sonderling als für
einen Poeten. Haft jedermann kannte fein Gedicht, das
den Mond über dem Kirchthurm ale „Punkt auf dem i"
darftellt, und einige feiner andern genialen Seltjamteiten,
während wenige feine hochpoetiſchen Schöpfungen gelefen
hatten, bie fid) den berüßmteften Dichtungen Byron’s an
die Seite ftellen laffen, wie „Don Paez“, „Vortia“,
„Ramouna” und vor allen „Rolle“.
Die Studie Ujfalvy’s beſchaftigt fich eingehend gerade
mit diefen Werfen; „Namouna“ wird als griechiſches
Marmorbild darakterifit, „Rola” als eine römiſche
Bronzeftatue. Es ift ein befonderer Borzug des geift-
vollen Kritifers, daß ex durch folde ſcharfumriſſene Ber-
gleiche dem Lefer mit wenigen Worten ein beutliches Bilb
von den Intentionen des Dichters gibt.
Auch die reizenden Heinern Gedichte Muſſel's werden
onalyfirt und gewürdigt; „Die drei rofenrothen Darmor-
Rufen“ namentlich And ganz dazu angethan, um das
Interefie au der tälteften und blafirteften Leſer zu
erweden. Gedichte werben Heutzutage wenig gelejen;
es genügt Alfred de Muſſet's Poefien zu erkennen,
Kleinere philofophifhe Schriften.
fie zu analyfiren, um ihnen Leſer und Bemwunderer zu
erweden.
Das Buch des Hrn. von Ujfalvy darf ficherlich
auf einen Play in den Bibliotheken ber gebildeten Leje-
welt Anfpruch machen, da e8 eigentlich erſt den Sclüf-
fel zu ben geheimnigvollen Schönheiten und oft ſchwer⸗
verſtändlichen Bildern des Dichters gibt und auch in
ſprachlicher Hinſicht für deutſche Leſer viele Erleichterun⸗
gen bietet, indem eine wörtliche Ueberſetzung oder doc)
Berdeutfhung einzelner fchwieriger Worte dem franzbſi⸗
on Zerte beigefügt iſt.
Mit großer Delicatefie Hat der Berfafler das Privat-
leben des Dichters behandelt; er verräth bafjelbe nicht
der profanen Neugier, reißt nit den Schleier von
den Wunden bes Herzens und den Fehlern bes Charal-
ters, um feine Studie pifanter zu machen; er deutet
685
nur an, wo es durchaus nothmwendig zum Berftändniß
if, dag ein ftürmifches, ereignißvolles Leben über dag
Haupt Alfred de Muſſet's Hingebrauft ift und ihm einen
vorzeitigen Tod gebradjt hat.
Die genußreiche Ausbeute diefer Studie läßt den
Wunſch rege werben, der Verfaſſer möge feinen in Aus-
fiht geftellten Plan bald ausführen, auch die übrigen
Werke Muſſet's in gleicher Weiſe zu beſprechen, nament-
lich feine veizenden „Proverbes“, die einen ganz neuen
Zweig der dramatifchen Literatur ing Leben gerufen ha⸗
ben. Seine Romane werben weniger intereffanten Stoff
zur Beſprechung liefern, doc eriftirt eine rührende Er-
zählung über die Leiden eines Taubſtummen von Mufie,
die beweift, daß er auch ohne feine prächtigen Verfe ein
Meifter des Wortes und der Seelenmalerei war.
S. von Hohenhauſen.
Kleinere philoſophiſche Schriften.
1. Der Philoſophencongreß als Berföhunngeratd,. Bireg zu
einer veſung ber religidfen Zeitfrage von K. H. Frei⸗
Fr eonbardi. Prag, Tempsty. 1869. Gr. 8.
Der Berfaffer, welcher das Verdienſt hat, fchon
zweimal eine Berfammlung von Philoſophen (in Prag
und Frankfurt) zu Stande gebracht zu Haben, ift ber
Borlämpfer der Krauſe'ſchen Philoſophie. Der Philoſophen⸗
congreß ſoll nur das Borfpiel zu einem allgemeinen
internationalen Wiſſenſchaftsbunde fein, von dem ein all
meiner periodifch wieberfehrender Kongreß nnr ein Organ
porftellen fol. Wenn man letteres auch vorläufig ale
frommen Wunſch beifeitelafjen und fich jeglicher Auſion
entfchlagen wird, als ob durch die aufgezäumten Parade⸗
pferde einfludirter Vorträge die Wiflenfchaft geförbert
werbe, oder als ob durch parlamentarifche Beſprechung
und unmaßgebliche Abftimmung große hiftorifche Gegen⸗
füge zum Ausgleih zu bringen feien, fo ift doch der
anderweitige Nugen der gelehrten Berfammlungen, welcher
weientlih in der Ermöglihung eines Anknüpfens von
privaten Beziehungen befteht, gegenwärtig fo allgemein
anerfannt, daß bie Idee eines Philofophencongrefies tro&
der auf bdiefem Gebiete ungleich größern Schwierigkeiten
nur als eine gliidlihe und dankenswerthe betrachtet wer⸗
den Tann. Aber auch eine Gefahr liegt auf dieſem Wege.
Denn wenn die Realwiſſenfchaften jede Gabe dankbar an⸗
nehmen können, weil fie in ihren Principien wefentlich
klar geftellt find, fo dreht ſich in der Philofophie der
Kampf weſentlich um Principien, ſodaß ein Kongreß,
deſſen principielle Richtung durch die Antecedentien feiner
Entftehung firirt ift, nur ala Rumpfcongreß bezeichnet
werben kann. Dies ift leider bei den Beftrebungen des
Freiherrn von Leonhardi in dem Maße der Kal, daß
oußer den Anhängern Krauſe's fi nur bie Baader's,
Günther's und Schelling’8 nebft einigen Herbartianern
bewogen gefunden haben, fi) zu betheiligen. Wo die
Erkenntniß Gottes (und zwar des felbftbewußten, allweifen,
allmäctigen und allliebenden) als die Bürgfchaft der
Möglichfeit ber angeftrebten allgemeinen Wiflenfchafts-
barmonie bingeftellt wird, wo bie Sanbhabe zum fchnellern
Borwärtöbringen ber Welt allein in dem Glauben gefucht
wird: „daß Gott auf diefer Erde fein Reich begründen
wolle und feinen irrenden Sindern zur vechten Zeit hel⸗
fende und rettende Urgeiſter fchiden werde” (S. 33),
da kann man freilich kein anderes Reſultat erwarten
als fi) bei den bisherigen beiden Philofophenperfamm-
Iungen gezeigt hat, welche befanntlich theild aus philofo-
phiſch angehauchten Theologen, theils aus theologiſch ge-
färbten Philofophieprofefjoren beftanden (die unvermeid⸗
lichen redſeligen Blauſtrümpfe nicht zu vergefien), umd
ganz dazu angetan waren, die Philofophie in den Augen
des großen Publikums durch die Yangweiligfeit und Mittel
mäßigleit ihrer Verhandlungen um den legten Reſt von
Credit zu bringen. Wenn auf folder Baſis ein Wiflen-
fhaftebund zu Stande lüme, der ſich damit befafte,
„die Leiftungen der bisher vereinzelt Arbeitenden mit
Rückſicht darauf durchzuprüfen, wie fie zu bem für alle
gleich wohnlichen Sefammtban ſich verhalten” (S. 9), fo
würde darans eine ſchlimmere Form ber Monopolifirung
der Gelehrſamkeit entfpringen, als irgendeine ber frühern
oder noch beftehenden war. Wie der Philoſophencongreß
nad) Anficht des Verfaſſers auf der Krauſe'ſchen Lehre
baftren muß, fo wird neh ihm der allgemeine Wifien-
ſchaftsbund dadurch zu Stande gebracht werden, daß auch
die andern Nationen fih zur Krauſe'ſchen Philofophie bes
fehren. Die Töfung der religiöfen Trage findet der Ber-
fafler in der Aufhebung des fpeciellen Belenntnigzwanges
und in Beibehaltung folgender freiwilliger Belenntnißformel
als Minimum (S. 89):
Id glaube an den gottgeweihten Beruf bes Menichen und
der menfclichen Geieniäof! in dem Weiche GBottes, welches
da ift ein Rei der Wahrheit, ber Gerechtigkeit und ber
— und ich verpflichte mich zur Nachfolge Chriſti in dieſem
eru
2. Fine liberale Polemik gegen den Atheismus. Bon Friedrich
x.“ Laudenbad. Zwei Theile. Frauenfeld, Huber.
1869. Gr. 8. 2 Tülr.
Der Berfaffer meint es recht gut mit ber Welt und
den Menfchen, es fehlt ihm aber alle wiflenfchaftliche
Srundlage und Methode. Er Hat viel gelefen (bie
686 Feuilleton.
Excerptenſammlung ift noch das Befte an dem Bud),
aber wenig verbaut. Ex geht von vornherein davon aus,
baß man das Dafein Gottes fo wenig wie das Gegen
theil wiffenfchaftlich beweiſen könne, und daß das fomit
in völlige Freiheit der Wahl geftellte Ich blos nad) fei-
nem Willen entfcheidet. If das Ich ein gottlofes, böfes,
eigenfinniges, fo entſcheidet es ſich gegen den Goties⸗
glauben; gibt es aber der Einfiht Raum, daß nur durch
ben Gottesglauben es in ſich felbft zur Harmonie gelan«
gen und die menſchliche Gefelfchaft vor allen Greueln
ber Verwüſtung bewahrt werden kann, dann entſcheidet
es ſich aus freier Wahl für den Gotteeglauben. Unter
©otteöglauben verfteht aber ber Berfafler den Glauben an
einen perfönlicen, allweifen, allgütigen und allgerechten
Gott; wer diefen nicht Hat, ift Atheift; aber der Atheis-
mus ift eigentlich gar fein Standpunft. Der Fiberalismus
des Berfaffers befteht darin, bag er feine Religion für
bie alleinfeligmachende Hält, fondern jebe gelten läßt, die
feinen Gotteöglauben Hat. Das Buch beſteht wefentlich
in erbaulichen Variationen auf das Thema, daf der
Atheismus der Ruin der Menſchheit if. Der Stil
erhebt ſich nirgends über die Kanzelphraſe
Fenilleton.
Englifge Urteile Über neue @rfgeinungen der
deutfden Literatur.
Ueber W. Dilthey’s „Leben Schleiermacher's“ fagt die
„Seturday Review’ vom 20. Auguft: „Die vor zehn Jahren
fattgehabte Feier des Hundertjährigen Geburtstage Schleier
madıer’8 war eine Ausnahme von dieſen im allgemeinen etwas
zweifelhaften Kundgebungen, fowol in Betreff der echten Be-
geifterung, die fie erwedte, als auch des aus ihr Hervorgegange-
nen wefentlihen Gewinns für die Literatur und Theologie.
Zum größern Theil rührte dies wol von der Entrüftung er,
die man über den päpflihen Hof empfand, unb der allgemei«
nen Unzufriedenheit mit der Dienſtbarkeit der Geiftlichkeit gegen
die Regierung, als von dem meu belebten Jutereſſe an dem ber
elügmten berliner Prediger. Dan fuchte nad) einer Gelegenheit
zu einer voflethlimfihen Kundgebung, und fo fam bie feier
gut zu flatten. Won diefem Sehdtepantte aus muß denn auch
die Biographie Schenfel’8 betrachtet werden; fie if eben eine
Selegenheitsihrift. Schleiermader's Name indefen verdiente
etwas mehr als das Lofungswort einer Partei zu fein; und da
ex wieber einmaf in den Vordergrund gebracht worden war,
fo veranlafte es den Berfaffer der vorfirgenben Schrift, ihm
ein weit forgfältiger ausgearbeitetes und bleibenderes Denkmal
zu widmen. Diele Biographie, von welder zunächſt der erfte
Band veröffentlicht ift, verdient wegen der barin zu Tage tre⸗
tenden Eiuſicht und literariſchen Geſchicklichteit Anerkennung
und ift infolge des darin enthaltenen neuen Materials, weldes
dem Berfaffer zur Verfiigung geſtellt worden, werthvoll. Das
Wichtige davon if eine große Zahl Wriefe von ben beiden
Schlegel und andern Mitgliedern ihres Kreijes, bie zwar bier
nicht abgedrudt find, beren Durchſicht aber ben Verfaſſer in
ben Stand gejegt hat, Schleiermacher, den man bisher zu fehr
als einen bloßen Fachtheologen betrachtet hat, in feinem eigent-
ihen Zufammenhang mit der weitern geiftigen Bewegung, an
der er theifhatte, darzuftellen. Das Yauptinterefie und das
eigentlich Neue in Dilthey’s Werk liegt in ben Kapiteln, in
welchen Schleiermagjer'8 Beziehungen zu ben beiden Schle-
gel, Ziel und andern Führen der romantiſchen Schule wie
zu Fichte und Schelling auseinandergefegt werden, und in dem
unparteiifchen nnd febensvollen Schilderungen diefer ausgezeich .
neten Männer. Die mehr das Privatleben Schteiermacher's
betreffenden Stellen find gleichfalle trefflih erzählt, und die
jenigen Zwildenfäle, meige eine EntfQufdigung erfordern zu
fhienen, wie 3 B. feine Dertheidigung der «Lucinden, find
einfach und treulich mitgerbeit Die neuerbings wiederer-
wachte Theilnahme für Schieiermacher und Schriftfteller ver-
wandten Geiftes iſt ein aufmunterndes Zeichen einer entfpredjen»
den Wieberbefebung der Lange jhlummernden dichterifcen und
geiftigen Elemente in der deutfchen Literatur, für welche die
politiihen Zeitverhältniffe ganz befonders gende find.“
Ueber „Aus Schelling’s Leben. In Briefen“ Heißt es
ebendafelbft: „Der zweite Band von Sdelling's Briefen iſt
weniger reich als ber frühere an Beleuditungen feiner Philo-
ſophie, aber intereffanter, wenn auch nicht reihhaltiger, was
die perfönli—hen Gingeffeiten betrifft. Die glänzende und [höpfe-
riſche Periode von Schelling's Laufbahn war bereits vorüber,
ale er fih im Jahre 1803 als Brofeffor in Würzburg habir
litirte. Wie Eoferidge, dem er in fo vielm Hinfichten ähnlich
war und der ihm fo viel verbankte, vergendete auch er feine
beſten Kräfte großentheile an glänzende aber unfruchtbare Ent-
wöürfe; indeffen nicht wie Coleridge aus Trägheit oder Genuß.
ſucht, fondern weil er abfolut nicht im Stande war, feinem
raſch entwidelten philofophifhen Syfem etwas Wejentliches
hinzugufligen. Die Briefe, welde über Metapufit handeln,
find Hauptfäglih an Zünger und Anhänger im allgemeinen,
wie Windiſchmaun und Sicenmaner, gerichtet und find laum
derart, daß fie Schelling's geiflige Begabung hervorgerufen
hätten. Auch zeigen fie den Philofophen nicht immer im lie-
benerürbigfen Fichte. Schelling bejaß angenjeinlic Lebhafte
Empfindung und ein ſtolzes Unabhängigfeitsgefühl; alleim feine
Empfindlichkeit artet leiht in Ouengelei und feine Würde in
falten Hohmuth aus. Sein Häuslicer Vriefechfel zeigt ih
von ber vortheilhaftern Seite, und einige Briefe an feine Freunde,
befonders an den ſchwediſchen Dichter Auterbom, find mit fel-
tener Gefühlewärme geſchrieben. Die beiten Briefe in der
Sammlung indeſſen find nit Schelling’s, jondern die, melde
feine zweite Gattin, Pauline Gotter, vor ihrer Berbindung mit
ihm am ihn gerichtet bat. Die anziehende Individualität der
Schreiberin offenbart fih in der ungefünftekten Durchfichtigteit
der Gefinnung und des Ausdruds, fie enthalten and einige
intereffaute Notizen über Goethe, mit dem Pauline auf hr
freundfgaftlihen Fuße fand. Einige Briefe Schelling’s geben
Einzelheiten über den Tod feiner erflen Gattin, der Wuwe des
ältern Schlegel, die in ber frühern Geſchichte der romantifgen
Schule feine unbedeutende Rolle gefpielt hat. Sie wird ge»
wöhnli als eine Frau von großem Talent und Zauber, aber
als raſtloſe Ränkefpinnerin und Unpeilfifterin dargeftellt. Es
fei_ une nod bemerkt, daß Schelling's Briefe im allgemeinen
außerordentlich Mar find, ſelbſt wenn fie die bunkelften meta-
phufifhen Gegenftände behandeln.“
Bon den zahfreihen Beiprehungen Biftorifcher Schriften
fei, Bier nur die über Mendelsfohn-Bartholdy’s Ge
ſchichte Grieenlands angeführt. „Dr. Mendelsjohn-Bartgolby,
der Sohn des Componiften, ift als glühender Philhellene ber
tannt, der die Theilnahme an feinem Gegenftande mit jener
Kenntniß deffelben verbindet, welche beide erforderlich find, um
bie Gefchichte der griechiſchen Unabhängigeit anzichend zu machen.
Dies it denn and das Thema des erfien Bandes feiner
Seſchichte Neugriechenlands; denn ber traurige Zeitraum zivie
fen dem Falle Konkantinopels und der Empörung Ali-Bajchas
wird kaum berüdfihtigt. Statt deffen findet man interefjante
Bemerkungen über bie Gebrechen der turkiſchen Herrihajt und
den focialen Zufand Griechenlands unter derfelben, ſowie
Über defien Sprache und Fiteratur. Die Geichichte der militüe
tifjen unb politifden Creigniffe des Unabhängigteitsfriege if,
wenn auch weniger reichhaltig und zuverläffig als die Finlay's,
gewiß weniger troden; fie zeugt zwar von wenig felbftändiger
Forſchung, if aber mit Gefhid aus einer Mafie von Material
dufammengedrängt und hat nur den einen Nachteil, daß einige
Feuilleton, 687
Begebenheiten von einem unvermeibfien Dunkel behaftet find
und bie am meiſten malerischen nur einen epifobifchen Charakter
haben. In feinem zweiten Bande wird Mendelsjohn die um-
erfreuliche Geſchichte Griechenlands feit deffen Befreiung zu
verfolgen haben, eine Aufgabe, welde, wie zu hoffen ſteht, er
nit im Geifte eines krititioſen Vertheidigers vollziehen wird.”
Ueber A. 5. von Shad’s „Dur alle Wetter; Roman
‚in Berſen“, fagt das Blatt: „Es iſt dies einer der gelungenften
Berfuhe neuerer Zeit in einer Dictungsart, in welcher ein
rechter Erfolg felten erzielt wird. Einen zweiten «Don Yuan»
zu fHreiben, wäre einen zweiten Byron erfordern, und mas
diefer Dichtung naghſteht, wird fofort durch den Vergleich, den
8 unvermeidlich hHervorruft, als mislungen bezeichnet. Cin
humoriſtiſches Epos zu dichten, welches nicht an «Don Iuann
erinnerte, iſt ein Unternehmen, da® die Kräfte aller derer über»
fleigt, die e8 bisher verfucht haben, und ſelbſt Schad’s wirkliche
poetiiche Begabung hat dennoch nicht verhüten tönnen, feine
Leiſtung gewiffermaßen als einen Berfuch erfcheinen zu laffen.
Trogdem if es ein Bud, das man mit fortwährender Luft
und häufiger Bewunderung leſen Tann; es iR intereffant ale
Dichtung, frifh als Satire und zeichnet ſich dur des Ber-
faſſers durchgängige Beherrihung der Sprade und Eleganz des
Stils aus. Der Hauptfehler ift bie Sucht zu glänzen, ein
Fehler, der in Schriften, wo man nicht anders ais geiftreich ober
langweilig fein fann, fo ſchwer zu vermeiben iſt.“
B. —— eberfesung der „Shalfpeare'ihen
Sonette'' findet der Recenfent zwar nicht fo poetiſch wie einige
andere Uebertragungen berfelben, aber genau und im allgemei-
nen befriedigend.
F. A. Leo’s Bearbeitung von „Antonius und Kleopatra‘
meint er, verbiene wegen ihrer Vorzüge und ale Beifpiel von
der vortrefflichen Weile, in welcher Aufgaben diefer Urt in
Deutjdland gelöft werden, Beachtung.
auf Heyfe's „Böttin der Vernunft‘ erllärt er für Eräftig
und wirkungsvoll, was die Sprache und Situation betrifft, das
Ganze aber fei zu offenbar erfünftelt und nicht® ala die gefdidtte
Beraxbeitung einer Idee zu rein literariſchen Zweden.
Die Ueberficht tet mit einer abermaligen rühmlichen
Erwähnung von „Unfere Zeit", von der es Heißt,
fie behaupte ihren Charakter als werthvolles Repertorium
reihhaltiger und eingehender Wbhandlungen Über wichtige
Gegenftände.
Eine Ueberfegung des „Spiel von den zehn
Yungfranen".
Ludwig Bechſtein fügte feiner Publication des bekannten
„Spiel von den zehn Sungfrauen‘' aus dem Jahre 1322 eine
Uebertragung in die hentige Sprache bei. Später finden wir
einen gleichen Berſuch im dritten Bande der „Herbftabende und
Binternägte” von Ludwig Eitmiüller (Stuttgart 1867). ine
dritte Ueberfegung bietet und eine Meine Schrift von Albert
Freybe: „Das Spiel vom den zehn Jungfrauen, eine Opera
seris, gegeben zu Eifenad; am 24. April 1322, Übertragen und
eitgefahnt behandelt" (Leipzig 1870). Bechſtein kannte nur
eine, die mühfhäufer Handjchrift, fpäter wurde von Maz Rieger
ein zweiter, ein oberheſſiſcher Tert aufgefunden und in Pfeiffer's
„Germania’ (1865) veröffentlicht. Ettmüller fcheint biefen
Tert nod) nicht gelaunt zu haben, als er zu feiner Mebertragung
des Spiels ſchrut. rehbe's Arbeit gründet fih_auf beide
Terte. Diefe Weberfegung können wir empfehlen, fie if recht
lesbar; dabei glättet der Berfaffer nicht allzu jehr, ſoudern Hält
ih möglihft an das Original. Muf das Spiel felbft folgt in
reybe's Buche ein Kapitel „um Berfläudniffe und zur WBür-
digung des fogenannten gro] thüringer Myſteriums und
eher ‚Zeit‘, weldes, abgelehen von einer etwas novelliſtiſchen
Einfeidung, im fachgemäßer Weife die literariſchen und hiſto⸗
riſchen, aud einigermaßen die dogmatifhen Berhältniffe des
Spiels und des benfwärdigen Vorgangs, dem es hervorrief,
berahrt und fo wirklich zum Verftändniffe diefer Hervorragenden
dichteriſchen Erſcheinung beiträgt.
Bibliographie.
ler Frage einen wirklich dauerhaften Frii
370. Hambarg, Hoffmann u, pe. Gr.
(gl, Betragtungen eines Verſtorbenen. Breslau, Liqtenauer.
üch’s, L. v., gesammelte Schrift
2, Roth und H. Eck, Zter Bd. B
Nar.
Chlebik, F,, Die Philosophie des Bewussten und die Wahrheit
des Unbewussten in den dialektischen Grundlinien des Freiheits- und
— nach Hegel und C. L. Michelet entworfen, Berlin, Loo-
wenstein. Gr. 8, 18 Ngr.
Ewald,
4 Thlr.
Herausgegeben vı
‚ 6. Reimer.
Dömt , Im Bivouac. Zur Grütnerung an bie Siege vom
30. Augu 2, September 1870 dem deutien Heere und feinen Fühe
kein genibmet. Bamberg, Buhner. Or. 5. 3 Mar.
brard, M., Gufan König. Gein Lehen und feine Kunft. Erlans
nen, Deicert, Abt. Or. 8. 1 Er. 16 Mer,
Eihwalb, 8., Nieverbeutige Sprüdiörter und Mebendarten geſam -
weit, and mit einem Gloffar verjeben. Ate Ausgabe. Bremen, Tannen,
3 15 Nor.
Frattig, 9. 9, Leben und Schriften, Ergänzungssand. — A. u.
b. Z.: Bädagogiice Tchensweispeit. Aus ben nachgelaffenen Papieren
bes Berfafierd herausgegeben von 8. C. €. Ehmann. Heidelberg, C.
Winter, 8. 16 Nur.
Eite, De Fuemig, van Beeiheven. Gin Lebensbils. Bielefeld,
*
rt ® Das Frommannfde Haus und feine Freunde
usa io, "Sener Q%. Hemmanın Or. 6. 1% Son,
Watrietifhe Gevigte, Mr. 1. Speyer, Lang. Er. 8. 1 ng.
Be a Palo eanargte
Granins, — Boltstieder im Kriegs «Jahre 1870, Hamburg, Grüs
Hartmann, E. v., Philosophie des Unbewussten. 2ie vermehrte
Auf. Berlin, C. Duncker. Gr. 8. 3 Thlr. 10 Ngr,
Höfer; P., Die Bedeutung der Philosophie für das Leben nach
Plato dargestellt. Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 8. 10 Ngr.
Jacobi, De, Berlender Wein in funteinbem Olafe., In einer Reife
bon Gharatterzigen berühmter Menigen aller Zeiten und Mationen ; for
wie Sentengen über alle Verhältniffe des Lebens, und eine Sammlung
beiterer Anetvoten, Gaffel, &udhartt. 3. 10 Nar.
Kleine, F. Geblchte. Hildesheim, Nolte m. Schneidler. Gr. 16.
nd, %., Die frangofen nad Berlin, Komiſches Heldengedicht
dur Grinnerimg an pas Bahr "lat, Yankurg. Gr. 16. 10 Nur 7
Knorg, 8, Märden und Sogn der nordamerifanijhen Indianer,
Deng, Gofeüeble, 1EM, Br. 8 120Rte. Do Mar, ;
eue und alte Iuflige und ernfte Kriegs=Lieder gegen bie Franzoſen
1010. Sreklan, Gebhenik 61. 1 Dar. > —— *
ulemann, Germania, Nürnberg, Korn, Gr. 16. 2%, Nor.
Kummer, Cri ungen aus bem Leben einc# Veteranen ber künig-
177 kart ven Armee. Dredden, Meinhold u. Söhne. Br. 8, 24 Nor.
te, U, — zu fingen nach ber bekannten Weife:
ber Bocior Elfenbart.” Bremen, Tannen: Or. 8. 17, Ngr.
.. Bartholomäus Garranza, Erzbiinof von Toledo (geb.
Kempten, &öfel. ®r. 8. *
. be, Kram und Zroftlieber. Gera, Euppe. Gr. 16.
Mussafla, A,, Ueber eil
Universitätsbibllothek zu Pa‘
Itfranzösische Handschrift der königl.
richt, Wien, Gerold's Sohn. Lex.-3.
12 Nar.
Yapoleon, der Morbörenner der Berrätper genen Heer um Sauce.
m geben, Berlin, Löhner,
@r. 8. 2, Nat.
Weregrina, Eorbula, Die Seſgichte ber Deiligen Rothburga von
Nottendurg. PVoelifh erzäplt." Innsbrud, 3. Raub. 8. 77, Mar.
an gamaier, us dem Traumisben der Chinesen.” Wien, Ge-
zold's Sohn, Y, Dar.
—*
Rittershaus, €, Den vo und Jungfrauen in ber Kriegägeit.
Drei Lieder nad Boltsweijen. Barmen, W. Tangewieihe. 8. 2 Ngr.
Seiakruun, Atice, Das ont Beties in Jeuguifen von bester
nen, Btifopden ind Dictern, Geipig, Price, 16; 18 Mar,
Säraber, 4., Zunft und Liebe. Socialer Roman aus ber Gegen
wart in 5 Don, Leipzig, Gerbe. 1BTL. 8. 6 Thlr. 15 Nor.
Der untesgang Sea aten, Kegime. Cociater Roman aus ber
% Serbe. 1871. 8. 4 Th
1,
in 3 re.
8 Berhängniß. Socialer Roman aus der Gegenwart in 6
dm. eipjig, Gerbe. 1871. 8. 8 Thlt.
See, ®, dom (©. d. Struenfee), Ballenrobe, Roman in 4 Bon.
Hannover, Rümpler, 8. 6 Tplr.
Segejfer, 9. ®. v., Studien und Glofjen zur Ta; ihigte. Am
Worabend des Gonciliume, Bafel, Bahnmaier. 1869. 12 Ngr.
Vivenot, A. Ritter v., Thugut und sein politisc tem. Ür-
kundliche Beiträge zur Geschichte der deutschen Politik österreichi-
schen Kaiserhauses, während der Kriege gegen die französische Revolu-
tion. Wien, Gerold's Sohn, Gr. 8. 20 Ngr.
Zingerle, J. V., Beiträge aur älteren tirolischen Literatur. I. Os-
wald von Wolkenstein. Wien, Gerold's Sohn. Lex.-8. 12 N
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688
Anze
Anzeigen.
igem
Derfag von 5. 4. Brochhaus in Leipzig.
Griechenland
Bengrapifä, efhichic unbeuturfitoith
von den äfteften Zeiten bis auf bie Gegenwart
in Monographien dargeftellt.
Separatausgabe
aus der
Allgemeinen Enchllopäbie der Wiſſenſchaften und Künſte
von Erſch und Gruber.
Herausgegeben von
Hermann Brokhans.
At Bünde,
Gr. Duart. Preis jedes Bandes 8 Thlr. 25 Nor.
Eine Darftellung Griechenlands und des griedhifchen
Volks durch feine ganze lange Entwidelung hindurch, von
den frübeften Zeiten an bis zur Gegenwart herab, war
durch den Charakter der Erfh- und Gruber'ſchen „All-
gemeinen Enchflopädie der Wiffenfhaften und SKünfte“
geboten, und zwar Tonnten birftige Abrifje und Ueber-
fihten weder ben wiſſenſchaftlichen Anforderungen noch
dem reichen Stoffe Genüge leiften. Redaction und Ber-
lagshandiung entſchloſſen ſich vielmehr, die Artikel über
Griechenland und die griechifche Welt in einer Reihe er-
ſchöpfender und einander ergänzender Monographien den
Leſern vorzulegen. Es ift dadurch eine Vollftändigfeit
in ber Behandlung des Gegenftandes nach allen Seiten
hin erreicht und gewiffermaßen eine griechiſche Ency-
ilopadie geſchaffen worden, wie fie bisjegt die Literatur
feines Volls aufzumeifen hat.
In der Erih- und Gruber'ſchen „Encyklopädie“
füllen diefe Monographien, für deren gebiegenen Werth
die Namen der Berfaffer Gewähr Ieiften, den 80.—87.
Theil der I. Section. Um biefelben indeß auch andern
Kreifen als den Subferibenten jenes weitumfafjenbden Werts,
namentlich der deutſchen Gelehrtenwelt, allgemein _zugäng-
lich zu machen, wurde unter obigem Zitel eine Geparat-
ausgabe in acht Bänden veranftaltet, welde vollftändig
vorliegt und durch alle Buchhandlungen zu beziehen ift.
Nachftehend ein Verzeichniß ber in dem Werke ent-
haltenen achtzehn Monographien und ihrer Verfaſſer.
Inhaltsverzeihniß.
Erfier Band:
A. Alt-Griehenland.
1. Geographie, von Profeffor Dr. 3. 9. Krane in Halle.
1. Gefhichte von der Urzeit bis zum Beginn des Mittele
Fr von Profeffor Dr. ©. F. Hergberg in
alle.
Zweiter Band:
II. Griechiſche Sprache und Dialehe, von Profefjor Dr.
. 3. X. Mullad in Berlin.
IV. Griehifge Mufit, Khyihmik und Metrit, von Pror
feflor_Dr. €. Fortlage in Jena und Profeffor
Dr. 9. Beiffenborn in Erfurt.
V. Griechiſche Metrologie, von Gymnafialdirector Dr.
Fr. Hulgich in Dresden.
VI. Gricchiſche Literatur, von Proſeſſor Dr. Theodor
J Bergl in Halle.
Dritter Band:
VO. Religion ober Drytiotogie, Theologie und Gottes-
verehrung der Griechen, von Profeffor Dr. Ehrie
Rian Peterfen in Hamburg.
van. Geicäilde Nunf, von Profeffor Dr. C. Burfian
in Iena.
Bierter Band:
IE. Griehifhe Stantsalterthümer, von Profeffor Dr. 9,
Brandes im Leipzig.
X. Griechiſche Privatalterthümer, von Gymnafialdirector
Dr. Hermann Göll in Edleiz.
XI. Griehijges Theater, von Profejjor Dr. Friedrid
Biefeler in Göttingen.
B. Griechenland im Mittelalter und in der Henzeit.
XI. Geographie. Bon der weft. und oſtrömiſchen Raifer-
zeit ab durch das Mittelalter bis zur Gründung des
neuen griegifhen Königreichs, von Profefor Dr.
3.9. Kranfe in Halle.
Funfter Band:
XII. Griehifhe Kirge, von Dr. 9. Hafemann, Paftor
in Arzberg.
ZIV. Chriffih-griechifche oder bizantinifche Kun (Arcitettur,
Skulptur und Malerei). Bon Profefor Dr. fr.
B. Unger in Göttingen. Erfter und zweiter
Abfgnitt.
Sechster Band:
Ehriflich⸗ griechiſche oder byzantinifche Kunft (Arie
tektur, Skulptur und Malerei). Von Profeflor
Dr. Fr. B. Unger in Gittingen. Dritter und
vierter Abſchnitt.
XV. Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelal
is _auf unfere Zeit (1821). Bon Profeffor Dr.
€. Hopf in Königeberg. Erſte und zweite Periode.
Siebenter Band:
Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelaltere.
i8 auf unfere Zeit (1821). Bon Profeflor Dr.
€. Hopf in Königsberg. Dritte Periode.
ZVI. Grichifh-römifhes Hecht im Mittelalter und im der
Neuzeit. Bon Dr. C. B. €. Heimbach, Bir
‚präfibent des Oberappellationsgerichts in Jena.
Achter Band:
XVII Gefhite Griechenlands im neunzehnten Iahrhundert.
Bon Profeffor Dr. ©. $. Hergberg in Halle.
XVII. Gefhichte der bipantinifen oder mittelgriechifchen
Fiteratur, von Juflinian's Thronbefteigung bis anf
die Eroberung Conftantinopels durch die Türten,
von 529— 1458. Bon Dr. Rudolf Nicolaı
in Berlin.
ANe Buchhandlungen nehmen Beftehungen auf das Wert
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Pt ich einzeln zum Preife von 3 Thle
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Srohhaus. — Drud und Verlag von F. A, Srodhaus in Leipzig.
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Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
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Erſcheint wöchentlich. 27. October 1870.
Inhalt: Zur Gefhicdhte der Mormonen. Bon Rudolf Doegn. — Neue lyriſche Gedichte. — Bilder aus dem Altertfum. Bon F
Rudolf Gottſchal. — Neue Romane und Novellen. — Senilleten. (Pfeiffer⸗Feier in Bettlach; Notizen.) — Bibliographie. — a
Anzeigen. 33
—
Zur Geſchichte der Mormonen. Be
Geſchichte der Mormonen nebft einer Darfiellung ihres Glaubens
and ihrer gegenwärtigen focialen und politiichen Verhältniſſe
1% morit Buſch. Leipzig, Abel. 1870. 8 2 Thlr.
3 gr.
Es iſt Sitte geworden, die Bereinigten Staaten von
Amerika als das Mutterland und das Eldorado der ver-
fhiedenften und mwunderbarften Religionsfelten anzufehen,
und doc haben, wie ſchon Karl Friedrich) Neumann in
feiner „Sefchichte der Bereinigten Staaten von Amerika’
(II, 378) anerkennt, die allerdings Außerft zahlreichen
religiöfen Genofjenfchaften, welche auf dem fruchtbaren
Boden der nordamerilanifchen Union wucern, mit weni-
gen Ausnahmen in den religiöfen Bewegungen des alten
Europa ihren Urfprung. So flammen 3. B. die Bifchöf-
lichen: oder Episfopalen von der anglifanifchen Kirche,
die Presbyterianer von der reformirten Kirche in Schott-
land, die Holländifch-Reformirten aus Holland, die Deutſch⸗
Reformirten ans der rheinischen Pfalz und der Schweiz;
die Zutheraner, Herrnhuter, Mennoniten und Rappiften
fomen aus Deutihland, die Quäker und Shaker aus
England; Methodismus und Baptismus, die ſchnell an
Zahl und Macht zunahmen, und vornehmlid die niedern,
einfichtslofen Klafien, 3. B. die Neger, an fich zogen,
wuchſen faft zu derfelben Zeit in der Alten und ber
Neuen Welt empor. Alle diefe Confeffionen pflegen die
Meberlieferungen und nähren fi an den Symbolen, den
Liedern und Agenden, an der theologifchen Literatur, den
Sitten und Gebräuchen der betreffenden Muiterkirchen
in Europa. Xroß ihrer mehr jugendlichen Friſche und
Rührigkeit, wie fie in der Alten Welt felten vorgefunden
werden, halten dieſe transatlantifchen Genofjenfchaften bei
aller geiftigen Entwidelung, bei allem materiellen Wohl⸗
behagen feft an den Grundfägen eines gewiſſen orthodoren
Broteftantismus. Die eigentlichen, die wahren Amerikaner,
die wirklichen Träger der Union und alles Großen, mas
durch diefe Union gefchaffen, find ein ernft-religidjeg,
- 1870. 4.
hriftlich-proteftantifches Bolt, ohne ſchädlichen Fanatismus,
jedoch hier und da religiöfer Schwärmerei ergeben. Man
hält es, wie auch K. F. Neumann a. a. DO. es beftätigt,
in Amerifa im allgemeinen flir ungeziemend, ohne befon-
dere Beranlafiung viel über Religion zu fprechen, weil
man fie für eine innere, eine häusliche und heilige An-
gelegenheit erachtet, die jedes Individuum oder jede Ba- „;,
milie für fih abzumachen hat. Bei alledem ift es nicht "RE
ganz ungefährlich, fie öffentlich zu misachten, da man fie
als ein® der widhtigften und wohlthätigften Bindemittel
der bürgerlichen Gefellfchaft anfieht und in ihr gleichfam
ein Surrogat für die in despotiſch regierten Staaten
herrfchende Polizeigewalt zu finden glaubt. Vorzüglich
von ben Amerifanern folcher fireng religiöfen Richtung
find, vielleicht wegen der gejeglich herrſchenden Religions-
und Gewiffensfreiheit, die meiften focialen Berbefferungen
und viele neue Ideen und Einrichtungen ausgegangen;
bei ihnen find mehrfach dem Fortſchritt und der höhern
Menſchlichkeit dienftbare Vereine, z. B. Unitarier, Aboli-
tionsgefellfchaften u. ſ. w, entftanden. „Wir glauben nicht“,
ſprach der edle William E. Channing, wohl der beden-
tendfte Theologe Neuenglands, „daß man bei den Refor⸗
matoren des 16. Tahrhunderts ftehen bleiben fol. Der
menfchliche Geift ift in der Ausbildung begriffen. Was
einem rohen und verborbenen Jahrhundert gut dünfte, er=
ſcheint ungeeignet für unfere erleuchteten Tage.” .
Zu den wenigen religiöfen Selten, die ausnahmöweife
ihren Urfprung nicht aus Europa ableiten und doch
fcheinbar uralte, Höchft wunderbare und verfchrobene Tehren
und Gebräuche befiten, gehören die Mormonen. Boltaire
fagt irgendwo von einer religiöfen Sekte, daß fie nur
geringe Chancen des Gedeihens babe, weil ſich in ihren
Doctrinen nichts vorfinde, was der menjchlichen Vernunft
befonders ſtark ins Geſicht ſchlage. Legt man dieſen
Maßſtab an den Mormonismus an, jo wird man ihm
ficherlich einige Chancen des Gedeihens zugeftchen müſſen.
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688 Anzeigen.
Anze
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Derfag von 5. A. Brochaus in Leipsig.
Griechenland
geographifch, geſchichtlich und culturhiſtoriſch
von dem älteſten Zeiten bis auf die Gegenwart
in Monographien bargeftellt.
Separatandgabe
aus ber
Algemeinen Encpllopäbie der Wiſſenſchaften und Kinfte
von Erſch und Gruber.
Herausgegeben von
Hermann Brodhans.
Acht Bünde,
Gr. Quart. Preis jedes Bandes 3 Thlr. 25, Ngr.
Eine Darftelung Griechenlands und bes griechiſchen
Volls durch feine ganze lange Entwidelung hindurch, von
den früheften Zeiten an bis zur Gegenwart herab, war
durch den Charakter der Erf» und Gruber'ſchen „All-
gemeinen Cnchflopädie der Wiffenihaften und Künſte“
geboten, und zwar konnten ditrftige Abriffe und Ueber-
fihten weder ben wiſſenſchaftlichen Anforderungen noch
dem reichen Stoffe Genüge leiften. Redaction und Ber-
lagshandlung entſchloſſen fid vielmehr, die Artikel über
Griechenland und die griehifche Welt in einer Reihe er⸗
ſchöpfender und einander ergänzender Monographien den
Lefern vorzulegen. Es ift dadurch eine Vollſtändigkeit
in ber Behandlung des Gegenftandes he! allen Seiten
hin erreicht und gewiſſermaßen eine griechiſche Ency-
ilopadie geſchaffen worden, wie fie bisjegt bie Literatur
teines Volls aufzuweiſen hat.
In der Erſch- und Gruber'ſchen „Encyklopädie“
füllen dieſe Monographien, für deren gebiegenen Werth
die Namen ber Berfafier Gewähr leiften, ben 80.—87.
Theil der I. Section. Um biefelben indeß auch andern
Kreiſen als den Subfcribenten jenes weitumfafjenden Werts,
namentlich der deutſchen Gelehrtenwelt, allgemein _zugäng-
lich zu machen, wurde unter obigem Titel eine Separat-
ausgabe in adıt Bänden veranftaltet, welche vollitänbig
vorliegt und durch alle Buchhandlungen zu beziehen ift.
Nachftehend ein Verzeichniß der in dem Werke ent
haltenen achtzehn Monographien und ihrer Berfaffer.
Inhaltsverzeihniß.
Erfier Band:
A. Alt-Griechenland.
I. Geographie, von Profefjor Dr. 3. H. Kranfe in Halle.
1. Geſchichte von der Urzeit bis zum Beginn des Mittel
Fr von Profefjor Dr. ©. F. Hergberg in
alle.
Zweiter Band:
II. Griegifhe Sprade und Dialefte, von Profefior Dr.
5. 8. A. Mullad; in Berlin.
IV. Griegifhe Ruft, Khyihmik und Metrif, von Pro-
feflor_Dr. € Sortlage im Jena und Profeffor
Dr. 9. BWeiffenborn in Erfurt.
V. Griehifce Metrologie, von Gymnaſialdirector Dr.
Br. Hulgfc in Dresden.
VI. Griehijgje Literatur, von Profefor Dr. Theodor
, Bergt in Halle.
Dritter Band:
VI. Religion oder Mythologie, Theologie und Gottes»
verehrung der Öriehen, von Profefjor Dr. Ehri-
Rian Peterfen in Hamburg.
VII. Griechiſche Kunſt, von Profeffor Dr. C. Burfian
in Jena.
Bierter Band:
IR. Griedifhe Staatsalterthlimer, von Profeffor Dr. 9.
Brandes in Leipzig.
X. Griechiſche Privatalterthümer, von Gymnafialdirectot
Dr. Hermann Göll in Schleig.
XI. Griehifhes Theater, von Profeffor Dr. Friedrich
Biefeler in Göttingen.
B. Griechenland im Mittelalter und in der Henzeit.
XII. Geographie. Bon der weh. und ofrömifhen Kaifer-
zeit ab durch das Mittelalter bis zur Gründung des
neuen griehifgen aenigreiä, von Profeffor Dr.
3.9. Kraufe in Hole.
Fünfter Band:
x. Siehifäe Kirche, von Dr. I. Hafemann, Baftor
im Arzberg.
XIV. Ehriftlic-griedifche oder byzantinifche Kunft ( Architettur,
Skulptur und Malerei). Bon Rrofeffor Dr. Sr.
®. Unger in Göttingen. Erfter unb ziweiter
Abſqhnitt.
Sechster Band:
Chriflich/ griechiſche oder byzantiniſche Kunft (Ardi-
teltur, Skulptur und Malerei). Bon Profeflor
Dr. $1. ®. Unger in Göttingen. Dritter und
vierter Abſchnitt.
XV. Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelal
bis auf unfere Zeit (1821). Won Profeflor Dr.
€. Hopf in Königsberg. Erſte und zweite Periode.
Siebenter Band:
Gefhichte Griechenlands vom Beginn des Mittelalters,
bi® auf unfere Zeit (1821). Bon Profeffor Dr.
€. Hopf im Königsberg. Dritte Periode.
XVI. Griegifh-römifhes Rede tm Mittelalter und im der
Nengeit. Bon Dr. €. ®. €. Heimbad, Bice-
praſident des Oberappellationsgerichts in Jena.
Adter Band:
XVII Gefhichte Griechenlands im neunzehnten Jahrhundert.
Bon Brofeffor Dr. ©. $. Hergberg in Halle.
XVII. Gefgjihte der Dygantinifen ober mittelgriecifcher
Kiteratur, von Juſtiniau's Thronbefteigung bis auf
die Eroberung Conftantinopels durch die Türfen,
von 529 — 1458.
v Bon Dr. Rudolf Nicolai
in Berlin,
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Pr Pag 1. einzeln zum Breife von 3 Thlr
Berantwortlier Rebacteur: Dr. Eduard Grodhaus, — Drud und Berlap von F. A, Sroahaus in Leipzig.
—
Blaͤtter
für
literariſche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wochentlich.
se Ar. 44. Mr
27. October 1870.
Inhalt: Zur Gefchichte der Mormonen. Bon Rudolf Doehn. — Nene lyriſche Gedichte. — Bilder aus dem Altertfum. Bon
Nudolf Gottſchal. — Neue Romane und Novellen. — Fentkelon.
(Pfeiffer-Feier in Bettlach; Notizen) — sKibliographie. —
neigen.
Zur Gefchichte der Mormonen.
Geſchichte der Mormonen nebft einer Darflellung ihres Glaubens
and ihrer gegenwärtigen fociafen und politiichen Verhältniſſe
2 morit Buſch. Leipzig, Abel. 1870. 8. 2 Thlr.
2 Rgr.
Es iſt Sitte geworden, die Vereinigten Staaten von
Amerika als das Mutterland und das Eldorado der ver-
fhiedenften und wunderbarften Religionsfelten anzufehen,
und doch haben, wie ſchon Karl Friedrid) Neumann in
feiner „Sefchichte der Vereinigten Staaten von Amerika”
(I, 378) anerkennt, die allerdings äußerft zahlreichen
religiöfen Genoſſenſchaften, welche auf dem fruchtbaren
Boden der nordamerifanifchen Union wuchern, mit weni-
gen Ausnahmen in den religiöfen Bewegungen des alten
Europa ihren Urfprung. So flammen 3. B. die Biſchöf⸗
lichen oder Episkopalen von der anglilanifchen Kirche,
die Presbyterianer von der reformirten Kirche in Schott«
land, die Holländifch-Reformirten aus Holland, die Deutſch⸗
Reformirten ans der rheinischen Pfalz und der Schweiz;
die Lutheraner, Herrnhuter, Mennoniten und Rappiften
kamen aus Deutfchland, die Quäker und Shaker aus
England; Methodismus und Baptismus, die ſchnell an
Zahl und Macht zunahmen, und vornehmlich die niedern,
einfichtslofen Klafien, 3. B. die Neger, an ſich zogen,
wuchſen faft zu derfelben Zeit in der Alten und der
Neuen Welt empor. Alle diefe Confeſſionen pflegen bie
Ueberlieferungen und nähren fi an den Symbolen, den
Liedern und Agenden, an der theologifchen Literatur, den
Sitten und Gebräuchen der betreffenden Muitterkirchen
in Europa. Trotz ihrer mehr jugendlichen Friſche und
Rührigkeit, wie fie in der Alten Welt felten vorgefunben
werben, halten diefe transatlantifchen Genoflenjchaften bei
aller geiftigen Entwidelung, bei allem materiellen Wohl-
behagen feft an den Grundjägen eines gewiſſen orthodoren
Broteftantismus. Die eigentlichen, die wahren Amerilaner,
die wirklichen Träger der Union und alles Großen, was
durdy dieſe Union gefchaffen, find ein ernft-religidfes,
: 1870. 4.
hHriftlich-proteftantifches Volk, ohne fchädlichen Fanatismus,
jedoch hier und da religiöfer Schwärmerei ergeben. Man
hält es, wie auh K. F. Neumann a. a. D. es beftätigt,
in Amerika im allgemeinen für umgeziemend, ohne bejon-
dere Beranlaffung viel über Religion zu ſprechen, weil
man fie für eine innere, eine häusliche und heilige An-
gelegenheit erachtet, die jedes Individuum oder jede Fa⸗
milie für fich abzumachen hat. Bei alledem ift es nicht
ganz ungefährlich, fie öffentlich zu misachten, da man fie
als eins der wichtigſten und mohlthätigften Bindemittel
der bürgerlichen Geſellſchaft anfieht und in ihr gleichſam
ein Surrogat für die in despotiſch regierten Staaten
herrſchende Polizeigewalt zu finden glaubt. Vorzüglich
von den Amerilanern folcher fireng religiöfen Richtung
find, vielleicht wegen ber gejeglich herrſchenden Religions-
und ©ewiflensfreiheit, die meiften focialen Berbeflerungen
und viele neue Ideen und Einrichtungen ausgegangen;
bei ihnen find mehrfach dem Fortſchritt und der höhern
Menjchlichkeit dienftbare Vereine, z. B. Unitarier, Aboli-
tionsgejellfchaften u. ſ. w, entftanden. „Wir glauben nicht“,
fprad) der edle William E. Channing, wohl der bebeu-
tendfte Theologe Neuenglande, „daß man bei ben Refor⸗
matoren des 16. Yahrhunderts fichen bleiben fol. ‘Der
menſchliche Geift ift in der Ausbildung begriffen. Was
einem rohen und verborbenen Jahrhundert gut dünkte, er-
Scheint ungeeignet für unfere erleucdhteten Tage.“
Zu ben wenigen religiöfen Selten, die ausnahmsweiſe
ihren Urfprung nicht aus Europa ableiten und doch
fcheinbar uralte, Höchft wunderbare und verfchrobene Lehren
und Gebräuche befigen, gehören die Mormonen. Voltaire
jagt irgendwo von einer religidfen Sekte, daß fie nur
geringe Chancen des Gedeihens habe, weil ſich in ihren
Doctrinen nichts vorfinde, was der menfchlichen Vernunft
befonders ſtark ins Geſicht ſchlage. Legt man dieſen
Mafftab an den Mormonismus an, fo wird man ihm
fiherlich einige Chancen bes Gedeihens zugeftehen müflen.
87
690 Zur Geſchichte
Die Mormonenbibel, die perfönlichen Specialconferenzen,
welche die Mormonenpropheten bei jeder Gelegenheit mit
dem lieben Herrgott haben, und aus denen die „Offen“
barungen“ hervorgehen, die Bielweiberei, die abfolute
Vrieſterherrſchaft und ähnliche Dinge laſſen in dieſer
Beziehung nicht viel zu wiluſchen übrig. Man wilrde
aber ſicherlich das Rechte verfehlen, wenn man fi damit
begnügte, die Mormonen in jeder Hinſicht lächerlich zu
finden und fie zu verfpotten. So urtheilt auch der geift-
reihe W. Hepworth Diron in feinem „Neu- Amerika”
(überfest von Richard Oberländer; Jena, Coftenoble,
1868, ©. 137); und es ift deshalb immerhin als ein
verdienftvolles Unternehmen zu begrüßen, dag Morig
Buſch in dem vorliegenden Werke die Gedichte, bie
Slaubensfäge und die focialen und politifchen Ver⸗
hältniffe einer Weligiongfelte, melde den Vereinigten
Staaten von Amerifa bereits fo vielfache Unannehm-
lifeiten und Schwierigleiten bereitet hat, uns in
einer gründlichen und erjchöpfenden Weife vor Augen zu
führen ſucht.
Der Berfafer, welcher felbft längere Zeit in Amerika
lebte, wiederholt mit Meinen und größern Mormonen«
gemeinden verlehrte und mit ber Literatur über das
Mormonentfum ziemlich gut vertraut ift, betrachtet die
ſtaatliche Entwidelung und den Glauben der „Latterday-
Saints“, d. 5. der „Heiligen der legten Tage“, wie ſich
befanntlich die Mormonen nennen, nicht fowol als einen
„großartigen Schwindel”, fondern als „eins der größten
Wunder und Näthfel der amerikaniſchen Culturwelt“.
Diefe Auffaffung der fonderbaren Religionsſekte ſcheint
uns num aber doch etwas zu hoch gegriffen zu fein.
Bir felbft lebten mehrere Jahre im Staate Miffouri,
wo die Mormonen eine Reife von Jahren ihr Weſen
trieben; wir waren aud; in Nauvoo im Staate Illinois,
wohin die Mormonen zogen als fie Miffouri verließen,
und wir haben, abgefehen von dem was wir aus Büchern
und Zeitungen über fie erfahren, an Ort und Gtelle
Hinlänglich Erkundigungen über fie eingezogen, um be
redhtigt zu fein, ein Urtheil über das Leben und Treiben
der wunderbaren „Heiligen ber legten Tage“ zu fällen.
Diefes unfer Urtheil geht num aber, kurz gefaßt, dahin,
daß das Mormonentgum allerdings als ein charakteriſtiſches
Erzeugniß des amerifanifhen Thuns und Treibens be
zeichnet werben kaun, über dag man mit einem bornehmen
Achſelzuden nicht wohl hinweggehen darf, welches jedoch
anbererſeits ſchwerlich als „eins ber größten Wunder
und Räthfel der amerifanifhen Culturwelt“, dem kein
„großartiger Schwindel” beigemifcht fei, aufzufaflen ift.
Dies hindert und indeffen nicht, Buſch beizuftimmen,
wenn er jagt:
Das Mormonentfum will aus dem Boden, auf dem es
erfland, aus hundert Einzelheiten in feiner Entwidelung be-
griffen fein, und dazu bebarf es einer ausführlichen Darftellung,
welche die Erfheinung an ähnlichen Phänomenen mißt, melde
die Hauptdaraktere in dem Drama fid nad) Möglichkeit ſelbſt
charattetjſiren läßt, und melde das, was nad) einem Vergleich
der Berichte für und wider dunkel bleibt, aus dem Leben des
Vanteetums, aus dem die beiden Propheten der Selte flam-
men, und emjenigen in den weſtlichen Orenzregionen zu exe
Mären im Stande if, wozu nur gründfiches Studium dieſes
Drag nur im parteiifcher Färbung vorgeführten Lebens
efähigt.
der Mormonen.
Die Religionsanfchauungen ber Mormonen find fo
feltfamer Natur, daß feit Jahrhunderten im Bereiche der
chriſtlichen Welt kaum ein feltfameres Exedo aufgetaudt
if." Der Gottesglaube ift, wie unfer Autor ©. 352 fg.
nachweiſt, materiell im gröbften Sinne des Wortes.
„Bott ber Bater“ Hat einen Körper mil Gliedern und
Theilen; er ift nicht allgegenwärtig, weil er jonft bem
Nichts gleich fein würde. Die Menſchen, die in Polygamie
leben, werben ihm einft im Jenſeits gleich und zwar voll-
kommen gleich, aljo ebenfalls Götter fein. Lebende können
Todte erlöfen, indem fle fich file diefelben taufen Laffen,
fie können ihnen zu größerer Seligkeit verhelfen, indem
fie ſich dieffeits mit ihnen vermählen. Yejus hat nad
feinem Tobe ein zweites Leben unter ten Rothhäuten
Amerilas gelebt, welche Nachkommen fraels find, er Hat
inte ihnen gelehrt, Wunder gethan, Jünger gewählt
u. ſ. w.
Die Mormonen nennen ihr Regierungsſyſtem gern
eine „Theo- Demokratie” und vergleichen fid in ihren
bürgerlichen Beziehungen mit den alten Sraeliten unter
Mofes. Bei ihnen ift die ftaatliche, refigiöfe und bürget ⸗
liche Gemeinde untrennbar verbunden. Der Borftand
der Mormonen ift zugleich weltlicher und geiftliher Ges
bieter, Richter und Prophet; fie geben eigenen Berftand
und Urtheil ihrem Despoten unbedingt gefangen. 8. F.
Neumann findet a. a. D. eine große Achnlichkeit zwir
fchen der chineſiſch · chriſtlichen Selte der Taiping und den
Mormonen; beide find zufälig auch um dieſelbe Zeit
entftanden.
Der Autor behandelt feinen Gegenftand in elf Ka-
piteln. Die erften fech® Kapitel ſchildern zunächſt die
Entftefung des Mormonismus und bie Charaktere der
Hauptträger bdefielben; alsdann geben fie eine genaue
Beſchreibung des Mormonenlebens in Mifjourt und
Illinois. Das flebente Kapitel enthält eine Darftellung des
mühe- und gefahrvollen Exodus ber Mormonen durch die
Präiriewildnig des Weftens nach Utah und dem Beden
des Salzſees, fowie eine intereflante Angabe des Berhält-
niffes der Heiligen zu den Camaniten; im achten Kapitel
finden wir eine treffliche Schilderung von Utah oder De-
feret, außerbem behandelt der Autor hier die Verfafjungs-
frage und die Einfegung einer Territorialregierung, das
Verhältniß der Mormonen zu den Indianern, die Griindung
verfchiedener Colonien, die Einführung der Polyganıie
dur Brigham Young, ben Streit mit der Familie
Joſeph Smith’s, den Conflict mit den Bundesbehörden
der Union, die Miffionen im Auslande u. ſ. w. Das
neunte Kapitel befchreibt das „neue Jeruſalem“ in feiner
heutigen Geftalt, die Tempel, die Tabernakel, die Fabrilen
die Bildungsanflalten, die künftige Univerfität mit Lehrern
vom Himmel, wie der Mormonenältefte Vhelps fie einmal
in einer ſchwungvollen Rede verfündigte, u. a. m.; bas
zehnte Kapitel enthält das Glaubensbekenntniß ber Mor-
monen, die Speculationen von Drfon Pratt u. j. w.
Das elfte Kapitel endlich bringt eine Rechtfertigung der
Bielweiberei von Pratt und ſchildert die Verfiegelungs-
ceremonie, die Anfänge von Bolyandrie, bie ftellvertretend:
Ehe und die Verheirathung mit Todten, die Eschatologie
der Mormonen, den Beginn des taufendjährigen Reiche
die Wiederfunft der verlorenen Stämme Sfrael’$ und den
-
Zur Geſchichte ver Mormonen. 691
Züngften Tag. Vom achten Kapitel an Hat der Berfafier
weſentlich das obengenannte Buch von Hepworth Dixon
benutzt, jedoch in ziemlich ſelbſtändiger Weiſe.
Der eigentliche Stifter und erſte Prophet des Mor⸗
monenthums, Joſeph Smith, zeichnete ſich durch Schlau⸗
heit, Sinnlichkeit und Habgier aus, anch fehlte ihm nicht
jener eigenthümliche Humor, der in Amerila durch prak⸗
tiſche und gewinnbringende Spüße auf gewiſſe Perfünlich-
keiten großen Einfluß gewinnt. Joſeph Smith iſt der
religiſſe Barnum; er kaunte die Schwäche feiner Lands⸗
leute in religiöſen Dingen und verſtand es meiſterhaft, ſie
auszubeuten. Obſchon zeitweiſe gewinnſüchtiger Specu⸗
lant in Staatsländereien und betrügeriſcher Bankdirector,
wußte er ſich doch mit dem Scheine einer freundlichen
Harmloſigkeit, wie dies nicht ſelten bei heuchlerifchen Frömm-
fern der Fall ift, zu umgeben und feinen Anhängern Ber-
frauen einzuflößen. Käufliche Zeitungen, wie 3. B. der
nenyorker „Herald“, fchrieben von ihm: „Der Brophet
iſt als Redner fühn, gewaltig und überzeugend, als Führer
befonnen und Hug, dabei furchtlos; als Bürger vol Würde,
Leutjeligfeit und Güte, einfach in feinen Manieren und
vornehm in feiner Haltung.“
Bei der Wahlbewegung unter der Präfidentfchaft von
Iohn Tyler war Smith verwegen ober unverfchämt genug,
die Präfidentichaftscandidaten Henry Clay und John
C. Ealhoun in einem Briefe vom 4. November 1843 auf-
zuforbern, fie möchten ihre Anfichten dem Mormonenthum
gegenüber zu erkennen geben. Beide, in jenen Tagen
neben Daniel Webfter die erften Männer der Republik,
ließen fi herab, dem Seher und Wunderthäter, dem
Kicchenoberhaupt , dem Schulzen und Hotelbefiger zu
Nauvoo in einer Weife zu antworten, welche das An⸗
fehen des religiöfen Humbugmanne derart fleigerte, daß er
die Stirn hatte, felbft als Bewerber um die Prüfident-
{haft der nordamerifanifchen Union aufzutreten (vgl.
Ray. 5, S. 152 fg.).
Was nun Brigham Young, den gegenwärtigen Pro-
pheten anbetrifft, jo beurtheilen ihn, unferer Meinung
nad fowol Hepworth Diron wie unfer Autor zu günftig.
Nach allem, was wir über ihn gehört und gelefen haben,
fliegen wir und dem allerbings barten Urtheil eines
Correfpondenten der neuyorker „Zribune‘ an, der in einem
von ber Salzfeeftadt (Salt Lake City) am 13, Juni 1869
datirten Briefe ſich aljo ausfpricht:
Brigham Young, welcher die Seele und belebende Kraft
des ganzen Mormonenthums in Utah if, übt eine Gewalt aus,
die ans Wunderbare grenzt. Daß er ein Mann von außer-
ordentlichen Fähigkeiten in adminifirativer Beziehung ift, der die
menfchliche Natur gründlich kennt, hat feine Vergangenheit hin⸗
lünglich bewieſen; fle hat aber auch zu derfelben Zeit bewiejen,
daß er gemein, finnlih, ſelbſtfüchtig, grauſam, geigig und
herrſchſüchtig iR und kein Mittel fcheut, um fein Bier zu er⸗
reihen. Er ift nicht bloß ein glänzender Schurke, ſondern aud)-
ein gemeiner Schurke, ein Erzheuchler, ein Unterbrüder der
Waiſen und ein räuberifcher Betrliger der Witwen.
Der Eorrefpondent der „Zribune” rechtfertigt fein
firenges, aber gerechtes Urtheil durch verſchiedene that-
fächliche Belege und fagt dann mit Rüdficht darauf, dag
Brigham Young von vielen feiner Anhänger „der Löwe
de8 Herrn“ genannt wird: „The Lion of the Lord, for-
sooth! The Were-wolf of the devil would be a more
appropriate title.‘
Wenn unfer Autor in feinem Vorwort meint: „Viel⸗
leicht fchon in biefem Jahre, auf alle Fälle in einem ber
beiden nädften, wird die Welt in die Reihe der demo-
fratifchen Republiken, welche die amerifanifche Union bil«
den, einen Staat eintreten fehen, der, wenn wir ihn. bes
ziemlich durchſichtigen republifanifchen Scheins entlleiden,
mit dem ihn bie vorfichtige Klugheit feiner Begründer
umhüllt bat, nichts mehr und nichts weniger als ein Ber-
ſuch ift, die Theokratie in Amerika einzuführen‘, fo zwei⸗
feln wir doch aus guten Gründen gar fehr daran, daß
der Welt ein foldhes Schaufpiel geboten werben wird.
Zur Begründung unferer Anficht könnten wir verfchiedene
ältere und neuere Thatſachen anführen, wir begnügen
uns aber, auf folgende Umftände, die allerdings Morig
Buſch bei Abfafjung feines Buchs noch nicht befannt fein
fonnten, weil fie erft fpäter flattfanden, hinzuweiſen.
Ganz abgejchen davon, daß in der legten Zeit wieder-
Bolt ernfthafte Streitigkeiten unter den Heiligen am Salzſee
ausbradhen, die nicht dazu dienen konnten, das Anfehen
von Brigham Poung zu flärfen, hielt der Vicepräſident
der nordamerilanifchen Union, Schuyler Colfar, auf feiner
Rückreiſe von Californien bei feinem Aufenthalte in Salt
Lake City am 5. Dectober 1869 eine Rebe, in welcher er
aus dem „Mormonenbucdhe” („Book of Mormon‘) felbft
die Geſetzwidrigkeit der Vielweiberei bewies und die Ab-
Ihaffung derfelben nach amerifanifchen Gefeten für noth-
wendig erklärte. Zwei Tage fpüter wurde auf ber halb⸗
jährlichen Mormonenconferenz eine Denlſchrift abgefaßt,
in welcher der Kongreß in Wafhington City um Zulaffung
von Utah als Staat ber Union erſucht ward. Die Be
völferung Utahs wurde darin auf 150000 Köpfe an-
gegeben. Als nun im December 1869 der Congreß zu-
fammentrat, 30g im Haufe der Keprüfentanten der Aus
ſchuß für die Territorien die Frage, ob Utah als ein
Staat in die Union aufgenommen werben follte, in &r-
wägung, und obmwol kein beftimmter Beſchluß gefaßt wurde,
fo jchienen die Mitglieder des Ausſchuſſes doch einflimmig
der Anficht zu fein, daß die Aufnahme nicht eher ftatt-
finden dürfe, als bis die Bielmeiberei abgefchafft fei. Hr.
Cullom, Vorfigender des genannten Ausſchuſſes, wird —
fo lanten die neneften Nachrichten — demnächſt eine Bill
einbringen, die dahin geht, daß ben Mormonen alle Rechte
der Bürger der Vereinigten Staaten fo lange entzogen
werden follen, bis fie dem Gebrauche ober ber Unfitte
der Polygamie entfagt haben. Dies ift ſchon ein harter
Schlag gegen das Mormonenthum; es hat aber ganz den
Anſchein, als ob noch ein ſchwereres Gewitter ſich ver-
nichtend über den Häuptern der Mormonen zuſammen⸗
zieht. Der Bundesſenator Cragin bat nämlich am 21. De⸗
cember 1869 eine Bill, betreffend die Verwaltung von
Utah, eingebracht, in welcher bie ganze Eontrole über die
Gerichtsbarkeit in jenem Xerritorium in die Hände der
Beamten der Union gelegt wird. Nicht Brigham Young,
fondern dem Gouverneur allein fol die Ernennung der
Richter und Milizoffiziere zuftehen. Ein befonderer Ab»
Schnitt in der Bil ift gegen die Polygamie gerichtet und
verbietet Heirathen in den fogenannten verbotenen Graden,
die befanntlich unter den Mormonen und ihren Apofteln
fehr beliebt find. Endlich werden auch viele von ben
Territorialgefegen, vermittel® welcher Brigham Ponng
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und andere Mormonenpriefter ſich in ben Beſitz der werth«
vollſten Ländereien und Privilegien im Territorium gejegt
Haben, annullirt. Ein Gefeg wie dieſes, welches geradezu
darauf berechnet ift, der Mormonentheofratie in Utah ein
Ende zu maden, und welches ſehr mwahrfcheinlih vom
Congreſſe angenommen wird, ift freilihd — wie die Er-
fahrung gelehrt Hat — nicht auszufilhren ohne dag ben
vollziehenden Behörden eine entfpredende Truppenmacht
nr Seite ſteht. Für eine folde Macht wird indefien
Beafident Grant im Nothfal ſchon forgen. Er hat ber
reits am Schluffe des verflofienen Jahres den Gouvernenr
Neue lyriſche Gedichte.
von Utah, Hrn. Durkee, der wenig Energie entfaltete,
abgefegt und an feine Stelle ben thatkräftigen Oberſien
I. Vilfon Shaffer, welcher früher unter General Butler
diente, ernannt und ihm, wie zuverläffige Berichte aus
Waſhington City melden, im voraus fo viel Truppen
zur Verfügung geftellt, als zur Aufrechterhaltung ber
Unionögefege nöthig fein mögen, Unter joldien Umftän-
den fcheinen und die Tage des Mormoninpapſtthums in
Utah gezählt und die Einführung eines tbeofratifch regier-
ten Staats in bie nordamerifanifhe Union, wie Morig
Buſch dies annimmt, unmöglich zu fein. Mudolf Woche.
Uene lyriſche Gedichte.
1. Ranken. Gedichte von Marie Mindermann. Bremen,
von Halem. 1870, Gr. 16. 1 Thlr.
2. Morgenvoth. Jugendlieder von Helene Baroneffe von
Engelhardt-Schnellenftein. Stuttgart, Metzler. 1870.
©r. 16. 1 The.
3. Ausgewählte Didtungen von Ludwig Leſſer. Nebft
sum Abriß feines Lebens. Berlin, R. Lefier. 1870. 16.
gr.
4. Zunge Lieder von Gottfried Opig. Leipzig, Schulte.
1869. 4. 1 Zhle. 10 Rgr.
5 geriäte von F. Wilden. Leipzig, Matthes. 1869. 16.
t.
6 —— Gedichte von Chriſtian und Theodor Kird-
Hoff. Altona, Lehmtuhl und Comp. 1870. 8. 1 Thlr.
15 Nor.
„In der Poetenwelt ift der ZTiers-Etat nicht nütlic,
fondern ſchadlich“, fagt Heinrich Heine in feinem kilrzlich
von Adolf Strobtmann herausgegebenen literariſchen
Nachlaffe. Diefer Say des parifer Ariftophanes findet
in den Zuftänden ber heutigen deutfchen Lyrik eine trefr
fende Iluftration. Denn da ift e8 eben der Tiers-Etat,
welcher mit feinen ins Breite wachſenden Dimenfionen
die Keime des Beſſern und Beſten einengt und erftidt.
Wie harakterifirt fich aber diefer Tiers-Etat in der Lyrik?
wo haben wir ihn in derfelben zu ſuchen? Ex harafterifirt
fich durch die Signatur einer halbwüchfigen, ſich ins Unbe ⸗
deutende verlierenden Subjectivität; wir haben ihn zu fuchen
in jener in allen Kleinigkeiten des Lebens framenden, bald re⸗
ſignirt blafirten, bald kokett frivolen Nipptiſchpoeſie von Heute,
deren Genealogie fih zum großen Theil auf unfern oben
eitirten Gewährsmann Heinrich Heine zurüdfüßren läßt;
wir haben ihm ferner zu fuchen in jener modernen Ro-
mantif, welde nicht milde wird, die vormärzlichen The»
mata von „Des Knaben Wunderhorn” endlos zu variiren.
Auf jeder Buchhandlermeſſe ftellt diefer Tiers Etat —
anadjroniftifch genug — fein zahlloſes Contingent zu dem
Heerbann der Lyrik, und unter dem vorlauten Getöne
feines monotonen Klingklangs von echten und, unechten
Reimen verhallen ungehört die vollern, aber mn Zahl
geringern Stimmen derjenigen, welche unter moder«
nen Lyrilern ſich die voetiſche Vertretung höchſten,
die Menſchheit und bie Zeit bewegendem. een zur
Lebensaufgabe gemacht haben —: die Gedenkenlyrik,
die Hdeendichtung fteht in Deutſchland längft auf dem
Ausfterbeetat. .
So finden wir denn auch unter den heute von uns
zu beſprechenden lyriſchen Novitäten diefen ſchreibſeligen
Tiers · Etat mit einigen Beifpielen vertreten. Ans Rüdfiht
auf das leicht verlegte Gefühl ber Autoren möge es uns
indeffen bei der folgenden iritiſchen Beleuchtung erjpart
bleiben, die Spuren biefes Tiers-Etat am dem betreffenden
Dichterphyſiognomien nachzuweiſen. Der zartfinnige Lejer
wird an der Hand unſerer Beiprehung unter den ihm
heute vorzuführenden Autoren, auch da wo wir nur an
deuten, die ephemeren von ben höher organifirten Talenten
zu fondern wiſſen.
Unferer Gewohnheit gemäß laffen wir den Damen
den Bortritt.
Da begegnen wir denn zuerft einem recht reſpectabeln
Talente in den „Ranken“ von Marie Mindermann
(Nr. 1). Die Verfaſſerin baut die Gebiete des jang-
baren Liebes, des Reflexionsgedichts und ber Ballade mit
Glüd an. Die erfte Abtheilung der Sammlung bringt
unter der Ueberfchrift „Wermifchte Gedichte” neben einigem
Unbebentenden, zu welchem wir das etwas triviale Gedicht:
„Man bildet viel ſich ein“, und das in feiner Idee Höchft
unflare „In der Kirche” rechnen, manche hübſche Lieder ⸗
gabe, wie z. B.: „Die Nacht will niederſinien“ und
Frage nicht nach dem Glauben”. Ein tief empfindendes
Herz fpriht aus dem Cyflus „Einer Berklärten” und
aus dem ſchönen Gediht: „Am Grabe meiner Mutter“,
weldes letztgenannte wir bier folgen lafien:
Der Himmel blaut, die Blumen ringsum prangen —
Mein Sinn if trüb, mir thut die Pracht jo weh.
Loft Wolfen um des Himmels Bläue bangen,
Daß ich der Sonne Strahlengold nicht fch';
Sähließt eure Keiche Blumen, fenft in Schweigen
Die zarten Häupter, fo voll Glanz und Duft:
Ihr feht ja mich da® Haupt zur Erde neigen,
Id) kann eud) nur umflorte Blide zeigen,
Denn meinen größten Schag birgt diefe Gruft!
Bel) Engelherz bewohnte diefe Hülle,
Wie ruhig groß, wie fef und doch wie mild!
Im bitten Schmerz fo mei; und dog) fo flille,
Im ſchweren Kampf der Stärke ſchönes Bild.
D du, die fo voll Liebe mich getragen,
Did) fenfte man fo tief, fo tief hinab;
Kein Marmor wird nad längft ent hwundnen Tagen
Der Nachwelt, wer hier fhlummert, prunfend fagen,
Denn pruntios wie dein Leben if dein Grab.
Benn Seelengröße ungehemmt auf Thronen
Die Arme fegnend Über Bölter red,
Benn hohe Tugend Scepter trägt und Kronen,
Hat fie im Bufen Ehrfurcht uns erwedt;
Nene lyriſche Gedichte. 693
Doch wer allein ſürs Höhre ſcheint geboren,
Ber für das Schöne, Große fill erglüht
Und dennoch aus dem Auge nicht verloren
Des niedern Kreifes Pflicht, die ihm erloren,
Tragi in ſich wahrhaft Königlich) Gemürh.
&o, Mutter, warft du — umd mit lichten Zeichen
Steht mir dein Bild im innerfien Gemüth,
Das, feit im Tode ich dich fah erbleihen,
In Schmerz und Lieb’ allein für did ergläpt.
Seit id} von dir, dur reiner @eift, geſchieden,
;ähl? ich mich fo verlaffen, fo allein,
uch” ich umfonft nach jenem Kindesfrieden,
Nad) dem. verlornen Paradies hienieden,
Und ſehne mid, wie einft ein Kind zu fein.
Seh’ ich dich einſt, wenn ich den Kampf vollendet,
Benn meiner Thränen legte Hier verfiegt?
Seh! ich dich einft, wenn id mich Hingemwendet,
Bo Glanz und Größe diefer Welt verfliegt?
Säß' ich did nit — was wären Emigkeiten,
Die von dem Stern zu Stern die Brüde baun?
in Höhnend Wort, gehörend ird'ſchen Zeiten! —
Nein, will ein Gott den Himmel uns bereiten,
Muß, was ſich liebt, auch dort ſich wiederſchaim.
Neben ſolchen echt Igrifchen Mollllängen kennzeichnen
patriotiſche Gedichte von energifcher Prägnanz wie:
„Am 18. October 1863", das Talent Marie Minder-
mann’s als ein zugleich empfindungsinniges und gefinnungs-
träftiges. Den eigentlich heimifchen und ihrer Begabung
am meiften angemefjenen Boden betritt bie Verfaſſerin
aber erft in ber zweiten, „Balladen und Romanzen” über⸗
ſchriebenen Abtheilung der „Ranlen“. Sie weiß den Ton
der Ballade meiftens glüdlich zu treffen. So hat die
Bearbeitung der angelländifchen Sage „König Steäf” echt
dichterij hen Guß, wie wir auch „Die Todtengloden zu
Speier", eine ftilvole Glorification des Kaifers Heinrich IV.,
zithmend hervorheben, als ganz beſonders gelungen aber
Die effectvole Erzählung: „Die Alte von Hufum“, und
Das im dümonifchen Balladencolorit gehaltene Gedicht:
-.Die Gloden der Lorettoiche zu Prag“, bezeichnen
zeaüffen.
Als bei weitem weniger gereift und in ber Form
eindolllommener als die Gedichte von Marie Mindermann
reifen ſich diejenigen der Berfafferin des „Morgenroth“,
Ser Baroneffe Helene von Engelpardt-Schnellen-
ein (Nr. 2). Dieſelbe führt fi in der den Gedichten
mworgedructen Vorrede ald eine junge Rurländerin, welche
erft eben das neunzehnte Lebensjahr überfchritten hat, beim
Zublitum ein und nimmt für diefe ihre Exftlingsgedichte
die Nachſicht deſſelben in Anfprud. Was kann man von
einem fo jugenblichen Miter Gereiftes und Ausgetragenes,
Tiefes und Gedanfenudlles erwarten? Eben nichts als
die ungewifle Stimmung des heraufdämmernden Morgens.
Morgenroth“ — die Berfaflerin konnte den Titel für
ihre Meinen Lieder nicht paflender wählen. Denn das
portifche Blumengärthen, in welchem bie blonde Mufe
unſerer jungen Baronefje ihre dichteriſchen Veilchen und
Bergigmeinnichtfränge windet, zeigt ſich uns zwar in ber
Beleuchtung diefe® „Morgenrothes” als ein trauliches
Bägchen, an welchem mande frifche Fieberblüte duftet —
aber es liegt in der Niederung, meitab von ben Höhen
des Parnaſſes, wo die Sonne im Zenith ficht. Wir find
volllommen der Meinung der Berfafferin, wie fie diefelbe
in der Vorrede naid ausjpricht, daf fie in ihrem Blumen-
gärthen „ein wenig forgfältiger Hätten gäten follen“,
Wenn wir indeß and; nirgends unter den Blumen
unferer Dichterin der impofanten Centifolie ober der
elegifhen Pafftonsblume begegneten, fo bat unfer Ange
mit —— auf mancher noch halb in ber Knospe
ruhenden Blüte geweilt. So haben z. B. die „Springen“
etwas Friſches und Naives:
Springen blühn, Springen blühn,
Nun müffen alle Sorgen fliehn ;
Mein Herzen, bift du wirffich toll?
Id weiß nicht, was das heißen ſoll,
Du podeft ohne Raſt und Rub’,
Was wilft denn du, was will benz du?
Und treibt ſtets wilder mir das Blut,
Umd jauchzeſt laut vor Uebermuth,
Und wirft mir nod den Kopf verdrehn,
Id fann fon nicht mehr ruhig gehn,
Ich tanze durch das Wiefengrün,
Springen blühn, Springen blühn.
Springen biüähn, Syringen blühn!
Auch meine Wangen höher glühn;
€i, fag’ dad an, Syringenfrand),
Birgft du für mid ein Glüdchen au?
Fünf Blatichen, fieben, achte per
Wie fonderbar, wie fonderbar
Die leben mögen richtig fein,
u Blättchen find Geſchwifier mein,
wei andre find das Helternpaar,
ie fieben find mir völlig Mar;
YIedod wo kommt das achte hin?
Springen blühn, Syringen blühn!
Syringen blühn, Springen blühn!
Die Schwalben in ihr Nefichen ziehn;
Der Storch, ber Mappert feinen Gruß,
Da fteht er ſchon auf Einem Fuß.
Rur die Gyringen fehe ich,
Bie feltfamli, wie feltfamtid)!
Ic denke nur ans Blätten Mein,
Bas mag mein achtes Glüdchen fein?
Und autut ruft und Nachtigall:
„Dein Glüdden findft du ihom einmal,
D glaub’, das wird dir night entfliehn 1"
Springen bfühn, Gyringen blühn!
Aus der Zahl der übrigen Gedichte des „Morgenroth“
zeichnen wir noch „Wiegenlied“ und beſonders das ger
müthvolle „Die kranken Geſchwiſter“ aus. Auch ift
„Philemon und Baucis“, ein im Stil und in dem
Strophenbane von Goethe's ‚Der Gott und die Bajabere”
efchriebenes erzählendes Gedicht Hervorzuheben. Die den
riginalgedichten beigefügten „Weberfegungen aus dem
Ruſſiſchen“, welche Proben vom Grafen Alerander Puſchkin,
Michael Lermontow u. a. bringen, find mit Verſtändniß
ausgewählt und Iefen fich fließend.
Welch ein Abftand zwiſchen den allzu jugendlichen
poetifchen Probucten der neunzehnjährigen Helene von
Engelhardt-Schnellenftein und den gereiften „Ausgewählten
Dichtungen“ Ludwig Leffer’s (Mr. 3), welche un die
Ausbeute aus einem ganzen, tiefbewegten und reichen
Menſchenleben bringen! Das Gefühl, welches uns bei
der Begegnung mit einem edeln, ben hödhften Zielen
gleihmäßig zuftrebenden Charakter unwilltürlich überfommt,
das Gefühl der Hochachtung, begleitete und dur bie
Leltüre der Leſſer'ſchen Gedichte. Der Verfaſſer, durch
feine mannichfachen frühern poetifchen Veröffentlihungen
in zahlreichen belletriftifchen Blättern unter dem Namen
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und andere Mormonenpriefter fi in den Befig der werte
voliften Ländereien und Privilegien im Territorium gefegt
haben, annullirt. Ein Gefeg wie biefes, welches geradezu
darauf berechnet ift, dee Mormonentheokratie in Utah ein
Ende zu machen, und welches fehr wahrfcheinlih vom
Congreſſe angenommen wird, ift freilihd — wie die Er-
fahrung gelehrt Hat — nicht auszuführen ohne daß ben
vollziehenden Behörden eine entfprehende Truppenmacht
zur Seite ſteht. Für eine ſolche Macht wird indefien
Präfident Grant im Nothfall ſchon forgen. Er hat ber
reits am Schluffe des verfloffenen Jahres ben Gouverneur
Nene lyriſche Gedichte.
von Utah, Hrn. Durkee, der wenig Energie entfaltete,
abgejegt und an feine Stelle den thatkräftigen Oberſien
I. Wilfon Shaffer, welcher früher unter General Butler
diente, ernannt und im, wie zuverläffige Berichte aus
Waſhington City melden, im voraus fo viel Truppen
zur Verfügung geſtellt, als zur Wufrechterhaltung ber
Unionsgefege nöthig fein mögen. Unter folchen Umftän-
den feinen uns die Tage des Mormonenpapfttfums in
Utah gezählt und bie Einführung eines theofcatifch regier-
ten Staats in bie norbamerifanifche Union, wie Mori
Buſch dies annimmt, uundglich zu fein. Rudolf Woche.
Nene lyriſche Gedichte.
1. Ranken. Gedichte von Marie Mindermann.
von Halem. 1870. Gr. 16. 1 Täler.
2. Morgenroth. Yugendlieder von Helene Baroneffe von
Engelhardt-Schnellenftein. Stuttgart, Metler. 1870.
©r. 16. 1 Zhlr.
3. Ausgewählte Dichtungen von Ludwig Leſſer. Nebſt
sum Abriß feines Lebens. Berlin, R. Leffer. 1870. 16.
gt.
4. Junge Lieder von Gottfried Opitz. Leipzig, Schultze.
1869. 4. 1 Zhlr. 10 Ror.
5. geriäte von F. Wilden. Leipzig, Matthes. 1869. 16.
25
gr.
6. Adelpha. Gedichte von Chriſtiau und Theodor Kirch-
Sark Altona, Lehmtuhl und Comp. 1870. 8. 1 hir.
ar.
Bremen,
„In der Voetenwelt ift der Tiers-Etat nicht nüglic,
fondern ſchädlich“, fagt Heinrich Heine in feinem kürzlich
von Adolf Strobtmann herausgegebenen literarischen
Nachlaſſe. Diefer Sa des parifer Ariftophaned findet
in ben Zuftänden ber heutigen deutſchen Lyrik eine trefe
fende Iluftration. Denn ba ift e8 eben der Tiers-Etat,
welcher mit feinen in® Breite wachſenden Dimenfionen
die Keime des Beſſern und Beften einengt und erftidt.
Wie harakterifirt ſich aber diefer Tiers-Etat in der Lyrik?
wo haben wir ihn in derfelben zu ſuchen? Er charakieriſirt
fi durch die Signatur einer halbwüchfigen, ſich ins Unbe«
deutende verlierenden Subjectivität; wir haben ihn zu fuchen
in jener in allen Kleinigkeiten des Lebens framenden, bald re⸗
ſignirt blafirten, bald ofett frivofen Nipptifchpoefie von heute,
deren Genealogie ih zum großen Theil auf unfern oben
citirten Gewährsmann Heinrich Heine zurüdführen läßt;
wir haben ihn ferner zu ſuchen in jener modernen Ro-
mantif, welde nicht mübe wird, die vormärzlichen The-
mata von „Des Knaben Wunderhorn” endlos zu variiren.
Auf jeder Buchhandlermeſſe ſteilt dieſer Tierd-Etat —
anachroniſtiſch genug — fein zahllofes Eontingent zu dem
Heerbann der Lyrif, und unter dem vorlauten Getöne
feines monotonen Klingklangs von echten und, unechten
Reimen verhallen ungehört bie vollern, aber n Zahl
geringern Stimmen berjenigen, welde unter moder ·
nen Lyrikern ſich die poetiſche Vertretung höchſten,
die Menſchheit und die Zeit bewegendent. een zur
Lebensaufgabe gemacht haben —; die Gedmfenlyrif,
die Ideendichtung fteht im Deutſchland längft auf dem
Ausfterbeetat. .
So finden wir denn auch unter ben heute von uns
zu beſprechenden lyriſchen Novitäten biefen ſchreibſeligen
Tiers · Etat mit einigen Beiſpielen vertreten. Aus Rüdfiht
auf das leicht verlegte Gefühl der Autoren möge es uns
indefien bei ber folgenden kritiſchen Beleuchtung erjpart
bleiben, die Spuren dieſes Tiers-Etat an ben betreffenden
Dicterphyflognomien nachzuweiſen. Der zartfinnige Lefer
wird an der Hand unferer Beſprechung unter den ihm
heute vorzuführenden Autoren, aud) da wo wir nur an
deuten, die ephemeren von ben höher organifirten Talenten
zu fondern wiffen.
Unferer Gewohnheit gemäß lafien wir den Damen
den Bortritt.
Da begegnen wir deun zuerft einem recht vejpectabeln
Talente in den „Ranfen“ von Marie Mindermann
(Mr. 1). Die Verfaſſerin baut die Gebiete des jang-
baren Liebes, des Reflexionsgedichts und der Ballade mit
Süd an. Die erfte AbtHeilung der Sammlung bringt
unter der Ueberfchrift „Vermiſchte Gedichte” neben einigem
Unbebeutenden, zu welchem wir da® eimas triviale Gedicht:
„Man bildet viel fi ein“, und das in feiner Idee höchſt
unklare „In der Kirche‘ rechnen, manche hübſche Lieder»
gabe, wie 3. B.: „Die Nat will niederfinfen” und
Frage nicht nach dem Glauben“. Ein tief empfindendes
Herz fpriht aus dem Cyflus „Einer Berflärten“ und
aus dem ſchönen Gedicht: „Am Grabe meiner Mutter“,
welches letgenannte wir hier folgen laſſen:
Der Himmel blaut, die Blumen ringsum prangen —
Mein Sinn ift tehb, mir thut die Pracht jo weh.
Laßt Wolfen um des Himmels Bläue bangen,
Daß ich der Sonne Strahlengold nicht jeh';
Säjließt eure Kelde, Blumen, fentt in Schweigen
Die zarten Häupter, fo voll Glanz und Duft:
Ihr feht ja mic das Haupt zur Erde neigen,
Id) iaun euch nur umflorte Blide zeigen,
Denn meinen größten Schoß birgt diefe Gruft!
Weich Engelherz beroohnte diefe Hille,
Wie ruhig groß, wie fett und doch mie mild!
Im bittern Schmerz fo weich und dog) fo flille,
Im ſchweren Kampf der Stärke ſchönes Bild.
D du, die fo voll Liebe mic getragen,
Did) fenfte man fo tief, fo tier hiab;
Kein Marmor wird nad längft entihwundnen Tagen
Der Nachwelt, wer hier fHlummert, prunkend fagen,
Denn prunfio® wie dein Leben iR dein Grab.
Wenn Seelengröße ungehemmt auf Thronen
Die Arme fegnend über Völker ſtrict,
Benu hohe Tugend Scepter trägt und Kronen,
Hat fie im Bufen Ehrfurcht uns erwedt;
Neue lyriſche Gedichte. 693
Doch wer allein fürs Höhre ſcheint geboren,
Wer für das Schöne, Große ſtill erglüht
Und dennoch aus dem Auge nicht verloren
Des niedern Kreiſes Pflicht, die ihn erkoren,
Trägt in fich wahrhaft königlich Gemüth.
So, Mutter, warſt du — und mit lichten Zeichen
Steht mir dein Bild im innerſten Gemüth,
Das, ſeit im Tode ich dich ſah erbleichen,
In Schmerz und Lieb' allein für dich erglüht.
Seit ich von dir, du reiner Geiſt, geſchieden,
ſhl' ich mich fo verlafſen, fo allein,
uch’ ich umfonft nad) jenem Kindesfrieden,
Nach dem. verlornen Paradies bienieden,
Und fehne mid, wie einft ein Kind zu fein.
Seh’ ich dich einft, wenn ich deu Kampf vollendet,
Wenn meiner Thränen letzte bier verfiegt?
Seh’ ich dich einft, wenn ich mich hingewendet,
Bo Glanz und Größe diefer Welt verfliegt?
Säh' ih di niht — was wären Ewigkeiten,
Die von dem Stern zu Stern die Brüde baun?
Ein höhnend Wort, gebörend ird’Ihen Zeiten! —
Kein, will ein Gott deu Himmel uns bereiten,
Muß, was fi liebt, auch dort fi wiederfchaun.
Neben folchen echt lyriſchen Mollklängen kennzeichnen
patriotiſche Gedichte von energiſcher Prägnanz wie:
„Am 18. October 1863, das Talent Marie Minder⸗
mann's als ein zugleich empfindungsinniges und gefinnungs-
fräftiges. Den eigentlich heimifchen und ihrer Begabung
am meiften angemeflenen Boden betritt die Berfafferin
aber erft in der zweiten, „Balladen und Romanzen“ iiber-
ſchriebenen Abtheilung der „Ranken“. Sie weiß den Ton
der Ballade meiftens glüdlich zu treffen. So hat bie
Bearbeitung der angelländifchen Sage „König Steäf” echt
dihterifchen Guß, wie wir auch „Die Todtengloden zu
Speier“, eine ftilvolle Slorification des Kaifers Heinrich IV.,
rühmend hervorheben, als ganz bejonders gelungen aber
die effectvolle Erzählung: „Die Alte von Hufum“, umd
das im dämoniſchen Balladencolorit gehaltene Gedicht:
„Die Gloden der Lorettoliche zu Prag”, bezeichnen
müſſen.
Als bei weitem weniger gereift und in der Form
unvollkommener als die Gedichte von Marie Mindermanu
erweifen fich diejenigen der Berfafferin des „Morgenroth“,
der Baronefje Helene von Engelhardt-Schnellen-
fein (Nr. 2). Dieſelbe führt fi in ber den Gedichten
vorgedrudten Vorrede als eine junge Kurländerin, welche
erft eben das neunzehnte Tebensjahr überfchritten hat, beim
Publikum ein und nimmt fir diefe ihre Erſtlingsgedichte
die Nachſicht defjelben in Anfprud. Was kann man von
einem jo jugendlichen Alter Gereiftes und Ausgetragenes,
Tiefes und Gedanfenuolles erwarten? Eben nichts als
die ungewiſſe Stimmung des heraufdämmernden Morgens.
„Morgenroth“ — die Berfafferin konnte den Zitel für
ihre Heinen Lieder nicht paffenber wählen. Denn das
poetifche Blumengärthen, in welchem die blonde Muſe
unferer jungen Baronefje ihre dichterifchen Veilchen⸗ und
Bergigmeinnichtlränge windet, zeigt fi) uns zwar in ber
Beleuchtung diefes „Morgenrothes” als ein trauliches
Bläschen, an welchem manche frifche Liederblüte duftet —
aber es liegt in der Niederung, weitab von den Höhen
bes Parnafjes, wo die Sonne im Zenith ſteht. Wir find
vollflommen der Meinung der Verſaſſerin, wie fie diefelbe
in ber Vorrede naiv ausfpricht, daß fie in ihrem Blumen⸗
.
gärtchen „ein wenig forgfältiger hätten gäten follen“.
Wenn wir indeß and nirgends unter ben Blumen.
unferer Dichterin der impofanten Centifolie ober der
elegifchen Paſſionsblume begegneten, fo bat unfer Auge
mit Wohlgefallen auf mander noch halb in ber Knospe
ruhenden Blüte geweilt. So haben z. B. die „Springen“
etwas Frifches und Naives: -
Syringen blühn, Syringen blühn,
Nun müffen alle Sorgen fliehn ;
Mein Herzchen, bift du wirklich toll?
Ich weiß nit, was das heißen fol,
Du pocheſt ohne Raſt und Ruh’,
Was wilft denn du, was will denn du?
Und treibfi flets wilder mir das Blut,
Und jauchzeft Taut vor Uebermuth,
Und wirft mir nod den Kopf verdrehn,
Ih kann Schon nicht mehr ruhig gehn,
Ich tanze dur das Wiefengrün,
Springen blühn, Syringen blühn.
Syringen blühn, Syringen blübn!
Auch meine Wangen höher glühn ;
Ei, ſag' doch an, Syringenftraud),
Birgft du für mid ein Glückchen au?
Fünf Blättchen, fleben, achte gar,
Wie fonderbar, wie fonderbar!
Die fieben mögen richtig fein,
ünf Btätthen find Geſchwiſter mein,
wei andre find das Aelternpaar,
Die fieben find mir völlig Mar;
Jedoch wo kommt das achte Hin?
Syringen blühen, Syringen blühn!
Syringen biühn, Gyringen blühn!
Die Schwalben in ihr Neſtchen ziehn;
Der Storch, der klappert ſeinen Gruß,
Da ſteht er ſchon auf Einem Fuß.
Nur die Syringen ſehe ich,
Wie ſeltſamlich, wie ſeltſamlich!
Ich denke nur ans Blättchen klein,
Bas mag mein achtes Glückchen fein?
Und Kukuk ruft und Nachtigall:
„Dein Glückchen findft du fchon einmal,
D glaub’, das wird dir nicht entfliehn!“
Springen blühn, Syriugen blühn!
Aus der Zahl der Übrigen Gedichte des „Morgenroth‘
zeichnen wir noch „Wiegenlied” und befonders das ge-
müthvolle „Die kranken Geſchwiſter“ aus. Auch ifl
„Bhilemon und Baucis“, ein im Stil und in bem
Strophenbaue von Goethe's „Der Gott und die Bajadere“
geſchriebenes erzühlendes Gedicht hervorzuheben. Die den
Driginalgedichten beigefügten „MUeberfegungen aus dem
Ruſſiſchen“, welche Proben vom Grafen Alexander Puſchkin,
Michael Lermontow u. a. bringen, find mit Verftändniß
ausgewählt und Iefen fich fließend.
Welh ein Abftand zwifchen den allzu jugendlichen
poetifchen Producten der neunzehnjährigen Helene von
Engelhardt-Schnellenftein und den gereiften „Ausgewählten
Dichtungen“ Ludwig Leſſer's (Nr. 3), welche uns bie
Ausbeute aus einem ganzen, tiefbewegten und reichen
Dienfchenleben bringen! Das Gefühl, welches uns bei
ber Begegnung mit einem edeln, den höchſten Zielen
gleihmäßig zuftrebenden Charakter unwillkürlich überlommt,
das Gefühl der Hochachtung, begleitete uns durch die
Lektüre der Leſſer'ſchen Gedichte. Der Berfafler, durd
feine mannichfachen frühern poetifchen Beröffentlihungen
in zahlreichen belletriftifchen Blättern unter dem Namen
« B — ..
ee . : .
Y Ve TERN EL TIER Ber a
694
2. Liber, namentlich als feinfinniger Räthfelbichter bekannt,
jehört feit dem 2. December 1867 zu den Berftorbenen.
ihm verlor feine zweite Vaterſtadt Berlin (Lefler
wurde am 7. December 1802 zu Rathenow von judiſchen
Acltern geboren) einen ihrer werfthätigfien Mitbürger,
einen Mann, welcher dur die reichen Gaben feines
Geiſtes und Herzens auf literarifchem, focialem und
politiſchem Gebiete in engern und weitern reifen fein
Leben hindurch fegensreih und beglüdend gewirkt hät.
Bir begrüßen die foeben erfchienenen „Ausgemäßlten
Dichtungen“ Ludwig Leffer’s als ein würdiges und banern-
bes Dentmal eines echten Mannes und edeln Dichters.
Es ift nicht das elegifche Pathos einer mit dem Höchften
Fragen philoſophiſcher Specnlation ringenden Künftler-
feele, es if nicht die glühende Leidenſchaft eines in
Dithyramben redenden Dichtergenius, fondern es ift einer-
feits die harmoniſch abgeflärte, mit den realen Yactoren
des Lebens rechnende Eontempfation, es ift andererfeits
die ebenfo Teichtflüffige wie tieffinnige Geftaltungstraft
einer abgefchlofienen Dichterperfönlichkeit, was und aus
den Leſſerjchen Poefien fo ſympathiſch auſpricht. Diefel-
ben, zu einem großen Theil bereits aus ben dreißiger
Jahren flammend, tragen überall den Stempel warmer
Herzensempfindung, beweglicher Phantafie und großer
Formgewandtheit und bringen e8 namentlich in ihrer er-
flen Abtheilung: „Poetiſche Erzählungen, Romanzen und
Balladen“, zu oft muftergültigen Leiftungen. Wir fegen
bie zu dieſer Rubrik zählende ſchöne Romanze: „Schach
Ibrahim und der Derwiſch“, melde in mande Antho-
Iogien übergegangen ift, als befannt vorans und nennen
ferner noch als befonders glänzende Beiſpiele aus dieſer
Abtheilung bie nad) einer Stelle des Talmud gedichtete
Legende: „Bon ben fleben treuen Söhnen“, und das
Gedicht: „Die Mutter.” Als Probe des Leſſer'ſchen
Ballabenſtils möge hier das folgende Poem einen Piatz
finden:
Die jüngfe Tochter.
cixiandiſch)
Mutter, zähle deine Töchter,
Butter, zähle fie geſchwind,
Ob fie alle fünf beifammen
Im der trauien Kammer find.
Und die Mutter Magt und jammert,
Als fie ihre Töchter zählt;
Denn, wie fle aud fpäht und rufet,
Ad, die jüngfte Tochter fehlt.
BWeinend ging hinaus die Süngfte,
Einſam an des Bades Rand,
Dentend des geliebten Jünglings,
Der ihr fern Im fremden San
Und am Ufer traurig mwanbelnd,
reift fie einer Linde Zweig,
Streift ihm ab bie fner'gen Blüten,
Daß er ſchmudlos fei, ihr gleich.
Ad! da reift fie mit den Blüten
Bon dem Finger ihren Ring,
Den fie von dem Heißgeliebten
Bei dem Abſchiedslkuß empfing.
Und als fie den Ring num ſuchet
Im den Bellen Har und rein,
Stürzt mit ihrem Weh die Jungfrau
Selber in den Bad) Hinein.
Neue lyriſche Gedichte.
Dod der Bad hält fie nicht fange,
Führer fie dem Gtrome zu,
Und es trägt der Strom die Iamgfrau
Hin zum Deere fonder Ruh
Doc das Meer, das tiefbewegte,
Hüßt fie in ein Schaumgemand,
Wiegt fie fanft und trägt fie wieder
Hin anf einen meiden Strand. —
Jahre ſchwinden — aus dem Gtrande
Sproßt ein Lindenbaum hervor,
Der mit fünf der fhönften Aefe
Sölant und lieblich wude empor.
Eines Morgens tritt ein Süngfing
Fr ber ſchlanken Linde bin,
Ind er bricht der Aefte ſchönſten
Sich voll heiterm Jugendfinn.
Shnigt und biegt den Zweig zur Harfe,
Ziehet drauf der Saiten Bold,
Und er ruft, alß er fle rührer:
„Welch ein Ton, wie lieblich hold!“
Geht zur Mutter mit der Harfe,
Doc, wie fie vernimmt den Klang,
Spricht fie weinend: ,„&o, adı, rben
Meine jüngfte Tochter fang!"
Die zweite Abtheilung: „Lyriſches (Ernſter Sarg)”
enthält manches Bebeutende; fo die vom Geifte echter
Religiofität erfüllten „Choräle“, welche zum Theil in bas
Geſangbuch der jüdifchen Gemeinde zu Berlin aufgenom-
men worden find; fo ferner die Gedichte „Mahnung“,
„Mailied“ und das im Strophenban und der Reime
verfhlingung von Schillers „Würde der Frauen” ge-
ſchriebene Reflerionspoem „Denker und Dichter”.
Unter ber Ueberfchrift „Lyriſches (Heiterer Gang)”
bringt die dritte Abtheilung Beifpiele des Töftlichften Hu«
mors und bildet infofern das Gegenbilb zu der vorher-
gehenden. Sie illuſtrirt recht lebhaft die alte Wahrheit,
daß der rechte Exrnft immer Hand in Hand geht mit der
rechten Heiterfeit. Aus ber vierten Abtheilung: „Ueber«
fegungen“, find namentlich „Donna Alda” (aus dem
Spaniſchen) und die „Hugenottenlieder” (aus dem Fran-
öfifchen) Hervorzugeben. Die Sammlung ſchließt mit
„Selegentlid®s”, einer Rubrik, welche unter anderm das
ſchöne Gedicht „Am Begräbnißtage 2. Uhland's“ bringt,
würdig ab.
Bas die „Yungen Lieder” von Gottfried Opig
(Rr. 4) betrifft, fo fteht die Inzuriöfe Ausſtattung der
felben zu ihrem geiftigen Gehalte in einem Misverhältniß.
Wenn wir z. B. anf ©. 141 des in Quart erfcier
nenen Buchs nichts als den winzigen Bere:
Ieden Frühling blühen andre Rofen,
Jeden Hrübling oft ein andrer Wind,
Jeden Es träuft ein audrer Regen,
Jeden Hrühling kuß' ich ander Kind —
Iefen, fo kommt uns unwillkürlich die maliciöfe Frage:
ob die Leerheit des glatten Velinpapiers oder biejenige des
glatten Berfes eine größere fei? Diefer Vers könnte jehr
wohl ale Motto der „Jungen Lieber“ von Opitz dienen.
Denn der Frühling und die Liebe find die Themata, welche
die Opitz ſche Dichtung zwar in meiftens vecht nett der»
fifteirten Strophen, aber im ganzen ohne geiftige Beden-
tung und gemüthliche Tiefe behandelt. Zu dem beffern
ber „Jungen Lieber" zäpfen: „Ein Schmetterling zum Bliüm-
lein flog“, „Du bift fo jhön, wer kann dir grollen“ und
Neue lyriſche Gedichte. 695
Heidelberg“, von denen das legte fogar das Prädicat
„shwungvoll” verdient. Das zweite der ebengenannten
Xieder fegen wir hierher:
Du bift fo ſchön, wer kann dir grollen,
&o voller Lieb’ und Heiterkeit,
Daß Ehrfurcht felbft die Rohflen zollen,
Und doch von jedem Stolz fo weit.
Berfhönend wirfet deine Nähe
Bie in der Welt das Sonnenlicht,
Und wo ich in bein Auge fehe,
Wird alles Tag, Lenz und Gedbicht.
Berföhnend fließen deine Worte
Aus diefem füßen Friedenemund,
Der Hader weicht von jedem Orte
Und, wo du bift, zu jeder Stund'.
Wie ih in der kryſtallnen Welle
Der Bogel das Gefieder negt
Und nen erfriſcht, mit neuer Helle
Die Lüfte mit Gefang ergögt:
So babet fi in deinen Bliden
Der Geit mix wieder jung und neu
Und fingt, verſöhnt mit den Gefdiden,
Bon Anmuth, Huld und Weibestren,
Hätte Opitz lauter jo hübſche Liedchen geliefert, wir
wilrden die Sammlung loben fönnen. Aber es läuft in
derfelben zu viel des Trivialen mit unter. Wer heute
Lieder fammelt, fammle mit Wahl!
Die in der Form recht gemandten Poeſien von
F. Wilden (Mr. 5) zerfallen in die Abtheilungen: „Did;
ter& Lieb’ und Leid. Zwei Sonettenkränze”; „Bermifchte
Gedichte"; „Romanzenkranz‘; „Treue. Ein Sonetten-
franz” und „Bilder der Gedichte". Den Sonettenkrängen
Tonnten wir wegen ber nicht wegzulengnenden Manierixtheit,
welche biefer Form nun einmal anklebt, Feinen Gefhmad ab-
gewinnen, obgleich ihnen, namentlich dem „Treue“ betitelten,
ein gewiffer dichterifher Gehalt nicht abzufprechen iſt. Die
„Bermifchten Gedichte” enthalten neben einer metriſch fehr
unvolllommenen Obe und einigen andern mehr ober weni«
ger gelungenen Gedichten das phantafie- und gemüthvolle
ngraum“. Der „Romanzenkranz“ läßt Prägnanz und
epiſchen Stil vermiffen, wogegen die „Bilder der Ge-
ſchichte“ ftelenweife Freskenſtil befunden. Aber es fehlt
ihnen die einheitliche Geftaltung ber ihnen zu Grunde
liegenden Idee, fowie künſtleriſche Abrundung. Auch ber
einträchtigt die Licenz, welche fi ber Verſaſſer erlaubt
hat, indem ex die dritte Abtheilung dieſes Cyklus, ab»
weihend von den übrigen trodäifchen, in iambiſchem
Maße fehrieb, die Wirkung des Ganzen. Die „Bilder
der Gefchichte” fehliegen mit folgenden auf die Franzoſiſche
Revolution bezüglihen Verſen:
Wie der Löwe, wenn die Wuſte
Zaglang ihm den Raub verfügt,
Wenn die flüchtige Gazelle
Scheu an ihm vorüberjagt,
Mit des Donners wilden Brüllen
. Auf die Beute niederfällt
Und mit einem mächt'gen Schlage
Mark und Leben ihr zerigelt:
Afo lürzen zur Baftille
Dicht gedrängt die wilden Reihn;
Und die ſchweren Ketten brechen
Und die Thore ſtürzen ein;
Und es färbt vom Blut der alten
Grauen Hüter ſich der Grund;
Und die Fahne dr Luteten
Wehet auf den Trümmern rund.
Fr dem König von Berfailles
ritt ein Hofmann ernſt heran
Und erzäglt mit feuer Miene,
Bas Paris fo kühn begann.
„Run, was if’6? ein Heiner Aufſtand“,
ft verägtlih Frankreichs Gohu.
„Rein, Herr König” — fpricht der andre,
„Das iſt Revolution.”
Die „Gedichte von F. Wilden haben nichts Eigen-
artiges und feheinen Producte eines noch fehr jugendlichen
Berfaffers zu fein. Die Kritik darf fie als eine glüdliche
Talentprobe, als dichteriſche Studien willkommen heißen,
wenngleich fie ihnen eine größere Bedeutung nicht beie
meſſen fann.
„Adelpha“ betiteln ſich die gemeinfam herausgegebenen
Gedichte zweier Autoren, vermuthlich Brüder, von denen
der eine in Altona, der andere in San- Francisco lebt,
die Gedichte von Ehriftian und Theodor Kirchhoff
Mr. 6). Wenn wir die bichterifchen Leiftungen beider
gegeneinander abwägen, fo finkt die Fritifche Wagſchale zu
Gunſten des Iegtern: ein Umftand, welcher vielleicht zu
einem großen Theil feinen Grund darin bat, daß ſich
diefem mittel® eines, wie es fcheint, reicher bewegten Le—
bens eine ungleich auögiebigere Stoffwelt für feine dich-
terifchen Beftrebungen erfhloß, als fle jenem zu Gebote
and. Chriftian Kirchhoff's Producte Überfchreiten faft
nirgends den Werth des Mittelguts und bewegen ſich in
einer etwas monotonen Weile auf 176 Geiten beinahe
ausſchließlich um das Verhältnig des Dichters zu feiner
Geliebten. Iſt diefes Verhältniß nun aud, wie es in
der That aus jeder Strophe der Heinen Lieder hervorgeht,
eins der innigften, veinften und fhönften, fo machen denn
doch Publitum und Kritit an poetiſche Erzeugniſſe, welche
heutzutage an bie Deffentlichfeit treten, mit echt größere
Borderungen, als fie die Liederblüten Chriftian Kirchhoff's
befriedigen Können. Die deutſche Literatur Hat des jub-
jectiven Minnefangs genug, mehr benn genug, und nur
groß ausgeprägten Talenten, melde mitteld einer origie
nellen Lebensauffaffung im Stande find, bie Liebestyrik
mit neuen gebanflihen Elementen zu erfüllen und ihr
neue Seiten abzugewinnen, nur folgen Talenten fteht es
zu, heute noch vor die Nation zu treten. Was wir wie
von jeder echten Poefle, fo auch von der Liebeslyrik for-
dern, das ift, daß fie etwas Typifches, etwas Weltweites
habe; eine große Leidenfchaft muß fie tragen. Was in-
tereffirt es den Leſer, ob Chriftian Kirchhoff ſich in Alt-
wieb von feiner Geliebten den Hut befrängen läßt, oder
bei Heifterbad} ihr zu Ehren einen fieggekrönten Wettlauf
unternimmt? Zu den beſſern Gedichten Kirchhoff's ge-
hört das folgende, welches von einer echt lyriſchen Stim-
mung durchweht ift:
Monrepos.
Durch die fonnige Ebene wanderten wir
An der Wied zu des Fürflen Jagdſchloß hinauf
Und traten ins Kühle Korftrevier,
Bo bei Rodenbach mit raſchem Lauf
Veruutereilen die Quellen.
Bie wuchſen im Thal, am riefelnden Bach
Der großen Vergigmeinnicht fo viel!
Die Sonne blidte durchs grüne Dad
Mit taufend goldenen Augen ins Spiel
Der muntern Bögel und Wellen.
696 Bilder aus dem Alterthum.
Da blieben wir beide zögernd zurüd,
Und pflüdten der Blümchen, und nimmer ung:
Und taufchten die Sträuße mit liebendem Blid.
Und folgten von fern der Freunde Zug,
Und hörten im Walde fie fingen.
Bir traten hinaus vor das Firfienfhloß,
Dos ſchneeweiß ſtrahlende Monrepos.
Wie der glänzende Ahein durche Gefilde floß,
So war die Seele uns maienftoh
Und mod’ in die Lüfte ſich ſchwingen.
Die leuchtenden Fluren, die waldigen Höhn,
Die lagenden Dörfer am Ufer der Wied —
Mein Lieb zeigt’ olles mir freudenfhön,
Als gehört’ ihr ringe das weite Gebiet,
Der Königin meines Herzens.
Mehr Prägnanz und eine bebeutendere Phyſiognomie
als diejenigen Chriftian’6 haben bie Gedichte von Theo»
dor Kirchhoff. Ya, biefelben befunden fogar mitunter,
namentli da, wo fie die Schranken rein fubjectiven Ge»
fühlslebens durchbrechen und Welt und Zeit in ihren
Kreis ziehen, einen gemiffen großen Zug, etwas Feru-
blidendes, etwas Eulturhiftorifh- Orandiofes, wie die ſehr
Hangvollen und inhalt weren „ZTerzinen“ aus Stalien
und das „Miffiffippi-Panorama‘ beweiſen. Der Ber-
faffer ift ein vielgereifter Mann, der es verfteht, bie
Böoller mit ihren Sitten und die weite Welt mit ihren
wechſelnden Naturfcenerien in feinen Poeſien wiberzufpie-
geln. Dem „Stillen Meere” widmet der Dichter die fol«
genden anapäftifchen Strophen:
Biltommen, bu herrliches Stilles Meer
von teopiiher Fülle umgeben,
Wo bie ſchwelienden Waffer im Gonnenglang
wie wonneathmend fi) heben,
®o Tlar ſich fpiegelt der Berge Kranz
im Schoſe der Azurmogen,
Und dunkelblau barüber ih wölbt
des füblijen Himmels Bogen.
Billlommen, du Golf von Panama
mit den Infeln vol buftender Wälder,
Bo am Fuhe der grünenden Hügel ſtehn
die raufhenden Zuderrohrfelder,
Mit den alten Gemänern fo traulich dort
im Säatten ber Kolosbänme,,
®o die fäufelnden Winde melodiſch wehn
wie im Banberfande der Träume.
Einft ſah dich ſtaunend, ein nenes Meer,
der tropiſchen Urwelt Spiegel,
Der Spanier, blinfend im Panzerffeib,
von des Inhmus jmellendem Hügel.
Nach Golde ſuchend, irrte er weit,
gen Werten, gen Welten immer; —
Auq mid verlodte vom Baterland
des Weſtlands goldener Schimmer.
Ihr blanfen Gewäffer, tragt mid) ſacht
vom palmenumgürteten Strande,
Bon Neu-Granadas bläulihem Golf
zum californifhen Lande,
Wo der Waldftrom rauſcht auf goldenem Sand
über funfelnde Belfenquadern
Und die Felewand bligt wie edles Geſtein,
durdflodten von leuchtenden Adern.
Über die Sehnſucht nad der Heimat ift mächtiger als
der Reiz der Tropen, und das Gedicht Mingt mit fol-
genden elegiſchen Berfen ſchön aus:
Hindber, hinüber zieht es mich
zur Heimat aus ferneften Weiten!
Nicht feffeln der Südfee Zauber mic
und die Himmel tropiſcher Breiten.
Ihr duftenden Wälder lauſchtet nie
der Nadhtigall Trilleraccorden,
Und grüner al® Palmen von Panama
find die Buchenhaine im Norden.
Neben diefen im Freslenſtil gehaltenen Gedichten finden
ſich bei Theodor Kirchhoff einfache Lieder voll Gemüth
und Innigleit, wie 3. B. „Der lieben Mutter ſtilles
Grab“, welches unwiderſtehlich das Herz gewinnt, weil
«8 aus dem Herzen flammt. Wir begrüßen den Ber-
fafler als ein refpectables Talent.
Bilder aus dem Alterthum.
Hiftorife Bilder aus der alten Welt. Bon Arthur Stahl.
Wien, Hartfeben. 1870. 8. 1 Zhfr. 10 Nr.
Die Zeit ift vorüber, in welder Meißner, Feßler
u. a. in fogenannten biftorifchen Romanen die Heroen des
Alterthums den modernen Leſern mundgerecht zu machen
pflegten. Der hiſtoriſche Roman, namentlich der Mes
moirenroman, wählt in jüngfter Zeit feine Stoffe mit
einer berechtigten Vorliebe aus der Neuzeit, welche den
Huftincten des Lefepublitums beffer entgegenfommt.
Anders verhält es ſich mit einzelnen Eulturbildern,
wie fie Arthur Stahl und hier in einer Meinen Samm-
fung mittheilt. Die ganze Breite der Eultur, wie fie
ein großer Roman nöthig hat, würde uns fchleppend er-
feinen durch die Fülle des ardäologifchen Details, welche
er notwendig ausframen muß, und felbft ein mit fo viel
Fleiß und Geift ausgeführtes Gemälde wie Bulwer's
„Leiste Tage von Pompeji” enthält einzelne Kapitel, die
uns wie ber erläuternde Katalog eines archäologiſchen
Muſeums gemahnen und uns aus dem freien Reich der
Bhantafie in die Eüle de8 Museo Borbonico verfegen.
Wenn ums aber ein Autor einzelne Lichtpunkte antiker
Eultur vorführt, fo laſſen wir uns gern eine Zeit lang
feffeln; namentlih wenn bie mit Geſchmack und Geift
geſchieht, ohne notizenhafte Trodenheit auf der einen Seite,
ohne phantaftifche Weberfchwenglichteit auf ber andern.
Den „Hiftorifchen Bildern“ von Arthur Stahl darf man
nahrühmen, daß fie uns weder mit Detailnotizen üher -
ſchütten, noch in freier Hingabe an die Phantafie Ber-
Möße gegen das antife Coſtiim und den antifen Geift ſich
zu Schulden kommen lafien.
Arthur Stahl ift befanntlih der Schriftftellermame
einer Dame, die fi als Tonriftin durch ihre ſpaniſchen
und ägyptifchen Weifebilder, als Romanjchriftftelleriu
namentlich durch ihre farbenreiche „Tochter der Alhambra‘‘,
mit Glüd in unfere Literatur eingeführt hat. Cie hat
in ihren bißherigen Werfen neben einer lebendigen Bhan-
tafie ſtets gründliche Stubien bewährt, und in ihrer Lebens-
auffaffung und Weltanſchauung einen Zug von Drigi-
Bilder aus dem Alterthum. 697
nalität und geiftiger Bebentfamkeit, der fie von dem Gros
unferer Romanfchriftftellerinnen ſehr vortheilhaft unter«
fcheidet. Sie macht allerdings dem alltäglichen Geſchmack
feine Zugeftändnifie — und fo Haben ihre Schöpfungen
etwas Fremdartiges, das fi den Bedürfniſſen des Leſe⸗
publifums® nicht bequem und behaglich einzufchmeicheln ver-
ſteht. Namentlich aber ift ihr „Hellenismus“, die ſchöne
Sinnlichkeit, welche ihre Schriften athmen, ein fremder
Tropfen im Blute der deutſchen Frauenliteratur.
Diefen „Hellenismus“ zur Schau zu tragen, boten
ihre die in dem „Biftorifchen Bildern‘ gemwählten Stoffe
willlommene Gelegenheit. Diefelben find durchweg „antik“
und flir unfer modernes Bewußtfein „problematifch”. Zwei
berfelben haben deutfche Dichter dramatiſch verwertet, in
einer Form, bie fir derartige Stoffe fo ungünftig wie
möglich ift; denn bas Drama fchließt das „Problematifche”
aus und wenbet fich von der Bühne herab, in lichtvoller
Deffentlichkeit, welche keine Myſterien duldet, an bie Nation.
Baul Heyfe hat den „Antinous“, den Helden des erften
Gefchichtsbildes, in fein Drama „Kaifer Hadrian” als
einen der Hauptcharaltere mit aufgenommen, und der
„König Candaul”, den uns Arthur Stahl im Anſchluß
an Theophile Gautier vorführt, ift einer der Helden des
Hebbel'ſchen Trauerfpiels: „Der Ring des Gyges.“ Beide
Dramen find durch ihren Stoff von ber Düne aus⸗
geſchloſſen. Das Bedenken, das man gegen das Heyſe'ſche
Stück hegen kann, bat auch der Erzählung „Antinous“
von Arthur Stahl gegenüber ſeine Berechtigung.
Der Antinous⸗Cultus des Alterthums hängt mit einer
Sitte zuſammen, welche von der Nenzeit geächtet und
fteafredhtlich verurtHeilt wird. Der Dramatiker muß diefe
Sitte gänzlich) ignoriren. Dadurch aber wird das Freund⸗
ſchaftsverhältniß des Kaifers zu dem Knaben eine piycho-
logiſche Unbegreiflichfeit, minbeftens eine wenig antike Sen-
timentalität. Der Novellift darf weiter gehen in feinen
Andeutungen, aber doc, nicht weiter ald bis zu Andeu⸗
tungen. Die erfte Begegnung des Kaiferd mit dem Kna⸗
ben, eine Scene, bie durd die feenhafte Decoration ber
blauen Grotte von Capri opernartig gehoben wird, beutet
uns fogleih das „Antike“ durch den Eindrud an, den
die Körperfchönheit des Antinous auf den Kaifer macht.
Es find nit, wie in Heyſe's Drama, gemüthliche Wal-
lungen, welche das Band zwifchen dem Monarchen und
dem Knaben knüpften:
Der Anblick, welcher fi Adrian's geblendetem Auge bot,
war zauberiſch. Beinahe reglos ſaß er ba, in den Glanz ſtar⸗
send, der durch diefe wundervolle Spiegelung hervorgebracht
wird. Weber dem tiefen Azurblau der Wafferfläche wölbt ſich
die natürliche Kuppel der Grotte und if von fo glänzendem
GSeftein, daß, wenn die Sonnenflut durch eine der Oeffnungen
brit, fie das Himmelblau des Waffers in reinfter Färbung
reflectirt und zwar fo intenfiv, als fei auch die Luft blau, durch⸗
taucht von den Strömungen goldenen und azurnen Lite, bie
fie einander zufenden. Die Wirkung für das Auge ift jo magiſch,
fo unerwartet, fo phantaftifh, daß es die Sinne der Wirklich
keit vollſtändig entrüdt und in einen Taumel verfegt. Adrian
faubte den wonnevolffien Traum feines Lebens zu träumen.
enn um die Illuſion des Ueberirdiſchen, Zauberhaften noch zu
erhöhen, ſchwamm in diefem azurnen Element, fo rubig wie
zu ihm gehörig, von den goldig-blauen Lichtwogen fanft ge-
küßt, ein Götterjüngling, würdig neben der Anabyomene dem
Meere zu entfleigen. So ſchön wie nur die Griechengötter iu
göttfichem Uebermuth und Neltarraufch beim olympiſchen Mahle,
1870, 4.
im Delirium geraubten Liebesglüds, der Schöpferlaune Geflalt
zu geben wußten, fo ſchön, als fei bie blaue Grotte in ihrer
feenhaften Pracht nur um dieſes Sünglings willen geichaffen,
die Wölbungen, um feiner prachtvollen Geftalt ale Spiegel zu
dienen, das Wafler, um den Rhythmus dieſer Glieder wiegend,
tragend, ſchmeichelnd, miderfirebend — zum vollfien Ausdruck
zu bringen. Das Boll von Athen konnte nicht mit andächti⸗
germ Schauern vor dem Schönheitideal ftehen, als die Schaum-
geborene vor feinen Augen dem Meere entfiieg, ale Adrian
vor diefem Wunder der blauen Grotte. Hatte eine der Göt⸗
tinnen — Benus ſelbſt, Diana, die wenn fie wider Willen
defto heißer erglühte, oder Thetis die Silberfüßige in dieſe
azurne Perimuttermufchel ſich dieſe herrliche Perle eingefchlofien ?
Wie konnte felbit die Phantafle der Himmliſchen ein wonne-
volleres Berfted ausfinnen für verſchwiegene Seligleit? Draußen
das Toſen des Meere und des Lebens, bier Stille, Kühle,
Glanz und feine Bewegung als die leife, zitternde der Welle
und das Wogen des blauen Aethers, der fich mit dem einbrin-
genden Sonnenftrahl vermähltee Der Imperator ſaß in feinem
Nachen unbeweglich wie vor einem Wunder. Bald betrachtete
er mit fiummem Entzüden den herrlichen Kopf des Jünglings,
der forglos zurlidgeworfen von einer wilden Flut brauner Loden
umfloffen war, bald die vollendete Formenſchönheit der Geftalt,
die Küinfilernaturen mit mehr als bloßem Wohlgefallen berührt,
die ihnen wie ein Triumph bes Schöpfungsgebantens, wie ein
Sieg Über die Diffonanzen des Dafeins e8 zu erfüllen und auf-
zuldjen fcheint in felige Harmonie. Leife fchwebte der Nachen
bin und wieder durch die blaue Flut, und in großen Kreifen
wie der Schwan folgte ihm der afiatiſche Knabe, fo wenig ſich
bewegend, als fei das Wafler fein watlirliches Element.
Weiterhin findet die Verfaflerin Gelegenheit, uns am
Faden ihrer Erzählung mit Hadrian und Antinous aud)
in die „„Sleufinifchen Geheimniſſe“ einzuführen, bie uns
mit großer Xebendigfeit und Farbenfülle gefchildert werben.
Ueber dem Berhältnig zwiſchen Hadrian und feinem Be-
gleiter ſchwebt eine Wolfe, welche den Eindrud bes an⸗
tifen Geiftes der anfänglichen Begegnung allmählich gänz-
lich verfchleiert. In den üppigen Selten des Schlofies
von Wlerandrien, die uns mit Hamerling'ſcher Glut ge-
jchildert werden, fcheint Antinous nur ben Mismuth des
Dienenden, des Unfreien zu empfinden, ähnlich wie in bem
Heyfefhen Drama. Nur angedeutet wird, daß biefen
Feſten der Schmud der Frauen fehle:
Im Mittelpuntte des Balaftes, wo die Säle wie zu einem
Stern zujammenliefen, fehimmerte von Lotosblumen rings be»
fäumt, von Arkaden umgeben, von taufend Lampen biendend
erleuchtet, ein fpiegelllares Baſſin. Lieblihe Knaben ſchwam⸗
men darin, tummelten fi fcherzend in rhythmiſcher Bewegung;
Horus, der Ägyptifche Apoll, mit dem Finger auf der fippe
fhaute ihnen von feinem ©ranitpiebeftal zu, bie grünen Sma-
ragdaugen der Kate auf dem fchöngeftredten Götterleibe der
Iſis biinzelten funkelnd über fie Hin. Herrliche Frauengeſtalten
trugen ale Karyatiden den purpnrroth feidenen Baldadhin, welcher
bei Tage das Baffin vor den ſenkrecht einfallenden Sonnen-
ſtrahlen jhligte und die ſchwimmenden Geftalten in purpurnes
Licht tauchte; aber alles Weibliche hier jchien zu Marmor ver-
fteint oder in Bronzeform gegoflen. |
Die Flucht des Antinous, feine Liebe zu ber reizen-
den Opiumfammlerin des Fayoum, die Begegnung mit
dem Kaiſer im Labyrinth, der Opfertod, ben Antinous
für Habdrian ftirbt — das find die weitern Begebenheiten
diefer Erzählung, in welcher das Pfychologifche zurück⸗
tritt gegen Glanz und Pradjt der Schilderung; namentlich
aber durchzieht die Rofen- und Liebesidylle im Fayoum
ein echt poetifcher Hauch, und Scenen von großer Tieblid-
feit Idfen fi ab.
Ohne Frage verwerthet die Berfaflerin in diefer Er-
88
698 Bilder aus dem Alterthum.
zaͤhlung mit Glüd ihre ägyptifhen Studien; nur wird
die Decorationsmalerei bisweilen der Dichterin gefährlich;
der Palaft in Alerandrien, die Memnonsfäule, das
Labyrinth uw. f. w. werden uns fat mit mehr Liebe ge-
ſchildert als die Vorgänge im Gemüt des Antinous,
‚Ein zweites ägyptiſches Bild entrollt und die Erzählung:
„Säfarion“, deren Held ein anderer Knabe, ber Sohn
der Meopatra und des Caſar ift, welchen Octavian er-
droffeln ließ. Die Frucht einer orientalifh glühenden
Liebe, das traurige Opfer der dynaftifchen Beftrebungen
des erften römiſchen Kaiſers kann indeß fein tieferes
Intereſſe einflögen, da Cäfarion nicht wie Antinous in
fpannende Conflicte gebracht ift; wol aber werden und
Kleopatra, Antinous und Octavian von ber Berfafferin
vorgeführt im einer vielfach dramatiſch fpannenden Er-
zahlung, die allerdings in den Scenen des großen britie
fen Dichter eine bedenkliche Concurrenz findet. Denn
wenn auch Erzählung und Drama fi weſentlich unter-
ſcheiden, fo find doch einzelne Situationen, wie der Tob
der Rleopatra, ganz gleichartig. Und wer wollte mit
Shaffpeare auf einem Gebiete wetteifern, wo er unüber«
trefflich ift, wie dies namentlich ber meifterhafte Schluß-
monolog feiner ägyptifchen Königin bemeift?
Doch Caſarion ift file] Artyur Stahl nur das eine
Glied einer Parallele, deren anderes durch den Herzog
von Neichftadt vertreten if. Zwei Kaiferföhne, die in
ihrer Jugend dapinfterben, der eine gewaltfam, der andere,
nad) der Darfiellung der Verfafferin, in raffinirter feiner
Beife hingemordet. Den Einn ber Parallele künden bie
Schlußworte des „Cäfarion“:
‚Im derſelben Nacht hauchte unter ben phantaftifchen Tempel»
gisen von Efepbantine noch ein jüngeres Leben feinen legten
ufjer aus, ein Leben ohne Spur und ohne Geſchichte und
doch zu beiden berechtigt ſcheinend wie nie ein Flͤrſienſohn,
Ehfarion Ptolomäus, der König der Könige wie Antonius ihn
gefrönt hatte, der Süngling, im bdeffen Üdern das Blut der
beiden hernorragendfien Menſchen des Alterthums floß! Warum
hatte der Imperator ſich in dem eigenen Sohn nicht den Erben
ermählt, warum hatte ex für den Sohn der geliebteften rau
nicht vorgeforgt wie fir Octavian, der aud ein Knabe war?
Slaubte Cäfar, wie feltlamermeife fpäter Napoleon, nigt an
die Erbicaft des Genius? Ahnte er, daß es einen Höhenpunft
gibt, Über welden hinaus die Shöpferiihe Natur keine Gaben
mehr zu vertheilen hat und wieder abwärts fleigt? Gründer
das Genie feine Dynaftien, weil e6 einfam wie ber Komet durch
den Himmelsraum fliegt, die Bahnen der andern Gefirne fühn
durchichneidend?
Ein phantaſtiſches Capriccio iſt die Erzählung „Gar
Taten”. Der Stoff ift durch „Die ſchöne Galathea“ von
Voly Henrion und Suppe allen Bilhnenbeſuchern in etwas
profaner Weiſe nahegerücdt worden, und es gehörte Muth
dazu, mod) eine poetifch ernſte und finnige Behandlung
deijelben zu wagen. Wenn in einer folden Erzählung
Aphrodite felbftredend eingeführt wird, fo bewegen wir
uns im Reiche der Mythe, das nur poetifche Bedeutung
hat wenn e8 einen tiefern Gedanken fymbolifitt. Pygma-
lion, unbefriedigt durch den höchſten Kunftgenuß, empfindet
ſiunliche Begier für das gefchaffene Meifterwerk; Aphrodite
erwedt es ihm zum Leben, aber den Zufällen irdiſchen
Geſchicks erliegt das Götterweib, das den Künftler durch
feine Liche befeligt hat. Pygmalion zertrlimmert mit fei«
nem Wunfd fein unfterblices Kunftwert und töbtet mit
irdifcher Begierde den Gott in fi. Im folder
bigung aus dem Munde der Göttin, melde zugleich
mit die Selbſtherrlichteit der Schönheit preift, liegt be
Sinn der in phantaftifcher Beleuchtung verbänme
Gefdichte. Das Erwachen ber Bildjäule zum Leben
und in einer Weife gefchildert, welche ung in eine m
Stimmung feitbannt:
Das weiße Bid ſchimmerte aus der Dunkelheit, als
es von innen leuchte. Pugmalion firedte erbebend die Arme
ans. Die Wonnen der vollen, erften, heißen Liebe flutetem über
fein Herz, jene Wonnen, melde noch nicht zu berlihren mı
welche zu übermächtig find, um den Ausdrud zu finben.
erleuchtete fih das Gemah mit tinem Schein, nicht Monde
nicht Sonnenliht — mit dem Licht des Lebens föunte man für
gen; wie man fidh denft, daß e8 Äber die dunkle Erde
mit dem erflen Erwachen eines Organiemus, mit dem i
Gedanken eines Intellect, mit dem erfien Athemzuge eines Ber
bendigen, und ein leifes Tönen jitterte in der Luft, Di :
wie daB Tönen der Sphären am Scöpfungstage, das fi in
den warmen Pant der erften Wenjhenftimme ergießen
Pygmalion blidte zum Antlig der Galatea auf. Ihm
als ob ein blaues Flammchen Über ihrer Stirn tanze, al®
in den Augen fi ein Glanz entzünde, als ob die zartem
der leiſe fchauderten vor dem mahenden Leben. Bugmalion
näherte fi — er, der Schöpfer, der König, ber Gebieter, dem
alles gehorchte, ſchlang feine Arme jclichtern um bie al
der Jungfrau, fein Lönigliger Mund, der zu ftolz geweien mar
zum Küffen, weil ec nur Öflavinnen umarmt Hatte, jet Mifte
er mit Inbrunft, weil er liebte. Umd unter dem Drude feiner
Lippen fühlte er wonneberauſcht, wie die ihrigen weich
warm wurden, wie der Flaum ihrer Wangen am jeimen ere
glügte, wie der Marmor zu wogen begaun umd ſich 4
feinem Arm zu fügen. Er fühlte ihr Herz poden, ihrem gar«
ten Buß an feinem zuden, er fühlte, ein jelig Träumende
all maͤhlich alle Rathſeĩ des Lebens heiß in ihr fich offen!
und al® er fie entzüdt auf feinen Armen im dem erflem
der Morgenfonne trug, damit Helios fie jegnend berühr,
Rexten ihre Lippen: Pygmalion,
In allen diefen Erzählungen herrſcht ein finnlicher
Bulsihlag; aber fie find von antiter Keufchheit, weil fi
frei find von jeder Frivolität. Dagegen ift ber
Candaul“, diefe nur frei überfegte Erzählung bes
phile Gautier, im Grunde nur ein lüjtermes Cabii
Der deutfche Dramatiker Hebbel ſuchte in biefen
einen tiefern Sinn zu legen — in der Reufchheit der F
war ein echt weibliches Princip zu einer verhängnifi
Uebertreibung gefteigert; dod 28 war mur die g
Weiblichkeit, weldye dem Gyget den Dolch im die
drüdte. Der frivol lächelnde Franzoſe zerjtört aber bu
allerlei Seitenbemerfungen diefen Adel der Haltung
läßt und die Frage frei; ob Stolz oder Püfternheit
Königin beſtimmte, in dem ſchönen Gyges dem Mö
des Gemahls zu dingen?
Und jet — was war der eigentliche Gedanfe ber
Hatte fie wirklich bei der Begegnung in Balırien ben jur
Kapitän bemerkt und von ihm eine Erinnerung bewahrt, }
einem der verfiedten Winfel der Seele mo aud) bie ehr
tefte Frau immer etwas zu verbergen hat? War ber
ihre beleidigte Ehre zu räden, gefladelt durch eim
uneingelandenes Verlangen? Und wenn Guges nicht der
junge Mann in Afien gervefen wäre, würde fie ebenfo vi
darangefegt haben, Candaul dafür zu beftrafen, die
der Ehe angetaftet zu haben? Cine jo delicate Frage if
zu entfcheiden, vorzüglich nad) dreitaufend Jahren, mund
mir Herodot, Ephefttien, Platon, Ardilaus von Paros,
mäus, Cuphorion und alle Die gefragt haben, die ü
oder wenigen Worten von Ryifia, von Gandaul und vom
Neue Romane
Iprechen, haben wir zu Teinem beflimmten Rejultate gelangen
Löunen. Nach fo vielen Sahrhunderten, unter den Ruinen fo
vieler zertrlimmerter Reihe, unter der Aſche untergegangener
Bölfer Über eine fo verborgene Nuance der Empfindung zu
enticheiden, if} eine fchwere, wenn nidt eine unmögliche Arbeit.
Es find Hppige, fehr glänzend ausgemalte Bilder,
weiche uns dieſe Erzählung bietet; aber es find nicht ein-
mal immer bie Gemälde eines Tizian mit der beftechlichen
Glorie götilih nadter Schönheit; fie erinnern oft an
die Bilder der Rococotabatieren, wo allerlei Fünftliche
Hene Romane
1. Der Dorfpaganini. Eriminafnovelle von Georg Füll⸗
born. Hamburg, Verlag der Roman» und Rovellen-Diappe.
1870. 8 15 Nor.
2. Sarriöre. Originalnovele von Hermann Hirſchfeld.
gambur ‚ Berlag der Roman und Novellen- Mappe. 1870.
. gr.
Was gehört zu einer guten Movelle ? Und wie fchreibt
man eine foldhe? Zur Beantwortung diefer Tragen, bie
gewiß jeden jungen Schriftfteller fchon oft innerlich be»
wegt haben mögen, wenn er feine Feder anfegte, die
Welt mit einer Frucht feiner Mufe zu beglüden, bieten
„Der Dorfpaganini” und „Barriere” pafjende Antnipfungs-
punkte dar, die wir aber nicht in grauer Theorie, ſon⸗
. dern unter Anlehnung an die Erzählungen felbft benugen
wollen.
„Der Dorfpaganini” von ©. Büllborn (Nr. 1)
ift die Gefchichte eines Mufilanten, der aus guten Ver⸗
bältnifjen hHerabgefunfen ift zum armen Dorf-Geigen-
fpieler, als folher ben Verdacht des Mordes auf ſich
ladet und ins Gefängniß gefegt, endlich) aber aus dem⸗
felben befreit wird, da feine Unfchuld ans Licht kommt,
nun aber freiwillig feinen Tod fucht und findet, weil
ihm nad dem Tode feiner geliebten „Golddore“ das Le-
ben zuwider geworden if. Als der wirkliche Mörder
wird der fogenannte „Sirfchenbauer herausgefunden,
und diefer leidet denn feine verdiente Strafe. Diefe
Criminalgeſchichte ftellt eine keineswegs beſonders erfreu-
liche Begebenheit dar. Aber der Erzähler hätte ihr fehr
leicht ein tieferes Interefie geben können, wenn er beſſer
zu motiviren verftanden hätte Wir verſtehen es gar
nicht, was denn eigentlich einen Geigenfpieler von ſolchem
Talent, wie uns der Friedel Heimbach gefchildert wird,
fo weit Herunterbringen konnte, wie wir ihn fon im
- Anfang der Erzählung vorfinden: muſikaliſches Genie ift
heutzutage burchaus nicht fo hülflos dem Elend verfallen.
Unglüdliche Liebe, die allein ſolch eine tiefe krankhafte
Berftimmung hätte motiviren können, entwidelt fi erft
innerhalb der Erzählung felbft; und da erfcheint es benn
wieder als eine zu ſtarke Zumuthung fir unfer Gefühl,
daß diefes frifche prächtige Goldmädchen, nicht nur bie
reichte Erbin, fondern auch das ſchönſte Naturkind des
Doris, welches zubem fchon einen andern licht, ben
verfommenen Gefellen lieben und gar heirathen fol,
nur um ihn ans feinem traurigen Zuftande zu erlöfen.
Uud nun frage man einmal jebes unverdorbene Mädchen,
ob es bei folcher Lage der Verhältniffe mit einem ſolchen
verfhmähten Burfchen am fpäten Abend im einfamen
und Novellen. 699
seaperie verwendet ift zur Erhöhung eines prickelnden
eizes.
Im ganzen beweiſen dieſe „Bilder“ Arthur Stahl's von
neuen die ungewöhnliche Bildung und das glänzende Tar-
ftelungstalent der Berfaflerin, deren oft beredter und be⸗
geifterter Stil nur Meine Gefchmadlofigkeiten, wie die
thörichten Sremdwörter „fublim‘“, „fuperb” u. f. w., abs»
zuftreifen brauchte, um gegen kritiſchen Tadel gewaffnet
zu fein. Rudolf Goliſchall.
und Novellen.
Kahne aufs Meer Hinausfährt ? Da würde ſich doch jedes
hübſche Kind fehr ſchnippiſch für eine ſolche Zumuthung
bedanken. Den ftilen felbftbewußten Trotz in ſolchen
Naturfindern gegen alles, was ihnen ohne ihre Erlaubniß
zu nahe kommen möchte, ſcheint der Berfafler gar nicht
zu kennen. Cbenfo wenig wird fold; ein Mädchen wie
die Golddore ſich am fpäten Abend von biefem Friedel
in den Wald begleiten laſſen: fie geht ja zum Rendez⸗
vous mit ihrem wahren Geliebten. Alles Derartige mußte,
um und irgendwie glaubwürbig zu erfcheinen, in viel feinern
Einzelzügen ausgeführt fein, al® e8 hier gejchehen. Lefe der
Verfaſſer dody die Novellen von Hermann Grimm, von
Baul Heyfe („La Rabbiata” z. B.), oder, noch beifer,
einen größern Roman der George Sand (,Balentine”
etwa, oder „Conſuelo“), um ein richtiges Gefühl davon
zu befommen, worin die Kunſt ber poetifchen Erzählung
befteht: die Feinheit der Detailzeihnung, bie leiſen Ueber
gänge, die nur ganz allmählich von Schritt zu Schritt
ſich löfenden Verwickelungen, bie vorfichtige Vorbereitung,
bie breite Ausführung auf der Höhe des Vorgangs, bie
raſche Löſung am Schluß, das find einige von dem erften
Bedingungen, die ein guter Erzähler zu erfüllen hat.
Wie roh fteht hier dagegen bie Figur, der Charafter und
die That des „Kirſchenbauers“ da: wir intereffiren uns
ja gar nicht für fold ein Subject, um fo weniger, als
es der Dichter nicht einmal begreiflich erfcheinon läßt, wie
er zu einer folden ganz ſcheußlichen That kommen konnte.
Sold) ein liebes gutes Kind bei Nacht in das Schwarz.
wafler zu flürzen! Nun, daß ein fonft ehrenfefter und
wohlhabender Bauer eine derartige That begeht, dazu gehört
doch etwas mehr als eine nicht bezahlte Holzrechnung!
Etwas beffer find die Übrigen Figuren gelungen. Aber
im ganzen treten die gerligten Mängel fo auffallend her-
bor, dag die Erzählung nicht den wohlthuenden Eindrud
binterläßt, den jede Fünftlerifche Leiftung gewähren follte.
Ganz anders die zweite Novelle‘: „Sarriere”, von Her⸗
mann Hirſchfeld. Kine intereflante Verwidelung mit
überrafchenden Wendungen, die trogbem nicht unwahr⸗
ſcheinlich, macht das Meine Büchlein vor allem zu einer
angenehm fpannenden und unterhaltenden Leltüre und er»
füllt jo bie erfte Bedingung dieſer Gattung leichterer
Literatur. Die Charaktere ſowol, wie die Localitäten, in
welchen bie Erzählung ſich bewegt, zeigen Bekanntſchaft
mit der großen Welt: e8 ift eine Salonnovelle im beiten
Sinne des Worte. Und daher hat die Sprache auch faft
überall jene leichte und gefällige Eleganz, wie fie ben
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700 Neue Romane und Novellen,
dargeftellten Perſonen und Zuftänden entſpricht. Die
Erzählung beginnt in einem deutſchen adelichen Haufe bes
17. Jahrhunderts, das maleriſch ſchön am Strande der
Oſtſee gelegen ift. Der Baron Guntram von Langenried,
der Herr dieſes Haufes, lebt dort mit feiner einzigen
Nichte, der fchönen Amelie von Langenried, der Verlob-
ten feines mit ber Armee in den Krieg gezogenen Sohnes
Leonor. Die Familie ſteht feit alter Zeit mit dem ber»
zoglichen Hofe von Marnig in naher Verbindung, und
der alte Baron ift von ber Zeit her, mo er als einer
ber hödjften Beamten am Hofe fungirte, im Befige eines
wichtigen Documents geblieben, welches in Bezug auf die
Erbfolge in der regierenden Herzoglichen Familie ein höchſt
gefährliches Geheimniß enthält: «6 handelt fi eben um
das Recht der Erſtgeburt zwifchen zwei Prinzen des her-
joglichen Haufe. Alles dies ift gleich im Anfange der
ovelle jo geſchidt angedeutet und erzählt, daß wir fo
gleich in jene Spannung gerathen, die uns für die Löſung
einer folden wichtigen Frage Intereſſe einflößt. Diefe
Spannung wird noch erhöht durch bie eigenthümliche Er-
ſcheinung der Hauptfigur, des fpätern Miniftere Wigo
von Barby. Er kommt aus dem Lager her und bringt
dem alten Baron die Trauernachricht, daß fein Sohn
Leonor gefallen. Der ganze Beſitz fält damit an ben
Neffen des Barons, an Otfried von Haldberg; mit dem»
felben auch Amelie als Braut und Erbin, nad alter
Familienbeſtimmung. Es iſt nun in intereffanter Weife
durchgeführt, wie es dem Chevalier Wigo von Barby,
der um jeden Preis Carriere machen will, gelingt, diefe
Verhultniſſe völig zu verwirren, das wichtige Document
aus dem Schloffe herauszuſchaffen, die Liebe der fehönen
Amelie zu gewinnen, ſich heimlich mit ihr zu vermählen
und nad) der Brantnacht zu entfliehen, um am Hofe von
Marnig wieder aufzutauchen und dort Carriere zu machen.
Im Grunde eine catilinarifche Eriftenz, ber jedes Mittel
recht ift, wenn es dem Zwede dient, feine Carriere zu
fördern — ein Charakter, der in den höhern Kreifen ber
Geſellſchaft keineswegs fo felten ift, wie ehrliche Leute
vielleicht glauben mögen —, erhebt er ſich durch alle mög-
lichen Intriguen bis zum regierenden Minifter des Lan-
des, freilich um ben Preis feiner Liebe zu Amelie, die er
hintergeht und in den Tod treibt, um ſich mit einer
Milionärin zu vermähfen, dem Wunſche der Herzogin
Anna gemäß. Er felbft aber wird nicht glüdlic in bier
fer Ehe, wird durch ähnliche Intriguen zulegt geftürzt,
erliegt fo derfelben dämoniſchen Madıt, die ihm feine
Carriere geebnet, und vergiftet fi, als er fein ganzes
tünftliches Gebäude zufammenftürzen fieht. Ueber dem
Grabe des bisher allmächtigen Minifterd aber geht dem
Lande eine ganz neue Zukunft auf in der Regierung des
Prinzen Oslar, deſſen Bermählung mit der Prinzeffin
Magda die Anſprüche beider Linien ausgleiht. Die
Tochter Ameliend und Wigo's verföhnt in ihrer Liebe
zum Erben des alten Haufes, dem jungen Philipp von
Haldberg, auch dieſe wiberftreitenden Interefien, ſodaß
wir über den Schatten der Vergangenheit von allen Sei-
ten ein reineres Leben emporfteigen fehen. Der Eindrud
am Schluß ift fo ein durchaus wohlthuender: es ift eine
Kunftnovelle im beften Sinne des Worte.
Um zur Leltüre des intereffanten Heinen Buchs zu
bewegen, wirb das Gefagte wol hinreichend fein. Cs iſt
durchaus nicht fo leicht, wie mancher junge Schriftiteller
zu glauben fcheint, ſolch eine lesbare Novelle zu jchreiben;
gerade weil der Gegenftand Heiner, da8 Thema enger
umgrenzt, bie Gntwidelung wie die Charaktere leichter
überfcaulic find, darf die Kritit um jo firenger barauf
halten, dag alles bis in das Heinfte Detail hinein künſt ⸗
leriſch abgerundet und techniſch vollendet erſcheine. Eine
ſpannende Verwidelung und eine gebildete Sprache find
nur die erften äußern Bedingungen einer guten Novelle:
das Geheimniß der Kunſt befteht hier vorzugsweiſe in jener
feinen, befonnenen, nie ausfegenden Verbindung alles ein-
zelnen untereinander, welche wir eben als künſtleriſche
Motivirung in jeder Kunft befonders Hedidägen. Unter
den neuern Novelliiten it gerade darin vielleicht feiner
geſchidter als Ludwig Tied.
3. Novellen und Erzählungen von €. ®. Stuhlmann. Erw
fler Band: Aus dem Patrimonialftaate. Hamburg, I. F.
Richter. 1870. 8. 24 Nor.
Drei Novellen in Holzfehnittmanier: „Wie gewonnen,
fo zerronnen”; „Der Hauptmann von Sarow“; „„Dop«
pelt blamirt“. Der Verfaſſer if bereits befannt ala guter
Erzähler; feine frühern Erzäglungen: „Herztroſt“ und
„Ber das Glüd Hat, führt die Braut heim“, Haben
großen Beifall und in d. DI. anerfennende Beurtheilung
gefunden. Was feine Art und Weife vorzugsmeife charat-
terifirt, ift ein bei aller Zartheit der Empfindung fir
alles, was Xiebe verdient, etwas derb ironifcher Ton, ber
bei der marfigen Sprade und den braftiihen Bildern
und Situationen auffallend an Fritz Reuter erinnert. Wie
diefer entnimmt aud) er feine originellen Geſchichten be»
ſonders gern der nordiſchen Heimat und namentlic, dem
Mecklenburgiſchen. Und ba findet fi denn, im biefem
gelobten Lande antebiluvianifher Cultur, jo vieles, was
feiner ſatiriſchen Ader reichen Stoff darbietet, daß wir
mit großem Interefje die eigenthümlichen Schlaglichter ver-
folgen, welche fein unbarmherziger Humor auf die länd-
lichen Zuftände, Charaktere und Ereigniſſe dort fallen
fäßt. Zumeilen freilich läßt ber talentvole Verfaſſer ſich
etwas zu fehr gehen, im Inhalt wie im Stil; die letzte
der drei Novellen: „Doppelt blamirt“, iſt ein Beifpiel
dafür, daß eine Satire auch mislingen und langweilig,
ja peinlich werden Tann, fobald e8 an demjenigen Wig
fehlt, der auch einem an fi ungenießtaren Thema durch
die Form der Darftellung Intereſſe zu geben weiß. Das
ift dem Verfaſſer Hier nicht gelungen, und es dürfte dar
her diefe Novelle wol als die ſchwüchſte jeiner bisherigen
Leiſtungen zu betrachten fein. Cbenfo enthält die erite:
„Wie gewonnen, fo zerronnen“, neben glänzenden Aus-
führungen zuweilen öde Partien einer Darftellung, die
weniger Ironie über norddeutſche Sandwüſten als dieſe
felbft zu geben feheinen: der Schäferfohn, der den großen
Herrn fpielen will, weil fein Vater ihm ein in etwas
unwahrſcheinlicher Weife gemonnenes Rittergut hinterlafien
hat, müßte doch entweder intereffanter gejchilbert oder
unbarmherziger gegeifelt werden mit auflöjendem Humor,
wenn er und durch 155 Seiten hindurch fefleln fol.
Am beften ift jedenfalls die mittlere Novelle gelun-
gen: „Der Hauptmann von Sarow“. Diefer Daupt-
mann ift einer jener Junker, die fih noch immer
Neue Romane und Novellen,
einbilden, ihr Patrimonialftaat fei die Welt, dieſe felbft
nur dazu da, von ihnen genofien, ihre Untergebenen
nur gefhaffen, um von ihnen mishandelt zu werben.
Mit erfchütternder Kraft ift es gezeichnet, wie über folche
Junkerwirthſchaft das Gericht von 1806 hereinbricht. Der
ehrwürdige alte Pfarrer, Paftor Stark, weiß ed zwar zu
verhindern, daß der ehemalige Hauptmann und jetige
Öutöbefiger von der empörten Soldatesla, unter deren
Offizieren ſich fogar mehrere feiner ehemaligen Tagelöhner
und Fronarbeiter befinden, förmlich Hingerichtet wird; aber
er Tann fie nit davon abhalten, ihn wenigftens in den
Block zu legen, damit „er jelber es einmal fchmede, wie
das Krummliegen thut“. Kine ganze Nacht hindurch Liegt
er fo in der Folter. Sein ganzes Weſen bricht dadurch
innerlich zufammen, körperlich wie geiftig wirb er aus
einem vüdfichtslo8 harten Mann in wenigen Wochen ein
hinfülliger Greis. Und eines Tags findet man ihn im
Walde erhängt mit dem eigenen Haldtuche, nachdem in
der Tetten Zeit fhon Spuren des Wahnfinns an ihm
wahrgenommen wurden. Einem der Dffiziere der fran-
zöfifchen Armee, einem geborenen Medienburger, hält der
Pfarrer die Frage entgegen:
„Und nun kämpfen Sie gegen Ihr eigenes Vaterland?“
Der Major ſchwieg einen Augenblid. „Herr Paſtor“, er-
widerte er dann, „Sie und Ihresgleichen können vielleicht von
einem Baterlande fprechen; aber kann dieſes auch der Leibeigene,
der durch die Geburt an die Scholle gebunden ift, mit welcher
er ben Herrn Über Leib und Ehre wechielt nad Erbredit und
Kaufrecht? Bierzulande war ich weiter nichts als ein willen-
loſes Ding, es wurde mir fogar zum Verbrechen gemadt, eine
rein menfchliche Neigung zu hegen. Ausgefoßen war ich durd)
das Geſetz aus der meunſchlichen Geſellſchaft: ein Vaterland habe
ich bier nimmermehr befeffen. Weber den Kaifer aber mag man
denen, was man will: fo viel fteht fe, daß für die Maſſe
des Bolts allenthalben feine Siege auch wirklich Siege find.
Wohin er feinen Fuß fett, zertritt er der Tyrannei der kleinen
Herren das Genid; feine Herrichaft kennt feine dor dem Ge»
feg privilegirten Herren, denen gegenüber die andern Meuſchen
rechtlofe Sklaven find.’
Die Novelle zeichnet in diefer Weife ganz vortrefflich
die Stimmung jener Zeit gegenüber den großen Welt-
ereignifien. In diefem Sinne bat fie Hiftorifchen Hinter»
grund und auch dadurch fchon jene höhere Bedeutung,
welche die beiden übrigen weder durch ihren Inhalt noch
durch ihre Form in Anfpruch nehmen können.
4. Das Bafthaus zum grünen Baum. Erzählung von Baronin
Elifabeth von Grotthuß. Wien, Medithariften- Eon»
gregations- Buhhandlung. 1869. 8. 12 Nor.
Eine ſehr erbauliche Räubergefchichte für fromme Ges
müther: diefe Furze Notiz wird genügen, um dasjenige
Publikum, welches fich fir folche Erzählungen intereffirt,
auf das Büdlein aufmerkfam zu machen.
5. Klatſchereien. Drei Beichichten von Eduard Köller. Iena,
Coftenobfe. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nr.
Der Titel ift richtig gewählt: Geſchichten find es,
die vieleicht irgendwo einmal paffirt fein mögen. Es gibt
aber langweilige und kurzweilige Gefchichten, bedeutende
und unbedeutende, intereffante und gleichgültige. Für
einen Schriftfteller, der gelefen fein und Wirkung ha-
ben will, follte fih das nicht nur von ſelbſt verſtehen,
daß er das SKurzweilige, Bedeutende und Intereſſante
feinem Gegentheil vorzieht; auch die Art der Darftellung
701
muß dabei eine ſolche fein, daß wir uns im reinen Aether
der Kunft fühlen, und nicht auf dem Boden ber profai«
fchen Wirklichkeit. Selbft der künftlerifch angelegte Roman,
and) die wirklich poefievolle Novelle find fortwährend im.
Gefahr, fi über ihre Grenze hinüber in bie gewöhnliche
Profa zu verieren, weil die bequeme Form der verslofen
Erzählung gar zu leicht dazu verführt, allerhand Ballaft
mit in das Schiff zu nehmen, ber den Weg zum Ziele
nur aufhält und oft nicht einmal zum Schmud im ein-
zelnen dient. Wenn aber der Boden ber gewöhnlichften
und unerquidlichften Proſa gar nicht verlaflen wird, wenn
und Dinge berichtet werden, deren Unmahrfcheinlichkeit
mit ihrer unerquidlichen Intereſſeloſigkeit wetteifert, und
dazu noch in einer Form, daß es eben nur „Geſchichten“
find, die wir hören, aber nicht Funftvolle Erzählungen,
fo it in ber That die Breite der Darftellung eine ſtarke
Zumuthung für den Leſer. Für ſolch einen Windbeutel
von Flaneur, der, weil er in ber Reſidenz lebt und einen
Diener in Livree hat, in feinem Geburtsorte einmal Mi⸗
nifter fpielen will, intereffirt man fid) wirflid nicht fo
jehr, daß er ſelbſt ohne die vaffinirtefte und wißigfte
Gelbftperfiflage 92 Seiten lang von ſich erzählen bürfte.
Auch find die Heinen Provinzialftädte durchaus nicht fo
zutraulich tölpelhaft, wie es hier vorausgefet wird, um
eine folche an gemeinen Betrug ftreifende Taäuſchung irgend-
wie wahrfcheinlich erfcheinen zu lafien. Kurz, diefe erfte
Gefhichte, „Kurze Zeit Minifter”, Hinterläßt einen pein-
lichen Eindrud, weil ber Berfaffer es nicht verftanden
bat, einen fo bebenfli „ unintereflanten Stoff durch pilante
Würze des Wied genießbar zu machen,
Etwas beffer ift die zweite Erzählung: „Drangjale
und Mühen.” Ein Privatgelehrter, welcher zu der re-
fpectabeln Sorte jener Lente gehört, bie ihre Carridre
verfehlt haben, Iernt durch die vielfältigen Bemühungen,
ein Amt zu erhalten, allmählich Menſchen kennen und
praftifch werden, ift aber body zuleßt noch froh, in eir-r
Todtengräber- oder Kirchhofs- Infpector - Stellung mit
nicht unbebeutendem Gehalt feine altwerdende Braut heim-
führen und feine Tage in Ruhe befchließen zu können.
