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Full text of "Blätter für literarische Unterhaltung"

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HARVARD 
COLLEGE 
LIBRARY 











3ahrgang 1870. 


Erſter Band. 








-Blätter 


für 


literarifhe Unterhaltung. 


Jahrgang 1870. 


Erfter Band. 
Januar bis Juni. 


(Entpaltenb: Nr. 1—26.) 





14 
eipjig: 
5 U Brodhans. 


1870. 











> HARVARDN\ 
UNIVERÖITY 
r | LIPaAp 





PETE Lee, 23. 


— 
— 


Blätter u 


literarifhe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—4 Ar, 1. m 


1. Januar 1870. 





Die Blätter für literariſche Unterhaltung erſcheinen in wögentlihen Lieferungen zu dem Prtiſt vom 10 Thltz. fäprtid, 5 Thlru. 
balbjährlih, 2Y, Zplrn. vierteljärlih. We Buhhandlungen und Yoftämter de8 In» und Auslandes nehmen Beftelungen an, 





Inhalt: Revue des Literaturjahres 1869. Bon Muboif Gottigal. — Auerbag's neuer Roman. Bon Rudolf Sottisau. — 


Zur philoſophiſchen Literatur. 


Bon Eduard von Hartmann. — Zur ortientaliihen Literatur. — Senilleton. 





(Notizen; 


deutfche Evangefienüberfegung aus dem 12. Jahrhundert; Engliſche Urtheife über neue Erfeheinungen ber deutf—en Siteratur.) — 
Bibliographie. — Anzeigen. 





Revue des Literaturjahres 1869. 


r fünnten unfere Revue mit der alten lage begin- 

Wi ß auch dieſes Literaturjahr, bei einer maflenhaften 
Production, jo wenig Früchte von dauerndem Werth ge- 
zeitigt Habe. Doc einerfeitS darf man von einem ein- 
zigen Jahr nicht erwarten, daß die Bäume der Poefie in 
demjelben in den Himmel wachen, da auch die claffifche 
Blutenzeit unferer Literatur feine derartigen Wunderjahre 
aufweift; anbererfeit8 hat die Statiſtik des Buchhandels 
ebenfo gut ihren unerſchütterlichen Gang wie die Statiftif 
der Selbftmorde u. dgl. m.; man muß fie nad) allgemei- 
nen nationalöfonomifchen Gefegen zu begreifen ſuchen und 
darf ſich über Feine ihrer Zahlen wundern, wie überhaupt 
das nil admirari des Horaz in unferer Zeit immer mehr 
zur Geltung kommt. 

Bon namhaften Dichtern Hat unfer Riteraturjahr wenig 
Bedeutendes aufzumeifen, jo fehr der Born der Lyrik in 
alter unverfiegbarer Weife ſprudelt und reichlich lohnender 
Geſang nad) wie vor aus dem Herzen quillt, wenn wir 
nämlid) diefen Lohn in ber Freude des Gingens und 
nicht in der Anerkennung des undankbaren Publikums 
ſuchen. Die Elegien von Karl Bed: Taubchen im Neft, 
enthalten allerlei niebliche Cabinetsſtücke der Lyrik, wäh. 
rend Hermann Lingg's „Vaterländifche Balladen und 
Gefänge” mehr ein patriotifches Bilderbuch in Verſen find, 
Adolf Bottger's „Neue Lieder und Dichtungen“ wol allzu 
harmlos und anfpruchslos auftreten. 9. ©. Fiſcher 
idmet „Den deutſchen Frauen“ jchwunghafte Gedichte; 
uftav Kühne veröffentlicht finnvolle „Römifche Sonette*. 
nach Formenfchönheit ragen die Gedichte von Yulius 
ichanz: „Lieder aus Italien‘, hervor. Echt vollothümlichen 
umor athmet Victor Scheffel's „Gaudeamus! Lieder aus 
m Engeren und Weiteren‘. Der Veteran Karl von 
Altei hat alte und neue „Königslieder‘ veröffentlicht. 

Die bedeutendften Erfeinungen find Sammlungen 
1870, 1. 





von Gedichten, die ſich bereits früher in verfchiebenartig 
betitelten Einzelausgaben Anerkennung verfchafften. Hobert 
Prutz Hat feine glühenden Liebesgedichte im „Buch der 
Liebe”, Paul Heyfe feine poetiſchen Erzäflungen in den 
„Gefammelten Novellen in Verfen“, einer zweiten, auf 
das Doppelte vermehrten Auflage zufammengeftellt. Albert 
Möfer’8 „Gedichte zeigen im ihrer zweiten vermehrten 
Auflage noch erhöhte geiftige Bebeutung. Die „Gedichte 
des Gartenlaubendichters Albert Traeger find in fieben- 
ter Auflage erfchienen, die in ber Form mangelhaften 
„Gebichte" von Emil Brachvogel in zweiter Auflage, bie 
von C. F. Scherenberg in vierter, die von C. W. Bag 
und ©. Scherer in dritter vermehrter Auflage. Bon Julius 
Hammer’s „Schau um did) und ſchau in Big iſt die achte 
zehnte Auflage und von deffen „Zu allen guten Stunden" 
die vierte Auflage erſchienen. Auch Julius Sturm, „Seomme 
Lieber” (zweiter Theil) hat eine zweite Auflage erlebt, wäh. 
rend von demfelben Dichter Lieder und Bilder‘ (zwei Theile) 
foeben ausgegeben werben. Bictor Scheffel’s „Frau Aven- 
tiure“ erlebte eine zweite Auflage. Ueber derartige äußere 
Erfolge führen wir um fo forgfältiger Negifter, als die 
Ungunft der Zeiten gerabe die Iprifche Mufe zu vernach - 
Täffigen pflegt. 

Mehrere neu auftauchende Dichter Haben fi) mit Glück 
in die Literatur eingeführt. Zwar Iulius Große ift fein 
Neuling auf dem Parnaß mehr; aber er hat ſich bisher 
mehr durch epifche Gedichte hervorgethan. Seine neuen 
Gedichte: „Aus bewegten Tagen‘, haben pomphafte Hal- 
tung und vornehme Reflerion. Cbenfo ift Hieronymus 
Lorm als Novelift befannt; feine „Gedichte“ zeigen eine 
ſchwarzverſchleierte Weltanfhauung. Hermann Helſchlu- 

er und Wilhelm Ienfen haben einzelnes Treffliche ger 

iftet, namentlich auf dem Gebiete moderner, anmuthiger 

Situationsmalerei. Karl Zettel zeigt in feinen „Erfien 
1 











2 Revue des Kiteraturjahres 1869. 


° 

Klängen“ Verwandtſchaft mit Lingg's geſchichtsphiloſophi · 
ſcher And Mnapper Dichtweiſe; Ludwig Dill in den Gedich- 
ten: „Welt und Traum“, mehr religiöfe Grundftim- 
mung in breitern Ergüfſen; Philipp Emrich, ein gereifter 
Dichter, gibt bei einzelnen krafthaſchenden Wendungen und 
einer gewiſſen Spröbheit des Tons im einzelnen mandjes 
Sinnvolle und Gelnugene, namentlich auf dem Gebiete 
guomifcher Weisheit. 

Drammor’® „Requiem“ iſt eine formell umgleiche, doch 
oft ſchwunghafte Hymme auf den Zod, während des Be 
H. Neumann Canzonen: „Die Atheiften”, philo- 
Probleme teils tieffinnig, theils verworren be» 
Auf den Gebieten der Ode und des Epigramms 
öfterreihifc—he Dichter mit Anerkennung zu nen 
neı Ziegler (Carlopago), „Vom Kothurn der Lyrik“, 
und A. Bichler, „In Lieb’ und Haß”. Ghafelen von großer 
Formgewandtheit dichtete Hermann Rollet: „Offenbarum« 
gen”, neben ihm ift A. Ebeling zu nennen: „Regenbogen 
im Often.“ Unermüblid, fGöpft aus bem Born füblicher 
Poeſie 3. Faftenrath wiederum in zwei nenen Sammlun- 
gen: „Hesperiſche Blüten“ und „Immortellen aus Zo- 
ledo“. Weniger poefiereich als Spanien ift Hannover, wie 
die Gedichte des Hannoveraner A. B. von Weyhe- Eimte: 
„Bider den Strom”, beweifen, die indeß in zweiter ver- 








. Eine Meine 
ig in Liedern”, während derſelbe Dichter 
aud) eine Sammlung: „Borgefühle“, Hat erſcheinen lafien. 
Als einen harmlofen Sänger gibt fi W. Jerwig: „Fromm 
und fröhlid"; I. &. Ritter von Leitner hat eine nene 
Sammlung: „Herbſtblumen“, veröffentlicht, während Ste- 
phan Milow ein durch feine Stoffwahl mit allzu weiten 
und verbämmernden Perfpectiven außgeftattetes „Lied von 
der Menſchheit“ heransgab. Des Altmeifters Schnyder 
von Wartenfee „Gedichte“, fammelte nady dem Tode des 
Berfaſſers Müller von der Werra. Melchior Grohe, 
befannt durch ſatiriſche Literaturbilder, veröffentlicht ein 
Frühlingsmärden: „Die Hochzeit zwiſchen Geift und 
Herz”, Gisbert Freiherr von Binde: „Reifegejhichten, 
Novellenbuh in Berſen“. 

In igrer Mehrzahl neun in der Literatur erjcheinende 
Dichter find die folgenden: Eduard Graf Pfeil („Gedichte“), 
K. von Pleß („Ernſte Weifen“), Raoul Ritter von Dom- 
browsfi („Harmolle Lieder und harmloſe Gebanfen eines 
Wildtödters"), W. Elmert („Heimatlieder“), F. Ettig 
(„Scilderungen, Sagen und Märdien aus ber Pflanzen- 
welt“), E. Frommuth („Gedichte“), Ernſt („Gedichte“), 
€. Günther („Gedite”), W. von Biarowsky („Gloden- 
Hänge”), ©. Freiherr von Bobenhaufen („Gedichte“), 
3. Boppe („Am Zwiſchenahner See“), 3. ©. Sceifele 
(„Gebichte”), R. Schonbed („Guten Morgen, Biellieb- 
en“), ©. Yunghans (,Gedichte“), K. Weife („Lorber 
und Roje”), K. Weiſer (‚Das Hohe Lied meiner Liebe“), 
B. Bornemanm (,„Jagdgedichte“), F. Lentner („Licht und 
Schatten. Ein Liederchtius“), E. Tanbert („Sugendpara- 
dies”), E. Barre („Gebichte”), K. Candidus („Bermifchte 
Gedichte”), Ritter von Elfenftein („Genanntes und Un- 
genanntes“), I. Mayr» Tüchler („Wolken“), W. Bedhaus 
Aus der Ingendzeit. Ausgewählte Gedichte”), L. Eichrodt 








Eyriſcher Kehrans“), 3. Grasberger („Singen und Sa- 
gen‘), 8. Stelter (Gedichte“), E. Hefle („Dichtungen“), 
9. Bape („Dem Baterlande. Poetiſches Flugblatt”), 
€. Glaſer („Sternlofe Nächte. Nuits sans etoiles“, 
deutſch und franzöfiih), I. F. Hodmnth („Bebichte”), 
G. Opitz („Funge Lieder”), Baron $. von Nolde („Bor- 
tifche Berfuche”), R. Reither („Mus der Schuie Päba- 
gogilde Difhen"), 8. Wilden („Bebichte), €. Hoffe 
mann („Gedichte und Lieder“), F. Krafier („Offenes 
Bifir! Zeitgedichte“), C. N. von Gerbel („Dichtungen. 
Erſte Sammlung“), F. A. Leo („Gedichte“), 9. Golt- 
dammer („Gedite‘), W. Stein („Gedichte“), M. Blandarts 
Gedichte⸗), ©. Waldftedt („Herzensflänge), H. Kran 
(„Zagebublätter"), 3. Sundermann („Bon Meer und 
Infel), H. Voigt („Aeolsharfe“), A. Denffer („Mein 
Kranz und meine Burg“), M. E. Grigner („Ein gehar« 
nifchtes Ioyl“), und zwei anonyme Sammlungen: „Glüd- 
auf! im Fürftenganje” und „Ueber den Gräbern". 

Daß die Lyrik nad; wie vor eine Lieblingsarena ift, 
in welcher die Frauen ihren Pegafus tummeln, wird auch 
durch diefes Fiteraturjaht wiederum bewiefen. Nur mag die 
Zahl der Novelliftinnen noch größer fein als die ber 
Igrifchen Dichterinnen. Aufſehen erregte die Heinifirende 
Ada Chriften durch den feden Ton ihrer „Lieber einer 
Berlorenen”; Gemith und oft glüdliche Prägnanz des 
Ausdruds zeigt Augnfte von Römer in den „Wellen und 
Bogen”. Außerdem find auf dem Literaturmarkt mit 
poetif—en Waaren erfchienen: Marie Hagenburg«Hiede 
(„Gebihte”, Neue Sammlung), Marie von Najmajer 
(„Schneeglödhen“), Angelika von Hörmann („Grüße aus 
Tirol“), Wilhelmine Gräfin von BWidendurg- Almafy 
(Neue Gedichte”), Eliſabeth Gujlomsti („Gedichte“), 
Augufte Zind („Gedichte"), Fuife Henfel („Rieder“). 

Bie jedes Fahr Hat aud; in biefem der Schieſiſche 
Dichterverein ein „Album ſchleſiſcher Dichter. Giebente 
Folge‘ veröffentlicht, und ebenjo ift das „Album des literarie 
ſchen Vereins zu Nürnberg“, welches ſteis zahlreiche Gedichte 
euthält, beide auf das Fahr 1870 lautend, erfchienen. 

Bon ältern Gedichten find die von Novalis, von W. 
Beyſchlag, Goethe's fämmiliche Gebichte in der kritiſchen 
Tertrevifion von H. Kurz ſowie in der Hempel’fchen „Ra- 
tionalbibliothek“, ©. A. Bürger’8 „Gebichte” in der Brod» 
hausſchen „Bibliothek der deutfchen Nationalliteratur” von 
3. Tittmann und Hölty’s „Gedichte“ von K. Halm Heraus. 
gegeben worden. Bon R. von Liliencron’s Sammlung: 
„Die Hiftorifchen Volkslieder der Deutſchen vom 13. bis 16. 
Jahrhunderi“, iſt der vierte Band erſchienen, während von 
den „Deutfchen Dichtern des 17. Jahrhunderts“, herans- 
gegeben von Karl Goedele und I. Tittmann, drei Bände: 
Martin Opig' „Dichtungen“, Baul Flemming's Gedichte“ 
und Friedrich von Logan’s „Sinngebichte”, vorliegen. 

An Anthologien ift nad; wie vor fein Mangel: Ru« 
dolf Gottſchall's „Blütenfranz neuer deutſcher Dichtung” 
ift im fiebenter Auflage erſchienen. Eine Art poetife 
Geographie hat R. von Schlagintweit veröffentlicht: „Poe ⸗ 
tiſche Bilder aus allen Teilen der Erde. Ausgewäßlte 
Schilderungen deutſcher Dichter“; andere Anthologien find: 
€. Böhmer, „Sranenfhmud und Frauenfpiegel. Ein lyri ⸗ 
ſcher Bliltenkranz aus bem Sängergarten der neueften Zeit”; 
„Harfenflänge, eine Sammlung auserlefener lyriſcher 





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Revue des LRiteraturjahres 1869. 3 


F Poefien religiöjen Inhalts”; Hermine Stilfe, „Im Früß- 


ling. Lenzlieder von verfchiedenen Dichtern in Driginal- 
compofitionen“; 4. Daul, „Leitfterne im Leben und fie- 
ben der rauen. Eine Shafjpeare- Anthologie”. 

Bon den epifhen Dichtungen fteht in erfter Linie 
durch glänzendes Colorit und Gedankenreichthum Robert 
Hamerling's „Der König von Sion‘, von welchem im Laufe 
des Jahres bereitS drei Auflagen erfchienen find. Bon 
deflen „Ahasver in Rom” ift die fechste Auflage erfchie- 
nen, einer der glänzendften Erfolge, den in nener Zeit eine 
epifch-Iyrifche Dichtung errungen hat. Reich an Schön» 
heiten des erzählenden Stils find U. F. von Schack's 
„Epiſoden“; durch die Anmuth Fünftlerifcher Haltung und 
die Tendenz milder Weisheit fehr anziehend J. V. Wid⸗ 
mann’3 „Buddha“. Im Scherenberg'ſchen Stil, oft ener- 
giſch, aber allzu manierirt und forcirt ift 2. Goldammer’s 
Didtung „Sadowa”. Das idyllifche Epos von L. Dil: 
„Paul und Thereſe“, ift eine anmuthende Dorfgefchichte in 
Herametern. Andere epiſche Dichtungen find: ©. Hid: 
„Ein Wintermärden”; D. Wagner: „Zuleikha“; E. Rau- 
fher: „Nora“; C. Hoeßlin: „Klofter Arkadi auf Ereta‘; 
G. Baflg: „Perpetua”; 3, Weis: „Die neue Edda‘; 
J. Bape: „Der treue Edart. Epos von deutfcher Ent: 
zweiung und Verſöhnung“ (zweite umgearbeitete Auflage), 
md E. Edftein: „Schach der Königin! Ein humoriſtiſches 
Epos“. Auch der Kritiker Karl von Thaler ift al8 epifcher 
Dichter aufgetreten in der Sammlung: „Aus alten Tagen”. 

Zu den volksthümlichen Dichtungen wollen wir 
gleich manche Profafchriften, Sagenfammlungen u. dgl. m. 
mit hinzurechnen. Hier ift das Gebiet, auf welchem bie 
Dialeltpoefie in voller Blüte ſteht. Wir erwähnen von 
derartigen Gedichten: P. K. Rofegger, „Zither und Had- 
bret. Gedichte in oberfteirifcher Mundart”; F. Neben, 
„Plattdütſche Schnurren“, F. W. Grimme, „Schwänte 
und Gedichte in ſauerländiſcher Mundart”, „Album platt 
deutſcher Dichtungen”, „Ban mienem Keenich Willem. 
Ban’n ol’n Nümärker“; U. Seyfried: „Altboarifche 
Schichten uud G'ſangln“; B. Prinz'n: „Beruntwintig 
fhöne Lere von R. Burns in’t medlenbörgich Plattdütſch 
vewerdrogen"; W. Schröder: „Heidſnucken. Gedichte und 
Geſchichten“; 2. Harms: „Honnig. Bertellen und Ute 
leggen in fin Moderſprak“; „De Theerſchwöäler. Ne 
eenfache Dörpgeſchichte nt Mark Brannenborch. Van 
oll'n Numärker“; Pauline Arndt: „Up Hohenmüren orer 
Anna Werner“; C. Gilow: „De Minſch“; O. Vogel: 
„Pommernſpegel. Ut ollen Tiden“; G. Buchenthal: 
„Wieſenblumen, Gedichte in ſchleſiſchem Landdialekt“. 

Von neuen Sagenſammlungen ſind erſchienen: A. En⸗ 
gelien und W. Lahn: „Der Volksmund in der Mark Bran- 
denburg“; P. Hoffmeiſter: „Heſſiſche Volklsdichtung in Sagen 
und Märchen, Schwänken und Schnurren“; J. Proſchko: 
„Hiſtoriſche Erzählungen und Sagen aus der Steiermark“; 
K. M. M. Spedt: „Donaufagen”; C. Rode: „Der 
Ugleifee. Nach einer Volksſage“; D. Funke: „Der 
Baldeultus und die Linde in der Geſchichte in Sagen und 
Liedern“; F. Sundermann: „Sagen und fagenhafte Er- 
zählungen aus Oſtfriesland“; 3. Lederer: „Sagen und 
Geſchichten aus Böhmen“; H. Meier: „Oftfriefifche Kin- 
der» und Volksreime“; D. Sutermeifter, „Kinder- und 
Hausmärchen aus der Schweiz”. 


Karl Simrod gibt „Auserlefene deutſche Volksbücher“ 
heraus, in ihrer urfprünglichen Echtheit wiederhergeftellt, 
und Hoffmann's von Fallersleben „Unfere voltsthiimlichen 
Lieder” Liegen in dritter Auflage vor. 


Wenden wir und nun zur dramatifchen Poefie des 
legten Literaturjahrs, fo erfcheint die Ernte noch weniger 
bedeutend als auf dem Gebiete der Lyrik. Freilich be- 
findet fi unter den Bühnenſtücken manches wirffame und 
erfolgreiche Drama, welches noch nicht im Buchhandel 
verbreitet wind und don dem wir daher an diefer Stelle 
nicht Notiz nehmen können; doc auch die Theaterchronif 
bat faum ein Wert von hervorragender dichterifcher Be—⸗ 
deutung regiftrirt. Auf jeden Anſpruch an die Bühne 
verzichten dialogifche Dichtungen wie der vierbändige, an 
genialen Einzelheiten reiche „Fauſt“, von F. Stolte, und 
A. Trümpelmann’s Hiftorie: „Luther und feine Zeit“, 
oder die mit gigantifchem Urweltshumor ausgeftattete dra- 
matifche Freske: „Das Mammuth‘‘, von Karl Weifer. 

Daß antike Stoffe auch diefem Meßkatalog nicht feh⸗ 
len werden, ift bei der DBeeiferung unferer Dramatifer, 
das claffifche Altertfum auf die Bühne zu bringen, felbft- 
verftändlih. Dramatifches Talent und geiftvolle Welt- 
anſchauung prägt fi m dem „Zimoleon” von Hans 
Marbady aus. Andere antike ober biblifche Dramen find: 
„Appius Claudius“, von 9. Forrer; „Cajus Grachus“, 
zweimal behandelt, von A. Ment und D. Franz, welcher 
legtere Dichter gleichzeitig einen „Iudas Iſcharioth“ und 
eine Trilogie: „Der Meſſias“, gedichtet hat; „Tarpeja“, 
von G. Sauppe, „Ecce homo“, von ©. F. Holt- 
Ihmidt, und das Drama „Petrus und Nero”. 

Bon den Bühnendramen, bie zugleih im Drud er- 
fchienen find, Haben ſich drei fcenifcher Erfolge zu rüh⸗ 
men: das Preisluftfpiel von H. 4. Schaufert: „Schach 
dem König”, welches mit ungleihem Erfolg die Runde 
iiber die deutfchen Bühnen gemacht bat, ein Städ von 
frifch zugreifendem Humor, aber auch ſhakſpearifirender 
Manierirtheit; S. Mofenthal’8 Trauerſpiel: „Iſabella 
Orſini“, und Joſeph Weilen's „Roſamunde“, welche als 
der dritte Band ſeiner dramatiſchen Werke erſchienen iſt, 
beide Stücke von dichteriſcher Haltung und von Kenntniß 
der Bühne zeugend. 

Bon des beliebten Luſtſpieldichters G. zu Putlitz 
„Luftipielen“ ift eine neue Folge erfchienen; von Feodor 
Wehl's Dramen der fünfte Band, welcher die Schaujpiele 
diefes Autors enthält. Freiherr 4. von Wolzogen bat 
feine Bearbeitung von Kalidaſa's „Sakuntala“, fowie feine 
neue Unfcenirung der Oper „Don Yuan’ im Drud er- 
icheinen lafien; 8. R. W. Ufchner einen Band gejam« 
melter „Schaufpiele” herausgegeben, Ein früheres Stüd 
von J. Minding: „Papſt Sixtus der Fünfte“, durch 
Charakterifit und Energie des Ausdrucks hervorragend, 
fiegt in einer Bühnenbearbeitung von E. Rainer und 
A. Beder vor. Daß die Mofterien und Moralitäten 
noch nit ganz ausgeftorben find, beweijen Maria Arndt’s 
„Dramen für das chriftliche Haus” und „Ein geiſtlich 
Spiel von Sanct Meinulppus. In drei Aufzügen“. 
Aus den modernften Bühnenbedürfnifien dagegen erwach⸗ 
jen ift E. Bloch's „Theater⸗Correſpondenz“, deffen erftes 
Heft „Das erfte Mittagsefien“, ein Luſtſpiel von C. Görlig, 

1 * 














4 Revue des Riteraturjahres 1869. 


enthält, fowie A. Kühling's „Album fir Liebhaber- 
bühnen“. 

Einzeln erſchienen noch folgende Dramen: „Odoardo. 
Romantiſches Schattenſpiel“, von F. Pocci, der auch ein 
„Luſtiges Komödienbüchlein“ herausgegeben hat; „Die 
Weizenähre“, Drama von G. F. P.; „Die Entthronten“, 
von L. Philippſon; „Deutſche Treue“, von L. Wohlmuth; 
„Das mähriſche Trauerſpiel in fünf Handlungen“, von 
Fürſt und Altgraf zu Salm-Reifferſcheid; „Schwerting, 
der Sachſenherzog“, von L. Meißner; „Eine morganatiſche 
Ehe“, von C. Homburg; „Chriſta“, von E. Graf von 
Stadion; „Struenſee“, Trauerſpiel von H. B.; „Widu⸗ 
kind“, Schauſpiel von Söltl; „Iſolde“, Tragödie von 
A. Gehrke; „Joſephine“, Drama von dem mit Recht ſtets 
moderne Stoffe wählenden L. Eckardt, und die beiden 
Trauerſpiele: „Die Pulververſchwörung“ und „Bianca di 
Capello“, von Carlo Giulio. Bon Luftfpielen find nod) 
nachzutragen: „Die Frömmler“, von E. Oswald; „Der 
berliner Figaro“, von F. Hollander; „Wer ift der Herr 
Pfarrer”, von X. Calmberg; „Suum cuique‘, von E. He- 
noumont. Die beiden dank der „Gartenlaube“ weltbefann- 
ten Romane von E. Marlitt: „Sold-Elfe oder bie Egoi⸗ 
ſten“ und „Das Geheimmiß der alten Mamfell“, Hat A. 
E. Wollheim für die Bühne bearbeitet. 

Ungezwungen reiht fi) an die dramatifhe Production 
die dramaturgifche Literatur, welde im Jahre 1869 
nicht gerade zahlreiche Blüten getrieben hat. 3.2. Klein’s 
„Geſchichte des Dramas’ ift jest bis zum fiebenten Band 
gediehen, welcher endlich die umfangreiche vierbändige 
„Sefchichte des italienifchen Dramas“ abſchließt. Der 
zehnte Band von Eduard Devrient’8 „Dramatifchen und 
dramaturgifchen Schriften” enthält: „Meine Erinnerungen 
an Felix Mendelsfohn-Bartholdy; Albert Yäffing ver- 
öffentficht eine Reformſchrift: „Zur Reform der Bühne‘, 
während K. R. Pabſt. „Die Verbindung der Künfte auf 
der dramatifchen Bühne“, das Tieblingsthema Richard 
Wagner's, in etwas abweichender Weife behandelt. 


Der Roman, das Epos der Neuzeit, welches von den 
Vorkämpfern der Profaliteratur als der vollftändige künſt⸗ 
lerifche Erſatz für die Epopde in Verſen proclantirt wird, 
fteßt natürlich in vollfter Blüte: Kaiferfronen und Hundes 
veilden wuchern hier nebeneinander; die Großen und 
Kleinen der Literatur begegnen fi) auf diefem Gebiete, 
und es trifft fich Leicht, daR das Publikum hier einen 
Kleinen ftreichelt und verhätfchelt, während es einem Großen 
mit fcheuer Andacht aus dem Wege geht. 

Die Bedeutung des hiftorifhen Romans dürfen 
wir in einer Zeit wie die unferige nicht gering anjchlagen, 
fobald berfelbe die Vergangenheit zum Spiegel der Gegen- 
wart macht und fi) nicht mit todtem antiquarifchem Kram 
befchäftigt. In der Regel ift er bei uns mit zu viel 
nadter Geſchichte zerfeßt, und die Kunſtform deſſelben 
erfcheint noch immer zu ſchwankend, ohne feften Gang 
und fichere Haltung. Emil Brachvogel hat feinen phan- 
tafiereichen, aber oft gejchmadlofen Romanen zwei neue 
hinzugefügt: „Die Grafen von Barfus“ und „Ludwig der 
Bierzehnte, oder die Komödie des Lebens‘; Julius Roden- 
berg einen gediegenen, jüngft von uns gerühmten Roman ans 
Cromwell's Zeit: „Von Gottes Gnaben“, verfaßt, und 


Karl Frenzel einen in der Zeit Joſeph's fpielenden 
Roman: „Im goldenen Zeitalter.” Auf fleißigen Stu- 
dien beruht das mit lebhafter Phantaſie ausgeflihrte Wert 
einer Dame, Arthur Stahl’8: „Die Tochter ber Alhambra. 
Kleinere Hiftorifhe Romane hat Friedrich) Adami gefam- 
melt unter dem Titel: „Große und Heine Welt.“ 
Der fleigige P. Galen veröffentlicht einen neuen Roman: 
„Der Löwe von Luzern.” In neuer Zeit fpielen bie 
Romane von Schmidt-Weißenfels: „Der achtzehnte Bru⸗ 
maire“; von 3. Bacher: „Auf bem Wiener Congreß”, und 
von A. Schirmer: „Die Spionin, aus der Geſchichte des 
amerikanischen Kriegs“. Andere hiftorifche Romane find : 
3. von Widebe: „Soadhim Stüter, oder die Einfüh- 
rung der Reformation in Mecklenburg“; 2. Herbert: 
„Das Teftament Peter's des Großen”; 2. Better: „Die 
legten Grafen Kery, oder Chrift und Mohammedaner”; 
Paul Stein: „Aus den Tagen des erften Napoleon‘; 
3. Hemfen: „Die Prinzeffin von Ahlden“; ©. Hiltl: 
„Unter der rothen Eminenz“, €. Heufinger: „Eines Kö⸗ 
nigs Dank“; H. Schmid: „Mütze und Krone”; R. Kules 
mann: „Cornelia von Lentulus“; S. Graf Grabowski: 
„ver Schügling des Kaiſers“; E. Pitawall: „Kleopatra, 
die Schöne Zauberin vom Nil’; A. St.-Maure: „Licht und 
Finſterniß“. Ein Qulturbild des vorigen Jahrhunderts 
gibt Dttfried Mylius in dem Roman: „Die Irre von 
Eſchenau“. In antiproteftantifchen Tendenzromanen uner= 
müdlich ift E. von Bolanden, wie jet fein „Guſtav Adolf‘ 
beweiſt. Im der allernächften Vergangenheit fpielen die 
politifchen Romane: H. von Maltig: „Die Politik bes 
Herzens, oder die Annectirten”; F. Klind: „Unter dem 
letsten Welfenkönig“, B. von Rotenkirchen (A. Görling): 
„Langenſalza“. 

Der Zeitroman bat in dieſem Jahre einige be⸗ 
deutende Werke aufzuweiſen. Friedrich Spielhagen's 
„Hammer und Amboß“ und Berthold Auerbach's 
„Das Landhaus am Rhein“, vertreten beide das Evans 
gelium moderner Humanität und find jener gegen das 
weiße, diefer gegen das ſchwarze Sflaventhum gerichtet. 
Der Roman „Hermann Stark“ von Oskar von Rebwik 
ift zum Theil in Profa aufgelöfte Lyrik, doch zeigt er 
Sinn für deutfches Leben und vertritt politiih den 
Standpunkt des Liberalismus. Robert Byr's Roman: 
„Der Kampf ums Dafein”, macht ven Darwinismus zum 
Angelpunfte der Begebenheiten. Bon Karl Gutzkow's 
„Zauberer von Rom” ift die dritte Auflage erfchienen, 
während die „Ritter vom Geiſte“ in einer mejentlich ab- 
gekürzten Ausgabe vorliegen. 

Originell und keck, doch ohne Abſchluß ſind Hans 
Hopfen's „Arge Sitten“, pſychologiſch intereſſant bie 
„Fiamma“ von Günther von Freiberg, das Pſeudonym für 
eine Dame, wie F. von Nemmersdorf: „Unter den Waffen.“ 
Des verſtorbenen Heinrich Koenig letztes Werk iſt der 
Roman „Eine pyrmonter Nachcur“. Levin Schücking 
hat zwei kleine Romane veröffentlicht: „Filigran“ und 
„Die Malerin aus dem Louvre“, Guſtav vom See einen 
Roman: „Valerie“, Karl von Holtei: „Die alte Jungfer“, 
die auch im Kloſter unermüdlich producirende Gräfin 
Ida Hahn-Hahn: „Die Geſchichte eines armen Fräuleins“, 
und Wilhelmine von Hillern: „Ein Arzt der Seele.“ 
Das folgende Regifter der übrigen Romane dürfte ziem⸗ 








Auerbadieneuer Roman. 


lich volftändig fein; etwaige Auslaffungen find nicht 2& 
Abſicht, jondern Zufallstüde. W. Bennede: „Malerleba; 
W. Freimuth: „Das Kloſter“; Paula Herbft: „Calle 
und Liebe; W. Dtto: „Kaufmann und Xriftofrde; 
E. 9. König: „Verſchollen“; Gräfin Creffieur: „2x8 
dem High⸗life“; Agnes le Grave: „Frau Lee”, Elifesth 
Baronin Grotthus: „Die Familie Runenthal”; A. Dis: 
„Erlebtes und Erdachtes“ und „Bilder und Geftaltı“; 
G. von Keflel: „Königstren“; F. Lubojatzky: „Zu Fus 
und überall‘; 9. Mühlfeld: „Freie Bahn“; E. Biel: 
„Das Haus Morville‘; E. M. Vacano: „Das Geheinif 
der Fran von Nizza“, und zufammen mit Graf Stapn: 
„Dornen. Erinnerungen und Ahnungen”; 4. fer: 
„Bas ift Wahrheit? H. Kleinfteuber: „Das Glof 
om Meer’, R. Neumann: „Köhin und Gräfin‘ ©. 
Hefeliel: „Schellenmoritz“; Elife Pollo: „Sie ft‘; 
D. von Kaszony: „Satan und Cherub”; T. ©. Um: 
„Ein häßliches Mädchen“; W. Yäger: „Künſtlerſtiche“; 
3. Hallervorden: „Das Haus Bernhard“; K.daff—⸗ 
ner: „Sungfernblut” und „Was fi die Kammzofen 
erzählen”; €. von Dindlage: „Zolle Geſchten“; 
3. Sonnendburg: „Madonna Sirtina”; U. Sfens: 
„Ein Wechſel“ und „Ein Polenherz“; E. Pasqué, Drei 
Sefellen“; A. Broof: „Das Schloß in den Armen‘; 
J. D. 9. Temme: „Die Erbgrafen“; C. Lünherz: 
„Berfehlte Ziele; D. Wilibald: „Kleines Iren aus 
einer Heinen Stadt”; Amalie Römheld: „Anna raun“; 
I. Weſtritz: „Gegen den Strom“; U. Schrad: „Die | 


— — — — 


Zwillingsbrüder“ W. Anthony: „Romane und Novellen“; 
G. %. Born: „Die Geheimniffe einer Weltftadt “; 
©. Graf Grabowski: „Das Käthchen von Heilbronn“; 
D. von Paſchkowsky: „Chriftine‘; T. Ramlau: „Wanda“; 
F. C. Schubert: „Und fie bewegt ſich doch“; I. 5. War- 
tenberg: „Weiße Sklaven oder ein Opfer der Kirche“; 
H. Klende: „Afchenliefel oder des Weibes Beruf“; 4. 
Storch: „Die Katatomben von Wien‘; Graf U. Baudiſſin: 
„Die Stieffinder‘; @. von Bolanden: „Raphael“; 
Amely Bölte: „Ein Thron und fein Geld”; A. von Stifft: 
„Renaiffance und Romantif”, und mehrere anonyme Ro- 
mane: „Berlieren und Wiederfinden“, ein ſchleſiſcher Ro— 
man; „Der Sohn des PVerbannten oder das Geld des 
Juden“; „Mariola oder ein blinder Dämon“. 

Der erotifhe Roman ift diesmal nur vertreten 
durch F. Gerftäder's „Die Blauen und die Gelben. 
Benezuelanifches Charafterbild.“ ine erotifche Färbung 
hat auch der Roman von E, Freiherrn von Bibra: „Die 
Abenteuer eines jungen Peruanerd in Deutſchland.“ 

ALS eifrigfter Vertreter des Humoriftifhen Romans 
erfcheint U. von Winterfeld in den Werken: „Fanatiker 
der Ruhe“ und „Der Winfelfchreiber”. Außerdem hat 
Graf U. Baudiffin „Ronneburger Myſterien“ heraus- 
gegeben und Dtto Buchwald „Das neue Geſangbuch“, 
weldye beide Werke fi) als humoriftifche Romane be- 
zeichnen. 

| Rudolf Gottſchall. 
(Die Fortſetzung folgt in ber nächſten Nummer.) 


Aubach's nener Roman. 


Das Landhaus am Rhein. Roman von Berthold, erbach. 
Flnf Bände. Stuttgart, Cotta. 1869. 8. 5hlr. 


Der deutfche Roman unterfcheidet fid) vorkm fran« 
zöffchen und englifchen durch die ſchwerwende Ge⸗ 
diegenheit des Inhalts; wir meinen den Rom der von 
hervorragenden Schriftitellern ausgeht; dennas Futter 
der Leihbibliotheken iſt bei allen Nationegleichartig, 
und auch wir haben genug Romane, deren ſtiger In— 
halt gleich Null zu achten iſt. Will ſich g ein deut⸗ 
ſcher Romanſchriftſteller auf der Höhe des rnaſſes be⸗ 
haupten, fo darf er nicht blos wie die gepruſten fran- 
zöfifchen und englifchen Genofjen durch chthum ber 
Erfindung, ſchöpferiſche Geftaltung "und t Runft, die 
Spannung zu erregen, ſich die Theilnahmer Leſer er- 
werben; er muß vor allem und in eindeiftige Welt | 
einführen, den Reichthum feiner Bildungf allen Ge⸗ 
bieten bewähren; er muß pädagogiſche, ſormatoriſche, 
fociale Tendenzen, welche einen Commentwerausfordern, 
in jeine Dichtung hineingeheimniſſen; enuß beweiſen, 
‘aß ex ein vielſeitig gebildeter Mann iſt, vas Tüchtiges 
‚elernt hat und über alle Dinge dieſevelt mit Geiſt 
nd Grazie zu fprechen verfteht. 

Die Traditionen unfers „elaſſiſchen“ mans ftammen 
on Goethe her; die Entwidelung und bung bes Hel- 
"en ift der Mittelpunft deſſelben; we Theorie 








es Romans lehnt fi) vorzugsweiſe mie Goethe'ſchen 
Mufter an. Wenn indeg dev Dichter „Wilhelm Mei- | 


fter’8 Lehrjahren“ den abenteuerlichen Verwidelungen, auf 
denen die Spannung des Romans beruht, nody Rechnung 
getragen hat, fo haben ſich „Wilhelm Meifter’s MWander- 
jahre‘ gänzlich von diefen Bedürfniffen des Lefepublikums 
entancipirt; bei allem ZTieffinn, bet aller Tragweite der 
focialen Tendenzen forgen fie fchlecht für die Unterhaltung 
der Leſer, und wir find Fegerifch genug, dies fir einen 
Fehler zu Halten. 

Der Romanfgriftfteller, der Halbbruder des Dichters, 
wie Schiller ihn nennt, hat für das Abendland diefelbe 
Rolle übernommen, welche im Orient der Märchenerzähler 
jpielt; er will die Phantafte der modernen Culturmenſchen, 
die dur den Mechanismus ihres Tagewerks in den 
Hintergrund gerüdt oder in unerquidlicher Weife befchäf- 
tigt wird, mit freien, felbftändigen Genüffen erfrifchen; 
er baut Hinter der Realität des praktiſchen Lebens eine 
zweite, fchöne Welt auf, gekleidet in die anmuthigen 
Zraumfarben der Phantafie, und zeigt und in ihrem 
Taletdoffopifchen Spiel ungewöhnliche, aber gefchlofiene 
Vigurationen des Menſchenſchickſals. 

Der Roman entſpricht in erſter Linie nicht einem 
äſthetiſchen, ſondern einem praktiſchen Bedürfniß, und dies 
Bedürfniß darf auch von der Aeſthetik nicht misachtet 
werden. Die angenehme Beſchäftigung der Phantaſie, 
welche den Menſchen in ein Reich der Freiheit führt, 
wo er der nächſten Sorgen und Beſchwerden vergißt, iſt 
eine unerlaßliche Aufgabe des Romans, wie fie zugleich die 








6 Auerbah’s neer Roman. 


Wurzel ift, aus welcher dieſe ganze zwijchen Poefie und 
Proſa ſchwankende Dichtgattung hervorging. 

Freilich, das Märchen fol feinen Sinn haben und iſt 
um fo fhöner und gelungener, je tiefer diefer Sinn if. 
Und fo verhält fich’8 audy mit dem Roman. Gelingt 
es dem Autor, eine tieffinnige Wahrheit zur Seele ber 
Begebenheiten zu machen und fie ans dem ang der 
Handlung mit zweifellofer Klarheit Herporleuchten zu 
lafien, fo werden wir ihn doppelt preifen; denn ex 
weiß den floffartigen Heiz mit geiftiger Bedeutung zu 
verfnüpfen. 

Etwas anderes ift es freilich, wenn die Tendenz ne 
ben der Gefchichte herläuft; wenn wir belehrt und gebil- 
det werben, nicht durch den Inhalt der Romanfabel felbft, 
fondern durch die Betrachtungen, mit denen der Autor 
fie begleitet, wenn unjere Phantafie fortwährend den 
Armen des Traumgottes wieder entriffen und auf die 
harte Schulbank geſetzt wird, um ſich Vorlefungen halten 
zu laffen. 

Ein guter Roman ift wie ein Wagen mit Federn; 
man merkt nicht, daß man fährt. Doch diefe floßenden 
Böantafienagen erinnern ung jeden Augenblid daran, und 
Kreuz und Lenden thun uns wehe bei jedem Rud, der 
und aus unferm Behagen auffchüttelt. 

In der That hängen die Wagen unjerer beften Roman 
autoren gerade nicht in Federn. 

Die deutſchen Schriftfteller find zu geiftreih und 
wollen, daß man’s merft. manchen Romanen glau« 
ben wir fortwährend die Finger zu jehen, mit denen bie 
Inferate der Kaufleute ſich ſchmücken, und die hier hin⸗ 
weifen auf geiftigen Ausverfauf, auf ein wohlafjortirtes 
Waarenlager aus allen Fächern. Oft gewinnt es den 
Anfchein, als wollte und ber Romandichter fagen: „Seht, 
das verftehe ich vom Aderbau, vom Weinbau, von Botanil, 
vom Nechtsweien, von Politit, von Faufmännifchen Ge- 
ſchäften, von Dachdederei und Schmiedehandwert u. f. f.“ 
Dean könnte nur immer antworten: „Mein befter Herr, 
wir ftellen ja fein Eramen mit Ihnen an! Wir ver- 
langen auch gar nicht einmal, daß Ste jo übertrieben 
geiftreidh find. Erzählen Sie uns nur eine finnreiche 
Geſchichte, wir werden den Sinn ſchon felbft heraus- 
finden.” 

In der That, bie Noten drängen fich jet in den 
Tert, wie überhaupt die Noten zur Signatur bes Zeit. 
alters gehören. Man denke an die Noten der gelehrten 
Shakfpeare- und Schiller - Ausgaben. Die Weisheit aus 
zweiter Hand erftidt faft diejenige aus der erften, welche 
der Genius uns bietet. Auch von denjenigen Noten 
fprechen wir nicht, durch welche der hiſtoriſche Roman⸗ 
autor heutigentags ſeine Lefer unterrichtet, daß dieje 
oder jene Anekdote oben im Xert die reine goldene ge- 
ſchichtliche Wahrheit fei, und damit das Berdienft feiner 
Duellenforfhung body Über das der eigenen Erfindung 
ftellt. Und doch ift eine Empfehlung für eine erledigte 
Achivarftelle ein Uriasbrief fir den Didier! Wir 
ſprechen nur von den verfappten Noten, die fi in den 


Text der Romane felbft einfehleihen, von den zahlreichen 


Bemerkungen, Erläuterungen, Abhandlungen, mit beuen 
die Autoren ihre Gefchichtsffitterung durchwirken, und die 
uns eine größere Meinung von ihrer Bildung beibringen 


8 von ihrem Talent. Nimmt man für den Roman 
18 Vorrecht in Anſpruch, dag alles Mögliche in ihn 
heingeftopft werden barf, was die Welt des Geiftes ber 
pgt, alle erdenklichen Tendenzen, Bemerkungen, Aus- 
eanderfegungen — jo wollen wir ihm die Vorrecht 
riht ſtreitig machen, müſſen aber dann jeden Auſpruch 
aiehnen, den der Roman anf die Bedeutung eines Kunft- 
wis erheben dürfte. Dazu gehört vor allen Dingen, 
d; fih Form und Inhalt deden. 


Wenn wir mit dieſen kritiſchen Ergüſſen der Bes 
ſſpihung des neuen Auerbach'ſchen Romans etwas un« 
Ley präludirt haben, fo wollen wir durchaus nicht alle 
drdallgemeinen Betrachtungen auf Auerbach's Werk be» 
30; jehen. Doch die Anregung zu denfelben hat es 
uneullerdings gegeben, indem die in ihm berrfchende 
Op: der Meflerionen zu dem eigentlichen Seen der 
Hecang nicht in dem richtigen Verhältniß fteht, jondern 
wie 3 kometiſcher Dunftfchweif Hinter diefen Kern fid 
inszerite hinaus erftredt. 

éyerbach iſt ein geiſtreicher Schriftfteller, der mit 
ſein gebinoziſtiſchen Weltanſchauung alle ſeine Werke zu 
ſätti. weiß, ohne daß und die aufbringliche philofophifche 
Vorneentgegenipringt. Eine echte Naturpoefie mit tie- 
fem „ienten ins AU und feine wirkenden Kräfte finden 
wir ipellen feinen Erzählungen und Romanen, auch in 
biefei Wueſten, und der Geift der Öumanität, defien 
Geſtir mmer fiegreicher am Himmel dieſes Jahrhunderts 
empo t, feiert auch im ihnen einen Triumph über alle 
Ueber _. der Barbarei. Bon der Culturmiffion der 
Nenze —ES verherrlicht der Dichter den Sieg 
eines „en Geſchlechts, welches die Sünden der Bü- 
ter gut 

D Aſfuerbach befigt ebenfo wenig wie Freytag eine 
reiche *| erfinderifche Phantaſie. Im den Romanen 
dieſer di hochſtehenden Autoren zeigt ſich eine unleug⸗ 
bare &egh der Motive und eine ausnehmend ökonomi⸗ 
Ihe Atanzung derfelben, welche aus dem Bewußtſein 
jenes 9 dels hervorgeht. Wie unglitdtich ſelbſt ein fo 
vorſicht; Autor ‚wie Freytag überall dort iſt, wo er 
feiner genfie einige kühnere Wagniffe zumuthet: das 
zeigt baperte Dand ber „Berlorenen Handſchrift“ mit 
jeiner bo Zigeunerromantif und gemwaltfamen Ueber— 
ſchwemmeſeataſtrophe. 

Auchtei Auerbach's neuem Roman bringt es die 
Handlunye deu drei erſten Bänden faum zu einem 
Vortgang duns Spannung einzuflößen vermag. Das 
Intereſſe dm vorzugsweiſe pädagogiſches; ein Haus— 
lehrer, de dei Doctor und Hauptmann und mit der 
Erziehung ve! Sohnes eines transatlantifchen Nabobs 
betraut if, h im Bordergrunde der Handlung. Diefer 
Nabob fer wenbart ſich durch fein Sonberlingswefen 
und durch etunheimliche Vergangenheit, die er uns ah⸗ 
nen läßt, Dr eigentlihe Romanheld, von dem wir 
noch einige ante Ueberrafchungen erwarten dürfen. 
Doch dara Koffen wir ums gedulden — weilt uns 
der Verfafſilh für diefe Gebulbprobe einen zaube- 
riſchen Auj an an, in dem ſich's Leben läßt — bie 
Billa Eden.n 


Die Bilin | Eden und ift and ein wahres Eden, in 











\ 


» das man freilih nur von außen hineinfehen kann, denn alles 


ift verfchlofjen umd bewacht und längs der Gartenmauer find 
Selbſtſchüſſe und Fußangeln. Nur wenn der Beſitzer verreiſt 
iſt, haben die Diener die Erlaubniß, Haus und Park zu zeigen, 
und nehmen dann viel Geld ein. Man rühmt die Ställe mit 
den marmornen Krippen, bie bfütenvollen Zreibhänfer, die 
fein ausgedachte Schönheit der Hauseinrichtumg, die Obſtgärten 
und den Part. Der Beftger ift ein reicher Amerilaner, er hat 
dieſes Haus gebaut, den fchattigen Park angelegt, und die Wieſe, 
die halb verfumpft, zerriffen und ungeebnet ſich bie am ben 
Strom dehnte, in einen Obftgarten verwandelt, der die edelſten 
* trägt, von einer Größe und Schönheit, wie man fie 
iergulande nod nicht gelaunt. 

Wer erinnert ſich nicht an Adalbert Stifter’s „Spät- 
jommer“ umd feine roſenumrankte Billa? Wie fchön- 
felig wird e8 und dort zu Muthe, wenn wir fortwährend 


Auerbad’s n kt Roman, 7 


„ı 
\ spiefe Eriten bedürfen einer mäßigen Temperatur und einer 
aöbleibenden Feuchtigkeit. Sie werben ſchon oft gefehen ha⸗ 
‚ daß ein Erifenftod mit feinen zarten Blüten, den man 
eir Dame für ihren Blumentifch fchentt, nach wenigen 
Zen verdorrt ift; diefe Pflänzchen vertragen Teine trodene 
Amerluft. 
Wir werden von ihm in den Obſtgarten geführt: 
Aus dem ſchattigen, dicht beſtandenen Park, deſſen Rand 
mit ſchönen ſtämmigen Weißtannen bepflanzt war, trat 
an in ein Gewirre von Obftpflanzungen, die auf einer Fläche 
ıa mehren Morgen Feldes fi) wahrhaft zauberijch darftell- 
. Die Beete waren mit Heinen, faf wie Taxusgebüſche 
ergbaft gehaltenen Birnen⸗ und Apfelbäumen eingefaßt. Der 
Atamm war kaum zwei Schub Hoch gehalten, während bie 
Auszweigungen an Drähten fo ausgelegt waren, daß hüben 
md drüben oft dreißig Schub lange Aeſte feftgebunden 


m Gärten und auf Aeckern uns berumtreiben und bie foaren. Das biühte jetzt an allen Guben und fland dabei 


fanbern, kunſtgeſchmückten Räume des Haufes kaum an- 
ders als in Filzſchuhen zu betreten wagen, welche der 
Dichter den Hausgenoſſen dort zur Dispofition flellt. 
Es wird und zu Muthe, als gehörten diefelben zu ben 
Templeifen, die irgendeinen Heiligen Gral bewachen, 
und wäre es auch nur der Gral einer höchſt fublimirten 
geiftigen und Kunſtbildung. Dod wir lefen von Bant 
zu Band; es gefchieht nichts, Fein Ereigniß befledt di 
Flieſe des Hausflurs; alles ift nur damit befchäftigt, fid 
zu bilden. 

Aehnlich ergeht e8 uns lange Zeit in der Billa Eden. 
Der Hauslehrer Erich erzieht den jungen Roland, ber 
bald in heftiger Neigung zu ihm entbrennt; man geh 
Ipazieren, man erhält Beſuche; die pilante Gräfin Belh 
irrlichtelirt mit etwas Esprit in bie fchönfelige Atmoſphär; 
Erih und Magifter Knopf unterhalten ſich über pädayo- 
giſche Grundfäge; wir lernen den Major, das Fräukin 
Mid, fein Orakel, und den Doctor kennen; bes in- 
zige Ereigniß, welches etwas Lebhafter die kaum fich Tılu- 
jelnde Oberfläche des Romans bewegt, ift ein Diebtahl 
bet Sonnenkamp; ein ganz gewöhnlicher, durchaus richt 
romantiſcher Diebftahl, für den anfangs ein Unfchulsiger 
zur Berantwortung gezogen wird. Der alte und neue 
Pitaval können die Gefchichte nicht brauchen; wozu braucht 
fie der Dichter? Nur als ein pädagogiſches Ereigniß, 
welches auf das Gemüth bes jungen Roland bildende 
Birfung ausübt, als eine Art von Schnlvorzeichuung, 
durch welche der Haußlehrer feinen Zögling einige Schat- 
tirungen des Menfchenlebens Iehrt. 

Das äußere Leben ift arm; wir find auf einem 
Landhaus, und da begibt ſich nicht viel; doch lernen wir 
mancherlei. Wir brauchen ja bios durch ben. Garten 
zu gehen und uns mit dem Gärtner in ein Geiprüd 
einznlaflen, der Mann verfteht fein Gefchäfl:: Was 
weiß und das Erdmännden Nicolas nicht alles zu 
erzählen: 

Droben im Walde fei eine Duelle, die Eiſen enthalte, und 
"a habe Herr Sonnenlamp nadgraben laffen und Eiſenerde 
jefunden; in diefe Eifenerde pflanze er num Horflenſien, die 
Heifchfarbenen Pflanzen färben ſich dadurch himmelb,lau. 

Auch rühmt er die einfache Methode des Koerrn Son- 
ırenfamp, wenn er Obfllörner ſäete. Er ließ nämlich in 
lie Erde Hinein Nadeln vom Wachholderbaum miſchen; 
dadurch kamen feine Würmer und keine Milufe in ben 
Ganren. Sonnenfamp jelbft unterrichtet ung ie die Eriken 
rom Gap der Guten Hoffnung: 


I 


! 
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o geregelt, daß der gewaltig bindende und bildende Men- 
chenwille ſich zeigte, der die Natur zum freien Kunſtwerk 
oder auch zu einer zwerghaften Berfünftelung gebracht Hatte. 
Wohl geordnet flanden dann Bäume von mannichfaltigfien 
geometrijchen Formen. Da waren Bäume in Kreisformen und 
Biereden, andere, die von unten bis zur Spike nur vier 
Zweige hatten, die in gemeljenen Zwiſchenrüumen nad ben 
vier Himmelsgegenden gerichtet waren. Au bie Mauer an- 
gelehnt waren Bäume, die Stamm und Zweige in Sternform 
oder fchief legen mußten, wie ein Baſaltlager. Alles war im 
beften Gedeihen. Sonnenlamp berichtete, daß man die Zweige 
fnide, um den Saft nit zu Holzbildung in Stamm und 
AR fich verbreiten zu laflen; alles müſſe der Frucht dienen. 
Sie haben wol uud Mitletd mit diefen geknickten Zweigen? 
fragte er ironiſch lächelnd. Die natürliche Form der uns be- 
fannten Obfibäume — Ja wohl, fiel Sonnenlamp ein, die 
Menſchen find Gefangene des Borurtheils! Findet jemand 
Unfchönes, Gewaltfames darin, daß man den Weinftod 
allfommerlih dreimal fappt? — Niemand will ſchöne Form 
vom Weinftod, jondern nur reiche Frucht; fo fol e8 auch beim 
Obſtbaum fein. Sobald man zu oculiren begonnen, war der 
Weg vorgezeichnet; wir find nur confequent. Der Zierbaum 
fol Zierbaum, der Fruchtbaum Fruchtbaum jein, alles grade- 
aus. Diefer Anfelbaum ſoll ſolche Aeſte, und nur fo viel 
Aeſte haben, daß er Früchte tragen kann, und zwar fo große 
als möglih; vom Obſtbaum will ich fein Holz, fondern 
Frucht. 

Gewiß, das iſt alles ſehr lehrreich; wir führen aber 
dieſe verſchiedenen Stellen an, um zu zeigen, was wir 
unter den oben erwähnten verkappten, im Text verſteckten 
Noten verfiehen. Das ift alles in einer Dichtung todter 
Notizenkram, Excerpte aus einem Lehrbuch der Horticultur, 
die fi mit Grazie in infinitum fortfegen laſſen. Die 
hamburger Blumenausftellung gibt für derartige Garten- 
und Zimmerdecorationen eines Romans eine ſolche Fülle 
von Material, daß wir uns verpflichten, in dieſer Weiſe 
einen Helden durch neun Bände hindurch fpazieren zu 
führen und jedes Kapitel mit einer preisgefrönten Blumen- 
jpecies anmuthig zu umrahmen. Wie in diefen Zunft 
gürtnerifchen Notizen finden fi auch in der Schilderung 
der Räumlichkeiten der Billa zahlreihe Proben jener 
jchlechten deſeriptiven Poeſie, welche Leifing mit Recht 
verurtheilt hat, und die wir 3. B. bei Stifter in reichem 
Maße antreffen, Malereien und Schildereien mit der 
Teber, ein todtes, vuhendes Nebeneinander von Aeußer⸗ 
lichkeiten, bie fein einheitliches Geſammtbild vor bie 
Phantafie zaubern. 

Den Excurſen über Gartenbau fchliegen ſich die pü« 
dagogiſchen an. Hier treffen wir fehr viele geiftreiche 
Bemerkungen. Magiſter Knopf ift auch gewiß eim 








x 
ı£ 





8 Auerba ergener Roman. 


tüchtiger Pädagog; doch unſer Held Erich Dournahee 


Hauptmann⸗Doctor, weiß zwar über Erziehung, über lez 
Verhältniß von Autorität und Individualität, das beifr 
zur Sprache kommt, ſehr fachgemäß zu fprechen; ich 
wirkt er ohne Frage durch feinen edeln Charakter bild 
auf feinen Zögling ein. Im Grunde aber ift er .d 
ein pädagogifcher Dilettant, wie alle Hauslehrer in 'y- 
manen; wir trauen ihm nicht zu, daß ex einen fuften- 
tiſchen Unterrichtsplan innehält. Wir fürchten, daß ei 
einem Cramen das Regifter der Kenntniffe des junm 
Roland manches bedenkliche Loch zeigen würde. Er kt 
do zu viele andere Händel im Kopf. Nach eina 
fhüchternen Liebesverſuch bei Frau Gräfin Bella, wo die 
Schüchternheit weder nöthig noch erwünſcht war, verliet 
er ji in die Tochter vom Hanfe, Manna, die fi, un 
des Vaters Schuld zu fühnen, dem Kloſter geweiht hat. 
Erich's Liebe jeboch gibt fie dem Leben zurück; fie wirft 
ihren Bußgürtel zum Wenfter hinaus. Diefe Entwidelung 
ift mit pſychologiſcher Feinheit durchgeführt, und auch von 
warmer, anfprechender Gefühlslyrik; doch die entfcheidende 
Wendung gehört fchon der zweiten Hälfte des Romans an, 
in der wir mit etwas vollern Segeln fahren. 

Sonnenfamp hat den Ehrgeiz, fich adeln zu laſſen; er 
ſucht dies durch jede Art von Beftechung durchzufegen; 
der Fürſt des Heinen Staats befucht ihn auf feiner Villa. 
Der Nabob ift dem Ziele nahe, fcheitert aber im letzten 
Augenblid. Seine Antecedentien werden fein Verhängniß. 
Sonnenlamp war in Amerifa einer der berüichtigtften 
Stavenhändler, ja mehr, er war ein Sklavenmörder. 
Verfolgt von einem feindlichen Schiff warf er einmal bie 
ganze Sflavenladung ins Meer und wurde bei diefer 
Gelegenheit von einem Mohrenhäuptling in den Daumen 
gebiffen. Um die Wunde zu verdeden, trägt er einen 
Ring an diefer Stelle. Der Schwarze, der ihm die 
Wunde beigebracht, lebt indeß und befindet fich in Dienften 
des Yürften, welcher Sonnenkamp den Adel ertheilen will. 
Wir hören nım fortwährend don einem dunfeln Ereignif 
ſprechen, welches den Befiter der Villa brandmarft: die 
Vögel fingen’8 gleihfam auf den Dächern, eine Dame 
des Romans macht der andern davon die Mittheilung, 
wir find bei der Zufammenkunft zugegen; doch wir er- 
fahren trogdem nichts. Dies ift eigentlich gegen bie Ab- 
machung, welde die Leſer mit dem Nomanfchriftfteller 
eingegangen find. Doch Auerbach fagt: tel est notre 
plaisir, und läßt Sräulein Mil) der Frau Profefforin 
ein Geheimniß mittheilen, während wir babeiftehen und 
nur fehen, wie fie die Köpfe zufammenfteden. 

Die Enthüllung diefer beunruhigenden Antecedentien 
wird auf den fpannenden Moment aufgefpart, wo der 
Fürſt jelbft dem geadelten Sonnenkamp das betreffende 
Document einhändigen will. ‘Da erhält er ein Zeitungs- 
blatt, welches ſchonungslos den Sklavenhändler brand- 
markt: er behält das Adelsdocument zurück und gleich- 
zeitig fpringt der Leibmohr des Fürften wie ein wildes 
Thier auf feinen frühern Peiniger los, den er erfannt 
bat. Sonnenfamp wird mit Mühe aus feinen Krallen 
gerettet und kehrt Heim, ein vernichteter Mann. Er kommt 
auf den unpraftifchen Gedanken, eine Art Ehrengericht 
über fi) von Münnern der Nachbarſchaft fällen zu lafjen; 
doch er verhöhnt dies Ehrengericht durch eine Darftellung 


ſwegung beginnt. 


feines Lebens, in welcher er alles, was andern Sterblichen 
heilig ift, mit Verachtung behandelt. Die geiftige DBe- 
deutung bes Charakters, biefe rückſichtsloſe Selbſtſucht, 
prägt fich immer fchärfer aus; doch fein praftifches Thum 
büßt alle Zweckmäßigkeit ein. Zulegt entführt ex die 


| gleichgefiunte, menfchenveradhtende Gräfin Bella von der 


Leiche ihres Gemahls nad; Amerifa, wo fie ſich beide an 
dem Aufftande der Sübftaaten betheiligen und in demfelben 
zu Grunde gehen, während Erich, defien Gattin Manna 
geworden ift, und Roland auf ber entgegengefegten Seite 
kämpfen. | 
Welch eim Stoff für ansgehungerte Romanlefer — 
der Seceſſionskrieg mit feinen Schlachten und Abenteuern! 
Welche bunte, reiche Welt entrollt fi Hier! Yankees 
aus Neuyork, Plantagenbarone des Südens, Neger, 
Indianer, etwas Cooper, Möllhauſen, Gerftäder! Da 
kann ja nachgeholt werben, was in Bezug auf [pan- 
nende Begebenheiten früher verjäumt worden iD 
Sachte, ihr Ungebuldigen! Wir find jchon weit mm 
legten Bande vorgerüct, ais die große amerifanijche Be- 
Und nur in „Briefen von und nad 
der Nenen Welt” erhalten wir flüchtige, flizzirte Auskunft 
über Ereigniffe, die allerdings an Wichtigkeit bedeutend 
ılles übertreffen, was uns vorher mit jo umfafjender 
Husführlichkeit vorgeführt worden tft. 
Do foll der Roman noch einen Roman gebären? 
In der That gleicht er einer in allzu ſtarke Berjüingung 
aslanfenden Säule; ihm fehlt der ſchlanke getragene 
Arfbau. Am Anfang endlos in die Breite gedehnt, am 
Schluß mit athemlofer Haft fi) überſtürzend, kann die 
Sondlung als folche weder ein gleichmäßiges noch ein an- 
dauerndes Intereſſe in Anſpruch nehmen. 
Bei allen dieſen Ausſtellungen gegen die Architektonik 
dee Romans müſſen wir denſelben doc als ein geift- 
reiges Wert anerkennen, welches oft von einem poetifchen 
Hard) durhdrungen ift und in einzelnen Zügen djaral- 
terifiiche Schärfe und Energie der Darftellung verräth. 
Namentlich zeigt ſich in den Nebencharakteren eine geftal» 
tende Kraft, die auch originell zu jchaffen weiß. rau 
Ceres, die Frau des Sklavenhändlers, ift ein folder 
Charakter von origineller Urmüchfigfeit, eim exotiſches 
Naturkind nur von Putz- und Prunkſnucht beſeelt, ein 
Vogel im Käfig, der ſich nur an der Pracht feines Ge⸗ 
fieders erfreut. Der alte Major und Fräulein Milch 
ſind ein paar köſtliche Figuren; in der Schilderung der 
Gräfin Bella finden ſich feine pſychologiſche Züge. Lina 
iſt der muntere Backfiſch, eine Art von ingenue, die in 
den neuen Romanen zur typiſchen Figur geworden iſt. 
Durchwaͤg poetiſch iſt Manna gehalten, das Kloſter mit 
feinen Iſitriguen in gedämpftem Licht, nicht aufdringlich 
Die Männer aus dem Volke fehlen jelbft- 
verftändligh bei dem Verfaſſer der Dorfgeſchichten nicht; 
der „Kriſſcher“ und der „Siebenpfeifer” vertreten dieſe 
borfgefchichtliche Richtung, welche durch das Leben below 
stairs, duch die oft ausführlich gefchilberte Tafelrunde 
der Dienerſſchaft ergänzt wird. Bon ben Ariftofraten ift 
Graf Clodipig der Mann von echter Bildung und wiſſen⸗ 
ſchaftlichem Streben, während Baron Pranden ein Re⸗ 
präſentant Jenes ſpeculirenden Adels iſt, der auf Reich⸗ 
thumer Jagd macht und fein Mittel, ſelbſt die Frömmelei 





— — — — — — —— — — — — 


| 
| 





f& verjchmäht, um zum Ziel zu gelangen. 





Zur philofophifchen Literatur. 9 


Die wür« 
dige Matrone, die Fran Brofefforin, der ftets gleich“ 
müthige Doctor, der praftif—h-hHumane Weidmann und die 
Heine märdhenhafte Bee, die dem jungen Roland im Walde 
begegnet und fpäter fo kindlich mit ihm ſich in Braut- 
haft und Ehe hincinplaudert, find ebenfalls mit Behagen 
gezeichnete und zum Theil von dichteriſchem Hauch be— 
feelte Geftalten. 

Solange wir in dem Roman blos fpazieren gehen, 
wird es dem Autor fehwer, biefe Charaktere bedeutſam 
und malerifh zu gruppiven. Er läßt fie fehr einförmige 
Eotillontonren ausführen, bald diefen, bald jenen mit dem 
andern gehen. An vielen Stellen des Anfangs fehlt die 
Gabe fließender Erzählung und die Bewegung ber Grup- 
pen erfcheint hölzern und mechaniſch. Erft fpäter kommt 
mehr Flug und Guß in das Ganze, und die Charaltere, 
bie fi) anfangs nur ihres Daſeins freuen, beginnen bes 
Rimmte Zwede zu verfolgen. 

Sehr glücklich ift die Poeſie der naturfhönen und 
leichtlebigen Rheinlande in Natur» und Volksbildern ge- 
troffen. Auerbach's Stil erhebt ſich in ſolchen Schilder 
rungen zu graziöfem Schwung. Ueberhaupt ift feine Proſa 
edel, Mar, bezeihnend, nur an einzelnen Stellen nidjt 
ganz frei von Manier. Diefe Manier befteht darin, die 
Säge in einer Art von Gänſemarſch aufmarſchiren zu 
laſſen, daß ſich lauter kurze Hauptfäge auf die Haden 
treten. Dadurch befommt auch die Schilderung oft etwas 
Stoßweiſes. 

Den Reichthum an Gedanken und Sentenzen, der ſich 
durch das ganze Werk zieht, bisweilen in allzu doctri⸗ 
nörer, meift aber in gefälliger, prägnanter Form, möge 
die folgende, ans bem erften Bande zufammengeftellte 
Anthologie verauſchaulichen: 

36 wünfgte, id Yönnte Communift fein; ich wünſchte 
daß ih den Communismus für eine geftaltungsfähige Form der 
Sefelicjait halten Lönnte, was er dod) nie und mimmer wer« 
den kann. Wir müfen auf anderm Wege daran arbeiten, unfer 
Dajein von der Barbarei zu befreien, daß unfere Mitmenichen, 
geihbererigt wie wir, an den gemeinften Bedürfniſſen Roth 

ein. 


Ich finde, daß Reichthum ein gewiſſes Recht auf Ehre hat. 
Sebfterworbener Reihthum if Zeuguig von Thatkraft, Um- 
fiht. Ebenſo ſchwer, vielleicht noch ſchwerer als die Aufgabe, 
ein Fürf zu ſein erſcheim mir bie, ein Mann von fo Über- 
mäßige Reihthum zu fein. Da Häuft fih eine Macht in dem 
Menigen an, die dem Charakter leicht etwas Gemaltthätiges 
gibt; jolh ein Mann lebt in eimem Dunftkreis des Allmadt- 
bewußtjeins und hört faft auf, eine einzelne Perſönlichteit zu 
fein; die ganze Welt ericeint ihm unter dem Geſichtspunkte des 
Raufpreifes. 


Codwig Tnüpfte die Betrachtung daran, daß es mohl- 
ii darzutfun, wie der 





ander gegenübergeftellt. Die Wifſenſchaft werde allerdings feine 
Vetradtung nicht gelten laffen. Die Medufa fei ihm die Er- 
fheinung der alles verzehrenden Peidenfhaftlichleit, die, wenn 
fie der irende Menſch jehe, ihm vor feinem vigenen Gelbft er- 
ftarren made. Es fei fehr bedeutungsvoll, daß die Alten das 
äußerfte feelifche Chaos im Weihe dargefellt hätten, denn die 
zur Liebe geſchaffene fhöne Erſcheinung, die zu Bosheit und 
Zerfiörungsiuft geworden, fei gerade in der Geftalt des Weibes 
um fo craffer. Die Rauch ſche Victoria dagegen erfcheine ihm 
al8 Berlörperung eines hodjfittlihen modernen Seelenzuflandes, 


„Diefe neue Jugend", fagte er, „ift anders als wir waren, 
fie ſchwankt nit mehr zwiſchen den beiden Polen Begeifterung 
und Verzweiflung; es ift vielmehr eine intellectuele Begeifte- 
rung in ihr, und id glaube, fie wird mehr durchführen ale 
wir. Ich bin glüdlih, ba ich nicht fon zu alt bim, um noch 
biefe, id} möchte fagen, zur Cifenbahn geborene Jugend ver- 
flehen zu fönnen. Ich bewundere und liebe unſere Gegenwart. 
Noch zu feiner Zeit wußte jeder in feinem Bernfe fo beflimmt, 
mas er will und foll, al& die heutige Welt; jo in aller Wiffen- 
ſchaft und in allem Leben.’ 

Wer im Leben etwas anderes ſucht ale Nugen, Bergnä- 
gen und Ehre, ber wird vielen, die von folder VBeborzugtheit 
feine Ahnung haben, eraltirt erſcheinen; die Welt kann nicht 
gereht fein gegen folde Menſchen, fie muß fie verdammen, 
weil fie ihr eigenes Beftreben von ihnen verdammt fieht. Sie 
werben Ihr Leben lang, wenn Sie fi treu bleiben, ein Mar- 
tyrium zu tragen haben. 

Wenn auch die Methode der Erziehung ſich nad) den Um- 
ſtanden richtet, fo muß doc das Princip derfelben Mar erfannt 
und feft verfolgt werden. Der große Kampf, der die Geſchichte 
der Menfchheit und das ganze menfhliche Leben durchzieht, zeigt 
fi) in der Erziehung des einen Menf—hen durch einen andern 
am jcärfften; die beiden Mächte treten da alß Lebendige Ber- 
fonen einander gegenüber. Ich möchte fie kurzweg Individualität 
und Autorität, oder Geſchichte und Natur nennen. 

Es ärgert mid), daß die Keichen fid) auch Duft und Frucht 
höherer Erfenntniß ſollen kaufen tönnen; aber e8 bleibt wahr: 
€6 komme fein Reicher ins Himmelreih. Die Reihen haben zu 
viel Ballaft geladen; fie haben ein verfünfteltes Leben fern von ber 
Noth des Dafeins und entziehen ſich felbft der Naturmacht der 
Jahresjeiten; fie fliegen aus und eim in verihiebene Klimas 
und haben überall wohnlich eingerichtete Schwalbennefter. Es 
tmäre eine Unbarmherzigteit des Schidfalß gegen uns, wenn die 
Reichen zum mühelofen Befige noch die hoͤhern Freuden haben 
follten, die uns allein gehören. 


Der frifche geſunde Sinn, der humane Geift des 
Dichtwerks empfehlen daflelbe, als eine fi über die All- 
tagsproduction erhebende Schöpfung, der Leſewelt. 

Rudolf Gottſchall. 


Zur philofophifhen Literatur. 


tiſche Geſchichte der Büilofophie von ihren Anfängen bie zur 
Begenwart von €, Dühring. Berlin, Heimann. 1868. | 
3.8. 2 The. 10 Ngr. | 


Wir Hatten es kürzlich (in Nr. 28 d. BL. f. 1869) mit 


‚ec om Mufter der objectiven Geſchichtſchreibung zu thun, 


a wir Kuno Fifcher's Werk über Fichte betrachteten; 
870. 1. 


heute Liegt uns ein Muſter der fubjectiven Gefchichtjchrei- 

bung vor, wie fie nicht fein fol. Wir hatten als Kenn- 

zeichen und Bedingung der objectiven Geſchichtſchreibung 

der Philofophie kennen gelernt: im einzelnen bie con« 

geniale Reproduction, im ganzen ben Begriff den Ent 

widelung; bie congeniale Reproduction allein ift im Stande, 
2 














10 


den Intentionen vergangener Zeiten geredjt zu werden, 
der Begriff der Entwidelung allein kann die zerftüdelten 
Glieder der Menfchheitsgedankfen zu einem Ganzen zu» 
fammenfaffen, ohne der hiftorifchen Wahrheit und Treue 
Eintrag zu thun. Nun entfteht aber die Trage, ob denn 
die objective Geſchichtſchreibung das letzte und höchſte Ziel 
des Studiums ber Geſchichte fei, und diefe Trage wird 
man -allerdingd verneinen müſſen. So unmöglid) es ift, 
aus der Gefchichte zu lernen, ohne fie begriffen zu haben, 
jo umöglich es ift, die Gefchichte zu begreifen als in der, 
objectiven Geſchichtsauffaſſung: fo gewiß iſt das Begreifen 
der Gefchichte nicht Zweck, fondern Mittel zu ihrer Be: 
urtheilung, und die Benrtheilung derfelben Mittel zur 
Unterftügung und Bildung des Geiftes für feine gegen- 
wärtigen Aufgaben. 

Iſt dies Thon beim Studium der Geſchichte im all- 
gemeinen der Fall, fo ganz befonders bei dem ber Ge- 
ſchichte der Philofophie, wo es ſich ſchon um ein Inneres, 
um ben flufenweifen Wortfchritt zur Wahrheit handelt. 
Die objective Geſchichtſchreibung verfennt dies aud) keines⸗ 
wegs, aber fie bietet ſich allen Individuen, fo verfchieden 
aud) ihr fubjectiver Standpunkt fein möge, ohne Unter- 
ſchied al8 diefelbe und immer richtige dar, und überläßt 
den Lefern die weitern Stufen der Geiftesarbeit; die Fri- 
tiſche Geſchichtſchreibung aber, welche auch die Beurthei⸗ 
lung mit übernimmt, kann dies nur von einem mehr oder 
minder beſchränkten ſubjectiven Standpunkt, und tritt des⸗ 
halb ſofort mit der Majorität der Leſer in Widerſpruch. 
Die Geſchichtſchreibung der Philoſophie vor Hegel war 
ein unklares Gemiſch objectiver und ſubjectiver Behand- 
lung, infolge deſſen die Sache ſelbſt nicht zu ihrem Rechte 
kam, und mithin auch das Urtheil ſchief ausfiel; vor allem 
aber fehlte das Bewußtſein des innern geiſtigen Zuſam⸗ 
menhangs, und ſie verhielt ſich etwa wie der Entdecker 
einer Anzahl beiſammenliegender antiker Statuen, der die 
einzelnen beſchreibt und nach ſeiner Art kritiſirt, während 
Hegel hinzukam wie der Künſtler, deſſen wahlverwandter 
Blick die Zufammengehörigkeit aller dieſer Figuren zu ber 
großartigen Compofition eines Giebelfeldes entdeckt. Diefe 
Entdedung Hegel's ift fo epochemachend, und der Um⸗ 
ſchwung, welchen die Beleuchtung aller einzelnen Theile 
des Ganzen dadurd) nahm, fo frappant, daß die Will- 
fürlichkeit und Gewaltſamkeit, mit welcher ex bie einzelnen 
Figuren in den allgemeinen Rahmen bineinzuprefjen juchte, 
in der That bagegen verfchwinden muß, um fo mehr, ale 
ja niemand, der feine Grundidee übernimmt, nöthig hat, 
ihm die einzelnen Fehler nachzumachen. Wer aber diefen 
durch Hegel vollzogenen totalen Umſchwung — wie Düh- 
ring — nicht anerkennt, der kann natürlid) nur den vor- 
hegel'ſchen Standpunkt einnehmen, mit dem einzigen 
Unterfchied, daß die Subjectivität, von welder aus er 
Fritifirt, eine mobernere if. Dühring erhebt fi wirklich 
zu dem Zugeftändniß, daß die Annahme einer Tyflemati- 
ichen Einheit und Verknüpfung der mannichfaltigen nach— 
einander und nebeneinander aufgetretenen Erfcheinungen 
der Bhilofophie im allgemeinen nicht ganz unberedjtigt fei; 
im Folgenden erklärt er jedoch diejes Zugefländnig näher 
dahin, daß er ſich diefen Zufammenhang überhaupt nicht 
anders als bewußt und abfichtlich zu denken vermag, und 
daß er demfelben mithin gerade auf die bedeutenden umd 


Zur pbilofophifchen Literatur. 


originellen Geifter am wenigften Anwendung zugeftehen 
könne, da diefe „ſich abfichtlich der allgemeinen Strömung 
und den Rüdfichten auf das UWeberlieferte entzogen, um 
dem innern Triebe und ihrem eigenen Wege ungeftört 
treu zu bleiben”. Freilich, wenn Hegel feinen innern 
Zufammenhang der Syfteme fo verftanden hätte, daß ein 
origineler Philofoph feine Originalität aus dem ihm 
Borangehenden durch discurfive Logik Herausgellaubt hätte, 
dann wäre er der Sculfnabe, zu dem Dühring ihn 
machen will; daß aber Hegel ein inneres geheimes Bant 
meint, welches gerade die originellften Entdedungen der 
größten Philoſophen auf eine ihnen felbft unbewußte Weife 
miteinander verbindet und welches nur wir erft nachträg— 
lich ans Licht zu ziehen fuchen, davon hat Dühring fo- 
wenig eine Ahnung wie nur irgendein Gefchichtichreiber 
der Philofophie aus dem vorigen Jahrhundert. 

Dühring bemerft ganz richtig, daß dasjenige, was 
große Philojophen bemußtermaßen aus der geiftigen Atmo⸗ 
Iphäre‘, die fie gerade athmeten, in ihre Philofophie aufs 
nahmen, nicht nur meiftens von untergeorbneter Bebeu- 
tung, jondern oft geradezu von Nachtheil für diefelbe war. 
Nein, nit da, wo Dühring den innern Zuſammenhang 
ſucht und wo Hegel und feine Schule ihn (im ganzen im 
fehlerhafter Weife) auch finden will, fondern in den 
originell auftretenden Orundprincipien, in der Reihenfolge 
der grundfäglich verfchiedenen und doch einander ergän« 
zenden oder fortbildenden Standpunkte Tiegt die höhere 
Einheit der philofophifchen Arbeit des Menfchengefphlechts. 
Schon der objective Gefchichtfchreiber muß infofern kritiſch 
verfahren, als er bei der ihm nothmwendigen Abkürzung 
der Driginalwerfe jedes Autors befonderd die Neben: 
ſachen abfürzt, aber feine originellen Brincipien, um deren 
willen derfelbe feinen Rang in ber Geſchichte einnimmt, 
ausführlich und mit Nachdrud erörtert, daß er bei diefen 
den innern Zufammenhang mit Borgängern, Zeitgenoflen 
oder Nachfolgern aufweift, aber nicht zu viel Zeit verliert 
mit der Aufzeigung ded doch mehr oder minder gleid)- 
gültigen Zufammenhangs von Nebenfachen. Hierin hat 
Hegel und feine Schule noch vielfach gefehlt, weil fie et 
zu gut machen wollte; bier ift der Punkt, wo die Eritifche 
Geſchichtſchreibung der Philofophie ihre Hebel einzufegen 
bat und wo fie ſich große Berdienfte erwerben Tann, wenn 
fie mit Klarheit in ihren Grundſätzen und mit Bedacht 
in ihrer Aumendung zu Werfe geht. 

Auh Dühring Hat fich entfchieden ein Verdienft da- 
mit erworben, daß er mit fühnem Wort ein Stüd ehr- 
furchtsvoll behandelten Zopfs glatt abgefchnitten hat; aber 
der Werth, den das Bud) nad) diefer Richtung bin ber 
fist, wird dur) den Mangel an der nothwendigen Be 
fähigung zur Gefchichtfchreibung überhaupt in dem Maße 
überwogen, daß feine Vorzüge um ihre Wirkung gebracht 
werden. 

Daß Dübring dem Begriff der Entwidelung in der 
Geſchichte der Philofophie Feine Stätte einräumt, haben 
wir jchon oben gejehen; er ift hierin ein echter Anhänger 
Schopenhauer’8. Beiden ift die Gefchichte der Philoſophit 
ein Haufen Unrath, in dem allerdings der fleißige Sucher 
bier und da ein verlorenes Körnchen Wahrheit findet. 
Daß dies Feine verlodende Gefammtanfhauung ift, wirt 
jeder einfehen, und man kann fih nur fragen, wenr 


Zur philofophifdhen Literatur. 11 


Dühring fein Buch wefentlich für folche gefchrieben hat, 
bie fi fiber Philofophie beichren wollen, ob er e8 in dem 
Glauben gefchrieben hat, durch daffelbe zur Philofophie 
anzuziehen, oder mit der Abficht, von ihr abzuftoßen. 
Wenn die Gefchichte der Philofophie wirklich ein ſolcher 
Angiasſtall wäre, wie Dühring aus ihr macht, fo müßte 
man in der That jeden bedauern, der genöthigt wäre, 
derfelben feine Zeit und Kräfte zu widmen. Das Re 
fultot wird das fein, daß jene, bei denen bie zur Schau 
getragene Verachtung der Philoſophie Modeſache ift, emmige 
neue Phrafen zur Beitätigung ihres Standpunftes gewon- 
nen haben werden. 

Aber Dühring kennt nicht nur feine Entwidelung, 
er kennt fogar etwas wie umgefehrte Entwidelung, oder 
fortlanfende Depravation, obwol auch diefe mehr zufällig 
als ſyſtematiſch ſich einftellt. Diefe umgefehrte Entwide- 
Img findet ex 3.8. in ber griechifchen Philofophte, die 
bisher noch immer als ein Muſter folgerecht auffteigender 
Entwidelung angefehen worden ift (man vgl. die erften 
200 Seiten in Erbmann’s „Grundriß der Gefchichte der 
Philoſophie“). Dühring kennt ferner feine hiftorifche Ge- 
rechtigkeit. Weit entfernt, einen gleichmäßigen Schägungs- 
maßſtab an die verfchiedenen Gebilde anzulegen, urtheilt 
er ausſchließlich nach zufälligen perfönlichen Sympathien 
und Antipathien, welche ſich an nebenſächliche Meinun- 
gen der Bhilofophen knüpfen. Wenn die Werthſchätzung 
eines Denkers nad) Begabung, Leiftungsfähigkeit und ©e- 
fiauung eine weſentlich andere ift, als die nad) den vor⸗ 
liegenden Leiftungen und Werken, wenn ferner die Schägumg 
der Wichtigkeit eines Syſtems nad) feinem Einfluß auf 
feine eigene und fpätere Zeiten eine andere ift, als nad) 
dem innern Werth, den wir von unferm heutigen Stand- 
paufte bemfelben noch beilegen fünnen, fo verwirrt und 
vertaufcht Dühring diefe Standpunkte nad) Bedarf, um 
ferne Lieblinge herausftreichen und die ihm antipathifchen 
Denker herabfegen zu können. 

Gewiß mag der Einfluß der vorfofratifchen Philo- 
fophen auf ihre Zeit bebeutend gewefen fein, vielleicht be- 
deutender als der des Plato; aber was folgt daraus für 
ihren abfoluten Werth? Gewiß mag die geniale Bega- 
bung des Sokrates und feine Gefinnungstüchtigkeit die 
manches fpätern Berühmtern überragen, aber wo find 
feine bleibenden Leiftungen? Daß Plato und Ariſtoteles 
zur Sorruption der griedhifchen Philoſophie gehören, dieſe 
cortupte Idee verdient Feine Widerlegung. Die Yaunen 
Duhring's find unberechenbar und entziehen ſich jeder 
Borausfiht. Während ihm fonft alle Myſtik umd Un- 
Harbeit wie die Nacht verhaßt ift, während er z. B. einen 
Denker erften Rangs wie Johannes Scotus Erigena kaum 
wit zwei Zeilen erwähnt, hat cr eine befondere Schwär- 
merei fiir den allerdings genialen, aber ſchwärmeriſchen 
and unklaren Giordano Bruno. Leibniz hingegen, an⸗ 
erfanntermaßen emer der Harften und fchärfiten Köpfe 
aller Zeiten, ift ihm, weil er die „Theodicee“ gejchrieben, 
fo überaus antipathiſch, daß er nicht nur feine umbeftreit- 
bare Charakterloſigkeit auf das härteſte geifelt, ſondern 
auch in wiffenfchaftlicher Beziehung feinen Ruf als einen 
völlig unverdienten und feine vermeintlichen Leiſtungen 
als bloße Compilation von Plagiaten hinſtellt. Wer je- 
wals im Leibniz gelefen hat, der muß gefühlt haben, daf 


in jeder Zeile der Hauch des Genius weht; wer mehr 
von ihm fennt, der weiß, daß er für jeden von anders- 
woher aufgenommenen Ideenkeim zehnfach Frucht getragen 
Hat an eigenen neuen Samenkörnern. Wer bie damaligen 
Berhältniffe bedenkt, der wird es Leibniz Dank wiflen, 
dag er nicht in ftarrer philofopgifcher Abgefchloflenheit 
jein Syftem entwidelt, fondern fi) den Forderungen ſei⸗ 
ner Zeit (auch den theologifchen) accommodirt und dadurch 
das Intereſſe an der Philofophie und die Aufklärung in 
die weiteften reife verbreitet hat. 

Dühring ift völlig entblößt von dem Vermögen con» 
genialer Reproduction. Was nicht vor ber Brille des 
flachften und trodenften Rationalismus Stich hält, das 
eriftirt für ihn nit. Im Mittelalter findet er nicht ein- 
mal mehr ein Körnchen in all dem Unrath. Daß jede 
Zeit ganz im demfelben Sinne in ihren Porurtheilen be= 
fangen und unfrei an das Philofophiren herantritt, wie 
das Mittelalter in feinen theologischen Vorurtheilen; daß 
man an allem und jedem mit Nuten philofophiren Tann, 
und daß es auch einen Standpunkt geben könne, von dem 
aus die Philofophie als Theoſophie erfcheint, von alledem 
bat Dühring Feine Ahnung. Jede nachweisbare formelle 
Beimifhung der Phantaſie genügt für Dühring, um fid 
jeder inhaltlichen Kritik überhoben zu glauben; was nicht 
trodener Rationalismus ift, wird als Unfinn geftrichen, 
alfo auch alles Myſtiſche, d. 5. alle wahren Keimpunkte 
neuen Lebens. Gewiß joll das Myſtiſche nicht bleiben, 
was es ift, jondern in die Form der Wiflenichaft über- 
gehen, aber dies kann e8 nur, wenn es nicht fchon in 
statu nascente amputirt wird. Deshalb dringt aud) 
Dühring niemals in die Tiefe der Probleme, fondern 
raifonnirt an der Oberfläche herum, wo es dann freilich 
feine Kunſt ift, lesbar und Leichtfaßlich zu ſchreiben. Für 
Schopenhauer hat er eine merkwürdige Sympathie, obwol 
doc) das Befte an Schopenhauer gerade feine Myſtik und 
die harmloſe Naivetät ift, mit welcher er feine genialen 
Aperçus, auch wenn fle noch jo widerſprechend find, neben- 
einanderſtellt. Wer aus ihm die Myſtik hinaus» und die 
rationelle Conſequenz hineinfchulmeiftern will, der richtet 
ihn, feine Größe und feinen Reiz, zu Grunde Fügt 
man hinzu, daß Dühring dem Schopenhauer’schen Beift- 
mismus nur den Werth einer Frageftellung zuerfennt, 
d. 5. die Bedeutung, auf die Corruptiongfeite der Welt- 
einrichtung und des Lebens hingewieſen zu haben *), fo 
muß in der That die Hochſtellung Schopenhauer’3 bei 
Dühring mehr den Eindrud einer Berlegenheitsausfunft 
machen, da er doch unmöglich die ganze Zeit von Sant 
bis jetzt mit feinem großen Philofophen Auguft Comte aus- 
füllen konnte, und Fichte, Schelling, Hegel und Herbart 
nur als wüßte theofophifche Philofophirer betrachtet. Es 
ift jedenfalls fchlimmer, wenn ein Compendium die bier 
Philofophen wegläßt, ald wenn es den einen ignorirt, 
oder wie es jegt meist gefchieht, als fünftes Rad am 
Wagen behandelt. Ein Berdienft in der Anerkennung 
Schopenhauer’8 kann für den Gefchichtfchreiber erft dann 


*), In feinem Bud: „Der Werth bes Lebens 4 Yommt Däpeing Be 
einem Hefultat, das nicht Talt und nicht warın ift; er wendet und breih 
fih, und läßt einen anı Ende gerade fo Mug wie man vorber war, wenn 
er. Kr bas als Abſchluß gelten laſſen will, daß bie 
och nicht g 


elt im Gruube 
ar fo übel ſei. 
2 * 








12 


beginnen, wenn feine Berlegenheit aufhört, ihn mit den 
übrigen organiſch zu verbinden. Das wüſte Schimpfen 
Scopenhauer’8 gegen jene vier wird immer ein unaus« 
löſchlicher Fleden in feinen Werfen bleiben, auch wenn 
man es dadurch entjchuldigt findet, daß er als ihr con- 
trärer Gegenſatz gleichjam Hiftorifch berechtigt war, fie 
nicht zu verſtehen. Wenn aber Dühring, der fich als 
Lehrer der Geſchichte der Philofophie gerirt, dieſes Schim⸗ 
pfen ein bis zwei Menfchenalter fpäter aus der nämlichen 
Tonart fortfegt, fo fann man ihn nur bedauern, daß er 
[ehren will, ehe er gelernt dat. Lauten Proteft aber muß 
da8 ganze gebildete Publikum im Namen der Manen 
jener Heroen beutfchen Geiftes erheben, wenn er ben 
formellen . Unterfchied zwifchen jenen „Philofophirern‘ 
und den echten Philofophen darein fest, daß erftere der 
fubjectiven Wahrhaftigkeit entbehrten; gegen eine ſolche 
grundlofe Anklage von Männern, deren . ganzes Leben, 
wie das Fichte's, ein unausgefegter opfermuthiger Kampf 
für ihre Ueberzeugung war, müſſen wir im Namen ber 
Wiſſenſchaft und der gefchichtlichen Wahrheit proteftiren. 
Am wenigften follte fi) ein Daun zu ſolchen Ausfprüchen 
binreißen laſſen, der jelbft in achtungswertheſter Weife 
unter den erfchwerendften perſönlichen Umftünden und 
fachlichen Berhältniffen einen höchſt ehrenvollen Kampf mit 
Selehrtenzopf und Reaction für die Einbürgerung freier 


Zur orientalifchen Literatur. 


Wiſſenſchaft an der Univerfität der norbbeutfchen Haupt⸗ 
ſtadt führt. 

Dühring Hat ſehr anerkennenswerthe Verdienſte um 
die Einführung des großen amerikaniſchen Nationalöfono- 
men Carey in Deutfchland; auch Hat er unter dem Titel: 
„Natürliche Dialektik”, recht empfehlenswerthe Logifche und 
dialektifche Unterfuchungen gejchrieben. Aber zur fritifchen 
Hiftoriographie gehört vor allen Dingen, daß man nicht 
unter der objectiven, fondern über derjelben fteht; zur 
objectiven Geſchichtſchreibung aber gehören als natürliche 
Anlagen die congeniale Reproductionsfähigleit und bie 
biftorifche Gerechtigleit, und als erworbener geiftiger Stand: 
punkt die Auffaffung der Gefchichte als eines einheitlichen 
Entwidelungsprocefiet. Da Dithring aller diefer Vor⸗ 
bedingumgen zum Fritifchen Gefchichtfchreiber ermangelt, fo 
hätte er fi von diefem Gebiete fern halten follen, auf 
das fich niemals eine fo überaus profaifche Natur wagen 
ſollte. Daß ich dies Werk trogdem fo ausführlid) be- 
fprochen habe, ift darin begründet, daß es mir gerathen 
ſchien, die Unwiffenfchaftlicjkeit einer Arbeit gründlich zu 
fennzeichnen, welche durch ihre anerfennenswerthe Oppo- 
fition gegen das Zunftgelehrtenthum wie durch den Fluß 
ihrer Diction beftehen und dur die Dreiftigfeit des 
Abfprechens gewiſſen Kreifen imponiren könnte. 

Eduard non Hartmann. 


—re— — — —— — — — — 


Zur orientaliſchen Literatur. 


Morgenländiſche Studien von Hermaun Ethe. Leipzig, Fues. 
1870. 8. 28 Nor. 


Mehr als andere Fachwiſſenſchaften Hat von jeher 
die orientalifche Philologie das Bedürfniß gefühlt, ihre 
bauptfächlichften Nefultate auch weitern Bildungsfreifen 
zugänglich zu machen; von Dlearins’ Zeiten an ift von 
feiten der Orientaliften fir allgemeinere Verbreitung werth⸗ 
voller Kenntniffe außerhalb der gelehrten Welt ſelbſt im 
Berhältniß unendlich viel mehr gefchehen, ald von den 
Bertretern der claffifchen Philologie, welche e8 allerdings 
weniger nöthig Haben, die Gegenftände ihrer Studien dem 
gebildeten Publifum gegenüber als würdig näherer Kenntniß- 
nahme zu erweifen. Daß die Philologen den Homer und 
Sophofles findiren, erfcheint auch dem nicht fachwifjen- 
ſchaftlich Gebildeten natürlich; was für einen Werth es 
aber haben könne, fi) mit den Literaturen des fernen 
Dftens abzugeben, "darüber ift eine begründete Anficht nicht 
fo Leicht zu bilden. Und doch wird einem jeden Drien- 
taliften der Gegenftand feiner Unterfuhungen, das eigen- 
thiimliche Leben öftlicher Völker und Sprachen, bei tie- 
ferm Eindringen in anfangs ungewohnte Formen fo thener, 
daß er wünjchen muß, in weitern reifen die Ueberzen- 
gung zu verbreiten, man babe e8 auch hier mit einem 
guten Stüd reiner Menfchlichkeit zu thun, welches näher 
fennen zu lernen gerade unferer überall möglichft das 
Ganze menfhlichen Wiffens umfafjenden Zeit von Werth 
fein muß. So haben denn die Herder, Schlegel, Ham- 
mer und vor allen Goethe und Rückert eifrig ſich be- 
müht, die Kenntniß unſers gebildeten Publikums nad 
diefer Seite hin zu erweitern. Daß dies feine leichte 


Aufgabe ift, zeigt ſchon der Außere Erfolg; nehmen wir 
die Bearbeitungen perfifcher Dichtungen aus, welche wir 
nad; Rüdert dem trefflichen Schad verdanken, fo dürfte 
faum irgendeind der hierher gehörenden Bücher wieder⸗ 
holte Ausgaben erlebt haben, welche Goethes „Divan“ 
auch wol nur dem Namen feines Verfaſſers dankt. Das 
ift natürlich, denn die Formen diefer Literaturen liegen 
bon unfern in claffiicher Schule maßvoll gebildeten Idea⸗ 
len oft weit ab; Viſcher hat indeß gezeigt, wie bei ben 
Drientalen und den Semiten insbefondere die Darftel- 
lung des Erhabenen und, fünnte man Hinzufügen, des 
Sinnvollen und Berftandesmäßigen felbft ſolchen Anfor= 
derungen genügen mag. Und fo ift bie Thatſache nur 
mit renden zu begrüßen, daß von Zeit zu Zeit immer 
wieder dem Publilum neue Gaben aus dem Often gebo— 
ten werden, welche dazu beitragen können, richtige Begriffe 
von öſtlichem Volksthum zu verbreiten, damit endlich ein- 
mal die Compendien der allgemeinen Fiteratur- und Eultur- 
geichichte aufhören, beſonders über die femitifchen Bölfer 
at vergangener Jahrzehnte immer wieder aufzu⸗ 
tischen. 

In dieſem Sinne begrüßen wir das vorliegende Buch 
eines in fachwiſſenſchaftlichen Kreifen vortheilhaft bekann⸗ 
ten Orientaliften, welches im ganzen wol geeignet erfcheint, 
dem Orient neue Freunde zuzuführen Zwar vermißt 
man bei der Durdhficht der Inhaltsangabe fogleich eine 
gewiffe Einheit des Stoffs, die gerade bei Publicationen. 
diefer Art unerlaßlich erfcheint; um in unbefannten Gegen- 
ben fich orientiven zu können, will man nicht in die Krenz 
und die Quere geführt werden, jondern an überfichtliche 





Zur orientalifchen Literatur. 


Aufzeigung einzelner Haupiſtraßen fließt fich Leichter ein 
genügender Ueberblid über das Ganze an; doc, enthält 
das Werk im einzelnen fo viel Gutes und Beachtens⸗ 
werthes, daß wir über diefen Fehler der Anlage hinmweg- 
jegen mögen. Abhandlungen und Erzählungen zur Cha- 
rafteriftit arabijchen Lebens und arabifher Wiſſenſchaft 
wechſeln mit Beiträgen zur Kenntniß der perfifchen Lite- 
ratur in ziemlich mannichfaltiger Weife ab. Die erftern 
ſtehen an Werth ben letstern im allgemeinen nach, mas 
aus manden Gründen zu bedauern if. Denn einmal 
ſteht gerade der femitifche Geift zu unferer Weiſe zu den- 
fen und zu empfinden in ſchärferm Gegenfage, als der 
und verwandtere perjifche; andererjeits ift gerade deswegen 
das Weſen bes letztern bereit8 in weitern Sreifen richtig 
erfannt als die Art der Semiten. Dazu kommt nun, 
daß die Keligionen der gebildeten Welt fümmtlih ihre 
Wurzeln gerade im femitifchen Geifte haben; um fo mehr 
joflte man beftrebt fein, über die Eigenartigfeit defjelben 
mögtihft allgemein ins Klare zu kommen, und um fo 
fyägbarer find die Beiträge, mit welchen gerade an die 
fer Stelle die Fachgenoſſen viel zu fparfam find. 

Hermann Ehe hat zunäcft vier Novellen aus der 
Blütezeit des arabifchen Qulturlebens gegeben, die auf 
arabifchen Originalerzählungen beruhen und von ihm nur 
bearbeitet und nad) unfern gefteigerten Anforderungen aus⸗ 
geführt find. Die Stüde find alle vier höchſt charak⸗ 
teriftifch fiir das Voll, welches nach Renan's richtiger 
Bemerkung noch reiner als die Hebräer das urfprüngliche 
Weſen des Semitenthums darftellt; es fragt ſich aber, ob 
fie den Originalen gegenüber durch die allerdingd vor» 
fihtige Moderniftrung gewonnen haben, welche ihnen 
Eihe widerfahren läßt. Dabei ift freilich zuzugeftehen, daß 
eine reinere Wiedergabe der urfprünglichen fprachlichen 
und pigchologifchen Darftellungsweife diefelben für unfer 
Bublitum vielleicht etwas weniger anmuthend gemacht 
haben würde, als fie nun find; jedenfalls aber hätten fie 
den arabifchen Typus dann noch getreuer ausgeprägt, 
und das ift doch am Ende die Hauptfache. 

Die erfte Novelle: „Kampf und Sieg”, erzählt bie 
Abenteuer eines jungen Arabers von edler Herkunft, der 
nad) dem Tode feines Vaters als Meines Kind, durch Er- 
mordung feiner Mutter allen Anhaltes beraubt, unter 
fremden Leuten heranwächſt. Durch feine Tapferkeit ger 
winnt er fih eine Heldin zur Braut, die als arabifche 
Brunhild bisher alle Bewerber in dem von ihr bedingten 
Kampfe überwunden hat, und rädt bei der zufälligen 
Entbedung des Mörders feiner Mutter den Tod derfel- 
ben durch fchnelle That. Diefe bringt ihn umd feine 
Braut in neue Gefahren, welchen ſchließlich das Wieder- 
finden des väterlichen Stammes und das Erlangen der 
Herrschaft in demfelben ein Ende macht. Die Erzählung 
ift, ohne hervorragendes novelliftifches Verdienft zu bes 
figen, höchſt bezeichnend für mehrere der hauptſächlichſten 
Zuge des arabifchen Bollscharalters, wie für den Hang zu 
abenteuerlichem Räuberleben, für die Auffafjung der Blut⸗ 
rache als unumgänglicher Pfliht und die Hetlighaltung 
einer unbeſchränkt gebotenen und genoflenen Gaftfreund- 

aft. 
1“ „Die Brautwerbung” vermag das Problem der Liebe 
eines arabifchen Theologen, welche zuerft den Abfall dej- 


13 


jelben von feinem Glauben veranlaßt, natürlich nicht auf 
dem Wege der Rotheivilehe, fondern nur durd) jchliegliche 
Eonverfion der geliebten Chriftin zu löſen; daß legtere 
den feinen Glauben aus egoiftifchen Gründen verleugnen- 
den Mohammebaner zunächft verfchmäht, obwol fie ihn 
deftig liebt, gibt dem Ganzen ein faft tragijches In- 
terefle. 

Noch mehr als in diefem Stüde tritt uns in „Mut—⸗ 
ter und Sohn“ Hohe Begeifterung für den als wahr er- 
fannten Glauben entgegen: um die von Gott gejandte 
Wahrheit auszubreiten — freilich dur) das Schwert, das 
ja aber auch Karl der Große frieblihern Bekehrungs⸗ 
mitteln vorzog —, gibt eine Mutter willig ihren einzigen 
Sohn dem Tode auf dem Schlachtfelde preis und ftellt 
ung fo ein treued Bild der gewaltigen Aufopferungsfähig- 
feit vor Augen, welche den jungen Islam wie eimft das 
junge Chriſtenthum befeelte. 

Ebenfalls fehr anziehend ift die vierte Novelle: „Der 
Bebuine und fein Weib”, in welcher die treue Liebe eines 
armen Wüftenaraberd und feiner Gattin über alle Ber: 
lodungen, welche ihren Bund trennen wollen, fliegt; nur 
ift hier zu bemerfen, daß ſchon Rüdert in den „Morgen⸗ 
ländifehen Sagen und Geſchichten“ (II, 33 fg.) ganz die- 
felbe Erzählung in Berfen kürzer und charakteriftifcher 
gibt, was unfer Verfaſſer üiberjehen zu haben fcheint. 

An diefen Novellencyklus können wir gleich die erft 
jpäter folgenden Auffäge (Nr. 6 und 8) fchließen, bie 
fi ebenfall8 auf arabifchem Boden bewegen. Es find 
dies Bearbeitungen einiger Abjchnitte aus al Kaſwini's 
großem Tosmographifchen Werk, welches Ethé zu über- 
fegen begonnen Hat (Bd. 1: „Die Wunder ber Schöpfung“, 
im gleichen Verlag 1869 erfchienen), von denen der erfte: 
„Die menſchlichen Körper- und Geiftesfräfte nach der 
Borftellung der Araber‘, vieles Intereflante bietet, das 
jo in erflärender Bearbeitung allerdings klarer fein wird 
als in der demnächſt erfcheinenden wörtlihen Mebertra- 
gung; ber Feine achte Abfchnitt: „Ambra, Perlen und 
Korallen”, hätte dagegen wol weggelaſſen werden können. 
Das Gleiche wird von einem ber auf die perfifche Litera⸗ 
tur bezügliden Stüde: „Aus der perfiichen Fabelſamm⸗ 
lung Anwärt-Sohailt”, gelten müflen; das Wefentliche 
darin iſt indifch (die zweite Fabel fteht ganz ebenfo in 
Benfey's „Pantſchatantra“, II, 226, vgl. I, 348, 8.143), 
und die indifche Literatur diefer Art ift durch Benfey's, 
Brodhaus’ und anderer Arbeiten ſchon reichlicher in ber 
Ueberfegungsliteratur vertreten. 

Um fo größeres Intereffe werben die übrigen Auffäge 
darbieten, die in den allgemeiner verbreiteten Kenntnifſen 
über die perfifche Titeratur manche Lücke auszufüllen ge 
eignet find. Die Perſer fehen in ihrer guten Zeit durch 
Tiefe der Empfindung und Berftändigkeit der Gefinnung 
zumeilen faft den Deutfchen ähnlih, und daher nehmen 
wir an ihnen umwillfürlich ein wärmeres Intereſſe ale 
an Arabern und Indern; fo erfahren wir mit lebhafter 
Zheilnahme die zum Theil nach Gobineau gegebenen Mit- 
theilungen über die auch bei diefem Volke als Anſätze 
dramatifcher Poeſie hervortretenden PBafftonsfpiele, in denen 
der Tod Chaſan's und Chuſain's dargeftellt wird, der bei« 
den Märtyrer, deren Eultus die fchiitifche Gruppe der 
Mohammedaner von den Sumniten trennt. Sind diefe 








14 


Spiele oft durch unerwartete Feinheiten der pfychologifchen 
Motivirung anziehend, fo fcheint doch der Berfaffer zu 
weit zu gehen, wenn er ihre Ausbildung zu einem natio- 
nalen perfifchen Drama von wirflihem Tünftlerifchen 
Werthe erwartet; um derartiges zu erreichen, muß ein 
Bolt no eine Summe fittliher Kraft in fi) haben, 
welche den Perjern ſchon lange abhanden gelommen ift. 
Das Werthvollfte in dem ganzen Werk dürfte indeß 
nächft dem unten noch zu erwähnenden zehnten ber fünfte 
Abſchnitt: „Der Suflsmus und feine drei Hauptvertreter 
in der perfifchen Poeſie, vorzugsweife Dicheläleddin Rümt“, 
bieten. Derſelbe berührt eine der wichtigften Seiten per- 
fifcher Denkweiſe, welche in den fonft gut orientirenden 
Bemerkungen Goethe's zum „Weftöftlichen Divan“ gänzlich 
vernachläffigt worden if. Ein Sufi ift ein mohamnteda- 
nifcher Myſtiker und der Sufismus eine Erfcheinung, 
welche durch Intenſität wie zeitliche Daner ihres Auf- 
tretens bis in unfere Tage hinein unfere abenbländijche 
Myſtik weit übertrifft. Zum Theil in erhabener Specu- 
lation, oft aber in unfinnigfter Efftafe fich ergehend ift 
der Sufismus die Stelle, wohin fi) nad dem äußern 
Siege des an fich nüchternen und pofitiven Islam das 
pantheiftifch »religiöfe Gefühlsleben der Perfer zuridgezo- 
gen hat, das freilich hier oft unter Allegorien und Sym- 


Tenilleton. 


bolen die maßlofefte Ueberfchwenglichkeit zeigt, bis zu jener 
Negation des eigenen Seins der pantheiftifchen Gottesidee 
gegenüber, welche aud) die in Mar Müller’s geiſtvollem 
kieler Bortrage gefchilderte falfche Richtung des indifchen 
Nirwäna zeigt. 

Wenn Erbes Abhandlung in gelungener Ueberficht die 
verftändigern Vertreter dieſes Myſticismus vorführt, fo gibt 
von den immer noch nicht am weiteften gehenden Exceffen 
pantheiftifcher Schwärmerei das im zehnten Stüd über- 
fegte Gedicht des Hiläli vom „König und Derwifch” (vgl. 
dazu die Borrede, ©. vu—vın) ein anſchauliches Bild, 
Können wir uns auch dem Lobe, das the dieſem Ge- 
dicht als Kunftwerk fpendet, nicht eben überall anfchliegen, 
jo müfjen wir doch das hohe Intereffe anerkennen, welches 
dafjelbe als deutliches Beifpiel jener eben bezeichneten 
myſtiſchen Richtung auch mweitern Kreifen darbieten wird, 
und müſſen vor allem den Fleiß und die Liebe bemun- 
dern, welche der Ueberfeger dem Gedicht zugewandt hat, 
und welche uns das vou ihm gegebene Berfprechen zu= 
fünftiger Uebertragung bedeutenderer perſiſcher Epen auf« 
richtig willlommen heißen laſſen. Hoffen wir, daß aud) 
die Theilnahme des Publikums diefem nicht genug an= 
zuerfennenden Streben, den Spuren Rückert's und Schad’s 
zu folgen, nicht fehlen möge. 





Fenilleton. 


Notizen. 


Von Friedrich Gerſtäcker geht uns folgende Erklä⸗ 
rung zu: 

„Entgegnung. Die Beilage zu Nr. 50 ber « Blätter für 
Iiterarifche Unterhaltung» bringt eine Notiz über mid), die mid) 
hart tadelt, daß ich mich gegen die Alerander Jung ertheilte 
Benfion der Sciller-Stiftung ausgeiproden habe, In der An⸗ 
age Mingt die Sache anders als fie if. Ich muß geftehen, 
daß ich Alexander Jung's bier angeführte Werte nicht kannte — 
daffelbe aber war der Fall mit vielen meiner literariichen Freunde, 
und ich rfigte nur eine, meiner Meinung nach, Ungerechtigkeit 
der Schiller-Stiftung, daß die Witwe und Kinder eines allbe- 
fannten und verdienftvollen Schriftfiellers, die fih in hülfs⸗ 
bedlirftiger Lage befinden, im Gegenſatz zu Alerander Jung jo 
färglic) von der Stiftung bedacht fei — ja nad) wenigen Jahren 
um weitere Unterſtützung einkommen müflee Die Sagungen 
der Schiller-Stiftung fielen aber ausdrücklich die Schriftfieller 
felber wie ihre nächften Hinterlafjenen — und mit Recht — 
auf eine Stufe. Für wen arbeiten wir denn auch, als für 
nnfere Familie, und welcher brave Mann wird ſich nicht ſelber 
gern mit Mühe, Noth und Entbehrungen durch das Leben ar⸗ 
beiten, wenn er daflir die Seinigen fpäter vor Roth und Mangel 
geichlitt weiß. Gegen Herren Alerander Jung und bie ihm 
extbeilte Benfion hätte ich gar nichts, aber wir Zönnen denn 
auch von der Stiftung, für die wir alle mehr oder weniger 
mitgewirkt, verlangen, daß andere, die es wenigfiens ebenfo 
verdienen, auch ebenfo bedadht werden. F. Gerftäder.‘‘ 

Wir haben, aus Rückficht auf den Namen des Berfaffers, 
der Erklärung Friedrich Gerfläder’s einen Plag in d. BI. 
nicht verfagt, obſchon biefelbe in keiner Weile als eine thatſäch⸗ 
liche Berichtigung angefehen werden kann. Auch nehmen wir 

ern Act von der Erflärung, daß Gerftäder gegen Alerander 

g und die ihm ertheilte Benfion nichts einzuwenden hätte, 
wenn uur Frau Diezmann, zu deren Gunften der Herausgeber 
d. BL. ja felbft ale Mitglied der Teipziger Schiller-Stiftung 
geſtimmt und in Wien petitionirt hat, ebenfo bedadjt worden 
wäre. Die Mittheilung Gerftäder's in der „Gartenlaube“ 
machte aber den Eindrud, ale ob er allerdings gegen Alexander 
Jung und die ihm ertheilte Peufton Einwendungen zu machen 


hätte, weil biefer nichts als ein paar Brofchliren über Karl 
Gutzkow geſchrieben habe. Wir hielten ums deshalb unfererjeite 
für verpflichtet, dieſem letztern Bedenken die Spite abzubrechen 
und Alerander Jung's tüchtige und vieffeitige literarische Thä⸗ 
tigkeit rühmend heroorzubeben. Indem wir hiermit die Sache 
für erledigt halten, fprechen wir noch den Wunſch aus, daß 
Gerftäder in der „Gartenlaube“ felbft eine Berichtigung feines 
thatſächlichen Irrthums in Betreff der fchriftfielleriichen Lei» 
ftungen Alerander Jung's geben möge: denn was man vor 
Millionen von Lefern geſündigt hat, muß man aud) wieder 
vor Millionen von Lefern gut machen. 

Otto Löwenſtein gibt unter Mitwirfung von Karl Fren⸗ 
zel, Friedrich Friedrich, Hermann Kletke, Director Lehmann, 
ARubolf Löwenftein, Mar Ring und Adolf Stredfuß ein Blatt: 
„Der literariſche Verkehr‘, heraus, welches die Intereffen der 
deutſchen Schriftftellerwelt vertreten joll. Die vorliegende Probe- 
nummer beweift, daß diefe Interefjen nad) den verfchiedenften 
Richtungen bin gewahrt werden. 

Unfer langjähriger Mitarbeiter, Feodor Wehl, ift der 
Ruttgarter Intendanz für die artiftiiche Leitung des Hoftheaters 
an die Seite geftellt worden. Wir freuen uns biefer Berufung, 
benn fie beweift abermals, daß man bei den großen Theatern 
nit mehr glaubt, die Mitwirkung tüchtiger dramaturgiſcher 
Kräfte entbehren zu können. Wir wünſchen indeß, daß die 
Stellung Wehl's nicht blos eine berathende fei, fondern dem 
Dramaturgen aud eine entfcheidende Stimme gönne Nicht 
wer zu rathen, fondern wer zu befehlen bat, kann auf die 
Reform deutjher Bühnen durchgreifend einwirken. 


Eine deutfhe Evangelienüüberfegung aus dem 
12. Jahrhundert. 

Während die althochdeutiche Zeit ung eine Reihe von Bibel⸗ 
überfegungen gewährt und mit dem 14. Sahrhundert die Ueber- 
jegerthätigleit aufs neue ihren Aufſchwung nimmt, finden fi 
befanntlih im 12. und 13. Jahrhundert nur wenig Denkmäler 
diefer Gattung. Die poetifche Richtung biefer Zeit, welche den 
biblifchen Stoff fo vielfach aus der Profa zu dichteriichem Schmucke 
emporhob, mag die einfache Wiedergabe des Bibelmortes ver⸗ 





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kadert, zum mindeften nicht begünftigt haben. Dazu kommen 
ne* vielfachen Berbote von feiten der Kirche. Jedes Zeugniß 
son dem Borhandenfein deutſcher Bibelüberfegung jener Zeit 
ü daher willlommen zu heißen. Joſeph Haupt theilt im let 
in Hefte der „Germania“ von Pfeiffer (Bartich), im vierzehnten 
Jahrgang (1869), Bruchſtlcke einer Heberfegung der vier Evangelien 
mt, welche aus einer Handſchrift des 12. Iahrhunderts ſtam⸗ 
men und ihrer fpradjlichen Geftaltung nad alemanniſch find. 
Haupt nennt diefe Evangelienliberfegung eine „althochdeutfche‘‘, 
was uns geradezu unbegreiflid if. Der angeführte Grund, 
angel des Umlauts außer dem kurzen a, iſt gar nicht ſtich⸗ 
haltig. Daß die Sprade ſchon durchaus einen modernen Cha⸗ 
rafter trägt, was aud bei der Spradje des vorausgehenden 
11. Jahrhunderts in beſchränkter Weife der Fall if, das bemei- 
fen die geihwädten Endungen. Sider aber ift, daß ber 
Schreiber nad, älterer Borlage arbeitete. Zrogdem muß die 
Ueberfegung als eine mittelhochbeutiche bezeichnet werden; und 
wer in der hiſtoriſchen Bezeichnung fie von den jüngern mittel- 
hochdentſchen des 14. Jahrhunderts unterjcheiden will, der mag 
fie getroft eine altmittelhochdeutiche nennen. 


Englifde Urtheile über neue Erfheinungen der 
deutfhen Literatur. 

. Ueber Dr. I. R. Schmidts „Die antike Eompofitionsiehre 
ans den Meifterwerfen der griechiſchen Dichtkunft erfchlofjen‘‘ 
fagt die „Saturday Review‘ vom 20. November, von nur 
wenigen Lejern könne man erwarten, daß fie die nothwendigen 
Befähigungen befigen werden, Über dieſes Werk ein Urtheil zu 
fällen, da hierzu nicht blos große philologifche Gelehrſamkeit, 
fondern auch Belanntichaft mit der Mufil erforderlich feien. 
Der umfangreihe Inhalt und der Fleiß des Berfaffers kann 
zwar von jedermann gemlrdigt werden; es ift aber unmöglich, 
innerhalb eines beichränften Raums eine Borftellung von ben 
Eigenthümlichkeiten feines Syſtems zu geben. In aller Kürze 
tönnen wir blos fagen, daß er fidh als Nachfolger Hermann’ 
und Boͤckh's betrachtet und feinen unmittelbaren Borgänger Weft- 
phal, deſſen Wert von vielen als die höchſte Autorität angejehen 
wird, tadelt, weil er von ihren gemeinfchaftlihen Vorgängern 


abgewichen fei. 


Anzeigen. 15 


Ueber ‚Leibniz und feine Zeit‘ von 8. Grote heift es: 
„Sine Biographie von Leibniz in der Geſtalt von einer Reihe 
Borlefungen leidet an den Mängeln, welche diefer Art, Beleh- 
rung beizubringen, aubaftet. Der Berfaffer ift zu geſchwätzig 
und fein Stil ermangelt der Würde. Trotzdem Iieft fi) das 
Bud angenehm und bietet einen höchſt intereffanten Ueberblid 
über die Laufbahn des allfeitigen Mannes. Leibniz’ befonderer 
Borzug als Denker iſt der Grad, in welchem er die Ideen und 
Entdedungen jpäterer Zeitalter geahnt hat, und der befondere 
Heiz feiner Lebensbefchreibung ift die Bekanntſchaft, die wir 
durd) fie mit dem Gedanken in feinem erfien Aufleimen erlan- 
gen. Wir fehen 3. B. mie Leibniz Napoleon’s Feldzug nad) 
Aegypten, Adelung’8 Panorama aller Sprachen und Babbage’s 
Rechenmaſchine vorweg ahnt. Viele feiner großen Ideen bar- 
ren noch der Ausarbeitung feitens anderer. Gr felbft hat jehr 
wenige davon ausgeführt. Weniger Fruchtbarkeit der Gedan- 
fen und weniger Bielfeitigfeit ver eihäftigung wilrde ihn 
ohne Zweifel befähigt Haben, feinen Namen mit greifbarern 
und praltifhern Leiftungen in Verbindung zu bringen, würde 
ihn aber freilich um feinen eigenthlimlihen Ruhm gebracht 
haben, Es müßte ein ſehr ungeſchickter Biograph ſein, der 
einen Gegenftaud, wie derjenige, den Grote behandelte, gänzlich 
verhungen könnte, und läßt fi) auch vieles an feinem Werte 
auejegen, fo kann es doch in der Hauptſache warm empfohlen 
werden.’ 


Biblisgraphie. 

Eulmann, F W., Die Namen der Raubthiere in verſchiedenen 
Sprachen. Ein Beitra aut Zheorie der primitiven ober ſeeliſch⸗ organi- 
ſchen Wortbildung. Leipzig, Fr. Bleilger. 1869. Gr. 8. 12 Ner. 

zermak, J. N., Die Physiologie ala allgemeines Bildungs-Ele- 
ment. Antritts-Vorlesung. Leipzig, Engelmann. Gr. 8. TEN . 
Der Übel der Arbeit. Eine Erzählung von W. I—r. iß Lang⸗ 
mann u. Comp. Gr. 16. 1 Zhlr. ‘ 
ustow, 8., Lebensbilder. 1fter Bd. Durh Nat gen Licht. Er⸗ 
zählung. Stuttgart, E. Hallberger. Gr. 8. 1 Xhlr. 15 Ngr. 
adländer, %. ®., Nabes und Yernes. — Die Spuren eines Ro 
mans. — Unter ben päpftlichen Znaven. Stuttgart, &. Hallberger. Gr. 5. 
1 


Ir. 32! q T 
man und Novellen» Bibliothet. 2ter und ter Vd.: Der Dorfpa- 
anini. Criminal» Novelle von ©. Füllborn. Garriere. Originals» 
velle von H. Hirſchfeld. Hamburg, Berlag ber Roman» und No» 
vellen-Mappe. 8. & 15 Nur. 





Anze 


igen. 


— 


Im Berlag von F. A. Brockhaus in Leipzig erfcheint 


auch für 1870: 
Unfere Zeit. 
Deutſche Revue der Gegenwart. 


Hlonatsschrift zum Gonbersations- Jexikon. 
Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 
8. In Halbmonatlicden Heften. Preis jedes Heftes 6 Nor. 

„Unfere Zeit‘ wird mit immer größerm Rechte ale eine 
deutfche „Revue des deux mondes’' bezeichnet. Sie 
bietet ein umfaflendes Gemälde der Gegenwart, indem fie die 
politifhen Bewegungen durch orientirende Artikel begleitet und 
ebenfo aus faft allen andern Gebieten des Culturlebens das That- 
ſächliche in ſachgemäßen, Überfichtlihen Darfteflungen vorführt. 
Der neue Jahrgang 1870 erfcheint in eleganterer äußerer 
Ausftattung, um bie Zeitichrift aud) in diefer Beziehung deu 
großen franzöfiichen und engliſchen Revuen zur Seite zu ftellen, 
während der billige Preis unverändert geblieben ift. 

„Unfere Zeit‘ empfteblt fi) den Journal⸗ und Leſecirkeln 
als cine gediegene Zeitfchrift von bleibendem Werth; fie bildet 
ihrem ftofflihen Inhalt nad) zugleich eine Weiterführung und fort- 
laufende Ergänzung zu jedem Converfations-Lerilon. 

Das erfte Heft des Jahrgangs 1870 ift foeben 
erihienen und nebfi einem Profpect in allen Bud: 
Bandlungen vorrätbig. 











Verlag von Eduard Trewendt in Breslan. 
Soeben erihien und ift in allen Buchhandlungen 


Poetik. 
Die Dichtkunſt und ihre Technik. 


Vom Standpunkte der Neuzeit. 
v 
Rudolph Gottſchal 


Zweite vermehrte und verbeſſerte Auflage. 
8. 2 Bde. Eleg. broſch. Preis 2 Thlr. 15 Sgr. 
Formen und Inhalt der mamichſachen Dichtungsarten 

werden iu biefem Wert mit fleter Rüdficht auf ihre ge- 
ſchichtliche Entwidelung ebenfo Kar als gründlich abge- 
handelt, außerdem aber die Ziele angegeben, nad) denen 
die Dichtung unjerer Tage zu ringen bat. Go wird 
bier eine umfafjende Darftellung der Grundfäße geboten, 
die den jchöpferiihen Dichter und den Kritiker zu leiten 
Dan beide werden bier die anfprechendfte Belehrung 
nden. 



















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1 
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8 
* 


16 Anzeigen. 


Feſtgeſchenke 


aus dem Verlage von Hermann Coſtenoble in Jena. 


Diron, W. Hepworth, Neu Amerika. Rechtmäßige, 
vom Berfafler autorifirte deutfche Ausgabe. Nach der 
fiebenten Original-Anflage aus dem Englifchen von 
Richard Oberländer. Mit uftrationen nad 
Driginal-Photographien. Lex.«8. Eleg. broſch. 2%, Thlr. 

Gerftäder, Friedrih, Neue Reifen durch die Ver- 
einigten Staaten, Merilo, Ecuador, Weſtin— 
dien und Benezuela. 6 Theile in 3 ftarfen Bün- 
den. 8. Broſch. 5%, Thlr. 

Hamm, Dr. ®,, Weinkarte von Europa. Chromo- 
Iithographie in 7 Farben. Mit Profpect in eleg. Um 
ſchlag cartomnirt 1 Thlr. 10 Sgr. Diefelbe ungebro- 
hen und gerollt 1 Thlr. 6 Sgr. 

Hayes, Dr. J. J., Das offene Polar-Meer. Eine 
Entdedungsreife nad) dem Nordpol. Aus dem Eng- 
lichen von J. E. A. Martin, Euftos der Univerfitäts- 
Bibliothel zu Jena. Nebft 3 Karten und 6 luftra- 
tionen in Holzjchnitt. (Bibliothek geogr. Reifen I. Bd.) 
Lex.⸗8. leg. brofh. 1%, Thlr. 

Külb, Ph. H., Fernand Mendez Binto’s aben- 
teuerliche Reiſe durch China, die Tartarei, 
Siam, Pegu und andere Länder des öſtlichen 
Aliens. (Bibliothef geogr. Reifen II. Bd.) Ler.-8. 
Eleg. brojch. 1%, Thle. 

Baker, Samuel White, Der Albert N’yanza, das 
große Beden des Nil und die Erforfhung 
der Nilguellen. Deutfh von 3. E. 4. Martin. 
Nebſt 33 Illuſtrationen in Holzſchnitt und 1 Karte. 
Zweite Auflage, (Bibliothek geogr. Reifen DEI. Bd.) 
Lex.8. leg. broſch. 12%/, Thlr. Pracht» Ausgabe in 
2 Bänden und mit 2 Karten 5, Thlr. 

Bickmore, Albert S., Reifen im oftindifhen Ar- 
hipel. Aus dem Englifhen von 3. E. A. Martin. 
(Bibliothek geogr. Reifen und Entdedungen älterer 
und neuerer Zeit IV. Bd.) Nebſt 36 Alluſtratio⸗ 
nen in Holzſchnitt und 2 Karten in Farbendruck. Lex.⸗8. 
Eleg. brofch. 2 Thlr. 20 Sgr. 

A, Torell und A. E. Nordenftjöld, Die Schwedi— 
hen Expeditionen nah Spitzbergen und 
Bären-Eiland in den Jahren 1861, 1864 und 
1866. Aus dem Schwedifhen von 2. Paffarge. 
Nebft 3 großen Anfihten in Tondrud, 28 Mluftratio- 
nen in Holzfchnitt und einer Karte von Spigbergen in 
Farbendruck. (Bibliothek geogr. Reifen V. Bd.) Ler.-8. 
Eleg. broſch. Preis 2 Thlr. 

Henglin, M. Th, von, Reife nad Abeſſinien, 
den Gala-Ländern, Oft-Sudan und Chartum 
in den Jahren 1861 und 1862. Mit 10 Illuſtra⸗ 
tionen in Farbendrud und Holzfchnitt, ausgefiihrt von 
% M. Bernag, nebft Driginalfarte. Gr. Yer. «8. 
Eleg. Ausftattung. 5 Thlr. 

Kivingftone, David und Charles, Neue Miffions- 
reifen in Süd-Afrika, unternommen im Auftrage 
der englifchen Regierung. Forſchungen am Zambeſi 


und feinen Nebenflüffen, nebft Entdedung der 
Seen Shirwa und Nyaſſa in den Jahren 188 
bis 1864. Aus dem Englifhen von J. E. 4. Mar» 
tin. Nebft 1 Karte und 40 Illuſtrationen in Holz⸗ 
Schnitt. Zwei ftarfe Bände. Gr. 8. Broſch. 5%, Thlr. 
Martins, Charles, Bon Spigbergen zur Sahara. 
Stationen eines Naturforfchers in Spitzbergen, Lapp⸗ 
land, der Schweiz, Schottland, Frankreich, Italien, 
dem Orient, Aegypten und Algerien. Mit Vorwort 
von Carl Bogt. Aus dem Tranzöflichen von 
A. Bartels. 2 Bde. Ler.-8. Broſch. 3%, Thlr. 
Schlagintweit-Sakünlünski, Hermann von, Reifen in 
Indien und Hocdhafien, ausgeführt in den Jahren 
1854—1858. Eriter Baud: Indien, mit 2 Kar⸗ 
ten, 7 landfchaftlihen Anfichten und 2 ©ruppenbil- 
dern von Eingebornen in Tondrud. Gr. Ler.- 8. 
Elegantefte Ausſtattung. Broſch. A Thlr. 24 Sgr. 





Allgemeiner Journal-Lesezirkel 


der Buchhandlung von 


W. Adolf u Comp. 


H. Hengst 
59. Unter den Linden. 59. 
Berlin. 


Der Zirkel umfasst dreihundertsechsundachtzig 
deutsche, englische und französische Zeitschriften, von de- 
nen 50 der Literaturwissenschaft, Kritik und Kunst, 13 der 
Geschichte und Geographie, 34 der Rechts- und Staats- 
wissenschaft nebst Politik, 42 der Medicin und Pharmacie, 
30 der Naturwissenschaft, Astronomie und Mathematik, 
40 der Philologie, Pädagogik und Stenographie, 25 der 
Theologie und Philosophie, 40 der Landwirthschaft, Forst- 
wissenschaft und dem Bergbau, 49 der Handelswissenschaft. 
Technologie und Baukunde, 12 der Kriegswissenschaft, 15 der 
Mode, 82 der Unterhaltung und 4 verschiedenem Inhalte 
gewidmet sind. 

Die Auswahl der Journale steht vollkommen im Belie- 
ben der Abonnenten. Die Höhe des Abonnements richtet 
sich nach dem Ladenpreise der Zeitschriften und beträgt 
vierteljährlich pro Thaler 4 Silbergroschen, die nebst 5 Sgr. 
Botenlohn pranumerando zu entrichten sind. Ein ausführ- 
licher Prospect steht gratis zu Diensten und wird nach aus- 
warts franco versandt. 





Derfag von S. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Blütenlefe aus Altem und Uenem 


von 


Ernſt Mori Arndt. 
8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Nor. 


Zum bundertjährigen Geburtstage Ernſt Morik Arndt’s 
verdient diejes fur; vor feinem Tode von ihm veröffentlichte 
Bud in Erinnerung gebracht zu werden. Es euthält Gedichte, 
die er aus dem Griechiſchen, Schwediſchen, Englifhen und 
Schottiſchen zu verſchiedenen Zeiten metriſch jibertragen und erfl 
im hoben Aiter gefammelt und mit Gruß und Vorwort ver 
feyen berausgab. In der Wahl der Stüde ebenfo wie in dem 
fernigen Deutſch der Webertragung ſpricht fih der Charakter 
des gefeierten Mannes mit unverlennbarer Entſchiedenheit aus, 


. Berantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Berlag von $. A. Brodhans in Leipzig. 


Blätter 
literarische Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 








Erſcheint wöchentlich. — ee Mr, 2, ÿæ 6. Januar 1870. 
Inhalt: Brennende religiöfe Fragen der Gegenwart. — Revue des Fiteraturjahres 1869. Bon Rudolf Gottſchal. (Fort⸗ 
fegung.) — Aus der neueiten deutichen Romanliteratur. Bon 3. 3. Honegger. — Fenilleton. (Bom deutſchen Theater; Deut⸗ 


ſche Sprichwörter ale Beiipiele in der Grammatil.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Brennende religiöfe Fragen der Gegenwart. 


1. Der Bapft und das Concil von Janus. Leipzig, Stein- 
ader. 1869. 8. 1 The. 

2. Brennende Fragen in der Kirdhe der Gegenwart. Drei Bor- 
träge gehalten von Daniel Schenkel. Wiesbaden, Kreis» 
del. 1869. 8. 12 Rat. 

3. Die gefchriebene Offenbarung und der Menſchengeift. Ge⸗ 
widmet den kirchlichen Reformoereinen von Anton Henne. 
Zürich, Berlags- Magazin. 1870. 8. 12 Ngr. 

4. Herr Ölneraljuperintendent Dr. W. Hoffmann in Berlin 

y vor dem Richterſtuhl der dentihen Chriftenheit gefellt von 

 M.Baumgarten. Berlin, ©. Reimer. 1869. Gr. 8. 5Rgr. 

5. Dfficielle Actenftüde zu dem von Sr. Heiligkeit dem Papfte 
Bıus IX. nach Rom bernfenen Oekumeniſchen Eoncil. Berlin, 
Stilke und van Muyden. 1869. &. 8. 1 Thir. 

Wenn der alte Hume vor mehr als hundert Yahren 
das Concilium von Trient das ‘einzige nanute, weldyes 
in einem Jahrhundert beginnender Aufllärung und For⸗ 
fung abgehalten ward, und meinte, die Wıffenfchaften müß- 
ten tief finken, wenn abermals ein ſolches Concil zu Stande 
füme, fo befand er ſich mit diefen zweifeldohne gutgemein- 
ten Worten in einem großen Irrthum. Die Wiſſenſchaf⸗ 
ten find nämlich feit Hume's Zeiten nicht tief gefunken, 
fie haben vielmehr in vielfaher Hinficht einen gewaltigen 
Aufſchwung gewemmen; aber ein allgemeines Concil ift 
dennod von Papft Pius IX. am 29. Juni 1868 durch 
die Bulle Aeterni Patris auf den 8. December 1869 nad) 
Rom berufen worden, und der Papft hat fi) jogar be- 
miüßigt gefunden, gelegentlich diefes einbernfenen Concils 
durch ein Schreiben vom 13. September 1868 aud alle 
Proteftanten und Nichtkatholifen zur Rückkehr in den „einen 
Schafftall“ der fatholifchen Kirche einzuladen, 

Unter den vielen Schriften nun, welche in Deutſch⸗ 
land und andern Ländern dies päpftliche Unternehmen ins 
Leben gerufen hat, nimmt die Schrift von Janus: „Der 
Bapft und das Concil“ (Nr. 1), ohne Widerrede eine ber 
erften Stellen ein. Diefe Schrift ift eine weiter ausgeführte 
und mit einem reichen Duellennachweis verfehene Neu⸗ 
bearbeitung der vor nicht langer Zeit in der augsburger 
„Allgemeinen Zeitung‘ erfchienenen Artikel: „Das Concil 

1870. 2. 


und die Civiltä”. Janus ift ein angenommener Name, 
und die eigentlichen, mit dem Latholifchen Kirchenrecht und 
der Tatholifchen Kirchengefchichte gründlich vertrauten Ber» 
faſſer befennen fi in dem Borwort (S. ıv) ausdrücklich zu 
derjenigen Anſicht von der Tatholifchen Kirche und ihrer 
Miifion, welche von den Gegnern mit einem oft mid- 


‚braudten und in feiner Unbeftimmtheit für polemifche 


Zwede ſehr bequemen Worte die liberale genannt wird, 
welche als ſolche bei allen unbedingten Anhängern des 
römischen Hofs und des Jeſuitenordens — zwei gegen- 
wärtig innig verbündeten Mächten — im völligen Berrufe 
ſteht und von ihnen nie anders ald mit Bitterkeit und 
Haß erwähnt wird. Die pfendonymen Berfafler jagen 
von ſich jelbft: 

Wir find die Gefiunungegenoffen derjenigen, welche erſtens 
überzeugt find, daß die katholiſche Kirche zu dem Principien der 
politifhen, intellectuellen und religiöfen Freiheit und Selbf- 
entſcheidung, ſoweit diefe Principien im chriſtlichen Sinne ver- 
ftanden werden, ja gerade aus dem Geiſte und Buchſtaben des 
Evangeliums gefhöpft find, fi nicht feindlih und abwehrend 
verhalten dürfe, vielmehr pofitiv auf diejelben eingehen und auf 
deren ftete Verwirklichung reinigend nnd veredelnd einwirken 
folle. Wir theilen zweitens die Anficht derer, welche eine große 
und durdhgreifende Reiormation der Kirche für nothwendig und 
für unvermeidiih halten, wie lange fie auch Hinausgejchoben 
werden mag. 

Den Berfaflern des in Rede ftehenden Buchs ift „bie 
katholiſche Kirche keineswegs identifch mit dem Papismus“, 
und fo find fie, ungeachtet der äußern kirchlichen Gemein- 
ſchuft, doch innerlich und tief gejchieden von denen, deren 
firchliches Ideal ein univerfaled, von einem einzigen Mon⸗ 
archen geiftlih und womöglid) aud) leiblich beherrjchtes 
Reich ift, ein Reich des Zwangs und des Drucks, „in 
welchem die Stantögewalt den Trägern ber Kicchengewalt 
ihren Arm zur Niederhaltung und Erftidung jeder von 
diefer misbilligten Regung leiht”. Sie verwerfen — kurz 

efagt — jene Lehre umd jene Geftalt der katholiſchen 

irhe, welche von ber römifch- jefuitifchen Zeitfchrift 

„Civilta Cattolica” feit Jahren als die allein richtige, als 
3 





18 Brennende religidfe Fragen der Gegenwart. 


der einzige und legte Rettuugsanker der fonft untergehen- 
den Menfchheit gepriefen wird. 

anus — um den Namen zu gebrauchen, welchen 
die Berfafler des vorliegenden Buchs einmal angenommen 
haben — will aus ber beften Duelle, willen, daß der 
Bauptfeldzugsplan, den man auf dem neuen ökumeniſchen 
Concil zu befolgen gedenkt, bereits ziemlich feftiteht und 
vornehmlich darauf gerichtet ift, dem Unfehlbarkeitsdogma 
zum Sieg zu verbelfen; daneben foll aber auch der be 
kannte Syllabus, jene Zufammenftellung der von Gr. 
Heiligkeit dem Bapfte Pius IX. verdammten wifjenfchaft- 
lichen Lehr- und Grundfäge, dogmatifirt und das neue 
Marien-Dogma, wonach „aud) der Leib Mariens in den 
Himmel aufgenommen worden iſt“, unumftößlich feft- 
geftellt werden. Er theilt demnach fein Buch, außer dem 
Borwort und der Einleitung, in drei Hauptabjchnitte, in 
denen er mit bewundernswerther Sachkenntniß und ge- 
lehrter Schärfe die Lieblingswünſche des Jeſuitenordens 
und desjenigen Theil der Eurie, der fi von ihm leiten 
läßt, einer nähern Beleuchtung unterzieht, indem er zuerft 
den „Syllabus“ und das, was mit ihm beabfichtigt wird, 
ins Auge faßt, hierauf bas „neue Marien⸗Dogma“ kurz 
erörtert und fchlieglich über die „päpftliche Unfehlbarfeit‘ 
an der Hand gejchichtlicher Thatfachen in ausführlicher 
Weiſe orientirt. 

Was die Dogmatifirung des Syllabus anlangt, jo 
weift Janus nah, daß auf dem allgemeinen Concil eine 
ſtarke Partei bemüht fein wird, mit Zugrundelegung ber 
Arbeiten des Yefuitenpatere Schrader *) in Wien und 
deffen Ordensbruders Gerhard Schneemann **) die ein- 
zelnen Säge des Syllabus in affertorifher Faſſung zu 
ebenfo vielen Glaubensartikeln zu ftempeln. Der Syllabus 
verdammt nun aber bekanntlich die ganze jegige Welt- 
anſchauung von den Rechten des Gewiſſens und des reli⸗ 
giöfen Glanbens nnd Belenntniffes; es ift nach ihm eine 
arge Berirrung, Proteftanten zu gleichen politiichen Rech⸗ 
ten mit Katholiken zuzulaffen, oder proteftantifchen Ein- 
wanderern bie freie Ausübung ihres Gottesdienftes in katho⸗ 
liſchen Ländern zu geftatten (vgl. Syllabus, $. 77— 79); 
Zwang und Unterdrüdung ift vielmehr, fo lehren bie jegt 
in Rom allmäcdjtigen Väter der Gefellfchaft Jeſu und ihre 
Gönner, fobald man die Macht dazu hat oder fie erwirbt, 
heilige Pflicht. 

Der Syllabus fchlieft mit der Erklärung: „Dies 
jenigen befinden fi in einem verdbammenswerthen Irr⸗ 
thum, welche die Verfühnung des Papſtes mit der mo« 
dernen Civilifation file möglich und wünſchenswerth hal« 
ten.” Hierzu bemerkt Janus ©. 23 Folgendes: 

Die heute beftehenden Berfafjungen fänmtliher europäi- 
iher Staaten (mit Ausnahme Rußlands und bes Kirchenftaats) 
find nichts anderes als das Product und der Ausdruck diejer 
modernen Civilifation. Freiheit des religidfen Belenntniffes 
nnd des Gottesdienftes, Freiheit der Meinungsäußerung, Gleich⸗ 
beit vor dem Gefe und Gleichheit wie ber politiichen Pflichten 
fo der Rechte, dies find neben der Selbfibefleuerung, der mu⸗ 
nicipalen Selbfiverwaltung und der Theilnahme des Volks an 
der Geſetzgebung die herrfchenden, durch alle Berfaflungen 
fih hindurchziehenden Ideen und Principien, die denn auch alle 


— ·— — — 


) De Papft und bie modernen Ideen“, zweites Heft: „Die Enchclica‘ 
te 


u 
*., ‚Die liche Gewalt und Ihre Träger” im flebenten Heft ber „Stim- 
men ane Maria Laach“ (Freiburg im Br. 1867). 


innig untereinander zuſammenhängen, fodaß fie fich wechſelſeitig 
tragen und fügen und die Gewährung einiger dieſer Forde⸗ 
rungen bald auch mit innerer Nothwendigfeit die der andern 
nad fi zieht. Nun ift aber in der (fatholiichen) Kirche ſchon 
feit Jahrhunderten, eigentlich ſchon feit den Ifſidoriſchen Decre- 
talen, der entgegengejettte Weg mit beharrlicher Eonfequenz ver» 
folgt worden; die hierardhifhe Berfaffung hat fih mehr und 
mehr zu einem fchranfenlojen, oligarchifch waltenden Abfolutis- 
mus ausgebildet, und eine fletig wachlende und meitergreifende 
bureaufratifche Centralifation hat allmählih das gauze altkirch⸗ 
liche Leben in feiner harmouiſch gefligten Gliederung und ſyno⸗ 
dalen Selbftregierung getödtet oder nur die hohlen Formen 
beftehen laſſen. So verhalten fi Kirche und Staat zueinander 
wie zwei parallel laufende Ströme, von denen der eine nord» 
wärts, der andere flldmwärts fließt, d. h. die modernen flaatlichen 
Zuftände und die politifchen auf Selbfiregierung und auf die 
Beſchränkung fürſtlicher Willkür gerichteten Beſtrebungen ber 
Bolker ſtehen im fchroffften —* zum Ultramontanismus, 
deſſen Kern und Hauptaufgabe die Behauptung und Steigerung 
des Abſolutismus in der Kirche iſt. Staat und Kirche find 
aber aufs innigſte miteinander verwachſen; beide reagiren fort 
und fort aufeinander, und es ift ganz unvermeiblidh, daß die 
politiſchen Anjhauungen und Einrichtungen eines Volks in bie 
Fänge auch die kirchlichen beeinfluffen und beftimmen. 

Was Janus bier von der Wechfelwirkung ber politi« 
jchen und kirchlichen Anfchauungen und Einrichtungen eines 
Volks jagt, das gilt ebenfo fehr von den Beitrebungen 
auf den focialen, national» öfonomifchen, wifjenfchaftlichen 
und äfthetifchen, kurz allen Gebieten, auf denen ſich die 
geifige und materielle Entwidelung der Völker vollzieht. 

ie tief übrigens der Haß geht, den jeder echte Ultra- 
montane gegen die freiheitlichen Inftitutionen, ja gegen 


das ganze Verfaſſungsweſen, wie es fich gegenwärtig bei f u 


allen civilifirten Vblfern immer mehr Bahn ,bridt, im 
Grunde feiner Seele enipfinbet, das hat, wie Janus ©. 24 fg 
mittheilt, kürzlich) die „Civilta Cattolica”, jener durch ei 
eigenes Breve des Papftes hochbelobte Moniteur der römi 
chen Curie, in ſehr bezeichnender Weife documentirt, wen 
fie fagte: Yo 
Die Hriftlihen Staaten haben aufgehört, die menfchliche 
Geſellſchaft iſt wieder heidnifch geworben und gleicht einem von 
Erde gebildeten Körper, welcher des göttlichen Hauches wartet. 
Aber bei Gott iſt nichts unmöglich, er belebt nad) dem prophe- 
tiſchen Geficht des Ezechiel ſelbſt dürre Gebeine. Ossa arida, 
dürre Gebeine find die politifhen Gewalten, die Parlamente, 
die Wahlurnen, die Civilehen, die Municipien. Nicht blos 
bürre, fondern flinfende Gebeine find die Univerfitäten, fo groß 
ift der Geſtank, welcher bon ihnen in verderblihen und pefti- 
lenzialifhen Lehren ausgeht. Aber diefe Bebeine fünnen wieder 
zum Leben gerufen werden, wenn fie auf Gottes Wort hören, 
d. 5. das göttliche Geſetz annehmen, welches ihnen von dent 
unfeblbaren und höchſten Doctor, dem Papfte, verkündigt wird. 
Mit Recht erinnert Janus daran, daß gleich die ehr⸗ 
wärdige Ahnfrau und Stammmutter der europäifchen Ver— 
faffungen, die engliihe Magna-Charte, mit dem heftig- 
ften Zorn des Papftes Innocenz III., ber die Tragweite 
der Sache ziemlich gut erfannte, durch die Bulle Nos, 
tantae malignitatis vom 15. Uuguft 1215 heimgeſucht 
wurde. Innocenz II. ſah darin eine Verachtung bes 
apoftoliichen Stuhls, eine Verminderung der füniglichen 
Rechte und eine Schmach des engliichen Voll (Angli- 
canae gentis opprobrium); er erflärte fie deshalb fiir 
null und nichtig und belegte ihre Urheber, die englifchen 
Barone, mit dem Kirchenbann. Und fo laflen wir aud) 
Pins IX. und feinen Rathgebern, den Jeſuiten, welche 
befanutlich die intellectuellen Urheber ber Enchclica und 








— — _____ıR.. 





Brennende religiöfe Fragen ber Gegenwart. 


des Syllabus find, gern die Gerechtigkeit wiberfahren, 
daß fie nur im Jahre 1864 gethan, was Innocenz ſchon 
im Jahre 1215 mit prophetiſchem Blid für dienlich 
im Intereſſe der katholiſchen Kirche erachtet Hat. Die 
Magna · Charta indeffen, damals mod) ein zartes und 
ſchwachliches Pflänzhen, ift mittlerweile dem Fluche 
zum Trog, welchen einer der gewaltigften von allen Päp - 
fien auf fie gelegt, zu einem ſtattlichen, die civilifirte Welt 
überfhattenden Baume ausgewachſen, ‚mit fräftigen und 
blühenden Kindern und Kindesfindern gefegnet; und fo 
lann ſich denn auch wol ihr jüngfter Ablömmling, bie 
öferreihifche Verfaffung, die ein Heinerer Nachfolger In 
noceny am 22. Juni 1868 al® „einen unausſprechlichen 
Greuel“ (infanda sane) bezeichnet Hat, beruhigen und 
getroft an da Weltgericht der Gefchichte appelliren. Sie 
fann c8 um fo mehr, als diefer felbe Nachfolger es vor 
einigen Jahren nicht verſchmäht hat, wie Janus aus guter 
Duelle verfichert, in London anfragen zu laſſen, ob nicht 
auch für ihn in dem Mutterlande der „fittenverberbenden 
Freipeitögefege” eine ſichere Wohnftätte zu finden fei. 

Es würde hier zu weit führen, nachzuweiſen, wie 
Rom fid) confequent allem und jedem Berfafjungsleben 
feindlich gegenüberftellte. Wir erwähnen hier nur noch, 
daß ſich auch Leo XII. mit einem Schreiben an Ludwig XVII. 
von Frankreich wandte, in welchem er ihm das Verwerfliche 
der franzöftfchen Conftitution vorhielt und ihn dringend 
mahnte, jene Artifel, die zu ſehr nad) Liberalismus 
ſchmedten, aus der Charte auszumerzen. 

Hinfihtlich des neuen Marien -Dogmas faßt ſich Janus 
mit guten Gründen fehr kurz. Diefer Gegenftand ift 
ziemlich harmlofer Natur, und man begreift ſchwer die 
Dringlichkeit deſſelben, da doch erft wenige Jahre ver- 
foflen find, feit Pius IX. die unbefledte Empfängnig 
fierlich für eine göttliche Offenbarung erflärt hat. Die 
altficchlichen Ucberlieferungen wiflen, wie Janus bemertt, 
von dieſen Dingen nichts. Es wäre ſicherlich viel wün« 
ſchenswerther, wenn die Jeſuiten durch die Fügſamkeit 
8 Concils die verrufene Probabilitätslehre zum Glau⸗ 
bensartifel erflären ließen, um dadurch die Moraldoctrin 
des Ordens, „dieſe ftets Maffende Wunde feiner Repu- 
tation“, durch einen Concilbeſchluß geheiligt zu erhalten. 

Den Kern des Ichrreichen Werls, welches übrigens 
bereits ins Engliſche, Franzöſiſche und Stalienifche über 
fegt worden ift, bildet bie geſchichtliche Revue päpſtlicher 
Täufhumgen und die kritifch-hiftorifche Unterſuchung der 
Unfehlbarkeit der Päpfte in der Vergangenheit. Sollte in- 
deffen das Eoncil die Infallibilitätslefre zum Dogma erhe» 
ben, fo beanſprucht diefer Glaubensſatz aud Geltung bis in 
bie fernften Jahrhunderte rückwärts. Cine Wahrheit, die 
künftig geglaubt werben fol, muß auch von je eine Wahr- 
hat geweſen fein; darum prätenbirt im vorliegenden Falle 
das Dogma der Unfehlbarkeit nicht blos, daß die künfti · 
geı pupftlichen Ausſprüche ex cathedra unfehlbar fein 
weben, fondern daß auch alle frühen Päpfte niemals 
geirrt Haben und kraft der Infpiration des Heiligen Geis 
fits niemals irren konnten. Im dieſer Beziehung fagt 
Imus: 

Aber wenn nun die Unfehlbarkeitslehre, einmal zum Glau · 
be sfatg erhoben, einerfeits alle geiftige Bewegung unb wiffen- 
jä fefiche Thätigteit in der Latholifcen Kirche lahm legen müßte, 





19 


fo wilrbe fie andererſeits zwiſchen biefer umb dem vom ihr ge» 
trennten religiöfen Gemeinfchaften nur eine neue Scheidewand 
und zwar die Närffle und undurdbringlicfte von allen aufrid« 
ten. Der theuerſten Hoffnung, die fein Chriſt aus feiner Bruft 
zu verbannen vermag, müßten wir entfagen, der Hoffnung auf 
eine fünftige Wiedervereinigung der getrennten Kirchen, bes 
Drients wie des Dccibents. Denn im Ernft wird dod nier 
mand, der die Gefdjichte der anatofifchen Kirche und bie der 
proteftantifchen Gemeiniaften einigermaßen kennt, es für dent» 
bar halten, daß jemals eine Zeit fommen könne, in der auch 
nur ein beträgtlicher Theil diefer Kirchen ſich freitwilig der 
durd) das Unfehlbarfeitedogma nod; Über da® jegige Maß hin» 
ausgefleigerten Wilfürherrihaft eines einzigen unterwerfen 
werde. Nur wenn ein allgemeiner Bibliothetenbrand alle Hifto- 
riſchen Urkunden vernichtet hätte, wenn Orientalen und Occi» 
bentafen von ihrer frühern Geſchichte nicht mehr wüßten, als 
jest die Maoris auf Nenfeeland von ber ihrigen wiffen, und 
menn endlich große Nationen durch ein Wunder ihre ganze 
Geiftesrihtung und Sinnesweife abgelegt hätten — dann erft 
fönnte eine ſolche Unterwerfung fih vollziehen. 

Mehr oder weniger hat e8 Janus unterlafen, in feir 
nem Buche aus den Prämiffen der Außerft zahlreich von 
ihm angeführten Biftorifchen Thatſachen in Betreff der 
Smfallibilitätsdoctrin ſelbſt Schlüfle zu ziehen; aber er 
hat in ber gründlichften Weife die Wurzeln aller der ge 
ſchichtlichen Thatſachen und Ereigniffe bloßgelegt, deren 
Aufzählung allein mit vernichtender Logik das Unfehlbar- 
keitsdogma, foweit e8 den Papft angeht, verdammen. Er 
fagte in dem Vorwort ©. xıx: 

Unfere Schrift ſoll ein Verſuch fein, zur Wedung und 
Orientirung einer Öffentlichen Meinung beizutragen. Sie wirkt 
vieleiht nur wie ein Gtein, der ins Waffer getvorfen die 
Oberflüche anf einen Augenblid Fräufelt und dann fogleich alles 
wieder läßt, wie es gemejen; aber fie fönnte doch auch wirken 
wie ein Ne, das in den See getaucht reiche Beute brädte. 

Nach unferer Meinung hat fie bereits wie ein foldes 
Neg gewirkt, und zwar nicht allein in Deutfchland, fon« 
dern aud in Italien, Frankreich und England, wie die 
zahlreichen und eingehenden Kritiken beweiſen, die fie in 
diefen Ländern Hervorgerufen hat. Am grünblichften ift 
aber jedenfalls die Beiprehung gewefen, melde Prof. 
Frohſchammer in feiner bei Adermann in Münden er» 
ſchienenen Brofhitre: „Zur Würdigung der Unfehlbarkeit 
des Papſtes und der Kirche”, dem Werke von Janus hat 
zutheil werden laſſen. Frohſchammer geht aber mit Recht 
einen Schritt weiter als Janus. Er begnügt ſich nicht 
damit, die Infallibilitat des Papſtes anzufechten, er wirft 
auch bie Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche über den 
Haufen; er bleibt nicht auf halbem Wege flehen, fondern 
befämpft mit ſcharfen Waffen das Episkopalſyſtem, welches 
Janus unangetaflet läßt, ebenfo ſehr wie das Papal« 
ſyſtem. Frohſchammer jagt a. a. D.: 

Angefidts der Gelhichte des Papfthums mit all feinen 
Fälfungen, Anmaßungen, Irrthümern nnd Unfittfichkeiten, 
die ja eben dem Streben des vapftthume gemäß für die ganze 
Kire gelten und fie durKdringen mußten, ift e8 unmöglich, 
die Unfehlbarkeit der Kirche felb mod weiter zu behaupten, 
fowenig als die Unfehlbarfeit des Papfies. Wenn die Päpfte, 
die feit Jahrhunderten ſich als „Kirdje‘ factifh verbieten und 
derrſchten nicht unfehlbar find, dann if e8 auch die Kirche feit 
Jahrhunderten nit mehr, da die Päpfte eben die kirchliche 
Unfehlbarkeit an fih riffen, ausübten und eben damit aufhoben, 
wenn fie je befand. Mit dem Zurucweiſen einer unfehlbaren, 
immer ja doch nur in ſchwacher menſchlicher Form erſcheinenden 
umd tätigen Mirdjenautorität woirb erft bie wahre Urfache und 
Quelle der kirchlichen Gewaltherrſchaft, des ſchreglichen Terror 
rismus im geſchichtlichen Leben ber Menſchheit, befeitigt. 

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>) Brennende religiöfe Fragen der Gegenwart. 


Die Brofhüre von Daniel Schenkel: „Brennende 
Fragen in der Kirche der Gegenwart” (Nr. 2), enthält 
anf 116 Seiten drei Borträge, welche der Berfafler in 
verfchiedenen Stäbten, den erften in Strasburg, den zwei» 
ten in Elberfeld, den dritten zu Worms am 31. Mai 
1869 hielt. Während fie einerfeits, wie fie uns vorlie- 
gen, weiter ausgeführt find, als dies in mindlicher Rebe 
möglich war, ift andererfeitd mandje® im Druck weg. 
gelafien, was fi) mehr nur auf örtliche Verhältniſſe und 
vorübergehende Umftände bezog. Der Berfafier hält die 
Zeitumftände fir ernft genug, um Proteflauten und Katho- 
liten zu griümdlicher Befinnung und allfeitiger Erwägung 
der von ihm behandelten „Brennenden Fragen“ öffentlich) 
anfzufordern. 

Der erfte Vortrag, welcher „EChriftenthum und Eultur‘ 
überfchrieben ift, fncht auszuführen, dag „Cultur und 
Chriſtenthum zufammengehören wie Licht und Wärme”. 
Die Eultur fol der Religion das Licht, die Religion der 
Cultur die Wärme geben; fo arbeiten beide für bafjelbe 
Ziel: „die Entwidelnng aller menſchlichen Kräfte im 
Dienfte ewiger Ideen.“ Mit großer Entfchiedenheit be- 
fämpft Schenkel die weltverachtenden Religionsanſchauun⸗ 
gen, indem fie einer noch zurüdgebliebenen Culturſtufe 
angehören. Welterfenntnig, Weltbeherrſchung, Weltgenuß 
im reinften geiftigften Sinne des Worte, das ift ihm das 
böchfte Ziel für den Menfchen und für den Chriften der 
Gegenwart. „Wir wollen ein Chriſtenthum“, ruft er, 
„das anf der Höhe der Eulturentwidelung fteht, und eine 
Eultur, die durchdrungen ift von ber Fülle und Wärme 
des chriftlichen Geiſtes.“ 

In dem zweiten Bortrage, welcher über „Das Princip 
des Proteftantismus” handelt, fucht ber heidelberger Pro- 
fefior das echte proteftantifche Bewußtfein den Uebergriffen 
Roms und den Fatholiftrenden Beſtrebungen proteftanti- 
fcher Kirchenbehörden gegenüber wieder aufzufrifchen und 
zu Fräftigen. Ihm ift „das Princip des Proteſtantismus 
das von Aufßern Autoritäten befreite und befreiende Ge⸗ 
wiflen”. Er Hält die Grunbfäge der Gewifiens- und 
Glaubensfreiheit, der ungehinderten religiöfen Forfchung 
fir unverträglich mit jeder Herilalen Autorität, welde 
fi) eines Monopols in der Lehranfficht und der Gemeinbe- 
leitung bemächtigt hat oder bemächtigen will. Die Re- 
formation hat, feiner Anficht nad, im Princip ber Herr- 
ſchaft der Geiftlichleit über die Laien ein Ende gemadit. 
„Religion, und nicht Kirchenthum“, fagt er, „bedürfen 
die in Geburtswehen kirchlicher und focialer Erneuerung 
fiegenden modernen Böller.“ 

Der dritte Vortrag enthält eine „Proteſtantiſche Er⸗ 
ärung gegen das «apoftolifche Schreiben» des Papftes 
vom 13. September 1868 und gegen bie ultramontanen 
Angriffe und Anmaßungen“. Es entgeht Schenkel nicht, 
daß der moderne Jeſuitismus mit vichtigem Inſtinct in 
den orthodoren Theologen nnd Kirchenmännern des Pro- 
teſtantismus wicht nur ſtille Bundesgenofien, ſondern ſo⸗ 
gar ſehr ſchätzbares Material für die Durchführung ſeiner 
(des Jeſnitismus) Abſichten und Zwecke erkennt. Er kanu 
in ber ſeit dem Jahre der Wiederherſtellung des Jeſuiten⸗ 
ordens, feit 1815, immer kecker und herausfordernder 
auftretenden „Tirchlichen Reaction auf proteftantifchem Bo⸗ 
den“ nur eine Berleugnung des proteftantifchen Geiftes 


und „einen Abfall zu römiſch⸗katholiſchen Grunbfägen” 
erbliden. Deshalb fagt er: 

Diele ganze, künfflich nuterſtützte umd geförderte, Tirchliche 
und theologiſche Reaction] im Herzen des Proteflantiemue felbft 
if unr ein matter AbHlatfch der katholiſch⸗jeſuitiſchen Reftau- 
ration, fo ſchwächlich und Heinlich, fo voll innerer Wideriprüde, 
fo völlig todtgeboren, daß fie gerade wegen ihrer innern Halt⸗ 
Iofigleit nnd Unfolgerichtigleit eine Brücke nad) Rom if. 

Schenkel mag recht haben; aber wenn er recht hat, 
fo ift hohe Zeit, daß man diefe nah Rom führende 
Brücke abbridt. 

Ueber das Büchlein des Prof. Anton Henne: „Die 
geichriebene Offenbarung und der Menfchengeift” (Nr. 3), 
welches er den firchlichen Heformvereinen widmet, haben 
wir nicht viel zn jagen. Der Autor behandelt in 24 Ka⸗ 
piteln auf 77 Seiten die verfchiedenften Religionen und 
Philofophenfchulen von den älteften Zeiten an bis auf die 
jüngfte Gegenwart herab. Ein beſtimmtes Syſtem ver- 
folgt er nicht; feine Arbeit ift ein kaleidoſtopiſches Durch⸗ 
einander, ein Gemiſch von gelehrten Ausführungen und 
popnlären Anfchanungen, ſodaß das Lefen feines Werk⸗ 
chens, welches übrigens in guter Abfiht und mit gutem 
Willen gefchrieben ift, Teinen wohlthuenden und nachhal⸗ 
tigen Eindrud hinterläßt. 

Ganz anders verhält es ſich mit der Heinen Schrift: 
„Herr Semeralfuperintendent Dr. W. Hoffmann in Berlin 
vor ben Richterſtuhl ber deutſchen Chriftenheit geftellt“ 
(Nr. 4) von M. Banmgarten, Profefior und Doctor 
der Xheologie in Roſtock; diefelbe ift hervorgerufen durch 
die befannte Weigerung des brandenburger Confiftoriums, 
an befien Spige der Generalfuperintendent Dr. W. Hoff- 
mann zn Berlin fteht, dem vierten Proteftantentage bie 
Thüren der Kirchen in der prenßiichen Hanptftadt zu 
öffnen. Mit prüfendem Ernft, mit geradem Mannes⸗ 
muth und ungefchminkter Rede ftellt der orthodore, aber 
dennoch freimüthige Baumgarten, nachdem er fi) in einer 
furzen, kernigen Einleitung zu einem ſolchen Schritte 
legitimirt hat, den genannten preußifchen Generalfuper- 
intendenten „vor den Kichterftuhl der deutſchen Chriften- 
beit“. Er gibt feine gehaltuollen, von wahrhaft Intheri- 
ſchem Geifte durchwehten Reden, die er bei der Eröffnung 
und beim Schlufſe des vierten Proteftantentags in Berlin 
gehalten, und vertheidigt in einem Anhang ben vorzüglich 
mit dur ihn gegründeten Proteftantenverein gegen bie 
Angriffe des Generalfuperintendenten der Kurmark Bran- 
benburg, der zugleich Hof- und Domprediger und Schloß⸗ 
pfarrer zu Berlin iſt. Als Aufgabe bes Proteftanten- 
vereing ftellt er hin: das Volksthümlichmachen des Chriften- 
thums umd das Chriſtlichmachen des Boltsthitmlichen. 
„Es gibt nichts”, jagt er, „was dem innerften Wefen 
beutfcher Gemüthsart mehr wiberftreitet, als jener finftere 
Feind der Geiftesfreiheit, der in Rom feine Heimat hat.“ 
Alles, was noch chriſtlich gefund fei, müfle dahin ftreben, 
„eine Volkskirche anzubahnen, die ebenfo deutſch ift als 
chriſtlich und ebenfo chriſtlich als deutſch“. Die größte 
That des beutfchen Geiftes, die Reformation, fie müfſe 
jet vollendet werden. Die allgemeine politiiche Mündig⸗ 
feit erhalte erft ihren Werth, wenn fie durch die kirchliche 
Mündigkeit erleuchtet und geheiligt werde. Er ruft ans: 

Das Borgeben,, daß die Gemeinden im ganzen und großen 
abgefallen feien und das Chriſtenthum nur in dem geiftlichen 











Revue des Riteraturjahres 1869. 21 


Stande und feinem erffärten Anhange erhalten fei, ift ein phari- 
iiher Wahn, ber fofort gebrodhen mird, wenn an den Tag 
fommt, was ſchon jrtt dem gelibten Auge Mar ift, dag in dem 
Furchichnitt der Gemeinden mehr gejunder und urfprlinglicher 
Ehriftenfinn vorhanden if als in dem Durchſchnitt des geift- 
lihen Standes. Wenn fi nun die deutfche evangelifche Kirche 
aus dem Geifte der chriſtlichen Freiheit und auf dem Grunde 
des allgemeinen chriftlichen Vrieſterthums erneuert, dann find 
wir auch fäbig, unjern katholiſchen Brüdern wirkiam zu helfen, 
daß fie endlich frei werden von dem römıfchen Papftthum, und 
damit die tieffte Wurzel deutichen Hader und Elends aus- 
erottet, ber tödlichfte Giftfloff aus dem Körper des deutjchen 
olts entfernt werde. 


In der That, Profefior Baumgarten tritt uns in 
der in Rebe ftehenden Meinen Echrift, welche die weitefte 
Berbreitung verdient, als ein ebenfo wahrhaft frommer 


wie freimüthig und echt deutſch gefinnter Mann entgegen, 
dem es heiliger Ernſt ift mit den höchften Gütern feiner 
Nation und der ganzen Menfchpeit. 

Die „Officiellen Actenftüde u. f. w.“ (Nr. 5) find 
eine dankenswerthe Samminng aller die Encyclica vom 
8. December 1864, den Eyllabus und das öfumenifche 
Concil betreffenden Documente bis auf da® Schreiben 
des Papftes Pins IX. vom 4. September 1869 an ben 
Erzbiſchof von Weftminfter. ALS Anhang find die Adrefie 
der foblenzer Katholifen an den Biſchof von Trier und bie 
Antwort des Erzbifchofs von Köln vom 6. Yuli 1869 
auf die ebengenannte, auch ihm überreichte Adrefle hinzu⸗ 


| gefügt. 


Revue des Literaturjahres 1869. 
(Hortfegung aus Nr. 1.) 


Noch beliebter als der Roman ift die kurzathmige 
Erzählung und Novelle, welche nicht fo große An- 
forderungen an die Muße des Publikums ftellt und das 
Bedürfniß der Unterhaltung raſcher befriedigt. Auch bie 
meiften Romanfchriftfteller erholen fich von der Arbeit an 
einem mehrbändigen Opus, indem fie einige Novellen aus 
dem Aermel jchütteln, meiftens harmloje Seifenblafen ber 
Phantafie, die nach einigem kurzen bunten Spiel wirkungs- 
los zerftieben. 

Ein Streben nach künſtleriſcher Abrumdung, Glätte 
und finnvoller Bedeutung, einer nad) Boccaccio’3 Muſter 
fi) zufpigenden Novelle findet fich in den wenigften Pro- 
ductionen dieſes Genre; doch zeigt es fich bei einigen ber 
bervorragenden Vertreter. Bon Paul Heyſe's „Novellen“ 
if die „achte Sammlung“ erfchienen, welche den Titel 
„Droralifche Novellen‘ führt und die Borzüge feiner bes 
liebten früdern Novellen im ganzen nicht verleugnet. Ju⸗ 
lius Groſſe ift fehr productiv auf diefem Gebiet; feine 
Erzählungen: „Ein Revolutionär”, „Eine alte Liebe‘ und 
„Vox populi” mit den „Abenteuern einer Seelenwande- 
rung”, find von ungleihem Werth. Edmund Hoefer, ein 
vorzugsweiſe novelliſtiſches Talent, das fi in größern 
Romanen mit weniger Glüd bewährt, veröffentlichte: „In 
der Welt verloren”, „In doloribus. Tagebuchblätter einer 
Berfchollenen” und „Zwei Familien“; 3. W. Hadländer: 
„Nahes und Fernes“, „Die Spuren eines Romans”, „Un- 
ter den päpftlihen Zuaven“ und die Humoriftifche No» 
belle: „Hinter blauen Brillen”; K. Gutzkow, der auch in 
der Rovelle finnreich geftaltet: „Lebensbilder. Exfter Band: 
Durch Naht zum Licht”; der im Colorit fo treffliche 
R. Schweigel: „Aus ben Alpen. Erzählungen‘; der 
philoſophiſch gedankenreiche Dorfgefchichtenichreiber Mel⸗ 
chior Meyr: „Erzählungen aus dem Ries. Neue Folge“; 

riedrich Spielhagen eine Erzählung: „Die Dorfkokette“; 
r humoriſtiſch originelle W. Raabe ſieben Erzählungen: 


Der Regenbogen”; W. Ienfen, ein feinfinniger Novellift mit 
efflicher Stimmung in feinen Natur- und Lebensbildern, 


ei Erzählungen: „Das Erbtheil des Blutes‘, „Die Ju⸗ 
na von Cölln“, „Unter heißerer Sonne”, ferner „Neue No⸗ 
üen“, und der elegante Guſtav zu Putlitz eine Novelle: 


- Die Alpenbraut”; Robert Waldmüller, ein poefiereicher 


Noveliift, die Novelle: „Die Heine Gipsgießerin“; Mar 
Ring die biftorifche Erzählung: „Der Anfläger von Stras- 
burg” und „Lieben und Leben‘; Friedrich Friedrich zwei 
biftorifche Erzählungen: „Pereat Napoleon” und bie 
Humoreste: „Ehemänner und Ehefrauen. Neue Folge“; 
der productive Guſtav vom See: „Neue Novellen‘; life 
Polko: „Auf dunfelm Grunde” und eine nene Reihe der 
„Handzeichnungen‘: „Schöne Frauen”; Bernd von Gufed 
die Hiftorifche Erzählung: „Im Herzen von Deutfchland‘; 
Victor von Strauß, der tendenzidfefte der deutfchen No» 
velliften, mehrere Erzählungen: „Aus der Vergangenheit“, 
„Der Schulmeifter und der Herr Lehrer”, „Der Zwei⸗ 
kampf“, „Eros und Agape“; der Teibenfchaftlich- pilante 
Sacher⸗-Maſoch die Paffionsgefhichte: „Die gejchiedene 
Frau” und die auferien: „Aus dem Tagebuche eines 
Weltmannes”, während die beliebte Romanſchriftſtellerin 
E. Marlitt, welche e8 mit ihren beiden Hauptromanen 
bereits zu einer beträchtlichen Zahl von Auflagen gebracht 
bat, „Zhüringer Erzählungen‘ herausgab. 

Folgende Erzählungen und Novellen find außerdem 
im Laufe des legten Jahres erfchienen: Adelheid von Auer: 
„Schwarz auf Weiß”, „Die barmberzige Schwefter‘‘; 
B. Möllpaufen: „Das Hundertguldenblatt“; E. Brach⸗ 
vogel: „Aus drei Jahrhunderten“; K. Detlef: „Bis im 
die Steppe”, „Unlösliche Bande“; R. Durangelo: „Bianca 
della Rocca”; E. Senthis: „Die wilde Rofe, eine vheinifche 
Dorfgeſchichte“; Sobotfa: „Drei Blätter meines Tage 
buchs“; Marie Berger: „Berfchiedene Wege’, „Weiße 
und rothe Roſe“, U. Wilbrandst, ©. Füllborn, 8. 
Buchner: „Novellen; E. Haltaus: „Geſchichten aus 
dem Leben“; B. Wörner: „Amt und Welt“; ©. 
Pfarrius: „Natur und Menſchenleben“; 9. Mühlfeld: 
„Bis zum Scaffot”, „Aus der Mappe‘; Anna Röhn: 
„Der Geheimnißvolle“; A. Mützelbirg: „Das Schloß 
an der Oſtſee“; ©. Scheurlin: „Der Scharfridter von 
Rothenburg”; 2. von Erlburg: „Aus Herz und Welt“; 
A. Mels: „Herzenskämpfe“; Eliſabeth von Grotthuß: 
„Das Gaſthaus zum grünen Baum“; K. Che: „Der 
Buchhof zu Reichenan“; Marie Rebe: „Erzählungen fürs 
Bol’; 3. Krüger: „Die Geheimmiſſe einer jungen Mam⸗ 
fell” und „Die Todten ftehen wieder auf“; Ida Klein: 


22 Revue des Literaturjahres 1869. 


„Novellen“; 5. Emilius: „Lucia“; F. X. Himmel⸗ 
ſtein: „Hiſtoriſche Erzählungen‘; "Henriette Caſtell: 
„Stille Größe“; F. Gerſtäcker: „Kreuz und Quer“; 
H. von Moellendorf: „Erzählungen aus dem Taunus“; 
M. Rugard: „Bunte Bilder“; 3. Boegehold: „Der De⸗ 
ſertenr“; ©. Better: „Familienrache“ ©. Graf Gra- 
bowski: „Geſammelte Novellen und Erzählungen”; Lina 
Freifrau von Berlepfh: „Nebelbilder; G. Flammberg: 
„Die Rofe von Urach“; C. F. U. Geerling: „Bunte 
Bilder‘; M. von Schlägel: „Tolle Liebe”; 2. Ziemffen: 
„Fürſt und Weidmann“; C. ©. Barth: „Bier Lebens- 
bilder”; Helene (Frau von Hülfen): „Novellen und Skiz⸗ 
zen fur ihre Freunde”; R. L. Stab: „Auf dornigem 
Biaber; €. Brachvogel: „Aus drei Jahrhunderten“; C. W. 
Stuhlmann: „Novellen und Erzählungen‘, „Steine Er⸗ 
aäblumgen €. Frige: „Der Major, Criminalnovelle” ; 
M. v. B.: „Hamilienbilder‘; T. Meyer - Merian: „Ent- 
ſchwundene Zeiten“; L. Mohr: „Roth⸗Weiß, Erzählung 
aus der Zeit des Königthums Weſtphalen“; J. Nordmann: 
„Wiener Stadtgeſchichten“; P. Wafferburg: „Aus der 
Gerne‘; H. Martin: „Die ſpaniſche Hofdame“; 9. Field: 
„Das Blockhaus“; G. Jahn: „Das ſchöneLuisle, oder Dreimal 
verlobt"; E. Koller: „Klatſchereien“; F. Kühn: „Erzählun⸗ 
gen‘; Klara Eron: „Goldene Mitte; &. Ebeling: „Fantaska. 
Sefammelte Märden, Legenden und Sagen"; G. Raimund: 
„Novellen, ſechster Band“; Gräfin Luiſe von Robiano: 
„Dur und Moll“; Lina Bagt: „Reflexe der Zeit” (Bd. 2). 

Die Humoresfen find oft im Feuilleton Wand- 
nachbarn der Novellen; wir wollen fie auch bier den⸗ 
felben anreihen und zwar ohne den Unterfchied zu machen, 
ob fie in das Gewand der Proja oder des Verſes ge- 
Meidet find. Ludwig Walesrode, der politifche Humorift 
Königsbergs, der am Anfang der vierziger Jahre durch 
feine „Glofſen und Randzeichnungen“ großes Aufſehen er- 
regte, bat, nach längerm Schweigen: „Loſe Blätter, ge 
fanrmelte Humoresken, erftes Bändchen“, erfcheinen (affen; 
A. von Winterfeld mehrere Heftchen „Humoresken für 
Sofa und Eifenbahnconpe”; J. Stettenheim ben erften 
Band eines „Berliner Blaubuchs aus dem Gebiete der 
Komik“; F. Schmidt: „Volkserzählungen und Scilderun- 
gen aus dem berliner Volksleben“; C. Reinhardt: „Tinten⸗ 
flere in Form humoriſtiſcher Sky“; H. von Rittberg: 
„Shemannsleid und Junggeſellenweh“, 9. Eggenburg: 
„Torniſtergeſchichten“, I. Carl: „Das Oſtſeebad Neu⸗ 
fuhren, humoriſtiſche Skizzen“. Daß der Humor auch 
noch heutzutage die krauſeſten, wunderlichften Titelverſchnör⸗ 
felungen liebt und dadurch gleich für feine Leiftungsfähig- 
feit Reclame zu machen ſucht, da8 mag das folgende Re⸗ 
gifter ‚beweifen: „Humoriſtiſche Bombenfplitter, abgefenert 
and einem Hinterlader”; L. Siegrift: „Leben, Wirken und 
Ende weil. Sr. Ercellenz des oberfürftlich Winkelkram⸗ 
ſchen Generals der Unfanterte, Freiherrn Xebereht vom 
Knopf”; „Lord Stiefelton’s wunderbare Reiſeabenteuer und 
Erlebniffe, herausgegeben von, Habakuk Befenftiel, Kam⸗ 
merdiener Sr. Herrlichkeit”; „Die unfchuldige Iſabella 
und ihr Louis. Liebesabenteuer einer Bohnenfönigin‘‘; 
Supinator Longus, „College Schnepper oder die Höllen- 
fteinpupille. Species dramaticae in zwei Aufgüffen für 
Aerzte, Apotheker und Naturforjcher beider Hemifphären‘; 
„Allerlei mit Krebönajen, Aufgetifcht vom Prinz Carne⸗ 


val III. (Xowis Julius)“; „De vitae, moribus et literis 
pulicis. Blide in das Leben und Treiben des beften 
Freundes der Menfchen. Mit einer Blütenlefe der Tite- 
ratur berfelben, fowie zahlreichen intereffanten Auffchlüffen 
von H. van ber Floee“; W. Buſch: „Schnurrdiburr 
oder die Bienen‘; „Die Nebelfheuche von Marimus Ca⸗ 
InB, Oberlehrer zu Drumtenheim. Erfte Heliade“; A. Lin⸗ 
„Die Welf, Abenteuer und Fahrten eines Welfen⸗ 
long 
Ganz oder theilmeife mit Bers und Reim ausgeſtattet 
find folgende Humoreslen: 9. Scheblih: „rau Venus 
und unfere Gelehrten”; W. Hod: „Prinz Earneval. Pa- 
rodiftifche Burleske“; A. Ehrhardt: „Si H 4 ober die Ent- 
dedung Hinter der Sanblapelle. Neueſte typifch- chemijche 


Schickſalskomödie mit Geſang“; „Simfon oder Xeben, Thaten 


und Ende eines altteftamentarischen Burſchen“; J. Stetten: 
heim: „Die berliner Wespen im Aquarium“; E. von Wilden- 
brudh: „Die PHilologen am Parnaß oder die Viviſectoren“. 

Was die Ueberfegungsliteratur betrifft, jo haben 
wir diesmal mehrere Aneignungen aus bem fernen Orient 
zu regiftriren, zumächft die deutfche Säcularausgabe eines 
hinefiichen Familienromans: „Haoh Kidh, Zieh und Pin- 
fing’‘, dann die Ueberjegung und Erläuterung der „Bha⸗ 
gavad -Gita” von %. Lorinfer, die Epifode aus dem 
Mahabhaͤrata „Amba“ von ©. 9. F. Neffelmann, und 
die Ueberfegung von Taͤranaͤtha's „Geſchichte des Buddhis⸗ 
mus in Indien“, aus dem Tibetanifchen von A. Schiefner. 
Die Ueberfegungen aus den Dichtungen des claffiichen Alter- 
thums find diesmal nicht zahlreich. M. Zille hat Virgil's 
„Aeneide” im Nibelungenversmaß überfebt; 3.9. Delagrife 
die Dichtungen Catull's in rein deutſchem Gemwande; 
T. Kod „Die Bhönifien” und den „Cyklopen“ des Euri- 
pides. Bon mittelafterlichen Poeten ift nur Dante und 
zwar die zwei erften Gefänge feiner „Hölle“ von %. Note 
ter wieder überfegt und befprochen, während 9. von 
Loeper „Hymnen bes Mittelalters”, frei nach dem Latei- 
niſchen, überſetzt. Den Inhalt der reichhaltigen hildburg⸗ 
hauſener „Bibliothek ausländiſcher Clafſiker““, deren Ueber⸗ 
ſetzungen wir im Laufe bes Jahres mit Aufmerkſamleit 
folgten, können wir hier nicht noch einmal angeben; fie 
bildet jedenfalls jest den Mittelpunkt der deutjchen Be⸗ 
ftirebungen, den Geift fremder Literaturen ſich anzueignen; 
wir Können bier nur auf einzelnes Neue von befonderm In⸗ 
tereffe, wie auf die Rapp'ſche Ueberfegumg fpanifcher Dra- 
men, namentlich der Stüde des Lope be Bega binweifen. 
Bon der J. J. C. Donner’fchen Meberfegung der „Lu⸗ 
fiaden‘ von Camoens ift die dritte Auflage erfchienen. 
Die „Stmmtlihen Idyllen“ von Camoens find zum erften 
male verdeutfcht von C. Schlüter und W. Stord. 

Die Ueberfegung von W. Shaffpeare’s „Dranatifchen 
Werken‘, welche Bodenftebt herausgibt, ift im Laufe des 
Jahres ruſtig fortgeſchritten, bis zum dreiundzwanzigſten 
Bändchen, und ſoll im Jahre 1870 vollendet werden. 
Shakſpeare's „Hamlet“ erſcheint in engliſchem Text und 
deutſcher Meberfegung von Mar Moltke. Shalfpeare’s 
„Sonette“, welche zu überjegen jest Mode geworden 
Hg werden gleichzeitig von Freiherrn von riefen und 

B. Tſchiſchwitz übertragen. 

Die engliſchen Lyriler werden von unſern poetiſchen 
Ueberſetzern ſtets in erſter Linie bevorzugt. A. Tennyſon 


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Revue des Literaturjahres 1869, 


erſcheint auch in Deutſchland als der Modepoet, als der 
fajhionable Repräſentant der engliſchen Muſen. Wie oft 
iſt ſein „Enoch Arden“ überſetzt worden! Neue Ueber—⸗ 
ſetzer deſſelben ſind F. W. Weber und H. A. Feldmann, 
der auch Tennyſon's „Ausgewählte Dichtungen“ übertragen 
hat. „Jung Harald's Pilgerfahrt“, von Byron, hat in 
F. Schmidt abermals einen Ueberſetzer gefunden. Auch 
einige engliſche Dichter des vorigen Jahrhunderts werben 
dem Intereſſe der deutſchen Lefewelt durch Ueberſetzung 
näher gerüdt, fo Oliver Goldfmith, deflen „Wanderer 
und „Das verlafiene Dorf” Agnes von Bohlen, und 
W. Comper, deſſen ausgewählte Dichtungen W. Borel 
überfegt bat. Bon Karl Elze's „Englifchen Liederſchatz 
aus britifchen und amerilanifchen Dichtern” liegt die 
fünfte vermehrte und verbefierte Auflage vor. Die „Lie 
der und Balladen” von Robert Burns hat U. Laun über- 
fegt, der aud) Beranger’8 „Lieber und Chanſons“ über⸗ 
trug, während von Böttger's Milton» Weberfegung die 
dritte Auflage vorliegt. 

Auch der italienischen Literatur wendet ſich erhöhte 
Theilnahme zu. Leopardi's Dichtungen find außer von 
R. Hamerling auch von ©. Brandes überfegt worden. 
8. Stehres Hat zwei Novellen Silvio Pellico's nebft 
Thomas Morus, €. Poeger das Drama P. Giacometti's 
„Der Millionär und der Sünftler‘, und Marr das 
Drama: „König Nal” nad) Angelo De-Bubernatis überſetzt. 
Auch der alte holländische Dramatiker 3. van den Vondel 
iſt neuerdings auf dem Repertoire unferer Ueberſetzungs⸗ 
literatur beimifch geworden. Sein „Rucifer” ift durch ©. 
9. de Wilde, fein Trauerjpiel „Jephtha“ von %. Grim⸗ 
melt übertragen worben. Außerdem notiren wir die An⸗ 
eignungen littauifcher Dichtungen von C. Donalitius und 
der „Eſtniſchen Märchen” Kreutzwald's von F. Löwe. 

Daß die Romane der meiſten neuern Nationen ſowie 
andere Unterhaltungsſchriften bei uns eingebürgert wer⸗ 
den, und zwar mit einer geſchäftsmäßigen Pünktlichkeit, 
bedarf faum der Erwähnung. Auch dies Jahr brachte 
uns Romane von M. E. Braddon, Annie Thomas, F. W. 
KRobinfon, W. H. Yinsworth, H. S. Edwards, 3. Payn, 
D. Jerrold, Laby Fullerton, ©. Ruffini, Miß Donge, 
Senfationsnovellen von Harwood u. a. aus dem Englifchen; 
Ueberfegungen des neuen franzöfifchen Romans von Bictor 
Hugo „Der lachende Mann”, mehrerer Romane von Paul 
Feval, Urban Dlivier, Saint⸗Georges aus dem Franzöfl- 
ſchen, der Erzählungen des geiftreichen Turgenjew und 4. 
Pifemsfi aus dem Ruſſiſchen, eines Romans von 9. J. 
Schimmel aus dem Holländifchen, der Romane von Marie 
Sophie Schwarg und H. Biurften aus dem Schwedi⸗ 
Shen; außerdem die Uebertragungen wifjenfchaftlicher, auch 
politiſcher und philofophifcher Schriften aus dem Tran» 
zöfifchen und Englifhen, von denen wir die Ueberfegung 
von Yohn Stuart Mil’ Werken und feiner Schrift über 
„ te Hörigleit der Frau”, die neuen Werke von Carlyle, 
I al Martin, E. Tenot, E. Talbot, M. Chevalier u. a. 
6 vorheben. Befondere Erwähnung verdient der „Pau⸗ 
I?" von Erneft Renan. 


Die Titeraturgefhichte erfreut ſich in Deutich- 
L 0 ſtets bderfelben eifrigen Pflege. Wenn Anaſtafius 
€ ün fingt, daß mit dem legten Menfchen der legte 


23 


Dichter fortziefen wird, fo kann man diefen Ausſpruch 
wol dahin parodiren, daß wit dem leiten Deutfchen ber 
legte Literarhiftoriler verfchwinden werde. Denn oft ge- 
winnt e8 den Anfchein, als ob in Deutfchland die Poeſie 
nur vorhanden wäre, um der Literaturgefchichte dem 
nötigen Stoff zuzuführen, und unter den hundert Deut- 
jhen, welche den Namen eines Dichters umd bie Titel 
feiner Werke kennen, findet fi immer nur einer, der 
diefe Werke felbft gelefen hat. Dichterruhm wird in der 
Regel nur durch die Literaturgefchichte vermittelt und aus 
eriter Hand nur wenig Glüdlichen zutheil. 

In einer dritten neu bearbeiteten und ſtark vermehrten 
Auflage erjcheint Johannes Scherr’8 „Allgemeine Ge 
Ihichte der Literatur“, ein Handbuch in zwei Bänden, 
jedenfalls ein fehr verdienftliches Werk, welches in präg« 
nonter Yaflung und doch nicht blos chronilartig, fondern 
au charakterificend in feharf umrifjenen Borträts eine 
Dichtergalerie aller Zeiten bringt, ohne die nationalen 
und culturgefchichtlihen Bedingungen ber Entwidelung 
der Poefie und den Gang diefer Entwidelung felbft un. 
beachtet zu laſſen. Bon Hermann Hettner’s trefflicher 
„Literaturgefchichte des achtzehnten Jahrhunderts“ ift vom 
dritten Buch des dritten Theils, die erfte Abtheilung erfchie- 
nen, welche eine Schilderung ber Sturm« und Drangperiode 
enthält. Der vierte Band von Heinrich Kurz’ „Geſchichte 
der deutfchen Literatur“ ift im Laufe des Jahres bedeutend 
fortgefchritten; die neuern Lieferungen enthalten eine Dars 
ftelung unſerer epifchen Didyter mit der gewohnten Un⸗ 
parteifichleit und Gediegenheit des Urtheils. Kine „Ges 
ſchichte der deutſchen Nationalliteratur” gibt H. Kluge und 
aud) eine Danıe, Clotilde von der Horft, heraus, die lei⸗ 
der in Bilmar’s Fußftapfen tritt; F. Kramer veröffent 
licht eine „Chronologifche Ueberficht der deutfchen Literatur. 
geſchichte“, P. Frank „Grundzüge der franzöflfchen Lite» 
raturgeſchichte“. Bon Joſeph Bayer’s Titerarhiftorifchen 
Borträgen „Bon Gottfched bis Schiller” Liegt eine zweite 
vermehrte Auflage vor. 

Das bedeutende, nur allzu umfangreiche Werk von 
L. Klein: „Geſchichte des Dramas“, hat die Gefchichte des 
italienifhen Dramas mit dem vor kurzem erfchienenen 
vierten Band beendigt und damit eine werthvolle Special« 
geſchichte geliefert, wenn fie aud den Rahmen der Unis 
verfalgefchichte des Dramas zu fprengen droht oder zum 
uindeften ins Unabfehbare erweitert. Auch I. I. Honege 
ger’s „Orundfteine einer allgemeinen Culturgeſchichte der 
neueften Zeit”, deren zweiter Band bie Zeit der Reſtau⸗ 
ration darftellt, verdienen an dieſer Stelle erwähnt zu 
werden, da ber literarhiftorifche Theil des verbienftlichen 
Werks den culturgefchichtlichen überwiegt. 

Bon der im Broddaus’fchen Verlag in vier Serien er- 
jcheinenden Bibliothel der gefammten dentfchen National- 
literatur bringen die „Deutfchen Claſſiker des Mittelalters“ 
in ihrem 7. und 8. Bande „Gottfried von Straßburg's 
Zriftan”, herausgegeben von Bechftein; die „Deutjchen 
Dichter des 17. Jahrhunderts“, herausgegeben von Karl 
Goedeke und J. Tittmann, den 2. und 3. Band, Paul 
Fleming's Gedichte und Friedrih von Logau's Sinn- 
gedichte; während die „Bibliothek der deutfchen National- 
literatur des 18. und 19. Jahrhunderts” Bereits bie 
zum 27. Bande gebiehen if. Außerdem erwähnen wir 





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94 Revue des Yiteraturjahres 1869. 


- die „Sermaniftiiche Hanbbibliothel”, heransgegeben von 

9. Zacher, deren erfter Band Walther von der Bogelweide 
enthält, und die „Bibliothek der ülteften deutfchen Literatur- 
dentmäler”. Eine „Geſchichte des deutſchen Liedes” ver⸗ 
öffentliht E. Schure, eine Monographie über Hroswitha 
Rudolf Köpfe. 

Zahlreich find überhaupt die Schriften, welche über ein⸗ 
zelne Dichter und Dichtwerke älterer und neuer Zeit ge 
fhrieben find. Eine Erläuterung des Hohenliedes nad) fei- 
nem gefchichtlichen und landſchaftlichen Hintergrunde gibt 2. 
Noad in feiner Schrift: „Zharragah und Sunamith.” 
„Homeriſche Unterfndungen“ veröffentlicht La Roche, 
während U. Zingerle „Dvidius und fein Berhältniß zu 
den Borgängern und gleichzeitigen römifchen Dichtern“ 
und &. Hannak „Appianus und feine Quellen” erörtert. 
Die Dante-Literatur darf das Jahr 1869 gleichfalls nicht 
zu den verlorenen zählen. Richt nur ift ein nemer, der 
zweite Jahrgang des Dante⸗Jahrbuchs erfchienen, auch 
Karl Bitte hat „Dante - Forfchungen‘ herausgegeben, 
I. Petzholdt den „Berfud einer Dante-Bihliographie von 
1865 an“, fowie einen befondern Nachtrag dazu, H. K. H. 
Deiff eine Studie zur Gefchichte der Philoſophie und zur 
Bhilofophie der Geſchichte: „Dante Alighieri”, und J. 
4. Scartazzini eine Biographie: „Dante Alighieri, feine 
Zeit, fein Leben umd feine Werle.“ 

Shaffpeare geht in einem deutfchen Literaturjahr fo 
wenig leer ans wie Dante. Zunächſt forgt dafiir das 
„Jahrbuch der deutſchen Shakſpeare⸗Geſellſchaft“, defien 
von Karl Elze herausgegebener vierter Jahrgang einzelne 
tüchtige Anffäge enthält, aber auch das Ueberwuchern ber 
philologiſchen Kritik nicht verlengnet. Freiherr H. von 
Frieſen hat das Buch: „Shakſpeare“ von Gervinus, das 
der Kritik fo viele Blößen bietet, vom frommen Stand⸗ 
punkte aus fritifirt, ein Standpunlt, dem gegenüber 
Gervinus fein gutes Recht behauptet. Zu Gunften 
Moliere'8 und gegen Shaffpeare als Luftfpieldichter plaidirt 
mit unabhängiger Kritif Karl Humbert: „Moliere, Shak⸗ 
fpeare und die deutſche Kritik“. Julie Freymann hat 
eine Kritik der Schiller⸗, Shakſpeare⸗ und Goethe'ſchen 
Franencharaktere“, H. T. Rötſcher eine „Entwickelung 
dramatiſcher Charaktere ans Leſſing's, Schiller's und 
Goethe's Werken“ herausgegeben; Adolf Laun „Dichter⸗ 
charaltere“; E. Laur eine (ıtecarhiftorifche Skizze: „Mal- 
berbe’, während 3. Caro eine Studie über Nathan den 
Weiſen: „Leſſing und Swift“, und W. Molitor eine Schrift 
„Weber Goethe's Fauſt“ publicirt hat. Bon A. F. C. Bılmar 
erfchienen mehrere nachgelaffene Schriften: eine Studie „Ueber 
Goethe's Taffo“, „Lebensbilder deutſcher Dichter, heraus⸗ 
gegeben von K. W. Piderit“, außerdem eine Schrift über 
„Luther, Melanchthon, Zwingli, nebſt einem Anhang: das 
evangeliſche Kirchenlied“. Kirchenlied und Kirchengeſang 
haben überhaupt in neuer Zeit eingehende literarhiſtoriſche 
und äſthetiſche Beachtung gefunden. Außer der um⸗ 
fafienden „Geſchichte des deutfchen Kirchenliedes und 
Kirchengeſangs“ von Eduard Emil Koch, die bereits in 
dritter Auflage erfcheint, und der Schrift von Schletterer 
erwähnen wir noch K. Kalcher's Schrift: „Das Kirchenlied 
nad) feiner naturgemäßen Behandlung theoretiih und 
pratuſqh dargeſtellt“. 

In Betreff unſerer Claſſiker heben wir hervor das 





rüſtige Fortſchreiten der kritiſchen Schiller⸗ Ausgaben von 
Karl Goedeke und Heinrich Kurz, ſowie die Schrift 
A. Boden's: „Bertheidigung deutſcher Clafſiker gegen 
nenere Angriffe.” C. A. H. Burkhardt veröffentlicht „Goes 
the’8 Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Mül⸗ 
ler”, 3. 2. Kriegk eine Monographie über die Brüder Sen- 
fenberg nebft einem Anhang über Goethe's Yugendzeit. Auch 
werden Schiller's und Goethe's Briefe mit gefchichtlicher 
Einleitung heransgegeben. 

Bon neuern m Yartfehen Dichtern ift Emanuel Seibel 
der Gegenftand einer eingehenden und liebevollen biogre- 
pbifch-kritifchen Behandlung von feiten Karl Goedeke's 
geworden; bisjegt Liegt der erfte Band biefer Biographie 
vor. ©. "Kühner bat ein Werk über Rüdert „Didıter, 
Patriarch und Ritter“ erfcheinen laſſen; E. Paulns über 
„LZubwig Uhland. und feine Heimat Tübingen”; Mar 
King Literaturbilder „Lorber und Enprefie”. Außerdem 
wird „Robert Hamerling‘‘, feine Dichtungen und deren Be- 
urtheilung in einer felbftändigen Heinen Schrift befprochen. 
G. R. Röpe ſchreibt über „Die moderne Ribelumgen- 
dichtung mit befonderer Rüdficht auf Geibel, Hebbel und 
Jordan.” Friedrich von Raumer's „Literarifher Nach⸗ 
laß‘ enthält mandjen interefianten Beitrag zur neuern deut. 
ſchen Literatur. Friedrich W. Ebeling ließ eine „Bio⸗ 
graphie von Wilhelm Ludwig Welhrlin‘‘ erfcheinen. In 
Bezug auf bie ältere Literalur erwähnen wir Ludwig lih- 
land's „Schriften zur Gejchichte ber Dichtung und Sage”, 
ein frifd) anregende Werk, von welchen ber vierte und 
fiebente Band im Laufe des Jahres erfchienen find. 

Zahlreich find die ſprachwiſſenſchaftlichen Scrif- 
ten, von denen wir bier die folgenden erwähnen: 2. Geiger: 
„Der Urfprung der Sprache“; H. B. Rumpelt: „Das natür- 
liche Syftem der Sprachlaute“; 2. Meyer: „Die gothifche 
Sprache“; 8. ©. Andrefen: „Ueber die Sprache Sacob 
Srimm’s"; R. Hildebrandt: „Ueber Grimm's Wörterbud 
in feiner wiffenfchaftlichen und nationalen Bedeutung“; 
R. Weſtphal: De ophiſchibineriſch. Grammatik der 
deutſchen Sprache“; F. Schelle: „Ueber den Begriff 
Tochterſprache“; K. Nerger: „Orammatik des mecklenbur⸗ 
giſchen Dialetts älterer und neuerer Zeit”; X. Tobler: 


Alte Dialektproben der deutſchen Schweiz". 


Die Philofophie entwidelt, trog ber Ungunft der 
Zeiten, eine bedeutende Re famteit. Im ganzen wiegt die 
Keligionsphilojophie, die Piychologie und die Gefchichte 
ber Philojophie vor. Die Vorliebe fr die legtere liegt 
im Charafter der Epoche, die troß einzelner vrigineller 
Denfer einen epigonenhaften Zug nicht verleugnet, 


mentlich aber in allem bie hiſtoriſche Grundlage iebt, 


Der Bhilofophie felbft mag man ihre ind Blaue hinaus: 
gebauten Gedanfenconftructionen zum Vorwurf machen; 
die Geſchichte der Philoſophie ift eine hiftorifche Biffen- 
haft, indem bie einzelnen Syſteme Thatſachen der ge= 
ſchichtlichen Erfahrung find, mögen viele der moder⸗ 
nen Materialiften biefelbe auch nur von dem gleichen 
Geſichtspunkte auffaſſen wie eine Geſchichte der Geiftes- 
krankheiten. 

Ein ſelbſtändiges philoſophiſches Werk von geiſtiger 
Bedeutung und Tragweite iſt E. von Hartmann's „Phi— 
loſophie des Unbewußten“, in welcher Bauſteine aus 





m 


Revue des Riteraturjahres 1869. 25 


Schopenhauer, Hegel und Schelling zu einer kühn aufe 
frebenden, mit geiftreichen Arabesken gezierten Architektonik 
verwandt find. Intereſſant find aud die mehr aphori» 
füchen Schriften I. Frauenſtädt's: „Blide in die intellec- 
tuelle, phnfifche und moralifche Welt“, und I. H. Fichte's 
„Vermifchte Schriften zur Philofophie, Theologie und 
Ethit. Philofophifche Orundlegungen verfuchten C. ©. 
Baradı: „Die Wiffenfhaft als Freiheitsthat“ und H. K. 
H. Delff: „Grundlehren der philofophifchen Wiſſenſchaft“. 
Schr thätig im Herausgabe von Grundriſſen einzelner 
philoſophiſcher Willenfchaften zeigt ſich F. A. von Hartjen: 
„Srundlegung von Wefthetif, Moral und Erziehung”, 
„Unterfuhungen ber Pfychologie”, „Unterfuhungen über 
Logi“ und „Grundzüge der Wiflenfchaft des Glücks“. 
Bon Heinern philofophifhen Schriften erwähnen wir: 
M. Droßbach: „Ueber Erkenntniß“; A. Spir: „Forſchung 
nach der Gewißheit in der Erkenntniß der Wirklichkeit‘, 
und „Kurze Darftelung der Grundzüge einer philofophi- 
fhen Anfhauungeweife”; F. Chlebit: „Dialektifche Briefe” ; 
M.Perty: „Die Natur im Lichte philoſophiſcher Anſchauung“; 
C. Fortlage: „Sechs philofophifche Vorträge“; €. Hebler: 
„hiloſophiſche Auffäge”; I. Bahnen: „Zum Berhält- 
zig zwiſchen Wille und Motiv“; K. Plant: „Grund- 
zige der organischen Naturanficht”; W. Kaulich: „Hand- 
buch; der Logik”, und im zweiter Auflage: „Ueber bie 
Möglikeit, das Ziel und die Grenzen des Wiſſens“; 
G. Recht: „Die Entwidelung der Weltgeſetze“; O. Liebmann: 
„Ueber den objectiven Anblick“. 

Auf dem Gebiete der Pſychologie ſteht im Vorder⸗ 
grunde das von R. Seydel herausgegebene nachgelaſſene Wert 
€ 9. Weiße's: „VPſychologie und Unſterblichkeitslehre 
möft Borfefungen über den Materialismus“. Dann 

wir, außer der oben erwähnten Schrift von 

m, an: ©. Gtruve: „Das Geelenleben oder 
*  Nakungefchichte des Menfchen”; D. Caspari: „die pſycho⸗ 

ponfiche Besegung in Nüdfiht der Natur ihres Sub- 
| rat"; U-Mayer: „Die Sinnestäufehungen, Hallucinationen 
und lnfionen”; M. Perty: „Blide in das verborgene 
Leben des Menſchengeiſtes“, welchen Iegtern Schriften ſich 
das von G. C. Wittig überfegte Werk des amerilaniſchen 
Spiritiften A. I. Davis: „Die Principien in der Natur, 
ihre göttlichen Offenbarungen und eine Stimme an die 
Menſchheit“, anreiht. 

Religionsphiloſophiſche Schriften find: O Pfleiderer: 
„Die Religion, ihr Wefen und ihre Gedichte; M. Wolff: 
Betrachtungen zur Religion und Ethif der Gegenwart”; 
8. Paul: „Kaut's Lehre vom idealen Chriſtus““; C. Grün- 
: „Das Chriftentfum als Cultus in feinem geſchicht · 
lichen Berlauf“; 9. Schmiehl: „Studien über jüdiſche, 
insbejondere jitdifch-arabifche NReligionsphilofopie"; D. 
Flügel: „Das Wunder und die Erfennbarkeit Gottes“; 
Melchior Mey: „Die Fortdauer nad) dem Tode”; „Die 
5 Religionsphilojophie, als eine Wiſſenſchaft für jeden, ift reif 
für eine Umgeftaltung“; „Moralismus oder &mancipation des 
Ge’ftes"; I. Frohfhammer: „Das Recht der eigenen Ueber- 
" zeuzung‘‘; 8. W. Kunis: „Vernunft und Offenbarung”; 

B Gaf: „Die Lehre vom Gewiſſen“. 

Die Gejchichte der Philoſophie iſt ſowol im allgemeinen, 
wie in zahlreichen Monographien behandelt worden. Einen 
) „Ügweifer in bie Geſchichte der Philoſophie“ Hat R. Benfey, 

170, — 












eine allgemeine „Kritische Geſchichte der Philoſophie in ihren 
Anfängen bis zur Gegenwart" E. Dühring herausgegeben. 
Bon dem trefflichen Werke Kuno Fiſcher's: „Geſchichte 
der neuern Philoſophie“, Tiegt der fünfte Band vor, 
welcher „Fichte und feine Vorgänger” behandelt. Der zweite 
Theil von ©. Teihmüler’s „Ariftotelifen Forfehungen” 
befpricht „Ariftoteles’ Philofophie der Kunft“. Wir er- 
wähnen noch von geſchichtsphiloſophiſchen Monographien: 
I. Steger: „Platoniſche Studien“, erfter Theil; B. Zitn- 
mermann: „Die Unfterblichteit der Seele in Plato’8 Phädo“; 
W. Menzel: „Die vorhriftlice Unfterbligteitslehre; €. 
€. Luthardt: „Die Ethik des Ariftoteles in ihrem Untere 
ſchied von der Moral bes Chriftentgums, erfter Band: 
die Güterlehre“; E. Buchholz: „Die fittliche Weltanfchauung 
des Pindaros und Aefchylos“; A. Pichler: „Die Theologie 
des Leibniz"; I. Durdit: „Leibniz und Newton“; 2. Grote: 
„Leibniz und feine Zeit“; R. Zoepprig: „Briefe aus Ja« 
cobi’8 Nadlaß"; &. Biedermann: „Kant’8 Kritit der reie 
nen Vernunft und die Hegel'ſche Logik im ihrer Be— 
deutung für die Begriffswiſſenſchaft“; A. Trendelenburg: 
„Kuno Fiſcher und fein Kant“; 3. B. Meyer: „Kant’s 
Pſychologie —X und erörtert”. 

Ein durch Geift und Stil hervorragendes Hauptwerk 
auf diefem Gebiet iſt die Schrift von Karl Rofenkranz: 
„Hegel als Säcularphiloſoph“. Cine Eoncordanz neuer 
Philoſophen verfuchten E. von Hartmann: „Schelling’s 
pofitive Philofophie als Einheit von Hegel und Gchopen- 
bauer“, und E. F. Wynden: „Das Naturgefeg der Seele, 
ober Herbart und Schopenhauer, eine Synthefe”. 

Neue äfthetifhe Schriften von allgemeiner durch- 
greifender Bedeutung find nicht zu verzeichnen; wir er- 
wähnen nur A. Horwicz: „Grundlinien eines Syſtems 
der Aeſthetik“; Klacel: „Euchklopädiſche Erinnerungen an 
Vorträge aus Logik, Aeſthetik, Literaturgeſchichte; O. 
Buchwald: „Kleine Bauſteine. Aefthetifche Abhandlungen“. 
NR. Gottſchall's: „Poetik, die Dichttunſt und ihre Technik“ 
liegt in zweiter weſentlich vermehrter und verbeſſerter 
Auflage vor; ein von Karl Goedeke eingeführtes Wert 
von H. Defterley führt den Titel: „Die Dichtkunft und 
ihre Gattungen”. Nod erwähnen wir W. Jordan's 
oratio pro domo: „Das Kunftgefeg Homer’s und die 
Rhapfodit“. 

Die muſikaliſche Literatur ift nad; wie vor fehr 
probuctiv. Wenn unfere Literarhiftoriter Noten zum Tert 
unferer poetiſchen Claffifer ſchreiben, fo ſchreiben die 
Mufigelehrten Tert zu den Noten der mufilaliſchen. 
Der verfehlten Schrift von ©. Gervinus: „Shaffpeare 
und Händel”, folgt eine Monographie von L. Ramann: 
Bad) und Händel”. Dem Andenten Meyerbeer’s find 
zwei biographifche Charafteriftifen gewidmet: 2. Mendel: 
„Giacomo Meperbeer“, und I. Schucht: „Meyerbeer's 
Leben und Bildungsgang‘. Richard Wagner's Brofgiire 
„Das Judenthum in der Mufil“ hat eine große Zahl von 
Gegenfhriften hervorgerufen, die wir hier nicht alle einzeln 
aufzählen wollen. Außerdem erwähnen wir des rühmlich 
befannten I. €. Lobe „Confonanzen und Diffonanzen“, 
und das Werk von E. Naumann: „Die Tonkunſt in ber 
Culturgeſchichte“, von welchem die erfte Hälfte des erften 
Bandes vorliegt. 9. M. Schletterer's obenerwähnte 
„Geſchichte der geiftlichen Dichtung“ behandelt gleichzeitig 

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26 Aus der neueſten dentſchen Romanliteratur. 


die licchliche Tontunſt. Andere muſilalijche Schriften find: 
Hermann Zopff: „Grundzüge einer Theorie der Oper“; 
3.8. von Bafielewsli: „Die Bioline und ihre Meiſter“; 
G. GSarlberg: „Ueber Sefang stunft und Kunfgeiang” ; 
B. Kothe: „Friedrich der Große als Mufiter” ; lid: 
„Seidichte. des Soncertwejens in Bien“; 5. * Fröhlich: 
„Beiträge zur Geichichte der Muſil, erfter Band“; „Altes 
und Neues aus dem Gebiete der Mufik, erſtes Heft“; 2. 
Nohl: Richard Wagner“; 3W. Tappert:, ‚Das Berbot der 
Oaintenparallelen“. “Der verdiente Theoretifer Dslar Paul 
gibt ein „Banblerifon der Tonkunſt“ heraus, ſowie Her⸗ 
mann Mendel ein größeres „Mufilaliiches Converſations- 
verilon”. 

Auf dem Gebiete der bildeuden Kunſt find einige 
beadhtenswerthe Erſcheinungen zn verzeichnen, wie E. För⸗ 
Re: —— der italienifchen Kunſt“, erfier Band; 

Reuheriihe Studien”; W. Trautmann: 
—— — Technik der entauftifchen Malerei“ ; 


1 „Geſetz und Ziel der neuem 





d- Trautmann: Kunſt und Sunitgewerbe vom früheften 
Mittelalter bis Eude des 13. Jahrhunderte”; 8. C. Pland: 
ng m Ber- 
gleich mit der autilen“; G. Semper: „Ueber Bauftile“ und 9. 
Semper: „Ueberfidht der Geſchichte tesfanijcher Sculptur bis 
gegen das Ende des 14. Yahrhunderts“;, Humbert: „Das 
Bild der Bilder. Vortrag über die Siptinijce Madonna‘; 
A Springer: „Die mittelalterliche Kunſt m Palermo“; 
J. R. Rahn: „Ravenna, eine kunſigejchichtliche Etabie"; 
3. Krenfer: „Bafilifa”; 9. Holgmaun: „Denkmäler ber 
Religionsgeſchichte anf dem Gebiete der itafienifchen Kunſt“; 
C. F. Some: „Flüchtige Blicke m Ratur und Kunſt“; 
Grimm: „Das Reiterſtandbild des Theodorich zu 
Aachen und des Gedicht des Walafried Strabus darauf”. 
Wie wir fehen, verzettelt fich viele Fileruber zum Theil in 


Specialitäten ohne 
Badeif Geiifäel, 
(Dex Beigizh feige in ber nädien Rammer.) 


Aus der nenehen deutlichen Romanliteratur. 


Der Roman ift immer uoch eine Macht in der Lite⸗ 
ratur; wohl oder übel, gern oder ungern gejehen, dieje® 
Factum gan ; moberuen Stils laßt fi wicht beſtreiten. 
Er beherricht heute noch, wenn auch nicht mit ber fieber- 
haften Gewalt des franzöfiihen Romans der breiige 
Jahre, die weiteflen Lejerkreife, indem er aud ba 
Boden macht, wo firengere Leltüre nicht gefucht wird. 
Und es iſt nicht anders als billig, daß er fein Feld be- 
baue oder wenigftens durch die Ouantität der Production 
eine änuferliche Bedeutung behaupte, ſelbſt wenn es ihm 
durch die Qualitãt weniger gelingen jollte, Höheres zu 
bieten. Dat ja doc) die Zeitſtrömung feiner breitfpurigern 
Entwidelung das Erbe ber epijchen Poeſie zugeworfen, 
die uns faft ganz abhanden geflommen! So ſehen wir 
Jahr um Yahr eine Reife von Schriften diefer Gattung 
in den verjchiedenften Nnancirungen, von der groß an⸗ 
gelegten Sompofition bis zur Novellette umd einfachen 
Erzählung, vom Hiftorifchen Roman bis zum Yamilien- 
Genrebildchen herab, geranewadilen, nicht minder verſchie⸗ 
den an Werth und Gehalt 

Einige der neneflen follen hier kurz ffigzirt vorüber⸗ 
geführt werden. 

1. Unter ber rothen Eminenz. Hiſtoriſcher Roman von Georg 

HiltL Zwei Bände. Berlin, Hausjreund-Erpedition. 1869. 

8. 2 Thlr. 10 Ner. 

Der Gang des Romans iſt furz folgender: Der Kapitän 
Francois de Yuflac dD’Ambleville, Herr von Saint-Prenil, 
einer der außgezeichnetften Degen Franfreiche, wird und in der 
Einleitung vorgeführt, Ball jpielend mit dem jungen Herzog 
von Breze, dem Neffen der „rothen Eminenz“, die be 
tanntlich niemand anders iſt als der allmädhtige Premier⸗ 
minifter Lubwig's XI, Cardinal Richelien; der Kapitän, 
ebenfo Geftig, ſeiz und feibenfchaftlid, wie ſtart und tapfer, 

demüthigt gefliſſentlich den übermüthigen Gegner; biejer 
brütet Radge; vorläufig aber wird jener als Feſtungs⸗ 
gouverueur von Paris entfernt. In der Nacht vor der 
Abreiſe befugt der Kapitän feine Geliebte Maria von 
Hautenille, der im bderfelben Nacht bie Eminenz ihre 


Aufwertung madjt, um die Dofdanıe zum verrätheriichen 
Intrigniren gegen die belaunte Feindin, die Königin, zu 
überreden, umter Drohungen, da der Gewaltige den Kopf 
von Mariens in eine Berjchwörung verwidelten Bruder 
in feinen Bänden habe. Der Kapitän, heimlich Zeuge 
diefer Unterredung, übermwirft id hernach erbittert mit 
feiner Dame. Wir werden daranf in das Hötel Rambonillet 
bei den Yeinden des Cardinals eingeführt, dann im das 
Semach der Marion de Porme, hernach in das geheime 
Cabinet mit des Cardinals Spionen, unter demen jene 
berügmte Buhlerin, endlih bei der Königin, die gegen 
König und Miniſter Ränfe jpinnt. Zwei Dinge veihäf- 
tigen fortwährend den Gewaltigen: die Berfolgung ber 
Füden eines gegen ihn gerichteten Complots und bie 
Aufjuhung der verlorenen Spuren einer geliebten natitr- 
lichen Tochter Suſanne. Gaint-Premil flieht ihm überall 
entgegen und reitet zunüchſt den Boten der Königin und 
ihre Briefe gegen einen Ueberfall der Schergen des Car⸗ 
dinale. Das Complot auf Chateau d’Anet, dem Sitze 
bes Herzogs von Bendöme, rüdt vor, und bejchloffen wird, 
deu Sarmal bei der Rückfahrt and dem flandrifchen 
Kriege zu morden. Zur That erbietet fi Boirier der 
Einfiehler, ein alter Adelidher und einſtiger Rival des 
Cardinals bei der ugendgeliebten, die diefem jenes Kind 
fchenfte, hieranf um die geiftliche Würde von ihm ver- 
lafjien ward umd flarb. Unterdeß bat Saint-PBreuil anf 
feinen Gonverneurpoften durch Gewaltthaten, Exceſſe und 
Ansgelafjengeit ſchwere Strafe verſchuldet und feinen 
‚ den Minifteriellen, Anlaß geboten, ihn vor ein 
Kriegsgericht zu flellen, rettet ſich aber nochmals durch 
einen tollfühnen Act vor den Augen des Königs und wird 
zu einem neuen Goupernement befördert. Das entdedte 
Complot zerichlägt fi, die Kädelsführer aber, durch 
denſelben Seint- Preuil gewarnt, flüchten fich, einzig 
Poirier wird gefangen. Der Kapitän, von neuem in fein 
tolles Leben verfinkend, begeht, theils durch die Luft, theils 
durch eine tolle Wette geftachelt, den letzten Gewaltact: 
er rambt die ſtill bei LYandleuten lebende Sufanne, bie 


Aus der neueften deutſchen Romanliteratur. 27 


Boirier allein als des Cardinals Tochter kennt, füllt bei 
der Rückehr eine abziehende ſpaniſche Befagung mordend 
on, da er pfli_htvergefien nichts von ihrem auf Ehrenwort 
beiwilligten Abzuge weiß, und im Gemegel kommt Sufanne 
um. Poirier macht dem Carbinal, feinem Tobfeinde, die 
ausreichenden Eröffnungen über das Mädchen und wird 
begnadigt, der Kapitän aber enthauptet, nachdem Maria 
von Hanteville fich in fein Gefängnig geſchlichen und um ⸗ 
fonft ihn zur Rettung durch die geebnete Flucht Hat be— 
wegen wollen; Maria geht ins Kioſter. 

Das ift der nadte Rahmen. Er gibt eine Speifelarte, 
reich genug für die zwei mäßigen Bände, zu benen ber 
Tert verfponnen ift, um fo mehr, als verſchiedene Scenen 
fih zu ſprechenden Bildern ausgemalt finden. Der wilde 
Rapitän umd feine unglüdliche Geliebte find offenbar bie 
Helden, und es find confequente Geftalten. Die in ihre 
Intimität hineinbegleitete Eminenz ſcheint uns hiſtoriſch 
richtig gezeichnet; nad) dem, was die Geſchichte über fie 
berichtet, mögen wir fie uns gerabe fo denken in ihrer 
Größe und ihren Schwädien und Schreden. Die Zeit 
iſt eract gefaßt. Die Erzählung fpannt; doch hat der 
Ton zu wenig Nuancirung, und das ewige Hof- und 
Stastsintriguenfpiel, aus dem wir gar nie beranslommen, 
denn es hält ja aud; die Stunden des Liebesſpiels und 
des Schlachtlampfes umfponnen, ermüdet; es ift eine grane 
Atmofphäre, in ber uns nie wohl werden kann; wir wiflen 
bei jedem Schritte, daß «8 nicht gut enden wird, und in 
jeder Ede grinft Berrath und Mord; davon hätten 
mehr lichte Augenblide frei gemacht werben follen. Eine 
Scene von tüdjtiger Zeihnung ift gleich die Intro 
daction im parifer Ballſaale; doc will uns bie Bier 
ansgelegte Schilderung des Herrn von Saint » Preuil 
ger fehr an jene beliebte franzöfijche Manier des Por- 
trätirens mahnen, die ihren Helden mit allen erbenfbaren 
Borzägen ausräftet und fie an Fuß und Hand und jeder 
Biegung des Kopfes vorbemonftrirt: da habt ir ihn! 
& muß ſiegen, und ihr müßt ihn bewundern! 
Lefen wir: 

Der Eintretende konnte höchſtens 36 Jahre zählen, doch 
war fein Antlitz ſchon gebräunt und hier und da mit Furchen 
durchzogen. Die ſchlichte Haarfrifur bededte nur zum Theil 
eine ungeheuer, auf der Stirn entlang laufende Narbe, ein Ber 
weis, daß der Mann fi, nicht zurüdgehalten Hatte, wenn die 
Degen gefrenzt wurden. Uebrigens war jein Gefiht ſonſt voll» 
kommen fhön zu nennen. Die großen dunfeln Augen bfidten 
mt einer Art von Melancholie um fi, alle Bewegungen des 
Körpers zengten vom einer gewiſſen Energie, die ſich mit Grazie 
parte, und unter dem dunfelm Barthaar blißten zwei Reihen 
prahtvoller weißer Zähne hervor. Die Kleidung des Mannes 
war dem Schnitte nad die der Eavaliere jener Zeit, indeffen 
gawahrte man feinerlei Stiderei. Schwarzer Sammt mit Seide 
aufgefhlagen, das maren die Stoffe und farben. Die im dem 

jaale befindlid;en Eavaliere ſchienen durch den imponirenden 
Eindrud, welden der Fremde hervorbrachte, offenbar betroffen. 
Diejer grüßte höflich aber kurz, warf faR einen mitleidigen Btict 
a die gepngte Dienerſchar, wobei ein leichtes Achſelzuden be- 
m At werden fonnte, und trat in die Bahn...... Er hatte 
fe Obertleid abgeworfen, und man gewahrte nun, daß das 
fe e weiße Iinnene Hemd an der Bruft, den Yermeln und dem 
H fe mit ben ſchwerſten und koſtbarſten brabanter Spigen be» 
ie war, ein felbf für jene Zeit bedeutender Lugus. Der 
$ mpe fchien diefen thenern Zoilettengegenftand fehr gering zu 
x a, denn er fnitterte die Manſchetten zufammen nnd krämpte 
ii dem Aermel feines Hemdes faft bis zu den Einbogen auf, 


wobei man feiner mustuldfen Arme anfidhtig wurde; dann er- 
griff er eine Raquette, verneigte ſich artig vor ben Cavalieren 
und fagte: „Das Gpiel kann beginnen.‘ Gofort traten bie 
Spieler an ihre Bläge; der Fremde fpielte gegen zwei. Die 
Bälle fauften und brummten durch bie Luft. Jedes Ausweicen, 
jedes Borfpringen ward von den Berfammelten eifrig beobachtet 
und verfolgt. Die Spieler ließen e8 fi} angelegen fein, ihre 
Kraft und Grozie in Schlägen, Stellungen und Spräugen zu 
zeigen. Allein, wenn and) die jungen Cavaliere ihr Mögliche 
thaten, um durd) Feuer und Lebendigkeit dem Gegner die Partie 
abzugewinnen, diefer hatte dem bedeutenden Bortheil der Rue, 
Seine Bewegungen, die nie das Maß überſchritten, waren ſtets 
im rechten Augenblid angebradit; läcelnd fah er die Bälle 
heranfommen, eine Heine — feines Kopfes genfigte, um 
den ſchweren Ball vorbeigehen zu lafien, der fonft die Stirn 
mit ungeheurer Wucht getroffen haben wärbe; er bog ſich vorn 
umd hinten über, um mit der Raguette zu werfen, und wenn 
jebermann ſchon glaubte, er habe den richtigen Doment verfehlt, 
go traf er dennoch mit gewaltiger Kraft den Ball und ſchleuderte 
ihn aus der Bahn. 

Die Säge find zumeilen überladen und unſchön ger 
baut, wie 3. B. der folgende: 

Bon ben in Gilber gearbeiteten, mit Steinen befegten 
BVehrgehängen wurden Lange fpanifche Ranfbegen gehalten, weldje 
breite Handlörbe zur Dedung der Fauft, mit einem Gewirre 
Töftlicher Filigranarbeit umgeben, zeigten. 

Legen wir ben firengen Kunftmaßftab an, fo ſcheint uns 
der Roman eine gejunde Arbeit über Mittelhöhe, die von 
bereits geübter Feder Zeugniß gibt, aber Bebeutenderes 
noch erwarten läßt. 

2. Fran am Bene, göitorilher Roman von Syrmonn 
einfeuber. Zwei Bände. Durr'ſche Buchand- 

fung. 1869. 8. 2 Thlr. 15 Fre u 

Wie neben dem Hiltl'ſchen Roman diefer zweite dazu 
tommt, fih als Hiftorifher Roman zu geben, will 
uns nicht in den Kopf. Was ift denn an biefen in 
dem fomländif—en Küſtenſchloß Ahlbeck fih abfpinnenden 
Familiengeſchichten, die allerdings ſtark in bie öffentlichen 
Ereignifie verfiochten find und ganz aus ihnen heraus ⸗ 
wachſen, was ift trogdem daran viel Hiftorif—hes? Der 
alte trogöpfige General von Schirbrandt mit feiner gan- 
zen Familie bis herunter auf den in bie adeliche Tochter 
verliebten Bürgersjohn David Neumann, der denn auch 
durch wader patriotifches Thun und eine hochromantiſche 
Rettung der Geliebten ihre Hand gewinnt, find doch ge 
wiß feine geſchichtlichen Perfonen, und eine andere fin- 
det fih aud nicht, die irgendwie wefentlich mitfpielte. 
Ueberhaupt find die gefdichtlichen Beigaben fehr gering« 
fügig. Um einen Hiftorifchen Roman aufzubauen, genügt 
es doch wol nicht, daß er in einer hiftorifchen Zeit fpiele 
— hier diejenige des Siebenjährigen Kriege umd zwar 
fpeciell der Beſetzung Oſtpreußens durch die Ruflen — 
und einzelne zerftrente Andeutungen über bie Zeitereigniffe 
gebe. So viel über die immerhin unſichern Schranken 
des Namens: Hiftorif—her Roman, den ſich viele Produc- 
tionen beilegen, auf die er gar nicht paßt. Es würde 
das im übrigen ber innern Wirkung ber vorliegenden, 
zu zwei Meinen Bändchen ausgeſponnenen Schrift nicht 
viel benehmen, Könnten wir uns nur dahin entfcheiden, 
ihr fonft eine nennenswerthe Bedeutung beizulegen. Das 
iſt nicht der Fall. 

Kriegevorfälle, wie fie immer vorlommen, gefürdhtete 
und wirflide Üeberfälle, das Durchſchleppen einer preußiſchen 

4* 








28 Aus der neneften deutſchen Romanliteratur. 


Kaffe, welche die wunderlichſten Schickſale erlebt, die 
Intriguen einiger abgebligten Liebhaber, von denen bieje- 
nigen bes häßlihen Herrn von Chambean bis zum Ber- 
raih gegen das Land und die Herzensdame gehen, eine 
romantische Entflhrungsgefchichte und die nicht minder 
romantifche Rettung, endlich nach überftandenen Gefahren 
und überwundenen Borurtheilen das Wiederfinden aller, 
die zufammengehören: das find die durchlaufenen Stadien 
ber Geſchichte. Am Ende werden alle Guten belohnt, 
die Boſen beftraft, die obligate glüdliche Heirath (bier 
eine Doppelheirath) öffnet da8 Paradies und — die 
Gedichte iſt aus. 

Man kann ſich der Wahrnehmung unmöglich ver⸗ 
ſchließen, daß Kleinſtenber hier auf ſtark ausgetretenen 
Wegen geht; die Dinge ſind alle ſchon hundertfach da⸗ 
geweſen, und beſſer. Dieſes durchgehende Gefühl iſt ge⸗ 
wiß ein Hauptgrund, weshalb wir uns für alle dieſe 
Perfonen nicht erwärmen, ja nicht recht intereffiren kön⸗ 
nen, nicht einmal für die fchöne und energifche Baronin, 
welcher der Romanlefer doch ſchon dafür dankbar fein 
follte, daß fie durch ihren feinen Humor etwas Wechſel 
in die fonft einfürmige Färbung des Tons bringt. Da 
wollen die Geftalten der beiden Felgner, des boshaft 
egoiftifchen alten Bauern und bes jungen Inſpectors, 
eines noch böjern Speculanten, und ganz befonders ihres 
dummpfiffigen Knechts Seifert uns bei weitem befier be- 
bagen; im letztern iſt wenigftens ein Anflug von draſti⸗ 
ſcher Zeichnung verſucht: 

Ein tragiſcher Uebelſtand verurſachte dem ſtrebſamen Bauern- 
Tartufe vielen Kummer. Die Mutter Natur hatte ihn näm⸗ 
lich ziemlich ſtiefmütterlich ausgeftattet; Geſundheit und eine 
robuſte, aber plumpe Geſtalt — das war alles, deſſen er ſich 
in diefer Beziehung rühmen konnte. Yrüher zwar hatte ihn 
dies wenig angefochten; jet aber, wo er zunähft im Schloß 
Ahlbeck eine Earritre machen wollte, mußte er fi) zu feinem 
größten Leidweſen geftehen, daß fein Weußeres wenig zu der 
Nolle paßte, die er in nüchſter Zeit zu fpielen wünſchtel Mit 
Neid jah er auf die hübſchen fchuurrbärtigen und gemanbdten 
Kuticher, die zuweilen einen Gaft nach dem Schloffe brachten. 
Defto mehr aber fndhte er’s ihnen abzulernen, „wie fie fi 
räusperten, wie fie ſpuckten“. Fritz Seifert’s Gefiht mar 
nämlich der reinfte Gegenja zum griechiſchen Typus; er beſaß 
geradezu gar kein Profil, und man hätte glauben können, daß 
fi) Stina, feine Mutter, einmal aus Berjehen auf das Geficht 
bes Sünalinge geſetzt Habe. Seine breiten Füße, welche die 
Form eines Bügeleifens hatten, Tiefen an der Spige mulden- 
förmig in die Höhe, was allen feinen Bewegungen etwas Un⸗ 
geichihtes und Linkiſches gab. Die niedrige, rückwärts gebogene 

tirn, umgeben von firuppig ſchwarzem Haar, das platte Ge⸗ 
fit mit den aufgeworfenen Zippen verriethen einen hohen Grad 
geiftiger Beſchränktheit, während die grünlich ſchimmernden, chief 
geihligten Mugen jene Verſchmitztheit befundeten, die man nicht 
felten bei bornirten Menfchen findet. 

In Summa reicht diefes „Schloß am Meer‘ nicht über 
die Bedeutung einer Studie hinaus. 

Neben diefen liegen zwei Werfe vor, die man ins Gebiet 
der Yamilienromane verweifen kann, oder noch befier, ber 
erfte und größere von ihnen: 

3. Ein häßliches Mädchen. Roman von T. ©. Braun. 

Drei Bünde, Leipzig, Grunow. 1869. 8. 4 Thlr. 
ft ganz eigentlich ein Seelenroman, nicht mehr und nicht 
weniger, da neben- und ineinander zwei Seelengeſchichten 
abgewidelt werden. Der äußere Inhalt ift fir den Um- 
fang gar nicht reich und im folgenden kurzen Strichen 


gegeben. Ada Brandt, Tochter eines reichen Kaufmanns, 
nicht ſchön, aber ein befonders reiches Geiftesleben in fich 
tragend, wurde von ihrer Großmutter ländlich einfach 
erzogen. Nach deren Tode im ftolzen Haus ihres Vaters 
lernt fie einen verſchuldeten adelichen Offizier kennen, der 
ihre Hand ſucht; in gläubiger Xiebe neigt fie fi ihm zu, 
erfährt aber bei zeiten, daß er ein Elenber ift, der nur 
ihr Geld will. Gegen das Leben in der Gefellfchaft ver» 
bittert und vom Vater nicht verftanden, verläßt fie heim- 
Ih das Vaterhaus und tritt anberwärts als Dienerin 
und Erzieherin in ein einfames Forfthaus, defien guter 
Geift fie wird, und hier verftreichen Jahre ihres fegnen- 
den Wirkens. Eines Tags kommt Affeffor Raben ins 
Haus und tritt im lebhafte geiftige Gemeinſchaft mit der 
geheimnißvollen Unbelannten. In einem unbewachten 
Augenblide nimmt er Gretchen, die reizende aber leicht 
geartete Wörfterdtochter, zur Frau, die er nad) feinem 
Geiſt erziehen zu können meint. Das geht bei biefer 
Natur nicht ; bo ift die Probe kurz, denn bald 
flirbt die junge Frau infolge von Erkältung auf einem 
Balle. Da erkennt der ernfte und geiftig tiefe Mann erft, 
was ihm paßt; er wird fih nad und nad bewußt, daß 
feine Freundfchaft für die feinfühlige und nicht minder 
tief gebildete Ada eigentlich Liebe war, ober doch unbe» 
wußt zu folcher wurde; er bietet ihr feine Hand, und fie, 
deren Seele im geheimen ſchon Lange ihm gehörte, die 
für ihn forgte und bangte, bringt ihm mit ihrer Hand 
die Reihthüümer zu, deren Eigenthümerin fie geworden. 
Damit ift das Lebensfchidjal erfüllt, an dem ihre Seele 
fhon von ihrem Keimen an hing: eine nur um ihrer felbft 
willen erworbene, reine und hohe Liebe. 

Unterdeß hat ſich ein zweites®efchid erfüllt: Ada's Vater, 
ein glüdliher Speculant, deſſen erfte unglüdliche Gattin, 
deren Ebenbild die einzige Tochter ift, auf geheimnißvolle 
Weife geftorben, faßt eine heftige Leidenſchaft fiir Lydia, eine 
düftere und folge Schönheit, die, von geheimem Leibe ver- 
zehrt, ihm endlich die Hand gibt, aber offen das Herz 
verfagt. Diefes gehört in ber Stille dem wahnfinnig in 
fie verliebten verheiratheten Grafen Camillo, vor deſſen 
Liebe und dem eigenen Stürmen der Gefühle fie ſich doch 
flühten will. Die Gattin des letztern ftirbt. Brandt, 
deſſen Talte Gemahlin ftreng aber unerwärmt ihre Pflicht 
thut, wird allmählich gegen fie furchtbar tyrannijch, bis 
fie fein Haus verläßt und fern und verborgen auf Ada’s 
Landgütchen in den letzten Lebensjahren des kranken Ca⸗ 
millo pflegt. Brandt iſt wahnfinnig geworden, und nach⸗ 
dem feine Tochter ihn eine Zeit lang gepflegt, muß er ins 
Irrenhaus gebracht werden, wo fein Zuftand in ruhigen 
Zieffinn übergeht; das Alter verlebt er im Kreife der neu 
gewonnenen Yamilie feiner Tochter. 

Zwei Dinge werden beim erften Blick auf biefe pfy= 
chiſchen Entfaltungen Mar: erftlich, daß der Roman fozu- 
jagen feinen ganzen Inhalt aus feelifchen Erlebniffen und 
Herzenswandlungen ziehen muß, und zweitens, daß er 
fih durchaus auf ibenliftifchen Boden ftellt, was bei einenz 
Inhalte diefer Art befonders nahe liegt. Aus dem er=- 
ften Umftande folgt, daß der Verfaſſer, deflen geiſtiges 
Concept fonft fo wenig und allerdings zu wenig Körper 
hatte, darauf angewiefen war, eine ganze Lange, fchwere und 
inhaltreiche Geiftesentfaltung bis in die feinften Nuancen zıx 


Aus der neueften deutſchen Romanliteratur. 


verfolgen, in den Falten der Seele zu lefen, jede Geſtal⸗ 
tung derfelben regelrecht aus ben andern abzuleiten, bie 
Factoren forgfam abzumwägen, was eine delicate Zeichnung 
verlangt. Und es Täßt ſich nicht beftreiten, daß der 
Berfafier der Aufgabe treu geblieben und ein ganz folge 
richtiges Bild geliefert bat. Wir dürfen auch eins nicht 
verhehlen: die Gefahr lag fehr nahe, in bie zerfließende 
Sentimentalität zu verfallen, ift ja das ganze Lebensbild 
bis zum legten Markftein vor dem Ziele nichts anderes, 
al8 eine Auslebung ber leidenden Refignation! Und lag 
do die Verirrung auf jenen bezeichneten Weg um fo 
näher, als eigentlich faum Ein böfer Charakter mitfpielt. 
Oman genommen befteht bie ganze in Scene gefeßte 
Berfonenreihe, wenigſtens bie beftimmenbe, benn doch aus 
recht guten Menſchen, einzelne zwar mehr ober weniger 
eigenmächtig, ja gewaltthätig, aber nicht verborben! Und 
bie Hanptträger entfalten eine jo heroifche Großmuth, daß 
es faſt zu viel wird, und wir atbmen ordentlich auf, 
wenn zur Abwechfelung da und dort der Zipfel von der 
Naſe eines ganz ordinären Menfchen, ja eines Böfewichts 
beroorgudt. Im ganzen ift uns die Atmofphäre zu dünn, 
zu ätherifch wird uns zu Muthe, wir machen eine Luft: 
ballonfahrt mit, in deren Luftichichten Menſchen mit ſtarken 
Zungen e8 nicht lange anhalten. Es iſt wahr, der Dichter 
Hat feine Heldin vor dem Berfinfen in weichliche Senti- 
mentalität bewahrt, indem er ihr eine ſtarke Dofis Haren 
Berftandes, reifer Selbfterfenntniß und entfchiedenen Wol- 
Iens beilegte, ja eine Energie im Thun und Leiden, bie 
nur durch einen unabänderlich gerichteten Lebensplan und 
die mitten in der Nefignation doch tief innen feimende 
Hoffnung anf bie endlihe naturbeftimmte Löfung ber 
Lebenswirren erklärt werben kann, fonft wäre fie Starr- 
finn. Und doch! Was fehlt denn, um diefer Entwide- 
fung die volle Befriebigung entgegenzutragen? Die Natur- 
wahrheit. Es ift do ein bischen ſtark umgefprungen 
mit der Realität des Lebens. Wir meinen damit nicht 
jmen communen Realismus unjers polizeiftaatlichen Da⸗ 
feins, der fich leicht erfrechen könnte, dieſes ſeltſame Dienft- 
mädchen mit falichem Namen, der Heimat entlaufen, als 
Bagabundin zu behandeln, und wir laſſen ed und ganz gern 
gefallen, wenn ber Autor diefer Art Wirklichkeit ein 
Schnippchen fchlägt. Aber wir meinen die Kealität der 
pigchifchen Grundlagen. Ein noch leidlich junges, reiches 
und am Ende, wie bie Entwidelung lehrt, gar nicht fo 
haßliches Mädchen mit feinbefaiteter Seele in dieſen er- 
fhütternden Geiftesfämpfen und mit dem Muth, einem 
vielleicht doch verlorenen Leben zu ſtehen nnd im edler 
Aufopferung duch eine große Liebesthat, die fich aber 
nur im ganz gewöhnlichen und engen Berhältnifien aus- 
Ichen Tann, ein neues Dafein ſich zu jchaffen und es zu 
ertragen; baneben bei aller Herzensgüte eine fo ver- 
fchlofiene und nad innen gekehrte Natur, daß fle jahre» 
Ing ihren Lieben über ihr früheres Leben und ihre Ge- 
ı th8affecte keine Silbe anvertraut und jeder felbft zart 
E rlihrenden Annäherung ein erſchrecktes Noli me tangere! 
e tgegenhält: das ift ein abflractes Ideal, und je genauer 
ı ıd detaillirter wir in alle die innern Borzüge eingeführt 
x den, deſto entfchiedener müflen wir uns jagen: das 
i nicht da8 Leben! Immer der gleiche Fehler eines zu 
£ 5 gefpannten Ybealismus! Dan nehme einmal ben 


— — 








29 


Höhepunkt des Kampfes, jene vernichtende Situation, wo 
Ada mit der bereits hochlodernden Liebe zum Aſſeſſor 
Raden im Herzen und mit der Ueberzengung im Kopfe, 
daß er in einem leichten Augenblide, von jugendlichen 
Liebreiz geblendet, fein bedeutendes Leben an ein Sind 
weggeworfen, mit dem er nie glücklich fein werde! Und 
fie, Ada, kämpft das alles im ftillen Kämmerlein durch 
und kämpft es nieder, verjtedt ängftlid jede Gefühls— 
wallung und Hilft dem Kinde, ihrer leichten und flüch— 
tigen Schülerin, mit aller Unftrengung, daß es wenig- 
ftend eine erträgliche Hausfrau werde! Wir möchten diefe 
Art barımberziger Schweiter einmal in unferm nüdjter- 
nen Erbenleben fehen! Dazu kommt unausweichlich eine 
gewifie Monotonie der Färbung, die und allzu wenig 
MWechfel bietet; das konnte faum anders werben. Drei 
Bände hindurch immer derfelbe Horizont, diefelbe Fami⸗ 
lien» und Herzensgeſchichte! Das Gefichtsfeld wird uns 
zu eng. Wir wilrden einen Theil der ſich ähnelnden 
Scenen dem Autor erlaflen und wären ficher, mit den 
andern um fo ſtärker zu wirken. 

Wir wählen zwei Beifpiele, um die bisweilen ſchwer 
ergreifende Zeichnung der Seelenzuflände Tenntlich zu 
machen. Das erfte ift der Augenblid, wo die zarte und 
gutmüthig liebende Gemahlin des in eine andere mwahn- 
finnig verliebten Camillo im Herzen von einem ftillen 
Web, vielleicht der Leife Heranfchleichenden Borahnung feie 
ner verlorenen Sympathie, körperlich vom Typhus er- 
griffen, flirbt. Da heißt e8: 

Auf leiſen Sohlen ſchlich er in das Kranfenzimmer; bie 
Kranke lag im Delirium und lannte ihn nicht. Still nahm 
er den Pla an ihrem Bette ein. In dumpfer Befangenbeit 
fah er die eingefallenen und doch fo glühend gerötheten Wangen 
feines jüngft noch fo bfühenden Weibes, hörte er die Phantafien, 
deren Mittelpuntt er war und blieb. „Martha“, rief fie, 
„Martha, vergiß e8 nicht, wenn er kommt“ — und Bier ging 
ihre Stimme in Ieifen Gefang Über — „ſag' ihn, ich ließe ihn 
grüßen, ja grüßen viel tanſendmal.“ Er nahm ihre Hand und 
tagte: „Hier bin ih, Marie, erfenue mid doch.“ Sie ſchüt⸗ 
telte den Kopf. „Ich muß noch immer warten’‘, fagte fie traurig, 
„er kommt nicht.” „Ich bin geduldig‘, fprad fie ein ander: 
mal, „Camillo liebt mid”, und ein fanfter Freudenglanz ver- 
breitete fih liber ihr Angeſicht. Unzähligemale rief fie: „Er 
kommt! Hörft du den Wagen nicht?" und glättete ihr wirres 
Haar und z0g die Dede zurecht und ſchaute nad) ber Thür fiber 
Camillo fort. „Geh zur Seite”, fagte fie zu ihm, „ich kann 
Camill nicht jehen, wenn er eintritt.” — „Ich bin es, Marie, 
{hau mid an, kennſt du denn meine Stimme nicht?” ſprach 
er, ihre Sand faffend. Sie entzog fie ihm. „Was du dir 
einbildeſt“, entgegnete fie, „Camillo's Stimme Klingt friſch und 
—— deinige wie aus dem Grabe. Du biſt nicht mein 

amill.“ 


Das zweite iſt der Moment, als die zur Pflege des 
halb wahnfinnig gewordenen Vaters zurückgekehrte Ada 
mit dem offenbar von dem Gedächtniß an ſeine erſte Frau 
Gequälten die Koſtbarkeiten muſtert, womit er ſie über⸗ 
ſchüttet hat: 

„Es bat etwas gekoſtet“, ſagte er und legte bie Hand von 
einem Stück auf das andere, „damals — o ich kann e8 auch 
heute noch. Wer jagt, daß ich feinen Kredit mehr habe?’ Er 
richtete fi zornig auf und blidte wild umher. ‚Keiner‘, 
fagte Ada entichieden, „aber ich habe jett alles; wenu id) jedoch 
etwas wünfche, darf ich dir's jagen, Väterchen?“ — „Freilich, 
erwiderte er, „freilih, und du ſollſt fehen, daß ich noch alle 
deine Wünſche zu befriedigen vermag.” Er ftaud, ale laufche 
er auf etwas, dann flüfterte er vor fih Hin: „Ich, Fieber 


— a 


30 Feuilleton. 


Bater, Ada!“ Er lächelte wonnig und betrachtete fie von neuem. 
„Kind‘‘, ſprach er bittend, „wie ſagteſt du doch, als du an 
meine Thür Mopfteft und ich fragte, wer da fe?" — „Ic, 
lieber Bater, Ada! rief ich hinein’, erwiderte fie gerührt und 
bemiihte fi, den Tom genan zu treffen, in welchem fie e8 vor⸗ 
hin gerufen. Es war ergreifend, das glüdliche Lächeln zu ſehen, 
mit weldyem er barauf hinhorchte. „Ich habe nie fo fchöne 
Mufit gehört‘, fagte er, „es ift das ergreifendfte Lied, das ich 
je vernommen. Die Augen werben mir feucht davon, und id) 


abe fonft niemals geweint. Ich mochte die Thränen nicht. 

enn Qufebia weinte, wurde ich jedesmal zornig. Liebes 
Kind’, fuhr er, fih zu Ada’s Ohr neigend, flüfternd fort, 
„willſt du mir wol verjpreden, immer mit diefen Worten bei 
mir einzutreten? Zu Hopfen, zu warten, bis ich frage, und 
jedesmal diefe Antwort zu geben?‘ 


3. 3. Honegger. 
(Der Beſchluß folgt in der nächſten Nummer.) 





Fenilleton. 


Bom deuntſchen Theater. 

Es gibt einen regelmäßigen Berlauf deutſcher Bühnen⸗ 
erfolge, der damit beginnt, daß ein neues Stüd an einem er- 
ſten Ghenter in Wien oder Berlin am Anfang der Saifon eine 
erfolgreiche Aufführung erlebt und von dort aus die Runde 
über eine kleinere oder größere Zahl deutjcher Bühnen madit. 
Dramen, die zuerfi an minder bedeutenden Theatern erjcheinen, 
ofen bei ihrem Rundgang öfters auf Hinderniffe. In biefer 
Saijon haben von Wien aus Joſeph Weilen’s „Rofamunde” 
und S. Moſenthal's „Iſabella Orſini“ diefen Rundlauf be- 

onnen. Beide Stüde wurden am wiener Burgtheater mit 
olg gegeben, ohne bei der Kritik die gleiche Anerkennung zu 
finden. Da fie beide im Buchhandel erſchienen find, fo werden 
d. BI. noch eingehender auf biefelben zurückkommen. Weilen’e 
Drama behandelt feinen romantischen Stoff abweichend von ber 
geihichtlihen Erzählung oder Sage, die ihm zu Grunde liegt, 
er beraubte diefelbe ihrer Wildheit und fuchte fie zu moder⸗ 
nifiren, indem die gefchichtlich Überlieferte That der Rofamunde 
von einer Gefährtin derſelben vollbradyt wird, während dieſe 
den Conflict durch Selbftmord Täf. Wozu indeß zur Grund⸗ 
fage de8 Dramas eine Sage nehmen, deren wejentlihe Züge 
von der neuen Dichtung nicht beibehalten werden, noch dazu, 
wenn der Misfland mit in ben Kauf genommen werben 
muß, daß ein barbarifches Bolt und eine barbarifche Zeit den 
der Gegenwart gänzlich fremden Hintergrund der Fabel bilden, 
die Überdies für den entſprechenden Ausdrud der Empfindungen 
nicht die veichere —— einer gebildeten Cultur bieten? 

„Siabella Orfini" von Mofenthal ift eine Eiferſuchtstragödie, 
in welder bie gewagte blutige Kataflrophe nur einer Neigung, 
nicht einmal ber gemuthmaßten Thatfacdhe des wirklichen &he- 
bruchs gilt. Hier herrſcht offenbar ein Misverhältniß zwifchen 
Schuld und Sübne; die erftere liegt in einer geiftigen Sphäre, 
die Ießtere im Gebiet der brutalen äußern Gewaltthat. Beide 
Stüde zeigen indeß nicht nur Blihnengewanbtheit, ſondern auch 
eine edle dichterifche Haltung. 

etzteres kann man dem Scaufpiel von Emil Brad- 
vogel: „Die Harfenſchule“, welches am berliner Hoftheater mit 
großem Erfolg gegeben wurde,’ an mehrern andern Bühnen 
aber nur eine fühle Aufnahme fand, Teineswegs nachrühmen. 
Das Stüd ift in einem geradezu haarfträubenden Stil gelchrie- 
ben, ganz wie der Roman ‚‚Beaumardjais‘, aus weldem 
Brachvogel diefe Epifode entlehnt hat. In frühern Zeiten, in 
denen man moch Gewicht auf den bichteriichen Adel des Aus- 
drucks wenigftens in der ernften Dramatik legte, wurden der- 
artige Stücke, die ſich durch ihre ſchülerhafte ſprachliche Ein- 
Heidung nur als fogenannte „NReißer” und Bühnenfutter docu⸗ 
mentirten, an erſten Hoftheatern gar nicht zur Aufführung an⸗ 
genommen. Jetzt find Jutendanzen, Publikum und leider auch 
die Kritil gegen derartige Verbrechen gegen den Genius der 
Dichtkunſt fo gleichgültig geworden, daß man hierin einen 
Berfall der von Goethe und Schiller fo hoch gehobenen Bühne 
erbliden mödte. Alle die faft burlesten, meift falſch gebraud)- 
ten Fremdwörter, die wir in dem Roman rügten, wie: 
Infernalität, diabolifhe Delicateffe, Eruption der Hofkreife n. a., 
find in den Dialog des Dramas mit binlibergenommen nnd 
eben demjelben den Anſtrich buntfchedigfter Geſchmacklofigkeit. 
te Handlung, obgleih fie nur aus zwei oder verfnlipften 
Anekdoten befteht, ıft theatralifch nicht ganz ungeſchickt zuſam⸗ 
mengerädt, wennſchon im letten Act ein Riß fichtbar if, wo 


die beiden Theile zufammengenäht find. Die friſch zugreifenbe 
Kedheit der Behandlung, aller Esprit und Wit können uns 
indeß nicht darüber täufchen, daß die eigentlichen Borgänge des 
Stüds widerwärtiger Art find. Der Erprefiungsverjucd, den 
Beaumarchais bei dem Verleger ausübt, um ein Honorar zu 
erzwingen, ſteht diefem genialen Lumpen, in welchen Brad 
vogel nach der Formenſchablone feines „Narciß“ den ritterfichen 
Abenteurer verwandelt bat, nicht beffer zu Geſicht als die Art 
und Weife, wie er die Fran eines Mannes compromittirt, 
melde ganz unſchuldig if an den Nachſtellungen des Iegtern 
gegen die Gattin des Helden, oder als die fpeculative Pfiffigleit, 
mit der er Kapital fchlägt aus dem Geheimniß, das die Geburt 
feiner Frau verhält und hinter welches er durch Zufall kommt. 
Bei diefem Beanmarchais nehmen fi die Tugendphraſen im 
Grunde ſehr Hohl und nichtsſagend aus; der cynifhe Narciß 
ift in feiner Art weit edler als diefer freibeuternde Glücksritter. 
Die Handlung jelbft ift von Anfang bis zu Ende nur ein Ge» 
webe von Zufälligleiten. 

Am wiener Burgtheater hat ein Drama von Schaufjert: 
„‚1684', Siasco gemadt. Dies patriotifhe Bolfsichaufpiel, deſ⸗ 
fen Mittelpuntt die Belagerung Wiens durch die Türken bildet, 
zeigte die Mufe des preisgefrönten Luftipieldichters in einem 
fo ſalopen tragiſchen Neglige und das Eompofitionstalent def» 
felben, das ſchon durch fein Vreisſtück ſelbſt in Frage geftellt 
wurde, fo auf bem Nullpunkt, daß die Schlußacte geradezu 
ansgeladjt wurden. 

Geibel's „Sophonisbe“, die wir bereit# eingehend im 
d. BI. beſprachen und die inzwiſchen den preußiichen Sciller- 
Preis erhalten bat, faud am berliner SHoftheater eine gün⸗ 
flige Aufnahme, bie indeß feine Bürgſchaft für feine nach» 
baltige Beherrſchung des dortigen Repertoire gewährt. Auch 
bie Kritik verhielt fi im ganzen kühl. 

Das mit der Medaille ausgezeichnete Drama von Kruſe: 
„Die Gräfin”, früher fhon an oftfriefiihen Bühnen aufgeflihrt, 
batte an ber leipziger Bühne einen Achtungserfolg. Die tern: 
bafte Sprache, die vortrefflide Zeichnung der Genrebilder, 
eine im einzelnen mit jcharfen und feinen Strichen ausgeflihrte 
Charakteriftit Tonnten Über den unglinftigen Eindrud, den das 
Unfympatbifche im Charakter der Gräfin, deren flarrer Eigen- 
finn fie im eine Niobe verwandelt, ſowie die Hänfung der 
Unfälle gegen den Schluß des Stücks Hin macht, nicht ganz 
den Sieg davontragen. 

Eine andere Rovität der Teipziger Bühne war „Advocat 
Hamlet”, ein anonymes Stüd, das bier einen zweifelhaften 
Eindeud, in Prag aber Fiasco machte. Man fcdhreibt das 
Stud Laube zu, und in der That erinnert e8 in der groblör- 
nigen Factur, in der Beeiferung, die Zagesphrafen mit erplo- 
dirender Gewaltſamkeit auszubeuten, in ber Nachdichtung öfter- 
reihifher Tagsereigniffe an die „Böjen Zungen”. Doch ift 
die Motivirung eine fo unmöglidje, den wirklichen Berhält- 
niffen ins Geficht fchlagende, die Durchführung des Haupt- 
charakters eine fo fprunghbafte und baltlofe, der Schlußact mit 
der Geſchworenenſcene eine jo effectbafchende und im einzelnen 
wieder unwahre, mit den hohlſten Phrafen ausgeftopfte Sce⸗ 
nerie, daß wir in dem Stüd, wenn e8 von Laube wäre, einen 
bedauerlihen Rüdichritt fehen müßten. 

In Dresden und Hamburg ift ein Traneripiel von Karl 
Koberflein: „Erih XIV.”, mit gutem Erfolg in Scene ge- 
gangen. Man rühmt den rafhen Berlauf der Handlung, bie 








Feuilleton. 


auenehmend gelgiete Berehmm, ji bes Theatereffeets, den ge» 
ſchmacivollen Dialog, vermißt aber dichteriſche Bedeutung und 
Vertiefung. 

Bon Lufipielen ift „Des Nädften Hausfrau’ von Rofen 
am berliner und bresbener Hoftheater und am wiener Carl» 
Theater mit Beifall gegeben worden. Bei frifher Behandlung 
hat das Stüd doch einen zu poffenhaften Charakter, die Ber- 
widelungen find zum Theil umdelicater Art. Weit feiner ift 
das Lufipiel von ©. zu Putlig: „Gut gibt Muth‘, weldes 
am berliner Hoftheater zur Aufführung fam. Roderid; Be⸗ 
nedir Luffpiel: „Abentener in Rom”, Hat in Frankfurt einen 
mäßigen Erfolg gehabt, in Prag nicht gefallen; dagegen iſt 
das einactige Familienbild: „Weihnachien“, in Leipzig mehrfach 
mit Beifall gegeben worden. 

Der Ernennung Feodor Wehl's zum artiſtiſchen Director 
des Ruttgarter Hoftheaters, bie wir bereit® mitgetheilt haben, 
fügen mir zwei Wittheilungen Hinzu, welde das Ausſcheiden 
anderer geiger Kräfte aus dem theatraliſchen Wirkungstreis, 
weicher derfelben fo ſehr bedarf, berichten. Friedrich Bo- 
demfedt if night mehr Intendant in Meiningen, und Eduard 
Devrient ift als Generaldirector des Larleruher Hoftheaters 
Penflonirt worden. 


Deutfde Sprichwörter als Beifpiele in der 
Grammatit. 

Sprüge und Sprichwörter find jegt in hoher Gunſt. 
Große und Meine, wiflenihaftfihe und populäre Sammlungen 
werden veranflaltet und finden Beifall; aud in der Praris 
werden Sprüde und geflügelte Worte mit Vorliebe angewandt. 
Au Häufern, in Schloßgaferien, auf Fenfertafeln, in Bier- 
und Beinfocalen, in Fefihallen, auf Bechern und Tellern, überall 
wird der Spruch zu Bier und Schmud geſucht. Aug noch 
in anderer Richtung wird dem Sprichwörterſchate ein Einfluß 
augefanden. In den legten Jahren ift ans pädagogiihen Krei» 
jen heraus auf die Bedeutung und Verwerihuug des Sprich- 
worts für die Schule hingewieſen worden, von Staatswegen 
hat man das Sprichwort als beſonders geeignet zu Memorir- 
füden empfohlen. Hat in ber That aud) in der padagogiſchen 
Literatur, in kleinern und ihn Lehrblicern für den deut. 
ſchen Spradunterridt das Sprichwort wirkiich Benugung 
funden, fo mar biefe immer nur eine vereinzelte. Darum madıte 
Karl Wiegand, der ſchon öfter das pädagogifce Gebiet mit 
GSiad betreten bat, den Berſuch, den befien Theil des von 
Simmod, Körte u. a. gefammelten deutſchen Sprichwörter 
ſchatzes abfigtfich und ſyſtematiſch in den Dienſt der deutſchen 
Spradhlehre zu fiellen, nadjdem feine ähnliche vorhergehende Ar- 
beit: „Das Proverbium in grammatijher Verwendung bei dem 
Elementarunterriqt in der lateiniſchen Sprache. Sammlung von 
faft 1200 lateiniſchen Sprigwörtern und ſprichwörtlichen Redens- 
arten, mit Quelienbezeichnung u. |. m.‘ (Leipzig, Minfhardt), 
fit beifälliger Aufnahme feitens der Schulmänner zu erfreuen 
hatte. Der Titel des neuen Büdjleins von Wiegand Tautet: 
„Meine veutfce Spradilehre auf der Grundlage des deutjcen 
Sprichworts. ir den Sgulgebrauch bearbeitet und heransgege- 
ben" (Hifdburghanfen, Gadom, 1868). Inwiewen dieſe aus. 
gedehnte und ausſchließliche derangehung der Sprichwörter zu 
grammatifhen Beifpielen principiell berechtigt und wie weit fie 
in der Praris gelungen fei, das zu entſcheiden überlaſſen wir 
billig den Pädagogen von Fach. Uns erſcheint dieſe nad; gram- 
matifgen aregerim eingerigitete Sammlung höcft fleißig und 
finnig. Cs ift eine Sprichwärterſammlung nad der Form 
geordnet, die ſich den andern alphabetiſch oder ſachlich geordne- 
ten gut anreiht. Der theoretifche Theil der Grammatit mag 
de welche ſich für Sprichwörter intereffiren, völlig ig leid). 
gäftig fein, gewiß aber werden fie den praftiichen Theil 
ipiele aus dem deutſchen Sprichwörterſchatz“. enthaltend, will» 
kommen heißen, um fo mehr als die Außlefe eine ſehr reichhaltige 
if. Sollte fi der Berfaffer zu einer zweiten Auflage veran- 
Laßt fehen, fo würde er nothwendig aud die große Sprich - 
wörterfammfung von ander (einig, Brochaus), die rüſtig 
weiter ſchreitet, zu Rathe zu ziehen haben. 




















31 


Bibliographie. 
AnfeSalismant, 8.0.9, Der Gr6, und Geriätshern. in Balls 








ieiroman., 3 Zpie,, Dainobe, — a aa 
., Gemälbe ber —* Broa· 
baut. Er. “ a  umebentfäen Watt Seiylg, Bio 
B en, E. v., Die Bißheie der Religionen im Zusammeuhauge mit 





den Völkerwanderungen der Drzeit, * der Geheimlehre, ister Bd. 
Berlin, Fr u 833 Gr. iL 8 aus tet v0 Beten 
april, ee, — Gicnfe, f was ee ———— 
—* en, , —— 9 — ber Naturwiffenſchaft. Leipzig, 
HE PB, für a Stunden. Beratungen und Erinnerungen. 


een, 
Infelener, d,, Das Duek, Gin Gittengemät 
Aus ben Slämiäen R y 5 Grayt, Snlorifete Audgake, Mes 


gensburg, Da 9 
— Gatte, 
bee, v. Otein. 


n dom ©: Id dem Halbe, 
m Seeufer und aus em 











(Le mari de 
Deiningen, 












zeiten Ka ie ey Gharlotte von Gruber. Glogan, 
ei 
Un setpardt Beitenfein. Detene, Yaronefe d., Morgene 

vord,, Sügelblieper. Stuttgart, Mepler. Or. 10. 1 & 

the, $., Mirih von Hutten. Sifteriiged RationateDrama. Beipsig, 
—T— — 

al Die Tunftthätigfeit ing von Willigifen® Zeit 
bis zum Egluffe vei’Yiitelalters In Negeftenform Aus gebrudten unb Wne 





gerudten Uuelten. Mainz, Kirchheim, Gr. 5.37, Nat. 
Getysnürg. Crpäblang. Leipzig, Güniser, 8, 20 Rgr. 
"1968, Bertha, Die peiite mire. Uns Lem Zagennge eine Jane 


Bresfam, Trewendt, Br. 8. 1 Tpli 














Frage hub Die Mrbeite. Cine Gllinme aus ker Boylale 
— Ti Ined. Gr. 6, IV, Mg 
F Sb 5. Genfien), Gerichte. Berlin, Heimanı. 1869. 
“. 20 


Misammer, 9. Die erljge 

Ba — erg Bdermann) 1600 
Tara, Di —— Gomi 

ur ei en. uber — von —* Sheoreitern nn Diäen 


1909, BRg: 
—g — — eoen Geist. Duderow, —* 
—8 


Biolnuatiche Corragendenz. Nach den in 
‚fundenen Archivalieu zusammengestellt uud 
en Classe der kaiserl. Akademie der Wissen- 
Wien, Gerold's Sohn, 1869, Gr. 8. 


des © ü 
195 Bonpetit für Be — raten Ben 





beutun, ber, Unfehlarkeit bı 
rdigung ber Lie 












phllosophisch -historis 
ten —* von €. Höfler. 


an „Me Besgangen: 


Saieı 
N port und Zufut — "ind 2 jung feiner 
iS und Wahrheit, —— (sen, au — binden an 
& % . Hamburg, Refler u. We 


jen mit, dem Lat iebrih d. Müller. 
Perautacaeten von 6, X. d. Burtharbt, —E Sorte. &.3. 
T Ze. 


Artenstein, „G, Wistorisch-philosophische Abhandlungen. Leip- 
uis, Yon, Gr. 8. 3 Th, 

im Sergihmen 
Greineinnen —— Belel, 
PR, ertung .„ Beiträge zur pi 

1.8. 1 
Bentet 6, J Ger Aanotd), Gommermängen, Ren- Ruppia, Dede 
migte, 


1869. Br. 1 ur: 
—— elite: des 18. Yahrpundente, at EL 
im nie. SteB. Das Haffiige pie 
Be Hoi: Die Oiarme und Diane 
Sraunfaurig, s —5 


8* 

Fi em won Sumbotbt an eing Breubin. 
are daft. er Ba einzig, Brodhaus. 8. 2 Zhle. 
et, A, Kudair yon Laugen. eben nad gesammelte Gsäiel 


in Beleg zur, Geschichte, des 


Win x fie "euerenmebtßber, Berlin, Dt gefe, 
——— en. 
1 &, — F a en Z ehzm un» Dep — 
— Marie 0, Statt ud Deipem. e En 
Yung, „Derli, Safgmeun u. domp. 8. au 
Der Bianterath Georg Aral una For Fürst Primas 
. Ein Blatt aus Fraukfurts G« des 
XIX, Jahrhunderig mit urkundlichen. Beilagen. „Alt 


100, Sek, 
ale, Fr Kr Merilde ua» polllige Mafläge. Rene Du 
—— * 


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Republik Zi Beiiupn —F ‚Buheiäntungen eines Baters Diet en 


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= Rate Berlin, Zlönne u. Meyer, J 20 
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8. 6 Kor. 
Soetye'® ünterhaltui 








„Glumen eigder für, junge Blamen- 
me. 1889. 8. * 


————— 


Die Beute Kia 
aite ber heutigen Eiern 























ii 
ver hen 





1869. 8, = Rar- 











32 Anzeigen. 


Anze 


igen. 


ö— — — 


Verſag von 5. A. vroclhaus in Leipzig. 


Soeben erjdien: 


Hiıflorifhes Tafhenbud. 


Heransgegeben von Friedrich von Raumer. 
Bierte Folge. Zehnter Jahrgang. 8. Geh. 2 Thlr. 15 Nor. 


on Yra Rn, von Löher. — 8 
Heinrich Stephan, Tönigl. preuß. Geh. Oberpoftrath. 


Die jüämmtlichen vierzig Jahrgänge des Hiftorifchen Taſchen⸗ 
buch (1830—69) often zufammengenommen im ermäßigten 
Breife, ftatt 93 Thlr. 5 Ngr., nur 40 Thlr., die erfte Folge 
(1830 — 39), die zweite Folge (1840-49), bie dritte Folge 
(1850 — 59), jede 10 Thlr., die vierte Folge (1860 — 69) 
1% Fr einzelne Jahrgänge der erften bis dritten Folge 
1’, Ir. | 





Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 


Deutsche Classiker des Mittelalters. 


Mit Wort- und Sacherklärungen. 
Begründet von Franz Pfeiffer. 
8. Jeder Band geh. 1 Thir., geb, 1 Thlr. 10 Ngr. 
Achter Band. 


Gottfried’s von Strassburg Tristan. Herausgegeben 
von Reinhold Bechstein. Zweiter Theil. 


Mit dem vorliegenden zweiten Theil ist das classische 
Epos Gottfried’s von Strassburg abgeschlossen. Derselbe 
enthält ausser dem Schluss des Gedichts die Nacherzahlung 
der Fortsetzungen Ulrich’s von Türheim und Heinrich’s von 
Freiberg, sowie Wortregister und Namenverzeichniss zu 
beiden Theilen. 

Als neunter und zehnter Band der Sammlung wird 
Wolfram’s von Eschenbach Parzival, herausgegeben 
von Karl Bartsch, binnen kurzem erscheinen. 


Inbalt des I.— VIII. Bandes: 
I. Walther von der Vogelweide. Herausgege- 
ben von Franz Pfeiffer. Zweite Auflage. 
IL. Kudrun. Herausgegeben von Karl Bartsch. 
Zweite Auflage. 
III. Das Nibelungenlied. Herausgegeben von Karl 
Bartsch. Zweite Auflage. 
IV.—VI. Hartmann von Aue. Herausgegeben von Fe- 
dor Bech. Drei Theile. 
VII. VIII. Gottfried’s von Strassburg Tristan. Heraus- 
gegeben von Reinhold Bechstein. Zwei 
Theile. 


Meutfche Allgemeine Zeitung. 


-_— — — 


Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 

Die Denticge Allgemeine Zeitung ift ein entidie- 
ben Liberaled und nationaleß, nad allen Seiten 
unabhängiges Drgen und gehört zu den verbreitet- 
ten Blättern in Mitteldeutfhland. Sie hat zahl: 
reihe Originalcorreipondenzen und Depeſchen, ein 
reichhaltige Fenilleton und DOriginalmittheilungen iiber 
gandel und Juduſtrie. Außer dem Norddentfheu 

unde, Süddeutſchland nnd Defterreih widmet fie 
namentlid) den Angelegenheiten Mitteldeutihlands und 
jpeciel Sadjens eine befondere Aufmerkfamleit und tan 
als hauptſächlichſte Originalquelle darüber den weiteſten 
Kreifen des Ju⸗ und Auslandes empfohlen werden. 


Die Dentihe Allgemeine Zeitung ericheint außer Sonn- 
tags und Keiertags täglich nachmittags mit dem Datum des 
folgenden Zags. Nach auswärts wird fie mit den nächſten 
nad Erjcheinen jeder Nummer abgehenden Bolten verfandt. 
Der Abounementspreis beträgt vierteljährlich 2 Thlr. 

Inſerate finden durch die Deutſche Allgemeine Zeitung, 
welche zu dieſem Zwecke von den weiteftlen Kreifen und na⸗ 
mentlich einer Reihe größerer induftrieller Inftitute vegelmäßig 
benugt wird, bie allgemeinfte und zwedmäßigfte Verbreitung; 
die Infertionsgeblihr beträgt für den Raum einer viermal ge- 
fpaltenen Zeile unter „Ankündigungen“ 1%, Ngr., einer drei» 
mal geipaltenen unter „Eingeſandt 2, Nor. 





Herſag von 5. 3. Brodifaus in Leipzig. 
Wanderjahre in Italien. 


0 
Ferdinand Gregorovins. 
Drei Bände. 
8. Jeder Band geheftet 1 Thlr. 24 Ngr., gebunden 2 Thlr. 
en F Band: Figuren. Geſchichte, Leben und Scenerie aus 
alien. 
Zweiter Band: Lateiniſche Sommer. (Schilderungen ans 
Latium.) 


Dritter Band: Siciliana. Wanderungen in Neapel und 
Sicilien. 





Derlag von 5. 4. Brodidaus in Leipzig. 





Soeben erjdien: 


Die Mehulle-Lent’ 


Ein Bolizeiroman. 


Bon 
3. Ch. ®. Anc- Tallemant, 
Doctor beider Rechte. 
Zweite Auflage. Zwei Theile. 8 Geh. 3 Thlr. 


Während die erſte Auflage diefes Romans anonym erſchien, 
nennt fi bei der zweiten Auflage als Verfaſſer deſſelben 
Dr. Avé⸗Lallemant in Lübed, durch gründliche polizeiwif« 
fenfhaftliche Werke vortheilhaft bekannt. Die „Mechulle⸗Leut““ 
eröffneten eine neue Gattung der Romanliteratur, den Bolizei- 
roman, und fanden Überall eifrige Lefer. Es darf daher für die 
vorliegende zweite Auflage gleiche Theilnahme erwartet werden, 
zumal der Preis weſentlich billiger geftellt worben ifl. 


 Berantwortligier Redacteur: Dr. Eduard Srodhaus. — Drud und Verlag von F. A. Brochhaus in Lip. 


Blätter 
literariiche Unterhaltung. 


. Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wochentlich. 


en Hr, 3. mir 


13. Januar 1870. 





Iuhalt: 
(Beichluß, 





Neuere dramatiſche Dichtungen. Bon deodor Wehl, — Revue des Fiteraturjahres 1869. Bon Rudolf Gottied. 
— Aus der neneften deutfhen Romanliteratur. Bon 3. 3. Honegger. (Beſchluß.) — Feniketon. (Ein Ghaffpeare- 


Epitaph; Straßennamen von Gewerben; Engliſches Urtheil Über neue Erſcheinungen ber deutſchen Literatur; Notizen.) — 
\ Bibllograyhle. — Anzeigen. 








Uenere dramatifche Dichtungen. 


Die Production anf dem dramatiſchen Felde ift nach 
wie vor ziemlich mafjenhaft, ohne daß indeß aus biefer 
Maſſe irgend viel als bebeutfam hervorragte. Das meifte 
gehört zur Gattung des fogenannten Buchdramas und 
wird mur gedrudt, um in diefem Drud fozufagen bie 
Bergeffenheit ſchwarz anf weiß zu erhalten, benn das, 
was man die Gefchichte oder das Schidfal eines Buchs 
nennt, erleben diefe gedrudten Dramen faft nie. Mehren- 
theils allerdings, meil fie fo etwas auch in der That 
nicht verdienen. 

Sehen wir unfern Vorrath näher an. Betrachten 
wir zuerft die religiöfen Dramen, oder die Dramen mit 
Anlehnung an die Bibel oder mit bibliihem Hintergrunde, 
jo finden wir: 

1. Sebaftion. Martyrertragödie in fünf Aufzligen von Emilie 

Ringseis. Preiburg i. Br., Herder. 1868. 8. 24 Nar. 
ein Drama, welches das Pampenlicht der Bühne wol 
ebenfo wenig wie andere Stüde der Autorin erbliden 
dürfte, objchon das vorliegende nicht ohne alles Verdienſt 
it. Bunädft kann der Stoff als ein ernfter und wür« 
diger und feine Behandlung als immerhin wirkfam gelten. 
Die Vorgänge fpielen unter Diocletian und im Beginn 
des Chriftentyums. Sebaftian, ein Hauptmann der faifer- 
lichen Leibwache und ein Vegünftigter des Herrſchers, ift 
Chrift und bildet mit andern feines Glaubens eine ftille 
Gemeinde in Rom, die fi eifrig immer neue Anhänger 
zu verſchaffen firebt, trogdem Diocletian unausgefegt 
darauf bedacht ift, fie mit Feuer und Schwert zu vertilgen. 
Auch Marcus und Marcellinus Calius, zwei Brüder und 
zömıfche Patricier, welche als Chriſten entdedt worden 
find, müffen die Schwere feiner Grauſamkeit empfinden. 
Sie werden zunächſt ins Gefängniß geworfen und hier 
auf die abſcheulichſte Weife gequält. Marcella, die Mutter 
beider, und Claudia, des Marcus Weib, die felbft der 
neuen Religion noch nicht beigetreten, bemühen fih um- 
fonft, fie derfelben abwendig zu machen und dadurch zu 

1870, 3. 





ı 


retten. Sebaſtian beftärkt fie fo fehr in ihrem Märtyrer- 
tum, daß ſie mit Freuden ihr Leben einfegen und dem 
Tod nicht nur mit Standhaftigfeit, ſondern mit wahrer 
Begeifterung erleiden. 

Claudia, die untröftliche Gattin des Marcus, durch 
diefen ihr entfeglichen Vorgang aufer ſich gebracht, geht 
nun hin und zeigt Sebaftian feinem Taiferlihen Gönner 
als Anhänger und Berbreiter des neuen Glaubens an. 
Sehaftian, ftatt über diefen Verrath zu zürnen und ber» 
jenigen zu fluchen, bie ihn verübt, fegnet fie und redet 
ihr und ber Mutter feiner Freunde jo eifrig und innig 
zu, bis er beide Frauen als ebenfalls dem Chriftentfum 
gewonnen erachten darf. Mit diefem tröftlichen Glauben 
gibt auch er fi) dem Tode hin, den er betanntlich an 
eine Säule gebunden durd; die Pfeile afrikanischer Bogen» 
fügen gefunden hat. 

Dies ift der kurze Inhalt der Märtyrertragöbie, mit 
dev wir es hier zu thun haben und mit der es ungefähr 
wie mit ben mobernen Heiligenbildern befchaffen if. Wie 
die Zeichnung und Farben jener Bilder, fo tönt es auch 
aus allen Auftritten diefer Tragödie laut genug heraus: 

Die Botſchaft hör’ ih wol, allein mir fehlt der Glaube. 

Der echt katholiſche Hauch und Sinn der geiftlichen 
Schaufpiele Calderon's tritt und aus ihr nicht entgegen. 
Der Ton der Berfe ift ziemlich troden und farblos; ber 
Berlauf der ganzen Handlung ohne inneres Leben und 
jenen glühenden Enthuflasmus, der hier durchaus nöthig 
ift, um zu entzünden und binzureißen. Um uns fir bie 
erften Märtyrer des Chriſtenthums zu entflammen, be 
dürfte es eines dramatiſchen Talents von genialer Wurfe 
kraft und einer wahrhaft beraufchenden Macht der Diction, 
alfo zweier Eigenſchaften, welche Emilie Ringseis Teinede 
wegs befigt. Sie geftaltet nicht ungefchidt und weiß aud 


‚ einen ganz verftändigen Dialog zu führen; allein damit 


tagt ſich nod immer nicht mit einigem Erfolg ein Feld 
bebauen, das feit dem Mittelalter brach gelegen. Es 
[2 





34 Neuere dramatiſche Dichtungen. 


muß ein Genius befonderer Art erfcheinen, um das zu 

tun, ein Genius, der mehr Fonds der Poefle und be= 

wältigendern Schmelz der Sprache befigt als unjere 

Autorin, die uns ein Martyrium beinahe im Conver- 

fationsftil vorführt. 

Da loben wir uns dagegen: 

2. Jooſt van den Vondel's Lucifer. Ein Trauerjpiel aus 
dem Jahre 1654. Aus dem Holländiichen Übertragen burd) 
®. 9. de Wilde. Leipzig, Brodhaus. 1868. 8. 20 Nor. 
Diefes Drama hat die fteife Ungelenkigkeit der alt- 

deutfchen Malerfchule, ift fehwerfällig im Gang, edig in 

der Bewegung, aber es liegt eine fo feltene Inbrunſt, der 

Glanz und Schimmer einer jo gloriofen religiöfen Weihe dar- 

über, dag man doch fid) wunderbar davon ergriffen fühlt. 

„Lucifer“ fchildert uns die neidiſche Aufwiegelei des 
Erzengeld Lucifer gegen die Größe Gottes; es ift ein 
Kampf der böjen Geifter gegen die guten im Himmel. 
Die Wollen diefes Himmels und die ganze Herrlichkeit 
des Urewigen find plump und hölzern geftaltet und aus» 
geführt, aber felbft in biefer hölzernen und plumpen Aus⸗ 
führung und Geftaltung imponirt die wahrhaft naive 
Größe der Idee umd Anfchauung derart, daß man fi 
zur Bewunderung bingeriffen fieht. Vondel liefert ge⸗ 
wiffermaßen das dramatifche Borfpiel zu Milton's „Ver⸗ 
lorenem Paradies” und Klopſtock's „Meſſias“. Er ift 
ber wilrdige Vorläufer diefer großen Poeten und verdient 
darum wol auch in unferer Zeit unvergefien zu fein, 
wenn dieſe allerdings fchon, von ganz anderm Weſen und 
andern Imterefien erfüllt, in feinem Werke nicht viel 
mehr als poetifche Reliquien erlennen wird. ©. 9. be 
Wilde aber barf fir feine feinfinnige und pietätvolle Ueber⸗ 
tragung immerhin auf unfere aufrichtige Dankbarkeit ge- 
rechten Anfpruch erheben, weil er durch diejelbe jene poeti⸗ 
chen Reliquien uns nahe führt und fie uns in ihrem 
vollen Umfange begreifen läßt. 

Ein Stüd, welches ſich gleichfalls im veligiöfen Mythus 
bewegt, ift: 

3. Indas Iſcharioth. Trauerjpiel von Otto Franz. Berlin, 
Heimann. 1869. GEr. 8. 15 Ngr. 

Als ein höchſt mislicher Umſtand bei diefem Drama 
fällt fogleich das Nichterfcheinen von Jeſus Chriftus in 
die Augen. Judas Iſcharioth intriguirt und lehnt fi) 
auf gegen ben Heiland, ja überliefert ihn fchlieglich dem 
Tode, ohne daß wir ben, der fo dem Berberben preis- 
gegeben wird, in der in Rede ftehenden Tragödie zu Ges 
fiht befommen. Wir fehen in diefer Tragödie den Kampf 
weier Elemente, von denen jedoch nur eins in die Er- 
* tritt. Dieſes eine, das böfe, dunkle Element, 
empört ſich gegen ein lichte und gutes, das unfichtbar 
bleibt und dadurch diefe Empörung gegenftandslos und 
hinfällig macht. Demand gegen eine Macht anfämpfen 
lafien, die nicht vorhanden ift, muß von vornherein 
für undramatiſch gelten, denn da8 Drama verlangt 
die Leibhaften und lebendigen Gegenfäge nit nur in 
ihrer gegenfeitigen natürlichen Wechſelwirkung, ſondern 
auch in ihrem endlichen vollen Aufeinanderplagen. Ein 
Yubdas Iſcharioth ohne Yejus Chriftus, das ift, wie wenn 
man uns den Schatten eines Körpers, nicht aber auch 
zugleich ben Körper zeigte. Wie fol man ſich für ein 


ſolches Zeigen interejfiren lönnen? Noch obenein, wenn 
es im übrigen nicht einmal poetifch genial oder impofant 
ausgeführt erfcheint. 

Der Berfaffer ift unbezweifelt ein Stüd von einem 
Gelehrten, jedenfalls ein Dann, der etwas gelernt hat 
und nit am Gewöhnlichen und Alltäglichen hängt. Aber 
um eine epochemachende dramatifche Leiſtung zu bieten, 
mangeln ihm Geftaltungskraft und eine gewiſſe Urwüchſig⸗ 
keit des Talents. Sein Schaffen verräth allerdings höhe- 
res Streben, Ernft und Begeifterung, doch keineswegs 
Kühnheit des Wurfs, ' Driginalität und frappirende Sicher- 
heit der Mache. Sein Zrauerfpiel erjcheint ziemlich lin⸗ 
tfch und ausdruckslos. 

Es beginnt mit plumpen Schäfereien, die fich römifche 
Soldaten gegen jüdiſche Mädchen herausnehmen; auch 
Maria Magdalena muß fich dergleichen gefallen Taffen, 
bis Judas für fie eintritt, den fie ehebem geliebt und 
deſſen finnlichen Begierden fle zum Opfer gefallen. Sie 
ftand in Gefahr als Sünderin gefteinigt zu werden, als 
Jeſus fie in Schug nahm und die Pharifäer mit der 
Frage verdugte: wer ſich rein genug fühle, den erften 
Stein auf fie zu werfen. Seitdem ift fie eine treue An 
hängerin des Nazareners und jo fehwärmerifch für ihn 
und feine Lehre eingenommen, daß fie Judas mit allen 
Anſprüchen auf ihre Gunft und Liebe kalt zurückweiſt und 
denfelben natürlich dadurch in feiner Bitterfeit gegen den 
Heiland noch weſentlich beſtärkt. Judas felbft nämlich 
bat etwas wie ein Held und Retter der Juden werben 
wollen, Die Unterdrüdung feines Bolls ift ifm zu Her- 
zen gegangen, und da er kühnen, Friegerifchen Geiſtes ift, 
bat er fi ziemlich jung in die Rolle der Makkabäer 
hineingeträumt. Da erſchien Jeſus und er fchloß ſich ihm 
an. Über auf die Länge jagt ihm deflen Milde und 
Dulbfamteit nicht zu. Judas will kein Prediger, er will 
ein Agitator, ein Wevolntionär, ein Mann mit ben 
Waffen in der Hand fein. So kommt es, daß er Ehri- 
tus zuerft misachten, dann haffen lernt. Maria Magda⸗ 
lena’8 Hingebung für feinen Herrn und Meifter dient 
weſentlich dazu, feinen Groll zu fchärfen. Am meiften 
thun das jedoch die Reden feiner Mutter Lea, einer folgen, 
thörichten Frau, welche e8 nicht ruhig mit anfehen kann, 
daß der Sohn ihrer Freundin Maria berühmter und 
glorreicher dafteht wie ihr eigener, und bie aus biefem 
Grunde nicht müde wird, Judas jenem widerfegig zu 
machen. 

Im zweiten Acte verihwören ſich zunächſt Mitglieder 
des Hohen Raths gegen Jeſus, und dann geräth Judas 
außer fich darüber, dag Maria Magdalena dem Heiland 
die Füße falbt. Er fagt: 

Die Jünger flaunen, Jeſus lächelt fiegreih. — 
gef du dich, daß du mich betrogen haft? 

ei Gott, du follft dies Lächeln theuer büßen ! 

Maria wirft fih vor ihm nieder, Löft 
Ihm die Sandalen, öffnet das Behältniß 
Und falbt die Füße ihm mit duftiger Narde. 
Was, Mädchen, bift du zur Bacchantin worden? 
Mit Inbrunft drüdt fie feine fchnöden Füße 
An ihren fchönen, zartgeformten Bufen, 
Den meine Hand niemals berühren burfte. 
Willſt du mich denn bis zur Verzweiflung treiben? 


In diefer Verzweiflung befchließt er, feinen Herrn 


Neuere bramatifhe Dichtungen, 35 


ud Meifter den Gegnern deſſelben zu opfern und zu ver- 
tathen. 

Der Beginn des dritten Acts führt uns in die Mitte 
des Hohen Rath, in welchem auf Judas’ Anzeige hin der 
Untergang des Meffias bereits ausführlich verhandelt wird; 
aber zugleid) auch vernehmen wir, daß man zwar bie That 
des Verräthers annehmen, aber nachher ſich dieſen felbft 
vom Halfe jchaffen will. Levi befennt, daß auch Judas 
nicht leben dürfe, und jedenfalls macht er fich anheiſchig, 
diefen dahin zu bringen, daß er in Verzweiflung Jeru- 
falem verlaſſe. Ungefähr zu bderfelben Seit fpornt Lea 
noch einmal nachdriſcklich den Sohn zu ber beabfidhtigten 
Schandthat an. 

Im vierten Acte ift fie bereitS begangen, und Yejus 
wird gekreuzigt, indeß Iudas, von Gewiſſensbiſſen ver- 
folgt, wie ein Rafender umberftürmt. Nachdem Ahas- 
bern ihn als Mitgenoffe der Schurkenthat begrüßt, Maria 
Magdalena ifn verwünfht und das wüthende Volk ihn 
bedroht Hat, eilt er, ſich in die Wildniß zu verbergen, 
aber nicht, ohne feine eigene Mutter vorher als feinen 
böfen Genius verflucht zu haben. 

Der fünfte Act bietet jetzt nur noch ein kurzes Nach- 
fpiel, in welchem Sudas Iſcharioth ſich erfticht und, fter- 
ftend von der Mutter angetroffen, noch gerade Zeit und 
Kraft genug behält, um dieſer durch Zeichen feine Ber- 
zeihung anzudeuten. 

Die kurze Darlegung des Inhalts wird ohne Zweifel 
genügend fein, um die derer erfennen zu lafien, daß bie 
Hondlung fi nur fehwerfälig und ungeſchidt, nicht ohne 
Biederholungen und Weitläufigleiten abwidelt. Neue, 
tief menſchliche und überrafchende Motive find für die That 
des Yudas Fſcharioth nicht aufgeftellt, und ebenfo wenig 
ift von der ganzen religiöfen Bewegung jener Zeit ein 
froppantes Gemälde entworfen worden. Auch die Diction, 
wie bie Meine mitgetheilte Probe beweifen mag, ragt über 
bie Gewöhnlichfeit nicht hinaus. Sie trägt, wie bie Dich- 
tung im ganzen und großen, einen derb finnlichen, reali« 
ſtiſchen Zug, ohne indeg bamit den Grad wahrhaft in- 
diidualiſirender Kunft erreichen zu lönnen. 

Bon dem nämlichen Verfaſſer liegt ferner vor: 

4. Gajus Grachus. Zranerfpiel von Otto Franz. Berlin, 

Heimenn. 1869. Gr. 8. 15 Nor. 

Mit diefem Stüd wollen wir auf die weltliche Tra- 
gödie übergehen, die Franz freilich nicht beſſer als bie heilige 
ober bibliſche vertritt. Sein jüngerer Gracchus ift doch 
ein ziemlich unreifer, wenig fympathifcher Held, ein Held, 
für defien Heldentfum man ſich kaum begeiftern Tann, 
weil es weber von bem vollen, berauſchenden Enthufias- 
mas der Jugend, noch von dem Ernſt und der Weihe 
des männlichen Geiſtes getragen wird. Es ift Grachus 
jelbft, der den vornehmen Römern zuruft: 

Ich will von eurer angemaßten Höhe 
Herab euch reißen in dem tiefften Staub. 
Hr Gofftet wol, ich würde end) mich beugen? 
Berkehrt gebaht! Auf eure folgen Naden 
Will ich den Fuß des Giegers ſetzen, will 
Zertreten eure Brut, will volle Race 
für meines Bruders Tod und für den Hohn, 
it dem ihr mich bisher behandelt habt. 

Man wird uns eingeftehen müfjen, daß diefe Aus- 

lafung nicht eben Größe des Geiftes und des Herzens 


verräth, und daß man ſich fiir eimen Menfchen, ber darin 
feine innerften Tendenzen hervorkehrt, nicht fehr zu in« 
tereffiren im Stande ift. 

Der Verfaſſer hat den Kampf zwiſchen den Parteien 
der Optimaten und Popularen, in welchem die fogenann- 
ten gracdifchen Unruhen gipfeln, allerdings in feinem 
hiſtoriſchen Werthe wohl erkannt und zu würdigen gewußt, 
leider jedod in der politiſchen Auffafſung und bramatis 
ſchen Verwerthung bderfelben jowol den Hihnen Wurf als 
auch die großen Züge nicht gefunden, die dafür unerlaß- 
lich find. Sein römifches Trauerfpiel ſchreitet fo fchlep- 
pend, fo langſam und gleichfam in fo Meinen und zögern» 
den Schritten nicht fowol der tragifchen Höhe zu, fon« 
dern umgeht diefelbe vielmehr in fo bedeutungslofer Weife, 
daß ſich felbftverftändlid ein imponirender Eindrud und 
eine durchſchlagende Wirkung nit ergeben konnen. 

Weniger realiſtiſch und vom geringerer Hinneigung 
zum finnlichen Ausdrud als „Judas Ifcharioth“, nimmt 
biefes Erſtlingswerk feiner tragifchen Mufe allerdings einen 
mehr ibealiftifchen Anlauf und Schwung als das fpä- 
tere, Hier zuerſt beſprochene; allein diefer ibealiftifche 
Anlauf und Schwung, der fih im zweiten Stück auch 
bereit8 als beinahe überworfen und befeitigt erkennen läßt, 
iſt in der That doch zu wenig geſund und organifch ger 
ftaltet, um große Hoffnungen auf denfelben fegen zu Tünnen. 

Outer Wille und Bildung find genug vorhanden, um 
eine dramatiſche Schöpfung von einiger Bedeutung erwar- 
ten zu lafien; aber um fie wahrhaft und wirklich, ins 
Leben zu rufen, gebricht e8 zum Theil an urwüchſiger 
Kraft, wie befonders aud an Entſchiedenheit des Stils 
und ber ganzen poetiſchen Richtung. 

5. Dfden-Barnevelbt. Trauerfpiel in fünf Acten von G. Helm. 

Suusbrud, Wagner. 1868. 8. 16 Nor. 

Dies Stüd zählt leider and zu jenen gutgemeinten, 
aber durchaus verfehlten Verſuchen, in denen bankbare, 
biftorifche Stoffe durch verſchwommene, unſichere Ausfüh- 
rung um allen Erfolg und Credit gebracht werden. 

Yan dan Olden-Barneveldt, den firengen und. aufe 
richtigen Republikaner, den weifen, leidenfchaftslofen Staats- 
mann Hollands im Kampfe gegen die monarchiſchen Ge- 
luſte des Prinzen Morig von Naffan-Dranien Hinzu- 
ftellen, ein Kampf, in welchem er, zweinndfiebzigjährig, 
unterliegt und das Blutgerüſt befteigt, das iſt gewiß eine 
großartige und lohnende dramatifche eiufgebe; aber fie 
erfordert freilich ein kräftiges, durchgreifendes Talent und 
feine fo zutaftende und jeben dramatiſchen Ausbrud ver- 
fehlende Begabung, als die von ©. Helm ſich ausweiſt. 

Die Perfonen biefes Autors find ſchwerfüllige Auto- 
maten, ohne Leben und Charakter; die Handlung erfcheint 
matt, ohne Klarheit und firaffen Gang. Man kommt 
im ganzen Stüd nit recht dahinter, um was es ſich 
eigentlich Handelt. Dlden-Barneveldt und Prinz Morit 
reden und verhandeln Hin und Her, ohne daß dieſe Ber- 
handlungen bie zu wüuſchende Concifion und die nöthige 
dramatiſche Schlagfertigleit gemwönnen. Alles ift um« 
mwidelt und ausgeftopft in diefem Stüd und zwar fo voll- 
Tommen, daß ſich jeder warme Schlag und Haud der 
Natur darunter verliert. Dan trifft nirgends in biefem 
Werhke auf gefundes Fleiſch und echt menfchlichen Impuls, 
fondern überall auf vhetorifche Watte und ausgepoffterte 

5* 





— —— — — TR ._—r — r. . 
* Gr 
. Bus SRG. —— 


36 Revue des Literaturjahres 1869. 


Action. Es ift alles verſchwommen, ohne ſcharfe Con» 
touren und formen; es verlegt nirgends, es ſtößt nicht 
ab; aber e8 ergreift und padt aud nicht. 

Noch ſchlimmer ift e8 beftellt um: 

6. Georg Jenatſch. Eine bramatifhe Dilogie von Arnold 
von Salis. Bafel, Richter. 1868. 8. 1 Thlr. 
Wenn diefer Arnold von Salie ein Enkel jenes Jo⸗ 

hann Gaudenz von Salis ift, dem unfere fchöne Literatur 

einige tief ergreifende poetifche Gaben verdanft, jo ift der- 
jelbe der Snappheit und Schärfe des Stil feines Ahn- 
herrn fehr unteren geworben, denn feine beiden Trauer⸗ 
fpiele find dramatifche Gemälde von höchſt auseinander» 
geflofiener Compofition und Farbe, die von echter und 
wahrer Tragik eigentlich kaum eine Spur in fich aufweiſen. 

Georg Jenatſch ift ein Proteftant Graubündtens, der 
in der erften Hälfte des 17. Jahrhunderts den Priefterrod 
mit dem Soldatenwams vertaufchte und einen katholiſchen 

Kaubritter, Pompejus von Planta, mit einigen Helfers- 

beifern in feiner Burg ermordete. Tür diefen Mord wird 

er und feine Genofien in Yem und Acht gethan umd 
ſchließlich mit derfelben Mordart, mit der man Planta 
auf die Dielen feines Gemachs genagelt, von deſſen Toch⸗ 
ter niebergefchlagen. 
Die Vorgänge find umftändlih, breit und oft in ganz 
nuglofe Epifoden zerfplittert; gerade an ſolchen Stellen, 
an denen die Handlung dramatiſch zugefpigt zu fein ver⸗ 
langt, ftumpft fich diejelbe ohnmächtig ab. Man fieht 
leichſam den Arm zum Schlage ausholen, ohne daß der 
chlag wirklich je erfolgt; ftatt eines gewaltigen Streichs 
gibt es einen Klatſch. 
Die That des Jenatſch allerdings vollzieht fich ziem- 
lich raſch, wenn auch freilich Hinter den Coulifjen; die 
Rache der Plantas aber braucht neun Acte, um zum Ziele 
zu kommen. Das erfte Tranerfpiel fchließt damit, daß 
der Held, von feinen Gegnern verfolgt und befümpft, die» 
fen zwar das Feld räumt, aber fie doch durch feine Kühn⸗ 
beit verblüfft. Lucretia von Planta, melche jenes ver- 
bängnißvolle Beil immer mit fi berumträgt, Hat eben 
wieder gefhworen, daß e8 den Mord des Vaters rächen 
fol, als Zenatſch ihr aus einem Gebüſch entgegentritt 
und durch feine Erfcheinung fie fo erfchredt, daß das 

Beil ihren Händen entfällt. Er fagt zu ihr: 

Laßt ruhn das Beil! Noch ift nicht meine Stunde, 
Legt e8 beifeite für ein andres mal! 

% babe viel gelitten, viel geftritten, 

Das Land zu retten; doch — es follte nicht fein! 
Ich beuge mid, verlaffe meine Heimat, 

Berbanne felbft mich aus dem trauten Thal, 


Dod nit um in der Fremde zu verſchellen, 
Dem Baterland erhalt’ ich meinen Arm. 
Mein Weg führt an dem Scloffe hier vorüber; 
Ich ahnte, daß das Beil noch thätig fei; 
Ich kam — ba liegt's — legt es beifeite, ſag' ih! 
Denn noch iſt meine Stunde nicht gekommen 
Ich fühl' es deutlich. — Zwar mislang mir vieles, 
Doch vieles hab’ ic) Teidend auch gelernt; 
Zum Manne bin von SJüngling id) gereift 
Durch den verlornen Sieg: ich wähnte flolz, 
Der Unschuld durch Gewalt zum Recht verhelfen 
Zu können, und ich trogte größrer Macht, — 
Da fiel, was fchwitend ich gebaut, zufammen, 
So muß die Zeit mid andre Wege lehren! 

Diefe andern Wege ſchlägt er in Bünben ein, wo er 
fi nun niederläßt und gleichfalls für die gute Sade 
feines Glaubens und der Freiheit, doch gefetster und ohne 
Mord und Todtſchlag kämpft. Doc, aud hier tödtet er, 
wennfchon ohne eigentliche Abfiht. Ruinelli, cin bünd⸗ 
nerifcher Oberſt, hat im Rauſch ein Kind tobt geritten 
und fol nun vor Gericht. Als er fi weigert, ſucht 
Jenatſch ihn zur Fügſamkeit zu bewegen, reizt dadurch 
den Trunkenbold aber nur derart, daß diefer gegen ihn 
das Schwert zieht. In der Nothwehr tödtet ihn Jenatſch. 

Dieſe Tödtung entfegt den Helden derart, daß er fid) in 
einen Waldbach ftürzen will, was aber feine dazwiſchen⸗ 
tretende Frau glüdlicherweife verhindert, indem fie ihn auf⸗ 
fordert, fich feiner Familie wie feinem Lande zu erhalten, 

Aufs neue widmet er ſich den öffentlichen Angelegen- 
beiten, dem Wohl des Staats, flir das er mit Frankreich 
unterhandelt. Rechte Ruhe und Gelaffenheit jedoch kann 
er nicht mehr erlangen; ihn plagen böje Gedanken und 
Träume, zulett auch die Geifter der Erfchlagenen. Zwar 
macht er Rhätien fchließlich frei, erliegt aber endlich doch 
dem Artfchlage der Yucretia von Planta, 

Dem Ganzen fehlt echt dramatifches Wefen und Gefte: 
die Dilogie nimmt fich wie eine hiftorifche Abhandlung 
oder Erzählung aus, die fi al Drama maslirt hat, 
überall aber aus der Rolle fällt. Selbft die Sprade iſt, 
wie man aus dem kurzen Auszuge erfannt haben wird, 
ohne Prägnanz und fefte Haltung, Täffig, ſchwankend und 
nie da8 richtige Wort treffend. Ein Held, der „ſchwitzend“ 
feine tragifche Arbeit verrichtet und fich über das Fehl- 
ſchlagen feiner Abfichten damit tröftet, „daß es nicht jein 
ſollte“, documentirt fich unbezweifelt als ungeeignet für 
das eigentliche Pathos. Wir anerkennen den Fleiß und 
guten Willen des Autors, aber das ift auch geradezu 
alles, was wir anzuerlennen im Stande find. 

Seodor Wehl. 
(Der Beſchluß folgt in ber nädften Nummer.) 


Revne des Fiternturjahres 1869. 
(Beſchluß aus Nr. 2.) 


Die Gefhihtfhreibung hat in diefem Jahre nicht 
viele hervorragende Leiftungen aufzuweiſen; die Verzettelung 
in das archivariſche und biographifche Detail, die Vorliebe 
für die Monographie kurzer Zeitabfchnitte, minder bedeu- 
tender Perfönlichkeiten, unwichtiger Epochen, bleibt wie in 
ben legten Yahren auch in diefem fitr fie charalteriſtiſch. 

Die Heransgabe von Leopold Ranle's ‚„Gefammel- 


ten Werken‘ fteht im Vordergrund des allgemeinen In⸗ 
terefies; denn Ranke behandelt interefiante Stoffe, ein 
Zeitalter geiftiger Bewegung mit großer Kunft der Dar« 
ftellung. Auch jein Werk über „Wallenftein” hat, troß 
der etwas Fühlen diplomatifchen Behandlung, den Vorzug 
eines fein ſchattirten Charaktergemäldes, Der Dreißigjäh- 
rige Krieg wird überhaupt mit Vorliebe von den Hifto- 









rifern zu Monographien jeder Art ausgebeutet. Den 
Nente ſchen „Wallenftein” tritt Droyfen’s „Guſtav Adolf“ 
an die Seite, ein Werk, das ebenfalls den diplomatifchen 
Gefihtspunft in den Vordergrund ftelt. Eine umfafjende 
„Geicjichte des Dreißigjährigen Kriegs" gibt A. Gindely 
heraus, der erfte Band fehildert den büfmifchen Aufs 
fand von 1618; Freiherr F. von Soden „Guſtav Adolf 
und fein Heer in Süddeutſchland“, der dritte Band des 
umfafienden Werts behandelt die Epoche von der Schlacht 
bei Nördlingen bis zum prager Frieden. Andere DMo- 
mographien aus der Epoche des großen Kriegs find: 
©. de Beer „Dank vom Haus Oeſterreich oder ber In« 
fant Dom Duarte“; G. W. E. Schmidt: „Das fchmebiich- 
fähfiiche Biindniß vom 1. September 1631"; D. Fraas: 
„Die Nördlinger Schlacht am 27. Auguft 16354". Außer 
der Geſchichte bes preußifchen Ctaats“ von Eberty, von 
welcher der dritte und vierte Band vorliegen, erſcheint 
eine Gefdichte Preußens unter den Hohenzollern von 
€. von Cojel: „Gefchichte des preußifchen Staates und 
Bolfes unter den Hohenzollernfben Fürften“. 
Bielfach behandelt wird außerdem die Gefchichte der 
nordamerifanifchen Freiftaaten. Außer der deutſchen Aus- 
gabe des Hauptwerfs von Laboulaye: „Geſchichte der Ber- 
einigten Staaten von Amerika“, erſcheint eine Fortſetzung 
der E. Willard’ichen „Gefchichte der Vereinigten Staaten 
von Nordamerika von E. R. Schmidt. Der neue ame 
rifanifche Krieg hat einen geiftreichen Darfteller in H. Blan⸗ 
tenburg: „Die innern Kämpfe ber norbamerifanifchen Union“, 
gefunden; auferdem erwähnen wir noch bie „Amerifani« 
Shen Kriegsbilder” von Heufinger und den Vortrag von 
5. von Meerheimb: „Sherman’s Feldzug in Georgien”, 
Im Bezug auf die englische Geſchichte führen wir an: das 
uch einesnamhaften, auf diefem Gebiete beſonders heimifchen 
- Autors. Pauli: „Auffäge zur engliſchen Geſchichte.“ Ueber 
n raftatter Geſandtenmord liegen zwei Arbeiten vor, bie 
von Karl Mendelsfopn-Bartholdy, die andere vom 
heren 9. von Meichlin- Meldegg. Die neuefte Ge- 
behandeln: Wilhelm Müller: „PBolitifcde Gedichte 
jer Gegenwart, das Jahr 1868”; Wolfgang Menzel: 
„Die wichtigften Weltbegebenheiten vom Ende bes lom- 






Hard Beder: „Die Reaction in Deutfchland gegen bie 

Revolution von 1848.” Eine „Europäifche Geſchichte des 

18. Jahrhunderts” fchreibt, in Schloſſer's Fußftapfen tre- 

tend, E. von Noorden; die erfte Abteilung behandelt 
den Spaniſchen Erbfolgekrieg. 
Bon Geſchichtswerken, welche das Alterthum behan- 
deln, verdient Erwähnung C. Peter's „Geſchichte Rome“, 
von welcher die zweite Abtheilung des dritten Bandes 
vorliegt, die Kaifergefchichte vom Tode Nero's bis zum 
Tode Mare Aurel’8 behandelnd. Bon Friedrich Ortloff’s 
Seſchichte der Grumbach'ſchen Händel“ ift der dritte Theil 
ſchienen. Ruſig ſchreitet die von Ernſt Klein bearbei« 
te zweite Auflage von J. A. Feßler's „Geſchichte 
om Ungarn‘ fort, ebenſo I. Hodler's „Geſchichte des 

Bernervolts”. Ein rühmenswerthes Werk iſt &. Scle- 
— Inger’& „Geſchichte Bohmens“. 








Revue bes Literaturjahres 1869. 87 


Die weit im übrigen die Gedichte fi) in das 
monographifche Detail auflöft, mag folgendes Regiſier 
beweifen, das felbftverftändlich auf Vollſiändigkeit feinen 
Anſpruch macht: 9. Oberdid: „Die römerfeindlichen 
Bewegungen im Orient während ber legten Hälfte des 
3. Jahrhunderts v. Chr.“; R. A. Lipfius: „Chro- 
nologie der römischen Biſchöfe bis zur Mitte des 4. Jahr 
hundert"; T. Breyfig: „Die Zeit Karl Martell's“; 
I. Ficker: „Geſchichte des Lombardenbundes“; F. Biene- 
mann: „Aus baltiſcher Vorzeit. Sechs Borträge über 
die Geſchichte der Oftfeeprovingen“; E. Mitller: Geſchichte 
der Stadt Osnabrück“ (erſter Theil); I. M. Mayer: 
nDas Baiernbuch“; A. Pfizmaier: „Zur Geſchichte des 
Zwiſchenreiches von Han“; ©. 2. von Maurer: „Ger 
ſchichte der Städteverfaſſung in Deutſchland“; I. Riedl: 
„Kurze Geſchichte des Landes Salzburg“; W. Tobien: „Denk- 
würdigkeiten aus der Vergangenheit Weſtfalens“; A. Bed: 
„Geſchichte des gothaifchen Fandes, zweiter Band, Ge- 
ſchichte der Stadt Gotha“; C. A. Cornelius: „Die nieder- 
lündifchen Wiedertäufer während der Belagerung Münſters 
1534— 35"; €. Sieniawsli: „Das Interregnum und die 
Königewahl in Polen vom Jahre 1587; R. Calinich: 
„Der naumburger Würftentag 1561; ®. Dubil: 
„Preußen in Mähren 1742"; U. Dominicus: „Koblenz 
unter bem legten Kurfürſten von Trier Clemens Wenzeslaus 


1786— 94”; C. Höfler: „Fragmente zur Gefchichte Kaifer ” 


Karl's VI.”; F. von Ompteda: „Zur deutfchen Gefchichte 
in dem Jahrzehnt vor den Befreiungsfriegen” ; T. Griefinger: 
„Dos Damenregiment an den verfchiedenen Höfen Europas“; 
€. Reimann: „Geſchichte des Bairifchen Erbfolgefriege”; 
©. von Polenz: „Geſchichte des franzöfifchen Calvinismus” 
(fünfter Band); C. T. Perthes: „Bolitifche Zuftände und 
BVerfonen in Deutfchland zur Zeit der frangöfifchen Herr- 
Schaft" (zweiter Band); I. Eofter: „Gefchichte der Feftung 
Lureniburg“. Bon Schade's „Geſchichtstalender“ und von 
8. von Raumer's „Hiftoriihem Taſchenbuch“ Tiegen neue 
Jahrgänge vor. Ebenfo fchreiten bie neuen Auflagen von 
Beder’s und Weber's Weltgefchichte rüftig fort. Den Ueber- 
gang zur biographifcen- und Memoirenliteratur bilden: 
I. Eberöberg: „Haus, Hof und Staategeſchichten“ und 
Luiſe Otto: „Privatgefdichten der Weltgefchichte". 

Bon culturgefhidtlihen Echriften erwähnen wir, 
außer dem oben bereit8 angeführten Werk von 9. I. 
Honegger, 3. I. Roßbach: „Geſchichte der Geſellſchaft“; 
der zmeite Theil diefes verbienftlihen Werks, deſſen Ber- 
faſſer vor kurzem durch den Tod abberufen wurde, jcil- 
dert „Die Mittelflafjen im Orient und im Mittelalter 
der Völler des Occidents“, ber dritte Theil, „Die Mittel» 
Haffen in der Eulturzeit der Voller“. ine allgemeine 
Einleitung zur Culturgeſchichte der Neuzeit bietet die 
Schrift von O. Henne-Am Rhyn: „Die Culturgefdichte 
im Lichte des Foriſchritis“. Beiträge zur deutſchen Cultur - 
geſchichte liefern F. Pfalz: „Wilder aus dem deutſchen 
Städteleben im Mittelalter”; I. Falle: „Geſchichte des 
deutfchen Zollweſens“; W. Weber: „Der deutſche Zolls 
verein“; I. Schmoller: „Zur Geſchichte der deuiſchen 
Kleingewerbe im 19. Jahrhundert”. Auch der Teufel ger 
hört mehr in die Culturgeſchichte als in die Religions 
philofophie, wir erwähnen daher hier Rosloffe' „Gedichte 
des Teufels”. 








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58 Revue des Literaturjahres 1869. 


Ansnehmend reichhaltig ift die biographiſche Lite— 
ratur, zu welder wir die Denkwürdigkeiten und Brief» 
wechſel hinzurechnen. Die Biographie darf, wie uns 
Varnhagen's Vorbild gezeigt hat, Anſpruch machen auf 
tünftlerifche Bedeutung, wenn das gefichtete Material in 
durchſichtiger Gruppirung und ebenmäßigen Berhältniffen 
u einem harmoniſchen Ganzen georbnet wird, und zwar 
in einer äuterung, welche das aus den Quellen gefchöpfte 
Stoffartige und Beweisfräftige, gleichfam die Hilfen der 
Forſchung, abſtößt und uns nur die gereifte und genieß⸗ 
bare Frucht bietet. Nach diefem Ziel einer künſtleriſch 
harmonischen Biographie ftreben die wenigften Biographen 
heutiger Zeit; die Mehrzahl gefällt ſich in archivariſcher 
Behandlung, in der Aufhäufung quellenmäßigen Details 
ohne geſchmackvolle Sichtung. Selbſt in anderer Hinficht 
rühmenswerthe Werke, wie „Das Leben des Feldmarſchalls 
Grafen Neitharbt von Gneiſenau“, von ©. 9. Berg, 
von welchem der britte Band vorliegt, find von dem 
Borwurf der Ueberladung mit unverarbeitetem Material 
nicht freizufprechen. Eine Biographie von vier bis fünf 
diden Bänden überfchreitet das erlaubte Maß gefchmad- 
voller Darftellung. Einen Pendant zu Perg’ „Oneiſenau“ 
bietet ©. 9. Klippel: „Das Leben bes Generals von 
Scharnhorſt“, von welchem bisher zwei Bünde vorliegen. 
Bou dem Wert „Chriſtian Karl Yoflas Freiherr von 


Bunſen. Aus feinen Briefen und nad) eigener Erinnerung 


gefchildert von feiner Witwe‘, ift der zweite Band der 
deutfchen Ausgabe von F. Nippold ausgegeben worben. 
Bon K. A. Varnhagen's von Enfe „Tagebüchern“ erfchien 
ber elfte Band, außerdem ans feinem Nachlaß fünf 


“ Bünde: „Blicke aus preußifcher Geſchichte“. 


Das Humboldt-Iubiläum Hat eine nicht unbeträchtliche 
Humboldt⸗Literatur hervorgerufen: 4. Baftian: „Alerander 
von Humboldt“, Feftrede; H. W. Dove: „Alerander von 
Humboldt“, Feftrede; C. Ule: „Alerander von Humboldt, 
Biographie für alle Völker der Erde”; R. O. Meibauer: 
„Alerander von Humboldt, fein Leben und Forſchen“; 
„Briefwechſel und Gefpräcde Alerander’3 von Humboldt 
mit einem jungen Freunde. Aus ben Jahren 1848 bis 
1856” (zweite Anflage); „Im Ural und Altai. Brief 
wechjel zwijchen Alexander von Humboldt und Graf Georg 
von Cancrin“; „Briefe von Alerander von Humboldt an 
Chriſtian Karl Joſias Freiheren von Bunfen”; W. Buchner: 
„Deutſche Ruhmes-Halle. Exfte Lieferung: Alerander von 
Humboldt, ein Lebensbild”. 

Ueber die preußifche Reftaurationsepodye geben nicht 
unwichtige Anfjchlüffe: „Briefe des königlich preußifchen 
Staatsminifters, Generalpoftmeifters und ehemaligen Bun- 
bestagsgefandten Karl Ferdinand Friedrich von Nagler an 
einen Staatsbeamten”, herausgegeben von E. Kelchner 
und K. Menbelsfohn-Bartholdy, während die don Erne- 
fine von 2. herausgegebenen Briefe und Aufzeichnungen: 
„Köonig Ieröme und feine Familie im Exil”, uns ben 
vielberufenen König Weſtfalens in etwas günftigerm 
Lichte zeigen. 

Um die Bielfeitigleit der beutfchen biographiichen Be⸗ 
firebungen zu beweifen, fügen wir das folgende bumt- 
— von uns abfichtlich nicht nach Gruppen geord⸗ 
nete Regiſter von Biographien bei, von denen einzelne 
nicht ohne Berdienſt find, die Mehrzahl aber an den oben 


gerügten Mängeln leidet: B. Spiegel „D. Albert Rizüus 
Hardenberg. Ein Theologenleben aus der Reformationd« 
zeit"; H. WB. J. Thierſch: „Luther, Guftan Adolf und 
Maximilian I. von Baiern”; „Georg, Großherzog von 
Medienburg. Ein Lebensbild. Bon einem Medlenburger” ; 
„Wilhelm Griefinger. Biographifche Skizze"; C. F. Her- 
mann: „Johann Jalob Moſer, der wirtembergifche Pa⸗ 
triot, als Gefangener auf Hohentwiel”; I. F. A. Mücke: 
„Flavius Claudius Julianus, zweite Abtheilung, Ju⸗ 
lian's Leben und Schriften‘; J. C. Mitterrutzner: „Dr. 
Ignaz Knoblecher, apoſtoliſcher Provikar der katholiſchen 
Miſſion in Centralafrika“; A. Wolf: „Graf Karl Chotek, 
Geheimer Rath und Oberſtburggraf von Böhmen‘; 
„Friedrich Wilhelm Krummacher, eine Selbftbiographie‘; 
5. Wallon: „Johanna d’Arc, die Jungfrau von Orleans”; 
R. Lehmann: „Forſchungen zur Gefchichte des Abtes 
Hugo I. von Cluny“; %. X. Wegele: „Friedrich ber 
Trendige, Markgraf von Meißen, Yandgraf von Thitringen 
und die Wettiner feiner Zeit”; C. 5. Nebenius: „Karl 
Friedrich) von Baden. Aus defien Nachlaß herausgegeben 
durch F. von Weech“; ©. Bruhns: „Johann Yranz 
Encke, königlicher Aſtronom und Director der Sternwarte 
zu Berlin. Sein Leben und Wirken bearbeitet nach dem 
ſchriftlichen Nachlaß“; „Zur Erinnerung an Karl Wil⸗ 
helm Bouterwel, Director des Gymnaſtums in Elberfeld‘; 
H. von Brandt: „Aus dem Leben des Generals ber 
Infanterie 3. D. Dr. Heinrih von Brandt“ (zmeiter 
Theil); A. Ritter von Vivenet: „Thugut, Elairfayt und 
Wurmſer“; E. Achelis: „Dr. Richard Rothe”; 3. Anthieny: 
„Der päpftliche Nuntius Karl Caraffa“; P. W. Stursberg: 
„Das Leben Gerhard Terſteegens“; A. Wolf: „Fürſt Wenzel 
—— erſter Geheimer Rath Kaiſer Leopold's J.“; L. Schnei⸗ 
der: „König Wilhelm. Militäriſche Lebensbeſchreibung“; 
R. Volkmann: „Syneſius von Cyrene“; „Aus ben 
Memoiren eines ruſſiſchen Dekabriften”; F. W. Cuno: 
„Johann der Aeltere von Naſſau⸗Dillenburg, ein fürſt⸗ 
licher Reformator“; W. Kampſchulte: „Johann Calvin, 
ſeine Kirche und ſein Staat in Genf“ (erſter Band); H. 
Schramm: „K. F. Ph. von Martins. Sein Lebens- und 
Charakterbild“; C. F. Meißner: „Denkſchrift auf Karl 
Friedrich Philipp von Martius“; B. Erbmannsbörffer: 
„Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein preußiſcher 
Staatsmann im 17. Jahrhundert“; J. C. C. Hoffmeiſter: 
„Karl II., Landgraf zu Heſſen⸗Philippsthal“; W. Edler 
von Janko: „Das Leben des k. k. Felbmarſchalls Gideon 
Ernſt Freiherr von Laudon“; R. Rößler: „Das Leben 
Herzog Heinrich's VII. von Brieg“; A. Zinzow: „Thomas 
Arnold”; J. B. Schwab: „Franz Berg, geiſtlicher Rath 
und Profefſor der Kirchengeſchichte an der Univerfität 
Würzburg”; 3. P. Gelbert: „Magiſter Johann Bader's 
Leben und Schriften, Nikolaus Thomme und feine Briefe‘; 
D.Hafe: „Die Koburger, Buchhändlerfamilie zu Nitrnberg“ ; 
3. 9. Seefried: „Die Grafen von Abenberg“; D. U, 
Kofenthal: „Sonvertitenbilder aus dem 19. Jahrhundert‘ 
(dritten Bandes erfter Theil); A. Ruß: „Die Conver- 
titen feit ber Reformation” (neunter Band); „Renata, 
Herzogin von Ferrara. Ein Lebensbild aus dem Zeit- 
alter der Reformation. Dit einem Vorwort von W. 
von Gieſebrecht“; F. Blümmer: „Renata von Ferrara“; 
8. Bartſch: „Herzog Ernſt“; Wiener: „Karl Heinrich 


Revue des Literaturjahres 1869, 


Sraun”; R. Alerander: „Napoleon IL”; W. Herbft: 
„Karl Guſtav Heiland, ein Lebensbild“; R. Roesler: 
„Die Jugend Napoleon's J.“; A. Sach: „Joachim Rachel, 
ein Dichter und Schulmann des 17. Jahrhunderts“; R. 
von Stintzing: „Hugo Donellus in Altdorf“; L. Thyen: 
„Benno II., Biſchof von Osnabrück“; J. A. Voigt: 
„Skizzen aus dent Leben Friedrich David Ferdinand 
Hoffbauer’3”; 9. F. Mürbter: „Engliſche Reformatoren 
und Märtyrer in Biographien”; U. R. von Schrötter: 
„Karl Ludwig Freiherr von Reichenbach“; Behn: „Herr 
Medicinalratd Dr. Küchenmeiſter und die Leopoldinifch- 
Karoliniſche Akademie ber Naturforfcher”; 3. Gmür: 
„Landammann Baumgartner”; H. J. Kümmel: „Johann 
Musler, Bilder and einem Lehrerlebeu des 16. Jahre 
hunderta“; F. Körner: „Große Männer, große Zeiten. 
Geſchichte des letzten Jahrhunderts in Biographien”; X. 
Lewald: „Inigo. Eine Bilderreihe aus dem Leben des 
heiligen Ignatius von Loyola“ (Biographie in Verſen); 
H. Freiherr von Frieſen: „Julius Heinrich Graf von Frieſen, 
Iniferlicher General. Feldzeugmeifter und koniglich englifcher 
General⸗Lieutenant“; 9. Dartmann: „Erhard Schnepff, 
der Reformator in Schwaben, Naſſau, Heilen und Thü⸗ 
zingen“; „„Sugenderinnerungen eines alten Mannes“; 
„Aphorismen aus den Papieren eines Berftorbenen‘; 
3. ©. Dreydorff: „Pascal, fein Leben und feine 
Kämpfe”. 

Wenn wir dies Regifter näher betrachten, fo treten 
uns im ganzen nur wenig befannte Namen entgegen; es 
find, mit Ausnahme eines König Wilhelm, eines Pascal, 
Ende und einiger andern, meiftens Größen dritten Ranges, 
welche in der deutſchen Walhalla feinen Platz finden 
dürften. Yamilienpietät oder irgendweldye Specialftudien 
begeiftern in der Regel zu derartigen Biographien, zu 
denen befonders die Theologen und Militärs eine vor⸗ 
wiegendbe Neigung zeigen. ‘Die Biographien einzelner 
Dichter und Künftler haben wir bereit8 früher an be» 
treffender Stelle erwähnt. Bon Briefwechſeln fügen wir 
bei: „Sibylle, Herzogin von Jülich⸗Kleve-⸗Berg, Briefe 
an ihren Gemahl Johann Friedrih den Großmüthigen, 
Kurfürften von Sachſen“; „Briefwechfel Friedrich's des 
Großen mit dem Prinzen Wilhelm IV. von Oranien und 
deflen Gemahlin”, U. Ritter von Arneth: „Joſeph I. 
und Katharina von Rußland. Ihr Briefwechſel.“ 

Eine Ergänzung ber Geſchichtsliteratur bildet die 
militärwiffenjhaftliche, ſoweit fie kriegsgeſchichtliche 
Darftellungen bietet. Ueber den legten großen Krieg Liegt 
ein Werk von T. Fontane vor: „Der deutjche Krieg von 
1866”, defien erfter Band den Feldzug in Böhmen und 
Mähren ſchildert und zwar in der erften Hälfte bis zur 
Schlacht von Königgräg. Außerdem find nur minder 
wichtige Erinnerungsblätter zu verzeichnen: R. Freiherr 
von Strombed: „Kriegs- Tagebücher aus den Jahren 1864 
und 1866“; 9. Blaenfner: „Die Neunundfechziger bei 
Königgräg”; B. Dudik: „Erinnerungen aus dem Feldzug 
1866 in Stalien”; Chevalier: „Die Elbarmee im Feld⸗ 
auge von 1866“. Der abyſſiniſche Krieg wird in zwei 
Berken dargeftellt: Koloditſch: „Die engliſche Armee in 

lbyſſinien im ®eldzuge 186768 und ©. Graf von 
Sedendorff: „Meine Exlebniffe mit dem englifchen Erxpe- 
yitionscorps in Abpffinien 1867—68". In das Mittel- 


39 


alter zurüd greift I. Würdinger: „Sriegsgefchichte von 
Baiern, Franken, Pfalz und Schwaben von 1347— 1506“ 
(zweiter Band), und in die Kriegsgeſchichte des Alterthums 
A. Dederih: „Die Feldzüge des Drufus und Tiberius 
in da8 nordweftliche Germanien.” Den „Krieg in Neu⸗ 
ſeeland“ childert ©. Droege, während L. R. Zimmermann 
„Erinuerungen eines ehemaligen Brigantenchefs” und 9. 
Eggenburg „Zornifter-Gejchichten veröffentlicht, welche 
beiden legten Werke fchon in das Novelliftifche hinüber⸗ 
jpielen. Eine „Geſchichte der Waffen“ Liegt vor von F. 
A. K. Specht, eine andere von A. Dammin: „Die Kriegs- 
waffen in ihrer hiſtoriſchen Entwidelung von ber Neuzeit 
bis zum 18. Jahrhundert”. 

Andere militärifche Schriften find: E. Nüffer: „Die 
Strategen und bie Strategie der neneften Zeit”; G. von 
Glaſenapp: „Die Generale der preußifchen Armee”; 
„Sedanten über den militärifchen Geiſt“; „Weber die 
Berantwortlichkeit im Kriege”; Felir: „Arkolay's Appell 
an die Denker in den Heeren”; Gaupp: „Das Sanitäts- 
wejen in den Heeren der Alten”; Schauenburg: „Er⸗ 
innerungen aus dem preußifchen Kriegslazarethleben”. 

Auf dem Gebiete ber Publieiſtik erfcheint als her⸗ 
vorragendes Werk F. von Holgendorff: „Die PBrincipien 
der Politik.” Wehnliche principielle Schriften von allge- 
meiner Haltung find W. E. von Lindgren: „Die Grund- 
begriffe des Staatsrechts”, und F. Pilgram: „Neue 
Grundlagen der Wiffenfhaft vom Staate”; K. T. von 
InamaSternegg: „Die Tendenz der Großſtaatenbildung 
in ber Gegenwart”; 9. €. Bluntihli: „Charakter und 
Geift der politiichen KParteien”. W. Menzel’s „Kritik 
bes mbddernen Zeitbewußtſeins“ ift eine Jeremiade, welche 
das Politiſche mehr gelegentlich ftreift, eingehender das 
Sociale, Religionsphilofophifche behandelt. Kin Intereffe, 
das täglich noch im Wachfen ift, haben die von Ruffifi- 
cirungsverfuchen bedrohten deutſch⸗ruſſiſchen Oftfeeprovinzen 
hervorgerufen. Wir erwähnen hier vor allem E. Eckardt's 
„Baltifche und ruſſiſche Culturſtudien“; ferner W. von 
Bod: „Der deutfch-ruffiiche Conflict an der Oſtſee“; 9. 
von Sivers: „Humanität und Nationalität, eine lid» 
ländifche Säcularfchrift zum Andenken Herder's“; „Die 
baltiſchen Provinzen am Rubicon, Sendfchreiben an die 
Deutjchen der Oftfeeländer von einem Batrioten“; Juri 
Samarin’d Anklage gegen die Oftfeeprovinzen Rußlands. 
Eingeleitet und commentirt von E. Eckardt“; C. Scirren: 
„Lioländiiche Antwort an Herrn Samarin”; Edward 
Kattner's „Preußens Beruf im Oſten“; Bertram: 
„Wagien“; von Harleß: „Gefchichtsbilder aus der 
Kirche Livlands.“ 

Bon ben mehr polemifchen Schriften erwähnen wir 
diejenigen von 8. Braun, der ein ebenjo unermüblicher 
wie wig- umd geiftreicher Borkämpfer bdeutfcher Einheit 
it. Seinen „PBarlamentöbriefen‘ folgte neuerdings das 
zweibänbige Werk: „Bilber aus der deutſchen Kleinftaaterei”. 
Geiftvoll find auch die Auffüge der Sammlung von 
Leonhard Oppenheim: „Bor und nad dem Kriege“. 
Andere publiciftiiche Schriften find: „Deutſchland, Defter- 
reich und Europa, von einem Wltöfterreicher”; „Bolitifche 
Briefe über Rußland und Polen”; H. Ewald: „Die zwei 
Wege in Deutjchland”; „Gneiſt und Stuart Mil. Alt 
englifche und neuenglifche Staatsanſchauung“; D. Klopp: 











40 Revue des Literaturjahres 1869. 


„Das preußifche Berfahren in ver Vermögensſache des 
Königs von Hannover‘; Oppermann: „Der Weg zum Jahre 
1866; Thanlow: „Die Umgeftaltung Deutſchlands“; 
C. Sceele: „Für und wider Preußen”; „Bismard vor 
der Gefchichte‘; E. Wintersberg: „Brennende Fragen‘; 
L. 8. Aegidi: „Die Mainlinie‘; F. 9. Walchner: „Pos 
litiſche Wahrheiten‘; „Bubliciftifche Abhandlungen zum 
Berftändniß der Gegenwart”; „Aufruf zur Bildung einer 
neuen Mittelpartei”; „Berlin und Mottenburg. Ein 
Rothbuch, herausgegeben von einem Kreuzritter“; „Was 
geht und was nicht geht. Einige Bemerkungen mit 
Bezug auf Saatshaushalt, Berfafiung und Recht im 
Königreich Preußen und in dem Norddentfchen Bunde”. 

Die fociale Literatur behandelt vorzugsweife zwei 
Probleme, die Lage der arbeitenden Klaffen und die Lage 
der Frauen. Bon nationalöfonomiihen Schriften, die ſich 
an das größere Publitum wenden, erwähnen wir bier: 
G. Eohn: „Ueber die Bedeutung der Nationalökonomie‘; 
3. €. Biel: „Anfangsgründe der Volkswirthſchaft“; F. 
%. Neumann: „Boltswirthichaft und Heeresweſen“; die 
geiftreihe Schrift von U. Samter: „Die Reform des 
Geldweſens“; 3. Schulze: „Bopuläre Vorträge über 
Socialwiffenfchaft”; 3. Faeger: „Der menſchliche Verkehr 
und ferne Theorie”; der erfte Band einer „Geſchichte der 
Arbeit”, von dem tüchtigen Germaniften M. Weinhold. 
Bezug auf die Arbeiterfrage nehmen die folgenden Scrif- 
ten: N. Sokoloff: „Die fociale Revolution‘; B. A. Huber: 
„Sociale Fragen. VI. Die Arbeiterfrage in England“; 
„Die Köfung der focialen Frage durch Gewerkvereine und 
Arbeiterfchaften”; %. von Kiräly: „Betrachtungen über 
Socialismus und Communismus“; B. Beder: „Die 
Allmeinde, das Grundſtück zur Löfung der focialen Frage 
geftütt auf fchweizerifche Verhältniſſe'; H. Schumader: 
„Weber Johann Heinrich von Thünen's Geſetz vom natur: 
gemäßen Arbeitslohne”; W. Breyer: „Der Kampf um das 
Daſein“; „Die Arbeitseinftelung, ein Lebensbild aus 
unferer Zeit”. 

In Betreff der Frauenfrage ift ein fehr berebter 
Anwalt fir die Rechte der Frauen in John Stuart Mill 
aufgetreten, deſſen Schrift „Die Hörigkeit der Frau’ 
von Jenny Hirſch aus dem Engliihen überfegt worden 
ft. Auch die beutfchen Borlämpferinnen find unermüd— 
[ih mit neuen Beröffentlihungen. Minna Pinoff gibt 
eine neue Schrift: „Die Löſung der Eriftenzfrage der 
Tran” heraus; Luife Dtto ben „Genius des Haufes”. 
Fanny Lewald: „Vierzehn Briefe für und wider bie 
rauen“; Zuife Hohndorf: „rauenleben und Frauenberuf“ 
und 2. Wachler's Furzgedrängte aber inhaltsreiche Schrift: 
„Zur rechtlichen Stellung der rauen‘, verdienen hier 
noch Erwähnung. 

Daß die Padagogen eine fehr fchreibluftige Species 
der Gelehrten find, ift burch die Erfahrungswiſſenſchaft 
längft erwiefen. In diefem Jahre erfchienen zwei neue 
„Pädagogifche Bibliotheken”, die eine herausgegeben von 
K. Richter, die andere mit dem Titel „Bibliothek püda- 


- gogifcher Claſſiker“ von H. Beyer; außerdem eine neue 


Zeitfchrift: „Stimmen aus der berliner Lehrerwelt“, redigirt 
von R. Schobert; 2. W. Seyfferth veranitaltet eine Aus- 
gabe von „Peſtalozzi's ſämmtlichen Werfen”. Daß bie 
wichtigften Fragen der Schule und des Unterrichts fort⸗ 


während in Schriften und Broſchüren behandelt werben, 
beweiſe das folgende Regifter, das auf Bollftändigkfeit nicht 
Anfpruh macht und nur ein charakteriftifches Licht auf 
die BVieljeitigfeit der päbagogifchen Bewegung in Deutfd- 
land werfen will: „Moderne Pädagogik. In Briefen“; 
F. Hofmann: „Die Öffentlichen Schulen und das Schul- 
geld"; C. Klett: „Der Lehrer ohne Stock“; F. Boll: „Die 
häusliche Erziehung‘; A. von Lachemair: „Die Schul 
frage und ihre bisherige Löſung““; R. Gneiſt: „Die Selbft- 
verwaltung der Schule; 3. ©. Sergemund: „Dr. R. 
Gneift und die confeffionele Schule‘; C. ©. Scheibert: 
„Die Confeffionalität der höhern Schulen”; T. Bar: 
„Die Stimmen bes Landes in der Schulfrage”; €. Pe- 
fhel: „Weber Trennung der Schule von ber Kirche”; 
L. Strümpell: „Erziehungsfragen, gemeinverftändlicdh er- 
örtert”; ©. Schumann: „Eine Lehrerreife. Randzeich—⸗ 
nungen zu dem preußischen Volksſchulweſen“; R. Arendt: 
„Der Anſchauungsunterricht in der Naturlehre“; A. Klein- 
ſchmidt: „Weber Yugendfchriften”; ©. Zenfer: „Ueber das 
Weſen der Bildung mit befonderer Berüdfidftigung der 
Erziehung und des Unterrichts‘; 3. ©. Freyer: „Die 
Sorge der Schule für das leibliche Wohl ihrer Zöglinge“; 
„Zur Schulreform in Baiern“; H. Zwid: „Die Ziele 
der mobernen Lehrerbildung”; 4. ©. Weiß: „Die alt 
kirchliche Pädagogik“; ©. Bruckbach, „Wegweiſer durch 
die Geſchichte der Pädagogik“; G. A. Harweck: „Johann 
Heinrich Peſtalozzi“. 


Bei den Reiſebeſchreibungen müſſen wir zwiſchen 
der Schilderung größerer Entdeckungsreiſen in fremden 
Ländern und der leichter geſchürzten touriſtiſchen Literatur 
unterſcheiden, welche die Welt oft nur durch das Waggon⸗ 
fenſter betrachtet. Zur erſtern Klaſſe gehören die gedie- 
genen, inhaltreichen Studien und Reifen von Adolf Baftian, 
von denen der fünfte (Schluß-)Band erfchienen ift: „Reifen 
im indifchen Archipel, Singapore, Batavia, Manila und 
Japan.” Daffelbe Thema behandelt die ind Deutfche 
überfegte Schrift von U. R. Wallace: „Der malayifche 
Archipel“ und E. Semper’s Skizzen: „Die Philippinen 
umd ihre Bewohner”. Wichtige afrikaniſche Reifefchriften 
find: Baron von der Deden’d „Reifen in Oſtafrika in 
den Jahren 185965”; M. T. von Heuglin: „Reife 
in das Gebiet des Weißen Nil und feiner weftlichen Zu» 
Nüffe in den Jahren 1862—64”; T. Wangemann: „Ein 
Neifejahr in Südafrika” und „Maleo und Sekufini. Ein 
Lebensbild aus Südafrika”. 

Nachſt Afrika flößt der hohe Norden durch die fühnen 
neuern Entdedungsfahrten ein bejonderes Interefle ein. 
Einen allgemeinen Weberblid gibt der Vortrag von O. 
Beer: „Ueber die neueften Entdedungen im hohen Nor« 
den’; intereflante Einzelichilderungen finden ſich in zwei 
überjegten Reiſewerken: %. Whymper: „Alaska. Reifen 
und Erlebniffe im Hohen Norden‘, deutſch von F. Steger, 
und D. Zorell und A. E. Nordenftjöld: „Die ſchwedi⸗ 
Ihen Expeditionen nad Spigbergen und Bären-Eiland“, 
überjegt von 2. Paffarge. 

Der Zug der eigentlichen Zouriften geht vorzugsweiſe 
in bie Alpen und die füdlichen Fänder Europas, Stalien 
und Spanien, Weiter hinaus haben fid) nur neuerdings 
die Schwürme der Suezlanalreifenden erftredt, deren 






toneiftifche Ernte noch nicht eingeheimft jſt. Intereſſante 

 Sfiggen Über Aegypten gibt Arthur Stahl’ Schrift: „Im 

Lande der Pharaonen“. Italien, das Zauberland, deſſen 
Reize, wie e8 ſcheint, mie ausgeſchrieben und ausgefungen 
werden können, it im folgenden Keifefchriften von neuem 

 geichildert: H. Allmers: „Römifche Schlenbertage"; C. U. 

Dempwolff: „Oberitalienifhe Fahrten“; 4. Stahr und 
Fanıy Lewald: „Cin Winter in Rom“; O. Hartwig: 
„Aus Sicilien. Cultur- und Geſchichtsbilder“; ©. F. von 
Boffweiler: „Sicilien. Schilderungen aus Gegenwart und 
Vergangenheit”; W. Roßmann: „Vom Geftade der Eyflo- 
‚pen und Sirenen“. 

Während wir im biefen meiften Schriften viel ins 
- Gewicht fallende Gelehrfamfeit mit in ben Kauf nehmen 
 müfjen, tragen die Vergreifenden nad; Tirol und der 
_ Scjweiz leichteres Grpäd: H.Noe: „Brennerbud. Nature 

anfichten und Febensbilder aus Tirol“; A. von Kuthner: 
„Aus Tirol. Berg» und Gletſcherreiſen in den öſterreichi - 
ſchen Hodalpen”; U. Halder: „Vergluft. Sonntags- 

; ifereien eines alten Clubiſten“; E. Ofenbrüggen: „Wan⸗ 
derjiubien aus der Schweiz” (zweiter Band); Fanny Le 

wald: „Sommer und Winter am Genferjee“. 

Abdolf Ebeling ‚gibt pilante „Neue Bilder aus dem 
modernen Paris” heraus. 

Die fpanifche Revolution hat neuerdings mehrere Tou⸗ 

‚riften angezogen, welche auf das Politiſche den Schwer 

ihrer Darftellung legen: Guftad Raſch: „Bom 
panifchen Revolutionsfhauplage‘; M. Klapp: „Revolus 
bilder aus Spani Unbefangener zeigt ſich W. 
jattenbadh: „Cine Serienreife nach Spanien und Por 
gal“ und A, Kerſchbaumer: Reifebilder aus Spanien“. 

. Rafc hat aud) ein Reiſebuch durch Schweden: „Aus 

n freien Lande“, herausgegeben. 
Andere touriftifche Schriften, denen wir gleichzeitig 
‚€ etbnographifche anreihen, find bie folgenden: 
Schasmayr: „Nord und Süd. Geographiſch- ethno - 
hifche Studien und Bilder“; R.Hinterhuber: „Mondſee 
feine Umgebungen"; I. Müblfeld: „Aus der Mappe. 
buch“; B. Walden: „Wiener Studien“; K. Grün: 
iches Wien. Die Stadt und ihre Kunſtſchätze“; 
5. Pleger: „Bilder aus dem Süden“; F. Maurer: 
;e Reife durch Bosnien, die Saveländer und Ungarn“; 
Glagau: „Littauen und die Littauer“; F. Wüftenfeld: 
ie Wohnfige und Wanderungen der arabiihen Stämme‘; 
Pröple: „Harz und Kyffhäufe 3. Racki: „Fiume 
jenüber Kroatien"; I. Bechtinger: „Ein Jahr auf den 
dwichinfeln‘; H. Chrift: „Ob dem Kernwald“; J. N. 
: „Acht Vorträge über das Pandſchab“. 
Schwerer noch als in den andern Fächern läßt fid 
den Naturwiffenfhaften die Grenze ziehen, wo 

18 ftreng Fachwiſſenſchaftliche aufhört und in eine fih 

die allgemeine Bildung menbende Literatur übergeht. 

as Mufterwert biefer legten Gattung von Schriften, 

. von Humboldt’s „Kosmos. Entwurf einer phufifchen 

Seltbejchreibung”, hat eine mit einer biographiſchen Einlei- 
agvon B. von Cotta verfehene Iubiläums-Ansgabe erlebt. 
’ Am übrigen überwiegt in diefem Literatürjahr ein 
hr philofophijcher Kampf für oder gegen den Materia - 
mus; der Darwinismus und die Urgejchichte des Men⸗ 







1870. 3. 


k 


Revue des Literaturjahres 1869. 





41 


ſchen find für diefen Kampf die beliebteften Anhaltspımfte. 
Volgende Schriften drehen ſich mehr oder weniger um 
diefe Probleme: I. H. Thomaffen: „Enthüllungen aus 
der Urgeſchichte“; I. B. Balger: „Ueber die Anfänge der 
Organismen und die Urgeſchichte des Menſchen“; K. B. 
Heller: „Darwin und der Darwinismus“; 9. Dub: 
„Kurze Darftellung der Lehre Darwin's“; R. Biber: 
„Karl Vogt's naturwifienfchaftliche Vorträge über die Ur« 
gefhichte des Menſchen“; 2. Büchner: „Die Stellung 
des Menfchen in der Natur in Vergangenheit, Gegenwart 
und Zukunft“; F. Ragel: „Sein und Werden der orga⸗ 
niſchen Welt”; ©. H. ©. Jahr: „Stoff ober Kraft ? Ober: 
Das immaterielle Wefen der Natur“; F. Mohr: „Alle 
gemeine Theorie der Bewegung und Kraft als Grundlage 
der Phyſik und Chemie”; I. Gottlieb: „Urfprung, Aus« 
bildung und Ende der Erde und des Menſchen“; I. €. 
Schmidt: „Elemente zur Begründung einer mathematifc« 
phyfilaliſchen Organismenlehre oder Mathefis allein ift 
Wifſenſchaft“; F. Recht: „Die Erkenntnißlehre der Schd- 
pfung nad) Grundſätzen der freien Forſchung“ und „Die 
Entwidelung der Weltgefege”. 

Hinter diefer meift polemifchen Richtung in Bezug auf 
allgemeinere Principien treten die einzelnen pofitiven Zweige 
der Naturwiſſenſchaft etwas zurüd. Auf dem Gebiete 
der Aftronomie und Phyſik erwähnen wir folgende Schrife 
ten: H. I. Mein: „Handbuch der allgemeinen Himmeld- 
beſchreibung vom Stanbpunft der kosmiſchen Weltanſchauung 
bargeftellt”; PB. Reis: „Die Sonne. Zwei phyſikaliſche 
Vorträge; ©. Badhaus: „Die Erde wird einen zweiten 
Mond befommen, ber ihr näher liegt als der erfte”; „Neue 
Beweife, daß die Erde ſich nicht nach Newton's Gravis 
tationdgefeg um die Sonne bewegen kann“; G. Studer: 
„Meber Eis und Schnee”; €. W. Schmidt: „Die ftetige 
Senkung des Weltmeers auf der nördlichen Halbfugel der 
Erde”; R. Falb: „Grundzüge zu einer Theorie der Erd⸗ 
beben und Bulfanausbrüche” ; & Ratgeber: „Ueber den 
Nordpol ber Erde. 

Geologifche Local- und Specialthemata behandeln 
I. Schumann: „Geologiſche Wanderungen durch Altpreu: 
Ben“ und F. Merklein: „Beitrag zur Kenntniß der Erd» 
oberfläce um Scaffhaufen“. „Beiträge zur Geſchichte 
der Chemie” veröffentlicht H. Kopp. Auf dem Gebiete 
der Zoologie find zu erwähnen: F. Baron Drofte- Hüls- 
Hoff: „Die Bogelmelt der Nordfeeinfel Borkum“ und 
O. Köftlin: „Studien zur Naturgefchichte des Menſchen 
und der Thiere”. 

©. A. Martin gibt gefammelte populäre Aufjäge: 
„Qilder und Skizzen aus der Naturkunde”, heraus; ©. von 
Littrow eine Rectoratsrebe: „Ueber das Zurüdbleiben ber 
Alten in den Naturwiſſenſchaften“. Lehrreich und inter 
effant find I. N. Czermak's „Populäre phyfiologifche Vor- 
träge”. Eine neue Sammlung: „Die Naturkräfte”, bringt ' 
eine populäre Optif und Aluſtik, indem Tiſco „Licht und 
Farbe“, Rodan „Die Lehre vom Schall” darſiellt. 

So nehmen wir Abfchied von dem Literaturjahr 1869, 
das fir feinen Fleiß eine anerfennende Cenfur verdient, 
wenn wir aud) keine literariſchen Fortſchritte zu verzeich- 
nen hatten. 

Rudolf Gottſchall. 


6 





2o 





42 Aus der neueſten deutſchen Romanliteratur. 


Aus der neneflen deutlichen Romanliteratur. 
(Beſchluß aus Nr. 2.) 


. 4 Eine alte Jungfer. Roman von Karlvon Holtei. Bres⸗ 


Ion, Trewendt. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Ngr. 


Unter biefem nicht eben auf Bezauberumg abgefehenen 
Titel führt uns ber beliebte Dichter einen Roman vor, 
dem man nichts von dem Alter des Autors aumerkt, den 
zweiten von ben bisher befprocdhenen, den wir ganz eigent- 
fih als Seelenroman bezeichnen dürfen, eine recht tüd- 
tige Arbeit. Die Liebe eines begeifterten Mufiljüngers zu 
einer ftolzen Gräfin, die fein Bekenntniß erbittert abweift, 
obgleich fie innerlich für ihn glüht, ift das Hauptobject; 
er ftirbt; in den lebten Tagen gibt fie fich der zarteften 
Pflege für den Freund ihres Herzens bin und widmet 
deu Reſt ihres Lebens einfam feinem thenern Andenken 
und der Erziehung der Kinder ihrer früh geſchiedenen 
Schwefter. Daneben tritt der Freund beider auf, der 
eine interefielofe, treue, ſchüchtern verehrende Liebe zur 
großen Sängerin Sontag in feinem Herzen trägt, dieſes 
zweite, ftille Herzenöverhältnig bildet gleichfam das Randbild 
zum großen Haupt- und Mittelſtück. Das wäre fonad) 
alles! Aber auch bier müſſen eben Inhalt und Gehalt 
von innen herauskommen, und die Darftellung ift in der 
That ihrer gewählten Devife treu: „Les romans qui pre- 
sentent une peinture vraie et naive du coeur de !’'homme 
et de ses mysteres me semblent l’histoire par excel- 
lence.” 

Die Charakterjchilderung der falten, ftolzen, verbitterten, 
nur der eigenen Eingebung folgenden und dod) von hohen 
HHealen begeifterten und einer bis in den Tod ergebenen 
Liebe verfallenen Gräfin Kriegeheim und die des ibealifti- 
ſchen Schwärmers Leo von Lerthal, deſſen in den frühen 
Tod führende Leidenfchaft für jene äußerlich marmorkalte 
Statue fih an einigen gefungenen Worten der Unbelann- 
ten entzlindet bat, find meifterhaft, ohne daß wir doch 
über den Zweifel an der feelifchen Berechtigung jener 
furdtbar wiberfpruchsvollen Natur hinauskämen. 

Doc, zuerft ein Wort über den etwas wunderlid) ges 
arteten Idealismus! Da halten wir e8 gegenüber dem in 
ben Aether verfliegenden und hernach doch der Nothwen- 
digkeit unferer menfchlichen Natur verfallenden Leo mit 
dem viel Kühler und trog der überfchwenglichen Berehrung 
für die Sontag, welcher er Huldigt wie einer Göttin, von 
der man nichts erwartet und nichts begehrt, klar und 
launig in die Forderungen des Lebens blidenden Wilhelm 
Scherfling. ALS der erſte im Anfang feiner Liebe philo- 
ſophirt: 

Ber mit ſich im Reinen iſt, daß er nichts will und er- 
firebt, ala was er ſchon befigt und was ihm niemand rauben 
fann: beglädende Liebe ohne Erwiberung — ber hat nidhts zu 
fürchten. Was ih von ihr begehre, das gibt fie mir, ohne zu 
ahnen, wie diefe Gabe mich befeligt. Und fie foll es nicht er- 
fahren. Wozu au? Das Geheimniß gehört zu meinem vollen 
Glück. Die Hohe dat nicht einmal Keuntnig vom Dafein des 
armen Wurms, der Leo beißt, und dennoch darf er fie die 
Seine nennen, barf fie lieben, in ihr leben, ihrer gedenten, 
ihren Tönen lauſchen. Darin liegt die wahre Poefie der Liebe — 


als er jo jylphenartig ſchwärmt, da antwortet der zweite 
ganz richtig: 


Das ift mir zu fein, Guter! Du Phönir, der du ganz und 
ar im Aether häugſt, wie wirb dir fein, wenn diefe ans 
Einen und Düften gemwobene dlinne Grundlage deines Leibes 
Laft nicht Tänger zu tragen vermag? Wenn der Erdenmenſch 
in dir, ans ſchwärmeriſchem Duſel erwachend, einen furdt- 
baren Plumper in die Wirklichkeit thut? Hülflos wirft du auf 
dem harten Boden boden und vieleidyt wie mehr auf die Beine 
tommen. Wenn id ſchwärme, wenn ich mich von fänfelnden 
Gefühlen ins Blaue heben laffe, will id) doch den Faden, der 
mid) mit der ehrlichen, greifbaren Mutter Erde zufammenbält, 
der mir ihre Nahrung zuführt, keineswegs durchſchueiden. Zum 
törperlichen Engel bin ich verdorben. 


Das Schidfal diefes mit unerfüllbaren Berheigungen 
lodenden Idealismus zeichnet ſich anch gleich treffend in 
folgender Bemerkung: 


Ein Nachtwandler, von himmlifchen Harmonien umrauſcht, 
war er fihern Schrittes dicht an Abgründen tränmend umber- 
gegangen, im Fühlen Mondſchein, der ihm für Iebenswarme 
Sonnenglut, für Liebeswonne galt. Sie hatten ihn beim Na⸗ 
men gerufen; er fchredte zufammen, erwachte, ſah die ſchwarze 
Kluft, die ihn von ihr tremmte. Der Zraum iſt ausgeträumt; 
das kalte Leben umflarrt ihn. Der Mond iſt nit Goune, 
Ihn fröftelt. 

Wenn wir es wirklich zu thum haben follten mit einer 
Art zweiter Marie, Mutter Gottes, der man nit im 
fterblicher Liebe nahen darf und auf welde allein das 
Wort des nad) glühender Liebeserklärung ſtolz zurück⸗ 
gewiefenen und nun wie über ein begangenes Berbredden 
klagenden Anbeters paflen würde: 


Ich bin mir untren geworben; das Thier im Menſchen 
bat über mid Macht geivonnen. Sch Habe, verbiendet von 
eitelm Irrthum, vergefien, daß id) eine Heilige verebren wollte. 
Ich habe mich erfrecht, mid; ihr zu nahen wie einer Sterblicdhen, 
habe das Bertrauen misbraudt, deffen fie mich gewürdigt; 
babe mid verägtlih, vob, gemein benommen. Gott verzeide 
mir's, ich werde mir's nicht verzeihen. Die ſchwerſte Buße ıf 
noch zu leicht für mid. Deshalb lege ich fie mir auf und will 
fie lächelub ertragen. Sie entflhnt.... 
wenn wir e8 zu thun haben follten mit einem Weſen, 
dem gegemüber diefe Worte Wahrheit hätten, dann müß⸗ 
ten die Geiftesgrundlagen ganz andere fein. 

Wir befommen den rechten Schlüffel nicht zu diefer 
räthfelhaften Natur, zufammengefett ans jener hochmüthi⸗ 
gen Berftellung, die erft vor dem grinfenden Gefpenft 
des Zobes die Maske ablegt, und jener Ergebung, bie 
dann aud wahrhaft großartige Zugeftändnifie macht und 
rückſichtslos nachholt, was — zu ſpät kommt. Es ge 
nügt uns nicht, was ſie über ſich uns eröffnet: 

Ich ſtand von früh an zwiſchen hochmüthigem Stolz und 
künſtleriſchem Drange. Mir blieb nur die Wahl: mich entſchie⸗ 
den zur Sängerin auszubilden oder Comteſſe Kriegsheim zu 
bleiben. (Da fledt der Knoten. Wir fragen nmfonfl: Barum 
denn? Wo liegt das Zwingende, wenn nicht in einer abfloßend 
hodmlthigen Laune, die nicht das Recht bat als ein Seele 
und Leben beftimmender Geiftesfactor aufzutreten?) Ich wählte 
das letstere, und — habe dafür gelitten. Leo ordnete ſich mir 
unter, die ich fefthielt an leeren, flarren Formen, binter welchen 
ih Schuß vor mir felber ſuchte. Eine ftarfe Hand konnte diefe 
Formen zerträmmern; die feinige war zu ſchwach. Er farb 
an feiner Liebe; ich lebe von der meinigen, im feflen Glauben, 
bß der ae zum wahren Leben nur durch die Pforten des 

odes geht. 


Aus der neueften deutfhen Romanliteratur. 43 


Und als der Freund am Todtenbette fie fragt: Warum 
fo fpät? da antwortet fie: 

Ebendeshalb, weil es die himmliſche Berföhnung ift, die 
erſt eintreten fann, wenn der Tod fie herbeiruft; mit dem Leben 
hat fie nichts gemein. Mögen Sie mir fluden; mögen Sie 
mir die Ditfhuld an feinem Tode aufblirden, ich vertheibige 
mid nicht. Ih kam bierher auf alles gefaßt und habe über - 
haupt nur no Einen Wunſch. Es ift der, daß Leo, bevor 
Leib und Seele fi trennen, zur vollen Klarheit des Geiſtes 
erwache, ſei es auf Minuten; daß er mid) erfenne; daß er ver» 
mehme, wie id) ihn liebe; daß er bie Ueberzeugumg mit ſich ins 
SIenfeits nehme: Benigna wird ihm Treue bewahren, über Grab 
und Zeit! Gönnt ihm bie ewige Gnade ſolchen Lichtblid, gönnt 
fie mir ein Joiches AbfGiebewort an ihn, baum habe id nichts 
mehr zu wänjhen, nichts mehr zu erfireben, und mein Kinf- 
tiges Dafein gehört den Pflichten der Tochter und Schwefler. 

Alles das ift uns nicht genug. Sie bleibt uns eine 
Art von verhüllter Statue; wir ftehen ihren Geiftesgrund- 
Tagen fremb gegenüber und wiſſen nicht recht, follen wir 
die ungewöhnliche Natur verehren ober ſcheuen, lieben ober 
haſſen; es ift eine halbe Stimmung, wie in ihr felber nur 
ein halbes Leben, das nicht zur Zeit mit ſich abzufclie- 
Ben vermochte. Mit ihren hart eingefchnittenen Zügen 
föhnen und die rührenden Acte am: Sterbebett ihres Ger 
Tiebten etwas aus: 

Bas fie auch fagte, wie eindringlich fie ihn bat, fi zu 
jammeln, 4 verhallte fpurlos. Im wahrer Geelengual nannte 
fie ihren Namen, den feinigen, rief: „@eo, fieber eo, Benigna 
ſpricht zu dir!" Kein Zeichen bes Berftändniffes. Sie blidte um«- 
der, das Mavier ſuchend, ohne weiches er ja nicht gedacht mer» 
den könnte, fie ſah nad; dem andern Zimmer — aud dort 
nichts! Berzweifeiud rang fle die Hände: Wenn er nun flerben 
müßte, ehe ich ihm das SeRändnig abgelegt, daß id) ihn liebe? 
Das wäre zu fürdterlihl Da kam e8 über fie ges einer 
Eingebung von oben; mit mehr denn menfhlicher Willenskraft 
gebot fie der eng zuſammengeſchnürten Kehle Gehorſam zu lei⸗ 
fen, und ihre Thränen geraliam hemmend fang fie aus vollem 
Herzen: „D laßt mid, Xiefgebeugte weinen!" Die länge zit- 
terten liber8 Gterbebette hin wie bon einer zerfprungenen Glocke. 
Almählic, verfämanden aus des Kranken Gefihtezligen jene 
Anzeichen quälender Fieberträume; die flarre Verzerrung des 
Mundes Iöfte ſich nach und nach in ſchmerzhaft füßes Lächeln auf, 
die bfeichen Fippen fispelten: „Sie fingtl" Er hob die Nugen- 
Tider, er ſah Venigna fiber fich gebengt, er fühlte den Kuß auf 
feiner heißen Stirn, er hatte fie erfannt. 

Damit ihr aber die Glorie des Außerordentlichen bis 
in den Tod bleibe, wird fie in den legten Stunden mit 
dem Zweiten Geficht ausgeftattet, das gewiſſen Sterbenden 
gegeben jein fol, umd fie fieht im fernen Merico zur 
gleichen Stunde mit ſich jene Sontag von der Erde fchei- 
den, vom beren bezanbernder Sängerhoheit ein flarter 
Hauch in ihr felber lebte. 

Die Sprachweife wird da und dort überladen und 
manierirt; als Beweis diene folgende Periode: 

Zum Glück waren beider Naturen fo ſcharf gefondert, daß 
jene für vertrauten Umgangs Dauer gefährliche Rachgiebigteit, 
welche ſtets nur momentane Uebereinftimmung Beucelt, um 
dann gleich wieder in Zwietracht auszubrehen und Riffe im 
Band der Freundfehaft u Binterlaffen, bei ihnen unmöglich 
durde. 

Papa Retter in der „Kant'ſchen Wildniß“ und feine 
»ocalifirende Familie find koſtlich humoriſtiſche Figuren. 

Wol der befte der uns vorliegenden Romane ift der 
Algende: 








5. Was ift Wahrheit? Roman von Adolf Glaſer. Zwei 
Bände. Braunihtweig, Weftermann. 1869. 8. 2 Thlr. 
Der befte, wenn wir uns entſcheiden follen nad) dem 

Eindrud eine naturwahren Ganzen, das die Befriedigung 
eines confequenten Verlaufs und Abſchluſſes gibt. Cs ift 
ein Familien- oder, wenn wir lieber wollen, Gefelljchafts- 
zoman modernften Schlags, denn er verjegt uns in die 
Zeit des preußifch-öfterreichifchen Kriegs, ohne jedoch von 
den ſchweren Öffentlichen Dingen viel Notiz zu nehmen. 
Die Geſchichte ift fehr einfach: Ein junger Ädelicher ver- 
liebt ſich in eine fchöne Schaufpielerin. Mutter und Berr 
wandte verwenden alle Intrigue darauf, ihn von biefem 
Bande freizumadjen, und es gelingt ihnen, den jungen 
Mann auf Reifen zu ſchiden. Das Mädchen glaubt ſich 
verlafjen, wird verführt und endet in Selbfimord. Er 
aber, zuerft von wahnfinnigem Schmerz ergriffen und er- 
bittert auch gegen die Mutter, dann aber durch den Krieg 
und nachherige ſchwere Krankheit infolge von Verwundung 
aus feiner Lethargie aufgefchredt, Heirathet eine Freundin 
der Berftorbenen, die ſchöne und feelengute Tochter eines 
reichen Yabrifanten, und wirb felbft defien focial und in« 
duſtriell weitfehender und ebelftrebender Affocie, der in 
großer Thätigkeit und ungeftörtem Familiengläd jeine Be- 
friebigung findet. 

Da ift Leben, jeder Zug unmittelbare, gegenwärtiges 
Leben; an individuell fprechenden Bildern ift bie regelrechte 
Entwidelung unſerer Geſeliſchaft gezeichnet in ihrer Hohl« 
heit und ihrer Öröße, ihren bornirten Einfeitigkeiten und 
weithergigen Strebungen; das Porträt ſpricht an, weil es 
wahr ift; es gibt Realität und ift doch in Feiner Weiſe 
bloße Copie, ſondern ideal gedacht und poetiſch gehoben. 
Es fefielt uns um fo mehr, als wir hier einmal ben bei 
mehrern andern fo fehr vermißten Wechſel ber Töne trefe 
fen und glüdlich in das Tragiſche hinein zum Theil das 
FTamiliär-Lieblihe, zum Theil das Humoriftifche fpielt 
und zwar mit einzelnen koſilich aus dem Leben geholten 
Biguren, wie z. B. den einen wahren Typus vorftellen- 
den Alten der armen Nähterin Emilie Galben. 

Die Zeichnung fann, ohne den Boden der Wirklich. 
feit zu verlaffen, ganz ins Seine gehen; fo wenn es unter 
anderm über ben jungen Adelichen heißt: 

Bon Jugend an in den ewoßnheiten der großen Welt 
erzogen, beherrichte er alfe äußerlichen Lebensformen volllommen, 
und fiber der Sicherheit, mit welcher er ſich in der Gefellicaft 
bewegte, Tag jener gewiſſe Hauch von Schlihternheit, der in 
Hıpeen Sahren den vollendetfien Schimmer der Bornehmheit 
gibt u. |. w. 

Uebrigens wirb ung diefe Zeichnung viel werther durch 
den prächtig launigen Realismus, den fe zu entwideln 
verfteht. Davon einige Proben. Bei Anlaf der reis 
werbung des verfchmigten ehemaligen Kammerdieners Loh · 
mann um die fechzigjährige „untröſtliche Witwe Dunker 
heißt e8: 

Als Frau Dunler ein Jahr lang Witwe war, blieben trotz 
ihrer vorgerlicten Jahre die Freier mit aus. Auf einem 
Bätten, weldes in Witices „Morgen- und Abendopfer“ 
lag, Eonnte man zehn Namen lefen, die alle untereinander 
fanden. Eines Morgens ſtrich fie ſechs davon aus, dachte dann 
ernfli nad), fegte mit einem Meinen Beſen forgfältig den 
Staub von den Flügeln des Amor, der anf der Pendlile fah, 
und ſtrich nod zwei Namen von der Lifte aus. Während fie 

6* 


ET ET 
a αρσνανσ— α 


44 Aus der neueſten dentſchen Romanliteratur. 


die beiden übriggebliebenen Namen aufmerkſam betrachtete, kam 
gerade das ältefte Dienſtmädchen und brachte ein Briefchen. 
Sie öffnete daffelbe und athmete mit Wohlgefallen den Patchonli⸗ 
geruch, den es ausſtrömte. Der Inhalt mußte äußerſt ange- 
nehm fein, denn die Augen der faft fechzigjährigen Witwe 
glänzten, und fie blidte raſch einmal in den Spiegel, als wolle 
fie fih überzeugen, ob die Schmeicheleien des neuen Freiers 
auf Wahrheit berubten. .. Auf dem prachtvollen Grabftein des 
jeligen Lieferanten Dunker flanden zwar in prangenden Gold: 
Yettern die Worte: „Betrauert von feiner untröfllichen Witwe‘, 
aber der Steinhauer wußte, wie das zu verftehen fei, nnd wäre 
er Junggejelle oder felbft troftlofer Witwer gewefen, fo würde 
er vielleicht der erſte geweſen fein, der jenen Spruch unwirl⸗ 
fam zu machen verfuchte,.... Ale am Tage nad dem Empfang 
feines Brief8 der gewandte Konrad Lohmann den angeltindigten 
Beſuch machte, ließ fie ihn nicht abweiſen, und nachdem er feine 
feurigen Herzenswünſche in ſchwungvollen Worten zu erfennen 
gegeben, verbarg fie ihr mehr ale funfzigjähriges Haupt mit 
dem falſchen Lodenihmud an feinem Buſen und gab ihm ihr 
Fawort. .. Der frühere Stand eines Kammerdieners hatte bei 
der Werbung um die Hand der reihen Witwe wefentlihe Bor- 
theile gebradt. Ein Kammerdiener ahmt feinen Herrn leicht 
nad, und flieht er einigermaßen gut aus, fo macht er in feinen 
Kleidern Überall den Eindrud eines vornehmen Mannes, na⸗ 
mentlich einer Witwe gegenüber, die von ihrem erſten Dann 
nicht verflanden wurde und ihre geiftige Nahrung aus Romanen 
und Andachtsbüchern zieht. Da Zuvorfommenheit und Dienft- 
fertigfeit die zweite Natur eines Kammerbieners find, jo ift ein 
folder vortrefflih zum Liebhaber geeignet, und die zartfühlende 
Witwe des proſaiſchen Lieferanten hoffte an der Seite des 
Kammerdieners a. D. fehr glüdlich zu werden. 

‚Bei der alten Nürrin ftellen fid) die natürlichen Nad)- 
wehen (vulgo Katenjammer) über ihre neue Heirath bald 
ein, und fie macht Vergleiche zwifchen ihren zwei Männern: 

Klara'e erfier Dann war den Zag über ſtets aufer dem 
Haufe und befümmerte fi gar nicht um die Gefliple, welche 
in demfelben für ihn forgten; ber zweite Gatte hatte dagegen 
nichts weiter zu thun, ale den ganzen Tag in allen Eden und 
Winkeln umberzufpioniren, alles zu bemäleln, namentlich aber 
unter allerlei Borwänden in die Kliche zu kommen, wenn bort 
zufällig die Köchin, eine junge frifhe Dirne mit rothen Baden 
und prallen Armen, allein war. In ſolchen Augenbliden ver- 
gaß er denn auch vollftändig fein ernſtes, geſetztes Weſen und 
präfentirte fich fo jugendlich als möglich. Ueberhaupt hatte er 
jehr viel Sinn für weibliche Reize, die weniger als dreißig 
Sabre, alſo bedentend jlinger als die feiner beſſern Hälfte waren. 
Der felige Dunker hatte Geld in das Haus gebradjt, und Loh⸗ 
mann fchleppte es daraus fort, denn er hatte von feinem Auf- 
enthalt im gräflich Seefeld'ſchen Haufe allerlei noble Baifionen 
mitgebradjt. Dies Iettere wog jchwer bei feiner Frau, denn 
fie hing außerordentlid an ihren Procenten und Hypotheken. 
Aus den Nebeln der Vergangenheit erichien ihr der Garnifone- 
lieferant Dunfer befreit von feinen Mängeln: der gänzlichen 
Sleihgültigkeit gegen fie und den ewigen Geichäften außer dem 
Haufe. Dafür ſchmückte ihn ein Strahlenfranz von Bank⸗ 
billeten; er ließ ihr volllommen Freiheit, fireute goldene Münzen 
in ihren Scho® und hatte ebenjo wenig für andere weibliche 
Weſen Zeit wie für fie. Sett aber, in der Wirklichkeit, ſah fie 
fi) au der Seite eines genußfüchtigen Menſchen, der in der 
Küche des Strafen Seefeld viel zu viel Erfahrungen in delicidfen 
Schüfſeln gefammelt batte, die er nun für fich verlangte, um 
fie mit einer feinen Flafche Wein aus dem Keller von Dunker 
jel. hinunterzuſpülen. 


Die alte Galden, das vollendete Miuftereremplar einer 
boshaft Feifenden und verleumbenden Schwägerin, ein 
Naturſtück, an derber Wahrheit fo ziemlich das koſtbarſte 
der Sammlung, erzählt am Sterbebett ihres Mannes, 
nicht verſäumend, fo oft fie den Seligen nennt, die Augen 
zu wifchen und tief aufzufeufzen: 

Ja, es iſt ein gar trauriger Anblid, jo ein todter Menſch. 


Sie Hätten ihn fehen follen, wie er jung war und mir nad- 
ing und nicht nachließ, bis ich ihm verfprochen hatte, ihn zu 
eirathen. Was konnte ich Beſſeres thun? Ich diente beim 

Secretär Kappes, und der ältefle Sohn ftellte mir damals nad; 

o, ih war ein ganz anjehnlihes Mädchen, wie ih fo in 

Emiliens Alter war, und der Herr Candidat, des Herrn Secre- 
tärs ültefter Sohn, wollte mich partout Heiratben, wie er mir 

oft genng fagte, wenn id) fein Zimmer rein machte, denn auf 

Keinlichleit wurde in dem Haufe fehr gehalten. Nun alio 

merkte die Frau Secretärin, die eine alte Here war, wie die 

Sadje lag. Das gab einen Gpectafel, fie nannte mid eine 

ſchamloſe Perſon und wollte mid mir nichts dir nichts aus 

dem Haufe ihiden. Da legte ſich aber dex Herr Gecretär jelbft 
ins Mittel; ich durfte des jungen Heron Zimmer nicht mehr 
betreten. Es iſt mir, ale ob ich es noch ſähe. Es lag nad 
binten hinaus und hatte rothe Gardinen, denn der Herr 
Candidat rauchte ſtark. Ia, das Rauchen, das Rauchen, dar- 
über gab e8 manchen Aerger, obgleich es ja auch für die Zähne 
gut fein foll, was ich einmal vergeblich verjudt habe. Nun, 
bei vielen Männern ift e8 eben die Balfton, und mein Mann 
fonnte aud ohne fein Pfeifchen nicht gut fertig werden. Da- 
mals alfo blieb ich im Haufe des Secretär Kappes, bis das 

Vierteljahr um war. Mein Mann war Gebülfe in der Nach⸗ 

barfchaft beim Schufter Hafenlauf. Die Leute Hatten nicht viel 

zu thun, und ich fagte noch kurz vor feinem Tode zu meinem 

Mann: Bater, fagte ich, bei Hafenlauf konnteſt du auch nicht 

viel fernen, was er auch zugab und fagte: Nun, ich babe dich 

doch dort kennen gelernt. Ad, es war ein gar lieber Mann, 
und damals, al8 er noch Gehülfe bei Hafenlauf war, ging er 

Sountags immer fo fein wie ein vornehmer Herr. Nun alfo, 

jo fam es, daß wir uns heiratbeten. 

Wenn das nicht das perjonificirte ſchwatzende Waſch⸗ 
weib ift, wir wüßten wahrlich nicht, wo wir es zu ſuchen 
hätten. 

Die Yeinheit der Beobachtung und die fchlagende 
Richtigkeit der eingeftreuten Reflexionen bezeugen eine große 
Zahl von Stellen. Man nehme als Beifpiel die folgen- 
den. Ueber die Denkweiſe der Frauen mit Bezug auf 
den Sittenpunft thut der Autor die von gründlicher Kennt. 
niß der weiblichen Natur zeugenden Ausſprüche: 

In Angelegenheiten der Sitte find Frauen umerbittlich, und 
dies Tann, umjerer gejellfchaftlihen Organifation zufolge, nicht 
anders fein. Kein richtig denfender und fühlender Dann wird 
wünſchen, daß unſere Frauen Teichtfinnig über den Werth des 
guten Rufe denlen, jeder aber wird bei vorlommenden Fällen 
finden, daß oft gerade die edeldenkendften, großherzigften Frauen 
eine unglanbliche Grauſamkeit und Xheilnahmlofigfeit an den 
Tag legen können, fobald es ſich um ein weibliches Weſen 
handelt, deffen Ruf, wenn aud) nur fcheinbar, befledt if. Und 
wie wenig gehört oft dazu, um im dem Augen fittlich ſtrenger 
—* den Schein des guten Rufs zu vernichten! Ein Zu⸗ 
all, eine Unvorfichtigkeit genfigt zuweilen, um jahrelanges gutes 
Berhalten vergeffen zu maden. Kommen andere Bornrtheile 
binzn, fo kann e8 fich ereignen, daß die räthfelhafteften Erſchei⸗ 
nungen des weiblichen Seelenlebens zu Tage treten. Alles 
dies iſt pſychologiſch in der feltfamen Stellung begründet, welde 
die Frauen der modernen @&efellichaft einnehmen. Muth, Geil, 
Talent, dieſe Eigenſchaften find Vorzüge, die ſelbſt den fittlich 
verwahrloſten Mann fühig machen, fi dod zur Geltung zu 
bringen, während von der Frau vor allen Dingen Unbefcolten- 
heit verlangt wird und nichts ihren einmal verlegten Ruf her⸗ 
zuſtellen vermag. u 

Wennſchon in diefem Pafius die eigenthümliche Stel- 
lung der Fran im unferer Geſellſchaft ganz richtig berührt 
worden, fo anderwärts viel fchärfer und unter ausbrüd- 
Iiher Betonung einer nothwendigen gründlichen Reform. 
Wieder anderswo finden ſich fcharfe, ja ſchneidende Ein- 
blide in die Forderungen bes alltäglichen Lebens, eine 
entnächterte Abſchätzung des Werths und Kinfluffes von 

/ 





Ideal und Wirklichkeit. 
Ratıtren bemerkt Glaſer: 

Es gibt menſchliche, namentlid weibliche Naturen, die 
durch äußere Einflüffe entweder zu einem glänzenden, aber 
innerlich hohlen Dafein geführt werden, oder anf dem Wege 
zu biefem Ziel elend verlommen. Berühmte Maitrefien, viel 
gefeierte Sircusreiterinnen und manche fchöne Bühnenheldin ge- 
hören zu diefen Naturen. In ihnen ſchlummert gleichfam der 
Keim zu großen erfolgreichen Thaten, aber verfehlte Erziehung, 
fremde Einwirkungen und beim weiblichen Gejchlecht der Mangel 
der ftrengen Lebenzfitte hemmen und verfiimmern das Gedeihen 
und führen abfeits. 

Eine folde Natur ift unfere Heldin, und darin liegt 
ein Grund zu ihrem Untergang, und dieſe naturgemäße 
Beftimmtheit klärt in unferm Gefühl ihr tragifches Ende 
ab. Der geiftige Proceß in ber mit einem „deal bes 
Höhern erfüllten, aber nicht mit fiherm Halt in fi und 
nicht wit confeguenter Erziehung ausgeftatteten Seele von 
dem Augenblid an, da fie ihre Liebe verrathen glaubt 
und Fein Lebensziel mehr vor ſich fchaut, bis zu dem⸗ 
jenigen, mo fie fich als leichtfinnige Maitrefie hergibt, und 
dann wieder die lebten verfpäteten Kettungsverfuche und 
die Rückkehr zu dem fie verftoßenden Baterhanfe find mit 
aller Yeinheit und vertiefter Wahrheit der feelifchen Vor⸗ 
gänge in den verfchiedenen Webergangsftufen begleitet. 
Richt minder tragen die Blide in den Hanshalt einer 
elend verkommenen Familie aus ber Wrbeitermelt den 
Stempel der tief mit dem Herzen erfaßten Treue und 
Imigkeit. Dan nehme einmal die Stelle, wo bie theils 
forglos, theils mitde entjchlafenen Aeltern ihr fieberfrantes 
Kind ohne Hülfe fterben lafien: 

So fhliefen die beiden Weltern, und niemand wadıte am 
Lager des todkranken Kindes, das bald fon nicht mehr fagen 
tormte, daß es Durft habe, und deſſen ſchwacher Körper. nicht 
im Stande war, dem beftigen Fieber länger zu wiberfiehen. 
Niemand hörte fein immer leifer werdendes Wimmern, niemand 
fahb den Angftichweiß, der das Meine Geficht des armen Wefens 
bededte, in deſſen Kopf es hämmerte und pochte und dröhnte, 
und defien Mund wie Feuer brannte, und niemand vernahm 
endlich nad flundenlangem Todeskampf das Leife jchmerzliche 
Röcheln und den letzten Athemzug, der fa wie ein dankbarer 
Hauch für die Erlöfung von namenlojem Elend Hang. 

Wir fchliegen unfern Gang mit zwei Heinern Com⸗ 
pofitionen: 

6. Moralifde Novellen von Paul Heyſe. (Adte Samm- 

Iumg.) Berlin, Herb. 1869. Br. 8. 2 Thlr. 

Diefe Novellen zeigen jene an dem Dichter gewohnte 
Sauberkeit der Zeichnung, welche die anmuthenden Genre. 
bilder entwirft, können aber nicht auf tiefern Gehalt 
Anſpruch madjen; es ift anheimelnde Unterhaltungslektüre, 
wie fie in alle Hände Tann gegeben werden, mit recht 
familiären Zügen. „Better Gabriel” behandelt eine doppelte 
Brantwerbung an einem und demfelben Tage, die zweite 
unternommen in verbittertem Gram über bie zurüidgewiefene 
erfte, eine anfcheinend verleugnete Jugendliebe. Die Ber» 
widelung, die den etwas umüberlegten Streich leicht hätte 
tragiſch geftalten fünnen, endet mit allgemeiner Befriedi⸗ 
gung. „Die beiden Schweftern‘ find die in Briefe gefaßte, 
balb humoriftifche, Halb ernfte Herzensgefchichte einer un⸗ 
befangen gutmüthigen Seele, deren Pilantes darin liegt, 
dag die Schreiberin einem Hausfreunde die ſchöne junge 
Schwefter zuzufüihren glaubt, während fie felber feine 


Ueber gewiffe beſonders geartete 


Aus der neneften deutfhen Romanliteratur. 45 


Neigung bat. „Lorenz und Lore.” Sehr Tieblih. Wie 
in der Cholerazeit ein Jugendbekannter die faft ver- 
geflene Yugendfreundin findet und zur glüdlichen Gattin 
macht. Das aus fehwerem Leib herauswachſende Glüd 
in den. guigezeichneten Webergängen gibt ein wohlgelun- 
genes, gut contraftirtes Lebensbild. „Am Todten See“ 
beftätigt in Parallele zu den voransgegangenen die immer 
fi) erneuernde und immer richtige, weil auf einem tief 
gegründeten Seelenzug ruhende Beobadhtung, daß alle an 
das Tragifche ftreifenden Beiftes- und Lebensentwidelun- 
gen eine geheime Anziehung auf uns ausüben, deren dunkle 

eize durch Feine andern noch fo anmuthigen ober gar 
rofenrothen Lichtfärbungen aufgewogen werden fünnen. 
‚Jene weden in uns weit länger nachhaltende Vibrationen. 
Diefer Arzt, der durch ein Verhängniß, wonad er fich 
faft al8 den Mörder feiner Wohlthäter anflagt, zur Ver- 
zweiflung am eben getrieben und eben im Begriff ift, 
fi im Todten See zu ertränfen, dann aber durch Zu- 
fall zur Hillfeleiftung gegen ein eben angelommenes zartes 
junges Mädchen angetrieben wird, das Kind rettet und 
die Mutter als Gattin gewinnt und ein neues Xeben fich 
erfchließen ſieht: wir Haben in ihm in kurzem Zeit. 
raum eine fo veiche, mechjelnde und durch ſchwere Con⸗ 
trafte gehobene Geiftesentfaltung, daß wir gefpannt und 
gefeilelt folgen. „Der Thurm von Nonza“ ift eine cor- 
ſiſche Geſchichte nach Guerrazzi. 

Die Art von Heyſe's ſprechender und anſprechender 
Schilderung mag gezeichnet werden an den Einleitungs⸗ 
ſätzen zu dem Bild „Am Todten See“: 

Es war mitten im Sommer, aber oben im Gebirge wehte 
ein ſchneidend kalter Wind und drohte den ſtark niederſtrömen⸗ 
den Regen in Schnee zu verwandeln. Die Luft war ſo ſchwarz, 
daß man das Haus am Todten See kaum auf hundert Schritte 
unterjchied, obwol es weiß getlindt war und der Tag fich eben 
erft neigte. Drinnen hatten fie euer angemacht, die Wirthin 
ftand im der Klihe und briet ein Gericht Fiſche, während fie 
mit einem Fuß die Wiege fhanfelte, die neben den Herd gerückt 
war. Im der Gaflftube lag der Wirth auf der Ofenbanf und 
fhimpfte auf die Fliegen, die ihm nicht ſchlafen Tießen; eine 
barfüßige Magd fpann im Winkel und ſah dazwiſchen durch die 
trüben Scheiben jeufzend in das wüfte Wetter hinaus; ein vier- 
ſchrötiger Knecht fam brummend herein, fchlittelte ſich wie ein 
Hund, den man ins Wafler geworfen, daß die ſchweren Regen- 
tropfen rings umher aus feinen Kleidern fprigten, und warf 
einen Hanfen naffer Fifchernege in die Ede neben dem Ofen. 
Keine |prad ein Wort. Es war, als fürchtete jedes, daß die 
Wolle von Unmuth und Berdroffenheit, die über dem Haufe 
lag, fi in einen Hagel von Zank und Zwift entladen würde, 
wenn man nicht an fich hielte. Die Hausthlir ging, und ein 
fremder Schritt tappte dur den finflern Flur. Der Wirth 
rührte fi nicht, nur die Magd fand auf und öffnete die 
Thür des Gaflzimmers. 


7. Entſchwundene Zeiten. Nachgelaffene Erzählungen und Bil⸗ 
der von Theodor Meyer-Merian, herausgegeben von 
5. Oſer. Baſel, Georg. 1869. 8. 1 Zhlr. 6 Nor. 
Wenn Heyfe trog alles aufs Leben AZutreffenden in 
der Zeichnung doch einen idealiſtiſch gerichteten Zug ent- 
ſchieden wahrt, fo ſtellt uns dagegen dieſer nun bereits 
im Grabe ruhende fchweizerifche Erzähler mit feinen nach⸗ 
gelafjenen Erzählungen und Bildern ganz unmittelbar in 
die Nealität des eng begrenzten Lebens ber fchweizerifchen 
Städte hinein, ja die meiften Züge mahnen uns ganz 
genan an die Phyfiognomie der guten alten Stadt Bafel. 


46 Feuilleton. 


Wir werben bineingeführt in alle das anheimelnde, edige, 
enge XTreiben, für defſſen befondere Phnfiognomie man 
auch einen befondern Sinn haben muß, um fie nicht lang⸗ 
weilig zu finden. Es ift damit wie mit dem bier eben 
auch oft wach gerufenen Iugenderinnerungen, die fo lang 
ihren eigenen und unerjeglichen Reiz bewahren, als Herz 
und Sinn dafür jung bleiben, nachher aber auch unfehl- 
bar kleinlich und verblüht erfcheinen, ſodaß es feiner 
Kunft gelingen könnte, den verblichenen Zauber wieder 
frifch zu färben. Mit wie liebendem Verſtändniß auch 
Meyer diefe vertrauten Züge erfaßt und zum traulichen 
Kranze verbunden habe, man kann doch ben Eindrud nicht 
verwinden, daß es auch gar zu alltägliche Dinge find, 
die Hier im ziemlicher Breite vor uns abgefponnen werben: 
ein kränkelnder Hageftolz, ber im Badeleben die Geſund⸗ 
beit und zugleich eine Grau findet; ein armes Müdchen, 
das in einer mohlthätigen Familie zur tüchtigen Haus⸗ 
mutter herangezogen wird; ein unglüdlich verbeiratheter 
armer Baner, der verlommt, in Amerila fein Glück ſuchen 


geht und arbeitfam und zufrieden geartet, aber ohne Geld 
wieder heimkommt; ein ftudirter junger Herr, der draußen 
ins große Weltleben eingeführt ift und daheim beim Be- 
ſuch alles anders und Heiner und rveizlofer als früher 
findet, dann aber durch die Liebe dem Baterlande wieder 
gewonnen wird; ein Pärchen aufwachfender Gartennach⸗ 
barn, bie nachher zu Liebenden werben u. f. w.: das find 
die aus dem unmittelbaren Alltagsleben herausgelangten 
Perfonen und Scenen. Das anziehendfte Bild ift „Der 
Brautſchmuck“, da eine großmüthig wohlthätige Handlung 
dazu führt, ein dauerndes Lebensglüd zu gewinnen. Auch 
eine ganz Meine humoriftifche Erzählung („Sympathetifcher 
Taback“) ift gelungen. Im allgemeinen ift die Ausfüh« 
rung für die ſchwachen Grundlagen zu breit; es find alt- 
bürgerlich behübig geftredte Schildereien, ganz in Schwei- 
zerart, wie es denn andy dem fchweizerifchen Weſen an⸗ 
gemefien ift, die naheliegende Realität zu zeichnen und 
mit allerlei Reflerionen auszuftatten. 
3. 3. Honegger. 


Fenilleton. 


Ein Shakſpeare⸗Epitaph. 

Das früheſte bekannt gewordene Gedicht anf dem Tod des 
größten englifchen Dichters hat Malone ans Guflavus Bran- 
der’s Manufcriptenfaminlung mitgetheilt, wofelbft dafjelbe über⸗ 
ſchrieben ifi: „Basse his Elegie one poett Shakespeare, 
who died in april 1616. Es findet fich ebenfalls in einem 
Manufcriptenbande aus Rawlinson’s Collections in ber Bodleian 
library zu Orford, fowie unter ben Sloanian Manuscripts im 
Muſeum, Nr. 1702. Die orforder Kopie ift betitelt: „Shak- 
speare’s Epitaph”. Der Name des Autors if nicht angegeben. 
Gebrudt find die Berfe in der Ausgabe von Ghafipeare’s 
Gedichten vom Fahre 1640 und „W. B.“ unterzeichnet. 
Hiernach Hält Malone einen Mr. William Baffe für den Ber- 
faffer, welcher (nad; „Athen. Oxon.”, II, 812) aus Moreton bei 
Thame in Orfordfhire geblirtig ‚sometime a retainer‘' des 
Lord Wenman of Thame Park war. Diefem William Baffe 
it auch ein Gedicht des Dr. Bathurſt „upon the intended 
publication of his poems, Jan. 18, 1651 gewidmet 
(„F. Bathurst’s Life and Remains by Th. Warton‘, 1761). 
Malone glaubt nun, daß Baſſe's Gedichte niemals im Drud 
erichienen fein. Nun if uns aber ein Gremplar der 
„Wits Recreations. London. Printed by R. H. for Humphry 
Blunden at the Castle on Cormn-hill 1640°, jener der 
Shalfpeare-Literatur durch ein darin unter Nr. 25 entbaltenes 
Epigramm „To Mr. William Shake-speare‘ befannten Samm- 
lung, zu Geficht gefommen, in weldem ſich unfer Gedicht eben- 
falls, aber auf eine eigenthümliche Weife, befindet. Unmittelbar 
auf den Xert der „Wits recreations‘‘, welche ohne das übliche 
„Finis‘ abſchließen, folgen nämlid 24 unpaginirte Blätter, 
ohne Titelblatt, unter der Bezeichnung „Epitaphe’’ über der 
erſten Seite. Ob dies Heft urfprlnglich dem Hauptwerk an- 
nectirt oder blos durch den Buchbinder damit vereinigt, war 
nicht auszumadhen. Es find 126 Grabſchriften, gleich die flinfte 
ift unfer Gedicht, Hier „On William Shake-speare‘' betitelt, 
die Anndertelfte „On Richard Burbage & famous actour‘' lautet: 

„— — Exit Burbage.” 
Auf der lebten Seite ftebt: 
„Finis. 
Oectob. 8. 1639. 
Imprimatur. 
Matth, Clay.‘ 

Diefe bibliographifchen Notizen gründlichern Shakſpeare⸗ 
Forſchern zur Berwerthung überlaffend, begnligen wir uns, jene 
intereffanten Berfe bier auszugsweiſe mitzutheilen. Im Ein- 


gan e werden Spenfer, Chaucer und Beaumont aufgefordert, 
n Beftiminfter-Abbey näher zufammenznrüden, um Shafipeare 
neben fid) als vierten aufzunehmen. Sollten fie ihm aber das 
Grabmal verfchließen, dann — | 

Schlaf unter beinem heil’gen Marmorſtein, 

Großer Tragode Shalſpeare, fihlaf allein! 

Ruh’ aus im Grab, das bir als Herrn gehört, 

Nicht als Bafal’n, einfam und ungeflört; 

Einft wird es fein ber höchſte Ruhm auf Erben, 

Un deiner Seite beigeſetzt zu werben. 


Straßennamen von Bewerben. 

Nah Bollendung feiner beiden großen Namenlerica, der 
altdeutfchen Berfonennamen und der altdeutfhen Ortsnamen, 
weldje den gewaltigen Stoff aufſpeichern und der wifienfchaft- 
lihen Benutzung darbieten, unternahm es Ernft Körftemann, 
in einem abhandelnden Werft Üiber „Die deutfhen Ortsnamen‘ 
(Nordhaufen 1863) mit Ausfhliefung aller Specialgelehrfam- 
keit eine leichte Ueberficht Über das Gebiet der deutfchen Orts- 
namentunde zu gewähren. In dem Kapitel ‚Beflimmunge- 
wörter‘ führte die Betrachtung aud auf die zahlreichen Straßen- 
namen, welde auf ein beflimmtes Gewerbe hindeuten. Förſte⸗ 
mann gab, um die Wichtigkeit diefer Namenklaſſe anſchaulich 
zu machen, ein Meines alphabetifches Verzeichniß von hierher⸗ 
gehörigen Ansprüden. In Parentheſe fette er die Stadt, in 
weldher die betreffende Straße liegt. Diele Heine Sammlung 
bat Förſtemann im Laufe der Jahre vermehrt und gibt ums jetzt 
in Bfeiffer’s (Barth’e) „Germania“, 14. Jahrgang (1869), eine 
recht ftattliche Anzahl ‚Straßennamen von Bewerben‘. In 
biefes Gloſſar find auch einige niedere Beamtenklafſen aufge- 
nommen, welche bem Gewerbebetrieb nahe ſtehen. Der. Samm⸗ 
ler verfennt nicht, daß es mitunter möglich fei, falfche Schlüfſe 
ans den Straßennamen zu ziehen. Erftene können die Namen, 
anflatt, wie es zunächſt fheint, auf die Gewerbtreibenden, viel- 
mehr auf Familiennamen gehen, ſodann kaun eine Straße nach 
dem zunädft liegenden Ort genannt fein und ſcheint doch durch 
zufällige Uebereinfimmung in der Form von einer gewerblichen 
Beichäftigung herzurlihren. In diefen Straßennamen von Ge- 
werben find num vertreten die Nahrungsgemwerbe, Bekleidungs⸗ 
gewerbe, beide reichlich; geringere Anzahl bietet, mas zur Woh⸗ 
nung gehört. Die Berfertiger verfchiedener Geräthe bilden eine 
fehr große Klaſſe; dazu gehören and) die Berfertiger von Waffen. 
Selbſt in das Gebiet der Kunft fpielen diefe Straßennamen 
binliber. So reich aud der von Förflemann gegebene Ueber: 


— — 


Feuilleton. 47 


blid das geſammte Material erſcheinen läßt, fo findet ſich nad) 
feinem Betinntniſſe darin doch gewiß mod lange nicht die 
Hälfte der in deutfcher Sprache vorhanden gewefenen Hand- 
werkebszeichnungen. Aber auch für bie betreffenden Gtraßen- 
namen ſelbſt fei jeine Sammlung noch nicht im entfernteften 
volfändig, namentlich nicht für Giddeuticland; aus ber 
Schweiz bringe er vollende gar nichts bei, ebenfo wenig aus 
den baltifhen Fändern Ruplande. „Genug“, ſchlieht Förfer 
mann feine Mittheilung, „es thun mir noch viele Nadhträge 
moth, und ich erfuche diejenigen, melde folde liefern können 
und wollen, reht Herzlich, fie entweder mir ober diefer Zeit 
ſchrift (der « Germania») einzufenden, damit fi alles Zufam- 
mengehörige and zufammenfinde.* 


Eugliſches Urtheil Über neue Erfgeinungen ber 
dentfhen Literatur. 

Ueber „Friedrich Wilhelm I. König von Preußen“ von I. 9. 
Droyfen jagt die „Saturday Review“: „Bon allen Sonderbar- 
feiten Carlyle's if feine feiner Eigenſchafi ale Schriftfteller dem 
richtigen Urteil naqtheiliger geweien, als feine ſcheinbat unver- 
münftıge Borliebe für Friedrich Wilhelm, den Bater Friedrich's 
des Großen, den man gemeiniglic als das Mufter eines rohen, 
mörrifcen, Iniderigen, Mäglichen Despoten betrachtet. Auf den 
erften Blid könnte es nun feinen, als ob Carlyle enblih an 
feinen Tadfern gerät würde, wenn wir nämlich, einen Hifto- 
rifer don Droyſen's Bedeutung die Bertheidigung, wir möchten 
faſt jagen, die Lobrede diefes vielgejhmähten Herrſchers über- 
nehmen fehen. Bei genauerer Prüfung indeffen wirb es ſich 
ergeben, daß Dropfen’s Gefitepunkt in Wirklicfeit mit dem 
Cariyfe’s nur wenig Gemeinſchaft hat. Carlyle bewundert 
feinen Helden feiner Mängel halber, Drohfen aber trof derjelben. 
Gerade die rohe Kraft in ihrer unzweibentigften Geſtalt fefjelt 
die Einbildungskaft bes Apoſtels der Macht, deffen natürliche 
Sympaıhie für jeden Gegenftand Übrigens gewiß in genauem 
Berhältniß zu feiner Eckigteit und Sonberbarfeit ſteht. Carlyle 
hat zwar fehr viel für Friedrich Wilhelm als Herrſcher zu ja- 
gen; allein wir lönnen nicht umbin, zu fühlen, daß feine Ber 
tounderung rigentfich auf etwas ganz anderm beruht. Ex mag 
ihn mol als Monarchen achten, aber er verehrt ihn ale Bar- 
baren. Dropfen befolgt eine ganz verfjiedene und dem ge 
wohnlichen Leſer fi wahrfheinlih mehr empfehlende Art der 
Bertheidigung. Weder reditfertigt no ignorirt er Friedrich 
Wühelm’s Fehler, fondern er läpt fie in den Hintergrund tre« 
ten, und bemüßt fi, fie nicht ais die hervorfpringenden Züge 
feines Charakter darzuftellen. Er deutet an, ab fie haupt» 
fädjfich infolge des Geſchwätzes von Kammerdienern und Wartes 
frauen oder des Spieens getäufgpter Diplomaten fo ſcharf her- 
vortreten. Er ſchildert des Königs Verdienfte im ſtärkſten Lichte, 
und läßt uns Scham darüber empfinden, daß wir ſolchen bloßen 
Xieinigfeiten bisher gefattet Haben, daß Lob, welches der That- 
traft, einem Scharffinn, einer Mäßigfeit und Gewiffenhaftigkeit 
fo jeltener Art gebührt, verdunfeln zu laffen. Die Ausführung 
diefes Vorhabens mocht eine mene Geldjighte der innern und 
äußern Politif Beeußens, befonders der iebiern während Friedrich 
Bilgelm’s Regierung uöthig. Der Gegenftand in viel zu ver» 
widelt, als daß wir hier näher darauf eingehen fönnten;- bie 
Behandlung aber zeigt, daß Droyfen feinen maffenhaften Stoff 
vollftändig beherrfäit, und daß er ihm außerordentlich gut zu 
ordnen und darzuftellen verſteht. Der große Fortſchritt Preußens 
in Madıt und Wohlktand unter dieſem König if unlengbar, 
und wenige werden befreiten, daß feine geſchickte Verwaltung 
während einer Zwifchenzeit tiefen Friedens bie militärifgen Tri 
umphe feiner Nachfolger angebahnt hat.“ 


Notizen. 

3. 9. von Kirchmann's „Philofopdifhe Bibliothek‘ 
(Berlin, Heimann) ſchreitet ſehr rüftig vorwärts; es liegen bereits 
34 Hefte derjefben vor, in denen die Sepriften von Kant übermies 
gen: „‚Kritif der Uctheifefcaft“, „Anthropologie'‘, „Die Religion 
innerhalb der Grenzen der Vernunft“. Wuperdem wird das 
Bert von Hugo Grotius „Recht des Kriege und riedene'' 





veröffentlicht, allerdings eins der Gruudwerke der Staats 
und Rehrephiefophie, aber doch außerhalb der philofophifchen 
Strömung liegend, welche bie Syſteme der großen Denker her- 
borgerufen haben. Wir dirfen dann wol au auf die Werke 
von Hobbes und Pufendorf in biefer Sammlung rechnen, 
welche Hugo Grotius theils ergänzen, theils einen erfärenden 
Gegenfaßg zu ihm bilden. Kirhmann felbkt hat das Werk von 
Hugo Grotius Überfegt und mit Anmerkungen verfehen; fowie 
Friedrich Ueberweg Berkeley’s „Mbhandlung über die Brinci- 
pien der menſchlichen Erfenntniß‘. Außerdem finden fid 
Hume's „Unterjuhungen über den menſchlichen Berfland‘' 
amd Scjleiermader's „PBhilofoppif—he Sittertehre" unter den 
vorliegenden Heften. 

ir Haben e8 hier nicht mit einer blos enchflopäbifchen 
Beröfientlihung zu thun, fondern die veröffentlichten Werke 
werden faft alle durch die erflärenden Noten und größern Com⸗ 
mentare dem Berfländniß erfchloffen, freilich nicht ohme dag 
die philoſophiſche Grundanfhauung des Verfaffers fi gewiffer- 
maßen zum-Regulativ für dem geiftigen Proceß machte, der in 
der Aneignung aller diefer philoſophiſchen Lehren aus den ver · 
f&iedenften Zeitaltern der Menfchheit beftcht. Zu Kant’ „RKrie 
tif der praftifchen Wermunft“, wie zur „Kritit der urtheusirafte· 
I Kirchmann ausführliche, ſich der Paragraphenfolge anfchlie- 
jende Commentare geſchrieben, welche auf einzelne Punkte mei⸗ 
ſtens kritiſe eingehen, Auch entwidelt er jelbfländig in einem 
eigenen Hefte „Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral 
als Einleitung in das Studium rechtsphiloſophiſcher Werte". 
Mit manchen phifofophifchen Herleitungen des felbftändig denfen- 
den Autors fönnen wir uns nicht einverflanden erklären. Wohl 
aber hat er das Verbienft, auch in die Mechte- und Morale 
begriffe, die mit einer gewiſſen zeitlofen Starrheit ſelbſt in fol« 
gen bewegungäfrendigen Syſtemen, tie das Hegel’ihe, ihre 
orthobore Aleinbereitigung aufrecht erhalten, den Strom der 
biforifhen Bewegung geleitet und den thatfähligen Umftand, 
Daß Rechts · und Moralbegriffe im Laufe der menfchheit- 
lien Entwidelung wandeln und verſchiedenen Völkern in 
verſchiedenen Zeiten verſchieden find, philofophifch begründet zu 
haben. Er führt dem Wechſel in der Moral und dem Rechte 
der Bölter auf die Abhängigkeit derfelben von ben drei Factoren 
des Wiffens, der Macht des Menfchen ber die Ratur und feine 
Empfänglichfeit für die Urfachen der Luft zurlid. 

In demfelben Berlag (Berlin, Heimann) erfheint eine 
„Hiforifg-pofitifhe Bibliothek“, welde «6 fih zur 
Aufgabe fiellt, eine Sammlung von claffiihen Meifterwerten 
auf dem Gebiete der Geſchichte und Politik aus alter und neuer 
Zeit, die bisher trog ihrer Clafficität nicht die ihnen ge 
bührende allgemeine Verbreitung im gebildeten Publikum ge- 
funden haben, theils weil die bisherigen Ausgaben unzu- 
gänglih und zu theuer, theils weil es geradezu an guten 
Ueberfegungen fehlte, im neuen billigen Ausgaben zu bringen. 
Die vorliegenden dreizehn Hefte bringen Henry Thomas Budie's 
Geſchichte der Civilifation im England “,  überfegt von 
Immanuel Heinrich Ritter, „Fichte's Reden an die deutſche 
Nation‘, ein Gejprä von Hntten „Ueber die römiſche Drei- 
faltigkeit' umd eim Werk, welches man zunächſt in diefer Bi- 
bliothet nicht fuchen würde: Johann Joahim Windelmann’s 
„Ürigigte der Kunft des Alterthume”. 

on der „Coſtümkunde“ von Hermann Weiß liegt die 
fünfte und ſechöte Lieferung vor, melde vorzugsweiſe die Trach⸗ 
ten der Männer und Frauen bei den verfdjiedenen Völkern im 
16. Jahrhundert fchildert. 


Bibliographie. 








eu 
He N 
sinnen von Eybern. 


. . 1869. @r. &. IE 

+ D Die preußif ulatiı id bie IE“ 

— ein lage jr Binsteid, Yannasırı Meyer Gr. 
ar. 


48 


Unze 


Anzeigen, 


igen. 


— — 


Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 


Responsa ‚ad calumnias Romanas. 


Item Supplementum Novi Testamenti ex Sinaitico codice 
anno 1865 editi. 


Seripsit 
Constantinus de Tischendorf. 
8. Geh. 10 Ngr. 


Eine energische, an die Partei der Civilta Cattolica zu 
Rom gerichtete Antwort. Die von dieser Partei unternom- 
mene Vertheidigung Angelo Mai’s als Herausgebers des 
Codex Vsticanus wird in voller Blösse hingestellt, ebenso 
die undankbare und gehässige Entstellung alles dessen, was 
Prof. von Tischendorf in Betreff des Codex Vaticanus und 
der neuesten päpstlichen Ausgabe geleistet hat, 

Das „Supplementum“ bereichert das Novum Testamentum 
ex Sinaitico codice „Vaticana lectione notata‘‘ (1865) ausser 
andern Nachträgen mit den reichen Resultaten der Tischen- 
dorf’schen (und neuesten römischen) Bearbeitung des Codex 
Vaticanus. 


In demselben Verlage erschien: 


Novum Testamentum Graece. Ex Sinsitico* 
codice omnium antiquissimo Vaticana itemque Elzeviriana 
lectione notata edidit Constantinus Tischendorf. 
Cum tabula. Accessit Supplementum 1870. 8. Geh. 4 Tbir. 
Geb. 4), Thir. 


Diese Ausgabe des Novum Testamentum aus dem Codex 
Sinaiticus ersetzte das so schnell vergriffene Novum Testa- 
mentum Sinaiticum (1863). Es hat vor dem letztern noch 
voraus die Vergleichung mit dem sogenannten textus re- 
ceptus und mit dem Codex Vaticanus. Das jetzt beigefügte 
„Supplementum‘“ mit mehrern Nachträgen, besonders den 
vielen Berichtigungen der Vaticanischen Lesarten, die erst 
durch Tischendorf’s eigene Ausgabe des Vaticanus möglich 
wurden, erhöht noch wesentlich den Werth des Werks. 





Derlfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erfdien: 


Gemälde der mohammedaniſchen Welt. 
Bon 
Iunlins Braun. 
8 Ge. 2 Thlr. 15 Nor. 


In diefem Werke Liegt die letzte Arbeit des verdienftvollen 
Geſchichtsforſchers vor, die er kurz dor feinem Tode vollendet 
hatte. Sie ift zugleich — wie Profeffor Moriz Earriere in 
einem Bormwort jagt — die reiffte Srucht feines unermüdlichen 
fühnen Strebens, feines vielfeitigen Wiffens, feiner künſtleriſchen 
Geftaltungstraft; umd gerade jeßt, wo der Kanal von Sue; die 
alten Eufturländer wieder in den Weltverlehr hineinzieht, wird 
Braun’s den ganzen Schauplag, alle Zeiten und alle 
Selten des Sslom umfaffendes Gemälde um fo mehr 
mit lebhafter Theilnahme empfangen werben. 


v Derfag von 5. 4 Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erfdien: 


Bibel-Sexikon. 


Realmörterbuhd zum Bandgebraud 


für Geiftlide und Gemeindeglieder. 


In Berbindung mit Dr. Brad, Dr. Dieflel, Dr. Dillmann, 
Dr. Sribfehe, &. Surrer, Dr. Ga, Dr. Graf, Lic. Jausreit, 
Dr. Higig, Dr. Holhmann, Dr. Keim, Dr. ſipſius, Dr. Man- 
gold, Dr. Merx, Dr. Wöldeke, Dr. Reuß, Dr. Roskoff, Dr. 
Schrader, Dr. €. Schwarz, Dr. A. Schweizer, Dr. Stark, 
Dr. Steiner und andern der namhafteſten Bibelforſcher 
beransgegeben von 


Kirchenrath Profeffor Dr. Daniel Schenkel. 
Mit Rarten und in den Text gedruckten Abbildungen in Holzſchnili. 
In 32 Heften ober 4 Bänden. 


Preis des Heftes 10 Ngr.; des Bandes: geheftet 2 Thlr. 
20 Ngr., gebunden 3 Thlr. 


Zweiter Band. (Didrachme — Heilig, Heilige.) 


Schenkel's „Bibel⸗Lexrikon“, das erfte deutfche Wert, 
welches ſich die Aufgabe ftellt, die Ergebniffe der Bibelforfchung 
gleihmäßig der Geiftlichleit und der Gemeinde dar- 
zubieten, hat bereits die allgemeinfte Theilnahme in den Kreifen 
der Gelehrten mie der Laien, fowie die lobendfte Anerkennung 
jeitens der Kritik gefunden. 

Mit dem zweiten Bande liegt num bereits die Hälfte 
des gediegenen Werks vor. In allen Buchhandlungen werben 
Unterzeihnungen auf Scentel’s „Bibel - Lerilou” in Heften 
oder Bänden, angenommen und ift ein Brofpect darliber 
gratis zu haben. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Ersch und Gruber's Illgemeine Encyklopãdie 
der Wiffenfchaften und Künſte. 


4. Cart. Geber Theil auf Drudpapier 3 Thlr. 25 Nor, 
auf Belinpapier 5 Thlr. 

As nene Fortfegung des Werks erſchien foeben der 87. 
und 89. Theil der L Section (A—G, beransgegeben von 
Hermann Brodhaus). 

Der 87. Theil bringt die mit dem 80. Theil begonnenen 
Artikel über Griechenland zum Abſchluß. Demfelben ıft ein 
Ian atilet Inhaltsverzeichniß über die Theile 80 — 87 beis 
gerügt. 

Der 89. Theil enthält in alphabetifcher Reihenfolge die 

Artilel Green — Gregorius; der 88. Theil ift bereits vorher 
erſchienen. 
DB Frühern Subſcribenten auf das Werk, welchen eine 
größere Reihe von Theilen fehlt, ſowie ſolchen, die als 
Abonnenten nen eintreten wollen, werden die günftigften 
Bedingungen zugefidhert. 





Berantwortlier Redacteur: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Verlag von $. A, Srohhaus in Leipzig. 


Bläfter 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—e Ar, A 8 


20. Sanuar 1870, 





Impalt: Ein Novelliſt in Verſen. Bon Rudolf Gottfal. — Bom Büchertiſch. — Neuere bramatifhe Dichtungen, Bon 
Beodor Wet. (Beſchluß.) — Feuilleton. (Gereimte antike Strophen; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Ein Novelliſt in Verfen. 


Gefammelte Novellen in Berfen von Paul Heyfe. Zweite 
h dorpete vermehrte Auflage. Berlin, Hertz. 1870. 8. 
t. 


Diefe gegen die erfte Auflage weſentlich vermehrte Samm ⸗ 
lung von Paul Heyſe's poetiſchen Erzählungen forbert die 
Kritik zu einer nähern Betrachtung des „Novelliften in Ber« 
fen“ herans. Die Novelle in Vers und Profa ift Paul Hey« 
je’s Specialität. Auch ift feine Behandlung der poetiſchen 
Erzählung in der That eigenthimlih und abweichend 
von derjenigen, die fi, dem Vorbild Byron’s und Tho« 
mas Moore’s folgend, nicht blos in Deuiſchland, ſondern 
im ganz Europa, namentlich auch bei den Slawen und 
Magyaren, den breiteften Pla erobert bat. Bon Byron 
Mingt ung das Mufter feines humoriſtiſchen Epos „Don 
Yuan“ bisweilen in den Heyſe'ſchen Dichtungen wider. 

Den poetiſchen Erzählungen Byron's: „Lara“, „Der 
Korfar“, „Die Braut von Abydos“, Hat man oft den 
Borwurf gemacht, daß fie zu fubjectiv feien, daß alle 
Helden nur den blafirten, abenteuerlichen Charakter des 
Dichters fpiegelten, daß die Gedankenwelt Byron's nur 
die Farbenpracht des füblichen Archipels und fein Welte 
ſchmerz die Masfe diefer Seeräuber und Glüdritter borge. 
Gewiß tritt der eigenthümliche Genius des Dichters in 
allen diefen Erzählungen unverhüllt hervor und brüdt 
ihnen ein weit Tennbares Gepräge auf, um fo mehr, als 
die Form der Erzählung nicht die Strenge des epiſchen 
Stils erſtrebt und lyriſchen Ergüflen einen weitern Spiele 
raum gewährt. Die Eigenthümlichkeit bedeutender Dic« 
ter, da8 innerfte Wefen ihrer Weltanſchauung fol über» 
haupt nie verdedt und verfchleiert werben. (Eine derartige 
DObjectivität würde zulegt auf die Nichtigkeit und Hohlheit 
jener Altagserzäflungen hinausfommen, in denen bie ein« 
zelnen Geſtalten recht feit und fertig gefnetet find, im 
denen aber die flachfte Alltäglichkeit das Gefeg des Schaf- 
fens und Geftaltens dictirt. Iſt doch auch der Genius 
eines Dichters, den man als ben objectivften feiert, der 

1870. 4. 


Genius Shaffpeare's, mit feiner oft verzweifelten Stepfls 


Über den Weltlanf und defien fortwährende Täufchungen, . 


in feinen Trauer- und Luftfpielen in gleicher Weife Tennt- 
lich und ſchafft fi bebeutende ober minder bebeutende 
Charaktere, die fein eigenftes Weſen fpiegeln. 

Auch Byron ift e8 mit feinen büftern, ffeptifchen 
Geftalten volllommener Ernft, und wenn bie Objectivität 
des Dichters in der Hingabe an feine Helden und ihre 
Schichſale befteht, fo ift Byron in dieſen Erzählungen ein 
vollfommen objectiver Dichter, der mit beheiftertem Schwung 
immer bei der Sache iſt. Die humoriftiichen Epen: „Don 
Iuan“ und „Beppo“, find aud) hier wieder ausgenommen. 

Paul Heyfe ift in feinen „Novellen in Verſen“ da- 
gegen meiften® fo fubjectiv wie Byron in biefen humo- 
riftifchen Gedichten. Ein ernſtes Interefie an ber Hand» 
fung läßt er faum auflommen; wir haben das Gefühl, 
dag der Dichter himmelhoch über den Ereigniſſen ſteht, 
welche er fehilbert, und daß er fie wie Spielzeug nur zur 
bunten Schau Hinftellt und fich und uns harmlos durch 
diefen Krimskrams zu ergötzen ſucht. Die Darftellung ift 
faft immer eine ironiſche, über die Ereignifie hinweg 
gleitende; fie ift deshalb Kühl und kann im ber Regel 
auch bie Leſer nicht erwärmen. Diefe empfinden mol 
Reſpect vor ber geiſtigen Sonveränetät bes Dichters, der 
fo ſpieleriſch und doch jo felbfibemußt das Traumfcepter 
der Romantik handhabt, mit ihrem Odem eine fo bunte 
Welt vol oft merkwilrdiger Abenteuer zufammenmweht; 
aber wo der Dichter e8 fo wenig ernft nimmt mit ben 
Vorgängen, die er ſchildert, da Lönnen auch feine Hörer 
und Lefer nicht zu ernflem Antheil begeiftert werben. Ihre 
Theilnahme ift vorzugsweife ber Virtuofität bes Dichters 
zugewenbet, welche mit der Kunſt des Taſchenſpielers die 
Ereigniffe in- und anseinanberfchiebt und mit ber gras 
ziöfeften Leichtigkeit und anmnthigen Berneigungen gegen 
das Publikum feine Meifterfchaft bekundet. 

Der Inhalt erſcheint dabei als zufällig und gleich- 

7 


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50 


gültig; ja geiſtige Bedeutung deſſelben wäre ſtörend, denn 
ſie würde auf die virtuoſe Behandlung drücken und ein 
ſelbſtändiges Pathos entwickeln, welches mit dem leichten 
Ton der Dichtung in ſchreienden Widerſpruch träte. Der 
Hauptnachdruck liegt alſo auf der künſtleriſchen Form, 
auf der formalen Meiſterſchaft der Behandlung — und 
dies gerade hat man in neuerer Zeit mit Recht als die 
„akademiſche Richtung“ bezeichnet. 

Wir wollen nicht behaupten, daß alle die „Novellen 
in Verſen“ dieſer Richtung angehören; aber in der Mehr⸗ 
zahl bderfelben ift der Inhalt Schaum und Traum, be= 
liebige Romantik in der Verkettung zufälliger Ereignifie, 
Geifenblafenfpiel der Phantafie, die in alle Coſtüme der 
Erde ſchlüpft! 

Mir denken nicht gering von ber formellen Meiiter- 
Ihaft und müffen der Mufe Heyſe's in Bezug auf dieje 
das größte Lob ſpenden. Die Grazie in der Behandlung 
der verfchiedenften Strophen ſowie des mannichfachſten 
Inhalts kann kaum größer gedacht werden und bezeichnet 
einen Höhepunkt des Fünftlerifchen Stils nad) der Geite 
der Anmuth hin, der unferer Literatur zur Zierde ge« 
reiht und gegen die Berwilderung eines oft burfchifofen 
und manterirten Kraftſtils, wie der falopen und lieder- 
Iihen Nachtreter Heine's einen für den Yortfchritt der 
, Dichtung erfreulichen Contraft bildet. Es ift der Triumph 
diefer Kunft, felbft die ſchwerern epifchen Versmaße, die 
ottave rime und Zerzinen, die Strophen Taſſo's und 
Dante’s, mit fo fpielender ‘Plauderhaftigfeit zu behandeln, 
daß fie dem leichteften Ton der Unterhaltung fich zwang⸗ 
[08 darbieten und dabei nirgends die Spuren einer Mühe 
und Arbeit zeigen, welche an ihrem prunfvollen Reim⸗ 
gewand dieſen gligernden Befag im Schweiße des An- 
geſichts anheftet. 

Doc wozu denn ber fogenannte tiefere Inhalt? — 
werben die Vertreter der Selbftherrlichkett der Kunft aus- 
rufen; je tendenz= und zwedlofer, deſto freier, berechtig- 
ter ift das dichterifche Schaffen. Die Phantajie ſoll ung 
ja eben aus biefer zwedvollen Welt entführen — und von 
ben Märchen aus „Zaufendundeiner Nacht“, von den 
„Metamorphojen‘‘ des Dvid bis zu den Novellen Boccaccio’8 
und der andern italienischen Novelliften gibt c8 hundert 
Borbilder für diefe Geſchenke einer freifchwebenden Phan- 
tafie, welche Blumen ohne Früchte aus ihrem Füllhorn 
ſchüttet. 

Wir ſtellen der modernen Poeſie einmal höhere Aufgaben, 
als dies ſelbſtgenugſame Spiel der Phantaſie zu löſen 
ſucht. Gleichwol find wir nicht fo einſeitig, dieſem Genre 
jebe Berechtigung zu verfagen, wenngleich wir demfelben 
einen nur untergeordneten Rang einräumen gegenüber 
einer Dichtung, welche, vom Geift des Jahrhunderts ges 
fättigt, in fünftlerifcher ©eftaltung die großen Probleme 
befielben zu löjen ſucht. Doc wir meinen, die Adilleus- 
ferfe der Romantik gude bedenklid aus dieſen fein- 
geftridten Maſchen einer eleganten und vielfad, galanten 
Poefie hervor, die fih in allerlei phantaftifchen Capriolen 
gefällt; und aud) das Mufter Wieland’s, deſſen leihter con- 
verfationeller Ton, defien attifche Grazie und gefchmeidige 
Ironie in einzelnen von Heyſe's Gedichten ſich wicder- 
holen, dürfte dem 19. Jahrhundert nicht fo wohl anftehe 
wie dem 18. 


teuer. 


Ein Novellift in Verſen. 


Die Sammlung beginnt mit ber größten Erzählung: 
„Die Brant von Cypern“, einer in Verſe gebrachten No- 
velle des Boccaccio, welche fid) zugleich als charakteriftifc 
für das ganze von Heyſe angebaute Genre erweift: 

Es gibt ein Bud), vor zeiten vielbewundert, 

Bei Niedrigen und Hohen mohlgelitten, 

Ein welterfahrner Tröfter, deffen Hundert 

Gejhichtfein fanft in Ohr und Herzen glitten, 

Sn unferm höchſt anftändigen Jahrhundert 

Berpönt ob feiner allzu freien Sitten, 

Ein Luftwald voll der Ihönften Abentener, 

Kur, wie die Sage geht, nicht ganz geheuer. 

Doch Stellen gibt’8 in dem verrufnen Hain, 

Die felbft der lieben Ingend ungefährlicy: 

Bon Belladonnen find die Wiefen rein, 

Der Weg für guten Wandel unbefchwerlic ; 

Kein fchnöder Faun grinft unverfhämt darein, 

Der firengen Mütter Aufſicht wird entbehrlid), 

Und loſe Vögel plaudern von Geſchichten, 

Zwar auch verliebt, dod) zügellos mit nichten. 

Solch ein Geſchichtlein — wenn ihr lauſchen wollt — 

Selüftet mi, daß id) im Reim erzähle. 

O wären meine Berje helles Gold 

Zu würd’ger Faffung diefem Lichtjuwele! 

Nie ward der Schönheit Huldigung gezollt 

Andächtiger von einer Dichterfeele, 

Nie hat Boccaz ſich höhern Flugs erhoben — 

Doch fill! Ich will erzählen — ihr mögt loben! 

Da haben wir gleih den plauderhaften Ton, mit 
welchem die ottave rime- behandelt find, und der in Ver⸗ 
fen wie der folgende ganz in den Stil des Byron'ſchen 
„Don Yuan übergeht: 

Er bie Galeſo. Doch bei allen Leuten 

War's Brauch, daß fie ihn nur Eimone hießen. 

Dies dunkle Wort weiß id) euch nicht zu deuten, 

Da id) des Cypriſchen mic) nie befliffen. 

So was wie „ZTölpel” wird es wol bedeuten; 

Boccaccio fagt e8 au, der muß es wiffen. 

Genug, mit diefem Namen rief man ihn, 

Der ihm durdaus nicht ehrenrührig fchien. 

Der Dichter tritt felbft mit allerlei meift ironifchen 
Bemerkungen, Betrachtungen und Ercurjen etwas auf- 
dringlich in den Vordergrund; man könnte fagen, der 
Charakter diejer Dichtung ift die latente Parabafe. 

Die Babel felbft ift abenteuerlih. Der plumpe Cimone 
verliebt fich in die fchöne Flordelis, des reichen Kaufherrn 
Tochter. Die erfte Begegnung ift mit reizender Anmuth 
gefhildert. Um des Mädchens wilrdig zu fein, civiliftrt 
er ſich nad) beften Kräften. Dennoch wird Flordelis mit 
dem Prinzen von Rhodus verlobt. Auf der Meerfahrt 
indeß raubt fie Cimone, der mit verfleideten Gefährten 
dem Anfchein nad) ein Piratenfhiff befett Hält; aber die 
Brautfahrt der etwas fpröden Schönen wird vom Schidfal 
begünftigt; Wind und Wellen treiben das Schiff an das 
Seftade von Rhodus. Die Befagung wird von den 
Khodiern gefangen genommen, die Yürftin- Mutter, cine 
fehr geſtrenge Herrfcherin, verlangt den Tod der Frem- 
den; doch das Volk erhebt ſich zu ihren Gunften, und ber 
junge Fürſt gibt fie aus eigenem edeln Entfchluffe fre. 
Um das Maf feiner Güte vollzumachen, reicht er feine 
Hand einer frühern verlafienen Geliebten, und Cimone 
führt mit der Braut von Cypern heim. 

Es ift dies eben eine echte Novelle voll bunter Aben- 
Für Cimone hat man ein gemwifjes pfychologifches 


— —— — — — — — 


Ein Novellift in Verſen. 51 


Intereffe; aber Flordelis bleibt eine Puppe, die ſich nur 
mit wiechaniſchen Gelenken bewegt. Die Behandlung 
Heyſe's ift originell und anſprechend; meift in jenem Tempo 
gehalten, welches die Mufifer scherzando nennen; aber 
das Ganze ift doch nur poetifcher Baiſerſchaum, der und 
im Munde zergeht. Vor jebem Gefang ftellt fid) ber 
liebenswürdige Zuderbäder felbft an die Thir und madjt 
uns Mittheilungen über die Quellen, von denen er feine 
fügen Woaren bezieht. Im erften Gefang wird die 
Firma Boccaz genannt, im zweiten die Firma Uhland, 
von deſſen „Fortunatus“ die ſtrophiſche Candirung ent 
lehnt fein fol. Betrachtungen über ben Zopf der Antike, 
Sitate ans Plinius, nach Geneli’s Gemälden ausgeführte 
Dichterbilder, Anfpielungen auf Altes und Neues laſſen 
die Zaubermacht der Romantik nicht mit dem eigenen, uns 
gebrochenen Reiz auf uns wirken, ben die Erzählung der⸗ 
felben Abentener bei Boccaccio ausübt. Daß es dabei 
nicht an Gtellen von tadellofer dichteriſcher Schönheit 
fehlt, ift bei einem Poeten wie Paul Heyfe felbftverftänd- 
id; wir führen zum Beleg hierfür bie vorzüglichen 
Strophen an, mit denen der dritte Geſang eingeleitet 
wird: 

Nicht if der Lenz im Süden, wie im Norden, 

Die Zeit, wo Seufzer ſcharenweis erwaden, 

Mo Yiebeude, ein fahr'nder Ritterorden, 

Die Weg’ und Steg’ im Wald unfiher madjen. 

‚Hier on des Mittagmeers befonnten Borden 

Klingt ferngefund des Frühlings golbnes Laden; 

Du fiehr ihm night in Wehmuth Überflieen, 

Er lebt nur kurz und will den Tag genießen, 

Wohl if es füß, im blätterlofen Hag 

Dem erſten Gruß der Veilchen zu begegnen, 

Zu fühlen, wie bei ſcheuem Vogelſchlag 

Die fiarven Lüfte thaun in lindes Regnen. 

Nun fommen ſchon mit jedem neuen Tag 

Des Frühlings neue Boten, die wir fegnen, 

Doch Ängfiigt ung fein langſam Liebesmühn, 

Und mander Nachtfroſt droht dem jungen Grlin. 

Wie andere, wo die Erd- und Himmelsmädte 

Auf einmal jauchzend ineinanderglühen, 

Die Sonne ſich befinnt der alten Rechte 

Und derriſch flammt in Hei’gen Yahresfrühen. 

Dann, wenn die Ichte ſchwand der Winternäcte, 

Siehft du am Mittagftrahl die Mandeln blühen 

Und hörft es flüfern im Orangenlaube: 

Daß je ein Winter war, ift Aberglaube. 

Ohne diefe um den Rahmen der Handlung ſchwei - 

enden humoriftifchen Arabesfen ift die zweite Erzählung: 
„Margherita Spoletina“, ausgeführt, in rafchen, kecken 
Zügen, die zur Sataftrophe drängen. Der Stoff hat 
einen gewiſſen vaffinirten Reiz — «8 handelt ſich um einen 
weiblichen Leander, die ſchöne Margherita, welde mit 
Hulfe ihrer Schwimmtunft allnächtlih den verwundeten 
Geliebten befuht. Diefe Schwimmpartien zu verbotenem 
Liebesglüct werden der Familie entdedt; ber Geliebte ver- 
Aut ihrer Rache; die Leuchte, mit der er der fühnen 
Schwinmerin den Pfad durch die Wogen gezeigt, wird 
on den Rädern an einem Boot befeftigt, weldjes ins 
rite Meer hinausfährt. Margherita, biefem Trugfignal 
achſchwimmend, geht unter als ein Opfer raffinirter 
raujamfeit, die dem Zeitalter der Neronen Ehre ger 
aacht hätte. 

Ariea“ ift die am meiften pathetifche von Paul Hey« 


ſe's Erzählungen, ein Nadjtbild aus der Zeit der Fran⸗ 
zöſiſchen Revolution, nicht ohne ein gewiſſes fociales Pa- 
thos, das wir fonft bei Heyfe vermiſſen, ein Pathos fir 
die Menſchenrechte. Die Heldin ift eine Negerin, aufs 
erzogen in ariſtokratiſchen Kreifen, entbrannt in Liebe für 
den Grafenjohn, ber fie um ihrer Farbe willen verfhmäht. 
Verzweiflung gibt fie fieberiſcher Krankheit preis, fie ent⸗ 
flieht trog der treuen Pflege, die ihr zutheil wird, aus 
dem Grafenhauſe; auf dem Pflafter der Straße, wo fie 
die Nacht verbringt, wird fie von einem Weib der Hal- 
len, einer Fiſchersfrau, aufgefunden und folgt dieſer in 
ihre befcheidene Wohnung. in Boot auf der Seine Ieie 
tend, trifft fie den flüchtigen Orafenfohn, den Geliebten, 
der fie, ohne fie anfangs zu erfennen, um Rettung an« 
fleht. Die Kataſtrophe wird durd) einen Zug von großer 
pſychologiſcher Zeinheit Herbeigeführt. Das Boot begegnet 
einen Safobinerboote; die Nevolutiongmänner ſchöpfen an- 
fange Verdacht, beruhigen fid aber, als fie die Negerin 
erkennen, bei der fie feine ariftofratifche Contrebande arg- 
wöhnen. „Küffe deine rau”, rufen fie dem Grafen zu: 

Er ſchlägt den Arm um fie; ba bridt ein Schrei 

Bon ühren Lippen, der nach Wahnfimn Ting. 

Sie ſtoßt den Arm hinweg, der fie umſchlingt — 

Es jünt ihr Tuch — ein Ihmarzes Haupt wird frei, 

Bon krauſem, glänzendem Gelod umtingt, 

Draus funfelt ihm ein Augenpaar entgegen — 

Er kennt es nun! Sein letzter Muth verfinkt, 

Da wild die Lippen dort fid regen: 

Zurüd! du Mgft! Hat dich die Todesangft 

Geheilt vom Ekel vor der Negerin, 

Daß id) mun gut genug zum Küffen bin, 

Da dur vorm Kuffe der Verweſung bangft? 

Hat Efend mid) gebleiht? Sieh hin, fieh Hin, 

Um weld) ein niedrig Lieben du geworben.. 

NRühr’ fie nicht an! Sie ift von flolgem Sinn, 

Ob and) zur Grafenbraut verdorben! 

Damit hat fie dem Flüchtling das Todesurtheil ge- 
fproden. Am Schluß fehen wir, in der glänzenden 
Kaiferzeit, die Negerin mit weißen Haaren auf den Bonle- 
vards betteln. 

Die Behandlung des grellen Stoffs ift eine discrete. 
Was wir dabei vermiffen, wird uns Har, wenn wir uns 
denfelben Stoff von Freiligrath behandelt denken; glühen- 
des Colorit und hinreißendes Feuer der Leidenſchafi. Die 
Form ift nicht fo rein und durchſichtig wie in Heyfe's 
andern Gedichten, es finden ſich ungelenfe Wendungen 
und harte Upoftrophirungen ſelbſt im Reim: 

Und als der Mai and) die Gironde brach, 

Ward, wer nod) träumte, feiner Träume fatt. 

Dog) ftille war's ob einer Greifin Haupte, 

Die um fo manden Wahn getranert hatt’ 

Und um ihr Kind, das todtgeglaubte. 


Ihr Geift befann 

Sich feines Ziels. Der Gaffe, drin fie fteht, 

. Folgt fie begierig und der nädflen dann u. ſ. w. 

Zwei chineſiſche Gefchichten: „Die Brüder” und „König 
und Magier“, find in ben fünffüßigen reimlofen Trochden 
ber ferbijchen Volfspoefie gefchrieben. Die erfte Hat zum 
rührenden Mittelpunft, daß ein jüngerer Bruder ſich fir 
den ältern opfert; die zweite endet in gefpenfliger Weiſe. 
Ein Hinefifher König Saul und ein inefifher Salomon 
treten fich gegenüber; doch ift der letztere in ein Zwielicht 

- 7* 


52 


gerüct, welches den Heiligen und den Betrüger nicht 
genau unterfcheiden läßt. Der despotifche König, welcher 
den Magier zuerft, da diefer nicht Regen herbeizuzaubern 
vermag, zum Scheiterhaufen verdammt, ihn dann aber, 
als er vor dem Flammentod durch einen Regenguß ge- 
rettet wird, felbft töbtet, ift befjer gezeichnet. Das chine⸗ 
fifche Coſtum nnd Colorit ift aber fir beibe Erzählımgen 
fo volllommen gleichgültig, daß man nicht begreift, warum 
der Dichter bie Handlung in das zopfige Reich der Mitte 
verlegt, welches doch durchaus kein poetijches Klima hat. 
Es liegt hier dieſelbe Willfür zu Grunde wie in ber 
Wahl ferbifher Trochäen für die chinefifchen Stoffe. 
Die alademifhe Muſe liebt einmal den Tosmopolitifchen 
Carneval. 

„Die Hochzeitsreiſe an den Walchenſee“ iſt eine plau- 
derhafte Humoresfe oder Idylle im Stil des Byron’schen 
„Don Yuan” mit Excurſen de omnibus rebus et qui- 
busdam aliis, felbft itber das münchener Bodbier. Das 
Gedicht aber ift leichteſter Schaumwein, mit gewinnenber 
Grazie credenzt. Kleine Eiferſüchteleien eines jungen 
Ehemanus, curirt durch die aufopfernde Liebe der Frau, 
welche glaubt, dag er im Walchenfee ertrunken fer, wäh⸗ 
rend er nur im Kahn fchlummernd über denfelben Bin- 
gleitet — das ift der Inhalt diefer „Hochzeitsreife‘‘, deren 
pigchologifhe Motive von fpinnewebiger Feinheit find. 
Trotz des anmuthigen Beftrebens, mit welchem uns ber 
Dichter hierüber zu tänfchen fucht, können wir doch das 
Gefühl nicht überwinden, daß das Gold des Stoffe für 
diefen breitgehämmerten Golddraht nicht ausreicht. 

„Michelangelo“ und „Rafael“ find zwei Künſtler⸗ 
novellen in Verfen, die erfte in fünf», die zweite in vier- 
füßigen gereimten Jamben, beide ohne ſonderliche Bedeu⸗ 
tung. Es Handelt fi um Liebesabentener, deren Ab⸗ 
ſchluß die Refignation if. Das Intereſſe, welches der 
jedenfall für plaftifche Formenſchönheit begeifterte Bildner 
an ben Reiz der jcheinlofen, von Wuchs kümmerlichen 
Bittoria Kolouna uimmt, ift felbft fo zweifelhafter Art, 
daß es uns nicht zu erwärmen vermag; und bie Liebes» 
epifode des fchönen Rafael, bie uns eine aus plöglicher 
Begegnung himmelhoch auflobernde und fchnell begrabene 
Leidenfchaft zeigt, erfcheint doch allzu keck in die Luft ge- 
baut. Auch die Schilderung ift, troß mancher fließenden 
Berje von bdichterifchem Adel, doch minniglich manierirt. 
So jagt die Liebeude, nachdem fie, von Leid und Leiden- 
Ichaft bezwungen, einander im Arme geruht, „zu zweien 
Eine Ereatur”! 


Kann Id) 
Da mir fo hold geſchehen, 
Zur unhold fremben Welt zurüd? 

Der manierirte Stil der Nordlandsgeſchichte „Syritha“ 
ift ſchon früher (in Nr. 33 d. DL. f. 1867) gerügt worden. 
Die Naivetät der Geſchichte ift eine fehr erkünſtelte; 
„Syritha“ ift eine neue Auflage der „Amaranth“. 

Die neuefte Dichtung Heyſe's, das im „Salon“ 
abgedrudte Gedicht: „Das Feenkind“, hat folhe Anmuth 
bes loſen Faltenwurfs, daß fie in der That an die leicht. 
geflügelten Kinder ber Wieland’fchen Muſe erinnert. Das 
ift allerliebfte Konverfation in Verſen, und wie der Dich» 
ter ſelbße fagt: 


Bas Haben wir gethan? 
denn wieber gehen, 


Ein Novellift in Berfen, 


Kein Märchen iſt's, mas ich erzähle, 
Hiſtoriſch fireng beglaubigt {ft der Kern, 
Boetifh unr die Korm, die ich erwähle, 
Und trog des ibealen Flugs der Stanzen 
Höchſt realififch die Tendenz des Ganzen. 


Ein Prinz, der es liebt, einfam bie Nacht zu durch. 
reiten und gegen weiblichen Reiz unempfänglich ift, wird 
durch ein Feenkind befehrt. Dies Feenkind, eine Art von 
abenteuernder Mignon, enthüllt dem Fürften felbft den 
Betrug, den man mit ihm fpielt, will ſich aber nicht 
„bediademen“ laſſen, fondern verzichtet auf die Krone, bis 
der von Liebe entbrannte Fürft bei einer öffentlichen 
Aufführung, wo fie ihre gewagten Künfte zeigt, vor allem 
Bolt anf fie losftürzt und fie zur Gattin erwählt. 

Die Darftellung ift faft durchweg in grazids fchälern- 
dem Zon gehalten, mit ben breiteften humoriſtiſchen Ere 
curjen, in denen der Verfaſſer weniger fehlagenden Wig 
als feine Yronie bekundet. Am gelungenften ift bie Be- 
eiferung der Frauen und Mädchen dargeftellt, das Herz 
des jungen Yürften zu rühren, nachdem die fchöne Gul⸗ 
nare freiwillig zurüdgetreten: 


Sie dachten, da nun Brefche fei, fo lafſe 

Die ftolze Feſte fih mit Sturm gewinnen. 

Bo nur der Yürft fi zeigte, war die Gaffe 

Berlegt von holden Wegelagrerinnen. 

Gedichte, Blumen regnet’ es in Maſſe, 

Man mühte fih, Toiletten zu erfinnen, 

In Schnitt und Farb’ und Stoff höchſt überſchwenglich, 
Und mande felbft ein wenig ftart verfänglich. 


So ſchlich fi einft ein Fräulein im den Garten, 
Bis zur Fontaine, dort mit naſſem Haar 

Im NRirenkleid den Yürften zu erwarten, 

Obwal das Baden bier verboten war. 

Er fam und glaubte, daß ihn Träume nartten; 
Kaum aber ward die Wirklichkeit ihm Har, 

So kehrt' er um, ale ſtäch' ihn die Tarantel, 
Und rief: Mau bring’ ihr einen Bademantel! 


Die zu einem Feſt eingelabenen benachbarten Prin- 
zeffinnen unterwirft der Hofmohr der folgenden galanten 
fterung: 


Da ift zum Beifpiel die Prinzeß Irene 

Bon Samarland, die Häffichfte von allen. 

Doch Hat fie ſchönes Haar, fuperbe Zähne 

Und ein Paar rothe Lippen wie Korallen. 

Man jagt, fie fei nicht fehr gefcheit, fie gähne 

Beim dritten Wort; das ließ' ich mir gefallen. 
Dummheit ift Gottesgabe, und bie Diünmfle, 

Glaubt mir, mein Fürft, iſt lange nicht die Schlimmfle. 


Damm die Prinzeffin von Byzanz, die Dide, 
Die dreimal ſtets von jeder Schüffel ißt. 

Ihr, thenrer Herr, habt ja genug zum Glücke, 
Die Gattin fatt zu machen, and Ihr wißt: 
Ber ſtark zu effen pflegt, ift ohne Tücke. 

Auch Yulins Käfer, der erlegen iſt 

Dem hagern Casca, lebte wol noch hente, 
Umgaben ibn nur wohlbeleibte Leute. 


Indeß, zieht Ihr die Magern vor, wie wär’ es 
Mit Fürſtin Babul-Budur, deren Näschen 

Spig wie ein Pfeil? Sie liebt zwar fehr den Xeres, 
Und man erzählt, daß, wenn fie erfi ein Gläschen 
Zu viel genippt Hat, fle ein fehr vnlgäres 
Geplauder führt, gewlirzt mit derben Späßchen. 
Ihr Bater zog fie auf mit fieben Göhnen; 

Ihr müßt den Hofton erft ihr angewöhnen. 


Bom Büchertiſch. 53 


Prinzeß Amine mit den blauen Augen 

Und weißen Schultern ift ein füßes Kind. 

Zwar ihre Renommee foll wenig taugen, 

Dod; da es nicht die ſchlechtſten Krise find, 

Bielmehr die reifflen, dran die Wespen fangen, 

So ſchlug' ich ſoiche Scrupel in den Wind. 

Auch hat als Frau fi mande fehr erprobt, 

Die erft im led'gen Stand ſich ausgetobt. 

Die Geſchichte ift offenbar ganz amufant, entbehrt 
aber, wo fie ernfter gemeint ift und mo ein lyriſcher 
Haud) die breit Hingegoffenen Wellen des Humors zu 
kräufeln beginnt, des tiefer gehenden Intereſſes. Einem 
ironifch aufgebröfelten Phantafiefpiel fehlen die Maſchen, 
die unfern Sinn im Exnft gefangen nehmen, 

Die humoriſtiſche Baftenprebigt: „Srauenemancipation“, 
enthält manchen treffenden Einfall, ohne irgendein Facit 
zu ziehen; fie ift abgefaßt in der befannten Don - Juan» 
Form, geſpickt mit Fremdwörtern, die oft in die Reime 
gefegt find, und ausgerüftet mit allen erdenklichen Wen- 
dungen einer hin« und hergehenden Converfation. 

Noch Haben wir zwei größere Gebichtegfien zu er- 
mwähnen, welde an die Mufter der römiſchen Elegiler 
erinnern: das Keifetagebud in Terzinen: „Der Salaman- 
der”, das wir bereits in Nr. 3 d. BL. f. 1868 einer ein» 
gehenden Würdigung unterzogen. Und zwar erfannten 
wir die Meiſterſchaft in der leicht graziöfen Behandlung 
der Terzinen mit Wärme an, ſowie die großen Schön. 
heiten, welche der Dichter in der Darftellung dieſes an 
fich unbebeutenden galanten Abenteuers feinen Zerzinen 
abgewinnt. 

Der zweite Liebescyllus: „Idyllen von Sorrent“, iſt 
weit entfernt von dem blaſirt pifanten Ton der Terzinen; 
er ſchildert eine harmlofe Neigung, um welde ſich Ara- 
besten heiterer Genre⸗, Volls« und Naturbilder fchlingen, 
in einem Stil, welcher den Gocthe'ſchen Diftihen und 
all ihrer Eigentgimlichfeit zum Verwechſeln nachgebildet 
ift. Nur plauderhafter ift Heyſe's Mufe, und dabei geht 
fie oft mehr ind Breite und auch weiter in ber leichten, 
ganz für ben Converfationston zugerichteten Behandlung 
der antiken Berfe, ald dem Altmeifter beliebte. Manches 
verliert fich ins Seichte und Verwaſchene; aber einzelne 
Gemmen find auch mit fo feiner, forgfamer Kunft ge- 
ſchnitten, daß fie dem Gedächtniß nicht Leicht entſchwinden. 


Schon die Einleitung verfegt uns ganz in die Stimmung, 
die das reizende Sorrent hervorruft: 
Schön iſt immer der Mai in Sorrent, am Strand, in den 
Gärten, 
Ueber den Vignen am Fels, ſchön in den Gaffen der Stadt. 
Aber am jhönften um Mondaufgang, wenn um den gefrönten 
Berg Sant-Angelo falb dämmert ber trauliche Schein, 
Und auf Jachia drüben die letzte verglimmende Wolfe 
Ruht und dem alten Vefuv feierlich röthet die Stirn. 
Dann trägt ſchweigend Luifa Zi gern fie plandert, die 
te — 
Mir ein Bänlchen hinanf auf das geebnete Dad. 
Dort von des Tags nacbentficem 2 lichtsthun ruht fi die 
ele 


ei 
Wie zufrieden mit ſich aus in der Stille der Luft, 
Träumt von biefem und dem, zu den Freunden hinliber, den 


jenen, 
Schweift mit gefättigter Glut —* die Gärten im Grund, 
Bo die Feige geinach anſchwillt und Duft der Orangen- 

Blüte die dunfelnde Frucht nachbarlich wieder umfpielt. 

Das italienifhe Naturfind ift mit vieler Anmuth ge 
fchildert, oft dem Unbedeutenden ein feflelnder dichteriſcher 
Reiz abgewonnen. 

Die meiften „Novellen in Berfen“ find von beftriden« 
der und einfchmeihelnder Grazie und rühmenswerther 
Formvollendung. Doc der in ihnen herrfchende Grund« 
tom ift ein fpielerifch leichtfertiger; wir fehen ftet vor 
uns das fouveräne Subject der Romantit, das mit der 
Dichtung und auch mit dem Leben fpielt; auf den Lippen 
das nie erlöfchende Lächeln überlegener Ironie; bie eihi- 
ſchen Licenzen Wieland’8 und Goethe's erflären ſich bei 
Heyfe in Permanenz. Man darf ihn nicht einen un ⸗ 
gezogenen Liebling der Camönen nennen; ex gehört zu 
ihren wohlerzogenften, das Heißt, er weiß feine frivolen 
Unarten mit vielem Geſchick zu verbergen. Doch in einer 
Zeit, deren Streben auf bie ewigen und höchſten Gliter 
der Nationen und der Menfchheit gerichtet ift, wirb biefe 
phantaftifche Arabesfenpoefie bei all dem Zauber ihrer 
meifterhaften Form feine nationale Bedeutung gewinnen 
fönnen, da ihr jeder wärmere Herzſchlag fehlt, dafür aber 
den äfthetifchen Gourmands, ben Kennern, welde ben 
Triumph einer auch den unbebeutendften Inhalt geſchmad - 
vol fafjenden und ſinnreich Hebenden Kunft zu witrdigen 
toiffen, eine, von Teinem ftofflichen Reiz getrübte Genüffe 
bereiten. Rudolf Gotiſchall. 


Dom Bücherliſch. 


1. Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Berlin, Herk. 

1870. 8. 2 Thlr. 

ge unfcheinbarer der Zitel dieſes Buches auftritt, 
defto marfiger und bedeutender ift fein Inhalt. Wir 
haben anf dem Büchertiſch d. BI. gerade in der Tee 
ten Zeit eine ziemliche Anzahl biographifcher (und zwar 
meift felbftbiographifcher) Werke gehabt, die nicht der 
Friſche und Lebenswahrheit entbehrten, bie wie „Die 
Jugenderinnerungen aus der Mappe eines Greiſes“ fogar 
iber den Kanal Hinitber Anerkennung gefunden haben; 
teine Schrift des biographiſchen Genre trat ung jedoch 
"0 vollberedtigt vor die Augen als bie vorliegende. 
Bilpelm, der veichbegabte Sohn des Malers Gerhard 


von Kügelgen, felbft vor furzer Zeit aus ſtillbewegtem 
Wirken gefchieben, erzählt den Gang feiner Yugendjahre 
mit fo viel Orazie und feiner Selbſtbeobachtung, dag ung 
die Leftire diefer Aufzeihnungen mit einem Dauch von 
„Wahrheit und Dichtung“ anmuthet. Freilich rauſcht die 
bervegte Zeit der beiden erften Jahrzehnte des Jahrhunderts 
mit ihren großen politiihen Ummälzungen nur in der 
Berne an diefen Blättern vorüber, auf welche die Jugend- 
geihichte eines hocjbegabten Menſchen gefchrieben iſt: 
die file Klaufe der Familie ift es zumeilt, in der alle 
Borgänge geſchehen und nur wie hinter einem Schleier 
zieht die gewaltige Haupt» und GStaatsaction der Napo« 
Teonifchen Zeit vorbei. Aber dafür entjcädigen uns taufend 


54 Dom Büchertifch. 


Einblide in das Kleinleben der Kügelgen’fchen Familie. 
Wie plaftifch ftchen uns alle Figuren des Hauſes vor 
Angen! Die unverfälfchte Künftlernatur Gerhard von 
Kügelgen’s, den eine Mörderhand mitten aus frifcheftem 
Leben hinwegriß, die verftandesmäßige, Klare und milde 
Geſtalt der Mutter, das rundbadige vergnügte Geficht 
des jüngern Bruders, daneben der originelle Inorrigweiche 
Charakter des Tandpaftors Roller, dem unfer Selbftbiograph 
wol die Grundlage feiner frommen Gefinnung verdanlt, 
der höfifche Kreis von Ballenftäbt, das gemüthvolle 
Familienleben im Krummacher'ſchen Haufe zu Bernburg — 
wie ftehen alle diefe Bilder fo anfchaulid vor der Phan- 
tafie des Leſers, Feine Gebilde romanhafter Phantafie, 
fondern treue Porträts nad) dem Leben! Eine ungemein 
feinfühlige, phantafievolle und doc willensfräftige Erſchei⸗ 
nung — fo präfentirt fih uns Wilhelm von SKügelgen, 
deſſen aufrichtig fromme Ueberzeugung nirgends ftört, weil 
fie fih einen ungetrübten Blick für weltliche Zuftände, 
wie er dem Künſtler ziemt, erhalten hat. Leider bricht 
das Buch mit dem erfchütternden Unglüdsfall der Er» 
mordung des Vaters ab und der Herausgeber (Philipp 
von Nathufius) Tann und nur einen magern Abriß von 
den fpätern Lebensſchickſalen des Ticbenswürdigen Bio- 
graphen geben. Immerhin aber verdient Nathufius, dem 
die Natur des Gelbftbiographen ſympathiſch geweſen zu 
fein fcheint, den Dank aller derer, denen biographifche 
Denkwürdigkeiten auch dann willlommen erjcheinen, wenn 
fie ſtatt gefchichtlicher Enthüllungen und Pilanterien den 
Derfolg gemüthlicher Vorgänge im Menjchenleben zu 
ſchildern verfuchen. 


2. Dank vom Haus Defterreich oder der Infant Dom Duarte. 
Epifode aus dem Dreißigjährigen Kriege. Nach den Onellen 
dargeftellt von Guftan de Beer. Kaffel, C. Ludhardt. 
1869. Gr. 8 20 Ner. 

Ein Bruder bes tapfern Johann IV. von Braganza, 
bes Befreierd Portugals vom fpanifchen Joch, diente wader 
als General der Artillerie in ber öfterreichifchen Armee, 
ward jedoch nad der Thronbefteigung feines Bruders 
heimtückiſch in Regensburg eingelerfert, von dort nad) 
Paffau und ſchließlich nah Mailand gebracht, wo er 
1649 nad achtjähriger Kerkerhaft, 39 Jahre alt, ftarb. 
Jene Unbill geſchah dem unfchuldigen Manne auf An- 
ftiften Spaniens, genauer auf Wunſch des Herzogs von 
Dlivarez, des allmächtigen Minifters Philipp's IV. Un 
begreiflich bleibt e8 doch, daß dem königlichen Bruder 
nicht mehr Hülfsmittel zu Gebote flanden, den Gefangenen 
zu befreien. Die Gefchichte des Principe vendido, bie 
be Beer nad) den Quellen wiedergibt, wird, wenn fie 
in Portugal bekannt wird, ſchwerlich dazu beitragen, 
bie alten Antipathien der Portugiefen gegen die mäch⸗ 
tigern Spanier, die duch eine fünfhundertjährige ©e- 
ſchichte genährt worden find, zu vermindern unb in 
eine don Madrid aus gewünfchte Unionseinwilligung 
aufzulöfen. 


3. Hugo Donelus in Altdorf. Bon R. von Stinking. 
Erlangen, Beſold. 1869. Gr. 8. 15 Nor. 
Dem berühmten Yuriften Profeflor von Wächter tft 
die Heine Monographie bei Gelegenheit feines funfzig- 
jährigen Lehrjubiläums (13. Auguft 1869) gewidmet, 


und zwar don der Juriſtenfacultät der Univerfität Er— 
langen, deren zeitiger Delan der Berfafier ift. Die eigen- 
thümliche Erſcheinung eines franzöfifchen Calviniften, der 
al8 renommirter Rechtslehrer an die nitrnbergifche Uni- 
verfität Altdorf berufen wird, nöthigt uns, dem Iutherifchen 
Zeit- und Sirchengeift gegenüber, der fi) Ende des 
16. Säculums in Deutfchland breit macht, Achtung und 
Intereſſe ab, um fo mehr, da wir erfahren, „daß ganze 
Theile der heutigen civiliftifchen Theorie geradezu auf 
Donelus zurüdzuführen find“. Go wird, zumal dem 
Freunde ber Rechtsgeſchichte, das Miniaturbild, das ber 
gelehrte Autor uns in feinen Zügen gemalt Hat, ein 
willlommenes fein. 


4. Geſchichte des Hebräifchen Volles und feiner Fiteratur, von 
Samuel Sharpe Mit Bewilligung des Verfaſſers be- 
rihtigt und ergänzt von H. Iolomwicz Leipzig, C. F. 
Winter. 1869. Gr. 8. 18 Nor. 

Es genügt nicht mehr, brave Gefinnung zu haben 
und eine leidliche Portion von Nationalismus in .ber 
DBibelfritif, wen man über die Gefchichte der Bücher des 
Alten Bundes fchreiben will. Der Geift und die Iebens- 
volle Darftellung de8 Gegenftandes ift doch wahrhaftig 
nicht mehr fo rar, auch nicht mehr unter den deutſchen 
Gelehrten, daß man nicht berechtigt fein follte, eine Heine 
Dofis jener liebenswürdigen Eigenfchaften bei einer Be— 
handlung altteftamentarifcher Geſchichte und Literatur zu 
verlangen. Und nun ift der Autor gar ein Engländer! 
Ein Engländer, von denen man feit zwei Jahrzehnten 
gewohnt ift, die Fritifche Zractirung Biftorifcher, wirth- 
ſchaftlicher, ja felbft theologifcher Dlaterien mit einem 
reihlihen Aufwand jener Eigenſchaft behandelt zu fehen, 
die die Anhänger des „Materialismus“ in einem mehr 
oder minder vorhandenen Phosphorgehalt des Hirns zu 
fuchen geneigt find. Oder hätten bie Buckle, Lecky, Mill, 
Grote, Macaulay umfonft gefchrieben, und wir Deutfchen 
fein Recht, ihre geiflvolle und doch gründliche, phantafie- 
volle und doch durchweg verftändige Darftellungsweife zu 
bewundern? Wenn der Herausgeber und Ueberfeßer das 
Prädicat eines „ſchönen“ Buchs fir die Sharpe’fchen 
Ereurfe in Anfprud) nimmt, fo vermögen wir dieſen 
Geſchmack nicht recht zu begreifen. Aber man liebt ja 
feine Pflegefinder oft wie feine eigenen Kinder, und der 
Ueberſetzer befindet ſich vielleicht mehr im letztern als im 
erftern Falle. Denn mie weit dem Sharpe'ſchen Bud) 
gegenüber die Grenzen der Ueberfegung und der Selbſt⸗ 
thätigleit des Herrn Dr. Yolowicz gehen, vermögen wir 
nicht zu unterfcheiden. Er hat „mit Weglaffung der 
etymologifchen Spielereien und unbegründeten Hypotheſen, 
von welchen das fonft ſchöne Buch nicht freizufprechen ift, 
daffelbe deutfch bearbeitet und dabei nach Maßgabe feiner 
Kenntniß und Studien bie betreffenden ſichern Ergebniffe 
benugt, welche durch die vorzüglichen Forſchungen von 
Männern wie — (folgt eine Reihe orientaliftiicher Auto- 
ritäten) — in ihren Meifterwerfen zu Tage gefördert wor- 
den find”. Nun find allerdings, das willen wir aus 
guter Duelle, Kenntniß und Studien des genannten Ueber- 
jeger8 derart, daß wir vor ihnen alle Achtung haben; 
aber warum hat der wadere Herr durch feine willfürliche 
Redaction des Originals es uns fo ſchwer gemacht, 
engliſch von deutſch, Sharpe von Jolowicz zu fondern? 


u 







willen nicht, ob es wohlgethan ift, die fagenhafte 
te der Hebräifhen Urzeit ganz zu ignoriren, wie 
5 Sharpe gethanz gerade Hier, in einer Zeit, im 
weldyer die zäheften Traditionen wurzeln, däucht und, 
wäre e3 pajlend geweſen, mit ſcharfer Kritit aufzuräumen. 
Beshalb eigentlich, das Sharpe ſche Buch dem deutſchen 
Publikum vermittelt werben folte, begreifen wir nicht recht. 
Im der Kritit der Geſchichte des jüdifchen Volts, feiner 
Siteratur und Cultur ift gerade die deutſche Wiſſenſchaft 
jeit Decennien der engliſchen weit voraus: auf dem weir 
tem Wege von Michaelis über Ewald bis zu Fürſt ift 
mehr und gründlicer gearbeitet worden als von Sharpe 
and Gemoffen. As das Renan'ſche Bud über das 
Leben You erſchien, da murrten die deutfchen Schrift 
geleheten, warum man immer das ausländifche ſeichte 
5» at beim gebiegenen einheimifchen, warum man Renan 
Strauß vorziche. Und Renan hatte doch Schönheitsſinn 
fein aufeichtiger Ernft ward durch die Heiterkeit einer 
ifchen Form gehoben! Warum folen wir nun bie 
und dabei nicht neue Behandlung eines Briten 
er deutjchen gelehrten Stoffbewältigung vorziehen, wie 
wir fie in 9, Für's „Geſchichte des hebräifchen Schrift 
thums“ finden? Wir wollen nicht ungeredjt gegen ein 
Berk fein, das, aus begreiflihem Nationafgefühl, in 
England gewiß; großen Beifall findet. Aber in England 
man in der freiheit, veligiöfe Dinge zu beſprechen, 
de fo weit gegen Deutfchland zurüd, wie in ber Freiheit 
fiaatlichen Lebens voraus; und während eine ver 
nünftige, nicht allzu kühne Forſchung und Darftelung 
biblijcher Urkunden jenfeit des Kanals als Zeichen reli« 
Kedheit gilt, Hat man im Deutſchland auf eben 
Gebiet ſchon Lange nicht mehr vor den Außer 
ſequengen freier Forſchung zurüdgefchrekt, denen 
Bolt der Briten erft auf Ummegen entgegen- 
ß 
'e der Geſellſchaſt von Johann Joſeph Roßbach. 
oeiter Theil: Die Mittelffaffen im Orient und im Mit» 
telalter der Bölter des Dccidents. Würzburg, Stuber. 
1869. 8. 1 Thlr. 
Der Name des tüchtigen Werks und das gute Re⸗ 
des Autors in der wiſſenſchaftlichen Welt bür- 
ſchon allein dafür, daß wir im dem Bude, deſſen 
er Theil uns jegt vorliegt, einen werthvollen Beitrag 
Culturgeſchichte der europäiſchen und weftafiatifchen 
Bi erhalten. Der trefilihe Mann, der in der Ge—⸗ 
ſchi te menſchlichen Rechts und menſchlicher Sitte geforſcht 
umb gejcjrieben hat wie der Beſten einer, iſt mun vor 
F Zeit dahingegangen und hat fein lehrreiches 
ehmen unvollendet laffen müſſen. Sein Andenken 
umergefjen fein, wenn eine fpätere Generation ſich 
anern wird, was ihre Vordermänner für die Lichtung des 
i hichtlichen und volkswirthſchaftlichen Waldes ge- 
um, im dem viele gelehrte Detailiften nod; immer den 
: al vor Bäumen nicht fehen wollen. Klar, vorurtheile- 
‚ dabei mit einer leifen Beimiſchung veligiöfer Ge- 
kn, fo tritt diefer zweite Theil der Gefchichte 
Gejelljchaft vor uns Hin; er wird den Deutſchen 
deshalb genehm fein, weil er ſich mit großer 
© zur Sadje der Entridelungsgefhichte des deutſchen 
s-Etat gewidmet hat. Die Genefis der deutſchen 

























Bm 





Bom Büch ertiſch. 55 


Mitteltlaffen bildet den Ungelpunft von Roßbach's Dar- 
Tegung ; Inhalt und Ausführung biefes intereffanten Themas 
werden dem nicht allzu umfangreichen Buche die lebhafte 
Teilnahme bes heimischen Leſerkreiſes fihern. 


6. Das Weihwaffer im heidniſchen und chriſtlichen Cultus, 
unter befonderer Berüdfigtigung des germanifhen Alter 
thums. Ein Beitrag zur vergleihenden Religionswifjenihaft 
von Heino Pfannenshmid. Mit zwei Holzihnitten. 
Hannover, Hahn. 1869. ©r. 8. 1 Thlr. 10 Nor. 


Bravo, Herr Doctor, das ift ein Wort, bei dem ſich 
aud) etwas denken läßt, die „vergleichende Religionswiffen- 
ſchaft“. Ihre Definition ift Inapp und richtig: „Die 
vergleichende Religionswiſſenfchaft“, fagen Sie, „detrachtet 
das Chriſtenthum nicht als etwas für ſich Beſtehendes, 
ſondern als eine Specialität der allgemeinen Religion, bie 
ganz allgemeinen gottmenſchheitlichen Entwidelungsgefegen 
unterworfen ift. Sie unterjucht alfo die allgemeinen reli- 
gionsbildenden Proceſſe, um bie fpeciellen danach bemeſſen 
zu Können. Co erkennt fie, daß nicht nur das Chrifien- 
thum hinſichtlich feiner Entroidelung in Dogma und Cultus, 
fondern auch hinſichtlich feines Urfprungs mit jeweiligen 
Zeitvorftellungen, die felbft in der Vergangenheit wurzein, 
in engfter Beziehung fteht.” Unter den Cultusfpeciafitäten, 
welche das Chriftentjum dem erfterbenden Heidenthum ab« 
geborgt hat, nimmt der veligidfe Brand der Benegung 
mit geweihtem Waffer eine der erften Stellen ein. Wie 
vor dem Meßopfer die Gläubigen in ber Kirche vom 
Priefter mit Weihwaffer befprengt wurden und noch wer» 
den, fo wurden die Heiden vor dem Opfer, das fie der 
Gottheit darbrachten, ebenfalls mit Weihwafler vom Prie- 
fter befprengt. Vorzugsweife aber waren es die heidniſchen 
Germanen, die den Waffer-, Duell- und Brunnencultus 
zum Hauptftüd ihrer Gotiesverehrung gemacht hatten. 
Die Darftellung des Berfaffers läßt viele Seitenblide auf 
die Analogie des heidniſchen und chriſtlichen Cultus zu; fie 
hätt ſich aber mit Gefchid in den Grenzen der vergleichenden 
Mythologie und wird als weſentliche Bereicherung der 
vergleichenden Religionswiſſenſchaft zu betrachten fein. 
Es ift tüchtige Forſchung und fruchtbringende Gelehrfam- 
keit in dem Wert, das und auf des Autors angekündigte 
„Heidniſche und chriſtliche Exntefefte in Niederſachſen“ recht 
begierig madt. Möge ſich der wadere Mythenforſcher 
und Religionswiſſenſchafter von feinen Entdedungen nicht 
abſchrecken laſſen durch jene zahlreiche Partei, „die, aller 
mahrhaften Wiffenfchaft bar, von hiſtoriſcher Entwidelung 
der Religion feinen Begriff hat“. 


7. Der Genius der Menſchheit. Frauenwirken im Dienſte 
der Humanität. Cine Gabe für Mädchen und rauen. 
—X Zuiſe Otto. Wien, Hartleben. 1869. 8. 1 Thlr. 

gr. 


Es ift-der fünfte Band der „Deutjchen Frauenwelt“, 
ber obigen hochtlingenden Namen führt. Der brave, gute 
gemeinte Inhalt entjpricht denn aud), wie wir das von 
der bekannten Vorkämpferin file das Recht der Frauen 
warten können, dem humanitären Zwecke. Ob freilich 
ie Verfaſſerin nicht in manchen Punkten zu ſchwarz ge⸗ 
chen hat, ob bie verrätheriſche Männerwelt wirklich, fo 
ſtark an der Verſchlechterung der weiblichen Gitten und 
Denfart arbeitet, wie es der ſittlich empörten Schreiberin 


. 


oa 


56 Vom Büchertiſch. 


erſcheint, das überlaſſen wir einem Appellhof, der ſich 
aus beiden Geſchlechtern zuſammenſetzt. Immerhin will 
es uns bedünken, daß die begabte Schriftſtellerin mehr 
auf ihrem Felde in der Beſprechung deſſen iſt, was dem 
engern häuslichen und familiären Leben noththut, ale 
auf dem dornenvollen Wege, die Menjchheit und das 
Geſchlecht über feinen Beruf aufzullären: eine Frage, deren 
Löſung fehr verjchiedenartig ausfallen muß. Was wir 
bei Beiprechung des „Genius des Hauſes“ äußerten (Nr. 12 
d. BL), gilt auch für den „Genius der Menſchheit“, mit 
dem die Berfafferin intimer zu fein fcheint ald manches 
philofophifche Genie. 
8. Sammlung gemeinverftändlicher wifjenjchaftlicher Borträge, 
herausgegeben von R.von Birchow und F. von Holten- 


dorff. Heft 80 — 88. Berlin, Füderik. 1869. Gr. 8. 
Jedes Heft 5 Nor. 


Heft 80. Licht und Leben. Bon Ferdinand Cohn. 


Das Berhältnig des Lichts zum Leben der Pflanzen, 
das Sonnenliht und fein liebevoller Verkehr mit den 
Pflanzenzellen werben bier Gegenftand der anmuthigften 
Erplicationen. Kine weitreichende Belefenheit unterftütt 
den Bortragenden in der gelungenen Ausjchmitdung der 
Darftellung, die nirgends troden wird und ein reges Intereffe 
an den erflärten Vorgängen wachhält. 


Heft 81. Johann Hus und die Synode von Konftanz. Don 
Henke. 


„Die Sache von Huß iſt ein Proceß“, ſo will der 
berühmte Kirchenhiſtoriker die Huſſiſche Affaire aufgefaßt 
wiſſen, ſo ſtellt er ſie dar. Erſt wenn man alle Factoren 
des großen Exempels zuſammenhält, den damaligen Rechts⸗ 
zuftand, die Richter, den Angeklagten und das Verfahren 

ihn, wird man ein gemügendes Reſultat erhalten. 
Unparteiiſch, gründlich und leidenjchaftslos, im Stil ber 
beften Ranke'ſchen Unterſuchungen, ift die Heine Schrift 
wohl werth, in weiten Kreiſen berüdfichtigt zu werden. 
Die confervative Rechte der Gerſon und Clamenges fiegte 
im Oberhauſe der Prülaten und Herren zu SKonftanz 
über den eifrigen Fortfchrittsmann Huß; das böhmifche 
Bolt aber war ein zähes Unterhaus, das fich für die 
Berwerfung der Sache des Huf blutig rächte, Der Rhein 
bat die Aſche von Huß' Scheiterhaufen ausgelöfcht, aber 
„noch bis auf diefen Tag brennt von dort her der Haß 
der Böhmen gegen die Deutſchen“. 
Heft 82. Aegyptens Stellung in ber Religions. und Eultur- 

geihichte. Bon Friedrich Nippold. 

Gerade bei Gelegenheit der Eröffnung des Suez- 
Yanald gewann die Frage nad) Aegyptens Bedeutung 
wieder Interefle für Europa. Es fcheint faft, als ob bie 
alte Eulturheimat am Nil wieder in Aufnahme kommen 
fol, als Bermittelungspunkt fiir den Welthandel und da- 


‚mit für die moderne Cultur. Das Bild, das Nippold 


von der Bergängenheit und Gegenwart des wunder 
baren Nillandes nach eigener Anfchauung eutrollt, ift ein 
belebtes, das fich hübſcher Gruppirung und warmer Farben- 
gebung erfreut, Nur irrt der Berfaffer, wenn er meint, 
Bunjen habe den erften Anftoß zur wiffenfchaftlichen 
Berüdfihtigung Aegyptens gegeben: wir erinnern hier 
an Leibniz und deilen ägpptifchen Plan, den Blumftengel 


(dgl. Nr. 48 d. DL. f. 1869) nenerdings wieder in 
helles Licht geſetzt hat. 


Heft 83. Sophofles und feine Tragddien von Otto Ribbed, 


Ein lichter gewandter Bericht vom Leben und Dichten 
des helleniſchen Tragöden, der beſonders der Beſprechung 
der erhaltenen Werke des „Homer der Tragödie“ großen 
Eifer zuwendet. 


den 84. Hauswirthſchaftliche Zeitfragen. Bon A. Emming- 
aus. 


Die Grenzen der hauswirthſchaftlichen Productions- 
einfhränkung, der Markt- und Magazinverkauf, bie 
Dienftbotennotb (diefe mit Hinblid auf Möſer's und 
Roſcher's Anfichten), die Webelftände der Miethölaferne 
werden tüchtig durchgenommen und mit Liebe fiir den 
Gegenftand erörtert. Der Berfaffer iſt ein begeifterter 
Anhänger des Einfamilienhaufes. Nah ihm wiirde defien 
Durdyführung den größten Theil der focialen Nöthe bes 
ſeitigen. Er fchliegt mit dem Wunſche: „Das Einfami- 
lienhaus muß ber Zielpunkt unferer hauswirthſchaftlichen 
Sorgen und Erwägungen fein.” 


Heft 85. Die geſchichtliche Entwidelung des Freihandels. Bon 
A. Lammers. 


Wieder eine jener Darlegungen, die an der Hand ber 
Geſchichte beweifen, daß die Freiheit des Handels, nicht 
weniger als die des Handelns und Denkens, einen fittie 
genden Einfluß auf die Gefelichaft ausübt. Selbſtver⸗ 
ftändlich beſchäftigt fi bei weitem der größere Theil der 
Arbeit mit der Geſchichte der englifhen Freihandels⸗ 
bewegung, die nicht mehr von dem Namen Cobden zu 
trennen ift. 


Heft 86. Die ältere Zerttärzeit. Bon ©. Zaddach. 


Der Vortrag, ber Anfang diefes Jahres in Königs⸗ 
berg gehalten ift, gibt uns ein anſchauliches Bild aus 
der Entwidelungsgefchichte der Erde. Zumal die Ber- 
änderungen der Erdoberfläche einer Provinz, das Bild von 
dem Zuſtande Dftpreußens zu‘ der beſprochenen Zeit, 
nehmen unfer Intereffe in Anfprud. Die Entftehungs- 
gefhichte des Bernfteins ift fo eigenthiimlih, bag man 
noch immer neugierig auf jede Auseinanderfegung über 
die Art und Gefchichte des Föftlichen Harzes laufcht. Es 
erzählt fich ziemlich fehwer von der Periode, da noch Fein 
„politifches Thier“ gegen die Reſte der gewaltigen Huf⸗ 
und Raubthiere anlämpfte, die in den Wäldern unb 
Sünipfen der Zertiärzeit hauften: um fo rühmlicher für 
den Bortragenden, daß er uns troß fehr viel Wafler und 
noch mehr Geftein lebhaft filr fein Thema zu erwärmen 
gewußt bat. 

Heft 87 und 88. Ueber Schimmel und Hefe. Bon U. de Bary- 
Mit 7 Holzſchnitten. 


Der jonft höchſt gediegene Vortrag Hält fi) zu fehr 
über dem Niveau der beabfichtigten Zwede des „‚gemein- 
verftändlichen” Unternehmens. Wir glauben, man könne 
aud) mit weniger Aufwendung von lateiniihen Namen 
und mit mehr Kürze und Vereinfachung des Stoffe dem 
Ziel nahe kommen, wiffenfchaftlihe Vorgänge in gutem 
Deutſch zu bejchreiben. 









7. Iohanna d’Arc. Heroiſches Drama in flinf Aufzligen von 
Wilhelm von Sing. Kaſſel, Freyſchmidi. 1868. 
©r. 16. 15 Ngr. 

Es gehört Muth dazu, einen ſolchen Stoff zu behan- 
deln, ein Muth, der fi dadurch belohnt Hat, daß er un 
bie Größe und Herrlichkeit der Schiller’fchen Dichtung erſt 
recht in die Augen fpringen madt. Zwar hat diefe 
Scillerjhe Dichtung ihre Schwächen und Fehler, und 
jedenfalls gehört fie nicht zu den gloriofeften Schöpfungen 

 umfers großen Autors, aber wie weife fie in ihrer drar 
matijhen Faſſung, wie künſtleriſch in ihrer Conftruction 
umd wie glänzend in ifrer Diction, das erfennt man in 
einleuchtendfter Weife erft, wenn man fie mit einem Wert 
wie das heroijche Drama von Wilhelm von fing 
zufammenhält. 

Heroiſch ift num gerade gar nichts an diefem Drama. 
Der Berfaffer Hatte augenſcheinlich im Sinne, fein Mäb- 
gen von Orleans realiftifcher und gefchichtlich treuer zu 
Halten, als das Schiller gethan; er wollte des letztern 
zomantifche Auffafjungsart vermeiden und betonte deshalb 
im Iohanne dV’Arc mehr die Heldin und Sriegerin als 

bie Seherin. Seine Jungfrau ift feine Träumerin, die 
unter dem Zauberbaume figt und mit ben Heiligen bes 
immels einen geheimmißbollen Umgang pflegt; feine 
au ift ein ziemlich verftänbiges Mädchen, bie es 
die Seele hinein empört, dag Ritter Robert von 
ourt’S Aufforderung in Domremy, für den recht ⸗ 

en König zu impfen, fo wenig Anklang unter der 
ichen Jugend findet. Sie opfert eine goldene fette, 
fie ererbt, auf dem Altare des Baterlandes, um mit 
Ertrag Männer auszurüften, und da der ftattliche 
Daudricourt diefe Hingebung, dieſen Eifer fiir die 
te Sache des Landes entzüdend findet und ber 
in feine Bewunderung deswegen an den Tag legt, 
adet ſich derem Herz fo fehr an feinem Lobe, daß fie 

Walde unter einem Marienbilbe den Entſchluß fat, 

gener Perſon mit dem Ritter zu ziehen. Seine 
mlifche Erſcheinung, feine Stimme aus dem Druiden- 
ıme geben ben Ausſchlag; ihre eigene Ueberlegung treibt 
zu dene Entjchluffe, der im ihr zur Reife gelangt, 
fie von fern die Kriegemufit des abziehenden 

8 vernimmt. Unter diefen Klängen fieht fie im 
König Karl, wie er, von Glüd und Freunden 

a jen, dem Untergange zuſchwankt. Halt, Halt, ruft 

a: 

Rad) Orleans! Big, Schlag, Mufik in Einem. Nah 
n8! Dem Donner glei an fernen Bergen rollt e8 mah- 
eb hin. Wäre ic) dort — bei euch, die ihr doch bluten könut 

j #8 Baterland, und hinfehen anf jeden Tropfen, wie anf das 

4 „ dem Boden anvertraut! Gehnfucht meiner Tage und 
Baer Nächte, da ift dein Ziel! Biſt du von Gott; du mußt 
fein! Wachje frei hinaus Über Menſchenzwang, gib eine 

mir, fromm und groß; ob ſich die Welt empörte, fie 
dech geihehn! — Nach Orleans! — In Gottes Namen: 

(Sie erhebt fih.) La mich, Vater! — Herr, ich fühle 

HE Dir treibft Bläte um Bllkte auf in meiner Bruf; fo reich 

E nie ein Weib! Frankreich, zittere nicht mehr! Sie mögen 

19 zehllos, gewappnet vom Scheitel bis zum Fuß, denn 
. 4 







Neuere bramatifhe Dichtungen, 









57 


Uenere dramatifche Dichtungen. 
(Beihluß aus Nr. 3.) 
‚bier, darauf koſte ich Jeſu Leib, ſchießt eine Kraft empor, bie 


aller Heere fpottet! 

Damit ftürzt fie ab, den Reitern nach, die Baubricourt 
führt, und man erkennt damit auf den erften Blick, dag 
in Yohanna’8 Buſen als das eigentliche Agens, die treie 
bende Kraft, eine file Liebe zu Ritter Robert vom Dichter 
angedeutet wird. 

Im zweiten Act finden wir, wie bei Schiller, König 
Karl mit Agnes Sorel von aller Welt verlaſſen, an feir 
nem Gefdjid verzweifelnd. Schon geht er mit dem Ger 
danfen um, der Krone zu entfagen und bem Gegner das 
Feld zu räumen, eben hat er im äußerſten Schmerze 
gerufen : 

Ich wil’s, will thun, was einem Könige gebührt, wenn 
der ſchlammige Rebell ſich an des Cwigen Abglanz wagt. Zieht 
herauf, ſchwingt im Blutrauſch euch empor; fo hoch fliegt feie 
ner, baß nicht Aber ihm Vergeltung Treiftel Und Lüge ih am 
Boden, beraubt der Krone, jeder Königlichen Zier — geicmäht, 
befpeit — frei die Bahn dem Fluch des Könige! Läge ic, 
wie Hiob lag, Eins raubt ihr nicht — das heilige Mal auf 
meiner Stirn, die Macht zu firafen, in Ketten wie im Hermelin! 
Kein Schwerthieb treffe ener Leben, Beratung frefle euer Mark! 
Seid ein Zeichen kommenden Geſchlechtern, ein Ziel des Schimpfes, 
ein Triumph dem Haffer, der Edles nur im Thiere ſucht i 
Nehmt's bin, und tragt e8 in die Hölel Mein Gott — aljo 
zu enden! Mein Gott, was habe ich dir gethan? 

So ruft er aus, als Ritter Baudricourt mit Johanna 
kommt, bie zunädjft von der Umgebung des Königs mit 
Gelächter aufgenommen wird, aber endlich allen durch 
ihre unerfchätterliche Zuverficht Reſpect einflößt. Sie hat 
eine lange Unterredung mit Karl, der fie über ihre Ab- 
flammung, ihr Alter ausfragt und ſchließlich mit ihr über 
die Stellung des weiblichen Geſchlechis ftreitet. Ex zweifelt 
über ihren Beruf zum Kriege. Er fagt: 

Dir if der Krieg mit feinem Handwerk fremd. Nun fie! 
Ein folies Wort — wie leicht gefproden! — ja — ein Wort, 
nur ſalſch betont, e8 macht den Krieger lächeln; eim Fieberſchauer, 
bei andern nicht beaqtei, für bie „Gottgefanbte wedt es bem 
Spott, umd ihm erliegt fo mande echte Würde, um wie viel 
eher bie erträumte! 

Johanna aber entgegnet: 

Gott Hätte nicht ein Weib erwählt? Nicht, weil es dul- 
den fol? Ja, dulden iſt fein herbes Theil, doch feine Ehre 
auch, fein Schmud. „Sieg oder Todl” Heißt eure Lofung, 
„Hetr, voie dus willſt!“die unfere; wer fleht ihm näher? Und 
was denn warb dem Manne mehr gegeben? ein flarker Arm; 
ihn lahmt das Schwert. Der Geift ſchlägt die Gefahren! Er 
aber wird nicht euch allein. Sind wir ſchwach, wohl, fo 
if erfüllt das Wort: „Ih mil mid offenbaren in ben 
Schwachen!“ 

Nun heißt es weiter: 

Karl. 
Glaube und Tollheit, welch ein Bund! 
Johanna. 
Den Glauben ſchmahen, welch ein Frevel! 
Karl. 
Mädchen, dein König bin ich! 


Iohanna. 
Gottes Knecht! 





— 


58 Neuere dramgtiſche Dichtungene 


Karl. 
Dir König! Fort nah Domremy!.. . 


Aber Johanna trogt und ruft: „Ich will nach Orleans, 
und aller Könige Macht fol mir's nicht wehren!!” ...: ı. 


-. Diefer unbezwingbare Glaube. in. ihre. Sendung: über« 


zeugt endlich auch den König fo fehr, daft ev vor Inkanne 


das. Knie bengt und.ruft; „Knie, Frankreich, wo dein König 
niet. Hier waltet Gott in feiner. höchſten Liebel” 
Im dritten. Wufzuge treffen wir ‚wiederum . wir, bei 
Schiller Talbot, feine Unterfeldgerren und den ihnen. ver» 


büindeten Herzog von Burgund. Alle ſchmähen um. bie 


ri... 


Jungfrau eine „Metze“ Ist, fo greift man zum Schwerf 
bit chen bereit fich 


ihrem: Rücken gehandelt und zu -den Gegnern ‚gegangen 
ift, um irgendeine Uebereinkunft zu treffe, ohne“ ihr et» 
tuäs zu ſaden, 6168” weit ſich der Madit ihrer Wunder 
ſchämt, dann mit ‚Talbot: fpricht. und. endlich Burgund 
dadurch auf ihre Seite ‚zieht, . daß ſie Huldigend. ihm zu 
Füßen ſinkt, ihre Unſchuld und Reinheit bethenert und, 


als "er" widerftrebend' bleibt, ihm mit der Vernichtung ſei⸗ 


üce Bölfer deoßt: „Beultauf, daß alle Bölker heben"; 
bethewert fie, „jeber. Schrei ift mir cin Trunk!“ | 
Dee Zorn des Maͤdchens erjchredt den Herzog von 
Burgund, und vor der Anefiht auf Uxtergang,, die fie 
iii eröffnet, zuritdbebend, ihre Maiht, ihren Einfluß 
fürchtend, endigt er damit, den Enpländern das Blinde 
niß zu kündigen und ju ſeinen Landsleuten überzutre⸗ 
fen. Dieſer Uebertritt und der begeiſternde Einfluß der 


Schlacht: die Erigländer erliegen, Talbot wird gefangen.” 
Hier reiht ſich in Iſting's „Iohanna d’Arc"” eine 
hüßfche und. wirkfame Epiſode ein. Das Volk will dem 
gefaugenen Talbot an das Leben; aber ein junger fran⸗ 
zöfiſcher Offizier, Raymond mit Namen, befreit ihn aus 
der Gefahr und wird dafür vom Feinde bes Reichs, aber 
dem anerkannten und verehrten Helden, mit eigener- Hand 
zum Ritter geſchlagen. Dieſer Moment ift wahrhaft er- 
greiſend, dabei einfach und ſchlicht; nicht ohne den Athenr 
einer geotffen Größe.” = m — 
Etwas von dieſer Größe, zeigt, au das Verhalten 
Karl's ‚gegen Talbot, der.:diefen berühmten Kriegsherrn 
weder ſchmähen noch vor. ein Gericht ſtellen, fondern--in 
Ehren zu feinem: Heere zurückkehren läßt. - 
Zeit Täßt er ſich felbft nicht Frönen, ohne Hand in Hand 
mit Johanna den Thron zu befteigen,-ben-er- ihr verdankt, 
und ihr dabei zu geloben,- tin milder und gerechter 
Herrjcher zu fein. en 

Alles dies vollzieht fich im vierten Wcte, wie bei 
Schiller, und wie .diefer. jchreibt. auch Kfing einen Krö⸗ 
nungszug darin vor. Das Fatum jedoch, welches Jo—⸗ 
hanna ereilt, erweilt fi) bier anders geftaltet. Das 
Mädchen von Orleans liebt hier keinen Engländer, den 


“gleicher 





Schwerte ſchont und aus franzöſiſcher Gefangenschaft ent- 


kommen läßt... Idhanna liebt in diefem ‘Drama natürlich 
Robert von Baudriconrt, der auf einem ftillen Abend» 










Feld um fie wirbt. Sie geiteht, 
daß; fie feine Gefühle RXwidert, aber-. zugleich auch, Ar, 
fie fih dem Herrn für dil Befreiung ihrxes Königs. gelobt, 
und daß fie ihr Gelübde ni 
Gott durch: ihre Hand Karl ſiegß 
Sercfönht emgefet. NL, 
- Rod) vedhten fi. beide über .ifien 
tige. Schickſal derſelben, als fie, von DR 
fh unvermuthet von Engländern . i 
Robert niedergefchmettert und Johanna ge 
men wid. u PER 
Der füifte Aufzug führt gohanna niin van, das Sk 
bunal ihrer englifchgefinnuten Sandölente, bie fie al? Gere 
verurtheilen und zum Scheiterhaufen führen Lafer“. .—- "= 
erbliden. fie zu Anfang. ängfllich.und. werzagt, vol, dei 
eiertode bebend; als jebod der edie Talbot, um Tante 
Rettung möglich, zu. machen, ihr vorſchlägt, den undane 


2.6 


baren König, der feinen Finger rührt, fie. zu befreien, 


...— 


[4 
N 


melt ſie ſich iind ‚geht. ei Mr T 


win ’».v - 


feinem exhabenen Geifte erkannte auf. den erften Blich 
was allein dem beutfchen Puhlikusi "eine Yohanna dün 
ſiympathiſch und bedeutſam machen fünne. Er fühlte, 
daß, wenn es galt, miften in ben Gürem und. Dran 
des Krieges cin weibliches Weſen zu fielen, es 0 


nöthig war, dieſe Stellung ſorgſami zu niotiviren und 


vorzubexeiten. "Daher ſein Vorſpiel und in biefem Vor⸗ 
e Einfluß ſpiel die eingehende Schilderung von Johaung's ganzei 
Jumigfrau entſcheden dad voe der gleich Barauffolgenden | 


Befei wib‘ Treiben," Yohatına müßte." gang eigenärtg, 
halb Bereheh, halb ‚gefhzäptet ſchan daheini sinb -unter ben 
Ihren. daſtehen, um fofort auch hör hem Heere -unanges 


| täftete Geltung. zu finden. Die Seherin, bie Heilige Hatte 


die Kriegerin ‚du. beden, "eine Dedung, die ſich Wilheln 
don fing. entgehen ließ, indem er jo Zurzweg und faſt 
rein menjchlich bewegt. ſeine Jüngfräu iu das Feld Hine 
ausgefhidt batı. nn 
. Die Jungfrau ſollte dadurch begreiflicher, möglicher 
di ihret Situation, mit. einem Wort hiſtoriſcher werben. 
Der neuere Aufor wollte auß der Romantik heraus, mehr 
in die Welt: der Wirklichkeit treten: ein Wille jedoch, dem 
die Kraft der‘ Aüsführung beinahe gänzlich "gefehlt hat. 
Iſing's Mädchen von Orleans iſt noch weit romantiſcher 
als das Schiller'ſche. Schiller's Romantik in dieſem Stück 
iſt die Romantik in großen Zügel, die. Romanlik mit ber 
Geſte der Clafficität.. Die Dfnges iii ramantiidh nad 
ben Mufter unſerer romantischen Schule, nach: dem Mu⸗ 
fter von Tieck, Adim von Arnim und Clemens Bren- 


tano. Dieſe Romantik gefüllt fi in Detallausmalung, 


in unflarer, verſchwommener. Sprache, in wirrer, her⸗ 
und hingezogener Charakteriftil. . Wie feft, felbfibemußt 
und unbeirrt geht. Schillers Johanna ihren -Weg,. und 
als fie mit- ſich -felbft und ihrer - Sendung -endfich im 


fie, befteidt von feiner männlichen Schönheit, mit ihrem | Bwirfpatt gerät, wie offen, und weit Mafienb tft vieſer 


J 


III u 


Neuere dramatiſche Dichtüngen. 


Zwieſpalt! Jedes Find begreift ihn. Die Heilige liebt und 
liebt den Feind des Landes. Dieſe Liebe überraſcht, über⸗ 
rumpelt ſie mitten im Kampfgewühl, in dem Augenblicke, 
da ſie den Fuß auf die Bruſt des Gegners ſetzt. Das 
iſt ein Schlag, ber alles erſchüttert. Aber Iſing's Yo 
hanna, die eigentlich wur ins Feld zieht, um einem Manne 
nadhlaufen zu fünnen, der unbezweifelt Eindrud auf fie 
gemacht, Iſing's Iohanna kann doch unmöglich überwältigt 
werden, wenn diefer Mann, ihr Helfer, ihr Beſchützer, 
ihr trener Waffengefährte, ihr feine Hand anträgt. Wollte 


Wilhelm von ing Baudricourt zum Yatum von Johanna | 


und Johanna zum Fatum von Baudricourt machen, fo 
mußte Johanna zumächft mehr ein Geſchöpf von Baudricourt 
fein. Baudriconrt mußte dann Johanna zum Mirakel 
vor den Angen der Welt erheben, fie gleichfam felbft 
zum Wunder heranbilden, und nachdem ihm dies ge- 
glüdt, fie dann menſchlich zu feiner Gattin beanſpruchen. 
IR dann Idhanna, aufgegangen in ihrer Miſſion und, 
an dieſe glaubend, nicht im Stande biefen Anfprüchen 
zu genügen, weift fie Baudricourt ab und; diefer wendet 
ſich num ſelbſt gegen fie, eine Wendung, welcher dann fie 
ſowol wie er zu erliegen Hätten, fo wäre damit der echt 
tragifche Conflict mb, die wahre Peripetie gefunden. | 
Diefen Fund jedoch .hat unfer.. Autor nicht gethan. 
Die dramatifche Krifis feines heroifchen Dramas ift Schwach 
und unbedentend, wie der ganze Ausgang. feines Stüds,. 
Die Haltung der Heldin vor dem Tribunal in Rouen 
iſt ſchwankend, zeigt einzelne granbiofe Momente, macht 
aber fchlieglid ber reinen Menschlichkeit zu große Cons 
ceffionen. Johanna winfelt denn doch zu viel unb ver⸗ 
ſchwimmt zulegt fürmlih in Romantil. Bei Schiller 
wird Johanna gerade in der Gewalt ber Engländer erſt 
zur Heldin, umd daß fie im flegenden Kawpfe fällt, tft 
ohne Zweifel der verſöhnendſte Ausgang, der dramatiſch 
zu gewinnen war. Schiller's Romanfik iſt heldenhaft. 
Die Romantik Wilhelm von Iſing's iſt katholiſch verbrämt 
md endigt mit einem Heiligenbilde in ber Luft: Der 
Dichter ſchreibt nad) dem Abgange feiner Heroine 
zum Holzſtoß Nachſtehendes vor: 
„Das Glocdengeldute verhallt. Dem letzten Klange ſchließt 
ſich eine ſanfte Muſik an. Der Kerler verfinkt. Lichter Raum. 
Die heilige Matter, von Engeln umgeben, erſcheint in der 
döße. Johauna Reigt empor, Maria empfängt fie im: ihren 
Armen. - 
Dan ficht, King vertwiefücht bier, .was Stile 
Johanna nur vifionär erfhant: . . 
Der Himmel öffnet feine goſdnen Thore, 
Im Chor der Engel ‚fteht‘ fte glänzend ba, 
. Sie hält den ew'gen Sohn an ihrer Braft, 
Die Arne firedt.. fie fiebend mir entgegen. 
Sp uberromantiſch Täuft ein Verſuch aus, die roman⸗ 
tiſche Tragödie Schiller's heroiſch zu geſtalten! 


8. Warwick. Drama in fünf Acten von Rich ard Graf. | 


Leipzig, Weber. 1868. Or. 16. 1 Thlr. 


Dies“ Stück Hat zum Helden, wie Hume fagt: „den 
gtoßten fowie ben letzten jener mächtigen Barone, melde 
her drohend‘ die Krone überragten”. Er ift haupt- 
jächlich berühmt durch die Rolle, die er im den Kriegen 
der Weißen und Rothen Roſe gefpielt, in jenen Bürger⸗ 
kriegen, bie England befanntlich an ben Rand des Ver- 





59 
derbens gebracht und welche ſchon Shalſpeare zu feinen 
biftorifchen Dramen benußt. Auch bei. dieſem Dichter iſt 
Warwick bereits eine hervorragende Figur; im dritten 
Theile von „Konig Heinrich VI.“ iſt es, wo er als bie bei 
weitem maßgebendſte Perfönlichkeit auftritt und ungefähr 
bafjelbe thut und treibt, was Richard Glaß ihn thun und 
treiben läßt, nur daß Shalfpenre; bei aller dramatifchen 
Berfahrenheit und Unvolllommenheit feines Stücks, bod) 
Warwick mehr ald ganzen Dann hingeftellt hat, als der 
moberne Autor zu thım verftanden. 

Warwick bei Shalſpeare ift in der That ber große, 
kühne Vaſall, der begeifterte Anhänger: ber Plantagenet, 
der dem Sprößling berfelben, Eduard IV., zum. Thron 
verhilft und fpäter, als er flieht, daß biefer, fett ſich 
ihm anzubertrauen und nad) feinem Rathe zu regieren, 


durch feine Heivath mit Efifabeth Gray fid in die Hünde 


einer Umgebung gibt, die ihm zuwider. ift, gegen feinen 
ehemaligen Schütling erflärt und ihn befümpft, bei welcher 
Bekämpfung er jchlieglid ums Leben kommt. 

Bei Shalfpeare ift Eduard's Heirat der Grund zu 

Warwick's Wendung. Warwick wirbt eben hei Ludwig XI. 
in Franfreih um: bie Schweſter von deſſen Gemahlin, 
als er die Meldung erhält, fein: König habe ſich hereits 
vermählt und mit dieſer Vermählung alle ſeine politiſchen 
Abſichten gekreuzt und vereitelt. In Zorn und Wuth 
darüber ſagt er ſich von Eduard los und eilt ſtehenden 
Fußes nach England zurück, um den wieder vom Throne 
durch blutige Kriege herabzuſtürzen, den er durch ſolche 
eben nur darauf befeſtigt hat. 
Bei Shalſpeare Kal. Warwick ein Opfer feiner. Gigen- 
willigleit und Unbeſonnenheit. Er hat Albion gewaltjan 
einen König aufgenöthigt, ohne zu fragen und fich zu 
vergewiffern, ob diefex König auch feines - Platzes würdig: 
iſt. Er handelte übereilt bei defien. Erhebung und thut 
es nicht minder, als er befchließt, denſelben zu ftürgen, 
An diefem Misgriff geht er zu Grunde. 

Der britiſche Dichter hat das kurz und entſchloſſen 


im Ausgange ſeiner Trilogie dargelegt, eine Darlegung, 


zu welcher Richard Glaß ſich aufzuraffen nicht vermocht hat. 
Richard Glaß hat forgfältig die engliſche haar ftu«: 
dirt und daraus erfehen, daß zwiſchen Eduard's Heirath 


und Warwick's Aufftand fünf Jahre verſloſſen find und 
zu dieſem letztern wol noch andere politiſche und zum: 


Theil ziemlich perfünliche Beweggründe mitgewirkt. Haben: 
mögen. Er läßt alſo ſeinen Helden wol auch. durch 


Eduard's Vermählung und —3 kopfloſes Handeln 


verſtimmt werden und ſich von ihm zurückziehen; aber 
daB geſchieht nicht wie bei Shalſpeare am. Ende des 
dritten Acts und als Höhepunkt der Krifis, fondern be⸗ 
reits im zweiten Aufzuge und derart, daß fi der Mafe 
fenden Entzweiung fogleich noch etwas wie eine Berfüh- 
nung anſchließt. Um bei Richard Glaß ref Warwid: 
nit König Eduard gründlich und auf: ewig zu erzäunen, 
muß letzterer exſt noch im vierten Acte einer Tochter 
Warwick's nachſtellen und dieſe in ihrem Schlafzimmer über⸗ 
fallen. Es iſt hier alſo nicht allein oder nur ſehr unter⸗ 
geordnet der Politiker, der ſich gegen König Eduard auf⸗ 
lehnt, ſondern weit mehr und pathetiſcher der in ſeiner 
Tochter beleidigte Vater. Allin abgeſehen davon, daß 
der Verfaſſer ſeinen Helden für eine Vi Wendung in 





re" 


60 


diefem Stüd in feinem Verhältniß zu feinen Zöchtern 
gar nicht angelegt, widerſtreitet auch der endliche Aus⸗ 
gang des Dramas ganz und gar einem derartigen tragi« 
{hen Motiv. Wo ift ſchließlich Warwid’8 Schuld? War- 
wid geht hier zu Grunde, trogdem er das Recht und 
zwar das höchſte Recht der fittlichen Welt, nämlich das 
moralifche, auf feiner Seite hat. 

An diefem Verſtoße fcheitert das Stüd, das allerdings 
Eduard nur fiegen läßt, indem es fofort in diefem Sieg 
die Ausfiht aud auf defien Untergang eröffnet, denn 
Herzog Gloſter, der eigene Bruder bed Königs, ruft am 
Ende hinter diefem ber: 


Seh nur, und wiege dich im Glauben, daß 

Ein Held wie Warwick fiirbt wie jene andern, 

Die das Geſchick der großen Meunſchenkette 
Einfligte, um ein Glied in ihr zu fein! 

In feinen Adern Iebte mehr, als du 

Beim Weine und bein ſchwelgeriſchen Mahle 

Und in den Armen beiner Buhlerinnen 

Erkennen lernteſt! — Blunt für Blut! — Du willſt 
Die Zügel auch nad) oben firenger flihren? 
Wohlan! Laß fehen, wer den Sieg behält! 

Ich räche den Gefallenen an bir 

Und an den Deinen! Edward, hüte dich! 

Mich reizt die Stufe nicht, mich reizt die Höhe! 
Das Ziel reizt mid, das ich im Geifte ſehe! 

Der Ehrgeiz und bie Liebe reizen mid, 
Warwick ift tobt, nun fommt die Reih' an — bi! 


Diefer Hinweis auf Richard III., Hier von ihm felbft 
gegeben, ift allerdings nicht ohne Wirkung und bringt 
ung zum mindeften das fpätere traurige Los des leicht. 
finnigen Königs in Erinnerung, ohne daß indeß dieſe 
Erinnerung doch als dramatiſch genügend zu betrachten 
fein könnte. Warwid’8 Untergang rechtfertigt fie aber 
vollends nicht, und diefer bleibt aljo nach wie vor der 
fragwürdige Punkt des Schaufpiels, das and fonft in 
Gang und Entwidelung durchaus Feine Klarheit zeigt. 
Die Architektonik ift jedenfalls mangelhaft darin und ge 
ftaltet fich zu keinem hohen, aufgegipfelten, imponirenden 
Gebilde. Das Stüd ift breit, weitläufig und umſtändlich 
im Unterbau; im Aufbau aber erfcheint es lückenhaft, halt⸗ 
108, obne jede Kühnheit und Großartigfeit bes Stils. 
Perfonen und Vorgänge ftreifen aneinander hin, ohne daß 
fie zum Stehen kommen und Einbrud machen. Der 
Geiſt des Lefers erhält faft gar keine Gelegenheit an den 
gebotenen Erjcheinungen zu haften, ſondern er fieht ihrem 
Treiben zu, ohne ein wirklich warmes Intereſſe dafür zu 
gewinnen. Es ift der wahre, echte Hauch bes Lebens, 
ber ihnen mangelt. Zu loben wird an der ganzen Are 
beit nur eine gebildete Sprache, ein gewiſſes Etwas fein, 
das uns erkennen läßt, daß wir es mit einem intelligen- 
ten Kopfe zu thun haben. Die Verſe zeigen eine an- 
genehme Glätte und Klarheit. Originelle Gedankenfülle 
und ergreifende Innerlichkeit freilich haben fie nicht. Die 
erfte befte Probe mag das belegen. Warwid, ald er zum 
letzten entjcheidenden Kampfe auszieht, fpricht fein Schwert 
folgendermaßen an: 

Sprachſt du zu mir, du treues Schwert? Es war, 

Als Hört’ ich deine Tangentbehrte Stimme! 

Es war ein Klingen aus der Geifterwelt! 

Komm, theures Erbe meiner großen Väter, 

Du ſollſt die bint’ge Todesfadel fein, 


Neuere pramatifhe Dichtungen. 


Die mir zum Siege oder Tode Leuchte! 

(Er umfaßt das Schwert nıit gefalteten Händen.) 
D du, der alles Lebens Ende mißt, 
Der unfre Kraft eutzindet und regiert 
Und unferm Wollen die Erflillung gibt, 
Dir weih' ich mich in diefer ernſten Stunde! 
Berlangft du Opfer, großer Geift, laß mid 
Das Opfer fein! Behlite Englands Erde 
Mit feinen Bölkern! Gib Ihm tapfre Helden, 
Die feinen Ruhm bewähren und verkiinden! 
Und du, mein treues, oft bewährtes Schwert, 
Laß deinen Mann nicht, wie bein Zeichen jagt! 
Dein heil’ges Kreuz fei mein Gebet und Amen! 


Diefe Apoftrophe ift nicht ohne eine gewiffe Schönheit, 
aber dabei doch von feiner Mächtigleit, weil ber ganzen 
Geftalt Warwid’8 das innere und durch die Sache ge 
währleiftete Pathos fehlt. Dan weiß und erfährt nir⸗ 
gends recht, wofür diefer große Baron der Geſchichte hier 
fein Schwert in die Wagfchale wirft. Schiller wärs. nad 
Shalfpeare wol der einzige Dramatiker geweſen, das ‘ung 
Mar und überzeugend vor die Seele zu fielen. Richard 
Glaß gelang es nicht, wennſchon fein Verſuch, es 
thun, ehrenhaft und der Beweis eines edeln Strebens i 
dem wir wenigſtens unfere Sympathie nicht verfagen\ 
können. 
9. Tilly. Hiſtoriſches Trauerſpiel in fünf Acten von Julius 

Mat. Königsberg, Braun und Weber. 1869. 8. 20 Ngr. 

Dies Werk ift eine Arbeit, in der ſich allerdings 
weder ein großes poetifches Talent noch aud cine irgend- 
wie hervorragende technifche Fertigkeit im dramatifchen 
Aufbau der Handlung erkennen läßt, die aber dennod) 
wenigftens fich anf feinem Abwege, fondern auf der großen 


Heerftraße begriffen zeigt, auf welcher bei weiterm a 


und Studium immerhin ein anjtändiger.Exfolg zu erobern — -- 


fein dürfte. Der Berfaffer erreicht fchon jett in feinem 
ZTrauerfpiel wirkfame Momente und einen Gang der Ent- 
widelung, dem ſich mit Antheil folgen läßt. Um impo- 
nirenden Eindrud zu machen und wahrhaft fiegreidy mit 
feiner Schöpfung zu werben, bebarf es zunächſt nur noch 
einer ſchärfern Charakteriftit der ‘Perfonen, einer durch⸗ 
greifendern Sprache und einer weifern Mache. 

Yulius Dat beabfichtigte einen „Tilly“ zu fchreiben, 
fchrieb dermalen aber nur einen „Fall von Magdeburg“ 
mit einem Nachſpiel: „Tilly's Tod.” Wie feige Tragödie 
jest vorliegt, wächſt in derſelben Tilly nicht recht zur 
Hauptgeftalt und zum eigentlihen Mittelpunkt heran. 
Sollte fie das werden, was bem Autor im Sinne lag, 
fo mußte bie, Handlung nicht mit Magdeburg, jondern 
früher und jedenfalls im Heerlager Tilly's beginnen. Tilly 
mußte erft in ganzer Mächtigfeit und mit dem vollen 
Ausdrud der dee, ber er dient, in Scene treten, che 
uns fein Gegenpart vor bie Seele geführt werden durfte. 
Das Publikum mußte in Tilly und feinem Anhang erft 
die Tatholifchen Tendenzen des Öfterreichifchen Kaiferthums 
Har und offen dargelegt fehen, ehe uns in Magdeburg 
ber „Hort bes Proteſtantismus“ und der „Grenzſtein von 
zwei gewalt’gen, großen Zeiten“ vorgeführt wurde. Magde⸗ 
burgs Belagerung und Hal konnte und durfte durchaus 
nicht die Erpofition, fondern mußte den Höhepunkt der 
Krifis fiir den dritten Act und für den vierten den Anlaß 
zur Peripetie abgeben, Daß Julius Mat feinen eigent« 


Feuilleton. 


lichen tragiſchen Helden nur dürftig und mangelhaft ein- 
führt, dagegen bie erſten drei Acte feines Stüds fait aus- 
Schließlich, Magdeburg und feinen Bertheibigern einräumt, 
ift ein ſchwerwiegender Driegeit, ein Misgriff, durch 
welchen die ganze Ardjiteftonit biefes Dramas fo fehr in 
die Brüche geht, da wir in biefem einen Stüd gleich“ 
fam zwei Stüde erhalten, wie wir bereits borftchend an« 
deuteten. 

Sollte aus. dem Ganzen ein fefter, gefunder drama» 
tifcher Bau ſich geftalten, fo war nothwendig, daß ber 
Unterbau ausjhlieglih Tilly gehörte, daß Tilly, der bis 
dahin umbefiegte Feldherr, mit möglichfter Präcifion der 
Geſchichte und mit dem Vollgewicht feiner Hiftorifchen 
Miſſion vor uns und Magdeburg Hintrat, und daß hier 
vor und in Magdeburg fein Leben auf die Grenzſcheide 
des Schidjals gebradit wurde, bie ihn den Wechſel des 
Glüds erfahren läßt. Der Untergang Magdeburgs mußte 
ihm beraujchen und mit Uebermuth erfüllen, ihn Binftellen 
ala den Mann, ber da meint, eine Welt unter feinem 
Schwerte zu haben, Mitten im Ausbruch dieſes Triumph 
aber mufte der mark» und beinerfchlitternde Fluch des 
fterbenden Adminiftrators von Magdeburg ihn treffen und 
ihm prophezeien, daß der Brand umd Untergang der 
Stadt nicht die proteftantifche Sache, wohl aber feinen 
ruhmreichen Namen und fein Glüd begraben werde. 
Grenel, wie bu und dein Heer fie hier veriibt — Hätte der 
finfende Wilgelm von Brandenburg zu fagen —, müflen 
deine Ehre und dein Gewiſſen belaften und zu Boden 
drüden, den Proteftantismus aber nur um fo energifcher 
und ftärker zum Widerſtand treiben. Die Elbe bei Magder 
burg ift dein Rubicon, denfe daran! 

So ungefähr Hätte die letzte Rebe bes braven Ber- 
theidiger8 von Magdeburg lauten und aus diefer Rebe 
heraus das kommende Berhängniß feinen Schatten über 
den Gieger werfen miüffen, der von da ab in Dunfel 
tritt und feine Seele umnachtet ficht. 5 

Ialins Mat hat die Nothwendigleit dieſes Umſchwungs 
wohl erfannt und fie in der That auch gegeben, nur lei⸗ 
der nicht mächtig und ergreifend genug, objchon allerdings 
gerabe bie Erftürmung Magdeburgs einige wahrhaft dra- 
ſtiſche und padende Scenen aufweift. Doch felbft diefe, 
wie 3. B. der Tod der armen Prinzeſſin Sophie, die, 
um fi aus den Armen Iſolani's zu retten, ſich in bie 
Elbe ftürzt, verlangen etwas mehr Schiller ſches Pathos, 
als bier aufgewendet ift. Das Verhalten Wildftein’s, der 
Sophie unglüdlic liebt und, um fir Magdeburg und den 
Untergang feiner Geliebten Race zu nehmen, zu Tilly 
übergeht umd ihn fpäter an die Schweden verräth, ift ein 


61 


wenig edles und auch dramatiſch keineswegs folides Motiv. 
Denn man Wildftein gefangen nähme und zu kaiſerlichen 
Dienften zwänge, fo hätte fein Benehmen wenigftens eine 
Entfchuldigung; fo ift e8 einfach gemein und dabei voll» 
fändig unnöthig, ja geradezu dramatiſch unweiſe, denn 
die ganze Wucht von Tilly's Misgefchid Tiegt und muß 
felbftverftändlich doch in defien eigenem Innern, im Wurm 
feines Gewiffen® Liegen. Seine Ueberhebung, feine Grau- 
ſamkeit umbunfeln feinen Sinn, geben der Nemefis Gewalt 
über ihn, und hauptfäclich diefe Gewalt ift es, welche unfer 
Scriftfteller verfäumt hat in feiner Tragödie zu eclatan« 
tem Ausbrud zu bringen. Die Aneldote mit ber Tobten« 
gräberwoßnung in Leipzig in die Handlung mit aufgenom« 
men zu haben, ift ein glücklicher Griff, der aber Leider 
nicht draftifch genug ausgebeutet wird, wie denn überhaupt 
der ganze Tilly die finfter imponirende Erſcheinung nicht 
if, die er fein follte. Der Tilly von Julius Mag ſpricht 
u diel und zu unbedeutend; die Schiller’fchen Kern- und 
raftworte fehlen; es fehlen Knappheit und Wucht bes 
Ausdruds. Das erfte befte Beiſpiel mag das belegen. 
Tilly, welder die in der Tobtengräberftube aufgeftellten 
menſchlichen Gebeine ſchaudernd in ſchlafloſer Nacht be» 
tradhtet, fagt da unter anderm: 

Es if, als zittre ich davor! — 

(Gezwungen lachend.) 
Im einundfunfzig Schlag —— — 
einundfun] lachten bei eim Anbli 

Der morſchen Schädel — Wie? — Ic fah den Tod 

Im heißer Feldſchiacht wild und furdtbar mähen! 

Den Schädel ſah ich fpalten mandem Helden, 

Des Hirnes Brei zum Himmel aufwärts fprigen! 

Heil wie bie Kugeln durch die Lüfte tanzten, 

Den Mann im Giegeslauf zu Boden ftredend; 

Dämonifd Lächeln zudt um feine Lippen, 

Benn et im Sterben röchelnd noch den Feind 

Erdroſſelt, der blindwüthend ihn erfhlug! — 

Nicht tollre Bilder kennt die Phantafiel 

Denn es die Phantafie eines echten Dichters ift, doch 
wohl. Eine ſolche würde diefer Nacht und Schauerjcene 
ohne Zweifel Auftritte abgewonnen Haben, bie fruchtbarer 
wirlen müßten als diefe gewöhnlichen Berfe und der 
blaffe Geift Sophien's, ber ja obenein zu Tilly in gar 
feiner bivecten Beziehung fteht. Ueberhaupt verläuft das 
Ende matt. Tilly's Niederlage bei Breitenfeld, fein Tod 
am Lech, bie Erſcheinung Guſtav Adolf's, das alles Iegt 
ſich nicht bedeutend aus, fondern verwiſcht fid und zer« 
fließt. Dem Autor Ir «8 für eine ſolche Aufgabe an 
großem Stil, an Hiftoriichem Geift und Compofitiond- 
talent, Sein Stoff ift bedeutender als fein Wert. 

Seodor Wehl. 





Fenilleton. 


Gereimte autike Strophen. 

Der Berſuch, den der Herausgeber d. DI. in feinen „Neuen 
Gedichten” gemadt hat, die antifen Strophen zu veimen, 
hat eine fehr verſchiebenartige Beurtheilung erfahren; im der 
nenern Zeit ſcheint fi indeß das Zlinglein der Wage zu feinen 

zu neigen. Wir Lonnten neulich das Urtheil eines 
mannes, Rudolf Weftphal’s, in bie — werfen, eines 
ers, deſſen Autorität anf biefem Gebiete nicht beftritten 
werben Dätrfte, Im ber „Deutſchen Verolehre, zunäht für 


höhere Lehranſtalten“, von Guſtav Heinrich (Befih, Ofter» 
lamm, 1869), einem praktiſchen auf gefunden Grunbfägen ru- 
benden Büchlein, wird mit edit betont, daß den antiken 
Bersmaßen der Reim fehlt, der im Deuiſchen fein Zierath, Fein 
leerer Klingklang fei, fondern die rhythmiſchen Oliederungen be» 
zeichne. Dann wird Venedig citirt, der in feinem „‚Weien des 
deutfhen Rhytämns‘ von den antifen Bersmaßen jagt: „In 
dieſen Bersmagen Hat das Ohr nirgends einen Halt, es Hat 
teine Ruhepunkte, feine Grenze, von denen es anfängt zu 





62 Senilleton. | 


hören, feine ‚andere, wo es einen. Abfchiitt findet. Man hört, 
daß diefe Süße Berfe fein follen, ift aber nicht in Stande, de 
ren Bau zu erkennen.“ on 

Hieramf führt der Verfaffer fort: „„Diefer. letstere Bunt ift 
vom großer Bedeutung. Nudolf Gottfchall hat den intereffan- 
ten Verſuch gemacht, antile Odenflrophen zu reimen, und man 
kann diefe Berfuhe als fehr gelungen bezeichnen. Diefelben 
weifen auch deutlich auf das Weſen des dentichen Rhythmus 
und feinen engen Zujammenhang mit dem Reime bin; benu 
wir fehen aus benfim reimloſen Zuftande unverftändlichen und 
theilweiſe eindrucksloſen Formen durch das Hinzutreten bes be- 
grenzenden und verkulipfenden Reims Stropben entfichen, bie 
zwar mit den antilen Kormen kaum nod eine Achnlichleit har 
ben (denn die nöthigen Längen find. nicht zu erjegen), aber ſehr 
wohlflingend und ausdrudsvol find, 3. B. eine alcäifche 
Strophe: 

Und finten Böller in bes Berberbens Schlund, 
Der Sab des Elends bleibt auf des Bechers Grund, 
So oft ihn au im Strafgerichte - 
Schmettert in Scherben die Weltgeſchichte. 
Eine ſapphiſche Strophe: 
Hier im Killen Thal an ber Bergeshalde, 
Friedlich ringe umtränzt. vom verichwiegnen XBalbe, 
Wo der, Schilf im Zei, wenn ber Abend düſtert, 
Trãumeriſch flüfert. - 
Eine größere Strophe mit asklepiadeiſchem Grundcharakter: 
Am bie Wipfel des Parts bämmert bes Mondes Strahl, 
Zief in Schweigen gehüllt ſchlummert hab Schattenthal. 
Längft it mit Blüten und Liebern ber Lenz eutflohn, 
Gelbliche Blätter verſtreuen die Winde Thon, ' 
Saat ber Bergänglichtelt, welte® Laub 
Raſchelt im Staub, 

Schon aus dieſen wenigen Beiſpielen ift zu erfehen, daß 
auch der Sprache, ber Satzfügung und Wortflelung durchaus 
nit Gewalt angethan iſt.“ 

Aus der zweiten Auffoge der „Poetik. Die Dichtkunſt und 
ihre Technik“, die foeben erjchienen iſt (Breslau, Trewendt, 
1870), geht übrigens hervor, daß der Herausgeber d. BI. 
feinesweg® den Ton auf die Nachbildung der antilen Strophen 
legt, fondern auf den Gewinn’ einer geſchloſſenen, zugleich har⸗ 
moniſchen und melodijchen Kuuflform. Cr Spricht ſich in diefer 
neuen Auflage über die gereimten Strophen folgendermaßen 
aus: „Es ift eine irrige Anſicht vieler Philofophen und Aeſthe⸗ 
tiler, daß der kunſtvollere Rhythmus und der Reim ſich aus- 
fließen, daß 3. B. die Architekwnik der antilen Strophe den 
Heim unter feiner Bedingung ertrage, 
ganz, daß der deutiche Rhythmus vom antifen me 
ſchieden ift, indem bei ihm nicht die Quantität allein, fondery 
auch der-geiftige Accent enticheidet, nnd daß der Reim mefent- 


lich dazu beiträgt, ihn Hervorzußeben. Seine Bedeutung für 


die Strophenbildung werden mir. jpäter kennen lernen, Des⸗ 


halb ‚habe ih in meinen «Neuen Gedichten» gewagt, Oben | 


nad dem Schema der antiken Sorazifchen Strophen zu reimen, 


indem id) überzeugt bin, daß gerade ihr rhythmijcher Gehalt, | 


ſtatt dadurch abgeſchwächt zu werben, weit Iebhafter hervore 
gehoben wird und ſich dem deutfchen Ohr melodiſcher einſchmei⸗ 
delt. Die Strophen felbft ſondern fih Harer; unndthige En- 
jambements, Worthäufungen, pedantifhe Konftructionen wer- 
den vermieden, indem der Reim felbft auf größere Lichtun 
bes Ausdruds hinwirft; der rhythmiſche Gang aber prägt fd 
durch den volltönenden Abſchluß der Zeile um fo Iebbafter dem 
Ohre ein. Der firenge Mafflab der antilen Strophe iſt dabei 
von felbft ausgejchloffen; die deutſche Sprache kann fi die an⸗ 
tifen Versmaße nur mit weientliden, durch den Sprachgenius 
bedingten BRodificotionen aneignen. Der Widerſpruch zwifchen 
der fogenanunten Sprachplaſtik, die ja nur einer ausſchließlich 
quantitirenden Spracde zulommt, und dem Reim tft baber nur 
ein fheinbarer. Sollte es mir. nicht gelungen fein, die Bor- 
züge diefer Neuerung zur Geltung zu bringen: fo Tiegt ber 
Fehler nur an der Schwüche meines Talents, Teineswegs an 
dem PBrincip feldft, das ein glücklicher begabter Dichter nad) 
mir gewiß mit Erfolg in Anwendung bringen wird.‘ 

Wir zweifeln nicht, daß fich die gereimten antifen Strophen, 


Sie vergefjen dabei | 
—2* ver⸗ 





namentlich foldje, die freier auf: der Gruidlage antiker Were 
zeilen gebildet find, allmählich in unferer Dichtfunft einbiirgern 
werben, fobald diefelbe die Ziele künſtleriſcher Formvollendung 
nicht aus den Augen verliert. ebenfalls erregen ſolche Stro- 
phen eine bewegtere und doch geregelte Rhythmik mit harmo- 
niſchem Reimabſchluß. Man bat verfucht, Horaziſche Oden in 
ereimten antilen Strophen zu überſetzen; jedenfalls häufen fid) 
et der Wiedergabe eines feftfiehenden Textes durch den Reim 
die Schwierigteiten, während bei freien Dichtungen der Reim 
alles Gezwungene, Unfreie, ſyntaktiſch Schwülftige verbietet und 
harmoniſch KR. ' 


Notizen. I 

Otto Janke's „Nationalbibliothek nener deütſcher 
Dichter, wohlfeile Ausgabe ihrer beſten Werle in Poeſie nnd 
Proſa“ Hat bereits eine vollſtändig umgearbeitete Auflage der 
„Ritter vom, Geiſte“ von Karl Gutzkow publicirt, welche der 
Autor von neun Bänden auf vier zurückgeführt hat, eine der kühn⸗ 
ften Amputationen, zu denen moderne Schriftfteller ſelbſt fich 
eritichtoffen haben. Sekt kündigt fe „Otto Ludwig's geſam⸗— 
melte Werke” in fllnf Bänden am. Die erfien Lieferungen ente 
halten den „Erbförſter“ und das. menig befannte, nach Ama⸗ 
deus Hoffmann's Erzählung gearbeitete Schaufpiel: „Das Fräu⸗ 
ein von Seudari.“ Die „Sefammelten Werke” ſollen in fünf 
Bänden erfcheinen und außer den Stitden aud die Erzählungen 
bringen. Aus bem Vorwort feiner Witwe erfahren wir, daß 
Dr. Hermann Lücke in Leipzig die Sichtung des handſchrift⸗ 
lichen Nachlaſſes übernommen bat, Es märe wünſchenswerth, 
daß bei dieſer Gelegenheit auch die bramaturgifchen Studien bes 
Dichters, ein bisher ungedrucktes Manufcript, veröffentlicht 
würden. - Sie find geifvoll und ausnehmend lehrreich, nicht 
blos durch das PBofitive, was fie bieten, fondern auch dıncd)' bie 
Abmwege, die fie uns zeigen, Abwege, auf weldye begabte Ta⸗ 
lente, namentlich aus dem Kreife der Kraftdramatif, Jeicht duxch 
das Studinm Shakſpeare's und die Hingabe an die Commen⸗ 
tatoren der romantifchen Schule gerathen. 

Das zweiundzwanzigfte und dreiundzwanzigſte Bändchen der 
von Friedrich Bodenſtedt herausgegebenen‘, Dramaliſchen 
Berk" Willtam Shaljpcare’s (Leipzig, Broddaus, 1869) 
enthält den „Titus Andronicus“ in einer Ueberjegung von Delius« 
und „Was ihr wollt“, eins der von Schlegel feIbft überſetzten Luſt⸗ 
fpiefe, in einer nenen Heberfehung von Gildemeifter. Die Ein⸗ 
leitungen zu beiden Stücken find interefjant. Delins, ber forft 
ziemlich grauſam ift, mo es gilt, Shakſpeare ein Werk ganz oder 
zur Hälfte abzufprechen, erflärt den „Zitus Andronicns‘ für 
echt, wenngleich für eine Jugendarbeit. Er fagt von den Stüd: 
„Und doch finden mir in biefer Erfilingsarbeit, in welcher Shat- 
fpeare fo wenig noch als er felbft ericheint, Züge gemug, die 
Greene nicht als ihm und feinen Genoffen entlehnte Federn be 


legten Acte vieles, was an ben alten König Lear erinnert. Der 
eine wie der andere, mit bemfelben entichiebenen. Shaffpenre’- 
[hen Gepräge ausgeſtattet, Können nur Kinder deſſelben Autore 





Feuilleton. 63 


ſein. Der Humor ſataniſcher Bosheit in Aarou und in Sag, 
der Humor eines zerriſſenen Herzens in Titus ind in kear — 
das find Züge, die ebeu nur Shaffpeare fo concipiren’fo aus- 
führen mochte. Wie aber, um auf das vorliegende Drama zur 
tüdzulommen, im Berlaufe der Arbeit felbft unſerm Dichter 
die Kraft und das Bemußtfein feiner Kraft wuchs, das ergibt 
fih, fheint es, für den unbefongenen Sefer ſhon aus einer aufe 
mertfamen Lehre und ciner Bergleihung ded erften fo überans 
ſchwachen Actes mit ben folgende: m; die ein ſiets zunche 
mendes dramatiſches Teben gem "bis vun Kataſtrophe uud 
zum verföhmendtu Abfchluſſe ii Es ale vb Shaffpeare 
im Fortjchritt diefes feines erien“dichterifhen Schaffens immer 
mehr alfreife von."der aus -jırjendlidger "Uneyfahtenfeit und 
Schuchternheit adoptirten Manier der Vorgänger und ferne cigene 
Art mehr. und mehr. ahne ‚und. ahnen laffe, - Ueber kin ſoiches 
Ahnen und Ahnenlafien Hinaus kommt es freilich im «Titus 
Audrmicus» nidt,. ohne daß diefee Symptom einer nature 
gemäßen Entwidelyng, ‚eines foriſchreitenden Uebergangs vam 
Unfertigen zum minder Uufertigen, für uns ein Grund jein 
dürfte, eim mangelhaftes Iugendwerf, mit dem Ghaliprare fo 
gut jeder andere Dichter debutirt haben ınuß, lediglich des ⸗ 
dalb, weil es mangelhoft iſt, für unſhalſpeariſch auszugeben 
und als des Diätes umwürdig gurädzuneilen.” 



























Album. 
Armand, Graf Malt d 
sung, 1870, 24 Bde. Leipzig 
iibane, 3, Eustinr. 


Er, 8.0 Gdunerem 
zul en —S—— 


waftgrifber. .2.Bbe. "Dein, v. Deder. 


» Te Sn kart 


— 9,8, Autiıg nach Bombah und Raica im Jahre 1868. 
Bapbeus, T x cha. Dad Schen ber Liebe in Fiebern und Geb 
—X em Der er Dichte 








ve Berlin, Oilitea. van wuhoen. 1er 
i — Aue r,, ‚Der Baaptwirg der Fanponfnie Bern, Flala. 1869. 
— Config Werk, ie na 100 Sähen fie Dan 
— a 
bare ud seine Heikrat —* ‚reeke von Siena) 
— Gediqte. Obttingeü, Etliffen. 1869. 

‚Brimskidi Genrehuder ‚us ber vaterlänbifgen 

— ie Sem TR Flattzeutſaa Orlainel, 
Fi "Saabenig. 5 ‚Charalters 
enge. "en Korn. Rcesmätten) 
—5 — euer bene Diommg. ne Kuflage, 


En al Zenit. Bom —Rã 


;efferte und vermehrte uf lage: 




















—— e 
Ser Neiyelt. 3 Bbe- i 










—— — — —— Auflage. 3 pie. ia, 
Se * Gut m zb „Berzog 
ER — en OR 


„ Segenben ‚und, morzenlänbliäe Sagen. Beilin, 
ir is bie: genre⸗ bracten. Dictungen. Köln, Du 
— im Sachsenspiegol, Ein Erklärungsversuch. 


Ing des Walsenhauses. Gr. Nor. 
ER '®:, Genningehlder. Grantfurt a. W., 





Zr Fa 3 Thi 
—5— wetere Matfat: Aus den Rlofer- 
ua = — eng zu De: vertan deln 


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;, Qeemati yrofeiige Beten. 4Rc © 
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‚Bons —— Sie die 


— EC Saat, — Se Ha Roman, 





. Ein gerne Prag, Ehrlich, Gr, 8. $ Ngr. 
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4 Beträgen von | Mini 
ee 5 ae | 


Bieiet, 5. Der Beteran von Seutpen und feine Baugefgiäte. Dred- 
Rieieh 3.05 Bar om Ssutgen und feine Baugeföiäte, Dre 





Zeit-Verhältulssen; aus den Quellen bearbeitet, äter Thl. Die sechs er- 


sten — ‚mit deren Bildulasen. Beriio, Wiegand a. Grieben. 





Due neht, Bargareigg, Tas alt Tagen. Gebiäte. 


Sugar befand, — ee dar Enoleciher ie FE 


Gerigel 5 

Krämer, See de uge ar ung menfpliger Größe. 

Bortrag, „Getä, Sirebel, —J——— 
———— —* Eger.. Ein Borloit, Wien. 

Ge: ds Sohn 1869. Lex.-i 

2, gabden, Gmma, Himkumatden. Gtüttgar, Lröne. 1869. Ot. 10. 


Die Lage Europa’s in ben lepten Wonaten bes Iahres 1869, Ein 
geiren au —— Bon einem Sacfen. Dresben, Lehmann, 1869. 


—— Em, Zrset irs v. Eie Grauen. Srinen. Gotha, · a. 
Nr, Flle und wider bie Frauen. Vierzehg Brick, 
Berti, 9 24 
2 inachiegeſchichte. Serlin, gante. &, [3 rap: 
Ve, —— May. 1869. Gr. 8, 10 Rot. 
Lingg, H. Wanderungen durch die Interansisunle Kunst-Ausstellung 
in München. München, Lentner. 1869. Gr. TN 


eat, A. Helnrien IL. (der Heilige) um —— 12 ae, ‚Vor: 
Ihe. dargesiallt. : Wien, Leeb: 22 Bgr.. 














T 
star Sn, : Bück ard dirtin. Sqau · 
id der. Singen " „Ein Gediqt. Berlin, €. 


Gr. 8. 
mM — Er be iginal = Novelle. ⸗ 
ee weldpige Sumnne am 


— —— a ben ‚Ievpn ı 1862 bis 1869, 
Er y Erine Sale aut — 
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Dundn. 








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Vepienistiger, &, inte Setge: ins Rorklaubs-Eoge. chen 
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Auflage. Berlin, Allgemeine beutfihe. Berlaps-Kaftel 2 ee 9 gar, 
Dejieibe, I Deja, Eine Zragecie. Berlin 
fe Verlags.Huftal 






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zyen, 8.0, Mic Diler ums Lunge Blätter. Goneite una 
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Iheziiger, Stuttgart, Öräninges 
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” "Eröiterung einer ‚Pbilosopklächen Erumdeihäfcht, “Leipzig, 
Finde 1869. 9 Nar, 
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Leipali 


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Shirien ., Smaftungen, inch ji ge Sich enmeme 
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Kaiprig, Birgel., Gr. 8, 1 Talr, — 

Tröter, R., Bilderwert. Ei} EL leipzig, Rotſchte. ®. az 











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2 
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64 Anzeigen. 


Anzeigen. 


— — — 


Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Soeben erſchien: 


Die deuffhen Republikaner 


unter der frauzöfiſchen Republik. 


Mit Benugung der Aufzeichnungen feines Baters Michel Veuedey 
dargeftellt von 
Jakob Benedey. 
8 Geh. 2 Thlr. 10 Nor. 

Das vorliegende Memoirenwerk füllt eine Lücke in ber 
Geſchichtſchreibung aus, indem es über eine bisher dunkle Par- 
tie in den politifchen Gefchidlen des deutfchen Volks helleres 
und authentifches Licht verbreitet. Die harten Kämpfe ber deut- 
ſchen Bevölferungen von Strasburg, Mainz, Koblenz, Bonn, 
Köln, Trier u. |. w. zu Ende des vorigen Jahrhunderts bil- 
den den Gegenftand ber Darfiellung, welche theils auf eigener 
Forſchung des Berfafjers, theils anf zeitgenöffiichen Erinnerun- 
gen fußt und, mit den VBorboten der Revolution in den rheini- 
fchen Kurftaaten beginnend, bis zum 18. Brumaire fi) erftredt. 





Derlag von 5. A. Brockhaus im Leipzig. 


Soeben erſchien: 


Bibel -Sexikon. 
Realwörterbuhd zum Bandgebraud 
für Geiftlihe und Gemeindeglieder. 

In Serbindung mit den namhafteſten Bibelforfhern Herausgegeben 
von 
Kirchenrath Profeſſor Dr. Daniel Schenkel. 

Mit Rarten und im den Text gedruckten Abbildungen in Holsfänilt. 
In 32 Heften oder 4 Bänden. 

Breis des Heftes 10 Ngr.; des Bandes: geheftet 2 Thlr. 

20 Ngr., gebunden 8 Cl “ 

Zweiter Band. (Didvrahdme — Heilig, Heilige.) 

Mit dem zweiten Bande Tiegt num bereits die Hälfte 
des gediegenen Werts vor. In allen Buchhandlungen werden 
Unterzeihnungen auf Schenkel’ „Bibel » Lexiton‘, in, Heften 
oder Bänden, angenommen und ift ein PBrofpect darüber 
gratis zu haben. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


DIE HYMNEN DES RIG-VEDA 
im Samhita- und Pada-Text. 
Herausgegeben von Max Müller. 
DAS ERSTE MANDALA. 

Zum Gebrauch für Vorlesungen. 

4. Geh. 2 Thir. 15 Ngr. 


Aus Max Müller’s grosser Ausgabe des Rig-Veda ver- 
anstaltete die Verlagshandlung einen Separatabdruck des 
ersten Mandala, um denselben allen Lehrern und Studiren- 
den des Sanskrit zu wohlfeilem Preise zugänglich zu 
machen. 


Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erfdien 
die fiebente, umgearbeitete umd vermehrte Auflage 
von 


Kalfſchmidts Fremdwörterbud. 


8. Geh. 2 Thlr. 12 Nor. Geb. in Halbfranz 2 Thlr. 24 Ngr. 
(Auch in 12 Heften zu je 6 Ngr. zu beziehen.) 

Kaltſchmidt's Fremdwörterbuch, bereits im ſechs flarlen 

Auflagen verbreitet, wurde in ber vorliegenden fiebenten Auf- 

age innerlich wie äußerlich dem Fortſchritten der Zeit gemäß 

umgeftaltet. Es umfaßt jett 61 Bogen 2erilonoctav und iſt 

demnach nit nur das neueſte und vollftändigfte, fondern 

— das verhältnißmäßig billigſte aller Fremdwörter— 
er. 


Vorräthig in allen Buchhandlungen. 





Derfag von S. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 


Geschichte von Ungarn 


Von 


Aurelius Fessler. 
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, bearbeitet von 


Ernſt Rlein. 
Mit einem Vorwort von Michael Horväth. 


Zweiter Band. 
Die Zeit der Rönige aus verfhiedenen Hänfern von 1301 Bis 1457. 
8. Geh. 3 Thlr. Geb. 3 Thir. 10 Ngr. 

(Der erste Band kostet geh. 2 Thir. 20 Ngr., geb. 3 Thir.) 

Das Fessler’sche Werk «Geschichten der Ungarn und 
ihrer Landsassen», allgemein als die beste in deutscher 
Sprache geschriebene Geschichte Ungarns aner- 
kannt und seit längerer Zeit gänzlich vergriffen, erscheint 
jetzt in zweiter Auflage und zeitgemässer Umarbeitung, 
eingeführt durch den berühmten ungarischen Historiker und 
Staatsmann Michael Horväth, Infolge der gedrängteru 
Darstellung sowie der zweckmässigern Druckeinrichtung war 
es möglich, den Umfang sehr zu beschränken, den Preis 
mithin wesentlich billiger zu stellen. 

Ausser in Bänden kann das Werk auch in Lie- 
ferungen zu je 20 Ngr., deren bisjetzt 9 erschienen 
sind, durch alle Buchhandlungen bezogen werden. 





Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig. 


SHAKSPEARE. 
JULIUS CAESAR, 


ANNOTE PAR 


CHARLESGRAESER. 
8. Geh. 8 Ngr. 

Diese Ausgabe von Shakspeare’s „Julius Cäsar‘, durch 
Karl Graeser, den bekannten Verfasser vielverbreiteter Lehr- 
bücher, mit mehr als 800 erklärenden Anmerkungen in fran- 
zösischer Sprache versehen, ist für Uebersetzungsübungen 
eingerichtet und kann auch deutschen Schulen als prak- 
tisches Lehrmittel empfohlen werden. 





Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Srohhaus. — Drud und Berlag von S. A, Brockhaus in Leipzig. 


Blaͤtter 
literariſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


— Ar. 5. ÿ— 


27. Januar 1870. 





Iunhalt: Aus Dentſchlands trübſter Zeit 


Bon Hans Prug. — Romane und Erzählungen. 
Shrifian von Bomhard's Nachlaß. Bon A. W. Grube. — Kleine philofophifhe Schriften. — Senilleton. 


Bon Rudolf Gottſchall. — 
(Sntereffante 


* Autographen; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Aus Dentfhlands trübfter Beit. 


Zur dentjhen Geſchichte in dem Jahrzehnt vor den Befreiungs- 
kriegen. Bon F. von Ompteda. II: Politiſcher Nachlaß 
des hannoverſchen Staats- und Cabinetsminiftere Ludwig von 
Dmpteda and den Jahren 1804—13. Drei Abtherlungen. 
III. Sena, Frommann. 1869. Gr. 8 5 Thlr. 


Während wir aus den Schäten felbit der bisher 
weniger zugänglichen Archive für die Gefchichte der Bes 
freiungskriege und ber ihnen vorangehenden Jahre wol 
faum noch wefentlich neue Aufſchlüſſe, noch weniger aber 
eine völlige Umwandlung ber bisher üblichen SDarftel- 
Iung zu erwarten haben werben, ftrömt und gerade in 
der legten Zeit eine Maſſe von neuem Material zu für die 
tiefere Erkenntniß jener Zeit in ihren Einzelheiten, indem 
ganz in Uebereinftimmung mit einer in unferer hiſtori⸗ 
{hen Literatur mehr und mehr zur Herrfchaft gelan« 
genden Strömung aud die Yamilien» und Privatardive 
fi) öffnen und in den mehr oder weniger unbedeutenden 
Correfpondenzen, Tagebüchern und Memoiren von oft 
wenig hervorragenden Zeitgenoffen jener denkwürdigen 
Ereigniffe die Quellenliteratur eine zuweilen mehr als 
zweifeldafte Bereicherung empfängt. Denn gehen wir bie 
lange Reihe der hierher gehörigen Werke durdy: wie 
gering ift die Zahl derjenigen, durch weiche unjere Kennt⸗ 
niß von jener Periode eine wefentliche Förderung erfährt, 
wie oft ift in einem didleibigen Memoirenwerke nur die 
eine oder die andere, Thatfache von allgemeinem Intereſſe, 
während alles andere nur das ſchon anderweitig Belannte 
in ganz individueller Weife und daher oft in der aller- 
verkehrteften Auffaffung und durch die Irrthümer ber 
Tagesmeinung eniftellt und verbunfelt wiedergibt. Der⸗ 
artige Publicationen pflegen eben — unb darin liegt ein 


Hauptgrund der angeführten Uebelftände — als ein Werk 


der Pietät oder auch des Familienftolzes von Laien aus⸗ 

zugehen, welche felbft bei einer genauern Bekanntſchaft 

mit der einfchlägigen Literatur doch der Forſchung und 
1870, 5. 


dem ftreng wiflenfchaftlichen Leben der Gefchichtfchreibung 
zu fern ftehben, um mit Sicherheit das Werthvolle von 
dem Werthlofen zu fcheiden; ja, ſelbſt wenn fie dazu im 
Stande find, fo wird es ihnen doch oft aus taufenderlei 
andern Rüdfichten unmöglich gemacht, ſich auf die Ver⸗ 
öffentlihung blos der neue Anfchauungen oder unbefannte 
Bacta darbietenden Aufzeichnungen zu befchränfen, und 
nicht gern wird von ſolchen Nachlaffen auch nur ein 
Bettelchen ungebdrudt gelaffen. Es ift das entfchieden ein 
Misbraud), durch welchen unfere neuere Hiftorifche Duellen- 
literatur zu einem- Umfang anſchwillt, der mit dem Werth 
des Inhalts in keinen Verhältniß mehr fteht. 

Auch das obengenannte Buch aus dem politifchen Nach⸗ 
laffe des ehemaligen hannoverfchen Minifters von Ompteba 
gehört in die Reihe diefer Werke, denen wir — offen 
geftanden — zu unferm Leidweſen immer öfter begegnen; 
doch muß es ohne Zweifel den ihrem Inhalt nad) werth- 
vollern zugezählt werden, obgleich fich gewiß nicht leugnen 
läßt, daß dasjenige, was eine Bereicherung unferer Kennt» 
niß enthält, fich in einer weit Inappern Form, fodaß 
auch der Laie davon angefprohen worden wäre, hätte 
geben laflen; ja, ziemlich die Hälfte der uns Bier gebo⸗ 
tenen 270 Schriftftüde hätte, ohne bem fachlichen Werth 
des Ganzen den geringften Abbruch zu thun, weggelaſſen 
werden können. Aber es ift nur natürlich, wenn der 
feines Vaters politifchen Nachlaß herausgebende Sohn den 
fonft geltenden kritiſchen Maßſtab verliert und auch in 
ziemlich werthlojen oder doch fachlich durchaus gleihgülti« 
gen Aufzeichnungen nod einen allgemeinern Werth zu 
erfennen meint. Ohne Zweifel hätte auch hier eine mono⸗ 
graphifche Verarbeitung des vorhandenen Materials bei 
weitem den Borzug verdient vor ber von dem Herausgeber 
gewählten Yorm, die uns eine Art von Urkundenbuch 
bietet, nur daß die einzelnen Nummern ſich anreihen an 
eine Biographie des Minifters von Ompteda: es hat base 


I 


66 


noch ben Nachtheil, daß man alles doppelt zu Hören bes 
fommt, erft in der Erzählung, dann in den auf biefe 
folgenden Briefen und Actenftüden. Das iſt unbequem 
und ermüdend im höchſten Grade, um jo mehr, als man 
in den Dmpteba’fchen Papieren eine Menge ganz gleich- 
gültiger und felbft zur Zeit ihrer Entftehung nur formell 
bedeutender Schreiben mit in den Kauf nehmen muß und 
höchftens von Zeit zu Zeit auf eine Gruppe von Schriftftüden 
ftößt, für deren Inhalt und Form man ein lebhafteres 
Intereffe zu empfinden vermag. 

Der erfte Abfchnitt des vorliegenden Bandes betrifft 
die Jahre 1804—6. Er ift eingeleitet durch einen bio- 
graphifchen Abrig, aus dem wir den im Mittelpunft des 
uns hier entgegentretenden Kreifes ftehenden Daun feiner 
Entwidelung und amtlichen Laufbahn nad) kennen lernen. 
Ludwig von Ompteda, 1767 auf dem älterlichen Gute in 
der hannoverfhen Grafſchaft Hoya geboren, von einem 
Geiftlihen in der Gegend von Celle liebevoll erzogen, 
dann Gegenftanb und faft da8 Dpfer der pädagogifchen 
Erperimente einer Tante, von diefen durd) die liebende 
Sorgfalt der Mutter befreit, kam, nachdem die Mutter 
dem fchon früher verflorbenen Bater gefolgt war, in die 
[üneburger Nitterafademie, wo er durch feine Begabung 
und Tüchtigkeit einflußreiche Gönner gewann, und findirte 
dann in Göttingen, der hohen Schule ber Rechtswifien« 
ſchaft, wo damals ein Kreis der hoffnungsvollften Jüng⸗ 
linge lebte: die Gebrüder Humboldt, Kamp, Altenftein, 
Nagler u. a. gehörten zu dem Umgange des jungen 
Dmpteda. Am vertrauteften aber war und blieb derjelbe 
mit feinem ältern Bruber, ber fid) der militärifchen Lauf⸗ 
bahn gewidmet hatte und der uns von allen in den Auf- 
zeichnungen auftretenden Perjonen das meifte und wärmfte 
Intereſſe erwedt, eine einfache und edle, heroiſche und 
doch kindlich liebevolle Seele, dabei von ſchönem Stoicid- 
mus erfüllt und treu ausharrend inmitten der traurigften 
und wechfelvoliften Geſchicke, die von allen Seiten mit 
vernichtender Schwere hereinbrechen. Nach Bollendung 
feiner Studien und nachdem er einige Zeit in ber richter- 
lichen Praris bejchäftigt gewefen war, wurde Dmpteda 
durch BVermittelung feiner Gönner 1791 zum Legationd- 
fecretär bei der hannoverſchen Geſandtſchaft in Dresden 
ernannt. Das war für fein ganzes Leben entjcheidend; 
er kam dadurdy in die biplomatifche Laufbahn und blieb 
in berfelben, obgleich er fich noch längere Zeit mit der 
Abſicht trug, in der richterlidren und adminiftrativen 
Thätigfeit feinen eigentlihen Beruf zu fuchen. Seine 
in allen Richtungen bewiejene Züchtigfeit erwirkte ihm 
ein fchnelles Auffleigen; fchon 1794 wurde er zeitweije 
mit der Wahrnehmung der Gefchäftsträgerftelle am ber- 
finer Hofe betraut, wohin er in gleichem Auftrage im 
folgenden Jahre zurückkehrte, um dann 1800 als Kriegs- 
rath in die Leitung der Kriegslanzlei einzutreten, ein Auit, 
das er bald danad) mit dem nengefchaffenen eines Dber- 
poftdirector® vereinigte. In bdemfelben Jahre vermäßlte 
er fi mit ber Witwe des preußiſchen Hofmarſchalls 
Grafen Solms, wodurd er zu dem erften Familien des 
preußischen Adels in nahe Verbindung trat. Das aber 
machte die Stellung nur noch peinlicher, in welche Ompteda 
1801 bei der erften Beſetzung Hannovers durch die Preu⸗ 


Aus Deutfhlands trübfter Zeit. 


Ben gerielh, da er, nad) beiden Seiten hin vielfach ver- 
pflichtet, auch nach beiden doppelt leicht Anſtoß erregte 
und Mistrauen gegen feine politiiche Ehrenhaftigkeit leicht 
erwedt werden fonnte. Ein ihn hochehrender Beweis des 
Bertrauend feiner Regierung war es baher, baß er 
1802 als Unterhändler wegen der von Preußen ebenfo 
wie von Hannover beabfichtigten Erwerbung von Hildes⸗ 
beim mit befonderer Bollmadjt nad) Berlin gefchidt wurbe. 
Diefe Miffion Hatte feinen Erfolg; 1803 wurde Hanno- 
ver zum zweiten mal von Preußen befjett, und Ompteda _ 
erhielt nun in Berlin eine doppelt wichtige, aber auch 
doppelt ſchwierige Stellung. Daß der Herandgeber bie 
Gelegenheit benugt, welche ihm der Bericht über diefe 
Borgänge bietet, um die allerdings naheliegenden Paralle⸗ 
len zwifchen den damaligen Berhältniffen und den Ereig⸗ 
nifien des Jahres 1866 zu ziehen und dabei feinem gut 
welfifhen Unmuth über die 1803 noch unbefannte, jett 
verwirklichte Debellationdtheorie Luft zu machen, kann man 
ihm als „königlich hannoverſchem Geheimen Regierungs- 
rathe a. D.“ ſchon zugute halten, obſchon es andererfeits 
nit gerade von Hiftorifchem Sinn und Berftändniß für 
die Fragen der Zeit Zeugniß ablegt, wenn jemaub bie 
Geſchichte des Jahres 1803 ohne weitere mit der von 
1866 auf diefelbe Linie ftellen und nad bemjelben Maß⸗ 
ftabe particulariftifcher Moral mefjen will. 

Bon 1803 — 6 blieb Ludwig von Ompteda in Ber- 
Iin, von wo aus er zwiſchen den in Hannover lebenden 
Getreuen und ber aus einigen hannoverſchen Miniftern 
in Schwerin gebilbeten Regierung in partibus infidelium 
den eifrigen Bermittler machte und Gelegenheit fand, 
feinem Lande manchen danfenswerthen Dienft zu leiften. 
Der Ausbruch des preußiich- franzöfifchen Kriegs 1806 
griff aud in Ompteda's und der Seinen Schickſal ftörend 
ein; infolge der Schladt bei Yena mußte Dmpteba Dres- 
den, wohin er ſich begeben hatte, da er ſich in Berlin feit 
der Schlacht bei Aufterlig nicht mehr ficher fühlte, ver- 
lafien und ging nad) Prag, wo er zunäcft feinen Auf« 
enthalt nahm. Dort und in Zeplig hat er den größten 
Theil der nächſten Jahre verfebt, infolge feiner Stellung 
zur Dispofition auch äußerlich in einer bebrängten Lage, 
niedergebeugt aber vor allem durch da8 Elend, das über 
fein Baterland und ganz Europa durd die Napoleonifche 
Zwingherrſchaft Hereingebrocdhen war, in regem, oft frei= 
lich vielfach gehindertem Verkehr mit feinen gleichgefinnten 
Freunden und im Austaufche feiner ernften politifchen 
Erwägungen mit den patriotifchen, franzofenfeindlichen 
Männern aller Nationen, welche er durch feine amtliche 
Stellung und die wechſelvollen Scidfale der letzten Jahre 
kennen gelernt hatte. 

In den Jahren 1808 und 1809 war gerade Böh- 
men, und namentlih Prag und Teplig der Sammel- 
plag für die ariſtokratiſchen Kreife diefer politifchen Rich- 
tung, in denen alle bedentenden Größen der Zeit ans⸗ 
und eingingen. Aus diefer Zeit rühren aud) die inter- 
effanteften der in der vorliegenden Samminng mitgetheil- 
ten Schriftftitde Her; namentlich tritt andy Hier Geng, ben 
Dmpteda in Prag fennen gelernt und mit dem ihn bald 
eine feltene Uebereinſtimmung der politifchen Anfichten 
näher verbunden hatte, am meiften in den Bordergrumbd 


Aus Deutſchlands trübfter Zeit. 


und bringt und in einer großen Reihe von Denlſchriften 
und Briefen feine merkwürdige Perfönlichfeit mit ihrer 
glänzenden Begabung und ihren erbärmlichen Schwächen 
im frijchefte Erinnerung. Sonſt ift e8 auch bier des Geſand⸗ 
ten Ompteda Bruder, der unfer Intereffe und unfere Theil- 
nahme am meiften wach ruft und defien bedeutende Per- 
fönlichteit und trauriges Schickſal ein recht treues Spiegel · 
bild geben von ber Größe und dem Elend der ganzen 
Zeit. Im der englifchen Legion zum Oberftlieutenant aufs 
geftiegen, wird derſelbe mit feinem Corps von ben wech ⸗ 
felnden Kriegsläuften bunt in der Welt herumgemorfen: 
in England, an der Küfte Deutſchlands, dann in Gibral« 
tar, jpäter als Schiffbrüdiger und Kriegsgefangener in 
Holland; endlich bei der Landung in Portugal von einem 
Gemithfeiden befallen, fehen wir den ebeln Mann ſich 
aufreiben in der Sorge um fein Vaterland und dem in« 
grimmigen Zorn über den Sieg bes in Napoleon ver- 
Förperten böfen Principe. Aus den Briefen deſſelben wäre 
eine ganze Menge ſchöner und bedeutender Worte hervor« 
zuheben, die zugleich zeigen, wie tief er feine Zeit und 
deren Bebürfniffe verftand. So fohreibt er einmal, im 
Frühjahr 1808, als Kriegsgefangener in Gorkum ber- 
weilend, an feinen Bruder: 


Mein, alles was wir erfebt haben, beflärtt mid in ber 
umtoandelbaren Weberzengung, daß felbft im Untergange Ret- 
tung gewejen wäre, fowie in ber illuforifhen Rettung der 
wahre, unwiederbringliche Untergang vollendet ift. Dies fage 
io dir in ber vollen Zuverfiht, daß wir in dem Gedanfen 
übereinftimmen, daß der Geift eines Volls das erſte unter dem 
Gütern beffelben if. Der einmal geopfert, ſteht ber Werth der 
Übrigen nur im Berhältniß zu dem gefunfenen Werte des 
Befiges und wird nichtsdeftominder den Weg der erften großen 
Einbuße wandeln. Ich äußere dieſe bittere Wahrheit ohne Rüd- 
Balt, da daß tiefe Gefühl derfelben, ungeachtet meiner fünfter 
balbjährigen Entfernung von dem Gchaupfage des vaterländi- 
fchen Jammers und Elende, ungeachtet meiner Berfegung in 
fehr verjdiedene Berhältniffe, mich nie verlaffen hat nnd viel- 
ieicht, durd) Eontrafte, empfindlicher geblieben ift wie da, wo 
eine Familiariſirung mit allem, was den Menfchen phyſiſch 
umd moralif ecrafirt, und die Entwöhnung des Blids von 
Anfihten, die erhebend wären, wenig von der Empfindlichkeit 
übriggefoffen hat, wie die der Entbehrung ehemaliger Genüffe 
und des Berlangens nad; — Unmöglichkeiten. 


Der intereffantefte Theil der Sammlung ift ohne 
Zweifel bie feit dem prager Aufenthalte immer eifriger 
werdende Correfpondenz mit Gent, der auch hier feinen 
Charakter keinen Augenblid verleugnet und ſich mit Ompteda 
nit blos in der fanatifchen Glut feines Hafles gegen 
Napoleon („Berbammte Kanonenkugel!“ ruft er aus bei 
der Nachricht, daß in ber Schlacht bei Preußiſch -Eylau 
fünf Schritt von Napoleon ein General gefallen fei), 
fondern aud) in der allgemeinen Würdigung der Lage und 
der Beurtheilung der zu einer Befreiung Europas vor ⸗ 
handenen Mögliggkeiten meiftens in völliger Uebereinſtim⸗ 


67 


mung befindet. Das von allen Seiten hereinbrechende 
Berhängniß, die Schlag auf Schlag folgenden Siege 
Napoleon’s, die gänzlice Hoffnungslofigkeit ber Lage 
treibt felbft den fonft fo falt und Mar rechnenden Gentz 
zu dem verzweifelnden Ausruf: 

Eine Pauſe, eine Baufe! damit die Menfchen fi wieder 
orientiren lönnen, die Vernunft einen Theil ihrer Rechte wie» 
dergemwinne, bie Laſterungen der Hölle wieder verſummen! 
Die Zukunft fängt an wie Blei auf meinen Nerven zu liegen. 


Kaum erfennt man den Schreiber biefer und ähnlicher 
Aeußerungen wieder, wenn er von bem ehemals in Ruß⸗ 
land einflußreichen General Wingingerode, der nad; bem 
Tilſiter Frieden in öfterreichifche Dienfte getreten war und 
in Prag lebte, ftatt aller andern Fritit an Ompteda 
ſchreibt: 

Er iſt allerdings eine bedeutende Reſſonrce für mic; zum 
Unglüd hat er eine hochn Tangweilige, unfhmadhafte, häßliche 
und obendrein arme Polin geheirathet, weldes dem nähern 
Umgange mit ihm einige Schroierigleiten im den Weg legt; 
auch ißt er ſchon vor 1 Uhr (gracious God!) und wohnt dabei 
nahe am Viehmarft, weldes alles zu meinen Gewohnheiten 
nicht paßt. 

In diefen beiden Stellen find die beiden Seelen, bie 
in Gent lebten, aufs fehärffte gefennzeicnet. 

Bon wirklich Hiftorifhem Werth ift nur wenig in 
der Sammlung, doch geben manche Stüde Beiträge 
zur Charakteriftif ber ganzen Zeit und fpiegeln den bei 
fpiello8 unruhigen Zuftand ab, in dem die fieberhaftefte 
Erregung mit einer tobähnlihen Wbfpannung und Er- 
ſchlaffung wechfelt. Freilich wäre diefer Zmed auch zu er- 
teichen geweſen, wenn ein bedeutender Theil der mitgetheil« 
ten Schriftftüde der Vergeſſenheit nicht entriffen worben 
wäre. Die zahlreichen, doch nichts als Höflichkeitsformeln 
enthaltenden Billets hätten ganz gut ungebrudt bleiben 
Bönnen, aud) in ben Tagebuchaufzeichnungen des Geſand⸗ 
ten von Ompteba vermögen wir, bon einzelnen Abfchnit« 
ten abgefehen, gar feinen Werth zu erkennen; in ben 
Notizen über feinen wiener Aufenthalt zu Anfang des 
Jahres 1807 ſpricht Ompteda von nidts als Bifl- 
ten, Diners, Soupers und Mebouten und erideint als 
ganz aufgegangen in dem Heinlichen wiener Geſellſchafts- 
Hatfd. Intereſſant ift dagegen der Bericht über feine 
Begegnung mit Schill und deſſen Verſuch, ihn für feine 
Plane zu gewinnen, fowie die Erinnerungen an bie 1809 
gemachte Reiſe nad) England, von wo er feinen gemüths- 
franfen Bruder abholte. *) 

Hans Prup. 
des 


Inzwifgen i die zweite und britte N 
*) Iuzwiigen if auf bie ‚mei und & te Mstheitung jmeiten 


Banbed und ber dritte Band 

womit bafielbe vollftändig vorliegt. Der 

reitd im Jahre 1869 veröffentlicht unter dem Titel: „Die Lei 

Hannovers burd bie Brangofen, eine hiforife politiige Emile”, 
. Re. 


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WITTRTET TEN NR 


TIEHRIETTNRT, 


70 Romane und Erzählungen. 


zu erfreuen, bildet den Inhalt des vorliegenden Romans, 

Allerlei Intriguen, namentlich) von der Yürftin- Mutter 

und einem alten Feinde bes Fürſten, dem Grafen liche 

legi, ausgehend, zerreißen ba8 Band wieder, deſſen 
ficchliche und gejeglihe Schürzung eine nicht ausreichend 
fefte war. 

Die Berfafferin wollte in biefem Roman zeigen, wie 
verhängnißvoll das Hinausgreifen über die ſocialen Schran- 
fen werden Tann, felbft wo nicht ftolze Ueberhebung, ſon⸗ 
dern nur leidenfchaftlihe Neigung dazu führt. Gleichwol 
ift das Werk feine trodene Moralpredigt, welche durd) 
einige lebende Bilder illuftrirt wird; es hat ftarfe roman⸗ 
hafte Reize, wie fie fonft nur ein Genfationsroman 
de pur sang zu bieten pflegt. Der Doppelmord, defien 
gefpenftige Erinnerungen das ganze Leben des Fürften 
vergiften, gehört zu jenen dunkeln Ereigniffen, die ſich im 
Berlaufe des Romans exhellen und gleichſam in Wohl« 
gefallen auflöfen. Dagegen findet gegen den Schluß 
defjelben noch ein Halb unfreimwilliger Meuttermord ftatt: 
ein grelles Ereigniß, das wir nicht mehr erwarteten, 
nachdem fid) die Verfaſſerin fo viel Mühe gegeben Hatte, 
jenen blutigen Makel, der die Vergangenheit und das 
Gewiſſen des Fürſten befledte, außzutilgen. Daß fie an⸗ 
ſchaulich zu fchildern verfteht, beweifen die Scenen auf 
dem einfamen Bergfchlofie, noch mehr die Darftellung bes 
Trappiftenflofters am Schlufie des Romans. Der Stil 
ift nicht durchweg correct, aber wo es ber Stoff verlangt, 
warm und anfchaulic. 

5. Wendenburgiſche Junker. in Samilienroman von €. 
Spielmann. Drei Bünde. Leipzig, Kollmann. 1869. 
Gr. 16. 5 Thlr. 

Diefer Roman nimmt ein eigenthlimliches cultur« 
hiſtoriſches Untereffe in Anſpruch; denn während die 
neuen Moderomane darin wetteifern, die Ariftofratie in 
ein ungünſtiges Licht zu ftellen, ift der Roman von 
Spielmann eine Berherrlichung des patriarchafifchen Junker⸗ 
thums, und zwar in feiner fchroffften Geftaltung, in der 
es fih nur noch in einem abgelegenen Weltwinfel zu 
behaupten vermag. Spielmann bildet fo den ſchärfſten 
Segenfag zu Spielhagen, der in feinen Romanen 
nicht müde wird, das beutfche Junkerthum bald im Stil 
der Melpomene, wie wenn er bie Örenelthaten derer von 
Hohenftein fchildert, und bald im Stil der Thalia zu 
geifeln. Der Vorzug des Spielmann’schen Romans be- 
fteht aber darin, daß er da8 Gebaren der menden» 
burgifchen Junker mit größter Unbefangenheit und home⸗ 
rifcher Naivetät fchildert. Wohl fühlt man heraus, daß 
die Grundftimmung des Autors eine fiir feine Helden fehr 
freundliche ift und daß er Partei ergreift für die abjon- 
derlichften Befchlüffe ihrer Tamilientage; aber das Be⸗ 
ſtreben des Berfaflers, die Perfönlichkeiten und Ereigniſſe 
fi gleichſam felbft ſchildern zu laffen, ohne aufbringliche 
Schönfärberei, wirb dadurch nicht beeinträchtigt. Und 
fo bleibt e8 jedem unbenommen, aud ein ganz anderes 
Urtheil über die, meiftens mit den lebhafteten Farben 
gefchilberten Vorgänge zu fällen und das harmonifche, 
ja einftimmige Urtheil, welches der Autor und alle feine 
Helden gelegentlich über biefelben füllen, Durch einen gänzlich 
abweichenden Spruch zu flören. 

In der That erfahren und erleben wir hier Selt- 


‘ 
wor. nn 


james, was mit unfern hergebracdhten Rechts⸗ und Sitt⸗ 
lichkeitsbegriffen ſich ſchwer vereinigen läßt; wir baben 
es mit einer Kafte zu thun, welche an die Dinge ganz 
aparte Maßſtäbe legt. Dft fragen wir uns, ob biefe 
Männer, die uns zum Theil als gebildet, ja als gelehrt 
gejchilbert werden, wirklich mit und unter dem Sternbild 
derfelben Civiliſation das Licht erblidt haben, oder ob fie 
anf einer Inſel aufgewachfen find, die wir bisher auf 
feiner Karte bemerften, bie ſich, eine Heimat barbarifcher 
Naturvölker, mitten hineingefchoben hat in ben europäifchen 
Geſellſchaftsarchipel? Dies wendenburgiſche Junkerthum 
iſt ebenſo excluſiv wie patriarchaliſch zugänglich, ebenſo 
rückſichtslos grauſam wie weitgehend in cyniſchen Licenzen — 
es kommt nur darauf an, ob die Selbſtherrlichkeit des 
Adels durch ſolche Ausſchreitungen gefährdet wird. 

So z. B. wird in dem vorliegenden Roman, der nur 
der erſte Theil eines größern Cyklus iſt, indem viele hier 
angelnüpfte Fäden noch nicht zu Ende geführt ſind, die 
Liebe eines wendenburgiſchen Junkers aus der Familie 
von Urtifa, Jaspar Detlev, zu einem Judenmädchen ge= 
ſchildert. Solche Verhältniffe verftoßen an und für fi 
nicht gegen ben junferlichen Ehrencoder, wie und Herren 
und Damen des Adels zur Genitge mitteilen; aber der 
Junker Detlev begeht die Thorheit, dem Judenmädchen 
die Ehe auf fein Ehrenwort zu gelobn. Wir jagen 
Thorbeit, aber für den wendenburgifchen Adel ift dies 
mehr, es ift ein todeswürdiger Frevel, da der Junker 
dies Wort, welches das Mädchen ihm überdies nicht zu- 
rückgibt, nicht löjen, aber ebenfo wenig erfüllen kann, ohne 
mit einem unverlöfchbaren Makel feine Familie zu befleden. 
Die verwandten Zweige derfelben halten nun einen Fa⸗ 
milientag auf Schloß Detlen, den der Verfaſſer mit dem 
folgenden Dithyrambus einleitet: 


Der mendenburgifche Adel behandelt die Gebräuche und 
Geſetze feines Standes und feined Haufes auch zur Stunde noch 
mit der ganzen feierlichen und pietätvollen Würde, bie ihm bie 
Achtung gegen feinen Stand und ſich jelbft auflegt, mögen auch 
die Apoftel und Jünger der neuen Zeit und ihrer unglüdfelig 
und troftfos nivellivenden Richtung mit Hohn und Spott dar» 
über berzufallen fiir ihre und die Aufgabe der Gegenwart hal 
ten. Es ift leichter zerftören als aufbauen, und bie ganze 
gepriejene Freiheit und Gleichheit des Heute, das hoch⸗ umd 
volltönende Staatsbürgertfum, geb’ ich Hin für dem nieder⸗ 
geriffenen und binwegdebattirten und gefpotteten Segen und das 
göttliche Band der Familie, Kein Befig, Tein äußeres Glück 
ift den Segen der Familie vergleichbar. Freilich, die großen 
Philofophen und Staatsweilen des Heute — nad den Grund» 
fügen ihrer völterbegllidenden neuen Lehre müſſen fie die alten 
Gebäude vom Fundament aus zerfören, um auf den Ruinen 
das neue Normalbaus aufbauen zu können — wie follen fie 
da Empfindung und Berftändniß für die Würde der Familie 
haben! Der Adel Wendenburgs hat ben brandenden Wellen 
der neuen Zeitrihtung die Thlir feines Haufes verſchloſſen ge- 
halten und fid) dadurd die Würde der Familie in fledenlofer 
Reinheit bewahrt und gefichert. 