Es ift dies mit derbem Humor und erträglichem Wis
ausgeführt, wenn auch zumeilen die Farben etwas zu
ſtark aufgetragen find. Im den Preßbureaur der größern
Staaten und auf den NRedactionen der bebeutendern Zei⸗
tungen 3. B. gebt es denn doch nicht fo mechanisch und
unanftändig her, wie e8 Hier gefchildert wird; und Dinge,
die auf diefes ober jene® Blatt eine treffende Satire ent«
halten, paflen darum noch nicht auf alle Blätter. Ueber⸗
haupt tritt zuweilen, ganz wie in der erften Gedichte,
die Erbärmlichkeit der gewöhnlihen Menſchenwelt fo un-
verhüllt zu Tage, daß wir den Berfaller verwundert fra«
gen müflen, warum er ſich do di Nühe gebe, uns
ſolches „Menſchenkehricht“, das fchon in der Wirklichkeit
völlig ungenießbar erfcheint, auch noch im Bilde vorzu-
führen. Der Schlußeindruck einer folchen Darftellung ift
und bleibt ein widerwärtiger: dieſe Art Hohn auf jedes
ideale und würdige Streben, wie fie hier als Schluß-
effect zu Tage tritt, ift jener Nihilismus, den eine gewiſſe
Sorte von Fiteraten uns ald geſunde Koft und würdigen
Erfag für alles bieten möchte, was dem Leben gediegenen
Inhalt zu geben vermag. ES eriftirt aber nur Eine
ie
702 Fenilleton.
Form, in der diefer Nihiliemus erträglich wird: und das
ift der vernictende Wit des „Klabberadatfch”, der ſich
dadurch von dem bier vorliegenden ganz weſentlich unter»
ſcheidet, daß er aus der abfoluten Fulle einer höchft geift-
vollen Weltanfhauung heraus durch plöglich trefiende
Schlaglichter alles aufzulöfen verſteht, was dieſes hohen
Geiſtes unwerth erſcheint. Wem in Bild und Wort
nicht die gleiche Schlagkraft zur Dispofition ſteht wie
den geiftreichen Gelehrten der berliner Tafelrunde, der
muß fi in Acht nehmen, Gegenflände zur Darſtellung
zu bringen, bie nur durch witige Behandlung genießbar
werden, an fi aber proſaiſch, uninterefiant, ja ımanges
nehm find. Denn in aller Kunft — und das Komiſche,
der echte Humor namentlich ift jedenfalls eine der feinern
Formen des künftlerifchen Geiftes — feilelt uns nie der
Gegenſtand als folder, fondern nur die Art der Behand»
lung. Theaterzuſtände z. B. mögen faft überall gegen»
wärtig fo fein, wie fie hier gefchilbert werben: barf darum
der Erzähler uns eine dürftige Photographie davon geben ?
Bir glauben nit: vielmehr bat ex gerade folden Zur
fländen gegenüber feine ganze Kunft anzuwenden, das
künſtleriſche Ideal in irgendwelder Form zu reiten vor
der unlünſtleriſchen Gemeingeit. Wir konnen biejetst dem
Berfaffer noch nicht zugefichen, dag ihm dies vollflommen
gelungen ift. Geld, Eervilismuns, Eliguenwirihidaft ha-
ben von jeher im der Welt gehrerfcht; aber ift das Poeſie,
wenn ſolche Erbärmlicfeiten mit photographiſcher Irene
copirt werben?
In Bezug auf die Form der Darfielung im einzelnen
gilt das Gefagte auch von ber dritten Geſchichte. Die
Gemeinen Menſchen“ aber enthüllen ſich allmählich als
die beſſern: Hr. von Lüchtingshagen liberwinbet das ober-
flüchliche Pantoffelregiment feiner Frau, und feine edle
Tochter erhält ihren Erwählten flatt des ihr zugedachten
alten Diplomaten. Der Schluß ift wenigflens wohlthuen ·
ber als im den beiden erften Gedichten. Die Sprache
zeigt indeffen auch hier keineswegs jene Eleganz, die wir
in folgen Novellen ans bem High Iıfe gewohnt find.
Feuilleton
Pfeiffer- Feier in Bettlad.
„Dem Andenten an Dr. Franz Pfeiffer von Bettlach,
geboren zu Solothurn 27. Sebruar 1815, geſtorben als Brofeffor
der deutfchen Sprache und Literetur am der Univerfität Wien
29. Mai 1868. Seine Mitbürger 1870. So lautet die Inſchrift
in lateinifhen Uncialbuchftaben auf einem Gedenfflein, einem
mädtigen Granitblode im Gewichte von nahezu 300 Eentnern,
welder zu Ehren franz Pfeiffer’s in feinem jchweizeriſchen Hei⸗
matorte Bettlady im Mai diefes Jahres feierlich errichtet wurde.
Ueber, dieſe Bfeiffer-Beier in Beitlad braditen berſchiedene Bläts
ter feinerzeit furzen Bericht, unlängft erſchien eine ausführliche
Schilderung im funfzehnien Iahrgange der „Germania” von
Iohann Schmidt in Felbfird, der al Vertreter der Öferreichie
hen Regierung Zeuge des fefllihen Tages war und im Namen
derielben Dank und Anerkennung für die Berherrlihung eines
Mannes aueſprach, den and Deflerreih den Geinen nennen
dürfe, und unter der Verfiherung, daß man in Defterreih an
der erhebenden feier gerührten Antheil nehme und Pfeiffer's
Name ewig grünen werde, einen Lorberfrang auf den Stein
te.
Srany Pfeiffer war, wie es durch die Angabe der betreſ ⸗
fenden Kirchenbücher außer allen geeifet gelegt it, in Solo»
thurn geboren, fein Heimatort aber war Bettlah, wo feine
Familie das Bürgerrecht befaß. Die Anregung zu einem Ge-
benfflein für Pfeiffer ging aus von dem durch Herausgabe von
Gedichten und Sagen in folothurner Mundart befaunten Dr.
rang Joſeph Schüid in Grenchen, einem Dorfe bei Beitlach.
ie Errichtung des Denkmals folte nicht fill und Hanglos
vorübergehen, fle war Anlaß zu einer wärdigen Gedädtniß-
feier, bei der eim Aufzug, Gejänge, Mufit und Bölerichffe
nicht fehlten, bie aber ihre wahre Weihe und Bedeutung erſt
erhielt durch mehrere treffliche Feſtreden. Zuerſi ſprach Pro-
feffor G. Schlatter, Hector der Gantonsfgule in Solothurn.
In feiner Rede if es namentlich der Ausdrud ber Pietät und
des Heimatgeflißle, der jeden, auch wenn er von Pfeiffer und
feinen Berdienfien nichts weiß, ſympathiſch ergreifen muß.
Deute feiern wir", jo fagte unter andern der Heiner, das
Andenfen des früh Dahingefdiedenen durch das Gehen eines
Deuffieins und fragen uns: Was Bemegt Peiffer’s Mitbürger,
ihm, den fein Schidjal früh dem Vaterland entriffen, der feine
Stellung im Auslande hatte und der fein ſchweizeriſches Bür-
gamst fogar aufgeben mußte, was bewegt feine frühern Mit»
ürger, fein Undenten fo feRtich zu begehen? Wir fagen: Es
iſt der gerechte Stolz, daß dies Rind unferer Berge, unſers
Bolle durch die Energie feines Willens zu einer jo hoch ge»
achteten, von ben Gelehrteften der deuiſchen Ration anerlannten
Stellung fi emporgerungen hat. Richt vornehme, nicht reiche
Ueltern oder Berwandte flanden an der Wiege des Gefeietten;
feine Heimat war ein Heine® Dorf, defien Rare faum je ger
nannt wurde außer den Grenzen de6 Baterlandes, und denncdh
Hat er e8 weiter gebradjt als taufend andere, denen vornehme
Geburt oder Reichthum bie Wege zu Ruhm und Ehre eben,
und ihm Haben wir es zu danfen, wenn der Name feiner Heir
mat heute ein weithin befannter if.’ Auf Pfeiffer's Ieudten-
des Beifpiel wies Schlatter namentlich feine jungen Tandelcute
Hin, die an derfelben Auſtalt fi den Willenfgaften widmen,
au der er fih die Grundlage feines Miflens geholt. „lUn-
jere Zeit if nicht rei an energifchen Charakteren, am wenig-
fen an folgen, die mit Begeiflerung und ohne Rüdfiht auf
materiellen Erfolg dem leüſchen ienfle_ der Wiſſenſchaften
fich Hingeben; adıtet fomit, meine jungen Preurde, in Pfeiffer
nit blos den großen Gelehrten, fondern aud) den edeln Men»
fen, der als Mann die Ideale feiner Jugeüdtage fefigebalten
und ihrem Dienfle fein ganzes Leben gewidmet hat. Wenn
bie sentige Beier in euch ben Funken der Begeiſterung, den
Heifigen Borfag, cdeln Sweden euer Leben zu widmen, zur
hellen Flamme anfadt, fo hat fle ihren fhönften Zweck
erfüllt.” Uber aud) nod aus einem andern Grunde habe
Bfeiffer es wohl verdient, daß im feiner Heimat, in der Schmeiy,
ihm ein dauerndes Andenken für immer gefiert bleibe. Im-
mer fei er ein treuer Schweizer geblieben fein Leben lang, nie
habe er feine Heimat verleugnet. Recht ſchweijeriſch war der
reimuth, mit dem er in feinen gelehrten Kämpfen audı dem
een Freunden rüdfichtelos feine Meinung fagte. Ein Schwei-
zer ift Pfeiffer auch geblieben durch feine -fortwährende An«
hanglichkeit an feine Heimat.
Auch den Bettlahern drüdte Schlatter den Dank aus im
Namen der Angehörigen und der vielen Freunde und Berehrer
ihres berühmten Mitblirgers für die finnige Art, wie fie jein
Andenken geehrt hätten. Und zum Schluffe fagte der Redner,
zu den Bürgern von Bettladh gewendet: „Für emer junges
Sefchlecht aber mdge da® Andenken am ben’ berlibmt gemorde-
nen Beimatgenoflen ein Sporn fein zur Arbeit und zu tüchti-
gem Streben. Nicht alle können Gelehrte werden umd jollen
es ad nicht. Mber jeder if achtungsiwerth, der alle Sträfte
feines Geifes daranfegt, im Leben ein tächtiger Menfch gu
werben. Hängt Vjeiffer's Bildniß, daB beffem Mime der Ge
meinde Vettlacp zur Erinnerung an den Zeutigen Tag ſcheult,
Venilleton.
in euerm Schulgaufe auf und fagt euern Knaben: Geht, wir
bilden nur ein feines Dorf, und wenige haben vom uns ge»
mußt; dennoch if aus unferer Mitte der Mann hervorgegan-
gen, deffen Bildniß ihr hier feht, ein Mann, der durch feine
Berdienfe um die Wiffenfhaft und feinen trefflichen Cha
ralter weithin fih einen Wamen gemacht hat, Ex fei euer
Vorbild; wenn ihr auch nicht Gelehrte werdet, Brave, tüchtige
Menfgen follt ihr alle werden, wie er war.“
Beofeffor Schmidt, ein Schüler Bieiffer’e, nlipfte an feine
oben amgedeuteten Dantesworte aud eine kurze Schilderung
bes &efeierten, wie er war als Lehrer und Menſch, deſſen her»
vorfleheudfte Züge Herzensgüte, Naturſinn uud unerjhrodener
Breimuth bildeten.
Auch eine Rede fm Schweizerdeuiſch, gehalten von Dr.
Schild, verſchönte die Feier. Was über Pfeiffer zu fagen fei, das
habe fein Freund, der Herr Rector Schlatter von Solothurn,
und fein Schiller, der Herr Brofeffor Schmidt als Abgeordneter
von der Uferreichifgen Wegıerung, fon gefagt._ Cr erlaube
fid nur ein paar Worte in freundnadhbarlidem Ginne an die
Bettlacher zu richten: „Beulech und Grende fy vo jeher guet
Frund gig, fie hei’s gäng guet mit enangere hönne, "af e8
beffer nüt nügt. Sid 3’Orendern-änern.es Feſtli g’fg, für dir
Faesn-lie Übere ho und heit mitg'madıt; iſch bih · n · euch Öppis los
fe, fy mer uff Bettted ho, wie's Fründ fülle made. I much
ed füge, am Ajang, wo's g’heiße het, die weilet em Pfeiffer
es Dünfmol Rele, hei mer ed} fchıer weile benude; aber nei,
het's do g’heiße, Geitlech iſch feig Steifhing, üſem Fründ iſch
au einifd Bppis podane, er Jot au einifah dppie ha. "AB mer
üfi Freud d’ra hei, chaſch a dem g’jeh, wil mer hüt fo zahlrych
ufg'räde fg, au fy ne angeri Nahbure do umd hei ihri Freud
vr Selzed) iſch do, Solothurn 19 do, d’Regierig if do und
fogar em Abordnig vo Wien if ’em hürige Tag z’lieb acho
und macht mit.” Un die Shuljugend von Vettlad) wendet
fi) wie der Vorredner auf Dr. Schild; dann bezeugt er den
Bürgern feine Anerkennung, daß fie mit ebenfo viel Fleiß,
Entſchloſſenheit und Ausdauer, mit deneu es Pfeiffer dahin ge-
bracht habe, mas er geworden fei, mit ebenfo viel Eutfcioffen»
heit und Kraftanftrengung den mädtigen Granit vor das Schul
haus gefüget hätten. „Die fyt werth, der Pfeiffer zum Dit-
burger z’ba.” Schließlich erſuchte der Redner die Militärmuſit
von Örenden, den Betilachern zur Gratulation für ihren heu-
tigen Tag eins anzuflimmen.
Eın auf dem Feiplage prangender vollsmäßiger Spruch
don Dr. Sgild lauter:
Bas aus dem Boxer werben fann,
Wenn er polixt und fein gefhliffen,
Sat une der Bleiffer vorgepfifen:
DS Hein ber Ort, bo groß der Mann,
Notizen
Bon der Bobenfedt’ften Shaffpeare-Ueberfegung
(Leipzig, Brodyaus) liegen die Bändchen 27, 28 mad 24 vor;
fie enthalten die „Zähmung einer Wderpenfigen“, „Die Kor
mödie der Irruugen'“, überjegt von Georg Yerwegh, „Der
Sturm", überſeißt von Friedrich Bodenſiedt, Die Einlei-⸗
tungen find durchaus zwedentpredend abgeiaßt. Intercffant
bleibt es, den Dichter der ‚Rieder eines Lebendigen““ als Wever-
feger Shatipeare'jher Luftipiele mwiederzufindeu und überdi
als einen Commentator, der den ehrwürdigen Facultätsmantel
Shatipeare'fher Gelehrfamteit nod mit dem Auiputz philologi-
fer Unterſuchungen Über antite Sıllde ausfayfirt.
Kanzleirati Robert Fiſcher hat das Geſetz betreffend
das Urheberrecht an Schriitwerten, Abbildungen, mufitalifhen
Compofitionen und bramatiihen Werken vom Il. Juni 1870”
herausgegeben (Gera, Griesbah, 1870), mır Erläuterungen nad)
den amtligren Waterialien und mit einem ausführlichen alpha
betifhen Sadregifler. Die Schrift if fie jeden Schrüitfieller,
Eomponiften und Journaliften für den Yandgebraud kaum zu
entbehren; die Grläuteruugen find durchaus fadgemäß. Am
wictigfen find die Abſchmite Über Nadprud, Ueberfegungen
708
und bramatifhe Schriften, welche letztern jetzt nicht mehr die
ausdrüd.ige Verwahrung von feiten der Autoren an der Stirn
du tragen branden,
„as wliographie.
I, Brod-
A
Fir 1, I, Die Bi ft d0
Be — weh
aiffe aus — ‚Berzänge ber —— Ya
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ausgegeben von @. Bet, eis enter um, Gelgmmelt und der-
nligen, & $, Bom beatfen Salfer. Zwölf Blcber. Berlin,
@rofler. 0.737,
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iyarre — 3 Bbe. Lelpzia. Rötigle. 8. A 10 Mar.
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ollolvnus, Bin Beitrag zur Geschichte der Katholischen
„ger Be dos eebenltarigen Kr
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gegen —X —5*838 offlciellen Bucden und Winteitun-
— Gerkbeten fe 618 die Bel, Aikgen. Merfohe Gerd. Ad Mar
Deutjge Helden des Releget von 1970, Eine, Rriegsjdiderun mit
15 Forträte in Stapifig. Leipia, Dürrihe Bnspandlung
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entel, MÜtHE auf das Fahr 1913 mit feinen Oelden, Thaten nad
er m den ‚Sampie Kr Beulfgen mit den
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Ki zur 15 Nyr,
m Rettonelrege
gierern, Ein Sherflein y
Braujofen, „Gaflel. gecpiamidt. 9,
Yenne-Am Kon Sutturgeinigte der neueren Zeit, Bom
Wieberaufleben der Wi bie auf die Gegenwart. Iker Bd. —
a. u d. Z.; Rulturgefichte Des geitatters der Weformation, Vom Wies
beraufieben der Willenigaften 9 zur Zeit bed breißigläprigen Krieges.
eıpsig, D. Bigane. @r 3. 3 The, Ju Nor,
Ylser, @ Setigedigne. Wofet, Euler 16. SW .
. Be, Mömergräber in Meliendurg. Sawerin, Giler.
3
Ra ig Dentgtenne, Rrstelide, See tel,
— Bäfoge. Sn. le are desen Brantiei
urer, &. Veinigte De Suse bung in Deutfgland,
* J —
ater 8». , Singen, — —— dar Aieren. Bestehunpeny,
gwisches Veutohlaud'uud Uagarı nebst eluem Anhang Züge aus
Angerischen Ontturleben im 11. Jahrluadert. Leipeig, MS Fielacher.
Gr... 16 Ne
2 -krllsche Beiträge sur Qeschlohte Bran’a 1,
rebischof's von Köln. (O5
Tas. ., Arbintelen Aber Kunst besonders über Tragädl.
rn. ehe ud Kritische Untersushungen, Wien, W. Breumälle, Brr6,
F. F,, Papst Innocenz der Dritte und seine Schrift: De
Ein Beitrag sur Geschichte des Geistes im Mittel-
ichung zur Oultur der Renualssunoe und der Rofor-
se "Abit, Geroulchte uud Krlk, Erlangen, Deichert, 16T,
in
alter in nächster
mailen.
8
SeikiintmeitGatüntansnt, 9, Wellen Im Dave und
Vowaflen. Cine Darkclung ver Landfdaft, der Gultur und Gitten ber
Bemopner, Iu —
Bafirt auf bie Mefuitate ver wiflenfsaftiigen Wilflen von Hermann,
Nrotps und ob —— ausgelübrt in den Jahren 1854—1858.
*
2er Bp. dodal im stapa von Bputän 6i6 Rafpınir. Iena,
&chezeke, UT, Bein 5 Zoe. 10 Nor
leder nie Sußi der Olhaufpiefer Bei Plants und Les
en unier bieliben. @ehönte Breite
u une sie Beiheuung —
it Seien en. Bela 0 Kar.
si 2 Bei unferen Zruppen vor Mep. Berlin,
Sue Ser Knbagt in yonligem Gemantr. Lei -
—*
vs Fauß, — "guitar. @ede Borträge, 2te Kufl, Leite,
irzel. @r. d. It.
BR tüne, &,, Untiindungen über be, Gegeräte in Wetlaten und
. Frommann,
ee Werfels Wliife, Zelsiatung. Oßersurg,
Docgern u a Ber
Sasistaddt, L. y.; Elsotrielsht, Wärme, Licht. Versuch der LB-
sang des Prohlams der Mehsitdung, Weitdewoylung uud Weltunterhaktang.
Bei En Lüderit G
"Winterieh, & „De "iepfant. Somifger Roman. 4 Bbe.
Ei ıntorifirte beujge Ueber ·
ee
var, —
— —
704
Anze
Anzeigen.
igenm
— —
Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipsig.
Soeben erfgien:
Der lette Bürgermeifter von Straßburg.
Beterländisches Dramu in fünf Ictın,
Mit einem Epilog aus der Gegenwart.
Bon Karl Biedermann.
8. Geh. 20 Nor.
Obwol diefes Drama lange vor den neueften großen Er⸗
signiffen entftanden ift, ergeben ſich doch bie Beziehungen auf
die genwart von jelbfl. Ueberdies bringt der beigefligte
Epilog den Searnfap gwifen dem erhebenden Jeht nnd dem
trüben Damals zu befonderm Ausbrud. Bon mehrern deut
ſchen Bühnen wird bie Aufführung des Stüde vorbereitet.
Don dem Derfaffer erſchien in demfelden Derfage:
Kaifer Otto ber Dritte. Zrauerfpiel. 8. Geh. 20 Nor.
Derfag von 5. A. Brodfans in Leipsig.
Soeben wurde vollſtändig:
Hundert Jahre.
1770 — 1870.
Zeit- und Lebenabilber, aus drei Generationen.
om
Heinrich Albert Oppermann.
Neun Theile. 8. Geh. 10 Thlr. 10 Nor.
Mit dem forben erſchienenen neunten Bande liegt das trefje
liche Werk, womit ſich der verſtotbene Berfaffer ein ruhmvolles
Hiterarifches Denkmal errichtet hat, num volifiändig vor. Ein
befannter Kritiker vergleicht e8 mit Sealofield's „‚Lebensbildern
aus beiden Hemifphären“, indem er binzufügt: in dieſer Weife
follten alle Romane geichrieben werben, welde die Gegenwart
‚oder bie nächfte Bergangenhrit hitdern wollen! An dem Fa⸗
den ber Zeitereigniffe gibt das Oppermaun'ſche Werk eine Reihe
culturgeſchichtlicher Schilderungen, die, bald ernft bald Humor
riftiſch gehalten, immer frifh, anſchaulich und in hohem Grabe
feſſelnd find.
Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipsig.
Soeben erschien:
HERMES TRISMEGISTUS
AN DIE MENSCHLICHE SEELE.
Arabisch und deutsch herausgegeben von
Prof. Dr. H. L. Fleischer.
4. Geh. 20 Ngr.
Zur Feier des fünfandzwanzigjährigen Bestehens der
Deutschen Morgenländischen Gesellschaft hat der berühmte
Orientalist dieses „Sendschreiben“ herausgegeben, dessen
Handschrift sich in der leipziger Stadtbibliothek befindet.
Der arabische Text erscheint zum ersten mal im Druck,
während die früher vom Herausgeber veröffentlichte Ueber-
setzung hier in wesentlicher Umarbeitung vorliegt.
Dertag von 5. A. Brochhaus in Leipzig.
Soeben erschien:
CH Die deutsch-französischen Grenzen Di
historisch — politisch — sprachlich.
In fünf verfhiedenen Sarben dargefelft.
Entworfen und gezeichnet von Henry Lange.
Preis 4 Sgr.
Eine sehr interessante Karte der deutsch-französischen
Grenzgebiete, unentbehrlich zur Orientirung bei allen Er-
örterungen und Verhandlungen über die Frage der neuen
Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich, indem sie
1) die bisherige französische Grenze, 2) die historische Grenze
von Elsass, 3) die bistorische Grenze von Lothringen, 4) die
Sprachgrenze, 5) die deutsche Westgrenze mittels verschie-
dener Farben aufs anschaulichste markirt.
Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig.
| Deutfhes Sprihwörter-Lerikon.
Ein Hausschatz für das deutsche Volk.
Herausgegeben von K. F. W. Wander.
Erster und zweiter Band. (A—Lehren.)
4. Jeder Band geh. 10 Thlr., geb. 10%, Thlr.
Dieses Werk ist die vollständigste und vergleichs-
weise wohlfeilste aller Sprichwörtersammlungen ; die
Zahl der in den vorliegenden zwei Bänden mitgetheilten,
alphabetisch geordneten, vielfach mit Erklärungen, Citaten
und Quellenangaben versehenen Sprichwörter beläuft sich
anf nicht weniger als 1: Es wird mit Recht als ein
ebenso für die deutsche Sprache wie für die deutsche Cul-
turgeschichte überaus wichtiges ä
in welchem die Anschauungen, Ansichten, Urtheile,
thümer und Erfahrungen, Rechtsgrundsätze, Kingheits. und
Weisheits-, Glaubens- und Sittenlehren der frühern Ge-
schlechter aller Bildungsschichten und Berufsklassen sich
In, und das in jeder öffentlichen wie in jeder grössern
ibliothek seinen Platz zu beanspruchen habe.
Die Fortsetzung des Werks erscheint in regelmässiger,
ununterbrochener Folge (wie bisher in Lieferungen zu 20 Ngr.).
Verlag von Friedrich Vieweg uud Sehn in Braunschweig.
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.)
Die Spectralanalyse
in einer Reihe von sechs Vorlesungen mit wissen-
schaftlichen Nachträgen
“ von H. E. Roscoe.
Autorisirte deutsche Ausgabe,
bearbeitet von
C. Schorlemmer.
Mit 80 in den Text eingedruckten Holstichen, Chromo-
lithographien, Spectraltafeln etc.
Gr. 8. Fein Velinpapier. Geh. Preis 3 Thir.
Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Srochhaus. — Drud und Verlag von 8. A, Srodhaus in Leipzig.
Blätter
literariihe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gotifdall.
Erſcheint wöchentlich.
—ea Ar. 45. Po
3. November 1870.
Zuhalt: Reue Romane. Bon Nudolf Gottichal. — Bollszahl und Sprachgebiet der Deutichen. Bon Mubelf Dochn. —
Heimiſche und fremde Dichtungen. Bon Adolf Laun. — Senileten. (Engliiche Urtheile Über neue Erfcheinungen der dentichen
Literatur.) — SBiblisgraphie. — Anzeigen.
Nene Romane.
1. Die Kinder Roms. Roman von Alfred Meißner. Bier
Bände. Berlin, Janke. 1870. 8. 6 XThlr.
Das Tofephinifche Zeitalter, welches von Karl Fren⸗
zel in feinem Roman als das „goldene Zeitalter" bezeichnet
wird, jedenfalls eine Zeit, in welcher die Menſchheit noch
an ihre Ideale glaubte und der Himmel voller harmoniſch
geftimmter Geigen hing, bildet auch den Hintergrund des
neuen Romans von Alfred Meiner, obſchon in demfel«
ben weniger jene Begeifterung für die Idee, als vielmehr
der Kampf zwiſchen Staat und Kirche mit allen Intriguen,
bie er zur Folge Hatte, in den Vordergrund tritt. Im
einem Staate, in welchem bie Einführung und Aufhebung
des Concordats fo große Wendepuntte ber ganzen innern
Entwidelung bezeichnet, wird ein Roman, der fid um
diefelbe Achſe dreht, das lebhafteſte Intereſſe in Anſpruch
nehmen. Die Enthüllung pilanter Kloftermyfterien der
Neuzeit wird dies Intereſſe »oc erhöhen, wie denn aud)
der Berfaffer am Schluß fein : Erzählung mit Recht jagt:
als er vor bald zwei Jahrer an das Nieberjchreiben ber-
felben ging,
tonnte er nicht ahnen, daß die Tagesgeſchichte ihm recht geben
und Kloftergeheimniffe an den Tag bringen werde, die gleich
fam für alles, was in dieſer Eräbtung etwa unglaubhaft
fchiene, den Beweis der Wahrheit liefern würden. Er konnte
andererjeits nicht ahnen, daß das Erſcheinen dieſes Buchs in
eine Zeit der Krife fallen folle, in ber Rom alle Kräfte im
Kampf gegen ben Geift der Zeiten entfalten werbe. Dat diefes
Buch, gewiffermaßen aus einer Borahnung hervorgegangen,
an der Stimmung des Tags den richtigen Relief gefunden,
ober iſt es durch die Ereignifje ſelbſt gerechtfertigt? Diele Frage
bat nun der Leſer zu beantworten; gut, wenn er jagt, daß bie
Geſchichte Ebenſtein's und des Grafen Radlitz geichrieben zu
werden verdiente.
Die Stimmung, aus welcder der ganze Roman her-
vorgegangen ift, entipricht der Grundſtimmung des Jo⸗
,vhiniſchen Zeitalters, jener Anfllärung, die durchaus
kirhen⸗ und kloſterfeindlich in der Wegräumung dieſer
Inſtitute nur einen entſchiedenen Fortſchritt der Menſch⸗
1870. 6.
heit erblickte. Das Kloſter erſcheint bier als der Herb
pfäffifcher Intriguen, fchlau gefpielter Mirakellomdbien,
graufamer Märtyrertragödien in verfchwiegenen Kloſter⸗
gefängniffen; geiftlicher Hochmuth, Heuchelei und Gewinn-
ſucht wirken zufammen; der Staat beraubt die Kirche,
die Kirche betrüigt den Staat, und gemeine Diebe mijchen
fi in einen Diebftahl, der dem Gebiete des Staats- und
Kirchenrechts angehört.
Diefes Bild ift im Grunde unerquidlich, weil e8 uns
mehr einen Kampf ber Intereffen ala ber Ideen vorführt.
Daß der Antor für die Aufklärung Partei ergreift, wol⸗
len wir ihm am wenigfien verargen; aber der Dichter
follte doch auch ber Gegenpartei einiges Licht zukommen
lofien. Wir erinnern nur an Outlow’s „Zauberer von
Rom’, ein Gemälde der Tatholifchen Welt, welches zu-
gleihh eine ſehr ſcharfe Kritit des Katholicismus vom
Standpunkte bes modernen Zeitbewußtſeins aus enthält
und in weldem die tiefften Schatten nicht fehlen; doch
auch die Poefie des Katholicismus ift hier in einem Haupt⸗
beiden des Romans, in Bonaventura vertreten; wir be«
wegen uns nicht fortwährend gleichſam in unheimlichen
Labyrinthen, in denen jedes Licht ſchöner Menfchlichkeit
erlojchen ift, wir tappen nicht blos in einem unbegreif-
lichen Dunkel, welches Yahrtaufende anf der Menfchheit
laftete; wir verftehen doch auch, was eble Gemüther und
tüchtige Geifter an bie Kirche zu fefleln vermochte. Bei
Meißner aber find die „Kinder Roms” nur Kinder der
Nacht; Pater Bonaventura ift ein feifter Pfaffe und
Intriguant von orbinärftem Schlage; der Erjefuit Pa-
gomas, eine Mifchung von Cagliofiro und Cafanova,
ein Betrüger von dunkelſten Antecedentien; bie eine
Nonne verbrennt fi) bei einem Gaukelſpiel, indem bie
Rache aus den offenen Grüften des dem Staate verfal-
Ienen Kloftere von Doran in Geftalt einer Rauchwolfe
emporfteigt, zu ber die Nonne den unterirdifchen Opfer⸗
altar rüftet; auch ein Kind bat fie ins Klofter entführt;
89
an
706
die Geliebte bes frommen Paterd Bonaventura fpielt die
Somnambule und prophezeit unter dem Andrang ber
Frauen und Damen. Im Befige eines Geheimnifies,
der Blutfhuld des Gattenmörders, des Grafen Radlig,
ſuchen bie Kinder Roms möglicften Gewinn für die
Kirche aus ſolcher Mitwiffenfchaft zu erprefien; kurz, es
find lauter Intriguen und Schandthaten höchſt profaner
Art, welche aus der Chronit des Klofterlebens heraus⸗
gegriffen und in den Woman verwebt find,
Auf der andern Seite flößen auch die Vertreter der
Aufklärung fein wahrhaft ideales Intereffe ein, vielleicht
den Kaifer Joſeph ausgenommen, ber aber faum von fei-
nem geſchichtlichen Piedeftal herunterfteigt, um ſich in den
Mantel des romantiſchen Abenteuer zu Hüllen. Der
Strom ber Geſchichte läuft überhaupt unvermiſcht neben
der freien Phantafieftrömung einher; die nieberländifchen
Wirren und Unruhen und felbft der Türkenkrieg ſchieben
ſich als felbfländige Geihichtäghronif ein, bie nur durch
ein loderes Band mit der eigentlichen Handlung des Ro-
man verknüpft if. Was aber den Helden des Dichters,
den Baron Ebenftein, betrifft, fo ericheint berfelbe doc
nur als ein aufgeflärter Bureaufrat, der feine Pflicht und
Schuldigleit thut, unbeirrt durch die Verfolgungen, die
ihm fein Dienfteifer zuzieht, bie er für feine bittern Ex
fahrungen entſchädigt wird durch des Kaifers perfünliche
Huld und das Glüd der Liebe, das ihm die Ernonne
Marcelline zutheil werben läßt. Ein wenig mehr Schwung
und Begeifterung für die menfchheitlichen Ideale, die doch
damals in ber Luft des Jahrhunderts lagen, hätte ben
Charakter gehoben und bedeutſamer hingeftellt. Bei Ge-
Tegenheit feiner Miſſion nad) Belgien fagt der Autor
von ihm:
Der Kaiſer, der fein Talent erkannt, hatte ihm zugleich
eine große Entſchädigung für alles, was er erlitten, bieten
wollen und damit war er wieder in ben Vordergrund der ſtrei⸗
tenden Haufen geftellt. Kaum von den Wunden genefen, die
er in der Schlacht mit der Meritalen Bartei in Böhmen davon»
getragen, follte er abermals ben finflern Mädten im Kampfe
gegenliberftehen. Er ſollte — fo lautete feine Miſſion — alle
obſchwebenden Differenzen in Eultusangelegenheiten und nament ·
lid in der Schul und Klofterfrage zu einer endgültigen Löfung
bringen. Es war ihm aber ein feinen Zwecen nicht fürder-
ficer Ruf in den Niederlanden vorangegangen. eine Bro»
ſchüre über die doraner Angelegenheit hatte mod) kurz vorher
feinen verpönten Namen in den Vordergrund der Aufmerkiam-
feit gezogen unb ber firhlihen Partei Gelegenheit gegeben,
feinen Tharatier in ihren Zeitungen mit den [hmärzeften Far-
ben auszumalen. &o fland er in den Augen des Bolt, das
ihn nicht faunte, in dem häßlidNen dichte da; die erregte
Bhantafie der Glänbigen ſchuf fi eine wahrhaft fataniihe
Seflalt aus ihm, einen dämonifhen Vorgänger des Teibhaften
Antihrift, der ihm auf dem Fuße folgen müffe. Cbenflein
war nicht lange im Brüffel, al® er die traurige Berlihmtheit,
die er hatte, erfannte, aber Halb und halb darauf gefaßt, fah
er hierin nur den unheimlichen Abglanz der riefigen Schwierig ·
teiten, welchen die Vollendung feiner Miffion begegnen würde.
Er mußte, daß die Berunglimpfungen nicht feiner Perion, ſon ·
dern der Sache galten, und die Angriffe, die er erbuldete,
jegen dem Urheber der Heformen, den Kaifer, gerichtet feien.
Str entfernt, zurfdäufchreden, ſuchte er feinen Wurh bie zur
Höhe der Gefahr feiner Sage au erheben nnd den Grad feiner
Energie nad) der Größe ded Widerftandes zu befimmen.
Immer fehen wir hinter dem Helden den Kaifer ftehen;
wir wiffen faum, ob jener aus eigenem Antrieb Kraft
ud — genug befefjen Hätte, um den Finſterlingen
Neue Romane.
mit Entſchiedenheit entgegenzutreten; ja ob überhaupt bie
freie geiftige Richtung mit feiner Erziehung und Bildung
zufammenhängt, oder ob er diefelbe nur vertritt, weil ihm
dies von obenher anbefohlen wird.
ge höher wir das glänzende Talent Alfred Meißner's
ſchätzen, deſto ängftlicer glauben wir darüber wachen zu
mätflen, daß er es ſich nicht zu leicht mache mit feinen
Aufgaben und ihrer Löfung. An einen Dichter vom gei-
fliger Bebeutung darf man flets den höchſien Mafftab
anlegen. Uns aber jcheint es, al® habe er ſich es mit
den „Kindern Roms” etwas leicht gemacht und verjäumt,
für feine Charaftere ein tieferes Jutereſſe zu erwedken.
Der Gruftbrand, der Kiftendiebftahl, der Schloßbraud
und Gattinnenmorb, die geheimmißvolle Entführung der
Ernonne Marceline — das find alles Senfationgmotive,
welche eine lebhafte Spannung erregen und dem Autor
Gelegenheit zu lebendigen Schilderungen geben. Daran
wie. an geiftvollen Refiexionen ift im bem Roman fein
Mangel. Doc die Geheimnifie des tiefen Seelenlebens,
die eine feffelnde Sympathie erweden, find namentlich bei
Marcelline und Ebenftein nicht mit jener Kunft geichil-
dert, wie wir fie zwar niemal® von einem bloßen Roman»
fhriftfteller verlangen würden, wol aber von einem echten
Dichter verlangen: es find alles leichte Relieffiguren, und
vieles ift von Gußeiſen, was von Erz grftaltet jein müßte.
Selbft der Stil ift oft laſſig. Mehrfade Wiederholungen
defielben Pronomens in einem Sage, Relative, die von
ihrem Hauptworte duch allzu weite Zwifhenräume getrennt
find, gehören nicht zu den Seltenheiten.
Zu ben am beften gezeichneten Charakteren des Werts
gehört der Grieche Pagomas, der Alchemiſt, der ſich zu-
Iegt als Erjefuit entpuppt; folde Figuren find in dem
Zeitcoftüm ber zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in
welcher die Moftiter und Wunderthäter eine jo große
Rolle fpielten. Diefe Abenteurer mi geheimnifvollem
Hintergrund des Lebens und Denkens find gerade djaraf-
teriftifch für jene Epoche. Daß Meißner uns hier in die
rechte Stimmung zu verfegen und den Zeitgeift in der
einzelnen Perfönlicjkeit zu fpiegeln verfteht, beweiſe die
folgende Schilderung, die und den Magier im Bouboir
der ſchönen Gräfin Rauenkirch zeigt:
Rechts und linfs vom Fenerbod lagen auf der Erde zwei
wunderbar gearbeitete Sphinxe aus ſchwarzem Marmor, vom
deren geflügelten Löwenleibern fi die Seitenwände des Kamine
von weißem Marmor in fühner Eurve emporfhwangen, dem
ſtark Überfrogten Sims zu tragen, auf welchem allerlei ägyp-
tifche Aterrhümer, Bofen und Figurinen fanden, melde fi
in dem Spiegel von venetianifhem Glaſe in filigranem Silber«
rahmen zu verdoppeln ſchienen Pagomas fchlirte die Kohlen,
daß die Funken aufſprühten und hier und da die Flamme ans
den glühenden Böden aufihlug. Dann fielen feltiame Streif-
Tichter auf die ägyptifhen Bhyfiognomien der Löwenjungfrauen
und die glänzenden gefpigten Brüfte derfelben hoben fi) durch
tiefe Schlagſchatien empor. Gedanfenvol biidte Pagomas den
Kamin an, eigentlich die beiden Gphinge. Wer ihn jo un-
bemerkt gefehen hätte, würde über den veränderten Ausbrud
feines Gefichts erſtaunt gewefen fein. Bon den unbeweglichen
Zügen, die von einem unerfhlitterlihen Geibitbewußtiein zeug-
ten, war der font imponirende Zauber eines ruhig, aber
mädtig wirkenden Geiſtes gewichen. Gie waren von einen
Schmerz, der in tiefer Bruft im tiefften Berfled zu wohne
ſchien, heimgefuht und zerriffen. Die dunkeln jüdlichen Augen
die den Gegenfiand fonk fo fharf und Hart fefibielten, fie jeı
deten matte, verſchwommene Blide einer unbeſchreibliche
Neue Romane. 707
Schwermuth hinaus. Seine ſtramme, beinahe hereuliſche Ge⸗
ſtalt lag in dem Lehnſtuhle wie zuſammengebrochen, ſodaß man,
von fern ihn betrachtend, weit eher einen Greis als einen
Mann im kraftvollſten Alter zu ſehen geglaubt hätte So war
er reglos und fchweigend, in brütenden Meditationen verfunten,
lange bdagejfeffen, bis er, ſich plötzlich zufammenraffend, ausrief:
„Sphinze, Sphbinge, Töchter des Typhon und der Echydna,
fragenftellende graufame Weſen, Sinnbilder des Unbelannten
und Ungewiffen, Gottheiten der Abenteurer, voll Reiz und voll
Grauen zugleih! Ihr Tegt dem Menſchen die Räthſel des Les
bens unb der Zufunft vor, denn was ift das Leben und die
Zukunft als jede neue That, die man unternimmt? Wie oft,
Söttinnen, bin id; ſchon vor euch getreten! Vermeſſener hat ſich
niemand zur Löfung eurer fchweren Fragen gedrängt! Ic, er-
jheine diesmal wieder und werde ein neues Glüderäthſel zu
löſen verfuchen, aber wer weiß, ob der Verſuch mein Herz be-
febt oder e8 mit neuen Wunden bededt? Hochgenüſſe und Er-
folge aller Art find mir zutheil geworden, aber das Geſchick
hat mir auch dich aufgeladen — ſchwere, ſchwere Schuld! DO
biefe Schuld! Wie ein Ungeheuer auf der Lauer liegt fie vor
mir da und bannt meine Blide endlos auf fih — ich fürchte,
daß fie mich noch verfchlingt. Doch falle ich nicht zufammen,
uch fühle ich in mir einen kühnen, verzweifelten Muth! Die
entſetzlichſten Gefahren führen nicht immer zum Tode. Die
Zeit nur kann mir fagen, ob die Löſung des flirchterlichften
Sphinrräthſele meines Lebens gelungen! Unterbeffen will ich
den Muth, den ich andern Unglüdlichen einzubauchen verftehe,
bei mir felbft anwenden und bet der allgemeinen Ausbeutung
nnd Pllinderung der Welt nicht müßt und verbroffen daftehen.
Edle und fchuldlofe Menfchen gehen hienieden fo oft jammervoll
zu Grunde — was hätte aljo der Schuldbemußte für eine ganz
bejondere Urſache zum Entſetzen nnd zur Furcht? Der Wahn
macht gluͤcklich oder unglüdlich, ich will mich betäuben in einem
füßen, Vieblihen Wahn..."
Marcelline felbft, die poetifhe Blume bes Romans,
ift nur die paffive Heldin deſſelben. Wenn der Dichter
fie den dämoniſchen Charakteren entgegenftellt, fo irrt er
fich gewiß, follte er in dem Baron von Ebenftein, dem
Geliebten Marcellinens, ein Exemplar diefer Species
ſuchen:
In dieſen Tagen des Kampfes zweier miteinander unver⸗
träglichen Weltanſchauungen, von meiden ſich unſere, den Ideen
nicht mehr lebende Zeit nur mühſam eine Vorſtellung macht,
nehmen wir den Faden unjerer Erzählung wieder auf. Es
gibt Charaktere, die duch fein Berhältniß hindurchgehen kön⸗
nen, ohne auf ihrem Wege bleibende Spuren zurüdzulafien,
Charaktere, unter deren Einfluß ſich fcheinbar geringfügige Um⸗
flände, mie in unbewußtem Spiel, zu SKataftrophen fteigern.
Wo immer fie erfcheinen, beſchwören fie Conflicte, oder gera-
then in fie nnd fuchen fie auf; fie lieben den Sturm, ben
Kampf, die Bewegung; Ruhe ift ihnen unbehaglid) und lange
weilig, oder erft dann lieb und erſehnenswerth, wenn fie lange
aufs Spiel geſetzt war und verloren fchien. Das find die fo»
genannten dämonifchen Naturen. Es gibt aber aud gemifie
Menfchen, die jene raftlofe überquellende Thatkraft und oft fri-
vole Angriffsiuft gar nicht befigen, die jedem Kampfe fchen und
thüchtern ausweichen und beffenungeachtet aus einer Bermwide-
Inng in die andere ftürzgen. Bon den bämonijchen Naturen dem
Weſen nad; grundverfchieden, ja ihnen entgegengefettt, haben
fie mit denſelben ſchließlich gen ähnliche Schiedfale gemein. Die
Laufbahn beider ift an Eollifionen, Gefahren, extremen Wed-
fein überreih. Was bei jenen der ungezügelte Drang und der
vermeffene Wille anftiftet, das tritt bei diefen unbeabfichtigt
und ungejucht durch ein Berhängniß ein, entweber weil fie von
unbezwingbaren Berbältnifien fortgeriffen werden, ober weil ihr
Leben überhaupt eine fehiefe und unvegelmäßige Bafls erhalten
bat. Die erften find Helden, die legtern Märtyrer. Zu den
legten mußte Marcelline unbedingt gezählt werben.
Daß der Roman lebendig, fpannend, oft mit Dichte
rifhem Reiz, oft mit dem Humor feiner Oenremalerei
gefehrieben ift, braucht bei einem Autor von der reichen
Phantafie Meißner's nicht befonder8 hervorgehoben zu
werden. Unfere Ausftellungen richteten fich gegen den
Kern geiftiger Bedentung, ber uns nicht fo bewältigend
erſchien, wie wir ermartet hatten.
2. Kinder der Zeit, Roman von Karl Marquard Sauer.
Drei Bände. Hannover, Rümpler. 1870. 8 4 Zhlr.
Unſers Wiſſens ift diefer Roman ein Erftlingswerf
des Verfaſſers, und er hat fi ohne Trage mit demfel-
ben glüdlih in die Literatur eingeführt. Die Darftel-
lungsweiſe ift fließend, natürlich, belebt; der Autor weiß
auch bei ſolchen Situationen, denen der Reiz der Neuheit
fehlt, auf das Gefühl zu wirken; der Dialog ift durd-
weg pilant und gefättigt mit jenen Gedanken, welche ein-
mal den „Kindern ber Zeit” buch den Kopf zu gehen
pflegen. Eine Tochter, die ihren Bater ſucht, ift in die-
ſem Roman wie in dem vorhergehenden bie Heldin; aber
in welchem neuen Roman überhaupt fehlen diefe „Ver⸗
widelungen dev Defcendenz‘, welche in der Vergangenheit
Knotenpunkte für die Verwirrung und Entwirrung ber
Komanfüden bilden? Seraphine ift wie Marcelline bie
paffive Heldin bes Romans; nur daß die Abentener der
erftern in früher Kindheit fpielen. Das Heine Mädchen
entläuft der Alten, ber es anvertraut ifl, wird auf der
Promenade von zwei jungen Männern aufgefunden, die
e8 bei einem befreundeten Doctor im Pflege geben. Später
ergibt fi), daß Seraphine bie Tochter des reichen Bankiers
bon Hellenbadh ift, und ba fie wieder zu Gnaden an»
genommen wird und überdie8 den einzigen Dann, den
fie geliebt hat, heirathet, jo darf man fi) von einer
jolhen Heldin faum mehr verfprechen, als daß fie fchön,
gut und liebenswürdig if. Seraphine ift denn auch der
gute Engel de8 Romans und beglüdt ihren Retter durch
ihre Liebe und ihre Hand.
Doch eine Romanpelbin, die uns ein lebhafteres In⸗
tereſſe einflößen fol, muß den Teufel im Leibe haben.
In ber ſchönen Olympia ift aud) dies Genre vertreten.
Anfangs Balletratte, ſpäter berühmte Schaufpielerin, nod)
fpäter Gräfin, macht fie die glänzendfte Carritre, die
man auf dem Gebiete ihrer Kunft machen kann. Zu
ihren anfänglichen Liebhabern gehört der Senfationsheld des
Romans, Hr. Streder, Intriguant von Profeffion, Mör-
der dur) Zufall, von Olympia, der frühern Geliebten,
entlarvt und einem Criminalproceß nur dur Selbftmord
aus dem Wege gehend; ferner der junge Mediciner Wolf-
bardt, der fie in die Geheimniſſe von Stoff und Kraft
einweiht und ihr die Grundlagen einer radicalen, welt⸗
veracdhtenden Geſinnung gibt, welche felbft die geiftige
Erziehung des Dr. Peregrin nit umzuſtoßen vermag.
Olympia, mit ihren Antecedentien, ihrer ftolzen Schön»
beit, ihrem geiftreichen Peffimismus und ihrem refoluten
Handeln iſt jedenfalls bie intereffantefte Yigur des Romans,
Dffenbar ift der Berfaffer in der Theaterwelt heimifch,
die er mit befonderm Behagen fchildert. Das Souper
bei der Tänzerin, wo die Naivetät ber VBalletratten mit
ihrer ganzen Unvermwüftlichfeit aus den Schleierchen bes
geſellſchaftlichen Anftandes hervorblidt, vor allem aber
die Rundreife, welche die Schaufpielerin mit ihrer jungen
Pflegebefohlenen in der theatralifchen Welt madt, find
mit einer volllommen „fachmänniſchen“ Kenntniß gejchildert.
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706° Neue Romane.
die Geliebte bes frommen Paters Bonaventura fpielt die
Somnambule und prophezeit unter dem Andrang ber
Frauen und Damen. Im Beige eines Geheimnifles,
der Blutſchuld des Gattenmörders, des Grafen Radlitz,
ſuchen die Kinder Roms möglichften Gewinn für bie
Kirche aus folder Mitwifienfchaft zu erprefien; kurz, es
find lauter Intriguen und Schandthaten höchſt profaner
Art, welde aus ber Chronif des Klofterlebens heraus ⸗
gegriffen und in den Moman verwebt find.
Auf der andern Seite flößen auch die Vertreter der
Aufklärung kein wahrhaft ideales Intereſſe ein, vielleicht
den Kaifer Joſeph ausgenommen, der aber faum von ſei⸗
nem geſchichtlichen Piedeftal Herunterfteigt, um ſich in den
Mantel des romantifchen Abenteuers zu hilllen. Der
Strom ber Geſchichte läuft überhaupt unvermifcht neben
der freien Phantafieftrömung einher; die mieberländifchen
Wirren und Unruhen und felbft der Türkenkrieg ſchieben
ſich als felbftändige Gefchidhtschronif ein, die nur durch
ein lodere8 Band mit der eigentlichen Handlung des Ro-
mans verfnüpft ift. Was aber den Helden des Dichters,
den Baron Ebenftein, betrifft, fo erſcheint derſelbe doch
nur als ein anfgellärter Bureaufrat, der feine Pflicht und
Schuldigkeit thut, unbeirrt durd die Berfolgungen, die
ihm fein Dienfteifer zuzieht, bis er für feine bittern Er-
fahrungen entfchädigt wird durch des Kaifers perfünliche
Huld und das Glüd ber Liebe, das ihm die Ernonne
Marcelline zutheil werden läßt. Ein wenig mehr Schwung
und Begeifterung für die menſchheitlichen Ideale, die doch
damals in der Luft des Jahrhunderts lagen, Hätte ben
Charakter gehoben und bebeutfamer hingeftellt. Bei Ge-
Tegenheit feiner Miſſion nach Belgien fagt der Autor
von ihm:
Der Kaifer, der fein Talent erkannt, Hatte ihm zugleich
eine große Entfhädigung für alles, was er erlitten, bieten
wollen und damit war er wieber in ben Vordergrund der freie
tenden Haufen geftellt. Kaum von den Wunden genefen, die
ex in der Schlacht mit der klerikalen Partei in Böhmen davon»
getragen, folte er abermals ben finfern Mächten im Kampfe
gegenüberftehen. Cr folte — fo lautete feine Miffion — alle
objhmebenden Differenzen in Eultusangelegenheiten und nament»
lid in ber Schule und Koferfrage zu einer endgüftigen döſung
bringen. Es mar ihm aber ein feinen Zweden nicht fürder-
tier Ruf in ben Niederlanden vorangegangen. eine Bro»
fejlire Über die doganer Angelegenheit Hatte mod; furz vorher
feinen verpönten Namen in den Vordergrund der Aufmerkſam-
feit gezogen unb der kirchlichen Partei Gelegenheit gegeben,
feinen Cparakter in ihren Zeitungen mit den fhmärzeften Far«
ben auezumalen. &o fand er in ben Augen des Wolle, das
ihn nicht kaunte, in dem häßlihften Lichte da; die erregte
Phantaſie der Gläubigen ſchuf fih eine wahrhaft fataniihe
Geftalt aus ihm, einen dämonifhen Vorgänger des leibhaften
Antigrit, der ihm auf dem Fuße folgen müffe. CEbenfein
war nicht lange in Brüffel, als er die traurige Berlihmtheit,
die er hatte, erfannte, aber Halb unb halb darauf gefaht, fah
er hierin nur den unheimlichen Abglanz der riefigen Schwierig ·
teiten, welden die Vollendung feiner Miffion begegnen würde,
Er wußte, daß die Berunglimpfungen nicht feiner Berfon, fon«
dern der Sache galten, und bie Angriffe, die er erduldete,
jegen dem Urheber der Reformen, den Kaifer, gerichtet feien.
eit entfernt, zurädzufchreden, juchte er feinen Wut bie zur
Höhe der Gefahr feiner Lage zu erheben und den Grad feiner
Energie nad) der Größe des Widerftandes zu befimmen.
Immer fehen wir hinter dem Helden den Kaifer ftehen;
wir wiflen faum, ob jener aus eigenem Antrieb Kraft
und Muth genug befefjen hätte, um den $infterlingen
mit Entſchiedenheit entgegenzutreten; ja ob überhaupt Die
freie geiftige Richtung mit feiner Erziefung und Bildung
zufammenbängt, oder ob er biefelbe nur vertritt, weil ihm
dies von obenher anbefohlen wird.
Ie höher wir das glänzende Talent Alfred Meißner's
ſchätzen, defto ängftliger glauben wir bariiber wachen zu
mitſſen, daß er e8 ſich nicht zu leicht mache mit feinen
Aufgaben und ihrer Löfung. An einen Dichter von gei-
figer Bedeutung darf man flets den höchſten Maßſtab
anlegen. Uns aber ſcheint es, al® Habe er ſich es mit
den „Rindern Roms” etwas leicht gemacht und verfäumt,
für feine Charaftere ein tieferes Intereſſe zu ermeden.
Der Gruftbrand, ber Kiſtendiebſtahl, der Schloßbrand
und Gattinnenmord, die geheimnißvolle Entführung der
Ernonne Marcelline — das find alles Senfationsmotive,
welde eine lebhafte Spannung erregen und dem Autor
Gelegenheit zu Iebendigen Schilderungen geben. Daran
wie. an geiftvolen Refiexionen ift in dem Roman fein
Mangel. Doc; die Geheimniffe des tieferen Seelenlebens,
die eine feſſelnde Sympathie erwecken, find namentlich bei
Marcelline und Ebenftein nicht mit jener Kunft geichil-
dert, wie wir fie zwar niemals von einem bloßen Roman»
fchriftfteller verlangen würden, wol aber von einem echten
Dichter verlangen: es find alles leichte Nelieffiguren, und
bieles ift von Gußeiſen, was von Erz geftaltet jein müßte.
Selbft der Stil ift oft läſſig. Mehrfache Wiederholungen
befielben Pronomens in einem Gate, Relatide, die von
ihrem Hauptworte durch allzu weite Zwifchenräume getrennt
find, gehören nicht zu den Geltenpeiten.
Zu den am beften gezeichneten Charakteren des Werks
gehört der Grieche Pagomas, der Aldemift, der fich zu=
legt als Eyjefuit entpuppt; ſolche Figuren find in bem
Zeitcoftüm der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im
welcher die Myſtiker und Wunderthäter eine fo große
Rolle fpielten. Diefe Abenteurer mit geheimnigvollem
Hintergrund des Lebens und Denkens find gerade charaf-
teriftifch für jene Epoche. Daß Meißner uns hier in bie
rechte Stimmung zu verfegen und ben Zeitgeift in ber
einzelnen Perfönlicjkeit zu ſpiegeln verfteht, beweiſe die
folgende Schilderung, die und den Magier im Bouboir
der ſchönen Gräfin Rauenkirch zeigt:
Rechts und linke vom Feuerbock lagen auf der Erde zwei
wunderbar gearbeitete Sphinge aus ſchwatzem Marmor, vom
deren geflügelten Löwenleibern fih die Seitenwände des Kamine
von weißem Marmor in fühner Curve emporfchwangen, den
ſtark Überkragten Sims zu tragen, auf welchem allerlei ägyp-
tifhe Atertflimer, Bafen und Fignrinen ftanden, welche ic
in dem Spiegel vom venetianifdern @lafe in filigranem Silber
rahmen zu verboppeln fdienen. Pagomas ſchurte die Kohlen,
daß die Zunfen aufiprähten und hier und da die Flamme aus
den glühenden Blöden aufihlug. Dann fielen feltiame Streife
Tichter auf die ägyptiſchen Bhyfiognomien der Lömwenjungfrauen
und die glänzenden gelpigten Brüfte derſelben hoben ſich durch
tiefe Schlagfhatten empor. Gedanfenvol blidte Pagomas den
Kamin an, eigentlich die beiden Sphinze. Wer ihn fo um«
bemerft gefehen hätte, würde über dem veränderten Ausdrud
feines Geſichts erftount geweſen fein. Bon den unbeweglichen
Zügen, die von einem unerfchlitterlihen Gelbitberußtiein zeuge
ten, war der fonft imponirende Zauber eines ruhig, aber
mädtig wirtenden Geifles gewichen. Sie waren von einem
Schmerz, der in tiefter Brut im tiefften Verfled zu wohnen
ſchien, heimgefuht und zerriffen. Die dunfeln ſüdlichen Augen
die den Gegeuftand fonft fo ſcharf umd hart feftbielten, fie jen
beten matte, verſchwommene Blicke einer unbeicreiblige
|
Neue Romane, 707
Schwermuth hinaus. Seine Rramme, beinahe hereuliſche Ge⸗
Ralt Tag in dem Lehnſtuhle wie znfammengebrodhen, fodaß man,
von fern ihn betrachtend, weit eher rinen Greis als einen
Mann im fraftvolifien Alter zu jehen geglaubt hätte. So war
er reglo® und fchweigend, in brütenden Meditationen verfunten,
lange dagefeffen, bis er, ſich plötslich zufammenraffend, ausrief:
„Sphinre, Spbinze, Töchter des Typhon und der Echydna,
fragenftellende graufame Weſen, Sinnbilder des Unbelannten
und Ungewiſſen, Gottheiten der Abenteurer, voll Reiz und voll
Grauen zugleih! Ihr legt dem Menſchen die Räthſel des Le-
bens und der Zukunft vor, denn was tft das Leben und die
Zukunft als jede neue That, die man unternimmt? Wie oft,
Söttinnen, bin ich fchon vor euch getreten! Vermeſſener bat ſich
niemand zur Löfung eurer fehweren Fragen gedrängt! Ic, er-
jheine diesmal wieder und werde ein neues @lüdgräthiel zu
föfen verfuchen, aber wer weiß, ob der Verſuch mein Herz be-
febt oder e8 mit neuen Wunden bededt? Hocgenüffe und Er⸗
folge aller Art find mir zutheil geworben, aber das Geſchick
bat mir auch dich aufgeladen — ſchwere, ſchwere Schuld! O
diefe Schuld! Wie ein Ungeheuer auf der Lauer liegt fie vor
mir da und bannt meine Blide endlos auf fih — ih fürdte,
daß fie mid) noch verſchlingt. Doc falle ih nicht zufammen,
noch fühle ich in mir einen kühnen, verzmeifelten Muth! Die,
entfeglihften Gefahren führen wicht immer zum Tode. Die
Zeit nur kann mir fagen, ob die Löſung des fürchterlichften
Ephinyräthjele meines Lebens gelungen! Unterbefien will ich
den Muth, den ich andern Unglüdlichen einzubauchen verftehe,
bei mir felbft anwenden und bet der allgemeinen Ausbeutung
nnd Pllinderung der Welt nicht müßt und verdrofien daftehen.
Edle und ſchuldloſe Menfchen geben hienieden fo oft jammervoll
zu Grunde — was hätte aljo der Schuldbemußte für eine ganz
bejondere Urfache zum Entjegen und zur Furcht? Der Wahn
macht glüdlic ober unglücklich, ich will mich betäuben in einem
füßen, Vieblihen Wahn ...“
Marcelline felbft, die poetiſche Blume bes Romans,
ift nur die paffive Heldin deſſelben. Wenn der Dichter
fie den dämonifchen Charakteren entgegenftellt, jo irrt er
fich gewiß, follte ex in dem Baron von Ebenſtein, dem
Geliebten Marcellinens, ein Exemplar diefer Species
fuchen:
In biefen Zagen des Kampfes zweier miteinander under.
träglichen Weltanſchauungen, von welchen ſich unfere, ben Ideen
nit mehr Iebende Zeit nur mühſam eine Borftelung macht,
nehmen wir den Faden unferer Erzählung wieder auf. Es
gibt Charaktere, die durch Fein Berhältniß hindurchgehen kön⸗
nen, obne auf ihrem Wege bleibende Spuren zurüdzulafien,
Charaktere, unter deren Einfluß ſich jcheinbar geringfligige Um⸗
fände, mie in unbewußtem Spiel, zu SKataftrophen fteigern,
Wo immer fie erjheinen, beſchwören fie Conflicte, oder gera⸗
then in fie und fuchen fie auf; fie lieben den Sturm, den
Kampf, die Bewegung; Ruhe ift ihnen unbehaglich und lange
weilig, oder erfi dann lieb und erfehnensmwerth, wenn fie lange
aufs Spiel geſetzt war und verloren fhien. Das find die fo-
enannten dämoniſchen Naturen. Es gibt aber aud) gewiffe
Brenfcen, die jeme raſtloſe überquellende Thatkraft und oft fri«
vole Angriffsiuft gar nicht befigen, die jedem Kampfe fchen und
ſchüchtern ausweichen und beffenungeachtet aus einer Berwide-
{ung in die andere flürzen. Bon den dämoniſchen Naturen dem
Weſen nad grundverfchieden, ja ihmen entgegengefettt, haben
e mit denjelben jchließlich ganz ähnliche Schidlfale gemein. Die
aufbahn beider if an Eollifionen, Gefahren, extremen Wech⸗
fein überreih. Was bei jenen der ungezügelte Drang und ber
vermeflene Wille anftiftet, das tritt bei diefen unbeabfichtigt
und ungeſucht durch ein Berbängniß ein, entweder weil fie von
unbezwingbaren Berbältnifien fortgeriffen werden, oder meil ihr
Leben überhaupt eine fchiefe und unregelmäßige Baſis erhalten
bat, Die erfien find Helden, die letztern Märtyrer. Zu den
letztern mußte Marcelline unbedingt gezählt werden.
Daß der Roman lebendig, fpannend, oft mit Dichte,
riſchem Reiz, oft mit dem Humor feiner Genremalerei
gefegrieben ift, braucht bei einem Autor von ber reichen
Phantafie Meißner's nicht beſonders Hervorgehoben zur
werden. Unſere Ausftelungen richteten fich gegen ben
Kern geiftiger Bedentung, der uns nicht fo bewältigend
erfchten, wie wir erwartet hatten.
2. Kinder ber Zeit. Roman von Karl Marquard Sauer.
Drei Bände. Hannover, Rümpler. 1870. 8 4 Zhlr.
Unfers Wiffens tft diefer Roman ein Erſtlingswerk
des Verfaſſers, und er hat ſich ohne Frage mit demiel-
ben glüdlih in die Literatur eingeführt. Die Darftel-
lungsweiſe ift fließend, natürlich, belebt; der Autor weiß
aud) bei joldyen Situationen, denen ber Reiz der Neuheit
fehlt, auf das Gefühl zu wirken; der Dialog ift durd)-
weg pifant und gefättigt mit jenen Gedanfen, welche ein-
mal den „Kindern der Zeit” durd; den Kopf zu gehen
pflegen. Eine Tochter, die ihren Vater ſucht, ift in die⸗
fem Roman wie in dem vorhergehenden die Heldin; aber
in welchem neuen Roman überhaupt fehlen diefe „Ver⸗
widelungen ber Defcendenz‘, welche in der Vergangenheit
Knotenpunfte für die Verwirrung und Entwirrung ber
Romanfäden bilden? Seraphine ift wie Marcelline die
paffive Heldin des Romans; nur daß die AUbentener der
erftern in früher Sinbheit fpielen. Das Heine Mädchen
entläuft der Alten, ber es anvertraut iſt, wird auf ber
Promenade von zwei jungen Männern aufgefunden, bie
e8 bei einem befreundeten Doctor im Pflege geben. Später
ergibt fid), daß Seraphine die Tochter des reichen Bankiers
von Hellenbady ift, und ba fie wieder zu Gnaden an»
genommen wird und überdies den einzigen Mann, ben
fie geliebt bat, heirathet, fo darf man fid) von einer
jolhen Heldin faum mehr verfprechen, als daß fie ſchön,
gut und liebenswürdig if. Seraphine ift denn auch der
gute Engel des Romans und beglüdt ihren Retter durch
ihre Liebe und ihre Hand.
Doch eine Romanheldin, die uns ein lebhafteres In⸗
terefje einflößen fol, muß ben Teufel im Leibe haben.
In der ſchönen Olympia ift auch dies Genre vertreten.
Anfangs Balletratte, fpäter berühmte Schaufpielerin, noch
fpäter Gräfin, macht fie bie glänzendfte Carriere, die
man auf dem Gebiete ihrer Kunft machen Tann. Zu
ihren anfänglichen Liebhabern gehört der Senfationsheld des
Romans, Hr. Streder, Intriguant von Profeffion, Mör-
der durch Zufall, von Olympia, der frühern Geliebten,
entlarbt und einem Criminalproceß nur durch Selbftmord
aus dem Wege gehend; ferner der junge Mediciner Wolfe
bardt, der fie in die Geheimniſſe von Stoff und Kraft
einweiht und ihr die Grundlagen einer radicalen, welt-
verachtenden Gefinnung gibt, welche felbft die geiftige
Erziehung des Dr. Peregrin nicht umzufloßen vermag.
Dlympia, mit ihren Antecedentien, ihrer ſtolzen Schön-
beit, ihrem geiftreichen Peffinismus und ihrem refoluten
Handeln ift jedenfalls die intereffantefte Yigur des Romans.
Offenbar ift der Berfafler in ber Theaterwelt heimisch,
die er mit befonderm Behagen fchildert. Das Souper
bei der Tänzerin, wo bie Naivetät der Balletratten mit
ihrer ganzen Unverwüftlichleit aus den Schleierchen des
gefelfchaftlichen Anftandes hervorblidt, vor allem aber
die Rundreife, welche die Schaufpielerin mit ihrer jungen
Pflegebefoglenen in der theatralifhen Welt macht, find
mit einer volltommen „fachmännifchen” Kenntniß gefchildert.
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Degleiten wir einmal die beiden Damen in das Vorzim⸗
mer des Theateragenten:
Nah einer Fahrt von etwa einer Biertelftunde hielt der
Bogen vor einem ftattlihen, im modernen Billaftile gebauten
Saufe ber Halbmondfiraße. Eine Thür im erften Stod zeigte
die Auffchrift: „Eduard Bodmer, Theateragent, Redacteur dee
Deutſchen Büͤhnenblatts.“ Eliſe Täutete mit einem kurzen, ſchar⸗
fen Rucke an. Ein Diener iu etwas phantaftiſch⸗theatraliſcher
Livree öffnete die Thür. „Bringen Sie Hrn. Bodmer meine
Karte und fagen Sie ihm, wir hätten es eilig!‘ fagte Eliſe,
indem fie mit ihrer Begleiterin in das bereits ziemlid gefüllte
Borzimmer trat. Der Diener warf einen Bid auf die Karte.
Der Name verfehlte feine Wirkung nicht, denn der Daun ver-
beugte fi ſogleich achtungsvoll. „Belieben die Damen nur
einen Augenblid Plat zu nehmen”, fagte er. „Frau Montag-
Zacchetti ift gerade ber Hrn. Bodmer, aber das thut nichts,
ich werde Sie fogleih melden. Damit fhidteer fih an, nad
einer dichtverhängten Glasthür zu gehen. Er hatte jedoch mod)
nicht vier Schritte gemacht, als er auch Schon fi) von fünf der
Sarrenden umringt ſah. „Ich warte bereite feit einer Stunde“,
fagte ein ältlicher, nichts weniger als elegant, dafür aber
um fo jugendlicher Heransftaffirter Herr mit hoher Zenorftimme.
„Und ich feit anderthalb Stunden!’ rief eine bereits ſtark über⸗
tragene Dame mit langen Schmaditloden. „Glauben Sie, id
hätte nichts anderes zu thun, als bier au ſitzen?“ rief ſchnip⸗
piich ein junges Mädchen in kurzem Röckchen. life erfannte
auf den erften Blick in der Kleinen das, was fie einft felbft
gervefen, eine Balletratte, und zwar eine vacirende. „Wenn
mi Hr. Bodmer noch fange warten läßt‘, brummte ein etwa
vierzigjäßriger vobufter Mann mit tiefer Baßftimme, „To gehe
ich wieder rt Schwerenoth! Ich denke, mein Geld ift wol
ebenfo gut ale das anderer Leute!“ Dabei warf der Baßbuffo,
denn diefes Amt bekleidete der Mismuthige in der Theaterwelt,
einen wenig wohlwollenden Blick auf Elife und ihre Begleiterin.
„Aber, meine Herrſchaften, nur ein Hein wenig Geduld!‘ rief
ber Diener, indem er verfuchte, ſich durchzuarbeiten. „Sie
werden ja alle nad und nad) daranfommen. Ich babe Sie
gemeldet! Mehr Tann ich doch nicht thun! Ich darf die Herr-
ſchaften nur Hineinlaffen wie Hr. Bodmer es mir befiehlt.“
Die Supplicanten kehrten unzufrieden auf ihre Plätze zurück,
und der Diener verihwand mit feiner Karte Hinter der ge-
heimnißvollen Glasthür, dem Gegenftande der allgemeinen Sehn-
ſucht. Serapbine fühlte ſich in diefer Umgebung feltfam beengt.
Alle Augen waren auf fie und Efife gerichtet. Dieſe neugieri-
gen, neidifhen und wol un underfhämten Blide trieben ihr
das Blut in die Wangen. Yräulein Nadler dagegen faß mit
vollfommenem Gleihmuth in ihrem Fauteuil und mufterte kalt
die Geſellſchaft. Es dauerte eine Weile, bie Seraphine fidh
ſoweit gefaßt Hatte, um auch ihrerfeits die Hier verfammelten
Künfller ein wenig die Revue paffiren zu laſſen. In Hrn.
Bodmer’s eleganiem Borgemad war fo ziemlich jedes Fach der
dramatifchen Kunft und jedes blühnenfähige Alter vertreten. Der
Heine Mann in der Ede, mit der Slate, der hochkupferigen
Nafe und der großen Brille, konnte unmöglich etwas anderes
fein ale Souffleur oder Komiler. Neben ihm faß, den faden-
fcheinigen rad zugefnöpft bis hinauf zum Halfe, dafür aber
im Schmude fleifer, weißer Batermörber, eine Äußerfi ehr⸗
würdige Perfönlichleit, die ab und zu aus einer fogenannten
fandauer Dofe feierlih eine Prife nahm. Jedenfalls ein
engagementfudhender Pere⸗noble. Zwei oder drei Frauen, fänmt-
lich bereits üüber die erfte Jugend hinaus und ſehr einfach ge
Heidet, fchienen vacirende Choriflinnen, oder wie die Theater⸗
zeitungen fagen, „Chordamen“ zu fein. Hierzu famen noch die
vier Perfönlichleiten, welche vorhin den Bebdienten Hrn. Bod⸗
mer’s um Einlaß befürmt hatten. Obne Zweifel gehörten fie
ausnahmslos dem untergeordneten Perfonale an. Obwol jeder
von ihnen feine eigene, fcharfausgeprägte Bönflognomie zur
Schau trug, hatten fie doch alle etwas gemeinfam: Unzufrieden-
beit und hochgradiges Selbftbemußtfein.
Der XTheateragent felbft iſt ein lebenswahres Cha-
rakterbild, ebenfo wie der Schaufpieler Herb, Seraphine’s
Neue Romane.
Ideal, der glänzende Don Carlos auf der Bithne, der
ih im Leben mit den abgejchmadteften Rebus und
außerdem mit den eingehendflen Yinanzfpeculationen be»
ſchäftigt. Wie Olympia den Kritiler und dramati⸗
ſchen Dichter Bärentatz ködert: das iſt ebenfalls wit
einer Menge pilanter Züge geſchildert, welche dem Leben
abgelaufcht find.
Unter den „Kindern der Zeit” nimmt biefe Tochter
bes Jahrhunderts, welche fo glänzend auf feine Schwächen
zu fpeculiven verfteht, jedenfalls den erften Hang ein.
Als die durch den Titel bezeichneten Helden müſſen bann
noch die vier jungen Männer gelten, die wir bei dem
Beginn des Romans als Freunde bei einem Abfchiebsfeit
verfammelt fehen. Ferdinand Dombell macht diefem Ro-
man am meiften Ehre. Als Induftrieller Huldigt er jenem
Socialprincip, welches Laffalle zuerft mit befonderer Be-
eiferung betont hat und welches wir auch in verſchiedenen
Mafchinenfabriten der Romane, wie auch in Spielhagen’s
‚Hammer und Amboß“ verwirklicht ſehen. Dies Priucip
iR die Ausgleihung der Intereffen von Kapital und Ar⸗
beit durch Aufhebung bes Unternehmergewinns und durch
Detbeiligung der Arbeiter an den finanziellen Erfolgen
der Fabril. Kleine Romanlapitel, die uns wie Kapitel
aus Cabet's „Ikarien“ gemahnen, ſetzen uns ben Ge⸗
ſchäftsbetrieb einer folden Fabrik mit einer Genauigkeit
auseinander, welche für die Geduld der Leferinnen etwas
ermidend fein muß, während fie dem praktiſchen Zwed,
ſolche Einrichtungen etwaigen Lejern aus dem Bereich ber
Großinduftrie zur Nachahmung zu empfehlen, volllommen
Rechnung trägt. Die Kapitel, welche und das Fabrik⸗
etabliffement von Weißenhübel darftellen, führten ums
eine „Fabrikidylle“ vor: ein Wiberfpruc), der nur durch
folhe humane Mufteranftalten, durch folche induftrielle
Gnadenfreis gelöft werben Tann. Wir Haben allen Re—
fpect vor Yerdinand Dombell's Einfiht, Energie und
Menfchenliebe — gleihwol fommen uns diefe Romanfapitel
nach der frühern narkotifchen Aufregung etwas ſchwächlich
vor; dies Austönen einer mit vollen Senfationsaccorben
ergreifenden Handlung entſpricht kaum den Regeln ber
Spannung, bie der Romanſchriftſteller beobachten muß.
Eine Idylle von zwei Seiten genügt, wenn der Roman⸗
dichter die Helden, bie es verdienen, glüdlich machen will.
Wenn fi dies friedliche Glück durch eine lange Reihe
von Kapiteln erftredt, die noch dazu lehrhaft auf eine Ver⸗
befferung der Zuftände der Menſchheit binarbeiten, fo
darf der durch narkotifche Dofen verwöhnte Romanleſer
fi vielleicht über ſolche Zumuthungen beffagen.
Das zweite „Kind der Zeit” ift der Dichter Polben-
bofen, ber es mit feinen Stüden zu Erfolgen jeder Art
bringt, indem er fogar am Schluß nod eine glänzende
Partie macht. Der dritte Genoffe ift der bereits erwähnte
Materialift, der Dr. Wolfhardt, der von Java mit einer
fehr reichen aber häßlichen Frau zurüdfomnt; der vierte
ift nur eine epifodifhe Yigur in dem Roman, der che-
malige Mathematiker Teidersborf, der fpäter zur föderali⸗
ftifhen Oppofition gehört, einen ſchwarzen Schnurrod
und hohe „Oppofitionöftiefeln” trägt, ſich als Kind der
„gottgefegneten Hanna” der flawifchen Partei anjchliekt
und auf das Bedenken feines Freundes Dombell, der feine
beutfche Herkunft erwähnt, nur entgegnet, er ſei „Slawe
Reue Romane 709
aus freier Wahl”. Sein Freund fragt ihn, was ihn zu
dieſer Wahl beſtimmt habe?
„Einmal das Gefühl, daß wir bisher ſchrecklich zurück⸗
gefegt worden find‘, fagte LXeidersdorf, „und dann die Ueber⸗
jeugung, daß ein junger Dann, der etwas gelernt bat, es in
der Politit weit leichter zu etwas bringt als iu jeder andern
Carriere. Du biſt ein alter Freund, Dombell, mit bir kann
ich aufridtig fein. Du haft keinen Begriff, welch glnfliger
Boden die nationale Politik Heutzutage iſt. Welche Maſſe von
Zengs muß fo ein Gelehrter in feinen Schädel bineinflopfen,
bis er unter der großen Menge auch nur ein Hein wenig be»
merft wird. In der Politit geht das weit leichter und rajcher.
Laß doch einmal einen Gelehrten mit irgendetwas Neuem,
Beſonderm, noch nicht Dagemwefenem heransrücken! Wie eine
biffige Meute fallen die andern über ihn her und laffen fein
ntes Haar an ihm. Wer aber unterfieht fi, mir zu wider⸗
** wenn ich im Namen der Nation das Wort führe?
Bon unſern Leuten feine Seele! Und je ſchärfer ich auftrete,
deſto mehr made ich Wirkung, und je heftiger mich die Gegner
angreifen, defto höher Reige ih im Anſehen bei meiner Partei.
Es find noch nicht volle vier Jahre Her feit ich unter die po⸗
litiſche Fahne getreten bin, und ftebe ich heute bereits im Be⸗
geifi, in den Landtag gewählt zu werden. — „Alle Wetter,
eidersdorf, da haft du es wirklich ſchon weit gebracht für einen
Anfänger!”’ fagte Dombell. „Nun, ich gratulire!“ — „Du
darfſt aber nicht glauben”, rief Leidersdorf, den fein freimüthi⸗
ges Beleuntniß bereitö zu reuen anfing, „daß ich etwa nur au®
Speculation jo handle! Es thäte mir leid, Dombell, wenn du
eine folche Meinung von mir hegteſt.“ — „Bewahre, bewahre!“
rief Yerdinand, dem Leidersdorf’S politische Beichte nicht wenig
Spaß machte. „Aber bei allem dem begreife ich noch immer
nicht, weshalb du dich gerade ber ſlawiſchen Bartei angefchloffen
haft. Wärft du bei den Deutfchen geblieben, 8 hätteſt du es,
ſcheint mir, doch viel bequemer gehabt.“ — „Du vergißt, daß
ih ein Kind unſerer gottgeſegneten Hanna...“ — „Höre, Lei⸗
dersdorf“, unterbrach ihn Dombell, „mit ſolchen Phraſen darſſt
du mir nicht kommen! Bei deinen Hannaken mögen dieſe viel⸗
leicht Effect machen, aber bei mir verfangen ſie ganz und gar
nit. Laß alfo deine gottgefegnete Hanna beifeite und fprich
aufricätigl Du meißt, es bleibt ja unter uns!“ Leidersdorf
blickte ſich erſt vorſichtig nach feinen Parteigenoffen um. Die
Herren beim Fenſter disputirten fo laut, daß er nicht zu be-
fürdten brauchte, von ihnen gehört zu werden. Dann beugte
er fih zu Dombell hinüber und fagte halblaut: „Die Con⸗
eurrenz!' — „Die Concurrenz? Was foll das heißen?“ —
„Weißt du, bei euch treiben zn viele das Geſchäft“, fagte Lei-
dersdorf mit jchlauem Zwinkern. „Du verftehft mich! Aber
bei uns ift das anders! Da ift noch frifcher, jungfräulicher
Boden; die Politiker find dünn gefäet! Da kann man eher her⸗
austreten. Uebrigens iſt das, wie gefagt, nur fo nebenbei
mit ein entfchetdender Beweggrund für mich geweſen“, fuhr er,
wieder in das frühere Pathos zurüdverfallend, fort. „Ich bin
ein Sohn unferer...' — „‚Gottgejegneten Hanna!" rief Dom-
bel, lant auflahend. „Du fiehft, ich fanı es bereits ausmenbig,
alfo firapazire dich nicht unnöthigerweifel Nun, Leidersdorf, für
einen ehemaligen Mathematiker ift das gar nicht fo fchlecht ge-
rechnet. Ich mache die mein Compliment und wünſche bir den
beften Erfolg!’ — „Ich hoffe, er wird nicht ausbleiben‘‘, meinte
Leidersdorf, mit der Miene felbftbefriedigender Zuverfiht. „Ein-
mal war ich bereits drauf und dran, eingejperrt zu werben.
Das bat mid mächtig gefördert. Habe ich erft wirklich einmal
fo drei bis vier Wochen gebrummt, dann bin ich nationaler
Märtyrer und meine Earritre ift gemacht!“ — „Nun“, meinte
Dombell, „das Ziel wird fi ja wol nod erreichen laffen.
Sch Hoffe alfo in deinem Spmtereffe recht bald zu vernehmen,
daß bu dich wohlbehalten Hinter Schloß und Riegel befindeſt.“
Dombell fragt den Freund nach feiner Wohnung:
„Hier ift meine Adreſſe“, fagte Leidersdorf, ein elegantes
Bifttenlartentäfchchen hervorziehend und Dombell eine Karte
überreihend. „Während der Nachmittageftunden bin ich immer
zu Haufe. Es ſoh mid freuen, dich bald bei mir zu ſehen.“
Ferdinand warf einen Blid auf bie Karte. Sie enthielt dem
Namen „M. Laidrétorf“ nebft einer ſlawiſchen Umfchrift. Die
Adrefie ſelbſt war deutſch beigeſetzt. „Der Taufend!’ fagte
Dombell, „Sogar bein Name ift flawifirt, wie ich fehe. Das
ift denn doch eine radicale Reform!" — „Ja, das ift fo der
moderne Stil”, meinte Leidersborf. „Die Ungarn haben da⸗
mit angefangen, und wir madjen es ihnen nad. Ich war leht«
bin in Pe, da findeft du anf ben Firmen lauter Szontag,
Frydrych, Snaidr u. |. w. Weshalb follten wir bei der alten
deutfchen Orthographie bleiben?’ — „Natürlich!“ fagte Dom⸗
bel, „Jeder kann ja mit feinem Namen anfangen was er
will! Das fteht außer aller Frage.‘
Ein töftliches Genrebild, fehr bezeichnend für bie
Zuftände Oeſterreichs, in denen e8 nad dem Ausſpruch
unfer8 Verfaſſers Gentraliften, Dualiften und Föderali⸗
ftien, Deutfhe, Magyaren, Polen, Rumänen und fouft
noch alles Mögliche die Hülle und Fülle, nur keine Oeſter⸗
reicher gibt.
Den Gegenfag zu biefen „Sindern der Zeit” bildet
der uneigennügige Idealiſt Dr. Peregrin; das Bild die-
ſes harmlos edeln Gelehrten dürfte unter den Charalter-
föpfen des Romans den erften Play einnehmen. Ueber⸗
haupt ift das Werf wol als ein Album von Charalterlöpfen
und Lebensbildern zu betrachten — eine auf der Grund⸗
fuppe ber Erzählung Herumfchwinmende Moral ver-
mochten wir nicht abzufchöpfen. Daß der Dialog des Ro⸗
mans pilant ift, davon haben wir bereitd Proben gege-
ben. Einwendungen möchten wir nur gegen das „Roman
wetter machen. Es ift ein an und für fich löblicher
Brauch der Romanfchriftfteller, daß fie bei grufeligen
Mordfcenen die Wolle vor den Mond ziehen lafjen, wie
es in dem befannten Lieb von Künappel heißt. Doch
durch die zu häufige Anwendung ift diefem für beftimmte
Situationen feftftehenden Romanmetter ber Heiz geranbt.
Ehe Frau Kathi von Streder erwürgt wird, nimmt bie
ganze Natur die bekannte tragiſche Maske vor:
Es war eine furchtbar ſtürmiſche Naht. Das Wetter, feit
einigen Wochen ununterbroden ſchön, war plößlich umgeſchla⸗
gen, und feit Nachmittag braufte einer jener Stürme fiber bie
Refidenz, wie Wien deren fo viele im Laufe des Jahres durd)-
mahen muß. Die Bäume raufdten laut im Winde, an dem
vom balb verdedten Monde nur ſchwach beleuchteten Himmel
jagten die Wollen in wilder Flucht dahin, und die alte roftige
Wetterfahne auf dem Salettl kreifchte ſchrill bei ihrem rajenden
Ringeltanze.
Wir würden zur Abwechſelung gern einmal eine
Mordthat bei heiterm Himmel vollbracht ſehen, wenn die
Säule des Barometers durch einen geringern Luftdruck
niedergehalten wird.
8. Sphinx. Roman von Robert Byr. Drei Bände. Ber-
lin, Janke. 1870. 8 4 Zhlr.
Robert Byr Hat in feinem Roman: „Der Kampf ums
Daſein“, ſich als ein Schriftfteller gezeigt, der nicht bloßes
Unterhaltungsfutter zur Verproviantirung der Leihbiblio-
thefen producirt, fondern Dichtwerfe, in denen ein philo-
ſophiſches oder pſychologiſches Problem bie Achſe der
Handlung bildet. Bei der großen erdrüdenden Maſſe
der heutigen Leihbibliothefen- Probuction verdienen folche
Werke von tieferm Gedanteninhalt eingehendere Aufmerk⸗
famteit und hervorhebende Berüdfihtigung. Wir haben
daher auch den neuen Roman von Byr mit Spannung
in die Hand genommen und durchgeleſen.
Diesmal Handelt es ſich nit um eine allgemeine
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philofophifche Theorie, fondern um ein Charakterproblem.
Die Heldin des Romans ift eine Sphinz, die mehrere
Dpfer in den Abgrund ftößt und zulegt felbft in ihm
verfinft. Sie gibt indeß nicht blos Räthſel auf; ihr
ganzes Sein und Weſen fteht felbft unter der Herrichaft
eines Räthſels. Dies Problem ift interefiant, und ber
Dichter hat es im britten Bande in einer Weiſe vertieft,
die unfern wärmern Antheil gewinnt. Freilich erſt im
dritten Bande — und damit nehmen wir den Haupttadel
vornweg, der fi) gegen das in vieler Hinſicht geiftreiche
Werk ausfprechen läßt. In den zwei erſten Bänden über-
wuchert die Fülle des breiten Beiwerks allzu ſehr die
dämonifche Hanptgeftalt der Heldin; ja was noch fchlim-
mer ift, wir glauben nicht recht an ihre dämonifche Des
deutung, wir find geneigt in ihr eine flatterhafte Kofette
zu fehen, und da zwölf von diefer Spielart ein Dugend
bilden, fo verfehlt anfangs diefe Evastochter den Eindrud
eines problematifchen Charakter zu machen, wie er vom
Dichter beabfichtigt wird.
Robert Byr ift fonft mit den Geheimnifjen der Ro-
mantechnik wohlvertraut, wie namentlich, der leute Band
beweift, in welchem feine Erfindung erft eigentlich in Fluß
kommt. Gleichwol hat er es in den erften Bänden ver-
füäumt, unſer Intereſſe bereits auf jene geheimnißvollen
Antecedentien hinzumweifen, welde den Schlüfjel zu dem
dämonifchen Wefen feiner Heldin bilden. Er braudte
deshalb den Schleier nicht zu früh zu heben; wir wifjen
fehr wohl die Discretion- eines Romandichters zu jchägen,
ber das letste Wort des Räthſels erft auf der legten Seite
ausſpricht. Doch er muß uns von Haus aus mittheilen,
daß es ein folches „letztes Wort” gibt, daß der Charalter
feiner Sphinx durch eine Conjunctur der Geſtirne mit-
beftimmt wirb, die ihrer Wiege leuchteten.
Auch erfcheint uns feine Sphing nicht dämoniſch,
nicht firenenhaft, nicht vampyrartig genug. Ihr Fehler
geht nicht viel über eine fchüchterne Koketterie hinaus, über
dasjenige, was man „Ermuthigung‘ nennen möchte. Nach
diefer Seite hin ift Byr der Gegenfühler Sacher⸗Maſoch's.
Der bütte folder „Sphinx“ ganz andere graufame Kral⸗
len gegeben, freilich aber auch ihre „nadten Britfte” mit
Tizianiſchem Incarnat zur Schau geftellt; er hätte aus ihr
eine wilde, wahrſcheinlich farmatifche Emancipirte gemadht,
welche ben Rachedurſt, den fie gegen das ganze Gefchlecht
hegt, nach Art einer ruffifchen Katharina im Genuß und
der darauffolgenden Hinopferung der Liebhaber zu Fühlen
fudt. Ganz anders Byr, der, fittfam von Natur, feine
Heldin feldft zu entſchuldigen bemüht if. Zwar ſchildert
er fie von Haus aus als einen „Oymnoten“. Go bat
ihr anfängliher Verehrer, Erwin von Schönberg, einen
feiner Romane betitelt, und erläutert dies Wort in fol-
gender Weiſe:
Gymnoten find eigentlich Yale; gymnotus electricus heißt
der Zitteraal. Es gibt in der Welt fo fchlanke, fchlüpferige,
unfaßbare Erfcheinungen, vollgelaben mit Eleltricität, die jedem,
ber fie berührt, empfindliche Schläge ertheilen — Schläge, bie
feibft töbten können. Solche geichmeidige, zierlihe und gefähr-
fie Wefen, die man nicht feftzuhalten vermag, will ich zu
ſchildern verjuchen.
Aber die elektriſchen Schläge unſers Zitteraals er-
ſcheinen zu ſchwächlich, um die Baroneß Natalie zu einer
berborragenden Bertreterin der Öymmoten zu machen.
Neue Romane.
Der Delonom Olſchmann verliebt fich in fie fo,
Weib und Kind vernachläffigt und zulett fich
die Seinen ganz ins Berderben ſtürzt — ift das
Schuld? Wir erfahren ja nur, daß fie ihn mahnt, jene
Leidenschaft zu zügeln, feiner Frau mindeftens den Glan-
ben an ihr häusliches Glück zu laſſen. Der Kaplan Tiebt
fie mit einer verzehrenden, wilden Leidenfchaft, die ihn
zulegt zum Selbfimord treibt — ift das ihre Schul?
Und wenn fie dem Lieblingähelden bes Autors, dem geift-
reihen Erwin, Kuß und Umarmung in der Dunkelheit
gewährt, dann aber fid) wieder von ihm losfagt, weil «8
jo befjer für beide fee — ift dies viel mehr als eine
Caprice? Und Zragödien aus Gapricen haben eine
mislihe Herkunft. Eine ähnliche Caprice ift ihre Heirath
mit dem todkranken eldmarjhall- Lieutenant, ber balb
baranf fterbend fie zur Witwe macht, während ein Adjutant
deffelben als ihr Courmacher oder vielmehr als ihr Ber-
ehrer erſcheint. Somit bewegen wir uns in einem Ca⸗
priccio der Neigungen, deſſen bin- und herſchwirrende
Zöne kaum eine ernftere Gewalt anszuüben vermögen.
Erft ald Natalie ihre Capricen überwindet, in Liebes-
leidenfchaft zu Erwin zurüdfehrt und von biefem, der fein
Herz, wegen ihres Unbeftandes, längft von ihr abgewendet
hat, verworfen wird; erft als fie dann, in der Billa des
verftorbenen Gatten, aus Verzweiflung ſich einer wilden
Lebenstuft überläßt und fi) einem frühern verfchmähten
Unbeter, dem Grafen Salitzhofen, der fie in folder Stim⸗
mung überrafcht, hingibt — da fehen wir eine begreifliche
Kataftrophe, eine dämonifche Wendung vor ung, die und
von jest ab mit gejpannter Theilnahme für das Geſchick
der Heldin erfüllt. Als Probe der Iebendigen Darftel-
Iungsweife des Autors wollen wir die Schilberumg diefer
Kataftropde aus dem Roman herausheben; fie darf als
deſſen gelungenfte Partie betrachtet werden. Nataliens
Stimmung, nachdem Erwin ihre Liebe verfchmäht hat,
wird mit folgenden Worten geſchildert:
„Berworfen!’'... rief fie mit einem zischenden Laut... „ver
worfen und verhöhnt, verleumbet und verbammt! Ha, was
kümmere ich mich und zerfleiihe meine Seele im nutlofen Rin-
gen gegen das Geſchick, das mir ſchon in die Wiege gelegt war!
Eroe! auch ich will Ieben, auch ich will mich beraufchen in
wilder Luft und perlendem Champagner! Ich will nicht beffer
fein ale fie alle, die tugendgefchminkten Krähen, die nur der
Zaube die Augen aushaden aus Neid und Bosheit. WBilllom-
men, Schweflern in der Lüge und der Süinde, ich will eine der
enern fein, nehmt mid in euern Reigen. Fort mit den Zwei
fein, fort mit bem zaghaften Schritt! Cancan, das iſt Die Los
fung der Zeit und grand Galop infernal! &8 lebe die Freude!
Es lebe die Luſt!“ — Wie vom bacchantiſchen Taumel ergriffen,
drehte fie fih ein paarmal um fidh jelbft und eilte dann anf
das Pianino zu, das feit dem Tode bes Generals geichloffen
war. Natalie hatte nie wieder eine Zafte berlihrt, fo oft man
fie in Röthenftein aud aufgefordert hatte. Selbſt wenn fie
ihre Schwefter fpielen hörte, durchrieſelte fie ein teifer Schauer.
Sie hatte die Muſik immer Teidenfchaftlich geliebt, ımdb num ſchien
es als ob fie derfelben für immer entfagen wolle. Es war ein
Zeichen ihrer ungegeuern Aufgeregtheit, daß fie fidh jetzt an das
Inſtrument feste; mit einem vollen Accord griff fie in bie
Taften, aber e8 ertönten nur die erften drei Takte eines vafend
fhnellen Galops, dann brad fie mit einem heifern Schrei ab.
Es war ihr als legten ſich zwei eifig kalte Hände mit Centner⸗
fhwere auf ihre Adyfeln, und lähmend ranı die Erflarrung an
ihren Armen herab bis in ihre Fingerſpitzen, ein kalter Hauch
glitt ihr den Rüden entlang, daß ihre Haare fi) in den Wur⸗
zen hoben. Sie fpraug auf, und neben der Thüre ſtehend warf
Neue Romane
fie einen Blid hinein in das anſtoßende Zimmer, ihr Auge
bing wie gebannt an der Stelle, wo früher das Bett bes Ster-
benden geftanden. Eine Sinnestäufchung geftaltete aus den
Schatten der tief bereinbredenden Dämmerung wieder das La»
ger. Dort, dort ruhte die Leiche — und jet erhob fie langfam
den Kopf und öffnete die ftarren Augen und firedte die mumien-
artigen Arme nad) ihr. Der Athem fiodte Natalie, keinen Laut
vermochte die vertrodnete Kehle hervorzubringen, fie wankte,
dann aber wandte fie fih zur Flucht und flog von wilden
Schred gejagt dur den Salon und Über den knirſchenden Kies
der Gartenwege, ohne fi umzufehen, ohne zu wiflen wohin,
bis fie auf dem Hügel unter der Hängeeſche mit fliegendem
Athen anhielt. Hier erft blidte fie um fi, ſie fügte ſich an
dem Stamme und ließ fih dann langfam auf die Bank nieder-
finten. Wieder fam das hohle, fremdartige Lachen über ihre
Lippen. „Ich glaube, ich fürchte Geſpenſter“, ſprach fie halb⸗
aut zu fi jelber, „und es ift doc noch nicht Mitternacht.
Berfolgen fie mid) heute? Ich bin ja kein Kind mehr — er hat
es gejagt. Nein, nein, fein Kind, ein vermworfenes, zurück⸗
geftoßenes Weib — eine Bettlerin um Liebe, der man flatt Brot
einen Stein gibt. Wer fragt danach, ob fie daran verhungert?
Und das Leben foll dennoch ſchön fein! Ha, ich will es genießen,
ih will nicht beffer fein als mein Ruf. Das Leben felber fol
mich tödten. Willlommen die Bernichtung!” So grauenhaft
der wild dahinbranfende Orlan, weit grauenhafter ift, daß der
Sturm im Menfchenherzen kein Eco findet in der Natur.
Leife und unheimlich ſank die Nacht herein, ein warmer Luft⸗
Hauch ſtrich durch die flüfternden Wipfel der Bäume und beugte
auf den weiten Feldern das hochftehende Getreide zu janften
rünenden Wogen, liber denen ber ferne Wald wie eine finftere
auer zum leife verglühenden Himmel aufragte, an dem jchon
bier und dort ein vereinzelte Sternlein gligerte. Kein Laut
war vernehmbar als das fachte Raufchen des Laubes und das
eintönige, unaufhörliche Gezirpe der Grillen, das ſich wie ein
zur Landſchaft gehöriger melaudyolifcher Ton mit in der Natur
auflöſt. Natalie fa noch immer an den Stamm der Hängeeiche
elehnt, regungslos wie eine Statue, und ſchaute hinaus ine
eite, ohne daß ihr Blick ein einzelnes erfaßte. Jetzt ermwedte
fie ein Geräufh, wie von brödelndem Geftein, apathiſch hob
fie den Kopf. Bor ihr auf der Mauer tauchte eine Geflalt auf
and ſchwang fi) raſch herliber. Mit einem Sprunge fland dies
jelbe auf der Plattform des Hügels knapp am Eingange in die
Laube. Einen Moment hielt fie zögernd ftill, dann wandte fie
fi) um, nad dem Park hinabzuſchreiten. Da Iöfte fi) Nata⸗
liens Zunge, die Schred und Ueberrafhung eine Secunde ges
fefjelt gehalten. „Wer ift Hier?’ Nieß fie rauh hervor. Das
Beben der Stimme verrieth ihre Schwäche oder Angſt — viel»
leicht aud) beides. Der kühne Eindringling fuhr zufammen.
Er hielt an, aber e8 war fein Zaubern. Unmittelbar darauf
trat er, die Zweige auseinanderbeugend, in den tiefen Schatten
des Baumes. „Natalie““, flüfterte Salitzhofen's leidenfchaftlich
vibrirende Stimme, „welch glüdlidher Zufall!" — „Was wollen
Sie bier? Verlaſſen Sie den Bart!" — „Nicht um eine Welt!
Ih erfuhr Ihre Rückkehr. Ich mußte zu Ihnen — id) mußte
Sie fehen, Natalie!’ Sie machte eine rafche eBenbung und
fuchte zu entfliehen, fein Arm legte fi eiferu um ihre Taille.
Ein heftiger Fieberſchauer fchättelte die feinen zierlichen lieder,
dumpf und röchelnd kam ein Wort ans ihrer wogenden Bruſt:
„Berworfen!" Diesmal wehrte fie dem Kufſe nit. Wieder
lachte fie auf — e8 Fang wild und unheimlich, wie das Lachen
des Wahnſinns. Und file ward’s, nur der Luftzug ging
raufhend durch die Wipfel der Bäume und die Grillen zirpten
ihr einförmiges Concert.
Salighofen rühmt fich leichtfertig feines Triumphes.
Dies führt zu einem Duell zwifchen ihm und dem Ad⸗
jutanten des ©enerals, dem Lieutenant von Waldſchütz,
der als Opfer des Kampfes ftirbt. Natalie verfällt einem
Nervenfieber und die fcheinbar Geneſene rafft bald dar⸗
auf der Tod hinweg, Die Enthilllungen, die fie felbft
dem geliebten Erwin nicht zu geben vermochte, erfährt
711
derſelbe von ihrer Großmutter, der Frau Kolbinger, der
Wirthſchafterin aus dem Pfarrhauſe. Natalie war ein
Findellind, „erzeugt in Ehebruch und Schande” und „ge⸗
hegt in Berheimlihung und Lüge”. Mit edler Großmuth
hatte die Baronin die filia adulterina des Barons für
das eigene Kind ausgegeben. Die Alte bat fie in das
Geheimniß eingeweiht und gelehrt, „das Maunsvolk zu
verachten”. Das ift das Räthſel der Sphinr!
Sehr anmuthig ift Helene, die Halbſchweſter Natalieng,
mit diefer contraftirt als Bertreterin einer edeln harmo⸗
nifchen Weiblichkeit.
Was die Charakteriſtik der Nebenfiguren betrifft, fo
überwuchert fie in den erften Bänden allzu fehr; der Doctor
Alchenbrenner, eine matte Copie des Jean Paul’schen
Kagenberger, erfcheint mit feinem ewigen Hunger doch
etwas trivial. Mindeſtens ift der Dichter zu eifrig auf
die Befriedigung deffelben und auf die Ausmalung des
Stillebens feiner Zafelfreuden bedacht. Der Hauslehrer
Korn ift Fein Spielhagen’scher Held; fein Liebesabenteuer
mit der magern, fpitigen Lotte gibt Gelegenheit zu einer
Smollet’fchen Prügeljcene. Der Theaterfeldwebel mit fei-
ner papagaienhaft aufgeputten Gattin und ben drei pifant
geihilderten Töchtern, der hypochondriſche Yabrikbefiger
mit feinem „dies und das” bilden eine ganz amufante
Gruppe. Zwei Typen aus Byr’s früherm Roman: „Der
Kampf ums Dafein”, der Mögliche Sournalift und der
joviale Maler, finden fi) aud in feinem neueften Werke
wieder; der Yournalift Huldrih, der feiner Frau mit
einer Tänzerin durchgebt, ift minder abftoßend als Schmerle; _
der Dealer Bokel minder geiftreih als Il Zotico. ‘Die
beiden Bilder Bokel's, welche der Dichter fchildert, er⸗
fheinen als eine feine Satire auf einzelne Richtungen
der neuern 9: rei:
„Sehen müflen Sie die Leinwand! Ein ganz neues inter
effantes Sujet. Weite, endloje Puſzta, in der Ferne die zwei,
ipi zufammenlaufenden Stangen eines Ziehbrunnens. Mitten
in der öden flimmungsreichen Unendlichkeit eine Heerde Schafe —
von denen will ich nicht reden‘, fchaltete er ein, „aber kein
Hund, fein Schäfer, nichts ala ein Hut, eim biutiger Foeos
und eine Bunda, an der ein Widder fhuüffelt. Und die Bunda,
die Bunda müſſen Sie fehen. Sie liegt mit der Wolle nad
auswärts — aber dieſe Wolle — ſolche Schafmolle Habe ich nod)
nicht gemalt. Und die Stimmung, was denken Sie fi) Dabei?
Nichts ale die Bunda.“
Nicht minder flimmungsvoll ift das zweite Bild, be⸗
zeichnet ald Begegnung Rebekla's mit Eliezer:
Fürs erfie ſah man nichts als eine zahlreiche, mit aller
Bokel'ſchen Birtuofität gemalte Schafbeerbe, die, flanbbededt
und durfiig, nad) einem Brunnentrog und einer Pfütze drängte,
und jo den ganzen Bordergrund einnahm. Erſt beim genauern
Hinbliden vermochte man rechts im Hintergrunde die ganz in
graugrlinem Zon gehaltene, verfhwimmende Gruppe ausfindig
zu machen, aus der es der Phantafie freigeftellt blieb, die
Figur Elieger’8 am Brunnen und Rebekka's mit dem Kruge
ſelbſtthätig zu gefalten.
Der geiftige Boden, auf welchem unfer Roman ab»
fpielt, ift der des öfterreichifchen ‚Katholicismus. Die
Darftelung ift oft ſchwunghaft, an poetifchen Scilde-
rungen, originellen Bildern und geiftreichen Reflexionen
reich, nur wird der Stil bin und wieder durch einzelne
Auftriacismen getrübt.
Rudolf Gottfchall,
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Bollszahl und -Spracgebiet der Deutfchen.
Volkszahl und Sprachgebiet der Dentichen.
Der Deutſchen Bollszahl und Spradigebiet in den europäifchen
Staaten. Eine ſtatiſtiſche Unterfudung von Rihard Böckh.
Berlin, Onttentag. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr.
Diefes Werk, weldjes der Erinnerung an Ernſt Morik
Arndt zu deflen Bundertjährigem Geburtstage gewidmet
ft, gibt einen anf flatiftifchen Ermittelungen beruhenden
Nachweis von der Größe, der Vollszahl und dem Um-
fange des Sprachgebiets der bdeutfchen Nation. Der
Geift, welcher dieſe vortreffliche Schrift durchweht, ifl
ein ebenfo wiflenfchaftlicher mie patriotifcher; und wir
Finnen e8 nur mit Freude begrüßen, baß gerade der
Gegenwart, wo die entjcheidenden Siege des deutſch⸗
franzöfifchen Kriegs die Frage in praftifche Nähe gerüdt
haben, das Werk eines competenten Statiſtikers vorliegt, der
es unternommen bat, darauf hinzumeifen, daß man über
bem innern nationalen Ausbau des deutſchen Staats-
weſens nicht die in den Nachbarländern Iebenden Stam-
meögenofien vergefien fol, Denn e8 unterliegt wol fei-
nem Zweifel, daß auch die fern vom Mutterlande leben-
den Deutfchen einen vollbereditigten Anfprud auf die
Sympathie, reſp. den thatkräftigen Schuß des beutfchen
Baterlandes haben, um fo mehr, wenn ihre culturberechtigte
Stellung buch fremde Gewalt und Anmaßung bedroht
ft. Die nationale Berwandtfchaft ſchließt bis zu einem
hohen Grade eine nationale Zugehörigkeit in fi, Die,
wenn fie auch vorwiegend oft nur eine geiftige ift, des⸗
halb doch nicht theilnahmlos angefehen und wirklichen Ge⸗
fahren fchuglos überlaffen werden darf.
Der erjte Theil des in Rede fichenden Buchs be-
behandelt in zwei fi ergänzenden Vorworten „Das Wa»
tionalitätsprineip” und „Die ftatiftifche Ermittelung der
Nationalität”.
Was nun die Anerkennung des Nationalitätsprincibs
betrifft, fo liegt darin, nach der Anficht des Berfaffers,
der Keim zu einem unermeßlichen Fortſchritt in der Ent-
widelung ber Völker. Bei grundfägli richtiger Auf⸗
fafjung, meint er, ift die Anerfennung des Nationalitäts-
princip8 durch das gemeinfame Intereſſe aller Völker
gefordert. Keinem Volle iſt die ihm eigenthümliche Gei⸗
ſtesgabe zum Zweck der Unterdrückung anderer verliehen,
und feinem kann dieſe Unterdrückung wahren Nuten brin-
gen; in deutlichen Beifpielen zeigt die Geſchichte früherer
und neuerer Zeit, wie von einem herrſchenden Volke ges
übte Unterdrüdung ihm felbft wenig frucdhtet, wie im
Gegentheil der Unterdrüdte, indem er ſeinerſeits in den Geift
ber unterdrüdenden Nation hinübergeht, bort ändernd und
verderbend eingreifen und fogar zum unerwünſchten und
tyrannifchen Führer der Herrichenden Nationalität werden
fann. Umgekehrt begreift die Anerkennung des Nationa-
litätsprincips die Anerkennung der Befonderheit jeder Na»
tion und gewährt damit einer jeden die freie Uebung ber
fchöpferifchen Kraft ihres eigenen Geiftes, mithin die Frei⸗
beit vom Drude fremden Geiftes; fie enthält weiter bie
Anerkennung der Einheit jeder Nation und verbürgt da-
mit den Angehörigen berjelben bie Gemeinſchaft ihres
Wirkens und Schaffens, mithin die Befreiung von unbe-
rei“ Sonderbeſtrebung; fie enthält endlich die Aner-
fenn „ 3 Geſammtheit jeder Nation und gewährt ba-
mit jedem einzelnen das Hecht, daß diejenige Nationa-
fität, der er nach unverlennbarem, in feiner Natur felbft
begründeten Kennzeichen angehört, in ihm geachtet werbe.
Diefe Anſchauungen auf das deutſche Boll anwendent,
fagt der Berfafler:
Daß es feiner andern Nation wichtiger ift ald ber beut-
fen, bie nationale Einheit zu ihrem feſten Dogma zu erheben,
bebarf in einer Zeit, wo das Wort ber dentſchen Einheit ben
Unverfändigen nachgerade ebenfo geläufig ift wie den Beriäm-
digen, feiner weitern Ausführung. Bei ber Berwirklichung
bedarf es aber für eine Nation, deren Geſchichte bei ben ein⸗
zelnen Bruchtheilen zahlreiche Sonberinterefien erzeugt hat, umb
namentlich bei folchen, bie fi am Leitfeile der fremden Kegie-
rungen befinden, dem fremden Intereffe den Schein des eigenen
gegeben bat, der grunbfäglichen Unterſcheidung des natiomalen
emeinfamen von dem local und landſchafilich bereitigten
Befondern, und diefe kann nur gewonnen werben durch richti⸗
e8 Erkennen des Wefens der eigenen Nationalität, Hanıpt-
üchlich ift e8 aber für feine Nation wichtiger ale für bie beut-
ſche, bie Gemeinfchaft aller Angehörigen der Ration grunbfäg-
feinen Gegnern g T
tionalität jedes einzelnen, alfo der Zugehörigleit jebe® einzel⸗
nen zu feiner Nation, damit and, demjenigen, welchem bie
ünßere Verbindung mit feinem nationalen Lande abgeht, doch
die geiftige Verbindung mit der großen Geſammtheit gefidhert
—* welcher er feiner eigenen Natur nad ſelbſt ein
et .
Als erfte Grundlage des Begriffs der Nationalität
fieht unfer Autor die Annahme der gemeinfchaftlichen
Abftammung, der Gemeinschaft der Geburt innerhalb der
einzelnen. Bölfer an. Während ihm in der Stammes
gliederung der Menſchen das Nationalitätsprincip als
begründet und in dem Borbandenfein der Völkerindividnen
als verwirklicht erfcheint, erblidt er in der Volksſprache
das charakteriftiiche Kennzeichen der einzelnen Böller-
individuen, weil die Sprache das naturgemäße gefell-
ſchaftliche Organ des Menſchen iſt. Jede Nation erſtreckt
ſich demnach ſo weit, wie die Verſtändigung durch eine
Volksſprache erfolgt. Das Beſtehen der Bölkerindividuen
iſt nach der Anſicht des Verfaſſers unabhängig von dem
Grade der Ausbildung der Sprache, obſchon er nicht
verkennt, daß dieſe Ausbildung zur Fortentwickelung der
Völker in mittelbarer Beziehung ſteht. Der Uebergang
einzelner Individuen oder Vollsbruchtheile von einer Spradye
zur andern ift in der Völkermiſchung begründet; er ge-
fchieht nicht felten der menfchlichen Freiheit gemäß, jedoch
niemal® nad) der reinen Willlür des einzelnen.
gegen fteht die gewaltthütige Aufdrängung fremder Volle
fprachen und insbefondere die Berbrängung der Bolle-
fpradje durch die fogenannte Staatsſprache mit dem
Volkszahl und Sprachgebiet ber Deutſchen. 713
Nationalitätsprincip in einem ſchneidenden Widerſpruch;
„ſie iſt ein Frevel gegen die geiſtige Ordnung der Völker“.
Der Staatsſprache will Böchh nur den Vorzug, „die erfte
unter gleichen zu fein’, einräumen. Es gehört zu ber
Aufgabe gefitteter Böller, die Entwidelung der nationalen
Sprache in biefer Sprache und durch diefe Sprade zu
fördern; zur allgemeinen Verwirklichung biefer Aufgabe
hält es der Autor für nothwendig, daß das Recht der
Nationalität in das gemeinfame Staatenrecht aufgenommen
werde. Die deutfche Nation dürfe fich nicht die Ehre
nehmen lafien, in diefer Beziehung voranzugehen, fowol
zu Gunften ber Deutfchen, wie zur Sicherung des Völler-
friedens überhaupt; fie bat, nach Böckh's Meinung, bie
weltgefchichtlihe Miffion, die Berbrüderung derjenigen
Nationen herbeizuführen, welche fi zur Achtung und
Förderung des Nationalitätöprincipe verpflichten. Cr
fagt deshalb:
Die Förderung der Bildung jedes Bolleftammes in feiner
eigenen Sprache und durch die Ausbildung berfelben iſt alfo
eine Conſequenz der wirklichen Anerlennung des Grundfates
der Nationalität. In biefem Sinne dem Nationalitätsprincip
Geltung zu verichaffen, zu Gunſten des eigenen Bolfs wie
zu Gunften aller Bölter, welche unter dem Drude fremden
Sprachzwanges leiden, nnd welche bie Geltendmachung bes
Nationalitätsprincips von dieſem Drude erlöjen Tann, tft bie
würdige Aufgabe unferer deutfhen Nation. Es bedarf hierzu
nicht der äußern Herrſchaft durch irgendein beflimmtes Bolt;
wohl aber bedarf e8 der Herrſchaft des gemeinjamen Principe,
alfo der allgemeinen grundjäglihen Anerkennung der vollen
Freiheit jedes Volls, feine Sprache in denjenigen Wohnſitzen
zu üben, denen es angeflammt ift, oder in welche es ſeine
Anfiedelungen erfiredt Bat. Und ſolchen Staaten gegenüber,
welche das Nationalitätsprineip nicht anerkennen, mithin die
höhere Ordnung des Bollsgeiftes lengnen, bedarf es des wirf-
lichen Schutzes berjentgen, welche abweichender Nationalität
find, und nöthigenfall® der Abldfung ihrer Wohnſitze von dem
unterdrüdenden Staate.
Der Berfafier verfennt nicht, daß e8 an Berheißungen,
Zuficherungen und Berträgen, welche bei der Bereinigung
eroberter Xerritorien mit einem GStaatswefen oder bei
freifinnigen und freiwilligen Umgeftaltungen im Innern
eines Staats der abweichenden Nation die Erhaltung ihrer
Nationalität und den Gebraud) ihrer Sprache zuficherten
(wie z. B. bie Capitulationen, welche die Baltifchen Her-
zogthümer an Rußland brachten), bisher fchon nicht gefehlt
bat; da aber alle foldde Garantien meiſtens nur bloßer
Schein waren, weil ihre Achtung oder Nichtachtung in
die Willkür desjenigen geftellt war, der fie gegeben hatte,
fo kommt er zu dem Sclufle, daß erft bie Aufnahme
folder Garantien in das gegenfeitige Staatenrecht, welches
man heutzutage mit dem ungenanen und fehr dehnbaren
Ausdrnd des internationalen oder Völlerrechts bezeichnet,
dem Nationalitätöprincip diejenige feſte Grundlage geben
kann, mit welcher die Nationalität von dem geiftigen
Drud der Staatsangehörigfeit gelöft wird. Und wenn,
wie bereitö angedeutet, die Anerkennung der Nationalität,
wie fie die angeftammte Volksſprache zeigt, die Forderung
ft, in welcher das Nationalitätsprincip feinen vollberech⸗
tigten Ausdrud findet, fo find, wie unfer Autor meint,
die Hauptforderungen, welche die deutfche Nation unter
Umftänden im Namen des Nationalitätsprincips ale ihr
volles Recht mit aller Energie in Anfprud zu nehmen
bat, etwa folgende: Deutſche Sprade als Geſchäfts⸗ und
1870. 6.
Gerichtsſprache in allen deutjchen Wohnfigen, deutſcher
Gottesdienſt in ben Gemeinden beutfcher Nation, deutjche
Volksſchulen für die Kinder beutfcher Weltern und die
Geltung des deutfchen Geiftes an ben höhern Bildunge-
anftalten der Deutfhen. Die thatfächliche Durchführung
folder Forderungen würde in Wahrheit die „Tilgung
langer deutſcher Schanden“ fein, vor allem derjenigen,
welche unfer weftliches Nachbarvolk unter Leitung feiner
Bourbonen, Eonvente und Cuſaren in beharrlicher Unter-
drüdung der deutſchen Nationalität auf unfer Voll ge⸗
bäuft bat, und deren Tilgung für die deutfche Nation
eine ebenjo unverjährbare Pflicht, wie ber Anſpruch auf
Achtung der angeſtammten Nationalität ein underjährbares
Hecht ift. Die neueften Ereigniffe verjprechen eine rabicale
Heilung diefer Misftände durch die Annerion ber dent»
ſchen Provinzen Frankreich; dadurch werden bie folgen-
den Worte des Verfaſſers erft in vollem Maße zur
Wahrheit werden:
Die Wiedereinfegung der beutfchen Sprache im Elſaß und
Weſtreich in ihr altes Recht als geltende Landesſprache und die
Zurückſetzung der franzöfiſchen Sprache in jene Stellung, welde
ihr als gemeinfamer Staatéſprache und als ber BVollsiprade
eines Meinen Theils der angeflammten und eingewanderten
Bevöllerung zulommt, wäre bie unerlaßliche Bedingung, unter
welcher der erflarlende dentſche Vollsgeiſt die ſortdanernde Ber-
bindang eines wichtigen Theils der Ration mit einem fremden
Neiche ohne Entwürdigung betrachten könnte; fie allein könnte,
ohne Veränderung der Staatengrenze, der deutichen Nation das
vechte Pfand des Friedens und der Kreundfchaft geben. Wenn
nun im Gegentheil die neueften Verhandlungen des franzdfifchen
Senats den Regierungen biefes Staats die Anerlennung ge-
ben, daß fie fein Mittel unverfncht gelaffen haben, bie deutſche
Sprade in dieſen Randestheilen zu vernichten, und wenn ber
franzöfiihe Senat die Befeitigung bes Deutfchen aus dem
Unterriät für eine nationale Aufgabe erften Ranges erklärt,
was ift dies anders al® eine offene Kriegserklärnng gegen die
deutfche Nation!
Bei der Geltendmachung des Nationalitätsprincips in
diefem Sinne, im Sinne der Gleichberechtigung jebes
nationalen Geiftes, wiirde — fo muthmaßt Bid —
die beutfche Nation nicht vereinzelt daftehen; ihre ſüd⸗
lichen und nörblihen Nachbarn, in der Eulturentwidelung
den Deutſchen nicht allzu unähnlich, würden ſich dieſen
Beftrebungen um fo bereitwilliger anfchließen, je eher
ihnen gegenüber die deutſche Nation jelbft das Nationa-
Iitätöprincip in gerechter Handhabung zur Anwendung
brächte:
Es würde damit der Grund zu einer Völkerverbrüderung
elegt fein, welche geeignet wäre, eine der geiſtigen Natur de®
enſchen entiprechende Ordnung und mit ihr eine Zeit des
Bolkerfriedens herbeizuführen. Zu biefer Berwirflihung des
Nationalitätsprincipe im Sinne wahrer Freiheit und Bildung
ift aber die beutfche Nation, welche an Zahl keinem andern
Bolfe der weißen Raſſe nachſteht, vorzugsweije berufen, da fie
vor andern jene Gigenfchaften befigt, welche einem Bolfe ein
maßgebendes Borangehen auf geiftigem Gebiet zumeifen.
Gegen dieſe Argumentationen und Schlußfolgerungen
unſers Autors, die an fi logiſch, Mar und verlodend
klingen und vielleicht auch) find, läßt fi vom theoretifchen
Standpunkte aus ſchwerlich viel einmenden; die Sache
gewinnt indefien ein ganz anderes Anfehen, fobalb mir
diefe untadelhaften Theorien vom Standpunkte ber prak⸗
tiſchen Politik auffaffen nnd zur thatſächlichen Verwirk⸗
lichung derſelben ſchreiten wollen. Wir würden dann
90
—
712 Volks zahl und .Spracgebiet der Deutſchen.
Volkszahl und Sprachgebiet der Deutſchen.
Der Deuijſchen Vollezahl und Sprachgebiet in den europäifcen
Staaten. Eine ftatiftifche Unterfuhung von Rihard Bödh.
Berlin, Onttentag. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr.
Diefes Werk, weldes der Erinnerung an Ernſt Morig
Arndt zu deſſen hundertjährigem Geburtstage gewidmet
iſt, gibt einen anf flatiftifchen Ermittelungen beruhenden
Nachweis von ber Größe, der Vollszahl und dem Um-
fange des Sprachgebiets ber deutſchen Nation. Der
Geift, welcher diefe vortreffliche Schrift durchweht, ift
ein ebenfo wiſſenſchaftlicher wie patriotifcher; und wir
Tönnen es nur mit Freüde begrüßen, daß gerade ber
Gegenwart, wo bie entſcheidenden Siege des deutſch-
franzöfifchen Kriegs bie Frage in praktiſche Nahe gerüdt
haben, das Werk eines competenten Statiſtilers vorliegt, der
es unternommen hat, darauf hinzuweiſen, daß man über
dem innern nationalen Ausbau des deutſchen Staats-
weſens nicht die in den Nachbarländern lebenden Stam-
meögenofien vergefien fol. Denn es unterliegt wol fei-
nem Zweifel, daß auch bie fern vom Mutterlanbe Ieben-
den Deutfchen einen vollberehtigten Anſpruch auf bie
Sympathie, reſp. den thatkräftigen Schub des deutſchen
Baterlandes haben, um fo mehr, wenn ihre culturberechtigte
Stellung durch fremde Gewalt und Anmaßung bebroft
ft. Die nationale Verwandtſchaft fchliegt bis zu einem
hohen Grade eine nationale Zugehörigkeit in ſich, die,
wenn fie auch vorwiegend oft nur eine geiftige ift, des ⸗
Halb doch nicht theilnahmlos angefehen ımd wirklichen Ge-
fahren ſchutzlos überfaffen werben darf.
Der erſte Theil des in Rede ſtehenden Buchs ber
behandelt in zwei ſich ergänzenden Vorworten „Das Na ⸗
tionalitätprincip“ und „Die ſtatiſtiſche Ermittelung der
Nationalität”.
Das nun die Anerkennung des Nationalitätsprincips
betrifft, fo liegt darin, nad der Anſicht des Verfaſſers,
der Keim zu einem unermeßlichen Fortſchritt in der Ent-
widelung ber Bölfer. Bei grundfäglid richtiger Aufe
fafjung, meint er, ift die Anerkennung des Nationalitäte-
princip8 durch das gemeinfame Intereſſe aller Völker
geforbert. Keinem Volke ift die ihm eigenthilmliche Gei-
fteögabe zum Zmwed der Unterdrüdung anderer verliehen,
und feinem kann dieſe Unterdrüdung wahren Nugen brin-
gen; in deutlichen Beifpielen zeigt die Geſchichte früherer
und neuerer Zeit, wie von einem herrfchenden Bolfe ge
übte Unterdrüdung ihm felbft wenig frudtet, wie im
Gegentheil der Unterbrüdte, indem er feinerfeits in ben Geift
der unterbrüdenden Nation hinübergeht, dort ändernd und
verberbend eingreifen und fogar zum unerwünfchten und
tyranniſchen Führer der herrſchenden Nationalität werden
Tann. Umgelehrt begreift die Anerkennung des Nationa-
litatsprincips die Anerkennung ber Befonderheit jeder Na«
tion und gemährt damit einer jeden die freie Uebung der
ſchopferiſchen Kraft ihres eigenen Geiftes, mithin die Freie
heit vom Drade fremden Seiner; fie enthält weiter die
Anerkennung der Einheit jeder Nation und verblirgt da ⸗
mit ben Angehörigen berjelben die Gemeinfchaft ihres
Wirkens und Safens, mithin die Vefreiung von unbe
rechtigter Sonberbeftrebung; fie enthält endlich die Aner«
Iennung der Gefammtheit jeder Nation und gewährt ba-
mit jebem einzelnen das Recht, daß diejenige Nationa-
Kität, der er nad) unverfennbarem, in jeiner Natur ſelbſt
begründete Kennzeichen angehört, in ihm geadjtet werde.
Diefe Anfchanungen auf das deutſche Voil anwendend,
fagt der Berfaffer:
Daß es feiner andern Nation wichtiger it als der dent
fen, bie nationale Eineit zu ihrem feRlen Dogma zu erheben,
bedarf in einer Zeit, wo das Wort ber beutihen Einheit den
Unverftändigen nadjgerabe ebenfo geläufig ift wie ben Berflän
digen, feiner weitern Ausführung. ei der Berwirflichung
bedarf es aber für eine Nation, deren Geſchichte bei dem ein»
jelnen Deuaitheilen zahlreiche Sonberintereffen erzeugt hat, und
namentlich bei folchen, die fidh am Leitfeile der fremden Regier
zungen befinden, dem fremden Intereſſe den Schein des eigenen
jegeben hat, ber grumbfäglichen Unterfeidung des nationalen
teinfamen von bem local und Iandicaftlid bereditigten
Befondern, und biefe kann nur gewonnen werben durch richtie
je8 Erkennen des Weſens ber eigenen Nationalität. Haupte
chlich iſt es aber für keine Nation wichtiger als für bie deut-
he, die Gemeinſchaft aller Angehörigen der Nation grundjäg-
fi) zu erfennen und ihre allgemeine Anerkennung zu fordern.
Im eigenften deutfchen Gebiete in eine Anzahl ganz unb Halb
jelbftändiger ſtaatlicher Gemeinfcaften zerfblittert, denen theil-
weife ſelbſt der Name deutſcher Staaten beftritten wird, meiter
mit Bruchſtücken anderer Nationen zu Siaatsganzen verbun -
den, von deren Leitern theilweife dem Dentihen das Recht auf
den Gebraud_feiner angeſtammten Sprache verfagt wird, im
beträgtlihen Theilen fogar unter die Herrihaft eines fremden
Gtammes geftellt, der geradezu bie deutſche Matiomalität zu
vertilgen beftrebt if, und endlich außerhalb ihres angeflammten
Gebiets in weitverzweigten Golonien fiber fremde National»
‚gebiete verfireut — bedarf ber Deutſche am meiften der richti-
gen Aumendung des großen Grundjages, der in unferer Zeit
zur Regelung ber Ordide der Böller geltend gemadt und von
feinen wird: der Anerkennung der Na ·
tionalität jedes einzelnen, alfo ber Zugehörigfeit jedes einzel-
men zum feiner Nation, damit auch demjenigen, welchem bie
äußere Verbindung mit feinem nationalen Lande abgeht, doch
die geiftige Verbindung mit ber großen Gejammtheit gefihert
1 Me welcher ex feiner eigenen Ratur mad) jelbft eim
it if.
AS erfte Grundlage des Begriffs der Nationalität
fieht unfer Autor die Annahme der gemeinſchaftlichen
Abftammung, der Gemeinfchaft der Geburt innerhalb der
einzelnen: Völker an. Während ihm in der Stammes-
glieberung der Menſchen das Nationalitätsprincip ala
begründet und in dem Vorhandenſein der Völkerindivibuen
als verwirklicht erſcheint, erblidt er in ber Volksſprache
das harakteriftifche Kennzeichen der einzelnen Bölfer-
individuen, weil die Sprache das naturgemäße gefell-
ſchaftliche Organ des Menfchen ift. Dede Nation erftredt
id, demnach fo weit, wie die Verftändigung durch eime
Bollsſprache erfolgt. Das Beftehen der Völferindividuen
ift nad) der Anſicht des Verſaſſers unabhängig von dem
Grade der Ausbildung der Sprache, obſchon er nicht
verfennt, daß dieſe Ausbildung zur Sortentwidelung der
Bolker in mittelbarer Beziehung ſteht. Der Uebergang
einzelner Individuen oder Bollsbruchteile von einer Sprache
ur andern ift in der Völfermifchung begründet; er ge-
—* nicht felten der menſchlichen Freiheit gemäß, jedoch
niemals nad; der reinen Willfür des einzelnen. Da-
gegen fleht die gewaltthätige Aufdrängung fremder Bolte-
ſprachen und insbefondere bie Verdrängung ber Bolfs-
ſprache durch bie fogenannte Staatsjprahe mit dem
d
Bollszahl und Sprachgebiet ver Deutſchen. 713
Nationalitätsprincip in einem ſchneidenden Wiberfprud);
„fie ift ein Frevel gegen bie geiftige Ordnung der Völker“.
Der Staatsſprache will Böchh nur den Vorzug, „die erfte
unter gleichen zu fein‘, einräumen. Es gehört zu ber
Aufgabe gefitteter Völker, die Entwidelung der nationalen
Sprade in biefer Sprache und duch diefe Sprache zu
fördern; zur allgemeinen Bermwirflihung biefer Aufgabe
hält es der Autor für nothwendig, daß das Recht der
Nationalität in das gemeinfame Staatenrecht aufgenommen
werde. Die deutſche Nation dürfe ſich nicht die Ehre
nehmen lafien, in diefer Beziehung voranzugehen, ſowol
zu Gunften ber Deutfchen, wie zur Sicherung des Völler-
friedens überhaupt; fie bat, nad Böchh's Meinung, die
weltgefchichtlihe Miſſion, die Verbrüderung derjenigen
Nationen herbeizuführen, melde fi zur Adtung und
Förderung des Nationalitätsprincip® verpflichten. Er
fagt deshalb:
Die Förderung ber Bildung jedes Bollsftammes im feiner
eigenen Sprade und durch bie Ausbildung bderfelben ift alfo
eine Confequenz ber wirklichen Anerfennung bes Grundſatzes
der Nationalität. In diefem Sinne dem Rationalitätsprincip
Geltung zu verihaffen, zu Gunften des eigenen Volle wie
zu Gunften aller Völker, welde unter dem BDrude fremden
Sprachzwanges leiden, und welde die Geltendmachung bes
Nationalitätsprincips von diefem Drude eridfen kann, ift die
mwürbige Aufgabe unferer deutſchen Nation. Es bedarf hierzu
nicht der Außern Herrſchaft durch irgendein befiimmtes Boll;
wohl aber bedarf es der Herrichaft des gemeinfamen Princips,
alſo der allgemeinen grunbfäglichen Anerlennung der vollen
Freiheit jedes Volls, feine Sprache in denjenigen Wohnfttgen
zu üben, denen es angefammt if, oder in welde es eine
Anfiedelungen erfiredt hat. Und folgen Staaten gegenüber,
welche das Nationalitätsprineip nicht anerkennen, mithin bie
höhere Ordnung bes Bollsgeiftes Iengnen, bebarf e8 des wirf-
fihen Scutes derjenigen, welche abweichender Nationalität
find, und udthigenfalle der Ablöfung ihrer Wohnſitze von dem
unterdrüdenden Staate.
Der Berfaffer verfennt nicht, daß es an Verheißungen,
Zuſicherungen und Berträgen, welche bei der Bereinigung
eroberter Xerritorien mit einem Staatsweſen oder bei
freifinnigen und freiwilligen Umgeftaltungen im Innern
eines Staats der abweichenden Nation die Erhaltung ihrer
Nationalität und den Gebrand) ihrer Sprache zuficherten
(wie 3.8. bie Capitulationen, welche die Baltifchen Her-
zogthümer an Rußland brachten), bisher fchon nicht gefehlt
bat; da aber alle ſolche Garantien meiſtens nur bloßer
Schein waren, weil ihre Adtung oder Nichtachtung im
die Willkür desjenigen geftellt war, der fie gegeben hatte,
fo kommt er zu dem Schlufle, daß erft die Aufnahme
folder Garantien in das gegenfeitige Stantenredht, welches
man heutzutage mit dem ungenauen und fehr dehnbaren
Ausdrud des internationalen oder Völlerrechts bezeichnet,
dem Nationalitätöprincip diejenige fefte Grundlage geben
kann, mit welcher die Nationalität von dem geiftigen
Drud der Staatsangehörigfeit gelöft wird. Und wenn,
wie bereitd angedeutet, die Anerkennung der Nationalität,
wie fie die angeftammte Vollsſprache zeigt, die Forderung
ift, in welcher das Nationalitätsprincip feinen vollberech-
figten Ausdrud findet, fo find, wie unfer Autor meint,
die Hauptforderungen, welche die deutſche Nation unter
Umftänden im Namen bes Nationalitätsprincips als ihr
volles Recht mit aller Energie in Anſpruch zu nehmen
bat, etwa folgende: Deutſche Sprache als Gefchäfts- und
1870. 46.
Gerichtsſprache in allen deutfchen Wohnftgen, beutjcher
Gottesdienſt in ben Gemeinden deutfcher Nation, beutfche
Volksſchulen für die Kinder beutfcher eltern und die
Geltung des deutfchen Geiftes an den höhern Bildungs-
anftalten der Deutfchen. Die thatfächliche Durchführung
folder Forderungen würde in Wahrheit die „Zilgung
langer deutſcher Schanden“ fein, vor allem derjenigen,
welche unfer weſtliches Nachbarvolf unter Leitung ferner
Bourbonen, Eonvente und Cüfaren in beharrlicher Unter»
drüdung der deutſchen Nationalität auf unfer Volk ge
bäuft hat, und deren Tilgung für die deutſche Nation
eine ebenfo unverjährbare Pflicht, wie ber Anſpruch auf
Achtung der angeflammten Nationalität ein underjährbares
Recht iſt. Die neueften Ereigniffe verjprechen eine rabicale
Heilung biefer Misſtünde dur die Annerion der deut⸗
ſchen Provinzen Frankreichs; dadurch werben bie folgen-
den Worte des Verfaſſers erſt in vollem Maße zur
Wahrheit werden:
Die Wiedereinfegung der deutſchen Sprade im Elſaß und
Weſtreich in ihr altes Recht ala geltende Landesſprache unb bie
AZurüdfegung der franzöfifhen Sprache in jene Stellung, welde
ihr als gemeinfamer Staatsſprache und als ber Bollsiprache
eines Heinen Xheils der angeftammten und eingewanderten
Bevöllerung zulommt, wäre die unerlaßliche Bedingung, unter
welcher der erflarfende beutjähe Bollsgeift die fortdauernde Ber-
bindung eines wichtigen Theile der Nation mit einem fremden
Neiche ohne Entwürdigung betrachten könnte; fie allein Lünnte,
ohne Beränderung der Staatengrenze, der deutſchen Nation das
rechte Pfand des Friedens und der Kreundfchaft geben. Wenn
nun im Gegentheil die neueften Verhandlungen des franzdfifchen
Senats den Regierungen diejes Staats die Anerkennung ge-
ben, daß fie fein Mittel unverfucht gelaffen haben, die deutiche
Sprade in diefen Landestheilen zu vernichten, und wenn ber
franzöfiihde Senat die Beſeitigung des Deutfhen aus dem
Unterrigt für eine nationale Aufgabe erflen Ranges erklärt,
was ift dies anders als eine offene Kriegserflärung gegen bie
deutfche Nation!
Bei der Geltendmachung des Nationalitätsprincips in
diefem Sinne, im Sinne der Gleichberechtigung jedes
nationalen Geiftes, würde — fo muthmaßt Bödd —
bie deutfche Nation nicht vereinzelt daſtehen; ihre füb-
lichen und nördlichen Nachbarn, in ber Eulturentwidelung
den Deutfchen nicht allzu unähnlich, würden fid) dieſen
Beftrebungen um fo bereitwilliger anfchließen, je cher
ihnen gegenüber die beutfche Nation felbft das Nationa-
Itätsprincip im gerechter Handhabung zur Anwendung
brädhte:
Es würde damit der Grund zu einer Völlerverbrüberung
elegt fein, welche geeignet wäre, eine der geiftigen Natur bes
enfchen entfprehende Ordnung nnd mit ihr eine Zeit bes
Bölterfriedens herbeizuführen. Zu diefer Verwirklichung des
Nationalitätsprincips im Sinne wahrer Freiheit und Bildung
ift aber die deutfche Nation, welche an Zahl keinem andern
Bolle der weißen Raſſe nachfteht, vorzugsweije berufen, da fie
vor andern jene Eigenſchaften befittt, welche einem Volke ein
maßgebendes Vorangehen auf geiftigem Gebiet zuweilen.
Gegen diefe Argumentationen und Schlußfolgerungen
unfers Autors, die an fich logiſch, Mar und verlodend
klingen und vielleicht auch find, läßt ſich vom theoretifchen
Standpunkte ans jchwerlih viel einwenden; die Sache
gewinnt indeflen ein ganz anderes Anfehen, fobald wir
diefe untabelhaften Theorien vom Standpunkte der praf-
tiſchen Politik auffaffen und zur thatfächlichen Verwirk⸗
lichung derſelben fchreiten wollen. Wir witrden dann
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714
fehr bald erfennen, ein wie weiter Raum zwifchen der
Richtigkeit einer Idee und der realen Ausführung der-
felben Liegt, wie viel bei der thatfächlichen Löfung theo-
vetifch Leicht zu entſcheidender Fragen fafl immer von ben
jedesmaligen phyfifchen und moralifchen Machtverhältnifien
abhängt. Wir verwahren uns aber ausdrüdlich dagegen,
daß wir mit diefen Bemerkungen die patristiichen Aus⸗
führungen unfers Autors als vollftändig in der Luft
ſchwebend darftellen wollten; wir wollten vielmehr einzig
und allein nur auf die Schwierigkeit der Verwirklichung
an fich richtiger Ideen aufmerffam machen.
Das zweite Vorwort ftellt ſich zur Aufgabe, die rich-
tige Methode feftzuftellen, durch die das Nationalitäts-
verhältnig eines Volks ſtatiſtiſch ermittelt werden kann.
Da die Volksſprache erwiefenermaßen das alleinige allge
meine Kennzeichen der Rationalität ift, fo folgt daraus
mit Nothwendigkeit, daß eine methodifche Statiftil zur
Kenntniß des jebesmaligen Nationalitätsverhältnifies ihre
Aufnahme grundfäglih und vor allen Dingen auf bie
Bollsiprache zu richten Hat. Kein Theil der thatfächlichen
Bevölkerung darf von der Aufnahme ausgefchloffen fein,
und ebenjo wenig darf fie fi auf die Angabe einzelner
Landesſprachen beſchränken. Die Angabe zweier Sprachen
für einen Einwohner ift unzuläffig. Die Aufnahme hat
fihh der ganzen Mittel der Bolkszählung zu bedienen,
fowol der Auskunft der Familienhäupter, wie der amt-
lichen Organifation. Je weiter aber die ftatiftifche Be⸗
trachtung, aus dem einzelnen auffleigend, ſich der Dar⸗
ftellung des Gefammiverhältnifies nähert, um fo mehr
müfjen die Schattirungen zuridtreten, welche die Wirk
fichleit im einzelnen Yalle uns zeigt. Und wie von ben
gewonnenen Zahlen foldhe, die nur mit Mistrauen und
in Ermangelnng befjerer aufzunehmen find, in den Sum-
men jelbft fi mit den ficherfien Ergebnifien nothwendig
mifchen, jo müſſen auch die nebenſächlichen Gefichtepunfte
fchlieglich Hinter denjenigen zurüdtreten, deren Verfolgung
die der ftatiftifchen Ermittelung zu Grunde liegende Idee
ebietet.
i Die Einheit jeder Nation und ihre Berfchiebenheit
von den Übrigen ftatiftifch zur Anſchauung zu bringen,
ober um mit dem Beſchluſſe des ftatiftiichen Congrefies
zu reden: die Darftellung der einzelnen Bollsftämme nad)
der Zahl ihrer Angehörigen und dem Gebietöumfange
ihrer Wohnfige, das ift es, worin bie ftatiftifche Betrach⸗
tung ihr Ziel erblidt:
Nicht das Vermiſchen unb Verwiſchen iſt es, was bie
Statiftit da im Auge haben darf, wo fie ihre Betrachtung auf
die Allgemeinheit der Thatſachen ausbehnt, jondern vor allem
das Herausfehren desjenigen, was die zn Grunde liegende Idee
als wirflihen Gegenſatz darftellt; denn darin befteht ihre bil⸗
bende Thätigkeit, daß fie die Thatſachen zur Darftellung des
Gedankens benugt und für das Körperlofe in dem Thatſächlichen
fein Gleichniß findet.
Der nun folgende „befchreibende Theil”, welcher eine
Darftellung des deutſchen Sprachgebiets, feiner Grenzen
gegen die Gebiete anderer Nationen, ber dieſſeits und jenfeits
vorhandenen Uebergänge und Spradinjeln und wiederum
der an diefe fich anfchließenden oder für fi beftehenden
gemischten Wohnfige gibt, bietet (S. 47—216) ein un-
gemein reichhaltiges, belehrendes und intereffantes Material.
In elf Kapiteln ſchildert der Berfafler dns deutſche
Volkszahl und Spracgebiet der Deutfchen.
Sprachgebiet unter den Engländern, den Skanbinaviern,
den 2etten und Eften, den Ruſſen, den Polen, den
Wenden und Czechen, den Magyaren, den Rumänen,
den Serben und Slowenen, ben Ytalienern und Rhäte-
romanen und endlich unter ben Franzoſen. Bon ganz
bejonderm Intereſſe dürften gerade in der Gegenwart bie
eingehenden Angaben fein, welche ber Berfafier tiber das
Miſchungsverhältniß der Deutſchen und Czechen gibt,
fowie über das Berhältniß der Deutfchen zu den übrigen
in Oefterreich und Rußland lebenden Bölkerftämmen; wicht
jehr erfreulich find die Hefultate der Unterfuchungen über bas
Beftehen oder vielmehr Verkommen des deutſchen Sprach⸗
elements in den Landestheilen, die früher zu Deutſchland
gehörten, jegt aber unter franzöfifcher Botmäßigfeit fichen.
Ungeachtet mancher nicht ganz umerheblicher Ab⸗
weichungen, welche die ftatiftifhen Zuſammenſtellungen
Böckh's im Bergleih zu ähnlichen Angaben anderer
Statiftiler zeigen, ſteht doch als Hauptergebniß bes in
Rede ſtehenden Werks feft, dag die beutfche Ration ihrer
Zahl nad unter allen Nationen Europas voranfteht, fei
es als die unbedingt zahlreichite Nation, oder ſei es
daß die ruffifche Nation, welche gleich der beutfchen ſich
reichlich ans ſich jelbft vermehrt, wenn auch bei nachthei⸗
ligern Lebensverhältnifien als die deutfche, derjelben an
Volkszahl gleichlommt; freilih nur mit Einrechnung der
Kleinzuffen, welche von mancher Seite als eine befonbere
Nation betrachtet werden. ALS dritte Nation Europas
erfcheint die franzöftfche, unter Zurechnung nit nur der
Wallonen, die ihr nah Abflammung und Sprade zuge-
bören, fondern auch des occitanifchen und catalanifchen
Bolleftammes, welcher vielleicht richtiger als jelbftändige
Nation zu betrachten ift. Ber Abrechnung der Occitaner
würde bie franzöfifche Nation in Anfehung ihrer Bolls-
zahl innerhalb Europas der italienifchen und ber englifchen
ungefähr gleichftehen, mithin nur ungefähr Halb fo ftarf
‚vertreten fein wie die deutfche und die ruſſiſche Nation.
ALS fechste der größern Nationen Europas ericheint bie
ſpaniſche einſchließlich der PBortugiefen (Hier ohne die Ca⸗
talanen gerechnet); als erfte der Meinern Nationen die
polnifche (ein Dreißigftel der Bewohner Europas), dann
die ſtandinaviſche, dakoromaniſche, czechifche, ferbifche,
magyarifche u. f. w.
Daß diefem BZahlenverhältnig gegenüber die deutſche
Nation thätſächlich noch immer eine untergeordnete Stel-
lung unter den Nationen Europas einnimmt, liegt —
wie unfer Autor richtig bemerkt — bei weiten weniger
in der Zerfplitterung ihres Sprachgebiets, als vielmehr
in ihrer politifchen Zerfplitterung. Denn was die ört«
liche Zerftrenung der Deutfchen angeht, fo tft derjenige
Theil der Deutfchen, weldyer über andere Sprachgebiete
zerfireut wohnt, zwar an ſich fehr beträchtlich, aber doch
gering im Vergleich mit der zufammenwohnenden Maſſe
der Deutſchen. Bon der Zahl der Deutfchen, welche mit
Einrechnung der deutfch redenden Juden auf minbeftens
53 Millionen und höchſtens auf 55 Millionen, am rich⸗
tigften wohl auf 54 Millionen innerhalb Europas an-
genommen werden kann, wohnen über 49 Millionen
(genauer 49,110000) im zufammenhängenden dentſchen
Spracdgebiete. Eine ftaatliche Einigung dieſer 49 Mil-
Ikonen Deutſchen würde allerdings die deutſche Nation
Heimifche und frempe Dichtungen.
wol zu der mädhtigften von allen europäifchen Nationen
machen; daher ift e8 begreiflih, wenn namentlich unfere
weftlihen und öftlichen Nachbarn die deutſchen Einheits-
beftrebungen mit Neid und Misgunft verfolgen.
Den Schluß des Werks bildet ein forgfältig gefichteter
„zabellarifcher Theil” (S. 219-308), weldher die Er-
gebnifle der Nationalitäts-Ermittelungen in ben einzelnen
Staaten enthält, und fich ebenfo jehr durch eine lichtvolle
Darftellung, wie durch eine das gründlichfte Quellen⸗
715
ftudiun befundenbe Ausführung empfiehlt. Als befonders
inftructiv heben wir aus dieſem werthvollen Schlußtheile
des Buchs hervor: bie Schägungen für das Herzogthum
Schleswig, die Zählungsanfnahmen und ftatiftifchen Er⸗
mittelungen aus den europäifchen Rändern des ruffifchen
Reihe und den verfchiedenen Gebieten der dfterreichifch-
ungarischen Monardie, fowie endlich die hiftorifche Glie⸗
derung des beutfchen Sprachgebiets in Frankreich.
Rudolf Wochn.
Heimifche und fremde Dichtungen.
Die Ergebuifie der neueften Literarifchen Statiſtik find
uns nnbelannt, aber daß wir Deutfchen noch heute, wo
wir, wie man behauptet, ein politifchee Boll geworden
find, alle andern Bölfer an Bersproduction übertreffen,
das leidet wol feinen Zweifel. Was dafür und dagegen
zu fagen, ift ſchon fo oft in d. Bl. erörtert worden, daß
dem nichts hinzuzufügen fein möchte. Gehen wir aljo
glei an die Befprechung ber vorliegenden Gedichte. Sie
bilden ein fo buntes Gemisch, daß es ſchwer ift, einen
gemeinfamen Geſichtspunkt für fle zu finden und ein Ge
fammtrefultat daraus zu ziehen. Wir können bier nur
einen vereinzelten Beitrag zum fchlieglichen Facit geben
und werden es ohne Vorurtheil thun, zumal und bie
Namen fümmtliher bier zu befprecdender Dichter zum
erften mal entgegentreten. Ein Urtheil über Iyrifche Pro-
ducte ift immer ein mehr oder weniger fubjectiv gefürbtes,
das kann nicht anders fein; doch find wir und einer ge-
wiſſen vielfeitigen Empfünglichleit bewußt und werden,
damit dem Hervorheben des Guten Raum bleibe, dem Ver-
gnügen, das im Berfpotten des Schlechten liegt, zu wider-
ftehen fuchen. Leider können wir uns heute dem ſchönen
Hange zur Anerkennung nur felten ganz hingeben. Bor
allem nicht bei:
1. Der Schönften. Gedichte von Hans Elliffen.
gen, Elifien. 1870. ©®r. 16. 10 Ngr.
Die Schönen finden felbft an monotonen Kobliedern
anf fie Gefchmad, fie können in diefem Punkte viel er⸗
tragen. Unfere Schönfte hört e8 gewiß gern, wenn ihr
gefagt wird:
— Die höchſte Seligfeit
Kannſt du allein nur geben; —
hört fie dann aber weiter:
Wem Liebe nie das Neben bot,
Kennt Leben nicht, lebt nur den Tod —
fo wird ihr doch mol etwas bedenklich dabei, ſchwül aber
wird ihr ficherlih zu Muthe bei:
Die Schwüle wandelt du in Himmelsluft,
Den Trumpf nur zeigen meines Lebens Karten.
Deruhigen muß e8 fie aber, daß der von ihr Begeifterte
fih mitten in feiner Berzüdung oft fehr plan und ver-
ſtündlich ausdrückt, wie 5. B.:
Wenn ich Reichthum gleich entbehre,
Wenn's an Gütern mir gebricht,
An die Bagatelle kehre
Ich mich jett und ewig nicht.
Göttin»
Eigentliche Poeſie haben wir in dem Liedern des ohne
Zweifel noch fehr jungen Dichters nicht gefunden, wol
aber Bier und da Lebendigkeit und Friſche. Zuweilen Mingt
auch ein muſikaliſcher Ton darin. Liebeslieder nnd nur
Liebeslieder find heutigentags nur zu ertragen, wenn In⸗
halt und Form bedeutfam find.
2. Pfaffenkrieg. Gewappnete Lieder von
Züri, Verlagsmagazin. 1870. 8. 16
Aus der Liebe gerathen wir Bier in den Haß; aber
er bat ebenfo wenig wie jene bier einen wirklichen Dichter
erzeugt. An Oefinnungstüchtigleit und Tapferkeit fehlt
es nicht. Kgenter führt feine drei poetifchen Fähnlein
mit ihrer Nachhut Tampfluftig ind Weld gegen Papſt,
Ultramontanismus, Jeſuiten und Pfaffen, er findet Ieg-
tere auch im proteftantifchen Lager und begeht dabei die
denfwilrdigen Verſe (©. 135):
Der Sofua Bismard und Joſua Kuad,
Sie jhoben die Sonne nun gar in Sad,
Und nur ihre eignes Lichtfabrifat
Beleuchtet Heute den Preufenflaat!
Mitunter nehmen diefe in oft unmöglichen Reimen
und Rhythmen fi) bewegenden Strophen einen Anlanf
wenn nicht zur Poeſie, doch zur Rhethorik in Herwegh'⸗
ſchem Stile und fchreiten in ber That gepanzert einher,
z. ©. in „An mein fchlagfertiges Heer” (©. 1):
Ziehe Hin, mein muthig Heer,
Schwing das Schwert und wirf den Speer u. |. w.
Sewöhulich ift e8 aber nur verfificirte Brofa, gereim-
ter Reitartilel eines Parteiblattes. Wir erlennen eine
polemifhe Poeſie an, wir geftatten ihr Derbheiten,
Hyperbeln und Cynismen, wenn fie ſich als etwas Ge-
wolltes, zu künftlerifchen Sweden Berwenbetes darftellen;
doch Bier ift es meiftens ein rohes Schelten und Schim-
pfen im Bierbankton, defien Monotonie nur felten durch
eine ſchwungvollere Strophe, eine fchlagende Wendung
und ein poetifches Bild unterbrochen wird; die Trivialität
finft dabei mitunter zur Gemeinheit herab, fiehe: „Ein
boffuungsvoller Seminarift”, ein Gedicht, deſſen fünfte
Strophe als Beleg zu citiren wir aus Anftandsrüdfich-
ten unterlafien.
Der Berfaffer ift übrigens Tem abftracter Declama-
tor, er greift ins Leben frifch hinein und fest, an Ber-
ſbnlichkeiten und Zeitereigniffe anfnitpfend, alles in Scene,
was nur die Journale von nltramontanen Schandthaten
enthüllen, nur will’8 wicht im ben Ders hinein und geftaltet
fich nicht poetiſch. Kin Pamphlet in Proſa würde ihm bei
90 *
. 3. Egenter.
Gn s
716
feinem Eifer ohne Zweifel viel beffer gelingen und mit
Johannes Scherr an Kraftausdriiden wetteifern. Warum
benn Berfe? weshalb fol denn die arme dentſche Sprade
fir die Sünden ber Jeſuiten und bes Papftes bien,
wie (wir greifen blindlings aus der Fülle von Beifpielen
heraus) fie e8 S. 79 thnt:
Rapoleon ſelbſt, der getreuefle Sohn,
gut ab vom Beiligen Vater,
r wird im Bund mit Italien
Ein grenlicher Attentater.
3. Das Mädchen aus Böhmen. Idylliſches Epos von I. Rein⸗
tens. Trier, Zins. 1870. 8. 12 Nor.
Bom Flirrenden und Mappernden Sambentritt gewapp-
neter Lieder gehen wir zum ruhigen Gleis idyllifcher Hexame⸗
ter über. Ort der Handlung im erften und legten Gefange::
das Ufer des Rheins, im zweiten: Böhmen; Zeit: das Jahr
1866 beim Ausbruch des Kriege zwiſchen Preußen und
Defterreih. Gottfried, der Sohn eines wohlhabenden
Müllers und Ortsvorſtehers zieht als preußifcher blauer
Hufar ind Feld und wird in der Schlacht von Sadowa
durch eine öfterreichifche Kugel am Beine verwundet, fein
Pferd geht mit ihm durch und wirft ihn vor dem letzten
Haufe eines einfamen Dorfs zu Boden. Die Bewohnerin
derfelben, Marianne, die Schweiter eines in ber öfler-
reichifhen Armee in Italien dienenden Arztes, nimmt den
durch Blutverluft Erſchöpften hülfreich auf und pflegt ihn,
es entwidelt fich ein zartes Verhältniß, in bem fi, wir
fehen es voraus, zwei feinblide Stämme wie in ber
„Minna von Barnhelm” verjühnen werben. Indeß bricht
bie Cholera aus, und da Frieden geſchloſſen ift, räth
Marianne dem Gottfried, heimzufehren, und entſchließt
fih, da er nod ihrer Hülfe bebürftig ift, ihm auf der
Eifenbahn bis an den Rhein zu begleiten. Sie wird im
Haufe der dankbaren eltern als Zochter aufgenommen
und ſetzt bie Pflege des Genefenden fort; aber jehend,
daß die Mutter ihn mit einer reichen Nachbarstochter zu
verheirathen wünſcht, entſchließt fie fi mit brechendem
Herzen zur Flucht. Darauf tritt die Kataftrophe ein, es
fommt, wie im Goethe’fchen Idyll, zur Erklärung zwifchen
den Liebenden und Gottfried befiegt den Wiberftand der
eltern. Die ohne große Mühe erfundene Handlung ift,
wie man fteht, fehr einfach, genügt aber zu einem Idyll.
Die Durchführung derjelben madt in ihrer anjpruche-
lofen Natürlichfeit und ruhigen Entfaltung einen wohl⸗
thätigen Eindrud. Die Charalteriftil der handelnden
Perfonen, beſonders die der Aeltern, hätte wol fchärfer,
inbividualiftrender fein können, ein Anſatz ift dazu ge⸗
macht; vom edeln Liebespaare verlangt man dies im
einem Idyll weniger; daflelbe konnte aber bei der Kata⸗
ftrophe ein tieferes Pathos entfalten, die Sitnation war
dazu angethan. Der Hiftorifche Hintergrund gibt, wie
in „Dermann und Dorothea“, das ale Mufter überall
durchblidt, dem Ganzen eine höhere Bebentung: die
Stimmung des Volks beim Ausbruch des Kriegs, ber
furz angedentete Feldzug, die Zuſtunde in Böhmen, das
Leben auf der Mühle find lebendig gemalt und wol zum
Theil eigener Anſchauung entnommen; auch die Natur⸗
bilder find ſtimmungsvoll und ber Haltung bed Ganzen
entfprecyend; ber tdyllifch-epifche Charakter ift überall,
befonder8 auch in Sprade und Handhabung des meift
Heimifhe und fremde Dichtungen.
gut gebanten Hexameters mit feinen nur ſparſam verwen⸗
beten Trochäien, innegehalten.
Die Schlußworte diefes nicht bedeutenden, aber ge-
junden und anfprechenden Gedichts find folgende, fie
bezeichnen Geift und Sinn bes Ganzen:
Amen, fagte der Greis, nud du halt ewig in Ehren,
Gottfried, ewig das Mädchen, das Leben und Liebe bir ſchenkte,
Denke mit Dank an die Tage des Leine, das jüngſt in bem
du
Duldeteſt, wahrlich, es blühte dir Freude daraus für die
Zukunft!
Sieh, wenn die Saat einſt wächſt, bie fern anf böhmifchen
eldern
Preußens fchlachtengewaltiges Bolt nun fäte, wenn weithin
Deutfhlands mächtige Stämm’ ineinander die Kronen ver-
ſchlingen,
Stolz alsdann ſich ihr Wipfel erhebt hoch über die Erbe,
Ueber die Throne der Welt, mit Frieden Europa beſchattend,
Sieh, dann darfſt du mit Stolz zu der Gattin bliden und
IH au fand an dem Werk, vang ee die herrlichſten
Ööter
Dentſchlande mit und gewann zugleich mir jelber das Bee,
Wie es dem liebenden Mann auf Erben das liebende Weib if,
4. Georginen. Poetifhe Proben, erfonnen und gelungen am
n und am Pruth von 9. G. Obriſt. Gernowitz,
Buchowiecki n. Comp. 1870
Weshalb diefe erfonnenen und gefungenen Proben
Seorginen heißen, ift nicht erfichtlich. Sagte der Ber-
faffer e8 nicht in der Dedication, man fähe es bald, daß
es Erftlinge, alfo keine Herbft-, jondern Frühlingsblumen
find. Der Inhalt ift fo unbedeutend wie bei Elliſſen,
aber es zeigt fih mehr Formtalent und Geſchmack, ber
Liederton ift meiſtens getroffen, Rhythmus und Keim
correct und rein, aber man hat nur felten den Eindend,
baß die Lieder mit innerer Nothwendigkeit dem Gemüth
entfprungen find; es ift ala habe der Verfafſer fi in
allerlei lyriſchen Weifen verfuchen wollen; daß ihm das
ohne bedeutfamen Inhalt gelingt, erjcheint uns für feine
poetifche Zukunft bedenklich, weniger Form und mehr
Gehalt verjprähe mehr. Wir hatten nad dem Titel
gehofft, auf etwas Nationales und Eigenthümliches vom
Ufer des Pruth und des Inn zu ftoßen, fanden uns
aber getäufcht, die Lieder hätten au am Rhein und au
ber Weſer gedichte fein können, fie zeigen weder nationale,
noch perfönliche Individualität. Indeß ift, wie der Um⸗
flag befagt, der Reinertrag für fleißig Studirende einer
Realfchule beftimmt; möge er dafür erſprießlich fein uud
damit dem Büchlein eine raison d’&tre geben; jeden-
falls iſt das Intereffantefte daran, daß es ans der
Bulowina kommt.
5. Gedichte von Franz Othen. Wiesbaden, Limbarth. 1870.
Gr. 16. 1 Zhlr. 20 Ngr.
Dies find Feine vom jugendlichen Beröffentlichungs-
drang zu früh zufammengerafften loſen Blätter, bier Liegt
ein Stüd Leben vor, hier ift etwas Gereiftes, mit Sorg⸗
falt Gefeiltes und Zufammengeftelltes. Ein edles männ-
liches Streben, ein tieffittlichee Wollen, eine ſelbſtgewiſſe
Perfönlichkeit tritt uns hier entgegen; body verrathen die
meiften der Gedichte, die in formaler Hinficht tadellos
find, mehr den Denker als den Dichter. Reflexion,
Lebens⸗ und Selbſtbeobachtung find überwiegend, umb
Heimifhe und fremde Dichtungen. 7117
nur felten gelingt e8 dem Berfafier, wie oft er auch ben
Anfag dazu nimmt, dns Gedachte plaftiich zu geftalten,
das Empfundene mufilalifch austönen zu laflen, ex bleibt
dabei meift auf halbem Wege ſtehen. Das Bild und bie
Situation, womit er beginnt, werben nicht concret und
verlieren ſich in die Breite der Reflexion; abftracte, nicht
immer klar ansgebrüdte Gedanken und unverfländliche
Anfpielungen greifen ftörend hinein und wirken ermüdend.
Den Liedern fehlt das Knappe, Skizzenhafte und Volls⸗
thümliche, fie klingen felten vein und melodifch aus, jelbft
das, welches er ausbrüdlih „Lied“ überfchreibt, ift fein
ſolches. Indeß gelingt ihm doch hier und da ein glüd«-
licher Wurf, 3.2. in:
Einer Gefallenen.
Des Bades Wellen gleiten
Dahin durch Wiefengrün
Und fehn im Glanz der Sonne
Die Heinen Blumen blühn.
Und eine Bfume ftehet
Am Ufer zart und ſchön
Und neiget fill die Krone
Und lauſchet dem Getön.
Die grlinen Stengel küffen
Die Wellen blendenb rein,
Dann fingen fie die Blumen
In fühes Träumen ein.
Und belle Tropfen fpringen
Empor im kecken Tanz
Und hängen an der Krone
In wunderlichtem Glanz.