Der Beichluß diefes Familienrathes über den Junker, 
der leichtfertig fein adeliches Wort verfchleubert und das 
malellofe Wappen feiner Familie befledt Hat, lautet auf 
Tod, und bie Mutter felbft, ein weiblicher Brutus, ſtimmt 
tonlos in dies Urtheil ein. Wie aber wird es vollzogen? 
Man hat keine Landeshoheit, um Erecutionen zu verhängen 
und Tann doch auch keinen Mörder dingen. Der Familien- 
rath theilt die folgende Auskunft duch feinen Redner mit: 


Romane und Erzählungen, 


Dein adelich Wort, das du gegeben, bift du verpflichtet 
zu Löjen! Die Ehre deines Geſchlechts deines Haufes, deines 
Namens und Wappens, deiner Familie verbietet aber, dein 
Bort in dem Sinne zu löſen, wie die Perſon, der du's gege» 
ben, fierfih erwartet. Nur ein Mittel gibt es, das dem 
wendenburgifhen Edelmann feines Wortes ohne Makel feiner 
adelichen Ehre emtbindet. Dieſes Mittels, fo ſpricht der Fami⸗ 
Tienrath deines Geſchlechts und Haufes fein Urtheil, darfft und 
ſollſt du dich ohne Zögerung bedienen. Der Familienzarh hat 
deıngemäß beſchloſſen, daß du dem ritterlihen Stämmen des 
Kaufajus, unter deren Imams ich Freunde zähle, in ihren 
Freiheitstämpfen gegen die ruſſiſche Vergewaltigung deinen De- 
gen leidet. Du kämpfft dort unter Standesgenoffen für eine 
große umd jedes edeln und wahren Menſchen Bruft — fei er 
auf dem Thron geboren oder in nieberfter Hütte — gleich⸗ 
mäßig erfüdende Ipee, für die Freiheit des eigenem Herdfeuers 
von Femme Jod. Der Familtenrath deines Geſchlechts und 
Haufes ift von einem Urtifa fiher und überzeugt, daß er, ein 
echter Sohn feiner Väter, für die Sache, die er einmal als 
eine geredjte umd die feine miterfannt und der er feinen Degen 
geweiht, ein tremer Partifan fein und aud für fie zu fallen 
and zu fterben wiſſen wird. Auf deinem Schild, Jaspar 
Detlev von der Urtifa, magſt du zurlickehren in die Hallen 
deines Hanfes; ehrenvoll neben deinen vorangegangenen Bätern 
wird dir dann deine Stätte bereitet fein! 

Der Junker unterwirft fi in Demuth und Gehor- 
farm, und ein Verwandter, der Doctor Riedwiſch, ein 
gelehrter Baron, alfo eine Species, die dod unter den 
wendenburgifchen Junkern geduldet wird, während man 
fie im andern Gegenden mit ſchelen Augen anficht, ber 
gleitet ihn in den Kaukaſus. Ob die Tſcherkeſſen dies 
Todesuriheil vollftreden werben, müfjen wir abwarten, 
und hoffen nur, daß ber Jagdjunker Fugelfeft ift, wodurch 
das Erecntionsurtheil des Familienraths von felbft nichtig 
werben müßte; denn zum Tod in der Schladt kann man 
im Grunde niemand verurteilen, da dies, wie der alte 
Homer fagt, „im Schoſe der Götter liegt”. 

Die Gefhichte führt uns nämlich, zunächſt nicht in 
den Kaufafus, ſondern fie ſchildert uns die frühern Lebens» 
Tchictfale des Doctor-Barong, eines jünger geborenen Sohnes, 
und gibt und das Gegenbild zu der catoniſchen Sitten - 
ftrenge des Familienraihe. Der Doctor näuilich annec- 
tirt fi ein Mädchen aus dem Bolt, das allerdings aus 
einer herabgelommenen altitalienifhen Familie ſtammt, in 
Pumpen umbergeht, doch auch ohne dieſe Tracht ſich 
gelegentli als fingende Waffernige im Mondſchein badet 
und fo von dem Doctor belaufcht wird. Er Heirathet 
fie indeß nicht, fondern lebt in milder Ehe mit biefer 
Mignon, woran niemand von den wendenburgiſchen 
Sunfern, Frauen und Fräulein Anſtoß nimmt. Ja c8 
lommen noch andere Beweife für bie fittlichen Licenzen vor, 
melde, zum Theil offenbar ein Ueberbleibfel von dem 
jus primae noctis, ſich dies Junkerthum geftattet. Es 
wird ums mit vielem Humor gefchildert, wie einer biefer 
Herren, ber dide Wolf Pedatel, der rundlichen Frau des 
Schmiede, die fon längſt Sehnfuht nad einem 
ſchwarzhaarigen Müdchen Hat, das der Storch ihr aus 
Argyptenland bringen fol, in der natürlichften Weife von 
der Welt zur Erfüllung ihres Wunfches verhilft, und wie 
der Ehegemahl felbft fehr glüdlich ift über die frohe 
Ausfiht. Und den Baronen thun's die Schulgen nad); 
denn der brave Schulz Quaſſow beglüct die ſchmucke, 
dralle“ Ammarik trog feiner fünfundſechzig Jahre „in 
ähnlicher Weiſe“. 


71 


Wir fehen, es geht ſehr Iuftig zu in wenbenburger 
Landen; man plagt ſich dort weder mit Skrupeln noch 
Zweifeln in Bezug auf finnlihe Genüffe, und nur wo 
die adelihe Ehre in Frage kommt, beginnt bie Tragdbie. 
Im übrigen leben die Gutsherren mit den Dorfſchulzen 
u. ſ. f. auf einem ſehr patriarchaliſchen Fuße. Auch hat 
die Selbftändigfeit des Adels nad; oben hin eine ganz 
refpectable Seite. Wie die alte Frau Gerberg Bertha 
ihren Patronatögeiftlichen tapfer gegen den neuen orthodoxen 
Confiftorialdirector vertheibigt: das ift eine recht Beitere 
Geſchichte, die uns mit vielen Schrullen des wenbenburger 
Iunfertfums wieder auszuſöhnen vermag. Ueberhaupt 
zeigt ſich der Autor für das confervative Element in allen 
Ständen begeiftert; er ſchildert uns auch die Bauern und 
die Patricier der Handelsftadt mit vieler Pietät, ſobald fie 
nur feft am Althergebrachten Hängen. 

Der Form nad ift diefer Familienroman in feinem 
erften Theil ein Cyflus von Novellen, die eben nur durch 
die Familienbeziehungen der darin auftretenden Perfonen 
miteinander verknüpft find. Die Exeigniffe im Haufe des 
Rathsherrn Padlow, die Brautnacht der ſchönen Hilde- 
gard u. dgl. in. find pikant erfunden und lebendig bar« 
geftellt. Spielmann Hat eine rege Phantafle, der er nur 
allzu leicht den Zügel ſchießen läßt; cim weicher tppiger 
Ton der Farbengebung herrſcht bei ihm vor, daneben 
freilich das derb volföthümliche Element mit allen feinen 
Cynismen und feiner landſchafilichen Färbung. Durch biefe 
Elemente wird der nicht immer correcte Stil unglei;, 
aber Friſche und Originalität geht durch das Ganze, und 
ſelbſt die oft parabore Weltanschauung diefer ariftofrati« 
ſchen Infulaner, die fi fo fonderbar geiftig tätowiren 
und den Federbuſch und Federſchurz, den fie von ihren 
Ahnen ererbten, für den höchſten Schmud der Erbe Halten, 
hat den Reiz der Neuheit gerade deshalb, weil fie allen 
Ideen der Neuzeit fo diametral widerſtrebt. 

Es bedarf wol nicht der Andeutung, daß das Phan« 
tafieland Wendenburg nichts anderes ift, als das ins 
Poetiſche überſetzte Medlenburg. Spielmann ſchildert uns 
oft mit Wärme die Naturfcöngeiten, bie wir dort nicht 
ſuchen wilden. Kann eine italienifche Nacht ſchwung - 
hafter von ben Dichtern gefeiert werben als dieſe 
meclenburgiſche: 

Blütenduft athmeten Wald und Wieſe in berauſchender 
—E ein lauer Haud rich über die Linden, Über die 
traumfchwer nidenden Wiefenblumen, füllte ſich vol mit ihrem 
Balfam und trug ihm auf leiſe ranfhenden Fittichen davon. 
Der Vollmond breitete feinen milden Glanz aus über den Ser, 
deffen Mare Fluten in leichten, kräuſelnden, vom Mondlicht 
goldig —A Wellen fi bewegten und in flüfernd 
märenhaftem Raufchen am die Ufer firebten. Es Liegt eim 
wunderbar magifher Reiz auf einem flillen, vom Licht bes 
Mondes Übergoffenen Waidſee in fommernädtiger Zeit. IM’E 
nicht immer, al® ob man mit taufend Gemalten Hinabgezogen 
wärde, zu erforſchen, was feine Tiefe flir zauberiſche Geheim- 
niffe bergen mag? Welche mwunderprädtigen Lieber fingen 
Schilf und Rohr am feinen Ufern in fäujelnden Melodien; 
füge, in Träume Iullende, glücgerheißende, beraufchende Lieder. 
Gegrüßt feift du mir, mein Riedwiſch See! Wenn die Juni 
nächte fommen, die entzlidenden, wonnigen, lauſch' id; wieder, 
waß beine flüfternden Wellen mir koſend vertranen! 

Die Fortfegung des Romans wird erft ein Urteil 
geftatten, inwieweit bie Compoſition bie auseinander« 


BETEN 00T 
t 32. 


72 Romane und Erzählungen. 


fallenden Fäden der Geſchichte zuſammenzufaſſen und gewagte 

Vorausſetzungen zu rechtfertigen vermag. 

6. Die geißiebene Frau. Paffionsgefhichte eines Idealiſten 
von Sacher⸗;Maſoch. Zwei Bünde. Leipzig, Kormann. 
1870. 8. 1 Thlr. 20 Ryr. 

7. Aus dem Tagebuche eines Weltmanns. Cauferien aus der 
Geſellſchaft und der Bühnenwelt von Sacher⸗Maſoch. 
Leipzig, Kormann. 1870. 8. 1 Thlr. 

Wenn ſich bei Spielmann fchon eine unleugbare Bor- 
fiebe für üppige Schilderungen zeigt, fo gipfelt diefelbe 
in dem beiden vorliegenden Werken von Sacher⸗Maſoch. 
Wir haben die leidenſchaftliche Glut dieſes Antors bereits 
bei Beiprechung feines „Letzten Königs ber Magyaren“ her» 
borgehoben; es ift Feuer oder das was man Verve nennen 
kann in feinen Schriften. Er zeigt auch in den obigen 
Schriften die gleiche Darftellungsgabe, die ſelbſt das Ge- 
wagtefte in natürlichem Fluß, ohne Künftelei erzäßlt. 
Gleichwol haben wir gegen „Die gefchiedene Frau‘ (Nr. 6) 
das Bedenken, daß ihre legten Abenteuer fie und als wider- 
wärtig erfcheinen laffen. Der Autor fagt zwar in dem 
einleitenden Geſpräch mit dem geiftvollen Novelliften oder 
vielmehr der geiftvollen Novelliftin Arthur Stahl, er habe 
fein Kunſtwerk, fondern ein Sittengemälde fchaffen wollen, 
um unferer Zeit, unferer Gefellfchaft eimmal ihr wahres, 
ungeſchminktes Antlig zu zeigen, fie ftatt in den 'gold« 
umrahmten Spiegel, welcher lügt und fchmeichelt, in eine 
Pfütze bliden Iafien, in der Ueberzeugung, daß er recht 
und gut thue. Wir wollen auch dies Recht dem Dichter 
einräumen; aber dann darf er uns nicht, wie es in dem 
ganzen Roman, namentlich in den einleitenden Scenen 
und der eigentlihen Rahmenerzählung gefchieht, noch ein 
Intereffe fr die pilante, Tiebenswürdige und nur etwas 
ſchwindſüchtige Samelliendame zumuthen, nachdem fie felbft 
und das folgende Bild ihres letzten Liebhabers entworfen: 

Denken Sie fid) einen Heinen fchlechtgebauten Menſchen 
mit gewöhnlichen Zügen, dem Ausprud großer Verſchmitztheit, 
einer gerötheten, balbzerfreffenen eiterigen Naſe — er behaup- 
tete, fie jei ihm im Winterfeldguge erfroren, faulen Zähnen, 
die einen ſtarken Gernch verbreiteten, gejchwollenen Lidern, 
grünlichen, liſtigen, Teicht thränenden Augen, einem rothen Rund⸗ 
barte, einer Slate über der Stirne, fo haben Sie einen ge- 
treuen Abdrud von dem Menſchen, um defjentwillen ic; Sulian 
verlor. 

Natürlich fragt der Autor, dem feine Heldin felbft 
diefe Enthüllungen macht, und jeder Leſer mit ihn: „Aber 
wie war das möglich ?“ 

Fran von Kofjow ſchlug jenes grauenhafte Lachen an, von 
dem Julian in feiner Schilderung der Faſtnachtsſcene ſprach. 
„Bragen Sie eine Fran um Beweggrlinde", rief fie nad) einer 
Baufe höhniſch, „für das was fie fühlt und thut, und ich fage 
Ihnen, fie lügt, wenn Ste ſich Mühe gibt, Ihnen oder fidh 
davon Rechenfchaft zu geben. Das ift ja eben das Dämonifche 
der weiblichen Natur, daß fie fi im ihren Regungen nie auf 
ſichtbare Urſachen zurlidflihren, nie im voraus berechnen läßt, 
daß fie etwas Geheimnißvolles, Unenträtbfeltes, Elementariſches 
Hat, das den Mann jeden Augenblid mit Unheil, ja mit Ber- 
nichtung bedroht. 


Nun, wir laffen und das Dämonifche der weiblichen 
Natur gefallen, aber nur, folange es nicht ins Unäfthetifche 
übergeht. Eine „elementarifche Natur”, die an den Ge⸗ 
fallen findet, was andern Sterblicdhen Ekel einflößt, ver- 
fcherzt jede Art von Antheil. Dffenbar Hat uns der 
Autor bier mit dem Kopf zu tief in die Pfüge geflogen. 


Einzelne Schilderungen des Romans find ganz treff- 
lich. Das verwahrlofte Schloß der „gefchiedenen Frau“, 
die polniſche Wirthichaft der Familie, die fich bei ihr ein- 
geniftet hat, find vorzitgliche Genrebilder. Ueppig, glühenb 
find einzelne wolluſtathmende Scenen. Der Sprudj: 
„Male die Wolluft, doch male den Teufel dazu“, Hat im 
neuer Zeit faum noch Gültigkeit. Eher könnte man die 
Wolluſt, wie fie Makart gemalt hat, Iemurenhaft ge- 
fpenftig finden. Bei Sacher-Maſoch vermiflen wir in- 
deß gerade bei einigen der pilanteften Situationen die 
Drigimalität; fo bei derjenigen Scene, in welcher, nad 
den Worten der Vorrede, die „Sehnſucht der Modernen 
nach der Antike” zum Ausdrud gelangt. Der Berfafier 
rühmt ihre klare, fonnige, in keinem Augenblid dämmer⸗ 
haft mwollüftige Beleuchtung und ihren keufhen Schluß, 
und vergleicht dies mit den frivolen Vorbereitungen und 
dem Ausgange der ähnlichen Scene in „Werther, was 
wol heißen fol, in den „Briefen aus der Schweiz“. Doch 
bat diefe Situation noch andere Vorbilder, Schlegel’s 
„Lucinde“ und Gutzkow's „Wally“; namentlich aber paflen 
für die Situation in dem letztern Roman alle Voraus⸗ 
jegungen, welche Sacher⸗Maſoch zu Gunften der feinigen 
geltend macht. Schlimmer fteht e8 mit der an und 
für ſich wenig erquidlihen Laufchfcene, in welcher der 
Pole dur den Vorhang des Wenfterd die verfchiedenen 
Sitwationen belaufcht, die ihm den Schluß auf leiden⸗ 
Ihaftlihe Genüffe geftatten. Diefe Scene ift nicht Ori« 
ginal, fondern Copie aus der „Fanny“ von Feydeau. 

Geiftreihe Bemerkungen von einer reformatorifchen 
Tendenz, die aus der Handlung felbft nicht hervorgeht, 
auch wenn man fie nur ald Negativbild betrachtet, find 
durch die ganze Schrift zerftreut, ebenfo durch die Skiz⸗ 
zen der Cauferien: „Aus dem Tagebuche eines Welt« 
manns“ (Nr. 6), melde pilante Novelletten und Humores- 
fen enthalten, weiblihe Tartufes und Don Juans und 
ben Kofettenwahnfinn ſchildern, Ballſklaven, Theatertypen 
vorführen, über Idealismus und platonijche Liebe Be— 
teadjtungen anftellen, beweglich, ſchimmernd, flüchtig, jeder 
Zoll „Feuilleton. Dennoch möchten wir den Autor war⸗ 
nen, feine Lorbern nicht dort zu fuchen, wo diejenigen 
Emil Vacano's blühen, und fi nicht vor ſich felbft durch 
reformatoriiche Tendenzen zu rechtfertigen, wo er Dich» 
tungen cultivirt, welche dem Senſations⸗, ja Skandal 
romane zum Verwechſeln ähnlich fehen. 

8. Große und Heine Welt. Ausgewählte Biftorifche Romane 
und moderne Lebenabilder. Bon Friedrih Adami. Bier 
Bände. Berlin, Gerſchel. 1870. 8. 4,Xhlr. 

In diefer Sammlung überwiegen die Heinen hiſtori— 
fhen Romane die modernen Xebensbilder; fie find von 
fnapper Faſſung und ihr Stil hat etwas Gefättigtes; die 
Darftellung wird nicht durch Reflerionen durchbrochen, 
jondern gibt ein zufammenhängendes Bild der Ereigniffe, 
denen es nicht an einer bunten und fpannenden, für die - 
Romandichtung unerläßlichen Abenteuerlichkeit fehlt. Nach 
biefer Seite hin möchten wir der Erzählung: „Der Herzog 
von Monmouth“, den Vorzug geben, weldye an wirkfamen 
und doch ausreichend motivirten Effecten reich iſt. Der 
Herzog von Monmoutd, ber Empörer gegen König Ia- 
fob II., ift gefangen genommen und figt im Tower, zum 
Tode verurtheilt. Kanzler Guildford fucht ihn zu vetten, 


indem er fich bemüht, einen Erfagmann fir ihn zu finden, 
der ftatt feiner bei der Hinrichtung untergejchoben wird. 
Zwei Halbbrüder drängen fich zu diefer Ehre. Der erfte 
bat fi als Verfaſſer eines Libells gemeldet, um mit dem 
dafür ausgefetten Preis bie Ehre eines Kaufmannshaufes 
zu retten. Lord Guilford bietet ihm das Dreifache, wenn 
er fich ftatt des Herzogs hinrichten laſſen will. Der an« 
dere Halbbruder ift aber der natürliche Sohn des Her- 
3098, und ihm gelingt es, im Wetteifer des Edelmuths 
den Preis davonzutragen und für den Herzog hingerichtet 
zu werden. Diefen jelbft follen wir in der „Eifernen 
Maske wiederfinden, eine der feltenern Varianten in Be⸗ 
treff diefer geheimnißvollen Hiftorifchen Erſcheinung. Die 
damalige Bolleftimmung des proteftantifchen England 
glaubte, wie zahlreiche Sagen und Balladen bemeifen 
und wie auch Macaulay beitätigt, nicht an den Tod des 
Herzogs Monmouth. Die Idee der Stellvertretung Mon« 
mouth's durch feinen eigenen Sohn hat Wbami, wie 
er felbft angibt, einem ältern Drama von Ch. Lafotut 
entlehnt. 

Die hiſtoriſche Erzählung: „Das Nordlicht von Dale- 
karlien“, ift ebenfall8 reich an abenteuerlichen Berwide- 
lungen, die fich wie Arabesfen um den Biftorifchen Kern 
der Handlung, die fiegreihe Erhebung Guſtav Wafa’s 
anf den fchwedifchen Königsthron, ſchlingen. Auch bier 
fehlt e8 nicht an romanhaften Ueberrafchungen verjchieden- 
fir Art; doc kann man kaum fir eine der mitwirfenden 
Berfönlichkeiten befondern Autheil empfinden. Es find 
theils dii minorum gentium, theil$ Betrüger, von denen 


Chriftian von Bomhard's Nachlaf. 73 


einer fchlimmer als ber andere ift. Guſtav Waſa felbft 
tritt felten aus dem Hintergrund hervor; nur der junge 
Dauer mit dem Fühnen Project für Schwedens Wohlfahrt, 
fo praftifch in großen Entwürfen, jo unpraftifch in ber 
Art und Weife fie geltend zu machen, erregt mäßiges 
Intereſſe. 

Abenteuerlich bewegt iſt auch „Kerker und Thron“, 
eine Erzählung aus der Zeit der Medici in Florenz; es 
find theatralifche Attrapen von großem Effect in derſelben, 
aber die Infcenirung ift etwas künſtlich und wendet fich 
in der Schilderung der Localitäten, welche den Gang der 
Handlung beftimmen, an einen fein ausgebildeten Orts⸗ 
finn. Der Tyrann Lorenzino von Mebici ift gut gezeichnet; 
ebenfo Cofimo, fein Nachfolger, der den Mordverſuchen 
Lorenzino's glüdlich entgeht. 

Eine neuerdings von der ardhivarischen Gefchichtfchrei- 
bung oft behandelte Epifode, der diplomatifche Verrath, 
welcher das raſche Einfchreiten Friedrich's II. bei Beginn 
des GSiebenjährigen Kriegs zur Folge hatte, bildet den 
Inhalt der Heinern Erzählung: „Der Berräther.“ 

Alle diefe Kleinen Romane Adami’8 erinnern uns in 
der lebendigen und fpannenden Führung der Handlung 
und ihrem frifchen Colorit an bie Erzählungen van der 
Velde's. Die modernen Lebensbilder dagegen, wie: „Der 
todte Paffagier” und „Ein Sonberling“, haben einen un⸗ 
heimlichen, gefpenftigen Zug, etwas Barodes und Ab» 
jonderliche, was an Amadeus Hoffmann erinnert. 


Rudolf Gottfchall. 


Chriſtian von Bomhard’s Nachlaß. 


Achren vom Felde der Betrachtung. Bon Schulrath Dr. Chr. 
von Bombard. Aus defien literarifihem Nachlaß heraus 
gegeben von 9. Stadelmann. Mit dem Bildnif des Berfaf- 
jere. Augsburg, von Jeniſch und Stage. 1869. 8. 18 Nr. 


Der in der Schulwelt Baierns hochgeadhtete und ge⸗ 
feierte Name Bomhard ift auch in mweitern Kreifen nit 
unbelannt geblieben; wir verweifen auf die vortreffliche 
Charakteriftif in der Beilage zu Nr. 31 der augsburger „Als 
gemeinen Zeitung“ f. 1862. Das obenangezeigte Büchlein, 
das ſechs Jahre nach dem Tode des Verfaſſers erjcheint, 
darf in d. BI. nicht mit Stillſchweigen Übergangen wer- 
ben, da es, eindringlicher als e8 jede Charakterfchilderung 
bon fremder Hand vermöchte, uns ein Bild des innern 
Lebens und Strebens des Verftorbenen gibt. Obwol ur⸗ 
fprünglih nicht für den Drud beftimmt und durchaus 
nit für das große Publikum gefchrieben — denn e8 ſoll⸗ 
ten dieſe Betrachtungen, die gelegentlih zu Papier ge= 
bracht wurben, wie es Zeit und Stimmung erlaubte, höch⸗ 
ſtens den Kindern und Kindeskindern ein liebes Andenken 
fein und ihnen Zeugniß geben von ber Dent- und Em⸗ 
pfindungsweife des Dahingeſchiedenen, fie aber auch ver- 
anlaffen, „nach höherer Bildung und Reife zu ringen, 
als ihrem Bater und Großvater zu erreichen möglich ge= 
weſen“ —: jo haben wir doch nun in diefer Aehrenlefe 
ein populäre Bud im beiten Sinne des Wortes, für 
welches wir dem Herausgeber zu Dank verpflichtet find. 
9. Stabelmann hat als treuer Dünger des Meifters ſich 

1870. 5. 


mit ebenfo viel Liebe ala Umficht der Aufgabe unterzogen, 
die einzelnen Blätter zu ordnen und zu fidhten; er hat 
alles, was nur für Tachgelehrte von Intereſſe fein konnte, 
mit beftem Takt ausgeſchieden und fo unfere Riteratur mit 
einem Buche bereichert, das ſich den fchriftftellerifchen Ar- 
beiten feines verewigten Lehrers würdig anreiht. 
Schriften, wie die in Rebe ftehende, worin ein claf» 
ſiſch durchgebildeter Gelehrter über die tiefften Räthſel 
und höchſten Angelegenheiten des Menfchenlebens in einer 
jo anſpruchsloſen, kindlich⸗ einfachen Sprache redet, daß 
jeder, der das lieft, meint, fo hätte er e8 auch faft aus- 
drüden mögen — find, trogbem, daß in den lebten Jahr⸗ 
zehnten große Fortſchritte in vollsmäßiger, allgemein ver- 
ftändlicher Schreibart gemacht worden find, nicht allzu 
häufig. Unſere philologifchen und philofophifchen Schrift- 
fteller Tönnen in diefer Hinficht noch immer viel von den 
Engländern und Franzofen lernen. Daß Bomhard nicht 
blos vom claffishen Stil der Alten, ſondern auch von 
der leichten, gewandten, durchfichtigen Schreibart der Neuern, 
insbefondere von der Form englifher und franzöfifcher 
Eſſays Nuten zu ziehen verftanden hat, das zeigt jebe 
Seite diefer „Gedankenſpäne“, wie der bejcheidene Dann 
feine Betrachtungen ganz bezeichnend nannte. Eſſays 
im englifhen oder franzöſiſchen Sinne find es nicht, dazu 
find fie zu kurz und fragmentarifh. Aber diefe Ramenta 
find trog ihrer Kürze und Kleinheit doch alle wuchtig 
und werthvoll und zeugen davon, daß der Verfaſſer mit 


10 





74 Chriftian von Bomhard's Nachlaß. 


bortrefflichen fcharfen Inſtrumenten arbeitete und in feiner 
Gedankenarbeit fi eine Energie und Friſche bewahrte biß 
ins Öreifenalter Hinauf, um welche ihn jüngere Kräfte 
beneiden möchten. Bomhard gibt uns feine Gedanken nicht 
als abftracte Lehrſätze und von vornherein abgefchlofiene 
Ergebniffe, jondern läßt uns an feinem eigenen lebendigen 
Denkproceffe theilnehmen, er discutirt mit und, als wären 
wir in feiner Gefelfchaft und nähmen perſönlich Antheil 
an dem Geſpräch, das Für und Wider der Sade, und 
weiß uns auf diefe Weife zur lebendigften Theilnahme an 
dem von ihm zur Sprache gebrachten Gegenitande an— 
zuregen. Hegel's Ddialeftifche Methode, die von einem 
Gegenfag zum andern fortjchreitet, um die höhere Einheit 
des Begriffs zu gewinnen, fowie Herbart's pfychologifche 
Schärfe in Beobachtung der Vorftellungen find nicht ohne 
merklichen Einfluß auf Bomhard's empfünglichen Geift 
geblieben; aber diefer ſteht doch fo frei und unbefangen 
da, daß er alles in feiner Weife verarbeitet und man 
nirgends durch philofophifche Kunftausdrüde und Scul« 
phrafen beläftigt wird. 

Mit derjelben innern Freiheit, die er den Philofophen 
alter und neuer Zeit gegenüber behauptete, wußte fich 
Bomhard auch den unbefangenen Blid auf die großen 
Dichter zu bewahren, in die er ſich zwar mit ganzem 
Gemüth vertiefte, ohne jedoch in jene abgefchmadte Ueber⸗ 
ſchätzung zu verfallen, wie fie vornehmlich im Shalfpeare- 
und Goethe» Eultus unferer Tage in nicht erfreulicher 
Weiſe ſich zeigt. Ueber Goethe äußert er fi) in zwei 
bemerfenswerthen Betrachtungen. ©. 111 heift ee: 


Am meiften habe ich Goethe im feinen Gnomen bewun⸗ 
dert. Welch ein Geift, der aus dem reichſten Borrath von 
Wiſſen eine ſolche Fülle gründlicher Gedanken über Kuuſt, 
Wiffenfchaft und Leben zu ziehen und diefe in jo prägnanter 
Bündigfeit, mit fo ſchlagendem Wit auszudrüden vermochte! 
Es find Ueberfchriften zu ganzen Kapiteln, an Fruchtbarkeit dem 
Samenkorn, an Debnbarkeit dem Golde vergleichbar; die Welt 
war für ihn ein Californien, aus dem er edles Metall, bald 
in Körnern, bald klumpenweiſe gegraben bat. 

Auf ©. 145 treffen wir dagegen auf eine fehr ſcharfe 
Kritit des Soethe’fchen „Bildungsideals”, die, troß ihrer 
Einfeitigkeit, doch nicht ohne Grund if. Bomhard fragt: 

Was ift Goethe das Höchſte, das er in Menjdennatur 
und Beſtimmung anerlennt und dur feine jchriftftellerifche 
Thätigkeit fordern will? Es ift beichloffen im Wort und Begriff 
der Bildung. Und in welchem Sinne faßt er den vielfeitigen? 
Nicht eben in einem tief intenfiven, da es Reinigung bes Ge⸗ 
müths von unebler Beimifhung, fefte Richtung zum Göttlichen, 
Liebe und willige Aufopferung für die böchften Interefien der 
Menfchheit bedeuten würde, fondern in weit ausgebehnterm 
Umfange, da ber Geift mit reichem Borrath von wiffenswerthen 
Kenntniffen und Einfichten verjehen, der Geſchmack geläutert, 
der rechte Takt fürs Leben, ungezwungener Anſtand in Hal⸗ 
tung und Benehmen gewonnen und jelbft auch der Körper fo 
gebt und zugerichtet if, daß er im feiner Erfcheinung bem 
Geifte Ehre macht. Was den Charakter betrifft, jo wird diejer 
durch Erfahrung, wobei freilich manches Irrige und Sünpdliche 
mit ins Spiel fommt, zum Rechten geleitet ein ficherer gewor⸗ 
den fein, der fich feine Blöße gibt und jede Gemeinheit fern 
von fih hält. Wo er auftritt, wird er als eine bedeutende 
Eriheinung Reſpect einflößen. Sein wahres Element findet er 
in der Umgebung foldher, die dur Stand, Rang und feinen 
Ton hervorragen; dod wird e8 feiner Lebensklugheit und Ges 
wandtheit leicht, fi) aud) gewöhnlichen Menſchen gefällig und 
angenehm zu erweifen. Ihm fließen veichlich die Quellen der 
feinften Genüffe, in Natur, in Kuuſt, in gefelligen Kreiſen; 


doch ben füßeften findet er in der Anerkennung feiner Trefflich⸗ 
feit, die ihm vom Gleichgebildeten entgegenfommt und die er 
wohl zu verdienen fid) bewußt if. Auch zu gemeinnlißiger 
Thätigkeit entjchließt er fi), aber freilich weder zur banaufischen 
des Handwerkers, noch zur pedantifch formellen des Beamten, 
nod) zur mihevollen minutidjen des Gelehrten, noch zur egoi- 
ftifch »materiellen des Kaufmanns, weil in folden Beſchäftigun⸗ 
gen fein Raum für freie allfeitige Entwidelung iſt.... Lieber 
wird er fi) der Kunſt widmen oder aud in höherer Stellung 
dem Staatsdienfte, am Yiebften aber wird er feine Güter admi⸗ 
niftriren und da viel Schönes ſchaffen. Denn ohne fehr bedeu- 
tenden Comfort Täßt fi) der echte und rechte Gentleman gar 
nicht denfen; er muß über anfehnlichen Befit zur gebieten ha⸗ 
ben.... Wilft du diefe Gebildeten in Geſellſchaft beiſammen 
jeben und Ihr Gebaren beobadıten, fo nimm den „Taſſo“ zur 
Hand. Hier findeft du einen talentvollen, aber überſpannten 
Poeten, der nur noch einen Schritt zum Irrenhaufe Hat; einen 
man of the world, der eine kleinliche Ciferfucht und Iutrigue 
unter einer gutgewählten Charalterınaste zu verdeden weiß; 
eine kränklich fentimentale Prinzeffin; einen Fürften, der feine 
Bedeutungslofigfeit mit Auftand und Würde ausbietet. ine 
dicke ſchwüle Atmofphäre ift über das Ganze ausgegoffen, angft 
und bange wird e8 uns unter dieſen Leuten, wir fehnen ums 
nad) naturwüdjfigen, derben, gefunden Naturen.... Oder nimm 
den „Meiſter“; daſſelbe Schaufpiel. Ein junger Narr, der in der 
Geſellſchaft liederliher Komödianten auf dem Theater (man hält 
es kaum für möglich) Bildung fucht, und nachdem er eine ge- 
raume Zeit den Tagedieb und Vagabunden gefpielt, endlich 
unter Ariftofraten geräth, die ohne Amt und Beruf wahre 
Schmarogerpflanzgen am Lebensbaume find, ihm ihre Bildung 
einimpfen, foviel er als Bürgerlicher diefelbe in fi aufnehmen 
fann. Fort mit diefen Leuten. Lieber fräftige Barbaren als 
diefe Salonmenfhen. Mit jenen läßt fi etwas ausrichten, 
diefe aber find zu jedem guten Wert unbraudbare Empfindler 
und Schönredner. 

Das ift nun freilich etwas ſtark ausgebrüdt. Aller 
dings bat die Kritik ein Necht, nicht blos zu fragen, ob 
ein Dichter dem üfthetifchen Geſetz Genüge gethan Hat, 
fondern auch zu prüfen, wie feine Bildungsideale be- 
Ihaffen find, und zu fragen, welchen ethiſchen Gehalt die 
äfthetifchen Glanzerfcheinungen bergen. Allerdings ift nicht 
zu verfennen, daß — den im jugendlichen Meberfchwang 
gedichteten „Götz“ ausgenommen — faft alle dramatifchen 
Helden Goethe's ſchwächliche und ſchwankende Charaktere 
find, denen auf Seite der erzählenden Dichtung ein Wer- 
ther, Meifter und Eduarb ganz entſprechend zur Geite 
ftehen. Goethe führt uns in eine reiche mannichfaltige, 
vortrefflich nad) der Wirklichkeit gezeichnete Welt, in der 
es heißt: Leben und Lebenlaſſen! Bon Natur viel mehr 
zur ruhigen Anfcdjauung und Betrachtung der Weltver« 
bältniffe, zum innerlichen Verarbeiten der veih und voll 
empfangenen Eindrüde und zu gleichmäßiger harmonifcher 
Entwidelung feiner Individualität getrieben, als zur ener⸗ 
gifhen Geftaltung der Außenwelt, fühlte Goethe ſich nicht 
berufen, den thatkräftigen und thatluftigen Willen zu ver- 
herrlichen, der allen Hinderniffen zum Trotz fi) Bahn 
bricht ımd im Kampfe mit feinem Schidjal, im Ning- 
kampf der Gegenſätze die Freude und ben Genuß des 
Lebens findet; er feierte vorzugsmweife das Weib in feiner 
ſchönen Natürlichleit, in der Fülle und Abrundung des 
Weſens und Wirkens, und unter den Männern vorzugs- 
weife empfängliche, leicht erregbare und beſtimmbare Na» 
turen, die auf ſchöne Geftaltung und Harmonifche Aus- 
bildung der Anlagen vor allen bedacht find. Aber troß 
alledem blieb Goethe ein univerjelleer Menſch, der das 
Leben nad allen Richtungen erfaßte und es poetifch 


| 


Chriftian von Bomhard's Nachlaf. | 75 


barzuftellen verftand. Wir wollen und dürfen nicht vergefien, 
daß der „Hofmann“ Goethe und eine ber Toftbarften Per- 
fen nationaler Dichtkunſt, das bürgerliche idyllifche Epos: 
„Hermann und Dorothea‘, gefchentt hat, daß Goethe es 
war, ber das deutſche Volkslied in feiner Einfachheit und 
Natürlichkeit erfaßte und es zu Fünftlerifcher Vollendung 
emporhob, wie fein anderer Dichter vor ihm, und mie 
nur Einer nad ihm, nämlich; Ludwig Uhland, ihm hierin 
würdig zur Seite ſteht. Wir wollen nicht verlennen, 
daß, wer ſolches vermochte, auch den reinften offenften 
Sinn für das Humane, Sittliche, Vollsthümliche aud) 
in den niederſten Lebenskreiſen fid) bewahrt haben mußte. 

Bomhard redete und ſchrieb — das erfieht man auch 
aus diefen feinen Betrachtungen — auch als Greis nod) 
mit wahrem Sünglingsfener und fein Kopf dachte und 
verarbeitete nichts ohne die regſte Theilnahme des Her⸗ 
zend. Das Gefühl fleigert ſich mitunter zum Affect, 
welcher das Urtheil trübt und einfeitig macht und lodert 
auf in edelm fittlichen Zorn, ber ſich dann vernich⸗ 
tend gegen alles wendet, bas feiner Denk- und An- 
ſchauungsweiſe widerſtrebt. So z.B. nennt er die Ver⸗ 
treter des Materialismus Büchner und Bogt, Moleſchott 
und Feuerbach „Hocverräther an der Menſchheit“. Mean 
darf aber bei ſolchen fchrofien Anfichten und Urtheilen 
nicht vergeflen, daß Bomhard diefe Blätter ſchrieb, um 
das, was ihm am Herzen lag, auch wieder den Seinigen 
ans Herz zu legen. Mitunter ftreitet er and) heftig gegen 
Lehrmeinungen, denen er fpäter, felbft zum Theil huldigt. 
So wendet er fi) gegen Schopenhauer und jene Form 
des Pantheismus, welche eine fteigende, ins Unendliche fid) 
fortfegende Progreffion zum Beflern annimmt, ſodaß durch 
diefen Proceß die Welt ſich mitteld des ihr innewohnenden 
Brincips, das vorwärts treibt, von felbft läutert und ihre 
Schladen allmählich ausſtößt. Bomhard entgegnet: 

Aber damit ift auch die ewige Eriftenz alles Schabhaften 
and Unbraudhbaren, d. 5. des Böſen und bes Uebels gejetst, 
denn fonft hörte ja Arbeit und Proceß endlid einmal auf. 
Emwiger PBroceß zum Beffern ift nichts als ewige Entfernung 
vom Guten und alfo, ohne fein Ziel erreichen zu fönnen, ewige 
Unfeligleit in wechſelnden Formen! 

Ich bekenne offen, daß ich mir feine andere Seligkeit 
denken Tann, als diejenige, welche aus der Arbeit, aus 
dem Ringen und Streben nad) Vollendung, aus der 
Ueberwindung bes Uebels und aller Hemmniffe, bie fi 
dem auf das Göttliche, auf das Gute, Wahre und Schöne 
gerichteten Vorwärtsſtreben entgegenftellen; baß das Gefithl 
fortzufchreiten und Gott immer näher zu fommen, an ſich 
Schon Seligfeit ift, daß da8 Suchen und Finden der 
Wahrheit mehr erfreut, als der thatenlofe ruhige Beſitz 
der Wahrheit. Ohne Dunkel und Naht würden wir 
uns nicht des hellen Tages freuen, ohne den Gegenſatz 
gar Fein Gefühl und Bewußtſein haben, ohne Kampf 
feine Tugend, ohne Anfechtung ber Welt keine Gottfelig- 
feit. Broceß ift Fortichritt; ein fogenannter vollfommener 
Zuftend, dem das Streben, bie Entwidelung, der Forte 
fchritt fehlte, wäre ein unterſchiedsloſes Einerlei und das 
gerade Gegentheil der Seligkeit. Gott der Herr felber 
ruht nicht, fondern ſchafft und wirft immer fort; er iſt 
als Schöpfer auch der Urgrund der fteten Entwidelung 
alles Geſchaffenen. Würde die Entwidelung aufhören, 
fo wäre auch) das Leben vernichtet und damit der Schöpfer 


des Lebens ‚felber negirt. Gewiß find jedem Strebenden 
Momente des Ausruhens von nöthen, aber eben „Mo⸗ 
mente”, welche die Bewegung nicht abjchneiden und hem- 
men, fondern zu neuem Fortſchritt ftärfen. 

Bomhard blickt mit dem Gebanfen auf das unbewußte 
Glück der Kindheit, daß Fein höheres Glück möglich fei. 
„Was wilft du denn werben? Beſſer als gut? ſchöner 
als ſchön? glüdlicher als glücklich?“ fo fragt er und 
fährt dann fort: „Alles Werden ift nichts als Entſtellung, 
Berzerrung des reinen Seins, Entleerung feines tiefern 
Inhalts, Berflüchtigung feines Geiftes, Verſenkung ins 
Eitle und Nichtige.“ Dann wäre es freilich beffer, wir 
wären und würden nicht geboren und Arthur Schopen- 
bauer’8 Pelfimismus wäre volllommen im Recht. Es 
verhält fich aber umgekehrt: die Kindesfeele ift die ärmere 
gegenüber der Seele des Jünglings und der Jungfrau, 
das Werden und Wachſen ift Zunehmen, ein Reicher⸗ 
werden, feine Entleerung eines „tiefern Inhalts” — e8 tft 
fein Abfall von der Idee, fondern ihre Verwirklichung. 
„Leben ift Leiden”, fagt Bomharb an einem andern Orte, 
während es umgekehrt beißen müßte: Leben iſt Thätigfein, 
Wirken und Schaffen. Die Paffivität, der Schmerz und 
das Leid find Negationen des Lebens, freilich nothwenbig, 
um die Pofition zu verwirklichen und zum Bewußtſein 
zu bringen. 

Die ‚Betrachtungen Bomhard's berühren die tiefiten 
Räthſel des Mienfchenlebens. Unter ber Ueberfchrift „Ach!“ 
wird uns ein Bild der Nachtjeite des Lebens entrollt, 
das, wie Bomhard meint, überwiegend auf den Schmerz 
geitellt fei. „Schmerz ift des Lebens Grundfarbe, die 
aus allen Uebertünchungen immer wieder hindurchſchlägt.“ 
Das fcheint wol fo und ift e8 doch nicht, fonft binge 
der Menfc nicht jo am Leben, wie er es thut. ber 
die große Fillle von Noth und Elend foll damit nicht 
abgeleugnet werden fowie die erfchredende Thatſache, daß 
ZTrübfal und Elend fo manchen Strebfamen niederwirft 
und feine Kräfte lähmt, bis jeder Aufſchwung unmöglich 
wird. Da bleibt der Glaube an eine künftige Auflöfung 
der Diffonanzen dieſes Erbenlebens der einzige Balſam 
auf die Wunden. Bomhard fagt faft bitter: „Beſſer 
wäre, man bedürfte bes Balfams nicht.” Und er führt 
fort: „Kann auch das Bergangene ungefchehen gemacht 
werden? Läßt fi) eine ganze Weltgefchichte voll des ent- 
ſetzlichſten Greuels und unfaglichiten Webeld wie eine faljche 
Rechnung von der Wachstafel wegtilgen?“ Das ift eine 
fehr wahre und tiefgehende Bemerkung, ber fein Denken» 
der auszuweichen vermag. Aber ganz charakteriftifch fucht 
der Berfafjer das Problem zu löſen mit einer Bifion, die 
zwar ein erhabenes Bild vor die Seele ftellt, aber der 
Frage doch eigentlich aus dem Wege geht: 

Mir ift, als fähe ich eine Heerſchar Geängfleter, Berfolgter 
in wilder Flucht und hinter ihr her die Zeit, wie Pharao mit 
Roſſen und Wagen, vor ihnen das Meer, aber ohne Furt 
und Strafe. Eine Bifion tritt vor meine Seele. Der zweite 
Mofes, den der erfie auf dem Berge der Verklärung geiehen, 
reitet in majeftätifher Ruhe, den Hirtenflab in der Hand, 
vor den zagenden Kiüchtlingen einher: „Mir nad, ich bin ber 
Weg durchs Rothe Meer der Trlibfal und des Todes!" Und die 
Fluten theilen fi, und hinter den Durdhziehenden und ihrem 
Führer verfinkt die alte Zeit und das alte Geſchlecht, vor ihnen 
eröffnet fi) eine neue Welt. Sowie die Ungeheuer der erfien 
Schöpfung, deren verfteinerte Hefte wir noch mit Graufen 


10 * 





76 


anfehen, fo verfchwinden, ertränft im Meer, die moralifchen Un- 
gethlime und Scheufale der erften Geſchichte und an ihrer Stelle 
erfcheinen edlere Weſen und feinere Organifationen. Ein neues 
Schöpfungstagewert beginnt, die Pforten eines zweiten Para⸗ 
diefes öffnen fi, in dem feine zweite Schlange mehr verjuchen 
wird. Und die alte Sünden» und Jammergeſchichte, war fie 
nicht in dae Buch der Zeit eingeichrieben? Wo wird fie blei- 
ben, wenn die Zeit felbft nicht mehr fein wird? 


Bomhard hofft chiliaſtiſch, es müſſe doch endlich kom⸗ 
men das Reich auf Erden, 


Darin der ew'ge Friede lächelt 
Und Freiheitshauch die heiße Stirne fächelt — 


er tröftet fi) mit dem Gedanken der Entwidelung der 
Menfchheit, die jet ſchon auf einer unendlich höhern 
Stufe der Bildung angelangt fei als vor Sahrtaufenden. 
Aber damit legt er wieder die vom ihm ſelbſt aufgewor- 
fene Frage nahe: Was Haben die Armen und Elenden 
verbrochen, daß fie nur als Schutt und Mörtel dienen 
mußten, damit auf ihrem Staube fi ein ſtolzer Palaft 
erbebe? 

Daß man das Jenſeits nicht in abftracter Weife vom 
Dieffeits trennen kann, daß ber Dualismus, welcher Gott 
und Welt, Geiſt ımd Materie, Ewigleit und Zeitlichkeit 
als unvereinbare Gegenfäße ſcheidet und auseinanberhält, 
ben nach Einheit ber Erkenntniß ringenden Geift nicht 
befriedigen kann: deſſen ift ſich Bomhard wohl bewußt, 
und es ift ihm gewiß Ernft, wenn er im einer ber 
legten Betrachtungen die „Fremde Antwort aus Indien“ 
bringt: 

Siehe das Sinnenleben mit feinem ganzen Treiben in den 
Regionen bes Träumens und Phantafirens, der Borftellungen 
und Meinungen, Einfälle und Bermuthungen, Furcht und 
Hoffmung, Begierde und Leidenfchaft, des Kampfes und ber Un⸗ 
jeligtett: dieſes Leben oder vielmehr thierähnliche Begetiren — 
das ift das Diefjeits. Dagegen ift das Leben in der Thä- 
tigfeit des Denkens und Forſchens, der Erzeugung und Fort- 
bewegung, der fichtbar erfcheinenden Ausprägung ber been, 
das wahre Senfeits, darin die Abgefchiedenen wohnen, d. 5. 
die aus den Trübungen des fenfualen Lebens in ein Leben bes 
Geiſtes Hinlibergefhiedenen und Geretteten... Iſt dies be- 
greiflich, fo wird e8 auch das Weitere fein, was fiber das DBe- 
dauern, den Lauf der Weltgeichichte nicht auch nach dem Tode 
verfolgen zu können, beizubringen if. Sei deshalb außer Sorge, 
du wirft von der Weltgeichichte noch ein größeres Stüd, als 
dir lieb ift, mitfpielen dürfen. Denn ich fage dir, du warſt 
ſchon früher, ja fhon im Anfange Scaufpieler auf diefer Bühne, 
wart mit Adam im Paradiefe, dann mit all feiner Defcendenz 
auf ihren Wanderungen.... alle Entwidelungen Haft bu von 
einer Stufe zur andern mitgemadt, du ftehit in einem ma- 
giſchen Kreife, dem du nie entfallen, in und mit dem du did) 
ewig fortbewegen wirft. Bergangenheit und Zukunft fchließen 
fih in Einen Ring zufammen, in weldem der Tod feinen 
Zutritt findet, alles Xeben und Bewegung nnd endlofer Fort» 
gang iſt. 

Sch würde aber die Grenzen einer Recenfion allzu 
weit tiberjchreiten, wollte ich dem Berfafler der Betrach⸗ 
tungen auf diefem Wege weiter folgen, und benute den 
mir noch übrigbleibenden Raum, die freundlichen Lefer 
binzumeifen auf die veiche Fülle praktiſcher Philofophie, 
welche das Büchlein enthält. Unter der Ueberſchrift 
„Gutes Auskommen mit andern‘ Heißt es: 

Liebe und Vertrauen ſuche nur bei ben Allernächſten und 
Erprobten; dringe dich keinem als Freund anf. Die Borfchrift, 
bei freundſchaftlichen Berhältniffen nie zu vergeflen, daß fie ſich 
wol wieder löfen, ja in Abneigung übergehen können, iſt eine 


Chriftian von Bomhard's Nachlaß. 


praktifche Klugheitslehre. — Es gibt and) ſchöne Schwächen, 
die in einer volllommenen Welt für Zugenden gelten würden, 
in diefer aber wohl überwadt fein wollen. Gutherzigkeit, 
die Überall Helfen möchte und wenn es aud) Opfer Toftete — 
wie ift fie fo ſchön und löblich! und gleichiwol bietet fie dem 
Misbrande und Betruge die Handhabe. Entgegenkommen⸗ 
des Zutrauen gegen jedermann. Wie human! Aber wie 
find fo viele fchleht dabei weggeflommen! Dienfibereit- 
willigfeit! wie leicht wird fie gemisbrandt! Darum alle 
Impulfe des Gemüths unter fteter Controle des Berflandes ge- 
halten! Iſt das leicht? Nein, wahrlich nicht. Es hat's noch 
feiner vollſtändig ausgeführt. 


Iſt auch kein fo großer Schaden, denn wer es voll- 
ftändig ausführte, würde damit des Gemüthes felber ver- 
luftig gegangen fein. 

Demerfeuswertb ift, wie unter der Ueberſchrift 
„Beſtimmung“ der Begriff „Bildung“ definirt wird. Die 
Aufgabe, jede Anlage und Fähigkeit auszubilden, hält Bom- 
hard für ungereimt, weil fie Unmögliches fordert. Die 
Allfeitigfeit fei Anfgabe der ganzen Menfchheit: 

Wir einzelne find nur Fragmente, Banfleine am großen 
Zempet. Und doch fühlen wir den Drang, mehr zu fein, ſelbſt 
ein Ganzes, felbft der Tempel. Gut, dazu kann Rath werden. 
Aber nit durch allfeitige Ausbildung, fondern auf einem an» 
dern Wege. Nimm in dein Gemüth warm und tief und innig 
das Interefje der geſammten Menſchheit auf und verfolge es in 
deinem engen Kreiſe, jo bift du Über die Schranken des indivi⸗ 
duellen Dafeins fammt allen feinen Separatbeftimmungen hin- 
weggeboben. Es ift aber das Intereſſe, d. h. die tieffte Ange 
legenheit der Menſchheit Fein anderes als reine Ausprägung 
ihres Bildes, wie es in Gott aufbewahrt ruht. Mitformen 
und Ciſeliren an dem Abdrud diefes Bildes — fiehe, das ift 
Bildung. 

Ganz recht. Uber die Frage Liegt doch nahe, Tann 
man denn anders das „Intereſſe der gefammten Menfch- 
heit” im fi aufnehmen und in feinem engern Kreije 
verwirklichen al8 dadurch, daß man alle vom Schöpfer 
empfangenen Anlagen jo viel ale nur irgend möglich in 
fih ausbilde? Muß nicht, wer in feinem fpeciellen 
Berufsleben das Humane, die Idee der Menfchheit ver- 
treten und zur Erfcheinung bringen will, mehr fein und 
in ſich ausbilden, al8 was fein Beruf verlangt? Dem 
Unterzeichneten find fehr tüchtige Buriften, Mediciner und 
Theologen befannt, bie ganz und mit beftem Erfolg fich 
ihrem Berufe widmen und dabei doch ihr poetifches, ihr 
ſchriftſtelleriſches Zalent, ihre muſikaliſchen und technifchen 
Anlagen vortrefflich ausgebildet haben, die in politifcher 
Einfiht es mit jedem Staatsmann von Fach aufnehmen, 
obſchon fie Aerzte oder Lehrer, und die vortrefiliche Lieder 
dichten, obfchon fie Rechtsgelehrte find. Sie alle mußten 
in der Schule manches lernen, was fie fpäter zu ihrem 
Berufsleben nicht brauchen. Allerdings muß die Kraft 
in der einen Richtung zufammengenommen werben, aller« 
dings muß jeder feines Berufs warten und wird jeder 
Meifter nur durch weiſe Selbftbefchräntung Tüchtiges 
leiften. Aber damit ift nicht gefagt, daß er einem Ta⸗ 
Iente, einer Kraft zu Liebe die übrigen mitfje brach liegen 
loffen. War doch Bomhard felber viel mehr als bloßer 
Philolog und Schulmeifter. Er war in gejelliger Be- 
ziehung ein feiner Weltmann und Mienfchenfenner, in 
mündlicher Rede vol Aumuth und Beredfamleit; ex fpielte 
trefflich Klavier und hatte feinen Sinn für claffifche 
Mufit aufs befte entwidelt, und er war ferner nicht blog 


Kleine philofophifhe Schriften. 77 


bet den Claſſikern des Alterthums, jondern aud in den 
Hanptwerken der neuern englifhen, franzöfifchen und 
deutſchen Literatur zu Haufe. Und die am Schluß des 
Büchleins von ihm mitgetheilten Sonette geben Zeugniß, 
bag er auch fein bichterifches Talent nicht unangebaut 
ließ. Das alles unbefchadet der Berufötreue. So zeigte 


er, daß die Forderung einer barmonifchen Ausbildung 
aller Kräfte keine ungereimte iſt, und er zeigte bie um 
jo eindringlicher in und an feiner Perfönlichkeit, als 
diefe, das Gute mit bem Schönen vereinend, auf dem 
reinften fittliden Wollen ruhte des feiner felbft gewiffen 
Charafters. A, W. Grube, 





Kleine philofophifche Schriften. 


1. Die Religionsphilofophie als eine Wiſſenſchaft file jeden, 

it reif für eine Umgeftaltung. Halle, Hermann. 1869. 

8 10 Nor. 

Gefetzt den Ball, dasjenige, was der Berfaffer, der 
feinen Namen in dunkler aber ehrenvoller Zurüdgezogen- 
heit hält, bier vorträgt, wäre Weligionsphilofophie, fo 
könnte allerdings nicht fchlagendes die Reife diefer Die- 
ciplin für eine Umgeftaltung bargethan werden. Indeß 
bat fih der Berfafler wol nur im Xitel vergriffen. 
„Bimmelstroft für betrübte Seelen“, ober „Satan, fieh 
dieſes und entfleuch!” oder andere hymnologiſche Titel, 
an denen dem Berfafler ja eine weit veichere Auswahl zu 
Gebote fteht als einem gottlofen Kritifer, würden jeden« 
falls das falbungsvolle Büchlein in vichtigere Hände ge— 
führt haben. Ä 
2. Unterfuchungen liber Pfychologie. Anmerkungen zu Robert 

Zimmermaun’s „Bhilofophifche Propädeutik“ von F. A. von 

Hartſen. Mit Rüdfiht auf Herbart, 3. H. von Fidhte, 

Ulrici u. a, Leipzig, Thomas. 1869. Gr. 8. 18 Ngr. 


Der Berfaffer gehört der nieberländifchen Schule des 
Empirismus an, und hat von biefem Standpunfte aus 
fon zwei andere Hefte veröffentlicht: „Die Methode ber 
wiffenfchaftlichen Darftellung“ und „Grundlegung von 
Aeſthetik, Moral und Erziehung”. Es ift eine erfreuliche 
Erfcheinung, daß die Niederländer, welche fonft allzu jehr 
im Rufe eines praltifchen Materialismus ftanden, ſich 
lebhaft für Philofophie und namentlich auch für deutfche 
Philoſophie zu intereffiren anfangen. Allerdings Tann 
man bisjest nicht fagen, daß fie die Bedeutung des 
deutfchen Idealismus verftanden und etwa den Verſuch 
gemacht hätten, benfelben in ihrem Empirismus aufzu- 
heben; vielmehr fchließt fi ihr Standpunkt mehr dem⸗ 
jenigen ber Engländer und Franzoſen an, und ihre Bes 
nutgung der neuern deutſchen Philofophie befchränkt ſich 
vorläufig auf die üußerliche Aufnahme brauchbar ſchei⸗ 
nenber Einzelheiten. Aber auch diefen Wortfchritt wollen 
wir fchon gern anerkennen — das Weitere wird unfehl« 
bar nachkommen, wenn wir nur felbft erſt die neuefte 
Bhilofophie verdaut und organifch affimilirt haben. Am 
wenigften flörend zeigt fich ber einfeitige Empiriemus auf 
»igchologifchern Gebiet, zu welchem die vorliegende Schrift 
recht ſchätzbare Beiträge enthält. Leider find diefelben aber in 
die Form eines von Paragraph zu Paragraph fortlaufenden 
Commentard zu Zimmermann’d „Propäbentil” gekleidet, 
eine Form, welche für jeden wenig anziehend fein muß, der 
nit „ans Zimmermann feine erfte philofophifche Kennt- 
niß gefchöpft hat“, oder doch wenigftens dies Buch gelefen 
and neben ſich liegen Bat. 


8. Unterfuhungen über Logil. Mit Rückſicht auf Apelt, Bol- 
zano, Drbal u. f. w. und einem Auffag über die Wunder- 
frage und einer Kritil des „teleologifchen Beweiſes“ flir das 
Daſein Gottes. Von F. A. von Hartjen. Leipzig, Thomas. 
1869. Gr. 8. 18 Nor. 


Weit fchwieriger ift die Aufgabe des Empirismus in 
der Logik, und es wird fchon faft der Verſuch einer em- 
pirifchen Logik als eine Kühnheit betrachtet. Man kann 
nicht fagen, daß dem Berfaffer die Löfung gelungen fei. 
Er vermeidet allerdings vollitändig jene läſtige Termi⸗ 
nologie der Logifchen Lehrbücher, aber er verzichtet dafür 
auch in feiner nur 70 Seiten langen Unterfuchung voll» 
ftändig darauf, die Ziefe der Probleme zu ermeflen. 
Daß bei fo befchränktem Umfange eine Berdicherung der 
deutſchen Philofophie nur von einer Schrift erwartet wer- 
den könnte, welche ſich auf eine fpecielle Frage befchränft, 
ift wohl nahe liegend; aud die „Berüdfichtigung‘‘ ber 
zahlreihen auf dem Xitelblatt aufgeführten beutfchen 
Namen verliert durch die räumliche Beſchränkung ihren 
Werth. Wir müffen nur unfere Verwunderung aus« 
fprecden, daß ein empirischer Logifer neben fo manchem 
Stern fiebenten Ranges gerade ben Dann zu berüdfichtigen 
vergefien bat, der dom empirifchen Standpunkt die Logik 
auf das entjchiedenfte geklärt und gefördert bat, ich 
meine von Kirchmann. 

Der Schrift über Logik find mehrere kürzere Auffäge 
und Notizen über verfchiedene Gegenftände beigefügt, aus 
denen ich zwei Stellen hervorheben will. Das eine bes 
trifft die Stellung des Holländers zur rein theoretifchen 
Wiffenfchaft. Der. Berfaffer erflärt nur die Wiflenfchaft 
eines Intereſſes fiir würdig, welche direct ober indirect 
Nugen bringt (S. 74), und führt zum Beweife an, daß 
eine detaillirte Beſchreibung feines Arbeitszimmers keine 
Leſer finden würde — als ob Beſchreibung Wiſſenſchaft 
wäre! Das zweite betrifft die Stellung der. Naturwiſſen⸗ 
Ihaft zur Wunderfrage, und Bier können wir die Anficht 
bes Verfaſſers durchaus nur theilen. „Man muß nicht 
fagen: die Auferftehung eines Todten wiberftreitet ben 
Naturgefegen und Hat daher nie ftattgefunden. Nein, 
man muß fagen: ift e8 wirklich wohl conftatirt, daß je 
ein Zodter auferftanden ift, dann müſſen wir fchließen, 
daß die Auferftehung eines Zodten nicht den Naturgefegen 
widerftreitet‘‘ (S. 96). 

4. Pſychologie. Ein Leitfaden für akademiſche Borlefungen ſo⸗ 
wie zum Selbftunterriht von Georg Hagemann. Mün- 
fter, Ruſſell. Or. 8. 15 Nor. 


Der Berfafler gehört zur fogenannten neufcholaftifchen 
Richtung, welhe den großen Thomas von Aquino als 











18 Feuilleton. 


den Schlufftein aller philofophifchen Syſteme betrachtet, 
aber emfig bemüht ift, die von demſelben vorgezeichneten 
Contouren mit dem reihen Material der modernen Philo- 
fophie und Nealwillenfchaften zu erfüllen. Es ift dies 
die einzige von Nom aus gutgeheißene Richtung der 
Philofophie, da jeder freiere Aufſchwung der Speculation, 
au) wenn er im Grunde und in ben Zielen noch fo 
katholiſch geſinnt ift (3. B. Baader und Glinther), doc) 
ſchon Mistrauen und Anathema in der jefuitifchen Cenſur 
hervorruft. Die vorliegende Schrift, bie dritte in der 
Reihe der vom Verfaſſer unter dem Gefamntttitel 


„Elemente der Philoſophie“ herausgegebenen Schriften, 
bewegt ſich ebenfo wie die frühern Hefte („Logik und Noetik“ 
und „Metaphufil”) in derjenigen Freiheit des Denkens, 
welche dem Verfaſſer feine pricfterlihe Stellung und 
katholiſche Rechtgläubigkeit übriglafien; doh muß man 
fagen, daß er feine Aufgabe ſehr geſchickt gelöft Bat. 
Abgefehen von dem literarhiftorifchen Intereſſe folcher 
Erſcheinungen dürfte freilich mehr den philofophirenden 
Freunden des Katholicismus als „den Fatholifchen Freunden 
der Philoſophie“ damit gedient fein. 





Fenilleton. 


Intereſſante Autographen. 

Das neueſte (funfzehnte) Autograpben-Berzeiäniß 
von Rihard Zeune in Berlin (Bictoriaftraße 29°) 
liegt uns vor. Wie befannt, gehört unter den wenigen, 
welde in Dentfhland ein Autographen» und Documenten⸗ 
geichäft betreiben, Richard Zenne zu benjenigen, melde fid) 
diefem Gejchäftszweige mit unmandelbarer Neigung, großer 
Sadlenntnig und Treue widmen, und daher fieht derjenige 
Theil unfers gebildeten Publitums, welcher f4 für berartige 
Sammlungen intereffirt (eine fehr Eleine Zahl Auserwäßlter !), 
den Zeune'ſchen Katalogen ſtets mit einer gewiflen Spannung 
entgegen, 

08 Berzeihniß enthält wieder manches DOriginelle, Seltene 
and Koftbare. Unter den Autographen von Fürften, Feldher⸗ 
ren und Gtaatsmännern nennen wir: einen Brief vom Her- 
z0g Alba, dem Generaliffimus Philipp’s II., an Anton Fugger, 
in Bezug auf die Stadt Angeburg; ein Document von *— 
lipp U. ſelber, welches die Beſtallung des Rittmeiſters von 
Mandelsloh ausſpricht, iſt mit der feltenen Unterfchrift „Philipp 
verfehen, während far alle befannten Actenftüde des Königs 
mit „yo El Rey’ unterzeichnet find; ein Autograph vom deut. 
ſchen Kaiſer Marimilian I. an Sforza, mit der höchſt feltenen 
eigenhändigen Nameusunterjchrift; ein anderes fehr wichtiges 
Kctenftüd von Marimilian II, betreffend die Vertreibung „des 
Erbfeindes der Chriftenheit”; einen Brief vom Taiferlichen 
Kriegsrathe Dueftenberg, Wallenftein’e Freunde, die Geldange- 
legenheiten bes Generals Iſolano betreffend; vom Grafen Lei- 
cefter, dem berühmten Gilnfiling der Königin Elifabeth, ein 
feltenes Autograph in holländifher Sprache; einen franzöflfchen 
Brief von dem geiftreichen Fürſten von Ligne an Mr. de Wal⸗ 
ther; ein Autograph von der Marquife von Maintenon, wort 
die Liebenswürdigleit einer Prinzeffin gefchildert wird. Zu 
ben ausgezeichuetften Seltenheiten gehören: ein Antograph 
vom ſpaniſchen Feldherrn Marquis Spinola; ein Brief von 
dem ſchmalkaldiſchen Feldhauptmann Schertlin von Burtenbad), 
in dem derſelbe feine Gerechtfame vertheidigt; ein anderer von 
dem berühmten Feldherrn und König von Bolen Stephan Ba- 
tbori; ein lateiniſcher Brief von Johann Sobieski, dem Erretter 
Biens, an den Kaifer Leopold I. Ein Autograph von Samfon, 
dem Henker von Baris, ift gleichfalls zu den Raritäten zu rech⸗ 
nen. Gin Brief von F. von Schill, das einzige Autograph 
von diefem Helden, mit dem Namen unter eigenhändigem 
Tert, welches eine Nechtfertigung feiner kriegeriſchen Ope⸗ 
rationen bei Kolberg enthält, Tann als ein merkwürdiges 
Befchichtliches Document gelten und fchließt mit ben Wor⸗ 
ten: „Bei meinem das Vaterland und feinen König innig lie- 
benden Herzen und einem regen Eifer wäre e8 leicht möglich 
geweien, ein Riefengebäube aufzuflihren, wenn mir nur ohne 
Töniglichen Befehl nicht Überall die Hände gebunden geweſen 
wären. Ein origineller Brief Ludwig's I. von Baiern an Fried» 
rich von Schlegel endigt mit der Erflärung: „Daß mir der 
religiöfe Unterricht fehr am Herzen, daran zweifeln Sie nicht, 
ſollte ich glei ein Obfenrant genannt werden; daß man mid 


bald fo oder ander® Heißt, daran bin ich gewöhnt. Ein 
wichtiges Actenflüd zur Geſchichte Sachſen⸗Weimars ift ein 
Drief der Herzogin Anna Amalie an Kaifer Franz I., in dem 
fie die Nothwendigkeit darlegt, die alleinige Bormundidaft und 
Landesregierung zu Übernehmen. Merkwürdig if au ein 
Brief von der Großherzogin Lniſe an Knebel, vom Jahre 1824, 
mit der Stelle: „Es ift recht gut, daß Iena mit Requifitionen 


‚verfhont geblieben ift, und wahrjcheinlich wird Herr von Kamp 


mit feinen Spionen fi) von neuem geirrt haben, Die Rolle, 
welche Preußen in diefer Hinficht Kbernimmt, ift nicht die ſchönſte.“ 

Unter den Schriftfiliden von Dichtern und Gelehrten ge- 
Hört zu den feltenften: ein Autograph von Fulton, dem Erfinder 
der Dampfichiffe; ein intereffanter Brief von Hölderlin über 
feinen „Oedipus“; das eigenhändig gefchriebene Mailied von 
Hölty: „Grün wird Wie und Au ꝛc.“; Körner’s „Wallhaide“ 
mit voller Unterſchrift; eine Univerfitätsquittung von Melanch⸗ 
thon; ein franzöfifcher Brief von Mesmer; ein Brief von 
Metaftafio, deffen Inhalt feine „„Sofonisba’ betrifft; von größter 
Seltenheit und gefhichtlichem Intereffe eine auf Pergament ger 
fchriebene Urkunde, in der Johann Rift, der Stifter des Schwa- 
nenordens, den Prätorius zum Poeta laureatus erwählt. Bon 
Goethe findet fih unter anderm auch ein ungedrudtes Schrei- 
ben an Göfchen über die Bearbeitung von „Rameau’s Neffen‘, 
und von Schiller ein intereffanter Brief an feinen Freund Kör- 
ner über Goethe, den „Muſenalmangach“ und die „„Zenien‘. Für 
beginnende Sammler find alphabetifh geordnete Sammlungen 
von berühmten Dichtern der Neuzeit, von Philologen, Theo» 
fogen, Philofophen, Hiftorifern, Suriften u. f. w., je aus mehr 
als 100 Autographen befiehend, zu dem geringen Preis von 
5 Thlrn. zu erhalten. 

Unter den Seltenheiten von Künſtlern und Kunftfchrift- 
ftelleen fieht obenan: Beethovens Manufcript von ber Kuß⸗ 
Ariette „Sch war bei Cloe ganz allein‘; ein anderes von ihm 
enthält die mufilalifhen Entwürfe zum Concert in Es-dur, zur 
Phantaſie op. 77, und zur Phantafie mit Ehor op. 80, mit 
ihwer zu erforfhendem eigenhändigen Text. Bon Haydn 
ein Trio» Manufcript für Klavier, Bioline und Violoncello. 
Bon Franz Schubert Tiegen zwei Liebercompofltionen vor; 
davon ift eine noch nngedrndt und gänzlih unbelannt. 
Höhn merkwürdig iſt ein großer ungedrudter Brief vom funf- 
zehnjährigen Mendelsſohn⸗Bartholdy an Marz, in welchen fich 
berfelbe, troß feiner Jugend, mit dem feinſten Sachverflänbniß 
über den von Marx gedichteten Tert zur Oper „Don Duizote“ 
ausſpricht. Cine befondere Feine Sammlung zu 4 Thlrn. ent« 
hält mehr als 50 eigenhändige Briefe von berühmten Malern 
und Kupferflechern. 


Notizen. 

Wir mahen auf bie Prachtausgabe von „Goethe’s 
Gedichten" aufmerfam, welhe Arthur Lutze in einer 
Answahl für deutſche Franen erfcheinen läßt, mit vier Illu⸗ 
firationen von Hermine Stilfe (Harbendrnd von R. Stein⸗ 
bock in Berlin, Köthen, Berlag ber Lutze'ſchen Klinik, 1870). 








Feuilleton. 79 


Die Ausſtattung ift eine glänzende, die Auswahl eine durchweg 
geſchmackvolle. Goethe's Büfte, von einer Roſen⸗ und Blumen- 
guirfaude umrahmt, und die ſtimmungsvollen Tandjdaftsbilder 
von Hermine Stile: „Wanderer's Sturmlied‘‘ und „Darzreiſe 
im Winter“, gereichen dem Werke zu beſonderer Zier. Ge⸗ 
widmet iſt daſſeibe dem Großherzog von Sachſen⸗Weimar. 
Kolgende zwei bisher noch ungedrudte Gedichte find der 
Sanımlung vorausgefchidt: 


Sonett an Bettina. 
Am 4. Sanuar 1811. 

Glanzvollſtes aller hohen Gnadenzeiden, 
Bomit Sie jemals ihren Knecht bedacht. 
Die Erbe kennt nit ſolche Farbenpracht 
Und ſelbſt der Himmel muß vor bir erbleichen. 
O unermeßlich Süd und fondergleicden, 
Das ınir fo hold ind Herz und Auge lacht, 
Ich unterliege der Empfindung Macht 
Und fühle Sinn und Ausdruck mir entweichen. 
Ste dentt an mich und legt mit taufend zarten 
Bergißmeinnicht fi ſelber miv ans Herz | 
So große Huld, fie würb’ in Stein und Erz 
Des Dante, ber Liebe Flamme raſch entzünben , 
And könnt’ ich jemals dem Gefühl entarten, 
Dann treffe mich ber Tod in meinen Sünden. 


Epigramm. 
Man if mit Recht befcheiben, 
Wenn groß Berbienft uns ziert; 
Sonft mußt bu dich beſcheiden, 
Daß es dir nicht gebührt; 
Du ſcheinſt denn eins von beiben: 
Dumm oder affectirt. 

Der zweite Band der von Karl Goedeke und Julins Tittmann 
herausgegebenen „Deutfhen Dichter des fiebzehnten 
Jahrhunderts‘ (Leipzig, F. A. Brodhaus) enthält die von 
Julius Zittmann herausgegebenen Gedichte von Paul Fle- 
ming, dem begabteften Dichter der erften Schleſiſchen Schule, 
über deffen Lebensgang, dichteriſche Bedeutung, ſowie liber bie 
verſchiedenen Ausgaben feiner Werke die Einleitung Auskunft gibt. 
Bir dürfen auf die eingehende Charakteriſtik des Dichters hin 
weifen, welche Heinrich Rückert in Nr. 15 d. Dt. f. 1868 ge- 
geben hat. Der dritte Band der Sammlung bringt eine nicht 
minder interefjante Gabe, die Sinngedichte von Friedrich 
von Logau, von Karl Eitner herausgegeben, deren epigram⸗ 
matifhe Pointen aud für unfere Zeit nicht ihre Bedeutung 
verloren haben. 

Die humoriſtiſche Schrift, weldhe den Auf von Wilhelm 
Raabe (Sakob Corvinus) begrlindete: „Die Chronik der Eper- 
ſingsgaſſe“, ift eben im vierter Auflage (Stuttgart, Vogler und 
Beinbauer, 1870) erjchienen. 





Bibliographie. 

Altmann, J., Aus einem Dichterleben. Lieder und Sprüche aus 
ben Jahren 18601868. 2 Bpe. Ben Dioefer. 1869. 8, 3 Zhir. * Ngr. 

Aus fernen Landen. ©re sepnifihe Bilder und Skizzen. Berlin, Lang⸗ 
maun u. Comp. Or. 

Bartsch, K,, Biblio, —8 Uebersicht der Erscheinungen auf 
dem Gebiete der germanischen Philologie im Jahre 1868. Wien, Gerold’s 
Bohn. 1869. Gr. 8. 10 Ngr. 

Herr von Beuſt der große eat annlene and Fa aa 
Bon einem Wiener geaubenannen. © k Ich Me übiger. e? Rlrte Br. 

rintman, J., Unf Herrgo eifen. Ein en, Ro 
fiod, Leopold. ®r. 16. 27 x Na 2 * 
Die Chroniken der beut gen Stäbte vom 14. bls ins 16, Sapryım 
dert. Ster Vd. — U u : Die Sproniten der obercheinifden täbte. 
Ehrafburg. ifter 8 ir ig, Sirzel. Gr. 8. 3 Thlr. 

Craven, Frau Augulins, geb. La Benz onays, Anna Severin. Ros 
man. i Eu 3 Rue von Silvan. Alorificte eberfegung. Miünfter, Ruſſell. 
8. T. 

Der —— Dramatiſches Zeitgemälte. Ein Beitrag zur Charal⸗ 
teriſtik der ſtehenden Heere. Deu Freunden bes Friedens und ber Frei⸗ 
Beit &. 16. 7% yon einem ehemaligen Soldaten. Zürich, Berlagd- Magazin. 

r. 
— 2, As meinem Leben, Musikalische Skizzen. Nerlin, Behr. 
gT- 

Egenter 3., Bfaffentrieg. Gewappnete Lieber. Züri, Verlags⸗ 
—* wi: ‚ Biaff 8 pp Züri, Verlag 


Etzel, A. v., Vagabondenthum und Wanderlebon in Norwegen. Ein 

Beitrag I: Cultur- und Sittengeschichte. Berliu, C. Heyınanu, 1869. 
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Deutschland und Protest gegen das gn Fettenkofer’sche Regenerations- 
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L. 65: Hiag, Dr Karl Mathy. Seisimte | feines Lebende. Leipzig, Hir⸗ 
ze r. 8. 

Funcke, Dur Beifeitber unb Helmatptlänge. 2te vermehrte und ver⸗ 

änbete — Auflage Bremen, Müler. 8 1% 
. Vgmolãtter. Tafıhen » Ausgabe. ste Auflage. Leipzig, 
Botämer 32. 97 Nor 
Ei icht von ber ziten Hamborger Kopmann, Peter Stahl, nad Bat⸗ 
ting Möllern_ fine Verteilung un in fine NMundwies balfchreben in fäben- 
teigen Berpuflungen von Mi, Berfafjer von „Dumm Hans.” Ene Jagd» 
geihiht mit en prächtige Titelbild. ‚Schwerin, Stiller. Gr. 8. 29/, Nor. 
nzen bach, Laura, Sicilianifhe Märden. Aus bem Volksmunud 
gefamma Mit Anmerkungen Rhold. Köhler’8 und einer Einleitung ber» 
aus egeben von DO. Hartwig. 2 Thle. Leipzig, Engelmann. Br. 8. 


Grimm, J., Kleinere Schriften. dter Bd. — A. u. d. T.: Recensio- 
von und vermischte Aufsätze. Ister Thl, Berlin, Dümmler. 1869. Gr. 8. 

Ir. 

Hahn, J. G. v., Reise durch die Gehiste des Drin und Wardar im 
Auftrage der k. Akademie der Wissenschaften unternominen im Jahre 
1868. Wien, Gerold’s Sohn. 1869. Imp.-4. 6 Thlr. 20 Ngr. 

-Haldinger, Ritter W. v., Das kaiserlich-königliche montanistische 
Museum und die Freunde der Naturwissenschaften n Wien in den Jah- 
ren 1840 — 1850. Erinnerungen an die Vorarbeiten zur Gründung der 
5 N ——— Reichs - Anstalt. Wien, Braumüller, 1869. Gr. 8. 


« Wilbjener, Nematiſches Gedicht. Ste Auflage. Wien, 
act Eokn . ©r. 16. 
Hamer In 8, * Pe und Minnen. Ein Yugenbleben in Liebern. 
3te verbeiferte Auflage. Hamburg, 3. %. Richter. Gr. 3. 1 Thlr. 
- Helmersen, G, v., Studien über die Wanderblöcke und die Dilu- 
er Russlands, 8t. Petersburg. 1869. Gr. 4. 2 Thlr. 7 Ngr. 
LAK rich, M., . Sonnenf ein auf duutlem Pfade. Gedichte. Leip⸗ 
sig, attpes, 16, lt. gr. 
His, W,, Leber die Bedeutang der ach — fũr die 
Auffassung der organischen Natur. Leipzig, Vogel. Gr. 8. Ngr 
Hoffinger, v,, Von der Universität. I, Die Doetoren- nee jen. 
II. Erinnerung an die Docotoren: Carl Freih. v. Hock und Moritz Hör- 
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180%, Gr. 8. 10 Ngr 
u S © deopole), Weinphantafieen. 2te Auflage. Berlin, 


Lüderi 
HR .r De Thierieele, ine gelten, unb Eigenjchaften bes 
wiefen un ar Fenit Gr. 8 9 Nor 
1868 Krüss Ber, * Die ee 9 Hoveile, Stone, Berlags-Burean. 
in — — aus John Stuart Mill’s Unterordnung der Frauen von 
A. Reyer. Graz, Pock. 1869. Gr. 8. 12 Ngr 
ı an ol, @ etty, Nencfte Gedichte. Fa Gerolds Sohn. Gr. 8, 
r. r. 
fleid * r, E., Gotifried Wilhelm Leibniz als Patriot, Staats⸗ 
mann und Bilbungsträger. Ein Lichtpunkt aus igiande trüdfter 
1 Ser Für die Gegenwart bargeftellt. Leipzig, Fues. Gr, 8. 3 Thlr. 


aing, 2 , De Reid naan amborger Dom. 6te Oplaag. Ham⸗ 
sung ge ihter. ®r. 16, 10 

RAR Luiſe er Perle Wagbalena. Ein geiftlihe® Drama, 
inter. ®r. 8. 20 Nor 
, Die Muflt eine Sprache, am Beifpiele von Spontini’s 
Beftalin läutet‘ Dresden, Brauer. 8. er. 
Pu iton, manbarafı, Landgraf, werbe N Klagenfurt, Bertihinger. 


1869, 
ow, Matpilbe ‚Dorntofe. Roman in vier Büchern. 4 Bde. 


Eisen —28 & 
an 2.0, © Ämmttihe Werte. 1ster und ı15ter Ob. Leipzig, 
Dunder —* umblot. Gr. 8. à 1Thlr. 15 Nar. 
Reinthal, E. v., Berend von der Bord. Drama aus ber Ge⸗ 
ſchichte ——* ‚Dorpat, ©tläfer. 1868. Gr. 1 Thlr. 6 Nor. 
Rittershaus, —— ‚Ye ten Ste vermehrte und verbefierte Auflage. 
Breslau, Treitenbt, * 
öpe, N., e mo erne Nibelungendichtung. “Mit befonberer 
—R auf Jau; ee und Jordan. mburg, 8 . Meißner. 1869. 
Near. 


K., Zannenharz und Fichtennadeln. Geichichten, 
BAHN, einen und @ieber En eftelerifger Mundart. Graz, Pod, 


8 gr. 
Kofenthat, H., Abdonis. Schaufpiel. Berlin, R. Leſſer. 1869, 8, 


10 
mad‘ f Nöte S, nit Bergpfalmen. Dichtung. Stuttgart, Mebler. 
M.v., eueieelen. Aſzuderti e Menſchen und Schick⸗ 
Ile, Berlin Vriji. AR Br. 8. 9 ® 
Schmick, ‚ Die —S "dor Meere und die Eiszeiten 
der Halbkugelu der Erde, ihre Ursachen und Perioden, Köln, Du Mont- 
Schanbere. rk Gr. 8. 8 Ngr 
Wer C. Speculatine Sntbiopeisgle, vom enge biteTenhiisen 
Stanbpuncte dar geheit. mM hen, Lentner. Gr, 8 
d, te taibotifhen Kiöfter. Humanität Ghriftenthum 
und Geiflioe Sumanität, Zwei Vorträge. Breslau, Aderholz. 1869, 8. 


& —— = ., Pädagogiſche Wanderungen. Eafiel, ©. Ludharbt. 
r 

getip-Träbiäter, Elifabeth Gräfin, Gedichte. Altenburg, 

Bonde. Thlr. 





80 


Anzeigen. 


Unzeigen. 


— — 


Derfag von 5. A. Brockhaus im Leipzig. 
Soeben erfdien: 


Kalfſchmidts Fremdwörterbud. 


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bollftändig umgearbeitete und bebeutendb vermehrte Auflage. 
In 12 Heften zu je 6 Nor. 
Erftes Heft. 

Kaltſchmidt's Fremdwörterbuh umfaßt in der fiebenten, 
innerli wie äußerlich zeitgemäß umgeftalteten Auflage 61 Bo» 
gen Lexikonoctav und ift demnach jet das neuefte vollffän- 
Bine und verhältnißmäßig billigfte aller Fremdwörter» 

er 


In allen Buchhandlungen ift das erfte Heft vorräthig 
und werden Subfceriptionen auf die Heftausgabe angenommen. 
Doch kann das Werl auch gleih vollftändig in einem 
Bande (geb. 2 Thlr. 12 Ngr., geb. in Halbfranz 2 Thlr. 
24 Nor.) bezogen werben. 





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Schiller- Salle. 
Alphabetifch georbneter Gedanfen-Schat aus 


Schiller's Werken und SKriefen. 
Im Berein mit Gottfried Frisihe und Mar Moltle 
herausgegeben von 
Dr. Morib Bille 


Director bes Geſammt⸗Ghmnaſiums zu Leipzig. 


In 6 Lieferungen zu je 10 Ngr. 


Zweite Lieferung. 

Die „Schiller- Halle” fiellt alle bedeutſamen Ausſprüche 
Schiller's, nad) den Gegenfländen oder Stichworten alphabetifc) 
geordnet, in bequemer Ueberficht zuſammen, bildet alfo gewiffer- 
maßen eine Real» Encyflopäde aus und zu Schillers ſämmt⸗ 
lihen Schriften, eine Art von Schiller3Converſations— 
Lerifon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’s eigenen Worten 
geichriebener Erläuterungs- und Ergänzungsband zu 
Schiller's Werten genannt werden, der jedem Beflter 
berjelben zur Anſcha ung zu empfehlen ift. 

In allen Buchhandlungen ift die erſte nnd zweite 
Lieferung nebit Brofpect vorräthig und werden Iinter: 
zeichnungen angenommen. 





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Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur 
des 18. und 19. Jahrhunderts. 

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26. Band. Voß' Luiſe und Idyllen. Mit Einleitung und 
Anmerkungen herausgegeben von Karl Goedeke. 
27. Band. Gchleiermaderd Monologen und Die Weib: 
—28 Mit Einleitung herausgegeben von D. Carl 
arz. 


Die erſchienenen 27 Bände find nebſt einem Proſpect 
über die Samminng in allen Buchhandlungen vorräthig. 


Jeder Band geheftet 10 Ror., gebunden 15 Nor. 


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Inlins Iturm. 
Zwei Theile. 
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(Seder Theil einzeln geb. 24 Ngr., geb. 1 Thlr.) 

Eine neue Gabe des beliebten Dichters Iulius Sturm, 
befien frühere Dichtungen im wiederholter, zum Theil, wie die 
„Frommen Lieber”, bereits in fehster Auflage erfchienen, 
darf der freundlichſten Aufnahme fiher fein. Die beiden Theile 
find auch jeder einzeln mit befonderm Zitel zu haben und in 
ihrer zierlihen Ausftattung befonders al® poetifches Feſtgeſchenk 
zn empfehlen. 


Don dem Derfaffer erſchien in demſelben Verlage: 
Gedichte. Dritte Auflage. 8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Nr. 
Nene Gedichte. 8. Geh. 1Thlr. Geb. 1Thlr. 10 Ngr. 
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wei Roſen oder Das hohe Lied der Liebe. Miniatur Ausgabe, 
Geh. 12 Ngr. Geb. 16 Ngr. 


Verlag von F. A. Brockhaus in Leipzig. 


Geschichte des Teufels. 


Von 


Gustav Roskoft. 
Zwei Bände 8. Geh. 5 Thlr. 

Der bekannte Verfasser, ordentl. Professor an der k. k. 
evangel. theologischen Facultat zu Wien, behandelt in die- 
sem Werke die Vorstellung von einem bösen Wesen im 
Zusammenhange mit der Natur und den geschichtlichen Er- 
scheinungen, indem er sie nach ihrem Ursprunge und ihrer 
weitern Entwickelung unter culturhistorischem Gesichts- 
punkte darstellt. Es wird sowol der religiöse Dualismus 
bei den Völkern des Alterthums nachgewiesen, als auch 
gezeigt, wie innerhalb der christlichen Welt die Vorstellung 
vom Teufel Raum und Herrschaft erlangt hat, bis sie in 
den geläuterten Anschauungen der Gegenwart allmählich 
ihre Macht zu verlieren beginnt. Gegenüber den Verfinste- 
rungsversuchen in unsern Tagen verdient das Werk die be- 
sondere Beachtung jedes Gebildeten. 








Derfag von S. A. Brockhaus in Leipzig. 
Slütenlefe aus Altem und Uenem 


von 
Ernſt Moritz Arndt. 

8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Ngr. 

Zum hundertjährigen Geburtstage Ernſt Moritz Arndt'« 
verdient dieſes kurz vor feinem Tode von ihm veröffentlichte 
Buch in Erinnerung gebracht zu werden. Es enthält Gedichte, 
die er aus dem Griechiſchen, Schwediſchen, Englifhen und 
Schottiſchen zu verichiedenen Zeiten metrifc übertragen und erſt 
im hohen Alter gefammelt und mit Gruß und Borwort ver- 
jehen berausgah. In der Wahl der Stüde ebenfo wie in dem 
fernigen Deutſch der Uebertragung fpricht fih der Charakter 
des gefeierten Mannes mit unverlennbarer Entſchiedenheit ans, 


Berantwortlicher Rebactenr: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Berlag von $. A. Srodhaus in Leipzig. 





Blätter 


für 


literari 





iſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erſcheint wöchentlich. 


Inhalt: Mathy's Leben von Guſtav Freytag. Bon deiunrich Rückert. — Ein humoriſtiſches Epos. Bon Nuboif Gottſchal. — 


— Hr, 6. #8 


3. Februar 1870. 


Literarifche Ergebniffe der Humboldt-fFeier. Bon Rigard Andree. — Ein Beitrag zur Charakteriftit des Königs von Weftfalen. Bon 
Zriedrich Bodenſtedt. — Die Bögel ber Nordfeeinjel Borkum. Bon Karl Ruf. — Senilleton. (Robert Gifele; Notizen) — 
Bibliographie. — Anzeigen. 


Mathy’s Leben von Guſtav Freytag. 


Karl Mathy. Geſchichte feines Lebens von Guſtav Freytag. 
Leipzig, Hirzel. 1870. Gr. 8. 2 Thlr. 

Ber den Lebendigen Beziehungen zwifchen den Büchern 
und dem Publikum nachgeht, wird fi des Misverhält- 
nifjes zwifchen den Zahlen und den Wirkungen ber deut- 
ichen gefchichtlichen Literatur bewußt fein. Zugegeben, 
dag wir überhaupt an literarifcher Ueberproduction leiden 
und daß das Publifun zunächſt fein anderes Vertheidi⸗ 
gungsmittel gegen diefes Vebel anwenden kann als eine 
möglichft kühle oder abweifende Haltung, fo ift es doch 
auch jo bemerkenswerth, daß gefchichtliche Werke noch 
immer am allerwenigſten, wie man zu ſagen pflegt, „ziehen“ 
wollen. Schon anderwärts haben wir den Verſuch ge- 
macht, eine genetiſche Erklärung dieſer Thatſache zu 
geben, und wir ſind der Meinung, daß wir damals in 
der möglichſt gleichen Vertheilung der Schuld unter die 
Producenten und Confumenten das Richtige getroffen ha- 
ben, aber auch darin, daß wir behaupteten, die Abhilfe 
müfje zunächft von feiten ber erflern ausgehen. Was von 


- der Gefchichtfchreibung im allgemeinen gilt, gilt auch von 


der Biographie. Zahlen und Namen unferer, biographi- 
fchen Literatur gewähren einen ftattlichen Anblid; forfcht 
man aber nad dem Eindrucke auf die Lefer, fo findet 
man nicht einmal die bejcheidenften Erwartungen befrie- 
digt. Und doch wäre gerade diefer Zweig ber Geſchicht⸗ 
fhreibung vor allen andern berufen, im richtigen Sinne 
populär zu wirken, bis die Durchfchnittsbildung unfers 
Bublilums und die Darftellungskraft unferer Hiſtoriker 
fi} jo weit gefteigert bat, um eine lebendige, im Kern 
des nationalen Geiftes wurzelnde Gefchichtfchreibung im 
großen Stile zu erzeugen. Denn die Biographie ftellt 
vermöge ihres Berufs geringere Anforderungen nicht blos 
an das pofitive Willen der Lefer, fondern aud an ihre 
Faſſungs- und Denkkraft. Aber innerhalb ihrer enger 
gezogenen Schranken verlangt fie diefelbe verfländige 
Pflege, diefelbe klare und durchgebildete Erfenntniß ihrer 
1870. 6. 


Principien und diefelbe durchgearbeitete Technik wie ihre 
vornehmere Genoffin. Und weil fie alles dies in ber 
deutfchen Literatur bisher fo felten gefunden bat, darum 
und aus feinem andern Grunde können wir zwar hun- 
derte und taufende von TLebensdarftellungen berühmter 
Männer und Frauen in deutfher Zunge aufzählen, 
wüßten aber faum ein Dutend darunter zu nennen, die 
dauernd mit dem Geiftesleben unferer Nation verwachſen 
find oder, wenn man biefen verzopften Ausdrud brauchen 
will, claffifche Bebentung haben. Der allgemein verbrei« 
tete Glaube, daß es leichter fei, eine Biographie als ein 
eigentliche® Geſchichtsbuch zu fchreiben, ift in gewiſſem 
Sinne nicht unbegründet, aber er bat auf die natürlichſte 
Weife von der Welt zu dem Wahne Anlaß gegeben, als 
fei e8 überhaupt ein leichtes Ding, fo ein „Leben” zu 
zimmern, wenn es nur an fich intereffant und floffreich 
ift ober dem Berfertiger als ein folches erſcheint. An 
dem von felbft gegebenen Soden reiht fidh, wie man meint, 
alle ohne weitere Mühe. Wer aber ſelbſt einmal mit 
Berftand einen ſolchen Faden gefponnen hat, weiß, was 
es mit diefem „bon felbft gegeben’ auf fich Hat. Leider 
aber reut viele, wenn fie mitten in der Arbeit zu diefer 
Erkenntniß gelangen, Zeit und Kraft, die fie ſchon dar⸗ 
auf verwandt Haben, zu fehr, als daß fie fich entjchließen 
fünnten, die ganze Arbeit beifeitezumerfen, oder mit 
geläutertem Verſtande von vorn wieder anzufangen; 
viele mögen auch wol, bei bem wenig entwidelten Sinn 
für Geftaltung und Compofition, der unfern fpecififch 
mit der Feder thätigen Männern eigen ift, nicht einmal 
eine Ahnung von dem haben, was ihnen eigentlic) fehlt; 
und die einen wie die andern beruhigen ſich jedenfall 
mit der von jeder äußern Zuthat und Zubereitung unab- 
bängig und gleihfam fouverain darüber erhabenen Güte 
und Bedeutung ihres Stoffs. 

Wenn es aber darauf anfüme, zu fagen was eine 
Biographie nicht fein fol, jo würde man zuerft jene 


11 


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82 


difeibigen Ungeheuer mit mehr Noten als Zert, mit ganzen 
Alphabeten ven Ercurfen und Beilagen, womöglich nod) 
mit einem Anbange von Urkunden und Documenten, 
ftärler als das Buch felbft, als warnende Beiſpiele auf- 
fielen. Ihr thatſächlicher Gehalt kann, wie allbefannte 
und deshalb hier nicht genannte Fälle zeigen, ein großer, 
für die Geſchichtskenntniß oft unermeßlich großer fein, 
aber er witrde fih noc leichter verwerthen lafjen und 
banfbarer von uns aufgenommen werben, wenn er in ber 
natürlich angezeigten Form bloßer Materialienfammlung, 
nach beftimmten Gefichtspunften geordnet, geboten würde. 
Die Prätenfion folder Bücher, Biographien zu fein, 
verftimmt nicht blos die unbefangenen und fozufagen 
arglos berantretenden Lefer, fondern erfchwert auch die 
Arbeit derer, die nicht blos Iefend lernen, fondern Mas» 
terial zu eigener Arbeit fich zubereiten wollen. Selbſt⸗ 
verftänblich wird ja bei jeder den Namen verbienenden 
gefchichtlichen Leiftung, alfo auch bei einer Biographie 
vorausgefegt, daß ber Darfteller im Beſitze des ganzen 
überhaupt vorhandenen oder erreichbaren Materials ift. 
Will er aber Gefchichtfchreiber fein, fo fol er die damit 
nicht beläftigen, die nur leſen und dadurch ſich bilden 
wollen. Gedenkt er nur fir Mitforfchende zu fchreiben, 
fo kann er es ſich freilich leichter machen, aber er ver- 
zihtet dann auf das, worauf es dem Gecſchichtſchreiber 
eigentlich ankommen wird. Wahrjcheinlid) wird er aber 
durch das Halbfchüirige feines Thuns weder nad) der einen 
noch nach der andern Seite ſich vollen Danf verdienen, 
und das ift es eben, was ben meilten gefchichtlichen 
Büchern trog allen Fleißes, aller Begabung, ja oft 
wirklichen Gedankenreichthums ein jo unerquidliches Ger 
präge gibt. 

Wir verlangen alfo nicht fir uns perjönlich, fondern 
für das Publitum und was bafjelbe ift, zum Nuten der 
großen und wichtigen Sache und fchlieglid auch zum 
eigenen Vortheil der jetst noch fo ungenügend zur Nation 
geitellten deutfchen Hiſtoriker eine völlige, veinlihe Ver⸗ 
arbeitung des Stoffe und verzichten dafür gern auf 
jene, wie jeder‘ wirklih Sadjverftändige weiß, doch mehr 
täufchende als wahrhafte Sicherheit gewährende Schein- 
quellenmäßigfeit und Scheingründlichfeit. Die wahre quellen» 
mäßige Begründung gehört an einen andern Ort und vor ein 
anderes Forum, vor dasjenige der wenigen Specialforfcher. 
Wir verlangen e8 in allen Büchern, die Anſpruch maden, 
Geſchichtſchreibung zu fein, aljo auch in den Biographien. 
Damit ift außer vielem andern auch das gewonnen, daß 
fi der äußere Umfang einer foldhen nicht ins Unabſeh— 
bare dehnt. Niemand wird es einfallen, hierfür ein be= 
ftimmtes Längenmaß als kanoniſch feitfegen zu wollen. 
Der Inhalt eines Lebens, die Befchaffenheit des Mate: 
rial8 und die Art des Darftellers werden bier immer 
einen weiten Spielraum beanfpruchen dürfen. Aber wir 
meinen, daß es wenige einer biographifchen Darftellung 
würdige Perjönlichkeiten gibt, deren Leben nicht inner- 
halb der Schranken eines ftattlihen Octavbandes wirk- 
ſamer und feſſelnder erzählt werden könnte als in fünf 
oder fechs Bänden. Wohl ift e& leichter, bei reichlich 
fließendem Material fo viele Bände zu füllen, als fich die 
ſchwierige Arbeit des Verdichtens und Concentrirens auf 
zuladen. Das Publikum empfindet aber mit Recht ge- 


Mathy's Leben von Guftau Freytag. 


rade umgekehrt und geht mit gefundem Inſtincte, wenn 
auch nod) immer mit einer gewiffen anerzogenen ehr- 
furchtsvollen Scheu, jenen monjtröfen Gebilden aus bem 
Wege, in welchen der Gefammteindrud der Geftalt, aljo 
das eigentliche Ziel, nothwendigerweiſe dem Geifte des an 
fie Herantretenden vor der Maſſe und Langathmigkeit der 
einzelnen Momente entfchwinden wird. Unfere Biographen 
icheinen aber noch guten Theil in der Findlic naiven 
MWeife der ägyptifchen bildenden Kunft ihr Handwerk zu 
treiben. Wenn diefe eine grandiofe Götter« oder Helben- 
geitalt darftellen wollte, jo glaubte fie e8 dadurch am beiten 
zu thun, daß fie ihr Ellenmaß weit über menfchliches 
Durchſchnittsmaß vergrößerte. “ 

Nur als felbitverftändliche Forderung fei noch bei« 
gefügt, daß man bei dem jeßigen Stand der Ausbildung 
unferer ſprachlichen Darftellungsfunft von dem, der fi 
für berufen hält, als Geſchichtſchreiber aufzutreten, auch 
erwartet, daß er lesbar ſchreibt. Die höchſte Stufe der 
techniſchen Vollendung der äußern Form kann und wird 
nicht jeder erreichen, aber bis zu einem mehr als erträg- 
Iihen Mittelmaß kann e8 ernfter Wille und fyftematifche 
Uebung hierin wie anderwärts ohne Trage bringen, und 
wenn fi) manche fogenannte Gefchichtichreiber noch immer 
felbft davon dispenfiren, fo hat wenigftens das Publikum 
feine Beranlaflung, ihnen bierin nachzuſehen. 


Wenn wir bisher einige der wejentlichiten Forderun⸗ 
gen an eine wirklich genügende Biographie kurz formulirt 
haben, fo ift e8 nur gefchehen, weil wir an einem gege- 
benen alle ihre volljtändige Durchführung nachzuweiſen 
in der erfreulichen Zage find. Mathy's Leben von Freytag 
leiftet alles, was nach der Befchaffenheit des Stoffs ge- 
leiftet werden konnte; es gibt ein volles, bis in die ein- 
zelnen Züge klares Bild des Mannes und feiner Um⸗ 
gebung, die zu feinem Verſtändniß nöthig ift, und es 
täut dies, wie faum zu jagen nöthig fein wird, in ber 
eleganteften und feinften Yorm der Darftellung, ohne daß 
dadurd) die Wärme und Energie des Bortrags beein- 
trächtigt wiirde. Eine kurze Wnalyfe weniger bes 
Inhalts als der Technik möge dies unfer Urtheil begrün« 
den helfen und, was noch wünſchenswerther ift, möglichft 
viele zum GSelbftprüfen und zum praftifchen Lernen an 
einem folchen wahrhaft vollendeten Muſterbilde antreiben. 

Allerdings kam dem Biographen Mathy's die Gunft 
befonderer Berhältniffe zu Hülfe, wie fie nur felten einem 
feiner Fachgenoſſen zur Seite ftehen. Perjünlihe Freund⸗ 
Ichaft, in der Reife des Lebens zwilchen beiden Männern 
gejchloffen, verband fie, bis der eine Freund durch einen 
immerhin frühzeitigen Tod dahinfchied. Der regte per- 
ſönliche Verkehr durch eine Reihe von Jahren, mit al 
den an ſich unfcheinbaren aber doch das Gemüth fo ſtark 
und tief erfaſſenden Beziehungen und Verkettungen 
der täglichen Gejelligkeit, und als diefe unterbrochen wurde, 
ein veger jchriftlicher Austaufh der größern Intereſſen 
nicht bloß, jondern auch der großen und fleinen Zufällig- 
feiten des gewöhnlichen Daſeins — welder Biograpf 
wird fo leicht im Befige eines ſolchen wahrhaft unver- 
gleihlihen Materials für feinen Helden fen? Dazu 
rehne man noch die völlige und unbedingte Weberein- 
ftimmung in dem, was ben eigentlichen ern von Mathy's 


Mathy's Leben von Guftan Frehtag. 83 


Thätigkeit ausmachte und was ihn im wahren Wortfinne 
zu cinem Helden. ftempelte.e ‘Der Biograph Hatte hier 
nicht, wie es wol fonft zu gejchehen pflegt, nöthig, ſich 
dur) DBermittelung ber Keflerion die Berechtigung des 
Weſens bei dem Manne zu erſchließen, deſſen Geftalt ihn 
vielleicht im ganzen und großen mächtig erfaßte, ohne daß 
er fich gerade in natürlich gegebener Harmonie mit ihren 
pfychologifchen Grundlagen oder mit den Zielen ihrer 
Thätigkeit fühlte. 

Ebenfo günftig ift e8 auch, daß Mathy's Lebenskraft 
fid) auf ein Feld concentrirte, das jett durch die Natur 
der Sache das allgemein zugänglichjte und in diefem 
Sinne populärfte if. Mathy war einer der erften unter 
dem deutfchen Volke diefer Zeit, die man ganz und voll 
Männer der Politit oder, wenn der Ausdrud nicht zwei⸗ 
deutig ift, Stantsmänner nennen kann. Für ihn freilich 
ft er nicht zmweidentig: wenn irgendjemand diefe ehren- 
vollſte Bezeichnung männlicher Thätigkeit verdiente, fo 
war er ed. Wohl aber möchten fehr viele damit allzu 
ehrenvoll benannt fein, die auch, wie er, ihre Haupt⸗ 
gefhäftigkeit auf Dinge gerichtet haben, welche zu dem 
Staate und der Politit gehören, gerade fo wie umgekehrt 
die meiften der Leute, welche in Deutfchland während der 
legten funfzig Jahre ex professo fi) mit dem Staate zu 
thun machten und zum Theil leider nod) jet machen, Staats» 
männer mit demfelben Rechte wie lucus a non lucendo 
genannt zu werden pflegen. 

Hätte fih der Biograph damit begnügt, den Staats⸗ 
mann Mathy in den verfchiedenen Phafen feiner eigenen 
Bildung und feiner Wirkſamkeit darzuftellen, fo würde 
er fich feine Aufgabe leichter gemacht, aber freilih auch 
auf die eigentliche Entfaltung feiner Kunft verzichtet ba- 
ben. Die Berfuchung dazu lag nahe und das gewöhn- 
liche Herlommen in unferer biographifchen Literatur ſprach 
dafir. Denn muftert man biefelbe von diefem Geſichts⸗ 
punkte aus, fo wird man finden, daß in den meiften 
Fällen, wo es fi) um die Darftellung einer Figur von 
bedeutender allgemeiner Wirkſamkeit, gleichviel welcher, 
politifcher, militärifcher, gelehrter, Tünftlerifcher, handelt, 
diefe allein oder faft allein herausgearbeitet iſt und der 
concrete Menſch oder das Individuum, von dem dies 
alle doc nur eine Ausftrahlung ift, darüber verfchwin- 
bet. Oder auch umgekehrt: der Biograph, in dem Bes 
fireben,, der concreten Befonderheit feines Helden völlig 
gerecht zu werden, vergißt darüber die Fäden, die ihn 
an das Allgemeine feffeln. Er verfudht wol auch fein 
Thun und Laffen, fein Denken und Arbeiten zu fehildern, 
aber fo, daß alle Strahlen davon wieder auf das Haupt 
bes einzigen zurüdfallen, woraus nothwendig folgen wird, 
daß eine ſolche Geftalt als ein undurchfichtiges Phänomen 
dem Beſchauer unverftändlid und im Grunde un— 
intereffant bleibt. 

Hier aber in dem Leben Mathy’s ift die wohlabge- 
wogene Berüdfihtigung und wahrhaft fünftlerifche Ber- 
srbeitung dieſer beiden einander ergänzenden, bedingenden 
mb erflärenden Momente nicht genug zu rühmen. 8 
war nicht leicht, denn nicht blos mußte die natürliche 
Schwerkraft des Gegenſtandes unwillfürlich zu einer mög- 
lichſt ausſchließlichen Betonung des einen antreiben, jon- 
bern das andere, das eigentlich perjünliche oder indivi⸗ 


duelle Moment möchte dem gewöhnlichen Auge als ein 
relativ einfaches und intereflelojes erfchienen fein. Denn 
es verläuft mit Ausnahme weniger Epifoden von drama⸗ 
tiſchem Effecte — der Flüchtlingszeit und der Lehrthä⸗ 
tigkeit Mathy's in einem Dorfe der Schweiz, und einigen 
pifanten GScenen des Revolutionsjahres 1848 — im 
ganzen im dem Geleiſe des einfachen dentfchen bürgerlichen 
Dajeins, und wenn e8 auch reich an Wechfelfällen mancher 
Art ift, fo liegen doch auch diefe alle innerhalb der 
Sphäre deffen, was jedem gefchehen kann. Der Biograph 
aber hat es verftanden, die ſchlichten Züge dieſes Lebens 
von einem Mittelpunkt aus zu verbinden und fie als bie 
natürliche Grundlage und zugleid) al8 die richtige Folie 
der öffentlichen Thätigkeit des Mannes zu verwerthen. 
So erfteht vor uns ein Bild, das nicht blos durch und 
durch belebt und pfychologifch verftändlich ift, fondern das 
auch als vorbildliher Typus für eine ganze mächtige 
Schar von Charakteren und Individuen, Gedanken und 
Ürbeiten der Gegenwart und der Zukunft erhebende, wir 
möchten fagen, erbauliche Bedeutung gewinnt. 

Der junge Mathy wurde von dem Schidjale auf feinem 
Wege nicht befjer behandelt, als Laufende feiner Genoffen, 
die, wie er, fich zu einem Eingreifen in die Gefchicke ihrer Na- 
tion berufen glaubten. Auch er wuchs auf in der vergifteten 
Luft der Reactionsperiode von 1815 bis 1830 oder 1848, 
und was das heißen will, weiß wenigftens die ältere 
Oeneration ber Lebenden, oder follte e8 wiflen. Wer bie 
damaligen Zuftände des deutfchen politiichen Lebens un- 
befangen erwägt, wird nicht fowol darüber ergrimmen, 
welche unverantwortliche Sünden die Regierenden an bem 
durch die Schuld der Vergangenheit rath» und führerlojen 
Geiſt der Nation verübt haben, als vielmehr, daß nicht 
diefer ganze Geift der Nation bis in fein innerftes Mark 
von umbeilbarer und ewiger Fäulniß zerfreffen wurde. 
Jene wiberwärtigen Erfcheinungen, womit der fchmuzige 
Schaum der Gegenwart die Blicke der ehrliebenden Pa- 
trioten noch täglich verlegt, jene am tonangebende 
Politiker und daneben auch an die welſche Jefuiten⸗ 
cligue verkauften Scribenten und Agitatoren , fie 
find nur die natürliche Frucht jener unnatitrlihen Mis- 
handlung einer gut angelegten, aber fchwerfälligen und 
findifch eigenfinnigen Volksſeele. Und felbft wenn folcher ' 
eigentliche Auswurf der Nation billigerweife nicht für dieſe 
felbft gerechnet werden darf, obgleich er in bedenklicher 
Weiſe bergehody auf- und in ihr lagert, fo Haben doch 
auch die Befjern und Beften fid) in einer ſolchen Atmofphäre 
nicht frei von dem Einfluß der Miasmen Halten können, 
deren Gift fuftematifch zur Verpeftung Deutfchlands ge— 
braucht wurde. In Mitte diefer Todkranken, Schwer- 
und Halbkranken arbeitet ſich die unantaftbare Friſche 
und reine Lebenskraft Mathy's wunderbar durch, begün- 
fligt neben feiner Anlage durdy die einfachften aber 
träftigften echt deutjchen Yörderungsmittel der Familie 
und der glüdlichen Häuslichkeit. Die fehwere Prüfung 
des Wlüchtlingslebens, der unzählige Charaktere bis zu 
diefer Stunde erlegen, arbeitet in ihm das Höchfte, mas 
überhaupt ein Mann erreichen Tann und was gerade 
deshalb fo unfcheinbar ausfieht, völlig durch: er wird, 
während die Genoſſen verkommen, ein Flarer Denker, ein 
Tenntnißreicher Urbeiter von raſtloſem Fleiße und ein 


11* 


84 Ein Humoriftifhdes Epos. 


durch und durch jelbftändiger, ehrlicher Charakter, und er ift 
alles dies, wie faum zu fagen nöthig, bis zum letzten 
Athemzug geblieben. Alle feine intellectuelle und fittliche 
Kraft konnte fortan, völlig geläutert, dem einen großen 
Biele jedes wahrhaften Mannes unferer Zeit dienen, der 
Mithülfe an der Gründung und dem Ausban des deut- 
Shen Staats. Ihm aber vor den meiften war es ver⸗ 
gönnt, zwar nur felten in anffälliger Weife, deſto mehr 
aber in planvoller und unermüdlicher Thätigfeit an einer 


entſcheidenden Stelle, auf ber äuferften Grenzwache gegen 
Welten, fo viel dafür zu thun, wie fein anderer von 
feinen Genoſſen, auch nicht von benen, die gleich wie er, 
frei von dem Dünkel des doctrinären Wefens, die Sache 
der Nation auch da noch als die einzige Richtſchnur 
ihres Lebens anfehen, wo fie durch die Gewalt der Dinge 
auf andere Bahnen gelenkt wurbe, als fie einft felbft ihr 
borzuzeichnen gewünſcht oder in ihrer Stubirftube für fie 
ausgeflügelt Hatten, Heinrich Rüchert. 


Ein humorififches Epos. 


Schach der Königin! Humoriſtiſches Epos von Ernft Edftein. 
Stuttgart, Kröner. 1870. 8. 1 Thlr. 

Wir haben eine bejondere Vorliebe fiir das Tomifche 
Epos, dem wir auch in der neuen Auflage unferer „Poetik“ 
eine eingehende Beiprehung widmen, hauptſächlich mit 
Anlehnung an die Mufter des vorigen Jahrhunderts: 
Boileau, Pope und Zachariä. „Ueberhaupt‘, heißt es 
dort (II, 144), „verdient das komiſche Epos in der 
Gegenwart wieder angebaut zu werben. Ueberall in ber 
Poetik ift es unfer Beſtreben, auf ältere Yormen Hinzu- 
weifen, die, längere Zeit vernadjläffigt und fcheinbar ver⸗ 
altet, nur des fchöpferifchen Talents Barren, welches den 
Geift der Gegenwart in fie hineinbannt; überall betonen 
wir wieder die ftrengere Kunſtform für ben jugendlich 
modernen Geift, ber feine jungdentfche Genialität endlich 
einmal ausfchänmen muß in derfragmentarifch-novelliftifchen 
Senilletonprofa, um auf allen Gebieten eine claffifche 
Sicherheit und Formenſchönheit zu erringen. Kleinere 
fomische Epen nah Pope’3 und Boileau's Mufter find 
für ein graziös modernes, an der feinen Eleganz des neu⸗ 
franzöfifhen Feuilletonſtils herangebildete® Talent gewiß 
eine willkommene Dichtform, die ſich durch die humori- 
ftifche Novellette nicht erjegen läßt. Denn das ideale 
Element, das einmal in der rhythmiſchen Form und im 
Reim liegt, läßt fi durchaus nicht als gleichgültig ver⸗ 
anſchlagen; es trägt auch bie komiſche Muſe, gibt ihr 
einen heiter phantaftifchen Schwung und ihren gelungenen 


- Wendungen eine dem Gebädhtnig der Nation fi ein 


prägende Form.“ Weiterhin bezeichnen wir als Gipfel- 
punkt des FTomifchen Epos das bumoriftifche, das in 
der derb⸗volksthümlichen Holzfchnittmanier der „Jobſiade“, 
als genialer Welt- und Lebensfpiegel aber in Byron's 
„Don Juan“ feine Mufter findet. Hier kann aud) die 
ernftere epifche Muſe ihren ganzen bichterifchen Reichthum 
entfalten; bier Tann ein großer Genius, ohne in bie 
Blafirtheit des weltmitden Lords zu verfallen, ein echt 
modernes Epos dichten, das künſtleriſchen Werth und 
Bolksthiümlichleit vereinigt. Ein Epos nad) diefem Mu⸗ 
ſter ift das Edftein’fche Gedicht, das wir als einen talent- 
vollen Verſuch zur Erneuerung der Dichigattung will 
kommen heißen. Freilich, die Gefahren des humoriſtiſchen 


Epos im Byron'ſchen Stil find nicht gering anzufchlagen, - 


wie uns dieſer Verſuch beweift. Die Hauptgefahr iſt die 
endlofe fubjective Redſeligkeit, das Plaudern ins Blaue 
hinein, in welchem der Humoriftifche Geift des Autors ſich 
mit vollem Behagen ergehen und glänzend bewähren Tann, 


welches aber doch zuletzt das ganze Gefüge der Handlung 
auflöft und das objectiv Komifche, das in der Situation 
liegt, ganz in den Hintergrund treten läßt. Damit ift 
zugleich eine Schranfenlofigfeit in der äußern Ausführung 
gegeben, welche jeden Abjchluß ins weite hinausſchiebt. 
Bezeichnend hierfür iſt es wol, daß das zweibänbige 
Gedicht des britiſchen Dichters, trog feiner zwanzig Ge- 
fünge, ein ganz unvollendetes Fragment ift, und daß 
dafjelbe mit Grazie in infinitum fortgehen Tünnte, ohne 
ein Ende zu finden. Gleichwol ift Byron’s „Don Yuan“, 
feinem Umfang entſprechend, ein Gedicht von einer 
Weltweite der Dimenfionen; es fpiegelt die Sitten ber 
verjchiedenften Völker, gibt uns auch Friegerifhe Schil⸗ 
derungen und fügt ein reizendes Xiebesidyll von ern- 
fterer Haltung in feine komiſchen Arabesten, in benen 
Heine Backhantinnen und nedifche Faune durcheinander⸗ 
taumeln, 

Das Gediht von Edftein ift aber für feinen Inhalt 
viel zu umfangreich; denn es ift im Grunde nichts als 
eine auf dem Profruftesbett des Humors ausgefpreizte 
fomifche Novelle. Es bietet ung Tein Weltbild von ums 
faflenden Dimenfionen, zeigt uns nicht wie Byron's 
„Don Juan“ die Sitte in ihrer verfchiedenen Geftalt bei 
verſchiedenen Nationen, ſodaß fie als abfolnte Macht ihre 
Hoheit einbüßt, indem die Sitten trinmphiren, ungera- 
thene Kinder Einer Mutter, die untereinander ſich gar 
nicht ähnlich fehen. Die Sitten, bie ‚uns Edftein ſchil⸗ 
dert, find die der deutfchen und italienischen Gefellichaft, 
und ift die Königin, welder der Humor des Dichters 
den Krieg erklärt, die Sitte (ein Grundgedanke, der nicht 
mit voller Klarheit aus ber Dichtung hervorgeht), jo 
paßte der Titel der Dichtung offenbar weit befier fiir den 
Byron'ſchen „Don Yuan“. 

Indeß ift es wol nicht des Dichters Abficht gewe⸗ 
fen, felbft der Sitte in ihrer abfoluten Herrlichkeit, wie 
e8 Byron gethan, den Krieg zu erflären; er führt uns 
nur einen Helden und eine Helbin vor, welche dies thun 
und daflir die gerechte Strafe erleiden. Hätte ſich der 
Dichter auf die Beziehungen des jungen Schweden Kurt 
zur ſchönen Baronin Marie befchränkt, und ung nur ge 
zeigt, wie die leßtere für die Verlegung bet Ehe dadurch 
beftraft wird, daß ſich ihr Liebhaber felbft von ihr ab⸗ 
wendet wegen einer vermeintlichen Treuloſigkeit, da fich, 
nur um fie zu compromittiren, der Philofoph und Ber 
diente außer Dienften, Armin, eine Nacht unter ihrem 
Bette verftedt, während auf der andern Seite der kühne 


Ein Humoriftifhes Epos. 


Ehebrecher Kurt dadurch beftraft wird, daß feine fpätere 
Gattin, die ſchöne Venetianerin Giulia, ihn mit gleicher 
Münze bezahlt — der Grundgedanke bes Gedichts wäre, 
getragen durch diefe Erfindung, die an und für ſich alles 
Lob verdient, weit ſchlagender hervorgetreten als jegt, wo 
die Nebenfiguren und bie Arabeslen des humoriſtiſchen 
Geplaubers ihn verdeden und faft erbrüden, darunter 
einige Luſtſpielcharaktere, wie die blauftriimpfige Tante, die 
uns in den Stüden von Benedir und andern bis zum 
Ueberdruß vorgeführt worden find. 

Für ein Epos, das eben einen ſolchen Novellenftoff 
aus dem focialen Leben behandelt, wäre aber die Form 
des Fomifchen Epos, wie fie Pope im „Lodenraub” 
muftergültig hingeftellt hot, ſchon wegen ihrer Kürze und 
Prägnanz geeigneter geweſen als die bes meitausholenden 
humoriftiichen . Epos von Byron, für welches wir ganz 
andere Perjpectiven verlangen müffen. Und fo wenig ber 
parodiftifche Charakter der lomiſchen Epen des vorigen Jahr- 
hunderts für umfere Zeit paſſen würde, da das ernfte 
Epos, das durch fle parodirt werden follte, jegt mit 
feinen Muſenaurufungen und feiner Göttermafdinerie 
auf den Ausſterbeetat gefegt ift, fo fehr würde dies klei ⸗ 
nere Epos dur eine frei erfundene inythologiſche Bele- 
bung von humoriſtiſcher und fatirifcher Bedeutung gewin- 
nen, wie fie Pope in feinem reizenden Vorbild mit fo 
vielem Glücke gewagt Hat. 

Wenn indeß das Beſſere der Feind des Guten ift, fo 
wollen wir doch das Gute keineswegs verfennen, welches 
wir in dem Epos von Edftein finden. Wir Haben ſchon 
bie Grundzüge ber Erfindung gerüßmt; bie Ausführung 
verräth einen durchaus formgewandten Dichter, der Verſe 
und Reime in den Dienft des Humors und ber Gatire 
puingt, aber aud; an ben ernfigemeinten Stellen über 
ben Reiz anmutbiger Lyrik gebietet. Die Ouverture der 
Dichtung mag beides zugleich beweifen, indem bie zweite 
Strophe derſelben als Probe für bie ernflere Dichtweife 
des Autors dienen Tann: 


Ich Habe Luft, end; etwas vorzufingen 

Ju ungewohnter, fremder Melodie. 

Nicht tief im Herzen wird fie widerklingen, 
Nur vor den Ofren rauſcht und tändelt fie; 
Sid recht zu fammeln, wird ihr nicht gelingen: 
Sie ſchweift und irrt, und claffif wird fie nie; 
Au) werben ihre flüdht’gen Tongefalten 

Nie eurer Meifter Farbenpracht entfalten. 


Dod wenn im Wer der Sonnenball verglommen, 
Dann grüßt man gern die Leuchte im Gemad! 

&s tommt im Blau der file Mond geſchwommen, 
Und ruft ber Sehnſucht Traumgefühle wa... . 
Sein Schimmer ſcheint dem Liebesleid zu frommen, 
Nachtwandler lockt er ſchwindelnd anf das Dad, 
Und mo der Flut verſchwiegne Nebel fleigen, 

Da ſchlingt die Eife lichernd ihren Reigen! 


&o wird mein Lieb dem Schwärmer nur behagen, 
Der ſich die Naht zur Königin erwählt, 

Der felten nur bei Feſten und Gelagen, 

Doch öfters in der Andachtſtunde fehlt; 

Der bebt und flöhnt, den Galafrad zu tragen, 
Der kühn die gem Ki Sanbgemenge ſtahlt, 
Und der von Weisheit, Wochenbett und Waſſer 
Ein unverföhnlih wuthentbrannter Hafer! 


85 


Die Jungfrau auch mit rofenrothen Wangen, 
Die gähmend nad) der Kinderlehre ſchleicht, 
Bird mit ber Unfhulb räthfelhaftem Bangen 
Durdjfliegen, was der Dichter ihr gereicht. 
Ansliefrung mag die Mutter zwar verlangen, 
Denn fie ertappt ihr Herzenslind vieleicht, 
Dod Herzen wird's von neuem ſich erhaſchen 
Und nun erft recht verbotne Früchte nafchen. 


Im Alltagsleben wurzeln meine Lieder, 

Ic rede juft, wie mit's vom Munde flieht. 

Bas mir die Welt gegeben, geb’ id; wieder, 
Gleichviel ob's euer Kunftgefetg verdrießt. 

IH ſchlage nie die Spötterblide nieder 

Bo blafje Furcht die Augenwimper fließt: 

Ein fharfes Urtheil Fränkt mid, nicht im mindeften; 
Die [Härfften find ja meiftens aud die blindeften. 


Mir dient zugleich das Hohe und das Niebre, 
Was fern und nah, was göttlich und gemein; 
Das Feile, Schlechte, Freble wie das Biedre 
Mifgt feinen Mang dem Tongebilde ein! 
Denn wenn ih rings das Leben mir zergliedre, 
Bo Kräfte nur im Gegenſatz gebeihn, 

As ob Natur die Fehde fid) entbiete — 

So fühl id; feine Schranken mehr im Liebel 


Die Dichtung beginnt in einem Bade; manche Epie 
foben bes Badelebens werden ung mit vielem Humor ge» 
ſchildert; ebenfo find die Typen der Badegeſelſchaft mit 
ſcharfer Komik ausgeprägt. Bei der Rucktehr von einer 
Bergfahrt wirft der Wagen um: die Schilderung dieſes 
Unfall8 möge zeigen, wie ber Dichter das Objectiv-Somifche 
behandelt: 


Schnell ging die Fahrt auf lichtbeglänzter Bahn, 
Denn in der Fülle wonnevoller Gluten 
Schwamm hoch der Mond im Stermenocean, 
Der Gondel glei auf dunkelblauen Fluten. 
Sein Schimmer macht fo märchenhaft, jo bleich, 
Die Damen fahen ſchwärmeriſch nad oben; 

Im Hauch der Naht wird jede Seele wei, 
Mit einem Wort: die Stimmung war gehoben. 


Ob mun Eugen, der, wie ihr wißt, kutſchirte, 
Sid, gleihfalis dieſer Stimmung überließ? 

Ob ihn die flarke Bowle infpirirte, 

Die Kurt ihn brauen und probiren hieß? 
Kurzum, er Bielt bie ſchlaffen Zügel kaum 

Und Tieß die Braunen ungehindert traben . . . 

D füge Naht! o zarter Frühlingstraum! 

O — Krach! und die Gejellihaft Tag im Graben! 


Hal wer befgjreibt dies Schreien, Brüllen, Zappeln, 
Das ſich umfonft im diden Schlamm erbon!? 

Dies Stöhnen, Stampfen, Stoßen, Treten, Trappeln, 
Das wilbverworren burdeinandertoft ? 

Wie ſchnell dem einen die Befinnung ſchwindet, 
Indeß ber andre ſich in Ruhe faßt! 

Das Schichal wirft zufammen, wen es findet, 

Und fragt nicht erſt, ob man zufammen paßt. 


‚Hier brüct der Propf mit kraftgeſchwolluen Teilen 
Den Bufen, ber ihn Heute noch verfhmäht; 

Dort drängt Eugen ben Babearzt mit Keilen, 

Bis er fein Stödchen mehr nad) unten dreht. 

Hier faßt Bob Gray mit todesbanger Miene 

Des Medienburgers dichtbehaarten Schopf; 

Dort ftedt in Peterfiliene Crinoline 

Des Habrifanten ſchredenebleicher Kopf. 


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Kurt lag Marien ziemlich dicht zur Tinten, 

Sie ſchien gefaßt und völlig unverleßt: 

Er fah zum Kuß die NRofenlippe winken 

Und dachte plöglih: wenn, — warum nidt jett? 
Bricht felbft der Himmel Über ihr zufammen, 

Die Liebe Tchließt im Tode noch ben Bund: 

Und mit der Jugend lebensvollen Flammen 
Berührte er ben Tiebewarmen Mund. 


Welcher Urt dagegen die humoriftifchen Plaudereien 
find, welche der Autor liebt und durch deren Tormlofig- 
feit und Endloſigkeit ſich allerdings auch der dünnſte 
Stoff noch bis zu golddrahtartiger Feinheit breithänmern 
läßt — dafür möge der Anfang bes achtzehnten Geſangs 
ein Beifpiel geben: 


Boeten, Prinzen, Priefter, Profefloren, 

Und bie ihr fonft mein Heldenlied befeift, 

Weil ich des Flachlands Butterweg verloren 

Und durch der Freiheit Alpenmwelt geichweift, 
Weil ich der Neuheit Fenrergeift beichworen, 

Den Geift der Zukunft, ben ihr nicht begreift — 
Ihr werdet jetst des Blödfinns ganze Macht ſehn 
Die Ohren auf: Es fommt Kapitel achtzehn! 


Birgil befang das thränenreiche Troja 

Und Dido’s rothen minnigliden Mund; 

Denn Maro war ein Dichter comme il faut ja, 
Der fattfam auf bie Epik ſich verflund; 

Doch driſcht and) er mitunter eitles Stroh ja, 
Und Hatfcht und quatſcht und fafelt ohne Grund, 
Und feine Rede Hingt wie Madagaſſiſch ... 

Wer fragt danach? Cr bleibt body immer claffiich. 


Ich finge nit von Dido’s ſtillem Grame, 

Nicht von Askan's rnbinenhellem Blick; 

Ein übler Ruf verläftert diefe Dame, 

Auch war ihr Sohn ein ungezogner Strid. 

Und Dido! wel ein abgefhmadter Name! 

Man bat im Reimen fiber doch Geſchick — 
Man reimt anf Hannjuft, Philipp oder Guido — 
Wer aber findet Reime mir auf Dido? 


Ich finge nicht, was abends fie zum Thee af, 
Ob man gedämpfte Morcheln ihr fervirt, 

Ob fie zum Frühſtück Fiſche aus der See af, 
Und wer bei größern Feſten fie frifirt. 

Ya felbft der edle Zrojerfürft Aeneas 

Wird nit durch mi mit Heldenruhm geziert; 
Sie find für mid) zu leblos und zu flarr beide, 
Weshalb ich fie im Epos nicht verarbeite. 


Wenn's bei Birgil nur ausnahmsmeife vorlommt, 
Daß Blei fih unters Goldgeſchmeide miſcht; 

Daß unter Weißen plump einmal ein Mohr fommt, 
Der grinjend fi) die Doggennafe wiſcht; 

Daß unter Kingen blind einmal ein Thor kommt, 
Der über böhre Weltideen ziſcht; — 

So ift bei mir der Blödfinn ftete Regel: 

Ich freie nur vor ®...... pP nod die Segel! 


Oft parobirt der Dichter die Art und Weife ber 
modernen Romandichtung; fo wenn er uns dad Duell 
zwifchen Kurt und dem Baron am Anfang bes elften 
Gefangs jchildert, von defien Vorbereitungen im vorher- 
gehenden mit feinem Wort die Rebe war, und uns gleich) 
in medias res führt: 

Bir find zur Stelle; hier bie Wurzellante, 
Und dort der Blick anfs neue Babylon: 

Es ift der Pla, den Yellow mir benannte, — 
Und jetst Geduld und Faltes Blut, mein Sohn. 


1% 86 Ein humoriſtiſches Epos. 


Er ſchießt nicht ſchlecht, ich fag’ es unverhohlen, 
Indeß ich Hoffe viel von Ihrem Muth. 

Da kommt man ſchon: Bob Gray trägt die Piſtolen, 
Er ſcheint mir bleih ... . noch einmal: Kaltes Blut! 


Es Tiegt in der Eigenthüimlichkeit diefer Dichtweife, 
daß uns ber humoriſtiſche Kommentar nirgends erlaffen 
wird, indem der Autor nicht das Zutrauen zu dem Lefer 
befitt, er werde aus eigenen Mitteln biefen Commentar 
zu ergänzen willen. So parabafirt ber Dichter auch 
bier gleid) in ben nächften Strophen: 


„In medias res!’ Daß dies die erfle Regel 
Gediegner Kunft und wahrer Epik ift, 

Dezweifelt heutzutage nur ein Flegel, 

Und was er fchreibt, da8 wirft man auf den Mift. 
Ich babe nie dem Pöbelwahn gehuldigt, 

Der feinem Blödfinn eigne Regeln lieb, 

Wenn aud) mein Onkel Hempel mic beſchnldigt, 
Ich fei ein „ur-verbummeltes Genie“. 


Drum fiel id), um mid) deutlich auszudrücken, 
Schon gleid zu Anfang mit der Thlir ins Hans. 
Dies follte, dächt' ich, Hempeln felbft entzliden, 
Streit er auch fonjt mir alle Strophen aus, 
Ich ftellte gleich die beiden Duellanten 
Herzflopfend — bang — einander vis-a-vis, 

Ich bitte alle Onkel nun und Zanten! 

So macht's doch Fein verbunmeltes Genie! 


Weiterhin perfiflirt er die Sprünge nad) rückwärts, 
welche unfere Romandichter Lieben; er läßt bie beiden 
Duellanten einander gegenüberftehen und erzählt dann 
erit die Beranlaffung zum Duell, die Reife nad) Ham- 
burg und Helgoland, auf welder Kurt die junge Frau 
begleitete und fich ihrer ſchrankenloſen Gunſt zu erfreuen 
batte, und mie ein Zufall die Entbedung dieſer Treu 
loſigkeit herbeiführte; auch hierbei fchenft er und die Pa- 
rabafe nit: 

Set, um euch recht ergreifend zu erzählen, 
Wie's zum Duell nad) diefer Reife kam, 

Laßt mic der Bremer fromme Weife wählen, 
Die ich jo oft zum edeln Borbild nahm. 

Sie weiß den Thee fo prächtig zu bejeelen, 

Ihr Hauch verflärt fo magiſch Milh und Rahm 
Und wedt des Durftes glühendfle Gelüſte, 

Daß ich nichts Beſſres eud) zu bieten wüßte. 


Acht Tage rüdwärts müßt ihr euch verjeßen, 

Für deutſche Lefer fiher nicht zu ſchwer! 

Autoren, die fonft nie den Takt verlegen, 

Erlauben ſich ja Heutzutage mehr. 

Es ift fo nett, fich tändelnd zu ergößen, 

Man Hüpft und fpringt und ganfelt freuz und quer, 
Auch rlidwärts, vorwärts, rlüdwärts und fo weiter, 
Ich finde dies unendlich nett und heiter. 

Die Verſe find ottave rime, aber fo frei behanbelt, 
daß nur die Kleinere Hälfte der Strophen mit dem Drei- 
Hang des Reims geziert ift, während die größere fich 
davon emancipirt. Dennoch ift die freie Behandlung der 
Strophe, wie fie Wieland in feinem „Oberon” und Schil⸗ 
ler in der Ueberfegung der „Aeneide“ angewendet hat, 
vermieden, und der fünffüßige Jambus, mit Ausnahme 
weniger Strophen, conjequent beibehalten. Die Aus- 
nahmen werden gerechtfertigt entweber durch eine ono- 
matopdiiche Malerei, wie wenn Anapäfte an die Stelle 
der Jamben treten, bei Schilderung der Seefahrt und 
des ſchwankenden Schiffs: 


Literarifhe Ergebniffe ber Humboldt⸗-Feier. 87 


Und Fatfchender immer begann e8 am Steuer zu jhlitteln, 
Und fchallender immer im mächtigen Kampfe zu tofen, 

Und patichender, platjhender immer die Planken zu rütteln, 
Und wallender immer den prächtigen Dampfer zu ftoßen, 
Marie verfpürte ein eigenes Zittern im Magen, 

Weshalb fie ein Schnittchen mit Butter verzehrte und Thee trank; 
Doch gab ihr der Tranf und die Speife kein volles Behagen; 
Sie hauchte noch einmal: ‚Beliebter !" dann wurde fie ſeekrank. 


Oder der geflügeltere Rhythmus wird motivirt durch 
den größern Schwung der Darftellung, wie in jener 
Situation, wo Armin die fich entkleidende Schöne be- 
lauſcht: 


So ſei's denn begonnen, das Lied von der holden Entkleidung, 
Auch dich, mediceiſche Venus, umhüllt ja kein Hemd, — 
(Es fei denn die Hand, die in zarter, verwegener Deutung 
Roc ſehr par distance bie blühenden Reize umklemmt). 
Set, da fie fih naht, der Erzählung fatale Eutſcheidung, 
Jetzt kräftig den Schenkel dem Roß in die Flanken geftemmt 


Kiterarifche Ergebniſſe 


1. Alexander von Humboldt. Feſtrede bei der von den natur» 
wiffenfhaftlichen Vereinen Berlins veranftalteten Humboldt⸗ 
Feier am Säculartage gefproden von A. Baſtian. Ber⸗ 
iin, Wiegandt und Hempel. 1869. Ler.-8. 7, Nor. 

3. Gedüchtnißrede auf Alerander von Humboldt. Gehalten in 
der Öffentlihen Situng der königlich preußifchen Akademie 
der Wiffenfchaften zu Berlin am 1. Juli, dem Leibniz⸗Tage 
des Jahres 1869. Bon H. W. Dove. Berlin, Dümm⸗ 
fer. 1869. Gr. 8 71% Nur. 

3. Briefe von Alerandber von Humboldt an Chriftian 
Karl Yofias Freiherr von Bunfen. Leipzig, Brockhaus. 
1869. 8. 1 Zhlr. 10 Ngr. 

4 Im Ural und Altai. Briefwechſel zwiſchen Alerander von 
Humboldt und Graf Georg von Eancrin aus den Jahren 
1827—32. Leipzig, Brodhaus. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 
10 Ror. 

5. Briefwechſel Alerander von Humboldt's mit Heinrih Berg⸗ 
hans aus den Jahren 1825—58. Zweite wohlfeile Jubel⸗ 
ausgabe. Drei Bände. Jena, Coftenoble. 1869. G©r. 8. 
2 Thlr. 15 Ner. 

6. Wlerander von Humboldt. Biographie für alle Bölker der 
Erde von Otto Ule. Berlin, R. Leſſer. 1869. 8. 10 Ngr. 

7. Alexander von Humboldt. Ein Lebensbild für Jung und 
Alt. Bon Ferdinand Schmidt Berlin, Kaſtner. 1869. 
16. 7A Rgr. 

8. Werauder von Humboldt und feine Bedeutung für Bolls- 
bildung. Eine Feftichrift zu feinem hHundertjährigen Geburte- 
tage am 14. September 1869. Bon Rudolf Benfey. 
Berlin, Albredt. 1869. Gr. 8. 10 Ngr. 

Es war ftil am Humboldt-Zage in Tegel. Weber 
dem See lagen graue Nebel; der Herbitwind jagte das 
Laub von ben Bäumen ber großen Tindenallee, als wir 
den Hügel binauffchritten, um Opfer zu bringen am 
Grabe bes großen Todten. Kaum eine Seele durchwan⸗ 
derte den weiten anmmthigen Park, aber da8 Grab war 
von der Familie geſchmückt mit ben Blumen des Herbfteg, 
und Thorwaldſen's Statue der Hoffnung ſchaute herab 
auf die Feine Schar, die pietätvoll hierher gewallfahrtet. 
Aber wir waren fo ziemlich die einzigen, die von Berlin 
hinausgezogen — das Boll war biefer Stätte fern ges 
Itieben. Das hatte feine Freude unter Sturm und Res 
en im neuen Humboldt⸗Hain, dem Bart der Zukunft, 


- ‚nferer Literatur zu wünſchen ift. 


Und luſtig in Metren gewechfelt und fröglichen Tönen, 
Denn felbft das Berbotne vermag noch Apoll zu verichönen. 

Auch findet fih eine Strophe mit vierfüßigen Jam⸗ 
ben, wofür wir indeß feinen rechten Grund abfehen 
fönnen. 

Da der Humor des Dichters geiftreih ift und mit 
jprühenden Schwärmern und prafjelnden Raketen glüd- 
lich feuerwerkt, auch eine Menge Üiterarifcher Bezüge in 
fein Werk hineingeheimnißt, da die Form das ſeicht Triviale 
vermeidet und hier und dort bdichterifchen Adel gewinnt, 
jo muß man das Edftein’fche Epos immerhin als einen 
ſchätzenswerthen Verſuch auf dem Gebiete komifcher Dich- 
tung betrachten, die fi in neuer Zeit der gefchloffenen 
Form und lapidaren Prägnanz bes Metrums und Reims 
mehr entäußert bat, als im Intereſſe der Entwidelung 


Audolf Gottſchall. 


der Aumboldt- Feier. 


gefunden. Da ftanden fie zu Taufenden, Kopf an Kopf, 
bie Gewerke mit ihren Bahnen, die Zimmerlente mit Art 
und Schurzfel und falfchen Bärten — und zeigten ſich. 
Mas war ihnen Humboldt! Täuſchen wir und boch nicht; 
dem Volke ift Humboldt doch nur ein Name geblieben, es 
empfängt indirect die Segnungen, bie er auögeftreut; er 
felbft liegt ihm fern. Uber wieder anders geftaltete fich 
das Bild in der feierlichen Berfammlung, die im Concert- 
faale bes Föniglihen Scaufpielfaufes auf dem Gens⸗ 
darmenmarkte ftattfand; dort hatte ſich zufammengefunben, 
was Namen und Ruf in Berlin befigt, die Spigen ber 
Behörden, die Koryphäen aus dem Reich der Wiflenfchaft, 
alle8 was wahr und wirklich an dem Heroen des Geiftes 
Bing, dort vernahm auch die illuftre Derfammlung das 
größte und fchönfte Denkmal, das Humboldt je geſetzt 
wurbe, das Hohelied — denn fo möchten wir Adolf Ba- 
ſtian's „Feſtrede“ (Nr. 1) bezeichnen. Baſtian fchien 
uns an biefem Tage ein anderer. Wie fchwer war es 
uns nicht immer geworden, uns durch feine von immenfer 
Gelehrſamkeit zeugenden wuchtigen Werke, dieſe Toloffalen 
Stofffammlungen, hindurchzuarbeiten. Und Beute! Leicht 
und fließend, im edelften Rhythmus glitt die Sprade 
dahin, oft fich bis zum begeifterten Dithyrambus erhebend. 
Nicht Humboldt allein führte er uns vor, fowie bie an- 
dern alle, die über ihn jett gefrhrieben. Er griff in bie 
fernfte Gefchichte des Menfchengefchlechts zurück und zeich- 
nete uns die Cultur⸗ und Weltftellung des Mannes, der 
zum Bertreter unferer Seitepoche wurbe und auf der breis 
ten Unterlage vergleichender Willenfchaften ein feftes und 
fihere8 Fundanıent legte, um den Tempel des harmoni⸗ 
chen Kosmos inductiv zu erbauen. Humboldt, fo fagte 
Baftian richtig, wollte uns Fein Syſtem geben, fondern 
eine Methode, die Methode ununterbrochener Fortbildung 
im Bereiche des Geiſtes. Spfteme find ephemer, feine 
Methode dagegen ift dauernd für alle Zeit, weil organi« 
ſcher Fortbildung fähig. 

Baſtian's Rede mußte ſchon naturgemäß vor allen 
ndern hervorragen, denn er ſebſt hatte ja etwas voraus, 


— 








Ser 





was andere ſich nicht zu geben vermodten. Er, der am 
weiteften gereifte Mann, der gegenwärtig lebt, war aud) 
alle die Bahnen — in der Alten wie in der Neuen 
Welt — gegangen, die Humboldt felbft einft gewandelt, 
und fo famen ihm bei der Beurtheilung zugute feine An- 
fhauung der Urwälder und der Gordilleren Amerikas, 
die Kenntniß der Steppen und entralgebirge Afiens. 
Auch er Hat die großen Eindrüde der Urwälder empfun- 
den, die nach ihm fo maßgebend fiir Humboldt's Ent» 
widelung waren: 

Während die Titanen und Giganten, groß an Geift, dod) 
ungeftalt und ungeſchlacht in ihren Gliedern, im Federkampfe 
Europas heiß und zornig miteinander ftritten, im lauten Feld⸗ 
geſchrei — war in den Urmäldern Amerilas die Geburt des 
Dlympiers vollzogen, der harmoniſch im Ebenmaß ber Propor- 
tionen ans Licht treten follte, im Architelten des Kosmos in⸗ 
carnirt. Er brachte uns als Frucht feiner Meditation die Grund 
züge der Bee die Harmonie des Kosmos, 
unter deren im einheitlichen Wohlklang zufammentönenden ®e- 
fegen bie neue Reltauffaffung ihrem Abſchluß entgegenreifen 


wird. 

Noch vor Baftian hatte am Leibniz⸗Tage vor der 
Akademie auch einer der Fürften in ber Welt des Geiltes, 
9. W. Dove, geſprochen (Nr. 2). Auf ihn, den Me- 
teorologen, war die Wahl der Akademiker gefallen, Hum⸗ 
boldt zw ehren; aber er bemerkt, auf jeden aus der Zahl 
der Mitglieder hätte die Wahl gelenkt werden Tönnen: 
denn welchen Weg auch defien befondere Studien genom- 
men, man fonnte ficher fein, daß Humboldt’8 Arbeiten 
ihm dieſen geebnet. Dove fchildert Humboldt's Bedeu⸗ 
tung, indem er an befjen Leben anknüpft, das er in 
großen Zügen vorführt. Reichen feine perfönlichen Er- 
innerungen auch nicht in bie Jugendzeit des Gefeierten 
zurück, fo Hat er ihm fpäter doch nahe genug geftanden, 
um manches bisher Unbelannte bei diefer Gelegenheit mit« 
theilen zu können. Er ſchildert jene deutſche Naturfor- 
ſcherverfammlung zu Berlin, die wol als die bedeutendfte 
in der langen Reihe bafteht und die fich felbft ehrte, indem 
fie Humboldt zu ihrem Borfigenden ernannte, neben dem 
dann Männer wirkten, wie Leopold von Buch, „Fr deſſen 
Auge die Erdoberfläche durcchfichtig geworben“, und Gauf, 
auf deſſen hoher Stirn das ftolze Wort des Paraceljus 
gefchrieben ftand: „Engländer, Franzoſen, Italiener, ihr 
mir nad), nicht ich euch!" Aber beide Ausfprüche können 
wir aud) von Humboldt gelten Laffen, über deſſen An- 
erfennung in der Heimat und Fremde Dove viele neue 
Belege mittheilt: 

Wer Paris verläßt, ift dort bald vergefien; Humboldt nicht. 
„Site haben‘, fagte mir bei der erfien Induftrieausftellung in 
Baris ein franzöfticher Gelehrter, „bei dem Einzuge der Königin 
von England gejehen, wie wir Könige empfangen. Sagen Sie 
Hrn. von Humboldt, er möge nod einmal nad) Baris fommen, 
und die Welt wird jehen, wie wir den König der Wiſſenſchaft 
zu ehren verſtehen!“ Als ich mid) meines Auftrags entledigte, 
entgegnete Humboldt: „Ich kann es nicht; Ihnen brauche ich 
nicht zu jagen warum.“ 

Daß Dove in feiner Rede feiner fpeciellen Wiffen- 
Schaft, der Meteorologie, eingehende Beachtung widmet, 
foweit fie mit Humboldt zufammenhängt, ift ganz natür⸗ 
ich, und hier nimmt er Öelegenheit, einigen verbreiteten 
Irrthümern entgegenzutreten. Durch Verbindung der 
Waärmeabnahme nad) ber Höhe mit der Temperatur⸗ 
erniedrigung bei zumehmender geographifcher Breite ent» 


88 Literarifhe Ergebniffe ver Humboldt-Feier. 


warf Humboldt befanntlih den Durchſchnitt ifothermer 
Flächen von den Gebirgen in einem durch den Meridian 
gehenden Duerjchnitt des Luftkreiſes. Schließlich zeigt ex, 
daß, wenn man in ähnlicher Weife die Unterfuchung für 
Sommerwärme und Winterfälte durchführe, indem man 
Hothermen und Iſochimenen entwerfe, man die Eigen 
thümlichkeit des See» und Continentalklimas in die Dar- 
ftellung aufnehmen kann. „Dieſe Linien felbft hat er nicht 
entworfen, jo oft fie auch von denen angeführt werben, 
die, Humboldt’8 Namen ftets im Munde führend, doch 
nie feine Schriften gelefen, fonbern ihre Kenntniſſe nur 
den conjequent voneinander abjchreibenden Lehrbüchern ver- 
danken.“ 

Sehen wir ab von den für die weiteſten Schichten des 
Volks beſtimmten Schriften, auf die wir am Schluſſe 
zurückkommen, ſo ſind dieſe beiden Reden das Wichtigſte, 
was iiber Humboldt gelegentlich feiner Säcularfeier an 
die Deffentlichfeit getreten ift. Aber auch von Humboldt 
jelbft Haben wir Nachträgliches erhalten. Es find Teine 
Griffe in den Papierkorb geweſen, wie fie fonft bei ähn⸗ 
lichen Gelegenheiten gethan werden, fondern vollwichtige, 
Humboldt’8 Leben und Werke wejentlich bereichernde und 
ergänzende Exfcheinungen, die von ber Firma F. U. Brod- 
haus dem deutfchen Volke als Feſtesgaben geboten wurden, 
Führt und der DBriefmechfel Humboldt's mit Bunſen 
(Nr. 3) den Menfchen näher, fo gibt uns das von ber 
ruſſiſchen Heife bandelnde Werk: „Im Ural und Altai“ 
(Nr. 4), wichtige Aufſchlüſſe über die gelehrten An- 
ſchauungen Humbolbt’8 und ergänzt in erfrenlicher Weife 
einen Abſchnitt aus feinem Leben, über den wir bisher 
zumeift auf Roſe's Reiſewerk angewiefen waren, burd) 
eigene Aufzeichnungen. 

Infolge der Veröffentlichung von Varnhagen's „Tages 
büchern“ bat man fi daran gewöhnt, Humboldt und 
Bunfen gerade nit als Freunde zu betrachten. Dort 
finden fid) Aeußerungen Humboldt's, welche keineswegs 
günftig fir Bunfen lauten. Hier aber, in 92 Briefen, 
die fich über den Zeitraum von vierzig Jahren erftreden, 
1816 beginnen und 1856 fchließen, lefen wir nur Worte 
der größten Anerkennung und Werthihägung für Bunſen. 
Der ungenannte Herausgeber hat recht, wenn er im Nach⸗ 
wort hervorhebt, daß darum der Vorwurf der Zweibdentig- 
feit auf Humboldt's Charakter noch nicht gewälzt werben 
könne, daß vereinzelten Aeußerungen gegenüber diefe lange 
Reihe wahrhaft freundfchaftlicher Briefe ſchwerer ins Ges 
wicht falle, und daß jene die fchlimmften Berleumder 
feien, welche unfere Augenblide verzeihlicher Gereiztheit 
und? Schwäche benugen, um uns Worte abzulanfchen, 
die den bleibenden Zügen unſers Charafter8 fo wenig wie 
der Wahrheit entfprehen. Wenn wir Worte Humbolbt’s 
für Bunfen finden wie biefe: „Ich kann diefem Briefe 
nicht mehr anvertrauen, al8 den ernenerten Ausdruck mei- 
ner tiefen Hochachtung für Ihre Oefinnung, Ihr edles, 
freies, Fräftiges Wirken“ — dann müfjen die Gegenftim- 
men jchweigen. Und ſolche Aeuferungen find Häufig im 
Briefmechfel. 

Die farkaftiiche Seite Humboldt’s, an ſich der Sitte 
der Zeit entiprechend, tritt auch im diefem Briefwechfel 
hervor; fie ift e8, welche nad) feinem Tode vielfach zur 
Caricatur verzerrt dem Publifum dargeboten wurde. Aber 


Literariſche Ergebniffe der Humbolbt-Feier. 89 


auch zugegeben, daß ber, welcher fein ganzes Leben Hit 
durch für andere fi abmühte, manchmal im lebhaften 
mündlichen ober ſchriftlichen Verkehr das Maß überfchrit- 
tem, das er im dem dom ihm felbft veröffentlichten 
Schriften ſtets ftreng einzuhalten verftand, follten wir 
darüber doch nicht die edeln Geiten feines Charafters, 
die tiefen Gefühle feines Herzens vergefien. Und wie 
trifft er bei ſolchen ſcharfen Aeußerungen doch gewöhnlich) 
den Nagel auf den Kopf! Bunfen fol von Humboldt 
bei Friedrich Wilhelm III. eingeführt werben. Der Fürft 
Bittgenftein erläßt an erftern bie nöthige Kleiderorduung, 
worüber Humboldt fchreibt: „Gewöhnlich find die wenigen 
Perfonen, die der König empfängt, in Brad und rundem 
Hute; doch wage ich für Sie nicht über ſo wichtige Dinge 
zu entſcheidea.“ Es handelte ſich um Schelling s Beru- 
fung nad) Berlin, welchen Humboldt den „geiſtreichſten 
Manır unſers Vaterlandes“ nennt, und die auch der Kron- 
prinz, der nachmalige König Friedrich Wilhelm IV., 
befürwortete. Welde wenig beneidenswerthe Rolle der 
Minifter von Altenftein hierbei fpielte, ergibt der Briefe 
wechſel, den man über diefen intereffanten Fall nad- 
fefen möge. . 

Ueber Friedrich Wilhelm’s IV. Verhältniß zu Humboldt 
finden wir eingehende Nachrichten. So fehr er an dem 
geiftreichen Monarchen Hing, ift er doch nicht blind für 
defien Fehler. Kurz nach defien Thronbefteigung heißt 
es: „Sein allgemeines Beitreben ift, fi) von den aus- 
gezeichnetten Männern deutſcher Nation zu umgeben, und 
diefe Richtung, mein theuerer Freund, ift der Gegenſtand 
dieſer Zeilen.” Nun wird über die Berufung von Cor · 
nelius, Felix Mendelsſohn, Nüdert’s, beider Grimm 
gefprochen. „Der König”, heißt es an einer andern 
Stelle, „ift beffer und fteht geiftig höher als alle, die ihn 
umgeben. Möge er ſich endlich Werkzeuge zum Handeln 
ſchaffen und Muße unter dem Drange der täglichen klei⸗ 
nern Geſchafte, die man ihm aufdrüngt.“ ber fieben 
Jahre fpäter, als der Vereinigte Landtag berufen wurde, 
als Friedrich Wilhelm IV. in der Halbheit fteden blieb, 
urtheilt Humboldt folgendermaßen: 

Benn man lebhaft mit dem Ruhme eines fo hochbegabten 
zein menſchlichen Königs befhäftigt ift, wenn man fo fehntichft 
ihm allgemeine Anerkennung wünfcht, fonnten die Ergießungen 
am 11. April (bei Eröffnung des Vereinigten Landtags) nur 
fhmerzen. Ich mar zugegen. Die Beftürzung war allgemein, 
felbft bei denen, melde an der änferflen Grenze des Ariftofra 
tiemus fiehen, Ace, was verwunden mußte, war zufammen- 
gehäuft, und bei dem @indrude, dem die aufgeftellten Priu⸗ 
Cipien machten, blieb für den Eindrud, den jonf immer die 
edle Freimlithigkeit Hervorbringt, fein Raum. 

Noch trüber werden Humboldt’8 Aeußerungen in der 
Reactionsperiode, und er läßt Hier feine Gelegenheit vor- 
übergehen, um feinen Unmuth über bie Sreugzeitungs- 
partei auszufpredhen. Das ift bie Partei, bie ihn „müthig 
Haft“, der er „ein alter tricolorer Lappen“ ift. Bittern 
Ausdrud gibt er feinen Gefühlen am 14. September 1850: 

Ic, ſchreibe diefe Zeilen an einem ernflen Tage, an meinem 
vorfündflutlichen einundadhtzigften Geburtefeſt, einer Zeitepode, 
in der, zwar dur die Gnade Gottes einer unbegreiflic feften 
Gefundheit und großer Arbeiteliebe geniegend, ich doch in etwas 
trüben Wefen in mich hinein und um mid) Herblide. In einem 
folhen Zeitabfehnitt denkt man an dag wenige, das man voll- 
indet, man denkt an die politifchen Vebrängniffe und Elendig- 

1870, 6. 





feiten der Zeit, am alles, was ein Menfd; meiner Färbung 
feit 1789 gewünſcht hat. 

Nicht minder Herb lauten dann bie Aeußerungen über 
den Eultusminifter von Raumer, ben er mit dem Füfle 
lichen Worte „eifige Beichränftheit” charalteriſirt, über 
den „eibbrüchigen Gewaliſtreich“ in Frankreich, über das 
ganze Gebaren deö zweiten Kaifertfums. Erquidlichern 
Bildern begegnen wir, mo es fih um bie Förderung 
wiffenfchaftlicher Unternehmungen aller Art Handelt. Hier 
war Humboldt unermüdlich, und Bunſen's wichtige Stel 
tung in Rom wie in London, fein weitreichender Einfluß, 
feine vielen perſönlichen Beziehungen wurden eifrig ause 
genutzt. Kaum irgendeine der bedeutenden Erfcheinungen 
auf den Gebieten der Wiſſenſchaften und Kitnfte bleibt in 
dieſem Briefwechfel unberüprt, für Lipfius und Brugſch, 
die Schlagintweit und Mar Müller, Reinhold Roft und 
Dieterici, den Bildhauer Hähnel u. f. w. finden wir 
Wohlwollen, Förderung. 

Wiegen in diefem Vriefwechfel allgemein wifjenfchaft« 
liche, perfönliche und politifche Beziehungen vor, fo führt 
ung die Correfpondenz Humboldt’8 mit dem ruffifchen 
Grafen Eancrin auf ein ganz fpecielle8 Gebiet. Sie hans 
deln nämlid von der ruſſiſchen Reife, die Humboldt bes 
danntlich im Auftrage des Kaifers Nitolaus machte und 
die für die Wiffenfhaft wie für Rußland insbefondere 
von fo wichtigen Folgen war. Die Herausgeber der 
Briefe, Dr. W. von Schneider und Hofrath W. — in 
Petersburg, haben gleichzeitig die auf jene Reife bezüglichen 
Acten des ruſſiſchen Sinanzminifteriums benuten dürfen 
und durch beigefügte Actennachweiſe das vorliegende Werk 
zu einem abgeſchloſſenen Ganzen geftalten Können. 

Angefnüpft wird ber Vriefwechfel dadurch, daß der 
Finanzminifter Cancrin an Humboldt neue ruſſiſche Platin« 
münzen fchidte und ihn über deren Werth als Verlehrs⸗ 
mittel befragte. Hier zeigte ſich nun gleich Humboldt's 
Scharfblid, indem er von vornherein die Ausprägung 
folder Münzen widerräth, die befanntlich auch fpäter aus 
dem Verlehr zurüdgezogen werben mußten. Humboldt's 
vollswirthſchaftliche Anfhauungen waren ungemein ſchla- 
gend und ftellten 1827 bereits, wo die internationalen 
Beſtrebungen unferer Tage noch unbelannt waren, all» 
gemeine Weltmünzen in Ausfiht. Provinzialmünzen, meint 
Humboldt, könne es nicht mehr geben; ein faft unermeß ⸗ 
liches Reid), wie das ruſſiſche, ſcheine freilich zu ſolchen 
Berfuden geeignet, aber ganz infelförmig abgefchloffen ſei 
es doch nicht; der Handel dringe auch über feine Gren⸗ 
zen. Außerdem Halte e8 ſchwer, nad; Jahrtauſenden ein 
neues Metal als bequemes Umtaufchmittel allgemein gel« 
tend zu machen, das in Bezug auf Verbrauchswerth mit 
Gold und Silber nicht zu concurriren vermöge: 

Im großer Maffe erzeugt und vermünzt, von der fabrif- 
artigen Anwendung faft- gänzlid; ausgeidfoffen, wurde die Pla» 
tina, als Diünze in einem Staate angehäuft, ein fhweres, un» 
bequemes Papiergeld werden, und der fo wohlthätig beabfid- 
tigte Zwed, den Befigern der Bergwerke dadurch zu nißen, 
daß man ihnen für das rohe Erzeugniß Platinamlnze Lieferte, 
würde dann gänzlid, verfehlt. Wenn a daher nicht geneigt 
feine, eine eigentliche Münze, welche in Taiferlichen Kaffen 
angenommen würde, amzurathen, fo bin id; doch darin ganz 
mit Ihnen einverftanden, daß der Staat die bergmännifde Ge» 
winnung des Metalls in dem ſchönen Urafgebirge infofern ber 
febte, aĩs ev eine große Zahl von Denkmünzen und Ehren 


12 











Su. 


90 Ein Beitrag zur Charalteriftit des Königs von Weftfalen. 


medaillen prägen ließe, welche an bie Stelle der Ehrenzeichen 
von Gold und Silber treten Töunten. 

Nun beginnen die Unterhandlungen über die Reife. 
Zunächſt wird der pecuniäre Punkt erläutert, auf den 
Humboldt gern eingeht, „ba er fein eigenes Vermögen für 
nicht ganz unrühmliche Zwecke vernichtet habe“. In liberaler 
Weiſe verfügte Kaifer Nilolaus nun, „daß bie Reifekoften 
aus dem Staatsſchatz beftritten und an Humboldt alles 
da8 abgelafjen werden folle, was er nur fiir nöthig halte”. 
Wie großartig diefes Taiferliche Wort dann durchgeführt 
wurde, wiſſen wir ſchon aus Roſe's Heifebericht, nad 
welchem bie brei Gelehrten — Humboldt, Roje, Ehren- 
berg — wahrhaft fürftlich reiften. Für legtere beiden Hatte 
Humboldt fpeciell ein gutes Wort eingelegt, und jo wur⸗ 
ben fie gern als feine Begleiter anerlannt. Daß Ruf 
land nur fich felbft Hiermit am meiften nugte, haben bie 
Refultate der Reife beiviefen. 

Nach mandherlei Vorbereitungen waren die drei Yor- 
ſcher endlich unterwegs. Schon von Moskau an begin» 
nen dann Humboldt's Heifeberichte an Cancrin, bie, je 
mehr fie fich dem eigentlichen Reifeziele, den Bergwerks⸗ 
diftrieten des Ural nühern, mineralogifcher und ölonomi« 
fer Art werden. Stets überrafcht das tiefe Urtheil 
Humboldt's über bie geognoftifchen Verhältniſſe, über das 
Borlommen der ebeln Metalle, und manche feiner Borher- 
fagungen, die wir bier zum erſten mal verzeichnet fin⸗ 
den, find ſeitdem buchſtäblich eingetroffen. Aber immer, 
wenn Humboldt auch für Rußland reifte, ſelbſt an der 
hinefifchen Grenze, ift er fich feiner deutfchen Stellung 
bewußt, wie aus einem Schreiben an bie Gräfin Cancrin 
hervorgeht. Diefe Hatte ihm ein deutſches Briefchen ge- 
fendet, anf welches Humboldt antwortete: 

Ich erfuhr durch Ste ſelbſt erfi und nicht ohne Stolz für 
mein Vaterland, daß deutſche Zöne nicht blos rein und milde 
ans ihrem Munde widerhallen, fondern daß Sie aud) im Schrei» 
ben alle Schwierigkeiten unferer Sprache finnig zu löſen ver- 
ftehen._ IH will den Ausdrud meiner Dankgefühle ablürzen, 
damit Sie nit in Berfuchung fallen, wie unfere überrheini⸗ 
ſchen Nachbarn deutſch und langweilig für fynonym zu halten, 

Der dritte uns vorliegende Briefwechfel (Nr. 5) war 
bereits im Jahre 1863 erſchienen und tritt nun aber- 
mals als wohlfeile Jubelausgabe ans Licht. Euthält er 
auch — wofür Humboldt nicht verantwortlich gemacht 
werden kann — manches gar nicht zur Sache Gehörige, 
fo ift er doch anerkanntermaßen einer ber wichtigften Bei⸗ 
träge zur Gefchichte der Geographie in neuer Zeit und 
gewährt außerdem tiefe Einblide in die Art und Weife 
der wifjenfchaftlichen Thätigkeit Humboldt 6. Wir fehen, 
wie er während eines Zeitraumd von 30 Jahren mit 
nnabläffiger Aufmerkſamkeit den Bewegungen auf dem 
Gebiete der Erdkunde folgt, überall eingreift und thätig 


iſt, jedem neuen und wichtigen Refultat feine Thätigfeit 


zuwendet. Wir finden Mittheilungen berborragender 
Gelehrten aus beiden Erdhälften und werthvolle Abhand- 
lungen, bie früher entweder nod) nicht gedrudt oder doch 
in Beitfchriften zerftreut waren. Man kann bier ben 
Gang verfolgen, welchen die Entwidelung der Geographie 
genommen bat; Briefe wie Beiträge find im hohen Grade 
belehrend, und nicht nur der Gelehrte von Fach findet 
reiche Ausbente, fondern auch der Freund der Erdkunde 
erhält manche Anregungen und Auffchlüffe über wichtige 
Sachen und bebeutendbe Perfonen. Mit Vorliebe ſehen 
wir 3. D., wie Humboldt fi mit den Bereinigten Staa⸗ 
ten befaßt und wie er fid) gegen Berghaus verwahrt, 
welcher der Union ein böſes Prognoftifon ſtellt: 

Ein anderes ift es, wenn, wie Sie fehr richtig bemerken, 
bie Stlavenfrage bdereinft zum Ansbrudhe kommen follte; für 
den Fall theile ih vollftändig Ihre Auficht über das Precariumt 
des ftaatlichen Beſtandes der nordamerilanifchen Union. Ich 
wünſche, diefen Kal nicht zu erleben. Ich Halte viel, ſehr viel 
anf die Vereinigten Staaten, weil fle der Hort einer vernünf⸗ 
tigen freiheit find. 

Humboldt ftarb vor Thorfchluß, fonft hätte er noch 
den kurz darauf aushrechenden Bürgerkrieg infolge ber 
Sklavenfrage gefehen, der in der That den ftaatlichen 
Beſtand der Union in Trage ftellte. 

Zum Schluffe betrachten wir Humboldt in der Ver⸗ 
breiterung. Wir haben anfangs bereit8 bervorgehoben, 
dag wir ihn entfchieden als Kaviar fiir die tiefen Schich⸗ 
ten des Volks betrachten, und daß die Berwäflerung und 
ordinäre Auftifchung dieſes Heroen der Wiſſenſchaft für 
folde Klaſſen, benen er naturgemäß fern ſteht — komme 
ihnen fein Wirken auch mittelbar zugute —, uns ein Greuel 
if. Wir wollen diefen Ausſpruch auf Otto Ule's tüchtige 
Urbeit (Nr. 6) nicht angewandt wiflen; er fchreibt als 
begeifterter Yiinger für das große beutfche Volk im beffern 
Sinne und zeigt, wie feine Arbeit meift aus den Quellen 
geflofien iſt. Bon den Heinen Biographien, bie für we— 
nige Groſchen zu Haben find, ift es entjchieden die 
beſſere. An fie reicht die Lebensbefchreibung Ferbi- 
nand Schmidt’& (Nr. 7) nicht heran; fie unterfcheibet 
fih nicht wefentlid von ältern Biographien, die noch zu 
Humboldt's Lebzeiten erfchienen und denen fie folgt. Ganz 
tendenziös und vieles hineintragend, was uns ungehörig 
erfcheint und Humboldt's Bild verzerrt, erfcheint uns 
R. Benfey’s Feſtſchrift (Nr. 8) Der entfchieden 
demofratifche Standpunkt wirb hervorgehoben, die Schrift, 
die „abfichtlich als Parteifchrift gehalten iſt“, wirb bejon- 
ber& den „„Arbeiter-, Bildungs⸗ und Handwerksvereinen“ 
empfohlen. Die Hauptfache bleibt, daß fie uns Fein rich- 
tiges Bild von Humboldt Liefert; fie ift einfeitig durch 
und durch. Richard Andre. 


Ein Beitrag zur Charakteriſtik des Königs von Weffalen. 


König Jeéroͤme und feine Kamilie im Exil. Briefe und Auf- 
zeichnungen. Herausgegeben von Erneftine von L.. Leipzig, 
Brodhans. 1870. 8. 1 Thlr. 20 Ngr. 


Die Geſchichte des Haufes der Napoleoniden iſt fo aben- 
tenerlich wunderbarer Natur, daß fie ausfchmüdender Er⸗ 
findung nirgends bedarf und gerade in jchlichtefter Dar⸗ 


ftelung am mächtigften wirt. Dem ehernen Gange 
ihrer welterfchlitternden Thatfachen gegenüber kommt felbft 
die fruchtbarfte Phantafte zu kurz; nicht blos für das 
Zerftörungsgenie des erften Napoleon, auch für die Schick⸗ 
fale feiner Angehörigen, die ihre Bedeutung durch ihm 
erhielten, erweiſen fi die Grenzen der Romandichtung 


. 


Ein Beitrag zur Charakteriſtik nes Königs von Weftfalen. 91 


als zu enge; wir Iernen ſolche Perſönlichkeiten lieber 
Tennen aus zuverläffigen Nachrichten über ihr inneres 
und äußeres Leben, ald aus fogenannten hiſtoriſchen Ro« 
manen, die doch bei umd meiſtens invita Minerva ge 
fchrieben werden. Bon biefem Geſichtspunkte aus können 
wir das oben angezeigte Büchlein, welches wir mit leb⸗ 
hafterm Intereſſe und größerm Genuß gelefen haben 
als irgendeinen uns zu Händen gefommenen Biftorifchen 
Roman der legten Jahre, allen gebildeten Kreifen auf 
das wärmfte empfehlen. Ueber den Inhalt berichtet das 
furze Vorwort der Herausgeberin in jo ſchlichter und 
anſpruchsloſer Weife, dag es nur zur Empfehlung des 
Buchs beitragen Tann, wenn wir das Vorwort ganz 
herſetzen: 

Unter den Papieren, bie ich als thenre Andenken ver⸗ 
florbener Freunde aufbewahre, waren ımir ſtets die Tagebuch“ 
blätter der Frau von 8. ein bejonders werthvolles Vermächt ⸗ 
niß. Es ſpricht aus diefen einfachen, kunftlofen Aufzeichnungen 
fo viel natürliche Anmuth und wahre Herzenebildung, eine foldhe 
Wärme des Gefühle und Gefundheit des Urteils, dag man 
an der Perſon der Gchreiberin wie an ihren Heinen häus- 
lichen Freuden den innigfen Antheil zu nehmen fi gedrungen 
fieht. Ihr Tagebud) bietet aber noch ein weitergeheudes, all- 
gemeineres, für die Gegenwart gewiß nit unwichtiges Ju— 
terefie. Denn e8 gibt zugleih, da Herr und Frau von B. 
während einer Reihe von — zur nächſten Umgebung dee 
Erlönigs von Weſtfalen Jerome Napoleon und feiner Familie 
gehörten, ein treues Bild ‘von dem Leben der depofjedirten 
Napoleoniden im Eril: ein Bild, das durch die zahlreich ein⸗ 
—— Briefe des Königs Jerome, feiner Gemahlin, der 

ringeffin Katharina von Würtemberg, feiner Schweſter, der 
Erfönigin von Neapel Karoline Murat, des Kaifers Nikolaus 
von Rußland und anderer Hiftorifcher Perfonen volle Ergän- 
zung und Befätigung erhält. Aus meinen eigenen Erinne - 
rungen braud)te id daher nur wenige Hinzuzuthun, um. ben 
Zufammenhang Herzuftellen und Hier und da eine Lücke aus- 
zufülen. 

So weit die Herausgeberin, und wir fünnen Binzue 
fügen, daß ihr Bud) noch mehr enthält, als das Bor- 
wort verſpricht. Ohne alle politifche Färbung gefchrieben, 
mwedt und erhält e8 unfer Interefje an den mit großer 
Anjchaulichkeit geſchilderten Perfonen zumeift dadurch, daß 
wir biejelben hier nur in ihren intimften, rein menſch- 
lichen Beziehungen und Lebensäußerungen kennen lernen, 
wo fie denn durch manchen Liebenswürdigen Zug unfern 
Sympathien näher treten, als fie je in den Tagen ihres 
Glanzes vermochten. Als König von Weftfalen fpielte 
befauntlich Yeröme eine Hägliche Figur. Er war feines- 
wegs unfähiger und auch nicht ſchlimmer, als bie Fürften 
im Durchfchnitt find, aber er war zum Regieren weder 
geboren noch erzogen; er war auf ben Thron gelommen, 
wie die Cocarde auf den Hut, ohne innere Zufammen- 
gehörigkeit damit. Er hatte nichts von dem Genie und 
aud) nichts von dem raftlofen Thatigkeitstriebe feines 
weltftürmenden Bruders, der ihm als jüngftes Mitglied 
der Familie faft wie ein Kind behandelte und ifm ale 
Regenten felbft nicht in ber Wahl feiner Rathgeber freie 
Hand ließ. Den Interefien des Landes völlig fremd, 
gab Feröme fich auch nicht einmal die Mühe, bie beutfche 
Sprache zu erlernen, von welder ihm nur die Worte 
geläufig wurden: „Morgen wieder luſtick!“ Diefe Worte 
wurden bezeichnend für die ganze Dauer feiner Regier 
zung. . Seit den Tagen Auguſt's II. von Sachſen hatte 


man in Deutſchland ein fo prunfvolles und ausſchwei⸗ 
fendes Hoftreiben nicht gefehen, wie es ſich fehnell in der 
Refidenz des jungen, lebensluſtigen und pradjtliebenden 
Königs bon Weftfalen entwidelte. Kaffel wurde ein Hein 
Paris, das von franzöfifchen Abenteurern beiderlei Ge- 
ſchlechts wimmelte und befonders in ben höhern reifen 
der Geſellſchaft feine alte Zucht und Sitie vielfachen 
Schaden nehmen jah. Kann man angefihts biefer That» 
ſachen über das Regiment des Königs Ieröme kaum zu 
ftrenge urtheilen, jo bleibt es doch pſychologiſch höchſt 
intereffant zu gewahren, wie er einen perfäntiden Zauber 
befaß, der ihm nicht nur ſchöne Frauen mohlgeneigt 
machte, fondern auch fittenftrenge Männer fo an ihn 
feffelte, daß fie fih ihm im Old wie im Unglüd als 
zuberläffige Freunde bewährten. Zu dieſen gehörte auch 
der Herr von B., deſſen Gemahlin die Tagebuchblätter 
eſchrieben, welche den Hauptinhalt des Hier in Rebe 
Rehenben Buchs bilden. Herr von B., der in früher 
Jugend feine militärifche Laufbahn unter weſtfäliſchem 
Regiment begonnen und viel Freundlichkeit vom König 
Jerdme erfahren hatte, Fam aus dem fpanifchen Feldzuge 
als einundzwanzigjähriger Capitän mit nur einem Arme 
zurück; den andern Hatte ihm eine fpanifche Bombe weg- 
geriffen. In Kaffel war er fo glüdlih, das Herz eines 
feingebildeten und anmuthigen Fräuleins von achtzehn 
Jahren zu gewinnen, und aus den Liebenden wurde bald 
ein von der Kirche gefegneted Paar, als er den Poſten 
eines Mar&chal des logis und Oberflieutnants bei Hofe 
erhalten Hatte. Das Glüd follte aber nicht lange dauern, 
da mit bem October des Jahres 1813 auch bie weſt- 
fäliſche Königsherrlichleit zu Ende ging und fomit dag 
vermögenslofe junge Paar ſich aller Subfiftenzmittel ber 
raubt fah. So traten denn Tage fehwerer Sorge ein; 
alle Bemühungen des Herrn von B., bei einer deutſchen 
Regierung eine Anftelung zu finden, blieben ohne Er- 
folg: fein deutſcher Hof wollte den einarmigen jungen 
Mann in feine Dienfte nehmen. Als ber mig don 
der traurigen Lage des Herrn von B. erfuhr, bot er 
ihm eine Stellung bei fih an, und zwar in überaus 
delicater Weife. So geſchah es, daß das junge Paar 
dem Erkbnig ins Eril folgte und lange Jahre in traue 
lichem Zufammenleben mit Jeröme und feiner vortreffe 
lichen Gemahlin blieb, welche man aus den Aufzeichnungen 
der Frau von B. ganz befonders Fiebgewinnt. Die in- 
time, ohne jede Abfiht auf dereinftige Veröffentlichung 
gefchriebene Schilderung des Zufammenfebens ber beiben 
Tamilien mit den hineinfallenden Befuchen, Correfpondenzen 
und wechfelvollen Ereigniffen verleiht bem Buche einen 
ganz eigenthüimfidhen Reiz. on der chronique scan- 
daleuse ber Yöniglichen Vergangenheit ift in den Aufe 
zeichnungen mit feiner Silbe bie Rede: wir Iernen Io 
röme nur als zärtlichen Gatten und Vater, und nebenbei 
als feingebildeten und liebenswürdigen Menfchen kennen, 
deſſen Fehler und Schwächen nicht einem böjen Herzen, 
fondern einer entfchiedenen Principlofigfeit des Dentens 
und Handelns entfpringen. 

Im öffentlichen Urtheil wird ber Werth der Menfchen 
im allgemeinen und der Fürften insbefondere eben da= 
nad geſchätzt, ob fie nad; beftimmten Grundfägen oder 
blos nad; Willkür und Laune handeln. If ſchon ein 

12* 











90 


mebdaillen prägen Tieße, welche an bie Stelle der Ehrenzeichen 
von Gold und Silber treten könnten. 

Nun beginnen die Unterhandlungen über die Reiſe. 
Zunähft wird der pecuniäre Punkt erläutert, auf den 
Humboldt gern eingeht, „da er fein eigenes Vermögen für 
nicht ganz unrühmliche Zwecke vernichtet habe“. In liberaler 
Weiſe verfligte Kaifer Nilolaus nun, „daß die Reiſekoſten 
aus dem Staatsſchatz beitritten und an Humboldt alles 
das abgelafjen werden folle, was er nur für nöthig Halte”. 
Wie großartig dieſes Faiferlihe Wort dann durchgeführt 
wurde, wiffen wir ſchon aus Roſe's Reiſebericht, nad) 
welchem die drei Gelehrten — Humboldt, Roſe, Ehren- 
berg — wahrhaft fitrftlich reiften. Für letztere beiden hatte 
Humboldt fpeciell ein gutes Wort eingelegt, und fo wur⸗ 
den fie gern als feine Begleiter anerkannt. Daß Ruß—⸗ 
land nur fich felbft Hiermit am meiften nugte, haben die 
Refultate der Reife bewieſen. 

Nah mancherlei Vorbereitungen waren bie drei For⸗ 
ſcher endlich unterwegs. Schon von Moskau an begin- 
nen dann Humboldt's Reiſeberichte an Cancrin, die, je 
mebr fie fi dem eigentlichen Heifeziele, den Bergwerks⸗ 
diftricten de8 Ural nähern, mineralogifcher und ökonomi⸗ 
[her Art werden. Stets überrafht das tiefe Urteil 
Humboldt’8 über bie geognoftifchen Berhältniffe, über das 
Borlommen der edeln Metalle, und manche feiner Borher- 
fagungen, die wir bier zum erften mal verzeichnet fin⸗ 
den, find ſeitdem buchftäblich eingetroffen. Aber immer, 
wenn Humboldt auch für Rußland reifte, felbft an der 
Hinefifchen Grenze, ift ex fich feiner deutjchen Stellung 
bewußt, wie aus einem Schreiben an die Gräfin Cancrin 
hervorgeht. Diefe Hatte ihm ein deutſches Briefchen ge- 
fendet, auf welches Humboldt antwortete: 

Ich erfuhr dur Sie felbft erſt und nicht ohne Stolz für 
mein Vaterland, daß deutſche Töne nicht blos rein und milde 
ans ihrem Munde widerhallen, fondern daß Sie au im Schrei» 
ben alle Schwierigkeiten unferer Sprache finnig zu löſen ver⸗ 
ftehen. „Ih will den Ausdrud meiner Dankgefühle abkürzen, 
damit Sie nidht in Verſuchung fallen, wie unjere überrheini⸗ 
chen Nachbarn deutſch und langweilig für ſynonym zu Halten, 

Der dritte uns vorliegende Briefwechſel (Nr. 5) war 
bereits im Jahre 1863 erſchienen und tritt nun aber- 
mals als wohlfeile Jubelausgabe ans Licht. Enthält er 
auch — wofür Humboldt nicht verantwortlich gemacht 
werden kann — manches gar nicht zur Sache Gehörige, 
ſo iſt er doch anerkanntermaßen einer der wichtigſten Bei⸗ 
träge zur Geſchichte der Geographie in neuer Zeit und 
gewährt außerdem tiefe Einblicke in die Art und Weiſe 
der wifienfchaftlichen Thätigleit Humboldt’. Wir fehen, 
wie er während eines Zeitraums von 30 Jahren mit 
nnabläfftger Anfmerkfamfeit den Bewegungen auf dem 
Gebiete der Erdkunde folgt, überall eingreift umd thätig 


Ein Beitrag zur Charalteriftil des Königs von Weftfalen. 
iſt, jedem neuen und wichtigen Refultat feine Thätigfeit 


zumendet. Wir finden Mittheilungen berborragender 
Gelehrten aus beiden Erbhälften und werthvolle Abhand⸗ 
lungen, bie früher entweder noch nicht gedrudt oder doch 
in Beitfehriften zerfireut waren. Man kann Hier den 
Bang verfolgen, welchen die Entwidelung der Geographie 
genommen hat; Briefe wie Beiträge find im hohen Grabe 
belehrend, und nicht nur der Gelehrte von Fach findet 
reiche Ausbeute, fondern auch der Freund der Erdkunde 
erhält manche Anregungen und Aufjchlüffe über wichtige 
Sachen und bedeutende Perfonen. Mit Vorliebe fchen 
wir 3. B., wie Humboldt ſich mit den Vereinigten Staa⸗ 
ten befaßt und wie er fid gegen Berghaus verwahrt, 
welcher der Union ein böſes Prognoſtikon ftellt: 

Ein anderes ift es, wenn, wie Sie fehr richtig bemerken, 
die Sklavenfrage dereinft zum Ausbruche kommen follte; für 
den Fall theile ich vollftändig Ihre Anficht fiber das Precarium 
bes flaatlihen Beſtandes der nordamerilanifchen Union. Ich 
wünſche, dieſen Kal nicht zu erleben. Ich Halte viel, ſehr viel 
auf die Vereinigten Staaten, weil fie der Hort einer vernünf- 
tigen Freiheit find. 

Humboldt ftarb vor Thorfchluß, ſonſt hätte er noch 
den kurz darauf ausbrechenden Bürgerkrieg infolge der 
Sklavenfrage gefehen, der in der That den ftaatlichen 
Beftand der Union in Trage ftellte. 

Zum Schluffe betrachten wir Humboldt in der Ver⸗ 
breiterung. Wir haben anfangs bereit8 hervorgehoben, 
daß wir ihn entfchieden als Kaviar für die tiefern Schich⸗ 
ten des Volls betrachten, und daß die Berwäflerung und 
orbinäre Auftifchung dieſes Heroen der Wiffenfchaft fir 
folde Klaffen, denen er naturgemäß fern ſteht — komme 
ihnen fein Wirken auch mittelbar zugute —, ung ein Greuel 
ift. Wir wollen diefen Ausſpruch auf Dtto Ule's tüchtige 
Urbeit (Nr. 6) nit angewandt wiſſen; er fchreibt als 
begeifterter Jünger für das große deutfche Volk im beſſern 
Sinne und zeigt, wie feine Arbeit meift aus den Quellen 
gefloffen ift. Bon ben Heinen Biographien, die für we— 
nige Groſchen zu Haben find, ift es entjchieden bie 
beſſere. An fie reicht bie Lebensbeichreibung Yerdi- 
nand Schmidt’8 (Nr. 7) nicht heran; fie unterfcheidet 
fi nicht wefentlih von ältern Biographien, die noch zu 
Humboldt's Lebzeiten erfchienen und denen fie folgt. Ganz 
tendenzids und vieles hineintragend, was uns ungehörig 
erfcheint und Humboldt's Bild verzerrt, erfcheint uns 
R. Benfey’s Feſtſchrift (Nr. 8) Der entfchieben 
demofratifche Standpunkt wird hervorgehoben, die Schrift, 
die „abſichtlich als Parteifchrift gehalten iſt“, wirb bejon- 
ders den „Arbeiter-, Bildungs» und Handwerksvereinen“ 
empfohlen. Die Hauptfacdhe bleibt, daß fie uns fein rich⸗ 
tiges Bild von Humboldt Liefert; fie tft einfeitig durch 
und durch. Richard Andree. 


Ein Beitrag zur Charakteriſtik des Königs von Weffalen. 


König Jeroͤme und feine Familie im Exil. Briefe und Auf» 
zeichnungen. Herausgegeben von Erneftine von L.. Leipzig, 
Brodhans. 1870. 8. 1 Thlr. 20 Ngr. 

Die Gefchichte des Haufes der Napoleoniden ift fo aben- 
teuerlich wunderbarer Natur, dag fie ausfchmüdender Er⸗ 
findung nirgends bedarf und gerade in fehlichtefter Dar— 


ftellung am mäcdhtigften wirt. Dem ehernen Gange 
ihrer welterfchüitternden Thatſachen gegenüber kommt felbft 
die fruchtbarfte Phantafte zu kurz; nicht blos fir das 
Zerftörungsgenie des erften Napoleon, auch für die Schid- 
fale feiner Angehörigen, bie ihre Bedeutung durch ihn 
erhielten, erweiſen fi die Grenzen der Romandichtung 





. 


Ein Beitrag zur Charalteriftil des Königs von Weftfalen. 9 


als zw enge; wir Iermen folde Perfönlichfeiten lieber 
fennen aus aubertäffigen Nachrichten über ihr inneres 
und äußeres Leben, als aus fogenannten hiſtoriſchen Ro⸗ 
manen, bie doch bei uns meiſtens invita Minerva ge» 
ſchrieben werben. Bon diefem Gefichtspunfte aus können 
wir das oben angezeigte Büchlein, welches wir mit leb⸗ 
hafterm Intereſſe und größerm Genuß gelefen Haben 
als irgendeinen und zu Händen gefommenen hiſtoriſchen 
Roman der letzten Jahre, allen gebildeten Kreifen auf 
das wärmfte empfehlen. Ueber den Inhalt berichtet das 
kurze Vorwort der Herausgeberin in fo ſchlichter und 
anfpruc;slofer Weife, daß es nur zur Empfehlung bes 
Bud beitragen kann, wenn wir das Vorwort ganz 
herſetzen: 

Unter den Papieren, bie ich als theure Andenken ver- 
forbener Freunde aufbewahre, waren mir ſtets die Tagebudj- 
blätter der Frau von B. ein befonders werthvolles Bermäct- 
niß. €s ſpricht gus biefen einfachen, funflofen Aufzeihhnungen 
fo viel natürliche Anmuth und wahre Herzensbildung, eine folhe 
Wärme des Gefühls und Gefundheit des Urtheile, dag man 
an der Perſon der Schreiberin wie an ihren Meinen häns- 
lichen Freuden den innigfen Antheil zu nehmen fid) gedrungen 
fieht. Ihr Tagebuch bietet aber noch ein weitergeheudes, all» 
gemeinere®, für die Gegenwart gewiß nicht unwichtiges Ju—⸗ 
tereffe. Denn e8 gibt zugleih, da Herr und Frau von B. 
während einer Keihe von Sahren zuc mächften Umgebung dee 
Erfönigs von Weſtfalen Iröme Napoleon und feiner ne 
gehörten, ein treues Bild ‘von dem Leben ber depofiebirten 
Rapoleoniben im Eril: ein Bild, das durch die zahlreid, ein 

jeflochtenen Briefe des Könige Ieröme, feiner Gemahlin, der 
rinzeſſin Katharina von MWürtemberg, feiner Schweſter, ber 
Erfönigin von Neapel Karoline Murat, des Kaifers Nilolaus 
von Rußland und anderer hiſtoriſcher Perſonen volle Ergän- 
zung und Beflätigung erhält. Aus meinen eigenen Grinne- 
zungen brauchte daher nur weniges hinzuzuihun, um dem 
Zuſammenhang Herzuftellen und hier und da eine Lüüde aus- 
sufüllen. 

So weit die Herausgeberin, und wir fünnen Binzus 
fügen, daß ihr Buch noch mehr enthält, ala das Bor- 
wort verfprict. Ohne alle politifche Färbung gefchrieben, 
wedt und erhäft e8 unfer Imtereffe an den mit großer 
Anuſchaulichleit geſchilderten Perſonen zumeift dadurch, daß 
wir diefelben hier nur in ihren intimften, rein menfch- 
lichen Beziehungen und Lebensäußerungen kennen lernen, 
wo fie denn durch manchen liebenswürdigen Zug unfern 
Sympatjien näher treten, als fie je in den Tagen ihres 
Glanzes vermoditen. Als König von Weftfalen fpielte 
bekanntlich, Jeröme eine Hägliche Figur. Er war Feines- 
wegs unfähiger und auch nicht ſchlimmer, als die Fürſten 
im Durchfchnitt find, aber er war zum Regieren weder 
geboren noch erzogen; er war auf den Thron gekommen, 
wie die Cocarde auf den Hut, ohne innere Zufammen« 
gehörigkeit damit. Er hatte nichts von dem Genie ımd 
and nichts von dem vaftlofen Thätigfeitstriebe feines 
weltftürmenden Bruders, der ihn als jüngftes Mitglied 
der Familie faft wie ein Kind behandelte und ihm ale 
Regenten felbft nicht in ber Wahl feiner Nathgeber freie 
Hand ließ. Den Iuterefien des Landes völlig fremd, 
gab Feröme fi, auch nicht einmal die Mühe, die deutſche 
Sprache zu erlernen, von welder ihm nur die Worte 
geläufig wurden: „Morgen wieder luſtich!“ Diefe Worte 
wurden bezeichuend für die ganze Dauer feiner Regier 
rung. Seit den Tagen Auguft’s III. von Sachſen hatte 





man in Deutfchland ein fo prunkvolles und ausſchwei ⸗ 
fendes Hoftreiben nicht gefehen, wie e8 fi ſchnell in ber 
Nefidenz des jungen, lebensluftigen und prachtliebenden 
Königs bon Weftfalen entwidelte. Kaffel wurde ein Hein 
Paris, das von franzbſiſchen Abentenrern beiderlei Ge» 
ſchlechts wimmelte und beſonders in ben höhern Kreiſen 
der Geſellſchaft ſeine alte Zucht und Sitie vielfachen 
Schaden nehmen ſah. Kann man angeſichts dieſer That» 


ſachen über das Regiment des Königs Jeröme kaum zu 


ſtrenge urtheilen, jo bleibt es doch pſychologiſch höchſt 
intereſſant zu gewahren, wie er einen perſönlichen Zauber 
beſaß, der ihm nicht nur ſchöne Frauen wohlgeneigt 
machte, ſondern auch ſittenſtrenge Männer fo an ihn 
feſſeite, daß fie ſich ihm im Glück wie im Unglüd als 
zuberläffige Freunde bewährten. Zu diefen gehörte auch 
der Herr von B., deſſen Gemahlin bie Tagebuchblätter 
gefchrieben, welche den Hauptinhalt des Hier in Rede 
ehenden Buchs bilden. ‚Herr von B., der in früher 
Jugend feine militäriſche Laufbahn unter weſtfälifchem 
Regiment begonnen und viel Freundlichkeit vom König 
Yeröme erfahren hatte, kam aus dem fpanifchen Feldzuge 
als einundzwanzigjähriger Capitän mit nur einem Arme 
zurüd; den andern Hatte ihm eine fpanifche Bombe weg - 
geriſſen. In Kaffel war er fo glüdlih, das Herz eines 
feingebildeten und anmuthigen Fräuleins bon achtzehn 
Jahren zu gewinnen, und aus den Liebenden wurde bald 
ein don ber Kirche gefegnetes Paar, als er den Poſten 
eines Mar&chal des logis und Oberftlientnants bei Hofe 
erhalten Hatte. Das Glüd follte aber nicht lange dauern, 
da mit dem October des Jahres 1813 auch bie meft- 
fäliſche Königsherrlichkeit zu Ende ging und fomit das 
vermögenslofe junge Paar ſich aller Subfiftenzmittel be» 
raubt fah. So traten denn Tage ſchwerer Sorge ein; 
alle Bemühungen des Herrn von B., bei einer dange 
Regierung eine Anftellung zu finden, blieben ohne Er- 
folg: fein beutfcher Hof wollte den einarmigen jungen 
Mann in feine Dienfte nehmen. Als der Erfönig von 
der traurigen Lage des Herrn von B. erfuhr, bot er 
ihm eine Stellung bei fih an, und zwar in überaus 
belicater Weiſe. So geſchah es, daß das junge Paar 
dem Erkbnig ins Eril folgte und lange Jahre in trau 
lichem Zufammenleben mit Ieröme und feiner vortreff- 
lichen Gemahlin blieb, welde man aus den Aufzeichnungen 
der Frau don B. ganz befonders Tiebgewinnt. Die in- 
time, ohne jede Abficht auf dereinftige Veröffentlichung 
gefchriebene Schilderung des Zufammenlebens ber beiden 
Tamilien mit den hineinfallenden Beſuchen, Eorrefpondenzen 
und wechfelvollen Ereigniffen verleißt dem Bude einen 
ganz eigentümlichen Reiz. Bon ber chronique scan- 
daleuse ber Königlichen Vergangenheit ift in den Auf- 
zeichnungen mit feiner Silbe bie Rebe: wir Iernen Ic 
röme nur als zärtlichen Gatten und Bater, unb nebenbei 
als feingebildeten und Tiebenswürdigen Menfchen kennen, 
defien Fehler und Schwächen nicht einem böfen Herzen, 
fondern einer entſchiebenen Principlofigfeit des Denkens 
und Handelns entjpringen. 

Im öffentlichen Urtheil wird ber Werth der Menfchen 
im allgemeinen und der Fürften imsbefondere eben da- 
nach geihägt, ob fie nach beftimmten Grundſätzen ober 
blos nad Wilfir und Laune handeln. Iſt fon ein 

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99 Die Vögel der Noxpfeeinfel Borkum. 


gewöhnlicher Menſch ohne Grundſätze und Höhere Lebens- 
ziele eine bedenkliche Exfcheinung, wieviel mehr ein Fürft, 
von dem das Wohl und Wehe fo vieler abhängt! Ein 
folder Tann im Privatleben der liebenswürdigſte und 
gutmüthigfte Menfch fein: als Regent wird er in den 
meiften Fällen nur verberblid) wirken. Umgekehrt kann 
ein Fürft, der im Gefühle feiner hohen Pflichten nad) 
ſtrengen Grundſätzen handelt, dem Volke zum dauernden 


Segen werden und doch int Privatverfehr jehr unliebens- 
würdig erjcheinen. 

Diefe Betrachtungen fliegen uns auf, als wir das 
unterhaltende Buch „König Jeroͤme im Eril” aus der 
Hand legten und uns fragten, warum wir nad) ber 
Lektüre manche Charaktere milder beurtheilten als vor⸗ 


ber. Tout comprendre c'est tout pardonner. 


Sriedrich Bodenfledt. 


Die Vögel der Mordfeeinfel Borkum. 


Wenn ich auch nicht behaupten darf, daß die ornitho- 
logifche Literatur in der naturwiffenfchaftlichen den erften 
Rang einnehme, fo kann gerade ich doch conftatiren, daß 
fie fid) der größten Beliebtheit erfreut. Dies bezieht fich 
in gleicher Weife auf die wiljenfchaftlichen wie auf die 
populären Darftelungen aus der Bogelmelt, und ebenfo 
auf die Gebenden wie auf die Empfangenden. Es 
wird außerordentlich viel über Vögel gefchrieben und dies 
alles findet eine ungemein regjame Zheilnahme im großen 
Publilum. 

Als einen Heinen Beweis der weit verbreiteten Vogel⸗ 
liebhaberei ſei e8 mir geftattet, nebenfächlich zu erzählen, 
daß ich infolge meiner Schilderungen fremdländifcher 
Stubenvögel in der „Sartenlaube”, „Kölnifchen Zeitung“, 
wiener „Tagespreſſe“ u. |. w. im Laufe von etwa zwei 
Sahren über fünfhundert Briefe von Vogelliebhabern aus 
allen Theilen Deutjchlands empfangen habe. 

Da ift es alfo wol erflärlih, daß jedes Vogelbuch 
ein verhältnigmäßig großes und dankbares Publikum fin- 
det. Mit defto größerer Freude begrüßen wir es des⸗ 
balb aber auch, daß einerfeits immer häufiger die wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Koryphäen der Drnithologie zu populären 
Schilderungen fich herbeilaffen, und daß andererfeits diefe 
populären Vogelbücher häufig in einer ſchwungvollen, ja 
poetiſchen Sprache gefchrieben find. 

Das uns vorliegende Bud): 

Die Bogelmwelt der Norbfeeinfel Borkum. Nebft einer vergleichen- 
den Ueberſicht der in den füdlichen Nordfeeländern vorkommen⸗ 
den Bögel. Bon Ferdinand Baron Drofte-Hülshoff. 
Nebft einer Kithographirten Tafel und einer Karte. Mitufter, 
Niemann. 1869. Gr. 8 2 Thlr. 

bewährt die angebdeuteten Vorzüge in anerlennenswerther 

MWeife. Der Verfaſſer, bekannt als einer der hervor⸗ 

ragenben deutſchen Bogelfundigen, erwirbt ſich dadurch 

ein großes Verbienft, daß er einem abgegrenzten, verhält 
nigmäßig Meinen, aber vorzugsweife intereffanten Gebiet 
fein Studium zugewenbet hat. Eine Infel, welche durd) ihre 

Lage und Beichaffenheit zur Beobachtung ber Vögel vor« 

zugsweife geeignet erfcheint, ift eben Borkum. „Hier 

können wir mit leichter Mühe ftudiren, wie die Millionen 
vorüberwandernder Vögel am Meeresitrande fich bench- 
men, und welche Arten fid) in der Nachbarjchaft der 

Salzflut häuslich niederlaffen.‘ 

Das Buch bringt zunächſt eine kurzgefaßte topo- 
graphifche Einleitung, fchildert dann das Leben ber hier 
wohnenden oder nur zeitweife ſich aufhaltenden Vögel nad) 
allen Seiten hin, gibt eine ſyſtematiſche Ueberficht aller 


Bögel Borkums und fhließt im Anhang mit der Ueber⸗ 
ficht der Vögel an den füdlichen Nord» und Oſtſeeküſten. 
Alle diefe verfchiedenen Seiten des Buchs find nicht allein 
mit der Sachkenntniß, Liebe und Luft gefchrieben, welche 
wir von dem befannten Bogeltundigen erwarten durften, 
jondern fie fprechen auch vornehmlid) durch die klare 
allverftändlihe Sprache, dur) die warme begeifterte 
Auffaffung an. Geradezu köſtlich gefchildert find die 
Eigenthiimlichfeiten des Vogellebens in den Abfchnitien: 
„Beſuch bei Oftlande Niſtvögeln“, „Rottum“ (die Eierinfel), 
„Ebbe“, „Blut“, „Entenſtrich“, „Sturmflut“, Es fei uns 
vergönnt, einige Proben daraus mitzutheilen: 

Ebbe (Anfang September). Bor kurzem verſchwand ber 
Mond, und er, welcher die ganze Nacht hindurch der Finfternif 
gewehrt Hatte, läßt nun, da bald der Tag dämmern wird, 
unausftehlihe Dunkelheit eintreten. Ein Teiles Rollen verkuün⸗ 
det, daß die See ihre Thätigkeit nicht eingeftellt hat, aber dies 
Seräufh ift nur ſehr ſchwach und verhallend. Hodflut muß 
auch fchon vorüber fein und der Wind fcheint für heute fchlafen 
zu wollen. Die Strandoögel verhalten fi) mäuschenftill, nur 
jelten, daß einige Aufternfiiher oder Brachvögel leiſe kichern. 
Die Schwimmpvögel dagegen find in voller Munterkeit, ſchwätzen 
und zanfen ih, und dann qualt eine alte Stodente aus 
Sn Halfe dazwiſchen, oder ein Pfeiferpel ſtößt einen gellen 

aus. 

Die Morgenfrifhe wird empfindlicher; der Morgenhimmel 
beginnt fid) zu lichten und eisfalte Luft drängt fih von dort 
her; dann windet fi im Often als Halbkreis ein heller Schein 
berauf, das Tagesrad. Höher und höher hebt es fich, klarer, 
lichter wird die Luft, froftiger der Wind und dreifter das zag- 
bafte Geſchwätz der Strandvögel. Da flötet der Rothſchenkel 
jein fanftes „Dit“ zwifchen das harte „Tiltiü“ feines Vetters, 
des bellfarbenen Waſſerlänfers. Dann mengt ein Kibitsregen« 
pfeifer feinen weitfchallenden Bfiff, ein Aufternfifcher oder ein 
großer Brachvogel feinen gebämpften rauhen Lockton hinein. 
Seht im Zwielicht zeigen ſich in Schwarzen Umriffen einige nicht 
ſehr entfernt anfernde Schiffe und die nody nähern Dünentetten. 
Die Enten find lauter und Iebhafter als vorhin, und nad und 
nad eilen ihre Schwärme dem Meere zu. 

Die Finſterniß ift gewwichen, des Himmels Bläue ſchiebt 
den Nachtichleier zurück, und lange rothgoldene Wolfenftreifen 
glänzen im Morgen. Dort an jener breiten Waſſerrille lagert 
eine große Heerde Aufternfifcher, und etwas entfernter oben 
auf dem trodenen Grünland find Hunderte von Brachvögeln, 
Limojen oder große Strandjchnepfen und aud große Maffen 
Heiner Strandläufer. Zum Theil liegen fie platt am Boden, 
andere ftehen oder trippelm auf und ab, daun fperrt einer güh⸗ 
nend den Schnabel auf oder pfeift feine Kameraden an, und 
alle Haben das Gefieder dic! aufgeblafen und den Kopf zwifchen 
die Schultern gezogen, denn fie feinen die Morgenfälte jehr 
zu empfinden. Nun fteht ein großer Brachvogel auf und ruft 
mit jhlaftrunfener Stimme „loäh"; dann gähnt er, ſchütteit 
ſich und wiederholt den klangvoller werdenden Ruf mehrmals 
nacheinander, bis jetzt biefer, dann jener Genoffe und bald bier 
und dort auch andere Bögel rings umber einfimmen. Und 


Die Bögel der Nordfeeinfel Borkum, 


während beffen bligt der erfte Sonnenſtrahl über bie Wellen 
und langſam fteigt, von bluirothem Dunfikr’,. umgeben, die 
flammende Sonnenkugel aus dem gelräufelten Meere empor. 
Sie gibt da6 Zeihen zum allgemeinen Munterwerden der 
Bögel. Diefer [Hüttelt fi, ein anderer redt die Srüget noch 
ein anderer gähnt u. ſ. w., vor allem wird aber probirt, ob 
die Stimme Über Nacht von ihrem Klange nichts verloren hat, 
und jeder pfeift und lärmt nad feiner Weiſe tüchtig drauf 
los. Schau wie der Kobberich (das Männden der Silber» 
möve), der da neben feiner Chehälfte fteht, den Hals vedt, den 
Schnabel fperrt und ein heulendes „Kiau, fan’ m. f. w. zu 
Tage fördert. Die jungen Möven und Schmwalben ſtürzen fih 
mit ſchrillen Heißhungrigen Tönen den Alten entgegen, um fie 
amzubetteln. Bald wenden fie fi am biefe, bald an jene, 
überall aber ernten fie ingrimmige Püffe und Biffe, denn faft 
alle wurden ſchon als felbfländig fich felbft überlaſſen. Al» 
mmäbfich wälgt fi der ungeberbige Haufen weiter gegen bie See 
hinaus, und auch die Strandläufer erheben ſich heerdenweiſe, 
um arı den Meereoftrand zu fliegen. 

Die Ebbe ift ſchon bedeutend Herabgefunten, das Maffer 
meit vom Gtrande fortgewichen. Mit gedämpftem Murmeln 
und unter Flüſtern kommen Kleine flache Wogenreihen heran- 
gehüpft; jeßt laufen fie den flachen Strand herauf und fpringen 
ichnell wieder zurlid. Hier führt eine tändelnde Welle den fi 
firänbenden Seeſtern den Sand Binauf, und num entzieht fie 
ihm plöglid, ihre verrätherifche Hand umd läßt ihm Hülflos auf 
trodenem Grunde zurüd. Mod einmal_kommt fie herauf, 
doch wie zum Hohn gibt fie ihm nur die Spigen ihrer Finger 
zu fühlen und verf hwinbet dann fir immer. Nicht Tange, fo 
füglt der ungfüdlige Fünffug eine andere Hand; Beftig er- 
greift ihm der Schnabel einer Silbermöve und verfucht es, ihn 
im ben großen Schlund hinunterzumürgen, Dies erbliden ins 
deß ein paar Schweftern, die ungeftüm hervorſtürzen, um bem 
Iedern Biffen zu erlämpfen. Die erflere flieht, die andern 
folgen. Da wird gerauft und gezwickt und gekreiſcht, und die 
eine reift einen Strahl ab. Nun fällt im Getümmel gar 
der ganze Geeftern herab und wäre faft wieder im fein heimi« 
föjes Deere gelangt. Aber gerade ehe er eö erreicht, fängt ihn 
eine neu hiningelommene Möve auf, und da er verfleinert und 
arg zerquetiht if, fo gelingt es ihr, ihn fofort hinunterzu⸗ 
fluden. Da nun die Möven ben Grund der Balgereien ver⸗ 
ſchwunden fehen, entfernen fie ſich eiligf, um einen andern 
Biffen aufzufuhen. Die andern Vögel verurſachen zwar nicht 
eben jolden Larm, doch find fle nicht minder thätig. Bis jegt 
noch fiehen fie meit am Waſſerrande bunt durdeinanderge- 
miſcht und leſen das Heine Gewürm auf, meldes die Ebbe 
zurüdließ, oder laufen auch wol in die Welle hinein, um etwas 
ans dem Waffer zu holen. Hier und dort erhebt ſich dem⸗ 
nächft der eine oder andere Aufternfifcher, um mit aufmunterndem 
Lodton zur See hinauszueilen. Diefes iſt ein untrügliches 
Zeiden, daß die hohen Sandbänfe fon ihre Rüden ans der 
Ffut heroreben. Die Bögel wiflen ganz genau bie Zeit, 
wann im Watt das erfle Land ſichtbat wird. Und fiehe, das 
Beifpiel der Anfternfilcher findet baldige Nahahmung unter 
Möven und Brahvögeln. 

Das nähfle Terrain, welches die Ebbe entblöft, if} eine 
faft horizontale Fläche mit vielen Heinen, muldenförmigen Ber- 
tiefungen. Das Wafler zieht ſich ungemein jene zurld. 
Was eben noch eine Meine Bucht erfdien, liegt plötzlich als 
feichter Tümpel auf dem Trockenen. Zahlreiche eine Fiſche 
wollen dard) bie lehte Berbindungefiraße entfliehen, dod) eine 
Belle drüdt fie zurüd und dann ift es zu fpät. Sie find vom 
Meere abgefänitten und fiherm Verderben preisgegeben, denn 
taum fingersbreit tief riefeft das Mafjer durd den Abflug, 
welder bald ganz verſchwinden wird, Auch mande Krabbe 


93 


hat fi Hier verfpätet und ſucht fi nun möglihft in den 
Boden bes Tumpeis einzuwühlen, um den Blicken der Möven 
u entgehen. Sold ein Zümpel if eine Goldgrube für die 
Aungeiden Strandvögel. Den vorermähnten Abflug befegen 
einige Wafferläufer; e8 if gerade ber geeignete Play, um ihre 
bemunderungswerthe Beweglichleit zeigen zu können. Jedes 
Heine Fiſchchen und jede Garnele, welde dem Meere zugefpült 
wird, fangen fie im Waffer anf und fpringen dabei bald mitten 
herein, bald mit einer Beute heraus, ober ſuchen fehreiend dem 
Nachbar eine ſolche zu entreißen. Aber hier gibt e8 nicht, wie 
bei den Möven, fange Raufercien; die einzelnen Haben feine 
Zeit zu vergeuben, und es bleibt bei einem gelegentlichen Zu⸗ 
reifen. Im den Tumpel felbft waten Brachvögel und Limofen 
Einen. und fmattern Enten darin, und fehlieflich fommen 
die Möven, nm größere Fiſche fortzufangen. 

Ie meiter das Meer zurlidweicht, deſto nahrungsreicher 
find die Pläge, welche der BVogelwelt eröffnet werden, und 
Ben gleihen Schritt hiermit Hält die Lebhaftigfeit ber Vögel 
elbſt. 

Wenn wir auch zugeben müffen, dag Hin und 
wieder in mandem Ausdruck biefer Schilderungen ber 
Fachmann ſich etwas zu fehr bemerflih macht und bie 
Schreibweife dadurch einen oft etwas draſtiſchen Aus— 
druck gewinnt, fo ift doch zugleich immer die Sprache 
fo anmuthend, daß jeder Gebildete ſolche Iebendige Dar» 
ftellungen mit Genuß lefen wird. Dagegen enthält das 
Bud; aud allzu draſtiſche Partien: 

‚Hent Abend, Rolf, da gehen wir aber auf den Entenſtrich. 
Es find nur noch ein paar Zage bis die Hochflut zum Strich zu 
fpät fällt. Nicht lange nach Mittag, .da wandern zwei banditen« 
mäßig ausfaffirte Berfonen den Tangweiligen Meg über das 
Tolifhendoor. Lange, ſchwere Waſſerſtiefel, einfäufige Lange 
Entenflinte, kreuzweiſe mit einer Geehundtafhe über blauen 
Schifferroc gehängt und großer „Teerfübrwefter‘ (Matrofenhut) 
darüber, aus melhem allen von dem langen Rolf nichts als 
eine verwetterte Naſe und ein paar blitzende Augen hervor- 
fegen. Und der „tie B.” fledt wie gewöhnlich im äfteften 
aller Fagdröde und ift mit einem unentwirrbaren Chaos von 
Leinen, Batrontafhe, Fernrohr, Jagdflaſche, anfgeihlirztem 
Zagdfittel u. f. ww. ummwidelt. Sein Doppeirohr allen derräth, 
baß er wol mehrerorts als fein Meibgenoffe zu jagen gewohnt 
iR. Der britte im Bunde iſt der ungertiennlihe Pubelbaftard 
Safob, welcher die Entenjagd viel beffer als feine Gefährten 
derſiehi. 

Sehr hoch iſt es anzuſchlagen, daß der Verfaſſer 
and) in der Hinſicht vollſtündig populär geſchrieben, daß 
er neben ben lateinifchen Namen der Vögel faft überall 
die deutjchen gibt. ine reichliche Angabe der benugten 
und über den Gegenftand überhaupt exiſtirenden Lite» 
ratur macht das Bud; für den Fachmann um fo werth- 
voller. Tür alle Lefer wird es dies aber noch dadurch, daß 
der Verfaſſer fehr eindringlich auf das Unrecht Binzeigt, 
welches durch die unerftändige Vertilgung der Vögel hier 
deritbt wird, und daß er zugleich die Mittel und Wege 
angibt, wodurch biefem Unweſen geftenert werben Tann. 

Beigefügt ift dem Werk eine gute lithographirte Ta- 
fel, eine Anſicht der Vogelinſel Rottum darftelend, und 
die Karte von Borkum, 

Karl Auf. 


94 


Feuilleton. 


Fenilleton. 


Robert Giſeke. 

Cs if Pflicht der Preffe, die öffentliche Aufmerlſamleit 
wieder auf einen Schriftfieller zu Ienlen, der, längere Zeit von 
dem traurigen Scidfal geifliger Erkrankung heimgeſucht, meh⸗ 
rere Fahre in Heilanftalten verbrachte, fich jetzt aber wieder auf 
dem Wege der Beſſerung befindet und deffen geiftig feines und 
bedeutfames Talent der Literatur gewiß noch manche willkom⸗ 
mene Gabe fpenden bürfte. 

Darf doch die Sournalifit Über den ftets zuftrömenden 
und flets neu auftanchenden Begabungen, welche mit größerm 
oder geringerm Recht viel von fich fprechen machen, nicht die 
tüchtigen Kräfte vergeffen, über deren Thätigkeit bereit der 
Strom eines oder mehrerer Luftren dahingerauſcht if. Es 
klingt wie Ironie, ein Luſtrum als eine Epoche hinzuftellen, in 
welcher ein Schriftftellername in Bergeffenheit gerathen könnte. 
Und doch if es fo — nidt für die Zulunft, welche audere 
Maßſtäbe kennt, aber für die vom Novitätenfturm bedrängten 
Zeitgenoffen. Die bubdhiftifhen Philoſophen haben eine jehr 
interefiante Theorie, um die Präeriftenz der menſchlichen Seele 
zu erflären, die man doch an und für ſich leugnen muß, weil 
uns das Bewußtfein derfelben fehlt. Sie meinen, e8 gebe eine 
Folge von Eriftenzen, von denen die eine nichts von der andern 
—* und dann plötzlich auf einer höhern Stufe erwache das 
Bewußtſein, das ſie alle in eins zuſammenfaßt. Aehnlich geht 
es in der Literatur. Schriftſtelleriſche und dichteriſche Thätigkeit 
— für einige Luſtren in Vergeſſenheit, dann ſtrahlt fie für 


das Bewußtſein einiger nächſten Generationen wieder in neuem 
Glanze auf. Si licet parva componere magnis, auch Schiller 


und Goethe, jener namentlich in der Epoche zwiſchen dem viel 
angegriffenen „Don Carlos’ und dem „Wallenftein‘‘, erlebten 
folge Berdimkelungen des Ruhms, wo ihre geiftige Nähe bie 
Beitgenoffen minder magnetifirte, als die jetzigen Fernwirkungen 
hrer Größe vermuthen laffen. Um wie viel mehr ergeht es fo 
den Nachſtrebenden von minberer Begabung! 

Wenn aber ein Schriftfteller durch ein unglinftiges Geſchick 
ohne fein Verfchulden von der friſchen Titerariichen Bewegung 
abgefperrt war, fo hat er es doppelt nöthig, ben leicht vergeß- 
lichen Zeitgenoffen, denen allerdings der Buchhandel alljährlich) 
die Zumuthung flellt, fi über 10000 neue Werke zu orien« 
tiren, wieder in die Erinnerung zurlicigerufen zu werden. Wir 
meinen ben Sciefier Robert Oiſeke, einen Autor, der mit 
feinen „Moberuen Zitanen‘ und feinem „Pfarr-Röschen” glüde 
lich debutirte als ein Erzähler von feiner Dialektik und weiten 
geiftigen Peripectiven, der im engften Zuſammenhang mit ber 
philojophiichen Bewegung ber Gegenwart ftand und nicht hohle 
Schablonenfiguren des gewöhnlichen Unterhaltungsromans mit 
etwas veränderter Tätowirung zeichnete, fondern Menichen und 
Conflicte von geifliger Bedeutung wählte. Diefe Schriften, 
denen fpäter noch mehrere Romane folgten, fanden bei der 
Kritik freundliche Anerkennung. Leider wurbe dem jungen Au- 
tor die Freude Über die erften Erfolge bald durch ein Familien⸗ 
unglüd getrlibt; er verlor eine Schwefter und den Bater durch 
Verbrennung, indem an einer Spirituslampe das leichte Som- 
merHleid der erfiern Feuer fing und der Bater, durch die Ver⸗ 
fuche, ben Brand zu löfchen, ſich ſelbſt gefährliche Wunden und 
ben Tod zuz0g. Dies ein ftilles Familienleben zerrlittende Ver⸗ 
ängniß mag die erfte Beranlafjung jener Aufregungen und Ber- 
dunfelungen geweien fein, denen das Geiſtesleben bes jungen 
Sähriftftellers längere Zeit anheimfiel. 

Schon damals Hatte er fi auch auf dramatiſchem Felde 
verfucht. Sein „Sohannes Rathenow, Büirgermeifter von Berlin’ 
war in Berlin, Leipzig, Breslau und Stuttgart zur Aufführung 
gelangt und befundete in einzelnen Scenen unverfennbare 
Spuren bramatiihen Talents. Auch ein biflorifches Drama: 
„Morig von Sachſen“, wurde iu veipaig und Breslau mit 
Beifall gegeben. Der Held Giſeke's war fein politiiher Frei⸗ 
beitshelb, wie derjenige von Robert Prutz; er war ein Diplomat, 
der eine große politifche Aufgabe durchzuführen wußte; es lag 
in ihm ber Keim zu einem Helden, wie er für Deutichland feit 


1866 doppelt verfländfich geworden if. Giſeke hat neuerdings 
fein Stüd, im Hinblid anf die große politifche Bewegung der 
jüngften Zeit, umgearbeitet, er hat auch Karl V. noch eine be- 
dentende Schlußfcene gegeben und das Klofter von San -Yufle 
leicham als den Schlußſtein diefer nach dem Grab ſich 
Fehnenden Kaiferherrlichkeit in ben Bau feiner Handlung mit 
eingemanert. ' in 

Der Inftinct fr die politiiche Bewegung ber Neuzeit ſpricht 
fih auch in der Stoffwahl der „Dramatifhen Bilder aus 
deutfher Geſchichte“ aus (Leipzig, Brockhaus, 1865), und 
wenn diefe „deniſche Geſchichte“ die prenßiſch⸗brandenburgiſche 
it, fo wird heutigentags niemand in dieſer Bezeichnung einen 
einfeitigen oder unhiſtoriſchen Sinn fuchen. Alle drei Stücke 
find dem 15. Jahrhundert entnommen. „Der Hochmeifter von 
Marienburg“ führt uns im die Zeit, in welcher der Deutiche 
Orden nad) Preußen Gefittang und Eultur trug, wie der Hoch⸗ 
meifter Ulrid) von Iungingen fagt: 

Die Eiche, die und erfte Raftftatt Bot, 

Hat wunberfräftig ihre mädt’gen Aeſte 

Nah Oft und Wet, nad Rord und Süb weit über 
Entlegne Bollögebiete ausgeſtreckt. 

Und unter ihrem heil'gen Dache wuchſen 

Die Burgen, Kirchen, Dome, ſtolz und prächtig, 
Die Dörfer frieblig und bie Stäbte reich, 

Die Feten uud Baläfte wie durch Zauber. 

Die Wildniß warb in Gartenflor verwandelt, 
Die Niederung vor ber Ströme Flut geſchützt, 
Statt Mooren grünten Felder frudtbar auf, 
Bom Bord zum Borbe zogen fi die Brüden, 
Bon Stadt zu Stabt die freien Handelsſtraßen; 
Handwerke blühten auf, die Künfte wurben 
Hierher verpflanzt,, bie Wiſſenſchaft gelehrt; 
Geſetze finb verzeichnet, Freiheiten 

Geordnet, Privilegien ertheilt. 

Da, wo Gewaltthat nur und Raub unb Worb, 
Wo blöde Einfalt ober rohe Wildheit, 

Wo Gögtendienſt und Haß uur gegen Bilbung 
Und unfre Offenbarung beimifh waren, 

Iſt dieſes Ordens reiher Bau gegründet, 

In dem ber Ritter al ein Yürft ven Bauer, 
Den Bürger unb ben Edelmann regiert, 

Ein Bau, fo weit, fo hehr, fo feft und mädtig, 
Als irgenbfonft nur bei Europas Bölfern 

Ein Staatsgebäube jetzt errichtet ſteht, 

Ein Bau, der mehr als jeber andere 

Ein Wunber if von Gottes Gnaden, weil 
Nicht angeſtammte Macht und Ueberliefrung, 
Weil ihn der Geiſt nur und Begeiſtrung Inf. 

Do wenn auch diefe culturbiftorifche Bedeutung des Deut⸗ 
ihen Orbens fowie feine heldenmüthige Zhattrafl in der großen 
Schlacht von Zannenberg den Rahmen des Gemäldes bildet, 
fo bat ber Inhalt doch einen mehr myſtiſchen Zug, der an die 
Dramen von Zacharias Werner, namentlih an „Das Kreuz 
an der Oſtſee“ erinnert. Anknüpfend an bie Mittheilung eines 
Hiftorikers Über Parteiungen zwifchen den Ordensrittern, ber 
Hinneigung derfelben zu Wieliffe'ſchen Lehren, die fi fchon im 
damaliger Zeit geltend machte, lüßt Giſeke den Plan einer 
Sücularifation, wie fie fpäter Herzog Albrecht vollzog, bereits 
damals bei dem Hochmeifter und einigen Orbensrittern anf« 
tauchen, fodaß fie einen „Geheimbund‘‘, die Mariagilde, fliften, 
welche für die Ordensritter and) die Ehe verlangt. Der Hoch⸗ 
meifter findet in einer mit diplomatifchen Aufträgen von Po- 
fen ausgerüfteten Aebtiffin eine Jugendgeliebte wieder, die fich 
ihm einft ergeben, die fi) aber abwehrend gegen die Ketzereien 
des Geheimbundes verhält. In der Schladt bei Tannenberg 
fällt Hochmeiſter Ulrich; fein und der Webtiffin Sohn, Graf 
Heinrich von Plauen, wird Hocmeifter des Ordens, wozu er 
als unehelicher Sohn Fein Recht hat; er wiberfteht ben Ber- 
führungen der fchönen Gabriele, bie eine Säcularifation des 
Ordens im Namen des Polenkönigs verſpricht und zugleich da⸗ 
für die Abtretung ber Neumark verlangt; er zerreißt den Trac⸗ 
tat mit Polen, ben er unterfchrieben, dadurch, daß er ſich ale 





Feuilleton. 


ein Gebild des Trugs und Verraths hinſtellt, ein Namenloſer, 
der night Recht hat —X Bertrag zu ſchließen, und ſich daun 
im das eigene Schwert fürzt. 

Dies Drama if gewagt in feinen Boransfegungen und in 

feinem ganzen Aufbau; aber nicht nur erhebt ſich der dramati» 
ſche Stil über den alltäglien Jambentrab, in ben Gituatio- 
nen liegt Mark und Kraft, Gefinnung und Größe und auch 
Sinn für dramatiſchen Sfiect. 
Das zweite Drama: „Der Burggraf von Nürnberg“, ift 
mehr im EM der Hiftorien gehalten; e8 behandelt den ampf 
der märtifchen Ritter, moment ich, Dietrid’e von Quitzow, gegen 
den Burggrafen Sriedrih VI. von Nitenberg, den Statthalter 
und fpätern Markgrafen und Kurfürſten von Brandenburg. 
Der Stil des Ganzen ift kuapp und marfig und erinnert bier 
und dort am das Muſter des „Sdtz von Berlichingen‘; doch 
iſt die Handlung etwas zu zerfplittert für die Einheit des dra- 
matiſchen Jutereſſes 

Das dritte Stuck der Sammlung if eine Bearbeitung des 
„Dohannes Rathenow'': „Ein Bürgermeifter von Berlin“, ein 
Stüd, das ſich an dem 'oland von Berlin" don Wilibald 
Arie’ anjcfiekt. Das Gtüd hat einen Hiforifgen Grund- 
gedanken, der nicht an jene Zeit geknüpft it: den Kampf des 
verbrieften geſchichtlichen Rechts, den hier Mathenom vertritt, 
gegen das Recht einer nenen, umgeflaltenden Zeit, und es 
bfeibt zu bedauern, daß ber Vertreter des letztern, Markgraf 
Friedrich IT, and) in der Umarbeitung zu wenig bedeutjam 
bervortritt, um diefem Conflict feine ganze Stärke zu geben. 
Dagegen enthält das Stüd dramatiſche Siinationen don großer 
Lebendigkeit und Spannung und zengt für das Talent und 
GSeſchid des Berſaſſers. 

Dieſe drei Dramen behandeln Stoffe, in denen die Keime 
jener mationalen Größe Tiegen, zu welcher ſich Preußen jeht 
entfaltet hat, und dürften mit Kedt die Aufmerkfamfeit wieder 
auf einen Dichter hinlenken, der durch eim bedauerliches Leiden, 
welches ja bei deutſchen Poeten nicht zu ben Geltenheiten ge- 
hört, Tängere Zeit aus dem Gefihtöfeld ber Zeitgenofien ver⸗ 
ſchwunden war. 








Notizen. 

Karl Gugtow erſucht uns, die in Nr. 4 d. BI. enthale 
teme Mittheilung iiber die „Amputationen‘, die er in der neuen 
vierbändigen Janle ſchen Ausgabe feiner „Ritter vom Geiſte 
mit diefem früher neunbändigen Werke vorgenommen Habe, da⸗ 
hin zu berichtigen, daß Biefelfen in nichts beftehen als hier und 
da im einer Zuſammenfaſſung ber Geipräde in thaiſachliche 
Berigte, und daß im Übrigen der außerordentlich comprefie 
Drud der neuen Ausgabe die Zufommenziehung des Werks in 
eine geringere Zahl von Bänden ermöglicht habe. 

Roßbadı's „Gefcigte der Gefellicaft" (Würzburg, Stuber), 
die wir in Nr. 4 d. BL. beſprachen, ift, wie wir erfahren, von 
dem Berfafjer bei feinem Tode nicht unvollendet zurüdgelaffen 
worden, jondern alle ſechs Bände liegen feit Jahresfrift im 
Mauuſeript vollendet vor. Der dritte Band iſt bereits im Dc« 
tober erſchienen, der vierte befindet fi im Drud; auch der 
fünfte und ſechete ‚werden noch im Laufe diefes Jahres erſchei ⸗ 
nen. Bir freuen uns, daß der tüchtige Gelehrte in der Lage 
war, fein inteseffantes Werk nicht als Fragment, fondern ale 
fertiges Ganzes der Nation zu Binterlaffen. 


Sibliographie. 
raunfhweig, D., — Gebigte. 


Bra 

* &. 8. e Sutoserae aber ber weißen Benfgen 
‚8, nen 

1 den —8B ned 


Aderm 
u —e— m. Gr, 
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* von Philadelphia. 4 Bok. Hannover, Rümpr 


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Her an 1, Dig Unferbtigtet bes @eete, Betenötet na ben, nor 
yüstihßen Ya des Hajfijgen Mtertums. Zanbsput, Krüll, Gr. 


Arnot 
—— ©. .. Dr. Johannes Breverus, Guperintendent von 
after, ‚Breefir an Sutpestor, Cine Erinnerung aus bem IT, 
fegunden ai Riga, Bacmeifter u. Bruger. Gr. 8 12, 








Halle, Herrmann. 





95 


Im Walde. —— in 1 Art. Rathenow, Haaſe. 1869. 8. 7', Mar. 





3 
Top — — Werte, Ihr 20. Stuttgart, Goſchen. 





en 
autage, 9, Oejammeite Beste, q 
ne, *. Shake, co Bit WE alle. 10 Her 
inuström, H,, RN es —— — iste 
Abth. Leipaig J > 1 3 Thir, 
Sußtanbi, 2. Bäeration ODer Reatunion? Stne yaiiige Otunie 
mit befonberer, ec tigung ber DEU 


658 











due: ae 
Er. 10 Mgr. 
a eih. vo. Reife Im den Negentigaften Zunis und 
Ware ai —5 — Soncitium und der veligiöfe 
% Morlfte Autgabe, ———— 
ah ie Woueuen Dorpat, @läfe. 1909. Du. 4. 
FJ di Meganber v. Bumboßt, ber Eltmeiken ber, — 
Raturf an. Gbentong jgm unleheien Geburlage Mlrukpet 
3 Quibolt’& ter Suorankelhung ale, Khrantkae nun ven Heer 
— emeliert und beräuegegeben, Selpig, Spamer. & DEE 
Pallmann ie Cimb neh Bla Belag dir dee 


deutschen Össenlohte und sar deuischen Alerthumskunde, Bariiß, Blönne 
u Meyer, Gr, a 15 Ne 
Ba; Das Seheiyanz von Unbernag. Batestänbiiges Zrauer- 


init Beben — 
OR & S—— erzon ghdonnamen uns 





ie sterkich-polltsche 
Bindie. Leipzig Rasprowlez- Ne 
j Be Dramatifges Gedigt von I, M. Minden, 8. Finfterlin. 









A. Graf, Meber ben Verkehr der Geifter bes Ienfeits mit 
— Vorträge im Leipyig. After Wortrag. Yeipe 


X ®, Bote Gene ober bie Helden von Ban 
4 Stsendtitn and dem (Aelliäen Breipetstriege 


ftig. Ihre Wiberfprüge und bie Zufunft 
Griminal-pipgelogifge Stuvien, Inusbrud, Wag« 


teressen. Ein Mahnruf an 





0 Ngr. 
—* Smnegeis Reife gach Paris as Yriebensftifter. Eene 


2 
[3.7 öber, 
yubise, — iftorje in 10 Kapitteln, Berlin, Bausfeeunb»@xpebl- 
" itenglische Spaskproen nebst einem Wörterbuche, Unter Mitwir- 
kung von K. Gold herausgegeben von E, Mätzner. 1ster Bd.: 
Sprachproban, 210 Adıhe Prosa. Bertia, Weldmann. 1869. Lex.-8. 
Sarsder wie fie lebt im Gebägtnif it; 
Sohis Ednäten, mie e Ta iotniß ihrer Beitgenoflen und 


= —8 — Bee Heine Bismartias, Ein didae⸗ 









je» Halle, Shwetihte. 16. 5 Mor. 
Snieders jr, a8 Armenjhmweftergen. Eine Er tun, 18 ber 
— — — 
torifirte Meberfegun In u. Neuß, Sören, 1869. * aan Bar 


Was Onic"uon den ‚en Sung —— Opera 


rauen, 

Yet una geil Pr überira gen * * —* — E fit von 
be. Ranmaun, 

kurzer Träciat von Gbit, dem Menschen und 

denen — „Auf Grund einer neuen, von Dr. Antonius van 

der Linde vorgenc rgleichung 8: een ine Deutsche 

— Brläuterunge 













—— ©. Bigwart. * —— — 
Sprüde burg, niet un gegeldnet 
Brlgfaete @er 


von $ @ret-Ishann. € Sutcı At ER 
Bidte von @. Mitterähene u an, Blender 
gegeben, und in RE ausgefü von or sehe eier 7 
"stark, Far Kellsche Forsch gen. „IL. Keltische Parsonsnnamen, 

nachgewiesen in den Ortsbenenuung jes Codex traditionum ecclesiae hal 
vennatensis aus dem 7. bis 10. Jı —5— iter und ꝛer Thi. Wien, 
Gerold’s Sohn. 1869. Lex.-8. 

1ngtern., Seat di vermehe Slage. Lelpig, Matiet. 16. 
—— J., Berliner Slanbuch aus dem Archiv ber Konut. 


Eizagmin, Sit Dir e 
aan, ; . 
realen —— FR X Ya ji "Gefamntentpee —— 


— Roman. 2 Bde. Leip⸗ 


I.» 
Y Sirria — 
as 40 a RE Seipiig, Maither. 196%, Ge. 16. 

















Unze 


Anzeigen, 


igen. 


— — 


Verlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Deutsche Classiker des Mittelalters, 


Mit Wort- und Sacherklärungen. 
Begründet von Franz Pfeiffer. 
8. Jeder Band geh. 1 Thlr., geb. 1 Thlr. 10 Ngr. 
Achter Band. 
Gottfried’s von Strassburg Tristan. Herausgegeben 
von Reinhold Bechstein. Zweiter Theil. 


Mit dem vorliegenden zweiten Theil ist das classische 
Epos Gottfried’s von Strassburg abgeschlossen. Derselbe 
enthalt ausser dem Schluss des Gedichts die Nacherzählung 
der Fortsetzungen Ulrich’s von Türheim und Heinrich’s von 
Freiberg, sowie Wortregister und Namenverzeichniss zu 
beiden Theilen. 

Als neunter und zehnter Band der Sammlung wird 
Wolfram’s von Eschenbach Parzival, herausgegeben 
von Karl Bartsch, binnen kurzem erscheinen. 


Inhalt des .— VIII. Bandes: 
I. Walther von der Vogelweide. Herausgege- 
ben von Franz Pfeiffer, Zweite Auflage. 
U. Kudrun, Herausgegeben von Kar! Bartsch. 
Zweite Auflage. 
III. Das Nibelungenlied. Herausgegeben von Karl 
Bartsch. Zweite Auflage. 
IV. -VI. Hartmann von Aue. Herausgegeben von Fe- 
dor Bech. Drei Theile. 
VII. VIII, Gottfried’s von Strassburg Tristan. Heraus- 
gegeben von Reinhold Bechstein. Zwei 
eile. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Gemälde der mohammedaniſchen Welt. 


Iulins Braun. 
8 Geh. 2 Zhlr. 15 Nor. 

Sn diefem Werke Tiegt die legte Arbeit des verbienftvollen 
Geſchichtsforſchers vor, die er kurz dor feinem Tode vollendet 
hatte. Ste ift zugleich — wie Profeſſor Moriz Carriere in 
einem Vorwort fagt — die reiffte Seut feines unermüdlichen 
tühnen Strebens, feines vielfeitigen Wiffens, feiner Tünftlerifchen 
Geſtaltungskraft; und gerade jegt, wo der Kanal von Suez bie 
alten Kulturländer wieder in den Weltverfehr hineinzieht, wird 
Braun’s den ganzen Schauplatz, alle Zeiten und alle 
Selten des Sslam umfaffendes Gemälde um fo mehr 
mit lebhafter Theilnahme empfangen werben. 





Derfag von 5. A. Brodifaus in Leipzig. 


Sunfzehn Jahre. 


Ein Zeitgemälde aus dem vorigen Jahrhundert. 


Bon Talvi. 
Zwei Theile. 8. Geh. 2 Thlr. 15 Nor. 

Bon der unter dem Pſendonym Lalvj belaunten Schrift» 
ftellerin Thereſe Robiufon, geb. von Jalob, erhält bie deutfche 
Lefewelt hiermit einen neuen feffelnden Roman. Wie in ihren 
frühern Werten, von denen mehrere ins Engliſche Überſetzt 
wurben, bewährt die geiftvolle Berfafferin auch in diefem ihre 
tiefe Kenntniß des menschlichen Herzens ſowie ihre Kuuft, das 
Leben in den höhern Gefellichaftskreifen mit feinem Zalt und 
treuer Anſchaulichkeit zu ſchildern. 


Dertag von 5. X. Brockhaus in Leipzig. 


König Ieröme und feine Kamilie im Exil, 
Kriefe und Aufzeichnungen. 


Herausgegeben von 


FKrneffine von JS. 
8 Geh. 1 Thlr. 20 Nor. 

In diefen Tagebuchblättern aus dem Nachlaß einer Dame, 
welche lange Zeit zur nädften Umgebung des Erlönigs von 
Weſtfalen und feiner Familie gehörte, fpielt fi ein Stück De 
poffedirtenleben ab, das, obmwol ohne alle tendenzidje Färbung 
völlig mwahrheitsgetren erzählt, keinem Roman an fpannendem 
Interefje nachftehen bürfte und für die Gegenwart, wegen 
naheliegender Bergleihungen, erhöhte Bedeutung gewinnt. Zahl- 
reihe in die Erzählung verflochtene Briefe Jeroͤme's, der Ex⸗ 
lönigin von Neapel Karoline Murat und anderer biftorifcher 
Perfönlichleiten geben dem unterhaltenden Buche gleichzeitig 
auch gefhichtlichen Werth. 


Derfag von 5. 2. Brockhaus in Ceipzig. 
Geschichte von Ungarn. 


Von 


Ignaz Aurelius Fessler. 
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, bearbeitet von 


Ernfi Klein. 
Mit einem Vorwort von Michael Horväth. 


Zweiter Band. 
Die Zeit der Rönige aus verſchiedenen Häufern von 1301 Bis 1457, 
8. Geh. 3 Thlr. Geb. 3 Thir. 10 Ngr. 

(Der erste Band kostet geh. 2 Thir. 20 Ngr., geb. 3 Thlr.) 

Das Fessler’sche Werk «Geschichten der Ungarn und 
ihrer Landsassen», allgemein als die beste in deutscher 
Sprache geschriebene Geschichte Ungarns aner- 
kannt und seit längerer Zeit gänzlich vergriffen, erscheint 
jetzt in zweiter Auflage und zeitgemässer Umarbeitung, 
eingeführt durch den berühmten ungarischen Historiker und 
Staatsmann Michael Horvath. Infolge der gedrängtern 
Darstellung sowie der zweckmässigern Druckeinrichtung war 
es möglich, den Umfang sehr zu beschränken, den Preis 
mithin wesentlich billiger zu stellen. 

Ausser in Bänden kann das Werk auch in Lie- 
ferungen zu je 20 Ngr., deren bisjetzt 9 erschienen 
sind, durch alle Buchhandlungen bezogen werden. 











Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Die Medhulle-Lent’. 


Ein Polizeiroman. 
on 
T. Ch. ®. Ave- Tallemant, 


Doctor beider Rechte. 
Zweite Auflage. Zwei Theile. 8 Geh. 8 Thlr. 

Während die erfie Auflage dieſes Romans anonym erfchien, 
nennt fih bei der zweiten Auflage als Verfaſſer befjelben 
Dr. And-Lallemant in Lübed, durch gründliche polizeiwiſ⸗ 
jenfchaftliche Werke vortheilhaft befannt. Die „Mechulle⸗Leut“ 
eröffneten eine neue Gattung der Romanliteratur, den Polizei- 
roman, und fanden fiberall eifrige Lefer. Es darf baher für die 
vorliegende zweite Auflage gleiche Theilnahme erwartet werden, 
zumal ber Preis wejentlich billiger geftellt worden if. 





Berantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Druck und Verlag von 8. A, Brochhaus in Leipzig. 


Blätter 
literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöhentlid. 


a HrT. 2 


10. Februar 1870. 





Inhalt: Cine Philofophie in Dialogen. Bon Julius Frauenkädt, — Neue Romane. Bon Oskar Elsner. — Muſilkaliſche 


Literatur. 


Bon Hermann Kopf. — Bom Bucertiſch. — Die Briefe des Generalpoftmeifters von Nagler. — Senilieten. 


(Englifhhe Urtheile Über neue Erſcheinungen ber deutſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Eine Philofophie in Dinlogen. 


Moralisinus oder Emaneipation des Geiſtes. In ſechs Con 
verfationen. Wien, Gerold’s Sohn. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 


Neben den philofophifchen Schriften, bie ſich an ein bes 
fimmtes, zur Geltung gelangtes Syftem oder an eine be⸗ 
ſtimmte Schule anfchliegen, gehen immer noch welche einher, 
die im feinem nachweislichen hiſtoriſchen Zuſammenhange 
ſtehen, die vielmehr ganz von vorn anfangen und, als 
ob bisher noch nichts gefunden und fetgeftellt wäre, die 
Wahrheit aus eigenen Mitteln zu finden und feftzuftellen 
ſuchen. 

Zu dieſen unabhängigen Schriften gehört auch bie 
genannte, welche eine philoſophiſche Weltanſchauung in 
dialogiſcher Yorm enthält. Was zunächſt die dialo- 
giſche Form betrifft,. fo Hat fie uns an einen beachtens - 
werthen Ausſpruch Schopenhauer’3 erinnert, Diefer jagt 
nämlid, daß tiefe philofophifche Wahrheiten wol nie 
auf dem Wege des gemeinfchaftlichen Denkens, im Dialog, 
zu Tage gefördert werden. Wohl aber fei ein ſolches 
ehr dienlich zur Borübung, zum Aufjagen der Probleme, 
zur DVentilation derjelben, und nachher zur Prüfung, 
Eontrole und Kritik der anfgeftellten Löſung. In diefem 
Sinne jeien and Plato's Gefpräche abgefaßt: 

As Form der Mittheilung philoſophiſcher Gedauken ift 
ber geſchriebene Dialog nur da zwedmäßig, wo der Gegenftand 
zmei, oder mehrere, ganz verſchiedene, wol gar entgegengefeßte 
Anfihten zuläßt, Über welche entweder das Urteil dem Lefer 
ameimgeftellt bleiben fol, oder welche zufammengenommen fi 
zum vollfändigen und richtigen Berftändnig der Sache er» 
gängen: zum exften Fall gehört aud die Widerfegung erhobener 
Einwürfe. Die im folder Abſicht gewählte dialogifhe Form 
muß aber alsdaun dadurch, daß die Berfhiedeuheit der An- 
fichten von Grund aus hervorgehoben und herausgearbeitet ift, 
echt dramatiid werden: es müflen wirklich zwei fpreden. 
Shne dergleichen Abfiht if fie eine müßige Spielerei, wie 
meiftens. (,Parerga und Paralipomena‘“, zweite Auflage, 
32. 2, 8.6). 

Meſſen wir hieran die vorliegenden Dialoge, fo ver- 
hienen fie den Namen Dialoge nit. Es ift fein drama- 

1870, 7. 





tifches Leben in ihnen, es find Feine entgegengefegten An- 
ſichien in ihnen perfonificitt. Denn ber eine der Unter- 
tebenden ift ein Vater, der bereits das fechzigfte Jahr 
überfchritten, ber andere fein Sohn, ber das breißigfte 
Jahr erreicht hat. Der Bater hat dem Sohne ver» 
ſprochen, ihm, wenn ex das dreißigfte Jahr erreicht Haben 
wird, feine Ideen „über den wahren und richtigen Ber 
griff von ber Eriſtenz bes Univerſums“ mitzutheilen, und 
Löft nun dies Verſprechen. Der Vater bocirt feitenlang, 
der Sohn Hört anbädtig zu, Aufßert Häufig fein Er- 
ſtaunen und fein Entzitden über die vernommenen, ihm 
ganz neuen Lehren, madt nur höchſt felten fleptifche Ge- 
genbemerfungen und läßt fi alsdann immer ſehr leicht 
vom Bater beſchwichtigen. Die dialogiſche Form ift alfo 
hier, wie meiftens, „eine müßige Gpielerei“; es fehlt 
das Aufeinanderplagen der Geifter, es fehlt bie Diafektif, 
Die Pietät des Sohnes geht fo weit, bag er an einer 
Stelle auf das Bernommene fagt: 

Mein Bater, kindliche Rüdfiht Hält mic einigermaßen 
ab, auf all das, fo logiſch richtig es auch fein mag, rüdhalt- 
loſe Bemerkungen zu machen. J 

Hierauf der Vater: 

Mein Sohn, ich wünfde durchaus nicht, daß dur dir Bin. 
ſchtlich deiner Bemerkungen und Einwendungen irgendwelchen 
Zwang auferlegen ſollſt. Im Gegentheil; gegenfeitige deud- 
haftfofigleit, und zwar in vollkommenen Maße, habe ich ſchon 
zu Anfang unferer Converfation als die Bafis genannt, mittels 
welcher allein wir unfer Ziel erreichen Lönnen. Ich verlange weder 
von dir, nod) vom irgendjemand anderm, mir in irgendetwas, 
etwa aus Gefälligleit oder aus irgendeiner fonftigen Rüdficht, 
beizupflichten. @erade das Gegentheil; alles, was id) winfde, 
if, daß bei Beurtheilung meiner Enthüllungen keinerlei Rüd- 
ſichten und Parteilichkeiten, für oder gegen, obwalten; biele 
mehr, daß dieſelbe vollfommen vorurtheilsfrei fe. Mein 
Sohn, id fordere Zufimmung, fordere fe unparteiiſch, fordere 
fie vollftändig, fordere fie von Rechts wegen und von jeder- 
mann, fordere fie im Namen der Wahrheit. It fpric, 
mein Sohn, was haft du einzuwenden? 

Hierauf wird denn der Sohn etwas muthiger, bleibt 


13 





a use 


98 Eine Philoſophie in Dialogen. 


aber im ganzen immer noch fehr fchüchtern und fpielt 
eine fehr untergeordnete Nolle. 

Was den Inhalt der ſechs „Sonverfationen‘ betrifft, 
jo befteht er in der Entwidelung und Begründung von 
zwanzig zum voraus vom Vater aufgeftellten Theſen, die 
er „Schlüffe” nennt. 

Da diefe zwanzig „Schlüffe” das ganze Syftem des 
Vaters in nuce enthalten, fo theilen wir fie bier mit. 

Schluß I. Es gibt feine zwei Dinge, felbft von derfelben 
Gattung, die nicht irgendwie voneinander verjchieden find. 
Dafjelbe gilt von Ereigniffen, Wahrnehmungen, Anſichten, Ge⸗ 
danken und Seen. 

Schluß II Es kann feine zwei Dinge, felbft von der- 
felben Gattung, geben, die nicht irgendwie voneinander ver» 
ſchieden find. Daffelbe gilt von Ereigniffen, Wahrnehmungen, 
Anfichten, Gedanken und Ideen. Auch Dinge, Ereignifje u. |. w., 


die nicht zu derfelben Zeit exiſtiren, find, felbft wenn nod jo. 


ähnlich, irgendwie voneinander verſchieden. 

Schluß III. Diefe Verſchiedenheiten aller Dinge und Er⸗ 
eigniſſe find unendlich. 
Schluß IV. Dieſe unendlichen Verſchiedenheiten der Dinge 
und Ereiguiſſe vertheilen fi nad Graden und Stufen, wovon 
jedes zur Verkörperung irgendeiner Entwidelungsphaje der 
Wahrheiten und Weisheiten dient. 

Schluß V. zeit und Creigniffe, Raum und Dinge bilden 
das Univerfum. Das Stattfinden der Ereigniffe gibt die Zeit, 
das Borhandenfein der Dinge gibt den Raum. 

Schluß VI. Da die Berfchiedenheiten der Dinge und Er⸗ 
eigniffe, jelbft wenn von derſelben Art und Gattung, uuendlich 
find, fo geht hervor, daß Zeit und Raum — aljo das Uni- 
verfum — unendlid jein müſſen, nämlich ohne Anfang und 
obne Ende. 

’ . Schluß VII. Da die Verſchiedenheiten aller Dinge, Er- 
eigniffe u. f. w. unendlich find, und fich in unendlich verſchie⸗ 
denen Graben und Stufen vertheilen, fo geht hervor, daß nir- 
gends und niemals irgendetwas volllommen fein Tan. Voll⸗ 
tommen im firengfien Sinne kann ein Ding oder Ereigniß 
nur dann fein, wenn es in allen Eigenſchaften, die es haben 
ann, gleichzeitig volllommen ift und immer fo bleibt. Iſt 
aber nichts im Univerfum wahrhaft volllonımen, jo muß alles 
pervolllommnungs- und entwidelungsfähig fein, und zwar nur 
bis zu einer dem betreffenden Dinge oder Creignifje gezogenen 
Grenze. 

& Ing VIII. Die Eriftenz eines Dinges oder Ereigniſſes 
beginnt abjolut erft dann wahr und richtig zu fein, wenn 
außer demſelben noch ein anderes exiſtirt. 

Schluß IX. Iſt aber die Eriftenz eines Dinges oder Er⸗ 
eigniffes zu einer Zeit wahr und richtig, fo muß es aud zu 
allen andern Zeiten fo fein. In andern Worten: die Wahr- 
heit umd Richtigkeit der Eriftenz der Dinge und Ereigniffe ift 
ohne Anfang und ohne Ende. 

Schluß X. Demzufolge fanı das, was nicht zu irgend» 
einer Zeit in Wirklichkeit eriftirt, abfolut nicht wahr und 
richtig fein. Was nach dem beftehenden Raturgejegen — ent» 
flanden aus den Weisheiten und Wahrheiten — möglich war 
und richtig if, aber bisjegt unſers Wiffens noch nicht ges 
ſchehen, ift infofern wahr und richtig, daß man mit Gemwißheit 
behaupten kaun, es bat ſchon anf einem der andern Himmels⸗ 
körper flattgefunden oder e8 wird in Zukunft irgendwo flatt- 


uden. 
r Schluß XI. Was wahr und richtig ift, muß nicht allein 
in Wirklichkeit exiſtiren, ſammt allen feinen unendlihen Graden 
und Stufen, fondern aud) feitens der finnlich begabten Ereaturen 
wahrgenommen werben, melde Wahrnehmung in unendlich 
verfchiedenen Graden und Stufen gefchehen muß. 
Shin XIL Alles, was ift, muß fein, und alles, was 
fein muß, ift. 
Schluß XII. Aus Obigem geht hervor, daß da8 Univer⸗ 
fum — beftehend aus dem umendlihen Raume ſammt zahl- 
ofen und unendlich verfchiedenen Dingen darin, und aus un⸗ 
endlichen, aufeinanderfolgenben unendlich verfchiedenen Ereig⸗ 


niffen ſammt der dazu nothivendigen unendliden Zeit — abe 
folut nur fo, wie es eriflirt, geſchieht und eingeteilt ift, fein 
muß und nit anders fein faun. Unfere Erde ſammt allem, 
was darauf und darin ift, kann, vermöge ihrer Stufe, die fie 
unter den Himmelskörpern einnimmt, abfolut nit anders 
jein, als wie fie eben ift, und alles, was darauf und darin 
vorgeht, ift gleichfalls eine Folge biefer ihrer begrenzten Stufe 
und daher nothwendig. 

Schluß XIV. Im Univerfum ift überall, wo e8 Dinge 
gibt, immer Leben, Wärme und Bewegung vorhanden; folglich 
auch Wahrheit nnd Weisheit fı ihren unendlichen Graben und 
Stufen. Nie und nirgends tritt bei Dingen, fowie bei Er- 
eigniffen ein völliger Stillfiand ein. Alles regenerirt fi) end» 
dh wieder, mithin muß alles immer und überall fi im 
Entwidelungsprocefje befinden. Unmittelbar auf die völlige 
Entwidlung eines Dinges zu feiner jeßigen Beſtimmung folgt - 
defjen raſche, allmähliche oder fehr langſame Auflöfung, um 
dann, ohne die geringfte Unterbredgung, ſich zu irgendetwas zu 
vegeneriren; denn aus der Regeneration der Dinge gehen ent» 
weder Ähnliche oder ganz andere Dinge hervor. 

Schluß XV. Die Idee vom Rechte ift die Bafis aller 
Wahrheiten und Weisheiten und daher als die Idee aller Ideen 
zu betrachten. 

Schluß XVI Alles, was ift und geſchieht, ift redit. 
Denn etwas ift oder gefchieht, was unrecht fcheint, fo ift dies 
ebenfalls von Rechtswegen fo nothwendig, mithin auch redt. 

Schluß XVIL Die Auffafjung fowol, als die Ausiibung 
bes Rechts feitens der finnlich begabten Kreaturen, iſt, wie 
alles andere, unendlich verfchieden, nad unendlichen Graben 
und Stufen. 

Schluß XVIII. Es gibt Leine andere Pfliht als die⸗ 
jenige, die das Recht vorfchreibt. 

Schluß XIX. Es gibt Feine Pflicht, die nicht allgemein 
wäre. Es ift daher jedenfalls pflihtwidrig, irgendeine Pflicht 
und deren beſtmögliche Auffaffung und Ausübung geheim zu 
halten; vielmehr ift es eine der erften Pflichten, alle Pflichten 
al® folhe unter allen Menſchen befimöglich zu verbreiten 
und deren allgemeine richtige Auffaffung und beftmögfiche 
Ausübung zu erftreben. 

Schluß XX. Die erfte und wichtigfte Pflicht des Menſchen 
muß aljo fein, den beſtmöglichen Grad der Auffaffung des 
Rechts zu erlangen und beftmöglich danach zu handeln. 

Dies find die zwanzig Säge, um welche fich bie „Conver⸗ 
ſation“ zwifchen Vater und Sohn drehen. Die vierzehn 
erſten Säge find überwiegend metaphufifcher, die ſechs 
legten Säge überwiegend moralifcher Art, und von biefen 
legtern hat das Buch den Titel „Moralismus oder 
Emancipation des Geiſtes“ erhalten. Sie bezeichnen das 
Ziel, dem der Verfaſſer zuftrebt. 

Es ift keine geringe Meinung, die der Verfafſer von 
feinen Sägen hat, Am Anfange der zweiten Conper- 
fation fehildert der „Bater” dem „Sohne“ bie innern 
geiftigen Kämpfe, bie er durchgemacht. Es befeftigt fich 
nach vielem Ringen in ihm die Ueberzeugung: 1) daß 
feine ber vorhandenen Keligionen wahr und richtig fein 
könne; 2) daß bisjegt noch niemand einen richtigen Auf- 
ſchluß gegeben hat, wie man, abgejehen von Religion 
überhaupt, die Eriftenz und den wahren Zweck des Uni⸗ 
verfums im allgemeinen, und die Eriftenzs und den 
wahren Zwed des Menfchen fpeciell nur leidlich bes 
greifen Fönne, ohne auf unbcantwortbare Cardinalfragen 
zu ftoßen. Andererſeits befeftigte fich in ihm zugleich 
auch die Ueberzeugung: 1) daß eine wahre und richtige 
Anfiht über das Dafein aller unendlichen Dinge und 
Ereigniffe im unendlichen Univerfum und deren wahren 
und richtigen Zweck eriftirt, und zwar eine folche, die 
alle, alle Fragen befeitigt und einen allfeitig zufrieden⸗ 


Eine PHilofophie in Dialogen. 


ftellenden und berubigenden Aufſchluß darbietet, wie denn 
überhaupt alles, mas ift, eine wahre und richtige Urſache 
feiner Eriftenz habe, und 2) daß diefe Anſicht und diefer 
Aufſchluß don dem menfchlichen Geifte, trog feiner Ber 
fchränftheit, wenn auch nicht gründlich, fo doch größten- 
theils erfaßt werden könne. 

Seitdem verfolgten meine Ideen blos eine Richtung; alle 
meine Gedanken, al mein Sinnen und Forſchen hatte blos 
eine Bafis, die nämlich, daß alles, was ift, recht ift, d. 5. wo 
oder wann im Univerfum Unrecht iR und geidieht, das Recht es 
fo nothwendig mit fi bringt, und daher gleichſam von Rechts 
wegen ift und gefdieht. Endlich, nad einem vierzigjährigen 
tiefen und ununterbrohenen Studium iſl's mir gelungen, eben 
diefe wahre umd mithin aud nur einzig richtige Anficht zw 
erfoffen, und jeitbem bin ic) auch vollfommen beruhigt durch 
das freudige Bewußtſein, alle Religions. und Schöpfungsfragen 
gelöft und dadurch das geheimnißvolle Lit der Wahrheit und 
der Erleuchtung emtdedt zu haben. 


Wir wollen nun zwar nicht Teugnen, daß eine optie 
miftifche Weltanfhauung, wie die in den „Converfationen” 
entwidelte, eine Anſchauung, berzufolge: alles, was ift, 
fein muß; in jeder der unendlichen Verſchiedenheiten ber 
Dinge und Creigniffe eine Wahrheit und Meisheit ſich 
verförpert; alles, wenn auch nicht volfommen, doch ver« 
volltomnmungsfähig ift; alles, was gefchieht, recht ift und 
auch das Unrecht notwendig, mithin Recht ift — wir 
wollen nicht leugnen, daß eine folhe optimiftiiche An- 
ſchauung auf da8 Gemüth fehr beruhigend und befriedi- 
gend wirken muß. ber eine Anſicht, die das Herz 
das Gemüth befriedigt, befriedigt nicht immer auch ben 
Kopf. Trotz aller Mühe, die der „Vater dem „Sohne” 
gegenüber ſich mit Beweifen und logiſchen Debuctionen gibt, 
macht doc das Ganze auf den fritifchen Leſer nur dem 
Eindrud eines Glaubensbefenntniffes. Diefes Glaubens- 
befenntniß ift zwar mit feinem die Gerechtigkeit über 
alles jegenden, ja recht eigentlich zum Gott erhebenben 
Moralisums und mit feiner Forderung der „Emancipa- 
tion des Geiſtes“ ein ſehr ebles, zeigt and, daß ber 
Geift des Autors felbft emancipirt genug bon herrſchenden 
Borurtheilen it, um ber Wahrheit zugänglich zu fein. 
Aber wiſſenſchaftlichen Werth idnnen wir dieſen „Con 
verjationen“ nicht beilegen. Es fehlt dem Autor an ber 
echten wiſſenſchaftlichen Methode. Er verwechſelt logiſche 
Denkbarfeit mit realer Wahrheit. Weil ſich die Dinge fo 
denlen laſſen, wie er fie fich denkt und ſich auf feinem 
Standpunkte genöthigt fühlt fie zu denken, darum Hält 
er diefe Axt, fie zu denken, für wahr. Er verführt dog« 
matiſch, nicht kritiſch. Won a priori als wahr ange 
nommtenen Sägen aus deducirt er was fein muß, ohne die 
Säge felbft einer Prüfung zu unterwerfen. Die Be 
meife, die er beibringt, find Häufig nur Scheinbeweife, 
umd die Widerlegungen ber vom „Sohne” erhobenen Ein- 
wendungen nur Ausflüchte. Es fehlt in den Beweiſen 
und Widerlegungen nit an Vernünftelei und Gophi« 
ſterei. Der Sohn macht 5. B. gegen die in Schluß IV 
ausgefprodene Behauptung bie ſehr triftige Cinmen« 
dung, bag doch unmöglich alle die unendlichen Ver - 
ſchiedenheilen der Dinge und Ereigniffe bis auf bie 
einften und unbebentendften einen Zweck Haben oder 
gar ebenfo viele verſchiedene Wahrheiten und Weisheiten 
und deren Entwidelnngen enthalten Tönnen, da es ja 





99 


Fr) ganz zufällige Verfchiebenheiten gebe. Hierauf der 
ater: 

Du irrſt, mein Sohn. Du vergißt den Schluß XIT: „Alle, 
was if, muß fein‘, alfo ein Zufall, wie du es nennft, ift ja, 
und was ift, muß fein; da num dieſer Zufall fein muß, fo 
Tann er nicht mehr nıit „, Zufal” bezeichnet werden! 

Als ob damit, daß der Zufall fein muß, widerlegt 
wäre, daß es zufällige Verfchiedenheiten gebe. Den 
Charakter der Zufäligkeit Tann doc etwas nicht das 
Bud, geleeen, daß die Zufälligkeit felbft eine nothwen · 
ige ift. 

Nicht beſſer als diefe Widerlegung des „Sohnes“ ift 
eine andere, Der „Vater“ Hatte nämlich den Sat vere 
faßt: „Was wahr ifl, exiftirt, und was eriflirt, iſt wahr; 
was nicht wahr ift, eriftirt nicht, und was nicht eriſtirt, 
iſt nicht wahr.“ Der „Sohn“ macht die treffende Ein 
wendung: „Sie fagen, was nicht wahr ift, eriftirt nicht; 
und eine Lüge?“ Hierauf der „Vater“: 

Daß die Luge unter Menſchen eriftirt, if leider eine volle 
Wahrheit. Cs ift alfo wahr, daß bie Lüge eriflirt, und zwar 
bildet die Lüge eine der bedentendften Unvoltommenheiten des 
Menfhen, welche Unvolltommenheiten dem Grabe und der 
Stufe, die die Menſchen als Hauptereaturen der Erde vertreten, 
exact entfprechen und daher uneriaßlich find. 

Solcher fophiftifchen Art find noch mande der Ant« 
worten, die in dieſen Gonverfationen der Vater dem 
Sohne gibt. Der Eindrud eines redlichen Ringens nad 
Wahrheit, den fonft diefelben machen, wirb dadurch ger 
ſchwächt. Wahrheitsliebe und Selbftbelügung gehen bunt 
durdjeinander. Mit feinem Sage: „Was fein muß, ift“, 
thut der Vater Wunder; denn fobald er nur etwas als 
fein milſſend fich vorftelt, ift «8 aud. Ob dann auch 
wirklich das, was er als fein müſſend voransfegt, fein 
muß, darüber macht er ſich fein Kopfbrechen. Die per- 
fönliche Unfterblichfeit muß fein, alfo ift fle. 

Die nothwendige Eriftenz eines Jenfeits if einmal con» 
ſtatirt; die Forteriffenz unſers Geiftes nad; dem Tode, aus- 
geftattet mit Gefühl, Empfindung, Rüderinnerung und felbftäne 
digem Bewußtſein ſcheint uns wunderbar, ebenfo, wie und wo 
im Jenſeits diefer Geift befohnt oder befttaft wird, wer oder 
was all diejes leitet, überficht und ausführt; al dies ift für 
unfer beichränktes Geiftesvermögen unerforihlih, wie vieles 
andere, allein ung genügt bie Ueberzeugung, daß all bies dennoch 
in Wirklichteit ift, weil es fein muß. 

Der Sohn fragt den Vater, ob nach feinem Syſtem 
Todtenbeftattungen und Seelenmeffen zuläffig find, und 
auf welche Art diefelben ftattfinden follen. 

Bater. Bezüglich der erften if zu bemerken, daß fie ine 
fofern von großer Wichtigkeit für die Hingefhiebenen find, 
als fie feitene der am ihnen Theilnehmenden nicht allein eine 
Ehrenbezeigung manifeftiren, wie lieb und thener ihnen der 
Todte gewefen und wie fie feinen Lebenslauf würdigen, fondern 
und Hauptfähfid eine fräftige Yürfprade ober Fürbitte für 
ihn hervorrufen, welche Flrbitte an die Gerechtigkeit zu richten 
iſt, aufbaß fie bie verdiente Beſtrafung im Jenfeits, foviel als 
mit Recht vereinbarlih, vermindern möge. 

Sohn. Wie kann auch die fräftigfte Fürbitte die Miffer 
that weniger firafbar maden und die verdiente Strafe vers 
ringern? Bringt die das Recht mit fih? 

Bater. Ganz gewiß bringt dies das Recht mit fi, wenn 
und fo fange bie Aifesite die eigene, d. 5. die Bitte des Miffes 
thäters unterftügt, was doch hier ber Fall if; denn es ift doch 
wol mit Gewißheit anzunehmen, daß ber hingefdiedene Geift, 
ansgeftattet mit Gefühl, Empfindung, Gelbftbewußitfein und 
Rüderinnerung, alfo mit vollerwachtem Gewiſſen und voller 

13* 





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Erkenntniß feiner verbienten Beſtrafung, nicht unterlaffen wird, 
ununterbroden die inbrünftigfien Gebete an die Gerechtigkeit 
zu richten. Die kräftige Fürbitte feitene der Lebenden, vereint 
mit der eigenen Bitte, bat dann von Rechts wegen große 
Macht und beeinflußt wonicht eine gänzliche Befeitigung, 
fo doch eine Verminderung der jenfeitlihen gerechten Beſtra⸗ 
fung, welche, wie ich oben erflärte, wahrſcheinlich in unfag- 
lichen Gewiſſensqualen befteht; der Hingefchiedene Geiſt nämlich, 
wol wiffend, welche kräftige Fürbitte er feitens der Lebenden 
zu erwarten bat, findet dadurch eine Erleichterung feiner Ge- 
wiffensqualen und fühlt fi ermuthigt, diefe mebrfeitige Für- 
bitte mit feiner eigenen Bitte zu vereinen, und fo eher Ver⸗ 
zeihung und endlich gänzlihe Erlöfung und Befreiung von 
jeinen Gewiffensqualen zu erhoffen. | 

Als 0b Gewiffensgualen unter die Kategorie der» 
jenigen Strafen gehörten, die von außen zugefchidt 
werden und von außen Erleichterung oder gänzliche DBe- 
feitigung erfahren können! Gegen Gewiſſensqualen Hilft 
feine Würbitte, fondern nur die eigene innere Um⸗ 
wanblung, die Wiedergeburt des Mifjethätere. ‘Der Ber- 
faffer ſcheint Katholik zu fein. | 

Während die theoretifchen Anfichten des Verfaſſers 
einen von der Gefchichte der Philofophie unberührt ge⸗ 
bliebenen Laien verrathen, der zwifchen immanentem und 
transfcendentem Gebrauch der Begriffe und Grundfäge 
feinen Unterfchied macht: fo verrathen dagegen feine 
praftifchen Anfichten einen edeln, fir Recht und Freiheit 
begeifterten Schwärmer, der fich in der Zukunft ein gol- 
benes Zeitalter, ein moralifches Utopien träumt, wo all 
gemeine Zufriedenheit und Glüdfeligleit unter den Men- 
fchen herrſchen, nachdem man zu ber Erfenntniß ge 
fommen fein wird, daß alles Unglüd, aller Sammer, 
Sram und Kummer, alle Sorgen. und Widerwärtigkeiten 
bie Menfchen fich felber und gegenjeitig bereiten, und 
infolge deſſen zu dem Entjchluffe gelommen fein wird, 
fortan nicht mehr jo dumm und ungerecht zu fein. 

Um zu diefem glorreiden Zuftand allgemeiner Ver⸗ 
brüderung, völliger Gleichheit aller Menfchen, gleicher 
Vertheilung alles Nützlichen und Nöthigen, gegenfeitiger 
Liebe umd Achtung zu gelangen, hält ber Verfaſſer 
nur für nötig: 1) das Recht foweit als möglich zu 
erforfchen und zu ergründen und fich nicht blos in der 
That, jondern auch in Gedanken immer fireng daran zu 
halten; 2) eben das erforjchte und ergrüindete Recht und 
defien allgemeine Ausübung, foviel als nur möglich, feinen 
Nebenmenfchen beizubringen und zu verbreiten. Wer 
irgendetwas Gutes weiß und c8 feinem Nebenmenfchen 
vorenthält, es ihm nicht mittheilt, gleichviel ob darum 
angegangen ober nicht, der begehe ſchweres Unrecht, denn 
die beftmögliche Verbreitung des Guten fei eine ber 
heiligften Pflichten. 

Wenn eine Gefellfchaft zufammentritt, zum Zwecke, irgend- 
etwas Gutes ausſchließlich ihren Mitgliedern zugänglich zu 
machen, eine ſolche Gefellfchaft begeht, fammt und jonders, 
ſchweres Unrecht, denn fomwie die Strahlen der Sonne Licht 
und Wärme für jeden verbreiten, jo muß auch das Gute 
jedem zugänglich gemacht werden. Weberhaupt jebe Geheim⸗ 
thuerei ift tadelhaft nnd unrecht, es müßten denn triftige und 
ſtichhaltige Gründe dafür vorhanden fein. In der Regel aber 
hält fi nur das Boſſe geheim, und zwar aus Furcht, in den 
böſen Abfihten geftört zu werden. 

Bon diefem Standpunkt aus befämpft der Verfaſſer 
die Freimaurer, er nennt diefelben „Geheimmaurer“, 


Eine Philoſophie in Dialogen. 


weil fie alles Gute, was ihr Inſtitut in fich birgt, ſtreng 
geheim balten. Wenn es weiter nichts als Moral ift, 
was die Freimaurerei Iehre, weshalb ein Geheimniß 
daraus mahen? Handelten die Gründer, Beſchützer und 
Bekenner des Freimaurerthums ftreng nad) Recht, fo 
müßten ſie ihrem Inſtitute den Namen, den glorreichen 
Namen „Frei⸗Moralismus“ geben, dann aber dürften ſie 
auch ihre Lehren nicht im mindeſten geheim halten. Ein 
ſolches Inſtitut des „Frei⸗“ d. h. „Rein⸗Moralismus“ 
hofft der Verfaſſer von der Zukunft. 

Es wird, es muß dereinſt, nicht nur ein goldenes, ſondern 
auch ein moraliſches Zeitalter hereinbrechen, ein Zeitalter der 
Gerechtigkeit, des Moralismus, ein Zeitalter des Rechts, der 
Wahrheit und Weisheit, wo die wahre Erleuchtung unter 
Menſchen allenthalben eriftiren wird, und in welchem die Men- 
fhen in Wirklichkeit fo fein werden, wie fie fein jollen, nämlich 
leben und fterben fireng nad) Recht, Wahrheit und Weisheit; 
fie werden das Hecht beſtmöglich erforiht und ergrlindet 
haben und fireng danach handeln, fie werben alle Srei- Mora- 
fiften fein, indem fie alle Morvalpflichten genau erfüllen, denn 
fie werden wiffen, was Recht und Unrecht ift, das erftere 
wählen und das Iektere meiden. 


Zur beftmöglicäften Erforfhung und Verbreitung des 
Rechts fordert der Verfaſſer allgemeine und volljtändige 
Emaneipation bes menfchlichen Geiſtes. Die Masken 
follen fallen, um den völlig emancipirten Geift frei 
walten zu laffen. Die Scheidewänbe, die Menſchen von 
Menſchen trennen, follen wegfallen. Recht, Wahrheit 
und Weisheit allein fol als die wahre Gottheit anerkannt 
werden; Religionen jeder Art follen gänzlich aufhören, 
die durch fie entflandenen focialen oder fonftigen Diffe- 
renzen follen gänzlich befeitigt und an deren Stelle der 
nadte Moralismus eingefeßt werden. Es fol fortan 
auf der ganzen Erde nur Moraliften geben. „Kurz, alle 
Menfhen müſſen allmählich zur Ueberzeugung gelangen, 
daß Recht die Hauptibee, ober die. Idee aller Ideen ift, 
daß Recht von Rechts wegen alles, alfo das ganze un⸗ 
endliche Univerjum beherrfcht.” Um die der Anerkennung 
und Ausübung des Rechts entgegenftehenden Geiſtes⸗ und 
Herzenddispofitionen zu bemältigen, follen Männer zu⸗ 
fammentreten, Männer der Wahrheit, die Macht und 
Einfluß haben und deren Stimme Gehör findet; Männer 
von Weisheit, Geift und Energie, infpirirt von ber hohen 
Wichtigkeit ihrer Miffion und bereit, der guten Sache 
große Opfer zu bringen; Männer von Cloguenz und 
von liebenswürdigem und einnehmenden Benehmen, un⸗ 
bejcholtenen Charakters, erleuchtet, begeiftert, ducchdrungen 
bon dem glorreichen vorgeftedten Ziele ihres edeln Bes 
rufs, kurz Männer, deren Devife ift: Wahrheit, Weis- 
beit, Recht, Moralismus, Smancipation des Geiftes. 
Solche Münner follen zufammentreten und ein allgemeines 
Moralinftitut gründen, auch unabläffig dahin wirken, 
diefes Inftitut allerorts populär zu machen. Univerfitäten 
und Collegien follen in jeder Stabt errichtet werden, wo 
ausſchließlich Moral gelehrt wird; Clubs und fonftige 
Societäten, wo über die Erforſchung und Ergründung 
des Rechts debattirt wird; Schulen, wo die Kinder über 
Recht und Unrecht unterrichtet werden und ihnen Feſt⸗ 
haltung des erftern, Verabſcheuung des letztern eingeprägt 
wird, Tempel, worin feierlicher Gottesbienft abgehalten, 
nämlich inbrünftige Gebete an die Gerechtigkeit gerichtet 
werden, um Verzeihung für verübte Rechtsverletzung zu 


Neue Romane. 


erlangen, und von der Kanzel herab der reine Mora- 
lismus gepredigt wird. 

Kurz, e8 muß dahin kommen, daß das Forfhen und 
Handeln nad) Reht fih almählid unter allen Schigten und 
Klafjen der Menſchen verbreitet, daß die Menſchen im großen 
und ganzen reif und empfänglich werden fir bie einzig wahre 
amd richtige Löfung des großen Geheimniffes, und daß die 
Rechtslehren, Rechtsgefege und Redtspflichten allgemein an« 
erfannt und beobadjtet werben. 

Nach Erreichung dieſes glorreichen Ziels breche ſich 
die Erleuchtung im Rechte von ſelbſt weitere Bahn; man 
tomme alsdann zur Erkenntniß, daß die allgemeine Ein- 
und Ausführung eines Gleichheitsgeſetzes, ähnlich bem 
des alten fpartanifchen Legislators, das einzige gerechte 
Auslunftsmittel fei, die Nechtöverlegungen der Menfchen 
zw verbannen, das Gemeinglüd und bie Wohlfahrt aller 
zu begründen und beſtmöglich zu fördern. 

An der Nealifirbarkeit diefes feines Ideale zweifelt 
der Berfaffer nicht im geringften, er Hält es vielmehr 
für gewiß, daß dafjelbe ſich dereinft vollſtändig vermirk- 
lichen werde. Es mögen noch viele Jahrtauſende bie 
dahin verftreichen, aber gewiß, endlich werde doch eine 
neue Aera anbreden, eine era, wo „bie ehren des 
Moralismus und des Rechts allenthalben üppig und in 
größter Pracht prangen“; eine Aera, wo Gerechtigkeit 





101 


„in ihrer wahren Majeftät herrſcht, regiert, angebetet 
und anerkannt wird als bie alleinige und einzige Gott - 
heit im unendlichen Univerfum‘; eine Aera, wo Zanf 
und Streit, Mord und Krieg, wo das Böfe überhaupt 
gar nicht mehr eriftiren wird; eine Aera, wo Lug und 
Trug, Liſt und Schlauheit, Neid und Haß nicht einmal 
dem Namen nad unter den Menſchen befannt fein 
werben; eine Aera, wo allem Unglüd, Sammer, Elend 
der Menſchen ein grünbliches Ende gemadt ift; eine 
Aera ber Freiheit und Gleichheit, der Kunft und Wiffen- 
ſchaft, der Induftrie und Cultur, ber geiftigen und phy- 
ſiſchen Thätigkeit; eine Aera der Wahrheit und Weis. 
heit, des wahren Friedens und der Rechtserkenntniß; 
eine Aera der wahren und dauernden Zufriedenheit und 
Stüdfeligkeit; eine Wera der völligen Gleichheit und auf - 
richtigen Verbrüderung der ganzen Menfchheit. 

It nun gleich die Schwärmerei des Verfafſers eine 
eble, fo ift es doch immer Schwärmerei. Eine nüchterne 
Unterſuchung des Begriffs der Gerechtigkeit — dieſer 
Gottheit des Verfaſſers — Hütte ihm zu der Weberzen- 
gung bringen Können, daß Geredhtigfeit durchaus nicht 
jene Gleichheit fordert, die er im ihrem Namen verlangt 
und deren Verwirklichung er von ber Zukunft Hofft. 

Julius Srauenflädt. 


Nene Romane. 


1. Der Fluch der Armuth. Roman von Hermann Bjurften. 
Aus dem Schwebilden von Ferdinand Zeißberg. Drei 
Bände. Bien, Müller. 1869. 8. 2 Thlr. 

Diefer Noman übertrifft an Ungenießbarfeit viele 
Productionen aus dieſem Gebiete. Bjurſten erzählt 
uns von Söhnen, die ihre Väter morden, von Bätern, 
die ihre Kinder tödten und die nicht getöbteten im Schmuz 
des Pafters untergehen laffen, ferner von Todten, bie 
wieder Iebendig werden, und ähnlichen heitern Dingen, 
umd zwar im ſehr origineller Weiſe. Gehe und 
mehr Geſchichten, fümmtlih mit der früheften Sind» 
Beit ihrer Helden beginnend, laufen nebeneinander her, 
im alleräußerlichften Zufammenhang miteinander. Gleich⸗ 
wol wäre aus dem Stoff etwas zu machen gemefen. 
Den Kampf eines begabten Menſchen mit der Ungunft 
der Berhältniffe darzuitellen, fein Ringen mit der Armuth 
und Niedrigkeit, in die feine Geburt ihn verfegt, das iſt 
eine nicht zu verachtende Aufgabe. Aber zu ihrer Löſung 
gehört eine gewaltige Kraft, ein wirkliches Talent. Das 
fcheint uns Hermann Yjurften nicht zu fein, denn er 
verarbeitete feinen Vorwurf zu einem Makulaturroman 
der gewöhnlichften Sorte. Damit ift alles gefagt. Zum 
Schluß wollen wir nit unterlaffen, unfere Verwunderung 
darüber auszufprechen, daß an ein fo verfehlte Product 
des Auslandes die Mühe und bie Koften einer deutſchen 
Ueberfegung verfchwendet werden Eonnten. 

2. Satan und Cherub. Driginalroman in vier Bänden von 


Daniel von Käszony. Leipzig, Minde. 1869. 8. 
4 Thlr. 


Das Gefühl, weldes die Lektüre dieſes Romans er- 
wedt, ift ein aus Unwillen und Bedauern zufammengejegtes. 





Wir find empört über die Roheit, bie fi darin offen 
bart, bedauern fie aber zugleich, weil wir es hier mit 
einer entſchiedenen Begabung zu thun haben. Cs ift 
Methode im Wahnfinn. Dazu kommt, daß an ein Ber- 
laſſen des einmal betretenen Pfades feitens des Autors 
Taum zu benfen ift, da Käszony nicht mehr zu ben 
jugendlichen Schriftftellern zu gehören ſcheint. Auch er 
ift am dem fieberhaften Verlangen der Maffe nad) ger 
waltſamen unnatürlihen Echauffements zu Grunde ge- 
gangen. Die Ingrebienzien zu feinem Roman find 
diefelben wie zu dem borerwähnten Roman, nur ſtärker, 
padender: Ungeheuerlichkeiten über Ungehenerlichfeiten, raf⸗ 
finirte Betrügereien, Diebftähle, Fäljhungen, Morde — 
was will man mehr! Man glaubt, einen rieflgen 
Herentefiel vor fi zu Haben, aus bem bie widerlichſien 
Dämpfe auffteigen. Und doch verräth ſich Talent. Die 
Architektur des Romans läßt wenig zu wünſchen übrig, 
den überaus albernen Schluß etwa abgerechnet; es ift 
Spannung und Steigerung da bis zum Ende des britten 
Bandes; ferner überfichtliche Gruppirung und meift ſcharfe 
Charakteriftif, dann und warn zeigt fih aud Sinn für 
pſychologiſche Entwidelung. Es ift ſchade, daß fo viel 
Kraft auf ein Werk verwendet wurde, das in feiner To- 
talität lediglich geeignet ift, die ohnehin ſchon arge Ber- 
wilderung des Geſchmads zu fördern. 

Zwei Schweftern, beide von einem Vater, aber ver 
ſchiedenen Müttern, einander aufs Haar ähnlich, werben 
einer großen Erbſchaft wegen, welche die eine machen foll, 
vertaufcht, d. h. die nichtberechtigte Schweſter wird an 
Stelle der beredjtigten geſetzt. Beide heißen Miranda 
und find nad; des Verfaſſers Meinung die Heldinnen feines 








102 Neue Romane. 


Romans. Im Grunde genommen ift aber nur Dliranda 
der Satan bie Heldin, während Miranda der Cherub 
mehr als Folie dient. Natürlich ift erftere die einge 
drungene, lettere die verbrängte Schwefter. Satan und 
Cherub führen nun einen fehr geſchickt verwidelten Erb» 
ſchaftsproceß, und e8 Hat lange Zeit den Anſchein, ale 
ob der Cherub dabei zu kurz kommen follte, bis die Liebe 
zu einem und demfelben Manne beide vereinigt. Aber 
nur bie Liebe des Satans ift et — ber Cherub findet 
fpäter einen andern Gegenftand feiner Neigung, tritt alfo 
feine Rechte an den frühern Geliebten an ben Satan ab. 
Diefer wird endlich gebändigt, verfühnt fi) mit dem 
Cherub und theilt mit ihm die Erbfchaft, die den ganzen 
Zwiſt hervorgerufen. 

Wie roh ber Berfafler verfährt, ergibt ſich auch aus 
feiner Erzählungsmeife. Fortwährend fällt er aus ber 
Rolle des Erzählers Heraus und tritt vor und als fehr 
ſelbſtbewußter Literat, der es für feine Pflicht hält, uns 
mitzutbeilen, weshalb er in feinem Roman fo und fo zu 
Berle geht. Man leſe I, 57: 

Es ift durchaus und zwar im Intereſſe der Leer noth⸗ 
wendig, daß ſpannende Kapitel auf jenem Punkte vom Berfaffer 
abgebroden werden, mo das Intereſſe der Lejer auf ben höch⸗ 
ftien Gipfel gelangt if. Diefe Oekonomie des romantiſchen 
Werts werben fie beinahe bei allen Romantilern (!) finden, 
es ift gleich wie bei dem Rhein, welcher fi) im Sande verliert, 
um mehrere Meilen böber wieder in Borfchein zu kommen. 
Dies ift die Urſache, daß wir ihnen die Fortfegung des Zwie⸗ 
geipräch® der beiden Better wohlberechnet (!) vorenthalten und 
fie beifammen laffen, geben jedoch das Beriprechen (Il), fie fpäter 
mit dem Inhalte deffelben befannt zu machen. 

Ferner II, 131: 

Wir find wieder im SIntereffe unferer Lefer gezwungen, 
den Faden der Erzählung fallen zu lafien, um ihn dann fpäter 
aufzunehmen, nnd fo wie wir in den legten zwei Kapiteln mit 
der Zeit rückwärts gegangen find, jet um ebenfo viel einen 
Eprung nad vorwärts zu gehen . . . 

©. 205: 

Wie ſchwer wäre e8 auf diefe Kragen zum antworten... . 
Dennod glauben wir auf alle diefe Fragen bejahend antworten 
zu lönnen (}). 

Sodann III, 93: 

Man verzeihe uns biefes kurze Abfchweifen von der Hand» 
fung, in einem Roman paffen an gehöriger Stelle auch gelehrte 
Blitze (!) der ernſten Wiſſenſchaft. 

S. 190: 

Die junge Dame hatte ihren Kranken auf einen Platz im 
Baurhall⸗Garten geführt, wo er ausruhen und ein Sonnenbad 
nehmen konnte, d. h. fein Gefiht war durch den Sonnenſchirm, 
mit weldem ihn Miranda beichattete, vor dem biendenden Lichte 
geihlittt, während fein übriger Körper in der Wärme ſchwim⸗ 
men fonute. Wir gebrauchen diefen Ausdruc blos infolge des 
vorigen, allgemein angenommenen eines Sonnenbabes (!!). 

Wir konnten noch eine ftattliche Blumenlefe derartiger 
Eröffnungen zufammenftellen, denken aber, daß die gege- 
benen Heinen Auszüge fowol dem Leſer als Heren von 
Kaͤszony genligen werben. 


83. Tolle Geſchichten. Ein norddeutſcher Roman von E, von 
Dindlage Zwei Bände, Leipzig, Sclide 1870. 8. 
8 Thlr. 20 Nor. 


E. von Dindlage hat zwar gleichfalls Neigung zu 
Berbrechergefchichten, aber fie behandelt fie wenigftens nur 


als Epifode — freilich zuweilen in folcher Breite, daß 


die Epifode zur Haupthandlung zu werden droht. Wer 
nigften® gilt dies von dem vorliegenden Roman, der um 
vieles beſſer wäre, wenn die fatale Geſchichte der Erbin 
von Krainhorft, die, eine Vergiftung behanbelnd, einen 
höchſt unangenehmen Eindrud macht, fehlte. Die Ge- 
ſchichten dieſes Romans bleiben immer noch toll genug, 
auch wenn diefe tolle DBegebenheit ausgefchieden wird. 
Aber es ſcheint beinahe, als hegten unfere Romanfchreiber 
die Meinung, daß ein Roman ohne derartige Würze nicht 
recht genießbar fei. Wir wollen gegen diefe Anfchauung 
hiermit ernftlich proteftirt haben. Das Berbrechen ift in 
der Dichtung nur dann berechtigt, wenn es als das 
Refultat gewaltiger Conflicte in der Seele eines von 
Grund aus edeln Charakters erfcheint, wie in der Tra⸗ 
gödie. Denn es gilt dann, die gewaltige Kraft bes 
jelbftbeftimmenden freien Willens im Kampf mit der 
gewaltigen Kraft bes Weltgeiftes zu zeigen und durch 
den Untergang des Verbrechers das Sittengefe zu ver⸗ 
herrlichen. Aber ein gemeiner Verbrecher, deſſen Motive 
uns Abſchen flatt Bedauern einflößen, kann niemals ber 
Gegenftand dichterifcher Behandlung fein. 

E. von Dindlage jchildert in ihrem Roman das 
Treiben einer altadelichen Junkergeſellſchaft, die, eingedenk 
ihrer Vorfahren aus der Zeit des Fauſtrechts und im 
Bewußtſein bedeutender phyſiſcher Kraft, glaubt, ſich 
aud im 19. Jahrhundert ganz nad Willfür und mit 
Verachtung jedes Geſetzes geberden zu dürfen. Die 
Junker jagen auf fremden Gebieten, beftehen Kämpfe mit 
den Grenzwächtern, befreien einen Zögling ihrer Darimen, 
der in Gefangenfchaft gerathen, aus einer Feſtung, voll⸗ 
führen mit einem Worte lauter tolle Streiche. Natürlich 
fommt es nun darauf an, dieſe wilde Geſellſchaſt zu 
bündigen, ihre erclufive Stellung unhaltbar zu machen 
und fie fchlieglich gleich andern Sterblichen dem Staats- ' 
organismus einzufügen. Diefe Wandlungen werben theils 
duch die Liebe, theils durch das erwachende reinere 
eiegeägt, theils durch ungünftige äußere Verhältniſſe 
ewirkt. 

Auch hier iſt der Vorwurf bedeutender als die Aus⸗ 
führung. E. von Dincklage hat wenig Begriffe von 
architektoniſchen Bau und Stil. Aber ſie ſieht die 
Welt wenigſtens mit klaren Augen an und weiß durch 
eine gewiſſe Urſprünglichkeit, wenn auch nicht gerade zu 
feſſeln, aber doch eine Zeit lang zu unterhalten. Mehr 
wird ſie mit dem vorliegenden Roman wol auch kaum 
beabſichtigt haben. 

4. Mütze und Krone Roman von Hermann Schmib. 

Fünf Bünde. Leipzig, Günther. 1869. 8. 4 Thlr. 

- Mit diefem Roman verlaffen wir endlich zu unferer 
aufrichtigen Freude die naßkalten Regionen des Dilettan« 
tismus und treten in das fonnige Reich der Kunft. Hier 
haben wir endlich einen Künſtler und ein Kunftwerf vor 
und. Die Species wird immer feltener — um fo mehr 
Grund für und, da8 einzelne Individuum und die einzelne 
Erſcheinung mit doppelter Liebe zu betrachten. 

Hermann Schmid ift Fein Neuling in der Literatur. 
Die Bühne befigst von ihm eine Reihe Dramen, das 
Publitum eine Anzahl belletriftifher Schriften. Vorzüg« 
lich war e8 feine Thätigkeit auf dem Felde der Erzählung, 
die ihn im weitern Sreifen befannt machte, Wirkten feine 





Neue Romane, 


erften derartigen Verſuche, zumal feine bairifchen Dorf- 
geſchichten, aud) vorzüglich ihres ftofflihen Intereſſes 
wegen, jo fündeten fie doch bereits ein wirkliches Talent 
an, das zu ſchönen Hoffnungen berechtigte. Diefe Hoff- 
nungen haben fih nun erfüllt. Wir Halten den Roman 
„Müge und Krone” nicht blos für das befte Werk des 
Autors — was unter gewiffen BVerhältniffen nicht eben 
viel jagen wirde — fondern für eine wirkliche Bereiche - 
rung der zeitgenöſſiſchen Literatur. Was ihm zunächſt 
hohen Werth verleiht, das ift das moderne Gepräge, der 
Haud) der Gegenwart, der das Ganze durchweht. Es 
find Kinder der Zeit, die uns Bier entgegentreten, con» 
crete Geftalten, wie fie uns täglich begegnen oder doch 
begegnen können. Der Verfaſſer fußt auf der „feſten 
dauernden Erde”, und verfhmäht es, uns mit abftracten 
Phantaſien einzufchläfern. Der Roman ift zeitgemäß, 
weil er auf realiftifcher Grundlage ſich aufbaut. 

Und doc ift fein Held ein Schwärmer — freilich 
ein Schwärmer, wie gerade bie Gegenwart fie vielfach 
erzeugt: ein Schwärmer für das ftaatlihe Wohl ber 
Dienfchheit, das er einzig in der Regelung des Mis- 
verhältniffes zwiichen Fürft und Bürger, zwiſchen Mütze 
und Krone fieht. Er hält eine Staatsform fiir möglich, 
die beiden Theilm nicht nur ihre Rechte wahrt, ſondern 
fie fogar zu gemeinſamem Streben vereint. Das ift aber 
leider ein unauflösbarer Widerſpruch; das eime ſchließt 
das andere aus, Ein Fürft mag fo populär fein ale 
er will, er mag dem Bürger alle möglichen Conceffionen 
machen — er bleibt der Negierende, der Bürger der 
Regierte, und die Mluft zwiſchen beiden ift viel zu breit, 
als daß fie einander die Hände darüber reihen Könnten, 
Das ift auch die Anficht des Verfaſſers, und man wird 
ihm gern beiftimmen. Der Held feines Romans verfucht 
die Loͤſung jenes Problems — um fehr fpät und nad) großen 
Berluften zur Ueberzeugung der Unlösbarkeit zu gelangen. 
Aber diefen Berfuh in all feinen Phafen zu verfolgen, 
ift in hohem Grade anregend und fefielnd. 

Profeffor Führer war in feinen Stubienjahren mit 
dem Thronerben eines mittlern Staats, dem Prinzen Felix, 
befreundet, und beide entwarfen damals hochfliegende 
Plane zur Beglüdung der Menfchheit. As mun ber 
Prinz unerwartet zum Thron gelangt, fucht er Führer auf 
und bietet ihm das Minifterium an, damit er, im Verein 
mit ihm, ihre frühen Projecte zur Ausführung bringe. 
Führer geht mit Freuden darauf ein, da er das ſchwar⸗ 
merifche Feuer der Begeifterung, das ihn noch immer 
durchglüht, auch bei dem nunmehrigen Fürften voraus« 
fest und, nad) dem erſten Auftreten deſſelben, auch vor 
ansfegen darf. Vergebens find bie Warnungen feines 
Freumdes Riebt, der dem neuen Minifter zuruft: 

Ich kenne nur zwei wahre und darum allein mögliche 
Staatsformen, bie volle Alleinherrſchaft und den volllommenen 
iftaat. Ein Mittelding gie nicht, und jeder Verſuch zur 
Dermittelung ift Halbpeit, Schein, Selbſitäuſchung oder geradezu 
Betrug. Ich glaube nicht, daß ein FÜrft der Erde, wenn er 
aur ein Jahr lang die Krone getragen und fi am bie Bogel- 
verſpective gewöhnt hat, ernſtuͤch vermitteln will. Ich glaube 
e3 aud) von biefem Herzog nicht. Thoren, die von einem patriar« 
halifcen Berhältuifſe zwiſchen Fürft und Bolt fafeln! 

Führer hat nur zu bald Gelegenheit, fi von der 
Wahrheit diefer Worte zu Überzeugen. Gein Herzog bes 





103 


figt beim Antritt der Regierung den beften Willen, er 
hegt die beften Abfichten, und die erften Schritte, bie er 
auf Anregung feines Minifter8 unternimmt, find aner- 
kennenswerth. Aber die Ideale, die ihm bisher vorge 
ſchwebt, fangen an vor der nadten Wirklichkeit zu zer⸗ 
fliegen. Er macht die Erfahrung, daß Plane leichter 
entworfen als ausgeführt find, daß eine Reformation ber 
Verhältniffe nicht mit einem Schlage herbeizuführen ift. 
Diefe Erkenntniß läßt feinen Eifer nach und nad) erlale 
ten, jq er empfindet es ſchließlich als eine drüdende Laft, 
den betretenen Pfad der Neuerungen fortzumandeln, und 
hält e8 für das Beſte, auf die alte Bahn feiner Väter 
zurlidzufehren. Führer's Vegeifterung ift nicht fo raſch 
erlofchen, er arbeitet mit heiligem Exnft an feinem großen 
Werke, trog der ſich täglich mehrenden Zahl feiner deinde, 
ja auch dann noch, als ber Abfall feines Yürften ihm 
Har vor Augen ſteht. Immer noch Hofft er, durch die 
Gewalt der Ueberzeugung und durch den Hinweis auf 
die bereits erzielten Fruchte ihrer gemeinfamen Beftre- 
bungen den Fürſten wieder zu gewinnen. Als er indeß 
entbedt, daß diejer nicht nur ein ſchwacher Regent, fon 
dern auch ein ſchwacher Menſch fei, dem fogar das Weib 
feines Minifters und Freundes nicht Heilig ift, da 
verläßt auch ihn der Glaube an die mögliche Durchführung 
feiner Miſſion. Enttäufcht, aber nicht gebrochen, verläßt 
er fein Vaterland, ihm zurufend: 

Sei glüdtid, geliebte deutſche Heimat, fo glädtih ale 
unfere fühnften Träume dich gedacht, und ich weiß, du wirft 
es fein! Ich fühle es in biefem Angenblide, der mich anweht 
wie Obem der Weiffagung, du wirft frei und glüdlich fein, die 
Zeit wird fommen, in der alle herrlichen Kräfte in dir zufame 
menwirten im ſchönen, harmoniſchen Ebenmaße, die Zeit der 

reiheit, in der fein Zwieſpalt mehr fein wird jwiſchen 
Ürf und Bürger, keine Feindſchaft mehr zwiſchen Mütze 
nad Krone! 

Die Anlage des Romans ift weniger epifch als viel- 
mehr dramatiſch, und das will uns als ein befonderer 
Borzug erfheinen. Wir glauben ein breit ausgeführtes 
Drama zu leſen — die fünf Bände find gewiſſermaßen 
die fünf Acte. Der erſte Band gibt die Expofition und 
den Beginn der Handlung: Führer übernimmt das 
Minifterium; der zweite die erſte Steigerung: Führer's 
erfte Unternehmungen und die dadurch Berborgerufene 
Agitation feiner Feinde; der dritte die Krifis: Führer 
auf dem Gipfel der Macht und zugleich in bedrohliche 
Eonflicte mit der Gegenpartei und feinem eigenen Hanje 
verwidelt; der vierte die Peripetie: die That des Herzogs 
und zugleich bedenkliche Folgen ber einen Neuerung, nämlich 
des Schwurgerichts; der fünfte endlich bie Kataſtrophe: 
Führer’8 Abgang. Diefe Form der Behandlung iſt num 
freilich ſpeciell für das Drama geeignet, aber es find 
mannichfache Gründe vorhanden, die ihre Anwendung auch 
beim Roman würnſchenswerth erſcheinen laſſen. Das 
Ganze erhält dadurch einen beftimmten Rahmen, das 
Ueberwuchern des Stoffe wird dadurch verhindert und 
die Einheit des Gedankens gewahrt. 

An Epifoden ift fein Mangel. Aber fie find niemals 
ohne nähere Beziehungen zur Handlung. Teils erfcheinen 
fie als deren Reflex, theils charakterificen fie die allgemeine 
Vollsſtimmung. Der Stil endlich ift einheitlich, bie 
Sprache correct. Oskar Elsner. 


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104 Muſikaliſche Literatur. 


Muſikaliſche Literatur. 


1. Bach und Händel. Eine Monographie. Vorträge, gehalten 
an der Hamann-Bollmann’ihen Muſikſchule in Nürnberg 
im Winter 1866 von 8. Ramann. Leipzig, Weißbach. 
1869. ©®r. 8. 15 Nor. 

Zu den zahlreichen eigenthümlichen Erfcheinungen der 
gegenwärtigen Kunftepoche gehört jedenfalls auch die, daß 
auf muſikaliſchem Gebiete die Frauen, fo wenig tüchtig 
und glücklich ſich diefelben bisher im allgemeinen in der 
Compofition zu erweiſen und fo wenig fie namentlich die 
größern Formen zu beherrfchen und plaftifh zu ge— 
ftalten vermochten, ſich dagegen auf biographiſch-kunſt⸗ 
philofophifchdem Felde mit Glück zu verfuchen anfan» 
gen. Wir überfehen deshalb Teineswegs die Mängel 
und infeitigfeiten namentlih einer Eliſe Polko, aud) 
einer La Mara u. a., unterfchäten aber ebenfo wenig 
die größere Vielſeitigkeit der Anſchauung, welche wir ge- 
winnen, wenn ſich an derfelben auch das feinfühligere und 
inftinctiv viel tiefer oder doch wärmer in manche Seiten 
eindringende Ange der Frauen betheiligt. Hauptſächlich 
aus diefem Grunde find auch bie vorliegenden (nicht zu- 
treffend mit dem Ausdrud „Weonographie” bezeichneten) 
Borträge von Lina Ramann zu den werthvollern Er- 
ſcheinungen der Gegenwart zu rechnen. Fräulein Ra 
mann ift unftreitig eine der Hervorragendflen und ver» 
dienſtvollſten Mufilpädagoginnen der Gegenwart und ver- 
dient in erfter Reihe neben einer Wifeneder, Gayette- 
Georgens u. ſ. w. genannt zu werden. Einerſeits er- 
freut fi die von ihr in Nürnberg gegründete Muſik⸗ 
fchule bereits feit mehrern Jahren Fräftigen Empor- 
blühens, andererjeits verdanken wir ihr ſchon mehrere 
anziehende oder pädagogifch werthuolle Literarifche Gaben, 
3.8. „Die Muſik ale Gegenftand der Erziehung”, „Aus 
der Gegenwart”, „Kindermufe u. f. w., und nicht mitte 
ber ift der Eindrud des jegt erfchienenen Werkchens über 
Bad und Händel ein überwiegend vortheilhafter. Es 
weht in dem ganzen Buche ein wohlthuender Hauch, wohl 
geeignet, namentlich jüngere Tonkünſtler aufzumuntern 
und zu warmer Begeifterung, auch zu felbitthätigem 
Schaffen anzuregen. Die Darftelung ift geiftvoll und 
Kräftig, und nur die Ausbrudsweife erjcheint Hin und 
wieder abfonderlih und gefucht. Wußerdem ift nicht zu 
überjehen, daß für das Verftändniß unferer neuern, dem⸗ 
felben überdies viel näher liegenden Claſſiker Haydn, 
Mozart und Beethoven viel mehr durch die Schriften von 
Jahn, Brendel, Dulibifcheff, Chryfander, Bitter, Nohl, 
von Kreißle, Thayer m. ſ. mw. gefchehen ift als für Bad 
und Händel, welche bereits einer entferntern Vergangen⸗ 
heit angehören. 

Wie fchon der Titel befagt, ift das Buch aus drei 
ben Zöglingen ihrer Muſikſchule gehaltenen Borlefungen 
entjtanden. Fräulein Ramann fagt: 

Sie hatten —5 die Abſicht (den Zweck), die Meiſter 
Bach und Händel dem Verſtändniſſe meines Publikums zu ver⸗ 
mitteln, welche bei ihrer jetzigen Herausgabe dieſelbe ge- 
blieben iſt. 

Den Kern bildet 1) das Leben Bach's und Hündel's, 
2) die gefchichtliche und pſychologiſche Stellung der Cul⸗ 
turformen und bes Dratoriumsd zur Glaubensidee und 


3) bie Charakteriftif beider Meiſter. Der erſte Abfchnitt 
behandelt in anziehenderer Weife, als dies in derartigen 
Broſchüren gewöhnlid) der Fall, nicht jeden von beiden 
Heroen für fi, fondern läßt die Lebensmomente beider 
gewiffermaßen parallel nebeneinander vorüberziehen, was 
der ganzen Darftellung einen eigenen Reiz verleiht und 
da8 Intereſſe fortdauernd rege erhält. Dabei ift die 
Kürze, deren fich die Verfaſſerin bedient, Lobend anzuer⸗ 
tennen, welcher Umftand felbft noch Thatſachen, wie die 
faft bis zum Ueberdruß oft erzählte Mardhand- Affaire, 
von neuem anziehend macht. Der zweite Abſchnitt be» 
leuchtet, 

um unjere beiden großen Meifter in ihrer vollen Bedeutung 
für die gejhichtlihe Weiterentwidelung der Tonkunſt fomwol 
als auch in ihrem rein Tünftlerifhen Schaffen faffen zu können, 
die muſikaliſchen Formen, derem ihr Genius, theild um durch 
fie fi zu offenbaren, theils um biejelben zu vollenbeter Höhe 
zu führen, fich bemächtigt Hatte, in ihrem gefchichtlichen und 
piychologifchen Berhättnih zur Kunſt und zur Glaubensidee. 

Die Berfafferin hat diefe Aufgabe mit vieler Hin- 
gebung und großem Fleiße gelöft, und hätte nur dem 
Oratorium als der bebeutendften dieſer Culturfornen 
noch größern Raum widmen können. Ebenſo viel Tref- 
fendes enthält die dem zweiten. Abjchnitte folgende Cha- 
rakteriſtik. Nach einer Schilderung der damaligen Zeit» 
verhältniffe, in denen der fuchende Blick nirgends jene 
Einheit gewahrt, welche die Errungenschaft abgeflärter 
Zuftände ift, 
inmitten einer folchen Zeit, folder Umgebung treten die Per. 
jönlichleiten eines Bach und Händel um fo großartiger hervor 
und erfüllen mit jener Bewunderung, welche fih uur an 
Geifter heſten kann, die in den Wircnijfen der Meinungen und 
bes Lebens ſich edle männlihe Kraft, Geſchlofſſenheit und 
Feftigfeit des Charakters, Hoheit und Ziefe in der Welt der 
Ideen und Gefühle bewahrt. Beide ftehen fle vor uns ge⸗ 
wappnet mit dem ehernen Schild des Glaubens, umpanzert 
von dem Bewußtſein reinen Strebens, im Herzen Gott und 
ihre Kunſt. 

Ebenfo enthalten die Abfchnitte über Wefen, Glauben 
und Schaffen beider Meifter wie über ihre Inftrumental- 
muſik geiftvolle und anziehende Mittheilungen. 

2. Conjonanzen und Diffonanzen. Gelammelte Schriften ans 
älterer und neuerer Zeit von J. C. Lobe. Leipzig, Baum⸗ 
gärtner. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 


Wir haben ed bier nicht mit einer jener Titerarifchen 
Eintagsfliegen oder abgeftandehen Gerichte in der Form 
angenehm unterhaltender Cauferien zu thun, welde bie 
moderne Bücherinduftrie in fo fruchtbarem Grade fort 
und fort gebiert. Dafür bürgt ſchon der berühmte Name 
und bie gediegene Richtung ihres Verfaſſers. Profeffor 
Lobe ift in Bezug auf fein verdienftvolles Wirken auf 
tunftphilofophifchen Gebiete ebenfo wohl befannt, wie als 
geiftvoller Feuilletoniſt geſchätzt, ſodaß es Feines weitern 
empfehlenden Wortes dieſer — größtentheils früher in 
den verſchiedenſten Blättern enthaltenen — geſammelten 
Aufſätze bedarf. Trotzdem manche derſelben, wie der Ver⸗ 
faſſer ſelbſt angibt, bereits mehr als 20 Yahre alt find, 
bieten doch faft alle einen noch jetzt intereffirenden 
werthvollen Kern. Nur wenige, 3. B. die unfruchtbare 








Muſikaliſche Literatur. 


Mühe, das dilettantifch einfeitige und verſchrobene Noten- 
foftem des weiland Herrn von Heeringen zu beleuchten, 
möchten hiervon auszunehmen fein. Lobe bat in feinem 
Suhaltsverzeihniß und in der wirklichen Reihenfolge feiner 
Auffäge eine doppelte Anordnung getroffen, ob jedoch 
zum Vorteil leichter Ueberfichtlichleit oder geordneter Zu- 
ſammenſtellung des Stoffs, ift uns nicht recht klar ges 
worden. Das Inhaltöverzeihniß bietet unter der Rubrik 
„Allgemeines“ folgende Auffäge: Tonmalerei; ein Wort 
zur Schillerſtiftung; altarabifche Muſik (über das geifte 
volle Wert von Chriftianowitih); über Daumer’s Bes 
Hauptung, die Muſik fei feine Kunft; ferner: worin be- 
fteht die Möglichkeit, ein Erfinder zu werben? (mit einigen 
nicht zu verachtenden Rathfchlägen); über Confervatorien; 
über Preisanfgaben; über das Vergleichen in der Kunft; 
über das leidige Stimmen und Ptäludiren im Orcefter; 
Salonmuſik; das Orgelfpiel und feine Mängel (fehr ber 
herzigenswerth); Bertheidigung des geſprochenen Dialogs 
in der Oper (unter anderm auf Grund ber allerdings fehr 
wahren Beobachtung, daß uns ber Dialog hauptfüchlich 
durch falſche Behandlung und ungeſchickte, unmotivirte 
Zufammenftellung von Dialog und Mufit verleidet werde); 
Entreacte im Schaufpiel (Lobe.ift gegen alle Entreacte- 
muſik, welche nicht fpeciell für das betreffende Drama 
componirt ift); Briefe aus Fernwinkel (geiftvolle Perfi- 
flagen kleinſtädtiſchen. Kunftdünfels tie manches lanbläu- 
figen Unfugs); über das Unfruchtbare todter Steindenk- 
mäler ftatt lebendiger Denkmäler durch fruchtbringende 
Inftitutionen; Effekticiemus; über Abnehmen des Theatere 
bejuchs; Revue mufifalifcher Zeitphrafen, fowie eine Be 
tradhtung darüber, ob aus der Oper die vollfommenfte 
Kunftgattung werden könne. 

Die zweite Rubrik des Buchs enthält dagegen: Er 
innerungen an Karl Auguft von Weimar, an &. M. von 
Weber, Ringelhardt (ein fehr beherzigenswerthes Geſpräch 
mit demfelben), Spohr, Lorging, Marſchner, Berlioz, den 
jungen Mendelsfohn (ein Quartett bei Goethe), Meyer 
beer, Wieprecht, Liſzti; ferner über Dittersborf’s Opern 
(mit Notenbeijpielen); Briefe von Jenſeits, in denen es 
2. Nohl ziemlich übel ergeht; das Adagio der Oberon- 
ouverture; Octavio im „Don Juan“; die Marfeilaife; 
Schubert's „Erlkönig“; die Gebrüder Müller; über Ge- 
naft’s „Tagebud eines Schaufpielers"; Schumann’s „Ge- 
noveva”; Waguer’s „Iudentgum in der Mufil“, von einer 
andern ergöglichen Seite beleuchtet; Wagner als Dichter; 
Diffenbad) und Carlotta Patti. Gewiß eine reihe Yus- 
wahl von Peltüre für unſer feuilletoniſtiſch arg verzogenes 
Bubfitum, die aber, wie gefagt, trotz aller im erften Augen« 
bli etwas bunt feheinenden Mannichfaltigkeit vor allem 
einen durchgängig foliden Kern in der rüchaltlofen Ueber- 
zeugungstreue des Verfaſſers ebenfo wie in feiner licht« 
vollen, warmen und überwiegend unbefangenen, vorurtheils⸗ 
freien Darftellung enthält. Werthvoll find diefe gefam- 
melten Schriften ferner wegen ber nobeln, ruhigen und 
objectiven Weife, mit welder ber Berfaffer, einerfeits 
feinen von Haus aus eingenommenen confervativen Stand» 
punkt ſtreng feſthaltend, anbererfeits allem Bedeutenden 
ein warın empfängliches, ſtets jugendfrifches Gemüth ent« 
gegenbringend, überall feine Meinung ausfpricht, und bie 

1870, 7. 





105 


Anhänger neuer Richtungen werden ſich wegen fo mander 
ihren Anfihten wiberfprechenden Urtherle gewiß gern mit 
dem Verfaſſer ausföhnen, wenn ſie 3.8. ©. 55 und 313 
inne werden, mit welchem feltenen Muthe Lobe zu einer 
Zeit z. B. für Hector Berlioz eingetreten ft, wo noch 
faft alles Verſtändniß für die Bedeutung dieſer Rich- 
tungen überhaupt ſchlummerte. Wir unterlaffen daher 
nit, diefes einen ftarfen Octavband ausfüllende Sammel« 
wert des allerſeits wohlbekannten und hochgeſchätzten Theo» 
retilers als eine nicht nur angenehm unterhaltende, fon- 
dern auch mehrfach in ernſterm Grade anregende ſowie 
in manden Äufſähen wirklich Aufklärung und Nuten 
gewährende Lelktüre zu empfehlen. 
8. Kür Freunde der Tonkunſt von Friedrih Rochlis. 
ritte Auflage. Mit einer Siegraphilien Stizze des Ber- 
fafjers. Bier Bände. Leipzig, Cuobloch. 1868. 8, 4 Thlr. 

Friedrich Rochlitz Hat für das Verftändniß neuer, un« 
gewöhnlicher Schöpfungen, namentlich DBeethoven’s, zu 
einer Zeit, wo der Sinn für fie faft noch völlig unentwidelt 
war, namentlich durch die von ihm im Verein mit bem 
Haufe Breitfopf und Härtel am 3. October 1798 in 
Leipzig ind Leben gerufene „Allgemeine muſilaliſche Zeis 
tung“ in fo hohem Grade verdienftvoll gewirkt und fo 
vielen jungen Talenten und neuen Erjdeinungen auf 
mufitaliichem Gebiete mit rüdhaltlofeftem Wohlwollen 
die Bahn breden Helfen, daß fämmtlihe „Sreunde der 
Tonkunſt“ alle Urfache haben, ihm ein dankbares und 
ehrendes Andenken, ein ſtets vege erhaltenes Interefie zu 
wibmen. Es wird daher bie bloße Anzeige genügen, daß 
feine unter obigem Titel gefammelten Schriften, durch 
eine anregend geſchriebene biographifche Skizze von Alfred 
Dörffel bereichert, in fonft unverändertem Abbrud in 
neuer (dritter) Auflage erſchienen find. B 

Dörffel fagt in jener Skizze u. a. über die von Rochlitz 
gegründete Zeitung: 

Bon wer die Idee, eine ſolche Zeitung ins Leben zu rufen, 
ausging, ob von Rodlig oder der Handlung Breitlopf umd 
Hörtel, ift nit beflimmt nadjmeisbar. Nodjlik Half aber biefes 
Iufitut entwerfen und einrichten, „tmidmete ber Theilnahme 
daran mit Vergnügen einen Theil feiner Zeit und Kräfte“, ja 
blieb fange Zeit ganz und. gar die Seele deffelben. Man darf 
getroft behaupten: die Zeitung entftand mit ihm und durch 
ihn, blüßte empor mit ihm und fegte reiche Fruchte ab; fie 
alterte mit ihm und überleble ihn nur um, wenige Jahre (fie 
ſchloß ſich mit Ende 1848); fie ift fein eigentliches Werl. Cs 
waren nur fünf Männer, die gleich anfange Beihilfe zur 
Stiftung der Zeitung verſprachen, und unter biefen fünf waren 
drei, bie ihr Verſprechen erfüllten (u. a. Zelter in Berlin). 
Hieraus erfieht man, daß Rodlig fo ziemlich auf ſich allein 
angewiefen war, die Orlindung und ben Kortbeftand des Unter» 
nehmens zu bewirken. Obſchon er ſich nirgends als Redacteur 
oder Herausgeber nannte, fo wußte man e8 doch bald all» 
gemein, daß er hauptfäglic für den Stoff forgte. Und wenn 
er erflärte, daß er vom Monat Juni 1804 an den Antheil, 
den er an ber Üedaction gehabt Habe, aufgeben werbe, fo bezog 
man dies nur auf die gejhäftlichen Angelegenheiten, vom denen 
ex flirder verfhont bleiben wollte. Erft mit Ablauf bes Jahres 
1818 nahm er definitiv Abſchied vom Lefer, „inwiefern er näme 
lich Redacteur der Zeitung von ihrem Üntftehen bis dahin ge» 
weſen ſei“, und legte die Führung des Blattes in bem & 
mußtfein nieder, „mährenb dieſer zwanzig Jahre ſchwerlich 
zwanzig Tage verlebt zu haben, wo er dee Lefers gar nicht 
gebadht, fi um ihm gar nicht bemüht hätte‘, Fügen wir dem 
nun Hinzu, daß er bis im das Jahr 1835 hinein fortfuhr, 

14 


106 Bom Büchertiſch. 


Beiträge in die Zeitung zu Tiefern — fehr werthvolle Beiträge — 
fo rechtfertigt ſich wol die Behauptung, biefelbe fer fein Werk, 
zur Genüge. 

Daß Rochlig zu einer Zeit, wo die fachwiflenfchaft- 
liche Preſſe noch viel unentwidelter war, wo das ſchrift⸗ 
ftellerifche Wirken eines Matthefon, Forkel, C. M. von 
Weber, Gottfried Weber (ſ. deffen mit C. M. von Weber, 
Gänsbacher u. f. w. in Manheim herausgegebene „Cä- 
cilia‘) und weniger anderer noch fehr vereinzelt ohne alle 
Nachahmung daftand, wo noch keineswegs jene befruchtende 
Epoche angebrochen war, in ber ein Lobe, ein Jahn u. f. w., 
befonder8 aber ein Robert Schumann und nad ihm ein 
Franz Brendel, Wagner, Liſzt und viele andere anregend 
die Feder in die Hand nahmen, daß Rochlitz zu einer 
folcden Zeit bereits jo bahmbrechenden Einfluß ausübte, 
das verdankt er einer Vereinigung von Eigenfchaften, wie 
fie fich felten bei einem kritiſchen Schriftiteller vereinigt 
gefunden haben, Eigenschaften, welche wir zugleich allen 


Fachcollegen auf das wärmfte zur Nachahmung empfehlen 


können. 


Rochlitz ſtellte das Gute überall ſorgſam in den Vordergrund, 
zeigte ſich auch da, wo ihm ein neues Wert dunkel geblieben war, 
vorfihtig und befgheiden; jein Lob war maßvoll, fein Tadel 
mild, in beidem war er Tiebenswärdig. Ueber neue Erſchei⸗ 
nungen berichtete er, in feiner Erkenntniß die Durchſchnittslinie 
von damals weit hinter fich laſſend, meift in kurzen, aber be⸗ 
ſtimmt das Rechte treffenden Sätzen. So bahute er den großen 
Merken Mozgrt’6, Haydn’ und Beethoven's einen ſichern Weg 
durch die verworrenen, fi) belämpfenden, vielfach irrigen An⸗ 
fihten feiner Zeitgenoffen, und fein Wort, teil es Wahrheit 
war, erhielt eine Macht, die Überall Hin fegensreich wirkte, 
Noch jett wird man, was er 3.B.Über Beethoven’s Symphonien 
ſchrieb, mit großem SIntereffe lefen, wie überhaupt Beethoven 
borzugsweife der Meifter war, den er werden und wachſen 
und himmelan, hoch über die Erdenſchrift fteigen ſah. Dielen 
Meiſter begleitete er als Erlennender feines Genius treulich 
bis and Ende, 


Diefe Worte werden Hoffentlich mehr als genligen, 
da8 Andenken eines feinerzeit um lebendige WBeiter- 
entwidelung ‚feiner Kunſt fo Hochverdienten, trefflichen 
Mannes in gebührender Friſche in Ehren zu halten. 


Hermann Bopff. 


Vom Büchertifch. 


1. Das Wefen ber menjchlichen Kopfarbeit. Dargeftellt von 
einem SHaudarbeiter. Eine abermalige .Kritil der reinen 
und praktiſchen Vernunft. Hamburg, Meißner. 1869. 
8. 18 Nur. 

Joſeph Dietzgen, Lohgerber in Siegburg, hat es unter- 
nommen, in vorliegender Schrift da8 „Denkvermögen als 
Drgan bed Allgemeinen” zu entwideln. Und da müllen 
wir eingeftehen, daß ed dem wadern Herrn ganz gut 
gelungen if, .die verwidelten Vorgänge des Denkens, jene 
Detonomie des Gehirns, deren Erkenntniß dem Hand» 
arbeiter meift fern zu liegen fcheint, dem aufmerkfamen Le⸗ 
fer Har zu machen. Der Autor erflärt fich früh, wie es 
feiner Beſchäftigung nad) zu erwarten war, fir die 
Smöductionsmethode. Ihm ift „bie Vernunft die Fähigkeit, 
dem Befondern das Allgemeine zu entnehmen”, Die 
Bermittelung zwifchen der Welt des Denfvermögens und 
ber Welt unferer Sinne wird durch die ganze Schrift 
aufrichtig geſucht — wenn aud nicht Mar gefunden. 
Denn gerade das, was das unbefangene Nachdenken bes 
werkthätigen Verfaſſers hat vermeiden wollen — die An» 
jammlung abftracter Debuctionen, denen meift die endgültigen 
Endſchluffe fehlen —, gerade diefe Fülle des Abftracten flarrt 
und auf jeder Seite entgegen. Der „praftifchen Vernunft“, 
der Moral, bie doch das Herz aller PBhilofophie ift, ift 
nur ein Heiner Theil gewidmet. Freilich wird fehr rich⸗ 
tig die Unzulänglichleit des Einzelnen, da8 Bedürfniß der 
Genofienfchaft als Kern des Sittengefetzes hingeſtellt, aber 
diefer Kern wird doch zu wenig motivirt. Gonft wird 
in ber ganzen Schrift zu viel motivirt: denn für eine 
neue Kritik der reinen und praftiichen Vernunft finden 
wir in ihe zu viel Definitionen und zu wenig Gejchichte 
der Denkſyſteme. Auf die einzelnen Heroen der philofo- 
phifchen SKopfarbeit ift gar Feine Rückſicht genommen, 
Somit alfo ein Hauptzwed des Buchs ganz außer Acht 
gelaſſen. Allein man muß e8 dem Autor zugeftehen, daß 
man als Handarbeiter faum Harer und gründlicher dem 


Proceffe der Kopfarbeit beilommen Tann, als er felbit es 
gethan. Zu Mar und zu gründlich,“ möchten wir fagen; 
denn gewiſſe Tteblingsfpaziergänge feiner Gedanken leiten 
den gefcheiten Handwerker oft von dem Pfade ab, den 
feine Dispofition nehmen wollte Man kann auch als 
Laie in der philofophifchen Fiteratur geneigt fein, fi in 
feine eigenen Speculationsgänge zu verlieben, gerade fo 
wie ein bdeutfcher Profeflor von Fach. 

2. Im Brautkranz. Briefe an eine junge Berlobte mit einem 
Kapitel über die Ehe als Morgengabe für Bräute. Bon 
Frau Therefe Hamburg, 9. F. Richter. 1870. 
Gr. 16. 25 Nor. 
Das Urtbeil, welches wir bereits in Nr. 4 d. BL. f. 1869 

über die Denk- und Schreibweife von „Frau Thereſe“ 
abgaben, finden wir auch nach ber Lektüre vorliegender 
Briefe beftätigt. Während in ben „Briefen und Blättern” 
Holtei die befcheidene Frau auf den Büchermarkt führte, 
gibt fie fi) in dem neneften Büchlein felbft, nur das 
Recht der eigenen Perfünlichkeit blickt uns wiederum mild 
und anmuthig aus diefen Blättern an. Würdig und fein- 
fühlend find Frau Thereſens Gedanken über die Ehe: 
die Beſtimmung des Weibes zur Familie und dem Glüd 
in der Ruhe und Häuslichleit leuchtet aus den Worten 
der Schreiberin als ftrahlende Sonne, als feftes Grund⸗ 
geje des ehelichen Glücks hervor; man lan wahrlich 
allen jungen Frauen zurufen: lies die finnigen Rathfchläge 
der trefflihen Frau, beherzige fie und — in biefem Zeichen 
wirft dur fiegen! 

3. Eduard Hildebrandt, ber Maler des Kosmos, Sein Leben 
und feine Werke von F. Arndt. Berlin, R. Leffer. 1869. 
8. 10 Nor. 

In dreizehn Kapiteln fchildert ung F. Arndt das 
anfangs dornenvolle, fpäter fruchtreiche Künftlerleben des 
„Malers des Kosmos”, eine Bezeichnung, bie höchft tref⸗ 
fend if. Die Jugend des Künftlers, die Zeit des Strebeng 


Bom Büchertiſch. 


und Lernens in Paris, endlich die berliner Meifter- 

zeit mit ihrer wachſenden Anerkennung Hildebrandt's —, 

alle dieſe Phafen eines bewegten Lebens treten in Arndt's 

Darftellung lebendig in’ die Erſcheinung. Liebenswürdig 

genug zeigt ſich und das Freundſchaftsband, das Hilde 

brandt an Kumboldt nüpfte, ebenfo Hildebrandt's ge- 
meüthliche Humoriftifche Art, bie ihm einen theilnehmenden 

Freunbestreis ſchaffte. In nenn Bogen eine eingehende 

Biographie, ein folgeredhtes Lebensbild eines Hochgewir- 

digten Manne zu geben, das ift fonft nicht Sache der 

weitjhweifigen deutſchen Art — um fo mehr fei Hier die 
glücliche Feder gelobt, die mit feinem Geſchick und großer 

Pietät die Gebilde des Pinfel® und deren Meifter zur 

ſaubern Feberzeichnung verarbeitet hat. 

4. Leibniys ügyptiſcher Plan. Cine Hiftorifch-kritiihe Monor 
graphie von 8. ©. Blumftengel. Leipzig, Loreng. 1869. 
©r. 8. 15 Ngr. 

Der zweiundzwanzigjährige Leibnig *), damals am 
turmaingiſchen Hofe, faßte den Plan, den König von 
Frankreich, den gerade die holländiſchen Kriege befchäfe 
tigten, auf bie Eroberung eines orientalif—hen Landes und 
zwar Aegyptens hinzuweifen. Die Bedeutung, die Aegypten 
für bie großen Monardien des Altertfums hatte, bie 
ungemeine Fruchtbarkeit feines Bodens, feine Lage am 
Kreuzweg dreier Erdtheile verwiefen den jungen Gelchr- 
ten auf eine Combination, der er in feinem Consilium 
Aegypliacum Ausdrud gab. Sehr richtig ſah Leibnig 
voraus, daß es für Europa heilſam wäre, bie Gebanfen 
Ludwig's XIV. vom Kriege mit Holland abzulenken. Im 
jenem Zeitpunkt ftand Frankreich in den ſchlechteſten Be- 
ziehungen zue Pforte: es war alfo geraten, um das 
Unheil eines allgemeinen europäifchen Kriegs und Elends 
abzuwenden, Ludwig XIV. einen Plan vorzulegen, ber, 
jowie er jene encopäifche Calamität verhinderte, dem 
Könige die Iodendften Vortheile in Ausfiht ſtellte. So 
ging Leibnig an die berüßmte Denffhrift, deren Expoſe 
hier zu geben, dankbar für den Pefer, aber zu umfang« 
reich für d. BI. wäre. Sie verheißt bei Befolgung ihrer 
Borfchläge einen gänzlichen Umſchwung ber Verhältniffe: 
unferm Philofophen ergibt ſich aus dem glücklichen Ans- 
gang eines Agyptifchen Kriegs ganz ummiderlegli für 
Franfreih, die Großmacht zuc See, der Levantehandel, 
die Herrſchaft der Chriſten, der Sturz des türkischen Reiche. 
Aber das Shidjal diefer Denkſchrift war ein unglüdtiches. 
Die Protectoren Leibnig’, Boyneburg und der Kurfürft 
ftarben bald darauf, und Lubwig wie feine Minifter 
zeigten feine große Luft, den fühnen Plan zu realiſiren. 
Wenn ex audgeführt wäre, hätte er vielleicht den großen 
europäif—hen Krieg verhindert, welcher das Mark Frant« 
reichs verzehrte. Mindeftens fo intereffant als bie Ge- 
ſchichte des ägyptiſchen Plans bei Leibnig’ Lebzeiten, 
find defien Schickſale nad; des Autors Tode, über bie 
uns Blumftengel treu berichtet. Man folte meinen, 
Napoleon wäre nur Leibnitz' Plan gefolgt, als er bie 
agyptiſche Expedition unternahm. Wenigftens neigt ſich 
Thiers (in der „Histoire de la Revolution frangaise“) 
diefer Auffaffung zu, ebenſo Michaud in der „Geſchichte 
der Kreuzzüge”. Aber der Sachverhalt ift bennod ein 


*) Bir behalten die Sqreibung mit $ bei, ba bie Analogie beutfher 


ai 
Namen bie — ie mit $, nit bie mit } tennt, jowol in Orte aie 
in Perfonennamen, And Rusoif Qilpedranb |areidt „Reibniy. 


107 


anderer. Blumſtengel weift ſchlagend nach, „daß niemand 

vor dem Jahre 1803 von dem Leibnit ſchen Memoire 

Kunde hatte” (S. 93). Erft nad feiner misglücdten 

Erpebition lernte Napoleon die Denkfchrift Fennen. Ges 

neral Mortier ſchidte ihm, als er Hannover befegte, im 

Spätfommer 1803 aus dem dortigen Archiv eine Abſchrift. 

„Mit welchen Empfindungen — ruft Blumftengel aus — 

mag er fie gelefen haben!” Gomeit unfer Refumed über 

den Inhalt des Leibnitz'ſchen „Consilium“ und deffen 

Geſchick. Die Darftelung des Autors ift im hiſtoriſchen 

wie im Fritifchen Theil glei; würdig und voll Liebe für 

den Gegenftand gehalten. Freilich tritt die kritiſche Geite 
ber Schrift gegen die hiſtoriſche zurüd: ift es doch loh— 
nend genug, des großen Denker Jugendgebanfen in getreuer 

Relation der Nachwelt wieder vorzuführen! 

5. Der Talmud. Bon Emanuel Deutſch. Aus der fieben- 
ten englifchen Auflage ins Deutſche übertragen. Autorifirte 
Ausgabe. Berlin, Dümmler. 1869. Gr. 8. 12 Nor. 
Ueber das Weſen und bie Befchaffenheit jenes eigen- 

thünmlichen Erzeugniffes, deſſen Name faft unmerklich feine 

Stelle unter ben Alltagsworten Europas einzunehmen be 

ginnt, gibt und der rühmlichſt befannte Berfaffer, ber 

ſprachkundige Bibliothekar des Britifchen Mufeums, forg« 
ſamen Aufſchluß. Vom Talmud gilt das Wort, daß nie 
ein Buch zugleich allgemeiner citirt und allgemeiner ver- 
nadjläffigt worden. Und doch enthält er eine Menge 

Dinge, welche die menſchliche Culiur im allerweiteften 

Sinne angehen. „Tag für Tag“, verſichert Deutich, 

„tauchen aus ben Tiefen des Talmud neue Bilder ans 

Licht herauf. Wilder aus Hellas und Byzanz, Aegypten 

und Rom, Perfin und PBaläftina; vom Zempel und 

Forum, von Krieg und Frieden, Freude und Trauer; 

Bilder voll Lebenskraft und Farbenglut!““ Dabei ift 

Deutſch fern don Parteilichkeit, ein gerechter Richter, 

deffen objectivem Blick das unvergänglid) Echte aus dem 

wunderbaren Buch fund wird. Auf den erften Geiten 

(6i8 ©. 13) gibt er eine hiſtoriſche Ueberſicht der Schid- 

fale des Talmud, aud in Beziehung auf die Tertkritik. 

Dann folgt die Darlegung des unendlichen Inhalts, ger 

ſchieden nad} feiner theologifchen, juridiſchen und ethifchen 

Seite. Bedeutſam und für die Aufflärung über bie 

talmudiſche Denfart intereffant ift die Wurzel der Gitten« 

lehre, das Geſetz „Du folft deinen Nächten lieben wie 
dich felbft“, das (mie es ſich ja aud im Alten Teftament 
findet) eine jübifche Vorſchrift ifl. Sprachlich merkwürdig 
ift ferner die Bereicherung des römiſchen und griechiſchen 

Sprachſchatzes durch femitifche Worte, wie fle Deutich 

(©. 49—51) nachweiſt. Die Lehre von der ewigen 

Berdammniß ift dem Talmud unbefannt, ebenfo vermag 

er nicht die Todesſtrafe zu billigen, freifich entgegen ber 

mofaifchen Gefegeöftrenge. Den Schluß ber Darftellung 
bilden auserleſene Weisheitöfprüche ans dem merfwürbigen 

Bud, deſſen Geift der gelchrte Bibliothelar in feiner 

vollen Blüte und vorführt. Man fann geiftvoll, gelehrt 

und doch elegant fehreiben, das Hat Deutih im feiner 

Heinen Schrift gezeigt: jene liebenswürdige Mifhung von 

tüchtigem Inhalt und geſchmackvoller Form, bie den 

deutſchen Gelehrten noch immer nicht recht im bie Feder 
will, hat ſich der gelehrte Deutſche unter dem Bolt der 

Effayiften durchweg angeeignet. 

14* 








.„rni- 


* 
—* 





108 Vom Büchertiſch. 


6. Das Berbot der Ehe innerhalb der nahen Verwandiſchaft, 
nach der Heiligen Schrift und nad den Grundjägen der 
chriſtlichen Kirche dargeftellt von Heinrih W. J. Thierſch. 
Nördlingen, Bed. 1869. 8. 24 Nor. 

„Nach der Heiligen Schrift und nady den Grund- 
fügen der chriftlichen Kirche” ift die vorliegende fehr ein- 
gehende Schrift abgefaßt. Sie erklärt ſich entjchieben 
gegen jede Ticenz in Betreff der Heirath in nahen Ver⸗ 
wandtſchaftsgraden, und verdammt vorzugäweife die neuere 
lare Richtung des Proteftantismus, die die Ehe in den 
duch die Heilige Schrift verbotenen Graben geftattet. 
Lehe liber die proteftantifche Geiftlichfeit! Der befannte 
Borkämpfer des Irvingianismus fagt’8 ihr deutlich. 
„Hort und fort“, mwehllagt er, „werden eheliche Verbin- 
dungen mit der Tante, mit der Nichte, mit des Bruders 
Witwe, mit der Schwefter der Frau eingefegnet, und man 
vernimmt nichtS davon, daß fich das Gewiſſen der Geift- 
lichen dagegen ſträube.“ Der Standpunft des Autors iſt 
gewiß fcharf bezeichuet, wenn wir anführen, daß er in 
feiner Beſprechung des neuern Proteftantiemus an der 
freien Bewegung ber Kirche fein gutes Haar Täßt, 
daß ihm vielmehr Stahl und die beiden Gerlach neben 
Hengftenberg die einzigen Onfen in der Wüſte der neue- 
ften Kicchengefhichte find. Damit ift der Autor und 
feine Schrift wohl zur Genüge gefennzeichnet. Für unfer 
Gefühl macht es einen unerquidlihen Eindrud, wenn 
wie die Bemühungen ber Theologie und der orthodoren 
Jurisprudenz (fo in der Broſchüre des Profeffor Kuntze 
über die Xodesftrafe), die Rechtsverbindlichleit der 
mofaifchen Tradition für da8 moderne Bewußtſein zu 
retten, dor der Kritik und dem Publikum fo kläglich 
Scheitern fehen. 

7. Gerftäder und die Miffton. Sin Geſpräüch liber den Roman 
aus der Süpdfee „Die Mifflonare” von Friedrich Gerſtäcker, 
allen Freunden der Wahrheit zur Berfändigung mitgetheilt 
von Guſtav Jahn. Zweite Auflage. Halle, Mühlmann. 
1869. 8. 4 Nor. 

Schon die Ausführlichkeit des Titels läßt uns erfen- 
nen, mas wir im vorliegendem Geſpräch zu erwar- 
ten haben. Es ift nichts weniger als eine Abwehr der 
Angriffe auf die Miffton, die der befannte Kenner und 
Schilderer der Tropen in feinem neuen Südſeeroman 
unternommen bat. Freund der Miffton, eifriger Belenner 
der Nechtgläubigkeit, fest Hr. B. Hrn. A., einem Nach} 
beter ber Gerftäcker'ſchen Anfchuldigungen, auseinander, 
wie jene ſchweren "Vorwürfe, die zumeift auf die ver- 
meintliche Sittenverfchlechterung der Miffionare gerichtet 
find, jedes innern Grundes entbehren. Es ift auch ein 
frommes Gemüth, diefer Hr. B., gewiß nicht weniger fromm 
als der Autor des eben befprochenen „Verbots der Ehe”, 
allein „wie anders wirkt dies Zeichen auf mich em“! 
Aus diefem Kleinen Dialog fpricht der Geift echter Chrift- 
Tichkeit, der über die Verdächtigung der eigenen Partei 
von feiten des Gegner nicht Zeter fchreit, ſondern mit 
Maß und Ernft die gegnerifchen Vorwürfe einer firengen 
Prüfung unterwirft. Wir kennen nicht Gerftäder’8 Bud): 
aber das vorliegende Geſpräch macht uns in feiner ges 
mefjenen Haltung den Eindrud, al® ob die Bezeichnung 
der „Oberflächlichkeit“ Hinfichtlich der Beſchreibung reli⸗ 
giöfer Zuftände in ben „Miffionaren” Feine unberech⸗ 
tigte fei. 


8. Lebensbilder, geichichtlihe und enlturgeſchichtliche. Aus den 
Erinnerungen und der Mappe eines Greiſes. Zweiter Theil, 
Hannover, Meyer. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Nur. 

Der erfte Theil der „Lebensbilder“ ift bei weiten 
feilelnder, dem Inhalt und ber Ausführung nad, als der 
zweite. Dennoch herrfcht auch in dieſem ein reined Ges 
müth, feine Beobachtungsgabe und poetifhe Auffaffung 
wohlthuend über die ruhige Darſtellung. 8 ift freilich 
mehr die Ausflihrung als der Inhalt, deren Gediegenheit 
im zweiten Theile hervortritt, denn des Iebensvollen In⸗ 
halts ift darin fehr wenig. Royaliſtiſch genug ift die 
Auffoffung der Natur und Regierung Ernſt Auguft’s 
gefärbt: die Gejchichte Hat Über den geftrengen Herrn 
wol ein ganz anderes Urtheil, Jedoch haben dieſe Bil- 
der’ ihren Schwerpunkt an einer andern Stelle zu ſuchen: 
es ift die Idylle bes Dorflebens, die der Verfaſſer mit 
fünftlerifcher Hand in ihrem Heinen Leben ung malt. Nur 
ftören die zahlreich eingeftreuten Gedichte, die dem Autor 
in ben Weg gelaufen find, wo wir die Schilderung eige 
ner Stimmungen erwarteten. Go hat er ſich's freilid 
bequemer gemacht; aber was follen gerade die befannte 
ften Poeme deutfcher Dichter da, wo e8 dem Leſer daranf 
ankommt, Driginales und Perfönliches kennen zu lernen? 
9. Werke und Tage. Gejammelte Auffäge von Mar Maria 

von Weber. Weimar, B. F. Boigt. 1869. Gr. 16. 

24 Nor. 

„Es gibt noch feinen Ruhm für den beutfchen Ted) 
niter. Noch ift jenes Wiffen, das die Körper von ber 
bindenden Macht der Schwere befreit, den Gedanken fo 
ſchnell, al8 er entfteht, um den Erdball wandern läßt, 
das uns Tleidet, nährt und behauft, in benjenigen Kreiſen 
der civilifirten Welt, in denen der Ruhm entjteht und 
wohnt, jenem Können nicht ebenbürtig erflärt worden, 
welches die Geifter fchmüdt und die Seelen erquidt. 
Noch ift die Technik nicht falonfähig in der guten Geſell⸗ 
ſchaft, noch ift die gute Erziehung nicht verpflichtet von 
ihr Notiz zu nehmen.” Und doch ift e8 eine fo liebens⸗ 
wilrdige Geſellſchaft, diefe Gefellfchaft der technifchen Gei- 
fter, in die und Weber führt! Und doch ift neben der 
genialen Arbeit diefer Ingenieure und Baumeifter, die 
uns der Autor in lebensfrifchen Bildern vorführt, jo viel 
Romantik in feinen Schilderungen, daß felbft „die gute 
Geſellſchaft“ getroft diefe Auffäge in die Hand nehmen 
fann, ohne zu befürdhten, vom Kohlenftaub und, was fie 
noch mehr fürchtet, vom Ennui der technifchen Ausein⸗ 
anderfegungen beläftigt zu werden! Bald ift es bie 
Häuslichkeit Robert Stephenfon’s, die uns des großen 
Tonſetzers Sohn mit treuer Beobachtungsgabe malt, bald 
find e8 Bilder aus den Mafchinenwerfitätten, das Wun⸗ 
derwerf einer Eifenbahn, die in unglaublich kurzer Zeit 
gebaut ward, bald Jagd- und Wüftenfcenen aus Nord» 
afrifa, oder Seeabenteuer aus allen Meeren, die unfer 
Intereſſe feileln. Hr. von Weber ift ein prächtiger 
Gicerone. Ueberall wohin er uns führt, belaufchen wir 
Natur und Menfcenarbeit in ihren Producten: nicht al- 
lein, daß wir Gewordenes bewundern, wir jehen auch das 
Werden vor uns und die Anfchaulichkeit der gefchilderten 
Gegenſtände läßt nachhaltige Belehrung in uns zurüd. 
Was nad) Leſſing's Darlegung der Dichter vor dem Maler 
boraushat, die Handlung in ihrer Folge vor unfern Augen 


Die Briefe des Generalpoftmeifter von Nagler. 109 


dorgehen zu machen, während ber bildende Künftler nur 
einen Moment bderfelben firiren kann, das Tommt dem 
dichteriſchen Beſchreibungstalent des Autors vortrefflic zu 
flatten. Als ein moderner Heſiod der tehnifchen Welt 
zeigt er uns „Werke und Tage”; ber Tag, den ber Lefer 
der Lektüre feines Werks wibmet, wird ihm ficher fein 
verlorener fein. 


10. Littauen und bie Littauer. Gefammelte Sfigen von Otto 
Stagan. Leipzig, Opeb. 1869. 8. 1 Thlr. 


Ken Gau in dem man in deutſcher Zunge redet, ift 
Towenig denen -„im Reich” befannt als das Land zwifchen 
Weichjel und Niemen, keinen gibt's, von dem man fo 
viel Fabeln erzäplte, über den fo viel unrichtige Vorftel» 
Iungen im Schwange find. Land und Leute der ofl- 
preußiſchen Provinz find dem Mittel- und Süddeutſchen 
in feiner Borftellung näher an Sibirien als an Deutſch- 
land gerüdt. Da lommt benn jede ethnographiſche Arbeit, 
die und über oftpreußifche Zuftände und Menfchen aufe 
tlärt, gelegen, und wir find felbft dann geneigt, zu ver 
zeihen, wenn wir derartige Schriften im fofeften feuille- 
toniftifhen Gewande antreffen. Sehr forgfam genäht 
ift das Gewand, das Glagau feinen Skizzen gegeben 
Hat, nun freilich nicht; die Fäden figen Iofe genug und 
die Nähte gucken überall hervor. Es ift chen feuilleto- 
niſtiſcher Boden, auf dem diefe Arbeiten gefertigt find, 
die großen Werfftätten der „Nationalzeitung” und des 
„Daheim“ find ihre Heimat. Nur wundern wir uns, 
daß ber Autor, der doc jelbft ein Autochthone des Bo- 
dens ift, ben er befchreibt, fein eigenes Urtheil nicht öfter 
ſprechen läßt. Ex zieht es vor, über lilauiſche Ange 
Tegenheiten andere Gewährsmänner fprechen zu laſſen als 
ſich felbſt. Es ift ein ſchönes Stüd oſtpreußiſchen Landes, 





das heiden⸗ und roßreiche Litauen, das uns der Autor 
ſchildert. Leicht und gefällig fließt feine Feder dahin, 
wir erhalten aud) wirklich Einblid und Stimmung, bie 
uns oft genug ein unmotivirte® Hervorheben des Un« 
wichtigen ein Lächeln ablodt und uns die glatte Leltüre 
unterbricht. Und was wir gern wiſſen wollen, erfahren 
wir nicht immer, Wenn 3. B. Glagau uns über ben 
einzigen Induſtriezweig Oftpreußens, die Bernfteinbaggerei 
von Stantien und DBeder, belehrende Aufſchlüſſe gibt 
und babei die auffallende Thatſache erwähnt, dag unter 
dem gebaggerten Bernftein auch zahlreiche ſchon bearbeitete 
Stide vorfommen (©. 188), fo verfäumt er es ganz 
und gar, und über die Vermuthungen der Jetztzeit in 
Betreff jener merfwürbigen Erſcheinung aufzullären. Er 
hat hier ganz vergeſſen / andern Autoren zu folgen; eine 
Marime, ber er doch fonft ziemlich ſtark huldigt. Denn 
bie (©. 189) angeführte Bemerkung (Glagau's ganzes 
Urteil über das erwähnte VBorlommnig!): „Es drängt 
ſich die Vermuthung auf, daß diefer verarbeitete Bernftein 
einem vorweltlichen Geſchlechte entftammt, und bag auch 
die, vorweltlichen Künftler, vielleicht mitten in ihrer Urbeit, 
von der gedachten Erbrevolution ereilt wurben“, ift doch 
gar zu naiv und dürfte zu einigem nicht unintereffanten 
Gedankenaustauſch mit dem Autor über „vorweltliche 
Künftler“ und die Zeit des erften Auftretens des Men- 
fen Anlaß geben. Wir zweifeln jniht an umferer 
gründlichen Belehrung über diefen Punft durch Gla- 
gau; ebenfo wenig wie Doctor ©. VBerendt in Könige- 
berg, wenn er Glagau's Skizzen leſen follte, an einer 
auffalenden Familienühnlichkeit mehrerer Kapitel derſelben 
mit einem eigenen (in der altpreußiſchen „Monats- 
ſchrift“, Jahrgang 1867 veröffentlichten) Aufſatz' wird 
‚zweifeln können. 


‚Die Briefe des Generalpoftmeifters von Nagler. 


Briefe des Löniglih Preußiſchen Staateminiſters General- 
Voftmeifters und ehemaligen Bundestags Gejandten Karl 
Ferdinand Friedrih von Nagler am einen Staats- 
beamten. : W18 ein Beitrag zur Gefichte des 19. Jahr 
Hunderts herausgegeben von Eruſt Kelchner und Karl 
Mendeisjohn- Bartholdy. Zwei Theile. Leipzig, 
Brodhaus. 1869. Gr. 8. 4 Thlr. 

Wie wichtig die Memoiren- und Briefliteratur für 
die neuere und neueſte Gefchichte ift, wie fie für die Ger 
ſchichte der Gegenwart unerlagliches Hilfsmittel geworben, 
das bezweifelt auch fein hiſtoriſcher Akademiker mehr. 
Hat doch ber Meifter neuerer Geſchichtsforſchung, Leopold 
Kante, unermüdlich auf die Bebeutjamteit jener Literatur 
aufmerffam gemacht: leider fehlt es der deutſchen Ges 
ſchichtſchreibung noch gar fehr am derartigen Mitthei- 
Lungen aus erfter Hand, bie ihr filr die politiſchen Vor⸗ 
gänge ber neueften Zeit zur ungetrübteften Duelle werden 
können. Varnhagen's „Denkwürdigkeiten” und „Zager 
bücher” find getrübt durd) Misftimmung und gekräntkte 
Eitelfeit, Lang’ und Hormayr's Berichte, befonders die 
letztern, find parteilich gefärbt und entbehren des weite 
fehenden Blids. Da Tommt denn die Herausgabe des 
Nagler’fdfen Briefwechfeld durch die Hand eines berufenen 
Geſchichtsforſchers dem Hiftorifer wie dem deutſchen 


Bublitum, das immer mehr Interefje an feiner Geſchichte 
nimmt, höchſt willlommen. Ein hochgeſtellter preußifcher 
Staatsmann, deſſen Thätigkeit ald Leiter des preußifchen 
Poſtweſens freilich feinen diplomatifchen Bemühungen weit 
überlegen war, fteht in dieſen Briefen, die er an feinen 
„geheimen Agenten“ richtet, in plaftifcher Anſchaulichleit 
vor unfern Augen. Bureaukrat von reinftem Waller, 
der altpreußiſchen abſolutiſtiſchen Tradition blind ergeben, 
zeigt ex ſich uns rüchſichtslos offen in allen Fragen ber 
herrfchenden Staatsrichtung, treu ergeben feinem „Herrn“, 
mit dem er, gleihalterig und gleichgefinnt, fteht und fällt. 
Wir können und nicht verfagen, einzelne charalteriſtiſche 
Merkmale des vielgehaßten Mannes aus dem reichen 
Stoff herauszugeben. Ihm, dem abfolutiftifchen Staats- 
mann, find nur die „gut” und „brav“, die dem ancien 
regime, das vor feiner Spionage zurädjcheut, dienen. 
Der Mann, an ben bie Briefe gerichtet find, ift ein 
Subalternbeamter, der fpätere Hofrath Kelchner in Frant- 
furt a. M., ein Mann, ber für feine raſtloſen geheimen 
Dienfte, die er der preußifchen Regierung und Nagler 
ſelbſt geleiftet, Leinen materiellen Dank geerntet hat. 
Nicht einmal ein Orden fiel fir den treuen Mann, der 
ihn fehnfüchtig wünfchte, ab. Die Verlegung des Briefe 








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110 Feuilleton. 


geheimniffes durch Nagler und feine Untergebenen ift be» 
Iannt. Wie faul es mit dem Gewiſſen der Machthaber 
ausſah, beweift die fortwährende Spionage und die hobe 
Beachtung, die man politiichen Abenteurern, die im Beſitz 
irgendeine® Geheimnifjes zu fein renommirten, wie Schlott- 
mann (S. 108) un. a. m., angedeihen lief. Der famofe 
Kombft macht natürlih Nagler fortwährend zu fchaffen: 
ber alte Mann hat die größte Angft vor dem (immerhin 
zweidentigen) Ausplauderer der Frankfurter Bundes- 
geheimniffe. Nicht minder fürchtet ex die (in ben dreis 
ßiger Jahren) erwachende Prefie: er lauſcht auf jedes 
Wort, das die „Juden, Magifter, Doctoren und Serie 
benten aller Art‘ in die Welt gehen laſſen. Wol ahnt 
er, welche politifche Macht, eventuell welcher Beiftand die 
Preſſe einer gefchidten Regierung fein kann; und ift es 
nicht wie heute, wenn Nagler Hagt: „Bier (in Berlin) 
verfieht man weder bie rechten Leute (von der Prefie) 
zu benugen, noch fich) Partei zu machen.” Dabei ift er, 
ganz das Kind eimes rationaliftifchen Zeitalters, jeder 
Drtbhodorie abgeneigt: die „Myſtiker“ find ihm verhaßt, 
und dem Kronprinzen (Friedrich Wilhelm IV.) bringt er 
feine große Sympathie entgegen. Es war dies, wie die 
Thronbefteigung des Prinzen auswies, wechjeljeitig der 
Fall. Ganz der alte unverbeflerliche Rationaliſt, Abfo- 
Intift, kurz das echte Kind des 18. Jahrhunderts, hatte 
er lieber feine Luft an Gemälden, ja felbft an fchlüpfrigen 
Büchern (U, 52 nnd 58), denn an den Kirchlichen Strei« 
tigkeiten feiner Greifenjahre und am „chriſtlich⸗germani⸗ 
Shen Staat”. Er kannte die Menfchen und verachtete 
fie. Lächerlich und doc; gefährlich waren ihm die Libe⸗ 
ralen. Mazzini ift ihm „ein Lump“; „Klüber follte 
man ‘mit Börne in einen Sarg legen (zwei Landes- 
verräther)”; Gans „war ein liberaler Narr; ähnlich 
lautet fein Urtheil über Rotteck, Herwegh, Pruß, Hoffe 
mann, nur vor OGutzlkow's genialer Erſcheinung bat er 
Reſpect. Es ift intereffant, wie er den erften Producten 
feiner Feder folgt. Sein Urtheil fteigt allmählid. „Auch 
ein heillofer Kerl” heißt e8 von Gutzkow 1835. Dann 


ein paar Monate fpäter „ein merkwürdiger Menſch“ und 
„dieſer Menſch ift nicht gewöhnlich”; dann 1838: „Der 
Gutzkow'ſche Auffag ift gut” („Die rothe Müge und die 
Kapuze‘); endlih Ende 1842: „Wie Herr Gutzkow fo 
wichtig und bedeutend wird! Mer hätte biefes gedacht!“ 
Sonft ift der alte Herr auf den Brodhaus’schen Verlag 
nicht fehr gut zu ſprechen. „Man follte alles, was von 
Brodhaus verlegt ift, excludiren” (1837). Die Geburt 
der „Leipiger allgemeinen Zeitung‘ (1837) begrüßt er 
mit den Worten: „Die Leipziger allgemeine Zeitung. ift 
infames Gebräue relegirter Preußen“, und 1843 verbietet 
er die (damals aber „Deutſche Allgemeine”) Zeitung für 
Preußen. Das Eircular an die Poftanftalten findet fid 
II, 302 abgedrudt. Wie gültig manche Anfchauungen 
Nagler’s noch für die Gegenwart find; mögen nachfolgende 
Ausiprüche zeigen, mit denen wir unſere Blumenlefe 
fchliegen: „Die ftudirten Narren misbrauchen die Hand« 
werfer, die zu nichts gut find“; und bei Gelegenheit der 
erzbifchöflichen Wirren in Preußen: „Daß der Papft 
etwas fulminiren werde, war vorberzufehen. Derglei« 
hen Papftgefchrei iſt feit Jahrhunderten gewöhnlich. 
Man muß dem Füchenlateinifchen Lärm nur nicht zu viel 
Werth beilegen. Er verhallt.” 


Der Herausgeber bat recht, wenn er in feinem treff- 
lichen Vorwort betont, Nagler, der ganz das Ohr bes 
Könige befaß, vertrete in feinen Briefen den damaligen 
Standpunkt der preußifchen Regierung. Die Mühe der 
Herausgabe des bedeutfamen Briefwechſels jei warın 
anerkannt: fie ift nicht Hein gewefen. Wenn Harden- 
berg’8 Memoiren über die Zeit vor dem Tilſiter Frieden 
1872 aus dem preußifchen Ardiv Heraus veröffentlicht 
werden, dürfte wol Karl Miendelsfohn- Bartholdy einer 
der geeignetften Redactoren fein. Einer aber wird nicht 
umhin können, den Nagler'ſchen Briefwechfel zu feinem 
Hauptmaterial zu zählen: wir meinen ben künftigen 
Geſchichtſchreiber des Deutfchen Bundes, Heinrich von 
Treitſchke. 





Fenilleton. 


Engliſche Urtheile über neue Erſcheinungen der 
beutfhen Literatur. 

Ueber „Engliſche Charakterbilder“ von F. Althaus Täft 
fi) die „Saturday Review‘ vom 15. Jannar wie folgt aus: 

„Die Wiſſenſchaft, jagt man, hat Leinen andern Feind, ale 
die Unwiſſeuheit. Man würde zu weit gehen, wollte man baffelbe 
bom Frieden fagen; doch iſt es jedenfalls gewiß, daß es Teine 
ergiebigere Quelle nationaler Misverftändnifle gibt ala die natio- 
nalen Borurtheile, daß Borurtheil allemal das Ergebniß unvoll- 
fommener Belehrung ift und daß man mit der Unwiſſenheit anch 
im allgemeinen den Haß verbannt. Das durch die Eigenthüm⸗ 
lichkeiten feiner Einrichtungen ber Entflellung befonders aus⸗ 
gefekte England Hat dadurch am meiften gelitten. Daher ift 
e8 jenen hervorragenden Ausländern, welde in neuerer Zeit 
feine Gaftfreundfchaft damit vergolten haben, daß ſie unter ihren 
Landeleuten genauere Belehrung und freijinnigere Auffafjungen 
über England verbreiteten, zu befonderm Danke verpflichtet. 
Dan wird fi) bierbei leicht der Namen eines Louis Blanc 
und Alphonfe Esquiros erinnern, und num haben wir ihnen 
noch den des Dr. Friedrich Althaus Binzuzufligen, der ſich durch 
Diederveröffentlihung unter feinem Namen zu der vortrefilichen 


Reihe von Artikeln über engliihe Zuftände, die wir fo Häufig 
in den Blättern von « Unſere Zeit» bewundert haben, befannt 
bat. Wenige Ausländer, die unter uns wohnen, find ihrer 
Stellung und ihren Gelegenheiten nad beſſer dazu befähigt, 
die Gefühle der gebildetfien Klafjen der Engländer zu interpres 
tiren. Mit der Art und Weife eines geſchulten Denkers und 
der geduldigen, deutſcher Gelehrſamkeit eigenen Forſchung der» 
bindet er ben edeln Stil eines feingebildeten Schrififtellers, 
und fo iſt da8 Werk ganz vorzüglich geeignet, richtige Vorſtel⸗ 
lungen Über engliſche Zuflände zu verbreiten. Die wichtigſten 
Efjays find die, welche politifche Gegenflände, befonders her- 


‚borragende engliihe Staatsnänner und Denker behanbelit. 


Palmerfion, Cobden, D’Israeli, Mill und Carlyle werden der 
Reihe nad und zwar jeder in einem unparteiiihen und auf 
ihre Berdienfte eingehenden Geifte beurtheilt. Es ift natürlich 
unndthig zu bemerken, daß das Urtheil eines für die Bolitik 
ſich lebhaft intereffirenden Verfaffers von feiner befondern Bor» 
liebe gefärbt ſein müſſe. Cobden und Mill haben feine wärınften 
Sympatdien. Doc ift Althaus kein extremer Parteigänger und 
wird dem confervafiven Element in Mill's Bhilofophie völlig 
geredht. Lord Palmerfion wird kaum genügend gewürdigt, ob« 


fon bie Umftände, bie ihn bei den Liberalen des Feſtlandes 
unbeliebt gemacht, jetzt das Gegentheil von dem find, was fie 
früher waren. Mr. D'Israeli wird nicht mit Unrecht als eine 
eAuomalien» bezeichnet; morauf feine Freunde indeffen, wie 
jmer M. P. dem Mr. Matthew Arnold, erwidern könnten: 
«daß etwas eine Anomalie ſei, ift fchlechterdings kein Grund 
zu einer Einwendung dagegen.» Der Eſſay Über Mr. Carlyle 
it fehr zutreffend und fein. Der zweite Band ift Teichtern 
Gegenfländen gewidmet, unter denen wir befonders einen höchſt 
mterhaltenden Aufſatz über «englifhe Geizhälfe» umd eine be- 
merlenswertb vollftändige und genaue Geſchichte der engliſchen 
Sports erwähnen wollen. 

Ueber ein anderes Werk heißt es ebendafelbft: 

„Eine Bergleihung von Roskoff's «Gedichte des Teu⸗ 
fel9» mit ber Defoe's würde einen lehrreichen Mafftab für den 
Fortſchritt der Welt feit bes lektern Zeiten abgeben. Das vor- 
liegende Werk gehört derfelben Gattung von Literatur an wie 
Mr. Buckle's und Dir. Ledy’s Schriften, und könnte faft für ein 
erreiterte® Kapitel aus einem ihrer Werke gelten. Wie in 
diefen nämlich, jo ift auch Hier eine ungebeuere Mafle aus 
verihiedenen Quellen zufammengetragenen Materials fo geſchickt 
verarbeitet, DaB des Verfaſſers Gelehrſamkeit fich niemals drückend 
fühlbar macht. Der Gegenftand felbft ift zwar düſter und ein- 
tönig, doch if die darauf verwendete Mühe durchaus nicht 
weggeworfen worden. Wir Tönnen uns laum ein wirkjameres 
Cortectiv für jedwedes fentimentale Gelüften nad) den Ideen 
bes Mittelalters denken, als die Durchleſung dieſes wohlver- 
bürgten und unparteitfchen Berichts liber das entſetzliche Unheil 
und Elend, welches fie veranlaßt haben, gewährt. Diefer Theil 
des Gegenflandes ift weitaus der ausgedehntefte; aber auch die 
Dimonolatrie der wilden Böller ift von des Verfaffers Plan 
nit ausgefchloffen worden und bringt er aud) hierüber aus- 
führlide Belehrung bei. Das befriedigendfte Kapitel indeſſen 
ih das letzte, welches die Gejchichte des «Berfalld und Sturzes» 
bes Teufels erzählt.‘ 

„zb. Fontane's «Der deutfche Krieg von 1866»'‘, fagt das 
Blatt ferner, „iſt ohne Zweifel die umfafjendfte Geſchichte dieſes 
Kriege, die bisher erſchienen. Es ift eine Muſtergeſchichte für 
die große Menge, jowol was den Ton der Erzählung betrifft, die 
ohne übertriebene Parteilichleit dem Nationalftolz ſchmeichelt, als 
auch was den Glanz der äußern Ausftattung anlangt. Schö⸗ 
nere Holzſchnitte find felten aus den bdeutfchen Preſſen hervor» 
gegangen, und fie kommen im großer Zahl vor. Einige An- 
fiten von Ortſchaften find wirkliche Hälfsmittel zum Ber- 
ſtändniß des Textes; bie Schilderungen der Kriegsoperationen 
find, wenn aud nicht ſtreng authentiſch, doch jedenfalls ſehr 
anziehend und dabei reichlich vermengt mit Schutzengeln, 
Ephinzen und Wappenſchildern ad captandum. Das Wert 
eignet ſich vortrefflich für den Salontifch und kann fogar einft- 
weilen einen Pla in der Bibliothet behaupten.’ 

Bei Beſprechung von „Hegel als deutfcher Nationalphiloſoph“ 
bon Dr. 8. Roſenkranz, kommt die „Saturday Review” 
wieder einmal auf den alten Witz von dem Einen Schiller zu- 
rüd, der Hegel verftanden, aber falſch, und will ihn auf den 
Berfaffer beziehen. Unfers Willens ift das bisjet niemand in 
Deutichland eingefallen. Trotzdem jagt der Referent: „Die 
Bee würde durch fein lichtvolles und unterhaltendes Werk über 
die Hegel'ſche Philofophie faſt gerechtfertigt erſcheinen.“ (Die 
Sermuthung iſt alfo freilich ſehr qualifieirt — wir wollen fie 
baber auch nur als facon de parler gelten lafien.) „Man kann 
weder fein eigenes volllommenes Eindringen in den Gegenfand, 
wie er ihn verfteht, noch feine Fähigkeit, ihn dem gemöhnlicdhen 
feier begreiflich zu machen, bezweifeln. Doch gerade die Glätte 
und Ducchfichtigleit feiner Behandlung iſt verdadhterregend. 
küßt ih «das Geheimniß Hegel’s» wirklich fo leicht mittheilen ? 
Bie den aud) fein mag, die Lejer bes Buchs werben eine 
Anzahl prägnanter Ideen, von denen fie wahrjcheinlich ſchon 
viele auf anderm Wege kennen gelernt haben, in einem gefeil- 
ten und anziebenden Stil erflärt und mit Recht oder Unrecht 
Hegel zugefchrieben finden. Man befommt aud eine vortreff- 
fie Biographie des Philofophen mit in den Kauf, und feine 


Feuilleton. 


111 


fi demnach der angenehme und Iehrreiche Charakter des Werks 
durchaus nicht beftreiten; doch glauben wir wol, daß ftreugere 
Metaphufiter als Dr. Roſenkranz ferne Berechtigung, über ben 
Gegenftand efoterifch zu belehren, in Frage ſiellen werden.‘ 

Anfang und Schluß dieſes Referats zeugen nicht für ge- 
naue Belanntichaft mit dem Gegenflande oder dem Berfaffer; 
ein neuer Beweis für uns, dem Ueberfeter, daß diefe Be 
gen nicht don dem deutſchen Gelehrten herrühren, dem manche 
fie zufchreiben. 

‚ Weber „Richard Wagner” von 2, Nohl heit es: „Dieſe 
kritiſche Biographie ift, fo weit fie eben geht, des Rufs Hru. 
Nohl's würdig, allein ihre Grenzen find nn ihre Entftehung 
al® Bortrag zu eng geftedt. Es wird über Wagner's Biogra- 
phie zu leicht hingegangen, um der äfthetifchen Kritif fiber feine 
Diufit Play zu machen, welche erftere jedoch den Uneingeweihten, 
ohne die Teßtere gehört zu Haben, unverfländlich if. Der Ber- 
fafjer hätte eher Wagner’s Berdienfte als Dichter und Drama- 
tifer hervorheben follen, ba diefe, obgleich bedeutend, doch bis⸗ 
ber nur verhältnißmäßig wenig beachtet worden find. Einen 
Operntert dent man fi) num einmal als etwas fo Abgefhmad- 
tes und Blödfinniges, daß es jhwierig ift, die Leute zu ver 
anlaffen, ihn ernftlich, zu betradgten. Wagner hat gezeigt, daß 
berfelbe, ganz abgefehen von den Verdienſten der muftlalifchen 
Begleitung, ein Werk von vollendeter Kunft fein könne.“ 

Der auch von der beutfchen Preſſe fo günſtig beſprochene 
Roman „Kinder der Zeit" von C. M. Sauer, erfährt fol 
Kin Beurtheilung in der „Saturday Review”, „‚«Stinder ber 

eit» übertrifft den durchſchnittlichen deutfchen dreibändigen Ro- 

man. Er ift zum großen Theile gegen die neuefte materiali- 
ſtiſche Schule gerichtet, und wenn aud auf Erdichtetes bafirte 
Gründe nichts bemweifen können, fo hat doch das Bewußtfein 
eines directen Zweds dem Werke mehr Kraft und Lebendigkeit 
verliehen, als den neuern Romanen gewöhnlich eigen if. Die 
Charaktere find Eräftig, wenn aud etwas derb gezeichnet, und 
die Erzählung iſt durchgängig intereſſant.“ 
Schließlich Iefen wir: „Gedichte von Wilhelm Stein 
iſt der befte Band deutſcher Gedichte, ben mir feit Lange gejehen 
haben. Er ift gleich fern von den zwei Erbflinden neuerer 
deutſcher Lyriker — Auſpruchmacherei auf der einen Seite und. 
Zrivialität auf der andern, Die Stücke find in der Regel, fo- 
wol was die Erfindung als auch die Ausführung betrifft, fehr 
geringfügig; fle find aber dennod unverkennbar das Product 
einer echt Inrifhen Begeifterung. Der Inhalt ift im allge 
meinen erotijh und die Sprache höchſt Teidenfchaftlih. Ohne 
fie geradezu mit den älteften lyriſchen Gedichten Goethe's ver- 
gleichen zu wollen, können wir fie doch als weſentlich derſelben 
Schule angehörend bezeichnen.‘ 





Bibliographie. 
Briefwechſel zwiſchen Mn —78 — dv. Laßberg und Ludwig Ahland. 
eransgegeben von F. Pfeiffer. t einer Bio ie F. 
— Bar 110. Dien, Eranmälier, Or. 6. 4 € Sa 5. Biene von 
arbon, ©, Memoiren ein ußengel®. t Autori 

Betas überfegt von I. M. —— uſtet. 16. oetion des 

Clericus, 3. mn, Geſchichteñ aus dem Boll. Aus ewähtte äbs 

tungen. —8 48 en St. Gallen, nneregßer. &r. 8. a 12 Ror. 

„ Eharaden un el u 
ſcher Oben. Darmftabt, Songhans. Gr. 8, 7 Near. Gragmente doraii- 
ächer-Sprache der Königin Isabella. Nach spanischem Original be- 
arben t von Feel Er Benin, Shan 16, * Ngr. 
errar r Dan to! oriiher Rom 4 . 

—2 * p en I an. 4 Bde. Hannover, 
o Oeſterreich und bie Bür n . 

litiſche Studie, Wien, Wallishauffer. Zrs Gaſte aaa Iſtandes vo⸗ 
Geſel 1, K., Zwei Gedichte. Leipzig, Wartig. 1869, 8. 1 Nor. 

Gisi, W., Quellenbuch zur Schweizergeschichte. Eine Sammlung aller 

auf die heutige Schweiz bezüglichen Stellen der griechischen und römi- 

schen Autoren mit einleitendem Text und erklärenden Anmerkungen, 1ster 

Bd. Die Ereignisse bis zum Jahre 69 nach Christo. Bern, Jent u. Rei- 

nert. 1869. Gr. 8. 1 Thbir. 15 N 

te, 2%, Zur Geſchichte 


®ro annov ®. 4 
aus dem Jabre is ds ers. Üctenflüde und Stimmen 


nebft einem 4 
Srannet: 9: 8, ze Me a. un bem . ve 1848. Hannover, 
eine, H., Letzte ichte und Gedanken. Aus dem Nachlaſſe des 
Dichters zum erſten Male veröffentlicht. St . 
— 
as Hohelied, ein drama e . 
Sta ne F F Eigſtätt, cl, 16. * nr in bearbeitet von © 
zbierih, D- WB. J., Die Senefis_ nah ihrer moraliſchen und pro 
phetiſchen —E betrachtet. — Se Gr. 8, | Ir. 24 Fr. 





Sauptwerfe werden ausführlih und Mar analyfirt. Es läßt 








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Unze 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Dr. Slügel’s 
Praktiſches Wörterbuch 
Englifgen und veutſchen Sprade. 


Dritte Auflage, neunter bucchgefehener nnd verbefierter 
druck. 
Zwei Theile. 8. Geh. 5 Thlr. Geb. 5 Thlr. 20 Ngr. 
Engfifg-dentfher Theit: geb. 2 Thlr., geb. 2 Thlr. 10 Nor. 
Deuiſch · engliſcher Cheil: geh. 3 Thir., geb. 3 Thlr. 10 Ngr. 
Fligel’s englifch-deutfches und deutſch⸗engliſches Wörterbud) 
(früher Berlag von Ioh. Aug. Meißner in Hamburg) gilt all» 
gemein als das vorzüglichfte für den praltiſchen Gebrauch. Es 
iſt in feinen verſchiedenen Auflagen immer mit den Bedürf- 
niffen der Zeit fortgefchritten umd enthält die Ausdrlide des 
täglichen Verkehrs ſowie die im Handel und in den Gewer⸗ 
ben, in der Kunft und in den Wiſſenſchaften gebräuchlichen 
Wörter in größerer Vollſtändigkeit als andere viel umfänglichere 
und tbeurere Werte. 


Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin. 


Günther, Staatsanwalt. opnläre Abhandlun⸗ 
gen und Vorträge über NRechtsmaterien. Ehe, 
Adel, Lehen, Duell, Eid. Gr. 8. Broſch. 1 Thlr. 

„Borliegende Aufſätze find nad) des Verfaſſers Bemerkung 
aus Verträgen berborgegangen, bie von ihm in feinen verjchie- 
denen Wohnorten gehalten wurden. Sie handeln über Che, 

Adel, Duell, Lehen und Eid. Vorzugsweiſe kritiſch, geben 

alle diefe Abhandlungen Harften Aufſchluß über die Genefis 

mannichfadher Punkte der Gejeßgebung. — — 
„Wie das Hegel’fhe Princip, daß alles, was wirklid), 
auch vernünftig fei, durch die Erpofitionen des Autors liberal 
bindurdhllingt, fo trägt auch das ganze Werl den Stempel 
tiefgehender wiſſenſchafilicher Forſchung und bewegt fi in ge- 
ihmadvolfter Redeform. Erfreulich war es uns zu fehen, 
wie gewandt der Autor die einſchlägige germaniftifche Literatur 
beherrſcht; ſo wird Grinim's Wörterbud) zum öftern angezogen, 
wo es fih um etymologifde Feſtſtellung eines Rechtsbegriffs 
handelt.” (Aus einer ausführlichen Beſprechung in Nr. 44 der 
„Blätter für literarifche Unterhaltung‘, Jahrgang 1869.) 
Badifhe Randeszeitung, 6. Juni, Nr. 129. „Lauter 

Themata, welche ſtets und überall das Intereffe der Gebildeten 

wachrufen, unterzieht der Berfaffer recht fefjelnde und nicht felten 

ganz neue Gefichtspunfte eröffnender Betrachtung. Es ift ein 

Bud für denkende Leſer, nicht zu flüchtiger Unterhaltung.‘‘ 


Desfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
die fiebente, umgearbeitete und vermehrte Auflage 
von 


Kalfſchmidts Sremdwörterdud). 


8. Geh. 2 Thlr. 12 Ngr. Geb. in Halbfrauz 2 Thlr. 24 Ngr. 
(Auch in 12 Heften zu je 6 Nor. zu beziehen.) 
Kaltſchmidt's Fremdwoörterbuch, bereits in ſechs ſtarken 
Auflagen verbreitet, wurde in der vorliegenden ſiebenten Auf⸗ 
lage innerlich wie änßerlich den Fortſchritten der Zeit gemäß 


. umgeftaltet. Es umfaßt jetzt 61 Bogen Lerifonoctav und ift 


demnad nicht nur das neuefte und vollſtändigſte, fondern 
auch das verhältnißmäßig billigfte aller Fremdwörter— 


bücher. 
Vorräthig in allen Buchhandlungen. 


ERGÄNZUNGSBLATTER, 


1870, 1. Heft. 

Geschiehte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy- 
denbrugk. 

Literatur: Das deutsche Drama der letzten zwei Jahre, I, 
von Dr. A. Lindner. 

Kunst: Leben und Werke Hans Holbeins des Jüng., I, 
von Br. Meyer. 

Geographie: von der Decken’s Reisen in Ostafrika. — 
Die Philippinen, von Semper. 

Astronomie: Physische Konstitution der planetarischen 
Welt. — Auffindung eines neuen Kometen, von Klein. 

Zoologie: Brutpflege der Fische. — Wirbelthiere der 
Schweiz. — Der Elefant. 

Physiolegie und Mediein: Ansteckungsfähigkeit der 
Lungenschwindsucht. — Einfluss der Bodenfeuchtigkeit auf 
die Häufigkeit der Lungenschwindsucht, von Dr. Bayer. 

Velkswirthsehaft: Die preussische Finanzregulirung. 

Handel und Verkehr: Fluss- und Kanalschifffahrt. — 
Der neue niederländische Nordseekanal. — Die Eisenbah- 
nen der Vereinigten Staaten. — Getreideproduktion und 
Handel in den Vereinigten Staaten. — Nekrolog. 

Fischerei: Die Kultur des Meeres in Frankreich, von 
Schmarda. 

Kriegswesen: Die Uebungslager der europaischen 
Heere, I, von Chr. v. Sarauw. — Die europäischen Heere. — 
Nekrolog. 

Technologie: Centrifugal- oder Kreiselpumpen. — Eis- 
maschinen. — Chlorfabrikation. — Farbstoffausbeute aus 
den Steinkohlen. — Nekrolog. 

Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk. 

Illustrationen; Der Kilimandscharo, nach von der 
Decken. — H. Holbein: Madonna des Bürgermeisters Meyer; 
Initiale L. — Sigmund Holbein’s Porträt. — Die h. Elisa- 
beth voın Sebastiansalter. — Plan des Lagers von Chä- 
lons. — Lager einer französischen Escadron. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 
Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin. 


Grundzüge conſervaliver Politik, In Briefen 
eonfervativer Freunde über conjervative Partei 
und Politit in Preußen. 2. Auflage. 1 Thlr. 

Urtheile der Breife: 

„Möge dies Buch der confervativen Partei Preußens neue 
Sreunde erwerben nnd möge fich dieje der eruften Beichtrede 
nicht entziehen, die ihr darin gehalten wird. Es kann ihr un⸗ 
ſers Erachtens nur zum Heile dienen, wenn fte ſolche Stim- 
men willig anhört und fi zur Läuterung dienen läßt.“ 
(Schluß einer fehr ausführlihen Beſprechung im „Allgemeinen 
literarischen Anzeiger” vom 4. Mai 1868.) 

„Wer fi mit Politik befchäftigt, welcher Partei er audh 
angehören möge, wird diefe gedanken⸗, geift- und lebensvollen 
Anfchauungen mit Interefie und Nuten leſen — reipective 
fudiren, für die künſtliche Entwidelung der confervativen Partei, 
welche es empfindet, daß fie nicht mehr in ben Geleiſen der 
alten Schule gehen kann, find die Briefe felbfiverfiändfih von 
doppeltem Intereſſe.“ (,Speneriche Zeitung‘, 1868, Nr. 40. 

„Daß die Briefe auf keinem engherzig confervativen Stand⸗ 
punkte ſtehen, geht ſchon daraus hervor, daß fie gegen «die 
mechaniſche Einräucherung alter beftehenden oder die fünftliche 
Kepriftinivumg der idealifirten Vergangenheit» eifern. Der an- 
regende Zon, in welchem fle geidhrieben find, bat ihnen auch 
über den Kreis der confervativen Partei hinans Lefer verſchafft.“ 
(„Braunfchweiger Tageblatt”, Nr. 78, 1868.) 








Verantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von 8. 4, Brockhaus in Leipzig. 


Blätter 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


et Ar, 8 9 


17. Februar 1870. 





Iupalt: Bafian’s Reifen in Ofaften. 
Zur Geichichte der bentfehen zefigiöfen Speculation. 


Bon Rudolf Gottſchan. — Moderne und unmoderne Lyril. Bon @. Heröfurtb. — 
Bon Seinrich NRüdert. — Senilleton. 


Duplitkate von Schiller» Geipräden ; 


Chineſiſche Brände und Spiele in Europa; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Baſtian's Reifen in Oftafien. 


Die Bölfer bes üſtlichen Aflen, Studien und Reifen von Adolf 
Baftian. Dritter Band: Reifen in Siam im Jahre 1863. 
Bierter Band: Reife durch Kambodia nad Codindina. 
Fünfter Baud: Keifen im Indifhen Arhipel, Singapore, 
Batavin, Manila und Japan. Nebft einer Karte Hinter» 
indiens vom Kiepert. Jena, Eoflenoble. 1867-69. Gr. 8. 
10 Thlr. 

Wir haben bereits die beiden erften Bände biefes in« 
tereffanten und inhaltreichen Werks in Nr. 46 und 47 
d. BL f. 1866 beſprochen, welche uns die Geſchichte 
Birmas und den AufentHalt des deutfchen Philofophen 
am Königshofe von Mandalay ſchilderten; wir wollen ihm 
jegt auf feinen weitern Reifen nad) Often folgen, indem 
wir vorher nod) einige Blide auf den Charakter des Werks 
im allgemeinen werfen. 

Baftian ift Philoſoph und Ethnograph; das Natur- 
wiſſenſchaftliche tritt in feinem Werke mehr in den Hin- 
tergrumd, ohne indeß gänzlich zu verſchwinden. Baftian 
gibt und das landſchaftliche Colorit mit großer Treue 
wieder, er ertheilt manderlei Auskunft über Landwirth- 
ſchaft, über die Eigenthümlichkeit und Beſchaffenheit der 
Wälder in jenen Landſtrichen, er bringt ſtatiſtiſche Notizen 
über die Producte, welche fie erzeugen; aus dem Leben der 
Thierwelt ſchildert er viel aus eigener Anfhauung und 
weiß dafjelbe überdies durch Mittheilung zahlreicher Fa- 
bein und Sagen ber oftafiatifhen Völker intereffant zu 
maden; nur die ftveng wiſſenſchaftliche Bezeichnung der 
einzelnen Pflanzen und Thiere werben die Fachgelehrten 
vermiffen, ſowie überhaupt die vorzugsweiſe Richtung 
des Forfchergeiftes auf die Bereicherung diefer Disciplinen. 

Der Philojoph Baſtian dagegen hatte für feine Reifen 
eine große Aufgabe: das Studium des Buddhismus, 
jenes ebenfo philofophifchen wie theologijchen Religions» 
foftems, welches in ganz Oftaften die überwiegende Herr« 
ſchaft errungen und mehr als 300 Millionen Belenner 
aufzuweifen hat, während feine Literatur von der über« 
wucjernden theologifchen Gelehrſamkeit des Oſtens zu 

1870. 8 





einer Hyperprobuctivität entwidelt ift, welche felbft bie 
fchreibfelige Theologie des Abendlandes in Schatten ftellt. 
Den Buddhismus ftudirt Baftian an den Ouellen; in 
vielen Humdert Klöftern, die er befucht, ſchöpft er nicht 
nur aus den Unterrebungen mit den Mönchen neue 
Kenntniß feiner Lehren; er ſtudirt aud alle ihm irgend 
zugänglichen SKlofterfchriften und gibt von manden ber 
großartigften Baudenkmäler ſowol wie auch von Ruinen 
impofanter Tempel, welche dem Cultus deſſelben geweiht 
waren, zum erjten male. eine eingehende Befchreibung. 
Wir mußten an den erften Bänden tadeln, daß die Nor 
tigen über ben Buddhismus, aus allem ſyſtematiſchen 
Zufammenhang geriffen und durch die ganze Reiſeſchil- 
derung zerftreut, auf ben Uneingeweihten einen mehr ver» 
wirrenden Eindrud machen; überall pflüdte der Reiſende 
einzelne Blumen, aber nirgends waren fie zum Franz 
oder auch nur zum Strauß geordnet. Offenbar hat Baftian 
diefem, auch don andern Seiten ausgefprochenen Zabel 
Gehör gegeben; im dem Bande, der von Siam handelt, 
find drei gefonderte Abfchnitte: „Die Klöfter und ihre 
Bewohner“, „Die Phantaflewelt bes Uebernatürlichen“ 
und „Religiöfe Vorſtellungen“, einer zufammenhängenden 
Darftellung des Buddhismus gewibmet, wie er fih in 
Siam ausgebildet hat. Indeß foll der ſechste noch nicht 
veröffentliche Band des Werks einer ſyſtematiſchen Ent» 
widelung des großartigen Religionefyfteme gewidinet fein; 
aber immer bleibt noch vielerlei übrig, was in der Zer⸗ 
ſtreutheit und Iſolirtheit, in der es mitgetheilt wird, für 
den Laien unverſtändlich ift. 

Der Ethnograph und Ethnolog hat bie größere Hälfte 
feiner Arbeit vollendet, wenn er bei Schilderung ber oft« 
afiatifchen BVölfer ihre Religion und ihren Cultus ein 
gehend dargeftellt Hat; denn Leben und Gitte berfelben 
werben fo von den Mächten des Glaubens durchdrungen, 
dag nur noch dieſe oder jene Außerliche Erſcheinung zu 
ſchildern übrigbleibt. Baſtian betrachtet ſich vorzugsweiſe 

16 


114 Baftian’s Reifen in Oftaften. 


als Vertreter der Ethnologie, über deren Bedeutung 
er fih in der Einleitung zum fünften Bande geift- 
voll ausfpricht. Baſtian fcheidet die Ethnologie von der 
Geſchichte; jene Hört nach feiner Anfiht auf, wo diefe 
beginnt, wo bie Nation, da8 Volk geboren wird: ein 
MWendepunft, der gekennzeichnet wird durd) das Hervor⸗ 
treten hiſtoriſcher Perfünlichleiten, durch das mehr oder 
weniger erfolgreiche Eingreifen des Dienfchen in die Natur 


und durch den, werm auch nur oberflächlichen Abdruck 


feines Willens auf die planetarifche Erde. Dagegen meint 
Baftian: „Jene Propyläen, die nur ſpärlich vom Hiftorie 
fhen Lichte erhellt find, jene Außerften Vorhallen, welche 
die Gefchichte raſch zu durchwandern pflegt und die dann 
der Tummelplag der Mythen und Traditionen bleiben, 
gehören erb und eigen ber Ethnologie an, die diejes 
ihr zufommende Gebiet von den Verkäufern faljcher Fabel— 
waare zu reinigen hat, wie die erjten Regungen pfycho- 
logiſchen Schaffens, das frühefte Alter des Menjcen- 
geifte8 zu belaufchen.” Baftian verlangt für die verglei- 
chende Piychologie die naturwiſſenſchaftliche Inductions⸗ 
methode, welche ihr nur die Ethnologie bieten kann, indem 
diefe ihr den Apparat des thatfächlich Gegebenen Liefert. 
Entfhieden proteftirt aber Baſtian gegen die traurigen 
Berftümmelungen des Materialismus, mwodurd die Gei- 
ftesichöpfungen nad) dem Profruftesbette des Anorga- 
niſchen zugefchnitten werden ſollen. Die Aufgabe der 
Ethnologie befteht zunächſt in der Derbeifchaffung und 
Bervollftändigung des erforderlichen Materials, in der 
Sichtung und Klärung defielben und in dem Beitreben, 
die Berechtigung der inductiven Forfchungsmethode in der 
Plychologie zur Anerkennung zu bringen. Der Philofoph, 
der diefer Aufgabe jetzt eine befondere Zeitfehrift widmet, 


bat in feinen oftafiatifchen Reifen bereits ein fehr reich⸗ 


baltiges Material für Ethnologie und Völkerpſychologie 
zufammengetragen, ja er hat durch die vergleichende Zu- 
fammenftellung mythologifcher und fonftiger Anfchauungen 
aus den verjchiedenften Kreifen der Urvölfer und aus der 
Urzeit der gejchichtlichen Völker ſchon manchen wichtigen 
Bauftein für einen ſyſtematiſchen Aufbau herbeigejchafft 
und überrajchende Lichtblide in bie Gemeinſamkeit pfycho- 
Iogifcher Entwidelung bei ben verjchiedenften Stämmen 
eröffnet. Schade nur, daß die Yorm der Notiz und des 
Apergu dieſen Mittheilungen zu fehr den Charakter des 
Rohmaterials verleiht, daß fie allzu oft in ganz abrupter 
Weiſe in die Schilderung eingefügt find, wie überhaupt 
die früher gerligten Mängel der Sprachmengerei, der in 
das Deutſche fi) ohne fcharfe Scheidung hineindrängenden 
franzöftfchen und englifchen Citate, ſich noch immer in den 
Noten vorfinden, wenngleich aus dem deutjchen Stil un= 
beutfch-englifche Wörter und Wendungen entfernt find. Wir 
bedauern biefe noch immer nicht ganz befeitigte Schwer- 
fälligkeit und Unhandlichkeit des Werks um fo mehr, als 
Baftian in feiner Humboldt⸗Rede und in der eben- 
erwähnten Cinleitung ebenſo viel Stilgewandtheit wie 
Architeltonik im gedanklichen Aufbau einer Abhandlung 
beweift und als auf der andern Seite das große Lee 
publitum, das gerade in ber neueften Zeit dur) an— 
ſprechende und einleuchtende Darftellung auch der jchwie- 
rigften Stoffe verwöhnt ift, ſich dadurch leicht von der 
Lektüre eines hervorragenden Reiſewerls zurüdichreden 


laſſen könnte, welches ihm fonft eine Fülle neuer Behaup⸗ 
tungen und Anſchauungen bieten wiirde. 


Seine Reifen in Siam beginnt Baftian von ber 
birmanifch=fiamefifchen Grenze aus; er bemerkt alsbald 
die äußern Unterjchiede zwifchen Siamefen und Birmanen: 

Im Berhältniß zu dem fchwerfälligen, kurzbeinigen, ſchwam⸗ 
migen Siamefen ericheint der Birmane cher fchlanf und her 
hende, wie ihm auch das im langem Buſch Herabhängende Haar 
ein verwegenes Ausfehen gibt, gegenüber der bärftenförmigen 
Friſur, in der die Siameſen das Haar ihres breiten und diden 
Kopfes zu ſcheren pflegen. Die Kleidung der Männer iſt ziem⸗ 
ih ähnlid), und bei den Siamejen aud) die der Frauen wenig 
verfchieden,, da die Siameſinnen das vorne offen gefchligte Ge— 
wand der Birmaninnen nicht fernen, dagegen aber häufig das 
als Kleid getragene Lendentuch zwifchen den Beinen bindurd- 
fnoten, wie die Männer bei der Arbeit. In diejem Coſtüm 
ift es auf einige Entfernung oft ſchwer, die Geſchlechter zu 
unterfheiden, da die Kopftracht bei beiden eine ganz gleiche ift. 

Die Straße ging anfangs theils durch parfartig ge= 
lichtete Teakwälder, theil® auf fteilen Waldungen durd) 
ein hohes Gebirgsland. Die Keitelefanten bewährten fi 
hier merfwürdigerweife : 


Die Elefanten konnten an dem fteilen Abhange nur da- 
duch feften Fuß faffen, daß fie vorfihtig in die früher ein- 
gedrückten Löcher traten. Nah nod) manchem Auf und Nieder 
mußten fie fi durch eine enge Schlucht hindurchwinden, und 
danı fanden wir plößlich am Fuße eines fchroff auffteigenden 
Bergiwalles, von dem abſchüſſige Felsmaſſen Über uns herüber⸗ 
hingen. Es fchien mir anfangs fraglih, ob fich die fleile 
Höhe an dem Punkte überhaupt erklimmen laſſe, bald aber fah 
id zu meiner Verwunderung die Elefanten unbedenklich das 
Auffteigen beginnen und hielt e8 für das Beſte, mich hinauf⸗ 
tragen zu laſſen. Trotz feiner ſchweren Maffe, und gerade 
durch - diefelbe, befittt der Elefant auf fteilen Gebirgspfaden 
einen ſehr ſichern Tritt. VBefondets bergab ift es erftaunlich, 
die Vorficht zu beachten, mit der er auf Hinter- und Border» 
füßen niederfauernd ein Bein nad) dem andern vorfchiebt und 
fih fo langſam herabgleiten Täßt. 

Bald genoffen die Reifenden in angebauter Gegend, 
in welcher Bäume und Büfche in Allen geordnet waren, 
über da8 Thal des fiamefifchen Nils, des Menam, hin⸗ 
weg, den Did auf eine mannichfach geftaltete Gebirgskette, 
und erreichten dann die Einmündung des Metong in ben 
Menam, über welden Strom Weberfahrt und Durchwaten 
mit großen Schwierigfeiten verbunden war. Der von ber 
reißenden Strömung fortgerifiene Gepäckelefant konnte 
mit genauer Noth gerettet werden. Jenſeit des Stroms 
lag die lebendige und betriebfame Stadt Rahein, wo 
Baftian in der Nefidenz des Gouverneurs, in einer 
waffengeſchmückten Halle, eine Audienz bei diefem Macht⸗ 
baber Hatte, die ex uns In folgender Weife fchildert: 

Als der Gonvernenr oder Chao⸗Myang, den meine Bir- 
manen den Mingyi (Großfürften) nannten, eintrat, reichte er 
mir feine Hand zum engliihen Gruß, der indeß bet feinen zoll⸗ 
langen Fingernägeln etwas ſchwierig auszuführen war. Die 
vornehmen Siamejen adoptiren gern dieſe dhinefifche Sitte, um 
dadurch zu zeigen, daß fie einer Bürgerklaſſe Angehören, die 
von Hündearbeit befreit ifl. Die ganze Berfammlung Iag beim 
Eintritt des Fürſten natlrlih auf Elbogen und Knien, doch 
wurde dem Wichter und Höhern Beamten die Gnade eines 
berablaffenden Winkes, der ihnen erlaubte, fi nach den Tep⸗ 
pihen hinzuwälzen, um auf dieſer weichern Unterlage Plat 
zu nehmen. Das übrige Gefolge mußte es fih auf dem Fuß» 
boden bequem machen. Der Mingyi trug unter feinen Bubo 
oder Lendentuche ein filberdurchftidtes Untergewand, einen koſt⸗ 
baren Ueberwurf in der Form eines Schlafrods am Oberkörper 


Baſtian's Reifen in Oftafien. 115 


und chineſiſche Pantoffeln. Er ließ fi) auf den einen Arm⸗ 
ſtuhl nieder, mit Schwertträgern, Schreiber, Cigarren- und 
Betellnaben zu feinen Füßen, und begann dann ein längeres 
Seipräd, über die verichiedenen Nationen, die die Erde bes 
wohnen, mid) über meine Reifebeobadhtungen in andern Län⸗ 
dern, meinen Aufenthalt in der Hauptfladbt Birmas und Achn- 
liches mehr befragend. Er ſpielte mehrfach auf die Beziehungen 
zwiſchen Franzoſen und Engländern an, ſprach von den Kriegen 
des großen Napoleon und kannte ebenjo ben jetigen Sailer. 
Anch die Kunde des furditbaren Bürgerkriegs in den Ver⸗ 
einigten Staaten war fchon bis dahin gedrungen. Dann wandte 
fich die Unterhaltung auf meine Reifezwede, und gab befonders 
der Unterfchied zwiſchen den Lehren der Weisheit oder der 
BHilofophie und den aus den Miffionaren gefannten Lehren 
der Religion Gelegenheit zu weiterer Discuffion. Nachdem 
etwa eine Stunde fo verbracht war, bat mich der Gouverneur, 
fein Gaf zu fein, und ließ die auf den Tiſch geftellten Schüffeln 
aufdeden. Die Heinern derſelben enthielten alle Arten Ragouts 
uud Fricaſſes, gebratene oder gekochte Enten und Hühner, 
Schweinefleifh, Fiſche und Saucen. Ein gigantifhes Gefäß 
mit Reis wurde hereingebracht und neben uns auf die Erde 
geſtellt. Ein dahinter Iniender Diener füllte die Eßſchalen 
mit Reis, der dann mit den auf dem Tiſche gebotenen Zu- 
thaten gegeffen wurde; fiir mich hatte man Meſſer und Gabel 
Bingelegt, die gewechſelt wurden, als ber zweite Gang ber 
Süpigkeiten erſchien: Kuchen, Confituren, verzuderte Bananen, 
ein Kolosnuß- Pudding u. dgl. m. Waffer wurde in Gläſern 
gereicht, und zum Abipülen der Hände ſtand ein Wajchbeden 
bereit. Nachdem abgetafelt war, kehrte ich zu meinem frühern 
Sig zmrüd, und ging das Geſpräch noch einige Zeit fort, 
während ſchmale Zaffen mit Thee herumgereicht und Eigarren 
geraucht wurden. Beim Kortgehen Hatten wir Mühe, uns 
durch die Zufhauermenge durchzudrängen, die fich inzmwifchen 
ver dem Hofthore angefammelt hatte, und famen wir erſt fpät, 
unter Borantragen von Fackeln, nad unferm Logis zurück. 


Nach dem Beſuch des Klofters der Kofosnußpalmen 
und nad) der nöthigen Verftändigung mit dem Gouver- 
neur trat Baftiaon auf dem Menam feine Stromfahrt 
nah Bangkok an, die er uns in anziehender Weife fhil 
dert; er bejuchte foviel als möglid an ben Ruheſtätten 
die Städte, Klöfter und Ruinen des Ufers. Die wid. 
tigfte der Städte ift das neue Ayuthia, in deflen Nähe 
die Trümmer der alten, hochberühmten Hauptftadt des 
Landes liegen: 

Die Stadt ift fehr volfreih und nimmt nit nur auf 
dem fehlen Lande eine ziemliche Ausdehnung ein, fondern bejegt 
auch die beiden Seiten des Fluffes mit ſchwimmenden Häufern, 
bejonders Berlaufsläden, auf deren Straße eine Unzahl Meiner 
Bote hin⸗ und herſchießen. Bald ift es die geſchmückte Gondel 
des vornehmen Siamefen, der fi) fortrudern läßt, bald der 
mit Früchten oder aufgeftapelten Porzellanwaaren gefüllte 
Kahn des Kaufmanns, der jeine Waaren ausbietet, bald das 
Boot des einfachen Bürgers, der feine Geſchäfte beforgt, oder 
das vou ihr felbft gefteuerte Boot der Hausfrau, die auf den 
Markt geht, oder die Heine Nußſchale, in der fi) der Schul» 
Inabe zum Kloſter rudert, das Mädchen ihre Freundin bes 
ſucht. Und dann bricht ſich dazwifchen wieder ein langes 
Kriegsboot Bahn, das, im eintönigen Rudertakt fortgeftoßen, 
Regierungedepeſchen bejorgt, erjcheinen befonders de8 Morgens 
beim Bettelgang oder der Bettelfahrt die ſorgſam erhaltenen 
Kahrzeuge der Mönche, die von ihren Schülern gerudert und 
von den Borbeipaffirenden mit demüthigen Geften begrüßt 
werden, bewegt ſich fchmwerfällig ein vollbepadtes Reiſeboot 
feinem Beſtimmungsort entgegen, fehwanlt eine Dionte am 
Anter, die von Bangkok aus fo weit den Fluß heraufgefab- 
en if. 

Bon ben Trümmern bes alten Ayuthia gibt uns Baftian 
folgende anziehende Schilderung: 

Nachdem wir die Straße verlaffen und uns eine Strecke 
durch den Jungle durchgearbeitet hatten, kamen wir zu einem 


verfallenen Tempel mit zwei Reihen hoher Säulen in der von 
feinen Mauern umſchloſſenen Area. Kin Meines Kofler mit 
Holzwänden war fpäter an die Trümmer angebaut worden. 
In einem zerftörten Götzenhauſe lagen eine Menge zerbrodener 
Figuren ans Stein oder Kupfer umher, während in der Mitte 
ein vergoldeter Buddha von großen Dimenfionen no aufrecht 
zwiſchen dem Schutt daſaß. Zwiſchen und liber den Bäumen 
waren die Thüren verfehiedener Pagoden (Phra Ehebi) fichtbar, 
meiftens jo dit mit Ephen und Sclingpflanzen umrankt, 
daß nur die hohen Spiten frei blieben. Während ich fie un. 
terfuchte, holten mid) einige Lente des Gouverneurs ein, bie, 
meine Entfernung bemertend, mir nachgegangen waren, und 
madten. mir Borftelungen darüber, daß ih mi in fo ab: 
gelegenen Orten umhertreibe. Es gäbe dort feine Wege, auf 
denen man Juftwandeln fönne, und ih möchte mit ihnen nad) 
der Stadt zurücklehren, wo Menfchen wohnten. Ich ſetzte in⸗ 
deß meine Erplorationen fort, obmwol die dicht mit Dornen- 
gebüfchen "ineinander verfchlungene Wildniß dem Vorwärts⸗ 
gehen viele Hinderniffe in den Weg legte und Lachen ſtehenden 
Waſſers oftmals weite Ummege erforberten. An einer offenen 
Stelle betrat ih die Ruine einer in Zerraffen aufgebauten 
Pagode, unter deren Trümmern fid) neben andern Figuren 
die eines doppeltgefichtigen Ianusbildes fand. Im einiger Ent- 
fernung erblidte man einen Kreis fegelförmiger Pagoden, der 
fogenannte Phra-Bhrang oder Phra-Phrom, und nad längerem 
Suden in dem üppigen Pflanzenwudhs des Waldes entdedte 
ich die Weberbleibfel eines breiten Pflafterwegs, der dorthin 
führte. Der erfte ra: Phrang, ben wir erreichten, war mit 
hochſpitzigen Phra⸗Chedi umgeben und glich in feiner Gefalt 
ziemlich dem Auffag der Bopali-Pagode von Pagan. Eine 
größere ftand daneben. Der Bau firebte Tegelig in bie Höhe, 
mit zurlidtretenden Niſchen 'auffteigenb, und war überall mit 
Scalpturen bededt. An den Eden zeigte fid) die Geftalt eines 
geflügelten Zwerge in grotesfer Form. einem neben- 
fichenden — der nebſt den umgebenden Phra⸗Chedi 
durch eine Mauer eingeſchloſſen war, ſtieg ich über die Schutt⸗ 
trümmer zu der obern Terraſſe empor, wo eine Figuren tra⸗ 
gende Glockenpagode ziemlich gut erhalten war. Die Ober⸗ 
flähe des Phra⸗Phrang zeigte fi in den Niſchen mit Sculp- 
turen verziert, und größere Bilder waren in den Eden ans⸗ 
earbeitet. Zwiſchen einer befonders forgjam ausgearbeiteten 

ruppe von Arbesken fand fi ein figender Vuddha. Bon 
ber erhabenen Pofltion des oberften Stockwerks blidte man in 
weiter Ausdehnung über eine Waldwildniß, die das Terrain 
der alten Stadt bededte und Überall die Spitzen der gebrochenen 
Thürme von Pagoden zwiſchen der dichten Vegetation heraus⸗ 
(hauen lieg. Einige Punkte, wie ich auf dem Rückweg fand, 
waren zum Anbau aufs neue gelichtet, und traf man bier und 
da zerftrent die Hütte eines Bauern. Auch ein Klofter war in 
diefer Einſamkeit errichtet, nnd hörten wir ſchon aus ber Ferne 
die Stimme der budjftabirenden Knaben die Stille der Um: 
gebung durchbrechen. Da wir auf der Heimkehr eine andere 
Direction einfchlugen, fließen wir auf die Reſte einer alten 
Stadtmauer, bie ji bis nach dem Weichbilde der neuen Ans 
fiedelung verfolgen ließ. Mandelsloe zählte in dem zu feiner 
Zeit weitberähmten Ayutbia 300 Tempel. 

Am Tage darauf zeigten fi) dem Stromfahrer bie 
hohen Bagoden, die buntgefchmüdten Palaftthilrme Bang- 
koks, wo ihm bei verfchtedenen europäifchen Conſuln freund« 
liche Aufnahme zutheil wurde. 

Bon ber eigenthüimlichen Hauptftadt Siams, welche 
in vieler Hinfiht eine Stromftadt genannt werden Tann, 
gibt uns Baſtian eine anfchauliche Darftellung, der wir 
das Folgende entnehmen: 

Bangkok, die Stadt der wilden Delbäume, erſtreckt fich 
über eine Meile an beiden Ufern des Menam, befonders aber 
am linken, die innere Stadt, die den Balaft enthält, ift mit 
einer bezinuten Mauer umgeben und nur an ben Stellen ver 
Land» oder Waſſerthore zugänglid. Die äußere, an die fi 
das Quartier der Fremden anfchließt, läuft ohne befiimmte 
Grenze in die Borflädte Über. Die mittlere Stadt ift durch 


15 * 


De DH 7 


116 Baſtian's Reifen in Oftaften. 


Kanäle und Flußverzweigungen in verſchiedene Inſeln getheilt, 
zwifchen denen die Hänſer auf dem Fefllande dichtgebrängt bei» 
fammenftehen und kaum einen Ranm für die engen Gaſſen 
offen laffen. Nur die Straße des Hauptbazars ift breiter 
und von längerer Ausdehnung. Im den Außern Stabttheilen 
it der Grund weniger beſchränkt und find die Häufer häufig 
von Gärten "umgeben. Sie find aus Holz oder Bambus ge- 
baut und auf Piähle geflellt, fodaß man auf einer Treppe zu 
der Veranda emporfteigt. Steinmaterial wird außer von ben 
Europäern nur zu den Klöftern und königlichen Paläften ver- 
wandt. Der vornehmfte Verkehr in Bangfol findet nicht auf 
dem Lande, fondern auf dem Waſſer ftatt, indem an jeder 
Seite des Fluffes eine doppelte Reihe ſchwimmender Häufer 
das Ufer einrahmt und den großen Markt bildet, auf dem 
fi täglich der betriebfame Theil der Bevölkerung verfammelt. 
Jedes Haus ift an der dem Fluffe zugewendeten Seite offen 
und bildet durch die dort aufgeftellten Gegenftände einen offenen 
Laden, den man im Borbeifahren im Boote bequem infpiciren 
kann, nm das Convenirende auszuwählen. Gewöhnlich wohnen 
die Handwerker derfelben Zunft zufammen, fobaß man einen 
rafchen Weberblid Über den Vorrath gewinnt. Dazwiſchen 
liegen Berlaufsichiffe, die friſche Früchte, Slide, ®emtife u. ſ. w. 
herbeigebracht haben. Bon ber Yeuchtigleit abgejehen, bietet 
ein ſchwimmendes Hans manche Vortheile, da e8 jeden Unrath 
Yeicht entfernen läßt und durch die allzu große Nähe bes 
Waſſers ſelbſt die Hinterindifhen Schmnzliebhaber zum Waſchen 
verführt. Auch ermöglicht es beliebige Ortsveräuderung, inte 
dem man feine Wohnung mit der Ebbe oder mit der Flut 
weiter treiben läßt, um fie an einem neuen Anlegeplat zu be« 
feftigen. Freilich kann die Entfernung aud eine unfreimillige 
fein, wenn auf unfiherm Grund geanlert wurde. Als ich bei 
dem Milfionar wohnte, fahen wir eines Morgens vor unferm 
Haufe eine neue Straße angetrieben, die während der Nacht 
losgeriffen und von den Bewohnern mit ziemlicher Mühe nad 
ihrer legitimen Heimat zurüdzubringen war. Hat man eine 
weite Fahrt anf dem Fiuffe zu machen, fo muß flets die 
Ebbe und Flutzeit berechnet werben, da die nöthige Zeit fi 
verboppeln und verbreifahen Tann, je nachdem jene ginfti 
oder ungänftig if. Soviel es angeht, wird alles zu Shit 
abgemadt, und es findet fich deshalb immer die halbe Ein- 
wohnerfchaft ber Stadt auf dem Dienam oder ben Geiten- 
armen beifammen. Zwiſchen dem VBootgewimmel in allen 
möglichen Größen, Karben und en anfern die enropäiſchen 
Dreimafter, pfeifen die Dampfſchiffe oder ſegelt die chineſiſche 
Dionke Hinauf, mit den dröhnenden Schlägen der Gong bie 
fhon im Hafen liegenden Schiffe begrüßend. An ben Ufern 
erheben fih in maleriſchen GBruppirungen bie Thürme ber 
fhlanfen Pagoben, biiden die Kloftergebäude zwiſchen ven 
Bäumen ihrer Gärten hervor, ober gligern und ſchimmern die 
Dächer der mit Schmnd überladenen Paläfte im Sonnenfcein, 


Der jegige König von Siam war fchon 1825 bei 
dem Tode feines Vaters der eigentliche Thronerbe, als 
der einzige Iegitime Sohn, zog fich aber vor feinem 
ältern Halbbruder, der den Thron ufurpirt hatte, in ein 
Klofter zurüd, wo er nicht nur das Pali und die geift- 
lichen Schriften lernte, fondern ſich auch im Lateinifchen 
und Englifhen unterrichten ließ. Im Jahre 1851 be- 
fieg er den Thron und erhob feinen jegt verftorbenen 
Bruder zum zweiten König, der ebenfalld ein ſprachen⸗ 
Iundiger Gelehrter war und fogar ein chemifches und 
phyſikaliſches Cabinet beſaß. Der dritte Bruder bes 
Königs, der Prinz Krom Luang, ein wohlbehäbiger fetter 
Herr, ift Präfldent des ärztlichen Colegiums und hat 
fi) das Doctordiplom von einer amerifanifchen Univer- 
fität zu verfchaffen gewußt. Baſtian erzählt: 

In einem ärztlichen Geſpräch mit ihm wollte ich ihm einſt 
einige Punkte des Schädels zur Erfärung andeuten und beugte 


deshalb meinen Arm über feinen Kopf, wurde aber raſch durch 
das drohende Knurren, da8 wie ein dumpfes Geroll aus dem 


Munde aller feiner auf ber Erbe kriechenden Bafallen zu mir 
heraufſchwoll, an den begangenen Etikettenverſtoß erinnert, da 
es in Siam feine größere Beleidigung gibt, als einen Höher- 
geftellten am Kopfe zu berlibren. Das Raſiren bat deshalb 
für die vornehmen Herren feine eigenen Schwierigkeiten, und 
die heiligften der Priefter fchaben ſich gegenfeitig, um die Be⸗ 
leidigung durch die Revanche wieder gut zu machen. 

Der König felbft ift ein Heiner fchmächtiger Mann 
mit lebendigen Augen, welcher dem Reiſenden nad) eng⸗ 
lifcher Sitte die Hand ſchüttelte. Als Fachtheolog ſucht 
er eine neue Sekte des Buddhismus zu ftiften, eim 
reformatorifcher Verſuch, alles Fabelhafte und Unglaub- 
würdige aus den Palifchriften auszufcheiden und nur bie 
moralifche Faſſung derfelben beizubehalten. Er vertritt 
alfo, wie einft Friedrich der Große, die Aufflärung auf 
den Thron und ift auch felbft wie biefer der Feder 
mächtig: Ä 

Bei den gelehrten Neigungen bes Königs herricht im Palaft 
viel Titerarifche Thätigkeit. Jührlich wird ein Almanach heraus- 
gegeben, der das ganze Land mit ben wichtigſten Ereignifſen 
befannt macht, nnd in gewiſſen Perioden eine Hofzeitung, im 
ber die Leitartifel von höchfleigeuer Hand gejchrieben fein 
folen. Häufig bietet ſich die Gelegenheit, dem Fremden in 
Bangkok Nachricht von einem freudigen oder traurigen Fa⸗ 
milienereigniß zu geben, und Seine Majeftät läßt fi dann 
die Mühe nicht verdrießen, diefe Mittheilung ſelbſt durchzu⸗ 
ſehen, um fie mit den blumenreihen Phrajen orientafifchen 
Stils zn zieren. 

Wir können unferm Reiſenden nicht in ber nähern 
Schilderung des Hofs und der einzelnen Minifter, der 
Klöfter und Aebte folgen; aber an einer Perfönlichkeit 
Siams dürfen wir nicht vorübergehen, da diefe fih in 
Europa des größten Rufe erfreut und aud von einem 
berühmten deutſchen Dichter befungen worden ift, wir 
meinen den weißen Elefanten. Baftian erzählt von dieſem 
bochgefeierten Stallheiligen Siam: 

: Der weiße Elefant, den ich bei meiner Ankunft im Pa- 
lafte gefehen Hatte, war fein ganz echter, als einiger Zeichen 
ermangelnd, und wurde auch nur Zang Pralat (dev wunder⸗ 
bare Eiefant) genannt. Groß war daher die Freude, als einige 
Monate fpäter fid) die Kunde durch die Hauptflabt verbreitete, 
daß in den Wäldern des Nordens ein wirklicher Sproß ber 
heiligen Thiermajeftät entdedt und auch ſchon von den Kha 
gefangen ſei. Der Köuig 309g ihm zum Empfang mehrere 

agereifen entgegen, und bei der Ankunft in Banglof wurde 
vor den Palaftthoren eine reich vergoldete Tribüne errichtet, 
auf der der Elefant, von Inienden Prinzen und Fürften bes 
dient, für mehrere Tage den Augen des Volls gezeigt wurde, 
das in den auf dem freien Plabe aufgeihlagenen Schanbuden 
und Puppentänzen jede Art von Belufigung fand. Neben 
dem mit goldenem Geſchirr bededten Elefanten, der fih unter 
einem weißen Baldadin hin⸗ und berwiegte, war ein mit 
Teppichen bebedter Sit für den König hergerichtet, der anf 
einer mit filbernem Fußgeftell verfehenen Säufte berbeigetragen 
wurde. Gold⸗ und Silberbäume waren zum Zeichen der Hul⸗ 
digung aufgeftedt. Die vornehmfte Rolle bei diefen Ceremonien 
fpielte ein jlingerer Bruder des Könige, der als Reichsmarſchall 
der Elefanten (unter dem Zitel Kromma-Xang) alle Angelegen« 
beiten derfelben zu verwalten hatte. Ich erhielt durch feine 
GSefälligleit ein Buch geliehen, in dem alle die verfchiedenen 
Kaffen der Elefanten abgezeichnet und befchrieben waren, ſodaß 
man nad den dort angegebenen Merkmalen den Stammbaum 
ableiten und nad) dem reinern oder weniger edeln Vollblut 
fhägen konnte. Zu den gewünfchten Zeichen gehört, außer 
dem rötblihen Schein der Haut, völlig ſchwarze Farbe der 
Nägel und ein unverleßter Schwanz, der den meiften derfelben 
höher ober tiefer bei einem Kampfe abgebiffen if. Der glüd- 
liche Sterbliche, dem es gelingt, einen weißen Elefanten (Xang 








Baftian’8 Reifen in Oftafien. 


phuet) zu entdeden, wird in ben belftand erhoben und erhäft 


alla Land, fo weit man die Stimme eines Elefanten hört,- 


frei von Steuer und Frondienften. Sobald die Nachricht dieſes 
heilverheißenden Ereigniffes nach der Hanptftadt kommt, erhält 
der Gouverneur der dortigen Provinz Befehl, einen weiten und 
bequemen Weg durd die Wilde hauen zu faffen, bamit das 
göttliche Thier bequem nad) dem Fluſſe reife, um von dort in 
Staatsichiffen herabgebracht zu werden. Im Balaft angelommen, 
erhält es feinen eigenen Hofftaat und feine Diener, die es beim 
Ausgehen mit einem Sonnenſchirm bebeden, ſowie einen Leib- 
arzt, der jede Unpäßlichkeit überwachen muß. Trotz dieſer 
forgfältigen Pflege ift das Ausfehen diefer Albinos, wie ſchon 
Finlayfon bemerkt, fein gefundes. Die Beine find oft in 
dräfenartigen Knoten angeſchwollen, und bie tiefen Rungeln ber 
trodenen Haut ſondern eine ſcharfe Flüffigkeit ab. Eine Menge 
Sklaven find ſtets befchäftigt, friihes Gras zu ſchneiden, eine 
Pflicht, die oft als Strafe auferlegt wird, und die Tafel Seiner 
Thierheit it ſteis mit Kuchen, Bananen und Zuderrohr ver⸗ 
ſethen, in fofibasen Gefäßen aufgetragen. Die weißen Affen 
werden in den Ställen ber weißen Elefanten gehalten, um die 
Kranfheitsteufel abzuwehren. Um Verehrung zu empfangen, 
muß der weiße Elefant ein männlicher fein, da er fonft noch 
nicht die letzie Stufe vormenſchlicher Exiftenz erreicht Haben 
wiirde, denn dem weibligen Geſchiecht bleibt flets zur Ber- 
vollfommmung der Verwandlungen das männliche. Auch ge- 
hört eine befondere Bildung der Hauer zu den Zeichen, woran 
ex überhaupt erſt als echt erkannt wird, Im Kriege werben 
gleichfalls nur männlie Elefanten verwandt, während die 
Weibchen zur Selotıng beim ange bienen und zum Gepäd- 
tragen oder bequemen Reiten vorgezogen werben. Die Wälder 
der Elefantenjagden liegen beſonders in den Myang Rabeh ge- 
nannten Bergen der 

Nach der Aufzeichnung der eigentlichen Reifeerinne- 
rungen gibt und Baftian in mehrern zufammenhängenden 
Ab ſchnitien eine Darftellung des Mlofterlebens, der Rechts- 
verbältniffe, der Sitten und Gebräude, Feſte und 
Spiele u. ſ. f., die eine unerfchöpfliche Fülle von oft 
pifanten Details enthält und gerade der vergleichenden 
Bölterfunde ein nicht zu unterfcägendes Material zu 
führt. Cs ift befannt, daß die erſten latholiſchen Miffio- 
nare, welche nach Oſtaſien famen, den Buddhismus für 
eine Spiegelfechterei des Teufels erklärten, welcher bie 
Bräuche latholiſcher Chriftenheit nachahme. Und in der 
That, wenn man den Abſchnitt lieſt, welchen Baftian der 
Schilderung des buddhiſtiſchen Kloſterlebens widmet, wenn 
man das Nähere über die geiftlihe Hierardhie, über Ton- 
fur, Reliquien, Pilgerfaften, über die Weihen, bie 
Gelübde und Mönchsregeln nadhlieft, fo wird man von 
diefer merfwürdigen Aehnlichkeit in den religiöfen Bräuchen 
des Morgen» und Abendlandes überraſcht. Freilich, nicht 
minder groß ift die Aehnlichleit in ben Kinderfpielen, dem 
Dragjenfteigen, dem Verftedipielen, dem Blindefuhfpielen — 
eine conjervative Philofophie, wie diejenige Herbart's, 
welche in dem Bleibenden und Gemeinfamen bei allen 
Böllern die Spuren ber Gottheit erblidt, Könnte hier 
zahlreiche Beiſpiele zu ihrem Kapital ſchlagen. 


Der vierte Band des Baftian’j—hen Werts, welder 
die Reifen durch Kambodia nah) Cochinchina befchreibt, 
erhält dadurd) ein erhöhtes Intereffe, daß die Gegenden, 
durch welche der unermüdliche Reifende bier feinen Weg 
nahm, bisher faft ganz unbekannt waren, und daß feine 
Reife durch das obere Kambodia den Charakter einer 
Entdedungsreije annimmt. Mühſelig war die Fahrt mit 
dem Büffelfarren anf fteilen Waldwegen, durch Simpfe 





117 


und ausgetretene Flüffe; aber diefe Waldromantik unter 
ſcheidet ſich doch wefentlich von derjenigen der norbame- 
rifanifcherr Urwälber; denn fie überwuchert die Trümmer- 
ftätten alter Cultur. Hier fland der Tempel Nakhon 
Vat's, den der Miffionar Cerri fehon im 12. Jahrhun⸗ 
dert die Peterskirche aller Indier nannte, zufolge der 
dunfeln Kunde, die ihm von deſſen Eriftenz zugelommen 
war. 
Die Befchreibung der Trümmer dieſes großartigen, 
bißher faſt unbefannten Tempels gehört zu den Glanz 
punkten des Werts von Baftian. Die Geſchichte der 
indifchen Architeltur und Plaſtik Hat durch dieſe Mitthei- 
[ungen eine weſentliche Bereicherung erfahren. Gelegen 
find diefe Tempelruinen nördlich von dem großen Süß- 
wafferfee Kambodias, dem Thalefab, nicht weit von dem 
Siemrabfluß, der fi) in ihn ergießt, und nicht weit 
von der neuen Stadt Siemrab, deren Stabtmauer dur 
Thore mit Spitzdächern unterbrochen und von hohen 
Balmbäumen überragt werden. Den erften Eindrud bes 
Tempels ſchildert uns Baftian in folgender Weife: 


Ein fandiger Weg führte uns in einen bosfetartigen 
Bald, und als wir auf eine freie Fläche daraus hervorfumen, 
Ronden uns zwei riefige Gteinfötwen entgegen, die zu beiden 
Seiten eine mit breiten Steinplatten getafelte Plattform flan« 
firten. Bon bort lief in beträchtliher Erhöhung über weite 
Gräben ein breiter Plaſterweg nad) dem hoch geſchwungenen 
Thor der äußern Gartenmauer, ans deren Eorridoren zu beiden 
Seiten eine lebendige Welt von Sculpturen hervortrat, während 
fid) jenfeits, Hinter drei übereinander mit Thürmen und Zinnen 
— Tersflen, der, gemaltige Dom des päcßtig ge 
fämiüdten Tempels hervorwölbte, den überall auf dem umlau- 
fenden Galerien und den von majeſtätiſch aufftrebenden Säulen 
getragenen Hallen eine wunderbare Welt phantaflereicher Hime 
melsgeftaltungen jhügend umgab. Ihre Einzelheiten entfal- 
teten immer neue Schöpfungen, je mehr man fi ihnen nad 
dem Cintritt in das Außenthor auf dem glatten Steinweg 
näherte, ber mit Treuzartigen Abzweigungen nad; Seitentapellen 
durch den großartig verwifderten Pflanzgenwucs der in Seen 
blintenden Garten auf das Thor des Haupteingangs zuführte, 
aus dem man die von ben Höfen anfführenden Treppen der 
Stufenbanten höher und Höher erflieg und —F unter der 
thronenden Kuppel ſtand, die frei nad) allen vier Seiten, gleich 
bem dort placirten Buddhabiide, vierfah an Form, das in 
Höhen und Thal zu Füßen liegende Land Aberfant, 


Baftian verweilte Hier mehrere Tage, um biefe Kunft- 
werfe genauer zu unterſuchen; fie find ein Denkmal der 
von Bier ausgehenden brahmanifch-buböhiftifchen Cultur, 
deren Einfluß auch den heiligen Spraden Siams, Kam- 
bodjas und Japans jene ſanskritiſche Miſchung gegeben 
hat, die durch das fpätere Weberwiegen ber Paliliteratur 
zwar verdedt, aber nicht ganz erbrüdt wurde. So werden 
auch die untern Corridore des Nafhon Bat von brahma- 
niſchen Darftelungen gef hmüdt, während im oberſten 
Stod Buddha in der Vierzahl fteht, nach den Welt. 
gegenden blidend. Baftian vergleicht die Erneuerung bes 
Brahmanismus in den Sculpturen des buddhiſüſchen 
Tempeld mit den mythologiſchen Figuren des claſſiſchen 
Alterthums, welche Rafael in der Schöpfung und Michel 
Angelo im Jüngften Gericht file ihre Allegorien benugten. 
In Italien werden die Themata mit Borliebe Ovib’s 
„Metamorphofen“ entlehnt, wie in Kambodia dem Rama ⸗ 
yana. Baftian gibt auf das genauefte den Grundrig des 
Tempels nad den vorgenommenen Mefiungen an; die 








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118 Baftian’s Reiſen in Oftafien. 


Architektur des Gebäudes wird am anſchaulichſten durch 
bie folgende Befchreibung: 

Aus den vier Thllröfinnngen des obern Doms öffnet ſich 
eine freie Umſchau nad) allen Richtungen. Auf der einen Seite 
blidt man über eine weite Ausdehnung grünen Waldes, der 
fi) jenfeit der grauen Maſſen des Steinpalaftes forterftredt 
und am Horizont, binter den Khao Bol, durch die Linie der 
Lindi- Berge umzogen iſt. Nordwärts häuft fi) eine dichte 
Wildniß um den Hligel des Khao Balong, auf der Stätte der 
alten Hanptſtadt Nakhon Tom, während man im Süden Über 
den Abfall bes Landes zum großen See fchaut, zu dem ſich 
der Waflerftreifen des Siemrab⸗Fluſſes windet. Die Fenfter- 
Öffnungen find mit geroundenen Säulchen gegittert. Die Dede 
und die obern Wände zeigen Refte bunter Farben, die Wand- 
gemälde darftellten, von Engeln und Göttern in romantifchen 
Bergfcenen von Waldthieren umgeben. Die Wände find überall 
in eın Steingewebe von Arabesken aufgelöft, die in dem Ne» 
wert ihrer verfchlungenen Windungen in die ſchlanken Figuren 
von Affen, Denichen, Schlangen, Vögeln, Blumen oder 
Schlingpflanzen auslaufen und vielfad den Reſt früherer Ber- 

sldungen zeigen. Im feinem Grundriß iſt der kambodiſche 

empel (glei dem javaniihen) ein ineinandergejchachtelter 
Terrafienbau, wie er fich in einfacherer Form bei dein merica- 
nifhen Teocalli oder im Morai Polynefiens findet. Drei um- 
laufende Säulengänge fteigen mit zwifchenliegenden Höfen über⸗ 
einander empor, bis dann die mit den Eingängen der drei 
Borderthore im gleicher Linie liegende Haupttreppe des letzten 
Centrums zu der Bafls des Doms felbft emporführt. Das 
majeftätifhe Tempelgebäude ſteht in der Mitte eines mit 
Zeichen und PBarlanlagen vermannichfaltigten Gartens, der von 
einer Mauer umzogen ift, die auch ihrerfeits in fculpirte Säu- 
Ienhalfen ausgearbeitet ift, und als ein vierter oder äußerer 
Corridor betrachtet werben Tann, da fie mit ben breien des 
Innern ihren Thoren und Edthliven nad) correfpondirt. Tritt 
man unter dem Portal der Außenballen in ben Tempelgarten 
ein, fo wird mau durch einen 4—5 Fuß Über den Niederungen 
aus dunkelm Eifenftein (mit üiberlegten Quadern) aufgenauerten 
und etwa 1000 Fuß langen (18 breiten) Steinplattenweg (mit 
Abfreugungen nach Seitenlapellen auf der Hälfte der Entfer- 
nung) zu dem auf 16 Zreppenftufen erhöhtem Cingangsthore 
des Klofterpalaftes (auf einer von 112 Säulen umgebenen 
Plattform) geflihrt, liber welches die maffiven Sculpturen des 
Bortals vorhängen. Nach beiden Seiten fireden fi die Spit« 
bogen der von rei verzierten Säulen getragenen Hallen, 
beren Rückſeite mit einer Welt von Sculpturen belebt ift, nad 
den Edihürmen bin, um baun in rechtwinkeliger Abzweigung 
weiter zu laufen. Folgt man aber, ohne rechts und links ab» 
zumweichen, der geraden Richtung nah vorwärts, jo gelangt 
men, unter einem bevdedten Thorweg zwifchen vier Säulen⸗ 
reihen anfleigend, zu dem Hofe des zweiten Corridors (mit 
freifiehenden Seitenfapellen auf der Hälfte der Entfernung) 
und erreicht über 23 Stufen ben britten Hof, in weldem das 
Maffengebände des centralen Doms fteht, von feitlichen Kuppel⸗ 
thürmen flanlirt. Nah dem Erklimmen einer fleilen Treppe 
von 37 Stufen ſteht man dann an dem Fuße diefes den vier- 
feitigen Buddha enthaltenden Dagop, und fieht Über fich, noch 
weit in die blauen Lüfte Binaus, eine frei gehauene Sculpturen- 
welt mächtiger und phantaftifcher Geftaltungen, bie in fieben 
Schildkreiſen hintereinander hervorragen, bis zuletst die flumpfe 
Thurmfpite des Doms das Ganze krönend abſchließt. Das 
vierediige Mittelgebäube ift durch Kolonnaden, die von einem 
doppelten Dach bededt find, mit dem GSeitenballon verbunden. 
Bon den 12 Treppen find die mittlern vier 18 Fuß breit. 
Die Galerien bilden ein Rechteck, das an der Peripherie 
440 Fuß vorn, an den Seiten 648 Fuß lang if. Die Wöl- 
bung ift 18 Fuß hoch und im zweiten Dache 12 Fuß. In 
den Porticus, die von vier oder fech® Säulen getragen werben, 
Reigen drei Dächer libereinander. Im Often und Weſten 
führen fünf, an den andern beiden Seiten drei Treppen zu 
ben Thlirmen bes Tempels. Die ganze Zahl der Säulen wird 
bon Mouhot auf 1532 angefchlagen. Die freiftehenden Seiten» 
tapellen erheben fich in verzweigten tagen und find mit aus- 


gehanenen Sculpturen in Relief bebedt. Die Säulen find vier 
edig und fcheinbar aus einem Stüd gehauen, mit Lotus 
Capitälen. In der doppelten Sänfenteihe, die das zweifache 
Dad; trägt, beträgt die Höhe in der größern 10 Fuß, in ber 
andern 8 Fuß. Das Dad der Außenhalle bildet einen Halb. 
bogen. Die beiden Säufenreihen find dur ſculptirtes Zwiſchen⸗ 
werk verbunden. And runde Säulen fommen vor. Zwiſchen 
ben Fenflern und neben den Thüren find gewöhnlich zwiſchen 
zierlich verfchlungenen Arabesfen Engelfiguren ausgewirft mit 
einem in dreifachen Spitzthürmchen aufftehenden Kopfihmud, 
und unter ihnen erjcheinen in Treifenden Arabesfenlinien die 
Umriffe des Garuda ober Phaya Kruth. Im flachen Niſchen 
neben den Hanptthoren oder in den Eden ftehen einzeln, ober 
bald doppelt, bald im drei zufammen, die ©eflalten weiblicher 
Thevada, die eine Blume in der rechten, ein Bacon in der 
linfen Hand tragen. Die Baſis, auf der fie fliehen, ift oft in 
Affengruppirungen ausgearbeitet. Der Haarputz vieler der 
Frauenfiguren ift in einem wunderbaren Blumenfhmud auf 
gethürmt, wo dann die Knospen und Blüten an den Seiten 
nieberhängen. Das Gewanb hebt fi) flligelartig an den Säu⸗ 
men, und die Knöchel der Füße tragen Ringe, 


Die Sculpturen in den Galerien werden von Baflian 
auf das genanefte geſchildert; fie ftellen Schlachtfcenen bar, 
Proceffionen, die indifche divina commedia mit ben Ter- 
rafjen des Himmels und den Schreden der Hölle Ba- 
ſtian weift darauf hin, daß bie in den Sculpturen dar⸗ 
geftellten Streitwagen die leichte Form ber griechifchen 
zeigen, und daß die Reiterei ber Tempelſculpturen an 
die erinnert, die am Fries der Cella de8 Parthenon in dem 
Veltzuge auftritt. Die große Proceffion enthält gegen 
taufend Yiguren. Die in Regimentern aufmarfchirten Sol⸗ 
daten werden von Fürften auf Elefanten, zu Pferde oder 
in Hängematten geführt, jebe Abtheilung erjcheint mit 
eigentblimlicher Bewaffnung und Helmfhmud, treu den 
Geſichtsausdruck des Raſſencharakters bewahrend. Auch 
eine bärtige Nation findet ſich unter den Heeresabthei⸗ 
lungen, ferner ein Haufen wilder Eingeborenen, die phan- 
taftifh mit Franfen und Troddeln behängt find und 
Schnüre als Kopfpug nieberhängen haben. In den 
Kampfjcenen fieht man Viſchnu auf dem Garuda reitend 
gegen eine Gottheit eindringen, die auf einer Lowen⸗ 
himäre ſteht, dann wieder gegen Elefantenreiter und einen 
im Streitwagen ftehenden Bogenfhüten. Wagen von 
Roffen, Löwen, Drachen oder Dchfen gezogen, auf 
Schweinen fliegende Götter, Röwenreiter, Affen und Dä- 
monen bilden die Hauptgruppen und die Comparjerie 
diefer Kampffcenen. 

Bon Nakhon Bat machte Baftian einen Ausflug nad 
Nakhon Tom, der alten Hauptſtadt, deren Umfang fo 
groß war, daß es einen Tag erforderte, fie von Sonnen- 
aufgang bis Sonnenuntergang zu umwandeln. Der aus 
Steinplatten aufgerichtete Außenwall derfelben ift 27 Fuß 
hoch, der innere 21 Fuß. Der zufanmengefallene Palaſt 
war aus breiten Steinplatten ſehr fauber gefügt, auf 
der obern Teraſſe bliden Corridore mit Spitzbogen hervor. 
Der Sage nad) ging Nafhon Tom zu Grunde durch den 
auf feine undankbaren Bewohner gejchleuderten Fluch des 
Dradenkönigs, der wie der franzöflfche Drac aus feinem 
unterfeeifchen Korallenpalaft zum Beſuche der menſch⸗ 
lichen Oberwelt hervorzufommen pflegte, aber durch bie 
aufgerichtete Figur des neungefichtigen Buddha zurück⸗ 
gejcheucht wurde. Das Wreal ber alten Stadt war mit 
Büfchen bewachſen, und bier und da hatten Landbauern 


Moderne und unmoderne Lyrik. 


ſich amgefiedelt und Meine Häuschen zwiſchen Gärten 
ebaut. 

— Außerdem beſuchte Baſtian noch den Praſat -Keoh 
oder Kleinodienpalaſt, der, von einem Graben umgeben, 
auf einer fegelartigen Felserhöhung liegt und fünfthürmig 
in Krenzform anffteigt. Hier fehlen alle brafmanifchen 
Beimifhungen. Die Ruine liegt in der ungeheuern 


119 


Wilbniß eines nen aufgefchoffenen Urwaldes, durch deffen 
Schlinggewächſe, Dornen und vermobernde, umgeftürzte 
Stämme man ſich ſtets don neuem den Pfab breden 
muß, und macht einen durchaus büftern Eindrud, 


Rudolf Gotiſchall. 
(Der Beſchluß folgt in der nägfen Rummer.) 





Moderne und numoderne Lyrik. 


In dem Cyklus der Kaulbach'ſchen Wandgemälde im 
Treppenhaufe des Neuen Mufeums in Berlin bezeichnet 
die Sage den Anfang, die Poeſie den Schluß und die 
Bollendung der Geſchichte der Eulturentwidelung der ge- 
fommten Menfchheit. Wegen des hervorragenden Plages, 
den bier die Poefie erhalten, ift Kaulbach angegriffen, 
und es ijt behanptet worden, daß fle ihre Stelle mit der 
Wiſſenſchaft vertauſchen milſſe, da, wie die Geſchichte zur 
Sage, fo die Wiffenfhaft zur Poefie ſich verhalte, und 
„Vernunft und Wiffenfchaft, der Menſchen allerhöchſte Kraft“ 
vernichtet werde, wenn fie hinter ber Poefie zurüdftehen 
ſolle. Allein die Poeſie ift bier die Vertreterin der Kunſt 
überhaupt, und die Kunft ift die höchſte Vollendung aller 
Euftwrentwidelung, die duftige Blütenkrone an dem Lebende 
baume der Menfchheit, welde auf dem Wipfel deſſelben 
der Sonne des Emwigen entgegenblüht. 

Die Poeſie ift auf dem Kaulbach ſchen Bilde unıgeben 
don drei jugendlichen, vofenbefrängten Geftaften, den Genien 
der lyriſchen, epiſchen und dramatischen Dichtkunft, welche 
in dem begeifterten Gefang der Poeſie einzuftimmen ſchei ⸗ 
nen. Wie aber der Maler des Neinele Fuchs und ber 
Fresken der neuen Pinakothek in Münden überall eine 
fatirifche Beziehung anzubringen Tiebt, fo Fönnte man 
verfucht fein, in dem Umftande, daß der Genius der Lyril 
in etwas nadjläffiger Stellung nad} der Lyra emporgreift, 
die Saiten zu erreichen aber nicht vermag, eine Anſpie ⸗ 
lung darauf zu finden, daß namentlich, die moderne Lyrik, 
wenn fie aud) mit voller Stimme ihre Lieder in die Welt 
hineinfingt, dod die Feier Apollo's zu ſchlagen nicht im 
Stande ift. Der Grund fir diefe leider unbeftreitbare 
Wahrheit liegt weniger darin, daß, wie fürzlid Guſtav 
Freytag in feiner Kritit von Geibel’s „Sophonisbe" fagt, 
in der modernen Kunft bie Lyrik überhaupt nicht mehr 
wie früher der Quell ift, in weldem am fünften und 
reichlichften das poetiſche Empfinden aufquilit, fondern 
häufiger darin, daß die moderne Lyrik nicht modern ges 
mg, d. 5. daß fie von dem Geifte der mobernen Zeit 
nicht getragen, von bem Inhalte unferer Eultur nicht er- 
fulit iſt. Von der Univerfalität bes modernen Geiftes, 
von den Errungenjchaften feines unausgefegten Ringens 
und Kämpfens findet fi in mandem Bande neuerer 
Igrifdjer Gedichte oft feine Spur, und diefe Gedichte ver- 
ſchwinden deshalb auch fo bald ſpurlos, weil der Dichter 
«8 nicht verftanden, der „fummen Harfe der Zeit“ den 
Bohllant zu entloden. Dabei ift die Maſſenhaftigkeit 
dieſer unmobernen Lyrik fo groß, daß fie geradezu ale 
ein Notbftand zu bezeichnen ift, wie ja überhaupt ein 
literariſcher Miswachs ſich in einer Bermehrung der 





Dnantität, unter gleichzeitiger Berntinderung der Qualität, 
kundgibt. Es gleicht die Maſſe diefer Iyrifchen Probucte 
einem Roggenfelde, deffen Aehren zur Erntezeit nicht von der 
Fülle der Körner niedergebeugt werden, ſondern die lee⸗ 
ven Stroßföpfe fol; emporrichten; fold eine Misernte, 
die der Bauer mit den Worten bezeichnet: „der Roggen 
junkert“, zeigt ſich auch in einem großen Theil der 
neuern Lyrit, die ſich durch ihre Inhaltslofigkeit und durch 
den Mangel an Verftändnig der unfer Culturleben bewer 
genden Gedanken als unmodern darakterifltt, 

Auch mande der folgenden Novitäten find Proben 
diefer unmobernen Lyrik, deren Sprößlinge ſchon bei der 
Geburt das Hippofratifche Gefiht tragen und in den 
erften Kinderjahren an Altersſchwäche fterben. Einen ſolchen 
Mangel an Lebensfähigfeit bekunden insbefondere: 

1. Reime und Träume von Franz Binhad, Neuburg a. D., 

Prechter. 1869. Gr. 16. 15 Nor. 

2. Saitenflänge. Lyriſche und epiſche Dichtungen von Albert 

Jäßing. Leipzig, Matthee. 1868, 16. 20 Nar. 

3. Gedichte von Karl Bafjewig. Hörter, Andreae. 1868, 

8. 1 The. 10 Nor. 


Die „Reime und Träume” von Franz Binhad(Rr.1) 
bringen Reime von einer kaum glaublichen Incorrectheit — 
das ganze Buch ift eine Mufterfammlung der faljcheften 
und unmöglicften Neimbildungen; einzelne Gebichte, 
z. B. „Gebet am Grabe“ u. a. haben nur falfche Reime 
aufzuweifen. Die Träume aber find Häufig ungereimt; 
von benfelben kann niemand behaupten, daß fie von Zeus 
ftammen, fondern e8 gilt von ihnen nur das Sprichwort: 
Träume find Schäume“, d. 5. inhaltslofe Blaſen, oder 
um des Autors eigene Worte zu gebrauden: „Dies 
Dichtergold ift Firlefanz.“ Die verfchiedenen Abtheilun« 
gen dieſer Gedichte, welche u. a. die Weberfäriften: 
Walhalla“, „Nifelgeim und Borhölle”, „Bittermandeln“, 
„Ketten und Pfefferlörner“, „Noth” u. |. w. tragen, handeln 
de rebus omnibus et quibusdam aliis, ſelbſt ein 
„Brühlingsfpaziergang in einer Pappelallee” muß zu 
einem Gedichte herhalten. Aber faft jedes Gebicht zeigt 
zur Oenüge, daß der Verfafjer alle feine Liederpfeile um- 
fonft verfhoffen, und fann man nur wünfden, daß er 
das undankbare Geſchäft des Reimſchmiedens aufgeben 
möge. Als Probe mag das folgende Souett genügen: 


An die Ruhmes- Affecnranzen. 
Nicht zuhl ich zu dem gebornen 
Sängern, die zur Welt gelommen 
Auf Parnaffus Höhn; benommen 
Bar der Weg dur Stein und Dornen, 





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120 Moderne und unmodberne Lyrik. 


Und mag nie mein Sarg mir frommen, 
Eh’ mic) weggerafft die Nornen; 

Lie man dann mein Lied von vornen, 
Nimmer fhilt man: Wie verſchwommen! 


Die Schalmei hab’ ich geblafen, 
Stimmend zum Geſang der Grille. 
Und id frug nicht Bettern, Baſen, 


Ob auch Lied und Ton geflele; 
Sang in ſchlichten ſchlechten Maßen 
Auf dem Rohr des Schäfers Spiele! — 
Wem nach weitern Reimereien gelüſten ſollte, den ver⸗ 
weiſen wir auf „Cicero's Tod”, den „Glücksmarkt“, „Line 
coln” n. f. w. — the rest is silence, 
Daß auch die „Saitenflänge” von Albert Jäßing 
(Nr. 2) mit noch ungeübter Hand der Leier Apollo’s 
entlodtt werden, befundet fowol das Vorwort fir „Die 
erften Sünge, die der Muſe Gunft verliehn“, als das 
Nachwort, welches wol im Hinblid auf Mephiſto's 
Ausſpruch: 
Wenn fich der Moſt auch ganz abſurd geberdet, 
Es gibt zuletzt doch noch 'nen Wein! 

mit der Bertröftung auf die Zukunft ſchließt: 
Nehmt die moftgefüllte Schale, 
Schöner perlet einft der Wein; 
Freut ſchon Moft euch im Polale, 
Wird der Wein euch Labe fein! 

Allein diefer Moſt erfreut wol feines Menfchen Herz; 
der Trank ift nicht nur trübe, fondern auch fauer und 
ſchal; es ſcheint höchftens Grüneberger Schattenjeite zu 
fein. Das ganze Bändchen Gedichte ift eigentlich nur eine 
Sluftration zu den Anfangsworten von „Des Müllers 
Töchterlein”: 

Bin ih doc ein Maler nicht, 
Bin auch nit Poet! 

Das meifte ift trivial, manches geſchmacklos, einiges 
kaum verftändlih. Als Probe diene die erfte Strophe des 
Hymnus an „Deutfchland‘: 

Es glänzt ein Land mit edlen, ftolgen 
Granitpaläften goldumfäumt; 

Es glänzt ein Land, wo der Armbruſt Bolzen 
Sich auf des Gletſchers Höhen bäumt! (sic!) 

Karl Baffewis, der dritte in diefem Bunde, gibt 
in feinen Gedichten (Nr. 3), welche fich über den %eit- 
raum bon 1838—67 erfireden, anfcheinend die ganze, 
freilich qualitativ jeher geringe poetifche Ausbeute eines 
Menfchenalters, und wenn der Verfaſſer ſich tröftet: 

Ich fren’ mich, daß ich fingen kann, 

Ein Lied ift meine Beutel — 
fo nimmt er im befcheibener Selbftzufriedenheit mit fehr 
wenigem fitrlieb. Denn ſowol der Liebesfcherz mit feinen 
„Schmerzensſüßlichkeiten“, als der Liebesſchmerz, der 
„raupenartig an des Dichters Herzen nagt“, ſind alles 
poetiſchen Inhalts gunzlich bar; die Balladen ſtreifen 
an die Grenzen des höhern Blödſinns; die Standreden 
der Germania vor und nach dem Kriege von 1866 ſind 
mislungene Kapuzinaden, und in den loyalen Gelegenheits⸗ 
gedichten und medlenburgifchen Sonetten tritt eine unfrei⸗ 
willige Komik zu Tage. Es werben deshalb nicht blos 
Leſer, die, wie das erfte Sonett fi) zart ausdrlidt, „im 
Materialismus erjoffen“ find, das Buch ungelefen aus 
ber Hand legen. Denn das Bekenntniß: 


Auch von der Freiheit möcht’ ein Lied ich fingen, 

Doch haben's andre beffer ſchon gethan! — 
gilt auch von allen übrigen Kapiteln der Lyrik, und nicht 
unzutreffend erſcheint die Autokritit aus dem „Klageſang 
eines Candidaten aus dem „Jahre des Heild 1838, als 
der medlenburgifche Staatslalender 192 Candidaten der 
Theologie aufführte‘: 

Sonft war’8 nur Philofophen eigen, 

Jetzt nennen’s Dichter Phantafle, 

Wenn fie in Worten uns fidh zeigen, 

Die ohne Sinn, und die man nie 

Mit dem Begriffe kann verbinden, 

Den fie begeiftert dariu finden! 


Weit inhaltsreicher und beffer, wenn gleich nichts 
weniger als modern find: 

4. Die Jahreszeiten, von 8. I. Schuler. Berbefferte 
Sefammt - Ausgabe. Würzburg, Stuber. 1869. 8, 
26 Nor. 

Diefe „Sahreözeiten” von K. 3. Schuler gehören trotz 
der Jahreszahl 1869 nicht zu dem „Neueften aus Plun- 
dersweilern“; denn fie find jchon vor 25—35 Yahren, 
zwiſchen 1838 und 1844 ſtückweis veröffentlicht und 
werden jet nur im einer allerdings etwas veränderten 
Geftalt umter den Nopitäten auf den Markt gebradt. 
Nah ihrem Inhalt würde man aber diefe ibyllifd- 
didaktische Poeſie, die in dem „alten Gewande der Herameter“ 
vor uns tritt, faft um ein Jahrhundert zurück zu batiren 
geneigt fein. Der Berfaffer beabfichtigt ausgeſprochener⸗ 
maßen eine Yortfegung von Ewald von Kleiſt's „Frühling“ 
zu fchreiben; aber er hält fich nicht fireng an fein Vor⸗ 
bild, ſondern e8 haben dieſe „Jahreszeiten“ auch noch einen 
unverfennbaren Beigefhmad von Thomſon's „Seasons“, 
Geßner's „Idyllen“, und namentlich von dem neunbändigen 
„Irdiſchen Vergnügen in Gott” von Brodes. Jene Hein 
meifterlihe Naturbetrachtung von Brockes, welche „das 
Gras wachſen und die Flöhe Huften Hört”, tritt zu häu⸗ 
fig in den Vordergrund, während der muflfalifche Rhyth⸗ 
mus und die Fülle der Kraft, welche uns in Kleift’e 
„Frühling“ anzieht, vermißt wird. Dagegen gilt das Ur⸗ 
theil Schiller’8 über Kleift, daß ihm die Neflerion das 
geheime Werk der Empfindung ftöre, daß feine Phantafle 
mehr veränderlich als reich, mehr fpielend als fchaffend, 
mehr unruhig fortfchreitend als fammelnd und bildend 
fei, auch von Schuler; feine Schilderungen find nur 
aus Fragmenten kaleidoſkopiſch zufammengeftellt, und das 
moralifirende „haec fabula docet“, welches überall in 
Lehren der Weisheit und Tugend ſchwelgt, macht dieſel⸗ 
ben auch nicht anziehender. Dabei ſucht ber Berfaffer 
möglichft viele abjonderliche Wörter und technifche Aus⸗ 
drüde zu verwenden; nit nur die Weidmannsſprache 
wird ganz Eunftgerecht gehandhabt, fondern auch Aus⸗ 
drüde wie: Lühnen, Zacht, Wuhnen, Theiding, Liefchen, 
Forkeln u. a. dgl. fommen Häufig vor; ebenfo finden fid 
Tarbenbefchreibungen, wie 3. B., „bort grünt bläulich ein 
See” un. f. w., doc läßt fih nicht verfennen, daß die 
Meize der „Landluſt“, wie Kleiſt feinen „Srühling‘ nannte, 
in diefer arfadifchen Dichtung mit großer Wärme und 
Treue geſchildert find; ein frommer, aber keineswegs 
franfhaft frömmelnder Sinn fpriht fi in derſelben 
aus; einzelne Befchreibungen, 3. B. die Schilderung 
ber Jagd im „Herbſt“, find voll lebendiger Anſchaulichleit, 


Moderne und unmoderne Lyrik, 


und die Bilder mit zartem Pinfel fein ausgeführt. Eine 
Brobe dieſer Malerei in Miniaturen aus dem „Frilhhling“ 
möge bier Plag finden: 
Zwiſchen den Bergen, die Schlucht ab, | melgt mit Ranuu⸗ 
ein bi 


ie Wiefe, 

Murmelnd von Brünnlein und Bad, drin blinkt die gefie- 
derte Kreffe. 

Welch ein dämmernd Gewirr in dem Aprigen wras unter 

len, 

Die umdunkeln den Duell mit anf ihn geranftem Gezweigel 

Welch ein friedlich Bienengefjwärm in den Kelchen ber 
Blumen! 

Und welch himmliſche Ruh’ im mandmal raftenden Bade, 

Der in der Raft am Gelräut fi zu niedlichem Teiche ge- 
formt hat! 

Zrodnende Wäſch' anf gelblich gefhorenem Flecke des Korn- 

feld: 


Weiter der magere Ganl, der den Hal vom Grünen nicht 


aufhebt, 
Und mit behaglichem Blid, wie ihm munde der Halm, ben 
er abbeißt, 
Zeiget; die roth getüpfelte Kaup' am Stiele der Wolfemild; 
Zrauermantel, wie Naht, von founigem, Ghinmer um 
leuchtet; 
Augenfpiegel, mit lachendem Roth auf weißem Gewande, 
Weißlinge, all auf der Au die träumenden Blumen umlebend; 
Ho in fonniger Luft zween raftwärts fegelnde Störde u. ſ. w. 
Die vielfach) hervortretende teleofogifche Weltanſchauung 
des Berfafjers fpielt ihm zuweilen einen eigenthümlichen 
Streich; fo jucht er z. B. die Eriftenz der Maikäfer nicht 
nur mit der Behauptung, daß fie ein Schmud des Mai 
und das Entzüden der Jugend feien, zu rechtfertigen, 
jondern er findet in ihmen auch die Belehrung, baß fie als 
abſchreckende · Beiſpiele“ im Dienfte der Mäßigkeits- 
vereine zur Warnung vor dem Katzenjammer dienen 
fönnen: 
Auch belehrt ihr die Welt, ſtill ſchlummernd des Morgens 
auf Blättern, 
Daß, wer nachtlich geſchwärmt, nichts wirkt und gewinnet 


bei Tage! 

Hieran ſchließen fi: 

5. Ein Leben in Liebern. Gedichte von Gottfried Flamm⸗ 
berg. Erlangen, Deichert. 1868. 16. 24 ng 

6. Gedichte von Friedrih Kampmann, Berlin, Schweiger. 
1869. 16. 15 Nr. 

7. Bild und Stimmung. Gedichte von Chriftian Saggan. 
Altona, Mengel. 1869. 16. 1 Thlr. 

8. Gedichte. Poefle und Kunft, Liebe, Glaube, Wiffen, Arbeit 
und Vaterland. Bon Ernft Rommel. Hannover, Schmorl 
und von Seefeld. 1868. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Ngr. 


Unter dem Titel: „Ein Leben in Liedern“ (Nr. 5) 
bringt Gottfried Flammberg, der ſchon früher mehr 
rere dramatifche Werke und Erzählungen veröffentlicht 
hat, eine Sammlung lyriſcher Gedichte, welche in der hrono» 
logifchen Reihenfolge der Abtgeilungen: „Schneeglödchen‘‘, 
„Maiblumen”, „Goldregen“, „Rofen” und „Augentroſt“ 
ſich dem Wechſel der Jahreszeiten des Lebens anſchließt, 
und wie ber Verfaffer im Vorwort ausfpriht, in ihrem 
erſten Theile den Vorzug größerer Friſche, in dem legten 
den Borzug größerer Reife erkennen laſſen fol. Allein 
es fehlt den ganzen Blumenſtrauß Teider ber zarte Duft 
der Friſche; das „Reben in Liedern‘ enthält faft fein einziges 
Lied; dagegen finden fi meben einer gedanfenreichen 
Reflerionspoefie auch zahlreiche nüchterne und profaifche 
Schilderungen und Meditationen. Daß der Berfaffer ein 

1870, 6. 








121 


gegebenes Thema mit Geſchick zu behandeln weiß, bavon 
gibt der „Wettkampf in Sonelten“, ber von einem ges» 
müthlihen Humor durchweht ift, ein Zeugniß; die 
Sammlung trägt im ganzen aber den Charakter einer 
ehrenwerthen, jedoch ſchwerfalligen Solibität, bie ſich von 
ber Grenze der Laugenweile meiftens nur fehr wenig 
entfernt. 

Eine Reihe bunt durdjeinanbergewürfelter Xieber, Ro⸗ 
manzen, Sonette, Epigramme und Gelegenheitsgedichte 
bietet der Meine Band Gedichte von Friedrid Kamp 
mann (Nr. 6). Das meifte hat nur ephemere Beben- 
tung; die Gelegenheitsgedichte mit ihren perſönlichen Ber 
ziehungen eignen fi durchaus nicht zum Abdrud, und 
and) den übrigen Gebichten fehlt größtentheils Vollen- 
dung ber Form ebenfo wie tiefere Bedeutfamkeit des In« 
halte. Recht drollig ift die „Windmühle mit dem Mühl« 
ad“, das auch in mandem Kopf herumgeht: 

Bor einer Windmühl ftand ich jlingft 
Wohl eine ganze Stunde, 

Und fah dem Spiel der Winde zu; 
Das Rad ging in die Runde, 

Mir imponirte die Eonfequenz, 
Das Rad ging in die Rumde; 

Der Flügel große Eloquenz, 
Das Kad ging in die Runde. 

Und wie es zugeht, daß das Rab, 
Das Rad geht in die Runde? 

Die cause movens ift der Wind, — 
Das Rad geht in die Rundel 

Die Gedihtfammlung: „Bild und Stimmung“, von 
Ehriftian Saggau (Nr. 7), umfaßt drei Abtheilungen: 
„Draußen“, „Drinnen“ und „Droben“, von denen na« 
mentlich die legte einige gelungene Firchenliedartige Dich⸗ 
tungen enthält, welche ein frommes, gläubiges Gemüth be⸗ 
kunden; 3.2.: „Im Gotteshaufe“, „Dftergebet“, „Sehnfucht 
nad Frieden“, Im den beiden erſten Abtheilungen hat 
dagegen das Mahnwort „Schau um did und ſchau 
in di" nicht dem Auge eines Künſtlers gegolten, und 
läßt darum „Bild und Stimmung” vollendete Stimmungs- 
bilder durchaus vermiffen; es find nur Skizzen, bie 
don nicht ungeübter Hand mit ſchlichten, oft etwas groben 
Zügen Hingezeichnet find. Die Sprache ift einſach und 
Kar, oft etwas trivial, z. B.: 

Drum forg’ und eifre nicht gewaltig 
IR jemand nit nad) deiner Norm, 
Das Chriftenleben, vielgeflaltig, 
Paßt nit in eine Uniform! 

Im diefen Gedichten finden ſich viele Beziehungen auf 
die norddeutſche Heimat des Verfaffers; der Wunſch, den 
derfelbe auf dem fegeberger Kallberg ausſpricht: 

Möge der köſtliche Schag, den Kundige wiffen im Berge, 

Südlich erſchloſſen dir werden in fprudelnder falziger Ouelle! 
iſt inzwifchen durch die Erbohrung des großartigen fege- 
berger Steinfalzlagers zur Wahrheit geworben. 

Die Gedichte von Ernft Rommel (Nr. 8) bezeich-⸗ 
men gegen bie bisher befprodenen Sammlungen einen 
unverfennbaren Bortfchritt, und zwar namentlich deshalb, 
weil dem Verfaſſer die Bebeutung des mobernen Principe 
nicht zweifelgaft geblieben ift und feine Dichtungen von 
den Intereffen unfers Culturlebens durchaus erfüllt find. 
Dies fpricht ſich vorzüglich in den zahlreichen, zum Theil 

16 








Pa. 





122 Moderne und unmoderne Lyrik. 


eine hannoverſche Localfärbung tragenden Feſtgedichten 
zue Schiller » und Shaffpeare- Feier, zu den Jubiläen 
der Künftler-, Architelten« und ngenienrvereine, der 
Polytechniſchen Schulen. f.w., welche überall voneiner idealen 
Auffafjung der Aufgaben der Gegenwart Zeugniß ablegen, 
aus, und um diefe Beziehung recht deutlich Hervorzu- 
heben, gibt der Autor feinen Gedichten noch den Neben- 
titel: „Poeſie und Kunft, Liebe, Glaube, Wiffen, Arbeit 
und Vaterland” — wobei man verfucht fein möchte, noch 
ein et caetera beizufligen. Allein die geftaltenbildende 
Phantafie, die eigentlich poetifche Kraft ift dem Berfaffer 
nur in geringem Maße verliehen, feine Dichtungen find 
feine Abhandlungen, die gefchidt in gebundener Rebe ab» 
gefaßt find, und überall merkt man die Mühjal der 
Gedankenarbeit. Nah allen Richtungen verſucht ſich der 
Autor, ohne in einer einzigen es zur Vollendung zu brin- 
gen; troß aller Mühe tragen feine Producte den Stem⸗ 
pel des Dilettantismus. Eins feiner beften Gedichte ift 
das folgende: 

Ya, ihr feid gut, denn— ihr wollt felig werden; 

Der Lohn ift tauſendfach, drum feid ihr gut, 
Darım ertragt ihr eure Noth auf Erden. 
Ihr feid nicht böfe, feld auf eurer Hut, 
Weil ihr euch ſcheut vor ew'gen Höllenqualen; 
Furt hemmt die niedre Gier, den Frevelmuth. 
Ihr glaubt, daß Gott mit Wucher werde zahlen 
Das Keine Gute, was euch fauer ward, 
Und fcheut die Pein, wie fie die Hölle malen. 
Sch aber ſage euch, klingt es auch hatt: 
Ihr feid nur feile Knecht' im Erdengarten, 
Bon Lohn gelödert und in Furcht erftarrt. 
Anf die Belohnung könnt ihr lange warten, 
Denn daß ihr Knechte feid, ift euer Lohn — 
Und eure Strafe! — Was mollt ihr erwarten? — 

Spredt ihr von Seligkeit, fo ifi’s ein Hohn: 

Denn Seligfeit ift freie thät’ge Liebe; 

Wo Knechtſchaft herrſcht, ift Liebe Tängft entflohn. 
Auch fürchtet nicht, daß euch die Hölle bliebe, 

Das iſt ein ganz unmöglich Strafgericht, 

Verdammniß fühlt man nicht mit Knechtestriebe! 

Für euch iſt weder Finſterniß noch Licht, 

Ihr kommt im Gut und Böſen nicht ins Klare, 
Ihr taugt für Himmel und für Hölle nicht: — 

Ihr feld fürs Fegefener ſchlechte Waare ! 

Auch das Gediht: „Geiſt der Kunft“, ift fehr an- 
fprechend, dagegen freilid) die überwiegende Mehrzahl der 
Dichtungen des ftarfen Octavbandes faum mittelmäßig; 
einzelne, 3. B. „Enttäuſchung“, „Du haft Tein Herz“, 
die Transfcription von Othello’ 8 „Put out the light“ 
in ein Sonett, find entſchieden mißlungen. 


Gegen diefe ſchwerfälligen Gebichtfammlungen, weldje 
multa sed non multum bringen, ſticht ſehr vortheilhaft 
ein feines Werkchen ab, welches in jedem Zuge die Hand 
des Künftlers erkennen läßt: 

9. Pſyche. Bon Freiherrn Hugo von Blomberg. Berlin, 

C. Dunder. 1869. 16. 15 Ngr. 

Die Dichtung „Pfyche” von Hugo von Blomberg, 
jenes Märchen „aller Märchen Stern und Blume, 
das heitern Reiz mit tiefem Sinn vermählt‘‘, ift der be- 
gleitende Text zu einer photographifhen Nachbildung des 
berühmten Rafael'ſchen Cyklus von Darftellungen aus der 
Geſchichte von Amor und Pjyche in der Villa Farneſina, 


jedoh auch ein Fleines Kunftwerk file fi), welches ein 
Recht auf felbftändige Beachtung beanſpruchen kann. 
Der Berfafler, ald Maler, Dichter und Kunftfchriftfteller 
rühmlich befannt — eine Verbindung, die zur Zeit der 
großen Ginguecentiften häufiger vorfam, als dies in ber 
Neuzeit leider der Fall iſt —, fchließt ſich in der Ardi- 
teftonif dieſes Heinen Kunftwerfs genau an die Structur 
des Saals der Farneſina an; er befchreibt, wie biefer 
Saal 14 enfter Habe, über denen 14 Amoretten mit 
den Trophäen Amor's gauleln, während die Dedengemälde 
und 10 Felder der Wände die Gefchichte von Amor und 
Pſyche enthalten. 

Aus einer Ede fei nun angefangen: 

Ein Bild, auch wol ein Paar, wie's eben paßt, 

Sei Iuftig vom Octavenkranz umbangen; 

Doch fiebeumal dazwiſchen mad)’ ich Raſt, 

Und weil juft vierzehn Amorfiege prangen, 

So viel, al8 Zeilen ein Sonett umfaßt; — 

(Nennt’8 ein Sonett, da8 Rafael gedichtet!) — 

Sei hiervon in Sonetten euch berichtet. 


Kur, wie im Saal Sticdhlappen und Lünetten 
(Berzeiht, daß ein Poet fo jachlich ſpricht), 

Soll hier mein Märden wechſeln mit Sonetten, 
Die man in Loden bunte Schleifen flicht! 

Und diejer bunte Schmud behagt dem Dichter fo fehr, 
daß fogar das Inhaltsverzeichniß fich zu einem Sonett 
mit fein zugefpigter Pointe geftaltet. In dem anmuthigen 
Spiele der Phantafie faft den Arabesken in den Loggien 
des Batican zu vergleichen, umgeben diefe Dichtungen wie 
ein Rahmen die Bilder Rafael's, und die Streiflichter 
moderner Anſchauungs⸗ und Empfindungsweife, welde in 
die antike Götterfage Hineinfpielen, dienen nur dazu, die 
Geftalten derfelben in pilanter veizvoller Beleuchtung her- 
vortreten zu laſſen. Die nedifche Heiterkeit der Tonart 
läßt freilich zuweilen ſogar Offenbach'ſche Anklänge nicht 
verfennen. Die Entgegnung auf den Einwand der Philo- 
logen, daß Minerva, die Patronin der Gelehrtengilde, den 
Hals in Amor's Joch nie gebogen habe: 

Recht mögt ihr haben, nur bemerf’ ich flüchtig: 

Ein fleines Pröäjudiz tft do vorhanden ! 

War nit die Göttin eitel mehr als züchtig, 

Sie hätte nie vor Paris dort geftanden, 

Auf Aphroditens Schönheit eiferfüchtig ! 
ferner die Feſtſtellung des Verwandtſchaftsgrades zwi- 
ſchen „Herrn Neid und Fräulein Yama“, die „mo 
nicht Geſchwiſter doch Geſchwiſterkinder“, endlich die Be— 
dingung des Zeus, daß Amor ihm feine Hilfe in künfe 
tigen Fällen gedenken möge: 

Nur künftig, wenn bei Hlitten oder Thronen 

— Wie das wol fommt — cin Mägdlein mir gefällt, 

Dann hilf du, Heiner Näfcher, mir beim Nafchen: 

Pflegt eine Hand die andre doch zu wafchen! 
ftreifen do) nahe an die Grenze des Burlesfen und er- 
innern an das „Jupiterlein“ im „Orpheus in der Unter» 
welt”. Als Apologie hierfür weit der Dichter deshalb am 
Schluß des Liedes von „dem Sieger, der fich felbft be— 
fiegt hat’, auch noch auf die tiefere Bedeutung diefes al- 
ten Märchens Hin und eröffnet dem Blick eine weitere 
Perfpective: 

Nur eines, was der Maler euch verichwiegen, 
Gönnt noch dem Dichter, da er Abfchied nimmt: 
Dem ſcherzhaft leichten Ton mußt’ er ſich fügen, 
Den Apulejus vor ihm angeftimmt ; 


- — U 


Moderne und unmoderne Lyrif. 123 


Do fühlt er drunter tief die Kunde Tiegen, 
Die ahnend nur dem Alterthum geglimmt, 
Bon eines Ew'gen Lieb', in deren Armen 
Die bange Menjchenfeele darf ermarmen. 


Dieſem lyriſchen Epos folgen noch einige andere 
epiſche Verſuche: 

10. König Richard. Drei Romanzen von Albert Haeger (aus 
einem unvollendet gebliebenen Cyklus). Amſterdam, van 
Zuijlen u. Co. 1868. ©r. 8 7 Nygr. 

11. Anfon von R. C. 8. Abé⸗Lallemant. Altona, Mengel. 
1868. 8 1 Thlr. 

12. Waldblumen von Käthe Voß. Hamburg, W. Onden. 
1868. 16. 27 Nor. 

Eine Heine Gabe zum einem guten Imede — zum 
Beten der Nothleidenden in Oſtpreußen — bietet das 
Fragment: „König Richard“, von Albert Haeger (Nr.10), 
welches ſich durch feine Kürze auszeichnet, da es nur drei 
Komanzen mit einem Dutzend Strophen und eine kurze 
Widmung enthält. Einige Epifoden aus dem Srenzzuge 
von Richard Löwenherz: die Landung bei Meffina, dic 
Belagerung von Ucre, und Blondel, den gefangenen Kö— 
nig durd) fein Lieb tröftend, werden in einfachen, frifchem 
Ballabenton geſchickt erzählt; freilich nicht ohne ſprach— 
lihe und metrifche Verſtöße. So wird 5. B. ©. 18 
„Firn“ im einer unrichtigen Bedeutung gebraudt, ©. 19 
„Albion“ unrichtig fcandirt, u. a. m. Wenn der Ber- 
faffer am Schlufje der Widmung in Ausſicht ftellt, daß 
feine Leier bald Fühner, freier, in vollern Accorden rau⸗ 
ſchen werde, jo ift e8 wünſchenswerth, daß er fie vorher 
noch etwas reiner ſtimmen möge. 

Der dur naturwiſſenſchaftliche Werke, namentlich 
durch feine Reiſe in Sübdbrafilien befannte Dr. med. 
Robert Ane-Lallemant in Lübeck, der in ber Vorrede 
ausdrücklich ablehnt, auf den Namen cined Dichters An- 
ſpruch zu machen, hat die Mußeſtunden von 10 Monaten 
dazu benugt, ein Seehelden-Epos: „Anſon“ (Nr. 11), zu 
fchreiben und, anknüpfend an ben Kriegszug um die Welt, 
welchen fein Held, der Tregattenfapitän George Anfon 
in dem Kriege zwifchen England und Spanien in den 
Jahren 1740— 44 ausführte, perfünliche Erlebniffe und 
Reiſebilder in feine Lebendige Schilderung ber verſchie⸗ 
denen Schaupläge jenes Argonautenzugs zu verflcchten. 
Und faft gewinnt e8 den Anfchein, al8 ob ihm das lettere 
die Hauptſache gewefen, denn die 10 Gefünge des Epos 
mit ihren 7—800 Stanzen geben kaum fo viel von der 
eigentlichen Gejchichte des Kriegszugs, als die 10 Seiten 
der Borrede in Profa, während dagegen bie Schilderun- 
gen und Epifoden einen unverhältnigmäßig großen Raum 
einnehmen, 3. B. die Befchreibung Madeira im erften, 
des Amazonenftroms im zweiten, der Pampas im dritten 
Sefange, ferner die Epifobe von Miranda im zweiten, 
die Geichichte des Hufſchmieds Marcus Meier im fechöten 
Heſang, u. dgl. m. Doch braucht dies der Lefer nicht 
u bedanern, da gerabe in der Lebendigkeit und Anſchau⸗ 
heit diefer Neifebilder des vielgewanderten Zonriften 
er Hauptvorzug des Gedichts Liegt; man fieht es den 
Schilderungen an, daß ber Berfafler aus dem reichen 

5chage eigener Erinnerungen ſchöpft und fi) nicht müh—⸗ 

am aus fremden Reifebefchreibungen die Farben zufant- 
nenſucht. Auch find in der Regel die Reiſeeindrücke 


in barmonifcher Farbenftimmung wiedergegeben, wenn⸗ 
gleih freilich in dem Beftreben nad) Vollftändigkeit 
zumeilen die Verſe zu einer trodenen Nomenclatur were 
den. So heißt e8 3. B. in einer Beichreibung des 
Amazonenftrome: 
Es laſſen ferner Reiher, Erotophagen, 
Tukane, Geier, Enten, Schopfhuhnſcharen, 
Anhingas, und mit nimmer ſatten Magen 
Tuyuyos fi den ganzen Tag gewahren. 
Den Aviringe hört man traurig Magen, 
Und gellend fdjreien, drohen ihm Gefahren, — 
Doch foldy ein Leben, folhes! foldh ein Treiben 
Auf offner Praya kann ic) nicht befchreiben! 
Und Pendants zu ſolchen Katalogen bieten bie borher« 
gehenden Zeilen noch mehrfah. Das Epos von ber 
Kriegsfahrt George Anfon’s, ber ſich überhaupt mehr 
durch jeine Standhaftigkeit im Kanıpfe mit den Elementen 
al8 durch befonders kühne Kriegsthaten auszuzeichnen 
Gelegenheit Hatte, bildet fo nur den Stamm, an den fid 
allerlei Tojes Beiwerk Tianenhaft anhängt und anheftet, 
fodaß der Stamm oft kaum mehr zu erkennen ift; denn 
nit nur diefe Neifchilder, fondern auch eine Menge 
nebenfächlicher Reflexionen des Autors drängen ſich zwifchen 
die Schidfale feines Helden ein. So werden bie jebige 
Eolonifationd= und Berwaltungspolitit Brafiliens (©. 21: 
„Der Ürbeit gebt, dem Glauben volle Rechte, laßt frei 
die Sflaven, eure ſchwarzen Knechte“) u. dgl., ja ſogar 
die jocialen Berhältniffe des modernen Europa nebenbei 
mit verhandelt; 3. ®. findet ſich folgende Philippika: 
Dagegen hier im Norden welche Noth! 
Wer mag bei uns nad Frauengumft noch fireben? 
Das deutſche Ritterthum ift ange todt! 
Ein liederliches Junggeſellenleben 
Bird nächſtens noch der Männer Machtgebot; 
Kaum einen alten Ritter wird e8 geben; 
Und unfre jungen Männer? In der Regel 
Sind fie den Frauen gegenüber — Flegel. 


Ein gutes Bier, ein beizender Tabad 

— So fang fchon Vater Goethe voller Hohn — 
Iſt heut der deutfchen Iugend Hauptgeſchmack; 
Den Seidel ſchenkt der Vater feinem Sohn, 
Cigarren und Petum ein dides Pad 

Und dann ein Dutend Pfeifen noch von Thon, 
Damit er die beim Trank aus Malz und Hopfen 
Mit flinfendem Kanafter möge flopfen. 

Es iſt dies zugleich eine Probe von dem kecken, oft 
freilich etwas forcirten Humor, von dem fich auch fonft 
gar manche Proben finden; 3. DB. die Warnung der Ba⸗ 
denden vor den SKrofodilen im Amazonenftrom: 

Es naht der ſchlimme Freffer, fill und flumm, 
Und tanzt jelbft alte Pyramiden um! — 
oder die Einführung des lübecker „Meier“ und (S. 184) 
die Schilderung der Chinefen: 
Ein Volk in Zöpfen! Himmliſcher Gedanke, 
Nur faßlich dem, der felbft den Zopf befah! 
Wie hängt er doch gleich der Lianenrante 
So reinlich und fo zweifelsohne dal 
Der edle Zopf, der lange, weiche, ſchlanke, 
An Millionen Köpfen fern und nah! 
An jedem, den du fiehft vorlibergehen, 
Der Zopf der hängt ihm Hinten, wirft du fehen. 

Die Zeit der Entftchung dieſes Gedichts, den Sommer 
1866, kennzeichnet die etwas forcirte Einleitung des neunten 
Gefangs, als signatura temporis, 


16 * 














124 Moderne und unmoberne Lyrik, 


Wo Deutfche gegen Deutiche ohne Wahl 
Mit Mörderwaffen zühnefletſchend flegen! — 

und fließt fich Hieran eine Apoſtrophe an die Kron⸗ 

prinzeffin von Preußen, welche einft als Friedensengel 

dem Kriege wehren möge, damit 
Nicht wieder an der Wand ein Mene telel 
Upharfin Tieft die Nachwelt voll von Ekel, 

Die Sprade wird mit großer Gewandtheit gehand- 
babt, wenn fich auch einige incorrecte Ausdrüde und un⸗ 
ſchöne Bilder dazwijchen mit vorfinden, 3. B. ©. 152: 
„Die weißen Blitze, die zur Erdengruft knallend nieber- 
tollen!’ 

Der elegant gebundene duftige Strauß von „Walb- 
blumen” von Käthe Boß (Nr. 12) bietet dem Lefer 
zwei Novelletten: bie „Großmutter“ und „Die Roſe“; 
ein Märden: „Die Brinzeffin im Walde” und eine 
Naturflizze: „Der Wald“, d. 5. fo ungefähr „was fid 
der Wald erzählt”. Die beiden kleinen Novellen find 
zarte doch feharf umriffene Wederzeichnungen, deren feine 
Linienführung die Fünftlerifche Begabung der Verfaſſerin 
deutlich erkennen läßt. Im der Proſa diefer beiden Heinen 
Erzählungen liegt mehr Poeſie als in manchem diden 
Bande Inrifcher Gedichte; diefelben bleiben Hinter ihrem 
deutlich erkennbaren Vorbilde, den Novellen Theodor 
Storm’s, nit allzu weit zurüd und bilden eine anmu⸗ 
thige Bereicherung unferer Lovely Literatur. 

Wenn diefen „Walbblumen” nod einige buftige Blü⸗ 
ten wirklich) moberner Lyrik zugefellt werben follen, fo 
findet, wer eifrig ſucht, foldhe Blumen wol in folgender 
Sammlung: 

13. In Sonnenfhein und Wind. Rene Lieder von Georg 
von Deren. Heidelberg, Weiß. 1868. Gr. 8. 1 Xhlr. 
10 Ngr. 

Keine Treibhauspflanzen mit narkotifchen Duft, fon 
dern wilde Rofen, die frijch = Fräftig erblühen „in 
Sonnenschein und Wind”, bieten diefe neuen Lieder von 
Georg von Dergen, und wenn der Stamm auch mehr 
Dornen als Blüten trägt und die loſen Ranken bie 
ordnende und pflegende Hand des Gärtners gar oft ver- 
miffen lafien, fo fpenbet doch manche diefer einfachen 
raſch welkenden Blüten gar lieblihen Duft und Er⸗ 
quickung. Alle diefe Gedichte haben einen Hauch von 
MWaldurfprünglichfeit, ed athmet uns aus ihnen eine Ge- 
fundheitsfülle entgegen, deren Kraftgefühl ſich oft fogar 
in etwas burfchilofer Art Luft macht. Luflig wie ein 
Lerchenwirbel jchmettert das Lieb der fangesfuftigen 
Kehle (S. 266): 

Immer beſchäftigt. 
Und blüht die Welt, und müht die Welt 
Den langen Tag fi) nur, 
Sch leg' ſpazieren mid) ins Feld, 
Und meſſe die Natur! 
Dafür ift überall noch Pla, 
An Arbeit nie gebricht's: 
Ich den an meinen lieben Schag, 
Und mandmal and an nidte! 
Der eine geht, ber andre ſteht, 
Der dritte denft fih dumm; 
Wenn's Rückwärtsſchaun was nlüten thät', 
Wär' halt der Weg nicht krumm. 


Das Klugſein, oft geſchadet hat's 
Der Schoͤnheit des Geſichts: 

Ich den’ an meinen lieben Schatz, 
Und manchmal auch au nichts! 

Solch Singen macht dem Dichter keine Mühe, und 
ſchweigt er drum auch nicht ſchüchtern; das überläßt er 
andern: 

Thu's lieber nicht! 

Wenn dir das Singen Arbeit iſt 
Und Eitelkeit und Mühe, 
Wenn dein Gedicht nie ſertig iſt, 
Dein Denken nur zu frühe, 

Denn du britend fiteft 

Bis du Reime fhwikeft, 
Dann laß dir rathen, lieber Mann: 
Gewöhne nicht dir jo was an, 

Du ſpielſt nicht wohl die Geige‘, 

Drum räuspre dich, umd ſchweige! 
Und triufeft du, weil Staub und Sand 
Dir troden madt die Kehle, 
Zr wahrer Durſt dir unbelannt, 
Die Glut der Männerfeele, 

Denn du Stoff bezwingeft, 

Nicht den Geiſt erringeft: 
Dann fol dir Milch credenzet fein, 
Doch fchlürfe niemals edeln Wein. 

Ich rathe dir: Bleib nüchtern 

Sei bieder, aber ſchüchtern! 


Diefen frifchen Humor, ber fi) no mehrfach z. 2. 
in dem Lobe der Mittelftraße „In diefen ſchweren Zeiten“ 
befundet, gefellt fich eine anmuthige Begabung für frifche 
Erzählungen im Volkston, von dem wir „Des Herzogs 
Töchterlein“, „Die Rojen von Königgräg‘ und „Der 
Keitersmann auf hohem Roß“ als befonderö gelungen 
hervorheben. Daneben bricht aber auch ein warmes und 
tiefes Gefühl aus manchem dieſer Gedichte hervor, 5. B. 
aus dem Liebe: „Aus der Heimat in die Heimat” und 
„Kommt und Hört“. Freilich kann es nicht verfchwiegen 
werben, daß neben den Blüten auch mandje verkiimmerte, 
wurmftihige Knospe ſich vorfindet und e8 an unbeden- 
tendben und mislungenen Gedichten nicht gebricht, doch 
find Gefhmadlofigfeiten, wie das hölzerne Shafel „Worte“ 
und das „markerſchütternde Brumbumbum“ im „Trommel⸗ 
lied von Afchaffenburg‘ nur felten. Weber derartige Män- 
gel fieft man aber um fo lieber hinweg, als fich in diejen 
Liedern ein Träftiges Baterlandsgefühl in wohltäuender 
Weiſe bekundet, ein friiher Muth, der „am Bord der 
Germania” ruft: 

Hilf, Himmel, Ni, und wol’ e8 gnäbig wenden! 

So betet heut die Furcht der blöden Kranken; 

Uns pocht das Herz: Herr Gott, wir müſſen danlen, 

Bir wagten kühn, du halfeft ſtark vollenden ! 


Dem Schiffer gleich, den faliche Feuer bienden, 
Bar unſer 208: auf langer Irrfahrt ſchwanken; 
Umfonft beweint ins Meer die Opfer ſanken, 
Das Ruder ſchien Spielwerk in hundert Händen. 


Setzt andrer Cours: vorwärts mit friiher Brife 
Geht raſch die Fahrt, die grünen Wogen ſchlafen, 
Herweht ein Duft vom Heimatparadieſe; 

Doch wachſam bleibt, wen lanniſch Wetter trafen; 


Und ob der Sturm ans Südweſt grollend bliefe, 
AN Mann an Bord! wir flenern doc zum Hafen. 


€. Hersfurth. 


Zur Gefhichte der deutſchen religiöfen Speculation. 


125 


Bur Geſchichte der dentfchen religiöfen Specnlation. 


Meifter Edhart der Myſtiker. Zur Geſchichte ber refigiöfen 
Speculation in Deutfhland, Bon Adolf Taffon. Berlin, 
Her. 1868. ©r. 8 2 Thlr. 


Der zweite Band der „Deutfchen Myſtiker“ Franz Pfeif- 
fer’8 bat den Studien über den Meifter Edhart eine relativ 
zuverläffigere Grundlage gegeben. Aber es fehlt noch viel, 
daß fie in dem Sinne genügend genannt werden Tünnte 
wie, um bei dem Nächftverwandten ftehen zu bleiben, fir 
Hermann von Friesland, Nikolaus von Strasburg und David 
von Augsburg, deren Erzeugniffe der erfte Band jenes 
groß angelegten Werks enthält. Pfeiffer hat bekanntlich, 
außer einem Inappen Borworte, das ſich wefentlih nur 
auf die Bezeichnung der von ihm benutzten handfchriftlichen 
Halfsmittel beſchränkt, nichts weiter als die Texte der 
hriftfih erhaltenen Reſte Eckhart's gegeben, oder das, 
was er dafür zu erkennen glaubte. Einem felbftändigen 
kritiſchen Theile war die ausführliche Begründung und 
Rechtfertigung feines Verfahrens vorbehalten, aber fein 
jäher Tod hat diefe wie andere fehr widjtige Arbeiten, 
z. B. die Weiterführung der Ausgabe des Bruder Ber- 
thold, einftweilen . abgefchnitten, und es ift fehr fraglich, 
ob fie troß des reichhaltigen Materials und der gewillen- 
haften unabläffigen Thätigkeit ihres frühern Unternehmers 
bon einem andern vollendet werben können. 

So hat den Bruder Edhart jenes ungünſtige Gefchid, 
das von jeher über ihm gemwaltet, auch noch bis in unfere 
Tage verfolgt, wo derjenige Dann, der unter allen Res 
benden am beften gerüftet war ihn in feiner vollen Herr- 
lichkeit wieder zu erweden, doch nur einen bedingungsweiſe 
brauchbaren Zorfo Hinterlaffen durfte Nach wie vor 
wird die Wiſſenſchaft, die fich jene erhabene Geftalt deut⸗ 
lich zu vergegenwärtigen ftrebt, feinen feften Boden unter 
ihren Füßen fühlen, und fchon daraus erflärt es fidh, 
daß auf der einen Seite immer nene Verſuche auftauchen 
— der vorliegende ift feit 1864 der dritte —, das Syitem 
Eckhart's in feiner Totalität darzuftellen, um die offenbar 
ungenügenden Leiftungen der Borgänger womdglih zu 
einem berichtigenden Abſchluß zu bringen, und daß auf 
der andern Seite die eigentlich fundamentale Arbeit, auf 
bie es Hier ankäme, doch von niemand in Angriff ge 
nommen wird. Diefe beftände zu allererft darin, die fri- 
tiſchen Orundfäge zu entwideln und feftzuftellen, nad) 
denen die Autorfchaft Edhart’8 zu erkennen if. Da die 
Mehrzahl der in die Pfeifferjche Ausgabe aufgenom- 
menen Stüde durch fein äußeres Zeugniß als Kigen- 
thum des Meifters beglaubigt ift, da jogar viele davon 
bisher andern Namen — Tauler, Rusbroek, Sufo — zu⸗ 
gefchrieben waren, fo kann nur mit.den Hülfsmitteln der 
innern Kritik vorgegangen werden. Diefe ſelbſt müſſen, 
wie wir glauben, aus der Spradye und Diction gejchöpft 
werben, nicht ſaus der innern Verwandtſchaft mit dem 
Syſteme. Das Iebtere, wenn man überhaupt von einem 
ſolchen fpreden darf, ift in feiner Auffafjung und Be 


urtbeilung allzu fehr den fubjectiven Einflüffen des mo- 
dernen Darſtellers unterworfen, fodaß ein Beweis aus 
ihm heraus fehr leicht zu einem circulus vitiosus werden 
dürfte. Sprahe und Diction find aber von einer fo 
durchſchlagenden Eigenart und einzigen Individualität, daß 
ſich darauf ein genligender Beweis für das Echte und 
Unedhte bauen läßt. Nur gehört dazu eine vollftändige 
Ueberficht des gefammten handfchriftlichen Materials, wie 
es Pfeiffer befaß und vorlegen wollte. Sein gereinigter 
Zert allein, jo dankenswerth er auch ift, kann nicht dazu 
gebraucht werden, bis fich erkennen läßt, nach melden 
Principien er ihn im einzelnen conftruirt hat. 

Auf diefer feiten Grundlage läßt fi dann alles Weis 
tere, jo Wünfchenswerthe und Nöthige aufbauen. Zuerſt 
eine möglichſt ſchlichte und überfichtliche Zufammenftellung 
des gefammten Material von Gedanken und Specula- 
tionen, woran ſich gleichſam von felbft die Beziehung auf 
die zeitgendffifche Philofophie und Myſtik ſchließen muß, um 
Eckhart's Stellung in ihr genauer zu bezeichnen. Ebenſo 
eine ganze Reihe anderer philojophifcheculturgefchichtlicher 
Aufgaben, die alle diefen einen Mann zum Mittelpunkt 
baben könnten, ohne feinen Inhalt zu erfchöpfen. Denn 
fo viel läßt fich mwenigftens fchon jegt aus dem noch fo 
unfihern Material erfennen, daß er alle bie begeifterten 
Lobjprüche, womit ihn feine Verehrer zu überhäufen pflegen, 
wohl verdient, wenn auch vieleicht oft in einem andern 
Sinne, als fie es meinen. Zunächſt leidet es feinen 
Zweifel, daß er die deutſche Sprache in ihrer ebelften 
Ausbildung während des Mittelalters repräfentirt. Nie— 
mand in jener Periode hat biefelbe zu einem Werkzeuge 
der höchſten und ernfthafteften Intereſſen des Geiftes fo 
zu gebrauchen verftanden wie er, und was feine andern 
Gefinnungsverwandten, die deutſchen Myſtiker vor und 
nad) ihm, in diefer Beziehung geleiftet Haben, nimmt fid, 
den einen David von Augsburg abgerechnet, doch beinahe 
wie kindliches Stammeln neben der vollen Reife der 
männlichen Spradye aus. Ebenſo ift er unbeftritten der 
größte Prediger deutfcher Zunge während des ganzen 
Mittelalters. Bruder Berthold, deſſen ungeheuere Erfolge 
wir, bei aller Hohadtung vor ihm fei es gejagt, nad) 
feinen uns erhaltenen Predigten doch nicht ganz zu vers 
ftehen vermögen, darf nicht mit ihm verglichen werden; 
Tauler und die fpätern myſtiſchen ‘Prediger des 14. und 
15. Sahrhundert8 noch weniger. Und wenn ſich mand- 
mal die Trage aufdrängt, ob das Publikum, für welches 
diefe Predigten beftimmt und gehalten wurden, im Stande 
gewefen ſei den- [peculativen Kern der Süße zu erfaflen, 
jo ift dies im Grunde eine müßige Frage. Diefe Pre 
digten find fo unendlich reich an den verfchiedenartigften Ga⸗ 
ben für die derfchiedenartigften Individualitäten und Fähig- 
feiten, daß jeder, er mochte fein wer er wollte, über- 
reiche Frucht davon haben fonnte, 

Heinrich Rücert. 





126 


Feuilleton. 


Fenilleton. 


Duplikate von Schiller-Geſprächen. 


Von Herrn Dr. Borberger in Erfurt geht uns die fol⸗ 
gende Anfrage an Herrn Bernhard Annmüller zu: 

In dem vor kurzem erſchienenen Buche: „Karoline Luiſe, 
Fürſtin zu Schwarzburg⸗Rudolſtadt“, von Bernhard Annmüller, 
finden fi) unter der Ueberſchrift: „Ressouvenir de conversation 
avec Schiller‘ mehrere Data Sciller’8 mitgetheilt, von denen 
ſchon längft befannt war, daß fie aus Unterredungen mit feiner 
Berwandten Chriftiane von Wurmb flammen, die jpäter die Frau 
des Directors Abeken in Osnabrüd wurde. Sie hatte diefe 
Geſpräche aufgezeichnet wie Edermann und Friedrid, von Mül⸗ 
ler die Goethe’fchen, und da fie aud jedesmal das Datum und 
den Umſtand angibt, unter weldhem das Geipräh gehalten 
wurde, fo ift ein Irrthum bier nicht qut möglid. Sie wurden 
zuerſt mitgetheift von Karoline von Wolzogen in ihrem „Leben 
Schiller's“, II, 204—223, und find von da in alle jpätern Bio- 
graphien Schiller’8 übergegangen. Nach Palleske's Ermittelun- 
gen gehören fie in das Jahr 1802. Die vermeintlichen Ge⸗ 
ſpräche Sciller’s in dem Bude Annmüller's geben dieſelben 
wörtlich, nur mit Heinen Differenzen, wieder. So fteht ©. 48: 
„Wenn man 30 Schaufpiele fähe ꝛc.“ bei Karoline von Wol⸗ 
zogen II, 207 unter der Auffchrift: „Den 1. Mürz, als ich mit 
ihm aus der Komödie ging"; S. 49: „Billigkeit ift eine ſchöne 
aber feltene Tugend‘ ebenda S. 208 unter der Aufichrift: „Den 
5. März, als ich ihm Kaffee einſchenkte““; „Es ift ein eigen felt- 
fam Ding um bie gelehrten Frauen‘ ebenda ©. 214 um 
ter der Aufſchrift: „Den 18. März, als ex mid) in meiner Stube 
nähend fand“, nur fehlt bei Annmüller ber Schluß. Und fo 
geht es fort bis S. 121: „Daß viele von und, wenn auch 
nur durch den Schein blenden wollen‘, welches ich bei Karo- 
fine von Wolzogen nicht finde. Das Gefpräh vom Jannar 
1800, S. 117, welches ſich gleichfalls bei Frau von Wolzogen 
nicht findet, hat nur ftattfinden können, wenn die Fürſtin um 
diefe Zeit in Weimar war, vielleicht den 10. Januar, wo 
Schiller zum Thee bei der Herzogin war. In Schiller’8 Brie⸗ 
fen findet fid) von einem folhen Beſuche nichts erwähnt. Ann» 
müller wird alfo noch einmal nadjjehen müfjen, ob die betref- 
fende Handſchrift auch wirklich von der Fürſtin von Rubolftadt 
herrührt; dann kann fie aber nur eine Abjchrift von dem Ma» 
nufeript der Ehriftiane von Wurmb fein. Auch wird er fi 
Mühe geben müfjen zu erfahren, in welchem Berhäftnif Ehri- 
fliane von Wurmb zu der Fürftin von Rudolſtadt ſtand. Diefe 
Auskunft ift er den Schiller-Kennern fhuldig, denn wenn ihm 
diefe auch gern verzeihen werden, daß er in der Schiller⸗ 
Literatur nicht fo bewandert war, um fi zu entfinnen, baß 
diefe Geſpräche fehon feit 40 Jahren gedrudt waren, fo werben 
fie doch im Falle feines Schweigens einen gewiflen Verdacht, 
er habe fein Werk mit fremden Federn ansichmüden wollen, 
ſchwerlich ganz unterdrüden fünnen. 


Chinefifhe Bräude und Spiele in Europa. 

In einer jenaer Imaugurafdifjertation (gedrudt Breslau 
1869) fuht Guſtav Schlegel, Interpret der dhinefiihen 
Sprache beim niederländifc - oftindiihen Gouvernement zu 
Batavia, den Nachweis zu führen, daß faft alle unfere Geſell⸗ 
ihaftsfpiele, die fhon Jahrhunderte vor ihrem Erfcheinen in 
Europa in China befannt gewejen, aus jenem fernen Rande zn 
uns gelangt feien. Dahin rechnet er: das Damenfpiel, das 
Dominofpiel, das Kartenfpiel, das Mühlenfpiel, das Zriftral; 
die Hazarbfpiele, wie Würfel, Rouge et Noir; ben Papierdracdhen; 
Heine Gefellichaftefpiele, wie Kämmerchenſpiel, Blindekuh; ferner 
die Boltsfpiele, wie da8 PBuppenfpiel, die chineſiſchen Scatten- 
maſchinen. Wird man diefe oder jene Behauptung des Ver⸗ 
fafjer8 gern glaubhaft finden, fo dürfte e8 dagegen den größten 
Widerfprud) erregen, daß aud) das Schadfpiel ale ein urſprüng⸗ 
liches Eigenthum Chinas in Anfprud; genommen wird. Auch 
einzelne Bräuche, wie das Efien hartgefottener Eier zu gewiffer 
Jahreszeit, fowie der Schmud der Häufer in der Johannisnadht 


follen uralten chineſiſchen Urfprungs fein. Eine befonders wife 
fenſchaftliche Haltung Hat die genaunte Differtation gerade nicht, 
aber fie ift wenigftens um ihres Gegenftandes willen allgemein 
intereffant. Es würde erwänjdt fein, wenn über biefe fragen, 
fomeit fie zweifelhaft ericheinen müſſen, von competenter Seite 
aus discutirt und weitere und überzeugende Belehrung beige» 
bracht würde. 


Notizen. 


Der von einigen Blättern angeklindigte Roman von 
Biufeppe Garibaldi wurde längere Zeit für eine Ente ge- 
halten, welche die Blätter bisweilen brauden, um ihre flag« 
nirenden Gemwäfler zn beleben. Jetzt kündigt A. Hartleben's 
Berlag in Wien die antorifirie Ueberſetzung deffelben an, fodaß 
wir ung nun mit einem male auf dem Gebiete der buchhänd⸗ 
lerifhen Thatſachen befinden. Der Roman führt den Titel: 
„Die Regierung des Mönchs“, und umfaßt zwei ftarfe Bände. 
Dos Buch’ enthält, nad der Ankündigung des Verleger, von 
der erfien bis zur letzten Zeile vom Verfaſſer felbft erlebte Er- 
eigniffe im Gewande eines feflelnden Romans, und Garibaldi 
enthüllt in demfelben die Urfachen der vielen italienifchen Ems 
pörungen des 19. Sahrhunderts fowie die Intriguen und Ans 
ſchläge des päpftlichen Hofs. 

Zu Königsberg erſcheint in Heften eine Zeitfchrift unter 
dem folgenden originellen Titel: „Die Sternwarte. Großes 
Schatten» und Buppenfpiel mit verfchiedenen Monologen, Scenen, 
Intermezzos, Gruppirungen und Aufmärſchen, oft mit eleftrie 
{dem Lichte beleuchtet, von Gabriel Mephiſto. Berbunden 
mit einer neuen Theaterzeitung: «Die pſychologiſche Poſaune», 
redigirt und herausgegeben von Dr. Hentilo Starke, Pro» 
feffor der Pfychologie, promopirtem Doctor der Selbftlunde und 
Geburtshelfer der Reclame, correfpoudirendem Mitgliede aller 
Sternwarten Europas, Ritter des noch nicht geftifteten Phan⸗ 
tafieordens und Befiter aller Medaillen für Kunft und Wiſſen⸗ 
haft" (Königsberg, Expedition der Sternwarte). Uns liegen 
die beiden erſten Hefte diefes mit fo wunderbarlichen Humor⸗ 
ſchnörkeln fid) ankündigenden Blattes vor, das indeß bier und 
dort auch einen ernftern poetiichen Anlauf nimmt. Die Ten⸗ 
denz des Unternehmens, das für feine Strafgerichte nur zu 
voluminds auftritt, ift eine fehr Iobensmerthe, nämlich bie 
Reclame zu geifeln, die ſich in den Theaterblättern breit macht, 
umd zwar in der ganz geeigneten Form hyperboliſcher Ueber⸗ 
treibungen. Seine Hauptprügelfnaben und Hauptprügeldamen 
hat der Satirifer nad) dem Princip ber „Notorietät” auss 
gewählt; doch findet man bisweilen auch einen Namen darun⸗ 
ter, den man mit Bedauern an den Pranger biejer Satire 
geftellt fleht. 

Eine Shafjpeare-Anthologie: „Leitfterne im Leben und Lieben 
der Frauen‘, bat U. Daul, ber Berfaffer des reichhaltigen 
ftatiftiichen Werts fiber die Frauenarbeit (Reipzig, Matthes, 1869), 
zufammengefielt, und zwar hat da8 erfie Bändchen den Titel: 
„Die Kunft zu lieben‘, das zweite „Frauenphiloſophie“, das 
dritte „Geiſtiger Zoilettenfpiegel für das Frauengeſchlecht“, das 
vierte: „Zur Männerfenntniß für das Frauengeſchlecht“. Es 
find theils einzelne Sprüde und Sentenzen, theils Brudftüde 
einzelner Scenen, die in der Sammlung mitgetbeilt werden; 
die Quellenangabe, die Bezeichnung der einzelnen Stüde findet 
fih im Inhaltsverzeichniß. Da Shakipeare immer noch mehr. 
gefeiert als gelannt ift, und namentlich diejenigen Stücke, die 
nicht anf unjern Bühnen heimiſch find, Teineswegs nad) Gebühr 
in ihrem ganzen geiftreihen Detail unferm Lefepublilum gegen» 
wärtig find, fo haben folde Sentenzenfammlungen aus dem 
unerſchöpflichen Gedankenborn des britiihen Dichters oft dem bie 
Lefer ſelbſt befremdenden Heiz ber Nenbeit. 

Trotz der Klagen Über die Ungunft der Zeiten und ber 
Stimmung des Publilums gegenüber Iyrifhen Dichtungen kön⸗ 
nen wir do mehrere Sammlungen verzeichnen, welche neuer- 
dings in neuen Auflagen erichienen find. Der fangesfreudige 
Dichter des Wupperthbale, Emil Rittershaus, läßt feine 





. 


„Gedichte“ in dritter vermehrter und verbefierter Auflage (Bres⸗ 
Ion, Trewendt, 1870) erſcheinen. Man kennt den frifchen 
Tonfall, die Wärme der Empfindung, die fi) in diefen meift 
ſchlichten Liedern aneipricht, denen aud auf dem Gebiet politi- 
fher Dihtung manch frifher Wurf gelingt. 

Emil Brachvogel's „Dichtungen“ find ebenfalls in 
zweiter vermehrter Auflage (Leipzig, Dürr'ſche Buchhandlung, 
1869) erfchienen, obfchon die Lyrik nicht da8 Gebiet ift, auf 
weichen der Pegaſus des Dichters die befte Weide findet. Der 
Inhalt Hat manches Tüchtige, do die Form erfcheint zu 
melodielos, zu ungelent. „Goethe's Jugendliebe“, Gedicht von 
Adolf Böttger, das befanute anmuthige Idyll in Heramer 
tern, liegt in dritter Auflage (Leipzig, Haynel, 1870), vor. 
„Duinten‘, die Meinen Gedichte von I. ©. Tauber, find in 
zweiter Auflage (Leipzig, Brockhaus, 1869) erjchienen, welche 
am einige leichtgefllügelte Guomen und zugefpigte Epigramme 
vermehrt if. Eine dritte gefichtete und aufs Doppelte vermehrte 
Auflage liegt aud) von den „Borbof- Klängen. Bon einem 
Wahrheitſucher“ (Barmen, Langewieſche, 1869) vor, Dichtungen 
mit einer vorzugsweife religiöfen Tendenz, die fi) aber nir- 
gends aufdringlich geberbet. 

Bon W. Jordau's „Nibelunge“, dieſer durch die Vor⸗ 
träge des Dichters in faſt allen größern und vielen kleinen 
Städten Dentſchlands wohlbekannten Dichtung, liegt eine zweite 
Auflage (Frankfurt a. M., W. Iordan’s Selbfiverlag, 1870) 
vor, welche zeigt, dag auch moderne Epen, unter günſtigen 
Bedingungen der Berbreitung, bei dem Publitum Wurzel zu 
ſchlagen vermögen. Die zweite Auflage ift äußerlich nicht jo pom⸗ 
yög, joim Nedenftil gehalten wie die erfte, aber defto Handlicher 
zu) zugänglicher für die Lefer. Auch von Joſeph Pape, 
einem in jüngfter Zeit ſehr fruchtbaren Autor, liegen Werke in 
nenen Auflagen vor, fo von dem Gedicht: „Der treue Edart. 
Epos von deutſcher Entzweiung und Verſöhnung in zwölf 
Geſängen“, eine zweite, volltändig umgearbeitete Auflage, und 
von den Romanzen: „Sofephine, Liebe, Glaube und Baterland‘’ 
eine dritte ummgearbeitete und vermehrte Auflage (Paderborn, 
eine, 1869). 


Bibliographie. 

Ainsworth, W. H., Hilary Gt. Jves. Noman. Auf bem Eng⸗ 
ftfden von Zina Kayſer. Einzige autorifirte deutfche Ausgabe. 3 Bde. 
8eipiig, Schlide. 8. 3 Thlr. 10 Ngr. 

legauder, R., Senrebilder. Berlin, Habel. 16. 28 Ngr. 

Böch, R., Der Deutfchen ‚Sottegabl und Spradhgebiet in den enro⸗ 

eiigen s — gine atiſtiſche terfuchung. erliu, Guttentag. 
8, x. r. 
Bugeaud, Ueber den Gebirgskrieg in Afrika, « (Aus dessen Schrif- 


ten übersetzt.) Wien, Seidel u. Sohn. 1863. Gr. 8. 5 Ngr. 
" Bund, 8%, Die Monate bed Iahres in Dentiprüden. Diffelborf, 
Budig. 16. 22'/, Rgr. 


Burns, R., Lieder. In das Schweizerdeutscho übertragen von A. 
Corrodi. Winterthur, Bleuler-Hausheer u, Comp. 16. 1 Thlr. 10 Ngr. 

Shardon, G., Diemoiren eines Schugengeldg. Mit Autorifatton dee 
Berfafjers Überfept von 3. Di. Regensburg, Puſtet. 16. 12 Nour. 

EConard, 3, Die Dame im Schleier oder der VBilberfaal ver Stadt⸗ 
vogtei in geriin. „romantifhe SriminalsErzählung. 1ftes Heft. Berlin, 

jer. ©r. 3. gr. 

orrodi, A., Blühenbes Leben. Roman in 2 Büchern. Bern, Hals 
lee. Br. 8. 1Thlx. 0 Nor oo. . 

Cropp, I., Der Glaubensrichter fein eigner Richter. Offener Brief 
an F. Stöter. Hamburg, Grüning. GEr. 8. Y Nor. 

Deutihland um Reujahr 1870. Vom Berfaffer der Rundſchauen (von 
Gerlach.) Berlin, Stille u. van Muyden. ®r. 8. 12 Ygr. 

Diron, W. H., Der Tower von London. Mit Bewilligung bed Vers 
Iafere it ſetzt und Eh Anmerkungen verfehen, ifter Bd. Berlin, F. 
under, Tr. 8 4 r. 

Dranmor, Requiem. Zweite Aufl. Leipzig, Brochhaus. 16. 10 Nur. 
x Sleuer, D., Die rauf des Nil. Erzählended Gericht. Coburg, 

iemann. r. 16. 10 Nor. 
eis, E. Loreley. Koman, 4 Bde. Iena, Eoftenodle. 8. 5 Thlr. 


15 Nigr. 
» Fredetig, C. J., Lieb und Leid. Gedichte. Ravensburg, Dorn. 16. 


To ammer, J., Beleuchtung ber päpfliden Enchelica vom 
8. is 1864 und des Berzei nifies ber modernen Irrthümer. Nebit 
auem Anhang: Kritik der Brojhüre dee Bigeie von Orleans. weite, 
mit einem neuen Borwort vermehrte Aufl. eipaig, Brodhand. 8. 12 Ngr. 

Sedente mein! Taſchenbuch für das Jahr 1870. Wien, Literariſch⸗ 
artiſtiſche Auftalt. Gr. 16. 35 Rgr. 

Gnad, E., Populäre Vorträge über Dichter und Dichtkunst. 1ste 
Sımmlung. Triest, Schimpfi. Gr. 8. 20 Pi 

re, 8. f Iandfagen. Sagen, Mähren und Geſchichten aus 
den Borbergen bed Thüringer Waldes. Leipzig, Wartig. 8. 15 Rgr. 


Fenilleton. 


127 


Holland, H. Zu Fr. Overbeck's Heimgang. Ein Blatt der Erinne⸗ 

rung. Augsburg, Kranzfelder. Gr. 3. 3 Mur. 
ollandt, F., Die Roſe bes Libanon. Gpilße Nylle in 3 Gefän- 
gen. Braunſchweig, Sievers u. Comp. 16. 1 Zhlr. 

Sluftrirter Kalender und Novellen⸗ Almanach für_1370. Mit Beiträgen 
von J. Hackländer, Hoefer und F. Gerſtäcker. Herausgegeben von F. 
Ment-Dittmarjch. Wien, Literariſch⸗artiftiſche Anftalt. 8. 12'/, Rgt. 

König, E. A., Die Seheimniffe einer großen Stabt. Noman. 3 Bde. 
Jena, Cofienoble. 8. 4 Thlr. 

Krieg und Bundes⸗Reform. — Der Eongreß in Paris. Bom Berfaffer 
der Rundſchauen (v. Gerlach.) Berlin, Stilfe u. van Muyden. Gr. 8. 


6 Nor. 

— Leſſer. Ausgewählte Digtungen. Nebſt einem Abriß ſeines 
Lebens. Berlin, R. Leſſer. 16. 20 Nor. 

Memoiren des Herzogs von Reichsſtabdt. (Napoleon II.) Berlin, 
Schlinamann. Gr. 16. 1 Zhlr. 

Monteton, D. Dijon Baron v., Im Lehnftuhl vom Sattel. Stendal, 
Granen u. Groſſe. Gr. 8. 6 Nor. 

üller, M., Im Lande der Denter! Ober: Werben bie Gelehrten, 
namentlih meine lieben Landéleute noch nicht bald einig in Bezug einer 
Nengeftaltung unferes Eulturideald? Berlin, Löwenftein. Gr. 8. 13 Ngr, 
6 Dppenheimen, 2. Witter v., Nah den Wahlen. Prag, Calve. 
% ‘ dr. ‘ ’ 

Oppermann, H. A., Bunbert Jahre. 1770—1870. Zeit» unb Le⸗ 

Fa aue brei Generationen. Erſter Theil. Leipzig, Brockhaus. 8. 
r. 

Peter, tr, Der Krieg des grossen Kurfürsten gegen Frankreich 
1672—1675. Halle, Buchhandlung des Waisenhauses, Gr. 8. 2 Tbir. 

Pfleiberer, ©, Leibniz als Verfafler von zwölf anonymen, meift - 
beutipen politifhen Flugſchriften nachgewieſen. Leipzig, Wues. Gr. 8. 
T j 


onihsti, A. Graf, Ueber den Verkehr der Geifter bed Ienfeits mit 

den Menſchen. Zwei Öffentlige Vorträge in Leipzig. 2ter Vortrag. Leip- 
sig, Kaoprowicz. Gr. 8. 7ı/, Nor. 

Priem, 3., Rürnberger Sagen und Geſchichten. Nürnberg, v. Ebner. 


8. 20 Ner. 

Neidelt, H. M., Bergmannsieben, Bergmänniihe Dichtungen. 
Schneeberg, Goedſche. 16. Eh Nor. s ' Beung 
So e &. ztiſche Driefe einer Frau. 2te Auflage. Wien, Gerold's 

obn. 16. r. 

Rödiger, %., Schultheiß Wengi von Solothurn. Ein Bolkébild 
aus den Zeiten der — — Religionswirren im 16. Jahrhundert. 
Solothurn, Jent u. Gaßmann. Gr. 8. 20 Ngr. 

Sherer-Boccard, ©. T., Handbuch zur Beurtheilung der Vor⸗ 
uxtheile und Irrthümer unſerer Zeit. Ra bewährten Quellen encyelopã⸗ 
diſch bearbeitet. iſtes Heft. Auzern, Prell. Gr. 8. Nor. 

Sickel, T., Zur Geschichte des Concils von Trient, Actenstücke 
ans österreichischen Archiven. 1ste Abth.: 1559—1561. Wien, Gerold’s 
Sohn, Lex.-8. 1 Thir. 26 Ngr. 

So ipröäten be norbbütihe Bu'rn. Möäbensoarten, Sprüchwüs'r, 
Du seöäthjel, Riemfel um Siugfang van de Gdären. Berlin, Schling- 

r 


mann. 16, 8 ‘ 

Szalay, L. v., Geschichte Ungarns. 2ter Bd, Deutsch von H. Wö- 
geror, Pest, Lauffer. Gr. 8. 2 Thir. 12 Ngr. 

Berner Taſchenbuch auf das Jahr, 1870. Gegrlindet von 2. Lauter» 
burg. In Verbindung mit Freunden fortgefeht von G. Ludwig. 19er 
Sahrgang. 1870. Bern, Haller. 8. 1 Zhlr. 2 Nor. 

— rend, F. Freih. vd. der, Memoiren. Berlin, Schlingmann. Gr. 8. 
r. 

Turgenjew's, 3., ausgewählte Werke, Antorifirte Ausgabe. Iter 
Bd,:- Audin. Drei Begegnungen. Mumu. zei Novellen. Mitau, 
Bchre. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nr. 

Ujfalvy, K. E. v. Alfred de Musset. Eine Studie. Leipzig, Brock- 
haus, 8. 1 Thir. 

Trautschold, H., Ueber sackulare Hebungen und Senkungen der 
Erdoberfäche. MoskAu. 1869. Gr. 8. 15 Ner. 

Der literariſche Berlehr. Organ für die Intereffen ber beutfhen 
Schrififtellerwelt, Herausgegeben unter Mitwirfung von Karl fyrenzel, 
Fror. Friedrich, Herm. Kleſte zc. Nedacteur: DO. Löwenftein. Ifter Jahr⸗ 
gang. 1370. 11 Nen. Berlin, Eöwenfein, 4 1 Thlr. 1 Rar. 

Boldhaufen, A., Das Kind aus dem Ebräergang. Koman in zwei 
Bon. Etuttgart, Bogler u. Beinhauer. Or. 8. 2 Zhlr. 

Volkmer, F., Das Verhältuiss von Geist und Körper im Menschen 
(Seele und Leib) nach Cartesinus. Historisch - philosophische Abhandlung. 
Breslau, Aderholz. Gr. 8. 8 Neger, 

Binde, ©. Freih, ABE fir Haus und Welt. Aus ber Mappe eines 
alten Diplomaten. Wüniter, Drunn. 16. 15 Nor. 

Deutjge Volls⸗ Lieder aud Kärnten. Gejommett von B. Po» 
gatihnigg und E. Herrmann. 2ter Bd. — A. u. d. T.: Lieber vers 
miſchten Inhaltes. vrag Pod. 16. 1Thlr. 

Wackernagel, W., Jobann Fischart von Strassburg und Basels 
Antheil an ihm, Gr. 8. 1 Thir. 15 Ngr. 

Wagner, 9, und 3 Wedde, Glauben und Unglauben. Eine 
Streitſchrift iur firhligen Frage. Kamburg, Srlning, 8 10 Nor. 

Wais, %., Anthropologie der Naturoölfer, Mit Benutung ber Bors 
arbeiten bed Berfaffers fortgeicht von G. Gerland. Ster Thl. Die Völ⸗ 
fer der Südfee. Zie Abth. Die Diilconefier und norbweßil en Polyner 
Her. „Ertnggrarhiig und eulturhiftorifch dargeſtellt. Leipzig, %. Fleifcher. 

% 3— 1 r. Te 

Walbbrüßt, =. v., Rhingſcher Klaaf. Rheinfränkiſche Lieber und 
Leuſcheu. Nebft einer Zugabe: Stödelder von Diontanus. Opladen, 
Arndt. 1869. 16. 20 r 

Walther, P. A, F., Die Alterthämer der heidnischen Vorzeit inner- 
halb des Grossherzogthums Hessen, nach Ursprung, Gattung und Oert- 
lichkelt besprochen. Darmstadt, Jonghaus. 1369. Gr. 8. 1 Thir. 

Walther, E., Der Schaufpielerberuf In künſtleriſcher, gefellichafts 
par und fittlider Beziehung. Vorleſung. BDresven, Zürh rd 16, 
2 gt. 


Basel, Schweighauser, 





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128 Anzeigen. 


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igen. 


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Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Ueber die Religion. 


Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 


Bon Jriedrich Schleiermacher. 
Mit Einleitung herausgegeben von D. Carl Schbarz. 
8. Geheftet 10 Ngr. Gebunden 15 Wer. 


,Monologen. 
Die Weihnachtsfeier. 
Bon Friedrich Schleiermacher. 


Mit Einleitung herausgegeben von D. Carl Schlourz. 
8. Geheftet 10 Ngr. Gebunden 15 Ngr. 


Bon Schleiermader’s Schriften ift leine fo zur Ber- 
breitung in den weiteften Kreifen geeignet und verbient diefe im 
bem Maße wie bie „Reden über die Religion‘. Sie ift fein 
populärftes Werk, in dem er den Grundgedanken feiner theologi- 
fhen Wirkfamleit — Berjühnung der Religion mit der freien 
Horfhung und dem Bildungsbewußtfein der Zeit — auf eine 
das gebildete Laienpublikum feſſelnde Weife entwidelt bat. 

Die „Monologen" und „Die Weihnachtsfeier” ſchließen ſich 
ergänzend und ausführend an die „Neben liber die Religion‘ an. 

Durch die vorliegende erfte wohlfeile Ausgabe diefer drei be- 
rühmten Schriften wurde einem lange gebegten Wunfche aller Ber- 
ehrer Schleiermacher’s entiprochen. Einen befondern Werth verlei- 
ben ihr außerdem die geiftreichen Einleitungen, womit fie der Her- 
ansgeber, Ober-Eonfiforialratd D. Schwarz, begleitete. 

Die beiden Bände bilden zugleich den 1. und 27. Band der 
in demfelben Berlage erjcheinenden „Bibliothel der Dentjchen 
Nationalliteratur bes 18. und 19. Jahrhunderts“. 


Friedrich Hchleiermader. . 
Lichtſtrahlen aus feinen Briefen und ſämmtlichen Werken. 
Fit einer Biographie Schleiermacher's. 

Bon Elifa Maier. 
8 Geheftet 1 Thlr. Gebunden 1 Thlr. 10 Ngr. 

Bon Franenhand gewählt, bilden biefe claffiichen Aus- 
ſprüche Schleiermacher's über Freundſchaft und Liebe, Selbfl- 
bildung und Thätigkeit, Ehe, Kinderzudt, Religion, Freiheit 
und Unfterblichleit namentlih eine der empfehlenswertbeften 
Gaben für das weibliche Geſchlecht. Eine pietätvolle Schilde⸗ 
rung von Schleiermacher's Lebensgang läßt die Herausgeberin 
ben gewählten Stellen aus feinen Schriften vorangehen. 


Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin. 


Wrottesley, Lord. Gedanken über Regierung 
und Geſetzgebung. Aus dem Englifchen überfegt 
von ©. F. Stedefeld, Kreisgerichtsrath. Berlin, 
1869. Kortlampf. 1 Thlr. 5 Sgr. 

Didaskalia, Nr. 221. 11. Auguft 1869. Bebeuteuber 
find zwei pbilofophifch-politiiche Schriften: Gedanken über Re- 
gierung und Gejeßgebung von Stedefeld und eine von letzterm 
verfaßte Studie Über die matertaliftiiche Auffaffjung der Eng⸗ 
Jänder vom Staat und vom Chriftenthum, die zu jenem gehört 
und eine felbftändige Auffafjung bekundet. 





ERGÄNZUNGSBLÄTTER. 
1870, 2. Heft. ’ 


Geschiehte: Historische Literatur, von J. J. Honegger. — 
George Peabody, von R. Döhn. — Nekrolog. 

Literatur: Hermann Lingg, von Ad. Strodimann. — 
Nekrolog. 

Kunst: Leben und Werke Hans Holbeins des Jüng., II, 
von Br. Meyer. — Nekrolog. 

Geographie: Die Bocche di Cattaro. — Das Territo- 
rium Alaska, nach Whymper. — Nekrolog. 

Meteorologie: Wärmeabnahme in höheren Breiten. — 
Der Nebel, von Dr. Dellmann. 

Mineralogie und Geologie: Organisch gebildete Ge- 
birgsmassen in Mexiko. — Entstehung des Erdöls. — Geo- 
logie des Kaukasus. — Südafrika. — Quecksilber in Austra- 
lien. — Nekrolog. 

. Volkswirthsehaft und Statistik: Die gesellschaftliche 
Vertheilung der britischen Steuern, von Dr. Dühring. 

Industrie: Die Baumwollenindustrie. 

Kriegswesen: Die Uebungslager der europäischen 
Heere, II, von Chr. v. Sarauw. 

Technologie: Theerfarbenindustrie. 

Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk. 

Illustrationen: H. Holbein: Madonna von Solothurn. — 
Triumph des Reichthums. — Initiale V, OÖ. — Adam und 
der Tod. — Dolchscheide. — Lager eines russischen Ba- 
taillons. — Plan von dem Zeltlager eines dänischen Infanterie- 
Bataillons. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 





’ 


Berlag von Fr. Kortlampf in Berlin, 
Buchhandlung für Staatswiſſenſchaften und Gefchichte. 


Bismark - Schönhanfen, Graf von, Reden. 
Erfte Sammlung, enthaltend die Reben aus be 
Jahren 1862— 1867 im preußiſchen Sandtagd 
und in der erſten außerordentliden Seffion bes 
Reihstages. Gr. 8. Belinpapier broſch. 2 Thlr. 


— — weite Sammlung, enthaltend die Re⸗ 
ben aus den Jahren 1867 — 1869 im Landtag, 
Reichstag und Zollparlament. Gr. 8. Belinpapier 
broſch. 1%, Thlr. 

Der Wortlaut dieſer Reden iſt den amtlichen ſtenographi⸗ 
ſchen Berichten entnommen; eine kurze, jeder Rede beigegebene 
Einleitung weiſt auf die voraufgehenden Verhandlungen hin 
und erleichtert ſo das Verſtändniß. 

Die „National⸗Zeitung“ ſagt darüber in Nr. 538 
vom 17. November 1869: „Dieſelbe gibt nicht nur ein über⸗ 
ſichtliches und ſchätzbares Material zur Beurtheilung der zeit« 
gendjftihen Geſchichte und ber Politik und der Perjönlichkeit 
des Grafen Bismarck, fie ift auch dem berufsmäßigen Politiker 
ein willlommenes Handbuch, infofern fie ihm nad) der An- 
ordnung der Reden je nad dem Gegenftande, welchen fie be- 
handeln, es ungemein erleichtert, fich jeden "Angenblid über 
das Auftreten defjelben in den betreffenden ragen zu orientie 
ren und deffen Worte feftzuftellen. Aus den ftenographifchen 
Protolollen des Landtags ift die nur mit großen Schwierige 
feiten und oft jehr unbequemem Zeitaufwande möglich.“ 


Berantwortlidier Kedacteur; Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von F. 2, Srodhaus in Leipzig. 














Blätter 


literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich). —a Ar I = 24. Februar 1870. 
Inhalt: Baflian’s Reifen in Oftafien. Bon Nubolf Gottſchall. (Beihluß.) — Populäre Begründung der Spectralanalyfe. 


Bon vSeinrich Blrubaum. — Romane und Novellen. Bon Franz Sirſch. — Die Dichterin von Gandersheim. Bon Peinrich 
Rüdert. — Dentſche Boltsbliher. Bon Karl Bartih. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen. 


Saftian’s Reifen in Oſtaſien. 
(Beſchluß aus Nr. 8.) 


Die Bölker des öftlichen Aften. Studien und Reifen von Adolf 
Baſtian. Dritter Band: Reifen in Siam im Jahre 1863. 
Bierrter Band: Reiſe dur Kambodia nah Cochinchina. 
Sünfter Band: Reifen im Indiſchen Ardipel, Singapore, 

avia, Manila und Japan. Nebſt einer Karte Hinter⸗ 
indiens von Kiepert. Jena, Coſtenoble. 1867-69. Gr. 8, 
10 Thlr. 

Ueber die geographifche Bejchaffenheit des weftlichen 
Kambobia, namentlich iiber das Flußſyſtem, erhalten wir 
von Baftian genaue Auskunft. Der Centralpunft des 
legten ift der große Binnenfee, der Thalefab, welcher elf 
Flüffe in fih aufnimmt und felbjt wieder durch den 
Thale Ian (Großen Fluß) in den Ocean mündet. Zu 
diefen Flüſſen gehören der Siemrab, Kamphong Suay, 
Battambong, Photifat u. a.; fie kommen zum Theil von 
den Bergen Korats, zu denen ſich das flache Land Kam⸗ 
bodias allmählich erhebt und die in Terrafien übereinander 
auffteigen. Die norbweftlichen Gebirge werden von den 
Urvöltern, den Laos, Kha, Suay und Kama, bewohnt. 
Auf dem Siemrabfluß fuhr Baftian in den großen See, 
welchen direct nad) Süden zu durchkreuzen die Boote 
niht wagen. Die nad Battambong beitimmten Boote 
hielten fich weflwärts, die nach Udong beftimmten oftwärts. 
Durch überſchwemmte Wiefen und Wälder, die bis zur 
Blätterkrone im Wafler ftanden, ging anfangs die Yahrt, 
bis der offene Sce erreicht wurde und zulegt auch die in 
waldigen Spitzen ausgezadten Ufer verſchwanden und 
am Horizont da8 Waller mit der Luft fi vermiſchte. 
Schwimmende Pflanzeninfeln trieben in dem See umher, 
welcher übrigens Ebbe und Flut mit dem Meere gemein 
hat. Der Fiſchfang in biefem See ift außerordentlich 
eich; eine große Duantität der getrodneten Fiſche wird 
nach Udong verführt. Der See gilt gleichfam als Ueber- 
zeft der großen Flut, aus welder der Wunderbaum der 
lambodiſchen Sagen hervorwächſt. 

Den Fluß Battambong fuhr unſer Reiſender hinauf 

1870. 9. 


bis zur gleichnamigen Stadt, deren äußerfte Häuſer auf 
Pfählen in den Fluß hineingebaut find. Battambong ift 
die Hauptſtadt einer nach ihr benannten Provinz des 
fiamefifchen Kambodia: 

Durd die Annectivung ber Provinzen Siemrab und Bat- 
tambong hat fih Siam den beſten Theil Kambodias anzu» 
eignen gewußt, eben diejenigen, die durch ihre begiimfiigte Lage 
allein zur Entwidelung von Cultur befähigt waren und die- 
jelbe, wie die Monumente zeigen, auch zu einer nicht unbedeu- 
tenden Vollendung gebracht haben. Die einheimifchen Fürften 
diefer Länder werden jet von den fiamefifhen Beamten des 
Kha Luaug überwacht, der aud in den wichtigern Fällen das 
Richteramt ansübt. 

Ueber Steuern, Rechtspflege und Gefege diefer Pro- 
binzen gibt Baftian Auskunft; fie zeigen eine bis ins 
Detail ausgebildete Abminiftration und Vurisprudenz. 
Daß auch im Volke der alte Eulturboden noch nicht ganz 
brad) gelegt ift, beweift eine von Baftian angeführte That- 
ſache. Man rühmt es den Gonbolieren ber adriatifchen 
Marmorſtadt nad, daß fie die Stanzen des Taſſo zum 
Takt der Auder fingen. Die Ruderer und Steuermänner 
in Kambodia bejchäftigen fih aber nicht nur mit der 
Poefie, fondern aud mit der Politik. Fifcher und Ru⸗ 
derer unterhalten ſich über die Metrik, und der Obmann 
der legtern belehrte die Fischer, daß nur ein Gelehrter 
und in den Regeln der Metrit Wohlerfahrner es unter- 
nchmen dürfe, Verſe zu machen, da es eine Sünde fein 
würde, gegen die Regeln zu verfioßen. Wer in Dentjch- 
land eine ſolche Behauptung aufftellen wollte, der würde 
von den Blauftrimpfen und den Bertretern ber Volks⸗ 
poefie als jämmerlicher Pedant verlacht werben. 

In der Nähe von Battambong befinden fich die Ruinen 
der alten Stadt Bafet; verftümmelte Figuren, mit Affen- 
geftalten geſchmückte Portale, Infchriften, die theils denen 
von Nafhon Bat gleichen, theild an die Charaktere ber 
javaniſchen Infchrift von Suambaya erinnerten, erregten 


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130 Bajtian’s Reifen im Oftafien. 


das Untereffe des Reiſenden. Nod) pittoresfer find die 
Ruinen des alten Bergfchloffes Banon, einft der Pfeiler 
des kambodiſchen Königreichs genannt, das mit ihm zu« 
ſammenbrechen werde. 


Die im Diftrict von Battambong gruppirten Monumente, 
weftlih vom See, erweiſen fich auf den erſten Blick als weit 
jüngern Urjprungs, verglichen mit denen des obern Kambodia. 
An einigen Structuren Baſets ſoll noch im vorigen Jahrhun- 
dert weiter gebaut fein, umd wurde diefe Stadt überhaupt erft 
in neuerer Zeit von ihren Bewohnern verlaffen. Auch find 
die Anlagen der Strafen nod) überall deutlich zu erfennen, 
indem fie zwijchen zwei Reihen von Heinen Erdhaufen laufen, 
die die Stelle ber frühern Häufer andeuten. Der ganze Uns 
freis der Stadt mit ihren Vorflädten war durd) einen Erdwall 
mit zugehörigem Yelungsgraben umſchloſſen, dann folgt, wie 
immer, die innere Mauer, und zulegt die Kampengkeoh oder 
Kleinodienmauer des centralen Palaſtes oder der Citadelle. 
Diefe mit umlaufendem Bflafterivege ift vieredig und öffnet 
fih mit vier Thoren nad dem Innern des Palaſtes. Die 
Steinthore (von denen das weftliche unter einer Colonnade be- 
treten wird) haben zu beiden Seiten des Mitteleingangs drei 
bis vier von der Straße hineinführende Deffnungen, aus großen 
Steinplatten (8—I Fuß lang, 3 Fuß breit und 1%, Fuß hoch) 
gebildet, die über aufrecht ftehende Steine gelegt und mit Rillen 
auf dem Sodel gefügt find. Der Palaſt ift aus Lagen breiter 
Steine aufgebaut, die in regelmäßige Duadrate geſchnitten find 
(1%, Fuß hoch und 1%, Fuß lang) und fein polirt im engen 
Zuſammenſchluß. Die größtentheils verfallenen Corridore find 
von Trümmern verfchiedener Prajada umgeben, die bald aus 
Stein, bald aus Ziegeln aufgeführt waren. Die aus großen 
Steintafeln gebildeten Portale werden ſtets von Steinpfeilern 
getragen. Die verwendeten Ziegel find ein fehr hartes Ma—⸗ 
terial, da fie, wie die Eingeborenen jagen, nur aus reiner 
Erde verfertigt wurden, ohne irgendwelche Zufligung des jett 
nie fehlenden Reisſtrohes, und dann ohne Kalk aufeinander 
gelegt wurden, um durch gegenfeitiges Abreiben in genaue 
Berbindung gebracht zu werden (wie bei den Inkabauten Perus). 
Nad) ceyloniihen Sagen ließ Wahala Bandara Dewiyo für 
feinen Zempelbau die Dämone den Felſen mit dem harten 
Schilfgras Way Well nieverreiben, ohne den Gebrauch anderer 
Inſtrumente zu geftatten. Den Nabbinen war der Gebraud) 
eines Scilfrohrrandes zum Schneiden verboten, weil fi) Zaus- 
berer defjelben bedienen. Unter den auf den Sculpturen der 
Bortale behandelten Gegenftänden fanden fich, außer dem Ziehen 
um die Schlange zwiſchen Götter und Dämonen, bejondere 
Keulen« und Artträger wiederholt, fowie Flöte fpielende Fi- 
guren in ber tanzenden Stellung Kriſhna's. Einige der Fi- 
guren find aus Grauftein gearbeitet, und aud ein weicher 
weißer Stein wird verwandt, aber der größte Theil der innern 
Wand war aus einem röthlich gramitiihen Stein, von ber 
Farbe Hartgebrannter Ziegel, aufgeführt. Weichere Ziegel 
waren zumeilen ſtückweiſe zwifchengefügt, als Reparaturen ent« 
ftandener Beſchädigungen. Zum Fundament der Bafis diente 
ein poröfer Feldſtein. Bon einer aus verzierten Steinen auf: 
gebauten und von Löwen bewachten Terraffe führt ein Pflafter- 
weg zu einem See, ein Biered, von terrajfirten Treppen um⸗ 
geben, die feiner ganzen Länge nad) (etwa 200 Fuß an jeder 
Seite) mit je 12 Stufen zum Waſſer niederführen. Die Säulen, 
die die Portale tragen, fleigen in runden Kreiſen auf, die 
andern der Thore dagegen find vieredig, mit Lotus-Capitälern. 
Auch die Fenſter werden von runden Säulen gegittert. Einer 
der mit Inſchriften der Alſong Ming bededten Steine handelt 
von Konalo (Gonagan). Ein großer Stein zeigte eine tief 
eingehauene Rinne, wie der azteliihe Opferflein, doc foll er 
zu milderm Gebrauche gedient haben, als für den Abfluß 
heißen Menihenblutes, da er als eine Prefie zum Ausquetichen 
des Palmſaftes bejchrieben wurde. Manche der Thürpfoſten 
und Säulen "waren einen Theil ihrer Länge in bie Erde ver- 
graben, entweder dur almähliches Einſinken, oder durch 
Aufhänfen des Schuttes in ihrer Umgebung. Der fon in 
nädfter Nähe üppig wuchernde Wald drängt immer näher 


auf die Ruinenſtätte diefer verſchwindenden Stadt ein, die er 
bald mieder ganz in eine Wildniß verkehrt Haben wird, 


Der SKloftertempel Bat ER ſteht zu diefer Stadt in 
demſelben BVerhältniß, wie Nakhon Bat zu Nakhon Tom. 
Das Schloß Banon gleicht einer Ruine aus unferer 
mittelalterlichen Ritterzeit, romantiſch auf einem Feiſen⸗ 
berge gelegen, der von den Ufern bes Fluſſes auffteigt 
Ken mit feinen Gipfeln über eine Waldesſchlucht nieder» 
ängt. 


Die umgebenden Berge find durch natürliche Grotten aus 
gehöhlt, und das Bolf glaubt dort goldene Thronſeſſel und 
toftbare Bildniſſe verborgen, die von ſechs Rieſenwächtern ges 
hütet werden. Auch fol von der Spite des Berge, in dem 
innerften Hofe der Citadelle Banons, ein unterirdifher Gang 
bi8 unter das Waffer des Fluſſes führen, und würfe man 
oben eine Kolosnuß in die Definung hinein, fo würde fie auf 
dem Waſſer ſchwimmend wieder zum Vorſchein kommen. Der 
Thurm fteht, wie das Volk fagt, auf dem Nabel Kambodias, 
als fein Pfeiler und feine Stüge. Hat man auf fleilen Berg 
pfaden, wo zuweilen eingehauene Stufen das Steigen erleid- 
tern, die Höhe erreicht, fo blidt man von der Terraffe auf 
zerflüftete Thäler dicht bewaldeter Hligel, jenfeit welcher im 
Weften ber Kegel des Phanom Vanchab auffteigt. Die Khao 
Kravan oder Kardamomenberge liegen weiterhin und die Chan 
tabun’8 in der Ferne. Südöſtlich erhebt ſich der Khao Thip⸗ 
padeh. Nach Often blidt man liber ein Waldland, das in 
grünem und rothem Blätterſchmuck wechſelnd fich Über eine 
weite Fläche bis zum Horizont erftredt und hier und ba den 
Wafferftreifen des Fluſſes zwifchen den Bäumen hervorſchim⸗ 
mern läßt. Der centrale Praſat, der mit vier Bortalen in 
Kreuzform ausöffnet, ift von vier Meinern umgeben, uud pa- 
rallel mit diefen liegen wieder die vier Eckthͤrme der ums 
ziebenden Mauer. Die Figuren der Sculpturen an den Wän⸗ 
den tragen verfchiedene Moden des Kopfputes und auf "einem 
Portal war Indra auf dem dreiköpfigen Elefanten Airawaddi 
ausgemeißelt. 


Auf der weitern Reife nad) der Hauptftadt Udong 
fand Baftian die meiften Beamten der Dörfer und Städte 
nicht anweſend, weil fie alle zur bevorftchenden Krönung 


des Königs nad) Udong gereift waren. Auch die Ele 


fanten waren an einzelnen Orten, wie in Photifat, nicht 
zu haben, weil fie in Udong zur Beförderung der fla- 
meſiſchen Geſandten dienten; der Weg ging über die weft- 
lichen Seitenflüfje des Thaleſab, über die Städte Photifat, 
Boribun, deſſen Klofter intereffante Gemälde enthält, 
Leibiah, über Kolonien der mohammebanifchen Dſcham, 
die Trümmer der frühern Hauptftadt Lowek mit den nod) 
erfennbaren drei Ringmanern, nad) Udong, deffen Hänfer 
halb in Büſchen oder Gärten verftedt Liegen und deſſen 
Hauptftraße, von wo man über die Teiche ber Niede- 
rungen auf die umkränzenden Hügel und ihre Pagoden 
blidte,.von einem regen Marktverkehr belebt war. Baftian 
bejuchte zuerft den Abt des Kloſters Salakhun, Phra 
Sufhontthibodi, den gelehrteften Mönd von Kambodia; 
doch fühlte ſich diefer in Verlegenheit, daß der Reiſende 
ihm einen Beſuch abftattete, ohme vorher den König ge- 
jehen zu Haben. Der Iettere glaubte anfangs, als er 
hörte, Baſtian fomme von Bangkok über Land und mit 
englifchen Puſſen verfehen, daß dieſer eine biplomatifche 
Miffion Habe; denn da das franzdfifche Geſchwader der 
Kriegsflotte in Saigon die Kanäle heraufgelommen war, 
um bei ber bevorjtehenden Krönung in ber Nähe zu 
jein, fo hoffte der König und auch der fiamefifche Ge- 
jandte, daß England durch eine diplomatifche Miffion den 


|||, ... I——i)——— —— — ——— — — — —— ————— — — 


Baſtian's Reiſen in Oſtaſien. 


Franzoſen ein Paroli bieten werde. Baſtian überzeugte 
indeß beide Parteien alsbald von feiner Ungefährlichkeit. 
Ueber feine Audienz bei dem Könige von Kambodia be= 
richtet Baſtian Folgendes: 

Nach dem Eintritte in das Thor der Holzpaliſſaden leitet 
eine zwiſchen zwei Zeichen hinlaufende Chauſſee nad) den Ges 
bäuden, dje flir die Krönungsfeierlichkeiten aufgerichtet wurden. 
Der junge König empfing mid) in einem mit Teppichen ber 
Iegten Gemache, nahm den an ihn gerichteten Brief entgegen 
und verfprach jegliche Unterſtützung. Er faßte mich dann bei 
der Hand, nm mit mir durch die geſchmlickten Hallen zu gehen, 
in denen Mönche Weihgebete fprachen (fuet mon), nnd mir 
die Zimmer des Schloffes zu zeigen. In einem derjelben 
Rellte er mich dem flamefifchen Refidenten, dem Chao Myang 
Pachim vor, der hergelommen fei, Kambodia zu bewachen. 
Das Reihsichwert (Phrakan) wurde in Proceffion umbergetragen. 
Im Hofe ftand ein hoher Trauerwagen, auf dem die Leiche 
feines verfiorbenen Baters zur Berbrennung geführt worden 
war, von der die Baulichkeiten noch daftanden. Der Palaft 
wurde Überall renovirt, und der König bemerkte, daß Stübte 
and Dörfer ſämmtlich zerftört gemejen feien, weshalb jett alles 
erneuert werden müfle Er bet mir ein Logis in feinem Pa⸗ 
fafe an, gab aber auf mein Anfuchen, in dem Kloſter bleiben 
zu bärfen, feine Einwilligung und fandte vier mit Gewehren 
bewaffnete Soldaten, um dort während der Naht Wade zu 
halten (San. 30.). Am nächften Tage ging ich zu dem Phra- 
Aat oder Bibliothefar, da der König befohlen hatte, mir das 
Krhiv zu Öffnen. In den Hallen waren Bergolder mit An- 
fetigung von Zierathen beichäftigt. 

Als ih dem König meine Aufwartung machte, nahm 
er mih mit fi in die innern Gemäder, wo er mid) mit 
Cigarren und friſchem Kokosnußwaſſer regalirte, während 
ctineſiſche Gauller ihre Künſte zeigten nud dann theatra⸗ 
liſche Vorſtellungen gaben. Knaben fochten mit langen 
Staugen, in Sätzen umeinander herumſpringend. Der eine 
wird von dem andern getödtet, und der ſiegreiche Held 
impft dann mit einer Schar verſchiedener Feinde, fie bald 
uch das Schwert, bald durch feine Fäufte befiegend. Da⸗ 
wien machte ein Komiler groteste Stellungen, und zuletzt 
jang der mit goldener Krone geſchmückte Triumphator in heller 
Fiſtel fein eigenes Lob, während ihn Schwärmer und Hand» 
tafeten umgifchten. Der König beflagte fih im Geſpräch (das 
er mit mir fiameflich führte) über das unglückliche Schichſal 
Kambodias, immerwährend von Kriegen zerriffen zu fein. Es 
ſei beffändig nöthig, meu zu fchaffen und das zu Grunde Ge- 
richtete friih aufzubauen. In Banglok dagegen ſtützten ſich 
die Einrichtungen auf längeres Beftehen und gingen mit ihrem 
Anfang in das Altertfum zurüd. Nach Louis wurde bie 
eheorte des Königs von Camboze (1835) nur aus Fraueu ge 
üdet. 

Ueber den König jelbft heißt es weiterhin: 

Der junge König ift etwas Tebeneluflig und war ſchon 
jo (trotz des bei den Miffionaren genoffenen Unterrichts) bei 
feines Vaters Lebzeiten, der ihn einſt in den Harem feiner 
Großmutter eingebrochen und neben einer feiner Halbſchweſtern 
fand. Die Folge der ihm zubictirten Strafe foll er nod in 
Shiemen auf dem Rüden tragen. Nach dem Zode des frühern 
Königs ſetzten die Siamefen den bei ihnen als Geißel lebenden 
Sohn anf den Thron, und aus den Empörungen feiner Halb» 
brüder, die fpäter gefangen und nad) Bangkok geführt wurden, 
folgten verheerende Kriege. | 

Die Stadt Udong ift durch eine äußere Palifjadenreihe 
eingeſchloſſen, welche aber einen großen Theil verwüſteten 
Landes enthält, innerhalb deſſen Udong dreimal feinen 
Bla gewechjelt Hat, jodaß jetzt neben der wirklich erifti- 
enden nemeften Stadt die Trümmerftätten zweier frühern 
eingefchlofien find. Auf den vier Hügeln von Ret—⸗ 
ſchathaba finden fih die Monumente ber kombodifchen 
Könige vereint, ihre Afche und ihre Gebeine. Es find 


131 


Pagoden und Tempel, die einen weitfchauenden Gipfel 
tönen; die oberfte Pagode ift von Elefanten getragen. 
Ueber die Einwohner von Kambodia berichtet Baftian: 


Die Kambobdier haben oval gerundete Köpfe, breite, aber 
zugleich in die Länge gezogene Geſichter, und find ungeſchlacht 
in ihrer Haltung, indem der Oberkörper unverhältnigmäßig 
lang, die diden und’ gefrlimmten Beine zu kurz find. Das 
Weiße des Auges fcheint blendend hervor, und die Haare neigen 
zum Sträufeln. Der Mund iſt breit und weit, die Stirn her⸗ 
überfiehend, die Nafe niedergedrlict und ftumpf. Doc finden 
fi, wie in jeder Raſſe, alle Arten vou Phyfiognomien, auch 
gerade oder Adlernaſen find nichts Seltenes, obwol die Nafen- 
löcher faft durchgängig erweitert find. Im Vergleich mit dem 
durch die Fluten nördlicher Einmanderungen mit neuen Schichten 
überdedten Siam, blidt in Kambodia deutlicher die urſprüng⸗ 
lihe Bevölkerung hindurch, die aus ihrer frühern Verbreitung 
über das benachbarte Feſtland und die Inſeln jetzt nur in ifos 
lirten Trümmerreſten bervorfieht. 


Ueber die Sprachen der Kha, der Zong, der Laos 
gibt unfer Neifender durch zahlreiche Beifpiele erläuternde 
Aufſchlüſſe, welche der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft 
zugute fonımen. Ueber die Klofterbibliothet in Udong, bie 
heiligen Schriften, Grammatiken, Dictionnaire, PBrofodien, 
über die Erzählungs-, Geſchichts- und Fabelbücher er⸗ 
theilt Baſtian genaue Auskunft, indem er ein Aegifter 
der Titel der Erzählungen einzelner Hauptiverfe zufammen- 
ſtellt, auch Hier und dort durch die Inhaltsangabe uns 
mit allerlei Legenden und Novellen befannt macht, welche 
fi) wenig von ähnlichen „Geſchichtsklitterungen“ bes 
Abendlandes unterfcheiden. Das Epos „Inao“, welches 
durch eine moßlemitifhe Frau nah Ayuthia gebracht 
und dort bon einem Prinzen ins Siamefifche über- 
tragen wurde, ift das Lieblingsepos der Javaner; ein- 
zelne Partien deſſelben fünnte Arioft gebichtet haben. 
Intereffant für die history of fiction ift es, daß «8 
auh in Siam einen Eulenjpiegel gibt, daß die Eulen» 
fpiegelei alfo im Grunde der Weltliteratur angehört: 


Der Eulenfpiegel der Siamefen ift Siſanonxai. Vom 
Könige befohlen, fein Hausweſen (jof krob krua) berzubringen 
(d. 5. feine Familie), fit er auf feinem Herde (krna fai) und 
jucht ihn mit ſich zu fchleppen, bis ber dazulommende König 
ihn ausladt. Auf den Befehl, eine Armee auszuheben (jof 
thap), nimmt er zwei Steine in die Sand, fie zujammen« 
ſchlagend (thap), und geht fo nad) dem Laoslande, die Rebellen 
zu unterwerfen. Dieſe Vollsſchwänke fcheinen auch jetzt noch 
Erweiterung und Zufügungen zu erhalten. Als der König 
ein anderes mal Befehl gab, ein Feuerſchiff (Kamphan a 
oder Dampfer) zu verfertigen, ftedte Sifanonrai die königlichen 
Boote in Brand und wollte ſich vor Lachen ausichlitten, als 
er fie alle Hell auffladern ſah. Der König fchidte feine Häfcher, 
ihn zu ergreifen (cab tua). Als diefe ihn aber am Arme 
angriffen, proteflitte Sifanonrai, da der König befohlen babe, 
die Perfon (tua) zu ergreifen und nicht den Arın, ebenfo 
wollte er die Beine, Kopf u. f. w. nicht als verfallen gelten 
Iaffen, bis der König einen neuen Befehl gab, ihn als ein 
Sanzes Herbeizubringen, indem er jebes einzelne Glied des 
Körpers aufzählte. As Hofnarr des Könige Phra Rama 
tbong baute Sifanonrai eine ſchiefe Pagode (Phra Ehairai) 
und überftedte fie mit Glasfplittern und Dornen, ſodaß nie 
mand hinanffteigen konnte. Der König befiehlt dann ein Haus 
von Gold (thong) zu verfertigen, ohne indeß dabei zu fagen 
metalliihe8 oder reines Gold (thong fam), und fo baut Si- 
janonrat ein Haus von dem Baume Thong lang, dem ent- 
täufchten Könige erflärend, daß es verfchiebene Arten von 
Thong gäbe, als Thong lang, Thong beng, Thong khao 
n. |. w. Oft erfcheint er in Räthfellämpfen, wie fie, denen 
zwiſchen Calcha und Mopfus geführten ähnlich, auch im der 


17 * 


132 


binterindiichen Literatur befannt find. Wie Aefop bei Bla- 
nudes, affifiirt er dem weilen Könige in den Witfragen, die 
in gleicher Weife zwiſchen Sennadyerib und Pharao ausgetaufcht 
wurden. 

Bon Udong reiſte Baſtian nach Saigon, der Haupt⸗ 
ſtadt des franzöſiſchen Kambodia. Er ſchiffte auf dem 
Kambodiafluß zunüchſt nach Panempeng an dem breiten 
Zuſammenfluß des Mekhong und Kambodiafluſſes, und 
von dort den Mekhong abwärts und über die nach 
Cochinchina abfließenden Zweige deſſelben nach Mytho, 
wo ihn zuerſt wieder Spuren der europäiſchen Civili⸗ 
fation begrüßten; denn ein franzdfifches Kriegejchiff lag 
dort vor Anker und eine Straße am Ufer war mit 
franzöfifchen Butiken beſetzt. Bon Mytho fuhr der 
Reiſende auf Kanälen bis in die Vorſtädte Saigons, 
einer Stadt, die jet bereits im den Bereich der euro⸗ 
päifchen Gefchichte gehört. Von den Franzoſen erobert, 
mußte fie von diefen, während die franzöfifche Flotte im 
hinefifhen Kriege abweſend war, gegen ein Belagerungs⸗ 
heer von Siamefen vertheidigt werden, für welche Ber- 
theidigung als Hauptpunft der auf natürlicher Unterlage 
fünftlich aufgebaute Pagodenhügel Kaimas diente. In 
Saigon befinden wir uns bereit8 im Bereich ber chinefi- 
fhen Eultur, welche fih von der indifchen weſentlich 
unterfcheibet. Beide gemeinfam beherrfchen dieſe Miſch⸗ 
länder, doch während im weftlichen Kambodia die erftere 
das Uebergewicht Hat, ift im öftlichen die zweite vorherr⸗ 
fchend. Baftian fchildert uns die Sitten der Cochin⸗ 
hinefen und theilt eine große Zahl ihrer fagenhaften 
Ueberlieferungen mit; auch fügt er einen Cyklus über die 
philofophifchen Syfteme der Hindu, namentlich über das 
des Rapila ein. 

Seit den Erfcheinen des Werks von Baftian ift um- 
fere Kunde von Kambodia weſentlich vorgefchritten durch 
die Entdedung, welche die franzöfifche Erpebition auf dem 
Mekhong gemaht hat. Uuter dem Oberbefehl bes 
Fregattenkapitäns be Lagree, fuhr diefe Expedition ben 
Mekhong aufwärts bis Cratieh mit einem Sanonen- 
dampfer, und von dort nad) Baſſak, jest der Hauptſtadt 
einer von Siam abhängigen Provinz, aber einer alten 
Capitale indifcher Eultur, deren großartige Ruinen den 
Reiſenden in Erftaunen fegen. Bon hier wird der Strom 
reich an Stromfchnellen und gewährt oft den Anblid 
eines gewaltigen Bergſtroms. Auch die Nebenflüffe, der 
Attopeufluß und Semun werben erforfcht, die Städte 
Ubon, Khemrat, Bang- Mut befuht. Die Erpedition kam 
hierauf bis nach dem Städtchen Pallaye, das bereits zum 
Gebiete von Luang⸗Phrabang gehört, eine Gegend, mo 
ber Stromlauf durch den Neifenden Mouhot, der 1861 
in Zuang-Phrabang ftarb, befannt geworden iſt. Die 
Erpedition hatte den Mekhong alfo von Cratieh bis 
Paklaye zuerft befahren und erforſcht, ein Stromlauf von 
142 deutfchen Meilen, was etwa der Länge bes ganzen 
Rheinſtroms entſpricht. Unfere Leer, die ſich für 
diefe intereffante Erpedition intereffiren, verweiſen wir 
auf die fie fchildernden Auffüke in der „Revue des 
deux mondes” (Jahrgang 1869) und auf den Auf- 
ſatz in „Petermann’s Mittheilungen, (Jahrgang 1868, 
©. 10). 


Die Franzofen richten fi allmählich in Kambodia 


Baftian’s Reifen In Oftafien. 


häuslich ein. Außer den weftlichen Provinzen, die ihnen ber 
König von Tonkin im Trieben von Saigon (5. Juni 1862) 
abtreten mußte, Haben fie, auf Grund wiederholter Un⸗ 
ruhen in der neuen Colonie, die von den weftlich bes 
untern Melhong gelegenen Provinzen genährt fein foll- 
ten, auch diefe Provinzen annectirt und am 25. Juni 
1867 von ihnen Beflg genommen. Auch der in Übong 
refidirende König von Kambodia Hat ſich bereit 1863 
dem franzöfifchen Protectorat unterworfen und den 
Branzofen einen Theil von Panompeng abgetreten. Das 
ınperialiftifche Frankreich annectirt im Oſten ebenfo ges 
hit wie in Europa. ' 


Der fünfte Band von Baftian’s Werk enthält bie 
„Reifen im Indiſchen Archipel“, und führt uns von 
Singapore nad) Batavia, Manilla und Japan. Der 
Charakter der Reifebefchreibung verſchwindet faft gänzlich 
in dieſem Bande, „Singapore wird von unferm Rei⸗ 
fenden nur flüchtig flizzirt; eine Stadt, die für einen 
Zouriften gewöhnlichen Schlags eine .erotifche Blüte von 
ganz befonderm Duft wäre, ift für Baftian bereits zu 
„belannt”, dem Publikum zu oft vorgeführt, als daß er 
fi) auf eine ausführliche Beichreibung der Stadt ein« 
lafjen könnte. Ueberhaupt ift er gegen das Nationalitäten» 
gewimmel, welches andere Reifende hier in Entzliden ver- 
fett, etwas blafirt: 


Anf ben Neifenden, ber bie Völfer in iärer Heimat ge- 
ſehen bat, kann das verzerrte Eonterfei derjelben in Singapore 
nur einen widerwärtigen Eindrud maden, oder doch jedenfalls 
einen unbefriedigenden, wie wenn er die unter dem blauen 
Himmel des Sübene wogende Palme in der Berfrlippelung 
einer nordiſchen Zreibhauspflanze wiederfindet.e In Siugapore 
fieht man Chinefen, Hindus, Birmanen, Siamefen, Araber, 
Perſer, Iavaner und andere Infulaner, aber einer trägt fein 
echte® und charakteriftifches Gepräge. Der Sohn aus dem Reiche 
der Mitte bleibt durch fein Clanverhältniß ftets mit biefem 
verfnüpft. Und obmwol er jett wicht mehr zur Rückkehr ver- 
bunden ift, obwol er, wie in Batavia und Manilla, auch in 
Singapore anfängt anfäffig zu werden, fo ſchlägt er doch anf 
fremdem Boden feine fefte Wurzel, er verheiratget ſich vielleicht 
mit den Töchtern des Landes, aber er bildet feine Kamilie, und 
ein Ehinefe ohne Familie ift ein Filh ohne Waſſer. Dann bie 
armen Birmanen und Siamejen, die durch die Straßen Sin⸗ 
gapores dahinschleichen, ohne ihre himmelufftzebenden Pagoden, 
ohne ihre Bonzen, die fie füttern dürfen! Die bengalifchen 
Lascars, bie Kling aus dem Delau, man fieht fie vor Keinen 
Zeltchen beten, mit bunten Fähnlein gejchmildt, aber man denkt 
an ihre prachtgeſchmückten Zempel, bie daheim auf Indiens 
Erbe fiehen. Und der Araber, der feinen Gebetteppich breitet, 
der heimlich und verftohlen den Kiblah Meflas fucht! Dort von 
deinen Mofcheen ſchlägt laut und kühn ans Ohr der Auf, die 
Stunden des Tags: Allah Akbar, durchtönt es die Stille ber 
Nacht: Allah Albar; Hier, im Lande der Ungläubigen, fuchft 
du di furchtſam ihren Blicken zu entziehen, ba man deiner 
fpotten mödte und bier nicht mit Steinen gervorfen werden 
darf wie im heilig vömifch-meflaifchen Reh. Im Singapore 
findet man nur fümmerlihe Schattenbilder der glänzenden Ge⸗ 
mälde, die im Oſten an den Augen vorübergezogen find, und 
man wendet bald den Blid ab, um die Illuſion der Erinnerung 
nicht zu verderben, 


Auch von Batavia und Java erfahren wir, fomeit 
e8 eigentliche Keifefhilderungen gilt, wenig Neues. Et⸗ 
was eingehender wird uns Manille befhrieben. Nach 
einer ftürmifchen Fahrt dur ben Kanal von Formoſa 
gelangen wir mit dem Neifenden nad) Japan, wo wir 


. 


ons Nangaſali einige recht pilanie Genre», Bolls- und 
Tempelbilder erhalten. Die Thee- und Babehäufer jpie- 
[m in Japan eine große Role. In den Badehäufern 
findet ber Gefchlechtsunterfchieb noch geringere Beachtung 
als in den fchweizerifchen Curorten des Mittelalters, 
Ans Yokuhama berichtet uns Baftian die folgende 


Ecene: 

Dur bie Straßen der Etadt fchlendernd, traten wir in 
eins der Babehänfer, bei denen derjelbe Eingang, in dem ber 
Einnehmer fist, zu dem der Männer und dem ber frauen 
führt, nur durch eine halb offene Wand voneinander gefchteden. 
Um in jene® zu gelangen, mußte man erſt dem dieſer vorüber- 
geben, und da die Kleidergeftelle der rauen unmittelbar neben 
der Thür fanden, fo hatten diefelben beim Herausfommen aus 
dem Bade Fein anderes Gewand als das Eva's, ehe fie ihr 
eigenes wieder herabnehmen fonnten. Wir fanden das Bad 
voll von Mädchen (zum Theil vielleicht die Inſaſſen eines nahe 
gelegenen Theehaufee), nnd waren dieſe um das gemeinjame 
Beihbeden gelagerten Najaden theils damit beichäftigt, fich 
ſelbſt zu waſchen, theils in den Händen eines Badeknechts, 
der ihnen mit Bürſten und Tüchern den Rücken abrieb. Da 
wir eingetreten waren, hatten wir auch das Badegeld zu ent⸗ 
rihten, eine unbedeutende Kupfermünze. Statt aber den nad) 
igrem Departement hindurchgehenden Männern zu folgen, 3d- 
gerte unjer Führer, der als Künfller zu Modellludien ver- 
pfüchtet zu jein bebanptete, fo lange an dem Kleiderſchrank, 
daß er uns faſt gezwungen hätte, die Rolle Kriſhna's auf dem 
Baume zu fpielen, als er den Milchmädchen die Kleider geftohlen. 
Ganz ohne Berlegenheit ging es für die jungen Sapanejerinnen 
wicht ab, doch trugen fie durchfchnittlich eine größere Nonchalance 
zu Schau, als ihre Gegenfüßlerinnen bei gleicher ®elegenheit 
gezeigt haben würden, 

Nicht minder ungenirt geht es bei den theatraliſchen 
Schauſtellungen zu: 

Im Theater (Shibaya), vor deſſen Thür Wimpeln und 
bunte Fahnenſtreifen wehten, löſten wir uns einen Sitz in der 
obern Logenreihe, und die ſchon darin befindlichen Leute, dar⸗ 
zuter einige Bonzen, wurden ausgetrieben, um uns Platz zu 
machen. Auf dem Borhange flanden die Straßennamen Mia- 
06 geichrieben, wo Scaufpieler gemiethet werden fonnten. 
Gedruckte Tcheaterzettel ließen fich von den Logenſchließern er« 
halten. Das Parterre war ziemlich gefüllt, und zwiſchen ben 
Zuſchauern in ihren gefperrien Eigen gingen auf übergelegten 
dretern Knaben mit Eigarren und Knchenwerk umber. Außer- 
halb der Sige war ein Gang mit Matten überlegt, und ein 
im violette Seide gefleidetes Pärchen, ein Männlein und ein 
Sränlein, erfchien auf ihm, nm der Bühne entgegenzumandeln, 
anf der beim Auseinanderziehen des Borhanges fidy der Ein- 
geng in ein Haus Hinter einem Hofthore zeigte. Die Dame 
trat ein, während ihr einen Schirm tragender Begleiter, dem 
zwei Schwerter am Gürtel hingen, draußen ftehen blieb. Eine 
Dienerin (wie alle weiblichen Rollen dur einen Mann ge- 
fpielt), mit einem Beſen in der Hand, empfing bie Dame und 
Reflte ihr auf der Balnfirade einen Sit zuredit. Im ciner 
Bertiefung der Wand hing eine Lampe Über einem mit weißem 
Bapier beſteckten Topfe (dem Plate des Schnutzgottes), und da⸗ 
neben feitete eine Thür zu einem Cabinet, während eine andere 
Thür im SHintergrunde den Ausgang aus der Stube bildete. 
Reh einiger Zeit ließ die Dame den dranfen ftehenden Herrn 
durch das Thor ein und fette fih mit ihm, nachdem bie 

Dienerin entfernt war, auf einen Teppich nieder, der Unter- 
haltımg zu pflegen, die von männlicher Seite in ſchreiender 
Kopffimme geführt wurde, da fie fih in einem fremden Dia- 
lette bewegen follte. Zugleich fpielte eine gedämpfte Mufik. 
In einem Fäfigartigen Kaften des Profceniums jaß der Souffleur, 
der die Stichworte und wichtigften Sentenzen vorjagte. 


Baltian’s Reifen in Oftafien. 


133 


Als nach Länger geflihrter Unterhaltung das Nachtdunkel 
einbrach, Holte die Dame aus einem Nebenzimmer Matratze 
uud Schlafkiſſen, ſchloß die Thüren forgfältig zu und ſetzte fich, 
nad einigen fofetten Einwendungen, mit ihrem Beſucher auf 
das Bett nieder. Die Unterhaltung wurde jest fehr warm 
und lebendig, ber Liebhaber riß feine zwei Schwerter aus der 
Scheide und ſchwur, fie in der Luft fhwingend, daß er feine 
Unterbredyung fürdte und etwaige Störenfriede Übel empfan- 
gen werde. Ein Augenblid, wo er ben Kopf wegwandte, 
wurde von der Dame benußt, fortzufchlüipfen und die berbei- 
gewinkte Dienerin an ihren Play zu jchieben. Der feurige 
Don Juan faßte die Hand derfelben, im feiner eifrigen Liebes. 
erflärung fortfahrend, und ſchließlich kamen Scenen vor, bie 
fi) bei uns weder lateiniſch nod in griechifchen Buchftaben be» 
fchreiben ließen, denen aber die Japaner mit ihren rauen und 
Töchtern in leidenſchaftsloſer Gemüthlichkeit zuſchauten. Nach 
Beendigung biefes einactigen Stücdes (Omigenſch genannt) trat 
der Xheaterdirector vor und kniete nad tiefer Berbengung 
nieder, um in feiner Anrede dem Publitum flir die erwiefene 
Gunft zu danken und den Titel der morgigen Aufführung 
anzuzeigen. 

In Europa pflegen die Tcheaterbirectoren übrigens 
weniger böflich gegen das Publilum zu fein. Bon ben 
Sittlichkeitsriicfichten, welche in Europa und vielen afia- 
tifhen Ländern herrjchen, hat überhaupt das emancipirte 
Sapan feinen Begriff. Die Courtifanen find bort ges 
achtet. Väter vermicthen ihre Töchter auf Zeit in die 
öffentlichen Häufer und nehmen fie dann ohne weiteres 
wieder ins Haus zurüd. Die Regierung beftraft oft ihre 
Beamten damit, daß fie die Frauen derjelben in eins der 
öffentlihen Häufer ſchickk. Der Gatte, der feine Frau 
beftrafen will, verjährt ebenjo. Fraglich bleibt es, ob 
die Gattinnen, die vielleicht als Töchter dort ſchon einen 
Curſus durchgemacht haben, diefe Strafe fo hart finden. 
Wenn die Zeit ber offictellen Beftrafung oder der ehelichen 
Züchtigung vorüber ift,.tchren die Grauen zu ihren Gatten 
zurüd, als ob weiter nichts vorgefallen wäre. 

Baftian hat bei diefen Reifen im Indiſchen Ardhipel 
und nad Japan eigentlich nur die Hafenftädte berührt; 
Sumatra, Borneo, Celebes befuchte er nit. Die Be 
ihreibung der Inſeln darf alfo auf eine erfchöpfende 
Darftellung der Landfchaften und Bollsfitten Teinen An⸗ 
ſpruch machen. Der Werth dieſes fünften Bandes iſt auf 
einer andern Seite zu fuchen, er beruht auf den mit 
außerordentlihem Fleiß aus Bibliothefen der Städte und 
mündlichen Zraditionen zufammengehäuften Notizen über 
bie Urgefchichte jener Infeln, über die religiöfen Vor—⸗ 
ftellungen und deren Berwandtichaft, und gerade in Bezug 
hierauf enthält der Band fehr wichtige und neue Beiträge 
zur vergleichenden Völkerpſychologie und zur Geſchichte 
de8 Buddhismus und feiner Entwidelung fowie der 
zahlreichen Nuancen, welche fein Mythos, fein Dogma 
und Cultus bei den verfchiedenen Bölkerfchaften fanden. 
Freilich bleibt aud, Hier wieder zu bebauern, daß die 
Form des Notizbuche in dem Werke überwiegt, und daß 
wir nur ein Conglomerat von Thatfachen erhalten, die 
für den Forſcher auf jenen Gebieten vom größten Werthe 
find, für den Laien aber in diefer ungefchichteten Faſſung 
zum großen heil ungenießbar bleiben. 

Rudolf Gottſchall. 


G T. 


— GE TE TEL 
at A = - 


5 


134 | Bopuläre Begründung ber Spectralanalnfg. 


Populäre Begründung der Spectralanalyfe. 


Die Spectralanalyfe in ihrer Anwendung auf die Stoffe ber 
Erde und die Natur ber Himmelskörper. Gemeinfaßlich dar- 
geftellt von H. Schellen. Mit 158 Figuren in Holzſchnitt, 
zwei farbigen Spectraltafeln und vier Porträts. Braunfchweig, 
Weſtermann. 1870. Gr. 8. 3 Thlr. 20 Ngr. 

Der Verfaſſer Hat offenbar Glück in der zeitgemäßen 
Mahl feines Stoffe. Die Spectralanalyfe verfpricht die 
größte naturwiffenfchaftlihe That unſers Jahrhunderts 
zu werden. Bon allen Seiten reden bie Fachmänner 
mit hoher Begeifterung davon, und das gebildete große 
Publikum ift begierig, einfichtsvol mit bewundern zu 
können; es fehnt fich nad) einer Schrift, welche den Ge⸗ 
genftand für ihn pafjend und doc gründlih zur Dar⸗ 
ftelung gebradht hat. Und da das Werk diefen Wunſch 
vollfommen zu befriedigen ftrebt, fo wird es ihm an einer 
allgemein ‚beifälligen Aufnahme ficher nicht fehlen. Wir 
baben da8 Buch mit großem Intereſſe gelefen und find 
jo volllommen davon befriedigt "worden, daß mir ihm 
mit ftarfem Nachdruck das Wort reden müſſen. Es ift 
und lange feine literarifche Arbeit zu Händen gekommen, 
welche wie die vorliegende mit richtigem Takte gerade 
das zur rechten Zeit gebracht hätte, was man dringend 
zu haben wünfchte. Der fchon Längft rühmlichft befaunte 
Berfaffer hat früher einen ganz ähnlichen glüclichen Wurf 
getan. Als vor zwanzig Jahren der eleftriiche Telegraph 
ſich in feiner praktischen Thätigkeit fo weit ausgebildet 
und befeftigt hatte, daß man ihm nicht mehr blos an⸗ 
ftaunie, fondern auch feine bedeutungsvolle Zukunft fir 
gefichert hielt, übernahm es unfer Berfafler, ein Werk zur 
ebenfo gründlichen als Leichtfaßlichen Belehrung über diefen 
Gegenftand berauszugeben. Und fo wie wir damals 
rübmen mußten, daß er zur richtigen Zeit das Nichtige 
erkannt und befriedigend gegeben babe, fo fünnen wir e8 
noch im höhern Grade bei der vorliegenden Arbeit über 
Spectralanalyfe thun. Ueberhaupt hat er fi in noch 
vielen andern Fällen als tüchtigen‘Naturforfcher gezeigt, 
der feine Zeit begreift und mit aller Kraft dahin ftrebt, 
daß dies Verftändniß zu einem ganz allgemeinen werde. 