Sie ſinkt und taucht herunter
Ihr Helles Angefiht —
Da raufchen wild die Wafler,
Der zarte Stengel bricht,
Sie treibet rafch von dannen,
Und fern am dürren Strand
Da werfen fie die Wogen
Berrifien an bas Land.
Noch immer fpielen Wellen
Am Ufer hin nnd ber,
Dih, arme Meine Blume,
Did) grüßet keine mehr.
Bon tiefem Ernfte zengen die Zwiegeſpräche, bie er
mit fi Hält; aber Gegenftand und Beranlaflung treten
nicht Mar heraus, man müht fich dabei umfonft mit Ent-
räthfelung bes Halbverhüllten ab. Aehnlich iſt es bei
feinen Bliden in die ihn umgebende Welt in drei Ab-
fhnitten: „Aus dem Leben”, „Wanderungen“ und „Ber-
mifchte Gedichte‘, die jedoch manches Bemerkenswerthe ent»
balten, 3. B. „Moberner Götzendienſt“, „Aprös nous le
deluge”, „Zeichen ber Zeit‘, „Ein welles Blatt”, „Ruhe“,
„Der Dergwald”. Bezeichnend für des Verfaſſers tüch⸗
tige Perfönlichkeit ift das kräftige, die Strophe mit einem
bolltönenden Refrain abfchliegende Gedicht „Stolz“:
Wie hoch des Lebens Flut and fchmwillt,
Doc höher Hebe bu dein Haupt,
Erheb’ es ſtolz, ein Bötterbild,
Dem nichts die freie Würde ranbt.
Berſchwindet in dem Strom ein Gut,
Das fi dein Herz zur Luft erlor,
Laß fahren! es verſchlingt die Flut
Nur den, ber bang ſich ſelbſt verlor.
Ya ähnlichem Geifte find „Verloren“, „Traum und
That”, „Bannfpruch” und mande ber wohlgeformten
Sonette gedichtet.
Eine fiegesgewiffe Stimmung fpricht aus „Der Lebens⸗
baum“, von dem bier Anfang und Schluß fliehen möge;
es ift Poefle darin:
Mein Geift erblidt in nädhtlihem Traum
Mit prangenben Blüten den Lebensbaum,
Aus den Wipfeln erfchallt der Bögel Gefang,
Dod am Srunde hallt e8 dumpf und bang:
Bir nagen! Wir nagen!
Doch wähft der Baum und firebet fühn,
Die Frucht will reifen, die Knoepe blühn,
So zeuget er ihn von des Lebens Gewalt
Und fpottet des Rufs, der unten erfhallt:
Wir nagen! Wir wagen!
. Die dem Fortfchritt, der Humanität und Aufklärung
zugeneigte Gefinnung bes Dichters zeigt fich in der „Ge⸗
benftafel beim Jubiläum eines Volksſchullehrers“, nur ift
die Tafel zu lang und zu breit.
Conciſer fpricht fich feine Auffaffung der jeßigen poe⸗
tifhen Richtungen aus, 3. B. in „Auf ein Liederbuch“
und in „Deine und feine Nachfolger”, das als charakteriſtiſch
mitgetheilt zu werden verdient:
Man liebt es, Ted zu fpielen
Mit Liebesinft und Leid,
Seit Hingende Zügen geflelen
Der bochgebildeten Zeit.
Seitdem lat man in Thräuen,
Dann wird das Spiel pilant,
Die feinen Leute gähnen
Sonft zu dem Liedertand.
Doch wen Natur zum Didier,
ra heiligen Dienft geweiht,
at einen höhern Richter
ALS diefen Geiſt der Zeit.
Ihm if ans Herzenstiefen
Das Wort nit Spiel und Tand
In fpottenden Hieroglyphen,
Die jedem Buben belannt.
&r wird nit in ernfle Mienen
Berzerren fie zum Scherz,
Der Wahrheit wird er dienen,
Denn heilig iſt der Schmerz.
Den wenigen epifch-Iyrifchen Gedichten fehlt der Inappe,
volksthümliche Balladenton, fie find viel zu breit, es ift
fhade darum, denn die Imtentionen find geiſtreich.
Am bedeutendften ift jedenfalls der Teste Abſchnitt:
„Sprüde und Sinngebichte”, mit dem Motto:
Ein Spruch ift feine leichte Waare,
Die man gewinnt in Epiel und Scherz,
Ihn muß die Noth oft vieler Jahre
As Frucht erſt reifen für base Herz.
Die Dibaktil ſcheint Othen's eigentliches Feld zu fein;
bier ſchadet's nicht, daß der Denker ben Dichter überragt,
und bier tritt uns, freilich neben einigem Gewöhnlichen,
viel Tiefgebachtes und Feinbeobachtetes in wohlgeformten
Deren entgegen, deuen es jedoch zuweilen an guomifcher
Concentration und Kürze, an der epigrammatifchen
Spite fehlt.
Wir zweifeln, daß biefe über 300 Seiten ftarfe
Gedihtfammlung, die vortrefflich gedrudt und glänzend
ausgeftattet ift, fich ein großes Publitum erwerben werde,
118 Heimifhe und fremde Dichtungen,
Dan & ift fie nicht angetban, ben umſchwärmten Putztiſch
wird fie nicht zieren; aber wir fühlten und gebrungen,
der Achtung, die fie uns troß ihrer poetifhen Mängel
einflößt, Hier einen Ausdrud zu leihen.
6. Die Rofe des Libanon. Epiſche Idylle in drei Gejängen
von Ferdinand Hollandt. Braunfhweig, Sievers u.
Comp. 1870. 16. 1 Thlr.
Marie, die Schwefter des Lazarus, „ein Mädchen
ſchön wie aus dem Tabellande‘ geht in ben Walb
und bleibt entzückt flehen, benn während ihr „Haar
im milden Abendwinde fpielt und den Schwanenbufen
in Naht hüllt“, flieht fie unter „jenen Bäumen ben
Götterjüngling träumen”. Diefer Oötterjlingling, ber auch
der fchöne Schläfer, der Götterſchwan genannt wird, ift
Jeſus. Vorläufig gleicht ec aber dem Endymion, wie
diefe Strophe befagt:
Und Hold zu Shaun! voll Sehnfucht und voll Zagen,
Halb Üherrafcht, halb lächelnd fteht fie da,
So lächelt?’ einf im jenen goldnen Tagen
Boll ſüßen Wehs die keuſche Cynthia,
Aus fie herab vom folgen Drachenwagen
Auf Bium’ger H55’ den ſchönen Schläfer ſah.
Ein keifer Schmerz fpielt fanft in ihren Zügen,
In Träumen ſcheint fi) Herz unb Haupt zum wiegen.
In den folgenden Strophen wird ber Beginn des
zarten Berhältniffes, zu defien Ausmalung wenige ein⸗
fache Vibelftellen dem fchönfeligen Dichter Veranlaffung
gaben, gefchildert; wir citiren fie, damit man ums nicht
ber Berleumdung zeihe, wenn wir dieſe epifche Idylle,
die zu analyfiren ung der Kaum fehlt, fir eine Geſchmacks⸗
verirrung erklären:
Und als fle jett mit jungfräulihen Zegen
Sich unſchuldsvoll in holder Aumuth neigt,
Als wolle fie deu Schönen Schläfer fragen:
Iſt's auch kein Traum, der meine Sinne täufcht?
(Reimt mit: neigt.)
Da mahnt den Herrn, die Augen aufznfäjlagen,
Ein leifes Web, das aus dem Herzen fleigt,
Und Traum und Schuierz und alle Bilder fliehen
Um fchöner jetzt im Leben aufzubfühen.
Ha, wie jetzt in den engelgleihen Zügen
Der Jungfrau Lieb’ In holde Scham zerrinnt,
Wie Schwänen glei des Buſens Wellen fliegen
Und man den Schlag bes Herzens fafl vernimmt,
Wie ſtrahlend jegt, um alles zu beflegen,
An ihrem Blick die helle Seele ſchwimmt,
D holde Scham, o reizendes Verbrechen,
Wenn Wang’ und Blick des Herzens Sprache ſprechen.
Wir müſſen die Liebhaber einer ſolchen Vermiſchung
bes Heiligen mit dem Profanen, des Sinnlichen mit dem
Geiſtigen auf das ſchön gefchmüdte Büchlein jelber ver-
weiſen; auf uns bat die verſchwommene, fublimixte, ſüß⸗
lich fromme Empfindſamkeit, die ſich im fchönklingender
Sprache ohne Keru und Kraft gefällt, einen wiberwärtigen
Eindrud gemacht. Die Berfe find übrigens glatt und,
mit einigen Ausnahmen, nicht übel gebaut, fie erinnern
an Lie Stangen von Ernſt Schulze in „Cäcilie“ umb „Die
— Roſe“, üben aber eine uarkotifche Wirkung ans
unb Iullen den Lefer in einen gefühlefeligen Dufel ein.
7. Das Gohelich, ein dramatiſches Gedicht, Metwifch bearbeitet
von Heinrih Stadelmann. Mit einem Titekbilde von
Zulius Schnorr. Eichſtädt, Krüll. 1870. 16. 10 Ngr.
Dies einer ühnlichen Richtung entſprungene ra
ſchön geſchmückte Büchlein erweckt aus gleiche
denlen.
Inwiefern eine Dramatifirung bes Hohenliedes wtögisd
uud flatthaft ift, und inwiefern, dies zugegeben, die Ein⸗
theilung in Acte («8 find deren fogar fee), die Orte
beftimmung der einzelnen Ecenen und bie Rollenveriheilung
paſſend und die übrigens wohlgereimte Paraphrefirung
des Urtertes entſprechend ift, mögen die Thenlogen beur-
teilen. Bir, denen ber Luther'ſche Text genligt, Tönen
ſolchen Berfchönerungen und Mobdernifirungen feinen Ge⸗
ſchmack abgewinnen. Wenn ber Berfafler in feiner Wid⸗
mung an ben befannten Dichter Gerok fragt:
Doch wer mit frommen Sinnen
Dies Lied der Liebe lief,
Ob nicht ein höhres Minnen
Sid feinem Geift erſchließt? —
fo fcheint uns eher das Gegentheil davon wahrſcheinlich,
denn bei biefer opernhaften Imfcenirung kommt erſt recht
bie weltliche Erotik des Ganzen zu Tage.
8 Sämmtliche Idyllen des Luis be Camoens. Zum erflen
male dentfh von & Schlüter nd W. Stord. Mänfer,
Auffel. 1869. Gr. 16. 1 The. 10 Nur.
Der größte und auch wol nur einzige große Dichter
der Portugiefen ift uns in der bebentendften feiner Schö-
pfungen, in den „Luflaben” jchon feit länger durch die vor⸗
treffliche Donner’fche UWeberfegung zugänglich gemacht
worden. Ebenſo gab uns Arendtſchild durch finngetreue
und formgemwandte Mebertragung feiner Sonette (Leip⸗
jig 1852), ein Mittel an die Hand, des vom Schid-
fal hart verfolgten Mannes fo vreichbewegtes inneres
und Auferes Leben, wie es fich treu in ihnen fpiegelt,
fennen zu lernen. Ihm ſchloß fi in edit poetijcher
Wiedergabe einzelner Sonette und Canzonen der verftorbene
Ruperti an.
Einer Ueberfegung der Idyllen begegnen wir bier
zum erften male. Der Fleiß, bie Gründlichleit und
Sorgfalt, mit der die Bearbeiter ihre Aufgabe gelöft ha⸗
ben, find um fo mehr anzuerkennen, als fie fi) von
vornherein fagen mußten, daß fie nur ein Meines Publikum
vereinzelter Liebhaber finden würben. Die Hirtenpoefie
bat für uns etwas Zopfiges, BVeraltetes; die Canzonen
und vor allem die Elegien, von denen der Anhang zwei
bringt, gewähren ſchon mehr Intereffe. Für die vorantike
Schäferwelt, in der ſich böfifche Bildung und Tändliche
Einfachheit vergebens zu verfchmelzen fuchen, für biefe
kunſwoll gelehrte, fich in Antitheſen, Concettis, mythologi⸗
ſchen Andeutungen und räthſelhaften zeitgeſchichtlichen und
perſönlichen —— ergehende Behandlungsweiſe, Die
mit der Ratur des Stoffs in einen unlösbaren Gegenſatz
teitt, Haben wir lein Organ. Diefe Eflogen und Idyllen
gehören der Riteraturgefchichte an. Gern aber wollen wir
bezengen, daß bie beiden verbiimbeten Berfaffer ſowol in
den überaus gelehrten Eommentaren ald and) in ber
Uebertragung Berdienftliches geleiftet haben, fie Haben mut
einem Eifer und einer Singebung, der wir ein erfprieß-
licheres Object gewünfcht hätten, große Schwierigkeiten zu
überwinden gejucht, und meiftens tft e8 ihnen gelungen,
der widerfpenftigen Terzinen, Ottaven und der Ganzonen-
form mit ihrer bunten Reimverfchlingung Herr zu werben,
freilich) mit ihnen wohl zu geftattender Anwendung bes
männlidden Reims. Wer da weiß, was es heißt, im
reim Ȋrmern deutfchen Idiom dem Wohllaut des fonoren
Feuilleton. 719
romanifhen nahlommen zu müllen, wirb ihnen gern
einige Härten nnd verjchränfte Wortftellungen nachſehen
und es mit der abfoluten Reinheit des Reims nicht fo
genau nehmen.
9. Einige lyriſche Gedichte. Polniſchen Meiftern nachgeſungen
von Leo Ary Zuker. Leipzig, Kittler. 1869. 16. 20 Ngr.
Hier iſt nicht über Intereſſeloſigkeit des Stoffs zu
Hagen, bier iſt kein Misgriff in der Wahl deſſelben ge⸗
heben, denn in die neuere poetifche Literatur Polens
laſſen wir uns geru einführen, es fehlt ihr nit an
Actualität.
Wir bedauern aber, daß es in fo unvollftändiger
Weiſe durch „einige lyriſche Gedichte” geichieht. Der Bei⸗
trag ift für die Erkenntniß doch zu gering und vor allem
zu unſyſtematiſch und einfeitig. Einige phantaftifche, ernfte
und humoriftifche Erzählungen des bei und ſchon einge
bürgerten Mickiewicz, feines Nachfolger im Romantifchen,
Syrotomla, und politische Lieder Kornels Ujersli, aus
benen der Schmerz Über den Untergang bes Landes nnd
die Klage ber feine gefallene Größe in erjchütternden
Weiſen klingt, machen ben Hauptinhalt des Gebotenen
aus. Wir gewinnen bei diefer Anthologie, anf welche die
Arbeit doch angelegt ift, wie gefagt, nur vereinzelte Blicke
in das reiche Feld der neuern polnifchen Poefle, und,
was fchlimmer ift, wir willen gar nicht einmal, inwie-
weit wir polnifche Gedichte vor un® haben, denu ber
Berfaffer macht im Vorwort folgendes wunderbare Ge-
fländniß: „Eine Bergleihung des Gebotenen mit dem
UÜrbilde wird zeigen, daß manches bei mir ganz anders,
zuweilen felbft in einem völlig veränderten Lichte erfcheint,
und auch auf mandjes Urſprüngliche und Eigenthümliche
wird der geneigte Leer ſtoßen.“ Bei einer jo verftande-
nen Ueberſetzungskunſt verliert die Kritit den Kompaß, ift
ihre Fahrt zu Ende, fie kann nur noch conflatiren, daß
bie ſprachlich⸗metriſche Behandlung eine gewifie Gewandt-
heit verräth, daß neben gehobenen poetifchen Wendungen
auch fehr triviale vorfommen, daß der fpringende, meift
daktylifche Rhythmus trog feiner Lebendigkeit bald monoton
wird und mitunter aufhört rhythmiſch zu fein, und
ſchließlich, daß der Verfaſſer es mit ſprachlicher Correct⸗
heit und Reinheit des Reims nicht ſehr genau nimmt.
Wir begegnen Formen, wie „entzunden“, „blank und blink“,
hören „Wellen geheimnißvoll ſauſen“, leſen daſelbſt auch:
„Unterwerfung bleibt die dann offen“, und ſtoßen überall
auf Reime wie „büßen — miſſen“, „Iöſt — bläft“ u. |. w.
Das Nachjfingen, mit dem ber Berfafler fein Ver⸗
fahren entjhuldigt, if, wie man fieht, nicht immer
melodifh.
Adolf Laun.
Senilleton.
Englifhe Urteile über neue Erfheinungeu der
deutfhen Literatur.
Das „‚Athenseum‘ Kat in leiter Zeit der deutfchen Lite»
ratur ganz befondere Aufmerkſamkeit gewidmet. Außer meh.
rern kürzern Beurtheilungen Lönnen wir heute drei eingehende
Beiprehungen: bes „Boltaire' von D. F. Strauß, der
„Studien und SKritilen zur Philofophie und Aefthetit” von
Robert Zimmermann, und der „Bilder aus dem geifigen
Leben unferer Zeit" von Julian Schmidt verzeichnen. Aus
letzterer ſei Hier eine Stelle mitgetheilt: „Wir bemerken bier
diefelbe Schärfe ber Analyfe, biehefke ausgebreitete Beleſenheit,
diefefbe Genauigkeit der Kritil, wie in feinen frühern Werfen;
wie Hr. 3. Schmidt jeboch ſelbſt in feinem Vorworte bemerft,
fiehen einige dieſer Eigenſchaften richtiger dem Hiſtoriker als
den Efjayiften zu, und es if fraglich, wie weit die Grenzlinie
in der uns vorliegenden Schrift eingehalten worden if. Das
von dem Berfaffer im allgemeinen beobadıtete Verfahren ift
eins, welches umfaflende Anfichten faft unmöglich mad...
Statt die Haupteigenfchaften jedes Autors zu gruppiren, nimmt
er alle Hauptwerke berfelben der Reihe nach durch und unter-
wirft fie einer ins einzelne gehenden Analyfe. Dabei entfallen
ihm allerdings manche Bemerkungen von weiterreichender Be⸗
dentung und zieht er Häufige Beleuchtungen aus den Werten
anderer Schriftfteller mit herein, um feine Anfichten durch den
Bergleich zu unterflligen. Doch wenn alles dieſes geichehen if,
haben wir zwar eine Reihe Abhandlungen über die einzeluen
Werke jedes Autors, nicht aber eine allgemeine Charakteriſtik
des Autors ſelbſt. Wir Lönnen jebem Werlke feine richtige
Stellung im Berzeichniß anweiſen und deſſen relative Beden-
tung abjhägen; ja, wir können fogar-nocdh weiter gehen, und
das beſte Werk eines Autors mit dem beflen eines andern oder
mehrere Werke des einen mit mehrern eines andern vergleichen.
Do werden wir höchſtens die einzelnen Werte geprüft, nicht
aber einen Maßſtab für die Geſammtſchöpfungen erlangt haben.
Dies ift der Hauptfehler der Schmibt’fchen Methode, und wir
mäffen befennen, daß fie ih in allen feinen Abhandlungen
—
ſichtbar macht. Sie Tann indefien von noch einem aubern
Geſichtspunkte betrachtet werben, und man mird dann finden,
daß fie große Weitfchweifigkeit zur Zolge hat. Wenn alle Haupt
werfe folder bändereihen Schriftfieller, wie Sir Walter Scott
und Lord Lutton, einzeln befproden und die Berwi
und Charaktere eines Romans nad; dem andern dem Leſer
förmlich vorgeführt werden, ſcheint Teine Ausfiht vorhanden
zu fein, daß der Efjay zu Ende kommen könne Wir werden
an eine im einer Kirche gemachte Bemerkung erinnert, ale ein
fremder Geiſtlicher den Gottesdienft mit einer Paufe zwiſchen
jedem Worte zu leſen anfing, und einer fi zu feinem Nachbar
mit den Worten wendete: «Wir bleiben bier bis zum Jüngſten
age. »"'
Die „Saturday Review” jagt Über „Walpurgis‘' von
Buftav zu Butlig: „Der geheimnißvolle Armenier, wel»
der übernatlirlide Bündnifſe fließt und bie übrigen Per-
fonen der Geſchichte nad Belieben in Bewegung ſetzt, iſt zwar
nichts weiter als ein altes Stud Maſchinerie, das aus ber
Rumpellammer, der e8 längft überwiefen war, wieder hervor⸗
ebolt worden if. Deſſenungeachtet ift es eine willfonmene
wedfelung nad) der Geſchmackloſigkeit bloßer Photographie
ans dem comventiomellen Leben, und ber elegante Stil Pullitz',
ſowie der Häufig leidenſchaftliche Ton feines Dialogs würden
fhon allein hinreichen, fein Wert vor der Maffe gleichzeitiger
Dichtungen vortbeilhaft anszuzeichnen.“
Bibliographie.
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am —2R —E —* Anb am ——— A ven Sal:
ten 1849— 1868. iſter Bd. Benezuela. Iena, Koftenodle Gr. 8. 5 Thin.
f eder, B., National » Blionomifhe Raketen. Schleiz, Hübſcher. 8.
%
Liebe. Aus ben teren eines dlings. ansgegeben
und a aem Bsemor ih ” von M. Ar e uns 3te ge Selena,
“ [2 6“ t 75
Ifart5, 9. 9. T. D Uige Krieg bes Jahres 1870, Ein
Wort 4 I Bose 5 — on Rechen t und beffen et hnne um
9* wie deren Angehörigen daheim inbbeſondere. Berlin, Groſſer. 16.
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- Anzeigen.
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Commissionsverlag von F. A. BROCKHAUS in Leirzie,
M. RENAN .
et
ARTHUR SCHOPENHAUER.
Essai de critique
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Alexandre de Balche,
- 8. Geh. 15 Ngr.
Diese Schrift gewinnt durch die darin geführte Be-
kämpfung der politisch-philosophischen Anschauungen Re-
nan’s vermittela der Lehren des deutschen Philosophen
Schopenhauer für die augenblickliche politische Lage Frank-
reichs ein besonderes Interesse.
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Faraday und seine Entdeckungen.
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Bon Johann Peter Ihermann.
Dritte Auflage.
Drei Theile. 8. Geh. 3 Thlr. Geb. 4 Thir.
Edermann’s Geſpruche mit Goethe‘ bilden, belauntlich
ein unentbehrlihes Supplement zu Goethes Wer-
ten; mr bier findet fi über vieles, was in feinen Schriften
und feinem Leben bes Nachweiſes bedarf, bie richtige Erfärung
aus bes Dichters eigenem Munde. Das Werk hat daher flets
den Goethe · Forſchern als quellenmäßige Autorität gegolten und
iſt auch in faft alle europäifhe Sprachen (jelbft ine Türkifhe)
Überfegt worden. Doc; beeinträditigte bisher teils der ‚hohe
Breis (6 Thle.), teils der Umfland, daß der dritte Theil in
anderm Verlag als ber erfle und zweite erfchienen war, bie
allgemeine Verbreitung des Werks im größern Publikum. Nadj-
dem e8 mum gelungen, alle drei Theile im einem Verlag In
vereinigen, wurde borliegende vollfändige nnd um die
Hälfte wohlfeilere dritte Auflage bergeftelt, bie kein
Befitger von Goethe'a Werten fich anzuſchaffen verfäumen follte.
Einzelne Theile dieſer dritten Auflage werden nicht ab»
jegeben. Bon der erften Auflage aber iſt nod eine Anzahl
are des dritten Theil vorhanden, welche den Be⸗
der erfien beiben Theile einzeln zum ermäßigten
ai von 1 Thlr. (fatt 2 Thlr.) geliefert werben.
h
Dertag von 5. A. Brodfans in Leipzig.
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Franzosen.
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Troisieme cours. 10° ödition. 8 Ngr.
Traduction des thömes frangais. Premier et second
cours. 7° dition. 5 Ngr.
Ahn, F. Grammaire allemande théorique et
3°’ sdition. 8. Geh. 9 Ngr.
Ah, F. L’Allemagne postigne ou choix des meilleures podsies
allemandes des denx derniers siteles. Classes par
ordre chronologique et pröcddees d'un apergu historique
de la podsie allemande depuis Haller jusqu’a nos jours.
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. B Ngr.
Belloe, L. de. De la formation des mots en allemand.
ıplöment indispensable de toute Grammaire allemande.
Geh. 8. 16 Ngr.
Lutgen, B. Dislogues frangais et allemands, accompagnis
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Sesselmann, B. Premier livre de lecture, d’ecriture et d'in-
struction allemande & usage de la maison et des &coles.
2° edition. 8. Geh. 6 Ngr.
Sesselmann, B. Second livre de leeture, de version et d’in-
struction allemande & l’usage des familles et des &coles
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chen Auflagen erschienen, sind durch alle Buchhandlun-
gen des In- und Auslandes zu beziehen,
Berantwortliger Redacteur: Dr. Eduard Brodhans. — Drud und Verlag von 5. A, Brochhaus in Leipzig.
Blätter
für
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottfdall.
Erfcheint wöchentlich.
Inhalt: Reifeliteratur, — Kleine Schriften zur altbeutfchen Literatur.
—e Ar. 46, Pi
10. November 1870,
Bon Reinhold Bechſtein. — Eine neue Dichtung von
Adolf Böttger. Bon Rudolf Gottſchal. — Zur Dämouologie. Bon Morig Carriere. — Senilleton. (Notizen) — Anzeigen.
Reifeliteratur.
Durh die Vollendung des curopäifchen Eifenbahn-
netzes — wenigſtens in Beziehung auf die Hauptlinien —
ift e8 möglich geworden, vom Herzen Deutfchlands aus
jede Hauptftadt unfers Welttheils, mit einziger Ausnahme
vielleicht von Ronftantinopel und Liffabon, binnen höchftens
drei Erdrotationen zum erreichen. Nicht mehr blos Paris,
London, Kopenhagen, Bern und Zürich, auch Edinburgh
und Stodholm, Petersburg, Mosfau, Neapel und Madrid
liegen innerhalb des Bereichs einer Ferienreiſe. Die treff-
lihe Einrihtung ber Rundreifebillets, welche ohne Zweifel
bald noch eine größere Ausdehnung erfahren wird, ver-
mehrt durch ihre Billigkeit und zumal durch die große
Bequemlichkeit, die fie bietet, bie DVerlodungen für bie
reifeluflige Welt um ein Bedeutendes. Es wird bald
auch in Deutfchland zu den Seltenheiten gehören, daß
ein gebildeter Mann nicht mwenigftens Paris, London und
Italien gejehen bat. Daß diefe Erleichterung des Rei⸗
jens auch auf die Keifeliteratur einen bedeutenden Einfluß
üben muß, Tiegt auf der Hand. Die nädjfte Folge in
biefer Beziehung ift eine von Jahr zu Jahr zunehmende
Ueberſchwemmung des Markts mit Tonriftenfchriften. Es
ift eine gar zu angenehme Beichäftigung, wieder in feinen
vier Pfählen angelangt, die „Reiſeeindrücke“ und „Reiſe⸗
bilder” noch einmal an fich vorüberziehen zu laſſen, um
diefe Bilder dann in möglichft elegante Rahmen gefaßt
dem Publitum vorzulegen. Dagegen ift nichts zu machen,
und der Kritiler mag ihnen in Gottes Namen ein „laissez
passer“ mitgeben, ſodaß fie ſich als unſchädliche Unter-
baltungsleftüre Iegitimiren können, wenn fie chen nichts
Weiteres beanfpruchen als die fubjectiven Eindrücke des
Geſchauten und Erlebten wiederzugeben. Auch an einem
belehrenden Elemente in mehr oder minder wichtigen Bei-
trägen zur Kenntniß der ſiets wechjelnden focialen, kirch⸗
lichen und politifchen Zuftäinde der europäifchen Bölfer
wird e8 den beſſern und bedentendern von ihnen nicht
fehlen. Was uns dagegen billigermweife erfpart werben
1870, «6.
follte, find langathmige Befchreibungen hundertmal ge-
ſchilderter Gegenftände, fei e8 in Form trodener ftatifti-
ſcher Aufzählung ihrer Eigenschaften und Merkmale, oder
in enthuflaftifcher Schönmalerei. Wir verfennen dabei
nicht, daß es aud) in Europa noch manche bisher ım-
beachtete Gegenden gibt, welche auch derartige Reiſeſchrif⸗
ten rechtfertigen, ja nothwendig machen. Selbſt in um-
ferm deutſchen Vaterlande find in diefer Beziehung noch
bier und da Entdeckungen zu maden, mehr noch in den
außerhalb. der großen Route liegenden Gegenden der drei
füdfichen Halbinfeln, am meiften vielleicht im Oſten des
Welttheils. Um fo energifcher aber muß die Kritik dagegen
proteftiren, daß und der Dom von Mailand, der NRialto
und der Martnsplag, der Palaft Bitti und die Caſcinen
von Florenz, die Petersklirche und das Coloffeum, ber
Befun und Pompeji, die Alhambra von Granada und
die Giralda von Sevilla, wenn uns gar Paris und Fon:
don, Petersburg und Stodholm, oder Lauterbrunnen und
die Wengernalp immer von neuen in allen Einzelheiten mit
einer and Naive ftreifenden Nichtbeachtung alles deſſen, was
ſchon unzähligemal und oft weit beſſer, gründlicher und
anſchaulicher über diefelben Gegenftände gejagt worden
ift, vorgeführt werden.
Wenn in der gelehrten Welt wie in der periodifchen
Brefie darüber Klage geführt wird, daß ſich die Schrift:
fteller zu oft einander aus- und abfchreiben, fo möchte
man in der Touriftenwelt vielmehr darüber Magen, daß
die Autoren einander gar nicht kennen und leſen. Es
bat etwas geradezu Komiſches, wie oft man feit vielen
Jahren ganz befannte Dinge mit großer Emphafe als
neue Entdedungen der glüdlichen Touriften behandelt und
mit der größten Selbfigefälligkeit und Weitläufigfeit be-
ſchrieben findet.
Anders verhält es ſich mit der Verſchmelzung ber
durch Autopfie gewonnenen Anſchaunngen mit dem bereits
vorhandenen Material zu einem abgerundeten und farben-
91
122
hellen Geſammtbilde. Mit Geſchick und gemifienhafter
Sorgfalt ausgeführt, werden dergleichen Schriften ſiets
dankenswerthe Bereiherungen unferer Literatur fein. Wir
tönnen bei biefer Gelegenheit nit umhin, unfere Ber-
wunderung barüber auszuſprechen, daß bie vergleichende
Geographie, wie fie ſich feit Karl Ritters Vorgang in
der Wiffenfhaft Bahn gebroden hat, von den Touriſten
faft ganz unberüdfichtigt gelaflen wird. Und doch würs
den aus einer einigermaßen forgfältigen und gründlichen
Bergleihung des Charakters fremder Gegenden und Böl-
fer, ihrer Sitten und Einrichtungen untereinander und
mit ben Heimifchen fi noch wichtige und interefjante
Refultate für die Geographie wie für die Ethnographie
erzielen laſſen, wenn ſich auch aus der Kenntniß ber
eivilifirten Nationen feine Grundlage für die vergleichende
Pſychologie ergeben dürfte, wie Adolf Baflian fie von
einer comparativen Schilderung der Naturvölter erhofft.
Aber freilich, bei der Flüchtigkeit, mit der bie meiften
Zouriften die Welt, die fie hernach zu ſchildern unterneh-
men, durchfliegen, fei es allein oder als Mitglieder einer
Stangen’shen Geſellſchaftsreiſe, if einer folden tiefern
Auffaffung von vornherein ber Boden entzogen. Bon ben
anten angeführten Schriften bietet mur das Warsberg'ſche
Bud in biefer Beziehung einige Ausbeute.
1. Benebig. Gtreiflicter aus Vergangenheit und Segment.
Leipzig, Dunder und Humblot. 1868. Gr. 8. Nr.
Venedig iſt lieblich gleich einer Blume, die auf den Waffern
ſchwimmt, und doc fo herrlich, fo voll erhabenen Ernſtes —
es ift einem majeflätiichen, in Marmor gemeißelten Epos zu
vergleichen, welches Kirchen, Baläfe, Häufer, auch das ärmfle
vol malerifgen Reiges, mit reihen Wellen umfdlieft, ‚wie eine
Dichtung in rhythmiſchem Wohllaut die Einzelgedanten zu Ber-
fen fügt — Menichenalter, Jahrhunderte find die Strophen,
begleitender Harfenton ift die flaunende Bewunderung der Welt,
der mit den letztem Accorden um fie trauert. _
Mit diefen Worten, denen eine nicht minder begei-
ſterte Apoftropge an die ehemalige Königin der Meere
folgt, leitet der anonyme Berfaffer feine Schrift ein, ein
feltfames Durdjeinander aller möglichen Notizen aus dem
Gebiete der Statiſtik und Gefchichte, der Kunft und des
Lebens. Das Büchlein entHält auf 134 Seiten zwar eben
nichts Neues — bei feinem Gegenftande vielleicht cin un«
billiges Verlangen —, aber doch ein reiches, auf viel-
feitigem Studium beruhendes Material und manchen guten
Gedanken. „Leider ift es dem Verfaſſer nicht gelungen,
feinen Stoff fo zu bewältigen, um feine Schrift als ein
organifches Ganzes erſcheinen zu laſſen, während ihm doch
auf der andern Seite ganz das fubjective Element, bie
friſche Darftellung des Selbfterlebten und Gelbfterfahrenen
abgeht, die und auch weſentlich Belanntes in einem neuen
Lichte erfcheinen läßt oder durch anſpruchsloſe Harmlofig-
keit die Kritit entwaffnet. Nehmen wir dazu die im
Gegenfag zu der ſchwungvollen Einleitung meiſt trodene,
ich möchte fagen, gefhäftsmäßige Darftellung, die ab-
gebrochene, etwas fteife und reizlofe Schreibweife, fo ift
zu fürdten, daß die meiften Leſer troß des reichen In-
halts das Buch ziemlich unbefriedigt und verbrießlich aus
der Hand legen werden.
Seiner ganzen Auffaffung der geſellſchaftlichen, Hiftori-
fen und politifchen Verhältniſſe wie feiner Ausdruds-
weife nad; ſcheint der ungenannte Berfafler der reactionär«
Reiſeliteratur.
ultramontanen Seite ber norddeutſchen Ariſtolratie an-
zugehbren, die es noch weniger als bie Deſterreicher ſelbſt
derſchmerzen kann, daß „ber Doppelaar, auf deſſen lai-
ſerliche Rechte!) geſtützt, Venedig würdevoll vor aller
Welt hätte ſtehen können“, nicht mehr die hesperiſche Halb-
infel beherrſcht, und die Stadt beffagt, daß fie zur „Wolle-
magd“ herabzufinfen droße. Ueber die Italiener urtheilt
ex mit etwas einfeitiger Härte und zuweilen nicht ohne
mit ſich felbft in Widerſpruch zu geratfen:
Der Staliener iR Patriot, eim fenriger, feine wichtigften
Intereffen in fanatifher Begeifterung vergefjender Schwärmer,
bei deffien republifanifer Gefinnung nur das eine von Einfing
iR, daß feine Eitelteit rüdfichtelo® nach Aufehen und Hervore
treten, nad) Bemerftwerden firebt. Aufopferung und Pflicht»
gefühl, Zurüdfiellen des eigenen Ichs aus wahrer Baterlands-
tiebe fehlen aber... Wo e8 galt, felbf aufzutreten im freie
heitetampfe, haben die Benetianer, wie die Staliener Überhaupt,
fi) feine Lorbern erworben; nad dem Abmarſche der Südarmer
den Defterreihern weit Überlegen, Garibaldi mit 30000 Mann
gegen 6000, fonnten fie biefelbe Armee, melde im Morben
eine fo fürdjterliche Lehre erhalten Hatte, ſowenig zurüidrängen,
al6 die Flotte, ihr ganzer Stolz, dem Meinen Gegner gemadi-
fen war. Wol ift die Zeichnung des mailänder Witsblattes
gerechtfertigt, wo an den Flaggentöden bes Markusplatzes die
itafienifche Flagge Iwiſchen der preußifhen und franzöfifchen,
wie von ihnen gefhligt und gehalten, weht.
Einer Reihe fragmentarifcher Hiftorifcher Notizen über
den venetianifhen Abel, der des Berfaffers Jutereſſe
natürlich in erfter Linie in Anſpruch nimmt, folgt eine
lange Aufzäplung der Paläfte des Canal grande, Ber
richte über Wohnung und Lebensweife, die nur längft
Belanntes wieberholen, eine ziemlich unbedeutende Skizze
der venetianifchen Kunftgefchichte, einige ſehr magere natur-
geſchichtliche Notizen über bie Lagunen; zur Abwechjelung
etwa8 aus der Chronique scandaleuse der während
des Aufenthalts des Verfaſſers anmefenden fremden Gejell-
ſchaft, doch ohne Nennung der Namen; dann wieder
ſtatiſtiſche Mittheilungen über die Streitkräfte der cher
maligen Republit, endlich eine ſummariſche Geſchichte ihres
Berfals und Endes.
Der Berfafier jchliegt mit dem Wunde, daß bie
untergegangene und doch felbft im Verfall noch under
gleihlihe Schönheit und Größe der Erhebung nicht ver
geblich harren möge. In der That glauben wir, daß
der Wunſch Ausfiht auf Erfülung hat, wenn auch viel
leicht nicht im Sinne des Verfaſſers. Es unterliegt Feir
nem Zweifel, daß, wenn Venedig öſterreichiſch geblieben
wäre, ed unter dem niederbrüdenden Einfluffe des auf ⸗
Mrebenden und von dem „Doppelaar“ gehätſchelten Trieft
allmählich ganz zu Grunde gegangen wäre. Wenn es
dem jungen, noch um. feine Eriſtenz fimpfenden König
reich Italien gelingt, fi von dem auf ihm laftenden Alp,
namentlich von den Folgen der jahrhundertelangen Fremd-
herrſchaft und Misregierumg nebft der dadurch tief ber
gründeten Verderbniß des Volfscharakters endlich frei-
zumaden, dann wird Venedig, zwar nicht als ariftofra
tifche Republik, wol aber als Seefeftung und Handels
ftadt erſten Ranges wieder einer der ebelften Steine in
Diadem der Italia werben; freilich, eine Vollsmagd, abr
im Dienfte der Nation Größeres leiftend, als es jemal
in dem einer engherzigen, bes Volles Mark zweit umhe
ausfaugenden Ariftofratenkafte vermocht hat.
Reifeliteratur. 723.
2. Ausflug nad Neapel und dem Normannenardipel im Som-
mer 1867. Bon 5 randes. Detmold, Meyer.
1868. 8 12, Nur.
H. 8. Brandes ift ein großer Neifender vor dem Berrn.
Bon dem Ben Nevis bis zum Mont-Berdu und ber Cumbre
al Mulhazen, von den eifigen Tjelds Norwegens bis zum
Aetna und dem Parnaß hat er alles gefchant, was Kunft
und Natur dem Europäer Herrliches innerhalb feines Welt-
theils bieten; ja, er bat fogar die alten Wohnftge der
Jonier an der Küfte Sleinafiens, die Stätte von Troja
und den Olymp von Bruffa beſucht. Er hat alles Schöne
mit frifchen und empfänglichem Sinne genofjen bis in
fein, wenn wir nicht irren, jeßt hohes Alter hinein. Eine
ſolche Gunft des Geſchicks ift wol zu beneiden. Bierzehn
Zauben hat er inzwifchen nad) feiner eigenen Ausbrude-
weiſe ausfliegen lafien, um der Welt Runde zu geben,
welche Meere feine Arche durchfegelt Habe. Wir flirchten
allerdings, daß, abgefehen von den perfönlichen Freunden
des Berfafiers, die Welt nicht übermäßig viel Notiz von
ben Briefen genommen babe, die unter den Flügeln bie-
fer Tanben hingen. Wir kennen freilich nur die Heinere
Zahl derfelben: vielleicht daß bie, welche die Reifen in
weniger befannte Gegenden befchreiben, des Neuen und
Intereffanten mehr enthalten. Die vorliegende Schrift
hätte dagegen dem Publikum wol erfpart werden dürfen.
Allerdings mag vielen Leſern die Inſel Jerſey und ihre
Eigenthümlichleiten in LZage, Bewohnern und Gebräuden
noch ziemlich unbefannt fein; die Schilderung ift indeß
viel zu ungenügend und fragmentarifch; der Aufenthalt
bes Verfaſſers war zu kurz, feine Beobachtungen zu flüchtig,
um ein bedeutendes Intereſſe beanfpruchen zu können.
Wenn wir aber in ziemlich trodener und einförmiger
Darftellung eine Aufzählung der Herrlichleiten bes Golfs
von Neapel, die Namen ber bedeutendften Kunſtwerke des
Diufeo Borbonico, eine Befchreibung von Pompeji, dem
Veſuv, Bajä u. f. w. ohne da8 geringfte Neue oder auch
nur Pikante in Beziehung auf Stoff, Auffefjung oder
Ausführung, nur, was allerdings den Philologen verräth, mit
nicht minder befannten @itaten ans den alten Claſſilern ge-
ſpickt, zu leſen belommen, fo hat die Kritik wol im Na-
men des ganzen Publiflums das Hecht, zu fragen: cui
bono? Wie oft follen wir uns den abgedrofchenen Tert
mit der alten Melodie und Begleitung von mittelmäßigen
Birtuofen noch vorleiern lafjen?
3. Bilder ans Neapel. Neifebefchreibung und Führer für
Freunde biftorifher Forſchung. Bon Eduard Lobflein.
Würzburg, Stabel. Gr. 8. 16 Nor.
Bilder — eine Reſebeſchreibung — ein Führer — Ma⸗
terial für Freunde biftorifcher Forſchung: das heißt viel
verfprechen und, fügen wir nad Durchleſung des 144
Dctavfeiten ftarken Büchleins hinzu, wenig halten. Lafjen
wir den beiden erften Aushängefchildern des Titels ihre
Berechtigung, wiewol ed den Bildern vielfach an Abrun-
dung und Anfchaulichkeit, der Keifebefchreibung an allem
Reiz perfünlicher Erlebniſſe mangelt. Wie dagegen ber
Berfafler feine Schrift im Ernſte als einen Reifeführer
betrachten fann, ift uns ſchwer begreiflih. Nicht allein
daß bei einem fo flüchtigen Beſuche, wie der feinige war,
ein grünbliches Studium der Localverhältnifie,‘ das doch
ein folder Zwed nothwendig voraudfegt, eine Unmöglich-
feit war; nicht nur, daß er wichtige und allgemein be-
fannte Punkte der nächften Umgegend von Neapel, wie
Camaldoli, Herculanum und Ischia, offenbar gar nicht
befucht Hat und das Iettere unſers Erinnerns gar nicht
einmal erwähnt; daß er die Stadt Neapel nur in weni⸗
gen flitchtigen Strichen oberflächlich charakterifirt, der
Sammlung des Mufeo Borbonico nur im Borbeigehen
mit wenigen Worten gedenkt: es fehlt dem Buche aud)
volftändig an allen den praftifchen Notizen über Gafl-
höfe, Breife, Führer, Transportmittel u. ſ. w., über welche
der unlundige Reifende nicht minder der Auskunft bebarf
als über Gegenden, Städte und Kunſtwerle. Der Ber-
fafier ift ein naiver Schriftfteller: er fchreibt fein Buch,
als ob, was er hier auf dem „Wege alles Fleifches” an
den Ufern des Golfs, in ben Straßen von Pompeji, an
dem Bujen von Bajä, in ben Drangenhainen Sorrents,
auf den Felfen von Capri, an dem Srater bes Veſuv gejehen
bat, zum erften mal befchrieben fände, als ob ex nicht
auf einen wieder und wieder umgepflügten Felde aderte,
von bem keine Scholle mehr unbelannt ift und das hundert⸗
und aber hundertmal von allen möglichen Geſichtspunkten
aus unterfucht und gefchilbert worden if. Er ift begei-
ftert für feinen Stoff: das wollen wir ihm keineswegs
verbenfen, wiewol die vielen Ausrufungszeichen den nüch⸗
ternen Lefer fchwerlich erwärmen werden; wir wollen es
ihm auch nicht zu body anrechnen, daß er dem mit diefem
Artikel Schon fchwerbeladenen Büchermarkt noch eine Heine
Laft mehr anflegt; aber wir bedauern, um das Publikum
vor einer berben Täufchung zu bewahren, dem vielver-
heißenden Zitel mit einem ausdrüdlichen Dementi entgegen»
treten zu müſſen. Es fcheint, daß der Berfaſſer nicht
einmal die ältere Literatur über Neapel, wie z. B. das
trefflihe Bud von Mayer gefannt bat, fonft bätte er
vielleicht das jeinige ganz ungefchrieben gelaflen oder ihm
wenigftens eine anſpruchsloſere Bezeichnung gegeben. Und
nachdem wir fomit unfere Recenfentenpflicht gethan, wol⸗
len wir gern Binzufügen, daß das Schriftchen demjenigen,
der noch nichts über das „Eden Europas“, dieſes pezzo
di cielo caduto sulla terra, gelefen hat, wie auch wol
dem Reifenden, ber daneben mit einem tüchtigen guide
du voyageur wie Murray, Börfter u. dgl. verfehen if,
wol einigen Nutzen und Genuß zu gewähren vermag.
4. Bilder aus Stalin. Bon Eduard Paulus. Zweite,
J vermehrte Auflage. Stuttgart, Kröner. 1870. 8.
%
s In freier Luft, im Lorberhain,
Bei dem Gefang der Vögelein,
Hab’ id) dies Buch geichrieben.
Es jchien der hellſte Sonnenfchein
Mir zwilchen jedes Wort Hinein,
Und fo ift e8 geblieben!
Sa, fo ift e8 geblieben! Heller Sonnenfchein und
Bogelgefang und Windesranfchen in den Lorberwipfeln
und Myrtenbüſchen ſchimmert und klingt von Seite zu
Seite in dem Buche wider, und dazwiſchen Inſekten⸗
gefumm — bald Bienen, die eifrig Honig faugen aus
allen Kelhen, bald auch Inſekten
Mit Heinen ſcharfen Scheren,
die hier find, um:
Catan, ihren Herrn Papa,
Nach Würden zu verehren.
91”
R REEL SR SE
ven u ; cy MS. -
— Tu *
. F “ %.
AT
&, B N
Ey Gear“
724
Ein größerer Gegenfat als der zwifchen biefer und
der Lobftein’fchen Schrift iſt kaum denkbar. Dort alles
fteife Profa, welcher felbft die Wärme der Begeifterung
feinen Schwung zu verleihen vermag; hier alle8 ungefuchte
Poeſie, die dem Dichter — das ift Paulus vom Wirbel
bis zur Zehe — mühelos ın gebundener wie in ungebun⸗
dener Rede von den Lippen rinnt; dort der regelrechte
Gang, wie er dem „Reifeführer‘ geziemt, mit langathmi«
gen Beichreibungen von Punkt zu Punkt; bier gleichſam
ein Schmetterling, der, von Blnme zu Blume flatternd,
fih auf benen niederläßt, die ihm gerade behagen, un»
befümmert um die, denen er vorbeifliegt, felbft wenn fie
der Welt vielleicht noch größer, fchöner und buftender
erfcheinen follten; dort ein Arfenal von Citaten und Aus⸗
zügen; bier mit geringen Ausnahmen alles nur fubjective
Empfindung, der Refler der Außendinge im Spiegel eines
poetifchen Gemuths ohne allen und jeden gelehrten Apparat;
dort bedeutende und, wie wir gefehen, kaum gerechtfertigte
Anfprüce; hier die anmuthige Anfpruchslofigkeit einer
Darftelung, die wie eine naive Kolette bei alledem wol
bas Bewußtfein hat, daß fie gefallen werde und mülle,
Kurz, die Paulus'ſche Schrift ift ein liebenswürdiges
Buch, das felbft der mit Bergnügen durchblättern mag,
den die nimmer verrinmende Hochflut der italienifchen
Reiſeſchriften längft in Bezug auf alles Mittelgut voll»
ftändig blafirt gemacht bat. Alle die Kleinen unangeneh-
men Erfahrungen und Erlebniffe, denen der Keifende im
ſchönen Hesperien nicht entgeht und die unferm würdigen
Nicola einft feine fchwerfälligen quos ego auspreften,
föfen fi ihm in leichten nedifhen Humor, während das
Schöne und Liebliche, bad Große und Erhabene in ver»
Hleinerten, aber treuen und Haren Bildern in den Zeilen
bes Dichters fich widerſpiegelt. Ungendthigt kommen ihm
Rhythmus und Reim zu Hülfe, wo die Profa nicht aus⸗
reicht, vorzugsweiſe freilich in der Maske des Momus
in muntern hüpfenden Anapäften; dazwifchen jedoch auch
manch finniges Gedichtchen, mehrere davon hervorgerufen
durch die Hiftorifchen Erinnerungen des claffifcden Bodens,
wenn fi auch Hier die Poefte nicht immer auf der Höhe
ihres Gegenſtandes zu halten vermag (vgl. das Gedicht
über Konradin, S. 170, über Dante, ©. 52 u. f. w.)
So eilt der Berfafler mit leichtem Gepäd von feiner
fhwäbifchen Heimat, an ber fein ganzes Herz zu hängen
Scheint, über die Alpen nad) Mailand, über die Apenni«
nen nach Florenz, und weiter die umbrifche Straße über
Arezzo, Montepulciano, Perugia und Orvieto nad) Rom
und feiner Umgebung, den Sabiner- und Albanergebir-
gen, fährt mit ber Eifenbahn durch die wilden Schlud)-
ten der Abruzzen nach Neapel, welches die Schrift nur
flüchtig mebft der Inſel Capri berührt, fchifft über das
fteahlendblaue ſiciliſche Meer nach Palermo hinüber, und
kehrt endlich längs der adriatiſchen Küſte über Ravenna,
Rimini und Venedig nach Deutſchland zurück.
Wir geben nachſtehend einige Proben der originellen
Darſtellungsweiſe des Verfaſſers in Vers und Proſa,
ernſten wie komiſchen Inhalts.
In Florenz finden wir eine ebenſo originelle wie von
feinem Blick und Geſchmack zeugende Vergleichung der
Thürme von Florenz, München und Stuttgart:
Der Glockenthurm des floventiner Dome, die Frauen-
NReifeliteratur.
thürme in München, der Stiftslirchenthurm in Stuttgart zeigen
eine merkwürdige Verwandtſchaft. Alle drei find fie richtige
dide Thlirme, unverjlingt, ohne Spige, als Urformen aller
Thürme unvergeflih. Und alle drei find fie die ausbrudsvoll-
ften Vertreter ihrer Stadt. Der florentiner Thurm, vieredig,
freiſtehend, unverjüngt, tft ganz aus gefähliffenem , farbigen
Marmor erbaut. Wunderbar richtig find die Farben vertheilt,
beim größten Reichthum das fchönfle Maßhalten. Da fteht er
feft und anmuthig auf Marem Sodel, zu hoben Stockwerlen
frei uud leicht zufammengebunden, lühn auffirebend und wieder
durchs prädtige Kranzgefims ernft abgefdloffen. So fleht er
da, voll Kraft und Würde und Überlegener Bildung, bürger⸗
adelſtolz und fein gefchliffen. Troß feines Alters erfcheint er
nod ganz neu, in ewiger Jugend, glei dem emwigblühenden
Firenze, das ihn auf dem Gipfel feiner Macht ale ungeheuern
Denlmalspfeiler feiner freien Herrlichkeit vom großen @iotto er-
richten ließ. — Der Stiftokirchenthurm in Stuttgart, aus grln-
bemooften Sandfteinen erbaut, von den Leuten fchlechtiweg ber
Dide genanut, unten vieredig, gegen eben hin adjtedig, mit
drei Kränzen gejhmüdt — ein flattliher Rathsherr. Immer
feelenrubig und feelenverguligt fchaut er mit liebem Behagen
umber im fauften grünen fiuttgarter Weinthalkeſſel. Zur Seite,
etwas zurüd, ſteht ihm die befcheidene Hausfrau, der fchlanfe
Seitenthurm mit der zierlichen altſchwäbiſchen Spithaube. — Die
münchener Frauenthürme find noch ediger, faſt bis Herunter
adhtedig, und aus Badfleinen von blauröthliher Färbung er-
baut. Es find zwei Iunggefellen, chief ans dem Wirtshaus
fommend, eng ameinandergelehut, die niedern Kappen gar
drollig auf den köſtlich zugerundeten Spießbürgerſchädeln. Es
wäre jammerſchade, wenn man fie modern aufftukte.
Paulus wohnte im April 1865 dem großen Dantt-
Zubelfefte bei und gibt uns folgenbe köſtlich humoriſtiſche
Beichreibung bes Feſtzugs:
Alles fommt in hellen Haufen,
Das heißt in dunfeln, gelaufen,
Denn alle thaten fieden '
In langen ſchwarzen Fräden;
Es trüben die Frackſchwänze
Das altehrwürdige Firenze;
O bis! bis, bös!
Und ſchredlich offlciös!
Steif und fteil, wie Chinefer,
Nahen die Senuefer,
Mit Bannern von Gold und von Purpur ſchwer,
In der Mitte fpaziert ber Gonfalonier,
Bol Mojeftät,
Stark aufgebläht,
Die breite Bruft mit Orden befät,
Und um des Buten Hale
Hangt einer ebenfalls,
Das war ein Commenthur,
Die ihn gar wenige nur.
Dann wieder durch der Straßen lange Zeile
Wächſt grenzenlos des Frackes Langeweile,
Bis fie ein Kapuziner unterbricht
Mit brauner Kutte und feiſtem Geſicht,
Der zu des Volkes Gaudium
Arezzo's Fahne trägt herum.
Der Dann war rund
Und ferngefund,
Und gräüßte mit emancipirtem Blick,
Als bringe er die Republit;
Die Menge Haticht ihm endlos zu —
Bas ſpricht da wol der Papft dazu?
Intereffant waren auch die Turiner,
Die dur einen ihrer Diener
Die Fahne tragen ließen,
Und dadurch bewielen,
Daß fie nicht mehr fo fidel,
Seit Bictor Emamel
Neifeliteratur.
Aus ihrer Stabt kutſchirte
Und fie ganz ignorirte.
Die Banner au von Venedig und Rom
Hagen hervor,
Umwunden mit Flor,
Aus dem bunt aufwogenden Fahnenfirom.
Pulsky auf, der Magyar,
Bei dem Zug betheiligt war,
Kofſuth's erſter Adjutant
War er einſt im Ungarland.
An der Emigranten Spitze
Zog er, trotz der Beckenhitze
In der Biberpudelmütze
Und dem Rock von Pelzen ſchwer,
Stolz und kriegeriſch einher
Und geftel dem Volke ſehr.
Hinter der franzoſiſchen Flagge
Kommen wieder in finſterem Fracke,
Wegen des Alighieri,
Einige Foreftieri. (Fremde.)
Sachſens Fahne wird vermißt,
Ebenfo ihr Träger Brodhaus;
Weil e8 heiß geweſen ift,
Zog vermuthlich er den Rod aus
Und fah fo zu diefer Frift,
Bol aus einem Marmorblodhaus,
Eine Pfeife raucdhend, munter
Auf den ganzen Zug herunter.
Schließlich kam die Jugenbwehr ;
Die gefiel uns allen fehr.
Und zulegt
Raben jetzt
An wallendem Talare
Die ftädtifhen Notare,
Dabei die ſechs Prioren
Mit mweitabfiehenden Ohren.
Ueber die braune Heide ber Campagna fieht er im
Geiſte den Leichenzug des jugendlichen Kaiſers Otto II.
daherziehen::
Bon Ferne leuchten
Hoch im Gebirge die zerflörten Städte,
Und fhwer und ſchwül Siroccolüfte feuchten.
Und mit der Leiche
Des jungen Königs ziehn fie weiter, weiter;
In offner Bahre liegt die anmuthreiche.
Das Wehn des Windes
Bewegt wie Geiſterhand die langen Locken
Des früh vor Gram geſtorbnen Heldenlindes.
Des Heldenlindes
Bieledle, weltumfaſſende Gedanken,
Sie waren eitel wie das Wehn des Windes.
Nichts kann beſtehen:
Dem Helden wohl, der in der Jugend hinſinkt,
So wird ſein Bild durch alle Zeiten gehen.
Ganz beſonders gelungen iſt die Schilderung der Fon⸗
tana Trevi in Rom:
Ob da nicht noch eine Rieſenidee Alberti's oder Michel
Angelo's mit herausklingt, auch die Architektur des Palaſtes ift
verdächtig. Wunderbar, wie hier eine geradlinige ſtolze Palaſt⸗
ſaçade aufwächſt aus regellos wildem Felsgetrümmer, das von
großen, aus den Kalkfelſen herausgemeißelten Pflanzen belebt
wird; aufflarren hier fleinerne Kletten, Farrnkräuter, Feigen⸗
und Lorberbüfche, dort Reben mit Trauben, Difteln, Bären
Mau und anderes troßiges, bor Alter graugeworbenes SKraut-
gefirüppe, von feingefiederten lebendigen Gräfern und Blumen
umgränt und umzittert; und über dieſe Felſen empor fteigen
ſtürmig bewegt bie großen Marmorgeftalten: der Meergott auf
ven Muſchelwagen, gezogen von zwei ſchnaubenden Seeroffen,
725
die von den Zritonen kaum zu bändigen find. Dies alles aus
Stein; und nun, wie ein Ueberftrömen der Gewalt, drängen
die Felfen herunter ganze Ströme lauterftien Waſſers, oft hoch⸗
auffprittend als Springquellen, oder fächerförmig ſich zerglaſend,
oder in ſchweren Güffen mit Rauſchen hinabfallend. Durch
alle Riten des vielzerklüfteten Travertinſteins ſtrebt es hin⸗
durch, ziſchelt und orgelt, oder hängt in dunkeln Höhlungen
als feine Fäden, wie Oel, lautlos nieder, hellgrünes Moos
und Algenwerk mit ſich herabziehend; inmitten aber, vor dem
Gott einher, wogt dreimal geſtuft, majeſtätiſch wallend, der
durdfichtige Hauptſtrom und gibt den ſchweren Grundton des
ganzen Gerauſches. Unten aber ſammelt ſich die Menge des
Waſſers in breitem, weitumrandetem Seebecken und ſchaukelt
ewig bewegt in kleinen kurzen, im Sonnenlicht glitzernden Wel⸗
len. Großartig ernſt ruht hinter dem allen der Palaſt, mit
weiter ſänlenbeſetzter Niſche den Meergott umfaugend. Hohe
korinthiſche Pilaſter, dazwiſchen feſtlich mit Kränzen umhängte
Fenſter ſchmücken ihn, und wie er unten mit den Felsblöcken
verwachſen vom Boden ſich hebt, fo gipfelt er oben kühn und
frei in dem riefigen von Engeln gehaltenen Papſtwappen, daß
mit feinen vielfach zerlöcherten Umriffen in den Himmel hin⸗
einragt.
Wir könnten diefe Proben noch flark vermehren, ohne
fürchten zu müſſen, ınfere Lefer zu ermübden, wenn e8
der Raum d. BI. geftattete. Bei folch Liebenswürdigem,
anſpruchsloſen Naturell verzeigen wir es dem Verfaſſer
leicht, wenn feine Kenntniſſe in ben Hülfswiſſenſchaften
des Reiſebeſchreibers nicht lückenlos ſind und hier und
da z. B. ein kleiner botaniſcher lapsus vorkommt, wie
wenn er aus den Tamarisken des Meeresufers (Tamarix
gallica und africana) Tamarinden macht, oder Palermo
mit dem Rieſen Mittelafrikas, dem Baobab, beſchenkt.
5. Bon ber Norbdfee in die Sahara. Bon Guſtav Raſch.
Berlin, Hausfreund- Expedition. 1868. 8. 20 Ngr.
Wie die Verleger durch die Umfchläge ihrer Bücher
in Buntdrud, auf weldhen bie Lefer ſchon einen Vor⸗
ſchmack des ganzen Inhalts befommen, das Publikum
anzuloden fuchen, fo beginnen — meift wol nicht ohne
buchhändlerifchen Einflug — aud die Schriftfteller mehr
und mehr durd) die Wahl ihrer Titel Reclame zu machen.
Der bekannte und vielgewandte Berfafler der Bücher „Vom
verlaffenen Bruderſtamme“, „Frei bis zur Adria” m. f. w.
befigt neben andern fchäßbaren Autorenkünften auch diefe
in anertennenswerthbem Grabe. Neben feinen zahlreichen,
alljährlich fich mehrenden Touriftenfchriften, die meift durch
den politifhen Beigefhmad ihren Hauptreiz erhalten,
jpielt übrigens die vorliegende trog ihres verſprechenden
Titels nur eine ſehr befcheidene Rolle. Sie enthält eine
Reihe von Einzelichilderungen aus Nord» und Süddeutſch⸗
land, Italien, Sübdfranfreih und Nordafrika, gleichſam
Heine Epifoden, die, in bie Rahmen der größern Reife
werfe des Berfaffers nicht paffend, bier zu einer lofen
Kette bunter Steine zufammengefügt find. Die feharfe
Beobachtungsgabe des Berfaflers, feine Birtuofität in ber
Darftellung, die Anfchaulichkeit feines Stils verleugnen
fih auch hier nicht; einzelne Auffäge darin, wie bie
„Fahrt auf dem Boden ber Norbfee” (von bem Strande
bei Eurhaven zu der Infel Neumerk), welche die freilich
in neuefter Zeit ſehr häufig bejchriebenen Eigenthümlich⸗
feiten des nordweſtdeutſchen Wattenmeers draftifch fdhil-
dert, und „Die fchönfte Straße Italiens“, die Riviera bi
Bonente zwifchen Nizza unb Genua, würden ohne eine
gewifje vornehme Nachläſſigleit der Darftellung, die nicht
126
felten Wiederholungen und übermäßige Amplificationen
bringt, in ſprachlichen und geographiſchen Mufterantho-
logien eine Stelle verdienen. Der etwas bombaftifchen
Schilderung des „Maurenpalaftes im Schwabeniande“,
d. 5. der Wilhelma bei Stuttgart, ziehen wir die be
ſcheidnere Skizze des „Deutſchen Dichterhaufes in Weins-
berg“ bebentend vor. Auf die trefflichen und feit Goe-
the’'8 Zeit wenig befuchten und befprochenen Bauwerke
Palladio's in Vicenza wieder aufmerkſam gemadjt zu haben,
iſt ein unbeftreitbares Verdienft, wogegen wir dem Ber-
faffer die im jedem Converfations-Lerifon zu findenden
Lebenoſtizzen Sanſovino's, Tintoretto's, Eanoba’s und an-
derer denetianifcher Künftler gern geſchenkt hätten. „Zwir
ſchen Eis und Schnee” ift eine Befchreibung ber allbelann-
ten Simplonftraße, bei ber es nicht ohne geographifche
Irrthumer abgeht; wie wenn ber Berfaffer den Gried-
gletfcher im Oberwallis von dem Gotthard herablommen
Täßt. Mit befonderer Fiebhaberei verweilt er bei fchauer-
lichen Kerlerſcenen. „Der Kerker Cola di Rienzi's“ (den der
Berfaffer, beiläufig bemerkt, im höchſt unbiftorifcher Weile
ibealiftet) in Avignon; das „Chäteau d’If“ bei Marfeille
mit Monte Criſio ſchen Neminifcenzen, „Schloß Chillen“
mit der nöthigen Zuthat einer Biographie Bonnivarb’s
Kleine Schriften zur
Zu allen Zeiten hat es neben umfangreichen und
didleibigen Büchern auch Heine und dilnne Schriften ge»
geben, die ein gleiches Anrecht auf Beachtung und Werthe
ſchatzung befigen, fobald fie einen Inhalt aufweifen, der
ihre Eriftenz vedhtfertigt. Die Literatur der Broſchüren
iſt im Wachfen begriffen, zum Aerger ber Bibliographen,
Bibliothekare und Sortimenter ; die Umiverfitäten und
Säulen bringen eine wahre Sünbflut von Differtationen
und Programmen hervor, und doc nimmt man es öfters
dankbar Hin, wenn eine literarifche Arbeit, deren Ber»
breitung ſonſt nur dem Zufall anheimgegeben ift, auch
durd) den Buchhandel zugänglich wird, wenn fte, anftatt
einem Sammelmerke oder einer Zeitfehrift einverleibt zu
werben, felbftänbige Herausgabe findet, welche bie gefon«
derte Anfchaffung ermöglicht. Unbdererfeits freilich ift es
geradezu Pflicht, vor der Zerfplitterung der literarischen
Ürbeiten Meinerer Art zu warnen und auf die vereinigenden
Drgane hinzuweifen, nicht allein im Intereſſe der Lefer,
fondern im Intereffe der Schriftfteller ſelbſt.
Eine Reihe Meinerer Schriften ‚aus dem Gebiete ber
altdeutſchen Literatur bringen wir hier zur Anzeige. Sie
verdienen allefammt, daß man ihrer gebenfe, aber feine
von ihnen ift von folder Bedeutſamteit, dag man fie
nicht im Verein mit andern beſprechen dürfte. Gie zeigen
und verfchiedene Richtungen und Gebiete; vertreten ift: bie
Tertmittheilung, die Literarhiftorifche Unterſuchung, bie
Erforfchung der Metrik, die Ueberfegung, auch eine in
das Unterrichtögebiet einſchlagende Schrift haben wir her«
beigegogen, weil fie gewiſſermaßen eine Tagesfrage in
ſich fliegt.
Bir verzeichnen zunäcft die Veröffentlichung eines
altdeutſchen bramatifchen Gedichte.
Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur.
und ſchlecht überfetster Byron'ſcher Strophen; endlich der
„Bagno von Toulon“ werden mit fammt dem unvermeid-
lichen Zubehör von Kettengerafiel, feuchten dunleln Ber»
liefen, Folterinſtrumenten u. f. w. der Reihe nad) in ex-
tenso abgehandelt. Die „Blaue Grotte auf Capri“ wird —
in grelem Contraft zu der neuerlichen, allerdings in das
entgegengefegte Extrem fallenden Schilderung bes Re-
dacteurs des „Auslandes” — noch blauer gemalt als im ben
übertriebenen Veduten unferer Kunftausftellungen, und bie
jedem Reifenden befannte Thatfahe, daß ein Menſch in
der Grotte unterzutauchen pflegt, um bie ſeltſame Eilber-
farbe barin ſchwinmender Körper zu zeigen, wird zu einem
groteöfen Abenteuer aufgepugt. Ueberhaupt können mir
das Buch von einer gewiſſen Webertreibung und Effect-
hafcherei nicht freiſprechen.
Die beiden afrifanifchen Skizzen über „Algier“ und „Ein
Ritt durch die Wüfte Sahara”, d. h. von Biscara, ber
füblichften franzöfifchen Niederlafjung nordwärts zum „Tell“,
find unbebentende Epifoden oder vielmehr Auszüge aus
dem größern Werke: „Nach den Dafen von Siban in
der großen Wüſte Sahara” (Berlin 1866).
(Der Beiäluß folgt in der nägfen Ranımer.)
altdentfchen Literatur.
1. Ein Weihnachteſpiel aus einer Haudſchriſt des 15. Jahr-
Hunderte, unter Benutzung einer Abfhrift berfelben von
Bilmar und mit defien Anmerkungen zum erflen male her-
ausgegeben von 8. W. Piderit. Pardim, Wehdemaun.
1869. 8. 12 Rgr.
Ludwig Uhland erflärte noch im Jahre 1830 in feir
nen Borlefungen über bie aftdeutfche Literatur — und id)
habe dies in meinem Bericht in Nr. 14 d. BL. f. 1867
befonder8 hervorgehoben —, daß das Mittelalter fein
Drama befeffen habe. Seit biefer Zeit find aber ver-
ſchiedene dramatifhe Dichtungen aus der Periode des
Mittelalters befannt geworden. Die meiften gehören frei-
li dem 15. Jahrhundert an, wenigftens in ihrer Leber
lieferung, alfo einer Zeit, bie wir mit Uhland ſchon zur
Reformationsperiode rechnen bürfen. Allein die Tendenz
diefer Dramen ift fat durchaus noch mittelalterlich, auch
wird fid) bei den meiften annehmen und ſelbſt erweiſen
laſſen, daß fie in eine frühere Zeit zurüdreichen, aus
welcher wir zufällig die Niederfchriften entbehren müffen,
Das vorliegende Drama if ein Weihnachtsfpiel. Es
gehört in feiner bermaligen Faſſung ber zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts an, im einzelnen aber fehen wir
wieber, was wir eben im allgemeinen andeutelen, daß
der gegenwärtigen Form bes Weihnachtsfpiels eine ältere
Abfafjung zu Grunde liegt. Beſonders interefjant iſt es,
daß in diefem Weihnachtsſpiele fi) eine wenn auch furze
Reminifcenz aus dem „Spiel von den zehn Yungfranen
vorfindet, welches befanntlich im Jahre 1322 vor dem
Londgrafen Friedrich zu Eiſenach aufgeführt worden ifl.
Dana) will Piderit die äußerfte Grenze ber Entftehungs-
zeit des Weihnachtsſpiels beftimmen. Tas ift wol alı
wahrſcheinlich anzunehmen, allein ein fiherer Beweis it
Kleine Schriften zur
es niht. Wenn das „Spiel von den zehn Jungfrauen“
im Jahre 1322 erweisfich aufgeflihrt ift, fo fteht bamit
nicht auch feft, daß es erft in biefer Zeit gebdichtet fei.
Wir willen nur nicht von frühern Aufführungen.
Bas den Ort der Entftehung des Spiels betrifft, fo
weift die Sprache, der Dialeft auf Heflen. Ich habe
ſchon in meiner Differtation über das „Spiel von ben zehn
Jungfrauen” (auch in Pfeiffer’s „Germania“, XI. Jahr-
gang, ©. 159) nacdjgewiefen, daß fih ebenfalls in
einem heſſiſchen Spiele, im Alsfelder Paffionsfpiele
Keminifcenzen aus dem thüringer Spiele finden. Und
fo ift es auch möglich, daR biejes für das Weihnachtsfpiel
die Borlage geweſen ift. Die Reminifcenz aus den „Zehn
Jungfrauen“ findet fih nun wirklich and im Alsfelder
Baffionsfpiele, und zwar am Schluffe (Haupt’8 „Zeit⸗
ſchrift“, III, 518). Die betreffenden Worte im „Weihnachts⸗
ſpiel“ weichen freilich im einzelnen von beiden Yaffungen
nicht unbedeutend ab.
Für die Literaturgefchichte der geiftlichen Dramen iſt
Piderit's BVerdffentlihung ein fehr fhätbarer Beitrag.
Beiondern Werth haben die Teufelsſcenen, die bier
außergewöhnlich heiter und dabei auch von draftifcher
Derbheit find.
Die Anmerkungen erftreden ſich meift auf das Sprad)-
lihe und Mundartlihe. Sie rühren zu großem Theile
von Vilmar ber. Der Herausgeber hätte feine Edition
noch werthvoller machen können, wenn er auch die litera-
riſche Seite in den Anmerkungen mehr berüdfichtigt hätte
duch Bergleihung mit andern Spielen überhaupt und
mit Weihnadtsipielen insbefondere, was fowol die Auf-
faflung und den dramatifchen Bau als auch den oft for-
melhaften und typifchen Ausdruck anlangt.
Sole Berdffentlichungen wie bie des „Weihnachts-
ſpiels“ werden wol nur von ben Fachmännern und
den fpeciellen Freunden ber Literatur beachtet, gelejen
und benußt werden, eine allgemeine Theilnahme Tann
fih ihren nicht zuwenden, weil eine folche bigjegt nur
den claffifchen oder durch hohes Alter merkwürdi⸗
gen Schöpfungen des Mittelalters zutheil wurde. All⸗
gemach aber wird der Kreis der anziehend erfcheinenden
Literatur erweitert werden. Bor noch gar nicht zu lan⸗
ger Zeit war es ansfchliepli das „Nibelungenlied“ und
vieleicht noch einigermaßen Walther von der Vogelweide,
denen man eine Bedeutung and für das Heutige Leben
zugeftand. Jetzt aber gefellen fich diefen bevorzugten
Dichtungen noch andere, bie mit beinahe gleicher Theil⸗
nahme willlommen geheißen werden. Vorzugsweiſe find
diefe aber epische Werke; unter den Lyrikern hat eigentlich
nur Walther eine Stätte wieder in der neuen Welt ge=
funden. Das zeigen im einzelnen bie Ueberſetzungen und
die Unternehmungen, welche ſich die Erklärung altdentjcher
Geiſteswerke zur Aufgabe fegten, wie die Pfeiffer'ſche
Claſſikerſammlung und die Zacher'ſche Handbibliothek.
Aber auch die andern Minneſünger haben uns Blüten
der Dichtkunft geboten, und wie man im Beginne ber
Romantik gerade die mittelalterliche Lyrik liebte und zu
erneuen beftrebt war, fo wird auch Fünftig Walther von
andern Dichtergenoſſen in den Bibliotheken der Gebilbeten
umgeben fein, wenn er aud in ihren Herzen al® ber
Bannerträger immerdar gelten wird.
altdeutfchen Literatur. 727
Auf die Lyrik des 12. Jahrhunderis fucht bie folgende
Heine Schrift Binzulenfen:
2. Die älteften deutſchen Liebesfieber des 12. Jahrhunderts.
In freier Mebertragung von Otto Richter. Separatabdrud
aus dem vierumdvierzigfien Bande des Neuen Laufitifchen
Magazins. Görlitz, Wollmann. 1868. Gr. 8, 7Y, Ngr.
Richter hat es verfucht, „trog der mandherlei Vor⸗
urtheile, eine freie Bearbeitung der Minnelieder zu be-
ginnen; verfucht, durch diefe Bearbeitung den Gebildeten
unſers Volks Gelegenheit zur Würdigung jener poetifchen
| Schöpfungen zu geben, ohne daß fie es nöthig haben
Borftudien zu machen“. Er war ferner beftrebt, den gei-
fligen Duft diefer Blüten zu feffeln, während er für die
veraltete Form eine moderne zu weben fuchte Hier ift
ung ein Anfang des Vorhabens geboten; Richter hat mit
den älteften Liedern begonnen, bei benen ſich noch nicht
ber fremdländifche Einfluß bemerfbar macht, welcher feit
Heinrich von Veldeke erft allmählich eindrang, dann eine
Zeit Tang faft ausſchließlich herrſchte. Es find die Lieder
folgender Dichter: der Kürenberger, Dietmar von Aiſt,
Meinlod von Sevelingen, der Graf von Nietenburg,
Burggraf von Regensburg. Daran reihen fi) eine An-
zahl namenlos überlieferter Lieder. Am Schluffe find die
beiden geiftlichen Dichtungen: das Weihnachts- und Ofterlied
de Spervogeld mitgetheilt.
Eine allgemein orientirende Einleitung über die deutſche
Lyrik des Mittelalters überhaupt und deren frühefte Epoche
geht der einen Liederfammlung voraus. Ueber die ein-
zelnen Dichter ift das nöthige Literarifche und Biogra-
phifche gejagt. Die Uebertragungen verdienen Anerkennung,
obwol uns ber Ausdrud öfters zu modern erfcheinen will.
Nach diefen erften Berfuchen können wir ben Wunſch aus-
fprechen, daß der Ueberſetzer fih auch an bie Lieber
der jüingern Periobe wagen möge, doch bürfte hier vor
allem eine ftrenge Auswahl anzuempfehlen fein.
Die deutſche Literatur im Lateinifchem Gewande, bie
fogenannte Hof- und Klofterdihtung, welche vor unb in
der Üebergangszeit vom Althochdeutfchen zum Mittelhoch-
deutfchen uns vielfach einen Erſatz bieten muß fir man-
gelnde Denkmäler deutſcher Zunge, hat bisjeßt noch wenig
zu Mebertragungen und Nachdichtungen gereizt, nur ber
MWaltharius ift in diefer Beziehung nicht vernachläffigt
worden. Der neur'te Ueberſetzungsverſuch liegt uns in
folgender Schrift ı
3. Walther von Aquuunmen. Heldengebicht in zwölf Gefängen,
mit Erläuterungen und Beiträgen zur Heldenfage und My-
thofogie, von Franz Linnig. Paderborn, Scöningh.
1869. ©r. 16. 10 Nr.
Die berühmte Tateinifche Dichtung von Walther und
Hildegunde hat fchon oft zu Ueberſetzungen und Bearbei-
tungen gedient, welche die echt deutſche Erzählung des
fremden Gewandes entlleiden und fie fo bem heutigen
Geſchlechte wieder nahe zu bringen ſuchen. Auch Bictor
Sceffel fügte in feinem „Ekkehard“ eine Ueberſetzung cin.
Franz Linnig gibt der Arbeit Karl Simrod’8 den Preis;
nad ihm müffe jeder erneute Nach⸗ und Umbdichtungs-
verſuch als müßig und eitel erfcheinen, wenn jene biejenige
Berbreitung gefunden hätte, welche fie ihrer Bortrefflichkeit
wegen fo fehr verdiente. Der Umftand jedoch, daß das
Gedicht nur als Theil des „Kleinen Heldenbuch” erfchienen
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fei, habe bie Verbreitung beeinträchtigt. Die andern Stücke
des „Heldenbuch“ eigneten fi) nicht alle in gleichem Maße
zur Jugenbleltüre, einige müßten fogar gegründete DBe-
denen erregen. Franz Linnig unternimmt es daher,
„nach jahrelangem Zögern” ber Jugend eine neue Faſſung
bes Waltherliedes zu übergeben. Sein Beftreben war
darauf gerichtet, dem lateinifchen Driginale möglichft treu
zu bleiben, doch bat er fih auch — und wir glauben
mit allem Rechte — einzelne Abweichungen, Motivirungen,
auch eine Erweiterung des Gedichts um einige Strophen
zu Gunften eines guten Abfchluffes erlaubt.
Die Form der alten Dichtung ift der- Herameter,
welchen unter andern auch San-Marte in feiner Bears
beitung beibehielt. Der neue Bearbeiter wählte dagegen
die Nibelungenftrophe. Hätte fich vielleicht der Verſuch
wagen lafjen, die Alliteration anzuwenden, um den alten
Gedichte auch das alte Coſtum zu geben? Oder wenn
eine jüngere, uns zugänglichere und angenehmere Form
genommen werden follte, hätte es nicht näher gelegeii,
die Waltherliedftrophe, welche noch bazu mehr Beweglichkeit
befigt als die Nibelungenftrophe, neu zu beleben?
Linnig’8 Arbeit ift im ganzen gefällig. Im einzelnen
fallen ungewöhnliche Ausdrüde auf. Nach der trogigen
Rede Walther’s, daß Fein Franke fi rühmen dürfe, von
feinem Hort etwas erlangt zu Haben, folgt fogleih die
Neue, daß er fo ſtolz gefprochen. Bier wendet der Um⸗
dichter das niederdeutſche Wort „Gilp“ fir „übermüthige
Ruhmrede“ an, wie es auch fogleich in der Anmerkung
erflärt if. Wozu diefe Spielerei? Der Dichter hat bie
Schriftſprache feiner, Zeit zu reden, und es ninumt ſich
fehr geſchmacklos aus, wenn ein Wort im Texte eine
Erklärung nachſchleppt. Etwas anderes ift es, wenn der
heutige Dichter Ältere Worte wie Minne, Degen, Ferge
u. dgl. wieder in die Sprache einführt.
Eine Stelle gibt uns Anlaß, eine Aenderung für eine
etwaige neue Auflage zu empfehlen. Der Sachſe Edefrid
will ebenfalls mit Walther kämpfen und xuft ihn an.
Walther macht ſich Iuftig über feine celtica lingua, über
fein Kauderwelſch, wie man wol übertragen könnte.
Linnig hat nun verfuht, den Eckefrid aud wirklich)
ſächſiſch reden zu laflen, was gewiß fein übler Ge-
banfe ift:
Piſt du ein fleiſ⸗chlich Menſchenpild,
Oder triegſt du, Arger, mit einer Luftgeſtalt?
Mir gleichſt du einem Sochrate, der hier hauſt im Wald.
Das „fleiſ⸗chlich“ und „Sechrate“ ift richtig fächfifch,
natürlich niederfächflfch, insbefondere weftfälifch, aber „Piſt“
und „Pild“ ift e8 nicht, im Oegentheil, das wäre gerade
recht hochdeutſch. Auch font ift die Umfchreibung nicht
durchgeführt. Es könnte fo gefagt werden:
Biſt du ein fleeſtlik Minſchenbild,
Oder triegſt du, Arger, mit eener Luchtgeſtalt?
Mi glitft du eeme Skrate, de hie huſt im Wald.
Könnte der Dichter nicht gleich in diefen Berfen ein
dat oder wat anbringen, was als beſonders charakteriftifc)
bervorftechen würde? Die folgenden Worte Edefrid’s find
ebenfo umzufchreiben.
Der Tert wurde mit erläuternden Anmerkungen be-
gleitet, was durchaus zu billigen iſt. Linnig konnte bier
fo mancher Forſcher Belchrungen benugen, namentlich
[2
/
/
728 Kleine Schriften zur altbeutfhen Literatur.
die bed Dr, Heyder in Haupt's „Zeitſchrift“. Auch Namen-
beutungen find im Linnig's Anmerkungen verfucht, wicht
immer mit Glück. So foll Walthari die Bedeutung bes
Herrſchens zweimal enthalten, der Rame fei zufanımen-
gelegt aus walt vom Verbum walten (was durchaus
richtig ift) und hari, heri — Herr; hari ift vielmehr —
unferın Heer. Skaramund wird erflärt als Schlachten-
mund; ganz verfehlt: „mund“ im Namen ift vielmehr —
Schutz, Schirm, wie aud in Bormund, mündig. Auch
andere Erklärungen find nicht getroffen: unfer „Rede Hat
mit dem Worte „frech gar nichts zu thun.
Auf den Tert folgen, wie auch ſchon auf dem Titel
bemerkt ift, „Erläuterungen, Beiträge zur Heldenfage und
Mpthologie”. Es wird hier die Verbreitung und Fort⸗
entwidelung der Walther-Sage in durchaus fachgemäßer
Weiſe bejprochen, ſodann verfchiedene mythologifche Be⸗
züge in der Heldenſage; auch über die Alterthümer,
wie namentlich über die Bemwaffnungen, werben wir
belehrt.
In einem Anhange find die zerftrent erſchienenen Frag.
mente von Walthersliedern vereinigt: die angelfächfifchen
Bruchſtücke, die beiden mittelhochdeutfchen.
Wir empfehlen das Büchlein namentlich der reifern
Jugend. Eine zweite Auflage würbe außer verfchiedenen
Berbefjerungen und Wenderungen im Terte und in
ben Beigaben auch das eine noch zu gewähren Gaben:
eine vellere Correctur; der Drudfehler find mehr als
zu biel.
In den beſprochenen Büchern findet fi neben ber
Mittheilung der Texte in Urſprache oder Ueberſetzung
auch Literarhiftorifche Betrachtung und Unterfucgung.
Neuerdings ift die Aufmerkfamfeit vorzugsweife auf die
Quellen Bingelenft, beren ſich die Dichter des Mittel
alters bedienten, da fie der freien Erfindung nicht fo fol-
gen konnten, wie c8 den nenern geftattet ift. Nicht immer
ift die Benugung einer beftimmten Duelle zweifellos er-
wieſen, es liegen öfters verfchiedene Schriften vor, welche
ald Quellen gebient haben können; aber ohne nähere
Unterfuhung ift bie Entfcheidung nicht möglich. Solche
Dnellenforfhungen wird fein gewiffendafter Heransgeber
verabjäumen; wo fie»freilich verwidelt find, müſſen fie,
wozw Cinleitungen nicht immer dem ſchicklichſten Platz
abgeben, in monographifcher Weife angeftellt werben.
Wer die Zeitfchriften für deutfches Alterthum aus neuerer
Zeit darauf Hin anfleht, wird gewahren, daß ſolche
Duellenfragen bort ziemlich häufig niedergelegt find. Auch
verjchiedene größere und kleinere Schriften find felbftändig
erſchienen, welche ſich mit derartigen Aufgaben bejchäf-
tigen. Wir nennen hier ihrer zwei; zunächſt eine, welche
ih auf das beftimmte Werk eines beftimmten Autors be-
ſchränkend zugleich der ſtofflichen Entwidelung der behan-
beiten Sage nachgeht:
4. nn Me ah bes rdregorin⸗ —— von Ane,
von Friedri old. Inauguraldifſertation. Yeipzi
9. Fritzſche. 1869" er. 8. Tr iR,
Bor nicht Langer Zeit wurbe dieſe Frage nach ber
Duelle des Hartmann’fchen „Gregorius“ von Joſeph Strobl
in Pfeiffer's „Germania“, XII, 188, zu beantworten gefucht
(vgl. Ar. 40 d. BL f. 1868). Wir beflgen ein latei⸗
niſches Gedichtbruchſtück, welches H. Leo in Nr. 352
Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur, 129
db. DL. f. 1837 zuerſt veröffentlichte und dann Grimm
und Schneller in den lateinischen Gedichten bes 10. und
11. Jahrhunderts aufnahmen. Grimm fah in ihm bie
Duelle Hartmann's. Wir befigen ferner ein vollftändiges
altfranzöfifches Gedicht „Vie du pape Gregoire le Grand“,
welches Bictor Luzarche herausgab (Tours 1857). Lu⸗
zarche glaubte, Hartmann Gabe nach diefer franzöfifchen
Dichtung gearbeitet. Strobl ftellte genauere Vergleiche an,
und kam zu dem Ergebniß, daß das Iateinifche Gedicht
nur die mittelbare Duelle fei; es gehöre ber Vorlage an,
aus der Hartmann's directe franzöfifche Quelle gefloffen fei,
von ber bie uns allein vorliegende Dichtung bei Luzarche
verfchiebentlich abweiche.
Lippold begnügt fich nicht mit diefem Reſultat. Er
nimmt nochmal® genaue Bergleichungen vor, die zugleich
die Dichterthätigfeit Hartmann’8 beleuchten, und zeigt
uns einen andern Weg. Das lateinifche Bruchſtück ift
bei ihm bald zur Seite gefchoben, benn er führt ben Be⸗
weis, und ich glaube, e8 ift ihm dies gelungen, daß das
lateiniſche Gedicht, ftatt Hartmann’8 Duelle zu fein,
vielmehr unigefehrt als Ueberſetzung nah Hartmann zu
gelten habe. Die Bergleihung mit dem franzöfifchen
Gedicht bei Luzarche führt zu dem Ergebniß, daß der
deutfche Dichter von diefer Borlage nicht unmittelbar ab»
bängig fein lönne wegen der allzu großen Abweichungen
an verfciedenen Stellen bei fonftiger Uebereinflimmung.
Diefes Ergebniß ift, wie man leicht fieht, noch meniger
pofitiv al® das von Strobl gefundene. Wir willen jest,
daß weder dus lateinifche noch das vorliegende franzöfifche
Gedicht Hartmann’s Duelle fein kann, aber ein negatives
Refultet ft auch eins. Die unbelannte Quelle kann
nun eine Lateinische oder eine franzöfifche Faſſung fein.
Möglich, daß uns ein glüdlicher Fund hierin noch Ge-
wißheit bringt.
Der zweite Theil der Abhandlung befhäftigt ſich mit
ber Geſchichte der Legende, welche bekanntlich eine Art
Dedipusfage ift. Lippold weift einen Zufammenhang mit
diefer alten Sage nicht zurüd, geht die Wandlungen
durch, welche dieſe im Laufe der Zeit erfahren, gedenkt
der verwandten Sagen, wie unter andern der vom hei«
ligen Albinus und ber ferbifchen Legende vom Findling
Simon und kommt ſchließlich auf die Erzählungen von
Gregor. Drei kennen wir bereitt. Nah Hartmann ifl
ferner ein Iateinifches Gedicht in Herametern gearbeitet,
von ber Eriftenz eines englifchen Gregor haben wir nur
eine Nachricht, ferner befiten wir eine wol auf fran«
zöſiſcher Borlage beruhende profaifche Sufammenziehung
der Legende in ben „Gesta Romanorum‘‘, und ſchließlich
das bdeutfche Vollsbuch. Lippold nennt nur Simrock's
Bearbeitung, einen alten Drud erwähnt Görres in feiner
befannten Schrift über die Vollsbücher. *)
Die Schrift Lippold's iſt nit nur fleißig und gut
diöponirt, und erjchöpft fo ihren Stoff, fondern fie ift
zugleih ein trefflicher Beitrag zur Charafteriftit einer
unferer liebenswürdigſten Dichter des Mittelalters; bei
aller Beſchränkung auf deu zunächft liegenden Gegenſtand
läßt fie uns auch im allgemeinen einen Blick thun in die
au te Siegen ht Sea dat Inge Bee ae
1) im fepwebifiger Oprade, 2) al® fpanifhe® Drama, und teilt 3) eine buls
garifge Faſſung mit.
1870, «.
geiftige Werkftätte der Vorzeitdichter. Sie zeigt ferner
ben engen Zufammenhang, den die deutfche Philologie
mit der romanifchen hat und haben muß, wenn eine
tiefere Kenntniß der beiderfeitigen Literaturen gewonnen
werden fol.
Einen weitern Kreis al8 die Abhandlung von Lippold
unschreibt bie folgende Schrift, melde uns deshalb
befonders intereffiren muß, da es fih auch in ihr um
die Feſtſtellung der Duellen von einigen altdeutjchen
Dichtungen handelt:
5. Die Sage vom trojanifchen Kriege in den Bearbeitungen
bes Mittelalters und ihre antiken Quellen. Bon Hermann
Dunger. Leipzig, Bogel. 1869. Gr. 8. 16 Nor.
Unter allen Sagenkreifen des Alterthums ift feiner
mit folder Vorliebe gepflegt und in allen feinen Aus-
läufern fortentwidelt worden wie der vom Zrojanifchen
Kriege. Man fann fagen, daß fein antiker Sagenkreis,
felbft nicht der von Alexander dem Großen, eine fo all-
gemeine Verbreitung auch in der Zeit des Mittelalters
fand wie gerabe diefer: nicht nur daß es viele, zum heil
umfangreiche Bearbeitungen des Zrojanifchen Kriege gab,
und zwar faft in allen europäifchen Sprachen bis zu dem
Norden Islands hinauf, es leiteten fogar viele Völker
nach dem Borgange der Römer ihren Urfprung von den
Trojanern ab. Der Grund bdiefer Beliebtheit iſt eines⸗
theils wol in dem hohen Anſehen zu fuchen, welches
Birgil im ganzen Mittelalter genoß, anderntheils Hatte
der Stoff — Dunger nennt ihn nicht mit Unrecht einen
romantifhen — an fih etwas Anziehendes für das
Mittelalter, namentlich ſeitdem durd die Kreuzzüge bie
Blide des Abendlandes nad dem DOften hingelenkt waren.
In den mittelalterlihen Bearbeitungen dürfen wir freilid)
nicht die Geſtalten Homer's fuchen; nicht nur das äußere
Gewand, in weldem uns die Sage entgegentritt, trägt
einen fremdartigen Charakter, auch “der Stoff felbft weicht
oft wefentlih von den uns geläufigen antifen Ueber-
lieferungen ab. Die Aufgabe, welche fi) Dunger vor-
gefett, die mittelalterlihen Bearbeitungen des Trojanifchen
Kriegs näher zu betrachten, und namentli die antiken
Quellen, auß welchen jene gefhöpft find, einer eingehen-
den Prüfung zu unterziehen, ift gewiß in hohem Grade
anziehend und lohnend. Dunger befchränft ſich bei feiner
Unterfudung auf die abendländiſchen Darftellungen. Er-
wähnenswerthe Borarbeiten find zuerft Cholevius’ treff-
liches Buch über die „Geſchichte ber deutfchen Poeſie
nad ihren antiken Elementen‘, und fodann die Ueberficht
über die Erwähnungen ber Trojanerfage in der mittel⸗
alterlichen Literatur, welche Karl Bartfch in feinem Werte
„Albrecht von Halberftadt und Ovid im Mittelalter‘
gegeben,
Zuerft werden „Die antiken Quellen ber mittelalter-
lichen Trojanerkriege“ befprochen. Die Hauptquelle ift die
fpät lateinifche Erzählung des fogenannten Dares Phry-
gius. Dunger führt den Nachweis, einmal daß ein
griechifcher Dares nicht eriftirt, und zweitens, mas burch
das ganze Buch immer feftgehalten und betont wird, daß
ed einen ausführlichern Dares als ben uns vorliegenden
nicht gegeben hat. Dem Dares reiht fih an: der Dictys
Cretenfis, ſodann Homer, aber nicht der alte und echte,
von dem man im Mittelalter nichts wußte oder nicht
92
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730 Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur.
viel Hielt, fondern die unter dem Namen bes Pindarus
Thebanus uns überlieferte „Epitome Iliados Homericae“.
Zu diefen drei Schriftfielleen Tommen als andermeitige
Quellen nod; hinzu: Ovid, Virgil und Statius.
In einem weitern Kapitel werben bie lateinifchen
Gedichte des Mittelalters vom Trojanerkriege genannt,
geihildert und auf ihren Inhalt hin mit Beziehung auf
die benugten Duellen geprüft. Einen wefentlih andern
Eindruck als diefe gelehrten Arbeiten, welche trog mander
Freiheiten dennoch im allgemeinen das Gepräge des Alter-
thuns an fid) tragen, machen die Trojanerlieder der höfi-
fen Dichter, in welchen bie Helden des Alterthums zu
mittelalterlichen Rittern werben. Ihnen widmet ber Ber-
faffer in feiner Schrift befondere Betrachtungen. Der ältefte
diefer romantifchen Dichter ift der nordfranzöfifche Trou ⸗
vere Benoit de Sainte-More (III), welcher um bie Mitte
de8 12. Jahrhunderts blühte. Seine Hauptquelle ift Da-
res; wo biefer nicht mehr ausreicht, folgt er dem Dietys;
nebenbei benugt er gelegentlich Ovid, Virgil, Julius
Honorius Orator und wahrfcheinlich Drofins. Die
Epifode vom Liebesverhäftniß zwifchen Brifeida und Troi-
lus ift von Benoit erfunden. Ans Benott übertrug fie
Guido von Columna in feinen lateiniſchen Roman von
Troje, aus Guido entlehnte fie Boccaccio, welcher fie in
feinem „Filostrato“ felbftändig bearbeitete und Brifeida
zu Grifeida umänderte. Aus Boccaccio entnahm diefen
Stoff Chaucer in feinem „Boke of Troilus and Creseida”,
und aus legterm ſchöpfte hauptſächlich Shaffpeare.
Der ültefte deutfche Nachfolger Benott’s ift Herbort
von Fritslar (IV). Ueber ihn faßt ſich Dunger kurz, da
in ber Quellenfrage Frommann in feiner Ausgabe von
Herbort's Lied von Trope, wie auch in einem Auffage in
Pfeiffer’s „Germania“ ſchon voransgegangen iſt.
Eingehender ſpricht der Berfaffer über Konrad von
Würzburg (V), von welchem bie bebentendfte Feiftung des
Mittelalters auf dem Gebiete der Trojanerfage herrührt.
Konrad’ Hauptquelle ift Benoft, aber er ergänzt und
erweitert biefe feine Vorlage aus Ovid's „Heroiden” und
„DMetamorphofen” und aus ber „Adjilleis” des Statius.
Das gerechte Urtheil Dunger’8 über die glänzenden Bor-
züge Konrad's wie über feine Schwächen unterſchreibe
ich Wort fir Wort. Auf diefes Urtheil möchte ih um
fo lieber hinweiſen, als Konrad meiftens über Gebühr
unterfhägt wird.
Konrad’8 unvollendetes Werk ift von einem uns un-
befannten Dichter zu Ende geführt worben, welcher einer
andern Quelle folgt, nämlich bem Dictys, daneben finden
ſich Anflänge an Dares und Virgil. Der Fortfeger ar«
Beier phantaflelos in firenger Abhängigfeit von feiner
elle.
Auch nad) Italien drang Benoit’8 Wert. Dort wurde
es don Guido be Columna (VI) in einen lateiniſchen
Profaroman umgearbeitet; außerdem benutzte Guido ver»
einzelt den Dares. Dunger faßt die „Nachfolger Guido’s
und Konrad’s in einem Kapitel (VII) zufammen. Auch
der Dramen des Hand Sache wird Hier gedacht, melde
der Trojanerfage angehören. Außerhalb der zulegt ber
hanbelten Gruppe von Bearbeitungen dieſer Sage fteht
der Trojanerfrieg bes Pſeudo · Wolfram von Eſchenbach (VII).
Der Berfaffer benugt Teine beftimmte Quelle; er jcheint
aus dem Gebädtnig allerlei Darftellungen niedergeſchrie -
ben zu haben mit Hinzufügung einer Fülle eigener Er—
findungen.
Das letzte Kapitel (IX) Handelt von der nordiſchen
Trojumanna Saga. Ihre Hauptquelle it Dares, dieſer
wird ergängt in der Argonautenfage au Dvid, in dem
Trojaniſchen Kriege aus dem Lateinifchen Homer; den Schluß
macht Birgil; die eingeflochtenen Erzählungen aus der
Mythologie find aus Theodulus und Dvid entnommen.
Zur befiern Weberfiht über das Verhältniß der eins
zelnen Bearbeitungen zu ihren Onellen ift am Schluffe
eine Tabelle beigefligt.
Aus der gewonnenen Thatſache, dag der Dares des
Mittelalters identiſch ift mit dem uns überlieferten, er—
gibt ſich zugleich ais intereffanter Beitrag zur Cultur«
geſchichte jener Zeit, „daß das Mittelalter durchaus nicht
ganz losgelöft war von den Traditionen des Alterthums“.
Auf verhältnigmäßig knappem Raume ift in Dunger’s
fleißiger, echt wiſſenſchaftlicher Arbeit eine der umfafjend-
fen Fragen in lichtvollſter Weife behandelt und beant-
worte. Des Verfaſſers Darftelung und Schreibart iſt
in hohem Maße gewandt, woburd die Lektüre feiner jo
gelehrten Abhandlung weniger eine Arbeit als ein Ber-
gnügen ift.
Die Unterfuhungen über die Benugung der Quellen
find literarhiſtoriſcher, zum Theil auch antiguarijcher
Natur. Zugleich aber ſchließen fle bedingungsweife aud)
ein fünftlerifches, Afthetifches Element in fi, welches,
foweit mir bisjegt die Dichterthätigfeit unſerer mittel-
alterlihen Poeten zu beurtheilen vermögen, meift mur
vorübergehend berührt wird. Es wird aber die Zeit kom—
men, wo bie zu ſichern Nefultaten gelangte Quellenfor-
hung auch oder ausfcjlieglich Mittel ift zum Zwed der
äfthetifcden Beurtheilung.
Eine andere fünftlerifche Seite betrifft die Form,
welche unausgefegt die Forſchung angeregt Hat und nie
aufhören wird zu immer neuen Beobachtungen zu reizen.
Bisjegt haben die metrifchen und rhyihmiſchen Studien
fich vorzugsweiſe im Gebiete des Stofflichen bewegt, fo fein
und buftig dies aud; fein mag. Der xhetorijchen Seite
wird ſich erft in Zukunft die Aufmerffanfeit zuwenden.
Die folgende Meine Schrift hat es auch mit einem
geroiffermaßen techniſchen Elemente der Dihtkunft zu thun,
zu befien wirklichem Verſtändniß der Verfaſſer weſenilich
beigeſteuert hat:
6. Ueber Otfrid's Versbetonung von Richard Hügel. Leipzig,
Bogel. IN ©. 8. ft Nor. oerh gua Mi
Die Einzelheiten find fo fpecieller und gelehrter Art,
daß wir hier über fie Hinmeggehen miüfjen. Wenn ich
Hügel’8 Abhandlung hier erwähne, fo kommt es mir dar-
auf an, die für bie Literaturgeſchichte wichtigen Ergebniffe
hervorzuheben.
Seit Lachmann's grundlegendem Aufjage über alt-
hochdeutſche Betonung und Verskunſt ift nad) Hügel’s
Anſchauung nichts von Belang veröffentlicht worden, was
ſich auf die Metrit der ältern Periode fpeciell bezöge und
igre Erfenntniß förderte. Das ift richtig, fobald wir das
Bort „von Belang“ betonen. Kelle's in Ausficht geſtelite
Metrit Otfried's wird noch lange auf fd) warten laſſen,
darum ift es ganz wohlgethan, wenn verſucht wird da
Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur. 731
anzufnüpfen, wo Lachmann aufgehört hatte. Wie feft
auch die von Lachmann gefundenen Regeln ftehen, fo kann
es doch nicht fehlen, dag im einzelnen andere Grundfäge
aufgeftelt und begründet werben. Auch Hügel befindet
fid) in einer Richtung im Gegenfag zu Lachmann. Wer
vorurtheilsfrei bie von Hügel vorgebrachten Beweife nadj-
prüft, wird ihm recht geben müffen, woburd) Lachmann's
unfterbliches Verdienſt nicht im mindeften gefhmälert wird.
Die Metrif, wie fie am beutlichften und bewußteſten
in Otfried's Evangelienbuche gehandhabt ift, wurde von
Lachmann und feinen Nachfolgern auch auf andere Dich-
tungen, fogar auf alliterirende des althochdeutſchen Zeit-
raums übertragen. Dagegen ift ſchon von anderer Seite
aus Einfpradhe erhoben worden. Hügel wirft am Schluß
feiner höchſt fleißigen, wohlgeorbneten und an feinen Ber
merfungen reichen Abhandlung einen Blid auf diefe an»
dern Dichtungen. Sie find zum Theil den aufgeftellten
metrifchen Gefetzen nicht entgegen, andere aber gehen ihren
befondern Weg. .
Das „Hildebrandalied‘ — fo urtheilt nun au Hügel —
fügt ſich den aus Otfried abgeleiteten Betonungegejegen nicht;
dies macht die fonft wol gerechtfertigte Aunahme von vier Her
bungen in etwas bebenllid), weni, —* muß man ſagen, daß
der Dtfrieb’fhe viermal gehobene Vers in ihm nicht zu finden
ift. Vom „Muspilli' Hat Mülenhoff e8 mir nicht wahrſcheinlich
gemacht, daß in ihm der Vers von vier Hebungen burdzufüh-
ren ſei. Ganz verkehrt aber ift es, wie namentlich Feußner
gethan hat, aus den Meinern alliterivenden Gedichten, indem
man fie diefem Schema gemaltfam anpaßt, merkwürdige Ge-
fege abzuleiten, während man doch erſt bie Anwendbarkrit die-
fe® Versſchemas auf fie erweiſen müßte.
Man darf begierig fein, zu erfahren, zu melden Re⸗
fultaten die künftige Metrik Otfrieb's von Kelle gelan-
gen wird.
Suchen die Ueberfegungen die ältere Literatur unferer
Gegenwart wieber nahe zu bringen, fo ift daneben ber
andere Weg betreten und verfolgt worden, die Urterte
diefer alten Denkmäler durch Erklärung zugänglich zu
maden. Solche Beftrebungen reihen weit zurüd, fie
“haben ſchon ihre Geſchichte; an ihnen ift deutlich wahr-
zunehmen, wie hier das Intereſſe ſowol wie das Ber
fändnig nad) und nad) gewachſen ift. Erſt in neuerer
Zeit wurde bie Erflärung altdeutfcher Schriftwerke mit
theovetifchen Bewußtfein vorgenommen, die in den Zeiten
des Anfangs nad dem jeweiligen Bedürfuiß oder nad)
fubjectivem Ermeflen geſchah. Mit der Theorie ift natür-
üch auch ſogleich der Widerſpruch Herausgefordert. Dem
Widerſpruch gegen ein bekanntes, nicht mit Ungunſt
aufgenommenes Unternehmen verdankt, wenigſtens zum
Theil, die folgende kleine Schrift ihre Entſtehung:
7. Einführung iu das Studium des Mittelhochdeutſchen. Zum
Selbſtunterricht für jeden Gebildeten. Bon Inlius Zu-
piga. Oppeln, Reifewig. 1868. Gr. 8. 16 Ngr.
Ein fehr wohlgemeintes Bud. Zupitza möchte durch
feine Arbeit jedem, der ben ernften Willen Hat, Mittel
hochdeutſches verftehen zu fernen, das lebendige Wort eines
Lehrers, der nicht für jeden zu erreichen ift, nach Mög-
lichkeit erfegen. Er wählt dazu das „Nibelungenlied“,
aber nicht das ganze, fondern nur den Abfchnitt, der
von der Werbung des Burgunderfönige Gunther um
Brunhild von Ifenftein Handelt. Er überfegt Strophe
für Strope, beſpricht die grammatifh wichtigen Dinge,
erflärt die und verloren gegangenen ober in der Bebeu-
tung veränderten Worte, macht auf bie ſyntaktiſchen Eigen»
thumlichteiten aufmerffam und zieht aud die Metrit her
bei. Dies alles in fachgemäßer tüchtiger Weile. Wollte
man im einzelnen fritificen, fo ließe fi Hier und da
etwas ausſetzen, aber im allgemeinen kann Zupitza's An«
feitung mit doller Ueberzeugung empfohlen werben.
Bei der pädagogifchen Tendenz des Schriftchens hät-
ten wir feine Veranlafjung, ihm in d. Bf. cine Bes
fprehung zu widmen, wenn nicht im Vorwort eine Stelle
vorkäme, welche uns auf das literarifche Gebiet weilt.
Zupiga nämlic) kommt hier, wo er die Nothwendige
keit betont, bie Schäge unferer erften claſſiſchen Fiteratur«
periode in das geiltige Peben der Gegenwart wieder ein»
zuführen und fie in der Urſprache, micht in Ueberſetzung
zu genießen, auf das befannte Unternehmen Franz Pfeife
fer's und feiner Genofjen zu ſprechen; er erfennt das
Berdienftliche deiielben an, „allein der Weg”, fett er Hinz
zu, „den fie (jene Männer) eingefchlagen haben, muß
mir als verfehlt erjcheinen. Ihre Ausgaben bezwecken
nur mechaniſches Verſtandniß der jedesmal vorliegenden
Stelle, nicht zugleich Eindringen in die Sprache, befons
ders in ihren grammatifchen Bau, welcher befähigte, aud)
ohne ſolche Ausgaben mit alleiniger möglichft befchränfter
Benugung des Wörterbuchs Mittelhochdeutſches zu leſen.“
Afo „verfehlt“ erſcheint dem jungen Gelehrten das
Unternehmen wegen feiner Form. Das ift freilich höchſt
betrübend für die Herausgeber, allein das Unglück ift ein-
mal gefchehen, das Unternehmen ift im Gange, ein Band
folgt dem andern, von den erften Bänden find boppelte,
von Walther von der Vogelweide fogar drei Auflagen
nöthig geworben. Somit ſcheint das deutjche Publitum,
und unter ihm gewiß auch eine Anzahl gelehrter Leute,
die Pfeiffer'ſche Clafjiterfanmlung doch nicht als ein vers
fehltes Unternehmen betrachtet zu haben, Was Zupitza
als einen Fehler rüigt, ift gar feiner, Daß die Art der
Erklärungen, die ganze Einrichtung noch der Berbefferung
fähig ift, leugne ich am wenigften, der id) der Samm—
tung feit ihrem Beginn meine Dienfte gewidmet und auch
zwei Bände felbjt herausgegeben habe. Wir Herausgeber
wollen gar Feine Spracjlenntniffe principiell fördern um
ihrer felbft willen, wir beabjichtigen Stellenerflärung, die
immer das erfte Ziel philologijcher Thätigfeit geweſen ift.
Zupiga ſcheim allen Ernftes zu glauben, die Claffifer«
fammlung wäre dazu da, um mittelhochdeutſch zu lehren,
während der Zwed ein literarifcher und dann ein äftheti«
ſcher if. ;
Zupiga fucht nun auf andere Weife zu erflären; e
bietet eine Art Präparation oder, wenn man will, eine
Art Collegienheft. Geſetztenfalls, es mähme fichicimLich-
Haber der alten Sprache und Liierature dit MAERSiefe
Anleitung, tüchtig durchzuarbeiten, gtgtiöt IHRE" Bhfäiter,
daß ein folder dann im Stande Bet, ‚den Kanye von
der Vogeiweide friſchweg Nu — V—— Pder
i ansHihrlicher
Weiſe erflärt .merbend Bert holktnDdenniobagiralinärkien,
folen die andern Schräätitehennand „it ı
mer folte ſolche Biicher ntihfenköct die BurlegehmrnT
Zupige’s Unternehmen iſt gang Topp "Hh“gte "Aber
es ift beinahe fühn, ein ſolches Bud Kelle
92 *
9
=
132
der Pfeiffer’fchen Glaffiterfammlung in Verbindung zu
bringen. Diefe „Einflihrung” in das Studium des Mittel
hochdentfchen bat ihre Berechtigung, aber es beburfte nicht
Eine neue Dichtung von Adolf Böttger.
zu ihrer Motivirung und Empfehlung einer Gegnerfchaft
gegen ein Unternehmen, welches viel Höhere Ziele verfolgt.
Reinhold Bechſtein.
Eine nene Dichtung von Adolf Köttger.
Das Galgenmännchen. Dramatifche Märchendichtung von Adolf
Böttger. Leipzig, Kormann. 1870. Br. 8. 1 Thlr.
Ein Lebenszeichen bes erkrankten Dichters, der durch
feine anmuthige Formgewandtheit und bewegliche Phantafie
wie durch fein ſeltenes UWeberfegertalent fo viel Erfreu-
liches geleiftet hat, wird gewiß allgemein willfommen fein,
um fo mehr, wenn ber Inhalt ein fo origineller ift wie
in diefem „Galgenmännchen“, ein Thema, welches, in ben
Zeiten des Tieck ſchen „Phantafus” behandelt, dem Dichter
gewiß eine Stelle unter den damals modifhen Romanti⸗
fern verichafft Hätte; denn der Stoff erinnert an den
„Fortunatus“, welchen Lubwig Tieck in fo umfafjender
Märchendichtung behandelt Hat.
Adolf Bottger's Behandlungsweife unterjcheidet ſich
indeß wefentlich von der romantifchen, welche fi nament-
lich in einem vomanifchen Strophencarneval, in Stanzen,
Sonetten, Terzinen gefiel und ihren Humor in Concettis
und etwas altfräntifhen Wigturnieren, „Euphnismen‘,
nach Lilly's und Shalfpeare’8 Vorgang zuzufpigen liebte.
Adolf Böttger hat zwei Borbilder — Goethe und Byron,
jenen namentlich, für die genrebilblichen und humoriſtiſchen
Scenen, biefen für die Ergüffe mit poetifchem Schwung.
Es ift der Stil des „Fauſt“, der und aus dem Gedicht
am meiften in die Ohren klingt, bis in bie baftyliich
ſchwebenden Chorgefünge hinein. Auch die Vorliebe für
die dialogifch infcenirten Genrebilder, die im Vergleich zu
dem Umfang der Dichtung eine fehr große Breite in An-
ſpruch nehmen, gemahnt an bas Goethe’fche Vorbild. Die
Scenen im Weinſchank zur „Stadt Zürich” gemahnen an die
Scenen in Auerbady’3 Keller, die Scenen auf bem Marft-
plas an den Jahrmarkt in Piundersweilern, während bie
Scenen des Mastenballd an den zweiten Theil von Goethe's
„Fauſt“ erinnern, ebenfo bie Schatten des Hochmuths,
der Armuth, der Erinnerung an die allegorifchen Geftal-
ten, mit denen der greife weimarifche Poet die ftodenbe
Handlung des zweiten Theil feiner Fauftdichtung in Fluß
zu bringen fudhte.
Ganz in die Byron'ſche Manfred- Stimmung verfegt
uns bagegen der folgende bichterifch -fchöng Monolog:
(Später Abend. Der Mond geht auf, Über Felfen, Walb und
tiefe Schluchten fcheinend.)
Theobald.
So bin id) denn verfioßen und verlaflen,
Berdbammt zu namenlojer Oual! "
Noch einmal will id dich, Ratur, umfaffen,
Noch einmal — body zum Teßten mal.
Hoch Über mir die Gletſcher, diefe blanten,
Eifigen Nachbarn der Geflirne,
Zur Seite fleil die wildgezadte Firne,
Barhänptig, ohne Schmud Iebend’ger Ranken,
Darunter wild und böllenmädhtig
Die grauenvolle Schlucht,
Durch deren Bucht,
Erhaben prächtig,
Erhellt vom Mondes Silberſtrahl,
Die wilden Wafſſer ſtürzend ſchäumen,
Und mit der Wellenkämme Bäumen
Herniederdonnern in da tiefe Thal.
Dicht Über diefer Schluchten grauf’ge Radıt
Hält mandje Fichte, die bei Sturmeswettern
Die rollenden Feljenftüde niederfchmettern,
Als trener Steg die Waffer üÜberdacht.
Und auf dem Etege, fröhlich fingend,
Sein Hab’ und But anf firammer Schuiter ſchwingend,
Wallt furchtlos, leicht ein Wanderer dahin;
Der Glücliche!
Gewiß bat er fein Weib, fein Tiebes Kind im Sinn!
Dod ih? — —
Meh! ich bin fertig mit der Zeit und Welt,
Mir ift das Leben durch mid) felbft vergäft.
Sollt' ich das Leben friſten no in Schmach,
Mir jelbft zur Laſt? —
Nicht geb’ ich Tänger nad!
Beſchloſſen iſt's — mir griufi aus jedem Strauch
GSeipenfterbaft ein drohendes Geſicht;
Erſchütternd weht um mid ein Geiflerhaud),
Daß mir das Herz faft vor dem Tode bricht!
Das Licht des Monde umfchleiern Wollen dicht!
Weh mir! —
Wir wollen durch bdiefen Hinweis nicht bie Selb-
ftändigfeit der Dichtung verdächtigen; es ift ja das Los
aller heutigen Pocfie, daß man nad ihrem Stammbaum
und ihrer Ahnentafel fragt. Der Stoff. der Böttger'ſchen
Märchendichtung hat manche höchſt originelle Seite,
Theobald , eines armen Edelmanns Sohn, deſſen
Mutter fchon bei der Geburt farb, zeigt auf der Schule
wenig Sinn für die hohe Wifjenfchaft, da ihn feine Phan⸗
tafle in eigene Bahnen hinzieht. Als nun auch der
Vater firbt, nimmt er Dienfte bei dem benachbarten För«
fier, um friſch und frei die Waldnatur zu genießen. Da
gerieth er aber in wüſte Gefelfchaft, wurde vom Förſter
entlaffen — und mußte feiner Piebe zu der fanften Martha
entfagen, weil bie fterbende Mutter nicht das Kind in
eines Wüſtlings Hände legen wollte. Martha gibt den
Ring zurid und ſchwört, jeben Gedanken an Theobald's
Liebe aufzugeben; die Mutter ſtirbt getröftet.
Das ift die erſte Scene der Dichtung. Die zweite
bringt und jenen byronifirenden Monolog. Theobald will
fih, nachdem Hochmuth, Armuth, Erinnerung ihm er-
fchienen find, in die Flut flürzen, als ein Mann in
Schwarzer fpanifcher Reitertracht ihn zurückhält. Cr bietet
ihm eine billige Gabe an, durch welche ex als reichfter
Cavalier und Liebesheld leben Tann:
Weiß nicht, ob Ihr geheime Weſen kennt,
Die man gewöhnlich „Galgenmännchen“ nennt,
Und die fo manchen lieblich ſchon bethört.
Sind Teufelden, in Gläslein eingefchloffen.
Wer fold) ein Glas befigt, wird nie berdroffen,
Denu er gewinnt von ihm, was nur das Leben
Des Schönften, Sinnlichſten vermag zu geben,
Eine neue Dichtung von Adolf Böttger. 733
Bor allen Dingen unermeßlid Gold.
Das Männlein ftellt nur den Beding dagegen,
Daß der, dem es auf Erden bienfibar hold,
Nah feinem Tod es drunten müſſe pflegen.
Das heißt, wenn der Beſitzer, eh’ er ftirbt,
Den Heinen Geiſt nicht von ſich abgemenbet.
Dies muß durch Kauf gefchehn. Wer e8 erwirbt,
Zahlt wen’ger, als ber Borige geipenbet.
Meins Toftet zwei Dulaten; — gebt mir einen,
Und es ift euer.
Seifterhöre von oben und von unten fuchen Theo-
bald's ſchwankenden Entfchluß verfchiedenartig zu beftim-
men. Sein Hauptbedenken, daß er fein Geld hat, ent-
fräftet der Spanier durch den Rath, in ben Weinſchank
zur „Stadt Zürich” zu gehen und fidh dort einen „hel-
fenden Kumpan“ zu fuchen. Dort borgt Theobald in der
That von dem Wirt ein Goldftiid und kauft das „Galgen⸗
männlein”, .
Die Scenen im Weinfhant find fehr lebendig; das
Lied ber Studenten vom heiligen Paulus ift durchaus
frifh und volksthümlich:
Solo mit Chor.
Zu Leipzig im Panlinum,
Da ftebt der Heil’ge Paulns,
Doch wünſcht man den Gambrinum
Biel lieber als den Saulus.
Sehe Ellen von der Erde
Steht er mit feinem Schwerte;
Er wacht am Kirchengiebel
Mit aufgeſchlagner Bibel.
Chor.
Baulne, warum, warum
Wendſt du das Blatt nicht um?
5 Solo.
Wenn er die zwölfte Stunde
Zu Mitternadt hört ſchlagen,
Soll dem Studentenbunde
Ein Stern des Fortſchritte tagen.
Panl ſchlägt dann auf dem @tebel
Ein Blatt um in der Bibel
Und lämpft mit feinem Schwerte,
. Daß Licht und Freiheit werde.
Chor.
Paulus, darum, darum,
Wende das Blätthen um!
Solo,
Studenten gehn vorüber:
Mag's jchlagen, mag es tagen!
Wir grämen uns nicht drüber,
Hört er's nicht zwölfe fchlagen.
Beim Alten zu verhbarren,
Das macht uns nit zu Narren.
Wer will mit dreiften Händen
Die Privilegien fchänden ?
Chor.
Baulus, darum, darum
Wende das Blatt niht um!
Solo.
Der Paulus ift von Steine,
Kann nit das Blättlein wenden,
Doch ihr von Fleiſch und Beine
Könnt manchen Unfug enden.
Bir flehn vor den Gerichten
Ar glei an Recht und Pflichten.
Iſt feiner, den's beflimmert,
Der falſches Hecht zertrlimmert?
Chor.
Brüber, darum, darum
Wendet das Blätthen um!
Auch fonft enthält die Scene drollige Einfälle, wie
3. B. glei) am Anfang, wo der eine Weinreifende das
Monopol des Deliriums für fih in Anſpruch nimmt:
Meinreifender (dem andern zutrinfend,)
Karl! du Haft das Delirinm!
Anderer.
Meinshalb! was kümmerſt du dich drum?
Seh’ ih in jeder Ed’ auch Mäufe
Und Raten, Spinnen, Uhrgehäuſe,
Drin Ihwarze Männer Infiig ſpringen
Und immer, immer tictac fingen,
Das geht di, Bruder, gar nidhts an.
Der Wafferfrug madt nimmer Hug und dreift,
Der Wein ift der Porten heil'ger Seit
Die legte. Behauptung ift doch nur gültig mit großer
Einfhränfung. In der Weinlaune ift noch fein unfterb-
liches Lieb gedichtet worden.
Driginel ift auch der Pedant Engelöberger, der fein
ganzes Leben „nach Principien” führt und als er feine
drei Hauptgrundfäge erpliciren will, das dritte Princip
auf einmal nicht mehr finden Tann.
Im Befig des dämoniſchen „Salgenmänndens” gibt
ſich Theobald nun dem Glück der Liebe Hin, das er in
den Armen einer Hetäre Helene findet, troß ber begriin-
beten Einwendungen, welche der Geift der Wehmuth gegen
dies Glück macht. Im Gegeuſatz zu den frivol beleuch⸗
teten Salonfcenen ftehen die Scenen in ber Hütte der
Martha, welche mit dem Einfiebler Gregor fromme Dia-
Inge führt. Wir erfahren aus biefer Unterhaltung, daß
Theobald der Martha große Summen Goldes gefchidt
bat, welche diefe aber zurückwies. Dagegen ift fie im
Beſitze eines Amulets, welches ihr die fterbende Mutter
gab, einer Seltenheit ans ber älteften Zeit der Franken,
mit welcher es, wie uns der Eremit auseinanderſetzt, fol«
gende Bewandtniß hat:
Biſchof Remigius bat fi dies Heine Stüd
Bom Köni Ehlebwig als Gejchent erbeten,
Indem er Hab’ und But, fein ganzes Erbenglüd
Der Kirche Chriſti frendig abgetreten.
Die allerfleinfte Minze wollt’ er nur,
Doch mit des Könige Bild, zum Angedenten;
Das theuerſte von feines Herren Geſchenken
Trug er fie Zag und Nacht an einer Schnur.
Bar Chlodwig gleich doch feinem Wunfch gewillt,
Ließ eigens ihm die Heinfte Münze prägen.
Des frommen Biſchofs Glaube war geftillt,
Zufriedenheit nur fei des Lebens Gegen.
Du trägft die Münze jetzt mit frommer Schen:
O! bleibe die Zufriedenheit dir treu!
Theobald Lebt inzwifchen in Saus und Braus, Tyeften
und Bällen. Die Schilderung eines Maskenballs bietet
manches pilante Bild. Der Dichter des „Hrüblings-
märchen“ zeigt fi) uns wieder in dem humoriſtiſch⸗
phantaftifchen Lieb der Pilze:
Trüffel, Morchel, Moucheron,
Kommt zu Tanz und Schmauſe!
Bir und Marquis Champignon
Sind bier recht zu Haufe.
Bovift und Graf Fliegenſchwamm
Sind die größten Leute;
Gift des Gelds nur macht fi ſtramm
Ale Welt zur Beute.
”
1
—*
EG
2° wi
134
Armuth ift ein ſchwach Infekt,
Muß ſich drehn und menden;
Sticht und wehrt ſich's grolfgewedt,
Wird es bald verenden.
Reichthum einzig hat das Recht,
Unbill nie zu tragen:
Bir, das reiche Pilzgefchlecht,
Können alles wagen!
Helene wirft das „Galgenmännchen“ zum Fenfter hin-
aus in den Fluß; doc es Fehrt augenblidlich wieder
zurüd und ift nur etwas getauft worden. Theobald fchenft
e8 dann dem Doctor, nachdem er voll innerer Unbefrie-
digung über bes böfen Geiſtes geheimnißvolle Hulb einen
Fauſtiſchen, das Gold verdammenden Monolog gehalten
bat. Ohne feinen Talisman nun in Geldnoth, trifft der
Held auf einem Jahrmarkt einen Tabuletfrämer, der ihm
feinen ganzen Sram verlauft gegen ben letzten Seller,
der in Theobald's Beſitz if. Die Waare findet glänzen-
den Abfag; denn, o Wunder, unter bem Kram befindet
Zur Dämonologie.
ſich wieder das Männchen in der Flaſche. Theobald
ſchleudert das Fläfchchen auf die Steine — vergebens!
Er kann nad den Bedingungen bes urſprünglichen Er-
werbs den böfen Geift nur gegen die Hälfte des Ein-
kaufsgeldes los werben. Einen Heller hat er bezaglt, er
jammert jet vergebens nach einem halben Heller. Und
nun ift e8 ein finnig tiefer Gedanke, daß das Amulet
der frommen Martha dieſer halbe Heller ift, durch welchen
der fterbende Theobald vom Fluche exlöft wird.
ebenfalls ift dieſe Böttger'ſche Märchendichtung reich
an originellem Gehalt, troß der Anklänge des dichterifchen
Tone. Sie enthält Stellen von großer poetifcher Schön-
beit, und wenn auch einzelne Allegorien, wie die ber „Gicht“,
etwas gefucht, einzelne Geiſterchöre, wir möchten fagen,
hyperlyriſch gemahnen, fo ift doch das ganze Werk wieder
das Zeugnif eines grazidfen, Tiebenswitrdigen Dichter⸗
geiftes, deffen neuen Schöpfungen wir gern begegnen.
Audolf Golttſchall.
Bur Dümonologie.
Geſchichte des Teufels. Bon Guſtav Roskoff. Zwei Bände,
eipzig, Brodhaus. 1869. 8. 5 Thlr.
„Der Teufel ift los! Die Berruchtheit eines ein-
zelnen, der feinen Thron für fi und feine Familie
ſichern will, bricht die Gelegenheit zum Krieg zwiſchen
zwei Gulturnationen vom Zaune, und all ber Schmerz
der Wunden, al die Thränen der Waifen und Witwen,
der Aeltern und Gefchwifter, al die Noth und Greuel
der Verwüſtung des Landes und der Verwilderung der
Sitten find ihm nichts! Und das franzöfifche Volt klatſcht
ihm Beifall, die Staatsmänner wollen uns Deutjchen
verbieten, daß wir nach eigenem Sinn uns eine Reich-
verfaflung geben, die Schriftfteller übertreffen fih in
maßlofem Schimpfen, in frechem Lügen, um eine gewiſſen⸗
loſe, frivole Geiftreihheit der Feuilletonphraſe glänzen zu
lafien, und die Menge taumelt in Größenwahnftnn und
Selbftverblendung dem Führer nad, der fie in Kampf
und Elend best, um fie. gefnechtet zu Halten!” So fagte
id) entrüftet zu einem befreundeten beutfchen Poeten. Er
erwiderte in vollem Ernſt: „Und da leugnet ihre die
Perfönlichfeit des 658 gewordenen negativen Principe!
Groß Macht und viel Liſt fein graufam Nüftzeng ift!
hat fchon Luther gefungen. Wie wäre denn dieſe dämo⸗
nifehe Gewalt zu erflüren, wenn fie nicht einen gewal«
tigen Dämon zum Träger bütte? Es wird cine ſchwere
Arbeit werden, aber wir werden ihn doch befiegen, denn
Gott ift mächtiger al8 er. — „Ya, Gott ift mit ung!“
fuhr ih fort. „Dieſe Vegeifterung fürs Vaterland, die
auf einmal Nord und Süd einig macht, biefer Todes—
muth fir ideale Lebensgüter, dieſe Ueberwinbung ber
Selbſtſucht und aller Heinlichen Bedenken, diefe Opfer-
frendigfeit zeigen uns, wie der eine allmaltende Geift bes
Guten und Wahren fih in all den Seelen regt und be-
zeigt, damit er durch fie feine fittliche Weltorbnung be-
währe. Zeigen wir uns dieſes großen Augenblides werth,
diefer Offenbarung Gottes in der Weltgeſchichte!“ —
„Die du anerfennft, das weiß ich“, verfegte her Freund.
„Wie magft du da den Dämon leugnen, deffen Wirken du
doch ſelber gefchildert haft?”
Dies Geſpräch aus dem Anfange des glorreichen
Auguftmonats erinnerte mich an das Buch, welches id)
zu vecenfiren übernommen, und ich finde endlich Zeit,
mein Berfprechen zu halten. Es ift ein tüchtiges, ge⸗
lehrtes und doch allgemein verftändliches Bud, und vor
allem ift zu rühmen, daß der Verfaſſer, ein prote-
ftantifcher Theolog in Wien, mit voller wiſſenſchaftlicher
Unbefangengeit und ohne dogmatifche Boreingenommendeit
an das Werk gegangen, die ner fung geführt und die
Ergebniffe dargeftellt hat. Möge der Muth, der unfere
Krieger auf dem Schlachtfelde befeelt, auch bald wieder
auf religiöfem Gebiet fid) erweifen, möge das Recht der
eigenen Ueberzeugung über die Zurechtmacherei und bie feige
Anbequemung, über die Geifteöträgheit fiegen!
Roskoff beginnt mit ber Frage: Wie gelangt ber
Menſch zur Vorſtellung eines übermenfchlichen böfen
Weſens? Wie bildet ſich ber religiöfe Dualismus ?
Er reiht daran die Unterfuchung, mie diefer Glaube
im Mittelalter feine höchſte Macht gewonnen ; er
ſchließt mit der Darftellung feiner Wiederabnahme in ber
neuern Zeit.
Roskoff geht von der Natur und dem Naturmenfcen
aus. Nach den Wirkungen der umgebenden Natur, weldye
der Menſch als angenehm oder unangenehm unterfcheibe,
indem er fein Wohl dadurch gefördert oder gehemmt fieht,
bewegt fich fein religiöfes Gefühl im reife der Gegen-
füglichleit von Furcht und Scheu, oder danfbarer Aner-
fennung. Er perfonificire die Summe und den Grund
der freundlichen und feindlichen Erfcheinungen zu guten
und zu Uebles bringenden Wefen. Die religiöfe Anſchauung,
fügt der Berfaffer Hinzu, ift aber deshalb ebenfo wenig
Product der Natur wie der menfchliche Geift, fo wenig
als fittliche Ideen aus der Beobachtung der Natur ent-
nommen werden; die Natur bietet jedoch die Anregung,
daß fi) der Geift fo oder anders geftaltet, und unter
Feuilleton.
ſtützt jomit bie Entwidelung religiöjer und fittlicher Vor⸗
ftelungen. Deshalb hätte Roskoff auf das Böſe in der
Druft des Menfchen, auf die Erfahrung feiner Macht
im eben bes einzelnen wie in ber Gefchichte mehr
Gewicht legen follen, um den Urfprung und die Ent-
widelung der Teufelslehre zu begründen. Sonft hat er
den Dualismus in. den Religionen der Natur» und
Sulturvölfer ausführlich gefchildert, und dann gezeigt,
wie im Mittelalter der Tenfelsglaube dadurch feine Aus-
bildung und Ausbreitung erhielt, daß die Geiftlichfeit
Heidnifches und Teufliſches vermengte. Daran reiht fi)
dann eine fehr ausführlihe Schilderung des Hexenweſens
und der Hexenproceſſe. In Bezug auf den Xeufels-
glauben Luther's wirb erwähnt, daß er mit der Lehre
von der Sündhaftigkeit der menſchlichen Natur im engen
Zufammenhange ftand und das fittlihe Gepräge der
Berlodungen zum Böfen, der Gewiffensfämpfe erhielt.
Wie früher der Teufel in den mtittelalterlihen Schau⸗
fpielen, fo wird nun fein Vorkommen im Gefangbuch be«
leuchtet. Dante ift nicht vergefien, aber leider Milton,
der gerade fiir die poetifche Seftaltung bes Satans dod)
da8 Beſte gethan und einen Charakter von fchaucrlicher
Größe geſchaffen hat, deſſen Herrfcherfraft und Freiheits⸗
drang dur Selbſtſucht zum Abfall non Gott getrieben
wird, aber auch im Sturz noch ihre urjprüngliche Macht
bewahrt. Die Poeſie Byron's Hat in Milton ihre
Wurzeln. Ueberhaupt ift die weltgefchichtliche Bedeutung
Milton’8 noch zu wenig anerlannt. Der Dichter und
Denker fteht neben Srommell, dem Helden und Staats⸗
mann; der reformatorifche Geift und die Yorm ber
Renaiffance einigen fi in ihm; Mirabeau und Rouſſeau
Inüpfen fih an feine Ideen. Der vierte Band meines
Buchs über „Die Kunft im Zufammenhange der Eultur-
entwidelung‘ legt dies dar.
Die englifchen Deiften, die franzöfifchen Encyklopädiſten,
die beutfche Aufklärung, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft
traten dem Aberglauben aller Art entgegen, und fo fam
auch der Teufelsglaube in Abnahme. „Der Zeufel,
feiner perfönlichen Exiftenz entkleidet, warb zum begriff-
lichen, ethifchen Moment des menfchlichen Bewußtſeins
herabgedrückt.“ — „Den Böfen find fie los, die Bofen
find geblieben”, könnte man mit Goethe jagen, und
unfern Autor fragen: Iſt denn nicht aud) Gott für vicle
zu einer Borftelung bes Menſchen „herabgedrüdt‘?
Dies läßt mich an das anfangs mitgetheilte Geſpräch
135
wieder anknüpfen. Objective Wirklichkeit kommt dem
Böſen nicht zu, es Bat an und für fich feine Eriftenz,
fondern nur im Willen, in der Subjectivität der Perfön-
lichkeit; es ift die Verirrung ber freien Lebenstriebe, bie
Bermwirrung, welche dadurch in bie Welt gelommen, das
Unheil und die Sünde, was und nad einem runde
forfchen heißt; diefen Grund wollte man in einem Prin-
cip des Böfen finden. Aber nur das Seiende, Pofitive,
Gute hat feinen ewigen Lebensgrund, und der ift Gott.
Als der Gute und Freie fann er nur in einem Reich
der Freiheit und der Xiebe offenbar werden; dies erfor
dert jelbfländige, felbfiberuufßte Weſen, die auch anders
denken und wollen können, al® das Geſetz es verlangt;
die Möglichkeit des Böen muß für fie vorhanden fein.
Sie müſſen fich felbft erfaffen, und das führt die Gefahr
der Selbſtſucht mit fih, bie nun nur an das eigene Selbft
denft und damit das Bewußtſein des Ganzen in fich ver-
finftert, innerlich, in ihrer Subjectivität ſich vom Allge⸗
meinen trennt, den Abfall vollzieht und das Boſe in der
Sefinnung verwirklicht; denn bier, nidht in der Realität
der Außenwelt hat es feinen Sit, es ift fein objectives
MWefen für fi) und braucht deshalb auch feinen fiir ſich
feienden realen Lebensgrund, wie der Teufel wäre. Aber
bie Perfönlichkeiten, die Menfchen, find wirkliche Weſen,
und für ihr enbliches Dafein fordert die Vernunft eine
erfte Urjache, ein Unendliches, ein Princip, das fähig ift,
eine Welt der Liebe und ber Freiheit, ein Reich des Gei-
ftes hervorzubringen; und bie fittliche Weltordnung, die
fi) uns gegenwärtig in der Gefchichte unfers Volks er-
fahrungsmäßig beweift, führt uns tiber einen bloßen Stoff,
über eine blinde Kraft, über ein bewußtloſes Gefeg zu
einem felbftbewußt wollenden, das Gute, Wahre, Schöne
uns als Ideal, als das Seinfollende fegenden Geiſt, der
natürlich nicht naturlos ift, fondern in deflen eigener Natur
die Realität bes Univerfums begründet if. Es kommt
darauf an, die fpinoziftifche Subftanz ale Geift zu er-
faffen, das Hat fchon Hegel gefagt; ex ließ fie aber nur
in uns, ihrem Modus, zum Geifte werden. Wenn indeß
Spinoza die Subftanz an ſich als Denken und Ausdeh—
nung beftimmt, fo braucht man fi) nur Mar zu madıen,
daß das Denken die Thätigleit der Subjectivität ift, daß
im Denken wir uns felbft erfaflen und beftimmen. Die
Subſtanz ift nicht blos an fi, fondern als ſolche auch
für ſich, fie iſt Subject, bei ſich felbft feiende Einheit
des Unendlichen. orig Earrierr.
Feuilleton.
Notizen.
Aus der unermeßlichen Fülle der Liebespoefle Hat eine
Auswahl zufammengeftelt TH. Bubdeus: „Freya, das Leben
der Liebe in Liedern und Gedanken deutfcher und fremder Dich⸗
ter” (Berlin, Stile und van Muyden, 1870). Außer Liedern
und Gedichten enthält die Sammlung auch Proſaſprüche von
Sean Paul, Gutlom u. a., felbft dramatiſche Stellen aus
Schiller's Dramen und aus dem „Sohn ver Wildniß“. Die
fremden Dichter find, außer durch Shalfpeare, nur durch einige
franzöftfche Autoren, wie Nobier, de Maiftre, Frau von Staël
u. a., jehr befcheiden vertreten. Die Auswahl aus unjern neuen
— —- — — —
beutfehen Dihtern darf im ganzen ale geſchmackvoll gebilligt
werben.
Die Anthologien aus Schleiermacher's Werken mehren fid.
E. Rudorff Hat „Stunden der Weihe (Berlin, Boettcher)
zufammengeftellt, eine Sammlung von Aueſprüchen Friedrich
Schleiermacher's, und zwar in folgenden Abjchnitten: „Des Ehri-
ftien Charakter und Wandel’, „Der Chrift als Lehrer und Bild-
ner”, „Der Ehrift im Verhältniß zu feinen freunden und zu
feiner Familie”, „Der Auſſchwung der Seele zu Gott‘, „Trüb⸗
fal und Tod“ verflärt duch den GOlauben. Die präcije, oft
fünftferiic geichloffene FZaffung der Sentenzen Schleiermadher’s
läßt fie für Anthologien fehr geeiguet erfcheinen,
— —
736
Yıze
Anzeigen.
igen
— —
Zeitgeſchichtliche Werke
aus di
Verlag von S. A. grodhans in Leipzig.
Die nachſteheuden Werke Haben durch die Ereigniffe der Gegen»
wart neues und erhöhtes Imtereffe erlangt, weshalb fie hier
in überfichtlier Zufammenftellung aufgeführt werden.
Blautenburg, Heinrich. Der beutfche Krieg von 1866. Hiforiſch,
politif und ee bargeflelt. Mit Karten uud
Plänen, 8. Geh. 2 Thlr. 20 Nor. Geb. 3 Thir.
Di Borzüge, welche Blantenbur; —S des ereze
a aetehen 60 —X ——— —5 — Be
ru) bi
L * Eee Sei Se va
Action und ben BD
Bi aber, hab br.
Charras. Histoire de la guerre de 1818 en Allemagne, Aveo
eurtes spöciales. 8. Geh. 2 Thlr. 10 Ngr. Geb. 2 Thir.
20 Ner.
— GSeſchichte des Krieges von 1813 in Deutfchland. Aus
torifirte — — ——— Mit 2 lithographirten Kar⸗
ten. 8 2 Thlr, Geb. 2 Thir. 10 Ngr.
— air deis eampagne de 1815. Waterloo. 5m ddi-
tion, rerue et augmentee de notes en r&ponse aux asser-
tions de M. Thiers dans son reeit de cette campagne.
2 Vols. Avec un atlas nouveau. 8. Geh. 2 Thir.
Ge 2 Thlr. 10 Ngr.
d Werten des dı ine politife und militärif
Su mE Re get ange
Hienlenonte Gparyas. von Denen bad erke and Iulabtorlhrte —*5
— — Raum, ER mal Ber gegreige Sant 900
Heete Rapoleon'e Feder einee
*8 RE je Snehe jenen Borken Wine el ie
Hürden ans ———
. te
Br SEE Werte — —— reisen
jeihigtslitratur.
Diplomatifhe Geſchichte d Sabre 1818, 1814, 1815. Bi
h ae ER De 10 Nor. Im
Die Eharras in Bezug auf bie militäcijhe Action ben unwahrer
Bepauptungen franpöfiiser Schriftfteller enigegentrüt, fo hat der Wers
fafer der, Diplomatiien Gefbihte“ fih zur Aufgabe geftelt, bie
sEtale aefienti verbreiteten falfgen, Darfeungen beyäntid, ber
garonille erhanpiungen jene
Periode zu berichtigen, die Tpatiahen fowol wie bie Motive, aus dee
hen Meg einufepen. Durg
Witbeilung ber dahin gehörigen Urkunden, Gorrefpondenjen, Brotoe
tolle und Metenftüde, bie ih bier in einer Bolftänbigfeit wie in feie
nem andern Gef&idtswerte beifammen finden, wird auf autbentifhe
Weife nahgewielen, welde Intriguen bie verbünteten Müdte im Bere
ein mit dem beficpfen rantreih bamale anzettelten, bamit Deutfce
land zum Cohn für feine heidenmüthigen Auftrengungen mit offenen,
unbeiügten renyen aus dem Kriege bervorgebe. Das Stublum veh
Werte it überaus Tehrreid, namenttih angefihts der wahriheintig
balb beginnenden neuen Wricbenöverpanblungen mit dem feintlichen
Nagpbarftaate.
Klippel, Georg Heinrih. Das Leben des Generals von
Säarnhorft. Nach größtentheils bisher nnbenugten Onel-
im ee Exfter und zweiter Theil. 8. Geh. 3 Thir.
gr.
PRESENT Ste Bart
unferer Be auf die
itiges — ———
galtia fe mnte, *
abden Odutnbarfs ve lälofien war. de —— nice Mes
Beutjen
ber — ga wirb Hlanen | Turgem erfgeinen. —— n an
König Jeröme und feine Familie im Eyil. Briefe und Auf-
Er Herausgegeben don Erneftine von 2. 8.
Geh. 1 Thfe. 20 Nor.
Yen non Weapel
Scherer, H. Der Raub der drei Biethümer Mey, Tull und
Berbun im Jahre 1552 bis zu ihrer förmlidhen Abtretung
an Frankreich im Wenfälifgen Frieden,
—— Ber Verrath Strasburgs an Fraukreich im Jahre 1681.
ei Auffäge, in denen urfunbt
1) fi
Duden Si zant nad ben pertäiaßen
bes rund u
alt Granteci@ Big — —3 — A
sehraße pa. „Der Lerfaler tal Wabuung 5*
eine, vᷣſii eb bi jolten jei, vie —X — —*8
——— —— Wiebergewinnung jener Provinzen zu
Die npcl aejgiätigen Monsgraphien Aar, n Teichrig von
——
ten Breite 1 hie 10 Mdr. (eüher aaa Orc um ermäßig-
Benebey, Jakob. Die deutſchen Republifaner unter der jran-
zöficgen Republit, Mit Benugung ber Aufzeihiunngen
feines Vaters Michel Benedey daigefellt. 8. Geh.
2 Tplr. 10 Ngr.
Das Benny‘ es Memoizenwert füt eine Lüde in der Geidiäte
h Kaneisung aus 1 ang, [nbem 28 über eine bläber Buntie Bartic in ben 3
enticen Bo fereß ut autbentiihes
ai
—— Die Haren Bönbfe ke deufen Bcvolferungen
A Mainz, |. m. zu Gute bee
boriae Kinn Süden ben @egenfand ber 3 rfilung, melde
ls auf jeitgenöffiigen
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das sin — Geife
gelßzleden |2 en tönne,
babesre HEICHeAHArK —e— aus dub.
sie Bier: teile Br je begrüi vor
CH ten greike Bea zeiten *
—8—
‚ein Bud, für * ven Ber 4 er —W ns
ss et In undf, ch mid 34 bauten n " x
Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
(Zu besichen durch jede Buchhandlung.)
Die Lehre von den Tonempfindungen,
physiologische Grundlage für die Theorie der Musik
von H. Helmholtz,
Professor der Physiologie au der Universitat zu Heidelberg,
Mit in deu Text eingedruckten Holzstichen,
Dritte umgearbeitete Auflage. Gr. 8. Geh. Preis 3 Thlr.
15 Sgr.
Berautwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus, — Dind und Berlag von S. A, Grodhans in Reipzig.
Blätter
literarifhe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich. —4 Ar. 47. mr 17. November 1870,
Inhalt: Effays von Julian Schmidt. Bon Mudelf Gottiget. — Meifeliteratur. (Beſchluß.) — Bom Buchertiſch. —
Seniketon. (Engliihe Urtheile Über neue Erſcheinungen der dentſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Efays von Inlion Schmidt.
Bilder aus dem geifiigen Leben unferer Zeit von Julian
Schmidt. Leipzig, Dunder und Humblot. 1870. Gr. 8.
2 Thlr. 20 Nor.
JZulian Schmidt hat in feinen literaturgefchichtlichen
Berten das Talent des Effayiften nicht bewähren können,
da das Hiterarifche Porträt in denfelben ganz in den
Hintergrund tritt. Und zwar hat ſich der Eifer, nur
Richtungen und geiftige Strömungen zu zeichnen umd die
Charakterköpfe der Autoren felbft als nebenfähliche Ara-
besten an ben Rand zu ſchieben, mit jeder Auflage ger
ſteigert, ſodaß fih aus der Iegten faum ein zuſammen ⸗
bhängendes Charakterbilb irgendeines deutſchen Schrift
ftellers gewinnen läßt, wenn man fi nicht felbft bie
Mühe geben will, aus einer Menge zerſtreuier, muflvi-
fer Züge aus ben verſchiedenſten Kapiteln ſich ein ſolches
Bild zufommenzufegen.
Doch die Literaturgefchichte hat nicht blos eine Ideen-
welt, fie Hat auch eine Geftaltenwelt uns vorzuführen.
Und zwar ift diefe eine doppelte: es find bie Geftalten
der Dichter felbft, es find die Geftalten ihrer Phantaſie.
Alle Literaturgefhichtfchreibung ift leblos, die nur abftracte
Linien zeichnet; der Stammbaum ber Ideen ift nicht der
Lebensbaum bes nationalen Geiſtes. Die Dichtung ift
eine Kunft, und in der Gefchichte ber Kunft verdient jedes
einzelne Kunſtwerk als ein Ganzes und jeder Künftler ala
ein fchöpferifhes Talent liebevolle Beachtung in feiner
urſprunglichen Eigenart.
Julian Schmidt muß als Efjayift folder fonft un⸗
willlommenen Darftellungsweife Rechnung tragen; er muß
Borträts malen, ftatt ber Gedankenfreöten, mit denen
ex die Propyläen feiner Literaturgefchichte ſchmückte. Es
iſt von vornherein anzunehmen, daß er geneigt fein wird,
wo es ihm irgend möglich ift, „ins Allgemeine zu tauchen“,
von der GStaffelei, auf der fein einzelnes Porträt fteht,
abzufpringen, bie Richtungen und geifligen Zufammen-
hänge für dem einzelnen Autor aufzuſuchen; es ift ferner
1870, 4.
die Frage, ob es ihm gelingen kann, bei feiner Neigung
für das Schematifche und feiner im ganzen armen Phan-
tafle, ein einzelnes Eharakterbild mit ſcharfer Zeichnung
und lebendigem Farbenreichthum auszuführen. Denn hier
tlommt es auf Intuition an, melde nicht eine Gabe
undichteriſcher Köpfe zu fein pflegt, und aller Scharffinn
der Zerglieberung genügt nicht, ein Ganzes zu ſchaffen.
Ueber die Aufgaben des Effayiften ift fih Julian
Schmidt volllommen Mar. Er fagt darüber:
Benn man literariſche Erfheinungen der Gegenwart, zu
denen man immer ein befimmtes fubjectives Berhältniß hat,
in Hiforifchen Fluß bringen wil, findet Teicht eine Berjhiehung
des Gefihtspunltes att: der Efjay zeigt das fubjective Berhal-
ten offen an und befennt, doß die Acten noch nicht gejchloffen
find. Der Effayift wählt unter den zu befpredienden Schriften
diejenigen aus, bie fein Intereffe ſtart in Aufpruch nehmen umd
über bie er etwas Neues und Trhebliches zu jagen weiß; ber
Hiftorifer follte eigentlich alles leſen, denn wie wollte er fonft
wiffen, ob er nicht etwas Wichtiges Aberſehen hat? Wer das
aber budfäbfid ausführen wolte, fäme in dringende Gefahr,
den Berftand zu verlieren.
Diefer Gefahr hat ſich Julian Schmidt auch ale
Literarhiftorifer allerdings nicht ausgefegt; denn er ift als
folher auch Eſſayiſt gewefen, wenn nämlic, nad; feiner
eigenen Erflärung bie Eigenthuümlichkeit eines Eſſahiſten
darin befteht, unter ben zu beſprechenden Schriften die-
jenigen auszuwählen, bie fein Intereffe ftarf in Anſpruch
nehmen. Ueber ſolche Auswahl ift er auch in feinem
Hauptwerk nicht hinausgegangen; er hat einzelne Schrif-
ten, welche fogar Specialitäten behandeln und nicht ent»
fernten Anſpruch auf nationale Geltung haben, mit der
gehbien Ausfügrlichleit behandelt; er Hat Dichter und
ichtungen von Bedeutung oft faum mit einer Zeile, oft
gar nicht erwähnt, weil er fle nicht gelefen hat, mahr«
ſcheinlich um nicht „den Verftand zu verlieren‘.
Die erften Auffäge der vorliegenden Sammlung be
wegen fich noch in dem Fahrwaſſer des Autors; es find
Abhandlungen über allgemeine Themata, tiber Beftrebungen
93
738
und Richtungen des Zeitgeiftes, Parallelen zwifchen
ben Jahrhunderten, für die ein philoſophiſch gefchalter
Kopf leicht die richtige oder wenigftend bie blendende Yor-
mel finden wird. Der Auffag: „Die neue Generation‘,
befteht aus zwei Abhandlungen, die wie die Schweifftüde
eines Papierbrachens aneinandergeflebt find und ben eigen-
thiimlihen Eindrud eines „volllommenen Widerſpruchs“
malen, der nach Goethe, wenn auch nicht nad) Hegel,
gleich geheimnißvoll bleibt für Weiſe wie file Thoren.
In dem erften Auffag: „Die europäifche Riteratur in
ihrem gegenwärtigen Standpunkt“, erfahren wir, wie wir
es jetzt fo herrlich weit gebracht haben. Das 18. Jahr⸗
hundert wird durch folgende Sätze darakterifirt:
1) Die Bildung geht aus der zbeotogie hervor und ift
zwar in ihrem innerften Grund gegen die Theologie gerichtet,
aber nicht bios tm ihrer Methode, fondern auch in ihren ledten
Zweden von derfelben beſtimmt.
2) Der todten Wortgläubigkeit ded 16. und 17. Jahrhun⸗
derts, welche die Individualität unter das flarre Joch des Ge⸗
fees beugte, ſuchte fi Die folgende Periode durch eime freie
Entwidelung des imbividuellen Gemüths zu entziehen. Das
. dert M die Peridde der Subjectivität, des voll»
endeten Individualismus, ber „leeren freiheit‘.
3) Die Antike ift für die neuere Cultur durchweg der
Eauerteig.
4) Durhh das ganze Zeitalter geht ber Trieb, mit Beiſeit⸗
fegimg aller gefchichtlichen Borausfegungen das Reich der Zu-
Iunft nad; Begriffen der reinen Bernunft aufzurichten, die Ge⸗
fhichte der Menſchheit gemwiffermaßen von neuem zu begimuen.
5) Indem num ber Geift der Entzweiung, der vom ame.
ritanifchen Freiheitskrieg an bis 1848 immer neue Zudungen
ber Gejellichaft hervorrief, fi and in den Werten der einzel»
nen geltend macht, nehmen wir in dem charalteriftiichen Dich⸗
tungen der Periode etwas feltfam Fragmentarifches wahr.
So beſchaffen war das 18. Jahrhundert; wenigftens
ericheint e8 fo in dem Spiegel, den Sultan Schmidt ihm
verhält. Die Züge find, wenngleich nicht erjchöpfend,
do im ganzen richtig. Nur gilt doch vieles für die Jetzt⸗
zeit: die Antike ift mac wie vor der Sauerteig unferer
Eultur, und was den „©eift der Entzweinng‘ betrifft,
fo ift dies ein höchſt abftracter Schatten; könnte er ſich
genauer legitimiren, fo würde man vielleicht erkennen,
dep er auch in der Gegenwart no wirkſam üt.
Nachdem das 18. Yahrhundert in dem photographi«
ſchen Atelier Julian Schmidt’8 möglichſt treu aufgenommen
ift, tritt es ab, und an ferner Stelle erfcheint das 19. Jahr⸗
hundert, felbftgewiß auf die photographifche Säule geftiigt,
in ſchöner, warmer Beleuchtung. Oder vielmehr, es iſt
bie neuefte Öeneration, die ſich einem Lichtbild unterwer⸗
fen muß. Ihre befondern Kennzeichen find die folgenden:
1) Die Wiffenfchaft if zu der Erkenntniß gelommen, baß
fie eine andere Aufgabe bat als bie Theologie, eine andere
Aufgabe als die Metaphufil.
2) Der Götzendienſt der Individualität if vorfiber.
‚.3) Indem wir uns auf dem Boden unlerer eigenen Ge⸗
ſchichte beffer orientirt haben, Hört damit bie übermüßige Be⸗
dentung des Alterthums anf.
4) An Stelle des revolutionären Geiſtes hat ſich jetzt ber
conferbative Trieb der Menge bemächtigt.
5) Der letzte fragmentariſche Ausdruck des frühern Idealb
war ber Weltſchmerz in der Seele reichbegabter Individuen.
Dies Rei des Fauſt und Don Inan Hat aufgehört.
Mit diefen Nummern verfehen, erſcheint die nee
Generation bis zur Stedbrieflichkeit unverlennbar gezeichnet.
Wir wollen die drei exften Nummern auf fich beruhen
Eſſays von Inlian Schmibt.
laſſen. Was aber bie vierte betrifft, fo erjcheint bie
Faſſung doch einfeitig und verkehrt. Das Jahr 1866
bezeichnet die revolutionärften Acte ber neuern beutfchen
Geſchichte. Der Unterfchieb gegen 1848 befteht nur darin,
daß bie Revolution ſich vorzugsweiſe auf die Macht ftügt,
nit auf den Glauben an die Idee. Der Trieb ber
Menge ift keineswegs confervativer als früher. Dod be
dee großartigften Ummilzungen und NeufchBpfungen jetst
von den orgamfirten Staatögewalten auögehen, fo befindet
ſich der revolutionäre Geift der Menge in der gleichen
Strömung mit jenen und erfährt durch bie Erfolge großer
ZThaten, welche den alten Beftand ber Dinge umſtürzen,
zugleich eine innerite Befriedigung.
Am feltfamften aber ift jedenfalls das Decret Iulian
Schmidts, daß das Reich bes Don Yuan und Fauft
aufgehört habe. Man pflegte Fauſt und Don man
als ewige Typen und Repräfentauten ber Menfchheit zu
betrachten, in benen fi das unbegrenzte Streben. nad
Erkenntuiß und Lebenagenuß verlörperte.e Das ift alſo
jest ander8 geworden. Sollte ſich noch ein Dichter oder
überhaupt ein Sterblicher finden, in welchem folder Wif-
fens» und Lebensdrang, binausreichend über bie gegebenen
Schranken, pulfirte — man würde ihm bald nachweifen,
dag derartige „problematifche Charaktere” und „catifine
riſche Eriftenzen“ in ber neuem Generation nichts mehr
zu fuchen haben. Don Yuan und Fauſt find Bertre
ter bes geiftreiähften Steebeng — das Derret, das fie
in die Schattenwelt verweift, verurtheilt anjer Geſchlecht
zur Geiftlofigfeit, zur trodenfien Nüchternheit, zur poefie
loſeſten Kaltblütigkeit.
Glücklicherweife iſt es mit Dein Decret Yulien Schmudre
nicht fo ernſthaft gemeint; denn ſchon im nächſten Auffat:
„Die Wendung des Jahres 1848”, erfahren wir zu um⸗
ferer Beruhigung, daß ber „Fragmentarifche Ausdruck bes
frühern Ideale“, der Weltſchmerz, der übrigens durchaus
nicht fragmentarifch zu fein braucht und der überhaupt
mit dieſem Wort hochſt begrifflos zuſammengekuppelt iſt,
doch noch in Blüte ſtehen muß. Hören wir nur bie fol⸗
genden Auseinanderjegungen:
Gleichviel ob wir Segefianer, Rutttianer ober teftifer
waren, baran hatten wir keinen Zweifel, daß die Bernuuft zur
Regierung der Welt berufen fei; wenn das nicht im Augemblid
deutlich bervortrete, fo möüfje wenigftens einmal bie Zeit kam⸗
men, umd jeder von uns war an jeinem Platz eifri
nden, und
Wrlkciophie
den:·
man außerhalb des Begenflanbed wirtliche oder vermeintliche
e
Eſſays von Inlian Schmibt. 739
finden als im Leben ſelbſt. Es iſt immer ein unbequemes Ge⸗
fühl, wenn man eine ſtark bernortretende geiftige Richtung nicht
verſteht.
Run, befinden wir uns hier night in der Blütenepoche
de8 „Weltſchmerzes“, der ſogax fo wenig fragmentariſch ift,
baß er ganze Lehrbücher der Philofophie beherrſcht? Ju⸗
lan Schwidt leugnet jet nicht die Eriftenz des Welt«
ſchmerzes; er findet es nur unbequem, dag ex felbft ihn
nicht verfieht. Haben wir ung nach den fünf Nummern
bed vorigen Auffages von der neuen Generation das Bild
entwmorfen, daß fie ein jehr Hares, gefundes, von meta«
phyſtiſchen Zräumereien und fragmentarifchen Schwärme⸗
zeien freies Geſchlecht fei, fo erfahren wir ein paar Seiten
fpätex zu unferm großen Erftaunen, daß wir wieder bar-
auf angewiejen find, wie in der Periode der ältern Ro⸗
mantif, den „Orient“ und wahrſcheinlich auch den „Occi⸗
bent” im Nebel zu fuchen, daß man für ben Augenblick
unficher ift, wohin?
Iwan Turgenjew bezeichnet die progreffiftifden Beſtre⸗
bungen Rußlants als Rauch, Charles Kingeley bat für das
chastiihe Ringen des jungen England einen zwednäßigern
Ausdrud gefunden: Yeası (Hefe, Güxung). So erſcheint aud)
wir, was in dem geifligen Leben Deutſchlands vorgeht. Noch
fieht alles vermorren genug aus, aber es ift eine Verwirrung,
die den Keim fchöner Früchte im fich trägt.
Uns erfcheint auch dies alles verworren genug; ber
Autor vergißt auf ber einen Seite, was er auf der vor-
bergehenden gejagt hat; es ift fehr viel „Rauch“ und
„Yeast” in feinen YAuseinanderfegungen; die Phrafe, na-
mentlich in Geftalt des bictatorifchen Machtſpruchs, macht
fi hier vornehm geltend, um fich gleich darauf wieder
aufzuheben. Wir wenigſtens fegen eine Prämie feft für
jeden, der fich von der neuen Generation „ohne Weltſchmerz“,
aber mit ihren Schopenhauers und Zurgenjews, mit ihrer
Weltverzweiflung, mit ihrem Rauch und Rebel, ein klares
Bild machen kann,
Die zweite Hauptabhandlung: „Der Einfluß bes
preußifchen Staats auf die deutfche Literatur‘, behandelt
ein fehr inteveffantes Thema, welches Yulian Schmibt mit
folgendem Facit abſchließt:
Was hat das preußiſche Bolk der deutſchen Literatur ge⸗
bracht? — Nicht mehr und nicht weniger als andere Stämme:
ich habe eine ftattlihe Reihe zufammengefiellt, fie könnte noch
leicht erweitert werden, aber einen Anſpruch auf die Hegemamie
im geifligen Leben Deutichlands würde fie uns nicht geben.