Als die Beobachtungen der Sonnenfinfternig vom 
18. Auguft 1868 zum Abſchluß gelommen und die Be: 
richte in den gelehrten Zeitfchriften veröffentlicht mwor- 
den waren, erfannte man fogleic), daß dabei ganz vor- 
zugsweiſe die Spectralanalyfe ihre hohen Triumphe ge— 
feiert habe. Es wurde aber überall fühlbar, dag man 
das eigentliche Wefen diefer neuen Unterfuhungsmethode 
noch gar zu wenig kenne und man war begierig, barüber 
einen allgemein faßlichen befriedigenden Auffchluß zu be- 
fommen. Da entfchloß fid) der Verfaſſer zu einer Reihe 
von Vorträgen über dieſen Gegenftand, welche im Winter 
1869 zu Köln in dem „Verein für wiſſenſchaftliche Vor⸗ 
leſungen“ gehalten und mit ungetheiltem Beifall aufgenom« 
men wurden. Diefe Vorträge bildeten die Grundlage zu dem 
vorliegenden Werte. Die weitere Verarbeitung hatte den 
Zwei, das Weſen der Spectralanalyfe und die verſchie⸗ 
denen Erfcheinungen derfelben leichtfaßlich darzuftellen, 
um dadurch auch ohne Vorausſetzung andermweitiger phy⸗ 
ſikaliſcher Kenntniſſe einen jeden Gebildeten in den Stand 
zu ſetzen, fi) mit ber neueſten und glänzendſten Ent- 


dedung unfers Jahrhunderts befannt zu machen, um ein 
anfchauliches Bild zu geben für die große Bedeutung, 
welche diefer Gegenftand in der Phyſik, Chemie, Tech⸗ 
nologie, Phyſiologie und Aftronomie ſchon jettt errungen 
babe und für die Zukunft noch verſpreche. Der Lefer 
lernt diefe neue Sprache bes Lichts kennen, welche uns 
fihere Kunde gibt über die Natur der irbifchen und 
himmlischen Stoffe. Die dabei vorgeführten Experimente 
find alle darauf berechnet, daß fie von einem großen Zu- 
hörerkreife gleichzeitig deutlich wahrgenommen und zum 
Haren Erkennen gebracht werben können. Das Bud) 
eignet ſich alſo ebenfo vortrefflich zum Selbftudium wie 
zu ähnlichen öffentlichen Vorleſungen. 


Im Einklang mit dem gediegenen innern Werthe ift 
dad Werft aber aud) äufßerlih ganz vortrefflid ausge» 
ftattet. Die Holzjchnitte find alle ausgezeichnet ar und 
correct, einige davon fogar ordentliche Meifterwerke ber 
ſchweren Kunſt. Vorzugsweiſe find aber die farbigen 
Spectraltafeln der Art, daß das Auge mit Bewunderung 
darauf ruht und die Ueberzeugung gewinnt, es fehe bier 
die vielgerühmte Farbenpracht im Bilde gerade wie in 
der Wirklichkeit. Und zur Befriedigung des Tebhaften 
Intereſſes für die großen Männer, welche die Spectral» 
analyfe ins Dafein gerufen und zu ihrer Anwendung auf 
die Erforfhung der Natur der Himmelslörper weiter 
ausgebildet haben, find dem Werke auch die Porträts 
von Robert Wilhelm Bunfen, Guftav Robert Kirchhoff, 
William Huggins und von P. Antonio Sechi mit pho- 
tographifcher Hehnlichkeitstreue beigegeben. 


Wir Ienfen die Aufmerkſamkeit unferer Lefer num 
etwas fpecieller auf den Inhalt des Werks. Daſſelbe zer⸗ 
fällt in drei Hauptabtheilungen. In der erften werden die 
fünftlichen Quellen der höchſten Wärme- und Lichtgrade 
befprochen; in der zweiten ift von den einfachen und zu⸗ 
fanmengefegten Spectren in ihrer Anwendung auf die 
Stoffe der Erde die Rede; die dritte befpricht dann die 
Spectralanalyfe in ihrer Anwendung auf die Himmels- 
förper. Jede Abtheilung enthält in kurzer Harer Darftellung 
alles, was zum Verſtändniß der Hauptfache unumgänglich 
nothwendig ift; und obgleich dabei vorzugsweife auf die 
allerneneften Forſchungen das nieifte Gewicht gelegt wird, 
jo werden doch auch die ältern Leiftungen und Anfichten 
gehörig gewürdigt und unparteiifch ins Licht geftellt. Das 
Ganze macht daher den Eindrud eines eingehenden um⸗ 
fafienden Berichts über alles, was zur Entdedung ber 
Spectralanalyje geführt hat, fowie über die jegige wiffen- 
chaftlihe und praftifche Ausbildung berfelben. Dabei 
bewahrt das Buch durchweg den Charakter der populären 
Belehrung für jeden gebildeten Denker, und zwar in ber 
Weife, dag auch jelbft die Männer von Fach daſſelbe 
liebgewinnen und mit Befriedigung lefen werden. Es 
paßt alfo ganz allgemein für alle, welche den Gegenftand 
erft genau kennen lernen oder fich gründlich darin weiter 
ausbilden wollen, und fteht auch zugleich jelbft fiir bie 
Tachgelehrten auf der Höhe der Wiffenfchaft. Unfer 
Urtheil iſt offenbar cin fchr günftiges. Doc, hoffen wir 


Populäre Begründung der Spectralanalpfe, 135 


zaſſelbe durch einige Mittheilungen aus dem Werke felbft 
volfommen rechtfertigen zu können. 

Im erften Theil ift unter gehöriger Vorbereitung von den 
ei der irdiſchen Spectralanalyfe vielfach gebrauchten Bunfen’- 

en Banner, von dem Magnefiumlighte, Drummond’fchen 
goltfihte und dent elektriſchen Kohlenlichte, fo ausführlich 
die Rede, daß jeder, felbft wenn er von der Sache nod) 
wenig oder gar nichts willen follte, davon eine Hare 
Borftellung erhält. Bei diefer Gelegenheit wird auch das 
Blühen der Safe in den Geißler'ſchen Röhren forgfältig 
in Betracht gezogen, welche eigentlich nur eine weitere 
Ausbildung des Leuchtens der Elektricität im luftverdünn⸗ 
ten Raume ift und unter dem Namen bes „eleftrifchen 
Eis” fchon längſt befannt war. Der Verfaſſer fagt: 


Das Studium aller hierhergehörigen Erſcheinungen wurde 
hedentend erleichtert und ausgebreitet, al8 Dr. Geißler in Bonn 
durch eine nene Methode der Luftverdlinnung es dahin brachte, 
inftieere Slasröhren berzuftellen, in welchen die zu unterfuchen« 
ven Safe in einem Zuftande ftarler Verdünnung eingeſchloſſen 
waren, und die vermittels zweier an den Enden der Röhren 
eingeſchmolzenen Platindrähte mit den Polen eines Funken⸗ 
imdnctors in Verbindung gebradjt werben konnten. Ge nad) 
der Form und Beſchaffenheit des Glaſes, aus welchem die ein- 
zeinen Theile einer folhen Röhre zuſammengeſetzt find, ins⸗ 
befondere aber nad) der Natur und dem Grade der Verdünnung 
des darin eingefchloffenen Gaſes, find die Erfdeinungen der- 
jelben, wenn die Platindrähte mit dem Inductor in Verbindung 
geieht werden und die hindurchſtrömende Elektrieität das Gas 
hend und leuchtend macht, fehr verfchieden. Diejenigen 

ie, welche mit verblinnter atmofphärifcher Luft oder mit 
Stidftoff angefüllt find, erglühen in einem ſchönen violett-röth- 
ſichen Lichte; Kohlenfäure und die Kohlenwafferftoffe geben gritu- 
fihe und weißliche Farbentöne ... 


Der Verfaſſer unterläßt dann auch nicht, darauf auf- 
merlſam zu machen, daß Profeſſor Plücker in Bonn die 
Geißler'ſchen Röhren eben jetzt nod) wefentlich umgeformt 
habe, ſodaß dadurch das Leuchten der Gaſe viel intenſiver 
gende und jogar zu dem Zweck der Spectralanalyfe 
rauhbar werde. Gerade Hierin liegt nun aber die 
Hauptgrundlage zu der Anwendung der Spectralanalyfe 
für aftronomifche Zwede. Daß itbrigend in diejen all» 
gemein einleitenden Abfchnitte aud) die galvanifche Batterie, 
befonders die Bunſen'ſche, das Reguliren des herrlichen 
eleltriſchen Kohlenlichts u. |. w. feine erflärende Begrün- 
ung gefunden habe, bedarf wol kaum der Erwähnung. 

Der zweite Theil führt nad) ciner allgemeinen Betrad)» 
tung des Lichts und feiner Vergleihung mit dem Schall 
fogleih zum Sonnenfpectrum, zu den Spectren der feſten, 
füffigen und Iuftförmigen glühenden Stoffe, beſchreibt die 
verfhiedenen Spectralapparate und kommt dann auf das 
Thema der Fraunhoferichen dunfeln Linien im Sonnen» 
ſpectrum. Dazu hat nun der geniale Kirchhoff eine Er— 
Märung gegeben, welche mit einem Schlage Harcs Licht 
u das bis dahin fo unheimliche wiſſenſchaftliche Dunlel 
gebracht hat. Darin liegt aber aud) der eigentliche Kern⸗ 
yunft file Die ganze Bedeutung ber Spectralanalyje. Der 
Verjaſſer Iegt daher mit Recht das höchſte Gewicht auf 
de richtige Vorführung der Kirchhoff'ichen Theorie, und 
wir handeln gewiß ganz im Sinne unferer Leer, wenn 
wir hierbei den Berfaffer ſelbſt das Wort geben. Es 
waren vor Kirchhoff chen von Euler und Foucault Wahre 
nehmungen über das Emiſſions- und Abjorptiondver« 


mögen bes Lichts gemacht und and mit Erklärungsver⸗ 
juchen verbunden: 

Aber alle diefe Thatſachen flanden vereinzelt da, und es 
fehlte der höhere Geſichtspunkt, das phyſikaliſche Geſetz, dem 
die einzelnen Erfheinungen hätten untergeordnet werden fönnen. 
©. Kirchhoff blieb es vorbehalten, diefes Geſetz aufzufinden und 
jeine Richtigkeit fowol durch matheinatifche Beweidſührung als 
auch durch das Erperimentiren fiir mehrere einzelne Fälle glän- 
zend zu beflätigen. Im Jahre 1860 veröffentlichte er feine 
Arbeit Über das Verhältniß zwilchen dem Emilfions- und Ab- 
forptionsvermögen der Körper fiir Wärme und Licht, aus weldher 
der Sat: „Das Berhältuig zmwifchen dem Emilfionsvermögen 
und dem Abjorptionsvermögen einer und derfelben Strahlen 
gattung ift für alle Körper bei derfelben Temperatur daffelbe‘‘, 
als eins der wichtigften phyſikaliſchen Geſetze für alle Zeiten 
hervorleudhten und den Namen feines Entdeders wegen jeiner 
großen Tragweite nnd vielſeitigen Aumendbarfeit unfterblid) 
machen wird. 

Es werden nun einige Leichtverftändliche Verſuche durch⸗ 
geführt, womit das Gefet erläutert und bewahrheitet wird. 
So wird 3. B. im Spectroflop mit Hülfe von reinen 
Gaslicht das bekannte continnirlihe Farbenbild erzeugt 
und dann eine Glasröhre dazwiichengefchoben, welche in 
verdünnten Wafjerftoffgafe ein Stückchen Natrium ent» 
hält; ſowie nun die Glasröhre etwas erwärmt mit Na« 
trinndämpfen angefüllt ift, fo zeigen fich im Gelb des 
Spectrums augenblidlich die zwei charakteriftifchen dunkeln 
Linien, und entzlindet man Natrium allein, fo zeigt fich 
umgekehrt ein Spectrum, in welchen einfach nur die gelbe 
Doppellinie fihtbar ift, während alle andern farben 
ausgelöfcht erjcheinen. Auf ähnliche Weile haben Kirch- 
off und Bunfen durd Lithium, Kalium, Strontium«, 
Calcium» und Baryumdanıpf aus den continuirlichen 
Spectrum genau diefelben hellen Farben ausgelöfcht, welche 
diefe Dämpfe felbft in der Glühhite ausftrahlten: 

Das wichtige Refultat diefer Unterfuchungen ift alfo, daß 
die harakteriftifhen Linien des Natriums, Lithiums u. f. w. 
in dunlele Linien umgewandelt werden, wenn das intenfive 
weiße Licht glühender feiter oder flüffiger Körper durch die 
Dämpfe diejer Wietalle hiudurchgeht. Das Spectrum des glü- 
henden Natriumdampfes ift eine helle orangegelbe Doppelfinie, 
der Übrige Theil des Sehfeldes im Spectroflop erfcheint dunkel; 
da8 Spectrum des weißglühenden feften oder flüſſigen Stoffe 
dagegen erjcheint, nachdem es durch Natriumdampf von niedri» 
gerer Temperatur gegangen ift, im ganzen Sehfelde des Spee⸗ 
troflope8 farbig, mit Ansuahme derjenigen Stelle, wo ſich die 
dunkle Natriumlinie befindet. Weil baher bei diefen Berfuchen 
die heilen Linien der Gaeſpeetra fih in dunkle Linien verwan⸗ 
dein, dagegen die dunfeln Theile der Gasfpectra von dem con⸗ 
tinuirlichen Spectrum des weißen Lichts farbig beleuchtet wer⸗ 
den, mithin das ganze Gasſpectrum in Beziehung auf die Be⸗ 
leuchtung umgekehrt ericheint, jo nennt man das ganze Phä- 
nomen nad Kirchhoff „die Umkehrung des Spectrums“. 

Damit erhält man den Schlüſſel filr bie ganze 
Spectralanalyfe. Denn find durch diefe Unterfuchungen 
die harakteriftiihen Spectra der einzelnen Stoffe ein 
für allemal beftimnit, fo fann man in jedem vorkommen⸗ 
den Falle aus der Geftalt des Spectrums auch umgekehrt 
jofort wieder zurüdichließen auf die betreffende Materie. 
Die Spectralanalyje zerlegt die Körper in ihre Beftand- 
theile, fie analyfirt Diefelben ohne Kolben, Ketorte, Re⸗ 
agentien, überhaupt ohne chemifche Hülfsmittel, es reicht 
ſchon aus, fie in den Zuftand des Leuchtens oder Ber- 
dampfens bringen zu können. Sie findet ihre Anwen⸗ 
bung wo man vorläufige raſche aber fichere Unterſuchungen 





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136 Populäre Begründung der Spectralanalvfe. 


zu machen bat, daher ift fie für den Phyſiker, Chemiker 
und Aftronomen ein ganz vortrefflicher Wächter und Vor⸗ 
nnterfucher, um jeden in Sicht Tommenden Stoff fofort 
zu fignalifiren. Und mit weldher Schärfe, mit welder 
feinen Empfindlichkeit hält fie Wade! Wenn z. B. ber 
Chemiker ſich jchon etwas darauf zugute thut, ein Milli⸗ 
gramm Kochſalz in einer Sole beftimmen zu können, fo 
ift man mit Hülfe der Spectralanalyfe fogar noch im 
Stande, den Salzgehalt in einer Sole klar zu erkennen, 
welche unter gleichen Umftänden nur den dreimillionften 
Theil eines Milligramms Salz enthält. 

Die Anwendung der Spectralanalyje zur Erforſchung 
der materiellen Natur der Himmelskörper bildet den dritten 
Theil bes Werks. Hierauf legt der Berfaffer mit Recht 
das Hanptgewicht feiner ganzen Darftellung, und es ift 
ihm auch ganz vorzüglich geglücdt, den Gegenftand leicht⸗ 
faßlih und foweit nur möglich erſchöpfend zu behandeln. 
Die gefammte phuftfche Aftronomie wird dadurch eine 
ganz neue. Das frühere unfichere Hypothejengebilde ift 
ſchon jett faft ganz befeitigt, und dafür eine rationelle 
Baſis fir die Naturforfhung der Weltkörper an ben 
Platz gefett, welche überall das wirkliche Wiffen fiir das 
bisherige Vermuthen und Glauben zu vertaufchen tradhtet. 
Damit ift der bedeutungsvolle Schritt zur einer wirklichen 
Revolution der Sternkunde gethan, der ſich um fo mehr 
eines fegensreichen Erfolgs verfichert halten kann, als felbft 
die gewiegteſten Fachmänner der Sache großes Intereſſe 
widmen und voll Eifer mit Hand anlegen, um ben 
ausgejpürten Schatz glüdlih zur Hebung bringen zu 
können. Hier ift es nun wieder der geniale Kirchhoff, 
welcher dazu die Wege ausgefonnen und genau bezeichnet 
bat. Er bewies die genaue Coincidenz der dunkeln 
Fraunhofer'ſchen Linien im Sonnenfpectrum mit den 
hellen Speetrallinien der irdifchen Stoffe mit meifterhafter 
Ausdauer und Gefchicdlichkeit: 

Kirchhoff fand die Urfache dieſer Abforption; er mies nach, 
daß das geſammte Syftem ber Fraunhofer’ihen Linien zum 
großen Theile aus der Ueberlagerung von umgekehrten Spectren 
gerade nur folder Stoffe befteht, wie fie auch auf der Erde 
vorfommen. So gelangte biefer Gelehrte zu einer neuen An- 
ſchanung Über die phyſiſche Beihaffenheit der Sonne, die mit 
ber äftern zur Erklärung ber Sonnenflede angenommenen Hy⸗ 
pothefe von William Herſchel im geraden Gegenfage fand. 
Nach Kicchhoff befteht die Sonne aus einem feften oder tropfbar 
flüffigen, iu der höchſten Glühhitze befindlichen Kerne, welder, 
wie alle weißglübenden feften oder flüffigen Körper, alle mög- 
lichen Arten von Lichtſtrahlen ausjendet und daher für fich 
allein ein continuirliches Spectrum ohne dunkle Linien geben 
würde. Dieſer weißglühende centrale Kern ift mit einer Atmo⸗ 
fphäre.von niedrigerer Temperatur umgeben, in welcher ſich 
wegen der hoben Hitze des Kerns viele Stoffe, aus benen 
festerer zufammengejett if, in Form von Dämpfen befinden. 
Die von dem Kerne ausgehenden Fichtfirahlen müſſen daher, 
bevor. fie zu uns gelangen, durch diefe Atmofphäre hindurch⸗ 
gehen, und jeder Dampf löſcht aus dem weißen Lichte alle 
Strahlen aus, welde er im glühenden Zuſtande ſelbſt aus⸗ 


\ 


ſtrahlen Tann. 


Die ausgelöſchten Strahlen find aber genau diefelben, 
welche Natrium, Eifen, Kalium, Calcium, Baryum, 
Magneflum, Mangan, Titan, Chrom, Nidel, Kobalt, 
Waflerftoffgas und wahrjcheinlih auch Zink, Kupfer und 
Gold für fi allein glühend ausftrahlen würden, aljo be= 
fteht die Sonnenatmofphäre aus den Dämpfen aller ber 


genannten Stoffe. Die ſämmtlichen Subſtanzen, aus 
denen der Sonnenlörper zufanmengefett ift, finden wir 
daher auf unferer Erde wieder, und wenn wirklich noch 
einige dunkle Linien im Sonnenfpecttum vorlommen, deren 
Beſtimmung uns noch nicht möglich war, fo wäre der 
Schluß doc, ficher übereilt, daß diefe Linien von Stoffen 
berrührten, die auf der Erde nicht vorfümen. Es läßt 


ſich nur daraus folgern, daß die Erforſchung noch nicht 


bis zum Abjchluß gebracht worden fei, daß es aber fchon 
ganz außerordentlid) wahrjcheinlich geworden, wie Exde 
und Sonne aus berfelben Materie zufammengefett feien. 
Der Somnenfinfterniß, welde am 18. Auguft 1868 ge- 
rade in dieſer Hinfiht jo vieljeitig ſcharf beobachtet 
worden ift, wibmet der Berfaffer eine ganz befondere 
Aufmerkfantkeit. Die Refultate derfelben Haben die Kirch— 
hoff'ſche Theorie glänzend betätigt. Im dem Augenblick, 
wo mit dem Berjchwinden des legten Sonnenftrahls die 
totale Berfinfterung begann, wo alfo das Kernlicht der 
Sonne für die Beobachter auf der Erde ausgelöſcht er- 
ſchien, verfhwanden ſogleich alle Fraunhofer'ſchen dunkeln 
Linien. Allerdings fehlten aber auch die hellen Linien der 
Umkehrung. Der Verfaſſer bemerkt: 

Es würde jedoch voreilig ſein, wenn man aus dieſen ne⸗ 
gativen Ergebniffen einen Schluß gegen die Kirchhoff'ſche Theorie 
ableiten wollte; denn der Gedanke liegt nahe, daß die dampfe 
fürmige Sonnenatmojphäre nicht denjenigen Grad der Hitze 
babe, welcher zur Erzeugung eines intenfiven Fichte und zur 
Bildung von Gasipectren aus einer fo ungeheuern Entfernung 
(20 Millionen Meilen) überhaupt erforderlich iſt; die große 
Dunkelheit und die tiefe Schwärze vieler Fraunhofer'ſchen 
Linien berechtigt zu dem Schluffe, daß die Differenz zwiſchen 
den Temperaturen de8 Sonnenferns und ber ihn umgebenden 
abjorbirenden Dampfatmofphäre fehr bedeutend fein müffe, 

Aber wie man Hierliber auch denken mag, fo bleibt 
die Kirchhoff'ſche Erklärung ber Fraunhofer'ſchen Son- 
derungslinien doch unangefochten beftehen und ebenfo aud 
der Nachweis für dieſelbe Materie beider Weltförper. 

Das Borhandenfein des Wafferdampfs in der Sonnen⸗ 
atmofphäre ift vom Pater Sechi am 27. Januar 1869 
der parijer Alademie mit großer Wahrfcheinlichkeit ange» 
fündigt und am 15. Februar durch feine neweften Spectral« 
beobadjtungen fo gut wie zur Gewißheit gebracht worden. 
Da diefe Waflerdampffpuren fih immer im der Nähe 
der Sonnenflede zeigten, fo führte eine ſolche Entdedung 
zu einer ganz neuen Anſchauung über das Weſen der 
Sonnenfleden. Der Berfaffer benutzt die Gelegenheit, 
diefen Gegenftand ausfügrlich zu befprechen, und theilt 
eine Reihe von fehr intereffanten Beobachtungen unb 
Photographien durch Nafmytd, Warren de la Rue n. a. 
mit. Er deutet daranf hin, daß e8 wahrfcheintich fei, einen 
ſolchen led für eine wollenartige, mannichfach zufammen- 
gefetste glühende Dampfmaffe, für eine Art Schlade 
gelten zu laffen, welde das Licht des Sonnenkörpers 
theilweife zurückhält und daher als dunkle Maſſe erſcheint. 
Der Berfafler fagt: 

Wir find meit davon entfernt, in dem vo ⸗ 
danken eine alle —e der Sonnenfiede —— 
Erklärung geben zu wollen. Wenn es gewiß vom hpochſten 
Intereſſe für uns iſt, die phufliche Natur desjenigen Simmels- 
körpers näher Eennen zu lernen, der uns Lit, Wärme, Be- 
wegung und Leben gibt, fo müfjen wir uns andererfeits Do 
ſehr Hüten, dasjenige für Wahrheit und Wirklichkeit zum halten, 
was zunächſt nur das Refultat unferer Kombinationen ift, umd 


I; 


Romane und Novellen, 


dieſes um fo mehr, wenn unfere Speculationen nur auf Be- 
obachtungen beruhen, die vereinzelt daftehen und des Zuſammen⸗ 
bangs mit dem großen Ganzen, zu weldem fie gehören, nod) 
entbehren. 

Eine ſolche Vorſicht iſt beſonders eben jetzt ſehr zu 
loben, da man leichtfertig genug ſchon mehrfach für Ge— 
wißhett angenommen bat, was ſich aus ben berühmten 
Spectralbeobadhtungen von Secchi, Huggins und Lodyer 
Hypothetiſches aufbauen ließ. 

In der Zuſammenſtellung der Berichte über die totale 
Sonnenfinſterniß vom 18. Auguſt 1868 iſt der Verfaſſer 
ſehr ausführlich zu Werke gegangen, weil dabei die 
Specttalanalyſe eine ganz neue wichtige Hauptrolle ge⸗ 
Ipielt hat: 

Saffen wir alle am 18. Yuguft 1868 gemaditen fpectral- 
analytischen Beobachtungen der Sonnenfiniterniß_ zuſammen, 
fo gelangen wir mit Ausfcheidung des minder Wichtigen zu 
folgenden bebdentungsvollen Refuftaten: 1) Das Licht der Corona 
in ſtark polarifirt, das der PBrotuberanzen nicht; jenes ift daher 
mögliherweife Reflexlicht, dieſes wird von felbfleuchtenden glü⸗ 
benden Materien ausgeſtrahlt. 2) Das Spectrum der Corona 
iR ſchhwach und anſcheinend continuirlich; das Licht derjelben 
it weit weniger intenfiv als das der Protuberanzen. 3) Das 
Spectrum der Protuberanzen befteht aus einigen hellen, intenfiv 


137 


leuchtenden Linien, unter denen bie WBafferflofflinien Ha=C, 
HB=F, und Hy nabe bei G befonders bervortreten. 4) Die 
Brotuberanzen find glühende Gasmaflen, vorzugsmeiie glühendes 
Waſſerſtoffgas; fie hüllen den ganzen Sonnenlörper ein, oft 
auf äußerft weite Streden nur im einer niedrigen Schicht, oft 
auch in mafjenbaften, Iocalen Anſchwellungen, die zuweilen eine 
Höhe von 20000 Meilen und mehr erreichen. 

Uebrigens theilt der DVerfaffer auch eingehend mit, 
welche fpectralanalytifhen Beobachtungen über bie ein- 
zelnen Planeten, über ben Mond, über Firfterne, Ko⸗ 
meten, Mebelflede, Sternfhnuppen und Feuerkugeln ge= 
macht und welche wahrfcheinlichen Schlüfie Daraus gezogen 
worden, Ebenſo ift auch von den Spectren der Blitze 
und bes Norblihts die Rebe. 

Die Leer werben ficher bie Ueberzeugung gewon⸗ 
nen haben, daß das Werk feinen Gegenftand mit er- 
ſchöpfender Gründlichkeit Teichtfaglich behandelt Hat, daß 
dafjelbe ganz dazu gefchaffen ift, einen allgemein ge- 
fühlten Bedürfniß volllommen befriedigend abzuhelfen. 
Wir können daher nur wünſchen, daß es auf feiner lite 
rarischen Laufbahn überall die Beachtung finden möge, 
welche es feinem gediegenen innern Werthe nach ver 
dient, Heinrich Birnbaum. 


Romane und Novellen. 


1. Fteie Bahn. Roman von Inlius 
Bünde. Leipzig, Rötſchke. 1869. 8. 
Wenn die Orundzüge jedes beffern deutjchen Romans 

ben Kampf materiellec und ideeller Gegenjäge verfinn- 

lichen follen, fo iſt Mühlfeld's Werk ein echter deutſcher 

Roman. Freilich ift hier das Feld diefer Kämpfe nur ein 

jehr Heine „ fogar ein Meinjtädtifches, und wenn ber 

fühne Titel des Romans auf einen idealiftifchen Ing ber 

KRomanhelden deutet, fo ifl als Gegenftüd „Die deutfchen 

Kleinftädter” ein unpaflender Titel. In Zietha und nur 

zum Heineen Theil in der benachbarten Univerfitätsftadt 

Sealburg jpinnt ſich die jchlicht gewebte Handlung ab: 

die Deutung anf thilringifche Zuftände liegt nahe, Zietha 

iſt als Provinzialſtadt eines Meinen (thüringifchen) Staats 
und Saalburg ale Lena oder Halle gedadit. Sonſt 
mongeln bejtimmte Porträts, die man ja in neuern Ro⸗ 
manen mit Borliebe fucht, gänzlich, fehr zum Bortheil 
dr Dichtung. Denn die Kleinbürgerlichen Berhältniffe, 

m die uns Mühlfeld führt, find ſich felbft genug: daß 

tm liebenswürdiger begabter Jüngling, Arno Strahl, 

ein gleichgefinntes Mädchen, Helene Wernide, liebt, und 
daß fi dem Vermögensloſen den Aeltern der Geliebten 
gegenüber ſchwere Hinderniſſe aufthiirmen, ift eine alte 

Gedichte, die aber bei Mühlfeld einen liebenswürbigen 

anfprachslofen Aufputz erhält, der fie als neu erjcheinen 

läßt. Manches Perjünliche ift zu jehr ins Grelle gemalt: 

Fran MWernide, die Mutter Helenens, die doch als gut- 

herzig bezeichnet wird, zeigt ſich fortwährend als ver» 

nöcherter kleinbürgerlicher Geldfad; auf der andern Seite 

RM wieder die Familie des Profefior Treuhard von einem 

fo unmöglichen Idealismus, daß hierin die Grenzen bes 

Komanhaften überfchritten werden. Der Einbrud, den 

ver Leſer von „Freie Bahn“ erhält, ift ein wohlthuender; 

1870. 9. 


Mühlfeld. Drei 
3 Thlr. 


die gute deutjche Tradition von ber Bevorzugung der Cha- 

rakterfchilderung gegenüber der Erfindung hat in Mühl⸗ 

feld ihren Anhänger, wenngleich fi) diefer Autor vor jü- 
ben unvermittelten Webergängen und unnöthiger Eile und 

Ylüchtigkeit gegen den Schluß Bin zu hüten hat. 

2. Aus jungen und alten wagen. Erinnerungen von Ern ſt 
Freiferen von Bibra. Drei Bände. Jena, Coftenobie. 
1868. 8. 3 Thlr. 22%, Nur. " 
Die vielgewandte lebendige Weder, bie ber tüchtige 

Naturforfcher feit mehr als einem Bierteljahrhundert führt, 

bat ſich wieder einmal auf das belletriftifche Gebiet ge⸗ 

wandt, auf dem Bibra ein gern gefehener Gaft if. Er 
bat vieler Menfchen Städte gefehen und für ftidameri- 
kaniſche Zuftände ift er neben Gerftäder wol ein claf- 
ſiſcher Zeuge zu nennen. Borliegende „Erinnerungen“ 
find auf Bafis felbfteigener Erlebniffe in novelliftifche Form 
gebracht, ein Theil gehört dem transatlantifchen Gebiet, 
ein anderer deutfchem Boden an. Alle diefe Erzählungen 
baben einen fchalfhaften Zug, die Diction und die Stoffe 
find anmuthend. Bon den Erinnerungen europäifcher 

Heimat ift „Das Erbe des alten Friedenreich“ ein fau- 

ber ausgeführtes Charakterbild: diefe Melufine, die etwas 

von Philine hat, ıft ein blitzſauberes Weibsbild, freilich ein 
wenig perfid, aber zur Novellenheldin durchaus gefchaffen; 
die übrigen Heinen Genrebilder, als „Der verlorene Graf“, 

„Die Jungfer Lene”, „Auf dem Klofterberge”, „Zwei 

Stieflinder” find, ohne neue Motive, ſorgſam ausgeführte 

Stüde in Tempera. Weit bedeutender find die Aquarelle, 

die Bibra aus Südamerika malt: da ift grandiofe 

Natur- und treue Menjchenfchilderung, und babei befin- 

den wir uns unter einem ewig blauen tropifchen Him- 

mel und erfreuen und der angenehmen Ruhe der Erzäh- 
lung, die fi) von Gerftäder’3 bewegungsfreundlichem Stil 
18 


J 





138 Romane und Novellen. 


vortheilhaft unterſcheidet. Dahin gehört vor allem, Mond⸗ 
ſcheinſtudien“ und die charaktervolle Novelle „Wie Cornelius 
Bloemart nach dem Lande Chile fam und was ihm bort 
begegnete”. Diefer Cornelius Bloemart, ein Holländer, 
ift von englifchen Matrofen gepreßt, denen er bei gün⸗ 
ftiger Gelegenheit in Valparaiſo entipringt, und nun, 
abenteuerlid genug, fih in Chile herumſchlägt. “Die 
Schilderung des großen chilenischen Erdbebens von 1822, 
in das hinein Cornelius’ Wanderungen fallen, ift prädjtig 
und in ihrer Art ebenfo bedeutend wie Humboldt's Des 
ichreibung des Erbbebens von Caracas. in drittes 
Agnarell, „Señor Machado“, leidet ebenfo wie „Pablo 
oder Pedro“ an Unmahrfcheinlichkeiten, gleicht aber dieſe 
Mängel durch farbenreihe Schilderung von Land und 
Leuten aus. Wir geben nur eine Probe von Bibra’s 
Malertalent aus der Schilderung der Geereife von Rio 
nach Peru: 

Endlich vereint die finfende Sonne Himmel und Meer mit 
einem Purpurbande, und bald bliden Myriaden funfelnder Ge- 
fiirne auf euch nieder. Ihr könnt fie ſichten und ordnen, dieſe 
rolfenden Welten, in Sternhaufen und Sonnenfyfleme, wenn 
ihr ein Aftronom feid. Ihr könnt fagen, daß die Sonne zer- 
ſchellt ſei am Rande des Horizonte, und daß ihre Trümmer 
aufgeftiegen als Sterne zu dem tiefblauen Nachthimmel, wenn 
eben zufällig ein wenig Poefle in euerm Kopfe ſpult. Sentt 
ihr dann aber enre Blide abwärts in die Fluten, fo funkelt 
und blitt e8 dort faft ebenfo wie droben. Nings um enern 
Bord glänzt die See in myſtiſchem Lichte und weithin durch die 
Mellen zieht das Schiff eine feurige Furche. Einzelne hell⸗ 
feuchtende Geftalten aber ziehen, alles überftrahlend, langiam 
durch das Feuermeer unter euch. Das ift das Leuchten der See, 

- Man fleht, e8 find warme Tinten, die Bibra vor⸗ 
feuchten läßt, wenn er uns die füdamerifanifche Natur, 
deren Erforfchung und Befchreibung er einen großen 
Theil feines Lebens gewibmet hat, in lebensfriſchen Bil- 
dern vorführt. 

3. Streben ift Leben. Bon Amely Bölte Drei Bände. 
Sena, Hermsdorf. 1868. 8. 3 Thlr. 

Die Novellenfammlung, welche bie Berfafferin uns 
unter vorftehendem ehrenwerthen Zitel bietet, ift reich an 
mannichfaltigem Stoff. Schade nur, daß dieſer nicht 
immer gehörig verarbeitet ift, oft auch nicht einmal aus⸗ 
reicht. Exfteres ift bei der Erzählung: „Der Phrenologe“, 
letzteres bei „Der Landwehrmann” der Fall. Aus der 
Heide der übrigen Novellen können wir nur „Der Letzte 
feines Stammes” und „Ein Liebesabentener des Grafen 
Moritz von Sachſen“ hervorheben. In dem legtgenannten 
Sharafterbilde bekundet die Berfafferin ihr Talent, Scenen 
aus der Rococozeit zu reproduciren: den Hauptinhalt 
bildet der Urfprung der Liaiſon des galanten Morig von 
Sachſen mit Adrienne Lecouvreur. In der Zeitfürbung 
wie in der ſcharfen Markirung der Charaktere ift Amely 
Bölte am glüdlichften; weniger gelingen ihr die Scil- 
derungen von Seelenzuftänden, die eine Bekanntſchaft mit 
der wirklich guten Geſellſchaft vorausfegen. Inmmer wie 
der, wenn wir und in eine derartige Erzählung hinein- 
zulefen verfucht hatten, trat und ein wunderlich verzerrter 
Zug in der Phyfiognomie der handelnden Perfonen ent- 
gegen: oft war diefe Verzerrung nichts anderes ald das 
hippokratiſche Geficht, das eine Novelle machte, die jchon 
obne Leben war bevor fie endete. Am bdeutlichften zeigen 
fi dieſe und ähnliche Misftände in „Die Jüdin“. 


Herr Meyerhof, ein jüdifcher Bankier, hat eine Tochter 
von feiner eriten Gemahlin; letztere lebte mit igrem Gatten 
nicht glüdlich, denn bei Tiſche „fehlte heute der Senf, 
morgen dad Compot, übermorgen das Deſſert, kurz fie 
hatte beftändig etwas vergeffen“. Selina, die Tochter, 
ſtellt fih, da fie von der Würde des Weibes die höchſte 

Idee hat, von Anfang an kalt und fremd zum Bater, 

der fie natürlich nicht verſteht. Dafür ift er ja Jude, 

berliner Jude, und die berliner Juden kommen bei Amely 

Bölte, die fie wahrſcheinlich jehr genau Fennt, fchlecht weg. 

Selina ift doc) ein braves Mädchen, ift Leidenfchaftliche 

Kindergärtnerin nad) den Marimen der Grau von Maren» 

bolg und doch „ein echtes berliner Kind, vell Selbſtgefühl, 

Anmaßung und Dünkel“. Vaterliebe kennt fie nicht, und 

Amely Bölte gibt ihr verftohlen recht, denn „Verehrung 

flößen ihr nur ſolche Männer ein, welchen ihre Bildung 

mehr am Herzen Liegt als der Erwerb des Geldes”. 

So veradjtet Selina alle jungen Kaufleute und „gibt 

Profefjoren den Vorzug, vor denen fie holdfelig erröthend 

dafteht”. Selina jpielt Schach, der Vater aber veradhtet 

dergleichen und verbittet ſich überdies einen gelehrten 

Chriften zum Schwiegerfohn (beiläufig ein Nonfens gerade 

in den genannten berliner jüdifhen Kreifen, die mit 

Borliebe chriftliche Gelehrte in ihre Familien wünjchen). 

Aber die eigentliche Kataftrophe der Erzählung tritt bei 

einer Table⸗d'hoöte in Wien ein, bei der ſich zwei Offi- 

ziere über Selina's fehmuzige Finger moquiren, „Sieh 
nur, wie ungeftaltet“, fpricht der eine, „jeder Nagel ab⸗ 
gebiffen und mit einem Zrauerrande.” Er ſchüttelte fi), 
als ob ein Schauder ihn überlaufe. „Schade“, fagt der 
andere, „fie könnte fi das abgewöhnen, aber fie ijt eine 

Jüdin. Die Neigung zum Schmuze ift ihnen angeboren.” 

Selina ift tief erjchlittert: einen vom Vater präfentirten 

Bräutigam ſchlägt fie aus. Erftens Heißt er Aaron, und 

das ift fehr unangenehm, „aber auch feine Hände, die 

Nägel mit dem Zrauerrande und bie nach einwärtd ge= 

Tehrten Plattfüße waren ein Anſtoß!“ Um diefer Heicath 

zu entgehen, tritt Selina, ohne Vorwiſſen des Vaters, 

als Gouvernante bei einer pefther Jüdin in Condition. 

Kaum ift Selina Frau Jacobſon vorgeftellt, fo beobachtet 

fie fogleich deren Hand. „Sie war nit fauber, nicht 

gepflegt, die Nägel kurz und ſchwarz. Der Anblid that 
ihr bis ins Herz hinein weh.” Die Arme! Nachdem 
fie fih aus Verzweiflung über Gott, Welt und ſchmuzige 

Nägel ins Waffer zu ftürzen verfucht, wird fie von Aaron 

gerettet, den fie jchlieglich dennoch heirathet. Ja, die 

Berfaflerin hat ganz recht in Bezug auf den Charalter 

der Suben. Aber ein wenig äſthetiſche Feinheiten hätte 

fie doch zu ihrem Ragout hinzuthun können; e8 geht bet 
der „Jüdin“ wie beim „Phrenologen“ und dem „Kunſt⸗ 
gärtner und feinen Töchtern“ entjeglich gedankenreich zu. 

Aber wenn jeded Genre erlaubt ift, außer dem des 

Langweiligen, jo hat rau Amely Bölte weniger fri« 

ſches Leben gezeigt, ald vielmehr ein unerlaubtes Genre 

cultivirt. 

4. Schöne Frauen. Handzeihnungen von Elife Polko. 
Zweite Reihe. Troppau, Kold, 1869, 8 1 Thlr. 
15 Nur. 

Das Frauenherz, was es bewegt, was es fühlt und 
erlebt, ift von je der Berfafferin Domäne gewefen; bier 


Romane und Novellen. 139 


it fie im eigenen Haufe, Hier fchließt fie uns mit dem 
Schlüſſel der Phantafie, der ihr unbefchräntt zu Gebote 
ſteht, alte bekannte Räume auf, bier träumt, fingt und 
fiebelt eine blaufiugige Romantik, die wir ung ganz gern 
einmal gefallen laſſen. Wie die Porträts der ältern 
Düffeldorfer muthet uns diefe Welt von blonden Pagen, 
ſchmachtenden Frauen in mittelalterlihen Sammetgewän- 
dern an. Allein dieſen Handzeichnungen mangelt die 
anatomische Richtigkeit; die gezeichneten Perfonen erinnern 
häufig an Hauben⸗ und Perrütenftüde, denen man prädj- 
tige Kleider umgehängt hat. Und in ber Benutung hi⸗ 
ſtoriſchen Materials, in der Borliebe fiir gefchichtliche 
Meinigfeitöfrämerei wäflert oft ein tüchtiger Mühlbach die 
üppigen Phrafenbeete der DVerfaflerin. Die befte Damen- 
gefellfchaft vergangener Jahrhunderte, und wenn mir 
Fran Polfo und den Chroniften trauen wollen, aud) die 
fhönfte, zieht vor uns vorüber. Maria Eleonore, Her- 
der's Freundin, die fromme Bittoria Colonna, Chriftina 
von Schweden, die Dacier, Julie de Lespinaffe, die 
Blanſtrumpfe Hortenfe Mazarin, Alerandrine St.-Aubin, 
Maria Caracciola, Fauſtina Maratti, die fchönen Frauen 
ſtellen fi) ums ungezwungen vor, wir müffen aber ihre 
Gavaliere, die mitunter ganz anftändige Namen führen, 
ala Herder, Lorenzo von Medici, Iſouard u. dgl., mit 
im ben Kauf nehmen. Im ganzen ift die Stimmung der 
„Muſikaliſchen Märchen” aud) in den „Schönen Frauen“ 
feſtgehalten. Es fei damit nicht gerade ein Lob ausge» 
ſprochen. Denn jene weiche Mollftimmung der Märden, 
bie ein Meines Feld hatten und ſich daran genligen ließen, 
recht file größere gefchichtliche Situationen und Perfün- 
iihfeiten, die do in den „Schönen Frauen“ auftreten, 
nit aus. Hier verlangt der Gegenftand Licht und Schatten, 
Dur und Mol müffen wechjeln und bem weichen 
Frauengemüth müſſen ftarfe männliche Charaktere jecun- 
dire. Nemo ultra posse! Das eng begrenzte Genre 
ber Polko ift bedeutender als das der Berfafferin von 
„Steeben und Leben‘; das Genre der Pollo ift erlaubt, 
denn „erlaubt ift, was gefällt“. 
5. Walram Forft, ber Demagoge. Roman von Philipp 

Salen Bier Bände Berlin, Janke. 1868. 8. 

6 Thlr. 20 Nor. 

Was Goethe doch für Unheil angerichtet hat mit feinem 
Ausſpruch: „Im Noman follen vorzüglih Gefinnungen 
und Begebenheiten vorgeftellt werden, im Drama Charaftere 
md Thaten!” Nun begeben fd; unfere neuen dentfchen 
Romanfchreiber ganz der Thaten und thun mit Gefinnungen 
allein Schon fo, als wären es Thaten! Diefer Walram 
Forſt, von bem wir bem Titel nad) vermutheten, e8 werde 
ms an feinem Lebensgange eine Epoche deutſchen Stre- 
bens und politifchen Lebens, zum mindeften doch eine 
thatenreiche Manneögeftalt vorgeführt werben, Hält nad 
Goethe's verhängnigvoller Andeutung da8 Vorbringen des 
Banzen zur Entwidelung auf. Und leidet er als echter 
Romanheld? Nein, er bleibt im Hintergrunde, da er 
bereits vor Beginn des Romans als Demagoge auf dem 
Ehrenbreitftein gelitten hat, von dem er entfpringt, und 
durch Londoner Handelsthätigkeit ſchon zu Anfang des 
Romans ein reiherr Mann wird. Was wir erft Mitte 
des vierten Bandes erfahren, daß nämlid) Walram kein 
anderer ift als der Bauaufſeher Magnus und ber alte 


[4 


Herr von ber Flühe, ahnen wir fchon bis zur Gewißheit 
im zweiten Bande. Daß der junge Hugo, Walram’s 
Sohn, die Tochter der Retterin und Yugendgeliebten des 
Demagogen, die ſchöne Bettina, Tiebt, ift die einzige Ve 
gebenheit, die vor unfern Augen ſich zuträgt, obwol auch 
bier die Geſinnung das Beſte thut und die Liebesgefchichte 
ohne Nerv und Mark ifl. Den übrigen Theil des Ro- 
mans füllen Miniaturautobiographien, ein paar Nature 
Hilderungen und unerträglihe Schwägereien bes alten 
Jeremias Heiduck aus. Eine endlofe Weitfchweifigkeit 
legt fi) wie ein dider Nebel um das Ganze und raubt 
bee fonft angemeflenen Diction jede Friſche. Wir haben 
den Autor fchon bebeutend anregender und origineller ges 
funden als in feinem lesten Werl. Waren in feinen 
frühern Romanen die ihn begeifternden Mufen auch feine 
hohen Göttinnen, fo waren es doch ehrliche hübfche 
Bürgermädchen, nun aber find fie in „Walram Forſt“ 
langweilige alte Yungfern geworden. Wie wenig verlangt 
der unverdorbene deutſche Lefer von feinem Romanfchreiber, 
und boch wie ift dies wenige fo viel in ben Augen bes 
guten Geſchmacks! Charaktere, Handlung und eine ver- 
ftändige Sprache find das wenigfte, was der Lefer fordern 
fann, und baran ift Galen, der, wie wir fürchten, ſich 
der Bieljchreiberei in die Arme geworfen, in feinen neueften 
Merk fo fehr arm. Wie originell und bedeutend war 
der „Irre“, wie derb und körnig fein „Andreas Burns“! 
Nach letztgenanntem Roman zu urtheilen, fcheint es, als 
ob ein Hiftorifcher Hintergrund und die Ideen einer be= 
wegten Zeit den Kiel Galen’s beflügelten und ihn an Kraft 
und Leben gewinnen ließen. Hoffen wir bei feinem nächſten 
Opus auf die forgfame Durdjarbeitung eines glücklichern 
Stoffs als der des vorliegenden Romans, 

6. Ein ausgeriffenes Blatt. Roman von M. Anton Rien- 
dorf. Zwei Bände. Berlin, Hausfreundb-Erpedition. 1868, 
Br. 8 3 Thlr. 

Einen höhern und vollern Ton als „Walram Forſt“ 
Schlägt Niendorf's Roman an. Hier ift ber Verſuch, die 
Willkür ftandesherrlichen Gerichts- und Verwaltungsweſens 
am Faden romanhafter Erfindung nachzuweiſen, durchaus 
gelungen. Ein im beiten Sinne moderner Roman liegt 
bier dor und. Wie es die Richtung d. DL. ift, 
den modernen Gedanken, mo er in Wort und Ber Har 
und warm auftritt, hervorzuheben, zu unterflüßen und 
feine Berechtigung zu vertreten, fo kommt fie dem gefun« 
ben Realismus Niendorf’ gern entgegen. Wie einfach 
und doch bewegungsträftig ift die Handlung im „Aus- 
gerifjenen Blatt”! Wie ſcharf, wie treu nad) dem Leben 
gezeichnet, und doc wie voller Farbe und gefättigter 
Gedanken find diefe handelnden Menſchen! Der weiche 
edelmüthige Graf, der männliche Fortfchrittsfreund Lafer, 
der gelehrte, üngftliche Profeffor, die ftarkherzige und doc) 
mädchenhafte Clotilde, die jumferliche und bureaukratiſche 
Geſellſchaft der Xaver und Amelang, wie find fie alle aus 
dem Holze unferer Zeit gefehnitten! Ein lebendiges Zeit. 
bild rollt fich, zumal im zweiten Bande, vor uns auf, wo 
das Kriegsjahr 1866 mit allen feinen wirthfchaftlichen 
Folgen in fortfchreitender, fein gegliederter Bewegung ges 
jHildert wird. Dem Realismus und feinen Vertretern 
fällt, jo follte man meinen, die gefchmadvolle edle Diction 
ſchwerer als bem formellern Idealiemus. Bon dieſer 


18* 


140 


Kegel macht Niendorf's Werk eine hervorzuhebende Aus- 
nahme. Die Gleichmäßigfeit der nobeln Diction, bie 
faubere Ausarbeitung des Dialogs iſt im vorliegenden 
Roman fehr erfreulih. Wen die Auseinanderfegung ber 
londwirthichaftlichen Zuftänbe weniger Interefle abgewinnt, 
der wird fich an der plaftifchen Figur Clotildens erfreuen, 
einer Berlinerin, die noch nicht von der berufenen Reſi⸗ 
denzluft angefräufelt if. Wen nicht die wie aus bem 
Leben abgefchriebene Kreistagsverhandlung in ihrer bra- 
matiſchen Schilderung feflelt, dem wird die große Scene 
der empörten Weiber von Walderode, denen man bie 
Kiffen zerſchnitten, ungemeine Ergöglichfeit bieten. Kurz 
jeder verftändige Sinn, der vom Roman etwas mehr als 
krankhafte Phantafiegebilde fordert, wird in Niendorf’s 
Roman Ausbeute für Kopf und Herz finden. Die Zeit 
romane dieſes Genre find noch felten, fo felten wie bie 
Auerbach, Freytag und Spielhagen, bie uns die Gegen- 
— zum beliebteſten Gegenſtand des Romans gemacht 
aben. 
7. Album. Bibliothek deutſcher Original-Romane. Dreiund⸗ 
zwanzigſter Jahrgang. 1868. Robert Clive, der Eroberer 


von Bengalen. Hiftorifher Roman von Adolf Mützel⸗ 

burg. Yünf Bände Leipzig, Günther. 1868. 8. Je⸗ 

der Band 10 Ngr. 

Ein Hiftorifcher Roman! Auch diefe Serie unjerer 
Beſprechung darf nicht ohne Hiftorischen Roman vorüber- 
gehen. Das ganze ruhmbeglänzte, biutbefledte Leben des 
Eroberer von Bengalen zieht an uns vorüber; Mützel⸗ 
burg hat weder Worte noch Papier gejpart, um uns 35 
Jahre eines genialen Menfchenlebens anſchaulich und, ſo⸗ 
weit e8 der Romananftand erlaubt, Hiftorifch treu zu 
ſchildern. Lord Elive's Anfang und Ende find fo dra⸗ 
matifch, daß es Fein Wunder ift, wenn dem Autor Cha- 
raktere und Thaten ſchon durch feinen Stoff zufliegen. 
Über wer indiihe Pracht, wilde Kriegsfcenen, Kämpfe 


Die Dichterin von Öandersheim. 


des Schwertes und bed Herzens mit flammenber Feder 
befchrieben fehen will, der fühlt ſich bei ber Lektitre bes 
vorliegenden Romans enttäufcht. Es ift etwas von Galen 
in dem Autor des „Robert Clive”, es wird uns mitunter 
zu Muth, als ob wir mit- fiichblütigen Menſchen zu thun 
bätten ftatt mit kühnen Eroberern, mit jener Kaffe von 
britifchen Conquiſtadoren, die vor Wifchnu und allen 
Zeufeln nicht zurüdichredten. Allein vomanhafte Dar- 
ftellung der Gefchichte wird uns, gegenüber den Hiftorijchen 
Phantaftereien der Ketcliffe, Kaszony u. a. nicht unwill⸗ 
fommen fein, fobald nur bie Dehors der Zeitfürbung und 
einer anftändigen Diction wahrgenommen find. Und dann 
ift der geniale Abenteurer Clive von jeher voller Anzie⸗ 
hungskraft auf Hiftoriler und Poeten gewefen. Bon den 
erftern hat Macaulay in einem feiner Eſſays die Geftalt 
des Fühnen Mannes zum Vorwurf genommen, ber er in 
großem Hiftorifchen Stil gerecht wird. Unter den Dichtern 
bat Rudolf Gottſchall feinen „Nabob“ das Tichten und 
Trachten Clive's zum Sujet gegeben, weitaus gewaltiger 
und dichterifcher, als e8 Mützelburg vermocht hat. Die 
tragische Schuld bes Helden, die ihm zuletzt felbft die” 
Piftole in die Hand drückt, wird bei dem Dramatiler 
Kern und Lebensnerv der erfihütternden Handlung, wäh⸗ 
vend fie bei dem Romancier leife nebenhergeht. Ohne 
ethifchen und politifchen Hintergrund verläuft die Handinng 
bes Romans, während der Dichter und die Beziehung des 
fhuldbewußten Individuums zu den fittlichen Mächten 
mit dem ſchönen Wort andentet: 


Ein anbres, größeres Geſchlecht ale diefes 
Mad’ unfte Frevel gut, laß unſre Fahnen 

Als Segensfahnen wehn in allen Zonen! — 
D, alles Große muß am Fluche fierben, 

Hält ſtets das Schwert aufs eigne Herz gezlidt; 
Den Segen aber wirb die. Nachwelt erben. 


| Stan; Hirſch. 


Die Dichterin von Gandersheim. 


Dttonifche Studien zur deutfchen Geſchichte im 10. Jahrhundert. 
II. Hrotfuit von Gandersheim. Zur Literaturgeihichte des 
10. Sahrhunderts von Rudolf Köpfe. Mit einem photo⸗ 
Kithographirtem Bilde der münchener Handſchrift. Berlin, 
Mittler und Sohn. 1869. ©r. 8. 1 Thlr. 25 Ngr. 


Unter den Namen aus der deutfchen Literaturgefchichte des 

10. Jahrhunderts ift ber von „Roswitha“ (Hrotfuit) jeden- 
falls der befanntefte. Jedermann befigt eine ungefähre Vor⸗ 
ıftellung davon, daß eine Nonne eines ſächſiſchen Klofters die 
feltfame Idee gefaßt und verwirklicht hat, den heidnifchen 
Komödienfchreiber Terenz durch hriftlihe Komödien — 
nach unjerer Terminologie richtiger Dramen oder gar 
Tragddien — zu überbieten und zu verdrängen. Die Ge- 
ftalt der Schriftftellerin fteht fo originell und fo einſam 
in ihrer Zeit da, daß fie wol als ein literarifches Wunder 
epriefen werben barf, wie es ihr don vielen begeifterten 

Berehrern bis auf diefen Tag reichlich zutheil worden ift, 
Es mag aber fehr wenige unter den vielen geben, bie 
ihren Namen nennen, welche jene intereflanten Producte 
gelefen oder auch nur einen Blick anf fie geworfen hätten, 


Und daß derſelbe Titerarifche Genius ſich auch auf ganz 
andern Gebieten ſchöpferiſch erwiefen, pflegt nur dem 
engen Seife der eigentlichen Gelehrten befannt zu fein. 
Aber gerade dadurch erhält das Phänomen erft feinen 
vollen Glanz. Mindeſtens daſſelbe Talent, welches fich in 
jeh8 großen Dramen entfaltete, bethätigt fi) and) in einer 
ganzen Reihe von chriftlihen Heldengedichten in epifcher 
Form und endlich in zwei großen eigentlich Hiftorifchen 
Epopden, von denen die eine die Thaten des Helden des 
Jahrhunderts und des deutfchen, fpeciell des ſächſiſchen 
Volkes, Dito des Großen feiert, die andere ein befchei- 
deueres Ziel, die Darftellung der Gefchichte des Kloſters 
Oandersheim, ber Heimat der Dichterin, verfolgt. Selt⸗ 
ſam wie die poetijche Individualität der Dichterin ift 
aber auch alles, was um ihr ift und zu ihr gehört. Rein 
Zeitgenoffe erwähnt ihrer, und doch wurde damals viel 
gejchrieben und das ganze Weſen der Dichterin fegt einen 
ſehr intenfiven Titerarifchen Verkehr voraus, wie wir ihn 
und auch aus andern Zengniflen der Zeit reconſtruiren 
Fönnen,. Kein fpäterer Schriftfteller bes Mittelalterg kennt 


Die Dichterin von Gandersheim. 141 


md benutzt fie, und doch beruht die fo unendlich breite 
Literatur jener Periode, ſhauptſächlich auf unaufhörlicher 
Compilation und Transmutation des ſchon Vorhandenen, 
bejonder8 wenn dafjelbe irgendeine Spur von Originalität 
an fih trug. Bei Hrotfuit ift aber nicht blos eine Spur 
von Originalität, fondern fie ift originell vom Wirbel bis 
zur Sohle, einzig in ihrer Art, mit nichts anderm im 
10. aber auch in keinem der andern Sahrhunderte des 
Mittelalters zu vergleichen. Es wäre eine zu wohlfeile 
fung des Räthſels, wollte man fagen, eben weil fie 
gar zu originell war, mußte fie vergeffen werden. Nur 
ein paar armfelige Spuren in einer Reimchronik bes 13. 
Sahrhunderts lafſen fi auf eins ihrer Werke, und zwar 
auf das mindeft felbftwiichfige, die Gefchichte ihres Gan⸗ 
dersheim, beziehen, freilich. nicht viel, aber doch wichtig 
geung, weil damit die Fortexiſtenz wenigftens eines biefer 
Werke bewiefen wird. Erft am Ende des 15. Jahr⸗ 
hunderts taucht in Regensburg eine Handfchrift auf, 
welche den größten Theil ihrer Werke enthält. Die füb- 
beutichen Humaniſten, voran ihr Führer Konrad Celtis, 
bemächtigen fich dieſes Schages und heben ihn durch eine 
iplendide Drudausgabe gerade im erſten Jahre des Jahr⸗ 
hunderts der Reformation. Aber die Lücken diefer einen 
Sandfchrift laſſen ſich durd) feine zweite ergänzen: zwar 
iheint noch im 17. Jahrhundert eine zweite vorhanden, 
bie aber feitdem verjchollen ift, in welcher die Gefchichte 
von Gandersheim ftand, die dort fehlt, und erſt neuer- 
dings findet fich eine fpäte Abſchrift jener regensburger 
Handſchrift, die nicht erft aus dem Drude, wie manche 
andere in jener Zeit der noch unentfchiedenen Con⸗ 
currenz zwifchen ber Prefle und der Schreibfeber, ge- 
Neffen i 


en 
Bon Celtis an bis auf diefen Tag hat fich bie gelehrte 
Belt mit ftaunenswerthem Eifer bemüht, dad wieder gut zu 
machen, was die Zeitgenofjen und das fpätere Mittelalter ver- 
fänmten. Eine Flut von Ausgaben, literarifchen und äfthe- 
tifchenlinterfucgungen und Darftellungen Bat eine ftattliche 
Specialliteratur erzeugt, deren einftweilige Refultate diefes 
Buch Köpke’3 mit feiner gründlichen, gediegenen Berarbei- 
tung des geſammten aufgeftapelten Materials bezeichnet. 
Bon einem Abſchluß der Arbeit Tann aber bier nicht 
einmal in dem bedingten Sinne wie anderswo die Rede 
jein: ber Räthſel und wiſſenſchaftlichen Fragen werben 
immer mehr, je ernfthafter die Forſchung diefem Objecte 
zu Leibe geht, und alles bisher Gethane erweift ſich nad) 
jeder Richtung Bin als unzulänglicher Anfang. 
Momentan concentrirt ſich jedoch das hauptfächlichite 
Interefie, weniger unter den eigentlichen SKennern und 
dechgelehrten als in ben weitern Kreifen der Gebildeten, 
auf eine Hypotheſe, zu deren Empfehlung ſich beſonders 
das jagen Läßt, daß fie durchaus neu und eigenthündic) 
isrem Urheber angehört. Der Hiftorifer Aſchbach in Wien 
bat vor zwei Jahren, 1867, bie Räthſel, welche unfere 
‚ Hrotfuit umgeben, jehr einfach dadurch zu löſen geglaubt, 


daß er ihre ganze Eriftenz als eine bewußte Fiction ihres 
erften Herausgebers, Celtis, barzuftellen verfuchte. Im 
Jahre 1868 bat er das Gewicht feiner Gründe in 
einer zweiten umgearbeiteten Auflage feiner kritifchen Un- 
terfuhung noch verftärft und, wie nicht geleugnet werden 
kann, nicht blos Erftaunen, fondern auch theilweife laute 
und apobiktifhe Zuftimmung gefunden. Kein Zweifel, 
daß gerade einem Bildungsftande wie dem heutigen mit 
einem rajchen Durchhauen eines folchen gorbifchen Knoteus 
ber Forſchung befjer gedient fein mag, als mit den lang- 
famen und ſcheinbar fo fruchtloſen Verſuchen, ihn zu ent⸗ 
wirren. Die ernfte Wiffenfchaft hat fich bisher durchaus 
ablehnend gegen diefe Art deſtructiver Kritik verhalten, 
fie hätte. überhaupt wol kaum Notiz davon genommen, 
wenn nicht das laute Triumphgefchret vom Markte auch 
bis in ihre ftillen Hallen gedrungen wäre. Auch Köpfe 
bat der directen Widerlegung Aſchbach's einen eigenen 
Abſchnitt widmen zu müffen geglaubt, obwol fein ganzes 
Buch indirect die vollftändigfte Widerlegung ift, inden 
ed und Ort, Zeit und Perfonen, in deren Mitte fid 
Hrotſuit geftaltete, fo Har und erfchöpfend wie niemals 
vorher auseinanderlegt. 

Aſchbach's Hypotheſe Tann eigentlich für ſich nichts 
weiter anführen als jenes innere und äußere Dunkel, 
welches über der Dichterin ruht und das auch durch bie 
neneften Unterfuchungen Teineswegs zerftreut, wenngleich 
an einigen Stellen gelichtet iſt. Aber genügt dies, um 
die Authenticität einer gefchichtlichen Geftalt überhaupt 
in Frage zu fielen? Wohin kämen wir mit hundert 
andern ebenfo unbegreiflichen, d. h. bisjetzt noch nicht ge⸗ 
nügend genetiſch erklärten Phänomenen? Was Aſchbach 
ſonſt noch fir feinen Vernichtungskampf als Waffen ge- 
braucht, erweiſt ſich bei näherer Beſichtigung als Spiegel⸗ 
fechterei. Schon allein die Thatſache jener Handſchrift, 
die entſchieden älter iſt als die Zeit des angeblichen Be⸗ 
trugs, vermag er nicht umzuflogen. Die größten Kenner 
der Paläographie haben fie früher und jegt für echt, d. h. 
für ein Werk des 10., höchſtens des 11. Jahrhunderts 
erflärt, und wenn auch die Anficht aufgegeben werden 
muß, daß es die Originalhandfchrift ſelbſt fei, fo ift es 
jedenfalls eine nur wenig fpätere Abſchrift. Findet eine 
Fälſchung ftatt, jo mußte fie ſchon damals erfolgt fein, 
und außer dem Namen ber Hrotſuit bliebe dann alles 
gerade jo wie vorher. Noch jeltfamer find die angeblichen 
Beweisftellen aus Celtis’ und anderer Humaniften Briefen 
und Schriften, aus denen fich ergeben foll, daß eine ganze 
Bande von Fälſchern das Publikum fyftematifch Hinters 
Licht zu führen ſuchte. Köpfe Hat fih die Mühe ge- 
nommen, auch diefer DBeweisführung nachzugehen, und 
eine ganze Reihe von Misverftändnifien, Flüchtigkeiten 
und factiihen Irrthümern nachgewiefen. Hoffentlich ift 
bamit der unerquidliche Gegenſtand ein fiir allemal er- 
edigt. 

Heinrich Rücert, 


— 











142 Deutſche Volks bücher. 


Dentfche Volksbücher. 


Auserleſene deutſche Bolfebliher. In ihrer urſprünglichen Rein⸗ 
heit wiederhergeſtellt von Karl Simrock. Zwei Bände. 
Frankfurt a. M., Winter. 1869. 8. 2 Thlr. 20 Nor. 


Außer feiner befannten großen Ausgabe ſämmtlicher 
beutfcher Vollsbücher läßt der für unfer Bolt fo uner- 
müdlih thätige Simrod in vorliegenden zwei Bänden 
eine Auswahl der fchönften erfcheinen. Der Werth von 
Simrod’s Arbeit im Bergleih mit den übrigen Samm⸗ 
lungen von Bollsbüchern braucht nicht ausführlich er- 
Örtert zu werden. Simrock bat zuerft, wie man von 
einem Bachmann nicht anders erwarten konnte, auf bie 
ursprünglichen Quellen hingewieſen und bat diefelben, wenn 
aud) in ber Sprache etwas erneuert, getreu wiedergegeben. 
Die Erneuerung ift übrigens fehr unmefentlih und un⸗ 
bedeutend, da die Quellen nicht älter als das 15. Jahr⸗ 
hundert find, aljo einem Zeitalter angehören, in welchem 
die deutſche Sprache im wefentlichen ſchon den heutigen 
Charakter an fich trägt. Auch die „Auserlefenen Volksbücher“ 
haben denfelben urkundlichen Werth; fie wiederholen genau 
die Texte der größern Sammlung. Zu bedauern ift, 
daß die Holzſchnitte weggeblieben find, denn uns will 
fcheinen, daß diefelben bei einer auf weitere Kreiſe be⸗ 
rechneten Auswahl beinahe noch mehr am Plage waren 
al8 in der großen Ausgabe. Bon den beiden vorliegenden 
Bäuden enthältder erfte die Volksbücher von „Senovefa”, den 
„Heiligen drei Königen‘‘, den „Haimonslindern“, „Hirlanda‘, 
„Sibyllen Weiffagung” und dem „ehörnten Siegfried”. 
Unter diefen find Genovefa, die Haimonslinder und Sieg- 


fried wol jedem Lefer jo geläufige Namen, daß wir eines 


nähern Eingehens auf fie und überhoben glauben. Wer 
niger befannt möchte da8 Vollsbuch von ben „Heiligen 
drei Königen“ fein, welches im 14. Jahrhundert von Jo⸗ 
hann von Hildesheim (geft. 1375) in Iateinifcher Sprache 
abgefaßt und noch anı Ende deffelben Jahrhunderts (1389) 
ins Deutfche übertragen wurde. Eine bafeler Handfchrift 
vom Jahre 1420 ift das ältefte Document der dentichen 
Geſtaltung, welche gedrudt erft am Ende des 15. Jahr⸗ 
hunderts erjchien. Dieſe Gefchichte von den Heiligen brei 
Königen, deren Legende mit Köln in Verbindung gebracht 
ift, Hat ſchon Goethe's Wohlgefallen erregt und wird 
auch unfere Zeit durch den einfach ſchlichten Ton ficherlic) 
anmuthen. Durch feinen Inhalt berührt dieſes Büchlein 
fid) mit den Weiffagungen der Sibyllen, welche wie fo 
viele unferer Voltsbücher auf einer ältern poetiſchen Faſ⸗ 
fung beruhen; man löfte die alten Gedichte, dem Ges 
ſchmacke der Zeit entfprechend, in profaifche Form auf, 
und fo wurden fie gedrudt. Das Gedicht von „Sibyllen 
Weiſſagung“, welches der Mitte des 14. Jahrhunderts 
angehört, ift nun allerdings nicht die einzige Quelle des 
Volkobuchs, fondern dieſes ift aus Mitbenutzung anderer 
Sibyllenfchriften von mehr gelehrtem Charakter hervor⸗ 
gegangen. Engern Anſchluß an die zu Grunde liegende 
Dichtung zeigt das Volksbuch von „Wigoleis vom Rade“, 
welcher den zweiten Band eröffnet, denn diefer ift in 
der That nichts anderes als eine directe Proſaauflöfung 
der Dichtung des fränfifchen Ritters Wirnt von Grafen⸗ 
berg aus dem Anfange des 13. Jahrhunderts. 


Der zweite Band enthält außerdem ben „Armen Hein⸗ 
rich“, „Herzog Ernſt“, „Ahasverns“, „Kaifer Octavianus“ 
und die „Schöne Melufina‘. Das erfte der genannten Bü 
her ift fireng genommen fein Bollsbuch, wol aber im Bes 
griff eim folches zu werden. Es ift die. befannte Dich—⸗ 
tung Hartmann's von Une (um 1200 verfaßt), auf 
welche biefes jüngfte aller „Volksbücher“ fußt. Der 
Bearbeiter Bat dabei durchaus denjelben Weg eingeſchla⸗ 
gen, den die Volksbücher des 15. Jahrhunderts auch ge» 
gangen find: er gibt im wefentlichen eine Proſaauflöſung, 
in welcher gerade wie auch in ben alten Druden ber 
Volksbücher hin und wieder no die Reime zu erkennen 
find. Man kann fragen: bat ein moderner Bearbeiter 
das Recht dazu, auf dieſe Weife in ber unmittelbaren 
Gegenwart ein Volklsbuch zu fchaffen und es den alten, 
längft überlieferten Vollsbüchern an die Seite zu ftellen? 
Wir glauben: ja, wenn bie Erzählung ihrem ganzen 
Charakter nad) dazu angethan ift, ein Bollsbuh im 
echtem Sinne zu werden. Und dies ift ficherlich, wie 
jeder zugeben wird, beim „Armen Heinrich” der Fall. Wäre 
das Gedicht Hartmann's einem jener Projaanflöfer bes 
15. Jahrhunderts gerade umter die Hände gekommen, es 
würde uns dann wahrjcheinlih aud in einem Drude des 
15. Yahrhunderts nur in Profageftalt vorliegen. Wir wol⸗ 
Ien aljo dem trefflichen Exrnenerer dankbar fein, daß er 
das, was der Zufall im 15. Jahrhundert verfchuldet Hat, 
im 19. nachgeholt. 

Der zunächft folgende „Herzog Ernſt“ weift uns wieder 
auf ein lateinifches Original, ein Werk eines Geiftlichen 
aus dem 13. Jahrhundert, welches ſeinerſeits wieder 
auf einer alten deutſchen Dichtung von 1180 berußt. 
Nach diefem Iateinifchen Zerte wurde im Anfang des 
15. Jahrhunderts, wenn nicht ſchon am Ende des vor⸗ 
audgegangenen, eine beutfche Ueberfegung gefertigt, Die 
fih in einer münchener Handſchrift zugleih mit dem 
lateiniſchen Original erhalten Bat; und diefe Handſchrift 
ift, wie ich in meinem „Herzog Ernft“ nachgewieſen habe, 
da8 Original, aus welchem die alten Drude geflofien 
find. Hätte ftatt der Mönchsproſa der Ueberſetzer das 
alte lebensvolle Gedicht vor fich gehabt, wie beim Volks⸗ 
buche von „Zriftan”, „Wigoleis“ u. a., und es in Profa 
aufgelöft, fo würbe das beutfche Volksbuch von „Herzog 
Ernft ohne Frage einen beſſern Eindrud machen. Wir 
jehen aus diefem Beifpiele, wie fehr wir vom Zufall 
abhängig geworden find. Sollte nicht auch hier es ver⸗ 
ftattet fein, der Ungunft deffelben zu Hülfe zu kommen? 
Wir Halten es durchaus für unbedenklich und erlaubt. 

Bon allgemeinerm Intereffe wird der nun folgende 
„Ahasverus“ fein, weil ex die ältefte Duelle und Darftel- 
Iung der Sage vom Ewigen Juden ift, der fo viele 
unferer neuern Dichter zu poetifcher Bearbeitung gereizt 
dat. Die Erzählungen von ihm tauden im 16. Jahr⸗ 
hundert auf; die ältefte befannte Ausgabe ift eine leydener 
bon 1602, welche aber von geringem Umfange ift und 
den Anfang bei Simrod bilde. Nachher folgen aus 
jpätern Ausgaben entnommene ausführlichere und jüngere 
Berichte, welche aber gleichwol auch auf ältere Quellen 


Feuilleton. 


und Ueberlieferungen zurückweiſen. Die beiden letzten 
Stüde des zweiten Bandes: „Octavianus“ und „Schöne 
Melufina”, ruhen auf franzöſiſchen Profaquellen, die ihrer- 
jeits wieder auf Äftere Dichtungen zurüdzuführen find; denn 


143 


in Frankreich war der Entwidelungsgang der Volfsbicher 
genau derfelbe wit in Deutfchland: auch fie find Profaaufs 
Üfungen älterer Gedichte, die im 15. Jahrhundert und fpäter 
diefe Formveränderung erfuhren. Karl Bartſch. 





Feuilleton. 


Notizen. 

Dr. Friedrich Sehrwald gibt Heraus: „Deuiſche Dich⸗ 
ter uud Denker der vaterländifhen Jugend und ihren Freun- 
deu ausgewählt und durch Titerarbiftoringe Charakteriftifen eine 
geleitet“ (Altenburg, Bonde, 1870). Uns liegen die drei erfteu 
Lieferungen vor; das ganze Wert ift auf zehn Lieferungen bes 
rechnet. Was die Principien der Auswahl betrifft, fo können 
wir fie nur billigen. Sämmtlihe Sähriftfteler, von denen 
Proben mitgetheilt werden, gehören mit wenigen Ausnahmen, 
zu denen Luther, Paul Gerhardt und Logau zählen, den legten 
hundert Jahren unferer Nationalliteratur an. Auch die nenern 
Dichter find, und mit Recht, in hervorragender Weife berlid- 
ſichtigt worden. Dies if ein Foriſchritt gegen derartige Lite- 
raturmerfe für die Jugend, welde nur den alten tradittbnellen 
Kram immer von neuem auftifhen. Treffend fagt der Here 
ausgeber in der Borrede: „Wir haben unfere Auswahl, jedod) 
nur was die Dichter anlangt, bis herauf zur nädjften Gegen⸗ 
wart geführt, da diefe, in der Dichtlunft wenigfiens, troß man« 
her Abirrung und,den mehr zur Herrfhaft gelangten Zeitten- 
denzen, in den bervorragendern Berfönligkeiten noch immer 
unter der Anregung und dem Einfluffe von Schiller und Gor- 
the fteht. Cine zwedmäßige Auswahl gerade aus den neuern 
Dictern ſchien aber um fo mehr von nöthen zu fein, je leichter 
hier Irrangen Über Berth und Unwerth zumal für die Jugend 
möglid, find, der doch fiher ein beflimmteres Recht auf eine 
nähere Betanntſchaft mit den poetifhen Leiftungen der unmittel- 
baren Gegenwart nit abgeſprochen werden fann. Wo Lönnte 
jemals wieder ein ciaſſiſches Zeitalter der Porfie gehofft wer⸗ 
den, wenn bie Dichter fort und fort fängen nnd unfere Jugend, 
als wäre aller Gefang ausgeftorben und pulfirte das Leben der 
Boefie nicht mehr in friſchen Herzſchlagen, nur mit den großen 
Scöpfungen der Vergangenheit bekannt gemarht würde, die, 
je weiter fie hinter ung zu liegen kommt, um fo viel mehr ge» 
iehrten Apparat zu ihrem Verfländniß nöthig made.” Aud 
die, freilich wicht bei allen einzelnen Autoren durhführbare 
Dreitheifung der ausgewählten Proben in Lieder, Sprüde und 
Anregungen verdient die Zufimmung der Kritil. Ju der That 
befigt umjere Literatur, wie Sehrwald fagt, einen reihen Schatz 
von Sprüden, der für die Jugend nod nicht gehoben ift. 
Auch unfere modernen Dichter find reich am Senienzen, und 
die mehr oder minder prägnante Faffung derjelben erjcheint 
ung für die Werthmeſſuug der dichieriſchen Begabung als ein 
entfdeidender Maßſtab. Es gibt vielgenannte Schriftfteller, 
deren Werfen man kaum eine für dem Gedanfenfhag der Na- 
tion geprägte Geiflesmünge entnehmen Tann, während die did- 
teriſche Originalität anderer Zieffinniges in dauernder Form 
des Ausdınds niederlegt. Daß_Gehrmwald auch die hervore 
ragenden Denker mit in feine Sammlung aufgenommen, ift 
am und für fid) au billigen, wenngleich bei Mitheifung einzel» 
mer Bruchftüce die Gefahr unvermeidlich ift, daß die Popular« 
philoſophen über die großen Denker, deren ſyſtemſchaffende 
Thatigieit ſich in Fragmenten gar nicht abipiegeln fann, den 
Sieg davontragen, uud ein Garde und Fries 5. ®. in einer 
folhen Sammlung bedeutender eriheinen als Fichte. Ein 
gleiches Bedenken hegen wir gegen die vorzugsweiie Befchrän« 
fung auf die Lyrik; bis auf Hleinere fentenzenartige Stellen 
Find alle Brudftüde aus Epen und Dramen ausgefdloffen. 
Der Herausgeber erklärt dies damit, daß er ftets beftrebt jei, 
ein im fi) geſchloſſenes Ganzes zu geben, das aud für fi 
allein ſchon verftändlidh fei. Allerdings wird ein epiſches und 
dramatifes Kunftwert als Totalität nie aus Fragmenten be 


urtheilt werden können; gleichwol läßt fih aus einzelnen Sce- 
nen und Stellen, die wenigflens ein relatives Ganzes bilden 
und an und für fid verländlic, find, dad) der epifde und 
dramatifhe Stil eines Dichters und die Eigenthlimlichteit fei- 
ner Darftellungsmeife erfennen. Dies f—heint uns fhon genli- 
gend, um die Dutalung auch ſolcher Fragmente zu rechtfertie 
gen. Mehr noch aber fordert dezu eine andere Gefahr auf. 
Das Urtheif der Jugend faun leidjt verwirrt werden durch die 
ausſchtiehiiche Berldfigtigung der Lyrifer. Cin Autor, dem ein» 
mal ein artiges Lied, ein hübfdhe® Gedicht gelang, fteht hier in 
Reih und Glied mit den Meiſtern des Gefanges, während epiw 
ſche und dramatifhe Dichter vom großer geifiiger Bedeutung 
und großem Streben, die in der Nationalliteratur und in ihrem 
Einfluß auf die Nation eine ganz andere Rolle fpielen, auge 
geſchloſſen find, fobald fle nicht auch einmal in der Lyrik ſich 
verfuchten. Die „Wuthologien‘ ſchon beglinfigen die hrifer 
in gleiher Weile; ein Wert, das „deutfhe Dichter und Den- 
ter“ bringt, follte diefen Standpuntt der Anthologien nicht zu 
dem feinigen machen. 

„Bon Leopold von Ranke’s „Sämmtlichen Werken" 
(Leipzig, Duuder und Humblot) find im vorigen Jahre ber zwöifte 
bis funfgehnte Band erjdjienen. Wir machen befonders auf den 
dreigehnten aufmerffain, welcher als ſecheter Band der „Franzöfie 
fen N die Briefe der Serjogin von Orleans an die 
Kurfücin Sophie von Hannover mit einer kurzen Charal- 
teriſtit der Vriefftellerin in Rante’s gemohnter feinausfchneiden- 
der Silßonettenmanier enthält. Der derbftäftige Originalfil der 
Herzogin fhreibt die euliurhiſtoriſchen Bilder mit Fraciurfchrifi 
Sehr ungenau zeigt ſich das Porträt, das neuerdings Paul 
‚Heyfe mit feiner alademifder Pinfelführung in feinem Drama 
von ihr entworfen hat. Der vierzehnte und funfzehnte Band 
bitden die beiden erſten Bände der „Englifhen Gejchichte, vor⸗ 
nehmlid, im 17. Jahrhundert‘, ein Werk, das bier im dritter 
Auflage erſcheint. 

„Dumbolbtperlen. Gin Demantkranz aus Alerander 
von Humbolbt’s Leben und Schriften” (Leipzig, Wartig, 1869) 
lautet der Titel einer Meinen Anthofogie, die vorzugsweife aus 
dem „Kosmos“ zufammengeftellt ift; die „Anfichten der Natur‘ 
und die „Amerifanifde Reife‘ geben geringere Beiftener. Auch 
Barnfagenie „Zagebücher" find eitirt im erften Abjchnitt, der 
einen Abriß von Hnmöoldt's Leben gibt. Ein chronoiogiſches 


Berzeihniß feiner Schriften ift dem Werkchen angehängt. 





Kibliographie. 


Almeisa, ein Drama 
arbeitet. Bert 









je 
keclin, Sante, 8. 
eber, Die Aöfte 
beutfcpe Wolf und jeine Bertrei 
erther, 






gt 
dr 


rauenrache. Amerikanif ü 
ne: Benin, Dongmann k. dompı dr 5 gienteman i 


Ein offenes Wort in Sachen der Re 
aller Confessionen geschrieben von einem. 





Für denkendo Christen 
ien. Bern, Jenni. Gr. 16, 


gr. 

Ein Wort an das bayerische Volk und dessen Vertreter von einem 
Soldaten. Würzburg, Sinhel, Gr. 8. 6 Ner. j 

Zi m Studien und Kritiken zur Philosophie und 

Ei Wien, Braumäller. Gr. 8, 4 Thlr. 

Zingerle, d. V,, Bericht über die in Tirol im Jahre 1868 ange- 
stellten Welsthämer- Forschungen, Wien, Gerold's Sohn. 1869. Lex." 
4 Ner. 















Au TE. 1 
TEL u “ 


144 
Un eig 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Soeben erfdien: 


Hundert Dafre. 
1770 — 1870. 
Zeit» und Lebensbilder aus drei Generationen. 


Bon Heinrich Albert Oppermann. 
Erfter Theil. 8 Geh. 1 The. 10 Nor. 

Wenige Tage nad dem Erſcheinen des erften Theile dieſes 
Werks farb plötlic der Verfaſſer deffelben, der als Mitglied 
bes prenßiſchen Abgeordnetenhaufes bekannte Obergerichtsanwalt 
Oppermann ans Hannover. Das Werk, ein umfaflfender cul- 
turhiftorifher Roman, verbindet Wahrheit und Dichtung zu 

er Reihe vierfeitip. intereffanter Gemälde, die im ihrer Ge⸗ 
A mtbeit das Zeitbild eines ganzen Fahrhunderis entrollen. 
Beſonderes Intereſſe dürften die Illuſtrationen zur Geſchichte 
des Welfenreichs, meiſt nad) eigenen Erlebniſſen des Verfaſſers 
mitgetheilt, in Anſpruch nehmen. Die folgenden Theile des 
(im Manuſeript vorliegenden) Romans werden raſch nachein⸗ 
ander erſcheinen. 


Verlag von Fr. Kortlampf in Berlin. 


Stedefeld, G. F. Kreisgerichtsrath. Natura⸗ 
liſtiſche Auffaffung der Engländer von Stant 
und Kirche, leg. geb. 24 Ser. 

„Das Bud) fteht auf dem Standpunkt der jet in England 
herrſchenden liberalen und national. dölonomifden Schule, und 
da deren Grundfäge und Anſchauungen ja mehr oder weniger 
auch die der Liberalen Parteien des Kontinente geworben find, 
fo wird ihre zufammenhängende Darlegung and Hier fowol 
Studirenden ale Publiciften und Abgeordneten von Nugen fein. 
Der Meberfeger Hat daher mit feiner Einführung in Deutſch⸗ 
Yand eine banfenswerthe Arbeit geliefert." (Boſſiſche Zeitung.) 


Wrottesiey, Lord. Gedanken über Regierung 
und Geſetzgebung. Aus dem Engliſchen überſetzi 
von ©. F. Stedefeld, Kreisgerichtsrath. Berlin, 
1869. SKortlampf. 1 Thlr. 5 Sgr. 

Didastalic, Nr. 221. 11. Auguft 1869. „Bedeutender 
find zwei PhiloTepbiig- -politiihe Schriften: Gedanken über Re⸗ 
gierung und Gejehgebung von Stedefeld und eine von letzterm 
verfaßte Studie Über die materialiſtiſche Auffaflung der Eng» 
länder vom Staat und vom Chriſtenthum, die zu jenem gehört 
und eine felbftändige Auffafjung bekundet.‘ 





Desfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Soeben erſchien: 
equiem 
von Dranmor. 
Zweite Anflage 8 Geh. 10 Ngr. Geb. 15 Nr. 

Diefer bereits in zweiter Auflage vorliegende Cyllus von 
Gedichten wendet fih an die Freunde ernfler, gedankenreicher 
Poeſie. Sie begegnen darin einem originellen und tiefen Geifte, 


der feine Ideen in das Gewand vollendeten dichterifchen Aus⸗ 
drucks zu Heiden verftebt. . 


Don dem (pfendonymen) Derfaffer erſchien früher in demſelben Derlage: 
Boetifhe Fragmente Zweite Auflage 8 Geh. 24 Ngr. 
Geb. 1 Thlr. 


Anzeigen. 


igenm 
OT ERGÄNZUNGSBLÄTTER, 


1870, 3. Heft. 


Geschiehte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy- 
denbrugk. — Nekrolog. 

Literatur: Max Müllers Essays zur vergleichenden Re- 
ligionswissenschaft und Mythologie, von Dr. Dühring. — 
Friedrich Spielhagen, von A. Strodtmann. — Nekrolog. 

Kunst: Zur Kenntniss unserer grossen Komponisten. IV. 
Robert Schumann. — Nekrolog. 

Archäologie: Steinzeitalter auf den griechischen Inseln. — 
Kjökkenmöddings. — Die alten Heidenschanzen Deutsch- 
lands. 

Meteorologie: Die neuesten Fortschritte der Meteorologie. 

Zoologie: Der Galago. — Das Blasen der Wale. 

Botanik: Die Wechselbeziehungen in der Verbreitung 
von Pflanzen und Thieren. — Wasserverdunstung der Pflanzen. 

Mineralogie und Geologie: Organische Reste in kry- 
stallinigchen Gesteinen, von H. Vogelsang. 

Volkswirthschaft und Statistik: Volkswirtbschaftliche 
Umschau, von A. Lammers. — Die Geschichte des deut- 
schen Zollvereins und Zollwesens, von Dr. Diühring. 

Handel und Verkehr: Die schweizerische Alpenbahr, I, 
von C. Kind. 

Technologie: Kohlensäure zur Feuerlöschung. — Feuer- 
feste Thone. 

Illustration: Der Galago. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 





Derſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 


Alfred de Musset. 


Eine Studie von 


Karl Engen von Ujfalvy 
Professor am nen. Lyceum J — 
8. Geh. 1 Thlr. 

Mit dieser Schrift beabsichtigt der Verfasser, den grossen 
französischen Lyriker Alfred de Musset dem Verständniss des 
Publikums näher zu bringen, indem er die einzelnen Dichtungen 
im Zusammenhange mit dem Leben des Dichters vorführt und 
sie mit sprachlichen und ästhetischen Erläuterungen begleitet, 





Verlag von Fr. Kortkampf in Berlin. 


Buchhandlung für Staatswissenschaften 
und Geschichte. 


Mittheilungen 
aus den nachgelassenen Papieren 


eines Preussischen Diplomaten, 
herausgegeben von dessen Neffen L. v. L. 
I. Band (enth. die Jahre 1779 bis Ende 1796) 2 Thaler. 


Am Schluß einer ansführfichen Beiprehung in Nr. 13 
der „Heidelberger Jahrbücher“ heift es: 

„Man mag aus diefer kurzen Angabe des in biefen Mit⸗ 
theilungen Enthaltenen die Wichtigkeit und die Bedeutung def» 
jelben entnehmen; fie verbreiten fi) über eine Periode, die auch 
in unfern Tagen zu einer vielfachen Controverfe über dae Ber- 
baften der beiden Großſtaaten Defterreih und Preußen in jener 
Periode geführt hat, und werden daher der geſchichtlichen For⸗ 
[hung ein neues, beachtenswerthes Material zuflihren.‘ 





Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von $. A. Brockhaus in Leipzig. 





| 


Blätter 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—a Br, 10. #9 


3. März 1870. 





Inhalt: Publiciſtiſch-hiſtoriſche Schriften. Bon Rudolf Doebn. — Neue Gedichte. Bon Gans Herrig. — Zur Culturgeſchichte 
des 18. Jahrhunderts. Bon Geinrig Räder. — Bom Büchertiſch. — Senileton. (Die Tantieme der Dramatiker und der nord⸗ 
bentfche Reichstag.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Publiciſtiſch · hiſtoriſche Schriften. 


1. Revolutionsbilder aus Spanien. Bon Michael Klapp. 
Hannover, Rünpler. 1869. Gr. 8, 1 Thlr. 

. Bor und nad) dem riege. Der Bermifhten Schriften 
zweiter Theil. Bon Heinrich Bernhard Oppenheim. 
Stuttgart, Kröner. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Nor. 

3. Rußland. und Europa. Bon Henri Martin. Deutſche 
dom Berfafjer darchgeſehene und vermehrte Ausgabe. Ueber» 
fett umd eingeleitet von Gottfried Kinkel. Haunover, 
Rümpler. 1869. Gr. 8. 1Thlr. 15 Nor. 


Es war zu erwarten, daß ein Ereigniß wie ber 
Sturz der Bourbonenherrfchaft in Spanien in unferer 
fchreibfeligen Zeit eine Menge von Federn in Bewegung 
fegen würde, mochten diefelben nun befähigt fein, etwas 
Gebiegenes zu Leiten, ober nicht. Was zunäcft die „Re⸗ 
volutionsbilder ans Spanien“ von Michael Klapp (Nr. 1) 
anbetrifft, fo find diefelben, unferer Meinung nach, von 
ſehr verfchiedenem Werthe. Ein fließender, gewandter Stil 
und eine pilante, feſſelnde Darftellung find an ſich loben» 
werthe Eigenſchaften, aber fie reihen nicht aus, um ernſte 
geſchichtliche Ereigniffe in würdiger Weife zu ſchildern. 
Dazu gehört mehr; bazu gehören vor allen Dingen 
wiffenfhaftliher Sinn, genügende Sachkenntniß und ein 
möglichft objectiver Forſchungsgeiſt, welcher den Cau- 
ſalnexus ber wirklichen Thatſachen zu erfaffen und ber 
Wahrheit gemäß wiederzugeben weiß. Blinde Partei» 
leidenſchaften verwirren nur und vermögen felbft die befte 
Sache nit zu fördern. Michael Klapp, der unſers 
BWiflens ein beliebter Fenilletonift eines bedentenden 
Blattes in Wien ift oder war, bereifte im Herbſt des 
Jahres 1868 Spanien, ſah bie revolutionäre Entwide- 
lung daſelbſt mit eigenen Augen und gibt ung nın in dem 
vorliegenden Buche die Refultate feiner Beobachtungen. 

Wir müſſen geftehen, daß wir faum glauben, Klapp 
wird durch feine „Revolutionsbilder“ feinen literarifchen 
Ruf mehren. Namentlich find die drei erften, unter dem 
Motto „A bajo los Borbones!” mitgetheilten Skizzen: 
„Das Bourbonenneft in Ban“, „Eine Begegnung mit Carlos 

1870. 10. 


0* 





Marfori und Padre Claret“, „Aus dem Roman der Köni- 
‚gin“, weber dem Inhalt noch der Form nad) empfehlenswerth. 
Die Ausdrudsweiſe ift oft geradezu lax und unzart, und 
die mitgeteilten Thatfachen trivial und ungehörig. So 
heißt es z. B. ©. 9 über Yfabella II. wörtlich: 

Aber man glaube ja nicht, die Bourbonenfürftin habe 
irgendweichen tprannifcien Zug im Antlig! ®eileibe nicht. 
Wenn man lange darin ſucht, findet man fogar einen gewiſſen 
Grad von Gutmlthigkeit darauf verzeichnet. Alfo gutherzig 
if fie and? „Dod das find fle alle”, fagt Ferdinand von 
Balter in „Cabale und Liebe” von einer gewiffen Gattung 
von Frauenzimmern, in ber ſich mitunter aud Königinnen 
finden. Iſabella ift 37 Jahre alt, ziemlich groß gerathen im 
Wuchſe, hat Augen vom nichteſagender Bläue, Augen, die des 
weifen Mirza Schaffy Sprud: „Des Auges Bläue deutet auf 
Trene‘, nicht wenig discreditiren. Im ihrem Gefichte ift das 
Hübfhhefte allenfalls der Heine Mund, der fo friſch drein ſchaut, 
als ginge er gerade zum erſten Kuſſe, während ih in feinem 

alle mit der Aufgabe betraut fein möchte, nad) intimen, amt- 
fen Duellen den Rechenſchaftsbericht Über dieſes Mundes 
Iangjährige Thätigkeit Herzuftellen. Nähere harakteriftiihe Keun- 
yißem von Ginnlicgfeit fehlen ganz im Geſichte ber aönigin, 
man wäre verſucht, fie faſt für phlegmatifh zu Halten. Biel- 
leicht fagen phrenologifche Unterfuhungen mehr von dem, was 
wir alle ohnehin wifien. 

In biefer Weife, die oft wirllich obfcön wird (S. 10 
heißt e8 3. ®.: Nabella Hat für fi) das Motto: „Wein, 
Männer und Gebetbiiher” und ift merkwürdigerweiſe bei 
diefer Lebensweiſe fehr did geworden), geht es Seiten hin 
duch fort; fabella’s Gemahl, Don Francisco, wird 
als „Zitularmann“ und „Titularkönig“ mit benfelben 
oder doch ganz ähnlichen Farben gefchildert wie feine 
Tran. 

Wir find durchaus nicht geneigt, die Königin Iſabella II. 
und das ganze Bourbonenwefen in Spanien oder fonftwo 
zu vertheidigen ober auch nur zu entſchuldigen; aber im 
Namen der Publiciſtik, im Namen der Geſchichiſchreibung 
müffen wir gegen bie Art und Weiſe proteftiven, wie 
Michael Klapp in dem in Rede ftehenden Buche beide, 

19 





146 


die Publiciftit und die Gefchichtfchreibung, in den Staub 
berunterzieht. Nicht jeder, der es fein möchte, ift ein Jo⸗ 
bannes Scherr. 

Unter den folgenden Schilderungen find einzelne fach» 
lich werthooller und ftiliftifch beffer gehalten, jo 3. 2. 
die als Feuilletonartikel Leidliche Skizze: „Eine Heerfchau“, 
und ber Aufſatz: „Riego und die Riegohymne.“ Der 
legtgenannte Artikel enthält anerkennenswerthe Deitthei- 
lungen über den „Spanischen Rienzi“ und gibt die von 
San-Miguel, dem Freunde Riego's, gedichtete Riego⸗ 
hymne in der MWeberfegung des Dr. Faſtenrath. “Der 
Componift diefer fpanifchen Marfeillaife war Don Joſe 
Melchore Gornis y Colmer; er ftarb in ärnlichen Ver⸗ 
hältniſſen zu Paris am 4. Auguſt 1836. 

Auch die biographiſchen Skizzen über Prim, Serrano, 
Topete, Dlozaga, Caſtelar und Garrido, womit daß 
Buch jchließt, enthalten manches Intereſſante und Lehr⸗ 
reihe, doch kaum genug, um den übeln Eindrud zu ver- 
wifchen, welchen bie erften „Revolutionsbilber” bei jedem 
Lefer, der einen gebildeten Geſchmack befigt, hervorrufen 
müſſen. 

Gediegener an Inhalt und ruhiger der Form nach, 
als das Klapp'ſche Werk, iſt Heinrich Bernhard 
Dppenheim’s „Bor und nad dem Kriege” (Nr. 2), 
obſchon auch Hier ftellenweife der Parteimann zu fehr in 
den Bordergrumd tritt. Wie der Berfafler in der kurzen 
Borrede feines Buchs erflürt, find die darin veröffent- 
lichten Aufſätze in den letzten drei bis vier Jahren ent- 
ftanden umd tragen deshalb allerdings faſt durchweg 
ganz dentlih das Gepräge ihrer Entjtehungszeit. Wenn 
es aber nicht felten vorkommt, daß manche publiciftifche 
Aeußerungen über Stimmungen, Richtungen oder Bes 
gebenheiten, die zu der Zeit, wo fie zuerft gethan wurden, 
nicht allzu ſchwer ins Gewicht fielen, fpäterhin ein nicht 
zu unterfchätendes hiſtoriſches Intereſſe gewinnen burch 
ben Ueberblid über Zufammenhang und Entwidelung von 
Borangegangenem zu Nacdjfolgendem, jo müſſen wir zus 
geben, daß die Mehrzapl der von Oppenheim in dem 
vorliegenden Buche publicirten Auffäte in dieſe Kategorie 
gehören dürfte. Andererfeits fcheinen und aber dieſe 
Auffäre weder ein fo großes publiciftifches Intereſſe 
noch einen fo Hohen Hiftorifchen Werth zu befigen, daß 
wir uns veranlaßt fühen, diefelben hier einzeln einer ge« 
nauern Beſprechung zu unterziehen. Es wird genügen, 
wenn wir unſere Lefer auf einige Artikel befonders auf- 
merkſam machen. 

Das Oppenheim'ſche Buch zerfällt in drei “Theile, 
von denen der erſte fünf Aufſätze politifchen Inhalts zählt; 
der zweite ift „Allerlei“ betitelt und enthält drei Artikel, 
von welchen die literar=hiftorifche Studie ‚Paul Louis 
Courier” volle Anerkennung verdient; der dritte Theil 
endlich umfaßt acht Kritiken, bie ſämmtlich interefjant 
und leſenswerth genannt werden müfjen. 

Unter diefen 16 Auffägen wollen wir nun folgende 
kurz hervorheben. 

Gleich der erfte Aufſatz des erften Theils, „Die 
Garantien der freiheit“ überfchrieben, ift eine verbienft- 
volle, von Geift und Sachlenntniß zeugende Arbeit. Der 
Autor erkennt darin die großen Vorzüge des Gneift’fchen 
Werks über „Das englifche Verwaltungsrecht“ gern an, 


Publiciſtiſch-hiſtoriſche Schriften. 


erflärt aber mit Recht, daß Gneift durch feine Nachwei⸗ 
jungen, die Berwaltung fei in England das eigentlich 
Primitive gewefen und die Verfaffung habe fi aus ihr 
erſt jpäter entwidelt, zu vielen Misdeutungen Beranlafjung 
gegeben habe, und daß er genöthigt fei, folche verkehrte 
Interpretationen abzulehnen. Berfaffung ift nach Oppen- 
heim in ftaatlichen Dingen nichts anderes als Garantie; 
denn da8 Weſen einer Berfaffung beftehe in ben Ga⸗ 
rantien ihres Beftandes. Der Autor tritt (S. 10) dem 
Gemeinplage entgegen, demgemäß man England für eine 
ariftofratifche Republik zu erklären pflegt; es ſei richtiger, 
zu jagen, England fei eine oligarchifche Republik, die 
fih täglich mehr demokratifire.e Wenn er aber (©. 11) 
behauptet: „weder die helvetifche noch die nordamerifanifche 
Republik umfafjen eine einheitliche Nation und entfprechen 
dem Bedürfnig der nationalen Staatseinheit“, fo liegt 
in biefer Behauptung, für melde er übrigens ben Be- 
weiß ſchuldig geblieben ift, Wahres mit Falſchem ver- 
mifcht. Sehr richtig fagt er dagegen ©. 30 fg.: 

Frankreich ift nicht deshalb unfrei, weil es die Gleichheit 
vor dem Geſetze Hat, fondern weil e8 bie freien Gemeinde» 
inftitutionen entbehrt und unter einer imperialiftiihen Centra« 
lifation mit rein bureaufratiicher Verwaltung ſteht. Daß unter 
Ludwig Philipp eine Art Gentry, die haute bourgeoisie näm« 
lich, fi der Regierung bemächtigt hatte, änderte nichts an dem 
Weſen diefer Zuftände, Allerdings erfchien die Herrichaft mil⸗ 
der, da fie von einer ganzen und ziwar einer aufgeflärten und 
erwerbsthätigen Klaffe ausging, als jest, two das Heft in ben 
Händen eines Einzelnen if. Diejes Beifpiel fpriht ja aber 
gerade für die fortwährende Erweiterung und Ausdehnung der 
an der Regierung zu betheiligenden Klafje bis zum allgemeinen 
Stimmredt. 


©. 31 bemerkt Oppenheim mit Recht, daß die befte 
Verfaſſung durch eine fchlechte Adminiftration oder Ver⸗ 
waltung um ihren Segen gebracht werden faun; ebenjo 
hob er früher (S. 4) hervor, daß der BVerfaffungseid, 
„den man, aus befonderer Schonung, nicht einmal dem 
ftehenden Heere auferlegt”, zwar nicht immer gebrochen, 
aber jehr oft „ausgelegt“ wird. Die Sranzofen haben die 
politiſche Gentralifation erftrebt, welche zur Vollendung 
eines jeden Nationalftaates unentbehrlich ift, und welche 
auch in Großbritannien mit „Blut und Eifen” durch⸗ 
gejeßt wurde; fie haben bei diefem analogen Entwide- 
lungsproceffe neben der politifchen Centralifation aud 
die adminiftrative Centralifation in den Kauf befommen, 
ohne den Werth und Inhalt diefes zweibeutigen Geſchenks 
genau zu kennen. Wenn eine zu hoc) gefchraubte admi⸗ 
niftrative Centralifation allerdings die Zuvielregiererei 
und den bureaufratifhen Wbfolutismus bedeutet, fo Liegt 
dod) in der Zerfplitterung nicht das Heilmittel bagegen. 
Das hieße nur, wie man zu fagen pflegt, den Teufel 
austreiben durch Beelzebub. Die bureaufratifchen Uebel 
in ariftofratifchen Gemeinwefen find oft nicht geringer, 
blo8 weniger fihtbar als in ben gleichheitlich centrali= 
firten. Der Autor fagt: 

Dean bane die Gemeinde von unten auf, aber man wolle 
fie nicht von oben herab conftruiren; fie fei fein bloßer Ver⸗ 
waltungsbezirt, wie in Frankreich, kein Staat im Staate, wie 
im Mittelalter, aber doch eine felbfländigere Organifation als 
in England. 

n Der Schluß des Auffages ift vortrefflich und lautet 
alfo: 





er er 


Bubliciftifä-hiftorifhe Schriften. 


Es handelt fich überall bei dem fpecififch freiheitlichen 
Werth der Inftitutionen nicht blos darum, wie viele Beichrän- 
fingen der Gewalt fie enthalten, fondern mehr nod darum, 
m welchem Zufammenhange fie mit dem Volksgeiſte fichen, 
und in weldem Grade fte die allgemeine Betheiligung der 
Bürger weden. An den freien Gemeindeorbnungen preifen wir 
nicht blos, daß fie einen Damm gegen bie Überflutende Re- 
gierungsgewalt bilden, fondern mehr noch, daß fie den Bürger 
zur Selbfländigfeit erziehen. Ebenſo bei den parlamentarifchen 
Functionen: fie jchligen die Nechte des Volle und wirken auf 
deffen politifche Erziehung zurück. Dazu gehört eben, allen 
Heinlihen bureaukratiſchen Bedenken zum Trotz, die praktifche 
Erziehung durch das allgemeine Stimmrecht, ohne welches eine 
wnbedingte allgemeine Betheiligung zur Anwendung und zum 
Schutze der Berfafjung gar nicht denkbar if. Der Parlamen: 
tarismus ift immer nur bie Spite des Gebäudes, das um jo 
fefter ſeht, auf je breiterer Bafis es ruht. Alle Sicherheits- 
ihranben ber Berfafjung mögen nod fo ſchlan ausgedacht fein, 
die ganze Mafchinerie kann mitfammt den Schrauben untge- 
foßen werden, wenn nit das ganze Volk fie ſtützt. In dem 
allgemeinen Staatsbewußtjein, in der dringenden Ueberzeugung 
von der Allmacht des Geſetzes, in der Wehrfähigfeit und Be- 
reitwilligleit jedes einzelnen Bürgers für daſſelbe Tiegen bie 
einzigen wahren Garantien der freiheit. Dazu bedarf es langer 
Arbeit und einer mit Bewußtſein zu leitenden Entmwidelung 
des Gemeinweſens, d. 5. Bollserziehung. 

Der vierte Auffag im erften Theil: „Partie oder Co⸗ 
terie?“ enthält viele wahre Gedanken und gefunde, ſtaats⸗ 
männifche Anfchanungen, darf aber faum für eine ob» 
jective Kritik der Liberalen Parteien in Preußen gelten, 
obſchon er dies dem Anfchein nach gern fein möchte; er 
ft im der That nur ein Plaidoyer fir die fogenannte 
nationalsliberale Partei und ein fcharfer Angriff auf die 
Fortſchrittspartei. Es ift hier niht am Plate, eine 
Kritit der Kritik Oppenheim's zu geben, die wirk—⸗ 
lich mehr eine oratio pro domo ift al8 etwas anderes; 
nur das wollen wir bemerken, daß wir vollftändig mit 
ihm darin übereinftinnmen, wenn er behauptet, daß bie 
Zeit entfchieben vorüber ift, „in welcher das Rotteck— 
Welcker'ſche Staatslexikon für den Inbegriff aller politi- 
ſchen Weisheit gelten konnte”. 

Der neunte Auffag ift eine interefjante Kritik des 
befannten Buchs von Walter Bagehot über „Englifche 
Berfaffungszuftünde”. Unfer Autor maht mit Recht 
anf einige Irrthümer Bagehot's Hinfichtlih der Gewalt⸗ 
ausübung der englifchen Erecutive aufmerkfam und weiſt 
darauf Bin, wie lehrreich die Parallelen find, welche der 
genannte englifche Schriftfteller zwifchen Nordamerika und 
England zieht. Daß übrigens Bagehot's Bemerkungen 
über amerifanifche Zuftände und Berhältniffe auch nicht 
immer zutreffend find, ift von uns bereits an einen an⸗ 
bern Orte hervorgehoben worden. *) 

Endlich können wir nod) befonders empfehlen: Oppen⸗ 
heim's Befprechungen von Hermann Hüffer’s „Diploma 
tiſchen Berhandlungen aus der Zeit ber Franzöſiſchen 
Revolution” (Bonn, Marcus, 1868), einem Werke, 
welches mit Glück gegen von Sybel und Häuſſer po» 
Temifirt und die Baſeler PFriedensverhandlungen, die 
Bräliminarien von Leoben und den Frieden von Campo- 
Formio nad) ardivarifchen Quellen fchildert,; fowie den 
vorlegten Auffag, der Robert Mohl's Schrift: „Ueber 
die bürgerliche Gleichſtellung der Juden“, verdienter- 


* Bgl. Aubolf Dochn, „Die politifhen Parteien in ben Vereinigten 
Gtaaten von —ES 298 fg. 


147 


maßen Revue paffiren laßt. Nady Oppenheim tritt 
gegenwärtig der Judenhaß bald pübelhaft, bald doctrinär 
verkleidet auf, überall aber liegt ihm, wenn aud) unbes 
wußt, in gewillen Grade Brotueid und Concurrenzfchen 
zu Grunde, Robert Mohl's Judenthum in der Politik 
reiht fih dem Richard Wagner’fchen „Judenthum in 
der Muſik“ würdig an die Seite. Der boctrinäre 
Judenhaß gloffirt, wie ſich Oppenheim ausdrüdt, den 
pöbelhaften; und diefer taucht natürlich mit größerer 
Lebenskraft wieder auf in einer Zeitepoche des neuein- 
geführten Stimmrechts, wo die Vorurtheile und unedlern 
Empfindungen der Maffe von vielen Seiten aufgebo- 
ten und ausgebeutet werden, wo ſich zu dem Behufe 
in vielen ©egenden bie Bureanfratie mit dem Pfaffen- 
tum verbünde. Um fo fchärfer und firenger follte allen 
diefen Reactionsverfuchen, auch wo fie ſich noch ſchüchtern 
hinter gelehrte Bedenken verfteden, entgegengetreten wer⸗ 
den. Uebrigens trägt Mohl's Schrift über, oder viel 
mehr gegen die Yubenemancipation einen gewiſſen reſig⸗ 
nirten, tief melancholifhen Ton. 

Das Buch von Henri Martin (Nr. 3), einem 
Gefhichtsforfcher, dem Türzlich das Institut de France 
auf den Bericht des Herrn Mignet für feine „Histoire 
de France” den zweijährigen großen “Preis von 
20000 France zuerkannt hat, ift nach Inhalt und Form 
nicht ganz leicht zu Haffificiren; denn es ift keine fort 
laufende Erzählung gefchichtlicher Begebenheiten, fondern 
ein Werk Biftorifcher Kritik, deſſen oft und Kar ausge- 
ſprochene Tendenz dahin geht, nachzuweifen, daß im Intereffe 
der Civilifation die Machtſtellung Rußlands in Europa ge- 
brochen werden muß. Diefem Werke find, außer einer 
ziemlich ausführlichen Vorrede von Gottfried Kinkel, 
mehrere, zum Theil fehr wertvolle Anffäge verfchie- 
dener Autoren aus den verfchiedenften Nationen als 
„ Beilagen zur Erläuterung und Begründung “ bei 
gegeben. 

Kinkel erblidt noch immer in der ftaatlichen Wieder 
geburt Polens das Heil Deutfchlands, und er tritt uns 
auch Bier wiederum als der warme und begeifterte Ber- 
theidiger der Moral in der Bolitit entgegen. Seine 
Ausführungen enthalten viele beherzigenswerthe Winke, 
dennoch Tiegt in ihm ftetS der Dichter zu fehr mit dem 
Politiker im Kampfe. Er lernte Martin bei der Ein⸗ 
weihungsfeier des Polendenkmals in Rapperswyl im 
Jahre 1868 perfönlich Tennen; bei biefer Gelegenheit 
brachte Martin, den übrigens auch E. Vacherot in dem. 
erften Juliheft der „Revue des deux mondes” (1869) 
zu den bedeutendften und gründlichften Hiſtorikern des 
modernen Frankreich zählt, einen glänzenden Zoaft auf 
„die Föderation der europäifchen Staaten” aus. Kinkel 
und Martin find zwei gleichgeartete Naturen, und man 
darf allerdings, wie dies auch ſchon von anderer Seite 
ber gefchehen ift, das in Rede ftehende Buch in mancher 
Hinficht gleichfam als ein gemeinfames Werk beider Männer 
betrachten. Folgende Sätze definiren hinlänglich Kinkel's 
Stellung und Meinung: 

Die Sache Polens ſteht auch in den Geſinnungen des 
deutſchen Volks nicht mehr fo ſchlimm als es ſcheint, und wenn 
Dentihlands öffentliche Meinung einmal zu Gunſten Polens 
ſich umſchwingt, ift deffen Auferftehung nur noch eine Frage 

19* 














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148 Bubliciftifch-Hiftorifhe Schriften. 


ber Zeit. Wenn ich fiber den Stand der Gemüther in Deutſch⸗ 
land gut berichtet bin, fo ift im Wolle felbft, zumal in der ge- 
bildeten Kaffe, die Neigung zum Moskomitertium flark tm 
Schwinden. In Oefterreih fieht und ahnt man die Gefahr, 
feit Bogodin’s Iöplagen richtiges Wort: „ber Weg nad Kon⸗ 
flantinopel führt über Wien‘, ein Stichwort felbft unter den 
Maſſen in Rußland geworden if. Die panflawiftiihen Wüh⸗ 
Iereien von Moslan aus haben jebem Ginfichtigen bie Gefahr 
des Kaiſerſtaats anfgededt, ber ja zur Hälfte aus flawijchen 
Böllerihaften zufammengefeßt if. Im Norddeutſchland flirdhtet 
man fich weniger als man follte, aber die Angriffe des mosko⸗ 
witifhen Weſens nnd ber orthodoxen Kirche auf das Deutſch⸗ 
thum der Oſtſeeprovinzen haben Erbitterung erregt, und die 
landwirthſchaftliche Verwüſtung Polens dur‘ ben ruſſiſchen 
Guterraub ruinirt commerciell auch die angrenzenden preußifchen 
Probingen. Man ſchlägt es nicht mehr fo Leichtfertig ſich aus 
dem Sinn, daß die drei zur langfamen Ruſſificirung verur- 
tbeilten Provinzen Kurland, Livfand nnd Efiland gro entbeils 
alte Beftaubtheile des Deutichen Reiches find, daß die Bildung 
dort weſentlich von dem deutſchen Lutherthum getragen wird 
und auch tief in die einheimiſchen finniſchen und litauiſchen 
Banern eingedrungen if, deren Vollsthum nie flark genug war 
noch fein wird, um eigene Nationalflaaten zu gründen, während 
doch auch das katholiſche Polen bort fchwerlich je wieder Sym- 
pathien gewinuen kann. Schon E. M. Arndt und andere ha⸗ 

en darauf hingewieſen, daß, wenn Rußland nad) einem erfien 
Feldzuge nicht zur Herfiellung Polens die Hand bietet, wir 
Deuiſche dort nationale Anfprüche erheben follen. Ein ruſſiſcher 
Krieg aber kann doch nur dann Sinn und Ausficht auf Erfolg 
haben, wenn wir die Wiederherftellung eines polniſch⸗litaniſchen 
Staats bis zum Dnjepr uns zum Ziele nehmen und den Ruſſen 
ganz von unfern Grenzen zurückſchieben. Erheben wir mit 
biefem Zwed gegen Rußland Krieg, fo haben wir die Sym⸗ 
pathien und theilweife die Allianz mit den europäifchen Völkern 
für uns, und felbft die Vereinigten Staaten werben, wenn es 
für Bolen gilt, ihre vor einigen Jahren ziemlich warme Ruflen- 
freimdfchaft ſchweigen Lafjen, die Rußland durch allerlei Gefällig- 
leiten und Zugefländniffe ohnehin ſchon Heute nicht vor ſtarker 
Abkühlung zu bewahren vermag. 


Daß Deutfchland, zwiſchen den ruſſiſchen Amboß 
und den franzöflichen Hammer geftellt, ebenſo vorfichtig 
nah Dften wie nach Weften ausfchauen muß, ift eine 
Wahrheit, welche auch der Fühl urtbeilende und fcharf 
blidende Hr. von Rochau in feinen trefflihen „Grund⸗ 
fügen der Realpolitik“ (I, 207 fg.) mit Nachdruck ber- 
vorhebt; und über die beflagenswerthe Lage des Deutjch- 
thums in den Oftfeeprovinzen gibt, abgejehen von bem, 
was die Tagespreſſe bringt, das ausgezeichnete Buch von 
Profefior C. Schirren: „Eine livländiſche Antwort“ 
(Leipzig, Dunder und Humblot), ganz kürzlich ben beften 
und zuverläffigften Nachweis. 

Das Wert von Henri Martin felbft zerfällt nun in 
zwei Haupttheile, wovon der erfte „Die Vergangenheit; 
Rußland und Bolen“, der zweite „Die Gegenwart und 
Zukunft; Rußland und die emropäifche Föderation“ 
behandelt. Der Autor bat zu feiner Arbeit fehr gute 
Duellen benutt, 3. B. die Chronik des alten Neftor von 
Kiew, der fiir die Slawen ungeführ das ift, was Gregor 
von Tours für bie Franken, ferner das Geſchichtswerk 
des 1826 verftorbenen Karamfin, das gründlich ge 
fchriebene Buh von Schnigler: „Histoire intime de la 
Russie sous les empereurs Alexandre et Nicolas”; 
die Werke von Schafarit, Harthaufen, Duchinski, Viques⸗ 
nel u. v. a. Nachdem er in dem erften Haupttheile fei- 
nes Buchs die NRaffen- oder ethnographifche Trage zu 
Löfen verſucht Hat und zu dem Reſultat gekommen ift, 


daß der eigentliche Ruſſe, „der Moskowiter”, ber 
Nordafiate”, „der Tatar“ von den ccht flamifchen 
Stämmen, 3. B. den Bolen, fehr verfchieden ift, er- 
klärt er: 

Nur zwei Mächte find in Rußland: Zarenthum und die 
Bauern; die Autofratie und die Maffe, welche die Autofratie 
wil. Die gebildete Gefellichaft inmitten beider, die uns bei 
dem polnischen Aufftande ein fo empörendes Schanfpiel gab, ift 
feine politifhe Macht, kann andy bis heute Leine werden; fie 
verdient und erobert die Freiheit nicht, von ber fie ſchwaßtzt, 
ohne deren Bedingungen au begreifen. 

Nah Henri Martin ift, wie gejagt, der wahrhaft 
ruffifche oder mosfowitifche Geift von dem ſlawiſchen und 
europdiſchen Geift überhaupt vollftändig verfchieden. Sein 
Grundcharalter ift negativ: es ift der Mangel an Per⸗ 
fönlichleitsgefühl, Mannichfaltigfeit und Erfindung, bie 
Unmöglichkeit eines Fortſchritts ans den eigenen Kräften 
und Xrieben heraus, womit fid) aber eine große Leichtig- 
feit der Nachahmung und eine eigenthümliche Gelehrigkeit 
verbindet; Feine Anlagen zur freien Gemeinfchaft, aufer 
etwa in ber Form religiöfer Selten; keine Fähigkeit fir 
Einrihtungen, wo man discutirt und fi zumal ber 
oberften Gewalt gegenüber eine Garantie gründet, denn 
Oppoſition erfcheint hier als ein Angriff auf das Heilige; 
fein Gefühl fir die Menfchenrechte, Neigung zu de&po« 
tifcher Concentration und fanatifcher Anbetung der Macht. 
Die am meilten bervorfpringenden pofitiven Kigenjchaften 
dieſes Volksgeiſtes find große Sclauheit und höchſte 
Beweglichkeit: 

Der Slawe, und fo im allgemeinen der Europäer, if 
Aderbauer und hängt am Boden; er hat das ftarfe Gefühl für 
den Grundbefig wie für die Familie Der Moskowiter, umb 
fo im allgemeinen ber Xatar, der Norbaflate, ift in feinen 
Neigungen zugleih Romabe und Communiſt. Das Dorf des 
Slawen von reiner Raffe und das Dorf des Moskowiters ftellen 
den vollſtändigſten Gegenfat bar. 

Selbſt die Natur des Zarenthums und bes römifchen 
oder modernen Cäſarismus find, wie Martin es ausführt, 
äußerft verſchieden. Das Zarenthum ift das deal der 
Monarchie von Gottes Gnaden, es ift der vollkommenſte 
Despotismus; die fouveräne Gewalt, welche der Zar bes 
fitst, Tnüpft fi) an Gott an; aber an einen Gott, ber 
mehr dem Fatum, als dem fittlihen und freien Gott des 
Chriften gleicht. Der Moskowiter felbft ift überhaupt nur 
ein Balber Chrift. Ludwig XIV. kam dem Zarenthum 
am nächſten. Ganz anders ift der moderne Cäſarismus. 
Der Autor jagt ©. 152: 

Er bat feine Rechtsgrundlage im Bolfe, wenn er aud in 
der Wirklichkeit das .Bolt lahm legt. Er ift die republikauiſche 
Dictatur, die zeitweilige Concentration der Gewalten, bie ein- 
mal der Zufall zu einer permanenten Einrichtung gemacht Bat. 
Dem Rechte nad) bleibt er eine in Suspenfion verfette Republik 
und Über ihm ſchwebt die Vollefouveränetät. 

Diefe Bemerkungen buhnen Martin den Weg zu dem 
zweiten Saupttheile feines Werks, worin er die politie 
hen Zuftände und Berhältniffe der mächtigften Staaten 
Europas, wie ſolche ihm gegenwärtig befchaffen zu fein 
fcheinen, in ihren Grundzügen fehildert und, weit im bie 
Zukunft hineingreifend, das Bild einer allgemeinen euro⸗ 
päischen Föderation entwirft. Der geiftreiche franzdfifche 
Hiftorifer bewegt fi Hier meiftens in Hypotheſen und 
Möglichkeiten, die ganz entſchieden wtopiftifcher Natur 


Neue Gedichte. 


find, wie er es felbft wieberholt zugeftehen muß. Geine 
Cardinalidee ift und bleibt aber ftets: die Ruſſen ober 
die „Zuranier“, wie er ſich gern ausbrüdt, müſſen alle 
und jede Madjtftelung in Europa verlieren. Als Haupt 
bedingung zur Erreichung dieſes Ziels erſcheint ihm 
felbftverftändlic das Hinwegräumen aller feindlichen. Ge- 
genfäge zwiſchin Deutjhland und Frankreich. Go frei« 
finnig, fo demokratiſch Martin aber auch bei der Ent 
widelung feiner Ideen auftritt — ben Franzoſen kann 
er doch nur felten verleugnen. Die Summe feiner 
Ausführungen ift in folgenden Sägen (S. 341) ent- 
alten: 

’ Unfere geleuimte Welthälfte wird der gerechten oder ber 
ungerechten Gewalt gehören. Die ganze Welt ftcht auf dieſem 
Waljerfelde oder wird dort einft aufriden; der in Perfiens 
myftifcpen Heldengedidht befungene Kampf zwiſchen Iran und 
Zuran, der ſchon die Urwelt erfüllte, ernent fi im ungehener 
größerm Maßftabe. Hier entſcheidet fi, ob die Beftimmung 
der erften aller Menfhenraffen fi in der ganzen alten Welt 
verdunfeln, ob unfere Toter Amerika allein die höhern Ele⸗ 


149 


mente ber Menſchheit wahren fol. Eins von beiden: Entweder 
gibt Europa fih auf, der Welttheil finft unter das Joch 
des aflatifhen Despotismus; England, zwifchen Rußland und 
Amerika erflict, verihwindet, und nur zwei Mädjte bleiben auf 
der Welt, welche fie zwifchen Licht und Finfterniß theilen wer» 
den; alles fittlihe Leben wird fich in bie andere ifphäre 
flüchten. Oder Europa erwacht, und das Kaifertfum aller Reußen 
brit in Trümmer, e8 bleibt nur das Zarat von Moslowien 
ober Großrußland übrig, Dann gäbe e8 drei Mächte, unter 
denen Mostorien die ſchwächfte wäre: es gäbe die enropäifche 
Eiberation, die Vereinigten Staaten von Amerika, und das 

toslowien der Wolga und des Ural, das don Afien den 
Norden, die centrale Hochebene und den entfernten Ofen 
beherrfchte. Im dieſer Stellung Könnte es in der Harmonie 
bes Weltalls feinen Play behaupten, flatt die auflöfende und 
flörende Potenz in berfelben zu bleiben. Entſchließt es ſich zu 
diefer Rolle, fo hat Europa feinen Feind mehr. 


Wir überlafien es den Leſern d. Bl., ob fie mit 
Henri Martin auf eine folde „Harmonie des Weltalls“ 
hoffen wollen ober nit; was ums betrifft, jo Halten 
wir biefelbe für ein reines Utopien. Rudolf Wochn. 


Neue Gedichte. 


1. Rora, ein Gedicht in dier Gefängen von Ernft Rauſcher. 

Leipzig, Matthes. 1869. 16. 20 Ngr. 

Nachdem der Dichter drei Seiten lang darüber ge- 
ſprochen, wie er das nennen folle, was er fehreiben wolle 
— ohne übrigens dem Byron'ſchen Wige in diefer dem 
„Bon Juan“ nachgeahmten Einleitung irgendwie gefähr« 
üche Concurrenz zu machen — und auch die alte Litanei 
zum beften gegeben: \ 

D daß nur einmal mir eim Lied gelänge, 
Ein Lied n. f. w. 
entſchließt er ſich endlich, die Geſchichte des namenlofen 


Helden Egon — 
nur daß niemand mwähne, 

Es möge ein Ego drin verborgen fein — 
zu erzählen. Derfelbe wurde in einem der bſterreichiſchen 
Alpenländer geboren und nad) dem früßzeitigen Tode 
feines Vaters von der Mutter erzogen. Im zarter Zus 
gend fchon warb fein Herz von den Flammen einer keuſchen 
Badfischliebe ergriffen, unb es gelangen ihm bei biefer 
Gelegenheit die erften Verſe: 

O trat doch damals aus den grünen Thoren 

Der Bäume, fihtbar nah, zu ihm herein 

Die Mufe! ſprechend, daß fie ihn erloren 


Recht ſchade! am meiften für den Kecenfenten, denn 
Egon Tieß fid) durch das Ausbleiben der Mufe nicht abe 
reiten; 


; 
Gaunlich Hingegeben 
Dem Sänftenstiehe, FE arm und treu — 
ſchrieb er im Verein mit ſeinem Buſenfreunde Friedrich 
und andern Gleichgeſinnten ein Wochenblatt: 
Dort legten ſie die Frucht der Feierſtunden 
Getrenlich nieder, von Kritit noch frei, 
Mit dem erſten Geſange ſchließt bie Periode der Kind» 
heit. Im zweiten geht Egon nach Wien zur Univerfität, 
ohne ſich jedoch einen beſtimmten Veruf zu wählen. 


Die Stände biefer Erde Überfhanenb 

Erſchien ihm feiner wünfchenswerth genug. : 
Bon Wien erfahren wir wenig: 

Ich Überfäjlage vieles, denn ich haſſe 

Detail, nicht angewandt am vediten Ort, 

So ſchnell als möglich leul' ich durch die Maffe 

Des Stoffes meinen Kahn zum Ruheport. 

Egon lebte luſtig und liebte, natürlich wiederum höchſt 
ſchwärmeriſch "ideal: 

Die Irdif- Schönen waren meiftens Sterne, 
Die er bewundern durfte nur von ferne, 

Nämlich Bühnenprinzeſſinnen. Wahrſcheinlich, um 
feiner Carriere auf dem jetzi fo ſauber gehaltenen deutſchen 
Barnafje feinen Abbruch zu thun; auch war 

Den Si B * lets fen 00, 2 
en Sieg zu laſſen nfert’; 
Und Augeaften, Tppieteden Men 

Dafür hielt er fih am die Schönheit in ber Kunſt. 
Indeſſen felbft diefe war ihm noch zu concret, feine eigent ⸗ 
liche Verehrung galt dem reinen Begriff: 

Es fand der Seelen Pforten durflig offen 

Dein Steahl, der hundertfach ſich Bei und bricht, 
Und nimmer fäßt er fein begeiftert Hoffen, 
Dereinft zu fhauen dein vereinigt Licht 

In jenen grenjenlofen Sternenauen, 

Nachdem fie jo „durch die Maſſe des Stoffs gelenft“, 
eilt die Mufe zum „Ruheport” und befingt Egon’s nun. 
mehrigen Freund, ben tragifchen Dichter der Zufunft 
Guido von Steinwand und fein ungegebenes Trauerfpiel 
„Heinrich IV.“, mit obligaten misgünftigen Seitenbliden auf 
Literaten, Dichterlinge, Leitartifel u. |. w., ohne inbeffen 
über unfere Zeit den Stab zu breden; denn es folgt das 
Lob faft aller zeitgenöffifchen Schriftfteller: b 

Daß & gelebt vor hundert Jahren Hätten! 
Die Gegenwart hat anderen Geihmad! 
An feihten Poſſen, kiudiſchen Biuetten — 


Der Eancan oft, die Anmuth geht in Ketten, 








150 


Doch weshalb follen wir nicht über Pollen und Bluetten 
lachen, vorausgeſetzt, daß ber Berfaffer wigig ift? 

Endlich, verlangt e8 unfern Egon nad Ruhe: 

Verwundet von Gedanken, bie nie ruhten, 
Berlangt e8 ihn nad) einer flillen Bucht, 
Um unbelannt nnd fchweigend zu verbluten. 

Er reift deshalb zu dem Zwed im dritten Gefange 
wieder nad) Haufe, verblutet aber dort keineswegs, fondern 
verliebt fi) in Fräulein Nora: 

Es klingt ber Rame fo bedentungsvoll, 
So noriſch ober nordiſch. 

In einem Liede macht er ihr die erfte ſchamhaft ver- 
büllte Riebeserflärung. Bald aber hält e8 den unrubigen 
Geift nicht mehr; er unternimmt eine Gchweizerreife. 
Die Schweiz wird curforifch befchrieben: 

Kein Reiſehandbuch hab’ ic Luft zu fchreiben, 
Das man behagfich in bie Taſche ftedt. 
Die Liebenden fehen ſich im vierten Gefange wieder, 
geftehen fich ihre Neigung und verloben fi. Binnen 
kurzem machen fie Hochzeit und eine Hochzeitreife nad) 
Benedig. Das Lied ift zu Ende: 
Zu Ende if mein Stoff, und mit ihm endet 
Auch meiner Jugend frühlingefchöner Traum. 
Vielleicht gebiegenere Früchte ſpendet 
Die Zukunft, duftigere Blüten faum — 

nämlich (dee Dichter redet die Iyrifche Muſe an): 

Verſtohlne Augenweide 
Iſt längſt für mich dein holdes Schweſternpaar. 
Sm Herzen will ſich mir die Sehnſucht regen 
Nah Höh’rem Sing, bleibt des Erfolges Segen 
Mir auch bermeigent — ach! es ſchwand der Glaube 
An jedes Überirdiihe Symbol,’ 
Des Dafeins edler Inhalt fiel zum Raube 
Der Zeit, die Form nur blieb uns, fchal und hohl. 
Doch einft wird ein neues Gefchlecht erftehen: 

Mag nie mir auch des Sieges Lorber ſproſſen 
Im Kampfe, den kein Hoffnungsfirahl erhellt, 
Bergebens ward mein Herzbint nicht vergoffen! 
Die Zuverficht, bie meine Seele fchwellt, 
Iſt Lohn genug, und fa’ ich andy bezwungen, 
Treu bis ans Ende hab’ ich doch gerungen. 

Das ift nun der Inhalt eines 113 ‚Seiten langen 
Gedichts! Wir haben ihn nur Hergefegt, um an einem 
recht ſchlagenden Beifpiele zu zeigen, wie weit Beutzutage 
das Selbftgefühl des Dilettantismus geht. Rauſcher be: 
fitt, wie der Lefer fchon aus den angeführten Proben 
gefehen Haben wird, ein unheimliches Berfifications- 
talent. Zuweilen gelingen ihm fogar recht gute Strophen. 
Diefes Talent nun verführt ihn, fi für einen Dichter 
zu halten, von feinem „Ringen‘ zu fprechen, und — wir 
wetten zehn gegen eins — bereit an einem regulären Epos 
oder gar Drama zu arbeiten. In der Poeſie kommt es 
auf den Inhalt an, nicht auf „die Form, Hohl und 
ſchal“. Was aber bietet ung er für einen Inhalt! All⸗ 
tägliche Erlebniffe, triviale Gedanken, anempfundene, ge» 
machte Gefühle Nicht ein Pinſelſtrich, der zu indivi⸗ 
dnalifiven oder zu Localifiren verfuchte, Rauſcher Haft die 
Details. Auch nicht ein Seufzer, den der Iebendige Mo- 
ment ausgepreßt; Egon's höchſte Verehrung gilt ja der 
Schönheit in abstracto. Diefem Egon ift überhaupt aud) 
nicht das mindeſte paffirt, was andern Leuten erzählt 
zu werben wert) wäre, Goethe fagt einmal zu Eder- 


Neue Gedichte, 


mann über die „Wahrheiten aus Jean Paul's Leben”: 
„Was kann da für eine andere Wahrheit herauskommen, 
anßer daß der Autor ein Philifter ift!” Und wenn diefer 
Egon dennod) ein Ego ift, wie wir nach ben Schlußverfen 
fürchten müffen, jo ift das auch die Pointe der Raufcher’fchen 
Dichtung, und wir künnen dem Autor nur rathen, feine 
anerfennenswerthe Formkunſt lieber für Ueberſetzungen 
anzuwenden. Es gibt keinen Poeten, der nichts erlebt; 
er leſe die Biographien feiner ſämmtlichen Vorbilder durch. 
Er braucht nicht wie Lord Byron die halbe Welt zu 
durchreifen, taufend Weibern ben Kopf zu verdrehen und 
zulegt inmitten des Kanonendonners zu fterben, aber er 
muß etwas durchmachen, was Eigenthum nur feines Herzens 
ift, was‘ er mit keinem andern theilt, da8 Befremdende, 
anfangs Unbegreifliche, weldjes dem Genius die Urſprüng⸗ 
lichkeit der Weltanfhauung gibt. Wer vier Gefänge lang 
folid lebt, und nicht einmal, weder moraliſch noch phy⸗ 
fifch, den Beweis auch nur feiner plena pubertas antritt, 
endlich gemüthlich Hochzeit macht, ber bilde fich doch nicht 
ein, daß er diefen Lebenslauf des Philifters durch eine 
poetifhe Sauce fhmadhaft machen Tann, mag er nod) 
jo viele Byronismen und andere Jômen dazuthun. Welch 
lächerlichen Eindrud muß es auf jeden machen, der bie 
qualvolle innere Geſchichte großer Geifter Tennt, wenn 
die Poetafter fortwährend vom Berbluten ihres Herzens 
und ähnlichen ſchönen Dingen reden. ‘Das Heiligſte auf 
Erden ift ber Schmerz, und nichts efelhafter, als ihn 
zum poetifchen Ylitterftante misbraucht zu fehen. 

2. Gedichte von S. Junghans. Kaflel, C. Luckhardt. 1869. 

16. 15 Ngr. 


Dffenbar ein Erftlingswert und in kindlicher Pietät 
der eigenen Mutter gewidmet. Die Sammlung zerfällt 
in Epifch-Tyrifches, Sonette und Lieder. Junghans Hagt: 

Und faft wie Neid fleigt’8 auf in meinem Sime, 
Wenn ich gewahre, wie von Geift und Minne 
Und allem Hohen wenig bleibt zu fagen. 
Grfungen und gejagt ift alles eben, 

Die eignen Lieder fcheinen ausgefungen, 
Gebraudt ift jeder Reiz im Menfchenleben. 

Wer keine eigenen Lieder fingen kann, ber gebe doch 
den Umgang mit ben Mufen ‚auf. Die dargebotenen 
bewegen fi) allerdings fümmtlih im gewohnten Gleiſe. 
Der Gonette gibt e8 nur drei, und diefe zeigen nicht 
einmal eine regelmäßige Form. Die erfle Abtheilung 
„Epiſch⸗Lyriſches“ ift wegen der Sujets zu oben. Der 
Dichter hat meift Sagen, Märchen und Geftalten ber 
Volksmythe benugt. Auch kommt« manche verdienftliche 
Zeile vor, fo Anfang und Ende des Gedichts „Im Thale 
der Ruhe”, das in der Mitte Leider zu einer trodenen 
Allegorie ausartet. Ueberhaupt hat Junghans nicht ver⸗ 
ſucht, den Stoff über fi) hinauszuheben, fondern das 
Vorgefundene nur verfificirt, manchmal fogar recht ge= 
fhmadlos, 3. B. in ben wechjelnden Metren des Mär⸗ 
hend, welches die wunderbare Gefchichte von den drei 
Blutötropfen und dem treuen Roſſe Yallada erzählt. Mit 
der bloßen verfificirten Reproduction unferer vollsthüm⸗ 
lichen Traditionen ift nichts gethan: da Iefen wir fie noch 
lieber in den kurzen Auszügen ber Menzel’fchen Lite 
raturgefhichte.e Grimm's Darftelung aber übertrifft 
alles, was die Poeten geben können, wenn fle die Grenzen 


— — — 


Neue Gedichte. 


des naiven Genre reſpectiren. Das ift indeffen nicht 
ihre Aufgabe. Wenn die Kunftpoefie mit der Volkspoefie 
am Naivetät wetteifern will, muß fie nothwendig unter» 
liegen. Vom Strahl des modernen Bewußtſeins beleuchtet, 
zeigt die todte Tradition wieder das lebendige Antlitz 
der Örgenwart. Im Mythus ift die Idee verſteckt wie 
der Edelftein im Felſen; die Poefie fei der kryſtallene 
See, auf deſſen Grunde man den Goldhort ſchauen Kann. 
3. Singen und Sagen. Gedichte von Johannes Gras- 
berger. Wien, Gotthard. 1869. Gr. 16. 25 Nor. 

Iohannes Grasberger befingt die Känıpfe zwiſchen 
Licht und Finſterniß, den Sonnenaufe ımd Untergang, 
das Toben der Gewitter mit einer Ausführlichkeit, die 
den Sängern de „Rig -Veda“ Ehre gemacht haben 
mirbe. Doch nimmt der Lefer an manchen Gejchmad- 
Iofigfeiten Anftoß : 

Flieht die Sonne? Naht fie ſlegeshehr 

Mit verjüngten Lichtgewalten 

Neu ihr Banner zu entfalten? 

Lund' 6 uns, verlorner Boften, Strahl, 
Der trübe, wund und fer 

Sich durd) die Lager ſtahl. 

Diefer verlorene Poften Strahl ift eine Berfonifica- 
tion, die noch über die himmlifchen Lichtgötter, die Agvinen, 
hinausgeht und wäre wol jelbft den alten Ariern unver» 
fündlih geweſen. Ober: 

Drum glänzt als wie ein Oflerei 

Die ganze Exde, Flur und Feld — 
oder endlich: 

Sterne, euer Licht, das reine, 

Bard zu zorniger Blide Leuchten, 

Ward zu rorhem Fadelſcheine, 

Sleicht des Wudrers Augen, 

Die felhtroden (?) faugen 

An den Armen thränenfeuchten (1). 

Daß das Abjectiv, wenn es Hinter dem Subftantiv 
feht, im Neuhochdeutſchen nicht declinirt, Scheint dem Dichter 
entgangen zu fein. Er hält ſich freilich meiſtens unter 
den alten Deuiſchen auf. Sämmtliche im Buche enthals 
tenen Balladen und Romanzen drehen fich um Hiftorien 
aus der Iongobarbifchen und fränkischen Gefdichte, fo 
Authari's Brantfahrt”, „Defiderius’ Königswahl“, „König 
Ks Traum“ u. a. Mit diefen alten Bölferwanderern 
läßt ſich nicht viel machen. Seibſt Karl der Große flößt 
ein wirffich poetifches Intereſſe erſt in der Auffaſſung der 
Sage ein. Auch ift die Brauiſchau der Könige und 
Pringen im Incognito ein allzu abgefungenes Thema. 
Im Ganzen if nicht viel zw loben; nur einzelne kürzere 
Geber zeichnen ſich durch anfprehenden Ton aus. Am 
meiſten gefiel und ein Meines derbhumoriſtiſches Epigramm: 


Die Bauerdirne. 
Sie hatten junges Blut 
Und waren fi gut. . 
& fätic, A nachts zum Fenferlein, 
Sie ließ ifn ein, 
Und waren allein. 
Er naht in heller Brunft 
Und bat und ſchwor — umfunft! 
Denn fie blieb kalt 
Und hatte über fih und ihn Gewalt: 
Da vorne jet? dich auf bie Truh 
Und überbenk in Ruh’, 


| 5. Heimatlieber von Wilhelm Elwert. 


151 
Ob du in Ehren 
Kanuft Weib und Kind ernähren — 
Dann magſt du wiederfehren 
Und id will dir nicht wehren. 
4. Poetiſche Pinakothek von Friedrich Friedre ich. Nürn 
berg, Schmid. 1869. 8. 18 Ngr. 

Die Pinakothek ift fehr reichhaltig: Galerie großer 
Männer und hiftorifche Gemälde, Landſchaften und Natur- 
feenerien, Stilleben, Familienſcenen u. f. w. Auch 
Friedreich verfificirt meiftens nur. So erzählt er uns 
die berühmte Sage von Faſtrada. Dieſe Gelichte Karl's 
des Großen trug einen zauberhaften Ring am finger, 
der das Herz des Kaifers unaufhörlih am fie feſſelte, 
ſodaß er nad) ihrem Tode nicht von ihrem verfaulenden 
Leichnam wid. Turpin endlid) zog den Wing ab, da 
übertrug ſich bie Anhänglichfeit des Raifere auf ihn, und 
als der Bifhof den Talisman in einen See bei Aachen 
geworfen, auf diefe Stadt. Auf wie verſchiedene Weife 
ließe fi dies Sujet behandeln: humoriſtiſch, fatirifch ober 
ernft, wenn der Dichter ſich die Mühe geben wollte, eine 
Idee Hineinzulegen! Wen Tann die bloße Geſchichte in- 
tereſſiren ? an Liebeszauber glaubt niemand mehr. Möchte 
auch das Berweilen Karl's bei dem geliebten Leichnam 
nod jedem verftändlich fein, in welchem Conner jteht 
damit feine Zuneigung zu Turpin und Aachen? Das 
mußte alfo entweder in bebentfamen Zufanmenhang ge» 
bracht, oder fortgefchnitten werden. Erſteres vielleicht bei 
einer humoriftifchen Behandlung, letzteres bei einer ernften. 
Friedreich Täßt nicht einmal Faſtrada's Leichnam derweſen. 
Er hielt es vielleidht für unäfthetiih. Das ift es aller- 
dings an und fiir fi; in feiner Vebeutfamteit, feinem 
Eontrafte gegen vorher und nachher, feiner Satire auf 
Schönheit und Liebe ift es tief poetifch. Wie die frommen 
Dienerinnen des Elends ihren Ekel durch Liebe und Res 
figion überwinden, fo bezwingt aud die Mufe das Ent- 
fegliche, indem fie e8 auf das Myfterium des Dafeins be» 
zieht und es fo in das Gebiet der Kunft erhebt. Wir 
wollen übrigens dem Dichter nicht abſprechen, daß ihm 
einige Gemälde wohl gelungen find, fo „Phantaflereife”, 
„Altonda“, „Die Todtenmeſſe“. Andere dagegen ſtehen 
wiederum unter dem Niveau, weldes dem Dichter er- 
reichbar ift, und find nichts als feichte Neimerei. Auch 
find einige Ungenauigfeiten in der Sprache zu tabeln. 
Hochſt fonderbar ift das Gedicht „Befruchtung” (©. 67). 
Man möchte an Hoffmannswaldau'jche Zweideutigkeiten 
denten, wenn man nicht wüßte, daß die Mufe ber 
Mittelmäßigfeit in ihrem Ungeſchick häufig jener behexten 
Bauerdirne gleicht, bie mit aufgehobenen Nöden durch 
ein blühendes Flachsfeld ging, das fie für die blaue See 
hielt, und unanftändig war, ohne es zu wiſſen. 
Stuttgart, Bogler 

und Beinhauer. 1869. 16. 15 Ngr. 

Dilettantendihtung, die unſers Erachtens noch lang« 
weiliger faft nieberzufchreiben als durchzuleſen fein muß. 
Grobe Gebrehen trägt der Berfaffer nit zur Scan; 
höchſtens find die mannichfachen falſchen Reime (t und 
d feinen feinem Ohre gleich zu Hingen), die ſchlechten 
Herameter, worin Tübingen gepriefen wird, bie vollftän« 
dige Bointenfofigkeit vieler Lieblein dahin zu rechnen. 
Aber gerade biefer Mangel an Gebrechen macht bas 


152 


Büchlein noch unerträglicher; das ganz Verfehlte erzeugt 
wenigftens ein gewiſſes Vergnügen. 


6. Grüße aus Tirol. Gedichte von Angelila von Hdr- 
mann. Gera, Amtbhor. 1869. 8. 10 Nr. 

Abgefehen von den üblichen Liedern über das Dichten, 
das Dichterherz, Poefie und Wirklichkeit, enthält dieſe 
Sammlung nur finnige, wahrempfundene Gedichte von 
wohltäuender Melodie und rlihrender Anſpruchsloſig⸗ 
keit, 3. B.: 

Stille Liebe. 

Denn du mir nahft und ſchauſt mir ſtumm erröthend 

Ins Angeficht, 

Warum ich zitternd immer bir entfliehe, 

Das frag’ mich nicht. 

Wenn alles jchläft, in meinem kleinen Zimmer 

Siehft du noch Richt, 

Um was id) da fo lang, fo innig bete, 

Das frag’ mich nicht. 

Der Schlummer naht und um bie Seele fpinnt ſich 

Ein füß Geficht; 

Barum ich morgens feuchten Blicke dich grüße, 

D frag’ mid nid. 


Zur Eulturgefhichte des 18. Jahrhunderts. 


Sehr ſchön ift auch der Cyklus „Freudvoll und Leidvoll“ 
mit Ausnahme von Nr. 8: „Dein Herz iſt wie der 
dunkle Wald“, denn dies: „dein Herz iſt wie”, „mein 
Herz ıft wie” ift fo flereotyp geworden, daß es bei nie- 
mand vorkommen darf, der etwas auf fih Hält. Auch 
hätte die Dichterin, flatt mit dem unflaren Gedichte: 
„Es fteht ein Baum an heimlich dunkler Stelle”, mit 
dem vorangehenden jchließen follen : 


Hatteft dir das Glas gefünt 
Mit dem Maren Trank der Reben ; 
„Angeftoßen!‘ ſprachſt du kühl, 
„Aud die Todten follen Leben. ‘ 


Dranf das Glas bis auf den Grund 
Leerteſt dn, und um zu nippen 
Set’ aud ich es zitterud umm 
Au die ſchmerzerblaßten Lippen. 


Heimlich eine Thräne fiel 
In den Wein, den purpurrothen, 
Ad! feit jenem Augenblid 
Dein’ aud ih um einen Todten. 


_ Yans Herrig. 





Bur Culturgeſchichte des 18. Iahrhunderts. 


Wilhelm Lubwig Welhrlin. Leben und Auswahl feiner Schrif- 
ten. II. Zur Eulturgefdhichte des 18. Jahrhunderts. Bon 
5. 8. Ebeling. Berlin, Köppen. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 


Es ift bezeichnen für die Bildung der Gegenwart, 
bag bei bem Namen Wedherlin neun Menfchen unter zehn 
an das Bild des Dichters Rudolf Georg Wedherlin, des 
Zeitgenofien umb Concnrrenten von Dlartin Opitz, er- 
innert werben, aber von dem PBubliciften Wedherlin, defjen 
Wirkfamfeit beinahe noch an die Grenzen der Gegenwart 
ſtreift, nichts wiſſen. Dies ift Feine rhetorifche Ueber- 
treibung des Herausgebers vorliegenden Buchs, fondern 
eine Thatſache, die wir felbft praftifch conftatirt haben, 
ein Iehrreicher Beweis, wie gründlich Literarifch oder belle 
treiftifch, gefärbt doch noch immer unfer Bildungsmaterial 
iſt. Rudolf Wedherlin Hat einen tüchtigen monographi- 
fchen Darfteller gefunden (Höpfner), fein Urentel aber, 
troß ber Bewunderung, bie feine originelle Begabung bei 
den bedentendften Zeitgenoffen erregte, bisjetzt darauf 
warten müſſen. Denn jelbft diefe Arbeit wird doch nur 
als eine Abfchlagszahlung anzufehen fein, obgleich das 
beutfche Publitum auch dafiir dankbar fein darf. Eine 
Abfchlagszahlung darum, weil ebenjo wol für das rein 
biographifche Moment noch eine Menge von Lücken und 
Zweifeln bleiben, die fortgefegte und energifche Forſchung 
wol auszufüllen hoffen darf, als auch weil die hier ge 
gebene Auswahl, wenngleich charakteriſtiſch und verftändig 
angelegt, doch ſchon äußerlich zu beſchränkt ift, um dar⸗ 
ang einen Begriff von dem Weſen unb der Thätigfeit 
des Autors zu erlangen. Es bleibt alfo noch immer das 
fon von Johannes Müller ausgefprochene pium desi- 
derium nad) einer im wahren Sinne kritiſchen Ausgabe 
von Wedherlin’s Schriften als ſolches zu Recht beftehen, 
wird aber möglicherweife durch Ebeling’8 Berdienft feiner 
Erfüllung um etwas näher gerückt fein. 


. 7 
fi 
! 
1 


Wie die „Gebildeten“, fo haben auch ihre Titera- 
rischen Wortführer die einftmalige Weltberühmtheit bes 
Mannes durch fyftematifches Todtſchweigen oder gründliche 
Misahtung in das Gleichgewicht zu feinem Berdienft zu 
jetzen fich beftrebt. Abgefehen von den bloßen Nomenclatoren, 
find es, foviel wir wiffen, nur Gervinus („Gefchichte der 
deutſchen Dichtung”, V, 124, vierte Ausgabe) unb 
Biedermann („Achtzehntes Jahrhundert“, I, 112), bie 
fi) zu einigem, aber durchaus negativem Eingehen 
auf ihn bemüßigt fehen. Beiden gilt er als einer aus 
der Zahl der Tiederlichen Genies, der mit gewiflem 
Zalent begabt war, auch momentan einige Wirkung er⸗ 
zeugte, aber ſich perſönlich und literariſch durch Die 
Mängel feines Charakters zu Grunde richtete. Gervinus, 
der bier, wie überall, auch da gewiſſenhaft aus eigenfter 
Anjchauung urtheilt, wo ihm die entgegenftehende litera- 
riſche Individualität möglihft antipathiſch ift, mag in ge- 
wiſſem Sinne das Rechte getroffen haben, wenn er, der 
Hiftorifer, nämlich das Recht Hat, den Mann bes 
18. Jahrhunderts nah dem fittlihen Mafftab der 
Gegenwart zu mefjen. „ebenfalls erhält die Frage Feine 
Antwort, wodurch die notoriſch ungeheuern, epochemachen⸗ 
den Erfolge eines ſolchen zerfahrenen Scribenten zu er⸗ 
klären, Erfolge, die nicht etwa in dem rebolutionären 
Taumel der rohen Maſſe und ihrer gejchmeichelten Leiden⸗ 
ſchaften wurzelten, wie bei fo vielen Pamphletiften und 
Journaliſten der franzöftfchen Aevolutionsperiode oder der 
Gegenwart, fondern in dem einftinmigen Urtheil der erften 
und reifften Bertreter damaliger Bildung und Aufklärung, 
kurz aller der Dinge, die wir noch jetzt als preiswürdig 
und als die fchönfte Frucht einer ber fchönften Perioden 
in der menfchlichen Entwidelungsgefchichte des großartigen 
1. Jahrhunderts der Befreiung und Humanifirung an« 
ehen. 


— — — — 2... 





Zur Culturgeſchichte des 18. Jahrhunderts. 


Wir wolen verfuchen, in einigen Grundlinien darauf 
zu antworten. Wedherlin traf in eine Zeit, der das 
Bedürfniß, ſich raſcher als es auf dem bisher gemößnlichen 
Wege der gelehrten oder ſyſtematiſchen Deduction in un ⸗ 
behülflicher Buchform tiber unzählige Fragen aus allen 
Bereichen des menſchlichen Dafeins zu verftändigen, fo- 
zufagen auf die Nägel brannte. Der Journalismus 
lag in der Puft, aber man ftellte fi, wenn man offenen 
Auges feine erften damaligen Phafen beurtheilt, in unferm 
Baterlande recht ungefhidt damit an, fobald man über 
die eigentlich, literarifche Sphäre oder bie ber innern 
Seelenerfahrumgen hinausging. Und über biefe wollte 
man eben dod) Hinaus. Religion oder Kirche und Glaube, 
Staat und Gefellfhaft, Handel und Gewerbe, kurz alle 
die tanfend realen Intereſſen der Menſchheit zogen mit 
Gewalt jeden Denkenden, und ihnen folgend das ganze 
Gros der blod Angeregten, zu einer immer eindringendern 
Erforfhung und Kritit ihrer thatfächlichen Geftaltung, 
verglichen mit dem damals herausgearbeiteten Bernunfte 
ideal davon. 

Was die deutſche Publiciftit und Vournaliſtik felbft 
in ihren eminenteften Vertretern biefer Zeit, wie Salt, 
der jüngere Mofer, producirte, erzeugte zwar eine 
wegung der empfänglichen Geifter, von ber ſich unfere 
heutigen abgeftumpften ober abgehärteten Nerven nur 
jchwer eine vorſtellung machen können, aber unwillkürlich 
fühlte man doch, daß dieſen Männern und ihresgleichen 
noch etwas fehlte, um einen völlig durchſchlagenden, fort · 
reißenden Erfolg zu erzielen. Dies Etwas ift für uns 
nicht ſchwer zu entbeden: es war theils bie, jeden 
falls nad; den Tendenzen und dem Inhalte ber Zeit- 
bildung allein zu bemeſſende Befchräuttheit oder Bornirt- 
heit ihres Wefens, theil® die dadurch notwendig bedingte 
Zrivialität und Pedanterie ihres Stils oder ihrer Weber. 
In dem einen wie in dem andern fteht Wedherlin hoch 
über ihnen, fowie über allen zeitgendffifchen Eoncurrenten. 

Es ift felbftverftändlic, dag wir Menfchen von 1870 
uns nicht mit jedem Gedanken einverftanden erklären Tönnen, 
den ein Ionrnalift im Yahre 1770 oder 1780 in bie 
Welt ſchleuderte; aber es ift für jeden Kenner der dama- 
ligen Geifteszuftände ebenfo jelbftverftändlich, daß biefe 
Gedanlen gerade in ihrer zeitgenöffichen Beſchrünktheit 
den vollen Inhalt deſſen vergegenwärtigen, was man als 
die öffentliche Meinung der gebilbetften und lebendigſten 
Geiſter umferer Nation bezeichnen fann. Dem entipricht 
08 ebenfo notwendig, daß hier nun auch der rechte Stil 
für einen ſolchen Inhalt zuerft hervorbricht. Es find, 
um durch ein heutiges Wort die Sache deutlich zu machen, 
die erften wirklich gut gefchriebenen deutſchen Leitartilel. 
Bon diefer Seite her dürfen fie fogar mod) jegt als 
muftergültig empfohlen werben, denn der nicht ganz uns 
begründete Bormurf, ben Wedherlin übrigens felbft gegen 
fich erhebt, feine mit Gallicismen untermiſchie Diction, 
erſcheint als ein geringfügiger im Vergleich zu der Leich- 
tigkeit und Durchfidtigfeit des Sagbaues, der freien und 
doc gemäßigten Energie des Ausdruds und der gefhmad- 
vollen Gliederung und Abrundung der Themata, gleich- 
viel welchem Bereiche fie entnommen fein mögen. Hier 
iſt die Verrüfe, welche alle unfere damaligen Journaliſten 

1870. 10. 


153 


trugen, foweit fie nicht wie Leffing bloß Literatur und 
Wiſſenſchaft in ihren Kreis zogen, volftändig verſchwunden, 
und fein Wunder, daß feine Zeitgenoffen, die, was man 
nicht vergeffen darf, Zopf und Haarbeutel ſchon für einen 
großen Fortſchritt auf der Bahn der Befreiung des Men- 
ſchen zu erachten berechtigt waren, davon ſich völig und 
gründlich befriedigt fühlten. Salop und cynifd mag 
der Privatmenfch Wedherlin, trogdem was fein Biograph 
dagegen fagt, mitunter ſich geberbet Haben: der Schrift« 
fteller Wedherlin bleibt auch da, wo er als derbfter Sa- 
tirifer auftritt, immer ein vornehmer und überlegener 
Geiſt und unterfcheidet ſich dadurch fehr vortheilhaft 
vor feinem Landsnianne, liierariſchen Concurrenten und 
Feind, dem mit Recht mehr berüchtigten als berühmten 
Herausgeber der Deutſchen Chronik“, Daniel Schubart, 
mit welchem ihn Gervinus ſehr wenig zutreffend in engſte 
innere Verbindung gebracht Hat, während er richtiger 
fein volles Widerfpiel innerhalb derfelben Sphäre und 
aus benfelben bedingenden Momenten ber Aufern Ums 
gebung genannt werden dürfte. Denn Schubart über- 
trug den Cynismus und die Unflätereien feines Lebens 
auch ganz und gar im feine Schriftftellerei und ift da⸗ 
durch der directe Ahnherr der gegenwärtigen fogenannten 
demotkratiſchen und ultramontanen Preſſe geworden. Für 
da8 18. Dahrhundert bleibt er immer nur ein in- 
tereflantes pathologifches Symptom, während Wechherlin 
und feine eigentliche Signatur vergegenwärtigt. Ja in 
manden Anfhauungen und Combinationen fliegt ber 
Geift dieſes Politilers weit über die Schranfen feiner Zeit, 
und jenes etwas emphatijche Urtheil Yohannes Müllers 
über ihn, das auch fein neuefter Biograph mit nicht ger 
tinger Befriedigung wiederholt, hat ein gewiſſes ect, 
„daß manches in Weckherlin's Schriften für eine unbe 
rechenbare Werne gedacht und gelehrt feine“. Dahin 
gehört feine relative Freiheit von allen Formeln und Stiche 
morten ber damaligen Doctrin über bie abſolut befte 
Stantsform. Während die Zeitgenoffen, entweber durch 
den Einfluß Montesquien's für die conftitutionelle Monarchie 
nad) englifhem Vorbilde, oder durch Rouſſeau und die 
amerikanische Revolution für die Republik, in zwei ſchroffe 
Parteigegenfäge auseinandergingen, erkannte fein über- 
legener Scharffinn, daß dies eigentlich gar Feine Gegen 
füge feien. Aus Smecdmäßigkeitögründen empfahl er für 
Europa die Beibehaltung der Erbmonarchie, ohne fie zu 
einem Princip zu erheben. Wohl aber ſprach ex es auß, 
daß jede Staateform, melde ihren Angehörigen unbe 
ſchränkte Neligionsfreiheit, nicht blos jene paffive Toleranz, 
wie fie factifch damals ſchon in den Niederlanden und 
in Preußen herrfchte, Preßfreigeit und Handels- und Ge- 
werbefreiheit gewahre, eine wahrhaft freie oder dem richtig 
gefaßten Ideale entjprechenbe fei, jede andere, fie möge 
heißen wie fie wolle, eine unfreie, 

Als ein wahrer Prophet, den wie billig Feiner der 
Zeitgenofjen begriff und beachtete, fchrieb er ganz am 
Ende feiner Laufbahn: „In Hundert Jahren wird man 
den Kindern in der Schule lehren: Europa befteht aus 
folgenden Reichen: Rußland, Schweden (Skandinavien), 
Deutſchland, Hungarn, Türkei, Italien, Frankreich, Spa- 
nien, Portugal und England” — eine Keterei, wofür er 

20 








154 Vom Büchertiſch. 


auch vom den heutigen Reactionären in der Kutte, in der 
mofratifcher Bluſe oder in Hofuniform in die tiefite 
Hölle verurtheilt werden muß. Auch war ihm fchon die 
unermeßlich fruchtbare Idee aufgegangen, daß ſich das 
Maß der politifchen Freiheit eines Volls nach dem 
Maße feines Reichthums, d. h. feiner wirklichen Kräfte 
richte, alfo nicht durch Decrete und nad Schablonen, 
fondern durch eine ftrenge Logik der Thatſachen felbft bes 
ftimmt werde. Das Mercantilfyftem und das phyſiokra⸗ 
tifche, die damals auf nationalöfonomifchem Gebiete ſich 
in unverföhnten Gegenjage befämpften, find durch diefe 
Auffaffung, beide in ihrer Einfeitigleit auf politifche Dinge 
angewandt, ebenfo überwunden, wie fie gleichzeitig in der 
engern Sphäre der Handels« und Induſtriebewegung 
durh Adam Smith’ Theorie der productiven Arbeit 
überwunden wurden. 

Daß fich daneben und dazwifchen manche unvermittelte 
Einfülle, manche vorjchnelle Urtheile und Axiome auf 
ftehen ließen, wenn man darauf ausgehen wollte, verfteht 
ſich bei einem Tagesſchriftſteller von folder Fruchtbarkeit 
und ſolch zerfahrenem Leben von ſelbſt. Aber feine Zeit 
genofjen find darüber nicht an ihm irre geworden; fie 
haben begriffen, daß auch ein fo reicher und klarer Geift 
mitunter der allgemeinen Neigung des Menjchen, ſich in 
Schnurren und Albernheiten auszutoben, verfallen dürfe, 
Geltfam aber erfcheint e8 einem heutigen Leſer dieſes ori⸗ 
ginellen Schwaben, wenn fein neueſter Biograph und 
Herausgeber einer der Lächerlichiten unter diefen feinen 
Bizarrerien, feinem zügellofen Judenhaß, alles Ernftes 
das Wort redet. Es fcheint una das doch mehr gethan, 
als die Pflicht oder das MWohlwollen eines Biographen 
verlangt. Weckherlin, muß man bedenken, fannte die Juden 
nur als die ſchmuzigſten und binterliftigften Blutfauger 
des heruntergelommenen Bauern in Südweſtdeutſchland 
ober ihrer ebenfo verlumpten abelichen Profoſe. Ihm als 


Schwahen war natürlich die Geftalt des würtembergifchen 
Hofjuden Süß die typifche für das ganze Voll, und fo 
mag man feine wüthenden Invectiven, wenn auch nicht 
entfchuldigen, doch begreifen. Aber es überfteigt unfere 
Fafjungsfraft, wie ein heutiger Schriftfteller von entſchie⸗ 
denft Liberaler Yärbung in dies Hepp, Depp einflimmen 
mag. Wol haben fidh jene traurigen Zuſtände in dem 
nächſten Gefichtsfelde Wedherlin’8 auch bis Heute noch 
nicht durchgreifend geändert, aber glüclicherweife find fie 
weder in irgendeiner andern Hinficht, noch auch, was die 
Stellung der Juden zu der beutjchen Nation angeht, 
irgendwie maßgebend für das Ganze, fondern nur häß« 
liche Reminifcenzen der anderwärts gottlob ſchon völlig 
überwunbenen tiefften Verkommenheit der dentfchen Zu- 
fände, Unfern Juden in Welt- und Norddentfchland, 
foweit fie fid) an der allgemeinen bdeutfchen Bildung be» 
theiligen — und das thun fie thatſächlich in relativ größerer 
Intenfität als die Mehrzahl der blondhaarigen Nadlom« 
men Teut's — vorzuwerfen, daß ihnen das patriotijche 
Intereffe fremd ſei u. dgl., ift ein fehmweres Unrecht. Daß 
fi unter den Handlangern der Yeinde unferer na 
tionalen Größe in Wien, Frankfurt und auderwärts 
auch Juden befinden, wird doch kein denkender Menſch als 
einen Beweis dafür gelten laſſen wollen. „Jedenfalls find 
es ihrer nicht mehr, als echt autochthonifche Schwaben, 
Franken, Sachſen und andere „Stammbafte” aus allen 
Horben und Llanen bes vorfündflutlihen Germanien. 
Die Manen eines der edelften unter allen echten Deutſchen, 
Gabriel Rießer's, unzähliger anderer Todter und Lebender 
unter feinen Glaubensgenofjen zu gefchweigen, follten gegen 
eine ſolche Berunglimpfung allein ſchon genügenden Proteft 
erheben. Wunderlich, wenn man immer noch nicht ber 
greifen will, daß die Nationalität in) etwas ganz anderm 
als in der bloßen Gemeinſchaft des Bluts und der 
Haare beiteht. Heinrich Rücert. 


Yom Büchertiſch. | 


1. C. F. Pb. von Martins. Sein Lebens. und Charakterbifd, 
insbefondere feine Keifeerlebniffe in Brafllien, von Hugo 
Schramm. Zwei Bünde. Leipzig, Denide. 1869. 

2 Thlr. 20 Nor. 

Es war eine „aus dem Jahrhundert Leſſing's, Goethe's 
und Sciller’8 herſtammende Natur, deren Annäherung, 
wen fie irgend zutheil geworden ift, gewöhnlich auch als 
wahrhaft beglüdend erſchien“. Diefe Worte von Carus 
bezeichnen treffend den Hochbedeutenden heimgegangenen 
Naturforfcher, der in vorliegender Biographie lebensvoll 
und gründlih nah Sitte, Lehre und Erfahrung geſchil⸗ 
dert wird. Martins’ äußerer Lebensgang als Gelehrter 
ift nicht minder anzichend als feine für die Wiffenfchaft 
höchſt erfprießliche Reiſe nach Brafilien im Jahre 1817 
(nit 1807, wie im erfien Band auf ©. 41 fulſchlich 
zu leſen). Ein Humboldt im Heinen zog er über das 
Meer, um im Auftrag des batrifchen Königs der münche⸗ 
ner Alademie der Wiflenfchaften durch eigene Erfahrung 
Bereicherung zulommen zu laflen. Sehr paſſend läßt 
Schramm hier meift Martins’ eigene Befchreibungen vor- 


walten; im andern alle weiß er uns ein glüdliches 
Gemälde der Reiſe und ihrer Erlebniffe vorzuftellen. 
Desgleichen widmet der Biograph der literarifchen Thä- 
tigfeit feines Helden ein liebevolles Denkmal. Martins’ 
Denkreden, fein weitbelanntes Reiſewerk über Braſilien, 
feine ethnographiſchen und linguiſtiſchen Forfchungen, feine 
botanifchen Arbeiten, alle diefe verfchiedenen Phafen ge- 
lehrter Thätigkeit erhalten ihre eingehende Würdigung. Es 
ift ein wackeres Buch, diefes „Lebensbild“, würbig nad 
Inhalt und Ausführung. Unter den angehängten Briefen 
heben wir befonder8 die vielen Briefe an Sturz berver, 
die gerade Hinfichtlich der neuerdings nicht ganz sine ira 
et studio behandelten braftlianifchen Yuswanderungsfrage 
ernentes Intereſſe beanfpruchen dürften. 


2. Adrian van Oſtade. Sein Leben und feine Kunſt. Bon 
Theodor Gaedertz. Lübed, von Rohden. 1869. Gr. 8. 
1 Thlr. 15 Nor. 
Aus Vorträgen, die der Berfaffer über den berühmten 
Genremaler in der lübecker Gemeinnügigen Geſellſchaft 


Vom Büchertiſch. 155 


gehalten, iſt dieſe Biographie entſtanden. Es iſt neben 
dem kunſtgeſchichtlichen auch ein patriotifches Intereſſe, 
das den Verfafler geleitet hat, das Leben Oſtade's zu 
befchreiben. Es galt, das Wirken eines aus Deutſchland 
ſtammenden Malers zu ſchildern. Die italieniſchen Künft- 
ler, die Rafael, Angelo, Veronefe, Tizian find vielfach) 
gewitrbigt worden; die deutſchen viel weniger. Wenn 
uns nit dann und warn Alfred Woltmann aushülfe, 
wir hätten fehr wenig Biographien von deutfchen Künft- 
lern. Gehört Oſtade der Schule und Richtung nad) 
aud nad; den Niederlanden, fo ift das harakteriftifche 
Merkmal der holländischen Schule ein fo echt germani« 
ſches, daß 28 uns in allen Producten heimiſch an« 
muthet. Das Haus, feine Vehaglichfeit und Gemüthlich ⸗ 
keit, ift überall in den niederländifhen Genrebildern un« 
ausbleibliches Motiv. Im diefem Genre ift Oftade groß 
geworben, in ihm muthet er das deutſche Gemilth wohl⸗ 
thuend an. Man kann wohl fagen, daß der Biograph 
ber luuſtleriſchen Größe und Urjprünglichfeit des berügm- 
ten Lübeders nad) allen Seiten hin gerecht geworben ift; 
auch fehlt dem forgfamen Buche nicht ein ausführliches 
chronologiſches Verzeichniß ber fümmtlichen Werke des 

Meifters. 

3. Wegweiſer durch bie Geſchichte der Päbagogik von ®. Brude 
bad). Leipzig, Matthes. 1869. Gr. 16. 15 Nor. 
Einfichtig und urtheilsvoll ift diefer „Wegweifer“ ver 

jaßt. Es ift feine leichte Aufgabe, in einem Sedezwerlchen 

die Geſammigeſchichte europäifcher Pädagogik zu geben. 

Die Zeitabſchnitte find richtig gefondert, am Schluß jedes 

Abſchnitts wird eine Ueberſicht der einfchlägigen Literatur, 
der padagogiſchen Stationen des betreffenden Zeitraums, 
ſowie berühmter Schulmänner und Erzieher gegeben. 

Der Ton des anfpruchslofen Buchs ift ein fachgemäßer 

und zeugt von der gefunden päbagogifchen Anſchauung 

des Verfaſſers, fodag wir biefen Äbriß beſtens empfehr 
len fönnen. 

4. Pädagogifge Streifzüge. (Bierte Sammlung pädagogifder 
FR) Mi H. Dre Fr Raffel, €. nachts 1870. 
Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 

Nicht fo anſpruchslos wie das Büchlein von Bruds 
bach fallen dieje „Padagogiſchen Streifzüge” ins Auge. Der 
Autor derjelben, ein anerlannter Pädagog von prattiſcher 
Erfahrung und dem unbeftreitbaren Beruf, gute theorer 
tiſche Anweifungen zu geben, Hat ſich ſchon vielfah in 
päbagogifchen Zeitfchriften, fo in der „Allgemeinen beutjchen 
"Vehrerzeitung“ vernehmen iaſſen. Die reihfte Beobachtungs- 
gabe defien, was dem Kindesalter noththut, ift auch 
aus biefen Streifzügen ſichtbar. Da find allerlei Geifter 
vereinigt, die zufammen ein gut Theil pädagogifcher 
Weisheit vepräfenticen, fo ungeorbnet fie aud) aneinandere 
gereigt find. Am meiften Anerkennung verdient wol ber 
Auffag „Herder als Padagog“ und die „Briefe an einen 
angehenden Lehrer”. Der erftere Artikel ſteht im Zu- 
fommenhang mit Keferftein’s „Lichtftrahlen aus Her- 
der's Werfen” (Leipzig 1867). Reizend und dem lind ⸗ 
den Alter entſprechend find die Briefe Herber’s 
aus Dtalien an feine Kinder; auch eine Menge treffe 
licher Aphorismen, die neu fein dürften, finden wir 
in dem erwähnten Aufſatz wieder, Schließlich drängt 





es und, dem Berfaffer unfere freubige Webereinftim« 

mung mit der Abfertigung auszuſprechen, bie ex Direc- 

tor Campe's „Abhandlungen über Geſchichtsunterricht“ 

(Leipzig 1859) zutheil werden läßt (©. 32). Der Herr 

Director will, getreu dem alten Geſchichteſchlendrian auf 

Gymnafien, nicht allein in Serta, Ouinta, Tertia und 

Prima alte Gefcjichte allein vorgetragen, fondern auch die 

Culturgeſchichte gänzlich) aus dem Lehrplan vertviefen fehen. 

Dem tritt — ähnlich wie wir bei Gelegenheit jene un- 

päbagogifche Anficht befämpften — unfer Autor wader 

entgegen. Es lohnt wohl, die warm geſchriebene Stelle 

ganz hierher zu fegen: . 

Die Ausfgeidung des culturhiſtoriſchen Stoffs aus dem 
Geſchichtsunterrichte dürfte die am wenigften haltbare Forderung 
des Berfafiers fein. Er ruft: Thaten und abermald Thaten! 
Sind denn aber Thaten nur Schlachten und Feldzüge? If 
die Geſchichte der grieg und Staatsactionen der der Jagend 
angemefjenfte' Stoff! Wie viel Roheit der Motive und Hande 
Tungen jelber läuft nicht in der rein politifchen Geſchichte mit 
unter: foll der Sinn des Knaben genährt werben mit ſolch 
blutigen Scenen, wie mit ber Hinrichtung der 4500 Sachſen 
ober den Schlächtereien in den Kriegen des 18. Jahrhundertsl 
Wir follten meinen, es gäbe denn doch eblere Thaten zu bes 
richten als die laute Feldſchlacht — daran mag ſich ein befon- 
ders kriegeriſches Zeitalter und Geflecht weiden. Sind Erfin⸗ 
dungen, Entdedungen, Leitungen in Kunft und Wiffenichaften 
nit auch Thaten, Thaten des fill ſchaffenden, aber defto Fame 
reicher wirfenden Geiftes! Soll der Knabe nicht biefe Tieben, 
fhägen, ihnen nicht nadeifern lernen! Bom Standpunkte des 
tauflufigen Adele des Mittelalters ober des kriegliebenden 
Spartaners mag bie pofitife That, die doch vorwiegend in 
Kriege und Stantsactionen ausmlnbet, Hauptgegenftand ber 
hiſtoriſchen Belehrung der Jugend fein — für ein Zeitalter der 
Gefittung, meinen wir, geziemte es ſich auch, ſchon die Iugend 
mit dem Werden und Wachen und dem Gegen bes Eultur- 
lebens der Völter bekannt zu maden. Es Täuft auf eine ro⸗ 
mantiſche Anfhanung hinaus, wenn man meint, ber Knabe und 
Jungling finde nur Geſchmac an Kampfgeſchrei und Schwerter» 
Hang, er laſſe fid nit gern aud in das Gemad und in die 
Berkftatt des finnenden Weifen führen, er finde feinen Geſchmack 
an ben vielleicht unfcheinbaren, aber unendlich, wertvollen Er- 
genen fen des Handwerks und des gefammten Gebiets gewerb⸗ 
licher Thätigfeit. Wir haben gewiß allen Grund, ung über den 
Anban der Tulturgeſchichte zu freuen, und es fann und wird 
das Berfländniß des wahrhaft Werthvollen ganz befonders and) 
dur die Einführung der Jugend in bie Tuliurgeſchichte ante 
gebahnt werden. Auch bernht es auf falſchen Borausfegnngen, 
wenn man meint, e8 könne die Culturgeſchichte nicht lehrreich und 
anzegend zugleid) für die Unmünbigen behandelt werben. 

5. Hausfrau. Gattin. Mutter. Gedanken über Frauenbildung, 
den Gebildeten ihres Geſchlechts gewidmet bon ber Ber» 
faſſerin. Zugleich ein Beitrag zur Frauenfrage. - Halle, 
Dendel. 1870. ®r. 16. 15 Nor. 

Ein edler, warmer Ton fpricht aus biefem Buche, das 
eine Frau mit ſtarlem Herzen gefchrieben haben muß. 
Ohne ihrem Geſchlecht zu fehmeiheln, weiß fie den 
Eigenthitmlichteiten befjelben gerecht zu werden und 
verfällt dabei nicht in den abſprechenden Ton gegen 
die heutige Männerwelt, deſſen ſich die Berfafferin des 
„Genius der Menfchheit” (vgl. Nr. 4 d. BL. f. 1870) 
nicht entwöhnen kann. Der Einfluß des Weibes auf den 
Mann, das Verhältnig von Mutter und Kind, das innerfte 
Familienleben, diefe Punkte werden einer forgfältigen Be- 
fprehung unterzogen: fanfte Männlichteit und felbftändige 
Weiblichkeit find der Verfaſſerin das wahrhaft Schöne 
und Erftrebenswerthe; „wie ihr den Knaben und Dungling 

20* 





156 


lehrt, der Geſpielin und Schwefter zu begegnen, fo wirb 
der Mann auch einft fein Weib behandeln.“ in un- 
verwifchter Ausdrud wahrer Religiofität durchdringt das 
Büchlein, das ſich ficher einen ftillen Freundeskreis ſchaf⸗ 
fen wird. 


6. Der Nothſtand ımter den Frauen und die Abhlilfe deffelben. 
Ein Beitrag zur Franenfrage von Kari Weiß. Berlin, Brigl. 
1870, ©. 8 Ta Ngr. 

Das ift einmal ein gutes Wort in der focialen Frage! 
Ohne Phraſe, mit ftatiftifcher eiferner Confequenz weift 
der Autor nad), welche Wurzeln der Nothftand ber Frauen 
babe und welche Wege zu feiner Befeitigung führen kön⸗ 
nen. &8 find ſchon fo fehr viel Nothſtände fignaliftrt, 
es. ift Schon fo viel mit dem „Elend“ in Leben und 
Dichtung kokettirt, e8 find fchon jo viele unmögliche Wege 
zur Abhülfe angegeben worden, daß man doppelt froh 
fein muß, wenn einmal Ernſt flatt Worte und das Brot 
eines vernünftigen Auswegs aus ber Mifere ftatt ber 
Steine von Klagen nnd Anklagen gegen das Menjchen- 
gejchlecht geboten wird. Wenn in Berlin allen 43417 
unverheirathete Frauen eriftiren, „bie fih an ber natio« 
nalen Arbeit gar nicht oder nur in geringem Maße be» 
theiligen, fomit als meiſt überflüffige Beihülfe in ber 
Wirthſchaft mit ernährt werden müſſen“, fo nöthigt diefe 
Thatſache zu ernfter Betrachtung und dringender Abhülfe. 
Dan kann bei Weiß nadjlefen, wie Iehrreich die berliner 
Statiftif für die Kenntniß dieſer Nothftände iſt. Die 
Hauptkraft, weldhe die Frauen vor der Noth bewahrt, ift 
die Erziehung zur Arbeit. Aber auch Hier ift vor den 
Gebieten zu warnen, bie zu überfüllt find. Bor der 

muftlalifchen Arbeit, dem Beruf der Lehrerinnen und Er- 
zieherinnen, dem Gebiet der Buntftiderei, der gröbern 

Wollenarbeiten warnt ber Ueberfüllung wegen der Ver⸗ 

faſſer. Nach feiner Berechnung (in der er die verſchie⸗ 

denen Arbeitögebiete der Frauen zufammenftellt) kommt 
auf 8500 weibliche Bewohner in Berlin ein einziger 
felbftthätiger. Und aus diefer Tabelle geht auch bie Er- 
fenntniß der Abhilfe bes Mebels hervor. Das Gebiet 
der Nadelarbeit, des AZufchneidens und Kleidermachens 

(wodurch die Damenfchneider unnit werden), der Näh⸗ 

machine, der amerilanifchen Stridmafchine, der Zeichnerei 

im praltiihen Sinn follte den Frauen viel mehr Arbeit 

bieten als bisher. Noch mehr. Die große Befähigung 

des weiblichen Gefchlechts fir Buchführung, Kaſſe⸗ und 

Comptoirarbeiten follte daffelbe mehr in die gejchäftlichen 

faufmännifchen Branchen hinweiſen. Das alles wird des 

genauern in der Heinen Schrift ausgeführt, und auf den 

Bictoria-Bazar als kräftiges Abhillfemittel der Noth Hin- 

gewiefen. Es ift eine Pflicht, das Weiß'ſche Büchelchen 

zu Iefen, und für die nothleidenden Frauen auch eine ernfte 

Pfliht, danach zu handeln. 

7. Ueber den Kampf der Humanität gegen die Schreden bes 
Kriegs. Ein Bortrag von %. Esmard. Mit fünf 


Holzichnitten nad Zeichnungen von I. Wittmaack. Kiel, 
Schwere. 1869. Er. 8 7% Nor. 


Auch ein Nothftand, allerdings mehr des phyſiſchen 
als des geiftigen Lebens tritt uns in vorliegender Bro⸗ 
ſchüre vor die Augen. Sie ift der Abdruck eines Vor⸗ 
trags, den der rühmlich bekannte Profeffor der Chirurgie 


Dom Büchertiſch. 


(wol in Kiel?) gehalten Hat. Esmarch gibt ein anfchau⸗ 
liches Bild der Unzulänglichkeit der alten Sanitätspflege 
in den Sriegen unfers Jahrhunderts; er erklärt bie 
Staatshülfe für nicht ausreichend, die Noth anf den 
Schlachtfeldern zu mildern; aber auch bie öffentliche Hilfe, 
die fi im leiten Kriege glorreich bewährt hätte, bedürfte 
der Regelung, der zweckmäßigen Organijation. Die bis- 
berigen Localitäten für die Pflege der Verwundeten er- 
jheinen ihm unzureichend; dba es aber fehwerlich befjere 
gäbe, fo empfiehlt er dringend die Errichtung amerifani- 
cher Baradenlazarethe: ein Gegenftand, dem Esmard) die 
eingehendfte Befchreibung widmet. Auch hier wieber, wie 
in allen Fragen des praftifchen Xebens, haben die Ame⸗ 
rifaner ihre große Weberlegenheit über die Staaten der 
Alten Welt gezeigt. Ein Theil jener Vorurtheilslofigkeit, 
welche die Yankee auszeichnet, wäre den Deutfchen, 
gerade in Bezug auf das Vorgehen in neuen nitglichen 
Unternehmungen dringend zu wünſchen. Uebrigens ift 
bemerfenswerth, daß Esmarch mit Virchow bie Schreibart 
„Lazarett“ ftatt „Lazareth“ file die richtige erklärt. 


8. Borträge von Friedrich Liebetrut. Gotha, Schloeßmann. 
1869. 8. 24 Rgr. " 


Die Themata diefer Vorträge: „Das deutfche Vater⸗ 
land nad der Germania des Tacitus“, „Geſchichte und 
Kritit der Jungfrau von Orleans“, „Das Lebenswunder 
und feine Räthſel“, find mannichfaltig. Die Behandlung 
iſt nicht immer fo objectiv, wie der Vortragende fie felbft 
bezeichnet; wenigftens paßt der „elende Boltaire” nicht 
reht in den Rahmen Hiftorifcher Darſtellung. Nicht 
minder gewagt und einfeitig ift die Erklärung der Er=. 
fheinung der Befreierin von Orleans vom übernatürlichen 
Standpunkte aus. Das fehr richtige Urtheil Heder’s, ber 
in der Beurtheilung. pfychifcher Zuftände der mittelalter- 
lichen Gedichte höchſt fachverftändig ift, wird für zu 
frivol, zu wenig dem frommen Glauben entjprechend 
erlärt. Kein Wunder! Wer ben Auffab über das 
„Lebenswunder” gefchrieben hat, muß alle Anfhauungen 
der „ſich blähenden Klugheit” eitel und nichtig nennen. 
Diefer legtgenannte Bortrag entzieht ſich der Kritik d. Bl.: 
er gehört völlig in ein Erbauungsbuch, und zwar in eins 
bon pietiftiicher Färbung. 

I. Die Fauſtſage und der religiös-fittlihe Standpunft in 
Goethe's Fauſt. Bortrag von PB. Tube, Dresden, Nau⸗ 
mann. 1869. Br. 8 5 Ngr. 

Don geiftliher Stelle her, wie die eben erwähnten 
Borträge, find auch die vorliegenden Worte über bie 
moderne Bibel des Menſchengeſchlechts geſprochen, aber 
fie verrathen ein tiefes Verſtändniß für den Dichter und 
fein Werk. Gie zeigen, wenn auch fehr flüchtig, was 
Goethe gewollt, und haben die Symbolik des Werks fein 
erfannt. Schade, daß ber Bortrag gerade da abbricht, 
wo wir den Endpunkt der Unterfuhung erwartet hätten: 
nämlich in der Beſprechung bes großartigen Finale im 
zweiten Theil. 

10. Diron's und Duncker's Seelenbräute, filhouettirt von 

ilhelm Ebel, Bafel, Riehm. 1869. Gr 8. 

7% Nor. 

Nicht allein dem Briten Diron, auch dem beutfchen 
Buchhändler Franz Dunder, der die deutſche Ueberfegung 


Bom Buchertiſch. 157 


von Diron’s „Spiritual wives” verlegt Bat, gilt der 
Kampf, den Ebel, ein Sohn des vielgenannten Tönigs- 
berget Archidialonus, als ſtreitbarer Kämpe gegen die 
Anfläger feines Vaters führt. Beſſer als weiland dem 
Grafen Kanitz gelingt es dem Verfaſſer, dem Ironie und 
tüchtige gelehrte Bildung zur Seite flehen, fo manchen 
ſchwachen Punkt des englifchen Senfationswerfs zu be= 
leuchten; denn Dixon's Buch ift allerdings, mas bie 
tönigeberger Muckergeſchichten betrifft, in vieler Hinſicht 
oberflachlich und einfeitig. Die Amtsentfegung Chefs 
und Dieſiel's find jegt noch dunkle Punkte in ber 
preußifchen Rechtsgeſchichte, mag man auch über bie 
Eonventikel der Königsberger Frommen denken wie man will. 
11. Die Verbindung dee Kunſte auf der dramatiſchen Bühne, 

Bon Karl Robert Pabſt. Bern, Haller. 1870. Gr. 8. 

1 Thlr. 5 Ngr. 

Borliegende „Reihe alademiſcher Vorträge” behandelt 
ein bebeutungsdoles Thema. Nachdem der Autor die 
Rangftellung der Poeſie unter den Künften bezeichnet und 
ihr den erften Rang zugetheilt hat, kommt er anf bie 
Verbindung der Künfte ſelbſt. Als Grundgeſetz ftellt er 
hier die Unterordnung aller zufammenmirkenden Künſte 
umter die Herrſchaft einer einzigen Hin. Und zwar hält 
er unter allen Künften fir die bedeutendfte und wirkungs⸗ 
reichte die theatraliſch aufgeführte dramatiſche Dichtung. 
Nach einer forgfältigen Analyfe der Oper (mobei er 
Wagner’3 Irrtfum genau aufdedt) wird der Muſik bie 
zweite Stelle unter den Künſten vindieirt, und zwar dem 
Gefang, der in der Inſtrumentalmuſik feine Stige fin- 
det. Der Pantomime und dem charalteriſtiſchen Ballet 
will der Autor nur zeitweife das Recht einräumen, ale 
Herrfcher aufzutreten. Sehr abfällig äußert er ſich über 
die Flut der Leſedramen, die mit ein Grund des Herab- 
fommmens der Vühne geworden find. Das ganze Wert 
ift mit liebevoller und eingehender Theilnahme fir das 
Wefen und bie Gefundheit des beutfchen Theaters verfaßt 
amd werth, von Dichtern und Darftellern, vor allem von 
dem Leitern der Bühne beherzigt zu werden, 











12. Der Bürgergeift, die Bühne und der Vühnenvorfand. Ein 
Wort der Bitte und Mahnung an Staatsmäuner, Gemeinde» 
räthe, Lehrer und die Glieder des Schaufpielerftandes, vom 
F z gett Eruſt. Zurich, Herzog. 1870. Gr. 8. 
10 Nor. 


Die Schweiz liefert, wie wir fehen, zu Anfang des 
neuen Literaturjahres gleich zwei anregende Schriften über bie 
Bühne und was ihr noththut. Die Schrift von Ernft wen- 
det fid, während das Pabft’che Buch die theoretifche Seite 
der Kunft im Auge hat, mehr an die praltiſchen Anfors 
derungen des Theaters. Der Autor kennt die Berhält- 
niſſe des deutſchen Theaters im allgemeinen und im bes 
fondern; er tadelt nicht nur, er macht auch Borfchläge, 
die ſich verwirklichen laſſen. Der Vürgergeift, ber in der 
republifanifcen Schweiz alle tüchtigen Unternefmungen 
ourchdringi, fol and das Theater kräftigen: nur lönnen 
wir mit dem Verfaffer nicht einverftanden fein, wenn er 
‚zen Staat ganz bon der Theilnahme für das Theater 
Terngehalten und ihn mur bei der Grundung von Theater- 
ichulen im Devrient'ſchen Sinne betheiligt wiſſen will. 
Die ſchließliche Rüdfictnahme auf das Theater einer 


beftimmten xheinifchen Stadt ift zu particulär, um das 
allgemeine Intereſſe zu befcäftigen. Trotzdem bietet das 
Scriftchen fo viel Anregendes, daß feine zu enge Faſſung 
nur bedauert werden Tann. 


13.€. ©. Leffing als angehender Dramatiker, geſchildert nach 

einer Bergleihung feines Schages mit den Trinummus bes 

Piauras, Bon Eugen Sierke. Königeberg, Hartung. 

Diefe Differtation „zur Erlangung der Doctorwürde 
der philoſophiſchen Bacultät zu Leipzig überreicht", er« 
drtert auf 55 Seiten eins der bedentendften Erftlings- 
dramen Leſſing's. Eingehender und peinlich gewiffenhafter 
Tann man faum den Intentionen und den Eigenthümlich- 
teiten eine8 jungen Dramatifer8 nachforſchen, als e8 der 
oftpreußifche Doctorand, der jett über das Fönigäberger 
Theater in der Hartung'ſchen Zeitung berichtet, in feiner 
gediegenen Arbeit gethan hat. 


14. Heinrich Heine und das Judenthum. Bon Guſtav Kar- 
peles. Breslau, Heidenfeld. 1868. 8. 5 Nor. 

Auch eine Rettung! Auch Heine, der Neffe Salomo’s, 
hat feinen Göfchel gefunden. Wäre Heine nicht fo gren⸗ 
zenlos frivol gewefen, fo hätte er — es iſt gar nicht 
anders —* — enthuſiaſtiſcher Jude fein wmiüfjen! 
Und worauf ftügt ſich Karpeles? Hauptfächlic auf 
8. 7 des Heine’fchen Teftaments, wo er das pater peccavi, 
an deſſen Aufrichtigkeit fein Menſch glaubt, gegen bie 
offenbarte Religion ausgefprochen. Bas die religidfe 
Belehrung auf dem GSterbebett anbetrifft, jo weiß alle 
Welt, was fie davon zu halten hat, ohne gerade Voltaire 
und andere Geifter zu nennen, Der Eifer des Verfaſſers, 
Heine als Dichter des Judenthums nachzuweiſen, wendet ſich 
auch mit Energie gegen die Verächter der Ceremonialgeſetze, 
die mobernen Juden. Hinc illae lacrimae! Und doch 
hat Heine die unfhägbaren Vorzüge bes Gänfegefröfes 
und des Schalets mit Klößen recht appetitlich hervor⸗ 
gehoben, wenn er ſich aud über die Handelsthätigleit mit 
abgelebten Hofen etwas fpöttifch ausgelaſſen. Der Bore 
trag des Hrn. Karpeles ift fo falbungsvoll, fo ganz von 
ſchwarztalariſcher Färbung, daß ihn mit Umfegung ber 
Worte „Hude“ in „Chrift“ ein proteftantifcher Paftor (die 
Tatholifchen wagen ſich wenige auf das Feld der Literatur), 
mit einem Wort, daß ihn Liebetrut gehalten haben Könnte. 


15. Geſchichte der Juden von den älteſten Zeiten bis anf die Ge⸗ 
gaman Aus den Quellen neu bearbeitet von 9. Graetz. 
jehnter Band: Gefdichte der Juden vom der dauernden 
Unfiedelung der Marranen in Holland (1618) bis zum Ber 
ginne der Mendelsſohn'ſchen Zeit (1760). Leipzig, Leiner. 

1868. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr. 

Brüfet alles und das Befte behaltet! Wenn man 
vom Judenthum eine fo partieulariſtifche Anſchauung Hat 
wie ber Retter Heinrich Heine's, fo freut es um fo mehr, 
bie Fortfegungen eines der tüchtigflen Geſchichtswerle zu 
begrüßen, das über das merkwürdige, noch fo viel ver- 
Tannte und umbelannte Volt verfaßt iſt. Es wäre un. 
nöthig, noch über das Werk von Graeg viele Worte zu 
verlieren; es gemüge hier wieber, zu betonen, baß ber 
treffliche Gelehrte für feine Specialität, die Geſchichte der 
Hude, die einzig genane und ſicherſte Duelle if, Aus 





156 


Iehrt, der Gefpielin und Schwefter zu begegnen, fo wirb 
ber Mann auch einft fein Weib behandeln.” Ein un 
verwifchter Ausdrud wahrer Keligiofität durchdringt das 
Büchlein, das ſich ſicher einen ftillen Freundeskreis ſchaf⸗ 
fen wird. 


6. Der Notbftand umter den Frauen und die Abhülfe beffelben. 
Ein Beitrag zur Frauenfrage von Karl Weiß. Berlin, Brigl. 
1870. Gr. 8 71% Ngr. 

Das ift einmal ein gutes Wort in der focialen Frage! 
Ohne Phrafe, mit ftatiftifcher eiferner Conſequenz weift 
ber Autor nach, welche Wurzeln der Notbftand der Frauen 
babe und welche Wege zu feiner Befeitigung führen kön⸗ 
nen. Es find fchon fo fehr viel Nothftände fignalifirt, 
es. ift fchon fo viel mit dem „Elend“ in Leben und 
Dichtung kokettirt, e8 find fchon fo viele unmögliche Wege 
zur Abhilfe angegeben worben, daß man boppelt froh 
fein muß, wenn einmal Ernft ftatt Worte und das Brot 
eines vernünftigen Auswegs aus der Mifere ftatt ber 
Steine von Klagen und Auflagen gegen das Menfchen- 
gefchlecht geboten wird. Wenn in Berlin allein 43417 
unverbeirathete rauen exiſtiren, „bie fih an der natio- 
nalen Arbeit gar nicht oder nur in geringem Maße be- 
theiligen, fomit als meift überflüffige Beihülfe in der 
Wirthſchaft mit ernährt werden müſſen“, fo nöthigt dieſe 
Thatſache zu ernfter Betrachtung und dringender Abhülfe. 
Dan kann bei Weiß nachleſen, wie Iehrreich bie berliner 
Statiſtik für die Kenntniß diefer Notbftände iſt. Die 
Hauptkraft, welche die Frauen vor der Noth bewahrt, ift 
die Erziehung zur Arbeit. Aber auch hier ift vor ben 
Gebieten zu warnen, die zu überfüllt find. Bor ber 
muſikaliſchen Arbeit, dem Beruf der Lehrerinnen und Er- 
zieberinnen, dem Gebiet der Buntfliderei, der gröbern 
MWollenarbeiten warnt der Ueberfüllung wegen der Ber» 
faffer. Nach feiner Berechnung (in ber er die verfchie- 
denen Arbeitsgebiete der Frauen zufammenftellt) kommt 
auf 8500 weibliche Bewohner in Berlin ein einziger 
felbftthätiger. Und aus diefer Tabelle geht auch die Er- 
fenntniß der Abhülfe bes Uebels hervor. Das Gebiet 
der Nabdelarbeit, des Zuſchneidens und Kleidermachens 
(wodurch die Damenfchneider unnütz werden), der Näh—⸗ 
mafchine, der amerikaniſchen Strickmaſchine, der Zeichnerei 
im praktiſchen Sinn follte den Frauen viel mehr Arbeit 
bieten als bisher. Noch mehr. Die große Befähigung 
des weiblichen Gefchlehts für Buchführung, Kaffe» und 
Comptoirarbeiten follte dafjelbe mehr in die gefchäftlichen 
faufmännifchen Branchen hinweiſen. Das alles wird des 
genauern in der Heinen Schrift ausgeführt, und auf den 
Bictoria-Bazar als Träftiges Abhülfemittel der Noth hin⸗ 
gewiefen. Es iſt eine Pflicht, das Weiß'ſche Büchelchen 
zu lefen, und fir die nothleidenden Frauen aud) eine ernfte 
Pfliht, danach zu Handeln. 

7. Ueber den Kampf ber Sumanität gegen die Schreden bes 
Kriege. Kin Bortrag von F. Esmard. Mit fünf 
Holzihnitten nach Zeichnungen von I. Wittmaack. Kiel, 
Schweres, 1869. ©r. 8. 71 Nor. 


Auch ein Nothſtand, allerdings mehr des phyſiſchen 
als bes geiftigen Lebens tritt uns in vorliegender Bro⸗ 
fhüre vor die Augen. Sie ift ber Abdrnd eines Vor⸗ 
trage, den der rühmlich bekannte Profeſſor der Chirurgie 


Dom Büchertiſch. 


(wol in Kiel?) gehalten Hat. Esmarch gibt ein anfchau- 

liches Bild der Unzulänglichleit der alten Sanitätspflege 

in den Sriegen unfers Jahrhunderts; er erklärt bie 

Stantshülfe fiir nicht ausreichend, die Noth auf den 

Schlachtfeldern zu mildern; aber auch die öffentliche Hilfe, 

die fi im legten Kriege glorreich bewährt hätte, bedürfte 

ber Regelung, der zwedmäßigen Organifation. Die biß- 
berigen Localitüten für die Pflege der Verwundeten er⸗ 
foheinen ihm unzureichend; da es aber fchwerlich befiere 
gäbe, fo empfiehlt er dringend die Errichtung amerifani- 
her Baradenlazarethe: ein Gegenftand, dem Esmarch die 
eingehendfte Befchreibung wibmet. Auch bier wieber, wie 
in allen Fragen bes praftiichen Lebens, haben die Ame- 
rikaner ihre große Weberlegenheit über die Staaten ber 

Alten Welt gezeigt. Ein Theil jener Vorurtheilslofigkeit, 

welche die Yankees auszeichnet, wäre ben “Deutfchen, 

gerade in Bezug auf das Vorgehen in neuen nilglichen 

Unternehmungen dringend zu wünſchen. Uebrigens ift 

bemerkenswert, daß Esmarch mit Virchow die Schreibart 

„Lazarett“ ftatt „Lazareth“ für die richtige erklärt. 

8. Borträge von Friedrich Liebetrut. Gotha, Schloeßmann. 
1869. 8. 24 Nor. 
Die Themata diefer Vorträge: „Das beutfche Vater⸗ 

land nach der Germania des Tacitus“, „Geſchichte und 

Kritik der Jungfrau von Orleans”, „Das Lebenswunder 

und feine Räthſel“, find mannichfaltig. Die Behandlung 

ift nicht immer fo objectiv, wie der Vortragende fie felbft 
bezeichnet; wenigftens paßt der „elende Voltaire“ nicht 
recht in den Rahmen hiſtoriſcher Darſtellung. Nicht 
minder gewagt und einfeitig ift die Erflärung der Er⸗ 
fheinung der Befreierin von Orleans vom übernatürlichen 

Standpunkte aus. Das fehr richtige Urtheil Heder’s, der 

in der Beurtheilung pfochifcher Zuftände der mittelalter- 

lichen Geſchichte höchſt fachverftändig ift, wird für zu 
frivol, zu wenig dem frommen Glauben entfprechend 
erflärt. Kein Wunder! Wer den Auffat über das 

„webenswunder” gefchrieben bat, muß alle Anſchauungen 

der „fi blähenden Klugheit” eitel und nichtig nennen. 

Diefer letztgenannte Vortrag entzieht ſich der Kritik d. Bl.: 

er gehört völlig in ein Erbauungsbud, und zwar in eins 

bon pietiftifcher Färbung. 

9. Die Fauftfage und der religids-fittlihe Standpunft in 
Goethe's Faufl. Bortrag von P. Tube. Dresden, Nau⸗ 
mann. 1869. Br. 8. 5 Nor. 

Don geiftliher Stelle her, wie die eben erwähnten 
Vorträge, find auch die vorliegenden Worte über bie 
moderne Bibel des Menfchengefchledhts gefprochen, aber 
fie verrathen ein tiefes Verſtändniß für den Dichter und 
fein Werl. Sie zeigen, wenn auch fehr flüchtig, was 
Goethe gewollt, und haben die Symbolik des Werks fein 
erfannt. Schade, daß ber Bortrag gerade da abbricht, 
wo wir den Endpunkt ber Unterfuhung erwartet hätten: 
nümlich in der Beſprechung des großartigen Finale im 
zweiten Theil. 

10. Dixon's und Dunder’s GSeelenbräute, filhouettirt von 
Wilhelm Ebel. Baſel, Riehm 1869. G©r, 8. 
7 Nor. 

Nicht allein dem Briten Diron, auch dem beutfchen 
Buchhändler Franz Dunder, dev bie deutſche Ueberſehung 


Vom Buüuchertiſch. 


von Diron's „Spiritual wives“ verlegt Bat, gilt der 
Kampf, den Ebel, ein Sohn des vielgenannten königs 
bergee Archidiakonus, als ftreitbarer Kämpe gegen die 
Anfläger feines Vaters führt. Beſſer als mweiland dem 
Srafen Kanit gelingt e8 dem Berfaffer, dem Ironie und 
tüchtige gelehrte Bildung zur Geite flehen, fo manden 
ſchwachen Punkt des engliſchen Senfationswerts zu be 
leuchten; denn Diron’s Buch iſt allerdings, was die 
Tonigeberger Mudergefchichten betrifft, in vieler Hinficht 
oberflächlich und einfeitig. Die Umtsentfegung Ebel’ 
und Dieftel’s find jegt noch dunkle Punkte in der 
preußifchen Rechtsgeſchichte, mag man aud; über bie 
Eonventikel der Lönigeberger Frommen benfen wie man will. 
11. Die Verbindung ber Künſte auf ber dramatifhen Bühne. 

Bon Karl Robert Pabſt. Bern, Haller. 1870. Gr. 8. 

1 Zhlr. 5 Nor. 

Borliegende „Reihe alademifcher Vorträge” behanbelt 
ein bebeutungsvolles Thema. Nachdem der Autor bie 
Rangftellung der Poeſie unter den Künften bezeichnet und 
ihr den erften Rang zugetheilt hat, fommt er auf bie 
Berbindung der Künſte ſelbſt. Als Grundgeſetz ftellt er 
bier die Unterordnung aller zufammenmirtenden Künfte 
umter die Herrfchaft einer einzigen hin. Und zwar hält 
er unter allen Künften fr bie bedeutendfte und wirkungs- 
reichfte die theatralifch aufgeführte dramatifche Dichtung. 
Nach einer forgfältigen Analyfe der Oper (mobei er 
Wagner's Irrthum genau aufdedt) wird der Muſik die 
zweite Stelle unter den Künſten vinbicirt, und zwar bem 
Gefang, der in der Inftrumentalmufit feine Stüge fin 
det. Der Pantomime und dem charakteriftiichen Ballet 
will der Autor nur zeitweife das Recht einräumen, als 
Herrſcher aufzutreten. Sehr abfällig äußert er ſich über 
die Flut der Leſedramen, die mit ein Grund des Herab- 
kommens der Bühne geworden find. Das ganze Werk 
iſt mit Tiebevoller und eingehender Theilnahme für das 
Befen und die Gefundheit des deutfchen Theaters verfaßt 
amd wertb, von Dichtern und Darftellern, vor allem von 
den Leitern der Bühne beherzigt zu werden. 






12. Der Bürgergeift, die Bühne und ber Bühnenvorfiand. Ein 
Bort der Bitte und Mahnung an Staatsmänner, Gemeinde 
zäthe, Lehrer und bie Glieder des Schaufpielerflandes, von 
zrangott Ernf. Zürich, Herzog. 1870. Gr. 8. 

gr 


Die Schweiz liefert, wie wir fehen, zu Anfang bes 
neuen Literaturjahres gleich zwei anregende Schriften über bie 
Bühne und was ihr nothihut. Die Schrift von Ernft wen- 
det ſich, während das Pabft’fche Buch die theoretiſche Seite 
der Kunft im Auge hat, mehr an bie praltifchen Anfor- 
derungen bes Theaters. Der Autor kennt die Verhält- 
niffe des deutſchen Theaters im allgemeinen und im bes 
fondern; er tadelt nicht nur, er macht auch Vorfchläge, 
die ſich verwirklichen laſſen. Der Bürgergeift, der in der 
republikaniſchen Schweiz alle tüchtigen Unternehmungen 
zurchdringi, fol and, das Theater Fräftigen: nur können 
vie mit dem Verfaffer nicht einverftanden fein, wenn er 
‚en Staat ganz bon der Theilnahme für das Theater 
erngehalten und ihn nur bei der Grundung von Theater« 
Snlem im Devrient'ſchen Sinne betheiligt wiflen will, 

Die ſchließliche Rüdfichtnahme auf das Theater einer 


157 


beftimmten xheinifchen Stadt ift zu particulär, um das 
allgemeine Intereffe zu beſchäftigen. Trotzdem bietet das 
Schriften fo viel Anregendes, daß feine zu enge Faſſung 
nur bebauert werden Tann. 


13. €, ©. Leffing als angehender Dramatifer, geſchildert nad 
einer Bergleihung feines Schages mit den Trinummus des 
Prautme, Bon Eugen Sierke. Königsberg, Hartung. 


Diefe Differtation „zur Erlangung der Doctorwürde 
der philofophifchen Facultät zu Leipzig überreicht“, er- 
drtert auf 55 Seiten eins der bedeutendften Exftlings- . 
dramen Leſſing's. Eingehender und peinlich gewiffenhafter 
tann man faum den Intentionen und ben Eigenthümlich« 
keiten eines jungen Dramatifers nachforſchen, als es ber 
oſtpreußiſche Doctorand, der. jet über das königsberger 
Theater in ber Hartung’jchen Zeitung berichtet, in feiner 
gediegenen Arbeit gethan Hat. 


14. Heinrich Heine und das Judenthum. Bon Guſtavb Kar 
pelee. Breslau, Heibenfeld. 1868. 8. 5 Npr. 

Auch eine Rettung! Auch Heine, der Neffe Salomo's, 
hat feinen Göfchel gefunden. Wäre Heine nicht fo gren« 
zenlos frivol gewejen, fo hätte er — es ift gar nicht 
anders möglich — enthuftaftifher Jude fein müffen! 
Und worauf ftügt fi Karpeles? Hauptfächlih auf 
8. 7 bes Heine ſchen Teftaments, wo er das pater peccavi, 
an deſſen Aufrichtigkeit fein Menſch glaubt, gegen bie 
offenbarte Religion ausgefproden. Was bie religidfe 
Belehrung auf dem Gterbebett anbetrifft, fo weiß alle 
Belt, was fle davon zu halten Hat, ohne gerade Voltaire 
und andere Geifter zu nennen. Der Eifer des Berfaffers, 
Heine als Dichter des Judenthums nachzuweiſen, wendet ſich 
auch mit Energie gegen bie Veräditer der Ceremonialgefege, 
die mobernen Juden. Hinc illae lacrimae! Und doc 
bat Heine die unſchätzbaren Vorzitge des Ganſegekröſes 
und des Schalets mit Klößen recht appetitlich hervor 
gehoben, wenn ‘er ſich auch über die Handelsthätigfeit mit 
abgelebten Hofen etwas fpöttifch ausgelaſſen. Der Vor⸗ 
trag des Hrn. Karpeles ift fo falbungsvoll, fo ganz von 
ſchwarztalariſcher Färbung, daß ihm mit Umfegung der 
orte „Yude“ in „Chrift“ ein proteftantifcher Paftor (die 
Tatholifchen wagen fich wenige auf das Feld der Fiteratur), 
mit einem Wort, daß ihn Liebetrut gehalten haben Könnte, 


15. Geſchichte der Juden von bem älteften Zeiten bie anf die Ge⸗ 
— Aus den Duellen neu bearbeitet von 9. Graetz. 
ehnter Band: Gefchichte der Juden von der dauernden 
Ainfiedetung der — nd big zum Ber 
jinne der Mendelsjohn’fden Zei . Leipzig, Leiner. 
Wer Gr. 8. 2 Thlr. 20 Nr, vis 
Prüfet alles und das Befte behaftet! Wenn man 
vom Judenthum eine fo particulariftifche Anfhauung hat 
wie der Retter Heinrich Heine's, fo freut es um fo mehr, 
bie Fortjegungen eines der tüchtigften Geſchichtswerle zu 
begrüßen, das über das merkwürdige, noch fo viel ver- 
Tannte und unbelannte Volt verfaßt ifl. Es wäre un. 
nöthig, noch über das Werk von Graeg viele Worte zu 
verlieren; es genüge bier wieder, zu betonen, daß ber 
treffliche Gelehrte für feine Specialität, die Geſchichie der 
Duden, die einzig genaue und ficherfle Duelle if, Aus 


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158 Feuilleton. 


Graetz' „Sefchichte der Juden“ und Deutſch's Aufſatz über 
ben Talmud (den wir in Nr. 7 d. DL. beiprochen haben) be- 
fommen wir ein klares anjchauliches Bild von der langen 
Culturarbeit des jüdifchen Volle. Auch der Iegterfchienene 
(zehnte) Band des Werks von Graetz bietet eine Fülle glän- 
zend verarbeiteten Hiftorifchen Materials. Die Erfcheinung 
des Sabbatai Zewi und feiner Anhänger, die Graek mit 
großer pfychologiſcher Feinheit charakterifirt hat, bildet hier 
einen Sammelpunkt des jübifchen Geifteslebens zu Anfang 
des vorigen Jahrhunderts. Nur bei Gelegenheit der Be⸗ 
ſprechung Spinoza's (dem übrigens der Antor unbefchabet 
feines Glaubens gerecht wird) hätte Graetz Fritifcher 
verfahren können. Er fcheint die neueften Arbeiten van 
Bloten's über den großen Denker nicht zu kennen. Ebenſo 
iſt es unftatthaft, wenn er die Yabelangabe aus Kolerus, 
Spinoza habe um das Teſtament des Vaters mit ben 
Schweftern proceffirt, auf Treu und Glauben wiederholt. 


16. Indiſche Streifen von Albrecht Weber, Zweiter Band. 
Berlin, Nicolai. 1869. Gr. 8, 3 Thlr. 


So ift num auch der zweite Band ber verbienftlichen 
Auffüge, deren erften Band wir feinerzeit beſprachen, 
heransgekommen. Wie ber vorige befteht biefer Band 
wieder aus Abdrüden von Kritiken für das „Literarifche 
Eentralblatt“ und die „Zeitfehrift der Deutfchen morgen- 
ländiſchen Gefellfchaft‘‘: Abdrücke, bie über da8 Fahr 1849 
nicht hinausgehen. Alle Artikel find mit gewohnter ge» 
Iehrter Kritik und größter Schärfe des Urtheils verfaßt. 
Statt der Inhaltsüberfiht wäre indeflen ein Regiſter am 
Schluß praftifcher, weil in feiner alphabetiichen Yorm 
überfichtlicher geweſen. 


17. Illuſtrirte Familienbibliothek. Unter Mitwirkung der be- 
liebteſten Schriftfteller und Fachmaänner herausgegeben von 
Paul Kormann. Erſter Band. Mit I Tonbildern und 
mebrern Tertillufrationen. Leipzig, Kormannı, 1870. 
®r. 8. 25 Nor. 


Derartige Unternehmungen find nicht neu, die ganze 
Lefewelt drängt nach populärer Unterhaltung: wer vieles 
bringt, wird allen etwas bringen. Iſt foldes Sammel» 
und Lieferungswert nur körnig gehalten, bringt e8 eine 
paffende Auslefe aus allen Gebieten des popularwifienjchaft- 
lichen, wirthſchaftlichen und belletriftifchen Lebens, fo kann 


es fich der Theilnahme des Publikums fo Lange verfichert 
halten — bis ein neueftes linternehmen dem neuern den 
Rang abläuft. Die Beiträge des erften Bandes find 
befonder8 in populärsnaturwiffenfchaftliher Hinficht recht 
gelungen. Wir nennen unter den Mitarbeitern für natur 
wiſſenſchaftliche, vollswirthfchaftliche und pädagogische Dar⸗ 
ftellungen u. a. Birnbaum, Büchner, Züger, K. Müller, 
Reich, Keinsberg-Düringsfeld, Vogel; unter den befletris 
ftifchen Bernd von Gufed und Sacher⸗Maſoch. Büchner's 
Aufſatz über „Das Alter des Menſchengeſchlechts“, Jäger's 
„Lebensproceß im Waſſer“, jowie beſonders Sacher⸗Maſoch's 
„Volksgericht“, eine Geſchichte aus Oſtgalizien, die an 
Zurgenjew’s Schreibweife gemahnt, heben ſich vortheilhaft 
aus den auch fonft fehr ſchätzbaren Beiträgen hervor, 


18. Die Gefundheit der Seele. Bon Bernhard von Beskow. 
Nah der zweiten Auflage des ſchwediſchen Originals über- 
feßt und mit einem kurzen biographifhen Abriß des Ver⸗ 
fafjers verfehen von Ehrifian von Saraumw. Berlin, 
C. Dunder. 1869. 16. 12 Nor. 


Der Ueberfeger fcheint Teine Ahnung davon zu haben, 
daß bereits ein Jahr vor ihm eine gute beutfche Ueber⸗ 
feßung des fchmwedifchen euchtersleben erfchienen iſt. Da 
wir bereits in Nr. 12 d. BL f. 1869 das Büchlein in der 
Prätorins’fchen Ueberfegung beſprochen haben, genügt es, 
vorliegender Verſion das Lob der Gewandheit und Klar⸗ 
beit, dem biographiſchen Abriß aber die Anerkennung 
lakoniſcher Kürze zu geben. 


19. Die Kunft des Wetterprophezeiens oder bie Wetterzeichen 
und Bauernregeln nebſt einem Aubange: Die Wetter 
prophezeinngen des hundertjährigen Kalenders. Zufammen- 
eftelt von Freiherrn ©. von Horn. Altona, Berlags- 

reau. 1869. Gr. 16. Da Nor. 


Die „Bauernregeln”, die bei weiten ben größten 
Theil bes Büchleins einnehmen, find nicht übel zufammen- 
eftellt; auch die Kunft des Wetterprophezeiens in ihren 
Fundamenten, wenn es folche gibt, wird ben Laien 
bier Har gelegt. An Menfchen und Thieren find auf- 
merffame Beobachtungen angeftellt und vom Verfaffer in 
Teidlicher Ordnung zufammengeftellt worden. Dies zur 
Notiz für die zahlreichen deutſchen Barometrii und ihre 
Freunde! 





Fenilleton. 


Die Tantieme ber Dramatiker und der norddeutſche 
Reichsſtag. 

Dem Bernehmen nach wird der diesmalige Reichstag and 
über eine wichtige geiftige Eigenthumefrage zu _bebattiren haben, 
indem eine Petition deutſcher Dramatifer die Zantiemefrage bei 
demfelben in Anregung bringen wird. Soviel wir hören, bezieht 
fi diefe Petition zunächft anf bie königlichen Hofblihnen im 
Hannover, Kaffel und Wiesbaden, indem es in der That ale 
eine Anomalie erfcheinen muß, daß diefe zum Reſſort der könig⸗ 
lichen berliner Hofbühne gehörigen Hoftheater noch nicht bie 
Tantieme eingeführt haben, während fie ſchon feit Küſtner's 
Zeiten und durch das Verdienſt diefes Intendanten bei dem ber- 
finer Theater beſteht. 


Wenn ſich die Petition hieranf beſchränken ſollte, fo würde 
kaum ber Reichstag in der Lage fein, über eine nur dem 
Sheaterreglement angehörige Frage zu eutſcheiden. Es ift zu 
wünſchen, daß die gefeßgeberiiche Imitiative des Reichstags die 
Tantieme zum durchgreifenden Geſetz für alle Bühnen des nord⸗ 
deutfchen Bundes erhebt. 

Affoctationen von Autoren haben vielfach gefirebt, die Tan⸗ 
tieme auf dem Wege ber Selbſthülfe durchzuführen; fo ber 
bresbener ‚„Shalfpeareverein‘ und eine ausdrücklich zu dieſem 
Zwed zufammentretende Vereinigung von Dramatilern um 
Componiſten in Wien, welde bereits Statuten ausgearbeitet 
hatte. In dieſen Beftrebungen prägte fich wenigſtens der bei 
deutſchen Dramatilern berridende Nothſtand und das richtige 


Feuilleton. 


Gefühl darüber aus, wo fie der Schuh drüdt, Wenn ber 
Schriftftellertag in Weimar 1869 über die Tantiemefrage zur 
Tagesordnung überging, fo Hat ex die Bedeutung diefer Frage 
im unerflärlicher Weife unterfhägt. 

Ale jene Beftrebungen der Selbſthlitfe find im Sande 
verlaufen. Man darf die deutſchen Schriftfteller und am mer 
wigfien die deutſchen Dramatiker deshalb anklagen, wenn ihnen 
der Muth zu kühnem Borgehen in ihren eigenen Intereſſen 
fehlt. Sie haben Hierin zu traurige Erfahrungen gemadt. 
Die Selofthülfe gegenüber den Bühnen berubte auf dem foli» 
darifcen Princip einer „iterarifhen Aushungerung“. ie 
aber, wenn die Hauptlieferanten fehlten? Was half da den fibrigen 
ihr Zufammenftehen? Die Bühnen ließen ſich im Nothſall 
auehungern, oder drehten ben Spieß um und Hungerten bie 
Schriftfteller aus; denm wer da weiß, wie froh die große Mehr» 
zahl der letztern ift, wenn ihre Stüde Überhaupt nur an einer 
oder der andern Buͤhne gegeben werden, der wird ben Ger 
danten allzu fühn finden müffen, daß die Dichter den Directoren 
das Gefeg dictiven wollten, vor denen fie font ſtets den Hut 
im der Hand dafehen, und mit denen fle auf dem Wege dev 
Devotionsftrige-und Bittformeln verkehren. 

Ia auch mander erfolgreiche Dramatifer mochte fid) fagen, 
daß in dem Beitritt zu dieſer Affociation eine Erſchwerung für 
feine Künftigen Erfolge fiege; denn aud; den Glädlichfen wird 
bisweilen die Thlir verfchloffen, und wer als Dramatiter, das 
geißt im Kampf mit dem deutſchen Bühnen grau geworben if, 
der durfte ſich mol einige Ruhe gönnen. 

Deshalb ift Hier die Gejeßgebung, die mit einem Para- 
graphen den ganzen KUmmerniſſen und Willfürlicfeiten ein Ende 
wagt, durchgreiſend einzufchreiten befäßigt und berufen. 

As Soy der Tantitme därften fi 10 Proc. von der 
Bruttoeinnahme jedes Abends (die in Wien und Berlin bei 

den Hofbühnen geltenden Tantitmen) für alle Hofbügnen em- 
piehlen, für_alle andern Theater one Ausnafme 5 Proc. 
Breiwilige Steigerungen und Prämien find nie ausgefhloffen. 

Laube lampfte in Wien für die zehnprocentige Zantieme 
auch bei Staditheatern. Er if nun ſelbſt Stadttheaterdirtetot 
geworden; wir wiffen aus eigener Erfahrung nicht, ob er noch 
diejelbe Anſicht hat, oder ob er fie, den Umfänden Rechnung 
tragend, mobificiete. Uns feinen 5 Proc. Taniieme ausreichend 
als Norm für die Berhaͤlinifſe der meiften deutſchen Stadts 
theater. 

Schr zu wänfhen wäre e8 indeg, wenn aud außer der 
Zantieme in ein Gefeg zum Schutz des este Eigenthums 
deutjher Dramatiker mod) einige andere Veflimmuny ugem aufe 
genommen würden, melde zwar aus allgemeinen Rechtsvor- 
Schriften folgen, aber doch ſehr nöthig wären bei der Schlihtern- 
heit deuti—er Dramatiker, die-micht, wie die franzöffhen, fich 
auf dem Rechtsboden zu flellen umd dadurqh ihrer ganzen Birk, 
jamteit einen Rechtsboden zu fchaffen wagen. 

Der wichtigſte diefer Säge wäre: die Annahme eines 
Stüds involirt die Berpflihtung zur Aufführung deffelben. 
Ber die franzöffgen Resisnergättnife 1 in biefer Frage fiudiren 
will, dem empfehlen wir das vortveffliche, gründliche Wert von 
Zacan: „Traitt sur 1a legislation et la jurisprudence des 
theätres er wird daraus erfehen, daß die franzöflihen Au- 
toren alle” derartigen gegen die Directionen geführten Breite 
gewinnen. Ohne beflimmte Zeitangabe wäre ein ſolches Geieg 
Aluſoriſe Die franzöfihen Autoren verlangen die Auffüh- 
zung nad) der Reihenfolge der Annahme und Magen über bie 
Bevorzugung fpäter angenommener GStüde; and dieſe Proceffe 
gewinnen fie. Bei unübermwinblihen Sinderniffen iſt ſelbſtver · 
ſtaudlich ein entſprechender Schadenerſatz zu leiſten. 

Dieſes Geſetz, obgleich aus allgemeinen Rehtegrundfägen 
feicht Gerzufeiten, würde den Directionen die Wiltlicherricjaft 
verbieten, die fie jegt ausliben, und Hauptfählich dazu beitragen, 
die bisjelst beftehende Rechtloſigteit der dramätiſchen Schrift 
fteller aufzuheben, 











159 
Sibliographie. 


Niederdeutscher Aesopu In und Erzählungen aus einer 


.. 20 
Wolfenbütteler Handschrift det 
— von Fallare 











Sat v., ® * fe Sammlung. Res 
Ae verbolfänbigte Ausgabe. Berlin, 


.‚ Die Sage von der goflügelten ‚Sonnenschelbe nach alt- 
'n dargestellt. Göttingen, Dieterich. Gr. 8. 24 Ngr. 
ll Wratifge Berfuge zur Gölung ver Granenfräge- 


3., Ein vor 3000 Jahren abgefasste Geirolderechnung, 
au der südlichen Aussenmauer des Tempels von Mediuet-Habu in 
Ober-Aegypten, und mit Ergänzung und Berichtigung sämmtlicher an der 

zerstörten oder fehlerhaft olagemelsselten Stellen in ihrem Zusam- 
meuhange erklärt, Berlin, Stargurdt, Gr. 4. 22, Ngr. 

Dunger, Hu Ueber Diasct und” ‚Yolkstiea des Voptlands, Ein Vor- 
trag. Plauen, Nonpert. 

Fischer, K, Baus 
Gr. 8, 12 Ngr. 

Die Corps der deutschen Hochschulen, 
stellung student hi » Ankan 
Achaften. ERE —e— 

—* Te nähen Kufgeßen für bie Ratlonateriehung 
öl jiehungsft 


ver Wedens it Beyus auf Bewr Item. Cine 
Bi — eee Bertlm ei 
ineren Inoerftäten., Ölterse of, Berteiemann, 8. 5 Hy 
ı Bablo oder d⸗ in den Bampad. Aus de 
eailin "abenfet' von Sopamna Woellenpoff, Deritn 


Geiger, L., Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland 

ga Pa ien 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Breslau, Schletter. 
r. * 

the, D., Bilber und Studien zur Geſgichte der Zaduſtrie und 

Fy Refaiken wefene. ARe Gammlung. Dertin, — &r. 8. 3 Tiit. 


I 

20 7 PFaeber, B,, Die Kathedrale des heil. Volt zu Prag und die Kunst- 

— Kaiser Karl IV, Eine archliekionisch —— Btudio, 
ag, 




















Tendelentärg. Bine Duplik. Jens, Delstung. 


Nebst einer eingehenden Dar- 
ie modernen Nurschen- 

















ante, 


















—— Mn un. Eee 


jeit, 0. Gedächtalse 
emer. der Zoologie an der kalserl, Alexander — 
fors, Mitgiied der französischen Academie der Wimenschaften sa Parlı ci 
gehalten am Jahres- und Festtage der finnischen Gesellschaft dor Wissen- 
Schaftan den 29. April 1861. Aus dem Schwedischen iberasist. Helslag- 


Tora, 1068, Gr,B. 1 Ner 
ırt dor hundert Jahren. Vortrag. Gtuttgart, 


glaiber, 3., © 
« &r. 

Loßscheid, W., Eins politische Rundschau mit besonderer Berle- 
hung auf die chinesische Gesandtschaft, Berlin, Btilke u, van Muyden. 


Gr 8. H * 
Ma «Bi ptebilber unb Gagen aus 
ber Boni der — ea fen und ee ter Galbob, Bänden, 


Lindner. & 2 a 
Meper Charles Darwin und Alfreb Ruffel Wallace. Ihre 
HF Bittner über bie nen es, Arten“ mebR einer Gkigze 
— — ange en —— a Bi Mjation 
“; A 1 90, De8 Hirten afgen. Peinchpien 


® Staat und Religion. 


De Ureitägige Schlacht bel Werschan 20., 29. und 80. 

lege preussischer Kraft und preusslscher Siege“. Bei- 
onburgiefh  senwedlschen Kriogegoschiehte. Nach blaher 
chiralischen Quellen dargestellt, Breilan, Mälser. Gr 8. 





ie auf Alezander v. 























und Ioeen * 
After Thi. 


— die Wehasianige, Königin von Castilien. Bo- 
Neuchtung der Enihällungen 6- n aus dem Archive zu 
üimancas., Wien; Baser u. Frick, 10 

u. ie Rüdhlide auf den — von 1666, Berlin, Dümmier, 


Esram, 2., Di um ben Namen, ie Bitensite 
aus — —* —— Pi 

ma € &op ter. Satan, Rah 

dem (dmebifgen EHRE —2*— Dei je Übertragen unb beat 

beiten bon de BE pnrihe. 2 —— ‚bir. 10 Rar. 

Ileich: &ieta) Gerd von Gel: | Berlin, Sanle. 


Ngr. 
Bincenti, Ghevalier de, Der —* euch Befotterten. Aus den 

Geranentegen Ele illene. Berlin, Sante. 8. 20 
ie Werte. ifer a2. Sie Hofdame. Edau- 


if 
fpiel m 24 nern Hand, — ——* x J a r 
von — 
Die Zukunfts-. — und die Aufgaben der —— — 
und Gesetzgebung von Einem, der keiner der alten Partelen angehört. 
Berlin, Mitscher u, Röstell. Gr. 8. 10 Ngr. 























Anzeisg 


Derfag von 5. A. Brockhaus im Leipzig. 





Soeben erjdien: 


Briefe von Wilhelm von Humboldt 
an eine freundin. 
Dritse Auflage der Ausgabe in Einem Bande. 

8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 20 Nur. 
Wilhelm von Humboldt, als Staatsmann und Ge⸗ 
lehrter einer ber gefeiertftien Namen Deutſchlands, ift dem 
größern Publikum doch erft durch feine „Briefe an eine 
Freundin‘ (Charlotte Diede) werth und thener geworden: 
ein Srieirmeälel, der, wie fih ein befannter Kritifer ausdrückt, 
„einzig in feiner Art baftoht, mit defien Wahrheit, Herz 
lichkeit and Ideenreichthum ſich kein anderer vergleichen läßt, 
der zu den werthvoliſten Documenten der elaſſiſchen 
Periode unferer Zeit gerechnet werden muß”. 

Außer in biefer wohlfeilen Ausgabe in Einem Bande iſt 
das Werk fortwährend auch in einer ſplendidern Ausgabe in 
zwei Bänden (geheftet 4 Thlr. 12 Ngr., gebunden 5 Thlr.) 
durch alle Buchhandlungen zu beziehen. 


In bemfelben Berlage erſchien: 
Lichtſtrahlen 
aus Wilhelm von Humboldt's Briefen an eine Freundin, 


an Frau von Bolgogen, Schiller, G. Forſter und 3. U. Bolf. 
Mit einer Biograpfie Humdoldf's. 


Bon Eliſa Maier. 
Sünfte Auflage. 
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr. 

Dem lebhaften und dauernden Intereffe, das den „Briefen 
an eine Freundin‘ feitene bes Publikums ewidmet wird, ift 
e8 zu danken, daß aud die von Elifa Maier aus biefen nnd 
andern Briefen Humboldt's mit geſchickter Hand zufammengeftell- 
ten und von einer fehr gelungenen Biographie deſſelben be⸗ 

feiteten „Lichtſtrahlen“ zahlreihe Freunde gewannen und 
jeßt fhon in Fünfter Anflage vorliegen. 


Derfag von $. A. Brockhaus in Leipzig. 
Soeben erfdien: 


Beleuchtung der päpſtlichen Encyclica 


vom 8. December 1864 
und des DVerzeichniffes ber modernen Vrrthlimer. 


Nebft einem Anhang: Kritik der Brofchlire des Biſchofs von 
Orleans. 


Bon 3. Frohſchammer. 
Zweite, mit einem neuen Vorwort vermehrte Auflage. 
8 Ge. 12 Nor. 

Die erſte Auflage diefer ſcharfen Oppofitionsihrift gegen 
die päpftfiche Encyelica und den Syllabus, worin biefelben als 
ein vom ultramontanen und jefuitifchen Geifte dictirtes Partei- 
manifeft gefenngeichnet werben, erſchien anonym im Jahre 1865. 
Durch den Verlauf, welchen die Dinge feitdem genommen, fand 
fi der Berfafler, Brofeffor I. Frohſchammer in Münden, 
bei der vorliegenden zweiten Auflage bewogen, mit feinem 
Namen hHervorzutreten und in einem Vorwort den neue⸗ 
fien Stand der Angelegenheit, namentlich in Bezug auf das 
Eoncil und bie durch dafjelbe veranlaßten Schriften, kritiſch zu 
beleuchten. Die Schrift bat daher gegenwärtig ein hervor» 
ragendes Intereffe. 


Anzeigen. | 


igen. 
TERGÄNZUNGSBLÄTTER, 


1870, 4. Heft. 


Geschiehte: Historische Literatur, von J. J. Honegger. — 
Nekrolog. 

Unterrichtswesen: Die Schulreformbewegung. 

Geographie: Vergleichende Erdkunde, von O. Poschel. - 
Protestanten und Katholiken in Preussen. 

Naturwissenschaft: Arbeitstheilung in der Natur, von 
Häckel. 

Astronomie: Ueber die neuesten Fortschritte auf dem 
Gebiete der Astronomie. — Die Wärmestrahlung des Mond- 
lichtes, von Dr. Klein. — Nekrolog. 

Physiologie und Mediein: Zellstoff im Darm der fleisch- 
fressenden Thiere und des Menschen. — Stickstoffoxydul 
als anastbetisches Mittel. — Chloralhydrat und Strychnin. — 
Nekrolog. 

Handel und Verkehr: Die schweizerische Alpenbahn, II, 
von C. Kind. — Amerikanische Finanzen, von Dr. J. Mino- 
prio. — Nekrolog. 

Landwirthschaft: Luftwechsel in Stallungen. — Noth- 
futterstoffe.. — Mähemaschinen. — Der Dampfpflug in der 
Provinz Sachsen. — Nekrolog. 


Fiseherei: Zur Austernzucht. — Der Walfischfang. 

Kriegswesen: Die Panzerschiffe der Gegenwart und 
der nächsten Zukunft, von C. v. Sarauw. — Nekrolog. 

Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk. 


Illustrationen: Kartenskizze der schweizerischen Al- 
penbahnen. — Türkisches Kasemattenschiff und Amerikani- 
scher Monitor. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 





Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 


TRES FLORES 


del 


TEATRO ANTIGUO ESPANOL. 


Publicadas con Be biograficos y oriticos 


CAROLINA MICHAELIS, 
8. Geheftet 1 Tblr. Gebunden 1 Thir. 10 Ngr. 


Dieser Band enthält drei bedeutende Erzeugnisse der 
altern spanischen dramatischen Literatur, und zwar: 


Las Mocedades del Cid de Don Guillen de Castro, 


La Tragedia mas lastimosa de amor. Dar la vida 
por su dama 6 El conde de Sex. Por Don Anto- 
nio Coello, 


El desden com el desden de Don Agustin Moreto. 

Das allgemeine literarhistorische Interesse, das sich an 
diese Dramen knüpft, wird noch durch die beigefügten bio- 
graphischen und kritischen Notizen erhöht. 

Dieser Band bildet einen Bestandtheil der von der Ver- 
lagshandlung unter dem Titel 


COLECCION DE AUTORES ESPANOLES 


herausgegebenen Sammlung spanischer Werke, 
Ein Verzeichniss der bisher erschienenen 27 Bände dieser 
Sammlung ist durch alle Buchhandlungen gratis zu erhalten. 





Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von 8. A, Srocdhans in Leipzig. 






Blätter 
literariſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 













Erſcheint wöchentlich. 


- SHabella Orfini. Drama in fünf Aufzügen von ©. 9. 
Mofenthal. Leipzig, Weber. 1870. 16. 24 Nor. 

2. Rofamunde. Lrauerfviel in fünf Aufzligen von Soſeph 
Beilen, (Der „Dramatifchen Dichtungen“ dritter Band.) 
Bien, Hartleben. 1870. Gr. 16. 20 Nor. 

Schach dem ging Hiftorifches Luftfpiel in fünf Aufzligen, 
von Hippolyt Anguf Schaufert. (Crftes Preisitlicd 
des # £. Hofburgtheater® zu Wien) Wien, Walispauffer. 

* 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 

Die Ueberjchrift dieſes Artikels hat keineswegs bie 
Bedeutung, daß die drei angeführten Dramen büßnen« 
gerechter wären als viele andere, bie aufgeführt und nicht 
aufgeführt werden; ebenfo wenig wollen wir bie Berfafler 

uch in die Reihe jener Stallknechte der Thalia und 

elpomene begrabiren, welche nur das übliche Bühnen» 
futter in bie theatcalifchen Krippen flopfen; wir nennen 
biefe Stücde nur deshalb Bühnendramen, weil fie den 

mäßigen Turnus über die deutfchen Breter im Laufe 
einer Saifon gemadjt haben. 

Der Gang iſt bei diefen Kindern des Glüds einfach 

er folgende. Ein großes, tonangebendes Theater, wie 
die wiener Burg, bringt die Stüde zur erften Auf- 
rung; fie finden von feiten des Publikums eine gute 
Aufnahme und werben öfter wiederholt; die Kritik ertheilt 
Die unvermeidlichen Püffe, zieht aber doc vor den Au- 
toren und vor dem PBublitum den Hut ab. Dies begibt 
ziemlich, am Anfang einer Theaterfaifon. Alsbald 
len fich die andern deutſchen Bühnen, biefem Beiſpiel 
zu folgen; die fpäteften und fchläfrigften Tommen in der 
nädjiten Saiſon nad. 
Es find dies die Erfolge, die gleihfam am Schnir- 
jem gehen. Freilich find ſie oft nicht nachhaltig, 
ad folgt raſche Vergeſſenheit dem glänzenden 









eslauf. 
Solche Stücke darf man wohl „Bühnendramen“ nen- 
2 gegenüber den andern, die entweder, trotz ihrer Ber- 
nfte, gar nicht auf die Bühne fommen, weil ein Un- 
1870, u. 


se Ar. 11. 0 


10. März 1870, 





£ Inhalt: Drei Bühnendramen. Bon Rudolf Sottſchal. — Poefie und Geſchichte der Schweiz, — Unterhaltungslektüre. — 
jom. Engliſche Urteile fiber neue Gefgeinungen —& Literatur; Zu Hartmann's von Aue „Gregorius““.) — 
jographle. — Auzel 


igen. 





Drei Bühnendramen. 


ſtern über ihrer Wiege ſtand, oder die gleichſam von der 
Pite anf dienen, mühfam im Lauf der Fahre ſich von den 
Bühnen zweiten Rangs auf die Hofbühnen emporarbeiten 
und erft die Munde zu machen anfangen, wenn ihr 
Taufſchein bereits auf ein nicht mehr jugendliches Alter, 
hinweiſt. In der Regel haben indeß folde Gtüde ein 
zäheres: Leben und zum Theil das Vorbild unferer 
Tlaſſiler für fih. Wie fpät find bie meiften Dramen 
Goethes auf die Bühne gelommen, und die durchgängigen 
Triumphe der Schiller'ſchen Stücke fpielten ſich keines- 
wegs im Laufe einer Theaterſaiſon ab. Auf einer erſten 
Bühne Deutſchlands, der wiener Hofbühne, find zu Leb⸗ 
zeiten des Dichters mur zwei feiner Trauerfpiele gegeben 
worden, und erft in Iegter Zeit hat das Repertoire berfel« 
ben feine ſümmtlichen größern Werke aufgenommen. 


©. H. Mofenthal ift einer der erfolgreichſten Büh- 
nendichter und darf bei jebem feiner Werke, mit welchem 
die wiener Burg ſtets die Initiative ergreift, auf einen 
regelmäßigen Rundgang über die deutſchen Bühnen redje 
nen. Er verdankt dies nicht nur feiner Kenntniß des 
Theaters und feiner Kunft, bühnengerecht zu ſchreiben, 
fondern auch geiftigen und dichteriſchen Borzligen. Seine 
Deborah” zeigte diefelben alle vereint: poetiſchen Schwung 
und glänzendes Colorit, fowie eine tüchtige Oenremalerei 
bei Figuren aus dem Vollsleben. Sie war mehr Ge- 
möäldegalerie als Drama, aber die Bilder Ieuchteten von 
der Friſche des Talents. In den fpätern Stüden trenn« 
ten fi) die beiden Richtungen, die italieniſche und bie nie« 
derländifhe Schule, die in der „Deborah“ noch friedlich 
unter Einer Flagge in See ſtachen: zw ber italienifchen 
Säule gehörten Trauerfpiele wie „Cäcilie von Albano“ 
und „Pietra”; zur nieberlänbif—en Dramen wie „Der 
Sonnenwenbhof” und „Der Schulz von Altenbüren”. 

„Ihabella Orfini” (Nr. 1) ſchließt ſich der exftern Reihe 
on, Wenn „Pietra“ als Liebeötragddie an „Romeo und 

21 








162 Drei Bühnendramen. 


Julie” erinnert, fo erinnert „Iſabella Orfini” als Eifer: 
fuchtstragddie an „Othello“. Der Hintergrund ift dabei 
im Kunſtſtil der Renaiffance-Epoche gehalten; wir wandeln 
unter offenen Säulenhallen, auf den blühenden Terraſſen 
der italienifchen Paläfte; es ift die Zeit, wo Dichter und 
Dichterinnen auf dem Capitol gefrönt werden; es iſt bie 
Epoche der Mebiceer, welche freilich in dem Stüde nur 
durch einen „Barbaren“ vertreten find. Liebenswürdige 
Schönheiten von zweifelhaften Ruf fpielen mit ben 
Schlüſſeln Petri, beherrſchen Papſt und Kirche, und 
Buhlerinnen werden mit der Krone geſchmückt — ein 
Zeitalter ſchönen Formenſinns und leichter Sitten; die 
Aſpaſien und Phrynen mit ihrem Hellenismus verdrängen 
die Madonnen, nicht aus der Idealwelt der Künſtler, aber 
aus der Herrſchaft über die Gemüther. 

In ſolcher Zeit lebt Iſabella Orſini, Gattin des 
Herzogs Paolo Giordano Orſini, von Bracciano, 
Schweſter des Großherzogs von Toscana, Francesco 
de Medici, eine gefeierte, auf dem Capitol gekrönte 
Dichterin, welche einer ber beſten italieniſchen Roman⸗ 
dichter, Guerrazzi, bereits zur Heldin eines hiſtoriſchen 
Romans gemacht Hat. Wir haben dieſe Schöpfung 
nit zur Hand, um fie mit Moſenthal's Dichtung zu 
vergleichen; wir willen nicht, wie viel Anregung er ihr 
verdankt, wo er mit ihr zufammenftimmt, oder von ihr 
abweicht. Dffenbar aber ifl der Stoff, auch wie ihn 
Mofenthal behandelt, von mehr novelliftiichem als dra⸗ 
matifhem Reiz; es handelt fi um das Werden und 
Wachſen einer Neigung, deren Phafen fi dramatifch 
nit mit Schärfe zeichnen laſſen, da diefe Neigung eine 
durchaus innerliche bleibt. Darum befrembet und verletzt 
die gewaltſame Kataftrophe, bie von außen herantritt; man 
glaubt nicht an ihre Nothwendigfeit. 3— 

Sehen wir uns unſere Corinna näher an, die für ſo 
leichte Schuld mit ſo ſchwerer Sühne geſtraft wird. 
Auf dem Capitol, kurz vor der Krönung, begrüßt ſie den 
Gemahl. Orſini iſt ein Krieger, kein Freund der Muſen; 
ihm gefällt die öffentliche Schauſtellung ſeiner Gattin nicht; 
er hätte ſie lieber an des Hauſes Schwelle begrüßt; auch 
weiſt er ihre Eitelkeit zurück, die für Italiens Muſe ein⸗ 
zuſtehen wagt. Iſabella aber bekehrt ihm durch eine 
Beredſamkeit, durch welche fie ſich ankündigt als Ber- 
treterin des weiblichen Geſchlechts, als Miffionarin für 
Frauenrecht und Yrauenarbeit: 

Ber ſich befcheiden fühlt im tieffter Seele, 

Der braudt den Schein des Hochmuths nicht zu fürchten! 
Und jenen Kranz, ic würd’ ihn nicht empfangen, 
Bevor id) dir, mein Gatte, dir, mein Bruder, 
Enthält, was mid zumeift an ihm gereizt. 

Wie wagt’ ich's je, die Muſen zu vertreten 

Au diefer Stätte, die Petrarf befchritt, 

Wo Artof gekrönt, und wo man eben 

Den Lorber für die Loden Taſſo's flicht ! 

Allein Italiens Fran'n wollt’ ich vertreten, 

Und wie die Welt das Weib erniedrigt fieht, 

So foll fie au das Weib erhöht erbliden. 

(Innig.) Was je in mir gebichtet, war — das Weib. 
Der Liebe Duell, der Frauenherzen tränkt 

Die Thau die Blüten, und der, mächtig fehwellend, 
Ein Ziel gefucht, das ſich ihm felbft entrückt, 

Brach fi in Maren Tropfen riefelnd Bahn, 

Und jeder Zropfen ift — ein Lied geworden. 

So allgemein war der Empfindung Wefen, 


Daß bald ihr Ausdrud zum Gemeingut ward, 
Und jedes reingeftimmte Frauenherz 

Es dichtet wol wie ih; nur daß es mir 

Die Mufen Hold gegönnt es auszudrücken. 

Wir wollen von der blauftriimpflihen Gelehrtheit 
diefer an und für ſich reizvollen Verſe abjehen, doch 
müfjen wir von der Erklärung Notiz nehmen, daß „das 
Weib in ihr“ bisher gebichtet hat; daß „der Liebe Duell, 
der Frauenherzen tränkt“, fih in ihren Liebern ergoß. 
Orſini darf mit dieſer Erflärung zufrieden fein; fie hat 
niemand geliebt als ihn; das weiß er, das willen wir, 
er ift alfo der geiftige Urheber diefer in „Haren Tropfen 
riefelnden‘ Lieder und des „getränkten Frauenherzens“. 
So ift die Krönung doch nicht ohne Zufammenhang mit 
ihm; er belohnt fich felbft und ſchweigt. 

Die Krönung findet Hinter der Scene ftatt; inzwi« 
chen begibt fi) auf den Bretern Lärm und Unheil, 
Ein junger Benetianer, Xroilo, tapferer Kriegsmann, 
früherer Liebhaber der Bianca Capello, die ihn betro- 
gen hat, erblidt die Dichterin und wird von ihrem Reiz 
verzaubert. Der Bruder der Bianca, ein gut gezeichneter 
Bagabund, den die fürftlihe Schwägerfchaft übermiüthig 
macht, verhöhnt fie und wirb von Zroilo gefährlich vers 
wundet. Der Lärm führt die gefrönte Poetin und ihre 
Begleiter herbei; der Dramatiker hat uns nun anſchaulich 
zu maden, wie fi Iſabella plöglich in Troilo verliebt. 
Doß er file fie gekämpft, ift ein gute® Motiv; das muß 
ihre Theilnahme erregen; doch wie ftellt uns der Dra⸗ 
matiler dies „mehr“ dar? Romeo und Yulie fehen fid 
und lieben fi) — „es ift der Blig, der trifft und zündet, 
wenn fid) Berwandtes zu Verwandten findet‘‘; Doch Iſabella, 
die glüdliche Gattin — wie kommt diefe dazu, fich fo 
plöglich in einen Fremden zu verlieben? Und verliebt fie 
fi) denn wirklich? Wir müſſen es zunächſt mehr aus 
ihren Orakelſprüchen errathen; fie jagt nur wenig: 

Nach fo viel Glanz ſolch ſchauderhaftes Bild. 

Das ift der erfte Eindrud der Scene; dann will fie 
Troilo fhüten gegen den Herzog, ber von ihm volle Wahr⸗ 
heit über den Grund des Zweikampf verlangt: 

Laß, mein Gemahl! — 
nachdem fie vorher ihre Empfindungen über die Mittheilung, 
daß Troilo für bes Herzogs Ehre eingeftanden, mit einem 
„Seltſam!“ ausgedrüdt. Am Schluß bleibt fie wie an⸗ 
gewurzelt ftehen; nachdem der Herzog dem Troilo aufge 
tragen, feine Gattin nach Florenz zu geleiten: 
Herzog (u JIſabella). 
Darum nod) zögerft du? 
Sfabelfa, 
Ich bin verwirrt — 
So hätte diefer Tag nicht enden follen. 

Diefe Introductionsfcenen find dramatifch Tebendig; 
da8 Talent des Dichters fiir Volksſeenen und frifche 
Genremalerei tritt erfreulich hervor, doc der Charakter 
der Heldin und ihr Empfinden bleibt uns zunächſt ein 
Räthſel. 

Der nächſte Act löſt es. Troilo hat Iſabella nad 
Florenz geleitet; in einer Scene, über welcher die Stim⸗ 
mung des Goethe'ſchen „Taſſo“ ſchwebt, fchlitten die Lieben⸗ 
den — denn fie find es — ihr Herz aus: Orangendüfte, 
Öuitarrenfpiel, Gondelfahrten, der italienifche Himmel, 







Gatte fern, der die Räuber des Piccolomini zu Paaren 
ibt — die Gelegengeit ift günftig. Jſabelia freilich 
zeigt fi) fehr reſervirt, denn während Troilo ihr fein 
N mzes Herz ausſchüttet, mit den unumwundenſten Liebes- 
erflärungen, weilt fie bdiefelben zwar nicht zurüd, denn 
das wäre zu viel verlangt von einer gefrönten Dichterin, 
fe fagt nur mit Milde: 
Wohl mir, wenn du bei uns did glüdtich fühlſt, 
Ih weiß, wie vief ich dir zu danfen Habe. 
Sie ergeht ſich in myſtiſchen Oralelſprüchen von den 
ügen gleichgeftimmten Seelen auf Erden, wie man 
it nennt, was fid) im Geift verband, und vereint, 
Naum und Nüdficht aneinanderketten. Das klingt 
freilicd) wie Ermuthigung, denn es zielt auf den Gatten, 
fährt aber beruhigend fort: 
— &o lafi ung denn die reine Harmonie 


iehen, jegliches Gefühl verbannen, 
, und verwirrend, ihren Zauber flört, 














Denn, Freund, die reine Harmonie bedingt 
mur der Töne Klang, nein, aud ihr Maß. 
Da begibt es fid), daß Troilo nad) Siena berufen 
zum Herzog. Der Mann geht fehr feft und rüd- 
[08 zu Werke; er ließ den von feiner Wunde geheil« 
Capello, der jeine Ehre beleidigt Hatte, in Rom er- 
nt. Troilo fühlt ſich umficher; vieleicht droßt ihm 
gleiches Los. Der Abſchied entfeffelt die Leidenfchaft ; 
macht ihm ein glühendes Geftänbni Zum 
hört dies nad) beliebter Theaterpraris eine Lau⸗- 
‚ umbd diefe ift feine andere als Bianca Capello, 
Habella zum Feſte eingeladen Hat, das ihre Ehe 
dem Bruder offenbar machen fol, und fih nun in 
Gebüfchen verbirgt, um mit anzuhören, wie Troilo 
feiner früheren Liebe zu ihr ſprich 
"_ Ich Tannte fie; 
Sch fah die Welt in trübem Sumpf gefpiegelt, 
Der Menfhheit Moder fühte mid) mit Grauen. 
_ Bianca, eine lebensvollere Figur als Ifabella, finnt 
a ache an der Tugendflolgen; abgefehen von einigen 
feenzen an die Lady Milford bringt Bianca bra« 
che Bewegung in die Handlung und gibt dem Stil 
leibenfcjaftlicheres Colorit, das nur hin und wieder 
ſolche öde, abſtracte Ansbrüde etwas verblaft, 





ae Dicttunſt Befentaem ei 
ol u zuerft mit mir hermiel eigen 
> eines den igengergme Birnigteie 
Im jener Liebeserklärung, die im ganzen platonifch, 
ünfcjelos, ohne den Eifer der Entführung, des a, 
Benden Befiges nur ein Herzenserguß ift, gipfelt die 
ld der Heldin. Was nun folgt, find nur die Fol- 
der Lauſchſeene. Der dritte Act ift thentralifch fehr 
hidt componirt; aber bie eingehende und gelungene 
arafterzeichnung des Francesco von Medici, eines 
mobeztyrannen, der mit dem bei unfern Dramatifern 
15 Novelliften fo beliebten „Cäfarenwaßnfinn” auögeftattet 
hat den doppelten Mangel, daß ſowol die Genefis 
RR gefrönten Seelenftörung, die bei ben weltherrfchenden 
jeratoren durch die geſchichtlichen Thatfachen erläutert 
unerflärt bleibt, als auch der Charakter viel zu 
tailliet ausgeführt ift für fein Eingreifen in bie Hand» 
1g. Brancesco colportirt ja nur die Mitteilung ber 









Drei Bühnendramen, 163 


Bianca, die er mit eigenem Gift verfegt, an den Herzog 
don Orfini, Diefer will Klarheit; wie Franz Moor, 
der das Arjenal der menſchlichen Affecte prätft, um bie 
rechte Waffe zu finden, wählt er „Schmerz” und „Freude“, 
um feine Gattin auf die Probe zu ftellen; es ift die 
pſychologiſche Folter, während Brachvogel am Schluß bes 
„Narciß“ den pſychologiſchen Mord als tragiſches Motiv 
benugt. Troilo ift mit dem Herzog gelommen; er wird 
dazu beftimmt, zu dem Experiment zu dienen und auf 
das Erempel die Probe zu machen. Jſabella improvifirt 
zur Feſtfeier ein amafreontifches Lied, welches weder zu 
ihrer Stimmung noch zu ihrer fentimentalen Gemilthsart 
paſſen will. Der Herzog und Bianca fuchen fie zu ver⸗ 
wirren; fie flüftern vom Tode Troilo's; kaum beherrſcht 
ſich Iſabella, doch fie bezwingt nod den Schmerz. 
Weniger gelingt ihr dies mit der Freude, Troilo wird 
hereingerufen; da entfällt ihr die Laute, fie erhebt bie 
Arme und den Yubelruf: „Troilo, du Iebft!" Und wie 
ein heiferer Nabe krächzt der Herzog Hinterbrein: „Das 
war dein Tobesurtheil!” 

Da haben wir bie Tragödie, und was no kommen 
kann, find nur Verzögerungen. Und biefe vielgerlihmte 
Schlußſcene des dritten Actes — ift fie nicht effectvoll? 
Gewiß! Sie ift mit großem VBühnengefhid arrangirt — 
in bie ſchwule Atmofphäre der Spannung ſchlaͤgt ber 
theatralifche Blig zündend und bfendend; der Heldin wird 
das Geheimniß ihres Herzens abgefoltert vor dem ver⸗ 
fammelten Hofe. 

Der vierte und fünfte Act führen durch Meine 
Hemmungen zur Kataftrophe. Bianca will Troilo erretten, 
Troilo Ifabella — diefe verfällt aber zulegt dem Gericht 
igres Gatten, der fie mit faltem Blute hinmorbet. Das 
ift der Inhalt diefer Acte, auf ihre einfache Formel 
zurädgeführt. Bon den Scenen diefer Acte ift die gelun- 
genfte diejenige zwiſchen Troilo und Bianca; in ihr bie 
brirt etwas von jener Leibenfchaft, melde bie großen 
Monologe der „Deborah“ befeelt; Bier hat die Diction 
nicht nur edle Haltung, fondern auch hinreißenden Schwung, 
wie die folgende Stelle beweifen mag: 


Bianca (mit wachfender But). 
Ia, Lüge, Lüge war mein ganzes Leben, 
Nur Eins iſt Wahrheit, Eins, daß ich dic) Tichel 
Slaubſt du nicht meinen Worten, gut, fo glaube 
Dem Zuden meines Herzens, glaub’ dem Wahnſinu, 
Der alles opfert, alles, und für di! 
Ich will ja nicht, daß bu mich lieben ſollſt, 
Nur folgen ſollſt du mir, daß ich did rettel 
Deun ohne mid) ift jeder Ausgang Tod! 


Troilo. 
Er ſei willlommen, weil er ohne di! 


Bianca. 

Halt ein! Wohin? Zu ihr? Du willſt fie warnen? 
Du willſt fie retten? Eitler Wahu! Gewogen 
M euer Schidſal von zwei ſchlauen Krämeru, 
Orfini dort, hier Medici. Dein Leben, 
Das ic) erbettle um den Preis des meinen, 
IR eine Spanne, umd für dieſe Spanne 
Werf’ ih den Purpur hin, das Diadem, 
Und mit ber Zulunft, die id) dir erfaufe, 
zer id, die Schulden der Bergam nei, 

aunſt du noch wählen, ſchwand ms roilo! 
Ih biete dir das Leben, fie den Tod — 

21* 


164 


Den Tod! Betracht’ ihm wohl, er heißt Vernichtung! 
Entflieh’ ihm, fafl’ des Lebens armen Reſt, 
Mit meinem Reichthum will ich ihn vergolden! 
Ich will dich Tieben, wie fein Weib geliebt, 
Will fühnen, büßen, wie fein Weib geblßt, 
Bergib, wie Gott der Sünbigen vergab, 
Mit meinen Thränen falb’ ich deine Füße 
Und trodne fie mit meinen Haaren ab. 
(Sie finkt aufgelöft vor ihn Hin.) 


Der Charakter der Iſabella felbft verliert in den 
legten Acten alles dramatische Intereſſe. Nefignation, 
Selbftanflagen zeugen nicht von einer ſich machtvoll fort⸗ 
entwidelnden Leidenfchaft; fie laflen die platonifche Nei- 
gung zu Troilo wirklich als eine bichterifche Grille er» 
ſcheinen und rüden die Gewaltthat des Gatten dadurch 
in ein immer grelleres Licht. Am bedenklichften erfcheint die 
legte Scene zwifhen dem Herzog und Iſabella wegen 
ihrer fehr nüchternen Auseinanderſetzungen. Endlich er- 
fahren wir zwar, warum „fabella in ihrem Gatten nicht 
den rechten Mann gefunden Bat, was nad) dem Geſetz 
logifcher und pfnchologifcher Motivirung wol beffer an 
den Anfang als an das Ende des Stücks geftellt wor- 
den wäre: 

Wenn bu die Seele, bie fidh dir verpfändet, 

Mit einem milden Gruße angezogen 

Und das verwöhnte, liebbedürft'ge Herz 

Mit einem Hanche dir befreundet hätteft, 

Es Hätte nie ein andres Ziel geincht. 

Du felbft eutrüdteft fları dich und verneinend 
Der fchönen Welt, in der ich träumend lebte 
Und wie im Traum ihn fand, der mich verſtand. 
So ging ich irr’, und auf des Herzens Bahnen 
Gibt's Teinen Rückweg! 

Dieſe Motivirung hätte uns am Anfang geholfen 
die plötzliche Leidenſchaft für Troilo verſtehen, obſchon ſie 
an und für ſich allzu ſehr an die Hyſterie weiblicher 
Schöngeiſter erinnert, die ſich unverſtanden fühlen, wie in 
dem Heine’schen Berfe: 

Wenn du meine Berfe nicht lobſt, 
Laff ich mich von dir ſcheiden. 

Die legten Ucte find überbies reich an Reminifcenzen, 
namentlih an Sciller: 

Das wird er niht! Ich bin ein fürftlih Haupt, 

Europens Könige find mir verwandt. — 

Was kann noch entjelich fein, 

Wenn diejes heil'ge Haupt der Mord bedroht. 
Das ift „Maria Stuart”; und fo klingt die Diction viel 
fach auch an andere Schiller’fche Wendungen an. Daß bie 
Situationen der Testen Acte eine auffallende Aehnlich⸗ 
keit mit „Katharina Howard” haben, das hat die Kritik, 
wie 3. B. in ber „Leipziger Zeitung”, fo hervorgehoben, 
daß auch der Berfafler diefes Stücks es wohl beftätigen 
darf. Die Aehnlichkeit erftredt fi) bis auf Aeußerlich- 
feiten, wie das au das Fenſter geftellte Licht. 

Bühnengewandtheit, edle Haltung der Sprache, mandje 
keck aufgeſetzte charakteriftifche Lichter find unverkennbare 
Borzüge bes neuen Moſenthal'ſchen Stüds, diefer „Tra⸗ 
gödie des platonifchen Ehebruchs“, dem aber tiefere Ori⸗ 
ginalität, pfychologifch überzeugende Glaubwürdigkeit im 
Vortgang der Handlung umd jenes gefunde Verhältniß 
von Schuld und Sühne fehlt, welches auch die tragifche 
Nemefis nicht entbehren Tann. 


Drei Bühnendramen. 


Das Weilen’sche Trauerfpiel „Rofamunde” (Nr. 2) 
bezeugt von neuem dieBorliebe des Dichters für mittelalterlich 
dramatifche Stoffe. Wir haben oft wiederholt, daß der Hin⸗ 
tergrund einer barbarifchen Cultur oder Eulturlofigkeit, wie 
ihn da8 Zeitalter ber Völkerwanderung barbietet, für die 
dramatifche Dichtung und noch mehr fr die Bühne der 
Gegenwart ein unglinftiger iſt; wir bedauern, daß der 
begabte Dramatifer immer von neuem zu derartigen 
Stoffen greift. Noch dazu fehlt in dem neuen Stüd jede 
Nöthigung, ein pinchologifches Problem in das Gewand 
einer mittelalterlichen Sage zu kleiden. Denn bie über 
lieferte Sage der Rojamunde und die Fabel der Weilen’- 
fhen Tragödie haben kaum etwas anderes als ben Na— 
men ber Helbin und des Helden gemein: die wilde 
Rofamunde der Gefchichte wird von dem grimmen Alboin 
genötigt, aus dem Todtenſchädel ihres Vaters zu trinken; 
aus Rache läßt fie den Longobardenfürften durch ihre 
Getreuen umbringen. 

Diefe Handlung, die ganz in das Coſtüm ber Zeit 
paßt, erſchien dem Dichter zu rauh, zu barbarifch, ja 
unmöglich für die Bühne der Gegenwart. Indeß würde 
ein Poet wie Hebbel nicht davor zurüdgefchredt fein, 
dieſen mittelalterlichen Charakter der Ueberlieferung feſt⸗ 
zubalten; gerade das originell Gräßliche Hätte für ihn 
pilanten Reiz gehabt, und wir können uns denken, daß 
eine Rede der aus dem Todtenſchädel des Vaters trin- 
tenden Roſamunde an grandiofen Bildern reich gewejen 
wäre und gleichzeitig Lebensglut und Verweſungshauch 
geathmet hätte. 

Weilen hielt es indeß für nöthig, im Intereſſe der 
„eonventionellen Tragödie“, ein Genre, zu dem wir „Ro⸗ 
ſamunde“ ebenfo wie „Iſabella Orſini“ reinen, den Stoff 
zu wmobernifiren. Der Schädel des Vaters verfchwindet 
als ein zu unheimliches Requifit; an feine Stelle tritt 
ein Bofal, der durch den Glauben des Boll ben Gepiden 
ein heilige Palladium if. Roſamunde läßt nicht Alboin 
binmorden, fondern fie vergiftet ſich ſelbſt. Was ift da 
von der alten Sage übrig geblieben ? Der Conflict 
zwoifchen Liebe und Patriotismus. Doch der Tann in 
der neueften Zeit fpielen wie in der älteften und gewinnt 
wahrlich nicht an Intereſſe duch die Gepiden und Lon⸗ 
gobarden. 

Eine große Wehnlichfeit mit „Iſabella Orſini“ Hat 
„Rojamunde‘ durch das eine Hauptmotiv: das pfychologiſche 
Experiment. Seit der „Griſeldis“ gehört bies mit zu dem 
Lieblingsmotiven der wiener Dramatil. Der Herzog von 
Orſini prüft feine Gattin durch Schmerz und Freude; 
fie befteht ſchlecht in diefer Prüfung. Alboin prüft 
durch feinen Rathgeber Kleph feine Gattin, ob fie ihn 
wahrhaft liebt. Eine fingirte Todesnachricht bildet den 
Prüfftein. Roſamunde beſteht vortrefflid: 


Rofamunde, 

Ermordetl Mann, du Tügft, 
So ſtraft mid Gott nicht, ber fo viel mir nahın, 
Und als Erjag für viel mir mehr gegeben, 
Und alles wieder nähm’ mit einem mal. 
Und einer meines Volls? Im meinem Volle 
Lebt ſolch ein Unmenf nicht, eim folcher athmet anf 
Der ganzen Erde nit! Den Leihnam muf 
Ich jehen, dann erſt glaub’ ih dir. Wo iſt er? 


Drei Bühnenpramen. 165 


Kleph. 

Man trägt den Todten wol alsbald herbei. 

Rofamunde 
Hinauf auf ben Altan. Und ſeh' ich wirklich 
Das Gräßlice geſchehn, ihm unten tobt; 
Himab ftürz' id) zu ihm mid vom Alten, 
Daß id) gerſchmeitert Tiege neben ihm 
Und dir bemeife, wie ich ihm geliebt. 

Wir befennen, daß uns dergleichen Eramina mehr 
in bie Komödie als in die Tragödie zu gehören Leinen, 
Es liegt ihnen ein Raffinement zu Grunde, welches über« 
dies jo moderner Art ift, daß man in der Zeit der 
Bölferwanderung feine Ahnung davon Hatte. Und wie 
gutmüthig, an das Refultat einer folhen Prüfung zu 
glauben! Die ſchlaue Gattin würde ja eine Empfindung 
heucheln können, die fie gar nicht hat. 

Die Stelle der geſchichtlichen Rofamunde, die ihren 
Gatten tödten läßt, ift hier der Sklavin Roſamunde's 
zugetheilt, die ben ihrigen erjchlägt, um ben Polal, das 
geheinmißvolle Requiſit der Handlung, das faft an die 
befannten Requifite der Schidjalstragödien erinnert, vor 
ihm zu fern; fle wird zur Strafe dafür in den Strom 
geftürzt. Dies Palladium ift num in Roſamunde's Hän- 
ben. Der Gepide Lupold fagt zu ihr: 

Das Meinob, das 
Id) anvertraut ihr, das befigeft du. 
Id finfe auf die Knie und bitte did, 
Bewahr' es treu, gib’s deinem Gatten nicht. 
Bewährt hat ſichs in Hunderten von Jahren, 
An ihn Mmüpft ſich Srinnrung fernfter Zeit, 
Daß nie ein Feind, wie mächtig er auch war, 
Uns bleibend fomn” mit feinem Jod; belaften, 
So lange dieſes Kleinod wir befaßen. 
Die letste Hoffnung, raube fie ung nicht! 

Rofamunde fühlt, daß ihre Liebe zu Alboin, dem 
Ueberwinder und Mörder der Ihrigen, von ewigem Mis- 
trauen vergiftet fein wird, daß fie beide baran uͤnglücklich 
werden. Das fol nicht fein; fie beſchließt, ſich Fir ihn 
zu opfern; fie erfcheint mach der Krönungsfeier mit dem 
Pokal und wirft ihn in die Flut, nachdem ſie Gift aus 
demjelben getrunfen. 

Unfengbar ift der Conflict dieſer Tragddie, wenn er 
auch einer Wildheit beraubt ift, doch tragifcher als der- 
jenige in „Sfabela Orfini”. Wenn aud) die Sprache 
der Empfindungen faft durchweg eine moderne ift, fo ift 
doch in Alboin auch der Träftige Barbar nicht ohne einen 
Anflug von Größe ausgeprägt und das Talent des 
Dichters zeigt fih in einer Menge feiner und finniger 
Züge. So konnte die erfte Begegnung des Helden mit 
der ſchönen Roſamunde nicht poetiſcher eingeleitet werden 
als durch die folgenden Reden Alboin’s, im denen ſich 
ein durch die plaftifchen Kunftformen des Südens erregte 
Schönheitsgefühl ausjpricht: 

Alboin. 

Als bierher wir zogen, 
Entfang der Donau dur) die weiten Streden, 
Bo eint die Römer herrſchten, wo nod Trümmer 
Bon Tempeln ſtehu, Mertjeichen ihrer Größe, 
Gelangten wir zu einem Hügel einft, 
Den nit Natur, den Menfhenhand erhöht, 
Und unfre Krieger, Schäge dort vermuthend, 
Durhmwühlen emfig ihn mit Speer und Schwert, 
Und plöglid, tönt der Schrei: Ein Fund! Ein Fund! 





Ich eile Hin und blide in bie Tiefe, 

Und was erblid’ id da? — Du güt’'ger Gott! 
(Immer wärmer und begeifterter.) 

Da unten lag: wie Schnee fo herrlich fhimmernd, 

Nein, Iodender, gieich wie ein glänzend Schwert, 

Ein Frauenbild aus Marmorftein gemeißelt. 

Ein Kund’ger unter uns nannt fie: Diana. 

D, welch ein Anblid war's! — So fippig zart, 

& lieblid) quellend dehnten ſich die Glieder, 

Wenn aud) nur Stein, man hätte ſchwören mögen, 

Der Athem fen?’ und heb' den holden Bufen. 

Zum Glüd blieb unverfehrt das edle Haupt. 

D, welch ein Antlig war's: vol Kraft und Hobeit, 

Und welhe Stirne! welche vollen Lippen! 

Benn die gelebt einft, die, beim ero’gen Gott, 

Bar niemals falich, gewiß auch feige nicht! 

Die große Scene zwiſchen Alboin und Rofamunde 
hat dichterifche Schönheiten und dramatifches Leben. Die 
Diction ift marfig, nicht zerfloffen, und bier wie an vielen 
andern Stellen erinnert der ftahlharte Metallflang der 
Berfe an die gelungenen Strophen in Lingg’s „Böller- 
wanderung“. Dramatiſches Talent und theatralifches Ge- 
fehl im Verein laſſen doppelt die Vorliebe des Verfaſſers 
für Stoffe bedauern, die nun einmal auf der Bühne der 
Gegenwart nicht Wurzeln ſchlagen können. 


Das Luftfpiel: „Schach dem König” von Hippolyt 
Auguft Schaufert (Nr. 3) hat, nachdem es 1868 
don der wiener Preiscommiffton den erften Preis fitr das befte 
Zuftfpiel erhalten Hatte, bie Runde über die meiften beut- 
ſchen Bühnen mit wechjelndem Erfolg gemacht. Das 
Preisausſchreiben Hatte in Schaufert wenigſiens ein frifches 
Talent and Tageslicht gezogen; denn eine gefunde, nur 
oft zu ſehr mit Shafjpeare'jhem Licht phosphorefeirende 
Auftfpielader ift in dem Stücke nicht zu verkennen. 

Das Stüd erſcheint Hier in der Geflalt, in welcher 
«8 ben Preisrichtern vorgelegen, mit Ausnahme einer ein- 
zigen Wenderung; es zeigt feine fünf Acte im ihrer ganzen 
Ausdehnung, während die Bühnenbearbeitung deren nur 
vier ausweiſt. Es ift wahr, in ber erften Hälfte des 
Stüds zeigt ſich Fein großes Bühnengefdjid, was Abgänge 
und Schlußwirkungen betrifft; in der zweiten fährt das 
Stüd hierin mit volleen Segeln, ba die Handlung felbft 
hier die komiſchen Wirkungen hervorruft. Trotz dieſes 
DMangeld an Vühnengewandtheit müſſen wir befennen, 
daß das Stüd in ber Geftalt, in der e8 im Drud vor- 
liegt, auf uns einen beſſern und vor allem bedeutendern 
Eindrud gemacht hat als bei der Aufführung und in 
feiner für bie Bühne eingerichteten Geftalt. Wir haben 
die Nothwendigfeit nie verfannt, größere Werke einzu» 
richten für einen Bühnenabend, zu fürzen und zufam- 
menzubrängen; aber wir haben dieſe Notwendigkeit ftets 
für eine „traurige gehalten und es nie begriffen, wenn 
Dramaturgen, die in diefen Kürzungen, Berftiimmelungen 
und Zerfegungen eine gewiffe Routine erlangt haben, ſich 
wegen dieſer Polonius-Weißheit als Meifter dramatischer 
Kunſt preifen liegen und ihr dramaturgifces Raſirmeſſer 
zur Anbetung fir bie Gläubigen ausftellten. Wie viel 
das Wert des Dichters in feinem innerften Zufammen- 
Gang, in feinen feinen Gliederungen und Uebergängen 
oft unter dieſem SHeransbrennen und Schneiden leidet, 
ergibt freilich mur bie genaue Vergleichung mit bem 


— — — — — —— ——— — — 


166 Drei Bühnendramen. 


Driginal. Würden wir die Schiller’f—hen und Shaffpeare’- 
schen Tragödien in den Büßneneinrichtungen wiebererfennen, 
wenn wir nit aus eigenen Mitteln ihren Zufammen- 
hang ergänzten? Wir Haben oft einen Schauder em- 
pfunden vor ben barbariſchen Zugeſtändniſſen, welde 
namhafte Dramaturgen dem Sitfleifch des Publikums 
machten. 

So befennen wir offen, daß die Bühneneinrichtung des 
Schaufert ſchen Stüds zwar mandje Ränge eines hin» und 
herfpielenden fhaffpearefirenden Wiges, manchen matten Ab» 
gang und mande für die Ungebuld ber Zeitgenofien hem- 
mende Ausgiebigfeit dichteriſchen Erguſſes, ja einzelne 
an den tragif—hen Stil ftreifende Wendungen, wie 3. B. 
den Selbſtmordverſuch Calvert's, mit Glüc befeitigt hat, 
daß aber and) die forgfältigere Motivirung, die nicht blos 
in dem unbebingt Nöthigen liegt, daß eine Dienge Stellen 
von echt dichteriſcher Schönheit, durch melde gleichzeitig 
die Charaktere, namentlich des Königs und der unter 
nehmenden Harriet, innerlich vertieft werden, der äußern 
Nothwendigkeit ber ſceniſchen Einrichtung zum Opfer ge- 
fallen find. 

Der Stoff des Luftfpiels ift aus den Zeitungen befannt; 
es ift ein guter Luftfpielftoff. König Jakob verbietet das 
Rauchen und fereibt ein Werk gegen baffelbe; alles an 
feinem Hofe raucht insgeheim; bie Damen Magen die 
Männer an; ber Geheimfecretär des Königs, Calvert, ergibt 
ſich diefem Lafer, wird vom König überraſcht und aus 
dem Dienft gejagt, gerabe als er mit Harriet, der Tochter 
eines Schiffsrheders, Hochzeit machen will. Noch dazu 
ift das Manufeript des Königs, die Philippifa gegen das 
Tabadrauden, verſchwunden. Auf Calvert ruht der Ber- 
dacht, und biefer wird verhaftet. at 

Soweit find die Fäden der Handlung gut eingeleitet, 
wenngleid; dieſe Expofition viel Weitfchweifiges hat und 
an Wiederholungen leidet. Jetzt beginnt eine amufantere 
Handlung; aber fie beginnt durd einen Galtomortale 
der Motivirung. Harriet will ben Geliebten wieder frei 
machen. Der König Hat erflärt, er werde Calvert nie 
zu Gnaden wieber annehmen, bis er felbft, der König, 
geraucht Habe. Da faßt Harriet den Plan, ihn zum 
Rauchen zu bewegen. „König Jakob, ic) nehme dic 
beim Wort! Schach dem König!" Es ift dies ein fo 
unbeftimmter, fo ausſichteloſer Plan, daß die ganze um« 
erſchrockene Bereitwilligfeit des Dichters dazu gehört, um 
ihn zum Ziele zu führen. Harriet lauert in Bagen- 
Heidern dem Könige auf, der verkleidet aus dem Palafte 
ſchleicht, um ſich zu überzeugen, ob man in London raucht. 
Hier trifft er Harriet, und fie gefällt ihm fo, daß er 
den Pagen zur Begleitung mitnimmt und feine Bewun ⸗- 
derung in einer Rede ausſpricht, welche, wenn man fie 
gegen das Licht Hält, ganz ſhakſpeariſch opaliſirt: 





Ic fag’ Euch, Freund, am beften iſt empfohlen, 
Ben bie Natur empfiehlt. Der Jüngling bier, 
So arm er feint, ift rei, denn in ihm wohnt 
Das glüdliche Geheimniß jener Mat, 

Die Aug’ und Ohr zu füßer Sklaverei 
Verdammt, ja felbft den finftern Lömen Menſchenhaß 
Mit Lächeln zähmt und vor den Wagen feſſelt. 
Sprad; je mehr Wis aus einem jungen Körper? 
Dar je ein Körper würdiger geformt, 

Den ſchönſten Geift zu fpiegeln? Dem Kryftall 
Steidjt diefes Auge, anf der Wange blüht 

Die zarte Rofe unbefledter Jugend; 

Kein Tritt, fein Hauch, worum die Grazien 
Nicht wüßten, und das Gange, morgenfrifc), 
Jetzi eine holde Kuospe der Natur, 

Berfprict den ſchönſten Mann. 

Wenn es dem Dichter gelungen wäre, dieſen ganz 
ins Blaue hinein gefaßten Plan Harriet's durch irgendeine 
Möglichkeit des Erfolgs zu affecuricen, fo würbe das Stüd 
außerordentlich an innerm Zufammenhalt gewonnen haben. 
Der Zufall ift zwar im Luſiſpiel berechtigt; wo es ſich 
aber um einen beftimmten Plan Handelt, da wollen wir 
auch die Logik der Ereigniffe im voraus mitberechnen; 
fonft wirb feine Spannung hervorgerufen. In der In 
trigue muß ein folgerichtiger Verſtand liegen; der Zufall 
darf fie kreuzen, aber nicht vertreten. Wie Tann Harriet 
wiffen, daß fie dem Könige gefallen, daß er fie zur Be 
gleitung auffordern wird? Welche Möglichfeit Tann ihr 
vorfchweben, den wilthenden Gegner des Tabadrauchens 
zur Ausübung der verhaßten Neuerung zu beftinmen? 

Sind wir nun einmal mit beiden Füßen in bas ziel 
loſe Abenteuer bineingefprungen, fo triumphirt die ges 
funde Komik des Autors über unfere Bedenken. Es folgt 
eine Reihe von Scenen, die friſch entworfen und durd- 
geführt find. Die Raudjfcene des Königs, die Gefangen 
nehmung Seiner Majeftät wegen des Verdachts, ihr 
eigenes Manufcript geftohlen zu haben — das ift alles 
von Fomifcher Wirkung; noch fomifcher die Pfeifenfamme 
fung, die der König bei feinen Hoflenten zufammenbringt 
und die durch fein eigenes Pfeifhen erſt ihren Glanz- 
punkt erhält. Sehr humoriſtiſch ift au die Scene mit 
den Dieben, welche der König zu Tabad begnadigt hat, 
um fie fo an Gift fterben zu laſſen, während biefelben 
in gemüthlichfter Betrumkenheit nad Ablauf der ver- 
hängten Frift auf bie Bühne kommen; und glüdlich der 
Gedanke, daß der Narr das Manufeript des Königs ger 
ſtohlen Hat, um fi an der Leltüre zu erbauen. Der 
Dialog ift vol Mark und Friſche, in dem vorliegenden, 
Buchmanuſcript oft dichteriſch funfelnd, aber zu ängft- 
lich im Schnitt der Gewandung Shakſpeare's immer« 
hin veraltetes äufßeres Goftiim befolgend in Witzreden 
und Gleichnißhaſcherei. Schaufert Hat das Zeug, ori« 
ginel zu fein; warum ſich an ein gefährliches, weil um- 
nadahmliches Vorbild anlehnen? Rudolf Gottfcall. 


Poeſie und Geſchichte der Schweiz. 


167 


Poeſie und Gefchichte der Schweiz. 


1. Die poetijche Nationalliteratur der deutſchen Schweiz. Muſter⸗ 
Rüde aus den Dichtungen der beften ſchweizeriſchen Schrift 
fteller von Haller bis auf die Gegenwart. Mit Biographie 
chen und iritiſchen Einfeitungen von Robert Weber. 
Drei Bände. Glarus, Bogel. 8. 3 Thlr. 6 Nor. 

2. Helvetia. Vaterländifche Sg: und Geſchichte. Herausgegeben 
von Georg Geilfus. Vierte vermehrte und verbeſſerte 
Auflage. Mit 15 Holsfänitten. Wintertfur, Steiner. 
©r. 8. 3 Thlr. 

3. Geſchichte der ſchweizeriſchen Eidgenoffenfhaft von den älter 
fen Zeiten bis 1866 von A, Daguet. Yutorifirte dentfhe 
Ausgabe nad ber Menbearbeiteten fechten Auflage mit Nach ⸗ 
trag. Aarau, Sauerländer. Gr. 8. 2 Thlr. 

Die deutſche Einwanderung in die Schweiz, melde 
mit dem Anfang der dreißiger Jahre begonnen und feit 
diefer Zeit nicht aufgehört hat, wenn fie aud) nicht immer 
gleihmäßig ftarf geweſen ift, konnte nicht ohne bedeu- 
tenden Einfluß bleiben. In den dreißiger Jahren waren 
es vorzüglich Studenten oder junge Literaten, welde ſich 
in bie Schweiz flüchteten, um den Verfolgungen ihrer 
Regierungen zu entgehen. Sie wurben mit offenen Armen 
anfgenommen, und zwar aus zwei Grunden. Gerade 
damals Hatten in den größten Cantonen, in Ziürid, 
Bern, Luzern, Aargau, Thurgau, St. » Gallen, 
Baadt u. a. m. Ummälzungen flattgefunden, infolge deren 
die alten ariftofratifchen Regierungen und Berfafjungen 
geftürzt worben waren und neue freifinnige an ihre Stelle 
traten. Es iſt begreiflich, daß man den jungen Männern 
gern eine Freiſtatt gewährte, die wegen der nämlichen 
Ideen verfolgt wurden, die in der Schweiz ſiegreich ge 
worden waren. Es kam aber noch der weitere Umftaud 
dazu, daß man dieſe jungen Leute gut gebrauchen konnte. 
Die ariftofratifchen Regierungen hatten nämlich für bie 
Bolksbildung nicht nur nichts getan, fie hatten fogar 
diefelbe abſichtlich zurücgehalten. Da bie neuen Regie» 
rungen einfahen, daß die freien Berfafjungen nur dann 
gegen Reactionen gefihert werben könnten, wenn das 
Voll geiftig herangebildet wurde, jo richteten fie ihre Augen 
zunächft auf die Verbefierung des öffentlichen Unterrichts. 
Aber num fehlte es an tüldtigen Lehrern, nicht blos für 
die Bolfsjhulen, fondern aud für die Höhern Unterrichts- 
anftalten. Die deutfchen Flüchtlinge, welche meift Stu 
denten waren ober die Univerfität ſchon abfolvirt hatten, 
tonnten gut verwendet werden, denn ſeibſt diejenigen, welche 
nicht gerade Theologie oder Philologie ftubirt hatten, be⸗ 
faßen doch eine weitaus größere gelehrte Bildung als 
die meiften bisherigen Lehrer. Ihre Brauchbarkeit ber 
ſchranlte ſich aber feineswegs auf das Lehrfach, und viele 
wurden auch anderweitig verwendet. Die ariſtokratiſchen 
Regierungen hatten nämlich, fo ziemlich, alle, die nicht zu 
den patricifchen Geſchlechtern gehörten, ſyſtematiſch von 
dın Staatsgejchäften ausgejchlofjen, und insbeſondere fanden 
di‘ Bürger der Heinern Städte, der Fleden und Dörfer, 
u ter weldjen ſich, wie ſich fpäter zeigte, viele intelligente 
I änner befanden, feinen Zutritt zu denfelben. Als nun 
d meuen Negierungen fowie die ifnen untergeordneten 
& umten meift gerade aus diefen Bürgern gewählt wurden, 
ft war «8 begreiflich, daß viele ihrem Amt nicht gewachſen 
r vem, weil ihnen jegliche Erfahrung mangelt. Man 





gab ihnen daher germ junge Leute bei, bie zwar ebenfalls 
feine praftifche Erfahrung hatten, dagegen eine theore- 
tische Einficht in die Staatsverhältniffe befagen. Nament- 
lich fanden deutfche Flüchtlinge in folden Beamtungen 
Anftellung, welche beftimmte Kenntniſſe vorausfegten, wie 
3. B. beim Forftwefen u. f. w. 

Eine weitere, wenn auch bei weitem nicht fo zahle 
reiche, aber in jeder Beziehung bedeutendere und einfluß- 
teichere Einwanderung fand ftatt, als die zwei Univer» 
fitäten Bern und Zürich gegründet wurden. Für biefe 
fehlte es namentlic an hinreichenden Kräften, und fo 
wurde eine nicht geringe Zahl von deutſchen Gelehrten 
in bie Schweiz berufen, unter denen fi manche höchſt 
ausgezeichnete Männer befanden, jelbft folde, die in ihrer 
Wiſſenſchaft ſchon den höchſten Rang einnahmen, wie 
3. B. ber treffliche Dfen, der dem Rufe um fo Lieber 
folgte, als er in Münden fortgefegten Pladereien von 
feiten der despotiſchen Regierung anögefegt war. Um 
diefelbe Zeit wurden auch in vielen Cantonen die Gym«- 
naſien und Induftriefhulen neu organifirt, und aud da 
zeigte ſich das Bedürfniß, fremde Kräfte Herbeizurufen, 
fo in Bern, in Zitih, in St.-Gallen, in Luzern und 
jelbft in den franzöſiſchen Cantonen. E8 leuchtet von 
ſelbſt ein, daß eine fo große Zahl tüchtiger oder auch 
nur jugendlich begeifterter Männer auf die Jugend und 
durch fie auch a das reifere Alter großen Einfluß ge⸗ 
winnen mußte. 

Leider wurbe biefes glückliche Verhältniß nur zu bald 
geftört und. zwar durch die Schuld der Deutfchen. Es 
ift nämlich eine merkwürdige Erſcheinung, daß die Deut» 
ſchen, die in kurzer Zeit zu Engländern, zu Franzoſen u. ſ. w. 
werben, wenn fie ſich einige Sabre, oder auch nicht einmal 
fo lange, in England ober Frankreich aufgehalten Haben, fi) 
in der Schweiz ſchwer, oft niemals acclimatifiren. So 
glüclich fi die Fluchtlinge gefühlt hatten, hier warme 
Saftfreundfchaft und zugleich Lebensunterhalt gefunden zu 
haben, fo fithlten fie fich doch bald unbehaglih. Gie 
lonnten fi in die neuen Berhältniffe nicht fchiden, es 
war ihnen nichts recht. Sie waren in ihrem Vaterlande 
vorzüglich deshalb verfolgt worden, weil fie in biefer 
oder jener Weife für die Einheit Deutſchlands gekämpft 
hatten; und nun erbfidten fie in der Schweiz die näm- 
liche Kleinſtaaterei. Sie Hatten in den Hörfälen der Unie 
verfitäten oder aus ihrer Lektüre Ideen über Staaten 
und Staatöverfaffungen geſchöpft, die mit den ſchweizeri- 
ſchen Zuftänden in oft grellem Widerſpruch ftanden; fie 
hatten fogar in ihrer Verblendung gehofft, daß die Schweiz 
fie mit Gewalt wicder in ihre Heimat zurüdführen würde, 
As fie fi nun nad allen Seiten fo bitter getäufcht 
fahen, fuchten fie der Schweiz Verlegenheiten zu bereiten, 
damit diefe gezwungen werde, einen Krieg anzufangen. 
So wurde der Savoyerzug organifiet, der ein fo ſchmah · 
lies Ende nahm. Dies Tonnte die Eidgenoffenfchaft 
natürlich nicht fo Hingehen laſſen; fie verwies alle die- 
jenigen aus ihren Grenzen, welche am Savoyerzuge theil« 
genommen hatten, fowie diejenigen, welche auf irgendeine 
Weiſe die Schweiz mit den benadjbarten Mächten in 


168 


Conflict zu bringen fuchten. Aber es blieb, wie zu er- 
warten war, nicht dabei; das unfinnige Benehmen der 
meiften Flüchtlinge führte auch einen günzlichen Umſchwung 
in ber öffentlichen Meinung herbei, die man bisher von 
den Deutſchen gehabt hatte; und wenn ein berner Staats- 
mann früher einmal die freilich ſehr thörichte Anficht ge= 
äußert Hatte, daß, wenn ſich zwei ganz gleichberechtigte 
Bewerber um eine Stelle meldeten, ein Deutjcher und ein 
Schweizer, man dem erftern den Vorzug geben müſſe, fo 
war jett die Stimmung im ganzen Bolfe den Deutfchen 
feindfelig geworden. Die frühere Neigung war in den 
vollftändigften Haß umgefchlagen, ſodaß felbft die ver- 
ftändigern Flüchtlinge, die an den Umtrieben keinen An- 
theil genommen hatten, ja fogar bie Lehrer an den Uni- 
verfitäten und den Übrigen Unterrichtsanftalten, die eben» 
falls jenen Umtrieben fremd geblieben waren, nur mit 
Mistrauen behandelt wurden und den Einfluß einbüßten, 
den fie gewonnen Hatten. 

Mit der Zeit verlor fich allerdings dieſer Haß und 
biefe feindfelige Stimmung, befonders als die Deutſchen 
fih immer mehr in die fchweizerifhen Berhältniffe hin» 
einlebten und an den nationalen Beftrebungen lebendigen 
und verfländigen Antheil nahmen. Diefer Umſchwung 
trat namentlich zur Zeit der Freiſcharenzüge ein, an welchen 
fi eine Anzahl Deutfche betheiligten, und des Sonder- 
bundfeldzugs, wo bie Deutfchen ſich überall für die libe⸗ 
rale Partei erflärten. Nicht wenig trugen auch die Re— 
volntionen in den verfchiedenen deutſchen Ländern bei, 
ben Schweizern eine befjere Meinung von der Thatkraft 
der Dentfchen zu geben; auch zögerte die Eidgenoſſenſchaft 
nit, die proviſoriſche Kentralregierung anzuerkennen. 
Bar zeigte dieſe bald ihre Unfähigkeit auch der Schweiz 
gegenüber. Während fie nämlich bei ben grof.n LRächten 
vergeblich um Anerkennung bettelte, während fie e8 nicht 
einmal dahin bringen fonnte, daß ihr ©efandter, der be» 
rühmte Herr von Raumer, bei der republifanifchen Re⸗ 
gierung in Frankreich Zutritt erhielt, trat fie der Heinen 
Schweiz mit einer Anmaßung gegenüber, die fi nur 
daraus erklären läßt, daß fie fi an derfelben wegen 
der von den Großmächten erfahrenen Beratung rächen 
wollte. Es Hatten fich nämlich einige Anhänger der frü⸗ 
bern Zuftände in die Schweiz geflüchtet, und unterhielten 
von dort aus Verbindungen mit ihren Gefinnungsgenoffen 
in Deutfchland. Da fchidte das Parlament einen Ge- 
fandten in die Schweiz, der ungefähr auf diefelbe Weife 
drohte, wie e8 in den dreißiger Jahren die abfoluten 
Mächte gethan hatten. Dies mußte natürlich böſes Blut 
madjen, und der Haß gegen alles Deutfche hätte ohne 
Zweifel wieder zugenommen, wenn nicht bald daranf das 
Parlament nebft feiner Centralregierung ein klägliches 
Ende genommen hätte Das Mitleid gegen die neuer- 
dings erfolgten drängte jede feindfelige Stimmung zurüd, 
um fo mehr, als fich die neuen Slüchtlinge im allgemeinen 
anftändig und Hug benahmen. Da die Deutſchen aud 
im neuenburger Handel fich offen zu Gunften der Schweiz 
erflärt hatten, jo verfchwand die Abneigung gegen die 
Deutfchen immer mehr; und wenn fi auch jest nod) 
feindfelige Stimmen hören Laffen, fo rühren fie beinahe 
ohne Ausnahme von foldhen Perfönlichkeiten ber, welche 
es ben fchweizerifchen Regierungen nicht verzeihen können, 





J 


Poeſie und Geſchichte der Schweiz. 


daß ſie ihnen bei Anſtellungen tüchtigere Deutſche vor⸗ 
gezogen haben. Man legt aber um ſo weniger Gewicht 
auf ihre Aeußerungen, als es dieſelben ſind, welche ein 
lautes Jammergeſchrei erheben, wenn die züricher Regie⸗ 
rung einen tüchtigern Berner anftellt, obſchon fih ein 
unfähiger Züricher gemeldet hat, und fo umgekehrt. 

Obgleich feit den dreißiger Jahren ein ganzes Men⸗ 
fchenalter voritbergegangen war, fo konnte doch die Schweiz 
bi8 in die neuefte Zeit der fremden, namentlich deutfchen 
Gelehrten nicht entbehren; Dies zeigte fi auf das ſchla⸗ 
gendite, als das eidgendffiiche Polytechnilum gegründet 
wurde, defien Tehrftühle nur durch Berufung einer großen 
Anzahl deutfcher Gelehrten gut beſetzt werden konnten. 
Aber auch an die Univerfitäten und Gymnaſien werben 
immer wieder Deutſche berufen. Denn wenn fchon jegt 
viel mehr junge Leute ftudiren, als e8 früher der Fall 
war, fo widmen fich doch die meiften berfelben irgend» 
einem praktifchen Beruf, fie werden Advocaten, Aerzte, 
Pfarrer oder Beamte; ja gar manche treten in Gejchäfte 
ein, denen fie durch ihre höhere geiftige Bildung öfters 
einen bedeutenden Auffchwung geben. Die wenigften 
widmen ſich dem Lehrerberuf, und fo kommt es, daß die 
böhern Unterrihtsanftalten noch vielfältig fremde Kräfte 
in Anfpruch nehmen müſſen. 

Der Einfluß, den die dentjche Einwanderung vorzüg- 
lich durch den willenfchaftlich gebildeten Theil derſelben 
gewonnen bat, ift unbeſtreitbar; er läßt ſich fchon durch 
den einzigen Umſtand beweifen, daß der Gebraud ber 
hochdeutſchen Sprache tagtäglich mehr zunimmt. Während 
vor 30— 40 Jahren felbft Perfonen aus den höhern 
Ständen, aus den ariftofratifchen Familien fi nicht nur 
nicht in hochdeutſcher Sprache ausdrüden konnten, ſondern 
nicht einmal eine hochdeutſche Rede verftanden, fpredjen 
jest in den Städten nicht nur die gebildeten Stände, 
fondern auch Arbeiter und dienende Perfonen hochdeutſch, 
ja viele Schweizer beweifen, daß fie echt deutſches Blut 
haben, indem fie fi ihrer Mutterfprache fhämen und 
fid) ftellen, al8 ob fie das ſchöne und kräftige Schweizer- 
deutfch nicht mehr fprechen können, wenn fie ſich ein paar 
Monate in Deutſchland aufgehalten haben, wie die meiften 
jungen Mädchen ihre Sprache durch Einmifchung zahle 
reicher franzöfifcher Wörter verunftalten, wenn fie eine 
Zeit lang in einer „welſchen“ Benflon gewefen find. 

Bon größerer Bedeutung ift der Einfluß, den bie 
deutſche Einwanderung auf die geiftige Bildung gewonnen 
bat, und der fi vor allem darin kundgibt, daß fich die 
Schweiz von Tag zu Tag mehr an den Bewegungen und 
Fortſchritten der deutſchen Wifjenfchaft betheiligt. Zwar 
bat die Schweiz don jeher große Gelehrte gehabt, wir 
erinnern nur an die Gesner, Bernoulli, Euler, Wytten⸗ 
bach, Hottinger u. a. m., und was die fchöne Literatur 
betrifft, an die Haller, Bodmer, Breitinger, Geßner u. f. w., 
aber alle gehören beinahe ohne Ausnahme in frühere 
Jahrhunderte, und wenn and) ans dem jeigen manche 
bedeutende Gelehrte zu nennen find, die zu dem erften im 
ihrer Wiffenfchaft gezählt werden müſſen, wie der Phi- 
lolog Orelli, ber Naturforfcher Heer u. f. w., fo gehören 
fie meift in die neuere Zeit, und fle haben ſich daher 
wer dem vorwiegenden Einfluß der deutfchen Wifjenfchaft 
gebildet, 


Poeſie und Geſchichte ver Schweiz. 169 


Ann bebeutendften vielleicht ift der Einfluß der Deut- 
ſchen auf die Entwidelung und Ausbildung der Poeſie 
gewefen. Während ber großartige Umſchwung, den die 
deutfche Dichtfunft in der erften Hälfte des 18. Jahr 
hunderts nahm, zum großen Theil von ber Schweiz aus - 
ging und die Namen Bobmer, Breitinger, Haller immer 
eine höchſt bedeutende Stelle in der Geſchichte der deutſchen 
Literatur bewahren werden, während in der zweiten Hälfte 
Zimmermann, Salomon Geßner, Lavater und Peftalozzi 
höchſt einflußreich wurden, fo haben im erften Viertel des 
19. Yahrhundert® nur wenige Dichter, Salis, Ufteri und 
3. 8. von Aldertini Bedeutung erlangt, und die Did: 
tungen wurden fogar erft nach ihrem Tode im den drei⸗ 
Tiger Jahren veröffentlicht, alfo erft als das deutſche 
Element in der Schweiz Einfluß gewann. Zwar haben 
gerade zwei der bedeutendern unter den neuern Dichtern, 
A. E. Fröhlich und K. R. Tanner, ihre Poeſien noch vor 
Ende der zwanziger Jahre veröffentlicht; allein auch dieſe 
Hatten fich auf deutſchen Univerfitäten deutſche Bildung 
angeeignet, und zudem hatten ‘mehrere Deutfche, die ſchon 
am diefe Zeit in die Schweiz geflüchtet waren, namentlic) 
der befannte Follen, nad ihrem eigenen Geftändnig auf 
ihre poetifche Production weſentlichen Einfluß ausgeübt. 
Bar fomit die Bejhäftigung mit der Dichtkunſt bis 
zu ben dreißiger Jahren im ganzen ſehr gering, und traten 
nur ſehr wenige Dichter auf, bei denen man von wirf- 
lichem Talent jprechen Tonnte, fo nimmt fie ſeitdem einen 
merkwürdigen Aufſchwung, der fi nur aus dem Einfluß 
der deutfchen Einwanderung erflären läßt. Hier ſprechen, 
wie immer, Zahlen am beften. Robert Weber hat in 
feiner „Poetiſchen Nationalliteratur der deutſchen Schweiz” 
(Nr. 1) von 1700—1830 nur fiebzehn Dichter zu 
nennen gewußt, während er für bie Zeit von 1830—65 
nicht weniger als vierundneungig anführt, unter denen ſich 
freilich manche Dichterlinge befinden, aber doch auch eine 
Reihe folder, die man als echte Dichter begrüßen darf, 
fo die Aprifer Gottfried Keller, Edward Dorer, Bater Gall 
Morel, Karl Morel, Hagenbad, die Frau Meta Henßer- 
Schweizer und Meger-Dierian; die Epiler Reithard, Sa- 
lomon Zobler, Vornhaufer, Balthafer Reber, Corrodi; 
den Dramatiker Iofeph Victor Widmann und die Ro— 
man- und Novellendichter Bitzius (Jeremias Ootthelf), 
Haberſtich (Bitter), Alfred Hartmann und Yatob Frey: 
Dichter, bie jümmtlih auch in Deutſchland teils ſchon 
Anerkennung gefunden haben, theil® Anerkennung zu finden 
verdienen. Auch unter ben übrigen wären manche zu 
nennen, welche ein hilbſches, wenn auch beſchränktes Talent 
befigen, jo Eduard Döffebel, Fr. H. Oſer, Konrad 
Meyer u. a. m., bor allen aber der geniale, leider zu 
früh verftorbene Architelt 9. G. Müller. 
Das vorliegende Werk verdient ſchon deshalb unfern 
Dant, weil es geeignet ift, das im Deutſchland herrſchende 
Borurtheil, ala ob aus der Schweiz nichts Gutes fommen 
Könne, in feiner Nichtigfeit zu zeigen; und der Heraus. 
geber führt folgende Stelle aus Bodmer: 
Hier ift poetiſches Land, das die Gabe vom Himmel empfangen, 
Dichter in feinem Schos zu gebäreul — 

mit vollftem Rechte an, fowie eine andere von Haller: 
1870, ı1. 





Der Freiheit Sig und Reich auf Erden 
Kann nit an Geift unfruchtbar werden: 
Ber frei darf denten, denfet wohl. 


Auch gebührt dem Herausgeber unfere Anerkennung, 
daß er meilt gute und richtige biographiſche und Biblio» 
graphiſche Notizen über die einzelnen Dichter gegeben hat; 
auch die Benrtheilungen der verfchiedenen Dichter und 
Dichtungen find zu loben; dod verfallen fie nicht ganz 
felten in Phrafenhaftigfeit und find Bier und da von pere 
ſonlicher Zu- und Abneigung eingegeben. Bon Beſchrunbt ⸗- 
heit zeugt, daß ber Herausgeber diejenigen Dichter nicht 
mit aufgenommen hat, bie zwar nicht in der Schweiz 
geboren find, aber nicht blos durch langen Aufenthalt, 
fondern auch durch Aufnahme in das Bürgerrecht, vor⸗ 
züglich aber durch ihre Gefinnung Schweizer gewor- 
den, bie fogar zum Theil von Einfluß auf die Geſchicke 
der Schweiz gewejen find. Zählen doch die Franzoſen 
Friedrich IL, die Deutſchen A. von Chamiffo zu den 
Ihrigen; und ein Zſchotke, ein Bronner, 2. U. Follen, 
Wadernagel, Ettmüller u. a. m. follten nicht als ſchwei⸗ 
zeriſche Dichter gelten, obgleich ihre Dichtungen meift in 
der Schweiz entitanden find und zum Theil fogar ſchwei ⸗ 
zerifche Verhältniſſe behandeln? Das Heißt die Schweiz 
eines nicht Heinen Ruhms berauben. Was würde Weber 
fügen, wenn es einem engherzigen Deutſchen einfiele, in 
einer Gefcjichte der deutſchen Literatur die ſchweizeriſchen 
DMinnefinger aus der Zeit der Burgunderkriege, den Sän- 
ger derjelben, Veit Weber aus Freiburg im Breisgau, 
aus der Reformationszeit Zwingli und Manuel, aus dem 
18. Jahrhundert Haller, Bodmer, Vreitinger, Zimmer- 
mann, Peftalozzi, Lavater, J. von Müller u. f. w. aus« 
zufaffen, weil fie in der Schweiz geboren find? 

Diefe Beſchranltheit hängt freilich bamit zufammen, 
daß Weber mit den Wörtern „Nation” und „National« 
literatur“ einen falſchen Begriff verbindet. Die Schwei- 
zer find feine Nation, fondern eine Verbindung von vier 
verfchiebenen Nationalitäten. Sind aber die Schweizer 
in ihrer Gefammtheit feine Nation, fo find es die dent» 
ſchen Schweizer, für ſich betrachtet, noch viel weniger; 
fie find ein Stamm des deutſchen Bolts, fie find Deutiche, 
wenn auch mit den übrigen deutſchen Stämmen nit 
mehr in Stanteverbindung. Sie wollen auch entſchieden 
Dentfche fein, wenn fie glei, was ihnen Teineswegs zu 
verdenken ift, unter feiner Bedingung mit bem übrigen 
Deutſchland in eine andere als eine rein diplomatifche Ber- 
bindung treten wollen, ebenfo wenig als bie franzdfifchen 
Schweizer (mit Ausnahme vielleicht einiger fanatiſchen 
Ultramontanen) ſich von Frankreich möchten annectiven 
laſſen. Die deutſchen Schweizer wollen Deutfche fein; 
dies hat unter anderm der Altlandammann Baumgartner, 
der befanntlic die Deutfchen nicht wenig haßte, zu einer 
Zeit öffentlich ausgefprochen, als gerade die Hetze gegen 
bie Flüchtlinge ihren Höhepunft erreicht Hatte. Es war 
dies im Jahre 1838 bei dem eidgenöſſiſchen Freiſchießen 
in St.-Öallen, und zwar fprad er es aus, wenn wir 
recht berichtet find, ais Entgegnung auf eine Rede des 
Prinzen Ludwig Bonaparte, jegigen Kaifers der Franzo- 
fen, der damals thurgauer Bürger und Schulrathsprä- 
fident feiner heimatlichen Dorfgemeinde war, aber and 

22 


Bi) 


170 


als folder weder den Prinzen noch den Franzoſen ber» 
gefjen Tonnte. 

Sind aber die Schweizer Feine Nation, fondern nur 
ein Theil der großen deutfchen Nation, jo kann aud von 
feiner Nationalliteratur der deutfchen Schweiz die Rede 
fein, ebenfo wenig als man von einer bairifchen oder 
toburgifchen oder ſchwäbiſchen ober frankfurter National 
literatur ſprechen fann, oder von einer eljafjifchen, ob- 
gleihh das Elſaß auch flaatlic nicht mehr zu Deutjch- 
land gehört. Wäre dad Staatöverhältnig in diefer Hin« 
fiht maßgebend, fo dürfte man feit 1866 nicht einmal 
mehr von einer deutfchen Literatur fprechen, fondern nur 
von einer norddeutfchen, öfterreihifchen, bairifchen, wür⸗ 
tembergifchen, badifchen und fürftlich Tichtenfteinifchen Na— 
tionalliteratur. Don einer ſchweizeriſchen Nationalliteratur 
zu fprechen ift ebenſo abgefchmadt, als von einer fatho- 
liſchen, proteftantifchen oder jüdischen. Ganz anders wäre 
es freilich, wenn die ſchweizeriſchen Scriftfteller, nicht 
blos die Dichter, fammt und fonders im fchweizerifchen 
Dialekt gefchrieben hätten, und höchſtens ausnahmsweiſe 
in hochdeutſcher Sprache; aber es ift befanntlicd) dies nicht 
der Fall, fondern umgekehrt find felbft die Dichtungen 
nur ausnahmsweife in der Mundart gefchrieben. So kann 
man wol von einer holländifchen Nationalliteratur reden, 
obgleich die Holländer auch ein deutjcher Volksſtamm find, 
weil alle ihre Schriften in holländiſcher Sprache abgefaßt find. 

Weber fagt zwar: 

Es ift von vornherein ſchon wahrſcheinlich, daß ein Voll, 
welches einen fo eigenthlimlichen Boden bewohnt, welches eine 
fo befondere, dur Großthaten ausgezeichnete fünfhundertjährige 
Gedichte befitt, und das politifche Inflitutionen gefchaffen Hat, 
welche heute die Aufmerlfamleit und die Bewunderung der 
Bölfer auf fid aim, auc feiner Literatur ein befonderes 
Gepräge aufgebrüct hat. 

Das wäre eben zu beweifen. Zwar fügt er hinzu: 
„Wir verfparen eine größere Abhandlung über den Cha- 
rafter fchweizerifcher Literatur im allgemeinen und bie 
poetifch -Literarifche Aufgabe der Zukunft auf den Schluß 
unſers Werks”; diefe Abhandlung ift jedoch den letzten 
Band nicht beigegeben worden; und was er noch in ber 
Borrede zur Unterftügung feiner Anſicht fagt, ift nicht 
ſtichhaltig. Daß die Dichter die Großthaten der Vor⸗ 
fahren bejungen, daß fie aud die Natur in den Bereich 
ihrer Poefie gezogen haben, das gibt ihnen noch Lange 
nicht ein bejonderes Gepräge, einen eigenthümlichen Cha- 
ralter, was fchon deshalb nicht möglich ift, weil fich bei 
den meiften nachweifen läßt, daß fie Goethe, Schiller, 
Platen, Rüdert, Uhland, Heine u. f. w. ftudirt und, wenn 
auch zum Theil felbftändig und ſchöpferiſch, doch im 
Sinne diefer Vorbilder gedacht und gedichtet haben. 

Wir find keineswegs gefonnen, den Herausgeber bes 
vorliegenden Werks zu tadeln, daß er es unternommen 
und durchgeführt, vielmehr Halten wir es für durchaus 
verdienftlich, nur durfte er nicht die ſchweizeriſche Literatur 
der dentfchen entgegenfegen und dadurch zu faljchen Be⸗ 
griffen verleiten. 

Was die Ausführung betrifft, fo glauben wir, daß 
er füglih manchen Didjterling Hätte übergehen können 
und follen, manchem einen Fleinern, andern einen größern 
Raum widmen dürfen, daß er — und dies ift wol das 
Tadelnswerthefte — manchen hätte aufnehmen follen, den 


Poeſie und Gefhichte ver Schweiz. 


er Übergangen Hat. Wir haben hier nicht blos die ge» 
borenen Deutfchen im Auge, von denen fchon die Rebe 
gewefen ift, fondern geborene Schweizer. So hätte er 
wol von der blinden Luife Egloff ausführlicher fprechen, 
dem begabten Joſeph Victor Widmann einen größern 
Kaum widmen und biographifche Notizen von bemfelben 
geben follen, da dieſer e8 weit mehr wert war als 
aan andere, von denen er ausführliche Mittheilungen 
macht. 

Die Auswahl der Dichtungen iſt im gauzen ver⸗ 
ſtändig; manchmal hätten wir gewünfcht, daß der Her⸗ 
ausgeber ftatt dieſes oder jenes Gedichts ein anderes ge= 
wählt hätte; allein e8 wäre unbillig, darüber mit ihm zu 
rechten, da wir dod) nur unfere individuelle Anficht der 
feinen entgegenfegen können, und er wol Gründe für bie 
jeinige hat, wie wir für die unferige. 

Ein wefentlicher Mangel des Buchs ift, daß c8 am 
Schluß fein allgemeines Namensverzeihniß hat und daß 
die DVerzeichniffe der einzelnen Bünde nicht alphabetifch 
geordnet find, mwodurd) das Nachſuchen bedeutend er⸗ 
jhwert wird. Sollte da8 Werk eine zweite Auflage er⸗ 
leben, was wir dem fleißigen Herausgeber wünſchen, fo 
möge er diefem Mangel wie auch die andern, die wir 
oben berührt haben, abhelfen. 


Die Schweizer haben von jeher viel fiir die Gefchichte 
ihres Landes geihan. Ihre alten Chroniken aus dem 
15. und 16. Jahrhundert gehören zu den beften, welche 
die beutfche Literatur aufzumeifen hat. Die Hiftorifchen 
Arbeiten aus dem 17. Jahrhundert ftehen weit tiefer, auch 
im 18. Jahrhundert wurde bis auf Johannes don Müller 
wenig Bebentendes geleiftet; in der neuern Zeit dagegen 
bat die Schweiz eine Menge von trefflichen Gejchichts- 
werfen aufzumeifen, die fich freilich meift mehr durch 
gründliche Forſchung auszeichnen als durch Fünftlerifche 
Darftellung. Doc auch nad) diefer Seite find bedeutende 
Arbeiten erfchienen, unter welchen wir zunächſt die Fort⸗ 
fetger der Gefchichte der Eidgenoffenfchaft von Johannes 
von Müller nennen, Glutz⸗Blozheim, Hottinger und vor 
allen Monnard, der zwar nicht jene Fortſetzung, aber 
wol andere hiftorifche Werke in deutfcher Sprache ge» 
ichrieben hat. Zu den neuern Erfcheinungen gehören die 
zwei Werfe, deren Titel wir oben mitgetheilt Haben. Das 
erfte: „Delvetia” von Geilfus (Nr. 2), ift vorzüglich 
für die reifere Jugend beftimmt, und diefem Zweck ent« 
fpriht e8 auch volllommen. Die „Helvetia iſt nämlich 
nicht eine fortlaufende Geſchichte der ſchweizeriſchen Eid⸗ 
genoffenfchaft, fondern der Verfaſſer gibt in ihr eine Reihe 
von einzelnen, in fi) abgefchloffenen Bildern, welche die 
wichtigften Begebenheiten darftellen oder auch culturkifto- 
rifches Intereffe gewähren. Verdienſtlich find namentlich 
die Biographien der bedeutendften Männer, wobei ſich ber 
Verfaſſer nicht auf diejenigen befchränfte, welche auf das 
Staatsleben oder die firchlichen Zuftände Einfluß hatten, 
er hat auch diejenigen in den Bereich feiner Darftellung 
gezogen, welche als Schriftfteller hervorragen. Wir find 
ganz damit einverftanden, daß er den großen Konrad von 
Gesner, Abreht von Haller, 9. J. Rouſſeau und 
Peſtalozzi behandelt Hat; aber daß er den trefflichen 
Hfelin, den brugger Zimmermann, Johannes von Miller 





Boefie und Geſchichte ber Schweiz. . IT 


u. 0. m. nidjt genannt hat, Mnnen wir nicht billigen, 
um fo weniger, als gerade Biographien bedeutender DMän- 
ner die jchönfte Anregung für die Jugend find. Das 
gegem ift mit Lob zu erwähnen, daß der Berfafler auch 
die Hiftorifche Sage berüdfictigt hat, und er Hätte viele 
leicht mad) diefer Seite noch mehr geben können. 

Wenngleich das Buch vorzugsmeife für die Jugend 
beftimmt ijt, fo kann es doch auch Altern und gereiftern 
Berfonen empfohlen werden. Die Gedichte eines Heinen 
Bolis, das fid) durch feinen Muth und feinen praftifchen 
Sinn die Selbftändigkeit erringt und jahrhundertelang 
unter den ſchwierigſten Verhältniſſen ficert, das felbit 
ans den gewaltigften innern Stürmen neu gefräftigt her- 
vorgeht, das endlich auch im Innern die politifche und 
bürgerliche Freigeit zu erringen weiß, ift lehrreicher als 
die Gefchichte großer Staaten, in denen das herrſchende 
Geflecht alle, das Volk wenig ober nichts iſt. Der 
befannte Tourift und Reifebefhreiber Kohl fpöttelt in 
feiner „Reife durch die Schweiz”, daß I. Zellweger die 
Gedichte feines Kantons Appenzell in acht diden Bän- 
den bejchrieben habe. Hätte Kohl dieſes Werk gelefen 
veffen fünf letzte Bände nur aus Urkunden beftehen), fo 
würde er wol feinen Spott unterbrüdt haben, denn er wälrbe 
gejehen Haben, daß das Kleine appenzellif—he Bolt eben eine 
große, eine bedentungsvolle Gefchichte Hat, die durch Fülle 
und Mannicjfaltigkeit der Begebenheiten, durch Tücjtig« 
feit und felbft Großartigfeit der auftretenden Perſönlich- 
feiten das höchſte Intereſſe gewährt. Und nicht blos 
Appenzell, fondern jeber einzelne Canton Hat feine eigene, 
unabhängige Geſchichte, wenn auch feit der Stiftung des 
exften Bundes eine Verbindung zwifchen den einzelnen 
Ländern beftand. Und eben deshalb, weil jeder Canton 
feine eigene Gedichte hat, ift es ebenfo verehrt als 
Hoffentlich fruchtlos, die Eidgenoſſenſchaft vollſtändig zu 
centralifiren. Wir wollen hoffen, daß biefer Gedanke, 
der vorzüglich in den Köpfen der jüngern Generation 
fpuft und den ihr ihre deutjchen Lehrer auf deutſchen oder 
ſchweizeriſchen Hochſchulen eingeflößt Haben, an dem ge⸗ 
funden Sinn des Volls ſcheitern wird, das ſich freilich 
ſchon öfters hat verleiten laſſen, in die Ideen einzugehen, 
welche deutſche Philofoppen und Politiker Hinter ihrem 
Dfen ausgefonnen haben, und bie ihre ſchweizeriſchen 
Schüler unter ihrem Volle zu verbreiten fuchten. Wenn 
wir oben gejagt Haben, daß die deutſche Einwanderung 
von günftigem Einfluß auf wiſſenſchaftliche und poetische 
Bildung der Schweizer geweſen ijt, fo müflen wir dar 
gegen auf das emtfchichenfte behaupten, daß fle bezüglich 
der pofitifchen Entwidelung von großem Nadtheil war 
und noch if. 

Ehe wir bie „Helvetia“ verlaſſen, müſſen wir noch 
eines lobenswerthen Abſchnittes derfelben gedenken, des⸗ 
jenigen nämlich, der ale Bundesbriefe und Urkunden, 
von der erften an (1. Auguft 1291) bis zu ber legten 
(12. September 1848), im ganzen 19, mittheilt. Es 
läßt diefe Sammlung ſchon einen tiefen Blid in die Ent« 
widelung der Eidgenoffenfaft werfen; ja man kann fie 
ohne biejelbe nicht grundlich verftehen. 

Die „Geſchichte der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft“ 
von Daguei (Nr. 3) iſt eine der tüchtigften Erfcheinuns 








gen auf dem Gebiete ber Gefchichtfchreibung, und mir 
wollen auch gleich Hinzufügen, daß die deutſche, ober wie 
Hagnauer fchreibt, teutſche Ueberfegung fehr wohl gera- 
then ift; er hat den einfachen, Haren und doch gehobenen 
Stil des franzöſiſchen Originals mit Glück wiedergegeben, 
und fo find auch die von ihm herrührenden Zufäge eine 
wirfliche Bereicherung des Buchs. Bei der Beurtheilung 


“eines Geſchichtswerls find zunächft viererlei Punkte ins 


Auge zu faſſen. Man hat fih zw fragen, ob die Ber 
richte auf Duellenftudium beruhen und die Begebenheiten 
richtig aufgefaßt find; zweitens, ob die Unordnung 
des Stoffe überfihtlih und fo gehalten ift, daß das 
Weſentliche Iebendig Hervortritt, daß ſich der Zufammen- 
hang zwiſchen Urſache und Wirkung Mar zeichnet; brite 
tens, ob ber Stil und die Darflelung auch ſchon fei 
und dem Gegenftande entiprede, und enblid; vier— 
tens, ob der Berfafer bei der Behandlung von einem 
höhern Sinn geleitet worden fei, Den dritten Punkt 
haben wir bereits beantwortet, was bie zwei erften be» 
trifft, fo fann dem Werke Daguet's nur das ungetheiltefte 
Lob ertheilt werden, Ueber den vierten Punkt erflärt fi 
der Berfaffer felbft im Vorwort auf folgende Weife: 

Dos Schweizervolt nimmt freilich nur einen Heinen Raum 
auf dem Erdball ein. Allein wie ein beredter Geſchichtſchreiber 
fagt: „Kein Vaterland ift Hein.’ 

Auch Griechenland war auf der Karte der alten Welt ein Heiner 
Fleck. Gab es jemals ein reihhaltigeres und ruhmvolleres Land? 

Ohne fi) der Heimat der Leonidas, der Themiftolfes, der 
Perikles und der Sokrates gleichſtellen zu wollen, kaun deunoch 
die Schweiz id, rühmen, große Männer jeder Art erzengt und 
große Dinge vollbracht zu haben, unter welchen voraufteht, daß 
fie ihre Unabhängigkeit zu erringen und zu bewahren vermodjt 
bat, während fo viele mächtigete Freiftaaten unter das Joch 
der benachbarten Fürften fielen. ‚Wären unfere Boräftern nicht 
Männer gewefen, was würden wir fein?“ 

Wilhelm Tell und die andern Stifter des Schweizerbundes, 
unb nad) ihnen Rudolf von Erlach, Winfelried, Nikolaus von 

ie, Smingli, Konrad Gesner, Schultheiß Wengi, Albregt 

aller, umd im der zeitgenbſſiſchen Geſchichte Alois Rebing, 
Schultheiß Steiger, Johannes Müller, Peſtalozzi, Lavater, Las. 
harpe, Fellenberg, Oirard, Trogler, Binet waren ungewöhnfidhe 
Männer; fte Haben der Schweiz in Politif, Literatur, Religion, 
Geiftesbildung eine ſchöne Stelle an dem Lichte der Gejchichte 
verfhafft. Und wenn aud) die großen Perſönlichleiten unferm 
Ruhme fehlen follten, unfer Volk wäre immerhin groß genug; 
denn das Volk feibft ift es, welches bei uns die benfmürbigften 
Thaten verrichtet hat. Die Geſchichte der ſchwegeriſchen &o- 
gemofienfhaft iſt vor allem eine nationale und republifa- 
nifge, Ihre Abſchnitte beftimmen ſich weder mad) der Regie- 
zung eines Herrſchers, noch mad) ber Verwaltung eines alle 
Finke Minifterd, noch nad) der Dictatur eine fiegreichen 

elbheren. 

Drei Grundgebanfen walleten vor bei der Gründung der 
ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft: Gott, Freiheit und Adtung 
des Rechte. Cs if aud) unter dem Cinfluß biefer grohen Ge- 
danfen und gleichjam beim Fichte biefer drei Sterne dieſes mo- 
raliſchen Gefichtstreifes, daß wir die Seiten des vorliegenden 
Werts verfaßt haben. Unfere Geſchichte der ſchweizeriſchen 
Eidgenoſſenſchaft ift vor allem ein unbefangenes Bud, ohne 
vorgefaßte Abfiht, zu Gunften irgendeiner 3 oder Pariei, 
betreffend Neligion ober Politit, Herabzufegen oder zu ſchmeicheln. 
Auch wird fie niemand Anftoß geben fünnen als jenen Aus» 
ſchließlichgeſinnten, melde in ben Jahrblichern der Bergangen- 
heit nur eine Streitwaffe in den heißen Kämpfen der Gegen- 
wart, ober eine Vertheidigungsrede zu Gunften eines vorge 
faßten und mit einer blinden und unduldfamen Verehrung ger 
hegten Syſtems erbliden. 

22 * 





172 Unterhaltungsteftüre. 


Und was ber Berfaffer in dieſem Vorworte der» 
ſprochen, das bat er in ber Durchführung feines Werks 
auf das lobenswertheſte gehglten: Mäßigung und Un⸗ 
parteilichfeit hat er auch in den Stellen bewiefen, mo 
mancher anbere fi) von gerechten Zorne gegen Falſch⸗ 
beit und Heuchelei hätte hinreißen laſſen. Ebenſo wenig 
läßt er fi) von den zur Mode gewordenen Zweifeln an 
der Wahrheit der volksthünilichen Weberlieferungen ver- 
führen, und weiß ben allerdings oft blendenden Schein» 
gründen fehr verftändige und überzeugende Gegengründe 
enfgegenzufegen. Er jagt (S. 105): 


Die Bollsdihtung darf nicht mit der Fabel vermengt 
werden. Die Sage oder nationale Weberlieferung in Wort, 
Schrift ober Lied hat eine gefchichtlidhe Grundlage. Und un- 
geachtet ihres eigenthümlichen epifhen und munderhaften Tons 
drüct fie oft mit mehr Wahrheit den Geiſt einer Zeit oder 
eines Volks aus, als; die gelehrte, aus trodenen Urkunden 
berausgearbeitete Geſchichte. Das Hat die Schule der Zweifler 
wol zu fehr vergeffen, von meinem Landsmann Builliman an 
bis auf Kopp von Luzern, der heute da8 Haupt derfelben ift. 
Der erſtere behauptet, daß der angeerbte Haß der Schweizer 
gegen die Deflerreicher viele Übertriebene Erzählungen geichaffen 
babe. Allein er vergißt uns zu fagen, wie biefer Haß eines 
ganzen Bolks entftanden ſei. Niemand, glaube ich, hat dem 

indrud, welchen die Geſchichte Wilhelm Tell's auf einen un⸗ 
befangenen @eift macht, beſſer zufammengefaßt als Georg von 
Wyß in folgender Stelle eines zu Zürich gehaltenen Vortrags: 
Das Ganze ift feinem Grundgedanfen und Weſen nad) der 
wirklichen Gefchihte der Länder gemäß; in allen Einzelheiten 


.„ aber, in Zeitangaben, Ort, Namen ‚ein Gemifch wirklicher Er⸗ 


innerungen umd ergänzender Erfindung, das unfere Urkunden 
weder beflätigen können, noch in Bauſch uud Bogen als Un⸗ 
wahrheit zu bezeichnen zwingen. 


Daß ein Wilhelm Tell wirklich gelebt Hat, wird durch 


eine Sage auf merkwürdige Weife beftätigt. Gewöhnlich 
werben als erfte Stifter des eidgenöffifchen Bundes Ar- 
nold von Melchthal, Arnold Stauffacher und Walther 
Fürſt, als der dritte werden von verfchiedenen andere 
genannt; in dem belannten Urner Schauspiel heißt er 
Wilhelm Tell, und in der Vollsfage heißen die drei Be⸗ 
freier „bie drei Zellen”, von denen fie Aehnliches berichtet, 
wie die deutſche Sage vom Kaifer Barbarofja, nämlich, 
daß fie in einer Höhle fchlafen und einft, wenn es noth- 
thut, wieder erwadhen und dem Lande zu Hilfe kommen 
werden, 

Wenn aud) die Chronifen und andere Weberlieferun- 
gen, welche von Tell als dem Befreier der Schweiz fprechen, 
erft aus dem 15. Yahrhundert ftammen, alfo etwas über 
anderthalb Jahrhunderte fpäter find, als die Befreiung 
ftattgefunben hat, jo iſt e8 geradezu unmöglich, daß biefe 
Berichte, die von verfchiedenen beinahe zu gleicher Zeit 
mitgetheilt werden, von denfelben erfunden worden feien, 
was an ſich fchon deswegen nicht denkbar ift, weil fie 
jedenfall® damals ſchon Widerfprud) gefunden hätten. Sie 
berubten alfo auf Weberlieferungen, oh mündlichen oder 
Ihriftlihen, ift am Ende gleichgültig, und es können diefe 
Ueberlieferungen nicht erſt kurze Zeit vor der Abfaffugg 
jener Chroniken entftanden fein, da fie ſchon im ganzen 
Volke der Waldftädte verbreitet waren. 

Wir jchliefen unfern Bericht, indem wir das Wert 
Daguet’8 auf das wärmfte empfehlen. Wenn er e8 auch 
vornehmlich mit Rüdficht auf feine fehweizerifchen Lands⸗ 
leute fchrieb, Hat er es doch fo gehalten, daß es in Inhalt 
und Yorm auch bei dentjchen Lefern warmes Intereſſe 
erregen muß. 





Unterhaltungslektüre. 


1. Das Geheimniß des Arztes. Criminalroman von Ponſon 
du Terrail. Berlin, Medienburg. 1868. 8. 20 Ngr. 
Ein Roman, der fi) an eine geheime Geburt Mnüpft 

und Schon deshalb von einem gewiſſen Intereffe ift. Die 

Ereigniſſe, welche fi an bie heimlichen Quartale junger 

Damen, auch verheiratheter, in Privat» Entbindungs- 

anftalten fnüpfen, find ohne Ausnahme intereffant, nicht 

etwa weil fie ftetS mit „intereflanten Umftänden” verbun- 
den find, fondern weil ſtets zweckmäßige und unzwed» 
mäßige Anftrengungen erforderlich find, um das Geheimniß 
zu wahren, ja um die Penfionsgelder zufammenzubringen 
und für die Zukunft des unerlaubten Heinen Weltbürgers 
wenn auch nur einigermaßen Sorge zu tragen. Scheuf- 
fichfeiten der raffinirteften Art werden vielfach, faſt ebenfo 
offenkundig vor ben Augen der Gerichte als der unglüdlichen 
oder bemoralifirten eltern vollführt, un den Stehimwege 
beifeite zu fchaffen, und oft ift es ebenfo vergeblich al8 geführ- 

li, zu Gunſten des Lebens zu interveniren, das irgendein 

anderes Leben in feiner Sicherheit beeinträchtigen könnte. 

Aud in dem uns vorliegenden Romane wird gehörig 

intriguirt und gefürchtet und gefahndet, beſonders ift der 

Charakter des Engländers mit großer Naturtrene gezeich- 


net. Manches andere ift nicht neu, aber alles ift gut 

erzählt, und da die Erzählung ein befriedigendes Ende 

findet, fo wird fie ficher auch die Mehrzahl der Leſer 
durchaus zufriedenftellen, 

2. Bilder aus meiner Praris. Mittheilungen ans dem Tage- 
buche eines fchwediichen Arztes. Bon Anders Lunde» 
berg. Deutſch von Auguft Kretzſchmar. Drei Bände. 
Leipzig, Kollmann. 1868. 8 3 Thlr. 

Diefe Mittheilungen find unverkennbar auf das treuefte, 
wenigftens auf das ehrlichfte nad) dem trivialen Alltags» 
leben photographirt und befonders von Intereſſe, weil 
nicht jeder Lefer Arzt und nit — ſchwediſcher Arzt ift. 
Wir lernen die ganze Mifere in den Heinen ſchwediſchen 
Städten Tennen, in benen ohne die allervollfommenfte 
Refignation nun einmal nicht zu leben if. Der Ber- 
fafjer ift der Hauptheld, wenigftens knüpft der Erzähler 
die Ereigniffe, die er dem Publikum vorträgt, mit oft 
reizender Naivetät an feine Perfon, mit der man denn 
gut thut, wenn man bis zu Ende leſen will, ſich von 
vornherein zu befreunden. Die Primadonna des Buchs, 
die er ſchon im ihrer Blütezeit hätte heirathen Tünnen, 
wenn er Courage gehabt Hätte zuzugreifen, wird ihm erft, 


Feuilleton. 


nachdem fie aus einer übeln Ehe Witwe geworden ift, 
zutheil, aber das Baar ift glüdlih und die Fran tobt 
auf den legten Seiten ihren Mann, wenigftens erträgt 
fie es, daß er ihre Liebesleiden und “Freuden fo hilbſch 
auftifcht: 

Und hinter mir fleht fie, welche mein ganzes Leben mit 
einem neuen heitern Element erfüllt hat. Sie möchte gern diefe 
legten Worte ausftreihen, denn fie fteht, wie ich eben gefagt, 
Hinter mir und lieſt Über meine Schulter hiumeg, aber fie darf 
nicht, denn die Worte find wahr, umb ich Habe mir bei biefer 
Arbeit vor allen Dingen die Aufgabe geſiellt, mic fireng an 
die Wahrheit zu halten. 


Wir glauben dem Verfafler und haben demgemäß ein 
Stüd aus der Kräptoinkelei ſchwediſchen Kleinbürgerlebens 
vor und. 


3. Der Jäger von Königgräg. Hiftorifche Erzählung aus bem 


Kriege im Jahre 1866. Bon Ernſt Pitamall. Ber- 
lin, Große. 1868—69. ®r. 8. In 40 Lieferungen zu 
3 Ngr, 


. Maria Stuart. Hiſtoriſch romantifhe Geſchichte der Zeit 
und des Lebens der Königin von Schottland von E. Pi- 
tamalf. Berlin, Große. 1868—69. Gr. 8. In 80 
Lieferungen zu 4 Nor. 





Fenil 


Eungliſche Urtheile über nene Erſcheinungen der 
deutſchen Literatur. 

„Die Beröffentlichung der «Briefe von Alerander 
von Humboldt an Freiheren von Bunfen»“, jagt bie 
„Saturday Review“, „ift ein jehr willtommener Beitrag zur 
Yiteratur, jomol an fid felbft, als weil fie dazu dienen, den 
unangenehmen Eindruck zu berichtigen, welden Humboldt's 
Sriefwechfel mit Barnhagen von Enfe zurüdgelaſſen hat. Diefe 
Sammfung enthielt zwar wenig oder nichts, da8 wirklich ge- 
eignet gewejen wäre, Humboldt’s Charakter zu erniebrigen, 
wenn fie unparteliſch in ihrem gehörigen Lichte als ein Heiner, 
wenn auch widtiger Theil einer großen Maſſe von Briefen 
hätte betraditet werden Lönnen. Ihre Telbfänbige Veröffentlichung 
inbeffen Ientte die Aufınerffamfeit des Publikums auf das tabel- 
füchtige und fartaftifhe Element in Humboldt's Weſen, für 
weiches dieje Briefe als Sicyerheitsventil dienten. Man hatte 
wicht binlängli bedacht, daß Humboldt’s vielſeitiges und daher 
empfängliches Wefen unvermeidlich bis zu einem gewifjen Grade 
von jeinem cynifchen Correfpondenten beeinflußt werden mußte; 
auch hatte man nidyt gebührend anerlannt, wie viel ehrenvoller 
diefer pleenhafte Broteft gegen Misrggierung und Rüdigritt am 
Ende für ihn war, als die höfifhe Zuftimmung, derem er fonft 
mit einem Schein von Recht hätte besichtigt werden Lönnen. 
Die vorliegende Brieffammlung wird viel dazu beitragen, Herb- 
Heiten zu mildern: nicht jedod, als ob fle mit irgendetwas 
im Briefwechſel mit Barnhagen im Widerſpruch flände, fondern 
weil fie eine andere Seite des Charalters Humboldt’8 zur Schau 
Felt. Sie wird aud dazu dienen, Bunfen zu erhöhen, der 
Durchroeg als fein trauter und gejhäter Freund erfheint. Der 
Herausgeber bemerkt ſehr richtig, daß einige unvorfichtige, in 
ämer tadeljüchtigen Stimmung geſchriebene und zu Parteigmeden 
ibertriebene Aeußerungen an andern Stellen gegen den allge» 
meinen Charakter des Briefwechſels, als Gedankenanstaufch auf 
leihen Fuße zwiſchen innig verwandten Geiſtern, nicht in An« 
lag gebracht werden dürfen. Er beginnt 1816 und flieht 
856. Die zwilhen den Freunden erörterten Gegenfände find 
geifg literariich und wiffenfhaftlih, tHeils Geihäftsfagen, die 

5 zwar auf Literatur und Wiſſenſchaft beziehen, aber nur aus 
sc amtlichen Verbindung der Verfaſſer mit dem preußifchen 





173 


5. Die Iungfran von Orleans. Hiflorii romantiſche Ge⸗ 
ſchichte von &. Graf Grabomsli. Berlin, Große. 


1868— 69. Gr. 8. In 35 Lieferungen zu 4 Ngr. 


Vorftehende Unterhaltungstektiüre habe ich von ber 
Magd in der Küche wiegen laffen, und Tann beſchwören, 
daß die drei Romane ungebunben faft fünf Zollpfund ſchwer 
find. Sie find in Lieferungen erfchienen, und da „Der Jäger 
von Königgräg” 40, „Maria Stuart” 30 und „Die 
Jungfrau von Orleans” 35 Lieferungen ftark ift, fo er- 
gibt einfache Addition, daß fämmtlihe drei Romane in 
105 Lieferungen über die Schwelle der Käufer rüden. 
Die Lieferungen koſten je 3—4 Ngr., es fiedt alſo 
immerhin Geldwerth in der Collection. Die literarifhe 
Kritik Hält ſich nicht für verpflichtet, eingehend tiber diefe 
„Romane“ zu fpredien, auch werben die Berfaffer und 
Berleger das jo wenig wunſchen, wie die Redaction d. Bl. 
es geflatten könnte. Das Lefepublitum, fir das bie 
Berfaffer gefchrieben Haben, ift das gebuldigfte und uns 
gebildetfte, das Iefen gelernt Hat. Zu loben ift nichts, 
als die authentiſchen Actenftüde, die in dem „Süger von 





Königgräg" abgebrudt find und ein gut Theil der Blatt- 
feiten füllen. 


leton. 


Hofe herrühren. Die letztern find wegen der Beleuchtung des 
eigenthlimlichen Charakters des verfiorbenen Königs von Preußen 
und Sumboidt's Berhältnifjes 13 bemfelben die intereffanteften. 
Sie weiſen die Kehrjeite der Medaille zu Varnhagen's Briefe 
wechſel auf und follten in Verbindung mit ber jungſt erſchi 
nenen Biographie Bunſen's gelefen werden. Humboldt ſcheint 
fir den König trog der volffländigen Täufhung aller an feine 
Thronbefteigung ſich Inlipfenden Geffnungen bis zulegt eine aufe 
richtige Zuneigung gehegt Br haben. it einem männlidhern 
Seife und entichlofienerm Willen hätte dieſer Herrſcher leicht ber 
Augufins Deutſchlands werden können; fo aber fonnte ex es 
nit einmal bahin bringen, deſſen Mäcen zu werden. Der 
Monard) verdarb den Gönner: er if ein bemerkensmwerthes 
Beifpiel von einem Herrfcher, defien Regierung feinen Glanz ent« 
lehnt hat von der begeifterten und verfändigen Aufmunterung 
der Literatur, Kunſt und Wiffenfhaft und der Berufung ihrer 
Bertreter, einer folden Bereinigung von geiftvollen Männern, 








wie fie felten unter dem Schutze irgendeines andern Flrften 
verfammelt war. Der Briefwechſel enthält zahlreiche Cingele 
heiten bezüglich der Verpflanzung von Tied, Schelling, Core 
nelius, Rüdert und Mendelsfohn nad; Berlin, nebft einigen 
unterhaltenden Bliden auf die bei diefen Gelegenheiten in Ber 
wegung gefegten Meinlihen Intriguen. In einer Hinficht hate 
ten die Männer von Geift eine wunderbare Aehnlichkeit mit« 
einander: im ihrer einmüthigen Wbgeneigtheit nämlich, nad 
ihrer Ankunft in Berlin etwas nur einigermaßen ihres alten 
Aufes Würdiges zu leiſten. Der weniger perfönliche Theil des 
Briefwechſels mimmt durch Bunfen’s Aufenthalt als Gefandter 
in London einen fehr englifhen Anftrih am. Humboldt's 
Bemerkungen fiber engliſche Gelehrte und Literaten, und feine 
Nachfragen nad) denfelben find fehr zahlreich und bezeugen die 
Achtung, die er vor ihnen hegte. Die Anerkennungen einer Ber- 
pflichtungen gegen General Sabine find fehr herzlich; ebenfo 
groß ift fein Werger über den verflorbenen Mr. Eroffe, der eine 
unglinftige Recenfion des «Kosmos» verfaßt Haben fol. Die Er- 





ſcheinung des Acarus Crossil verfhaffte ihm eine Gelegenheit, 
ſich zu räden. Eroffe, meint er, hätte beim Anfange beginnen, 
der Beſcheidenheit der Natur nacheifern und bie Anelbımg 
feiner Prärogative als Schöpfer zunächkt anf die Hervorbringung 





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174 Feuilleton. 


von SInfuforien beſchränken follen. Ein ähnlicher, leiſe ſcherz⸗ 
hafter Ton kann, wie wir glauben, in einigen feiner Anfpie- 
Iungen auf Bunſen's äguptologiihe Theorien entdedt werden. 
Der wirkliche Reiz des Buchs indefjen liegt nicht fo fehr in 
dem, was ansgefproden ift, als vielmehr darin, daß man 
beobadhten Tann, wie ein Mann zu einer Xebenszeit, wo bie 
meiften Menichen längft aufgehört haben, fir nene Eindrücke 
empfänglich zu fein, ſich die Pflege feiner Fähigkeiten und die 
Ausdehnung feiner Kenntniffe angelegen fein läßt. Wenn wir 
zu diefem den glühenden Eifer für politifde und geiftige Frei⸗ 
beit hinzufügen, den da® Alter nicht zu löſchen, den Wohlftand 
nicht zu vermindern und Täuſchungen wicht zu entinnthigen 
vermodten, jo muß man zugeben, daß, ganz abgefehen von 
Humboldt'e befondern Leikungen, das Bild feines hohen Alters 
ſowol erfreulih als auch imponirend ſei.“ 

Ueber die neuen Bände der „Hiſtoriſchen und politiſchen 
Auffäre” von Heinrih von Treitſchke Tagt dafjelbe Blatt, 
fie feien vo anziehenden, wenn auch nicht gerade frappanten 
oder originellen Stoffe. Vom erften Aufſatze, liber den Lauf 
der franzöflfchen Gefchichte feit dem erften Kaiferreiche, heißt es: 
die Punkte, welche der Verfaſſer hauptjächlich betont, feien zwar 
bereit8 oft befprochen worden, doch verdiene die Abhandlung 
als MHarer und zufammenhängender, durd eine hohe Unpartei⸗ 
lichkeit des Tons ſich außzeichnender Ueberblid über einen großen 
Gegenftand befondere Aufmerkſamkeit. Der Effay liber die vier 
Dramatifer Leſſing, Kleiſt, Otto Ludwig und Hebbel fei, wie 
die politiſchen Aufiäge, unter denen er ſich ſeltſamerweiſe (?) 
befinde, eher verftändig als glänzend. 

Ä rner wir: 
„Adolf Ebeling's «Neue Bilder aus dem modernen Paris» 


beanſpruchen nichts weiter, als pikant der Form und dem In⸗ 
halte nach fein zu wollen, und das find fie allerdings. Der. 


Berfafier erzählt parifer Plaudereien fehr geläufig nah, und 
feine Ehnralterfligzen, gleichviel ob Titerarifch, perſönlich ober 
focial, find ſtets unterhaltend. Der ‚große Fehler des Werle, 
wie der meiften Werle diefer Art, ift ein ungebührliches 
hie eines dürftigen Stoffs zum Zwede der Bücher⸗ 
macherei.“ 

„Büchner unternimmt in feinem Buche «Die Stellung des 
Menſchen in der Natur» u. f. w., feine Nebenmenfhen in dem 
Raume von drei Tleinen Bänden ausreihend darüber zu beleh⸗ 
ven, woher fie fommen, wo fie jet find und wohin fie gehen. 
Der Umfang des Buchs ift im umpgelehrten Berhältnif fein 
unrichtiges Maß für die Anmaßung und Oberflächlichleit des 
Berfaffere. Wer etwa wirkliche Aufflärung von ihm erwartet 
bat, muß ſich enttäufcht fühlen, wenn er findet, daß die erſte fo 
prunkhaft auf dem Zitelblatt geftellte Frage mit einer Com⸗ 
pilation von bauptfählih den Werfen Lyell's und Hurley's 
entlehnten Einzelheiten, das Alter der Menfchheit betreffend, 
für hinlänglich beantwortet gehalten wird. Indeſſen, fehlt es 
Büchner auch gämfih an Selbfländigfeit, fo verdient er doch 
das Lob eines geſchickten Compilators: feine Anorönung iſt vor⸗ 
trefflih und fein Stil frifh und klar.“ 

Nach einer lobenden Erwähnung des „Dante Alighieri‘' 
von R. K. Hugo Delff, fährt die „Saturday Review’ aljo fort: 
„Jeder Menſch, jagt man, wird entweder als Blatonift oder 
als Ariftoteliler geboren. Wir haben foeben geſehen, daß Dante, 
einem geiftreihden Erklärer zufolge, der erfiern Klafle ange- 
hörte ; wir erfahren von Karpf (aus deſſen „Td ti nv elvau; 
die Idee Shafjpeare’8” u. |. w.), daß Shalipeare der letztern 
beizuzäblen ſei.“ Er wolle das befonders aus Hamlet und ben 
Sonetten erhärten. Es fei indeffen unmöglich, dies durch der 
großen Mehrheit verftändliche Beweiſe feftzuftellen, und daß 
bei dent Diangel derjelben gebrauchte Raifonnement jei zu dimkel, 
um leicht verfolgt oder wiedergegeben werden zu können. Dieje 
Duntelbeit könne jedoch weder des Verfaſſers Fleiß noch die Liebe 
zu feinem Gegenftande verbergen. 

„Baul Heyſe's a@efammelte Novellen in Verfen» bilden 
eiien Uebergang von der Novelle zur Poeſie. Sie beſitzen alle 
großes Berdienſt, was die Form betrifft; in jeder anderu Hin- 
fiht aber halten fie den Bergleich mit feinen Profadichtungen 
nicht ans, Diefe find nicht nur künftleriiche Meiſterwerke, ſon⸗ 


dern haben auch den Schein con amore geſchrieben zu fein. 
Hier erfcheint der Dichter als ein gefchmadvoller Tändler, und 
das fortwährende Spielen mit feinem Thema läßt einen Man- 
gel an Theilnahme feinerfeitß vermuthen, den der Lefer Leicht 
anftedend finden dürfte Mühſame Zändelei ift eine ſehr 
ſchwerfällige Sache.“ 

Ueber Novalis' Gedichte, von W. Beyſchlag heransge- 
geben, fagt das Blatt: „Nopalis if ein Geift von ber echten 
Art; feine Dichtung iſt zu deutlich der Ausbrud innigen Ge⸗ 
fühle, als daß fie durch Veränderungen des Geſchmacks oder der 
Meinung veralten Lönnte. Die Ernften und Begeifterten wer⸗ 
ben fich ſtets an ihm erfreuen. Witibald Beyſchlag hat durch 
Zufammenftelung der in Novalis’ gefammelten Werfen zer- 
freuten Stüde und Boranfdhidung einer geiftvollen Biographie 
und Beurtbeilung einen wirklichen Dienft geleiftet. Man könnte 
einwenden, daß er Novalis zu ausfchließlich von der techniſch 
religidjen Seite feines Genius betrachtet habe; allein ein Kri« 
titer kann faum deshalb getabelt werden, daß er hauptſächlich 
jene Charalterzlige feines Autors hervorhebt, die am meiſten 
wit feinen eigenen lbereinflimmen. Hätte er die Abſicht ge- 
habt, Novalis genauer als Proſaiker zu betrachten, fo bätte fein 
Urtheil allerdings weſentlich mobdificirt werden müſſen.“ 

Adolf Wilhelmi’s „Dmitri Iwanowitſch“ wird eine 
matte Leiftung genannt, welche das Verzeichniß der mislun⸗ 
genen Berfuhe, Schillers Fragment zu ergänzen, um einen 
dermehre. 

Ueber „Die Gräfin” von Krufe fagt er: „Ihre außer⸗ 
ordentliche Länge ebenfo wie die Verlegung der Handlung nad; 
einer fo obfeuren Gegend wie Öftfriesfand (?) und einer fo 
dunkeln Zeit wie da® Ende des 15. Jahrhunderts, läßt fie 


wol ungeeignet zur Darſtellung eriheinen. (Der Gegenbeweis 


ift bereits geführt worden.) Sie iſt indefjen gut gefchrieben, 
gut angelegt und im ganzen eine verbienftliche Leiftung.“ 

A. Laun's Urbertragung der Gedichte von R. Burns (bie 
wir nächſtens ausführlicher beiprechen werden) wird als vor- 
trefflich gerihmt, jowol was die Wiedergabe der Melodie als 
aud) des Sinne des Originals betrifft. „ine glättere Ueber- 
jeßung oder eine, die fo gänzlich frei vom Unbeholfenheit wäre, 
ift felten zu finden‘‘, fügt der Recenſent Hinz. 

„Unfere Zeit", beißt es zum Schluß, „behauptet ihren 
hohen Ruf, Towol die Mannichfaltigleit als auch die Genauig⸗ 
feit ihrer Belehrung über Gegenflände zeitgenöſſiſchen Intereſſes 
anlangend ... Unter aubern Artileln von befonderm Intereſſe 
mögen die fiber George Elliot, Demetrius den Betrüger als 
dramatisches Sujet, die Philofophien Hartmann’s und Schopen- 
hauer's, das große Nordlicht des vergangenen April und ben 
Byron-Stowe-Streit genannt werden.” 


Zu Hartmann’s von Aue „Gregorius". 

Wie zweckentſprechend ſich die mit Erklärungen verfehenen 
Ausgaben unſerer alten Dichtungen erweiſen, davon können 
wir uns täglich mehr überzeugen. Ueber die Art und Weiſe 
dieſer Erklärungen werben natürlich die Meinungen immer ge 
theilt fein. Daß aber überhaupt die alten Werke nicht kahl und 
dürr mehr Hinausgefandt werden, daß ein Anfang gemadt 
wurbe, auch fiber den engern Kreis der Fachleute hinaus für 
das Berſtändniß der einfligen Dichterſprache zu forgen und fo 
biefe GSeiftesblüten für unſere neue Welt wieder zu erſchließen 
und duftig zu maden, das ift und bleibt doch das hohe Ber- 
dienft Kranz Pfeiffer's. Jetzt erfennt man erft, wie ſchwer es 
it, Altdeutſches zu erklären. Entgegengeſetzte Anfichten über 
einzelne Stellen werden num nicht mehr blo8 in der Stille ge 
hegt oder vom Katbeder herab verkündigt, fondern fie drängen 
ſich and an die Deffentlichkeit, nnd indem fie laut werden, 
beifen fie mit zu immer tieferm Verſtündniß des Altern Deut- 
fen. Die anregende Kraft der Bfeiffer’fchen Claſſikerſamm⸗ 
lung, die doch zunäcft bie Laien im Auge haben fol, bewährt 
fi) nun auch inmitten des gelehrten Bade Um aus verfchie⸗ 
denen Wahrnehmungen dieſer Art nur eine herauszuheben, fo 
wollen wir erinnern an einige Arbeiten, welche fidh mit der 
Erklärung von Hartmann’ von Ane „Gregorius“ befaflen, 


Feuilleton. 


Lachmaun gab feine trefflihe Ausgabe ohne alle Zuthat, fie 
lieferte blog den Tert. Später ließ er den Variantenapparat 
folgen. Die Wörterbliher allein wurden auf die Erklärung 
der Stellen geführt. Nachdem Fedor Bed den „Oregor' zum 
andernmal edirt (im zweiten Theil der Werke Hartmann’s, dem 
fünften Bande der Pfeifferihen Sammlung der „Deuticen 
Glaffiter des Mittelafterg", Leipzig, Vrodhaus, 1867) und in 
diefer Ausgabe das fchöne Gedicht jorgfäftig zu erflären der⸗ 
juht hatte, da wurde bald danad) der Tebhafte Widerſpruch 
Iaut ſowol gegen Lachmaun wie gegen ben zmeiten Herans- 
geber. Albert Höfer befehreibt in Pfeiffer’ (Bartic'e) „Gere 
mania“ im Iegterjhienenen Hefte (vierzehnter Jahrgang, 1869) 
eine Stelle im „Gregor“ und knüpft daran noch weitere Beer» 
tungen zu dieſem Gedidt. Er uenut Bech's neue Ausgabe nach 
Lahmann’s unvergleichlichet Arbeit die einzig nennenswerthe 
teiftung für diefe Dichtung und ihm ſelbſt einen ausgezeichneten 
Kenner des Mireibodpeutlen. Über wie freudig er feine Aus. 
gabe aud) als cine vielfach Tehrreiche, fördernde Arbeit anerfenne, 
jo finde er dennod eine Menge Stelen, in denen er feinem 
Tert und bejomders feine Erklärung night gutheißen möchte. 
Er gibt dagegen zu einzelnen Stellen ferne Auffafjungen zu 
weiterer Erwägung ohne Anſpruch auf Unfehlbarkeit. Höfer's 
Bemerkungen find alle wohlerwogen, manche beſſern entſchie - 
den, andere werden ohne Zuftimmung bleiben. Jedenfalls ge- 
ben fie zu weiterer Peifung Anlaß und werden bei einer zwei» 
ten Auflage der Ausgabe Bed's, die wir von Herzen wünfden, 
gewiß Berlidfihtigung finden, Auch Karl Bartſch gibt in dem⸗ 
jelben Hefte der „Germania Bemerkungen zu Bech's Gregor- 
Ausgabe. Sind diefe zumeift Fritifher Natur , fo berüßren fie 
mitunter aud) die Erffärung in fördernder Beife. 


Bibliographie. 
2 ei htfgreißer Tpiers, R 
rate Kl nase an Werfen 


er, — nnerangen und Misceilen aus dem 
eldäuge. Wil en Bohn. Gr. & 














echtin 
äbessinischen 


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des ie Berlin, 













BR 





une 
aan Reise-Erianerungen aus dem Herbst 1868, Hannover, Hahn, Gr. 8. 


Do in ge eilge Br, ms ben Handeld« Vertrag mit 
——— Ruge Cr: 
ART iR C 


Eisstn, a Au ® Nr ee 

Beinersdorf Gr. 8 

Yo lmann, Br asia Otuart, Cine $ bonfarhigeaphilge Ort. 
Bortan., bietet, Sail u. Sorabls 

‚tstehung des Kantons St, Gallen, 


Venuntersüchung Bar- 


Herausgegeben vom histori- 





schen Verein In Be En, ei * — — 
Ebeling, 3 @., Fri nd © ft. Bein 

„ Ba 5 — Bieten. ıRer 
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8* RE m Berfaffer des Romance 
et I, und Die Muder in "Bien. Res Di dies Def Men, 
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Glokan, Bir Aka iadls Festredo zur Feier des handertjährigen 
Geburtstages Alezander’s v. Humboldt am 14. September 1869 gehalten, 
Frankfurt a. M., Auffarth. 1869. 8. 10 Ngr, 

Graeger, Ne» Sonnenschein und Regen und ihre Einfüsse auf die 
ganze Schöpfung, "Eine populäre Witterangskunde für Nichtmeteorol 

‚n. Mit einem Vorwort von H. W. Dove. Weimar, B.F. Volgt, Gr. 
1 Thlr. 9 Nar, 
3. —V ge 












16 Rgr. 
tovellen und 


% nen, he Stuttgart, 
3 8. 74 

nBemaer In en Slot. ae —— Zergeuznaen aut do- 

a ad" Koman ans den Sahren 16 

1550. WBte, Serlin, ©. Deder- 8. 3 Ahr» 








175 


Tragöbie. Hamburg, Hoffmann u. Campe. 
nyj, Mrinngrungen an Corfa in Sommer 1869. Wien, 
Caermak. Gr. 8. ı TH 
un —8 Kabine, alle ce Reupefaltung und politifge Debeu- 
—* Seine, 5.8. Nat ven Kioferfarne. Sie, Mayer u. Comp, 
— 
neiOE, ©, Sin Reißerhüs Sejfnge aber Gragen um, Anmer- 
enge au Ninne von —— —A Br. 
Germann, Kuiit Neion iger Mfronsimte. Refse, Eifer, Or 
3 Au Die Veroneser Vergischolleu. Donaneschlagen. 
offmann, &,, Blids in die feüßehe Gefdinte des gelobten Landen, 
LTE Fa früpefte Geſchich # andet 
— "pie eieintschen Vagantenfieder des Mittelalters. 
Das Ziel der "Arbeiterbewegung. Rebe. Berlin, Cohn. 
0, Ueber die aiederdoulschen Elemente in- unser 


Berlin, Calvary u. Comj 
a. Der gi ja dankt, Sins hiung aus 
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in hen Meere m Jahre 1866. Wien, Ge- 
1869. Lex, 
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EB DR BG der Gtabt des Goncit#. Bilder ofne Heifigenfgei 
— once, igenfeein. 
Beil, Kar tann m. Comp. 16. 1 — 


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Gangmann u. Camp. Be 

4. ARE bh. Nofted, Etilier. Cr. 8. 
m ee Katharina, Wahrheit und Ditung. Rovelle- 
ng — a mine Sarranıe, ae von Toledo (geb. 
— Aſhatvhe Moman. 2 Dbe. vapas, 
.n üeber'den päpfligen Hof. Verlis, Gälamig. Cr. %. 
aetis, ©. Mifenfgaft Oeigion um Birke, Sin Batum über 
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Stevore, G. , Biodlon sur Genchlckte der mischen Kalter, Aus 
dem Nachlasse, er Väters herausgegeben von G. Gievra, Bazlin, Weid- 
©. 8. ®. Gerigte and Grgähtungen. 2er Dd. uhes Heft, 


Dis aan hiederdeutsche Bprichwärtersamehung von 
A. Tunnleius gesammelt und in lateinische Verse übersetzt. Heraus. 
gegeben mit hochdentsche orsetzung, Anmerkungen und Wörterbuch 
von Thlr. 


wort 9. Du, Ba de8 Oyrm v. Dismert, 
iebenti 




















yad ihre, philosophischen Gegner 
dargestellt und beurtheilt. heipsig, Dürrsche Bach. 3, 13 Ngr. 





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Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur 
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von den angejehenften Schriftftellern der Gegenwart heraus⸗ 
gegeben mit Einleitungen und Anmerkungen. 
Unter Mitwirkung von 
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Stengel, Gervinus, Gordehe, Goltſchall, Heiner, Möhler, 
Hermann Kurz, Mar Milller, Moriß Müller, Oeflerlep, 
Pfeiffer, Rücert, Inlian Schmidt, Carl Schwarz, Tittmann, 
Zöllner und Andern. 


Soeben erſchien der 28. Band: 


Mofes Mendelsſohn's Phädon und Yerufalem Mit 
Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von 


Arnold Bodek. 


Die frühern Bände (1—27) enthalten: 
Schleiermacher's Reden über bie Religion, von Carl Schwarz; 
Klopftock's Oden, von Dünger; 

Mufänd' Volksmärchen, von Moritz Miller (Doppelband); 

Kortum's Sobfiade, von Ebeling (Doppelband) ; 

Eruſt Schulze's Bezauberte Rofe, Poetiſches Tagebuch, von 
Tittmann; 

Leſſtug's Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan, von 
Hettner; 

Wieland's Oberon, von Köhler; 

Maler Müller's Dichtungen, von Hettner (zwei Theile); 

Kürner’d Leier und Schwert, Zriny, Rofamunde, von 
Gottſchall; 

Forſterns Anſichten vom Niederrhein, von Buchner (zwei Theile); 
erderis Eid, von Julian Schmidt und Karoline 
Michaklis; 

Senme's Spaziergang nach Syrakus, von Oeſterley; 

Wilhelm Müller's Gedichte von Mar Müller (zwei Theile); 

Goethes Fauſt, von Carriere (zwei Zheile); 

Bürger’8 Gedichte, von Tittmann (Doppelband); 

Herder'3 Ideen zur Gedichte ber Menfchheit, von Julien 
Schmidt (3 Bände); 

Voß' Luiſe, Idyllen, von Goedeke; 

Schleiermacher's Monologen, Die Weihnachtsfeier, von Carl 
Schwarz. 


Ein Band koftet geheftet nur 10 Ngr., in elegantem Leinwand⸗ 
band 15 Ngr.; Doppelbände geheftet 20 Ngr., gebunden 1 Thlr. 

Jeder Band ift auch einzeln zu haben und die Känfer find 
nicht zur Abnahme der Übrigen Bände verpflichtet. 


Die erfhienenen 28 Bände find nebit einem Proſpect 
über die Sammlung in allen Buchhandlungen vorräthig. 











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KUNSTEPOCHEN 


nach den Originalen in ihren eigenthümlichen Farben 
dargestellt von Wilhelm Zahn, Königl, Preuss. Professor, 
Ritter des rothen Adlerordens etc. etc. Dritte Auflage. 1870. 
100 in Farben gedruckte Blätter in Quer-Folio nebst 

Text in deutscher und französischer Sprache. 

Erscheint in 20 Heften a 5 Tafeln mit Text. — 
Subscriptionspreis a Heft 1 Thir. 24 Sgr., Pracht- 
ausgabe 2 Talr. 

Erschienen ist: Heft 1, 2, 17 und 20. — 
Monatlich werden 2 Hefte ausgegeben, im 
October d. J. ist das Werk vollständig. 

Ein ausführlicher Prospeet mit ge- 
nauem Inhaltsverzeichniss ist in jeder Buch- 
handlung gratis zu haben. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 


RIG-VEDA-PRATISAKHYA, 
das älteste Lehrbuch der Vedischen Phonetik. 


Sanskrittext mit Uebersetzung und Anmerkungen 
herausgegeben von 


Max Müller. 
4. Geh. 10 Thlr. 

Max Müller’s Ausgabe des Prätisäkhya, dieser ältesten, 
für die historische Kritik des Rig- Veda bekanntlich höchst 
wichtigen Grammatik und Phonetik, ist soeben zum Ab- 
schluss gelangt und liegt, mit einer neuen kritischen Ein- 
leitung des Herausgebers versehen, in einer Separatausgabe 
vollständig vor. Das Werk wird Orientalisten und allen, 
die sich mit vergleichender Sprachforschung beschäftigen, 
sehr willkommen sein, 


Soeben erschienen und durch alle Buchhandlungen zu 
beziehen: 
Niederdeutscher Aesopus. 


Zwanzig Fabein und 


Erzählungen aus einer Wolfenbütteler Hs. des 
XV. Jahrhunderts herausgegeben von Hoffmann 
Gr. 8. Geh. Preis 18 Sgr. 


von Fallersleben. 


Tunnicius. Die älteste niederdeutsche Sprichwör- 
tersammlung, von Antonius Tunnicius gesammelt 
und in lateinische Verse übersetzt. Heraus- 
gegeben mit hochdeutscher Uebersetzung, An- 
merkungen und Wörterbuch von Hoffmann von 
Fallersleben. Gr. 8. Geh. Preis 1 Thlr. 15 Sgr. 

Verlag von Robert Oppenheim in Berlin. 


— — — —— 
Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Verlag von F. A, Srochhaus in Leipzig. 


Blätter 
literarifhe Unterbaltung. 


Herausgegeben von. Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


ee Ar, 12, 9 


17. März 1870, 





Iuhalt: Zwei neue Romane. Bon Rudolf Gottihent. — Philoſophiſche Schriften. Bon Karl Bortlage. — Militärifher 
Büdertifh. Bon Karl Suſtav von Bernet. — Feuilleton. (Der Abgeordnete Braun nnd bie Autorenrechte.) — Bibliographie. — 
Anzeigen, 





Zwei nene Romane. 


1. Im goldenen Zeitalter. Roman in vier Büdern von 
ae Ener Bier Bände. Hannover, Rümpler. 1870. 
2. Ein Arzt ber Seele. Roman von Wilhelmine von 
Hillern, geb. Bird. Bier Bände, Berlin, Janke. 1869. 

8. 2 Thlr. 20 Nor. 

Bir haben Hier zwei Romane, gewandt in ber Form, 
geiſtreich im Inhalt, vor uns, ber eine ein hiftorifcher, 
der andere ein focialer Roman, beide dazı geeignet, das 
Weſen der Gattungen, die fie vertreten, in klares Licht 
zu jegen. 

Karl Frenzel ift ein feinfinniger Geift, wie feine 
Kritifen und Efjays beweifen, und dieſer feinfinnige Geift 
fpiegelt ſich auch in feinen Romanfchilderungen, in ber 
Anmuth der darftellenden Form, in der Imnerlichleit der 
Charaktere, in der Fülle und Tiefe der Beziehungen. 
Der hiſtoriſche Roman getvinnt unter feinen Händen eine 
eigenthümliche Geftalt. 

Wir haben vor kurzem Rodenberg's Nomen „Yon 
Gottes Gnaden“ beſprochen, einen Roman, der in allem 
Weſentlichen der Schule Walter Scott's angehört, reich 
an Leben und Bewegung, an farbenveichen gefchichtlichen 
Zableaur, einen Roman, ber feine Cirfel anfegt im 
Mittelpunkt der englifhen Revolutionsgeſchichte und for 
dann die Peripherie beſchreibt. Die Thatſachen felbft 
treten mit Ienchtenden Zügen in den Vordergrund, unbe» 
ſchadet der bichterifchen Erfindung, welche die Spannung 
an freigejchaffene Geftalten Inüpft. 

Die Mufe Frenzel's und der Stoff, den fie gewählt 
hat, find von anderer Art. Das geſchichtliche Tableau 
ift nit die Domäne des Dichters, er fchildert keine 
Schlachtbilder, Teine Parlamentsfcenen, Teine Hof» und 
Staatsactionen; es ift bie geiftige Signatur des Zeitalters, 
die er mit feinen Zügen und Arabesten ausarbeitet, ohne 
daß jeine Muſe in eine todte Schildermalerei verfällt. 
Große Männer des Zeitalters, wie Kaifer Iofeph, treten 
in dem Roman auf; aber nicht ihre Thätigfeit als Stants- 

1870, 12, 


männer, ihre Gedankenwelt wird von ber Tadel ber 
Dichtung beleuchtet. 

Das goldene Zeitalter — es ift das Zeitalter ber 
Träume, der Ideale, der Weltverbefferung! Fürſten, 
Ariſtokraten, Denker und Prediger, Bürger und Mädchen 
fühlen ſich angeweht wie von einem Frühlingshaud der 
Zukunft — und noch denkt man fi den Frühling und 
den Frieden zufammen. Nur der vifionaire Bicomte 
ahnt, daß jener unter Gewitterftürmen über die Menſch-⸗ 
beit hereinbrechen wird. 

Der Borzug des Romans befteht in biefem Hauch ber 
Stimmung, der ebenfo einheitlih wie anmuthend und 
bebeutfam über dem Ganzen ſchwebt. Wir fühlen dies 
ahnungsvolle Weben der Geifter noch, obſchon wir langſt 
bie Enttäufhungen der Geſchichte durdhgefoftet und er« 
fahren Haben, daß dieſem Traume bes goldenen Zeitalter 
ein eifernes gefolgt ift, und daß das goldene nad) wie vor 
nur in den Träumen edler Geifter Iebt. 

Um dieſe Einheit der Stimmung aufrecht zu erhalten, 
darf fein gewaltfames Ereigniß der hiſtoriſchen Chronik 
in den Rahmen des Romans treten, obwol bie Ver« 
widelungen in ben focialen Berhältniffen der einzelnen 
Perſonlichleiten hier und dort zu gewaltfamen Kataſtrophen 
führen. Doch die Eonflicte der Hauptperfonen finden 
eine friebliche Töfung, wenn and) der Roman am Schluß 
noch manchen Wechfel auf die Zukunft ausftellen muß, 
über deffen Verbleiben und Accept wir nur Vermuthun- 
gen hegen können. Im der That erinnert diefer Roman 
an eine Gedankenſymphonie, in welder ſich alles dem 
Grundton entſprechend auflöft. 

Der geſchichtliche Held bes Romans iſt Kaiſer Joſeph, 
fein Ideaiheld Graf Erbach. Beide Männer find eng 
miteinander befreundet; es find die Vorfämpfer des gol« 
denen Zeitalters in der wiener Burg und auf bem böh⸗ 
miſchen Schloffe. Man mag ber Idenlwelt des Fürften 
und bes Adelichen die ungewiß verbämmernden Umriffe zum 


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Borwurf machen; dennoch treten hinlänglich marlirt einige 
geiftige Axiome bderfelben hervor: der Kampf gegen geiſt⸗ 
lihe Unduldſamkeit, das Evangelium der Menſchen⸗ 
rechte, welche keiner Kafte das Vorrecht laſſen, die andere 
unglüdtih zu machen. Was aber die Freiheit des Her- 
zens betrifft, die wol auch zu dem goldenen „Credo“ 
gehört, fo bleiben die Verhältniffe, in denen fie ſich ſpie⸗ 
elt, am meiften ungelöft, und die Rückkehr zum Beſte⸗ 
enden, welches durch Misverftändnifie erfchüttert wurde, 
ftegt über die freiere Neigung, welche neue und lodenbe 
Ziele gefunden bat. Hier treffen wir auch diejenigen 
Stellen bes Romans, hinter welche man einige Fragezeichen 
fegen möchte. Die fehöne Gräfin Corona von Thurm 
vertritt in ben Roman die „Freigeiſterei der Leidenſchaft“ — 
fie entflieht dem väterlichen Schloffe mit einem Sänger 
Roſſi; dann bietet ihr der Graf Erbach, der von feiner 
Frau getrennt lebt, ein Afyl auf feiner Befigung; es 
entwickelt ſich eine zarte Neigung zwilchen beiden, welche 
fi) durch den ganzen Roman Binzieht, aber fiir Corona, 
die in Paris durch ihren Gefang Enthuflasnus erregt 
bat und fih am Schluß ganz der Künftlerlaufbahn wid» 
met, ohne Erfolg bleibt, da der Graf fi) mit feiner 
Gattin wieder ausfühnt. 

Offenbar gehört Corona Thurm zu den problemati- 
[hen Naturen; aber der Dichter lüftet doch zu flüchtig 
und aud zu fpäüt den Schleier ihres Innern. Kaum 
auf dem Schloß des Grafen angelommen, ift ihre Nei⸗ 
gung zu dem Sänger, mit dem zuſammen fie in die Welt 
binauswollte, fo gut wie erlofchen; kaum ein leiſes 
Nachzittern jener Empfindungen, bie doch furz vorher fo 
mädtig waren, daß fie einen kühnen Entſchluß bervor- 
riefen. Die Lefer aber felber find durch eine etwas 
gewaltthätige Expofition, durch Entführung und Degen- 
flirten, in jene antheilvolle Stimmung verſetzt, deren 
bochgehende Wellen fich nicht fo Leicht wieder beruhigen 
laffen. Corona’8 Herz erfüllt auf einmal ein anderes 
Bild, das des Grafen Erbach; das Bild des Sängers ift 
wie ausgelöfcht in ihrem Herzen, in dem Roman felbft, 
fein ſpäteres Auftauchen nur ein epijodifches, und erft in 
legten Bande, nach dem Wieberfehen mit Roſſi, gibt der 
Autor einige nachträgliche Aufklärungen. 

Diefer Mann — nein, fie hatte ihn nie geliebt. Seine 
Erzählungen von dem freien Leben eines Künſtlers hatten ihre 
findifhe Phantaſie entzündet, in ihr ödes Dafein auf dem 
Schloß der Großmutter fiel von einer geheimnißvollen, unbe- 
fannten Welt, der Bühne, ein magifher Schein. Blindlings 
war fie diefen Schimmer gefolgt. Tagelang, wodenlang hatte 
Antonio mit feiner Einwilligung in ihren Plan gezögert 
und ihr das tollfühne Beginnen auszureden verfucht, endlich 
trieb ihn ihre Leidenjchaft vorwärts, aud) er wurde von dem 
Schwindel halb der Liebe, halb des Ehrgeizes ergriffen, der fie 
bewegte. Wo waren dieſe Zeiten ber Thorheit und der Hoff« 
nung! Wo fie zufammen Luftſchlöſſer gebaut und überall vor 
ſich Lorbern und Rofen fahben! Dem kurzen Rauſch war die 
Ernüdterung nur zu bald gefolgt. 

Selbſt in diefen verfpäteten Enthüllungen wird man 
die ſchärfere chronologifche Beftimmung vermiffen. Wann 
folgte die Erniichterung auf den furzen Kauf)? Wann 
drängte das Bild des Grafen Erbach die Neigung zu dem 
Fünftler in den Hintergrimdb? 

Dieſe verduftende Zeichnung der pfychologifchen Con⸗ 
touren möchten wir auch der Neigung bes Kaifers Joſeph 


Zwei neue Romane. ® 


zu der Gräfin Renata Erbach zum Borwurf machen. 
Die geheinnigvolle Begegnung in Venedig wird zwar 
jpäter genügend aufgeklärt; aber wir möchten der Dar- 
ftelung doch auch hier einen Feder zugreifenden Ton 
wünſchen, dies Yeolsharfenfpiel der Empfindungen ver- 
zittert in einem zu feinen Aether, nicht blos für ben 
Geſchmack des großen Lefepublilums, fondern auch für das 
berechtigte Bedürfniß der Bhantafie, an ſchärfer ausgepräg⸗ 
ten Situationen einen Anhaltspunkt für pfychologifche 
Entwidelungen zu finden. 

Etwas anderes ift e8 mit der Liebe ber Verwalters⸗ 
tochter Hedwig zu dem Kaiſer, eine ehrgeizige Neigung, 
die manche anfcheinende Ermuthigung findet und von einem 
Jeſuiten zu nicht vollkommen Haren Zwecken benugt wird. 
Diefe Träumereien über eine unansfüllbare Kluft hinweg 
erregen unfere Sympathie, und wenn fie fi am Schluß 
in einer foliden Ehe mit einem tüdjtigen Dann beruhi- 
gen, die halb und halb auf Kabinetsbefehl gejchloffen wird, 
fo finden wir dies begreifiih und den Charakteren und 
Situationen angemeffen. 

Wenn wir auf dem ©ebiete der Herzensneigungen in 
biefem Strome den allzu ätherifhen Platonismus, eine 
zu duftige Weinfühligfeit, ein ebenfo launen- wie nebel» 
baftes Auf» und Niederwogen ber Empfindungen, ohne 
die durchfchlagenden Blige großer Leidenſchaften und ihre 
innere Nöthigung, nicht billigen können, fo werben wir 
dafür wieder durch eine Fülle höchſt lebendiger Schil⸗ 
derungen entjhädigt, welche Lebenswahrheit mit gejchicht- 
licher Treue verbinden und meiftens auch geiftig bebent- 
fame Berfpectiven eröffnen. Namentlich enthält der zweite 
Band manches Cabinetsſtück in der Rococomalerei, ein 
Gebiet, auf welchem ſich Frenzel bereits in feinem 
„Watteau“ als Meifter gezeigt hat. Marie Antoinette 
und die Dubarri, der Salon im Pavillon von Luciennes 
und das Hoffeft in Trianon, die dunkeln Erinnerungen 
der Yamilie Blanchard und des Vicomte von Rochefort 
myfteriöfe Prophezeiungen, in denen die hereinbrechende 
Revolution fi ankündigt — das alles zufammen bildet 
ein lebensvolles Gemälde, wie e8 nur ein ebenfo gefchichte« 
fundiger wie feinfinniger Autor entwerfen Tann. 

Im dritten Bande ift das Fer auf dem Schloffe des 
Grafen, der Brand, der Tod bes Sektenpredigers Mra⸗ 
fotin von lebendigem Intereſſe, der Bauernfohn Zdenlo, 
eine Yigur von fcharfer Zeichnung, in welcher fich flawifche 
Volkseigenthümlichkeit und wilde Charafteranlage vermifchen. 
Im vierten Bande ift die Wahrfagerfcene wol etwas 
zu theatralifch arrangirt; die Duellfcene dagegen padend, 
Der Bicomte, der als Rächer des verführten Bürgers 
mädchens den ſtolzen Ariftofraten, den Grafen Aremberg, im 
Duell niederftößt, erſcheint als Vorkämpfer ber Revolution, 
deren Prophet er ſtets gewefen. 

Wir jehen, es fehlt dem. Roman keineswegs an Bes 
wegung, Leben und Handlung, wenn auch die Liebe in 
bemfelben mehr Fühl und geiftig auftritt. Die Darftellung 
felbft ift von einer Feinheit und einem Abel, welche ge⸗ 
genüber dem weitverbreiteten Maculaturftil belletriftifcher: 
Schriften warme Anerkennung verdienen. Ueber den 
landſchaftlichen Bildern zittert ein ſtimmungsvoller Haud); 
der geiftige Inhalt in den Gefpräden und Beftrebungen. 
der Hauptcharaktere ift ein bebeutfamer, Es iſt ein 





Zwei neue Romane. 179 


geiftreicher Zug, daß der Luftſchiffer Blanchard mit in die 
Handlung verwebt ift — eine feine Ironie auf die geiftige 
Luftſchiffahrt, anf die Flugverfuche der damaligen Menſch⸗ 
beit, auf das hoffnungsvolle Streben ins Unermeffene. 
Die Helden des Romans find die „Ritter vom Geiſt“ 
des 18. Jahrhunderts; Kaifer Joſeph I. ift der Artus 
dieſer Tafelrunde. Ruft doch der Graf Erbach jelbft 
begeiftert aus: 

Es gibt in dieſer Zeit eine große Verſchwörung. 
Nicht um einen Tyranneu zu tödten oder einen Fürften zu 

ronen, nein, um das Reich der Wahrheit und der 
Beruunft aufzurichten; wicht von Brieftern, Schwärmern 
und — nein, von den edelſten, weiſeſten und 
tugendhafteſten Männern aller Völler. Ein Bund der Men⸗ 
fchenliebe umſchlingt unfichtbar die im hohen Norden und bie 
am Meer des Südens wohnen. Hoffnungen eines ewigen 
Friedens dämmern in allen auf. Und an der Spitze biefer 
Berbrüderung, wir fagen es mit Stolz, fteht ein Kaifer! Hört 
es, ihr Nachkommen, die ihr diefem Jahrhundert der Aufflärung 
nud der Bhilofophie euere Bildung und Freiheit, euern Wohl« 
Hand und ener Recht verbanten werdet, ein Kaifer war ber 
Mitverfhworene einer fchönern Zukunft! Auf dem Schlachtfeld, 
dank der gütigen Gottheit, follten ſich Joſeph und Friedrich 
nicht begegnen; Hand in Hand, unzertrennlich werden fie in der 
Walhalla deuticher Helden ftehen, die Mitverſchworenen flir die 
Freiheit der Menfchheit! 

Auh das Reformprogramm für das öfterreichifche 
Kaiſerthum ſpricht Graf Erbach aus: 

Gelingt es Ew. Majeſtät nur, die Grundlagen des neuen 
Staatenbaues zu legen, dann bleibe die Bbeiterführung ruhig 
der Zuknuft Üüberlaffen! Wenn der Kailer es will, haben wir 
eine Reihe Friedensjahre vor ums, welche viele innere Schäden 
heilen und Quellen des Wohlſtandes eröffnen werden. Möge 
jeder in Defterreich .offen feinen Glauben befeunen und die 
Sottheit in feiner Weiſe verehren dürfen! Mögen die unbilligen 
Borrechte, welche bie Stände voneinander trennen, fallen, und 
ein gemeinfames gleiches Recht den Höchften wie deu Niedrigften 
binden und ſchützen. Diefe Berbefferungen Tiegen im Sinne 
ber Zeit, mit Jubel werben fie von der allgemeinen Stimme 
aufgenommen werben. Bon Sefjel befreit, werden die Arbeit 
und der Handel beflgeltern Schrittes dahineilen, wüſte Streden 
urbar machen, Moore austrodnen, Heiden in. Saatfelder ver- 
wandeln und die engen Thore der Städte öffnen, damit der 
unabfehbare Zug ſchwer und reich mit den Schägen des Oſtens 
beladener Wagen feinen ftattlihen Einzug halte. Mit goldenen 
Zügeln lenkt Gott Mercur die Roffe, aus dem Horn des Ueber- 
— verſtreut der Reichthum ſeinen Sam. und über ihnen 

It das Luftſchiff durch das Meer der Wollen, 

Auch das den Titel erläuternde Programm des Werks 
iR in den Mund Erbach's gelegt: 

Offenbar fiehen wir im Beginne eines neuen Zeitalters; 
das eiferne neigt fich feinem Ende zu und ein neuer Weltentag 
fängt wieder mit dem goldenen an. Zu neuem Fluge fpannt 
Phoͤbus Apollo feine Sonnenroffe an, ihm voranziehend firent 
der Friede, von Mufen und Orazien im bolden Tanz begleitet, 
feinen Weg mit Blumen, In reihlichern Segen erblüht Feld 
und Flur, feſtlicher jhmüden fi die Städte. Die alten Bor- 
urtheile fallen, über die tiefften Abgrlinde fpannen ſich Zauber. 
brüden. Und wen verdanken wir diefe glüdlihe Wandlung? 
Der Raturwiffenfhaft, der aufflärenden Philofophie. Leber 
dem Portal des neuen Jahrhunderts fieht gelöeiben: tage es 
zu denfen, wage e8 ein Menſch zu fein! Die Rückkehr zu der 
reinen unverfälihten Natur, zur Verbrüderung der Menfchen 
und zu der Naturreligioun . . . 


Der Raifer ſelbſt tritt vielfach intereffant hervor ala 
geiftreicher Kopf und ein Mann ber feinften Intentionen. 
Daß es im Roman dabei bleibt, ift um fo weniger auf- 
fallend, als es auch ja in der Geſchichte bei den Inten⸗ 


tionen blieb und die Verwirklichung derjelben auf zahl 
reihe Hinderniffe ſtieß und ſchmerzliche Enttäufchungen 
zur Folge hatte. Unbefchabet der feinfinnigen Eigenthüm- 
lichkeit Karl Frenzel's dürfen wir dod auf einen Autor 
hinweifen, an deſſen Darftellungsweife die feinige erinnert, 
was die Fülle geiftreicher Bezüge, die mehr imeinander« 
gewebte ald im eigentlichen Fluß ſich ergießende Erzäh— 
lung und die einzelnen funkelnden Sentenzen betrifft, 
die in dieſem Gewebe oft an unerwarteter Stelle hervor⸗ 
f[himmern: wir meinen Karl Gutzlow, der in feinem er⸗ 
ften Hauptroman ja ebeufalls die Strebungen der beweg⸗ 
ten Zeit nad) einem golbenen Ziele ſchilderte, Beftrebun- 
gen, die kaum zu Thaten werden. 


Wenn wir neben dem hiftorifchen Roman den focialen 
betrachten, der vor uns liegt, fo fehen wir, daß wir 
ebenfalls in einem goldenen Zeitalter uns befinden, welches 
dur die eiferne Gegenwart hindurchſchimmert, einem 
Zeitalter der Luftfchiffahrten und Flugverfuche auf dem 
Gebiete der Frauenemancipation, welche den geiftigen Kern 
des Romans der Frau Wilhelmine von Hillern bil- 
det (Nr. 2). Als wir den erften Roman der geiftvollen 
Säriftftellerin: „Doppelleben” (vgl. Nr. 37 d. Bl. f. 1866), 
beſprachen, wiefen wir ſchon darauf hin, daß die begabte 
Tochter, die von ihrer Mutter das Talent für die Technik 
der Production und die gewandte Führung der Hand» 
lung everbt Habe, fich wefentlich durch ihre Beftrebungen, 
gedankenvolle Probleme darzuftelen, von ber mehr ftoff- 
artigen Productionsweife der erftern unterſcheide. Noch 
mehr als in jenem erften Roman tritt dies Beftreben in 
dem vorliegenden zweiten hervor, ber überdies einen un⸗ 
beftreitbaren Fortfchritt bekundet. Denn wenn die Dar- 
ftelung des Doppellebens in dem erften Werke eine 
allzu äußerlich |pecialifivende war, welche die zwei Seiten 
eines Charakterd einander mit einer die höhere Einheit 
verleugnenden Selbſtändigkeit gegenüberftellte, fo ſehen wir 
bier in der Bruſt der Heldin die zwei fich befämpfenden 
Factoren nicht als fertige Geftalten in wenig glaublicher 
Weiſe fymbolifirt, fondern im Entwidelungsgange und 
Kampfe begriffen und dabei durch eine höhere Einheit. 
des ganzen Charakters motivixt und feftgehalten. Und in 
der trogigen und abjonderlichen Eigenart des geiftig be- 
deutenden Charakters zeigt fi) wieder die Tochter ihrer 
Mutter, welche die „Jane Eyres” und „Grillen“, wenn 
fie diefelben auch nicht urfprünglich erſchuf, doch für die 
Bühne zu acclimatifiren liebte. 

Diefe Erneftine ift in der That eine intereffante 
Frauengeſtalt, deren pfychologifche Entwidelung von Haus 
aus mit innerer Wahrheit gezeichnet if. Mishandelt von 
einem Franken Vater, der fie fogar enterbt hat und nur 
auf dem Zodtenbette dazu beftimmt wird, fie wieder zur 
Erbin einzufegen; von einem Heimtüdifchen Onkel, der 
fich ihres Vermögens bemächtigen will, mit Aufopferung 
ihrer Gefundheit zu einer einfeitigen Gelehrten erzogen; 
zu ftolz, ihre geiftige Richtung ihrer Liebe zu opfern, 
wird fie zulest durch die Noth des Lebens und die un⸗ 
befiegbare Neigung zu dem Geliebten, dem Arzt ihrer 
Seele, geheilt. Der verbrecherifche Onkel ift durch eben 
diefen Arzt entlarot worden und bat fich felbft das Leben 
genommen. 


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180 Zwei neue Romane, 


Die Hanptfrage bei jedem derartigen Roman, defien 
Angelpunft eine in die Zeit eingreifende Tendenz bildet, 
ift offenbar, wie fi die Erzählung zu biefer Tendenz 
ftellt. Die Antwort ift Hier eine zuweifellofe; die Ver⸗ 
fafferin verneint die Frauenemancipation am Schluß, 
nachdem fie fid) vier Bände lang mit berfelben bejchäftigt 
bat, und befchenft uns mit einer Entbindungsanzeige ihrer 
Heldin, welche fie felbft contrafignirt als ein Beweis⸗ 
ſtück ihrer Heilung von geiftiger Erkrankung. Das Ende 
der Emancipation ift die Wochenftube. 


Die Löſung des Problems ift natürlich in die Hand 
des Autors gegeben; wol aber muß die Stellung und 
Faflung eine Hare fein — und dies vermiflen wir in dem 
vorliegenden Roman. Es gibt eine doppelte Frauen⸗ 
emancipation: die erfte war an der Tagesordnung zur 
Zeit der freigeiftigen Bewegungen des vierten und fünf 
ten Iahrzehnts unfers Jahrhunderts, al8 ber Saint-Simo» 
nismus das „freie Weib“ verherrlichte, pere Enfantin 
bie freie Liebe predigte, George Sand die Ehen und Mis- 
ehen analyfirte und die jungdeutjche Literatur in ihren 
Ditbyramben die „Emancipation des Fleiſches“ verkündete, 
Ein Abſchnitt in unferm Roman, der diefen Titel trägt, 
führt uns eine epifodifche Geftalt vor, die Gräfin Wor⸗ 
ronsla, die als Bertreterin ſolcher Emancipation hin⸗ 
geftellt iſt — ein geniales Kraftweib, ſlawiſch amazonen- 
baft, fiegegewiß, eine jener Seftalten, welche gleichſam 
ein beftimmtes Rollenfach in den deutfchen Romanen beflei- 
ben und auch in den Dramen, wie 3. B. Freytag's „Graf 
Waldemar“ beweift, heimifch find, Die Berfaflerin gönnt 
diefen Kraftproben üppiger Weiblichkeit indeg nur einen 
befcheidenen Raum; die Hauptthat der Gräfin ift, daß 
fie mit ihrem Biergefpann ein Dorflind überführt; ihre 
Liebe zum „Arzt der Seele”, der feine Luft Hat, ihr an 
den Puls zu fühlen, ift eine unglückliche. Ihr Beſuch 
bei der Pertreterin der geiftigen Emancipation, Erneftine, 
gibt Veranlaffung, die entgegenftehenden Anfichten geift- 
reich zu erörtern. Die lebendluftige Gräfin jagt zu ber 
gelehrten Dame: 


Sie Halten meine Anfichten für unmoraliſch. Was aber 
it unmoraliſch? Was den Gejegen der Natur am nächſten ent- 
ſpricht? Welche Moral Hat das Thier? Keine, und deshalb if 
es ſtraflos. Es gehorcht dem Geſetze, weldes Sie ale Natur- 
forfcherin für das erfle, höchfte halten müſſen. Die Aſceten 
fagen, die Moral jei nothwendig, um die Ordnung zu erhal 
ten, ohne welche das Chaos wieder hereinbräche. Ich frage 
Sie aber: IR in dem Reich der Thiere das Chaos? Sind nicht 
die NRaffen eingetheilt in fireugfier Ordnung? Hat nit und 
bewahrt nicht jede ihre Eigenthlimlichkeiten? Bleiben fte nicht 
untereinander fireng gefchieden? Sucht der Löwe die Hyäne, 
würde die Tigerkatze den Schakal nicht zerreißen, der fich ihr 
nahen wollte? If das nicht eine unerſchütterliche Geſetzlichkeit? 
Und fo würbe e8 and) bei den Menfchen fein. Das Edle würbe 
fi) doch fletS dem Edeln verbinden, wie da8 Gemeine dem 
Gemeinen, Ueber dem Ganzen maltete nur die Liebe, und alle 
Unflttlichleit des Zwangs, der Convention, ber Lüge und 
Heuchelei fiele weg. Wäre das nicht eine ſchönere Welt? Und 
glauben Sie mir: auch eine befiere! Im dem Bewußtſein, daß 
ein gejegficher Zwang die Gatten mehr aneinauderbindet, 
müßte fich jeder da8 Herz des audern durch verboppelte Gfite 
und Aufopferung zu erhalten ſuchen — die Menſchen würden 
gefälige, felbfiverlengnender gegeneinander, und der Geift wäre 
efreit mit der befreiten Sinnlichkeit; find wir doch, folange 
unfere Wahl gebunden if, geiſtig gefnechtet! Und haben benn 
nicht auch die Männer das Vorrecht der freien Wahl flir fi 


in Anſpruch genommen? Binden fie fi an Geſetze? Mo if 
der, welcher nicht öffentlich oder heimlich an ihnen fündigte? 
Uns nur, uns fieht feine Entfcheidung zu — wir nur follen 
eine Sache fein, die befeffen wird, ohne zu befigen. Wir follen 
erhaben fein über das Bedürfniß des Wechſels, das jedem 
Menſchen angeboren ift, Über die Anforderungen des Geſchmadcs, 
der Leidenfhaft, über alles, nur nicht über den Mann! Gr 
fordert von uns Siege Über die Natur, die ihm zu ſchwer 
würden, aber gänzlicye Unterwerfung unter feinen Willen: und 
das, meine Theuerfte, das fol eine gerechte Weltordnung fein? 
Nein, das können ſelbſt die nicht behaupten, welche nie bie 
Grauſamkeit folder Anforderungen an ſich jelbft empfanden! 
Sat nicht die fortfchreitende Cultur die ruſſiſche Leibeigenfchaft 
aufgehoben? Und bie traurigfle von allen, die allgemeine Leib⸗ 
eigenfchaft bes Weibes, follte fortbeftehen? Nein, wenn Sie 
nicht für fich ſelbſt jene Rechte freier Wahl, perjönlicher Selbft- 
beftimmung erftreiten wollen, für welche Frauen mie eine 
Luiſe X... . kämpfen — fo thun Sie es für die Zanfende 
armen Schwachen, welche ſich an jener verkehrten Moral ver⸗ 
uten! 

Auf dieſen Dithyrambus lautet die Antiſtrophe der 
geiſtig Emancipirten: 

Und wenn ich das thäte, fo kämpfte ich für den Berfall 
ber Menſchheit! Ich will nicht Über die Berechtigung einer Moral 
mit Ihnen ftreiten, die Sie nicht verſtehen — ich will Ihnen 
die Nothwendigfeit derfelben beweifen, über bie Sie noch wenig 
nachgedacht zu haben ſcheinen. Diefe läßt fi in einem einzigen 
orte ausfpreden: Moral ift Maß — wo fie fehlt, da erfchöpfen 
fich alle Kräfte in Maplofigleit, denn das Maß ift das Erhal⸗ 
tende in der Natur wie ım Leben. Sie bliden mid verwun⸗ 
dert an — Sie verfiehen mid nit. Ih kann Sie nit in 
einer Stunde die dunkein dornenvollen Pfade führen, anf welden 
ich mich zur Erkenntniß emporgerungen Babe, unb weiß daher, 
daf ich tauben Obren predige. Aber Sie forderten mic her» 
aus — haben Sie es denn! (Erneftinens Wangen begannen in 
edelm Zorn zu erglühen.) Es wirbt ein jeder Genoffen für 
feine Sadje, drum fei es Ihnen verziehen, daß Sie den Frie⸗ 
den einer reinen Seele zerftören, daß Sie Gift in ein ſchuld⸗ 
fofes Herz träufeln wollen. Möge e8 Ihnen überall fo mis⸗ 
fingen wie bei mir! Ich will es glauben, daß es der Faua⸗ 
tismus Ihres Irrthums ift, der Sie fortriß, nicht die ten 
liſche Srende, mich, die Ihnen nichts zu Leide gethan, im Ihren 
Abgrund mit Hinunterzuziehen! Aber, Frau Gräfin, meld) furdt- 
barer Irrthum ift es, an den Sie Ihre Kraft, Ihre Herrliche 
Begabung vergeuden! Ich Tenne ihn. Glauben Sie nicht, daß 
Sie mir etwas Neues fagten, es iſt die alte abgebrofchene Phi⸗ 
loſophie der Lüſternheit. Es ift das Entlarven ber eigenen 
Begierden, alles befien, was der Menſch, wenu nicht um der 
Sitte, fo doch um der ewigen Schönheit willen verbergen follte, 
weil es häßlich if, wenn Sie es nicht unfittlih nennen wollen! 
Diefe Grundfäge find es, welche dem Worte „Krauenemanci« 
pation“ einen ewigen Schaubfled aufgedrückt haben. Genug! 
Erfparen Sie mir das nähere Eingehen auf ein fo efelerregen- 
des Thema. Ich kenne es genugfam, um barliber zu urtheilen, 
denn ich hatte ale Mitlämpferin file unfere Rechte den Wunſch 
und die Pflicht, alles zu prüfen, was von feiten meines Ge- 
ichlechts zu feiner Erhöhung gethan worden if. Aber mit tie 
fem Schmerz Habe ich gefehen, wie fehr alle Wege, die jene 
Frauen einſchlugen, von dem meinen abwichen, wie wenig fie 
ihre eigene Würde verfichen. Was fle Erhebung nennen, if 
Entartung, was fie frei machen fol, madt fie frech — ihre 
Offenheit wird zur Schamlofigkeit — was fie als Entledigung 
unwürdiger Bande bezeichnen, erfcheint mir ale Zligellofigkeit! 
Was thun, was leiften fie, um fich der Rechte, die fie fordern, 
würbig zu zeigen? Sind Spielereien wie Cigarrenrauchen und 
Piftolenfchießen die Attribute unſerer Größe? Und die Rechte 
ſelbſt, die fie fordern, wie flieht e8 damit? Was will diefe Luiſe 
A....? Was wollen diefe Frauen, die wie Theaterheldinnen 
auf der Bühne des Lebens einherftolziven und die Welt erfüllen 
mit dem Zetergeſchrei ihrer unverftandenen Herzen? Pfui Über 
fie! Sie rolixbigen fih zu SHavinnen berab, indem fie fi 
emancipiren wollen, zu Sklavinnen ihrer Begierden, alfo der 


Zwei neue Romane. 


Männer, denn ihr ganzer Bombaft von Befreinngsphrafen gilt 
ja nur dem ungeſchmälerten echte des Verkehrs mit dem an⸗ 
bern Geſchlecht! 

Es ift dies unzweifelhaft die Anficht der Verſaſſerin, 
der Emancipation des Fleifches wird ein für allemal die 
Zhür gewiefen und die Smancipation des Herzens, die 
body keineswegs mit ihr zufammenfällt, in ihren Sinden- 
fall mit verwidelt. Liegt indeß in diefen von allerlei baroden 
Arabesten überwucherten Theorien fein gefunder Stern? 
Iſt die Emancipation perfönlicher Neigung vom focialen 
Zwang fo gänzlicd, unberechtigt? Können wir uns nicht 
auch andere Inſtitutionen benfen al8 diejenigen, welche 
jet bei uns den Verkehr der Geſchlechter regeln? Daß 
biefe Inftitutionen fo verfchieden find auf ber ganzen Erde, 
bei den verſchiedenen Bölfern, daß fie ſich vielfach ge- 
wandelt haben im Laufe der Zeiten, zeigt wol, daß fie 
auch in Zukunft fi) wandeln werden. Und da bie ganze 
Entwidelung der Menjchheit auf eine höhere Harmonie 
zwifchen dem einzelnen und der Gefellfchaft hindrängt, jo 
wird jene Wandlung fi in einer Weife vollziehen, welche 
der Eigenheit der Naturen größern Spielraum gewährt, 
ſoweit feinem andern Willen dadurd) ein Zwang angethan 
wird. Solange wir neben den Ehegefegen die Proſtitu⸗ 
tionsregulative haben, Tünnen wir nicht von einer doll» 
kommen harmonischen Drganifation der Gefellichaft ſpre⸗ 
hen, welche derartige Reformgedanken überflüfftg machte. 

Frau von Hillern freilich ift anderer Anſicht, ihre 
Sräfin Worronska wird fo fiegreihh von ihrer Heldin 
aus dem Felde gejchlagen, daß ihr nichts Übrigbleibt, ale 
in der Ferne zu verdämmern; fie verliert in Petersburg 
bei einem Wettrennen das Teben. Muß denn die „Eman« 
cĩpation des Fleiſches“ gerade Kinder überfahren und hals⸗ 
brediende Künfte treiben? Friedrich Schlegel’8 Lucinde 
that uichts von beidem; dieſe Vertreterin vomantifcher 
Smancipation, welche die Vereinigung von Trägheit und 
Wolluſt Iehrte, brauchte nicht auf einem Viergeſpann ein« 
berzufahren, ihr gentigte ein Sofa als Piedeftal. Die 
Söttinnen der Liebe und Wolluft find keine Amazonen. 

Doch aud) gegen die Emancipation des Geiftes Legt 
unfere Verfaſſerin fchlieglih Proteſt ein; hier aber fehlt 
es der erfundenen Fabel an Beweisfraft. Muß denn eine 
Stan, welche ihren Geiſt zu bilden und von Vorurtheilen 
zu befreien fucht, nothwendig in einer fo einfeitig ver⸗ 
Schrobenen Richtung erzogen werden und dabei ihre Ge- 
fumdheit ruiniren wie Erneftine? Laſſen ſich überdies wif- 
jenfchaftliche Weberzeugungen durch Lebensfchidfale wider⸗ 
legen? Iſt die trogige, wiflendeifrige Heldin nicht bei 
weiten interefianter als die zum „ewig Weiblichen‘‘ be- 
kehrte, und lohnt e8 fo vieler Mühen, um zu bemeifen, 
daß diefe mit ſolchem Aufwand genialer Züge gezeichnete 
Heldin doch nur zu denjenigen Frauen gehöre, von denen 
zwölf auf ein Dußend gehen, welche den Kochlöffel ſchwin⸗ 
gen und Kinder belommen? Tant de bruit pour une 
omeleite, welches Erneftine im vorlegten Kapitel nicht 
zu Tochen verftcht, im letzten aber jedenfalls kochen gelernt 
hat, da bie Gevattern rühmen, was fie fir eine Haus- 
frau geworden ift. 

Die praktiſche Franenemancipation ber jüngften Zeit 
geht darauf hinaus, den Frauen aud außerhalb der Ehe 
eine unabhängige Stellung zu ermöglichen, da ja gerabe 


181 


von der Ehe eine fo große Zahl ansgefchloffen ifl. Frau 
von Hillern beweift und zwar, was eine Frau geiflig zu 
leiften vermag: Erneftine ift eine unermüdliche geiftige 
Ürbeiterin, ftudirt Aftronomie, Chemie, Phyfiologie u. ſ. w. 
bei Tag und Nacht, fie erhält ben Preis für eine wiflen- 
ſchaftliche Arbeit; aber die Berfafjerin ift weit entfernt, 
fie zu einer berechtigten Bertreterin der Frauenemancipa⸗ 
tion und Frauenarbeit machen zu wollen. Gegen ben 
Schluß des Romans hin findet fi ein Kapitel, wo 
Erneftine und die Coufine Gretchen in einer Heinen 
Stadt „ums tägliche Brot” arbeiten. Das gelingt ihnen 
jehr fchlecht; fie Hungern und frieren dabei und haben 
bisweilen abends Fein Licht. Knüpft die Verfaſſerin 
hieran Betrachtungen über das fogenannte Recht der 
Frauen auf Arbeit, das ihnen nur durdy die gefellfchaft- 
lichen Berhältnifje verküimmert wird? Keineswegs. Es 
ift das nur eine „Strafftation“, auf welcher Exneftine 
für die „Ehe“ zuvechtdreffirt wird, nachdem fle zuvor 
durch die Krifls eines Nervenfiebers von ben Ueberrei⸗ 
zungen ihrer Gehirnthätigkeit geheilt worden war. Am 
Schluß tritt num Erneftine ohne eine reservatio mentalis 
zu Gunſten ihres geiftigen Strebens in die Ehe — und 
diefe ganz bedingungslofe Hingabe, bei welcher die geifti- 
gen Rechte der Frauen gar nicht gewahrt werden, ift wol 
ein Hauptfehler des Werks, welches in frühern Abfchnit- 
ten gerade über den geiftigen Beruf ber Frauen fo viel 
Sinniges und Glänzendes enthielt. 

Die Emancipation des Geiftes bei ben Frauen er- 
ſcheint Hier nur in krankhafter Uebertreibung, fogar al® 
dag Werk einer Hinterliftigen Intrigue, woburd bie Stel« 
lung des Problems verwirrt wird. Die Frage mußte 
lauten: Wie verträgt fid) die Emancipation des Geiftes, 
ohne Uebertreibung, mit Naturanlage und Lebensftellung 
ber Frauen? Dann würde auch der Kampf im Herzen 
Erneftinens zwijchen ihrer Liebe zu den Wiffenfchaften 
und ihrer Neigung zu Johannes ein tieferes Interefle er- 
wedt Haben und, worauf e8 doch bei aller Dichtung an⸗ 
kommt, eine vorbildliche, allgemeine Bedeutung, während 
jetzt, bei aller Feinheit einzelner piychologifcher Züge, doch 
zuviel des Verſchrobenen mit unterläuft, was .un® gegen 
die Heldin verftimmt. 

Wir haben bisher mit dem Standpunkt der Berfafle- 
rin gerechtet; es ift uns jegt eine angenehme Pflicht, das 
Bortreffliche ihrer Darftellung hervorzuheben. Frau von 
Hillern Hat Seift, Empfindung, Phantafie; ihr Stil if 
frei von jeder Künftelet und PVerzwidtheit, fließend und 
treffend; fie Bat den Sinn für Spannung und Effect 
von der Mutter geerbt. Daß fie aud) den naiven Plau⸗ 
derton der Verfaſſerin des „Pfefferröſel“ zu treffen weiß, 
zeigt ihre Schilderung der Sinderfcenen, bie herzigen 
Plandereien des Käthchen mit dem filbernen Arm und 
der woblbeleibten Mutter Bertha im hamburger Hotel. 
Ein Charakter wie der Leuthold's ift mit großer geiftiger 
Feinheit und Meberlegenheit durchgeführt; fein Jeſuitis⸗ 
mus hat etwas fo Blendendes, daß man jelbft oft an ihm 
irre wird und fi von den Netzen feiner Sophiſtik fan- 
gen läßt, daß man ihm trog feines verwerflichen und 
verbrecherifchen Handelns nicht alle Theilnahme verfagt. 
Sind doc feine Berechnungen fo gewagt und weitaus- 
fehend, dag man in erfter Linie die Opfer der Gegenwart 














IT et 
DIEBE HET EN 


fieht, mehr als den Profit der Zukunft. Die raf 
finirte Hinrichtung der kränklichen Erneſtine durch den 
Geift, durd) den Eultus der Wiffenfchaft erfauft ja ber 
Intriguant mit dem Tangjührigen Verzicht auf die Ges 


ſellſchaft feiner Tochter Gretchen, eines allerliebften Kin⸗ 


des, deffen freude über das Wiederfehen des Vaters fo 
anmuthig gejchildert und mit dem Contraft durd) die 
bereinbrechenden Enthüllungen feines Verbrechens und 
durch feinen Selbſtmord fo ſcharf contraftirt wird. Jo⸗ 


J 182 Philoſophiſche Schriften. 


hannes ſelbſt iſt Pädagog und Arzt, ein frauenbändigen⸗ 
der Idealheld; die alte Staatsräthin, die ſchöngeiſtige 
Elſa, der erblindende Schullehrer und andere Nebenfigu⸗ 
ven find mit Geſchick und ſcharf filhonettirt. 

Der Roman flößt ung, alles in allem und troß 
unferer Bedenken gegen die Durchführung feines Pro— 
blems, Reſpect vor dem Zalent und der geiftigen Beben: 
tung der Berfaflerin ein. 

Rudolf Gotiſchall. 


— — — — — — —— 


Philoſophiſche Schriften. 


1. Der Zeitſinn nach Verſuchen von Karl Vierordt. Tüi- 
bingen, Lanpp. 1868. Gr. 8. 1 Thlr. 


2. Die pigchologiichen Grundlagen der Raumwiſſenſchaft von 
Ben Karl Frejenius. Wiesbaden, Kreidel. 1868. 
8 2 r. 


Mit der Fechner'ſchen „Pſychophyſik“ iſt ſeit neun Jah⸗ 
ren eine neue Wiſſenſchaft ins Leben getreten, die Wiſſen⸗ 
ſchaft, Empfindungen und Wahrnehmungen zu meſſen. 
Durch neuerfundene finnreihe Methoden verfchiedener Art 
werben in mathematisch genauen Angaben die Geſetze er- 
kannt, nach denen phyſikaliſche Reize die ihnen entfpredjen- 
den Empfindungen und Anſchauungen als inwendige Her- 


vorbringungen unſers Seelenwejens hervorloden und ver- 


anlaffen. Zu ben von Fechner begonnenen Unterfuchun- 
gen und Experimenten gehören unter anderm aud) die 
über die fubjective Zeitmeffung in Vergleich zur objectiven, 
welche wir in ber erften obiger Schriften auf eine fleigige 
und genaue Art weiter fortgefegt finden. 

Im allgemeinen gibt es die tägliche Erfahrung für 
jedermann, daß die Länge oder Kürze der Zeiträume in 
unferer innern Wahrnehmung von mancherlei fubjectiven 
Bedingungen, wie z.B. von Stimmungen bes Gemüths, 
Abwechfelung oder Einförmigkeit in den Eindrüden, die 
auf und gefchehen, Graben des Wachſeins oder der 
Schläfrigkeit und andern ſolchen innern Umftänden ab» 
hängt. Sechs oder fieben Stunden erquidenden Schlafs 
Schrumpfen dem erwachenden Bewußtſein in den Zeitraum 
einer einzigen Minute zufammen; dagegen erzählen und 
Opiumeſſer, wie in ihren wüften und unbehaglichen Träu⸗ 
men fi die Dauer von Minuten zu flunden», ja zu 
tagelang und darüber dauernden Begebenheiten ausge- 
behnt habe. 

Wil man auf pfychologifhem Wege diefen ebenfo 
alltäglichen als ſchwer erffärbaren Erſcheinungen tiefer auf 
den Grund kommen, jo ift dazu ein nicht zu verachtender 
Anfnüpfungspunkt der, daß man Mittel und Wege auf- 
fucht, die fubjectiven Zeitgrößen in ihren Berhältniffen zu 
den objectiven meßbar zu machen. Weil hierzu diefe von 
Bierordt (Nr. 1) mit Sorgfalt und Ausdauer fort« 
geführten Fechner'ſchen Berfuche eine erſte feſte Hand- 
babe bieten, find diefelben als verbienftlich und dankens⸗ 
werth zu begrüßen. 

Der Apparat ber fowol auf den Taſtſinn, als auf 
ben Gehör» und Geſichtsſinn fich beziehenden Verſuche 
ift ziemlich Fünftlicher Natur, Hat auch nur für ben ein 
näheres Intereffe, welcher fih mit der Sache genauer 
zu befafien wünfcht, weshalb auf die Schrift ſelbſt ver- 


wiefen werden muß. Hier genügt es, auf die mühſam 
gewonnenen Reſultate hinzuweiſen. Diefe laufen in den 
Hauptreihen der Verſuche auf folgendes Geſetz hinaus: 
Wenn wir einen gewiffen durch den Sinn percipirten 
Zeitraum von kurzer Dauer (nämlid) von einer Dauer 
unter etwa drei Secunden) aus dem Gedächtniß wieber- 
bolen, fo nehmen wir jedesmal den Zeitraum zu groß; 
und wenn wir einen percipirten Zeitraum von langer 
Dauer (nämlich von einer Dauer über etwa drei Secun 
den) aus dem Gedächtniß wiederholen, fo nehmen wir 
jebesmal ben Zeitraum zu Men. Nur allein alſo bei 
Zeiträumen oder Taltſchlägen von ungefähr drei Secuns 
den bedt fich die objective Zeit des fehwingenden Pendels 
mit der fubjectiven Zeit des auffaflenden Gedächtniſſes; 
bei retardirten fowol als bei befchleunigten Taktſchlägen 
weichen fie voneinander ab. ALS fchwingendes Pendel 
dient bei diefen Verſuchen das Mälzel'ſche Metronom. 

Mit Rüdficht auf feine fleißigen Beobachtungen über 
die fubjective Zeitanfchauung erklärt fid) der Experimen« 
tator für die Kant'ſche Theorie, bie Zeit in ähnlicher Art 
wie den Raum als eine urfprüngliche Form unfers Wahr- 
nehmens (Anfhauung a priori) vorzuftelen. Er nimmt 
an, daß mit unfern anfänglichen Empfindungen fchon jehr 
bald fi die nicht in ihnen felbft Liegende Anfchauung 
einer zeitlichen Succeffion verbindet; nämlich ganz ficher 
von dem Zeitpunft an, wo wir dageweſene Empfindungen 
als folche wiedererkennen, welches nicht möglich ift, ohne bie 
Borftellung eines vergangenen Zuftandes zu Hülfe zu nehmen, 

In ber That, jo ift es. Kine miedererinnerte Ems 
pfindung wird nicht dadurch als Zeichen eines vergan« 
genen Zuftandes erfannt, daß fie als ein nachflingendes 
blafjeres Empfindungsbild in uns fortbauert, fondern das 
durch, daß fie bezogen wird auf einen nicht mehr ſeienden 
Zuftand und folglich eingereiht wirb in daffelbe unkörper⸗ 
liche Schema von Sein, Nichtmehrfein und Nochnichtfein, 
in welchem auch die Körpermelt ihren angewiefenen Pla 
findet, ohne welchen ihr der Weg in das Dafein ewig 
verfchloffen bleiben würde. 

Wir haben daher auch die Zeitanfhauung nicht nur 
zu unterfcheiden von allen Empfindungsformen, fonbern 
ebenjo ſehr von allen körperlichen Eigenſchaften. Denn 
fie geht dem Dafein der Körper als eine unkörperliche 
Srundbedingung deſſelben voraus und, fofern die Körper 
die Empfindungen in uns verurfadhen, ebenfalls den 
Empfindungen. Die Zeit der Körper ift die objective Zeit 
(Körperzeit); die Zeit der Empfindungen ift bie fubjective 


Philoſophiſche Schriften. 183 


Zeit (Seelenzeit). Jede von ihnen ift ewige unlörperliche 
Boransfegung (Anſchauung a priori). Auf das Berhältniß 
beider zueinander bezieht ſich das von Bierordt feftgeftellte 


etz. 

Durch die Kant'ſche Theorie von Raum und Zeit ſind 
freilich dieſe Themata noch ebenſo wenig erſchöpft, als 
die Kenntniß eines neuen Welttheils durch die erjte Ent- 
deckung deſſelben. Aber es ift zum wenigften das dadurch 
gewonnen, daß fortan alles nicht mit ihnen Stimmende 
ſehr bald in ſein Nichts zurückſinken muß. Der Kreis 
der Möglichkeiten iſt verengt; das frühere Schweifen in 
ber Irre und Wildniß, wenn auch noch nicht völlig, doch 
Schon in bedentendem Maße abgejchnitten. 

Die Schrift über „Die pfychologifhen Grundlagen 
der Raummifjenfchaft” von Freſenius (Nr. 2) fucht in 
die Tiefen der Raumconftruction weiter einzubringen, als 
dieſes nad) der gewöhnlichen euflidifchen Methode der 
geometrifchen Beweiſe zu gelingen pflegt. 

Die geometrifchen Lehrſätze haben das Eigenthümliche 
an fi), daß fie häufig auf zweierlei Art bewiejen werben 
können, theil® auf geradem Wege, theil® durch Umwege. 
Der gerade Weg ift der gemetijche, der Ummeg der eulli⸗ 
diſche. Schon Schopenhauer hat es ber enklidifchen 
Methode in der Geometrie vorgeworfen, daß fie ſich darin 
gefalle auf Ummegen zur gehen, zuweilen den Ummeg als 
einen elegantern und intereffantern dem näher liegenden 
genetifchen Wege vorziehe. So z. D. ift der enklidiſche 
Weg, die 180 Grade jedes Triangels zu beweiſen ver- 
möge einer angehängten Hilfsconftruction mit Anwen- 
dung der Ariome vom Nebenwinkel und Wechjelwinkel, 
ein Ummeg; hingegen ber genetifche, von ber halben Dre— 
hung eines Stabes hergenommene Beweis der directe und 
gerade Weg in diefer Sade. Die Einſicht hat in beiden 
Fällen zwar die gleiche Gewißheit und Sicherheit, aber 
nicht auch das gleich Einleuchtende. Es ift zu vergleichen, 
wie wenn ich einen ©egenftand unmittelbar in Augen- 
Schein nehme, oder mir durch einen fihern und glaubwür- 
bigen Zeugen von ihm Bericht erftatten Laffe. 

Der Verfaſſer dringt nun darauf, daß überall, wo 
es angeht, ber gerade Weg den Umwegen vorgezogen 
oder zum mindeften mit ihnen in Verbindung gejegt werde. 
Wo es angeht — nicht überall fcheint e8 zu gehen. Dar⸗ 
ans entftcht aber die Aufgabe, e8 überall zu verfuchen. 
Hier macht er nun mandje gute Vorſchläge, gefteht aber 
zugleich, in Beziehung auf andere Fälle felbft noch rath- 
[08 zu fein. Wenn für alle Lehrſätze der Geometrie 
birecte oder genetifche Beweife gefunden werden könnten, 
ſo würden hierdurch die Lehrſätze ohne Zweifel beim Unter⸗ 
richt viel einleuchtender und durchſchaulicher gemacht wer⸗ 
den können als nach der euklidiſchen Methode, welche 
überdies das Gedädhtnig mit viel überflüſſigem Ballaſt 
befchwert, mit deflen Entweichen auch immer ſogleich der 
Nerv der Ueberzeugung mit entweicht. 

Eine andere Frage ift, ob auf diefem Wege auch für 
ein tieferes Verſtändniß des Raums in pbilofophifcher 
Hinſicht etwas gewonnen wird; ob die von Kant gefun- 
dene Grunderkenntniß auf diefem Wege irgendeine Ver⸗ 
ttefung oder Vermehrung erfährt. Diefe Frage ift aus 
folgendem Grunde zu verneinen: 

Die geometrifchen Raumbeſtimmungen entfprechen nad} 


der Anficht des Berfaffers den pfychologiſchen Beftimmun- 
gen in der Thätigkeit unferer auffaffenden Aufmerkſamkeit. 
Der Punkt ift der einfache Ausdrud concentrirter Auf- 
merkſamkeit. Denn die gefammelte (nicht die zerftreute) 
Aufmerkſamkeit fällt zunächft immer auf irgendeinen Punkt. 
Ihre Vortbewegung brüdt fih aus durch die Bewegung 
diefes Punktes, woraus das Bild der Linie entſteht. Durd) 
die Bewegung ber Linie in der Drehung um einen Punkt 
entfteht der Winkel und die Fläche, u. ſ. f. Es entgeht 
dem Berfaffer hierbei nicht, daß Bewegung ein Begriff 
ift, welcher den Raum fchon vorausfegt. Denn Bewe- 
gung eines Punktes ift nichts als Veränderung feines 
Orts im Weltraum Er fchreibt daher felbft mit Recht 
feinen pſychologiſchen Erflärungen nur einen pädagogifcyen 
Werth zu, als Hülfsmitteln der Faſſungskraft, und ift 
weit davon entfernt, die Tragweite feiner Bemühungen 
zu überfchägen. Diefe Beicheidenheit ift Iobenswerth. Aber 
ed wird für die Wifjenfchaft der Metaphyſik nichts da⸗ 
duch gewonnen, daß man zur Erleichterung der Arbeit 
die Anſprüche, welche fie am Ende doc; wol zu machen 
berechtigt ift, von vornherein über das Maß herabfpannt. 
Die pfychologifchen Bewegungen unferer Aufmerffamteit, 
weldje den Raum bereits vorausfegen, find nicht die ſpon⸗ 
tanen Acte, durch welche der Raum in der anfchauenden 
Vernunft der Geiftwefen ſich unaufhörlich hervorbringt. 
Indem unfere auffafjende Aufmerkfamteit ſich von Punkt 
zu Punkt im Raume bewegt, wird dieſer dabei immer 
ſchon als ein Früheres (ein Apriori) vorausgefetst, welches 
wir allerdings jelbft Hervorbringen, aber nicht vermöge 
der auffaſſenden Aufmerkſamkeit. Wenn ich eine Geite, 
welche ich foeben gefchrieben Habe, überleſe, und babei zu 
mir felbft fage: „Ich bin der Urheber diefer Schrift” — 
jo habe ich nur dann das Hecht zu diefem Ausſpruch, 
wenn ich die Urheberfchaft auf das vorhergegangene Nieder- 
ſchreiben, nicht aber auf das nachherige Ueberlefen beziehe. 
Hierdurch ſetzt ſich der wifjenfchaftliche Werth der geneli⸗ 
ſchen Beweiſe, wie fie der Berfaffer ſucht, fehr im Preife 
herab. Denn diefe Genefis ift nicht die primitive, ſon⸗ 
dern nur eine fecunbäre, nicht die Geneſis der Hervor⸗ 
bringung, fondern nur die der Auffaffung, nicht die Ge- 
nefis, welche zeigt, wie die Frucht wächlt, fondern wie 
wir die gewachſene am leichteften pflücken können. 

Doch ift jede Bemühung willlommen zu heißen, welche 
ernftlih in diefen Weltgründen gräbt, auf denen bas 


ganze materielle Dafein ruht wie ein Gebäude auf feinen 


tragenden Fundamenten. 


3. Die Grenzen ber menſchlichen Erfenntnig und bie religiöfen 

Seen. Von L. R. Landau. Leipzig, Weber. 1868. Gr. 8. 
gr. 

4. Forſchung nad) der Gewißheit in der Erkenntniß der Wirk⸗ 

lichkeit von A. Spir. Leipzig, Förſter und Findel. 1869. 

8. 1 Thlr. 10 Nor. 


5. Ueber Erfeuntniß von Marimilian Droßbad. Halle, 
10) x. 


Pfeffer. 1869. Gr. 8 10 Ng 
6. Der Sat des zureichenden Grundes von Joſeph Jäkel. 
an, Maruſchke und Berendt. 1868. ©r.8. 1 Thlr. 
gr. 


Der Verfaſſer der Schrift: „Die Grenzen der menfch- 


Iihen Erkenntniß und die veligidfen Ideen”, 2. R. Lan- 
dau (Nr. 3), ſucht darin die Angriffe der Atheiften und 
Materialiften auf die veligiöfen Ideen zu entkräften, was 


. n — st 
a ER 7, af 


184 


ihm auch völlig gelingt. Er faßt Hierbei vorzüglich einen 
Hauptpunkt gut und richtig ins Auge, die innere In« 
confeguenz nämlich, an welchem die Methode des Ma- 
terialismus krankt. Die Materialiften fpielen auf reli⸗ 
gibſem Gebiete die Rolle der abfoluten Skeptiker, welche 
nicht8 anerkennen wollen, was fich nicht fireng bemeifen 
läßt; fie weigern und firäuben ſich hingegen, den wiſſen⸗ 
haftlich begründeten Zweifeln der kritiſchen Philofophie 
an der Selbftändigfeit des materiellen Dafeins und der 
Beſchränkung aller Erfahrungsthatfachen auf da8 alleinige 
Feld des äußern Sinns nur das allermindefte Gehör zu 
Schenken. Vielmehr beruhigen fie ſich in diefem Punkte 
mit demfelben guten Glauben des ungebildeten Berftan- 
bes, welchen fie an jenem mit fo tiefer Verachtung von 
fi) weifen. Es ift aber ganz inconjequent, am einen 
Ende ber gewöhnlichen menfchlichen Vorurtheile den voll- 
fommenen Confervativen, Hingegen am andern den voll» 
fommenen Revolutionär zu fpielen. Nur dann können 
in der Wiffenfhaft gefunde und confequente Refultate 
gewonnen werden, wenn fich die wifjenfchaftliche Kritik, 
welche niemals und nirgends zu weit gehen Tann, anf 
alle Punkte der Wiflenfchaft ohne Ausnahme ausdehnt, 
Es gibt Fein Voll der Erde, welches nicht ebenjo feit 
an einen Zufammenhang der menſchlichen Scidfale mit 
höhern geiftigen Gewalten glaubte wie an die felbftändige 
Mirklichleit der Körperwelt. Der eine Glaube fteht fo 
feft wie der andere. In Beziehung auf den einen biefer 
Punkte die Zweifel als gefährlich verbieten, in Beziehung 
auf ben andern fie als zuträglich zulaflen, bat feinen 
Sinn. Wer in Beziehung auf den einen Punkt fi com 
fervativ verhält, hat alle Urſache, dafjelde aud) in Des 
ziehung auf den andern zu thun. So wenig er beim Con⸗ 
jervativismu® des guten Glaubens an die Realität der 
Stoffe nöthig Hat, falfche Meinungen über diefelben an» 
zunehmen, ebenjo wenig hat er beim guten Glauben an 
die Realität der göttlichen Dinge nöthig, falſchen Dogmen 
über diefelben Gehör zu geben. Gegen die erfte Gefahr 
ihügen die täglichen Yortfchritte einer fleipigen Natur- 
willenfchaft, gegen die zweite bie täglichen Fortſchritte 
einer aufgeflärten Theologie. Dies ift wirklicher gefunder 
Menfchenverftand. Gegen ihn gehalten zeigt fich der 
Menfchenverftand der Materialiſten Frank, weil er bie 
Thatſachen der Erfahrung nur ſcheinbar in Ehren hält, 
in Wahrheit aber mit Füßen tritt, wie der Berfafler 
richtig und gut in folgenden Worten bemerkt (©. 81): 

Die Erfahrung ift es, auf bie ſich die Verfechter der mo- 
dernen Weltanſchaunng immer berufen. Doch wird fie ganz 
willkürlich anf das allein befchränft, was wir mit den äußern 
Sinnen wahrzunehmen glauben, eigentlid aber nur mit dem 
innen Sinne erfaffen, während das, was ſich in uns unmittel⸗ 
bar kundgibt, deſſen wir uns unzweifelhaft bewußt find, eigen- 
mädtig aus dem Kreife der Erfahrung ausgefchloffen wird. 
Der gefunde Menfchenverftaudb wird von ihnen angeblich ſehr 
hoch gehalten, und follte e8 auch, da fie das Recht der Vernunft 
verkürzen, und fi alfo auf ihn allein fügen können; doch 
werden deffen Ausjagen umd Zeuguiffe, ſobald fie ihmen nicht 
zufagen, ohne weiteres verdächtigt und als Borurtheile und 
alſche Borftellungen behandelt. 

Es ift in dieſen Sägen und ihrer weitern Ausfüh- 
rung in obiger Schrift die ſchwache Seite des Materia- 
lismus volllommen genügend aufgewieſen. Trotzdem bes 


Philoſophiſche Schriften. 


Gegenwart auch immer noch feine ftarfe Seite und rela⸗ 
five Berechtigung, welche der Verfaſſer zwar nicht hervor⸗ 
zubeben veranlagt war, bie aber doch bei einer gerechten 
Beurtheilung ebenfalls nicht aus dem Auge gelafien wer- 
den darf. Der Materialismus ftellt ein nicht gut ent- 
behrliches Webergangsftabium von negativem Charakter dar 
zwifchen einer vergangenen und einer bevorftehenden Periode 
religiöfen Lebens. Ueber die Nothwendigkeit einer Reini 
gung der hergebrachten NReligionsbegriffe find ſich die 
philoſophiſch Gebildeten unfers Volks Längft Kar, und 
ebenfo jehr aud darüber, daß uns die Mittel zu folder 
Reinigung in den Errungenjchaften der Kant’fchen Philo- 
fophie bereits vollftändig zu Gebote ſtehen. Uber die 
kirchlichen Gemeinschaften haben bisjegt im allgemeinen, 
einzelne rühmliche Uusnahmen abgerechnet, nur wenig 
die Fähigkeit entwidelt und die Kräfte angeftrengt, dieſe 
geiftigen Errungenfchaften Iebendig zu verwerthen. Hier 
mußte nun die Vorſehung fi ins Mittel Iegen, um das 
zu tbun, was Menſchen bisher nicht vermocdhten, indem 
fie in einer impofanten Maſſe albgebildeter Seelen, welche 
in der Mitte fchwebten zwifchen Wiffen und Unwiſſenheit, 
eine gerechte, obwol höchſt unklare Indignation erweckte 
gegen unrichtige religiöfe Vorftellungen, mit denen fie 
nicht länger weder fi ſelbſt noch ihre Kinder und Nad;- 
fommen irreführen laffen wollten. 
Gottes Mühlen mahlen langſam, 
Mahlen aber ſchrecklich ſcharf. 

Auch A. Spir, der Verfaſſer der „Forſchung nach 
der Gewißheit in der Erkenntniß der Wirklichkeit“ (Nr. 4), 
geht ernftlih und gründlich ein auf dag Verhältniß von 
Glauben und Willen, und zwar ſogleich in der Vorrebe. 
Er beftimmt hier jedoch dafjelbe keineswegs auf befrie- 
digende Weife. Er formulirt fein Verfahren in Glaubens- 
angelegenheiten in folgenden beiden Sägen, weldge er bie 
Srundfäge der Freiheit und Moralität des Denkens 
nennt (©. ıv): 

Erſtens, alles, was fi) unzweifelhaft als wahr erweiſt, 
fogleich bereitwillig anzunehmen und anzuertennen, einerlei ıvo, 


wann und wie man daffelbe findet und ohne Rlick daran 
ob es uns gefällt oder nicht. ß m — 


‚ Zweitens, alles, was ſich nicht unzweifelhaft als wahr aus⸗ 
weiſen und legitimiren kann, unbedingt zu verwerfen, einerlei 
wo, wann und wie man daſſelbe findet und ohne Rülckſicht 
darauf, ob e8 uns gefällt oder nicht. 

Der erfte dieſer Grundfäge ift ebenfo vernünftig, als 
der zweite unvernünftig zu nennen. Der Landmann 5. B., 
welcher fich durch das vielleicht Gewitter und Plagregen 
drohende Gewölk in Beziehung auf vorzunehmende Yeld- 
arbeiten nicht warnen läßt; der Geſchäſtsmann, welcher 
die immerhin unfichern Sennzeichen, welche in dem Unter 
händler Unredlichkeit vermuthen laſſen, fir nichts achtet; 
der Truppenführer, welcher auf vielleicht tritgende Kenn. 
zeichen eines im Gehölz verftedten Feindes gar keine Rück⸗ 
fiht nimmt: alle diefe werden als Leichtfinnig und un 
vernünftig geſcholten, und zwar allen darum, weil fie 
dem zweiten Grundjage in ihrer Haudlungsweiſe ftreng 
nachkommen. Denn weder ein aufziehendes Gewitter, 
noch ein im Gemüthe unwillkürlich aufſteigender Verdacht, 
noch irgendein ſonderbares und unerklärliches Wegezeichen 
ſind Beweiſe, welche ſich unzweifelhaft als wahr aufſtellen 


hält freilich der Materialismns im religiöſen Leben der | und Iegitimiven laffen. Denn das Gewitter kann au 


Philoſophiſche Schriften. 185 


vorüberziehen, der Verdacht lann ungegrünbet fein, und 
das Wegezeihen im Gehölz Tann von den läderlichften 
Urfachen herſiammen. 

Daher ift der zweite Grundſatz des Verfaſſers als ein 
Grundirrtfuns zu bezeichnen. Das richtige Verfahren in 
allen Dingen befteht vielmehr in der Anwendung der 
völig entgegengefegten Maxime, nur allein dasjenige un. 
bedingt zu derwerſen, was ſich unzweifelhaft als faljch, 
wiberfpredjend und irrthümlich ausweift; dagegen alles 
das, mas fid) noch nicht unzweifelgaft ais wahr ausmwei- 
fen und Iegitimiren Tann, als Merkzeichen noch zu ent- 
declender neuer Wahrheiten forgfältig im Auge zu behalten. 

Die übeln Folgen des falfchen Grundfages zeigen ſich 
im Berfaufe der Arbeit befonder® in der plumpen Art, 
womit hier alles Hppothetifche in der Philofophie ab» 
gelehut und berworfen wird. Der Verfaſſer benimmt ſich 
wie ein Gärtner, welcher nur bie völlig ausgewachſenen 
Pflanzen reſpectirt, dagegen alle Blumen mit noch un« 
entwidelten Blättern, alle Bäumchen mit noch unentfaltes 
ten Kronen ſchonungslos miedertritt, weil fie noch nicht 
ausgewachſen find. Die ringende Entwidelung unferer 
Bhilofopfie hat zu gar vielem Hypothetifchen geführt, 
was der ftrenge Denker ſich zwar unmöglich unmittelbar 
als fejtftehende Wahrheit aneignen Tann, was er gleich“ 
wol als ſcharfſinnige und Weg weifende Muthmaßung für 
weitere Forſchung in den Geheimniffen des Lebens ebenfo 
wenig ungefiraft verwerfen und unbenugt laſſen darf. 
Dergleihen Erwägungen werden hier von vornherein ab» 
geſchnitten. Dit einem reſoluten „Kopfab“ Liegen Hegel, 
Herbart, die Theiften unferer Tage und faft alles, was 
jonft hier in den Weg fommt, hingeſtredt mit kaum noch 
zudenden Gliebern. — 

Diefer Uebelftand darf uns jedoch die guten Geiten 
der Arbeit nicht überfehen laſſen, welche fowol in bem 
ernften Streben nad unzweifelhaſter Gewißheit als in 
einem ſchatzbaren Maße von anfgewandtem Scharffinn ber 
ftehen. Man dürfte das Streben ein originelles nennen, 
wenn Originalität in Beziehung auf den Zwed, welden 
der Verfafjer verfolgt, nicht ein Tadel wäre, Gein Stre- 
ben ift mehr als originell, es ift wirklich fundamental. 
Es ift das gediegene Streben, alle Gewißheit in allen 
Dingen zu gründen auf das tieffte logiſche Grundgefeg, 
das der Ioentität; das Streben, die Reniität oder Glei⸗ 
dung (A=A) als das alleinige Gefeg aller Wahrheit und 
Gewißgeit überhaupt nachzuweiſen. Ciner der hervor» 
zagendften Punkte bei folder Anſicht der Dinge ift die 
darin nothwendig hervortretende Forderung, daß das 
Grundgefe der Togit und das der Moral nicht mehr ald 
verſchiedene auseinanderfallen dürfen, fondern ganz nur 
als eins und daſſelbe feiend erfannt werden müſſen. Die- 
ſes gu zeigen, ift dem Verfafler in dem Abfchnitte über 
den Willen, ©. 241— 277, auf eine wirklich glänzende 
Beife gelungen. Auch daß er die dem ſcharfen Forſcher 
bei iogiſchen Unterſuchungen dieſer Art aufftoßende In« 
commenfurabifität des Seins uud Gefchehens (a priori 
und a posteriori), zu deren Berbergung und Vertuſchung 
der Soentitätsftanbpunft leicht verführen Tann, keineswegs 
verbedt, vielmehr im Gegentheil in demjenigen grellen 
Lichte zeigt, weldes der Sache in Wahrheit eigen iſt, 

1870. 13. 





wenn man fie unerfehroden ins Auge faßt, ift eine nicht 


zu unterfchägende Tugend diefer Arbeit. Als bie aus- 


geſprochenſte und reinſte Identitätslehre geht fle im alle 
gemeinen diefelbe Bahn, welche ihr die großen Identitäts⸗ 
philoſophen Fichte, Schelling und Hegel vorangegangen 
find. Daß fie nicht am diefe anfnipft, fondern überall 
von vorn anhebt, gereicht ihr nicht gerade zum Nachteil, 
indem das Princip der Identität hierdurch nicht ab⸗ 
geftumpft, vielmehr in gewiffer Beziehung nur noch ver⸗ 
fchärft worden if. Daß fie dabei vermöge der geriigten 
falf hen Maxime ungerecht gegen ihre Vorgänger gewor - 
den ift, hierin befteht bie Schattenfeite der Sache. 

In der Schrift „Ueber Erkenntniß““ (Nr. 5) fährt 
Marimilian Droßbad fort, un fein befanntes Syſtem 
einer idealiſtiſchen Atomiftit mit jugendlicher Friſche und 
thatkräftigem Feuer vorzutragen: ein Syſiem, ganz dazu 
gemacht, träge Seelen aus bem geiftigen Schlafe zu weden 
und ihren Blick don der Oberfläde der Erſcheinung in 
die Tiefe des Wefenhaften zu lenken. Unermübet macht 
er Propaganda für die Exkenntniß, daß die Dinge, welche 
der Naturforfcher für wirklich wahrgenommene Eriftenzen 
hält, nur zu eriftiren feinen, ähnlich wie die Sonne ſich 
nur zu bewegen fcheint. Iſt man aber einmal darüber 
ins Klare gefommen, daß die Körperdinge nichts Wirk- 
liches find, fo ſieht man auch, wie weit ber Materialift 
fehlgeht, wenn er aus dem vermeintlichen Zuſammen ⸗ 
wirten biefer unwirklichen Dinge das wahrnehmende Ich 
hervorgehen läßt. Erſt wenn wir durch manderlei Er⸗ 
fahrungen darauf Yommen, daß das, was wir für ein 
wirkliches Ding Bielten, ein Trugbild war, wird uns die 
Möglichkeit gegeben, zum Bewußtſein deſſen zu gelangen, 
was bdenfelben voransgeht, und was wir wirklich wahr« 
nehmen: die zu Grunde liegenden Geiftwefen, von denen 
die materiellen Erfceinungen ausgehen. Denn alle wir 
lichen Weſen find nad; Droßbach vorftellende Wefen. Der 
Stein, wie der Menſch, ftellen immer vor. Der Unter 
ſchied befteht nicht dem Wefen, fondern nur dem Grabe 
nad, ähnlich wie die Grade der Temperatur unter Null 
auch noch Wärme anzeigen. Nun aber liegt im Begriff 
des Geiftigen eine gewiſſe Unenbligfeit und Schranten- 
loſigkeit enthalten. Was Leine Schranfen Hut, Tann un⸗ 
mittelbar zu allem andern kommen, im andern fein. Die 
ſchranlenloſen Wefen durchwirken ſich innerlich, indem fie 
trog ihrer BVielheit unendlich bleiben. Da jedes Weſen 
ſchranlenlos ift, fo muß ein jedes alle andern in ſich 
faffen und durchdringen, mit allen in innerlihem Zus 
fammenhang fein. Hierin befteht die in allen Weſen ur- 
ſprünglich angelegte Liebe, der Grund ihrer Harmonie 
und Einmüthigfeit, vermöge einer allfeitigen Wecjfeldurd- 
dringung, in welder fie Raum und Zeit mit ihrer Exi« 
ftenz überragen. Denn fie find nit in Raum und Zeit, 
fondern Raum und Zeit in ihnen. Aus diefer Urſache 
geht ihr zeitliches Schauen auch nit nur rüdwürts in 
die Vergangenheit, ſondern ebenfo ſehr vorwärts in bie 
Zukunft. Dos Auge des Kindes im finftern Mutterleibe 
wird ſchon darauf angelegt, daß es fpäter die Wirkungen 
des Lichts aufnehmen kann. Im diefem Vorausſchauen 
bifden wir unbewußt unfern Organismus und veranlaffen 
unfere Geburt. Im dieſem Vorausſchauen bewirken wir 

24 


PETERS 


186 


unbewußt die Auflöfung defjelben, ben ZTob, um zu wei⸗ 
tern böhern Formen der Berbindung fortfchreiten zu kön⸗ 
nen. Wir bleiben immer die ewigen unendlichen Wefen 
und ändern nur unfern innern Zuftand. Nur wer den 
Schein, bie irrige Vorftellung, die er fi) von dem wirk- 
lihen Borgange macht, für das Wirkliche und Wahr⸗ 
genommene felbft hält, erfchricdt vor dem Tode; wer hinter 
die Conliffen blidt und das Getriebe erkennt, welches bie 
GSefpenftererfcheinung auf ber Bühne bewirkt, läßt fich nicht 
von ihr imponiren. Denn wir felbft find die Bedingun- 
gen alles Entftehens und Bergehens, und Geburt und 
Zod nur unfere wecjelnden Zuſtände. 

AS geiftige Atomiftit (Monadologie) ift diefe Theorie 
der Herbart’fchen nahe verwandt. Aber fie nimmt nicht, 


Kilitärifcher 


1. Aus dem Leben des General® der Infanterie 3. D. Dr. 
Heinrih von Brandt. Aus den Tageblihern und Aufzeich- 
nungen feines verflorbenen Vaters zufammengeftellt von 
HSeinrih don Brandt. Zweiter Theil. Berlin, 
Mittler und Sohn. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 

Der zweite Theil des Werks fchließt ſich nicht unmit- 
telbar an den erften*), an, da fi für bie Zeit von 
1812—28 in dem Nachlaſſe des Generals kein genügen- 
des Material vorgefunden bat. Aus dem Jahre 1813 
hat außer flüchtigen Notizen dem Herausgeber nur das 
Zagebuch vorgelegen, durch welches die Berwendung 
des aus den Trümmern der Weichfellegion gejchaffenen 
Weichfelregiments, bei welchem der Kapitän» Adjutant-Major 
von Brandt Ende Mat in Erfurt wieder eintraf, zu er- 
fehen ift. Bei Leipzig, ſchon am 16. October, fiel Brandt, 
zweimal ſchwer verwundet, in ruſſiſche Gefangenſchaft; 
nachdem er lange im Lazareth gelegen, wurde er mittels 
Zwangspafles in feine Heimat gejchidt. Im Jahre 1815 
trat er, aufgefordert durch feinen alten Chef Chlopidi, 
in die vom Großfürften Konftantin reorganifirte polnifche 
Armee; als aber Poſen als preußifches Großherzogthum 
anerlannt wurde, bat ev um feinen Abfchied, um im 
preußifche Dienfte zurüdzutreten, was der Großfürſt erft 
im folgenden Jahre genehmigte. Er wurde hierauf wie- 
der in ber preufifchen Armee als Hauptmann angeftellt 
und ſtand bis 1828 in Heinen ſchleſiſchen und polnischen 
Sarnifonen, außer dem praltifchen Dienft mit kriegs⸗ 
wiſſenſchaftlichen Studien und Arbeiten befchäftigt, bis er 
auf Verwendung des Generald von Balentini, der ihn in 
Glogau als Lehrer an der Divifionsjchule kennen gelernt, 
zum Cadettencorps nad) Berlin commandirt wurde. Bon 
diefer Zeit an bat er wieder die Aufzeichnungen jener 
Erlebniffe und Beobachtungen begonnen. Wir konnten 
die Luücke verfchmerzen, weil wir von da an einen wich⸗ 
tigen Beitrag für die Zeitgefchichte bis in die Gegenwart 
hinein zu erwarten hatten. Leider hat es ſich aber ber 
Sohn verfagen zu müſſen geglaubt, die Veröffentlichung 
weiter als bis zum „Jahre 1833 auszudehnen. Er jagt 
im Borwort zum zweiten Theile: „Mit jedem Schritte 


%) Bgl. die Befprehung befielben in Nr. 16 d. BL. f. 1869, D. Reb. 


Militärifher Büchertiſch. 


wie Herbart thut, ein blos mechanifches Verhältniß zwi⸗ 
chen den geiftigen Einheiten oder Monaden an, fondern 
gibt dem organischen Begriffe einer wechſelwirkenden Durch⸗ 
dringung der Weſen von innen als Urſache ihres zwed. 


mäßigen Zuſammenwirkens das entfchiedene Uebergewicht 


itber den mechanifchen Begriff äußerer Störungen und inner« 
licher Widerftrebungen oder Selbfterhaltungen. Um diefes 
dem Herbart'ſchen Gedankengange entgegengefegten Ver⸗ 
fahrens willen darf die Droßbach'ſche Theorie ebenſo ſehr 
für einen lebendigen und eigenthümlich geſtalteten Zweig 
der aus der Fichte'ſchen Wiſſenſchaftslehre entſprungenen 
Identitätsphiloſophie angeſehen werden. 
Karl Sortlage. 
(Der Beſchluß folgt in der naächſten Nummer.) 


Büchertiſch. 


vorwärts mehren ſich die zunehmenden Rückſichten, und 
ich glaube im Sinne des Dahingeſchiedenen zu handeln, 
wenn ich über feinem Grabe keine Streitigkeiten herauf⸗ 
beſchwöre.“ Ob ber Berewigte bei feiner Freimüthigkeit 
diefe Zuritdhaltung gewünſcht bat, mag bdahingeftellt 
bleiben, jedenfalls hat er, wie aus den angeführten Wor⸗ 
ten bes Herausgebers hervorgeht, diefen Wunſch nicht 
ausgefprochen, und nad) Aeußerungen, die er gegen uns 
gethan, möchten wir überhaupt an bemfelben zweifeln. 
Indeſſen begreifen wir, daß der Sohn in feiner Stellung 
Rückfichten zu nehmen Bat, wenn wir aud) beflagen, daß 
und dadurch fo viel verloren geht. Der zweite Theil 
enthält alfo nur: Leben in Berlin, Aufftand in Polen, 
Sendung nad Frankreich. 1828—33. Er bietet des 
Interefianten aber fehr viel; Hoffen wir, daß nichts ab» 
geſchwächt oder unterdrüdt worben ift: bier und da möch—⸗ 
ten wir es glauben. Weber den damaligen Zuftand des 
Cadettencorps und der Allgemeinen Kriegsſchule, an welcher 
Brandt auch bald, mit Vorträgen betraut wurbe, über die 
ausgezeichneten Männer, mit denen er in Berührung kam, 
über anbere Perfönlichkeiten und die allgemeinen Ber 
bältniffe jener Zeit in Berlin Iefen wir eine Fülle von 
harakteriftifchen Schilderungen und Bemerkungen, deren 
Richtigkeit wir bezeugen können, ba wir jene Zeit cben- 
falls erlebt und faft alle Perfonen, welche genannt wer« 
den, gelannt, auch fpäter in bdenfelben WYunctionen wie 
früher der General Brandt gewirkt Haben. Die fcharfen 
Bemerkungen über den Bildungsgrad der Offizierafpiranten 
baben noch heute ihre Berechtigung; im Cadettencorps ift 
e8 zwar beffer geworden, aber „der Uebelſtand, welcher 
faft allen Inftituten anklebt, die in einer gewiffen Zeit 
eine gewiſſe Anzahl von jungen Leuten für ein beſtimm⸗ 
tes Fach vorbereiten follen, daß nämlich vieles nur ein 
äußerlich Angelerntes ift und eine gehörige Durchbildung 
fehlt“, ift noch immer nicht gehoben. Auch was über bie 
Allgemeine Kriegsfchule, die jegige Kriegsakademie, bie 
höchſte Militärbildungsanftalt, gefagt ift, trifft zum größ« 
ten Theile noch heute zu: die Kriegsſchulen der Armee 
aber, die Schöpfung des Generals von Peuder, bisjegt 
ſechs an der Zahl, Haben einen rühmlichen Auffchwung 


Militäriſcher Büchertiſch. 


genommen und ihre Leiſtungen glänzend in ben legten 
Kriegen bewährt. Im Yahre 1830 wurde Brandt als 
Major in den Generalftab verfegt. Er ſchildert die da- 
malige Organifation befjelben, feine Arbeiten, beſonders 
die fogenannten Generalftabsreifen, fehr genau, letztere mit 
fcharfer Kritik, welche noch immer Geltung bat. Zur 
Charakteriftit der Perfünlichkeiten, die uns Brandt vor« 
führt — und e8 fehlt faft kein Name von Bebentung 
darunter — werden viele bezeichnende Züge, Aeußerun- 
gen, felbft Anekdoten mitgeteilt, welche der Aufbewahrung 
wohl werth find. Solche leſen wir von Gneifenau, Rühle 
von Lilienftern, Clauſewitz, Radowitz, Balentini, Müffling, 
BWigleben, Willifen, Grolman und vielen andern fo le⸗ 
bendig erzählt, daß wir bie Perſonen vor uns zu fehen 
und fie zu hören glauben, 

Mit den Creigniffen, welche das Jahr 1830 in 
Frantreich und Belgien, iheilweiſe auch in Deutfchland, 
endlich in Polen brachte, nimmt das Tagebuch ein all» 
gemeineres und höheres Intereſſe in Anſpruch. Ueber 
bie Eindrüde in Berlin heißt «8: 

Der Ausbrud) der Unruben in Paris war das erſte Zeichen 
einer neuen Geflaltung der Dinge und flug wie ein zündender 
Blig in die Mafie. Der EntHufiasmus für die Beroegung in 
Frautreich grenzie in mander Beziehung am das Anferordent- 
liche. Daß Hierzu die Neugier nad) politiigen Neuigkeiten viel 
beigetragen, verſteht ſich von felbft, aber viel war durch die 

Rände, wie fie einmal waren, vorbereitet. Der Herd aller 
enigleiten war das Caſino, in dem die meiften Zeitungen ge- 
halten wurden und alle Diplomaten und Lente von Stande 
Deuteheten. Hier erregten einzelne Blätter mitunter den größten 
mwillen. 
mad alles, was den Fortfhritt wollte, Uebrigens waren viele 
Leute der höhern Stände einer confitutionellen Regierung 
durchaus nicht abgemeigt, Die Hervorragendfte Partei aber un- 
ter den Demokraten, wie man file damals nannte (Demagogen ?), 
bifdete der Beamtenſtand. Er war den Grundfägen der Revor 
Intion durchaus nicht fremd und hat es fpäter bemiefen, daß 
he ihm mehr wie willlommen war. 


Der polnifhe Aufitand brachte für den Major von 
Brandt eine neue und angeftrengte Thätigkeit. Da er 
die Verhaltniſſe in Polen genau kannte, fo mußte er aus 
den polniſchen Zeitungen, Ertrablättern und Plafaten für 
den Generaladjutanten des Königs, von Witzleben, das 
Wichtige überfegen und excerpiren, was ihn. ben ganzen 
Winter hindurch befcjäftigte. 

Im Palais des ruſſiſchen Gefandten Alopeus ſammelten 
fich allabendlih die Anhänger der ruſſiſchen Regierung, deren 
9 wit wenige gab. — Die urheffiihe Berfafjungefrage, die 
zumächft doch don großer Wichtigkeit war, trat gänzlich in ben 
bintergrand, und die Nachricht, daß der Bundestag den Herzog 
von Braunjhweig an die Stelle des verjagten Herzogs Karl 
ale Mitregenten anerkannt, warb von einigen Hhperlegitimiften 
ale Theilnahme deffelben an der Revolution bezeichnet. 


Der General irrt aber, wenn er fagt, daß Herzog 
Wilhelm bei den Gardedragonern geftanden; er ſtand 
vielmehr im zweiten Garde-Ulanenregiment, wo ex feinem 
Escadronchef durch völlige Unachtfamfeit vor ber Front 
viel Uergerniß gegeben hat. Daß er zu den diis mino- 
rum gentium gerechnet wurde, ift dagegen richtig. An- 
Fichten, welche fpäter bei einem Gejpräd des Berfafiers 
mit dem Feldmarſchall Diebitſch geüußert werden, find 





Bei Stehen dagegen fammelte fid die Literatur. 


187 


entſchieden Brandt's eigene, obgleich «8 aus dem Tert 
nicht recht Mar Hervorgeht: 

Mögten nur die Fürflen die Tramontane verlieren, möc- 
tem fie e8 nicht an ſich kommen laffen, vernünftige Reformen 
aufzufhieben. Zu dergleichen Hinterher Iepwun. jen zu werden, 
wie in Heffen, Sachſen und Braunſchweig, ift immer einer 
Copitulation mit dem Bolke gleichzuachten und führt mehr 
oder weniger eine Exrniedrigung der Flrftengemwalt im Gefolge. 
Hinterer gerathen beide Theile auf Ertravagangen und Ueber» 
ſchreitungen, wenn ein Rüdihlag erfolgt. 

Als die vier dftlichen Armeecorps unter Feldmarſchall 
Gneiſenau an der Grenze aufgeftelt wurden, veranlaßte 
diefer, daß Brandt zu feinem Generalftabe kam, beffen 
Chef der General von Elaufewig war, und endete ihn 
auch gleich, aus Poſen in das ruſſiſche Hauptquartier mit 
einem Briefe an den Feldmarſchali Diebitig. Die Er- 
lebniſſe auf diefer Reife, die Perfönlichkeiten, das Lager« 
leben und bie ruſſiſchen Truppen find vortrefflich ge⸗ 
ſchildert, es fehlt dabei auch nicht an pifanten Zügen. 
Ebenfo zeugen die folgenden Blätter, welche die im 
preußifchen Hauptquartier verlebte Zeit barftellen, von 
ſcharfer Beobachtungẽgabe und früh entwidelter Menfchen- 
tenntniß. Gneiſenau namentlich tritt uns im feinem 
ganzen Weſen, man möchte fagen, menſchlich näher; wir 
lefen auch viele, bisher noch wenig oder gar nicht be- 
lannte Einzelgeiten von ihm: 

Wenn e8 wahr iſt, was griechiſche genofoghen behanpten, 
daß fi die Seele den Körper baue, jo hatte der Feldmarichall 
eine edle Seele, denn er war ein flattliher Herr, eine wahr- 
Haft männliche Beflalt vom imponirendem Aengern und ein! 
lebhaften fhönen Auge. Unter den Marſchällen, die ich im 
meinem Leben gefehen, Überragte ex hinſichtlich der äußern Er- 
ſcheinung alle. Cs ift wahrſcheinlich daß mander von dieſen 
in einzelnen Disciplinen mehr zu leiften im Stande geweien 
wäre al® der Feldmarſchall, aber im feiner Zotalität auf- 
goßt übertrifft er fie alle am Seelenadel und Größe des 

ei I. 
Ueber Clauſewitz äußert ſich das Tagebuch ziemlich 
zurüdhaltend, Brandt Hat ſich wol wenig zu dem ſchwei- 
enden Manne hingezogen gefühlt. „Der Beifegung bes 
Gelbmarfae wohnte der General von Claujewig, was 
wir alle im höcjften Grade bebauerten, nicht bei — er 
war in einer Soiree der Frau von Roeder.” Allerdings 
unbegreiflich! Nach dem Uebertritte der Polen auf preu« 
ßiſches Gebiet hatte Brandt großeutheils die Berhand- 
lungen mit ihnen, behufs ihres Abmarſches nach Franke 
+ oder ihrer Rückehr in die Heimat, zu leiten; eine 
traurige Zeit für ihm, die ihm viele Unannehmlichkeiten, 
Berleumdungen und Angriffe von feiten der vevolutionären 
Varteipreſſe brachte. Was er zur Charalteriſtik bes 
Treibens jener Partei und ber „Infamien“, welche fie 
an polniſchen Offizieren ſelbſt begangen Hat, erzäßlt, wirft 
ein tramriges Licht auf Zuftände, die ſich in fpätern pol» 
niſchen Revolutionen wiederholen follten. Um fo wohl- 
thuender iſt es, was wir bon ber ebeln menfchenfreund» 
lichen Gefinnung des Königs gegen bie Polen, bie bei ihm 
Schutz gefucht haben, Iefen. Brandt hatte nad; feiner 
Nüdkehr noch viel mit der Sade zu tun, er mußte 
mehrere Zeitungsartifel u. |. w. als Erwidernngen auf 
die maßlofen Angriffe ſchreiben, welchen Preußen damals 
ausgeſetzt war. „Die Sachen find jest vergefien, aber 
24° 


:188 
das wird ewig wahr bleiben, daß ſich die Polen für bie 
Saftfreundfchaft und Rückſicht, mit der die preußiſche 
Regierung fie aufgenommen, höchſt undanlbar bewiejen 
haben.” Die vielen Thatfachen, die er dafür gibt, wer- 
den fi) nicht widerlegen lafjen. 

Im Auguft 1833 erhielt Brandt eine Sendung nad) 
Franfreih, um den Zuftand der franzöfifchen Armee, über 
den bie widerfprechendften Nachrichten eingegangen waren, 
fennen zu lernen und darüber zu berichten. Die Ergebniffe 
feiner eingehenden Beobachtungen werben militärische Leer 
zu Bergleichen mit der jegigen Berfaffung der franzöfifchen 
Armee veranlaffen; außerdem find auch hier viele Perſo⸗ 
nalien von den höhern Truppenführern Hinzugefügt, welche 
Major Brandt dort kennen gelernt hat. Die politifche 
Stimmung in den vier Lagern, welche er befuchte, bildete 
eine förmliche Gradation: das von Compiegne war durch 
und durch orleaniftiih, in St.-Omer offenbarten ſich hier 
und dort Sympathien für die geftürzte ältere Linie der 
Bonrbons, ftärker traten fie in Rocroi hervor, und in 
Wattignées wurden fie mit einer Art Oftentation zur 
Schau getragen. Franzöfifche Generale erkundigten ſich 
nady dem Geifte, der in der preußischen Armee herrſche, 
ob fie viele Republilaner Habe, und auf die Antwort, 
daß von dergleichen feine Rede, die Armee vielmehr dem 
Könige felfenfeft treu fei, priefen fie diefelbe glüclich. 
„Bei und“, ſagte der einflußreiche Corpeintendant Dubois, 
„find ale Unteroffiziere Republikaner, die Soldaten 
Proletarier.” Der Marſchall Soult fragte, warum fid) 
der Kriegsminifter von Hake zurüdziehen wolle; Brandt 
antwortete, daß er feine Gefundheit durch angeftrengte 
Arbeiten ruimirt babe, worauf Soult entgegnete: „Und 
Sie haben noch Feine Kammern, noch keine Deputirten, welche 
fih amufiren, die Minifter mit Nabelflihen zu tödten. 
Aber Sie werden diefelben Später auch haben, und dann 
wird man fehen, was es heißt, wenn alle Welt fi 
einfallen läßt, Angelegenheiten zu dirigiren, von benen 
fie nichts verſteht!“ Wie oft ift im fpätern Jahren 
dem General von Brandt dies Wort des Marjchalls 
eingefallen! 

Mit der Rückkehr aus Frankreich bricht das Bud), 
ohne Schluß, Kurz ab. Wir können unfer Bedauern, 
daß die Aufzeichnungen uicht bis auf die neueſte Zeit 
veröffentlicht worben find, nur wiederholen und wünſchen, 
daß die Rüdfichten, welche dies verhindert haben, bald 
ſchwinden mögen. 


2. Erinnerungen eines ehemaligen Brigantenchefs. Bon Lud⸗ 
wig Rihard Zimmermann Zwei Theile Berlin, 
Hausfreund-Erpedition. 1869. 8. 2 Thlr. 10 Nor. 


Schon bei ihrem erften Erfcheinen in der auf dem 
Titel genannten Zeitfehrift haben wir diefe „Erinnerungen“ 
mit Intereffe gelejen. Der Berfaffer, ein junger Offizier, 
welcher den Krieg von 1859 als öfterreichifcher Lieutenant 
mitgemacht hatte, ftellte fi 1861 in Rom zur Verfiigung 
des vertriebenen Königs von Neapel, wie er felbft fagt, 
ohne Hare, politifche Ueberzeugung, ben Kampf zunächft 
nur um bed Kampfes willen ſuchend, ohne von Begei⸗ 
fterung für das Princip der Legitimität an und für fi) 
etwas zu verſpüren. Jetzt verurtheilt er von politiichem 
Standpunfte feine damalige Partei, doch ſchämt er fich 


Militäriſcher Büchertiſch. 


ihrer nicht, ſondern „denkt mit ruhigem Bewußtſein an 
einen Kampf zurück, der, wenn auch von vornherein 
verfehlt und unglücklich, ſo viele leuchtende Beiſpiele von 
Treue, Muth und Opferfreudigkeit zu Tage förderte.“ 
Er ſpricht damit begreiflicherweife nur von ber bonrbe- 
nifchen Actionspartei, den Briganten des Jahres 1861 
und 1862, nicht aber von der bourbonifchen Camarilla 
zu Rom, deren erbärmliches Treiben er mit Verachtung 
ſchildert. Die Entftehung und das Wefen bes „Brigau- 
taggio”, welcher nur durch die furchtbaren Maßregeln 
der Piemontefen zur Unterdrückung deffelben und der fid 
mehrenden örtlichen Erhebungen, die Maffenfüfilladen und 
Brandfcenen, fowie durch die Pflege des fcheuglichften 
Denunciationsſyſtems fo große Dinienfionen annahm, wird 
jehr treffend dargeftelt. Wir lefen die Namen der vor 
züglichften Bandenführer, unter denen diejenigen bezeichnet 
find, melde im Laufe der Zeit mehr oder minder zu 
wirklichen Räubern wurden, nachdem urſprünglich faft 
alle nur die Bekämpfung der neuen Herrſchaft und die 
Herftellung der alten zum Zwecke gehabt. Das wirkliche 
Räuberweſen bat in Neapel den höchſten Grad erreicht, 
nachdem der Parteifrieg längſt beendet war. Nach diefer 
Einleitung erzählt der Verfaſſer feine eigenen Erlebnifle 
in frifcher anziehender Form, oft mit poetiſchem Schwunge, 
oft auch mit bitterm Humor und fcharfem Urtheil über 
alles, was ihm verwerflich ober verächtlich ſchien. Nur 
in dem Kapitel Liebe, wie er felbft fagt, hat er zumeilen 
bon einer poetifchen Licenz Gebrauch gemacht; für mande 
Lefer mögen biefe Intermezzi ihren Reiz haben, wir hät⸗ 
ten fie dem Verfaſſer gern erlaſſen. 

In Rom erhielt er von Leitenden Perfönlichkeiten aus 
der Umgebung des Königs Franz die Weifung umd die 
Mittel, fi) zu der Zruppe des Chiavone zu begeben, 
welche in den Bergen von Sora ftand. Mit einem Paß 
und der äußern Ausftattung als deutfcher Künſtler reifte 
er dahin ab, traf unterwegs bald mit Briganten zufam- 
men und gelangte glüdlich zu der Bande, deren Chef 
wie faft immer abwejend war, weil er ihre Entbehrungen 
und Gefahren nicht theilen mochte und fich lieber in dem 
Banerböfchen Caſa occoli, feinem Erholungsquartier, 
bei der Hausbefigerin, feiner Gelichten, Rathgeberin und 
Berderberin, aufhielt. Seine Bande, 240 Dann ftarl, 
hatte ihr Lager auf dem Monte Farone, 5000 Fuß had, 
umgeben von einer riefenhaften, feläftarrenden Natnr. 
Zimmermann war zum Sapitän ernannt worden, und 
Chiavone fette ihn zum Untercommandanten feiner Truppe 
ein, die nun vor allem erft organifirt werden mußte. 
Bon der Perfon und dem Leben Chinvone’s, mit welchem 
der Verfaſſer bald in die fchlimmften Conflicte gerieth, 
erhalten wir ein deutliches, wenn auch nicht anziehendes 
Bild. Er war 17 Jahre Soldat (zulekt Sergeant) und 
dann Forſtwart in Sora geweſen, in welchem Dienfte er 
fi die genauefte Ortskenntniß und ausgebreitete Belannt- 
jchaften unter der Bevölkerung der Gegend verjchafft Hatte; 
beim Einmarfch der Piemontefen 1860 war er als Führer 
und Kundfchafter der Töniglichen Truppen thätig gewefen 
und endlih, um dem Erjchießen zu entgehen, zu ber 
Truppe des Major Grafen Chriften geflohen, dem er 
durch feine Gewandtheit und Ortskenntniß gute Dienfte 
geleiftet hatte. Er war dafür zum Kapitän der Armee 


“ Militärifher Büchertifch. 189 


ernannt und mit einem Orden decorirt worben unb nad) 
dem Abgange Chriften’8 an die Spige der Truppe ge 
treten, wo er fi) aber bald ganz unentfchloffen, träge 
und feig gezeigt. Aus eigener Machtvolllommenheit nannte 
er fih nun Obergeneral der königlichen Truppen im 
Königreich Beiber Sicilien, wenn er au nur 200 Dann 
befehligte und diefe in Untbätigfeit hielt, ohne fich zu 
irgendeiner ernften Unternehmung bewegen zu lafien. 
Er Hatte fi mit etwa 20 Guiden als einer Art Leib⸗ 
wache umgeben, zum großen Theil feigen Schurfen, mit 
benen er in Caſa Coccoli fpielte und zechte und durch welche 
er feine Gewaltthaten ausführen Tieß. Bon biefen lefen wir 
mehr als eine. Ins euer, wenn c8 zum Gefecht kam, 
ging er nie. 

Der Berfaffer erzählt fein Leben unter den „Vogel⸗ 
freien“, die ihm bald ihr DBertrauen fchenkten. Als 
Bogelfreie, nicht als ehrliche Gegner wurden die Bri— 
ganten von den Piemontefen behandelt und alle Gefan- 
genen erſchoſſen. Dean jegte fie rittlings auf hölzerne 
Stühle, die Erecutionsmannfchaft ftellte ſich hinter ihnen 
auf und erſchoß fie von rückwärts, damit ſie ſchimpflich 
fterben follten. So wurde auch Graf Kaldreuth, ge- 
wefener Öfterreichifcher Nittmeifter, ein geborener Preuße, 
defien Mauen der Berfaffer fein Bud) gewidmet bat, fo 
der fpanifche General Borges mit 22 fpanifchen Offizieren, 
welche herübergefommen waren, um für den Better ihrer 
Königin zu kämpfen, erjchoflen. Das Schredensfyften, 
das die Piemontefen in Neapel übten, iſt feinerzeit 
belannt genug geworden; von Gialdini fagte hier das 
Boll: „Der Mund, der diefen Namen ausfpridt, blutet!“ 
Noch 1862 ließ ein Oberft Fantoni in feinem verhält⸗ 
nigmäßig Meinen Bezirke innerhalb weniger Monate 
900 Menfchen, worunter mehrere Weiber und Kinder, 
als Briganten und Brigantenhelfer füfiliven. Die Bri⸗ 
ganten, wie fie eine Hymne gedichtet, Hatten aud) ein 
Tobeslied, da8 der Berfaffer im freier Ueberſetzung mit« 
theilt: die wilden Worte, die ſtürmiſche Weife machten 
flets einen unbefchreiblihen Eindrud. 

Zimmermann fuchte vergebens, Chiavone zu Unterneh- 
mungen, wenigftens zu einem Handſtreich zu bewegen, der 
Chef erwartete immer Berftärkungen, zulegt gar Berglanonen, 
die natürlich ausblieben. Er geftattete aud) feinem Unter- 
commandanten höchitens zu recognosciren und zu requiriren. 
Die Piemontefen ihrerjeits rüdten öfter gegen die Berge, 
tonınten die Anfgänge aber nicht gewinnen. Chiavone fandte 
enblich Zimmermann mit einem Briefe „an unfern Herrn‘ 
nad) Rom. Hier gab es fcharf ausgeprägt als Parteien 
nebmeinander: die päpftliche, die piemontefifche (königlich⸗ 
italienische), die mazziniftifche (republikaniſch⸗ italieniſche), 
die franzdfifche, die der Verfaffer das unnatitrliche Kind 
Napoleonifcher Umtriebe nennt, und als Gaft die bour- 
bonifche. Auf das fchärffte geifelt er die neapolitanifchen 
Emigranten, die von der föniglichen Sache lebten, nicht 


ihr dienten. „Mit dem Oelde, welches diefe Gauner ver⸗ 


ſchlangen, hätte man eine Heine Armee ausrüften Können. 
Die Partei umfaßte mehrere Sectionen, unter denen die 
ber Action» die tüchtigfte und wichtigfte war, und viele 
fach verfolgt von Franzoſen und Piemontefen bei äußerſt 
geringen Hillfsmitteln eine Thätigkeit entwidelte, bie eines 
befiern Zweds würdig gewejen wäre.” 

Zimmermann mußte faft drei Wochen in Rom bleiben, 
um Leute, Waffen und Munition zu ſammeln; er brach dann 
mit feinem Transport auf und traf unterwegs mit dem zum 
Oberften ernannten Riviere, der fein künftiger Chef fein 
ſollte, zuſammen, dem Urtypus eines franzöfifchen Offizierg, 
welcher in brei Welttheilen ein bewegtes abentenerliches 
Leben geführt Hatte. Später wurde er bes Verraths an 
ber jetzt ergriffenen Sache befchnldigt, und verließ biefelbe, 
ohne daß feine Schuld erwiefen worben if, Der Trans- 
port am glüdlich in die Berge, wo die Truppe Chiavone's, 
zu welcher 25 trefflich bewaffnete verwegene Gefellen un⸗ 
ter dem Bandenführer Conti geftoßen waren, eine neue 
Drganifation erhielt. Die einbrechenden Herbfiftiirme und 
Mangel an Lebensmitteln veranlaßten endlih Zimmer- 
mann, fie hinab nad, der Caſa Eoccoli zu führen, wo 
Chiavone mit feinen Guiden gemüthlich lebte. Es kam 
zu heftigen Scenen, und Zimmermann mußte fürchten, 
bei pafjender Gelegenheit auf den „gran posto“ geftellt 
zu werden, wie Chiavone das Erſchießen nannte. Doc) 
heuchelte Chiavone vorderhand verfühnliche Gefinnungen ; 
die Truppe wurde, ftatt loszuſchlagen oder ans ihrer 
verzweifelten Lage in das waldreiche Innere der Abruzzen 
geführt zu werden, in Quartiere gelegt, wo fie die Franzoſen 
im Rüden hatte. Zimmermann unternahm noch einiges 
mit Glück auf eigene Hand, doch kehrte er, da fein Ver⸗ 
hältniß zu Chiavone immer fchlechter wurde, nad) Rom 
zurüd, wo er in ehrendfter Weife empfangen wurde und 
den Winter zur Errichtung eines Freicorps benußte, das 
er befehligen follte. Seine Berichte über Chiavone hatten 
feine andere Antwort befommen, als daß man den Dann 
feiner Popularität wegen nicht entbehren könne. Mit 
200 Freiwilligen glaubte Zimmermann feinen zweiten 
Veldzug beginnen zu können; bie Truppe, die fi an ber 
Grenze gefammelt hatte, erhielt aber höchſten Befehl, feine 
Ankunft nicht abzuwarten, fie wurde überfallen, und ihr 
Führer fand bei feiner Ankunft nur nod) 25 Mann vor. 
Wie er fi) dennoch im Felde gehalten und verftärkt, wie 
er unter die Befehle des Generals Triſtany getreten (des 
Spaniers, deſſen Name jegt wieder als Karliftenführer 
genannt wird), welchen Verrath Chinvone von nenem 
verübt, wie diefer endlih durch ein Kriegsgericht von 
Brigantenoffizieren zum Tode verurtheilt wurde und als 
Veigling farb, und wie Zimmermann bald nachher die 
verlorene Sache, für die er gefämpft, aufgab, ift intereffant 
zu lefen. Das Buch fchließt damit; es iſt jedenfalls ein 
guter Beitrag zur Geſchichte des Brigantaggio. 


Karl Guflau von Berned. 





190 


Fenuilleton. 


Fenilleton. 


Der Abgeordnete Braun und die Autorenrechte. 

Am 21. Februar fand in der flebenten Sigung des Nord» 
deutſchen Reichstags die erſte Berathung bes Geſetzentwurfs, 
betreffend das Urheberrecht au Schriftwerfen, Abbildungen, 
muftlalifhen Compofitionen, dramatiihen Werken nnd Werken 
der bildenden Kunft flatt. Der Abgeordnete Braun war nad) 
dem Commiſſarius des Bundesrathes, Dr. Dambach, der erfte 
Redner, der fih über den Entwurf ausſprach. Man kennt die 
geiftvoll plänkelnde, wisfhimmernde Art nnd Weife des wies⸗ 
badener Abgeordneten, welche keineswegs eine prägnante und 
fahgemäße Behandlung der vorliegenden gig en ausſchließt. 
Diesmal indeß hatte das Streben, eine durch allerlei Auekdoten 
illuſtrirte Literaturkenntniß zur Schau zu tragen, die misliche 
Folge, daß feine Intentionen vielfach misverftanden wurden, 
und daß zum Xheil jener „Schrei der Entrüftung‘ gegen ihn 
ausbrach, der in Deutichland bei Anmlichen Beranlaffungen ſel⸗ 
ten auf fi) warten läßt. Braun citirte fogar die Autoren des 
claffifchen Altertfums, die für ihre Schriften kein Honorar bes 
zogen hatten, und dergleichen Beiſpiele mußten böſes Blut 
maden in Deutfchland, wo fo manche Autoren nur in dieſer Hin- 
fit auf deu Ruf der Elafftcität Anfprud machen können, und 
wo man in der That für Erhöhung und nicht für Ermäßigung 
des Honorare plaidiren folte Wir tbeilen den Kern der 
Braun'ſchen Rebe bier mit: 

„Daß die geiftige Arbeit nicht ungethan bleibt, wenn man 
fein Autorrecht und lein Honorar flatuirt, beweiſt die Geſchichte: 
Somer hat für feine Gefänge, Sokrates für feine Converſationen 
und Blato fir feine Dialoge nie irgendwelches Honorar befommen, 
fonbern fle haben ihre Geiftesarbeiten verrichtet, weil fie der 
Geiſt trieb, und ich halte nufer Jahrhundert nicht für fo tief 
beruntergefommen, daß nicht aud) heute ne bergleichen Fülle 
vorfommen werden. Ariftoteles, wird man jagen, hatte feinen 
Alerander, Horaz feinen Mäcen, und in fpätern Zeiten Hatten 
die Schriftfteller ihre Medici und Ludwig XIV., bie ihre geifli- 
gen Arbeiten, wenn fie ihnen gefielen, genügend zu belohnen 
wußten. Heute bedarf es größerer Anregung zur geiftigen Thä⸗ 
tigleit. Man bat fich jetzt zwilchen zwei Syſtemen, dem des 

onopols und dem der Nationalbelohnung, zu entfheiden. Das 
fetstere wiirde in der Gegenwart ſchwerlich ausreichen, weil 
unfere Zeit zn fehr von Parteiinterefien zerriffen ift. Ich be- 
tämpfe deshalb das Autorrecht nicht principiell, gebe vielmehr 
zu, daß wir es bis zu einem gewiſſen Grabe nicht entbehren 
tönnen. In einem neuen Geſetze nur das beflehende Recht zu 
codificiren und Controverſen zu enticheiden, Halte id) nicht für 
richtig. Der Entwurf beraubt auf Gefeßen, die, auf den An- 
trag der SIntereffenten ausgearbeitet, fich nicht bewährt und der 
g ifigen Production nicht den Aufſchwung gegeben haben, den 
man erwarten durfte Wir haben ihn deshalb genau durch⸗ 
zuberathen; daß die Interefienten bei diefem Entwurfe gefragt 
find, dagegen habe ich nichts; aber auch die Maſſe der Nation, 
der Confamenten hätte gefragt werden müffen. Die Intereſ⸗ 
fenten find nur mit ihrem Geldbeutel bei der Sache intereffirt; 
ob diefer aber der spiritus familiaris iſt, der bie beften Rath: 
ſchläge ertheilt, iſt ſehr zu bezweifeln. Entſcheiden wir uns für 
das Syſtem des Schutzes, fo meine ih doch immer, daß der 
Entwurf denfelben auf zu lange und auf eine unzuläffige un- 
gleihe Zeit ausbehnt, nämlih auf die Lebenszeit des Autors 
und auf 30 Jahre nah feinem Tode. Denjenigen Antoren 
alfo, die früh flerben, wird ihr Autorrecht abgekürzt gegenüber 
denen, bie lange leben. Die Zeit muß deshalb gleich und auf 
15 oder 20 Jahre, wie in England, normirt werden. Daß 
Autor- und Verlagsrecht beſteht keineswegse feit Erſchaffung der 
Welt; es flammt nicht einmal aus dem Mittelalter, fondern 
ans der Blütezeit des territorialen Kirchentbume, das für fi) 
alle möglihen Borrechte in Anſpruch nahm und diefelben in 
Heinen Dofen an feine Glnftlinge in Form von Privilegien 
vertheifte und zwar als privilegia singulorum. Gemeinfame 
Geſetzgebung beftaub damals noch nicht; wollen wir fie ſchaffen, 
fo müffen wir auch gleichzeitig die Iurisdiction in einem Rechte 


körper verlörpern, wenn die Rechtſprechung nicht nad allen 
Seiten Hin anseinandergehen fol. Auch außerhalb des Bun- 
des, in Süddeutſchland, in Deflerreich, in andern europäifchen 
Ländern und anßereuropäifchen Welttheilen gibt es Deuiſche. 
Wollen wir deshalb eine Grundlage für unfer Autorrecht ſchaf⸗ 
fen, fo muß fie fo fein, daß fie auf dem Wege internationaler 
Berträge ausgedehnt werden Tann, foweit die beutjche Zunge 
reiht. Diefe Borlage wird die deutſchen Autoren ſchwerlich 
gegen die Piraterei im Auslande ſchützen und don der Volls⸗ 
vertretung jenfeit des Oceans ſchwerlich acceptirt werden. Das 
Autorredht if ein Monopol, das das Product verthenert und 
zwar um fo mebr, je länger die Dauer des Autorrechts aus 
gebehnt wird. Da wir es für die Gegenwart nicht ganz ent⸗ 

ehren können, fo müffen wir feine Nachtheile möglichſt zu be 
feitigen juchen und ihm eine möglihft kurze Dauer geben. 
Dann werden die Schriftfieller beſſer fahren als bei einer 
langen Dauer des Autorrechts. In Frankreich und England 
fprießen die nenen Auflagen in ebenfo viel Wochen hervor als 
bei uns in Jahren; die dritte Auflage iſt dort ſchon fo billig, 
daß felbft Unbemittelte fih das Wert Laufen können; bis daß 
bei uns bei Schiller und Goethe u war, haben wir ein 
halbes Jahrhundert warten müffen. Das kommt einfach daher, 
daß durch eine Unzahl von Sortimentebuchhandlungen die Bü⸗ 
der gegen einen Aufichlag, der in folder Höhe nur noch beim 
Wein⸗ und Cigarrenhandel vorkommt, bei uns vertrieben werden, 
während in England durch die öffentlichen Berfteigerungen das 
Berl in kurzer Zeit in Umlanf gebraht wird. Das Monopol 
des Autorrechts führt Überdies zu einer übermäßigen Steigerung 
der Production und zu einer auffallenden —A—— bet 
Confumtion, d. 5. des Bücherkanfs. Die befifituirten Men⸗ 
ſchen geniren fi nit, weil die Bücher zu theuer find, fie in 
ſchmuzigen und widerwärtigen Exemplaren, wie fie in England 
fein Kutfcher und in Frankreich Feine Köchin in die Hand nimmt, 
aus den Leihbibliothelen zu bezichen. (Heiterkeit.) Ja ich kenne 
den Ball, daß ein jübbeutfcher Fürſt das Buch eines in feiner 
Nefidenz wohnenden Scriftftellers zu Iefen wünſchte. Der 
Hofmarſchall befam den Befehl, das Buch zu beforgen. Anflatt 
es zu laufen, ging dieſer zu dem Schriftfteller und ließ fich ein 
Eremplar für Se. Majeſtät ſchenken. Ic finde unfern Buchhan⸗ 
dei nicht im geringften bewundernäwerth gegenliber dem eng- 
liſchen und franzöſiſchen. Bergleiden Sie 3. B. die Honorare 
der englifden und franzöfiihen Romanſchriftſteller mit denen 
der Deutſchen! Jene find bedeutend Höher; umd doch werden 
Sie einen Roman von Guftan Freytag nicht für ſchlechter hal- 
ten als einen von George Sand, oder einen von Berthold 
Auerbach für jchlechter als einen Roman von Bictor Hugo. 
Muß da nicht etwas faul in Deutſchland fein? Sechzig Sabre 
fol nad) dem Entwurfe das Autorredt dauern. Wer fol denn 
davon Bortheil ziehen? Der Autor wird keinen Pfennig mehr 
befommen, als wenn das Autorrecht Hirzer wäre. Sie ver 
theuern damit alfo nur noch mehr die geiftige Nahrung, bie 
ohnehin ſchon theuer genug if. Die Erben werden gleichfalls 
feinen Ruben davon haben. Ic babe die Ehre, zwei Entel 
Goethe's zu kennen, habe aber nie gehört, daß fie durd die 
Werte diefes Autors Millionäre gervorden find. Wollen Sie 
dagegen die Verleger zu Millionären machen, fo flimmen &ie 
dem Entwurfe zu. Sollten die Erben VBortheil von dem Autor⸗ 
recht ziehen, fo müßten Sie jagen, das Autorrecht ift ein Majorat, 
ein Fideicommiß, das auf den Erftgeborenen forterbt. (Heiterkeit.) 
Wie wenig es die Dichter bereichert, zeigt Ihnen das. Dach⸗ 
fümmerlein, das wackelige GStehpult und das Bett, worauf 
Schiller fhlief, worauf unfereiner für feine Figur keinen Plag 
hätte. (Heiterkeit) Das Berheißen auf die Nachwelt wird bie 
Lage der Schriftfteller nicht beſſern. Sie kommen und vergehen 
mit dem Zage. Wo find fie hin, die fi um die dresdener «Abenb- 
zeitung» gruppirt hatten, die Clauren, Theodor Hell und F. Kind, 
der zum «Freiſchützo in einem gewiffen Berhältniß ftand? Im 
Laufe von 60 Jahren kaun da8 Berlegerredht eines Werks reli- 
giöfer oder politifher Tendenz an einen Verleger kommen, ber 


Feuilleton. 


ber entgegengefettten Partei angehört. Er wird es dahin brin- 
gen, daß das Werk von Markte ſpurlos verſchwindet, bis es 
endlich) vergeffen und ben künftigen Geſchlechtern entzogen ift. 
Die Motive zu dem Entwurfe find fehr aufridtig. Sie geben 
als Duellen die beiden Entwürfe des Börfenvereins der deut. 
fhen Buchhändler an. Wollten wir nur das vermeintliche 
Intereffe der deutſchen Buchhändler vertreten — denn ihr wahres 
Jutereſſe befteht darin, möglihft raſchen Umschlag und Maffen- 
abfatz zu erzielen —, fo lönnten wir keinen beffern Entwurf als 
den vorliegenden machen.“ 

Die thatſächliche Pointe diefer Rede iſt doch nur gegen die 
alzu lange Schutfrift oder vielmehr gegen das unbillige Ver⸗ 
hältniß derjelben, wenn fie vom Tode des Autors ab gerechnet 
wird, gerichtet, und in dieſem Hauptpunkte ftimmte aud) ber 
Abgeordnete Franz Dunder mit ihm überein, der ſich im übri⸗ 
gen ii Scriftfteller gegen einzelne Ausfälle des Vorredners 
anuahm. 

„Streiten“, ſagt Dunder, „läßt fih nur über bie 
Ausdehnung der Schutzfriſt. Auch ich kaun ein körperliches 
Sigenthum an einem geiftigeu Erzenguiſſe nicht anerkennen. 
Unfere gejammte Literatur geht aus zwei Factoren hervor: bie 

efammte geiflige Arbeit der Nation bildet das Material, den 
on zu allen Bildungen, zu allen geiftigen Producten; aber 
der einzelne verlörpert die Idee in einer jpeciellen Geftalt, und 
das ift feine eigenfte That, die er nicht ohne ernfte mühſame 
Arbeit vollbringen kann. Hierin beruht das Recht des Autors, 
aber and) die Örenze feines Rechte. Er bat ein Recht darauf, 
fein Wert geihligt zu ſehen; aber da zugleich die ganze Nation 
mit ihm gearbeitet bat, da er der Erbe von Sahrhunderten ift, 
fo muß fein Recht im dem Rechte der Nation wieder unter 
eben. Aus diefem Grunde möchte ich auch die in vorliegenden 
Seiepe firirte Schugfrift für eine zu lange, oder wenigſtens für 
eine ſchlecht abgegrenzte halten. Das bezieht fih namentlich auf 
die 30 Sabre, für welche noch nad) dem Tode des Autors die 
Schutzfriſt gelten fol. Während danach Schiller's Werke ſchon 
1835 Gemeingut der Nation geworden wären, wäre biejer 
Zeitpunkt bei Goethe's «Werther», der, wenn ich mich nicht irre, 
in dem fiebziger Jahren erſchien, erſt nach 90 Jahren feit dem 
Erſcheinen des Werks eingetreten. Man muß die Dauer ber 
Schutfrift abgrenzen von dem Zeitpunkt des Erſcheinens des 
Werks, wobei dann freilich) wieder der Webelftand eintritt, daß 
dann unter Umftänden dem Autor noch bei feinen Lebzeiten die 
Dispofition über fein Werk entzogen werden faun.‘ 

Recht hat Dunder, wenn er fi) dagegen wendet, daß 
Braun das Recht des Autors auf fein Schriftwert als Monopol 
bezeichnet und meint, ein Monopol wäre e8 unr, wenn jemand 
etwa das ausichließlihe Recht hätte, Gedichte zu produciren 
n. dgl. m. Man hat Braun am meiften deshalb angegriffen, 
daß er die geiflige Arbeit für einen Act der „Infpiration‘ er- 
Märte, der an und für fi mit dem „Honorar“ nichts zu thun 
bat. Aber ift dies denn nicht der Fall? Kein echter Dichter 
denkt noch heutigentags, wenn er dichtet, an das Honorar, 
welches er dafür erhalten wird, und es iſt ja auch nur zu be 
kannt, daß die Lyrik, die Tragödie, die eigentlichen höhern, auf 
Snfpiration beruhenden Dichtgattungen, bHeutigentags feine 
uenneusmerthen Honorare erhalten, während bie am beften 
bezahlten deutfhen Autoren die berliner Poſſendichter find. 
Honerar und literarhiftorifche Geltung fteht alfo im umgekehrten 
Berhältniß, und wenn ein Redner hiervon die Conſequenzen zieht, 
fo fleht es den Schriftfteleru übel an, deshalb über benfelben 
herzufallen und einen Idealismus zu verurtheilen, den bie 
Literatur nie verleugnen darf, ohne ihr Beiligftes Palladium 
in den Staub zu treten. Der Reichstag fol freilich gerade 
dafür forgen, daß bie materielle Lage auch der edelftrebenden 
Dichter verbefjert wird; indeß zeigt fi ja aud) Braun dafür 
beforgt und meint nur, daß die jeßigen Geſetze mehr den 
Buchhändlern als den Schriftftellern zugute kommen. Wie man 
vernimmt, wird Braun jeine vielfad misverfiandenen An⸗ 
ſchauungen formuliren und zu 8.8 des Gejegentwurfs über bie 
Autorrechte folgenden Antrag einbringen, welcher fi den Prin- 
eipien der englifchen nnd amerikaniſchen Geſetzgebung anſchließt: 


191 


„Der Schuß, welden da® gegenwärtige Geje dem Autor gegen 
Nachdruck gewährt, erfiredt fih auf die Dauer feines Lebens 
und auf einen weitern Zeitraum von fieben Iahren nad feinem 
Tode. Im denjenigen fällen jedoch, in weldyen diefer gefammte 
Zeitraun fi auf weniger als vierzig Jahre, gerechnet von ber 
Publication des Werkes an, beläuft, verlängert fidh derfelbe 
kraft des Gefeges bis zu dieſer Dauer, d. b. bis zu einer 
Sefammtfrift von vierzig Jahren, gerechnet von dem Erſcheinen 
des Werks, jedoch nie über dreißig Jahre nah dem Tode 
des Autors.” 

Es ift wünſchenswerth, daß die Beflimmungen der Schutz⸗ 
frift, fomwie Überhaupt die andern Paragraphen des Geſetzes nach 
allen Seiten Hin genau erwogen und verhandelt werden. Weit 
weniger empfehlenswerth erfcheint e8 uns, vor dem Entwurf 
als einem unfehlbaren Meiſterwerk Schildwache zu flehen und 
das Gewehr zu präfentiren, und wenn die Herren Auerbach, 
Freytag, Hermann Grimm, Mommfen und Sulian Schmidt ' 
ein derartiges Schilderhäuschen, wo fie mit präfentirtem Ge⸗ 
wehr ftehen, in Geſtalt einer unbedingten Zufimmungserflärung 
in viele Zeitungen bineingebaut haben, fo ift das ihr gutes 
Hecht, ſoweit dies ihre perſönliche Anfiht gilt. Sollten fie 
aber glauben, damit die Meinung der deutjchen Schriftfleller 
zu vertreten und etwa durch ihre Autorität zu deden, fo er» 
Hören wir andern, daß wir fie nicht zu unſern Vertretern ges 
wählt haben, daß wir ihre Anficht nicht theilen und überhaupt 
eine derartige Orthodoxie verwerfen, welche fih gegen die Ber- 
befferungsfähigkeit menſchlicher Erzeugniffe flräubt. Erſt eim 
aus dent lebendigen Kampf der Meinungen herausgeborenes, 
in einer großen Verſammlung, welde die Nation und nicht 
die Fachmänner vertritt, geprüftes und umgeftaltetes Werk ver- 
dient als nationale Errnngenſchaft eine Zuftimmung, die das 
Recht der freien Kritik gegen einzelne Befimmungen auch fpäter 
nit in Frage ftellen darf. 





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Wustmann, G., Apelles’ Leben und Werke. Leipzig, Engelmann. 

Br, 8. 22'/, Ngr. 





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Faſſung und gedrängter alphabetifher Form. 

Es ift Mitgliedern von Laudes⸗ und Gemeindeveriretun- 
en, Beamten, Gewerbtreibenden, durz jedem, der am. öffent- 
ihren Leben th , al —Se % Hand» und Rad- 

ſchlagebuch zu empfehl en. 

Das Werl kann aud in 16 Heften zu je 10 Ngr. durch 
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mit beſonderer Berückſichtigung der Anthropologie 
und Ethnologie. 


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Dieser sechste Band vervollständigt die aulorisirie 
Ausgabe der Werke von Mickiewicz, indem er den 
gesammten literarischen Nachlass des Dichters 
enthält und zugleich Varianten zu frühern Dichtungen bie- 
tet, wie sich solche nach der von den Erben des Dichters 
besorgten Ausgabe ergeben. 

Die ersten fünf Bande der Werke von Mickiewicz 
bilden Band 8— 12 der von der Verlagshandlung unter 
dem Titel 


BIBLIOTEKA PISARZY POLSKICH 


herausgegebenen Sammlung polnischer Autoren. Jeder 
Band kostet geheftet 1 Thir., gebunden 1 Thlr. 10 Ngr. 

Ein Verzeichniss der bisher erschienenen 69 Bände 
dieser Sammlung ist durch alle Buchhandlungen gratis zu 
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en erſchien ein neuer (der 28.) Band von 
Brockhaus’ 


Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur 


des 18. und 19. Iahrhunderts: 

Moſes Mendelsſohn. Phädon oder Leber die Unfterblichkeit 
der Seele. Jeruſalem ober lieber religiöfe Macht und 
Judenthum. Mit Einleitung und Anmerfungen heraus» 
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Die erfhienenen 28 Bände find nebſt einem Proſpect 
über dic ganze Sammlung in allen Buchhandlungen vorräthig. 


Jeder Band geheftet 10 Ror., gebunden 15 or. 


ERGÄNZUNGSBLÄTTER, 
1870, 5. Heft. 


Geschiehte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy- 
denbrugk. — Staat und: Kirche, von J. J. Honegger. — 
Nekrolog. 

Literatur: Das deutsche Drama der letzten zwei 
Jahre, II. Die Preisdramen von 1869, von Dr. A. Lind- 
ner. — Nekrolog. 

Kunst: Die neuen photographischen Vervielfältigungs- 
methoden, von Dr. Br. Meyer. — Nekrolog. 

Chemie; Ammonium. — Die Destillationsprodukte des 
Rohspiritus. — Reaktion auf Alkohol. — Muscarin. — Ne- 
krolog. 

Zoologie: Organe eines sechsten Sinnes. — Fortpflan- 
zung im Larvenzustand. — Fortpflanzung des Lachses in 
Süsswasserseen. — Der Vulkanwels. — Nekrolog. 

Physiologie und Mediein: Die Gefahr des kalten Trun- 
kes bei erhitztem Körper. — Einfluss des Alkohols auf die 
Körpertemperatur, von Dr. Bayer. 

Botanik: Regelmässiger Wechsel in der Entwiokelung 
diklinischer Blüthen. — Die Wälder in Ostindien. — Austra- 
lische Riesenbäume. 

Mineralogie und 6eologie: Erdbeben, von H. Vogel- 
sang. — Die Kreideflora von Nordamerika. — Der Diamant. 

Volkswirthschaft: Gesetze über Aktiengesellschaften. — 
Nekrolog. 

Handel und Verkehr: Umschau von Dr. Lammers. — 
Singapore. — Nekrolog. 

Technologie: Die technisch verwendeten Gummiarten, 
Harze und Balsame, von \Viesner. — Trennung thierischer 
Fasern von vegetabilischen. — ÖOzonäther. — Ein Län- 
genmassstab der bei Temperaturwechsel unveränderlich ist. 
— Nekrolog. 

Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 





Derfag von 5. N. + Brodfaus in Leipzig. 


Alfred del Musset. 


Eine Studie von 
Karl Eugen von Ujfalvy 
Professor am kaisorl. Lyceum za Versailles, 
8 Geh. 1 Thlr. 

Mit dieser Schrift beabsichtigt der Verfasser, den grossen 
französischen Lyriker Alfred de Musset dem Verständniss des 
Publikums näher zu bringen, indem er die einzelnen Dichtungen 
im Zusammenhange mit dem Leben des Dichters vorführt und 
sie mit sprachlichen und asthetischen Erläuterungen begleitet 





Berantwortliher Redactenr: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Berlag von 5. A, Srochhaus in Leipzig. 


Blätter 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





—4 Ar. 13. mr 24. März 1870. 


Erfcheint wöchentlich. 








Inhalt: Wanderungen durch dem dentſchen Dichterwald. Bon @. Gersfurts. — Philoſophiſche Schriften. Bon Karl Fortlage. 
Weſchinß) — Dentfg-Brafilien. Bon NRigard Mudree. — Senileten. (Mdalbert Stifter; Notizen.) — Bibliographie. — 
Anpeigen. 





Wanderungen durch den denifhen Dichterwald. 


Der deutſche Dichterwald gleicht ſchon längſt nicht 
mehr einem Urwalde, in deſſen unwegſamer Wildniß die 
tnorrigen, ſchlingpfianzenumſponnenen Baumrieſen das 
Staunen und die Bewunderung des einſamen Wanderers 
erregen. Dieſe Urwaldspoeſie ift verſchwunden, ber beutfche 
Dichterwald zu einem wohlcultivirten und in regelmäßige 
Schläge eingetheilten Forſte geworden, in welchem bie 
Literarhiftorifer zur beſſern Ueberficht ſchnurgerade breite 
Schneißen eingeſchnitten und mit Grenzfteinen verfehen 
Haben. Auch in diefem Forfte werden die in Pflanzgärten 
forgfam erzogenen Schößlinge reihenweiſe nebeneinander 
gejegt, um in gefchloffenem Berbande zum Lichte empor» 
zuftreben, und jeder Stamm gleicht feinem Nachbar fo 
jehr, daß man oft vor lauter Bäumen den Wald und 
feine Poefie nicht finden kann. Dabei wird der ſchöne 
Hochwald immer feltener, Mittel- und Niederwalb rentirt 
fih ja befier; und Bier und dort findet fi auch jene 
Traveſtie des deutfchen Waldes, ber Eichenſchülwald: „ficht 
aus wie Wald, ift’8 aber nicht!“ 

Wie man 8 aber trogdem mit Recht beflagt, wenn 
irgendwo ein Stück Wald ausgerodet wird und der 
Profa des Kornfeldes weichen muß, weil die nachtheiligen 
Einwirkungen der Entwaldung auf Klima und Boden 
cultur zwar langfam aber unausbleiblich ſich geltend 
maden, fo fann es jeder Einſichtige auch nur lebhaft ber 
dauern, wenn irgendwo dem beutſchen Dichterwald das 
Terrain befchränkt und entzogen wird. Denn dadurch 
feidet unvermeidlich bie Friſche und Kühle der geifligen 
Atmofphäre, und bie Höhe der ganzen Eultur eines Volls 
wird wefentlih auch bedingt durch das richtige Berhältniß 
zwiſchen Wald und Feld, zwiſchen praktifcher Thäfigfeit 
und wiffenihaftlihem Studium einerfeits und zwiſchen 
tünſtleriſcher und dichteriſcher Production andererſeits. 
Bo die letztere erſchwert und von ben praltiſchen Beftre- 
bungen verdrängt wirb, da verſiegen allmählich die Quel- 
Ten, die das Land befruchten, und die ährengefüllten Fel-⸗ 

1870, 10. 


der und faftigen Wiefen werben zu öben Wüſteneien ume 
jewandelt. Pflege des Waldes ift daher eine wefentliche 
lufgabe der Nationalöfonomie, Pflege des Dichterwai ⸗ 
bes eine bedentungsvolle Aufgabe der Literaturgefchichte 
und der Mritil, Zur Pilege des Waldes gehört dor 
allem aber auch eine rechtzeitige Durchforſtung, eine Ve⸗ 
feitigung ber ſchwächlichen und unbraudbaren Bäume, 
damit den gefunden Träftigen Nachbarn mehr Licht und 
Luft geſchafft werde: und jo möchten wir in der Parcelle 
des deutſchen Dichterwaldes, durch welche unfer Weg uns 
heute führt, zunächft auch einige untauglihe Stämme aus. 
fondern, um Raum zu gewinnen für den Präftigern Nach- 
wuchs. Diefe Ausfonderung trifft namentlich folgende 
Product: 
1. BSedichte von Ernſt Barre. Leipzig, Durr'ſche Buchhand ⸗ 
ung, Fe A “wis, Tan Bush 
2. Gedichte von Eugen Frommuth. Berlin, Gelbfverlag 
des Berfaſſers. 1868. 16. 15 Nor. 
3. Srüßlingeblüten. Gedidte von Alfred Granert. Erim- 
mitſchau, Burdhardt. 1868. 16. 1 Thlr. 
4 Berichte von Karl Huber. Kempten, Köfel. 1868. 8. 
5 
6. 


gr. 

. Borgefühle. Neue lyriſche Gedichte von Albert Jäßing. 
Leipzig, Matthes. 1869. Gr. 16. 25 Nr. 

. Bolten. Gedichte von Joſeph Mayr⸗Tüchler. Graz, 
Hügel. 1869. 8. 20 Ngr. 


Die „Gedihte” von Ernſt Barre (Mr. 1) dringen 
zuerſt eine verfificiete weſtfälifche Criminalnovelle: „Die 
Judenfichte“, melde denſelben Gegenftand wie „Die Iuden- 
buche” von Annette von Droſte⸗Hülshoff behandelt, aber 
jenen dichteriſchen Hauch, ber die Poefie diefer letztern 
durchwehi, gänzlich vermiffen läßt. Den Schluß bilden 
Ueberfegungen befannter Lieber von Burns und Byron, 
welche ſchon häufig beffer und geläufiger übertragen wor« 
den find, Die dazwiſchen befindlichen eigenen Gedichte 
leiden an Gedanfenmangel und Unbehülflichfeit der Form; 
ale Beiſpiel diene eine Strophe aus ber Schilderung dee 

25 


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194 Wanderungen durch den deutſchen Dichterwald. 


nicht ganz unbekannten Schickſals eines in das Licht flie⸗ 
genden Schmetterlings, von welchem es S. 82 heißt: 

Schwirrt und ſchwirret leicht und leis; 

Und der arme Falter weiß, 

Daß er muß verderben; 

Und doch irrt er näh'r und näh'r, 

Bis die Flamme ihn verzehr', 

Bis daß er muß ſierben! 

Von den beſten der Gedichte gilt des Autors eigenes 
Wort (S. 98): 

Er dachte manch Gutes und ſagt's meiner Treu; 
Doch leider, leider war es nicht neu. 

Eugen Frommuth (Nr. 2) hat ſeinen „Gedichten“ 

feine Ueberſchriften gegeben; er ſagt ©. 2: 
Ganz ohne Namen, jo wie ihr gekommen, 
So end’ ich euch, getroft mit frohem Muth, 
Macht jelbft eud Namen, wo ihr aufgenommen, 
Wo mandes Aug’ auf euch gerichtet ruht! 

Allein diefe Gedichte find nicht geeignet, fich ſelbſt 
oder ihren Verfaſſer einen Namen zu machen, denn fie 
find jehr unbedeutend, und es fehlt ihnen gerade jencd 
„Anonyme“ des bekannten Soethe’fchen Spruch, der feine 
Duft des Originalen, da8 Bouquet cined unverwäflerten 
Feuerweins. Die Gedichtfammlung enthält mit wenig 
Ausnahmen Xiebeslieder, die das Thema von der ſchwar—⸗ 
zen Loden Nacht, des fchneeigen Buſens Wogen, ber 
Augen Glut und der Küffe Flut nach allen Seiten Bin, 
oft in wenig gemandter Weife variiren und jo von Zau- 
tologien ftroßen, daß es kaum möglid fein würde, unter« 
ſcheidende Ueberfchriften für die einzelnen Gedichte zu finden. 

Die „Trüblingsblüten” von Alfred Grauert (Nr. 3) 
eriunern an die Keimereien, die bei Gefellichaftsipielen, 


jenen jeux d’esprit, deren Bezeichnung an die Ableitung | 


des lucus a non lucendo mahnt, nad) aufgegebenen 
Reimen fabricirt werden. Es ift die nüchternfte platte 
Profa in gereimten Jamben und Trochäen, die uns in 
diefen Gedichten entgegentritt; Strophen wie folgende: 

Bon allen Blumen liebe 

Am innigften ich drei, 

Des Herzens heiße Triebe 

Beflimmen mid) dabei! — 
fönnen doch, wenn fie auch noch fo richtig fcandirt und 
mit correcten Heimen verfehen find, nicht als Poeſie gel« 
ten wollen. Einzelne fräftige Gedanken, welche nament- 
lich in den patriotifchen Gedichten: „Bewacht die Fleinfte 
Scholle deuticher Erde”, „Zurüd! Noch bat die Waffe 
nicht gefprochen”, einen höhern Auffchwung zu nehmen 
verfjuchen, laſſen jedoch erwarten, daß der Verfaſſer zu 
einem tüchtigen Proſaiker wol eher die Befähigung haben 
könnte. 

Die Hermann Lingg gewidmeten „Gedichte“ von Karl 
Huber (Nr. 4) halter ſich fo genau auf ber breiten Heer- 
ftraße der Mittelmäßigfeit, daß es gleich ſchwer ift, aus 
der Schar bderjelben ein ganz gelungenes oder ein ganz 
mislungenes Lied hervorzuheben. Halb gelungen find einige 
(4. B.: „Liebliche Sonne, ach, ſcheide noch nicht”), Halb 
mislungen ſehr viele, alle aber unbedeutend. 

Albert Jäßing, ıdeflen vor Jahresfriſt erſchienene 
ſehr mangelhafte Jugendgedichte in d. Bl. bereits beſprochen 
worden find, bringt jetzt ein Bündchen „Vorgefühle“ (Nr. 5), 
jn welchem er nad Angabe des Vorworts „durch neue, 


ber Größe und des Aufſchwungs der Zeit entfprechende 
Bilder und Gedanken eine nene Richtung einzuſchlagen“ 
beabfihtigt. In welcher Weife er dieſe Aufgabe zu löſen 
verſucht, mögen die erften Strophen bes Gedidjts: „Der 
Zeitgeift”, zeigen, welche lauten (S. 17): 
Hoch fich bäumend, kühnen Schwunges, 
Wie der Aar das Blau durchfchoß, 
Jagt der Ziegin: ha, ein junges, 
Adelſtolzes Siegesroß! 
An der Halfter, Nationen, 
Keucht ihr nach dem Ideal; 
Keine Sonnendemant- Kronen 
Wurden blendend euch zur Dual! — 
und folgende Schlußcadenz des „Grußes an die Sterne‘ 
(S. 75): 
Ob unermeßlich die Weltenflur 
Sich dehnt in endlofe Weiten, 
Doc ihrer höhnt die Zitanengeftalt, 
Der Menichengeift mit Gottesgewalt, 
Und fhwingt fi) empor zum herrlichſten Ruhme, 
Und mindet die Erden» und Sonnenblume ! 

Bon den „Wolken” von Joſeph Mayr-Tüdler 
(Nr. 6) find einzelne, z. B.: „Verrechnet“, „Zauberkreis”, 
‚Liebe auf der Eiſenbahn“, „Wolfsſage“, ſchon früher 
und zwar in den milnchener „liegenden Blättern” an 
uns vorübergezogen, und die meiften diefer Ephemeriden 
eignen fid) allerdings aud) mehr für dieſes Journal als 
für eine felbftändige Gedichtfammlung. Denn troß ein- 
zelner gelungener Bilder, mander pifanten Vergleiche und 
eöpritvollen Bemerkungen (3. B.: „Indianer und Möndje”) 
fehlt e8 den Gedichten an der vis poßtica, fodaß fie nur 
als Proja in Reimen erfcheinen. 


Kaum größeres Anrecht auf einen dauernden Plag im 
deutschen Dichterwald haben folgende epifche Berfuche: 
7. Zuleitha. Erzählendes Gediht von Dslar Wagner, 

Stuttgart, Belfer. 1869. 16. 18 Ngr. 


8. Ahasverus, der ewige Jude. Bon Bernhard Giſeke. 
Berlin, Schmweigger. 1868. 8. 22, Ngr. 


9. Die Hochzeit zwiſchen Geift und Herz. Ein Frühlingsmär- 

hen von Melchior Grohe. Heidelberg, Weiß. 1869, 

8 10 Nor. 

Die Heldin des erzählenden Gedihts von Oskar 
Wagner: „Zuleiffa” (Nr. 7), trägt denfelben Namen 
wie the bride of Abydos, und das Epos beginnt gleich) 
Byron's Dichtung mit einer Schilderung des Orients. Aber 
man darf freilich bei der Xeftitre befjelben nicht an jene 
wundervolen Berfe denken: 


Know ye the land, where the cypress and myrtle 
Are emblems of deeds, that are done in their clime? — 


Denn bier Haben wir nicht eins jener Heinen leiden⸗ 
Ihaftdurchglühten Byron'ſchen Kunſtwerke, fondern, wie 
der Epilog befagt, nur eine Nacerzählung der Im⸗ 
provifation eines türkiſchen Kaffeefaus- Märchenerzählers. 
Und es ift in derfelben nicht einmal ein Grundton feft- 
gehalten, da bumoriftifch-ironifche und pathetiſch⸗ſentimen⸗ 
tale Stellen fid) unvermittelt folgen und gegenfeitig para» 
lyſiren. Die Form ift ſehr nachläffig behandelt, Metrum 
und Reime find zuweilen von faum glaublicher Incorrect« 
heit; folgende Stelle der Einleitung (©. 4): 


— 


Sn en ie. Br EEE 


Wanderungen durch ben beutfhen Dichterwald. 


Der Fluß dort ift ber Granikus, 
Wo Alerander fiegte, 
Und dies bier ift der Bosporus, 
Den Darius überbrlidte — 
muß man wörtlich citiren, um ſich zu überzeugen, wie 
Darins und Granikus fcandirt, wie „fiegte” und „über: 
brüdte” gereimt werden Zönnen. 

Das Erfcheinen eines neuen „Ahasverus“ von Bern- 
hard Giſeke (Nr. 8) ift wol faun durd) „ein allgemein 
gefühltes dringende Bedürfniß“ Hervorgerufen worden, 
denn die Zahl der literarifchen Emwigen Juden wächſt 
unmer fort „mit Orazie in infinitum”. Der Ewige Jude 
bewährt feine irdifche Unfterblichkeit auch dadurch, daß er, 
fo oft er auch von einem Autor glücklich zur ewigen Ruhe 
gebracht wird, jofort wieder auferfteht, um feinen troft- 
Iofen Lebenslauf in einem neuen Epos von torn anzufan« 
gen. Ein folder Revenant ift auch der „Ahasverus“ von 
Bernhard Giſeke, welcher aber gegen feine neueften Vor⸗ 
gänger, Hamerling’8 „Ahasver in Rom’ und ©. Hel⸗ 
ler’s „Ahasverus“, weit zurüdfteht; denn e8 fehlt ihm 
ebenso die Yarbenglut und der narkotifche Duft des einen 
wie die philofophifche Tiefe des andetn biefer Namens- 
vettern. Ohne einen Grundgedanken Mar bervortreten zu 
laffen, enthält dieſe neue Geſchichte des alten juif errant 
nur eine Vermiſchung der von dem Herausgeber d. DI. 
in Nr. 42 f. 1866 bezeichneten verfchiedenen Auffafjungen 
der Ahasverus- Sage, 

Neben einzelnen epifodifhen Kreuz» und Duerzügen 
des Ewigen Juden bildet eine mehr ausführliche als an⸗ 
ſchauliche Erzählung der Belagerung und Zerftörung Jeru⸗ 
falems, bei deilen Vertheidigung Ahasver eine Hauptrolle 
fpielt, den wefentlichen Inhalt dieſes Epos, und endigt 
dafielbe mit dem Concil von Nicha und der Berlefung 
bed Credo durch Athanafius. Einen Abſchluß bringt dieſes 
Ende freilich nicht; Ahasver kommt zwar zur Erkenntniß, 
daß in Chriſto der Meſſias erſchienen, aber auf ſeine 
Bitte um den Tod erhält cr von „einer Stimme“ die 
Antwort: 

Noch Ion du nicht den Weg gemacht, 

Noch haft du nicht erreicht das Thor, 

Aus dem dir quilit des Heiles Licht. 

Sud deinen Weg, du findeft ihn, 

Magſt du auch Iang’ in Irre ziehn! — 
was bezüglich einer Fortſetzung dieſer Ahasverus-Irrfahr- 
ten Beforgniffe hervorzurufen geeignet ift. 

Das der Großherzogin Luiſe von Baden gewidmete 
Sarmen zur „Hochzeit zwifchen Geift und Herz”, von 
Melhior Grohe (Nr. 9), ift ein Hymenäus eigenthün- 
oe Art; ein Frühlingsmärchen nennt es der Berfaller 

.11): 
\ Ein Märchen iſt's — fein fröftlihes! — 
Ein köſtlich tröſtlich öſtliches! — 

und doch iſt der Inhalt dieſes im Zone von „Waldmei⸗ 
ſters Brautfahrt” erzählten Heinen Epos nur eine froftige 
Allegorie: der König von Parfiftan, Wille der Gute, und 
die Königin Vernunft, welche von dem Majordomus, dem 
(Zunschen Berftand, und feiner Kebfe Sinnlichkeit vom 
‚Throne verdrängt worden, werden mit Hillfe ihres Sohnes 
Heiſt und deſſen angeblicher Schweiter Herz wieder reftau- 
nirt. Geift und Herz entbrennen in Liebe zueinander, 
md nachdem fich heransgeftellt, daß fie nicht Geſchwiſter 


195 


find, fondern Herz die Tochter der Feenkönigin Phantafie 
und eines unbekannten Baters ift (die Phantafte hält fich 
an bie Rechtsregel: „La recherche de la paternitö est 
interdite”, welche fie in hochpathetifcher Weife überfett), 
wird die Hochzeit gefeiert. Diefe Gefchichte wird nun 
nit etwa in fteifen Alerandrinern oder witrdevollen 
Herametern, fondern in Inftigen Keimen, die zuweilen 
nur Rnittelverje find, erzählt; es entfteht dadurch jener 
eigenthümliche Widerſpruch zwifchen Form und Inhalt, 
der uns 3. B. die Rubens'ſchen Bilder aus der Gefchichte 
der Maria von Medici im Palais Yurembourg gerade 
deshalb faſt ungenießbar macht, weil in denfelben cine 
Fülle vein allegorifcher Figuren in realiftifcher Auffaffung 
mit aller Glut der Farbe dargeftellt wird. Der Berfaffer . 
Ichließt fein Epos mit einer Apoftrophe an SHeibelberg 
und mit den Wunfche, daß von ihr, der Stadt vol 
Immergrün, in feinen Verſen ein Hauch zu fpüren fein 
möchte (S. 57): 

Dann blieben meine Schilderein 

Wie hier Blum’, Böglein, Stern und Ouelle 

So Tuftig, duftig, frifch und helle! 

Allein, „der genius loci Heidelbergs ift feucht”, wie 
Bictor Scheffel in der Widmung zum „Gaudeamus“ fingt, 
und dieſes Frühlingsmärchen bleibt doch nur eine trodene 
Allegorie. 


Nachdem auf diefe Weife etwas Raum gefchafft wor- 
den, wenden fi unfere Augen zunächſt auf zwei Bäume 
mit weithin fchattenden Kronen, welche nicht dem jungen 
Nachwuchs angehören, deren Stünme vielmehr gar viele 
Sahresringe ertennen laffen; wie eine Fräftig fnorrige Eiche, 
und eine Birke mit dem im Windhauch zitternden grünen 
Laube ftehen fie da: 

10. Wilhelm Bornemann’s Jagdgedichte. Aus den hinter⸗ 
laffenen Handfchriften des verfiorbenen Dichters gefammelt 
und herausgegeben von Karl Bornemann. Nene Aus 
gabe. Mit dem Bidniß des Verfaſſers im SHolzfchnitt. 
Berlin, v. Deder. 1869. 8. 22, Nor. 

11. Lieder von Luiſe M. Henfel, herausgegeben von 
€. Schlüter. Paberborn, Schöningh. 1869. 8. 1 Thlr. 
15 Nur. 

Bon den „Jagdgedichten“ von Wilhelm Borne- 
mann (Nr. 10), deſſen zuerft im Yahre 1810 erfchie⸗ 
nene, jest im fiebenter Auflage vorliegende plattdeutfche 
Gedichte zu den bewährten Veteranen der Dialektdichtung 
gehören, ift nach dem Tode des Verfaſſers eine neu, 
durch Einfügung mehrerer bisher zerftreut gewefenen 
Poeſien bereidherte Ausgabe veröffentlicht worden. Das 
Lob, welches das Nachwort dem Dichter ſpendet: 

Und er ließ uns feine Lieder 

Friſch geſchöpft am Lebensquell, 
Wie er felber ſchlicht und bieder, 
Wie er felber Har und hell! — 

it ein wohlverdientes; denn diefe Gedichte find naturfrisch 

und naturwahr, es weht durch fie ein Daud wie daß 

Kaufen des Morgenwindes in den Wipfeln des Eid)- 

waldes. Wir finden in ihnen die Ergüffe cines „fernen 

Jägers“, der mit großartiger Verachtung auf die „Thaler- 

ſchützen“ der Neuzeit nach 1848 herabficht: 

Spiegel will ich euch vorhalten 

Aus der Jägerwelt der alten; 

Kann doc an der zeitig neuen 

Sid kein Jägerherz mehr frenen! — 
25 * 


196 


und es werben ſich diefe Jagdgedichte auch ſtets bei , Diana's 
Söhnen“ einer guten Aufnahme verſichert Halten können. 
Für den gewöhnlichen Lefer find diefelben freilich ohne 
ein Leriton der Weibmannsfpradhe oft kaum verſtändlich, 
weshalb in den Anmerkungen auch meiftens eine Erklä- 
rung ber techniſchen Ausdrüde beigefügt worden ift. Aber 
auc des Jageriateins muß ber Leſer kundig fein, wenn 
er diefen Jagdgedichten den rechten Geſchmad abgewinnen 
will; der biberbe Humor derſelben ift zuweilen ſehr kruftig 
und macht Häufige Streifzüge in das Gebiet des Burles- 
ten, wie ſich dies aud; in der Form (3.8. in den Rei- 
men „Weh" und „Berwundete”, „ägerheer” und „Neun- 
undneunziger“) bekundet. 

Einzelne der „Lieder“ von Luiſe M. Henfel (Nr. 11) 
find vor mehr als 50 Jahren in dorſter's „Sängerfahrt” 
1818 unter dem Namen Ludwiga, dann in bem „Geiſt ⸗ 
lichen Blumenſtranuß“ des Fürftbiihofs von Diepenbrod 
unter den Smitialen L. H., und in Hermann Kletke's 
„Geiftlicher Blumenleſe abgedrudt, auch iſt von letzterm 
ein Theil derſelben in einer beſondern Sammlung im Jahre 
1857 veröffentlicht worden. Nur wenige der jegt vom 
Prof. Schlüter herausgegebenen Gedichte find in dem letz . 
ten Decennium entftanden, faft die Hälfte berfelben ift 
vor einem halben Säculum gebichtet; einige, namentlich 
das „Nachtgebet”: „Müde bin ich, geh’ zue Ruh, fchliehe 
beide Augen zu“, find ſchon längft nicht nur in zahlreiche 
Liederſammlungen, fondern aud) in den Vollsmund über 
gegangen, und bie Dichterin hat wegen dieſer Lieber ja 
aud in namhaften Literaturgeſchichten rühmende Erwäh- 
nung gefunden. Bon befonderm Interefie ift das per» 
ſonliche und literariſche Verhältnig ber Dichterin zu Ele 
mens Brentano, ber ihr ſteis die innigfte Zuneigung bes 
wahrte und ihre Lieder in einem Briefe an feinen Bruber 
Chriſtian als das Liebſte und Wohlthätigfte bezeichnet, was 
ihm von menſchlichen Händen in feinem Leben zugelom- 
men fei. Einige der Gedichte, welche Clemens Brentano 
zugef—hrieben werden umd unter feinen „Geiftlichen Lie» 
dern“ veröffentlicht worden, haben Luiſe Henfel zur Ver- 
fafferin, 3. B. „Das Keimchen“; und in bem Liebe: „Zur 
Weihnachtaſternenhelle“ — dem Prolog der „Trutznachti ⸗ 
galt” — find die einzelnen Strophen abwechjelnd von Cie» 
mens Brentano und Luiſe Henfel gedichte. Das Lob, 
welches diefen Liedern von H. Kurz umd Barthel gefpendet 
wird, daß „fie zu den trefflichften Erſcheinungen in dem 
Gebiete des religibſen Liedes gehören umd nicht nur wegen 
echt chriſtlichen Sinnes, Kindlicher Demuth und hingeben- 
ber Liebe, fondern auch wegen der Herzlichen einfachen 
Spradje und des oft volfsmäßigen Tons der Darftellung 
hochzuftellen find“, ift allerdings gar wohl begründet. Denn 
Lieder wie 3. ®.: „Jeſus in ber Heiligen Schrift”, „Das 
Gebet um Beharrlichkeit“, „Vorüber — hinitber”, „Einer 
Keinmüthigen” u. a. find der ergreifende Ausdrud find 
licher Demuth und einfacher aber tiefer Frömmigkeit und 
zeigen zugleich eine ungefänftelte Vollendung der Form, 
welche von großer Wirkung ift, Allein es kann auch nicht 
verſchwiegen werden, daß der Kreis der Empfindungen, 
in welchem ſich dieſe Gebichte bewegen, eim fehr enger, 
ihr Inhalt etwas eintönig ift, und bag fid), mwenigftens 
in einen Theil berfelben, eine unangenefme Silßuͤchleit 
eingeſchlichen hat. Dies gilt namentlich von der micher- 





Wanderungen burd ben deutſchen Dichterwald. 


holten Bezeichnung bes Heilandes als des Liebſten, bes 
Allerfhönften, von dem Ausmalen bes erften Kuffes, des 
füßen Liebestodes, von Gedichten wie „Der Reifeplan“, 
er Dftermorgen 1818” und von Stellen wie folgende 
G. 65): 
2 Du füßer, lieber Jeſu Chriſt, 

Die (htm id mid vor bi, 

Daß noch fo lau mein Herz dir if: 

Gib Liebe, Liebe mir! 
Ferner (©. 38): 

Da fah er meine Thränen fließen, 

Da rief er freundlich: „Lämmlein, lomm!“ 

roh eilt’ ich hin zu feinen Füßen, 
ein Blut that auf mid niederfließen, 

Da war ic) wieder rein und fromm! 
Dber (©. 9): 

Laß uns in grünen Wiegen 

Im weißen Hemblein fiegen 

So fill und tief und didt; 

Laß Thränen uns befendten, 

Laß auf uns nieberleuchten 

Dein ewig Mares Mondgeficht! 

Solche Stellen, ferner die übertriebene Kindlichleit der 
Krippenlieder“, oder die Ballade von den frommen Schäf- 
fein, die vor ber Hoftie Inien, muß man dem Heraus- 
geber entgegenhalten, wenn berjelbe am Schluß bes Bore 
worts eine Bergleihung zwiſchen diefen Gebichten und 
den „Geiftlichen — von Annette von Drofte- Hülshoff 
anftellt, welche im ganzen zu Ungunften ber letztern aus · 
fällt, während diefelbe doch Luſe Henfel an poetiſcher 
Kraft, an Tiefe der Gedanken und Reichthum der Phan- 
tafie weit überragt. 


Bon dem jüngern Nachwuchs find einige mehr. oder 
minder politiſchen Inhalts, von den Ereigniffen der jüng- 
Ren Vergangenheit ganz ober zum Theil erfüllt, und zeich⸗ 
nen fid) die beiden erften biefer Gedichtfammlungen auch 
noch dadurch ans, daß ihre Verfaffer dem Handwerker 
ſtand angehören: 

12. 2orber und Rofe. Vaterländiſche Gedichte von Karl 
Beife. Berlin, Goldſchmidt. 1869. 16. 10 Rgr. 
18. Dentjche Klänge aus den für das deutſche Baterlaud fo 

sreignißolin Jahren 1866 und 1867. Dem beutichen 

Bolle gewibmet von 9. ©. Müller. Rebſt einem Anhang 

vermiſqhter Gedichte. Obrdrufi, Stadermann jun. 1868. 

&. 16. 12 Nor. 

14. Buute Blätter. Gedichte von Wilibald Skett. Min 
den, Köhler. 1868. 32. 15 Nor. 

15. Bfätter und Blüten aus dem Schwarzwald. Gedichte von 
T. Hafner. Tübingen, Oflander. 1868. 16. 12 Rar. 
Unter dem Titel: „Lorber und Roſe“ (Mr. 12) hat 

zunächſt der als Volksdichter befannte und ſchon wieder« 

holt in d. DL. beſprochene Dreslermeifter Karl Weife 
aus Yreienwalde a. D. eine Sammlung vaterländifcher 

Gedichte Herausgegeben, welche ſich zum Heinen Theil 

auf den Feldzug in Scleswig-Holftein, zum größern 

Theil auf die Kämpfe des Jahres 1866 beziehen. Weife's 

früere Werke, namentlich fein „Familienleben in Dice 

tungen“, geben ein vollgültiges Zeugniß dafür, daß bie 

Hand, welche tagsüber den Meißel führt, abends ber 

Harfe des Dichters einfache, aber zum Herzen dringende 

Töne zu emtloden verfteht, und dies befunden an bie 

vaterländifchen Gedichte, welche in einem Doppelfonett dem 


Wanderungen durch den deutſchen Dichterwalb. 197 


König Wilhelm I. getoidmet werben. Iſt in dem Dichter 
diefer patriotiſchen Gefänge auch gerade nicht ein neuer 
Tyrtäus erftanden, fo fehlt es einzelnen berfelben doch 
Teineswegs an Schwung; Hangvoll und Fräftig tönt z. B. 
„Das Giegesfäuten" (S. 1): 

Sa, öffnet, all ihr Abendgloden, 

Den liederreihen Mund von Erz 

Und wedt zum innigſten Frohloden 

Das fiegsbeglücte deutſche Herz! 

In den meiften diefer Gebichte tritt jedoch der bie 
Dichtungen Weife'8 harakterificende Sinn fr das Far 
wilienhafte, Häusliche, zuweilen faft in etwas trivialer 
Weiſe hervor; andere haben nur ben Werth einer gefchidt 
erzählten militärif—en Anekdote (3. B. „Die durftigen 
Pommern in Kiffingen“), 

Die zweite Sammlung patriotifcher Gedichte: „Deutſche 
Klänge aus den für das deutjche Vaterland fo ereignißvollen 
Jahren 1866 und 1867”, von H. ©. Müller (Mr. 13), 
ſtammt ebenfalld von einem deutſchen Handwerker; als 
einen folchen bezeichnet ſich der Verſaſſer felbft in der 
Borrede, und in bem erften Gedicht ruft er, an ber 
Hobelbank ftehend, aus: 

Daf es mir möcht’ gelingen, 

Ihr Mufen ſteht mir bei! 

Stürkt meines Geiftes Schwingen, 
Denn id bin nur ein Lai'! 

Leider haben aber die Mufen diefer Bitte ihr Ohr 
verfchlofien, und wenn die Veröffentlichung diefer Reime⸗ 
reien durch die in ber Vorrede erwähnten „anerfennenden 
Zufhriften befannter und competenter hochgeftellter Män- 
ner“ herborgerufen worden ift, fo dürfte die Competenz 
diefer Kritiker den erheblichften Zweifeln unterliegen. Denn 
der Berfaffer weiß feiner wmohlgemeinten Begeifterung für 
Deutſchlands Einheit und Größe, für Vollsrechte und 
Freiheit nur in holprigen Knittelverfen Ausbrud zu geben, 
und diefen gereimten Seitartifeln eines Winkelblattes fehlt 
es an jebem poetiſchen Gehalt. Als Beiſpiel diene ein 
Kapitel aus der neueften Geſchichte Italiens (S. 44 fg.): 

Doch jener große Held (sc. Napoleon ILL.) 
Laßt feiner gu das Feld, 

Will guter Eh'mann fein, 

Und ihr den Papft befrein! 


Dem Frau Engenia 
Srolt mit Italia, 

Papft ſich nicht retten kaun, 
Müffen Franzofen dran. 


Er ſchickt mit Chaſſepots 
—A 
Zuaven bei Mentana; 
Thum große Wunder dal 
" Die Philippifa gegen den bewaffneten Frieden ent» 
Hält folgendes Argument: 
Neuer Mordgewehre Koften 
Freffen Millionen Gold, 
Und des Budgets ſchwerſter Poſten 
IM des Friedencheeres Sold! 

In gleicher Tonart find and die vermiſchten Gedichte 
des Anhangs gehalten; in dem Hochzeitöcarmen für feine 
Nichte preiſt der Verfaffer das 208 ber Braut und die 
fociale Stellung des Bräntigans mit folgenden Worten 
(©. 59): 


Denn Frau Pfarrerin zu werben 
IR ein neidenswerthes Glüd, 
Das gar viele ſchon begehrten, 
Mande wol mit neid'ſchein Blid! 


Der Pfarrer if in der Gemeinde 
Der erfle, der geehrt'ſte Mann; 
Jeder wünfeht fid) ihn zum Freunde, 
Beil ex den Himmel fließen kann! 

Wenn die Dichtungen von Karl Weife auch zumeilen 
etwas an das Hausbadene ftreifen, fo zeigt doch eine 
Bergleichung berfelben mit diefen Producten feines Colle- 
gen Müller, welche Fülle poetifcher Kraft ihnen innewohnt. 

In dem als Vorwort der „Bunten Blätter” von 
Wilibald Skett (Nr. 14) dienenden Dialog zwiſchen 
dem Dichter und bem Lefer unferer 'Zeit fpricht der letz⸗ 
tere bie Verwahrung aus: „Nur nicht zu große Sachen, 
man kommt zu ſchwer vom Fleck!“ Und diefer Mahnung 
eingebent bringt der Dichter im Meinften Weftentafchen- 
format auch nur Kleinigfeiten, die zuweilen faum etwas 
anderes find als „Vermiſchte Nachrichten” der Zeitungen 
in Berfen. Die trivialen Geſchichten: „Gute Freunde”, 
„Hochzeitsreiſe“, „Die fallende Eiche” ober „Die legten 
Lebendtage des Golbonfels aus Amerita” (©. 75): 

Er brachte feine Gelder 
ze einein reichen Bankier; 
wußte fie da fidher, 
Bei mäßiger Zinfenhöh't 


Kaum af er eine Woche 
Des Alters zubigen Brot, 
Da war das Geld verloren — 
Der Banfier war bankrott! — 
Eönnen ben aus ben „liegenden Blättern“ befannten 
Biedermannd- Gedichten eingereiht werden. Daneben fin« 
den ſich aber auch einige von tiefer Empfindung zeugende 
Lieder, 3. B.: „Gebet der Natur”, und eine Anzahl von 
Gedichten, welche, auf die neueften Zeitereigniffe Bezug 
nehmend, nicht ohne Geſchick gegen Particnlarismus und 
Ultramontanismus mit ſcharfgeſchliffenen Waffen ankäm⸗ 
pfen; 4. 8.: „Juni 1866”, „1572 und 1867 — Bar 
tholomäusnaht und Mentana”, „Deutſches Zollparlament 
im Mai 1868”, „Sentimentale Klänge vom Nordfee- 
firand“ und die etwas ſehr ſtark gepfefferte Satire: „From ⸗ 
mer Wunſch einer nicht deutſchen Partei“, welche mit den 
Berfen beginnt (©. 81): 
Bir hatten einft ein Grundgefeg! 
Daher war he viel Rn _ 
Bon fieben Profefjoren, 
Die wir zum Glüd verloren. 


Unb fpäter lag uns Rom fehr nah, 
Auch waren Jeſuiten da, 

Die num katechiſirten 

Und uns zum Beffern führten! 


Auch gab es einen Hoffrifeur 

Der war greihzeitig Grandfeigueur. 
Man zahlte feine Gnade 

Wie Bürfe und Pommade! 


Der und ein feiner Zahudirurg, 
Nur Cavaliere dur und durch, 
Und dann ein frommer Priefter, 
Die waren Hausminifter! u. f. w. 


198 


Der Verfaſſer der „Blätter und Blüten aus dem 
Schwarzwald“, T. Hafner (Nr. 15), fendet feinen Ge- 
dichten nicht nur als Vorwort eine Paraphrafe des Goethe’. 
fhen Spruchs: „Wer Tann Kluges, wer fann Dummes 
denken, das nicht längft die Vorwelt ſchon gedacht”, fon- 
dern aud) noch eine Vorentſchuldigung“ voraus (©. ıx): 

Ohne Fehler, ohne Mängel 

Sind felbft Gottes Tiebe Engel 
In dem weiten Himmel nicht; 
Denn er mußt' vor grauen Tagen 
Einen Schub hinunterjagen 

An das hölifche Gericht! 


Afo find auch meine Kinder 
Mangelhafte Erdenſünder, 
Aber dennoch allerliebft! 
Darum hoff’ ich, Lieber Lefer, 
Daß du nicht in Wuth, in böfer, 
Sie dem Feuer übergibſt! — 
und zur nähern Charakteriftif der „allerlichften Kinder“ 
dient dann nod der Troft (©. 42): 

Sf nun eins unter den Kleinen, 
Das vielleicht ſtrümpfig 
Ober barfuß, mit zottigen Haaren 
Und vorwibigem Gebaren, 
Mit ſtottriger Rede und trokig 
Draußen umberremnt, 
Wo niemand e8 kennt, 
Der Kritiker darliber fchimpft, 
Der Aefthetiler die Nafe rümpft, 
So wißt: 

Unter jedem Kinderhäufchen 

Dft ein ungerathnes ifl! 

Freilich iſt aber die Zahl diefer ungerathenen und 
ungezogenen, vorlauten und vorwitigen Kinder etwas zu 
grob und ihre Unart häufig etwas zu kräftig, wie z. B. 
a8 Sonett an einen Geizhals, das Gedicht „Unfere 
Zeit mit dem Schluß: „Poefie ift nicht vonndthen, da 
man ja Guano bat” u. a. zur Genüge befunden. Allein 
es finden fi unter der Gefchwifterfchar aud) gar viele, 
die Kopf und Herz auf dem rechten Flede haben, und 
unter ihnen zeichnen fid nicht wenige durch einen frifchen 
Lebensmuth und namentlich durch ein warmes Baterlande- 
gefühl vortheilhaft aus. Die Stimme, bie in biefen Ge- 
dichten von jenfeit de8 Main herübertönt, wird im Nor⸗ 
den überall ein Echo finden; im Scherz (z. B.: „Einen 
Erfünig“, den man doch gewarnt vorm Spiel Sche- 
undfechzig) und im Eruft (z. B.: „Den Antipreußen“, 
„Aufruf vom Mai 1867, „Gloſſen“) ſpricht ſich ein 
fräftiger Patriotismus, ein Gefühl fürs deutſche Vaterland 
in wohlthuender Weife aus. Der Rüdblid „Zum Jahres. 
ſchluß 1867" zählt zunächſt den Gewinn „diefer großen 
Zeit” freudig auf und ſchließt dann mit den Worten, 
die auch heute noch Geltung haben: 

Das heiß’ ich viel errungen 

Sn folder Turzen Zeit! 

Doch ift fie ganz gelungen 

Die deutide Einigkeit? 

Trennt nicht vom deutfchen Norden 
Den Süden noch der Main? 

Iſt's Wahrheit denn geworben: 
Ein Dentſchland foll es fein? 
Kommt, trot des Auslands Neiden 
Und trog Napoleon 

Laßt ihn uns überfchreiten: 

Den dentſchen Rubilon! 


Wanderungen durch den deutſchen Dichterwald. 


Rein lyriſchen Inhalts find dagegen folgende Novi« 
täten: 


16. Am Zwifchenabner See. Lieder von Franz Poppe. 
Didenburg, Stalling. 1869. 16. 10 Ngr. 


17. Zropenlieder von Albert Häger. Amflerdam, van ber 
Made. 1868. 

18. Gedichte von Ernſt Günthert. Ulm, Stettin. 1869. 
16. 18 Nor. 


. Guten Morgen Bielliebhen! Gedichte von Richard 
Schönbed. Glatz, Hirſchberg. 1868. Gr. 16. 1Thlr. 
. Aus dem Herzen. Dichtungen von Hedwig von Szwy⸗— 
fowsta. Göttingen, Bandenhocd und Ruprecht. 1869. 

8. 15 Nor. 

Die Gebihtfammlung: „Am Zwifchenahner See”, 
von Franz Poppe (Nr. 16), enthält zumächft eine Reihe 
von Robliedern der idylliſchen Lieblichkeit dieſes waldumkrunz⸗ 
ten Sees des Ammerlandes im Herzogthum Oldenburg, 
deſſen landſchaftliche Schönheit, ja defien Exiſtenz vielleicht 
manchem Leſer unbekannt ſein mag. An dieſe Natur⸗ 
ſchilderungen ſchließen ſich Liebeslieder an, bei denen der 
See und ſeine Umgebungen ſtets den Hintergrund bilden; 
auch ſie ſind ein ſprechendes Zeugniß von dem friſchen 
kräftigen Gefühl und der poetiſchen Begabung des Ber 
faſſers (z. B.: „Ritornell“, „Wir faßen zu vieren im 
Wagen”, „Der Yahrende Sänger” u. a), Sehr an 
Iprechend find auch die humoriftifchen Beigaben, und zwar 
nicht blo8 das am Schluß beigefügte „Kleeblatt ungezo- 
gener ungen“, deren ausgelaffenes Treiben der Dichter 
mit der Bemerkung: „Es wächſt anı See ja auch bei Lilien 
der Hülfenftrauch” (die Stechpalme), zu entſchuldigen bittet, 
ſondern auch unter den Seeliedern felbft findet fich hier 
und da ſolch ein Iuftiges Intermezzo; 3.8. ©. 82: „So 
geht's“, mit der Moral: 

Drum Iadeft du zum Stellbichein 

Dein Liebhen in den Garten, 

Laß es zu lang’ im Sternenſchein 

Nicht warten, ja nicht warten! 

Sonft fommt der Hans, des Nachbars Sohn, 

Und ftiehlt dir deine Liebe: 

Gelegenheit, das weiß man ſchon, 

Macht Diebe, ja macht Diebe! 
Und ©. 35: 

Das Land, es ift ein Paradies! 

Allein was nützt es mir? 

Bin id) dod in dem Paradies 

Allein wie Adam bier! 

Du lieber Gott, ich bitte dich, 

Gib eine Eva mir! 

Dann jag’ mich meinethalb hinaus 

Zum Paradies mit ihr! 

Naturfhilderungen und Liebeslieder mit landſchaft⸗ 
lichem Hintergrunde bringen auch die zum Beften bes 
Sophien⸗Thierſchutz⸗Vereins in Amfterdam herausgegebenen 
und der Beſchützerin befielben, ber Königin Sophie ber 
Niederlande, gewibmeten „Tropenlieder“ von Albert Häü- 
ger (Nr. 17); nur wird diefer Hintergrund nicht von 
einem waldumfränzten norbögutfchen Binnenfee gebildet, 
fondern ift derfelbe „weiter her” (©. 23): 

Die Tropennacht bededt das Meer und laue Luft weht drü- 


berhin 
Der Blumenduft Oſtindiens umgauieit träum'riſch meinen 
inn; 


Da liegt das zauberhafte Land — Scheherazade's Märchenwelt, 


Gleich einem Bilde vor mir da, uf die mein finnend Auge 
fällt 





Wanderungen burch ben deutſchen Dichterwald. 


Diefe „Tropenlieder“ ftammen aus Java nnd Celebes 
und bieten außerdem ein Intermezzo „Aus ben Savan- 
nen” und einen Epilog vom Piräus und ber Heimreife. 
Sie erinnern in ihrem glühenden Colorit zuweilen 
an die Aquarelle von Eduard Hildebrandt und deflen 
Sonnenuntergänge aus Indien mit Elefantenftaffage. Die 
Dietion ift eine Imitation von Freiligrath, wie z. ®. 
aus folgender Strophe deutlich erhellt: 

Mit vorgeftredtem Halfe geft verſchnellten Schritis das Dro- 


mebar, 
Schon athmet es dem feuchten Duft dee Wuſtenbronnens Kühl 
untl ar 
Aus ihrem matten Schaf erwach im Sa das Lieblingeweib 
I jeits 
Sie ornet mit geäfeger Sand De weiten Falten ihres 
ails. 


Zwiſchen die eigenen Gedichte find auch einige gelun- 
gene Ucberfegungen von Burns ſchen Liedern (3. B.: „Will 
you go to the Indies” und „Powers celestial“) und 
ans dem Holländif—en eingefügt. 

Das Heine Bändchen mit faum 50 „Gedichten“ von 
Ernft Günthert (Nr. 18) if den Manen Ludwig Uh— 
land's, der den Verfaffer zur Herausgabe diefes Lieber- 
trauzes ermuntert hat, gewidmet, und der Tod Uhland's 
hat auch zu eiment der Hübfcheften Gedichte („Es wird 
ein Grab gegraben zu Tübingen im Thal“) Beranlafjung 
gegeben. Ueberhaupt finden fid) unter diefen Dichtungen 
eines begabten Dilettanten manche recht anſprechende Lier 
der, die durd) ihren Maren Gedankeninhalt und ihre ab- 
gerumdete Form ben Lefer erfreuen, z. B. die Anekdote 
von York „Den Rufen gegenüber”, „Das höchſte 
Gluck“, „Der Ring von Gold“, „Im Thau von ftillen 
Thränen” u. a. m. 

Der Strauß von Immergrün, Ehrenpreis, Difteln, 
Eifenhut und Ritterfporn, welchen der Verfaſſer der Gedichte 
fammlung: „Guten Morgen, Vielliebchen“, Richard 
Schönbeck (Nr. 19), darbietet, enthält gerade feine 
Blumen, die fih durch Farbe, Form und Duft befonders 
auszeidjnen, und überdies find biefelben nicht ſämmtlich 
im des Verfaſſers eigenem Garten gewachſen. Denn diefe 
Gedichte find eine fo umverfennbare Nahahmung von 
Heine's „Bud; der Lieder“, daß einzelne Wendungen und 
Gedanten faft unverändert wieberfehren. Das Gedicht 
(S. 91): „Und wenn id) allein dich treffe“, mit ber 
Schlußſtrophe: 

Halt fe dann die Heinen Hände, 
Und laffe dich nicht von der Stel’, 
Und jhan dir ins Auge nud frage: 
„”ann reifen Sie, Mabemoifelle?" — 
ift doch nur eine verwäſſerte Paraphrafe von Heine's 
„Madame, id) Tiebe Sie!" Dann „Die Kluge” (©. 95): 
Sie hatte der Eonrmacher dreie, 
Drei Anbeter warben um fie, 
Sie war and wirklich traitable 
Beauts und voll Geift und Geniel — 
tie „Ballade” (©. 128): 
Es reitet ein einfamer Reiter 
Durch Naht und Sturmmwind einher, 
Gs peitjcht ihm der Regen das Antli; — 
Mein Liebchen, was wilft du noch mehr? — 
mit dem Schluffe: 





199 


Es ift ein preußiſcher Lieutuant, 
Der reitet vom Lande nach Haus, 
Den Baletot hat er vergeffen — 
Mein Liebchen, das Lied if num aus; — 
ferner ber Vers vom Stern im hohen Norden (S. 39): 
D leuchte weiter, du treuer Stern, 
Dit deinem milden Lichte, 
Ic lieb' dich innig — du bleibft fern; — 
’S ift halt die alte Geſchichte! — 
oder (S. 98): 
Sich, ic} habe dir gewidmet 
Meiner Lieder leiſes Flehn, 
Schön fcandirt und fhön gerhythmet — 
Und du willſt es nicht verfichn! 


Nein, gewiß, das war nicht edel, 

Daß du fo an mir gehandelt, 

Meinen ganz bernüir’gen Schädel 

In das: Gegentheil verwandelt! — 
fie find ganz - in Heine’fcher Manier, falop und auf 
pifanten Effect berechnet, nur weniger geiſtreich und eben 
nicht mehr originell, Aber auch die beſſern ber zahl· 
reichen Liebeslieder (3. B. „Ich träumte, ich wäre wieder 
bei dir“, ferner: „Dort oben bei ber Kapelle, da faßen 
wir Hand in Hand“, und: „Dort oben bei den Todten 
ftand wieder ic) allein“) erinnern, allerdings zu ihrem 
Bortheil, an bie ſpecifiſch Heine ſche Lori. Schön 
fcandirt find freilich, diefe Lieder nur zum kieinern Theil, 
viele find pure Proſa, und es dürfte eine ſchwierige Aufe 
gabe fein, folgende Stelle aus dem „Prolog des Tages 
don Oswiecim, einer trodenen Gefechtsrelation, als Verſe 
zu ſcandiren: 

Hier aogen beide — General von Knobelsdorff mit feinem 
Regimente Nr. 62, Malachoweki und feine 2. ſchleſiſchen Hu- 
faren, vom Oberflientenant von Baumgarten geführt — nahm 
feine Stellung dann in Ratibor, umfpähend nah dem feinde 
auszufhauen. Gen Myslowig wand fi Graf Stolberg hin 
mit Buffe Ulanen-Landwehr-Regiment und Petersdorfi Hufaren, 
der Fägercompagnie des Hauptinanns Kufferom, vou Infanterie 
die Landwehrbataillone Major von Ofen-Saden, Kleiſt und 
Kehler m. ſ. w. 

An andern Stellen Tofettirt der Verfaſſer mit einer 
Fülle nautifcher Kunflausdrüde, z. B. im „Bellerophon" 
(©. 121): 

Das St.⸗Georgekreuz ander Mod der Gaffel, 
Die Leinwand aus vom „Topp zur Railing, 
Die Luken aufgetreißt — —" 

Ein hübſcher Einfall in gefälliger Form ift das Lob 
des preußifchen Wahlſpruchs Suum cuique mit bem 
Schluſſe (S. 77): 

Und nimmer wirb im Preußenland 

Der edle Spruch verletzt, 

Selbft wenn des blinden Gottes Hand 

Die ſcharfen Pfeile wegt. 

Kup ic meins Liebchens roſigen Mund, 

So wünfd’ ich aud zu jeder Stund: 
Suam cuiquel 


Wenn die Verfafferin der Lieder „Aus dem Herzen“, 
Hedwig von Szwykowska (Nr. 20), im Vorwort 
ausfpridht : 

Mit wenig Worten viel zu fagen 
Soll nie ein Namenlofer wagen, 
Der noch nad Ruhm und Beifall ringe; 





200 


Das if ein Recht, das fich die alten 

Gediegnen Dichter vorbehalten! — — 
fo fcheint fle die Schranke ihrer eigenen Befähigung für 
ein allgemeines Geſetz zu Halten. Daß fie felbft aller- 
dings nicht im Stande ift mit wenig Worten viel zu 
fagen, bavon find die ſechs⸗ und achtzeiligen „Stoppeln‘ und 
„Schneefloden”, in denen nirgends ein Gedanke einen 
furzen prägnanten Ausdruck findet, ein Zeugniß. Alle 
Gedichte nehmen fi) wie Paraphrafen aus, die jedoch in 
geihmadvoller Form oft recht finnige Gedanken, ein fri⸗ 
ſches und tiefes Gefühl und lautere Frömmigkeit erken⸗ 
nen laffen. Als ein ſolches anfprechendes Gedicht ift 
befonders der „Mahnruf zur Freudigkeit“ in Terzinen 
hervorzuheben. 


Noch inhaltreicher find: 


21. Iugendparadies. Dichtungen für Yung und Alt von 
mil Taubert. Neu-Ruppin, Petrenz. 1869. 8. 
gr. 


22. Gedichte von Karl Schwarz. Leipzig, Felix. 1868. 8. 

1 Thle. 15 Ngr. 

Der fehr probuctive Emil Taubert, befien „Ge⸗ 
dichte” (1865), „Brautgefchen!” (1866) und „Neue Ger 
dichte” (1867) in Nr. 31 d. Bl. f. 1866 und Nr. 3 
d. Bl. f. 1869 beſprochen worden find, bat unter dem 
Titel „Bugendparadies“ (Nr. 21) wiederum ein Bändchen 
Dichtungen verdffentliht. Daſſelbe enthält aber nicht, 
wie feine Vorgänger, Liebeslieder und Gedankenlyrik, ſon⸗ 
dern Kinderlieder für Heine und große Kinder, welche die 
Begabung bes Dichters don einer neuen jehr anfpreden- 
den Seite erfcheinen laffen. Unter diefen Gedichten find 
einzelne allerliebfte Genrebilber, welche fi den bekannten 


Zeichnungen aus bem Kinderleben“ von Oskar Pletih an | 


die Seite ftellen können. Bon denfelben find namentlich: 
„Proſit“, „Die erften Stiefeln‘, „Katenmufif”, „Der 
Thiere Weihnachten“, „Vogelſprache“, „Gänſemägdlein“ 
hervorzuheben, und ferner „Große Wäſche“ (S. 20) mit 
dem Freuderuf der Kleinen Wäſcherin: | 
7." Sol ein Planjchfeft, fo wie heute, 

Wünſcht' ih Tag um Tag, juchhei! 

D die großen klugen Leute, 

Sammern fie nicht ſtets dabei? 

Beun ich groß bin, alle Wochen 

Große Wäſche richt’ ich ein. 

Waſchen, Planſchen, Seifekochen — 

Ach wie köſtlich muß das fein! 

Der Vorwurf, der manden Kinderbildern von Oskar 
Pletſch gemacht wird, daß fie die Naivetät und die Poefie 
des Kinderlebens, welche alle Zeichnungen bes Altmeifters 
Ludwig Richter durchwehen, zuweilen vermiffen laſſen, 
ober fie geradezu einer pilanten Wendung, einer manie⸗ 
rirten Parodie des Lebens der großen Kinder aufopfern, 
kann freilich einzelnen diefer Kinderlieder auch nicht er⸗ 
fpart werden. 

Die Gedichte von Karl Schwarz (Nr. 22) werben 
von dem Antor als Heine Böglein voller Wald- und 
Sangesluft bezeichnet (S. 14): 

Kleine Lieder find wie Vöglein 
Die man jeden Tag gern Hört, 
Weil ihr Fliegen, weil ihr Singen 
Uns auf unjerm Gang nicht flört. 


Wanderungen durch den deutſchen Dichterwald, 


Denn fie aber auch feinen Ablerflug wagen, ſondern 
nur leicht befchwingt von einem Baume zum andern 
flattern, fo fchallt doch ihr Geſang bald in den füßen 
Tlötentönen der Nachtigall (in den LXiebeslicdern: „An 
die Entfernte”, „Es geht heut nicht”, „Liebesfrühling“), 
bald in Iuftigen Lerchenwirbeln (in ben Naturfchilderungen: 
„Soldregen“, „Brühlingseinzug”, „Mondſchein⸗Sommer⸗ 
nacht“), bald im muntern Finkenſchlage (in den Waldes 
liedern: „Bergwäſſerchen mein Führer”, „Mein Wander 
ftab”, dem Sonett: „Ein Wort, ein Mann“, den Trink 
liedern: „Beim Wein‘, „D du wonnige lane Sommer 
nacht”) aus ben Zweigen. Allein was der Dichter von 
ben guten und ſchlechten Gedanken in ben „Aufgereihten 
Perlen” (S. 248) fagt: 

Ein Gedanke kommt felten allein, 
Ich hab’ es erfahren: 
Klug oder dumm, 
Sie leben zu Paaren! — 
das gilt auch von feinen Gedichten. Die Zahl ber guten 
it ziemlich groß (von denſelben fei noch das Motto der 
Liebeslieder, die Gedichte: „Die Erften“, „Wie die Kinder 
das Laufen lernen“ erwähnt); allein die Zahl der unbe: 
deutenden und fchlechten ift auch nicht Hein, und da bie 
Quantität die Qualität niemald zu erfegen vermag, fo 
würde eine Beſchränkung bes Inhalts diefes ſtarken 
Octavbandes auf etwa die Hälfte fehr zu feiner Empfeh⸗ 
Iung beigetragen haben. Neben einer Anzahl fehr trivialer 
Erzählungen und Reflerionen (3.2. „Der alte Buchhalter“, 
„Umſchau“, „Gefühle beim Bergfteigen”, „Bom Leben 
zum Tode‘) find es namentlich die Gedichte humoriſtiſchen 
Inhalts, die ſehr ſchwach ausgefallen find; „Der Frühling 
als Spottvogel“, der dem im Gefchäft bes Dichtens 
raſch dur das Rofenthal dahinlanfenden Autor zu- 
ruft (S. 337): 
Und fo wähnt’ ich, lieber Sänger, 
Liebesſchmerz fei auch dein Drünger; 
Doch ein Lied, ich weiß es jebt, 
Hat dich jo in Trab geſetzt — 
beweift dies zur Genüge. Daß übrigens Gutes und 
Schlechtes nicht blos immer „zu Paaren” kommt, fondern 
ih auch einzeln dicht nebeneinander vorfindet, das zeigt 


folgende Beiäreibung eines Gewitters, in welcher das 


erfte Bild ebenjo ſchön wie das zweite matt und mid 
lungen ift (©. 107): 
Dem Gedanken gleich, der erſt nur 
In dem Kopf des einen lebet, 
ft des fernen Bliges Spur. — 
Doch bald jagt des Donners Rollen, 
Daß er aus der Haft entfprungen, 
Ju die Mafjen eingedrungen — 
Furchtbar, daß die Erde bebet! 
Auf des Taltſtocks Flammenzeichen, 
Das zerreißt ber Wollen Schweigen, 
Folgt der große Paufenfchlag 
In der Wetterfompbonie; 
Langgezogen hallt er nach! 


Zum Schluß finden wir in diefem Stüd des beutfchen 
Dichterwalbes noch eine Fräftige, im fchönften Blätter» 


ſchmuck prangende Ulme, welche gleich den Ulmen ber 


lombardifchen Ebene bis oben von Weinranken umfponnen 
und 3 einer Fülle ſüßer ſchwellender Trauben behan« 
gen iſt: 


= — ——— — —— — — ——— - 


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Philoſophiſche Schriften. 201 


33. Beinpdantaften von 3. Leopold. Zweite Auflage. Berlin, 
eüderig. 1870. Br. 8. 12 Ngr. 
Der Berfaffer diefer „Weinphantafien fagt ziwar von 
fih in der Makame (S. 82): 
Es ift wahr, mich kennen die wenigfien Leute, 
Und von meinem Weltruhm jchnattern heute — 

Statt in des Nordens Froft und des Südens Sommern 
Kaum erſt ein paar Bänfe — in Hinterponmern! — 
allein dies Büchlein mit dem Motto: „In vino veritas, 
in vino divinitas”, wird bald die Wirkung haben, daß 
fein Zalent nicht lange „latent“ bleibt. Denn der Dichter 
it ein würdiger Nachfolger des Hafis und Mirza-Schaffy, 
und doch von ihnen wefentlich unterfchieden; nicht unter 
Palmen, fondern in deutſchen Buchenhainen find diefe 
kiebesblüten gewachfen, und ihr Duft ift ohne jede Bei« 
miſchung des Narkotifchen, Tiebli und doch kräftig, er- 
quidend wie da8 Bouquet eines edeln Rheinweins. Und 
deshalb werben Weinlieder wie: „Die Trinkmuſik“, 
„Das Meer”, „Die Weinphantafte‘, „Warum ift die 
Lehe jo froh?” m. a. mit wohlverbientem Beifall 
empfangen werden von dem Chore der Zecher in jauch- 

zender Runde: 
Sie fühlen es, daß für die Tollheit der Welt 
Zu jeglider Stunde 
Aus dem Geifte des Weines fid) ein Rächer erhebt 
Mit der Weisheit im Bunde. 
Und wenn mander in die Klage des Vorworts über die 
ſchwere Noth der „kriegsgottſel'gen Zeit“ einftinnmt, fo 
erfreut er fi) doppelt an diefen originellen Klängen 
und benft: 
Ein folder Klang bei ſolchem Leid, 
Ein foldyer Sang in folder Zeit 
Sf, was man zugeftehn gwiß muß, 
Gin rlihmensiwerther Anakreoniſsmus. 
Der luſtig fprudelnde Humor des Dichters, der na⸗ 


mentlih in der Makame: „Das bemoofte Haupt‘, ſich 
in grotesk fomifchen Sprüngen ergeht, überfchreitet zu« 
weilen die Orenzen des Burlesten, 3. B. in der Etymo- 
logie des Wortes Philofophen, in ber Verdeutfchung des 
eocesiar Auap diay nor Amin! (E8 kommt der Tag, 
da der Teufel euch Hole), oder in den Strophen: 

Das Glück zwar das weicht mir recht ärgerlich aus, 

Oft pocht' ich an den Thoren, da war's nicht zu Haus; 

Doch treff ich es einmal, dann fafj’ ich's beim Schopf, 

Und wenn’s keinen Chignon trägt, behalt’ ich's am Zopf. 

Allein auch bei der Geburt diefer „Lofen Kinder‘ find 
die Grazien nicht auögeblichen, und ihrem ungezogenen 
Liebling verzeiht man gern folhe Ertravaganzen, bei de» 
nen die bemunderungswürbige Herrichaft über die Sprache 
oft im Uebermuth gemisbraucht wird, und lachend horcht 
man feinen Lehren: 

Und wie von geftern bie Sorgen did) nicht mehr Tränen, 

So mußt du aud nicht an das „morgen denlen; 

Denn wie fagt der Dichter? 

So fpridt er: 

Quid sit futurum cras, fuge quaerere! 

Du folft um die Zukunft dich nicht fcherere! 

Zwifchen diefen Scherzen und Trinkliedern tönen uns 
aber auch, namentlich im dritten Cyklus, Iyrifche 
Klänge wie Iuftig fchmetternde Lerchenwirbel entgegen, 
und daß der Schall auch ein ernftes Wort zur rechten 
Zeit zu fprechen vermag, das bezeugt fein „Lied von ber 
Phraſe“ und das „Saiferlied“ mit dem alten Refrain: 
„Komm du bald, o Kaifer.” Bon diefen „Weinphantaflen” 
gilt deshalb der Spruch: „Verba placent et vox“; e8 
find feine jener „Ohnmachts-Erzeugniffe”, deren Erfolg 
der Dichter mit den Worten bezeichnet: 

Dies ift ihres Schidjals Entweder — Ober: 

‚Heut find fie Mode, und morgen — Mober! 

€. Gersfurih, 


Philoſophiſche Schriften. 


(Beihluß aus Nr. 12.) 


Der Berfafler der Schrift: „Der Sag des zureichen⸗ 
den Grundes“, Joſeph Jäkel (Nr. 6), kündigt fich felt- 
famerweife an als einen logifchen Dualiften. Er Hält e8 
nämlich fir einen Irrthum unferer bisherigen Speculation, 
nur Einen Urgrund aller Dinge, Ein abfolutes Wefen, 
behauptet zu haben, und fucht den Beweis zu führen, 
bag ein jedes Wirkliche vielmehr zwei urfprüngliche Gründe 
voraudfege, ein Ich umd ein Niht- Ich, ein Subject und 
en Object, eine zu Grunde liegende allgemeine Bedin- 
gung oder Borausfegung und eine fpecielle erzeugende 
Urſache. 

Daß ein ſolcher Dualismus von Grund und Urſache, 
oder Bedingung und Veranlaſſung, in den Naturproceſſen 
nirgends vermißt wird, iſt freilich wol anzuerkennen und 
zuzugeben. Wenn z. B. ein Gegenſtand vom Tiſche füllt, 
ſo iſt der allgemeine Grund ſeines Fallens das Geſetz der 
Schwere; er wird aber nicht vom Tiſche fallen, wenn 
ihn nicht eine beſtimmte Urſache herunterſtößt, z. B. die 
Bewegung meiner Hand. Und fo in allen ähnlichen Fäl- 
Im. Schon Ariftoteles hat diefen Dualismus recht gut 
1870. 138. 


erfannt. Er würde in dem gegebenen Beifpiel das Gefeg 
der Schwere als das Wefen der Begebenheit, die fchie- 
bende Hand als den Anlaß der Bewegung bezeichnet ha» 
ben. Uber obgleich diefe Nothwendigkeit eines Zufanımen- 
wirkens von Grund und Urfache bei allen Naturbegeben- 
beiten von alter8 her zu den befannteften Dingen gehört, 
fo ift ihre tiefere Begründung in den Principien der 
Metaphyſik dennoch ein unerfchöpfliches Thema ſcharfſin⸗ 
nigen Nachdenkens, und aud) die vom Verfaſſer darauf ver- 
wandte Mühe und Anftrengung ift höchſt anerkennenswerth. 
Daß er fid) bei feiner fchwierigen Unterſuchung baupt- 
ſächlich mit näherer Aufhellung ber letzten Grundbegriffe 
der heutigen Speculation, der Begriffe des Ich und Nicht⸗ 
Ich, beſchäftigt, iſt ebenfalls nur in der Ordnung. 
Ganz unbefriedigend hingegen erſcheint ſeine Arbeit in 
einem andern Punkte. Sie ignorirt völlig den wichtigſten 
unter allen Weltgritnden, die Zwedurfahe Und doch 
läßt fi über das Abfolute der modernen Speculation 
gar nicht reden ohne die Zuhülfenahme bdiefes Begriffs, 
auf welchem ganz allein feine Annahme beruht. Ob der 
26 





202 Philoſophiſche Schriften. 


Berfaffer den Begriff der Zweckurſache ganz zu vertilgen 
denft, wie Spinoza, oder ob er ihn für einen unerheblichen 
und aus andern Örundbegriffen ableitbaren hält, erfahren 
wir nicht. Jedenfalls gewährt eine Abhandlung über den 
Sag des zureihenden Grundes, worin von der Zwed⸗ 
urfache gar feine Rede ift, den Anblid eines Rumpfes 
ohne Kopf. Oder ift die Sache fo gemeint, daß die Zie- 
bung der letzten Schlußfolgerungen dem Leſer überlaffen 
bleiben fol, wozu der Verfaſſer blos die Prämiffen an 
die Hand geben wollte, ähnlich wie e8 zuweilen in Pla- 
tonifchen Dialogen vorkommt? Ein Umftand Fünnte wol 
anf diefen Gedanken leiten. Sowol letter Grund (Ich) 
als legte Urfache (Niht- Ich), follen als bloße Möglich- 
feiten, noch nicht als Wirklichkeiten, gedacht werden. Nun 
aber gibt es im ganzen Umfreife unfer8 Denkens und 
Anfchauens nur einen einzigen Val, in welchem wirfliche 
Thatſachen aus blos möglihen Borausfegungen al8 ihren 
vorhergehenden Urfachen entfpringen, und diefer einzige 
Tall ift die Thätigkeit wirkender Vorſtellungen oder die 
Zwedthätigfeit. Denn nur allein in diefer geht das Wirk» 
liche (die That) aus dem Möglichen (der Vorftellung von 
derfelben) hervor, und diefem Umftande gemäß hätten wir 
alfo das Ih und Nicht» Ich, oder den Weltgrund und 
die Welturfache, als die beiden Urideen aufzufafen, nad) 
benen das denkende Urwefen (die abfolute dee) ſeinen 
Schöpfungsplan entwirft. Hat der Verfaſſer die Sache 
jo gemeint, fo find wir einverftanden. Er hätte fid) aber 
über diefen Punkt deutlicher erklären follen. 


7. Orundlegung von Aeſthetik, Moral und Erziehung, vom 
empirifchen Standpunlt. Mit Rückſicht auf Herbart, R. Zim- 
mermann, Lobe, 3. H. von Fichte, Fechner, 8. Büchner 
und Trendelenburg, von F. A. von Hartfen. Mit einem 
neuen Berfuh, Philofophie und Religion zu verfühnen, 
Halle, Pfeffer. 1869. 8. 24 Nr. 


Der Berfafler von Nr. 7: „Grundlegung von Aeſthetik, 
Moral und Erziehung, vom empirischen Standpunlt“, 
F.A.von Hartfen, gründet Erziehung auf Moral, Moral 
auf Aeſthetik. ALS fenfualiftifcher Empirifer erkennt er 


‚ein einfaches moralifches Grundprincip an, fondern ftatt 


deilen drei der Erfahrung entnommene Tugenden: Wohl« 
wollen, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Kriterium des 
Richtigen bei ihrer Beurtheilung ift das Urtheil der 
Mehrheit, aber nicht der gegenwärtigen, fondern der zu⸗ 
fünftigen Menſchen. Der Philoſoph foll überall das 
Drafel der Zukunft befragen und nad; deſſen Ausfprichen 
fi richten. Was er fi als die öffentliche Meinung 
dev Mehrzahl in der über unfern dereinftigen Gräbern 
ftehenden. Menſchheit vermuthungsweife denkt, hat ihm als 
der letzte Maßſtab der Wahrheit zu gelten. Einen an⸗ 
dern jollen wir nicht haben, einen andern foll e& über» 
haupt nicht geben. 

Alfo eine Philofophie der Zroftlofigleit in neuer Va⸗ 
riation. Denn was kann troftlofer fein als die Hinaus⸗ 
fchiebung der letzten Gewißheit in das abfolut Ungewiffe, 
die Zukunft? Wer fteht uns dafür, daß nicht gerade daß, 
was wir jett für das Teltefte anfjehen, wie die Forde⸗ 
rungen des Wohlwollens, der Gerchhtigfeit und Wahr⸗ 
haftigkeit, von der Mehrheit zulünftiger Menfchengejchlech- 
ter ganz misachtet werden, folglich feine ganze Wahrheit 
verlieren Könnte? Wer fteht uns dafür, daß zweimal zwei 


in alle Zukunft hin fir vier gelten wird? daß Wunder 
und Zaubereien, welche wir heute fiir unmöglich anfehen, 
in Zukunft nicht vielleicht die ganze Welt erfüllen und 
damit zur höchften Wahrheit emporfteigen dürften? Als 
pathologifche Gemüthsſtimmung betrachtet, ift der Gedanke 
nicht ohne einen gewiffen fhwärmerifchen Reiz. Byron 
hätte ihn als poetifches Motiv Leidenfchaftlicher Grübelei 
herrlich verwerthen fünnen. Der Wiffenfchaftsforfcher aber, 
welcher nach ewigen Bernunftgefegen urtheilt, Tann dem 
wilden Schwärmer nur mit Mephiflopheles zurufen: 

Hör’ anf mit deinem Gram zu fpielen, 

Der wie ein Geier dir an deiner Leber frift! 