Was hat das preußifche Königthum für die deutiche Litexatur
getan? — Unmittelbar fehr wenig. Ich habe die Gründung
der Umiverfität Halle, fpäter die Gründung der Univerfität
Berlin angefligrt, aber andere Fürſten haben auch finttliche
Hochſchulen eingerichtet, ohne daß «8 auf ihren Stans van Be»
ſonderm Ginfluß gewmeſen märe. Es lommt auf. ben Hohen at,
auf den man ſäet. Was Künig Marimilien in Baiern ver⸗
fuchte, war fo einfichteuoll und dabei jo königlich, alg mar es
ih nur vorſtellen kann, aber im Bolt Hat es Leine Wurzel ge»
fchlagen. Das Eigenthlimliche bei Preußen war, daß die frem-
den Kräfte, die man heranzog, in kurzer Frift preußifcher wur⸗
den als die geborenen Preußen. Mit einem Wort: der preu-
hiſche Staat hat gewirkt nicht durch den Willen diefes oder je⸗
nes feiner Regenten, fonhern durch feine Eriftenz, durch feine
natürliche Schwerkraft. Der Staat hatte die natürliche Rage,
eine unabhängige Eriftenz wenigftens fuden zu bürfen. Die
ältern Hohenzollern hatten unter andern Regententugenden den
nüchternen Sinn, das praftiih Nothwendige dem Glänzenden
vorzuziehen, fie legten die Kundamente, ehe fie an bie Kuppel
bachten. As nun bie große nationale Bewegung ſich confo-
Kidirte, die man Reformation nennt, ftellte fih Prenfen ſehr bald
ale der mächtigſte der proteftantifchen Staaten herauf, und als
ſolcher mußte ex mit der Zeit Brennpunkt des geiftigen Lebens
Dentichlands werden. Man kaun über Möglichkeiten wenig.
ſtens träumen, wan kann fi alfo die Möglichkeit vorftellen,
daß die Kranzöfifche Revolution in ſich zufammengefallen wäre,
und feinen Napoleon hervorgebracht hätte: dann hätte fich viel⸗
(etcht die Bedeutung des Kleinfürſtenthums in Deutfchland Ihn-
ger erhalten, dag Beifpiel von Weimar wäre nachgeahmt wor⸗
den, mir hätten bedeutend mehr Zragödien und romantiſche
Gedichte erlebt. Da das aber nit geihah, fo drängte der
Einfluß Preußens das geiftige Leben mehr in die Brofa, in die
Reflerion, im die praktiſche Philofophie und Moral, in das
Staats⸗ und Rechtsleben, in bie eigentliche Politik, deren wirk⸗
Nliches Gedeihen nur in einem großen und umfaflenden Drga-
nismus denkbar if. An Farbe hat die Literatur dadurch nicht
gewonnen, im Gegentheil; aber die Blätter und Blüten werden
nicht ausbleiben, wenn nur der Stamm einen gefunden und
träftigen Wuchs gewonnen Bat. Und was bie preußifche Ueber-
hebung betrifft, fo werden ſich unfere veutichen Brüder mit der
Zeit vielleicht verfühnen laffen, wenn fie fich mit der Meberzeugung
durchdringen, daß wir keinen fehnlichern Wunſch haben als den,
jeden Grund zu diefer Ueberhebung wegfallen zu ſehen, keinen
fehnlihern Wunſch als ben, dafs jeder Deutfche dieſelben Laften
und diefelben Ehrenzeichen tragen möge, bie wir bisher gern
oder ungern getragen haben.
Man fieht, daß Jnlian Schmidt auf bie Tragödien
und romantischen Gedichte, auf das Beifpiel von Weimar
fein fonderliches Gewicht Iegt. Jedenfalls würde er lie-
ber Literaturgefchichte jchreiben, wenn es derartige Pro⸗
ductionen nicht gäbe, die er ſtets nur als ein nothwen⸗
diges Uebel und nie um ihrer jelbft willen behandelt,
fondern nur wegen ihres Zufammenhangs mit diefen oder
jenen Tendenzen, die in ber Luft der Zahrzehnte fchweben.
Auch hätten wir gewünfcht, daß die Miffton Preußens,
beutfche Kunft und Wiffenfchaft zw pflegen, der jetigen
Regierung warm and Herz gelegt würde; denn die Yür«
derung, welche fie 3. B. der deutfchen Dichtung zu=
bıumen ließ, befchränft ſich auf den Schiller⸗Preis und
auf die Benflonen fir Emanuel Geibel und Johannes von
Mindwig.
Die Studien Über „Die romantifche Schule” find eine
Sammlung von Kritiken, bie wohl oder übel unter dieje
Sefammtüberfhrift gebracht find: „Schelling’s Leben im
Briefen‘, „Heinrich von Kleift’8 «Prinz von Homburg‘
. paffen wol darunter; den alten Goethe aber zu einem
Romantiker zu machen, oder gar Hegel, den principiellen
Gegner der Grundſätze der romantifhen Schule, — das
heißt doch, den Begriff der Romantik bis zum organifchen
Tehler zu ermeitern. Dies gefchieht aber von feiten un-
fers Autors, indem er die Auffäge „Goethe und Suleika“
und „Hegel im Lichte der Gegenwart” ebenfalls zu dem
Studium über die vomantifhe Schule rechnet. Der
Auffag „Goethe und Suleika“ befpricht die Mittheilung,
die Hermann Grimm in Bezug auf die Suleila-Lieder im
„Weftöftlihen Divan“ gemacht hat und berzufolge aus
einem pofitiven Berhältnig Bervorgegangen find:
Duxch den Briefmechfel Goethe's mit den Brüdern Boiſſerée
bat man nun erfahren, daß das Urbild Suleika's eine Frau
von Willemer in Frankfurt war, die Goethe in einem Sommer»
aufenthalt auf dem Lande 1815 Tennen lernte, als er ſelber
66 Sabre alt war. Vierunddreißig Sabre fpäter, 1849, ift
Hermann Grimm diefer Dame vorgeflellt worden, und feitbem
dis zu ihrem Tode, 1859, in bauerndem Verkehr mit ihr ger
blieben. Sie befaf einen reihen Schat von Briefen Goethe’s,
der aber nad ihrer teftamentarifchen Berfüguug erſt zwanzig
93 *
740
Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht werden fol. Im Laufe
eines lebhaften Geſprüchs hat fie nun, wie Hermann Grimm
berichtet, ihm eröffnet, daß die beiden .berlihmteften Suleika⸗
Lieder: „Was bedeutet die Bewegung“ und „Ad, um beine
feuchten Schwingen“, von ihr find, fowie noch einige andere,
und ibm die Originale vorgewiefen, die Goethe ein wenig ver-
ändert bat. Hermann Grimm befennt, daß er durch biefe Er⸗
Sfnung aufs Außerfie Überrafht wurde. Mir ging e8 ebenjo.
Einmal ift es eine ſtarke Zumuthung, zu glauben, daß Goethe
zwei Lieder von einer fo eminent poetifchen Kraft ohne weiteres
unter die feinigen aufgenommen babe, ohne die leifefte Spur
einer Andeutung, daß fie nicht von ihm herrühren. Sodann
hatte man an der Autorjchaft jo wenig gezweifelt, ba wenn man
Goethe's Poeſie charalterifirte, diefe beiden Lieder immer als ein
wejentliches Moment betrachtet wurden.
Julian Schmidt gibt fi nun die Mühe, Hinterbrein
zu entdeden, daß „diefe Lieder im Tonfall, im Stil, in
der ganzen Haltung einen ftarfen Contraft gegen bie
übrigen bilden”. Diefe Entdeckung kritiſcher Treppen-
weisheit ift aber nicht begründet; im Gegentheil hat fich
bie Dichterin alle Mühe gegeben, auch im Zonfall und
in der ganzen Haltung ihr Borbilb nachzuahmen, und
es ift ihr dies auffallend geglüdt. Wer das Gedicht:
„Ad, um deine feuchten Schwingen”, mit dem folgenden
vergleicht: „Iſt e8 möglich, Stern der Sterne, drück' ich
wieder dih and Herz”, und mit mehrern andern, ber
wird fagen müſſen, daß ber Ton ber beffern Gedichte des
„Weftöftlichen Divan“, die von Verſchnörkelung frei find,
vortreffih und zum Verwechſeln getroffen if. Die
Stellen, die Julian Schmidt anführt, um zu beweifen,
daß Goethe die Autorfchaft feiner Freundin bald ſchelmiſch
verftedt, bald den Schleier halb Lüfte, find allerdings
beweisfräftig.
Was den „Prinzen von Homburg‘ betrifft, jo bringt Ju⸗
lian Schmidt bie beliebten Bariationeu über das von Röt⸗
cher angefchlagene Thema. Nach einem Tadel wie dey
folgende: „Das Stüd war auf einen ernfthaften Conflict,
alfo, wenn auch ber Andgang verfühnend war, auf eine
Tragödie angelegt, der Charakter des Prinzen treibt es
in die Komödie und bringt dadurch aud den Charalter
bes Rurfürften in Unordnung“, dürfte alles barauffolgende
Lob nur von geringer Bedentung fein.
Der Auffag: „Hegel im Lichte der Gegenwart“, fchließt
fih an das Wert von Karl Roſenkranz an: „Hegel
als deutjcher Nationalphiloſoph“, und gibt zugleich eine
Nachkritik der Haym’fchen Schrift, der gegenüber er Hegel’s
„Phänomenologie” als ein fehr bedeutendes Werk, deſſen
Tehler die Fehler der ganzen damaligen Philoſophie waren,
erflärt. Ueber das Verhältniß Hegel’ zu Kant enthält
Schmidt's Auffag manche treffende Bemerkung; er ſchließt
mit ben Worten: „In Hegel's Schule zu gehen, erlaubt
uns unfer Gewiſſen nicht mehr, den großen Schriftfteller
werben wir vielleicht befjer würdigen lernen, als es
früher geſchah!“
Die Reihe ber eigentlihen Eſſays beginnt mit
„Walter Scott”, einem liebevoll entworfenen Porträt,
welches mit demjenigen Bulwer's zufammen jedenfalls bie
gelungenften Partien der Sammlung vertritt. Zwar die
Einfeitigleit der Darftellungsweife verleugnet fi auch hier
nit; fie trifft nicht die rechte Mitte bes Portraits, ein
Treffen, welches nur in einem „Zuſammenſchauen“ aller
einzelnen Züge befteht. Dafür fuht Schmidt theild das
Effays von Iulian Schmibt.
Allgemeine” des Zeitalter auf, für welches ibm ber
einzelne Autor gewichtigfter Vertreter ift, theils analyſirt
er auf das genauefte die einzelnen Werke, und bei bie
fer Analyſe floßen wir auf eine Fülle fehr treffender
Bemerkungen. Auch erfcheint fie um fo anziehender, als
gerade in jüngfter Zeit Walter Scott von unferer Kritik
jehr beifeitegefchoben worben ift und and) dem heutigen
Leſepublikum viele feiner Werke unbelannt find.
Julian Schmidt unterfcheibet zwifchen einer philofo-
pbifchen Romantik, zu welcher bie Mehrzahl der deutfchen
romantifchen Dichter gehört, und zwifchen einer Hiftorifchen
ae zu deren Hauptvertretern er Walter
rechnet:
Das Glaubensbekenntniß der hiftorifchen Richtung if etwa
folgendes. Was wir Cipilifation nennen, if nicht zu allen
Zeiten und bei allen Völkern daſſelbe geweſen; es Hat Zeiten
egeben, wo man fih nit in den parifer Frack fleidete, fein
eben weder nach den Zehn Geboten nod nad) Alberti's Eom-
plimentirbuch einrichtete. Man Heidete ſich aber nicht blos am-
ders, man dachte und empfand anders als jeht; im Stabium
dieſes Abweichenden, Beſondern, Naturwüchſigen liegt der Reiz
der echten Wiffenfhaft, in der getrenen farbenreichen Anfhauung,
der Nachbildung defjelben der echte Reiz der Kumfl. Unſere
Civiliſation, die alles grau in gran malt, die alles Derbe uud
Urſprüngliche abfhwädt, nimmt dem Leben allen Reiz und
läßt die Kunft in Gemeinplägen verlommen, ja fie verfännmert
uns auch die Vergangenheit. Denn es ift nicht wahr, daß ber
Berftand die höchſte Macht Über das Leben ausübt; die Leiden-
fhaften und das Gemlith find viel mächtiger und aud viel
werthuvoller. Im Mittelalter dachte und empfand man nod
nicht nad) der Schuur, vieles war unzwedmäßig eingerichtet;
aber die Macht des Gemüths entfaltete fi im der Lehnetrene,
in der Dingehung an ideale Begriffe, und ebenfo hatte bie
Leidenfchaft Gelegenheit, fi in Kraft und Freiheit zu entfalten.
Die edeiften Güter des Lebens find diejenigen, die ſich ber
mathematifchen Beweisform und der Analyfe entziehen. Das
echte Leben liegt in ber Fülle der individuellen Erſcheinungen,
das „Ding au ſich“ kennen wir nicht, und es hat aud wenig
zu bedeuten.
Bei ber zweiten Hllfte diefer Erklärung verlieren wir
und wieder in Allgemeinheiten, welche fir die Charal-
teriftit Walter Scott’8 wenig ergiebig, ja nicht einmal zu⸗
treffend find. Wo Julian Schmidt ben Einfluß Walter
Scott's auf die jüngern Schriftfteller auseinanderfegt,
fagt er:
Es ift unnöthig, die Nachahmer vom gemeinen Schlage
aufzuzählen, ebenfo unnöthig wie unmöglich: die Sames, bie
Tromlit u. f. w.; auch die beften Schriftfieller, die im diefer
Gattung arbeiteten, einer Gattung, die recht eigentli) durd
ihn entdedt if, unterliegen feinem Einfluß. Cooper ift ganz
Balter Scott, Didens würde feinen „Barnaby ARudge “,
Bulwer feinen „NRienzi' oder ,‚Deverenr‘, Mamoni feine
„Berlobten” nicht gejchrieben haben, wenn ihnen nicht bies
Vorbild vorgefhwebt hätte. Bei uns flud Wilibald Wleris,
Spindler, Hauff, Rebfues jeher anerlennenswerthe Nachahmer,
aber auch Guſtav Freytag bat in „Soll und Haben”, wes
die Technik betrifft, mehr aus Walter Scott gelernt ale aus
„Wilhelm Meiſter“.
Wir haben bisher bei Freytag's „Sol und Haben‘
weder an Goethe noch an Walter Scott gedacht, fonderr
nur an Didens, der offenbar für die Darftellungsweil
bes deutſchen Autors das Mufter mar.
Sultan Schmidt analyfirt zunächft die Dichtunge.
Scott's und ſucht namentlih an ihnen nachzuweiſen, wa
er unter hiſtoriſcher Romantik verſteht. Was die Roman’
betrifft, fo unterfcheidet er zwei Arten von Biftorifche
Eſſays von Julian Schmibt. 741
Romanen: ſolche, deren Grundlage die Ueberlieferung bil⸗
det, wie alle aus dem Zeitalter Karl's II. und der Kron⸗
prätendenten, und ſolche, deren Grundlage das Buch⸗
ſtudium bildet, wie „Ivanhoe“, „Kenilworth“. Den lettern
gibt er in Bezug auf künſtleriſche Compofition den Vor⸗
zug, den frühern, was den wahrhaft poetifchen Gehalt,
die Schöpfung echter origineller und bleibender Menfchen-
typen betrifft. Uns erſcheint ber ganze Eintheilungsgrund
nicht ftichhaltig genug, um zwei große Gattungen zu
unterfcheiden; denn es Handelt fih im Grunde nur darum,
ob die Handlung bes Romans in älterer oder neuer Zeit
ſpielt. Auch für die Romane aus ben Zeiten ber Stuart
war das Buchſtudium jedenfalls nicht minder wichtig als
die Ueberlieferung. Man könnte die Romane eher ein«
theilen nad) dem geringern oder größern dramatifchen
Intereſſe, das fie darbieten — da unterfcheiden fi „Kenil-
worth” unb „Joanhoe” wefentlid von mehr epifch ver-
laufenden Dichtwerken —, oder nach der größern und ge=
ringern Bedeutung, welche hervorragende geſchichtliche
Charaktere in ihnen beanſpruchen. Hier, wo es fi um
die Stellung ber Dichtung zur Gefchichte Handelt, fucht
Inlian Schmidt die Frage zu beantworten, ob es erlaubt
fei, eine Figur, deren Leben und Thaten und in zahlreichen
Documenten aufbewahrt find, mit bichterifcher Freiheit
zu behandeln?
Es ift ein weſentlicher Unterſchied, ob fie in dem Roman
nur epiſodiſch auftritt, nur zur farbigen Illuſtration der Ver⸗
Hältniffe, in denen der wirkliche Held des Romans, das Er⸗
zeugnig der PBhantafte, ſich bewegt, oder als Hauptgegenftanb
der pfychifchen Analyſe. Im erflern Kal wird man die Be
rechtigung leichter zugeben; aber auch Über dem zweiten entſchei⸗
det ausſchließlich die individuelle Befähigung des Dichters. Die
wahre Analyje des Charakters if die wiſſenſchaftliche, die fich
teils auf uumittelbare Zeugniffe, theils anf Schlußfolgerungen
fligt, die big zu einem geriflen Grade bemeisfähig find. Aber
der geniale Blid eines Dichters, durch ernfihaftes Stubium der
Geſchichte gebildet, faun bis zu einem gemiflen Grade die Ana»
iyſe durh Anſchauung erfegen, und er erleichtert damit doch
nur bie Operation, die jeder anftellen muß, dem bie hiſtori⸗
ſchen Thatſachen nicht bloße Worte bleiben follen. Jeder echte
Freund der Geſchichte muß fi bemühen, bie Perfonen, von
denen feine Duelle ihm berichtet oder liber deren Charakter ein
früherer Hiftorifer reflectirt, mit Augen zum fehen: der Verſuch
wird je nad) der Kraft beffen, ber ihn anftellt, fehlſchlagen
oder gelingen, aber er if nicht zu umgehen; und die große
Freude, die man empfindet, in dem Bild eines geiftvollen und
teuntnißreichen Romanfchreibere das, was man fi ungefähr
vorgeftellt, nur prägnanter wiederzufinden, genügt, die —**
tigung der Gattung nachzuweifen. Die Klage, daß unwiſſende
Leute in ihrer hiſtoriſchen Kenntniß irregeführt werden können,
indem fie etwas als bewieſen annehmen, was doch nur Ver⸗
mutbung ift, bat ungefähr ebenfo viel Berechtigung ale der
Borwurf eines eingefchnürten Moraliften, Soeihe unbe feine
Bhiline jo liebenswürdig gefchildert, daß wohlgefiunte Kammer-
jungfern dadurch verführt werden Lönnen, dem erften beften
jungen Herrn um den Hals zu fallen.
Den wichtigften Unterfchieb, der bet biefer Frage in
Betracht kommt, überſieht unfer Effayift, den Unterfchied,
ob ein großer Hiftorifcher Held in ber Tragödie oder im
Roman auftritt. In der dramatifchen Form darf er
entjchieden Träger der Handlung fein; denn das Drama
verlangt die großen Entſchlüſſe, die kühne Smitiative; es
drängt die Handlung zufammen in ihre entjcheidenben
Wendnngen und Kataftrophen; es gibt Gefchichte in ihrer
bergeiftigten Eſſenz. Im Roman aber wollen wir ben
großen Geſchichtshelden nie als Hauptperſon fehen; hier
wo das Detail ber Heinen Züge, die Fülle unvermeidlicher
Veberlieferungen fi) nothwendig vorbrängt, buch die
breite epifche Form begünftigt, würde einerfeitS die dich»
terifche Freiheit allzu fehr beſchränkt, andererfeits die
Spannung auf den Fortgang der Ereigniffe, gegenüber
den befannten Thatfachen, zu fehr entlräftet. Die Haupt.
perfon bes Romans muß ein Held fein, der nur von ber
Phantaſie des Dichters feinen Geburtsfchein erhielt, oder
der mindeftens von der Geſchichte in das befcheibenfte
Dunkel geftellt wurde. Auch bat Walter Scott dies
Princip nie außer Acht gelafen: feine Maria Stuart,
Elifabeth, fein Karl II. treten bedeutfam, in fcharfen
Umriffen hervor; fein Ludwig XI. und Karl der Kühne
intereffiren vielleicht mehr als ber Phantafieheld Quentin
Durward — aber fie find nicht bie Helden bes Romans;
es ift Entwidelung und Schickſal ber mit ihnen in Be⸗
rührung kommenden Phantafiegeftalten, was im Border»
grund des Romans ftebt.
Ueber die Charaktere Walter Scott's fagt Julian Schmidt
fehr viel Richtiges, 5. B.:
Walter Scott’ Cavaliere, Kreuzritter, Hochländer, Zigen-
ner und Schleichhändler, Räuber und Berrlidte find eigentlich
immer nur Staffage.e Wer wollte für den romantifchen Reiz
feiner Meg Merillies, feines Elaverhoufe, feiner Elsbeth Cheyne
unempfänglidh fein: aber heimiſch wird uns erfl, wenn wir an
bie fernigen Figuren der Meinen Pächter, Kaufleute, Advocaten,
Pfarrer u. f. w. fommen. Die eigentlihe Subftanz feiner Ro
mane tft diefelbe wie im den Dichtern des 18, Jahrhunderts:
fie find Charakter⸗ und Sittenfhilderungen, mit bejonderer
Borliebe für ſolche Phyfiognomien, die etwas Eigenes ha⸗
ben, die nicht außjehen wie Hans und Kunz. Daburd aber
unterfcheidet fih Walter Scott von feinen Vorgängern, dab er
ſehr wohl weiß, wie gewiffe Eharaktertgpen am beftimmte Zeit
verbäftniffe gebunden find, und daß er diefen Unterſchied der
Zeit deutlich markirt. Smollet, Fielding und die andern pho⸗
tograpbiren jede intereffante Figur, bie in ihre Nähe kommt,
al8 wäre fie nur einmal in der Welt, oder als wäre fie zu
allen Zeiten fo; Walter Scott fragt nach ihren Vätern, Groß⸗
pätern und nad ihren Kindern; die individnelle Erfcheinung
bat für ihn etwas Genetifches, fie blidt nad) ihrem Urſprung
und nach ihrer Folge Bin.
An einer andern Stelle fagt er:
Als Charaltermaler ſteht Walter Scott wenigſtens eben-
bürtig in der Reihe der großen Humoriflen von Defoe biß auf
Didens. Er bat eine unglaublidhe Fülle neuer, intereffanter
und liebenswürdiger Figuren geihaffen, welde unfere Men⸗
ihentenutniß bereichern und vom Leben ein volleres Bild geben.
Alle diefe Figuren find von fehr ausgeprägter Phyflognomie,
eigenartig, fcharf und folgerichtig gezeichnet, frei in ihrer Be⸗
wegung , feft auf ihrem Boden umd zum Theil im großen
Stil des Komifchen. Er bat bie Modelle aus der unmittel»
baren Anſchauung genommen, aber ihnen das Gepräge bes
Typiſchen aufgedrüdt und fie dadurch in den Kreis ber blei⸗
benden Ideale eingeführt.
An einer dritten Stelle fpricht er ſich über bie edeln
Romanhelden Walter Scott’8 aus, die nach dem Muſter
Grandiſon's zugefhnitten find, junge, wohlerzogene, aber
langweilige Männer, und über die Yrauengeftalten des
Dichters. Schade nur, daß dieje Bemerfungen an ver»
fehiedenen Stellen vereinzelt auftauchen, wie es gerade die
Betrachtung dieſes oder jenes Romans mit fid) bringt,
ftatt daß uns Yulian Schmidt die Charakterzeichnung
Scott’3 im Zufammenhang dargeftellt Hätte. So macht die
ganze Abhandlung einen burdans mufivifhen Eindrud;
|
1
u
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hier und dort wird ein buntes Steinchen eingefegt, wie
es dem. Autor gerade in. hie Hände füllt; der Eſſay
wächlb gleichjam aus ber Lektüre heraus, win bie Literatur⸗
gefchichte aus dem. Excerpt; es fehlt die Dispafitian, hie:
durchgreifende Energie der Behandlung
Die Charalteriſtik Bulwex's iſt im ganzen. nicht minder
gelungen, die Aualyſe der einzelnen. Ramane ebenſo ein⸗
gehend, Mit Recht heißt ee von ihm:
Es iſt wahr, feine bichterifche Kraft ſteht bei weiten Bin-
ter. dev won: Walter Scott, und Didens zuräd, und von ben
verſchiedenen Broblemen, die ex angeregt, ift wol nicht eine,
da® er befriebigenb gelöft hätte, aber vom hiſtoriſchen Stand⸗
puutt betrachtet, gewinnt er eine bedeutende Phyſtognomie.
Mehr als ivgeudeiu anderer Dichter der Periode war er durch
feine Steflung auf ven Höhen ber. Geſellſchaft, duxch fein ein⸗
gehenbes Stadium fämmtlicher Literaturen Curoyas befähigt,
den Blid ind Große zu richten. Er hatte wirkliche und eigene
Gedanken, und wenn er der Gefahr unterlag, in fleter Selbſt⸗
beipiegelung, was in ihm vorging und was er leiftete, zu
überfgägen, fo bleibt ihm doch realer Inhalt genug. Ja für
das Nachdenken bietet er mehr Ausbente als Walter Gcott
und Didens: er ift von biefen Dichtern der mobdernfle; die
Probleme, die ihn innerlich bewegten, find noch die unjerigen.
Die pathetifche, oft fleptifche Haltung und her ſym⸗
metriihe Schematismus der erflen Romane Bulwer's,
ber humoriſtiſche Ton umd die weitläufigen Excurfe feiner
fpätern werben von unferm Autor mit Hecht unterfehieden.
Daß übrigens Julian Schmibt feinen frühern moralifchen
Rigorismus um einige Löcher zurüdgefchnallt hat, beweiſt
die Schlußparabafe feiner Charakterifiif Bulmer’s, in
welcher er diefen Dichter mit Didens und Thackeray
vergleicht:
In einem, Pustt ei Bulwer jeuen beiden Dichtern vor⸗
amiehen, die ihn an Talent fo. bedeutend Überragen: feine
oral ift kühner und bat einen freiern Blick. Weil die Leiden⸗
ſchaften und der Idealismus ben Menfchen jo oft in Wider«
ſpruch mit fich ſelhſt bringen, ihn nicht einmal glücklich machen
wenn fie erfolgreich find, gefchweige denn im entgegengeletten
Fol: darum foll man, das feinen Didens und Thaderay zu
empfehlen, foviel als möglich velgnieen; das gute Herz if das
einzige, worauf es anfommt. Aller Ipealismus iſt mit Ehrgeiz
verfnitpft, der Ehrgeiz madıt hart und einfeitig, er bat etwas
vom Fieber an fih, und jebe feheinbare Befriedigung ift nur
das Borfpiel zu neuem Kämpfen und Ringen. Wenn fie das
auch nicht befländig predigen — oft genug thun fie es —, fo
zeigt doch die Bertheilung des Intereſſes, das fie an den ver-
ſchiedenen menſchlichen Naturen nehmen, deutlich genug, wie fie
denen; fie glauben mit dem Ehrgeizigen, den fie achten, nod)
beſonders ſchonend umzugehen wenn fie diefe Seite feiner
Natur ſoviel ale möglid) ignoriren. Bulwer denkt größer
von der menſchlichen Natur. Im Audley Egerton, Algernon
Morbaunt, Eugen Aram, Guy Darreli u. ſ. mw. zeigt fi
zwar, daß der guoße Wille große Opfer koſtet an Lebensglüd,
auch wol an Herzensreinheit; aber darum bleibt er doch ber
ebeifte Theil der Menfchheit; und wenn er bei weniger edel
angelegten Naturen, bei William Brandon, Randal Leslie,
Lumley Ferres zum poftin Böſen führt, fo bleibt ex doch das
wichtigſte Ferment der Geſchichte und der Sittlichkeit. Bulwer
iſt bei der Zeichnung dieſer Charaktere im Detail der Beobach⸗
tung viel weniger fchnellblidend, viel weniger fein als Thacke⸗
ray; in der Ausmalung threr Nuancirungen viel meniger
gasaltig als. Didens: aber gedacht hat er ſie richtiger. Es
fehlt pas an ihrem innern Leben, zu ihrer. völligen Ruu⸗
dung: x feine poetifhe Kraft nicht ans, die er öfters durch
it ——— ſteigern muß; aber es bleiben ſehr lehr⸗
weiche Stadiertäpfe- In feinen moraliſchen Problemen hat er
a ein un fon etwas, daß er wagt. Wenig.
Pins; nerfuct: ar qſetau uen ans große, ins veiche, ins flarke
Eſſays von Julian Schmipt,
Leben zu reißen, unſere Phantafie mit den hödften Aufgaben
der. Dienfchheit au hefchäftigen, während jene mit ihren Ihealem,
wenn fie fich ganz gehen lafien, nichte finden als den Gtand
der Unſchuld, b. h. ber Unreife.
Die Studie über George Eliot iſt beſtrebt, auf bie
tiefere Bedeutung dieſer Schriftfiellerin aufmerkfam zu
mahen, von der bisher noch nicht die Rebe gewefen fei.
Das Problem, das faft alle ihre Romane behauheln, beißt:
Was ift die Sünde? Wie kommt fie in den Menfchen?
Wie wird fie gefühnt? Auch eine lange culturhiſtoriſche
Einleitung fol uns bie Bedeutung von George Sliot Mar
machen. Wir glauben, daß diejenigen George Eliot rich⸗
tiger beurtheilen, bie ihr Fein großartiges Piebeflal gei⸗
fliger Bedeutung aufbauen, fondern fie nur als gute Er⸗
zählerin betrachten. Ihre Romane enthalten maunches ge-
Iungene Stimmungs- und Landfchaftsbild, manchen feinen
pigchologifchen Zug, manche ibyllifche Niederländerei, aber
eine äfthetifch nicht genug zu verwerfende Detailmalerei
der todteften, nichtsfagenden Aeußerlichkeit und dabei auch
echt englifche Senfationsmomente. Uns erfcheint die ganze
Studie ald Gerede, das ſich an die zufälligen Stoffe
ber Mrs, Lewes knüpft; es ift Feine Kunft, auch über
Schriftftellerinnen von nicht geringem Talent eim ſolches
Brimborium zu machen. Der äſthetiſche Maßſtab gebt
überhaupt zulett ganz verloren, wenn man aus dem
ftoffartigen Intereſſe jeder Erzählung glei weiß Gott
was für Gulturgefhichte u. ſ. f. zu Tage fürdert.
Ebenfo übertrieben if bie Schägung ber Erimann-
Chatrian’fchen Erzählungen und Romane. Die erfien
Nachtſtücke des elſaſſer Autors waren im Stil eines
Amadeus Hoffmann gehalten; fpüter fchreibt er elfafler
Senrehilder ganz nah dem Herzen Inlian Schmidt's,
umd genießt der Ehre, mit Jeremias Sotthelf und Fritz
Reuter verglichen zum werden. Wo biefe Dorfgefchichten
indeß ins biftorifhe Gebiet münden, da erhält der fran⸗
zöſiſche Patriotismus Erkmann⸗Chatrian's einige verdiente
Lectionen. Ueberall iſt das Sioffartige, der Inhalt der
Geſchichten, der Anſtoß für die Reflexionen Jules
Schmidt's; die geiftige Bedeutung und das künſtleriſche
Talent der Autoren kommt dabei faft gar nicht in Be-
tracht; aus den befcheibenften Genremalern werben un«
fterbliche Heroen der Kunſt gemacht. Die Titeraturgefchichte
der Zufunft hat feine leichte Arbeit, den Kehricht dieſer
fogenannten literarhiſtoriſchen Studien der Realiften bei-
feitezufegen, welche das Gefühl für dichteriſche Beden⸗
tung ſo gänzlich verloren haben, daß ſie über einen
Schiller oder Shakſpeare ſtolpern würden ohne ihn zu
bemerken, wenn er nicht bereits in der bengaliſchen Glorie
des Weltruhms ſchimmerte.
„JIman Turgenjew“ gibt Veranlaſſung zu einigen
neuruffifchen Studien. Er iſt jedenfalls ein geiſtreicher
Schriftſteller; aber alle ſeine Bildungselemente find „Im-
port“, und feine Eigenthümlichkeit befieht nur darin, bag
er die nationalruffifchen Zuftände mit her Stepfis der
modernen deutſchen Philofophie beleuchtet und fich zugleich
als fcharfblidender Eultur- und Genremaler wie als
denkender Kopf bekundet, Wie Byron die ruſſtſchen Ly⸗
riler und Epifer infpirirt hat, fo infpirirt jest Schopen-
bauer die xuffifchen Romanfcriftfteller. Iulian Schmibt
bewunbert Turgenjew's künſtleriſches Naturell und fein
Reifeliteratur. 743
Technik und meint, daß ex an poetifcher Kraft keinem der
jagt lebenden Schriſtſteller Europas weiche. Wir wollen
nicht unterfugen, ob dies Urtheil acht über dad Ziel
hinausſchteßßt, ſoadern uns mer freuen, daß Zulian
Schmibt, ber die Werte eines Schiller und Goethe fit
„Studien“ erflärte unb in Hegel den Repriifentanten
einer unfertigen Bildung fieht, inzwiſchen „bewundern‘'
gelerat hat und in hyyperboliſcher Weiſe gu loben
verſteht.
Merkwurdigerweiſe beſprechen alle dieſe Efſays nur
Romanfhriftfteller; man ſieht daraus, dag Julian Schmidt
in einer Leihbibliothek als fleißiger Leſer abonnirt ift,
aber nie Gedichte lieſt und nie ind Theater geht: ber
Roman ift fir ihn der Inbegriff der ganzen Tchönen
Literatur — und wenn ja das Glück will, daß bie
ſchweizer, die medtenburger, die elfafler, bie znglifchen
und rwififchen Bauern in den Romanen mit Phosogvaphifdi«
ethnographifcher Treue geſchildert werben, bann geht ihm
das Herz awf über bie großen Dichter, bie unfere Claſ⸗
filer fo tief befhämen. Denn wo finbet fih bei Schiller
und Voethe rin gefunber Bauer? Die Bauern im „Zeil“
fpreden gar in Jamben — und das ift doch ein Berftoß
gegen alle Lebenswahreit, wie jeder wit gefunden Sinnen
ausgerüfttte Tomift am Bierwelbftibterfe zit Leich⸗
tigleit Beobachten Tann.
Eine einzige Ausnahme macht Zulian Schmidt zu
Gunſten eines Dichters, der zwar auch Novellift, dei
ebenfo Dramatiker amd Epiler in Verſen iſt — zu Gum⸗
ſten Paul Heyfe's; ja er wappnet ſich mit beſonderer
Lieben@wiirbigfeit, um biefen Dichter zu begrüßen, fobaf
e8 der ansbrüdlichen Erwähnung einer „jungen Dame‘
in der folgenden Stelle bedarf, um den Argwohn zu
wiberfegen,, daß diefe Worte felbſt der Erguß einer zar⸗
ten weiblichen Feder find:
Seit einiger Zeit fieht man in den Schaufenftern uuferer Kunſt⸗
läden neben gefeierten Prinzeffinnen uud Tänzerinnen überall
die Photographien unſerer Poeten, und wer einen Dichter
ans feinen Werten liebgewonnen Bat, faun nun erfahren, wie
er ausfieht, und dadurch ein perſonliches Verhältniß ankulipfen. |
Wenn eine Junge Dame biefe Galerie duvchmuſtert, fo iſt mit
zeemelicher Wahrſcheinlichkert anzunehmen, daß fie am längſten
vor dem Bilde Paul Heyſe's verweilen und daß diefe Be-
tradjtung fie anregen wird, ih feinen Novellen nad den Er⸗
fahrungen feines Lebens zu Tischen. Detin er „erſcheint in fo
fragwürdiger Beftalt‘‘, ſeinem Geſicht ift To dentlich bie Fähig-
keit und die Neigung uufgeprägt, in dem Felde, auf melden
fi feine Novellen ausfchlieglih bewegen, Erfahrungen zu ma-
Gen, daß man vorausfegen darf, in feinen Dichtungen feinen
leeren Abftractionen und Scattenbildern zu begegnen.
Auch bei ber nähern Fritifchen Beſichtigung bewahrt
Sultan Schmidt feine Liebenswürdigleit; ex ftellt zwar
einzelnes an ibm aus, 3. B. daß ihm das Mitleben mit der
Natur fehlt, das aud) das Unfcheinbarfte mit Leben und
Seele erfüllt, dad vom Geift der märkiſchen Kiefern
duchjchauert, ihn zur Anſchauung zu bringen weiß —
beiläufig eine etwas kühne Wendung, dies Durchfchauert-
fein vom Geifte der märkiſchen Kiefern. Auch daß ex
die beutfchen Bauern nicht jo reden läßt, daß wir fie
felbft zu hören glauben, erfährt eine Heine Zurechtwei⸗
jung, obwol wir dies Vergnügen weit leiter haben kön⸗
nen, wenn wir uns anf das nächfte Dorf begeben. Dazu
braucht kein Heyfe dom Himmel zu Tommen. Mit dem
Betrachtungen über die „Moral des Philiſters“ ftößt
Sultan Schmidt die Sonde tief in die eigene Wunde,
Daß er hierin jet etwas freigeiltiger geworden ift, ha⸗
ben wir fchon oben geſehen. Heyſe's Dramen werben
fo kurz wie möglich behandelt; tim ganzen aber Tann ber
Dichter mit dem artigen Benehmen bes Kritikers, der
beim Eintreten und beim Abgehen den Kragfuß nit
vergißt, fehr zufrieden fein.
Yuliaen Schmidts Eſſays find ein nicht unwichtiger
Beitrag zur realiftifchen Aeſthetik ber Neuzeit und zeigen,
bei manchen Borzügen ſcharfſtuniger Auffafiung, doch bie
Berirrungen einer Kritik, weiche, durch und durch nich.
tern umd poefielos, den flüchtigften Launen bed Zeitge-
ſchmacks fchmeichelt und den von der Mode begtinftigten
platten und bebeutungslofen Schöpfungen vergebens ein
bauerndes Piedeftal aufzumauern fncht.
Rudolf Sottfhull.
Reifeliteratur.
Geſchluß aus Nr. 46.)
6. Ein Sommer im Orient. Bon Alerander Freiherr
von Warsberg. Wien, Gerold's Sohn. 1869. Gr. 8.
3 Thlr. 10 Rear.
Eine am Eingange aufgehängte Warnungstafel belehrt
uns, daß das Buch nur fir diejenigen gefchrieben fei,
die das Land, welches es fchildert, gefehen Haben und
lieben. Sie bildet zugleich die ganze VBorrede und iſt fo-
mit allerdings ein charafteriftifches Aushängefchild für bie
ganze Schrift, die ſich durch eine gewiſſe Excluſivität und
ariſtokratiſche Behandlungsweiſe kennzeichnet. Denunoch find
wir geneigt zu glauben, daß ber Berfaſſer dieſe Wur-
nung nit ganz au pied de la lettre genommen zu
haben wirft. Sicher ift, daß fein Buch auch denjeni-
gen, die den Drient nicht aus eigener Anfchauung feunen,
ein tiefes ‚und nachhaltiges Interefie zu bieten geeignet ift.
Wird auch vielleicht der Lefer, ber die türkiſche Haupt⸗
ſtadt nicht befucht und die Reſte aus dem Alterthum, bie
fie noch darbietet, nicht felbſt gefehen bat, auch nicht
Archdolog von Fach ift, die Detatlfchilberungen und topo-
graphiſchen Unterfuchungen über Konftantinopel theilweife
überfchlagen, fo bietet doch die Schrift nicht nur eine
Menge anfchaulicher, mit dem feinften Sinne fir Kunſt⸗
and Naturfhönheit ausgeflihrter Schilderungen von Land⸗
fchaften, fondern zuglei neben vielen charakteriftifchen
Bildern aus dem türkischen Bolls- und Straßenleben ein-
gehende Unterfuchungen über bie politifchen und commer-
ciellen Verhältniſſe des türkiſchen Reichs, gefchiehtliche und
ſtatiſtiſche Excurſe. Dazu kommt endlich eine lange Reihe
eiftreicher Bemerkungen über orientalifhe Zuftände im
tgleich wit europäiſchen, über philoſophiſche und reli«
gidfe, politifche und fociale Probleme aller Art: Bemer⸗
tungen, die oft reiht einfeitig, ja nicht felten parador
144
klingend, body ebenfo ſehr von ſcharfer Beobachtungsgabe
wie von origineller Auſchauung und Auffafſſung zeugen und
zum Theil wol geeignet find, eingewurzelte Vorurtheile
in unferer traditionellen Anſchauungsweiſe orientalifcher
Berhältniffe wirkſam zu berichtigen. Warsberg teitt
äußerft ficher und felbftbewußt auf; in der Darftellungs-
weije herrſcht eine gewiſſe vornehm» bequeme Nondhalance;
dabei ift jedoch ber Stil ebenfo kurz und Inapp wie Har
und anſchaulich. Auch ift feine Bildung eine tiefere und
umfaflendere, als fie in den höhern Schichten ber öſter⸗
reichiſchen Gefellihaft, denen der Berfafier angehört, im
allgemeinen heimiſch zu fein pflegt; denn er ſcheint nicht
nur wie gewöhnlich in Kunſt und Politik, fondern auch
in Geographie und Statiftit, in Gefhuhte und National-
öfonomie, ja in der neuern Naturforfchung verhältniß-
mäßig wohl bewandert zu fen. Sein Stanbpunft
ift ber bes unbefangenen Beobachters, wenngleidy fid)
der Ariſtokrat und Katholik und, wie es uns wenigftens
fcheinen möchte, auch der Militär nicht verleugnen Tann.
Der Verfaſſer reifte im Frühling von Trieſt nad)
Konftantinopel, machte von hier aus einen Ausflug nad)
Brufla, bradhte den Sommer am Bosporus zu und kehrte
mit dem eintretenden Herbft über Athen zurück.
Bon Korfu erhalten wir eine Lebendige Schilderung
und biftorifche Rückblicke, die freilich etwas an das Con⸗
verfations-Lerilon gemahnen. Ihm wäre „das Kleinod,
das Königin Victoria weggeſchenkt“, um alle Schäge In⸗
diens nicht feil gewefen. Als er abends wieber auf das
Schiff kommt, ſtrauchelt er über einen auf bem Berbed
fchlafenden Albanefen:
Der Manu erwacdte nit, aber im Schlummer griff ex
nah feinem Dolche. Gab's eine aufrichtigere Sprache, aber
auch eine, die mir verflänblicher die Lebensart bes ganzen Volks
geſchildert Hätte? Und fte ifl die richtige, bie von Gott gegebene.
Streik für Streih, Fanſt gegen Fauſt. Die Eivilifation fieht
freilich mit Verachtung auf unfer Mittelalter herab, weil es
das fo gemacht; aber wenn man den heutigen Sitten die Tu⸗
gendkapuze abfireift, mas bleibt dann anderes als das Fauſt⸗
recht, der Kampf des einen gegen alle, das öte toi que je m’y
mette? Daß es von unfern großftädtifchen Börfen ftatt von den
vereinfamten Burgen aus gelibt wird, ändert an dem Werthe
ber Sache nicht, ° J
So erkennt auch der katholiſch⸗ Ariſtokrat in der
Menſchenwelt ben Kampf ums Dp”.in, wie er ihn ſpäter
an den Abhängen des Olymp bet Bruffa in der Natur
- erblidt:
Abſtechend und unvermittelt, fo wie das Leben überall neben
dem Tode fteht, blühten unter diefen faftlofen Gefpenftern (vom
Brande verdoriten Banmflämmen) gauze Felder von Stief-
mütterchen, jo weit verbreitet und fo blau gefärbt, daß es wie
Wollkenſchatten auf den Abhängen des Berges lag. Die Afche
der Bäume hatte die natlirliche Zeugungsfraft des Bodens noch
gemehrt; die Zerflörung des einen war das Leben des andern
geworden. Es ift derſelbe Bertilgungslampf, der auch bie
Menſchenwelt durchzieht. Alles wird und iſt nur durch den
Tod des Geweſenen. Wie follte da der Egoismus nicht der
vorlauteſte Trieb unſers Willens fein?
Im Uegäifhen Meere wird das Schiff von einem
heftigen Sturme erfaßt:
Schon um 7 Uhr ift es vollflommen Naht. Ich harre aus
auf dem Berded. Das Unmögliche wirb möglich, das Unwetter
fleigert fi) no, und fcheint felbft da feine Grenzen noch nicht
gefunden zu haben. Mir ift auch das nicht unangenehm, Etwas
wie ftolges Selbfibewußtfein erhebt mich, daß der Meunſch das
Reifeliteratur.
alles ertragen, daß der Geift, das Göttliche in ihm, diefe Ele⸗
mente bemeiftern lfaun. Im Gturme, im wilben Drange ber
Gefahr, erkennt erſt der Menſch feine Kräfte, die Windſtille ex-
f&lafft, und der Soldat wie ber Seemann handelt erſt, wenn
der Tod ihm vor ben Augen flieht. Und wie der Menſch, fo
die ganze Ratur; ihre größten Thaten, bie Alpen und bie
Büfen, bat fie durch NRevolutionen erzeugt; Gletſcher und Hel⸗
den wollen riefige Geburtswehen haben, zn Grunde geht dabei
nur, wags ſchon angefreffen von der Fäulniß if. Daher baum
die fonderbare Ericheinung, daß oft Lörperlih Harte und geiunbe
Menfchen unter dem erften Angriff zuſammenbrechen,
fheinbar gebrechliche und was man nerodje Raturen nennt,
wiberfiehen und flegen. Die einen haben in der Gewohnheit
ber Unthätigkeit den Willen und die Fähigkeit verloren, wäß-
rend die andern in der Aufregung ihres innern Leben® bem
Geiſt, der endlich doch das Enticheibende if, nicht bios erhal-
ten, fondern jogar geſtärkt haben.
Neben Schilderungen ber Stadt Konflantinopel unb
ihrer Umgegend erhalten wir Epifoden aus der ältern
und neuern Geſchichte, von der Empörung bed Pholas
an, den er den NRobespierre des Kaifers Mauricius nennt,
bis zu dem neuerlichen Berfuche Riza Paſchas, mit Hälfe
der Franzoſen oder wenigftens im Einverfländniß mit dem
franzöfiſchen Gefandten die Thronfolge zu Andern. Dam
begleiten wir ihn zu einer vornehmen armeniſchen Doppel-
hochzeit und bem nachfolgenden Balle, an bem and das
diplomatifche Corps theilnimmt: Sir Henry Bulwer, den
er gegen die übelwollenden Bemerkungen ber öfterreichifchen
Zournaliftil in Schuk nimmt, wie ber Marquis von
Mouftier und ber öfterreihifche Internuntins. Ber einer
Unterredung mit der Yürftin von Samos legt er biefer
eine freilich nicht neue, doch treffende und von deu deunt⸗
[hen Zouriften noch immer nicht binlänglich beherzigte
Bemerkung in den Mund:
„a, Sie haben‘, fo ſchloß fie ihre Rede, „Sie Haben
ben rechten Zeitpunkt getxoffen, Konftantinopel und deu Boe⸗
porus muß man im Sommer fehen, wenn feine Gärten blühzen
und feine Hügel grünen, wenn jeine Fluten eben und mit ben
leichten Booten feiner Bewohner geflillt And, die um Abend⸗
fonnenfcheine von Europa nad den noch fhönern Ufern Afiens
hinüberrudern. I halte es überhaupt für einen Irrtum, im
deu die Bequemlichleit den Norbländer verführt, bie Länder des
Südens, Italien und ben Orient, in den falten Jahreszeiten
zu befjuchen; ba erflirbt bier fo gut ale im Norden das Leben,
wenn anch nicht in gleichem Grade, fo doch verbältnißmäßig.
Was der Fremde fieht, ift todt, fomweit die Sonne bes Südens
das Sterben Überhaupt zuläßt. Es ift ein Unrecht, das damn
mit dem Früßling des Nordens zu vergleichen und zu richten,
als fei es das letzte Wort, welches diefe Landſchaften ausfprechen
lönnen. Neapel gefiel mir erft, ale ich es im Sommer fah,
wenn e8 alle fliehen; wer den Preis haben will, barf ben
Schweiß nicht jcheuen und muß etwas Hite aufhalten können.“
Dann geht es nach dem Herrlichen Bruffa, dem Pa-
rabiefe Kleinafiend. Im Hafen von Mubania verbringt
ex bie Nacht wachend, im Anfchauen von Meer und
Gebirge verfunfen. Wir geben die Stelle ala Probe ſei⸗
ner Runft zu fchildern, wie feiner eigenthitmlichen contem-
plativen Auffafjungsweife:
Ich flüchte auf die Terraffe, die vor dem Haufe in das
Meer binausgebaut if; Hier finde ih Einſamkeit und athme
mit der falzig geimürzten Luft auch die Ruhe, die anf dem Meere
den warmen Mittageſchlummer ſchläft. So feft if ber, Dai
felbft die Brandung, bie doch fonft immer unbellinmert um
Windesftille ihre eigenmächtige Sprache fortlispelt, in regunge
loſes Schweigen verſunken, und die Flut zu meinen Füßen ge
lättet wie draußen auf der hoben See if. Dort liegen rinig
Kifcherboote; mit ihren Gteuerlenten raften auch ihre ©
Reifeliteratur.
die fchlaff und Halb gejenft an den Maſten hängen, von der
geibonen Arbeit. So ift Ruhe und Erholung Überall, in den
enſchen und in den Dingen, lebendig unb bewegt nur nod)
das Licht. Grüne und blaue Farben gleiten wechfelnd Über das
Waſſer, und fülberne Streifen wellen leuchtend dazwiſchen. Mir
gegenüber, auf der andern Seite bes Golfs, glühen die runden
erge in rothen Lichtern, indeſſen tiefer drinnen, wo die Ufer
fi treffen und man das Land nur noch fieht, weil es bie in
die Höhen bes ewigen Schnees emporſteigt, verſöhnliche Schat-
ten um die fchroffern Formen gehüllt find, damit fie paſſender
in den beitern Zon des ganzen Bildes flimmen. Dort ragt
höher als alle andern, wie er andy alle durch Schönheit über⸗
trifft, der Katerfü Dag empor. Der Schlaf einer ganzen Nacht
hätte mir nit mehr Erquidung und Sammlung geben können
als das ungeflörte Schauen diefer einen Stunde. Wie eine
Wechſelwirkung fpannt fi der Verkehr zwifchen uns und der
Natur aus. Ich fühle den Frieden, der im ihr ruht, und fie
ſcheint — fo menigflens meinem Ange, das alles glaubt, was
in feinen Vorftellungen gegenwärtig ift — von Gedanken erregt,
wie fie aufmwühlend mein Inneres durchziehen. Wer das fo
erfahren, wird den Orientalen nit mehr tadeln, wenn er ihn
tagelang in fiummem Sehen vor folhen Bildern ſitzend findet.
Müßig mag man dabei feine Hände und Füße fchelten, aber
nicht feinen Geiſt; der kann folder Schönheit gegenüber nicht
anders als nad ihrem Schöpfer fragen und ihm danken, daß
er fie gefchaffen und daß er ihn fie fchauen läßt. Derfelbe
Gedanke wird zugleich Erkenntniß, Anbetung und Opfer, unb
diefelbe Betrachtung Offenbarung nnd Glauben mwerden. So
ift der Orient eben dadurch, daß er die Heimat aller Schönbeit,
der in der Natur wie in der Kunſt geborenen, if, auch bie
Geburtsftätte aller edelften Religionen geworden. An den Ufern
des Ganges, wie am denen des Nil und an dem großen griechi⸗
fen Weltmeer, wie an dem Kleinen galiläifchen See Tiberias
Bat die bellere Sonne felbft dem Menſchen geholfen, fich den
Gott und ben Slauben zu finden, der den Völkern und den
Zahrtaufenden erft ihre Richtung und ihre Würde gab. Solde
Entdedung wieder zu verlieren und zu leugnen, das war nur
dem Norden möglih, wo fi Nebel zwiſchen die Augen und
die Gotteswerle legen und Kälte die Gedanken einer warmen
Empfindung in jammervolle Öungergeftalten erſtarrt. Der
Atheiemus ift feine Pflanze des Glidens, fein Boden treibt
fhönere und nahrhaftere Früchte.
Des Berfaffers Anfichten über die focialen wie die politi«
Then Zuftände des türkifchen Reichs weichen weit ab von
der hergebrachten Auffaffungsweife. Seiner Meinung nad)
ift die Stellung der Frauen eine ganz naturgemäße und
dem Klima entfprechende; fie fei im Orient nie anders
gewefen und werde nie anders fein. Doc erzählt er
felbft, daß eine Menge türkifcher Wrbeiterinnen jest in
den chriſtlichen Seidenfabrifen Bruſſas befchäftigt fei, was
denn doch bereits auf die Morgenröthe einer neuen Auf⸗
fafſung der Pflichten und Berhältnifie des fchönen Ge⸗
ſchlechts zu deuten fcheint. Die öffentlichen Zuftände bes
Osmaniſchen Reichs findet er zwar keineswegs unverbefier-
lich; aber er warnt dringend vor ihrer Umwandlung nad
occidentaliſchem Muſter. Nur nah ihren eigenen Prin-
cipien und aus ihrer ganz verfchiedenen Eigenthümlichkeit
heraus dürfen fie reformirt werden. In feinen national-
ölonomifchen Ideen fcheint ex im mefentlichen auf phyfio-
Fratifchem Boden zu ſtehen. Rohproducte und Handel
damit follen ben Grund des Wohlftandes legen, dagegen
feine für den Orient ungeeignete Induſtrie Fünftlid im⸗
portirt werden; das Grundeigenthum fol möglichft von
Laſten befreit, auch Fremden zugänglich, dafür aber bie
Sapitulationen und Eremtionen aufgehoben werden. Die
Staatsverfaſſungen des Drients erfcheinen ihm viel geſünder
als die des Deccidents, „folange fie nicht mit dem Gift
1870, 47.
145
europäifcher Eultur verjest find“. Deshalb vor allem
um Gottes willen feine conftitutionelle Monarchie in Kon»
ftantinopel! „Die Zeit der Civilifation, der Berbürger-
lichung, it die des Verfall und ihr würdiges Stants-
Heid die conftitutionelle Regierungsform, diefer Nothbehelf
der Schwäche, wo die Duantität den Mangel an Qua⸗
lität erſetzen fol.” Man fieht, unfer Autor kann ge-
legentlih aud die Sprache der Prenzzeitung reden, fo
liberal er auch an andern Stellen erjcheint. Aber einem
Driginal, das Franz Bader! in gutem Glauben ftir einen
der eriten Menjchen unfers Stammes Hält, muß man
ſchon etwas zugute halten.
Neben derartigen kreuzritterlichen Streifzligen und
Erpectorationen erhalten wir werthvolle und eingehende
Unterfuhungen über die Seiden- und Banmwollenpro⸗
duction, die Induftrie und den Handel der Türkei, deren
ftatiftifchen Zahlen jedody der Autor felbft keinen großen
Werth beilegt:
Denn entgegen der allgemeinen Meinung babe ich für
ſtatiſtiſche Zahlen nur geringen, und für die Sade, die fi
nur durch fie beweifen Täßt, gar keinen Reſpect. Ich babe fie
zu oft doppeifinnig und biefelbe Zahl in zu vielen Parteilagern
gefunden, und muß liberdies fogar, weil ich den Keichtfinn, ber
diefe Zahlen famınelt und zufammenflellt, perſönlich Tennen
lernte, dieſe Bielfeitigfeit ihrer Ratur gemäß finden. Beſtäti⸗
gen und orbnen, was bie Augen im Leben felbft gefehen haben,
das können fie; aber alleiniger und verläßlicher Wegweifer wer⸗
den fie mir nie fein.
Dem Mibsbrauch gegenüber, der nicht nur in ben
gefhicdt gruppirten Budgets der Yinanzminifter, fondern
auch in wifjenfchaftlichen Werfen jest mit den Zahlen
getrieben wird, verdient biefe Bemerkung allgemeine Be⸗
berzigung. Geht man doch beiſpielsweiſe bereit fo weit,
auf Grund ftatiftifcher Erhebungen jedem Alter und Ge-
fchleht im Volle ein gewiſſes nothwendiges Quantum
präbeftinirter Selbftmorde zuzumeifen.
Im Übrigen darf man freilich nie vergefien, daß unfer
Autor faſt jo europamüde ift wie weiland Semilafjo unb
die Yuftände des Abendlandes durch eine tief rauchgrau
gefärbte Brille zu betrachten liebt. Wo er irgend kann,
fteeicht er bie Zuftände des Drients auf unfere Koſten her⸗
aus. Iſt ihm doch fogar das „aus feinem Formgefühl
entfpringende” langſame Schreiben der Türken eine Tugend!
Weniger kann man ihm unrecht geben, wenn er, im Be-
geiff über die heulenden Derwifche den Stab zu brechen,
im Gedanken an die Springproceffion nad; Echternach inne-
hält. Wenn er aber aus der Vebereinftimmung zwifchen
mobammedanifchen und Fatholifchen Aberglauben und dem
daraus entjpringenden, unſers Yahrhunderts unwürdigen
Gebaren den Schluß zieht, das fei nun einmal ber Fe
ligion natürlich und ein Beifpiel des Kampfes zwifchen
Seift und Materie, fo beweift er nur, daß fein Begriff
von Religion noch feft im dem jefuitifchen Gymnafium
wurzelt, bem er vermuthlich feine Erziehung verbanft.
In ferner forgfältigen und genauen Topographie bon
Konftantinopel zeigt er fich als jcharfblidenden Beobachter
und weift dem befannten Hammer’fchen Werke eine Menge
widerfpruchspoller und auf oberflächlicher Anfchauung be-
ruhender Angaben nad. Sehr eingehend ift der Land-
aufenthalt in Bujukdere gejchilbert, wenn er dabei aud)
freilich den Beweis Liefert, dag die Botanik unter feinen
94
4
746
vielfeitigen Studien keinen hohen Plag einnimmt. Ob
man ihm recht geben wird, wenn er bei bem Blid hin«
über nad Afien und anf das Schwarze Meer den Ar-
gonautenzug aus handelspolitiſchen Abſichten Herleiten will,
iR uns freilich ſehr zweifelhaft; ficher wird man ihn aber
deshalb nicht fleinigen, wie er zu fürchten ſcheint. Auch
die furze Schilderung Athens und feiner clafſiſchen Trüm ·
mer ift fehr Iefenswerth. Dagegen hätte-ber Verfaſſer
fehr wohl gethau, die holperigen Verſe des wohlgemeinten,
aber fehr unpoetifchen Schlußgebichts fir ſich zu behalten.
7. GSittenbilder aus Tunis und Algerien. Bon Heinrich Freie
ern von Maltzan. Nebf einer Tafel Abbildungen.
eipjig, Dit. 1869. 8. 1 Thle. 10 Ngr.
Die Malgan’fchen Neijebilder haben vor ben Zou-
viftenfchriften gewöhnlichen Schlags unleugbar große Bor-
züge. Nicht nur daß ber Boden Afrikas, auf dem fie
zumeift bewegen, ein weniger durchwühlter ift als
der Europas, Nordamerikas und Vorderafiens, ſodaß wir
nicht Hundertmal Geleſenes und Bewundertes abermals
zu leſen und zu bewundern haben, nicht nur daß er ine
folge feines Tängern Aufenthalts jenjeit des Mittelmeers
Land und Lente aus allen Schichten der Geſellſchaft beffer
und gründliche kennen gelernt hat, als es dem flüchtigen
Neifenden vergönnt ift: er befigt auch die Gabe, feine
Schilderungen in ebenfo gefälliger wie anfchaulicher Weiſe
abzurunden, durch eingeflochtene Erzählungen die Er-
mübung, welche das Nebeneinander langer Bejchreibungen
fo leicht in dem Lefer hervorruft, gefchidt zu vermeiden
und fo feinen Schriften neben dem ethnographiſchen ein
geroiffes romantifches Intereffe zu verleihen. Man Könnte
die letztern mit den Werken eines Landfſchaftsmalers ver ·
gleichen, welche die charakteriftiichen Züge der von dem
Meifter gefhilderten Gegenden mit folder Trene wieder»
geben, daß jeder, ber fie gefchant, fie anf ben erſten Blick
wiedererfennt, ohne baß eine einzige feiner Landfchaften
vielleicht genan fo in der Wirflichkeit eriftirte. Allerdings
iſt ein foldes Verfahren fiir einen Schriftfteller, deffen
erfter und wefentlicher Zwed nicht in der Herftellung eines
Kunftwerts, fondern in der naturgetrenen Schilderung von
Ländern und Bölfern befteht, nicht ohne bedeutende Be-
denken. Berfaffer und Lefer finden gleiche Schwierigkeit
darin, eine feharfe Grenze zwifchen Wahrheit und Dich»
tung zu ziehen, und der legtere läuft Gefahr, individuelle
Züge, die nur der Phantafie des erſtern entfprungen find,
in das fi im ihm entwidelnde Bild des Landes und
Bolks zu verweben. Diefe Bemerkung findet befonders
Anwendung auf den legten Theil der vorliegenden Schrift,
welcher drei Erzählungen enthält: „Der Haſchiſchraucher
von Algier”, „Die Diamanten des Paſcha“ und „Ein
tabylifcher Soff“, Geſchichten, die ihrem pofltiven Inhalt
nad) vermuthlih, wenigſiens bie erfte und dritte, im
wefentlichen ein Werk freier Erfindung find, doch zugleich
eine fo entjchiebene Localfürbung tragen, dag man ben in
die Sitten und Gebräuche des Landes auf das innigfte
eingeweihten Berfaffer auf jeder Seite bewundern muß.
Zum Verftändnig der Titel bemerken wir, daß Ha-
ſchiſch das narkotifche Kraut bezeichnet, welches, fi im
Drient fo allgemeiner Beliebtheit erfrewend, die Stelle
unferer berauſchenden Getränfe vertritt. Es ift baflelbe
übrigens keineswegs, wie man gewöhnlich fälſchlicherweiſe
Neifeliteratur.
annimmt, Opium ober überhaupt irgendein Product der
Mohnpflanze, fondern das Blatt von Cannabis indica
(indifdem Hanf), das entweder getrodnet und geraudt,
ober in Form eines durch Prefjung gewonnenen Ertracts
geſchlürft, oder mit ans Mehl bereitetem Kuchen vermiſcht
genofien wird. Die befannte entzüdende und entmervende
Wirkung fehildert uns Malgan auf höchſt draſtiſche
Beife an bem Beifpiel des jungen Ali, indem er zugleich
eine orientalifche Liebesgeſchichte daran Enüipft. Cine äfn-
liche fpielt die Hauptrolle in dem „Kabylifchen Soff“, bei
dem man übrigend nicht etwa am ben entjpredjenben
fiudentifchen Kunftansdrud, fondern an eine aus ben ver-
ſchiedenſten Urſachen entfpringende Erbfehde zwifchen zwei
Kabylendörfern oder ſelbſt verfchiedenen Familien deſſelben
Doris zu denken hat. Im den „Diamanten des Paſcha“
entrollt ſich ein. harakteriftifches Gemälde don türkiidem
Despotismus, judiſcher Schlanheit und allgemeiner Trem-
und Gewifienlofigkeit, das in feinen vielleicht etwas grell
aufgetragenen Farben uns mit einem gelinden Schauber
vor ben darin geſchilderten Menſchen und Zuftänden er-
füllt. Alle drei Geſchichten find lebendig und anjchaulid,
nur zumeilen mit einer fi gar zu behaglich behnenden
epiſchen Breite erzühlt.
Die erſte Hälfte des Buchs ſchildert wirklich vorhan ⸗
bene Zuftände ohne phantaſtiſche Zuthat. Die meiiten
Beſucher Nordafritas befehränfen ſich auf Algier und lernen
aud) Hier mur ben eingewanberten Tabylijch - arabijchen
Janhagel kennen; während es dem Verfaſſer gelungen ift,
auch bei der eingeborenen maurifchen Bevölkerung Ein-
gang zu finden, die in den engen und büftern Straßen
der Altftadt von Algier in würbevoller Surücgezogenheit
und, den Iandläufigen Vorſtellungen entgegen, ausnahme-
108 in Monogamie lebt. Leider nimmt diefer Kerm der
algierifchen Bevölkerung, dem Kampf ums Dafein nicht
gewachſen, von Jahr zu Jahr mehr ab.
Ebenſo lächerlich wie efelerregend ift das Bild, welches
uns Malgan von dem Hofe, der Regierung und dem
Bolte von Tunis entwirft. Der gänzlich unfühige Bei,
fein allmächtiger Günftling, der „Minifterjunge‘ Eibi
Muſtapha Chasnadar, die Oberften und Generale von
11—19 Yahren, die Luſtigmacher und Hofnarren, die
Stanbalgefchichten des Harems muthen und an wie eine
Swift'ſche Satire, über bie man laden möchte, wenn
nicht der phyſiſche und moraliſche Ruin einer ganzen
Bevölferung damit im engften Zufammenhange fände.
Die Schilderung der ſchmachvollen Weife, wie der Bei
und der Staat von franzöfifchen Bankiers betrogen mur-
den, liefert eime treffliche Jluſtration zu den betreffenden
diplomatifchen und Kammerverhandlungen des verflofjenen
Jahres.
Pilante Aneldoten, wie die vom der Engländerin im
Harem, bie nad; dem Schnupftuch zeigte, dem Däger
des Fürften Püdler, der für feinen Herem angejehen und
mit dem Großkvenz des Niſcham -Ordens geziert wurde,
würzen die ernflen Schilderungen und machen auch diefen
Theil des Buchs zu einer ebenfo unterhaltenden wie ber
Ichrenden Leltüre.
8. Unterwegs. Reifebifder von Alfred Meißner.
Günther. 1867. 8. 1 Thlr. 10 Nor.
Meißner verfaßte die vorliegende Schrift während der
Leipzig,
Reifeliteratur. 147
gewitterfchwillen Tage, die den gewaltigen, aber raſch
vorübergehenden Inftreimigenden Entladungen von 1866
borangingen. Aber nur die Vorrede leiht den dadurch
erregten Empfindungen Worte; der Text des Buchs felbft
it heiter und friedlich wie ein wollenfreier Frühlingsabend.
Sein anmuthig nachläffiger, leichtgeſchürzter Stil erinnert
lebhaft an die franzöfifchen Yeuilletoniften, zumal ihren
Altmeifter Jules Yanin, während do Inhalt und Form
zugleich vielfach an die Reifebilder gemahnen, wie fie vor
einigen dreißig Jahren das „Junge Deutſchland“ in die
Mobe brachte. Zrefflich verftcht es der Verfaſſer, kurze
Raturfchilderungen mit Anekdoten, politifche und fociale
Aperçus mit Reifeerlebniffen, Hiftorifche und biographijche
Ercurfe mit Betrachtungen über Menſchen, Stübte und
Länder abmwechfeln zu laſſen. Es find eben, dem Titel
entfprechend, bunte, unzufammenhängenbe, aber trefflich
ffigziete Bilder, die wie eine Fata-Morgana an uns
vorüberziehen. Bon einem Reiſebericht, der beftimmt wäre,
une von allem Erlebten und Gefchehenen Rechenſchaft zu
geben, ift feine Rede; dazu war die gewählte Route —
über den Bobenfee rheinabwärts bis Belgien, und von
Antwerpen nad) Olasgow und Edinburgh — nit an⸗
gethan.
Borarlberg, der vorgefchobene Poſten Oeſterreichs am
Bodenſee mit feiner rüftigen, den bigoten unwiſſenden
Tirolern weit vorangeeilten Bevölkerung, gibt dem Ber»
fofjer Gelegenheit, den Stab zu brechen über die öfter-
reichifche Wirthichaft, die außer dem Bau von vier bie
fünf riefigen Kafernen nichts für Bregenz, das vormals
die erſte Stadt am Schwäbifchen Meer, jegt raſch hinter
Konftanz und Lindau zurüdtritt, zu thun wußte.
In Zürich traf er mit Herwegh zufammen, ber bda-
mals bier einfam und verbittert lebte, noch ſchwärmend
für feine radicalen Tosmopolitifchen Ideale, nichts ver-
gefiend und nichts lernend, mit allerlei ſeltſam durch-
einanbergeworfenen wifjenfchaftlihen Studien befchäftigt.
Meißner benugt diefe Gelegenheit, um ſdas zumal von
Herwegh’s Feinden immer von neuem aufgewärmte Ge⸗
fhichtchen von feiner Flucht unter dem Sprigleder Anno
1849 als eine fcherzhafte Erfindung des befannten Turn⸗
lehrers Spieß zu enthüllen, welche Herwegh nur aus
Stolz zu bementiren unterlaffen habe. Auch die Gefchichte
der Flucht Felice Orſini's aus Mantua, bei der Frau
Herwegh behilflich geweſen, bekommen wir zu hören.
Orſini, ein leidenfchaftlicher Teuerfopf, aber eine groß⸗
artig angelegte Natur, war beiläufig gejagt eind der
zahllofen Opfer Mazzini's, der mit kaltem Blut feinem
Gott oder Götzen, der einheitlichen italienifchen Republik
und der „fratellanza dei popoli liberi“, jeit 37 Jahren
Hekatombe auf Helatombe von Märtyrern jchlachtet.
In Baden-Baden läßt und Meißner von einem Chiro⸗
manten die Hand Napoleon's zeichnen und auslegen, er.
zählt uns im Heidelberg, nachdem er ber deutſchen Al⸗
bambra den obligaten Tribut dargebradht, ein Luftiges
Studentenabenteuer; zeichnet in Brüffel mit grellen Far⸗
ben ein Phantaſieſtück in Callot's Manier, das E. T.
A. Hoffmann Ehre machen würde, gibt uns bafelbft bei
Erwähnung Rogeard's, des bekannten Berfafjers des
„Propos de Labienus”, dem er in ber belgifchen Haupt⸗
ftabt begegnet, fogar eine Ehrenrettung Cäfar’8 und ein
Berbammungsurtheil feiner Mörder mit in den Kauf, und
macht in Antwerpen einen Streifzug auf das Gebiet ber
Kunſtkritik und der Hiftorifchen Ethnographie.
Bon DOftende, an deffen buntem Badeleben er eine
Woche lang teilgenommen, fährt er nah Hull hinliber
und weiter mit der Kifenbahn über York nach Glasgow.
Nachdem wir bier mit ihm einen fchottifchen Sonntag
durchgemacht, unter deſſen Einfluß fogar fein fonft fo
leicht und munter firömender Redefluß trüber dahinjchleicht,
einer Quäkerverſammlung beigewohnt und die berühmte
Nekropolis befucht haben, fahren wir den Clyde Binab
über ben Koch Lomond und den öden Gebirgspaß nad)
Inverary, dem alten Stammfige ber Argyles. Edin-
burgh gibt dem Berfaffer Gelegenheit zu einer hiftorifchen
Epifode. Die freilich oft gefchilderte Tragödie von Holy-
rood und ber „Kirk of field” (wol bauptfählih nad
Laing's „Geſchichte von Schottland‘ erzählt) zieht in leben-
diger Darftellung von dem Morde Rizzio's bis zu dem
Darnley’8 an uns vorüber. Meißner gibt ſich dabei die
überflüffige Mühe, die Schuld Maria’s zu erweilen.
Intereffanter find die beiden frangöfifchen Sonette ber
Königin, die er mittheilt, welche nicht nur, wie das be-
fannte „Adieu, plaisant pays de France”, das Borbild
des Beranger'ſchen Liedes, den Stempel eines echten
Dichtergenius tragen, fondern auch eine unbegreifliche
Liebesglut für den abfcheulichen Bothwell befunden.
Aus der Vergangenheit lehrt Meißner zur Gegenwart
Schottlands zurüd. Er findet hier nicht viel Tröſtliches:
die Glanzepoche der Scott, Burns und der „Scotch re-
viewers” ift unwieberbringlich vorüber ; bie ſchottiſche Eigen-
art verfchmwindet, die gaelifche wie die ſächſiſche, allmäh-
ich in dem englifhen Wefen. Das bünnbevölferte Land
verödet,; in Glasgow, Paisley und Überdeen drängt ſich
alles Leben zufammen. ‚Die Bewegung ift unaufhaltjam ;
die Schidfale Englands werden ſich bis zum letzten Aus-
läufer des Reichs hinaus erfüllen. Was denn? ruft der
Reifende und ſchaut in die Wellen. Aber fie raufchen
und raufchen, ohne daß er ihre Antwort verfteht.‘
9. Länder⸗ und Städtebilder. Dritte Folge: Thüringen, Wien,
Paris. Bon E. Laubert. Danzig, Kafemanx‘ ’1868. 16.
ar. .
Die Laubert'ſchen „Länder« und Städtebilder“ haben
fih in ihren beiden erften Serien („Venedig“, „Genua“,
„Nizza; „Der Genferſee“, „Die Infel Wight“) bereits den
Beifall der Lejewelt erworben. Sie find aus Vorträgen
entftanden, die der Berfafler in Danzig vor einem ge-
mifchten Publikum zum Beften der dortigen Kleinfinder-
bewahranftalten *) gehalten hat. Sein Zwed ift, gewifle
von der Natur bevorzugte und dadurch allein fchon inter-
efjante Dertlichkeiten herauszugreifen und von ihnen ein mög-
lichſt objectives Gefammtbild zu Tiefern. Er hat die ur-
jprüngliche Form des Vortrags beibehalten, weil fie nad
feiner gewiß richtigen Anfiht für die Anordnung des
Stoffs fowol wie fiir die Meodulationen des Stils ent-
ſchieden Vortheile bot.
Als die bei weitem gelungenſte unter den drei vor⸗
liegenden Skizzen müſſen wir die erfte, das Bild, weldes
*) Wie lange wirb dies ungefllge, mehr als fesquipebale Verbum ‚noch
in unferm Oprachſchatz figuriren?
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148
ber Berfafler von Thüringen entwirft, bezeichnen. Er
erweift fich Hier nicht nur als einen gründlichen Kenner
bes Landes in allen feinen Theilen und nad) allen Rich—⸗
tungen bin, der fi mit Natur und Kunft, mit Dertlid-
feiten und Menfchen, mit feiner Gefchichte und Statiſtik
genau befannt gemacht Hat, und feinen eigenthilmlichen
Schönheiten ein Tiebevolles Verſtändniß entgegenbringt; er
verfteht es auch, auf Meinem Raum dur geſchickte Ber-
theilung von Liht und Schatten, dur ſcharfe Hervor⸗
bebung der charafteriftifchen Eigenthümlichkeiten, durch
eine dem Gegenſtande ſich leicht und natürlich) anſchmie⸗
gende Form ein ebenfo farbenreiches wie naturgetrene®
Dild des Ganzen vor uns zu entrollen. Gefchichtliches,
Geographifches, Statiftifches — Landſchaft und Bewohner
in raſchem Ueberblid zufammenfaffend, Keinen der fchön-
ften Punkte in Berg und Thal, Stadt und Schloß un⸗
erwähnt laffend, ohne je in eine trodene Aufzählung zu
verfallen, orographifche und geognoftifche, botanifche und
fauniftifche Verhältniſſe, Handel und Induſtrie der Be
wohner — alles ſcheinbar oberflählih und flüchtig be⸗
rührend, aber dod) fo, daß das darakteriftiihe Moment
klar und anfchaulich Hervortritt, und das Ganze durch
die Geftalten der großen Männer des Landes aus naher
und ferner Bergangenheit, vor allem des großen Refor⸗
matord und unferer beiden Dichterfürften, als einer treff«
lichen und trefflich benugten Staffage belebend und illu-
firirend, hat er es verftanden, das Intereſſe des Leſers,
fei ihm das gefchilderte Terrain aus perfünlicher An-
ſchauung befannt oder nicht, bis zum legten Augenblid
zu feffeln und ein Gefammtbild zu Tiefern, das unter den
claffifijen Schilderungen deutſcher Landſchaften eine blei⸗
bende Stätte zu finden verdient.
Die Schilderung der Öfterreihifchen Metropole und
der Weltftadt an der Seine ftehen gegen biejes Landfchafts-
bild fehr zurüd. Hier ift es dem Verfaſſer trog aller
fihtbaren Anftrengung nicht gelungen, bie gewaltige Stoff.
mafje zu bewältigen und die zahllofen Einzelheiten zu
einem Haren Zotalbilde zufammenzufafien. Das Beftre-
ben, möglichft vollftändig zu fein, Tein wefentliches Mo⸗
ment unberüdfichtigt zu laffen, Lage und Terrain, Straßen«
züge und Plätze, alle die wichtigften Gebäude und Kunſt⸗
Bom Büchertiſch.
benlmäler dem Lefer vorzuführen und ihn zugleich mit ben
Beſchäftigungen und ber Eigenart ihrer Bewohner, ja
fogar mit ber Gefchichte der Stadt belaunt zu machen,
nöthigt ihn bei dem knappen Rahmen einer Borlefung,
eine unendliche das Gebächtnig erbrildende Menge von
Namen und Thatſachen mteinanderzubrängen, welche die
Aufmerkſamkeit ermüden und nit im Stande finb eine
klare Borftellung von dem bargeftellten Gegenftande her⸗
vorzurnfen. Der Berfafler hätte bier offenbar befler ge⸗
tban, in engerm Rahmen eine Reihe einzelner Miniatur»
gemälde auszuführen, ftatt ein Reiſebild in bloßen Um⸗
riffen zu ſtizziren.
Als eine Probe, wie meifterhaft Laubert die Sprade
zum Zweck ber Schilderung zu handhaben verfieht, führen
wir eine Stelle aus ber Charakteriftil des Thüringer⸗
waldes an:
Auf folden Wiefen und Lichtungen-, in den Thalmulben
und an den Hängen fommt denn auch ber einzelne Baum ober
die Gruppe landſchaftlich zu größerer Geltung, obgleich jemer
Blid von den Bergzinnen über das Meer von grünen Häups
tern, mögen fie nun im Sturmwind frachen oder ſchweigſam
unb rvegungslos fiehen, in anderer Weife erhebend if. Hier
unten fehen wir die Tannen und Fichten aus bem Thale, als
ob es die eine der andern zuvorthun wollte, gegen bie Felſen
anfleigen, dieſelben wie im Spiele umftellen oder angreifen,
und eine fi muthwillig bis anf die Stirne wagen ; dort oben,
vom Rande in die Tiefe blickend, fcheint es als ob die ſchlan⸗
fen Stämme wie in jähem Sturze reihen» und ſchichtenweiſe
unanfhörlich verfänfen oder verfchlungen würben. Gin frifcher,
Üppiger Rafenteppich ift unferm Auge Überall wohlthnuend und
willfommen, aber wie gewinnt er, wenn einfam im Gebirge
plöglid) das fanft anfleigende und der Wölbung bes Berge
folgende Wiefengelände licht und glänzend uns entgegentritt,
von den weichen, twelligen Linien der aneinanderjähließenden
Buchen umgeben, deren Schatten breit und gerundet über bie
binmenbunte, fonnigwarme Fläche fallen. Und dieſe Miſchung
von Wald und Wieſe, von durdfichtigen Vorhölzern, aus deren
Kronen die Goldammer, einander abwechſelnd, das Morgen-
oder Abenbroth grüßen, und büfterm, ſchauerlichem Dickicht,
wo der Habicht arhere Zufludt findet, von Berg und Thal,
von Blatt und Nadel, von Heu- und Tannenbuft, von
plätfcher der zahlreichen Haren Quellen und Gemurmel ber Bäde
mit den winzigen Cascaden, von fonnigen Halden, fchattigen
Gründen und ftarren, firuppigen Felfen macht eine Reife nad
Thüringen fo anziehend und genußreid.
Dom Büchertiſch.
1. Ueber Erziehung und Bildung. Nach feltenen Schriften großer
Pädagogen und Weltweifen bearbeitet von R. U. Müller.
Hannover, Hahu. 1870. 8. 27 Nor.
Denn feine Beobachtung menfchlicher Natur, befonders
der Rindesnatur, und forgfältige Auswahl pädagogifcher
Anfichten aus der Weisheit aller Völker und Beitalter ein
gutes Buch Schaffen können, fo ift die vorliegende Schrift,
die am Gediegenheit und Reichthum bes Inhalts nichts
zu winfchen übrig läßt, beftens zu empfehlen. Was
der Berfaffer in feinem Vorwort ald das Ziel bezeichnet,
das er ſich in feinem Buche geftedt: die Herftellung. einer
natürlichen Ordnung von dem „Umgange mit Sindern‘,
bie nach ihren Grunbtrieben ſich entwidelt, das ift ihm
in vollem Maße gelungen. Das „Charakteriftifche des
Menfchen felbft, feine Naturanlagen, feine Anfichten von
der Welt, feine mannichfaltigen Formen im geſellſchaft⸗
lichen Leben, feine Schwächen und Liebenswilrbigfeiten,
befonders auch fo manches Individuelle des weiblichen
Geſchlechts“ finden fid) mit eingehender Kenntniß menſch⸗
fiher Natur in diefem Buche befprochen, ohne daß es
ein trodener Codex pädagogischer Kegeln geworden if.
Die Gedanken großer Pädagogen aller Zeiten und Böller
find fleißig und paffend angezogen, Ronſſeau und Plutarch
begegnen uns am häufigſten. Das vorliegende Bud
fönnen wir wieder als einen Beweis unferer an dieſer
Stelle oft begründeten Behauptung geben, daß der öfte -
Vom Büchertiſch.
reichiſche Lehrſtand ſeit den letzten Jahren ſich an der
padagogiſchen Literatur Deutſchlands mit einen fehr ſtarken
Contingent betheiligt.
2. Crörterung einer philofophifchen Grundeinficht von X. Spir.
Leipzig, Findel. 1869. Gr. 8. 9 Nor.
Jedes Jahr begegnen uns auf unferm Buüchertiſch
ſchätzenswerthe Bereicherungen menſchlicher Denkſyſtematik
von der Feder des fleißigen Autors A. Spir. Auch
dieſes Jahr bat ber Verlag von J. ©. Findel wieder ein
fauber gearbeitete® und fauber verlegtes Wert Spir’icher
Gehirnarbeit auf feinem Papier in liberaler Cicero Antiqua
vertrieben; aber fo lodend das anftändige Gewand ift, fo
langmüthig muß die Gebuld bes Leſers fein, ber mit
Bergnügen diefe ſechs Bogen herunterlieſt. Ein Spir’fches
Bud ift wie das andere: endlofe Forſchung über Logische
Orundwahrbeiten in ermübdender Form. Wenn der An⸗
tor fagt: „In ber Philoſophie kommt es vor allem auf
zwei Punkte an: erſtens auf die Feftftellung ber Prin-
cipien, der unmittelbar gewiflen Einfichten; zweitens auf
die Weftitellung der richtigen Art und Weife, wie aus
denfelben Folgerungen gezogen werben follen‘, jo hat er
den dritten Sankt vergefien: auch in der Philoſophie
verlangt man Geift in der Darftelung, und die Dar-
legung allbelannter metaphufifcher Procefje genügt nicht
dem Publikum Imterefie an philofophifchen Fragen bei-
zubringen, wenn bie Darftellung gänzlih der an-
vegendben Yorm entbehrt, durch die fi Schopenhauer
feldft Hegel einen fo großen Leſerkreis erworben
aben.
83. Der Roman als Kunftwerl. Eine Skizze ale Beitrag zur
Aeſthetik von Detlev Freiherrn von Biedermann. Dres
den, Schulbuchhandlung. 1870. 8. 10 Ngr.
Das Skizzenhafte diefer Arbeit ſchützt diefelbe vor dem
Borwurf zu großer Allgemeinheit und zu geringer Detail»
rung. Ein forglidhes Eingehen auf die Kunftgefege der
epiſchen Proſa ift nicht zu verkennen, ebenſo macht fi)
ein ſcharfer Blick für das Soll und Haben romandid-
teriicher Buchführung bemerkbar. Manche Behauptung
bedarf indeg der Widerlegung; z. B. die gleich zu Anfang
ausgefprochene: „daß fich unfere Kritik nicht mit dem
Ernft, den er doc) verdient, mit dem Roman befchäftigt‘;
ferner, daß e8 „der Kritik an gutem Willen fehle, ben
fünftlerifchen Werth des Romans mehr herauszuheben
und fo das Berftändniß dafür zu wecken und zu heben“.
Das iſt denn boch zu viel gefagt. Gerade d. BI. haben
e8 fich feit ihrer Begründung angelegen fein lafjen, dem
Roman und ber Novelle eine fo forgjame und eingehende
kritiſche Aufmerkſamkeit zuzumenden, daß des Verfaſſers
Vorwurf allein ſchon von unſerer Seite her zu entkräften
iſt. Abgeſehen von dieſem und manchem andern Verken⸗
nen thatſächlicher Verhältniſſe müſſen wir dem Autor
meiſt recht geben. Er polemiſirt gegen die Unterſchätzung
des Romans und will letztern ebenſo gut als „Kunſtwerk
der Dichtkunſt“ angefehen haben wie alle metrifchen For⸗
men derfelben. Die Belimpfung bes Tendenzromans und
die Warnung, den fogenannten hiftorifhen Roman als
Hülfsmittel der populären Hiftorie anzufehen, künnen wir
nur unterfchreiben. Auch darin müflen wir dem Ber-
149
fafler recht geben, daß, wie er richtig betont, ber durch
kurze Erzählungen und Novellen verborbene Titerarifche
Magen die fchwerere Speife des größern Romans nicht
mehr fo gut verbauen kann. Wer fi) für eine äfthetifche
Sondirung beflen, was dem Roman gut thut und was
ihm ſchadet, interefftirt, dem fei Biedermann's gewiſſen⸗
bafte Unterfuchung empfohlen.
Der Verleger des Büchleins hätte indeß fiir genauere
Correcturlefung etwas thun können. Gleich in den drei
erften Zeilen begegnen wir den Schnigern: „americianiſch“,
„Courszeddel“ u. a. m. und auch fpäter wimmelt es vou
Vehlern; fo anf S.6, wo es heißt: „wir werden bie
Büfte über dem Relief ftellen”, „eine Symphonie vor
einem Capriccio den Borzug geben”, u. a. m. Ober foll«
ten diefe Corrigenda einem nachläffigen Manufcript zur
Laft fallen?
4. Srinnerungen an Henriette Hendel⸗Schütz. Nah ihren
hinterlaſſenen Aufzeichnungen und Mittheilungen von Zeit-
genoffen herausgegeben.” Darmfladt, Zernin. 1870. 8.
15 Nor.
Wie wir vor nicht langer Zeit die Befprechung einer
Biographie der Sophie Schröder von ihrem Schwieger-
fohn brachten, fo geben wir heute die Fritifche Anzeige
eines Lebensabrifjes der nicht minder berühmten Henriette
Hendel-Schüg von ber Hand ihres Enkels. Der anonyme
Biograph fcheint pommerfcher Abſtammung zu fein; nicht
Shriftfteller von Beruf, wie ex kolett gefteht, führt ex
doch eine gewandte Weber und weiß die Pietät gegen bie
Großmutter mit objectiver Darftellung der intereffanten
Perfünlichkeit glüdlih zu vereinigen. Das bewegte Leben
der Schüler⸗Eunicke⸗Hendel (nit Händel)⸗Schütz bietet
gewiß pilante Einzelheiten, die uns natürlich der Enkel
verfchweigen muß. Der Parallelen mit der Schröder gibt
e8 auch hier genug, nur fcheint die Hendel eine unruhigere
Natur geweien zu fein und weniger Freude am Inhalt als an
der Form der Kunft befefen zu haben. Die genialen plafti«
hen Darftellungen, durch welche die Henbel-Schüß die Zeit-
genoflen der erften Decennien des Jahrhunderts entzüdte,
baben ihr noch dauerndern Huf verfchafft als ihre fchau-
fpielerifchen Leiftungen, die — der Biograph wird uns
entſchuldigen — nie fehr bedeutend gewefen fein können,
wenn man competenten Zeitgenofjen glauben darf. “Die
idylliſche Abgefchiedenheit, in der die Bielgefeierte ihre
legten Jahre zubrachte, föhnt uns in der anziehenden
Schilderung bes Enkels mit vielen Ertravaganzen aus ber
Zugendzeit ber fehönen Frau aus. Die Hendel-Schüß
bat das Recht der plaftiichen Mimik in origineller Weife
zur Geltung gebracht: fie hat würdiger als Emma Ha⸗
milton die Gebilde malerifcher und bildender Kunft lebendig
in mimifches Leben übertragen, fie bat einem Goethe und
den Beſten ber Zeit Bewunderung und begeiftertes Lob
entlodt: fo wird ihr Name eine gute Stätte in ber Ge-
ſchichte deutfcher Kunſt und bie biographifche Erinnerung
an die Künftlerin einen dankbaren Leferkreis finden. Oft
genug bat man mit Unrecht das neue Feld der Mimik,
das die Hendel-Schüß eröffnet, verfannt, wie aus bes
anonymen Enfels Darftellung Hervorgeht; möge man num
u „der vielfach Berleumbeten Gerechtigkeit widerfahren
laſſen!
750
5. Wiener humoriſtiſches Jahrbuch 1870. Herausgegeben
F Si idor Gaiger. Giebenter Jahrgang. Wien,
gel.
Auch diefer Yahrgang bes beliebten Unternehmens er⸗
frent fi gefunden Humors und interefianter feruilleteni-
ftifcher Beiträge, Die wigigen Manatsſonette, die Heinen
ftanbalöfen Nachträge zu Rotteck's „Weltgeſchichte“ find
nicht minder gefalzen und gepfeffert, als die Feuilletons
von Ludwig Speidel („Praterabende“), Ferdinand Kürn⸗
berger („Der Knabe aus ber Fremde“), Siegmund Schles
finger („Im Criminal”) umd dem Herausgeber („Neue
wiener Stadtmärchen“, „Reifeerinnerungen eines Urlaubers‘'
n. a. m.). Beſonders ragt die Allegorie von Kürnberger
duch tiefe Symbolik und zarten wehmüthigen Schmelz
der Yarbengebung vortheilhaft hervor. Es ift das Chrift-
find felbft, das unter ben verficchlichten Chriften der
Jetztzeit als Kind aus der Fremde erfcheint und übel
empfangen wird, bis e8 bei — den Juden eine befcheidene
Stätte findet. Die Idee diefer Allegorie ift bis auf den
Schluß nicht neu, aber Kürnberger hat e8 verftanben, in
die hellen Farbentöne der übrigen Artikel eine dunflere
Schattirung zu bringen, bie einen wohlthuenden Gegenſatz
zu ben Teichtfüßigen Schilderungen wiener Lebens bildet.
Speidel’8 fonft pilante „Praterabende“ enthalten zu viel
Iocale Anfpielungen, bie für den Nichtwierrer unverftänd-
Ich find. Dagegen berührt Gaiger, der unter allen
Autoren des „Jahrbuch“ wol über den meiften Humor
gebietet, in den wiener Märchen ein fociales Thema mit
hübfchen Bariationen, während bie „Reiſeerinnerungen“
an ziemlicher Eintönigleit leiden. Den Schluß des Buchs
bilden unter dem Titel: „Lichtbilder aus der wiener Ges
ſellſchaft“, etliche biographifche Abriffe wiener Theater⸗,
Muflt- und Induftriegrößen, - eine Sammlung emphati-
cher Lobpreifungen, die ftart nach Reclame fehmeden,
um fo mehr, ald man im Inferatenanhang des „Jahrbuch“
Feuilleton.
mehrere Annoncen einiger jener gepriefenen wiener Größen
bertreten findet.
6. Der heilige Antonius von Pabua von Wilhelm Bnic.
Lahr, Schauenburg. 1870. Gr. 8. 10 Rear.
Ein wunderlicher Heiliger, diefer Antonins von Pabue,
und um fo wunderlicher, da ihn Wilhelm Buſch, ber
Rafael ber „Fliegenden Blätter“, zum Sujet prädtiger
Zeichnungen gemacht hat. Wer kennt nicht ben genie-
len Humor Buſch's aus den „Münchener Bilderbogen“
und den zahlreichen Illuſtrationen zu deutfchen Journalen?
Zwerchfellerſchütternden Humor, göttliche Laune in jebem
woblberechneten Strich: fo treten die Zeichnungen bes
Künftlers, der einen, Legendenftoff mit profaner Laune
behandelt hat, vor uns hin. Den Iluftrationen geht ein
harakteriftifcher Tert nebenher, der an fatirifchem Onmor
nichts zu wünſchen übrigläßt und volles Lob verdient.
Oft gemahnt uns die ſchallhafte Dichtung an Scheffel's
Diufe, wenn wir nicht vermuten müßten, auch ber Text
jei von des Zeichners Hand. Das Ganze ift eime ge-
Iungene Satire auf die Ungeheuerlichkeit Tirchlicher Legen»
benmacherei, voller Ausfälle auf die hohe Klerifei, bie
Klofterzudht und noch etwas mehr... Sp war es demn
begreiflih, daß, wie wir in biefen Zagen lajen, das
Inftige Biichlein dem Veto des Staatsanwalts verfiel. Das
Leben des heiligen Antonius, den Buſch im originelften
Bhnfiognomiewechjel vorführt, wird getreu der Legenbe
erzählt und illuſtrirt, das heißt, wie bie Satire erzählt,
der reißende Wolf im Schafskleide. Man denke, was
das für Stoff gäbe, wenn man alle Heiligen, wie son
ihnen die acta sanctorum berichten, fo hernehmen würde
wie der münchener Sünftler den frommen Antonius!
Allen fcherzfropen Gemüthern ſei das fröhliche Werlchen
beftens empfohlen. “Mebrigens‘ wundern wir uns, daß
Buſch ſich die Fiſchpredigt des Heiligen Antonius hat ent-
gehen laſſen.
Fenilleton.
Engliſche Urtheile über neue Erſcheinungen der
deuntſchen Literatur.
Ueber „Voltaire“ von D. F. Strauß ſagt die „Saturday
Review‘ vom 15. October‘; „Der Name des Dr. Strauß ift
fo ſehr mit einem berühmten Buche ibentiflcirt, daß wenigftens
bei uns nicht viele eine richtige Vorftellung von feinen Ber-
dienften als’ Schriftfieller haben. In der That aber können nur
wenige höhere Anfprliche auf Auszeichnung in diefem Fache er-
heben, wenn wir die Benennung auf ihre gewöhnliche Beden-
tung beichränfen, nach welder fie den Beſitz feiner Eultur und
eines kritiſchen Geiftes bedeutet, und fie nicht jo weit ausdehnen,
daß fie urſprünglichen Genius bezeichnet, für welchen fchrift-
ftellerifche Vortrefflichkeit nicht Zwed, fondern blos Mittel ift.
Wenig Männer von gleicher Berühmtheit haben den Weltſchatz
origineller Ideen weniger bereichert al8 Dr. Strauß; doch,
wenn wir die Theologie gänzlich aus dem Spiele lafien, gibt
es wenige, deren Urtheil fiber die Ideen anderer durch größere
Unpartetlichleit und Urtheilsfähigfeit gefennzeichnet find. Daß
Strauß’ «Sleinere Schriften» vernadläffigt worden find, liegt
wol theils an der allgemeinen Neigung, die weltlichen Schrif-
ten eines Theologen als bloße gelegentliche Unterhaltungen fei-
ner Muße zu betrachten, theils aber auch daran, daß fie Iedig-
lich deutfche Gegenftände zum Inhalt Haben. Mit Freuden be»
grüßen wir e8 daher, daß er diesmal ein Thema von allge-
meinem Intereffe zu behandeln unternommen bat, welches hewiß
in einem weiten Kreiſe Beadhtung finden wird und die beften
Eigenſchaften feines Geiftes bewähren mußte. Die Würdigun
des vieljeitigen Charafters, der mannichfachen Fähigkeiten uud
des ungewöhnlich großen Einfluffes, welchen Boltaire befaß,
verlangt ebenſo viel Billigfeit, Scharffinn und Vielſeitigkeit
wie irgendein ethifches oder literariiches Problem. Es verfieht
fih von ſelbſt, daß Strauß fi ſtark zu Voltaire, als Bor⸗
kämpfer des freien Gedankens und der Toleranz, bingezogen
fühlt, und daß es ihm fehr unangenehm ift, feinen Helden fo
tadeln zu müfjen, wie e8 die hiftorifche Gerechtigkeit gebieteriſch
erheiſcht. Diefe zarte Rückſicht befundet ſich indeffen nicht
durch die etwaige Unterdrüdung oder and) nur Biilderung
abfloßender Züge oder zweifelhafter Handlungen, jondern if
nur daran zu erkennen, daß diefen in dem Gefammtüberbfid
des Charalters dag gebührende Gewicht nicht gegeben wir».
Strauß jhildert zwar den wirklichen Mann treu genug; allein
wie Guido, al8 er den Farbenmiſcher malte, hält er das innere
Auge auf den ideellen Voltaire gerichtet, vergegenmwärtigt ſich,
was Boltaire mit feinen feltenen Gaben und der glänzenden
und alleinftehenden Rolle, die ihm in der Welt zuertheift wer
bätte fein follen. Unmerfiih nimmt dann der ideele Charakte
die Stelle des wirklichen ein, und Bat auch Strauß Boltaire"
Ruchlofigkeit, Unaufrichtigkeit, Bosheit und unbegreifliche
Mangel an GSelbflahtung feineswegs verhehlt, jo Fönne
wir doc nicht umhin, zu fühlen, daß diefe Lafter nicht fo ha:
|
\
Feuilleton. 751
angeſchlagen werben, wie fie e8 verdienten, Andererſeits jedoch
hat Strauß jedwede förmliche Eutſchuldigung oder Lobrede ger
wiſſenhaft vermieden. Er betont nicht, was er mit vollem Rechte
gan betonen Lönnen, daß das eigentliche Geheimnig der Macht
oltaire's gerade in feiner wunderbaren Vieiſeitigkeit und Ge
fmeidigkeit lag; daß ein fo gearteter Charakter nothwenbiger-
wmeife von ben umgebenden @inflüffen tief berührt werden
mußte, und daf der Voltatte zu Fkruey ein ganz anderer war
als der Blake in Berlin oday Paris. Eeine usihägbaren,
der Gedanken⸗ und Gemiffensfreigeit geleifteten Dienfte werden
bei Strauß durhaus nicht zu ho angerechnet, und ale
Schriftſteller kommt ex eher zu farz, weil es Strauß mit
feinem Plane nicht vereinbaren kounte, fi anf eine ſörmliche
Zergliederung feiner Werte einzulaffen oder Proben daraus au«
— er Plan des Werte iſt namlich der einer Weihe
von Borlefungen; bie Anordmumg if qronoiegiſch mit
Nubepunkte Hier umd da, um irgendeinen Zweig der viel
Zpätigleit Boltaire’s insgefammt zu Überfhauen, und mit einem
befäudigen Bemühen, feine Schriften foweit als möglid nad
ihrem Inhalte zu gruppiren. Die Leichtigkeit umd Meiſterſchafi
in der Behandlung einer fo verwidelten Aufgabe find fehr
bemerkenswerth ; der Stil, wie es bei dem Berfaffer ſtets der
Fall, if Iebendig und Mar. Dr. Strauß if einer der wenigen
deutichen Schriftfieller, die fi in diefer Hinfiht gleihbleiben.
Das Berk ſcheint auf die Anregung der Prinzeffin Alice
von Heffen, der es gewidmet if, untermommen worden zu
fein. Hierin liegt mol etwas mehr ale eine blos formelle
ir ee Beglinfiigung der Literatur feitens Ihrer Lönig-
fügen Hoheit.”
Ueber „Die romantiſche Schule‘ von R. Haym fagt die
„Saturday Review‘ vom 17. September: as offenbar
wiedererwachte Interefje an der romantifhen Schule Deutſch-⸗
Tonde ift vom gnter Borbedeutung für deſſen Nationalliteratur.
Mau könnte viel Gründe für die lange Vernahläfkigung diefer
Schriftfteller anführen: ohne Zmeifel find ihre eigenen Thor-
heiten und Unvollfommeneiten zum großen Theile ſchuld daran;
der Hauptgrund jedoch bleibt am Ende ber Grad, bis zu wel-
Gem ihre Phantafie Über den Horizont eines unpoetifhen Zeit-
alters hinausging. Wie ungefund oder affectirt auch ber Müfli»
eismus der Schule gewejen und was man aud von ihren fen-
daliftiſchen und vomanifivenden Tendenzen halten mag, fo fann
doch nur Pedauterie oder Gefüihlfofigkeit das äſthetiſche Berdienſt
ihrer dentwürdigfien Schöpfungen in Frage flellen; Were wie
die beflen Gedichten im „Rhantafus", „Undine“‘, oder „Heinrich
von Ofterbingen‘ konnten nur von einer flr das ge
and Dichteriſche gänzlich theilnahmloſen Generation der Bernad)-
läffigung anheimgegeben werden. Während ber verwandte
Genius eines Wordeworth und Coleridge feinen tiefſten Ein»
fluß auf den Geift Englands ausübte, verlor man die deutſchen
cheifeftefler, ausgenommen allerdings bei ums, ans den Au-
en. Zeichen eines Umfhlags Haben ſich inbeffen in neuerer
eit kundgegeben: das Erſcheinen z.B. eines fo umfangreichen
Werls wie das von R. Haym ſcheint jedenfalls eine bedeu-
tende Tpeilnahme des Publifums an dem Gegenftande voraus-
zuſetzen. Nichte weniger in der That als eine ſolche wiirde
einen 2efer beftimmen, fi an einen fo ungehenern Band zu
wagen, und nichts weniger ald Begeiferung würde ihn damit
zu Ende kommen laſſen. Der Berfafler ſcheint dem Grundſatz
Eäfar’s zu huldigen und dafür zu halten, daß er gar nichts
eſagt habe, fo lange noch etwas übrigbleibt, das er nicht ge»
jagt Hat. Die, melde fein Werk wirklich bewältigt Haben,
lönnen fih Glück winjhen dazu, daß ihnen feine Seite des
Segenftandes — if. Abgeſehen von Leichtigkeit und
iuem
Gedrängtheit, befit das Werk jedes Verdienſt; es iſi ein Muſter
von Unparteifichleit, und des Verfafſers Gewiflenhaftigkeit ift
midjt weniger fichtbar in der Ammendung wie in der Zufame
mentragung feines Materials. Das Hauptmerkmal feines Buchs
if ein Cifer, den Gegenfländen feiner Kritik, ohne Schen und
ohne Gunft, die volle Gerechtigkeit widerfahren zu laffen.
Die Anordnung if fo befriedigend, wie man fie in ber Ge-
ſchichte einer Titerarifhen Bewegung, bie zugleih originell und
lauuenhaft war, und in der Schilderung literariſcher Grup-
pen, bie Yid in einem Zuftande fortwährender Bildung, Aufe
1bfung und Wieberverbinbung befanden, erwarten kann. Der
panoramifche Charakter der Ueberficht ift fehr fhlagend, und
Haym zeigt, daß er bie kritiſchen, philoſophiſchen und theologi⸗
ſchen Tendenzen der Schule, wie ſoiche in den Schlegel, Schel-
ling und Schleiermacher vertreten waren, nicht minder zu wir
digen verſteht als ihre rein literarifche Seite. Die eingeftren-
ten biographifden Detail® bieten gegenüber ber allgemeinen
Scgwerfäligteit des Werts eine angenehme Abwechfelung und
zeichnen ſich durch dieſelbt gewiſſenhafte Genauigkeit aus, wie
die iriniſchen Vefandiheile
Bibliographie.
Bed, &., Religion und Gultus, Betrachtungen eines Laien ale WR
guet sum immun eines vernünftigen Giehbenbbereantnufee Happen-
E73
Gonze, A., Zur Geschichte der Anfänge grlochlscher Kunst. Wien,
Gerold'a Sohn.” Lex... 1 Thir. 6 Ngr.
Csermak, J., Ueber Schopenhauer’s Theorie der Farbe. Ein Bel-
{rag zur Geschichte der Farbenlahre. Wien, Gerold's Bohn, Lex.-8,
Bönneten, 9., Mu nad Brantieiß! oktr ber Rrieg ber Dentfgen
gsoen, bie Pranzofen im Jahre 1370, ter Thi. Deutihe Diebe, #7
labbad, Hofter. 3. 3;
Daniel,‘
—*
„I, Die Lehre von der Unfehldarfeit bes Papſtes auß ber
Bejtiöte keleud 6 Nor.
——
öllenleben. Roman, Aus dem Franzöſches—, &in-
ihlänn’und DOefterreic autorifirte Ausgabe. 2 Dve. Berlin,
3, 3 Tplr.
8, %., Zänbeleien. Dreöben, Burbad. 32. 2), Nur.
Griechenland geograppiih, geihichtlic und culturpifteriih bon ben
ätteften Zeiten BIS ’auf pie Gegenwart in Monograppien dargefiellt. 172
* $. Bro@yaus. In 8 Bon, Leipzig, Orodhaus. 4. à Bb.
ar.
Herman „ Erinnerungen au Rom. Briefe und Stizzen. Mün
gen, 2. Winfterlin. 8. 20 War.
Hermes ogistus, an die menschliche Beele. Arabisch und deutsch
hormusgegeben von H. L. Fleischer. Lei Brockhaus, Lex.-8,
sr.
Hoh Deutfland! Yurcap Preußen. SHeransgegeden von $. Gncd«
i8e mb Yeletie Er 9 Goedihe. 1870, BR Berlin,
hoebfhe. 3.
ohenioho-Waldenburg, F, K, Fürst zu, Die deutschen Far-
ben: Schwars, Gold, Roth und die historische Berechtigung der rothen
Farbe im deutschen Banner, April 1866. Stuttgart, Gr, 6 Near.
a ai Stienhof. Originalehtoman. 3 Bpe. Seippig,
fe. 1er1. "8, *
umbolbt, U. »., Kosınos. Gntiwurf einer vbyfſsſen ettanfgau-
ung, Dit einer Siograpfilgen Sinleitung von Bernd. d. Gotta, 4 Dbe,
Stuttgart, Cotta. Gr. 16. 2 Zplr. 34 Mar.
„9 gimörteten des Epiagtjeiet, Ms. 1-4. Darmfabt, Zernin. @r. 8,
2 Teyony, D. v., Die Sieferanten ber Höle unb bie Liätfäenen.
ifiorifes Gemälde des @epeimpofigelmejens und ber geheimen @ejelle
(alten af Seiten und Böll, Seipia, Di. Eaäler, & 1 Eh.
Kriegs-Epronit. Gebenfbug an eutihefrangöfiigen Belbgug von
— „ıfe Sief, Belpig, Beber,, x. Bol. 3 Mer,
Laö-Taö's taö 16 king. Aus dem Chinesischen ins Deutsche über-
sun eingeleitet, und commentirt von V. v. Strauss, Leipzig, Fr. Flei-
scher. Gr. 8. 4 Thlr,
Teifner, €, BINR du dein Berg mir jfenten? Sgauſpiel in zwei
— dus bem Eben Oh, een Bade.
‚mengerecht umgearbeitete Aufl. Leipzig, einer, Gr. 8. 7’, ir.
Sohn, Anna N in DICH sue Betümbfüng Anef Bore
resden, Burbad.
ana, Unmelötih. "Ein
— unter einem großen Theile ber Frauenwelt.
. 3 Rat,
Moderne Märgen,
Mäbter. Eeipaig,
Wenger,
Sul Im
Plahn. 8. 10 N
ige Gottes.
—
. Winterfeld's gleigmamigem Ro
* rei Abe gu Oißertidromantifä
Ws lnsfer get af un en ol
2. € Bilder au dem Leben ber Muſit und ihrer Meifter. —
ar enpigunes Beinen, Becionen unb has
Newton’schen Anziehungsgesetze. Braun-
hwarze 3
Ueberlieferungen ans ber @eidicte nnd bem Leben in Aftenfilden, Der
tißten und Ggifderungen, Leipzig, M. Schäfer. Cr. 8. 20 Npr.
7152 Anzeigen
Anzeigen.
—u
Derfag von 5. A. Broddaus in Leipsig. Derfag von 5. A. Brochfans in Leipjig.
Soeben erſchien: Das fe b en Je fu.
om
Deutfde Siebe. ! Erneft Renan.
. Aus den Papieren eines Fremdlings. Autorifirte Denis Ausgabe.
j it ei Dritte
Herausgegeben Br einem Bormort begleitet von vermehrt mit uenen Dorseben des De 6 und sinem Anfang nad
ar Müller, den fehten Ausgaben des Originals.
Dritte Anflage 8. Geh. 1 Thle. 20 Ngr. Geb. 2 Thlt.
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Rgr. Im die vorliegende dritte Anflage ber autorifirten deut-
|
ſchen Ansgabe von Renan’e „Leben Jefn“ (früher Verlag von
Das, von dem berühmten deutfchen Gelehrten Brofeffor | Georg Wigand in Leipzig) wurden des Berfafers Borworte
Mar Müller in Orford Gerausgegebene Buch, eine geift- | zur 18, fsamgöffchen Auflage (1867) umd zur illuftrirten frane
und feelenvolle Novellendihtung, zählt in Deutſchland wie im | jönjden Bollsansgabe 11870) fowie ein befonders wichtiger
Auslande, befonders in England (mo 6 aud) Überfeßt worden), | Anhang: „Ueber das vierte Evangelium“ aufgenommen: Cr-
fo viele Freunde daß bereits zwei Auflagen bavon vergriffen | gänzungen, welhe in feiner andern beutichen Yusgabe ent-
ud. Die jegt vorliegende dritte Auflage eridjeint in nenem, Hatten find. Ungeaditet der hierdurch veranlaftten bedeutenden
noch anfpredienderm Gewande und empfiehlt fi um fo mehr | Mermehrumg des Umfangs (um 6 Bogen) blieb der bißherige
zu einer pafienden Gabe für bie gebildete Frauenwelt. Breis des Werts unverändert.
i au —— au — Ina Ausgaben
1 von Renan’s „Reben fu iſt zugleich ein Separatabdru
ERGANZ UNGSBLÄTTER, jener Ergänzungen erſchienen und Aa FPreife von 10 Nor. in
1870, 2. Octoberheft. allen Buchandinngen zu haben.
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lische Bewegung in Deutschland II., von Dr. B. Zirngiebl. — | Bald, Mit einer Karte. 8. Geh. 2 Tl. Geb.
Das geschichtliche Verhältniss 2
schen Deutschland und
Frankreich I., von Prof. Wegele, — Nekrolog. 2 Tolr. 10 Nor.
en Fortschritte, von Dr. o.Klein.— | Verlag von Friedrich Tieweg und Sohn in Braunschweig.
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von Fr. Ratzel. N 1
Physiologie und Mediein: Die Krankenpflege im Wrede’s Reise in Hadhramaut, Beled
Kriege III., von Dr. Ploss. . Beny ‘Yssa und Beled el Hadschar.
Handel und Verkehr: Die Blokade der deutschen Kü- Mit einer Einleitung, Anmerkungen und Erklärung
sten, von A. Lammers. der Inschrift von ‘Obne. Nebst Karte und Fac-
Kriegswesen: Der strategische Werth von Elsass und
Lothringen, von Fr. Maurer. — Die Vortrappen, von KG. | SiMile der Inschrift von “Obne. Gr. 8. Fein
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i Schillers Werken und Briefen.
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N herausgegeben von
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Schiller's, nad) den Gegenfländen oder Stichworten alphabetiih
| georbnet, im bequemer Ueberficht zufammeır, bifbet alfo gemifle
|
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werke. (In mehr als 80000 Abdrücken verbreitet.) 21, Sgr.
Die de: -' ö isch — | Maßen eine Feal -Encytlopuüdie aus und ju Schiller's ſamm
* utsen französischen Grenzen, historisch — | fin Schriften, eine Mt von Scillet-Converfatione
politisch — sprachlich. In 'arben dargestellt. Ent. Lexikon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller's eigenem Wo:
worfen und gezeichnet von Henry Lange. 4 Sgr. | glörihene Grfänterunge- und Ergänzungsband
” ı Sciller’8 Werfen genannt werben, ber jedem Befiser
Karte von Frankreich. (Nebst Oarton: Umgebung | Brenz Anfaffung zu empfebfen iR. Aud) jur Berin-
von Paris) Von Henry Lange. 5 Sgr. dung ald Schulprämie ift das Werk vorzliglid, geeignet.
Berantwortli—er Redacteur: Dr. Eduard Brohhaus. — Drud und Verlag von S. A. Grochaus in Leipzig.
Blätter
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erfcheint wöchentlich.
—d Ar, 48, 9
24. November 1870.
Inhalt: Philoſophiſche Verſuche. Bon Julius Sranenftädt. — Land und Peute im Orient. Bon Auguſt Müller. — Romane
und Erzählungen,
Bon Emil Müller: Samdwegen. — Neue Bücher liber das Leben der Vögel. Bon Karl Ruß. — Senilleton.
(Zur Kriegslyrik.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Philofophifche Verſuche.
1, Ueber Erfenntnig. Bon Marimilian Droßbad. Halle,
Pfeffer. 1869. Or. 8. 10 Near.
2. Leibnig und Newton. Ein Berfuch über die Urſachen der
Belt auf Grundlage der pofttiven Ergebniffe der Philofopbie
und der Naturforihung. Bon Joſeph Durdik. Halle,
Pfeffer. 1869. ®r. 8. 10 Nor.
Auf dem Gebiet der Metaphyſik befteht ein Gegenfag
zwifchen den moniftifhen und pluraliftiichen Syſtemen.
Die moniftifhen Syſteme, wie verfchieden fie auch unter
fi fein mögen, haben doch alle biefes miteinander ge-
mein, daß fie nur ein wahrhaft Seiendes, nur ein ur-
fprüngliches Wefen, eine Subftanz anerkennen. Sie ftehen
alfo im wefentlihen auf dem fpimoziftifhen Standpuntt.
Die pluraliftiiden Syfteme dagegen haben dieſes mit-
einander gemein, daß fie viele urfprüngliche Wefen, viele
Keale annehmen, mögen fie biefelben Atome, oder Mo-
naden, oder fonflwie nennen.
Die beiden erwähnten Schriften nun gehören in bie
Neihe der pluraliftifchen Spfteme. Droßbad hat feine
pluraliſtiſche Weltanfchauung bereits in mehrern Schrif-
ten dargelegt. ‘Die obengenannte „Ueber Erfenntniß‘ (Nr. 1)
enthält eine Erfenntnißtheorie vom pluraliftifchen Stand»
unkt.
Es läßt ſich nicht leugnen, daß jede philoſophiſche
Erkenntnißtheorie eine Metaphyfik zur Grundlage hat, ſei
dieſelbe nun ausgeſprochen oder unausgeſprochen. Denn
ohne eine allgemeine Anſicht vom Weſen und Zuſammen⸗
hang der Dinge läßt ſich gar nicht über die Bedentung
und Stellung des Erkennens urtheilen. Es iſt nur Täu-
ſchung, wenn man meint, eine Erkenntnißtheorie unab-
hängig von aller Metaphyſik aufftellen zu können. Möchte
auch ein Syftem immerhin mit der Darftellung der Er-
fenntnißtheorie zuerft anfangen und die Metaphyſik erft
fpäter folgen laſſen, der Inhalt der Erkenntnißtheorie
wird doch immer fchon das Gepräge ber eigenthümlichen
Metaphyſik des ganzen Syſtems tragen.
1870. 48.
So trägt denn aud die Droßbach'ſche Erfenntnif-
theorie das Gepräge feiner Metaphufif, und wir können
es nur loben, daß er und über dieſe Metaphufif nicht
im Unffaren gelaffen, fonbern diefelbe ſcharf und deutlich
ausgefprochen hat, obwol fie trog des deutlichen und ſchar⸗
fen Ausbruds nicht haltbarer geworben ift, al8 überhaupt
die pluraliftifche Metaphyſik an fich if.
Droßbach flimmt in der Erfenntnißtheorie weder dem
Dogmatismus, noch dem Sriticismus bei, erfennt aber
in beiden ein Wahres an nnd fucht das-Wahre beider
in feiner Erfenntnißtheorie zu vereinigen.
Nah Droßbach find es die wirklichen Dinge, mit
denen wir im Erkennen in Beziehung ftehen,; wir erfen-
nen nicht Erfcheinungen, fondern das Reale. Erfchei-
nungen find nicht das Object der Erfenntniß, ſondern
das Product der im Erkennen ftattfindenden Wechfelwir-
fung zwifchen Object und Subjet. Wie da8 Subject
nicht aus dem Object, fo kann das Object nicht aus dem
Subject hergeleitet werden. Beide find vielmehr abfolute
Tactoren der Wahrnehmung; fällt einer von beiden hin-
weg, fo hört die Wahrnehmung auf. Beide find einander
coorbinirt, ftehen in dem Verhältniß von Urſache zu Ur-
fahe — nit in dem Berhältnig von Urfache zu Wir⸗
fung. Dagegen befteht zwifchen uns und den Erſchei—
nungen das Berhältniß von Urſache und Wirkung; de a
die Erjcheinungen find Product des Erfennens, und nur
zwifchen PBroducenten und Product beftehe das Verhältniß
von Urſache und Wirkung Kant babe alfo recht, daß
die Erfcheinungsdinge ſich fletS nad) uns richten müſſen;
unrecht habe der Kriticismus nur, die Wahrnehmbarkeit
der wirklichen Dinge zu leugnen.
Das Wahre im Dogmatismus ifl: daß wir das Wirkliche
wahrnehmen; das Falſche: daß die Erfcheinungen das Wirkliche
jeien. Das Wahre im Kriticismus ift, daß die Erfcheinungen
nur fubjective Borftellungen find; das Falfche: daß die wirf-
lihyen Dinge unmwahrnehmbar feien. Indem die Naturwifien-
fhaft das Wahre beider Syfteme in fich vereniigt und das
95
1754
alſche derjelben erkennt, legt fie ben Grund zu einem neuen
yſtem, welches fid) über diefe beiben erhebt, und fie ift dann
nicht mehr Wiffenihaft von den Erfceinungen, jondern vom
Wirklichen, vom Abfoluten.
Nun wird man au das Motto verftehen, welches
Droßbach feiner Schrift vorangefett Hat:
Willſt du in die Ferne ſchweifen?
Sieh — das Wahre ifi fo nah,
Kanuft e8 mit den Händen greifen,
Dfien liegt es vor dir da.
Es foll damit der Glaube, daß wir im Erfennen mit
Erfcheinungen in Beziehung ftehen und nicht mit dem
Wirklichen, den realen Urjachen der Erfcheinungen, wider-
legt werden. Droßbah hält es für ganz verkehrt, Die
wirflihen Dinge überhaupt fuchen zu wollen, da wir fie
fhon befigen, mit ihnen in ununterbrocdhenem Verkehr
ftehen und uns nur zum Bewußtſein zu bringen haben,
daß wir fchon mit ihnen in Zufammenhang find.
Das Erkennen im Sinne des Wahrnehmens, BPerci-
pirens des Wirklichen ift nad) Droßbach nicht blos eine
Eigenfchaft des Menfchen, fondern eine allgemeine Eigen-
[haft aller Wefen. Auch die fogenannten unbewußten
Weſen erkennen, weil alle Wefen in Wechfelwirkung ftehen
und das Erkennen, Borftellen die nothwendige Folge der
Wechſelwirkung ift, wenngleich nicht alle denfelben Klar»
heitsgrad des Erkennens haben. Der Stein wie der
Menſch ftellen immer vor, der Unterfchied befteht nicht
dein Wefen, fondern nur dem Grade nad).
Die Metaphyſik, auf welcher dieſe Erfenntnißtbeorie
beruht, ift folgende: Ein wahrhaftes Wefen Laffe fich nur
denken als keines andern zu feiner Eriftenz bedirftig,
alfo als fchlechthin felbftändig, Nun fei aber ein end»
liches Weſen fein felbftändiges Wefen und mithin fein
Wefen überhaupt. Ein felbftändiges Wefen dürfe nichts
von fi ausſchließen, fonft ſei es endlich und befchränft,
es müſſe unendlich, fchranfen!os fein. Das jelbftändige
Weſen fei alfo nur denkbar als unenbliches.
Hieraus würde fireng genommen folgen, daß es nur
ein wahrhaft feiendes Weſen gibt, alfo die pantheiftifche
Lehre. Aber Droßbah nimmt eine Bielheit fchranfen-
loſer Wejen an. Schrankenlofe Wefen ſchließen alles in
fihh ein; was feine Schranfen hat, könne zu den andern
fommen, in ihnen fein, daher feien viele ſchrankenloſe
Weſen denkbar. „Weil das unendliche Wejen die andern
in ſich einfchließgen Tann, darum find viele möglich: da-
gegen tft eine Bielheit endlicher Weſen unmöglich, weil
fie fich ausfchliegen müßten, und basjenige fein Wefen
ift, was die andern ausfchlieft.” Man halte die vielen
Weſen für endlih, weil man vorausjege, baß fie nur
beftehen können, indem fie äußerlich und mechaniſch neben-
einander liegen. Man denfe nicht daran, daß es Wefen
gibt, die ineinander find, einander durchdringen, obwol
es doch gewiß fei, daß die Kraft alles durcchdringt, daß
Raum und Zeit nichts von fi) ausſchließen.
Die jhrantenlofen Weſen Liegen nah dem Berfafler
nicht mechaniſch außer- und nebeneinander, fondern durch⸗
wirken fich innerlich und bleiben daher troß ihrer Viel.
beit unendlih. Sie ſchließen fi) ein, weil fie unendlich
find. Nur folange man fich die vielen nicht anders als
fi gegenfeitig ausfchließend denke, werde man zu der
Philoſophiſche Verfuche.
widerfprechenden Vorſtellung endlicher Wefen getrieben
und halte eine Bielheit unenblicher für unmöglid. So-
bald fi aber diefelben einfchließen, fei eine Vielheit
fchrantenlofer Wefen fehr wohl denkbar. „Sa, es ift nur
eine Vielheit fchrankenlojer Weſen denkbar im Gegenſatz
zu der Bielheit endlicher, die nicht denkbar iſt.“ „Be—⸗
hauptet man, daß es nur ein unendliches Wejen gibt,
jo find wir alle endlih, und da endliche Wefen nicht
möglih, fo find wir felbft unmöglid — aber daß em
unmögliches Wefen zu diefer Einficht komme, ift ebenfo
unmöglich.“
Nach dem Verfaſſer ift e8 ein Widerfpruh, daß End-
liches, Begrenzte® in Zuſammenhang ftehe; denn wirft es
über feine Örenzen hinaus, fo feien es feine Grenzen,
und find die Grenzen wirflihe, fo fei damit fchon gefest,
daß es nicht dariiber hinauswirfe. „Zwifchen begrenzten
Dingen ift Zufammendang unmöglih. Was in Zujam-
menhang fteht, muß ſchrankenlos fein; und nur Schrau-
kenloſes kann in Zuſammenhang fein.”
Jedes Weſen iſt nach dem Verfaſſer eine Welt für
ſich, und doch ein alle andern zufammenfafienbes Ganzes.
Die vielen Unendlichen büßen dur ihre Beziehungen zu-
einander nichts von ihrer Unendlichkeit, Abſolutheit ein,
weil die Beziehungen in ihrem eigenen Innern, gleichſam
in ihrem eigenen Haufe vor fich gehen, wobei das Haus
feine Aenderung erleidet, und weil nichts vorhanden tft,
was von außen auf fie einwirken und fie befchränfen
fönnte, wie dies bei endlichen Dingen der Yall if. „So
ift jedes Wefen eins und alles zugleich — als eins mit
allen, als alles mit nichts in Beziehung — in Beziehung
ftehend und felbftändig zugleich.“ Als felbftändig für ſich
fetend lebt e8, als jelbfithätig den andern ſich hingebend
liebt e8, ohme damit feine Selbftändigfeit aufzugeben.
Bon diefem feinem metaphufifchen Standpunkt aus
findet der Verfaſſer in allen dogmatifchen Eyftemen zwei
einander widerfprechende VBorausjegungen: die eine, daß
wir der Erfenntniß des Weſens der Dinge, alſo abſolu—
ter Erfenntniß fähig; die andere, daß wir bedingt, end⸗
ih, befchränft fein. Nur eine diefer beiden Boraus-
jegungen fei haltbar; entweder Haben wir abfolnte Er-
kenntniß und find überhaupt nicht bedingt, nicht endlich —
oder wir find enblich und haben feine abfolute Erfenntnif.
Die kritiſche Philofophie entfcheide fich fir das letztere.
Woher aber habe fie die Erkenntniß, daß wir bedingt
find, daß unfere Erkenntniß blos die Erfcheinungen ber
trifft? Erkenne fie Schranken, fo feien diefe Schranken
nur Erfcheinungen, mithin Feine wirkliche, wahre, folglich
jet unfere Erkenntniß ohne wirkliche Schranken, within
ſchrankenlos. Der kritiihen Philofophie Liege gleicher
maßen, wie den dogmatifchen Syftenen, das fich felbk
wiberfprechende Dogma unferer Bedingtheit zu Grunde.
Wie fol der beſchränkte Berftand des Kritilers richtig
entjcheiden, daß er beſchränkt ift?
Nur wenn ich abfolut erfenne, kann ich ein richtiges X“
theil fällen... Nur eine Philoſophie, welche von der Einfidt
ausgeht, daß alle Weien ohne Ausnahme abfolut find, fiber
windet den Dualismus von bebingien und unbebingten Wefei,
von ſtunlicher und überfinnlicher Erfenutniß, von Körper uı
Seit, Stoff und Kraft, in weldem alle andern Syfleme not »
wendig befangen find, weil fie ihre Borausfeung des 9»
dingten, des Sinnlichen, des Körperlichen ohne die weite e
Philoſophiſche Verſuche.
Annahme eines Unbedingten, Geiſtigen, Immateriellen nicht aneignen.
feſthalten können.
Die Droßbach'ſche Schrift iſt recht geeignet, den engen
Zuſammenhang zwiſchen Erkenntnißtheorie und Metaphyſik
zum Bewußtſein zu bringen und zu zeigen, wie von ver⸗
fchiedenen metaphyſiſchen Standpunkten aus ſich verjchie-
bene Exfenntnißtheorien ergeben. Die Droßbach'ſche Be-
banptung der Schrantenlofigfeit unfers Erfennens ift eine
nothiwendige Yolge feiner Behauptung der Schranfenlofig-
feit unfers Seins. Dagegen muß eine Metaphyſik, welche
Beſchränktheit des Seins der vielen Weſen lehrt, noth-
wendig eine Erfenntnißtheorie zur Folge haben, welche
BDefchränktheit ihres Erkennens behauptet.
Aber eben wegen diefes engen Zuſammenhangs zwi⸗
chen Erfenntnißtheorie und Metaphyſik zieht auch der
Sturz einer beftimmten Metaphyſik den Sturz ber aus
ihr fich ergebenden Erfenntnißtheorie nad; fi. Die Droß-
bach'ſche Metaphyſik aber mit ihrer logifch unhaltbaren
Behauptung der Bielheit ſchrankenloſer Weſen muß ftür-
zen; folglich muß auch die darauf gebaute Erfenntniß-
theorie ftürzen.
Wir für unfern Theil können uns die vielen nicht
anders denken als endlich, begrenzt, beſchränkt; Hin-
gegen ein unenbliches, unbeſchränktes Wefen können wir
und nicht als eines von vielen denken. Daraus, daß
bie vielen in Beziehung, in Wechjelmirtung miteinander
ftehen, daß fie aljo über ihre Schranken hinüberwirken,
folgt nicht, was Droßbach daraus folgert, daß fie ſchran⸗
fenlos find. Denn jedes ber vielen kann doch nur fo
weit auf andere wirken, als feine und der andern be»
grenzte Natur es zuläßt. Ein Stein kann uns nid,
wie Droßbach, durch Worte Gedanken mittheilen. Das
Durchbrechen der Schranken ift alfo in den: Wirken ber
vielen aufeinander immer nur ein begrenztes, velativeg,
fein abjolutes. Die Leiftungsfähigkeit jeder endlichen Kraft
ift eine qualitativ und quantitativ beftimmte, begrenzte.
Es findet alfo weder ein abfolutes‘ Gebanntfein der vie
Ien in ihre Grenzen ftatt, noch ein abjolutes Ueberjchrei=
ten derfelben. Jedes Wefen, obgleich auf andere wirkend
und von ihnen Wirkungen empfangend, bleibt doch immer
es jelbft, ein beftimmtes, begrenztes Wefen, und über-
Schreitet trog aller Erweiterung nicht bie Schranfen feiner
Natur. Die Beziehungsfähigkeit der vielen aufeinander
ift, wie fie felbft, begrenzt.
Kurz, die Unendlichkeit, Schrankenlofigkeit der vielen
ift von Droßbady nur fcheinbar bewiefen. Es iſt und
bleibt eine unbewiefene Behauptung: „Zwiſchen begrenzten
Dingen ift Zufammenhang unmöglich; was im Zuſammen⸗
hang fteht, muß fchrantenlos fein, und nur Schranken⸗
fofes kann im Zufammenhang ftehen.“ Die Wahrheit ift
vielmehr diefe: Weber abjolut begrenzte, db. h. in ihre
Grenzen feftgebannte und über fie nicht hinüberwirken Fün-
nende, noch abjolut unbegrenzte, d. 5. feine andern außer
fi) Habende Weſen fünnen in Zufammenhang ftehen, ſon⸗
dern nur ſolche, die zum Theil begrenzt, zum Theil un«
begrenzt find, alſo aus Begrenztheit und Unbegrenztheit
gemifchte Weſen.
Die Droßbach'ſche Alternative: entweder die Weſen
find unbedingt, oder fie find nicht, weil bebingtes Sein
eine contradictio in adjecto fei, fünnen wir uns nicht
755
Wir können nicht mit Droßbach die Welt zer-
fällen in Seiendes, das unbedingt ift, und in Bedingtes,
dem Fein Sein zulommt. Unjere Anſicht ift vielmehr
diefe. Die wirflihen Dinge find gemifchter Natur. Es
ift in jedem Wirflihen ein Ewiges, Unbedingtes — das
wahrhaft Seiende in ihm; es ift aber auch in jedem ein
Bergängliches, Bebingtes — die Erfcheinungsform. Jedes
ift gemifcht aus Subftanz und Accidend. Das wahrhafte
Sein kommt allerdings nur der Subftanz zu, aber die
Hccidentien find auch; man kann ihnen das Sein nicht
abjolut abjprechen. Der Begriff bes Seins ift ber all-
gemeinfte, und von ihm find fubitantielles und acciden-
telle8 Sein Unterarten. Die Dinge diefer Welt vereini-
gen eben beide Arten des Seins in fi, und darım find
fie weder abfolute Wefen, noch mwefenlofe Phantome.
Das Unendliche, Abfolute, die ewige Subftanz iſt
in den vielen endlichen Wefen gegenwärtig, aber in feinem
ganz; denn es erjchöpft ſich in feinem einzelnen. Nur
alle endlichen Wefen zufammen in ihrer Wechjelbeziehung
und Wechjelwirfung machen die Realität des Abfoluten
aus. Nur auf diefe Weiſe läßt ſich nad) unjerm Dafür-
halten der Pluralismus mit dem Monismus verbinden.
Aber ein Pluralismus unendliher Weſen ift für uns
undenkbar.
Hiernach beftimmt fi) denn auch unfere von der
Droßbach'ſchen abweichende Erkenntnigtheorie. Sowie wir
weder abjolute Wejen find, noch wefenlofe Phantome, fo
ift auch unjer Erkennen weder ſchrankenlos, noch ift e8
auf puren Schein befchräntt, aljo von der Wahrheit
völlig ausgefchlofien. Sondern gemifcht wie unfere Natur
aus Weſen und Erfcheinung ift, ebenfo gemifcht iſt auch
unfer Erkennen. Wir nehmen im Erfennen das Wirk.
liche, Wefendufte wahr; aber nur fo, wie ed ung ver-
möge unfers Intellects erfcheint.
Joſeph Durdif’s Schrift: „Leibnig und Newton“
(Nr. 2), beabfichtigt nichts Geringeres, als „aufzubeden
wohin die Anfichten über die Clemente der Welt zuftre-
ben, ſowie daß dieſes Endziel ſchon gegeben und in dem
Denkrefultate der zwei erflen Heroen der Wiſſenſchaft —
Leibniz und Newton — enthalten ıft“.
Der Berfaffer weift auf die Bedeutung bin, melde
die atomiftifche Betradhtungsweije in der modernen Natur«
wiſſenſchaft erlangt hat. Die Atomiftif ſei gerade jo eine
phllofophiihe That, wie der Dynamismus, nur erbebe
die erftere defto dringendere Forderungen, an ihrer Ver—
volllommnung zu arbeiten, je unabweislicher fie ift. Die
Atome im engern Sinne des empirischen Phyſikers reprä-
fentiren nad) dem Berfafler nicht die Urfachen der Welt,
es fehle etwas Wefentliches an ihrem Begriffe. Hier fei
das Teld, wo Philofophie und Naturwiſſenſchaften ſich
fo zufammenthun müſſen, daß man fie gar nicht fcheiden
fann, hier fei das Feld der Metaphufil, die auch noch
nah dem Kant’schen Hochgericht intact verbleibt, die ſich
durch keinen Machtſpruch befeitigen läßt, fondern treibt
und blüht.
Die neue Phafe des Atomismus ift nach dem Ber-
fafjer von Newton und Leibniz Herzuleiten. Erſt durd)
das Newton’sche Gravitationsgefeg wurben an das Atom
„Kräfte angefügt, die bis ind Unendliche wirken, e8 wurde
95 *
756 Philoſophiſche Verfude.
da der vollftändige Zufammenhang der ganzen Welt, aller
Weſen, nit nur geahnt, fondern beftimmt ausgeſprochen
und bewiejen in einer Mar einfahen mathematifhen For ⸗
mel gefaßt”. Im der Welt Newton's fei alles in ftreng
urfählihen Zufammenhang, alles ändere ſich auch mittels
Heinfter Differenzen, und aud da könne man wie bei
Leibniz fagen, jeder Augenblid fei beladen mit der Ber-
gangenheit und ſchwanger mit der Zufunft. Es Habe mit
der Newton'ſchen That diefelbe Bewandtniß filr die tele»
flopifche Welt, für den Makrokoomos, wie mit der Leib-
niz für den Mitcolosmos. Das Geſetz des erſtern mußte
mathematifch beiiefen werden, während wir das zweite
unmittelbar in und fühlen. Beide aber feien Ausbrei-
tungen eines Prädicats des wirklichen Seins auf alle
Weſen.
Leibniz' großes Verdienſt beſteht nach dem Verfaſſer
in der Enidedung, daß die Urſachen der Welt Individuen,
lebendige Weſen mit innern Zuftänden, mit Vorſtellungen,
daß fie Monaden ſeien. Sowie Newton der Kraft den
unendlichen Raum erobert, fo habe Leibniz die Innerlich-
teit auf alle Weſen ausgedehnt. Das Ueberfinnliche be»
fteht, es ift eben und allein das Innerliche. Wenn wir
Newton umb Leibniz vereinen, fo fei das nur in dem
Sage möglich: „Das wahrhaft Seiende ift unendlich und
innerlich.” In Leibniz’ Lehre findet der Verfafler eine
weſentliche Vervolllommnung der alten Atomiſtik. Das
Atom wird mit einer Innerlichteit begabt, es wird Monas.
Die Monaben alfo find die mahren Atome, find die Elemente
der Dinge. Hieraus erhelle bie gewaltige Bedeutung der
Leibniy ſchen That, er habe die Innerlichkeit der Weſen
entdedt. Was daneben von ihm aufgeſtellt wurde, folge
entweder aus dieſem Princip oder ſei unweſentlich von
ihm Hinzugefügt worden, um verſchiedenen anderweitigen
Zeitbedürfniffen Rechnung zu tragen. Die Innerlichkeit |
der Wefen bleibe ba8 Hauptmoment:
Zum erften male if bier dr große Schritt gemacht wor-
den, bie gen äußere Natur ung fo nahe zu rliden, da fie
mit uns einer Wefenheit erſcheint, das Aeußere als Folge eines
Innern zu begreifen, dem Gefchehen das Borfiellen zu unter
legen. Zu der Mythologie und der Elementargeifierlehre ſteht
Leibnig’ Vrineip in einem ähnlichen Verhältniß, wie die Lehre
Nemwton’8 von dem Aulommendong, der Himmelstörper und
ihrer Einwirkung auf die Erde zur Aftrologie,
Durch die Aufftellung der Monas ift nad dem Ber-
faſſer die pHilofophifche Wiſſenſchaft mit einer Fülle von
ungeabnten Gefichtspunkten bereichert worden. Zwiſchen
dem fpinoziftifchen „Modus und der Leibniz'ſchen „Mo-
na8” liege ein Abgrund von Verſchiedenheiten. Es fei
etwas wunderbar Tiefes um Leibniz‘ Syſtem, es eröffne
die Ausficht in die äußerften Enden alles Lebens, es habe
die Entwidelung am großartigften begriffen und aus—
gebrüdt. So lange man ben Gedanken darin verjenkt
halte, fpüre man das Wefen der Wahrheit, ein unnenn-
barer Reiz wie von einem gelöften Geheimniß locke uns
immer wieder an.
Doch, trog dieſer Begeifterung für bie Monabologie
findet der Verfafer dennoch, daß auch ihr noch etwas
fehle, auch fie noch) an einem Gebrechen leide, weshalb
von ihr aus vorwärts geſchritten werben müffe. Sowie
die Entdedung des Weltgefeges der Gravitation noch von
niemand für die Metaphyſik mit Entſchiedenheit gel-
tend gemacht und außgebeutet worden fei, fo habe auch
der große Gedanke Leibniz’ von der Monade eher eine
Berfümmerung als Ausbildung erfahren. Die Realen- |
lehre Herbart’8 ift nach dem Verfaffer Fein Fortſchritt,
feine BVervolllommnung des Monadismus, fondern ein
Rüchſchritt; denn die Nealenlehre habe das innere Reben
und bie Entwidelung wieber befeitigt, fie fei der Atomis-
mus nad) feinem Durchgang durch den kritifchen Ge-
danken Kant's. Diefen Gang durch den Kant'ſchen Ge
danken hindurch habe der Monadismus noch nicht gethan,
fondern er blieb in feiner Geftaltung, wie ihn der Urheber
ließ, unberichtigt und unergänzt, dajtehen.
Der Veifaſſer unterwirft nun den Kant’ichen Gedan-
ten einer eingehenden Prüfung, und wir begeguen in
diefer ben Droßbach'ſchen Anſichten über Ding an ſich
und Erſcheinung:
Inforeit das Ding an fi uns angeht, wird es Erichei-
nung; und als Ding an fih im firengen Sinne, wo es mur
an ſich ift, ohne jede Beziehung zu une, ift e8 aud) wirklid; ein
Nights. Ein folhes Nichts hat Kant nicht gemeint, denn nad)
ihm gehen unfere Affectionen von den Dingen an fi aus.
Die fol dann alfo das Ding an fid) gauz aufer unferm Be-
reiche liegen, menu es auf uns doch einwirtt? Mir nehmen
die Erigeinungen wahre — wohl — aber auf Anregung der
Dinge an fih. Zugleich fagt Kant, daß die Erjheimumgen
unfere Borftelungen find, daß fie von unferer Organifation
abhängen, fo halte ich daflir, daß doch mad) jeder Logik hieraus
gefehfoffen werben muß, daß wir bie Erfheinungen nicht wahr«
nehmen, fondern fie erzeugen, da felbe gar nichts haben, womit |
fie auf uns wirkten. Sie find umfere Erzeugniffe. Wir flehen |
mit den Dingen an fi in caufaler Beziehung und übertragen }
diefes Berhättnig auf Exiheinungen. Der caufale Zufammen- |
hang der Wefen darf aber nicht fo gedeutet werden, dab eins
die Urſache des andern wäre, fondern der Zuſtand allein iſt die
Birkung, das Wefen felbft die Urfache.
Ganz wie Droßbach betont es der Verfaſſer als |
poſitives Reſultat des Kriticiemus: „Wir ftehen fchon
vor allem Denfen mit den realen Weſen in unmittelbarer |
Wechſelwirkung, wir nehmen das Wirkliche ſinnlich wahr, |
die Erſcheinung erzeugen wir.” Und ganz wie Droßbach j
feine Erfenntnißtheorie an eine Metaphnfit anknüpft,
welche eine Vielheit unendlicher unbedingter Weſen an«
nimmt, ſo auch der Verfaſſer, nur mit dem Unterſchiede,
daß dieſer die Vielheit unendlicher Realen als ein nothwen-
diges Ergebniß der Geſchichte der Philoſophie darzuſtellen ſich
bemüht. Ale philoſophiſchen Syſieme haben nämlich nad)
dem Berfaffer das Ziel gemeinfam, daß fie die realen
Urſachen der Welt fuchen, und fie unterſcheiden ſich
hauptſachlich darin, daß die einen als Urgrund das Eins,
die andern die Bielen fegen. Halte man fid) nämlich
an ben Begriff des wahren Seins, fo mülje man zu
Spinoza, ja eigentlich zu den Eleaten zurüdgreifen.
Hiermit fei die ErHärung ber Veränderung abgefchnitten,
und greift man, um diefe zu ermöglichen, zu den Vielen,
feien es num bie Atome, oder Monaden, oder Nealen,
fo feien alle diefe, abgefehen von andern Widerfpritchen,
beſchränkt, bebingt, daher nicht wahrhaft letzte, abjolnte
Urfachen. Es fei ein umerbittliches Dilemma, in welden 1
bie Antwort auf die Frage „ob eins, ob viele“ ſchwante
Aus diefem Dilemma rettet nad) dem Verfaſſer mir eine
Pluralitätslehre, welche bie vielen Realen als Unendliche
anerkennt. Der gefchichtliche Verlauf der Pluralitätslehre
ſelbſt dränge dahin, die Urfachen der Welt als Unendliche
Land und Leute im Drient. 157
anzuerkennen, bamit ſowol dem Sein als der Veränderung
Genüge gefchehe.
Damit aber — das flieht der Berfafler fo gut wie
Droßbah ein — find wir an bem entjcheidenden Punkt
angelangt, wo fi der Einwurf erhebt: Wie ift es
möglich, daß auch nur zwei unenbliche Wefen beftänden ?
Sie müßten fih ja gegenfeitig bejchränfen, wären alfo
niht unendlih. Der Berfafjer erwibdert, ähnlich wie
Droßbach, biefer Einwurf fei nur dann volllommen be-
gründet, wenn man fich die zwei Wejen als nebeneinander
in einem begrenzten Raume dent, wo jedes dem andern
den Eintritt in feinen Raum verwehrt und feinerfeits
den Angriff befjelben als Befchränfung empfindet. Uber
eben diefe Anftcht fei falſch. Das Nebeneinander fei
abzuweifen.
Jedes Wefen Hält den ganzen Raum in fih, und alle
Weſen durchbringen einander. Die Phyſik bietet uns Beiſpiele
genug, wie SKtraftäußerungen einander durchfegen. So muß
man immer wieder in,den Schatz der naturmwiflenfchaftlichen
Refultate greifen, um mit den frifchen wahren Daten die Ger
ipenfter alter Schufbegriffe zu verfcheuchen. Ein Atom ber
Erde wirkt bis zum Mond, zur Sonne, nod) weiter, ins Un-
endlihe fort, es ift unendlid. Außer ihm find aber auch an-
dere Atome da, die ebenjo wirken, ebenfo unendlid) find —,
ihre Kraftfphären durchdringen einander, fagt der’ Phnfiler,
d. 5. die beiden Atome durchmwirken fich gegenjeitig, was ihrer
Unendlichkeit keinen Abbruch thut. Dies ift eine von jenen
großartigen Anſchanungen, die wir der Naturwiflenichaft ver-
danken .... Jedes tft ein wirkliches Eins und Alles in ſich
tragend, die ganze Welt umfaffend. Wäre es allein da, fo wäre
e8 das eleatifhe Ey zart rnav und volllommen.
Dhne Newton wären wir nad dem Berfafler nicht
zu der Einficht gelommen, daß die Weſen ertent, ohne
Leibniz wüßten wir nicht, daß die Wefen innerlich vor:
ftellend jeien, und ohne Kant möchten wir fie noch immer
ſuchen mollen. Leibniz, Newton, Kant bezeichnen baher
„die drei wichtigften Punkte der neuen Weltanfchauung“.
Diefe überwindet mit Zuhülfenahme des Durchwirkens
die alte Meinung, daß mehrere Unbedingte nicht beftehen
fönnen. „Nicht neben, fondern ineinander find die Ur»
fahen der Welt. Jede von ihnen beharrt bei aller Ver⸗
änderung, fowie die Subftanz Spinoza’s beim Wechfel
der Modi.”
Ganz wie Droßbach rühmt auch Durdik von diefer
Pluralitätslehre, daß durch fie der Dualismus überwun⸗
den fei. Das alte Erbftüd von zwei grundverfchiedenen
Welten verblaffe vor dem Morgenroth der Weltallwiſſen⸗
haft, die fublunarifche Welt fei gerade fo göttlich wie
die Himmlifche; im Wefen, im Ding an fich fei ber
Gegenſatz zwiſchen wirklihem Sein und Erfcheinung auf-
gehoben, infofern nur das Wefen ein Sein hat, die Er-
Iheinung hingegen ein Product des Weſens ift.
Zum Schluß wirft der Verfaſſer einen Bid auf das
Refultat feiner ganzen Unterfuhung, und fagt von dem⸗
felben, e8 ruhe auf zwei ©eneralifationen: auf der
Newton's und Leibniz’:
Wofür liegen mehr Argumente vor, als für das Grapita-
tionsgefeg und die Iunerlichkeit der Weſen? Leibniz war zwar
ein Dogmatift, aber was ift fein aufrichtiger, fruchtbarer Dog-
matismus gegen bie bialeftifche, vernumftiiberragende Dictatur
Hegel's? Zu diefen zwei PBrämifjen fommt noch das aus ber
Kant'ſchen Doctrin gewonnene Refultat.
Somit ergibt ſich als der eigentlihe Inhalt des
Ganzen:
I. Kant: Wir ftehen fchon vor allem Denken mit
den Wefen in unmittelbarer Beziehung.
IL. Leibniz : Die Wefen find innerlid) vorftellend,
d. i. Monaden.
III. Newton: Das Weſen iſt unendlich ausgedehnt,
erhaben über Raum und Zeit.
Die Verwandtſchaft ber Durdik'ſchen mit der Droß⸗
bach'ſchen Metaphyſik ift unverkennbar. (Die innere Ber»
wandtichaft drüdt fich auch äußerlich dadurch aus, daß
beide Schriften in demfelben Verlage erfchienen find und
gleiche Ausftattung in Drud und Papier erhalten haben.)
Aber die Plurafität der unbedingten Realen ift ung bei
Durdif nicht denkfbarer geworben als bei Droßbach. Was
wir gegen die Droßbach'ſche Metaphyſik gefagt, dafjelbe gilt
auch gegen die mit ihr identifche Durdik's, fowie überhaupt
gegen jede pluraliftifche Metaphyſik.
Das Motiv, aus welchem der Pluralismus entfpringt,
ift diefes, daß der Monismus die Erklärung der Ver⸗
änderung, des Werdens und Gejchehens abfchneide; aber
fireng genommen gilt doch dies nur von jenem Monis-
mus, der das unbedingt Eine für ein in fid) unterfchied-
Iofes hält. Aus einem in fich unterjchiedslofen Einen
läßt ſich allerdings Fein Werden und Geſchehen ableiten.
Aber es gibt noch einen andern Monismus als jenen
falfchen. Der wahre Monismus ſchließt aus der einen
abſoluten Subftanz nicht die Vielheit und Verſchiedenheit
ihrer Attribute, ihrer Kräfte und Yunctionen aus. Man
hat alfo, um dem ftarren, vegungslofen Eins des falfchen
Monismus zu entgehen, nicht nöthig, zu einem Plura-
lismus abfoluter, unendlicher Wefen feine Zuflucht zu
nehmen, wie Droßbah und Durdik, jondern man
braucht fh nur zum wahren Monismus zu wenden,
der das abfolute Al-Eine als ein in ſich unterfchie-
denes, gegliedertes auffaßt und die MWechfelwirkung der
Mefen als die Wechſelwirkung der Glieder diefes Einen
betrachtet.
Iulius Srauenflädt.
Land und Lente im Orient.
Man begegnet feit einiger Zeit oft der Anficht, bie
einzig richtige Methode der Forſchung faft für alle Wiffen-
ſchaften ſei die naturwiffenjchaftliche; fie, die man auch
wol als die „eracte‘‘ par excellence bezeichnet, ſei alfo
möglichft überall in Anwendung zu bringen. Die Anflcht
ift richtig, aber fie ift nicht neu, wenigftens nur dem
Ausdrude nad neu; denn bie wahre naturwifienfchaftliche
Methode befteht in einer möglichſt vollftändigen Induction,
aus der vorfichtig und confequent Schlüffe gezogen wer⸗
den; diefelbe Methode aber iſt fchon feit langer Zeit in
andern Wiflenfchaften, 3. B. der Philologie, üblich. Aber
freilich ift zuzugeftehen, daß die Entwidelung einiger
1758
anderer Willenfhaften zwar nicht eine ausbrüdliche Ableh⸗
nung, aber doch ein ftilfchweigendes Ignoriren dieſer
Methode zeigt, das erft allmählich befjerer Einficht ge-
wichen if. Dahin gehört in einer Beziehung auch bie
Geſchichte. ES feheint mehr eine unbewußte Anlehnung
an einen von dem überaus verftändigen Herodot einge.
führten Gebrauch alter Hiftorifer, als eigene fichere Er-
fenntniß gemefen zu fein, der gemäß hier und da topo-
graphifche und klimatologiſche Notizen über einzelne Län-
der gegeben werden; die Mare Einficht dagegen, daß bie
äußere Beichaffenheit jedes Landes ein nicht geringes
Moment für die Entwidelung des darin wohnenden Volks
fei, ift erft vor kurzem volllommen burchgebrungen.
Hierin ift allerdings ein bedeutendes Verdienſt der mo-
dernen Naturwiſſenſchaft zu erfennen, deren Entwidelung
den Anftoß zu der Durchführung jenes Sates gab; denn
damit ift ein neuer gewaltiger Schritt zur Bervollftändi-
gung der Induction auf dem bezeichneten Gebiete gethan.
Curtius' „Griechiſche Gefchichte” bietet in ihren erſten Par-
tien ein befonder8 glänzendes Beispiel der Art, wie diefe
Methode gehandhabt werden muß; auf derjelben Erfennt-
niß, daß Natur und Menfchenleben immer im Zufam-
menhange ftehen, beruhen die Verſuche des zu früh dahin-
geſchiedenen Julius Braun, topographifche Schilderun-
gen mit hiftorifchen Skizzen zu einem Ganzen zu ver-
binden. Den Anlaß zu diefen Zeilen gibt Braun's letztes,
nad) feinem Tode erfchienenes und mit einem Vorwort
von Mori Carriere eingeführtes Werk:
Gemälde der mohammedanifhen Welt. Bon Julius Braun.
Leipzig, Brodhaus. 1870. Gr. 8. 2 Thlr. 15 Nor.
Der Autor umfaßt freilich darin nicht alle das, was
bon jenem Geſichtspunkte aus zu fordern if. Wie die
von der Cultur noch nicht berührte Natur ber moham-
medanıfhen Sünder auf deren Einwohner gewirft habe,
erfahren wir nur felten und gelegentlich; Braun begnügt
fich, die jegige Geftaltung der Gegenden darzuftellen, durch
welche er ung führt. Was von geographifchen und Hiftori-
Ihem Material vergangener Epochen beigebracht wird, bil-
det nur die Einleitung zu der Beſprechung des einzelnen
Volks oder Reichs unferer Zeit. Dennod) wird die geftellte
Aufgabe nur dann als erfüllt gelten fünnen, wenn nicht nur
der Einfluß eines verfumpften Flußthals oder einer ſandver⸗
wehten Landfchaft auf das Aufßere Leben der Bewohner in
Betracht gezogen, fondern wenn in größern Zügen nad)-
geroiefen wird, wie 3. B. der Unterfchied zwifchen einem
ägyptiſchen Fellah und dem freiheitsliebenden Sohn der
Wüſte fchlieglih darauf beruht, daß der Fellah auf das
fruchtbare aber enge Nilthal angewiefen ift, während der
Beduine in feiner endlofen Steppe bald hier bald dort
umberfchweifen muß.
Für die Semiten, von denen die mohammebanifche
Religion zunächft ausgeht, hat Renan es verfucht einen
jolden Cauſalnexus zwifchen Land und Volk zu con«
ſtruiren; aber die brillante Einleitung zu feiner „Histoire
des langues semitiques” (Paris 1855, zweite Ausg. 1858),
die in dem ziemlich) paradoren Gate: „Le desert est
monotheiste‘, gipfelt, ſcheint gerade in ihren hauptſüch—
lichſten Refultaten wenig gefichert zu fein (vgl. Mar
Miller, „Eſſays“, I, 297 der deutfchen Bearbeitung: „Der
femitifche Monotheismus“); um fo intereffanter würde es
Rand und Leute im Drient.
geweſen fein, von einem Gelehrten wie Braun eine nene
Darftellung diefer Punkte zu erhalten. Freilich würde
diefe Behandlungsmeife das ohnehin fo umfangreiche Ma-
terial noch bedeutend vermehrt haben, und es liegt uns
ganz fern, dem verdienten Forſcher einen Vorwurf bar
aus zu machen, daß er feine Darftellung auf den Theil
des Gebiets befchränft hat, den er wie fein anberer zu
behandeln verſtand; wir mußten nur diefe negative Seite
feines Buchs hervorheben, weil ein Sat des von dem
Treunde des DBerftorbenen dent Buche voransgefchidten,
mit wohlthuender Wärme gefchriebenen Vorworts gerade
in diefer Beziehung misverftanden werden könnte. Was
Braun ums bietet, ift eine Schilderung des jetzigen Zu-
ftandes der Länder, welche augenblidlich das Gebiet bes
Islam bilden, unter Beifügung der gefchichtlichen Notizen,
welche bei jeder Dertlichkeit von Interefle find, und durd)
welche die jest erreichte Stufe der Entwidelung als noth-
wendiges Refultat dargelegt wird. Es ift aus Braun's
„Biftorifchen Landſchaften“ bekannt, wie anziehend er,
zum großen Theil durd) eine fcharffichtige Autopfie unter
ftütt, bei der Beſprechung eines bejtimmten Punktes jene
topographifchen und Hiftorifden Elemente zu einem har-
monifchen Ganzen zu verbinden weiß, und dieſe geradezu
fünftlerifche Oeftaltungsweife bildet auch wieder den Glanz-
punkt des vorliegenden Werks. Im einzelnen den Fach—⸗
gelehrten zu mancherlei Einwänden reizend, vermag bie
Schilderung in ihrer Gefammtheit doch ein vollkommen
klares und treues Bild der mohammebanifhen Welt, wie
fie jegt ift, zu geben. Wir werden zunächſt nach Mekla
geführt, der Heimat Mohammed's und feiner Religion:
der hiſtoriſche Exeurs, der fi an diefen Namen fofort
onfnüpft, gibt eine in ſich abgerundete Darftelung des
Lebens jenes merkwürdigen Mannes und jener erften
Nachfolger. Zweierlei müfjen wir indeß bei biefer Aus-
führung beanftanden. Braun ift nicht Kenner der orien-
talifchen Sprachen, fpeciel des Arabifchen, und muß id)
infolge beffen an die vorhandenen Arbeiten neuerer Ge⸗
lehrten anjchliegen. Nun ift allgemein befannt, ein wie
epochemachendes und umentbehrliches Werk Sprenger’s
„Leben und Lehre des Mohammed” ift; nichtsdeſtoweniger
kann die Auffaffung der pfychologifchen Entwidelung des
arabifhen Propheten, welche Sprenger gibt, ſchwerlich
befriedigen. Es ift Hier nicht der Ort, auf diefe Frage
näher einzugehen; es mag genügen, darauf Hinzumeijen,
daß Nöldeke, einer ber bedeutendſten femitifchen Philologen
unferer Zeit, in feiner „Geſchichte des Doräns“ eine
andere und weniger jpeciell mediciniſch-pathologiſche Ana⸗
lyſe von Mohammed's Charakter gegeben bat, welche
unfern Widerfprud) gegen Sprenger rechtfertigt. Brauu
nun bat fich Lediglid an Sprenger angefchloffen und
ſchwächt ſo in hohem Grade die moralifche Bedeutung
ab, welche dem Mohammed unferer Dleinung nad) zuge-
ſprochen werden muß.
Aber das ift eine Verfchiebenheit der Anfichten, Die
feinen Borwurf gegen ben Schriftfteller einfchließt; ſchlim⸗
mer ift es, daß Braun aud) auf femitifchem Gebiete
fi) jener Neigung zu waghalfigen mythologifhen Hy⸗
pothefen Hingibt, welche ihm fchon innerhalb der leich⸗
ter zugänglichen indogermanifchen Keligionswifienfchaft
fo viele Gegner zugezogen hat. Er felbft jagt: „Ungleich
Land und Leute im Orient.
wichtiger als die «Tautverfchiebungsgefege» find die Sinn-
verfchiebungsgefeße, d. 5. die Gewohnheit, aus dem un⸗
verftandenen Fremdwort fo lange umzugeftalten, bis «8
auch auf bem neuen Boden einen, wenn auch nocd fo
unzureihenden Sinn gibt.” In vorfichtiger Beſchränkung
angewandt mag diefer Sag gelten; aber die Yautverjchie-
bungsgefege müflen auch nicht gänzlich ignorirt werden,
wie dies bei Braun ſtets geſchieht, ſobald er mythologiſche
Combinationen vorträgt. Hier ganz befonders ift ihm
feine Unkenntniß des Arabiſchen gefährlich, deſſen echt
ſemitiſches Lautſyſtem von dem indogermaniſchen ſo weit
abweicht wie nur möglich; ſchon von dieſem Standpunkte
aus ſind ſeine Interpretationen alter ſemitiſcher Sagen,
die auch im übrigen oft ſehr gewagt erſcheinen, zum
Theil geradezu unmöglich, und es kann dieſem Theile
des Buchs gegenüber nur die größte Vorſicht angerathen
werden.
Einen kleinern Anſtoß äußerlicher Art mögen wir an
den eben ausgeſprochenen Tadel anſchließen, weil er aus
demſelben Grunde hervorgeht: wir meinen den von einem
auf die ausſchließliche Benutzung moderner Quellen an⸗
gewieſenen Schriftſteller ſchwer zu vermeidenden Uebel⸗
ſtand, daß die Umſchreibung der orientaliſchen Namen mit
deutſchen Buchſtaben eine ſehr inconſequente und oft for
gar irreleitende iſt; ſo erſcheinen z. B. für das arabiſche
Dhal (= engl. tb weich ausgeſprochen, isländiſch 3), an
verjchiedenen Stellen z, dz, d; für das arabifche Dſchin
(== engl. g vor e und i) dſch, di, j und Achnliches.