Es Liegt nun einmal in der Beſchaffenheit gewiſſer 
Studien» und Lebensfreife, daß in ihnen ſich ein voll. 
fommen fenfualiftifches Denken ausbildet. Kommen diefem 
feine höhern Bedürfniffe Hinzu, fo wendet e8 fich einfad 


zum Materialismus. Kommen jene Hinzu, fo ſucht es 


zwar Anfnüpfungen an idealiftifhe Syfteme, ohne jedoch 
mit ihnen recht fertig werden zu können. So ſchlägt ſich 
bier der Berfafler mit Herbart herum, überall fähig den- 
jelben zu fafien, wo er fich im reife des unmittelbar 
Sinnlichen bewegt. Dagegen gehen ihm immer fogleich 
die Gedanken völlig aus, fobald die fpeculative Arbeit 
beginnt. Weil Herbart indefien nur auf dem theoretiſchen 
Gebiet zu den fpeculativen Denkern gehört, auf dem praf- 
tiichen hingegen zu ben Bopularphilofophen, indem er bie 
Moral zu einer bloßen Wefthetil des Willens und der 
Sefinnung herabfeßt: fo ift auf dem letzten Gebiet der 
Punkt eines Berftändniffes von fenfualiftifcher Seite her 
zu finden. Und fo kann man des Verfaſſers Theorie 
denn wol eine um einen ganzen Grad tiefer in den Sen 
ſualismus berabgeftimmte Herbart’fche Moral nennen. 

Eine endloſe Cafuiftif ohne gründliche Principien in 
der Moral ift etwas überaus Berwirrendes. ine folde 
findet fi in diefer Erziehungslehre. Gründliche Prin- 
cipten in ber Moral find nur die fpeculativen. Die wahre 
Moral ift Dictat reiner Vernunft. Bon reiner Vernunft 
aber weiß der Berfafler nichts. Er befchreibt vielmehr 
den empirifchen Weg, auf welddem er zur Anerkennung 
einer Moral gelangte, in der Borrede (S. ıv) auf fol- 
gende Art: 

Der Berfafler nun zweifelte an der Eriftenz der Moral, 
Sein Zweifel in diefer Hinficht aber wurde mächtig erſchüttert 
durch gelittenes Unrecht, das ihn in große Empörung verſetzte. 
So — fagte er nun — id) empöre mid, ich muß alfo do 
zugeben, daß es Schlechtes gibt. 

Diefe Art von empirifchem Standpunkt, auf welchen 
der Menſch die moralifchen Thatſachen der Erfahrung fo 
lange in Zweifel zieht, bis fle ihm an die eigene Haut 
gehen, erinnert ſtark an das finnreihe Märchen vom 
Manne, welcher das Grufeln lernte. Die furchtbarften 
Dinge rührten diefen Mann ganz und gar nicht, folange 
er fie nur von außen fah. Erſt als der Eimer kalten 
Waſſers mit den darin zappelnden Gründlingen fiber feine 
eigene Haut floß, erfuhr er was Gruſeln fi. Im Leben 
fühlt ſich allerdings ein Eimer Falten Waflers an der 
eigenen Haut immer nod) fchredlicher an als das Henker⸗ 
beil am Naden de8 Nachbars. Diejer Standpunft iſt 
gewiß ein vollkommen empirifcher Lebensſtandpunkt, taugt 
aber darum nicht zum Standpunft der Moral, weil er 
ein egoiftifcher ift. 





Philoſophiſche Schriften. 203 


Die Schwächen des moraliſchen Senfualismus Heben 
allen Auseinanderfegungen des Verfaffere an. Weil 5.2. 
das Moralprincip des Wohlwollens bei ihm nicht ver- 
nünftiger Grundſatz, fondern pathologifche Gemüthsftim- 
mung it, jo kann e8 duch Srankheiten theils gehindert, 
ipeitö befördert werden (S. 88): 

Gewiſſe Krankheiten, nämlich Unterleibsfrankheiten, kön⸗ 
nen die Reizbarkeit zum Wohlwollen abſtumpfen, ja ſogar in 
das Gegentheil umändern. Andere Krankheiten bringen leicht 
Uebermaß von Wohlwollen hervor. 

Der Widerfpruch, welcher darin liegt, da ein mora- 
liſches Priacip von Unterleiböfrankheiten abhange, wird 
vom Berfaller,' wie es fcheint, gar nicht empfunden. So 
etwas verfteht fi bei ihm nur ganz von felbft. Das 
Kaifonnement bleibt überall im bloßen Senfualismus (in 
Unterleibe) fteden. 

Dabei tragen dieſe Auseinanderfegungen ein ziemlich) 
frmbländifches Colorit. Die Sprache ift in der Con» 
ſtruction voll franzöftrender Wendungen, artet fogar mit—⸗ 
unter durch umnndthige Einftreuung fremder Ausdrüde, 
wie „idee fixe” ftatt „fire Idee“ u. dgl., in einen fran« 
zöfirenden Jargon aus. Wir würden diefe Unart gar 
nicht erwähnen, wenn fie als eine bloße Schwäche und 
one Spuren von Eitelkeit aufträte, welches aber nicht 
der Fall ift. Der Berfafier ift offenbar in dem Irrwahn 
befangen, klarer zu fchreiben als die meiften unferer philo⸗ 
ſephiſchen Schriftfteller. Sogleih das Motto auf dem 
Zitel der Schrift deutet indirect darauf bin. Es lautet: 
„Ce qui n’est pas clair, n'est pas philosophie.” 

Und doch verftößt ſogleich der dritte Sag in ber Bor» 
rede gegen Die Forderung dieſes Mottos: „Eine flare Dar- 
fellung der erften Gründe der Aeſthetik, hieran aber fcheint 
8 in Deutſchland bisher zu fehlen.” , 

Das „aber“ im Nachſatz deutet auf einen fehlenden 
Borderfaß, welchen der Leſer hinzudenken muß, indem er 
etwa lauten könnte: „wäre wilnfchenswerth”, oder: „wäre 
eine die Mühe lohnende Arbeit“, oder: „würde die philo- 
ſophiſche Wiffenfchaft fördern”, oder wie fich jeder den 
Zufammenhang am Liebften ergänzen mag. Das ift aber 
keineswegs eine Mare Schreibart zu nennen. ‘Dabei tabelt 
er bin und wieder an andern Schriftftellern Säge als un- 
Mar und unverftändlich, welche es nicht Überhaupt, ſon⸗ 
dern nur ihm find, weil ihm die Mittel des Verſtänd⸗ 
nifſes fehlen. So z. B. ift die befanntel, auf S. 1 an» 
geführte Hegel'ſche Definition der Kunft ($. 556 der „Ency⸗ 
Hopädie”) durchaus verftändlich und Mar für jedermann, 
weicher feinen Hegel verftehen gelernt hat, was ohne 
methodifches Stubium der Philofophie allerdings nicht 
möglich if. Wenn nun der Verfaſſer mit der ganzen 
Raivetäit des Autodidalten binzufegt: „Wir fir ung ſchä⸗ 
men uns nicht, zu geftehen, daß wir fie nicht verftehen‘: 
jo ift die Aufrichtigkeit diefes Geftändniffes zwar zu loben, 
den Berfaffer jedoch etwas mehr Behutfamkeit anzurathen 
m feiner breiften Aburtheilung über Dinge, welche er 
jwar nicht verfteht, welche dafür aber andere verftehen. 

Zuweilen beruht des Berfaflers Polemik blos auf einer 
Unbekanntſchaft mit der richtigen deutfchen Ausdrudsweife. 
So lefen wir 3.3. ©. 9 folgende gegen Herbart gerichtete 
Invective: 

Jedenfalls ift es Unfinn, zu jagen, daß das Aeſthetiſche 


unwillkürlich gefällt. Das wird wol heißen müſſen, daß es 

jemand (wem?) gefällt, ohne daß biefer es will! 

Mir haben hin⸗ und hergerathen, was es denn wol 
außerdem noch bedeuten könne, aber es ift uns nicht ges 
lungen, es zu errathen. Aud) finden wir das eingefchaltete 
„wen? bier ganz überflüffig. Denn daß mit dem „je 
mand“, wenn von Muſik die Rede ift, der Hörer, wenn 
bon einem Roman, der Lefer, wenn von einem Gemälde, 
der Beichauer, und wenn von einem Schaufpiel die Rede 
ift, der Zufchauer und Zuhörer in einer Perſon verftan- 
den wird, unterliegt doch wol feinen Zweifel. 

Duisquilien und Müdenfeigerei in Wörtern und Re- 
denearten find es, im denen der Verfaſſer fich zu fehr 
gefält. Bon der Bedeutung der goldenen Regel: „In ver- 
bis simus faciles”, bat er nicht die entfernte Ahnung. 
Ein fataler Kigel treibt ihn, den Notabilitäten unferer 
philofophifchen Fiteratur altklug, aber mit wenig Geſchick, 
am Zeuge Herumzufliden. Ob er felbft dabei in feinen 
Sägen den richtigen oder unrichtigen Caſus fett, das 
bängt oft mehr vom guten Glüd ab. Um vom incor- 
recten Stil des Verfaſſers ein charakteriftifches Beifpiel zu 
haben, betradjte man fich etiwa den folgenden Sag (5.98): 
„Wol wenige Ausnahmen wird es geben auf der Regel: 
was das Licht ſcheut, urtheilt ſich ſelbſt!“ 

Wer ſo fehreibt, dem fehlt nun einmal alle Berechti⸗ 
gung, die itber fein Verſtändniß emporragenden Rebens- 
arten eines Herbart, Trendelenburg ober Hegel in der 
Weile, wie er es thut, mit dem Schulmeifterlineal zu 
zerklopfen. 

8. Spinoza's neuentdedter Tractat von Gott, bem Menſchen 
und deffen Slüdfeligkeit. Exrläutert und in feiner Bedeu⸗ 
tung für das Verſtändniß des Spinoziemus unterſucht von 
Shrinopp Sigwart. Gotha, Befler. 1866. GEr. 8. 


8 
9. Ueber die beiden erften Phafen des Spinoziſchen Pantheis⸗ 
mus und das Verhältniß der zweiten zur dritten Phafe. 
Nebft einem Anhang: Ueber Reihenfolge und Abfaffungszeit 
ber ältern Schriften Spinoza’s. Bon Richard Avena⸗ 
rius. Leipzig, Avenarius. 1868. Gr. 8. 24 Ngr. 


Die gewöhnliche Anficht über Spinoza's Entwidelungs- 
gang war bisher, dieſer große Mann Habe zu philofo- 
phiren begonnen als Cartefianer, und ſich von dieſem an- 


fänglichen Standpunft aus durch immer ftrengeres Ber- 


folgen der mathematifchen Methode feiner Begriffsred;- 
nung nad) und nad zum Syftem des ihm eigenthülmlichen 
Pantheismus emporgearbeitet. Man konnte allem An» 
ſchein nad nicht wohl anders, als diefer Meinung fein. 
Denn die erfte von Spinoza felbft der Deffentlichkeit über- 
gebene Schrift war feine Darftelung der Cartefianifchen 
Brincipien der Philoſophie nach geometrifcher Methode 
(Amfterdam 1663). Als fie erfchten, war ihr Berfafler 
erft 31 Jahre alt, und daß derfelbe früher einer andern 
Philoſophenſchule angehangen habe, darüber gab es feine 
Nachricht und gibt fie and) noch heute nicht. 

Beide Verfaſſer der unter Nr. 8 und 9 genannten 
Schriften, Chriſtoph Sigwart und Rihard Ave— 
narius, ftellen hiergegen die auf gewiffen Vermuthungen 
beruhende Hypothefe auf, daß Spinoza anfangs gar nicht 
Cartefianer gewefen fei, im Gegenteil einem fehr ent- 
gegengefegten Syftem, dem des Giordano Bruno, an- 
gehangen habe, ſodaß feine Lehre keineswegs angefehen 

26 * 


202 


Berfaffer den Begriff der Zweckurſache ganz zu vertilgen 
denft, wie Spinoza, oder ob er ihn für einen unerheblichen 
und aus andern Grumdbegriffen ableitbaren hält, erfahren 
wir nit. Jedenfalls gewährt eine Abhandlung über den 
Sat bed zureichenden rundes, worin von der Zweck⸗ 
urfache gar feine Rede ift, den Anblid eines Rumpfes 
ohne Kopf. Oder ift die Sache jo gemeint, daß die Zie⸗ 
bung der legten Schlußfolgerungen dem Leſer überlafjen 
bleiben fol, wozu der Verfaſſer blo8 die Prämifien an 
die Hand geben wollte, ähnlich wie es zuweilen in Pla— 
tonifchen Dialogen vorkommt? Ein Umftand Fünnte wol 
auf diefen Gedanken leiten. Sowol letter Grund (Ic) 
al8 legte Urfache (Nicht- Ich), follen als bloße Möglich- 
keiten, noch nicht als Wirklichkeiten, gedacht werden. Nun 
aber gibt es im ganzen Umfreife unſers Denkens und 
Anfchauens nur einen einzigen Fall, in welchem wirkliche 
Thatſachen aus blos möglichen Vorausfegungen als ihren 
vorhergehenden Urfachen entfpringen, und diefer einzige 
Tall ift die Thätigkeit wirkender Borftellungen oder die 
Zwedthätigfeit. Denn nur allein in diefer geht das Wirk⸗ 
lihe (die That) aus dem Möglichen (der Vorſtellung von 
derjelben) hervor, und diefem Umftande gemäß hätten wir 
aljo das Ih und Nichte Ich, oder den Weltgrund und 
die Welturfache, al8 die beiden Urideen aufzufafjen, nad) 
benen das benfende Urweſen (bie abfolute dee) feinen 
Schöpfungsplan entwirft. Hat der Berfaffer die Sache 
fo gemeint, fo find wir einverflanden. Er hätte ſich aber 
über diefen Punkt deutlicher erklären follen. 


7. Grundlegung von Hefibetil, Moral und Erziehung, vom 
empirifchen Standpunkt. Mit Rüdfiht auf Herbart, R. Zim- 
mermann, Loße, 3. 9. von Fichte, Fechner, 8. Büchner 
und Trenbelenburg, von 5. U. von Hartfen. Mit einem 
neuen Berfud, bitofop ie und Religion zu verföhnen. 
Halle, Pfeffer. 1869. 8. 24 Nur. 

Der Berfafler von Nr. 7: „Srundlegung von Aefthetik, 
Moral und Erziehung, vom empirifchen Standpunkt”, 
F.A. von Hartfen, gründet Erziehung auf Moral, Moral 
auf Aeſthetik. ALS jenfualiftifcher Empirifer erkennt er 
kein einfaches moralifches Grundprincip an, fondern ftatt 
deſſen drei der Erfahrung entnommene Tugenden: Wohl 
wollen, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Kriterium des 
Richtigen bei ihrer Beurtheilnng iſt das Urtheil der 
Mehrheit, aber nicht der gegenwärtigen, fondern der zu- 
fünftigen Menfchen. Der Philofoph foll überall das 
Drafel der Zukunft befragen und nach deſſen Ausſprüchen 
fi richten. Was er fih als die öÖffentlihe Meinung 
der Mehrzahl in der über unfern dereinftigen Gräbern 
ftehenden. Menſchheit vermuthungsmweife denkt, hat ihm ale 
der legte Maßſtab der Wahrheit zu gelten. Einen an- 
dern follen wir nicht haben, einen andern foll e8 über⸗ 
haupt nicht geben. 

Alfo eine Philofophie der Troftlofigkeit in neuer Va⸗ 
riotion. Denn was kann troftlofer fein als die Hinaus- 
ſchiebung ber letzten Gewißheit in das abfolut Ungemiffe, 
die Zukunft? Wer fteht ung dafür, daß nicht gerade daß, 
was wir jetzt für das Teftefte anfjehen, wie die Forde⸗ 
rungen des Wohlwollens, der Geredhtigfeit und Wahr« 
haftigfeit, von ber Mehrheit zukünftiger Menſchengeſchlech⸗ 
ter ganz misachtet werden, folglich feine ganze Wahrheit 
verlieren Könnte? Wer fteht uns dafür, daß zweimal zwei 


Philoſophiſche Schriften. 


in alle Zukunft hin für vier gelten wird? daß Wunder 
und Zaubereien, welche wir heute für unmöglich anfehen, 
in Zukunft nicht vielleicht die ganze Welt erfüllen und 
damit zur höchften Wahrheit emporfteigen dürften? Als 
pathologische Gemütheftimmung betrachtet, ift der Gedauke 
nicht ohne einen gewiſſen ſchwärmeriſchen Reiz. Byron 
hätte ihn als poetifches Motiv Leidenfchaftlicher Grübelei 
berrficd) verwerthen Können. Der Wifienfchaftsforjcher aber, 
welcher nach ewigen Bernunftgefegen urtheilt, Tann dem 
wilden Schwärmer nur mit Mephiflopheles zurufen: 

Hör’ anf mit deinem Gram zu fpielen, 

Der mie ein Geier dir an deiner Leber frift! 

Es liegt nun einmal in der Befchaffenheit gewiffer 
Studien- und Lebensfreife, daß in ihnen ſich ein voll« 
fommen jenfualiftiiches Denken ausbildet. Kommen diefem 
feine höhern Beditrfniffe hinzu, jo wendet es ſich einfady 
zum Materialismus, Kommen jene Hinzu, fo ſucht es 
zwar Anfnüpfungen an idealiſtiſche Syfteme, ohne jedoch 
mit ihnen recht fertig werden zu können. Go fchlägt ſich 
bier der Berfaffer mit Herbart herum, überall fühig den- 
jelben zu faflen, wo er fi im reife des unmittelbar 
Sinnlichen bewegt. Dagegen gehen ihm immer ſogleich 
die Gedanken völlig aus, jobald die fpeculative Arbeit 
beginnt. Weil Herbart indeffen nur anf dem theoretiſchen 
Gebiet zu den fpeculativen Denkern gehört, auf dem prak⸗ 
tifchen hingegen zu den Bopularphilofophen, indem er bie 
Moral zu einer bloßen Aeſthetik des Willens und ber 
Sefinnung herabfegt: fo ift auf dem lebten Gebiet der 
Punkt eines Berftändniffes von fenfualiftifcher Seite Her 
zu finden. Und fo fann man des DVerfaffers Theorie 
denn wol eine um einen ganzen Grad tiefer in den Sen⸗ 
ſualismus berabgeftimmte Herbart'ſche Moral nennen. 

Eine endlofe Caſuiſtik ohne gründliche Principien im 
der Moral ift etwas liberaus Verwirrendes. ine foldhe 
findet fi) in dieſer Erziehungslehre. Gründliche Prin- 
cipien in der Moral find nur die fpeculativen, Die wahre 
Moral ift Dictat reiner Vernunft. Bon reiner Vernunft 
aber weiß der Verfaſſer nichts. Ex befchreibt vielmehr 
den empirifchen Weg, auf welchem er zur Anerkennung 
einer Moral gelangte, in der Borrede (S. ıv) auf fol- 
gende Art: | 

Der Berfafler nun zweifelte an der Eriftenz der Moral, 
Sein Zweifel in diefer Hinfiht aber wurde mächtig erſchüttert 
durch gelittenes Unrecht, das ihn in große Empörung verjekte. 
So — ſagte er nun — id empöre mid, ih muß alfo doc 
zugeben, daß e8 Schlechtes gibt. 

Diefe Art von empiriſchem Standpunkt, auf welchem 
der Menſch die moralifchen Thatfachen der Erfahrung fo 
lange in Zweifel zieht, bis fie ihm an die eigene Haut 
gehen, erinnert ftarf an das finnreihe Märchen vom 
Manne, welcher das Grufeln lernte Die furdtbarften 
Dinge rührten diefen Dann ganz und gar nicht, folange 
er fie nur von außen ſah. Erft als der Eimer kalten 
Waſſers mit den darin zappelnden Gründlingen tiber feine 
eigene Haut floß, erfuhr er was Orufeln ſei. Im Leben 
füplt fid) allerdings ein Eimer falten Waſſers an ber 
eigenen Haut immer noch fchredlicher an als das Henker⸗ 
beil am Naden des Nachbars. Diefer Standpunkt iſt 
gewiß ein vollkommen empirifcher Lebensftandpunft, taugt 
aber darum nit zum Standpunft der Moral, weil er 
ein egoijtifcher ift. 








En. EEE 


Die Schwächen des moraliihen Senfualismus Kleben 
allen Auseinanderfegungen des Berfaflers an. Weil 3.2. 
das Moralprincip des Wohlmollend bei ihm nicht ver⸗ 
nünftiger Grundſatz, fondern pathologifche Gemüthsſtim⸗ 
mung ift, fo fann e8 durch Krankheiten theil® gehindert, 
theils befördert werden (S. 88): 

Geniffe Krankheiten, nämlich Unterleibskrankheiten, kön« 
nen bie Reizbarleit zum Wohlwollen abftumpfen, ja fogar in 
das Gegentheil umändern. Andere Krankheiten bringen Teicht 
Uebermaß von Wohlwollen hervor. 

Der Wiberjpruch, welcher darin liegt, daß ein mora- 
liſches Princip von Unterleibsfranfheiten abhange, wird 
vom Berfafler,' wie es ſcheint, gar nicht empfunden. So 
etwas verfteht fi) bei ihm nur ganz von ſelbſt. Das 
Raiſonnement bleibt überall im bloßen Senfualismus (im 
Unterleibe) fteden. 

Dabei tragen diefe Auseinanderfegungen ein ziemlich 
fremdländifches Colorit. Die Sprache ıft in der Eon» 
ſtruction vol franzöfivender Wendungen, artet jogar mit« 
unter dur) umndthige Kinftrenung fremder Ausdrücke, 
wie „idee fixe” ſtatt „fire Idee” u. dgl., in einen fran- 
zöfirenden Yargon aus. Wir würden diefe Unart gar 
nicht erwähnen, wenn fie als eine bloße Schwäche und 
ohne Spuren von Eitelkeit aufträte, welches aber nicht 
der Fall iſt. Der Berfaffer ift offenbar in dem Irrwahn 
befangen, klarer zu fchreiben als die meiften unferer philo« 
fophifchen Schriftſteller. Sogleich das Motto auf dem 
Zitel der Schrift deutet indirect darauf bin. Es lautet: 
„Ce qui n'est pas clair, n’est pas philosophie.‘ 

Und doc) verftößt fogleich der dritte Sag in der Vor⸗ 
rede gegen bie Forderung diefes Mottos: „Eine klare Dar» 
ftellung der erften Gründe der Aeſthetik, hieran aber fcheint 
es in Deutſchland bisher zu fehlen.“ 

Das „aber“ im Nachſatz beutet auf einen fehlenden 
Borderfag, welchen der Leſer Hinzudenfen muß, indem er 
etwa lanten könnte: „wäre wünſchenswerth“, oder: „wäre 
eine die Mühe Iohnende Arbeit‘, oder: „würde die philo- 
ſophiſche Wiffenfchaft fördern”, oder wie fich jeber ben 
Zuſammenhang am liebften ergänzen mag. Das ift aber 
leineswegs eine Mare Schreibart zu nennen. “Dabei tadelt 
er bin und wieder an andern Schriftftelleen Säge als un- 
Har und unverftändlich, welche es nicht überhaupt, ſon⸗ 
dern nur ihm find, weil ihm die Mittel des Verſtänd⸗ 
niffes fehlen. So z. B. ift die bekannte), auf S. 1 an« 
geführte Hegel'ſche Definition der Kunft ($. 556 der „Ency⸗ 
Hopädie”) durchaus verftändlic und Mar für jedermann, 
welcher feinen Hegel verftehen gelernt bat, was ohne 
methodifches Studium der Philofophie allerdings nicht 
möglich if. Wenn nun der Berfaffer mit der ganzen 
Raivetät bed Autodibaften Hinzufest: „Wir fiir uns ſchä⸗ 
men und nicht, zu geftehen, daß wir fie nicht verftehen‘‘: 
fo ift die Aufrichtigfeit diefes Geftändnifies zwar zu loben, 
dem DBerfafler jedoch etwas mehr Behutfamkeit anzurathen 
im feiner bdreiften Aburtheilung über Dinge, welche er 
zwar nicht verfteht, welche dafür aber andere verfichen. 

Zuweilen beruht des Verfaſſers Polemik blos auf einer 
Unbelanntfchaft mit der richtigen deutfchen Ausdrudsweife. 
So leſen wir 3.8. ©. 9 folgende gegen Herbart gerichtete 
Invective: 

Jedenfalls iſt es Unſinn, zu ſagen, daß das Aeſthetiſche 


Philoſophiſche Schriften. 


203 


unwillkürlich gefällt. Das wird wol beißen müffen, daß es 

jemand (men?) gefüllt, ohne daß diefer es will! 

Mir haben hin⸗ und hergerathen, was es denn wol 
außerdem noch bedeuten könne, aber es ift und nicht ge- 
lungen, es zu errathen. Auch finden wir das eingefchaltete 
„wen?“ bier ganz überflüffig. Denn daß mit dem „je⸗ 
mand“, wenn von Mufil die Rede ift, der Hörer, wenn 
bon einem Roman, der Leſer, wenn von einem Gemälde, 
der Befchaner, und wenn von einem Schaufpiel die Rede 
ift, der Zufchauer und Zuhörer in einer Perſon verftan- 
den wird, unterliegt doch wol feinen Zweifel. 

Quisquilien und Mücdenfeigerei in Wörtern und Re 
densarten find es, in denen der Berfafler fich zu fehr 
gefällt. Bon der Bedeutung ber goldenen Kegel: „In ver- 
bis simus ſaciles“, bat er nicht die entfernte Ahnung. 
Ein fataler Kigel treibt ihn, den Notabilitäten unferer 
philofophifchen Literatur altklug, aber mit wenig Geſchick, 
am Zeuge herumzufliden. Ob er felbft dabei in feinen 
Süßen den richtigen oder unrichtigen Caſus feit, das 
büngt oft mehr von guten Glück ab. Um vom incor- 
recten Stil des Verfaſſers ein charakteriftifches Beiſpiel zu 
haben, betrachte man ſich etwa den folgenden Sag (S. 98): 
„Wol wenige Ausnahmen wird es geben auf der Regel: 
was das Licht fcheut, urtheilt fich felbft 1“ 

Wer fo fchreibt, dem fehlt nım einmal alle Berechti⸗ 
gung, die über fein Berftändnig emporragenden Nebens- 
arten eines Herbart, Trendelenburg ober Degel in ber 
Weife, wie er es thut, mit dem Schulmeifterlinenl zu 
zerflopfen. 

8. Spinoza’8 neuentdedter Tractat von Gott, dem Menfchen 
und deſſen Slüdfeligleit. Erläutert und in feiner Beben 
tung für das Berjtändniß des Spinozismus unterfucht von 
Shrinops Sigwart. Gotha, Beſſer. 1866. GEr. 8. 


gr. 

9. Ueber die beiden erſten Phafen des Spinoziſchen Pantheis⸗ 
mus und das Verhältniß der zweiten zur dritten Phaſe. 
Nebft einem Anhang: Ueber Reihenfolge und Abfaffungszeit 
der ältern Schriften Spinoza’s. Bon Rihard Avena- 
rius. Leipzig, Avenarins. 1868. Gr. 8. 24 Nor. 


Die gewöhnliche Anficht über Spinoza's Entwidelungs- 
gang war bisher, dieſer große Mann Habe zu philofo- 
phiren begonnen als Cartefianer, und ſich von diefem an« 


fänglichen Standpunft aus dur immer ftrengeres Ber- 


folgen der mathematifchen Methode feiner Begriffsrech⸗ 
nung nach und nad zum Syſtem des ihm eigenthümlichen 
Pantheismus emporgearbeitet. Man konnte allem An⸗ 
ſchein nach nicht wohl anders, als dieſer Meinung fein. 
Denn bie erfte von Spinoza felbft der Deffentlichkeit über- 
gebene Schrift war feine Darftellung der Cartefianifchen 
Principien der Philofophie nach geometrifcher Methode 
(Amfterdam 1663). Als fie erfchien, war ihr Berfaffer 
erft 31 Jahre alt, und daß berfelbe früher einer andern 
Philoſophenſchule angehangen habe, darüber gab es Feine 
Nachricht und gibt fie auch noch heute nicht. 

Beide Berfafler der unter Nr. 8 und 9 genannten 
Schriften, Chriftoph Sigmwart und Richard Ave— 
narius, ftellen hiergegen bie auf gewifien Bermuthungen 
beruhende Hypotheſe auf, dag Spinoza anfangs gar nicht 
Cartefianer gewefen fei, im Gegentheil einem fehr ent- 
gegengejegten Syftem, dem bes Giordano Bruno, ans» 
gehangen Habe, ſodaß feine Lehre keineswegs angefehen 

26 * 


204 Philoſophiſche Schriften. 


werben dürfe als der auf carteſiauiſchem Boden errichtete 
originelle Prachtbau, woflicr man fie bisher Hielt; viel« 
mehr fei fie zu betrachten als ein in feinem Urfprunge 
höchſt Ichwärmerifcher und überfchwenglicher, hernach aber 
durch cartefianifche erkältende und ernüchternde Einflüffe 
bi8 zur völligen Erftarrung ertödteter und zufammen- 
gefhrumpfter Platonismus im Geifte des gottberaufchten 
und als Märtyrer feiner Schwärmerei zu Rom verbrann- 
ten Giordano Bruno. 

Spinoza ein poetifcher Schwärmer! Diefe Anficht ift 
nen und intereflant. Sie ftüßt ſich auf zwei in den zu 
Amſterdam aufgefundenen (1862 zum erften mal edirten) 
Yugendfchriften Spinoza’8 enthaltene Fragmente, welche 
bis in feine frühefte Seit (Avenarius vermutbhet, bis in 
fein neunzehnte® oder zwanzigſtes Fahr) hinanfzureichen 
fcheinen, und welche von cartefianifchen Begriffen nod 
feine Spuren zeigen. Es find dieſes zwei ohne jchrift- 
ftellerifche Gewandtheit verfaßte Dialogen philofophifchen 
Inhalts, in deren erftem fi die allegorifchen Perfonen 
der Liebe, der Vernunft, bes Verftandes und der Begierde 
über religidje Themata unterreben, in deren zweiten aber 
der Philoſoph, welcher Spinoza’8 eigene Anficht darlegt, 
den Namen Theophilus führt, unter dem Bruno faft in 
allen feinen Dialogen auftritt und den er fich felbft auf 
den Titeln feiner Werke beilegt. 

Beide Berfafler obiger Schriften ſtimmen darin über- 
ein, daß diefe offenbar älteſten fchriftftelleriichen Verſuche 
Spinoza’8 vielfahe Reminiſcenzen aus den Schriften 
Bruno’s, namentlich) aus feinen Dialogen „Degli eroici 
furori” enthalten, und ftehen aus diefem Grunde nicht 
an, den Spinoza zu einem Schüler und Anhänger Bruno’8 
zu machen, obgleich der Name diefes Platonikers in dieſen 
Schriftftitden nirgends und auch fonft bei Spinoza nicht 
vorfommt. Nah Sigwart's Anfiht war Spinoza nidt 
nur anfänglih Anhänger des Bruno, fondern blieb dieſes 
auch gemwiljermaßen fortwährend. Descartes lieferte ſei⸗ 
nem Ideengange nur die logische und methodiſche Schu- 
lung, welche freilich, je weiter er in dexjelben fortjchritt, 
defto mehr verderbliche und zerftörende Einflüffe auf fein 
urfprüngliches idealeres Lehrgebäude ausitben mußte. Sig. 
wart drüdt ſich hierüber fo aus (S. 133 fg.): 

Der Marbeit und Deutlichkeit zu Liebe wurde der Idealis⸗ 
mus geopfert. Alle jene zwar erhebenden und erwärmenden, 
aber nicht Haren und deutlichen, einem mehr poetifchen als 
fireng logiſchen Geifte entfprungenen Ideen von Bereinigung 
mit Gott, Genuß Gottes als Folge innerer Erleudtung wur⸗ 
den durch die fortfchreitende begriffliche Bearbeitung, durch das 
Bedürfniß ftrenger Deduction zurückgedrängt. Aber ein Reſt 
jener platonifivenden Myftit widerftand der Aufldfung unfers 
ganzen Seins und Wefens in den materiellen Mechanismus der 
Bewegungen, die unfern Körper bilden, und in den logiſchen 
Mehanismus der Begriffe, und jene intellectuelle Liebe Gottes, 
bie im fünften Buche der Ethik freilich erft als Refultat eines 
verwidelten Fortſchritts der Erkenntmiß, nicht mehr als un⸗ 
mittelbare Gabe Gottes auftritt, ift der letzte Neft der Lebens- 
wärme, die einft den Tractat durchdrungen hatte, der letzte 
Hauch, ber ben erflarrenden Körper verffärt. 

Nicht ganz fo weit getraut fich der im übrigen bie 
Sigwart'ſchen Bermuthungen theilende Avenarius mitzu- 
gehen. Er lenkt fchon bebeutenb ein, indem er zugibt, 
dag Spinoza „eigentlich nur die Confequenz gezogen habe, 
welde im Syſtem des Descartes involvirt Ing”. Diefes 


eben ift die gewöhnliche Anficht der Sache, wie fie ſchon 
Leibniz andeutete in feinem befannten Ausſpruch, daß ber 
Spinozismus ein übertriebener Gartefianismus ſei. And 
tritt uns ſchon in dem wenige Jahre fpäter abgefaßten 
Zractat von Gott, dem Menfchen und feiner Glüdjelig. 
feit (welchen Avenarius in Spinoza’8 dreiundzwanzigſtes 
Lebensjahr zurückverſetzt) Spinoza als volllommener Car- 
teflaner entgegen. Wenn nun Üvenarius einerjeit3 zwar 
zugibt, daß Spinoza eigentlih nur die Confequenz zog, 
bie im Syſtem des Descartes involvirt lag, anderer- 
feit8 Hingegen Ieugnet, daß Spinoza jemals Cartefianer 
gewefen fei, fo muß unfers Erachtens eine diefer Behaup- 
tungen der andern weichen, wofern wir nicht blos mit 
Worten fpielen und unter einem Qartefianer einen geifl- 
[ofen Nachbeter des Descartes verftehen wollen, was aller⸗ 
dings Spinoza niemals gewefen ift, was aber aud) nod 
niemals jemand von ihm behauptet hat. 

Bis zum dreimndzwanzigften Jahre foll ber junge 
Spinoza als ein phantafiereicher Platoniker in überfchweng- 
lichen Bifionen gefhwärmt haben. Iſt bas wol wahr 
jcheinlich bei einer jo kalten, ruhigen und nüchternen, 
aller poetifchen Ueberſchwenglichkeit, aller phantaftifchen 
Unflaxheit fo entjchieden abgeneigten Gemüthsart, wie fie 
ung in Spinoza entgegentritt? Wo find denn im jenen 
beiden Dialogen die Spuren irgendeiner Poeſie, irgenbs 
einer Schwärmerei? Spinoza bedient ſich blos auf bie 
froftigfte Art platonifirender Ausdrücke von Gottesfühnen, 
Gottesliebe u. dgl. für die trivialften und nüchternſten 
Dinge. Denn wer find diefe Gottesfühne? Der eine it 
die Körperwelt oder die Ausdehnung, der andere ift die 
Geiftwelt oder das Denfen. Was ift die Gottesliche? 
Sie ift da8 Verlangen, bie Nothwendigkeit alles Einzelnen 
in der Natur als begründet in dem Allgemeinen vermöge 
adäquater Begriffe zu erkennen. Was ift die göttliche 
Borjehung im Weltall? Sie ift ber in allen Weſen lie- 
gende Zrieb nad Selbſterhaltung. Diefe unpoetifche 
Nüchternheit eines nur zu Rechenkünften angelegten jugend- 
lichen Berftandes, wie fie fich bier in verkehrt gebeuteten 
platonifchen Reminifcenzen zu erkennen gibt, konnte durch 
das Studium des Descartes unmöglic) noch tiefer herab⸗ 
gedrüdt, vielmehr nur zu höherm Schwunge erhoben wer- 
den. Diefer junge Spinoza macht weniger den Eindrud 
eines ſchwärmenden Pantheiften, als eines noch in fi 
unklaren Jünglings von bdenfgewandter und denküber⸗ 
müthiger Anlage, welchem nichts zu Hoch ift, welcher gern 
alles prüft, nicht gern irgendetwas unbefehens verwirft, 
am liebften an dem von andern für ausgemacht Gehal⸗ 
tenen die ungereimte, an dem von andern filr ungereimt 
Gehaltenen die vernünftige Seite aufweift, und aud) wol 
in übermüthiger Laune gern bem allgemein perhorrefcirtet 
Schwärmerifhen und Unflaren eine niichterne und zum 
Erjchreden gemeinverftändliche Deutung unterlegt. Wil 
man vielleicht auch Leibniz darum zum Goldmacher ſtem⸗ 
peln, weil er einmal in übermüthiger Sugendlaune ſich 
unter die Alchemiften gemengt hat? 

Wenn daher Avenarius behauptet, daß der junge Spi⸗ 
noza, als er in feinem dreiundzwanzigften Jahre mit einer 
gewiſſen Haft cartefifcher Beftimmungen ſich bemächtigte, 
hierbei einen ihm innerlich ſchon Längft beftimmten Zwed 
verfolgte; daß der Einfluß bes Descartes den Pantheismus 





Deutfh-Brafilien. 205 


in Spinoza bereits feitftehend vorfand; daß Spinoza nicht 
nur im hohen Maße von Giordano Bruno abhängig war, 
fondern fogar in der erften Phafe feiner Philofophie nur 
defien Wert zum Abjchluffe, zum bewußten Ausdrude 
brachte: fo haben diefe Behauptungen ung wenig eine 
lenchten wollen. 

Wer das gerade Gegentheil von allen diefem auf- 
ftellte, würde unſers Erachtens näher zum Ziele treffen. 
Mit dem zwanzigften Jahre verfucht ber junge Spinoza ſich 
dem Bruno anzunähern, weil diefer ihm einerjeits durch 
feinen Kampf gegen den Aberglauben, andererfeits durch fein 
Martyrium und feinen Heroismus und nebenher aud) 
durd den Herrlichen Stil feiner Dialogen „Degli eroici 
furori‘“ imponirend entgegentritt. Er eignet jich deflen 
Idee von der unendlichen Ausdehnung des Weltalls an, 
weil fie feinem Berftande einleuchtet; er jest an die Stelle 
der myſtiſchen Gottesliebe, fiir welche feiner Fühlern Na» 
tue don vornherein alles Berftändniß mangelt, eine ab» 
ftracte Liebe für Erfenntniß und Willenfchaft; er erklärt 
es für die wahre Freiheit des Geiftes, daß wir mit ben 
lieblihen Ketten diefer Liebe gebunden feien; er deutet 
den platonifchen Liebestrieb der Aufopferung bei Bruno 
um in einen Trieb der mechaniſchen Selbfterhaltung; die 
bewußt erzengende und dabei in finnlicher Liebesleidenfchaft 
fchwelgendbe Natur bei Bruno in eine unbewußt erzeu- 
gende, nach mechaniſchem Gefeß; die aus dem Berfolgen 
der böchften Zwecke ſtammende Nothwendigkeit der gött⸗ 
lichen Handlungen bei Bruno in eine mechaniſche Noth⸗ 
wendigkeit derſelben; den platoniſchen Intellect als un⸗ 
mittelbare innere Schau göttlicher Dinge bei Bruno in 
ein geometriſches Begreifen aus letzten Grundſätzen; mit 
einem Wort, er verſucht das Kunſtiſtück, ein in einer ihm 
underfländlihen Sprache gejchriebenes Buch ſich durd) 
gewaltjame Umdentung feined Inhalte verftändlih zu 
machen. Der Verſuch mislingt. Der enttäufchte Spinoza 
fühlt ſich zuletzt in diefer fchiefen Stellung zu Bruno 
wie ein ins Waſſer gegangenes Huhn, wie ein auf dem 
Trocknen zappelnder Fiſch, wie ein Wagen ohne Räder 
und Deichſel. Kein Wunder, daß er fich bereits zwei 
oder drei Jahre fpäter mit einer gewilfen Haft der 


carteſiſchen Begriffe bemächtigt, in denen fein kühles und 
verſtandesklares Naturell ungenirt und behende wie ber 
Fiſch im Waſſer ſich bewegen kann. 

Ehe der große Fichte Kantianer wurde und bie 
Kant'ſche Freiheitslehre weiter bildete, war er unflarer 
Determinif. Was bedeutet diefer Umftand für die Aus: 
bildung des Fichte'ſchen Syſtems? Er ift völlig uner- 
beblih. So lange Fichte Determinift war, exiftirte ber 
Fichte'ſche Geift, welcher Epoche macht in der Gefchichte 
der Philofophie, noch nicht; fo lange war der Philoſoph 
Wichte noch nicht geboren. Diefer kam nicht früher zur 
Welt, als in der Stunde, wo Fichte anfing die Kant'ſche 
Vernunftkritik zu ſtudiren. Da erft ging ihm das Licht 
auf, in welchem er fchöpferifch fortdachte, und ber alte 
Determinismus war als ein zufälliger, nichtefagender, 
unglüdlicher Einfall vergeffen. Aehnlich vergaß Spinoza 
feinen Theophilus als den unglüdlichen Einfall einer 
Annäherung an ein fehwärmerifches Syſtem, welches 
nicht für ihn taugte. Erſt fein Studium des Descartes 
bezeichnet den Tag feiner geiftigen Geburt. Bor die- 
jem Tage war Spinoza als Ph;lofoph noch nicht 
vorhanden. 

Spinoza trieb die carteflanifche Philofophie von ihrem 
innerften Princip aus einen Schritt weit bialeftifch über 
ſich felbft hinaus. Er that diefes dadurch, daß er die 
mathematiſch rechnende Methobe ber Begriffe, welche 
Descartes anftrebte und forderte, in eimer ftrengern und 
ausgedehntern Weiſe handhabte, als es dem Descartes 
jelbft jemal8 gelungen war. Spinoza ift daher unter 
allen Nachfolgern des Descartes mit Recht der ftrengfte 
genannt worden in Beziehung auf bie mathematifche oder 
dogmatiſche Methode. 

Daher Fünnen wir uns nicht mit dem Gedanken be- 
freunden, bei Spinoza mehrere Entwidelungsphafen von 
entgegengefegtem Charakter anzunehmen. So wie bei 
3. ©. Fichte als dem ftrengften Methobifer unter den 
Kantianern ſämmtliche Entwidelungsphafen nad) einem 
und demfelben Charakter verlaufen, fo finden wir es auch 
bei Epinoza von dem Punkte an, wo er zu philofophiren 
anfängt, d. 5. wo er Cartefianer wird. Marl Sorllage. 


® 


Dentfch-Brafilien. 


Georg, der Auswanderer. Oder: Anfieblerfeben in Südbrafilien. 
Illuſtrirte Schilderungen zur Erwägung für Wanderluftige. 
Mit 235 Abbildungen in Ton» und Farbendrud. Neue, 
ee Ausgabe. Rudolſtadt, Froebel. 1869. Gr. 8. 

T, 

Bei "Gelegenheit der Beiprehung des Tſchudi'ſchen 
Reiſewerls haben wir bereit aus vollfter Ueberzeugung 
unfere Stimme für die beutfche Auswanderung nad 
Südbraſilien erhoben. Langfam aber ftetig wendet ſich 
ein deutfher Strom dorthin, und bie Colonien in Rio—⸗ 
Grande⸗do⸗Sul und Santa-Catarina gedeihen, wie alle 
Berichte und ftatiftifchen Ausweiſe beweifen, trog der uns 
günftigen Lage, in welcher Braftlien fid) gegenwärtig bes 
findet, ehr gut. Der unermüdliche und hochverdiente 
Dr. Blumenau bat auf eine Eingabe, weldhe er im Be 
ginn des Jahres 1869 an das norddeutſche Yundes- 


h 


fanzleramt machte, und in welcher er um bie Aufhebung 
der in Preußen mit Bezug auf die Auswanderung nad) 
Brafilien getroffenen Ausnahmemaßregeln nachſuchte, aller- 
dings eine abjchlägige Antwort erhalten. Eine eingehende 
Pritfung der BVerhältniffe hat in dem Bundeskanzleramt 
nicht die Weberzeugung zu begründen vermodt, daß eine 
Uenderung der bisher in Betreff der Auswanderung nad) 
Brafilien beobachteten Grundſätze zur Zeit im Hinblid 
auf die gefammte Tage ber deutfchen Goloniften oder mit 
Rückſicht auf das Verhalten der- dortigen Regierung ihnen 
gegenüber gerechtfertigt fein würde. Diefelbe Antwort 
wurde auch der Coloniedirection von Donha Francisca 
zutheil, die eine ähnliche, von Coloniften unterzeichnete 
Eingabe an da8 Bundeskanzleramt machte. 

Wer die Flugblätter gelefen Hat, die von ben bentfch- 


BE FRE O a2, 


era BE 





206 Feuilleton, 


braſiliſchen Anfledlern in das Mutterland gefchidt 
worden und von den adtbarften Leuten unterfchrieben 
find, wird feine Minute daran zweifeln, daß unjere 
Landsleute ſich in ihrer neuen Heimat wohl befinden. 
Aber noch weitere Garantien für deren Rechte und den 
Schu der Einwanderer find nothwendig, und diefe zu 
erlangen, ift Norbdentjchland bemüht. Der Abfchluß einer 
Eonfnlarconvention mit Brafilien wird fiherlih nicht nur 
die nothwendigen Garantien in fich fchließen, fondern auch 
die Ueberwachung und Ausführung berfelben durch die 
Conſularagenten bezweden. Iſt diefer legte Schritt gethan, 
dann möchten wir die Stimmen hören, die es noch wa⸗ 
gen dürften, von einer Auswanderung nad) Sübdbrafilien 
abzurathen. Die deutſchen Colonien in Sübhrafilien bie- 
ten zweierlei: ein gebeihliches Dafein für den einzelnen, 
der zu Wohlhabenheit gelangt, und dann die Garantie, 
daß ihm feine Nationalität bewahrt bleibe. Dort ent« 
widelt fi Nendentfchland auf der ſüdlichen Halbkugel, 
und das ift wichtig. 

Wohin der Deutfche in der Fremde bisher auch kam, 
er wurde mehr oder minder doch nur ein Mifchungstheil 
des herrfchenden Volks, und eine nationale Zukunft hat 
er, darüber ift man nachgerade einig, weber in ben 
Bereinigten Staaten nody in Auftralien, welche zur Zeit 
noch die wichtigſten Colonifationsgebiete der Neuen Welt 
find und die Auswanderer anziehen. Hier wie da ver- 


ſchwindet das Deutſchthum fehon in der zweiten, fpä- 


teftens dritten Generation und macht bem Mifchelemente 
Platz, das in Lauten & la „Hans Breitman’s Barty“ 
ch ergeht. Anders in Südbrafilien. Hier ift fehon ein 
fräftiger deutfcher Kern vorhanden, an ben nur bie neuen 
Elemente anzufhießen brauchen, um die Deutfchen dort 
zur herrſchenden Macht mit nationaler Zukunft zu erhe⸗ 
ben, um mit einem Worte ein Neudentfchland zu fchaffen, 
auf welches die alte Heimat mit Stolz herniederfchauen 
fann, file die e8 in mercantiler Bezichung auch auf lange 
Zeit der beite Abnehmer fein würde. Allerdings gab es 
Zeiten, in denen die Preſſe recht Hatte, vor einer Aus- 
manderang nad) Brafilien zu warnen: die religiöfe Un- 
duldfamkeit, die Parceria- oder Theilpachtverträge führten 
zu Scändlichfeiten aller Art, und die Lage mancher 
deutfchen Emigranten war eine fo grauenvolle, daß viele 


beutfche Regierungen ſich genöthigt fahen, die Auswan⸗ 


derung nach Brafilien zu verbieten oder doch nad; Mög⸗ 
lichkeit zu verhindern. Jene Slagen und Warnungen 


haben heute ihre Spitze verloren; bie übeln Zeilen find 
vorüber, das deutſche Element ift zur Geltung gelangt 
und gedeiht unter der brafilifchen Verfafſung, einer 
der freieften der Welt, vortrefflih. Im der Union, wo 
der ungebildetfte Neger das Wahlrecht hat, nur weil er 
auf amerifanifchem Boden geboren wurde, erlangt der 
gebildete deutſche Einwanderer dieſes erft nach Berlauf 
eines fünfjährigen Aufenthalts; in Brafilien kann er fi 
fofort nah der Landung naturalifiren laffen und tritt 
nun in den Vollgenuß aller bürgerlichen Rechte. Abges 
ſehen von den natürlichen Vortheilen, die in Brafilien 
mindeftens denen in der Union gleich find, zeichnen ſich 
die fübbraftlifchen Provinzen — wir fagen ſüdbraſiliſch — 
noch dadurch aus, daß dort der Procentfag der farbigen 
zur weißen Bevölkerung der günſtigſte ift; es herrſchen 
dort keineswegs jo unconfolidirte Verhältniffe, wie in ben 
Süpdftaaten der Union, wo auf Jahrzehnte Hinaus bie 
Raflenfeindfchaft zwifchen Schwarz und Weiß noch un« 
zweifelhaft beftehen wird. Brafilien zählt auf 11 Mil 
lionen Einwohner nur 1,400000 Sklaven. In Santa- 
Catarina und Parana kommt auf zwölf Freie nur ein 
SHave, in Rio-Örandesdo-Sul, dem Hauptfite der 
Deutfchen, gar erft einer auf neunzehn Freie. In den 
deutfchen Colonien gibt e8 felbftverftändlich Feine Sklaven. 
Die Zahl der in Brafilien, namentlich im Süden angeficdelten 
Dentfchen wird jet auf 80000 angegeben. 

Mit diefen wenigen Andeutungen wollen wir die 
zweite Auflage eines Werks anzeigen, dag in ungemein 
praftifcher und vollsthümlicher Weife die Vortheile einer 
Auswanderung nad Brafilien darlegt und im Erzählerton 
den Auswanderungsluftigen mit der Reife (via Hamburg), 
mit den nothwendigen Reiſeutenſilien und VBorräthen, mit 
den Segeln, die bei der Ankunft zu befolgen find, umd 
den Borzügen ber verfchiedenen deutfchen Kolonien im 
Süden befannt madt. Das Rand, fein Klima, feine 
Producte, die verfchiedenen bei der Colonifation ange» 
wandten Syſteme, die politifchen Verhältniffe werben ein- 
gehend gefchildert und zum Theil mit IUuftrationen 
erläutert, die allerdings nicht ſämmtlich auf üfthetifche 
Ausführung Anſpruch machen können. Große Gewifien- 
baftigfeit charakterifirt vorzugsmeife dieſes Buch, das wir 
jedem, der einmal entjhloffen ift nad Südbraſilien 
auszuwandern, als Führer angelegentlid empfehlen 
können. 

Richard Andree. 





Adalbert Stifter. 
Die „Linzer Zeitung” bringt folgenden Aufruf: 
Grabdentmal für Adalbert Stifter. 

Sn feinen Worten trägt der Dichter fein Leben von Ge⸗ 
fchlecht zu Geſchlecht und bebarf bes nur widerftrebend dem 
Meißel ſich fligenden Steins nicht, daß er Zeugniß von ihm 
gebe. Gleichwol fol der Ort, wo ihm zuerſt das Licht der 
Sonne traf, die flile Stätte, die feine Aſche birgt, nicht un⸗ 
bezeichnet bleiben, damit eine fpätere Zeit nicht fage, daß er 
einfam unter uns gewandelt und unerlannt von und geſchieden 


Feuilleton. 


ſei. Im diefem Sinne bat e8 das unterzeichnete Comité unter 
nommen, an dem Grabe Adalbert Stifter’s auf dem SFriebhofe 
von Linz ein Denkmal, feiner würdig, zu errichten, und wen⸗ 
det fi um Beiträge für daſſelbe an die zahlreichen Berehrer 
des Dichters in allen bdeutjchen Landen. Die Redaction biefes 
Blattes und die Danner’ihe Buchhandlung (Th. Ewert) ift bereit, 
diefelben in Empfang zu nehmen. 


Notizen. 
Wir wollen die Aufmerkfamkeit unferer Lefer anf ein 
werthvolles wiflenichaftliches Wert, auf W. Obermüller’s 


® 


Feuilleton. 


„Deutichefeftifches Wörterbud)" (Leipzig, Denide) richten. Die 
Spradforfdug, welche ſich früher fait ausſqließlich innerhalb 
der Sphäre des clajfifgen Aiterthums hielt, hat fi be» 
fanntlic in neuerer Zeit auf die fogemannten Urfprachen ger 
worfen, auf welchem Gebiete bereits höchſt bemerfenswerthe 
Ergebuiffe erzielt worden find. Wie die paläologif—hen For- 
ſchungen der Naturwiſſenſchaft eine ganz neue, folidere Unter» 
Tage gewährt haben, und wie da8 Gtudium der folfilen Thier— 
reſte einen Blick in die verfchiedenen Schöpfungsperioden der 
Erde möglid) macht, fo liefert die Bergleihung der Urſprachen 
ein Bild von den älteften Bewohnern der Erde weit Über die 
geſchichtlichen Zeiten hinaus, Die alten Fluß- und Bergnamen, 
welche feine neuere Sprache zu erflären vermag, find gleichſam fof- 
file Ueberrefe aus einer längft geſchwundenen Periode, aber fie 
zeigen, welche Böller einft im Herzen Europas hauften, voraus - 
gejetst, daß man ben Schlüffel gefunden Hat, um fie zu deuten. 
Diefer Schlüffel aber iR gefunden, wenn die Angaben Mone’s in 
Karlsruhe und Obermüller's in Leipzig, ſowie verfhiedener ande» 
ver, welde diejen Sprahforicun ven folgten, das Richtige treffen. 
Das vorliegende „Deutich-feltiiche Wörterbuch” von Obermüller 
erflärt Zaufende von Fluß und Berg⸗, von Wälder>, Gauz, 
Dorf» und Stäbtenamen aus der celtifhen, d. 5. aus der 
Sprache derjenigen Völker, welche vor Ankunft der Deutſchen 
und Römer Mitteleuropa bewohnt haben. Mag man num 
auch dahingeftellt fein Taffen, wie viele der Bier gegebenen Er» 
flärungen anufehten feien, fo iR doc micht zu leugnen, daß 
die meiften derjelben fo ungezwungen erſcheinen daß man 
dem Autor nur zufimmen fan. Auch hat das Werk bei irie 
hen Gelehrten, deren Sprache eben die celtiihe ift, ſowie bei 
Amerifanern, die wegen ihrer Verſetzung mit iriſchen Elemen- 
ten gleichfalls eine Art vom Autorität im diefer Sache haben, 
vieffadhe Zufimmung gefunden. Was aus ben Obermüller’ichen 
Auffiellungen zunächſt hervorgeht, ift die durch vielfache Wort- 
erflärungen unterlügte Behauptung, daß die Slawen in Oſt⸗ 
europa, ſowie die Iren und Schotten in Weſteuropa Neoigtich 
Ueberrefte eines frühern europäif—en Urvofls, der Celten näm« 
Hd, feien, wenn aud zum Theil mit Deutihen, Finnen und 
Hunnen, beziehentlid) Tataren, ſtark vermiſcht. Cin anderes 





Refultat der auf die vordeutjchen Sprachrefte —* Sprach⸗ 


forſchungen ift ferner, daß die jegigen deutihen Stämme am 
Rhein, am der Weſer und obern Donan keineswegs urſprüng · 
lich rein dentſche feien, vielmehr mit finnifchen und. celtifhen 
Elementen im demfelben Grade vermifdt find, mie es bie 
Spradie mit demem jener Völker if. Grimm’s fogenannte 
verlorene Wurzeln, d.h. die aus der deutſchen Sprache nicht 
erflärbaren Worte follen nad den Kennern der celtifchen 
Spradje eben ceftifche, beziehentlich finniſche fein. 

Da die in dieſer Richtung angeftellten Forſchungen ihre 
Tragweite Haben, leuchtet ein, und mag man auch dahingeftellt 
fein laſſen, wie fih in Zufunft die Sprachwiſſenſchaft mit den 
bier angedenteten Refnltaten der celtiſchen Forſchungen ausein« 
anderfeigen werde, fo iſt doch micht zu Teugnen, daß eine Menge 
von Thatjaden burch dieſelben ans Licht gezogen find, von 
denen man zuvor nicht eine Ahnung hatte. 

Bon der Ausgabe von „Shalfpeare's Werfen“, welche 
Nikolaus Delius veranftaltet Elberfeld, Frideriche), Tier 
gen die funfzehnte bis meunzehnte Lieferung vor. Mit der 
funfzegnten beginnen die englifhen Königedramen. Sehr ine 
tereffant find mie immer die Ouellenongaben uud die Ber- 
gleijungen mit ültern Stüden, aus denen teile Hervorgeht, 
wie Shatjpeare mit freierm Sinn und oft in genialer Weiſe 
von feinen Vorbildern abwich, theils aber auf, wie viel 
er benelben verdankt, bei weitem mehr ale u.ä unfern 
Anfhauungen fih mit der Selbſtändigkeit und Originalität 
eines Schriftftellers verträgt. 9 

Der achte Baud der hiſtoriſch-kritiſchen Ausgabe von 
„Schillers fämmtlihen Schriften” (Stuttgart, Cotta) ente 
Hätt die von Hermann Deferlen herausgegebene „Ge- 
Nichte des Dreifigjägrigen Kriegs”. Die Barianten find hier 
nicht fehr zahlreich; die Terikritik hat nur die erſten Ausgaben 
berüchfichtigt. . 





207 
Bibliographie. 


Bea. R., I Seiegt. 

Sk: gung do ” —* * oaigie. Berlin, 

ernau, ie jaffung ber Zobeöfirafe. Anmerkungen zu dem 
eines Str: bi für be di ii 

he. N EAN Ni Fe — Bund vom Juli 

er, A, ine Sträuder aus dem weizerland: äl ie 

en, (Reue Bolge) Sci, Beriagde Mogaın Tori 


HR zur „Eompeteng - Et “ ie 
AUT que „Gompeteng« Gompelen?" Cine Streir 


tv. Bpinozas System dor Philosophie nach 
Traktaten desselben In geuetischer Entwicke- 
t eiuer Biographlo Spiaosa’s versehen. Berlin, 


Roman, 3 Bbe. Berlin, Sante, 8. 4 Th. 

v., Ein Beitrag zur Lösung der Staaispapior- 
* Bunde. Mit Kückeicht auf die Regulirung 
des Münzwesens und auf die Reform der Bankgesctzgebung iu Norde 
deutschland. Leipzig, Velt u. Comp. Gr. 8. 15 Nat. 


B 
Eutwn 
1809. 

8 


i 
gen und Hobel 













on Giovanni von Mozart. Eine Studie zur Oper 
auf Grundlage des da Poute'schen Textes uebst einer verbasserten Uober- 
setzung des letateru. Frankfurt a. M. 8. 1 Tülr. 
Findel, d. Hierarchie und der Absolatismus in 
Preussen. Ein 
der „höchsleuchtenden“ growen Landesloge der Freimaurer vou Deutsch“ 
* 















— Leipaig, Findol, On. 9 Nr. 2 0 
am Wit in . 
autotifie m Uringeifn Shönstdedarseh kike 





dig, Weber. Cr. 8. 2 hie. 15 Nor. 
—38 —* Der file Speculant. Eriminal-Rovelle. Halle, Dendel. 
5 t 

ie Serefcaft bes Minds oder Nom Im 19. Zahrhun - 
mäßige und gefeglid gejgügte Original « Husgabe in 
Wien, Yartleben. 8. 3 Thlr. 
Befgigte ber Spatefpcare'jgen Dramen in Deutfland. 
. Ör. 8. 2 Zhl. 22%, Nor. 













iu swangiojen Heften gejammelt und berandgegeben. 
Aue, 8 220, Wer, 





Tete ren bed Wiener Diufifiebens nebft eingm Mnpı 
ie ie aus England, Sranfteih und ber Gweig. 
müller. @&r. 8. 





br Wr. de Meer 
Reiter, 28.0. Dec D., Was hat dene Brof. Mppolb in Heibefs 
ve Bildefakeht ann 
hyteig eine "Deleutundg maherner 
Dein, Süokein. Orb 6 ng, 
Die Gräfin, Trauerfpicl, Me Wafl, Leippla, Hirzel. 


.d Btantebürgerrecht Im norddeut- 















‚Bunde. Leipzig, Hinrichs. Gr, ir. 
Songiellow, 9. ., Evangeline. Cin ameritanifhes IoyL in 10 
@efängen. In deutfger Raddigtung von ®. Herlth. en, Rühte 
mann u. Somp- 16. 15 ver 
M -, Die Bellglon des Ju 





Prinei ınseres Jahrhunderts. Za; 
Gr. 8. 15 Ngr. 

äbter, 8.9.0, eben und Mshanblungen über Gegenfänbe ber 
Himmelötunde. Berlin, Oppenheim. Gi. 8. 2 Zhlr. 20 Nor. 


und zur Einführung In die Aristotelische Politik, 1ste Hälfte. Leipzig, 
Engelmann, Gr. 8. 1 Thlr. 22%, N 

Bayn, I. 
dem wirfticen 







mit einem Vorwort dere 
Ster a; Die Geihicte 


I, 15 Rat. 
otheim,d., Bier Monate in Grufien. Germanneburg. 1869. 


8. 3 dar. 
Trauttwein von Belle, % Diniam Pitt der Jüngere, Yazniere 
* 


Miner von England. Bortrag. Berlin, dandau. Cr. 8. 7’, 








* re — 7 
N, . 


— 53 


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HP „ Di: 0 2 OR SEE 
2 er era DT. 


* 


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er Hein 2 » 7 





Anze 


Anzeigen. 


igem 


— — — 


Vertſag von S. A. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 
Lao-tse Täo-te-king. 
Der Weg zur Tugend. 


Aus dem Chinesischen 
übersetzt und erklärt von 


Reinhold von Plaenkner. 
8. Geh. 2 Thlr. 

Dieses Werk des chinesischen Philosophen Lao-tse, 
eines Zeitgenossen des Confucius, bietet eine reiche Quelle 
tiefsinniger Anschauungen über religiöses und philosophi- 
sches Lehren und Leben; es nimmt in der chinesischen 
Literatur eine sehr hohe Stelle ein und ist auch in Europa 
schon vielfach zum Gegenstand specieller Forschungen ge- 
macht worden. Die hier vorliegende erste vollstendige 
deutsche Uebersetzung darf um so sicherer auf grosse Theil- 
nahme rechnen, als der Herausgeber die vielfachen Irrthü- 
mer der frauzösischen und englischen Uebersetzungen darin 
berichtigt, sowie durch ausführliche Erläuterungen zu jedem 
Kapitel das Werk dem Verständniss deutscher Leser mög- 
lichst nahe zu bringen gesucht bat. 


Berlag von 8. Pfeil in Rendnig-Leipiig. 
Sag — Drud — Papier. 7%, Sgr. 
Literaotur-Merfbüdlein. 10 Sgr. 


ERGÄNZUNGSBLÄTTER, 


1870, 6. Heft. 

Philosophie: Gegenwärtige Philosophie in Deutsch- 
land, von Dr. Dühring. 

Geschichte: Historische Literatur, von J. J. Honegger. 
— Edwin M. Stanton, von Dr. R. Döhn. — Nekrolog. 

Literatur: Biographische und Briefliteratur, von K. Alt- 
müller. — Nekrolog. 

Physik: Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiete der 
Physik, von Dr. Klein. 

Astronomie: Die Spektralanalyse, von Schellen. 

Botanik: Die Abstammung unserer Obstbäume, von 
Koch. — Victoria regia. — Saprolegnien als Fischtödter. 

Mineralogie und Geologie: Die Basaltgesteine, von II. 
Vogelsang. — Tertisre Limulus 

Volkswirthschaft: Die Bestrebungen auf dem Gebiet 
der Armenpflege, von Dr. Dühring. 

Handel und Verkehr: Die französische Kolonie iR 
Saigon. 

Industrie: Die Bierbrauerei, von Noback. — Nekrolog. 

Landwirthschaft: Fleischproduktion und Konsum. — 
Guarana. — Mandioca. 

Kriexswesen: Festungsbau. — Neues Schiess- und 
Sprengpuiver, — Offensiv-Torpedos. — Nekrolog. 

Technologie: Die Farbstoffe, von Schützenberger. 

Politische Uebersicht, von v. Wydenbrugk. 

lllustrationen: Nebelflecke, Beilage zum Artikel „Spek- 
tralanalyse“. 


BIBLIO6RAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 


Deutfche Allgemeine Zeitung. 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Die Dentihe Allgemeine Zeitung iſt ein entfdie- 
den Liberaled nnd nationales, nad allen Seiten 
unabhängiges Organ und gehört zu den verbreitet- 
ten Blättern in Mitteldentſchland. Sie hat zahl- 
ir Originalcorrefpondenzen und Depefden, ein 
reichhaltiges Feuilleton und Originalmittheilungen Über 
gendel und Induſtrie. Außer dem NMorddentihen 

unde, Süddentſchland und Defterreid wibmet fie 
uamentlid den Angelegenheiten Mitteldeutfhlands und 
ſpeciell Sadfens eine befondere Aufmerlſamleit und kann 
als hauptſüchlichſte Originalquelle darüber den weiteiten 
Kreiſen des In= und Auslandes empfohlen werden, 


.Mit dem 1. April beginnt ein neues Abonnement auf 
die Deutiche Allgemeine Zeitung, und werben deshalb alle aus⸗ 
wöärtigen Abonnenten (die bisherigen wie nen eintretende) erfucht, 
ihre Beftellungen auf das nächfte Vierteljahr baldigft bei ven 
betreffenden Poftämtern aufzugeben, damit feine Verzögerung 
in der Heberfendung ftattfindet. Der Abonnementspreis 
beträgt vierteljährlich 2 Thlr. 

Die Deutfche Allgemeine Zeitung erjcheint außer Sonn- 
tags und Feiertags täglih nahmittage mit dem Datum des 
folgenden Tags. Nach auswärts wird fie mit den nächſten 
nah Erſcheinen jeder Nummer abgehenden Boften verſaudt. 
Der Abonnementspreis beträgt vierteljährlih 2 Thlr. 

Inſerate finden durch die Deutſche Allgemeine Zeitung, 
welche zu diefem Zwede von den weiteften Streifen und na» 
mentlid einer Reihe größerer induftrieller Inftitute regelmäßig 
benutzt wird, die allgemeinfte und zweckmäßigſte Verbreitung ; 
die Infertionsgebühr beträgt flir den Raum einer viermal ge- 
fpaltenen Zeile unter ‚„Anllindigungen‘ 1%, Ngr., einer drei» 
mal gefpaltenen unter „Cingefanbt” 2Y, Nor. 

Bon 1870 an haben die Herren Haafenflein & Bogler 
in Reipzig, Berlin, Breslau, Frankfurt a. M., Köln, Hamburg, 
Stuttgart, Wien, Bafel, Züri, Genf, St.» Gallen und Dres- 
den den ausfchließlichen Suferatenbetrieb für die Deutſche All⸗ 
gemeine Zeitung übernommen und find alle Inferate an eins 
diefer Etabliffements zu ſenden. 





‚. In der €. &. Lüderigihen Verlagsbuchhandlung A, Cha⸗ 
rifins in Berlin erfchien foeben: 


Prof. Sr. Nippold, 
Die Sleihniffe Jeſu. 


1870. 40 Seiten gr. 8. 6 Sgr. 
Diefer wiffenfhaftlich-religiöfe Vortrag wird von allen Zu⸗ 
hörern feit Monaten ſchon mit Spannung erwartet. 
Deſſelben Berfaflers: . 
Viſchofsbrief vom Goncil 
ift in zweiter Auflage für 5 Sgr. käuflich. 
Die Schrift des Prof. Baumgarten: 


An Se. Majeflät, Wilhelm den Sıflen, 


König von Preußen. Ein notbgedrungenes Wort zum 
Schut des deutſchen Proteftanten- Vereins. 1870. 40 Sei» 
ten gr. 8. 6 Sgr. 


ift jeßt in allen Buchhandlungen vorräthig. 


Berantwortlicher Nebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Verlag von 8. A. Brochhaus in Leipzig. 


Blaͤtter 
literariſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Etſcheint wöchentlich. —4 Ar, 14. er 1. April 1870. 





Die Blätter für literariſche Unterhaltung erſcheinen in wöentlihen Lleſerungen zu dem greife von 10 Ihfen. jährlich, 5 Thlrn. 
barbjähriih, 2’ Thlrn. vierteljährlich. Ale Buhhandlungen und Forämter ded In- nud AublandeB nehmen Beftelungen au. 





Inhalt: Zofeph Bictor Scheffel. Bon Kudolf Bottihat. — Ein preußiſcher Staatsmann im 17. Sahrhundert. Bon Gans 
sag. — Bom Bücertiih. — Senilleton. Engliſche Urtheife fiber wene Erſcheinungen der deutſchen Literatur; Schiller- 
Gefpräche; Aelteſte deutſche Fiteraturdenfmäler.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Iofeph Victor Scheffel. 


. Bergpfalmen. Dichtung von Joſeph Bictor Scheffel. 
Bilder von Anton von Werner. Stuttgart, Metzler. 1870. 
Imp.4. 2 Thle. 6 Nor. 

. Gaudeamns. Lieder aus dem Engern und MWeitern don 
Iofeph Bictor Scheffel. Mit 60 Holzſchnitt⸗Illuſtra⸗ 
tionen und einem Titelblatt in Zarbendrud von Anton don 
Berner. Stuttgart, Meter. 1869. Imp.4. 5 The. 
Fig TE Feng Ausgabe ohne Illuſtrationen. Dritte Auflage. 

. Der Trompeter von Sädingen. Ein Sarg vom Oberrhein 
von Zofeph Bictor Sheffel. Zehnte Auflage. Stutt« 
gart, Megler. 1870. Gr. 16. 1 Zhlr. \ 

. Frau Aventinre. Bilder aus Heinrich vom Ofterdingen’s 
Zeit von Iofeph Victor Sheffel. Zweite Auflage. 
Stuttgart, Mehfer. 1869. 8. 1 Ihle. 10 Ngr. 

In biefer Zeit eines auch für die Dichtkunſt bedroh⸗ 
lichen Nivellements, in welcher nach einer und derſelben 
Form hundert Geſichter geſchnitten werden, im Gegenſatz 
zu jener Form, von welcher Byron fingt: 

And broke the form in moulding Sheridan — 

iſt es erquicklich, Dichter zu treffen, die man als Specia- 

Itäten bezeichnen kann, mag aud) dies ftolze Vorrecht 

mit mander kraus wunderlichen Eigenheit erfauft werden. 

Zu diefen Specialitäten gehört ohne Frage Joſeph Victor 

Siheffel, von welchem gegenwärtig zwei neue Gedicht 

jammlungen vorliegen, während frühere in neuen Auflagen 

erjchienen find, die Erzählung „Der Trompeter von 

Sadingen“ ſchon in ber zehnten Auflage. 

Es ift ein eigen Ding um unfere Literaturgefchichten, 
Anthologien, Sentenzenfammlungen — um die Propaganda 
des literarifchen Rufs in der Gegenwart. Die Poeten, 
welhe duch gemeinfame Merkmale eine Gruppe bilden, 
haben ſtets den Bortritt vor denen, die etwas eigenfinnig 
beifeiteftehen und im feine Rubrik fo recht paſſen wollen. 
Bei jenen „Schulen" und „Gruppen“ wird aud eine 
1870. 1% 


vo 


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Mittelmäßigfeit, die fi an den Rodzipfel irgendeiner 
Sröße hängt, bequem mit hereingefhmuggelt, während 
man die Einzelnfttehenden leicht vergißt. Und mie zäh 
find die Rubriken unferer Fiteraturgefchichten! Wie erb⸗ 
ten fie ſich fort als eiferne Inventarftüde! „Das unge 
Deutfchland", „Die politifche Lyrik“, „Die öſterreichiſche 
Lyrit — und ‘einige ähnliche Gruppirungen find ftereotyp 
in ben Darftellungen moderner Literatur! Mer einer 
ſolchen Gruppe einmal angehört, der ift unverlierbar für 
das Gebädhtniß der Nachwelt. Doch was ſoll man mit 
den Poeten anfangen, die gleihfam auf eigene Fauſt 
dichten, welche nur dazu dienen Rönnen, die Fächer und 
Rubriken zu verwirren; „fonberbare Käuze“, die man 
unter feiner Weberfchrift unterbringen kann. Nun, fie 
müffen draußen ftehen vor der Kiterarhiftorifchen Walhalla, 
bis ein Plägchen für fie aufgefunden wird, durch einen 
„glüdlichen Griff“, der doch ein gemeinfames Etikette für 
fie und irgendwelchen Leidensgenoffen findet. 

Bictor Scheffel gehört zu diefen Dichtern, bie ſich 
ſchwer rubriciren laſſen. Er verleugnet außerdem in 
Stoffwahl und der ganzen Haltung eine gewiſſe Tand« 
ſchafiliche Eigenthümlichteit nicht, ſodaß er in den ändern 
des unmöglihen Sübbundes weit bekannter ift als im 
Nordbeutfchland. Hierzu kommt, daß feinem Coftüm ber 
altdeutſch alterthümliche Aufpug, der ſich felbft in einer 
Inorrigen, oft vor lauter urſprünglicher Deutſchheit ſchwer- 
verftändfichen Sprade zeigt, durchaus eigen if, und 
daß ein Ueberwuchern mit krauſen, Holzichnittartigen Ara- 
besten, mit mittelalterlichen Initialen und Majusfeln des 
Stils vielen feiner Gedichte eine etwas harte Schale gibt, 
welche aufzufnaden dem Zeitgefchmad nicht fonderlih 
bequem ift. 

Der Kern der Scheffel ſchen Gedichte aber ift ein 

27 








210 


durchaus gefunder, und aud) wo feine Dichtungen mittel 
alterliche Stoffe wählen, wie namentlich in der „Frau 
Aventiure“, unterjcheiden fie fi) dadurch vortheildaft von 
dem füßfichen und verfäljchten Mittelalter der „Amaranth“. 
Sein Hauptwerf auf diefen Gebiete: „Ekkehard“, 
muß als Romandidtung hier von unſerer Betrachtung 
ausgefchloffen bleiben; doc die treue und kryſtallklare 
Spiegelung des mittelalterlihen nationalen Lebens, ohne 
bie irrlichtelivende Romantik, mit welcher Achim von Arnim 
feinen nur bisweilen Töftlihen naiven „Kronenwächter“ 
ilufteirt Hat, ohne die Tendenzſucht, welche aus altdeut« 
chem Wefen und Gefchehen Kapital fir moderne politifch- 
religiöfe Richtungen zu fchlagen fucht, kann auch eine 
misgünftige Kritit diefen poetiſch gefaßten Culturbildern 
nicht abfprechen. 

Wir find allerdings der Anficht, dag die Culturmalerei 
untergegangener Epochen feine Hauptaufgabe einer wahrhaft 
nationalen Poeſie fein kann, daß fie ſtets nur zu den flores 
und amoenitates dichterifcher Nebenftunden gehören follte. 
Ein germanifches Muſeum ift ein höchſt verdienftliches 
Aſyl tüchtiger Forſchung; aber ein germanifches Muſeum 
in Verſe zu bringen keine Aufgabe für die moderne Poeſie. 
Unſere wackern mittelalterlichen Dichter trugen auch keine 
gelehrten Brillen, um ſtoffhungrig im alten Moder zu 
wühlen; ſie dichteten nur, wie's ihnen ums Herz war, 
und wählten nur Stoffe, die zu ihrem Sinnen und Trach—⸗ 
ten paßten. Die „Yrau Aventiure“ der Neuzeit bat 
einen gänzlich veränderten Charakter, fie ift zu Haufe in 
den Salons und auf den Straßenpflafter von Paris 
wie am grünen Tiſch von Baden-Baden, unter politifcgen 
Stegreifrittern und emancipirten Stegreifritterinnen; gele- 
gentlich fett fie als Einfag eine Krone auf rouge oder 
noir; aber der Waldduft, der Zauber des keuſch Min- 
niglichen, des ritterlich Edeln ift ihr fremd, wie ung 
wiederum die Abenteuerluſt jener mittelalterlihen Huldin, 
deren Fahrten und Lieder und wol eine Zeit lang ange: 
nehm bejchäftigen mögen, doch immer nur als „Poeſie 
ans zweiter Hand“, 

Diefe Bemerkungen treffen indeß nicht die zwei neues 
ften Sammlungen Scheffel's: „Die Bergpfalmen” (Nr. 1) 
und das „Gaudeamus“ (Nr. 2), in denen nur bie üufßere 
Einfleidung etwas Wlterthümliches Hat, während dies 
Alterthüümliche oft einem ſchalkhaften und baroden Humor 
zugute fommt. Bei den „Bergpfalmen“ freilid; Tann man 
nicht abjehen, warum der Dichter eine folche Einkleidung 
gewählt hat. Der Inhalt derfelben ift Naturpoefie, bie 
fih in allen Zeiten der Deenfchengefchichte gleich bleibt, 
und felbft die etwas fagenhafte Naturbelebung ift freies 
Borreht der Dichtung und braucht zu ihrer Rechtfertigung 
nicht den Hintergrund einer fagenfrohen Zeit. Warum 
den Holzfchnittartigen Charakter auf diefe Hymnen der 
Natur übertragen? Warum muß es ein Biſchof zu 
Regensburg fein, ein frommer deutſcher Dann, der aus 
Raiferfehde und Fürftenftreit ſich in die Einfamfeit der 
Alpen zurüdzog? Aufrichtig gejagt, wir glauben nicht 
an den Naturfinn und die Naturbegeifterung der mittel» 
alterlichen Biſchöfe; wenigftens find uns Teine Proben 
derfelben überliefert. „Natura taceat in ecclesia” — 
fünnte man den befannten Spruch ummodeln, der die 
Frauen zum Schweigen in der Kirche verdammt. 


Joſeph Victor Scheffel. 


Die Naturgefühle dieſes Biſchofs werden uns nun in einer 
Folge poetiſcher Bilder: „Ausfahrt“, „Sturm“, „Nebel“, 
„Sonnenſchein“, „Gletſcherfahrt“, „Heimkehr“ vorgeführt, 
welche nicht nur durch alterthümliche Initialen geſchmückt 
ſind, ſondern auch durch große Bilder von Anton von 


Werner, in denen der ſtimmungsvolle Ausdruck des Natur⸗ 


lebens durch ſagenhafte Geſtalten, Nebeljungfrauen auf 
ſchnaubenden Roſſen, Schneejungfrauen in der Gletſcher⸗ 
kluft u. ſ. f., wiedergegeben wird, wobei wir indeß doch 
vielfach an Leſſing's „Laokoon“ und die Grenzen der 
Dichtkunſt und Malerei erinnert werden. Der Dichter 
kann die Nebel als freiſchwebende flatternde Geſtalten 
hinſtellen; die empfangende Phantaſie kommt ihm dabei 
zu Hülfe, indem ſie in ihrem freien Aether dies Schwanken 
und Schweben, dies Uebergehen der Nebelgebilde in 
menſchliche Erſcheinungen, das Verſchwimmen und Zurück⸗ 
verſchwimmen, dieſe dissolving-views treulich nachzuſchaffen 
vermag. Bei den feſten Contouren des Zeichners droht 
indeß die Gefahr, daß wir das Naturbild ſelbſt über 
ſeiner ſymboliſchen Geſtaltung vergeſſen. Wir werden 
z. B. kaum den Eindruck des Nebels erhalten, wenn 
wir dieſe Geſtalten mit ihren Schleiern auf ſchnauben⸗ 
den Roſſen daherbrauſen ſehen. Gelungener ſind die 
andern Bilder, meiſt ſinnreich und ſchwunghaft in der 
Ausführung. 

Die Dichtung ſelbſt erſcheint als das mittelalterliche 
Gegenbild gegen die modernen Heine'ſchen „Nordſeebilder“. 
Beide ſind in freien, beflügelten Rhythmen abgefaßt, in 
hymnenartigen, meiſt reimloſen Formen; aber die Heine'ſche 
Feier des Meeres iſt friſch aus dem Geiſte der Neuzeit 
herausgedichtet, und wenngleich fie von ſarkaſtiſch zerſetzen⸗ 
den Elementen nicht frei ift, fo fchlägt body in ihnen 
der Puls des modernen Gedanfens, und die großartigen 
Naturbilder erhalten eine Beleuchtung, die und vertraut 
gemahnt. Der Grundton der Scheffel’fchen „Bergpfalmen‘“ 
ift eine mittelalterliche Yrömmigkeit, in die wir uns erft 
mit einer gewiflen Gewaltſamkeit hineinverfegen müſſen. 
Denn die Perfpectiven unferer Zeit find andere als bie 
einer geiftlichen Klaufe des Mittelalters, und ein philo« 
ſophiſch gebildeter Geift ſchöpft andere Nahrung aus 
großen Naturpanoramen und Naturerfcdeinungen als der 
Biſchof von Regensburg, deſſen Eindliches Gemitth etwas 
treuherzig Unfprechendes, aber auch engherzig Beſchränk⸗ 
tes bat. 

Gleichwol Haben bie Naturfchilderungen als folche 
Schwung und einzelne große Züge, am meiften der 
Sturm, in welden aud) die Auffaffung über das be—⸗ 
ſchränkt Klausneriſche hinaus in das altbibliſch Pfalmen- 
hafte übergeht: 

Sturm kam geſchnoben 

Nächtig mit Toben, 

Mit ſauſendem Braus, mit Blaſen und Raſen; 

Aufſtöhnte der Wald 

In des Bergföhns Gewalt. 

Durch Fugen und Ritzen der Blockhausſtämme 

Drang, fpottend ber ſorglichen Moosverſchließung, 

Schneidiger Hauch. Er ſcheuchte vom Scragen. 

Und ich Hub mich Hinaus vor die Pforte der Klauſe, 

Barhäuptig, flatternden Bartes, 

Und ich beugte ein Knie, demüthig erfchanernd, 

Denn id erkannte bie Stimme des Herrn, 

Der auf Flügeln des Windes im Sterneufchein 














Joſeph Victor Scheffel. 


Gewaltig dahinfuhr. 

Er aber ſprach nun: 

Lange hab’ ich nicht Umſchau gehalten, 

Ließ wuchern und wachſen das Menſchengewächs, 

Wie die Sträucher des Waldes, nebeneinander 

ut und bös. 

Nun gehn meine Wege in Wetter und Sturm, 

Kun ift mein Wille, ein Zeichen zu geben, 

Das die Spreu gemahnet, daß fie nur Spreu iſt, 

Das den faul und brüdig Gewordnen im Seift 

"Den Meifter weift. 

Und wie ich Über den Bergwald jetzt braufe, 

Den Bäumen unbold, 

Alte entwurzelnd, junge im Wipfel 

Schlittelnd und Inidend, daß fie erächzen, 

Alſo ereile ich draußen die Fande, 

Bill ihre Städte und Märkte umpfeifen, 

Um mand ein wohlumfhuppt Gotteshausdach, 

Trotz forglich gepflegten Gebets und Geſangs 

Und ewigen Lichte, 

Soll fid ein Sciudelgewirbel erheben, 

Der Wohnſitze Grundfeften follen erichlittern, 

Daß der Zechtiſch erdröhnt und body vom Gefims 

Der Becher dem Zecher aufs Haupt flürzt. 

Keine Ruh fei vergännt zu nachtſchlafeuder Zeit; 

Ber immer begehrfam zur Liegerftatt fchleicht, 

Dem entfhmwante, im Fußgeſtell zitternd, fein Bett 

Und verleid’ ihm die nächtigen Spiele. 

Gewäffer und Ströme will ich durchfurchen, 

Daß die Schiffe von jäh fi aufkräuſenden Wellen 

Brandend zerworfen in Splitter zerjchellen. 

Heimſuchung fomm’ Über Hütte und Haus! 

Heimſuchung komm' über Burgen und Feten! 

In Bolten lagernd erſchau' ich der Wälle 

Umerferte Thürme, Trunkenen gleid), 

Eid) wiegen, fich beugen, 

Und endlich mit dumpfem, flerbjeufgendem Krach 

Hinfinten in trodenen Graben. 

Dit hebt fid) um die geborftenen dann 

Bie aus jäh aufplagendem Hexenſchwamme 

Erfiidend Gewölk, 

Bon Trümmergeftäub, 

Bon Mehl, das der Wurm im Gebälfe ernagt, 

Bon morfhendem Moder und Schwaben. 

In die Lüfte zerflieben jeh’ ich den Qualm, 

Sch’ alles erbeben, zerbrechen und fallen, 

Und gräme mid) nicht! 

Die Lande durchſchütternd ſchwing' ich mich weiter, 

Starkſröhlich und heiter, 

Ih, der Herr! 

Die altertHümlichen und feltfanen Wendungen, die 
auch hier nicht fehlen, wie: „immerbegehrfam‘, „Liegerftatt”, 
„auffräufend“, geben bei häufiger Wiederholung zum 
Theil den andern Gedichten einen etwas manierirten 
Anftrih. Das gilt gleich von ben erſten Verſen der 
Ausfahrt: 

Sandfahriges Herz, in Sturm geprüft, 
Im Weltlampf erhärtet, und oftmals doch 
Zerfnittert von ſchüͤmigem Kleinmuth. 


Die Metrik ift natürlich auch die altdeutfche, Hebungen 
und Senfungen ohne NRüdfiht auf Länge und Kürze; wir 
ſtolpern daher oft über unmögliche Daltylen, ähnlich 
dem Blaten’fchen „Holzklogblod” ; doc, die Maßſtäbe der 
modernen Metrif gelten nicht gegenüber‘ der altdeutfchen. 
Bir finden in der Wahl der legtern eine Reaction gegen 
den Fortfchritt der Dichtkunft. 

Beffer Als diefe „Bergpfalmen‘, eine Naturpoeſie 
auf Goldgrund, fagen uns die Lieder des Scheffel'ſchen 
„Gaudeamus“ (Nr. 2) zu, von benen eine elegante Aus- 


211 


gabe mit Initialen, Holzſchnitt⸗Illuſtrationen und einem 
Titelblatt in Farbendruck vorliegt und eine zweite, Octav⸗ 
ausgabe für minder Iururiöfe Leſer. Der Grundton bie 
fer Sammlung ift humoriſtiſch; das Alterthümliche tritt 
hier nicht mit der Prätenfion jelbftändiger Geltung auf, 
fondern nur als eine Eigenthümlichkeit des humoriftifchen 
Barockſtils. Originell und barod find dieſe Xieder; fie 
gemahnen uns oft wie Heine’fche Gedichte in mittel- 
alterlihdem Mummenſchanz. Der erfte Abfchnitt bringt 
naturwiſſenſchaftliche Gedichte, in denen befonders die 
Geftalten der Urwelt, der Ichthyoſaurus, der Tatzelwurm, 
das Megatherinm, eine große Rolle jpielen. Der Humor 
in diefen Gedichten gehört allerdings zu einer orte 
von zweifelhafter Berechtigung, zur Sorte des „gelchrten 
Humors“, aber die Ausführung ift eine fo derb volks⸗ 
thümliche und bdraftifche, daß man die Entlegenheit der 
Stoffe darüber vergift. ALS Probe mag das Gedicht 
„Das Megatherium” dienen, mit ber köſtlichen Schluß» 
perfiflage, welche gegen die beliebten Moralanhängjel 
mancher Gedichte gerichtet ift: 


Das Megatherium. 
Was hangt denn bort bewegungsios 
Zum Knaul zufammpgeballt 
So riefenfaul und riefengroß 
Im Ururururwald? 
Dreifach jo wuchtig als ein Stier, 
Dreifad fo fehwer und dumm — 
Ein Kletterthier, ein Krallenthier: 
Das Megatherimm ! 


Träg glott es in die Welt hinein 
Und gähnt al8 wie im Traum, 
Und krallt die fharfen Krallen ein 
Am Embahubabaum. 

Die Früchte und das faftige Blatt 
Berzehrt es und fagt: „Ai!“ 
Und weun’s ihn Teergefreflen Hat, 
Sagt’8 aud zuweilen: „Wail‘ 


Dann aber fleigt es nicht herab, 

Es kennt den kürzern Weg: 

Gleich einem Kürbis füllt e8 ab 

Und rührt fih nicht vom Fleck. 

Mit runden Eulenangeficht 

Nickt's fanft und lächelt brav: 

Denn nad gelungener Fütterung kommt 
Als Hauptarbeit der Schlaf. 


...O Menſch, dem fold ein Rieſenthier 
Nicht glaublich fcheinen will, 

Sch nad Madrid! dort zeigt man dir 
Sein ganz Stelet foifil. 

Doch bift du flannend ihm genaht, 
Berliere nicht den Muth: 

So ungeheure Faulheit that 

Nur dor der Sündflut gut. 


Du bift fein Megatherium, 

Dein Geift kennt höhere Pflicht, 

Drum fhwänze fein Collegium 

Und Überfriß dich nicht. 

Nütz' deine Zeit, fte gilt flatt Geldes, 

Sei fleißig bie zum Grab, 

Und ftedft du doch im faulen Pelz, 

So fall’ mit Vorſicht ab! | 

Das Guanogedicht und einige andere tragen fogar 
einen gewiſſen Cynismus zur Schau, ber aber bei feiner 
Naivetüt nicht verlegt. 
27 * 


212 


Der zweite Abfchnitt: „Eulturgefchichtlich”, wirkt lo⸗ 
mifh duch den Contraſt zwifchen der alterögrauen 
Färbung und dem modernen Inhalt. Gleich das erite 
Gedicht bringt und den Monolog eines Pfahlmenfchen ; 
Bumpus von Perufia fchildert in parodiftifch erhabenen 
Trimetern den erſten Pumpperſuch der Erde. Volksthümlich 
geworden ift das Gedicht: „Die Teutoburger Schlacht“, 
welches mit den Strophen beginnt: 


Als die Römer frech geworben, 
Zogen fie nad) Deutſchlands Norden; 
Borne beim Trompetenſchall 

Ritt der Generalfeldmarfhall, 

Herr Quiuctilius Varus. 


Doch im Teutoburger Walde 
Huh, wie pfiff der Wind ſo kalte; 
Raben flogen durch die Luft 

Und es war ein Moderduft 

Wie von Blunt nund Leichen. 


Plötzlich aus des Waldes Duſter 
Brachen krampfhaft die Cherusker; 
Mit Gott für Fürſt und Vaterland 
Stürmten fie von Wuth entbrannt 
Gegen bie Legionen. 


Weh! das warb ein großes Morden. 

Sie erfhlugen die Cohorten; 

Nur die römiſche Keiterei 

Nettete fih noch ins Frei, 

Denn fie war zu Pferde. 

Der Eontraft zwifchen verwittertem Uraltertfum und 

allermodernftien Wirthshanszuftänden ift mit erheiternder 
Prägnanz in folgendem Gedicht ausgeprägt: 


Altafiyrifd. 
Sm Schwarzen Walfifh zu Askalon 
Da trank ein Mann drei Tag, 
Bis daß er fleif wie ein Befenftiel 
Am Marmortifche lag. 
Im Schwarzen Walfiſch zn Aslalon 
Da ſprach der Wirth: „Halt an! 
Der trinkt von meinem Dattelfaft 
Mehr als er zahlen Tann.‘ 


Im Schwarzen Walfiſch zu Aslalon 
Da bracht' der Kellner Schar 

In Keilſchrift auf ſechs Ziegelftein 
Dem Gaſt die Rechnung dar. 

Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon 
Da ſprach der Saft: „O wehl 
Mein baares Geld ging alles drauf 
Im Lamm zu Niniveh !" 

Im Schwarzen Walfiſch zu Aslalon 
Da ſchlug die Uhr Halb vier, 

Da warf der Hausfneht aus Nubierland 
Den Fremden vor die Thür. 


Im Schwarzen Walfiſch zu Aslalon 
Wird fein Prophet geehrt, 

Und wer vergnligt dort leben will, 
Zahlt baar was er verzehrt. 

Freilich finden fih unter den Gedichten auch viele, 
in denen der Humor nit recht in Fluß kommen will 
und die dadurch einen verzwidten und manierirten Cha⸗ 
rafter erhalten. Zu diefen Gedichten rechnen wir z. 8. 
„Des Klofterkellermeiftere Sommermorgenklaggefang”, „Die 
Maulbronner Tnge”, „Das große Faß zu Heidelberg“, 
defien buntfchedig gelehrter Anſtrich allerdings dadurch 


Sofeph Bictor Scheffel. 


entſchuldigt wird, daß es für eine Philologenverſammlung 
gedichtet wurde. 

„Die Lieder vom Rodenſtein“, einem vertrunkenen 
Edelmann, der in Heidelberg ein Dorf nach dem andern 
vertrinkt, ſind volksthümlich gehalten und athmen einen 
friſchen, erquicklichen Humor. Köſtlich iſt die Wendung, 
welche die Wilde Jagd auf den unerſättlichen Durſt des 
Rodenſteiners zurückführt: 

Doch wem der letzte Schoppen fehlt, 
Den duld't kein Erdreich nicht; 

Drum tobt er jetzt, von Durſt gequält, 
Als Geiſt umher und ſpricht: 

„Raus dba! 'Raus aus dem Haus ba! 
Herr Wirth, daß Gott mir helf'! 

Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein 
Des Nachts um halber zwölf?" 

Und alles, was im Odenwald 

Seiu'n Durſt noch nicht geſtillt, 

Das folgt ihm bald, das ſchallt und knallt, 
Das Haflt und ſtampft und brüllt: 
„Raus dal 'Raus aus dem Haus dal 
Herr Wirth, daß Gott mir helf', 

Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein 
Des Nachts um halber zwölf?“ 

Bon den fpätern Gedichten Heben wir noch den „Lebe 
ten Poftillon‘ hervor, beffen elegifhe Haltung einen fym« 
patbifchen Eindrud macht, und das Gedicht „Sraziella” 
mit feinem italienifchen Colorit und der witzigen Schluß« 
pointe. 

Die größern Gedichte in der Abtheilung: „Aus dem 
Weitern“, haben uns bei weiten nicht fo angejproden. 
Die Naturpoefie in dem Gedicht: „Der Wasgenftein“, 
bat eine gefuchte und zum Theil gelehrte altdeutſche Yärs 
bung. „Rippoldsau” und „Die Schweden in Rippoldsau“ 
find etwas weitſchweifige Humoresfen; „Der Grindwal⸗ 
fang an den Färöerinſeln“ zeigt ebenfalls einen wenig 
genießbaren Humor. Wenn Scheffel's Mufe nicht ihren 
guten Tag Hat, dann erftarrt eben ihre Eigenthümlichkeit 
zur Manier. Damit hängt die etwas falope Form der 
Gedichte zufammen, welche überhanpt allen Dichtern eigen 
ift, die nach altdeutfchen Muftern dichten und, wie Wil- 
helm Jordan, principiell den Fortſchritt verleugnen, der 
in der Ausbildung der neuen Metrik beftebt. 

Sceffel’s poetifche Erzählung: „Der Trompeter von 
Säckingen“ (Nr. 3) ift bereits feit Tängerer Zeit dem 
deutfchen Leſepublikum befannt als eine friſche Dichtung 
aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs; und wenn and) 
die zahlreichen Auflagen, welche da8 Gebicht gefunden hat, 
nicht für feinen Werth ſprechen, da ſonſt „Amaranth‘ 
von Redwig den „Trompeter von Südingen‘ um eine 
Halslänge fchlagen würde, fo ift e8 doch auch nicht der 
Antheil einer Partet oder gar einer Corporation von bem 
Einfluß des katholiſchen Klerus, welche den „Trompeter“ 
gefördert bat, wie er ber „Amarauth“ zu einer großen 
Zahl von Auflagen verhalf. Der Ton des Scheffel’fchen 
Gedichts ift ein durchaus gefunder und von der Manier 
feiner fpätern Productionen freier; deutſche und italienifche 
Genrebilder find in anfprechendfter Weife gezeichnet, und 
der treuliebende beutfche Trompeter, der zuletzt durch bie 
Gnade des Papftes das deutſche Edelfräulein zur Frau 
erhält, iſt eine durchaus volfsthüimliche Figur. Das Büch—⸗ 
fein der Lieder enthält manches Anmuthige und Nedifche, 


Ein preufifger Staatsmann im 17. Jahrhundert, 213 


namentlich, bie Lieder des weltbetrachtenden Katers Hiddi⸗ 
geigei, welcher überhaupt einen ſehr ammfanten Chorus 
zu mandem in bem Gedicht geſchilderten Ereigniß bildet. 
Der Kater Hiddigeigei ſtauimt zwar in directer Linie von 
dem Hoffmann’schen Kater Murr ab; dennoch hat er 
manchen originellen Zug in feinem Katzengeſicht, und da 
er überdies ein Igrifcher, nicht in romantiſcher Proſa zer» 
floffener Kater ift, jo muß man ihn ſchon als eine felb- 
fändige Figur gelten laſſen. Köftlih ift 3. B., wenn 
Fräulein Margaretha der Trompete ungefüge Greueltöne 
entlodt, daß das angoriſch lange Fellhaar des Katers ſich 
wie Igelftacheln auffträubt, der Monolog diefes Katers 
mit feinen revolutionären Tendenzen gegen bie Menfchheit 
and feinen Betrachtungen über menſchliche Kagenmufit: 

Dulbe, tapfres Katerherze, 

Das fo vieles ſchon erduldet, 

Duld' and) diefer Jungfrau Blaſen! 

Bir, wir kennen bie Gefege, 

Die dem alten Schöpfungsräthfel, 

Die dem Schall zu Grunde liegen, 

Und wir fennen ihn, den Zauber, 

Der umfitbar durch den Raum ſchwebt, 

Der ungreifbar wie ein Schemen 

In die Gänge des Gehörs dringt, 

Und in Thier- wie Menſchenherzen — 

Liebe, Sehnſucht und Entzüden, 

Raſerei und Wahnſinn anfftärmt. 

Und doch müffen wir erleben, 

Daß, wenn umfre Katerliebe 

Vachilich FÜR in Tönen denkt, 

Sie den Menſchen Spott nur abringt, 

Daß als Kayenmufica man 

Unfre beften Werte brandmarlt; 

Und doch mäüfjen wir erleben, 

Daß biejelben Menſchenkinder 

Solde Tön’ ins Dafein rufen, 

Wie id} eben fie vernahm. 

Solde Töne, find fie nigt ein 

Strauß von Neffel, Stroh und Dornen, 

Drin die Diftel ſtechend prangt? 


Und kann angefidts des Fräuleins, 
Das dort die Trompete handhabt, 
Noch ein Vienſch ohn’ zu erröthen, 
Die Mufit der Kahen felten? 
Aber dulde, tapfres Herzel 
Duld’ — e8 werden Zeiten kommen, 
Wo der Menfch, das weile Unthier, 
Uns die Mittel richt'gen Ausdruds 
Des Geflihls entleihen wird; 
Bo bie ganze Welt im Ringen 
Vach dem Höhepunkt der Bildung 
— Bird, * 

denn gerecht iſt die Geſchichte, 
Jede air fühnet fie. 

Auch andere Monologe des Katers gehören zu den 
Eabinetftüden der Scheffel ſchen Dichtung, die in ihrer 
Anſpruchsloſigkeit und Friſche gewiß noch viele Leſer er. 
heitern wird. 

Eine neue Ausgabe hat auch Scheffel s, Frau Aventiure“ 
(Mr. 4) erlebt, eine mit wahrhaft poetiſchen Illuſtrationen 
ausgeftattete. Scheffel's „Frau Aventinre” ift eine Wieder⸗ 
erwedung mittelalterlichen Minnegefangs mit mittelbarer 
ober unmittelbarer Benugung von Gedichten, poetifchen 
Wendungen, Thatſachen und Begebenheiten, die in bie 
Zeit der Minnefänger fallen. Es iſt keuſche, unverfälfchte 
Poeſie des Mittelalters, der auch in diefer Wiedergeburt 
nichts Fremdartiges angelränfelt, welche durch keine mo⸗ 
dernen Züge entftellt if. So hoch wir dieſen jungfrän 
lichen Reiz der Dichtung ftellen, jo müſſen wir doch nad 
wie vor bie Anficht fefthalten, daß die Erneuerung mittel- 
alterlichen Minnegefangs ‚nicht zu den Aufgaben unferer 
gegenwärtigen Dichtung gehört. Das Talent Scheffel’s, 
das fi) in ber „Frau Abentiure“ meift formenftrenger 
zeigt al8 in den andern Dichtungen, wird wegen feiner 
erquicklichen waldquellartigen Frische und feines originelle 
norrigen Humors al8 eine Specialität im Kreiſe unferer 
neuen Poefie ſtets befondere Anziehungskraft auf die Lefer 
ausüben. Rudolf Gotiſchall. 


Ein preußifher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 


Graf Georg Friedrih von Walded. Ein preußiſcher Staats- 
mann im 17. Jahrhundert. Bon Bernhard Erbmanns- 
dörffer. Berlin, ©. Reimer. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 

Eine Geſchichte der deutfchen Einheitöbeftrebungen zu 
freiben, wird zu den ſchönſten und lohnendſten Aufgaben 
gehören, deren Löſung die deutſchen Geſchichtſchreiber der 

Zufunft verſuchen Lönnen; aber erft dann wird biefelbe 

möglich fein, wenn die Einheit felbft als eine Thatfache 

vorhanden und wirklich vollendet, nicht mehr in dem 
ſcheinbar endlofen Stadium mühfeligen und nur allzu oft 
gehemmten Wachfens und Werbens begriffen if. Solange 
das nicht der Fall if, muß eine Darftellung des Käm- 
pfens und Ringens, in dem das deutſche Volt, feitben 
8 — freilich ſput genug — den Werth dieſes Gutes 
erfannt, fi um die Gewinnung ber Einheit abgemüht 
hat, doch immer mehr oder weniger fragmentarifd) bleiben 
und mehr dem politifchen Bedürfniß des Augenblids und 
den praftifchen Forderungen der nationalen Arbeit als 
dem Triebe nad) reiner Erkenntniß des hiſtoriſchen Ent- 
midelungagangs zu dienen bemüht fein. Auch Liegen bie 





Materialien, auf welche eine ſolche Darftelung ſich grün« 
den müßte, noch zum guten Theil ungenugt, ja ungefannt 
in dem Siaube unferer Archive, und manche davon wer- 
den erft auf einen glüdfichen Zufall warten müffen, um 
an das Picht gezogen und ihrem wahren Werthe nad 
getoitrbigt zu werben. Ueberall aber, wo bisher unbefannte 
Quellen für die Kenntniß dieſer Richtung in dem Ent 
widelungsgange des bdeutfchen Volls zugänglich gemacht 
worben find, gewinnen wir eine neue Beftätigung der 
Anfiht, daß weit früher, als das Volt felbft ſich des 
Unfegens der nationalen Zerfplitterung bewußt wurde und 
ſich von dem Drange nad} fefterer Einigung ergriffen 
fühlte, alle wahrhaft deutſch denfenden und ſcharfbliden- 
den Männer des preußifchen Staats in diefem die Pflicht 
und den Beruf erkannten, das deutſche Volt mit ftarker 
Hand zufammenzufaffen und nöthigenfalls felbft gegen 
feinen Willen zur nationalen Einheit zu führen. Fedoch 
nicht bie Einheit um ihrer felbft willen pflegt von dieſen 
Männern erftrebt zu werden, und ohne der Bedeutung 
derfelben Abbruch zu thun, wird man behaupten fönnen, 





212 


Der zweite Abſchnitt: „Eulturgefchichtlich”, wirkt for 
mifh durch den Contraſt zwiſchen der alterögranen 
Färbung und dem modernen Inhalt. Gleich das erfte 
Gedicht bringt uns den Monolog eines Pfahlmenjchen; 
Pumpus von Peruſia ſchildert in parodiſtiſch erhabenen 
Trimetern den erſten Pumpperſuch ber Erde. Vollsthümlich 
geworden iſt das Gedicht: „Die Teutoburger Schlacht“, 
welches mit den Strophen beginnt: 


Als die Röomer frech geworben, 
Zogen fie nad) Deutſchlands Norden; 
Vorne beim Trompetenſchall 

Ritt der Generalfeldmarſchall, 

Herr Duinctilius Varus. 


Dod im Tentoburger Walde 
Hub, wie pfiff der Wind fo Halte; 
Raben flogen durch die Luft 

Und es war ein Moderbuft 

Wie von Blut und Leichen. 


Plöglich ans des Waldes Dufler 
Brachen Trampfbaft die Cherusler; 
Mit Bott für Fürſt und Baterland 
Stürmten fie von Wuth entbrannt 
Gegen die Legionen. 


Beh! das warb ein großes Morben. 
Sie erfählugen die Soborten; 
Nur die römische Reiterei 
Rettete ſich noch ins Frei’, 
Denn fie war zu Pferde. 
Der Eontraft zwifchen verwittertem Uralterthum und 
allermodernften Wirthshanszuftänden ift mit erheiternder 
Prägnanz in folgendem Gedicht andgeprägt: 


Altaſſyriſch. 
Sm Schwarzen Walfiſch zu Askalon 
Da trank ein Manu drei Tag, 
Bis daß er fleif wie ein Bejenftiel 
Am Marmortifche Tag. 
Im Schwarzen Walfiih zu Askalon 
Da ſprach der Wirth: Halt’ an! 
Der trinft von meinem Datteljaft 
Mehr ale er zahlen kann.‘ 


Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon 
Da bracht' der Kellner Schar 

In Keilſchrift auf ſechs Ziegelftein 
Dem Gaſt die Rechnung dar. 

Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon 
Da ſprach der Gaſt: „O weh! 
Mein baares Geld ging alles drauf 
Im Lamm zu Niniveh]“ 

Im Schwarzen Walfiſch zu Aslkalon 
Da ſchlug die Uhr halb vier, 

Da warf der Hausknecht aus Nubierland 
Den Fremden vor die Thür. 


Im Schwarzen Walfiſch zu Askalon 
Wird kein Prophet geehrt, 

Und wer vergnügt dort leben will, 
Zahlt baar was er verzehrt. 

Freilich finden fi unter den Gedichten auch viele, 
in denen ber Humor nit recht in Fluß kommen will 
und bie dadurch einen verzwidten und manierirten Cha- 
rafter erhalten. Zu dieſen Gebichten rechnen wir 3. B. 
„Des Klofterkellermeifters Sommermorgenflaggefang”, „Die 
Maulbronner Fuge”, „Das große Faß zu Heidelberg“, 
deſſen buntjchedig gelehrter Anftrih allerdings dadurch 


Joſeph Victor Scheffel. 


entſchuldigt wird, daß es für eine Philologenverſammlung 
gedichtet wurde. 

„Die Lieder vom Rodenſtein“, einem vertrunkenen 
Edelmann, der in Heidelberg ein Dorf nach dem andern 
vertrinkt, ſind volksthümlich gehalten und athmen einen 
friſchen, erquicklichen Humor. Köftlich iſt bie Wendung, 
welche die Wilde Jagd auf den unerfättlichen Durft des 
Rodenſteiners zurüdführt: 

Doch wen der letzte Schoppen fehlt, - 
Den duld't fein Erdreich nidt; 

Drum tobt er jet, von Durſt gequält, 
Als Geift umher und fpridt: 

„Raus da! ’Raus aus dem Hans ba! 
Herr Wirth, dag Gott mir beif’! 

Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein 
Des Nachts um halber zwölf?" 

Und alles, was im Odenwald 

Sein'n Durſt no nicht geftillt, 

Das folgt ihm bald, das fchallt und knallt, 
Das Hafft und flampft und brällt: 

„Raus dal Raus aus dem Haus da! 
Herr Wirth, daß Gott mir hei, 

Gibt's nirgends mehr 'nen Tropfen Wein 
Des Nachts um halber zwölf?“ 

Bon den fpätern Gedichten heben wir nod) den „Letz⸗ 
ten Boftillon‘ hervor, deſſen elegifche Haltung einen ſym⸗ 
pathifchen Eindrud macht, und das Gedicht „Graziella“ 
mit feinem italienifchen Colorit und der wigigen Schluß⸗ 
pointe. 

Die größern Gedichte in der Abtheilung: „Aus dem 
Weitern”, haben uns bei weitem nicht fo angeſprochen. 
Die Naturpoefie in dem Gedicht: „Der Wasgenftein”, 
bat eine gefuchte und zum Theil gelehrte altdentjche Faͤr⸗ 
bung. „Rippoldsan” und „Die Schweden in Rippoldsau“ 
find etwas weitfchweifige Humoresken; „Der Grindwal- 
fang an den Färderinfeln‘‘ zeigt ebenfalls einen wenig 
genießbaren Humor. Wenn Scheffel’8 Muſe nicht ihren 
guten Tag bat, bann erftarrt eben ihre Eigenthümlichkeit 
zuc Manier. Damit hängt die etwas falope Form ber 
Gedichte zufammen, welche überhaupt allen Dichtern eigen 
ift, die nad) altdeutfchen Muftern dichten und, wie Wil- 
helm Yordan, principiell den Fortſchritt verleugnen, der 
in der Ausbildung der neuen Metrik befteht. 

Scheffel’8 poetifche Erzählung: „Der Trompeter von 
Sädingen” (Nr. 3) ift bereits feit längerer Zeit dem 
deutfchen Leſepublikum befannt als eine frifche Dichtung 
aus ber Zeit des Dreißigjährigen Kriegs; und wenn aud) 
die zahlreichen Auflagen, welche das Gedicht gefunden hat, 
nicht für feinen Werth fprechen, da fonft „Amaranth‘ 
von Redwitz den „Trompeter von Sädingen” um eine 
Halslänge fchlagen würde, fo ift e8 doch auch nicht ber 
Antheil einer Partei oder gar einer Corporation von dem 
Einfluß des Tatholifchen Klerus, welche den „Trompeter“ 
gefördert bat, wie er der „Amaranth” zu einer großen 
Zahl von Auflagen verhalf. Der Ton des Scheffel’jchen 
Gedichts ift ein durchans gefumder und von der Manier 
feiner fpätern Productionen freier; deutſche und italienifche 
Genrebilder find in anfprechendfter Weife gezeichnet, und 
ber treuliebende deutfche Trompeter, der zulegt durch die 
Gnade des Papftes das deutſche Edelfräulein zur Fran 
erhält, ift eine durchaus volfsthümliche Figur. Das Büch⸗ 
lein der Lieber enthält manches Anmuthige und Nedifche, 


Ein preußiſcher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 213 


namentlich die Lieder des weltbetrachtenden Kater Hibdi- 
geigei, welcher überhaupt einen fehr amufanten Chorus 
zu mandjem in dem Gedicht gefchilberten Ereigniß bildet. 
Der Kater Hibdigeigei ſtammt zwar in directer Linie von 
dem Hoffmann'ſchen Kater Murr ab; dennoch Hat er 
manchen originellen Zug in feinem Satengefiht, und ba 
er Überdies ein lyriſcher, nicht in romantifcher Profa zer« 
flofiener Kater ift, jo muß man ihn ſchon als eine felb- 
fändige Figur gelten laſſen. Köſtlich ift z. B., wenn 
Fräulein Margaretha der Trompete ungefüge Greueltöne 
entlockt, daß das angoriſch lange Fellhaar des Katers ſich 
wie Igelſtacheln aufſträubt, der Monolog dieſes Katers 
mit feinen revolutionären Tendenzen gegen die Menſchheit 
and feinen Betrachtungen über menfchliche Katzenmuſik: 


Dulde, tapfres Katerherze, 

Das fo vieles fchon erbuldet, 
Duld’ auch diefer Juugfrau Blaſen! 
Wir, wir kennen die Geſetze, 

Die dem alten Schöpfungsräthſel, 
Die dem Schall zu Grunde liegen, 
Und wir kennen ihn, den Zauber, 
Der unfihtbar dur) den Raum fchwebt, 
Der ungreifbar wie ein Schemen 

In die Gänge des Gehörs dringt, 

Und in Thier- wie Menſchenherzen — 
Liebe, Sehnſucht und Entzüden, 

Naferei und Wahnfinn anfftlirmt. 

Und doc müffen wir erleben, 

Daß, wenn unfre Katerliebe 

Nächtlich ſüß in Tönen denft, 

Sie den Menſchen Spott nur abringt, 
Daß als Katzenmufica man 

Unfre beftien Werke brandmarlt; 

Und doch müſſen wir erleben, 

Daß diefelben Menſchenkinder 

Solche Tön’ ins Dafein rufen, 

Wie ich eben fie vernahm. 

Solde Töne, find fie nicht ein 

Strauß von Nefiel, Stroh und Dornen, 
Drin die Diftel ſtechend prangt? 


Und kann angefidhts des Fräuleins, 
Das dort die Trompete handhabt, 
Noch ein Menſch, ohn’ zu erröthen, 
Die Mufil der Katzen fchelten? 
Aber dulde, tapfres Herze! 

Duld’ — es werden Zeiten fommen, 
Wo der Menſch, das weife Unthier, 
Uns die Mittel richt’gen Ausdruds 
Des Gefühls entleihen wird; 

Wo die ganze Welt im Ringen 
Nah dem Höhepunkt der Bildung 
Katzenmuſikaliſch wird. 

Denn gerecht ift die Geſchichte, 

Jede Unbill fhnet fie. 

Auch andere Monologe des Katers gehören zu den 
Cabinetſtücken der Scheffel'ſchen Dichtung, die in ihrer 
Anſpruchsloſigkeit und Friſche gewiß noch viele Leer er- 
beitern wird. 

Eine neue Ausgabe hat auch Scheffel’8 „rau Aventiure“ 
(Nr. 4) erlebt, eine mit wahrhaft poetifchen Illuſtrationen 
ausgeftattete. Scheffel's „Frau Aventiure” ift eine Wieder- 
erwedung mittelalterlihen Minnegeſangs mit mittelbarer 
oder unmittelbarer Benutung von Gedichten, poetifchen 
Wendungen, Thatſachen und Begebenheiten, die in die 
Zeit der Minnefünger fallen. Es iſt keuſche, unverfälfchte 
Poefie des Mittelalterd, der auch in diefer Wiedergeburt 
nichts Fremdartiges angefränfelt, welche durch Feine mo- 
dernen Züge entitellt if. So hoch wir diefen jungfräu- 
lichen Reiz der Dichtung ftellen, fo müſſen wir doc nad 
wie vor die Anficht feftgalten, daß die Erneuerung miittel« 
alterlichen Minnegefangs nicht zu den Aufgaben unferer 
gegenwärtigen Dichtung gehört. Das Talent Scheffel's, 
das fi in der „Frau Aventiure“ meift formenftrenger 
zeigt als in den andern Dichtungen, wird wegen feiner 
erquidlichen waldquellartigen Friſche und feines originelle 


fnorrigen Humors ald eine Specialität im Kreiſe unferer- 


neuen Poeſie ftetS befondere Anziehungskraft auf die Lejer 
ausüben, Rudolf Sottfchall. 


Ein preußifher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 


Graf Georg Friedrih von Walded. Ein preußiſcher Staats- 
mann im 17. Sahrhundert. Bon Bernhard Erdmanns- 
dörffer. Berlin, ©. Reimer. 1869. ©r. 8. 2 Thlr. 


Eine Gefchichte der deutſchen Einheitsbeftrebungen zu 
fhreiben, wird zu den fchönften und lohnendften Aufgaben 
gehören, deren Löſung die deutjchen Gefchichtfchreiber der 
Zukunft verfuchen Können; aber erſt dann wird dieſelbe 
möglich fein, wenn die Einheit felbft als eine Thatſache 
vorhanden und wirklich vollendet, nicht mehr in dem 
ſcheinbar endlojen Stadium mühfeligen und nur allzu oft 
gehemmten Wachjens und Werben begriffen ift. Solange 
das nicht der Fall ift, muß eine Darftellung des Käm⸗ 
piens und Ringens, in dem das deutſche Volt, feitdem 
8 — freilich ſpät genug — den Werth diefes Gutes 
etlannt, fi) um die Gewinnung ber Einheit abgemiüht 
hat, doch immer mehr ober weniger fragmentarifch bleiben 
und mehr dem politifchen Bedürfniß des Augenblicks und 
den praftifchen Forderungen der nationalen Arbeit als 
dem Triebe nach reiner Erkenntniß des hiſtoriſchen Ent« 
nidelungsgangs zu dienen bemüht fein. Auch liegen bie 


Materialien, auf welche eine ſolche Darftellung fid) grün- 
den müßte, noch zum guten Theil ungenugt, ja ungelannt 
in dem Staube unferer Archive, und manche bavon wer- 
den erft auf einen glüdlichen Zufall warten müffen, um 
an das Licht gezogen und ihrem wahren Werthe nad) 
gewürdigt zu werben. Ueberall aber, wo bisher unbelannte 
Duellen für die Kenntniß dieſer Richtung in dem Ent⸗ 
widelungsgange des deutfchen Volks zugänglich gemacht 
worden find, gewinnen wir eine neue Beftätigung ber 
Anſicht, dag weit früher, ald das Volk felbft fich des 
Unfegens der nationalen Zerfplitterung bewußt wurde und 
fih von dem Drange nad) fefterer Einigung ergriffen 
fühlte, alle wahrhaft deutſch denfenden und fcharfbliden- 
den Männer des preußifchen Staats in biefem die Pflicht 
und den Beruf erkannten, das deutfche Volk mit ftarker 
Hand zufammenzufaflen und nöthigenfalls felbft gegen 
feinen Willen zur nationalen Einheit zu führen. Jedoch 
nicht die Einheit um ihrer jelbft willen pflegt von biefen 
Männern erftrebt zu werden, und ohne der Bebentung 
derfelben Abbruch zu thun, wird man behaupten können, 


rad 














214 Ein preußifher Staatsmann im 17. Sahrhundert. 


daß der nationalsfittliche Werth, der namentlich feit den 
Befreiungskriegen von den Vorkämpfern der deutfchen Ein- 
heit betont worden iſt und den allmählich das Volk felbft 
mehr und mehr begreifen und würdigen lernte, von ihnen 
wol felten oder nie geahnt worden ift, fondern daß fie 
von feinen andern als rein politiichen Gefichtspunften 
ausgingen. Eine politifche Nothmwendigfeit aber war bie 
feftere Einigung des vielgefpaltenen Deutfchland für jeden 
preußifchen Staatsmann, der es mit der Macht Preußens 
ehrlich meinte und die Zukunft defjelben auf wirklich fichere 
Tundamente gründen wollte: die Pflicht der Selbfterhal- 
tung gebot dem fo fchnell in die Höhe gefommenen preit- 
ßiſchen Staate, die Einigung Deutſchlands raſtlos zu ber 
treiben; denn er bedurfte derfelben, um fich gegen bie 
ftete und unüberwindliche Feindſchaft der Habshurgifchen 
Macht zu fihern. So fehen wir denn Preußen überall 
da, wo e8 fich feiner unausgleichbaren Gegenfäte gegen 
Defterreich Har bewußt wird, zugleich den deutjchen Staa- 
ten gegenüber eine Einheitspolitik vertreten, geradefo wie 
in neuerer und neuefter Zeit die wahren Vorfümpfer der 
nationalen Einigung Deutſchlands die Trennung von 
Defterreich und die Vernichtung des habsburgiſchen Ein- 
fluffes in Deutfchland auf ihre Fahne gefchrieben hatten. 
Das Bedürfniß, gegen die Vergrößerungsgelüfte des länder- 
gierigen Joſeph II. einen feften Rückhalt zu gewinnen, 
trieb den greifen Friedrich) den Großen in bie Bahnen 
der Einheitspolitif und führte ihn zu feiner letzten großen, 
epochemachenden politifchen That, der Stiftung des deut- 
chen Fürftenbundes, durch welche er Preußen zugleich 
die Bahnen feiner künftigen Politik vorzeichnetee Mit 
diefem letzten Werke des großen Königs pflegt man die 
Gefchichte der deutſchen Einheitöbeftrebungen zu beginnen. 
Sollte e8 aber vorher ganz an folchen gefehlt haben? 
Sicher nicht, wenn es richtig ift, daß überall da, wo 
Preußen in bewußtem Gegenſatze gegen Oeſterreich han⸗ 
delt, Verſuche zur Einigung Deutſchlands gegen die habs⸗ 
burgiſche Macht ſich als nothwendige und natürliche Folge 
ergeben. Es kann dieſer Satz geradezu einen Fingerzeig 
geben, wo, auch in der Zeit vor Friedrich dem Großen, 
Einheitstendenzen in der brandenburgiſch⸗preußiſchen Po⸗ 


litik vermuthet werden können und an welcher Stelle ber 


Forſcher ſolchen nachgehen kann mit der ziemlich ſichern 
Ausſicht auf lohnenden Erfolg. 

Daß dieſe politiſchen Geſichtspunkte lange vor der 
Gründung des deutſchen Fürſtenbundes bekannt waren, 
daß mehr als ein Jahrhundert vorher ſchon die preußiſche 
Politik von denſelben beſtimmt worden iſt, das nachgewie⸗ 
ſen zu haben, iſt das Verdienſt der Monographie, in 
welcher uns Bernhard Erdmannsdörffer in dem Grafen 
Georg Friedrich von Waldeck einen Staatsmann dargeſtellt 
hat, der, bisher wenig beachtet, unter den preußiſchen 
Staatsmännern aller Zeiten einen Ehrenplatz einzunehmen 
verdient und in dem man für jene Zeit und unter jenen 
Verhältniſſen gewiſſermaßen einen Vorläufer Bismarck's, 
wenn auch einen nicht eben vom Glück begünſtigten, ſehen 
möchte. Das Auftreten Waldeck's unter dem Großen 
Kurfürſten Friedrich Wilhelm und die kühne, von einer 
entſchiedenen Einheitstendenz beherrſchte Politik, welche 
er trotz aller ihm entgegengeſtellten Hinderniſſe eine Reihe 
von Jahren durchzuführen die Kraft hatte, erſcheinen frei— 


[ih in der Geſchichte des genialen Begründer des brans 
benburgifch -preußifchen Staats wie eine ziemlich fchnell 
vorübergehende Epifobe; im einzelnen aber ift biejelbe 
nicht blos für bie Zeit des Großen Kurfürften, fondern 
für die Richtung der preußifchen Politif überhaupt und 
die Erfenntniß ihrer Aufgaben fo außerordentlich lehrreich, 
daß ſchon dadurch die eingehende nionographifche Behand« 
lung eines nur wenige Jahre umfaſſenden Zeitraums nicht 
blos gerechtfertigt, fondern im höchſten Grade dankens⸗ 
werth erfcheint und gerade in unjern Zagen auf die Ich- 
baftefte Theilnahme rechnen fann, um fo mehr, als bie 
höchſt merkwürdigen Thatfachen, welche uns hier auf 
Grund umfangreicher archivalifcher Forſchungen dargeftellt 
werden, auffallenderweife in völlige Vergeſſenheit gera« 
then und nirgends, auch da nicht, wo man dem meilten 
Grund gehabt hätte fich ihrer zu erinnern, ihrer Bedeu— 
tung gemäß gewürdigt worden find. Selbſt Friedrich der 
Große, al8 er den Fürftenbund ftiftete, bat Feine Ahnung 
davon gehabt, daß fchon unter dem Großen Kurfürften 
die preußifche Politit ganz gleiche Ziele mit ganz ähnlichen 
Mitteln verfolgt hatte: — 


Zurüdblidend auf die frühern Epochen ber deutſchen Ges 
ſchichte fand der gefchichtsfundige König feinen Verſuch refor- 
matorifcher Bundespolitik vor, mit welchem er feine eigenen 
Abfichten in Vergleich ftellen mochte, ale das große proteflan- 
tiſche Büundniß des 16. Jahrhunderts. Im den weitern Erörtes 
rungen, welche hierauf folgten, wird dann gelegentlid) aud) die 
Union von 1608, das leipziger Bündniß von 1631 zum Ber 
gleich herbeigezogen; nirgends aber begegnet, weder in den 
Aeußerungen des Königs, noch in den Staatsfchriften Hertzberg's 
und anderer Diplomaten der Zeit, nod) im der pubficiftifhen 
Literatur, die ſich an die Union von 1785 anſchloß, die leiſeſte 
Spur davon, daß noch irgendeine Erinnerung ſich erhalten 
hätte an die mit jo großem Eifer betriebenen Plane, deren Ent- 
ftehung und Berlauf uns bis hierher befchäftigt hat. Aufs voll» 
fländigfte war das Andenken daran dem Gedächtniß der Men- 
ſchen und dem hiſtoriſchen Bewußtſein des preußifchen Staats 
entſchwunden, daß ſchon 130 Sabre vor der Grlindung des 
Sridericianifchen Fürſtenbundes, ſchon in ben erften Jahren 
jugendfrifhen, zukunftsfihern Emporfirchens der preußiſchen 
Monarchie ein Staatsmann des Großen Kurfürften diefem Fürs 
ten als die Aufgabe feines Staats das Werk Hingeftellt bat, 
welches dann der große Herricher des 18. Sahrhunderts, mit 
mächtig erweiterten Mitteln, mit den gereiftern und gellärten 
Anſchauungen feiner Zeit, als den Schlußftein feines gewalti⸗ 
gen Lebens fi) vorzufegen den Ehrgeiz hatte. 


Diefer Staatsmann ift eben Graf Georg Friebrid 
von Waldeck. Seine Thätigkeit und Politik als Minifter 
des Großen Kurfürften wird uns von Erdmannebörffer 
eingehend gefchildert, zumeilen fogar vielleicht eingehender, 


als die Mehrzahl der Leſer es liebt. Aber nicht eine Bios 


graphie des bedeutenden Mannes wird und geboten; wenn 


auch die Schickſale defjelben bis zu feinem Eintritt in. 


brandenburgifch-preußifche Dienfte kurz berichtet werben, 
jo vermißt man doc eine, wenn auch nur flüchtige Skizze 
über den Lebensgang Waldeck's feit feinem Ausſcheiden 
aus dem Dienfte des Großen Kurfürften, die beiläufigen 
Undentungen, welche fich hier und da finden, werben den 
mwenigften Leſern genügen, wie ja auch bei dieſem plötz⸗ 
lichen Abbrechen ein abfchliegendes Urtheil über die ges 
fanımte Berfönlichkeit des Grafen, den man nur ale 
preußifchen Staatsmann Tennen lernt, unmöglich gemad)t 
wird. Das ift ein recht empfindlicher Mangel, dem durch 


— —— —— — — — — — — — —— — — —— — — —— —— —— —— — — — — — — — —— 





Ein preußifber Staatsmann im 17. Jahrhundert, 


ein Schlußwort von wenigen Seiten hätte abgeholfen wer- 
den fünnen. 

Graf Georg Friedrid) von Walde, einem Geſchlecht 
entfprofien, da8 unter den Heinen reichsfreien Dynaften 
des norbmeftlichen Deutjchland immer nur eine miittel« 
mäßige Stellung eingenommen, war am 21. Januar 1620 
geboren. Unter den Greueln des Dreißigjährigen Kriegs 
wuchs er auf und fah unter den Verwüſtungen deflelben 
den ohnehin fchon geringen Wohlftand feines Haufes vol⸗ 
lends zu Grunde gehen. Nach der Sitte ber Zeit voll» 
endete er feine Bildung durch eine Reife nad) Paris; von 
der Fortſetzung derfelben nad) Italien durd) ben Tod jei- 
nes Baterd abgehalten, fah er ſich durd) die tiefe Zer⸗ 
rüttung des Familienbeſitzes genöthigt, mit feinen Brüdern 
in ben Niederlanden Kriegsdienfte zu nehmen, wo er ſich 
im Kampfe gegen die Spanier auszeichnete. Nach einigen 
Jahren trat er, durch den Tod feines ältern Bruders 
zum Yamilienhaupt geworden, die Verwaltung der Graf—⸗ 
ihaft Waldel an, wobei er inntitten der fchwierigften 
Berhältniffe Thatkraft und Geſchick in feltenen Grade zu 
entfalten Gelegenheit fand. Doch gelang es ihm nid, 
dem Elend, in das fein Haus und fein Land durch den 
entfeglichen Krieg gerathen waren, erfolgreid) abzuhelfen. 
In welcher Lage damals biefe Heinen Dynaften waren 
und wie fie um eine kümmerliche Eriftenz geradezu ringen 
mußten, zeigt uns die Yeußerung, welche Waldeck's jün- 
gerer Bruder einmal in einem Briefe thut: 

Denn man menfhliher- und irdifcherweife davon reden 
will, ſcheint gewißlich, die Zeit unfers Haufes Untergang fei 
vor der Thlir. Zu allem Unglüd kommen noch die ſchweren 
Proceſſe, welche uns ſchon etliche Federn ausgerupft; follte 
Pyrmont denen folgen, wären wir ganz capot. Die großen 
Schulden, die uns an allen Orten auf dem Halfe liegen, wer» 
ben unfern Fall nicht wenig befördern helfen; weldjer verfluchte 
Krebs auch den Euylenburgiihen Staat ſchon dermaßen an⸗ 
gejrejien, daß er gleihfam ſchon in den letzten Zügen liegt. 
In summa, id) fehe nichts als Bettelei und splendidam mi- 
scrıam. 

So ift e8 Leicht begreiflih, daß Georg Friedrich don 
Waldeck nicht anftand, eine mit folchem Elend behajtete 
fürflihe Stelung mit dem ihm angebotenen Dienft des 
Kurfürten von Brandenburg zu vertauſchen, da ſich ihm 
mit derfelben günſtige Ausjichten auf Macht und Einfluß 
fowie eine völlig geficherte äußere Eriftenz öffneten. Es 
war int Januar 1651, als Walded durd ein eigenhän- 
diges Schreiben des Kurfürften die Aufforderung erhielt, 
das Commando der furfürftlichen Keiteret zu übernehmen. 
Eben damals jah Friedrid) Wilhelm, der mit jo bewun⸗ 
dernswerth fiherm Blick und fo flarfer Hand das faft 
zerſchellte Schiff feines Staat3 aus den wilden Stürmen 
des Kriegs in einen ſchützenden Hafen geftenert hatte, ſich 
dur die Erneuerung der jülich-cleveſchen Streitigfeiten 
mit ernftlichen Schwierigkeiten bedroht; gerade um dieſen 
zu begegnen, berief er Walded in feine Dienſte. Die 
Energie und das Organifationstalent, welche ihn auszeich⸗ 
neten, berfchafften diefem bald einen viel weiter reichen- 
den Einfluß; durch feine fiir den Kurfürften politifch fo 
wichtige Berbindung mit der oranifchen Partei in ben 
Niederlanden gewann Waldeck auch bald in der Leitung 
der auswärtigen Politik eine entjcheidende Stimme. Wie 
ſehr Waldeck ſich bewährte, zeigt, daß er nad dem 


215 
refultatlofen Ausgange des jülihfchen Kriegs in branden- 
burgijchen Dienften blieb und feinen anregenden und ums 
geftaltenden Einfluß bald auf allen Gebieten des Staats» 
lebens geltend zu machen begann. Höchft intereffant und 
lehrreich ift die Schilderung, welche Erdmannsdörffer bei 
diefer Gelegenheit von den Beamtenthum des Großen 
Kurfürften entwirft. Sein Menſch dachte daran, dem 
Lande feine Dienfte zu widmen, in dem er geboren; und 
wie fo die Mürker, da man eben nur Beaniter wurde 
um fein Glück zu machen, in anderer Yürften Dienfte 
traten, jo waren gerade die bedeutendften unter den Die- 
nern Friedrih Wilhelm’8 Ausländer; daraus erklärt ſich, 
daß fo felten ein Beamter wirklich ein Herz Hatte für das 
Land und den Yürften, benen er diente, daß fie nicht 
Anftand nahmen, in den Dienft der Gegner derfelben zu 
treten, furz, daß von einer ftrengen Moralität in dieſen 
Kreiſen noch nichts zu finden ift. Da jeder nur fein 
Glück im Auge hatte, fo fah er jeden neuen Ankömmling 
als feinen perſönlichen Nebenbuhler an und juchte dem» 
jelben wie und wo er konnte Abbruh zu thun. So 
wurde denn aud) Walde, je mehr er bei feinem Fürſten 
zu gelten anfing, um fo leidenfchaftlicher von all denen 
angefeindet, die ſich durch ihn in ihren Stellungen und 
ihrer Zulunft bedroht wähnten. Das gefhah um fo 
mehr, als Walded mit einer Meuge von Reformen her- 
vortrat, durch welche der bisherige, bequeme und jchlaffe 
Gang der Verwaltung zum größten Misvergnügen der 
davon betroffenen Beamten geändert werben follte. Wenn 
es nun Waldeck auch glüdte, feinen Hauptgegner Konrad 
von Burgsdorf aus dem Sattel zu heben, jo konnte er 
des ihm fonft noch entgegentretenden Einfluſſes ande- 
rer Männer, wie Schwerin’s, Blumenthal’8 und nament- 
fh Sparr’s, nicht Herr werden. So ſah er denn feine 
Plane zu einer durchgreifenden Berwaltungsreform ſchei⸗ 
tern und mußte fid) damit begnügen, wenigftens fr eine 
kräftige Entwidelung de8 Militärwefens zu forgen, das 
er in den Wirren jener Zeit als die wichtigfte und un« 
entbehrlichfte Stütze Brandenburgs anfah. 

Almählid aber wurde Walde als brandenburgifcher 
Minifter der unumſchränkte Leiter der auswärtigen Politik 
des Großen Kurfürften, und zwar gejchah das von dem 
Augenblid an, wo Brandenburg fid mit aller Energie 
von der habsburgiſchen und Eatholifchen Partei losfagte. 
Waldeck's Ernennung zum Minifter leitete ein völlig neues 
Syſtem ein: Oppofition gegen Defterreich und defjen ber 
Reformation feindliche Tendenzen, Einigung der Evan⸗ 
gelifchen unter brandenburgifcher Teitung und Begründung 
einer feftgejchloffenen Union derjelben — das find bie Ge- 
danfen, von denen diefelbe nun beherrfcht wird. Im 
December 1653 entwidelte Walde feine Ideen den Kur⸗ 
fürften in einem ausführlichen Memoire, das für ihn als 
einen Vorkämpfer der deutſchen Einheit und als genialen 
Staatsmann das glänzendfte Zeugniß ablegt. Nachdem 
er gezeigt, daß alle die fogenannten Einigungsmittel, die 
in der Kreisordnung, in Exrbverbrüberungen u. |. w. vor⸗ 
banden waren, ganz werth= und wirkungslos find, und daß 
Brandenburg namentlih an den übrigen Kurfürften keinen 
Rückhalt findet, ſchlägt Walde die Stiftung eines Bünd⸗ 
niſſes vor, zu welchem die vornehmften Cvangelifchen, 
nämlich Kurſachſen, Kurpfalz, Pommern, Bremen und 





214 


daß ber national-fittlihe Werth, der namentlich feit den 
Befreiungskriegen von den Vorkämpfern ber deutſchen Ein- 
heit betont worden ift und den allmählich das Volk feldft 
mehr und mehr begreifen und würdigen lernte, von ihnen 
wol felten oder nie geahnt worden ift, fondern daß fie 
von feinen andern al8 rein politifchen Gefichtspunften 
ausgingen. Eine politifche Nothwendigfeit aber war die 
feftere Einigung de8 vielgefpaltenen Deutſchland für jeden 
preußifchen Staatsmann, der e& mit der Macht Preußens 
ehrlich meinte und die Zukunft deffelben auf wirklich fichere 
Fundamente gründen wollte: die Pflicht der Selbfterhal- 
tung gebot dem fo fchnell in die Höhe gekommenen preu- 
ßiſchen Staate, die Einigung Deutſchlands raftlo8 zu ber 
treiben; denn er bedurfte derfelben, um fich gegen bie 
ftete und unüberwindlihe Yeindfchaft der habsburgiſchen 
Macht zu fihern. So fehen wir denn Preußen überall 
da, wo es fich feiner nnausgleichbaren Gegenfäge gegen 
Defterreich Kar bewußt wird, zugleich den deutfchen Staa⸗ 
ten gegenüber eine Einheitspolitik vertreten, geradefo wie 
in neuerer und neuefter Zeit die wahren Vorfümpfer der 
nationalen Einigung Deutfchlande die Trennung von 
Defterreih und die Vernichtung des habsburgifchen Ein- 
fluffes in Deutfchland auf ihre Fahne gefchrieben hatten. 
Das Bedürfniß, gegen die Bergrößerungsgelüfte des länder⸗ 
gierigen Joſeph II. einen feften Rückhalt zu gewinnen, 
trieb ben greifen Friebrih den Großen in die Bahnen 
der Einheitspolitif und führte ihn zu feiner letzten großen, 
epochemachenden politifchen That, der Stiftung bes deut- 
ſchen Fürftenbundes, durch welche er Preußen zugleich 
die Bahnen feiner künftigen Politik vorzeichnete.e Mit 
biefem lebten Werke des großen Königs pflegt man die 
Gefchichte der deutfchen Einheitsbeftrebungen zu beginnen. 
Sollte e8 aber vorher ganz an foldyen gefehlt haben? 
Sicher nicht, wenn es richtig ift, daß überall da, wo 
Preußen in bewußtem Gegenjage gegen Oeſterreich han- 
delt, Verſuche zur Einigung Deutfchlands gegen die habs⸗ 
burgijche Macht fi als nothwendige und natürliche Folge 
ergeben. Es kann diefer Sa geradezu einen Fingerzeig 
geben, wo, auch in der Zeit vor Friedrich dem Großen, 
Einheitötendenzen in der brandenburgifch« preußifchen Bo- 
litik vermuthet werben können und an welcher Stelle der 
Torfcher folhen nachgehen kann mit der ziemlich fichern 
Ausfiht auf lohnenden Erfolg. 

Daß diefe politifchen Geſichtspunkte lange vor ber 
Gründung des beutfchen Firflenbundes befannt waren, 
daß mehr als ein Jahrhundert vorher fchon die preußifche 
Politif von denfelben beftimmt worden ift, das nachgewie- 
jen zu haben, ift das DBerdienft der Monographie, in 
welcher uns Bernhard Erbmannsbörffer in dem Grafen 
Georg Friedrich von Waldeck einen Staatsmann bargeftellt 
bat, der, bisher wenig beachtet, unter den preußifchen 
Staatsmännern aller Zeiten einen Ehrenplag einzunehmen 
verdient und in dem man für jene Zeit und unter jenen 
Berhältniffen gewifjermaßen einen Vorläufer Bismarck's, 
wenn auch einen nicht eben vom Glück begünftigten, fehen 
möhte. Das Auftreten Waldeck's unter dem Großen 
Kurfürften Friedrich) Wilhelm und die kühne, von einer 
entfchiedenen Einheitstendenz beherrfchte Politik, welche 
er trog aller ihm entgegengeftellten Hinderniffe eine Reihe 
von Jahren durchzuführen die Kraft Hatte, erjcheinen freis 


Ein preußifher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 


lich in der Geſchichte des genialen Begründers des brans 
denburgifch «prenßifchen Staats wie eine ziemlid) fchnell 
vorübergehende Epifode; im einzelnen aber iſt diefelbe 
nicht blos für die Zeit des Großen Kurfürften, fondern 
für die Richtung der preußifchen Politit überhaupt und 
die Erfenntniß ihrer Aufgaben fo außerordentlich Iehrreich, 
daß ſchon dadurch die eingehende nionographifche Behand« 
lung eines nur wenige Jahre umfafjenden Zeitraums nicht 
blos gerechtfertigt, fondern im höchſten Grade dankene« 
werth ericheint und gerade in unfern Zagen auf die Ich- 
baftefte Theilnahme rechnen fann, um fo mehr, als bie 
höchſt merkwürdigen Thatſachen, welche uns hier auf 
Grund umfangreicher archivalifcher Forſchungen dargeftellt 
werden, auffallenderweife in völlige Vergeſſenheit gera« 
then und nirgends, aud da nit, wo man den meiften 
Grund gehabt hätte fich ihrer zu erinnern, ihrer Beben 
tung gemäß gewürdigt worden find. Selbſt Friedrich der 
Große, als er den Fürftenbund ftiftete, hat feine Ahnung 
davon gehabt, daß fchon uuter dem Großen Kurfürften 
die preußifche Politik ganz gleiche Ziele mit ganz ähnlichen 
Mitteln verfolgt hatte: — 


Zurldblidend auf die frühern Epochen der dentſchen Ges 
ſchichte fand der gefchichtsfundige König Leinen Verſuch refor 
matoriſcher Bundespolitik vor, mit welchem er feine cigenen 
Abfichten in Vergleich ftellen mochte, als das große proteftan- 
tiſche Bündniß des 16. Jahrhunderts. In den weitern Erörte 
rungen, welche hierauf folgten, wird dann gelegentlid) aud) die 
Union von 1608, das Teipziger Bündniß von 1631 zum Ver⸗ 
gleich herbeigezogen; nirgends aber begegnet, weder in den 
Heußerungen des Königs, noch in den Staatejchrifterr Hertberg’s 
und anderer Diplomaten der Zeit, nod) in der publieiſtiſchen 
Literatur, die fid) an die Union von 1785 anſchloß, die leifefte 
Spur davon, daß noch irgendeine Erinnerung fich erhalten 
hätte an die mit jo großem Eifer betriebenen Plane, deren Ent- 
ftehung und Berlauf uns bis hierher befchäftigt Hat. Aufs voll» 
ftändigfte war da8 Andenken daran dem Gedächtniß der Men- 
jhen und dem hifloriihen Bemwußtfein des preußifchen Staats 
entſchwunden, daß ſchon 130 Jahre vor der Gründung des 
Fridericianiſchen Flürftenbundes, fhon in den erſten Sahren 
jugendfrifhen, zukunftsſichern Emporftrebens der preußifchen 
Monardie ein Staatsmann des Großen Kurfürften biefem Fürs 
fen als die Aufgabe feines Staats das Werk hingeftellt bat, 
weiches dann der große Herricher des 18. Sahrhunderts, mit 
mächtig erweiterten Mitteln, mit ven gereiftern und gellärten 
Anſchauungen feiner Zeit, als den Schlußſtein feines gewalti- 
gen Lebens ſich vorzufegen ben Ehrgeiz batte. 


Diefer Staatsmann ift eben Graf Georg Friedrid 
von Walded. Seine Thätigkeit und Politik als Minifter 
des Großen Kurfürften wird uns von Erdmannsbörffer 
eingehend gefchildert, zumeilen ſogar vielleicht eingehender, 


als die Mehrzahl der Leſer es Liebt. Aber nicht eine Bios 


graphie des bedeutenden Mannes wird uns geboten; wenn 
auch die Scidjale defjelben bis zu feinem Eintritt in 
brandenburgifch=preußifche Dienfte kurz berichtet werben, 
jo vermißt man doc eine, wenn auch nur flüchtige Skizze 
über den Lebensgang Waldeck's feit feinem Ausfcheiden 
aus dem Dienfte de8 Großen Kurfürften, die beiläufigen 
Andeutungen, welche ſich hier und da finden, werben ben 
menigften Lefern genügen, wie ja auch bei biefem plötz⸗ 
lichen Abbrechen ein abfchließendes Urtheil über die ge 
ſammte Perfünlichkeit des Grafen, den man nur als 
preußifchen Staatsmann Fennen lernt, unmöglich gemacht 
wird. Das ift ein recht empfindlicher Mangel, dem durd) 


BE 


Ein preußifcher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 915 


ein Schlußwort von wenigen Seiten hätte abgeholfen wer- 
den können. 

Graf Georg Friedrich von Waldeck, einem Geſchlecht 
entfproffen, das unter den Heinen reichsfreien Dynaften 
des nordweſtlichen Deutfchland immer nur eine mittel⸗ 
mäßige Stellung eingenommen, war am 21. Januar 1620 
geboren. Unter den Greueln des Dreißigjährigen Kriegs 
wuchs er auf und fah unter den Verwiſlſtungen defjelben 
ben ohnehin ſchon geringen Wohlftand feines Haufes vol- 
Iend8 zu Grunde gehen. Nach der Sitte ber Zeit voll» 
endete er feine Bildung durch eine Reife nad) Paris; von 
der Fortſetzung berfelben nach Italien durch den Tod jei- 
nes Vaters abgehalten, fah er ſich durd) die tiefe Zer⸗ 
rüttung des Bamilienbefiges genöthigt, mit feinen Brüdern 
in den Niederlanden Kriegsbienfte zu nehmen, wo er ſich 
im Sampfe gegen die Spanier auszeichnet. Nach einigen 
Jahren trat er, durch den Tod feines ältern Bruders 
zum Familienhaupt geworden, die Berwaltung der Graf- 
ſchaft Waldeck an, wobei er inmitten ber ſchwierigſten 
Verhältniſſe Thatkraft und Geſchick in ſeltenem Grade zu 
entfalten Gelegenheit fand. Doch gelang es ihm nicht, 
dem Elend, in das ſein Haus und ſein Land durch den 
entſetzlichen Krieg gerathen waren, erfolgreich abzuhelfen. 
In welcher Lage damals diefe kleinen Dynaſten waren 
und wie ſie um eine kümmerliche Exiſtenz geradezu ringen 
mußten, zeigt uns die Aeußerung, welche Waldeck's jün- 
gerec Bruder einmal in einem Briefe tut: 

Denn man menjchliher- und irdifchermweife davon reden 
will, fcheint gemißlih, die Zeit unſers Hauſes Untergang fei 
vor der Thür. Zu allem Unglüd kommen nod die ſchweren 
Broceffe, welche uns ſchon etliche Federn ausgerupfi; follte 
Pyrmont denen folgen, wären wir ganz capot. Die großen 
Schulden, die une an allen Orten auf dem Halfe liegen, wer- 
den unjern Kal nicht wenig befördern helfen; weldyer verfluchte 
Krebs auch den Euylenburgiihen Staat ſchon dermaßen ans 
geirejien, daß er gleihfam ſchon in den letzten Zügen Tiegt. 
Su summa, id} ſehe nichts als Bettelet und splendidam mi- 
Beriam. 

So iſt es leicht begreiflich, daß Georg Friedrich von 
Waldeck nicht anſtand, eine mit ſolchem Elend behaftete 
fürſtliche Stellung mit dem ihm angebotenen Dienſt des 
Kurfürſten von Brandenburg zu vertauſchen, da ſich ihm 
mit derfelben gilnftige Ausjichten auf Macht und Einfluß 
ſowie eine völlig geficherte äußere Exiſtenz öffneten. Es 
war im Januar 1651, als Waldeck durd) ein eigenhän- 
diged Schreiben des Kurfürften die Aufforderung erhielt, 
das Commando der furfürftlichen Reiterei zu übernehmen. 
Eben damals jah Friedrich) Wilhelm, der mit fo bewun⸗ 
bernswertd ficherm Bid und fo ftarker Hand das fall 
zerichellte Schiff feines Staat aus den wilden Stürnien 
des Kriegs in einen ſchützenden Hafen gefteuert hatte, ſich 
durch die Erneuerung der jülich-clevefchen Streitigkeiten 
mit ernftlichen Schwierigkeiten bedroht; gerade um dieſen 
zu begegnen, berief er Waldeck in feine Dienfte. Die 
Energie und das Organifationstalent, welche ihn auszeich⸗ 
neten, verſchafften diefem bald einen viel weiter reichen= 
den Einfluß; durch feine fiir den Kurfürſten politifch fo 
wichtige Verbindung mit der oraniſchen Partei in den 
Niederlanden gewann Waldeck auch bald in der Feitung 
der auswärtigen Politik eine entfcheidende Stimme Wie 
ſehr Walde fi) bewährte, zeigt, daß er nah dem 


refultatlofen Ausgange des jülichſchen Kriegs in branden- 
burgifchen Dienften blieb und feinen anregenden und um⸗ 
geftaltenden Einfluß bald auf allen Gebieten bes Staats⸗ 
lebens geltend zu machen begann. Höchſt intereffant und 
lehrreich ift die Schilderung, melde Erdmannsdörffer bei 
diefer Oelegenheit von dem Beamtenthum bes Großen 
Kurfürften entwirft. Kein Menfc dachte daran, dem 
Lande feine Dienfte zu widmen, in den er geboren; und 
wie jo die Märker, da man eben nur Beamter wurde 
um fein Glück zu machen, in anderer Fürften Dienfte 
traten, fo waren gerade die bedeutendften unter den ‘Dies 
nern Friedrich Wilhelm's Ausländer; daraus erklärt ſich, 
daß fo felten ein Beamter wirklich ein Herz hatte filr das 
Land und den Fürften, denen er diente, daß ſie nicht 
Anftand nahmen, in den Dienft der Gegner derfelben zu 
treten, kurz, daß von einer ſtrengen Moralität in diefen 
Kreifen nody nichts zu finden if. Da jeber nur fein 
Glück im Auge hatte, fo fah er jeden neuen Ankömmling 
als feinen perjönlichen Nebenbuhler an und fuchte dem- 
jelben wie und wo er konnte Abbruh zu thun. So 
wurde denn aud) Walde, je mehr er bei feinem Fürften 
zu gelten anfing, um fo leidenfchaftlicher von al denen 
angefeindet, die fi durd ihn in ihren Stellungen und 
ihrer Zukunft bedroft wähnten. Das gefhah um fo 
mehr, als Waldeck mit einer Menge von Reformen her⸗ 
vortrat, durch welche der bisherige, bequeme und fchlaffe 
Gang der Berwaltung zum größten Misvergnügen der 
davon betroffenen Beamten geändert werden follte, Wenn 
es nun Walded auch glüdte, feinen Hauptgegner Konrad 
von Burgsdorf aus dem Sattel zu heben, fo konnte er 
bes ihm fonft noch entgegentretenden Einfluſſes ande⸗ 
rer Männer, wie Schwerin’s, Blumenthal’8 und nament⸗ 
lich Sparr’s, nicht Herr werden. So ſah er benn feine 
Plane zu einer durdjgreifenden Berwaltungsreform ſchei⸗ 
tern und mußte fid) damit begnügen, wenigſtens fr eine 
kräftige Entwidelung des Militärwefens zu forgen, das 
er in den Wirren jener Zeit als die wichtigfte und un« 
entbehrlichfte Stütze Brandenburgs anfah. 

Allmählich aber wurde Walde als brandenburgifcher 
Minifter der unumfchränkte Leiter der auswärtigen Politik 
des Großen Kurfürften, und zwar gefchah das von dem 
Augenblid an, wo Brandenburg fi mit aller Energie 
von der Habsburgifchen und Fatholifchen Partei Losfagte. 
Waldecks Ernennung zum Minifter leitete ein völlig neues 
Syftem ein: Oppofition gegen Defterreich und defjen der 
Reformation feindliche Tendenzen, Einigung der Evan« 
gelifchen unter brandenburgifcher Leitung und Begründung 
einer feftgefchloffenen Union derfelben — das find die Ges 
danfen, von denen diefelbe num beherrfcht wird. Im 
December 1653 entwidelte Walde feine Ideen dem Kur⸗ 
fürften in einem ausführlichen Memoire, das für ihn als 
einen Vorkämpfer der beutfchen Einheit und als genialen 
Staatsmann das glänzendfte Zeugniß ablegt. Nachdem 
er gezeigt, daß alle die fogenannten Einigungsmittel, bie 
in der SKreisordnung, in Exrbverbrüderungen u. f. w. bore 
handen waren, ganz werth⸗- und wirkungslos find, und daß 
Brandenburg namentlid) an den übrigen Kurfürften keinen 
Rückhalt findet, fchlägt Walde die Stiftung eines Bünd⸗ 
niffe8 vor, zu melden die vornehmften Evangelifchen, 
nänlih Kurſachſen, Kurpfalz, PBonmern, Bremen und 


216 


Berden (d. h. Schweden), Braunfchweig, Magdeburg, 
Hefien und Medienburg eingeladen feien; dann werde der 
Kurfürft unzweifelhaft „für das Haupt der andern Bun⸗ 
desgenoffen erfannt , erflärt und beftändig gemacht werben‘. 
Weiterhin follen dann Oldenburg, Oftfriesland, Lippe u. ſ. w. 
zugezogen werden, von den Städten in erſter Linie Frank⸗ 
furt, Hamburg und Lübeck; „wollten Nürnberg, Stras⸗ 
burg, Augsburg und Regensburg mit anſtehen, ſo würde 
ſolches wegen des Rhein, der Donau und des Main, 
auch Trennung der Katholiſchen nicht undienlich ſein“. So 
kommt denn der Plan Waldeck's auf nichts mehr und nichts 
weniger hinaus, als mit Durchbrechung der unbrauchbaren 
Reichsverſaſſung ein von derſelben völlig gelöſtes, trotz 
derſelben beſtehendes Bündniß zu gründen, „welches unter 
der Führung Brandenburgs zunächſt das geſammte Nord⸗ 
und Mitteldeutſchland umfaſſen, weiterhin aber auch über 
die proteſtantiſchen Gebiete des Südens ſich ausdehnen 
und ſo eine geſchloſſene Partei von kirchlich und politiſch 
gleichintereſſirten Reichsſtünden darſtellen ſollte“. Gab 
naturgemäß der Proteſtantismus den erſten Grundſtock 
und Stamm dieſer Verbindung ab, ſo ſollte dieſelbe doch 
nach den Abſichten ihres Urhebers nicht eine ausſchließlich 
proteſtantiſche bleiben, ſondern im Gegentheil wurde der 
Zutritt der gleichgeſinnten katholiſchen Reichsſtände in Aus- 
ficht genommen. Nicht mehr der Schmalfalbifhe Bund 
oder die Union ift das Vorbild, fondern wir haben es 
bier mit einer ganz neuen, im wejentlichen auf rein politi- 
ſchen Grundlagen beruhenden Idee zu thun, die ihr Seiten- 
ftüd erft mehr al8 ein Jahrhundert fpäter in dem Fürſten⸗ 
bunde Friedrich's des Großen gefunden Hat; aber aud) 
zu den neueften, endlich mit einem Erfolg gelrönten Unions- 
beftrebungen Preußens ergeben ſich von jelbjt der lehr⸗ 
reichen Parallelen genug. 

Dir müffen e8 uns verfagen, den vielfach verfchlungenen 
diplomatischen Verhandlungen ins einzelne zu folgen, durd) 
welche Waldeck die Erreihung des ihm vorjchwebenden 
Zield erſtrebte. Da geradeswegs auf bafjelbe loszugehen 
fi) als unthunlich erwies, fo fuchte er fi) den Weg 
dazu durch Separatbündniffe mit den gleichgefinnten Reichs⸗ 
finden zu bahnen. Sein Blick blieb dabei immer in 
eine fernere Zukunft gerichtet, wie er denn der von Frank⸗ 
reich gewünfchten Annäherung eine Zeit lang entjchieben 
das Wort redete. Doc nur langfam fam man vorwärts, 
Die Conferenzen zu Goslar führten zu einer Defenfiv- 
allianz mit Braunfchreeig; ein Bündniß mit Köln wurde 
zu Wetzlar und Arnsberg abgeſchloſſen. Gelang es nun 
no, fih mit Frankreich zu einigen und biefes von ber 
Unterftügung des alten Gegners Brandenburgs, des Pfalz- 
grafen von Neuburg, abzubringen, fo hoffte Walde, daß 
man fi der fo lange ftreitigen rheinifchen Gebiete ohne 
Mühe werde bemärhtigen können. Dann nahm Branden« 
burg am Rhein inmitten geiftlidher Territorien und zers 
fplitterter Heiner Grafſchaften eine dominirende Stellung 
ein, und die Derbindung mit der zunehmenden Macht 
des jungen Wilhelm III. von Dranien in den Niederlan- 
den ſchien den beiden verwandten Fürftenhäufern eine 
glänzende Zufunft und einen großartigen Mactauffchwung 
zu fihen. Worauf Waldeck's Gedanken binausliefen, 
ließ er deutlich genug erkennen, wenn er dem Kurfürften 
erklärte, durch die von ihm vorgezeichnete Polttit werbe 


Ein preußiſcher Staatsmann im 17. Jahrhundert. 


derfelbe das römische Reich „entweder in Flor und Auf 
nahme bringen ober ein groß Theil davon vor ſich be- 
halten”. Wir fehen, die Unnerionspolitit im großen 
Stile ift bereitd im 17. Jahrhundert in Preußen vertres 
ten worden. Natürlich mußten diefe Plane auch auf die 
Geftalt der Keichsverfaffung entfcheidend einwirken. Die 
Habsburger durften nicht im Beſitze des Kaiſerthums blei⸗ 
ben; ein brandenburgifches proteftantifches Kaiſerthum er- 
ſchien unmöglich: fo dachte Walded denn in einem bairie 
chen den Ausweg zu finden, indem dieſes feine Hanpt- 
ftüge in Brandenburg und dem von diefen geleiteten 
Bunde zu fuchen genöthigt war. Das aber ift Zug für 
Zug die Politik, die Friedrich) der Große im zweiten Schles 
fifchen Kriege im Bunde mit Karl VII. und Frankreich 
verfolgte. Der Träger dieſes bairifchen Kaiſerthums follte 
jedod nichts fein als das Organ des Regiments der 
Reichsſtände, daher „bie Dignität bei übler Adminiftration 
wieder quittiren müſſen“, d. 5. alſo abgejegt werben Tön- 
nen. DBefonders hervorgehoben zu werden verdient es noch, 
daß Walded, obgleich alle feine Plane auf der Theilnafme 
Brandenburgs an bem großen franzöfifch» fpanifchen Kriege 
und der dazu einzugehenden Berbindung mit Frankreich 
beruhten, dem legtern doch immer die fcharfe Mahnung 
entgegenhält, daß es fich nicht den Anfchein geben dürfe, 
fi in die deutfchen Angelegenheiten einmifchen zu wollen, 

Gerade in dem Augenblid aber, wo mit der Ausfüh- 
rung diefer weitreichenden Entwürfe Ernſt gemacht were 
den follte, wurde die preußische Politif nad) einer ganz 
andern Seite bingezogen. Mit dem Regierungsantritt 
Karl's X. Guſtav von Schweden fam der nordifche Krieg 
zwifchen ben alten Nebenbuhlern Schweden und Polen 
von neuem zum Ausbruch. Kurfürft Friedrich Wilhelm, 
als Herzog von Preußen polnifcher Lehnsmann, konnte, 
wie fich bald genug zeigte, diefer Berwidelung nicht fremd 
bleiben; auch Waldeck's Scharfblid erkannte die ganze 
Wichtigkeit der Krifis, in welche mit ber Wiederaufnahme 
des polnifch-fchwediihen Streits die Verhältniſſe des 
Nordens eintraten, und war entjchloffen, die fich barbie- 
tenden Eventualitäten volftändig auszunngen. Freilich 
waren damit die eben noch ganz im Vordergrund ftehen« 
den Unionsplane aufgefchoben, wenn Walde fie auch kei⸗ 
nen Moment aus dem Auge verlor und au im Norden 
zu ihrer Förderung zu wirken bemüht war. Gleich beim 
Ausbruch des nordifchen Conflicts ftellte der fühne Staate- 
mann die Souveränetät Preußens und die Löfung deſſel⸗ 
ben von der polnischen Lehnshoheit als die Frage hin, 
um die es ſich fir die Politik des Kurfürften Hier zunächſt 
handelte. Nur im Bunde mit Schweden ließ fidh Bas 
nun geftedte Ziel erreichen; zugleich aber follte dabei für 
die deutſchen Plane Kapital gemacht werden, infofern 
nämlich als Schweden und Brandenburg ſich verbanden, 
um, das eine in Polen, das andere in ‘Deutfchland, ſich 
zu „arrangiren”. Die Unterhandlungen, welche zuerft 
auf einer Conferenz zu Stettin in diefer Richtung mit 
Schweden geführt wurden, ftellten geradezu eine Theilung 
Polens ald Weg zu dem von beiden Staaten zu erftres 
benden Ziele in Ausfiht. Ein Abſchluß erfolgte nicht, 
denn Walde erkannte bald, daß Schweden nur feinen 
Bortheil im Auge Habe und namentlich die Oftfee völlig 
in feine Gewalt zu bringen trachte. Brandenburg ging 


Vom Bühertifch. 217 


feinen eigenen Weg; es verband fich mit den Ständen 
der polnifchen Preußen und ftellte eine Obſervationsarmee 
gegen die Schweden auf, an deren Spitze Walde feine 
militäriſche Laufbahn wieder aufnahm. Damit aber be- 
gann in der Politik des Kurfürften ein unfiheres Schwan- 
fen, denn bie Lage war fo eigenthümlich verwidelt, daß 
über den fchlieglichen Ausgang jede Bermuthung unmöglich) 
war. Walde war durch diefes Schwanfen und Zögern 
tief verſtimmt; ſchon begann der Einfluß feiner nie ganz 
machtloſen Gegner wieber zu fteigen, namentlich) fein alter 
Biderfacher und perjönlicher Feind, Sparr, gewann mehr 
und mehr Geltung bei dem Kurfürften. Die Folge da- 
von war der Abſchluß des bemilthigenden Königsberger 
Bertrags, in welchen der Kurfürft bie Lehnshoheit Schwer 
dene, das er eben noch Hatte befämpfen wollen, über 
Preußen anerkannte. Vergeblich fucht Walde, mit biefer 
Wendung im höchften Grade unzufrieden, in der nächften 
Zeit dad, was im Norden mislang, durch die Aufnahme 
feiner deutichen Plane im Weiten, am Rhein wieder 
jugewinnen: da tritt ein neuer Umfchwung ein, indem 
duch den von Waldeck zu Stande gebrachten Marien- 
burger Vertrag Brandenburg fich der ſchwediſchen Erobe- 
rungs⸗ und Xheilungspolitif ganz anfchliegt und dafür 
einen großen Theil von Großpolen, Pofen und Kaliſch 
zu fonveränem Befig erhält. Die brandenburgifchen Trup⸗ 
pen fohten num an der Seite der Schweden; in der 
Schlaht bei Warſchan begründeten fie ihren militärifchen 
Ruhm. Durch den Labiauer Bertrag wnrde das Bündniß 
zwilhen beiden Mächten erneut, wenn aud auf etwas 
beihränktern Grundlagen, indem für den Kurfürften nicht 
mehr die Erwerbung eines Theils von Großpolen, fon- 
dern die Souveränetät in Preußen ber Hauptgewinn wurde. 
Mit dem 1657 erfolgten Tode Kaifer Ferdinand’ III. war 
nad der Meinung Waldeck's der Zeitpunkt gelommen, wo 
Brandenburg mit feiner antihabsburgifchen Politik offen 
hervortreten und die früher bargelegten Plane auf Gritn- 
dung eines nichthabsburgiſchen Kaifertfums mit aller 
Energie verfolgen mußte. Geſchah das und gelang das 
Borhaben, defien Durchführbarkeit niemals fo einleuchtend 


war als gerade in diefem Augenblid, fo waren die deut- 
hen Plane Waldeck's zugleich mit den ſchwediſch⸗branden⸗ 
burgijchen Neuerungen im Norden gefichert. In beiden 
Bunkten fcheiterten Waldeck's Bemühungen, indem fid 
Brandenburg no einmal zum Bundesgenoſſen eines 
habsburgiſchen Kaifere machte; damit wurde die Allianz 
mit Schweden zerriffen und alle die auf diefelbe ge 
gründeten Blane ſanken in nichts zufammen.. Nun 
war aud über Waldeck's Stellung entfchieden: unzu- 
frieden mit dem, mas gefchah, erbittert durch das 
völlig refultatlofe Scheitern jahrelanger Bemühungen, 
gereizt durch die zunehmenden Unfeindungen feiner nun 
immer kühner auftretenden Gegner, verlangte und erhielt 
Walded im Mai 1658 feine Entlafjung aus dem fur- 
fürſtlich brandenburgiſchen Dienft. Scheidend noch wieber- 
holte er feine eindringliche Warnung vor der Hingabe an 
das Haus Defterreih und einer abermaligen habsburgi⸗ 
hen Kaiſerwahl. 

Und damit ging denn die merkwürdige Epifobe in der 
brandenburgifch«preußifchen Politik zu Ende, deren Träger 
Graf Georg Friedrid) von Walded gewefen und die um 
fo bedeutender ift, je mehr in ihr der Zeit vorauseilende 
und die gefammte Aufgabe Preußens für die Zukunſt 
Deutſchlands erfaffende Ideen enthalten find. Die Ideen, 
welche Friedrich den Großen zur Zeit bes zweiten Schle⸗ 
fifchen Kriegs, der Theilung Polens und der Stiftung des 
deutfchen Fürftenbundes erfüllten, ebenfo wie die Prin- 
cipien, auf denen die Politik Preußens in der neueften 
Zeit berubte und von denen aus fie ihre letzten großen 
Erfolge gewonnen bat, find zuerft durch den Grafen 
Waldeck vertreten worben: ein entjchieden Bismard’icher 
Zug, möchte man fagen, geht durch die Natur und die 
Politik deffelben. So ift e8 denn ein in jeder Hinficht 
dankenswerthes Werk, durch welches das ganz vergeflene 


Andenken des genialen, ja revolutionär kampfluftigen 


Staatsmannes wieder aufgefrifcht ift, und das uns zugleich) 
die wahrhaft nationalen Tendenzen in ber preußifchen 
Politik Tennen gelehrt hat in einer Zeit, wo man bder- 
gleihen am wenigften vermuthete. Hans Prus. 


Dom Büchertiſch. 


1. Die Opfer mangelhafter Juſtiz. Galerie der interefjanteften 
Juſtizmorde aller Bölker und Länder. Bon Karl Löffler. 
Dritter Band. Jena, Coftenoble. 1870. 8. 2 Zhlr. 
TA Ngr. 

Wir beginnen diesmal die Revne unſers Bitchertifches 
mit der Beiprehung bes dritten Bandes von Löffler’ 
Unternehmen, ba derfelbe einen Fall enthält, deſſen Ent- 
ſcheidung vor dem irdifchen Richter verhängnißvoll aus- 
gefallen if. Das Haupt bes Chirurgen Kühn aus Ohr- 
druf ift bereits durch die Onillotine gefallen, eines Mans 
ned, ben Löffler mit aller Energie beweiskräftiger Ver⸗ 
theidigung als unſchuldig an dem bezichtigten Verbrechen 
bes Mordes hinftellt. Nach Löffler's Beweisführung liegt 
ein Selbfimord vor und die Erecution wäre als ein Juſtiz⸗ 
mord zur bezeichnen. Die beiden andern Causes celebres 
de8 dritten Bandes behandeln die Procefie Fonk und 
Hamacher, und den fchweizerifchen Fall Indermauer. 

1870. 1. 


Mührend der Ausgang des erſtern allgemein befannt if, 


dürfte die letztgenannte Probe ſchweizeriſcher Juſtiz kein 

ſehr erfreuliches Bild von den juriſtiſchen Zuſtänden der 

glorreichen Republik geben. 

2. Die intereſſauteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus 
älterer und neuerer Zeit. Eine Auswahl für das Volk aus 
dem „Neuen Pitaval”. Umgearbeitet und herausgegeben 
von Anton Bollert. Fünfter und fester Band. Leipzig, 
Broddaus. 1869. 8. Jeder Band 15 Near. 


Die dee, welche diefer Auswahl aus der Langen 
Reihe von Bänden des „Neuen Pitaval“ zu Grunde liegt, 
nämlich dem reichen Material des Werts dasjenige zu 
entnehmen und in neuer, zeitgemäßer Bearbeitung bar« 
zubieten, was bleibenden gefchichtlichen Werth hat oder 
das Intereſſe der heutigen Lefer vorzugsweiſe zu fefleln 
geeignet ift, wird von dem Herausgeber mit Takt und 
Geſchmack zur Ausführung gebracht. Auch die beiden 

28 








218 Bom Büchertiſch. 


neu erjchienenen Bände Iegen davon Zeugniß ab. Gie 

bringen in ber That faft lauter Fälle von culturhiſtori⸗ 

cher Wichtigfeit, unter denen folgende hervorgehoben feien: 

im fünften Bande „Caglioftro“, „Nidel Lift und feine 

Geſellen“, „Die Goldprinzeffin”; im fechsten Bande: 

„Karl Ludwig Sand“, „Franz Schal”, „Rudolf Kühn- 

apfel” und „Jean Calas“. 

Den criminalgiftorifchen Werken laſſen wir eine Reihe 
vollswirthichaftlicher und technologiſcher Novitäten folgen. 
Zunächſt fei Hier erwähnt: 

3. Einleitung in das ſtaats⸗ und volkswirthſchaftliche Studium. 
Ein Beitrag zur Theorie und Geſchichte der Nationals 
ölonomie. Bon Heinrich Contzen. Leipzig, Wilfferodt. 
1870, 8. 24 Nor. 

Der Berfafler, Docent an der Torftlehranftalt zu 
Eiſenach, hat ſich bereits in feinem Wache vortheilhaft 
befannt gemacht. „Ueber den Wald”, itber „Die Volks⸗ 
wirthfchaft im Mittelalter‘ (letzteres Werk von uns be- 
ſprochen) Hat er Eingehendes und Tiefgedachtes geſchrie⸗ 
ben; fo gibt er denn aud) in vorliegender Schrift eine 
ethiſch⸗ anthropologiſche Darlegung, in der er den Men- 
fhen als den Mittelpunkt der geſammten nationalöfono- 
miſchen Beripherie Hinftelt. In der Einleitung die Me- 
thode und Stellung der Nationalökonomie im Kreife ber 
verwandten Wiflenfchaften erörternd, gibt er von den 
Grundfätzen und der Aufgabe der Volkswirthſchaftslehre 
in den folgenden Abfchnitten anjchaulichen Bericht; was 
er im britten Abfchnitt über das Mittelalter, den Prügel« 
jungen ber hiftorifchen Dilettanten, jagt, find goldene 
Worte. Die Wichtigkeit der Nationalöfonomie für bie 
einzelnen Glieder der bürgerlichen Geſellſchaft wird am 
Schluß gebührend hervorgehoben. Die ganze Darlegung 
des Verfaſſers beruht auf gründlichen focial- Biftorifchen 
Studien, die in gewandter Überzeugender Rede dem Ber- 
ſtändniß übermittelt werden. 


4. Geſchichte der Sefellihaft von Johann Joſeph Roßbach. 
Dritter Theil: Die Mittelflaffen in der Eufturzeit der Völ⸗ 
an Erfe Abtheilung. Würzburg, Stube. 1869. 8 
1 r. 


Kurz vor dem Hingange des verdienſtvollen Autors 

iſt dieſer Theil erſchienen, deſſen Borgänger wir in Nr. 4 

d. DI. beſprachen. Er behandelt die antiken Mittelklaſſen, 

den dritten Stand bei Griechen und Römern und, zu ber 

modernen Zeit übergehend, den Zierd- Etat der romani- 
fhen Staaten und Völker, zunähft den von Italien, 

Frankreich und Portugal. In ruhiger, gehaltener Unter- 

fuhung gleitet die Feder des begabten Autors dahin, um 

uns an den Beifpielen alter und neuer Völker den Fort- 
fhritt einer planmäßiger dentenden Zeit nachzuweiſen. 

Befonders der Abjchnitt über die italienifchen Mittelklaſſen 

ift mit großer Sorgfalt und gefchidter Materialverwer- 

ihung abgefaßt. Wir jehen der von dem Verleger an⸗ 
gefündigten Fortſetzung des Werks, das der Verfaſſer 
ſelbſt noch vollendet hat, mit Spannung entgegen. 

5. Anfangsgründe der Vollswirthſchaft von E. J. Kiehl. 
Berlin, Buttlammer und Mühlbrecht. 1869. Gr. 8. 1Thlr. 
Mehr in der Art eines Hand⸗ und Lehrbuchs als in 

der darftellenden Art des Conten’shen Buchs ift die 

vorliegende Arbeit gehalten. I. Stuart Mill ift der Feld⸗ 


berr, deſſen Gcneralftabsplanen der Verfaſſer folgt; dabet 

wird Rofcher, dem die größte Aufmerkſamkeit gewid- 

met ift, häufig als Hülfsmacht zugezogen. Ungemein 
logiſch und anſchaulich, etwa wie in einem mathematifchen 

Schulbuch, werden die wirtbfchaftlihen Säge dargeitellt: 

Beifpiele in Menge fehlen nicht, wol aber ein Regifter, 

das die Weberfichtlichkeit jehr erleichtern würde. Wir Kün« 

nen das durchweg praftifche Buch allen Anfängern in der 

Volkswirthſchaftslehre als den zwedmäßigften Leitfaden 

empfehlen, den wir auf diefem Gebiet Tennen lernten. 

6. Bilder und Studien zur Gefchichte der Induſtrie und des 
Maſchinenweſens. Bon Hermann Grothe. Erfle Samm⸗ 
ung. Berlin, Springer. 1870. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr. 

Bon großen Iuterefje für die Genefls und Gefchichte 

wichtiger moderner Induſtriezweige, werben biefe Bilder 

und Studien nicht verfehlen, ſich ihren theilnahmsvollen 

Leſerkreis zu erwerben. Die Geſchichte der Entwidelung 

der Induſtrie und des Maſchinenweſens zieht in techno⸗ 

logiſchen Genrebildern an uns vorüber. Beſonders ſind 
es die Erfindungen für das Spinnen und Weben, die 
den Hauptſtoff des Verfafſers bilden. Die Seide, bie 

Baummolle, Wolle, der Flachs werden in ihrem modernen 

Berhältnig zur Arbeit, Verarbeitung und Culturverbrei⸗ 

tung hiſtoriſch und populär erklärend dargeſtellt. Auch 

bie Frauen, ihre Stellung und ihr Einfluß bei der Ent- 
widelung ber neuern Technik werden beſprochen; an fie 
knüpft fi naturgemäß ein Artikel über das Nähen und 
die Näühmafchinen. Die Iettern find nad Grote ein 

Reformmittel für die zahlreiche Klaffe der Armen und 

Elenden: „fie gehören zu jenem Kreiſe von Mitteln bes 

Fortſchritts, welche die Arbeit verbeflern und vermehren“. 

Wer fi) über den Segen des Maſchinenweſens informi- 

ren will, der verfäume nicht, vorliegende „Bilder und 

Studien“ zu leſen, denen auch das überfichtliche Hegifter, 

das wir bei Kiehl's Lehrbuch vermißten, wenigſtens in 

Bezug auf die Namen der Erfinder, nicht fehlt. 

Bom Gewerbe zur Kunft ift nicht allzu weit. Schlie- 
fen wir alfo der Beſprechung des technologifchen Werte 
diejenige der kunſttechniſchen und Eunfttheoretifchen Neuhei⸗ 
ten an. Den Anfang mache: 

7. Ueber den Berfall der Reſtauration alter Gemälde in Deutfch- 
land und Protefl gegen das von Pettenkofer'ſche Regenerations⸗ 
verfahren von Karl Förfter. München, Merhofl 1870. 
®r. 8. 123 Ngr. 

Dieſe vielberufene Brofchitre hat bekanntlich das größte 
Auffehen in weiten Sreifen erregt. Die Anwendung, 
welhe von dem Regenerationsverfahren des miüncdhener 
Profeffors Pettenkofer bei den Bildern der alten münchener 
Pinakothek gemacht wurde, bat dem renommirten Kunſt⸗ 
fenner Förſter eine entrüftete Abwehr in die Weber dictirt. 
Förſter erklärt den hemifchen Proceß, durch den ber Firnis 
auf alten Gemälden aufgelöft werden kann, für höchſt 
ſchädlich, da derfelbe nicht allein den Firnis, fondern 
jelbft die Laſuren, alles bis auf den Grund, in Auflöjung 
bringe. Daß bei den Beweiſen hierfür, die Yörfter nicht 
ſchuldig bleibt, manche unliebfamen Streiflichter auf die 
Berwaltung deutfcher Muſeen fallen, ift begreiflih und 
dürfte für die Berliner, die fich in einem ähnlichen Falle 
über Hrn. von Olfers nicht beruhigen Tonnten, von dop⸗ 
peltem Intereſſe fein. 








8. Schadom und feine Säule. Feſtrede gefproden bei Ent- 
hülung des Schadow · Dentmals am zweiten Tage ber Semi. 
Sicularfeier der Lönigl. Kunftafadenie zu Düffelborf, den 
24. Juni 1869. Bon Julius Hübner. Bonn, Cohen 
und Sohn. 1869. 8. 5 Nr. 

Die Feſtrede, die bei Enthüllung des Schabow- 
Denfmals in Düffeldorf gefprochen ward, Tiegt hier im 
Drud vor. Die Semi» Gächlarfeier der Kunftafademie 
gab die Gelegenheit zu der warm gehaltenen Lebensſtizze 
des Gefeierten, die fein berühmter Schüler entworfen. 
Als ein Beitrag zur Gefchichte der düffeldorfer Akademie 
folte fie nicht ohne Beachtung bleiben. 

9. Flüchtige Blide in Natur und Kunf. Ein Beitrag zum 
Kunfverfändnig von Ehrifiian Friedrich Gonne 
Dresden, Burdach. 1869. 8. 10 Nar. 

Ueber das Wefen der Fünftlerifchen Schönheit verbreitet 
fih der Berfaffer des Weitern. eine Beobachtung der 
Natur und des Menjchenlebens unterftügen ihn, eine 
ſcharffinnige Unterſuchung über den Unterfchieb der natür« 
fihen Schönheit von der fünftlerifhen anzuftellen, ſehr 
Beherzigenswerthes über den hiſtoriſchen Stil zu fagen 
and die Darftellungsmeifen in der Malerei einer ein« 
gehenden äftgetifchen Kritit zu würdigen. 

10. Meine Banfleine. Aeſthetiſche Abhandlungen von Dtto 
Buäwald. Leipzig, Maithes. 1869. Gr. 16. 22%, Nor. 
Dem berliner Kritifer und Novelliften Karl Frenzel 

find vorftehende Aufjäge gewidmet. Sie haben Themen 

derſchiedener Künſte. Da Handelt ein Artikel über die 
mebiceifche Venus, einer über bie Figur des Geiſtes in 

Shaffpeare’8 „Macbeth“ und „Hamlet“, ein dritter über 

Shelley umb Hebbel, ein vierter über Platen und Arifto- 

phanes, und der legte Auffag über bie körperlichen Ge⸗ 

bredien auf der Bühne, Aber der Berfaffer, ber fonft 
ein beachtenswerthes Talent für äſthetiſche Architeltur hat, 
baut zu viel mit antifem Material: er ift zu ſehr in der 

Hochſchätzung der Untife befangen, um fle da aus dem 

Epiele zu halten, wo ein Vergleich mit ihr ungehörig iſt. 

Einfeitig erſcheint andy bie Richtung auf bie bildende 

Kunſt als bildendfte aller Künfte, neben ber den reden» 

den Künften nur ein Meiner Pla gebühre. 

11. Das Kunſtgeſetz Homer's und bie Rhapſodik. Bon Wils 
heim Jordan. Frankfurt a. M., Jordan's Selbſtverlag. 
1869. "&r. 8. 18 Mgr. 

Bei weitem bie Krone aller neu eingelaufenen Werke 
für unfern Büdjertifch iſt Jordan's Darlegung des epifchen 
Grundgefeges. Er war wie fein anderer dazu berufen, 
dem Geheamnig der xhapfodifchen Kunft nadzufpiren, 
deſſen Löfung er und wir praftijch in feinen Nibelungen» 
umbidhtungen längft gefpürt haben. Bon feiner Ueber- 
ſchatzung, fondern der richtigen Würdigung der Antike 
ausgehend, verteilt ber hochbegabte deutſche Rhapſode 
zunäcft bei der Odyſſee und zeigt an dieſem glänzenden 
Beifpiel die weife Delonomie des helleniſchen Dichters. 
Den Grundſtock der Jordan'ſchen Unterfuchungen bildet 
ein Vortrag über biefen Gegenftand, welchen er in ber 
Bfingftwoche 1865 vor der Berfammfung rheiniſcher Bhir 
Tologen in Sranffurt a. M. gehalten Hat. Erweitert und 
näher ansgeführt, bietet und die aus jenem Bortrage 


Vom Büchertiſch. 


219 


entſtandene vorliegende Arbeit willkommenen Aufſchluß 
über bie, Technik Homer's in ber Odyſſee. Die Ber 
dingung ber Objectivität, in ber fi der Sänger zum 
Sprachrohr der Mufe macht, ift für den Nhapfoben bie 
erſte. Ale dieſe Eröffnungen über das Wefen des Epos, 
wie fie hier und vorliegen, find dem Autor bei Gelegen- 
heit feiner originellen Nibelungenrhapfobien in ben Sinn 
gelommen. Cr weift ſehr treffend die mannichfachen 
Einwürfe der Gegner und der Ungläubigen feiner Theo» 
rien zurüd. So ©. 21 und 22, wo er vom bem poe⸗ 
tifchen Wunderglauben, ©. 25, wo er von dem Irrthum, 
auf allgemeine Gedanken ein Kunftwerk aufzubauen, han- 
delt. Man Iefe bie gedankenreiche Arbeit felbft, um ſich 
von der Nichtigkeit der Jordau'ſchen Crörterungen zu 
überzeugen. Eine martige Sprache, die fich auch in den 
überfegten Stellen der Odyſſee günftig bemerkbar macht, 
thut das Ihre, um dem intereffanten Inhalt auch bie ent- 
ſprechende Form zu geben. 

12. Geift des Schönen in Kunft und Leben. Praktische Aeſthetik 
für die gebildete Franenwelt von Jeanne Marie von 
9: ettesGeorgens. Berlin, Nicolai. 1870. 8. 1 Thlr. 

gr. 

Eine Hauspoftille des Geſchmads Könnte man dies 
anmuthende Buch, nennen, das ſehr bazu angethan ifl, 
dem Schönen aud in Lleidung, Schmud und Zimmer 
einrichtung zahlreiche BVerehrerinnen zuzuführen Nur 
wiederholt ſich die Verfafferin öfters, ein Fehler, ber in⸗ 
deß bei dem Umfang des Buchs verzeihlich if. Solche 
Bücher bleiben, zumal wenn fle fo zart und feinfühlig wie 
das vorliegende gefchrieben find, eine willlommene Bes 
reicherung für bie äfthetifche Literatur. Nur Haben fie 
das Schidfal, entweder nicht mit Aufmerffamleit gelefen 
zu werben, ober im andern Falle feine werthätigen Fol - 
gen zu hinterlaffen. Oder ſollte die deutfche Damenwelt 
auch im Geſchmad der franzöfifchen fernerhin nicht nach⸗ 
ftehen wollen? 

13. Die befte Ausflattung für junge Damen von I. Preis. 
Brieg, Bräuer. 1870. 8. 1 Thir. 10 Nor. 

Die feltfame Form, die der Berfaffer gewählt Bat, 
feine Waare an den Mann zu bringen, nämlich eine halb 
dialogiſche, Halb nodelliſtiſche, hindert nicht, viel Wahres 
in diefem Buch zu finden. Ob freilich manche junge 
Dame, die ſich eine ganz andere Ausftattung als die hier 
preisfiche an Geift und Gemüth gewünſcht hatte, mit 
den Anfichten des Verfaſſers unbedingt einverftanden fein 
dürfte, das ift eine andere Frage. ebenfalls enthält das 
beſprochene Werk des Erreihenswerthen und Preiswilrbie 
gen vieles, was, wie wir aufrichtig wünſchen, nicht um« 
gelefen bleiben follte, 

14. Vom Schönen und vom Schmud. Ein Angebinde für 
Gerne und Freundinnen de8 Schönen zu tieferm Ber« 

ſandniß und rechter Uchung deſſeiben von Friedrich 

Tiebetent. Cingeleitet duch Hoffmann. Gotha, 

Schloeßmanu. Gr. 8. 24 Nor. 

Daß Hr. Liebetrut, obwol Hr. Generalfuperinten« 
dent Hoffmann in Berlin es ihm bier ſchwarz auf 
weiß gibt, durchaus nicht die Mittel befigt, äfthetifche 
Fragen zu erörtern, haben wir bereit im legten Bichertiſch 

28 * 








220 Som Büchertiſch. 


bei Gelegenheit feiner dort befprochenen Vorträge zu 
ProtofoU gegeben. Wer fo heilloſe Konfufion über die 
Begriffe Chriſtenthum, oder vielmehr Kirchentfum und 
Schönheit anrichtet, wer in einem gejchmadlofen Prebigtftil 
funftbezügliche Probleme zu löfen glaubt, der kann un- 
möglich darauf Unfprud machen, gehört und gelefen zu 
werden. Daß wir durchaus fein Feind echt religiöfer, 
ja ſelbſt kirchlicher Gefinnung find, wenn fie in geſchmack⸗ 
vollem Gewande auftritt, haben wir oft in d. Bl. be⸗ 
wiefen; aber gebet dem Saifer, was des Kaifers, Gott, 
was Gottes ift: die Aefthetil in Form der Kanzelrede ift 
dem deutſchen Publifum neu und ſoll ihn auch, gelinde 
gejagt, neu bleiben! 

15. U-B-€ für Haus und Welt. Aus der Mappe eines alten 


Diplomaten. Bon Gisbert Freiberen Binde Münfter, 
Brunn. 1870. 16. 15 Nor. 


Ein allerliebftes Büchelchen, voll körniger Lebens- 
weisheit, ein Feines A-B-E prächtigen Humors und er« 
ftaunlichee Detailbeobahtung des Lebens. Es gemahnt 
ung, als ob ein moderner Jean Paul en miniature 
uns eine Meine Auswahl von Apercus gefchenft hätte, 
die alle mit der Mil einer gefunden Denkart gefät- 
tigt find. 


16. Ueber den Begriff Tochterſprache. Ein Beitrag zur gerech⸗ 
ten Beurtbeilung des Romanifchen, namentlid des Fran⸗ 
zöfifhen. Bon Kranz Scholle Berlin, Weber. 1869. 
@r. 8. 18 Ngr. 


Der Berfaffer, der feine Arbeit „einen Beitrag zur 
gerechten Beurtheilung des Romanifchen, namentlich des 
Franzöſiſchen“ nennt, geht herzhaft auf fprachvergleichende 
Unterfuhungen aus. Das einfchlägige Material ift aus- 
reichend benutzt, die Schrift durchweg mit größtem Exnft, 
Eifer und entjprechender Gelehrſamkeit verfaßt. Zweck 
des Autors war, die franzöftfche Sprache vor den unge. 
rechten Verunglimpfungen zu retten, die man ihr theil«- 
weife aus falfch veritandenem PBatriotismus Hat angedeihen 
laſſen. Diefen Zwed hat Scholle durch feine fleigige 
und forgfame Arbeit hinlänglich erreidt. 

17. Zur Reform ber wiener Univerfität. Gin Votum erflattet 
in der Situng des Univerfitätsratbe® am 29. December 
1865, von Joſeph Unger. Wien, Manz. 1869. 
Gr. 8 10 Ror. 


Daß fi die öſterreichiſchen Hochſchulen gegenüber 
den deutfchen in einer Sonderftellung befinden, ift be- 
fannt. Unger det nun die Misftände fpeciell der wiener 
Univerfität auf, die zumächft bei der Jubelfeier berfel- 
ben zur Sprache kamen, ben confeffionellen Charakter 
der Hochſchule und die fehiefe Stellung ber Doctoren- 
collegien. Nur wenn legtere aus dem Berbande ber 
Univerfität ausſcheiden und ber kirchliche Charakter ber- 
felben befeitigt wird, Tann, fo meint Unger mit Recht, die 
Univerfität eine gebeihlihe Entwidelung haben. 


18. Blicke eines Engländers in die firchlichen und focialen Zu⸗ 
fände Deutihlands von Thomas Carlyle. Weberjegt 
von B. Freih. von Richthofen. Breslau, Mar und Comp. 
1870. Gr. 8. 1 Thlk. 


Carlyle's „Moral phenomena of Germany” find bereits 
1845 in zweiter Auflage erjchienen; dennoch dänchte es 


dem Ueberjeger nicht unzeitgemäß, die Uebertragung bes 
fonderbaren Buchs in fein geliebtes Deutſch zu unter 
nehmen. Und Hr. von Richthofen hat recht daran ge- 
than, wenn au in anderm Sinne, ald er gewollt. 
Die religiöfe Engherzigfeit des Briten, der nicht mit dem 
gleichnamigen berühmten Hiftorifer Thomas Carlyle ver- 
wechjelt werden darf, ift fo eigenthümlich, fo apart eng» 
liſch, daß es fi) fchon der Mühe verlohnt, die Polemik 
bes eifernden Mannes gegen bie rationaliftifche Richtung 
der Zeit wieder aufzufriichen. Gott fei Dank, fo finfter 
und traurig in fittlicher Beziehung fieht es doch noch 
nicht in unferm Baterlande aus, als e8 uns der hoch⸗ 
kirchliche Mann glauben mahen möchte, ja fo bat es 
felbft in den böfen Jahren vor der Märzrevolution nicht 
ausgefehen ! 

19. Chriſtliche Betrachtungen über Glauben und Pflicht. Rad 
dem Englifchen des Sohn James Zayler. Uebertragen 
von 3. Bernhard. Nebſt einer kurzen Biographie des 
Berfaffere. Gotha, Thienemann. 1869. 8. 16 Ngr. 
Das ift echt religiöfer chriftlicher Geift, den biefe 

Schrift athmet. Ye mehr die Beftrebungen der englifchen 

Theologie dahin gehen, neue DBeweife fiir tibermundene 

Lehrfäge zu erfinden, zu zeigen wie wenig fie dem Wiffen 

und ber Einficht ihres Zeitalters einräumen können, und 

die Feſtung des Glaubens gegen jeden Angriff zu ver« 
theidigen, felbft wenn unter den Angreifenden die göttliche 

Geſtalt der Wahrheit erſcheinen follte, defto mehr ift bie 

Tapferkeit Tayler's anzuerkennen, der, felbft gläubig, doch 

weit entfernt war dem Buchſtabenglauben anzuhängen, 

den er befämpfte. In biefem Sinne ift das Bud ge« 
fohrieben, da8 den am 28. Mai 1869 heimgegangenen 

Theologen im beften Lichte zeigt. Die Ueberfegung, von 

einer Dame, verdient das Lob gejchmadvollen und tref- 

fenden Ausdrucks. 


20. Stoff ober Kraft? Oder: Das immaterielle Weſen ber 
Natur. Ein naturphilofophifcher Vortrag, gehalten in ver- 
ſchiedenen deutſchen Vereinen zu Paris im März und April 
1869 von ©. 9. ©. Jahr. Leipzig, Literarifches Juſtitut. 
1869. Gr. 8. 5 Nor. 

„An alle Lefer der Werke von 2. Büchner, K. Vogt 
und 3. Moleſchott“ ift bie vorliegende Schrift gerichtet. 
Sie ift al8 eine der gründlichen und fachgemäßen Wider- 
legungen des Materialismus zu betrachten, bie der Phra- 
jeologie defjelben einen empfindlichen Stoß geben. Die 
vielen ‚Schwachen Punkte der materialiftifchen Lehre werden 
einzeln bergenommen und gründlich) unterſucht. Indeſſen 
gibt der Verfaſſer diefen Vortrag nur als Ouverture 
zu feiner demnächſt erfcheinenden Schrift: „Rationelle 
Gefundheitslehre für Jedermann.“ Immerhin aber ift 
derfelbe als wichtiger Beitrag zu ber Polemik gegen 
die Schule zu betrachten, die felbft die Polemik gegen 
die unüberwindliden Mächte bes „Idealismus hervor⸗ 
gerufen bat. 
21. Sophie Schröder, wie fie lebt im Gedächtniß ihrer Zeit⸗ 

genoffen und Kinder. Wien, Wallishaufſer. 1870. 8. 

2 Thlr. 

Der Schwiegerfohn der berühmten Tragddin, Dr. B. 
Schmidt in Hamburg, hat eine liebevolle Biographie der 
Gefchiedenen in vorliegender Schrift verfucht, der er eine 





—— 


Feuilleton. 221 


Menge Belege in gebundener und ungebundener Form Der große Lebenskünſtler Goethe hat übrigens manche 
für ihre Anerkennung unter den Zeitgenoſſen beifügte.kaltſinnige Genoſſen, hauptſächlich im letzten Säculum der 
Nirgends geht das Maß der biographiſchen Darftellung | Liebespaare, die im ganzen drei Jahrhunderte umſaſſen. 
über die Grenze der Wahrheit hinaus, eine wohlangebrachte | Während in jener unruhigen parifer Zeit und Welt, in 
Bietät läßt den Schwiegerfohn das Häusliche Leben der | welcher Romanticismus und Roccoco, Klofter und Salon fo 
Schröder aus befter Quelle in gemüthlicher Weife berich- | wunderlich ineinanderfpielen, das Weib auf dem Throne 
tn, und die wohlgemeinte Zugabe der oft fehr jchwachen | der Liebe fit und der Mann ſich vor demfelben in den 
Selegenheitögedichte zu Ehren der Künftlerin nehmen wir | Staub wirft, tritt in fpätern Zeiten faft das Gegentheil 
als Beitrag der Mitwelt zum Lorberkrange, der von der | ein. Bon dem gefeiertiten und gefürchtetften Autor feiner 
Nachwelt vergeffen wird, gern mit in den Kauf. Was | Zeit, dem englijchen Satiriter Dekan Swift, angefangen, 
die künftlerifche Stellung der großen Schaufpielerin in | ſogar den Sänger der Liebesleidenſchaft, Byron, biefes 
der deutſchen SCheatergefchichte betrifft, jo wird wol das | mal nicht ausgenommen, bis zu dem farblo8-conventionellen 
Urtheil Eduard Devrient's und Laube's, deren Urtheile | Grafen Finkenſtein herab verhalten fi) die Männer bier 
mehr untereinander flimmen, als Schmidt glaubt, auf | in der Liebe mehr oder weniger paffiv. Unter ben fein 
lange Zeit bin das maßgebende bleiben. Bee Trauencharakteren Heben wir vorzüglich dem 
, , . . bon Julie ecamier hervor. Die fchönfte und die genialfte 
Een ng a a gone ai weibliche Berühmtheit bes erften Nappleonifchen Frankreich 
wird in ihren Herzensbeziehungen zu deutjchen und Halb- 
Zur Humdertjährigen Inbelfeier des getrenen Edart | deutfchen fürſtlichen und gelehrten Verehrern gefchildert. 
dee Deutfchen erfchien bie vorftchende Schrift, eine der | Auch laſſen wir gern das in unferer unruhigen Gegen⸗ 
verbienftlichen biographifchen Darftellungen des Bolls- | wart ſchon halb verblaßte Bild einer Zeitgenoffin aufs 
und Iugendfchriftftellers Ferdinand Schmidt. Wenn ein | frifhen, die in dem feines Geiftes fi rühmenden 
gutes Wort eine gute Stätte findet, fo Tann bdiefes | Berlin einft die Gerühmtefte war: das Bild einer 
Büchlein getroft feine Wanderung ind Publilum antreten, | Rahel Levin. 
es wird gaftlich aufgenommen werben, denn es ift mit 
patriotiſchem Herzen und geſchichtlichem Berftändniß ge⸗ 2. Bon feige eben ohne, 1867 role 
.ſchrieben. Die ſchwere Kunft ber natürlichen Erzählung 10 Rot. ' 
hat der Verfaſſer trefflich inne: beſonders bie Jugend, die 
fih gern an den Lebensbildern nationaler Denker und Eine ſchon vor ein paar Jahren erfchienene Studie, 
Kämpfer erwärmt, wird bies Lebensbild bes Alten von welche wir nachträglich, um ihrer Trefflichteit willen, zur An 
den fieben Bergen freudig begrüßen. zeige bringen. Die zahlreichen Lebensbeſchreibungen Dvib’, 
der belanntlich zu allen Zeiten wiberfprechend beurtheilt 
3. Berühmte Liebespaare von F. von Hohenhanfen. Mit | wurde, haben entweder einfeitig die äußern Umftände unter 
18 Porträts, Braunfhmweig, Weftermann. 1870. 8. ſucht, oder nur die Urtheile alter und neuer zuſammengeſtellt, 
1 Zhfr. 10 Ngr. oder zu ausfchließlich die dichterifche Eigenart berlidfich- 
Aus der Fülle der bekannten, vergefienen und ent« | tigt, und nur in wenigen findet man ein leider meift durch 
ſtellten Hiftorie gibt und dies Bud) eine Sammlung von | Vorurtdeil entftelltes Charafterbild. Reichart unternimmt 
Aufjägen im biographifcher Form. Die Schilderung ber | e8 nun, aus den Quellen ſelbſt nachzuweiſen, wie Ovid 
Berhältniffe und Zeiten ift Mar und lebendig, der Stil | über fittliche Verhältniſſe geurtheilt Hat, umd zugleich wür⸗ 
hefflih. Einzelne Einfäle und Gedankenblige haben die | digt er die einzelne Kundgebung in ihrem Zufammenhang 
feine Anmuth und den Glanz des franzöfifchen Geiftes. | mit ber fittlichen Entwidelung des Dichters. Nur auf 
Dennoch ift das Büchlein mit beutfchem Herzen gefchrie- | dieſe Weife ift_zu eimem objectiven Urtheile über Ovid 
ben, denn nirgends wird dem Genius eine Ausnahme im | zu gelangen. Die Borwürfe, weldhe ihm von neuern 
Bunte der Tugend zugeftanden. Ya, in dem lieblichen | Dicdtern und Aeſthetikern gemacht wurden und namentlid) 
Idyll von Sefenheim dünkt uns faft zu ftreng der Stab | von Schiller, ſucht der Verfaſſer am Schluſſe ſeiner Ab⸗ 
über unfern zwanzigiährigen Dichterjüngling gebrochen, | handlung zurückzuweiſen. So ſtellt ſich Reichart's Studie 
weil er in feinem Herzen gewaltig viel Raum für Liebesluſt als eine „Rettung“ dar, welche ber viel verkannte und 
und «Leid, aber nicht das befcheidenfte Eckchen für einen Herb | gefhmähte Dichter wegen feiner Hohen Bebeutung 
und eine Kinderſtube bereit Hatte. ficher verdiente. 





Fenilleton. 


Englifhe Urteile über neue Erjheinungen der | Kber einen anziehenden Gegenfiand hinzunehmen, fpricht ihnen 
deutſchen Literatur. aber die in das Fach einfchlagende Gelehrfamteit ab, weil bem 
Veber Inlius Brann’s „Gemälde der mohammebanifchen | Verfaffer bejondere die zu feinem Gegenftande uöthigen tal- 
Belt" ſpricht fi die „Saturday Review” vom 19. März nur | mudiſtiſchen Kenntnifje fehlten. 

infofern günftig aus, als fie zugibt, daß das Werk eine höchſt Ueber „Bascal. Sein Leben und feine Kämpfe", von J. 
angenehme Lektlire bilde. Der Recenſent will fid) zwar damit G. Dreydorff, heißt es: „Pascal's Charakter war faft fo ein⸗ 
begnügen, die Bände als ein lebhaftes und reizendes Apercu | zig im feiner Art wie ſein Genins, und beide werben für bie, 


. — rm 


222 Feuilleton. 


welche geiſtige Phänomene zu unterſuchen lieben, lange ein 
Lieblingsthema bleiben. Dr. Dreydorff, Paſtor der reformirten 
Kirche zu Leipzig, und augenfcheinlich dem freifinnigfien Theile 
der deutſchen Geiſtlichkeit angehörend, hat denn auch beide einer 
gründlihen Prüfung unterzogen. So meit es die Gefchichte 
von Pascal’8 eigenen Seelenfämpfen betrifft, ift Dr. Dreydorff's 
Ton von feltener Leidenichaftslofigleit. Er erörtert in einer 
faltblütigen und kritiſchen Weife ſolche Bragen, wie: das Weſen 
von Pascal’8 erfier dunkler Belehrung zum Sanfenismus und 
feines noch dunklern Rückfalls, den — der Phi⸗ 
loſophie des Montaigne mit dem SH feine Wiederbekeh⸗ 
rung ... u. ſ. w. (ine Iebbaftere Theilnahme flir das my⸗ 
ſtiſche Element in Pascal’s Natur würde dem Verfaffer keinen 
ſchlechten Dienft geleiftet Haben; man laun e8 übrigens einem 
Theologen von Fach nachſehen, daß er die wifjenfchaftliche Seite 
diefer ** faſt günzlich unberückſichtigt gelaſſen hat. Im 
ganzen ſpiegelt fich in des Verfaſſers durchfichtigem Stil deſſen 
gefunder Sinn und klares Urtheil trefflich ab. Der am we⸗ 
nigſten befriedigende Theil ſeines Werks iſt der, welcher ſich 
anf Pascal's Streit mit den Jeſuiten bezieht. Die Schluß—⸗ 
folgerungen Dreydorff's find wahrſcheinlich an und für fid 
richtig genug; alleim diefe Kapitel laſſen ftarfe polemifche Vor⸗ 
eingenommenheiten durchblicken. Man merkt ihnen zu viel von 
der gegenwärtigen Aufregung des proteftantifchen Deutichland 
an. Müffen wir uns indeffen aud) jagen, daß Dr. Dreydorff's 
Gegenftand eine feinere Aualyſe als die feinige verlangt, fo if 
doch fein Werk von der erften bis zur letzten Seite vom höch⸗ 
fien Interefie. Der allgemeine Eindrud, den es zurücklüßt, ift, 
daß Pascal am Ende doc eher zu den Steptifern, als zu ben 
großen Heiligen gezählt werben müſſe.“ 

Wolfgang Menzel's, Die vorchriſtliche Unſterblichkeitslehre“ 
wird in folgenden Worten beurtheilt: „Dies iſt ein intereſſantes 
und unterhaltendes Buch — intereſſant durch den Gegenſtand 
und die vielſeitige, auf die Beleuchtung deſſelben verwendete 
Gelehrſamkeit und unterhaltend durch die charakteriftifchen Eigen⸗ 
tblümlichfeiten des Verfaſſers. Menzel, der Bhilofoph, it ganz 
derfelbe wie Menzel, der Politifer — dafjelbe feltfame Gemiſch 
bon eniberfinmigfeit, Kampfesluſt und geſundem Menſchenverſtand. 
Dieſe letztere Eigenſchaft ſeines Geiſtes zeigt ſich deutlich in 
ſeinen allgemeinen Schlüſſen in Bezug auf die heidniſchen Ideen 
über Unfſerblichkeit. Seine eigenen Entdeckungen auf dieſem 
Gebiete find indeffen kaum weder fo neu noch h widtig, ale 
er zu wähnen fcheint. Uebrigens ift fein Werk zu voll von 
wunberlihen Einfällen und unerheblichen Stoffe, um viel 
wiſſenſchaftlichen Werth zu befiten. Menzel muß immer je- 
mand baben, den er Haft, unb da es in ben Zeitaltern, 
welche er behandelt, unglücklicherweiſe Feine Franzoſen gab, fo 
fällt er über die Aegypter und Babylonier ber, die er für die 
großen Verhunzer der alten @ottesgelahrtheit hält. Anderer- 
feits, meint er, wären die alten Deutichen «ebenfo originell in 
der Welt des Gedanlens, wie in der Welt der Haublung, und 
den bedeutendfien Böllern des Alterthums völig ebenbürtig». 
Auf diefe Entdedung hin beanfprudit der Berfafler Anertennung 
feines hervorragenden Patriotismus, die mar ihm andh wirklich 
nicht wohl vorenthalten kann. Sein Stil ift wie gewöhnlich 
gefeilt und faßlich.“ 

Ueber Lemke's „Bopuläre Aeſthetik“ heißt es, es fei ein 
Bud, „wie e8 nur in Deutichland möglich ifl. Mit der 
philofophiichen Theorie des Schönen beginnend, verfolgt es die⸗ 
felbe durch alle ihre denfbaren Aumwendungen auf Farbe, Mufik, 
Form, Literatur, ja fefdft auf den Rationalcharakter und die 
Angelegenheiten bes Lebens. Bon einer ftrengen wiſſenſchaft⸗ 
Iichen Behandlung eines folden Sammelfuriums von &egen- 
fänden kann natürlih nidt die Rebe fein; indeffen erhält 
man mandherlei Belehrung in einem Haren und gefälligen Stil.‘ 

„Rudolf Gottſchall's «Poetiln‘'‘, heißt es dann, „die fich 
auf einen einzigen Zweig ber äftbetifchen Wiffenfchaft bejchräntt, 
ift ein gelinbfiheree und wiflenfchaftlicheres Wert. Der Berfafler, 
der ſelbſt ein Dichter von Auszeichnung if, analyfirt die Poeſie 
ihrem Wefen nad und ftellt fie im Gegenſatz zu andern Kunſt⸗ 
weigen dar, fleigt darauf zu den praftiichen Gegenftänden der 

orm und Berfificirung hinab und befchreibt dann die verſchie⸗ 


denen Arten poetifcher Compoſttion. Diefer Theil ift durd 
sahlreihe, hanptſächlich aus den deutſchen Dichtern gewählte 
Beifpiele beleuchtet. Des Verſaſſers Kritik ift Überall fcharf- 
finnig und genial.‘ 

Ueber „Alfred de Muſſet. Eine Studie”, von 8. E. 
don Ujfalvy, jagt dafielbe Blatt: ‚Alfred de Muſſer's Ruhm 
fteigt immer böber; er hat bereits Lamartine überfirahit 
und bedroht nun die Herrſchaft Victor Hugo's. Diejes Ergeb 
niß wird, fo weit deutfche Lejer betheiligt find, durch die Arbeit 
des Brofeffor Uifaloy noch befördert werben. Er bat feinem 
Lieblingsautor eine höchſt gründliche und forgfältige Abhandlung 
genidmet und fle durch zahlreiche Auszüge, welche zum größern 

heile die beftmögliche Rechtfertigung feiner Arbeit bilden, be 
leuchtet. Wir können zwar feinem Urtheil wicht immer bei⸗ 
pflihten; aber wenn er irrt, jo ift es augenfcheinlih nicht aus 
blinder Parteilichkeit. für feinen Autor, ſondern weil er ſelbſt 
bis zu einem gewiffen Grade dem esprit frangais angenom⸗ 
men bat.“ 

Ueber Kleinpautl’s „Poetik“ u. |. w. fagt die „Saturday 
Review’ ferner: „Der Berfaffer bat eine fo reizende Aus 
wahl Boltsballaden aus dem «Wunderhorn» und ähnlichen 
Quellen getroffen, daß man ihm die monftröfe Thorheit, deren 
er fi) dadurch ſchuldig gemacht, daß er feine eigenen trivialen 
und einfältigen Parapbrafen, bie er fiir Berbefferungen hält, 
gegenfiber ihren wilden und lunfllofen Schönheiten gedrudt hat, 
verzeihen muß.‘ 

Ueber „Requiem“ von Dranmor heißt es: „&s if 
zwar mehr Rhetorik ale Poefie in den «Requiem- betitelten 
metrifchen Betrachtungen; bie Athetoril aber if} hehr und ernfl, 
der Bersbau flattlich, und das Ganze von tiefem Gefühl durch⸗ 
drungen. Der Berfaffer ift unzufrieden und höhniſch; feine 
Philoſophie ift ein ftoifcher Peſſimismus. Er ſcheint bedeutende 
Erfahrungen ſowol in der Literatur als auch im Leben gehabt 
zu haben.’ 

„Dtto Roquette“, Iefen wir meiter, „ift als einer 
der beften unter den neuern deutſchen Novelliften bekannt, und 
fein Ruf kann buch die vier Tieblihen und Tünftlerifchen 
«Novellen», die er kürzlich veröffentliht bat, nur gewiunen. 
Es find Tiebesgefchichten, die man als erzählte Luftfpiele bezeich- 


nen kann, obgleich das tragifche Element der unbeilbaren Täu⸗ 


{hung in den beiden erften nicht fehlt. Sie endigen indeffen 
alle glücklich und mit voller Befriedigung der fittlichen und 
künſtleriſchen Schicklichkeit. Die vierte ift vielleicht die frap⸗ 
panteſte; weniger wegen irgendetwas befonders Bemerlkens⸗ 
wertbem in der Handlung, als wegen der malerifchen Inſce⸗ 
nirung. Wir haben hier eine intereffante Waiſe, eiuen ab⸗ 
fonderlihen Bormund, ein düſteres, altes, mit altertblimfichen 
Seltenheiten angefülltes Haus und einen unternehmenden jungen 
Liebhaber, der die Anordnung bes Ganzen übernimmt.” 


Dagegen Sagt das Blatt von Eliſe Polko's „Schönen 
Frauen’, das Buch) gehöre jener ungenligenden Gattung an, welche 
die Grenze zwijchen der Biographie und der Dichtung bildet. 
„Der Inhalt gehört jener, die Form diefer an. Das Bud) 
mag fih wol für das Bondoir eignen, ift aber ohne 
fiterarifhe Bedeutung.‘ 

Ueber die, Mechulle⸗Leut“ beißt es: „Dr. Ap&-Lallemant's 
Roman bat eine Tendenz, welche die Uneingeweihten kaum ver» 
muthen würden. Der Berfaffer wünſcht nämlich das deutfche 
Bolizeifgftem zu verbeffern, und diefes Ziel fucht er dadurch zu 
erreihen, daß er deſſen Ohnmacht im Zufammentreffen mit 
allerlei Uebelthätern darſtellt. Die Erzählung erlangt dadurch 
einen ſehr melodramatifchen Anſtrich; die Ereignifie find indeffen 
wenigftiens ebenfo belebt wie verrufener Art, und wir begegnen 
zumeilen einer Feinheit der pfychologiſchen Beobachtung, die man 
bon einem ſolchen Manne wie der Berfafler kaum erwarten 
würde.“ 


Schiller-Geſpräüche. 


In Beziehung auf das in Nr. 8 d. Bl. enthaltene, die 
Ueberfrift: „Duplikate von Schiller Gefprähen‘ tragende 


Feuilleton. 


Inferat bittet uns Bernhard Anemliller*) um Aufnahme 
folgender Antwort an Hru. Dr. Borberger in Erfurt: 

Iene in die Biographie der Fürſtin Karoline Luiſe von 
Schwarzburg⸗Rudolſtadt von mir aufgenommenen Reminifcen- 
jen „Ressouvenir de conversation avec Schiller‘ finden fid 
allerdings in den eigenhändigen Aufzeichnungen der Fürſtin, 
und jedenfalls bat fie diefelben von Fräulein Chr. von Wurmb, 
fpäter verheiratheten Frau Profeffor Abelen, erhalten, welche, 
wie uns fehr wohl befaunt, ihrer Stellung als Hofdame zu⸗ 
folge mit der Fürſtin in ftetem Berlehre fiehen mußte. Die 

Fürſtin hat die genannten Dicta ohne Jahreszahl uad Datum, 
Gh mit der Abficht, jpäter diefelben mit Angabe der Quelle 
noch zu ergänzen, aufgeſchrieben und in ihre reichen Samm⸗ 
lungen aufgenommen. Sie hat dieſe allerdings nicht als Er⸗ 
ianerungen aus ihren eigenen Unterhaltungen mit Schiller be⸗ 
zeichnet, was ich in der Biographie ausdrücklich hätte erwäh⸗ 
nen ſollen. Natürlich wären ſie aus derſelben ganz weggeblie⸗ 
ben, wenn mir vor dem Drucke zeitig genug ihr Borhanden⸗ 
ſein in dem „Leben Schiller's“ von K. von Wolzogen zur 
Erinnerung gekommen wäre. 

Die Frage über den Tag, an melden das auf S. 117 
erwähnte Geſpräch flattgefunden habe, erledigt fi dur einen 
Rehengebliebenen Drudjehler. In dem eigenhändig geichriebe» 
nen Zagebudye der Fürftin, mie in meinem Manufcripte ftebt 
in folgender Ordnung: „Januar 1800. Schiller ſagte mir 
einſt“ u. f. w. (micht „„geute'‘). Der Zag ift nicht angegeben. 

Inden ich Hrn. Dr. Borberger für feine Mittheilung mei- 
nen beften Dank ausfprede, Hoffe ich, er werde aus bem Obi⸗ 
gen bie Ueberzengnng gewinuen, daß von einem, auch nod fo 
entfernt liegenden Berdachte, als habe man „fremde Federn’ 
zum Schmude berbeiholen wollen, nicht, die in 
Die geniale, geifi- und gemlithvolle, wie fromme Fürſtin be» 
durfte keines folchen Schmucks und würde ſchon bei Lebzeiten 
ihn als „Lüge“ zurlickgewieſen und verachtet haben. Gewiß aber 
wird Hr. Dr. Borberger mir es nicht verargen, weun ich aufs 
richtig bedauere, daß er den viel weitläufigen Umweg durd) 
d. Bf. Lieber eingeichlagen hat, als daß er die Güte gehabt 
hätte, durch eine freundliche Mitteilung auf brieſlich kürzerm 
Wege von Erfurt nach Rudolſtadt mich in den Stand zu ſetzen, 
für diejenigen, welche die von mir geſchriebene Biographie leſen 
ſollten, ſofort eine Berichtigung in d. Bl. bekannt zu machen, 
was, da ſeine betreffende Anfrage erſt jetzt mir von Belannten 
zugefandt wird, leider nicht eher gejchehen Tonnte. 

Rudolftadt, 17. März 1870. Bernhard Anemüller. 


Aelteſte dentſche Literaturdenkmäler. 


Wenn ſich unſern Dichtungen aus der Glanzperiode des 
Mittelalters eine weitverbreitete Theilnahme zuwandte, ſo wer⸗ 
den, was nicht minder erfreulich iſt, doc auch die älteſten dent⸗ 
ſchen Literaturdentmäler darüber nicht ver ergeifen. Das zeigt 
ung äußerlich der Erfolg, weldje die von Moritz Heyne ge 
gründete Sammlung gefunden. Bon Stamm’s „Ulfilas‘‘, mit 
dem diefe Bibliothek anhebt, erfchien bereits im vorigen Jahre 
die vierte Auflage, beforgt von Heyne (Paderborn, Schöningh). 
Diele letzte Ausgabe tft deshalb beſonders werthuoll, weil der 
Tert nunmehr durchgängig auf den Leſungen Uppftröm’s 
berußt, der viel zu früh für die Wiffenfchaft im Jahre 1868 
aus dem Leben fchied. Die dem Xerte folgende Grammatit 
iR von Heyne nur wenig verändert worden, dagegen Hat er 
das Wörterbuch erweitert, wie es nach Uppftröm’s Forſchungen 
geboten war. In der vorhergehenden Auflage war in der Ein- 
leitung mehr über da8 Leben des Ulfilas gejagt, während jetzt 
nur eine ganz kurz gefaßte Notiz gegeben ift, wie fie jeder 
literariſche Grundriß enthält. Wir können dieſe Sparſamkeit 
nicht billigen in einer Ausgabe, die nach allen Seiten Hin be» 
Ichren will. Auch die Ausgabe des „Beomulf’ von Heyne, welche 
deu dritten Band dieſer „Bibliothet der älteſten deutſchen Lite⸗ 
raturdenkmäler“ bildet, iſt in einer neuen Auflage erſchienen 
(1868). Der Tert iſt ebenfalls einer ſorgfältigen Revifion un⸗ 


*) Nicht Annmüller, wie in Nr. 8 gedruckt iſt. 


ede fein könne. 


223 


terworfen worden. Die beträchtlich erweiterten Anmerlungen 
bringen außer dem Variantenapparate eine Anzahl werthooller 
fritiiher Bemerkungen, welche fih aud auf die Metrik cr- 
fireden. Das Gloſſar bat manche Berückſichtigung erfahren. 
Dei dem gefteigerten wiſſenſchaftlichen Intereffe, weldes neuer- 
dings der „Heliand“ gefunden, ift wohl anzunehmen, daß aud) 
Heyne's treffliche Heltand - » Ausgabe, der zweite Band jener 
Bibfiothet, in nicht zu ferner Zeit in neuer Auflage vorliegen 
werde 





Kibliographie. 
Balde. — Renai Ausgewählt 
Neberiragen von 9. FAT und ee an en eb 


hagavad-Gitä ober: das Lieb ber Gottheit, Aus dem Indi en über⸗ 
ſetzt von R. Borberger. Jerlin, empel. Br. 8. 12 ee 
Biedermann, BD. Freih. v er Roman als Fr a Eine 
fie ale als Beitrag zur Achpenit. Dresden, Schulbuchhandlung. 8. 10 Yigr. 
lederımann, G., Metaph ysik in Ihrer zu deutuug für die Begrifis- 
wissenschaft. Erag, —ã Gr. 8. 12 N 
— — Die Wissenschaft Geistes, Ste Aun. Prag, Tempsky. Gr. 5, 


0 Bien n, T. ©,, Eine gelungene Eur. Leipjig, Grunow. 8. 1 Zhlr. 
— — Das Erbe Tosta's. Erzählung. 2 Bde. Leipzig, Grunow. 8. 


a nn E., Sübb 19 Dri li 
eutſche i 1 
Set, "Weutlinge 2, Rapp. F 3 wi Bi Bolge, Iſtes 
dmann⸗Chatrian, adame exeſe. Ueberſetzung von b 
* fe unb durchgefeben. Straßburg, — 1869. ® Gr “er 


‚ Fran Sopanna. Graählung. Mit einem Borwort von F. 


G * Idebrand, 
ie —— —* Criminal⸗ Enabluns. 


me. 


hr bes Gehrermalfen aufes. Gr. 16. 
tetbune, 


—* ge — der Fra R er en 
— ermann. Gr. 8. 10 
ne, Ka Gloffen über laufenbe Politit. Wien, Hersfeld 
u. Bauc, An ER 
®oeb Die rbeinlänbifhen Erpbeben von 1869, Ihre Ber» 
anlafjung, ku” and Ausdehnung. Nebit einer Ab anbiung über: 
Erbbeben im Allgemeinen unter Derü itigung der verf evenen b arüber 
beftebenben Theorien, ifte Lief. Wiesbaden. Gr. 8. 8 Ngr. 
agemann, © Iemente ber Bhilofophie. Ae um earbeitete unb 
fehr nermehrte Aufl. ifter und Ster Bb. Münfter „Ruſſell. Gr. 8. a 18 Ngr. 
Heltor, €. Fr Zannengeifter. Ein ——— Hannover, 


Ruͤmpler. 16. 15 
ollanb er be N SeiR und Kör ver. Dresden, Bay. Gr. 8. 5 Ngr. 
ahrbuch für die Literatur der Sch weizergeschichte, ter Jahrgang. 


1868. Bedigirt durch 2 on Jer v. Knonau, Zürich, Orell, Füssli u. 


Comp Be * 
be des Ri enannten Eigenen Kreiſes in der 
tönial F berlan F Rep Ir Tunden= Buch. efrönte Preisſchriſt. 


Dreien rd a 
ect ie he Declaration in der 3 stallungöfrage 


eu 
und jocile © Reform Dat rünn, Karaftat. Gr. 8 

Ken a ger, © ali de Briefe aus der neueflen Zeit. Dünfter, 
Nuffe 


Kühn ne, ®., einen anf ber Wanderſchaft. Eine Legende, Leipzig, 


Barttuoh, Gr. | ir. 
Ku Ch Dat ber rag uf dem Grunde ber gegen« 
würtigen — Populär. bargeftelt. Zerbft, Luppe. Gr.8, 14 Rgr. 
Lange Xiteraturgefchicht vie —E — und Eharakteriftiten. 
rnet Kepert orlum Ba Geſchichte der beutichen Literatur. Ber» 


xiner. 
ade heit Kormenlehre ber deutſchen Diettunf. Ein 
Reitfaben. Pr Oberklaffen böperer Bildungsanftalten. Ste, verbefierte Aufl. 


xtner, ©®r. 8. Rer. 
Der eg zur Tugend. Aus dem Chinesischen 


Berlin, Gä 
Lao-ıse täo -tö- king. 
Leipzig, Brockliaus. 8. 


übersetzt und erklärt von R. v. Plaenckner. 
2T 
Neligiöfe Dichtungen. Iſtes Heft. Augsburg, 


Benfe, A., Knoſpen. 
Lrangfelber... 8. 6 

Li R. —8 ste Aufl. Weimar, Kühn. 16. 5 Ner. 

Banelnriemus im Gegensatz zum Allslaventhum und die politische 
Bedeutung der polnischen Bevölkerung ausserhalb der russischen Zwing- 
herrschaft. Strasburg | i. Pr., Köhler, 4 Ngr. 

Pierson, W., Aus Russlands Vergangenheit, Knlturgeschichtliche 
Skizzen. Leipzig, Duncker u. Humblot. Br, 8. 1 Thir 

Vivenot, A, Ritter v., Korssakoff und die Betheiligung der Russen 
an der Schlacht bei Zürich, 25. und 26, September 1799. Wien, Brau- 


ınüller. Lex.-8. gr. 

Wagner, R., Atomgewichte der Elemente. Würzburg, Stahel. 
Imp. -Fol. 8 Ngr 

Wattenb 26, W., Die Sievenbürger Sadfen. Ein Vortrag. Hei⸗ 
belberg, Baffermann. 0 Mar. 

We Seren, B.G,, Baltische Briefe. Hamburg, Hoffmann u, Campe. 


8. 20 N 
Zu ter 2 Einige ze ——— „potnifgen Meiftern nach⸗ 
gefungen, Beben Kittler. 





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des zweiten Bandes kostet 2 Thir. 20 Ngr. 





Im Berlage von George Weftermann in Braun- 
fhweig ift foeben erſchienen und in allen Buchhandlungen 


zu Haben: Der Schüdderump. 


Bon 
Wilhelm Raabe. 
Drei Bände. 8. Fein Belinpapier. Geh. Preis 5 Thlr. 


Raabe's Vorzüge treten namentlich in der Art hervor, 
wie ex die Gegenjäge jchildert, die fich zwiſchen dem vereinzelten 
Erfcheinungen wahrhaft edler Naturen und der Gewöhnlichkeit 
des Lebens zu erkennen geben. Die Geftalten Antoniens und 
bes Nitters don Glaubigern, denen als wirkſame Folie Jane 
Warwolf und das Fräulein von St. Tronin zugefellt find, zei- 
gen fi) von dem idealen Lichte reiner Menſchlichkeit umfloffen; 
daneben tft ein Reichthum am charakterifiiihen Geftalten in dem 
Romane enthalten, in denen die mannichfaltigſten Seiten des 
Menfchenlebens zur Erſcheinung kommen. 





Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Soeben erfdien: 


Der Neue Bitaval, 


Eine Sammlung der intereſſanteſten Criminalgeſchichten 
aller Länder Bu er un neuerer Zeit. 


I. €. Hitzig und Fi) Geringe (Bilibald Alerib). 
Fortgeführt von Dr. A. Dollert. 


Neue Serie. Fünfter Band. Exftes Heft. 8. Geh. 15 Ngr. 
—— Die — ngen in hr „Geneiß, (Belgien. 1868.) — Marie 
fer ber engen Su 781-1786.) — —— hr 

imdergs Bergangenbeit. 6. ae berühmter Scharfrichter von Nürnberg. 

An den Proceß gegen die Giftmiſcherin Marie Jeanneret 
in Genf knüpfen ſich juriſtiſche, medicinifche und pſychologiſche 
Probleme von beſonderer Wichtigleit. Ebenſo nehmen die Ver⸗ 
bandlungen in dem belgiſchen randſtiftungsproceß wegen der 
kirchlich politiſchen Umtriebe, die dabei zu Tage getreten, unge⸗ 
wöhnliches Interefje in Anſpruch. 

Der „Neue Pitaval“ ift im vierteljährlichen Heften zu 
15 Nor. oder in jährlihen Bänden zu 2 Thlr. durch alle 
Buchhandlungen zu beziehen. 





Verantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Brochhaus. — Druck und Verlag von 8. A. Brockhaus in Leipzig. 





Blätter, 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 








Erſcheint wöchentlich. 


a Ar. 15. 2 


7. April 1870, 





Inhalt: Eine Geſchichte des italienischen Dramas. Bon Rudolf Bottiäel. — Erzählungen und Novellen. — Zur Ueber 
fegungsliteratur. Bon David Arber. — Philoſophiſche Schriften. — Feuilleton. (Die „Revue des deux mondes‘ über Arthur 
Schopenhauer; Rudolf Weſtphal über den deutſchen und itafienifchen Reim.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Eine Geſchichte des 
Geſchichte de8 Dramas von J. L. Klein. Vierter bis fiebenter 


Band: Geſchichte des itafienifhen Dramas. Vier Bände. 
Leipzig, T. DO. Weigel. 186669. Gr. 8. 20 Thlr. 24 Nr. 


Das überaus fleigige Werk von 3.2. Mein Hat ung 
wieber einen großen zufammenhängenden Abſchnitt aus 
der „Geſchichte des Dramas’ vorgeführt und zwar in der 
eingehendften Darftellung. Der Äbſchluß der „Geſchichte 
des italienijhen Dramas” gibt uns eine willfommene Ber- 
anlafjung, auf dag Werk zurüczulommen. Zunächſt ſchicken 
wir einige allgemeine Bemerkungen voraus, 

Die äußere Maflofigkeit des Unternehmens tritt immer 
augenfälliger hervor. Die „Geſchichte des italienifchen 
Dramas“ hat einen Umfang von vier Bänden, von denen 
der erfte 925 Seiten enthält. Durch dieſe Ausdehnung 
Hört das Werk auf ein lesbares Nationalwerk zu fein 
und verwandelt ſich immer mehr in eine gelehrte Fund ⸗ 
grube, deren Werth wir durchaus nicht verfennen wollen. 
Wird benn ber üble Ruf deuiſcher Gelehrfamteit, daß fie 
nicht Maß und Geſchmack kennt und in ihren Darftel- 
lungen nicht die durch das Lefebedürfniß gebotene Schrante 
rejpectirt, troß aller Fortſchritte der Neuzeit aufrecht er» 
Halten bleiben? Und wenn ein geiftvoller dramatischer 
Dichter, der nicht entfernt zu dem trodenen, nur todte® 
Draterial anhäufenden Gelehrten gehört, ein derartiges 
Titeraturgefchichtliches Werk verfaßt, darf man ſich da über 
die unüberwindlidien Folianten wundern, welche die Fach- 
gelehrſamleit zu Tage fördert? 

Was den Fleiß des Sammlers betrifft, fo ift Klein’s 
Wert in vieler Hinfiht als grundlegend zu betrachten. 
Gegenüber den Piteraturgefhichten, welche die Urtheile 
ihrer Vorgänger abſchreiben, fehen wir hier überall die 
Refultate jelbftändiger Forſchung. Klein begnügt ſich 
nicht mit den Mitteilungen und Urtheifen ber italienifchen 
Specialwerfe über fein Thema; er fucht fich die einzelnen 
Dramen ſelbſt zu verfchaffen, um den Leſern ein Bild 
von ihnen zu geben und feine abweichende Meinung 

1870, 15. 


italieniſchen Dramas. 


gegenüber den kritiſchen Autoritäten Italiens zu recht⸗ 
fertigen. 

So ſehr wir indeß auch biefen Fleiß rühmen, fo ift 
bie Berwertgung deſſelben doch eine zu ausgiebige, der 
jebe Beſchrünkung, jede Prägnanz fehlt. Wir achten noch 
höher den Fleiß eines Johannes von Müller, welcher 
taufend Werke ercerpirt, um eine breibändige Univerjal- 
geſchichte abzufaflen; während SM ein vielfach feine Excerp- 
lenhefte felber, nur ausgefhmüdt mit wigfunfelnden, oft 
baroden Arabeöfen, in das Werk aufnimmt. Das Unglüd 
ber deutfchen wiſſenſchaftlichen Literatur ift — das gelehrte 
Atelier. Wir wollen ja nicht die Arbeit ſelbſt fehen, fon- 
dern bie Refultate in geläuterter Form; wir wollen nicht 
zufammen fhwigen mit den Marmorarbeitern, nicht jeden 
ihrer Meißelfchläge hören, nicht alle die abfallenden Split» 
ter ung zeigen laffen, wir wollen das fertige Werk fehen. 

Wodurch ſchwillt aber die Arbeit Mlein’s zu einem fo 
unfandlihen Umfang an? Zunähft durch die Excurfe. 
Wir wollen Teineswegs ein Literaturwerk zu äfthetifcher 
Bedentungslofigfeit verbammen; wir billigen alle äftheti- 
ſchen Erceurfe, welche das einzelne Drama durch Paralle- 
len mit andern erläutern und aus feiner Kritil die äfthetifche 
Duinteffenz ziehen. Die Literaturgefdichte hat die Pflicht, 
der Aeſthetik in die Hände zu arbeiten. Klein's Eritifcher 
Standpunkt, ber ftets auf den innern Gehalt geht, hat 
unfere vollftändige Zuftimmung, und die dramaturgiſchen 
Winke und Ausführungen, die an die Kritik ber eingelnen 
Stüde gefnüpft werden, find faft immer treffend und 
werfen auf bie äſthetiſchen Fragen ein erhellendes Licht. 

Neben diefen äſthetiſchen Excurfen findet ſich aber eine 
große Zahl anderer, die mehr zu den humoriſtiſchen Ertra» 
blättern gehören und als geiftige Eranthemen und Ueber- 
wucherungen betrachtet werden miüjen. Sie flören nicht 
nur die willenfchaftliche Haltung des Werts, fie wilrden 
auch in jedem andern Werk als ungehörige Plaudereien 
und witzhaſchende Geſchmadloſigkeiten erſcheinen. Ein 


29 








. 


226 


Literarhiftoriler darf ebenjo wenig wie ein Dichter allen 
feinen Sdeenafjociationen Folge leiften — das führt zulett 
zu Brillantfenerwerken des Esprit, die ins Blaue hinein 
verpuffen. Wir wollen nur aus dem erjten Bande des 
Werks eine Probe derartiger Ercurfe geben. 

Bei der Gelegenheit, wo Klein von den Maſſalioti⸗ 
ſchen Rhapſoden fpricht, führt ihn feine Poeſie im Flug 
aus dem alten Gallien in das neue, und wir erhalten 
einen langen Excurs über das second empire, der ganz 
im Bictor Hugo'ſchen Stil gefchrieben if. Kaum werden 
die Tenzonen der Troubadours erwähnt, jo wird und der 
folgende Ercurs über Richard Wagner und die Zufunftö- 
muſik zutbeil: 


„Der Sängerkrieg auf der Wartburg” von Rihard Wagner 
it eine folche deutſche Tenzone, ein folches declamatorifches 
Sängerturnier (Torneyamen), worin gleichfalle die verjchieden- 
fin Anfichten über ein Thema erörtert und pro und contra 
verfochten werden, über das Thema nämlich: ob diefer Sänger- 
frieg zu den infirumentirten Controverjen der rhetoriſchen Com⸗ 
pofitionsfchufen, oder zu den wirklichen Wettgefängen unbeftreit- 
barer Muſik zu rechnen. Für muſikaliſche Ohren der Gegen» 
wart ift diefer Wettlampf längft zu Gunſten der erftern Anficht 
entſchieden. Die Klingsohre der Zukunft, deren Oben mit ber 
Entwidelung der Zukunftsmuſik Schritt halten, hören zwar 
gleihfalls nur inftrumentirte Controverfen oder Streitreden aus 
den Tenzonen ihres Tronbadours heran, begrüßen aber dies 
eben als das Phänomenale, Zulunftsvolle, alle bisherige Opern« 
mufit Todtſchlagende, die von Mozart, Gluck, Beethoven, Wer 
ber und ähbnlihen Bänlelſängern in erſter Reihe; weil deren 
Mufit fo tief in Trivialität ftedt, um von Melodien überzu— 
fließen, um die Bollsfeele in melodifhen Harmonien auszu- 
ſprechen, weil ihr von Melodien Überfliegender Mund, plebeji- 
jcherweife, davon übergeht, weß das Bollsher; voll if. Nur 
diejenige Opernmuſik fei für voll zu nehmen, die nid)ts wie 
opera ift ohne Muſik, nichts wie raffinirte Combination bizarrer 
Klangwirkungen, bie ein Werk des mit dem Sigfleifch arbeiten 
den Generalbafjes ift, ein Werk des mit diefem ausſchließlich 
fharwerfenden Genie, wie der prunfende Pfauenſchweiffächer 
auch ein ſolches Werk if. Die innerlich declamatoriſch, äußer- 
lich decorativify prunfende Opernmufif, mit allen möglichen 
Znftrumentations-Reizungen wirtend — für blafirte Ohren das, 
was das bewußte Ruthenbündel für den Rüden entnervter Sün⸗ 
der —, eine folde Opernmuſik mit einem von fhöngeiftigem 
Lyrismus pridelnden Tert ans den Hofritterromanen der Sagen. 
Hofkreife: das ift die vornehme, die einzig hoffähige, die Fürſten⸗ 
Salonoper par excellence, die Oper der Hofbhörigfeit, und 
deshalb auch die Reclamenoper des Birtuofen- Hoflafaienthums. 
Kurz, die auf Noten gefegte Kontroverje, dieſe allein ift bie 
wahre mit ber Mufll der Bergangenbeit brechende Muſik, deren 
Zukunftsmiffion dahin geht: den Sängerkrieg in einen Krieg 
gegen die Sänger, die Opernmuſik Überhaupt in einen Ber- 
nichtungsfrieg gegen die Mufll umzuſetzen. 


Bei der Schilderung der Grazie in den Luſtſpielen 
des Ariofto fpricht Klein von den zweierlei Grazien, den 
hehren, die mit den ewigen Göttern Eines Urfprungs 
und Geblütes find, und den pandemifch gemeinen Grazien. 
Nah längerer Schilderung der Iektern geht der Ercurs 
auf Goethe und Heine über: 


Sogar ein Kunftmeifter von echter Grazienmeihe, ein 
Dichterfürft wie unfer großer Goethe, war zuweilen fo über- 
wiegend mehr Fürft als Dichter, daß er, von ber Maske be: 
rüdt, den Grazien der Pandemos nachbuhlte, umd ihnen in 
feinen der bimmlifchen Benus geweihten Romanen gar ſchmucke 
Kapellen im grieailaen Stil baute: Hier nod von Myrten- 
wäldchen und Rofenbüfchen halb verftedt; wogegen er in feinen 
römiſchen Elegien und in einigen feiner Schaufpiele, wie „Die 
Mitſchuldigen“, „Der Großkophta“ z. B., dieſen Pandemchen die 


Eine Geſchichte des italieniſchen Dramas. 


zierlichſten Tempelchen, nach Art jener chineſiſchen vom Staate 
ſanctionirten, der feinern Luſt und Freude gewidmeten Blumen⸗ 
häuschen, unverhüllt und offen ſtiftete und weihte. Kein Wun⸗ 
der, wenn, durch ſein Beiſpiel ermuthigt, Dichter geringern 
Schlags, als geborene Luſtknechte der gemeinen, mit allem Buhl⸗ 
zauber poetiſcher Toilettenkunſt aufgeputzten Venus Vulgivaga 
und ihrer liederlichen Grazien, den Cultus derſelben auf den 
beſudelten Tempeltrümmern der himmliſchen Grazien zu errich⸗ 
ten für ihren Prieſterberuf und höchſten Dichterruhm erklärten 
und, frech und ſchamlos die Orgien der liederlichen Grazien⸗ 
poeſie auf dem Trümmerhaufen feiernd, als deren Dichter von 
Gottes Gnaden ſich ſelbſt vor dem verblüfften Straßeupublikum 
proclamirten. „Von Gottes Gnaden“ — welchen Gottes? Auf 
den Gott kommt alles an. Gott Hannuman? von deſſen Gna⸗ 
den? Daß läßt ſich hören; das könnte man, ja müßte man 
gelten Taffen, in Betracht diefer Dichter von Gottes Gnaden, 
diefer Affen der poetifden Unzucht mit ſeitlich aufgeftlilpter 
Klingelmüge, woran die Schellen von falſchen oder bejchnittenen 
Dukaten, und in ein Jäckchen verkleidet, befett mit gediegenem 
Trödel- Brandfilber und fogar mit Barodperlen, worunter einige 
echte von reinem poetifhen Waſſer. Hannuman ift groß, und 
der „Dichter von Gottes Gnaden“ fein Prophet. Die Affen- 
grazie mit Haaren auf den Zähnen ift auch eine Orajie, eime 
gar pubige Grazie von boshaft-poffierlihfter Drolligleit. Sie 
ı der poetiſche Kunftaffe, den die Grazien der Bulgivaga auf 
den Märkten tanzen und feine Künſte produciren laffen, in 
Gemeinſchaft mit dem Kunftbären Atta Troll. Bald pußen 
fie ihn als Boltaire, ein audermal wieder als Ariftophanes her⸗ 
aus; aber durch die Vermummung ſticht dod) ſtets der jchllipferige, 
boshaft-närrifche Affenblid hervor, wie durd) die den Huldin- 
nen nachgeäfite Maske der gemeinen Grazien ihre Tiederlichen 
Lorettenaugen lüfteln. 


Aehnliche Excurſe finden fi über das „Säbel- und 
Ifebelregiment” (S. 689), fogar eine feitenlange Abhand- 
fung über „Aug’ und Ohr” (S. 732— 733), und die fol- 
genden Bände find durchaus nicht ärmer an derartigen 
oft ganz abjonderlichen Ertrablättern. 

Außer durch diefe Exrcurfe wird der Umfang des 
Werks angefchwellt durch die ausnehmend genaue Inhalts- 
angabe der einzelnen Stüde. Wir verlangen allerdings 
von ber Literaturgefchichte, daß fie und nicht todte Na⸗ 
men und Notizen biete, fondern ein Bild der Dichter 
und ihrer einzelnen Werke gebe. Principiell find wir 
daher mit der Klein’schen Behandlungsweife einverftanden. 
Dod die Ausführung geht in ein Detail, welches die 
Grenzen der Literaturgefhichte und der Anthologie oft 
verwiſcht. Nicht nur wird uns oft von ganz unbedeu⸗ 
tenden Komödien der Inhalt, und zwar durch die abrupte, 
jpringende, geiftreich gefuchte Manier des Verfaſſers Fei= 
neswegs immer in einer die Angelpunfte der Handlung 
Har erfafienden Weife, dargelegt; auch die Darftellung ein- 
zelner namhafter Dramen, die von befonderm Intereſſe 
find, überjchreitet doch bisweilen die Grenze, wo der Be— 
tihterftatter aufhört uns das Bild des Stüds zu geben; 
er gibt uns dafür Theile deflelben, wie fie in eine antho— 
logifhe Sammlung gehören. 

Ebenfo wenig darf die Geſchichte, melche einen Kunft« 
zweig durch verjchiebene Epochen der Entwidelung hin⸗ 
durchführt, fi in die Monographie verlieren. Dies ift 
aber der Fall, wenn einem Dichter wie Alfieri, mag er 
immerhin der bedeutendfte Bertreter des italienischen 
Dramas fein, faft ein halber Band gewidmet iſt. Ueber 
diefer Vertiefung ins einzelne geht leicht der allgemeine 
Ueberblick verloren; die Charakteriſtik der Entwidelung 
jelbft verwandelt ſich in ein Zwifchenfpiel, während der 





Eine Geſchichte des italienifhen Dramas, 227 


ganze Schwerpunkt der Darftellung auf der Analyſe der 
einzelnen Stüde berußt. 

Faſſen wir indeß die „Geſchichte des italienischen 
Dramas‘ auf in ihrer Beziehung zu dem Gejammtwerf, 
fo müffen wir uns auch gegen die jelbftändige zufammen- 
hängende Darftellung des Dramas einer einzigen Nation 
von feinen Anfängen bis zur neueften Zeit erflären. So 
löſt fi die Univerfalgefchichte in eine Reihe von Specials 
geſchichen auf, während jede Nation nur dann auf die 
Bühne der Darftellung geführt werben follte, wo fie felbft 
als epochemachend in die Literargefchichtliche Entwidelung 
eingreift. 

Die von Klein beliebte Methode macht Wiederholun- 
gen unvermeidlich und gibt doch nicht den ſynchroniſti— 
fchen Ueberblid. „Das Drama des Mittelalterd” ver- 
diente eine zufammenhängende Darftellung; fein Entwide- 
lungsgang, feine Grundzüge find faft bei allen Nationen 
gleich; Klein muß unvermeidlich auf baffelbe wieber bei 
der Darftelung des fpanifchen, des franzöfifchen und eng» 
lijchen Dramas zurückkommen, und durch dieſe Vereinze⸗ 
lung erhalten wir unmöglich ein Geſammtbild, wie es 
die Kunſt⸗ und Culturgeſchichte verlangt. Wir meinen, 
die Geſchichte des mittelalterlichen Dramas hätte im Zu- 
fammenhang vorausgehen und ihren Abfchluß finden müfjen 
in der Darftellung bes fpanifchen Dramas, welches alle 
Ideale des mittelaterlichen Glaubens und feiner Kunft 
zum ſchwunghafteſten Ausbrud brachte und die Pajfione- 
tragödie zu künſtleriſcher Vollendung führte. Dann hätte 
eine Darftellung des altbritifchen Shakſpeare'ſchen Dramas 
fih anfchließen, und diefer wiederum das franzöfifche claj- 
ide Theater folgen müſſen, welches für die ganze dra- 
matiſche Fiteratur des 17. und 18. Jahrhunderts bei Deut- 
ſchen, Engländern, Italienern u. f. w. tonangebend wurde. 
Das Theater des 18. Fahrhunderts mußte nothwendig in 
feinem ganzen europäiſchen Zufammenhang dargelegt, die 
Enfwidelung der einzelnen nationalen Bühnen, die zwi« 
jhen dem Mittelalter und diefer Zeit lag, an diefer Stelle 
nachgeholt werden. Das claffiiche Drama der Deutſchen 
hätte dann wieder eine felbftändige Behandlung verdient. 

Mag man nun diefer Gliederung des Stoffs beiftimmen 
oder nicht — fie beruht jebenfall® auf einer univerfjal- 
geichichtlichen Auffaflung, während die Behandlung Klein's 
fein großes Wert in Lauter Specialgefchichten zerfplittert, 
bei deren Ausdehnung es auch dem eifrigften Beftreben 
des Berfaffers nicht möglich fein wird, gemeinfame, tiber 
die Schranken der Nationen hinausreichende Beziehungen 
feftzuhalten und über den allgemeinen Entwidelungsgang 
des Dramas in Europa und feine entfcheidenden Wende: 
punkte aufzuflären. 

Das italienifche Drama hat Teinen derartigen Wende: 
punkt beftimmt; ja and) von dem verfchiedenen Gattungen 
der Boefie, welche die italienifche Muſe gepflegt bat, fteht 
es wol in letter Reihe. Deshalb darf eine fo ausgiebige 
Behandlung deffelben wol unverdient genannt werden, und 
dee Berfafler vermwechjelt offenbar das Intereſſe der ge- 
kehrten Forſchung mit demjenigen bes großen Publikums, 
anf defien Theilnahme ein derartiges Werk doc in erfter 
Linie angewiefen ift. Freilich, die Dramatiker jelbft find 
oft intereffanter als ihre Dramen; ein Arioſto, Taſſo oder 
auch Pietro Aretino, die auf andern literarifchen Gebie- 


ten fi Ruhm oder Ruf erwarben, bieten fiir eine geift- 
reihe biographifche Darftellung, für ein fcharfgefchnittenes 
Porträt die willfommenfte Veranlaſſung. Das Drama 
jelbft erfcheint, wie bei Taſſo, dann als das Nebenjäch- 
liche. Wol aber darf die Biographie diefes Dichters als 
eine der vortrefflichften Partien des ganzen Werfs ber 
trachtet werden; fie ift jelbft mit dichterifchem Geifte durch⸗ 
geführt. Auch werden bisweilen ganze felbftändige Ab- 
fhnitte der wenn auch fürzern Charakteriſtik anderer 
Dihtgattungen gewidmet. So finden wir gegen Enbe 
des zweiten Bandes eine Darftellung der italienijchen 
Lyrik und des italienifhen Epos im 17. Jahrhundert; 
Marino und feine üppige Liebesmalerei wird uns vor⸗ 
geführt, dann das fomifche Epos von Taffoni, von Carlo 
de’ Dottori, von Bracciolint u. ſ. w. 

Wir wollen nun die Elemente zufammenftellen, durch 
deren Ausbeutung ein Stoff wie das italienifche Drama 
zu einer für ben eifrigften Lejerfleiß bedroglichen Aus» 
dehnung herangewachſen ift. 


Klein's Darftelung beginnt mit den älteften Myſterien⸗ 
dramen, Mirafelfpielen und Modalitäten, geht dann über 
zu einer Darftellung der provenzalfchen Troubadours, 
ihrer Tiebeshöfe, Sirventes, Tenzoneni — eine Darftellung, 
die ebenfalls jehr ausgedehnt ift, während bie Schaufpiele 
der Jongleurs und die Moralitäten der Trouveres auf 
drei Seiten abgehandelt werben. Die genaue Inhaltsgabe 
des Miratelfpiels, da8 Wunder des Theophilus, und des 
Spiel® des Heiligen Niklas, fowie der folgenden Stüde, 
greift wiederum faft in das Anthologifche über und hat 
nur den Werth eines Antiquitätenframs, eines „Magazine 
für die Forſchung“, in welchem außer den großen Pro- 
ben auch halbe Stiide mitgetheilt werden. Ueber Dante, 
defjen „Divina commedia” auch, wenngleich fehr bejchei- 
den, auf die dramaturgifche Bühne tritt, Dino Conpagnt, 
Guido Savalcanti hinweg gelangen wir dann zu den 
älteften italienischen Mirakeljpielen und Moralitäten, bis 
zu „Lorenzo de’ Medici il magnifico‘, feinen „Canli car- 
nascialeschi“ und geiftlichen Feſtſpielen. Eine Fülle biblio- 
graphifcher Notizen weiht uns in die überreiche Production 
heiliger und Profanfpiele damaliger Zeit, in die Tragödien 
in Profa u. |. w. ein. Aus diefer Production der Maflen, 
die im äfthetifcher Hinficht volllonmen werthlos ift, wer- 
den wir herübergeführt zum einzelnen Dramatilern, die 
wenigſtens eine beftimmte Phyfiognomie zur Schau tragen 
und das Interefje feft ausgeprägter dichterifcher Perfönlich- 
keiten bieten. Es waren die einzelnen Fürſtenhöfe Italiens, 
um welche fi) die Dramatiker verfammelten; namentlich 
der Hof von Ferrara, der von der Mitte des 15. bis 
zum Ende des 16. Jahrhunderts an poctifchem Glanze 
alle Städte Italiens überflügelte. 

Als erfte der italienischen Originalkomödien iſt Bo⸗ 
jarbo’8 „Timone“ anzufehen, ein nad) Lucian's „Timon“ 
gebichtetes und mit allegorifchen Figuren ausgeftattetes 
Stüd in Zerzinen. Als Vater des italienifchen Luſtſpiels 
dagegen muß Lodovico Ariofto betrachtet werden, melden 
Klein zugleich den Vater des claſſiſch⸗kunſtgemäßen Luſtſpiels 
der neuern Zeiten nennt. Da bie Leiftungen des großen 
Epifers, den Italien den Göttlichen, „il divino‘, nennt, 
auf dem Gebiet des Luftfpiel8 weniger befannt find, fo 

29 * 


’ 


228 


wird die Analyfe der Stüde des Ariofto allen Lefern des 
Klein ſchen Werks willkommen fein, ebenfo wie die voraus« 
gefchidte Biographie, die durch eine Menge bisher un- 
befannter Daten und durch ihre geiftreich- pifante Faſſung 
intereſſirt. 

Das erſte Luſtſpiel: „La cassaria“, die „Caffetten« 
fomödie”, hat feinen Namen von einer Chatonlle, dem 
corpus delieti bes Luſtſpiels. Bedeutender noch ift die 
‚weite Komödie: „I suppositi“, die Untergefchobenen, welche 
Klein für den Gipfelpunkt der italienifchen Komödie erklärt. 
„La lena“, die dritte Komödie, finft von dieſem Gipfelpunfte 
wieber tief herab, wenngleich es auch ihr nicht an komiſchem 
Genie fehlt. Der kernfaule Bunft in dem Stüd ift, daß die 
Heldine in Schandweib, Kupplerin und Ehebrecherin zugleich, 
ift und dem Stüd den Charakter ihres Gewerbes und ihrer 
Unfittlichfeit anfprägt. Gleichwol wurde das Stüd nicht 
nur vor Fürften und Hof, fondern aud) von Fürften und 
Hof gefpielt. Arioſto's Luftfpiel: „Il negromante”, breht 
fid) gar um eine nediſche Bigamie; es ift übrigens das 
erfte europdiſche Luftfpiel, in welchem alle Fäden von 
einer in den Mittelpunkt der Intrigue geftellten Haupt 
figur ausgehen. Sein fünfte Stüd: „La scolastica‘, 
ift als Fragment zurüdgeblieben und nad} feinem Tode 
von feinem Bruder Gabriel vollendet worden. Die lomiſche 
Handlung läuft darauf hinaus, daß zwei Freunde, Claudio 
und Eurialo, junge Studenten in Ferrara, nad) verfchie- 
denen Misverftändniffen und Täuſchungen, ihre Liebchen, 
die fie als Rechts- und noch mehr Liebesbeflifene in 
Pavia hatten kennen Iernen, heirathen. Arioſto's Luft« 
fpiele find in baftylifch-anstönenden Sdruccioliverſen ge« 
fhrieben, die an die Senare des römiſchen Luftfpiels er⸗ 
innern, welche fi file unfern Gefchmad oft endlos ins 
Breite dehnen. Das Lob des Luftfpieldichters Ariofto 
gipfelt wol in Klein's folgendem Urtheil: 

Dan wird das Luffpielgenie des großen ferrariichen Didj- 
ters bewundern müffen, der bie drei Stile der Vertreter der 
altclaffiihen Komödie: des Ariflophanes, Plautus und Teren» 
tius, zu verbinden ſtrebte; ber bie „lambifche Idee’, die ſatiriſche 
Geifelkraft der Ariftophauiſchen gegen die Stadt- und Staats 
ſchaden gerichteten Spottdöre mit der bürgerlichen Sittenfomif, 
mit der Anmuth und Gitnationsftärkte, mit der naturfriſchen 
Charakterfcjilderung, mit ber Vermandlungsfähigkeit und Afft- 
milirung muftergliltiger Formen in nationalgeimifches Fleiſch 
und Blut, mit allen dieſen Eigenſchaften des Plautus zu ver» 
ſchmelzen, als feine Aufgabe erfannte; und der in diefe wunder» 
jame, die terentianifhe „Contaminstio* oder Durcheinander 
flechtung verigiedener Komddienfabeln an Kunft und Genie bei 
weitem überbietende Durdpringung von altattifher und plau- 
tinifher Komil aud noch die Eigenthlimlichteiten des Terentius, 
namentlich mas zierlich feinen Gelprä jeton betrifft, als drittes 
Element feinem Komddienfif einverfeibte. 

Auch hebt der Literarhiftorifer weiterhin hervor, daß 
die Komik des Ariofto die echte, „poetifch-Lathartifche” ift, 
wie fie von der Selbftzwed-Aeftgetif verleugnet wird, und 
nad) diefer Seite Hin einzig daſteht im Bereich ber italie- 
nifchen Komödien: 

Wir werden nod) eine oder die andere in Bezug auf vis 
comiea mit Arioſto's Luffpielen nicht ohne Glüd wetteifern 
fehen; vielleicht aud in Betreff der Figurenzeihnung, des echten 
Komödientons und Stils, demzufolge die Berfonen ihre Sprade, 
die Alferweltsfpradge, nur nicht die des Dichters reden follen, 
die bürgerliche Umgangefprade, durch die beileibe feine gepußt- 
literarifche Phrafe, fein Lyriemus hervorflingen darf, am aller- 
iwenigften wo die Luffpielfigur von Geiſt und Wit jprüht — 





Eine Geſchichte des italienifhen Dramas. 


eine Kunft, worin und Ariofto und nad; ihm Moltere als die 

rößten Meifter der claſſiſch- romaniſchen Komddie erſcheinen. 
allen dieſen und ähnlichen Eigenſchaften wird fo manche 
italieniſche Palliata des 16. Jahrhunderts mit den Kombdien 
des Arioflo vielleicht nm die Palme ringen bürfen; nur nicht 
in Abficht jenes innerflen, das echte Dichtergenie eben kenn- 
zeichueuden Läuterungsmotive, das jebes poeiiſche Kumnflmerk, 
das tragiſche wie das komiſche, als fein Nervengeift, feine un⸗ 
fihtbare Seele durchdringt und befebt. Damit im Zufammen- 
hange fteht auch die feine Kunſttechnik, das tiefe Verſtändniß 
der Gliederung und Ardjiteftonit, die harmoniſche Einheit im 
Gefammtorganismus der Dichtung, die als ein poetiſches Kumfl- 
ganzes fi daun eben nur darflellt, wenn fie von einem fletigen, 
den Plan des Ganzen beherrſchenden, ernfigeflimmten Zwed- 
gedanken befeelt wird, dem einzig vorbehaltlich + fubjectiven 
Momente im Kunſtweri — gegenüber feinen Figuren bes Did» 
ters Geheimniß —; während alle andern Geftaltungsmomente 
ſich objectiv anszuprägen, jelbfländig feinem Inuern zu ente 
jchweben und in voßfommener Freiheit ſich plaflifh rein von 
ihm abzuföfen feinen. Die bloße frivole Belufigungsfomik 
wird, bei dem ‚größten Talent, and) feine vollendete Kunfttehnif, 
ja felbft feine bündige, planmäßige, niet» und nagelfehe Structur 
aufmweifen können. Der Geift der Compofition iſt ber göttliche 
Geiſt, der Ruach Elohim, der mit tiefem Geftaltungsernft über 
den Bildungen ſchwebi. 


Die nuchſte Komödie, die in Italien Auffehen erregte, 
die Schostomddie von Päpften und Fürften, ift die „Ca- 
landria” des Cardinals Bibbiena, ein Std mit abenteuer« 
lichen und unwahrſcheinlichen Voransfegungen, mit einer 
fehe künſtlichen Intrigue, mit großem Aufwand von zügel» 
lofem Wig und glängendem Talent fir das Standalös- 
Komische. 

Mit Freuden begrüßt Klein jegt auf feinem Wege den 
großen Niccolo Macdjiavelli, der ihm Gelegenheit zu einer 
eingehenden Charakteriftif des italieniſchen Diplomaten gibt. 
Dem Hauptluftfpiel Macchiavelli's, der „Mandragola, 
ertheilt Klein, nad) eingehender Analyfe, das abſchließende 
Lob, daß fie don mander andern vieleicht an Kunfte 
vollendung, von feiner an culturgefchichtlicher Bedeutung, 
bei folder Situations- und Charakterfomil, von Feiner 
an muftergültigem Luftfpielton und Stil übertroffen wird. 
Die andern vier Komödien Macdjiavelli’s, „ Clizia * 
und „Andria‘, Nachbildungen des Plautus und Terenz, 
und zwei „Commedie”, die feinen weitern Namen haben, 
werben von der „Mandragola” tief in Schatten geftellt. 

Nicht minder glücklich als über die Begegnung mit 
Machiavelli ift Klein über diejenige mit Giordano Bruno, 
dem begeifterten Märtyrer der Denk- und Redefreiheit, 
dem berühmteften Opfer hierarchiſch- kirchlichen Wahns, 
deſſen Luftfpiel: „I candelajo”, ber Lichizieher, eim 
Sugendiwerk ift, das erfte, mit welchem der Philofoph 
hervortrat, ber fpäter felbft der Held einer Tragödie wer- 
den follte. Das Luftfpiel zeichnet ſich Übrigens durch 
einen flandalöfen Eynismus aus; jungen ehrfamen Frauen 
find Reden in den Mund gelegt, die an ben crafieften 
Zoten reich find. Den Inhalt des Stüds gibt Klein auf 
Grundlage bes vom Dichter ſelbſt mitgeteilten Scena- 
riums an. 

Wiederum begegnet uns eine intereffante Perſonlichteit, 
der eyniſche Voltaire des 16. Jahrhunderts, Pietro Are 
tino, die Fürftengeifel und doch der Liebling der Fürften, 
unzüchtiger Läfterer und fchamlofer Schmeichler zugleich, 
der Dichter der Sonette zu den ſechzehn obfeönen von 
Giulio Romano gezeichneten Gruppen. Die Biographie 


Eine Geſchichte des italienifhen Dramas. 


diefes Sathrs wird von Mein mit dem ganzen Aufgebot 
pitanter Thatſachen, die ihm feine eifrigen Ouellenftubien 
an die Hand geben, und pifanter Darftellung, welche ihm 
feine‘ geiftigen Mittel erlauben, ausgeführt. Er ſpricht 
feine Berwunderung aus, wie eine fo gemeine, lafterhafte 
Kothfeele auch mur eine Scene im Luftfpiel „II mares- 
calco“ und einige Briefe ſchreiben Yonnte, worin ſich eine 
edlere Negung md ein klarer Geiftesblid in Menſchen 
and Zeiten kundgibt, und faßt fein Urtheil über bie Luft- 
fpiele in folgender Weife zufammen: 

Eigentliches Talent zeigt Aretin nur in der Komödie: Sinn 
für Figurenfomit und muntern Luffpielton, doch felbft dies 
ausjhlieglich in dem „Marescalco'; und hier mit einer Zugabe 
von Erfindungsmangel, Dünne des Plans und Loderheit der 
Srenenfolge, fodaß diefe feine einzige noch Iesbare und für 
die Literatur nicht werihloſe Komödie dennoch feiner einzigen 
Komödie der Meifter diefes Jahrhunderts, auch der fhmwächten 
sit, an Kunftwerth gleihlommt. Die andern vier Komödien 
des Aretino find, unferer Meinung nah, fammt und fonders 
in den Zodten zu werfen. 

„ll marescalco“ nennt er weiterhin eine Komödie ber 
Stolnedjts- und Pagenehe; eine Marftalltomödie, welche 
die Menandrifche Hetärenfomöbie erft vervollftändigt, zu 
der fie die Kehrfeite bildet. Die vier andern Komddien 
Aretin's heißen: „La cortigiana”, „Ipocrito“, „La ta- 
lanta“, „Il filosofo“. Klein rügt ihre Spaflofigkeit, ihre 
biffig-vergerrte Komik, widerfinnige Fabel, confus · barocke 
Luſtiſpielhandlung, pritſchenmeiſterliche Figurenzeichnung 
und trivial-verzwidte Moralitätsmasfe, die fie an ber 
Stirn tragen, bei fonft nacktfrechem, die Maske lügen- 
Arafendem Satyrgeſicht. Weiterhin fagt Klein: 

Atetin o konnte berufen feinen, der claſſiſch⸗ italieniſchen 
Hoflemödie bie Volkokomsdie oder das national- bürgerliche 
Faßipiel entgegenzufetgen, wenn derber, ſatiriſcher, oft unfläti- 
ger Big und dialogifche Fertigkeit im Verein mit Unmifienheit 
und Unbildung zu einem foldhen Luffpiel hiureichte. Am un« 
fähigften dazu madite ihn aber feine bodenloſe Unfittlichleit, feine 
Laſtet, die ihn zum niedrigfien Schmeichier der Großen ent 
mörbigten zmd ihn, ale feine eigene Geifel, in deren Dienflbar- 
keit hineinpeitſchten, während feine prahlerifche Frechheit ſich 
dos Anfehen gab, Hof und Höflinge ale „freier Mann“ ver» 
fpotten zu Können. Cine Zwittergeburt von gemeiner Bedienten- 
feele und ſchwelgeriſchen Gelüften, vereinigte er, als Baflard 
eins Edelmanns und einer Luftdirne, die Laſter von beiden: 
die Genußſucht, die uoblen Pafflonen des Hofihranzen mit der 
BVegwerfung und Feilheit ber gemeinen Stroßenfäuferin. Die 
fen Stempel verräth fein Talent, verrathen feine Komödien, 
bie von der Hoflomödie bie Unfittlicjfeit, den [muzigen Standal 
um den Unzuchtskitzel zu eigen haben, während fie von der 
Commedis dell’ arte, welge, buch Lohnfpieler dargeftellt, 
gleichzeitig neben der claffijchen, von vornehmen Dilettanten 
gefpielten Komödie, als Bollefomödie einherging, den Stegreif- 
arakter in ber Zerfahrenheit der Gandlung und in der epifo- 
digen Buntheit der Scenenfolge zur Schau tragen. 

Im Gegenfag zu der claffifhen Commebia, die ſich 
borzugsweife nah dem Mufter der Iateinifchen palleata 
gebildet Hatte, fteht die Novellen«, Abenteuer» oder ro» 
mantifche Komödie, als deren erſte, „La Floriana’, von 
einem unbelonnten Verfaſſer genannt wird, während ber 
Hanptvertreter und eigentliche Schöpfer der Gattung Ber- 
nardo Xccolti ift, ein enthuſiaſtiſch bewunderter Gonetten- 
dichter. Die „Commedia Virginia” ift das Mufter diefer 
Gattung, die Shalſpeare fpäter mit allen Reizen und 
Farben dramatifh-romantifcher Phantafie ausgeſchmückt 
hat. Die „Hadriana” erinnert an „Ende gut, alles gut“; 





229 


und indem wir hier ein Gebiet zum Theil neu aufgefpürter 
Shalſpeare ſcher Stoffquellen betreten, wollen wir, ver 
führt durch Klein's Ercurfe, ebenfalls einen Excurs über 
Shalfpeare und bie noch weiterhin erfchlofienen Vorbilder 
feiner Mufe hier einfügen. 

Wenn man bisher die Thatfache, dag Shalſpeare feine 
Stoffe vielfach aus italienischen Novellen genommen hatte, 
tannte und feine betreffenden Ouellen ihm nachwies, fo 
erfehen wir aus dem Klein'ſchen Werke, das filr hie 
Shalſpeare » Gelehrfamfeit und ihren quellenfindenden 
Siderismus in vieler Hinſicht epochemachend ift, daß ber 
britifche Dichter auch italienische Dramen benugte, wie 
er vielfach ältere engliſche Dramen für die Bühne um« 
gearbeitet oder meu gedichtet hatte. Es ift aber eine weſent · 
lich andere Sache, ob ich einen in einer andern Dichte 
gattung ansgeprägten Stoff für die Bühne umpräge, 
oder ob ic; einen bereits in berfelben Dichtgattung ab» 
gefchloffenen noch einmal, mit Benugung meiner Borgän- 
ger, neu dichte. Im letztern Fall wird die Originalität 
des Dramatiferd und die Schranke zwiſchen Ueberarbei- 
tung und urfprünglicher Schöpfung zweifelhafter; ja, nach 
unfern Begriffen, welde die damalige Zeit nicht kannte 
und ein Bühnendirector am wenigften refpectirte, ift hier 
die Anklage des Plagiats berechtigt. 

Klein als ein Shaffpearomane de pur sang, befien 
Charakteriftit Shaffpeare’s ein hohes Lied der Apotheofe, 
ein geift= und begeifterungfunfelndes Feuerwerk zu Ehren 
des britifchen Dichter zu werden verfpricht, findet nicht 
nur in jeder diefer Aneignungen eine Verbeſſerung, er 
findet aud das ganze Verfahren fo felbftverftändli, daß 
er den britifchen Dichter nicht einmal in ber ſchuchtern- 
ften Weife dafür zur Ordnung ruft. Aus Ariofto's Luft- 
fpiel: „I suppositi“, hat Shatſpeare ben vierten Act für 
die „Bezäfmung der Widerfpenftigen“ in einer Weife be- 
nugt, daß Klein felbft fagt: 

Einen vierten Act, ben Shalfpeare ganz gewiß gebichtet 
hätte und fo, wie er da ift, gedichtet hätte, wenn er ihm nicht 
ion von feinem großen Kunfgenoffen Arioſto fertig vorfand 
und daher den ganzen Act, fammt Wurzelfafern, Erdkrümeln, 
frz mit allem, was drum und dran hängt, gleich ohne weiter 
tes als Epifode in fein Luffpiel: „Die gegähinte Widerfpenftige“ 
verpflanzen konnte. nnte es um fo bequemer, als Arioflo’s 
2uffpiel, „I, suppo: die Shaffpeare finngetren zu den 
Suppofiti feines Luſtſpiels machte, Ichon 1566 nad George 
Gascoignes’ Bearbeitung auf die englifche Bühne gelommen war. 

Klein führt dann fort: 

Aus Ariofo’s ewig grünem Blätterlaub ſolche Liebesblüten 
duften, aus Arioſto's üppigem Wipfel Shafjpeare’s eigenwlichſige 

ruchifülle hervorlachen und ſchwellen zu ſehen, iſt eine um fo grö- 
jere Merkwürdigkeit bei diefem Allaneigner (I) und Ummandfer 
von italienischen Novellen, engliihen Chroniken, alten Schar» 
teenftücen, furz von allen möglichen Stoffen in fein unſterblich 
Saft und Blut, ift eine um fo größere Merkwürdigfeit, ale er 
fonft auch in diefer Beziehung mit der ſchaffenden Natur wette 
eifert, deren Früchten und Blumen man es nicht anmerkt, daß 
fie ihre Nahrung aus Düngfloff, Wegwurf, aus Koth und 
Mober ziehen; fowenig wie man den buftig-zarten Roſenwäng⸗ 
lein eines ätherifh-feinen Furſtentindes den Kalbebraten an: 
merkt oder den Schnepfenertract; ſowenig wie man den Gter- 
nen die Erd- und Waſſerdünſte anfieht, durch melde fie fo 
lieblich funkeln und blitzen. Wenn fonft die gemeinen Kieſel, 
die Shatſpeare in fein Kunſtwerk einfügt, flugs als Edelſteine 
aufglühen, prächtig wie die an den Speichen und Felgen ber 
Wagenräder jener Cherubim in der Biflon des Propheten: foll 
man es nicht unbegreiflich finden, daß der Magiſter, der in „Der 








230 


Widerſpenſtigen Zähmung“ den Bincentio vorftellt, dem Siene- 
en in Arioſto's „I suppositi', desgleichen der Vincentio dem 
Siligono des Ariofle wie an den Augen abgejehen, daß bie 
ganze komiſche Eutwidelung der Arioft’ihen wie aus den Augen 
geftoblen ift; und daß trotdem die Epifode in Shalfpeare’s Luft- 
ſpiel ung mit Shakſpeare's feefentiefen Augen anblidt, die gleich 
denen ber indifchen Götter nicht zwinfern und nicht zuden? 

Weiterhin beißt es: 

Wir bervundern da8 Genie der komiſchen Erfindung bei 
Ariofto, und ftaunen feinem Plagiarius, der Krähe in Ariofto’s 
Bfauenfedern, nad, die als Phönix vor unfern Augen auf- 
fliegt in ihrem ureigenen Sonnengefieder. Für eine ſolche Kräbe 
erklärte befaumtlich der arme Robert Greene den jungen Shak⸗ 
fpeare zuerſt (an upstart crow beautified with our feathers); 
nur merkte der gute Greene nicht, daß in Bezug auf ihn und 
feine Genoſſen fi die Fabel umkehrte: Greene's Krähenfedern 
glänzte und verflärte Shalipeare zu herrlichfier Pfauenpracht, 
und da meinte die arme Krähe, das Juwelengefieder wäre ihres, 
und berief fi, als Beweis, auf ihre kahlen Stellen, ihre Krähen⸗ 
biößen, und ächzte und Trächzte über „an upstart crow beanti- 
fied with our feathers“. Nicht fange darauf rupfte der Wunder- 
vogel von Stratford am Avon gar einen ihm ebenblirtigen 
Sonnenflieger, rupfte Shalipeare gar unferm Ariofto ein paar 
der ſchönſten Federn aus. Aber wie eine Fackel die andere be- 
rupft und befliehlt, die ein wenig von ihrem feuer nafcht, und 
nun mit ihr vereint in felbigem Strablenglanz leuchtet. Aber 
wie ein Pfeilerfpiegel den andern, ihm gegenfiber, beftichlt, 
vor dem fich zufällig eine Schöne Hingeftellt, um ihre Toilette 
zu ordnen, und deren reigende Geflalt num beide Spiegel zu- 
mol, in unendlicher Wiederholung, zu einem unabjehbaren 
Bötterfaale voll Bimmlifher Schönheiten zaubern. 

Wohin reigeft du mich, Bachus? — kann man mit 
Horaz ausruſen. Welche funkenftiebende Bewunderung 
gegenüber ber einfachen Thatſache, daß Shakſpeare einen 
genialen Borgänger benutzt und geplündert hat. Die 
Epiſode aus ber „Bezühmung der Widerfpenftigen” verdient 
gewiß diefe Bewunderung nicht; fie gemahnt uns ftets 
etwas altfränfifch und verleugnet ihren italienifchen Urfprung 
nicht; es find Scenen, wie fie fpäter die opera buffa 
verwenbete. 

Ein „Allaneigner”, ein „Epitomator‘, wie Klein 
Shakſpeare an anderer Stelle nennt, ift nicht das Lob, 
das file einen großen Dichter paßt, dem auch die Gabe 
der Erfindung und ſelbſtſchöpferiſcher Geftaltung eigen 
fein muß. Wir befennen offen, daß, wenn man fo fort 
fährt uns die Borbilder der Shakſpeare'ſchen Dichtungen 
nicht nur vor Augen zu führen, fendern auch die Cha- 
raftere, bie Situationen, ja zum Theil die dichterifchen 
Gedanken bis auf die Ausdrudsform berfelben als ent- 
lehnt nachzuweiſen, wir einen beträchtlichen Theil der 
Shakſpeare'ſchen Dichtergröße ſchwinden fehen; denn die 
Grenzen zwifchen Aneignung und Schöpfung werden dann 
verwifcht, und wenn auc in ber Kraft der Aneignung 
für einen felbftändigen Stil und eine felbftändig tiefe 
Weltanfhauung noch immer eine urfpriimgliche Genialität 
liegt, fo fehlt doch eine große Seite dichterifcher Bedeu⸗ 
tung, welche die Erfindung der Geftalten und Situationen 
verlangt. Mindeftend wird man einen Theil der Shaf« 
ſpeare ſchen Dramen als halbe Bearbeitungen außfcheiden 
müſſen. Klein analyfirt uns Accolti's „Virginia und führt 
ben Nachweis, daß Shaljpeare das Stüd gelannt haben 
müfle; die Fabel, die Handlung find in feinem Luftfpiel 
„Ende gut, alles gut” ganz diefelben; aber Klein zeigt audh, 
baß die Monologe der Helena und der Birginia eine nahezu 
ähnlihe Empfindungs » und Gedankenfolge aufzeigen. 


Eine Geſchichte des italienifhen Dramas. 


„Es find Birginia’8 Stimmungen und Gefühle aus dem 
Igrifchselegifchen Ditavengang in den dramatifhen Ton 
und Schlüffel umgefegt und übertragen.” Auch in dem 
zweiten Monolog der Helena und Birginia find einzelne 
Gedanken der letztern „nahezu wörtlich” von Shakſpeare 
entlehnt worden. Die Charaktere der Heldinnen find 
einander ähnlich. Alles Gute und Nidjtige, was Ger 
vinus von Shaffpeare’8 Helena fagt, paßt, nad) Klein’ 
Anfiht, ganz genau auf Accolti's Virginia, „als hätte 
es Gervinus für diefe gefchrieben, von deren Eriftenz er 
doch nichts wußte‘. Noch viele Stellen, die faft ganz 
Paraphrafen find, werden von Klein mitgetheilt. “Die 
Abweichung von Accolti ift bei Shakſpeare nicht einmal 
immer glüdlih: Klein felbft muß zugeben, daß es viel 
zarter von Accolti gedacht ift, wenn Birginia ihren 
Herzerwählten im Vertrauen dem König nennt, welcher 
diefem ihre Wahl als feinen Wunſch mittheilt, als wenn 
Helena vor dem ganzen Hofe ausruft: „Das ift der Mann!” 
Wir Haben unſere Tegerifchen Bedenken gegen den viel 
gerühmten Aneignungs-Chemismus des großen Mifch- 
und Scheibefünftlers, gegen dieſen „Stoffwechjelprocch”. 
Was würde man heute von einem Dichter fagen, der in 
folcher Weife verführe? Der Ausſpruch: „Quod licet jovi, 
non licet bovi“, ift doch fein genügender Unterfcheidungs- 
grund; Klein’ überſchwenglicher Phraſenſchwall macht die 
Sache noch fchlimmer. 

Weitere Spuren, daß Shalſpeare nicht blos bie ita- 
lienifchen Novellen, fondern auch die italienischen Dramen 
benugt babe, entbedt Klein in Parabosco's Komöbie: 
„I viluppo“, in welcher der Page Brunello als das 
Borbild des Pagen Sebaftian (Julia) in Shakſpeare's 
Luftipiel „Die beiden Beronefer” gelten darf, in welcher 
ih der Entführungsanfchlag und die Doppelbewerbung 
findet. Auch einige Parallelftellen weift Klein nad), bie 
und fhlagend genug bedünken. Das alademifche ano⸗ 
nyme Luftfpiel: „Gl Ingannati” und Secco's Luftfpiel: 
„Gl Inganni” wurden von der englifchen Kritik als bie 
wahrſcheinlichen Quellen von Shaffpeare’s „Was ihr wollt“ 
bezeichnet, wegen ähnlicher darin vorfommender Charaktere 
und Incidenzen. Klein beftreitet dies nad Kenntniß- 
nahme von den Stüden; er findet die Aehnlichkeit nur 
in ein paar Pinfelftrichen von zweifelhafter Befchaffenheit; 
wohl aber Habe Shaffpeare durch Secco's „Inganni“ 
Anregungen zu einigen Situationen und felbft Charafter- 
zügen für ein anderes feiner Dramen: zu einigen intimen 
Scenen zwifchen Falftaff und feinem Liebchen in „Heinrich IV.“, 
wie auch zu den entiprechenden Borbellfcenen in „Maß 
für Maß“, in „Perikles“ u. f. f. gefunden. 

„La Hadriana‘, die italienische Romeo» und Julia= 
Tragödie von Groto, die erfte Dramatificung des Novellen- 
ſtoffs, enthält ebenfall® Scenen, in benen felbft der bich- 
terifche Ausdrud für Shakſpeare vorbildlich wurde und 
die Anklänge nachweisbar find. So bie Trennungsfcenen 
der Liebenden: 

Sabdriana. 
Wenn 


Latino. 
Doch irr' ich nicht, bricht ſchon der Morgen an. 
Horch auf die Nachtigall, die mit uns wacht, 


— — — — — — — — 


Erzählungen und Novellen. 


Mit uns im Haggebüſche feufzt. Der Frühthau 
Bereint mit unjern Thränen fi), wie er 
Die Gräfer nett. Ad, blid’ gen Often hin: 
Schon keimt das Morgenroth und führt ernent 
Herauf die Sonne, die befiegt doch bleibt 
Bon meiner Sonne. 
Hadriana. 

Web, ein Schauer faßt mich, 
Ein fröftelnd Beben! Dieſes ift die Stunde, 
Die anslöfht meine Wonne; dies die Stunde, 
Die mid, was Gram ift, lehrt. Misgönn'ſche Nacht! 
Barum enteilft du, flicheft du fo fchnell, 
Um did, und mid) mit dir, ine Meer zu ſtürzen — 
Dich in den Ebro, mich ins Thränenmeer? 
O du aus Neid befchleunigt Morgenroth, 
Das andern Licht, mir Finfterniß nur bringt, 
Tauſch um für mid) dein Amt, den Gang und Namen! 
D Licht, das Augen nur und Herz verjengt, 
D Mond, warum läßt du fo fchnell den Himmel? ... 

Es gemahnt uns dies fo befannt! Diefe Wendun- 
gen Hangen Shalfpeare im Ohr — und, wenn auch nicht 
gerade in der Balconfcene, jo finden fie fi an andern 
Stellen, namentli in ben Monologen der Julia. 
„Bieder ein Fall“, fagt Klein, „der uns Ichrt, wie 
Shalipeare entlehnte, Motive verſetzte, umſtellte, durch- 


Erzählungen 


Wenn Unterhaltungsichriften fih ale bloße Erzäh- 
fangen ankündigen — der Ausdrud „Novelle auf dem 
Titel einiger der vorliegenden Bücher fol wol aud) nichts 
anderes bedeuten —, fo ift allerdings der Maßftab der 
Arengern Kunſtkritik nicht anzulegen. Indeſſen verlangt 
man auch von einer Erzählung einen gewiflen Organismus, 
denn fie ſoll doch ein Mares, überfichtliches Wild der 
Phantaſie vorftellen und den Leſer fpannen; vor allem 
aber ift Wahrheit unerlaßlich, nichts darf mit Natur, 
Eittlileit und Berhältniffien in Widerfpruch ftehen. 
Ber das Leben poetiſch abipiegeln will, muß «8 mit 
feinem Mittelpunfte, dem menſchlichen Herzen, kennen ge 
lernt haben — eine einfache Wahrheit, und wie viel 
wird dagegen gefündigt! Solder Sünden laffen fid 
denn auch in den Erzählungen Nr. 1 und 2 mande 
entdecken. 