Doc Lehren wir zu der Wiege des Islam zurüd.
Wenn in ben erften Abjchnitten unfers Werks die ange-
deuteten Mängel bisweilen den unbefangenen Genuß der
Schilderung ftören, welche im übrigen gewandt und concis
die erften Schidjale der neuen Religion darftellt, fo kann
man fih in den folgenden Theilen des Buchs um fo
unbedenkliher der Führung Braun’s überlaſſen. ‘Der
Weg geht zunächſt von Mella nad) Medina, der „Stadt
bes Propheten‘, die den Mohammed aufnahm und als
Propheten anerkannte, ald er aus Meta flüchten mußte.
Weiter die Pilgerftraße nad; Norden verfolgend, gelangen
wir an dem durd den Bader chriftlicher Selten mehr
al8 durch die achtungsvolle Verehrung der Mohammedaner
entweihten Serufalen vorüber nach Damaskus, der Stadt
der Gärten, wo einft mit geringen Unterbrechungen
Ehriften und Mohammedaner friedlih nebeneinander
wohnten, bis die zuchtlofen Scharen der Kreuzfahrer ben
Hriftlichen Namen den Einwohnern Syriens zum Schreden
und Greuel machten; die Chriftenverfolgung von 1860
zeigt deutlich, wie gut man es im Mittelalter verftanben
bat, den Haß der Andersgläubigen zu weden. Freilich
unterftügt die elende türkifche Wirthichaft derartige Aus-
brüche des Fanatismus, während fie im übrigen das von
der Natur jo reich gefegnete Land in Armuth und Un»
ficherheit verkommen läßt. Nur Haben wir „Franken“
feinen Grund, barüber uns zu entrüften, folange die
furzfichtige und gewifjenlofe Politik unferer Weſtmächte
alle Berfuche zur Beflerung der Zuftände, wie fle 3. B.
unter des ägyptiſchen Paſchas Mehemed und feines
Sohnes Ibrahim Regierung begonnen hatten, vereitelt.
Türkiſche Paſchawirthſchaft und europäifche Politik find
überhaupt für unfern Schriftfteller Themata, die er nicht
759
milde wird abzuhandeln: ex bat recht darin, denn follen
je die fchönen Länder des Dftens wieder etwas von bem
werden, wozu fie beftimmt zu fein fcheinen, jo müfſen
an jener Stelle die erften Aenderungen eintreten. Bis⸗
jest freilih ift die Ausficht dazu gering; die lblichen
Bemühungen der Mifftonare, die aber zuweilen auch
arge Misgriffe begehen (vgl. S. 184, Anm. 2), können
feine dauernden Erfolge haben, folange bie Grunblagen
für eine menfchenwitrdige Eriftenz überhaupt fehlen.
Ueber den Libanon wenden wir uns dem Uuellenlanbe
bes Euphrat und Tigris zu, bier wie dort merkwitrdigen
hriftlichen und mohammedaniſchen Selten begegnend,
deren dogmatifche Ausjchweifungen oft in das Unglaubliche
gehen. Wir berühren Ninive und durcheilen bann bie
mefopotamifch- fyrifche Wüfte mit den der Sage nad)
poetifchen, jedenfalls aber jehr unbequemen Bebuinen-
flämmen, deren Beruf das Nünberleben ift, um zu ber
Stelle zu gelangen, wo Jahrtaufende hindurch die Haupt⸗
ſtädte mächtiger Reiche ftanden: Babel, Ktefiphon und
vor allen Bagdad, die ftolze Khalifenftadt Harun’s, jetzt
ein elender Auinenhaufen. Gibt biefer Wechjel abermals
Zeugniß von dem Segen ber Türkenherrſchaft, fo bietet
auch da8 benachbarte Berfien, defien Blütezeit durch die
großen Namen Firdufi und Hafis bezeichnet wird, jett
nur noch das jümmerliche Schaufpiel eines rettungslofen
Verfalls dar: das ganze Land verkommen wie bie Stadt
des Hafis, Schiras, deren Rofen nur im Liede noch leben.
Herodot berichtet von den alten Perfern, fle hätten fir das
ſchimpflichſte aller Bergehen die Lüge gehalten: ben Perfer
unferer Zeit charakterifirt eine Falſchheit, die bei jeder
Gelegenheit fich felbft wie andere betrügt und beren
Gipfelpunkt. eine wahrhaft raffinirte Ausbildung ber offi-
ciellen Züge ift, welche die Regierung als ein Mufter von
Vollkommenheit darftellt, während das Land fehuglos allen
innern und äußern Wirren preisgegeben if. Dier mie
überall im jeßigen Drient find die Denkmäler vergangener
Größe das einzige, was unjere Theilnahme in Anfpruc
nehmen Tann.
Wir wenden uns nun dem Welten zu, mit Aegypten
beginnend, der älteften Eulturftätte der Menfchheit, welchem
die ewig wiederfchaffende Natur felbft jet noch eine her»
vorragende Bedeutung, vielleicht fogar eine ereignißreiche
Zukunft bewahrt. Freilich erblidt das Auge des Wan»
dererd auch hier gegenwärtig nur das traurige Schaufpiel
eines von gewwiflenlojen Despoten ausgefogenen Landes;
aber der Nil, der alte Segenfpender, befruchtet in jedem
Jahre von neuem feine Ebene, und ſoviel die Habſucht
der Herrfcher von dem armen Fellah erpreßt, es bleibt
immer die Deöglichkeit, in wenigen Jahren geordneter und
gerechter Verwaltung das Land zu einer hohen Blüte zu
bringen; ſchon vorläufig wird, obwol Tediglih im egoifti-
chen Interefie des Bicelönigs, im Anſchluß an die Voll-
endung des Suezkanals viel gethan, um die Production»
kraft des Landes zu fleigern.
Ein eigenes Gefühl ergreift ung, wenn wir die fleg-
reichen Deere des jungen Islam nad) Spanien hinüber⸗
begleiten. Mit Recht find wir gewohnt, das arabijche
Spanien als das Attila des Islam zu betrachten, der
Name der Alhambra erwedt in uns wehmüthige Erin⸗
nerungen an eine vergangene ſchöne Zeit ritterlich⸗poetiſchen
160
Lebens; und mögen diefe auch größtentheilg auf den
„Letzten Abencerragen” Chateaubriand’8 zurüdgehen, fo
fiimmen doch bier Poeſie und Wirklichkeit in feltener
Meife überein; Schad, der gediegene Kenner des arabifchen
wie des chriftlichen Spanien, bat das in feinem ſchönen
Buche über die „Poeſie und Kunft der Araber in Spanien‘
erwiefen. Das ift alles dahin, nur die prachtvollen
Trümmer ber Paläfte und Mofcheen geben eine Ahnung
der alten Herrlichkeit, im übrigen bat die Inguifition hier
grünblicher aufgeräumt als Timur's Mongolen in Perfien.
Wenig ift über da8 mohammedanifche Afrika zu fagen;
das „Kaiſerreich“ Marokklo ift bie concret gewordene
Ohnmacht; und ob die Türken in Bagbab ober die
Sranzofen in Algier das Kolonifiren beſſer verftehen,
bleibt zweifelhaf.e Ganz unzweibeutig bagegen ift bie
Wirthſchaft des Bei von Tunis, von ber gelegentlich
unfere Zeitungen berichten, wenn er wieder einmal
einen Berfuch gemacht Hat, feine franzöſiſchen Gläubiger
hinter das Licht zu führen oder — und das gelingt
ihm leider beſſer — in feinem Lande eine Hungersnoth
hervorzurufen.
Nach einem kurzen Blick auf Tripolis, Nubien und
den türkiſchen Sudan — die ſelbſtändigen mohammeda⸗
nifchen Reiche entziehen fi) immer noch der Forſchung —
lernen wir endlich das Voll näher kennen, bem unmwillig
noch die meiften der befprochenen Länder gehorchen. Die
Türken, einft der Schreden Afiens und Europas, deren
Geſchichte eine folche Reihe von kraftvollen Eroberungszligen
aufweift wie die weniger anderer Bölfer, fcheinen fich
durch eben dieſe Ueberanftrengung gänzlich erſchöpft zu
baben — heute mwenigftens ift der Nationalfehler des fonft
gutmütbigen Volks eine ſchwer zu übertreffenbe Indolenz
und Faulheit. Große cultuchiftorifche Momente haben
fie freilich nie gehabt, ihre Moſcheen und Paläfte, fofern
fie überhaupt der nühern Betrachtung werth find, haben
fie von den Byzantinern geerbt, fo vor allen die Aja Sofia,
die große Mofcher von Stambul, bie noch ben dhrift-
lichen Namen (Hagia Sophia — heilige Weisheit) trägt.
Gegenwärtig aber find fle Meifter darin, diefe Reſte alter
Eultur verfallen und die ehemals fo reichen Ränder ihrer
Herrſchaft verfommen zu laffen: eine von nur zu durd)-
greifendem Erfolge gefrönte Wirkſamkeit, welche der meift
verkehrten Einmiſchungsverſuche wefteuropäiicher Staats⸗
weisheit fpottet. Und doc, finden fid) an manden Stel-
fen Spuren noch nicht ganz erlofhener Volkskraft und
einer Sehnjuht nah einem menfchenwürdigern Daſein,
die nur der Nahrung und Unterftügung bebarf, um hier
neued Leben aus den Ruinen blühen zu lafien. Etwas
anderes als dieſe verborgene Sehnſucht nad) höherm gei-
fligen Leben ift e8 doch gewiß nicht, was Yahr fir Fahr
bunderttaufend mohammedanifche Pilger die heilige Wall-
fahrt nad; Mekka unternehmen heißt, auf ber wir zum
Land und Leute im Drient.
Schluß unjern. Berfafier begleiten. Freilich ift das
Scaufpiel Fein -erfreuliches: roher, egoiftifcher Aberglaube
verdunfelt die Aeußerungen des religiöfen Gefühle, aber
ein mächtiges religiöfes Gefühl Liegt doch felbft hier dem
Aberglauben zu Grunde; wir glauben zu erkennen, daß
anch biefer Grad der Verkommenheit nicht die Möglid-
feit einer Wiedergeburt ausſchließt. Ob dieſe erfolgen
wird, ob der alternde, verfnöcherte und dem hohen Geifte
feines Stifter8 entfrembdete Islam fie aus fich ſelbſt er-
zeugen kann, oder ob die chriftliche Eultur Bier vermitteln
muß, bleibt dahingeſtell. Wir bedauern tief, daß ein
zu früher Tod Julius Braun verhindert hat, dem Werle
den von ihm beabficdhtigten Schlußabſchnitt anzufügen,
in welchem er die Forderungen zufammenzuftellen gedachte,
die fi) aus den bisherigen Entwidelungen ergaben; aber
die ganze Haltung feines Buchs zeigt deutlich, was ex
gefordert haben würde: eine ehrliche und gewiflenhafte
Politit Europas den Ländern gegenüber, welchen der Weſten
einen fo großen Xheil feiner mittelalterlihen Cultur ver-
dankt. Bon diefem Ziele freilich find wir fern; vor-
läufig ift der Oſten für uns meift nur der Gegenftand
mebr oder weniger ſchwindelhafter Sinanzipechlationen, von
deren allgemeinem Charakter nur das Unternehmen bes
Hrn. von Leſſeps eine Ausnahme bildet.
Unfer Ueberblid wird, auch bei der nothwendigen
Bermeidung des meift überaus intereffanten Details, eine
Anfchauung von dem reichen Inhalt des Werks gegeben
haben. Der mufterhafte Fleiß in der Benutzung aller
dem Berfaffer zugänglichen Hilfsmittel, den jede Seite
beweift, läßt um fo mehr die Birtwofität bewundern, mit
welcher berjelbe aus fo vielen heterogenen Elementen ein
barmonifches Ganzes bat bilden fünnen. Man darf au
nicht als einen Fehler der Ausführung rügen, daß frog
jenes Ebenmaßes in der Behandlung ber einzelnen Par-
tien das Buch in wiffenfchaftlicher Beziehung eigentlich un«
foftematisch tft: follte der Zujammenhang zwilchen Land
und Boll, den in gewiſſer Weife herzuftellen die Aufgabe
war, nicht zerriffen werden, fo mußte eben das äußerliche
Princip geographifcher Eintheilung zu Grunde gelegt wer-
den, welches dann freilich bisweilen hiſtoriſch Zuſammen⸗
gehöriges voneinander trennt. Daher wird mit mahrem
Genuß das Buch vor allen der Iefen, der in der orientali«
[hen Geſchichte nicht ganz unbewandert ift und jebe
Notiz fofort in ihren gefchichtlichen Zufammenbang einzu-
reihen vermag; aber bie lebhafte und anziehende Dar-
ftelung und die Fülle intereffanten Materials empfehlen
das Werl auch denjenigen, welche für gewöhnlich jenen
Ländern und Völkern fern ftehen und in rafchem Ueber.
blid betrachten wollen, was Braun vorzufligren be
abfihtigte und in gelungener Weife wirklich gefchaffen
bat — ein Gemälde der jegigen und zum Theil der ehe⸗
maligen mohammedanifchen Welt. Auguf Mülkr. -
Romane und Erzählungen.
761
Romane und Erzählungen.
Es würde ſchwer halten, die vorliegenden Werke in
dieſer Beſprechung unter einen Hut zu bringen. Wir
verzichten auf den Verſuch. Nebeneinandergeſtellt haben
wir gefchichilihe Romane, Criminalnovelle, Lebenebild,
Erzählung, einfache Novelle. Kurz, diefer Artikel umfaßt
fo ziemlich alle Spielarten der erzählenden Literatur. Wie
verichieden die Bücher aber auch an Umfang, an Stoff und
in ber Ausführung fein mögen, das eine ift ihnen gemeinfam,
daß die Autoren mit dem beften Willen die Arbeit unter-
nahmen. Belannte und unbelannte Namen drängen fich
bier zufammen, bewährte und folche, welche fich erft noch
bewähren follen, die weibliche Feder ift neben der männ-
lichen vertreten: gewünſcht hätten wir, auch einem Buche zu
begegnen, welches über da8 Maß des Herfümmlichen und
Gebräuchlichen Hinausgriffe.
1. Refugirt und Emigrirt. Eine brandenburgifcd - franzöfifche
Geſchichte in drei Büchern von George Heſekiel. Drei
Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 4 Thlr. 15 Ngr.
2. Eine brandenburgifche Hofiungfer. Hiftorifcher Roman aus
Joachim Neftor’8 Lagen von Ludovica Hefeliel. Drei
Bände. Berlin, Janke. 1868. 8 2 Thlr.
Weniger die Gemeinfamfeit des Verlags, mehr eine
gewiffe innere Webereinftimmung ber beiden genannten
Werke beftimmt uns, fie zufammenzufaflen. Es befteht
zwiſchen den zwei Autoren eine engere als bie ber bloßen Na-
mensverwandtichaft, daß zeigt die Tendenz nnd die Form
der Werke. Mag George das feinige eine Geſchichte,
Ludovica das ihrige einen. hiftorifchen Roman nennen,
biefer Meine üußerliche Unterfchied beeinträchtigt die Ueber-
einftimmung in der Form, was bie Scenerie und ben
Stil betrifft, nicht im minbeften. In Betreff der Ten-
benz finden wir in beiden Werken den ganzen George
Hefeliel, wie wir ihn aus vielen trefflichen Romanen
und Geſchichten zur Genüge fennen; diefe Eendenz konnte
Ludovica nur einfach adoptiren. Die Tendenz, mag
fie für bie heutige Zeit eine oft zu eng begrenzt vater»
ländiſche, eine fich in das Biftorifche Detail zu eng ein-
fpinnende fein, wird immer gewiffenhaft mit patriotifcher
Degeifterung durchgeführt: Ludovica greift in der Zeit
noch weiter zurlid als George, fie erzählt aus dem An⸗
fang des 16. Jahrhunderts, während er mit dem Ende
des 17. Jahrhunderts beginnt; aber fie umfpannt nicht
viel mehr als ein Decennium, ihm dagegen genügt ein
Sahrhundert noch nicht. Der Sprung über Yahrzehnte
hinweg mag ihn beftimmt haben, feine Dichtung eine
Gefchichte zu benennen. Durd bie Betonung des „bran»
denburgifch” auf beiden Werken ift der Charakter beiber
hinreichend gefennzeichnet. George glänzt durch die Ver⸗
berrlichung des brandenburgiſch⸗hohenzollernſchen Weſens,
Ludovica ift auf dem beften Wege, e8 ihm gleich zu thun.
In dem erfteen Werke fpielt eine franzöfifche hugenot⸗
tifche, in die Kurmark verſchlagene, in legterm eine echt
märkiſche Adelsfamilie die Hauptrolle; während biefe ſich
nur felbft zu Toben braucht, muß jene aus bem Gegen»
ſatze des franzöflfchen zu brandenburgifchem Wejen bas
Lob der Kurmark ſchöpfen. Schon oft verfuchte ſich George
Heſekiel in der Zeichnung des franzöfifchen Lebens früherer
Jahrhunderte, und immer mit Glüd. So auch in biefem
1870. 48.
neneften Werke. Ob es fi) um bie hugenottifchen Wir-
ren unter Ludwig XIV., oder ob es fi) um das royali⸗
ftifche Parteigängertfum in der Revolutionszeit handelt,
mit gleicher Sicherheit fchildert er Zeiten und Perfonen,
natürlih immer von feinem beftimmten politiſchen und
religiöfen Standpunkte aus. Auch Yubovica verfteht e8,
durch treue Tocalzeihnung und Sittenfchilderung zu fefleln,
man glaubt, fie felbft Habe als brandenburgiiche Hofiung-
fer das Leben am Hofe Joachim's I. kennen gelernt, fie
jelbft habe dem Turnier in Ruppin beigemwohnt. Mag
vieles in den Situationen gewagt, vieles in ber Detail-
ſchilderung troß ber Localtreue willfürlich fein, man über⸗
läßt fich gern der Feder der Verfafferin, da von ihr eine
beftimmte, fichere Perſpective für Zeit und Ort feſtgehal⸗
ten wird, Wenn George's Geſchichte den Leſer mehr
rühren, Ludovica's Roman ihn tiefer ergreifen will, fo
glauben wir uns gegen eine Tleine Prätenfion der Ver⸗
fafferin wenden zu müſſen. Als vother Faden ziehen ſich
durch beide Werke die reformatorifchen Beitrebungen auf
religiöfem Gebiete. Nun kann man auch einem weiblichen
Autor das Prunken mit wer weiß wie tiefen, ſcheinbar
der eigenen gelehrten Yorfchung entfprofienen mwelt- und
eulturhiſtoriſchen, geographifchen, archäologifchen, linguiſti⸗
fhen und andern Kenntniffen zugute halten, obgleicd dies
je8 Prunken in einem belletriftiichen Werke ber aus Him⸗
beerjaft fabricirten Limonade in der Billigkeit jehr nahe
fommt; auf dem Firchlichen oder theologifchen Gebiete aber
wird ber weiblichen Feder immer eine beftimmte Zurück⸗
haltung anzurathen fein. Wir Halten ben fittlichen Ernft
der Berfafferin fehr Hoch, wir wollen nicht behaupten,
daß fie mit ihrer Verherrlichung der reformatorifchen Be⸗
firebungen Luther's confeffionelle Tendenzzwecke verfolgte:
und doch, weshalb ermüdeten uns die Scenen, in welchen
Luther auftrat, weshalb flimmten uns bie Gefpräche über
firhlihe Dinge Hier und da verdrieflih? Doch wol
lediglih, weil die Berfafferin für Ereigniffe auf einem
Gebiet die Garantie übernimmt, auf welchem dem weib-
lichen Gefhleht zwar die Kompetenz zu lernen und zu
glauben, nicht aber diejenige zu lehren und zu ftreiten
zufteht. Auch Hört fid) das Lob der neuen (Iutherifchen)
Zeit gegenüber ber alten (fatholifchen) in dem Munde
einer ſtreng kirchlichen, royaliftiichen Dame, die doch fonft
wol den Forderungen neuer Zeiten nicht gerade gewogen
fein möchte, etwas eigenthümlich an.
Die Beziehungen der beiben Autoren zueinander find
alfo in beiden Werfen unverfennbar. Gehen wir einen
Schritt weiter und fuchen die Einflüffe der männlichen
Feder auf die weibliche und umgelehrt zu firiren, fo be-
geben wir uns allerdings auf ein unficheres Gebiet. Zu
einer beftinmten Bermuthung find wir aber des theilmeife
gemifchten Eindrucks wegen, welchen das erftere der bei-
den Werke auf uns ausübte, berechtigt. ‘Der erfte Band
defjelben — ja, da ift ber ganze George Heſekiel, wie wir
ihn 3. B. aus „Bor Jena“ u. ſ. w. fennen; ber zweite
Band, zum mindeften einzelne Theile deſſelben wie
aud des dritten — gehören ficherlich einer weiblichen
Teder an. Wir würden dieſe Mutbmaßung felbft als
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762
unndtbige Krittelei bezeichnen, wenn wir mit ihr nicht |
eine Beine äſthetiſche Rüge deden wollten. ‘Diefe Rüge
trifft die Sucht nad) abenteuerlichen Situationen, wie fie |
fih in ähnlicher Weife auch in der „Brandenburgifchen :
Hofjungfer“ vordrängt.
wir allerlei Spuf eher zugute al8 der männlichen.
Zwei
Punkte in „Refugirt und Emigrirt“ haben unſer äſtheti-
ſches Gewiſſen etwas ſchwer belaſtet. Einmal die Aus-
ſcharrung einer Begrabenen, welche ſich in den Armen
des Geliebten hinterher als nur ſcheintodt erweiſt; dann
die Stellung zum Magnetismus und andern unergründ⸗
Iihen Kräften, welche der Autor im dritten Bande ein-
zunehmen beliebte. Hier hören wir fein entfchiebenes Ja
—* Nein, und ein ſolches müſſen wir verlangen; der
Verfaſſer fiebängelt mit allerlei Zauberfünften der folgen-
ſchwerſten Art, ohne uns zu jagen, ob diefe Künfte fich
wirffih auf übernatürliche oder auf einfach natürliche
Kräfte zurücführen laffen. Dort aber bietet er und ale
Tolge jener Wiederausgrabung an den beiden Betheiligten
eine in diefem Augenblid abftoßende und im nächſten an-
ziehende, höchſt bedenkliche Sorte von Wahnfinn. Wie
elagt, der weiblichen Phantafie, welche, mag fie fi von
Aberglauben noch fo fern willen, doch herzlich gern in
allen Eden Zruggeftalten fieht, halten wir allerlei Spuk
zugute. Darum rechten wir mit der Derfaflerin des
zweiten Werks auch nicht wegen der Geſtalt des Zau-
berers; fie kann ſich damit entjhuldigen, daß bie alche—
miftifchen Torfchungen ja ein charakteriftifches Zeichen jener
pvorreformatorifchen Zeit waren; nur das eine haben wir
auszuftellen, daß wir in der Geſtalt dieſes Zauberers
wieder nicht zu einem feften Yacit gelangen. Anftatt daß
die Verfafferin die Papiere des Zauberers mit eigener
Hand dem Feuer überantwortete, muß während eines
Sewitterd ein Blig vom Himmel die Freundlichkeit, be=
ſitzen, das zu thun. Im übrigen fcheiden wir von bei-
den Werfen mit voller Anerkennung.
3. Das vergiftete Halsband. Kriminalroman vom Berfaffer
der „Afrilanerin”. Drei Bünde Leipzig, Kollmann.
1868. Gr. 16. Ir.
Die Bezeihnung Criminalroman weift und auf das
Gebiet de8 Schauerlichen. Und baran fehlt e8 in dem
Buche nit. Gift, Dolch, Treiheitsberaubung, es wird
uns das alles in fehr ſtarken Dofen vorgefett. Ein aus
dem 15. Sahrhundert ftammendes, den Borgia angeblich
zugehöriges Halsband, deſſen Perlen das feinfte Gift
enthalten haben follen, richtet das entſetzlichſte Unheil an.
Der Berfaffer befittt jedenfalls Phantafie genug, um in
der Neuzeit, in welche ſich die Geſchichte hineinzieht, mit
diefem Halsband in graufiger Weife zu fpielen. Wie viel
an der Gefchichte Wahrheit ift, wie viel Dichtung, wir
vermögen es nicht zu beftimmen. ebenfalls erkennen wir
an der Schreibweife des Verfaflers, daß er fi), wie das
jugendlichen Köpfen eigen zu fein pflegt, in Uebertrei-
bungen gefällt. Schauerliche, ins Endlofe ausgefponnene
Scenen, wie der Kampf der Schiffbrüichigen mit den Hai-
fifchen, ftreifen ans Tragikomiſche. Aus einer Schluß-
bemerfung erfehen mir deutlich, daß der Berfafler bie
ſchwache Seite feiner Erzählung fehr wohl erfannte. Er
jagt von fi: „Als der Verfaſſer diefe Geſchichte ſchrieb,
trieb ihn durchaus nicht der Wunſch, im Leſer eine krank⸗
Der weiblichen Phantafte halten |
+
'
Kr ꝰꝰ ——— ——— oe — —— ———— —— — — — — — —
Romane und Erzählungen.
hafte Gier nach entſetzlichen Ereigniſſen zu erregen und
die ſchwärzeſten Seiten des menſchlichen Charakters zu
ſchildern. Sein Zweck war vielmehr, zu beweiſen, daß das
Böfe bei feinem abfoluten und unvermeiblihen Mangel an
den Genliffen, welche die Tugend allein gewähren Tann,
ſich felbft ſtraft.“
Wenn er den gewiß löblichen ſittlichen Zweck nur
; erreicht hätte! Wir meinen, daß die Mehrzahl der Leſer
| gerade durch die „Eranfhafte Gier nad; entfeglichen Ereig⸗
niſſen“ an dieſes vergiftete Halsband gefeſſelt wird und ihm
wenig dankt, wenn er bie fo ſpannend beginnende Ger
ſchichte nicht mit einigen außergewöhnlichen Knalleffecten
Ichließt. Verkennen mir auch keineswegs feine Befähigung
namentlich in dem Beſtreben nad) ſcharfer Charafterifirung
der einzelnen Perfönlichkeiten, jo wird er doch gut thun,
feine Kraft nicht zu viel an Senſations- und Schaner-
gefhichten zu verſchwenden; die Vorführung des „Laſters
in einer Geftalt, in welcher e8 der Leſer noch nie gefehen“,
bat Schon mehr als einen Romanſchriftſteller verleitet, ſich
mit jeder neuen Leiftung mehr und mehr von ben Yor-
derungen ber Xefthetit zu bdiöpenfiren. Bei dem Leih—
bibfiothefspublitum möchte das „‚Bergiftete Halsband“ ent-
ſchiedenen Erfolg erzielen.
4. Die Erbſchaft oder des Goldes Fluch und Segen. Ein
Lebensbild von Auguft Erehiämar. Drei Bände. Leip⸗
jig, ©. F. Schmidt. 1868. 8. 3 Thlr.
Kretzſchmar nennt feine Gefchichte ein Lebensbild,
während er ein in d. DL. ſchon beiprochenes anderes
Wert: „Eine Nothlüge”, als Originalroman bezeichnet.
Will er damit andeuten, im lettern gehöre die Hanb-
lung feiner Erfindung an, während er dort Thatfächliches
nur nacherzähle, fo fann das fir uns, bie wir die Hand-
lung in dem einen wie in dem andern nur nad ihrem
innern Werth prüfen Können, fein Grund fein, die „Erb⸗
ſchaft“ nachfichtiger anzufehen, bei dem Originalroman
dem Verfaſſer etwa wegen feiner bedentenden Erfindungs-
gabe Lobſprüche zu ertheilen, bei dem Lebensbild dagegen
das loſere Gefüge zu entjchuldigen. Sturz, bie „Erb⸗
Schaft” ift fo gut ein Roman wie die „Nothlüge“, oder
die letztere iſt nur ſo gut wie erſtere ein Lebensbild,
wenn wir in einem Roman großartigere Handlung, poeti⸗
ſchere Darſtellung und tiefere Tendenz erwarten, als die
enge Sphäre des immerhin foliden oder unfoliden Klein⸗
bürgerthbums gewähren fann.
Bon dem nämlichen Berfafler haben wir aus einem
und demfelben Jahre gleich zwei je breibändige Romane
bor uns; geftehen wir, daß wir an die Lektüre nicht
ohne einiges Mistrauen gingen. Zum Glüd erwies es
ſich als ungerechtfertigt. Wie jeder vielfchreibende Schrift
fteller zunächſt auf fein beftimmted ‚Publikum rechnet, fo
wird auch Kretzſchmar das feinige im Auge haben. Die
ſes Publikum zählt freilich nicht zu ben erclufiven Krei⸗
fen, was die Anſprüche an Geſchmack und Poeſie betrifft,
es hält aber etwas auf Anſtand und gut bürgerliche Sitte;
es will durch eine Erzählung zwar nicht in die Höhen
bes Ideals getragen fein, es verwirft aber bie Platthrit
und Trivolität, welche nur auf den flüchtigen Sinnenlit d
ber blafleten Ganz. oder Halbwelt fpeculirt. Was *
uns in der „Erbſchaft“ erzählt, das paſſirt eigentlich alle
Tage: nicht ſelbſt erworbenes Gelb und Gut gereicht brm
Nene Bücher über das Leben der Vögel.
einen zum Fluche, dem andern zum Segen; der Werth
des Lebensbildes berußt daher niht in bem Stoffe an
umd für fi), fondern in der Form, in welche ihn der
Antor brachte. Bedeutenden Perfönlichkeiten begegnen wir
nicht, aber doch einer Anzahl von braven Menſchen, denen
wir gern unfere Theilnahme jchenten. Einige, zu denen
wir den Haupthelden, den leichtſinnigen Notar, nicht rechnen
möchten, fefleln uns fogar durch eine befcheidene Drigi«
nalität, wie die Kunftreiterin und der in Genfationd-
artifeln machende berühmte praltifche Arzt. Der Haupt«
held zäglt Leider zur großen Schar der gefchniegelten Qumpe,
deren jedes Jahr in großen Städten eine erfiedlihe An-
zahl geboren wird, bald als Halsabfchneider, bald ale
Schwächlinge wie in vorliegendem alle, immer aber als
Egoiften, die um fo ſchneller Ehre und Yamilienglüd ihrer
Sinnlichkeit opfern, je unvermutheter fie aus tiefer Noth
zu Glanz und Reichthum gelangt find. Daß fich Kretzſch⸗
mar nicht verleiten ließ, den Lebenslauf des Helden mit
fentimentalen Rührſcenen abzufchliegen, glauben wir als
einen Borzug des Lebensbildes hervorheben zu müſſen.
5. Auf den Wellen. Eine Erzählung von Emma Wader-
bagen. Halle, Mühlmann. 1868. 8. 21 Ngr.
Häufig ſchon lag auf unferm Tiſche ein Werk erzäh-
Iender Natur im blauen Umfchlage aus dem Verlage von
Mühlmann in Halle. Wir durften e8 immer mit einem
gewiflen Vertrauen in die Hand nehmen. Wir waren
fiher, in ihm zwar fein epochemachendes zu finden, aber
ein folches, das den fttlichen Ernſt nicht verleugnet.
Meift hatten fie einen bejtimmt religiöfen Anflug, und zu-
meift hatten fie Damen zu Autoren. Wie eine fittige
Landpaftorstochter ſchmuck⸗ und prunklos traten fie auf,
bon vornherein darauf verzichtend, mit glänzendern Er-
fcheinungen um die Wette ein großes Publikum an ſich
zu fefleln oder es zu beftechen. Das Gleiche gilt auch von
diefer Erzählung. Die ftile Gemeinde finniger, nament-
lich junger weibliher Gemüther wird ihre Befriedigung
auf diefen „Wellen“, welche den friedlichen Hafen, wenn
auch nur den der Reftignation, in fichere Ausſicht ftellen,
fiherlich finden. Zumeift handelt es fi in allen ber-
artigen Geſchichten um eine Analyfe von Seelenftimmun-
gen, wie fie durch das junge Glück erfter Liebe, durch
‚trügerifche Hoffnungen, Enttäufchungen und den Rüdzug
in das ftille Afyl der Entfagung bedingt werden. Der
Handlung pflegt gewöhnlich das Fortreigende, den Lefer
m Athem Erbaltende zu fehlen, dafiir aber wird ihm
auch das zweifelhafte Vergnügen erfpart, in allerlei roman
tiſchen Strudeln und pfgchologifchen Untiefen zu ertrinfen.
163
Die Autoren derartiger Geſchichten wählen gern die Briefe
form, da fi in ihr Seelenzuftände umfländlicher als in
furzen erzählenden Worten ausmalen laffen. Auch die
Berfaflerin vorliegender Gefchichte wählte theilweife dieſe
Form. Sie fchildert uns die Geſchicke zweier jungen
Treundinnen von verfchiebenem Temperament. Die „Wels
len”, das find der Liebe Wellen. Für das zweite, daß
ftilere Gemüth find fie nur fanft gefräufelte auf ftill-
Harem See; für das erftere, das feurigere, aber theilweiſe
hochgehende auf bewegtem Meer. Jugendliche Mädchen-
feelen werden, je nachdem fie nun mehr bem erftern ober
dem andern zuneigen, fich gern mit Hildegund von Berned
oder mit Emilie Hallberg identificiren und in dem Ge⸗
ſchick dieſer oder jener das eigene Tiebesglüd vorgezeichnet
finden.
6. Hugo von Zrimberg, der Meifterfänger. Novelle von Da-
mian Holdey. Leipzig, Kollmann. 1868. 8. 20 Ngr.
Die Literarhiftorifer pflegen von dem mittelalterlichen
Dichter bei aller Anerkennung feiner Berdienfte um die
didaktifche Poeſie nicht gerade mit der Begeifterung des
Verfaſſers vorliegender Novelle zu fprechen. Zrimberg
ift befanntlic) auch auf unfere Tage mit dem Lehrgedicht
„Der Renner” gelommen. Die Literarhiftorifer fehen in
Zrimberg immer nur den poetifchen Lehrmeifter zu Tro⸗
ftadt bei Bamberg, während uns Holden ben liebebegeifter-
ten ritterlihen Jüngling im Abendjonnenglanz der finfen-
den Minnezeit und eined untergehenden ritterlichen Ge⸗
ſchlechts vorführt. Dem deutſchen Gemüth wird nun ein-
mal mit der Romantik der Burgruinen gefchmeichelt, und
wenn ein Autor mit warmem, poetifchem Herzen in jene
Beit des Mittelalters zuridgreift, welche uns fo oft bunfel
und ſchwarz erfcheint, fo thut er es ficher mit dem frohen
Bewußtfein, dort echtere Lebenspoeſie zu finden als in
dem materiellen Treiben der Gegenwart. Hunbert- und
aber hundertmal find auf die Liebe zweier reinen Herzen
Hymnen gefungen, man möchte fagen, das Lied fei nun
endlich abgefungen: unb doch, warum verliert die Liebe in
ihrer zarten Reinheit und heiligen Keujchheit nichts an
ihrer Wirkung, wenn fie ung eben nur echt und lauter
vorgeführt wird? Zierlich ift das Büchlein, befcheiben ber
poetifche Wille des Autors, romantisch die Schilderung
der Landſchaft um Saaled, erhebend die innige Zuneigung
zweier jugendlichen Seelen, rührend das Ende des Liebes⸗
glüds und erfreulicd, der Eindrud der Novelle. Ob das
Talent des Verfaſſers größern Aufgaben des erzählenden
Genre gewachſen fei, wollen wir feiner weitern Prü⸗
fung unterziehen. Emil Müller - Samswegen.
Nene Bücher über das Leben der Vögel.
Kaum irgendein anderer Gegenſtand in dem Gebiete
der naturwiffenichaftlichen Literatur wird von ben Schrift-
ftellern mit ſolcher Vorliebe behandelt und zugleih von
den Lefern fo freundlich und begierig entgegengenommen,
al3 der Bogel und die Schilderungen aus feinen Leben.
Daher ift e8 auch erflärlih, daß bie immer neu auf-
tauchenden zahlreichen Vogelbücher eine jo große Man⸗
nichfaltigfeit der Auffafjungen zeigen, ein ſolches Bieler-
lei der Darftelungen. Wir brauchen nur die in legterer
Zeit in d. Bl. befprochenen neuen Vogelbücher zu über-
Ihauen, um diefe intereffante Erſcheinung recht klar vor
Augen zu haben.
Unter allen diefen Vogelbüchern obenan, in Hinſicht
der poetifchen Auffaffung und auch gleich berechtigt im
wiffenfchaftlihen Werth, fteht zweifellos „Das Leben der
Vögel“ von U. E. Brehm. Einen Gegenfag zu ihm
96 *
764
in ber Auffaffung des Vogellebens bildet „Der Bogel
und fein Leben“ von Bernhard Altum. Wiederum im
vollen Gegenfag zu beiden befindet fich die „Ornithologie
Nordoft- Afrikas" von Theodor von Heuglin, welcher ſich
dann „Die Papagaien” von Dito Finfh und „Die Vögel
der Norbfeeinfel Borkum" anſchließen.
Während wir in dem werthvollen Buche von O. Finfch
vorzugsweiſe ben großen Fleiß, die Gründlichkeit und das
reihe Wiffen eines deutſchen Gelehrten bewundern mußten,
fo dürfen wir von der Heuglin’fchen „Ornithologie“,
welche uoch im Erfcheinen begriffen und wol erft zu
Ende des Jahres 1870 vollendet fein wird, nicht allein
diefelben Vorzüge rühmend hervorheben, ſondern wir müffen
auch noch darauf hinweifen, baß dies Wert bereits längft
die ehrendfte Anerkennung aller Sachkundigen gefunden
bat. Ganz befondern Werth verleihen ihm auch die mahr-
haft herrlichen lebensvollen Abbildungen nad) Zeichnungen
des Verfaſſers, ausgeführt in Chromolithographie von der
gerade hierin rühmlihft befannten Anftalt des Berlegers,
TH. Fifcher in Kaffel. Vogelkundige und Liebhaber Haben in
diefem Werke eine Duelle zur Belehrung über die Vögel von
Nordoft- Afrika vor ſich, mie eine ſolche in diefer Weife bisher
noch fein anderes Voll befigt, und welche durch ihren wiſſen ⸗
ſchaftlichen Werth, durch die lateinischen Befchreibungen u.f.w.
zugleich durchaus eine internationale Bedeutung beanjpru-
hen darf, Un dies Iegtere Buch ſchließt fi wiederum
ein nahe verwandtes, mit welchem wir die Beſprechung
der und vorliegenden neuen Vogelbücher beginnen:
1. Baron Karl Klaus von der Deden’s Reifen in Ofl-
Arite in den Jahren 185965. Herausgegeben im Auf-
trage der Mutter de Reifenden Fürftin Adelheid von Pieß.
Vierter Band. Wiffenfhaftlier Theil. Die Bögel Ofte
Aritas, von Otto Finſch und ©. Harılaud. Mit
11 Tafeln in Buntdrud, nad der Natur gezeichnet von
D. Fin. Leipzig, €. F. Winter. 1870. Hoch 4. 25 Thle.
Zwei der hervorragendſten Ornithologen Deutſchlands
haben ſich vereinigt, um in biefem Bande des ſchon
früher von uns hier ebenfalls befprocenen Decden'ſchen
Neifewerls eine vollftändige Vogelkunde der von diefem
Reifenden beſuchten Landſtriche zu geben, wie eine folde
ebenfalls noch in der Literatur feines Volks bisjegt
vorhanden ift. Während in dem Heuglin’fchen Werke
allerdings Anfhauungen an Ort und Stelle mit um-
faffendften Studien Hand in Hand gehen, zeigt biefe
Bogelfunde wiederum gewiffermaßen einen internationalen
Charafter, indem bie Verfaffer Studien an den Bögeln
fänmtlichee hervorragenden Sammlungen in Europa mach
ten, und indem auch englifche, franzöfifche, italienifche,
ſchwediſche Gelehrte ihre Beihillfe gewährten; aud Th.
von Heuglin ift in wichtigen Mittheilungen als Mit-
arbeiter dieſes Buchs zu betrachten.
Wenn dieſer flattlihe Band von etwa 56 Bogen,
mit ben werthvollen naturtreuen Abbildungen in Farben⸗
druck, wiederum ausgeführt von der Anftalt von Th. Fir
ſcher in Kaſſel, bei dem Preife von 25 Thaler freilich
für ein weiteres Publikum nicht zugänglich ift, jo dürfen
wir doch Werke wie diefe „Vögel Oft-Afrikas”, Heuglin’s
„Drnithologie Norboft- Afritas“, und Finſch's „Papa-
gaien“ in der That ale VBereiherungen unferer Literatur
Neue Bücher über das Leben der Vögel.
anfehen, welche ebenfo dem deutſchen Fleiß, der deutſchen
Grünblileit, Gelehrfamteit und bem Eifer der deutſchen
Reiſenden Ehre machen, als fie dem Wiffensdurft ımd der
fachwiſſenſchaftlichen Bildung aller Länder zu ftatten fom-
men. Ehre und Ruhm den Schriftjtellern, welche ſolche
hervorragenden, hochwichtigen Werke ſchaffen, und Aner-
fennung den Berfegern, welche die Herausgabe derartiger
Werke unternehmen!
2. Gefangene Bögel. Ein Hand- und Lehrbuch für Lieb-
Haber unb Pfleger einheimifer und fremder Rüfigvögel.
Im Verbindung mit Bodinus, Belle, Cabauis Gronau,
Fiedler, Finfh, von Freyberg und andern bewährten Bogel-
wirthen des Ine und Auslandes von U. €. Brehm.
Erſter Theil: Die Stubenvögel. Erfte Lieferung. Leipzig,
€. 5. Winter. Lerx.8. 1870. 10 Mer.
Auch dies Werk beginnt in der befannten ſchwung ·
vollen Darftellung Brehm's, doch ift es durchaus für den
praltifchen Gebrauch beftimmt und Hält fih auf dem
realen Boden der Belehrung. Wir milſſen daher mit
diefer Erwähnung uns begnügen und das Buch am die
ſem Orte für genugfam befproden erachten. Als Em-
pfehlung Können wir ihm jedoch noch das Urtheil auf den
Weg geben, daß es jedenfalls ala Hand- und Lehrbuch
feine volle Schuldigfeit thun wird. Erwähnt fei mod,
daß der Berfaffer die auch von uns bereits früher in
naturwiſſenſchaftlichen Büchern gebrauchte vereinfarhte Or ⸗
thographie mit Fortlafjung aller überflüffigen Dehnunge-
zeichen, insbeſondere des in der deutſchen Rechtſchreibung
noch fo verſchwenderiſch gehandhabten h angewendet hat —
ein Verfahren, welches unſers Erachtens namentlich in
naturwiſſenſchaftlichen Werken wol weitere Nachahmung
verdient.
3. Die Welt der Vögel, von I. Miche let. Bevorwertet vom
Hermann Mafius. Mit Ilufrationen von 9. Gincomelli.
Berlin, Sacco Nachfolger. 1870. 2er.-8. In Sieferungen
zu 20 Nor.
Man wird es mol nicht beftreiten, daß gerade die
Schilderung der Vögel, fei e8 in ſchwungvoll poetifcher,
fei e8 in wiſſenſchaftlich ernfter oder Marer populärer
Weife, in hohem Maße dazu angethan ift, ber Anregung
und Förderung naturwiffenfchaftlihen Iutereſſes in den
weiteften Kreifen Vorſchub zu leiften. Darum erjcein:
es aber auch um fo unverantwortlicher, wenn auf diejem
Gebiete Misgriffe begangen werden — und ſolche müllen
wir in dem jegt folgenden Werke rügen.
In feiner Richtung pflegen die Autoren Leichtfertiger
zu verfahren als bezüglich der Titel ihrer Werke. Bei
Romanen und Theaterfchriften ift e8 weniger nothwendig,
daß der Titel fireng bezeichnend fei, wenn er nur wohl
Mingend und vielverfpredhend erſcheint. Ein anderes aber
ilt für alle Bücher, die, wenn auch nur beiläufig, einen
Fepejued im Auge haben. Bei ihnen fol der Titel jedet-
mal angeben, was man Hinter demfelben zu erwarten be
rechtigt ift, damit der Käufer ſich nicht getäufcht fühle.
Denn ein Bud fi nun „Die Welt der Vögel‘ nennt,
fo ift man doch jedenfalls berechtigt, eine mehr ‚ober we ·
niger umfaſſende, wenigſtens einigermaßen überſtelich
Behandlung bes ganzen beſprochenen Gebiets dar: ju
ſuchen. Davon ift aber in Michelet's Bude Teinänes
Ku
Nene Bücher über das Leben der Vögel.
die. Rede. Der geiftvolle Hiftoriker und Philoſoph greift
vielmehr irgendetwas aus dem Vogelleben heraus, alfo den
Flug, das Ei, den Gefang u. f. w., und knüpft daran
eine Reihe der lebendigften und weitgehendften Betrach⸗
tungen — eben in der Weife eines geiftreihen Mannes,
welcher nebenher an einem Gebiete der Naturwifienfchaft
Interefle genommen und fiber dafjelbe vor einer Gefell-
ſchaft hingebender Zuhörer improvifirt. Der Titel hätte
etwa lauten können: „Plaudereien über einige Momente
des Vogellebens“ oder „Aus der Welt der Vögel“ und
damit wäre zugleich die Kritik entwaffnet worden. Denn
elegant gefchrieben ift das Buch, voller Gedankenblige und
ſchöner Durchfichten, Iebendig im Stil und zuweilen dich⸗
terifches Heuer athmend — gleichviel was wir auch hinter⸗
drein daran fadeln müſſen.
Der Miichelet’fche Esprit fteigt nun aber nicht felten
in jene Regionen, wo nad) unferer Anficht nur noch der
Scherz ober der höhere Blöbfinn athmen fann. Was ift z. B.
damit gefagt: „Das Ei eines Kolibri ift ebenſo viel werth
als die Milchſtraße“ (S. 21); „geflügelte Flammen,
die wir Vögel nennen“ (S. 23); „Die Seevögel find
Luft und Meer, die Elemente, welche fi) Flügel an⸗
geſchafft Haben” (S. 66).
Ueber die biologifchen und morphologifhen — richtiger
phantaſtiſchen — Excurſe über ‚Anfänge zu Flügeln“, „Bb«
gel, welche den Uebergang zu Fifchen und Säugethieren ma⸗
chen“, und andere Misverſtändniſſe dev Darwin’fchen Lehre
wollen wir hier hinwegfehen. Sehr verletzt aber eine übel an-
gebrachte Empfindſamkeit, welche fchlieglich alles übertrifft,
was in biefer Richtung vorfommen kann. ©. 132 er»
zählt Michelet, wie ihm der Anblid eines in Wachs bof-
firten Vipernkopfs die trübfte Stunde feines Lebens ver-
urfacht und ihn zu Zweifeln an der Vorſehung getrieben.
Und ©. 29 redet er von der „unendlich rührenden‘ mit
Neid erfüllenden Unſchuld — nicht etwa der Zintenfijche,
welche einzig und allein eine folche Zirade verdienen könn⸗
ten, Sondern der Walfifche, weil fie (man Höre und
ftaune!) blos fchmerzensfreie Wefen vertilgen. „Dreimal
glüdiih, dreimal gefegnet jene Welt“, xuft er aus, „mo
das Leben fich erhält, ohne daß es einen Tod koſtet!“
u. ſ. w. Das geht doch wahrhaftig noch mehrere Spar-
ren über Werther und ift obendrein nicht wahr, da ber
Walfiſch vielmehr Taufende von Leben in einer Minute
vertilgt.
Schon der Ueberjeger, weldyer das Buch mit einer
vermittelnden Erflärung einleitet, deutet jehr treffend an,
daß die deutſche Sinnigfeit nicht durchweg von dem fran»
zöfiſchen Esprit befriedigt fein werde. Aber noch viel
ſchwerer wiegende Bedenken fallen ins Gewicht, biejenigen
des wiſſenſchaftlichen Standpunkts nämlich. Ein popu⸗
läres Buch, und ein ſolches will „Die Welt der Vögel“
doch ſein, hat auf die Vermeidung grober Irrthümer noch
ängſtlicher zu ſehen als ein wiſſenſchaftliches, deſſen Leſer⸗
kreis über einen Lapſus des Verfaſſers fo leicht nicht ſtol⸗
pert. Denn bei aller Anregung der Phantafte foll aus
einem folchen Buche doch auch etwas gelernt, oder der
unbefangene Leſer ſoll wenigftens nicht auf Abwege ge-
führt werden. In den vorliegenden Lieferungen des
Miichelet’fchen Werks finden wir aber eine Menge von
Ungebeuerlichleiten, welche wenigftens durch Anmerkungen
765
unfchädlicd; zu machen ber deutfche Herausgeber mol hätte
wagen dürfen. Wir fönnen hier nur einige erwähnen.
So heißt e8 3. B.: „Un leicht zu werden, madt der
Bogel ſich aufblafend, fein Volumen größer, vermindert
alfo feine relative Schwere; dann fteigt er allerdings von
felbft in einer Umgebung, die jchwerer ift als er, im die
Höhe u. f. w.“ Daß ein Bogel durch Aufblafen, welches
doh nur mit Luft gefchehen kann, leichter werden foll
al8 diefe felber, ift ein neuer Widerſpruch, der einem
Denker wie Michelet eigentlich nicht paffiren follte. Aber
auch das oft behauptete, doch niemals bewiefene Aus⸗
pumpen der Knochenhöhlungen, welches dem beriihmten
Franzoſen dunkel vorgefchwebt Hat, vermag den Vogel
niemals leichter zu machen als die Luft felbft; und dabei
werden die armen Unmwiffenben nod) beklagt, welche dies
wunderbare Geheimniß nicht kennen. Ein anderes Bei-
jpiel finden wir fpäter: „Die Blätter der Pflanzen faugen
befanntfich Giftftoffe ein, und die Blüten verbichten fie
gleichfam in fih. Diefe Vögel nun (Kolibris) leben von
den Blüten, von den durchdringenden ©erlichen folder
Blumen, deren feharfen glühenden Saft, aus den ſtärk⸗
ften Giften beftehend, fie trinken.“ Es ift ganz unmög«
ih, in zwei Sägen mehr Unfinn zufammenzubrängen,
als bier gefchehen. Es ift erftens nicht befannt, daß bie
Blätter Giftftoffe einfaugen; fie nehmen hauptſächlich
Kohlenfäure auf, melde unjerm Magen ungemein wohl«
thätig ift und noch von niemand unter bie eigentlichen
Sifte gerechnet wurde. Zweitens, von einer Verdichtung
diefer und etwaiger anderer Giftftoffe in den Blüten kann
nur jemand reden, welcher von ber Sache gar keine
Ahnung befigt. Drittens, die Vögel leben fowenig von
den Gerüchen der Blüten, ald Eufenfpiegel in der bekann⸗
ten Anekdote vom Bratenduft fatt wurde. Biertens, der
Zuderfaft der Blüten, welchen einige wenige Bogelarten
nafchen (die meiften fangen in den Blumen nur Infelten),
ift nicht fcharf und glühend, fondern milde und füß, und
befteht flinftens nicht aus den ftärfften Giften, fonbern
aus fügen Nabrungsftoffen. Zu den Fabeln, welche man
in einem naturbiftorifchen Buche nicht gern mehr aufe
gewärmt findet, gehört denn auch die von den Giftbäu-
men, deren Schatten bereitS mit Vergiftung broft. Cine
weitere Blumenlefe wäre überflüjftg; es ſei nur noch eine
fehr treffende Selbftkritit des Verfaſſers angeführt. „Ja,
wir Münner bed Dccidents werben troß aller unferer
fubtilen und zugleich Teichtfertigen Raifonnements immer
Kinder bleiben...” Ya wohl, Hr. Michelet, die franzöfifche
Leichtfertigkeit, das ift ebeu der Hafen. Ueber die Auf-
nahme, welche das Buch in dem gebildeten Leſepublikum
Frankreichs gefunden, dürfen wir ſchweigen, da gerabe
in biefer Zeit die franzöfifchen Berhältniffe nah allen
Geiten bin fo eingehend beleuchtet worden, daß es über⸗
flüſſig wäre, noch weiteres hinzuzufügen. So fehr man
auch die franzöfifche Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit und
Anmaßung tadeln mag, ein zu häufiges Zurückkommen
darauf follte, als ein Einſtimmen in das Vae victis, ge=
rade jett vermieden werden.
Noch müſſen wir einige Worte über die Illuſtrationen
hinzufügen, welche dad Genie Giacomelli's dem Michelet’-
ihen Buche beigegeben. Sie find fo vorzüglich, daß fie
allein das Werk vielleicht über dem Wafjer zu halten
165
vermögen. Selbſt einige Fehler diefer Illuſtrationen feinen
nur auf ein faft zu tiefes Einbringen in den Geiſt des
Berfafjers hinzudeuten. Welch ein herrliches Wert würde
Feuilleton.
ein tüchtiger Bogelfundiger zu ſchaffen im Stande fein,
wenn ihm ber Griffel Giacomell's zur Seite ftände!
Karl uf.
Feuilleton.
Zur Kriegslyrit.
Die ſuddeutſche Zriegsihrit liegt jegt in zwei Samımlun
en vor: „Dentf land Über Alles. Kriegs und Bater-
jandefieder aus Schwaben“, Herausgegeben von ber Verlage
buhhandfung . Kröner (giweite Ausgabe Auguft 1870), und
„Drei Kameraden. Zeitlieder zum Beſten der deutſchen In-
validenfiftung‘‘, herausgegeben von I. ©. Fiſcher, Feodor
Löwe und Karl Schönhardt (Stuttgart, Kröner, 1870).
Ein Theil der Gedichte aus der zweiten Sammlung findet
fid) in der erften mit aufgenommen.
Die Mufe I. ©. Siee behauptet auch in der frieger
riſchen Vegeiflerung einen finnigen Zug, der freilich dem Aus-
druck oft eine philofophifche Schwerfäligkeit gibt, Guß und
Fluß hemmt, und dem es am jener bligartigen Kiarheit fehlt,
wie f% geiibegwingend aus Berfen voll wahrhaft Hinzeißenber.
Begeifterung hervorbricht.
Strophen wie die beiden folgenden aus dem Schluß.
gedit: „Vom Krieg zum Frieden‘, mögen beweifen, was wir
unter biefer verfchlnngenen und gezwungenen Gedanfenbewegung
verfleßen:
Re 93%) Tann end nit, ihr Gtantenlenter, Ihren,
Dog weiß ih waß jeder Brave preift:
Das Leben it Daß Werden, das Gemähren,
Der Freiheit Strom und Wiberftrom ber Sein;
Dog mit dem Heer, dem wir die Hände brüden,
GStehn wir vor einer nod verfhlofinen Thür,
Und jener Mann, dem fie die Maien pflüden,
Wie tritt ex nun au feinem Bolt berfür?
Du Wort, zur Zeit der Kriege trub verwildert,
Was wir doch einzig braugen, das vig bu,
Zur Zeit des Zwangs und Dranges fhlimm
Dir, $reipeit, drängt dog alles, alles
Die Salad ien· bie fHlugt ihr in biefen Tagen,
Hat diefe® Dranges Gtreit und Gegenfreit,
‚Hat ber Gebante Tängf vorausgeihlagen
Und feine Gieger längft ihr Bolt befreit.
Die beften, hier mitgetheilten Gedichte Fiſcher's: „Der
Eroberer‘, „Nur einen Mann aus Millionen‘, find aus jeiner
Testen Sammlung befannt. „Ein Traumgeſicht““ hat vifio«
nären Schwung und prophetiſche Geſten; aber es ift auch viel
weltgefightlicher Nebel, durch den man fih Kindurdarbeiten
muß zum Berfländnig. „König und Kaifer‘ behandelt die
große Scene der Begegnung zwilhen dem Sieger und Befieg-
ten in dem Schlößden bei Sedan, meiftens marfig in Stu
und Gebanfen, aber ohne plaftifhe Anſchaulichkeit und oft mit
manierirtem Zieffinn, wie die folgenden Verſe beweiſen:
Night allo bu! das if} bie Höllengual,
Daß wenn bie Züge große Namen ftad
Sie zu des eignen Gaufelfpiels veſcini
Siq ſelbſt entlarven und entleiben muß,
Daß von dem Rleinften, das man Größe Heißt,
Das Rleinfte nit erjagt ein Heiner Geif,
Und daß er weiß, wie ihn die Erde fennt,
Die ihn die Welt beim wahren Namen nennt.
Entflich dir ferhkt, wirf'e deinem Bolte zu —
Die felbt in beinem Bolt begegneft bu,
Das deine ewige Erffärung iR,
Beil «8 dein Sleichniß, weil bu feines Bif.
Solde Wendungen find zu abftract, aus ber metaphufi-
fen Schmiede entlehnt, nicht poetiſch neugeboren.
Beodor Löwe Hat Sonette von edler Haltung zu der
Sammlung beigefeuert: „Falſch if das Glid’', „Mit Blind»
Heit fehlägt der Herr", „Zur rechten Stunde", „Erzählen wird
man einft, und andere Gedichte von ungleihem Werth. Dft
if hr in „Soldatentrof” der volfsthümlihe Ton glüdli
getroffen:
Und eh’ I aus nicht eben born,
30 flolg bie Bührer fehen,
&o hir’ iQ Trommeln dos und Horn,
Wenn ind Gefecht wir gehen.
Morieiirend nur in Keih' und Glied
Txet’ ic} dem Tob entgegen,
Und der maght Teinen Unterfepieb
Deim dichten Lugelvegen.
Der nit nad hoc und nieder frägt,
If nur ber Tod alleine,
Bor feinem Büdt er fi und föLägt
Ins Grobtuß und ind feine.
Man hat aus befierem Metall
Die Kugel nit gegoflen,
Bomit vom Roß der Felbmarigall
Gerunter wird gefoffen.
Sie reißt im Flug ein Herz entzwei
Und hat nicht Zeit zu fragen,
Doe Bürgerlid, 058 adlic fei,
Dat raſch ins Ziel geſchlagen.
Im Leben nur gilt unterſchled
Der Lob allein mad feinen,
Und pfeift daffelbe Gterbelich
Dem Merigall und Gemeinen.
Oft aber drängen fi; auch triviafe Wendungen in fonft
edel gehaltene Verſe, wie wenn in dem Gedicht: „Zum Frie-
densſchluß“, gleich in der erfien Strophe von einem „faulen
Frieden“ die Rebe iR umd meiterhin von einem Frieden, der
vie jranzoſen jeden Rheingedanken für immer aus dem Köpfen
reißt”.
Die Gedichte von Karl Schönhardt find anfprudslos
und frifd; in den Gedichten „Aus Paris‘ if Icbhafte Anjchaus
lchteit; „Das Kind von Frankreich‘ in der Form geſchloſſen.
Die drei Tegten Strophen lauten:
Enfant de France! bu armes bleihes Kind,
Dem buntel glängenb die @efdide fielen —
Du weißt e6 nicht, wie frop bie Kinder find,
Die vor dem Schloß in beinen Gärten ſpielen!
Bas wird bir deine Matter wol bafür,
Das folge Brantreid ein zum Lohne geben,
Daß hinter Bajonnet und goldner Tplr
Leflidet warb tein fröpli Xinberleben? —
Cin Grenabier am Giegesbogen Rand;
Der iprigt vor fi: daß did der Himmel fhüge!
Das Rind im Wagen Iegt die Meine Hand
Zu ſtummem Gruß an feine Bärenmüßc.
Bon den Gedichten der andern Sammlung verdienen, außer
den befannten Freiligrath’f—en Gedichten, die funfjehn „Fieber
von Einem, «der nicht mit darf», vom C. Weitbrecht, ent
ihieden den Vorzug; in ihnen ift jugendliches Ungeftüm , jpo-
rentlirrender Schwung, militäriihe Bravour in feftgegliederten,
melodif auf» und abmogenden Strophen. Bon dem befann-
teften unter biefen Gedichten, das bereits mehrfach componirt
worden ift, theilen wir die erfle und die zwei letzten Stro-
phen mit:
Xtompeter blas l Un den Rhein, an ben Rhein!
Hört ihr feine Wogen grollen?
Sie {gießen bapin mit Gemitterfgein,
Sie zürnen wie Donner Rollen,
Sie däumen wie nirfgende Roffe fih Hop:
„Wollen fen, wer uns zwingt in das frembe Jod!"
Und das Exho der Gelfen fhmettert brein!
Dlas, bla® Trompeter! Zum Rpein, zum Npein!
Trompeter Bla6] An den Rhein, an den Nein!
Und feht ihr die ſchwarzen Sparen?
90% über die Berge und Wälder berein
Kommen 2ügow’s Jäger gefahren ;
Feui
Sie jagen theinauf, fe jagen rheinab,
Und der alte Dlücher entfteigt dem Grab:
Nipt Länger (hlammert der Helden Gebein —
Bias, dias Trompeter! Zum Rpein, zum Mpein!
Blas, bias Trompeter! Zum Rhein, zum Rpein!
Ihr Brüber, hört ihr eö fomettern ?
Die Helben follen zufrieden fein
MI und in des Gturmed Weiteru!
Die Fabne hoc und bie Schwerter fharf!
© glüdtich, giüdtig, wer reiten darf,
Denn es tönt Ianbaus , wenn es tönt landein :
Trompeter blas! An ben Rhein, an ben dibein
Anmuthigen Fluß, nur bieweilen zu altdeutf-minnigliche
Antlänge hat das „Tagelied” von Wilhelm Herk, einfache
Kraft das „Süddeutjhe Kriegslieb‘‘ von Otto Müller. Das
Märchen von Hermann Kurz: „Die zwölf Brüder und der
Menfenfreffer'‘, hat einen etwas forcirten Märdenton.
Die 3. ©. Fiſcher, fo haben auch mehrere norddeutſche
Boeten in ihre Heinen Sammlungen frügere pofitifce Gedichte
mit aufgenommen, die an die Zeitfiimmung anflingen. So
bringt z. B. Heinrich Pröhle in den „Deutihen Liebern
und Dden aus der Zeit des zweiten franzöfiichen Kaiferreichs"
(Berlin, Moeſer, 1870) - Gedichte aus der Zeit der öfter
reichifch » preußischen Waffenbrüderfhaft von 1864, Idyllen
aus dem Jahre 1866 u. a. Pröhfe liebt die antifen Formen,
das Difihon und die Odenfirophe, ähnlich wie weiland Stäge-
mann. Aud ift die Zeitgeihighte fo freundlich, ihm Moloſſen
und Doppelfpondeen zur Auswahl darzureihen, wie im der
„Veimtehr der Landiwehrlüraffiere von Quedlinburg‘ ſchon das
Wort: Sandwehrlüraffier, einen halben Bentameter an fid) felhR
darftelt, und and: Graf Bismard-Schönhaufen, einen halben,
kunſtgerechten, ſchwerbefrachteten Herameter vertritt. Die Hals
tung der meiften Oden und Diftichen if eine ernfte, würdige,
nar flören uns „epiſche“ Beimdrter, die aus der Stimmung
herausſchleudern, wie wenn e8 in der fonft kräftigen fapphifchen
Ode anf den Friedensbrecher heißt:
Und fein Röflein füttern im Weigenader ,
Bo der Storch font friedlih mit rotfen Beinen
Un bie Blaßrotp farbigen reifen Mepren
Nüet nun im Fluge!
Die „Waffenflänge‘‘, Zeitgedihte von Emil Taubert
(Berlin, Ktiegemann, 1870), enthalten ungefähr vierzig, nur den
jüngften Beitereigniffen gemdmete Lieder und Gelänge, zum
Theil für mufitaliihe Compofition befimmt, mit fangbaren
Refrains, meift lauter und Mar in der Form. „Die preußiſchen
Ulanen‘, die Geibel und auch Löwe befungen haben, werben
in einem frifchen Lied gefeiert, wit der trefflichen erften Strophe:
Was reitet wie ber ehrne Greif
Mit dampfbefgwingtem lügel?
Im Winde flattert der Rofie Schweif,
He Mingt der Eporu in dem Bügel.
Das fpafft dem Heere Plah und Bahn?
Hurraß, ber preußiige Wan.
Auh die „Zeitgedihte von Eugen Labes (Roflod,
Stier, 1870) enthalten viel Anfpregjendes, Pieder, aud Oden
und Giegeshymnen in Marer Faſſung. Bon Johann Fa-
Nenrath’8 Kriege» und Siegesliedern: „Den beutj—en Hel-
den von 1870, liegt die fünfte, abermals vermehrte Auflage
vor mit einer Menge neuer, namentlid) epigrammatifd) f—harfer,
wigiger Gedichte. Bejonders gelungen find „Die drei Kreuze‘,
in denen das hölzerne Kreuz, das rothe und eiferne befungen
werden. Auch eine Dame, Frau Agnes Kayfer-Langerhanng
reiht ſich den Kriegafängern an in den „Baufteinen für Strasburg.
Lieder von 1870” (Naumburg a. ©., Sieling, 1870), es find
warm geflßlte Gedichte, fhliht und vom Herzen fommend.
Adolf Eitment cih’8 „Act Kriegelieder zu Schutz und Trug”
Eeipzig, ©. Sqhutze,) fireben nach vollsthümlichem Humor, doch
verfallen fie oft in einen trivialen Bänfchjängerton, 3. ®.
Raifer Louis, der Plebieciter,
Siielt ſcon lang auf Deutihland Bitter,
Zürgtet daß e8 groß und frei,
Eubtl$ fand er an dem Zollern
Faulen Borwand für fein Kollern,
Um zu maden Gtänferei.
lleton. 767
Otto Franz Genfigen ſchlagt in den zwölf jangbaren,
nad) befannten Melodien eingerichteten Liedern: „Bom deutfden
Kaifer“ (Berlin, Grofier, 1870) am Schluß vor, Barbaroffa
fortfchlafen u faffen und den beutfchen Kaifer „im Rathhaufe
zu Berfin" zu Erönen!
Bon der Franz Lipperheide ſchen Sammlung: „Lieder
zu Schuh und Trug”, liegt das ſechote die adıte Heft vor;
aud hier begegnen uns mande Autoren, die nicht auf der
großen Heeritraße zu finden find und bie wir zum Theil
aud nicht auf dem Gebiet ber politii—en Pyrit anzutreffen
erwartet hätten. Wie wir erfahren, hat der Berleger den
glüdficen Gedaufen, in Leinen Liederfammfungen „Fir
Strasburg, zum Bellen der armen Kinder“ die eine
zelnen Dichter der hentigen Kriegefgrit dem Publikum felbfläne
dig voräuführen — eine willommene Crgärgung iu jenem
größern Repertorium, duch welde erft eine fritifche Wuͤr⸗
digung der Leitungen der einzelnen Dichter ermöglicht wird.
8 werben folde Liederfammlungen erjheinen von Geibel,
Bodenſtedt, Meißner, Große, dem Herausgeber d. Bl. und
mebrern andern Dichtern. Bon jener großen Sammlung er-
Scheint bereits eine zweite vermehrte Auflage.
Bibliographie.
Blod’s, G., Bolt» ter. 2. 40: .
Gergintiiged Ohaufpie e Bern ah rue
»Bratzanel, in Beimar (18.)Ein Beil ur
Bugner, B., Mozart. Gin Lebenehüd. Lahr, Schauenburg. 1.
TA Rot. &
_ — Seume, 16. 7 RE
Sparatiergüg Beusfaeh 86
gegen Sranfreig ©. Yrig, Bade. 16. 27, Bor.
Diependrod, 2. 3, Deuraiaund leg und Herrlichkeit in Raat-
iger Bereutung. Yatriotifde Borlefung. Freie
Die Neforn auf Dem Kppietz ber beutigen
3. Eine gelaihine ten, Bed. ©r. 8. 4 Rat.
De u ea ——
age. Die Hufl., mi n 7
a de ge it fpätern Zufägen. Leipzig,
Ya Nor.
Henbad, 3. €. Neihsfreih., Deutfgland 2
EL Bot Pain hama ge:
. 1.
Buhap vom Get, Raboma, Roman. 4 Bde, Hannover, Rünp-
Jordan, W., Dio Zweldeutigkeit der Copula bei Stuart Mill, Stutt-
gart. 4. 12 Ner.
fen. Mabberanatig auf dem Eiegeömasfg nad Varic. Leipgig, R. Sqee -
Br. 3. ar.
Deutihe Klänge. Langenfalga, Rlingpammer. 32. 8 Rat.
re heilige rieg 1970, Afe und Ate Lief. Lelpjig, Bahn. @r. 4.
Nr.
Mesiiiußranf,, ter Br.: Eamelie von A. Lrepfhmar. Leippig,
nötige. 9. 2
ermanu, 9. M., Hundert Jahre 1770-1870. Zeit» 1
bilder — Shen, Er pi, Wah —
auli, I, ii 3 .
Wiiflonare In Oftinpien. Nicnderg he wart. sei
Luft vdqu. Min
och, 8, tufigen Komdbienblgiein, sIc® und diee,
Gen, Lentner. 180%, 1871. Or. 16. a 21 gr.
Reich, E., Systern derllygieine. Ister Bd, Moralische und sociale
ire Hälfte, Socialo ilygleine. Leipelg, F. Fielscher. Gr. 9.
ur.
Mr, Die Weltgefgigte iR das Weitgerigtl Louis Napoleon
Beztin, Agemeine deutfäe Weriagdenfalt, 8. 20 Rat,
Rittweger, b., Der deutfp=frangäfiige Krieg 1370. Sein Entfter
n uno fein Settauf, mit Beifügung aller varauf Dejügligen Mienfude
Bearbeitet, ARE 5i0 ae &ief. rantiurt a, M., Krebs» Sgmibt. 4.
Rochhols, E.
Ein Gebenabilb. Lahr, Shauenburg.
uecboten aus em
. eftrebungen
ler.
Hygieine.
1 Tülr, 15
a;
Bonaparl
L., Drei Gaugöttlunen. Walburg, Verena und Ger-
trud als deutsche Kirchenheillge. Bittenbilder aus dem germanischen
Frauenleben. Leipzig, Fr. Fleischer. Gr. 8. 1 Thlr.
Roscoe, H. E., Die Spectralanalyse in einer Reihe von
lesuugen mit wissenschaftlichen Nachträgen. Autorisirte
—8 von C. Bchoriemmer. Braunschweig, Vi
7.8. ir.
Salıbrunn, Alice, Weibnahts » Geinnerungen. Novellen und
grpen aus dem Önglifgen übertragen, Leipgig, Se Gapige- 11, 8
err, I., Barca; Leipzig, DO. Wigand. 3. 2 Zhlr.
5, Her Scala lee Dapeaang.
che Vor-
Säulthes, 9, Guropäll tötalendet.
10092 Yhilgen, Bet. Gr a. 3 2uE Trade
Sulzer Deligfg, Die Entwidelung des Genoffenihaftswelene.
igemeinen Ürbeiter« Berbandes beutier
Zus, au dem Organ an
‚erbd« um irt ft6; : „Blät ——
Erin delle — ver Bubanfe? Bann, Sanıke degnar 3 Eli.
1.
168
Anze
Anzeigen.
igen.
— —
Verfag von 5. A. Brodfaus in Leipzig.
Der lebte Bürgermeifter von Straßburg.
Baterländisches Brama in fünf Yen,
Mit einem Epilog aus der Gegenwart.
Bon Karl Biedermann.
8 Geh. 20 Nor.
Obwol dieſes Drama lange vor den neneften großen Er-
eigniffen entftanden iſt, ergeben fid dod die Beziehungen auf
die Gegenwart von ſelbſt. Ueberbies bringt der beigefügte
Epilog den Gegenfag zwiſchen dem erhebenden Seht und dem
trüben Damals zu befonderm Ausdrud. Bon mehrern deut»
fen Bühnen wird die Aufführung bes Stüds vorbereitet.
Don dem Derfaffer erſchien in demfelden Derfage:
Raifer Otto der Dritte. Trauerfpiel. 8. Geh.
ERGÄNZUNGSBLÄTTER,
1870, 1. Novemberheft.
Geschichte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy-
denbrugk. — J. v. Döllinger und die liberale katholische
Bewegung in Deutschland III, von Dr. E. Zirngiebl. —
Das geschichtliche Verhältniss zwischen Deutschland und
Frankreich II, von Prof. Wegele. — Nekrolog.
Literatur: Englische Dichter II. Rossetti und Swin-
burne, von Fr. Hüffer. — Nekrolog.
Kunst: Nekrolog.
Geographie: Die argentinische Republik. — Die Be-
wohner der Andamanen.
Meteorologie: Die neuesten Fortschritte.
Physiologie und Mediein: Die Krankenpflege im
Kriege IV., von Dr. Ploss.
Botanik: Zuckerrohr in Italien. — Saure Kirschen. —
Bambusgewächse. — Nekrolog.
Volkswirthschaft: Deutschlands Fähigkeit zu verlän-
gertem Kampf, von A. Lammers.
Kriegswesen: Die Bedeutung der Festungen, von A.
Niemann. — Die Benutzung des Sieges, von K. G. v. Ber-
neck. — Die Geschütze der französischen Marine.
Nekrolog.
Technologie: Nekrolog.
Illustrationen: Transportmittel für verwundete Krie-
‚ger. — Hinterladungsgeschütz der französischen Marine.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
20 Kor.
Derfag von 5. A. Brochfans in Leipgig.
HERMES TRISMEGISTUS
AN DIE MENSCHLICHE SEELE.
Arabisch und deutsch herausgegeben von
Prof. Dr. H. L. Fleischer.
4. Geh. 20 Ngr.
Zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der
Deutschen Morgenländischen Gesellschaft hat der berühmte
Orientalist dieses „Sendschreiben“ herausgegeben, dessen
Handschrift sich in der leipziger Stadtbibliothek befindet.
Der arabische Text erscheint zum ersten mal im Druck,
während die früher vom Herausgeber veröffentlichte Ueber-
setzung hier in wesentlicher Umarbeitung vorliegt.
Vene Reifewerke
aus dem Verlage von Hermann Coſtenoble in Jena:
Appuu, Carl Ferd., Unter den Tropen, Wande-
rungen burd; Venezuela, am Orinoco, durch
Britifh Guyana und am Amazonenjtrom in
ben Jahren 1849— 1868. Ürfter Band: Be:
nezuela. Mit 6 vom Berfaffer nad) der Natur
aufgenommenen uftrationen. Gr. 2er.-8. Eleg. broſch.
Preis 5 Thlr.
Diefes bedeutfame Werk, für welches Se. Königf. Hoheit
Prinz Adalbert von Preußen die Wibmung anzunehmen geruht
bat, ift die Frucht eines zwanzigjährigen Studiums
der Natur und Menſchen in dem auf dem Titel mäher bezeic-
neten Gegenden des tropifhen Südamerika, welde der
Berfaffer Aiuftenge ber englifdhen Regierung bereifte.
Die herrliden Begetationsanfihten, nad dem auf
grridmeten Gemälden des Berfafiers gefertigt, gereichen dem
udhe zu wahrer Zierde und find durch ihre vorzügliche Aus,
führung im Atelier von R. Brend’amour u. Comp. in
Düffeldorf im hödften Grade werthuol.
Seit Alerander von Humboldt’s Reifen erfdien
tein fo hervorragendes Werk über das tropiſche Amerita.
Srowu, I. Koß, Neifen und Abentener in dem
Apaqhen- Land: Arizona und Souora. Aus dem
Englifhen. (Bibliothet geographiſchet Reifen uud
Gntoedungen älterer und neuerer Zeit WI. Bo.)
Mit 155 Illuſtrationen. Gr. 8. leg. broſch. Preis
2 Thlr.
Der Verfaffer führt uns durch Gegenden, welde die Cidi -
Iifation nod wenig berührt hat, er lernt uns Völker fennen,
die durch ihre Naturwüchfigkeit einen ganz bejondern Reiz für
den Lefer gewähren. Mit großer Spannung folgen wir dem
Verfaſſer durh brennende Wüften, wo er mit Klapper-
fhlangen und Scorpionen, Banditen und Apacht-
Indianern zu fümpfen hat.
Baſirt auf die Refultate der wiſſenſchaftlichen Miffi
von Hermann, Adolfund Robert von Schlagint-
weit, auögeführt in ben Jahren 1854 bis 1858.
Zweiter Band: Hodafien (I. Der Himalaya.) Mi
7 Landfcafts - Anfihten in Tondrud und 3 Tafeln
topographiſcher Gebirgsprofil. Gr. Ler.-8. lee
brofh. Preis 5 Thlr. 10 Sgr.
dl. Band: Indien. Preis 4 Thlr. 24 Sgr.)
Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.)
Arnd, Eduard, Geschichte der französischen
Revolution von 17891788. Sechs Theile
in drei Bänden. Zweite wohlfeile Ausgabe. 8
| Fein Velinpapier. Geh. Preis 2 Thir.
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus. — Drud und Verlag von S. A, Srochhaus in Leipzig.
Blätter
literariihe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich).
—4 Ar. 49. —
1. December 1870.
Inhalt: Voltaire, Strauß und Renan. Bon Rudolf Sottſchal. — Alaska. Bon Richard Audree. — Epiſch⸗lyriſche Dich⸗
tungen. — Stmilleten. (Nefrologe.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Voltaire, Strauß und Renan.
1. Boltaire. Sechs Vorträge von David Friedrich Strauß.
Leipzig, Hirzel. 1870. ®r. 8. 2 Thlr.
2. Krieg und Frieden. Zwei Briefe an Ernſt Renan nebft
defien Antwort auf ben erflen von David Friedrich
Strauß. Leipzig, Hirzel. 1870. Gr. 8. 10 Nr.
Jene Trias von Freidenkern, die an der Spige un-
ferer Beiprechung fteht, hat in neuer Zeit viel von ſich
reben machen. Der Zufall wollte, daß das Werk von
Strauß über Voltaire faſt gleichzeitig mit dem Beginn
des beutfch-franzöfifchen Kriegs erſchien, und fo den Ber-
faffer nöthigte, das eifrige Studium, das er dem vorzugs⸗
weise franzöfifhen Nationalautor widmete, zu rechtfertigen
und fi) über die geiftigen Beziehungen Frankreichs und
Deutſchlands auszufprechen; er hat dies in feinen, jeßt
jelbftändig abgebrudten zwei Briefen an Renan gethan.
Die große Anziehungskraft, welche Voltaire auf einen
Autor wie Strauß haben muß, bedarf kaum der Erflärung.
Beide galten ihrem Zeitalter als die eifrigften Gegner des
Chriſtenthums — mindeftens waren fie unerbittliche Gegner
der hriftlichen Kirche. So verfchieben ihr philofophifcher
Standpunft fein mag, indem Boltaire ein Deift war,
Strauß aber einer Schule angehört, deren Meifter den
Glauben an ein &tre supräme als leer und inhaltelos
verurtheilte: fo groß ift doch die Gemeinfamfeit in der
Oppoſition gegen das Beftehende und in dem vorzugs⸗
weife polemifchen Zug, welcher ben beiden Autoren eigen-
thumlich if. Zwar hat Voltaire große Dichtwerfe ges
ſchaffen, deren Stil ſchon "die Polemik ausfchliekt ;
und Strauß hat biographifche Werke gefchrieben, welche
ein Charakterbild Liebevoll aufbauen, ja er hat in jei-
ner Dogmatit aus den Acten der Auflöfung und Zer-
fegung einen pofitiven Nieberfchlag zu retten geſucht;
aber das Bolemifche bleibt doch das eigentlih Charal-
teriftifche für beide Schriftfieller. Der Boltaire der
„Henriade“ und der Zrauerfpiele wäre ohne DBedentung
für fein Jahrhundert geblieben; erſt wo er den Harniſch |
1870. 4.
anzieht und die Lanze einlegt, wirb er zum Helden fei-
ner Zeit. Auch die Bedentung von Strauß ruht wefent-
ich auf feinem „Leben Jeſu“; und fo tief verftedt ver
polemifche Grundzug biefes Werks ift unter einem Ap⸗
parat ſchwerer und wuchtiger Gelehrfamkeit und unter
der Masle wiſſenſchaftlicher Objectivität: er ift doch un-
verfennbar und tritt in der Bollsausgabe feines „Reben
Jeſu“ um fo ſchärfer und fchneidender hervor.
Ueberhaupt mußte die Aufgabe, ein Leben Boltaire’s
zu jchreiben, ein Bild diefes großen Schriftflellers zu ge-
ben, deſſen ſümmtliche Werke zu ſtudiren ber viel befchäf-
tigten Gegenwart eine Unmöglichkeit ift, um fo verloden-
der für eine fo analytifche Begabung fein, wie fie Strauß
befigt, als kaum eine andere Größe der Literatur in ſich
eine ſolche Fülle von Contraſten vereinigt, welche den
Scharffinn des Piychologen herausfordert. Daß Strauß,
dem Zuge feiner Sympathien folgend, gern bei den Licht-
feiten bes Charakters verweilt, die Schattenfeiten nicht
verfchweigt, aber doch im Schatten läßt, daß er zwar
nit zu den literarhiftorifchen Fleckenreinigern gehört und
feine „Rettung“ fchreibt, aber doch vielfach. entfchuldigend
über manche ziemlich fchreiende Diffonanz im Leben feines
Helden hinweggleitet, das darf bei der Berwanbtfchaft der
geiftigen Richtung nicht befremben.
Wohl aber wird die Form bes Werks von Strauß
vielen unerwartet fein; man mochte an „Ulrich von Hutten“
und andere umfafjende Biographien unfers Autors deuten,
oder einen jener eingehenden Lebensläufe erwarten, twie
ihn Rofenfranz von Diderot verfaßt Bat. Statt deſſen
wird und Boltaire’8 Leben in ſechs Vorträgen von nur
mäßigem Umfang vorgeführt, eine Form, die allerdings
die größte Präcifion der Faſſung und Gebrängtheit des
Inhalts voransfegt. Noc mehr befremden muß es, daß
biefe Vorträge einer Dame nit nur gewibmet wurden,
fondern auch für fie gefchrieben und von ihr freundlich)
angehört worden find? — und zwar einer englifchen
97
3.0
Fa
E
8*
u
-
&
770 Voltaire, Strauß und Renan.
Brinzeffin, ber Prinzeffin Ludwig von Heſſen. Diefe
Thatfache beweift auf ber einen Seite, daß biefe Vorträge
ſich überhaupt aud) an das große Damenpublifum richten
und alles Anſtößige vermeiden; auf ber andern aber
ſcheint fie doch die Freiheit der Behandlung zu gefährden,
indem fie den Autor nöthigt, über mandes, was für
feinen Helden charakteriſtiſch ift, flüchtig erwäßnend ober
abſichtlich vermeidend hinwegzugleiten. Der Eynifer
Voltaire dürfte unter folhen Vorausfegungen faum zu
feinem Rechte kommen. Denn die deutjchen und engliſchen
Frauen des 19. Jahrhunderts haben nicht mehr den fri«
volen Sinn der Höhern Geſellſchaftskreiſe des 18. Jahr»
Hunderte. Damals galt es für das Ziel eifriger Ber
werbung von Fürften und Prinzeffinnen, einer Abjchrift
der „Pucelle“ Voltaire's, welde lange Zeit nur in
Manuferipten umging, habhaft zu werden; das Gebicht
wurde al8 der feinfte Lederbiffen behandelt, feine Kennt»
niß galt gleihfam für das Exfennungszeichen der guten
und beften Gefellſchaft. Jetzt würde fon eine genauere
Inhaltsangabe in der guten und beften Geſellſchaft an-
Mößig genug fein. Boltaire ift überhaupt fein Damen-
poet, wie man ihn jegt träumt, ein Sänger „am blauen
Bande die Zither“, deſſen Gedichte fähig find in ſchmucem
Einband auf den Toilettentifchen zu glänzen oder in eine
lyriſche Hauspoftille, wie Theodor Storm’s „Kritifche
Anthologie” aufgenommen zu werden; bei ihm findet man
nichts von befeelten Blumen, plandernden Waldfeen, ver-
dammernden Stimmungsbilderchen; bei ihm ift alles „Geift“,
and vor dem „Geift“ bekreuzt ſich ja die Miniaturdufel-
poefie, welche den lyriſchen Nipptifch für unfere Frauen
und Mädchen aufpugt. Und BVöltaire'8 Geift ift noch
dazu fo rüdfihtelos und fehonungslos, daß er unter
Umftänden die Geften des hölliſchen Cavaliers nicht
verſchmaht.
Wir empfinden es daher als eine Beſchrunkung, die
fih an einzelnen Stellen fühlbar machen muß, daß
Strauß feinen „Voltaire” in Vorträgen für eine Dame
behandelt; müſſen aber gleich hinzufügen, daß trog biefer
ſelbſt aufgelegten Befchränkung der Verfaſſer wenigftens
fo viel Freiheit der Darftellung und des Urtheils ſich
bewahrt, als fi irgend mit ihr vereinigen läßt.
Strauß beginnt fein Wert mit ber folgenden
Duverture, welche die Hauptmotive befielben kräftig
zufammenfaßt:
Wer etwa den Einfall Hätte, eine Lobrede auf Voltaire zu
halten, der wäre wenigſtens nicht durch die lakoniſche Frage
die eng: zu treiben, wer ihn benn table. Denn getabelt —
was fage id}: getadelt? — geſchmäht, verdammt, verflucht, iſt
vielleiht fein Menjh in dem Maße worden wie Voltaire,
Schon zur Abwehr alfo hätte, wer Voltaire loben wollte, auch
anf das einzugehen, was man an ihm getadelt Hat, wären
nicht beide, Lobrede wie Mpofogie, gerade bie ungeeigneiften
Wege, dem Wefen eines Menfchen auf den Grund zu iommen
und feinen Werth zu befimmen. Der einzig rechte Weg dazu
iſt der, Lob und Tadel dorerft ganz aus dem Spiele zu laffen,
dagegen bem Lebens. und Entwidelungsgange desjenigen, den
man fih zur Betrahtung und Darftellung auserfehen hat,
Schritt für Schritt nachzugehen, fein Werden aus und im feir
ner Zeit wie fein Wirfen auf biefelbe zu beobachten, feine
Werke, wenn es ein Schriftfeller if, zu ſtudiren, aus den
Handlungen feine Zriebfedern und Gefinnungen, aus ben
Schriften feine Yähigleiten und Anfihten zu ermitteln, im
Lichte den Schatten, aber aud im Schatten das Licht aufzu-
fugen, und fo zufegt ein Gefammtbild vor fi und m
aufzuflellen, beffen Ergebnis man um jo weniger verſucht
wird in einem kurzen Schlagwort auszufpreden, je jorgfältiger
bie Beobachtung ar, und je bedeutender der Mann ift, dem
fie gegolten hat. Bei feinem merkwürdigen Manne find dieje
Schlagwörter, das Abthun ber ganzen Perfönlichkeit mit eimem
allgemeinen Prädicat, gewöhnlicher als bei Boltaire. Und bei
keinem ift doch biefe Art ungeeigneter, ja finnlofer, als gerade
bei ihm. Sie ift e8 bei jedem wirflich bedeutenden Menjchen;
aber e8 gibt unter dieſen doch, fogufagen, monachiihe Seelen,
deren reiche und mannichfaltige Gaben, deren veridiedene Triebe
und Neigungen unter einem höchſten und alle andere behere-
ſchenden Streben zufammengehalten find. Bei einem folden
Menſchen wird e8 zwar immer kahl und jeicht, doch aber midht
geradezu widerſinuig fein, fi mit durch Prädicate, mie
ebel oder gemein, aufopfernd oder egoiftiich, ernft oder frivol,
abzufinden. Cine monardiihe Seele in diejem Ginne mar
aber Boltaite nicht. Wenn au die Wirkungen, die er berbor-
brachte, fo ziemlich in Einer Ritung lagen, jo war doc) jede
von ihnen das Ergebniß des Zufammenipiels gar verjchiebener
Kräfte, die in ihm durdeinandergingen, reiner und unreiner
ZTriebfedern, die ihn gleihermaßen bewegten. Dein Mame if
Legion! fonnte Boltaire'g Dämon mit jenem des Gergefemers
ſprechen; im ber Legion waren aber neben den böfen auch zahle
reiche gute Geifter, und felbft von dem erſtern eigueten fi) mur
wenige, in Schweine, wohl aber mandje, in Kayen oder Affen
zu fahren. #
Strauß erwähnt darauf die Aeußerung Goethe’s, dafı
Voltaire der höchſte unter dem Franzojen benfbare, der
Nation gemüßefte Schriftfteller fei. Um eine jo hohe,
ein Jahrhundert beherrſchende Stellung zu gewinnen md
zu behaupten, dazu fei aber, neben der innern Begabung
und der Gunft äußerer Verhältniffe, insbefondere auch
ein langes Leben erforderlich. Das feinige verlief ume
ter vier Negierungen, und man kann es jelbft in vier
Epochen theilen:
Die erfte ift die der Iugend, während deren fich feim 2
lent, fein Nature und feine Lebensführung entwideln, bis ihr
im Jahre 1726, feinem zweiundbreißigften ——— ei -
felige Rataftrophe, die nad England treibt, ein Ende it.
Der beinahe dreijährige engliſche ei
feine zweite Lebensperlode bei
weitern Verlaufe ift der Charakter dieſes Lebensahl
vornehmlich duch Boltaire's Verhäliniß zu feiner geil
Freundin, der Marquife du CEhätelet, und das gelehrte &
leben auf deren Schlofje Cirey beflimmt; wie bt der
der Marquife im Johre 1749 es ifl, ber diefer Periode
unerwartetes Ziel ſetzt. Nun erft gibt der Künfundfunfzig
den ſchon feit zehn Jahren wiederholten Einladungen
gereönten Berehrers, Friedrich's von Preußen, nach,
ufenthalt in Berlin und Potsdam eröffnet eine dritte
die, nad; einem glänzenden Anfang, die nnrubigfte umd
baglihfte, zum Glüd aud nur Furze Uebergangeperiode
Boltaire'8 Leben bildet. Bon Deutfhland abgeopen, vom
Regierenden in Frankreich nicht wie er es wänjchte willfo
jeheißen, Täßt ſich Boltaire nach allerlei Irrfahrten erſt
franzöfiihen Schweiz, dann in einem Grenzftrich feines
iandes nieder, und von dem Erwerb und bald der bfeil
Anfiebelung in gene um 1758 und 1760 datirt fid) die
zwanzigjährige ‘Periode feines Lebens, die in jeder Di
mir mögen auf die Stellung und Haltung des Mannes,
Zahl und das Gericht feiner Arbeiten, oder auf dem U
feines Wirkens und bie Höhe feines Ruhms jehen, als
bedentendfte und ſchonſte feines Tangen und reichen 2eb
betrachten if.
Die Quellen zu Voltaire's Leben fliehen überreicht
Boltaire, Strauß und Renaı.
abgeſehen von feiner eigenen autobiographiicden Auf-
zeichnung, feinen taufend Briefen und der Rolle, die er
in ben Denkwürdigkeiten und Briefwechjeln der Zeit-
genofien fpielt. Seine drei Secretäre, die nacheinander
in feinen Dienften waren, haben ausführliche Aufzeich-
nımgen über fein Leben binterlaffen: Longchamp, der
Florentiner Collini und der Schweizer Wagniere. Hierzu
fommt die große Zahl von felbftändigen Biographien und
Monographien über einzelne Abfchnitte feines Lebens, von
dem Werfe Duvernet’3 und Condorcet’8 an bis zu dem
neueften großen Werke von Guſtav Desnoiresterres:
„Voltaire et la societe frangaise au XVIIIme siecle”,
einem Werte, „das in feinen bisjegt erfchienenen vier Bän-
den durch Aufſpürung felbft der verborgenften Quellen,
volftändige Zufammenftellung, gefchidte Gruppirung und
geiftvolle Beleuchtung des gefchichtlichen Stoffs allen For⸗
derungen umnferer Zeit Genüge thut“.
Franz Maria Arouet ward in einem Yahr mit un—⸗
ferm dentjchen Reimarus, 1694, geboren; fein Vater war
Notar am Chätelet, feine Mutter eine Frau von Geift
und gefelliger Bildung. So fcheint die Theorie Schopen-
hauer’s, daß ſich die geiftigen Fähigkeiten und Neigungen
der Mutter auf bie Söhne vererben, bei Voltaire eine
Beftätigung zu finden. Mit zehn Jahren kam der Dichter
in das Yefuitencolleg Louis le Grand. Die Erziehung
hier war eine mangelhafte: Gefchichte, Mathematit und
vernünftige Pbilofophie wurben vernachläffigt; aber die
dramatiſchen Aufführungen, bie überall in den Jeſuiten⸗
fhulen blüßten, gaben feiner Neigung zum Scaufpiel
die erfte Nahrung, und die rhetorifchen und poetifchen
Uebungen wedten feine Fähigkeiten. Sein erſtes Stegreif-
gedicht Hatte den Zwed, eine mit Befchlag belegte Schnupf-
tabadsdofe zuriüdzuerhalten.
Ueber die Manern bes Colleges hinaus drang der Dichter⸗
ruf des Knaben zuerft aus folgender Beranlaffung. Ein be-
dürftiger Invalide . bat eines Tags den Vorſteher der Anftalt
am eine poetifche Bittfchrift fir den Dauphin, in deffen Re⸗
giment er gebient Hatte; der Vorſteher, befchäftigt, weift ihn
an ben reimfertigen Zögling, und dieſer macht ihm ein paar
Berſe, die dem Imvaliden ein hübſches Almofen, dem jungen
Boeten aber für ein paar Zage bie Aufmerkſamkeit ber Stadt
und des Hofs verſchaffen. Damals fei e8 auch geweien, er-
zählte Voltaire fpäter, daß fein Pathe der Abbé ihn zu feiner.
alten Freundin, der befannten Ninon de P’Enclos, geflihrt habe,
die, eine franzöfifche Aſpaſia, von den letzten Zeiten des Car⸗
dinals Nichelieu bis in die Tage der Frau von Maintenon
durch die Bildung ihres Geiftes und die Anmuth ihrer Sitten
nicht minder als durch ihre Lörperlichen Reize die Männerwelt
bezaubert und fchließlih auch bei den Frauen fih in Achtung
gejetst Hatte. Jetzt habe die mehr als achtzigjährige Huge Frau
Wohlgefallen an dem aufgewedten Knaben gefunden und ihn
mit 2000 Frances „zur Anfchaffung von Büchern‘ in ihr
Teftament geſetzt.
Der Bater Voltaire's verlangte, daß der Sohn bie
Rechte ſtudirte. In ber That trat diefer 1710 in die
Rechtsſchule ein; doch der galante Hausfreund der Mutter,
der Abbe de Chäteaunenf, Treuzte des Vaters ernfte Ab-
ſichten; er führte den Sohn in bie fogenannte Gefellfchaft
des Tempels, wo bei fehwelgerifchen Gelagen vornehme
Herren über Religion, Sitte und bie herrſchenden Per-
fonen fpotteten. Neben recht frivolen Gedichten fchrieb
Boltaire auch Legenden, fo fehr er fühlte, nicht da⸗
für gefhaffen zu fein. Er Hatte ſchon im Kolleg
771
die heilige Genoveva befungen und bewarb fih 1712
um den poetifchen Preis mit einer Dbe auf den Bau
des Chors der Notre - Dame» Kirche. Als Page des
Marquis de Chäteauneuf, eines Bruders des Abbe, reifte
er nad) dem Haag und verliebte ſich dort in Olympia
Dunoyer, die Tochter einer literarifchen Abenteurerin;
ex erlebte dabei felbft allerlei Abenteuer, wurde im
Sefandtichaftshotel confinixt, ba die Mutter mit der
Zochter andere Plane hatte, und dort von ber entjchlof-
jenen Geliebten in Mannsfleidvern befuht. Dann finden
wir den jungen Arouet wieder in der GSchreibftube des
Procurators, wo er ſich manche brauchbare Rechtskenntniß
erwarb, daneben aber allen Vergnügungen der Haupiftabt
buldigte. Der Marquis von Saumartin nahm den Dichter
längere Zeit mit auf fein Gut Saint-Ange bei Fontaine
bleau; begeiftert für Heinrich IV. erwedte er in dem
Süngling den erften Gedanken der „Henriade“, wie als ge
nauer Kenner der Regierung Ludwig's XIV. jenen Antheil
an diefer Ölanzepoche Frankreichs, welcher ihn fpäter zur
Darftellung des „Sièclo de Louis XIV.” infpirirte,
Satirifche Gedichte auf den Regenten, ben Herzog
von Orleans, sogen ihm mehrfach Verweifungen und eine
faft einjährige Gefangenschaft in der Baftille zu. Hier
fhrieb er an feiner „Henriade“. Das erfle größere
Merk, das in die Deffentlichkeit gelangte, war indeß fern
„Dedipe”, der am 18. November 1718 mit glänzenden
Erfolg zur Aufführung kam, wobei der muthwillige
einundzwanzigjährige Dichter felbft als Schleppträger des
Oberpriefters auftrat. Das Stüd erfhien im Drud,
und war der Herzogin von Orleans gewidmet, mit einer
Zueignung, weldhe zum erften male den Namen Boltaire
trug, ein Anagramm von Arouet.
Nah dem Tode des Vaters fammelte Voltaire fich
ein eigenes Bermögen, auf Grundlage des väterlichen
Erbtheils und der erften literarifchen Berdienfte, und ver-
mehrte daflelbe durd) Lieferungen, welche die Gunft bes
Regenten ihm zumwandte. Gönner und önnerinnen ver-
ſchönten fein Xeben, ohne manches Unangenehme abmenben
zu fönnen, wie 3. ®. bie Prügel, die er an der Brüde von
Stores von dem Hauptmann Beauregard erhielt; diefer hatte
ihn früher denuncirt und und war von ihm an ber Tafel des
Kriegsminifters ein Spion genannt worden. Mit Mabame
de Rupelmonde, einer jungen galanten Witwe, reifte
Boltaire 1722 nach Ylandern, wo er den Dichter Yean
Baptifte Rouffeau, einen fpätern erbitterten Gegner, per»
fönlich kennen lernte, und nach dem Haag, wo er feine
„Henriade“ herausgab. Eine fpätere Belanntfchaft mit
Lord Bolingbrofe, der in der Zouraine ein Landhaus Hatte
und mit Recht als Hauptträger des englifchen Deismus
und Senfualismus galt, war für Boltatre vom höchften
Werth. Das Don-Yuan-Regifter des jungen Dichters
entrolt uns Strauß mit den folgenden inhaltvollen
Beilen:
Unter den Belanntfchaften, die Voltaire in jenen Jahren
pflegte, nehmen die mit geiftreihen und liebenswürdigen rauen
eine hervorrageude Stelle ein. Da ihm eine eigene Häuslich-
feit fehlte umd er zur Ehe wenig Luft empfand, jo war es ihm
Bedürfniß, in einem befreundeten Haufe, bei einer rau, die
ihn zu fchägen und warm zu Halten wußte, daheim zu fein.
Dabei lief das eine mal Liebe mit unter, das andere mal nicht;
die Dame mochte Witwe fein oder auch nicht; denn felbft wenn
97 *7
7172
Liebe dabei war, madten die Ehemänner iu damaliger Zeit
fein Hinderniß. So fand Voltaire in jenen Jahren erft bei
einer Marquife de Mimeure, die Witwe war, dann bei einer
Bräfidentin de Bernieres, die mod) einen Mann hatte, bei dieſer
and als Miethomann in ihrem Haufe, eine behagliche Heimat;
leidenſchaftlich verliebt war ex Tängere Zeit in die Marfhallin
Billars, die ihm jedoch mit falter Koketterie ebenfo in Athem
als fern zu halten mußte. Bon anderer Art waren bie Be-
ziehungen, worein den dramatiſchen Dichter der Verkehr mit
der Breterwelt zu jungen Schaufpielerinnen bradte. Zu der
eit, als fein „Debipe‘ im Werben war, machte er ber
uclos den Hof; jpäter war Adrienne Lecouvreur einmal feine
Geliebte und blieb bis zu ihrem nur allzu frühen Tode feine
din; ein befonders anmuthiges Berhältnig aber entipann
nm die Zeit feiner Verbannung nad Suly mit einer jun«
gen Dilettantin, die er dafelbft kennen lernte. Sufanne Liory
war die Tochter eines inanzbeamten in Paris, hatte aber
einen Oheim in Sully, und wurde di u den bramatif—en
Vorftellungen herangezogen, die eine Fieblingsunterhaltung des
Herzogs unb feiner hohen Gefellihaft bildeten. Den Beifall,
der hierbei einem hubſchen Mädden mit angenehmen Manieren
niemals fehlt, nahın Sufanne als Bürgichaft für ein dramati⸗
es Zalent, zu deſſen Ausbildung ihr der jugendliche Thenter-
dichter behhfflich fein follte. Sie nahm bei ihm Unterricht in
ber Declamation, und er brachte es in der nädjften Zeit and
dahin, daß fie auf dem theätre frangais, unter anderm ale
Sotafte in feinem „Debdipe‘, auftreten durfte. Aber fie hatte
wenig Erfolg; offenbar war die Luſt größer als bie Kraft.
um h mehr Erfolg hatte fie bei ihrem Lehrer, und er nicht
minbern bei der Schülerin. Man liebte fi Herzlih und ſchwür
ſich ewige Treue; man führte bei aller Knappheit der äußern
Berhältniffe ein Leben wie im Paradiefe. Aber man hat außer
der Geliebten aud einen Freund, und der wurde zur Schlange
des Parabiefes. Voltaire führte den Freund bei der Geliebten
ein, und ber — ſtach ihn bei der Geliebten aus. Er war
and gar zu lſebenswürdig, diefer junge Genonville, das hatte
Boltaire felbft empfunden; darum ja feinen Brud. Voltaire
überwindet ben Verdruß umd bfeibt mit beiden Theifen im ber
flen Einvernehmen. Das war fo feine Art; denn wir werden
feinerzeit einen viel ernſtern all antreffen, wo fi das
Gleiche wiederholte.
Ueber bie „Henriade“ lautet das Urtheil unſers
Biographen:
„Sie füllte eine Lude in ber franzöffhen Literatur, der ein
claſſiſches Epos bis dahin gefehlt hatte. Das goldene Zeitalter
Ludwig’ XIV. hatte das claffifhe Drama geigaffen, au im
She der Lyrit, beſonders nad; ber didaktiſchen und fatiriihen
eite, Mufter aufgeftellt; aber bie epifchen Verſuche, deren
einem wir bald jefbft noch begegnen werben, waren fehr un.
volllommen gehfieben und hatten fi bei weiten nidt zu ber
Höhe eines Racine oder Despréaur erhoben. Doc; neben dem
Titerarifhen hatte das Voltaire'ſche Gedicht zugleich ein patrio-
tifches Verdienſt. Es war aus der vaterländifchen Gedichte,
und zwar aus deren nächfter lebendiger Vergangenheit genom«-
men unb verherrlicte in feinem Helden, dem Friedeneſtifter
nad) den langen Religions» und Bürgerfriegen, die religiöfe
Toleranz, die feine Enkel und Nachfolger, zum unberehenbaren
Schaden des gemeinen Wefens, mur gar zu fehr außer Acht
elaffen Hatten. Der moderne Charakter des Stoffs wie der
—— ſchloß das Wunderbare, und damit freilich eine
reiche Quelle ber poefie, die dem Epos bis dahin gefloſſen war,
aus, woflr die höfgerne DMafhinerie, die der Dichter an die
Stelle ſetzte, die ausgefiopften Figuren der Zwietracht, der
Politit, wie andererfeits der Liebe und Religion, die von Kopf
bie zu Füßen befeprieben werben und zum Theil lauge Reden
halten, feinen Erjag gewähren können; doch fo fehr derlei aller
goriſches Unweſen wider unfern Gef hmad if, fo wenig verffieß
es gegen den damaligen. Das Bersmaf endlich, der todte eins
tönige Alerandriner, fällt zwar traurig ab nicht allein gegen
den Iebensvollen Herameter des griechifch-römtichen, fondern auch
jegen die, bei aller Gleichförmigfeit des Rahmens, dod im
Innern vieler Abwechſelung fähige Stanze bes italienischen Epos;
Voltaire, Strauß und Renan. j
indeß für frangöfiige Ohren, bie babei hergelommen inaren,
— 14 ehe nit empfindbar hie : *
In Bezug auf die Stellung, welche Voltaire durch
feine Gönnerfchaften in ber —ã ſich zu erringen
ſuchte, und über das ſociale Aufſireben unſerer deut
ſchen claſſiſchen Dichter ſchreibt Strauß eine geiftvolle
Parallele, welche auch einige Grundverjchiedenheiten im
Ber m der deutſchen und franzöfifchen Nation ins
icht ſtellt.
Eine zweite Prügelaffaire mit dem Chevalier de Rohan,
bei welder Boltaire wiederum ber leidende Theil war,
hatte feine Feſtſetzung im der Baftille und fpäter feinen
Ausflug über den Kanal zur Folge. {
Die Einflüffe des englifhen Aufenthalts umb der
englifchen Philoſophie und Poefie auf Voltaire behandelt
der zweite Vortrag. Hier findirte er Newton und Lode,
die rationaliftifchen Wundererklärer Collins und Wooliten,
die Gedichte Pope's, die Satiren Swift's, die englifchen
Dramen jener Zeit; er hat diefe Mufter fpäter mehrfach
nachgeahmt. In England fehrieb er fein Drama „Brutus”
und feine „Geſchichte Karl’ XI“, bald nach feiner Rüd-
kehr nad) Frankreich, entrüftet über die Weigerung der
Geiftlihfeit, feine Freundin Adrienne Lecoupreur am &
und
weihter Stelle zu begraben, ein beredtes ftrafendes
dicht, ſowie fpäter die freigeiftige „‚Epiftel an Uranie“
feinen „Geihmadstempel‘, der Pope's Vorbild nicht ver=
leugnete. Mit feiner „Zaire“ erſtieg er 1732 bie Höhe
feines dramatifchen Dichterruhms. -
Strauß benutzt biefe Gelegenheit, ein Gejammtbild
des Dramatifers Voltaire mit feinen Zügen zu entwerfen;
er vergleicht den dritten in der Gruppe der großen frame
zöffchen Tragiler dem Curipibes, dem er in der
darin ähnlich fei, daß er feine Dramen mehr als feine
gänger zu Gefäßen feiner politifch-religiös-philofophifchen
Denkart machte, und daß er biefe Vorgänger, vom benem
er Racine in mandjer Beziehung für unübertrefflich Hielt,
in anderer zu überbieten ſuchte. Ciner feiner Grundjäge
war, daß bie Liebe entweder ben Knotenpunkt der Hand.
tung bilden, oder ganz aus dem Stüde verbannt fein
mäüffe, fie darf nie ein Lüdenbüßer fein; deshalb Hat
Voltaire aus „Oreſt“, „Merope“ die Liebe gänzlich, a
„Caſar's Tod“ fogar jede weibliche Nolle ausgejchlo
Auch berührte Voltaire zuerft von den Xragiferm ü
der „Bare“, ber „Adelaide Duguesclin“ franzöfijche
men und Gedichten, obwol nur jehr jchüchtern u
von fern. Ebenſo fuchte er die Beichränkung des
gebieis des franzöflfhen Dramas zu befeitigen, indem er
ftatt der fürftlichen Perfonen ſolche wählte, welche
Natur näher fanden, und überdies feine Stüde mi
blos im Altertfum, fonbern in allen Zeiten umd
theilen fpielen ließ. Aeußerlich juchte er die Bühne
der unwilllommenen Servitut zw befreien, unter der ai
die altenglifche ſeufzte: daß nämlic, die vornehmerm
Schauer auf der Bühne felbft faßen und fanden und
die Schaufpieler beengten. Dagegen konnte ſich Bolt
zeitlebens von ber engherzigen Herrſchaft der drei q
telifchen Einheiten nicht iosmachen, jowie von bem 9
zandriner ald dem Vers der Tragödie; er ſpottet
Shalfpeare, der feine Perfonen von einem Schiff auf
her See mit einem male 500 Meilen weit ins
Boltaire, Strauß und Renan. 173
binein, aus einer Hütte in einen Palaft, von Europa
nad Aſien verfege, und am liebften eine Handlung ober
auch mehrere Handlungen zugleich darftelle, die ein halbes
Sahrhundert dauern; Strauß gibt mit Recht zu, daß
Shaffpeare hierin unftreitig zu weit gebt, daß fein ra⸗
ſcher Scenenwechfel auf der einen, und die beträchtlichen
Zeitllüfte zwifchen den Theilen ‚mehrerer feiner Dramen
auf der andern Seite, von ber Schwierigkeit fir bie
Darftelung noch abgefehen, der Stetigkeit, mithin ber
Einheit der Handlung zu nahe treten.
Was Boltaire'8 Beziehungen zu Shalſpeare betrifft,
fo pflegt man in der Regel nur den Ausſpruch von
dem „betrunfenen Wilden” zu Tennen, ber Feinesfalls für
das Verhältniß zwilchen dem franzöfifchen und dem eng-
liſchen Tragiker erfchöpfend if. Shakſpeare ift im Gegen-
tbeil auf jene freiern Tendenzen Voltaire's nicht ohne
Einfluß geblieben. In der Zufchrift feines „Brutus” an
Lord Bolingbrole fagt Voltaire:
Mit welhem Vergnügen babe ich in London Ihre Tragödie
„Zulins Cäfar’ gejehen, die feit 150 Jahren das Entzliden
Ihrer Nation iſt! Es fällt mir wahrhaftig nicht ein, die bar»
barifchen Unregelmäßigkeiten gut zu beißen, deren fie voll if;
erflaunen muß man nur, daß ihrer nicht mehrere find in einem
Werte, das in einem Jahrhundert ber Unwiffenheit von einem
Manne verfaßt if, der nicht einmal Latein verfiand und keinen
Lehrer hatte ale fein Genie. Aber mitten unter fo vielen
toben Fehlern, wie war id) hingeriffen von dem Anblid bes
rutus, der, den von Cäfar’s Blut gefärbten Dolch in der
Sand, das römische Bolt verfammelt und von ber Rednerbühne
berab anredet: Römer, Mitbürger, Sreunde u. f. f. Nach
diefer Scene fommt Antonius und bringt durch eine knuſtvolle
Rede dieſe folgen Geifter wieder zur Belinnung; dann, ale er
fie befänftigt fiebt, zeigt er ihnen den Leichnam Käfar’s, und
mit den leidenfchaftlihften Redebildern ſtachelt er fie zur Em-
pörung und zur Rache auf. Schwerlich würden bie Franzoſen
fi gefallen laffen, daß man auf ihrem Theater einen Chor
von römifchen Handwerkern auftreten ließe, daß der bintige
Leichnam Käfar’s vor dem Boll ausgeftellt, und diefes von der
Rednerbühne herab zum Aufruhr ermahnt würde — das iſt bie
Gewohnheit, die Königin der Welt.
Wenn Boltaire indeß felbft den Geift Shakſpeare's
in Frankreich heraufbeſchworen hatte, jo wußte ex ihn
fpäter nicht wieder loszuwerden; der felbft mit bem Lor-
ber gejchmüdte Tragiker begann in Shaffpeare einen auf«
dringlichen Nebenbußler zu ſehen, daher fchränfte er fein
Lob mehr und mehr ein, bis zuletzt der Tadel und der
Spott ausjchlieglid die Oberhand gewannen. Die Stelle
von dem „betrunkenen Wilden“ findet fi in der Ein-
leitung ber „Semiramis“, in einer Kritik des „Hamlet“:
Ich bin gewiß weit entfernt, die Zragdbie „Hamlet“ in
ollem zu rechtfertigen; fie ift ein grobes barbariihes Stüd,
das in Frankreich und Stalten nicht von dem niedrigften Pöbel
geduldet werden würde. Hamlet wird verräidt im zweiten Act,
und feine Geliebte im dritten; der Prinz erfticht ihren Vater
unter dem Borwand, eine Ratte umzubringen, und die Heldin
fpringt ins Waſſer. Man bereitet ihr Grab auf dem Theater;
die Todtengräber machen Späße in ihrer Art, indem fie Todten-
ſchädel in der Hand halten; der Prinz antwortet auf ihre ab»
fheulihen Plumpheiten durch Thorheiten, die nicht weniger
widermwärtig find. Unterdeſſen madıt eine der handelnden Per-
fonen die Eroberung von Polen. Hamlet, feine Mutter unb
fein Stiefvater trinten zufammen auf dem Theater; man fingt
bei Tafel, man zankt fi, ſchlägt fih und bringt fi um. Man
möchte glauben, dieſes Werk fer die Frucht der Einbildungs⸗
kraft eines betruntenen Wilden. Aber unter biefen groben Un⸗
regelmäßigleiten, die das englifche Theater noch heute fo ab⸗
eihmadt und barbariſch madıen, finden fih im Hamlet“ felt-
amermeife erhabene, des größten Genies würdige Züge. Cs
ift, ale Hätte fich die Natur darin gefallen, in dem Kopfe die-
ſes Dichters das Stärkfte und Größte mit dem Niedrigflen und
Abfcheulihfien zu verbinden.
Do auch diefes Lob ift noch immer vollwidhtig gegen-
über dem fpätern Urtheil, das ein Brief an b’Alembert
enthält und demzufolge Shaffpeare „ein Dorfhanswurft
ift, der feine zwei ordentlichen Zeilen gefchrieben hat“,
und als gar eine Shakfpeare» Üeberfegung von Letoureur
erſchienen war, richtete Voltaire noch zwei Jahre dor
feinem Ende ein Schreiben an bie Alademie, in welcher
er Shafjpeare „einen Seiltänzer nennt, der glüdliche Ein-
fälle hat und Grimaſſen macht“. Mit Recht macht
Strauß indeß darauf aufmerkfam, daß Shaffpenre’fche
Tranerfpiele Voltaire vielfach vorfchwebten, fo der „Yulins
Cuſar“ bei „Caſar's Tod’, bei „Semiramis“ der „Hamlet“,
bei ,„Zatre” „Othello“, bei „Zancreb“ „Romeo und Julie“.
Der zweite Bortrag enthält außerdem ein Urtheil über
Boltaire’8 „Pucelle“, dies eigenartigfte Werk des Dichters,
das er mit dem größten Behagen gefchaffen hat. Den
frivolen Grundgebanfen der Dichtung charakterifirt Strauß
treffend in folgender Weife:
Die nationale Heldin palt ber Tandläufigen Vorflellung,
und war noch zuletzt dichterifch gefeiert worden, als bie reine
Zungfran, die eben als foldhde würdig befunden war, das Organ
gönlicher Ofienbarungen und Wirkungen zu fein. Göttl
fienbarungen und Wunderwirkungen nun gab es flir die
Geiftesricätung, die in Voltaire ihren genialen Sprecher hatte,
feine mehr. Aber ebenfo wenig wollte man an jungfräuliche
Reinheit glauben. Was Mepbiftopheles zu Fauft ale feinem
uur allzu gelehrigen Schüler jagt:
Ihre ſprecht ſchon faR wie ein Franzos,
ober vorher:
Du ſprichſt ja wie Hans Liederlich,
Der begehrt jebe Liebe Blum’ für fi,
Und dunkelt ipm, es wär’ kein' Chr’
Und Gunſt, die nicht zu pflüden wär —
das war bie Anfiht ber Kreife, für welche Boltaire feine
„Pacelle“ dichtete. Im der Heldin von Orleaus konnte er alfo
ſozuſagen zwei liegen mit Einer Klappe treffen: den Glauben
au göttlide Offenbarung und ben an weibliche Heinheit. Dies
bewerffielligt er in dem Gedichte fo, daß er die Wundermafdi-
nerie beibehält: der heilige Dionyfius, Frankreichs Schutzheili⸗
er, ſucht fih die Heldin aus und läßt ihr in wiederholten
rfeheinungen feinen Beiftand angebeihen, mworliber er mit dem
heiligen Georg, dem Beichliger Englands, in Streit geräth;
das alles aber wird — man denke nur an den geflligelten Eſel,
der fi als Neitthier der Heldin zur Verfügung ftelt — in fo
burlesten Zügen durdhgeflihrt, daß es als bloße Parodie er-
ſcheint. Auch bildet diefe Seite der Sache nur die Folie, den
Hintergrund; den Bordergrund nimmt die Durchführung des
andern Themas ein, das Übrigens weniger an der Heldin ſelbſt,
al8 gelegeutlih ihrer an den Übrigen weiblichen Figuren bes
Gedichts, von der ſchönen Agnes Sorel bis zu Nonnen und
Aebtiſſinnen, anſchanlich gemadt wird. Bei allen diefen ift es
nur Sache der Gelegenheit, ob fie Heinheit und Treue bewah-
ren oder nicht, und felbft der Zwang, ber fle ihnen raubt, iſt
nit ganz unwilllommen. Im Unterſchiede von ihnen erſcheint
Johanna noch ganz ehrenwerth; fchon die Derbbeit der Dorf»
dirne, die den Zubdringlichen im Notbfall mit einer tlichtigen
Obrfeige abzuführen weiß, fommt ihr zu flatten: und da ihre
patriotifche Heldenrolle ihr wirklich am Herzen liegt, und fie
die Borftellung theilt, daß deren Durchführung an ihre Jung»
fräulichleit al8 Bedingung gebunden fei, fo weiß fie diefe bie
auf weiteres firamm zu behaupten.
Die Belanntfchaft Voltaire's mit feiner gelehrten Mufe,
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774 Voltaire, Strauß und Renan.”
der Marquiſe du Chätelet, der Aufenthalt auf Schloß
Cirey, die Beſchaftigung mit Mathematit und Naturs
wiſſenſchaften, der Verkehr am Hofe des Könige Stanid-
laus in Commercy, feine Aufnahme in die Alademie, bie
Streitigeiten mit reron, die Untrene der Geliebten, bie
fi in einen jüngern Dann verliebte, den Gardelapitän
Saint-Lambert,. die Mutterfchaft der Marguife, ihr Tob
infolge der Entbindung — das alles bildet den weitern
Inhalt des zweiten Vortrags. Wir konnen uns in Bezug
auf die übrigen kürzer fallen, nachdem wir uns aus den
beiben erften überzeugten, welche Fülle biographifchen und
kritiſchen Stoffe, ohne Ueberladung, in gefälliger Ein«
kleidung Strauß zufammenzudrängen verfteht.
Der dritte Vortrag behandelt die Beziehungen Wried-
rich's des Großen zu Voltaire in vorurtheilsfteier, zu⸗
fammenhängender Darftelung; der vierte führt uns nad)
Prangin und Ferney in die fürftlich bequeme Hänslichfeit
des Patriarchen und ſchildert uns feine ehrenvollen Be-
mühungen zu Gunften der Yamilie von Jean Calas und
Sirven, im Dienft der Aufflärung und Humanität gegen-
über fanatifchen Yuftizmorden; ber fünfte fehildert uns
Voltaire als Philoſoph und religidfen Freidenker; der
ſechste die Idylle von Ferney und die legten Triumphe
von Paris, fowie er manchen dharakteriftiichen Zug für
das Porträt des Dichters hinzubringt.
In dem vierten Vortrag fommt Strauß auch auf die
Erzäplungen Voltaire’ zu ſprechen — und hier ſcheint es
uns, als ob bie Rüdfichten, die er fi auferlegen mußte,
ihn an einer eingehendern Behandlung gehindert Hätten.
Der ſchlupfrige Ton namentlid der Erzählungen in Ber-
fen und die chnifchen Epifoden felbft in den berüßmtern
Vrofaromanen, wie die Unterſuchung nach dem Edelſtein
in „Candide“, beburften um fo mehr der Erwähnung,
als wir in biefen Erzählungen die Mufter vor uns haben,
nad; denen fi) Wieland's Mufe bildete. So athmet 3.8.
die „Waffertaufe” den Voltaire ſchen Geift. Bon „Can-
dide“, einem Roman, den Scherr ein unübertrefiliches
Meifterftüc des gefunden Menfchenverftandes nennt, be
Hanptet Strauß, daß er, von unferm heutigen Stand-
punkt angefehen, unter feinem Ruhm ſtehe. „L’Ingenu”
ift der befte der Voltaire'ichen Romane. Der Gegenfag
zwifchen Natur und Gultur, den er behandelt, wurbe
infolge diefes Romans auch ein Lieblingsihema deutſcher
Diätung: wir brauchen nur an die gahfeeien Kotzebue'⸗
ſchen Stüde zu erinnern, bie ihn bis zur Erſchöpfung
ausbeuteten.
Daß Strauß den Philoſophen Voltaire und den reli⸗
giöfen Freidenker mit beſonderer Vorliebe behandelt, er⸗
Hört ſich leicht. Die Beilagen enthalten zwei hierauf be
züglihe Schriften: „Das Mittagemahl des Grafen von
Bonlainvilliers” und einen Aufjag über den „Pfarrer Mes-
Tier und fein Teſtament“; jenes Gefpräd einer der frei«
geiftigften Dialoge über die Wunder des Alten und Neuen
Zeftaments, die religiöfen Borurtheile, die abgejchmadten
Xügen und ben gefährlichen Aberglauben: ein Dialog,
der die geiftige Quinteſſenz bes Zeitalters ber Aufklärung
fpiegelt, während das „Teſtament des Pfarrers Meslier
ein Actenſtück des politiich=religiöfen Radicalismus ift,
wie er nur fpäter in ber Revolution fich offenbarte; ja
fogar der Königsmord wird darin geprebigt. Strauß fagt: | der Lage fein, Stimmen wie der Ihrigen das Ohr zu fe
Bas Boltaire mittheilt, find die Beweisführungen bes
Pfarrers, daß bie Seiftihe Religion weder göttlich noch 12
feiz daß überhaupt alle Religionen auf Lüge und Betrug —
en; daß bie bibliſchen Bücher weder von Gott eingegebem,
noch ale menſchliche Bücher glaubwürdig oder bedeutend jeien;
daß die Lehre ber chriftlichen Kirche ein Gewebe des crafjeflen
Aberglaubens; daß Iejus feibft, weit entfernt von jedem Are
Bd auf eine höhere Würde, ein Außerft unbedeutender mb
verädtliher Menſch geweſen fei. Die Schrift des Pfarrers von
Ctripignp, die und er jeit wenigen Jahren vollftändig gedrudt
vorliegt, it für Voltaire's theologische Schriftftellerei von eins
greifender Bebeutung. Wenn er auch nicht gerade viel Meues
aus ihr lernen Zonnte, was er nicht ſchon aus dem Studium
Bayle's und der engliichen Deiften wußte, jo regte fie ihm doch
zu weiterm Kampfe an: ſein Berhältnig zu Meslier bat ums
verfeunbare Aehnlichleit mit dem umfers Leifing zu Reimarus.
Außerdem enthalten die „Epiſtel an Uranie“, die
„Wichtige Unterſuchung des Lord Bolingbrofe“, der „Sermon
der Funfzig“, „Gott und die Menfdyen von Dr. Obern“,
meiſt pſeudonyme oder mit irgendeiner Maske verfehene
Schriften, fowie die Artikel der „Vhiloſophiſchen Ench-
Hopäbie”, die Anfchanungen, melde Voltaire von dem
Chriſtenthum hegte. Was uns Strauß von bdenfelben
mittheilt, namentlic, foweit es Bezug auf das Leben Yefır
hat, zeigt zur Genüge, daß Ernft Renan aus Voltaire
nicht weniger gefchöpft Hat als aus den deutjchen Philos
ſophen — nur daß er die KedHeit der Voltaire ſchen Ber
hauptungen und Schmähreben vermeidet und die iromie
fen und fleptifchen Lichter nur gelegentlich feinem farbene
reich ausgeführten Gemälde auffegt. Den Ausdruck
„Eerasez linfame”, bezieht übrigens Strauß auf bie
chriſtliche Kirche.
Das Erſcheinen des Werls von Strauß furz dor dem
Ausbruch des deutſch · franzöſiſchen Kriegs hatte jenen Briefe
wechſel zwiſchen bem frangöflfchen und deutjchen Philo«
fopgen zur Bolge, der jegt zufammengeftellt im einer
Separatausgabe: „Krieg und Friede” (Nr. 2), vorliegt.
Strauß nennt fein Werk eine „internationale Friebens-
arbeit“ und meint, daß man ſich folcher Schrift nicht
freuen Lönne in einem Augenblid, wo bie beiden Nationen,
die fie einander näher zu bringen helfe, fich in Waffen
gegenüberftehen. Doch ſchiebt er die Schuld des Kriege
allein auf Frankreich und auf deffen Sucht, den
ſchen Primat zu behaupten, auf die Misftimmung über
die ſich confolidirende deutſche Einheit, und jagt je
treffend:
Die Einheit, die er (Mapoleon) hintertreiben wollte, jebt
Haben wir fe; die unerhörte Anmaßung, die in dem Ani
an ben König don Preußen lag, war dem geringiten
in der Mark wie ben Königen umd Herzogen üdlich dee Main
feich verſtändlich und unerträglich; wit ein Sturm weht,
eift der Jahre 1813 und 1814 duürch alles deutiche Land,
bereits haben die erflen Kriegserfolge uns ein Pfand gege
daß einer Nation, die nur für dasjenige kämpft, wozu fie
Recht und die Macht in fi fühlt, der Erfolg unmöglich fehlem
tann. Diefer Erfolg, um den wir ringen, ift einzig die Of
bereihtigung der europäifgen Wölter, if die Sicherheit, bi
fortan nit mehr ein unrubiger Nachbar nad; Belieben m
in den Arbeiten des Friedens ſtören und der Früchte
Fleißes berauben fann. Dafür wollen wir Blirgichaften Bi
und erft wenn diefe gegeben find, wird von einem jreumdl
Einvernehmen, von einem einträdtigen Zujammenmirken di
beiden Nachbarvölfer an allen Arbeiten der Cultur und Dr
manität die Rede fein Tönnen; dann aber auch erſt, wenm de
feangöfifgen Bolke der falfche Weg verſperrt ift, wird es
Alaska.
die es von jeher anf den rechten, den Weg der redlichen Arbeit
an ſich ſelbſt, der Zucht und Sitte, hingewieſen haben.
Renan ſpricht in ſeinem Antwortſchreiben ſehr ſchön
über den Einfluß der deutſchen Geiſtesbildung auf ſeine
eigene Entwidelung; er ertheilt und das glänzende Lob:
Wenn es irgendeine Nationalität gibt, die ein augenfchein-
liches Recht hat, in all ihrer Unabhängigkeit zu eriftiren, fo ift
dies ficher die deutſche. Deutſchland bat den beften nationalen
Rechtstitel, nämlich eine gefchichtlihe Holle von böchfter Be-
deutung, eine Seele, möchte ich fagen, eine Literatur, Männer
von Genie, eine eigenthilmliche Auffaffung göttlicher und menſch⸗
licher Dinge. Deutſchland hat die bedeutendfte Revolution der
umern Zeiten, die Reformation, gemacht; außerdem bat ſich in
Deutſchland feit einem Jahrhundert eine der fchönften geiftigen
Entwidelungen vollzogen, welche die Geſchichte kennt, eine Ent-
widelung, die, wenn ich den Ausbrud wagen darf, bem menſch⸗
tihen Geift an Tiefe und Ansdehnung eine Stufe zugeſetzt bat,
fodaß, wer von diejer neuen Entwidelung unberlihrt geblieben,
zu dem, der fie durchgemacht Bat, fi verhält wie einer, der
nur die Elementarmathematik kennt, zu dem, der im Differentiale
calcul bewanbert if.
Doch will er in Bezug auf ben legten Krieg auch die
preugifche Regierung nicht von Schuld freifprechen; er
erhebt auch die geiltigen Vorkämpfer Frankreichs und feine
gebildete Gefelfchaft, die nichts mit den burlesfen Jour⸗
nalen und Heinen Poffentheatern zu thun habe. Gegen
die Losreißung des Elſaß und Lothringens wehrt fid
Renan aufs ünferfte; er nennt dies eine Verftiimmelung,
welche Rachehandlungen ohne Ende zur Folge haben werde;
man müfſe überhaupt das Nationalitätsprincip durch das
Princip der Föderation reguliren. Gegenüber den ge-
barnifchten Kriegspolititern, wie Xreitfchle, macht ſich
Renan fogar eines Denffehlers ſchuldig und muß ale
„ſchülerhafter Philoſoph“ vom heibelberger Katheder herab
zur Ordnung gerufen werben, wenn er die folgende
chriſtliche Friedenspredigt hält:
Ach, mein theurer Herr, wie gut hat Jeſus gethan, ein
Reich Gottes zu gründen, eine Welt, erhaben über Haß, Eifer⸗
ſucht und Stolz, wo ber Geachtetſte nicht wie in der traurigen
Zeit, worin wir leben, derjenige ift, der am meiflen Uebles
thut, der fchlägt, tödtet, befhimpft, der größte Lügner, ber
Unebrlihfte, Uugezogenfte, der Mistranifchfte und Treuloſeſte,
der Fruchtbarſte an böfen Anſchlägen, an teufliichen Ideen ift,
am wenigfien Mitleid und Berzeihung kennt, am wenigften
Lebensart hat, ber feinen Gegner überraſcht und ihm die ſchlimm⸗
fen Streihe fpielt; fondern der Sanftefle, der Beſcheidenſte,
der am meiften aller Dreiftigfeit, aller Prahlerei und Härte
fern ift, der aller Welt den Bortritt läßt, der ſich als ben letz⸗
ten betrachtet. Der Krieg ift ein Gewebe von Sünden, ein
wibernatäirliher Zuftand, wo man das als ſchöne Handlung
empfiehlt, was man zu jeder andern Zeit als Fehler und Ver⸗
brechen meiden beißt; wo es Pflicht ift, fich Über das Unglüd
des andern zu freuen, wo berjenige, der Gutes für Böſes thun,
775
der die evangelifche Vorſchrift, Unrecht zu verzeihen, ſich ſelbſt
zu erniebrigen, üben wollte, abgeſchmadt und felbft tadelnswerth
erſcheinen würde. Was den Eintritt in Walhalla eröffnet, ver-
Ihließt den in das Reich Gottes. Haben Sie bemerkt, daß
weber in den adıt Seligfeiten, nod in der Bergprebigt, noch
fonft im Evangelium, noch in der ganzen urchriftlichen Literatur
ein Wort fi findet, das bie friegerifchen Tugenden unter den»
jenigen aufführte, bie das Himmelreich gewinnen?
Auch Strauß flimmt in feinem zweiten, vortrefflichen
Briefe, der noch mit größerer Schärfe die franzöfiichen
Anmaßungen geifelt und file die beutfche Einheit, die
Verbrüderung von Nord und Süd eine Lanze bricht, in
Bezug auf ben Krieg nicht mit Renan überein; er nennt
die Seligpreifungen in der Bergpredigt evangelifche Para⸗
doren, deren ideale Hoheit man zwar verehren, die man
aber cum grano salis verftehen müſſe. Er ift aud) ge
neigt, dem Kriege viel Gutes nachzuſagen; nur Raub⸗
und Eroberungsfriege feien von jeher verderblich für bie
Sittlichfeit gewefen; dagegen hätten alle Kriege, welche
die Völker zur Abwehr fremder Einfälle unternommen
hätten, regelmäßig einen Aufſchwung des nationalen Le⸗
bens zur Folge gehabt. Er fährt fort:
Uebrigens ift e8 eigen und bemeift einen merkwürdigen
Umfhwung der Dinge, daß ein Franzoſe uns Deutfchen den
Frieden predigt. Ein Mitglied des Bolls, das feit Jahrhun⸗
berten die europäifche Kriegsfadel in Händen hielt, dem Nach⸗
bar, ber immer uur zu thun gehabt bat, die Brände zu löſchen,
die der andere in feine Städte geworfen, an feine Saaten ge-
legt Hatte. Was mußte gefchehen, wie viel ſich ändern, bis es
dahin fam! Der Franzofe hat den Deutjchen fo lange mishan-
delt, jo unaufhörlich bebroht, bis biefer endlih, um fi Ruhe
zu fchaffen, fich entidhloß, feine Sichel zum Schwert umzuſchmie⸗
den. Und mit diefem Schwert bat nun ber Deutiche dem Fran⸗
zofen jo gründlich zugeſetzi, daß diefer anfängt ihm die Seg⸗
nungen ber Sichel auzupreiſen. Bei uns bedarf es dieſes Prei⸗
ſens nicht; wir wären am liebſten bei der Sichel geblieben.
Als Milo in der Verbamung die Bertheibigungsrebe Cicero's
zu lejen befam, die dieſer erſt nachträglich zu dem berühmten
Kunftwert ausgearbeitet hatte, foll er gejagt haben: „Hätteſt
du jo geſprochen, o Marcus Zullius, jo würde ich jett nicht
in Maffitin biefe leckern Fiſche effen. Ganz ähnlich könnten
jest unfere in Frankreich eingeridten Söhne reden, geſetzt es
fiele ihnen am Wachtfeuer das Blatt mit Ihrem Sendichreiben
in die Hand. Hätteft du fo zu deinen Franzofen geſprochen,
o Ernft Renan, könnten fe jagen, nnd, was die Hauptfacdhe if,
fie zu deinen friedlichen Gefinnungen befehrt, fo würden wir
nicht hoffentlich demnähft in Paris diefe Löftlichen franzöftichen
Weine trinken.
Die beiden Briefe von Strauß zeichnen fid) burch bie
Gediegenheit des Inhalts, durch die fchlaghaft prägnante
und doch gefällig feine Form fo vortheilhaft aus, daß
man fie immerhin zu den geiftig denfwürdigen Actenftüden
diefer Epoche rechnen darf. Audolf Bottfchall,
Alaska.
Alaska. Reifen und Erlebniffe im Hohen Norden von Fre⸗
berif Whymper. Autorifirte deutſche Ausgabe von Fried-
rih Steger. Mit 1 Karte und 38 Originalilluftrationen.
Braunschweig, Weftermann. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr.
Das Buch umfaßt mehr als der Titel fagt, denn
nicht allein da8 ehemalige ruſſiſche Amerifa, das heutige
Territorium Alaska, fondern die Bancouver-Infel, Britifch-
Columbia und der öftlichfte Theil Sibiriens von der Halb-
infel der Tſchuktſchen bis Petropawlowst anf Kamtfchatla,
endlich Californien werben hier behandelt. Immerhin
nimmt aber Alaska den größern und intereflantern Theil
de8 Ganzen ein.
Der Berfaffer, ein Engländer, begleitete die ameri«
fanifche Xelegraphenerpedition, weldhe von San- Francisco
nad) dem Norden ging, um den Anfchluß an den fibirifchen
Zelegraphen, welcher den Amur abwärts bis Nikolajewsk
7716
geführt war, zu veranlaflen. .
Wege der Beringöftraße die ‚Alte und Neue Welt verbin-
ben, da das Legen eines Kabels durch den Atlantifchen
Dcean bis dahin ftets misglüct war. Als das Unterneh-
men fehon ziemlich weit vorgeſchritten war und bebeutende
Koften verurfacht Hatte, blieb es Tiegen; das atlantifche
Kabel war mittlerweile eine Thatfache geworden und der
amerifanifch- fibirifche Telegraph überflüſſig. Die Er⸗
pebditiongmitglieder Hatten inbeflen keineswegs vergeblich
gearbeitet; fie hatten ein reiches wifjenfchaftliches Material
mitgebracht, da8 jedoch zum größern Theil in den Archi⸗
ven ber aufgelöften Xelegraphencompagnie ruht. Publi⸗
cirt wurde daraus jüngft in Petermann’s „Geographiſchen
Mittheilungen” eine neue Karte Alaskas von Dale, und
durch diefe wird die von Whymper im vorliegenden Buche
mitgetheilte derartig berichtigt, daß ſie ganz entbehrlich
erſcheint. Whymper's Karte hat nur einigen Werth fir
den untern Lauf des Inkouflufſes, ift übrigens aber jehr
uuzuderläffig.
Whymper's Verdienſte Tiegen auf einem anbern Ge-
biete. Seine Schilderungen der Menfchen in dem durch⸗
reiften Gebiete und die Befchreibung ber verſchiedenen
Abenteuer ift höchſt gelungen. Er fieht mit dem Auge
bes Malers und weiß den anfcheinend troftlofeften, unter
Eis und Schnee begrabenen Gegenden Reiz abzugewinuen.
Der widhtigfte Theil der Reife, mit dem aud wir uns
befhäftigeu wollen, bezieht fid) auf den „Miffiffippi Alas-
las“, auf den großen Jukonſtrom oder Kwichpaf, der, das
Zerritorium feiner ganzen Breite nad) durchziehend, in
ben Nortonfund, eine Ausbuchtung des Beringsmeers,
miünbet.
An jenem Sunde Liegt Unalafchlit, einer der nörd⸗
Iichften Hanbelspoften der Ruffen, und diefer wurde der
Ausgangspunkt der Reife ins Innere nah Nulato am
Jukon, die mit Hunbefchlitten unternommen wurde. Nach⸗
dem man — im November — bei einem umgewöhnlich
ftarten Schneefall einen der ſchlimmſten Neifetage hatte
überflehen müſſen, ſah man don einer Fleinen Anhöhe
berab einen feinen blauen Streifen durch die Bäume
ſchimmern. Ihn zu erreichen wurde fofort der March
befchleunigt und gegen Abend Hatte man die Wälder im
Rüden. Dann ſchoß man auf Schneefchuhen einen flei-
Ien Abbang hinab und ſtand nun auf einem fchneebeded-
ten, ungehenern Eisfelde — das war ber Jukon:
Kaum ein Fleckchen offenen Eiſes Tieß ſich fehen, alles war
mit einem Wintermantel bedbedt. An vielen Stellen waren
große Hanfen von Eisblocken auf die Oberfläche gedrängt wor»
den. Dies war vor dem völligen Zufrieren bes Fluſſes ge-
heben und noch jeßt gab es offenes Waſſer, welches in ein-
zelnen ifolirten Streifen raſch dahinfloß. Bon Ufer zu Ufer
war nicht weniger al& eine Meile uud in jeder Richtung Tagen
Infeln. Denkt fi) der Lefer einen Fluß von 2000 englifchen
Meilen Länge, der von biefem Punkte an auf einem ganzen
Lanfe eine bis fünf Meilen breit ift, von der Quelle bie zur
Mündung ale eine unter Schnee Tiegende Cismaffe, fo kann
er fih den Jukon im Winter vorfielen. Ich war darauf ge⸗
foßt, einen breiten Strom zu fehen, hatte aber von dem wirt
lihen Schaufpiel, das mic erwartete, keine Vorftellung. Keine
Feder und kein Pinjel vermag von der furchtbaren Größe, ber
ungehenern Monotonte, dem unermeßlichen Raume, der ſich
vor uns entfaltete, eine Vorſtellung zu geben.
Rulato, wo man halt machte, ift die am weiteften
Alaska.
Man wollte auf dem | im Binnenlande gelegene und zugleich nöordlichſte von allen
Stationen der ruffifchen Pelzcompagnie. Sie ift ein großes
mit Pfahlwerk umgebenes Blodgebäude mit Scheiben aus
Seehundsdarm und wird von wenigen Pelzhändlern be-
wohnt, bie dort ihr Neben unter feindlich gefinnten In⸗
dianern vertrauern. Der fältefte Tag, welden die Ge
ſellſchaft in Nulato erlebte, fiel in den December. Am
26. November ſank der Thermometer von der verhältuiß-
mäßig milden Temperatur von — 13° R. plöglich auf
— 22° R. und ging fort und fort Tag fir Tag noch
tiefer herab, bi8 er am 5. December — 41° R. erreidte!
Aber auch an Tagen, die in Nulato fir leiblih warm
gelten, blieb das Klima winterlih genug. Se konnte
Whymper einige Bleiſtiftſtizzen nur unter großen Schwie⸗
rigfeiten und „ratenweife‘ zu Stande bringen. Jedesmal
nad ein paar Striden mußte er auffpringen und fi
durch Bewegung zu wärmen fuchen oder ins Zimmer bin-
eingehen. Kiumal erfror ihm gar das linke Ohr mb
ſchwoll zu einer unförmlichen Maſſe an. Bon Aquarell⸗
malen war natürlich gar keine] Rebe, oder es Tonnte nur
ausgeführt werden wenn ein Topf mit kochendem Waſſer
zur Seite ftand. Selbſt innerhalb des Blockhaufes wer
in der Nähe der Tenfter umb auf dem Fußboden bie
Temperatur nicht felten unter dem Gefrierpuntte.
Dan kann fi leicht vorftellen, daß umter folden
Umftänden aud; der Proviant ber Erpebition von der
Kälte nicht unberührt blieb. Die gedörrten Aepfel waren
zu einer Steinmaffe geworben und mußten mit dem Beil
aufgehauen werben; der Sirup bildete einen diden ſchwar⸗
zen Klumpen; und felbft mit dem fchärfften Meſſer wäre
e8 unmöglich gewefen, ein Stüdchen Schinken vom Knochen
zu löfen, bevor. biefer im Zimmer aufgethant war. Die
Hafen und Birkpühner, welche man von den Iubianern
kaufte, hielten fi) monatelang friſch, und Hautgoät war
in dieſem Klima etwas Unerreichbares. Länger als eim
halbes Jahr mußten die Reifenden in Nulate unter ſolchen
Umftänden ausharren, um bie zur Weiterreife nöthige
Befreiung des Jukon von Eis abzumarten.
Während der langen Zeit der Gefangenſchaft in dem
eis» und fchneeumlagerten Nulato gewährte der Berkche
mit den Indianern den Neifenden ein beſonderes Intereſſe.
Bis aus einer Entfernung von mehrern hundert englifchen
Meilen kamen fie heran, um das erbeutete Belzwert in
Nulato umzutaufchen. Der mächtigfte Indianerſtamm am
Jukon find die Co⸗-Jukons, die an einigen Stellen aller⸗
dings Localnamen haben, überall aber diefelbe Mundart
reden und daher au als Ein Voll zu betrachten find.
Ihre Erjheinung ift wild und grinmig, die Kleidung
höchſt fonderbar. Sie tragen nümlid einen beppelt-
geſchwänzten Rod, den einen Schwanz vorn, den andern
Binten, was etwa den Eindrud macht, als hätten fie zwei
Fracks angezogen. Die Kleider der Frauen haben bicfe
Schwalbenſchwänze nicht; dagegen prunfen die Frauen
mit einem eigentbümlichen Muſchelſchmuck, der ans einem
Loche durch den Nafenknorpel über den Mund herabhängt.
Die Tobten der Eo-Iulons werden nicht beerdigt, fondern
in lange Kiften gelegt und diefe auf Pfähle geftellt. Cine
andere Eigenthümlichkeit des Volls ift das Brillentragen.
Auf den Yagden ober Reifen, die fie im Frühjahr an
ftellen, bedienen fie fich nämlich hölzerner Augenfchirme,
Alaska. 717
um fi) vor dem Erblinden durch den Sonnenrefler auf
dem Schnee zu ſchützen. Diefe Brillen find von mandherlei
Seftalt, wie die Abbildungen bei Whymper zeigen, aber
alle haben eine enge Spalte, durch die ihr Träger eben
hindurchblinzeln Tann. Wichtig ift die Beobachtung, daf
die Sprache der Co⸗Jukons mehrere hundert englifche
Meilen weit von allen Stämmen am untern und mittlern
Jukon geredet wird, aber total verfchieden von dem Idiom
ber Küftenvölfer if. Die Jukonindianer find nad; Whym-
per's Anficht zu den eigentlichen amerifanifchen Indianern
zu zählen; während die Küftenbewohner aflatifhen Stam-
mes und mit den Tſchuktſchen jenfeit der Beringsftraße
ein und bafjelbe Volk find.
Im April trat Thanmetter ein, Gänfe zogen aus dem
Süden heran, im Mai kamen Schwalben und das Eis
des gewaltigen Stroms brach auf, der num ſchiffbar wurbe.
Noch mit den Schollen kümpfend zog man in Fahrzeugen
aus Seehunbsfel in Begleitung der Ruflen firomaufwärts
nad) Newicargut, wo die Indianer ihr Sommerlager am
Flußufer aufgefchlagen Hatten und die Pelzmefle ftattfand.
Hier hatten die Reiſenden den interefianten Anblid einer
Zeufelaustreibung:
Eine Gruppe von Iubianern nıngab ben Leidenden, und
mitten unter ihnen brannte ein Iümadıe Feuer. In gedämpf⸗
ten Tönen fangen fie einförmig im Chor, während der Be-
ſchwörer gewiſſe Ceremonien vollzog, die fidh theilweiſe zur
Mittbeilung nicht eignen. Zuletzt flellte er fi ale ob er ben
böfen Geift aus dem Kranken bervorzöge, mit ihm ringe und
ihn ins Feuer mwerfe, worauf er plößlih vor Furcht und
Schrecken bavonlief. Jetzt war er nämlich ber Beſeſſene, ge»
fticnlirte, ſtöhnte und fhäumte aus dem Munde, indem er das
Ganze mit einem Recitativ begleitete, das fich dem Chor kunſt⸗
voll einfügte. Das Schaufpiel glich einer Zauberjcene in einem
Senfationsdrama, und befonders wirffam waren die Zuthaten,
die Aberhängenden Bäume, das Zwielicht und das düftere Feuer,
Man fuhr nun weiter ſtromaufwärts zunächſt durch
das Gebiet der Tanana- Indianer, die nach Whymper die
echteften, urfprünglichften Indianer find, die e8 heutzutage
noch gibt. Sie bemalen fi mit grellen Farben, tragen
Federn im langen Haar, haben am Hinterkopf Fleden
von rothem Thon anfgeflebt, die mit Kleinen fteifen Federn
bedeckt find, doppelichwänzige Röde und hirſchlederne Mo-
caffing mit Franſen und Perlen bebedt. Intereſſante
Abwechfelung gewährte den Reiſenden die Jagd, nament-
lich auf die fehr zahlreichen Elen- oder Mufathiere.
„Das Wleifch iſt vortrefflih und fteht hoch über Hirſch⸗,
ja felbft Renthierfleiſch, und namentlih ift die Nafe,
richtig gedämpft, ein großer Lederbiffen. Nach meinem
Geſchmack ift fie ſogar dem entgegengefettten Endpunkt des
Bibers, dem Schwanze, vorzuziehen.” Eigenthümlich ift
die Art, wie die Indianer die Elenthierjagd betreiben.
Sie fchonen häufig Pulver und Blei, nähern fi dem
Wild und verfolgen e8 mit ihrem Kahne von Birkenrinde,
während es buch den Jukon ſchwimmt, fo lange, bis
das Thier matt geworben ift, worauf fie leife heranfahren
umd es durch einen Mefferftich ins Herz oder in ben
Nacken tödten.
Man gelangte nun nad Fort Jukon, wo bie zwei
Dnellarme bes gleichnamigen Stroms, der Pelly und ber
Borkupine oder Rattenfluß, zufammenfliegen. Cs ift
1870, 4.
freundlicher als die übrigen ruſſiſchen Yorts und ein
äußert wichtiger Plag für den Pelzhandel, an dem bie
verfchiedenartigften Indianerſtämme, bie weit aus ben
britifchen Beſitzungen Hierher kommen, fi Stellbichein
geben. „Das PBelzzimmer des Forts war ein Anblid, ben
man nicht jeden Tag hat; Taufende von Marberfellen
hingen an den Sparren, und gewöhnliche Pelze lagen in
großen Haufen umher. Man verfchafft ſich Hier aud
eine ſehr anfehnliche Menge von filbergrauen und ſchwar⸗
zen Füchſen.“ Das find die Vorräthe, die fpäter, nadj-
dem fie ihren Weg durch Sibirien genommen haben, auf
den Meffen von Nifhnij- Nowgorod und Leipzig zum Ver⸗
fauf gelangen. In Leipzig werben mit ben Pelzen be=
kanntlich die mannichfachſten Berfhönerungsoperationen
vorgenommen; aber die Indianer am Jukon verftehen fid
auch fchon darauf. Whymper berichtet, daß ein Indianer
ein weißes Fuchsfell ſchwarz fürbte und die Händler da⸗
mit betrog. „Seht, wir Wilden find doch befire Men-
chen”, hat bort feine Anwendung mehr. Das Fell ift
in Bort Yukon Werthmeſſer und alle Breife reguliren fi
dort nad Fellen. Ein Gewehr im Werthe von 40 Scil-
ling galt 20 Selle, und unter Zell verfteht man Biber,
im Werth von 2 Schilling. Ein Paar Hofen Foften
6 elle, ein Paar Mocaffins 1 Tel.
Nachdem die Erpeditionsmitglieder zwei Wochen in
ben gaftlichen Räumen von Fort Yulon zugebracht, fuhr
man Anfang Yuli wieder in ben ledernen Booten den
Strom abwärts. Dieamal ging die Reife ſchneller von
ftatten. Man war in etwa ſechs Tagen wieder in Nulato,
und in weitern fieben Tagen in St.» Michael, einem Po⸗
ften auf einer Imfel des Nortonfundes. Die ganze 1300
englifche Meilen lange Strede war in der kurzen Friſt
von funfzehn Zagen zurüdgelegt worden:
Es erübrigt noch, einige Worte über den Werth und
die Bedeutung Alaskas Hinzuzufügen. Man bat fi be-
fanntlich von feiten vieler Amerikaner darin gefallen, die
ganze Erwerbung lächerlich zu machen und die fieben Mil-
lionen Dollars, welche die Union an Rußland für das
Territorium bezahlte, al8 weggeworfenes Geld zu bezeich-
nen. Bon feiten diefer Partei erhielt Alaska den Namen
„Walruffia”. Whymper urtheilt billiger und wie wir
glauben richtiger. Er weift darauf hin, wie der Pelz⸗,
Minerale, Fiſch-⸗ und Holzreichthum des Landes genügt,
bald wieder den Kaufpreis herauszufchlagen. Weiterhin
fei die Erwerbung Alaskas ein Act der Gerechtigkeit gegen
die ruſſiſche Regierung. Die amerilanifchen Walfifchfän-
ger hatten an den Küſten Alaslas viel Handel getrieben
und dadurh den Nuten der ruſſiſch⸗-amerikaniſchen Pelz-
geſellſchaft ſehr gefchmälert; das Kat nun aufgehört eine
Benachtheiligung zu fein, denn ganz Alaska gehört der
Union. Gewiß hat auch die Sache ihren politifchen Hinter-
grund; es ift wieder eine europäifche Macht vom ameri-
kaniſchen Boden verbrängt, und die britifchen Beſitzungen
am Stillen Ocean find von ben Vereinigten Staaten in
die Mitte genommen. Der Abfall Britiſch⸗Columbias,
der vorbereitet ift, wird eine weitere Folge ber Erwer-
bung Alasfas fein.
Kichard Andree.
— N
98
d—
gpen- weg
EUGEN.
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©».
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-1
e
4
118
Epiſch-lyriſche Düchtungen.
Epifch-Inrifche Dichtungen.
= Uns liegt eine buntgemifchte Heide von Gedichten vor,
die ber Mehrzahl nad) derfelben Gattung angehören, aber
verfchiebene Wege wandeln und gar wenig einander ähn⸗
lich fehen. Sollte das gleiche Urfprungsbatum des hier,
wenn auch zufällig Zufammengeftellten nicht den Rückſchluß
erlauben, daß unfere Poeſie jegt einen überwiegend eklek⸗
tifhen Charalter hat und von feinem innern Drange nad)
einer beftimmten Richtung getrieben wird ? Es wäre bieß
in negativem Sinne eine signatura temporis, aber ale
folche noch immer ber Beachtung werth.
1. Romanzen und Bilder von &. Ferdinand Meyer. Leip-
zig, Säffel. 1870. Ki. 8. 10 Nr.
Die nur 123 Seiten ftarfe Sammlung ift mit forg-
fältigfter Auswahl gemacht, fie follte, das fleht man, nur
©ereiftes und Gediegenes bringen, und das thut fie. Nichts
Unfertiges und fogar nichts Unbedeutendes tritt uns in
ihr entgegen. Alles ift concentrirt, in der Empfin-
dung, im Gedanken und im Ausdrud; die Situationen
find mit wenigen, aber bedeutjanen Stricden gemalt, und
diefe regen bie Phantafie des Lejerd mehr an und reizen
fie mehr zur Selbitthätigkeit, als es die ausgeführteften
Bilder gethan haben würden. Kurz, wir haben es hier
mit einem wirklichen Dichter und Künftler zu thun, deſſen
Weiſe viel mit der Hermann Lingg's Oemeinfames hat.
In der erften, „Stinnmung” überfchriebenen Abtheilung fin-
den ſich reizende Landfchaftsffizzen, meift aus der Schweiz
und Italien, die ebenfo ſtimmungsvoll find, wie ihnen
ein bebdeutjamer, oft nur angedeuteter, halbverjchleierter
Gedanke zum runde liegt. Wir meinen: „Die Brüde“,
„Spätjahr”, „Epheu”, „Die Jungfrau” und das ganz
liederartig gehaltene „Auf dem See”, und citiren als kür⸗
zeres bezeichnendes Beifpiel vom Stil des Dichters, der
gern volltönende, freilich nicht immer ganz veine Reime
erklingen läßt und auch Hierin an Lingg erinnert, ben
„Srntewagen“;
Run des Tages Gluten flachen,
Miſchen alle zarten Farben
Sid am Himmel hell und Har,
In die Helle ſeh' ich ragen
Einen hoben Erntewagen,
Den umeilt der Schnitter Schar.
Dunkle Arbeit, lichtumgeben,
Nächtige Geſtalten heben,
Schichten letzte Garben leis,
Und des Abends Feierſtunde
Schmückt mit heilig goldnem Grunde
Müder Arme fpäten Fleiß.
Sinnige Betrachtung und empfindungsvolle Berfen-
tung in die Oeftalten der Natur, der Kunft und des
Lebens ift das den Dichter Bezeichnende; Leidenfchaft,
Schwung und Feuer fehlen ihm wie feiner Sprache und
feinen Rhythmen, die mit einer gewiſſen meift trochäifchen
Monotonie behaftet find. Er gibt feine BPerfönlichkeit
nicht ganz aus, fie und feine Weltanſchauung bfidt nur
verhüllt durch feine Bilder und Erzählungen, eine gewiſſe
fünftlerifche Kälte und Objectivität haucht uns troß des
geiftreich Gedachten und ſchön Geftalteten mancherwärts
an; um fo rührender und ergreifender klingt das „Glöck⸗
fein”, die Perle der Sammlung, von großer Zartheit
und Tiefe:
Er ſteht an ihrem Pfühl in herber Qual
Und muß den jungen Bufen kenuchen fehn,
Er if ein Arzt und weiß, fein traut Gemahl
Erblaßt, fobald die Morgenſchauer wehn.
Sie hat geihlummert. „Lieber, du bei mir?
Mir träumte, daB ich auf ber Alpe war.
Wie ſchön mir träumte, das erzähl’ ich dir —
Du ſchickſt mid wieder bin das nächſte Jahr!
„Dort vor dem Dorf — du weißt den moofgen Sein —
Sof ih, und rings umballte mid Setön,
Die Heerden zogen alle mit Schalmein
An mir vorliber von den Sommerböhn.
„Die Heerden ziehen alle heut nach Haus —
Run iſt's die letzte wol? Nein, eine noch!
Noch ein Geläut’ Hingt an und eins klingt aus,
Das endet nicht! Da kam das lette dod).
„Nun alles fill. Es flarb das Abenbroth,
Die Matten dunkelten fo grün und rein,
Die hohen Gipfel fanden bleich und tobt,
Und drüber glomm ein leijer Sternenfchein.
„Ein Glöcklein, horch! Klingt fern es aus der Schludt ?
Irrt e8 verfpätet noch am Felſenhang?
Ein armes Glöcklein, das bie Heerde fucht —
Da wacht' ih auf — und höre nod den Klang.
„Du ſchickſt mich wieder auf die lieben Höhn —
Sie Haben, ſagſt du, mich gefund gemadt...
Da war's jo ſchön, da war's fo wunderſchön!
Das Glöocklein! Wieder! Hört du's? Gute Nacht!“
An folden, in wenig Worten viel andentenden Sitna-
tionen ift beſonders die zweite Abtheilung: „Erzählungen“,
veih. Es ift alles nur ſtizzirt, aber die Züige find marfig
und vielbedentend, fo in „Amphitheater“, deſſen erſte und
letzte Strophe wir herjegen:
Fechterfptel iſt angefagt anf Heut,
Und die Römerin verfäumt es wicht,
Aus dem Spiegel, den die Sflavin beut,
Schaut ein blafjes Angeficht,
Auf die Bpp’gen Flechten
Drüdt fie mit der Rechten.
Eines Diademes hligend Licht.
Dies fpricht eine „weibliche Geftalt, groß, als wäre
fie der Geift von Rom”, der übes der Arena ſchwebt.
Die Stoffe zu diefen concentrirten Geſchichtsbildern
find dem alten Hellas und Rom, doc einige and) dem
Mittelalter und einer neuern Zeit entnommen; bie In⸗
fcenefegung ift frappant, der zu Grunde liegende Gedanke
ift faft immer bedeutfam und poetifch, tritt aber zumetlen
nit Mar genug heraus, vor allem da nicht, wo die Dar-
ftellung fi auf ein wenig belanntes, ber Specialgefchickte
entnommenes Yactum bezieht. Beſonders angefprocden
haben uns „Die Fahrt des Achilles” mit dem Schlau
vers: „Hoch! Homer beginnt fein Lied!“; das tieffinw'ge
Epiſch-lyriſche Dichtungen. 779
„Michel Angelo”; „Bapft Julius“, ein großartiges Cha-
rafterbild; das lebhaft und anſchaulich erzählte „Alexan⸗
der's Fe“; „Die Spielleute“ mit feinen poetiſch⸗roman⸗
tifchen Perfpectiven; „Milton's Wache”, eine rührende
Scene aus des blinden Dichters Leben, in bie eine Stelle
des „Verlorenen Parabiefes” bedeutungsvoll Hineinflingt;
und das „Heimen“. Ein Schiffsjunge hatte auf bes Co-
Iumbus Entdedungsfahrt aus Andalufien dies Luftig zir-
pende Thierchen mitgebracht:
Doc als das letzte Grün verſchwand,
Da ward’8 dem Heimchen ſchaurig,
Beklommen ſaß es an ber Wand
Und wurde fan! und traurig.
So darbt's und dämmert's Iange hin,
Ich gab es ſchon verloren,
Und nun, fo wahr getauft ich bim,
Iſt es wie neu geboren.
Das Heimen zirpt! Das Heimchen zirpt!
Es glaubt fi ſchon im Grünen;
Wer fpielt, gewinnt. Wer wagt, erwirbt,
Das Glück ift mit dem Kühnen.
Das Heimen belebt den Muth der vergweifelnden
Mannſchaft, und bald erblidt man das erfehnte Land.
2. Reiſegeſchichten. Novellenbud in Berfen von Gisbert Frei-
berrn von Binde Münfler, Brumm. 1869. 16. 1 Chlr.
Der geiftoolle und fprachgewandte Verfaffer bringt
uns in diefem poetifchen Novellenbuch eine bunte Reihe
bon Bildern und Erzählungen, die eine in Paris bei ber
Weltausftellung fid) zufällig zufammenfindende Geſellſchaft
von Gelehrten und Künftlern einander mittheilt. Sie
waren fich früher fchon in Benedig in freundfchaftlichen
Zufammenkünften näher. getreten und nehmen jett gegen-
einander fein Blatt vor den Mund; das fieht man an
ber Art und Weife, wie das jedesmal von einem ber
Mitglieder Vorgetragene kritifirt wird. Es gefchieht dies
unter fortwährender Anfpielung auf die neuere beutjche
Aeſthetik und Kritik, auf die mancher fatirifche Pfeil ab»
gefhofien wird. Die nach Art der Erzähler im „Deca-
merone” ober in ben „Canterbury Tales” Berfammelten
und in ihrer originellen Eigenthümlichfeit Gezeichneten brin-
gen zum heil Selbfterlebtes, ihre eigenen Abenteuer vor.
Der Ton ift meift humoriſtiſch und leicht, wie es ber
Segenftand mit fi bring. Mitunter ift es ein geift-
reiches Spiel mit einem Nichts, das erft bie Darftellung
zu etwas macht, diefelbe gefällt fi) dabei in jenen fort
währenben Abjchweifungen und Selbftunterbrechungen, wie
wir fie aus Byron's „Beppo“ Kennen, der als Muſter
auch für bie virtuos ausgeführten Reimkunſtſtücke gedient
zu haben fcheint.. Daß diefelben in ihrer Barochheit oft
zu einer wigigen Pointe führen, dient ihuen wie ben
fatirifchen Nebenfprüngen zur Entſchuldigung. Indeſſen
das Lejen mit Hindernifien, bei bem wir im jedem Augen-
blick den Faden verlieren, wirft doch zulegt ermüdend,
und ber leichtfpielende Humor wird, weil er zu oft und
zu viel fpielt, mitunter Täflig, wie gewandt die Sprade
dabei auch in allen möglichen Tönen gehandhabt wird.
Uns wenigftens haben die ernft gehaltenen Erzählun-
gen, unter denen ber „Manalibrunnen” und „König
Edgar” wol die bebeutendften und poetifchften find, am
meiften angejprochen. Bei einigen ber anbern ift der
Inhalt body zu unbedeutend, als daß die wigig grazidfe
Behandlung darüber wegfehen ließe. Jedenfalls wird die
Zahl ber Leſer, die daran Gefallen findet, nur Hein fein,
denn nicht alle find im äſthetiſchen Feingeſchmack fo weit
vorgefchritten, daß ihnen das Wie wichtiger ift als das
Was; auch find nicht alle in der Schweiz, in Italien,
in Paris und andern Großftädten genug bewandert und
mit den mobernen Keifefitten, Kunft- und Literaturzuſtän⸗
den vertraut, um bie darauf bezüglichen witigen und geift-
reichen Andeutungen und Seitenhiebe zu würdigen. Der
Berfaffer wirb mit feinen bunten Arabesken und feinen
Federſtizzen wol nur auf ein excluſives Publilum von
gebildeten Weltleuten und Kunſt⸗ und Literaturfreunden
zu rechnen haben.
-
3. Bon der Nordmark. Romanzen und Balladen von Ale⸗
Se bon Schrenck. Leipzig, Weber. 1870. 16.
r.
Der Verfaſſer hat mit großer Gewiſſenhaftigkeit unter
jedes, auch das kleinſte ber Gedichte das Entftehungs-
datum gefegt. Wir erjehen darans, daß er feit mehr
benn dreißig Jahren in berfelben Weife bichtet und ſich
eines Immergrüus ber Gefühle, einer Kindlichkeit und
Naivetät noch im Yahre 1869 erfreut, die ſchon 1835
aus feinen Liedern fpricht. Der über 400 Seiten flarke,
elegant ausgeftattete Band enthält Romanzen.und Balla⸗
den, Erzählungen und Lieder der Liebe, die fi in das
„Buch Edda” und das „Buch Inlien“ theilen, Mit
Ausnahme der Erzählungen, die allerdings ſehr faßbar
und breit find, iſt das meifte äußerſt unflar und ver-
ſchwommen; es find Zöne, Klänge und Weifen, die an
Eichendorff, Heine, Uhland u. f. mw. erinnern, aber das
ift auch alles, zu einer Haren anfchaulichen Sitnation,
zu einem verſtändlichen Gebaufen kommt es felten. Cs
find meift Lieder, wicht ohne Worte, aber ohne Sinn,
wenigftens ift letzterer, um ein bem “Dichter geläufiges
Bild zu gebrauchen, fo verborgen wie bie Perle des Tau⸗
here. Zum Beweiſe dafür, welch wunberlidder Sprache
fi) der Berfafier bedient, um wunderlich Gedachtes und
Enpfunbenes zu malen, citiren wir die „Kerzenzieherin“,
die aus dem Jahre 1861, dem dritten Schöpfungsluftrum
ftammt:
Des Küfters Tchterlein feine
Zog gelbe Wachsterzelein;
Sie hielt fie im fauberen Schreine
Und wog den Käufern ein.
Die Kerzen, fie flimmern belle
Am grünen Tannenbanm,
Davor lebt ein alter Geſelle
Und träumt einen füßen Traum;
Er tränmet von Jugendtagen,
Bon Lieb’ und Liebesglüd,
Die alten verfchollnen Sagen
Bringt ihm der Traum zuräd.
Sie fieht zu ihm, die Kleine,
Die Kerzenzieherin, —
Sie weiß nit, warum er weine,
Erräth nicht feinen Sinn.
Und baben’s ihm doch ihre Kerzen,
Ihre Augen angethan:
Sie wedten ihm tief im Herzen
Den alten glüdlihen Wahn.
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Sie hat wol die Kerzen vergiftet,
Die Heine Here, im Guß,
Das Unheil al damit geftiftet,
Daß ihrer er träumen muß.
Es ift für uns ein Räthfel, daß man fo viel derartige
Lieder fingen kann, wie hier mit ftaunenswerther Uner-
müblichfeit dreißig Jahre lang gefchehen if.
Die Erzählungen find lang ausgejponnen und frei
von aller Poefle, deswegen lieſt man bie ihnen zu Grunde
Tiegenden Anekdoten auch lieber in Profa. Als Probe
ber Naivetäten, an benen dieſe Erzählungen reich find,
citiren wir zwei Stropfen aus „Fatime“. Dieſe Cir⸗
caffterin, die allerlei Fährlichleiten zu beftehen hat, er-
zählt einem jungen englifhen Matrojen, daß ihr ein alter
Paſcha nachgeftellt habe, im folgender Weife:
Alltäglich drängt’ der Arge
Mich hart mit feinem rein,
Bald ſchmeichelnd und bald drohend
Er ſtürmte auf mid) ein,
Doch konnt’ ich für die Liebe
Beradhtung nur ihm beu’n; (sic)
Ein freies Weib der Berge,
Ich troßte feinem Dräun.
Dod genug der geftotterten Phrafe der Unkunſt.
„Fatime“ datirt von 1862, aljo aus ber legten Ent-
widelungsperiode des Dichters.
4. Sriedrih der Einzige. Ein Gedicht von Karl Edwin
Billing. Berlin, ©. Dunder. 1870. 8. 22%, Ngr.
Eine verfificirte Gefchichte Friedrich's U. und feiner
Kriege, und kein Gedicht, obgleich es der Verfaſſer fo
nennt. Wahrfcheinlih Hat ein Handbudh für Schulen
zum Grunde gelegen. Zum Epos gehört ein Held und
eine Handlung, beide find dba; aber es gehört auch Cha⸗
rafteriftit und Compoſition, Kunft und Poefle dazu — von
dem allen finden wir wenig, es find aneinandergereihte
Erzählungen und Schilderungen in meift hölzernen Ber-
fen und oft trivialer Diction. Der originellen Kraft, bie
Scherenberg in feinen Schlachtgemälden entfaltet, entbeh-
ren bie Mölling’fchen ganz und gar, fie find farblos und
enthalten Stellen wie folgende (S. 37):
Da zit Therefia ihr leuchtend Schwert,
Und Brown und Königsed befteigen’s Pferb.
©. 29 fagt der Abt eines fchlefiichen Klofters zu
Friedrich:
Ich ehr' die Gottheit in des Krenzes Zeichen,
Auch ohnedem kann ſie der Geiſt erreichen —
worauf jener mit Anfpielung an bie bekannte Façon ant-
wortet:
Nach feiner Art mag jeder felig werden,
Kein Glaube fHör’ den anderen auf Erden.
Wir denken, dies genügt zum Beweife für unfer Ur-
theil. Die Arbeit gewinnt dadurch ein gewiſſes Interefle,
daß fie, aus Amerika fommend, der Königin von Preußen
gewidmet ift und des Verfaffers Zufriedenheit mit der Wen-
dung der deutfchen Dinge wie auch feine Begeifterung
für Preußen und den Hiftorifihen Beruf befielben aus-
fpridt. Seine Sefinnung ift eine durchaus correcte, fein
Ders und feine Sprache find es weniger.
Epiſch-ILyriſche Dichtungen.
5. Serufalems Opfertod. Das Lieb von der Böllerfreiheit. Epos
tu funfzehn Geſängen von Philipp Heinrich BWolff.
Berlin, Wegener. 1870. & 1 Zhlr. 10 Rear.
Hier ift mehr als gereimte Hiftorie, Hier ift ein An-
fa zum Epos vorhanden. Joſephus und andere Duellen
werben nicht blos in Verſe gebracht, fondern das Ganze
bat auch einen poetifchen Mittelpunkt: die Rache Berenice's,
die den Titus zum Bernichtungslampf gegen Jerufalem
entflammt, weil Eleazar, der Held des Gedichts und ber
Anführer der Juden, ihre Liebe getäufcht hat. Der Ber-
faffer entfaltet in funfzehn Geſängen ein umfaffendes
Gefhichtsgemälde und Holt mitunter, 3. B. in ber römi⸗
fen Kaifergefhichte, weit aus, verliert aber troß aller
Epifoden und aller Details doch nie den Faden und ift
fi, feiner Aufgabe immer bewußt. Er fieht im Kampfe
Zubäas gegen Rom den Kampf ber Freiheit gegen Ty-
rannei und bat, das fühlt man, ein patriotifches unb
perjönliches Pathos, das feiner Darftellung vom tragifchen
Untergange Jeruſalems und dem Schidfal Iſraels in
mancher gehobenen Strophe Schwung und Wärme ver-
leiht. Im großen und ganzen beweift aber auch fein
Verſuch die Unmöglichkeit, der Poefle und der Geſchichte
ugleich gerecyt zu werden. Es ift Bier ähnlich, wie mit
ingg's „Bölferwanderung”. Die Schwere und die Waffe
bes Hiftorifchen Detaild, von der er fi) vermöge ber
Anlage des Gedichts nit losmachen Tann, brädt ige
überall, wo er ſich frei auffchwingen möchte, nieder,
hemmt den Gang der Handlung, und führt zu Explica-
tionen und Deductionen, die nur in Profa gegeben wer⸗
den können und in feinen Strophen zu oft einen harten
und holprigen Ausdrud finden, wie fehr er fi aud um
Reinheit und Correctheit der Sprache bemüht und in
Bewältigung von fchwer in Reim und Rhythmus zu
bringenden Einzelheiten nicht ohne Gewanbtheit if. Ge⸗
währt das Gedicht auch Feinen harmonischen Eindrud, fo
bält dafſelbe doch vermöge feiner Mannichfaltigkeit, feiner
Lebendigkeit und des anziehenden, noch felten poetiſch
behandelten Stoffs das Intereſſe bis zu Ende feſt und
darf der Aufmerkjamkeit auch der nichtjübifchen Lefer
empfohlen werben.
6. Paulus. Dramatifches Gedicht in dreißig Gefängen ven
Theodor Fronmüller. Duderow, Buchhandlung des
Lehrerwaiſenhauſes. 1870. Gr. 16. 24 Ngr.
Bei ernften Dingen fol man ernfthaft fein; es iſt
aber nicht unfere Schuld, wenn wir beim ftillen Lefen
biefe® Opus mehr als einmal laut gelacht haben. Die
unfreiwillige Komik, die fich hier entfaltet, ift aber gerabezu
überwältigend. Man lefe nur (S. 143) folgendes büftere
Gemälde von Pauli Schiffbruch:
Und böher fleiget des Sturmes Wuth!
Sid grauend — hinter der Wolte verfledt
Die Sonne fi hält; das Gleiche thut
Der Mond; und die Sterne, Hold erfchredt,
Berweilen zitternd in fichrer Kammer
Nicht ſchauen wollend des Schiffes Sammer u. ſ. w.
Dder ©. 156;
Beſuvius dort
Rechts vom Bord
Düfter ſich redend,
Städte erfchredend,
Unheil erbedend,
Sinnend ob Mord.
Epiſch-lyriſche Dichtungen. 781
rau — ſchau — wen, du Städtepaar
Liegft fo ſicher. Es lauert Gefahr.
Siehe doch, fieh
Puteoli!
Ende der Reiſe
Naſſem Gleiſe
Klind’geu mit Fleiße
Anf wir allhie
Das bedrohte Städtepaar ift, wie die Note befagt,
Hereulanum und Pompeji. Die Noten find überhaupt
fehr nützlich, 3. B. wenn e8 im Text (S. 81) heißt:
Nicht darf des Sterblicgen ber Lichtverflärte,
Nicht deiner Pflege, armer Erdenfant! —
fo fagt die Note: „barf — bedarf“, ein neu eingeführtes
Berfahren, das wir auch andern modernen und dunkeln
Dichtern anempfehlen. Die dreißig Gefänge find, wie wir
zur Beruhigung bemerken, feine Gefänge unb haben Feine
epifche Länge, es find kurze Rhapfodien in allen mög⸗
lihen Rhythmen und Reimweiſen. Weshalb der Ber-
faffer die Zufammenftelung berjelben ein „dramatiſches“
Gedicht nennt, ift nicht erfitlih. In der Widmung an
fein „werthes pommerfches Freunde⸗Kleeblatt“, die Herren
Baftoren u. f. w., fagt der Dichter:
Es grüßt herüber und binliber,
Es Uingt herab, es Klingt herauf,
Des mad’ uns lieb und lieber
Zu wallen fingend unjern Lanf.
Wir glauben aber, ernfthaft gefprocdhen, nicht, daß
ſolches Singen , ſolche Ansfchmüdungen und Berwäf-
ferungen ber Heiligen Schrift, der Religion einen guten
Dienft leiften; der Poeſie Leiften fie wenigftens einen fehr
ſchlechten.
7. Ein Blatt Geſchichte. Bilder aus dem bibliſchen Morgen⸗
laude, von M. Letteris. Leipzig, Leiner. 1870. 8.
20 Nor.
In der aus Wien im Auguft 1869 batirten Vorrede
fagt der Berfaffer: „Das Heine Bud, das ich Hiermit
dem freundlichen Lefer vorlege, tritt nad) ben angebeu-
teten Umriffen anſpruchslos auf den Büchermarkt als ein
Refler mehrerer im Talmud, Midrafh uub fpätern die
biblifchen Sagen weiter fortführenden und fortdichtenden
zerfireuten Sagen und Legenden.”
Hier haben wir es nicht, wie in der eben beſproche⸗
nen Berballfornifirung der Apoftelgefchichte, mit hohler
Berſemacherei zu thun, fondern dichteriſche Begabung,
verbunden mit tief eindringender Gelehrfamleit tritt uns
entgegen. Aus allem und jedem weht uns ein Hauch
des Drients an. Der Berfafler lebt und webt in jener
ihm heimifchen Welt, er Hat fi) mit den nur wenigen
zugänglichen Quellen al gelehrter Sprachforſcher befannt
gemacht, und bietet bier dem größern Publifum in ganz
deutfch gewordener, poetifch gehobener Form die ſchmack⸗
bafteften Früchte feiner Studien. Es if ein hoher Ge-
nuß, dur ihn in die Gedankentiefe, die Bilderpradt
und die bebeutfamen Allegorien jener erfindungsreichen
Sagenzeit eingeführt zu werden. Angeregt durch Goethe,
der, wie er im vierten Buche von „Wahrheit und Dichtung“
erzählt, fchon in feiner Jugend mit dem Gedanken um⸗
ging, die Gefchichte Joſeph's zu einem Epos in pro-
faifcher Form zu verwenden, gibt uns Letteris eine indi-
vidualifirende, in die Tiefen der Piychologie Binabfteigende
Erzählung von Joſeph's Schidfalen, für die er außer den |
altteftamentlichen Quellen auch manches aus dem Talmud
u. f. w. benugte, was ihm Gelegenheit gab, fi in an-
ſchaulichen Schilderungen des Landes und ber Zeit zu
ergeben und einige tieffinnige Paramythien einzuflechten,
Obgleich die Sprache eine ganz moberne und keineswegs
nah Archäisınen hafchende ift, fo durchhaucht das Ganze
doch ein bibliſch alterthlimlicher Geift.
Auf dies Gedicht in Profa folgt eine Reihe Heinerer
Gedichte in modernen Versformen, denen allen ein alt
morgenländifcher Stoff, eine biblifhe Anſchaunngsweiſe
zum Grunde liegt. Unter diefen poetifchen Nachbildungen
findet fich viel Ergreifendes und Tiefgedachtes von orien«
talifchem Hauch Durchwehtes, das vermöge feiner Bedeut⸗
famfeit und Neuheit ein hohes Intereſſe erregt. Man
Iefe nur das Gedicht: „Ehre dem Biederweib“, metriſch
nad dem Xert der Sprüde Salomonis, ein Lied, das
Herber das goldene Asbsc der Frauen nennt, um zu fehen,
wie entfprechend der Berfafler den Ton innezuhalten weiß.
Wir fegen einige Strophen her:
Wer fih ein edles Weib errungen,
Dem ift ein feltuer Kauf gelungen,
Bernbigt lebt und fchafft der Mann,
Der weiß, wem er vertrauen kann,
Es fuhlt, was ihm die Gattin werth,
Die treu er liebet und ernährt;
Des Segens Fülle, Gottes Spende
Gedeiht und blüht dur ihre Hände —
Mit frohem rüfligen Beginnen
Beſchickt fie finnig Wol’ und Finnen,
Sie bringt dem Kaufmannsſchiffe gleich
Gewinn ins häuslihe Berih — — — —
Bor den fo oft wiederholten und meift misrathenen
Berfuchen, Bibelterte in moderne Berfe zu bringen, zeich-
nen ſich dieſe „Bilder aus dem biblifchen Morgeulande“ in
erfreulicher Weife aus, fle find ber Begeiſterung entfprungen
und haben eine tiefe Kenntniß zur Grundlage.
8. Joſephine. Liebe, Olaube und Baterland. In Romanzen
von Joſeph Pape. Dritte umgearbeitete und vermehrte
Auflage. Paderborn, Kleine. 1868. 16. 12 Nor.
Ein in wohlgeformten Bierzeilen gefungenes Idyll
der Liebe, das auf dem Boden Weftfalens fpielt und
bübfche Landſchafts⸗ und GSittenfchilderungen mit indivi⸗
duellen Zügen und nationalem Colorit enthält. Indeß
das als real Dargeftellte löſt fih in eine Allegorie
auf und Hat nur eine fombolifche Bedeutung; mit bem
Mägpdlein find Vaterland, Liebe und Glaube gemeint.
Die Dichtung ift in romantifch Tatholifchem Geifte ver-
faßt, der Dichter Hofft auf Vollendung des Doms, befien
Niefenbogen das verfühnte deutfche Volt umfangen wer-
den, und befingt die chriftlichen Feſte, die Tage ber Hei»
ligen, und erzählt ihre Legenden in der Weiſe unjerer
frühern Romantifer, zu welcher ber Bifpanifirende, nur
auf die Dauer monoton werbende vierfüßige Trochäus
nicht übel paßt.
Der Berfaffer hat, wie wir auf dem Umfchlag des
Büchleins fehen, fchon einen „Treuen Edart, ein Epos
von. deutfcher Entzweinng und Verſöhnung“, und bie
„Weiffagungen bes heiligen Johannes zum Berftänbnig
unfers Zeitalters“ herausgegeben, und da feine „Joſephine“
bier ſchon in dritter Auflage vorliegt, fo ift anzunehmen,
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182 Feuilleton,
daß feine fpecififcde Richtung, und die Art und Weife, | man für biefe romantifch - mittelalterliche Anfchauungs-
wie er dem Myſtiſchen Geftalt und Farbe zu geben weiß, | weife keine Sympathie mehr. Das Boetifche, das im ihr
im Lande Weftfalen Anklang findet. Im proteftantifchen | Liegt, hat, wie wir gern zugeben, der Berfafler ſehr wohl
Dentfchland, wenigfiens im größeren Theil defielben, hat | zur Anſchauung zu bringen gewußt.
Feuilleton
Netrologe.
Einige namhafte Schrififteller find in jüngfter Zeit ver-
zben.
Bogumil Goltz, der humoriſtiſche Neifeprediger, farb
am 15. November in Thorn. Er war am 20. März 1801
in Warſchau geboren, wo fein Vater damals ein juriftifches
Amt befleidet hatte, und befuchte die Gymnaſien in Königsberg,
ohne indeß einen regelmäßigen Curſus auf der Univerfität zu
abfolviren, objchon er fpäter in Breslau Vorleſungen mit an-
hörte. Deshalb vermiflen mir and im feinen Schriften die
Sicherheit, die Formbeherrſchung und den Geſchmack, wie fie
nur eine alabemifhe Bildung zu geben weiß; es klebte ihm
zeitlebens etwas vom Autobidalten an, das Schroffe, Willkür
liche und die Ueberſchätzung eigener Inſpiration. Eigentlich
Een er bie Landwirtbichaft praftifch erlernt, war auch eine
eit lang Gutsbeſitzer, doch fah er fich genöthigt, fein Gut zu
verfaufen, auch gab er einige übernommene Pachtungen wie
ber auf und lebte als Einfiedler in Gollab nur- feinen Studien.
Um nidt in diefer Kleinftädterei zw verfumpfen, muchte er
große Reifen in Polen, Deutfchland, Frankreich, England, Ita-
ien, Aegypten und Algerien, und legte die Welt- und Lebeus⸗
erfahrungen, die er fich auf demjelben erworben, in Schriften
nieder, die ihm bald Titerarifchen Ruf verfchafften. Sein „Bud
ber Kindheit‘‘ erſchien 1847, „Ein Iugendleben, biographifches
Idyll aus Weſtprenßen“, 8 Bde., 1852, in zweiter um-
earbeiteter Auflage 1865, „Ein SMeinfläbter in Aegypten‘
1868 Diefe Schriften waren durchaus autobiograpbifcher
Natur, Lebens. und Meifeerinnerungen. Später folgten obs
jective Studien über die Raſſen und Nationalitäten: „Der
Menſch und die Leute‘ (5 Hefte, 1858), und fociale Stu⸗
dien, in denen er namentlich dem fchönen Gefchlecht eine nicht
immer ſchmeichelhafte Aufmerkfamkeit widmete: „Feigenblätter“
(3 Bde., 1861—62), „Zur Charakteriſtik und Naturgefchichte
der Frauen‘ (1859), „Typen der Geſellſchaft“ (2 Bde., 1860),
„Die Bildung und die Gebildeten“ (2 Bbe., 1864) u.a. Goltz
begab fich auf Reifen und hielt humoriſtiſche Borlefungen wie
Saphir; namentli errang er fich in Wien große Erfolge. Er
if als ein literariider Sonderling, ein humoriſtiſch⸗ſatiriſcher
Franc⸗tireur zu betrachten, der in vieler Hinfiht an Sean Baul
erinnert, nur daß er feine größere Eompofition gefchaffen bat
und bie Ertrablätter fi bei ihm in Permanenz erflären. Die
Borliebe für die kleinſtädtiſche Idylle und die Meifterfchaft im
ihrer Zeichnung hat er mit dem Humoriſten von Wunſiedel
emein; ebenjo eine unerſchöpfliche Fülle von Einfällen umd
dern. Doch ift diefer Reichtum nur ein fcheinbarer. Seine
Bariationen haben meiftens biefelben Themata zur Grundlage;
ber Proteft gegen bie Zeitbildung, der bei ihm aus einer Mnor-
rigen Driginalität bervorgebt, wiederholt fi mit einfeitiger
Hartnäckigkeit; dem tiefern Ideen und Tendenzen bes modernen
Geiſtes fand er fremd gegenüber. Doc mag er als Sitten⸗
maler das Lob, da8 einem Lauremberg und Mofcherofch zutheil
geworden, mit Recht für fih in Anſpruch nehmen; er hatte
Sinn für raſche Auffafjung des Eigenthümlichen im Menjchen-
und Naturleben, ſoweit es hanudgreiflich und augenfälig war,
and Humor und Satire in der Einfleidung feiner Schilderung.
Am 16. November flarb in Leipzig Adolf Böttger,
ein Dauptvertreter jener Iyrifch - epifchen Poefte, wie fie, feit
Byron's Borgang auf) in Dentichland Mode geworden, und
als Ueberſetzer englifcher Dichter von großem Berbieufl. Er
war am 21. Mai 1815 zu —A geboren, wo fein Vater als
Steuereinnehmer lebte. Diefer befchäftigte fich mit engliſcher
Lexikographie, was anf die frühe Bekanntſchaft des Kuaben mit
engliſcher Literatur wicht ohne Einfluß blieb. Er findirte in
Leipzig feit 1836 und wibmete fich feitdem ausſchließlich Titera-
riſcher Seieäftigung. Seine Ueberfegung von Byron's Wer⸗
fen (1840, 1 Bd.; 1841, 12 Bde), mit welcher ex fih in
unfere Literatur einführte, zeichnete fih durch ausnehmende
Formgewandtheit ans und blieb, bis zum Erfcheinen der Gilde⸗
meifter’fchen, ohne jede gleichberechtigte Concurrenz. And an-
bere englifche Dichter, wie Milton (1846), Bope (1842), den
Offien (1847), ferner einige Stüde von Shaffyeare und Racine’s
„Phädra“ eignete er ber deutichen Literatur au. In der an
ezeichneten Schule poetilher Formgewandtheit, wie fie im der
Heberfetung bichterifcher Meiſterwerke Tiegt, bildete ſich erſt fein
eigenes Zalent heran, welches namentlid von den Engländern
die Richtung auf das anjhaulide Stimmungsbild überlam.
Seine „Gedichte“ (1846) haben geringen Werth, ba fie originefle
Prägnanz und geiftige Bedeutung bei Klarheit der Form umb
Zartheit der Empfindung vermifien Iafien; doch GShaffpeare’s
Eifengeifter tummeln fi, neu zum Leben erweckt, mit Tieblicher
Phantaſie und frifhem Humor, in dem „Frühlingsmärchen“
(3. Aufl., 1850) und in der „Pilgerfahrt der Blumengeiſter“
(1861), Im den „Duſtern Sternen‘ (1852), der „Habana“
(1853), dem „Fall von Babylon“ (1855), zeigt fich der Einfluß
Byron’s in ſchwunghafter Schilberung, in dem Glanz exotiſchen
Colorits, und nur die burdh alle poetiihen Berhüllungen durch⸗
fhimmernde Eigenart des britifchen Dichters weicht bier einer ob»
jectivern Hingabe an die poetifche Darftellung. Die Charaktere
find indeß flets nur mit lyriſchen Streiflichtern, nicht mit epi-
Ihem Behagen gezeichnet. Einen Humor, defien Geſchwätzigkeit
und parodifiiihe Versbehanblung fih an „Don Juan“ umd
„Beppo’' gebildet hatte, verräth befonders „Zi Ealenipiegel‘
(1850) und mandjes humoriftiihe Fragment, das in die Ge⸗
fammelten Dichtungen‘ (1865-68) aufgenommen wurde. Wie
ihon früher ein Drama: „Agnes Bernauer‘, vollendete Böttger
furz vor feinem Tode eine Fauſtiade en ministure: „Das Galgen-
männlein‘‘ (1870), die wir vor kurzem in d. Bl. befpraden.
Die Einfamfeit deutjcher Literatenflelung und die Borliebe fr
jene falſche Genialität, wie fie zu Grabbe's Zeiten und nad
dem Borbild biefes wüſten „Oenies“ ange in ber Literatur
gepriefen wurde, führten den begabten Dichter auf Abwege im
eben, welche fein Talent nicht zu voller Entwidelung fommen
ließen. Hierzu kam ber Unfegen der Berbältniffe und des Zeit-
gelamads: wie könnte heutzutage eim lyriſcher Dichter vom
rtrag feiner Dichtungen leben? Und Böttger dachte umb
frieb nur in Berfen! So hatte ex mit der Noth des Leben
zu fümpfen und verfiel, um diefe zu überwinden, immer mehr
jenen „genialen“ Angewohnbeiten, dur welche die Singer
Grabbe's ihre erhabene Ausnahmeflellung Über dem Philifterium
barzuthun ſuchten. Einzelne feiner Dichtungen werben den phan⸗
tofiereichen, formbegabten Dichter überleben.
Die Prinzeffin Amalie von Sachen, welche am 20. Iufl
1870 in Dresden ftarb, die ältefte Schweſter des Königs Johann,
wurde am 10. Auguft 1794 geboren, begleitete ihren Obeim,
den König Anton, auf großen Reifen in Italien, Franirei
und Spanien. Sie hat ſich ale Bühnenfchriftftellerin {yon fr
einen Namen gemacht, indem fie 1829 unter dem Pfeubonnz
„Marie Amalie Heiter‘ ein Schaufpiel: „Der Krönumngstag‘
nnd 1830 ein zweites: „Mesru“ jchrieb. Beide wurben im
Dresden mit Beifall gegeben. Allgemeinen Erfolg errang fle
fih mit dem Schaufpiel: „Lüge und Wahrheit‘ (1833), welchen
jpäter noch zahlreiche andere bürgerliche Kamiliengemälde: „Dei
Feuilleton. 783
u
Oyeim, „Die Fürftenbraut“, „Die Braut ans der Refidi
jetter Heincih” u. a. folgten. Gemeinfam ift allen
Städen der Sinn für Bürgerfihe Schlichtheit und Tüchtigkeit,
ein gewandter Dialog, eine Bühnenfenntniß, welde den
Kualleffect verfjmäht, aber body heitere Ueberrajhungen liebt,
eine mohlwollende und wohlthuende Anffafjung der Lebens“
verhaltniffe.
Bibliographie.
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Anzeigen
Dertag von 5. A. Brodfaus in Leipzig.
NUOVO METODO PRATICO E FACILE
per imparare
LA LINGUA TEDESCA
Dr. F. Ahn e Prof. Enrico Wild.
Seconda edizsione emendata.
Oorso primo, dal Dr. F. Ahn. 12 Ngr.
Corso secondo, dal Prof. Enrico Wild. 16 Ngr.
Traduzione tedesca dei temi nei due corsi. 8 Ngr.
Vorliegende drei Bändchen bilden zusammen eine voll-
ständige Anleitung für Italiener zur leichten Erlernung
der deutschen Sprache. Der erste Cursus ist von Dr.
F. Ahn verfasst; nach dessen Tode bearbeitete Professor
Heinrich Wild, Director der Handelsschule zu Mailand,
unter genanem Anschluss an die bewährte Ahn’sche Me-
ode, den zweiten Cursus, wie derselbe auch die soeben
erschienene zweite verbesserte Auflage beider Curse
herausgegeben und mit einem Schlüssel vermehrt hat.
Graetz, Geschichte, XI. Bd.
Berlag von Oskar Seiner in Lripjig.
Graetz, Prof. Dr. H., Gefäiäte der Juden
bom Ber der Mendelsſohn'ſchen Zeit (1750) biß in
bie neue] e Zeit (1848). XI. Sb. 40 Bog. gr. 8.
Preis 27%, Thlr.
Die längft erwartete Fortfegung und der vorläufige
Schluß biefes ausgezeichneten Geſchichtswerles Tiegt im
dem 11. Bande nun dor, mas bie vielen freunde bes
berüßmten Hiforifers mit rende begrüßen werben. &or
eben erſchien ferner:
Graetz, Prof. Dr. H., Seigiäte der ben
öl! auiſchen Cultur (1027). V. Band. Preis
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8. December 1870.
Inhalt: Neue Erzählungen und Romane. Bon Rudolf Gottſchal. — Zur Charakteriſtik der erſten franzöſiſchen Republik. —
Vom Büchertiſch. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen.
Nene Erzählungen und Romane.
1. Das Vermächtniß Kain’s. Novellen von Sadher-Ma-
ſoch. Erſter Theil: Die Liebe. Zwei Bände. Stuttgart,
Cotta. 1870. 8. 3 Thlr.
Sacher-Maſoch's farmatifche Mufe, die hoch zu Roß
figt mit Sporen und Neitgerte als eine emancipirte, von
ber Glut der Leidenfchaft trunfene Amazone, bat jett eine
Allianz gefchlofien mit dem Peſſimismus dee franffurter
Meltweifen, der einfam mit feinem knurrenden Pudel
durch Feld und Stoppeln ſchweifte und beobachtete, wie
fi in feinem Begleiter das Abfolute, ber Willen, regte,
das ewig Pofitive, im Gegenfag zu bem Yanft- Pudel,
der ſich aufblähend den negativen Geift gebar. Und aus
diefer Allianz zwifchen der wilden Sarmatin und dem
ſchwarzgalligen deutfchen Denker erfteht ein Gefchlecht von
Novellen, nicht harmlos, wie die Plaudergefchichten der
aus der Arnoftadt verfcheuchten lorentiner während der
Bet, fondern alle gewaffnet mit dem gleichen Stachel bes
Peſſimismus, deffen hohes oder vielmehr tiefes Lied von
ihrem vollbefetsten Orchefter angeftimmt und begleitet wird.
Die Summe aller biefer Novellen fol eine Welt- und
Lebensanfchauung vertreten, welche ala eine philofophifche
von moftifcher Tiefe Hinlänglich durch den Titel: „Das Ver⸗
mächtnig Kain's“, bezeichnet ift. Denn man würde dieſen Titel
eher bei einem philofophifchen Gedicht oder einem Trauer⸗
fpiel nad) Art der Byron’fchen „Mysteries“ erwarten, als bei
einem Novellencyklus, der jedenfalls fehr bänbereich zu wer-
den verfpricht, da nur das eine Legat aus dem verhängniß-
vollen Nachlaß bes erften Mörders bereits zwei Bände füllt.
Nicht an die neuern deutſchen Philofophen knüpft in-
deß der Autor in der Einleitung an, fondern an einen
ruffiichen Sektirer, ſodaß das ganze Werk von Haus aus
eine nationale Fürbung gewinnt. Wir erfahren, daß die
Wanderer die eigentHümlichfte und phantaftifchfte aller alt-
gläubigen Selten der ruſſiſchen Kirche bilden, nach deren
Anfchauung der Teufel die Herrſchaft über die Welt be-
fist und jede Betheiligung am Staats» oder Kirchenwefen
1870. 50.
reiner Tenfelsdienft if. Heimatlos fchweift der Wanderer
durchs Leben, ohne Weib, ohne Eigenthum, verwirft
Staat und Kirche und den Krieg, immer wanbernd und
auf der Flucht vor ber Welt begriffen! Das ift im
Grunde die oftafiatifche Weisheit des Buddha, die über
den Kaukaſus und Ural gedrungen ift. Ein folder Wan»
berer begegnet dem Autor und verkündet ihm, daß dieſe
ſechs: die Liebe, das Eigentum, der Staat, der Krieg,
die Arbeit und der Tod das Vermächtniß Kain’s find,
der feinen Bruder erfhlug — ein Progranım, das ung
außer dem erſten noch fünf andere Novellenchklen in Aus⸗
fit ftellt, alles Nachtſtticke, aber nicht in Callot's Ma-
nier, fondern mit philofophifcher Tuſche ausgeführt.
Diefer Plan ift ebenfo unheimlich wie großartig, es
bandelt fih um eine auf den Kopf geftellte Theodicee,
wir möchten fagen um eine „Luciferiade“, die ähnlich wie
der Rucifer Dante's aus ſechs Augen weint.
Der erfte vorliegende Novellenchklus behandelt „Die
Liebe”. Den Prolog zu bemfelben fpricht dev Wanderer
mit den folgenden Worten aus:
„Das Gluück! wer hat es nicht vor allem in ber Liebe ge-
fucht, und wer bat nicht in ihr bie bitterften Täuſchungen er-
fahren? Wer war nicht in dem Wahne befangen, die Befriedi-
gung diefer übermenſchlichen Sehnſucht, die ihn erfüllt, der
Beſitz des geliebten Weibes müſſe ihm volllommenes Genligen,
namenlofe Seligfeit bringen, und wer bat nicht zuletzt trübſelig
über feine eingebildeten Freuden gelacht? Es ift jeine beſchämende
Erkenntniß für uns, daß die Natur biefe Sehnſucht in uns
gelegt, nur um uns zu ihrem blinden, willigen Werkzeug zu
machen, denn was fragt fie um uns? Sie will unfer Gefchlecht
fortpflanzen! Wir können zu Grunde gehen, wenn wir nur ihre
Abficht erfüllt, für die Unfterblichleit umferer Gattung geforgt
haben, und fie hat das Weib mit fo viel Reiz ausgeftattet, nur
damit es uns zu fi} zwingen, uns fein Joch aufladen und ung
fagen fann: arbeite für mich und meine Kinder. Die Liebe
ift der Krieg der Gejchlechter, in bem fie darum ringen, eins
da® andere zu unterwerfen, zu feinem Sklaven, feinem Laft-
thier zu machen, denn Mann und Weib find Geinde von Natur,
wie alle Lebendigen, für kurze Zeit durch die Begier, den Trieb
99 >
1786
fih fortzupflanzen, in füßer Wolluſt gleichfam zu einem einzi⸗
gen Weſen vereinigt, um bann in noch ärgerer Feindſchaft zu
entbrennen und noch heftiger und noch rüdfihtelofer um bie
Herrichaft zu ftreiten. Haft du je größern Haß gejehen, ale
zwiſchen Menjchen, welche einft die Liebe verband? Haft du
irgendwo mehr Grauſamkeit ımd weni
ger Erbarmen gefunden
als zwifhen Mann und Weib? „Ihr Berbiendeten! Ihr aber-
witigen Thoren !
Ihr Habt einen ewigen Bund geftiftet zwi⸗
{hen Dann und Weib, als wäret ih: im Stande die Natur
zu verändern, nach euern Gebdanlen und Einbildungen, zu der
Pflanze zu fagen: blühe, aber verbfühe nie und trage feine
rucht.“
Was uns dieſer ruſſiſche Sektirer hier verkündigt: das
hat er offenbar aus Schopenhauer's „Metaphyſik der Ge⸗
ſchlechtsliebe“ ader aus E. von Hartmann's Auseinander⸗
ſetzungen über „Das Unbewußte in der geſchlechtlichen
Liebe“ in der „Philoſophie des Unbewußten“ geſchöpft.
Beide Philoſophen ſehen in der Geſchlechtsliebe nur eine
Prellerei des Egoismus zu Gunſten fremder Zwecke, der
Zwecke der Gattung. Der ruſſiſche Ahasver gibt uns
nur einen Extract aus dieſen philoſophiſchen Kapiteln;
der Dichter ſelbſt aber liefert in den folgenden Novellen
die Illuſtrationen dazu. Unſers Amts iſt es, ihre Be-
weiskraft zu prüfen.
Die erſte Novelle: „Don Yuan von Kolomea“, er⸗
ſcheint mit einer Vorrede von Ferdinand Kürnberger.
Da eine ſolche Vorrede von einem andern befreundeten
Autor doch nur eine Empfehlung der folgenden Geſchichte
enthält, fo kann man fie blos als eine eingeheftete Re—⸗
clame betrachten und würde ſie um ſo lieber fortwünſchen,
als ſolche Vorreden, namentlich bei einzelnen Erzäh—
ungen nicht Brauch find, als Sacher⸗-Maſoch überhaupt
nicht zu den Autoren gehört, die einer Einführung be-
dürfen, und Ferdinand Kürnberger nicht zu denen, die
durch das Gewicht ihres Namens und ihrer Leiftungen
zu einer folchen berechtigt find, wie er übrigens jelbft mit
vieler Befcheidenheit zugibt. Der Vorredner vermißt in
unferer neuern Literatur die productive Sinnlichkeit, wie
fie nur Goethe hatte; felbft Heine und Uhland hätten nur
reproductive gehabt. „So koſtbar ift poetifche Sinnlich-
feit, und fo hoch fteht fie im Preiſe.“ Wir müſſen be-
fennen, daß uns der Unterfchied zwifchen productiver
und reproductiver Sinnlichkeit nit Mar geworden ift.
Wahrhaft productive Sinnlichkeit erzeugt Kinder und nicht
Bücher. Wir erfahren ferner, daß aus -dem Often die
verjüngenben Blutftröme in den greifen Körper des Abend-
fandes dringen werden, daß er dem Weſten Neues und
Eigenthümliches zu bieten hat und zwar in ber doppelten
Kichtung des Naturfinns und des Menſchenſinns. Und
zwar handelt e8 fich Hier um den europäifchen Often, als
defien Prophet Turgenjew proclamirt wird! Wir find
gerabe ber entgegengefeten Anficht; diefe panflawiftifchen
Deutfchen, wie Kürnberger, ftellen die Sache auf den
Kopf. Die ganze flawifche Xiteratur ift durchdrungen
von germanischen und romanischen Einflüffen; ohne Byron
fein Puſchktin, ohne Schopenhauer und — Auerbach
fein Turgenjew. Doc Kürnberger fchreibt folgenden Dithy-
rambus:
Sollen hyſteriſche Blauſtrümpfe und gedankenblaſſe Can⸗
didaten, chriſtbaumaufputzende Goldſchnittdichte und Manu⸗
facturiſten der Leihbibliothek, oder wol gar poetaſternde Mena⸗
gerien der Höfe (wenn dieſe zu beſtehen fortfahren) den Dich⸗
tergarten Deutſchlands im Blühen erhalten? Welche Gärtner]
Neue Erzählungen und Romane.
Sitzende Menſchen bebürftig der Waſſereur. D es wäre ein
ſchöner Gedanke, wenn uns in ber langen anstroduenden Dürre,
in der wir von Goethe I. bis Goethe II. fo manchmal ver-
jagen würden, ein Hand der Erquidung aus der großen ur⸗
alten Lebenspforte des DOftens anmwehte, wenn aus den flammt-
verwandten Blute der Slawenfamilie, uns gleich an Sangesluft,
an Gemüth und häuslichem Sinn, aber in al ihren Tugen⸗
ben noch unverbraucht, ungeholzfchnittet und unillufirirt, Dichter
auferflünden, welche die deutſche müdhinſinkende Feder ergriffen,
am fie mit frifherm Ingendfinn liber jungfräuliche Fluren ber
Phantafle zu führen. enn flatt der zerfungenen Rebe bes
Rhein, welche von Literatenlippen hinweg in excluſtv fürſtliche
Keller fließt, die demokratiſche Traube des Bruth unfere welten
Ziegenſchläuche füllte, wenn ftatt des kurz und Hein durdfor-
fleten Schwarzwald das unberührte Urmaldsland der freien
Huzulen feine Dorfgefhichten erzählte, wenn flatt Menfchen,
welche zwiſchen dem Staatseramen und ber Staatsanftellung
dichten, die forglofen Jünglinge dichteten, melde die Yale des
Bug und die Lade des Sanfluffes angeln; wenn ber Frucht⸗
garten von Kolomea feine Duftwollfen aufwirbelte und von dem
Schneegipfel der Tſchernahora die laubſchweren Waldgürtel und
honigtriefenden Wiefengehänge der Karpaten herab bis im bie
italiſch ſonnigen Thalbreiten feiner Obft-, Wein⸗ und Melonen⸗
fülle das erbliche Wohlbefinden der deutſchen Buchpoefie zu⸗
frömtel Es wäre ein jchöner Gedanke, von allen deutfchen
Zräumen vielleicht der fchönfte, weil am wenigſten — Traum.
Es ift ein kühner Gedanke, das den „Ichönften bdeut-
Ichen Traum“ zu nennen, wenn bie Jünglinge zu Did
ten anfangen, welche die Yale des Bug und die Lachſe
des Sanflufjes angeln! Nein, da gibt es, Gott fei Dauf,
für Dentfchland noch fchönere Träume als ein ruthent-
ſcher Dufenalmanah! Der „Don Yuan von Kolomea“
fol nun, nad der Anficht des Autors, keine Zendenz-
novelle fein, fondern ein Stüd — Naturgeſchichte des
Menfhen. Es ift wunderbar, wie diefer Realismus,
der fo gegen die Phraſe proteftirt, felbft ſtets die un⸗
geheuerlichften Phrafen zu Tage fürbert, von der „pro⸗
ductiven Sinnlichkeit” bis zur „Raturgefchichte des Dien-
ſchen“. Die Sache felbft ift feine neue; denn ſchon in
Raff's Naturgefchichte für Kinder findet fi) der Menſch
mit unter den übrigen zoologifchen Wefen behandelt — und
dies Kapitel dürfte mit bem „Don Yuan von Kolomea“
um das Lob wetteifern, cin Stück „Naturgeſchichte des
Menſchen“ zu fein.
Glüdlicherweije ift die Erzählung beſſer als die Bor:
rede. Sacher⸗Maſoch hat mit Turginjew gemein, daß
er für die Bollszuftände feines Geburtslandes (des öſt⸗
Iihen Galizien) einen ſcharfen Blick befigt und auf biefe
wildwachjenden Genrebilder die Augen deutſcher Bildung
oculirt. So find aud die Genrebilder der Schenke und
der damaligen Revolutiongzeit mit großer Friſche gezeich-
net. Der Stil hat etwas kurzathmig Springendes, Blitzen⸗
des, ohme alles epifche Behagen, aber oft voll draftifcher
Kraft. Bon dem Don Yuan, der die Schenke beſucht,
erhalten wir das folgende Porträt:
Er war offenbar ein Gutsbefiger, denn er war fehr gut
gekleidet; fein Tabacksbeutel reich geftidt, feine Art vornehur ;
aus der Nähe oder doch aus dem reife von Kolomea — ba |
der Jude kannte ihn. Ein Ruffe, das Hatte er gleich geſag
und war auch nidyt ſchwatzhaft genug, um für einen Bol
gelten zu können. Es war ein Dann, der den Frauen gefe »
len konnte. Er Hatte nichts vom jener plumpen Sraft, ve.
jener rohen Schwerfälligleit, welche andern Bölltern als Män :
lichkeit gilt, er war durchaus edel, ſchlank und ſchön; aber fei :
elaftifche Energie, feine unverwüſtliche Zähigleit ſprach ans jeb :
Bewegung. Das braune fchlichte Haar, der etwas gefräufel: ,
Neue Erzählungen und Romane.
furz gefchnittene Bollbart warfen ihre vollen Schatten in ein
wetterbraunes, aber wohlgebildetes Geſicht. Er war nidt fo
ganz jung mehr, aber hatte fröhliche blaue Augen wie ein Knabe.
Unauslöfchliche, gütige Menſchenliebe lag milde in diefem dun⸗
fein Antlitz, dunkel in fo viel Linien, welche da® Leben tief
hineingeſchnitten. Er fand auf und ging ein paarmal durd)
bie Schenfe. Die meiten Hofen in die faltigen gelben Stiefeln
geftedt, den Leib unter dem offenen weiten Rode mit einer
bunten Binde geglirtet, die Belzmüte auf dem Kopfe, fah er
wie einer jener alten weifen, tapfern Bojaren aus, welde zu
Kathe fagen mit Wladimir und Jaroslaw, in die Schlacht
zogen mit Igor und Roman.
Daß er indeß feinen Namen durch bie That verdient,
beweift der Schluß der Belenntniffe: „Alle rauen find
mein“, fagt der Held, „alle; Bauernweiber, Judenweiber,
Bürgerfrauen, Edelfrauen, alle! Blonde, rothe, braune,
fhwarze, alle, alle!" Er liebt zugleich eine junge jehr
gebildete Dame und das Weib eines gehängten Räubers,
die nicht einmal lefen Tann! Wie aber ift der Ruſſe zu
einem folchen Don Juan geworden? Das eben ift der
Beitrag zur „Naturgefchichte des Menfchen“. Er hat,
wie Kürnberger in der Vorrede fagt, „an feinem eigenen
Leibe erlebt, was die Monogamie felbft im beften Falle
menschlich Unvolllommenes hat“. In der That find bie
Heinen Leiden des ehelichen Glücks mit einer Fülle von
Detailzügen gejchildert; namentlich die Kinder werden als
die Störenfriede bingeftellt, welche die Ehen unglücklich
machen; der Gatte wird zuerft untreu, dann die Gattin.
„Ein beglücdter Theſeus wird in ber Regel feine Ariadne
verlafien”, fagt Schopenhauer; die Täuſchung verſchwin⸗
det nach dem erlangten Zwede der Gattung. Der Don
Yuan hat einen philofophifchen Freund, Leon Bobofchkon,
der zu viel gelefen bat und darüber frank geworben ift.
„Die Menſchen machte er auf wie die Uhren und jah hin-
ein, ob alles in Ordnung ſei.“ Diefer Freund philofo-
phirt über die Liebe wie Schopenhauer und Hartmann:
„Die Natur hat und ein Xeiden gegeben, noch entfetzlicher
als das Leben — die Liebe.“ „Ja, die Liebe ift ein Leis
den, der Genug — Erlöfung!“ Die Barallelftellen zu
den Bemerkungen Bodoſchkon's wollen wir in unfern neuern
pefftmiftifchen Philofophen ohne Mühe auffchlagen.
Noch bemerken wir, daß Nilolaja eine faftgrüne
Kazabaila trägt, welche mit fibirifchen Eichhörnchen
ausgefchlagen iſt. Die Mufe von Sacher-Maſoch beſitzt
einen wahren Belzladen, und jede feiner Heldinnen wird
mit einem angemefienen Pelzcoftüm ausgefteuert. Das
ift aber auch von Wichtigkeit für die Liebe, benn Pelz-
wert hat, nach den Beobachtungen unfers Autors, einen
fehr anregenden Einfluß auf bie Nerven und athmet ein
elektriſch⸗ſprühendes Arom aus.
Die pſychologiſchen Schilderungen im „Don Yuan”
find durchaus aphoriſtiſch, fragmentariſch; aber wir ver⸗
ſtehen ihren Zuſammenhang. Ihre Wahrheit aber iſt
nicht allgemeingültig, nur in Naturen wie unſer Don
Juan wehrt ſich der Inſtinct gegen Beſchränkungen, in
welche ſich andere mit Behagen finden.
Die zweite Erzählung: „Der Capitulant“, beginnt
mit genialen Steppenbildern, die das bedeutende poetiſche
Talent des Antors außer Frage ſtellen; wir theilen zur
Probe die folgende Schilderung eines Schneeſturms mit:
Zerriſſeue Nebel ſchwirrten wie Bögel mit großen matten
Fittichen um uns. Dort iſt das Heiligenbild auf ſteinernem
787
Pfahl, hier wendet ſich der Weg nach Tulawa zur Rechten.
Schon ſchlägt uns der Wind mit beiden Fäuſten in den Nacken,
er heult mit entſetzlichen, jammervollen, wahnſiunigen Stim⸗
men, er ſtößt von der Höhe herab in den Schnee, wühlt ihm
auf, zerichlägt die großen Wollen, wirft fie zur Erde in flodi«
gen Klumpen umd droht uns damit zuzudeden. Die Pferde
nehmen die Köpfe zwijchen die Beine und fdhnauben. Der
Sturm weht weiße Wirbel auf bis zum Himmel empor, lehrt
die Ebene mit weißen Befen und kehrt ungeheuere Kehricht-
haufen zufammen, in denen er Menſchen und Thiere, ganze
Dörfer begräbt. Die Luft brennt ale wäre fie glühend, he ift
feft geworden, von Sturm zerbrochen fliegt fie in Stücken
umber und dringt, wenn man Athem holt, gleich Glasfplittern
in die Lunge. Die Pferde können nur langfam vorwärts, fie
graben fid) durch Schnee, Luft, Wind. Der Schnee iſt em
Element geworden, in dem wir mit aller Anftrengung ſchwim⸗
men, um nicht zu ertrinfen, das wir athmen, das uns zu
verbrennen droht. Im der furdhtbarften Bewegung mird die
Natur ſtarr umd eifig. Wir felbft find nur Theile der all»
gemeinen Kälte und Starrheit. Man begreift, wie das Eis
eine Welt begraben hält, wie man aufhört zu leben ohne zu
fterben, ohne zu verweſen. Ungeheuere Elefanten, riefige Mam⸗
muths liegen darin unverfehrt aufgejpeichert für die Suppen»
töpfe fleißiger Gelehrten. Dan erinnert fi an vorweltliche
Diners und ladt. Man wird Überhaupt lachluſtig. Kitzeln
reizt zum Lachen und die Kälte kigelt furchtbar, ununterbrochen,
graufam. Scheintodte in der Nafe geligelt niefen und werben
dann lebendig. Alles friert. Die Gedanken hängen wie Cis-
zapfen am Gehirn, die Seele bekommt eine Eisdede, das Blut
fällt wie Quedfilber. Man denkt nicht mehr feine Gedanken,
man fühlt nicht mehr wie Menichen fühlen, Moral und Chri⸗
ftentHum hängen uns wie erftarrter Nebel in den Haaren, das
Eiementarifhe an ung wird gemwaltfam heransgetehrt. Wie
zornig werden wir, wenn uns ein Nagel nicht in die Wand
will, wir zerfchmettern ihm wol mit einem Streid) das metal-
lene Haupt; wir werfen einen engen Stiefel in die Ede und
überhäufen ihn mit den merkwürdigſten Schimpfworten. Hier
ift e& ein Kampf um das Dafein, aber man kämpft ihn mie
ein Element, geduldig, ftumm, vefignirt, beinahe gleihgültig.
Jenes Leben, das wir fo fehr lieben, ift erflarrt, wir find ein
Stein, ein Stück Eis, eine erflarrte Luftblafe mehr in dem
Kampf der Elemente. Dan beobaditet den eigenen Puls wie
einen fremden. Ein weißer Borhang trennt uns von unjern
Pferden, der Schlitten trägt uns im Sturme wie ein Kahn
ohne Auder, ohne Segel — er fieht beinahe ſtill. Der Orları
beult eintönig fort, die Luft brennt, der Schnee wirbelt;
Raum und Zeit verfhwinden. Gehen wir vorwärts? ftehen
wir? If's Nacht — iſt's Tag? Langſam ziehen die Wolfen
gegen Abend. Langfam fchnauben die Pferde wieder, jetzt
tauchen fie auf, den Rüden voll Schnee — es fallen dichte
Floden, die Erde ift ellenhoch von ihnen bededt, aber man
fieht wieder und fommt vorwärts. Der Sturm feudt nur
noch und mwälzt fih winſelnd im Schnee, die Nebel liegen wie
grauer Schutt am Boden. Wo find wir?
Das Charakterbild des „Kapitulanten‘‘ felbft mit fei-
ner wehmüthigen Refignation ift trefflich gezeichnet. Seine
Geliebte ift die Maitreffe und dann die Frau des Guts—
bern geworden; der Gapitulant rettet dem Gutsherrn
während des Bauernaufftandes das Leben und tröftet fich
über feine unglüdliche Liebe mit der Betradhtung:
Es ift beffer, wenn ich mir jagen Tann, mein Auge ver»
löſcht für immer und eine arme Seele fommt zur Ruhe. Ach
denke, es ift für den Mann beffer ohne Weib. Nicht das Weib
fudt den Mann, fondern der Mann das Weib. Darin Tiegt
der ganze Bortbeil, und jo kann ein Weib ruhig feine Rechnung
machen mit den Manne. Was follte auch ein Weib anderes
denken, als Bortheil zu ziehen aus biefer jammervoll lächer⸗
lichen Lage des Mannes? Wenn einer bis an den Hals im
Waſſer fteht, mit den Füßen im Schlamme fledt und ertrinfen
muß, ihr aber könnt ihn retten und er hat einen Beutel mit
Gold bei fi, er wird ihn euch gern an das Ufer werfen. Ein
99 *
788
Unges Weib ift aber mit einem Beutel Goldes nicht zufrieden,
fie fchleppt den Mann vor den Geifllihen. Berſteht ihr mid
mn? Darum ift aud fo große Feindfchaft zwiſchen den Weir
bern wie zwiſchen &chneidern oder Korbflehtern. Jede ſucht
ihr Rörbgen fo gut als möglid; an den Mann zu bringen.
Und Bat fie unredht?
Dann fährt er fort:
Was hat fie mir eigentlich gethan? Ic bin in feiner glüd-
lichen Stunde geboren. Und dann — id; habe dem Leben lange
genug zugefehen — der und jener hat ja auch geliebt und auch
gang und gaaus geheirathet, und jetzt hebt fein Weib bie
öde gegen ihn auf. „Da — kufſe mich.“ Seht ihr. Wenn
fie mein Weib geworben wäre, hätte ich fie vielleicht in kurzer
zeit geprügelt. Es if ganz alles eins, fo oder jo, ganz alles
eins.
Uebrigens maden wir am Schluß ber Geſchichte noch
die Belanntſchaft der fehönen Dame in „einem koſtbaren
Pelze" — diesmal ohne nähere Angabe des Pelzwerks.
Die dritte Erzählung: „Mondnacht“, Hat wieder eine
Vorrede bed Berfaflers, welche gegen bie Prüberie, bie
Heuchelei proteftirt, bie anf unferm ganzen Leben laſtet;
Sacher-Maſoch behauptet von feiner Erzählung, daß fie
in das ðleiſch der Geſellſchaft fehneide, und rechtfertigt
das Wunderbare, ſcheinbar Phantaftifche in derſelben da.
mit, daß die Somnambule volltommen nad der Natur
— daß jeder Zug ihrer Geſchichte wahr und er⸗
ebt ift.
Die Beleuchtung ber Novelle ift durchweg ftimmungs-
voll, man fühlt den Athem der Mondnacht; die Wärme
eines Naturgefühls, wie es Jean Paul in feinen Schil-
derungen bewährte, pulſirt in der Beſchreibung. Das
Erſcheinen der Somnambulen konnte nicht beffer motivirt
werden, man bekommt felbft Luft, in ſolchem Mondenglanz
zu nachtwandeln, wie die Meine verliebte Kage, die an dem
hohen blanken Schilf, den bleichen Wafferlilien vorüber,
dem tiefen dampfenden Wald zuwandelt. Die Erzählung
felbft bewegt ſich anfangs nicht auf neuen Bahnen, ber
Ehebrud; der Fran aus leibenfchaftlicher Neigung ift ein
beliebtes Thema der Dichtung. Nur gegen ben Schluß
bin wird die Geſchichte origineller. Der Mann erſchießt
den Liebhaber im Duell; die Gattin aber bleibt ruhig
mit dem Gatten zufammen:
Olga verabfchente ihren Mann von ganzer Seele, und fie
bfieb doch bei ihm; fie wurde vor Kummer faft to, oft faßte
fie ein bämonifher Haß, fie hatte ſchon die Pifole geladen,
mit der er Wladimir getödtet, um ihn zu erſchießen, und —
fie blieb doch bei ihm, denn fie erträgt es nit, nicht geliebt
u werben, unb es tut ihr wohl, daß er fie liebt, daß er
jeibet, in dem furdtbaren Gefühl, daß fie fein if umd doch
nicht fein.
Das ift allerdings ein Charakter, den aller Mond»
fein nicht verflären Tann! Sader-Majoh wird fi
auf die Lebenswahrheit berufen; wir wollen aber doch in
den Novellen auch aus dem Iebenswahren Bild irgend
einen Gebanfen hervorleuchten fehen, ber eine Bebeutung,
und fei es eine reformatorifche, Hat. Fortwährende
Bariationen auf das Thema: Lieb’ ift Leib und Wahnfinn,
wirlen ermüdend.
Welchen Wahnſinn aber führt uns die „Venus im
Pelz“ vor; es Mingt parabor und doch ift es fo: wir
müffen uns die Liebe mit Prügeln zufammen denken;
es handelt fi nur darum, wer prügelt und wer geprü«
gelt wird. Es ift das ein echt farmatifches Vergnügen,
Rene Erzählungen und Romane,
weldes dem von Kürnberger fo gepriefenen Often an-
gehört — wir danken indeß für diefe „Kapitalien von
unverbrauchter Naturkraft“, von denen wir in jolden
Novellen die Zinfen erhalten, und wenn bie „jorglojen
Yünglinge am Bug und Sanfluß“ uns nichts Befjeres
liefern, fo wäre es un lieber, wenn fie nad) wie vor
Aale und Lachſe angelten! Es Handelt ſich in der Er-
zählung nit um jene gefunden und volfsthümlichen
Prügel, welche oft eine gute Wirkung hervorrufen; es
handelt fih um ein Raffinement, wie es nur eine far«
matifche „Venus im Pelz“ zu geben vermag.
Der Held biefer Erzählung, Severin, erzieht jeine
Frau mit dem „Kantſchu“. Diefe pudagogiſche Weisheit
if die Frucht eigener Lebenserfahrung, er ift nämlich
früher felbft gepeitfcht worden von ber Frau im Pelz,
die er liebte; er Hat fich zum Märtyrer biejes Weibes
gemacht als ein Ueberfinnliher, bei dem alles im ber
Phantaſie wurzelt:
Id war früh entwidelt und Überreizt, als id) mit zehm
Jahren etwa bie Legenden der Märtyrer im die Hand befam;
id erinnere mid, daß ich mit einem Gramen, das eigentlich
Entzüden war, las, wie fie im Kerfer ſchmachteten, auf dem
Rofi gelegt, mit Pfeilen durchſchoſſen, im Pech gefotten, wilden
Thieren vorgeworfen, an das Krenz gefhlagen wurden, umd
das Entfegliäfte mit einer Art Freude litten. Leiden, graue
fame Dualen erdulden erſchien mir fortan ala ein Genuß, unb
‚ganz befonders durch ein ſchöͤnes Weib, da fi mir won jeher
alle Poeſte, wie alles Dämonifche im Weibe concentrirte. Ich
trieb mit demfelben einen fürmlichen Cultus. Ach ſah in der
Sinnlichkeit etwas Heiliges, ja das einzig Heilige, in dem
Beibe und feiner Schönheit etiwas Göttlihes, indem die wid
tigfle Aufgabe des Dafeins: die Fortpflamyung der Gattung,
vor allem ihr Beruf iſt; ich fah im Weibe bie Perjonification
der Natur, die Ifis, und in dem Manne ihren Briefler, ihren
SHaven, und fah fie ihm gegenüber graufam wie die Natur,
welde, was ihr gedient hat, vom fi Mößt, jobald fie feiner
nicht mehr bedarf, während ihm noch ihre Mishandlungen, jo
ber Tod durch fie zur wolluſtigen Seligkeit werden.
Die Pelzvenus, eine echte Sarmatin, Wanda mit Na-
men, erfüllt nun die Wünfche Severin’s, ber durchaus
von ihr gepeitfcht und mit Füßen getreten jein will; fie
peitfcht ihn, läßt ihm peitfchen, mishandelt ihn im jeder
Weife; er empfindet babei Trunkenheit, Entzüden u. ſ. f-
Sie entfchädigt ihm dafür durch gelegentliche Hingebung,
durch Schauftellung ihrer unverhüllten Schönheit, und
durch praftifche Lebensweisheit, indem fie ihm mittheilt,
daß fein ganzer Wahnfinn nur eine damoniſche, unge
fättigte Sinnlichkeit fei, und ihm überdies folgende Offen-
barungen über den Charakter des Weibes gibt:
üßfe did) mie ſiget bei dem Weibe, das du üebſt, dem
die Natur des Weibes birgt mehr Gefahren, als du glaubft.
Die Frauen find weder fo gut, wie ihre Werehrer und Ber-
theidiger, noch fo ſchiecht, tie ihre Feinde fie maden. Der
Charakter der Frau ift die Charafterlofigkeit. Die befte Frau
fintt momentan in den Schmuz, die flehtefte erhebt fid un-
erwartet ® großen, guten Handlungen und beihämt ihre Ber»
ädter. Nein Weib ift fo gut oder fo böfe, ba c& nicht jede
Augenbtid forwol der teuflifchften als der göttlichften ,
ſchmuzigſten wie der reinfen Gedanken, Gefühle, Sandlungen
ſühig wäre. Das Weib it eben, trog allen Fortichritten de
Eivilifation, fo geblieben wie es aus ber Hand der Ni
hervorgegangen ift, es hat ben Charakter des Milben, welch
fid) treu und treulos, großmüthig und gramfam zeigt, je nad
ber Regung, bie ihm gerade behertſcht.
Das eirgig Onte an ber Gefchichte ift, wie Severin
curirt wird: Wande läßt ihn nämlich gelegentlich durch
Zur Charafteriftit ber erften franzöfifhen Republik.
ihren neuen glüdlichern Liebhaber durchpeitfchen, wobei
denn das fonft empfundene Gefühl der Zrunfenheit und
des Entzückens von andern, minder feligen Empfindungen
abgelöft wird.
Doß die Liebe ein Leid ift, wird durch den farma-
tifhen Naturfinn, der fih die Liebe nur mit Priügeln
zufammen denken kann, allerdings ſehr anſchaulich ge-
madt. Im übrigen aber fteht biefe „Venus im Pelz‘
jenfeit der Grenzen bes äfthetifch Erlaubten, und man
muß wiederholt bedauern, ein fo bedeutendes Talent auf
ſolchen Abwegen zu fehen. Ein krankhaftes Raffinement
zu fchildern, Tann nie die Aufgabe der Poeſie fein, am
wenigften darf ein folcher farmatifcher Sparren mit dem
Anſpruch auf Allgemeingültigfeit auftreten. in folcher
geprügelter Held ift widerwärtig; die Darftellung der
Satyriafis gehört überhaupt in die Pathologie, nicht in
die Poefle, und wo Menſchenwürde und Menjchenverftand
aufhören, da Hört auch die Poeſie auf, es gibt keine
Apotheofe bed „Hündifchen”.
Einen ebenfo miberwärtigen, wir möchten jagen
bermaphroditifhen Charakter trägt bie Erzählung:
„Die Liebe des Plato“. Kine fih als Yüngling ver-
kleidende Gräfin gewinnt in biefer Weiſe das Herz eines
platonifchen „jungen Mannes”, der in ihren freundjchaft-
lichen Beziehungen einen Reiz empfindet, gerade dur
das verhüllte Weibliche, das ihn wie ein Räthſel feflelt.
Als nun der „Freund“ in Weiberkleidern erfcheint, da
zerrinnt die Liebe und die Illuſion. Das ift wieder eine
jehr feltfame Gefchichte voll Frankhafter Gelüuſte — muß
denn die Poefte alle Misgeburten der Liebe in Spiritus
jegen ? Sollen wir durch ein anatomifches Muſeum
fogenannter „Probleme” fpazieren gehen? Wenn uns
die Liebe als ein Legat Kain’s, als ein fchmerzbringendes
Berhängniß fir die Menfchheit gejchildert werden fol,
fo müffen nicht die feltenen Verirrungen des Gefchlechts-
18%
triebes, fondern e8 muß die Liebe, wie fie im Durch»
ſchnitt bei den Sterblichen erfcheint, als die Duelle des
Elends dargeftelt werden. Statt defien thut Sacher⸗
Mafoch feinem „Wanderer das Leid an, ihn durch feine
fegte Erzählung Lügen zu‘ ftrafen. „Marzelle oder das
Märchen vom Glück“ ift eine Erzählung, in ber es ohne
alle Romantik zugeht; eine zum Glück führende Neigung
ohne alles Kaffinement bildet den Inhalt berfelben; die
„Madonna im Pelz“ fol uns für die „Benus im Pelz”
entfchädigen. Wir erhalten überdies bier Dffenbarungen
über das normale Verhältnig der Gefchlechter, über bie
Orundlage der modernen Ehe, das Bedürfniß nach einer
böhern Einheit in Gefinnung und Intereſſen, phyſiſche
Gegenfäge und geiftige Gleichartigkeit, gemeinfame Arbeiten,
über da8 Genie des Herzens, das dem Weibe alles ent-
bült, u. f. f. Die Tendenz des ganzen Werks geräth
dadburd ins Schwanfen! Gibt der Autor dem Wanberer
recht, oder will er und in jedem Abjchnitt feines Werks
zeigen, wie das „Vermächtniß Kain's“ zum Heil und
Segen der Menfchheit umgeftaltet werben fann? Dann
mußte dies doch auch im „Prolog“ bereits mit bebeutfamer
Anfündigung hervorgehoben werden.
Ein großes Talent der Darftelung, weit fertiger,
ſtimmungs⸗- und Iebensvoller als in den frühern Schrif-
ten, von ausnehmender ftiliftifcher Grazie und Prügnanz,
Ipricht fich in diefen Novellen Sacher⸗Maſoch's aus; aber
jelbft die einzelnen genialen Züge emtfchädigen nicht für
die widrige Unnatur der Erfindung in einzelnen Novellen
und für die franfhafte Ueberreizung der Phantafte, deren
„KRoffartige” Wirkungen den feinern geiftigen Heiz Des
ethifchen Problems oder vielmehr der Rabulifterei der
Sinnlichkeit in den Hintergrund drängen.
Rudolf Gotifchall.
(Der Beſchluß folgt in der naächſten Nummer.)
Zur Eharakterifiik der erfien franzöſiſchen Republik.
Die dentfhen Republifaner unter der franzöflfhen Republik.
Mit Benukung ber Aufeihuungen feines Baters Michel
Benedey bargeftellt von Jakob Venedey. Leipzig, Brod-
haus. 1870. 8. 2 Thfr. 10 Ngr.
Die franzöfifche und die deutfche Geſchichtsforſchung
haben fih in jüngfter Zeit in denkwürdiger Weife die
Bände gereicht. Jene wurde durch die Erfahrungen unter
dem zweiten Saiferreich dazu geführt, die Entwidelungs-
gefchichte des erften einer Kritik zu unterziehen; dieſe fühlte
fich getrieben, die Zeit der erften franzöfifchen Revolution
zu durchforſchen, um deren wahren Werth für bie Ent-
widelungsgejchichte Europas feſtzuſte llen. Beiden Rid-
tungen lag ein gleich bedeutungsvolles Streben zu Grunde,
und beide haben ber Gegenwart viel genußt. Das fran-
zöſiſche Volk erfannte mit Entfegen, daß die Gejchichte
Napoleon’s J., auf bie e8 bis dahin fo ftolz geweſen
und die zum Theil feine Handlungen beftimmt hatte, von
Grund aus falſch gefchrieben worden ift, daß bie
Mythen, welche die Thaten aller hervorragenden Für⸗
ften und Volkshelden verändern, und bie dabei thätige
nationale Eitelkeit den erften Kaifer der Franzofen mit
einem Nimbus umgeben haben, der feinen grenzenlofen
Despotismus, feine Rachſucht und Eitelfeit und vor allem
feine Knechtung des eigenen Bolld und feine von ber
Geſchichte mit Recht geziichtigte Unterdrückung ber übrigen
Bölfer Europas verdeckte. Was Charras, Lanfrey und
Barni für die Kritit der Gefchichte Napoleon’ I. zu
Tage förderten, ſchlug wie ein Blig in Frankreich ein,
| der feine verzehrende aber auch zugleich reinigende Kraft
gegen die Vergangenheit wie gegen bie Gegenwart kehrte
und nicht wenig dazu beitrug, die Kriſis herbeizuführen,
welche Ludwig Napoleon zwang, in die Bahn der confti-
tutionellen Entwidelung einzulenten, ja welde ihn aud
zu dem verhängnißvollen Kriege trieb.
Ein ſolches Kaltwaflerbad der Kritik wurde auch dem
deutſchen Volke zutheil, wenn es durch Hiftorifer wie
Sybel und Memoirenfchreiber wie Perthes bie Greignife
der erften franzöſiſchen Revolution in ihrem wahren Lichte
und die Leiter derfelben in der vollen Natürlichkeit ihrer
von nationaler Eitelfeit und wüſter abftracter Herrfchbegier
730
erfüllten Charaktere kennen lernte. Auch diefe Volksführer
waren in der Zeit ber allgemeinen Unterbrüdung von
einem Nimbus umgeben worden, der ihre Mängel ver-
bedte und nur ihre Kühnheit und ihre Opferung fir das
Gemeinwohl in volles Licht treten ließ. Die idealiftifche
Berherrlihung Ser Männer, welde der Lauf der Ereig-
niffe zu Führern emporbebt, ift aber noch feine Gefchichte;
erſt wenn wir fie in ihrem wahren Wirken vor uns
fehen, und wenn alle Traditionen benubt werden, um
folhe Männer nad) der wahren Natur ihres Weſens zu
ſchildern, können wir ihre Bedeutung, ihre Erhebung iiber
die Maffe, ihre Abfichten und das, was fie erreichen, ſo⸗
wie ihren Untergang vollftänbig begreifen.
Diefe Art von Kritik war namentlich nothwendig für
die Männer, welde als Vorgänger Napoleon’3 dieſem
die Bahn zur beöpotifchen Beherrfchung bereiteten, fir
Kobespierre, St.⸗Juſt und die übrigen Helden des Con: !
vents, für die fi) bei uns in Deutſchland eine gefährliche
Verehrung gebildet Hat, deren fchlechte Frilchte wir gegen-
wärtig in dem leichtfertigen Trachten von Republikanern
vor uns fehen, vie fich Fein Gewiſſen daraus machen,
fi mit den unferer nationalen Entwidelung feindlichften
Elementen zu verbinden, um nur den abftracten Kißel
befriedigen zu können.
Was Dliver Crommell einmal zu dem Maler Lely
fagte, der fein Porträt ausführen follte: „Malt mich wie
ih bin, mit allen Narben und Runzeln, fonft zahle ich
Euch feinen Schilling“, iſt aud für die Gefchichtfchrei-
bung unferer Zeit Princip geworden, und fie ift daburd)
auf eine Bahn gebracht worden, die zu größern Reſultaten
führt als alle frühern Fiteraturepochen. Die reiche ideelle
Anfhauung der Gegenwart erhält dadurch den realiſtiſchen
Hintergrund, der fle in ben Stand jegt ber Vergangen-
beit ins Her zu jehen und fie in ihrer vollen Lebenskraft
zu ſchildern, weil wir gelernt haben, ſie mit der ſchärfſten
Unparteilichkeit zu erforſchen.
Einen wichtigen Beitrag zu dieſer neuen kritiſchen
Darſtellung der franzöſiſchen Revolutionszeit hat uns Jakob
Venedey's Buch über die Entſtehung und die Schickſale
der cisrhenaniſchen Republik geliefert.
Es iſt aus den Aufzeichnungen hervorgegangen, welche
Michel Venedey, einer der Führer der republikaniſchen
Bewegung am Rhein, dem Sohne hinterlaſſen hatte. Die⸗
fer ift aber erſt nach längern vielfeitigen Studien dazu
gelangt, die nur fragmentarifh gehaltenen Denkwürdig⸗
feiten und bie dazu gehörigen Briefe zu der Schilderung
zu verarbeiten, die wir jegt vor und fehben. Sie bringt |
ung viel Neues, und die Blide in das deutjche wie in
das franzoſiſche Weſen der Zeit, die es berührt, muß
uns aufs mannichfachſte beſchäftigen und zu bedeutſamen
Gedanken anregen.
In dieſem Conflict des franzöſiſchen Revolutionsgeiſtes
mit dem deutſchen Idealismus erſcheint uns der erſtere in
ſeinem wahrſten Lichte; aber wir lernen auch wieder einſehen,
in welche Gefahren die deutſchen Patrioten ihre Heimat brach⸗
ten, als ſie ſich voll thörichten Glaubens an die Größe
der franzöſiſchen Freiheitsentwickelung deren ſelbſtfüchtigen
Führern in die Arme warfen und dabei den ſchnödeſten
Undank erfuhren. Dieſe bittere Erfahrung wird auch
Zur Charakteriſtik der erſten franzöſiſchen Republik.
jetzt noch ihre Wirkung auf das deutſche Bolt üben, und
jeder wahre Liberale muß Jakob Venedey Dank dafür
wifien, daß er biefen wichtigen Stoff fitr die neueſte Ge⸗
ſchichte fo eifrig durchforſcht und mit foldher Entſchieden⸗
beit dargeftellt bat. In ihr fpiegelt fich ber rechte Frei⸗
beitöfinn unferer Zeit ab, ber die Energie erlangt bat,
ebenfo gegen den abftracten Freiheitsdrang von unten, wie
gegen den Despotismus von oben Front zu machen.
Venedey beginnt feine Darftellung mit ber Schilderung
der republilanifchen Bewegung in Straeburg, welche ber
Errichtung der Republifen in Mainz und in den Rhein-
landen voranging. Es ift ihm gelungen, dabei eine
Ehrenrettung des bis dahin als Revolutionsfcheufal ver⸗
fchrienen Eulogius Schneider zu bewirken, welde in alle
Geſchichtsbücher übergehen muß, weil fie unwiderleglich
ift; und das Verhältniß, in dem dieſer deutfche Freiheits⸗
wärmer zu St.-Juſt und Robespierre fand, gibt zu⸗
ı gleich Gelegenheit, diefe in einem Lichte zu zeigen, weldjes
dem mit ihrem Angedenken getriebenen Gögendienft ein
Ziel fegen muß.
Eulogins Schneider war ein beutfcher Jakobiner und
ſtolz darauf, der „deutſche Marat“ genannt zu werden,
weil es ihm ebenſo ernſt wie dieſem mit der Erhaltung
ber neuen freiheit war, und weil er ebenfo wenig mie
der Vorkümpfer des franzöfifhen Radicalismus vor den
entjchiedenften Mitteln zurüdjchredte; er befaß aber and
bie Selbftbeherrfchung, nur in den nöthigften Tüllen von
der Gewalt Gebraudy zu machen, welche ihm als öffent-
licher Anfläger zutheil wurde, und es waren nur 30
Zobeöurtheile und Hinrichtungen, welche er bei feinem
Durchziehen des Elſaß veranlaßt Hatte. Er gab in
Strasburg die Zeitfchrift „Argos Heraus, und wurde
von allen Republifanern und von ber Arbeiterbevölferung
der Stadt ebenfo geliebt und geachtet, wie er den alten
ariftokratifchen Elementen des ganzen Elfaß verhaßt war.
Er wollte aus diefem eine wahre tepublifanifche Provinz
machen und dabei den Deutfchen zeigen, wie fie mit ihrem
eigenthümlichen Weſen fih dem großen Streben der
Parifer anzufchliegen hätten — das war eine Stellung,
die feine Feinde um jeden Preis zu untergraben und zu
vernichten ſuchen mußten.
Sie fetten die ärgften Berleumdungen gegen Schnei-
ber in Bewegung, und St.-Juſt war fo niebrig, ihnen
gegen feine eigene Weberzeugung Eingang bei fih zu ge
ftatten, weil es augenblidlih feinem und Hobeäpierre's
Bortheil entſprach, Ultraradicale wie Schneider zu ver«
leugnen, und weil es ihm perfönlih darum zu thun war,
den deutſchen Marat aus dem Wege zu räumen, der im
feinem Blatte verlangte, daß die Tepnbiitanifche Tugend
nicht nur geheuchelt, fondern auch gelibt werde, und ſich
ſogar ſchon erlühnte, dem Convent vorzuwerfen, daß er
die der Republik drohenden Gefahren nicht ſcharffichtig
genug beobachte, und das Volk auch nicht davor bewah
dem Militirdespotismms anheimzufallen. Ein ehemalig
Maire von Strasburg erflärte: „Es gibt in Strasim
nur eimen einzigen ehrlichen Mann, und diefer eine i
Schneider.” Ale nähern Freunde deffelben, zu ben ı
auch Michel Venedey gehörte, fagten, daß fie die gege ı
Schneider erhobenen Anklagen für unwohr gehalten hab ,
und biefe felbft beweifen die Wahrheit jenes Yusfpruc, .
Zur Charafteriftif der erften franzöſiſchen Republik,
191
Während Schneider die gegen die Republik gerichteten Röcke, breite Schleppfäbel, rothe Jakobinermützen und
Complote verfolgt und deren Anftifter ins Gefängniß
gebracht. Hatte, wurde er bejchuldigt, diefe Complote
feloft gefördert zu haben, um die legitime Regierung zu
erfhüttern. Völlig unbewiefen waren die Erpreflun-
gen und graufamen moralifhen Unterdrüdungen, und
eine nichtswürdige, offenbare Lüge war die Behauptung,
daß er einen Vater gezwungen habe, ihm jeine Tochter
auszuliefern, da er um biefeg Mädchen in aller Form
geworben und fie geheirathet Hatte. Die Familie hatte
ihn auf der Rüdreife nad) Strasburg begleitet; in
der Brautnacht wurde Schneider aus den Armen feiner
jungen rau gerifien und ins Gefängniß geführt, wo er
mit demfelben Gegenrevolutionär Dietrich zufammentraf,
den er in Anklageftand verjegt hatte Es war ein tra-
giſches Gefchid, dem der ehemalige Mönch und nachherige
Profeffor der fchönen Künfte, der Freiheitsſchwärmer, der
feine ganze Habe an die Erhaltung feines „Argos“ gejett
hatte, verfiel.
Aber biefer deutſche Marat hatte fih mit feinen
Anhängern geweigert, die Steuer zu vertbeilen, welche
durch die Repräfentanten St.⸗Juſt und Lebas ben
Reihen zu Strasburg auferlegt wurde, „weil fie den
herzzerreigenden Anblid fo vieler troftlofen Familien,
die in den traurigen Zuſtand verfegt wurden, ohne
Schutz und ohne Zufluhtsort herumirren zu müſſen, nicht
aushalten konnten“. Das hat Monet, der Gegner und
Hauptanfläger Schneider’s, erklärt, indem er ihn des
Moderatismus zieh. Schneider hatte ſich aber aud in
feinem „Argos“ gegen die nußlofen Blutfcenen in Pa-
ris ausgefprochen und die Jalobiner aufgefordert zu⸗
fammenzuhalten, damit der Volksvertreter, vor welchem
viele Tauſende das Haupt beugen, in ihrer Geſell⸗
ſchaft zittere, wenn fein Gewiſſen ihm fagen müſſe:
„Du bift ein Schurke.” St.⸗Juſt ließ Schneider „wegen
öffentlicher VBerhöhnung der republifanifchen Sitten” ver-
haften. Als er kurz darauf den öffentlihen Ankläger
des Nevolutionstribunals fragte, was er über Schneiber’s
Berhaftung denke, antmortete diefer mit franzöfifcher
Geiftreichigkeit wigelnd: „Ale Welt, mit Ausnahme
Schneider’s, hat das Hecht, darüber unzufrieden zu fern.“
St.⸗Juſt erwiderte: „Das ift wahr, aber wenn Schnei-
der uns entfchlüpfte, fo würden wir in Gefahr fein,
füftlirt zu werben.‘
St.⸗Juſt's Handlungen in Strasburg fagen uns am
beften, was er mit dem Elſaß vorhatte und wie gut er
es mit den Deutjchen meinte. Er becretirte zunächſt ein
Anlehen von neun Millionen von den Bürgern, die auf
einer Liſte verzeichnet waren. Zwei Millionen von diefer
Summe follten zur Unterftübung der bürftigen Patrioten
verwendet, eine Million zu den Feſtungswerken gebraucht
und fehs Millionen in die Kaffe der Armeen geliefert
werden. Die ganze Municipalität mit Ausnahme Mo-
net’8 wurde abgefeßt, und die Geſellſchaft der Jakobiner
aufgefordert, zwölf Mitglieder für eine prodiforifche Mu-
nicipalität zu wählen. Sodann wurde die „Geſellſchaft
der Propaganda“ in Paris veranlaßt, zur Belebung des
repnblifanifchen Sinnes 60 Mitglieder nad) Strasburg
zu fenden, von benen jeder täglich 15 Francs aus der
Staatskafſe erhielt.
große Schnurrbärte. Sie verlangten natürlich, daß man
jeptembrifire. Es wurde auch ganz ernftdaft der Vorſchlag
im Jakobinerclub beſprochen, daß man 6000 Mann ber
elſaſſer Bürgerfchaft auf Schiffe zum Angriff gegen Kehl
befehlen und diefe dann mitten im Rhein, den Gefchügen
der Deutfchen preißgegeben, durch die franzöfiichen Geſchütze
in den Grund bohren laſſe. Monet empfahl als wirk—⸗
jamftes Mittel, den Niederrhein zu naturalifiren, daß
man die beutfche Sprache, die beutjchen Trachten und
Sitten abſchaffe und eine große Anzahl von Franzoſen
dahin verfege. Die zahlreihen Güter der Berräther
follten den Familien der mit Ruhm bebedten Waffen-
brüder gegeben werben.
Das waren die Segnungen ber Freiheit, welche die fran«
zöfljche Republik ihren deutfchen Provinzen bereitete. Dürfen
wir uns da no wundern, wenn ein Vorkämpfer der
deutſchen Yreiheit wie Schneider von St.⸗-Juſt unſchädlich
gemacht wurde? Was galt diefem ein Menjchenleben ?
Nach der Errichtung des Revolutionstribunale fragte er
defien Präfidenten am nächſten Tage, wie viel Köpfe fie
hätten fpringen laflen, und als jener antwortete, es fei
ihnen vor allem darum zu thun gewejen, ben Stand der
Affignaten zu halten, fagte St.Juſt: „Seit zweimal vier.
undzwanzig Stunden in Yunction und noch nicht ebenfo
— Köpfe ſpringen laſſen? Ihr verſteht eure Aufgabe
nicht!“
Schneider wurde zuerſt in Strasburg auf der Guillotine
ausgeſtellt, dann nach Paris geſchickt, vor das Revolutions⸗
tribunal geſtellt, verurtheilt und hingerichtet.
Robespierre wollte anfangs nicht an die Schuld
Schneider's glauben, „weil man den Anklagen, ſelbſt beim
Anblick der Beweiſe keinen Glauben ſchenken könne“, und
doch ließ er ſich durch St.⸗Juſt's Berichte zur Verur⸗
theilung beſtimmen. Schneider ſchrieb aus dem Gefäng⸗
niſſe ſeine Rechtfertigung an den Jakobinerclub. Dieſer
wollte ſie drucken laſſen; als Robespierre es erfuhr, ließ
er die Formen zuſammenwerfen, das Manuſcript wurde
aber durch einen Zufall erhalten und nach 25 Jahren
gedruckt. Die Schrift zeugt von dem reinen Gewiſſen
Schneider's. Bol Stolz fordert er, daß man ihm Ge⸗
rechtigkeit widerfahren laſſe, oder ihn hinrichte. Wie er
voll innerer Verachtung die öffentliche Ausſtellung und
den Hohn feiner Feinde ertragen hatte, ging er auch voll
Muth dem Tode entgegen.
„Schneider und St.-Fuft find die fprechendften Gegen-
füge”, jagt Venedey; „beide waren gleich große und auch
gleich ehrliche Enthufioften. Die füidlihe Phantafte aber
ging vollfommen mit St.-Iuft durch und verleitete ihn
zu den wunbderlichften Irrfahrten auf dem Blutſtrom, der
überall floß, wohin er fam. Schneider war, wie er, ber
Anfiht, daß den Berräther an ber Republik der Tod
treffen müſſe, aber er frug, felbft der Revolution gegen-
über, nad) dem Gejege der Revolution, das den Verbrecher,
folange er noch nicht verurtheilt war, dem Gericht
gegenüber ſchützen follte.” In diefes milde Urtheil über
St.⸗Juſt können wir nit einftimmen. Der Idealiſt war
in diefem Lieblingsfchüller Robespierre's bereits zum gran-
famen Despoten ausgeartet, und fitr einen folchen gibt es
Sie trugen fümmtlih lange blaue . Feine Ehrlichkeit mehr, fondern nur noch Zweckmäßigkeit.
792
St.» Juft und Robespierre waren eben folde Tyran⸗
nen, wie es nach ihnen Napoleon wurde, und alle
drei verdienen ben gleihen Haß der WMenfchheit, wenn
fie auch ihre Berbdienfte um bie Erfümpfung der Frei⸗
beit anerfennt. Nobespierre handelte Schneider gegenüber
geradezu ehrlos; doch eine folche Eigenfchaft Hatte ja fir
ihn keine Bedeutung mehr!
Es ift ein furchtbarer Einblid in das innere Getriebe
der Hevolutionszeit, welche wir durch diefe Borgänge in
Strasburg gewinnen. Der Eindrud wird aber noch ge-
fleigert, wenn wir nach dem tragifehen Geſchick der deut-
Shen Yalobiner in Strasburg — denn nad; Schneider
wurben noch viele vom befien Freunden auf die Ouillotine
geſchickt — das Schidfal der mainzer Republik ins Auge
fafien. Was Georg Forſter und Abam Lur in Paris
empfanden und durchlebten, nachdem ihre Hoffnungen auf
die Befreiung der Böller durch die große Frankenrepublik
fi als Häglide Täufchungen erwiefen hatten, bildet die
beredtefte Berurtheilung der Sünden, welde fi das
franzöftfche Bolt in feiner Revolution fchuldig gemacht
hatte. Adam Lux fuchte den Tod und führte ihn durch
feine Schrift über Charlotte Corday herbei, indem er,
ohne deren That zu billigen, deren Heroismus anerkannte
und pries, weil fie damit ein Beifpiel gegeben, wie freie
Männer der Tyrannei der Machthaber entgegenzutreten
baben. Adam Lur Hatte gehofft, daß nad dem Siege
Frankreichs über den Despotismus bie „deutfche Republik”
neben der franzöflfchen erſtehen würde, und ebenjo dach⸗
ten alle rheinifchen Patrioten, die fich für eine Vereinigung
mit Frankreich erklärt Hatten; als er aber den Sigungen
des Jakobinerelubs in Paris beigewohnt und nichts als
Berleumdbungen und Graufamleiten gehört hatte, fdhrieb
er nad Mainz, wenn er biefes Treiben gelannt Hätte,
fo würbe er feine Landslente nicht zur Vereinigung mit
Branfreich veranlaßt haben.
Georg Forfter fchrieb ſchon act Tage nach feiner
Ankunft in Paris:
Aus der Ferne fieht alles anders aus als bei näherer
Beſichtigung. Ich Bande noch feft an meinen Grundfätzen, aber
ih finde die wenigften Menſchen ihnen getreu. Alles ift blinde,
leidenſchaftliche Wuth, rajender Parteigeift und fchnelles Auf⸗
braufen, welches nie zu vernünftigen, ruhigen Reſultaten ge-
langt. Auf der einen Seite finde ich Einfiht und Talent ohne
Muth und Kraft, auf der andern eine phyſiſche Energie, die,
von Unwiffenheit geleitet, nur da @utes wirkt, wo der Knoten
wirklich zerhauen werden muß. Der ruhigen Köpfe find bier
fehr wenige ober fie verſtecken fidh; die Nation ift, was fie immer
war, leichtfinnig und unbeftändig, ohne Feftigleit, ohne Wärme,
ohne Liebe, ohne Wahrheit, lauter Kopf und Phantafle, kein
Herz und Feine Empfindung. Mit dem allen richtet fie große
Dinge aus, bern gerade biefe® kalte Hieber gibt den Franzofen
ewige Unruhe und ben Schein von allen edeln Anftrengungen,
wo bod) nur Enthuflasmus der Ideen, nicht Gefühl der Sade
vorhanden ifl.
Ein richtigeres und fehärferes Urtheil ift felten über
das franzöſiſche Bolt gefällt worden. Und Yorfter war
e8, der in dem Schreiben an ben franzöftichen National«
convent, mit dem er von dem rheinifchen Konvent beauf-
tragt war, zur Bewirkung des Anſchluſſes der mainzer
Republit gefagt Hatte: „Durch die Vereinigung erhaltet
ihr Mainz — den Schlüffel des Deutfchen Reichs und die
einzige Deffnung, durch welche noch euere Provinzen den
Zur Charakteriſtik ver erften franzöſiſchen Republik.
Armeen und den Artilleriegitgen bes Yeindes zugänglich
find.” Furchtbare Dialektik der Gefchichte!
Mainz felbft wurde für feine Freiheitsliebe hart ge-
ſtraft. Nur ummillig ertrug es den Uebermuth ber Fran⸗
zofen, welche die ganze Berwaltung an fich riffen und
während der Belagerung bie Niederträchtigfeit begingen,
Hunderte von Bürgern mit Frauen und Kindern aus ber
Stadt den Kugeln der Belagerer entgegenzutreiben; als
biefe fie nicht aufnahmen, mußten fie zurüd und wurden
zwilchen zwei Feuern dem Hungertode ausgeſetzt, dem fie
auch verfallen wären, wenn bie gemeinen Soldaten fie
nicht gegen den Befehl aus Mitleid wieder in die Stadt
eingelafjen hätten.
Als die Preußen die Stabt einnahmen, ließen fie
ihre Wuth an der Republik aus; fie erſchoſſen eine An-
zahl der angefehenften Bürger,- indem fie biefelben aus
ihren Häuſern riffen, an die Wand ftellten und nieber-
firedten. Die Grauen zerrten fie in ihren Nachtröcken
nad) dem zur Raferne umgewanbelten Schloß des Kur⸗
fürften und zwangen fie, den dort von den Tranzofen
zurüdgelafjenen Unrath mit den Händen fortzufchaffen.
Dieje Graufamkeit wurde zu jener Zeit von den freifinni«
pen dentfchen Zeitjchriften vielfach gebrandmarkt.
Welcher Held Euftine war, zeigte fich bei dem Auf-
ſtande in Frankfurt a. M., wo dad Boll beim Nahen ber
Preußen am 17. December 1792 bie franzöfifhe Beſatzung
aus der Stadt trieb. Es nahm den Soldaten bie Ge-
wehre ab, und dieſe liefen darauf von den Wällen fort.
Daraus macht Euftine in feinem Bericht an den Condent
eine große Schlacht, indem er ſagte, breihundert Tapfere
feien ruhmvoll für die Freiheit fümpfend unter den Meſſern
von Meuchelmörbern gefallen. Zum Beweis ſchickte er
ein folches Meſſer mit; es war das größte Metzgermeſſer,
das er in Mainz hatte auftreiben Fünnen. „Zehntanfend
Mann waren damit bewaffnet.“ Falſtaff ift ein Kind
gegen dieſen officiellen Prahlhans! Wie viele Analogien
bierfitv bietet die neuefte Zeit!
Forſter erlebte in Paris Cuſtine's Anklage und Hm-
richtung. Die geheime Urſache feiner Berurtheilung war
der Umftand, daß uftine dem alten Abel angehörte.
Der Convent wollte ein Beifpiel flatwiren und erreichte
au diefen Zwei, Bon da ab gehorchten die Generale
der fränkifchen Deere dem Convent aufs Wort.
Venedey gedenft auch der Erzählung, welche Goethe
von dem Rachegelüſt der gehetzten Bollähefe in Mainz
gegen die Republikaner bei deren Abzuge gibt, um deſſen
„talte, eigenfüchtige, hochmüthige Ariftofratennatur“ zu
fhildern. Was er aber als Beweis anführt, bie Erret-
tung von Leuten, die mit tödliher Mishandlung bedroht
waren, fpricht gegen biefe Auffafiung. Goethe that
was er unter diefen Umſtänden vermochte, indem er das
Volk aufforderte ‚den Burgfrieden des Herzogs von Weimar
zu achten, und ed war immer ein Verdienft, daß er
Menſchen vor dem Erjchlagenwerben bewahrte. Daß er
dabei auf feine. Weife ſprach und dachte, ift natürlich.
Goethe war nicht dazu angethan, fich für die Frelheits-
ideen ber Revolution zu begeiftern, er haßte das „Franz⸗
thum“, „weil e8 wie einft das Lutherthum Die ruhige
Bildung zurüddrängte” ; er wurde fpäter auch ein Bewun⸗
derer Napoleon’s, und feine Schilderung bes Feldzugs
—
Zur Charalteriftil der erften franzöfifben Republik.
in der Champagne ift ein ſchwaches Werk, aber doch
immerhin merkwürbig, weil e8 beweift, daß damals Goe⸗
the’3 Anfichten eine große Erfchütterung erlitten, und daß
er zugeftand, „es fei eine neue Zeit angebrochen“. Wenn
man das Buch verurthtilt, ohne es gelejen zu haben, wie
Benedey erflärt, weil es ihn angewidert habe, fo ift man
auch nicht zur Beurtheilung berechtigt, ſondern verliert ſich
in fanatifchen Haß, der den Blick trübt.
Auf die Gefchichte der mainzer Republik läßt Venedey
die der cisrhenanischen Republik folgen, deren Hauptglie⸗
der Koblenz, Trier und die Freie Reicheftadt Köln wur⸗
den, welche in diefer glüdlicden Stellung ähnliche, wenn
auch nicht fo ſchlimme Erfahrungen wie Mainz machten.
Die rheinischen Patrioten ſchwärmten ebenfo für bie Idee
einer Republik ihres Landes, hofften aber dafür befjere
Ausfichten zu haben als die Mainzer, weil ihr Gebiet
ein größeres war. Sie waren auch fo gefcheit, Mar⸗
ceau, und als dieſer fehr bald von einer öfterreichiichen
Kugel getroffen wurde, den General Hoche für ihre Ideen
zu gewinnen.
Der letztere war nicht abgeneigt, darauf einzugehen. Der
Plan einer beutfchen Republik neben der franzöfiichen war
von großer Tragweite und mußte einen Mann von jo
großer militärifcher und politifcher Befähigung wie Hoche
anziehen. Er war ber einzige, der bem General Bona-
parte das Gleichgewicht zu halten vermochte. ben des⸗
halb dachten aber auch die Kepublilaner in Paris daran,
ihn an die Spite zu bringen. Als Pichegru mit den
Kopaliften das Directorium bedrohte, rückte auf Barras’
Aufforderung Hoche mit einem Theil feines Heers in die
Nähe von Paris; Carnot hatte aber nicht den Muth, diefe
Macht zu benugen, und Hoche mußte nach dem Rhein
zurüdfehren. Er war unzufrieden, hatte Beiprechungen
mit dem Profeſſor Beaury und andern Patrioten von
Koblenz und entfchied fi fiir bie ciöchenanifche Republik.
Seinen Truppen gab er ben Namen „Armee Deutfch-
lands”. Bald darauf raffte auch ihn der Tod Bin. Er
ftarb unter allen Anzeichen der Bergiftung, und man
glaubte allgemein, daß dieſe in der Bender ftattgefunden
babe. inter Hoche's Papieren fand man einen Brief des
Directoriums, welcher die ciörhenanifche Bewegung mis⸗
billigte und von Hoche forberte, daß er für den einfachen
Anfchluß der Rheinlande thätig fein ſolle. Die Einver-
leibung und Ausbeutung diefer Provinz nach derfelben
Weiſe, wie fie in Mainz verſucht worden war, bildete
das Ziel der franzöfifchen Machthaber, und was Venedey
über die franzöſiſche Verwaltung am Rhein berichtet, Lie-
fert bie traurigen Beweiſe, daß die meiften Beamten ber
großen Frankenrepublik das alte Betrugſyſtem der deö-
potifchen Zeit ausübten. Es ift ein widerliches, empb⸗
rendes Schaufpiel.
- Als die Franzoſen in Koblenz einrüdten, wurden fie
von den Bürgern, welde das Xreiben der franzöftfchen
Brinzen und Emigranten angewibdert hatte, mit großer
Freundlichkeit empfangen. Sie braditen ihnen Wein und
Efſen, und die neue Herrichaft begann mit einem Tefte,
dem Pflanzen des Freiheitebaums, wobei die Deutfchen
aber doch nicht mittanzten, als die Soldaten ihr Ca iral
ertönen ließen. Trotz dieſer Berbrüderung erließ Mar—⸗
ceau einen Befehl, daß die Aſſignaten für voll angenom⸗
1870. 50.
793
men werden müßten, der Preis der Waaren aber nicht
vertheuert werden dürfe. Während Trier nur 3 Millionen
Kriegskoſten auferlegt wurden, mußte Koblenz 41, Mil-
lionen bezahlen, bamit, wie Bourbotte in feinem Erlaß
voll Hohn fagte, das Geld, das die Emigranten Frank⸗
reich geftohlen und im Koblenz verzehrt Hatten, wie-
der in die Kaffen ber franzöfiichen Nation zuritdfliehe.
Anger Geld und Waffen braudte die Republik auch
Schuhe. Damit diefe fogleich befchafft werden Tünnten,
wurden die Toblenzer Bürger nad) dem Schloßplatz be»
ftelt und ihnen dort verkündet, daß fie gefälligft ihre
Schuhe ausziehen und den Soldaten überlaffen möchten.
So erhielten die „Ohnehoſen“ in kürzefter Weife die nöthi-
gen Schufterrappen, wührend die Koblenzer in Strüm-
pfen nach Haufe gehen durften.
Die Requifitionen erftredten ſich auch auf Kunftgegen-
flünde und Bibliothekſchätze. Hobespierre war gefallen;
am nächften Tage erhob das Spitbubenfyftem, dem bald
nichtö mehr heilig war, frech fein Haupt und verbreitete
fi insbefoudere überall in den eroberten Ländern. Am
12, November 1794 wurde in Aachen die Centralregie-
rung für die Länder zwifchen Maas unb Rhein, fpäter
zwifchen Rhein und Moſel errichtet. Unter diefer ftanden
fieben Bezirksverfbaltungen: Aachen, Maftriht, Spaa,
Limburg, Geldern, Blankenheim und Bonn. Köln wurde
unter die bonner Bezirksregierung geitellt. An fchönen
Berfprehungen in hochtrabenden PBroclamationen fehlte es
nicht. „Tod den Tyrannen, Krieg den Paläften, Friede
den Hütten!” hieß es in einer Anfprache des Vollsreprä-
fentanten ©ilet, der mit Championnet nah Köln kam.
Es wurde auch verheißen, daß die großen Befigungen
ber Geflohenen dem Aderbau zurückgegeben werden joll-
ten, damit die Menfchen durch unzerreißbare Bande des
Eigenthums an die Revolution gefeffelt wiürben. In Wahr-
heit hatte das Land aber nur Laften, Bebrildungen,
Störungen, Stodungen in allen Berlehrsverhältniffen zu
empfinden. Handel und Wandel ftanden flill, tiberall
trat Noth ein.
Indeß, die rheinifchen Patrioten thaten, was in ihrer
Macht ftand. Sie fchlofien fi der franzdfifchen Ver⸗
waltung an, um den Berfuch zur Begründung neuer
republifanifcher Imftitutionen zu machen, erreichten da-
durch auch mandjes, fcheiterten aber fchlieglih doh an
der über ihnen ftehenden Gewalt, ſodaß fie zulegt muthlos
das Spiel aufgeben, da e8 ohnehin zu Ende ging. Die
Freie Stadt Köln fandte ihren Bürgermeiſter Dumont
und den Profefior Walraf nah Paris, um mit bem
Convent um ben Erlaß der ihr auferlegten Kriegsſteuer
von 480000 Tivres zu unterhanbeln, erreichte aber auch
dadurch nichts. Die Nationalcommiffare erjchienen, um
den Senat ber Freien Stadt aufzulöfen und eine admi-
nistration municipale an deſſen Stelle zu fegen.
Koblenz wurbe der Brennpunkt der niederrheinifchen
Beitrebungen für eine rheiniſche Republik im Gegenjat
zu ben oberrheinifchen Beftrebungen für ein Aufgehen der
Rheinlande in der franzöfifchen Republik. Görres begann
bier feine wunderbar auf- und abfteigende Laufbahn mit
dem Eifer der rüdfichtslofeften Hingebung an die Idee,
welche ihn augenblidlich gefeffelt hatte. Er gab zuerft dag
„Rothe Blatt” Heraus, in welchem er die Schurfereien
100
796
Sefinnung aud) die Gabe der Darftellung fügt, haben
wir noch immer Mangel.
4. Wilder Honig (Fortfegun:
Bon Alban Stolj.
&. 8. 1 Th. 10 Ngr.
Der hochehrwürdige Herr, der mit der Gefchichte des
freiburger Erzbisthums eng verwachſen ift, hat fon in
den von gewiffen Kreifen mit Beifall begrüßten „Witte
zungen ber Seele“ dem Latholifchen Publikum, das nicht
zu denfen verlernt hat, eine lange Reihe von Gebanfen-
gängen gegeben, die für den Vſychologen nicht minder
intereffant find als für den Dogmatifer. In „Wilder
Honig“ gibt uns ber merkwürdige, vielfeitige und innerlich,
vertiefte Geift des Autors eine jo nadte Darlegung feines
innern Menſchen, wie fie die Tagebuch und Memoiren-
fiteratur unſers Zeitalters kaum in ähnlicher Weiſe aufe
weifen bürfte. Alle Vorgänge der Außern und innern
Welt werden mit feltener Ausführlichkeit durchdacht und
durchſprochen: leuchtet aus dieſen Herzensergießungen
neben fireng katholiſch-dogmatiſcher Ueberzeugung auch
eine monotone Empfindfamteit, oft eine befremdende Süß-
lichkeit heraus, fo fol doch nicht geleugnet werden, daß
andererſeits eine gewiſſe Derbheit, Menfchen und Ber-
hältniffe anzufehen und zu behandeln, ſowie ein lebhafter
Realismus, der die Dinge der fihtbaren Welt unter dem
Gefiätspunft regelmäßiger und gefeglicher Zwedmäßigfeit
betrachtet, fi in dieſen Tagebuchauſzeichnungen ſtark gel-
tend madt. Wir unfererfeits Lönnen nicht bie, Anſicht
derer heilen, die derartige Veröffentlihungen als ein
„Sicnadtausziehen auf einem Marftplag am hellen Tage”
bezeichnen: wir halten gerade die Bekenntniſſe und bie
ſeeliſchen Vorgänge höchſter geiftlicher Würbenträger, mögen
fie nun der latholiſchen oder ber proteftantifchen Kirche
angehören, für fehr geeignet, die richtige Auffaſſung und
das gerechte Verſtändniß derartiger Ficchlich orthoborer
Naturen, wie die des Verfaflers, zu fördern, und fo den
Schluſſel zu mander, dem Laien nicht immer begreiflichen
Handlung unferer geiftlichen Ariftofratie zu geben. Dazu
fommt noch, daß die vorliegende Schrift in äfthetifch fhd-
ner Form gehalten ift, die nicht felten an Goethe'ſche
Proſa erinnert.
5. Margarethe Berflafien. Ein Bild aus ber katholiſchen Kirche
von A. Pi en Meyer. 1870. 8 iu
Ein ſchüchterner aber mwohlgelungener Verſuch, das
Leben der wohlthätigen und religiöfen Frau, bie der Con -
fequenz und Stärke des katholiſchen Syſtems alle Ehre
macht, dem Lefepublitum zu vermitteln und die fegend-
reiche Thatigkeit der Fromme verftändigen Rheinländerin
zu beleuchten. Briefe von Clemens Brentano fowie ein
Anhang von Briefen Margarethens tragen dazu bei, bie
Theilnahme für die Biographie, welche die Feder einer
Sram nicht verleugnet, zu erhöhen.
6. Zur Seſchichte der refigiöfen Wandlung Kaifer Marimilian's II.
von J. Reiges. Mit bisher ungedrudten Urkunden aus dem
Näbtifchen Archiv zu Wien. Leipgig, Dunder und Humblot.
1870. Gr. 8. 12 Nor.
Eine urfprünglid von ber leipziger philofophifchen
Facultut gebilligte Inauguralbifiertation hat der Autor
mit wol etwas veränderter Yaflung als bie vorliegende
der „BWitterungen der Seele").
teiburg i. Br., Herder. 1870.
Vom Büchertiſch. \
Schrift erſcheinen laffen. Sie behandelt das mertwilrdige
Berhältnig des humanen Kaiſers zur Reformation und
die Stellung zu ben confeffionellen Streitigkeiten feiner
Zeit. Marimilion, im Herzen immer Lutheraner, foll
noch vor feiner Thronbefteigung dem offenbaren Uebertritt
zum Lutherthum beabſichtigt Haben. In diejem Falle hätte
der freibenfende Monarch indeß eine dreifache Oppofition
borgefunden: einmal bie katholiſche, dann die calbiniſche
und drittens die der Intherifchen Fürften: „Was jollte
diefen“, ruft Reitzes aus, „ein Kaifer frommen, der die Bor-
theile ber Einziehung des Kirchenguts ſich allein zumen-
dete, die Entwidelung der Landeshoheit hemmte und fie
ſelbſt, die vielleicht jeder vom einer ihre jpätern Nach-⸗
kommen zierenden Kaiſerkrone träumten, zu bloßen Ba-
fallen eines kräftigen Reichs herabbrüdte?" Aber die Kraft
des Kaifers, der trog alledem ben Schritt des Uebertritis
thun wollte, erwies ſich zu ſchwach gegenüber jenen Geg«
nern. Reiges zeigt, wie die Berhältwiffe den Monarchen
zwangen, in einer Annäherung an die Be
Partei die alten Traditionen feiner Dynaftie wieder rn
zunehmen. So glaubte Marimilian feine politiſchen Plane
durchführen zu fönnen, die auf der Ausficht beruhten,
Spanien und Polen für das Haus Habsburg erwerben
zu können. Die Schwäche des Kaiſers auf dem regend-
burger Reihötag wird durch diefen Umftand erflärlicer:
erflärlich wird dadurch aber auch der näcjfte Verlauf der
deutfchen, ſpeciell öſterreichiſchen Geſchichte, der durch) den
verhängnigvollen Compromig Mazimilian’s mit ber fatho-
liſchen Partei bedingt war. „Fuͤhrte ja doch die Bahn“, —
fagt Neiges, „melde Marimiltan’s Halbheit jet betrat,
zum Dreißigjährigen Krieg und zur öfterreihifchen Gegen-
veformation, jener nur mit bem blutigiten Wüthen der
Inquifition zu vergleichenden Leiftung jejuitifcher Politit!
Die angehängten actenmäßigen Belege find nen umb ger
währen Aufſchluß über den Kaifer und jeine Wandlung,
7. Briefe über die chriſtliche Religion von 5. AU. Müller
Stuttgart, Kötzle. 1870. Gr. 8. 1 Thlr.
Der eifrige Berfafer hat den Muth, der augen!
lichen Phafe, in ber fi) das moderne Kirchenthum ber
findet, kühn ins Geſicht zu fehen. Cr dedt bie Schäden
der dogmatifchen Kirchlichkeit unferer Tage jchonungsl
auf, geht auf die Bedürfniffe der Gemeinde jorglich e
und verfehlt nicht, durch feine erwärmende Gefinnung
gedankenreiche Sprache einen wohltyuenden Einbrud
machen. Wenn er gleich zu Anfang die Reformation
Januskopf von Reaction und Foriſchritt bezeichnet,
einen widerſpruchsvollen Compromiß und eine
Halbheit, fo fönnen wir ſchon aus den Eingang jchlü
was wir im Allerheiligften des Hauſes jehen ma
Ueber die Perſönlichkeit und die Lehre Jefu gibt
Autor tief Gedachtes; intereffant ift der Hinblid auf
zeitgenöffifchen Communismu® Jeju. Der vierte Br
bringt und eine Beleuchtung bes jubenchriftlichen „°
Iinismus“, defien Quinteſſenz Müller in dem Beftrel
des Apoftels zu finden ſcheint, nit nur die unmittel
mündliche Tradition von den Lehren des Meifters zur
achten und zurüchzuweiſen, fondern auch das gefi
Gotteswort feinerzeit als ungültig zu zerreifien.
die hierarchifchen Veftrebungen der Zeit richtet ſich
fünfte Brief, der von dem johanneifchen Lehren vebet,
Feuilleton.
nach Müller der Hierarchie ſehr unbequem geworden.
Der Berfaffer äußert:
Die chriſtliche Entwidelung bat fi) weientlih an bie Ber-
bindung von Judenchriſtenthum und Panlinismus gehalten und
den Fohannes noch weit mehr und mit weit größerm Unrecht
über dem Paulus vernadläffigt, wie den Platon über dem
Ariftoteles. Die Hierarchie aber verabfcheut die Principien des
Johannes und muß fie verabjcheuen, weil die abfolute Tole⸗
197
ranz deren Conſequenz ift, und das Pfaffentbum nur in ber
Intoleranz leben und gedeihen kann, wie der Teufel nach Jo⸗
bannes nur in der Finfterniß.
Nach diefer Probe der Denkweife und des Stils des
Autors kann man ermeflen, welche Anfchauung der
Schlußbrief „Ueber das Chriftentfum und die Gegen-
wart“ vertritt,
Senilleion,
Notizen.
Aus der umfangreichen „Allgemeinen Encyllopädie der
Wiflenfchaften und Künfte” von Erſch und Gruber Hat die
Berlagsbuhhandlung von F. A. Brodhaus eine Separat-
ausgabe der act Bände veranftaltet, welde in einer Reihe
werthvoller Monographien „Griechenland geographiſch, ge-
ſchichtlich und eulturhiſtoriſch von den Äfteflen Zeiten bis auf
die Gegenwart“, darſtellen. Eine einzelne Kraft Hätte einen fo
umfafjenden Stoff nit in gleicher Weiſe bemältigen können,
da eine ganz andere Richtung der Studien dazu gehört, um
von der Geſchichte des alten Hellas, ober vom der des mittel.
alterliden und neuen eine wiflenjchaftlich begründete Darftellung
zu geben; ganz abgejehen von der Wrbeitstgeilung in Bezug
auf die einzelnen Zweige: Mythologie und Kirche, das Recht,
die Literatur, die einzelnen Künſte. Die Folge der Bünde
und Abhandlungen, in welde fi die Gefanımtdarftellung
gliedert, iſt:
Erſter Band: A. Alt-Oriehenland. I. Geographie, von
Brof. Dr. 3.9. Kraufe in Halle. II. Geſchichte von der Urzeit bis
zum Beginn des Mittelalters, von Prof. Dr. ©. Fr. Hergberg
in Halle. — Zweiter Band: III. Griechiſche Sprade und Dia⸗
Ielte, von Prof. Dr. 5.W. X. Mullach in Berlin. IV. Griedifche
Mufit, Rhythmik und Metrit, von Prof. Dr. C. Fortlage in Jena
und Brof. Dr. H. Weiffenborn in Erfurt. V. Griechiſche Me-
trologie, von Gymnaſialdirector Dr. Fr. Hultfch in Dresden.
VI. Griechiſche Fiteratur, von Prof. Dr, Theodor Bergk in
Halle. — Dritter Band: VII. Religion oder Mythologie, Theo⸗
logie und Gottesverehrung der Griechen, von ‘Prof. Dr. Chri⸗
ftian Beterfen in Hamburg. VIII. Griechiſche Kunft, von Prof.
Dr. ©. Burfian in Jena. — Bierter Band: IX. Griedifche
StaatsalterthHümer, von Prof. Dr. H. Brandes in Leipzig.
X. Griechiſche Privatalterthümer, von Prof. Dr. Hermann Göl
in Schleiz. XI. Griehifhes Theater, von Prof. Dr. Friedrich
Wiefeler in Göttingen. — B. Griedenland im Mittelalter und
in der Neuzeit. SU. Geographie. Bon der weſt⸗ und oflrö-
mifchen Katjerzeit ab durch das Mittelalter bis zur Gründung
des neuen griechifhen Königreihe von Prof. Dr. 3. 9. Kraufe
in Halle. — Fünfter Band: XII. Griechiſche Kirche, von Dr.
3. Hafemann, PBaftor in Arzberg. XIV. Chriſtlich⸗griechiſche
oder byzantiniſche Kuuft (Architektur, Skulptur und Malerei).
Bon Brof. Dr. Fr. W. Unger in Göttingen. Erſter und zwei-
ter Abfchnitt. — Sechster Band: Ehriftlich - griechifche oder by⸗
zantinifhe Kunſt (Arditeltur, Skulptur und Malerei). Bon
Brof. Dr. Fr. W. Unger in Göttingen. Dritter und vierter
Abſchnitt. XV. Geſchichte Griechenlands vom Beginn des
Mittelalters bis auf unfere Zeit (1821). Bon Brof. Dr. €.
Hopf in Königsberg. Erſte und zweite Periode. — Siebenter
Band: Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelalters
bis auf unjere Zeit (1821). Bon Prof. Dr. C. Hopf in Kö.
nigeberg. Dritte Periode- XVI. Griehifh-römiihes Recht
im Mittelalter und in der Neuzeit. Bon Dr. C. W. E. Heim-
bad), Bicepräfident des Oberappellationsgerihts in Jena. —
Achter Band: XVII. Geſchichte Griechenlands im nennzehnten
Jahrhundert. Bon Prof. Dr. H. F. Hertzberg in Halle.
XVII. Geſchichte der byaantinifgen oder mittelgriechiſchen Lite⸗
ratur, von Juſtinian's Thronbeſteigung bis auf die Eroberung
Eonftantinopels durch die Türken, von 529—1453. Bon Dr.
Rudolf Nicolai in Berlin.
Die Anordnung der einzelnen Abhandlungen erjcheint ung
ſyſtematiſch begrlindet, vielleicht mit der einzigen Ausnahme, daß
die achtzehnte AbHandlung: die Gefchichte der buyzantinifchen
ober mittelgriechiſchen Literatur, fi) wol befier der vierzehnten
über chriftlich » griechiſch ober byzantiniſche Kunſt angereiht
hätte, flatt den Abſchluß des ganzen Werts zu bilden. Wäh-
rend gerade diefe Abhandlungen, wie bie Darftelung der
mittelgriechifchen Gefchichte, durch ihr minder befauntes und
durchforfchtes Thema anziehen, haben die Abhandlungen über
aftgriechifche Literatur, Sprache, Mythologie, Kunft und Alter-
thümer, fo betreten auch diefer Boden fein mag, eine wiflen-
fhaftlihe Gediegeuheit für fi, welche feine Koncurrenz zu
fheuen braudit.
Guſtav Freytag iſt von der Redaction der „Grenzbo⸗
ten‘ zurldgetreten und hat feinen VBefigantheil an der Zeitfchrift
dem Berleger, 5. W. Grunow, Hberlaffen. Die vorwiegend
publiciftiiche Zendenz war in letter Zeit in den ‚„‚Grenzboten‘‘
fo in den Bordergrund getreten, daß fie auf einen kritiſchen
Einfluß, wie ihn das Blatt zur Zeit Inlian Schmidt's aus
übte, verzichtet zu haben ſchienen. Man fand meiftens unbe-
deutende oder nur zeitgejchichtliche Werke in demjelben beſprochen
und berlidfichtigt, vorzugsweife die Productionen befreunbeter
Autoren. Eine umfaflende Darftellung umferer Titerarifchen
Bewegung zu geben, ober aud nur auf bie hervorragenden
Zalente aufmerkſam zu maden, lag offenbar nicht mehr im der
Abficht der Herausgeber. Daß eine Verſchiedenheit veligiöfer
Anjhauungen zum Bruch zwifchen dem Berleger und dem
Herausgeber führen würde, konnte man nad den wenig ber-
vortretenden Tendenzen ber Zeitfchrift auf diefem Gebiete faum
erwarten. Der neue Rebacteur derjelben, der Sohn Robert
Blum’s, der Reichstagsabgeordnete Hans Blum, der fid
als tlichtiger Publicift bereits bewährt hat, wird ziwar, bem
Anfchein nah, duch einen religiöfen Sclagbaum in feiner
freien Bewegung etwas gehindert fein, aber dafür dem Blatt
wieder eine größere literarifhe Regſamkeit und kritiſche Be⸗
deutung zu fihern vermögen. Der am häuslichen Herd der
„Grenzboten“ ausgebrocdhene Conflict dat bereits in weitern
Kreifen ein Echo gefunden, indem der Berleger des Blattes in
einer öffentlichen Erklärung die Gerichte in Zweifel ftellte, de⸗
nen zufolge Guſtav Freytag im Hirzel'ſchen Berlag mit dem
1. Sanuar 1871 eine neue Zeitjchrift erfcheinen laffen würde. Er
appeflirte dabei an die Chrenhaftigleit des Autors, der ſich
durch einen Paragraphen im Berlagscontract verpflichtet hatte,
nad feinem etwaigen Rüdtritt von den „Srenzboten‘ feine Zeit-
ſchrift von gleicher literariſch⸗politiſcher Tendenz herauszugeben.
Gleichwol wird jest eine ſolche Zeitihrift angekündigt:
„Im neuen Reid. Wocenfchrift für das Leben des deutfchen
Bolls in Staat, Wiffenfhaft und Kunft‘ (eeipaig Hirzel).
Doch find die comtractlihen Bedenken des Berlegers der
‚„ Srenzboten‘ dadurch befeitigt, daß Dr. Alfred Dove
als Heransgeber und verantwortlicher Redacteur genannt ift,
während von Hrn. Dr. Guſtav Freytag nur mitgetheilt wird,
daß er feine journaliftifche wbätigteit ausſchließlich diefer Zeit-
fhrift widmen werde. ine foldye gelegentliche Mittheilung
einer dem Verleger des neuen Blattes angenehmen Thatſache,
mag fie auch in erſte Linie geftellt fein und den Herausgeber
und Redacteur etwas in den Schatten drängen, verträgt fid
bemnad mit allen Paragraphen des frühern Contracts und
798 Feuilleton.
wird dem Verleger der „Grenzboten“ zu Feiner weitern Intere
pellation Veranlafjung geben fännen, ihn aber über den Werth
derartiger contractlicher Befimmungen aufzuffären vermögen.
Die neue Zeitfehrift verheißt in ihrem Profpet Bieles
und Großes:
Fur das neue Reich der Deutichen, welches durch Prenßen
im Jahre 1866 begründet und durch die Erfolge diefes Jahres über
den Main ausgedehnt ward, fordert unfer Blatt den Einfhluß
ſammtlicher deutfcher Staaten, engere gefeigfiche und verfaffungs-
mäßige Verbindung der Theile auf jedem Gebiete gemeinfamer
Intereffen. Cbenfo die Befeitigung der legten Reite altfränfi«
fer Bevormundung und polizeiliher Willkür in den einzelnen
staaten ; die Ausbildung der Zucht und Hingabe an ben Staat
in den Bürgern; die Kräftigung des Selbfiregiments in jedem
Kreife des Öemeinlebens. Die Wocenfchrift wird aufer poli-
tifchen Xrtifeln auch Berichte und Correfpondengen aus den ein
zelnen Landſchaften, und im regelmäßiger Folge beurtheilende
Meberfichten Über die Zagesereigniffe in der politifhen Welt
Bringen; fle wird aufmerham bie Politif der Außenmächte und
die Stimmungen der Bölfer verfolgen, und verfpricht nament»
lid) der Sache des Deutſchthums in Deſterreich und Rußland,
in allen Ländern, wo deuiſche Coloniften ſich angefiebelt haben,
die wärmfte Theilnahme.“
Die Zeitſchrift will das leiſten, was bie „Greuzboten“
eben mit leiſten durften. „Sie beabfihtigt bie focialen
und Eulturfragen der Zeit mit Aufmerfamfeit zu behandeln,
in dem Kampfe zwilhen Staat und Fire und gegenüber
den Anmaßungen ber iatholiſchen umd lutheriſchen Orthodorie
ihre Pflicht zu thun und den Ehrennamen eines freifinnigen
Blattes wohl zu verdienen.” Auch für „heimiſche Sitte, gute
Bürgerlichfeit und inniges Bamilienleben wird die Zeitſchrift
eintreten; fie wird alfo ein „folides‘ Blatt fein. Weiterhin
heißt e8: „Im der angeftrengten Arbeit der letzten Jahrzehnte
ſind die realen Intereffn der Ration fehr mächtig geworben,
die Ausbildung für das prattiſche Leben nimmt ungleich größern
Raum in — — als zur Zeit unſerer Bater. Gegen bie
Bildungsformen der letvergangenen Generation, welde allzu
ausfchfieglic der Humanififhen Literatur zugewandt war, ſteht
ſchroff eine jüngere Methode ber Bildung, die als materialifiiich
geiholten wird und allerdings im entiprechender Einfeitigfeit
von der Wiſſenſchaft vorzugsweife das Rutzliche, von der Kunft
bequemen Ginnengenuß begehrt. Den großartigen Erfolgen
diefes Steebens in fortichreitender Bewältigung von Raum und
Zeit, in Hebung äußerer oogtfahrt und Minderung menſch ·
ũchen Elends fol durch dieſe Wochenſchrift durchaus ihr Recht
widerfahren; um ſo mehr aber gilt es jetzt, die ideale Habe
unferer Nation, die höchſen Refultate deutfcher Wiffenfchaft, die
Gefege edler Schönheit in Sinn und Gedägtniß der Gegenwart
zu erhalten. Im folder Tendenz wird das Blatt fid zur Aufe
gabe maden, wichtige neue Werke aus allen Gebieten ber
Wiſſenſchaft und Kunft eingehend zu beſprechen, die Ergebniffe
meuer Forſchungen und den Gewinn neuer Entdedungen dar
zulegen, über Richtungen und Fortſchritte durch periodifche Ueber«
figten zu befehren.” „Sm neuen Rei” wird alfo für Haupt
und Glieder, für Staat, Kirche, Sitte, Wiſſenſchaft, Literatur
und Kunft in reformatorifcher Weife geforgt werben. Der Ten⸗
denz darf man beifimmen — der Name des Hauptmitarbeiters
bürgt für werthvolle Beiträge: wir fehen alfo der erften
Nummer mit Spannung entgegen.
Die neulich, von Alfred Meißner in Nr. 41 d. BI. gebrachte
Mittheilung tiber die Bibliothet Schitler'e bedarf einer
Grgimgung, welche uns durch die Buchhandlung von I. A. Star-
gardt in Berlin zugegangen if. Im Herbfle des Jahres 1851
erftand die Berlagskachgandtun, von des Dichters älteſtem
Sohne Karl Freiherr von Schiller % . 14. September 1793,
FR 21. Juni 1857), Oberförfter in Naunftabt am Koder, eine
feine Blicherſammlung, welche diefer von feinem verfiorbenen
Bruder übernommen hatte. Während die von Alfred Meiner
beſprochene Sammlung mehr einen allgemeinen Charakter trägt,
ß diefe Bibfiothet vorzugemeife eine Bibliothek franzdfifcher
emoiren, welche der Dichter für feine Geſchichtswerie, na-
mentlich für die von ihm heransgegebenen Memoiren brauchte.
Die Sammlung enthält 156 Bände, darunter Acten und Mer
moiren zum frieben von Utrecht, Nymwegen und Rysmid,
Memoiren zur Gefhidte Heinric's IIL., der Regentfejaft, Lud-
wig’s XIV. Memoiren von Buffy Rabutin, Zoli, Suly,
Bafjompierre, Montecuculi, Marquis de Feuquſere, Boulainvil-
Tiere, Eaftelnau, Temple, der Marquife von Pompadour u. a.,
außerdem nur wenige größere Geſchichtswerle, wie Gibbon's
Seſchichte des Verfalls und Untergangs des römijchen Reiche”.
Ein genaner Katalog, mit erläuternden Briefftellen und Ans
merfungen und einem Facfimile aus Schiller's eigenhändigem
BVlicherverzeichuiffe, findet fi) in der Meinen Schrift: „‚Kriedrih
von Schiller's Bibliothel. Zum 10. November 1859“ (Ber
Kin, Stargardt). Bis zu dieſem Jubiläum befand fih die
Sammlung in Berlin in den Händen des Buhhändlers Star
gardt, ohne daß fie indeß, wie Alfred Meißner von eimer ders
artigen Sammlung in einer großen Stadt erwartet hatte, ein
Bielpunft von Wallfahrten geworben wäre; dann bat fie eine
Ruheſtätte in der Hamburger Stadtbibliothek gefunden.
Bibliographie.
Diäter sup ben Zagehuße sic Gteabberaert wäßtenb ber Beilage
zung in den Monaten Auguf und Gepember 1870. Altona, Berlast«
———— En: Gtatififg-geographifge und Hiforiigepotitiide
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Ewald, d., Wa ir Wieberferfleilung Deutjglanbe. Leip
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Gen Je w über Kusslands Kriegemacht und Kriegspolltik.
us dem Russischen. Mit olnem Vorwort von Julius Eckardt,
1% Bammpf und Sieg. Sriegetieher. Berlin, Squeigeer
Gasener, F. I., Die Bchlller-Gosthe'schen „Xenfen“. Mit einer
Einleitung und Erläuterungen. Wien, Helf, Gr. 8. 10 N;
Huber
Öregorouins, ©, Seialäiz der Stadt Rom im Mittelalter. Som
ʒ w zum 16, Jahrhundert. ter Bb. Gtuttgart, Cotta. Gr. 5. 3 Zpir.
*
ie Gunftbamen und bie Rinder ber Liebe im Haufe Habebutg. Eine
galante Etudie von A. 2. Berlin, Shlingmann. @r. 16. 7, Kar.
Hantke, A., Die Chronik des Gislebert von Mons. Leipzig, Dun-
ker u. Humblot. 1871, Gr. 4. 15 Ngr-
„BSlerieL, D.. Beaen bie Brangoien, Preubiige Sriege- uns as.
nigslier, Berlin, Goimsigger 16. 10 A: ST
2x u fglite Geigicten. 2 Bbe. Berlin, Ianfe. 1371. &
Ir. 15 Mr.
Hetiner, $., Goethe und Siiller, 2 Wblheilungen. Braunfiteig,
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— — Literaturgejdichte bes adtzehnten Jahrhunderts. Ster Tpl.: Die
Es @iterotus im 18. Jahrhundert. 38 Bud, 2te Mhth.: Das Tlaii-
[2 Sgltatter der ventigen Eiteratur, "sie Mbit; Das Ipeal der Sumasir
t. ‚Braunfgmeig, Biemeg u, Cohn, Gr. 8, 2 Thle, 25 Mar.
Birth, G,, Tagebuch des deutsch französischen Krieges 1870. Eine
Sammlung ’der” wichtigsten Quellen. Im Vereine mit d. x; Gosen bear-
Deikn, „te Hof Berlin tlke n. van Moyden. 4, 10 Mer
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Bed, ©., Krieg und Gieg. BDentjge Lieder. Görlig, Remer. 11
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General Fadejew
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Mit einem Vorwort von Julius Eckardt.
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‚hen Generals Fadejew über die
Streitkräfte Russlanı t nicht blos in mil ischen Krei-
sen, sondern auch den Politikern aller Nationen das
grösste Aufsehen erregt; denn noch niemals ist der Status-
quo und die aggressive Politik des Czarenreichs so sach-
kundig und so rückhaltlos dargelegt worden. Vorliegende
deutsche Uebersetzung des Werks, eingeleitet durch ein
Vorwort von Julius Eckardt, darf daher gerade im
gegenwärtigen Augenblick sicher auf allgemeine Beachtung
rechnen.
' Das Werk des
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In der „Sammlung ‚gemeinverfändl, wiſſenſchaftl.
Vorträge, von Rud. Virchow un Fr. von
Holtzendorff“ find folgende Hefte neu erfchienen:
105. Die nationale Staatenbildung und ber moderne deutſche
Staat von J. C. Bluntschli. 7%, Sgr. — 106. Auf
gaben und Leitungen der modernen Thierzugt von H. Set-
tegast. Mit 1 Titelbild. 7%, Sgr. — 107. Lord Bal«
merfton von Th. Bernhardt. 6 Sgr. — 108. Das
Eifenhüttenwefen von H. Wedding. II. Abth.: Die
Darftellung des Stahls und Schmiebeifene. Mit 3 Holjihn.
7% Sgr. — 109. Die Beziehungen der Gewerbejeichen-
{Auen zur Knnfinduftrie ımd zur Bolfebitdung von Bruno
Meyer. 6 Sgr. — 110. Das Leben in ben größten
Meerestiefen von Ernst Haeckel. Mit 1 Titelfupier
und 3 Holzſchn. 10 Sgr. — 111. Die geologifhe Bildung
der norbbentfchen Ebene von Justus Hoth. 6 Sgr. —
112. Moderne und antike dſunge · und Bentilationsmetho-
den von J. Berger. Mit Holzſchu. 10 Sur. —
113. Die Aldemie und bie Alchemiſten von G. Lewin-
stein. 6 &gr.
52 und 53. Ueber die Entflefung und den Stammbaum des
Menfhengefhlehts von Ernst Haeckel. 2. verbefierte
Auflage. 15 Ser.
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Deutſche Denkſchriften aus ben Berhandlumgen des Zweiten
Barifer Friedens. 1870. 80 Seiten. 10 Sr.
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Versuch der Lösung des Problems der Weltbildung;
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Wedelstaedt. 1871. 116 Seiten. 18 Sgr.
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1870, 1. Decemberheft. 6 Sgr.
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gen Kriegs 8. Von Prof. Wegele. — Nekrelog.
Literatur: Charles Dickens, von J. J. Honegger. —
Beiträge zur neuesten vergleichenden Sagenforschung auf
indogermanischem Gebiet II, von Dr. Hermann Ethe. —
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kologie: Julius Braun, von W. Gross.
Geographie: Wirthschaftliche Verhältnisse auf Neusce-
land. — Nekrolog.
Meteorologie: Der Einfluss des Krieges auf die Witte
rung, von Klein.
Volkswirthschaft: Die volkswirthschaftlichen Kräftı
Russlands II, von Dr. Dühring. — Land und Leute, sowie die
wirthschaftlichen Zustände in Elsass und Lothringen I, or
Emminghaus. — Nekrolog. 5
Landwirthschaft: Die Düngerfrage II, von Birnbaum.
Kriegswesen: Fliegende Kolonnen, von A. G. v. Ber
neck. — Die Panzerflotten der ausserdeutschen europäische:
Mächte. — Nekrolog.
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen.
Verantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Grohhaus. — Drud und Berlag von 5. A. Grodhaus in Feipsig.
Blätter |
literariihe Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—4 Ar. 51. er
15. December 1870.
Inhalt: Bunfen’s Memoiren. Bon Hermann Lüde. — Neue Erzählungen und Romane, Bon Rudolf Gottſchall. (Beſchluß.) —
Ein fteirifcher Bolksdichter. — Zur Frauen⸗Unterrichtsfrage. — Feuilleton. (Menue Boethe- Ausgabe, Der deutihe Spradunter-
it und die Mundarten; „Germaniftifche Studien’; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen.
Buufen’s Memoiren.
Chriſtian Carl Joſias Freiherr von Bunfen. Aus feinen Brie⸗
fen und nad) eigener Anſchauung gefchildert von feiner Witwe.
- Deutfche Auegabe, durch neue Mittheilungen vermehrt von
Friedrich Nippold. Zweiter Band: Schweiz und Eng⸗
land. Leipzig, Brodhaus. 1869. Gr. 8. 3 Thlr.
. Die Bunfen’fhen Memoiren haben, wie die ihr bio»
graphifch und zeitgefchichtlich fo intereffanter Inhalt nicht
anders erwarten ließ, bei dem Publikum und der Prefje
eine überaus günftige Aufnahme gefunden. In England
find innerhalb weniger Donate zwei Auflagen des Werke
erfchienen, unb in Deutſchland ift in mehr als vierzig
eingehenden Befprechungen bes erften Bandes der von
Profeſſor Nippold beforgten Ausgabe, in Blättern der ver⸗
ſchiedenſten Firbung der Werth diefer Biographie und
damit zugleich das Verdienſt und die Bedeutung Bunſen's
auf da8 Tebhaftefte anerfannt worden; nur die jefwitifch-
ultramontane Partei hat nicht unterlaflen, aufs neue, wie
vor dreißig Jahren, feindfelig gegen Bunfen aufzutreten
und mit ihren befannten taktifchen Künften Angriffe gegen
ihn zu richten, auf welche bie einzig richtige Erwiderung,
die überhaupt gegeben werben konnte, in den „Preußifchen
Sahrbüchern” (vom März und April 1869) durch eine
zufammenhängende Darftelung der kölner Wirren nad
ben im erften Bande veröffentlichten Documenten bereits
erfolgt ift.
An Zufägen zu dem Text des Originals, an neuern
werthuollen Mittheilungen ift ber zweite uns vorliegende
Band der bentjchen Ausgabe noch reicher als der erfte;
fie umfafjen gegen 200 Seiten und find theils aus Brie⸗
fen und Tagebüchern Bunfen’s entlehnt, theils beftehen
fie aus längern Abhandlungen und Denkfchriften deffelben,
unter denen die Aufzeichnungen aus ben Jahren 1848
und 1849, bie fih auf die politifchen Vorgänge jener
Zeit beziehen, von beſonders hervorragendem Interefle find.
Aus dem reife der römischen Wirkfamfeit, mit deren
- Schilderung der erfte Band ſchloß, fehen wir Bunfen im
1870, 51.
* —
zweiten, welcher die Jahre 1838—49 umfaßt, auf einen
neuen und größern Schauplag der Thätigkeit übergehen;
die Beziehungen feines bisher ſchon reichbewegten —*
nehmen die weiteſten Dimenſionen an, die ganze Biel-
feitigfeit feiner Natur tritt zu Tage. Mit befonderer
Aufmerkfamfeit aber beobachten wir fein Berhältniß zu
den politifhen Problemen jener Zeit. Wir fehen, wie er
feit der Ernennung zum Geſandten in London den Einfluß
feiner Stellung für die Zwede bes immer fefter in feiner
Ueberzeugung Wurzel fchlagenden Liberalismus unermüb«-
lid) geltend zu machen verfudt; fein Urtheil und feine
Mittheilungen über die politifchen Ereigniffe jener Tage,
denen er fo nahe ftand, geben uns manchen intereffanten
Auffchluß.
Nachdem Bunſen feine capitolinifhe Wohnung in
Rom verlaffen, begab er fich zumfichft nach Miinchen, wo
er befonders mit Schelling lebhaft verkehrte und das neue
Syſtem beffelben mit begeiftertem Intereſſe zu ftudiren
begann. Im Auguft 1838 reifte er nad; England und
fand fich Hier fehr bald Heimifch; feine Frau war Eng-
länderin, und mit ben bedeutendften Männern des Landes
hatte er fchon in Rom Verbindungen angefnüpft. Weber
die römiſche Streitfrage, die den Nüdtritt von feiner
Stellung in Rom zur Folge gehabt, fand er felbit bei
ihm naheftehenden proteftantifchen Freunden viele unklare
Anfihten, ſodaß er ſich doppelt veranlaßt fah, feine
Sade zu vertheidigen, als die Feindfchaft der Anhänger
O'Connell's und der hochlirchlichen Partei in den Blättern
öffentlich gegen Preußen ausbrach.
Den mächtigen Eindrud, den das englifche Leben auf
Bunſen übte, ſchildert er felbft in mehrern Briefen mit
enthuftoftifhen Worten. Im Gegenfat zu der politifchen
Adgeftorbenheit Roms, zu ber politifchen Unmündigkeit
Deutjchlandse in jener Zeit mußte er den Segen eines
großen ftaatlichen Gemeinwefens, in dem ſich der Wille
der Nation einen freien, felbftändigen und impofanten
101
802
Ausdrud zu geben vermag, doppelt lebhaft empfinden.
Er jchreibt an John Hille:
Sch wünfde, ich könnte Ihnen eine adäquate Idee geben,
was für eine Macht die Anfchauung des engliſchen Leben® auf
mid) ausübt. Nie habe ich es fo leicht und angenehm gefunden,
auf meinen eigenen deutſchen Fittihen zu fliegen, als in ber
weiten und anregeuden Atmofphäre diefes Lebens. In Münden
fand ich zum erften male nad) vielen Jahren Muße und Be-
geifterung wieder für die höchſte, fpeculative Thätigleit; aber
erft jet, wo der andere Pol meiner Eriftenz durch England
eleftrifirt worden ift, flihle ich die neue Schwunglraft, melde
Schelling meinem intellectuellen Leben gegeben bat.
Dann fehreibt er einem Freunde über feinen erften
Beſuch im Parlament:
Meine erfte parlamentariſche Nacht liegt hinter mir. Ich
wünſchte, Du könnteſt Dir eine Idee machen von dem, was id
fühlte. Ih ſah zum erften mal Männer, die Glieder eines
wahrhaft germaniſchen Staats, an ihrem ehrenvollften, ihrem
eigentlichen Plate, bie höchften Intereffen der Menſchheit mit
gewaltiger Rebe vertheidigend, Tämpfend, wozu der Juſtinct
den ganzen Fräftigen Mann treibt, aber mit den Waffen des
Geiftes.... Ich fah vor mir dies Weltreich regiert und die übrige
Welt controfirt durch diefe Berfammlung, und ich fühlte, daß,
wäre id in England geboren, id) lieber todt fein möchte, ale
nicht unter ihnen zu figen und zu ſprechen. Ich dachte an mein
Baterland und dankte Gott, daß ich ihm danken konnte, eim
Deutfcher zu fein, aber ich fühlte au, daß wir auf diefem
Felde alle Kinder feien verglichen mit den Engländern. Wie
viel vermögen fie, mit ihrer Disciplin an Leib, Geift und
Herz, bei mäßigem Genie und felbft bei bloßem Zalent!
Die Schilderungen der fonftigen Erlebniffe während
diefes Aufenthalts in England, der Ausflüge, die Bunfen
von London aus nach Wales, Drford, Cambridge und
nach dem weftlihen England unternahm, bieten ein mannid)-
faltiges, buntfarbiges Bild. Bon befonderm Intereſſe er⸗
ſcheint das fogenannte Cymreigybdionfeft, dem Bunſen zu
Llanover in Wales beimohnte, eine Dctoberfeftlichkeit, bie
zur Hebung und Erhaltung ber alt- walififchen (kymriſchen),
im Bolle noch lebendigen Poefie von Freunden berjelben
veranftaltet wird. Im feinem Tagebuch fchreibt Bunfen:
Die Zeit der Ruhe in Llanover dauerte nicht fange; das
Cymreigypdionfeft kam heran (9., 10. October), mit feiner poe-
tifchen Lebendigkeit und kymriſch⸗engliſchem Geräufch.... Lepftus’
und Dr. Prichard's Gegenwart verfchönerte die Feier. Einen
eigenthlimlichen Reiz gibt der Zufammenklunft das Gefühl des
Volksthümlichen in dem Harfenfpiel, und in dem Dichten und
Singen aus dem Stegreif. Diesmal kam der merkwürdige
Umftand Hinzu, baß Graf Billemargue aus ber Bretagne gegen-
wärtig war, ein junger achtbarer Forjcher, der die Bollsfagen
und Xieder der Bretagne gefammelt hatte und zum Erflaunen
der Kymri und zu ihrem unbefchreiblihen Jubel fi, wenn-
leich nothdürftig, durch feine Mutterfprache verftändfich machen
onnte, nach vierzehnhundertjähriger Trennung. Alles dies
war ein wenngleich ſchwaches Abbild der helleniſchen Spiele,
und die Profa dazu bildeten die Bälle der vornehmen Welt....
An ber kymriſchen Poeſie gewann ich große Freude buch Tur-
ner’8 geniale Forſchungen, die mid von der Echtheit ber alten
Lieder Üiberzeugten, und Jones Tegid's, des Barden, lebendige
Dichtungen zeigten mir das Cigenthüimliche der alten Eimbern,
mitten in ber englifhen Civiliſation und in dem umfchaffenden
Gebiet des Ehriftenthume.
Bon der Univerfität Oxford wurde Bunfen während
biefer Zeit mit der Doctorwürde befchenkt; ein Brief fei-
ner Frau fehildert die Promotionsfeierlichkeit, bei welcher
die Studenten eine eigenthümliche und wenig ceremoniöfe
Rolle fpielen:
Kurz vor Beginn ber Feierlichkeit füllte fi die ober
Bunfen’s Memoiren.
Salerie des Saale von Studenten, bie mit furchtbarem Getöfe
bereinftirmten, als wenn fie zeigen wollten daß fie fidy Hier
gan zu Haufe befänben, und fofort ihre Gefühle laut zu äußern
egannen. Zunächſt mit Cheers „für die Damen“, „alle Da-
men’, „ale blauen Hüte‘. Dann wurden Staatsmänuer ge
nannt, einige, damit ſich das Publilum mit Beifollsbezeigungen
unterhalten könne, andere, 3. B. O'Connell, um fie mit einem
Gehen! zu begrüßen, von dem das Gebäude ſelbſt zu zittern
ſchien. Als die Doctoren und VBorflände einzogen, wurden fie
verfchiebentlich begrüßt — einige mit Beifallgrufen, andere mit
Geziſch m. f. w.
Was die perfünlichen Beziehungen Bunſen's betrifft,
fo fehen wir ihn in lebhaften Berfehr mit ben Theologen
Arnold, Hare, Maurice, ber philantropifchen Elifabeth
Fry, der glänzenden Lady Naffles, mit Palmerfton, Peel,
Ruſſel, Sladftone; befonders intereffirt das Verhältniß zu
bem legtern. Während ſich Bunfen gegen die Whigs, deren
Richtung er für vorwiegend negativ erflärte, im ganzen
ablehnend verhielt, fand er fih mit Gladſtone in voller
Uebereinftinmung; das vielgenannte Werk befjelben tiber
Kirche und Staat erregte feine höchſte Bewunderung,
und er propbezeite dem Berfaffer feine fpätere Leitende
Stellung, ohne allerdings vorauszufehen, daß berfefbe
durch die Hochfirchlihe Wendung feiner Tendenzen mit
feinen frühern Anfchauungen in den entjchiedenften Wider-
ſpruch gerathen würde.
Elf Monate waren ſeit Bunſen's Ankunft in Eng⸗
land vergangen, als er ſeine Ernennung zum Geſandten
in der Schweiz erhielt. Namentlich den Bemühungen des
Kronprinzen (des ſpätern Königs Friedrich Wilhelm IV.),
der ſich, wie aus dem erſten Bande bekannt, lebhaft für
Bunſen intereſſirte, hatte er dieſen Wartepoſten zu ver⸗
danken, für den er die ausdrückliche Weiſung erhielt —
nichts zu thun. Ohne dem Stande der Dinge im Lande
fremd zu bleiben, ging er während des einen Jahres fei-
ner fchweizerifchen Geſandtſchaft allem politifgen Wirken
aus dem Wege, und benugte feine Muße auf dem ibylli-
ſchen Landſitz Hubel bei Bern hauptſächlich zur Yort-
ſetzung feiner wiflenfchaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet
der Bibelfunde und der ägyptiſchen Forſchungen.
In der Mitte des Jahres 1840 ftarb Friedrich Wil⸗
helm II, und die Xhronbefteigung feines Sohnes ward
von Bunfen wie von Taufenden damals in Deutichland
mit der höchſten Begeifterung begrüßt. Die unbegrenzte
ften Hoffnungen, die Erwartung eines neuen mächtigen
Aufihwungs in dem gefammten politifhen und geifligen
Leben Inüpften fi an die glänzende Erſcheinung dieſet
Monarchen; auch außerhalb des preußifchen Staats famen
ihm allerorten lebhafte Sympathien entgegen, und es be
gleitete in der That eine Viſion von deutfcher Einigkeit
diefen allgemeinen, aber kurzen Rauſch.
Die erften Regierungshandlungen Friedrich Wil-
helm's IV., unter denen bie Reactivirung Arndt's vielleicht
die allgemeinfte Freude Hervorrief, fchienen die gehegten Er⸗
wartungen zu rechtfertigen. Weber jene königlichen Anläsfe
und über die fie begleitende Stimmung des Jahres 1840
enthalten die im Anhang zu dem zweiten Abfchnitt neu mit-
getheilten Briefe Bunfen’8 und mehrerer feiner Fremıbe
bemerfenswerthe Berichte. Ebenda findet ſich ein inter-
effantes Referat Bunſen's über feinen Briefwechfel wi
Sriedrih Wilhelm IV. vor deflen Tchronbefteigung, br
Bunſen's Memoiren.
ſich auf Fragen der Kirche und Schule bezieht und er-
kennen läßt, wie weit ſich der König von feinen urfprüng-
lichen Anfichten in diefen Dingen fpäter entfernte; in
einem der Briefe hebt er 3. B. die Gemeindevertretung
als einen Hauptpunlt für den Entwurf einer neuen Kirchen⸗
verfaflung hervor.
Ein Theil der übrigen in bem Anhang mitgetheilten
Schriftſtücke bezieht fi) auf die Sendung bes Grafen
Brühl nad) Rom zur endliden Schlichtung der kölner
Wirren, auf die Berufungen Schelling's, Cornelius’ und
Mendelsſohn's nach Berlin, bei denen Bunfen, wie jpäter
noch häufig, mit Alerander von Humboldt gemeinschaft.
lich thätig war. Die verhängnißvolle Berufung Stahl’s,
der damals noch auf den lirchlich unparteiifchen Stand-
punkt Scelling’3 ftand, und Bunſen's Betheiligung dabei
betreffen einige andere Berichte; dann folgen noch Aus
einanberfegungen über eime proteftantifche Miſſion ſür
Syrien und Baläftina, und zulegt einige Briefe Bunfen’s
on Bluntfhli in Züri, die feine Stellung zu den in-
nern Fragen der Schweiz und den entfchieden proteftan-
tfchen Liberalismus feiner Gefinnung charakterifiren.
Bald nach feiner Thronbefteigung berief Friedrich Wil«
heim IV. Bunfen nad Berlin, um ihn mit einer fpeciel«
Ien Miffion nad) England zu beauftragen; ſie betraf die
Gründung eines englifch-preußifchen Bisthums in Jeru⸗
falem, ein Project, deffen Durchführung die großen Hoff-
nungen, welche der „Romantifer auf bem Thron der Cäſa⸗
ren‘ damit verband, wenig erfüllte. Die englifchen Staats⸗
männer nahmen gleihwol ein warmes Intereffe an dem
Plan, nad längern Berhandlungen kam berfelbe in der
That zur Verwirklihung, und Dr. Gobat ging als erfter
Bifchof nad) Yerufalem.
Ueber die Ernennung zum ftändigen preufifchen Ger
fandten am englifchen Hofe, melche durch diefe Miſſion
vorbereitet wurde, berichtet Bunſen felbft in einem Brief
an feine Frau; das Ungemwöhnliche der Formen, unter
welchen dieſe Ernennung erfolgte, erklärt fi) dadurch
genügend, daß die Wahl einer PBerfönlichkeit wie Bunfen
zu den Xraditionen des berliner Cabinets in fehr offen-
barem Widerſpruch ftand. Bunſen fchreibt am 18. Nor
vember 1841:
Lord Aberdeen Ind mich heute zu einer Konferenz ein,
melde um 2 Uhr flattfand. Die Unterredung betraf zunächſt
den neuen Bifchof von Jeruſalem. Dann theilte er mir geheime
Depefchen über die Drufen mit, alles mit einer Bertraulichkeit,
die mir auffiel. Als ich mich empfahl, fagte er: „Nun, wir
wünfchen uns felbft Glück dazu, daß wir Sie behalten.” Ich
ab ihm meine Unwiffenheit zu erkennen, und ex eröffnete mir
Folgendes: „Der König hat mit dem letzten Kurier, der vor
acht Tagen ankam, dur den Minifter ſchreiben lafjen, er
wünſche einen Gefandten ganz nach dem Herzen ber Königin zu
ſenden unb wolle deshalb die (in der That, fügte Aberdeen
hinzu, ganz ungewöhnliche) Form wählen, ihr drei Namen
vorzufchlagen. Sie waren einer, und wir haben Sie ansgebe-
ten. Ich glaubte, Schleinig hätte es Ihnen mitgeteilt. So
alfo ift es wol entfchieden, denn bu weißt, baß ich dem König
zu folgen entichloffen war... . Ich ſchreibe Rhapfodien. Dein
Herz ift fo bemegt, wenn ich benfe, wie du, Geliebte, nun
enblich von dem Maune deiner Wahl, dem du als unbelanntent,
armen, wanderndem Süngling Hand und Herz gabfl, nach der
Heimat zu folder Beftimmung ſollſt zurückgeführt werben,
-- Auch der dritte Abfchnitt ber Biographie, der mit
diefer Ernennung Bunſen's zum englifchen Geſandten
803
jchließt, enthält, voie die vorigen, mandhe intereffante Per⸗
fonalien. Der Anhang bietet eine Anzahl von Aufzeich⸗
nungen Bunfen’s, welche die Gründung bes Bisthums
in Jeruſalem betreffen und feine eigenen Anſichten über
diefelbe wie die Anſchauungen bes Königs und die vor
Bunfen’8 Sendung nad) England darüber geführten Ver⸗
bandlungen näher bezeichnen. Daß in Bunfen ſchon da-
mals, am Ende des Jahres 18411, in Bezug auf den
Gang der politiichen Dinge in Deutfchland ernfte Beden⸗
fen und Zweifel aufftiegen, daß er ſchon jetzt in der Re⸗
‚gierung des Königs die unheilvollen Anfänge ber fpätern
Reaction erfannte, beweifen bie folgenden Yeußerungen
in einem feiner Briefe:
Ich fürdhte, der König verbindet noch nit Urſache und
Wirkung hinlänglich im Regieren. Große Zurüftungen find
gemacht. Die Welt wartet, und die Zeit fliegt dahin unter
Nichtsthun, welches als höchſte Weisheit gilt.... Wozu find
Ideale da, als um verwirklicht zu werden; wozu find Gedan-
fen gut, als um ausgeführt zu werden? Nie in der Welt
geichichte wird ein großes Geſchick demfelben Fürften zweimal
eboten. Und man täufcht fih, wenn man glaubt, im diefem
Sabıhundert Böller täufchen oder in Schlaf wiegen zu können.
Eines in dem dritten Abfchnitt mitgetheilten Briefs
von Robert Peel an Bunfen fei noch gebacht, der geeignet
ift in unfern Tagen ein allgemeines Intereſſe zu erregen.
Es Heißt darin:
Die Einigung und die Baterlandsliebe jenes Volle, welches
das Herz Europas bewohnt, wird für den Frieden der Welt
die ficherfie Gewähr bieten.... Es ift meine ernftliche Hoffnung,
daß ein jeder Angehörige diejes großen Bollsftammes — möge
er auch dem Staate, in dem er geboren, wie feinem heimt-
fen Herde, eine befondere Anhänglichleit wahren — feine
Baterlandsliebe nicht anf die Grenzen feiner engern Heimat be⸗
ſchränke, fondern, ſtolz anf den Namen eines Deutichen, ben
Anſpruch Germaniens auf die Liebe, die Treue und die patrio-
tifde Hingebung aller ihrer Söhne anerkenne. Die Empfin-
dungen eines jeden Deatfchen beurtheile ich wol mit Recht nach
denjenigen, welche in meinem eigenen Herzen (im Herzen eines
Fremdlings und Ausländers) duch ein Lied Bervorgerufen wor⸗
den find, im welchem bei all feiner Einfachheit dev Wille eines
mächtigen Volks fich verkörpert zu haben ſchien:
Sie ſollen ihn nicht haben
Den freien beutfhen Rhein.
Sie werden ihn nicht haben — der Rhein wird durch ein Lied
befhligt fein — wenn die Gefinnnungen, welde das Lied zum
Ansdrud bringt, jede deutfhe Bruſt erflillen.
Hatte Bunfen in feiner londoner Stellung, was den
Aufwand der äußern Repräfentation betrifft, nicht nöthig,
den übrigen Geſandtſchaften Concnrrenz zu machen, fo
wurde fein Haus in Carlton Terrace doch fehr bald, wie
früher die capitolinifche Wohnung, der Mittelpunkt einer
diftinguirten Gefelligfeit, an der faft alles theilnahm, was
zur geiftigen Ariftofratie Londons zählte. Bunſen's pro⸗
noncirte Borliebe für das englifche Wefen mußte ben
Engländern feine Gefellfchaften natürlich befonders ange.
nehm machen. Wie aufmerffam er damals bie englifchen
Berhältniffe beobachtete, zeigt eine im Anhang zum vier-
ten Abſchnitt mitgetheilte Dentichrift vom Jahre 1843,
die namentlid) in Hinficht der irifchen Frage von Inter⸗
effe iſt. Im wiffenschaftlider Beziehung Hat er während
der Londoner Zeit der beutfchen, bejonders religiond-
gefhichtlichen Forſchung vielfach einen wichtigen Einfluß
verfchafft, während er praktiſch für feine Landsleute in
London hauptfächlih durch die Gründung bes deutſchen
101 *
804
Hospitals thätig war. Am tiefften und lebhafteften aber
mußten ihn in diefen Jahren die großen Tragen der
nationalen Entwidelung Deutſchlands befchäftigen, vor
allem bie fchweren Probleme, die fi aus den kritiſchen
Zuftänden in Preußen ergaben. Die politifche Atmoſphäre,
deren Schwille ex ſchon längſt empfunden, Hatte fich hier
inzwifchen immer mehr getrübt.
Die Popularität Friedrich Wilhelm's IV. war raſch
geſchwunden; der phantaftiihe Zug in der Natur dieſes
edeln und hochbegabten Würften, bie Befangenheit in
mittelalterlich⸗ romantiſchen Anſchauungen bradjten ihn zu
feinem königlichen Beruf und den Forderungen feiner Zeit
in unheilvollen Widerſpruch; er verfannte die Beditrfniffe
der Gegenwart und unterfchägte die Bedeutung ber poli-
tischen Bewegungen, in denen fie fi kundgaben. Ale
Bunfen auf den Wunfch des Königs im Jahre 1844
nach Berlin reifte, fand er ſchon überall die bedrohlichen
Anzeichen einer nahenden SKataftropfe. Bon Köln und
Düffeldorf jchreibt er: |
Hier ift es trübe, alles verfiimmt, verwirrt, unzufrieden,
beforgt. .. . Bei dem ebelften Willen macht man fchlimme
Misgriffe, alles, was geichieht, wird gemiebilligt, entweder
wegen irgendeines wirklichen oder fcheinbaren Mangels oder
ehlers, oder weil es nicht bas if, was man will, nämlich
eichsſtände.
Dann von Berlin:
Alles Traurige, was ich über die Provinzen gehört, wurde
beſtätigt. Aber niemand merkt, daß eine Clubherrſchaft in allen
großen Städten fich zu bilden beginnt. Der Widerſtand, der
fi vorbereitet, ift fein Aufftand, aber eine Aufregung, durch
Zeitungen und Reden.
In einer Audienz bei dem Prinzen von Preußen entwidelt
Bunfen feine Anfichten über die Verfaffungsfrage ziemlich
rückhaltlos und erklärt, daß er für unmöglich halte,
länger mit Provinzialftänden zu regieren; es fei, als
wolle man das Sonnenſyſtem mit bloßer Centrifugalfraft
ausftatten. Die Zufäge zum dritten umd vierten Ab»
fhnitt geben über Bunſen's Anfichten in biefem Punkte
eingehende Mittheilungen, ebenfo der Schluß des Bandes
in den Denffchriften aus den Jahren 1848 und 1849,
die der Herausgeber mit Recht zu dem Bebentenbften
rechnet, was damals gedacht und geplant wurde. Die
Nuglofigkeit feiner Bemühungen in Berlin mußte Yunfen
bald erkennen. Er fchreibt:
Ich weiß, daß ich untergehen wiirde in wenigen Jahren,
bliebe ich bier... . Man wird nichts thun, das ift das Wahr-
fheinlichfte. Thut man etwas, fo wird man manche meiner
Ideen benutzen, die das enthalten, woran niemand bier dachte
oder zu denken wagte, Entweder paſſe ich überhaupt nicht zur
Ausführung von Gejchäften, oder ich paffe nicht zu den Män-
nern, mit denen ich hier zu thun Hätte. Ich begreife nicht
einmal, wie mar auf ſolche Weiſe Geſchäfte macht, nämlich die
großen und nothwendigen. Es kommt mir vor, als gingen fie
den Fluß herunter zu den Wafferfälen. Das gewöhnliche Leben
des Hofs und der Minifter leidet feinen Tag Unterbrechung,
als lebten wir in der gewöhnlichfien Zeit, und doch jagt jeder-
mann, wir lebten in einer Kriſe. Non ci capisco niente.
Oft jagt mich das Gefpenft der Gejchichte bes Hofs und des
Minifteriums in Paris 1788 und 1789. Aber ich fage mir dann
wieder: Prenßen ift nicht Frankreich, und vor allem Friedrich
Wilhelm IV. ift nicht Ludwig XVI. Ih Habe im Leben ge-
zeigt, daß ich nicht nervös bin: ich kann fchlafen im Sturm
und fchmweigen im Feuer; allein fäße ich am Gteuerruber, ich
hätte feine ruhige Stunde, bis ein Entſchluß gefaßt wäre, und
id) darauf Hin ans Werk gehen könnte. Denn ein Zögern
Bunfen’s Memoiren.
zwiſchen Entfhluß und Handeln ift mir verhaßt, wie zwiſchen
Berlobung und Hochzeit.
Bor feiner Abreife von Berlin fchrieb Bunſen noch
am 18. Juni 1844 „Schlußbetradhtungen über die flän-
difhe Frage“, in denen folgende denkwürdige Stelle
vorkommt:
Die Jahre von 1820 bis 1840 werden in der Geſchichte
trübe erſcheinen, manche Geſtalten darin ſchwarz; 1840 war
ein Jubildumslichtpunkt, nicht allein für Preußen, ſonderxn für
ganz Deutſchland. Bierzig Millionen fühlten, daß die Deutichen
das erfte und größte Bolk der Erbe find, wenn fie als Brüder
daſtehen. Alle ſchauten auf Friedrich Wilhelm IV. Die Worte
von Köln 1841 tönten durch ganz Europa wieder. Aber 1842
fühlte man, daß Preußen viel weniger eine Einheit als 1817
fei, alfo viel weniger einen Mittelpunkt für Deutſchland, eimen
Anlehnungspuntt, nicht für die Fürſten, fondern für bie Bölfer
bilde.... Wird aber das preußifche Reich einmal wiedergeboren,
dann wird es eine europäifche Nation höherer Ordnung, als es,
in niederer Stufe, im Kreife des deutihen Lebens die Sachſen
und Wlrtemberger find; ein neues deutfches Hei, ummingt
von unabhängigen Stammfürften und freien Städten und frei
von ben Feſſeln bes Vaticans, welcher zwei weltgefchichtlide
Bölfer, die alten und die menen Herren der Welt, in möndiide
Feſſeln zu fchlagen begann, als der Papſt dem Sohne Bipin’s
die Kaiferfrone aufs Haupt febte, dem neuen Geſchlechte ein
Diadem, das ihm nicht gehörte. Dann wird Preußen nidt
mehr dem deutfchen Geift wider fi haben, fondern vou ihm
getragen werden in banfbarem Gefühle, daß ber Hort gefunden
Mt gegen Fremdherrſchaft wie gegen fleinlihe Quälerei im
Innern. Preußen wird das Bewußtſein bes beutfchen Geiſtes
werben, bie Seele eines freien und in der Freiheit gejetlichen
Staatslörpers, der alle Übrigen Organifationen Europas ebenfo
ſehr überdauern wird, als es fie Überragt; ein Lölner Dom,
dem gegenliber die Weftminfterabtei und St.-Denis uur pro-
vinziale Farbe tragen.
Die Stürme der Revolution, die Bunfen lange vor⸗
hergefehen ,„ brachen endlich tiber Deutfchland herein.
Weitgehende Hoffnungen, die freilich bald ſchmerzlich ent-
täufcht werden follten, Initpfte der Sanguimismus feiner
leicht entzlindeten Natur an die Bewegungen der Jahre
1848 und 1849, bie er al8 eine Fortſetzung der Freiheitsfriege
betrachtete. Jugendlich, wie damals, war feine Begei-
fterung für die Sache des Vaterlandes. So fdreibt
er an Henry Reeve, den Herausgeber der „Edinburgh
Review”;
Was jet geboren werben will und fol, ift damals, in
ben Jahren der Freiheitsfriege, erzeugt unter Thränen, im
Sammer, in Blut, in Gebet — aber im Glauben an jeme
Ideale, zu deren wahrem Erkennen und Durchleben eben das
Gefühl des Baterlandes , des freien Volls gehört... -..
Arndt's großes Vaterlandelied, Körner’s Todesgefang, Rüdert’s
geftählte Lieder — das alles mag dem Fremden nur kſingen
ale Poeſie; uns, die wir damals bie Gellibde der Jugend
ſchwuren, uns war e8 heiliger Ernft, Maß und Ausdrud für
Serz und Geifl. Und fo blieb e& uns; und unfern Kindern
Iehrten wir die Heiligen Gelübbe, und als wir 25 Jahre lang
in jchweren Feffeln lagen, als das freie Wort gefnechtet war,
jelbft im 2iede, da fllichtete es fi in das Heiligthum ber
Wifſenſchaft. Da ward der Jugend von treuen und verfolgten
Männern gelehrt, wie nur die Freiheit alt ift und bie Tyrauſei
jung; ba ward der engliſche Empirismus, die franzöfiſche Ib
firaction, die ſchwächliche Nachahmung beider in unſern fi
deutſchen Berfaffungen, mit der Idee und der Geſchichte u r»
lichen und ein höherer Standpunkt gewonnen für alle. die
and uns das Fahr 1840. Seine Hoffnungen wurden nidt er»
fült; König und Boll (nad) Beckerath's treffendem Ausbr A)
fpraden ganz verfchiedene Sprachen; fle lebten im verfdhiebe en
Sahrhunderten. Der Weg verbunfelte ſich. Es blitzte, im
Sturm kam, und das Alte war vergangen. Das find B- te
Neue Erzählungen und Romaue.
73 Zoge, und wir leben, und der Entwurf ward geboren, ehe
70 Tage um waren. Descendit coelo, wenn je irgendeine
Bollsbewegung, von welcher die Geſchichte berichtet.
Im Juli 1848 ward Bunfen von König nach Berlin
berufen zu Befprechungen, über deren Inhalt die am
Schluß bes ſechsten Abjchnitts mitgetheilten Tagebücher
ausführlichen Bericht geben. Ohne irgendein beſtimmtes
Reſultat erzielt zu haben, kehrte er im October nad; London
zurüd, mußte aber fchon im Januar 1849 einem neuen
Befehl des Könige nach Berlin folgen. Diesmal follte
ee als Bermittler dienen zwifchen Preußen und dem
deutfchen Parlament in Frankfurt. Es gelang ihm, den
König zu überrafchenden Zugeftändniffen zu bewegen; in
Frankfurt einigte er ſich raſch mit Gagern und war nad)
wenigen Zagen wieder in Berlin. Der Ausgang der
Angelegenheit war für ihn niederfchlagend wie faum eine
andere Erfahrung feines politifchen Lebens. Er fchreibt:
Ich übergab dem König fogleih nah meiner Rücklehr
von Frankfurt einen Bericht, in welchem ich das Ergebniß der
Berbandlung im fünf Punkten aufftellte: Princip der Erblich⸗
keit für das Neichsoberhanpt, fofortige Revifion der Berfaffung,
Notäwendigfeit, daß Preußen fich bereit erkläre, ohne Defterreich
ſich an die Spige ber Bundesbewegung fegen zu wollen,
dabei aber jedem frühern Bundesmitglied volle Freiheit geben
beizutreten oder nicht, und rathend, vor allem den Hebel,
Frankfurt, nicht zu zerbrechen. Der König antwortete mir um⸗
gehend, in Haft, denfelben Zag: er werde nichts von dem
allen tbun, der Weg, den man eingefchlagen, fei ein Unrecht
gegen Defterreih, er wolle mit der Fortſetzung einer fo ab-
ſcheulichen Politik nichts zu thun Haben, ſondern Überlaſſe fie
dem frankfurter Miniftertum; aber fomme bie perfönliche Frage
(wegen Annahme der Kaiferfrone), dann werde er als Hohen
zoller antworten, um als ehrliher Dann und Fürft zu Ieben
und zu fterben. Ich erfuhr alsbald den Kommentar von den
Miniftern. Bald nad; meiner Abreife war der König gänzlich)
umgeſchlagen; ein geheimer Briefwechſel mit Olmütz ward
durch — fortgeführt; au die Nothwendigkeit der Kanımern und
ber Berfländigung mit ihnen warb nicht gebadht; der König
wollte die Politik allein führen. Ich bewältigte den Schmerz,
und war doppelt froh, meine Abreife dem König auf Mittmod)
angekündigt zu haben. Das Wiederjehen war freundlid. Der
König las mir den Brief an den Prinzen Albert vor, den ich
mitnehmen follte, und worin er fagte, nie babe ex fo jehr einen
Schritt bereut, al® den, zu weldem ich ihm gerathen. ... . -
Mehr als je fühlte ich mich ein Fremder in der Hauptfladt
des Vaterlandes, abgeftoßen felbft in des Königs eigener Woh⸗
— — —
805
nung. Die unheimlichen Geſichter in den Vorzimmern riefen
mir 1806 zurück: kein freier Sinn, kein friſches Herz, kein
Menſch unter allen den Menſchen, die dort umherſch lichen und
ſaßen ... Durch — erfuhr der König jeden Morgen alle nur
aufzutreibenden unangenehmen und aufregenden Nachrichten’
bald von der Unart der franffurter Rebner, bald von Sagerns
wühleriſchen Ausſprüchen und Planen, bald von diefen und
jenen Klagen deutfher Fürften, Grafen und gedrlicdten Wohl-
gelinnten im Lande. Durch — — droht der Kaifer von Ruß⸗
land dem König, brieflih oder mündlich. So bilden fi im
Cabinet des Königs Gedanken, Plane, Geflihle, gegen welche
bie Minifter vergebens anlämpfen, geheime Briefwechſel, welche
bie Politit beherrfhen und die Diplomatie verderben. Der
Haß des Junkerthums und der Bureaufratie, der mid) nun
zwanzig volle Jahre verfolgt Hatte, trat mir fchroffer als je
entgegen; ebenſo ihre heilloſe Unfähigfeit und unverbefferfiche
Beichränftheit, melde die Erbitterung über 1848 nur noch
mehr bexvorhob. Ein wirkliher Staatsmann war nirgends zu
hauen. Und was jollte er aud bei biefer Geftaltung der
Dinge in Charlottenburg anfangen? Der König will Dictatur
üben neben der Konftitution, und babei doch als freifinniger,
conftitutioneller Fürſt angefehen werden, obwol er das coufli»
tutionelle Syflem für ein Syftem bes Lugs und Trugs Hält.
Oft kommen ihm wirklich deutfche und freifinnige Gefühle und
Gedanken, aber die Umgebung und die geheimen Schreibereien
von Olmüß und Münden Iaffen fie nicht auflommen. ....
Ich fühle mid an ihn gefeſſeit durch Liebe und Dankbarkeit,
allein das eigentlihe Seelenband ift zerriffen; die Hoffnung,
die ich auf ihm geftellt, erjcheint mir als Täuſchung, die Zus
Eunft, ſeine und des Baterlandes, bunfel, jedes nähere Ver⸗
hältniß im Dienſt als Staatsminifler unmöglich ohne baldigen,
jhweren Brud, Rings um mich ber uber erblide id) Nicht-
achtung, Mistrauen, Haß, Erbitterung gegen den König, die
mein Herz ebenfo fehr empören als verwunden. . .. . Und das
bei einem fo edeln, fo felten begabten, fo hochherzigen und
en ugenben Fürften, geboren, die Zierde feines Zeitaltere
zu fein,
Mit befitmmertem Herzen, mit fehmerer und ſchmerz⸗
licher Refignation Fehrte Bunfen im Frühjahr 1849 in feine
londoner Stellung zurüd. Bis zu biefem Zeitpunkt veicht
der zweite Band der Memoiren. Der dritte (leiste) Band,
welcher den Schluß von Bunfen’s bdiplomatifher Wirk
famfeit, fowie feine Thätigkeit in Deutfchland bie zu fei-
nem Lebensende umfaßt, wird in kurzem erfcheinen, und
darf von feiten des Publikums ohne Zweifel in gleichem
Grabe, wie feine Vorgänger, eines entgegenlommenden
Interefjes gewiß fein. Hermann Lücke,
— — — — — — —
Neue Erzählungen und Romane.
(Beihluß aus Nr. 50.)
2. Götter und Götzen.
Bände, Berlin, Hausfreund⸗Expedition.
5 Thle. 10 Nur.
Mar Ring geht in feinen Schriften nicht auf das
Ungewöhnliche, Baradore, Raffinirte, wie Sacher⸗Mofoch,
er fucht Feine fchwierigen fittlihen oder phnfiologifchen
Probleme zu Löfen; er zeichnet Lebensbilder, die er durch
einen geiftigen Yaden zufammenhält. In bem vorliegen-
den Roman ift e8 ber durch den Titel bezeichnete Gegen⸗
fag der Götter und Göten, welcher den einheitlichen
Grundgedanken bes Werks bildet. Es Handelt fih um
die Götter und Odtzen ber Gegenwart. Zu ben letztern
gehört vor allem das goldene Kalb, welches von bem
Roman von Max Ring Bier
1870. Gr. 8.
Ihwindelnden Tanz der europäifchen Goldgräber und
Papierjpeculanten umkreiſt wird; und neben der Börfe,
als dem Tempel, in welchem diefer Götze verehrt wird,
das Ballet, wo bie opferheifhenden Bajaderen, die
Priefterinnen des Ginnencultus, ihren eigen tanzen.
Doch auch noch Götter gibt es im einer Zeit bes
Betifchdienftes: die Kunft, welcher ber Held des Romans
mit Begeifterung treu bleibt, die Liebe, welche als eine
reine befeligende Macht die Herzen vereinigt und über alle
Hinderniffe triumphirt, und die Humanität, welche für eble
Zwede, für das Wohl der Menſchen wirkt.
Gewiß ift diefer Grundgedanke des Romans ein fehr
anfprechender, um jo mehr, als die Götter über die Götzen
806
ben Sieg davontragen und die falfchen Priefter der letz⸗
tern dem Untergang verfallen. Wir fteuern von Haus
aus nicht ohne Kompaß auf dem leere der bewegten
Handlung; wir vertrauen, daß und die Führung des
Autors vecht führen wird, da ihn die legten Ziele feines
Romans volllommen Mar find.
Mar Ring befigt eine ungezwungene und gefüllige
Darftellungsweife, frei von dem prunfenden Schimmer
falfcher Genialität, lebendig in Schilderungen und
Keflerionen, nirgends über die Bahnen des gefunden
Menfchenverftandes hinausfchweifend. Die Bedeutung des
Grundgedantens in dem vorliegenden Roman wird nir-
gends verdunkelt, wenngleich die Bedeutung der Charaltere,
die er zu Trägern der Handlung macht, nirgends über
ein befcheidenes Mittelmaß, über das Durchſchnittsniveau
der Romanfiguren fih erhebt. Wer finde nicht alte
Belannte in dem foliden Bankier und feinem unfoliden
Sobne, in dem ſchwärmeriſchen Maler, in der leicht⸗
fertigen Tänzerin, felbft in der geheimnißvollen mater
dolorosa, die aus dem Dunkel der Bergangenheit ihre
Hand ſchützend und belfend über den jungen Maler und
feine Braut ausftredt? Doch in ber Gruppirung diefer
Charaktere Liegt etwas Anziehendes, und ihre Zeichnung
ift im ganzen fo anfprucdhslos, daß wir nirgends in eine
Stimmung fommen, welche nad) Ungewöhnlichem verlangt.
Unter ben Charakteren des Romans erhebt fi indeß
doch einer der Hauptgötzendiener über da8 Niveau der
landesüblichen Typen. Der Autor führt uns eine jener
problematischen Eriftenzen vor, wie fie die eigenthümlichen
Geld» und Induftrieverhältniffe der Neuzeit erzeugen. Mag
bie Naturforfchung die generatio aequivoca leugnen —
für unfer fociales Leben bleibt fie eine Thatſache; aus
ihr gehen Millionäre hervor, denen man ihre Herkunft
und den Stammbaum ihrer Millionen nicht recht
nachweiſen Tann. Der Urbrei und zeugungsfräftige
Schlamm, aus welchem diefe Eriftenzen hervorgehen, ift
die Börfe, von weldher uns Mar Ring die folgende
Parabafe fingt:
Die alten Götter find aus der Welt gefchwunden, und an
ihre Stelle find die Göten unferer Tage getreten. Die Ideale
haben den Idolen weichen müflen, vor denen die blinde Menge
im Staube Iniet. Zahlreiche Priefler opfern an ihren Altären
in herrlichen Zempeln, mit hohen Marmorfäulen und bunter
Sarbenheacht geihmüdt. Ein nener Glaube ift entflanden, eine
rt Weltenreligion, wie zu den Zeiten des römiſchen Berfalls.
Sn demjelben Pantheon throuen in frieblicher Eintracht ber
griechiſche Mercur, der Schutpatron des Handels, die launen⸗
bafte Fortuna auf rollendem Glücksrade, der goldene Plutus,
der die Welt beberrfcht, neben dem chaldäiſchen Mammon, ber
Schäte auf Schäte häuft, dem phöniziichen Moloch, der wie
vor taufend Jahren feine Menfchenopfer fordert, und bem gol⸗
denen Kalbe Aegyptens, das mehr als je amgebetet wird.
Bon allen Seiten firömen Scharen von Andächtigen herbei,
Gläubige und Ungläubige, Juden und Ehriften, Leviten und
Laien, die Belenner aller Eonfeffionen, die fi) unter Einem
Dach mit amerlennenswerther Toleranz verfammeln. Der
Gottesdienft beginnt, ein wunderbares Schaufpiel!, das mit
feinem andern Cultus fich vergleichen läßt. Statt ber feier-
fihen Stille, welche fonft im Heiligthum zu herrfchen pflegt,
bernimmt man bier cin dumpfes Rauſchen und Braufen, einen
Lärm, wie wenn da8 Meer brandend gegen feine Ufer fchlägt.
Kein Mund öffnet fi zu einem frommen Lied, feine Lippe
bewegt fi zum Gebet, kein Priefer fpricht den Segen
oder Worte der Offenbarung und des Heild. Man bört nur
Neue Erzählungen und Romane.
ein wirres Durcheinander von Stimmen, abgebrodyene Worte,
unartilulirte Raute, deren geheimnißvoller Sinn dem uneinge-
weihten Obre verborgen bleibt. Vergebens fucdht man in ber
Berfammlung nad; einem Ausbrud göttliher Erhebung und
Begeifterung, obgleich ein hoher Grad von nervöfer Bewegung
und krampfhafter Aufregung fi bemerkbar macht. In ben
Zügen und Außerfi lebhaften Mienen einzelner verräth fi
zumeilen eim außerorbentlicder Wechfel der Stimmung, deflen
Urſache jeboc häufig ein Aütbfel bleibt. Trauer und Freude,
Hoffnung und Berzweiflung ziehen fo fihnell vorüber wie
Regen und Sonnenichein im April. Kein Barometer ift fo
empfindlich flir die Leifeften Schwankungen der Luft wie dieje
zart organifirten Naturen, die vom dem unbedeutendſten Ge-
rücht erfchlittert werden. Unbeſtreitbar fcheint die ganze Ge⸗
meinde unter dem Einfluß gewiffer magneto⸗elektriſcher Strö-
mungen zu ſtehen, da der telegraphifhe Draht fich nur in
Bewegung zu ſetzen braudt, um eine allgemeine Aufregung
bervorzurufen. Er vertritt die Stelle ber alten Orafel, und
jein Ausiprud wird wie die Stimme bes Schichſals verehrt.
Im hoben Grabe anerfennenswerth ift die Toleranz, die man
einander bis zu einem gewiflen Punfte erweiſt. Die Mitglie
der der Berſammlung find nichts weniger al8 pietiflifche Kopf⸗
hänger oder ortbobore Eiferer; fie befigen ihre eigene Moral,
gerade wie die großen Politiker, und handeln nach befonbern
Grundfägen, die allerdings nicht immer mit den gemeinen
griffen von Recht und Unrecht übereinftimmen. Kleinere Ueber-
: tretungen nimmt man nicht allzu genau, und Schwächen ver»
zeiht man gern umd leicht dem irrenden Bruder. Wenn er
ftrauchelt oder fällt, vergibt man feine Schuld, voransgejegt
daß er noch die Kraft befitt, fi) von feinem Kalle zu erholen;
was gewöhnlich auch gejchieht, indem der Gejallene fih in
furzer Zeit nit nur aufrichtet, fondern meift feſter zu ſtehen
pflegt ale vor feinem Sturz. Was für alle andern Religionen
der Glaube, das ift bier ber Credit. Wer diefe unfchägbare
Gnade befigt und fi unter allen Berhbältniffen zu bewahren
weiß, der zählt zu den Auserwählten und genießt die höchſte
Achtung und ein unbebingtes Vertrauen.
Der Held aber, der fih um Kopfeslänge über das
Getümmel erhebt, ift der ehemalige Kunfthändler Her
Vledel, der aus bejcheidenen Anfängen vor unfern
Augen zum Millionär wird, zum Hochmeiſter unb
Gebietiger der Börſe. Bon Haus aus ftrebt Yledel nad
dem erhabenen Ziel, Millionär zu werben; er ift Her⸗
außgeber verfchiedener Zeitfchriften, von denen immer nur
die vielverfprechende Probenummer erfchien, Erfinder
und Colporteur eines untrüglichen Mittels für zahnende
Kinder, Fabrikant von waſſerdichten Kunftftemen, bald
Agent, bald Director einiger gemeinnützigen Gefellfchaften
mit den höchtönenden Namen „Prometheus, „Phönix“
und „Sphinx““, des „Agronomifchen Eulturvereins‘, der
„Animaliihen Düngungscompagnie‘, des „Europäifchen
Nachweiſungsbureau“ und ähnlicher meltberühmter Ans
ftalten. Hierauf gründet er das „Internationale Pantheon
für Kunft, Wiſſenſchaft und Literatur”, ein „Univerfal-
mufeum, eimen unentbehrlichen Mittelpunkt der geiftigen
Intereſſen für die an der Spige ber Civilifation und
Intelligenz ftehenbe Metropole”. Die Gründbungsgefchichte
diefes Iuflituts wird uns mit vielem Humor gefchilbert.
Das Refultat ift ein betrügerifcher Bankrott; Fleckel
prellt fogar noch den Erecutor um 50 Thlr., und fügt
jo zum Leichtfinn die Gemeinheit.
Nachdem er fo fir immer fi) unmöglich gemacht Hat,
fehrt er eines fchönen Tags aus England als General.
agent des Hauſes Dobfon und Chiswid zurüd; er hat
den englifhen Millionär überrebet, ein inbuftrielles Unter⸗
nehmen in Deutſchland, die Norbweftbahn, in die Hand
——*RXRXRXE
Neue Erzählungen und Romane.
zu nehmen und ihm die Leitung zu dibergeben. Fleckel
wird von dem leichtfinnigen jungen Vertreter des Bank⸗
baufes Schröder unterftügt und arrangirt fich mit feinen
Stäubigern, wobei die große Nachſicht der Criminalpolizei
nicht zu verkennen ift nad) DBetrligereien, deren Opfer
fogar ein Erecutivbeamter wurde; die Bedenken der Börfe
werden durch das perſönliche Erfcheinen des ehemaligen
Stiefelwihsfabrifanten, jetigen Millionärs Dobfon über-
wunden; Fleckel reuffirt, nimmt wieder große Unter⸗
nehmungen in Angriff, wird felbft Millionär und eine
Großmacht der Geſellſchaft:
In der That beſaß Fleckel, abgeſehen von feinen ſonſtigen
Schwächen und Heinen Fehlern, einen angeborenen Specnlationg«
geift, eine ungewöhnliche Erfindungsgabe und vor allem das
unbeftreitbare Zalent, der Welt Sand in die Augen zu fireuen
und Wind zu machen. Abwechſelnd genial und lächerlich,
geiftvoll und kindiſch, bewunderungswürdig und verächtlich, war
er ber Typus einer Menſchenklaſſe, bie gegenwärtig eine bedeu-
tende Rolle in der Welt fpielt und, je nad) dem Erfolge, bald
wegen ihrer Kühnheit und Klugheit bewundert und gepriefen,
Bald wegen ihrer Sreapeit und Gewiffenlofigleit verachtet und
verfpottet wird. Wie jedes Jahrhundert, bat auch die Gegen⸗
wart ihre Charlatane, Goldmader, Alchemiſten, Wunderthäter
and Abenteurer. Unſere Caglioftros fuchen aber nicht den
Stein ber Weiſen in dem chemifchen Laboratorium, fondern an
der Börfe, fie verwandeln nicht Blei, fondern Lumpen und
Bapier in Gold; fie haben nichts mit Geiftern, fondern mit
ber wirklichen Welt zu tun, fie citiren nicht die Schatten ber
Berftorbenen, ſondern herrſchen Uber bie Lebenden, die, nicht
minder leichtglänbig wie die Gejellichaft des 18. Jahrhunderts,
fih von diefen modernen Glücksrittern täufchen Yäßt. Solange
fie das Glück beglinftigt, erreihen file alles, Ruhm, Ehre,
Macht und Einfluß; ſelbſt ein Thron ift ihnen nicht zu hoch.
Wenn Boltaire behauptet, daß ein glücklicher Krieger der erfle
König war, fo kann man mit bemfelben Recht jetzt fagen,
dag ein glücklicher Abenteurer in unferer Zeit die Krone trägt.
Die Heroen ber Geſchichte find den Helden der Speculation
gewrigen, und bem großen Onkel ift der Heine aber fchlaue
effe gefolgt.
Dennoh nimmt ledel ein Ende mit Schreden; er
verfehwindet, als ihm abermals Criminalunterfuchung
wegen betrügerifchen Bankrottes droht; fein Freund aber,
ber junge Bankier Jacques Schröder, mit vermwidelt in
diefen Bankrott, macht feinem Leben durch einen Piftolen-
ſchuß ein Ende. Die Nemefis verfieht in ben Romanen
von Dar Ring ihre Amt mit einer anerfennenswerthen
Gewifjenhaftigkeit; e8 wäre nur zu wünſchen, daß es im
menſchlichen Leben gerade fo correct zuginge. Das Lafter
wirb beftraft, wenn es auch eine Zeit lang triumphirt,
die Tugend belohnt.
Das Gegenbild gegen Fleckel ift der alte reiche Wel-
lee mit feinem unfichtbaren Socius, ber fein Geringerer
ift als der Liebe Gott felbft, wie fih am Schluß heraus⸗
ftellt, nachdem ſich die Firma Schröder und die Lefer
lange den Kopf über diefen geheimnißvollen Gefchäfte-
theilhaber zerbrochen haben. Weller hat ſich ftets von
allem Schwindel frei gehalten, fein Geld für wohlthätige
Zwede verwendet und gründet ſchließlich ein Polytechnikum
und eine Kunftfchule file Gewerbe, wozu er eine Million,
den größten Theil ſeines Vermögens, ergibt.
Der italienifche Profeffor und die fchwärmerifche
Anunziata, welche für den Dealer Bernhard noch zeitig
genug flirbt, daß er die Hand der geiftig ftrebfamen,
charakterfeſten Klara erhalten Tann, die geheimnißvolle
807
Dame aus bem fürftlihen Palais, ber leichtfertige Ban⸗
fiersfohn und feine „coulante” Oattin bringen in ben
Roman das eigentlich fpannende Intereffe; wie die Fäden
verfchlungen und gelöft find, wollen wir bier nicht ver-
rathen, nur auf die Grauſamkeit unferer Romandichter
binweifen, welche, um ihren Helden ben „Kampf ums
Daſein“ zu erleichtern, anbere in diefem Kampfe kläglich
untergehen laſſen. Wie in Spielhagen’8 „Hammer und
Amboß“, thut au in dem Ring'ſchen Roman der Held
mit feiner erften Wahl einen Misgriff; fie führt ihn nicht
zu voller Befriedigung. Da haben beide Autoren baffelbe
Ausfunftsmittel; die erfte Gattin muß fterben, damit ber
Held des Romans das Schickſal corrigiren Tann. Die
harmonische Bildung des Helden ift feit Goethe's Vor⸗
gang der letzte Endzwed des Romans; was ihr in den
Weg tritt, muß biegen ober brechen; für ihre Helden
empfinden die Romanbichter einen fouveränen Egoismus.
Daß der Held diefes Romans em Maler ift, wie bie
Helden des letzten Romans von Mar Ring: „Fürft und
Muſiker“, Vertreter der Tonkunſt waren, gibt ihm Ber-
anlaffung, wie dort manche Berirrungen der Mufil, fo
jegt die Verirrungen der Malerei mit fatirifchen Streif-
lihtern zu beleuchten. Das „Internationale Pantheon‘,
defjen Unternehmer, Hr. Tledel, fchildert, welche Bilder
bei dem Publikum Abſatz finden, fowie die Gemäldeaus⸗
ftelung werben mit fattrifhen Arabesken reichlich um-
rahmt:
In friedlicher Eintracht hingen fromme Kirchenbilder und
nackte mythologiſche Geſtalten, transſcendental durchſichtige Ideal⸗
figuren neben realiſtiſchen Fleiſchloloſſen, Thierſtücke und Land⸗
ſchaften, Architeklkturen und Marinen bunt durcheinander. Hier
kniete ein ſchwindſüchtiger Heiliger, dort ſchwebte ein waſſer⸗
köpfiger Engel in der Luft, allen Geſetzen der Schwere Hohn
ſprechend. Noch immer ſchleppte der arme Columbus ſeine
ſchweren Ketten, ſtand der muthige Galilei vor ſeinen Richtern,
weiche die grimmigſten Geſichter ſchuitten und ſehr erzürnt über
ſeine aſtronomiſchen Ketzereien ſchienen. Die unglückliche Maria
Stnart wurde unbarmherzig mindeſtens zum hundertſten mal
hingerichtet, und der würdige Sokrates trank feinen Schier⸗
lingsbecher, ohne eine Miene zu verziehen, mit einem ſo heitern
Geſicht, als ob er Champagner ſchlürfte. Die leberkranke Prin⸗
zeſfin Leonore feste in dem bekannten Garten dem hypochondri⸗
ſchen Zaffo den Lorberkranz auf das ſchönfriſirte Haupt, wozu
dieſer eine Verbeugung machte, die jedem Tanzmeiſter zur Ehre
gereicht Haben würde. Auch das unſchuldige Gretchen mit dem
niedlichen Hüubchen anf dem golbblonden Köpfchen befuchte noch
wie früher fleißig die Kirche, gefolgt von dem liederlichen Fauſt
im prachtvollen Mantel von blauer Seide nud dem boshaften
Mephiſto, der eben ans einer Bütte mit rother Farbe zu kom⸗
men ſchien. Natlirlich fehlte e8 nicht an verjchiedenen Julias,
die im weißen Neglige von ihren Romeos zärtlich Abſchied
nahmen, an ſchwärmeriſchen Lauras und Beatricen, welche mit
ihrem Petrarca und Dante kokettirten. Ein ehrgeiziger Wallen-
fein krümmte fi am Boden im bloßen Hemde, von der Heller
barte feiner Mörder durchbohrt, während fein berühmter Gegner im
gelben Lederloller feine edle Seele auf dem Schlachtfelde bei Lügen
aushauchte. Ueberhaupt befundeten die biftorifchen Maler einen
Blutdurft, der in der That an ihren gutem Herzen zmeifeln ließ.
Ihre Phantafle ſchwelgte färmlih in den furchtbarften Greuel⸗
fcenen und Unthaten, ale ob fie bei einem Scarfrichter in bie
Lehre gegangen wäre. Dafür entichädigten verichiedene Genre»
maler durch ihre Gemütblichleit und wahrhaft harmloſe Kind-
fichleit, welche bie ganze Welt in eine Kinderſtube verwandelte.
Da gab es Kinder in ber Wiege mit und ohne Mütter, im
welchem Yale man fich allerdings der Beſorgniß nicht erweh⸗
ren Tonnte, daß die Meinen unbeaufſichtigten Wejen leicht zu
Schaden kommen dürften; andere Kinder fpielten mit großen
808
Hunden; was ebenfalls in Anbetracht der Bilfigkeit und einer
möglichen Wafferfhen Bedenken erregen mußte. Aud beim
Anblid der verfchiedenen „Näſcherinnen“, welche die verbotenen
Speifefchränfe plünderten, Tag der Gedanke an eine Inbigeftion,
wo nicht gar an eine mögliche Vergiftung durch allerhand ſchäd⸗
lihe Subftanzen nit eben allzu fern. Bon ber Wiege bis
zum Grabe waren alle möglichen und felbft unmöglichen Bor-
fommniffe und Situationen dargeftellt, wobei auch in der Kunft
das moderne Princip der Arbeitstheilung vielfach zur Anwen⸗
dung kam. Gin berühmter Genremaler lieferte vorzugsweife
„Wochenfinben‘‘ und „Kindtaufen“ mit felig lächelnden, etwas
angegriffenen Müttern! glüdftrahlenden Vätern, zahnlofen Ge⸗
batterinnen und angeheiterten Gäften. Ein anderer Künſtler
machte dagegen ausfchlieglih in Hochzeiten und Liebesfcenen,
während ein dritter in feinen Kicchhofsbildern und Leidhen-
begängniffen eine melancholiſche Birtnofität und traurige Bra⸗
vour entiwidelte. Wie auf jeder Kunftausftellung wimmelte es
auch bier von italienischen Bauern und Bäuerinnen, Hirten
und Hirtimmen, Räubern und Räuberinnen, wogegen and un⸗
fere biedern Landleute aus dem Schwarzwalde und Thüringen
ebenfo wenig über Berne hä ffigung fih beklagen durften, da
diefelben in ihren Iandesüblihen Zradten fih in zahlreichen
männlichen und weibliden Eremplaren weit beffer und ſchöner
im Bilde als in der Wirklichkeit präfentirten. Wie bie Hi⸗
ftorienmaler mit befonderer Vorliebe die gejchichtlicde Verbrechex⸗
welt berlidfidhtigten, fo zeigten einige @enremaler eine nicht
minder bedenffiche Neigung für Heine Gauner, Spigbuben und
andere verbächttge Subjecte. Zigeuner und Bagabunden, Kunſt⸗
reiter und Tafchenfpieler ſchienen ſich ihrer befondern Gunft zu
erfreuen und um fo mehr ihrem Ideale zu entfprecdhen, je zer⸗
Iumpter und beruntergefommener fie waren, ſodaß man in ber
That fid) veranlagt fand, die Taſchen zuzubalten und auf feine
Börfe zu achten. Landſchaften, Architelturen und Thierftlide
waren in folhem Ueberfiuß vorhanden, daß man mit Hecht
eine Thenerung der Teinwand beflirchten mußte. Man fah da
unzähligemaf die Sonne auf- und untergehen, wobei die Maler
eine wahrbafte Berihmwendung mit Zinnober, Ocher und ähn-
lihen brennenden feuergefährliden Farben trieben. Cbenfo
wenig fehlte es an grünlichen Mondfceinlandfchaften, an See⸗
fliden mit und ohne Sturm nnd an Gewitterſcenen mit [8jdh-
papierenen Wolfen und zmweibeutiger Beleuchtung.
Diefe und ähnliche Stellen beweifen, daß Mar Ring
auch mit Humor und Satire barzuftellen weiß und ein«
zelnen Partien des Romans diefe unentbehrliche Würze
ertheilt, ohme welche das moderne Zeitgemälbe allerdings
leicht fab und unerquidlich wird.
3. Luther in Rom. Roman von Levin Shüding Drei
Bände. Hannover, Rümpfer. 1870. 8. 4 Thlr. 15 Nr.
Levin Schücking, der Meifter weftfälifcher Landſchafts⸗
und GSittenmalerei, tritt uns hier zum erften mal mit
einem biftorifchen Roman entgegen, der auf dem claſſi⸗
Shen Boben der ewigen Roma fpielt. Diefer Roman
ſchildert uns, wie der Zitel bereits bezeichnend angibt,
die Erfahrungen, welche unfer beutfcher Reformator in
der Haupiſtadt der Kirche gemacht bat, Erfahrungen,
deren Bedeutung er felbjt in dem zum Motto des Ro-
mans gewählten Ausfprud würdigt: „Ich wollte nicht
hunderttaufend Gülden nehmen, daß ich Rom nicht ge=
fehen hätte.” Und fo fpricht Luther felbft c8 am Schluß
unfers Romans fcheibend aus, daß ihm Rom ein großes
Dpfer abverlangt bat, den innern Frieden, die glänbige
Einfalt feines deutfchen Gemüths;
und e8 hat mir baflir gegeben den Sturmdrang zum Kampfe
für die Wahrheit und das reine Wort Gottes; ich fam in der
Yeichten Kutte bes Bettelmönds, nnd gehe beim belaftet mit der
ſchweren Rüftung eines Streiters Chrifti, Euer Buch in der
Hand, hohe Frau, wie ein ſcharfes fieghaftes Schwert!
Neue Erzählungen und Romane,
Das Bud, von welchem bier die Rede ift, war das
Wert eines Kaiferlihen Reformators, Friedrich's II., das
dieſer niedergefchrieben hatte um die Zeit feiner Ercommmmi-
cattion bei dem Concil von Lyon, ein Buch, in welchem
allerdings bedeutſame reformatorifche Gedanken in energi-
ſchem Stil ausgeſprochen find. Eine Urenkelin Hoben-
ftaufenfcher Herricherfamilie, Corradina, weldye die Heldin
der freierfundenen Handlung bes Romans if, hat dem
dentfhen Mönd das Bud; gegeben, und er fhöpft aus
demfelben Infpiration und DBegeifterung fir fein eigenes
Auftreten.
Im ganzen ift das DBerhalten Martin Luther's im
Rom ein weſentlich paffives, er nimmt nur Eindrüde im
ſich auf; aber diefe Eindrüde find berartig, daß fie uns
den Berfall und die Entartung des Kirchenweſens in da⸗
maliger Zeit fowie den ungeftiimen Neformdrang des
beutfchen Anguftinermönds volllonmen erläutern. Er
fteht in dem Haufe des Meſſer Agoftino Chigi die Schen-
ftellungen nadter weiblicher Schönheit in lebenden Bildern,
an denen die Großmwürdenträger der Kirche ihre Freude
haben; er bat eine Audienz. bei dem Papſte Yulius IL,
der feine religionsbebürftigen Herzensergüffe und feinen
Glaubensdrang nur verladht und die Auseinanderfegungen
des Mönche mit den Worten unterbricht:
Ihr feid doh ein Schwürmer, ihr benft zu viel, ihr
Deutfhen! Was bat ein Bettelmönch zu denken? Left euere
Mefien, fingt euere Pfalter ab, und dann legt euch auf euern
Strobfäden aufs Ohr. Dur euer Denten kommt ihr zu
Kegereien. Nicht wahr, Pabre Geronimo? Laßt bie Kirche für
euch denfen, wie die Kirche uns, ihr alleiniges Oberhaupt,
denfen läßt für fie; und aud wir denken nicht, demm wenn
wir grübelten und dädhten, jo wüßten wir zuletzt nicht mehr,
ob, was wir erbadt, unfere fterbliche Weisheit fei, oder bie nu-
feblbare Eingebung bes Heiligen Geiſtes.
Schließlich wird Luther anf Befehl des Papftes, den
die Homilien des Mönch langweilen, von einem Car⸗
dinal und einem Padre unfanft zur Thür hinausgeſcho⸗
ben. „Werft ihn hinaus“, fagt Papſt Julius, „ige ſeht,
daß er ein Dummkopf ift und bag er nichts weiß.“ Es
ift dies ein feiner Zug des Dichters! Der Papſt hatte
feine Ahnung davon, daß er mit dem deutſchen Mönd
bie halbe Chriftenheit zum Batican und zu feinem Tempel
hinauswarf.
Die Beziehungen Luther's zu dem deutſchen Grafen
Egino enthüllen uns einige Nachtſeiten der katholiſchen
Welt. Die Liebe zur ſchönen Corradina, die ſich einem
Todten hat antrauen laſſen, führt den Deutſchen in ein
Kloſter am Aventin, welches dem Schloß der Hohen⸗
ſtaufin nahe iſt und durch unterirdiſche Günge mit ihm
correſpondirt. Die Romantik der Pöonitenzzellen, ber
Kloſtermyſterien, der Entführungen und Mordthaten ſieht
bier in Blite — Luther lernt hier die Katalomben bes
Katholiciesmus kennen, jene mit Nacht und Grauen be-
deckte Welt, deren Schleier auch fiir die Gegenwart ned
bisweilen gelüftet wird, die Greuel der kirchlichen Die
ciplin und ihre Torturen. Außerdem ift dies eine Parti
des Nomans, in welcher Schücking's Borliebe fir ge
waltfame Erfindungen voll ungewöhnlicher Schauerromanti
gipfelt. Schon die VBermählung mit dem Todten if et
ſolches grufeliges Cabinetſtück — und faum geniigend mo:
tivirt, um nicht auf den Charakter ber Leichenbraut eine
Nene Erzählungen und Romane.
Schatten zu werfen. Die Begegnung in ben unterirdi⸗
fchen Gängen, der Kampf und die Ermordung bes Gra-
fen Livio durch den deutfchen budeligen Kraps — das
find Abenteuer, welche and; der ſtoffhungerigſten Phantafie
Genüge leiften. Der Charakter der ftillliebenden, opfer-
[uftigen Irmgard zeigt uns das beutfche Gemüth, eine
zarte Feldblume, die in den fonnenheißen Gärten der
ewigen Roma verwelfen muß.
Die Darftellung Levin Schüding’s ift wie immer
lebendig, ohne ftiliftifche Ueberſchwenglichkeiten; die Reflexio⸗
nen, zu denen der Stoff vielfach herausfordert, über
wuchern nicht die Erzählung in ungebüßrlicher Weife.
Gleichwol ift nicht zu verkennen, daß die Anſchauungen
Luther's nur bei den glaubensfeftern Gemüthern unferer
Zeit Lebhaftern Antheil erweden werden. Gegenüber den
großartigen Gemälden Rafael's im Batican fpricht ſich
diefe Befchränttheit, die zwar für Luther und die damalige
Zeit charakteriftifch, aber fir die Gegenwart wenig an-
ziehend ift, am deutlichiten aus, namentlich in der Be—
gegnung zwifchen dem jungen Mönd und dem genialen
Maler. Bon Luther felbft erhalten wir bie folgende
Photographie:
Der junge Mönch fah mit feiner feflen und gedrungenen
Geftalt, feinem dicken blonden Kopfe, feinen derben Zügen,
denen ein breites, uuternehmenbes Kium den Charakter des
Muthigen und Energiſchen anfdrüdte, ganz wie ein Dentſcher
aus. Es war nicht möglich, daß anderes als germanifches
Blut dur diefe kräftige unterfegte Geflalt rolltee Nur was
in feinen auf Egino Tächelnd nieverblidenden Angen lag, diejes
eigenthümliche glänzende Leuchten, diefer Wechſel zwifchen hellem
Strahlen und tiefem Glühen, den er bald bei der re
zeigte, im welche ihn die Unterhaltung mit Egino führte, hatte
nichts von nationalem Typus; es war ein Eigenthümliches,
anz biefem jungen Mann im Habit der Auguftinermönde
igene®, das flet6 eine Art von Zauber auf den, der ihm in
dies tiefe flammende Seelenauge blidte, übte.
Nah dem erften Anblid der unfterblichen Bilder, die
feinen Gefährten, ben deutſchen Grafen, begeiftern, daf er
mit entfalteten Schwingen ins Morgenroth, in die Him⸗
melsluft fliegen möchte, fagt Luther:
Das Menſchengeſchlecht, ber irdiſche Leib, unfere elende
Körperlichleit in dieſer freien Schönheit dargeftellt, das ift ja
eine Dergöttlihung der Ereatur, als ob fie ohne Sünde gebo-
ven feil Seht diefe Geftalten! Sind das irdiſche Geſchöpfe, für
den Schmerz geboren, wie wir Menfchen es find, und der
Erlöſung durch Chriſti Opfertodb, der Gnade bedürftig, um zu
eben, nm im Schmerz nicht unterzugeben? Stehen fie nidt
da in ſtolzer Selbfigenlige und als ob fie ber Rechtfertigun
nicht bedürften, weil fie gerechtfertigt durch ſich ſelbſt find
Predigt die neue Kunſt im Hauſe des Heiligen Vaters das
Heidenthum?
Da tritt ihm der Maler ſelbſt entgegen:
Es war ein Daun von Geſtalt nicht groß und mehr zier⸗
(ich als ſtark, von auffallend fchönen Zügen, mit reihen auf
bie Schultern niederfließenden braunen Haaren. Er trug den
Kopf auf dem langen Halſe ein wenig vorgebeugt; ſchöne, weit-
geöffnete braune Augen glänzten darin, die Haut war von
einer feinen olivenfarbenen Bläfſe bedeckt, es war eine ganz
geiftige, faft Sorge einflößenbe Erſcheinung.
Die Begegnung zwifchen dem Theologen und dem
Künftler ift anmuthsvoll durchgeführt:
„Und was fpridt Ener Ordensbruder da zu feinem Lands-
mann... er fcheint mit meiner Arbeit nicht fonberlich zufrieden
zu fein? Dabei warf er mit einer Kopfbewegung, die für
einen Mann beinahe zu viel Anmuth und etwas Weibliches
1870, 51.
809
batte, da8 lange Haar zuräd; die Stimme, womit er ſprach,
hatte etwas Klares, Silbertöniges, was eigentbämlich zum
Herzen drang. Der deutſche Mönch wenbete fich von den Bil-
dern ab und trat dem Maler einen Schritt entgegen, wie be»
troffen und bingezogen von biefer merkwürdigen Erſcheinung.
Auch Egino konnte nicht anders als feine Aufmerkſamkeit von
den Bildern abziehen, um fie den ſich gegenübertretenden bei»
den Männern zuzuwenden, dem fchönen feelenleuchtenden Antlik
bes jungen Malers, aus dem voller Heiterer Lebensmuth bei
einem feltfamen, faſt Scheu erwedenben Eruſte blidte, und dem
feftgemeißelten Kopfe des Mönche, der, um anzuziehen, nichts
hatte als die in diefem Augenblid von einen ganz eigenthlim-
lihen feuer belebten Augen; es war ale ob aus den vier ſich
fo begegnenden Augen fich krenzende Strahlen geworfen würden,
unfichtbare Geiflesfäden hin⸗ nnd herzudten, die eine Verbin⸗
bung fuchten und fie nicht finden könnten, ein wechſelndes
Suchen der Seelen und ein troßiges Herausfordern. „Welch
einen Kopf Ihr Habt, guter Frate”, fagte mit fberlegenem
Weſen dann lächelnd ber Maler; „hätte ich ihn eher gejehen,
hätte ich ihn dort unter den Männern ber fireitenden Kirche
brauchen können.“ Er wies nad rechts bin auf das Gemälde
ber Disputa. „Vielleicht aber‘, fuhr er fort, „hättet Ihr ihn
nicht dazu hergegeben; Ihr macht ein gar ernfle® und wie er-
Shrodenes Geſicht zu diefem Bilde. Er hatte dies in ziemlich
fließender lateinifher Sprache gejagt und Bruder Martin ver-
fette in berfelben: „Erſchrocken, doch nur Über die Schönßeit
Euerer Darftellungen, die darauf deuten, daß Ihr mehr in
Plato’8 «Gaftmahl» als in der Bibel geilen habt. Der Maler
nidte lächelnd. „Ich habe Plato’8 «Baftmahl» gelefen, aber die
Bibel auch; es bat, fagt es jelbft, meinen Bildern nicht geſcha⸗
det. — „Nicht Euern Bildern, vielleicht aber fchabet e8 den
Seelen, welche ſich in dieſe Bilder verſenken.“ — ‚Und wes⸗
halb?’ — „Weil fie wie ein beraufchender Zaubertrank find.
Diefe Fülle von Schönheit ift zu groß, um nicht das Herz ge-
fangen zu nehmen und es in einen gefährliden Traum von
menjchliher Hoheit, Größe und Schönheit zu Tullen. Seib
nur ganze volle Menjchenbilder — aljo predigt ihr da vom biefen
Wänden herab — und ihr habt der Schönheit, bes Glücks, der
innern Harmonie geuug; ihr ftrahlt dann als freie Könige ber
Belt, ihr feid dann die Geftalt gewordenen ewigen Ideen, bie
ans dem Schofe des göttlichen Weſens euer griedhifcher Philo-
fopb Hervorgeben läßt — ihr bedürft nicht mehr!" — „Und foll
ich ſolche Weſen nicht darftellen?' fagte der junge Maler. „Iſt
der Gott der Bibel ſchwächer, ohnmächtiger ale das ewige We-
fen Plato’s, und wenn dies Ideen bildet, die, zur Geftalt ge-
worden, fi als Ideale ſchöner Erjheinungen darftellen, ſoll
ih) dann den Inquiſitor wider fie machen und fie ale heidniſch,
undriflic und fündhaft vernichten, fie it ber Glut meiner
Hriftliden Devotion als Ketzer verbrennen? Sind die Gefchöpfe
des chriſtlichen Gottes ſchwächer und ungefunder, und erkennt
Ihr nur die geftlimperten als feine Kinder, die wie die langen
magern und verdrehten Heiligen in Euern deutſchen Kathedra⸗
fen und leider auch in unfern italifchen ausſfehen?“ — „Der
Gott Plato's if nit unjer Gott“, erwiderte lebhaft ber deutfche
Mind. „Der Gott Plato’s ift der Gott ber heibnifchen Welt.
Was die alte Welt darftellt, was bie heidniichen Künſtler bil-
ben, das ift eine Welt des Gllicks, des Heldenthums, des Siegs,
der Kraft, des fich felbft genligenden Seins, der Dafeinsfreude.
Das Altertfum iſt das Erdenglück. Das Chriftentfum aber
ift der Schmerz. Im Altertum gehört ber Menſch der Natur,
im Chriftenthum dem Geifte. Es Herricht im Ehriften der Zwie⸗
ſpalt zwifchen Menfh und Natur. Die Sünde Hat den Zwie-
fpalt zwifchen fie gebradt. Der Sroiefpaft geht bis zum völli-
gen Auseinanderjheiden beider, dem Tode, und fo ift unfer
game® Leben ein fchmerzhafter Kampf, ein Sichdurchſchlagen
i8 an jenes dunkle Thor ins Jeuſeits, an deffen Schwelle wir
zufammenbredhen, und durd das ſich dann ein rettender Arm
ervorfiredt, um une bineinzureißen in die Burg des ewigen
riedene. Darum, Meifter, thut Ihr unredht, wenn Ihr Men-
ſchen malt, in denen fein Zwiefpalt ift, die nicht flerben kön⸗
nen, weil ihr barmonifches Sein in einer Herrlichkeit bes Gei⸗
ſtes und der Geſtalt dafteht, an der feine Sünde iſt, und die
102
810 Ein ſteiriſcher
nicht zu impfen brauden bis an ben Tod. Wir find Chriſten
und wiffen, baf wir der Gnade beblirfen, wollen wir das
Leben haben. Ich habe mir manches betrachtet, was von Kunſt⸗
ſchatzen des Alterthums hier in diefer alten Weltflabt vom Unter-
gang gerettet und dem fremden Beſuchern zur Anſchauung freir
gefeltt iR. Da Habe ich Herausgefunden, daß die Negypter am
beften die Schönheit des Thiers dargeftellt Haben, die Griechen
am beften die Schönheit der Menſchen; die Chriften aber follen
am beften die Schönheit der Seelen darftellen, das fol ihre
Kunft fein. Ihr aber, Meifter, bildet Gbitermenſchen.“
Die büftere Weisheit des Auguſtinermönchs hat Hier
durchaus feinen weltbefreienden Zug. Sollte indeß ber
Deuiſche, welher Wein, Weib und Gefang liebte, aller
Ein ſteiriſcher
1. Zither und Hadbret. Gedichte in oberfteiriiher Mundart
von P. 8. Rofegger. Mit einem Vorworie vom Robert
Hamerling. Graz, Bod. 1870. Gr. 16. 20 Nor.
2. Zannenharz und Sichtennadeln. Geſchichten, Schwänke,
Skizzen und Lieder in oberfteirifher Mundart von P. K.
Rofegger. Graz, Pod. 1870. 8. 24 Nor.
3." Sittenbifber aus dem fteirifhen Oberfande von » K.Rofeg-
ger. Graz, Berlag des „Leyfam‘'. 1870. Gr. 8. 28 Nor.
Durch die Reformation hat die Gefchichtsentwidelung
mit ber Naivetät gebroden, und charakteriftifch file die
neue Zeit warb die fouveräne Macht des reflectirenden
Geiſtes. Alles Herlommen in Staat, Geſellſchaft und
Kirche unterwerfen wir der Sichtung der Vernunft.
Dies bringt die gewaltige Arbeit, den märhtigen Fluß in
die moderne Eulturentwidelung. Die Poeſie findet ihre
Beftimmung darin, die ewigen und göttlichen Ideen, die
in ber Epodje nach Geftaltung ringen, zu ſchöner Er
ſcheinung zu bringen. So entflammt fie die Kinder ber
Zeit für die Arbeit ihrer Zeit, indem fie das Dauernde
von dem Vergäinglichen ſcheidet, zugleich aber auch mit
prophetiſchem Blick auf deſſen Fortentwidelung in ber
Zukunft hindeutet. Dies Wurzeln im Geifte ber Zeit
gibt dann den poetifchen Schöpfungen die Lebenskraft für
die Zukunft. Der Geift der Epoche wird daher nur in
jener Sprachform ftattfinden können, in welcher ſich bie
Nation vor allem in ihrer Einheit begreift und findet,
und welche vom Provinziellen, von jedem Dialelte los
gelöft ift. Deshalb finden wir fein Beiſpiel, daß eine
Dichtung, bie vom Ibeengehalt der Epoche gefättigt iſt,
fi) des Dialekts bedient hätte. Die Dialeltpoefie zieht
ſich auf enge Kreife zurück; in ihr Bereich zieht fie nur
das unmittelbare Leben und Weben des Dienfiengeifes
im Noturzuftande, bevor noch die Reflerion die Nabel-
ſchnur gelöft. Darin liegen die Mängel der Dialektpocfte
und ihre Vorzüge. Letztere werben indeß nur dann
hervortreten, wenn ber Dichter nicht aus Koletterie zum
Dialekte griff, fondern wenn er naturnotfwendig bazu
getrieben ward, weil er in ber Anſchauungeweiſe des ber
treffenden Volloſtamms heimiſch ift.
Wir Können dies don jenem Dialektbichter fagen, auf
den wir die Aufmerkfamfeit hinlenken wollen.
Rofegger , den Robert Hamerling als „jlngern
Sangesbruber” einführte, ift ein Dichter, den nicht bie
Lektüre dazu gemacht, fondern bie Natur. Im einem
einfamen Bauerhofe Oberfteiermarfs geboren, trieb er als
Volksdichter.
Lebensfreudigkeit in künſtleriſcher Geſtaltung ſo
geweſen fein?
Der neue Roman Schücking's iſt reich an Ibeen und
Geftalten. Einzelne Schilderungen find durchweg fpan«
nend — gleichwol erwärmen wir ung im ganzen wenig für
die Hauptdaraktere des Romans; es fehlt ihnen der volle
Pulsſchlag des Lebens, fie erfcheinen wie mit feiner SKumft
auf Gemälde Hingezaubert, deren Betrachtung in dem
deutſchen Mönd; den Reformator mect und diefe Wand
lung dem Lefer begreiflich machen joll. ,
Audolf Gotifdall.
Volksdichter.
Kind die Schafe zur Weide; ald er kräftiger ward, jchaffte
er im Hauswefen ber -Aeltern. Spät erſt lernte er das
Lefen und Schreiben. Im Jahre 1858 erhielt er einem
Vollskalender in die Hand, in welchem ex eine Dorje
geſchichte von Auguft Silberftein: „Der Zierthalerhof
gefunden. Das war von mädjtigem Eindrude auf ihn,
es wedte das ſchlummernde poetiſche Talent. „Bon bier
fer Zeit an wurde es anders in mir; die halben
aß ich beim Kienfpan und ſchrieb, und jchrieb allerlei
wunderliches Zeug durcheinander“, erzählt Nofegger el ‘
Schwächlich von Natur entſchloß er fich zum Handwer⸗
kerſtand. „Ich kam zu einem Schneidermeiſter und R
mit bemfelben ein wahres Nomadenleben geführt. Wir
zogen bon einem Bauer zum andern, und am Samftag
ging ich wieder heim zu den Xeltern und las md fi
ie Nacht und den Sonntag hindurch. Da fiel es m
einmal ein, Gedichte, wie ich fie gemacht hatte, )
Graz an die Redaction der «Tagespojt», welche Zeittum;
beim Wirth im Dorfe auflag, zu jchiden. Das mw:
mein Glüd. Der Redactene, Hr. Dr. Spoboda, fh
mir, daß ich Talent Habe, und daß er alles a
werde, meiner Lebensbahn eine andere Nicjtung zu gel
ich möge ihm nur alle meine Schriften — deren ic
lich ſchon mehrere Pfunde vorräthig Hatte — 3
Bon nun an warb ber Entwidelungsgang Rojegger’s
anderer. Der Zmwanzigjährige fuchte durch am
Ürbeit das in früherer Jugend Berfüumte naı
Nach vier Fahren folder Selbftbildung entichloß ex ji
mit einer umfaffendern Probe feines Talents vor
Bublitum zu treten, wobei ihm Robert Hamerling
Geleitsmann biente. Es war dies die Gedichtjamm
„Zither und Hadbret“; fie führte ben Namen vom dem
fteirifchen Oberlande zwei beliebteften Mufilinftrum:
Mag das Bild abgeblaft fein — die Leltiire diejes
muthet an wie ein Waldgang an einem lichten Sonnta;
morgen. Erquidender Harzgeruch füllt die Luft, im
Bäumen fingt und Tlingt es, vom fern Her ſchlag
Raufchen des Gießbachs an das Ohr, und von ben HU ®
Mingen die lerchengleich aufwirbelnden Luftigen Bi 2
aus dem Munde der Sennerin oder des heimfch
Holzknechts. Die Liebe führt im biefer — m
das große Wort; freilich fern von mächtiger ei
aber aud; ebenfo fern von blafjer Sentimentalität. 4
innigfeit fehlt nicht, aber auch nicht der Muth, derb J
Fin fteirifher Volksdichter.
zu fein; man merft, Naturmenfchen handeln dies Thema ab.
Wie innig ift das Gedidt:
»s Pfüatdihgottnehma.)
Ih thua mih nit fürchtn
Wann ſ' mih einilegn in d' Erd,
Aba 's Auſſitrogn fürcht ih,
Bo da Muata?) ihrn Herd.
Na, 's Auffitrogn fürdht ih nit
D’ Muata geht ma nodj;
Aba 's Einfchlofn ih ih,
Werd neamamehr mod.
Na 's Einſchlofn fürcht ih nit,
Weil ih auf jo wieda fteh,
Aba ’3 Pfüatdihgottnehma
Bon Diandl thuat weh.
Bol derber Schalkheit ift:
Aba nit 3’ viel.
A Biſſerl konnſt ſcho zan Diandl gehn,
A Biſſerl konnſt ſchon an Fenſterl ſtehn,
A Bifferl konnſt ſchon einiſchaun,
A Biſſerl konnſt ſcho klopfn on,
Aba nit z' viel!
Geh, klopf nit z' fort, ’8 Glos if’ dünn,
An Fenſterſcheiberl if’ bold Hin.
ALS Beifpiel urwüchfiger Epigrammatif diene:
Auf a mogers Diand!.
Dir därf ih'n Himmel ſcho valündiga,
Schau! Du fonnft jo gor nit fleiſchli fündige,
Wos kunnt dann ah da Teufl mit dir thoan,
Er will a Fleiſch, er brot jo foane Boan.
Was und auffällt, ift, daß die Schönheit der Natur
feltener die Veranlaffung eines Liedes wird. Es mag
dies deshalb fein, weil das Maß ber Liebe erft in ber
Trennung vom Geliebten erkannt wird; in den Armen
der Geliebten ruht die Sehnfucht und das Lied, zu der
Entfernten erhebt fi die Seele auf Liedesſchwingen.
Doch fehlen Stüde diefes Genre nicht gänzlich, hervor»
gehoben fei „Gottes Hochzeitsfeſt“.
Ein fchlichtes aber tief empfundenes Lebensbild ftellt
fih uns dar in „Des Ahndl ihr Traum ban kloan Ahndl
fein Wiagei“. Auch das ernfte Gefiht des. Didaktikers
fehrt und manchmal der Dichter zu, wie in „'s Stückl
Brot und fei GOſchicht“, „A por Wörtl an meine Xondeleut“,
„Der Omashaufn“; frifcher Humor ift die Signatur von
„A betende Jungfrau‘, „Da Meßnabua“. Ein Herz
liebes Lied ift:
Nut Heidl!?)
's Haſcherl) in Heiderl ) if leidi ®),
s Augerl if’ ah noh nit Hell,
's Buſſerl if’ noh nit recht zeiti,
Sn Herz ftedt a burfloane ”) Seel.
Nut Heidi!
Und 's Haſcherl in Heiderl wird fchneidi®),
»s Augerl bleibt ah nit fo trüab;
’g Buffer! von Büaberl wird zeiti,
Sn 's Herz kimmt a Buttn) und Liab.
Nutz Heidi!
Etwas zu derb realiftifch Hingt uns: „Wos warft für
a ſchöns Diandl!" Die erfte Strophe Tantet:
2 Abſchiebnehmen; Pfücnt dih Gott = Behüte big Gott. 2) Mutter.
3— Brav wiegen. 4) unbehütfliger Menig. 5) Diminutiv von Wiege.
6) traurig. 7) fehr Hein. 8) muihig. 9) Hölgerner Traglorb.
811
Wos warft für a ſchön's Diandl
Auf ber Olm ba die Küa;
Do wa ’8 Kiderl!) vul Miſt
Oba 's Wanger! vn! Blüa!
Das Naturbild „Olmleuchtn“ leidet an einem zu
weit hergeholten Vergleich; der Dichter erklärt das
„Olmleuchtn“:
Da Herrgott zündt
Ols geweichte?) Kirzan feine höchſtn Felſn on,
So oft auf d' Nocht a Muata bet für's liabe Kind.
Die drei letzterwähnten Gedichte gehören ſchon der
lyriſchen Beigabe von „Zannenharz und Fichtennadeln“ an.
Das ift eine Sammlung von Gefchichten, Schwänfen,
Skizzen und Liedern, welche ganz den naiven, frifchen
Geift der erfterwähnten Gedichtſammlung athmen. Die
dorfgefchichtlichen Anläufe find treuer im Gedankenkreiſe
und der Unfchauungsweife des Volks gehalten, das in
ihnen denkt, handelt und empfindet, als bei Auerbad),
befien Schwarzwälder denn doch zu fehr in fonntäglicher
Nobleffe auftreten; doch füllt der Dichter auch nicht in
die zu berben Realismen bes Schweizers Jeremias Gott⸗
belf. Liebe und Treue finden eine ſchöne Verherrlichung
in ber ſchlichten Gefchichte „D’Annamiadl”. Anmuthende
Stimmung athmet das Föftliche Idyll: „D'Schwoagerin
und die Kita”. Aus dem eigenen Leben gefchöpft ift: „Da
Schneidapederl.” Der heimatliche Boden und beffen Be-
wohner finden treue und liebewarme Schilderung. Nod)
eine eigene Gattung ber Erzählung ſchuf ſich ber Dichter,
in der vor allem jener derbe Humor — freilich zumeift
parodiftifcher Natur — durdfchlägt, der den Bewohnern
der Alpenlanbe eigen; es ift dies die Wiedergabe griechifcher
und biblifcher (jüdischer) Diythen, fo „A Kapitl vo die oldn
Griachn“, „Voder Abraham”. Was die Sprache betrifft,
ift hier die Eigenheit des oberfteirifchen Dialekts forg-
famer und treuer gewahrt als in „Zither und Hackbret“,
in welcher Gebichtfammlung dem Lefer, der des Dialefts
unfundig, mande Conceffionen gemacht wurden; dem
dadurch erfchwerten Berftändniß fucht ein dem Werkchen
beigegebenes Sloffar zu Hülfe zu kommen. Daß durch
die häufige Zuhülfenahme des Glofjars der Totaleindrud
leidet, ift erllärlich; fo erfchienen ung biefem gegenüber als
Fortfchritt die in anmuthiger, neuhochbeutfcher Profa ges
ichriebenen „Sittenbilder aus dem fteirifchen Oberlande“.
Der Berfaffer fagt dafelbft einmal:
Die Sitten nnd Gebräuche des Volks, jo nnbedentend fie
auch oft fcheinen mögen, ehrt fie! Sie find das Erbe ber
Bäter aus alten Zeiten, und innig find fie verwoben mit dem
armen Menfchenherzen, das ſich noch nicht emporzuringen ver-
modt zum freien Lichte des Geiftes; fie find die Gold-
fäden, die fein herbes Los mit dem SHeitern und Schönen, mit
dem Ideale verweben. Und dieſe goldenen üben ziehen fich
duch das ganze Menſchenleben von der Wiege Über den Trau⸗
altar bis zum Grabe. Selbft um den Sarg weben fie noch
den zarten, milden Schleier der Poefle.
Mag fi) auch der Geift von diefen Sitten und Ge-
bräuchen befreit Haben, das Herz hängt noch daran, dar⸗
um bie Pietät und Treue in der Varbengebung Weil
aber eben der Verſtand fich ſchon davon befreit, fo liegt
ihm der Gedanke nahe, daß es der Zug unferer Zeit
entwidelung ſei, baß alle Natur im Geifte wiedergeboren
werde, daher auch Ueberlieferungen vergangener Sitten
1) Diminutiv von Kidl —= Kittel, 2) geweißt.
102 *
812
und Gebräude in. gleichem Maße ſchwinden, als die
Cultur fi) ausbreitet. Diefer Gedanke ruht wie elegiſche
Berflärung über den meiften dieſer Bilder. So eint ſich
Hier der cultuchiftorifche Werth mit dem poetifchen. Dazu
Tommt es, daß Treue und Wahrheit der Schilderung das
friſch pulfivende Leben nicht befeitigt hat. Der Rahmen,
in ben das Bild gefaßt, ift Häufig ein novelliſtiſcher. Der
Stoff ift ein reicher. Es mag feinen Feſttag des Jahres,
fein denkwürdiges Ereignig bes Lebens geben, von bem
wir nicht erführen, wie der finnige Volkögeift feine poe ⸗
tiſchen Blumenkränze um fie ſchlingt. Auch bie focialen
Berbältniffe treten in ſcharfen Umriffen vor uns hin, fo
dag wir nad Durdjlefung dieſes Buchs fein gefäljchtes,
fonbern ein farbentreues und uns doch Liebes Bild ber
Bewohnerſchaft des fteirifchen Oberlandes befigen. Wie
Sehnfucht befchleicht e8 uns nach diefen Gebirgswäldern,
nad den einfamen Gehöften, den abgelegenen Dörfern,
worin nod ein Stüd urwüchſigen Vollsthums, „derb und
rauh zwar, aber eigenthümlich und finnig“, feiner Be-
Iur Fcanen-Unterrichtsfrage.
1. Die berliner Frawen-Bereins-Conferenz am 5. und 6. Nor
vember 1869. Berlin, Fliverig. 1869. Gr. 8. 10 Rgr.
2. Braftifche Verſuche zur Löfung der Beauenfeage von Luife
Büdner. Berlin, Sanfe. 1870. 8. 10 Nor.
3. Die Stellung ber deutfchen Lehrerinnen von Marie Calm.
Berlin, üderig. 1870. Cr. 8. 5 Nor.
ur Frauen - Unterrichtsfrage in Preußen von Ulrike
enſchke. Berlin, Lüderig. 1870, Gr. 8. 5 Nr.
Diefe Schriften find feit wenigen Monaten erſchienen
und fönnten alle den Titel der legtgenannten „Zur Frauen»
Unterrihtöfrage” führen. Im der erſten: „Die berliner
Frauen-Vereind-Conferenz", iſt es zunäcftNöggerath, der die
Notäwendigkeit der Gewerbeſchulen für das weibliche Ge-
ſchlecht betont; er hat felbft eine ſolche in Brieg in Schlefien
ins Leben gerufen. Neben ihm ift es Emminghaus, ber
ein faft vollftändiges Bild aller Berufstreife entwirft und
zu dem Refultat gelangt, daß fein Kreis als folder den
Frauen verfchlofien fein dürfe, und es fi darum handle, zu
den gemäßen die nothwendige Borbildung zu ſchaffen. Bom
Handwerk ausgehend betont er, daß wenn Frauen auch
auf das Schlähter-, Schmiede- und Schlofferhandiwert
verzichten würben, bie große Menge der Handwerke (nad;
Daul 500) für Frauen geeignet feien. Ebenſo wäre ber
Taufmännifche Gefchäftsbetrieb nad) den meiften Richtungen
den Frauen zugänglich, wenn aud) eine Borbildung dafür
nothwendig ſei. Für bie Landwirthſchaft in vationellem Sinne
thätig zu fein bedürfe e8 gleichfalls der Vorbereitung. So
ſtellt ſich die Nothwendigkeit der Gewerbe, Handels- und
Aderbauſchulen für Frauen heraus. Diefunft ift dasjenige
Gebiet, das feinen univerfalen Charakter noch am meiften
bewährt, und beshalb werben auch Kunſtſchulen noch am
eheften von beiden Geſchlechtern beſucht, dennoch ift das
Bedürfniß nad; Zeichenfhulen für das weibliche Gefchlecht
vorhanden. Was den Berufsfreis innerhalb der gelehrten
Fächer betrifft, fo meint Emminghaus, daß auch hier den
rauen nicht der ganze Kreis verfchloffen fein dürfe, daß
fie vielmehr file einzelne Facultäten Schüler und Lehrer
4.
Zur Frauen-Unterrihtsfrage.
ſtimmung harrt, feifche Kraft dem großen ganzen d
ſchen Volle zuzubringen und dafür die Segensfülle reicher
Eultur entgegenzunehmen. .
Hier und da Hat die Kritit ſchon die Frage aufgewor-
fen, wohin Rofegger nun ſich wenden werde, da ex dech
unmöglich immer bei den Bauern verbleiben fünne. Auch
wir find nicht im Stande uns befonders für das Genre
der Dorfgefchichte, dem er fich jest zuneigt, erwärmen
zu Können; aber wir meinen, daß er noch einer Ueber
gangszeit bedarf. Ob ihm bann jener Uebergang zu
Dihtngen modernen Geiſtes gelingen wird, wie er Auer-
bad) gelang, mit bem hier und da Roſegger verglichen
wird, müllen wir ber Zukunft anheimftellen. Iedenfalls
bedarf es dazu ernfler Arbeit, eines nimmermüden Stre-
bens, bie moderne Ibeenftrömung ſich zu eigen zu machen.
Im übrigen Hoffen wir, daß ber gejunde Kern, das reiche
Talent, die Tiefe und Friſche bes Empfindens, die im
Kae ruhen, ihm’ den rechten Weg werden finden
elfen.
an Hochſchulen fein müßten. Der Lehrberuf und der
ärztliche fer den Frauen zugünglich zu machen und jelbft-
verftänblich die notäwendige Vorbereitung an Seminaren
und Hohfhulen. Emminghaus macht folgenden bemer-
kenswerthen Vorſchlag: „Die Hochſchulen in den Heinen
deutſchen Städten folten file Frauen eingerichtet werden,
denn vieles, was gegen das Studium der Männer an
Heinen Univerfitäten ſpricht, fpridt gerade für das Stu—
dium der Frauen an denfelben.“ Behandelt Emminghaus
die Unterrihtöfrage in großem Stil, fordert er Umgeftal-
tung und Nengeftaltung von Lehranftalten in einer Aus-
dehnung, zu deren Realiſirung die bedeutendften Mittel
nothwendig wären, fo befchränfen ſich die drei letgenanm-
ten Söpciften auf einzelne Gebiete und zeigen am dem ber
ſtehenden Verhältniſſen die Möglichkeit und Nothwendige
teit der Reformen. ;
Allen dreien ift e8 gemeinfam, auf die m elhafte
Ausbildung in ben Töcterfchulen Sinzumeifen. Ruif
F Büchner betont das Mangelhafte des Hanbarbei 2
richts und verlangt größere Aufmerkſamkeit und fyftem
tifchere Behandlung deilelben, fowie obligatorijche Ein
führung in Stadt und Landſchule.
Marie Calm und Ulrike Henſchke behandeln
gehend die Stellung der deutſchen Lehrerin und ihre
nachtheiligung ſowol in materieller als in geiftiger
hung. In Freuen eriftiren 81 Seminare fir die 9
bildung der Lehrer, und 8 file Lehrerinnen; im a
übrigen deutſchen Staaten find nur drei Seminare
Lehrerinnen vorhanden, ſodaß es in Deutjchland 133
minare für Lehrer und 11 fir Lehrerinnen gibt.
unterrichteten aber in Preußen 1864 an öffentlichen
Ien 4610 Lehrerinnen, außerbem eine Menge von PB:
lehrerinnen, Gonvernanten; es gehen ing Ausland ger
prüfte und ungeprüfte Erzieherinnen, ſodaß bie Borbereie
kung zu diefem Berufe wol berücjichtigt zu werben
verdient.”
Feuilleton.
Hat die Schrift von Ulrike Henſchke gemeinſam mit
der von Marie Calm die Betrachtung des Lehrberufs
der Frau, ſo behandelt erſtere, wie es auch der Titel
zeigt, die ganze Schulbildung der Mädchen des gebilde-
ten Mittelftandes. Sie rügt die geringe Aufmerkfamfeit,
welche Gemeinden und Staat der Erziehung des weiblichen
Geſchlechts zollen. Die Töchterfchulen find Privatunter-
nehmungen, meift finanziell unficher geftellt und deshalb
geizen fie mit den Lehrkräften; die Stunden, bie ein
Gymnafiallehrer oder Geiftlicher gerade frei hat, werben
benutzt, und in Rüdficht daranf, nicht nach innerer Noth-
wendigfeit wird ber Xehrplan entworfen. Außer diefem Man⸗
gel herrſcht hier auch die gänzliche Vernachläſſigung deſſen,
was für das praftifche Leben der Fünftigen Hausfrau und
Mutter nothwendig ifl, worauf die Berfaflerin hinweiſt.
Die Haushaltungslehre, die Gefchichte der Induſtrie,
813
Unterricht in der Chemie und Volkswirthſchaftslehre, Ge-
fundheitslehre und Pädagogik find in den Schulplan für
Töchterſchulen aufzunehmen, nebft einem praftifchen Cur⸗
fus im Kindergarten.
Diefe Reformen Hält Ulrike Henſchke im Intereſſe der
Erziehung der Jungfrau für die Familie nothwendig:
weiter geführt Lönnten fie zur Berufsbildung für das
da der Buchhändler, Apotheker, Droguiften hinüber⸗
eiten.
Wir machen auf die genannten Schriften aufmerkſam;
fie haben neben ihrer praftifchen Bedeutung auch cine
theoretifche, und zeigen, daß die fo viel befprochene Frauen⸗
frage bereits das erfte Stadium überwunden hat, das Sta-
dium, welches Goethe „die weitfchweifige, nulle Epoche”
nennt, und daß fie ſich hinübergerettet hat aufs fefte Land,
wo es „mit Beftimmtheit, Präcifion, Kürze gethan ift“.
SFenilleton,
Neue Goethe⸗Ausgabe.
Bon der in Hempel’8 Berlag in Berlin veranftalteten,
nad den Quellen vevidirten Ausgabe von Goethes Werken
find dem vor kurzem erfchienenen „Fauſt“ uud dem britten
Theile der „Gedichte nunmehr die „Sprüche in Profa‘ ge
folgt — ein Werk, welches in biefer Geflalt den Freunden ber
Goethe -Fiteratur befonders ſchätzenswerth erfcheinen wird, in-
dem fih H. vom Loeper hier zuerft der Aufgabe unterzogen hat,
die einzelnen Sprüche auf ihre Quellen zurückzuführen und
ihren Zufammenbang, namentlich ihre Beziehung zu den gereimten
nachzuweiſen. So außerordentlich ſchwierig diefe Aufgabe jeben-
falls war, fo Tonnte diefelbe doch von einem jo bewährten und
umfichtigen Goethes Kenner wie ber Herausgeber infoweit ge
Löft werden, daß er nur die Nachweilungen von einer Heinen
Reihe Sprüche ſchuldig zu bleiben brauchte. Die Rubricirung
ber Sprüche ift mit logifcher Berechtigung in derfelben Weife
beibehalten, wie e8 die Herausgeber des Nachlaffes, eine Aeuße⸗
rung Goethe's gegen Edermann zur Richtſchnur nehmend, be-
reits durchgeführt Hatten; nur in wenigen einzelnen Fällen, wo
die frühere Gruppirung gegen die Rubriken „„Cthifches”, „Kunſt“,
„Natur“ verfließ, wurde von der traditionellen Anorbnnung ab-
gewichen. Die aus Sterne’s „Koran“ entlehnten Reflexionen,
auf welche das „„Deutfche Diufeum‘‘ *) und bie „Blätter für lite⸗
rarifche Unterhaltung‘ **) bereits früher aufmerkfam machten,
find zwar wieder mit unter die ethilchen Sprüche aufgenom-
men, im Commentar jedoch als Angeeignetes gekennzeichnet
worden. ine ſchätzenswerthe Hülfe zum Gebrauche dieſes
Buchs der Weisheit bietet ein dreifaches Regiſter für die An-
fäünge, die Namen und den Inhalt. Wen demnach diefe ori-
ginalen Sprüche Tieb geweien find, welche fi) ebenfo wol auf
die Natur wie auf die geiflige und fittliche Bildung erftreden
und die Spruchfammlungen eines Epiktet und Marc Aurel,
eines Larochefoucauld, Seume und Lichtenberg an Bündigkeit
und Fruchtbarkeit bei weiten übertreffen; wer dieſe Reflexio⸗
nen als die edelften Früchte Goethe'ſcher Altersmeisheit zu
fhäten gewußt hat, dem wird durch den gemiffenhaft aus-
genrbeiteten Literarifch - hiftorifchen Kommentar ihr Verfländniß
nunmehr leicht zugänglich, ihr Werth mithin unvergleichlich er⸗
höht erjcheinen.
Eine der werthvollſten Bereicherungen der Claffilerliteratur
erhalten wir in der von Loeper erläuterten Ausgabe des „Fauſt“,
wodurd in ähnlicher Weife wie in Carriere's treffliher Ausgabe
(in Brodhaus’ „Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur des
18. und 19. Jahrhundlrts) dem größern Publilum die Möglich"
— 48 f. 1867: ,Iſt Gotehe ein Plagiarius von Lorenz Sterne?” von
. Springer.
*s) Nr. vo f. 1869: Feuilleton, worin ber engliſche Text neben ben deut⸗
ſchen gefegt ift. -
feit geboten wird, ohne Studium umfangreicher und ſich mei-
Be widerfprechender Commentare in den Sinn biefes theils
agmentariſchen, theils Tüdenhaften „incommenfurablen‘ Werks
— wie der Dichter e8 felber nannte — einzubringen. 9. von
Zoeper fucht im feiner eigenen Weife bie Einheit der Idee in
biefer großartigen Schöpfung anzudeuten, gibt aber zugleich
einen umfaffenden und fritifchen Hinweis auf alles, was von
Aſher, Deyds, Weiße, Gruppe, Röticher, Oervinus und an⸗
dern Erffärern bervorgehoben worden ift, fließt fich jedod)
jelber ber philoſophiſchen Auslegung Carriered am nächften
an. Der Entflehungsgeihichte des Werks folgt eine Tritifche
Betrachtung der einzelnen Scenen, und jebem der beiden Theile
ein Anhang, welcher bie Paralipomena und die Xertrevifion
enthält. Bon unſchätzbarem Werth find für den umgelehrten
Dilettanten die unter dem Text befindlichen Noten ſacherklären⸗
den Inhalts, wobei wol Düntzer's Commentar in zweckmäßiger
Weiſe benutzt, aber auch viel Neues aus dem Wiffensichat des
Herausgebers gefpenbet worben if.
Die Verehrer Goethes wird in gleicher Weife der jekt
ausgegebene britte Theil der „Gedichte“ (Berlin, Hempeh in-
tereffiren, infofern berjelbe neben jämmtlichen Gedichten, welche
in den nad Goethes Tode erfchienenen Ausgaben neu ver⸗
öffentlicht wurben und allen in Briefwechſeln und Einzeldruden
zerftreuten Stiiden, auch die vom Loeper beigefteuerten, bisher
ungebrudten Gedichte, in einer Anzahl von 154, enthält.
Es fehlen nur einige bisjegt noch verheimlichte Gedichte und ein
paar Objcönitäten, wie das „Tagebuch“, welde grundſätzlich
weggelafien find. Der Herausgeber, F. Strehlle, Director
des Gymnaſiums zu Marienburg, bat die einzelnen Gebichte
mit Anmerkungen verjehen, welde um fo mwilllommener find,
al8 gerade dieſe bisher unbelannten Dichtungen der Erflärung
bedürfen. Auch bei diefem Bande zeugt die beigefligte Reviſion
von der Sorgfalt, welche ber Berleger wie bie Herausgeber
diefer Goethe» Ausgabe auf die Herftellung eines richtigen Textes
verwenden.
Der deutfhe Sprahunterriht und bie Munbarten.
Das Berbältnig der Mundarten zum Spradjunterricht ift
ſchon öfter Gegenſtand des Nachdenkens und der Erörterung
jeitens unferer Bädagogen geweſen. Bor allen Hat Rudolf von
Ranmer in feinem berühmten Werke: „Der Unterricht im
Deutfchen‘, diefer Frage eine beſondere Aufmerkſamkeit gefchentt.
Ihm gilt die gefprochene Mundart als die eigentlihe Mutter-
ſprache des Schlilers. Mit ihr ift er aufgewachſen, und fie ift
das utprlingliche Organ feiner Gedanken und Emfindungen..
Es wird deshalb die Aufgabe der Volksſchule fein, den Schü⸗
fer, foweit er fich überhaupt an der Schriftiprache betheiligen
814
folf, von feiner Mundart zur Schriftſprache hinüberzuleiten.
Dem ganzen Zwed und Charakter der Vollsſchuie gemäß wird
dies aber möglichft auf dem Wege praftifher Uebung zu geſchehen
haben.“ Der Gegenfag zwifden der Sgriftſprache und ber
Mundart tritt am auffalendften hervor in folden Sprachen,
melde, obgleid) fle die Elemente der fhriftgemäßen Ausbildung
befigen ober auch einft befeffen Haben, einer fiegreihen Schwe-
ſterſprache —E auf den Standpnuft einer gewöhnlichen
Mundart zurlüdgedrängt find, So im Provenzaliiden, fo im
Niederdeutſchen oder Plattdeutjchen. Muß das nieberbeutiche
Bauernfind hochdeutſch in der Schule lernen, aljo ein feiner
Mutterſprache völlig entgegengefegtes Idiom, fo mwirb dem
Lehrer von vornherein nichts anderes übrigbleiben, als den
heimifhen Diafett im Unterricht ebenfo Heranzuziehen, wie er
ihn vergeffen lehren fol. Gine theoretifch » päbagogiiche Ber
trachtung Über diefes in ber Praris ſich wol von ion dar-
bietende Verhältniß finden wir unter anderm in der Programm«-
abhandlung von Karl Straderjan, Realihuldirector in Ol
denburg: „Das Plattdeutſche als Hilfsmittel für den Unterricht‘
(Oldenburg 1866). Aehniich, wenn auch principiell verſchieden,
iſt das Verhaltniß der ober- und mitteldeutſchen Munbdarten zur
hochdeutſchen Schriftſprache. Hier wird der Lehrer bfters wegen
der feinern Unterfhiede zwiſchen lebendiger Sprache und Schrift
einen ſchwerern Stand haben als der Lehrer im Gebiete des
Plattdeutſchen, weil diefer es mit zwei völlig verſchiedenen
Spradorganismen zu thun hat. Auch im hochdeutſchen Gebiete
tritt an den Lehrer die Forderung heran, daß er die Mundart
als Hülfesmittel beim Unterricht benuge. Im anregender Weife
behanbelte diefes Thema, wenn aud nicht mit Beſchränkung auf
die hochdeutſchen Mundarten, Karl Julius Schröer in einem
Bortrage: „Der deutfhe Spradunterricht und die Mundarten“,
welchen er in einer Nebenverfammlung des neunzehnten all»
gemeinen deutſchen Lehrertags, den 8. Gun 1870 hielt, und
welcher jet al® Separatbrud aus der Zeitfärift „Die Bolte-
[m “vorliegt (Wien, Sallmayer und Comp., 1870).
indem der Berfaffer jenen Grundfag R. von Raumer's aud)
au dem feinigen macht, hält er es für unerlaßlich, daß die
Lehrer zu ber Arufpabe, den Sciifer von der Mundart zur
Säriftfprade Hinüberzufeiten, geldicdt gemacht werden. Der
Lehrer foll, ohne daß er ſprachvergleichende Studien treibt, bie
Einfiht gewinnen, daß die Vollsmundarten Fein verberbtes,
aus gefeglichen Gleifen gerathenes Schriftdeutſch find, fondern
die örtlich, gefärbte natlirliche Fortbildung der Sprade unferer
Väter; dann fol er eine allgemeine Kenntniß gewinnen von
den deutſchen Hauptmundarten, und ſich in einer berfelben, im
feiner eigenen ober einer, bie feiner Heimat die nächſte if,
heimiſch fühlen. Wol im Vewußtfein, daß bie Erfüllung nicht
jo bald winfen wird, fließt Schröer feine Betradhtung mit
dem Antrag, den er „hiweigend im die unendliche Zeit nieder»
Tegt"“, in der Hoffnung, daß er einmal vielfeißt zur Geltung
tomme, daß an dem deutjchen Fehrerbildungeanftalten der Unter»
richt in den Mundarten in den deutſchen Sprachunterricht aufe
genommen werbe,
„Germaniftifhe Studien".
Als Franz Pfeiffer feine „„ Germania gründete, beftanb
als alleiniges Organ flir die germaniſtiſchen Etudien Haupt's
Beitfchrift für deutſches Altertfum‘. Seitdem ift nod eine
Zeitſchrift gleicher Richtung in Leben gerufen worben, Höpfner'g
und Zacher’s „Zeitfchrift für deutſche Philologie". Der Kreis
der Mitarbeiter auf biefem Gebiete hat ſich b erweitert, bie
Production fi fo gefteigert, daß felbft die vermehrte Anzahl
ber ‚Organe nicht mehr ausreicht. Es ift den Herausgebern
nicht möglich, die eingejanbten Beiträge raſch zu veröffentlichen
wegen ihres Ueberfluffes. Um diefem Uebelſtande abzuhelfen,
müde fi aber dod die Gründung noch einer vierten Zeit«
ſchrift nicht empfehlen. Karl Bartfch, ber Herausgeber der
von Pfeiffer begründeten „Germania‘, bat baflir ein anderes
Unternefmen ins Auge gefaßt, welches jenen Uebelftand befeitigt
und zugleich die Zerfplitterung vermeidet, Unter dem Zitel:
„Germanifiie Studien“ beabfihtigt er ein „Supplement zur
Germania” herauszugeben, in weldem haupiſächiich umfang«
Feuilleton,
reichere Arbeiten, bie eine Trennung in mehrere Hefte nothe
wendig maden würden, zum Abdrude gelangen, auch werth-
volle unbelannte Terte deröffentlicht werden follen, während
Recenfionen, Bibliographie, Miscellen nach wie vor aueſchließlich
ber ge felöft zufallen. Diefes neue Unternehmen wird
gewiß mit Freude begrüßt werben. Namentlich auch für Texts
mittheilungen wird fi das Supplement vorzüglich eignen,
wenn fle zu umfangreich für eine Zeitfhrift umd zu Hein für
eine gefonderte Heransgabe find. it Recht hat Pfeiffer von
allem Anfang an bie Tertmittheilung mögiichſt ausgeichloffen,
und die Abhandlung, die Anterinhung als das Ziel feines pe»
riodifchen Unternehmens hingeftelt. Größere Auffäte, die zum
Umfang eines Buchs anſchwellen, wie fie fi öfters in Haupt’s
„Beitfhrift” finden, find ebenfo wenig vortheilhaft für ein Organ,
weldes die Wiſſenſchaft mach allen Richtungen pflegen umd
Wannichfaltigkeit bieten fol, Das von Bartjd gegründete
Supplement wird fid ähnlich zur „Germania' verhalten wie die
aätilhungen zur deutfchen Geſchiche · zu Sybel'e „Hiflorilcher
ei .,
Notizen.
Aus C. F. Amelang’s Verlag (F. Boldmar) iu Leipzig
find zwei ebenfo gefhmadvoll ansgeftattete wie in jeder Hin-
fit empfehlenswerthe Weihnachtsgaben hervorgegangen: „„Fir»
der, Balladen, Romanzen, harmonifh verbunden mit der
bildenden Kunft durch Sluftration von Baul Thumann, 3. Füll-
haas u. a. herausgegeben von Albert Traeger‘, umd bie
jebente, bedeutend verfchönerte Auflage des „Album für
eutfhlande Töchter. Fieber und omangen. Dit
Illuſtrationen von Paul Thumann, W. Georgy, I. Füllfaas
u a.“ Der unermüblie Verleger weiß mit feinem Kunf-
gefühl in jeder meuen Auflage feiner Prachtausgaben das min-
der Gelungene augzufgjeiden und durch neue Suuftrationen von
gediegenem Werth zu erfegen. In dem Zrarger’ichen ‚, Album‘
iſt die Auswahl ber Gedichte eine gefhmadvolle nud zmed«
entiprecdjende; fie bewegt fi nicht auf der großem Heerſtraße
der lyriſchen Anthologien, vermeidet alles, was für den Gr
(ine des Haufes und der Familie allıu freigeiftig if. Die
[uftrationen, jomol die mehr ‚geidihtiigen, als auch bie
landſchaftlichen, zeichnen ſich vortheilhaft aus, jene durch marfi-
gen Schwung, diefe durch fiimmungsvollen Ausdrud, der oft
mit wenigen Mitteln glüclich erreicht if.
Eine Anthologie mit weſentlich pädagogiſchem Zwed ift
die folgende: „Auswahl deutfcher Gedichte für Schule und Haus.
Nah den Ditungsarten geordnet und mit erlänternden Air
merfungen verjehen von Oskar Liebel“ (Dresden, Schut-
buchhandlung, 1871). Die Sammlung, welde auch einzeine
poeiiſche Gaben der Gegenwart in ſich aufgenommen hat, will
ein Heiner Beitrag zur äfhetifchen Erziehung der Jugend jein
und beobachtet dafer in ihren. einzelnen Wötheilungen einen
dom Leiten zum Scheren auffleigenden Gang in der Anord-
nung des Stoffe. Cine kurze, allerdings nur das Hauptjäh-
lichfie berügrende Einleitung, ſachliche Anmerkungen umd bie-
graphiſche Notigen über die Dichter bilden die Zuthat des Her-
ausgebers. Die mitgeteilten Gebidte fint jedenfalls zwed-
entſprechend; nur vermiffen wir ungern manches Gedidt, ;. ©.
von Freifigrath und Lingg, welches bei Hohen dichteriichen
Werth fe nicht über den Horizont der hetauwachſenden It-
genb_binaußfiegt.
Einen Meinen poetifhen Blumenftrauß zur „Förderung
wahrer Herzensbildung“ bietet die Sammlung: „‚Bergif
night. Blumenlieder für junge Blumenfreundinnen gefammelt
von ©. Hartmann, Mit Bildern in Delfarbendrud na“
Originalzeichnungen von Prof. 3. B. Sonderlaud“. (MWefe
Diüme). Die Blumen find nad dem Jahreszeiten und mac
dem Blutenkalender geordnet. Außer einigen frommen Did
tern, wie Krummadjer, Harms, Spitta, Agnes Franz find no
mentlic Goethe, Rüdert, Uhland, Tied, Geibel in diefer po
tiſchen Botanik vertreten. Schiller fehlt gänzlich; fein „Mädcı
aus ber Fremde” reiht wol Blumen dar, aber fie find
näher nad) Sinn? oder Jufflen befimmt. Ju umjerer Samr
Tung aber find nur anfländige Blumen aufgenommen, die fi
Feuilleton.
Iegitimiren können, nidt blos Kfen und Lilien, auch Kaifer-
kronen, Mauerpfeffer, Eiſenhut u. f.
Die Kalenderliteratur kann der —* d. Bl. gemäß
in der Regel keinen Anſpruch auf Beachtung in enfelben mar
hen. Ausnahmeweife fei uns jedoch geftattet, auf ein Unter
nehmen hinzuweiſen, das einmal von der Herfönnmlihen Form
and»
der Almanache abweiht. Wir meinen den „Fiterifsen
kalender“, herausgeben von J. Mehtig ame ter Jahrgang auf
das Jahr 1871; Leipzig, ©. Schulze). Das Aweicjende deffele
ben befteht darin, daß er, meben bem Angaben des afttonomis
fen und bürgerlichen Kalenders, an der Stelle ber Namen der
Kirhienheiligen diejenigen berühmter Furſten, Staatsmänner
und Milltare aufzäßft nach ihren Geburtstagen und »Sahten.
Außerdem findet fi am Fuße des Almanach ein Meines Ber
zeihniß von Yublläen, fowie von geſchichtlichen Ereigniffen aus
den Tiger Jahren jedes Jahrhunderts, Es erfceint ein fol-
es Borgehen durchaus zeitgemäß; Notigen über diefe neuen
Ralenderheiligen haben für jeden teunb der Geſchichte und ber
nenen Zeit eine hervorragende Wichtigkeit gegenüber den alten.
Die von uns herausgegriffenen Daten haben wir Übrigens als
richtig. erfunden.
Bibliographie.
— Diätergrüße am Auferſtehungemorgen oe jeeinigten
Deutilanı —— des Jahres eo Ye — —R
bem beutfe ben Soil fe bargebı je Rnaunth. Fr Bohn. Langen«
Tata, ‚Bel oge-Gmpt * *
—8 ——— Ei ‘verlorene Quellenschrift des 19,
Jahrhan ts aus Bruchstücken a le 83 Nr. Scheffer-
—— — ick, Wagner, 2 Thlı
Baur, @., Dir [77 Beurer Chart. Nie ensurg, Ugens
tur Fr —* —
sten, bon
. 16,
— Gier Dorfleben in Neu land. Gine
< un, dem isn. Sunganı 9. D. Steintor dere &
J— — — nachtöfrend und, Weihnaqteleid. Ein Lieder⸗
ferslautern, * 32. 10 Not.
Far —A— — ee er Meupeit. Srigen. Seipig, Gru-
PROC dee len haften jeit. Aer Db.:
u er germanih jem —A ee in et han von
R. vd. Raumer, Ir.
€, Ei — von Paris ober bie ar beim Ka Dar
—— re e — aus bem beutig-fe
3870, ARE m. Be
in, plere, Markgraf von A:
Stammvater ——— "Hauses, Berilb, Loosenstein. 197L-
28
RE Arena ge Bigen ©
E17 RER, Die Königin der Bälle. Rovelte- "ütone, erlagds
un, 9 Zrauerfpiel. Leipgig, Hirzel. Er. 8.
Wi A u, 1 param&ieber, 2te, ſtart vermehrte Aufl. Bremen,
Tele, © ®, —E te durchgeſehene Aufl. Roſtoc, Stiller,
16, 5%
ünfer nieberpewonnenes Sand. Beiträge er Renntniß bet beutfgen
Gebietes in Stjaß und Lothringen. Berlin, Dlmmler. 9. 10 Rer,
Bullenweber.
Ey Der Hirchenstaat und die Opposition gegen den
päpstlichen Abeolütlonlus tm — desi4. Jahfkander,” Leni,
Bien Genie, Heine Sgmägen. Sehmtofe Gefäigten aus Siforifge
ße Leute . Han 2
ie yabaciger Grianerung, Berlin, X. Dunder, 171: Gr % Yale
— an, Die Umerkenzti “a Piegestten
1871. Dr. 8. 1 Lhlr. 15 Nor.
a
Io 4. 3 Ehlr.
Gin Roman ter norbifgen
Ianens In einem Band, 1ste
atb, &., Das ren) yon Bine,
Kichpelm. 8. 1 Zplr. 5 R
Panel
eos weh,
* Hoyer F —— allgemeinen r
1. ‚Aldburghausen, Biilogr. Institut, Br
ie 000. L., Hegel, der —— —— Eine
ipaig, Duuoker u. Humblot. Gi
Up1Ea, Eonife, Kaifer Sofenp und je gansetncst. PHifsrl-
8,
Michelet, C.
Jubelschrift, Lei
Dürrfge Buhhantlung. 8.
fen. Sin Rate
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3 Thir. 10
an, 8., Die Barifer — Seite Stigen aue dem Bar
„= "gr 27 li &r,
se, SR £ SD. — Kat (ge gem
ıd Sgil era, nad jeinem evangelifgen Leben und Wirken darge«
Ra Rene Grante. &r- 8.20 Apr
vn, it Woman. Me Abth. 4 Bde. Leip)
äptten 3, Sugente bie Gptaijerin der range
Sg de ber Heigeit. Sleleeib, Thlele u-
'., Deutsche Alterthumskunde.
815
Detling, ech S.. Rieber mit ! Napoleon! Cine Sammlung patristifger
Siohigen, Ra,
"Ein Benbebeittänn, (A souaty Samily.), Roman. Aus
dem —2 — von GTife Mirug., Ginige, nom dad a auiorifirte
dentfce 5 eeipni ht dir,
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St tn Knen Berti Bene. ıRıs 8b. —
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ertin, Sante. 187), Or. 6 DEbe en —
J—— "DR. , Heinrig IV. und Philipp II. Die Be, rünsung
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Pier ‚5. Pangaiei auß beb Lebens Mai, lufsatignen. Dig-
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Der Krieg um bie ;ter 1870 a * ie
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feit Ührer
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Ir, 10 Ngr,
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—8 und Beobachtungen zur mit u —F
gründung seiner Theorie er Umsetzung aM
Bonnenanziehung und eines gleichzeitigen Wochsels der Einzch ten a vr
den —— der — jörlits, Remer. 1871. Gr. 8. 16 Ngr.
Se MWafa oder Ma m Maste. Sqhauſpiel.
BE D —5 — — 1871, 8.
Bortifge länge.
—5 — Kaun
dlitz, ©. v., —* —E—— — Ein russisches
Dichterleben. Mitau, Behre. Gr. 8. 1 Thir. 15 Ngr.
eifert, D,, Dr. Mattus Beti6 von Grabe und feine Zeit, Ci
sinociäee Batet:, Ci. Bullen, Snler a Sonne 100, (dr A
et, 1 Ein Weihgejhent für die Zeit, Wien, Mayer u.
er Gleg des Olfen, ober Rrieg bem Mriege. Pramatifges Iär«
gu Gar tus Seit seh, Röhigederg 1 Ui., Braun m Weber,
Haan ©., Xiptaemneftra. Trauerſpiel. Münden, Adermann.
©.
Die Dusten ven Ehaltptase In Mobenen, Müssen
x au mi —S— eien 2e *
de
'teger, J., Platonlsche —S ir. Innsbruck, Wagner. Gr. 8.
16 25 pr
— , 2;, Binceng von Paul. Gin Lehrherictt. Mainz, air-
ein,
ma don ber zeitli— en Deitiäd} fan
klei * 2 Setemuntl mit. bei jene en — ante r4
mntud, ante 8 F — jerd gegen Kleutgen un de ShHolaftit.
—*8
— „bg au Dem altgriecifgen geben. Reipzig, Teube
ie Beiden
nen
* e ober Berliner im Eiſaß.
tuimanı, 6. %., Sräßfungen auß Motbbeutfälans. 2ter Dr.
inforff
En ‚blättern eines“ Sehbunbfiebzigere, aus bem Feldzuge 1870.
* —* — ———
Zeitgedichte. Berlin, Königemann.
teiner mit den Griechen in Pa-
ıten Jahrhundert und der Neu-
verflossenen Jahrzehn, Bt. Gr“
Fe ORTE Ben
BE: arte am Ki ober einige Hrenfifg » frampö ei Spaten,
u. ar
im ® 2 ıc. aber Güfifier gutgue wie
er et uns SE —S— a ven "Branee
fenfriege im Jahre 1870. Wittenberg, Se oft. im eist
Dir yluniae Metpef aber ber Uberalimnge Im wahren Site na
ber Jellefiaidie Don ei men Menfene ———
Bien, Hoyer u. Comp. 9. 4 Jer
3 i
etiaindreh, R,
Samant., Berlin, Laflar. Cr. 16.
Rense,
dert, har "Waffenflänge,
;9e Streit der
816
Anzeigen.
Unzgeigen.
—'Stt —
Feſtgeſchenke
and dem Verlag von F. A. Brochaus in Leipzig.
Olluſtritte Bibel.
Mit Yolzſchnitten nach Originalzeichnuungen von Bende—
— Serien, Neil % ale teinle u. a. Groß-
Onart. Geh. 7%, Ehle. Geb. in Halbfram 94, Zäfe.,
in Leder mit Goldſchnitt 10 Thlr., in Chagrinleder mit
Goldſchnitt 11 Thlr. — Pracht - Ausgabe in Folio. Geh.
15 Thir. 18 Nor. Geb. in Ehagrinfeder mit Gofbfhnitt
20 Thlr. 18 Nor.
Hausbibel.
Klein ⸗Quart. Geh. 37, Thlr. Geb. in Halbfranz 4 Thlr.,
im Leber 5 Thle., in Leder mit Goldſchnitt 5%, Thle., in
Chagrinfeder mit Goldſchnitt 6 Thlr. 5 Nor.
Das Aene Teſtament und der Yfalter.
it Photographien nad Zeichnungen dev erfien Künſtler
Deutfhlande. Dctav. Cart. 4 Thlr. 24 Ngr. Geb. in
Chagrinfeder mit Goldſchnitt 6 Thlr.
Die Länder und Stätten ber Heiligen Schrift.
Bon Friedrich Adolf Strauß und Otto Strauß.
Mit hundert Bildern nad Zeihnungen von Halbreiter,
Bernaz, Strähuber n. a. Groß-Onart. Geh. 9 Thir. Geb.
in Leinwand mit Goldſchnitt 117% Thlr., in Chagrinleder
mit Goldſchnitt 1224 Thlr.
Dieſe aufs ‚olidigfte ausgeftatteten Bibelwerke (früher
Berlag ber Bibelanflalt der 3. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung),
von dem herborragendfien deutſchen Klinfilern illuftrirt,
find befonbers als Feit- und Weihegaben zu Weihnachten und
Oſtern, bei Jubiläen, Hochzeiten, bei der Confirmation u. f. w.
zu empfehlen und in einfachen wie in koſtbaren Einbänden
dur alle Buchhandlungen zu beziehen.
Derfag von 5. A. Brochfans in Leipsig.
Soeben erſchien:
Rorträts und Studien.
Bon
Rudolf Gottſchall.
Erfter und zweiter Band.
Literariſche Charalterföpfe.
Zwei Theile.
8. Geh. Jeder Theil 1 Thlr. 24 Nor.
Inhalt:
Erfier Theil. Byron und die Gegenwart. — Bictor Hugo
als Lyriler. — Friedrich Rüdert, — Heinrich Heine nad
neuen Quellen. — Sei Hebbel. — Charles Seale-
fi, — Malbert Gtifter. -
weiter Theil. Hermann Lingg. — Robert Hamerling. —
3 Wilhelm Srban. Bi Albert Sindner und ber — —
Das Leben Jeſu in den Darſtellungen von Retian, Strauß
und Schenlel. — Ferdinand Laſſalle. — Die Unſterblichteits-
frage umb die neueſte deutſche Philoſophie. — Ein Phiioſoph
des Unbewußten.
Dertag von 5. A. Brocihaus in Leiphig.
Soeben erſchien:
Deutſche Dichter des fechzehnten Jahrhunderts.
Mit Einleitungen und Worterflärungen.
Heransgegeben von Marl Gordeke und Iulius Tittimann,
Fünfter Band.
Dichtungen von Hans Sadıs.
Zweiter Tpeil. Spruhgebigte. Herausgegeben von I. Tittmann.
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr.
Unter dem Zitel „ Spruchgedicte” gibt diefer Band, im
Anflug an die im vierten Bande enthaltenen „‚Geiflichen und
weltlichen Lieder‘, eine wohlgeorbnete Sammlung ber befien
iftorien, Schwänfe, Wabeln, Sprüde und Geipräde von
Sir Sad, mit Worterflärungen und einer literarhiftori»
ſchen Ginleitung. Der Herausgeber war befirebt, die reiche
‚ülle der Stoffe und die Mannichfaltigfeit der bibaktiichen
'ichtungen, weiche ber nilenberger Meifterfänger poetiſch ber
handelt hat, in richtiger Auswahl Hervortreten zu laſſen.
Inhalt des 1.—4. Bandes:
Liederbuch aus dem fechzehnten Jahrhundert.
Schaufpiele aus dem ſechzehuten Jahrhundert. Erſter Theil.
Mitolaus Manuel, Panl Rebhun. Lienhart Kulman. Jatet
Funtelin. Gehaftian Wild. Petrus Medel.)
Schauſpiele aus dem ſechzehnten Iahrhundert. Zweiter Theil.
(Bartholomäus Krüger. Iatod Horer.)
Digtungen von Haus Sachs. Erſter Theil.
Geifllihe und
weltliche Lieber.
Derfag von 5. 2. Brodfan:
BEETHOVEN,
ses critiques et ses glossateurs.
Par Alexandre Oulibicheff.
8. Geb. 3 Thlr.
Beethoven,
feine Kritiker und feine Ausleger.
Bon Alexander Mlibifcheff.
Aus dem Franzöfifchen überfegt von Ludwig Biſchoff.
8. Geh. 1 Thir. 24 Nor.
Leipzig.
Diefes Wert des berühmten ruſſiſchen Biographen Mo-
zart’s über Beethoven, im frangöfifhen Original wie im treff
ücher deutſcher Meberfegung vorliegend, flieht in wohlverdientem
Anſehen als einer der wichtigſten Beiträge zur Beethoden
Literatur. Aus Anlaß des Jubiläums fei die Aufmerkſamlen
der Mufiter und Mufilfrennde von nenem darauf hingelentt
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Srohhaus, — Drud und Verlag von F. A, Srodhaus in Leipzig.
Blätter
für
literariiche Unterhaltung.
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall.
Erſcheint wöchentlich.
—#e Ar, 59, 8
22. December 1870.
Inhalt: Zur Shaffpeare- Literatur. Bon Nudolf Gottſchal. — Neuefte Romane und Novellen. Bon 3. 3. Honegger. —
Ein neuer Band von Pertz' Leben Bneifenau’s. Bon Hans Prug. — Ein Kaufmann ale Philoſoph. — Feuilleton. (Englifche
Urteile über neue Erſcheinungen der deutjchen Literatur; Notiz) — Bibliographie. — Anzeigen.
Bur Shakfpenre-Piteratur.
1. Sahrbud der Deutichen Shaffpeare - Gefellichaft im Auftrage
des Borftandes herausgegeben durh Karl Elze. Fünfter
zehrgeng. Berlin, Aber und Comp. 1870. Lex. ⸗8.
r.
2. Geſchichte der Shakſpeare'ſchen Dramen in Deutſchland.
Bon Rudolf Sende. Leipzig, Engelmann. 1870. Gr. 8.
2 Thlr. 22%, Nor.
Die Shafjpeare-Forihung und Shaffpeare- Kiteratur
vermehrt ſich in gleichmäßiger Progreffion, welche In⸗
terefjien auch fonft die Zeit bewegen mögen. Die im
„Shakfpeare- Hahrbuch” (Mr. 1) mitgeteilt „Shalefpeare-
Bibliographie”, März 1868 bis Februar 1870, zufammen-
geftellt von Albert Cohn, weit eine große Menge von
Textausgaben, Ueberfegungen, Monographien, Auffägen
u. ſ. w. in England und Deutfchland nad), welche von dem
unermübdlihen Eifer der Shaffpeare- Philologie Zeugniß
ablegt. Es läuft dabei auch viel Todtgeborenes, Barodes
und Berjchrobenes mit unter; denn wie e8 in der Bibel
beißt. „Es werben nicht alle, die zu mir fagen: Herr, Herr!
in das Himmelreich kommen“, fo gilt dies auch bei Shak⸗
fpeare; viele beten ihn an und rufen: Herr, Herr! und
ſchwatzen Hinterdrein confufes Zeug.
Bon den englifchen Tertausgaben erwähnen wir nur bie
von Knight, Howard Staunton, von Charles und Mary
Cowden Clarke, von Charles Kemble; außerdem findet
fih eine große Zahl von Ausgaben einzelner Stücke;
bann erwähnen wir die neue „Shaffpeare- Örammatif‘'
von E. U. Abbot. Die Schrift von William Hazlitt
über die Charaktere in Shakſpeare's Stüden ift in neuer
Auflage erjchienen; überdies hat derſelbe Verfaſſer Vor-
leſungen über die englifchen komiſchen Schriftfteller Heraus-
gegeben, unter denen ebenfalls Shaffpeare in erfter Linie
ſteht. Andere Borlefungen veröffentliht Henry Giles
über das Meenfchenleben bei Shalipeare; Henry Brown
erflärt die Shakſpeare'ſchen Sonette von neuem; Richard
Simpfon ſchreibt eine Kinleitung zu ihrer Philofophie;
von W. Dodd's „Schönheiten Shakſpeare's“ wird eine
neue Auflage veröffentlicht ; dann erjcheinen von George
1870. 52.
Ruffel French , Genealogifche Shakſpeareana“; von
Henry Greene ein Werl: „Shakespeare and the em-
blem writers”, und eine überaus große Zahl von Heinen
Shaffjpeare-Notizen, Wort- und Sadjerflärungen, ge-
Inadten Shafjpeare-Nüffen in ben „Notes and Quibbles“,
dem „Athenaeum‘“ und all den andern englifchen Zeit-
fohriften. Auch an Anthologien fehlt es nicht; fo hat fi
ein Engländer die Mühe gegeben, an 2700 Mottos aus
Shakſpeare zu ſammeln.
Was die deutſche Shakſpeare⸗-Literatur betrifft, fo
find die hervorragendern Werke bereits im Verlauf ber
legten Yahrgänge d. BI. erwähnt worden. Wir tragen
noch nad), daß vorn der neuen Ausgabe der Schlegel-
Tieck'ſchen Shakfpeare- Ueberfegung, die unter Redaction
von Ulrici durch die Deutfche Shakfpeare - Gejellfchaft her⸗
ausgegeben wird, jegt acht Bände vorliegen, und daß
darin als neu überfegt und zwar von Hergberg die Stüde:
„Liebesleid und Liebesluft“, „Die Komödie der Irrungen“,
„Die beiden Beronefer”, und von Herwegh der „Coriola-
nus“ erfchienen, während die von “Sodenftedt herausgegebene
Ueberfegung bis zum 30. Bündchen gediehen ift. Unter
den Shaffpeareana vermiflen wir bie Auffäte, die in ben
erften Nummern des von Mar Moltle herausgegebenen
„Shakipeare- Mufeum“ enthalten find.
Der übrige Inhalt des neuen, fünften Jahrgangs
bringt uns mandje Auffätze von Werth. Ein inter-
eflantes Thema, das vorausfichtlih in einer Reihe
von Artikeln behandelt werben wird, hat fih C. C.
Henfe gewählt: „Deutfche Dichter in ihrem Verhältniß
zu Shalfpeare.” Es wird zunächft der Einfluß nachgewie-
fen, welchen ber britifche Dichter anf die Stürmer und
Dränger, wie Reinhold Lenz und Marimilian Klinger,
ausgeübt; dann der Einfluß auf Schiller’8 und Goethe's
Zugendwerfe, auf den „Wilhelm Meifter‘‘, und auf Leffing.
Sehr treffend find befonders die Beziehungen zwiſchen Ed⸗
mund Glofter, Richard II. und Franz Moor hervorgeho-
ben. In der Sefbftkritil der „Räuber“ ſpricht Schiller es
103
818 Zur Shaffpeare-Literatur.
aus, man werde es, wenn nicht an ben Schönheiten,
doch defto gewiſſer an ben Ausſchweifungen merken, wie
fehr der Dichter der „Räuber“ ſich in feinen Shakjpeare
vergafft habe. Im der That ift Shaffpeare der Ahnherr
für ale Ausfchweifungen unferer Kraftdramatit von ben
„Räubern“ bis zur Gegenwart. Welch reiches Feld bietet
ſich für die fpätern Artikel Henſe's dar in der Charak-
teriftit der romantiſchen Dramen von Tied, Brentano,
Arnim, in den ganz verjhaffpearificten Erſtlingsdramen
von Immermann, in ben folofjalen Ausgeburten der
Grabbe'ſchen Phantafle, defien Mohr Berdoa im „Herzog
Theodor von Gothland“ an den Aaron des „Titus An«
dronicus“ erinnert, in den Stüden von Buchner, Hebbel,
Griepenkerl u. a. Wenn Henfe aud) in Auffindung ein-
zelner Parallelen zu erfinderijch ift, wie der Vergleich
zwiſchen Ferdinand und Othello doch wol im einzelnen
zu gefucht erſcheint, fo find doch bie Parallelftellen in
Bezug auf den dramatifchen Ausbrud, die Ueberſchweng ·
lichkeit des Affects und der Leidenfchaft, ja bie vielen
anflingenden Bilder glüdlih gewählt, und mit Recht fagt
Henfe:
Diefe Kühnheit, Seltfamkeit und inbividuelle Ausführung
ber Bilder in einer leidenihaftfihen Sprade tritt überall her⸗
vor und verränh große Liebe des jugendlichen Schiller zu Shaf-
fpeare. An drei Stellen gibt er den Steinen perfönliches Le-
ben, wie Shaffpeare in ber Leichenrede des Antonius; er nennt
den Tag verihämt wie Shatſpeare in „Macheth‘'; er bezeichnet
die Neue als eine hölliſche Eumenide, eine grabende Schlange,
die ihren Fraß wieberfäut, bie ihren eigenen Koth wiederfrißt
und erinnert uns an Shalipeare's Bezeichnung der Eiſerſucht
im „Othello‘'; er ruft Wehe über die fhlaue Glinde, die einen
Engel vor jeden Teufel ftellt, tie Angelo in „Maß für Map’
ähnlich ſich auebrlidt; er wendet das Roloffale und die Ueber-
treibung wie das Niedrige an, um flarfen Effect oder auch eine
komifche Färbung hervorzubringen; der individualifirende Stil
tritt auferbem im der Fabel hervor, melde Fiesco vom Reid)
der Thiere und der Gärung in demfelben erzählt und melde
an de8 Menenius Erzählung vom Streite der Glieder gegen
den Magen in Shalſpeare's „Eoriolan’‘ erinnert.
Auch über das Verhältniß Leſſing's zu Shalfpeare,
welches nad; unferer Anficht in den Dramen bes erftern
Dichters weniger hervortritt, während er in feinen Kritis
ten ihn für Deutſchland erobern half, ſpricht fi Henfe
treffend aus:
Leffing war fi über feine Schranke fo Mar, daß er auf
das Gebiet de8 Lyriſchen und Romantiſchen Shaffpeare nie ge-
folgt if; es genligte ihm, an bem großen dramatifcen Ber-
Rande Shakjpeare's ſich für die eigenen Compoftionen zu ſchu-
Ien und zu bilden. Daher war er weit entfernt, in Shaffpeare
den Dichter dramatiſcher Unregelmäßigfeit zu fehen, wie Lenz
und Minger; er fab ig fogar im Gintlange mit ben Regeln feines
Ariftoteles. Er hatte wie Shafjpeare die Bühne im Auge und
hat wie biefer Blihnenmäßiges, Aufführbares geleiftet; nicht die
zegellofe Natur war fein Ziel, fondern Shaffpeare’s befonnene
Kunft; und während Lenz’ und Ringen Dramen längft von
ber Buhne verihrwunden find, Ieben Leffing’s Dramen auf der
Bühne, find Charaktere derfelben, wie Orſina, Marinelli,
Nathan, das Iebhafte Studium bedeutender Mimen; fie ver-
danken ihr dauerndes Leben der befonnenen Kunft des kritiſchen
Dichters. Diefer hatte daher auch volllommen recht in ber
Berwerfung der Erzeugniffe der Stürmer und Dränger; ja er
war aus Gründen der Compofition aud mit Goethes Göbtz“
unzufrieden, wieweit aud dieſe Dichtung an echt poetiichem
Gehalt die Dramen Lenz’ und gingen überragt. Wenn wir
in den Selbftbetrahtungen, Einfälen und Heinen Auffägen
Leffing’s die Worte finden (XI, 748): „Er füllt Därme mit
Sand und verkauft fie für Stride. Wer? Etwa ber
der ben Lebenslauf eines Manne Dialogen bringt und
Ding für ein Drama ausfhreit" — fo ift die Anipiefung
Sg von Berlichingen“ um fo deutlicher, als Leifing and
em Briefe an feinen Bruder vom 11. November 1774 (Bi
12, ©. 21) bemerkt, „daß er Luft Habe, mit Goethe, troß
nem Genie, worauf er fo podje, anzubinden‘‘.
Neu ift die Vergleihung zwiſchen Kleopatra u
Abelheid im Goethes „Gotz“, zwiſchen Antonius
Weißlingen, Octavia und Maria. Auch auf die
an Hamlet im „Clavigo“ wird unfers Willens hier
erften mal hingewiefen.
Einige andere Aufjäge haben praktiſche Bed
Der Aufjag: „Wie fol man Shafjpeare fpielen?“
von dem Autor Freiferen von Frieſen felbft als
Fragment bezeichnet. Ex enthält manche trefjende
kungen, namentlich was die Parallele zwijchen Shatfi
und Schiller und den Unterſchied in der von beiden
Iangten Spielmeife betrifft; doc) hindert die phantaftijd
ee eur Einkleidung die durchfichtige Fafjung
der Refultate, das Mare beſtimmte Facit.
Wilhelm Dehelhäufer vertritt in dem „Shakfpeı
dahrbuch“ die ſehr willkommene praktiſche Richtung, mi
das Studium Shakſpeare's mit den Beditrfniffen der
tigen Bühne vermittelt. In feinem erften Aufjas: „Kön
Heinrich VI, in ein Stüd zufammengezogen umd für
Bühne bearbeitet“, theilt er einen neuen Aneignung
der Shaffpeare’f—en Rofendramen in jeinen allgem:
Umriſſen mit. Die Grundfäge, nad) denen er bei
Bearbeitung verfuhr, find die folgenden:
i allem Iunehalten der Schranten, welche der ®
ter eines_ältern Originalwerls als unabmweisbare refpect
fol, muß derfelbe fi allerdings im vorliegenden (all
weiigehendſte Freiheit in Anwendung erlaubter A g
jrundfäße gehalten. Es Hanbelte jich, abgefehen vom dem
Röndigen ‚eglaflen des erften Theile, um weitere Auafchei
von etwa zwei Dritteln des urjprlinglichen Umfangs des
ten und britten Theile. Wenn aud an unb für fich ber m
intereffanten Gcenen und übermäßigen Cängen quantitati
viele find, daß diefe Mlirzungsproportion im allgem
tommen zuläffig erfcheint, fo ſehen doch die Anforde
Delonomie ded Dramas und die Motivirung ber fo
Sanung dem Bearbeiter fehr häufig in Berlegenheit, z
dem zu Streichenden und Beizubehaltenden bie richtige
zu treffen. Bedenkt man ferner, daß in meiner Bearbeit
die Zahl der redend und handelnd auftretenden Berjomem
Befeitigung oder Zufammenlegung von 75 auf 35, die
zelnen Scenen mit Verwandlung des Schauplates von 5
ber vierte Act des zweiten Theils erforderte mad) dem D
achn Verwandfungen) auf 17 reducirt worden ift,
man endlich die bei ben Sugendarbeiten bes Dichte d
hervortretende Notäiendigkeit, ben Text der Schlegel’fchen
fegung, behufs Erzielung der Deutlichteit und des Woh
durchgehende zu revibiren, fo wird man begreifen, m
Arbeit Auferlich das Gepräge der vollftändigen Llmgel
tragen fann, während eine eingehende Prüfung bemms
volltommene Uebereinfimmung mit allen irgend
Srundzügen des Driginal® in Handlung, Wotii
Charakteriftit ergeben wird. Dede eigene Zuthat
materieller Bedeutung, die nicht zur Ücherbrüdung g
Stellen nothwenbig erfgjien, ift fireng vermieden, m
man auch felbftverftändfi in den zur Ergänzung des
nen eingefügten Stellen (wozu bas Material möglichft &
fallenden Gcenen entmommen, im übrigen dad Go
Shatſpeare ſchen Sprache in größter Einfachheit nad
die Motivirungen ſcharfer inftellen wird, ais ſie
aus der allzu großen Breite des Originals hervorheben,
Zur Shaffpeare-Literatur.
ich doch nirgendwo fremde Motive herbeigeholt, oder foldhe er-
funden, wo der Dichter, wenn aud) fehlerhafterweife, felbft
feine gegeben Hat. Es war meine vorwiegende Rüdfiht, den
Hauptperfonen, den Hauptträgern ber Yandlung, ihre volle
Bedentung zu fichern; ich betrachte als ſolche die Rollen von
König Heinrich, Margaretfe, Wort, Gloſter, Winchefter,
Richard und Elifabeth, letztere allerdings mehr in Rückficht
auf das im Eyflus folgende Drama „Richard III.“, als auf das
gegenwärtige. In zweiter Linie fommen daun Warwid, Suf-
fol, Eduard, Clifford, Cade u. |. w.
And nimmt Dechelhäufer außer den Cade'ſchen Schar-
müßeln nur die Schlachten bei Wakefield im vierten und
bei Tewksbury im fünften Act auf, von Mord⸗ unb
Sterbefcenen nur die des jungen Rutland und bes Prin«
zen Eduard. DBefeitigt find insbefondere die Tödtungen,
refp. die langathmigen Sterbereden der beiden Clifforbs
und Warwid’s, ferner bie Tödtung York's und Hein-
rich's VI. auf offener Bühne,
Db das, was nad ſolchen energifchen Kürzungen
zurüdbleibt, noch genug Zufammenhang und Spannung
bat, um ein brauchbares Bühnenftüd zu geben, wird ſich
erft nach Kenntniß der Bearbeitung felbft überſehen laſſen.
Dingelftedt hat befanntlich den zweiten und dritten Theil
für die Bühne in zwei Schaufpielen bearbeitet, in denen
er einzelne Scenen von bramatifcher Wirkung neu hinzu«
gebichtet, andere, wie die Scene mit der Herzogin don
Stofter, theatralifch wirkſam zugeftugt hat. Ob der chronik⸗
artige Stil diefer Dramen ohne folhe Zufäge auf un-
ferer Bühne wirken kann, erfcheint uns fraglid).
In einem andern Aufſatz: „Ueber die Darftellung des
Sommernachtstraum auf der beutfchen Bühne”, ſchlägt
Oechelhäuſer eine andere Einrichtung des Stüds vor als
die Tieck-Mendelsſohn'ſche:
Ich Habe zahlloſe Darftelungen davon gefehen, bei denen
fi mir aber mehr und mehr die Bemerkung aufdrängte, daß
bie Feerien der Waldfcene, die Rüpelſpüße und Mendelsfohn’s
Mufif die alleinigen Träger der Bühnenwirkung find, dagegen
die Hauptbandlung, auf der fi das Stück aufbant, die Scenen
des Theſeus und der Liebespaare, zu jenem Erfolg nicht blos
nichts beitragen, fondern denfelben geradezu beeinträchtigen, in⸗
dem fie fi) wie Bleiflumpen an das ſceniſche Dabinjchreiten
der duftigen Dichtung beften. Gewahrt man bei einem Shal-
ſpeare ſchen Stüd einen ſolchen ungleihartigen Eindrud, fo thut
man ſtets wohl daran, einiges Mistrauen in die Richtigleit
ber geübten Auffaflung zu fegen; denn nnfer Dichter war fo
dur und durch Bühnenkenner, daß ihm — von einzelnen Erſt⸗
lingswerken abgeſehen — eine folche Ungleichartigleit im Bau
feiner Stüde und der darauf berechneten Wirkung wenigfiene
nicht fo leicht unterlaufen konnte.
Dechelhäufer, der fih an Ulrici's Auffaffung anſchließt,
ift der Anfiht, daß das Stüd eine Parodie der Liebe
ift, und daß alle Perfonen ohne Ausnahme, die Helben
wie die Niebenden, die Teen wie die Rupel, Träger bie-
fer Parodie find. Theſeus, Dippolyta und bie fterblichen
Liebespaare müßten alfo in der Art gefpielt werben, wie
etwa die Helden und Heldinnen der Offenbachiaden zur
Darftellung kommen. Die Darfteller jollen fortwährend der
parodiftiichen Tendenz ihres Thuns und Treibens ſich
bewußt ſein; die Verſchmelzung der Alt⸗ und Neuzeit
ſoll in der komiſchen Verſchmelzung der Trachten den
äußern Ausdruck finden. Die Andeutungen, die Oechel⸗
bäufer über die Durchführung der einzelnen Rollen nad)
dieſer Auffaflung gibt, find geiftreich und beherzigenswerth.
Einzelne Darſteller, wie Hr. Mitterwurzer in Leipzig,
819
geben fchon aus Inſtinct diefen Liebhabern einen parodi-
ftifchen Zug, um die unfagliche Langeweile zu befeitigen,
welche biefe Liebesfcenen bei ernfter Auffafiung auf das
Bublitum ausüben.
Der größere Auffag von Heinrich Vieh off: „Shal-
ſpeare's Yulius Cäfar”, fucht die vollen Confequenzen
aus der Erkenntniß zu ziehen, daß Brutus, nicht Cäſar
ber Held, der Kern» und Mittelpunkt des Stüdes fei.
Diefe Anfchauung befindet fi im diametralen Gegenſatz
zu derjenigen Lindner’s, ber in einem frühern Jahrgang
des „Shakſpeare⸗Jahrbuch“ die Einheit des Stücks gerade
dadurch zu begründen fuchte, daß er ben Zulius Cäſar
nicht blos Tebend, fondern auch nach dem Tode als Ge-
fpenft und Geift zum ausfchlieglichen Helden des Stücks
macht. Viehoff wendet fich glei am Anfang bes Auf
fates gegen den Ausſpruch unferer „Poetil”, daß dem
Stüde Einheit der Handlung und Einheit des Intereſſes
fehle. Dem gegenüber fagt Viehoff:
Ich werde nun nad) allen Seiten nachzuweiſen ſuchen, daß
Shakſpeare's „Julins Cuſar“ nicht minder wie fein „Coriolan“
eine in fich abgefchloffene, durchaus felbfländige Tragödie if,
und baß es dem Dichter Hier nicht ſowol um die Darftellung
einer Epoche oder Uebergangsperiode im Entwidelungsgange
des römischen Volks, als vielmehr um die Veranſchaulichung
eines großen, bedeutenden Charakters und bes in ihm begrlin-
deten individuellen Schidjals zu thun war. Als ein Kriterium
zur Entiheidung, ob diefer Nachweis wirklich erbracht und der
richtige Sefihtspuntt für die Anſchauung des Kunſtwerks auf-
gefunden ift, wird man e8 wol gelten laffen, wenn aus dem
Standpunkt der Betrachtung, den wir wählen, alle Theile und
Glieder des Kunftwerls in völliger Harmonie erfcheinen, wenn
in der ganzen Organifation befjelben, in der Darftellung und
Gruppirung der Charaktere, in der Anlage und Durchführung
der Handlung, in der Bertheilung des Stoffs, wie in der das
Stüd durchwehenden Stimmung und dem fpradhlihen Colorit
fi) ein durchaus Übereinftimmendes, einheitliches Gepräge zu
erfennen gibt, wenn Idee und Stoff des Kunſtwerks, Geift
und Form fi) volllommen deden, und die an der Kompofition
gerligten Mängel nicht nur gänzlich verjchwinden, fondern fo-
gar fi ale Vorzüge darftellen.
Biehoff tadelt an dem Stüde nichts als den unzu«
treffenden Titel, welchem felbft ausgezeichnete, einfichts-
volle Kritiker einen ungebührlichen Einfluß auf ihre An⸗
fhauung des Dram ”" "ingeräumt hätten. Immerhin
bleibt e8 doch mehr ao auffallend, wenn ein Dichter ein
Drama, defjen Held nad) feiner Anfiht Brutus fein fol,
Yulius Cäfar tauft. „Zunächſt hatte Shakſpeare“, fagt
Biehoff, „wenn er dem Brutus das Hauptinterefie fihern
wollte, dafür zu forgen, daß die gewaltige Figur bes
großen Cäfar nicht zu imponirend herborträte. In ber
That finden wir diefe Geftalt hinreichend tief in dem
Schatten gerüdt, um für den Eindrud des Hauptcharak⸗
ters ungefährli zu bleiben.”
Dies iſt nun durchaus nicht der Fall. Schon die
Introbuctionsfcene concentrirt alles Intereſſe fo lebhaft
auf Cäfar, daß man eine derartige Expofition für ein
Drama, deſſen Held Brutus fein follte, fehr ungefchict
finden müßte. Auch fonft erfcheint Cäſar Hinlänglich mit
imperatorifchen Geſten ausgeftattet, um Brutus, der doch
nur ein Verſchwörer mit andern Verſchworenen, wenn
auch das Haupt der Verſchwörung ift, in Schatten zu
ſtellen. Freilich nur fo lange er lebt. Nach feinem Tode,
wenigftend mit dem vierten Acte, tritt Brutus in den
103 *
820 Zur Shaffpeare-Literatur.
Vordergrund. So fteht unfere Auſicht zwiſchen berjeni«
gen von Lindner und Viehoff in der Mitte, freilich nicht
ohne gegen beide zu proteftiren. ‚Der Held der drei erften
Acte it Caſar, der Held der zwei legten Brutus; es ift
dies ein Compofitionsfehler, der fi dadurch nicht in
Abrede fiellen läßt, daß bie einen Cäfar, die andern
Brutus zum Helden des ganzen Stüds zu machen fuchen.
Das Interefie bleibt getheilt. „Julius Cäfar” ift eben
eine Hiftorie und feine funftgerechte Tragödie.
Der Aufjag von H. 4. Werner: „Ueber das Dun«
Tel in der Hamlet- Tragödie”, ift etwas zu weit ausholend
und gibt feine durchſichtigen Reſultate. Das legte Facit
fimmt im Grunde mit der Rümelin'ſchen Anſchauung
überein, nur mit bem Unterfchied, daß biefer begabte
kritiſche Kopf, der den Shalfpeare-Philologen von Fach
hierin fehr überlegen ift, das Stüd nicht zum Zweck der
Apotheoſe analyfirte, fondern aus dem Wiberftreit feiner
Grundelemente, ber alten nordifchen Sage und dem mo»
dernen fubjectiven Inhalt, den der Dichter aus dem eigen-
fien Gemilihsleben heraus derfelben unterlegte, die Dunkel«
heiten und fehler des Werts herleitet. Werner jagt:
Die Tragddie „Hamlet“ verdankt alſo ihr Dafein drei ver-
fhiedenen Bitalitäten. Es wirken in ihr: erſtens, der alte
voltsthümliche Mythus vom Prinzen Hamlet, ein Erzengniß
der mittelalterlichen Phantafie; zweitens, der vom Dichter ges
adelte Hamlet, der nicht in Erfüllung von Blutrache und Wie-
bererfangung eines Grbtheils, fondern im Streben nad) den
höchften Gütern der Menfchgeit untergeht; drittens, das Gemüth
des Dichters felbft, das, wie jede tiefe Seele, fein eigenes Leid
auf die Zufände der gefammten Mitwelt zurüdiührt und durch
diefelben zu begreifen fucht. In der Berjgiedenheit diefer Ber
Randtheife ſowie in ihrer unverträglihen Mifhung liegt die
geheime Anziehungskraft der Dichtung und ihre Räthfelgaftigfeit.
Alles verräth uns, daß wir vor uns haben die Selbftoffenba-
rung der gemüthlichen Zuflänbe eines eminenten Geiftes.
Der erfte und dritte Punkt ift unferm Autor mit
Rimelin gemeinfam; unfer Autor weiſt indeß ihre Un—
verträglichleit nicht nach. Der zweite ift anfechtbar; benn
Hamlet geht keineswegs im Streben nad) den höchſten
Gütern der Menfchheit unter.
Der Auffag: „Zu Titus Andronicus“, von Hermann
Kurz, gibt intereffante Mittheilungen über die geiftigen Ei=
„ genthumeverhältniffe zur Zeit des altbritiichen Theaters. Die
„Aphorismen über Shalſpeare's Sturm“, von Johannes
Meißner, fuchen den philoſophiſchen Grundgedanken des
Stüds, die „Profpero-Ibee“ u. dgl. m. feftzuftellen, ver-
Tieren ſich aber ftelenmeife etwas zu tief ins Detail.
Treffend erſcheinen uns indeß bie Bemerkungen über bie
landſchaftliche Scenerie und Himatifche Eigenthilmlichkeit
der Bauberinfel, die keineswegs auf fübliche exotiſche
Pracht, oder auf die blühenden Decorationen des Lenzes
binweift, fondern auf ein Herbftliches Klima. Nicht von
immergrünen Lauben ift hier die Rede, fondern von „dilrrem
Land, Hoher Heide, braunem Ginfter“.
Intereffant ift der Auffag von N. Delius: „Die
Proſa in Shalkſpeare's Dramen“, Diefe erjceint ihm in
dreifacher Abftufung: auf ber niebrigften Stufe als Profa
der Clowns, ihrer Standes- und Gefinnungsgenofien, auf
der als zweiten ber Converfationsftil der vornehmern und
jebildetern Perfonen, des feinen Humors und der höhern
umaniften, auf der dritten als die gefünftelte „euphuiftiiche”
Profa mit ihren gezierten Phrajen und Conftructionen,
ihren Antithefen und Metaphern. Delius
wohnter Sorgfamleit aus allen Dramen SI
Proſaſtellen hervor, claffificirt fie nach ber
theilung und ſucht dem Inſtinct oder der Iufeı
Dichters für bie Abwechfelung der Diction zwifchen &
und Profa auf bie Spur zu fommen. Nicht in
ruht indeß dieſer Wechſel auf innerer Nöthigung, fi
oft andy auf Laune und Willtürlichfeit. —
Sachlich eingehend find die Auffäge: „Prolog
Epilog bei Shaffpeare”, von Ferdinand Lübers,
„Die Schreibung des Namens Shakefpeare”, von
Elze Wilhelm Dehlmann cdarakterifirt mit weni
aber ſcharfen Zügen „Shalſpeare's Werth, für unfere m
tionale Literatur”. Aus dem Jahresbericht für 186;
gt hervor, daß die Zahl der Mitglieder des Ch,
ereing ſich auf 193 beläuft und die Bibliothek
Jahre von 300 auf 400 Bünde gewachfen ift.
Das Werl von Rudolf Gence (Nr. 2) behandelt
ſelben Stoff wie Cohn und wie Koberſtein in feiner
ten tüchtigen Abhandlung; aber obgleich es die
überfchreitet, welche jene Autoren ſich zogen, ift
leineswegs bis zur Gegenwart durchgeführt. Wir
gerade hit einen Mangel des Werks, weil u
der allgemeinen Bezeichnung des Titels eine glei
In utcung des Stoffs bis auf unſere Zeit ern
urfte.
In dem erſten Abſchnitt des Werks ſchildert
„Das deutſche Theater unter den Einflüflen Shal
Er beginnt mit den Anfängen des deutſchen
und den englifhen Komdbianten in Deutſchlaud,
terifiet die alten Bearbeitungen Shakſpeare ſcher
die Einführung Shatſpeare's im die deutſche
und Bord's Weberfegung des „Julius Cäfar“,
und Johann Elias Schlegel's Urtheile über,
u. ſ. f., und bewegt fich bier, bei Hlarer und
ſprechender Darflelung und fleifigen Ergänzungen,
auf einem Gebiete, auf welchen bereits Cohn und
fein mit grundlegender Thätigfeit vorangeg:
Darauf harakterifirt Gende veſſing und Herder als
dramaturgifche Vorkämpfer Shafſpeare's, jchilden
Einfluß des Dichters auf die Stürmer und Drär
Goethe's und Schiller's Erftlingswerfe und jchließt
Abtheilung mit der voMftändigen Aneignung Shafjp
durch U. W. Schlegel.
Er Hat ſich der Vorrede zufolge nur die
geftellt, die Beziehungen Shafjpeare'3 und bes
Dramas zum deutſchen Theater in der Epoche
eigentlichen Entwidelung zu behandeln, und ji
Schluſſe des Abſchnitt
Die unmittelbaren wie mittelbaren Einflüffe Sb
auf unfer eigenes deutf—es Drama waren auf ber $
daffelbe im Unfange diefes Jahrhunderts erreichte, and)
gewifien Abfgluß gefommen. Wie con Feffing im
beiden legten dramatifhen Dichtungen eine Bere)
romantiſchen Elements mit dem antifen anfrebte,
Stiller, von gleiher Anſchauung ausgehend und
größerer jhöpferifher Kraft begabt, die Yölung jener
gewinnen, um melde in der Evodhe unfers muthigen
nad} einem eigenen nationalen Drama fid) der Kampf
mußte. Wir kommen fpät, aber dejto jlinger find mi
einft freudig verheißende Wort Herder's bezeichnete
Neunefte Romane und Novellen.
Epoche des fo fchnellen Wachsthums unferer dramatifchen Dich⸗
tung und den kühnen Flug der jugendlihen Schwingen. Die
Lehren aber, die derfo kurze Zeitraum eines halben Jahrhunderts —
von den Anfängen Leſſing's bis zur Vollendung Schillers —
in reicher Fülle enthält, fie haben an ihrer Bedeutung auch flr
die Gegenwart noch nichts verloren.
So ift das Wert von Sende nur ein Xorfo; der
Autor nimmt einen etwas größern Anlauf ald Cohn und
Koberftein, um nachher ebenfalls mitten in der Arbeit
fteden zu bleiben,
widelungsepoche” des deutfchen Theaters zu fprechen und
diefe mit Schiller’ 8 Dramen zu begrenzen, ift doch nur
eine Willlürlichkeit. Der Einfluß Shakſpeare's macht fich
ja in ben folgenden Epochen der Literatur noch bebeut-
ſamer geltend, und wie Genee fowol Kritit als Production
bis an den Anfang dieſes Jahrhunderts gleihmäßig be-
rüdjichtigt hat, fo mußte er dies aud) für bie folgen-
den Jahrzehnte bis zur Gegenwart thun. Wir haben
fon oben bei Befprehung des Henſe'ſchen Aufſatzes im
„Shakſpeare⸗Jahrbuch“ angedeutet, welch ein reicher Stoff
bier der Bearbeitung vorliegt. Shaffpeare, wie ex der
romantifhen Schule erfcheint — das ift fiir einen fünf:
tigen „Shakſpeare in Deutſchland“ ein Abfchnitt, der alle
andern an Neichhaltigkeit übertrifft; ja aud) an Bedeutung
für die Gegenwart — denn die Shaffpearomanie knüpft
fi gerade an den Gögendienft, den biefe Schule mit
Shalfpeare trieb, allen voran Ludwig Tied, der ben
Briten gegen unfere Nationaldichter ind Feuer führte
und Schiller, ben er einen fpanifchen Seneca nannte,
nicht tief genug herabfegen konnte. Noch mehr als bei
ben Stürmern und Drängern zeigte fich der verberbliche
Einfluß eines einfeitigen Shaffpeare: Eultus bei den Dramen
ber Romantifer, beren Formloſigkeit, Verzerrtheit, witz⸗
haſchende Manierirteit und hyperboliſche Ungeheuerlichkeit
ohne die Anlehnung an Shakſpeare, deſſen Fehler man
principiel zu Tugenden ftempelte, unmöglich gemwejen
wäre. Immermann begann als verzierter und ſchwäch—
licher Nachahmer Shaffpeare’s, und hat ſich als Dra-
matifer nie zur Selbftändigfeit emporgefchwungen; Grabbe
proteflirte gegen die Shaffpearomanie und überfhalipearifirte
den Shakſpeare. Buchner, Griepenkerl, Klein, Hebbel,
Dtto Ludwig und eine Menge anderer Dichter geben den
reihhaltigften Stoff für eine Darftellung der fruchtbaren
Anregungen und verhängnißvollen Berirrungen, welche
das deutjche Drama und Theater dem Vorgang Shal-
ſpeare's verdankte.
Denn von einer „eigentlichen Ent-
821
Noch wichtiger ift eine Geſchichte der Shakſpeare⸗Kritik
von der romantifhen Schule bis zur Gegenwart; fie
bat mit der Kirchengefchichte die bedauerliche Aehnlichkeit,
daß eine Menge der hirnverbrannteften Anfchauungen
in ihr eine Stelle finden, und daß fie einen Beitrag zu
einer Pathologie des menſchlichen Geiftes bildet. Man
ann in der That behaupten, daß es kaum etwas fo
Sinnlofes gibt, was nicht über Shakſpeare's Dramen
geäußert worden wäre, und daß eine Bertiefung in dieſe
endlofe Shaffpeare-Literatur dem Beſuch der Goethe’fchen
Hexenküche gleichkomme, in welcher Fauft einen Chor von
hunderttauſend Stimmen fprechen hört. Hier aber Liegt
für eine gründliche, äfthetifch fefte Kritik noch eine große
Aufgabe vor — nicht der Dichter, fonbern feine Ausleger
müffen einmal vor das Yorum unbefangenen Scharffinns
und ftrafender Satire gezogen werben — eine Kritik der
deutfchen Shaffpeare- Kritik ift der Anfang und die Grundlage
einer echten Kritik Shakſpeare's.
Unfer Autor bat, wie wir gefehen, feine Aufgabe
enge geftedt; nur in der zweiten Abtheilung des Werks:
„Shronologifche Gefchichte der ſämmtlichen Ueberjegungen,
Theaterbearbeitungen, theilweifen Benugungen Shakſpeare'⸗
fher Stüde und Stoffe, fowie ber wichtigſten Auffüh-
rungen derfelben in Deutfchland‘‘, einem fehr fleißig gear-
beiteten Regifter, das gleichwol manche unvermeidliche
Lücke hat, führt er den Faden bis auf die Gegenwart und
ſchildert auch „Shalfpeare auf dem gegenwärtigen. deutfchen
Theater‘ in ftatiftiichen Weberfichten über die Aufführun⸗
gen an den Hauptbühnen. Wir vermiffen indeß aud)
bier einen wichtigen Abfchnitt: Shaffpeare’s Einfluß auf
unfere dDramatifche Kunft, und eine Charakteriſtik der hervor»
ragendften beutfchen Shalfpeare-Darfteller biß zur Gegen⸗
wart. Der dritte Abfchnitt gibt umfangreichere Mittheilungen
aus einigen ältern und wenig gekannten Weberjegungen
und Bearbeitungen Shaljpearefcher Stücke und gleich»
artiger Stoffe, z. B. „Tragedia von Tito Andronico“,
„Innocentia“ von M. Kongehl (der Stoff bes „Cymbeline“),
„Der Zub von Venedig“, „Der beftrafte Brudermord oder
Prinz Hamlet.” Für den Shakſpeare⸗Kenner bieten fich bier
wichtige Parallelen dar.
Rudolf Geneée's Werk iſt ein immer verdienftlicher
Beitrag zu dem Thema, welches das Titelblatt verkündet;
aber eine erjchöpfende Geſchichte der Shakfpeare’fchen
Dramen in Deutfchland bleibt nah wie vor noch
ungefchrieben. Ä Rudolf Gottfchall.
Nenefle Romane und Wovellen.
Es wäre eine eigene ‚literaturgefchichtliche Aufgabe,
nachzuweiſen warum in den neueften Producten neben den
Iyrifchen Klängen, die niemals verftummen, der Roman —
da8 Wort in feiner wmeiteften Ausdehnung gefaßt —
immer wieder als herrſchende Gattung auftritt. Darthun
ließe fi, wie die Neigung, welche die fchreibende und die
lefende Welt ftets aufs neue diefer Gattung zutreibt,
jehr beſtimmt mit den andern Erfcheinungen aus dem
Leben der Zeitftrebungen und Zeitanfchauungen zufam-
menhängt; das ift hier nicht unfere Aufgabe, wohl aber
follte mit dem einen Sat angedeutet werden, daß und
wie das auffallend reihe Schaffen auf diefem Felde ne-
ben der nicht minder auffallenden Stagnation auf einer
ganzen Reihe der andern ſich erllären läßt. Erſcheinen
ja, fo zumal bei der jegigen Generation der Franzoſen,
felbft eine Zahl der Dramen blos wie verfificirte Romanel
Was aber die verjchiebenartige Bebeutung jener Producte
betrifft, fo können wir uns nicht verfagen darauf zu be»
ftehen, daß der Hiftorifche Roman, wenn er wirklid) der
Höhe feiner Aufgabe entfpricht, die erfte Stufe einnimmt.
822
Die alte kritiſche Streitfrage: ift ber hiſtoriſche Roman
als eine Art Verberbniß der Geſchichte von ungünſtiger
Einwirkung auf die richtige Geſchichtsauffafſung, demnach
zu verwerfen? oder iſt er als eine Erjcheinung, die ganz
wohl lebendig treue Sittenbilder der Zeiten und Böller
liefern und der eigentlichen Geſchichtſchreibung felbft für-
bernd nnd ergänzend in die Hand arbeiten Tann, zu
begrüßen? Diefe Streitfrage fcheint uns, abgefehen von
allen kunſttheoretiſchen Erwägungen, heute entjchieden zu
Gunſten des Geſchichtsromans gelöft; für unfere bentfche
Literatur gelöft durch eine fehr namhafte Reihe von glän«
zenben Wrbeiten, wenn wir etwa Ludwig Tied’8 „Aufruhr
in den Cevennen“, oder feine „Bittoria Accorombona“,
oder Hauff's „Lichtenſtein“ als Ausgangspunkt fegen. Dan
darf e8 ferner nicht fiir bloßen Zufall halten, daß bisjegt
die beiden Zweige der ftrenggefchichtlichen und der hiſtoriſch⸗
romanbaften Bearbeitungen in paralleler Entwidelung eine
Fülle der Production zeigen.
So ftehen wir nit an, umter den unferer heutigen
Beratung zu Grunde liegenden Werken demjenigen,
welches am ausgeprägteften alle Grundzüge eines echten
Geſchichtsromans an ſich trägt, als einer vorzüglichen
Arbeit die erfte Stelle zuzumeifen:
1. Robert Bruce oder die Helden von Bannodburn. Ein ge-
ſchichtliches Lebensbild aus den fchottifchen Freiheitskriegen
1316—29. Bon 8, Gräfin von Robiano. Fünf Bände.
Hannover, Rümpler. 1870. 8. 6 XThlr.
Gewiß ein würdiges Object, der heldenmüthige Be—⸗
freinngskrieg eines unter fremder Herrſchaft geknechteten
Volks in allen ſchweren Wechfeln des nationalen Scid-
false bis zum Wugenblide der neugefefteten Freiheit!
Ein großes Object, und mit einem Geſchick durchgeführt,
beffen Hauptverdienſt wir in ber einfach naturmahren,
jeber gefuchten Kitnftlichkeit, jeder Manier oder Ueber-
tretbung fernen Treue ber Zeichnung beruhend finden.
Das rein gefchichtliche Element ift mit großer Kraft ver-
treten, und wir würden diefes Wert unbedenflih ale
eins der Exempel binftellen, wenn es ſich darum handeln
follte, den Gegnern des Gefchichtsromand zu beweifen,
daß derfelbe wirklich eindringliche, Tebendige, treue und
nebenbei höchſt anziehende Völker⸗ und Zeitenbilder Tie-
fern Tann.
Der Größe des Ereigniffes entfprechend, ift und eine
große Reihe von Berfonen, darunter geſchichtlich hoch⸗
bedeutende, vorgeführt, und in ihren befondern Lebens⸗
ſchickſalen jpiegelt fid) ganz genau der Verlauf des Völker⸗
kampfes felbft ad. Wir wollen deshalb die mefentlichiten
bier in der Folge, in welcher die dramatifche Abwickelung
der Gefchichte fie einführt und an ihnen den eigenen Gang
abzeichnet, kurz charakterifirt namhaft machen.
Da ftehen vor allem die Hauptgegner felbft: König
Eduard I, der mächtige, geiftig hochentwidelte, aber als
Repräfentant und Wahrer der Größe feines Reichs
unnachgiebige Fürft, der die Erhebung bes kurz zuvor
unterworfenen Schottland als Rebellion niederdrücken will
und in feinen legten Jahren durch die Erfolglofigkeit
feiner Triegerifchen Anftrengungen und die Hartnädigfeit
der Tämpfenden Gegner bis zur tyrannifchen Wuth fich
binveißen läßt. Ihm folgt der ſchwache Eduard IL, ein
leichtfertiger, verzogener, den Lüften und dem verdorbenen
Neuefte Romane und Novellen.
Günftling Gavefton blindlings hingegebener Fürft, der bie
eigene Gemahlin, die ftolze und genußfüdtige Iſabella
bon Frankreich, fchwer beleidigt und vernacdjläffigt und ba-
fir von ihr und der feindfeligen Baronenpartei entthront
wird; wir geleiten den Unglüdlichen von dem Augenblid
an, wo er als Kronprinz im Rathe des Baters nicht
ohne Geift, aber ohne Ernſt auftritt, durch die innern
und äußern Kämpfe feined Reichs, feines Haufes und
Hofs Hin bis zum gewaltfamen Tode und fehen ihm im
dem noch unmündigen, aber bereitö fcharf entſchiedenen
Ednard III. einen kraftvollen Nachfolger und Rächer er-
wachjen. Ihnen beiden ſteht Robert Bruce gegenüber,
jeder Zoll ein Held, ein in der That zum Befreier feines
Volls, deſſen befte Züge er in fich vereinigt, gefchaffener
Mann, immer gleich, feſt und großmüthig, befonnen und
ausdauernd, groß in ber That und im Rathe; offenbar
hat dieſes Heldenbild die volle Liebe des Autors, und
nicht Ein Zug findet fi, der die Confequenz der Zeich-
nung flören würde.
Die Scene eröffnet fi in dem Momente, wo ber
junge Bruce, an Ebuard’8 I. Hofe weilend, durch bie
Tücke der Comyns, eines feiner Yamilie feindlichen Slan-
gefchlechts, dem Herrfcher ala Berräther denuncirt wird,
durch befondere Hülfe entflieht und jo ganz eigentlich im
die Empörung bineingetrieben wird; fie ſchließt erft nach
dem Tode bes Helden, nachdem er die anerfannte
Unabhängigfeit des Landes erfämpft hat, eine natür-
lich an ſchweren Wogungen überans reiche Laufbahn
abrollend.
Dann werben uns vorgeführt: der alte Miles Gor⸗
don, der im vorangegangenen Kampfe die Tochter Alice
fpurlos verloren bat, und der verbannte, heimlich heim⸗
gefehrte Ritter James Douglas, Alice’8 Ingendgeliebter,
im Verlauf Bruce’3 treuefter Freund und einer feiner
beften Arme im Kampf; er findet feine Alice wieder, bie
ihn als Page in den Krieg begleitet und in einer Schlacht
den Heldentod für ihn ftirbt. Wir folgen Bruce in feine
Familie, und treffen die Gattin Ifabella, eine überaus
zarte und durch die Liebe zum Herrn ihres Haufes und
Herzens getragene Yranengeftalt, die nachher mauches Jahr
in englifcher Gefangenfchaft ſchmachtet und nicht gar lange
nah ihrer Befreiung ftirbt; das muntere Töchterchen
Marjory, das durch die folgende Gefangenſchaft mit der
Mutter ernft und entfchloffen zur tüchtigen Yrau heran-
reift; die Mündel des Helden, Edith, eine ſchwer ernfle
und geheinmißvolle Natur von tieffter Innerlichkeit, im
ftillen von einer ſchwärmeriſch verehrenden Liebe für ben
Helden felbft erfaßt, die faft geweihte Prophetin Schott-
lands mit dem myſteriöſen Seherblid; endlid) aud) ben
unglüdlichen Bruder Eduard, eine weniger reine, mehr
heftige und hochfahrende Natur, beftimmt, auf einem übel
enbdenden Zuge nach Irland, das er ebenfalld von Eng⸗
land frei machen und deſſen Krone er fih gewinnen will,
zu Grunde zu gehen. Bei Anlaß der Krönung Robert’
zum Schottenfönig tritt uns eine andere Prachtgeftali
entgegen: es ift die eble Iſabella, Gräfin von Buchan
aus dem Hanfe Fife, dem allein das gefchichtliche Kedht
zufteht, einem Könige die Krone aufs Haupt zu felgen.
Entgegen dem Willen eines ungeliebten Gemahls mu’
ihrer eigenen Yamilie, die anf feiten Englands ftehen
—
Nenefte Romane und Novellen.
hat theils eine alte innige Liebe zu Robert, theils eine
enthuflaftifche DBegeifterung für die Unabhängigkeit des
Baterlandes, das edle Weib bewogen, heimlich hinweg⸗
zueilen und an Wobert jenes Krönungsrecht zu üben;
von ihrem Gemahl dafür aus dem Haufe verwiefen,
büßt fie im ſchwerer englifcher Haft. Ein nicht minder
intereflantes Weib ift die fogenannte Peggy, die einftige
Geliebte des im frühern Freiheitsfampfe gefallenen National-
helden Robert Wallace, nun in allen möglichen Formen
und Berfleidungen das Land durchftreifend, immer aber
die Schlau energifhe Kundfchafterin und Führerin der
aufftändifchen Schotten, die nur noch von dem Doppel»
gefühl der rüchenden Liebe für den Gefallenen und ber
Aufopferung file ihr Yand und Volk lebt und kämpft unb
leidet; auch fie hat etwas durchaus Geheimnißvolles an fich,
nur in anderer Art als Edith. Diefe, Ifabella von Buchan
und Peggy find die in ihrer Wefensverfchiedenheit vortrefflich
ſich ergänzenden Schattirungen berfelben geiftigen Grund⸗
einheit, jede in ihrer Art unglüdlich und groß, jede ein
befonderes Herzensintereffe wedend. Amira, die glänzend
ftolze Schönheit, ift die Tochter des irifchen Fürften von
Tyrone und heimliche Bermählte von Eduard Bruce, dem
fie bi8 in den Tod ergeben bleibt, worauf fie als hoch—
herrliches Heldenweib mit einem großartigen Racheact an
den Yeinden endet. Wieder eine andere Schattirung ift
die legte der bedeutenden Frauen, die eingeführt werben,
Eliſabeth de Burgh, die des Schottenkünigs zweite, lieblid)
gemüthvolle Gemahlin wird und ihm einen Thronerben
ibt, dann aber, als der legte Stern feines geprüften
ebend, noch vor ihm ins Grab fintt.
Dies find, neben zahlreichen mindern Gewichts, die gut
gezeichneten Hauptperſonen, die Träger des Schidjale
ihrer Nation,
Allgemeine gefchichtliche Reflexionen find nicht eben
häufig, aber hochſinnig und treffend wo fie angefügt find,
Wir führen nur eine Betrachtung diefer Urt an:
Die Schladht bei Bannodburn nimmt eine nicht minder
hervorragende Stelle in der Weltgefchichte ein als die Schlacht
bei Waterloo. Die Ietere befreite Deutfchland von den Ban-
den eines franzöfifchen Despoten, die erftere legte den Grund-
flein zu der Selbftändigkeit des ſchottiſchen Volle und bewahrte
dafſelbe vor dem traurigen Zuftande, in dem fi) Irland heute
befindet... . . Diefe Schladht allein wiirde genügen zu bewei-
fen, daß, wie e8 in unfern Tagen der Fall geweien, die beften
Truppen unterliegen müſſen, wo unerfahrene, gar unter fi
eiferfüichtige Generale befehligen. Wie viel höher ſteht aber ein
Geift wie Bruce, der fo viel mit feiner Heinen Schar ausflihrte,
als ein Eroberer unfers Jahrhunderts Während dem Ietten
fein gefchulte Truppen und aufs höchſte vervollfommnete krie⸗
gerifce Mordwerkzeuge, wie Ehafjepots und Zündnadelgewehre,
zobes Geſchütz, Kanonen mit ungeheuerm Kaliber, zu Gebote
Heben, ſodaß er nicht durch fein Talent oder feinen kriegerifchen
Geiſt fiegt, fondern durch die Macht feiner Hülfemittel, erfämpfte
Bruce mit feinem Völkchen die freiheit feines Landes. Er be-
faß freilich, was vielen Eroberern fpäterer Zeit gemangelt bat,
einen Bundesgenofjen von unfchäßbarer Kraft, nämlich die ein-
müthige Begeifterung feiner Krieger für die heilige Sache des
Baterlandes, verbunden mit unbegrenztem Bertrauen auf die
Uneigennägigfeit und Hingebung ihres heidenmüthigen Führers.
0. Eine fo innige Verbindung zwiſchen König, Heerflihrern
und Volk weift nicht einmal die glorreiche Zeit Friedrich's des
Großen auf.
Als eine der großartigften Scenen wählen wir
Amira's freiwilligen Untergang. Ihr geliebter Gemahl
823
Eduard Bruce ift auf dem Schlachtfelde gefallen, und fte
felbft, nur noch von dem Gedanken zehrend, feiner wür⸗
dig zu enden, bat das Schloß Carridfergus vertheidigt,
folange es fich halten ließ. Nun übergibt fie es den ein⸗
ziehenden Feinden, und unter diefen ift ihr Vetter Bruno,
vor deſſen roh finnlichen und wilden Lüſten fie einft unter
Eduard's Schug floh. Sie empfängt den Giftigen, der
fie demüthigen möchte, mit überlegener Hoheit und ber
erdrüdenden Anklage, daß er, ein Verräther am eigenen
Volke, feinen Verwandten und Wohlthäter, ihren Vater,
meuchlings habe morden lafjen. Die übrigen Führer des
feindlichen Heers mifchen fich befhwichtigend in den Streit,
und unterbe find alle Säle des weiten Schlofjes mit Kriegern
erfüllt, und überall wird gezeht. Im Hauptfaal hat
Amira zu einem großen Banket decken laſſen; fie felbft,
mit ihrer in den Tod ergebenen Freundin Eleonora, ſetzt
fi) zu den Edelleuten an den Tifh, und nun beginnt
ein Gelage, wild und wilder; fo ging's zwei Stunden,
da bot der Saal einen jeltfamen Anblid, Die Geſichter,
anfangs dunkelroth, zeigten allmählich eine unheimlich aſch⸗
graue Farbe, ein feltfames Zuden, verzerrte Gefichtszlige;
die Augen wurden ſchwer, die Zungen erlahmten; man
fämpfte fichtlich. mit Anftrengung gegen eine unheimliche
Srmattung, aber vergebens. Ein Zecher um ben andern
finft auf den Boden. Die Luft wird umerträglid. Ein
ftarker Geruch von Peh und Schwefel verbreitet ſich,
und ein feiner blauer Rauch feheint aus dem getäfelten
Boden aufzufteigen:
Set erhob fih Amira, wandte fih zu Bruno und fragte
mit höhnifhem Lächeln: ‚Vetter, wie behagt dir der Wein, ben
die Tochter des ermordeten O’Nial dir credenzt hat?" — „Wie
einem, der von einer Natter geflohen worden”, ſchnellte der
Angerufene mit der letzten Aufraffung feiner Kräfte empor.
„Verfluchtes Weib! Xeufel in Engelögeftalt, du Haft mid
vergiftet! — „Nicht blos did, alle, die in der Schlacht von
Tagher gegen König Eduard von Irland kämpften. Ich hatte
einen feierlichen Eid geſchworen, baf feiner von euch mehr
das Tageslicht erbliden follte, und — id Babe mein Wort
gehalten. Noch mehr; unter biefen Zimmer ift euer angelegt,
die Brücke ift aufgezogen, die Thore find gejchlofien; dieſes
Schloß, einft der Schauplag meiner Liebe, meines Glücks,
wird der Schauplag meiner Rache. Es bete, wer nod) beten
fann, denn ihr habt nur wenige Augenblide zu leben. Aber
fo e8 euch zum Trofte gereihen möchte, wifjet, ich theile euer
208. Sch habe von dem vergifteten Weine getrunken, denn
Amira will nit als Sklavin nah England geſchleift und
verhöhnt werden, noch fol ihr Körper den Feinden als Beute
anbeimfallen !
Bruno rödelt; er will reden und kann e8 nicht, er
ftirbt. Der blaue Rauch fteigt höher, das fladernde Licht
der Fackeln an der Wand verdüfternd. Amira tritt zu
ihrer geliebten Eleonora hin und findet fie eine Teiche.
Nichts als Leihen! Sie allein flieht der unbarmherzige
Tod; aber fie zwingt ihn. Die legten Worte gelten der
Freundin und dem Geliebten und dem armen theuern
Baterlande:
Langfam glitt fie neben der Freundin nieder, eine Ster-
bende unter vielen Todten. Das Licht der Fadeln an ber Wand
erlofch in dem Qualm; ein ftarkes Kniftern ließ ſich hören, der
Boden wurde giüigend Heiß; ringsum an den Holzwänden zlin-
gelten die Flammen hervor und verbeiteten ſich mit rajender
Schnelligkeit im Banterfaal.
Es ift vorbei. Der rauchende Fall des ftolzen Schloffes
ift die Leichenfeier.
824
Ebenfalls dem hiftorifchen Feld ift eine zweite Arbeit
entnommen:
2. Der Piofeſſor von Heidelberg. Ein deutfches Dichterleben
aus dem 16. Jahrhundert. Bon Otto Müller Dre
Bände. Stattgart, Kröner. 1870. Gr. 8. 4 Thlr.
Die Babel des. Buchs ift kurz folgende: Lotichius,
der nachherige berühmte Profeflor der Medicin zu Heibel-
berg und noch berübhmtere Dichter, begegnet uns zunächft
als Hofmeifter junger Adelicher zu Bologna; hier erreicht
ihn ein furchtbares Schidfal: eine eiferfüdtige Römerin
bat dem mit dem jungen Hofmeiſter befreundeten Stu-
denten Grafen Hugo von Greifenftein als vermeinten
Liebeszauber einen vergifteten Kuchen gebaden, ben durch
Zufall Lotichins verfpeift; nach langer fehwerer Krankheit
wird zwar fein Leben gerettet, aber es bleibt ihm eine
zeitweilig bis zur Geiftesftörung anfteigende Krankheits⸗
anfage zurück, welche in wiederholten Anfällen feine Kraft
jung aufreibt. Ein zweiter und faft ebenfo ſchwerer
Kampf ift über feine Seele gegangen: das ift die gewalt⸗
fam aufleimende Liebe zu der glänzenden Gräfin Yulia
Iſolani, die befielben Grafen Hugo glüdlihe Gattin
wird. So fett fi denn das ganze Lebensbild aus
zwei fehr verfchiedenen Elementen zufammen: aus einer
phyſiologiſch⸗pſychologiſchen Geſchichte der drückend büftern
Seelen⸗ und Leibeskämpfe des jungen begabten Mannes,
bie uns durch das Eingreifen des halben Wahnfinns mit
dem finftern Zauber des Unheimlichen paden; dagegen
im Gegenſatze zu jenen aus der anmuthend erheiternden
Schilderung aller der Ovationen, womit jenes Jahrhundert
noch feine wenig zahlreichen Gelehrten» und Dichtergrößen
zu feiern pflegte.
Por der Geftalt des Profefiors, welche ein nach allen
Seiten in bie Zeit paſſendes Lebensbild gibt, treten alle
andern Figuren als blos begleitende zurüd. Als far-
benreiche Sittengemälde aber zeichnen ſich folgende Sce-
nerien aus: Der Auftritt, wo die beutjchen Studenten
bem wüthenden Haufen des. bolognefer Pöbels gegeniiber
mit ihren Stöden und Schwertern eine fogenannte Aca-
badura ſchützen, der verblendete Volksglaube aber macht
jenes alte häßliche Weib zur Giftmifcherin und Wahr-
fagerin, welche die fchauerlihe Mifflon übernehme, den
Sterbenden durch Ermürgen den legten Todeskampf zu
verfürzen; die mannichfachen und wechfelvollen, bisweilen
mit verberblihem Ausgang verknüpften Geſchichten der
italienifchen Xiebeshändel; das ind Große und Bunte ge-
triebene Stubentenleben auf den blühenden Univerfitäten
Italiens und Deutſchlands.
Drei jehr anmuthende Epifoden flechten einen befon-
dern Reiz ein: Erſtens das perfünliche Eingreifen bes
berühmten pfälzer Kurfürſten Ottheinrich und feines
ebenfall8 berühmten zahmen Löwen, des Gompaters, im
Zwinger und in ber Freiheit, fowie die Gefchichte feines
bochherrlichen Türftenbaues, bes Heidelberger Schloſſes,
an das fich überdies fehr fein durch eine Bifion bes
Dichters die dunfle Vorverfündigung der einftigen furcht⸗
baren Zerftörung knüpft. Zweitens ift e8 die höchſt er⸗
gögliche Art, wie Janus Onader, der kurfürftliche Jagd⸗
und Zeichmeifter, von der Wirthſchaft der Tagenäugigen
Kroaten auf deutſchem Kriegsboden berichtet und von dem
Zaubermittel feiner großen Nafe gegen biefe Erzlannibalen.
Neuefte Romane
r
und Novellen.
Einen ganz andern, halb gemüthlihen, halb tragiſchen
Eindrud macht das dritte Zwifchenftüd: es iſt die rei-
zende Gefchichte, wie ber Dichter eine einft von Sigeunern
geraubte und nun ſtill in Deutfchland lebende Italienerm,
zu der er wie zu einem geheimnißvollen Kinde eime eigene
Neigung faßt, dem untröftlich fie fuchenden Bruder und
der harrenden Mutter zurüdgeben will; ba tödtet em
Blitzſtrahl das eigenartige Weſen, die Mutter ftirbt und
der Bruder ertränft fih. Es find da gewichtige Geiſtes⸗
momente niedergelegt.
Ergreifend tft der Schluß des Lebenobildes: Bei Ein-
weihung des Prachtichlofjes fol Lotichins mit dem Dichter-
lorber befränzt werben; Graf Hugo mit feiner Gemahlin
ift hergekommen, und diefe, die noch immer in des Did
ter8 Erinnerung als befeligendes Ideal Iebt, fett ihm den
Kranz aufs Haupt. Da finkt der kranke Mann, die Er-
ſchütterung nicht mehr ertragend, als ein Sterbenber nie-
ber. „Wie fteht ed, Hans, wo ift er?” fragt Ottheinrich
feinen PBagen Gemmingen. — „Er ift fort, fort — ber erfte
aus diefem Schloffe.” — „Wie? ſchon hinunter nach ber
Stadt?” — „Nein, Durchlaucht, hinauf in den Himmel,
fein’ legtes Wort war: Yulia Iſolani!“
Es find dunfle und unheimliche Seeleugründe, bie
uns aufgededt werden in den verfchiebenften Momenten
und Lebenslagen. Wir nehmen als Beifpiel eine einzige
Situation heraus. Als Lotichius von der Anno 1508
in der Pfalz wüthenden Peft und von den „Rufern“ er-
zählen gehört, daß nämlich ein Sterbender in den letzten
Augenbliden diefen oder jenen beim Namen genannt und
daß der Gerufene wirklich als nächſtes Opfer habe folgen
müffen, fest fih in feinem kranken Geifte fogleich. ber
Gedanke feft, daß ja auch fein Freund und Lehrer Micyll
noch in den legten Ungenbliden feinen Namen genannt
babe und er fo unfehlbar dem nahen Tode verfallen fei:
Wenige nur abnten die ſchreckliche Krankheit im Gemüth
des fcharffihtigen Arztes, ahnten die Aengflen feiner Seele,
wenn ihn bald im flillen Walde, bald in der einfamen Studiw
fiube plößlich die wohlbelannte Stimme des verfiorbenen Freun-
des wie der Donner bes Süngften Gerichte erjchredte und
Micyll's Stimme laut feinen Namen rief, nicht im dumpfen
Grabeston, aud nicht im fanften Flüſtern eines unſichtbaren
Schußgeiftes, fondern laut und lebendig und fogar mit dem
dem Berflorbenen eigenen Accent, daß es ber @erufenen durch
Mark und Bein jhütterte, er, der doc; ale gefchidter Arzt Hätte
wiffen müfjen, daß jolhe Stimmen nur aus dem eigenen Ius
nern fommen und nirgends fonft als in der kranken Seele des
Gerufenen ihren Urfprung haben!
Bom Felde des gefchichtlichen Romans treten wir mit
dem nüchſten über auf dasjenige des humoriftifchen, eine
Schattirung, in der wir an wirklich gelungenen PBrobucten
nicht eben beſonders reich find:
3. Der Schübderump. Bon Wilhelm Raabe Drei Bände
Braunſchweig, Weftermann. 1870. 8. 5 Zhlr.
Hier herrjcht eine von Anfang bis zu Ende durchau⸗—
gleichförmige Tonart in der Färbung, fodaß eine äußerft gı
müthige und bis ins Drollige gehende Komik ber Zeichnur,
der Situationen und der Lebensanſchauung überwiegt, }
doch mit einer ziemlich ſtarken Doſis von tragifch patht
tiſchem Ernſte ſich verflicht. Es ift der echte deutid
Humor.
Der Schlüddernmp — was ift denn das für e
Neuefte Romane und Novellen.
Ding? Darüber gibt und ber Autor in einer Reiſeerinne⸗
rung einleitend Aufſchluß. Er ift in einem norddeutſchen
Städten und findet da eine abfcheuliche Mafchine auf-
bewahrt, die in Cholerazeiten dazu diente, durch Ueber-
fippen eine Laſt von Peftleichen in die Grube zu fchütten;
es ift nichts mehr und nichts weniger als ein vom Küfter
mit Grauſen und Berehrung als Rarität angefchauter
hoher ſchwarzer Karren mit einem Halberlofchenen weißen
Kreuz auf der Vorderwand unb der. Jahreszahl 1615
anf dem Rückende.
Gefchichte und Perſonen find folgende Wir werden
in ber Gegend des nördlichen Harzes auf den Lauenhof,
ein altes Rittergut, geführt und treffen da neben der
ſehr praftifchen, derben und verftändigen Witwe- Mutter
als Hauswirthin zwei Originale als alteingelebte Stamm-
gäfte des Haufes: den meflfälifchen Edeln Hrn. Karl Eu-
ftahius von Glaubigern und das Fräulein Elotilde Paula
de St.-Trouin, furzweg Frölen Trine, beide ein bischen
ins Somifche verzerrte und fehr abgeblaßte Figuren aus
der Nitterzeit, die fich in der Gegenwart recht außer Platz
und im Grunde langweilig überflüjfig erweiſen, bis der
Ritter uns fchlieglich durch einen tüchtigen Act mit all
feinen Eigenheiten ausſöhnt. Dann folgt der junge Edle
Hennig von Rauenhof, eine gutmüthige Natur, an der
gerabe genug Zeug ift, um unter ben wunderlichſten Er-
ziehungseinflüffen einen rechten Krautjunker daraus zu
ſtempeln. Vom alten verlebten Herrenhaufe werden wir
direct ind Armen» und Siechenhaus des nahen Dorfes
Krodebe geführt, zunächſt mit einer einzigen Infaflin,
langeher der Herrin des Plages. Doch bringt der Armen-
farren gerade zwei neue, das ift die Marie Häußler, bie
einft jo Schöne Tochter des Frodebeder Dorfbarbiers Diet-
rich Häußler, und ihr ebenjo ſchönes uneheliches Kind
Antonie, jene, um ba zu fterben, dieſes, um hernad vom
Lauenhof erzogen zu werden und in die große Welt zu
fommen. Die dritte im Bunde bes Elends iſt die alte
und zähe Haufirerin Jane Warwolf, bei aller Originalität
eine fehr tüchtige Perfünlichleit, die großen Einfluß be-
bauptet und eine Fräftige Rolle in unferer Gefchichte fpielt.
Antonie und der junge Hennig kommen, das erfte mal
unter recht drolligen Umftänden, in nahe und freundliche
Rinderbeziehung zueinander. , Indeß wird der Junker auf
die Schule geihidt, und die Jahre vergehen. Da mit
einmal kommt der bis dahın Halbverjchollene Großvater
der fchönen Antonie, der alte krodebecker Barbier, der
unterdeß im Auslande große Speculationsgejchäfte ge-
macht, Glück gehabt hat und geabelt worben ift, zum
Schreden aller in die glücklich ftile Welt hereingefahren
und reclamirt die fchöne Enkelin, um fie in die vornehme
Welt zu Wien einzuführen und beiläufig auch als cine
Art Speculationsartitel oder wenigftens als Rodvogel aus⸗
zungen. Das eigenartige, zartgebaute Kind mit tief
innerlichem Gefühl kann fih in die Lüge und den Trug
diejes vornehmthuenden Speculantenlcbens, an welches es
auch verfchachert werden fol, nicht finden und ftirbt jung
hinweg, man möchte fagen am gebrochenen Herzen, nach⸗
dem es noch das hohe Vergnügen erlebt, den Yugend-
freund Hennig und ben alt geliebten Freund und Erzieher,
ben Xitter von Glaubigern, bei fi) in Wien zu fehen,
die ihm die alte traute und heimelig glüdjelige Erinne-
1870. 52.
825
rung an bie Yugendzeit auf dem Lauenhofe mitgebracht
haben.
Der Ton des freien Humors ift durchweg mit Glüd
getroffen und hat eine Reihe Situationen von ganz be-
fonderer Anziehung geichaffen, fei es im Stile der heitern
und ein bischen ironisch gehaltenen Lebensbilder, bie über⸗
wiegen, fei es in foldyen von tiefer Innerlichkeit und ſchwe⸗
rem Geſchick, fo ganz befonbers alles, was fi an die
Geſchichte des Urmen- und Siehenhaufes von Krodebed
knüpft.
Als ein Beiſpiel der urwüchſigen Komik derbſten Stile
ſei die einzige Scene erwähnt, wie Anno Domini 1578
der Junker Hilmar ab dem Lauenhofe ſeinem Geſchlechte
zu weit ruchbarer Glorie verhalf. Das ging alſo zu: Ini
felben Jahre famen Herzog Friedrich IV. von Liegnig mit
dem Hrn. von Schweinichen zu Herzog Julius von Wol⸗
fenbüttel geritten; das lodte viele Ritter und Edle an den
berzoglichen Hof, unter ihnen aud) befagten Junker Hil-
mar mit feinem Knechte Zwiebrecht Affen:
Da ift das Saufen angegangen auf dem Schloß in bem
Saale, jo man ben burgundifchen nennt, und bat zu gutem
Anfang gemwähret drei Tage und drei Nächte in einem fort;
am vierten und fünften Tag bat man den guten Rauſch ver⸗
fhlafen, und am fehheten hat man unter Fürftliher Gnaden
Fürbitt des Ortes Merkwürdigkeiten vifitiret, und ift allda des
Hrn. von Lawen Chr mit Gottes gnädiger Zulaffung auf ben
Tiſch gehoben.
Im Provianthaus hing nämlich eine große geräucherte
Dratwurft, fo eine Biertelmeile Wegs lang war, und auf
die Trage, wie viel Zeit ein Mann mit dem Wunderftüd
zu thun haben möchte, antwortete der von Lauen: mit
Gotts gnäbigem Beiftand verhoff er's fertig zu bringen
in vier Tagen, allein es müfje der Trunk nicht dazu feh-
len. Den Herzog reute die Wurft, die Ritterfchaft aber
trieb und ftadhelte, und fo mußte fie dran; am fechsten
Tag ber Feltlichfeit ward dem von Lauen der Zipfel
in den Mund gegeben, die Junker fehen mit gutem Troſt
und Zutrinken in großer Luft dem Bacchanal zu, während
des Herzogs Geficht um fo länger wurde, je färzer bie
Wurft:
Es war die Wurſt um eine Säule gelegt, und vier Tage
fang bat fidy der Herr Hilmar um gemeldete Säule fort und
fort herumgefreffen, und am dritten Zage ift ſchon ein Eilbot
an den ehrbaren Rath zu Braunfchweig nm einen Sciiderer
abgejendet, daß er den Junker mit dem letten Zipfel der Wurſt
zum ewigen Gedächtniß abconterfeie.... Der von Lawen lag
acht Zage und grunzte im Schlaf, und fein Knecht Zwiebredjt
Affen pflegte ihn Lieblich,; mein gnädiger Junker Hilmar fam
anf einem befränzten Leiterwagen mit Geſchnarch und im tief
ften Schlaf auf dem Lauenhof an, und hätt’ der getrene Knecht
Zwiebrecht der Frauen nicht verzählet, was der Geftrenge aus-
geführet und zu ewigem Ruhme des Haufes Lawen ausgefrefien,
mein geftrenger Junker felber hätt’ wenig davon fagen können.
Wem aber die Humoriftifche Komik etwas feinern Stils
befier behagt, der findet eine Reihe der köftlichften Zeich-
nungen, unter denen unftreitig eine der gelungenften die—
jenige des Fräuleins von St.-Zrouin ift, der Tochter eines
Grafen von Bardiac, der am Anfang diefes Jahrhun⸗
derts einer der tllchtigern Zeichenlehrer in Berlin war,
aber in großer Armuth ftarb und feine Tochter dem Groß⸗
vater des Junkers Hennig vermachte. Es ift eine Dame
von fehr vornehmer Geburt, die fich fchreibt: Sehr edle
und mächtige Yrau, Gräfin von Parbdiac, Frau und
104
826
Gerichtöherrin ber Grafſchaft Balcroiffant, geborene Rit-
terin von Malta zufolge des Privileg des Papftes Ho-
norius III., verliehen der fehr glorreichen Familie Johann's
von Brienne, erften Fürften zu Tyrus und fpäterhin Kai—
fers von Konftantinopel. Unftreitig würde die hohe Frau
ohne die abfcheuliche franzöſiſche Revolution von 1789
nit unter den Barbaren des Hercynifchen Waldes leben.
Den Refer, ber ihre nähere Belanntfchaft zu machen
wünfcht, verweifen wir, da es zu umftändlich würde, fie
in Perfon hier einzuführen, einfach auf I, 27 fg. des
Driginals, wo fie mit all ihren unfchuldigen, wenig koſt⸗
baren, aber um fo komifchern nobeln Baflionen und der
vollen Grazie einer alten Jungfer auffpaziert.
Hatten wir es bis dahin mit größern Gefchichte-,
Sitten- und Lebensbildern verfchiedener Färbung zu thun,
fo floßen wir in einem legten Werke noch auf fehr ein-
ſache Familiengefchichten mit ganz nad dem Leben ge-
zeichneten Unterlagen. Die Dinge, die uns erzählt wer-
den in den
4. Novellen von Otto Roquette. Berlin, Herk. 1870.
8 2 Thlr.
find durchweg höchſt natürlich der Realität menfchlicher
Lebensläufe nachgefchildert, die Situationen mehrfach mit
Glück gefaßt. Es ift ein Band mit vier Stüden: „Rum-
pelſtilzchen“; „Einer von beiden”; „‚Unfere Jugend“;
„Peter Weyrih’s Haus“.
„Rumpelſtilzchen“ ift der Beiname eines verwai—⸗
fin Mädchens, Charitas, die in das Haus einer be»
häbig mit ihren fünf Söhnen, der Tante Jasmunda
umd dem frühern Hauslehrer der Knaben, Hrn. Stumpf,
anf ihrem Landfige lebenden Witwe eingeladen wird; in
dem lebendigen Familienkreis entfpinnt fi nun eine eigene
Berwidelung. Der jüngfte Sohn Sigismund, noch halb
Knabe, bat für Charitas fchon in der Stabt eine ideale
Jugendneigung gefaßt. Ein älterer Bruder Eugen, der
„Tyrann“ der Familie, kränkelnd und verwöhnt, von vie
len Anfagen und großer Gelehrſamkeit, aber heftigem
Eigenfinn, faßt für fie eine mehr aus eigenwilligem Stolz
entfprungene Vorliebe und will fi ihre Hand erzwingen,
wird aber von dem einfach gefunden Mädchen gedemüthigt.
Diefes, eine lieblihe und taftvolle, erfahrene und ver-
nünftig überlegende Natur von echter Hausfreundlichkeit,
wird die glücliche Gattin des Alteften Sohnes Friedrich,
eines ruhig in fich gefefteten Charakters und praftifch ver⸗
flündigen Hauswirths. Nach einigen Auftritten löſt ſich
der Conflict in Frieden.
Der intereflante Yamilienkreis diefer neun Berfonen
in ihrem verfchiebenen und doch ein freundlich geſchloſſenes
Ganzes ausmachenden Walten und Berfehr bot dem Dich—
ter die befte und in der That wohlgenutte Gelegenheit
zu mannichfacher Charakterzeihnung, auf der jo ziemlid)
da8 ganze Interefje ruht. Alle neun Perfonen, zumal
die fünf Brüder in der Berfchiedenheit ihres Weſens und
Zemperaments, ftellen uns ganz beftimmte Lebensbilder
dar; Tante Jasmunda und Hr. Stumpf heben fih mit
liebenöwtirdigem Humor in fehalkhafter Färbung ab; kurz,
es ift reales Leben und Natur darin ohne einen einzigen
manierirten Zug.
„Einer von beiden” ſtreift jchon eher ins Roman-
Neuefte Romane und Novellen.
hafte. Der arme junge Muſiker Arno bat im ftillen
heftige Xiebe gefaßt zu Luitgart, der prädtig ſtolzen Tod-
ter eine® vornehmen Haufes, und liegt nun todkrank im
feinem elenden Dadftüblen. Sein Freund Dr. Wolfram
bittet Quitgart, den Kranken im geheimen zu befuchen, und
fie folgt. Arno geneft, wird ein Meiſter in ber
gewinnt die Hand feiner Geliebten. Indeß hat auch in
Wolfram’ Herzen Liebe zu der Schönen Platz gefaßt, er
nimmt im Haufe des Freundes eine etwas zweifelhafte
Stellung ein, die defjen Argmohn wedt und hart an eine
tragifche Entfcheidung führt, als im rechten Angenblid
die Räthſel und Zweifel fi löfen, um ein nun erft blei«
bend beglüctes Familienband feftzufchlingen.
War jene erfte Nummer ein Samiliengemälde, fo mag
man die zweite ein dreifach fehattirtes Seelengemälde heißen,
das durch feine innern Kämpfe intereffirt. Diefe, erft
halb Mitleid, halb auffnospende Liebe in ber Bruft bes
ftolzen, nie zuvor mit der harten Noth des Lebens im
Berührung gefommenen Weibes, bis der glüdjelige Liebes⸗
traum bewältigend hervorbricht; die äußern und innern
Berwidelungen und mannichfach wechſelnden Scenen im
Leben und Herzen der beiden Freunde, Zweifel, Bangen
und Hoffen, Mistrauen und Xiebesfeligleit, das Briten
und bie Schaffensfreudigfeit: kurz, es ift eine Gefühls⸗
fcala, nur zu reich für den engen Rahmen! Webrigens
find auch hier die Figuren in klarer Beſtimmtheit nad
der Natur gezeichnet.
„Unfere Jugend“ ift durch und durch von launigem Hu⸗
mor getragen unb ganz modern, die Früchte unfers Er-
ziehungslebens werden gejchildert. Clotilde, ein verzogenes
Dänmchen, aus der Benfion heimkehrend, trifft mit ihrer
Mama auf der Eifenbahnftation in recht ergöglicher Situa-
tion, welche die vornehmen Damen zum „PBumpen‘ bringt,
mit einem unfcheinbar und befcheiden reifenden Studenten zu-
fammen, ber ſich in der Yolge als der Sohn eines Jugend⸗
freundes der Mama entpuppt. Clotilde hat von der Pen-
fion her Liebſchaft und Briefmechfel mit einem jungen
Mann angefnüpft, der nachher noch bei zeiten als Spie-
ler, Slüderitter und Bankrotteur aufgededt wird. Die
Aeltern der jungen Leute, von früh an befannt und fi
nicht gleichgültig, dann durchs Leben auseinandergerifien
und nun wieder vereint, fchließen jet erft den Liebesbund
fürs gereifte Alter, Eine Rolle, ja die Hauptrolle fpielt
auch hier eine alte Tante Thuenelda, die Huge und ener-
giſche Tugendwächterin des unerfahrenen Dämdens und
Liebesbotin der Aeltern. Die Situation ſchließt:
Nun, Kinder, machen wir, daß wir bald fortlommen;
wir haben hier unfern Zweck erreidht und können getroft mit
Kind und Kegel nad) der Stadt zurückkehren. Das Kind muf
aus biefen Umgebungen meg, der Kegel (fie wies auf den Stu⸗
denten) auf die Univerfität, und ihr beide müßt euch zu emerer
Hochzeit rüften, die nicht mehr aufzufchieben if. Und als die
Geſellſchaft eine Stunde darauf einen Spaziergang durch ben
Bart machte, Balentine und Nithatt voran Arm in Are,
die Stiftsdame ihnen folgend, auf der einen Seite von Kir
mens geführt, auf der andern Clotilden führend, immer lade ıd
und plaudernd, da war Thusnelda zum erften mal ganz I»
friedigt und ging freudig gehobenen Hauptes daher, jeder ZH
Frau Minnetroft.
War in ben drei Stüden ein glüdlicher und zumeilın
ins Komische ftreifender Humor entfaltet, fo folgt das
I legte: „Peter Weyrich's Haus“, mit ſtark tragiſchem
Ein neuer Band von Pert’ Leben Gneifenau’s,.
Nachſchlag. Peter Weyrih, ein alter menfchenfeindlicher
Sonderling, bat in der Jugend den eigenen Bruder, ber
politifch compremittirt und überbies wegen einer heimlichen
Ehe verfolgt war, herzlos denuncirt und vertrieben, fobaß
bie zarte fchöne Gattin bald in Sorgen ftarb. Der Bru-
der ift derfchollen, Tehrt aber fpäter al8 bedeutender Mann
heim ; Arnold, das Kind der beiden, ift von einem Jugend⸗
freund erzogen worden. Nach einem trübfeligen Beben
fommen dem Peter interefjante Papiere zu Händen, bie
ihm des verſtoßenen Bruders Laufbahn und die eigene
Schuld ftreng vor Augen und Gemiffen rüden, und in
feinem erfchredt-fahrigen Weſen zündet er beim Forſchen
in diefen Schriften das Haus an und wäre felber mit
verbrannt ohne ben eindringenden Brudersfohn, der ihn
rettet. Diefer aber, verlobt mit der Tochter jenes Jugend⸗
freundes, der ihn erzog, und der wiedergefundene Vater
beginnen ein neues Leben bes Friedens und Glüds.
Es ift eine eigene Bemerkung, die fi einem zum
827
bundertften mal aufdrängt: fobald das Tragifche auch nur
mit einem Finger hereingreift, padt es unfer Herz mit
eigener Macht; und fo wird denn Leicht diefes letzte Stück
einen tiefern Eindrud machen als die vorausgegangenen,
zumal Peter Weyrich felbft und fein Haus mit ihrem
halb geheimnißvoll düftern Weſen und wie das leibhafte
Conterfei einer alten Zeit anſchauen. Es ift tragifch, wie
im Augenblid, da er in finfter beflommener Erinnerung
an die alte, nie gefühnte Schuld im Manufcript des ge-
meinfamen Yugendfreundes eben die ihn verdammenden
Worte gelefen: „Wenn ich ihn nun al® einen lächerlichen
Gecken behandelte, während ich ihn doch ala einen Schur-
ten betrachtete”,... wie in dieſem Augenblid, da das Ge⸗
wicht der rächenden Stimme ihm die Kehle zufchnürt, die
beim Suchen nad) eben diefen Papieren von ihm felbft
entzlindeten Flammen herporbrechen und all fein Hab und
Gut zufammenbrennen.
3. 3. Honegger.
Ein neuer Band von Perb’ Leben Gneifenan’s.
Das Leben des Feldmarſchalls Grafen Neitharbt von G©nei-
fenau von ©. 9. Berk. Dritter Band. 8. Juni bis
31. December 1813. Berlin, ©. Reimer. 1869. Gr. 8.
3 Thlr. 10 Nor.
Bon der umfaffend angelegten Biographie des Yeld-
marſchalls Grafen Neithardt von Oneifenau, in welcher
G. H. Perg auf Grund der ihm zur Verfiigung geftell-
ten koſtbaren Materialien ein Seitenftüd zu feinem Leben
Stein’s zu ſchaffen unternommen bat, liegt nad einer
ziemlich langen Baufe ein neuer, der dritte Band vor,
welcher die Ereigniffe vom 8. Juni bis zum 31. Decem⸗
ber 1813 und den hervorragenden Antheil Gneifenaw’s
an denjelben behandelt. Daß in einem Bande von über
700 Seiten die Geſchichte von nur fieben Monaten, wenn
auch außerordentlich inhaltreicher Monate, gegeben wird,
ſtimmt ganz zu dem Charakter diefes Werks, deſſen Eigen⸗
thümlichleiten wir ſchon bei dem Erfcheinen der erften
beiden Bünde in d. DL. hinreichend gefennzeichnet zu
haben glauben. Wir begnügen uns deshalb hier damit,
noch einmal kurz darauf Hinzumeifen, daß das Werk
eigentlich mit Unrecht als ein Leben Gneiſenau's eingeführt
wird; wäre e8 als ein Urkundenbuch zu einer Biographie
des großen Feldherrn oder ald „Materialien zur Gefchichte
der deutſchen Kriege gegen Napoleon aus den Gneifenau’-
chen Papieren” bezeichnet worden, fo hätten fid viele
Lefer, die mit Luft und DBegeifterung an biefen großen
Stoff gingen, eine ſchmerzliche Enttäufchung erfpart.
Denn jo wie die frühern Bände bietet und auch diejer
neuefte feine zufammenhängende, auch nur einigermaßen
fünftlerifch abgerundete Biographie Oneifenau’s, fondern
nur eine große Menge werthvoller Urkunden und Acten-
ftüde, Briefe und Memoires, welche, durd) einige bürftige
Bemerkungen des Herausgebers aneinandergereiht, höchſtens
den Stoff geben, um daraus ein Bild von dem eben
Gneifenau’8 und deſſen Thätigfeit in jener großen Zeit
entwerfen zu können. So bleibt e8 dennoch nach wie vor
zu bedauern, daß aus einem Stoffe, der wie faum ein
zweiter geeignet gewejen wäre, ein wirklich nationales
Geſchichtswerk zu fchaffen, fo ganz uud gar nichts ge
macht ift, und daß alle die Vortheile, die fi) unter
folhen Berhältniffen dem Darſteller von Gneifenau’s
Leben darboten, völlig ungenugt gelaffen find, indem ftatt
eines Biographen ein Herausgeber die koſtbarſten Ma-
terialien unverarbeitet und undurchgeiftigt mit gelehrter
Bornehmheit dem Publikum als eine der überwiegenden
Mehrheit durchaus unverbauliche Speife vorfegt. Wir
unterlaflen e8, auf alle die Misftände noch ansdrüdlich
binzuweifen, die ſich aus einer folden Art Gefchichte zu
ichreiben mit Nothiwendigfeit ergeben; diefelben liegen auf
der Hand: nur das eine fei bier hervorgehoben, daß
jelbft, wenn man ftatt einer Biographie Gneifenau’s ein
Urkundenbuch zur Gefchichte deffelben geben wollte, dann
doch noch lange nicht alles das aufgenommen zu werden
brauchte, was wir hier vereinigt finden, indem durch die
Aufnahme mehrerer oft faft Wort für Wort überein-
ftimmender Berichte über daffelbe Ereigniß eine Menge
von Wiederholungen veranlaßt find, die dem Leſer er-
müden und zu nichts dienen, als den ohnehin ſchon fo
gewaltigen Umfang des Bandes noch mehr anfchwellen
zu lafien.
Sehen wir von diefen Gebrechen, welche freilich ge-
nügen, um das Werk völlig um die weitreichende Wir-
fung zu bringen, die e8 feinem Gegenftande nach bean»
ipruchen könnte, den Abfichten des Herausgebers folgend
ab, fo müffen wir uns allerdings der koſtbaren Bereicherung
freuen, welche aus ben uns hier gebotenen Materialien
nicht blos für eine Fünftige Biographie Gneiſenau's, fon-
dern flir die Gefchichte der großen Zeit ber Befreiungs-
friege überhaupt gewonnen wird. Inſofern kann man
das diefem Bande gegebene Motto: „Die Nachwelt wirb
erftaunen, wenn bdereinft die geheime Gefchichte diefes
Kriegs erſcheinen kann“ — eine Aeußerung Gneiſenau's
ſelbſt in einem am Morgen des entſcheidenden 18. Oc⸗
tober an feine Frau gerichteten Briefe —, als durchaus
104 *
828 Ein neuer Band von Perg’ Leben Öneifenaw’s,
beredhtigt anerkennen. Die Veröffentlichung dieſer Onei-
fenau’f—hen Papiere Hat uns den Zeitpunkt um ein Bes
deutendes näher gerlidt, in welchem biefe geheime Ge-
ſchichte endlich wird and Licht gezogen werden können.
Sehr erfreulich allerdings wird das Refultat nicht gerade
fein: wir werden nämlih, was im allgemeinen ja ſchon
hinreichend befannt ift, aufs neue und in ben alleruner-
quidlihften Einzelheiten beftätigt finden, daß kleinliche
Eiferſucht und erbärmliche Intrigue, niedriges Mistrauen
und unwürdige Zweideutigkeit gerade nirgends fo ſehr
herrfchten wie in ben leitenden reifen, und daß, mas
dennoh Großes und Gutes gefchah, meift nicht durch
diefelben, fondern trotz berfelßen und im Kampfe mit
deren Trägheit und Unwahrheit und Selbſtſucht zu Stande
gefommen ift, daß nur diefe Hindernden Mächte es ger
mefen find, melde einen ſchnellen und für alle Zeiten
entſcheidenden Sieg der Verbündeten und zugleich eine
darans folgende völlige Wiedergeburt Deutſchlands ver-
eitelt haben. Der und zugemefiene Raum erlaubt es
nicht, alle die fehlagenden Belege anzuführen, welche ung
für diefe Behauptung aus ber Torreſpondenz Gueifenau's
mit feinen Freunden und Geſinnungsgenoſſen geboten
werden. Nur ein paar befonders charalteriſtiſche Stellen
heben wir hervor. -
Wie alle wahren Patrioten, denen es mit bem Kampfe
gegen den franzöjifhen Imperator wirklich Ernſt war, fo
fehen wir auch Gneiſenau ben Waffenftillftand als einen
unverzeihli—hen und Höchjft verhängnißvollen fehler in
unmuthigem Zorne beflagen; er erflärt benfelben für
den dümmften von all den dummen Streichen, bie feit
20 Jahren von den gegen Fraukreich verbiindeten Mäch-
ten begangen find. Pi dies die Meinung aller Einfid-
tigen war, zeigt” ein an Gneiſenau gerichteter Brief des
englifch- gannoverfchen Miniſters Grafen Münfter, der
all den bangen Beforgniffen, bie ihn erfüllten und tief
verftimmmten, einen recht bezeichnenden Ausdrud gibt in
den Worten:
Zerförung des Bonaparte ſchen Syſtems hätte unfer großer
Ziel fein und diefer durch einen Nationalkrieg erreicht werden
Vnnen und follen. Jetzt läßt man den Muth erfalten, zerflört
das Zutrauen der Völfer in ſich ſelbſt und discutirt über die
Abtretung Heiner Landſtriche, ale ob bie Rede vom Bairiſchen
Succefflonefriege wäre! Kurz, man läßt fid ein Stübden im
brennenden Haufe einräumen, ohne die alles zerſtdrende Feuers-
brunft zu löſchen und ohne den Morbbrenner zu ſtrafen. Nur
Bonaparte’8 Üebermuth kann uns retten; ift er Hug und willigt
ein, fo find wir verloren.
Ueber einen andern unerquidlichen Punkt, das Ber-
haltniß der Verbündeten zu Bernadotte, den Kronprinzen
von Schweden, und über deſſen Unzuverläffigfeit und
Saumſeligkeit finden wir ebenfalls eine Menge rüchaltlos
freimütthiger, oft einſchneidend ſcharfer Urtheile Gneiſenau's :
fo erfärt derſelbe ſich denn auch mit aller Entſchiedenheit
gegen eine Unterordnung Billow's unter ben Oberbefehl
des Kronprinzen, und macht dem Konige bie dringendfte
Vorftelung gegen eine folde Beftimmung — freilich
vergeblid. Zu jpät erft ſah man an entſcheidender Stelle
ein, welden Fehler man begangen, indem man den auf
die genauefte Bekanntſchaft mit Verhältniſſen und Per
fönlicfeiten gegründeten Rath Oneifenau’s unbeachtet ließ.
Ueberhaupt verdient als beſonders bezeichnend für bie
widerſpruchsvollen Zuftände jener Zeit und bie
vieler doch äußerlich fo hocgeftellter Männer
hervorgehoben zu werden, daß Gneifenam
mit ihm entgegenarbeitenden Cinflüffen zu kämp
mehrfach gegen die niebrigften Intriguen aufzutreten hal
Trotz der glänzenden Verbienjte, bie er fich um
preußifchen Staat erworben hatte, und obgleid; man ihn
eine Reihe bedeutender Auszeichnungen hatte bewill
müffen, wurde Oneifenau doch immer nur mit eim
wiſſen Mistrauen angefehen. Er dadjte eben zu frei
felbftändig, Hatte e8 zu oft gewagt, rüdjichtelos
Wahrheit zu fagen, al® daß er nicht vom al
hätte angefeindet werden follen. Der König von P
felbft machte fein Hehl daraus, daß er Öneifenau,
bei ihm als Freidenker und Neuerer angejchwärz!
nit leiden könne, und ihm eben nur, weil er mic
erjegen war, an feinem Plage lafje. Niemand wußte
beffer als Gneifenau felbf. Cs macht einen
peinlichen Eindrud, zu fehen, wie Öneifenau, ir
Feldzuge von 1813 der gefeiertfte Stratege des |
ſchen Deers, die Seele all der Triumphe, welch
ſchroffen Gegenfag zu der Thatenlofigkeit der
andern Armeen, bie bon ihm und dem greifen Bf
geführte fchlefifche Armee gefeiert hatte, wenige
der Schlacht bei Leipzig, die er eigentlich herbeig
ja faft erzwungen hatte, in der das Ziel feines
langen aufopfernden Strebens endlich erreicht werben
an den Kanzler Hardenberg einen Brief richtet, im
er um eine Anftellung im Staatsdienft für die
Friedens bitte. Das Motiv, welches ihm day
war die Mare Erkenntniß der unüberwindlichen 2
die den König gegen ihn erfüllte. Er ſpricht dai
offen aus:
Wenn nicht große Fehler gemacht werben und bie
beharrlich find, b muß ſich diefer Krieg vortheilhaft
gute Sache enden. Mein vorgeriidtes Alter wiirde
nur bei einer großen Staatsgefahr die Wafjen wieder
taffen. Im Frieden mag ich nid)t mehr Soldat fein,
aud andere Gründe, die e8 mir wlinichenswerth machen
der Armee zu treten, worunter mit der gehört, baf
König nicht gewogen iſt.
Nach der Schlacht bei Leipzig wiederholt er
Hardenberg gerichtete Bitte, und fügt denfelben
ihn nur noch weiter ausführend, bei: er erklärt
unangemeffen, daß er in die Nähe des Könige
denn der König finde feinen Geſchmack am ihm.
heiht e8:
Wenn id) dereinſt in bie Höhern Stellen der Armee
würde, jo würde es unvermeiblicd; werden, mit dem
über Gegenftände desjenigen Theils des Militärweiens,
er fi gerade am meiften beichäftigt, in unmittelbare
zung zu fommen, 3. B. Mufterungen, Baraden, Keit
id) würde es ihm Hierin vieleicht nicht zu Dan mache:
mir bdiefe Demüthigungen und Kränfungen zu exjp R
ih eine andere Laufbahn betreten, um die fidh der
niger befümmert. .... J
Selbſt da konnte der König dieſe Abneigung.
Oneifenau nicht überwinden, wo die erhabene Wei
des Augenblids jedes andere Gefiihl als dankbare |
fterung hätte erfliden müfjen: als am Tage
Einnahme Leipzigs der König mit feinen Ali
den auf dem Markte verfammelten Generalen
Ein Raufmann als Philofoph. 829
wurde Gneifenau, ber von allen am meiften Dank ver-
diente, mit auffallender Kälte behandelt. Auch das fo
glänzend verdiente Woancement zum enerallieutenant
blieb länger als billig aus. Alles das erklärt ſich aus
dem Geruche liberaler Neigungen, in denen Gneijenau
nun einmal ftand. ‘Derfelbe war noch befeftigt worden
durch) die Energie, mit welcher Gneifenau im Beginn
des Feldzugs für die Landwehr und den Landfturm ein-
getreten war unb beibe Inftitute gegen das Mistrauen
und die übelmollenden Berdächtigungen, derjenigen ver-
tHeidigt hatte, die in bdenfelben nur ein gefährliches
Werkzeug zu demagogifchen und revolutionären Umtrieben
fehen wollten. Immer von neuem aber erhebt Gneifenau
feine Stimme gegen dergleichen Verbächtigungen, und mit
Freude und Stolz und zugleih mit Ehrfurcht vor dem
freien Geifte, der daraus fpricht, wird jeder die Zeugniſſe
lefen, die Gneiſenau während des Kampfes in Schleflen
und namentlich nad der Schladht an der Katzbach ben
Landwehrleuten ausftellte.
Die Wilrdigung ber DVerdienfte, die ſich Gneiſenau
als Chef des Blücher’jchen Generalftabes um die Führung
des Kriegs in Schlefien und dann durch feinen mit im⸗
mer gleicher Energie geltend gemachten Einfluß um den
Gang ber Operationen überhaupt, bis zur Schlacht bei
Leipzig und dann wieder bis zu dem endlichen Rhein-
übergang, erworben hat, eingehend und richtig zu wür⸗
digen, müfjen wir den Militärs von Fach übherlaffen.
Wie body biefelben anzufchlagen, erfennt man aber erft
recht, wenn man fieht, welcher Wiberftand auch hier zu
überwinden war. Im ungünftigften Licht erfcheinen von
ben unter Blüher und Gneifenau ftehenden Generalen
namentlich Dorf und Langeron. Erfterer, immer ſchwarz⸗
fehend und gallicht, machte ſtets Schwierigkeiten unb
janımerte und Hagte beim Beginn des Kampfes an der
Katzbach über ben Wahnfinn, mit dem man die Armee,
bie erjt zwei Tage Ruhe haben müßte, ins Berderben
treibe. Man leſe blos S. 243 bie Raudbemerkungen,
die Gneiſenau zu einem dieſer lamentirenden Berichte
Horfs machte, und man wird ſehen, welcher Gegenſatz
zwiſchen dieſen beiden Männern beſtand und welche
Schwierigkeiten ſich ihrem Zuſammenwirken entgegenſtellen
mußten. Aehnliche Verhältniſſe, nur in vergrößertem
Maßſtabe, waren es dann, mit denen Gneiſenau nach
dem Siege bei Leipzig und Napoleon's Rückzug über den
—3
Ein Kaufmann
Der Hellenismus und der Platonismus. Von S. A. Byl.
Leipzig, Pernitzſch. 1870. 8. 10 Near.
In dem großen Berjüngungsprocefie, ber ſich jest
auf allen Lebensgebieten vollzieht, ift auch die ernfte For⸗
[hung nicht Teer ausgegangen. Mehr und mehr verliert
fie ihre Eden und Runzeln, und die leichte, anmuthige
Tracht, in ber fie fich jest gefällt, hat ihr den Eintritt
felbft in folche Kreife geöffnet, die der Wiſſenſchaft bis-
ber völlig fremd gegenüberftanden. Gleichwol ift es aud)
heute noch eine feltene Erfcheinung, daß ein nicht zur
Zunft Gehöriger mitten im Treiben ber Gefchäfte die
Rhein zu kämpfen hatte, um ben Webergang über ben
noch immer als Grenze Deutſchlands angefehenen Strom
und die Fortfegung des Kriege bis zur Vernichtung der
Napofeonifchen Herrfchaft zu Stande zu bringen. Das
Gewirr von Selbſtſucht und Feigheit, Intrigue und
Kleinlichkeit, welches nad) dem enifcheidenden Siege im
Lager der Verbündeten zu berrfchen begann, wird von
Gneiſenau in den Berichten trefflich gefchildert, die er aus
dem Hauptquartier der Monarchen zu Frankfurt a. M.
an feine Freunde richtete; man fieht, wie er nod) damals
mehrfach ernftlich fürchtete, daß man den Sieg nicht völlig
benugen, fondern fid) mit einem faulen Frieden begnügen
werde, Neue LTebensluft, neue Begeifterung und die Hoff-
nung, das große Ziel feines Lebens doch noch erreicht zu
jehen, ſprechen aus Gneifenau’8 Briefen, ſeitdem der Ueber⸗
gang über den Rhein und der Angriff auf Frankreich
ſelbſt befchloffene Sache find.
Gerade bis zu dem Augenblid, wo Blücder, in der
erften Stunde des Jahres 1814, den Rhein überfchreitet,
reicht dieſer dritte Band des Perg’fchen Werks. Das
Bild Oneifenau’s als eins der edelften und reinften, be»
geiftertften und feurigften Streiter für die große nationale
Sache, wie wir e8 im Anfchluß an die eriten beiden Bände
den Lefern d. Bl. früher gezeichnet haben, bleibt auch hier
in gleicher Klarheit und Lebendigkeit beftehen, bier und da
um manch Föftlichen Zug bereichert; was uns auch bier
fo angezogen und gehoben hat, ift die edle, milde Menfch-
lichkeit, die aus dem großen Feldherrn fpricht: derfelbe ift
immer zuerft Menfch, und rührend ift es zu fehen, mit
welcher Treue und Sorgfalt er inmitten des Donners
der Schlachten feine Pflichten al Gatte und Bater und
Freund zu erfüllen weiß.
Auch von der Perfönlichkeit Gneiſenau's abgefehen, ent⸗
hält der vorliegende Band des Berg’fchen Werks manchen
werthvollen Beitrag zur nähern Kenntniß jener großen
Zeit. Wir heben in diefer Hinficht die neuen Enthüllun-
gen über bie Trachenberger Konferenzen (S. 113) hervor,
jowie den im Anhange mitgetheilten Bericht über die Auf-
nahme der Nachricht von der Tauroggener Convention
am preußifchen Hof, weldyer aus ben perfönlichen Erin-
nerungen König Wilhelm’ I. von Preußen flammt unb
über einen bisher ziemlich dunkeln Punkt erft völlige Klar⸗
heit verbreitet.
Hans Prup.
als Philofoph.
nöthige Sammlung findet, fich in die fchwierigften Pro—⸗
bleme der Wiffenfchaft zu verfenfen, ja ſich aufgefordert
fühlt, auch jeinerfeits zu ihrer Löſung beizutragen. ine
folhe Exfcheinung haben wir vor uns in der obengenannten
philojophifchen Studie von ©. 4. Byk. Der Berfafier
ft Kaufmann; aber die Schriften der Alten find ihm
ebenfo verftändlih wie der neuefte Qurszettel, und er
verkehrt mit den Philofophen, die längft im Grabe ruhen,
auf ebenfo vertrautem Fuße, wie mit feinen Gefchäfte-
freunden. In feinem Comptoir ftehen Wriftoteles und
Plate, Aeſchylus und Pindar nicht weit von den
830
Rechnungsbüchern, und einträchtiglic liegen in feinem Pulte
die Wechſel des Kaufmanns neben den Manufcripten bes
Denkers; Theorie und Praris, die fonft fo feindlichen
Gefäwifter, haben hier Frieden geſchloſſen.
Die vorliegende Schrift, die, wie wir Hören, nur der
Vorläufer eines umfafjendern Werks fein fol, hat ſich zur
Aufgabe geftellt, die Differenzpunfte, die ſchon für dem
oberflädlichen Betrachter zwiſchen der Hellenifchen und
der platonifchen Weltanfhauung beftehen, fehärfer her
vorzufehren und bie einzelnen Unweigungen aus tiefer«
liegenden Grunbverfchiedenheiten herzuleiten.
Der Hellenismus vergötterte die Erſcheinungen felbft,
die er für ihre eigene Urfache annahm, Die hellenifche
Religion ift eine Neligion der Thatſachen; der Mächtige
hat Recht, und ber Ausgang, wie ihn das blind waltende
Scidfal in räthſelhafter Berkettung herbeiführt, entjcheie
det. Nein bleibender, von den einzelnen Dingen unab«
bängiger Maßftab beftimmt ben Werth berfelben; fie
tragen ihr Maß in fih. Eine erhaben über den Er-
ſcheinungen tbronende Idee, ein Sollen, das ja die erfte
Bedingung aller fittlichen Lebensbetrachtung ift, liegt die⸗
fer Gedankenrihtung fern. Die Kunft war bie Ethik
des Hellenismus.
Anders malt fi die Welt in Plato’s Kopfe. Ihm
ift die Idee des Guten das erſte Princip, aus dem alles
andere herfließt; doch da es ſich nicht in der Wirklich“
keit, fondern nur im Reiche der Gedanken findet, fo ift
diefe fichtbare Welt keine Welt der Volllommeneit, fon-
dern eine des Sollens, die der Volllommenheit zuftrebt,
dem Ideale bes Guten fich nähert, ohne es zu erreichen.
Plato hat alfo ein ethiſches Kriterium, das dem Wellen-
[lage der flüchtigen Erſcheinungen entrüdt if. Der
Menjch, der nad; Plato ein Individuum, ein freies We
fen ift, Tann fi der auf ihn eindringenden äußern
Mächte erwehren und fol, über fie hinweg, zum Gu«
ten durchdringen.
Aehnlich ſieht Plato in der Natur nicht blos Gat-
tungen, fonbern überall Individuen, die nicht etwa nur
als Glieder der Gattung in biefer aufgehen, fondern
ihr zugleich als Befonderheiten felbftändig gegenüberftehen.
Dem elleniomus ift die Natur nur ein ewig fich gleich⸗
Feuilleton.
bleibendes, unveränderlich beharrliches Sein; der Plato-
nismus erfennt in ihr ein immerwährenbes Schaffen, ein
Umformen und Verändern, eine ununterbrodjene Erneuung,
ein ewiges Werben.
Sehr fein find die Unterfchiede, die der Verfafer auf
demfelben Wege zwifchen der helleniſchen Kunftanfhauung
und ber des Plato findet. Letzterm ift ber Menjch der
witrdigfte Gegenftand und zugleich der Zwed der Kunft;
fie ift ihm ein Erziefungsmittel, und nur als ſolches läßt
ex fie gelten.
Die geeignetfte Werkftätte für den Menſchen, dieſes
Höchfte Kunftwerk, ift aber nach Plato der Staat, von
dem er gleichfalls ein anderes Ideal entwirft, als ben
Hellenen vorſchwebte. Der griechiſche Staat vereinigt alle
feine Mitglieder zu einer Gemeinſchaft, melde das Ber-
hältniß ber Bürger zueinander regelt, ohne die Menjchen
in ihrer Innerlichfeit zu erfaflen; was nicht unmittelbar
den Staat und fein Intereſſe berührt, ift für ihm nicht
vorhanden und bleibt in feiner frühern Form beftehen.
Der platoniſche Staat will den ganzen Menjchen ; er nimmt
alle einzelnen Individualitäten ihrem ganzen Inhalt nach
ohne Reſt in ſich auf und verfchmilgt fie alle zu einer
einzigen Wefenheit. Der einzelne, ber in den Gtaat ein«
tritt, wird, ohne ſich felbft zu verlieren oder zu theilen,
zum organifchen lieb einer neuen, höhern Individualität.
Diefer Staat ift Feine mechaniſche Verbindung der eim-
zelnen Bürger, fondern ber Menſch jelbft in der höchſt
dentharen Steigerung, ein lebendiger, ſchaffender Orga-
nismus.
So iſt Plato, auf dem Boden des Hellenismus er⸗
wachſen und zum Theil noch in ſeinen Formen befangen,
dennoch in der Ethik, in der Betrachtung der Natur, in
der Aeſthetil und in feinen Anſichten vom Staat wejent-
lich über die herkbmmliche Auffaflung Hinausgegangen.
Wir bedauern, es Hier bei diefer kurzen Sfizirung des
Gebankengangs der Byffcen Schrift bewenben Laffen zu
müffen. Der Verfaffer bringt für feine Ausführungen
zahlreiche Belege bei, die zugleich werthvolle Beiträge zur
Beleuchtung mancher dunfeln Stelle in ben platoniſchen
Schriften find.
Fenilleton.
Englifge Urteile über neue Erfgeinungen der
deutfgen Literatur.
Ueber 2. Freytag's „Ziberins und Tacitus“ fagt die
„Saturday Review“ vom 19. November: Wenige Männer
von Ruf haben bei der allgemeinen Revifion hiſtoriſcher Ur⸗
theife, welche feit dem Zeitpunkt, von welchem an die Gefchichte
durch die neuere Sritit zu einer Wifienfhaft erhoben worden
iR, vorgenommen wurde, mehr gewonnen als ber Kaifer Tibe-
rius. Weshalb er fo bejonders verrufen war, if leicht zu ent
räthfeln: die ihm beigelegten Verbrechen und Laſter waren im-
pofant und malerifh; fie erregten die Phantafle durch ihre
Scheußlichteit und die Neugier durch das Geheimnikvolle,
das fie umgab. Seine Tugenden, die nämlich eines gerechten
und f&harffinnigen Verwalters, fonnten nicht leicht die Auf»
merlfamteit des Hiftorifers auf ſich ziehen, fo Lange feine Auf-
gabe durch feine eigene Auffafjung derfelben auf eine Verzeich-
mung des Hoflebens, der kriegeriſchen Ereignifie und der Su
natsberatgungen befchränft war. Die helere Seite vom Cha
ralter bes Tiberius war daher fo gut wie nicht worhanden,
und jene firenge Beurteilung eines Herrfchers, die mur die
Erfühung feiner öffentlichen Sihten ins Auge faßt umd wobei
mandjer glänzende Ruf zu Grunde gegangen tft, hat ſich gerabe
für ihm höchſt günftig erwielen. Niemals aber hat man deut:
Tiger wahrnehmen tunen, wie fehr jeder Meimungsumjchlag
dazu geneigt ift, ins entgegengefegte Extrem zu gerathen, als
bei den jüngften Vehrebungen, den mürrifgen Einfiebler vor
‚Capri zu einer Art Heiligen und fogar zu einem Märinrer ju
erheben. Nicht alle Hiftorifer befigen die vortreffliche Urtheils-
gabe des Mr. Merivale. Einige feinen gänzlich unfähig, die
Bereinigung des eiferflüchtigen Tyrannen und gewifienhajten
Hertſchers in derfelben Berfon zu begreifen; andere ĩaſſen fich von
der Liebe zum Widerfinnigen leiten, und wieder audere don ber
Teuilleton.
Liebe zum Despotismus und dem Gefühle, daß man flir einen
folhen wadern Feind der conflitutionelen Regierung im jedem
* Falle etwas verfuchen müffe. Hr. Freptag, der Iette Mpofoget,
gehört ber erſtern Kaffe an. Er fcheint zu glauben, daß er
für Tiberius fon eiwas gefeiftet Habe, indem er aus Geneca
und Philo beweiſt, daß die Provinzen mit feiner Regierung
ufrieden waren. Seine ganze Beweisführung indeffen ift von
der ireigen Anfiht durhdrungen, daß eine im allgemeinen ge-
rechte öffentliche Bermalting fih nicht mit Ungeretigteit,
Graufamteit und Roheit in Berhandfungen, welche das perfün«
liche Interefje oder die Sicherheit des Herrſchers betreffen, ber ⸗
tragen Töne. Solche Beihuldigungen, nimmt er fcrweigend
an, fönnen nicht wahr fein, fie müfjen ſich wegerflären laſſen,
und da dies fi nit mit Hülfe der einzigen für ben Gegen»
Rand braubaren Duelle tun läßt, fo muß diefe Quelle feibft
unlauter und corrupt fein. Daher wird die Ehrenrettung des
Tiberius zur Anklage des Tacitus; uud da, foniel man aud)
auf Rechnung der rhetorifchen Schönfärberei ftellen muß, die
Angaben des Hiftoriters gewöhnlich nicht wegen innerer Un-
glaubmwürdigfeit oder Unvereinbarfeit miteinander angreifbar
find, fo nimmt man feine’ Zuflugt zu einer Theorie von
einem befondern Grolle, der 60 Jahre nad, feinem Tode in
fenatorif—en Kreifen gegen Tiberius gehegt worden fei. Diefe
geiftreihe und nicht unmöglid;e Hnpothefe in im letter Zeit
häufig genug vorgebradit worden, um für diejenigen, deren
Zweden fie dient, zu einer erwielenen Thatſache zu werben.
Sie ift naturich nichts weiter al8 eine ziemlich, glaubroürbige
Mutgmaßung, und felbt wenn fie bemiefen wäre, fo würde e6
dennod durchaus nicht daraus folgen, daß Trajan’8 Senatoren den
Charakter des Tiberius nicht fehr richtig gemürdigt haben. Sie
hatten ſicherůch beffere Unterlagen dazu al8 Hr. Freytag, der
überhaupt nit mie ein Mann von gefundem Urtheil fchreibt.
Die Theorie, auf weiche fein Werk gegründet if, verräth große
Untenntniß der menſchiichen Natur, und der Ton deſſeiben ift
fern von Seidenfdaftslofigteit, ja er iR fe bie zur Anmaßung
und bitter bie zur Bösmilligfeit. Uns ſcheint der Charakter
des Tacitus wichtiger für die Menfchheit als der des Tiberius,
und wir bliden mit Mistrauen und Ungunft auf alle Verſuge,
an den einmal feftgefellten Ausfprüden der Geſchiche leigt-
fertig zu rütteln. Die Rebifion hiftorifher Ürtheile iA eine
nothmendige Aufgabe; fie folte aber in einem Geifte des Ern-
fies und der Nuchternheit und mit der Anerkennung, daß bie
Laſt des Beweiſes denen zufällt, welde die acceptirte Anficht
beftreiten, nicht denen, welde fie behaupten, unternommen
werben.
Ueber 8. Biedermann’s „Der legte Bürgermeifter von
Strasburg” fagt daffelbe Blatt: „„Diefes patriotifche Schaufpiel
darf wohl nit mit Unrecht für ein bloßes piece de circon-
stance (Gelegenheitsftüd, wie wir fagen würden) gehalten wer«
ben; doc} ift e& in diefer Hinfiht eine fehr rüügınlidhe Leitung.
Es ſtellt die wackere Baterlandeliebe Diedri’s, des legten
Burgermeiſters“, im Kampfe mit den Ränten und ber An«
maßung der Sranzofen, der Trenfofigteit oder Furdtfamteit
feiner Collegen in der ftäbtifhen Wermaltung und den Zwift
zwiſchen dem Adel und dem Volke dar. Die Situation ift mit
bedeutender Kraft und Würde des Ausdruds geſchildert, und die
Handlung Hat einen rafhen Gang. Die künferiihe Wirkung
wird indefien durd ein Stüd Effecthaſcherei in der Geftalt
eine® Epilogs etwas beeinträchtigt. Der patriotiige Bürger
meifter iſt faum in die Gefangenfhaft abgeführt, als eine
Trauermuſik aufgefpielt mird, und nad dem geringften Zwiſchen⸗
raum, den man mit einigem Anfland für 289 Jahre gelten
laffen ann, tritt Deutſchland, mit dem Schwert in der Rechten
und Fahne in der Linken auf und declamirt einen im Blankvers
abgeiaßten Zeitungsartitel her.‘
Das „Athenzenm‘ vom 19. November fagt Über „Rampfe
und Siegsgedigte von Julius Sturm: „Der Berfaffer die-
fer Berfe jagt uns felbft, daß Deutſchland ebenfo viele Krieger
lieder wie Bojonnete hervorgebracht habe; dod hält er fid
durch die Betrachtung, daß dies alles nur den fräftigen Herz«
ſchiag des deutfchen Bolt bemeife, fir gerechtfertigt, deren
831
Zahl zu vermehren. Wir können nur fagen, daß, wenn
Sturm’s Gedichte für die übrigen fennzeihnend find, es ein
Süd zu nennen, daß der Krieg fein fiterarifher in wie ber,
welden die Sänger im «Tanhäufer» führen. Sturm’s Name
reizt fehr zum Wortfpiel, und es fällt ſchwer, den Vorſchlag
aurlidzubaften, er möchte ihm das Wort «Drang» hinzufügen.
Jene Schule indeffen, wie heftig fie auch gewefen, zählte einige
Dichter unter fih, während Sturm nichts von ihr hat ale ihre
Ueberfpmwenglichteit.*" 2
Notiz
Die Franz Lipperheide ſche Verlagsbuchhandlung gibt unter
dem Titel? ür Strasburgs Kinder, eine hnachts⸗
beſcherung von Deutſchlands Dichtern‘, eine Sammlung der neuern
Lriegslieder Heraus, die ſich dadurch von den „‚Liedernzu Schutz und
Trug“ unterfheidet, daß jeder Dichter eimgeln in einem Heft
vertreten ift und das Bublifum ſich daher feine Lieblinge ausmäh-
Ien kann, wie überhaupt bie Phyfiognomie und Bedeutung der
einzelnen Dichter in folder Weile fhärfer bervortritt. Das
Bedeutungslofe, das allerdings aud nicht fehlt, läßt ſich fo ber
quemer ausfondern. Bon den Dichtern find vertreten: fFried-
rich Bodenftedt, Karl Gerof, Rudolf Gottihall, Hermann Grie-
ben, Julius Groffe, Karl von Holtei, Wilhelm Ienfen, Her-
mann Lingg, Oswald Marbach, Alfred Meißner, Guflav von
Meyern, Wolfgang Müller, Wilhelm Oferwald, Adolf Pichler,
Heinrich) Pröhle, Julius Rodenberg, Chriſtian Schad, Karl
Simrod, Franz Trautmann, Wbert Trarger, Heinrich Biehoff,
Heinrich Zeife. Auf einige diejer Gediäthefte, deren Haupt
ingalt bisher unbefprodjen blieb, tommen wir nod} näßer zurlid.
Bibliographie.
Ib. t und Rrı des beut! Krieges 1870, liche Bor»
genen hans and @ehgigte biefee Milenehe Bow
F der —
845, E. Blumen und Gterne. Gedichte. Ste vermehrte Aufl.
2eipzig, Amelang. 16. 1 Zhlr. 16 ner.
Uhren Le B., Der arisiietsehe Lostesbogrif mit Besiohung auf die
ehrisdliehe Gottesidee. Leipzig, Bene — 1 Tal, Hofaeiäi
ohleneat. 88, dr (Höiy Henrion), Rleinbeutfge Bofgefgiäten.
ser Bo Der hinae Ders Don Ehepf, Lin Epiegeibiin sus Dr
aeg, Düc (de Sndbanttung,
Deyı. ul Die Meiigion bes @eifed, Weilgtöfe und philolophiſce
Gebigte. Yeipzig, Brodbaus, 1871, 1 It.
Sta Bon wien nad Umerifa. Betrachtungen über englifge
und amerftanijhe Juftänve, Übicago. 16. 10 Rat.
Eamarı 6 heeklgten aus ber Gegenwart. Bünfte Sammlung.
geipig, Brothaus. ©r. 5 1 Zhlr, 24 Wr:
rpdier @., Hilvebrand und Habubrand. Ein dramatiſches Ge-
bit. ac dem Hildebrandslieh. j, Mofer. 8, tar.
exe, SingrSang. Derigie eines Berigelenen. Münden, Wagner.
. 2309
Der verhängnißvolle Sommer 1870. Aus ber poetifgen Erinnerung
eines Raturforfperd. fpreiberg, Engelhardt. 16, 4 Rp
Steger, 8. Eifaß mit Deutf= Lothringen. Sand und Leute,
Sritbefäreising, Beigigte und Gage. keipig, Ünandt u. Händel
7. 8. 15 Nor,
Eutermeißer, D., Immergrün. Sagen und Parabeln, Lehrſprüche
und Rätpfel. Mefel, Düms. Br. 6, 25 Mar,
Bu. zetgenblumen. Reie Gabeln und Üflermäegen. Weit, Düme.
x. 8
25 Nor.
Ber Teufel auf dem irdencor. Ein muftafifgee Schenssii_aus
Men. Bon „Eatus,r Gray Moter. 8.37 Mar.
alheim, Louife, 3
Mai Drei Crjählungen.
Bredlau, Lrewendt. 1871.’ Dr. 8, 1 pie.
Tiesmener, 2, Neifeerinnerungen an ben beutf& » franpöfligen
Sieg 1870, Barmen, Mein. 8. 4 Mpr.
Aptie, Di freie menfölige Spule. Cin Berfug. Gera, Strebel.
Gr. 16. 3 Rar. "
Vämböry, H., Russlands Machtstellung in ‚Asien. Eine historisch-
politische Btadie. Leipzig, Brockhaus. 1871. Gr. 8.
—
in lase dee Leben
Bolger, %., Eifaß, Lothringen und unfere Frleden en.
‚die. Iffe DIE Ate Aufl. Anklam, Diepe. Gr. —
— Bi SL HE
3 Bbe. Leipzig, Günther. 8. 2 Zhlr. 15 Nr.
Vogelweide, Auswahl aus den Liedern, her-
ıd’ olnem Glossar versehen von B,
Wterlatik dor arabischen Poose.
. 20 Nor.
e Garen Sappeimann’e'peitere Beräte vom Rriejee
ches Heft. Berlin, Groffer. Or. 8, 27, Mar.
mit’ Bifgöfen der — Medrbeit über
6 firglige Lage von einem Alttatpoliten. Bafel, Bahnmaier. Gr. 8.
#2
832
Anze
— Niiii —
Derfag von 5. A. Brodhhaus in Leipzig.
Soeben exfgien:
Bunfen’s Bibelwerk.
Drei Abtheilungen in neun Bänden.
Geheftet 20 Thlr. Gebunden 23 Thir. Bibelatlas 1 Thlr.
Nene Ausgabe in 30 Lieferungen,
Erle Lieferung.
Subferiptionspreis jeber Lieferung 20 Nor.
Das berühmte Werk liegt jegt vollendet vor und ift
volfändig auf einmal, geheftet und gebunden, ober nah und
nad) in 9 Bänden ober in 3 Abtheilungen zu beziehen. Außer
dem erfheint von bemfelben, um bie allmähliche Anſchaffung
u erfeihtern, eine Neue Ausgabe in 30 Lieferungen zu je
Nor. Bon diefer Ausgabe werben monatlich 1—2 Liefer
rungen ausgegeben. Die erfte Lieferung ift bereits erſchie-
nen und in allen Buchhandlungen zur Anfiht zu erhalten.
Bunfen’s Bibelwerk, das fon während feines allmäh-
lichen Erſcheinens große Verbreitung gefunden Hat, if troß
einzelner ‚Anfeindungen von Ha und orthodorer pro⸗
teftantifher Seite allgemein als ein oͤbchſt bedeutendes Unter»
nehmen anerfannt worden, das die vollſte Beachtung
nicht nur ber theologifhen Welt, fondern der wei—
teen Kreife des deutfhen Volks verbient.
Bunfen’s Bibelwerk
nach feiner Bedeutung für bie Gegenwart beleuchtet
don
Bernpard Rähring.
Zweite umgearbeitete Auflage. 8. Geh. 12 Nor.
Bähring’s bereits in zweiter Auflage vorliegende Schrift
Hat ſich als eine vorzüglihe Cinführung in Bunfen’s Bibel-
wert bewährt, indem fie mit Kiarheit und Schärfe die Bes
ziehungen hervorhebt, wegen deren dafjelbe für unfere Zeit vom !
fo tiefer Bedeutung ift.
Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.)
Klein, Hermann J., Handbuch der allge-
meinen Himmelsbeschreibung vom Stand-
punkte der kosmischen Weltanschauung dargestellt.
Das Sonnensystem, nach dem gegenwärtigen Zu-
stande der Wissenschaft. Mit drei Tafeln Abbil-
dungen. Zweite verbesserte Auflage. Gr. 8. Fein
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Klein, Hermann J., Entwickelungsge-
schichte des Kosmos nach dem gegenwärti-
gen Standpunkte der gesammten Naturwissenschaften.
Mit wissenschaftlichen Anmerkungen. Gr. 8. Fein
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Dertag von 5. A. Brocheus in Leinsig.
Soeben erfdien:
Predigten aus der Gegenwart,
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D. Earl Schwarz,
Oberpofprebiger und Oberconfiforinrath zu Gotha
Fünfte Sammlung.
8. Geheftet 1 Thfr. 24 Nor. Gebunden 2 le.
Diefe nene Prebigtfammlung des gefeiertem Kamelrednert
enthält Predigten über den Apoftel Paulus und fFeipredigten,
Paulus gilt dem Verfaſſer, wie er im WBormort jagt, alt
Apoftel der Freiheit und al® beſonders geeignet, dab
Chrifienthum mit der Bildung und bem fittlichen Impulien
unferer Zeit zu vermitteln. Unter dem freftprebigten, die fih
alle am beflimmmte Zeitbeziehungen anfchfiehen, ficht namentlih
die Kriegepredigt mitten im Leben ber Gegenmart.
In wie weiten Kreifen Schwarz’ Predigten Eingang ge
funden haben, bezeugt die raſche Folge nener Auflagen: die erſe
Sammlung, fe t bereits im dritter, die zweite umb dritte im
zweiter Auflage vor. Jede der Gammlungen koftet geh.
1 Thfr. 24 Ngr., geb. 2 Chr.
Für Weihnachten.
Kürzlich erfchienen und in allen Buchhandlungen vorcäthig:
Robert Surns, Lieder und Balladen, deutſch von A. Yatın,
Geh. X Sor-, fein in Golofgnitt geb. 1 Thlr.
A. Elje, Lord Byron. 2 Thlr. |
A. Caun, Waſhington Irving. 2 Bde. 2%, Thlt.
Fur die Jugend:
A. Saradap, Naturgefhichte einer N 6 Ber
Te Rene BEER
Enthält in einer dem Verfländuiß des Kindesat .
paßten Form die Grunblehren der Raturmiffenfäah ause
Verlag von R. Oppenheim in Berlin.
Derfag von S. A. Brocihaus in Leipzig.
Soeben erfdien:
Die Religion des Geiftes,
Aefigiöfe und philoſophiſche Gedichte
bon
Meldior Kleyr.
8. Geh. 1 Thir. Geb. 1 Thlr. 10 Apr.
Diefe Dicht des di ine philoſophi i
u Ar m Menke at
Scriftfelere beruhen auf fo neuen, eigenthümfigen Anfefan«
ungen von dem Verhältnitz des Menfchen zu Gott und fiehen
aud in der Form fo — da, Daß fie nicht verfehlm
werden mehr als gewöhnlid;e Beachtung zu finden. I einer
längern Ginfeitung entwidelt der Dichter felbft die Ausgangs
punkte feines poetischen Schaffens ſowie dis z
er zufirebt. chaffene ſowie die Hohen ide, den
Berantwortliger Rebacteur: Dr. Eduard Srohhaus. — Drud und Verlag von F. A, Srodhaus in Leipjig.
Regiſter.
(Die mit * bezeichneten Namen und Werke find im Feuilleton ber betreffenden Nummer erwähnt.)
Actenſtuͤcke, officielle, zu dem von Sc. Heilig:
feit dem Bapfte Pıus IX. nad Rom be:
rufenen Oekumeniſchen Goneil. 17.
Adami, F., Große und Kleine Welt. 72.
»Advocat Hamlet. Schaufpiel. 80.
Ahlers, W., Die Notabilitäten der Thiers
welt. 241.
*Afademie, bie Leopoldinifche. 463.
Akſaͤkow, A., |. Davis.
Album. Bibliothek beutfcher Originals
zomane. Dreinndzwanzigfter Jahrgang.
—— ausländifcher Dichtung in vier Bü⸗
Kern: England, Frankreich, Serbien,
Bolen. In beutfcher Ueberſetzung von
H. Nitſchmann. 817.
* für Deutfchlands Töchter. Lieder
und Romanzen. 814.
— ſchlefiſcher Dichter. Herausgegeben
vom Derein für Poefle unter perfönlicher
Redaction des Vorſitzenden N. Finden:
fein. Siebente Yolge. 459.
Althaus, F., Englifche Obarafterbiber. 305.
Altmann, 3., Aus einem Dichterleben. 461.
* Amalie von Sachſen, Brinzeffin; Tod ber:
felben. 782.
Anthony, W., Die feindlichen Brüder, 282.
Aphorismen aus den Papieren eines Ders
ftorbenen. 284.
Aprent, 3., Adalbert Stifter’ Briefe. 481.
Arbues, Peter, und die fpanifche Inquifition.
Hiftorifhe Sfizze, zugleich Erläuterung
an Fa von Kaulbach's Bilde „Arbues“.
669.
Arendt, R., Der Anfchauungsunterricht in
der Naturlehre, als Grundlage für eine
zeitgemäße allgemeine Bildung und Vor⸗
bereitung für jeden höhern naturwiſſen⸗
fchaftlichen Unterricht. .
—— Moterialien für den Anſchauungs⸗
unterricht in ber Naturlehre. 244,
Arndt, F., Eduard Hildebrandt, der Maler
des Kosmos. 106.
Auer, Adelheid von, Modern. 550.
—— Schwarz auf Weiß. 250.
Auerbach, B., Das Landhaus am Rhein. 5.
"Aufverfung einer literarifchen Faͤlſchung,
betreffend die Correfpondenz zwijchen Bas:
cal und Newton. 559.
1870.
"Autographen = Berzeichnig von Richard
Zeune in Berlin, das funfzehnte. 78.
Avé⸗Lallemant, R. C. B., Anfon. 123.
Avenarius, R., Ueber die beiden erflen Pha⸗
fen des Spingzifchen Pantheismus und
bas DVerhältnig der zweiten und dritten
Phaſe. 203.
"Baader, $. non, Die Verfaſſung der chriſt⸗
lichen Kirche und der Geiſt des Chriſten⸗
thums. 287.
Barni, I., Napoleon I. und fein Gefchicht-
fhreiber Thiers. Verdeutſcht von N.
Ellifien. 85385.
Barre, &., Gedichte. 198.
Bary, N. de, Ueber Schimmel und Hefe. 56.
Baffewig, K., Gedichte. 119.
Baſtian, N., Alexander von Humboldt.
Feſtrede. 87.
—— Die Völker des öftlichen Aflen. Dritter
bis fünfter Band. 113.
u Meltauffaflung der Buddhiſten.
Baubifin, Graf U., Ronneburger Myfterien.
Baumgarten, M., Herr Generalfuperinten:
dent Dr. ®. Hoffmann in Berlin vor
den Richterſtuhl der deutſchen Chriſtenheit
geſtellt. 17.
Bechſtein, ſ. Claſſiker.
Beck, K., Still und bewegt. Zweite Samm⸗
lung der Gedichte. 418.
Becker, A., Aus Stadt und Dorf. 490.
—— ſ. Gareis.
Beiträge, livlänbifche. Herausgegeben von
W. von Bol. Neue Folge. eier Band,
Erftes bis drittes Heft. 449.
Benedix, R., Abenteuer in Rom. — Weih⸗
nachten. 81.
— Der münblie Bortrag.
vermehrte Auflage. 271. -
Benedix⸗Fonds und Benedix⸗Feſt. 447.
Benfey, R., Alexander von Humboldt und
feine Bedeutung für bie VBolfshildung. 87.
Beranger, Lieder und Chanfons. ber:
tragen von A. Zaun. 581.|
Bertram, Winifrid, und die Welt, in der
fie lebte. Bon der Berfafferin der „Bas
Zweite
milie Schönberg-Cotta”. Aus dem Eng⸗
fifchen von Charlotte Philippi. 490.
Beskow, B. von, Die Sefundheit der Seele.
Nach der zweiten Auflage des fchwebifchen
Driginals überfeßt und mit einem kurzen
biographifchen Abriß des Verfaſſers vers
fehen von G. von Saraum. 158. 493.
Beſſe, P., Die Königin Euife von Preußen
und ihre welthiftorifche Bedeutung. 795.
Betrachtungen über die franzöflfche Armee
mit befonberer Derüdfihtigung bes mo⸗
ralifchen Elements. Bon M. v. K.
Beyer, K., Friedrich Rückert. 481.
»Bibliothek ausländifcher Klaffifer (Hild⸗
burghauſen, Bibliogr. Inſtitut). Heft
108—113. 3083.
* — der beutfchen Nationalliteratur des
achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.
Band 28. 398.
* —— Hiftorifch-politifche. Erſtes bis breis
zehntes Heft. 47.
* — ypoilofophifche. Herausgegeben von
3.9. von Kirchmann. Bis 84. Heft. 47.
Bibra, ©. Freih. von, Aus jungen und
alten Tagen. 137.
Bilmore, A. S., Reifen im oftindifchen
Archipel in den Jahren 1865 und 1866.
sus dem Englifchen von 3. E. A. Martin.
®
Biedermann, D. Frei. von, Der Roman
als Kunftwerf. 749.
Dienemann, F., Aus baltifcher Borzeit.
487.
Binhack, F., Reime und Träume 119.
Dirlinger, A., So fprechen die Schwaben.
329
Biurften, H., Der Fluch der Armuth. Aus
dem Schwedifchen von F. Zeißberg. 101.
De E., Volkstheater. Nr. 31—33.
9
Blomber ‚9. von, Pſyche. 122.
* Blum, Hans, Rebacteur ber „Grenzboten“.
197.
Blumſtengel, K. G., Leibniz's aͤgyptiſcher
Plan. 107.
Bock, W. von, Der deutſch⸗ruſſiſche Con⸗
fliet an der Oſtſee. 449.
—— f. Beiträge, livländifche.
* Bodenitent, Friedrich; Rüdtritt defjelten
‚s
*
year
J
* 4
—
u
von ber Zeater Intenbantur zu Mei⸗
ningen. 81.
*Bodenftebt, F., Neun Kriegslieder. 670.
Boͤch, R., Der Deutſchen Volkezahl und
Enta qhgebier in den europälfchen Staaten.
Bölte, Amely, Ein Thron und fein Geld.
588.
— re Movellenſtrauß. Zehn⸗
ter Band.)
—— Streben © Reben, 138.
Bomhard, €. von, Aehren vom Felde ber
Betradhtung. ülus deffen literarifchem
Nachlaß Herausgegeben von 9. Siabel⸗
mann. 73.
Bornemann’s, W., Jagbgebichte. Aus ben
hinterlaffenen Handfriften des verflors
benen Dicjters ‚gfamnek unb heraus:
gegeben von K. Bornemann. Neue Aut
gabe. 195.
Big, Adolf, Das Galgenmännchen. 732.
*—— Goethe’s Jugendliche. Dritte Auf:
tage. 197.
*—— Tod befielben. 782.
Brachvogel, A. €., Die Grafen Barfus.
— Eubiig der Zieg hute oder die Ko⸗
modie bes Lebens. 602.
—— Der deutſche Michael. 552.
r—&, Dichtungen. Zweite vermehrte
„ Hufl SEE. sa
ie —— 80.
—— Emil. 286
Brandes, H. R., Ausflug nach Reapel und
dem Normannenarjipel im Sommer
1867. 723.
Brandt, H. von, Aus dem Leben des Bene
tals der Infanterie 3. D. Dr. Heinrich
von Brandt. Aus den Tageblihern und
Aufzeichnungen feines verftorbenen Vaters
aufammenge ellt. Siweiter Theil. 186.
Braubach, Religion, Moral und Philo—
fophie der Darwin’fc—hen Artlehre nach
ihrer Natur und ihrem Charakter ale
Heine Daralle menfchlich geiftiger Ente
widelung. 285.
"Braun, der Abgeorbnete, und bie Autoren⸗
te. 190.
rechte.
Braun, A. Die Ciszeit ber Erbe. 382.
— 5., Gemälde der mohammebanifchen
Welt. 758,
— 8, Der Weinbau im Rheingau. 387.
—Üs, ., Aus der Chewelt. 550.
—— Eine gelungene Cur. 429.
— Ein häplices Mädchen. 28.
—— Das Erbe Tosfa's, 429.
Brehm, U. E., Gefangene Vögel. Erſter
Theil: Die Stubenvögel. Erſte Liefer
zung. 764.
Breifwert, D. von, Ein Depoffeirter.
300.
Briefe, Harmlofe, gie beutfchen Klein»
ſtadters CErfler Bi 660.
Briefwechfel landen von Humbolbt's mit
Serie) Berghaus aus den Jahren
25—58. Zweite wohlfeile Jubel⸗
Aue jabe. 87.
Brudbadh, ©., Wegweifer durch bie Ges
ſchichte der Päbagogif. 155.
Büchner, Luife, Prattiſche Verſuche zur
öfung ber Frauenfra, e. 812.
Buchwald, D., Kleine Baufteine. 219.
* Bubbeus, 2%, Freya. Das Leben ber
Regifter.
Liebe in Liedern und Gebanfen beutfcher
und fremder Dichter. 399. 785.
Bulwer, @. Lord Pytton, Der dechtmäßige
Erbe. Ins Deutſche übertragen von
8. $. Simon. 297.
Bund, L., Die Semi-Säcularfeier der für
nigligen Kunftafadeniie zu Düffeldorf.
Bunfen. — Chriftian Carl Iofias Freiherr
von Bunſen. Aus feinen Briefen und
nach eigener Amfsauung eſchilbert von
feiner Mitwe. Deutfeie Su [usgabe, durch
neue Mitgilungen vermehrt von &. Rip
volb. Bu Aeiter jand: Schweiz und Eng⸗
ai
Pe ® A. 9. f. Goethe.
Burns, R. Lieder und Balladen. Deutfch
von A. gaun. 235.
Buſch, M., Gefdichte ber Mormonen nebft
einer Darftellung ihres Glaubens und
ihrer gegenwärtigen focialen und politis
fen Berhältuifle. 689.
u W., Der Heilige Antonius von Padua.
Buflon, A., Die florentinifche Gefchichte der
Malespini und deren Benugung durd)
Dante. 465.
Bıf, ©. 9., Der Hellenismus und ber
Platonismus. 829.
Byr, R., Sphinz. 709.
Ealderon be la Barca, Das Leben ein
Traum. Aus dem Spamfchen nen übers
feßt und für bie beutfche Bühne bearbeitet
von P. Herlth. 579.
— go elbe, Ueberfegt von I. D. Gries.
FG Marie, Die Stellung der deutſchen
Sedrerinnen. 812.
„Der Erbe des Millionäre.
Calmberg, 9.
278.
—— Jürgen Wullenweber. 278.
Gamoens, 2. de, Die Lufiaden. Deutfc in
ber Versart ber portugiefifcjen Urheift
von I. 3. C. Donner, Dritte, vielfach
verbefierte Auflage. 581.
I amntlice Zoyllen. Zum erſten
male deutfh von &. Schlüter und W.
Stord. 718,
Earlyle, T., Blicke eines Engländers in bie
firclichen und forialen Zuftände Deutſch⸗
lands. Ueberfeßt von ®. dreih. von
Richtgofen. .
— Gefcjichte Sriedrich’s IL. von Preußen,
genannt Friebrich der Große. Deufch
von 3. Neuberg, fortgefept von F. Alt
Haus. Bünfter und fester Band. 359.
Easpari, D., Die pſychophyfiſche Bewegung
in iane ber Natur ihres Subftrats.
Giriken, Ada, Aus der Aſche. 436.
Glaffiter, beutfge, des Mittelalters. Ber
gräudet von $. Pfeiffer. Giebenter und
achter Band: ottfeled’8 von Straßburg
Zeil. ‚Herausgegeben von R. Bedhftein.
Elemens, F., Das Manifeft der Vernunft.
Amel gänzlich; umgearbeitete Auflage.
Sofen, 8 $., Die dichterifche Phantafle und
der Mechanismus bes Bewußtſeins. 237.
Cohn, 8., Licht und Leben. 56.
"Collection of German Authors. ®5. 16:
Gutzkow, Trough night to light. Ueber»
fegung von Mrs. Faber. 271.
Gorrad, G. Vermiſchte Schriften. Zweiter
Theil, 275.
Eongen, H., Einleitung in das ſtaate- und
volfewirthiäjaftliche Studium. 218.
Coe ver's, W., ausgewählte Dichtungen.
Ueberfegt von W. Borel.
Corps, die, der beutfchen Hodyfchulen nebit
einer eingehenden Darftellung ſtudentiſchet
Berhältnifte. 669.
Eorrobi, A., Blühendes Leben. 588.
Eofel, E. von, Geihichte des preusiichen
Stantes und Volles unter den Hohen:
gell’ ien Ne, Fürften. Grfter bis dritter
and.
Gotta, B. a Ueber das Entwicelungs-
jeg der Erde. 248.
Griminalgefchichten, die intereffanteften, aller
Länder aus älterer und neuerer Zeit.
Eine Auswahl für das Volk aus dem
„Neuen Bitaval”. Umgearbeitet und
Herausgegeben von A, Vollert. Bünfter
und fechster Band. 217.
Daguet, A., Geſchichte der ſchweizeriſchen
—— von ben älteften Zeiten
bis 1866. Deutfche Ausgabe nach der
fechsten Auflage mit Nachtrag. 167.
*Daul, A, Reitherne im Sehen and Sichen
der Frauen. 126.
Daumer, ©. F. Charafteriftifen und Kris
tifen, betreffend bie willenichaftlichen,
zeligiöfen und focialen Denfarten, Syfteme,
Brojeete und Zuftände der neueiten Zeit.
26.
Davis, A. J. Die Prineipien ds-Batur,
ihre göttliche Offenbarung und Ffite
timme an bie Menichheit. Aus der
dreifigfien Ausgabe des amerifanifchseng«
Uifchen Driginale mit Autorifation des
Derfaflers ins Deutſche überfegt von
G. K. Wittig und mit einem Vorwort
mebß Anhang Herausgegeben von A.
Atſatow. 422,
Deden’s, Baron K. K. von der, Neifen in
Dftafrifa in den Jahren 185‘ Her
ausgegeben im Auftrag der Mutter des
Reifenden Fürſtin Adelheid von Blef.
Dierter Band. Wiſſenſchaftlicher Th:
Die Bögel Ofafrifa's, von D.. Fine
und ©. Hartlaub. 764
Demmin, 9, Die Krisgswaften in ihrer
hiſtoriſchen " Entwidelung von ber Stein»
zeit bie zur Erfindung des Zündnadel-
gewehrs. 410.
Der Frauen Königreich. Cine Liebecge-
ſchichte von der Berfaijerin von „Joom
Halifar”. Aus dem Gnglichen vom
Sophie Berena.
Deutſch, €, Der Talmıd.
ten — Auflage ins
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Daukalanı. — Eine periodiſche Schrift zur
Beleuchtung beutfchen Lebens in Staat,
Geſellſchaft, Kirche, Kunft und Wiffenz
haft, Weltgefchichte und Zukunft. Im
reine mit mehren herausgegeben won
DB. Hoffmann. Erfter Jahrgang. 1870,
Erfter Band. 526.
Aus der fieben-
Deutjche übrr-
|
* Deutfchland über Alles. Kriegs und Vater⸗
landslieder aus Schwaben, herausgegeben
von ber Verlagsbuchhandlung A. Kröner.
766.
*Devrient, Eduard; Penſionirung beffelben
ale Generalbirector bes karlsruher Hof:
theaters. 31.
Dichter, beutiche, des 17. Jahrhunderts.
Herausgege en von K. Goebefe und 9.
Tittmann. Erſter Band: Ausgewählte
Dichtungen von M. Opitz, herausgegeben
von I. Tittmann. Zweiter Band: Ges
dichte von P. Yleming. Herausgegeben
von I. Tittmann. Dritter Band: Sinn-
gedichte von F. von Logau. Heraus:
gegeben von ©. Eitner. 411.
F Daſſelbe. Zweiter und dritter Band.
»Dietz, P., Woörterbuch zu Dr. Martin
guide 8 beutfchen Schriften. Erſter Band.
Dillenius, F., Florian Geyer von Geyern,
Hauptmann der fchwarzen Schar im
großen Bauernfriege von 1525. 277.
Dindlage, &. von, Tolle Gefchichten. 102.
Dove, H. W., Gedächtnißrede auf Alerans
ber von Humboldt. 87.
Dochn, R., Der Bonapartismus und der
Be — Conflict vom Jahre
— Dafetke Ins Italienifche über:
tragen von P. Virano. 9,
* Dramen, vaterländifche (preußifche). 271.
Drvege, ®., Der Krieg in Neufeeland. 409.
Drocke, W, Einführung in die deutſche
Literatur von ihren erſten Anfängen bie
zur Gegenwart. 619.
Droßbach, M., Ueber Erfenntnig. 183. 753.
DroftesHülshoff, 5. Baron, Die Bogelwelt
der Norbfeeinfel Borfum. 92.
Dunger, H., Die Sage vom trofanifchen
Kriege in ben Bearbeitungen des Mittels
alters und ihre antifen Duellen. 729.
— Leber Dialekt und Bolfslied des
Vogtlands. 335.
Dühring, €., Kapital und Arbeit. 310.
ritifche Geſchichte der Philoſophie
von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. 9.
— Die Verkleinerer Carey's und die
Kriſis der Nationalökonomie. 310.
"Senden H., Goethe's Eintritt in Weimar.
Durdik, 3., Leibnig und Newton. 753.
Ebel, W., Diron’s und Duncker's Seelen»
bräute. 156.
Ebeling, A., Neue Bilder ans dem moder⸗
nen are Erfter und zweiter Band. 625.
— S. W., Wilhelm Ludwig Wethrup.
Sehen und Auswahl feiner Schriften. IL
Ebersberg, J. Hauss, Hof und Staats:
gefchichten. 582.
Eberty, F., Gefchichtebes preußifchen Staats.
Zweite Abtheilung. Erfler und zweiter
Band. 859.
Edardt, 3., Baltifche und ruffifche Eulturs
fubien aus zwei Jahrhunderten. 487.
— Bürgertfum und Bureaufratie. 487.
—— Rußlands ländliche Zuſtaͤnde feit Auf:
hebung der Leibeigenfchaft. 449.
Eckſtein, E., Schach der Königin! 84.
Regifter.
Egenter, F. 3., Pfaffenkrieg. 715.
"Egger, A., Die Reformbeftrebungen auf
ben Gebiete ber beutfchen Rechtfchreibung.
Eggers, F., Blicke auf die Kunftrichtung
ber Gegenwart. 795.
Ehrenberg, C. G., Gedachtnißrede auf Alerans
ber u Humbolbt. 381.
Gitner, ©., |. Dichter, deutfche.
Elliſſen, $, Der Schönften. 715.
Elimenreich, A., Acht Kriegslieder zu
Schutz und Truß. 167.
Elsner, 5 Die Braut des Nil. 420.
Elwert, W., Heimatlieder, 151.
Elze, K., Lord Byron. 481.
— Englifcher Liederſchatz aus britifchen
und amerifanifhen Dichtern. Künfte
rerteſg —— vermehrte Auflage. 817.
Emminghaus, A, Hauswirtbfchaftliche Zeit:
fragen. 586.
Engelbarbt-Echnellenfleln, Helene Baroneffe
von, Morgenroth. 692.
Engelien, A. und W. Lahn, Der Volks⸗
mund in der Mark Brandenburg. Erſter
Theil. 329.
Engelmann, T. P. Ueber die Flimmer⸗
bewegung. 386
Erdmannsdorffer, v., Graf Georg Friedrich
von Waldec. 218,
ee Das Zeitalter der Novelle in Hellas.
Erinnerungen an Henriette HendelsSchügß.
Nach ihren binterlaffenen Aufzeichnungen
und Mittheilungen von Beitgenofien hers
ausgegeben. 7
Erlach, F. von, Die Freiheitskriege Feiner
Bölfer gegen große Heere. 406.
Ernft, T., Der Bürgergeifl, bie Bühne und
ber Bühnenvorftand. 157
Gsmardh, F., Ueber den Kampf der Huma⸗
kit gegen die Schreden bes Kriege.
Eike, H., Morgenlänbifche Studien. 12.
Euden, R., Ucher die Methode und die
Grundlagen der Mriftotelifchen Ethik.
"Enangelfenüberfeßung, eine beutiche, aus
bem 12. Jahrhundert. 14.
"vers, M., Vorwärts. Sieben gehar⸗
nifchte Sonette an das deutfche Bolf. 670.
Falb, R., Grundzüge zu einer Theorie ber
Erhbeben und DBulfanausbrühe. 245.
0
Falkland, H., Gedichte. 457.
Familienbibliothef, illuſtrirte. Herausge⸗
geben von P. Kormann. Grfter Band.
"Gehen, 2 $., Die deutfchen Helden von
38. Fünfte vermehrte Auf:
a 267.
Fels, E., Loreley. 588.
Feval, ÿ. Die Herzogin von Nemours.
Aus dem Branzöftfchen überfeßt. 267.
Fichte, 3. H. von, Die näcjften Aufgaben.
für die Nationalerziehung der Gegen
wart mit Bezug auf 1 Brievrig Bröbel's
Erziehungsfpfem.
Senf R., A sun ſchleſiſcher Dichter.
Sindel, 3 ,.®,D ie Säule ber Hierarchie
unb des Abjolutismus in Preußen. 526.
IU
Finſch, F ſ. Decken.
»Fiſcher, J. G. Löwe, F. und K. Schoͤn⸗
hardt, Drei Kameraden. 766.
— R, Geſetz betreffend das Urheber:
recht an Schriftwerfen, Abbildungen,
muftfalifchen Compofltionen und drama:
tifhen Werfen som 11. Juni 1870;
heransgegeben. 703.
Slaumberg, ®., Ein Leben in Liedern.
—— Die Rofe von Urach. 429.
Bieming, B., ſ. Dichter, deutiche.
edichte. Herausgegeben von I. Titt⸗
mann. 79.
*Förftemann, E., Straßennamen von Ge:
ren .
Förſter, K ‚ Meber ben Berfall der Reſtau⸗
ration alter Gemälde in Deutfchland
und Proteft gegen das von Bettenfofer'fche
Regenerationsverfahren. 218.
Franz, O., Gajus Gracchus. 35.
— Fudas Sicharioth. 84.
BrauensBereins:Conferenz, die berliner, am
5. und 6. November 1869. 812.
Sreimuiß, W., Ins Klofter. 552.
Srenzel, K ‚ Im goldenen Zeitalter. 177.
Frefenius, a. K., Die pſychologiſchen Grund⸗
lagen der Raumwillenfchaft. 182.
»Freybe, A., Das Spiel von ben zehn
Jungfeauen; übertragen und zeitgefchichts
lich behandelt. 687.
Freymann, Julie, Kritif der Schillers, Shafs
fpeares und Goethe’ fchen Frauencharaktere.
Freylag, G., Karl Mathy. 81.
— fein R Rücktritt von ben „Grenz⸗
boten‘ und feine Mitarbeiterfchaft au
„Sm neuen Reich”. 797.
Bei F., Poetifche Pinafothef. 151.
ritſch, K Au f. Reiß.
Fröhlich, F. J., Beiträge zur Geſchichte der
Muſik der ältern und neuern Zeit, auf
muſitaliſch Documente gegründet, 283.
Sronmüller, T
a
Banlus. Dramatifches
Gedicht.
Fullborn, G., Der Dorfpaganini. 699.
* Für Strasburgs Kinder. Eine Weihnadjts-
beiherung son Deutfchlande Dichtern.
Frommutb, E
Bacerg, Th., Adrian von Oftade. 154.
Salen, P., Der Löwe von Luzern. 522.
— Walram Sork, ber Demagoge. 139.
. Beier, Zur Phyfio⸗
grapbie des Meeres.
86.
* Saribaldi, G., Die Regierung des Mönche.
— Ankündigung diefeg Romans. 126.
Gayette-Beorgens, Jeanne Marie von, Geift
des Schönen in Kunft und Leben. 219.
—— Marimus Caſus, der Oberlehrer von
Druntenheim.
»Geibel's Sophonisbe; Aufführung am bers
liner Boftheater. 30.
Geilfus, G., Helvetia. Baterländifche Sage
und Geſchichte. Vierte vermehrte und
verbeſſerte Auflage. 167.
Genée, R., —*6 der Shalſpeare ſchen
Dramen in Deutſchland. 817.
"Genen, D. F., Dom Deutfchen Kaifer.
767,
Georg, der Auswanderer. Oder: Anſiedler⸗
Bareis, A., und A
WV
leben in Südbraſilien. Neue wohlfeile
Ausgabe. 205.
Georg ber II. und bie fhöne Minette. Er
ählung aus der erflen Hälfte des 18. Jahrs
underts. Don der Berfaferin von „Ein
Barehans vor 50 Jahren“,
jerbel, C. R. von, tungen. Exfie
Sammlung 40. icheuns u
Gerland, ©., f. Baig.
Gerftäcer, 8. Die iffionare. 549,
Sg —— befelben, 14. ve
jichte terreiche vom Ausgange bes
wiener Octoberaufftandes 1: Von
©. von ©....n. I. Die Belagerung
und Einnahme Wiens. II. Revolution
unb Reastion im Spaͤtjahr 1848. 632.
"Gesty, T., Der Rhein foll deutfch vers
bleiben. "689.
Giacomelli, P., Der Millionär und ber
Sin, aus dem Stalienifchen von €.
eis, 2 8. A, Der Berggeifl.
Gibendier, 6 Johann Georg Ha⸗
mann s Briefe mit Briebrich Hein
rich Sgebl, 865.
art, 8 ‚ Ahasverus, der ewige Jude.
— nobert 9.
Ga; Iagan, D., Litauen unb bie Littauer.
ol, A, Was ih Wahrheit? 43.
Sternloje Nächte. Nults sans
Brote
581.
Siaß R., Warwid, 59.
Gtahbrenner, A, Gedichte. _ Fünfte vers
mehrtg und verbeffexte Wuflage. 468.
nad, &,, Bopuläre Vorträge über Dieter
und Digchun, Erfte Sammlung. 284.
Goebefe, 8., f. Dichter, deutiche.
Emanuel Gelbe, rfier Theil.
Goldammer, 2,, Sabowa. 435.
Sollbanmer, T., Gebichte. 358.
Golg, ® „ Borlefungen. 305.
— Tod beffelben. 782.
Som, € 8. Blüctige Blicke in Natur
und Kunfl. "219,
Görner, C. A, Almanach dramatiſcher
Bühnenfpiele zur gefelfi ig Untergang
für Stadt und Land. Elfter Jahrgang.
"Goethes Gedichte. Brachtausgabe von
A. Lupe, mit Illuſtratinen von Her⸗
mine Stilfe. 78.
— Unterhaltungen mit dem Kanzler Fried⸗
F% von Müller. Herausgegeben von
€. 9. H. Burfharbt. 597.
"Geste gabe, neue (Berlin, Hempel).
Gottsiber und Cultus bei ben alten Preußen.
Genie von Straßburg, ſ. Claſſiker.
Goitſchall, R., Pi Hoc Die Dichtkunſt
und ihre Tehnit. Zweite Kuflage. 62.
*—— An Victor Hugo. 671.
*&rabbe's, €. D., fönmtliäe Werke. 541.
Grabunehi, &t. Graf, Aus * und Haus.
— — Aungfean von Orleans. 173.
— Der Schüpling des Raifere. 521.
Grain Tuig. Schwänfe und Gedichte in
fauerlänbifcher Mundart vom Verfafler
Regifter.
der „Sprideln und Spoͤne“.
Auflage. 327.
Gramming, M., Heimatlos. 296.
Grasberger, J, Singen und Sagen. 151.
Grass, $., Gefhichte der Juben von ben
älteften Beiten bis auf die Gegenwart.
Zehnter Band: Gefchichte der Juden von
der dauernden Anflebelung der Marannen
in Holland (1618) bie zum Beginne der
Menbelsfohn fchen Zeit Yreo). 157.
Grauert, A., Frühlingeblüten. 198.
Stein, ©. , 1 Heliand.
*Grieyenland geograpfifch, gefehichtlich und
Zweite
culturhiſtoriſch von den ãlteſten Zeiten
bie auf die genmart, Geransgegeben
von Hermann Brodhaus. 797.
Sriepenterl, R., Novellen. 284.
Grode, M., Die Hodzeit zwifgen Geiſt
und Herz. 19.
Grofle, 3, Vox populi. Bhantafiefüct
aus der Thierwelt. Abenteuer einer
Seelenwanderung nach den Biflonen eines
Haſchiſcheſſers %50.
Brothe, 9., Bilder und Stublen zur Ges
ſchichte der Induſtrie und des Mafchinens
wefens. Grfle' Sammlung. 218.
— B,, Theolog und Komöbiant. 313.
Gottäuß, Glifaberh von, Das Gaftaus
zum grünen Baum, 701.
GBrüdl, Das Haus Morville. 250.
—22 Friedric; Wilgelm; Tod deffeiben.
Gilfusie, Baron 2. von, Poftive Pneu⸗
matologie. Die Realität der Geifterwelt,
fowie das Phänomen der direcien Schrift
der @eifter. 445.
Günthert, E., Gedichte. 198.
Gutzkow, K., Die Söhne Peſtalozzi's. 401.
— Lebensbilder. Erſter und zweiter
Band. 401.
7 —— Ritter vom Geifte; Berichtigung. 95.
Guätowefi, Elifaberh, Gedichte. 353.
Yadländer, 8. ®., Eigene und fremde
Belt. 316.
— Zwölf Zettel. 315.
Sale, T., Blätter und Blüten aus dem
Schwarzwald. 196.
Harger, , König Richard. 128.
77.
IE Fropenlieder. 198.
Hagemann, ©, Boholngie.
Im de. (Sekengolen un in, 400.
R. ©, Schloß Hramobar. 588.
Hai
Valleruoen, 3, Das Haus Bernhard.
Halsband, das vergiftete. Griminalroman
vom Verfaſſer der „Afrifanerin“. 762.
Hanslid, ®., Gefhichte des Concertwefene
in Bien.” 281.
Hartmann, E. von, Aphorismen über das
Drama. 574.
Hausfrau. Gattin. Mutter. Gebanfen über
Brauenbildung, ben Gebilveten ihres Ge:
kalete gewidmet von der Berfaflerin.
Pr R. Die romantifche Schule. 673.
Hegel⸗ Säcularfeier. 527.
* Heinrich, G. Deutſche Sehe, zunachſi
für höhere ———
Heinflus, A, Meine eigen in ihren
Grundzügen. Berbefierte und zum Theil
umngearbeitete zweite Auflage. 476.
Seinen, 8. Bas it Humanität? 573.
Held, EM "Sarey's Secistrifenfgaft und
ee Mertantilfpkem. 310.
Helene, Royelen und Sfigen für ihre
Freunde.
Helfert, 3. © Ei, von, |. Geſchichte
ee Seo H 43°
elm, E., 5 Herzberg. 7.
@., DlvensBarnevelbt. 35.
Heliand, der, ober bie altfähfiihe Evan-
gelien-Garmonie. Ueberfegung in Stab-
teimen nebft einem Anhange von C. ®.
M. Grein. 287. Zweite durchaus
neue Bearbeitung. 657.
Hendel-Schüg, f. Erinnerungen.
Heufe, Johann Hus und die Synode von
Konſtanz.
Henne, ©, Die geſchtiebene Offenbarung
und der Menfehengeift. 17.
Heuſchke, Ulrife, Zur Frauen-Unterrichtes
frage in Preußen, 812.
Henfel, (Buife M., Lieder; herausgegeben
von €. Säläter. 195.
Herbft, Paula, Cabale und Liebe. 69.
— GStiefmütterchen. (Novellenftrang
Neunter Band.) 539.
"Sep, ®. 767.
Hefehiel, G, Schellen-Morig. 374.
— Kefugirt und Emigrirt. 761.
— Lubovica, Eine brandenburgifche Hof:
jungfer. 761.
Seufnger, D., Amerifanifche Kriegabilber.
— 2 eines Könige Dant. 584.
Heydrich, M., Sonnenfcein auf dunklem
Biabe.
een M., Bibliothek der älteften deutſchen
Kiteraturbenfmäler. 223.
Heyſe, B., Gefammelte Novellen in Verſen
Zweite aufs Doppelte vermehrte Auf⸗
Tage. 49,
u Moralifgr Novellen (achte Samm:
hung
Bi
Sibehtand, R., Ueber Grimm's Wörters
buch in feiner wiflenfhaftlichen und na=
tionalen Bedeutung. 574.
Hillern, Wilhelmine von, geb. Bird, Ein
Arzt der Seele. 177.
Hiltl, &., Unter ber rothen Gminenz. 26,
. 8 Bas mir die Stunden brachten
* — ©, Bergimeinnit. Blumenlieder | "Hirf, Sranz. Prolog. 7.
für junge Blumenfreundinnen gefammelt. | Hirfchfeld, 9., ar 699.
814. gogmu 3. 3. 8., Gedichte. 358.
* Hartmann’ von Er 1 Degeri“, 174. | Hüter, ©, Eines Andern Frau. 232.
Hartlaub, G., f. Di ‚Hoefer, €, Aus Kriegs: und Friedens⸗
Hartfen, 8. 9. von, " Geunbfegung von | zeiten.
Aeſthetik, Moral und Erziehung, von
empirifchen Standpunft. 502.
—— Unterfuhungen über Logif. 77.
— Unterfugungen über Afpchofogie, 7.
Hartung, A, Beiträge zur Bädagogi
—— Der verlorene Sohn. 39.
‚Hoffinger, von, Bon der Univerfität. 381.
ent ha von, Kronen aus Italiens
Bi terwalbe. 817.
icht: und Tonwellen. Aus dem Nach
lag ber Verfaſſerin herausgegeben und
mit einer Lebens: und Charakterſtizze
verfehen von J. von Hoffin 305.
Hoffmann, C., Gedichte und
W., f. Deutfchland.
Hohenhaufen, %. von, Berůͤhmte Liebes⸗
paare.
Hohelied, das, ein dramatiſches Gedicht.
Metriſch bearbeitet von H. Stadelmann.
718.
Holdey, D., Hugo von Trimberg, der Meiſter⸗
ſänger. 3.
Hollander, F., Der berliner Figaro. 299.
— F., Die Roſe des Libanon. 718.
Holtei, K 8 Eine alte Jungfer. 42.
Holtfhmidt, K . F., Ecce homo! 278.
Holgendorfi, F von, Englands Breffe. 382.
Somberg, Tinette, Gedanken über das wahre
Glück. 258.
"leder. 368
dörmann, Angelifa von, Grüße aus Tirol.
152.
Horn, Freih. G. von, Die Kunit des Wetters
prophezeiend ober bie Wetterzeichen und
Bauernregeln nebft einem Anhange: Die
Wetterprophezeiungen bes Hunbertjährigen
Kalenders. 1
Horſt, Klotilde von der, Gefchichte ber
deutfchen Literatur von ber älteften bis
auf die neuere Zeit mit Beifpielen aus
den beften Werken der Boefle und Brofa.
619.
Huber, Ir Der Broletarier. 310.
K., Gedichte. .
Sübner, J., Schadow und feine Schule.
1
Püget, R., Ueber Otfrid's Versbetonung.
Huhn, &. H. Th., Karl Mathy. 390.
Humboldt. — Briefe von Alerander von
Humboldt an Ehriftian Karl Joſias Freis
herr von Bunfen. 87.
* Sumboldtperlen. Gin Demantfranz aus
Alerander von Humboldt’s Leben und
Schriften. 143.
34. Ein Selsflgefpräd Fragment von
v. R. jun
gm Brautfranz. am Frau Therefe. 106.
"Am neuen Reich. SHauptmitarbeiter ©.
Freytag; Redacteur A. Dove. 797.
Sm Ural und Altai. Briefwechfel zwifchen
Alexander von Humboldt und Graf Georg
von Bancrin aus den Jahren 1827—32.
87.
Smmermann, I. Putlitz.
fing, W. von, Sobanna b’Arc. 57.
Jäger, ©., Die Darwin’fche Theorie und
ine Stellung zu Moral und Religion.
— u Künfllerftreihe. 428.
Jahn, G. Gerſtäcker und die Miffton.
Zweite Auflage. 108
Jahr, G. H. G., Stoff ober Kraft? Ober:
Das immaterielle Mefen der Natur. 220.
Jahrbuch der deutſchen Dante⸗Geſellſchaft.
Zweiter Band. 467.
—— der Deutfchen Shaffpeare-Befellfchaft
im Auftrage des Borflandes herausgegeben
buch 8. Ee. Fünfter Jahrgang. 817.
—— ofifriefifches. Altes und Neues aus
Dfifriesland. Herausgegeben unter Mit:
Regiſter.
wirkung von Kenuern und Freunden oft:
friefifhen Landes und Volks. Eriter
Band. Erſtes Heft. 286.
— wiener humoriftifches, 1870. Heraus⸗
Bere zn J. Gaiger. Siebenter Jahr:
Si — 5. Fu Satz bes zureichenden Grun⸗
1
u, Der Papſt und das Eoncil. 17.
Jäͤßing, A., Saitenflänge. 119.
_— Borgefühle. 193.
Senfen, W., Die braune Erica.
— Das Erbtheil des Bluts.
— Im Pfarrdorf. 233.
— Neue Novellen. 395.
396.
395.
Jerwig, W., Fromm und Froͤhlich. 439.
»Jordan, W., Nibelunge. Zweite Aufs
lage. 127.
— Das Kunſtaeſeb Homer's und die
Rhapſodif. 219.
Jugenberinnerungen eines alten Mannes. 53.
Junghans, S., Gedichte.
»Kaliſch, D., Luflige Werfe. Erſtes bis
fünftes Heft. 11.
Kampmann, %., Gedichte. 121.
Karpeles, G., Ludwig Birne. Lichtfirahlen
aus feinen Werfen. ars.
— Heinrich Heine und bas Judenthum.
1
Käszony, D. von, 1872. Ein Roman ber
Zukunft. 267.
Satan und Cherub. 101.
* Rayferstangerhanng, Agnes, Baufteine für
Strasburg. Lieder von 1870. 767.
Keferftein, H., Pädagogiſche Streifzüge.
(Bierte Sammlung pädagogifcher Sfiz-
en.) 155.
Kelchner, E., |. Nagler.
Kempner, D., Hiftorifche Novellen aus ber
neueften Zeit. 233.
Keſſel, K. von, Fried Eigenreich oder die
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— Koniggnen 377.
Kiehl, , Anfangsgründe der Volks⸗
— 218.
Kirchhoff, C. und T., Adelpha. 692.
Klapp M., Revolutionsbilder aus Spanien.
Klein, H. 3., Handbuch der allgemeinen
Simmelsbefchreibung vom Standpunfte
der Fosmifchen Weltanfchauung. Erfter
Theil: Das Sonnenſyſtem nach dem ge en
wärtigen Zuftande der Wifjenfchaft.
— 5.2, Geſchichte des Dramas. Bier
bis flebenter Band: Gefchichte des ita⸗
lienifchen Dramas. 225.
Kleinfteuber, H., Das Schloß am Meere. 27.
"Kluge, 9., Gefchichte ber beutichen Na⸗
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"Koberftein, A.; Tod deffelben. 254.
— 2 Erich XIV. 380.
Köller, E., Klatfchereien. 701.
König Jer dme und ſeine Familie im Exil.
Briefe und Aufzeichnungen. Heraus⸗
gegeben von Ernefline von L. 90.
Köpfe, R. DOttonifhe Studien zur beut-
ſchen Gðeſchicht⸗ im 10. Jahrhundert.
II. Hrotſuit von Gandersheim. 140.
Kormann, P., ſ. Familienbibliothek.
Krämer, m, Ueber die ſittliche Werth⸗
ſchaͤtzung menfchlicher Größe. 477.
V
Krafler, F., Offenes Vifir.
Krepfhmar, A., Die —R oder des
Goldes Fluch and Segen. .
"Kriegslyrif, die, von 1870. 556. 606.
638. 766.
Kruſe, $., Die Gräfin. Drama. 30.
Dritte Auflage. 271.
Kühne, G., Römifche Sonette. 458.
Kühner, C., Dichter, Patriarch und Ritter.
Wahrheit zu Rüdert’s Dichtung. 481.
* Kulemann, J— Germania. 639.
Kulke, E., Aus dem jüdiſchen Volksleben.
Ein Nachſpiel zu Na⸗
278.
238.
Kurd und Blanda.
than dem Weifen.
»Kurz, H. 767.
"Rabes, E., Zeitgedichte. 767.
—2* Angelika von, Edle Frauen.
539
Die geſchichtliche Entwicke⸗
lung bee Freihandels 56.
Lampert, F., pH Baffionsfpiel in Ober:
anmergau,
R., Die Grenzen ber menſch⸗
Sammer’ 6, A.,
Landau
lichen Erfenntniß und bie religiöfen Ideen.
183.
Lanfrey, P., Gefchichte Napoleon’s des
Erften. Aus ben Franzöfiſchen von ©.
von Glümer. @ingeleitet von 8* Stahr.
Erſte bis achte Lieferun *
Lange, F. A. 3. St. Mil s Aufleiten über
die fociale Frage und die angebliche Um:
wälzung der Sorialwiflenfchaft duch
Garey. 810.
Langenberg, E., Aus Dieherweg’s Tages
bu von 1818—22. 381.
Lao⸗tſe Taͤo⸗tẽ⸗king. Der Weg zur Tugend.
Aus dem Chinefiſchen überſetzt und er⸗
klärt von R. von Plaenckner. 529.
Laſaulx, A. von, Der Streit über die Ent-
ſehung des Vaſalies. 387.
ran, 9. ,‚ Meifter Cckhart der Myflifer.
1
Laubert, E., Länders und Stüdtebilder.
Dritte Folge: Thüringen, Wien, Paris.
747
Laudenbach, %. K., Eine liberale Polemik
gegen den Atheismus.
Zaun, A., Dichtercharaftere. a gẽehenier,
Beranger, Burns u. f. w. 8.
— Bafhington Irving. 48.
LavergnesBeguilhen, M. von, Die confer:
vative Soriallehre. Erftes Heft: Die
Goncurrenz und die Ölieberung ber Staas
ten. 310.
Lazarus, M., Rede beim Schluß ber erſten
fraelitifchen Synode zu Leipzig am 4. Juli
1869. Nebſt einer Änſprache des Ober-
rabbiners Löw aus Szegedin an den Prä-
fidenten. 284.
Lebensbilder, geichichtliche und culturges
fhichtlihe. Aus den Erinnerungen und
a Mappe eines Breifes. Zweiter Theif.
397.
. Ritter von, Herbſtblumen.
Leonhardi, K K. H. Freih. von, Der Philo⸗
ſophencongreß als Berföhnungsrath. 685.
. Zeit, die nem.
Le Grave, Agnes, Frau Lee.
Leitner, R.
VL
Leopold, 3. inphantaften.
lage. 2
Leſſer, 2. —ã Dichtungen. 692.
Letteris, M., Ein Blatt Gedichte. 7BL.
Lewald, A., Anna. 394.
“Richel, D., Auswahl beutfcher Gedichte für
Styule und Haus. Nach den Digtunges
arten geordnet und mit erläuternden Ans
merfungen verfehen. 814.
Bichestieder, bie älteften deutſchen, bes
12. Jahrhunderts. Im freier Uebertrar
gung von D. Richter. 727.
Liebetrut, F., Dom Schönen und vom
Samui. Eingeleitet durch Hoffmann.
Zweite Aufs
— Borträge. 156.
Liebmann, D., Ueber den objectiven Ans
blick. 3
"Lieder, Balladen und Romanzen. Herausr
‚gegeben von U. Traeger. 814.
"Lieber zu Schug und Trug. Heft 1-8.
606. Heft 5. 670. Heft 6-8. 767.
*Lindau, Paul. Feſtrede. 447.
Linnig, 8 1. Walther von Aquitanien.
Lippold, 2 Ueber bie Duelle des Gregos |"
rius Hartmann’ von Aue. 728.
*Lippoldt und Holt’ in Neuyort Ausgabe
ausländifcher Autoren. .
ur 3. €, Confonanzen und Diffonangen,
Lobſtein, E., Bilder aus Neapel, 723.
— 8, "Die Opfer mangelhafter Juftiz.
Sogan, g. von, f. Dichter, deutſche
— Einngedichte. Herausgegeben von
K. Einer. 79.
Löher, F. von, Iakobän von Baiern und
ihre Zeit. 553.
— rechnung mit Frankreich. 648.
Lorinfer, 8., Die Bhagavad-@ita. 333.
Low, f. Sajarus.
“Löwe, F. & diſcher, I. ©.
Söwenherz, &., DVerfehlie Ziele. 636.
Lüders, $. ©. 3., Das Norde oder Bolars
licht, wie « iR und was es iſt. 570.
Ludwig, ©., f. Tafchenbud;, berner.
Ludwig's, D., gelammelte Werke. 350.
Separatausgabe. 591.
Zunbeberg, A, Bilder aus meiner Praris,
Deutſch von A. Krepfehmar. 172.
Maͤdler, 3. H. von, Neben und Abhand⸗
lungen über Gegenflände ber Himmels⸗
Funde. 57L.
Maffabäer, ber lehte. Hiſtoriſcher Roman.
Aus ben Sapieren eines Verſtorbenen.
552.
"Maltig, Apollonius von; Tod defielben.
255.
— 8. von, Die Bolitif des Herzens oder
die Annectirten.
Malgan, H. Frei. von, Sittenbilder ans
Tunis und Algerien. 746.
Manfried, F., Gedichte. 353.
Mann, ©., Kraft und Wärme der Orga-
nismen. entflammen einer Duelle, 7.
Marc, $., Gedichte. Dritte Auflage. 457.
Marenzi, 8. Graf von, Der Karſt. Zweiter
Manuferiptabvrud. 245.
Marie Helene, Gräfin Ida Hahn⸗Hahn.
48l.
Marlitt, E., Goldelſe. Fünfte Auflage. 289.
Regifter.
Marlitt, &,, Das Sehe, ar alten
Mamfel, Dierte Auflage.
—— Die Reichögräfin — i Auf⸗
lage. 289.
Martin, ©. A., Bilder und Sfigen aus
ber Naturkunde, 243.
— $., Rußland und Europa. Deutfche
vom Berfaffer Durhgefehene und vermehrte
Ausgabe. Ueberfegt und eingeleitet von
©. Kintel. 145.
— ®.2£., Taridermie ober bie Lehre vom
Eonferviren, Bräpariren und Naturaliens
fammeln auf Reifen, Ausftopfen und Auf ⸗
Kellın der Thiere, Raturalienhanbel u. ſ. w.
Marz, 8, Jacobäa von Baiern. 277.
— König Nal. 277.
— 8, Der achtzehnte Brumaire bes
Louis Bonaparte. 573.
Mag, J. Tilly. 60.
Maurer, 8, Cine Reife durch Bosnien, die
Saveländer und Ungarn. 474.
Mayr:Tüchler, 3,, Wulten. 198,
"Mehlig, 3, Hiforifcher Wandfalender.
Anelier Jahrgang auf das Jahr 1871.
eMeifne, Alfred. 286.
er Bericht über bie Bibliothek Schiller’s.
— Erinnerungen an Wien. 430.
—— Die Kinder Rome. 705.
— Kleine Memoiren. 233.
—— Unterwegs. 746.
Fr 2., Schwerting, der Sachſenherzog.
—— Blafa. 273.
Mels, A., Gebilde und Gefalten.
Mendel, H., Giacomo Meyerbeer.
Zeben und feine Werfe. 288.
"Mendelsfohn, M., Bhädon oder über die
Unfterblichfeit ber Seele, und: Jerufalem
ober über religiöfe Macht und Jubens
!yum. Herausgegeben von A, Bodel.
MenbelfehnsBartgotip, 8 .. f. Ragler.
DMenger, M., Die auf Selbſthütfe Gefüten
Genofenfchaften im Handwerkers und Ars
beiterftande. 310.
Menzel, W., Kritif des modernen Zeite
bewußtſeins. 561.
— Bas hat Breufen für Deutfchland
geleitet? 561.
Mevert, E. Der König von Münfter. 279,
Meyer, ©. $., Romanzen und Bilder. 778.
MeyersMerian, Th., Entſchwundene Zeiten,
Nacgelafene Crräslungen und Bilder.
Herausgegeben von 8. Dfer. 45.
Micelet, I, Die Welt der Vögel. 764.
w, "Neue Gedichte. 454.
*Mindoig, 9., Deutfchlandse Traum,
Kampf und Sieg. 606.
Mindermann, Marie, Ranfen. 692.
Rittheilungen aus bem Tagebuch und Briefe
wechfel der Fürftin Meleid Amalia von
Galigin neh Bragmenten und einem
Anhang. 892.
Mohr, 2., Roxhe Weip,
älfaufen, Bl. Das Nheriguldenblat.
— 8. €., Friedrich der Einzige. 780.
Moraliomus ober Emancipation bes Geiftes.
Mofeatht, S. H., Habella Orſini. 30. 161.
584.
Sein
Moͤhlbach, Luife, Kaifer Joſeph und fein
Landefneht. Grfte Abtheilung. 588.
Muhlfeld, Breie Bahn. 137.
»Nüldner, R., Aus deuiſchen Gauen. 286.
"Müller, 8., " Neueftes Künftlers Lerifon.
Grginpungebane bearbeitet von A. Seu⸗
3, Briefe über die rifliche Res
_ligion. 706, bi
— 5. ©,, Deutfhe Klange aus den für
das deutſche Vaterland fo ereignißvollen
Jahren 1866 und 1867. 196.
ur, RN. A, Ueber Erziehung und Bildung.
— D., Erzahlungen. Die Feuerdore.
Der Helm von Gannä. 551.
— Der Brofefjor vom Heidelberg. 324.
—— Dtto. 767.
—g Religion und Chriſtenthum. 381.
*— von ber Werra und W. Baenfch,
Alldeutichland. 556.
Mügelburg, A. Der Bodreiter. 398.
— Robert Clive, der Eroberer von Beu⸗
galen. 140.
—— Das Schlof an der Oſtſee. 490.
Mylius, D., Die Irre von Eſchenau. 68,
Ragler. — Briefe des Föniglich Preufifchen
Staatsminifters, General = Boftmeifters
unb ehemaligen Bundestags» Gefandten
8. 8. von Nagler an einen Staats:
beanten. Als ein Beitrag zur Geſchichte
des 19. Jahrhunderts herausgegeben von
€. Kelchnet und K. Mendelsjohns-Bars
tholby. 109.
*Ralonatsititge deutſcher Dichter. (Ian
te’fche,
r— ee Gugtow's Ritter vom
Geifte. Oito Ludwig's gefammelte Werte.
— Dieſelbe. Spielhagen's ſammtliche
F 419.
Naumann, M. E. A., Beiträge zur Vor—
ober Autere ber zehnten Auflage der von
Dr. Ludwig Büchner verfaßten Schrift:
„Kraft und Stoff.“ 285.
Nebeliheudhe, die. Bon Marimns:Gafus,
Oberlehrer zu Druntenheim. Erſte He:
liade. 539,
Niendorf, M. A., Ein ausgeriffenes Blatt.
1839.
— Bie man regiert. 490.
Nippold, F., Aeguptens Stellung in ber
Religionss und Gulturgefhichte. 56.
Bunfen.
Niffen, M. Der frieſiſche Spiegel mit einer
hochdeutſchen Ueberjegung.
Notter, $., Die zwei eriten Grfknge von
Dante's Hölle. 317.
"Diezmiller, 8, Deutfärtelifges Wörter
buch.
Drill, 3. — Georginen. 716.
Debtenfcjläger, 9, König Helge. Eine
Norblandsfage. "Ueberfegt von ©. von
Leinburg. Drfa. 646.
Dlivier, U, Der fremde Knecht. Aus dem
Srangöfifchen von der Ueberfeßerin der
Börfterstochter". 398.
Ompteba, F. von, Zur deutjchen Geſchichte
in bem Jahrzehnt vor den Befreiungss
friegn. D.: Politiſcher Nachlaß bes
hannoverfchen Staates und Eabinetsmis
niftere Ludwig von Ompteba aus ben
Jahren 1804—18. Drei Abtheilungen.
III. 65.
Oncken, W., Ariſtoteles und ſeine Lehre
vom Staat. 670.
Opitz, G., Junge Lieder. 692.
— M. |. Dichter, deutſche.
Oppenheim, H. B., Vor und nach dem
Kriege. Der Vermiſchten Schriften zwei⸗
ter Theil. 145.
"Oppermann, H. A.; Tob befielben. 255.
Dergen, G. von, Alte Bilder und junge
Blätter. 853. .
—— In Sonnenichein und Wind. 124,
Dfer, 8., f. Meyer:Merian.
Deſterreichs jüngſte Krifie. Eine März«
betrachtung von Ernft*** 476.
Oswald, E. Der Judenhaß. 297.
Othen, F., Gedichte. 716.
Otto, Luiſe, der Genius der Menſchheit.
Frauenwirken im Dienſte der Humanität.
— W., Kaufmann und Ariftofrat. 549.
Pabſt, K. R. Die Verbindung der Künſte
anf der dramatiſchen Bühne. 157.
"Bape, 3, Der treue Eckart. Zweite Aufs
lage. 127.
—— Sofephine, Liebe, Glaube und Vater⸗
land. Dritte vermehrte Auflage. 127,
1
781.
Paſchkowsky, D. von, Chriftine. 521.
Bafig, &., Berpetua. 3583.
Pasqué, E., Drei Gefellen. 375.
"Baul, D., Handlexikon der Tonfunft,
Zweite und dritte Lieferung. 479.
ftark vermehrte Auflage. 723.
Perty, M., Ueber den Barafitismus in ber
organifchen Natur. 669.
Berg, ©. H., Das Leben des Feldmarſchalls
Grafen Neithardt von Gneiſenau. Dritter
Band. .
Beichel, O., Reue Probleme der vergleichens
den Erdkunde ale Berfuch einer Morphos
logie der Erboberflähe. 619.
Peterfen, C., Das Zwöälfgötterfyflem ber
Griechen und Römer. 670.
Petrarca’s, F., Hundert ausgewählte So:
nette, überfeßt von 3. Hübner. 469.
Pfalz, F., Bilder aus dem deutfchen Staͤdte⸗
leben im Mittelalter. Erfter Band. 252.
Dfannenfchmid, H., Das Weihwaffer im
heidniſchen und chriftlichen @ultus, unter
befonderer Berüdfichtigung des germanis
ſchen Alterthums, .
Pfeiffer, E., Die Eonfumvereine, ihr Weſen
und Wirken. .
Pfeiffer⸗Feier in Bettlah. 702.
Dfleiverer, D., Die Religion, ihr Weſen und
ihre Gefchichte, auf Grund bes gegen-
wärtigen Standes ber philofophifchen und
ber biftorifchen Wiffenihaft. 584.
Biderit, K. W., f. Weihnadhtsfpiel.
Pierſon, W., Aus Ruplands Vergangen⸗
heit. 572.
— Gfeftron, ober über die Borfahren,
die Berwandtfchaft und ben Namen ber
alten Preußen. 8386.
Pindar’s Siegesgefänge. Mit Prolegos
Regiſter.
menis über Pindariſche Kolometrie und
zritit von M. Schmidt. Erſter Band.
6
Pionier, der deutſche. Eine Monatsſchrift
für Erinnerungen aus dem deutſchen
Pionierleben in den Vereinigten Staaten,
herausgegeben vom deutſchen Pionier⸗
verein.
Bitamall, @., Der Jäger von Königgräp.
173:
—— Maria Stuart. 173.
Plaenckner, R. von, f. Laostfe.
Pogobin, Offener Brief an Herrn Brof.
chirren über befien Buch: Livländifche
Antwort. Aus dem Ruffifchen des Golos.
Bolko, Elife, Auf bunfelm Grunde. 238.
— Haus:Album. 478.
— Schöne Frauen Zweite Reihe. 138.
Bonfon bu Terrail, Das Geheimniß des
Arztes. 172.
—— Das Muttermal. 490.
Poppe, F., Am Zwifchenahner See. 198.
Preis, J., Die befle Ausflattung für junge
Damen. 219.
"Bröhle, H-, Deutfche Lieder und Oben
aus ber Zeit bes zweiten franzöfifchen
Kaiſerreichs. 767.
Butlig G. zu, But gibt Muth. 31.
— Karl Immermann. Sein Leben und
feine Werfe aus Tagebüchern und Brie:
Ion an feine Familie zufammengeftellt.
Naabe, W., Abu Telfan oder die Heims
fehr vom Mondgebirge. 314.
— Die Chronik der Sperlingsgafle.
Vierte Auflage, 79.
—— Der Regenbogen. 395.
—— Der Schübderump. 824.
Ramann, 2, Bach) und Händel, 104.
Ranke's, L. von, Sämmtliche Werke. Zwölf:
ter bis funfzehnter Band. 148.
Rai, &., Bon ber Nordſee in die Sahara.
Raumer, F. von, Litterarifcher Nachlaß.
Rauſcher, E., Nora, ein Gedicht in vier
Gefängen. 149.
»NReclam's „Univerſalbibliothek“. 638.
Regeneration, die, der deutſchen Studenten⸗
ſchaft. Vom Verfaſſer der Brofchüre:
„Die deutſche Studentenſchaft; eine aka⸗
demiſche Zeitſtudie.“ 475.
Reichart, A., Die fittliche Lebensanſchauung
des P. Ovidius Naſo. 221.
Reimann, E., Geſchichte des Bairifchen Erb⸗
folgefriegs.
Reintens, J., Das Mädchen aus Böhmen,
71
Reis, P., Die Sonne. 570.
Reif, W., und N. Stübel, Ausflug nad
ben vulfanifchen Gebirgen Negina und
Methana im Jahre 1866, nebft minera-
Wiſchen Beiträgen von K. von Fritſch.
— Gefchichte und Befchreibung der vul⸗
anifchen Ausbrüce bei Santorin von
der älteften Zeit bis auf die Gegenwart.
385
| Reitzes, J., Zur Gefchichte der religiöfen
vu
Religionsphilofophie, die, als eine Wiſſen⸗
Ba für jeden, ift reif für eine Umges
altung. .
Revue des Literaturjahres 1869. 1.
Ribbet, O., Sophofles und feine Tragübien,
Nichter, D., f. Liebeslieber.
Ring, M., Lieben und Leben. 520.
—— Götter uud Gößen. 805.
Ringseis, Emilie, Sebaftian. 38.
Risterhaus, E., Sreimaurerifche Dichtungen.
— Gedichte. Dritte'vermehrte und vers
befferte Auflage. 127. 458.
Robiano, 8%. Gräfin von, Robert Bruce
ober bie Helden von Bannockburn. 822.
Rochlitz, F., Für Freunde der Tonfunft.
Dritte Auflage. Mit einer biographis
fchen Skizze bes Verfaſſers. 105,
Rodenberg's, J., Gedichte, ins Englifche
überfegt von William Vocke. 286.
Rokitansky, K., Die Solidarität alles Thier⸗
lebens. 492.
Rommel, E., Gedichte. Poefie und Kunft,
Liebe, Glaube, Wiffen, Arbeit und Vater⸗
land. 121.
Röpe, G. R., Die moderne Nibelungen-
dichtung. 617.
NRoquette, D., Novellen. 826.
Rofegger, P. K., Sittenbilder aus dem
fteirifchen Oberlande. 810.
—— Tannenharz und Fichtennadeln 810.
Zither und Hadbret. 810.
Roſen, Des Nächften Hausfrau. 31.
Roskoff, G., Gefchichte des Teufels. 734.
Roßbach, J. J., Gefchichte der Gefellfchaft.
Zweiter Theil: Die Mittelflaffen im
Drient und im Mittelalter der Bölfer
des Occidents. DB.
— Daffelbe. Dritter Theil: Die Mittels
klaſſen in ber Gulturzeit der Voͤlker. Erſte
Abtheilung. 218.
* — Daſſelbe. Berichtigung. 95.
"Rudorff, E., Stunden der Weihe, Samm-
lung von Ausſprüchen Friedrich Schleier:
macher's. 399. 735.
Nüffer, E., Die Strategen und bie Stra⸗
tegie der neueflen Zeit. 408.
Ruß, K., Natur⸗ und ulturbilder. 388.
Sacher⸗Maſoch, Aus dem Tagebuche eines
Meltmanne. 72.
—— Die gefchiedene Frau. 72.
—— Das Vermäͤchtniß Kain's. Erſter
Theil: Die Liebe. 785.
Saggau, Ch., Bild und Stimmung. 121.
Salis, A. von, Georg Jenatſch. 36.
Samarin's, J., Anklage gegen die Oſtſee⸗
provinzen Rußlands. Ueberſetzung aus
dem Ruſſiſchen. Eingeleitet und com⸗
mentirt von J. Eckardt. 449.
Sammlung gemeinverſtaͤndlicher wiſſenſchaft⸗
licher Vorträge, herausgegeben von R.
von Virchow und F. von Holtzendorff.
Heft 80—88. 56. Heft 93—98. 382.
Hefte 91, 99, 100, 102 u, 103. 669,
Sauer, K. M., Kinder der Zeit. 707.
Schapmayr, E., Deutſchlands Norden und
Süden. Zweite umgearbeitetie Auflage.
682
82,
Wandlung Kaifer Marimilian’s II. 796. | — Nord und Süd. 682.
4
MU - '& 27 Vor Er BER ES IE STE
a. >»
VIII
Schauenburg, €. H., Zur Beränbigung
aller der bei der legten Präfldentenwahl
entflanbdenen Misverftänbnifle und Mis—
riffe. Allen Mitgliedern der Kaiferlich
opoldiniſch⸗Karoniſchen Afabemie deut⸗
ſcher Naturforſcher vorgelegt. 350.
— 5, Erinnerungen aus dem preußiſchen
Kriegslazaretäleben von 1866. .
Schaufert, H. A, Schach dem König. 161.
"— 1684. Schaufpiel. 80.
Scheffel I. ®., Bergvfalmen. 209.
— Gaubeamus. 209.
—— Der Trompeter von Sädingen. Zehnte
Auflage. 209.
re Aoentiure. Zweite Auflage.
Schellen, H., Die Spectralanalyfe in ihrer
Anwendung auf die Stoffe der Erbe und
die Natur der Himmelsförper. 134.
Schenkel, D., Brennende Fragen in ber
Kirche der Gegenwart. 17.
*Sciller-Gefpräche. 222.
*— Duplifate derfelben. 126.
ESgille · Halle. Abhabetifch geordneter
Gebanfenfcap aus Schiller's Werfen und
Briefen. Im Berein mit ©. Brigfche
und M. Moltte Herausgegeben von M.
Zille. Fünfte und fechste Lieferung. 479.
* Schiller’, Friedrich von, Bibliothef. 654.
*— ein Theil verein jegt in Hamburg.
'98.
798.
"Schillers fämmtlihe Schriften. Hifo
tifggeteitifche Ausgabe. Achter Band:
Gefchichte des Dreißigjährigen Kriegs;
jerausgegeben von &. Deflerlen. 207.
Scirren, €., Livländifhe Antwort an
Herrn Juri Samarin. 449.
"Schlegel, ©. ; über chinefifche Bräuche und
Spiele in Europa. 126.
“Sälefinger, %, Geldichte Böhmens.
Anete vermehrte und verbefierte Auflage.
91.
Schletterer, H. M., Gefchichte der geifte
figen Bistung und ficchlichen Tonfunft
in ihrem Zuſammenhange mit ber polis
tifchen und focialen Entwidelung, ins»
befonbere des beutfchen Wolfs. 282.
*Sclofer's, d. B., Weltgefhichte für das
deutſche Bolt. Neue revidirte Bolfsauss
gabe. 495.
Schlüter, |. Henfel.
Schmid, H., Müge und Krone. 102.
Schmidt, %., Ernſt Morig Arndt. 221.
—— NAlerander von Humboldt, 87.
— 3, Bilder aus dem geifigen Leben
unferer Zeit. 737.
— M., Die culturgeſchichtliche Bedeus
tung bes Hülfevereins-Wefens mit befons
derer Berüehfichtigung ber Briedensthätige
1eit ber Oenfer-Wonventions-Verehne und
Begründung, eines nationalen Hülfes
vereind, .
eäelt, 8, Ueber den Begriff Tochterſprache.
Schönau, H. von, Eavalier und Jũdin. 550.
Schoͤnbeck, R., Guten Morgen Bielliebchen!
198.
Schoͤnhardt, R., f. Fiſchetr, J. ©.
* Schopenhauer, Arthur; bie „Revue des
deux mondes’ über venfelben. 238.
Schöpfer, KR, Die Widerfprüche in ber
Aftronomie, wie fie bei der Annahme des
Kopernicanifcjen Syflems entftchen, bei
Regifter.
ber entgegengefeßten aber verſchwinden.
568. tgegengeſeb
Scott, S, Anfihten vom Leben. 687.
Sholtmiler, 4, Die Weit des Be,
Schramm, H., C. J. Ph. von Martius. 154.
Schrend, A, von, Bon der Norbmarf. 779.
*Säriftfieller, bie dramatifchen Deutfch-
lands; Aufruf zur Gründung einer Ges
moffenfchaft dramatifcer Autoren und
Componiſien. 511.
Schröder, 8., ſ. Ban dem Holte, und Vru⸗
wenlof.
— Sophie, wie fie lebt im Gedaͤchtniß
ihrer Zeitgenofien und Kinder. 220.
*Schröer, K. J. Die beutfche Rechtichreis
bung in der Schule und deren Stellung
zur Schreibung ber Zufunft. 590.
* — Der beutice Spradjunterricht und
die Mundarten. 814.
Sauber, 5. K., Und fie bewegt fd doch!
Shüding, &., Biligran. 250.
— Luther in Rom. 808.
Schuler, K. I., Die Jahreszeiten. Bers
beflerte Gefammt- Ausgabe, 120.
Schure's, E. Geſchichte des deutſchen Liebes.
Eingeleitet von A. Stahr. 616.
Schwarz, R., Gedichte. 200.
Säweidel, R,, In den preufifiien Hinter
wälbern. I. Der Artfehwinger. 898.
Scott, W. Die Dame vom See. In den
Versmaßen bes Urtertes übertragen von
8. Sreptag. 577.
Sehrwaid, $., Deutfche Dichter und Dens
fer der vaterländifchen Jugend und ihren
Freunden ausgewählt und durch literars
hiftorifche Gharafteriftiten eingeleitet. 143.
Semper, &., Die Philippinen und ihre Ber
wohner. .
Senthis, @., Die wilde Roje. 551.
"Shafefveare's, W., Dramatifce Werke,
heraußgegeben von ®. Bobenfledt. Bänd:
den 22: Titus Andronicns, überfept
von Delins; 23: Was ihr wollt, übers
kat von Gilvemeifter. 62. 24: Die
beiten DVeronefer, überfept von ©. Herz
wegh. 366. Bänden 27—29. 708.
Shafefpenre's Kleinere Diptungen. Deutid)
von A. Neidhardt. 577.
* Shatefveare'6 Werke. Herausgegeben von
N. Delius Funfzehnte bis neunzehnte
Lieferung. 207. Lieferung 20.—24. 367.
* Shafefpeare:Epitaph, ein. 46.
*Shafefpeare · Galerie. Charaktere und
Scenen aus Shafefyeare’s Dramen, Mit
erläuterndem Tert von F. Pecht. 478.
* Shafefpeare-Mufeum. Herausgegeben von
M. Moltfe. Nr. 1. 308.
Sharpe, ©, öefchichte des Bebräffchen
Volks und feiner Literatur. Mit Ber
wilfigung des Berfaffers berigjtigt und
ergänzt von H. Joiowicz. 54.
Sichart, 2, von, Gefhichte der loniglich
hannoverfchen Armee. Grfter bis oritter
Band. 650. "
Sierfe, @., ©. ©. Leſſing al angehender
Dramatifer, gefchildert nad} einer Ver⸗
gleihung feines Schapes nad} den Tri
nummus des Plautus. 157.
Sigwart, C. Spinvza’s neuentdedter Trac⸗
tat von Gott, dem Menfchen und befien
Glüdfeligfeit. 203.
Simtock, K., Auserlefene deutſche Bolts-
bücher. In ihrer urfprünglichen Reinheit
wieberhergefellt. 142.
Stett, B., Bunte Blätter. 196.
Sölti, Furſten⸗Ideal der Jefuiten in einem
treuen Spiegelbilde dargeftellt. 573.
Speht, 8. A. K. von, Gefchichie der
Waffen. 410.
Spielgagen, $., Die Dorftofette. 395.
grielmnn, 1 —* Fe 70.
pir, 9., Grörterung einer philofophifchen
Srunteinfit. 746. N
— Borfgung nad) der Gewißheit in der
Erfenntniß der Wirflichfeit. 188.
— Borflag an die Freunde einer ver⸗
nünftigen Lebensführung. 284.
"Sprüde, altdeutſche aus ber Wartburg;
componirt und ie von Ph. Groi⸗
Welt. 696.
Steffens, F. Künflerftreben und Alltags-
leben. 551.
Stein, P., Aus den Tagen des erſten Nas
poleon. 267.
— 8., Gediäte. 353.
Steinthal, $., Mythos und Religion. 382.
Stern, A. Gedichte. Zweite vermehrie
Auflage. 421.
— 3, Balentin. 294.
"Sternwarte, die. Großes Schatten: und
Buppenfpiel u. |. w. von Gabriel Mer
»hifto. 126.
"Stifter, Adalbert. 206.
— f. Aprent.
Stinging, R. von, Hugo Donellus in Alte
dorf. 54.
Stolz, A, Wilder Honig. 796.
Straderjan, L., Aberglaube und Sagen aus
dem Herzogthum Oldenburg. 3
*— Das Plattdeutihe als Hülfsmittel
für ben Unterricht. 814.
Strauß, D. F., Krieg und Frieden.
joltaire. 769.
Stroheder, I. R., Die freie Naturbetrach-
tung gegenübergeftellt ver materialiftifchen
Lehre von Sr und Kraft. 497.
* Stubien, germanififgje; herausgegeben von
8. Bar, 814,
Stübel, 4, f. Reih.
Stuhlmann, &. W., Novellm und Erzah—
lungen. Erſter Band: Aus dem Vatri⸗
monialftaate. 700.
eriler, 4, Shriftlehre und Naturwiflenz
am.
3., Lieber und Bilder. 419.
“Süß, 5. B., Das Handlungshaus Fer:
dinaud Flinſch. 271.
Szwykowsfa, Hedwig von, Aus dem Herzen.
198.
769.
Tackels, C. 3., Kriegefeuerwaflen. 410.
Tagebuch des Sultans. Grinnerungen an
aris, Sonden, Koblenz, Wien. Nach
der türfiichen Handihrift. 286.
*Zantitme, die, der Dramatiker und ber
norddeutfche Reichstag. 158.
Taſchenbuch, Berner, auf das Jahr 1870.
Gegründet von 2. Sauterburg. In Ber
bindung mit Freunden fortgefegt von
G. Ludwig, uni nter Jahrgang. 476.
»Tauber, 3. S., Ouinten. Zweite Auf:
lage. .
Tauber, €., Sngenbparnbiee, 200. 353.
— Bofenflänge
Zayler, I erintiae Betrachtungen
über Glaub und Pflicht. Uebertragen
von J. Bernard. 220.
Temme, I. D. H., Die Frau des Rebellen.
688
Tennyfon, A., Aylmer’s Field. Aus dem
Engliiäien von H. 9. Feldmann. 236.
— Doffelde. Meberfegt von F. W.
Weber. 578.
—— Enoch Arden. Ueberſetzt von 3. W.
et 236.
Thaler, K. von, Aus alten Tagen. 455.
Therefe, Frau, f. Im Brautfranz.
Thierſch, 9. Bw, J., Luther, Guſtav Adolf
und Marimilian I. von Baiern. 369.
— Das Berbot der Ehe innerhalb ber
nahen Berwandtfhaft, nach der Heiligen
Schrift und nad) den Grundfägen ber
chriſtlichen Kirche dargeftellt. 108.
Tittmann, 3., f. Dichter, deutfche.
Toepfer, H., Das mechanifche Wärmeäquis
parent, feine Refultate und Gonfequenzen.
Torell, O., und A. E. Nordenffiöld, Die
fhwebifchen Erpeditionen nad Spitz⸗
bergen und Bären-Eiland, ausgeführt in
den Sahren 1861, 1864 und 1868. Aus
ben Schwediſchen überfegt von, Paſſarge.
Treitieite H. von, Hiftorifche und politifche
Auffäpe. Neue Folge.
Trofchfe, Th. Freih. von, Die Militaͤrlite⸗
ratur ſeit den Befreiungskriegen mit be⸗
ſonderer Bezugnahme auf die „Militär:
Literaturs Zeitung‘ während ber erften
—8 Jahre ihres Beſtehens von 1820—70.
Tube, P., Die Fauftfage und ber religiös
Alice Standpunft in Goethes Fauft.
Uhland's Schriften zur Geſchichte ber Di:
tung und Sage. Dritter und vierter
Band, 337.
Ufaloy, K. E. von, Alfred de Mufiet. 684.
Ule, D,, Alerander von Humboldt. 87.
— Jahr und Tag in der Natur. 244.
Ulrici, Clara, Gertrud von Stein. 539.
Unger, 3., Zur Reform ber wiener Unis
ät,
-urläweiz die. "Slaffifcher Boden ber Tell:
fage, verherrlicht durch Schiller's Frei:
beitsfang. Tert von E. Dfenbrüggen.
tfte bis vierte Lieferung. 689.
*rtheile, englifche, über neue Erſchei⸗
nungen ber beutfchen Literatur. 15. 110.
173. 221. 318. 383. 414. 493. 575.
686. 719. 750, 830.
Vacano, E. M., Das Geheimuiß der Frau
von Nizza. 426,
Regiſter.
Van deme Holte des hilligen Cruzes. Mittel⸗
niederdeutſches Gedicht mit Einleitung,
Anmerkungen und Worterbuch, heraus:
gegeben von K. Schroͤder.
* Varnhagen von Ense. — Lettres du |,
Marquis A. de Custine & Varnhagen |,
d’Ense et Rahel Varnhagen d’Ense etc.
623.
Deer, ©. de, Danf vom Haus Defterreich
ober ber Infant Dom Duarte. 54.
Venedig. Streiflichter aus Vergangenheit
und Gegenwart. 722.
Venedey, 3., Die beutfchen Mepublifaner
unter ber feanzöfifchen Republif. 789.
ur Heinrich Friedrich Karl von Stein.
Berflaflen, Margarete. Ein Bild aus der
Eatholifchen Kirche von A. H. 796.
*Derfehr, ber literarifche. Herausgegeben
von DO. Löwenftein. 14.
Dierorht, K., Der Zeitfinn nad) Verfuchen.
Vilmar, A. F. C., Handbüchlein für Freunde
des deutſchen Volksliedes. Zweite Auf⸗
lage. 598.
—— lieber Goethe's Taſſo. 618.
Binde, ©, 8 G. Rreih., AsBsE für Haus und
elt.
— Reifeosfärichten Novellenbuch in
Berfen. 779.
Sich, R., Menſchen⸗ und Affenjchädel.
—* 3. A., Skizzen aus dem Leben Fried⸗
rich David Ferdinand Hoffbauer's, wei⸗
land Baftors zu Ammendorf. 407.
Bolddaufen, Adolfine, Das Kind aus dem
Ehrärrgang. 588.
molfebüder, auserlejene deutfche, |. Simrock.
Bollert, A., f. Eriminalgefchichten.
Volz, A, Der ärztliche Beruf. 670.
Bon ber Bolfspoefle. Nebſt ausgewählten
echten Volksliedern und Umdichtun en
berfelben. weite verbeflerte Auflage.
gleich ein Supplement zu "Rleinpanl's
Boetif”, Vom Ausarbeiter ber letztern.
Bondel’s, I. van den, Lucifer. Ein Trauer:
fpiel aus dem Sahre 1654. Aus en
Holländifchen übertragen buch G
de Wilde. 34.
»Vorhof⸗Klaͤnge. Bon einem Wahrheit:
ſucher. Dritte vermehrte Auflage. 127.
Voß, Käthe, Waldblumen. 128.
Brumwenlof. — Ban Sunte Marinen. Mittels
ieperbeutiche Gedichte, herausgegeben von
K. Schröder. 659.
Waderhagen, Emma, Auf den Wellen. 763.
Wagner, N., Elſaß und Lothringen und
re MWiedergewinnung für Deutfchland.
— Yu Zuleiffa. 19.
Waip, T., Anthropolo ogie ber Natyrvölfer.
Mit Benupung ber Vorarbeiten des Ders
faflere fortgefegt von G. Gerland. Fünfter
Theil. 679.
Wallace, U. R., Der malalifche Arcjipel.
Autorifirte deutfche Ausgabe von A. B.
Meyer. 507.
Wallach, J., Das Leben des Menfchen in
feinen Förperlichen Beziehungen. Zweite
Auflage. 389.
IX
Walther, E., Der Schaufpielerberuf in
fünftlerifcher, gefellfchaftlicher und fitt-
licher Beziehung. 574.
— von Aquitanien. Heldengebicht in
zwölf @ejängen, mit Erläuterungen und
Beiträgen zur Deibenfage, und Mytho⸗
logie, von 5 Zinni
Wander, J., Die Wahnffrnigenn aufAland. 231.
Marsberg, a. Freih. von, Ein Sommer im
Drient. 748.
Dee, 8 A., le Streifen. Zweiter
— G., Algemeine eitgeihiite. Achter
Band. Zweite Hälfte.
— M. M. von, Werke and age 108.
Weber, R., Die poetifche Nationalliteratur
ber beutfchen Schweiz. 167.
Wedding, H., Das Eifenbüttenwefen. Erfte
Abtheilung: Die Erzeugung des Roh:
eifens. 382.
Degele, 5. X., Friedrich der Preidige,
Markgraf von Meipen, Landgraf von
Eodeingen, und bie Wettiner feiner Zeit.
De 5, Pr faufenden Webſtuhl ber
Seit. —8 Ernennung deſſelben zum
artiſtiſchen Director des ſtuttgarter Hof⸗
theatere, 14. 31.
We eihnaghrsfbiel, ein, aus einer Handſchrift
8 15. Jahrhunderte. gu rauegegeben
un 8. W. Biderit. 726.
Meilen, J., ‚„Rolamunbe 30. 161.
Weinhold, M., Geſchichte der Arbeit. Erfler
Band. 252
Weiſe, K., Borher und Roſe. 196.
“Meiß, 8 Coſtümtunde. Fünfte und
jecchste Lieferung. 47. Siebente und
achte Lieferung. 479.
— Kr., Der Nothftand unter den Frauen
und die Abhülfe deffelben. 156.
"Meitbrecht, &. 766.
Wenn das Heimmeh fommt. Drei Novellen
vom Berfaffer des Bilderbuchs eines
armen Stubenten. 234.
Merren, B. &., Baltifche Briefe. 490.
Mefen, das, ber menfchlichen Kopiarbeit.
Dargeftellt von einem Handarbeiter. 106.
*Meitphal, Rubolf, über den beutfchen und
italienifchen Reim in feiner „Philoſo⸗
philch = hiftorifchen Grammatik der deut-
fchen Sprache”. 238.
Weſtritz, J., Gegen den Strom. 637.
Whymper, F., Alaska. Reiſen und Er⸗
lebniſſe im hohen Norden. Autoriſirte
deutſche Ausgabe von F. Steger. 775.
mike, J. von, Aus alten Tagebüchern.
Witenburg Amafy, 3 Ihelmine Gräfin,
Neue Gedichte. 8.
Wiegand, 4, Wie * erging. 381.
— K. Kleine beutfche Sprachlehre auf
er Grundlage bes beutichen Sprichworts.
»Wilbrandt, A., Der Graf von Hammers
ftein. 431.
—— Novellen. 397.
Wild, H., Ueber Föhn und Eiszeit. 242,
Wilden, 8, edichte 692.
Widzenfele, 9 . von, Satanas in Neuyork.
eBilferit, F., Eee Kriegslieber aus Süd⸗
beutfchland.
x
Willborn, 3., Zwei medlenburgifche Serjooe
ober Pflicht und Leidenichaft. 584.
Wulemm, E., Die Welt des Scheines.
250.
Winhrlband, W., Die Lehren vom Zufall.
77.
Winterfelb, A. von, Der Winfelfchreiber.
— Banatifer der Ruhe. 316. -
Wittich, W. von, Vbyegnomit und Phre⸗
nologie. 382.
Wittig, G. K., ſ. Dav
Winſtec, A., übagonifie Wanderungen.
Wohfrautf, L., Deutſche Treue. 278.
Molff, P. H., Jeruſalems Opfertod. Das
Lieb von ber Bölkerfreiheit. 780.
MWollbeim, A. ©, Gold-Elfe oder bie
Egoiften. 298.
Zaddach, G., Die ältere Tertiärgeit. 56.
Regiiter.
Bebtiß ‚Srübfäler, Eliſabeth Graͤſin, Ges
sg ie fosmifche Bedeutung der
Herolithen. 569.
Zeit, die neue. Freie Hefte für vereinte
Höherbildung der MWiffenfchaft und bes
Lebens, den Gebildeten aller Stände ge⸗
widmet. Herausgegeben von H. Freih.
von Leonharbi. Zweites Heft. 667.
Zelger, K., Geognoftifche a anberungen im
ebiete ber Trias Franfens
"Zettel, K., Edelweiß. Dritte verbefferte
Aufla e. 8399.
Zetter, K., Bamilienradhe, oder: das Erb-
—5 von Galabrien im Jahre 1788.
und Mohammebdaner.
| Zeune, |. Autographen-Berzeichnif,.
Bimmermann, L. R., Erinnerungen eines
ehemaligen Brigantenchefs. 188.
3)
—— Die lebten Grafen ei, oder Chriſt
| Btengiebl,
+
| Zupiga, J., Einfüh
Zimmermann, 8 R., Lofe Skizzen aus
dem üfterreichifchen Solvatenleben. 408.
— N, Studien und Kritiken zur Philo⸗
ſophie und Aeſthetik. 305.
Zimpel's Auszug aus „Die elfte Stunte
mit bem Ant qriſt·. Achtundzwanzigſte
Auflage
Zinck, auf, Gedichte. 358.
E., Studien über das Inflitut
der Geſeliſchaft Jeſu mit beſonderer Be⸗
rüdfichtigung der paͤdagogifchen Wirkſam⸗
keit dieſes Ordens in Deutſchland. 441.
Zopff, H., Orunbzüge einer Theorie der
Oper. Erfter Theil. 279.
Zöpprig, K., Meber bie Arbeitsvorräthe ber
Natur ‚unb ihre Benugung. 670.
Zufer, & 9, Einige Iprifche Gedichte.
Ben Meiftern nachgefungen. 719.
rung in das Studinm
des Mittelhochdeutfchen. 731