1. Die Wahnſinnige auf Aland. Novelle von Julius Wander. 

Dresden, Jänice. 1868. 8. 1 Zhlr. 

Ein Fiſchermädchen, Stina, hat ihren Jugendgeliebten, 
Konrad, verlaſſen und ſich mit einem andern, welcher 
das Handwerk eines Schiffszimmermanns gelernt und fid 
mehrfach gebildet hat, Ewers, verlobt. Kurz dor der 
Hochzeit geht diefer verloren; er ift im Kampfe mit See- 
räubern fchwer verwundet und gefangen worden. Die 
Braut ift untröftlich, und als eine Kartenlegerin ihr ver⸗ 
fündet, der ferne Geliebte fei ihr untren geworden, wird 
fie wahnfinnig. Nah und nad wieder zu Berftande 
gekommen, will fie ihren exften Bräutigam heirathen; da 
entbeet man, daß diefer die Briefe des Berjchwundenen 
an bie Braut unterfchlagen hat. Neuer Wahnfinn des 
Mäschene, in welchem fie den zurückkehrenden Ewers mit 
einem Meſſer ſchwer verwundet. Diefer war im Haufe 
des im legten Kampfe tödlich getroffenen Seeräuber- 


231 


einanbermifchte, da und dort einfügte, je nachdem er bie 
Farben aufzufegen Hatte.” „So wenig die Palette den . 
Künftler eines Plagiats befchuldigen Tann, fo wenig darf 
eine Borlage zu Shakſpeare's Dramen ein Eigenthums⸗ 
recht auf irgendwelche Stelle, irgendein Motiv geltend 
machen.” Wie? Sind denn bdiefe Gedanken eines Groto 
nicht ſchon dichterifch geformt? Und wer auch nur einen 
folhen einzelnen Gedanken wieder aufnimmt, macht der 
fih nicht einer unbewußten Reminifcenz oder eines be- 
wußten Plagiats ſchuldig? Klingt es nicht wie Hohn, 
wenn Klein Shakſpeare als ben umfaffenditen und tief- 
belefenften Forſcher aller ihm zu Gebote ftehenden, in fein 
Kunſtfach einfchlagenden Ducllen, als einen der größten 
Fachgelehrten feiner Zeit, als den gelehrteften aller dra⸗ 
matischen Dichter preift, blos weil er damals befannte 
Novellen und Stüde gelefen und, um für den Klein'⸗ 
ſchen Schwulft den einfachen Ausdrud zu feßen, geplün- 
dert hatte? 

Die blindefte Shaffpearomanie erfcheint bereits hier 
als eine bedenkliche Achillesferfe des Klein’fchen Werkes. 

Rudolſ Gottſchall. 
(Die Fortſetzung folgt in der nachſten Nummer.) 


und Novellen. 


fopitäns, der bald darauf ftirbt, genefen. Die Witwe 
erfennt in Ewers den Mann, mit dem fie vor Jahren 
flüchtige Belanntſchaft gemacht, und den fie feit der Zeit 
fortwährend geliebt Hat. Als nun nah Stina’s end- 
licher Senefung der Berlobten Liebe durch die fchlimmen 
Zwiſchenfälle erkaltet ift, heirathet Ewerd die Witwe, 
Stina den Jugendfreund. 

Umftändliher läßt fi ber Inhalt ber fehr bunten 
Geſchichte nicht angeben, ohne den geftatteten Raum weit 
zu überfchreiten, und es ift überhaupt ſchwer, mit we⸗ 
nigen Zeilen einen Begriff von dem Unnatürlichen, Un- 
wahren, Sinnlofen zu geben, was in der Ausführung 
der Gefchichte und in der Sprache herrſcht. Einige Bei⸗ 
fpiele werden genügen, um dies Urtheil zu begründen. 
©. 69 fg.: Der Hauptheld der Gefchichte, Ewers, liegt 
fchwer verwundet in dem Schiffe bes TFreibeuters, der ihn 
auf dem Wege von Stodholm angegriffen und beraubt 
bat. Jetzt wird das Raubſchiff von einem „Miniſterial⸗ 
kreuzer“ entdedt und eingeholt; es beginnt ein heftiger 
Kampf, die Räuber find dem Feinde nicht gewachfen, und 
gerade ift ein Soldat im Begriff, den Kapitän der Frei⸗ 
beuter zu tödten, da ſtürzt Ewers im Fieberparoxismus, 
nachdem er feine von außen verriegelte Kojenthür gefprengt, 
aufs Verdeck, ergreift den zu Boden geſtürzten, noch mit 
dem Kapitän ringenden Seefoldaten, „ſchwingt ihn vor 
fih body in die Luft“, ſtürmt fo dem Feinde entgegen, 
und jagt ihn, nachdem er nod den Srenzerkapitän 
getödtet, auf fein Schiff zurück, und der Geeräuber 
entlommt. 

Um fid für diefe ihm geleiftete Hülfe dankbar zu 
bezeigen, bewirkt der Seeräuberhauptmann kurz vor feinem 
Tode, daß Ewerd von ber „Marineverwaltung” zum 
Schiffskapitän ernannt wird! Die Witwe des Seeräubers, 


232 


welche fiir eine ausgezeichnete Frau gelten ſoll, kann ihrer 
Liebe zu Ewers, obgleich fie ihn verlobt weiß, nicht ent⸗ 
fogen und folgt ihm daher, von ihm nicht erfannt, ale 
Matroſe verkleidet. Später, als ſich das Verhältniß des 
Ewers zu feiner Braut getrübt hat und eine Verbindung 
faft unmöglich erfcheint, da will fie in ebler Selbſt⸗ 
verleugnung vermitteln. Die Tendenz des Buchs jcheint 
©. 133 ausgefprochen zu fein, wo die Mutter bie über 
ihr Beginnen und eine andere geringfügigere Täuſchung 
doch etwas beunruhigte Tochter mit den Worten tröftet: 
„Die Wege durch das Leben werden dem Weibe einzig 
und allein duch ihe Herz, aljo durch ihre Liebe be 
zeichnet, und daher muß die Stimme des Berftandes 
ſchweigen!“ 

Man kann iudeſſen in Zweifel ſein, ob die Unnatur, 
die in der Sprache herrſcht, nicht doch noch größer 
ſei. Dan leſe S. 14—16 den Monolog, welchen ber 
verſchmähte Liebhaber Stina's, ein einfacher Fiſcher, hält, 
ehe er ſich ins Waſſer ſtürzt; er beginnt: „Nacht! — 
Nacht! — ringsum entſetzliche Nacht! So nehmt mich, 
ihr finſtern Mächte! nehmt mich hin und befreit mich 
von meiner Qual! Ziſchet und rufet nur, ihr Geiſter⸗ 
ſtimmen! — Bald, bald werd' ich bei euch ſein. Ha! ha! 
Wo biſt du, himmliſche Gottheit“ u. ſ. w. Nachher: 
„Jetzt, wo ich hier mein eigner Herr und Meiſter bin, 
jetzt! rufe ich: komm heran, du großer Weltgeiſt! Hui! 
ich verhöhne dich“ u. f. w. Oder: „Lufliger Lanz! — 
Hochzeitstang! — Friſch auf, du feuchte Wogenbraut, 
ſchmücke deine Stirn mit filbernen Schaummellen! Ich 
komme, ich komme, du lechzende Schöne!” Wehnliche 
Stellen finden fid) in Dienge, 3. B. ©. 49—51, 78—93 
n. f. w., wo fie nachleſen mag, wer ſich au dergleichen 
ergögen kann. 


2. Eines Andern Fran. Eine Erzählung von Guſtav Höder. 
Eiberfeld, Lucas. 1868. 8. 1 Thlr. 


Ebenfalls eine höchſt unerquickliche Geſchichte. Elfried 
Stahlblüth, Prediger in einer großen Reſidenz, ein noch 
junger Mann aber fchon ausgezeichneter Kanzelredner 
und entfchiedener, bortrefflicher Charakter, macht zufällig 
die Bekanntſchaft eines Arztes der Stadt, wird mit deſſen 
Familie befreundet und erkennt in der Frau, Hedwig, ein 
bor vier Jahren von ihm confirmirtes Mädchen. Hedwig, 
welche der Prediger bei ber Einfegnung zum erften male 
gejehen, hatte auf ihn durch ihre Aehnlichkeit mit einer 
Schaufpielerin, welche er als Schüler geliebt, bejondern 
Eindrud gemacht, und fie felbft Hatte feit jener feierlichen 
Stunde eine tiefe Neigung für ihn gefaßt. Bei längerer 
Bekanntſchaft erfährt der Prediger, daß fie unglücklich 
verheirathet ift, und es bauert nicht lange, jo läßt fie ihn 
ihre Leidenjchaftliche Liebe deutlich erkennen; er liebt fie 
auch, weiß jedoch feine Neigung mehr zu befümpfen. 
Endlich, da ber Arzt, ein Böſewicht, nicht zu verbergen» 
der Verbrechen wegen flüchten muß, wird Hedwig des 
Predigers Gattin. 

Unendlih bunt ift bie nur 256 Seiten lange Er⸗ 
zählung, indem in die Geſchichte der Jugendliebe des 
Paftors zurüdgegangen wird und die hier erwähnten 
Perfonen auch nachher wieder auftreten; an jpannenden 
Situationen fehlt es ebenfalls nicht, und der gewöhnliche 


Erzählungen und Novellen. 


Lejerfchlag wird fie vielleicht intereffant nennen, ber 
die fittliche Baſis fehlt, und aus den Haupiperfonen ift 
etwas ganz anderes geworden, als der DBerfaffer beab⸗ 
fichtigte. Die Frau gibt fi) gar Feine Mühe, ihre Liebe 
zu dem Geiftlihen zu verbergen, und biefer Tüßt feiner 
Empfindung ebenfall® freien Spielraum und glaubt fei- 
nem Gewiſſen zu genügen, wenn er fie nicht zum Aus. 
bruche kommen läßt. Und diefer verliebte Prediger wird 
als Repräfentant ber freifinnigen Theologie und echten 
Frömmigkeit im Kampfe mit der ftarren Drthodorie und 
Scheinheiligkeit dargeftellt! Yon feiner Kanzelberedſam⸗ 
feit, welche fo fehr gerühmt wird, befommen wir eine 
wunderliche Probe. Der Anfang des Bude, ©. 1-5, 
gibt die Schlußworte „der ergreifenden Confirmationsrebe”, 
welche folgenden Ideengang enthalten: Der Frühling 
ift Schön (hier Heißt es z. B. „frühe Wandervögel, als 
wäre ihnen der deutjche Frühling eine Amneftie, die fie 
aus läftigee Verbannung zurüdruft, kehren wieder‘, 
ſchöner als der Frühling in feiner vol entfalteten Pracht 
ift fein erfles Erwachen; denn fo wie der Frühling fort. 
fchreitet, fterben fchon die erften Blumen dahin. Wie 
in der Natur, fo im Leben. Ihr fteht Heute auf der 
Schwelle der Verheißung (der Freuden und Genüſſe des 
Lebens). Gedenket daher biefer Stunde, und wenn ihr 
fpäter an biefem Tage die Gloden rufen Hört, fo Takt 
fie euch fagen, daß auch euch einft ein Frühling einge 
läutet wurde, wie er nimmer wiederfehrt. 

Man will faum feinen Augen trauen, wenn man 
lieft, daß das die Quinteffenz einer erbaulichen Confir- 
mationsrebe fein fol. Daß die Perfonen ber Geſchichte 
bin und wieder Fähigkeiten befigen, welche fie nad ihrem 
Bıldungsgange nicht Haben können, darf uns nicht wun- 
dern; der Dichter ift ja ein Schöpfer und maltet nad 
Laune! Hier kann bie oft erwähnte noch junge frau, 
die Tochter einer Hebamıne, welche unter den zerrüttetften 
häuslichen Verhältniffen aufgewachſen ift, über einen Brief, 
der ihr von ihrem Manne untergefchoben ift, fagen: „Diele 
glübenden Zeilen können unmöglich feine Erfindung fein —, 
id würde behaupten, fie feien irgendeinem Schrififteller 
entlehnt, wenn ich nicht zu belefen wäre, als daß ein 
jolher Meifter mir hätte entgehen können.” 

Bon der Sprache ift ſchon eine Probe gegeben. Der 
Verfaſſer will ſchön, will poetifch fchreiben, wenigſtens 
mit Schönen Stellen fein Werk aufpugen, fängt das aber 
fo ungefdidt an, dag man aus dem Buche eine Menge 
Redeweiſen auslefen könnte, welche in ftiliftifchem Unter 
richt als negative Mufter zu gebrauchen wären, wie fol 
gende: „Das Gold der Abendröthe hielt eine Zeit Tang 
nod, wie im Zodesfampf, die Herrjchaft des Tages auf- 
reht, bis am dunfelnden Himmel die Mondfichel ans 
ihrer bleichen Ohnmacht erwachte und, ihren filbernen 


‚Glanz entfaltend, die erften beherzteften Sterne her= 


auslockte.“ 


3. Die feindlichen Brüder. Erzählung von der rothen Erde. 
Bon Wilhelm Anthony. Aachen, Cremer. 1867. 8. 
15 Ngr. 

Das Buch enthält eine Keine anſprechende Erzählung, 
bie freilich nad) keiner Seite Hin bedeutend genannt wer- 
den Fann, aber eine wahre Erquickung iſt, wenn man fie 
nad den beiden vorigen Werken Tieft. Ein weftfälifcher 


” 


Erzählungen und Novellen. 233 


Banernfohn, ein braver Burfche, welcher zum Verdruſſe 
der Familie und des ganzen Dorf Seemann geworden 
ift, fehrt nach dem Tode der Aeltern in die Heimat zu« 
rüd, belaftet mit bem Verdacht eines Diebſtahls, der ihm 
jedod nicht hat bemwiejen werden können. Der Bruder, 
der Erbe des Hofs, meift den Zurückgekehrten, den er 
für einen Berbrecher hält, mit der ärgſten Härte von ſich. 

Diefer, der von jet an von allen Leuten des Dorfes 

wie ein Geächteter behandelt wird, finnt auf Race. Ein 

Mordverfuh, welcher von einer andern Seite auf den 

Bruder gemacht wird, ftimmt ifn um, und ald er bald 

darauf denfelben zum zweiten male in dringender Gefahr 

fießt, eilt er ihm zu Hülfe und rettet ihm das Leben. 
gest ift ihm aller Groll entſchwunden, und da zu« 
gleich feine Unfhuld an den Tag kommt, gelangt bie 
brüderliche Liebe gegenfeitig wieder zur volllommenen 

Geltung. 

Der Berfaffer bat ein fpecifiich frommes Element in 
bie Erzählung gebracht, welches fich jedoch keineswegs auf 
Iäfige Weife vordrängt, aber faft die pſychologiſche Wahr- 
heit beeinträchtigt hätte, denn der Seemann mußte fehr 
ihfimm erfcheinen, damit die Erneuerung feines Weſens 
recht Hexvortreten konnte; aber die ſchwarzen Rachegedan⸗ 
in, denen er nachhängt, find keineswegs durch feinen 
Charakter motivirt. 

4. Im Pfarrdorf. Erzählung von Wilhelm Jenſen. Ber 
lin, U. Dunder. 1868. 16. 15 Ngr. 

Eins der mittelmäßigern Werke des belannten Ber- 
foflers. Ein junger Menfch, welcher feine Studien voll- 
endet und als Naturforfcher große Reiſen gemacht Hat, 
fehrt in fein heimatliches Dorf zurüd und verlobt ſich 
mit feiner SJugendgefpielin; bald aber wird cr des Ber- 
hältniffes überdrüßig und folgt der neuerwachten Sehn- 
fuht, welche ihn ins Weite zieht. Nach zehn bis zwölf 
Jahren finden wir ihn als Profeffor in einer Univerſitäts⸗ 
fladt wieder, und der ziemlich ungezogene Jüngling tft 
nun ein eremplarifcher Mann geworben, deſſen äußere 
Erſcheinung fo bedeutend, daß „vor feinem Blicke“ felbft 
Leute, die ihn nicht perfünlich kannten, „die Augen nieder- 
ſchlugen und unwillkürlich haſtig an den Hut griffen”. 
Eine heftige Krankheit, in welche er verfällt, ruft die 
weit entfernte Bugendfreundin herbei, und nad feiner 
Geneſung begreift er, daß er nur fie lieben könne, worauf 
fie fih bald verftändigen. 

5% Auf dunkelm Grunde. rauengeftalten aus ber Franzö⸗ 
figen Revolution (1793). Novelle von Elife Polto. 
Leipzig, Dürr'ſche Buchhandlung. 1869. 8 1 Tür. 
7%, Nur. 

In ſtizzenhafter Darftellung, mit gewanbtem Griffel, 
wie er der Berfafferin zu Gebote fteht, wird ums bie 
Geſchichte der Liebe von drei idealen Frauengeftalten vor- 
geführt, welche, von den Greueln der Revolution erfaßt, 
zu Grunde gehen. Wohlthuend ijt der Eindrud nicht, 
weichen die Erzählung macht, wenngleid) in der treuen 
Liebe der rauen, welche im: Ungefichte des Todes nur 
um die Geliebten zärtlich bemüht find und in dem Ge» 
danken, mit ihnen zufammen zu fterben, alle Schreden 
des Todes überwunden haben, die verjühnende Idee 
liegen fol. 

1870. 15. 


6. Kleine Memoiren von Alfred Meißner Berlin, Leffer. 
1868. 8. 15 Nor. 

Sieben Feine Bilder und Skizzen, welde durch an⸗ 
Iprechende Darftelung und als „Erzählungen von Erleb- 
niffen‘ ein höheres Intereſſe gewinnen, als fie ihrem 
Stoffe nad) haben Fünnen. 

7. Aus dem jübifchen Volksleben. Gefchichten von Eduard 
Kulle Hamburg, 3 P. F. ©. Richter. 1868. 8. 
1 Thlr. 10 Nor. 

Die Helden vorliegender vier Erzählungen find Ber- 
fonen der niedern jüdifchen Vollsklafſe, fogenannte 
Schaderjuben, welche ſich hauptſächlich durch eine Menge 
jüdiſcher Ausdrücke, die, jedem andern Leſer unverſtändlich, 
eine Ueberſetzung in Parentheſe erforderten, als ſolche 
kundgeben. Ob es auch derartige Geſchichten geben 
müſſe, um die Gattungen des Romaus zu vervollſtändigen, 
ob es dieſer Form bedürfe, um unter den Juden echte 
Humanität, welche doch das letzte Ziel aller geiſtigen 
Beſtrebungen fein muß, zu fördern, fol bier nicht 
unterfucht werden; ob aber durch obige Productionen 
das Gebiet des Schönen bereichert werde, möchte ſehr 
in Trage fichen. Der Stoff der erften Erzählung 
„ Alt» Eifib wird tänzerig“ ift wenig anfprechend. 
„Ein Schnorrerfind” Taborirt an manchen pfychologifchen 
und ſachlichen Unwahrheiten, 3.8. ©. 19, 53—56, 58. 
„Juden⸗Chriſtel“ ift unendlich gedehnt; mehr als 50 Seiten 
weiß der Verfaſſer zu füllen, um zu ſchildern, wie ein 
verfchwenderifcher Bauer fein Vermögen durdbringt. 
Die gelungenfte Erzählung ift „Der Kunſtenmacher“, 
jedoch auch nicht ohne Unwahrfcheinlichkeiten, welche dazu 
der Geſchichte zur Bafis dienen; 3. B. ©. 57. Eigen- 
thümlich iſt es, daß der Berfafler die ausgezeichnetften 
Chriftenmäbchen fi in Judenjünglinge verlieben läßt. 

9, Hiſtoriſche Novellen aus der neueflen Zeit. Bon D. 
Kempner. Breslau, Heidenfeld. 1868. Gr. 8. 1 Thlr. 
22%, Nor. 

Die erfte Gefchichte, „Melanin”, hängt mit dem pol« 
nishen Aufftande von 1831 zufammen; die andern, 
„Politik und Liebe, oder: So war e8 vor zwanzig Jahren”, 
fpielt in einer Mittelftadt Deutfchlande und nimmt ihre 
Verwidelungen aus den politiihen Bewegungen bes 
Jahres 1848 Her. Wenngleich Geſchichtliches in den 
Erzählungen vorkommt und felbft zum Theil den Gang 
der Begebenheiten darin bedingt, fo können fie deshalb 
noch nicht geichichtliche Novellen heißen, denn fie find 
keineswegs wirkliche Gemälde jener Hiftorifchen Epochen. 
Aber wenn man auch von diefer Anforderung ganz und 
gar abjehen wollte, jo würden die obigen Producte, aud) 
nur als einfache Erzählungen betrachtet, doch nicht befrie⸗ 
digen können, denn dazu wäre wenigftend einc intereflante 
Darftellung erjorderlich; dieſe aber ift fo dürr und fo 
kahl, daß felbft das Spannende, was in den Geſchichten 
liegen könnte, dadurch, abgefhwächt wird. Dazu leidet 
noch der Vortrag an Heinen Ungenauigkeiten, Widerſprüchen 
und trivialen Redeweifen, 3. B.: „Ich fuchte und fand 
Zerftreuung (der Redende erlernt die Landwirthſchaft) 
in den Wifjenfchaften, die ich gemwiffermaßen als eine 
Aegide betrachtete gegenüber den trivialen Berufsgeſchäf⸗ 
ten, die mir oblagen. So lebte ich Höchft gelangweilt, 
bis“ u. |. w. 

30 








234 


9. Wenn das Heimweh kommt. Drei Novellen vom Berfaffer 
des Bilderbuchs eines armen Studenten. Berlin, A. Dunder. 
1868. 16. 15 Nor. 


In drei Heinen Erzählungen werden theils flizzenartig, 
theils umftändlicher Bruchftüde aus Lebensgefchichten ung 
vor die Augen geführt, in welden das ftille tiefe Weh 
des menfchlichen Herzens uns anſpricht. In der zweiten 
Erzählung „Helene“ ftört ein greller Miston (S. 77), 
der nicht zum Charakter der Heldin flimmt, die weh- 
müthige Empfindung. 


10. Novellen von Robert Griepenkerl. Braunſchweig, Graff 
und Müller. 1868. 8. 1 Thlr. 


Die hier aufgerollten Gemälde verrathen eine nicht un- 
geſchickte Hand; bie VBorzeichnungen ſcheinen aus Caprice 
oder Gefchmadsverirrung hervorgegangen zu fein. Sehr 
unpaſſend ift die Erzählung „Bella“ an die Spite geftellt, 
fie könnte von der weitern Lektüre des Buchs zurüd« 
fchreden; fe ift für Leer, die nur noch durch Pilantes 
können gereizt werben. ine verbuhlte Generalin, ein 
fiederlicher Aſſeſſor und ein leichtfinniger Graf als ihre 
Courmacher im fhlimmften Sinne des Wortes, ihnen 
gegenüber ein reizendes unſchuldiges Mädchen in einer 
Thierbube, welches von einem jungen polnischen Edelmann 
verführt wird, find die Handelnden, außer dem Löwen, 
dem Jaguar und dem Tiger, welche die Kataftrophe her⸗ 
beiführen, indem der Löwe das Mädchen todtbeißt, der 
Jaguar den Grafen padt, worauf auch die Thiere nebft 
der Generalin umlommen duch die Yeuersbrunft, welche 
gleichzeitig in der Menagerie ausgebrochen if. Die 
Sprache ift eines ſolchen Inhalts würdig, unnatürlich, 
ſchwülſtig, mitunter bis zur Unverftändlichlet. ©. 22: 
„Der holte, ein anderer Prometheus, aus den Schachten 
der Erbe die feit Yahrtaufenden in erfalteten Gaſen 
fchlafenden Fener und fprengte fie auf die Gefieder der 
beflügelten Welt, daß fie die Luft erflillen mit bem Glanze 


Zur Ueberfeßungsliteratur. 


Ichendig geworbdener Smaragden, Ametbiften, Rubinen, 
Topaſen, Saphiren, Chryjolithen, Chryfoprafen und 
Zürkifen? Wer tauchte diefe Sittiche in das Phosphor. 
leuchtende Meer und in die ftille Pracht feines bimmel- 
geborenen Ultramarins?” — ©. 41: „In Zenith ber 
Thierbude ftand Venns, einer ber fchönften, von der 
Sonne à jour gefaßten Demanten des Himmels. Wonne⸗ 
ſchauernd fog fte in ſich Hinein ihr blänliches Licht, um 
e8 wieder auszuſtrahlen in Tichtgelben Bligen, ein pradt- 
voller Topas. Weißwollige Schäfchen lagerten umher, 
auf ihrem Rüden roth geftreift von Luna, ber keuſchen 
Schäferin.” S. 52: Die Thiere der Menagerie werden 
unruhig; da heißt es: „Zittert, Tyrannen der Erbe! 
Die Türften der Wälder, Werkzeuge in Gottes Hand, 
lehnen fih auf, und die Elemente zerreißen ihre Fetten 
wie Spinnweb, daß der Menſch nit mehr troße auf 
Erden.” ©. 54: „So ftarben die gefangenen Fürften 
der Wälder, majeftätifch wie die Cedern, wenn fie der 
Blitz enttäront unter dem Orabgeläute des Donners. 
So ftarben die gefejlelten Segler der Lüfte, todestrunken 
wie die Wolfen, wenn fie zergehen in ben Glutſtrahlen 
der Sonne. Aber wiflet, der Paradiesvogel Neuguinens 
bereitete jein Aſchenlager auf dem zufammengefallenen 
Zwinger bes Löwen und ftarb mit dem Welttraume bes 
Sonnenvogel® Phönix!” 

Die zweite Erzählung: „Ein Ueberlebender”, ift befier; 
das Geheimniß indeſſen, worauf alles beruht, fcheint 
gezwungen feitgehalten; auch find die Farben oft redt 
grell. „Schloß Dornburg“ ift fpannend; aber Charaktere, 
wie fie hier gezeichnet find, wird es in ber Wirklichkeit 
fchwerlich geben. „Der dreizehnte December” ift eme 
Heine biftorifche Erzählung, die fich recht gut lieſt. „Die 
Verſchüttung“ ift noch kürzer und behandelt ein Thema, 
wie es der Titel benennt. „Die Edelknaben“ ift eine 
Allegorie, in ber fih Bild und Gegenbild ſchwer ver» 
einigen laſſen. 


Zur Veberfegungsliteratur. 


Bedenkt man, wie allgemein verbreitet heutzutage bie 
Kenntniß der nenern Sprachen ift, fo muß es in der 
That befremben, daß die Uebertragungen aus denſelben 
ind Deutfche noch immer, ja jet wol mehr als je, bei 
und fo üppig wuchern. Man kann es ſich faum erklären, 
fie wen diefe Bermittelungsverfuche eigentlich beftimmt 
fein. Jetzt, wo jeder halbweg Gebildete mindeſtens eng⸗ 
liſch und franzöfifch verſteht oder doch gelernt Hat, follte 
man glauben, es können für UWeberfegungen aus diefen 
Sprachen kaum noch Leſer gefunden werden. Und doch 
muß dem fo fein, fonft würden bergleichen Erfcheinungen 
bald vom Büchermarkte verſchwinden; denn auch bier 
richtet fi) da8 Angebot natürlich und ebenjo ftreng wie 
in andern Artifeln nad der Nachfrage. Soll man die 
Thatfache beklagen, oder joll man ſich freuen, daß, bei aller 
Berbreitung des Stubinms der neuern Sprachen, ber 
ſchwierigen Ueberſetzungskunſt, von welcher gerade die 
deutfhe Literatur ſolche Meifterwerke aufzumeifen hat, 
noch immer Gelegenheit zur Uebung geboten wird? Bei 


reiflicher Ueberlegung wird man ſich wol fürs letztere ent- 
ſcheiden müſſen; denn eine fo gründliche Kenntniß ber 
Sprachen unferer Nachbarvölker, wie fie zum wahren 
Genuß ihrer zumal poetifchen Schöpfungen erforderlich 
ift, wird fi im allgemeinen fchwerlich erzielen lafien, es 
fei denn auf Koften der Mutterſprache, was fein Ber- 
nünftiger wünſchen oder verlangen wird. Unter fo be» 
wandten Umftänden werden wir alfo gelungene Vermitte⸗ 
lungen gebiegener Werke fremder Nationen auch jet noch 
willfommen heißen und denen, welche fich diefer ſchwieri⸗ 
gen und im Grunde wenig lohnenden Arbeit unterzichen, 
dankbar fein müſſen. Bon ſolchen Berfuchen Liegen uns 
die folgenden Nummern vor: 

1. Billiam Cowper's ausgewählte Dichtungen. Ueberſetzt 
von ri ifhelm Borel. Leipzig, Naumann. 1870. Gr. 16. 
Diefer vollsthümliche Dichter Englands erfcheint hier 

zum erften mal in beutfchem Gewand; und wie er ber 

Zeit nach der erfte von den hier zu befprechenben ift, fo 


Zur Meberfegungsliteratur. 235 


it er auch ihr eigentlichen Vorgäuger was die Art feiner 
Dihtung betrifft. Er nämlih ift es, dem das Ver⸗ 
bienft zuerfannt werben muß, bie bis in die Mitte des 
18. Jahrhunderts hHerrfchende Kunſtpoeſie verdrängt und 
die Naturdichtung angebahnt zu Haben. Ohne ihn würde 
England vielleicht Teinen Wordsworth und ebenfo wenig 
einen Tennyſon befigen. Er ſelbſt bat eigentlich in ber 
englifchen Literatur Feinen Vorgänger gehabt, denn die 
geſammte Iyrifche Dichtung Englands vor ihm war, mit 
nur einzelnen wenigen Ausnahmen, bloßes Kunftprodnct. 
Selbſt Shakſpeare's Herzensergüffe — wenn feine So— 
nette wirklich folche find — find nie ins Volksbewußtſein 
gebrungen, vielleicht eben ber Fünftlichen Form wegen. 
Die einzige Volkspoeſie Englands vor Comper, nimmt 
man Marlowe’ „Come live with me” und einzelne 
Lieder von Robert Herrid aus, hat daher in ben Balla- 
den beftanden, und derart ift die Lebenskraft ſolcher Pro- 
ducte, daß, als fie durch die Herausgabe von Percy's 
„Reliques" dem Bolfe wieder von neuem zugeführt wur» 
den, fie, wie in Deutſchland, auch in ihrem Baterlande 
eine neue Poeſie ind Leben riefen, wie fie England bis 
dahin nicht gefannt Hatte. Hatte fich feitdem ein Mittel 
fand herangebildet, der an ber frühern Hof- und Ritter 
poefie feinen Gefallen finden konnte, fo mußte aud) ein 
entfprechender Dichter erftehen, um ber neuen Klafje zu 
genügen, ihren Gefühlen Ausdrud zu verleihen, ihre 
Sprache zu fprechen. Und fo hat man William Cowper 
nt Recht ben „Dichter bes Mittelftandes” und feine 
Dihtung die „des Stillebens” genannt. Es Heißt von 
ihm bei Chambers: 

Bir Haben größere uud erhabenere Dichter ale Cowper, 
aber feinen, der jo gänzlich mit unferm täglichen Dafein ver- 
wachſen, jo boliftändig unfer Freund, unfer Begleiter in der 
Baldeinfamleit und in Augenbliden des eruften Gedankens 
wäre. Wir finden ihn ſtets janft und liebevoll, felbft in feinen 
vorübergehenden Anfällen afcetiiher Dunkelheit — einen reinen 
Spiegel von Liebe, Bedauern, Gefühlen und Wünſchen, bie 
wir alle gehegt haben oder gern begen möchten! Shalſpeare, 
Spenfer und Milton find Geifter ätherifcher Art; Cowper aber 
iR ein unmwanbelbarer und werthvoller Freund, deffen Gejell- 
ihaft wir mol zuweilen für die glänzenderer und anziehenderer 
Genoſſen vernadhläffigen mögen, defjen nie wanlende Treue aber 
und Reinheit des Charakters, mit reichen geifligen Gaben ver- 
bunden, im fillen fich uufer immer wieder bemädhtigt und uns 
auf immer mit ihm verbiudet. 


Kann man wol einem Dichter Größeres nachrühmen? 
Unter den heutigen deutſchen Dichtern könnten wir nur 
etwa Seibel ihm an die Seite ftellen; doch ift auch diefer 
fo volksthümliche Dichter nicht entfernt in dem Maße ins 
Bolt gebrungen wie Cowper, defien Berfe vollftändig fo 
Semeingut in England find wie in Deutfchland vielleicht 
une Schillers. „Ihm war e8 übrigens vergönnt“, be⸗ 
merkt Borel, „ſchon bei feinem Leben die Volksſtimme filr 
fi zu gewinnen. Die Leute von Gefhmad lafen ihn 
ber Anmuth feines Stils, die Denker feiner religiöfen 
Tiefe wegen”, und wie bei feinen Lebzeiten, fo lad man 
ihn auch noch lange nad) feinem Tode, und keiner ber 
nenern Dichter bat fein Andenken zu verdrängen ver⸗ 
mocht, jo fehr find feine Gedanken, feine milde Weisheit, 
feine der Tiefe des Herzens entflammenden, anſpruchsloſen 
Dichtungen in Fleiſch und Blut des Volls übergegangen. 
Er ift vorzugsweife der engliſche Familiendichter, Ihe poet 


of the fireside, geblieben, und wir flimmen mit bem Ueber⸗ 
jeger überein, wenn er jagt, Cowper fei ein bem deut⸗ 
hen Bollögeift verwandter Dichter. Wenn er aber hinzu» 
fügt, er verdiene deshalb um fo mehr, in Deutfchland 
befannt zu werben, „als wir nicht das Glück haben, daß 
einer unferer großen Claſſiker auch ein ernfter Chriſt war 
und in allen feinen Schöpfungen file jedes Ohr in der 
Familie, auch für das kindliche, taugt”, fo müſſen wir 
befürchten, wir haben es mit einem Pietiften zu thun, 
dem, wie einft den Buritanern in England, die echte 
Kunft ein Abfchen ift und dem eine fromme Hymne höher 
fteht als eine Horaziſche Ode oder Goethe's Fifcherlied. 

Gegen eine ſolche Auffafjung unfers Urtheils über 
Cowper müflen wir entfchieden Verwahrung einlegen. Eine 
derartige Gefchmadsverirrung möchten wir uns nicht zu 
Schulden kommen laffen, wenn wir dem Dichter, den wir 
gern mit dem Ueberſetzer als „harmlos“ bezeichnen wollen, 
fein ihm gebührendes, aber auch nicht mehr als fein ihm 
gebührendes Berdienfl zuertennen. Biographen und Ueber- 
jeger, die fih in ihren Gegenftandb vertieft und mit Herz 
und Seele eingelebt haben, verfallen leicht in den hier 
gerügten Irrthum; fie verlieren die Klarheit des Urtheils 
und find mehr oder minder verbiendet. Die Kritik aber 
darf nie vergefjen zu fcheiden; denn das eben ift ja ihre 
Aufgabe: fie muß ſtets befonnen genug bleiben, um das 
richtige Maß im Lobe ebenfo wie im Tadel einzuhalten. 
Eine gerechte Kritik barf eben weder unter» noch über⸗ 
jhägen. Dies ift zwar ein Gemeinplag, doch mußte 
bier nothiwendigerweife daran erinnert werben. 

Was nun die Mebertragung felbft anlangt, fo ift fie 
durchweg als gelungen zu bezeichnen; fie ift glatt und 
ſauber und bat es verftanden, den Ton bes Driginals 
jo genau wie möglich anzufchlagen. Hingegen befchränft 
fich die Auswahl nur auf die Heinern Gedichte Cowper's, zu 
denen doch felbft die berühmte Baflade von „John Gilpin‘, 
die vorzüglich wiedergegeben ift, gezählt werden muß; 
von feinen größern Sachen jedoch, alfo von dem, maß, 
wie Borel in ber Einleitung erwähnt, Coleridge „a divine 
chit-chat‘, „ein göttliches Geplauder”, genannt hat, ent- 
hält der vorliegende Band nichts. Vielleicht beabfichtigt 
ber Ueberfeger, das Berfäumte in einem zweiten Bande 
nachzubolen und dem deutfchen Publitum wenigftens aus- 
zugsweiſe „The Table Talk“, „Tbe Task“ u. f. w. vor⸗ 
zulegen. Erft dann nämlich würde das beutfche Urtheil 
dem Dichter gerecht werben können. 


2. Lieder und Balladen von Robert Burns. Deutich von 
a oh Laun. Berlin, Oppenbeimer. 1869. ®r. 8. 
gr. 


Längft feft und wohlbegründet ſteht diefes Urtheil auch bei 
ung über den fchottifchen Sänger Robert Burns, und es wäre 
überflüffig, bei biefem Dichter des Längern zu verweilen. 
Ein Genius erften Ranges, fteht er unerfchüttert im Tem⸗ 
pel des Ruhms, und weder Zeit noch Mode wird ihn 
je aus feiner Nifche verdrängen. Kein Wunder, daß er 
fortwährend bie Weberfegungsluft unferer Landelente an- 
regt. Erſt vor fünf Jahren brachte die hildburghauſenſche 
Sammlung eine treffliche Uebertragung einer größern Zahl 
der Lieder Robert Burns’ von Karl Bartſch, und abermals 
liegt eine folde Auswahl — denn das find fie, obfchon 

30 * 












238 


feine von beiden fi) fo nennt — mit einer recht ſach⸗ 
fundigen Einleitung vor. Belanntlih wird Burns ftets 
als unmittelbarer Nachfolger — eigentlich, follte e8 heißen 
als geiftesverwandter Zeitgenofle — des eben beſprochenen 
Cowper genannt. Ob er diefen ebenfo gelefen und ge- 
witrdigt hat, wie diefer ihn, ift nicht mit Beftimmtheit 
anzugeben, obwol erfteres jedenfall angenommen werden 
darf. Wie dem indefien auch fei, fo ift das Zuſammen⸗ 
treffen des Schotten mit dem Engländer in der Richtung 
aufs Natürliche gewiß nur ein rein zufälliges, und fo 
fiimmen wir mit Laun überein, wenn er jagt: „Burns, 
ohne alle literariſche Tendenz und blos den Eingebungen 
feines Genius folgend, hat mit dem Zauber feines Wohl« 
laut8, feiner Friſche und Natürlichkeit nad) einer langen, 
öden Periode die Herzen wieber zu treffen und zu rühren 
gewußt und gezeigt, was wahre Lyrik iſt.“ 

Nur wollen wir damit nicht wieder unfer Urtheil über 
Cowper umftoßen und Laun au, darin beipflichten, wenn 
er don biefem fagt, er konnte wegen der Rauheit und 
Härte feiner Form nicht durchdringen. Die Literarhiftos 
riker fündigen nur zu oft durch ihren Schlendrian, durch 
die Art und Weife ihres Schematifivens. Bei gleichzeiti= 
gen Größen namentlich kommt ficher ſtets einer zu kurz: 
ungefähr fo wie man von den Ehen jagt, es fei ſtets 
eine Hälfte die betrogene. Kin Shakfpeare verduntelt, ob 
mit Recht ober Unrecht das wollen wir hier ganz dahin- 
geftelit fein laſſen, alle feine Zeitgenofjen; wie lange bat 
man fich nicht bei uns darum geftritten, ob Goethe oder 
Schiller der größere Dichter fei; neben bem im heutigen 
England faft alle Aufmerkſamkeit in Anſpruch nehmenden 
oder in ber Mode feienden Tennyſon kann kaum ein an« 
derer Dichter auflommen, und wir haben es erlebt, daß 


ein fonft gar tüchtiger Kenner der englifchen Literatur in |. 


Deutſchland den genialen, neue Bahnen brechenden Swin⸗ 
burne, der in feiner „Atalanta” ein fo glänzendes Zeugniß 
feiner dramatischen Begabung abgelegt, zu den Nachtre⸗ 
tern des „Poöta laureatus“ gezählt hat. Durch die Sucht 
zu Haffificiren, wird man ſelten dem einzelnen geredit. 
Man urtheilt fo gern nad) der Schablone — wo bliebe 
fonft da8 Syftem, was würde aus der Titeraturgefchichte 
werden? War ſchon Cowper nicht unterzubringen, war 
er ein Dichter, der feine eigenen Wege — die Wege bes 
Herzens — wandelte, fo ift Burns vollends incommen⸗ 
furabel, wie e8 jeder echte Genius iſt. Er mußte fingen, 
wie es die Nachtigall im Walde muß, weil fie nicht 
anders kann. Ein folder Sänger läßt ſich nicht klaſſi⸗ 
fieiren — er ift eben er felbft: er ift Robert Burns. 

Iſt es aber richtig, daß auch der Genius jedesmal 
ein Kind feiner Zeit ift, fo leidet der Sat infofern auf 
Burns Anwendung, als „bie Poefie”, wie Laun mit Recht 
fi äußert, „den Schotten immer Herzensſache geblieben 
war. Sie lebte, als Burns geboren wurde, zugleich mit 
den Hiftorifchen Erinnerungen und Xraditionen, in den 
MWeifen der alten Minftrelgefünge und den neuern Jako— 
bitenliedern noch fort, fie waren Fein todter Schag, der 
Mund des gejangsfreudigen Volls hatte fie lebendig er- 
halten, und gerade dadurch, daß Burns an das im Volle 
no Borhandene anknüpfte, ift er fo volksthümlich ge⸗ 
worden.” 

Nah dem Urteil Carlyle's, der in den „Liedern“ 


.y PEarE EP 


Zur Ueberfegungsliteratur. 


die au@genrbeitetften und vollftändigfien Yeiftungen bes 

Dichters findet, hat Laun fich bei feiner Ueberfegung meift 

auf diefe bejchränft: einige Balladen find wol aud) mit 

aufgenommen, das Meiſterwerk Burns’ aber, fein „Tam 

O’Shanter”, vermiffen wir auch hier wieder. Daß es übri« 

gend dem Ueberſetzer gelungen, „nebft Siunestreue einiger- 

maßen die Melodien des Schotten im reinen Fluß eines 
dem bdeutfchen Ohr wohltönenden Liedes durchklingen zu 
laffen”, wollen wir ihm gern bezeugen. 

Daſſelbe können wir den beiden nüchſten Berfuchen, 
die noch zu befprechen erübrigen, nachrühmen. Es find: 
3. Enoch Arden. Ein Gediht von A. Tenuyfon. Ueber⸗ 

Ieht mon 5.8. Weber. Leipzig, Naumaun. 1369. Gr. 16. 

r. 

4. —* Held von Alfred Tennyſon. Aus dem Eng⸗ 
Tifchen Übertragen von H. X. Feldmann. Mit einem Bor- 
wort von Emanuel Geibel. Hamburg, Grüning. 1870. 
16. 15 Nor. 

Für erfteres fehlen uns die zahlreichen Vorgänger zum 
Bergleih. Möglich, dag ein folder ein noch günftigeres 
Urtheil für den Ueberfeger ergeben dürfte; wo aber fo 
tlihtige und bewährte Dichter mit ihm um die Palme 
ringen, dürfte der Vergleich auch anders ausfallen und 
das Sprichwort fi bewähren: „Der größte Feind des 
Guten ift das Beſſere.“ Wir fagen blos: dürfte, wäh- 
rend und vielleicht Hier die befte Uebertragung vorliegt. 
Jedenfalls beweist die Widmung an des Ueberſetzers Gat⸗ 
tin, daß er den Geift bes Gedichts richtig erfaßt hat. 
Sie lautet: 

Im ſchlichten Buch ein einfach fchlichtes Lied! 
Ein Bud, das recht zu unſerm Hausrath paßt, 
Zu Eid’ und Eiche, wie zn Woll’ und Leinen; 
Ein Bud), jo ſchlecht und recht wie bu und ich 
Und unfre lieben zwei: Gott fegne fie 

Und fegne fie mit fiebenfahen Segen! 

Ein Lied, das felbft des Reimes Put verjchnäht, 
So einfach) wie des Dorfes Abendläuten, 
Wenn Scnjenwegen von den Wiefen klingt; 
So einfady wie die Blumen, bie dort fallen, 
Bom fcharfen Hieb des fcharfen Stahls gemäht: 
Orchis und Schadtelhalm, Caltha und Kreffe. 
Wohl dir, du gute Frau, wohl dir und mir, 
Daß unfer Herz noch bebt beim Abendläuten, 
Daß unfre Augen froh gerührt noch fehen 

Der armen Wiefe reiche Gotteswunder: 

Orchis und Schadtelhalm, Caltha und Kreffe. 

Bom legten Gedicht des „Po&ta Laureatus” (Nr. 4) 
jagt Seibel im Vorwort: 

Schon öfters hatte ich mein Bebauern barliber ausgeſpro⸗ 
hen, daß gerade dies bedeutende, für Tennyſon's Eigenthlemtich- 
feit fo bezeichnende Werk von feinem der bisherigen Ueberſetzer 
berüdfihtigt worden, als mir zu meiner Freude im Laufe des 
vergangenen Frühjahrs die nachſtehende, in jeder Hinficht ge⸗ 
Iungene Verdeutſchung von Freundeshand mitgetheilt wurde. 

Wir freuen ung um jo mehr über Geibel's Beurthei⸗ 
lung dieſes befondern Gedichts, als wir gleich nach deffen 
Erſcheinen dafjelbe Urtheil in der „Nordifchen Revue‘ 
gefällt und fein Bedauern ſeitdem getheilt haben. Ebenſo 
erfreulich aber iſt e8 ung, daß Geibel diefelbe Anficht 
über Tennyſon als Dichter überhaupt hegt, die wir be= 
Kan bei mehrern Gelegenheiten ausgefprochen haben. Er 
agt: 

Zennyjon ift fein bahnbrechender Genius, wie fie zumeift 
nur im Beginn auffleigender Literatnrepochen hervortreten; ex 





Lin a — — 


Philoſophiſche Schriften. 237 


trägt durchaus den Stempel einer ellektiſch gewordenen Zeit. 
Aber er ift eim fchönes, vielfeitig durchgebilbetes Zalent, ein 
fiebenewürdiger Charakter, ein gewifjenhafter Künftler.... Zu 
Byron verhält er fih etwa wie Mendelsfohn zu Beethoven. 

Bon der vorliegenden Dichtung bemerkt er: 

Zu der umfangreihften und intereffanteften diefer focialen 
gebensbilder gehört das Gedicht: „Aylmer’s Field”... Aus 
gezeichnet durch poetiiche und vhetoriiche Gewalt wie durch glän- 
zende Charalteriſtik behanbelt es die in ‚,Lodsley Hall’ lyriſch 
durchgeführten Motive in erſchütternder Erzählung Ein er 
greifenderer Proteft wider die Unnatur erflarıter Menſchen⸗ 
ſatzung ift wol faum aus der Feder eines Dichters gefloffen. 


Unfere Worte in gedachter Revue Tauteten: 


„Ayimer’s Field’ ift eine erfchlitternde, hochtragiſche Er» 
zählung, die, als Strajpredigt gegen den Götzendienſt, der mit 
dem Dammon getrieben wird, nad) unferm Dafürhalten eine 
der wicdtigften focialen Fragen behandelt. Der ganze Zauber 
Tennyſon'ſcher Poefie ift fiber diefe Erzählung ergofien; keine 
Härte ſtört ben melodifhen Fluß oder verunftaltet das Ebenmaß 
diefer ſchwungvollen Berje, und die bilderreiche Sprade iſt von 
einem Schliff, der faft alles von ihm bisher in diefer Bezie⸗ 
bung ©eleiftete übertrifft. 

Und fo wollen auch wir diefe Berdeutfchung mit Geibel 
dem deutfchen Lefer empfehlen und ihm verſichern, daß er 
ihr „manche genußreiche Stunde verdanken‘ werde. 

David Afher. 


Dhilofophifche Schriften. 


1. Die pfychophufifche Bewegung in Rüdficht ber Natur ihres 
Snbftrate. ine fritifche Unterfuhung ale Beitrag zur 
empirischen Pfgchologie von Otto Caspari. Leipzig, Boß. 
1869. Gr. 8. 18 Ngr. 


Eine fleißige und achtungswerihe Studie mit voll» 
fländiger und kritiſch gewandter Benugung der einfchla- 
genden Literatur. Neue leitende Gefichtspunkte oder tiefe 
Ideen werden freilich nicht zu Tage gefördert, aber der 
Laie belommt einen guten Weberblid über das gegenwär- 
tig fo wichtige Gebiet derjenigen Refultate ber Phyſiologie 
und Pſychophyſik, welche geeignet find, Schlüffe auf die 
Art des Zufammenhangs und der Beziehungen zwifchen 
Leib und Seele zu geftatten. Der Verfafler, welcher 
ebenfo wol dem Dualismus, der Leib und Seele als 
heterogene Elemente einander entgegenjegt, wie der ums 
motivirten ( Fechner'ſchen) Inbentification des individuellen 
Leibes mit der individuellen Seele entgegentritt, ſucht mit 
Recht das einende Band in einer wefensgleihen Beſchaf⸗ 
fenheit beider Theile ober Seiten. Er acceptirt einen 
dhnamifchen Atomismus, der ſich auf Fechner und Ulrici 
fügt, und betrachtet im Anfchluß an die Leibniz⸗Herbart'ſche 
Philoſophie bie Seele ebenfalls als ein ausdehnungslojes 
punktuelles Kraftweſen, als ein pfüchifches Atom, das 
irgendwo im Leibe feinen Sit haben muß, aber mit 
der Fähigkeit der Ortsbeweglichleit ausgeftattet iſt. 
Wenn der Berfaffer der Erwägung Raum geben wollte, 
daß denjenigen Sraftwejen, die man materielle Atome 
nennt, nur deshalb ein punftueller Sig im Raume zu- 
geichrieben wird, weil ihre räumlichen Kraftwirfungen bie 
Eigenthümlichkeit haben, fich in ihren ibeellen Berlän« 
gerungen nad; rückwärts in einem imaginären mathema- 
tiſchen Punkte zu ſchneiden, daß aber den räumlichen 
Kraftwirkungen der pſychiſchen Kraftweſen diefe nähere 
Beſtimmung nicht zufommt, fo würde er fid) der Noth- 
wendigfeit überhoben jehen, der bloßen Analogie und 
Gleihartigkeit zu Liebe die unräumliche Seele an einen 
räumlichen Punkt zu bannen, der im Leibe fpazieren gebt, 
und wilrde die Gleichartigkeit des Geiftes und der Ma- 
terie al8 an umd für fi unräumlicher aber räumlich 
wirtender Kraftwefen erfennen. Es ift kaum zu glauben, 
daf beinahe ein Jahrhundert nach Kant's „Kritik der reinen 
Bernunft“ eine zahlreiche Schule von Gelehrten ſich nod) 
über den „Sit der Seele den Kopf zerbriht und noch 
immer mit den alten Kategorien der Wolf’fchen rationalen 


Piychologie in moderner Herbart'ſcher Aufarbeitung ihr 

Weſen treibt. 

2. Die dichteriſche Phantafie und der Mechanismus bes Be- 
wußtſeins. Bon Hermann Eohen. Berlin, Dümmier. 
1869. GEr. 8. 20 Nor. 

Der es liebt, fi durch Eſſays anregen zu laſſen, 
die einen glüdlichen Gedanken flizzenhaft behandeln, ohne 
ihn allfeitig zu verknüpfen und zu bewältigen, dem fei 
die vorliegende Schrift beftens empfohlen. Wennſchon 
die dichterifche Phantafie meiner Anficht nach eine ſecun⸗ 
düre Erjcheinung im Vergleich mit der plaftifhen Phan- 
tafie ift, und eine erfchöpfende Erörterung der Natur ber 
Phantafie mithin von Ietterer ausgehen müßte, ohne die 
nebenherlaufende Abart ber mufifalifchen Phautafle zu 
vernadjläffigen: fo fchränkt der Berfafler fein Thema, die 
dichteriſche Phantaſie, dadurch noch mehr ein, dag er ben 
geiftigen Stoff der Dichtung in Feiner Weife berührt, 
jondern fih nur an das Gewand berfelben, den fprac- 
lichen Ausdrud mit feinen poetifchen Bildern, hält. Sein 
Berdienft liegt darin, daß er ein unbequemes Problem, 
welches man fonft gern ignorirt, zu löſen fucht, nämlich 
die Frage: wie ift e8 möglich, daß ein gebildeter Menſch 
in der Poeſie Anfchaunngen duldet und producirt, deren 
Falſchheit ihm wiſſenſchaftlich feſtſteht? Der Berfafier 
geht auf die Entſtehung dieſer poetifhen Anſchauungs⸗ 
weife zuriid und zeigt, daß fie aus der mythiſchen ent- 
jprungen if. Das mythiſche Bewußtſein iſt noch durch⸗ 
aus einheitlich und kommt erſt dann mit ſich in Zwie⸗ 
ſpalt, wenn eine beffere wiffenfchaftliche Einficht ihm die 
Unrichtigkeit feiner bisherigen Anſchauungsweiſe zeigt. 
Aus diefem Conflict entfpringt die poetifche Anſchauung, 
indem die alten Fdeenverbindungen, die ſich als Gleichun⸗ 
gen nicht mehr behaupten fünnen, nunmehr auf das Ni- 
veau der Bergleichungen herabgefegt werden. Sie können 
aber deshalb nicht ganz verdrängt werden, weil fie befier 
als die mwifjenfchaftliche Auffaffungsweife im Stande find, 
die Gefühlegrundlage der Vorſtellungen (Berfaffer nennt 
bies mit einem fehr unglüdlich gewählten Ausbrud die 
formale Seite der Borftellungen) feftzubalten und zum 
bedingenden und verfnüpfenden Moment der Ideen⸗ 
affoctatton zu machen. Die Behauptung derfelben wird 
dadurch unterftüßt, daß jeder Menfch in feiner Kindheit 
jelbft eine Beriode der mythiſchen Anfhauung durchmacht, 
deren Apperceptionen im Gedächtniß haften bleiben, außer- 


. Er Da en n 
we”. A - 


238 Benitteton. 


dem auch durch den Rüdblid auf große anerkannte Bor- 
bilder vergangener Seiten, ſowie durch die unmillfürliche, 
die Stepfis einfchräntende Achtung vor bem lange Be 
fließenden, welche daſſelbe als ein objectiv Beſtandiges er- 
feinen läßt. Bei jedem bedentenden Fortſchritt in der 
wiffenfchaftlichen Naturauffaffung, bei jedem „Gewahr ·- 
werben einer fremden Cultur“, wie Goethe fagt, wieder« 
holt ſich der Proceß der Ablöfung von der Naivetät 
bisher unangetafteter mythiſcher Anſchauungen, fodag man 
dem Reichthum der Urzeit immer weiter entrüldt wird. 
„Es ift eine Frage von der höchften Bedeutung, ob es 


möglich fein wird, die mythiſchen Borftellungen volftän- 
dig durch die wiflenfchaftlichen zu unterbrüden. Gin 
gründficher Fortſchritt Tann nur auf dieſem Wege er 
reiht werden.” So ſehr ich dem BVerfaffer im weſent ⸗ 
lichen zuſtimmen muß, und fo fehr ein Vergleich zwijchen 
der Sprache Homer's und derjenigen der modernen No« 
velle oder bes Romans dieſe Anficht beftätigt, fo drin» 
gend naft fi uns die Frage zur weitern Behandlung, 
inwieweit bie fogenannte poetijche Sprache als eine uner» 
laßliche Bedingung und als ein Lebenselement der Poeſie 
felbft betrachtet werden Könne. 





Feuilleton. 


Die „Revue des deux mondes” fiber Arthur 
Schopenhauer. 

Das zweite Märgheft der „Revue des deux mondes" 
Bringt unter der Ueberfcrift: „Un bouddhiste contemporain 
en Allemagne“ einen Cfjay von Challemel Lacour Über Ar- 
thut Schopenhauer. Die Studie beridfichtigt auch die Werke 
Fe San mer ee en indner ‚und 

ayın. Der Berfafier bezeichnet Schopenhauer's Syſtem jeben- 
— als Doetrin, melde der Fiiojonle einer der 
ausgefprodenfien Neigungen des Jahrhunderts entipriht, der 
Neigung zu jener büftern Stimmung, welde feit funfgig Jahren 
in ver Die vorgeherrſcht und viele ernfle Gemüther mit forte 
gerifen hat. Fr Sqopenhauer fteht meben dem Philoſophen 
der Schriftftellee und der Denker *), und vom dieſen geht nichts 
verloren; fie firenen einen Samen ans, den unvorbergefehene 
BWindftöße, den unfihtbare Strömungen weiter forttragen nnd 
von dem man fd wundert, wie er weithin befruchtend wirkt, 
ohne da man fagen kanu, woher er Lomme.’ 

Sonft fagt ang Challeinel Lacour wenig Neues und manches 
Unrichtige über die Schopenhauer'ſche Philoſophie. Das Jutereſ- 
fantefte inbchte die Darftellung feiner perſönlichen Beziehungen 
zu dem merkwürdigen Bhilofophen fein. Diejer, fonft nicht 
ieicht zugängli, empfing gern Engländer und Framoſen. 
Lacour traf ihn im feiner Vibliothel, wo Kants Büſte vom 
Hagemann gleich in die Augen fiel; er ſelbſt faß gerade für 
die feinige, welche eine fchägbare berliner Künflerin, Fräulein 
Rey, vollenden wollte. „Schopenhaner war damals 71 Jahre 
alt, Haare und Bart ganz weiß; aber es war ein munterer 
Geis, mit den Augen und Geberben eines jungen Mannes. 
Ein forkaftifher Zug um feinen Mundwinkel frappirte mic); 
er hatte nichts von der firengen Würde eines Fachphilofophen. 
Er empfing mic, freundlich aber ohne fid zu erheben und 
ohne aufzuhören mit dem Lieblofungen feines fchönen ſchwarzen 

dhundes, die für die Menfchen fat etwas Berletzendes hat» 
ten! Als er fah, daß mir dies auffiel, erzählte er, daß er den 
Hund Atına («Weltfeele» im Sanskrit) genannt jbabe, daß er 
die Hunde liebe, weil er nur in ihnen die Intelligenz ohne die 
meujchtiche Heuchelei finde.” Bei einer fpätern Zufammenkunft 
an der Table / d'hote fand ihn Lacour an der Seite mehrerer Offie 
jiere figen. Er fah, wie vor ihm, neben feinem Zeller, ein 

'ouisd’or Tag, ben er beim Aufflehen am fich nahm und in 
feine Taſche fette. „Diele zwanzig Fraucs“, fagte er, „lege ich 
feit einem Monat vor mid) Bin, mit der Abfiht, fie den Ar» 
men zu geben an dem age, wo dieſe Herren während bes 
Mirtogefiens von etwas anderm geſprochen Haben werden ala 
von Avancement, von Hunden und Frauen. IA kann fie no 
immer in die Taſche fleden.” Diefe Weußerung gab Ber- 
anfafjnng zu einer Diatribe gegen bie rauen, wie man fie 
von Schopenhauer gewöhnt if. Die Frauen haben nah 
feiner Anfit am meiſten dazu beigetragen » der modernen 
Belt das Böfe, an dem fie leidet, zu inoculiven. Er vergleicht 


. F u t ıbar ben „„ tifhen" Dene 
— Segen a0 


fie mit dem Tintenfiſch, der fi im eine ſchwarze Wolfe Hült, 
feine Zinte ansiprigt und das Waffer trübt. Das find die 
Waffen der Frauen. Als Lacour den Foriſchritt der Meuſchheit 
betonte, rief Schopenhauer ans: „Der ortichritt iR eure 
Chimäre, er iR der Traum des 19. Iahrhunderts, wie die 
Auferftegung der Todten der des 10. Jahrhunderts war; jede 
Zeit hat ihren Tranın. Wenn ihr eure Vorrathsfpeiher und dies 
jenigen der Bergangenheit erihöpft, enere Kenntniffe und Neid« 
thümer noch höher aufgethlivmt haben werdet, wird ber Menſch 
beum, gegenliber diefem riefigen Haufen, weniger Hein erſcheinen? 
Krufelige Emportömmlinge, bereichert mit dem, was ihr nicht 
gervonnen Habt, ſtolz anf das, was end; nicht gehört, an⸗ 
maßende Bettler, bie ihr Aehren leſt auf dem Feid ber erſten 
Erfinder, und bie ihr euere Ruinen plündert, vergleicht dod, 
wenn ihr es magt, ihr, bie ihr enere GEntdedungen mit jo 
großem Pomp verkündet, die Wgebra mit der Spradie, ben 

ru mit der Schrift, euere Wifenfgaft mit den einfaden 
Berechnungen berjenigen, die zuerft den Himmel betrachteten, 
euere „steamera'' mit der erften Barke, der ein Vermegener ein 
Segel und ein Steuerruber gab! Was find eure Iugenieurs 
und Ghemiter neben denjenigen, die euch das Feuer, den Pflug 
und bie Metalle gegeben haben? Ihr Habt aus dieſem allen 
göttliche Geſchenle gemacht, ihr habt recht gehabt. Warum 
denn feid ihr fo anmafend? Ich fehe die Pyramide wachſen, 
die ihr nicht begonnen Habt, die ihr micht vollenden werdet; 
aber wird der legte Arbeiter, der fi auf ihre Spite nieder 
fegen wird, größer fein als derjenige, der ben erſten Block dazu 
legte? Erzählt mir zum taufendftenmaf euere laugweiligen Ge- 
ſchichten, und wenn die vergangene Größe euch nicht genügt, 
nehmt die Zukunft vorweg, fcheut euch micht zu prophezeien. 
Macht den Wechſel der Bühne noch mannichfaltiger, vermehrt 
die Zahl der Schaufpieler, ruft.die menſchlichen Raſfen auf die 
Bühne, erfindet Peripetien, wenn eure Phantafle reich genug 
dafür if. Diefe Geſchichten find wie die Dramen von da 
die Motive, die Borfälle wechfeln in jedem Stüd und wieder 
holen fid nie, aber ber @eift, der bie Vorfälle beherrſcht, if 
unmwandelbar, die Kataſtrophe flets vorauszufehen, die Perfonen 
find immer dieſelben. Trot aller Erfahrungen und aller Züd- 
tigungen bleibt Pantalon immer glei plump und geigig, 
Zartaglia immer gleich ſchelmiſch, Brighetta immer gleich feige, 
Eolombine immer glei) Lolett und treuloe. Gluclicherweiſe 
finden fie ein Parterre, das flets bereit iſt, das Stüd des Abends 
ju beklatſchen, weil es fi nicht mehr auf das Stüd des vor- 
jergehenden Abends befiunt. Mit Entzücken, mit offenem Munde, 
gemartungeooll folgen die Zuſchauer dem Fortfhritt der Dinge 
bis zur Entwidelung, deren Einförmigfeit fie in Eſtaunen fegt, 
ohne fie zu entmathigen.” 


Rudolf Weſtphal Über dem deutſchen und italienie 
[hen Reim. 


Der berühmte Berfaffer der „Metril der Griechen” WeR- 
phal hat 5 fon früher auch auf dem Gebiete der deutſchen 
Grammatik bewegt. Seine Unterfugungen über die gothijchen 
Auslantegeſetze find geradezu als epochemachende zu bezeichnen, 


Feuilleton, 


ie waren ebenfo wichtig ſüur die Sprachvergleichung wie für 
die deufhe Grammatik fpeciel. Neuerdings wandte Weſt ⸗ 
phal noch eindringlicher dieſen Dieciplinen zu, welche ihm 
nad) feinem eigenen Belenntniffe ſeit dem erſten Deginne feiner 
Sudienzeit vor allem bie liebften geblieben find. Cine Frucht 
diefer fprahnoiffenfhaftfichen Studien iR feine „‚Phiofophifd« 
Hiforifhe Grammatik der deutſchen Sprade” (Iena, Weaute, 
1869). In dieſem trefflichen Werke find zwei Veftandtheile zu 
einem einheitlichen Ganzen verwebt, der eigentliche grammati- 
fe und der fprahphilofophifche, und beiden Befandtpeifen if 
im Bude eine gleichberechtigie Stellung gegeben. Bei dieler 
Anfoge konnte nicht das gejammte germanifche Sprachmaterial 
amfefend verzeichnet werden, wie e8 bei Jakob Grimm geſche⸗ 
Sen, fondern das Hauptaugenmerk ift dem Gothiſchen und un« 
fern beiden ätteften Dialelten, dem Althochdeuiſchen und Alt - 
niederdeutſchen, zugewandt. Das Werk handelt zuerft vom Worte 
im allgemeinen und von feiner lautgeſchichtlichen Geſtaltung, 
unter welcher Rubrik die Wurzeln, dann die Stämme nnd 
Flerionen befproden werden. Das zweite Kapitel ift dem Ber- 
bum gewidmet und gibt zuerſt eine genetifche Entwidelung der 
Verbalflerionen und fodann eine Darlegung der germaniſchen 
Conjugation. Schon aus dieſer Inhaltsangabe # erfihtlic, 
daß in dem vorliegenden Werke ber Stoff nicht erſchöpſt if, 
fondern daß in ihm nur die erſten Theile der Grammatik ihre 
Dorfiellung gefunden haben. Der Berfaffer flellt eine abſchlie- 
ende, fhon drudjertige zweite Abtheilung von gleichem Um- 
fange in Ausficht; wir wollen hoffen, daß aud; diefe recht bald 
der Deffentlichfeit übergeben werde. J 

Befphal lommt in den Einleitungeworten auf die Bor- 
‚üge der deutſchen Sprache im Hinbfid auf die der romauiſchen 
und ſiawiſchen Nacjbarvölfer zu ſprechen. Ju unferer deutſchen 
Eprade herrſcht von älteſter Zeit bis auf den heutigen Tag 
trog der großartigften ſprachlichen Revolutioneu eine jo durch- 
Ägtige Ordnung im Confonanten- und Bocalbeftande der Wur- 
gel, daß fich für diefe Tegtern die zu Grunde liegende ur-indo- 

ifche Form auf wifſenſchaftlichem Ziege felbR aus unfes 
ter uenhochdeutſchen reconfruiren läßt, wogegen in den roma⸗ 
utfgen und flawiihen Spradyen der Wurzelf ha fid von der 
Ürgefalt far zur üntennilichteit depravirt hat. Dagegen hat 
fi der Deistiche in VBegiehung auf den alten Reichthum töncu- 
der Slerionsendungen weniger Haushäfterifc gezeigt. Bon der 
di an, feit welcher uns bie einzelnen germanijhen Dialekte 
friftlien Denfmälern vorliegen, läßt ſich das Streben, 
den alten Bocalbeftand der Endungen immer mehr und mehr 
zu verdrängen, von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter ver« 
folgen, bis dann der Vocal der Endung zu tonlofem e herab ⸗ 
fiat. Daher die Unfcheinbarkeit der deuiſchen Wortausgänge 
gegenüber ben Hingenden Bocafen ber Romanen und Slawen. 
„Dod“, führt Weitphal fort, „[hämen wir uns biefer uuferer 
Armuth nicht: fie iR die durch größere geiftige Rührigfeit ber 
dingte Emtänßerung eines entbehrlich gewordenen Materials, 
weiche zugleich das höhere Eulturleben des germanifdhen Stam- 
mes und feine größere Berechtigung auf eine hervorragende 
geidjiehtliche Stellung documentirt.” 

Weiterhin weift Weſtphal in einer Anmerbung auf den 
Unterſchied des deutfchen und andererfeits des romaniſchen und 
Nawifden Reims Hin und charakterifirt insbefondere dem deut» 
fen und italienifhen Reim. Diefe Bemerkungen find in or 
hem Grade feinfinnig, weshalb wir fie Hier herausgeben möd- 
ten. Zuerft wird ais allgemeines Kennzeichen des Reims hin ⸗ 
geſtelli daß er diejenigen Wörter zweier Säge oder Sagtheile, 
auf welchen ber vorwiegende logiſche Nahdrud ruht, durch 
Gleichheii des betonten Vocals und der auf ihm folgenden 
comfonantifhen und vocalifgen Laute hervorhebe: „In der 
deniſchen Boefle, wo fein guter Dichter ein tonlofes Form. 
wort als Reimfilbe gebrauchen mag, if die dem Reime als 
Grundlage dienende betonte Gilbe jedeemal eine Wurzelfilbe, 
uud gerade bie Wurzelfilbe if dasjenige Element des Worte, 
im welder fi) der durch die reimende Poefle Hervorzubebende 
| Begriff ausipriht. Hat nicht fon mauder Deutfche die 
°  Stafiener, die Spanier um die File ihrer einen mannid- 














239 


fachen Vocalwechſel gefattenden weiblichen Reime beneidet? 
Haben uidt in_neuefler Zeit die Berehrer des Dante das Ur- 
theit_gefält, daß die deutihe Sprache, eben weil ihr diefe Art 
der Reime fehlt, jenen Dichter Überhaupt gar nit im Schmude 
des reimenden Verfes, fondern Lieber in Proſa wiedergeben 
foltte? Cs ift wahr, der weibliche Ausgang bei italienifhen 
Berfen fällt wohlfiingender ine Ohr als bei unfern deutſchen, 
dafür aber hat in unzähligen Fällen der itafienifche und über 
Haupt der romaniſche Reim nicht die logiſche und die eigentlich 
dichteriſche Vedentung des beutfchen; denn es ift ja fa das 
Gewöhnlide, daß er nicht die für den Begriff charatieriſtiſche 
Wurzelfilbe hervorhebt, fondern auf eine für diefe ganz gleid;« 
gültige Endſtibe fällt — er ift ein lediglich ornamentiflifches, aber 
fein mit dem- wahren Wefen der Poeſie in näherm Zufammen- 
Hange ſtehendes Clement; das letztere ift blos in der germani« 
fen Poeſie der Fall.“ 








Bibliographie, 





: Walther von der Vo- 
ta Auf. herausgegeben 
Talr. 





; 

J ig, 2 

Delitzsch, J., "Die. Gonies 'hre des Thomas von Aquino kritisch 

dargestellt. — örffling u. Franke. Gr. 8. 15 Ner. 

ae SS BIETE Be a er ot 
Er 

Buclen bearbeitet, 2 Bde, Algendorff. er % * le. 


* Denemei 
lad‘ Lit und Ziemare Finferniß, Bon einem er. 
— Oieverd u. Comp. 7 Dar. 
Gotiesidee und Cultus bei den Ein Beitrag zur ver- 
gleichenden Sprachforschun; Gr. 8. 12 Ngr. 
Grietinger, E., Blätter aus aiter 
un neuer Zeit, 3'@de: Ötattgart, Wogler m. Beinpaner, Cr. 16. 3 Kir. 


Hopf, &., Die Sinwanderung ber Bigenner in Europa, Gin Bere 
trag. Gotha, F. M, Wertes. 8. B Mar. 

Die Yufarvetigu in Dalmatien. ‚Cine il if strifae Darkeng 
ber Öterreigiiden Rriegsoperationen In ber Boca von Cattaro. Zien, 
Yerled. Or. 8 Ba Bm - 

Müpljelp, 3, 1545— 1868. as fahre Ir te 
—— ——— 
SE e Gniersten an, 3 Bbe. Berlin, Bı 

— 
Pi, Hör zn *. ie Enten im eriin, Brigt. 

Nippo ., Die Heipniffe Iefu und das G⸗ in ber Ger 
— Nase BEE BEN RLINE 

(e de lat « In. Dffie 
des Sumdfaen Gomitet, Ssenn[areg, Beeren, Pe Te 

Otfrid, Christi Leben und Lehre besungen. Aus 
schen übersetzt von J. Kelle. Br Tompsky. 8. 3 Thlr. 
mdeulas, &, Ci Musfug mad Tom. Botiseg. Grutgart, Ref. & 

Ätamall, @., Marie Antoinette, Granfreige Fingeriitete 2önigin, 

ei — — —— — 
jeriſu Große. 1. 8, a8 Ye 

®., Der Galhberump. 3 Bre. Braunfgweig, Deftermanu. 


„E., Frelmaureriſche Diätungen. Leipzig, Windel. 
‚Bedigte. Auswahl bes Bi . # 
Bei ut a Befg: 3 20 m uk 

cilien in alter und neuer Zeit. Bortrag, satten 
ttgart. Gtuttgart, I. . Gtelntopf. ®r. 8. 6 Rar. 
ürfteneQbeal der Sejuiten In einem treuen Epiegelbilbe bare 


Bogler u. Beinhauer. Br. 8. 18 Npr. 
2» Gein ober Ridifein nad dem Zobe? Gine Bor 


. 8 Nr 
pilten, $., Die Entfehung Der Weit und bie Einheit ber Rature 
ati.” Populäre Sotmogone, ie Si. Dill, 6. Oemmanı. Ge. 6. 









Preusseh. 


Fi 





























‚ermifchte Schriften. Herausgegeben von d. Aprent. 

lie Snfelibinfen. Cine Duplt der Mäufer'fäen 
L, 2, Für bie Infallibitiften. ine 1 ber infler’; 

n, DölingerrAdreffanten. Dünfter, Brunn. ®r. 8. 6 er 

Har, &. Die Snpiration der beiligen Bfrift: Gin Benin ar 

nbigung. Ebaffhaufen, Durter. Or. ©. 4 Rgr, 

Stolz. M., a8 6 für probe Yeute. Greißucg im Br., Gerber, &r.8. 


ar. 

IK} 

Triegen mit befonderer Bezugnahme auf die „Militatr-EitteratursZeitung” 

während — —— ehe Don eier 1 
It. 


—78 
leme D: 3 Das Lieb von ber Bölterfrein 
— 







ae —— 








240 Anzeigen. 


Anze 


igen 


— — 


Vetſag von 5. A. Brochhans in Leipzig. 


Soeben erſchien: 


*8chiller-Halle. 


Alphabetiſch geordneter Gedanken⸗Schatz aus 


Schiller's Werken und SKriefen. 
Im Berein mit Gottfried Frisihe und Mar Moltle 
herausgegeben von 


Dr. Mori Bille, 


Director des Geſammt⸗Gymnaſiums zu Leipzig. 


In 6 Lieferungen. 
Subfcriptionspreis jeder Lieferung 10 Nor. 


Dritte und vierte Lieferung. 


Die „Schiller-Halle” ſtellt alle bedeutſamen Ausſprüche 
Schillers, nach den Gegenftänden oder Stichworten alphabetifd) 
geordnet, in bequemer Ueberficht zuſammen, bildet alfo gewiſſer⸗ 
moßen eine Real-Encyllopädie aus und zu Schillers fümmt- 
Iihen Schriften, eine Art von Schiller-Eonverfations- 
Lerilon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’® eigenen Worten 
geichriebener Erläuterunge- und Ergänzungsband zu 
Schiller's Werken genanut werden, ber jedem Beſitzer 
derfelben zur Anſchaffung zu empfehlen if. 

In allen Buchhandlungen find bie bereitö erſchienenen 
vier Lieferungen nebft Profpect vorräthig nnd werden 
Unterzeihinungen augenommen. Die beiden lebten Liefernu⸗ 
gen folgen baldigft. 





Berlag von Heyder & Zimmer in Frankfurt a. M. 
Dr. M. Luther’s 
fammtlide Werke. 


Herausgegeben von 


J. K. Irmiſcher und E. 8, Enders, 


Deutſche Werle 67 Bände 37 Thlr. 71, Nygr. 
Lateiniſche Werke Band 1—31. 18 Thlr. 


„Gewaltiger iſt wol nie ein Schriftſteller aufgetreten, in 
keiner Nation der Welt. Auch dürfte kein anderer zu nennen 
ſein, der die vollkommenſte Verſtändlichkeit und Popularität, 
geſunden, treuherzigen Menſchenverſtand mit fo viel echtem Geiſt, 
Schwung und Genius vereinigt hätte. Er gab der Literatur 
den Charakter, den ſie ſeitdem behalten, der Forſchung, des 
Tieffinns.“ Leopold Ranke. 

„Luther war der fruchtbarſte, größte populäre Schrift⸗ 
ſteller der Deutſchen.“ Guſtav Freytag. 

„Dieſe Ausgabe zeichnet fi von den frlühern, theils 
durch ihre Vollſtändigkeit, theils durch größere Zerttrene, theils 
durch möglihft unveränderte Beibehaltung der Sprachformen 
Luther’s jo vortbeifhaft aus, daß wir fie allen Glaubens- 
genofien unfers unſterblichen Reformators mit vollem Rechte 
empfehlen. *' Literarifhes Kentralblatt. 

„Wie viele Misverftändniffe über Kirchenfragen, wie viele 
Streitigkeiten würden jchwinden, wie viele wahre Union wiirde 
fih einfinden, wenn man ſich entfchlöfje, die Schriften Luther's 
mit beilsbegierigem Herzen zu leſen.“ 


ERGÄNZUNGSBLÄTTER, 
1870, 7. Heft. 


Geschichte: Historisch-politische Umschau, von v. yy- 
denbrugk. — Nekrolog. 

Literatur: Das deutsche Drama der letzten zwei 
Jahre III, von Dr. Alb. Lindner. — Geschichte des Ten- 
felsglaubens, von Dr. Dühring. — Nekrolog. 

Geographie: Geographische Umschau, I. Afrika, von 
Dr. Rich. Andree. — Centralamerika, von Mor. Wagner. 
— Nekrolog. 

Zoologie: Die Wurzellaus des Weinstockes. — RBe- 
generation der Flossen. — Die Hausratte. — Nekrolog. 

Volkswirthschaft: Die norddeutsche Zettelfrage, von 
Dr. Dühring. — Die nenen Werthe des Jahres 1869. 

Handel und Verkehr: Der Streit um die neueren 
Handelsverträge, von Dr. Dühring. — Nekrolog. 

Fischerei: Austern in Amerika. — Ostseefischerei. 

Kriegswesen: Die norddeutsche Flotte. 

Technologie: Perusnisches Wismuth, — Mit Anilin- 
farben gefärbte Syrupe. — Jantak-Schakar. — Nekrolog. 

Politische Uebersicht: vom 15. bis 28. Februar 1870, 
von v. Wydenbrugk. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 


In 3. U. Kerns Berlog (Mar Müller) in Bredlan if 
foeben erſchienen: 


Des Grafen Ernſt von Mansfeld 


lebte Pläne und Thaten. 
Bon 
AJulins Großmann, Dr. phil. 


Gr. 8. Eleg. broſch. 25 Sgr. 


Dieſes mit ſorgfältiger Benutzung vieler bisher unbe⸗ 
kannter Quellen verfaßte Werk berichtigt viele noch in den 
letzten Biographien Mansfeld's von Villermont und Uet⸗ 
terodt enthaltene irrthümliche Anſchauungen und iſt für 
das Studium des Dreißigjährigen Kriege von großer 
Wichtigkeit. 





Im Verlage von F. E. C. Leuckart, Buch- und Musi- 
kalienhandlung in Breslau, ist soeben erschienen: 


Mozarts Don Giovanni. Partitur, erstmals nach 
dem Autograph herausgegeben unter Beifüguug 
einer neuen Textverdeutschung von Bernhard von 
Gugler. Folio. CGartonnirt. Preis 12 Thir. nelto. 


Früher erschien: 


Wolsogen, Alfred Freiherr von, Don Juan, Oper von W. A. 
Mozart, auf Grundlage der neuen Text- Ueber- 
setzung von Bernhard von Gugler neu scenirt und 
mit Erläuterungen versehen. Geheftet 15 Sgr. Hieraus: 
das Textbuch apart 5 Sgr. 


Berantwortlider Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von 5. A, Srohhaus in Leipzig. 


Blätter 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. et Ar, 





16, 9 14. April 1870. 





Inpalt: Umſchau auf dem Gebiete naturwiſſenſchaſtlicher Unterhaftungsieftüre. Bon Seinrich Birnfaum. — Eine Geſchichte des 
ütalienifhen Dramas. Bon Wudolf Bottihau. (Fortjegung.) — Amterbaftungeigriften. — Zur Geſchichte ber Arbeit und der 


induftriellen Kaffen. Bon deinrich Mäder. — Zur Lebensweisheit. 


on Mierander Jung. — Senileten. (Netrofoge.) — 


Bibliographie. — Anzeigen. 





Umſchan anf dem Gebiete nalurwiſenſchaftlicher Auterhaltungslektüre. 


1. Die Rotabilitäten der Tierwelt. Dargeftellt in ſechs Bilder- 
fränzen von W. Ahlers. Berlin, Wiegandt und Hempel. 
1869. 8. 2 Thfr. 10 Rgr. 

Bir haben dies Werk mit Intereſſe gelefen und 
wünſchen ihm einen recht großen Kreis von aufmerf- 
famen und mohlwollenden Freunden. Der Berfaffer Hat 
zum Herbeiſchaffen des fehr reichen Materials einen 
Fleiß an den Tag gelegt, er ift Mann von Fach 







8 Wiſſen, fondern auch einen feinen Geſchmack 
warme Liebe zur Sache. Er fandte das Ma- 
feript der Berfammlung des vierten internationalen 

Thierſchutz · Congreſſes zu Paris 1867 mit der Bitte zu, 

die Dedication fi gefallen laſſen zu wollen. Die wohl ⸗ 

wollende motivirte Befürwortung durch feine Freunde, 

Baftor Bödeker aus Hannover und Legationsrath Baron 

von Ehrenftein aus Dresden, bewirkte eine ehrenvolle 

Gewährung der Bitte. Der Congreß übernahm dadurch 

gleichſam WPathenftelle für das geiftige Kind bes Ber- 

faſſers und gab ihm zu feinem Fortlommen eine wichtige 

Empfehlung. 

Um nun mit dem Inhalte des Buchs näher befannt 
zu machen, Ienfen wir die Aufmerfamfeit der Leſer gleich 
auf den erften Kranz, wobei ben Bildern der Säugethiere 
mit Recht der Vorrang gegeben wird. Das erfte Bild 
it das von Barry, dem berühmteften Hunde des St.» 
Bernhard. Die Bernhardinerfunde find wahrſcheinlich 
eine Mittelraſſe der englifhen Dogge und des fpanifchen 
Wachtelhundes, nad) andern follen fie von einer dänifchen 
Dogge abftammen, welche in der Mitte des vorigen Jahr« 
hunderts Graf Mazzini von einer nordifchen Reife aus 
Grönland mitgebraht hatte und die ſich dann mit einem 
walliſiſchen Schäferhunde paarte. Sie find meiftens ziem- 
lich groß, Tanghaarig, dunkelbraun und weiß gefledt, von 
farfem Knochenbau und wohlgeformtem Kopfe. Der 
Barry rettete nicht weniger denn vierzig Menfchenleben. 

1870, 16, 


t in ber Auswahl der Bilder nicht bloß ein zu⸗ 





So wie fi Schneegeftöber einftellte, regte fi in dem 
Thiere ganz unverkennbar ein Trieb ins Freie, und wenn 
dann gar ber fchredliche Donner eines Lavinenſturzes 
fein Ohr traf, fo hielt ihm nichts mehr im SKlofter zurüd. 
Raſtlos ftreifte er mum umher, machte ſich durch lautes 
Bellen bemerkbar und fplrte mit Nafe, Aug' und Ohr 
nad, ob nicht irgendwo ein Menſch im Unglüd fei, dem 
er Hülfe geben Könnte. Und nun wird zur Verherrlichung 
des fchönen Bildes die Erzählung der ſchon oft beipro- 
Genen ebelften That des berühmten Hundes gegeben. 
Eine Mutter mit ihrem Knaben war von einer Lavine 
verfchlittet; jene wahrſcheinlich unmittelbar getöbtet, wäh⸗ 
end dieſer fi aus der Schneemaffe emporgearbeitet Hatte, 
aber vor Kälte, Hunger, Schmerz und Mübdigfeit dem 
Lebensende ſchon ganz nahe war. Der Hund, fo ver- 
muthet man, hört das Wimmern des Kindes: 

Er läuft num zu ihm bin, und indem das Enge Thier 
feinen Kopf erhebt, fieht das weinende Knäblein das ſtärkende 
Getränt und das Brot, welches alle Genoſſen bei ihrem Dienfte 
in einem am Halebande befeftigten Körbchen mit fich führen. 
Das Kind, welches das Anerbieten vom großen zottigen Thiere 
nicht verfland, zitterte ficher auch noch mehr vor Schreden und 
machte weinend eine Bewegung fi zurüdzuziehen. Doc der 
Hund, wie mit Menſchenverſtand ausgerüftet, firebt das un. 
glüdtihe Kind zuttaulicher und muthiger zu machen, indem er 
fanft feine Pfote auf die Heinen Füße des Kuabeu hebt und 
ihm die vor Kälte ſchon Halb erftarrten Händen abledt. 
Duck diefe friedlichen und freundfcaftlihen Beweiſe ſchien das 
KXnäblein berubigter und immer zutraulider zu feinem vier- 
füßigen Wohlthäter geworben zu fein. So machte e8 einen 
Verſuch, fi zu erheben; aber die Heinen Beine, die Aermchen, 
ber ganze Körper waren fo erfroren und fleif, dafi er nicht 
gehen konnte. Diefe große Noth fhien nun das Mitleid des 
ebeln Hundes um jo mehr E erweden, ſodaß er durch eim 
ausbrudsvolles Zeichen dem Keinen zu verftehen gibt, fih auf 
ihn zu ſetzen. 

Das Thier bringt fo feine hülfebedilrftige Bürde zum 
Lloſter, verſchafft fi mit dem Lauten der Nothgiode 
Einlag und überläßt das gerettete Kind den menſchen ⸗ 


3 


nm 


242 Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsteftüre. 


freundlichen Klofterbrüdern. Das Kind fand nad) feiner 
Rettung und Genefung in einem reichen Kaufmann aus 
Bern einen liebevollen Adoptivvater. 

Um das erſte Bild in mannichfaltigſter Weife zu 
erläutern, ift aud) von dem berühmten Bunde die 
Rede, welder die Garnifon der Akropolis in Korinth 
aufwedte; von dem ſchrecklichen Bezerillo, der Hunderte 
nadter Amerilaner zerriß; von dem Hunbe jenes Hen- 
kers, der auf Befehl feines Herrn einen geängftigten 
Reifenden zum Schu durch einen langen finftern Wald 
begleitete; von Dryden's Draden, der auf den Wink 
feines Herrn fih auf vier Banditen flürzte, zwei davon 
erwürgte und die andern beiden in die Flucht jagte; 
von dem Müllerhunde, der anzeigte, daß ein Kind ing 
Waſſer geftürzt; von dem Hunde Benvenuto Cellini's, 
der die Goldfchmiedegefellen wach zerrte, als er merkte, 
daß man feinem Herren Juwelen ftehlen wollte u. f. w. 
Doc gebührt vor allen dem Barry die Höchfte Ehrenfrone, 
und wir finden es natürlich, wenn unfer Berfaffer, 
ähnlich wie ber liebenswürdige Thierfreund Scheitlin 
zu St.-Gallen, von dem Barry voll Hoher Begeifterung 
redet. 

Zur Vollendung diefes erften Kranzes wird dann die 
Kate des Mohammed, der Bucephalus Alerander’s, der 
Löwe des Androclus, der Ejel von Abdera, die Ejelin 
Bileam’s, die Kraniche des Ibykus, das Pferd des Ibykus, 
die Hunde des Lazarus, der Hund des Pyrrhus u. ſ. w. 
als Bilderſchmuck ausgewählt und anfprechend geordnet 
ineinandergemwoben. 

Ganz auf diefelbe Weife find dann auch die übrigen 
fünf Kränze mit ebenfo belehrenden als finnigen und an- 
ziehenden Thierbildern geſchmückt. 

Charakteriftiich ift aber nody der Schluß bes Ganzen. 
Denn obgleich der Berfaffer ſchon eine recht große Reihe 
von Thiernotabilitäten bildlih in Kränze geflochten bat, 
fo war e8 doch rein unmöglich, alle zu verwenden, da⸗ 
her entftand nun ſchließlich ein tumultuariſches Brummen, 
Knurren, Pfeifen, Zifhen und Rauſchen von denen, welde 
noch unbeachtet geblieben waren. Da ruft der Berfafjer 
in feiner Noth: 

Wohlan denn, was bleibt uns andere übrig? — Ihr 
Edeln alle, du Soter von Korinth, ihr Spatzen Walther’s von 
der Vogelweide, du Kate Whittington’s, du Spinne Robert 
Bruce's, du Hand Duval’s, du Roß des Bevros, du Elefant 
des Btolemäus , du Eſel Lubwig’s XT., du Adler des 
Gilgamos, ihr Zauben von San-Marco, du Ochſe Cäſar's, 
du Sperling des Trojaniſchen Kriegs, ihr Hirſche des Andro» 
nieus....... und ihr Übrigen alle, die ihr ſonſt noch 
hochberühmte Namen tragt und bier um uns berumftebt, ihr 
Erlauchten, Großwürbenträger .... . Eure Beihmerden — 
wir geftehen es freimüthig — find allerdings wohl begründet, 
eure Anſprüche und Erwartungen nur zu geredtfertigt! — 
Aber ... . ultra posse nemo tenetur, oder liber die Möglich- 
keit hinaus wird niemand verpflichtet. Denn es fehlt uns, wie 
ihr feht, zur Zeit au würdigen Pläten, und das Publikum bat 
fi) bereits verlaufen, und man darf and nicht zu viel von 
feiner Geduld verlangen. 


Diefe und noch andere pafjende Worte bewirken vor 
ber Hand eine Beruhigung und ein friedliches Heimgehen. 
Ob die Unruhe aber nicht bald wiederkehren wird und der 
Berfafier fi) dann nicht zu einem neuen Theile der Tieblichen 
Bilderfränze verftehen muß, ift fehr die Frage. 


2. Ueber Föhn und Eiszeit. Mit Nachtrag: Der Schweizer-Köhn, 
Entgegnung auf Dove’s gleichnamige Schrift von H. Wiild. 
Bern, Ient und Reinert. 1868. Gr. 8. 12 Nor. 
Das Buch enthält 1) die am 15. November 1867 von 

dem Berfaffer zu Bern gehaltene Rectoratsrede über Föhn 

und Eiszeit, worüber Dove in feiner Nachtragsfchrift „Ueber 

Eiszeit, Föhn und Scirocco” fo erbittert den Stab gebrochen 


hat, und liefert 2) eine Entgegnung auf Dove's Beſchuldigung. 


Wenn man die Rede Wild's mit unbefangener Ruhe ges 
lefen bat, fo fann man es nicht recht begreifen, warum 
der berühmte Dove daran ein jo gewaltiges Wergerniß neh» 
men konnte. Denn Wild ift gar fein fo entfchiebener 
Gegner der Dove’jchen Anficht über Föhn, wie e8 Dove 
in feiner Aufgeregtheit annimmt, und, genau erwogen, 

Ipricht die Rede fogar viel mehr zu Dove's als zu deffen 

Gegner Ounften. Daher ift e8 denn auch erklärlich, 

warum Wild in gerechter Entrüftung gegen die beftige 

Beſchuldigung Dove's das Wort ergreift. Der Ber 

fafler fagt: 

Wir Schweizer find vielleicht weniger Gelehrte als Dove, 
befiten auch) wol in Saden der Meteorologie keinen fo reichen 
Erfahrungsihat und können vielleicht Hier und da unllare oder 
dunkle Andeutungen in Schriften Dove's misverftanden haben, 
aber wir find jedenfalls ehrlihe Männer, die auch in willen- 
chaftlicher Controverfe Verkehrungen u. dgl. verwerflich finden 
und verwerfen und denen die Erforſchung der Wahrheit höher 
flieht als die Befriedigung perſönlichen Ehrgeizes. 

Ob er mit diefem Ausſpruche für alle feine Lands⸗ 
leute einftehen kann, wollen wir nicht näher unterfuchen. 

Es iſt fehr zu beklagen, daß dieſer für wiſſenſchaft⸗ 
liche Zwecke ſo ſruchtbare Streit eine ſo kleinliche perſön⸗ 
liche Richtung angenommen hat. Die Schweizer ſind 
barilber empfindlich verletzt, daß ein berliner Stuben⸗ 
gelehrter den Charakter des Föhn und deifen Urfprung 
beifer kennen will als fie felbft; und Dove ift höchſt un⸗ 
angenehm davon berührt, daß man gegen ein auf fireng 
wiffenjchaftlichen Wege gewonnene und von ben Mün« 
nern von Bad) jahrelang für wahr gehaltenes Refultat 
gewagt babe Zweifel aufzuftellen,; er kann's nicht gut 
vertragen, Unrecht zu haben, und fieht jede Einrede faft 
immer als einen Angriff auf feine Antorität an. Leider 
ift der Kampf jetzt ſehr von der Hauptfache abgezogen. 
Es ſcheint, als wenn auch die Schweizer nicht mehr daran 
glauben, daß der Föhn ausfchlieglih ein Wüftenwind 
Afrikas fei; und damit hätte Dove im wichtigften Punkte 
recht. Der Streit, ob ber Föhn ein feuchter oder trodener 
Wind fei, wird wol ſchwerlich ganz gefchlichtet werben 
können, da der dabei zu Grunde gelegte Maßſtab eine 
gar zu relative Bedeutung befigt und die Entfcheibung 
nicht gut früher gegeben werden Tann, als bis man bei 
allen vorkommenden Füllen über den ganzen Weg bes 
Windes fit) Rechenſchaft abgelegt Hat. 

3. Zaridermie oder die Lehre vom Conferviven, Präpariren 
und Naturalienfammeln auf Reifen, Ausftopfen und Aufs 
fielen der Thiere, Naturalienhandel u. ſ. w. Dritte Aufe 
lage von ©. 2. Brehm, „Die Kunft, Bögel ale Bälge zn 
bereiten u. f. w.’ in gänzlicher Umarbeitung von Philipp 
Leopold Martin. Mit 5 Tithographirten Tafeln nad 
Zeihnungen von Friedrih Specht. Weimar, B. 5. Boigt, 
1869. ®r. 8. 1 hl. 15 Nar. 

Es ift dies eigentlich der erfte Theil von bem bes 
abfihtigten dreitheiligen größern Werke des Verfaſſers, 








Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftliher Unterhaltungslektüre. 243 


welches den Titel „Die Praris ber Naturgefchichte” führt. 
Der Berfaffer Hält beſonders in der Nalurgeſchichte eine 
Theilung der Ürbeit für nothwendig. Dan müffe hier 
die wiffenfchaftliche Thätigfeit von der praftifchen fondern. 
Bir glauben, daß man diefe Anficht ſchon Längft als eine 
unbezweijelt richtige angefehen Hat, ur möchte man darin 
nit mit dem Verfaſſer einerlei Meinung fein, daß die 
beiden Urbeitöfreife jo ftreng voneinander gefondert wer» 
den und jeder ganz felbfländig auftreten müßte. Dem 
Brofeffor der Naturgejchichte darf die Praxis feines Fachs 
nicht fehlen, fowie aud; dem mehr praftifch gebildeten 
Gonfervator die wiſſenſchaftliche Grundlage nicht abgehen 
darf. Sie arbeiten beide an einem innig zufammengehöri« 
gen Ganzen, und die Trennung wäre eine unnatürliche, 
wenn fie einen andern Charakter annähme als cine bloße 
Erleichterung der Arbeit durch ein Vertheilen auf zwei 
ober mehrere Kräfte. Doc abgefehen von dieſer Ber- 
fhiedengeit der Anfichten iſt das vorliegende Wert ein 
wahrer Schag für die praftifche Naturgefdichte. Für die 
jungen Leute, welche felbftändig Hand an bie Erweiterung 
ihtes Wiſſens und Könnens legen wollen, ift hier ein 
vortrefflicher Wegweifer geboten, und für die ſchon 
fertigen Männer der Wiflenfchaft liefert das Werk noch 
viele beherzigenswerthe Wine, welche für das praf- 
tiſche Leben paſſen, weil fie alle auf dem Wege ber un. 
mittelbaren Erfahrung gewonnen find. Wir halten es 
nach diefer Andentung nur nod für nöthig, die Titel 
der Hauptfapitel namhaft zu machen: „I. Conferviven und 
die Lehre von den Confervirmitteln‘‘; „I. Bräpariren und 
Naturalienfammeln auf Reifen“; „II. Taridermie oder das 
Ausfopfen der Thiere”; „IV. Naturalienhandel”. Zum 
Schiuß wird noch auf die hierhergehörende Literatur Hin. 
gewiefen und eine befondere Erflärung der angehängten 
fünf Tafeln gegeben. Diefe Tafeln enthalten die Thiere 
und Apparate in ganz ausgezeichneter Darftellung, fie find 
wahre Meifterwerte. 


4 Bilder und Sfiggen aus der Naturkunde. Gefammelte po» 
puläre Auffäge von G. A. Martin. Mit 50 Hofzihnitten. 
Bien, Lehner. 1869. Gr. 8. 1 Thle. 7%, Ngr. 


Diefe Auffäge haben ſchon in verfchiedenen ber Unter 
haltung dienenden Journalen einen kieinern Kreis der 
Seröffentlihung durchgemacht, und es wird ihnen nun 
die Gelegenheit geboten, einen neuen und nod) größern 
Umlauf zu machen. Für ihren Inhalt, die populäre 
Naturwiffenſchaft, ift im Publikum jegt ein allgemeines 
lebhaftes Intereſſe erwacht, daher wird es ihnen an guter 
Aufnahme nicht fehlen, zumal der Inhalt fich ebenfo aus» 
füprlic über die mikroſtopiſche wie die teleffopifche Welt 
aftredt und dabei der Naturgefcjichte ebenfo bereitwillig 
wie der Naturlehre dient. Und was bie Art der Behand- 
fung des reichen Materials betrifft, fo paßt fie vortreffe 
ich für das denkende gebildete große Publitum; Velch- 
zung ift Hauptzwed, aber durchaus feine breite Schul 
meifterbelehrung, fondern eine Herz und Geift erfreuende 
gemüthliche Beipregung der munter durcheinandergemwürs 
felten Tagesfragen. 

Zu einer fpeciellern Beſprechung des Buchs Ien- 
fen wie die Aufmerkſamleit der Lefer zunächſt auf die 
Wanderluſt der Vögel“. Der Verfaſſer macht darauf 





aufmerffam, daß aud uns Menſchen fant alljährlich 
eine große Wanderluft anmandelt. Obgleich dies num 
bei den Vögeln eine ähnliche Beranlafjung haben Tann, 
fo fprechen dabei doch noch mandje andere Umftände 
mit, welche der Sache mehr den Stempel ber Nothwendig · 
keit als der freien Wahl aufdrüden. Was der geiftreiche, 
ſcharfſinnige Beobachter Brehm über diefen Gegenftand 
gefagt hat, wirb, in der Hauptfache mitgetheilt. Es fteht 
zunächft feft, daß die Vögel unfere Gegend verlaffen, 
um der eintretenden Kälte und bem Mangel an Nahrung 
auszuweidhen, daß fie dagegen zu uns zurüdfehren, wenn 
fie durch Übertriebene Wärme und Spärlicjleit der Nah- 
tungsmittel von dem fernen Süden wieder nach Norden 
ausgewieſen werben. Doc erflärt dies noch nicht alles. 
Es wohnt den Thieren cin unbezähmbarer Trieb zum 
Wandern inne, wovon wir die ganze Urſache noch nicht 
kennen. Der Berfafler fagt: 

Im Aegypten weilen das ganze Jahr hindurch zwei Schwal« 
benarten, und unfere in weit fälterm Klima geborenen Schwal- 
ben bleiben auf ihrem Zuge nicht bei ihmen, obgleich fie alle 
Bedingungen ihrer Eriftenz dort vorfinden; fie wandern weit 
hinaus und verweilen nicht in Nubien, nicht in den infelten- 
reihen Steppen von Oft- Sudan, nein, fort müffen fie bis in 
das innerfle Herz des fremden Exbtheile. Was treibt fie fo weit, 
wenn nicht die Wanderluft? Aehnliche Sefäeimungen hat man 
bei deu Storchen bemerft, bie ebenfo eilig weit über Chartum 
hinausſegeln, während fie doch fon an den Sümpfen Aegyps 
tens hinlängli Rahrung fänden. 

Dann hat das Kapitel „Ueber die Haare” unfer 
Intereſſe auf ſich gezogen. Es wird zumäcft eine 
naturhiftorifche Turze Beſchreibung gegeben und dann zu 
den einzelnen Merkwilrdigfeiten übergegangen, So bes 
wunderte man zu Neapel einen jungen, aus der Berberei 
gebürtigen Mann von 38 Jahren, defjen Haar in einer 
Länge von 4 Fuß und von borftenartiger Confiftenz vom 
Kopfe herabhing. Der Tänzerin Negrini find die Haare 
nad) einer Higigen Krankheit bis auf eine Länge von vier 
Ellen gewachfen. Der Kanzler der Univerfität Tübingen, 
Dr. Ulrich Pragizzer, Hatte einen wahren Aaronsbart, ſodaß 
der franzöfifche General Turenne, als er dort im Winter- 
quartier lag, ſtaunend ausrief: „Voila, il ya un homme 
plus de barbe, que tous les hommes de France.“ Hans 
Steininger, im Jahre 1572 Bürgermeifter zu Braunau, 
hatte einen Bart, der bis unter feine Füße reichte; einft 
hatte er beim Exfteigen der Rathhaustreppe vergefjen, dies 
Naturwunber aufzufhürzen, ba ftolperte er darüber, ftürzte 
die Treppe hinab und fand dadurch feinen Tod. 

Auf Quadratzoll Kopffläche wachſen durchſchnitt · 
lich 250 Haare. Die Haare von dem Haupte eines ge» 
funden kräftigen Menſchen befigen in Summa ein Gewicht 
von 24— 30 Loth. Nur Abfalon’s Haar foll nad) hiſto⸗ 
riſchen Nachrichten 400 Loth gewogen Haben. Durch die 
heutige Mode verführt, beeifern fid) die Damen in ihren 
Haarzopf dem Abfalon nicht nachzuſtehen. 

Mit diefer Heinen Probe wollen wir Abſchied nehmen 
von dem Werke, welches und auf das angenehmfte unter- 
halten hat. Wenn es auch hier und da Kapitel enthält, 
die allgemein Belanntes beſprechen, fo ift es doch friſch 
und neu in der Auffaffung des Ganzen und verſteht es 
vortrefflih, überall Wig und feine Bemerkungen ein- 
zuflechten. 

31* 


— 


244 


5. Jahr und Tag in der Natur. Ein Jahrbuch der Erfchei- 
nungen bes natürlichen Kreislaufs und feiner Beziehungen 
zum Gemlithsleben des Menfchen, von Otto Ule. Halle, 
Schwetſchke. 1869. 8. 24 Ngr. 


Der Berfafier ift fchon feit einer Reihe von Jahren 
fleißig gewefen auf dem Gebiete der populären Natur- 
funde, man kennt ihn als geiftreichen gewandten Schrift« 
fteller, als begeifterten Freund und Kenner ber Natur, 
ale Mann von Gemüt, der Geift und Herz feiner Lefer 
ebenfo belehrend als erfreuend zu unterhalten verftcht. 
Und das vorliegende Werkchen gibt ihm fo recht ©e- 
Tegenheit, feine ganze Fähigkeit zu bewähren. Cs 
will die Gefhhichte des Werdens der Natur in Berbin- 
dung bringen mit der Seele und dem Gemüth des Men⸗ 
fhen. Das ift eine ebenfo große als ſchwere Aufgabe, 
aber der Berfaffer verfteht es jehr geihidt Maß zu hal⸗ 
ten und die bejchwerlichen Wege mit gemüthlicher Behag- 
lichkeit zu durchwandern. 

Das Buch zerfallt in zwei Abſchnitte. Der erſte bringt 
die Naturbefchreibung der Fahreszeiten in den zwölf Mo- 
naten; ber zweite die vier Tageszeiten: Morgen, Mittag, 
Abend, Nacht. Daran ſchließt fih dann jebesmal ein 
überfchauendes Schlugwort, in welchem Jahr und Tag 
als die Pulsſchläge des fortfchreitenden Lebens der Natur 
bezeichnet werben. 

Um in die nähere Belanntfchaft mit dem Buch ein- 
zuführen, wählen wir einige Stellen aus dem December. 
Hier Heißt es: 

Der Menſch trotzt der Glut des Sommers wie der Kälte 
des Winters, er lebt unter den Tropen wie unter den Polen, 
ohne abzufterben wie die Pflanzen, ohne in Winterſchlaf zu ver- 
finlen wie viele Thiere. Mag das Thermometer, wie e8 in 
Oflindien beobadıtet worden ift, auf 54° C. über, oder, wie 
man es in den Polarländern erlebt hat, auf 68° €. unter 
dem Gefrierpunft ftehen, feine Körperwärme erhält fih, kaum 
beachtenswerthe Schwankungen abgerechnet, auf 361, ° €. 
Ein unter der Zunge eines Polarreifenden angebradhtes Ther- 
mometer wird denjelben Wärmegrad zeigen, wie eins unter der 
Zunge eines Soldaten in Delhi. Diefe wunderbare Gleich 
mäßigfeit in Erhaltung unferer Lebenswärme deutet auf natlir- 
liche Schutmittel gegen die äußern Natureinflüffe hin. Wir 
wilfen in der That, dag wir unfere Widerflandsfraft gegen die 
Shut des Sommers und der Tropen einem natfirlichen Kühl⸗ 
apparat verdanken, den wir in uuferer Haut befiten, den zahl- 
reihen, Schweißbereitenden Drüfenorganen nämlich, deren 2800 
durchſchnittlich auf jeden Duadratzoll unferer Sautflähe kom⸗ 
men, und die durch Berbunftung befiändig die überflüſfige Wärme 
wieder abführen. Wir wiffen ferner, daß wir in den Ber; 
brennungsprocefien, welche nicht eigentlich unſere Nahrung, 
fondern vielmehr unfere eigenen Gewebe beftändig erleiden, eine 
reihe Wärmequelle befiten, weldhe im Winter die Wärme- 
verlufte nach außen unabläffig erfebt. 

Was den zweiten Abfchnitt betrifft, fo lenken wir die 
Aufmerkfamkeit der Lefer auf die Abendbetrachtung. AU- 
mählih bricht die Dämmerung ein, das Licht nimmt 
ab und die Farben in der Natur verfchwinden. Wir 
empfinden diefe Vorgänge, legen uns aber fehr felten 
gehörig Rechnung davon ab. „Deu Malern war diefe 
Erſcheinung längft befaunt, fie wußten, daß die Farben⸗ 
wirtung ihrer Gemälde bei Dämmerlicht eine wefentlic 
andere fei als bei Heller Tagesbeleuchtung. Aber Dove 
erft hat dieſe Erjcheinung wifjenfchaftlich aufgeklärt.“ Und 
nun gibt das Bud) die wörtlihe Mittheilung Dove's, der 
die Einwirkung des Lichts und der Farben aufs Auge 


Umſchau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsteftüre. 


mit denen von Schall und Ton aufs Ohr in Vergleich 

bringt. Dann fährt der Berfafler fort: 

So ſtimmt alfo unfere Empfindung ber Helligkeit nidt 
nothwendig mit ber wirklichen Helligkeit überein, und das ſtär⸗ 
tere Licht kann bei geringerer Wellenzahl als das ſchwächere 
empfunden werben. Je größer bie Verſchiedenheit der Schwin⸗ 
gungszahlen, um fo eher tritt diefe Erfcheinung ein. Das 
—26 erbleicht darum am ſchnellſten gegenüber dem Blau⸗ 
Violett. Miſchfarben, in denen roth und gelb vorherrſcht, 
nehmen an dieſer ſchnellen Verdunkelung theil, und fo ſtellt 
ſich durch das Heraustreten einzelner Farben jene allgemeine 
Farbenwandlung, jenes Verdämmern ins Blaue und Graue 
ein, das jedermann als der Charalterzug der Dämmerunges 
beleuchtung bekannt ift. 

Bei diefer Gelegenheit ift auch von den Urſachen bie 
Rede, welche die Dämmerung nad) den Polen zu vers 
längern, nad) dem Yequator Hin verkürzen u. f. w. 

6. Der Anfhauungsunterricht in der Naturlehre, als Grund» 
lage für eine zeitgemäße allgemeine Bildung und Vorbereitung 
für jeden höhern naturwiffenfchaftlien Unterricht. Bon 
Rudolf Arendt. Mit fpecieller Beziehung auf des Ber- 
fafjere „Materialien für den Anſchauungsunterricht in ber 
Naturlehre‘‘. Leipzig, Boß. 1869. 8. 10 Nor. 

7. Materialien für den Anfhauungsunterricht in der Natur 
Ichre, Bon Rudolf Arendt. Leipzig, Voß. 1869. 8. 

gr. 


Diefe beiden Schriften feheinen ihrem Titel’nad) nicht 
eigentlich in unfer Gebiet der naturwiffenfchaftlichen Unter- 
Baltungslektitre zu gehören, paſſen aber dennoch ihrem 
Inhalt und noch mehr ihrem Zwed nad) ganz vortrefflich 
hinein. Das erſte enthält einen reihen Schag an metho- 
dologifchen Fingerzeigen für das Begründen einer fürs 
wirkliche Leben tauglichen Naturlehre, während das zweite 
die dazu paflenden Materialien andeutet und aufzählt. 
Die Heimat beider ift alfo die Schule, aber nicht blos 
in dem befchränkten alltäglichen Sinne, fondern in bem 
böhern ganz allgemeinen, wo jede Yamilie, jede Kirche, 
jede Gemeinde, überhaupt das ganze Leben als Bildungs- 
anftalt betrachtet wird, und von dieſem höhern pädagogi- 
ſchen Standpunfte zählen wir die beiden Bücher fehr gern 
mit zu den unferigen. Der Berfafier hat vor kurzem cin 
„Lehrbuch der anorganifchen Chemie“ nebft einer Ergänzungs« 
fhrift „Organifation, Technik und Apparat des Unterrichts 
in der Chemie‘ herausgegeben, welches von den fachverftän- 
digen Männern der Schule und des Erziehungsweſens mit 
Beifall aufgenommen worden if. Dadurch ermuthigt, will 
er benjelben Zwed nun auch bei der allgemeinen Natur- 
lehre überhaupt erreichen. Die Anſichten und Borfchläge 
des Verfaſſers find ganz naturgemäß und ficher zum 
Ziele führend, fie verdienen fehr beachtet und beher- 
zigt zu werden. Er bringt in mande dunkeln Schul- 
winkel Licht und Klarheit, kehrt manchen Schlendrian zum 
Haufe Binaus und bringt dafür jugendliche Frifche und 
anmuthige Lebendigkeit hinein. Er will der Anfchauung 
in der Naturlehre ihr volles echt geben und verlangt 
daher, daß mit ihr ſchon in frühefter Jugend der Anfang 
gemacht werde, und daß biefelbe ſtets das belebende Hülfs- 
mittel, die Haupigrundlage und das fördernde Princip 
zum Borwärtöfommen bleibe. Hören wir ben eben 
im Geifte Peftalozzi’8 wirkenden Jugendfreund felbft: 

Die Eindrüde, Reize, welche irgendein Ding der Außen⸗ 
welt auf unfere Sinne le Peiner pflegen wir Empfindun- 
gen zu nennen. Durch ſolche gelangen wir zu Wahrnehmungen 


Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfchaftlider Unterhaltungslektüre. 245 


des Dinges, fchließen auf gewiſſe Eigenfchaften deffelben, und 

in unſerer Seele fett ſich eine Vorſtellung von ihm fe. Fehlt 

die Empfindung, fo bleibt aud die Wahrnehmung aus und wir 
find um eine Borftellung ärmer. If die Empfindung flüchtig 

"oder verſchwommen, d. 5. nimmt unfer Bewußtfein nur une 

genügend von ihr Act, fo bleibt die Vorſtellung unklar; und 

find endlich die einzelnen Empfindungen, welche ein Ding ber- 
vorrufen kann, unvollſtändig, jo gelangen wir nur zu einer 
partiellen Wahrnehmung, unſere Borftellung bleibt unvollftändig, 
mangelhaft. Wer 3.8. nie den Klang einer Bioline gehört, 
nie Moſchus gerodhen, niemals eine ſauere Subftanz getoftet, 
oder nie den Entladungsichlag einer Leydener Flaſche gefühlt 
bat, für den eriftiren Körper oder Lörperliche Zuftände, durch 
weile ſolche Empfindungen hervorgerufen werden, nicht, feine 
Vorſtellungswelt dedit die Anßenwelt nicht, fie bat Lücken; und 
wenn der Lücken zu viele find, fo ift er ein Sdiot.... Hiermit 
iR ohne weiteres der Weg bezeichnet, den der naturwiſſenſchaft⸗ 
fihe Anfchanungsunterricht zu gehen hat: er muß möglich 
viele, möglihft Mare und möglichft vollfländige Borftellungen 
ſchaffen. Zugleich leuchtet aber auch die Nothwendigkeit eines 
ſolchen Unterrichts ein, denn e8 bedarf wol kaum ber Aus⸗ 
emanderfegung, daß niemand flir fich jelbft im Stande if, ſich 

Vorſtelnugen, wie fie dem heutigen Stande naturwiſſenſchaft⸗ 

jiher Erkenntniß entſprechen, anzueignen. 

Er fpridt fih dann dahin aus, daß weber das 
alltägliche Leben noch die Natur dies zu leiften im Stande 
ift, daß es nöthig fei, von einem gründlich durchgebilde⸗ 
ten Lehrer durch methodische Anfchauung zu diefen Bor- 
Rellungen geführt zu werden. Daran wird nun heute, 
Gott ſei Dank, nicht mehr gezweifelt, daß der natur- 
wiffenfchaftliche Unterricht zuc Bildung nothwenbig fei. 

Trotz alledem aber liegt derfelbe noch ſehr im argen, 
wenigſtens was die beobachtenden Disciplinen (Phyfik und Chemie) 
onbelangt. Ich will dies im Folgenden zu begründen fuchen 
und daran einige Borjchläge Inlipfen, durch deren Realifirung 
meiner Anfiht nad) ‚Abhilfe der bedeutenden Webelftände ge» 
ſchafft werden Tönnte. 

Das ift der lebte Zwed des Buchs, von dem man 
wünfchen muß, daß e3 Fein Lehrer der Naturwiſſen⸗ 
ſchaft, kein Director der Gymnaſien und Bürgerfchulen, 
kin Schulvorftand ungelejen laſſen möchte. 

8. Ueber das Entmwidelungsgeleg der Erbe. Bon Bernhard 
von Cotta. Leipzig, Weber. 1867. Gr. 8. 10 Nor. 
Der berühmte Berfaffer diefer Heinen Schrift hat fchon 

in mehrern feiner geologifchen Schriften Andeutungen der 

Tee eines Entwidelungsgefeßes der Erde gegeben; da dies 

ober immer nur beiläufig gefchehen Tonnte, fo hielt ex 

eine felbftändige, in ſich abgejchloffene Bearbeitung um jo 
mehr für nothwendig, als eine ſolche für alle tiefer gehen» 
den geologifchen Forſchungen gerade jest zu einem drin« 
genden Bedürfniß geworden zu fein feheine. Der Verfafler 
hofft Hiermit beweifen zu können, baß die Anwendung 
diejes Geſetzes alle Zweige des Naturwiſſens zu einem 
innig zufammengebörigen Ganzen verbinden werde. Die 
Darftellung ift Har und leichtfaßlich für jedermann gege- 
ben und für jeden gebildeten Denker jo anziehend ent- 
widelt, daß fich das Büchelchen ſchon überall zum Lieb- 
ling des Publikums gemacht hat. Beſonders ift dafielbe 
aber den zahlreichen Freunden der „Geologiſchen Bilder” 
des Verfaſſers, welche: bereits eine vierte Auflage erlebt 


haben, zu empfehlen. 


9. Grundzüge zu einer Theorie ber Erdbeben und Vullanaus⸗ 
brüdhe. In gemeinfaßliher Darftellung von Rudolf 
Falb. Erſte Lieferung. Mit zwei Figurentafeln. Gratz, 
Bod. 1869. Gr. 8. 15 Nor. 

Der Berfafler gibt in diefer Schrift etwas ganz Neues 
und hofft, daß man mit der Annahme feiner Theorie ganz 
allgemein und fehr bereitwillig vorgehen werde, weil fie 
überall vollkommen befriedigend aufllären könne, was 
bisher noch im dunklen Wirrwarr lag Wir haben 
feine Ideen mit vielem Intereſſe gelefen, konnten uns 
aber babei mandherlei Bebenten nicht entfchlagen. Er 
nimmt bei der Erflürung der Erdbeben und Vulkane einen 
viel höhern Standpunkt ein, als dies bisher von den 
Geologen gefchehen ift, nämlich den der gefammten Aftro- 
nomie, und glaubt, daß jene Phänomene fi ähnlich wie 
Ebbe und Flut in den Hafenftäbten vorausberechnen 
lafien. Unter der Vorausſetzung, daß der Erbfern ein 
beiflüffiger fei, muß die Anziehung von Sonne und 
Mond auf unfere Erbe in diefer innern Flüſſigkeit auch 
Gezeiten entwiceln, e8 müffen dabei unter günftigen Um⸗ 
ftänden auch Springfluten entftehen, welche dann noth- 
wendig die Erdbeben und Vullanausbrüche zur Yolge 
haben. Das Buch bringt nun eine feharfe Kritik aller 
frühern Erflärungsverfuche und entwidelt dann die neuen 
Ideen ausführlid und in dem guten Glauben, daß fie 
jeben unparteiifchen Denker ohne moeiteres für fich ge- 
winnen müffen. Das Ganze ift fehr anziehend und mit 
einer leicht erflärlichen Begeiflerung gejchrieben, welche 
wohl geeiguet jcheint, den Laien von der Richtigkeit der vor⸗ 
getragenen Anſichten zu überzeugen; ob dies aber aud) 
ebenfo bei den Fachmünnern der Gall fein dürfte, muß ſehr 
bezweifelt werden. | 
10. Der Karft. Ein geologifches Fragment im Geifte der Ein- 

ſturztheorie, geichrieben von F. Grafen von Marenzi. 

Zweiter Manufcriptabbrud, Zrieft. 

Der Berfafjer hat in feinen von uns in Nr. 52 d. BL f. 
1865 befprochenen „Zwölf Fragmenten iiber Geologie‘, wo⸗ 
von bereit8 die dritte Auflage erfchienen ift, feinen Stand» 
punkt Mar entwidelt. Ex ift ein entſchiedeuer Gegner der 
Erxrhebungstheorie und lebt und webt in ber von ihin auf- 
geftellten Einſturzhypotheſe. Er macht ſich dabei natürlich 
ganz frei von jedem Wutoritätöglauben. Wir können ihn 
deshalb nur loben, denn wo Wahrheit gewilfenhaft zu er- 
forfchen ift, muß man kein blinder Nachbeter fein, fon- 
dern den Muth Haben, auf eigenen Füßen zu fiehen und 
den errungenen Standpunft mit ganzer Straft zu ver- 
theidigen. Das vorliegende Werl des Verfaſſers, ſowie 
das ſpäter erjchienene: „Die Schweiz, ein geologisches 
Fragment im Geifte der Einflurztheorie”, kann als eine 
praftifche Anwendung der in den Fragmenten begründeten 
Theorie angefehen werden. Die Entwidelung deutet auf 
den anf innerer Weberzeugung fußenden ſtarken Geift des 
Berfaffere und verdient noch mehr Beachtung, als ihr 
bisher zutheil geworden, Wir verfichern ſchließlich, daß hier 
in der That eine durchweg interefjante Lektüre geboten 
wird, Heinrich Birnbaum. 


246 


Eine Geſchichte des italienifhen Dramas. 


Eine Geſchichte des italienifcyen Dramas. 
(Kortfegung ans Nr. 15.) 


Geſchichte des Dramas von I. L. Klein. Vierter bie fiebenter 
Band: Geſchichte des italienifhen Dramas. Bier Bände. 
Leipzig, T. DO. Weigel. 1866— 69. Gr. 8. 20 Thlr. 24 Ngr. 

Nach einer Analyfe von Accolti's „Virginia, welde 
nad) Klein's Anficht dem Ideal eines poetiſchen Nationale 
dramas ernftgafter Gattung näher ſteht ala die claſſiſche 
Tragödie der Haliener, und von Richt’: „I tre tiranni“, 
einer zuerft im verso sciolto gebichteten Kombdie, welche 
einer heitern und gefälligen Fabel eine allegorifche Bebeu- 
tung gibt, wendet ſich num Klein zu ben Luſtſpieldichtern 
in ber zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, deren Rich- 
tung er als eime eflektifche bezeichnet: 

Unter ahrung der Palliotenicene vermiſcht fie Motive 
der römijchen Findiingskombdie mit denen ber romaniſchen 
Abentenernovelle. Ihre Berwidelungsbehelfe entlehnt fie größe 
tentheils aus der Arioflo » Komödie. Verkleidungen, Unters 
fchiebungen, insbefondere Arioſto's Nekromant mit feinen Kiften- 
intriguen, müffen ihrer erſchöpften Erfindung zu Hülfe lom⸗ 
men. Dagegen befleigigt ſich dieſe eklektiſche Rachahmnungs⸗ und 
Entlehnungstomddie einer größern Ehrbarkeit; betont fie mehr 
das Moralifce, ohne fi deshalb wähliger und gemifienhafter 
in ihren Anstunftemitteln zu erweifen. Im dem Liebesaffect 
ihrer Sünglinge mifcht fie Garbentöne der reinern in ber Novelle 
gefchifderten Ciebesleidenfchaft, und der wilden Che der Ariofto« 
Romöbdie fucht fie einen Anftrich berechtigter Verbindung durch 
den fiehenden Berlobungering zu geben, mit dem der Liebende 
fich zum heimlichen Gatten feines Mädchens vor der Ent- 
führung weiht. 

Der Hauptvertreter diefer Gruppe ift Giammaria 
Ceechi, der productive Verfaffer von 92 Stüden, von 
denen die mod unebirten 70 Stüde meiftens bibliſche 
Dramen, geiftliche Spiele find. Unter den andern befin- 
den ſich zahlreiche Nachbildungen römiſcher Palliaten. 
Im Grunde find alle diefe Stüde Intriguenlomddien mit 
verwidelten Intrignen, deren Fäden immer diefelben bfei« 
ben, indem nur die Kreuzungen und Verſchränkungen 
wechſeln. Gechi als Abvocat licht aud die Kniffe und 
Tinten. Die eigentliche komiſche Charakterzeihnung tritt 
bei ihm zurück. Neben Cecchi, deſſen Hauptluftfpiele 
genau beſprochen werben, find noch zu nennen Antonio Sran- 
desco Grazzini, genannt Lasca, ber gelehrte Erzbifchof 
Aleffandro Piccolomini, deſſen „Ortensio“ ein pifantes, 
an überrafcenden Situationsmomenten reiches Stüd iſt, 
Girolamo Parabosco, Niccolo Secco, Luigi Groto, der 
Blinde von Hadria, Lodovico Dolce, der italienifche 
Hans Sad, der Schufter Giovanni Battifta Gelli, der 
übrigens ein gelehrter Schufter war und Latein verftand, 
Agnolo Firenzuole, Ercole Bentivoglio, Raffaello Bor 
ghint, Lionardo Salviati, Annibale Caro, deffen Komödie 
„Gli straceioni” zu den beften, gefefenften und anftändig- 
ften gehört. 

Bei der CHarakteriftik der einzelnen Mitglieder diefer 
Gruppe verweilt der Dichter offenbar zu lange Zeit. 
Die Analyfe der Luftfpiele erfcheint uns Hier zum großen 
Theil überflüffig, es wiederholen ſich in allen biefelben 
Elemente der Intrigue: Verwechſelungen, Kleidertauſch und 
Geſchlechtertauſch, Bindlingsmotive, Geeränber» und 
Bordellabenteuer. Wer zehn biefer Inhaltsangaben hin · 
tereinanber licſt, „dem wird offenbar von all dem Zeug 








fo dumm, als ging’ ihm ein Mühlrad im Kopf herum“. 
Die Unterfchiede der einzelnen Dichter, mag fie ber 
Literarhiftorifer auch angeben, verwifchen ſich bei der Letüire 
der Argomenti, bie os, nur ebenfo viele Umfegungen und 
Berftellungen derſelben Beftandtheile der Handlung find. 
Eine kurze Charakteriftit der Dichter mit Hervorhebung 
eines und des andern Werts hätten wir bei weiten 
diefem Streben nad) einer Bolftändigfeit und Gründlich ⸗ 
keit vorgezogen, die nur einen verwirrenden Eindrud 
macht. 

Nach einer Charalteriſtik der Commedia dell’ arte, 
der für die Entwidelung italienifcher Kunft ſehr wichtigen 
Masten- und Stegreiflomödie, wendet ſich Klein im 
fünften Band zum Hirtendrama im 15. und 16. Jahr- 
hundert; ber Vater des Hirtendramas ift Aynold Poliziana, 
deffen „Orſeo“ das ältefte claffifhe Drama in einer 
neuen Sprache überhaupt if. Es folgen Niccolo ba 
Correggio, Agoftino Beccari, Agoftino Argenti und 
Torquato Taffo, deſſen Biographie, wie wir ſchon er- 
wähnten, zu den Juwelen des Mein’fchen Werts gehört. 
Die Iprifchen Schönheiten de „Aminta” rechtfertigen bie 
Mittheilung zahlreicher Proben. Ein Chorgefang ent 
hält bereit das Goethe ſche: „Erlaubt ift, was gefällt“ 
(S' ei piace, ei lice). Unter den italienifchen Paftoralen 
befinden ſich viele jchlüpfeige Fabeln, wie namentlich 
Groto’8 „Calisto”. Nichſt Taſſo's „Aminta“ ift das 
bebentendfte und berühmtefte italienifche Paftoral Battiſta 
Guarini’8 „I pastor fido”. Die verwidelte Vorgeſchichte, 
das weitläufige Wabelgebäude, das Raffinement laſſen 
Guarini's Hirtenidyl gegen dasjenige Taſſo's zurüdtreten, 
trotz aller Vorzüge und Schönpeiten, die ein geſchmacvoll 
gefchulter, glänzend ftilifirender Dichtergeift dem Werke 
mittheilte. Klein vergleicht Guarini's Dichtung mit einer 
mufterhaften Mofailarbeit, diejenige Taſſo's mit einem 
ſchöpferiſch erfundenen, aus dem Bollen ausgeführten 
Gemälde. 

Die italienifche Tragödie bis zum Ende des 16. Jahr« 
hunderts flammt im gerader Linie von der lateiniſchen 
de8 Seneca ab. Die erſte und ältefte, mit Dante’s 
„Divina commedia” gleichzeitige Tragöbie ift des Albertiuo 
Muffato „Eccerinis” in Iateinifher Sprache; der Held 
derfelben ift Ezzelino, der italienifche Muftertyrann. 
Weniger Beachtung verdient Muffalo’8 zweite Tragödie: 
„Achilleis". Schon dem 16. Jahrhundert gehört Giovan 
Giorgio Triffino'8 Trauerfpiel „Sofonisba” an, welder 
Mein nahrühmt, daß fie dem Bericht des Hiftorikers 
Livius mit gewiſſenhafter Treue folge, „ein Vorzug mehr 
bei einer geſchichtlichen Tragödie, weiche die poetifchen 
Momente in der meifterhaften Erzählung fo kunſtgeniaß 
und bühnenwirkſam zu entwideln verfteht wie die bes 
Triffino“. Der nähjfte Bewerber um bie Lorberkrone 
der claffifc-italienifchen Tragödie it Giovanni Rucellai, 
Dichter der Tragdbie „Rosmonda”, welche den befannten 
longobardiſchen Stoff behandelt. Wir bewegen und in 
diefer Renaifjance-Tragdbie bereits im Kreife jener typi⸗ 
fen Trauerfpielftoffe, bie bis in die meuefte Zeit bei den 











Dichtern beliebt find. Emanuel Seibel und Zofeph Weilen 
find ja exft vor kurzem in die Fußſtapfen von Zriffino 
und Nucellat getreten. Ueber die nüchſten Tragödien 
fagt Klein: 

Mit jeder nun folgenden Tragödie des 16. Jahrhunderte 
entfernen wir uns mehr und mehr von ber gefälligen Einfach» 
beit und dem Adel ber „„Sofonisba‘, der erften Mufterform einer 
vom Geifte, ſei's auch nur vom Schattengeifte der antiken 
Bühne berührten Palafttragödie im Nenaiffanceftil, als deren 
Schöpfer Triffino und als deren geihmadvollftier Bollender 
und Ausihmüder Racine zu betrachten. Mit jedem Schritte 
gerathen wir immer tiefer in die Barbarei der pſeudo⸗elafſiſchen 

ragik, der wüſten, zur Caricatur des griehifhen Dramas 
verwilderten und von den Cinquecentiſten zur äußerflen Blut- 
und Greuelfratze verzerrten Seneca-» Tragödie, deren moder- 
fenchtes Grabgeſpenſt wir dem Leichenfchädel eines Gepidenkönigs 
eben entfleigen fahen, nm dem Phantom ale hochgeftelztem, 
mit Scepter und Krone, im Purpurmantel und auf dem Kothnen 
der Staatsactionen dahinfchreitendem Spul in der Tragödie 
des Großmeiſters diefer Richtung, des großen Corneille, wieder 
zu begegnen. 

Unfer Autor analyfirt nad) der Reihe die „Tullia‘ 
des Lodopico Martelli, die Tragddie der Blutſchande, 
„Canace” von dem gefeierten Speron Speroni degli 
Alvarotti, Cintio's greuelvolle Tragödie „Orbecche“, 
bes göttlichen Pietro Aretino „La Orazia”, die denſelben 
Stoff wie Corneille's „Horace‘' behandelt, Lodovico Dolce's 
Zragödien „Marianna“ und „Didone*, Muzio Manfredi’8 
„La Semiramide‘‘, ©roto’8 „Hadriana“ und Torelli's 
„Merope”, die er mit Maffei's und Voltaire's Tragödie 
vergleicht. Bei Gelegenheit von Speroni's Inceſttragödie 
ſchiebt Klein einen wegen feines baroden Cynismus mit- 
theilenswerthen Excurs über „Schwangerfchaftstragüdien”, 
befonders über Hebbel’8 „Maria Magdalena” ein: 


Bir würden uns felbR einer kritiſchen Unfittlichleit zu zeihen 
haben, wenn wir ein Sujet, wie das von Speroni's „Canace‘, 
überhaupt als ein dramatiſch berechtigtes betrachten und für 
möglich halten könnten: ein Dichtergenie, es fei fo groß wie 
es wolle, vermöchte ein Motiv zu tragifhen Ehren zu bringen, 
weiches zu dem der Dedipusfabel durch das Wiffen um ihr 
frevelvolles Berhältniß, das die Schuldigen durchweg begleitet, 
das volle Widerjpiel bildet. Ein Schuldmotiv, das die Heldin 
der Bintfhande an ihrem Leibe zur Schau trägt, das fie in 
ihren Klagen, die in Mutterwehen ausädhzen, lets erneuert und 
auffrifcht; ein Schuldmotiv endlich, das die Frucht ihrer läſter⸗ 
lichen Liebe zur fcheußlichen Misgeburt entftellt! Nur Eine 
in Scene gefettte Leibesfrucht wirft auf den Zuſchauer und 
Lefer von äfthetifh-gefundem, äfthetiich -fittlidem Geichmade 
noch efelhafter: eine Bühnenſchwangerſchaft, welche ſich die 
Heldin zugezogen wie eine geſchwollene Backe, wie einen 
Schnupfen, der in Geſtalt eines ihr gleichgültigen, eher fatalen 
und widerwärtigen, als auch nur ſinnlich genehmen Schwängerers 
fiber ſie gelommen; eine Bühnenſchwangerſchaft ohne Liebe, 
sine ira et studio, wie die der Maria Magdalene von Hebbel. 
Diele Tragik der kalten Geſchwulſt fteht auf der umterften, nie 
drigften Stufe; ift, nad) dramatifchpoetifcher Würdigung, nod) 
greulicher, noch widriger und efelhafter als felbft die Kindes- 
nöthen aus Gejchwifterliebe. Denu wie dasjenige Mädchen das 
umfittlichfte, verächtlichfte aller Geſchöpfe ift, das fich Teiden- 
ſchaftslos in Tiebeleerer Gleichgültigkeit Falten Herzens entehren 
Täßt: fo ift ein foldhes Geſchöpf als dramatiſche Heldin die 
poetiſch verworfenfte aller Blihnencreaturen. Selbft bie Hetären- 
tomödie verabfchent eine foldhe Heldin. Eine Dame aux Came- 
lias, eine Traviata bat weit beredhtigtere Anfprüche auf unjere 
Sympathien: denn diefe lieben doch, und leidenſchaſtliche Liebe 
fan felbft ein Opfer der Fiederlichleit zum Sühnopfer läutern. 
Die unrettbar und unerlösbar verlorenftien aller Sünbderinnen 
aber find die Maria Magdalenen, die nicht geliebt. 


Eine Geſchichte des italienifhen Dramas, | 247 


Zorquato Taſſo's großentheild im Irrenhauſe gefchrier 
bene Tragödie „König Torrismondo“ behandelt einen nor« 
difhen Stoff mit einer verworren-büftern, abenteuerlich⸗ 
abftufen Fabelintrigue, enthält aber, namentlich gegen 
den Schluß Hin, Stellen, die bes großen Dichters 
würdig find, 

Die weitern Abjchnitte des fünften Bandes: „Das 
mufifalifhde Drama im 16. und 17. Yahrhundert“, 
„Sharakterzug der Kunft und Poefie im 17. Jahrhundert“ 
und „Die Komödie im 17. Jahrhundert” enthalten wenig, 
was hier hervorgehoben zu werden verdiente. Geiſtreich 
find die Ueberblide auf verwandte Fiteraturgebiete und 
die Charakteriftit des üppigen Marino und feines Stils. 
Bon den Luftfpieldichtern an der Scheibegrenze des 16. 
und 17. Jahrhunderts ift befonders Giovanni Battifta 
Porta eingehend analyfirt, deſſen Eigenthümlichkeit ein bis 
zur Birtuofität ausgebildetes Raffinement in Schlingung 
und Löſung der Knoten, eine künſtliche Steigerung der Intri⸗ 
guenmomente ift, während Giacinta Andrea Cicognini’s 
Luſtſpiele einen romantifch-phantaftifchen Zug nicht ver- 
leugnen, wie der Marmorbräutigam in ber „L'’Adamira“ 
beweifl. Ein anderes Stüd deſſelben Autors: „Die ver- 
leumdete Unſchuld“, ift deshalb intereffant, weil einzelne 
Scenen an ähnliche in Schillers „Don Carlos“ erinnern, 
und weil aud der Stoff der Schiller'ſchen Ballade: 
„Der Gang nad) dem Eifenhammer” in die Handlung 
verwebt ift. 

Die erfte Abtheilung bes fehsten Bandes ge- 
winnt dadurd) an Interefje, daß ſich die Darftellung allmäh- 
lich um befanntere Träger der dramatifchen Dichtung concen- 
trirt. Die biograpgifch-kritifchen Monographien von Me 
taftafio, Goldoni und Gozzi nehmen den größern Theil des 
Bandes ein, der mit einer Darftellung der Tragddie im 
17. Jahrhundert beginnt. Analyfirt werden „Aristodemo“ 
von Conte Carlo de’ Dottori, ein Stüd, das in feiner 
Igrifchen Ueberfchwenglichleit für ein Zeitalter charakteriftifch 
it, weldes die Grenzen von Tragödie und Singdrama 
verwiſchte; Giovanni Battifta Andreini’8 „Adamo”, ein 
Drama, welches Milton zu feinem großen Epos angeregt 
bat; Geneſio Soderini's „La Rosimonda“, eine Rachtrags- 
tragödie zu Rucellai's Trauerfpiel, in Bezug anf tragi- 
Ihen Ausdrud und Stil demfelben überlegen. Anſaldo 
Ceba’s „Alcippo” und, ‚Die Zwillingsſchweſtern von Capua“, 
crafje Stüde, von denen das legtere mit einem „Zwillings- 
boppelfelbfimord‘ endet; des Cardinals Giovanni Delfino 
„Cleopatra”, ein Stüd, das von ber Sataftrophe ben 
Ausgang nimmt und gleich mit dem Entſchluß der ägyp⸗ 
tifchen Stönigin beginnt, dem Antonio in bie Gruft zu 
folgen, und das fi) im übrigen durch veine und edle 
Sprade des Affects, durch präcien dramatifchen Ausdrud 
und durch eine an bie Kataftrophe in Shalſpeare's 
„Kleopatra“ erinnernde hoheitsvolle Darftellung des Todes 
der ägyptiſchen Königin auszeichnet; Giacomo Cicognini’s 
„Der Berrath aus Ehre“, eine Eiferſuchtstragödie, die 
als Borläuferin unferes modernen, das häusliche umb 
bürgerliche Leben ſchildernden Trauerſpiels betrachtet wer⸗ 
den Tann. 

Das Hirtendrania des 17. Jahrhunderts verfällt 
Traufer Gewundenheit und gewaltfamer Verſchnörkelung, 
wie das vielgeritämte Paftorale: „Filli di Sciro” von 





248 


Guidobaldo Bonarelli de la Rovere beweift, ein Stüd voll 
Unnatur, fowol was die Fabelerfindung als das pfycho- 
logische Problem anbelangt. Einfacher find die mythologi- 
ſchen Paftoralen von Chiabrera, wie: „Der Raub des Cefalo“. 
An das Hirtendrama fchliegen fi) die ländlihen Komö⸗ 
dien, unter denen „La Tancia“ des Michel Angelo Buo- 
narotti don Sein als ein meifterhaftes Kunſtwerk, als 
eine der werthvollſten Kronperlen der italienifchen dra- 
matifchen Poeſie gerühmt wird, als ein naturwahreg, 
ungefchminktes Bauernibylldranıa, veredelt durch Kunftftil 
und Form. 

Nach einem Blid auf die Lyrik und Epik des 18. Yahr- 
hunderts, nach einer Schilderung derfelben, in welcher Niccolo 
Forteguerra's Fomifch-romantifches Heldengedidht: „Ricciar- 
detto‘ als ein Meifterftid bes Tomifchen Epos hervor⸗ 
gehoben wird, wendet fi Klein zu den Melodrama 
des 18. Jahrhunderts und zu feinen Hauptvertretern 
Apoftolo Zeno und Niccolo Metaſtaſio. Bon Zeno’s 
60 Melodramen werden drei analyfirt: „Gl' Inganni felici“, 
das Erſtlingswerk des Dichters mit claffifchen Anftrich und 
Motiv, aber ohne Würde in der Haltung der Figuren; 
„Caio Fabbrizio”, ein Melodrama, weldyes den bekannten 
Borgang aus der römiſchen Geſchichte behandelt, aus⸗ 
gezeichnet durch einzelne Scenen von echt römifchen Ge⸗ 
präge, wie die zwiſchen Fabbricio und feiner Tochter 
Seftia; und „Ambleto”, ein Berfuh, die Hamletfabel 
für die Mufifdichtung einzurichten, wie dies neuerdings 
von Ambroife Thomas wieder unternommen worden: ift. 
„Ein Hamlet”, fagt Klein, „wo nicht blos Ophelia im 
Wahnſinn fingt, wo fünmtliche Perſonen verrüdt genug 
find, um zu fingen.” Die befte Scene in dem Melo« 
drama ift diejenige zwifchen Ambleto und feiner Mutter, 
eine Scene, welche an bie verwandte bes englifchen Dic)- 
ter? anklingt. Die Muſik zu diefer Oper feste Franc. 
Gasparini (1705). Ein andere Melodrama von Zeno: 
„Meride e Selinunte”, behandelt den Stoff der Schiller’. 
fen „Bürgſchaft“. Charakteriftiich für alle Melodramen 
Zeno’s ift die. heroiſche Großmuth und Hochherzigkeit der 
Helden. Dies ift aud) der Grundzug in ben Singdramen 
Pietro Metaſtaſio's, des großen Poeten diefer Gattung, 
der fie zur Vollendung erhob. Die Biographie Metaftafio’s, 
welche Klein ausführlich erzählt, enthält manche pilante 
und file die Cultur⸗ und Kımftgefchichte des 18. Jahr⸗ 
hunderts intereffante Anekdote; unfer Autor reiht an 
diefelbe eine Anthologie der Tritifchen Urtheile über ben 


italienifhen Dichter und eine Reproduction einiger 
Melodramen, wie: „Die verlaffene Dido“ und 


„Temistocle”, In diefen Melodramen wurde die fce- 
nifhe Wirkung bereits durch bedeutenden Aufwand von 
opernhaften Mitteln hervorgerufen. In der „Dido“ 
drängt fi) die Wirkung gegen den Schluß hin zufammen; 
man ſieht den Brand bes Palaftes; Dido ſtürzt fich im 
die Flammen: 

Gleichzeitig — fo ſchreibt die Theateranmweifung vor — wälzt 
das Meer Sturzwellen an die Stadt. Dichte Wolfen ballen ſich 
unter den Klängen einer geräufchvollen Sinfonie. Waſſer und 
Fener in ftreitendem Wuthkampfe. Naturaufruhr, wilde Blitze, 
brüffender Donner, Schaumgefprige u, f. w. Zulegt behält das 
Waflerelement Oberwafler. Der Himmel heitert fi auf; bie 
fhauerlihe Sinfonie geht in eine heitere Über, und aus ben 
berubigten Wogen erhebt fi Nettuno’s firahlender Meerpalaft, 





Eine Gefhichte des italtenifchen Dramas, 


in deffen Mitte der Meergott felbit fihtbar wird, thronend auf einer 
von Seeungeheuern gezogenen und von Nereiden, Sirenen und 
Tritonen umſchwommenen Seemufchel. 

Im „Temistocie” wirb außerordentlich viel gefungene 
Großmuth confumirt; die Verſe aber haben einen wahr- 
haft bezaubernden melodiſchen Heiz, welcher den ganzen 
eingeborenen Wohlklang der italienifhen Sprache zur 
Geltung bringt. Im übrigen bleibt die Holzform der 
melodramatifchen Kunftwerfe bei Zeno, Metaftafio und 
ihren Nachfolgern immer biefelbe, wie verfchieden and 
der Gipsbrei der hineingegoffenen Fabel erfcheinen mag. 
Auch Hatte in diefen Stüden die Fürftenfchmeichelet ihren 
Höhepunkt erreicht. Neben dem ernftern Melodrama ber 
ftand die opera buffa fort, als deren Hanptvertreter 
Giambattiſta Lorenzi, der Ariftophanes ber neapolitanifchen 
opera buffa, betrachtet werben muß. Es fehlt dieſen 
Dpern wie dem „Socrate immaginario” nidht an Cynis- 
men, wie 3. B. in der erwähnten Oper der „Kammertopf“ 
der Zanthippe eine große Rolle fpielt; aud) nicht an paro⸗ 
diftiichen Elementen, die an die modernen Offenbachiaden 
erinnern. In der Wahl der Themata war Lorenzi's Mufe 
fe genug: fie wählte chinefifche Stoffe, wie im „Chinefi« 
ſchen Idol“, wo ſchon das Coſtüm gewiß eine ähnliche 
Wirkung ausübte wie in Auber's „Chernem Pferd“; fie 
fheute jelbft in „La luna abitata” eine Mondreife nicht, 
welde ein verrüdtr Aſtronom mittel thaugefüllter 
Ochſenblaſen unternimmt. Ein dritter Melobramendicter 
ift Giambattiſta Cafti, welcher für feine komiſchen Ope⸗ 
retten biftorifche Stoffe wählte, den verfchuldeten corfifchen 
„König Theodor in Venedig“, ja felbft den „Catilina“ 
auf die Bühne brachte und die bekannte Longobardenkönigin 
Rosmonda zur Heldin einer Tragilomddie machte. Auch 
die Höhle des Trophonius gab Lafti den Stoff zu 
einer opera buffa. Die Parodie auf die Antike lag aljo 
Ihon damals in der Luft, und Offenbach erfcheint als 
ein Erneuerer ber neapolitanifchen opera buffa, die 
er nur mit der ganzen Srivolität des second empire 
ſättigte. 

Die italieniſche Komödie des 18. Jahrhunderts knüpft 
ſich an den Namen Goldoni's: 

Seine Wiege und fein Grab fallen nahezu mit dem Bes 
ginn und dem Ende des Jahrhunderts zufammen. Wie Moliere 
für Frankreich im 17. Jahrhundert, fo ift Goldoni für Italien 
im 18. der Reformator des komiſchen Theaters und der eigent- 
liche Schöpfer des neuern Lufifpiele. Die Novellen» oder Aben- 
tenerlomödie, was im Grunde aud die Menanderlomödie war, 
bat Goldoni zu einem Charalter- uud Sittengemälde des ge- 
ſellſchaftlichen Lebens umgeftaltet und, dank feinen komiſchen 
Genie, feiner unübertroffenen Kenntniß der feinen, bie Ko⸗ 
mödienmomente ins Spiel feenden Triebfedern gefellichaftlicher 
Figuren, namentlih aus ber mittlern und niedern Sphäre, 
dank feiner Fruchtbarkeit endlich, ein für allemal feſtgeſtellt, 
da ihn, den nähft Zope de Vega fchreibfertigfien und pro- 
ductivften Bühnendichter, die Fruchtbarkeit eben in Stand fette, 
durch eine ununterbrochene Reihe wirkjamer, die Theaterwelt 
in Spannung und Athen erhaltender Stüde dem Luftfpiel 
den Stempel einer muftergliltigen Behandlung nachhaltig uud 
danernd aufzudräden. 

Klein gibt eine ausführliche Biographie und Charal- 
teriftit von Goldoni, ſowie er auch die kritiſchen Urtheife 
der italienifchen *iterarhiftorifer über diefen Autor mit 
theilt. Die Bedeutung des Charakterluftjpiels für Italien 
ftelt Klein mit den folgenden Worten feſt: 





An Stelle der iypiſchen Charaktermasken der Stegreif⸗ 
lomödie wirkliche, piuchologifch entwidelte, aus dem Leben ge- 
ſchoöpfte Luſtſpielcharaktere in komiſchen Conflict ftellen; die im⸗ 
provifirte, von Lazzis unterbrochene, mit unfdjidlichen Späßen 
verungterte Wechſelrede durch ein kunſtgemäß gearbeitetes und 
dennoch natürlich fließendes, dem Charakter der Perſon ent- 
fprechendes und die Handlung fortipinnendes Geſpräch erjegen: 
darin vorzugsmeife follte die von Soldoni erftrebte Reform ber 
italienifhen Komödie, oder vielmehr die Zurüdführung derſel⸗ 
ben auf die Sittenkomödie des Macchiavell beftchen, gegen welche 
fie Hinmwieder, in Rüdficht auf eine gefittetere, decentere Hals 
tung, fich nicht minder reformatorifch zu bewähren hatte — ſort⸗ 
frittbefliffen auch in der Beziehung, daß fie nicht fowol, wie 
jene, ein fatirifches Zeitgemälde und Geijelung der Sitten, ale 
die Entfaltung gefellichaftlicher Charaktere und ihrer lächerlichen 
Eigenheiten bezwedte, mit der Abficht, auf die Befreiung von 
folhen und ähnlichen Charakterfhiwäden und Fehlern binzu- 
wirlen. Doch galt es, ein leidenſchaftliches im Nationalgeſchmack 
fe wurzelndes Behagen an jenen Volksmaseken nicht mit eins 
umzuwandeln. Zu reformiren galt es eben, nicht dem all» 
emeinen, felbfi die höhern Schichten der Geſellſchaft beherr- 
Ihenden Geſchmack ins Gefiht zu ſchlagen. Unfer Komiler ging 
baber, feinem engen und maßhaltenden Naturell entiprechend, 
wit vorfichtiger Allmähfichleit zu Werke, indem er einen Com⸗ 
promiß gleihfam mit der Stegreiflomödie ſchloß und im Be 
ginn feiner Reform einige der beliebteften Charaktermasken aus 
der Commedia dell’ arte in feine Charakterfomödien aufnahm, 
bis nach umd nach die Metamorphofe alle Berlarvungen ab» 
geftreift und das reine Charakterfuftfpiel fi aus den Mäsken- 
formen frei und vollfommen entpuppt hatte. 

Der Hiftorifer des Dramas nimmt im ganzen zu den 
Broductionen Goldoni's eine wohlwollende Stellung ein, 
obwol fie doch bes Flüchtigen und Langweiligen fehr viel 
enthalten und durch eine, poefielofe Auffafjung des realen 
Lebens und Mangel an Humor und Wis einen etwas 
nüchternen Ton auf der italienifhen Bühne einführten. 
Stüde wie: „I teatro comico“, mit feiner äußerlich zu⸗ 
fammengelötheten Scenenfolge find doch nur eine drama- 
tifirte Poetik, welche die Grundfäge der Reform zur Gel: 
tung bringt, aber nicht biefe ſelbſt. Beſſer find Sitten- 
Inftfpiele, wie: „Le smanie per la villeggiatura“, „La lo- 
candiera”, in welcher ber Charafter der Gafthofwirthin 
anſprechend ift und die Bermwidelungen mit Gemwandtheit 
geſchürzt find. „La bottega del caſſè“, ein Stitd mit voll» 
fommen bewahrter Ortseinheit, eine Komödie der Bar- 
bier-, Spiel» und Kaffeebuden,, fcheint wegen einzelner 
Sitnationen mit einem fchneidenden Contraft von Tomifchen 
und tragifhen Momenten überfchägt zu werden. Uns 
ericheint das berühmtefte Luftjpiel Goldoni's: „Il burbero 
benefico”, and in der That als das befte, ganz ab- 
gefehen von feinem glänzenden parifer Erfolge, während 
Klein der Anſicht ift, daß fie einer oder der andern der 
zur Erörterung gebrachten Goldoni'ſchen Komödien an kunſt⸗ 
feiner Charakteriſtik, an Entwidelungsinterefje und fefleln- 
den Situationen nachſtehe. Wol aber rühmt er mit 
Recht als Surrogat für die lachenden Thränen, welche 
die große enthuſiaſtiſche Luftfpiellomit auspreft, Die 
Thränen einer „fo. beglüdenden Rührung, ans welcher bie 
mumtern fcherzhaften Eufffpielftimmungen hervorſchimmern 
wie die Goldfiſchchen ans der Haren Flut“. Nimmt man 
hierzu eine treffliche und lebenswahre Charakteriftil, eine 
Handlung, die fi aus den Eigenthümlichkeiten der Cha⸗ 
raftere mit Nothwendigkeit entwidelt, fo begreift man, 
wie auch Goldoni's Erzfeind, Carlo Gozzi, gerade dies 
Luftipiel als vorzüglich preifen Tonnte. 

1870. 16. 


Eine Gefhichte des italienifhen Dramas, 249 


Ueber Carlo Gozzi, einen don den NRomantifern und 
ihren Nachzüglern ſehr überfchägten Dichter, iſt Klein’s 
Urtheil zutreffend. Uns fcheint die Phantafterei der Gozzi'⸗ 
ſchen dramatifhen Märchen ebenfo nüchtern wie der Ton 
der Goldoni'ſchen Komödien; es fehlt ihnen ber poetifche 
Hauch und der tiefere Sinn; nur hin und mider findet 
fich ein fatirifcher Anklang, ähnlich wie in den confufen 
Märchendichtungen unferer Romantiker; fonft drängen ſich 
bizarre und monftröfe Erfindungen, Leib» und Seelen» 
wechfel, Bertaufchungen der Perfönlichkeiten, Ungeheuer 
jeder Art. Das Barod-Phantaftifche ift aber weder 
komiſch noch geiftreich’; es ift nur wie ein wüſter Traum 
bei vollem Magen. Die Masken der Commedia dell 
arte, für deren Stegreifergüffe Gozzi die nöthigen Lücken 
ließ, müfſſen für die eigentliche Komik forgen. Gozzi's 
beftes, durch Schiller’8 Genius geadeltes Stück: „Turandot“, 
gehört einer etwas andern Oattung an. Klein analyfirt 
don Gozzi's Stüden: „L’amore delle tre Melarance“, 
„ll corvo“, „I Re Cervo“, die8 Hauptmetamorphofenftiid 
mit der Statue, welche lacht, wenn jemand in ihrer An⸗ 
wefenheit eine Lüge jagt, und dem Zauberſpruch, der einen 
Geelenwechfel zur Folge hat; „La donna serpente”, ein 
etwas triviales Büihnenmärchen; die Märchentragödie: „La 
Zobeide‘; und das philofophifce Märchen vom grünen 
Vögelchen: „L’angellino beiverde”, welches in mancher 
Hinfiht no als das finnvollfte betrachtet werden Tann. 
Gozzi's geiftiger Standpunkt war ein befchränfter, feine 
jocial»politifchen Anſichten ariftofratifch «volksfeindfich, ein 
Umftand, der ihm die Sympathien der beutfchen roman 
tifhen Heactionäre zuwenden mußte. Seine übrigen Werke, 
Komödien und Tragikomödien, find unbedeutend. 


Die zweite Ubtheilung des [ehesten Bandes (bie 
erfte hat fiber 700, die zweite über 600 Seiten) jet zunächft 
die Darftellung der italienifchen Komödie im 18. Jahrhundert 
fort und fchildert Marcheſe Francesco Albergati Eapacelli und 
deffen zwei gerühmteſte Luſtſpiele: „I ciarlatore maldicenti‘ 
(„Der verleumberifhe Schwäger‘) und „Le convulsioni‘ 
(„Die Krämpfe), Aleffandro Bepoli, Antonio Simone So» 
grafi, defjen befannte Komödie „Olivo e Pasquale” ein paar 
anſprechende Situationen bei ungenitgender Motivirung der 
Rataftrophe enthält und der auch eine commedia „Wer- 
ther“ nad) Goethe's Roman mit rührendem, aber nicht 
tödfihem Abſchluß dichtete; Camillo Federici, beffen Luft» 
jpiel: „Die Heinftädtifchen Vorurtheile“, gerühmt wird 
wegen überrafchend deutjchnationalem Gepräge, wegen 
Bau, Gliederung, Dispofttion der fcenifhen Momente, 
mufterhafter Berwebung der Nebenmotive mit dem Haupt- 
motiv und ſcharfer Charakterzeichnung; Francesco Antonio 
Avelloni, „postino”, das Dichterchen, genannt; Signorelli, 
den befannten Xheaterhiftorifer u. a. 

Die Tragödie des 18. Jahrhunderts wird in der er⸗ 
ften Hälfte deffelben durch Maffei's „Merope”, in der 
zweiten duch Alfieri's 16 Zrauerfpiele vertreten. Andere 
Tragbdiendichter find: Pierjacopo Martello, der Erfinder 
des Martellianifchen Berfes, einer Umgeftaltung des Ale⸗ 
randriners, welche durch die weibliche Cäfur in der Mitte 
und die größere reiheit der Bewegung an die moderni- 
firte Nibelungenftrophe erinnert, Verfaſſer einer „Iphigenie 
in Tauris“, einer Tragödie: „M. Tullio Cicerone‘, voll 


32 


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250 | Unterhaltungsfchriften. 


größerer Grüßlichleiten, als fie da8 Trauerfpiel der Ein- 
quecentiften zur Schau trug, und mehrerer anderer Trauer» 
ſpiele; Gian Vincenzo Gravina und Conte Saverio 
Panſuti mit griechiſch⸗römiſchen Stoffen. Einen von dem 
Herzog von Parma ausgefegten Preis hatten eine Menge 
preiögefrönter Tragödien erhalten, „denen“, wie Klein ſehr 
treffend und mit weitreichender Beziehung fagt, „der ge⸗ 
wonnene Preis nur als Mühlſtein am Halfe dient, der 
fie fchneller al8 andere im Meer der Bergefienheit be- 
gräbt”. Zu den gerühmtern Tragddien jener Zeit, welche 
Klein eingehend analyfirt, gehören: Giovanni Granelli's 


| „Dione” und Antonio Conti’8 „Giulio Cesare”, welche 


durch Erzählung der Kataftropge an dramatifchem Leben 
weit hinter Shakſpeare's Trauerfpiel zurüdteht, und des 
Afonfo Barano di Camerino: „Demetrio“. Eine ſchauer⸗ 
liche Dedipus « Tragilomödie ift Domenico Lazzarini’s 
„Ulisse il Giovane‘, deren Scidfalsftrumpf Zaccario 
Balareffo parodiftifch aufbröfelte in der Burleske: „Rutz- 
vanscad il Giovane‘‘, eine Satire, welche mehr oder we⸗ 
niger die ganze franzöfifch-antikifirende Nichtung diefer 
Dramen trifft. Audolf Gottſchall. 
(Der Beſchluß folgt in ber nädften Nummer.) 


Unterhaltungsfchriften. 


1. Siligran. Bon Levin Schüding. Hannover, Rümpler. 


1870. 8. 1 Thlr. 7% Nor. 
2. Schwarz auf Weiß. Rovelle von Adelheid von Auer. 
r. 


Berlin, Leffer. 1869. 8 15 N 


8 
8. Vox populi. Phantaſieſtück aus der Thierwelt. Abenteuer. 


einer Seelenwanderung nad den Bifionen eines Haſchiſch⸗ 
effers. Bon Julins Groſſe. Braunfhweig, Wefter- 
mann. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Ngr. 

4, Novellen und Skizzen file ihre Freunde von Helene. Ber⸗ 
lin, v. Deder. 1869. 8. 1 ZThlr. 15 Nor. 

5. Die Welt des Scheines. Bier Erzählungen von Ernft 
Billlomm. Zwei Bände. Gera, Ißleib und Rietzſchel. 
1869. 8. 3 Thlr. 

6. Das Haus Morville. Roman von Karl Grüel. Zwei 
Bände. Jena, Coſtenoble. 1869. 8. 3 Thlr. 

7. Der Frauen Königreih. Cine Liebesgeſchichte von der Ber 
fafferin von „Sohn Halifax”. Aus dem Englifchen von 
Sophie Berena. Autorifirte Ausgabe. Bier Bände, 
Berlin, Janke. 1869. 8. 2 Thlr. 20 Nor. 


Allerlei Hausarreft hat mich gendthigt, die ſümmt⸗ 
lichen obengenannten Bücher nicht blos als Kritiker zu leſen, 
fondern in der Abſicht, durch die Lektüre auch anmuthig 
unterhalten zu werden. Diefe doppelte Abficht des 
Kritikers muß dem Autor willlommen fein, befonders 
wenn er mehrbändige Werke vorlegt. Bei dem erft« 
genannten Werke: „Biligran‘ von Schüding, ift dies 
nicht der Val, vielmehr enthält der müßige Band fogar 
vier einzelne Arbeiten, „nicht aus ernftem Stoff Gebilde⸗ 
tes, fondern Lichtes Gewebe der Fiction, des Lebens Spiegel⸗ 
bild, wie es in zierlicher Farbenklarheit eine Seifenblafe 
zurüdwirft, etwas, worin der Gedanke Libellenflügel an⸗ 
genommen bat und mit buntem Schiller durch das heitere 
Gebilde der Phantafie ſchwebt“. So charakteriſirt Schüding 
felbft diefe zierlichen und mit Finftlerifcher Sorgfalt und 
Liebe gefchaffenen Arbeiten, die alle vier jo viel drama⸗ 
tifches Leben haben, daß fid) zahlreiche Bearbeiter der 
Stoffe bemädhtigten, um fie für die Bühne darftellbar 
zu machen. Solche Birchpfeiffereien pflegen den Autoren 
nicht erwünſcht zu fein, aber Schücking wird nicht zürnen, 
wenn er Hört, daß wir nach forgfältiger Leſung zuerft 
von ber Novelle „C. Krüger“ die Rollen unter und ver« 
theilten und flottweg im Salon das Stüd ex tempore 
und ohne irgend vorhergängiges Memoriren aufführten. 
Es wurde viel gelacht und Beifall geflatfcht, und da wir 
niemand wehe thaten, fo dürfte diefe Art immerhin geift- 
reicher Abendunterhaltung wol zur Nachahmung empfoh- 
len werden. 

Adelheid von Auer hat es bereits in den frühern 


Romanen: „Modern“, „Fußftapfen im Sande” u. f. w. ver- 
fanden, die Aufmerkſamkeit ber feinern Lefewelt zu erre- 
gen. Auch in „Schwarz auf Weiß‘ (Nr. 2) behandelt 
fie wieder einen nicht unglücklich gewählten Stoff aus 
dem heutigen Gefellichaftsieben, erzählt mit Anmuth und 
Sicherheit, trägt die Farben nie zu ſtark auf, läßt uns 
nie über Unmöglichkeiten ftaunen und bringt alles zum 
guten und fachgemäßen Abſchluß. Das Recht, ja bie 
Pfliht Hat der Romanfchriftfteller. 

In dem Phantaſieſtück „Vox populi” (Nr. 3) ift 
Julius Groffe in einen Fehler verfallen, den wir im 
Intereſſe der Kunft rügen und vor deſſen Wiederbegehung 
wir warnen müſſen. Auch er bat gut und richtig aus 
dem Leben erzählt, aber gegen das Ende Hin verfällt er 
in einen befremdlichen Fehler, er gibt ung zweierlei Abſchluß 
feiner Erzählung zur Auswahl, einen „verfühnenden, be 
friedigenden“, und einen, den er „reale Wahrheit” nennt; 
warum nicht „die triviale Alltüglichkeit? „So“, fagt er, 
„hätte e8 kommen können, aber auch fo; wie es dir ge⸗ 
fällt, entfcheide dich, Lieber Lefer, wähle diefen Schluß 
oder jenen‘ u. f. w. 

Das ift unrecht. Diefe Spielerei ift dem Dichter 
nicht geftattet. Sein Werl muß ein wie aus Erz ge 
goflenes Kunſtwerk fein, kein Mummenfchanz, keine puppen⸗ 
bafte Figur, welche die Maske beliebig wechjelt. 

. Aud) die „Abenteuer einer Seelenwanderung” kön⸗ 
nen wir keineswegs unbedingt loben. Stoffe folcher phan- 
taftifchen Natur dürfen nicht über 100 Seiten hinaus 
ins Breite getreten werben, fondern müffen lieber in 
poetiſcher Form, wie Küdert das fo meifterlich gezeigt 
hat, kurz und prägnant, in jedem Worte wirkfam und 
zufammengehalten zum Bortrag kommen. Hätte Groſſe 
das gewollt, er hätte e8 recht gut vermodt. Weshalb 
immer „in da8 Breite fchweifen‘? 

Die Kritit fol fih nie genirt fühlen, and nidt, 
wenn fie eines Königs oder Kaiſers Geifteswerke zerglie⸗ 
dert, um ihren Werth feitzuftellen. Auch einer Frau 
Mühlbach gegenüber behält fie Teicht ihren Gleichmuth 
bei, denn folange die Berleger zahlen und druden, feen 
die Mühlbäche ungeftört fröhlich ihr Rauſchen fort. Faſt 
aber ift e8 ein anderes, wenn ein zartbefaitetes Frauen⸗ 
gemüth wie das der Anonyma Helene die Lyrik ihres 
Herzens und Lebens in Berfen vor uns ausſtrömt umd 
dann auch „Novellen und Skizzen fiir ihre Freunde” (Mr. 4) 
nachfolgen läßt. Der Kritiker ift micht fo anmaßend, ſich 


— — — EEE nn — —— — —— Lu — —— — —— — — — — 6—2—— 


Unterbaltungsfhriften. 251 


nit zu dieſen Bevorzugten zu zählen. Er verſteht fehr 
wohl den leifen Wink, die unausgefprochene Weifung: 
„Noli tangere circulos meos”, verrecenfirt mir nıeinen 
lieben literariſchen Blumengarten nit, ich fchreibe zu 
meinem Vergnügen und ſetze bie Fünigl. Geh. Ober⸗ 
hofbuchdruderei nicht der Gefahr aus, an Drud, Papier 
und Berlag Geld zu verlieren. Und jo will der Sritifer 
denn amch gern Manier annehmen und geftehen, baß, 
fauber und elegant wie die Ausftattung, auch das Innere 
des hübjchen Buchs ift, daß nichts Ungeheuerliches aus⸗ 
gefonnen und ausgefponnen ift, fondern daß mit edler 
Wärme und volllommener Stilreinheit Wamilienereig- 
niffe borgetragen werden, die wohl geeignet find, be- 
freundeten Berfonen ein mehr als gewöhnliches Iutereffe 
abzundthigen. Unfere fchriftflellernden Damen find in 
der That gegen ihre Kolleginnen in England übel genug 
daran. Die brauchen nur Auge und Ohr zu Öffnen und, 
was fie ans nahen oder fernen Häufern und Edelhöfen 
erfahren, nad) der Schablone der Tagesmode zu erzählen, 
fo wird uns immerhin pilant Abenteuerliches vorgejekt 
fein. . Man laſſe einmal ein Dutend Engländerinnen die 
Sata ihres heimiſchen Herbes erzählen; wir möchten jede 
Wette eingehen, daß mindeſtens neun frappirende Ro⸗ 
mane auöframen würden. Was paffirt dagegen ig Deutſch⸗ 
land und in deutſchen Novellen, 3. B. ber letzten Novelle 
von Helene: „Wie alte Wunden heilen"? Ein zartes Ver⸗ 
hältniß wird gelöft, weil Er ein Graf und Sie eine 
wenn auch nicht unbegüterte Profefforstochter iſt. Er 
beirathet eine Bon, Sie ftirbt. Die Aeltern brouilliven 
ſich, proceffiren miteinander, endlich verlauft der Profeſſor 
feine Beſitzung und flebelt nach Genf über; doch nein, 
er bat nur die Abſicht. Die Frauen haben eine Berfüh- 
nung angebahnt, es wird eine dampfende Bowle aufgetra- 
gen, der ungetreue Er ift infolge der Strapazen von 1866 
geftorben, feine Bon ift ſchon Längft tobt, nur ein Sproß 
M übrig, Eduard. Der glückliche Knabe erbt nicht blos 
das gereitete Majorat (400000 Thaler), fondern wird 
auch von der Profefiorfamilie als ihr mitangehörig be» 
trachtet, in dem Grade, daß ihm durd) donatio inter 
vivos ſchon eim Theil des Vermögens, was Sie geerbt 
hätte, zugetheilt wird. Sie ift jo gut wie vergefien, die 
thenere Berftorbene. 
pÖeflatten Sie uns, Ednard als unfer Kind zu betradhten 
und ıhm bereits jeßt einen Theil des Bermögens zu lbergeben, 
Aber weldes mein Mann und ich frei zu beflimmen baben. 
eftern früh waren wir bei unferm Rechtsanwalt, um dies 
enf jeden Fall ficherzuftellen, und bat berfelbe bereits unſern 
Letzten Willen in Händen.” — „Ia, gewähren Sie uns dieſe 
Senugthuung, Herr Graf”, fligte der Profeflor bewegt Hinzu 
u. J. w. Der Graf zerdrüdte eine Thräne der RUhrung und 
Margaretha rief, mit ſtürmiſcher Innigkeit ihren Arm um den 
Hals der Profeſſorin ſchlingend: „Was die Zukunft auch neh⸗ 
men oder bringen möge, eine füße Gemwißhelt nehmen wir in 
das neue Jahr hinüber, welche uns unter allen Umftänden 
tröften uud ermutbigen ſoll. Sie beſteht in der Grfahrung, 
daß jedes wahre Gere! auch eine ewige Dauer in fi} trägt 
and es oft nur ber allerunbedeutendflen Beranfafjungen bedarf 


(doch wol gegen mindeftens 50000 Zhaler], um daffelbe — wie | 


tief es anch immer erlofchen feine — a feiner erneuten voll⸗ 
lommenen Herrſchaft gelangen zu laffeu!‘ 
Diefe Schenkung war ungebörig, wenn fie auch dazn 


beiträgt, bei bem Grafen, der die Trennung der Liebenden 





verfchuldet Hatte, eine Thräne der Rührung hervorzuloden 
und der Baronin Margaretha diefen pathetifchen Schluf- 
accord auf die Lippen zu legen, benn wir find überzeugt, der 
glüdlichhe Eduard wird das Geſchenk verjubelt haben, che 
er auf fein Majorat zurückkehrt. Der alte Brofeffor, 
wenn er fo reich war, hätte lieber einige vernünftige 
Stipendien fir unbegüterte Studirende ftiften follen. 
Aus dem Gefammititel feiner vier Erzählungen läßt 
Ernft Willkomm uns allzu beutlich vorausſehen, was 
wir zu erwarten haben: „Die Welt des Scheines“ (Nr. 5), 
und faft alles Liegt gejagt vor, wenn wir noch die Einzel 
titel hören: „Wucher und Speculation”, „Ein leidenfchafte 
liches Kind der Welt“, „Zwei Frauen von Bildung‘, 
„Falſch gewählt”. Willkomm ift mit Recht einer ber am 
liebften gelefenen Romanfchriftfteller, aber es ift ſtets ein 
bedenklich Unterfangen, über Themata aus einer ſcharf⸗ 
bezeichneten Sphäre, wie über gegebene Schablonen, No⸗ 
vellen zu fchreiben, felbft wenn es mit dem Gefchid eine® 
Willkomm geſchieht. Trotz wohlberechneten Arrangements 


iſt eigentliche Spannung nicht möglich, alles iſt vorneweg 


angedeutet, die Moral liegt im Titel, ſtatt ſich als Facit 


am Ende zu ergeben. Gut erzählt, oft markig und draſtiſch, 
iſt alles, doch wollen wir auf das einzelne nicht eingehen. 


Aud) Über die zwei letzten aus dem Englifchen bear- 
beiteten Romane dürfen wir uns kurz fallen. Karl 
Gritel (Nr. 6) freilich Hat es fich keineswegs leicht ges 
madt. Er hat gezeigt und zeigen wollen, „was eine 
deutſche Männerhand aus dem weichlihen Gebilde der 
pietiftifchen Engländerin machen kann“. Das ganze erfte 
Bud, reſp. der erfie Band fpielt vor Beginn jener eng⸗ 
liſchen Erzählung, und das Einflechten einzelner aus die 
fer genommenen Züge war gerade nicht die leichtefte Aufgabe 


der Erfindung. Erſt in der Mitte feines zweiten Buchs 


langt der Berfafler bei dem Zeitpunkt an, wo jener Ro⸗ 
man beginnt; aber aud) von da an if} er nicht Nach⸗ 
ahmer, denn er führt den Leſer nicht nur durch ganz 
andere Scenen, fondern kommt auch zu einem gänzlidy 
andern Schluſſe. Sein Original: „The heir of Red- 


 eliffe”, hat Grüel unbeftreitbar weit überholt, und wir 


möchten ihm wünjchen, daß feine Arbeit in das Englifche 
wörtlich überfegt wiirde, vorzugsweife der erfte Band, 
der ein für fich abgefchlofienes Werk ift und den er mu- 
tato nomine für fein Werk getroft ausgeben dürfte. 
Auch der von Sophie Berena aus dem Englifchen 


| bearbeitete Roman: „Der Frauen Königreich” (Mr. 7), hat 


nad) unſerm Urtheil durch die Bearbeitung gewonnen. Hand» 
lung ift wenig darin, aber die Entwidelung der Seelenzuftänbe 
bei den zwei Schweftern und den zwei Brüdern, die in 
Liebesverhältnig zueinander treten und von denen das eine 
Paar glücklich wird, ift mit viel pfychologiſcher Feinheit 
und oft mit wahrer Meifterfehaft ausgeführt. Die vier 


Perſonen find Teineswegs ungewöhnliche, in irgendeiner 


Hinficht ſonderlich hervorragende, aber der Lefer bleibt 


gefeſſelt und iſt der Berfafferin fir manche Wendung und 


manche Sentenz, für mande fcharffinnige und gut mite 
getheilte Beobaditung dankbar. „Der Frauen Königreich“ 
ift ein Buch, das man nicht nur gern einmal Lieft, ſon⸗ 
bern dem man auch gern einen Ehrenplaß in feiner Bi⸗ 
bliothet einräumt, 





32 * 








252 


Zur Geſchichte der Arbeit und ber inpuftriellen Klafien. 


Zur Geſchichte der Arbeit und der indnftriellen Klafen. 


1. Geſchichte der Arbeit von Morig Weinhold. Erſter 
Band. Dresden, Heinfius. 1869. Gr. 8. 1 Zhlr. 10 Nor. 
2. Bilder aus dem deutfchen Stäbteleben im Mittelalter von 
5 vanz Pf alz. Erſter Band. Leipzig, Klinlhardt. 1869. 

. s Nor. 


Das innere Band zwifchen beiden Büchern, das uns 
veranlaßt, fie hier zufammenzuftellen, ergibt fid) aus ihrem 
Titel von ſelbſt. Das zweite behandelt eimen einzelnen 
Ausfchnitt aus dem weitgefpannten Kreiſe, den das erfte 
zu umfafen ſucht. Die beutjchen Städte find, jeitdem 
es folche gibt, bie eigentlichen Herde der Arbeit im fpeci- 
fiſchen Sinne des Worts gewejen und bis in die Gegen- 
wart hinein, wo fich der fociale und ölonomifche Unter- 
ſchied zwiſchen Stadt und Yand auch bei und zu ver- 
wifchen beginnt, geblieben. Daraus geht aber aud) ſchon 
hervor, was wir uns unter dem an ſich vieldeutigen Be⸗ 
griff „Arbeit“ zu denken haben, deſſen Geſchichte das erjt- 
genannte Buch darftellen will. Es ift vorzugsweiſe die- 
jenige menſchliche Thätigkeit in ihrem Einfluß auf den 
Menſchen hier gemeint, welche duch mehr oder minder 
complicirte Werkzeuge den natürlichen Rohproducten eine 
erhöhte Brauchbarkeit und infolge defien einen höhern 
Werth gibt, alfo das, was man Gewerbthätigfeit oder 
Ichlechtweg früher Handwerk — im feften Gegenjag zu 
dem theil® weitern, theil8 engern Begriff der Handarbeit — 
zu nennen pflegte. Damit ift nach der einen Seite hin 
3.2. ber Uderbau, überhaupt die Rohproduction, nad 
der andern die eigentliche Kunft und die wiflenfchaftliche 
Thätigleit von der Aufgabe ausgefchlofien, obgleich ſich 
felbftverftändlich die Grenzen nicht fo ſcharf ziehen laſſen, 
daß fie nicht öfters nach der einen oder nad) der andern 
Seite hin überfchritten würden. Der Verfaſſer felbft ift 
ſich dieſer ſchwankenden Faſſung feines Gegenſtandes be- 
wußt und ſucht dieſe, wie billig, durch die Natur deſſel⸗ 
ben zu entſchuldigen. Obgleich wir aber im allgemeinen 
damit vollkommen einverſtanden ſind, ſo iſt es doch nicht 
zu leugnen, daß ihn hier und da die Berüccſichtigung 
jener verwandten, aber begrifflich doc) getrennten Gebiete 
fo weit geführt hat, daß der eigentliche Kern und Mittel 
punkt des Ganzen daburdy dem Auge entrüldt wird. 

Wer eine Geſchichte ber Arbeit von dem Anbeginn 
unferer Hiftorifchen Kenntuiß bis zu dem Yufanımenbrud 
der römiſchen Eultur in einem Bande von nur 276 
Seiten zu erzählen unternimmt, kann dies begreiflich nur 
in großen, fligzenhaften Zügen thun, wie e8 bier geſche⸗ 
ben ift. Auch wird kein Verftändiger etwas dagegen ein- 
zuwenden haben, daß der Berfafjer, ein vielbejchäftigter 
Schulmann in Dresden, nit den Aufprud) erhebt, als 
felbftändiger Forſcher zu belehren, fondern nur die Re 
fultate dev Forſchung anderer unter feinen Geſichtspunk⸗ 
ten zu verarbeiten. ‘Derartige Bermittelungen der ftreng 
gelehrten Wiſſenſchaft mit den Bedürfniſſen der Durch⸗ 
ſchnittsbildung werben wir, befonders auf dem Gebiete 
der Gefchichte, Herzlich willlommen beißen, wenn fie ge» 
wiſſenhaft, verftändig und geſchickt gemacht find. Und 
diefe Prüdicate Tann man bem Buch wel im Durchſchnitt 
ertheilen, obgleih wir in manden nicht unweſentlichen 


Dingen gegen Anlage und Ausführung Erhebliches ein« 
zuwenden haben. 

Eins davon ift ſchon erwähnt, und einige andere 
wollen wir wenigftens andeuten. Daß der Verfaſſer der 
eigentlich Biftorifchen Zeit der menjchlichen Arbeitsentwides 
fung bie paläontologifche, wie wir fie kurz nennen wollen, 
vorbergehen läßt, ift an ſich richtig gegriffen. Die ganze 
Wiſſenſchaft ift aber noch zu jung, um nicht denjenigen, 
der fi) nur receptiv zu ihren Forſchungen verhält, der 
Gefahr anszufegen, irgendeiner der leichtfertig aufſchießen⸗ 
den und raſch wie Blaſen auf dem Waffer wieder ver⸗ 
ihwinbenden Hypothejen der Tagesmeinung allzu fehr zu 
vertrauen. Dies gilt, wie jeder felbftändig Prüfende weiß, 
3. B. von dem ganzen Complex der fogenannten Pfahl 
bauten und was damit zujfammenhängt. Uebrigens ift 
auch da8 Ergebniß der bisherigen Arbeit auf diefem Ge⸗ 
biet file die eigentliche Aufgabe dieſes Buchs von fehr 
geringer Bedeutung. Denn aus diefen ſtummen Zeug« 
niffen der Borwelt„Iernen wir zwar die Erzeugnifie der 
Arbeit, nicht aber, was die eigentliche Tendenz des Ver⸗ 
faſſers ift, die cultur» oder fittengejchichtliche Stellung der 
Ürbeiter im Volle oder im der größern menfchlichen Ge⸗ 
meinfchaft, der fie angehörten, kennen. Auf die Frage 
danadı geben uns weder die Culturſchichten der urzeit- 
lichen Höhlen, nocd die Kjökkenmöddinger, noch die Ge— 
miülleftätten der Pfahlbauten irgendeine Antwort. Wäre 
es beabfichtigt geweſen, die Gefchichte der Arbeit als eine 
Geſchichte ihrer Werkzeuge und Erzeugniffe aufzufafien, 
fo würde dies paläontologifche Material für folden Zweck 
eine ganz andere Brauchbarkeit haben, als für die eigent- 
lihe Tendenz dieſes Buchs, das zuerft und zumeift ben 
arbeitenden Menfchen berüdfichtigen will. 

Ebenfo ‚möchte die hier beibehaltene, in der. gewöhn- 
lichen eykliſchen Darftellung der Weltgefchichte hergebrachte 
etfnographifche Eintheilung,, beziehungsweiſe ftufenartige 
Aneinanderreifung des Stoffs nad dem Hiftorifchen Auf⸗ 
treten der einzelnen großen weltgefchichtlichen Völker nicht 
fo ohne weiteres zu billigen fein. Chineſen, Inder, 
Aſſyrer und Babylonier, Perfer, Aegypter, Phönizier 
und Juden erfcheinen hier nach dem überlieferten Schema 
gleihjam al8 Glieder einer fortlaufenden Kette, ohne daß 
man body hier ober andersivo das Bindemittel der welt« 
gefchichtlihen Idee oder der concreten pragmatiichen Zus 
fammengehörigkeit nachzuweifen oder herauszuerkennen ver« 
möchte. In der That gibt es ja auch kein folches; wenig⸗ 
ſtens foweit wir Heute den bisherigen Entwidelungsgang 
der Menfchheit zu überſehen vermögen, fteht z. B. bie 
chineſiſche Eultur ganz ifolirt, die indifche in ihrer vollen 


Ausbildung fo gut wie ifolixt, und ebenjo wieber bie 


ägyptifche. Bemüht fich doc in dieſem Angenblid die 
jelbftändige Wiſſenſchaft der Aegyptologie noch ohne ficht- 
baren Erfolg, die Verbindungsfäden zu der fpätern griechi⸗ 
fen Eultur, ober zu der ältern aſiatiſchen, femitifchen 
und chamitifhen aufzufinden. Wahrſcheinlich wäre es 
zwecddienlicher geweſen, alle. biefe originalen und in ihrer 
Originalität erftarrten Culturgebiete ganz beifeitezulafien 
und nur das unter ſich und mit dem unfern organic 


Zur Lebensweisheit. 253 


Berbunbene ber griechifh=römifchen Welt allein zu be 
rüdfichtigen, wie es ja auch in der That von dem Bers 
faffee durch verhältnigmäßig breitere Ausführung von 
allen andern am meiften hervorgehoben wird. 

Endlich können wir nit umhin, zu rligen, daß der 
Berfafler an mehr als einer Stelle die Gelegenheit bei 
den Haaren herbeizieht, um eine giftige Polemik gegen 
die jeige politifche Neugeftaltung Deutſchlands anzubrin- 
gm. Es ift möglich, dag man in gewiffen reifen un- 
ſers Elbflorenz und feiner Dependenzen den contagiöfen 
Einfluß welfcher Pfaffen, autochthoner Zopfiunfer und 
Hofſchranzen fanımt fosmopolitifchen Abenteurern, die feit 
1697 das Weſen unferer meißniſchen Stammesgenofjen 
fo wenig erfreulich alterirt Haben, noch nicht fo weit zu ver- 
winden vermag, um ſich zu einer ebenſo von dem ge- 
funden Denten wie von dem nationalen Chrgefühl ges 
botenen Auffaffung ber dentfchen Geſchichte und Gegen- 
wart zu erheben. Aber man follte den Ausdruck dieſer 
Stiummmg den Leuten überlaffen, die dafiir durch den 
Stempel ihrer Natur berufen find und auch dafür be—⸗ 
zahlt werden. In ein Buch, wenn auch nicht von ge⸗ 
fehrter, fo doc) von gebildeter Tendenz und Haltung paßt 
es fchlecht, wenn von dem Bruderfrieg von 1866 geredet 
wird, was doch mur den Sinn haben Tann, daß fächfifche 
Regimenter e8 vorzogen, als Bundesgenoffen an ber Seite 
md im Intereſſe von Kroaten und Zigeunern gegen das 
bentfche Heer zu fechten. Ebenſo können die Bhrafen 
von dem preußiſch⸗norddeutſchen Militärdespotismus, der 
mit dem Gebaren der Soldateska in der letzten römiſchen 
Laiſerzeit paralleliſirt wird, nur ein mitleidiges Lächeln 
erregen. Freilich wiſſen wir, daß es zu den Grund⸗ 
rechten eines Deutſchen, namentlich eines ſolchen, ber in 


ber faulen Luft des. Particularismus athmet, gehört, mit 
ſchwächlicher Berbifienheit die großen Erfolge feiner Nation 
zu benörgeln und zu beneiden, aber wir fordern von ber 
Würde der Gefchichtfchreibung, daß fie fich tiber ſolches 
Weſen zu erheben wifle. 

Einen ungemifcht guten Eindrud macht da8 zweite der 
genannten Bücher: „Bilder aus dem beutfchen Städteleben”, 
von Franz Pfalz Es ift gleichfalls auf eine populäre 
Darftellung abgefehen und der Verfaffer verzichtet befchei- 
den anf das Verdienſt der Forſchung. Über er hat nicht 
blo8 die gefammte umfängliche gelehrte Literatur der neuern 
Zeit, ſondern auch die eigentlichen Quellen mit Verſtändniß 
und feinem Sinn verarbeitet und, fo ein Werk gefchaffen, 
das nicht blos durch feine fehr elegante und durchgebil⸗ 
bete Form, fondern auch durch feine Begründung Lob 
verdient. In diefem erften Bande fehen wir das Werben 
der deutfchen Städte ans und in den Trümmern ber 
römifthen, um die Königspfalzen, Bifchofshöfe und Ab⸗ 
teien, bis zu der Höchften Entfaltung ihres politifchen und 
focialen Geftaltungstriebes in der Mitte des 13. Jahr⸗ 
Bunderts. Denn wenn auch erft fpäter das eigentliche 
goldene Zeitalter der ftädtifchen Induſtrie, bed Handels 
und Verkehrs beginnt und namentlich die Hanfa erft im 
14. Jahrhundert den Gipfel ihrer Größe erftiegen hat, 
fo ift doch für die füb- und weſtdeutſchen Gebilde feit 
der zweiten Hälfte bes 13. Jahrhunderts eine gewiſſe in« 
nere Stagnation eingetreten, die nur nicht auf allen Lebens⸗ 
gebieten fich äußerte. Wenn der Verfaffer, wie zu hoffen 
fteht, bald eine Fortſetzung liefert, fo freuen wir uns, 
dann Gelegenheit zu haben, noch etwas eingehender feine 
fchöne Arbeit zu würdigen. i 

Heinrich) Rüde, 





Zur Kebensweisheit. 


Gedanken über das wahre Glück von Tinette Homberg. 
Berlin, ©rote. 1869. 8. 25 Nor. | 
Es iſt vielfach bedenklih, wie fehr aud) das Gegen« 
gentheil den Anfchein bat, wenn der Autor ein Thema 
wählt, welches ſchon von vornherein Lieblingsgegenftand 
eines weitreichenden Publitums if. Denn entweder wird 
der Schrififteller den Lefern num zum Munde reden, und 
Binterher den Undank ald Strafe erfahren, daß es heißt: 
was der Verfaſſer uns jagt, haben wir längſt gewußt, 
oder er wird durch dem Titel feines Buchs der Mehrzahl 
ſich nur anbequemen, jedoch in ber Abficht, den Leſer zu 
höhern Standpunkten allmählich zu erheben, die das Nach⸗ 
und das Mitdenken zur Bedingung machen, an welches 
viele nicht heranwollen und fi nun für getäufcht er- 
Mären. Und doc gäbe es noch einen dritten Fall. Es 


wäre der, daß ber Berfaffer fo vielfeitig begabt, jo tüch⸗ 


tig in feiner Ausführung wäre, daß er die Kunft, popus 
Ar zu fein, mit einer umfafjendern als der gewöhnlichen 
Beltanfhanung gründlich verbände, und nun feinen Les 
jeru mehr gäbe, als fie and) bei den gefpannteften Er⸗ 
wartungen wünfchen konnten. Dieſes Große, Schwere, 
fogar für das tägliche Teben Heilbringende zu leiften, ift 
der vortrefflichen Verfaſſerin des obigen Buchs vollauf 





gelungen. Kein Lefer wird es unbefriebigt aus der Hand 
legen, er müßte denn zu jenen zerfahrenen, alles bemä⸗ 
kelnden, unglüdliden Saturen gehören, die gar nicht 
mehr willen, was fie wollen. Wer ſchon aus Princip, 
methodiſch, unglüdtih ift, und dabei noch, ohne daß 
er es oft weiß, den lebten, jedoch ſelbſtiſchen Genuß 
nur barin findet, daß er ſich an feinen Unglüd weidet, 
der ift zu feinem, auch nur relativen Glücke mehr zu 
erheben, fo lange ex in fo bejchrünfter Weile an fi 
ſelbſt Haftet. 

Man darf zunähft nur das Vorwort unferer Schrift 


leſen, um fich fogleich davon zu überzengen, daß wir im 


weitern hier über ein höheres Glück Aufſchluß erhalten, 
als das ift, wonad) die Menge läuft, welches daher auch 
das allgemeine, vulgäre Loſungswort geworden ift, Ihrem 
Motto von Sophofles gemäß, verführt die fo überaus 
umfichtige Berfaflerin auch darin weife, daß fie im tief- 
ften Sinne den Leſer aufklärt, und zwar ganz allmählich 
aufflärt, über den Menſchen als foldhen, über fein Ver⸗ 
hältnig zu andern Individuen, über Selbftfenntniß, tiber 
das ebenſo Wohlthuende, wie Fördernde, daß der einzelne 
ſich durch andere ergänzen folle, um zu Schägen, Ein- 
fihten und Willemskräften zu gelangen, die ex lediglich 


rn — — — — — —— —— 


254 Feunilleton. 


aus ſich ſelbſt nie aufbringen würde. Indem der Leſer 
ſchon durch derartige Auseinanderfegungen zum Nachdenken 
über das, was wahres Glück eigentlich befagt, angeregt 
wird, und ſolche Anregung angenehm findet, zieht die Ver⸗ 
faflerin ſtets weitere Gebantenkreife um ihn, ja die Unter» 
ſuchung iſt im ber leicht faßlichſten Form bereitS auf dem 
Boden der Philofopgie angelangt. Hier erflaunt man 
über das umfangreiche Wiffen einer rau, über ihr durch⸗ 
weg gefundes, in die Tiefe der Gedanken eindringenbes, 
zur Döhe der Ideen ſich erhebendes Urtheil, immer fo 
gebalten, einfach, beſtimmt, klar ausgeſprochen, daß fie 
über das wahrhafte Weſen des von jedem kdeln Menſchen 
zu erreichenden Glückes neues Licht gewinnt. Sie ift mit 
Platon, mit Ariftoteles, mit Kant — felbft was bie drei 
Krititen des letztern betrifft —, mit den beiden Fichte, 
mit- Schopenhauer wohl belaunt, wie in ber bentjch- 
claffifchen, in der heutigen Literatur vielfeitig belefen, und 
eröffnet überall neue Geſichtspunkte, erfchließt uns ihre 
eigenen Gedanfen und Lebenserfahrungen, ihre Beobach⸗ 
tungen an Menfchen, in Familien⸗ wie in reifen ber 
beichteften, auserwählten Gefellfchaft, und ift, was noch 
außerdem ihrem geiftvollen Buche zu höchſter Ehre ger 
reicht, bereits im böhern Alter angelangt, fo zufrieden 
mit ihrem Scidfalglofe, fo ansgeföhnt mit dem Erden⸗ 
leben, deffen Nachtſeite und Herbigfeiten fie aus eigenen 
Wecjjelfällen kennt, daß man einer ſolchen Glückverkün⸗ 
digerin mit Aufmerffamteit folgt. Sie weift nach, welde 
unrihtigen Anſichten man über Bildung hat, worin bie 
wahre beftebt. Wie entfchieden fie itberall jeder Ueber⸗ 
fpanntheit enigegenaxbeitet, ift fie doch auch ſtets des 
Ideals eingedenk, indem fie ihren Gegenftand zugleich ans 
dem Gefihtspuntte der Kunft faßt. Wie geredht wird fie, 
bei Gelegenheit der Muſik, der individuellen Eigenthüm⸗ 
lichkeit, welche gerade durch die Tonkunft, in Beib und 
in rende, fo beglüdend in allen wach gerufen wird! 
Indem fie liberzeugenb von dem fpricht, was allein wahr- 
haftes, würdiges Feben ift, fährt fie fort: „Diefe Grund⸗ 
anficht bildet den feften Refonanzboden in mir, iiber den 
die Saiten meiner Seele fi in ſicherer Stimmung hin- 
ziehen und mir in ftillee Heimlichkeit al’ die reinfte 
Muſik zu hören geben, bie in meinem Innern zu bere 
nehmen ich jegt fähig bin.” Und finnreich fest fie hinzu: 
„Sin jeder hat feine eigene innere Muſik.“ Freilich foll 
ber Menſch, dies ergibt ſich aus ihren fo tief durchdachten 
Erdrterungen, um unter allen Umftänden glüdlih in 
böchfter Bedeutung zu fein, über alles, was blos Stim- 
mung ift, ja über Kunſt noch hinausdringen. Hier find 
es: Religion — wobei fie fig mit Hecht gegen jeden 
engberzigen Pietismus erflärt —, die ſtrengſte Treue in 


der Pflihterfüllung, Sittlichkeit, Selbſtverleugnung, Ar⸗ 
beit am fich felbft zu täglich fortfchreitender Läuterumg, 
welche da8 Erreichen eines dauernden Glücks allein zu 
beweritelligen vermögen. 

Ausgezeichnete Partien bes Buchs find befonbers, 
wie fie den Beweis der Freiheit des menfchlidhen Willens 
führt, wie fie fi) über Naturell, Charakter, Temperament, 
Gemüth, über Eiferfucht, Neid, Misgunft, über Familien» 
zwiefpalt, häuslichen Frieden, über Liebe und freunde 
ſchaft ausläßt, Schmollgeift und üble Laune bis in ihre 
berborgenften Schlupfwinkel verfolgt, Frauen und Männer 
in derartigen Untugenden ohne Rüdficht beurtheilt, um 
alles das anch ſchon in Kindern auszurotten, was jebes 
fpätere Glück unmöglih madt, und num veranlaft, daß 
die Menfchen das einem feindlichen Schidjal zufdieben, 
was fie fich felbft bereitet haben. Möchten fich Leferin 
und Leſer nnaustilgbar einprägen, was bie fcharffinnige 
Frau, die fo fein treffend im ihren mit Anfpruchslofigfeit 
geäußerten Bemerkungen ift, über „Höflichkeit des Herzens“ 
jagt, und wir dürfen Hoffen, daß ber fchreiende Contraft 
zwifchen Höflichleit und Liebenswürdigleit in der größern 
Geſellſchaft, und Unfitte wie Murrlöpfigkeit in der Familie 
unter den Foriſchritten der Civiliſation allgemach ver- 
ſchwindet. Wir freuen uns, auf einem Gebiete, welches 
wir jahrelang ducchforfcht Haben, wit einer ber ebelften 
Frauen Deutjchlands und der Gegenwart, wenn aud) bei 
ganz verjchiedenen Wudgangspunkten, bei abweichendem 
Verfahren, in den Ergebniffen oft wunderbar übereinzn- 
ſtimmen.*) Winfchenäwerth wäre es gewefen, bie wackere 
Schriftftellerin Hätte ſich doch emtfchliegen können, ben 
Gang ihrer Unterfuhung durch Wbfchnitte und Ueber⸗ 
Schriften zu unterbrechen. Auch hätten wir gewünſcht, fie 
hätte nicht fo häufig aus andern, wenn auch vortrefflichen 
Schriften eitirt, denn ihre Urt, ihre Gedanken find uns 
fo werth und Lieb geworden, daß wir fie auch am Liebften 
ſtets jelbft vernommen hätten. Wir haben diefe Heinen 
Ausftellungen fchon oft bei dem beften Büchern ausge— 
fproden. Zum Schluffe bemerken wir noch zweierlei. 
Einmal, daß es ausgezeichnete Menfchen gibt, die ent⸗ 
weder duxch innere Kümpfe ober durch den Hingang ge- 
liebter Wefen für jedes bloße Glück unzugänglich gewor⸗ 
den find, wohl aber ſchon hienieden zu einer Geligfeit 
erhoben werden, in der Schmerz und rende fid aus 
gleihen. Sobaun, wo Frau oder Mann bedauern, ein 
Weſen von ſolchem Seelenadel, wie die Verfafferin, nicht 
zur Hausfreundin haben zu können, ift e8 gewiß cin Er⸗ 
fat ſich das feelenvolle Buch anzufejaffen. 

— — — — lexand © 


*%) Bgl._„ Des Gehelmniß db 5 , u 
rl Des Bebelmmniß der Lebenttung. Ben lezander Jung 





Fenilleton. 


Nekrologe. 

Einer der tüchtigſten dentſchen Litermchifterifer, defſen mt» 
ermüdlicher Fleiß ee Kiterarifche zuerſt in erfren⸗ 
licher Weiſe aufgehellt Hat, iſt jüngſt geftorben: Auguſt Ko⸗ 
berſtein, ber Verfafſer des „Grundriſſes der — der 
deutſchen Nationalliteratur.“ Um 8. März verſchied er in Kö⸗ 
fen im Haufe feines Schwiegerſohns an einer Lungenentzündung. 


Roberfiein war am 10. Januar 1797 zu Rügenwalbe in Pom⸗ 
mern geboren, mo fein Bater als Prediger lebte, befuchte dann 
bie Cadettenanſtalt zu Stolpe und feit 1816 die berliner Uni⸗ 
berfität. Im Jahre 1820 wurde er Adjunct an der Landes« 
ſchule zu Pforta, 1824 Profeffor und 1855 erfier Profefjor an 
diefer Anftalt. Sein tlihtiges Wirken als Lehrer der deutfchen 
Sprache nnd Literatur Hatte ibm im pübagogifchen Streifen 








Feuilleton. 


einen ehrenvollen Namen gemadht; groß war die Zahl feiner 
Scääler und meitverbreitet. Am 3. Auguft 1870 folte das 
funfzigjährige Amtsjubiläum Koberſtein's gefeiert werden; leider 
zaffte ihn der Tod hinweg, ehe er fo mwohlverdienter Ehre 
theilhaft werden konnte. Doc weit Über den Kreis feiner 
Schüler hinaus hat fi Koberflein als Literarhiftorifer einen 
Namen gemadt. Sein obenerwähutes Hauptwerk, das zuerft 
1827 erfchien, jollte zunächft praftifchen Lehrzwecken dienen, doc) 
von Auflage zu Auflage erweiterte es ſich zu einem gediegenen 
grundlegenden iteraturwert, das freilih den Rahmen eines 

rundriffes mehr und mehr fprengte, aber aud) vielfach durd) 
denfelben beengt und behindert war. Wir verweilen auf bie 
eingehende Kritif des Werks, welche wir in Nr. 12 d. DL f. 
1867 von der vierten Auflage deffelben gaben. ine neue 
Auflage hatte der tüchtige Gelehrte in Ausfidt genommen, fo 
ſchwer auch die Beherrſchung des von Jahr zu Jahr heran- 
wachſenden Materials für den mehr als fiebzigjährigen Ge⸗ 
lehrien fein mochte; hoffentlich wird eine undige Hand dieſe 
Arbeit in würdiger Weiſe ansführen. Außer feinem gediege⸗ 
nen, durch die Reichhaltigkeit und Genauigkeit aller Angaben 
ausgezeichneten Hauptwerk hat Koberftein noch mehrere ſprach⸗ 
wiflenfchaftlihe Schriften verfaßt und in den „Vermiſchten 
Auffägen zur Literaturgefchichte und Wefthetil’‘ (1858) fi aud 
als geihmadvollen Darfteller bewährt. Er gab auferdem 
„Heintih von Meif’s Briefe an feine Schwefter” (1860) und 
den dritten Band von Loebell's „Entwidelung der deutjchen 
Boefte'‘ (1865) Heraus. 

Am 2. März farb in Weimar Apollonins von Mal- 
ti, der Tangjährige Vertreter der ruffifchen Regierung an dem 
weimariſchen Hofe. Seit 1865 war er ans feiner diplomati- 
hen Stellung ausgefchieden, hatte aber feinen Wohnfig in 
Weimar beibehalten, am welche Stadt er durch gefellichaftliche 
Beziehungen und die Pflege der claſſiſchen Erinnerungen der 
Literatur gefefielt blieb. Apollonius von Maltig, geboren 1795, 
war der Sohn des kaiſerlich ruffiſchen Geſandien Freiherrn 
von Maltitz, und begann 1830 feine Carriere bei der ruſſiſchen 
Gefandtihaft in Rio de Jaueiro, war feit 1836 Legations- 
fecretaie in Miinchen und trat 1841 feine diplomatiſche Stel⸗ 
Inng am großherzoglich. weimarifchen Gofe an. Er if der 
vierte jeines Namens, der in der deutichen Literatur Hille, aufs 
getreten if. Sein älterer Bruder Franz Friedrich von Maltitz 
ft namentlich als Fortfeger des Schiller'ſchen „Demetrius‘' 
befannt; Gotthilf —5 von Maltitz als Dichter der Trauer⸗ 
ſpiele: Schwur und Rache“, „Hans Kohlhas““, „Dliver Crom⸗ 
weil“ und Autor der ſcharfen ſatiriſchen „Pfefferlörner““ und 
„KHumoriftiihen Raupen”. Er war der talentvolfte und origi- 
nellfte der Schriftfteller dieſes Namens. Ein fleißiger Roman- 
fchriftfieller iR Hermann von Maltitz, defien Romane mit eimer 
gewiften breiten Behäbigkeit gefchrieben, doch einen tüchtigen, 
gejunden, für Auffafjung praftifcher Lebeusverhältniſſe glücklich 
organifirten Sinn befunden. Apollonins von Maltis bat fi 
auf den verfchiedenften Gebieten verſucht; feine erſten poetiſchen 
Berſuche erſchienen bereits 1817; zwei Bände „Gedichte“ 1838, 
„Drei Fühnlein Sinngedichte” (1844). Bon feinen Dramen 
erwähnen wir die Trauerſpiele: „Birginia’' (1858), „Anna 
Boleyn“ —9 und „Spartakus“ (1861). 

. A. Oppermann, der befannte bannoverjche Abgeord- 
nete und Bublicift, der am 17. Februar 1870 zu Nienburg ftarb, 
wurbe am 22. Juli 1812 zu Göttingen geboren, wo cr von 
1831 ab die Rechte findirte. Wie Heine feinerzeit war er von 
den göttinger Profefforen wenig erbaut und ſchrieb für Ruge's 
„Deutiche Jahrbücher“ eine ſcharfe Kritit der Univerfität Odt⸗ 
tingen. Als Romanjhriitfieller unter dem Piendouym Her- 
mann Frofc hatte er 1834 einen Roman: „Deutſchlands Ger- 
manen und Arminen‘‘, verfaßt, der friih ans dem ſtudentiſchen 
Lehen heransgegriffen war und die damals in vollfter Blüte 
fiehenden Kämpfe zwilchen den Korps und den Burſcheuſchaften 
ſchilderte. Merkwürdigerweiſe nahm fein Lebensgang eine au⸗ 
dere Richtung, ſodaß er mit feinem legten nachgelaſſenen Wert 
erh wieder den Boden ſchönwifſenſchaftlicher Production berührte, 
von dem er ausgegangen war. Da er zur Oppofition gegen den 


255 


Bruch des Staatsgrundgeſetzes gehörig und misliebig in maßgeben- 
ben Kreifen war, wurbe ihm 1836 das Recht verweigert, ſich als 
Advocat niederzulaffen,, fodaß er ganz in die publiciftiihe Thä⸗ 
tigleit hinausgedrängt wurde. Erſt 1842 wurde ihm erlaubt, 
in dem Städtchen Hoya die advocatoriiche Praris auszuüben. 
Als tüchtiger, fernhafter Vertreter der Rechte der Bauern 
machte er ſich hier bald beliebt und wurde 1847 in die zweite 
hannoverſche Kammer gewählt, wo er als ſachgemäßer, ſchlag⸗ 
kräftiger Redner wirkte. Außerdem machte er ſich ale Ge⸗ 
Shichtfchreiber Hannover und der hannoverſchen Stände be» 
taunt. Im Jahre 1852 ficdelte Oppermann nad) Nienburg 
über, redigirte dort ein politiſches Localblatt und blieb feiner 
Oppoſition gegen das Welfenthum, den Minifter Borrieg und 
deffen undeutſche Tendenzen auch in der Kammer treu. Stets 
rieth er zum Anflug an Preußen und fuchte nad ber voll- 
zogenen Annerion des Jahres 1866 die Geifter aufzuklären und 
die Gemüther zu beruhigen. Bon dem berliner Landtag zurück⸗ 
fehrend, ſtarb er plöglih am Schlagflug. Bein binterlaffenes 
mehrbaudiges Wert: „Hundert Jahre. 1770—1870. Zeit⸗ und 
Lebensbilder aus drei Generationen‘ (Leipzig, Brodhaus, 1870), 
if eine Säcularchronik mit romanhafter Einkleidung, welde 
ein reiches aneldotiihes und culturgefhichtlies Material in 
—* für größere Lejerkreife anziehenden Art und Weiſe be» 
andelt. 


Bibliographie. 


en %5 t von Samuel 35 ibbon, 
ch — n bbon 
. 20 Ngr. 

d, ©. , Kratauer Klofter» Gcheimniffe ober bie Iebenbig ber 


Elemen® 5, Das Manifeft der Vernunft. Div i 
teranen im Frei eitölfampfe der De Eine —5 a ler 
Ierin. 2te gänzlich umgearbeitete Aufl. Berlin, 


“ ® 8. Th 
R 9 Frl De annatob: dpi 1 g 
v om Denn . 1870. 
Icinger. Gr. 4. a Seft Rer Saprgang. 1870. 11 Hefte. Berlin, 
Bir, 
von. Gr. 8, 


tur. Von Verfasser und Verleger des Original-Werkes autorisirte deutsche 
Ausgabe von W. Berg. Mit einem Vorwort und einem Verseichniss der 
niederländischen Schriftsteller und ihrer Werke von E, Martin. ister 
Bd. Leipzig, Vogel. Gr. 8. 2 Thir, 20 Ngr. 
Justi, C., Die Verklärung Christi. Gemälde Raphaels in der Pina- 
kothek des Vatikan. Eine Rede. Leipzig, Vogel. Gr. 8. 10 Ngr. 
Kar he » &., Die firtinifge Madonna. Bortrag. Roſtock, Stiller. 
rabbe, D., Der Mangel philofopbiiher Studien die wiflen ⸗ 
liche Signatur unferer Sei. Rec, a een Gr. 8. 4 Keule r 
Iorent, 9. v., Wimpfen am Redar. weihihtti unb topogrerhiih 
& biftorifgen itnpellungen md arhäslogiihen Studien bargeflellt. 
Zubojasty, F., Der Bapflipiegel ober ba® Leben und Treiben ber 
Bäpfe bie Su’ aniere Zeit, 1 H And ste8 Heft. Dresden, U. Wolf. 
‘de q LT 
Maiandacht In Liedern. Bon Fraueuhand gefammelt. Oberhauſen, 
Spaarmann. Gr. 16. 22'/, Nor. 
Migelet, 3., Die Welt ber Dögel. Bevorwortet von Herm. Mafins. 
art ten von H. Giacomelli. fe Lief. Berlin, Sacco Nachfol⸗ 
® PL . Te 
Neumann, 0» Ueber die Priucipien der Galilei-Newion’schen Theo- 
rie. Akademische Anteittsvorlesung,. Lens, Teubner. Gr. 8. 10 Ngr. 
Schneider, L., Die Unfterbligteits dee im Gtanben und in ber 
Bptlofophle der Bölter. Regenoburg, Coppenrath. Gr. 3. 2 Thlr. 


Strube, C., Studien über den Bilderkreis von Eleusis. Leipzig, En- 


—A D.. Di der Squle. Eine A 
utermeifter, D., Die e € 
Deiginalbeirägen Ba hen gr Eh e — ne Anthologie mit 


N 2 [} Q 18 N “ 
Mariam, dae BeR auf Arpadvar. 2 Thle. Berlin, Hauss 


enger 
freund Erpebition. 3. 2 Thlr. 15 Nor. 
Tobler, J. R., Grundsüge der evangelischen Geschichte. Zürich, 


Herzog. ( ar 1 Ner- ſere @ “ein « 
„Unfere Ziele und unfere Gegner.” Ein Wort zur Aufflärun d 
Abwehr. Leipzig, Priber. Gr. 5 Nor. ö m Bu 


256 


Unze 


Anzeigen. 


igem 


— — — 


Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Shaedon 


oder 


Ueber die Unfterblihleit der Seele, 


— ⸗— 


Derufalem 


oder 


Veber religidfe Macht und Judenthum. 


Bon Mofes Mendelsfohn. 


Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von 
Arnold Bodek. | 
8. Geh. 10 Nor. Geb. 15 Ngr. 

„Phaedon“ und „Jernſalem“ find befanntlidh die Haupt- 
werte Moſes Mendelsjohn?’s und zugleich Diejenigen, welche 
dem gegenwärtigen Geſchlecht nicht nur noch volllommen ver» 
fändli find, fondern aud) in vielen Punkten, namentli was 
Denk⸗ und Glaubensfreiheit und das Verhältniß zwifchen Staat 
und Kirche betrifft, gerade jett wieder als leuchtende Wegweifer 
dienen können. Zum erſten mal werden die beiden Schriften 
hier in einem Band vereinägt, von dem Derausgeber mit einer 
ausführlichen Biographie Mendelsſohn's begleitet, und zu fo 
wohlfeilem Preife dargeboten. 

Die Angabe bildet zugleich den 28. Band der in bemiel- 
ben Berlage ericheinenden „Bibliothel der dentſchen National⸗ 
literatur des 18. und 19. Jahrhunderts““; jeder Band ber 
Sammlung foftet geh. 10 Ngr., geb. 15 Nor. 


ERGÄNZUNGSBLÄTTER, 
1870, 8. Heft. 


Geschichte: Historische Literatur, von J. J. Honegger. 
— Nekrolog. 

Literatur: Berthold Auerbach, von Ad. Strodimann. — 
Ludwig Uhland über das altfranzösische Epos, von’ R. Bech- 
stein. — Nekrolog. 

Geographie: Geographische Umschau, 
II. Australien, von Dr. Kich. Andree. 

Meteorologie: Electrieität der Wolken und der beiden 
Hauptwinde, von Dr. Dellmann. — Die grössten jährlichen 
und täglichen Regenmengen. — Temperaturen im Pend- 
schab. — Das Klima von Tahiti. — Nekrolog. 

Physiologie: Die Quelle der Muskelkraft I. — Ne- 
krolog. 

Mineralogie und Geologie: Untersuchung des Golf- 
strombettes. — Diamanten in Böhmen. 

Paläontologie: Die neuesten Fortschritte, von Huxley, I. 

Landwirthsehaft: Der Obstbau in Nordamerika. — 





II. Amerika. 


Nekrolog. 
Volkswirthschaft: Hermann, staatswirthschaftliche Un- 
tersuchungen, von Dr. Dühring. — Carey’s Lehrbuch der 


Volkswirthschaft, von Demselben. 

Handel und Verkehr: Oesterreichs Handelsverkehr mit 
dem Zollverein, 

Industrie: Umschau, von A. Lammers. 

Technologie: Revision der Dampfkessel. — Ueberziehen 
von Messinggegenständen. — Kath. 

Politische Uebersicht vom 1. bis 15. März 1870‘, von 
v. Wydenbrugk. 


BIBLIO@RAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 


Bei Heyder & Zimmer in Frankfurt a. M. if ew 
ſchienen und durch jede Buchhandlung zu beziehen: 


HB. Scharfenberg, 
Hiftorien aus Oberheſſen, 


dem beutfchen Volke erzäßlt. 
1869. 15 Ngr. 

Die Erzählungen dieſes Büdjleins führen nach einer Ge- 
birgsgegend, die vor andern ihresgleichen längſt megen der 
Armuth und Rauheit von Land und Leuten fprihmwörtlich ge- 
worden if. Biele und große Erinnerungen geben durch den 
Bogelsberg. Haft jedes Dorf und Städtchen hat deren 
mehr oder minder aufzumweifen, von jenen Tagen an, aus wel» 
hen unbewußt die germanifche Götterwelt hereinfchaut in ein 
chriſtliches Land, bis zur Erſcheinung ber frommen irifchen 
Schotten, die zuerft die Eindde des Buchenwalds lichteten, bis zu 
Bonifacius, dem Apoftel der Deutfhen, von dem eifernen Zeit- 
alter ber Fchderitter bis zu den Greueln des Bauernkriegs 
und der Drangfal durh Schweden und Franzofen, bis herab 
auf die letsten jüngften Tage. 


O. Glaubrecht, 
heſſiſche Erzählungen. 


2 Bündchen. Neue Auflage. a 10 Ngr. 





Derfag von 5. A. Brockhaus im Leipzig. 


Requiem 
von Dranmor. 
Zweite Auflage 8 Geh. 10 Ngr. Geb. 15 Ngr. 
Diefer bereits in zweiter Auflage vorliegende Cyklus von 
Gedichten wendet fi au die Freunde ernfter, gedanfenreicher 
Poeſie. Sie begegnen darin einem originellen und tiefen Geifte, 
der feine Ideen in das Gewand vollendeten dichterifchen Aus- 
druds zu kleiden verftebt. 
Don dem (pfendonynen) Derfaffer erſchien früher in densfelßen Derfage: 
Boetiihe Fragmente. Zweite Auflage 8. Geb. 24 Nar. 
Seh. 1 Thlr. y ! 





Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Geschichte des Englischen Reiches in Asien. 
Von 
Karl Friedrich Neumann. 


Zwei Bände. 8, Geh. 7 Thlr. 


Der kürzlich verstorbene Verfasser, berühmt als Sino- 
log und Historiker, hat in diesem anerkannt trefflichen 
Werke die Geschichte der englischen Besitzungen in Asien 
von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage, nach ihrem 
innern Zusammenhange, aus den bewährtesten und seiten- 
sten Quellen geschrieben. Desgleichen erstreckt sich seine 
Darstellung auf die verschiedenen Religionen und Regie- 
rungsformen, auf das bürgerliche und häusliche Wesen der 
sich bekämpfenden europäischen und orientalischen Völker. 
Man kann das Werk demnach auch eine westöstliche Cul- 
turgeschichte nennen, und zwar im weitesten Sinne des 
Wortes, in Betreff der Literatur und der Unterrichtsanstal- 
ten, der natürlichen Erzeugnisse, der verschiedenen Gewerbe 
und des gegenseitigen Handelsverkehrs. 


Berantwortlier Redacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Verlag von 8. A, Srockhaus in Leipzig. 


Blätter 
literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


— a Ar. 10. ÿæ- 


21. April 1870. 





Inhalt: Eine Gefchichte des italienifhen Dramas. Bon Mubolf Gottſchall. (Beſchluß.) — Militärifcher Büchertiſch. Bon 
Karl Suſtav von Berneck. — Nene Romane, Bon Sranz Hirfh. — Senilleten. (Notizen.) — SKibliographie. — Anzeigen. 





Eine Geſchichte des italienifchen Dramas. 
(Beſchluß aus Nr. 16.) 


Geichichte des Dramas von 3.8. Klein. Bierter bis fiebenter 
Band: Geſchichte des italienifhen Dramas. Bier Bände. 
Leipzig, T. DO. Weigel. 1866— 69. Gr. 8. 20 Thlr. 24 Nor. 


Wir wenden uns jegt mit Klein zu dem glänzendften 
Bertreter ber italienifhen Tragödie, Bittorio Alfiert: 

Er ift der erſte von allen italienischen, vielleicht von alleu 
romanischen Tragifern, welcher feine Perſönlichkeit, feinen 
Billenscharalter, fein individuelles Pathos, mit einem Worte 
feine eigenfte Geiftesftiimmung, fein fubjectives Selbft und We- 
fen in antikhiſtoriſche Tragödienſtoffe ergoſſen. Der erfte mit- 
Bin von allen tragiſchen Dichtern der Romanen, der fie galliich 
gräcifirte, pfeuboclaffiiche Tragddienform mit der Grundſtimmung 
feines perfünlichen Ichs, feiner Teidenjchaftlichen Freiheitstendenz, 
mithin romantiſch färbte. In Plutarch's Modell des tyrannen- 
mörderifchen Freiheitsheldenthums ließ Vittorio Alfieri die 
galligherbe, ſchwarzblütige Tragik feiner fatirifchen Aber aus- 
Rrömen, und in Plutarch's Abgußformen fein Herzblut gleich" 
fam zu tragifchen Helden von antikem Gepräge gerinnen, er» 
ſtarren und erlalten. 

Das Leben Alfieri's, nad deſſen Selbftbiographie 
erzählt, gehört wieder zu denjenigen Partien des 
Werts, welde für die Darftellungsgabe feines aud) 
dichteriſch begabten Autors ein günftiges Zeugnig ab» 
legen. Alfieri hat ein fehr bewegtes Leben geführt; die 
Romantik, die wir in feinen claffifch ftolzen Tragbdien 
vermiſſen, leiht feiner Selbitbiographie einen beweglich 
anlodenden Schimmer. Das Abenteuer ift in ihr hei- 
mifh, während er den bunten Reiz defjelben in feinen 
Dichtungen verſchmähte. Leben und Dichtung dedten ſich 
bei ihm nicht, weil er nad falihen Muftern dichtete. 
Man wird oft an Lord Byron erinnert, wenn man bie 
Geſchichte feiner Exrlebniffe lief. Nur fpigen fich biefe 
noch novelliftiicher zu; bei Byron hat alles den großen 
Stil des Dithyrambus, ber Orgie. Gemeinfam war 
beiden Dichtern ein ſtark ariftofratifher Zug und bie 
Borliebe fir die Pferde. Alfiert war ein echter italienifcher 
„Pferdegraf“; er fehildert feinen Mebergang über den 


1870, ı7. 


Mont-Cenis, den er mit feinen zahlreichen und theuern 
Roffen bewerkftelligte, wie eine Heldenthat, die ſich mit 


Hannibal's Alpenübergang meffen kann. Am Tanzen war 


Byron durch feinen Klumpfuß verhindert; Alfieri hate 
den Zanz ſchon wegen bes franzöfifchen LXehrmeifters, ber 
ihm denſelben beibringen wollte, und hafte wegen dieſes 
Tanzmeiſters und feines lächerlichen karikirten Wefens bie 
Franzoſen! Bon feiner erften „Liebelei”, welche die junge 
Gattin des ältern Bruders eines feiner Kameraden und 
Mitgenoffen, eine Brlinette voll Feuer und einem gewiſſen 
Trotz, ihm einflößte, exftattet er felbft Bericht. Die 
Neigung des funfzehnjährigen Knaben fir „verheirathete 
Frauen” wurde maßgebend für feine fpätern Liebſchaften. 
Im Jahre 1768 verliebte er ſich in eine fchöne verhei« 
rathete Holländerin; er ließ fi eine Ader fchlagen und 
wollte dann die Binde abreigen und fich verbiuten. Nur 
den Bemühungen feines Dienerd und eines Freundes 
gelang es, den beabfichtigten Selbftmord zu verhüten. 
Alfieri verfichert felbft, dag er nie in feinem Geiſte 
Sehnfuht nad den Studien, nie jenen Drang, jene 
Gärung fehöpferifcher Ideen gefühlt habe, als wie im 
den Zeiten, wo fein Herz heftig von Liebe ergriffen war. 
Auf feinen Reifen befuchte Alfieri Preußen — vor befien 
bespotifchen Militärwefen ebenfo wie vor dem großen 
Friedrich er einen Abſcheu zeigt, welchen fein Literar- 
hiftorifer in einem langen, bis auf die Schlacht von 
Sadowa hinausgehenden Excurd zur Ordnung ruft —, 
Schweden, Rußland und England, wo er in einen 
„zweiten heftigen Liebesanfall” verfiel. Wieder war es 
eine verheirathete Lady, die ihm eine foldhe, an Wahnſinn 
grenzende Leidenfchaft einflößtee Er befuchte die Dame 
heimlich in ihrem Schloß, wenn der Gemahl, der bei ber 
Garde diente, in London zur Revue war. Diefe Liebes⸗ 
novelle hat alle Ingredienzien, welche die Novelliften lie⸗ 
ben, fogar einen pifanten Abſchluß. Bei einem Spazierritt 
33 





258 Eine Geſchichte des italieniſchen Dranıns. 


machte Alfieri einen fühnen Wagefprung über eine der 
höchſten Barrieren, ftürzte mit dem Pferde, verrenkte 
fih die Schulter und brad) das Schlüffelbein. Dennoch 
fprang er vom Bert auf, um mit allen Schmerzen die 
zweite Wallfahrt nach dem Gute anzutreten und das Glück 
verbotener Liebe zu genießen. Reiten fonnte er nicht; 
das Stoßen des Wagens, in welhen er fuhr, hatte feine 
Schmerzen verdoppelt. Das Pförtchen des Gartens fand 
er verjchloffen und mußte über die Stadete ftcigen; mit 
dem Morgenroth entfernte er fi wieder. Trotz feines 
verjchlimmerten Zuftandes begab er ſich abends in die 
Theaterloge, wo er die Geliebte bei der Fürftin von 
Maſſerano fand. Bald erfchien auch der Gatte; wenige 
Worte genügten; es folgte ein Duell in Yames-Park ohne 
weitere Zeugen. Alfieri erhielt eine leichte Wunde und be= 
gab fi, nach dieſem Zwiſchenact, wieder in die Yoge. ‘Der 
beleidigte Gatte ließ fih von feiner Frau fcheiden; nun 
erit aber fam für den Dichter der bittere Nachgeſchmack. 
Der Reitknecht des Lords erzählt feine dreijährigen Lieb— 
haften mit der Lady dem Lord felbft, um fid) an dem 
neuen Nebenbuhler zu rächen, und die Zeitungen beeilen fid) 
diefe high-life» Anekdoten mitzutheilen. 

Nad) weitern Reifen durch Deutſchland, Spanien n. 
ſ. f. kehrt Alfieri nach Italien zurüd, wo er alsbald (1773) 
in eine dritte, verderbliche Liebfchaft gerieth. Er verfiel 
infolge der Aufregungen in eine jo heftige und außer« 
ordentliche Krankheit, daß die boshaften Schüngeifter Tu⸗ 


ring fagten, er hätte fie ausſchließlich für ſich erfunden. 


Erbrechen, ein fiicchterlicher Krampf des Zwerchfells, 
Nervenconvulfionen, die fo ftarf waren, daß, wenn er 
nicht gehalten wurde, er in den fürdhterlichften Zudungen 
bald mit dem Kopf gegen das Kopfgeftel, bald mit den 
Händen und Elnbogen gegen alles anftieß, was baftand. 


Dieſe unwürdige VLiebe ließ ihn fortwährend in Wuth, 


Scham und Schmerz leben. Mehrmals reiſt er ab, nimmt 
Abſchied auf lange Zeit und kehrt immer wieder. Zuletzt 
faßt er den verzweifelten Entſchluß, nicht aus ſeiner 
Wohnung zu gehen, welche der Geliebten faſt gegenüber war, 
täglich ihre Fenſter anzuſchauen, zu ſehen wie fie vorüber 
geht, anf alle Weife von ihr fprechen zu hören, und we— 
der directen noch indirecten Botfchaften von ihr nachzu⸗ 
geben. Er fchnitt fi den Haarzopf ab und ſchickte ihn 
einem Freunde als Unterpfand feines feften Entſchluſſes. 
In der That gelang feinem cifernen Willen der Sieg, 
freilich nicht ohne daß er ſich von feinem Diener oft auf 
dem Stuhl feftbinden laſſen mußte, wenn die Paroxysmen 
feiner Leidenschaft über ihn kamen. 

Als er friiher einmal am Krankenbette der Geliebten 
von morgens bi8 abends geſeſſen Hatte, kam er, an 
geregt durch einige ſchöne Tapeten im Borzimmer, welche 
verjchiedene Thaten des Antonius und der Kleopatra dar« 
fiellten, auf den Einfall, fi) die Langeweile, da er die 
Geliebte nicht durch Gejpräche aufregen durfte, mit 
Derfemachen zu vertreiben, umd kritzelte einen ‘Dialog 
zwifchen einem Photin, einem Frauenzimmer und einer 
dazu Tommenden Sleopatra aufs Papier. Das weitere 
Geſchick diefer Skizze ſchildert er felbft in folgender 
Weife: 

Meine Gebieterin genas von ihrer Krankheit, und ich, 
ohne je wieder an mein lächerliches Drama zu denken, legte es 


unter ein Kiffen ihres Polfterftuhfs, wo es ungefähr ein Jahr 
in Vergeffenheit lag; und jo wurden meine tragiichen Erftlinge 
indefjen jowel von meiner Dame, die gewöhnlich dort faß, ale 
aud) von jedem andern, der fid) zufällig darauf niederlieh, zwi⸗ 
ſchen dem Bolfter und dem Gefäß ausgebrütet ... . - 

Seine vierte Liebe, eine würdige, bie ihn endlich für 
immer fefjelte, deren fteinerne Denkmäler in der Kirche 
von Santa-Croce in Florenz zuhen, war die zur Gräfin 
Zuife von Stolberg, Comteſſe d'Albany, Gemahlin bes 
englifhen Thronprätendenten, des lebten ber Stuart, 
In dieſer Dame fah er nit, wie in allen gewöhnlichen 
Frauen, ein Hinderniß des literarifchen Ruhms, eine 
Störung in nütlichen Befhäftigungen, eine Verminderung 
der Ideen, jondern Sporn, Antrieb und Borbild zu je 
dem guten Unternehmen, Den erften Eindrud, den die 
Gräfin Albany auf ihn machte, ſchildert der Dichter mit 
folgenden Worten: | 

In dem Sommer vorher, den ich, wie gefagt, ganz in 
Florenz zugebradyt hatte, war mir, ohne daß ich es gewollt, 
mehrmals eine herrliche und ſchöne Dame vor Augen gekom⸗ 
men, welde, da fie ebenfall8 fremd und von hohem Range 
war, unmöglich uugefehen und unbemerkt bleiben konnte; und 
noch unmöglider war es, daß fie, gejehen und bemerkt, nicht 
jedem aufs höchſte gefallen hätte, Aber wiewol ein großer 
Theil der adelichen Herren von Florenz und alle Fremde von 
Geburt bei ihr Zutritt hatten, fo Hatte ich dennoch, verjentt in 
meine Studien und in Melancholie, abftoßend und ungejellig 
bon Natur, und immer bedacht von dem fehönen Geſchlecht die- 
jenigen am meiften zu fliehen, die mir anmuthiger und ſchöner 
erihienen, aus diefen Gründen mid) im vorigen Sommer nidt 
in ihr Haus einführen laffen; dagegen hatte id, fie im Theater 
und auf Spaziergängen Häufig geſehen. Der erſte Eindrud 
war mir anf das füßefte in den Augen und im Herzen zurück⸗ 
geblieben. Eine fanfte Glut in den ſchwarzen Augen, die, was 
höchſt felten ift, mit der weißeſten Haut und blonden Haaren 
vereinigt waren, gaben ihrer Schönheit einen Glanz, daß es 
ſchwer war, nit davon getroffen und gefeflelt zu werden. Ein 
Alter von 25 Jahren, viel Neigung zu den fchönen Künſten 
und Wiffenjchaften, köftliche Herzensgaben, und trotz des Reich⸗ 
thums, den fie im Ueberfluß bejaß, drüdende und läftige häus“ 
liche Verhältniffe, die fle nicht, wie fie follte, glädtich und zu⸗ 
frieden fein Tießen — zu groß waren diefe Vorzlige, um ihnen 
zu wiberfiehen...... . 

Die weitern Data von Alfieri's Biographie möge 
man bei Sein felbft nachleſen. Intereſſant find die 
claffifchepHilologifchen Studien, die er nad) genau einge» 
baltenem Stundenplan durdjführte, um das in der Jugend 
Verſäumte nachzuholen. Er war ja lange Zeit hindurch 
nicht einmal feiner italienifchen Mutterſprache mächtig. 
Klein darf daher dies träge Emporftreben mit dem des. 
Faulthiers vergleichen, das Monate braucht um einen 
Daum zu erflettern, und in deffen inftinctivem Drange 
es doch Liegt, de Baumes äußerften Wipfelpunft zu 
erflimmen. , 

Alfieri gehört zu den Dichtern, die nicht blos nad. 
ihren Dichtungen zu beurtheilen find, fondern die auch 
in einer Art von Dramaturgie und Poetif der Beurthei— 
lung einen Anhalt geben. Sein „Gutachten über feine 
Tragödien“ („Parere dell’ autore su le presenti tragedie‘‘), 
feine Beantwortungen der kritiſchen Briefe des Calſabigi 
und Ceſarotti enthalten die theoretifchen Grundſätze, auf 
denen feine dramatifchen Dichtungen fußen. Alfieri’8 
Tragödienideal ift von großer Simplicität. Das Trauer. 
jpiel fol nur von feinem Gegenſtand erfült, alfo ohne 
Epifoden fein; ausjchlieglih von den Hauptperſonen 


ER 


— — — — 





a ——————— — ——⏑ - — 


Eine Geſchichte des italieniſchen Dramas. 


geſprochen werden, nicht von Nebenperſonen, Rathgebern, 
Zuſchauern u. ſ. f., aus einem einzigen Faden geſponnen 
fein, einen möglichft rafchen, reißend fchnellen Fortgang, 
die größtmögliche Einfachheit zeigen, graufig und wild 
fein, ſoweit e8 bie Natur zuläßt, und fo warm wic 
möglid. | 

Alfieri war feineswegs fo einfeitig, die Achilleusferfe 
dieſer Poetik zn verfennen, wie fie fi) in feinen eigenen 
Dramen ausprägt. Er fagt am Schluß feines „Farere“: 


Der Hanptfehler, den ich im Gange all diefer Tragödien 
(der feinigen nämlich, die er begutadjtete) auszufegen finde, ift 
die Sinförmigfeit. Wer das Knochengerüſte einer einzigen fennt, 
der kennt alle: der erfte Act in der Regel jeher kurz; der 
Hauptheld erjcheint meift erſt im zweiten Act; nirgends ein 
Zwiſchenfall; viel Dialog; der vierte Act unbedeutend; Lüden 
bier und da, was die Handlung betrifft, die der Berfaffer mit 
einer gewiſſen Leidenfchaftlichkeit des Dialogs ausgefüllt zu ha⸗ 
ben glaubt; die fünften Acte äußerft kurz, von rafcheftem Ver» 
lauf, und in der Mehrzahl der Fälle ganz Handlung und 
Scanfpiel; die Sterbenden farg in Morten: das ift in Kürze 
der Übereinflimmende, allen jenen (feinen) Tragödien gemeinfame 
Bang. Mag ein anderer unterfuchen, ob diefe durdjgängige 
Einförmigteit des Baues von der Mannichfaltigfeit der Stoffe, 
ber Sharattere und der Kataftrophen hinreichend anfgemogen 
wırd. 


Klein macht bei der Kritik diefer dramaturgifchen 
Grundfäge die treffendften Bemerkungen über die „aus 
gehungerte ımd ausgemergelte” Melpomeue Alfieri’s, über 
den hochgemuthen, tyrannenmörderiſchen Freiheitstrotz, 
dem das perfünliche Leidgefühl, die tragiſche Grundſtim⸗ 
mung fehlt, über die „Erfindung“, deren ſich Alfieri 
rühmt, während er ſich doch alle eigenen und fremden 


Erfindungen verjagt. 

Die Erfindungstraft feines Meißels befundet fi nicht in 
der Zurüdführung des Blocks auf feinen einfachſten Ausdrud, 
wit in der Herabminderung etwa zur größten „Cinfachheit 
des Gegenſtandes“ (semplicita del soggeto). Durchaus nid; 
im Gegentheil: das Erfinderifche liegt in der möglich »reichften 
Entwidelung und Ausgliederung des Blocks zu einer Schö⸗ 
pfungsfülle, einer Unendlichkeit von Sdeengeftaltung, einer Welt 
von Öffenbarungen, wogegen der urfprünglihe Blod als die 
„Einfachheit des Gegenſtandes“ erfcheinen muß. Die kunſthafte 
Delonomie und Binfachheit ſpricht fi einzig und allein im 
dem volllommenen Ebenmaß, in der Haren Ueberſchanlichkeit 
des Bildwerks aus, wobei das Räumliche vor der PBhantafie 
verſchwindet. Der Steintern — was bietet er nicht alles auf, 
am feine harte Schale zur üppigften, bis zum Ueberfluß üppi⸗ 

en Frugcht zu Schwellen! Man beiße in eine Aprilofe oder 
Birne, and der Üiberquellende Saft zeigt augenblicklich, was 
es mit der „Einfachheit des Stoffs“ bei einem folhen Frucht. 
tern auf fi hat, und daß feine Dagerfeit ein Füllhorn des 
Weberfluffes, ein Born des Genuffes iſt. Alfieri's Erfindungs- 
genie ſoll fi) aber darin erweifen, daß es von den Früchten 
alles Fleiſch ablöft und wegwirft und nur die Steinferne an 
ihren Stielen auf den Zweigen und Xeften fiten läßt. Solche 
Frudtfteine mögen Lederbiffen für römifhe Kreuzſchnäbel, 
claffiihe Kernbeißer, Tyrannenfreffer und Nußlnader fein; 
was aber ein kluger Bogel ift mit gefundem natürlichen Schna- 
bel, der hält es mit den foftigften und fleifchigften Früchten, 
Kirichen, Pfirfihen ‚und Aprilofen. Gleichermaßen find dem 
poetiich geſchmackvollen Kenner die höchſten Delicen, Himmels. 
tof nnd Götterfpeife: der Pomp, die fchwellende Fülle in Rede, 
Sedanten und Empfindung; die göttliche Weberfchwenglichkeit, 
bie titanifch koloſſenhafte Wucht, der tragiihe Orgiasmus, ber 
oceanifhe Wogeuſchwulſt eines Aeſchylos, der mit jedem Chor, 
wie der Erdriefe Ephialtes täglih um neun Zoll wuchs, um 
eine Kopfeslänge über die antife Tragödie hinauswächſt; oder 
eines Shakipeare, deſſen Muſe als cine taufendbrüftige, mit 


259 


allen Gebilden des Himmels und der Erde geſchmückte Diana 
von Epheius daſteht; oder des Dichters der, Räuber“, des, Fiesco“, 
„Don Carlos“,,„Wilhelm Tell“, worin ein Gedanken⸗ und Gefühls⸗ 
überſturz, Cascaden der edelſten Begeiſterung, die vom Lippen⸗ 
ſchaum der pythiſchen Prieſterin zu ſpruhen ſcheinen, eine 
Erfindungsflüülle, „als wollte das Meer ein Meer gebären“; 
eine Redepradt und Hoheit, als fliege, wie er vom Dome 
der St.-Beterslivhe fingt — ein zmeiter Himmel zum Him⸗ 
mel empor. 

Weiter fagt Klein treffend, wenngleih mit etwas 
mildgehegten Wi: 

In Anfehung feines Kunfftils erfcheint uns Alfieri unter 
ben Tragifern als der Stylites, wie befanntlid die Kirchen» 
geihichte jene „Säufenheiligen‘‘ nennt, welche nah Borgang 
des ſyriſchen Mönches Simeon (5. Jahrhundert) auf der Spige 
einer einfiedlerifchen Säule ihr Büßerleben zubradjten, ringsum 
unwirtbbare Einöde. Nächſt der von ihm jelbft betonten Eigen» 
thlimlichkeit feiner Zragödien: daß die in allmählicher Verſün⸗ 
gung ſich immer mehr verdiinnende Handlung in den fünften 
Act, als ihre höchſte Spite, ausläuft und in ihm gipfelt, 
„im kleinſten Buntte die höchſte Kraft" — gibt ihnen auch dies 
die ähnliche Beftimmung: daß fie nämlich als Tyrannengräber 
dienen, den Charakter von ägyptifchen, aber fchmalleibig ver- 
feinerten Byramiden, die aus den zahlreichen Sandwüftenhligeln 
der italienifdyen Tragik bervorragen, 

Alfieri's Tragödie bleibt, troß aller feiner Abſchwö⸗ 
rungen, in Bezug auf Schema, Monotonie, fcenifche 
Tarblofigkeit, innere Kälte und Misverſtändniß der ats 
tischen Tragik mit der claffifchsfranzöflfchen verwachſen, 
unterfcheidet ſich indeß von ihr, nad Klein's Anficht, 
durch die Befeitigung der Bertrauten, an deren Stelle 
häufige, undramatifche Monologe treten, ferner dadurch, 
daß Alfieri nicht die Kataſtrophe erzählt, fondern diefelbe 
fi) vor den Augen des Zufchauers entwideln läßt, durch 
die Behandlung der Liebesleibenfchaft nit im Höfifch- 
galanten Stil des Antihambre-Rittertfums, und vor allem 
durch den mannhaften Exrnft einer beherzten, auf bie 
politiſche Bildung des Volle einwirkenden Freiheitstendenz, 
wodurch fie in den fchärfiten Gegenfag zur franzöfifchen 
Hoftragödie tritt. 

Die Analyfe der Alfierr’fchen Stüde geht im ganzen 
wenig glimpflich mit denfelben um. Das Erftlingswerf 
„Cleopatra wird raſch bejeitigt. Sehr genau ift die 
Reproduction des „Filippo“, ein Stüd, welches offenbar 
Schiller befannt war, indem derjelbe „manches Fädchen 
daraus in die Motive feines «Don Carlos» mit kunft« 
reicher Hand eingewebt hat“. Freilich meint Klein, „daß 
ſich Alfieri's aFilippoo neben Schiller’ 8 «Don Carlos» 
ausnehme wie die engere Dleiftiftjfizze eines Abam van 
Dort zum ausgeführten Gefchichtöbilde eines Schülers 
von Rubens”. „Perez“, den bekanntlich Gutzkow zum 
Helden eines eigenen Dramas gemacht hat, ift der Bofa 
Alfieri's. Daß Schiller den Namen feines Pofa aus 
Otway's „Ton Carlos entlehnt hat, konnte Klein hier⸗ 
bei wol erwähnen. Anch ift uns eine noch wichtigere 
Anregung aufgefallen, welche Schiller offenbar dem Bor» 
bild des italienischen Tragikers verdankt. Wenn man 
den Stil de8 „Don Carlos’ mit dem der drei Erftlings- 
dramen vergleicht, jo bemerkt man einen auffallenden 
Unterfchted, der nicht blos in dem metrifchen Gepräge 
der Dichtung liegt. Statt der hyperboliſchen Kraftſprache 
zeigt fich eine Sprache des Affeets, die namentlich durch 
die Wiederholungen am Anfang und Ende, burd bie 

33 * 


260 Eine Geſchichte des italienifhen Dramas, 


Anaphoren und Epiphoren und durch die häufige Ane- 
rufungsform und Zerfegung mit Interjectionen charak⸗ 
terifivt wird. Diefe Art der Diction findet ſich gerade 
in Alfieri’s „Filippo“. Stellen wie folgende: 
Oh quanto jo sono, 
Quanto infelice io men di te, Filippo. 
O um mie vieles bin ich, um wie vieles 
Ich weniger unglüdli doch, als du, 
Philipp! . . . 
Pera il mio regno, 
Pera Filippo pria, ma il figlio viva. 
Mag mein Reid, mag Philipp felbft 
Zu Grunde gehn, wenn mir der Sohn nur lebt! — 
und hundert andere beweifen fiir jedes feinere Stilgefüihl 
zur Genüge den Einfluß, den Alfieri mit feinem „Filippo“ 
auf Schiller’8 ‚Don Carlos” ausgelibt hat. Franzöſiſche 
und italienifche Kritifer, wie z. B. Sismondi und Ugoni, 
haben das italienifche Drama bevorzugt vor dem deutſchen. 
Klein ftellt die großartigen Vorzüge des Schiller’fchen 
Genius vor dem Alfieri's in das rechte Licht, durfte aber 
doch nicht verhehlen, baß ber „Carlos“, jo body er ihn 
fielen mag, doch den einfachen, Haren Gang der Hand⸗ 
[ung vermifjen läßt, den Alfieri's Drama behauptet, und 
daß er an einigen poetifchen Protuberanzen leidet, welche 
feinen Kern verbüftern. 

Die antiken Tragddien: „Polinice“, „Antigone “, 
„Agamemnone” ſucht Klein „kurzer Hand’ zu erledigen, 
gleihwol widmet er dem „Agamemnone” 21 Geiten. 
In diefem Trauerſpiel findet er alle mythifchen und ges 
fchichtlichen Ueberlieferungen, alle Motive und Charaftere, 
folglich die ganze Kataſtrophe auf den Kopf geftellt. 
Noch jchärfer tabelt er den gerühmten „Oreste‘, in 
welchem der tragiſche Hauptzwed: die von dem Sohn 
für den Batermord zu 'vollziehende Racheſühne, Epifobe 
wird, und die Schilderung einer, bis zur Blindheit und 
Preisgebung ihres Ziels, ſich felbft genießenden und in 
ihrer Berbiffenheit mit Wolluft fchwelgenden Racheleiden- 
fchaft die eigentliche Aufgabe behandelt. Die alles ein- 


zelne graufam zerpflüdende Aualyſe Klein’s geht wol 


darin zu weit, daß fie felbit den einzelnen Gtellen 
in der Ueberfegung einen parodiſtiſchen Charakter gibt, 


.B.: 
Wer biſt du denn, Potzwetter, 
Wenn du Oreſt nicht biſt? 
E chi sarai tu dunque, 
Se Oreste non sei tu? 


D mmerwarteter Berratil O Wuth, 
Drefte frei? Nun wird man was erleben. 
Oh inespetatto tradimento! oh rabbia! 
Oreste sciolto? Or si vedra. 

Höher ſtellt Klein Alfieri's ſpätere Tragödien, na- 
mentlich die „Virginia. Daß er uns bei Beſprechung 
der letztern die fieben Kapitel aus dem Livius, welche ben 
Stoff des Stüds enthalten, in Ueberfegung mittheilt, ift 
wol eine ungehörige Ausweitung des Werks, ebenfo 
wie die Mittheilung des ganzen letzten Actes aus der 
„Verſchwörung der Pazzi“ mehr in eine Anthologie ge= 
hört als in eine Literaturgefchichtee Auch macht es uns 
oft den Eindrud, als ob Klein am Ende feiner Analyfen 
vergefle, was er am Anfang derfelben gefagt habe. So 
nennt er bie „Virginia“ vor ber eingehenden Beſprechung 
eine der mit Recht gepriefenften „Meiftertragddien‘‘, und 


nachdem er fie mit feinem kritiſchen Pfluge durchgeackert 
bat, am Schluß „ein Ungethüm“, den lebten Act 
übers Knie gebrochen, ein Merkmal barbarifcher Unfunde 
bes eigentlichen Zwecks der Tragödie u. f. f. Die Con» 
cordanz zwifchen diefen abweichenden Urtheilen berzuftellen, 
bleibt dem Leſer überlafien; der Piterarhiftorifer hätte fie 
wol felbft durch Uebergänge und Abtönungen vermitteln 
können. Den „Saul“ erklärt Klein freilich fowol am 
Anfang wie am Ende der umfänglihen Zergliederung 
für Alfieri's beſtes Drama, oder, wie er mit einem ete 
was gefuchten und dabei unrichtigen Bild fagt, für 
den „Chimborafjo in der Gipfelkette feiner Tragödien“. 
Der Chimborafio tft befanntlih nicht der höchſte Gipfel 
der Anden. Ueber Alfieri's „Maria Stuarda” Tautet 
Klein's Urtheil fehr abfällig: 

Diefe Tragödie beweift mehr denn irgeudeine bes Alftert, 
daß er, mit andern dramatifchen Dichtern verglichen, denen ihre 
Nation die erſte Stelle anmweift, nicht über den angefirengten 
Dilettantismus hinauskam, und es höchſtens nur ftoßweife und 
wie buch einen glücklichen Wurf hin und wieder zu Theater» 
wirkungen bringt, die hart an grelle Theatercoups ftreifen; wo 
aber auch der Kunftbilettautismus Schon die Linie der Virtuofität 
berührt, In keinem feiner Xrauerfpicle Friecht die Handlung 
durch die erften vier Acte fo zäh, fo niedrig, fo krüppelunter⸗ 
bolzartig dahin wie hier. Motive, Leidenichaften, Intriguen 
muß man förmlich mit der Lupe, wie Kryptogamen, unterjuchen, 
wie Laub⸗, Leber- und Blattmoofe. In die Scenen theilen fi 
Heinlante Gardinenpredigten, die von den königlichen Gatten 
wie mit bafber Stimme gehalten werden, und eine flumpfe 
Balaflintrigue, die Botuello (Bothwell) um bie fehottifche Königin, 
um ihren Gatten Urrigo und um ben englifchen Gefandten 
Ormondo garnt. 


Die Bergleihung von Alfieri's „Mirra”, einer Tra⸗ 
gödie der Blutfchande, mit der epijchen Behandlung bie- 
ſes Stoffs von jeiten des Metamorphofenbichters fchlägt 
zu Ungunften bes erftern aus. Die Mirra Alfieri’8 ver⸗ 
harrt bis zur Kataftrophe in demfelben Gemüthszuftande 
eines verzweifelten Kampfes mit ihrer abfcheulichen, nichts 
weniger als tragifchen Leidenschaft, deren Natur und 
Beichaffenheit noch überdies dem Zuſchauer bis zulegt eim 
Räthſel bleibt. Nachdem Klein die Tragödien „Ottavia“, 
„Merope“, „Timoleone“, „Sofonisba“, „Agide“, „Ros- 
munda“ flüchtiger als die frühern durchgegangen, ver⸗ 
weilt er wieder länger bei den beiden Brutustragödien 
Alfieri's. Wenn er die „Doppelwurzel einer zweifachen 
Kataftrophe” in einer Junius⸗Brutus⸗Tragödie rechtfertigt, 
fo läßt fi dies nur durch die etwas laren Begriffe von 
dramatifcher Einheit erflären, welche ſich wie ein rother 
Baden durch Klein's Dramaturgie hindurchziehen. Was 
aber die tragiſch hHervorzuläuternde „ulturidee” dieſes 
Stoffs betrifft, jo proteftiren wir dagegen, daß dies eine 
Sulturidee von allgemein menfchliher Bedeutung fei. 
Junius Brutus, der Richter feiner Söhne, zeigt nur ein 
ſpecifiſches Römerpathos, das für andere Zeiten unge- 
nießbar ift, wie ſchon Schiller mit Recht hervorgehoben 
hat. Die Bergleihung zwifchen Alfieri's und Voltaire's 
Brutud-Tragddie bietet manche intereflante Seite dar. 
Das Zrauerfpiel, deffen Held der zweite Brutus ift, wird 
von Klein gegen Shakſpeare's „Julius Cäſar“ tief in dem 
Schatten geftellt. Indeß ift der Grundzug der erftern, 
„daß Brutus Himmel und Erde in Bewegung fest, um 
Cuſar für feine politifchen Ueberzeugungen zu gewinnen‘, 
fowie die Betonung des Verhältnifies von Vater und 





Eine Geſchichte bes italienifhen Dramas, 261 


Sohn Feineswege fo fchälernd beifeitezufchieben, wie 
dies von Klein geſchieht. Dadurch erft gewinnt die 
Tragödie einen tragifchen Conflict. Um der Alfieri’fchen 
Faſſung des ConflictS den ‘Vorzug zu geben, bedarf es 
nur der Berufung auf das vierzehnte Kapitel der Poetik 
des Ariftoteles, mo ber hellenische Kunſtrichter jagt: 
„Zöbtet nun ein Feind den andern, fo erregt biefes, die 
Ermordung an fih ausgenommen, fein Mitleiden, er 
mag es ſchon thun oder erft thun wollen. Ebenfo wenig 
erregt e8 Mitleiden, wenn fie einander gleichgültig find. 
Machen aber Freunde einander unglüdlich, tödtet ein 
Bruder den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter 
ben Sohn, ein Sohn feine Mutter, oder wollen fie 
dieſes erft oder etwas ähnliches ihun — den Gtoff 
wählet.” 

Uneingeſchränktes Rob ertheilt Klein dem „Abele” des 
Alfieri, einer „Tramelogedia“, die er das poetiſch 
werthpollfte unter Alfieri's ſämmtlichen Stüden nennt. 
Die Ausfälle auf Byron's tieffinnigen „Kain“ hätte fich 
der Kritiker freilich erjparen können. Die Vorzüge des 
Stüds mögen durch die Vorzüge ber Gattımg bedingt 
fein, da die Ealte flarre Tragik des Alfieri durch bie 
muſikaliſche Lyrik des Mifchgenre mehr erwärmt und 
in Fluß gebracht wurde. Auch die phantaftifchen Tyi- 
guren tragen dazu bei, die flarre Rinde zu fchmelzen, 
mit welcher fih Alfieri'ss Muſe in dem SKothurnftil 
der Tragödie umgibt. Die Komödien und politifchen 
Zendenzftüde des Dichters, welche die verfchiedenen 
Staatsformen fehr ungeſchickt parodiren, find im ganzen 
werthlos. 

Der ſiebente Band ber „Geſchichte des Dramas“ be⸗ 
handelt die italieniſche Tragödie und Komödie im 19. Jahr⸗ 
hundert. Die Zranerfpieldichter Monti, Ugo Foscolo, 
Pindemonte, Manzoni, Niccolini und Silvio Pellico, bie 
Luftfpieldichter Conte Giraud, Marchiſio und Nota wer- 
den eingehend beſprochen; die neueſte Entwickelung der 
dramatiſchen Literatur Italiens nur in einer Anmerkung 
ſtizzirt. Unter den Tragikern des 19. Jahrhunderts pflegt 
man Niccgfini wegen feines wuchtvollen politifchen Pathos 
und der fernhaften patriotifchen Gefinnung, die ſich in 
feinen Dramen ausfpricht, die Palme zu ertbheilen; Klein 
bevorzugt Silvio Pellico, über deſſen Dramen Ruth den 
Stab gebrochen. In der That find „Francesca da Ri- 
mini‘, beren Ueberfegung durch Mar Waldan Stlein wol 
hätte erwähnen künnen, und „Ester d’Engaddi”, das im 
Gefängniß gedihtete Trauerfpiel Pellico's, Dramen, welde 
durch innigen Gefühlsausdruck unferm Geſchmack mehr 
zufagen als die etwas auf Stelzen gehenden Tragödien 
ber Dramatiler aus Alfieri's Schule. Klein fagt von 
Bellico: 

Es iſt der naivſte, ja ber einzige naive italienifche Tragi- 
fer. Im der ganzen Zragddienliteratur Italiens mödte kaum 
ein naiver Zug zu entbeden fein; in den Tragödien der beiden 
berühmteften: Alfieri's und Niccolini’s, kaum eine Spur von 
folden Zuge. Der Mangel an Natureinfalt, an Naivetät, 
Iranlt durch biefe Tragik wie Rückenmarksdarre. Pellico’s 
Zragödien allein machen hiervon eine Ausnahme, vor allen 
jeine „Francesca da Rimini”. Wie fühlt fi bier das Herz 
erfriicht von dem naiv-innigen Hauch, der biefe Perfonen, diefe 
Empfindungen, dieje Leidgefühle, ja jelbft das tragifche Mitleid» 
amd Furchtgeflihl befeelt! Die feinfte, tieffte Herzfafer des Ge⸗ 
wies, and) des tragifchen, ift aber die Naivetät. Die beiden 


größten Tragiker, Aeſchylus und Shaffpeare, find denn auch 
die naivſten. Nicht blos die Elektra im den „Choephoren“ ift 
naiv; aud die Eumeniden find es. Ja, Aeſchylus' Furien 
jelbft find naiv und im Maße ihrer unerbittlichen Surchtbarteit 
naiv; im Maße ihres das Gittengefeß rächenden und gegen den 
Muttermord, als unfühnbares Verbrechen wider die Natur, 
wlthenden Bluteifer® naiv. Und wie naiv Shalipeare in 
feinen fchredenvolifien Furchterregungen ift, in feinen Schauder- 
wirfungen ift, mitten im Schüttelfroft feiner Entfeßenserftar- 
rung ift: das feht ihr an feinem Macbeth, in der Schloßhof- 
fcene vor und nad) Duncan’s Ermordung. Hier ericheint Mac- 
beth als der naide Mordfchred in Perſon; ale das vor fidh 
jelbft entjeßte, im feiner naturwidrigen Untbat fchrederftarrte 
Naturgefühl. Bon bdiefer tragifchen Naivetät bei Shakſpeare 
wiſſen die Shaljpeare: Gelehrten blutwenig zu erzählen. Und 
doch ift die Naivetät bei ihm faft der halbe Tragiker. Wir 
begen daher nicht das geringfte Bedenken, unfern Silvio Pellico, 
was tragifche Naivetät anlangt, an die Spite aller feiner vatere 
ländiſchen Kunftgenoffen, fhon bier, ſchon an der Schwelle der 
dritten Scene feiner „Francesca da Rimini”, zu flellen, und 
es unverzagt und kühnlich, und feinem beidelberger Anſchwärzer 
anf den Pfeifenktopf zu, auszufprechen: daß ihm, dem Bellico 
nämlih, neben der Naivetät nnd allen damit verbundenen, vor⸗ 
zugsweiſe aus feinem kindlichfrommen, feeleninnigen Geiſte quel⸗ 
lenden dramatiſchen Begabniſſen zu einem großen Tragiker — 
was mehr ſagen will, als zu dem größten und erſten Tragiker 
Italiens — nichts fehlt als die großartig-fnrchtbare, jenen Weſens⸗ 
eigenschaften des poetifchen Genies ebenbürtige tragiiche Phantafle; 
als jchöpferifche Kühnheit; ein tieferer Ipeengrund; umfaſſendere 
Ideenmotive, und jener Weltgerichtspojaunenflang einer Himmel 
und Hölle erfhütternden Mächtigkeit des Ausdruds: os magna 
sonaturum. 


An einer andern Stelle hebt der Literarhiftorifer bie 
Präcifion, Correctheit und feine Ausführung in Bezug 
auf dramatifchen Bau und Technik hervor, Vorzüge, 
durch die fih in ber That die „Ester d’Engaddi‘ aus« 
zeichnet. Don diefem Drama erhalten wir eine fehr ein- 
gehende Analyſe. Intereſſant ift ebenfalls die ausführ- 
liche Lebensbejchreibung des unglüdlichen Dichters, ber 
unter den Bleidächern von Venedig und in den Kaſemat⸗ 
ten des Spielbergs mehr als zehn Jahre feines Lebens 
berirauern mußte. Die Mittheilungen feiner Gelbft- 
biographie enthalten viel Rührendes und Erfchlitterndes. 

Manzoni’8 „Conte di Carmagnola“ wurde befanntlich 
von Goethe jehr hochgeftellt; wir haben in dem Stüd nie 
etwas anderes finden Fünnen als eine trodene Hof⸗ und 
Staatsaction mit Chören ohne Schwung. Mit Recht 
hebt Klein hervor, daß der tragifche Grundgedanke, ber 
im Stoffe liegt, nicht von dem Dichter herausgearbeitet 
jei, er mußte die Tragödie des Söldnerthums fchreiben, 
im Untergange des Helden die Sühne feiner Vaterlands⸗ 
Iofigkeit zur Anſchauung bringen. Mazzini fagt von 
Manzoni, mit ihm fei das Hiftoriiche Drama in Ita» 
lien geboren worden, er babe zuerft das claffifche 
Schema ignorirt und das Hiftorifche Factum zum Kern 
der Handlung und der dramatifchen Affecte gemacht. Doch 
fehlte die Ddichterifch = philofophifche Durchgeiftigung der 
aufgenommenen Thatſache: | 

In Abfiht der Entfaltung ber Vorgänge, der Scenenfolge 
und Entwidelung der fünf Acte ift noch zu bemerken, daß bie 
Handlung fich keineswegs aus einer planvollen Anlage, einer 
Srundleidenfchaft, aus einem Mittelpunkt und Kern, berbore 
gliedert; daß alfo die Momente der Handlung nicht in drama- 
tiiher, um einen Schwerpunlt gravitirender Bewegung, nicht 
in» und auseinander, fondern hintereinander, im begebenbeit- 
lichem Anfchlufje fortfreiten. Die fünf Acte werben wie ein 
Bilderftreifen aufgerollt. Erpofition, Scidjalswentung und 


ea N. 


: on Be Mer Ge DE ME Br SE DEE 775 
tt — . \ 


262 Eine Geſchichte des italienifhen Dramas. | 


Entſcheidung folgen fid) anf dem Fuße, im hifloriſchen Gänfe- 
mark. Sie hängen wie Münchhauſen's Enten nur mittels 
des durchlaufenden Berbindungsfadens zuſammen; anflatt daß 
jene den tragiichen Lebensgang de8 Helden beilimmenden und 
abtheifenden Barzen den Eumeniden -Kreistanz um den Mittel- 
punft eines großen Schidjals - oder weltgejhichtlichen Um⸗ 
ſchwungs⸗ und Cauſalitätsgedankens fchlängen. 

Der nambhaftefte Nachfolger Manzoni's ift Niccolini, 
der zuerft mit claſſiſchen Tragödien nach antik» mytholo- 
gifchen Stoffen auftrat. Bon diefen erhielt feine „Po- 
lissena“ den Preis von der Academia della Crusca. 
Eine eigenthümliche Masfentragöbie ift fein „Nabucco”, 
deren Held, Nebufadnezar, die Berlarvung von Napoleon 
darftellt. Seine berühmteften Tragödien find: „Giovanni 
da Procida“ und „Arnaldo da Brescia‘, deren Analyſe 
ſich faft in eine Monographie verwandelt, indem aud) die 
Biographie der Helden mit größter Ausführlichkeit erzählt 
wird. Intereſſant ift die Barallele mit der Arnaldo- 
Zrogddie des Marenco, welcher Klein in vieler Hinficht 
den Vorzug ertheilt, weil fie unfer Intereſſe inniger und 
fympathifcher an die Perfönlichkeiten knüpft, während bei 
Niccolini das große Hiftorifhe Tableau, das oratorifche 
Pathos überwiegt, freilich mit einem Schwung des Ges 
danfens und ber Gefinnung, dem ein begeiftertes Echo 
nicht fehlen konnte: 

Niccolini mag an dramaturgifcher Selehrfamteit, an Geiftes- 
ſtärke, Bedeutſamkeit der Intentionen, Geſchichtsverſtändniß, ſa⸗ 
tiriſchem Pathos, Sinn fürs Großartige, theatraliſch Maſſen⸗ 
parte den Marenco Überragen: was fpecifiich dramatifches Ta⸗ 
ent betrifit, fteht er diefen: bei weitem nah. Schon die eine 
Tragödie des Marenco, der „Arnaldo‘, feine befte freilich, 
rechtfertigt das Urtheil. Die Gabe und die Kunft zu rühren 
und die rege Theilnahme für den Helden und feine Umgebung 
zu erweden, befitt Marenco in bedeutender Stärke; und gerabe 
dieſes für den tragifchen Beruf entfcheidende Talent läßt Niccos 
lini am auffäligfien vermiffen. Ja wir wagen die Behauptung, 
daß diefer von der heimiſchen wie auswärtigen Kritif als Ita⸗ 
liens größter Tragiker gepriefene Dichter, in Abfiht auf tra- 
iſche Kraft und dramatiiche Wirkung, Hinter die nenejten nam⸗ 
after italienifchen Bühneudichter des Jahrhunderts zurlidtreten 
muß. Die Energie feines patriotifchen, rhetorifch- fatirifchen 
Beitpathos gibt ihm für feine Nation, wie feinem Vorgänger 


Alfieri, eine Bedeutung, die außer Berhältniß zu feiner Dichter- 


fraft und dramatiichen Begabung fteht, worin er ſich felbft mit 
Alfieri nicht mefjen darf, der ihn an tragifher Wirkung, mit 
fo ſauerm Schweiß fie Alfiert erringen mag, übertrifft. Die 
Fülle, die fchwellendere Strömung, die Niccolini vor Alfieri 
voraushat, ergießt fi fiber den, im Bergleih zu Alfieri’s 
claſſiſch⸗ ausgedorrten Fabelmotiven, frifchern Fabelgehalt feiner 
mittelalterfich Hiflorifh romantischen Tragödienſtoffe in jo fiber» 
ſchwemmender Breite, daß fie den fruchtbaren Boden zu wüften 
Bruch⸗ und Moorfireden ſumpft. 

Marenco’8 Trauerſpiel „Manfredi” gibt wiederum 
Beranlafiung zu Parallelen mit dem Raupach'ſchen Stück 
und zu Betrachtungen über die Hohenſtaufen-Tragödien. 
Für den tragifchen Hohenftaufenfaifer erklärt Klein Fried⸗ 
rich II; doch habe noch Fein Dramatiker diefe feine tra- 

ifche Bedeutung erfaßt, während fie alle feine epifchen 
uhmesthaten mit dem dramatifchen Dialog ausläuten. 
Wir meinen, daß der Conflict zwifchen Staat und Kirche 
überhaupt feine Bedeutung für die Zeitgenofjen verloren 
hat, und daß Fein Stoff, welchem der moderne Lebenspuls 
fehlt, auf der Bühne Geltung gewinnen Tann. 

Die Komödie des 19. Jahrhunderts fchließt fich im 
wefentlihen an die Komödie Goldoni's an. Hier betont 
Klein, wo er bie Aufgabe des echten Luftfpiels jchildert, 


das Verhältniß zur Zeitfitte und zum Beitbegriff, das er 
bei der Tragddie mit Unrecht außer Adıt läßt. So jagt 
er bei der Beſprechung von Giraud's Komödien: 

Die Komik der Sittenfhilderung und der aus den Sitten 
erwachſenen Charaktere — die echte Komik der großen Meifter die» 
fer Gattung, Moliere, Soldont u. f. w., tritt in Oiraud's Ko» 
mödien zurüd, um der Specialitätenlomil, dem Lächerlichen zu⸗ 
fälliger Eigenheiten, mehr wunderlicher ale ſchädlicher Charalter- 
ſchwächen, beijerungsfähiger Thorheiten und nedifcher Berwider 
lungen infolge von Verwechſelungen und Misverfländniffen, 
freien Spielraum zu Taffen. Der bloße lomifche Charakter ohne 
die Reflexe der Zeitfitten, ohne die hiftorifche Folie, die ihn ale 
Ausdruck und Product feiner Zeit erſcheinen läßt, kann ale 
vereinzelte, aufs allgemeine der gefellfchaftlihen Zuftände nicht 
beziebbare Erfcheinung wol zu läderlichen, ſpaßhaften Situas 
tionen Anlaß gaben; allein jenes zur wahrhaft komiſchen Wir⸗ 
fung unerlafliche Atom von Eruft, von ernfthafter, wenn and 
kunſtgemäß verftedter Zweckabſicht; jenes gefchichtlich » gefellichaft- 
liche, feibft der fcheinbar ungebundenften, tollften Komödie noth⸗ 
wendige Gedantenmoment, das die fpeciellen Charakterlaunen 
und Eigenarten mit den Zuftänden der Geſellſchaft in Zuſam⸗ 
menbang bringt und beide, Perfon und Gefelfchaft, aneinan⸗ 
der erklärt, beide ım Lichte gemeinſamer Lächerlichkeit beleuchtet 
und in dem Schmelzfeuer einer die Zeitjitte und die Zeit- 
begriffe durd) Lachen zerfependen Bernunftlomit Täutert: dieſen 
bem wahrbaften, als mächtiges Eufturmittel wirkenden Luftfpiele 
eingefenkten Kern und Grundgehalt von poetiſchem Ernſt, Dies 
ſes Bernunftelement in dem grotesfen Spiel von Thorbeiten, 
Lächerlichkeiten und Aberwitz, diefe eigentliche Seele der Komik 
und Komödie, verleugnet das bloße Lachſpiel, das hauptſächlich 
durch feltfame, aus einer zufälligen Charaktereigenheit entſpriu⸗ 
gende Verlegenheiten belufligen und ergögen will und fett fidh 
durch diefen Mangel, bei fonft noch jo erfreulich anregender 
natärliher vis comics, felbft herab auf die untergeordnete 
Stufe eines blos unterhaftlichen Schwante. 


Die Luftfpiele von Graf Giraud find mehr oder we⸗ 
niger Lachſpiele, die blos auf ſpaßhaften Einfällen beruhen, 
jo „La capricciosa confusa”, welche die Caprice einer 
Schönen vornehmen, unbefcholtenen Frau behandelt, ſich 
in einen jungen albernen Laffen zu vernarren und ba» 
durch den Mann, den fie liebt, mit den fie verfprocen 
ift, zur Berzweiflung zu bringen, „Don Desiderio dispe- 
rato per eccesso di buon cuore“ (in Verzweiflung aus 
allzu großer Herzensgüte), ein Luſtſpiel, dag auf dem 
glüdlihen Grundgedanken ruht, komiſche Berwidelungen 
darzuftellen, in welche der Held gerabe wegen ebler, herz⸗ 
gewinnender, aber in ungefchidter Weife ſich Fundgebender 
Charaktereigenfchaften geräth u. a. Der namhaftefte Mit- 
bewerber um den Luftfpiellorber im erften und zweiten 
Jahrzehnt des Jahrhunderts ift Stanislao Marchiſio, 
deſſen Luſtſpiele: „I cavalieri d’industria” (Die Induſtrie⸗ 
ritter) und „La borsa perduta‘ (Die verlorene Geldbörfe) 
Klein genauer analyfirt. Das erfte Stüd ift eine Gauner« 
fomödie de pur sang, das zweite ein Stüd zur Bere 
berrlichung der verfolgten und unterdrüdten Tugend. 

Das Haupt der italienischen Komödie des 19. Jahr« 
hunderts, die einen wefentlich efeftifchen Zug zur Schau 
trägt, deutſche, franzöfifche und Goldoni'ſche Theatereffecte 
nicht ohne Virtuoſität vermifcht, ift Alberto Nota, der in 
feinen Dichterſtücken: „Arioſto“, „Laura und Betrarca“, 
„Taſſo“, jeden wahrhaft poetifchen Hauch vermiffen Tat, 
in dem legtern einzelne Situationen aus Goethe's Schau» 
fpiel in matter Weife copirt, während er in feinen Luſt⸗ 
fpielen ſich als einer der gewandteften Routiniers zeigt. 
Wenn Nota einen Goethe geplündert hat, fo ift er dafür 


Militärifher Büchertifch. 263 


wieder von den beutfchen Ruftfpieldichtern geplündert wor⸗ 
ben. Klein erwähnt, daß fein Luftfpiel: „IL filosofo ce- 
libe“, in deutſcher Bearbeitung unter dem Zitel „Ich 
bleibe ledig”, auf allen Bühnen bei uns gefpielt worden 
fei; er hätte Hinzufügen können, daß auch Nota’s bejtes 
Luftipiel: „La fiera”, unter dem Titel „Der Ball zu 
Ellerbrunn“ von Karl Blum für die deutfche Bühne ber 
arbeitet oder vielmehr in allen Hauptfcenen wörtlich über- 
fegt worben if. Und da auch dies Stüd zu den Re- 
pertoireftüden unferer Theater gehört, fo verdanken wir 
ben Autoren der Italiener, eines tapfer nad den Zielen 
politiiher Einheit und Macht mitftrebenden Volls, eine 
nicht unbeträchtliche Bereicherung unſers Repertoire. 

Die Behandlung Nota's von feiten des Literarhiſto⸗ 
rikers erfcheint uns nicht glüdlich, was die Auswahl ber 
beſprochenen Stüde betrifft; „Der Unterdrüder und bie 
Unterdrüdte”, „Die Herzogin von Lavalliere” und die 
Didterdramen gehören doch zu Nota's ſchwächſten Arbei« 
ten, 68 find im Grunde Bird» Pfeifferiaden, Familiengemälde 
und hiſtoriſche Rührftüce,; von den beffern Dramen führt 
uns Klein nur „La donna ambiziosa” und „Il proget- 
tista” (der Planmacher) vor, während einige der in 
Italien anerfannteften und wirlungsreichften unerwähnt 
bleiben. 

Klein’8 Geſammturtheil über Nota ift indeß gewiß 
das richtige; er fchildert ihn als einen Efleftifer, ohne 
Neuheit, Friſche und überrafchende Komik der Figuren 
und Combinationen, aber von feiner Technik in der Aus- 
führung, die nur in der ontraftirung oft zu weit 
geht und zu flereotyp wird, von Yeinheit des Colorits 
und der Haltung; ihm fehle der „Dämon“, den Boltaire 
von der Nuftfpieldichtung verlangt, ohne ihn felbft zu bes 
ſitzen. Günſtiger fpricht fich ein berühmter franzöfifcher 
Kunftgenofje, Eugen Seribe, über Alberto Nota aus: 

Die fennzeichnende Eigenjchaft von Nota's Talent iſt Ein- 
fachheit und Natürlichkeit. Bei ihm findet ſich nichts Anſtößi⸗ 


— — —— mn —— — 


Ailitäriſcher 
1. Amerikaniſche Kriegsbilder. Aufzeichnungen aus den Jahren 


1861—65 von Otto Heuſinger. Leipzig, Grunow. 1869. 
8. 1 Thlx. 10 Ngr. 


Der Sohn des Veteranen, deſſen Werk: „Zwei Kriege“, 
wir in Nr. 44 d. Bl. f. 1868 mit der Anerkennung, die 
es verdient, beſprachen, war in Amerika als der Bürger⸗ 
krieg ausbrach, trat als Freiwilliger in das Unionsheer 
und machte den Krieg bis zu Ende mit. Was er dort 
erlebt und geſehen, erzühlt er in dem vorliegenden Buche 
anſpruchslos in einfacher natürlicher Sprache, mit dem 
unverfeunbaren Streben, einen völlig unparteiiſchen Stand⸗ 
punft einzunchmen. Er läßt dem einde, gegen den er 
gefämpft hat, volle Gerechtigkeit wiberfahren: „Das Princip 
der Südſtaaten war zu verabfcheuen‘, fagt er, „aber die 
Thaten ihrer Armee fünnen nur mit Bernunderung ge- 
nannt werden.” Politiſche Betrachtungen fchließt er ganz 
aus, dazu würde ihm auch in feiner Stellung und bei 
feiner Jugend der erforderliche Horizont gefehlt Haben. 
Dagegen widmet er den innern Einrichtungen der Mord» 


ges, nichts Unwahrſcheinliches, keine Webertreibung. Dafür aber 
bat er die Fehler diefer Borzüge. Die Einfachheit des Sujets 
bewirkt eben, daß Bang und Entwidelung bisweilen zu fehr 
vorherrfchen werden. Die Regelmäßigkeit und Beſonnenheit 
der Handlung führen oft die Kälte herbei. Nota zeigt eine 
natürliche Richtung auf ernſte Stoffe Er geht nicht darauf 
aus, den Zufchaner lachen zu machen. Bei ihm entfleht das 
Lachen von felbft aus der Entwidelung, oder dem Gegenſatz 
und Widerfpiel der Charaktere. Wie Molidre fucht er das 
Komiſche in den Situationen, nicht in den Worten nnd Ein- 
fällen. Nota’8 Stil ermangelt der Schwungfraft und Wärme; 
aber die Schreibart ift Har, gefällig und zierlih. Niemand 
bat vegelrichtiger und reiner gejchrieben. 


Wir haben der geiftreihen und inhaltuollen Arbeit 
Klein’ über das italienische Drama als einem der her- 
vorragenden Literaturwerke der legten Jahre die ein⸗ 
gehendfte Beachtung gewidmet, ohne ihre Fehler und 
Schwächen zu verfchweigen. Kleinere Schniger freilich), 
die durh das Werk zerftreut find, konnten wir nicht 
imnmer an den betreffenden Stellen rügen, wie 3. ®., 
wenn Schiller 8 Worte: „Spät fommt ihr, doch ihr 
kommt“, ftatt auf den Grafen Iſolani auf Octavio 
Piccolomini bezogen werden, wenn das „Porträt ber 
Geliebten” als ein Luftfpiel von Benebir Hingeftellt 
wird, während es doc von Feldmann ift u. dgl. m. 
Die Fülle des unermüdlich, zufammengetragenen thatfäch- 
lichen Materials auf der einen, der Reichthum der tref- 
fendften dramaturgifchen Bemerkungen, die fi wie eine 
angewandte Poetit durch das ganze Werk zichen, auf der 
andern Seite, laſſen dafjelbe jo werthvoll und gewichtig 
erfcheinen, daß man doppelt bedauern muß, von dem 
Berfaffer jenen Goethe'ſchen Spruch, der nicht minder 
auf wiffenfchaftliche wie Fünftlerifche Productionen paßt, 
außer Acht gelafien zu fehen, den Spruch: „Inu der Bes 
ſchränkung erſt zeigt ſich der Meiſter.“ 


Rudolf Gottſchall. 


—— — — ee ap 


Bücherliſch. 


armee eine beſondere Berückſichtigung, womit wir voll⸗ 
kommen einverſtanden ſind; er ſetzt voraus, daß ſie wenig 
bekannt ſeien, doch haben, abgeſehen von den umfaſſenden 
Werken, welche die Literatur dieſes Kriegs aufzuweiſen hat, 
auch andere Mitkämpfer in ihren „Erinnerungen“ u. ſ. w. 
zur Kenntniß jener Zuſtände viele Beiträge geliefert. 
Der Verfaſſer geht, ſeinem Vorſatze treu, ohne Ein⸗ 
leitung über die politiſchen Urſachen des Kriegs hinweg 
gleich zur Sache. Er ſelbſt trat in das deutſche, aus 
Freiwilligen gebildete Regiment, das den Namen „de Kalb“ 
erhielt, nad) dem Helden, der einft im amerifanifchen 
Unabhängigkeitskriege für die Sache ber freiheit gefallen 
war. Das Regiment beftand, wie alle, aus 10 Compagnien 
und hatte eine eigene Uniform, die der preußifchen Fäger, 
welche es jeboch fpäter zum Leidweſen der Soldaten mit 
ber blauen Blufe vertaufhen mußte. Der Kommandeur 
des Regiments, Oberſt von Gilfa, wußte dafjelbe in kur⸗ 
zer Zeit kriegstüchtig zu machen und vor allem zu diß- 


cipliniren. Es wurde bei der Concentration ber deutſchen 


264 


Divifion zugetheilt, welche General MacClellan, der Be- 
fehlshaber der Potomacarmee, unter dem Oberften Blen⸗ 
fer, aus ber pfälzifch-badifchen Revolution befannt, for⸗ 
mirte. Diefelbe war 20000 Mann ftarf und aus 16 In- 
fanterieregimentern, einem Cavalerieregiment, einer fahren» 
den zwölfpfiindigen und einer reitenden fechspfündigen Bat- 
terie zufammengejegt. Bei ihrem erſten Bormarfch kam 
fie gerade zurecht, die beifpiellofe Auflöfung des Heers 
nad der Schlacht bei Bull Kun zu fehen, und fehrte, die 
Arrieregarde bildend, vom Feinde unverfolgt, wieder nach 
Wafhington zurüd, von wo fie vor furzem ausmarſchirt 
war. Hier ging e8 bunt zu: 

Tauſende von Soldaten kiefen zwedlos in den Straßen 
umber, fih auf die Mildthätigleit der Bewohner verlaffend, 
denn feit zwei Zagen Hatten die an Entbehrung noch nicht ge⸗ 
mwöhnten Leute nichts gegeffen. Cavalerteoffiziere ritten in allen 
Straßen, um die Artilferiftien und Cavaleriften an dem Verkauf 
ihrer Pferde zu hindern, da ſich ein fehr Tebhafter Pferdehandel 
fhon feit geſtern entwidelt hatte. Ambulancen und Leiterwagen, 
mit Bermundeten gefüllt, wurden auf die öffentlichen Plätze 
‚ gefahren und die Verwundeten dafelbft abgeladen, da größere 
Eoharetbe nod nicht eingerichtet waren. 

Mit Recht hebt der Verfaffer aber dann hervor, daß 
es ein eigenthiimlicher Charafterzug des Amerifaners fei, 
jelbft nach den härteften Schlägen den Muth nicht zu 
verlieren, jondern im Gegentheil dadurch nur zur größten 
Thätigleit angefpornt zu werden. Wir lefen dem ent= 
Iprechend die Reorganifation der Armee durch MacClellan. 
Die Berpflegung war fehr reichlich, der Sold hoch. Der 
Soldat bekam monatlih 11, fpäter 13 Dollars, der 
Secondlieutenant 110, fpäter 145 Dollar. 

Mit großer Anhänglichkeit fpricht der Berfaffer vom 
General Blenker, deifen Hauptquartier der Glanzpunkt 
der Divifion war. Blenker umgab ſich mit einem Stabe, 
deſſen fich fein fürftlicher Feldherr zu fchämen gebraucht 
hätte, ex felbft Tiebte den Prunk und trug, abweichend 
von der Einfachheit der amerifanifchen Uniformen, die 
Uniform feines Regiments mit goldenen Auffchlägen und 
Stiderei am Kragen. Mit dem 10. März begann der 
Feldzug von 1862. Der Berfaffer fehildert nur das, 
woran er felbft theilgenonmmen hat, und wenn er ein 
Urtheil über die ftrategifcdhen Operationen ausſpricht, fo 
gibt er wieder, was damals in ber Armee dariiber ge- 
urtheilt wurde. Die Urfachen manches unbegreiflichen 
Tehlers, die Einflüffe, welche die Unternehmungen der 
Feldherren beftimmten und oft lähmten, find freilich, wie 
er fchreibt, noch nicht ganz aufgeflärt, doch beginnt das 
Dunkel nad) den neuern Veröffentlihungen, die dem Ver⸗ 
fafjer wol nicht alle zugänglich gemwefen find, fich zu lich⸗ 
ten. Sehr anſchaulich, mit aller Friſche und Lebendigkeit 
der Jugend, ſchildert der Verfaffer die Mürfche, Gefechte 
und Schlachten, die Strapazen und Entbehrungen, an 
denen er theilgenommen hat, wir belfommen bier nene 
Beiträge zur Kenntniß der unglaublichen Truppenführung 
der unfähigen amerifanifchen Generale. So verbot General 
Summer da8 Bauen einer propiforifchen Brüde über den 
reißend fchnellen Broad Run und ließ die deutfche Dis 
vifion bei 1 Grad Kälte in der Nacht den Fluß durch 
waten, was am andern Tage nod mehrmals gefchah, 
da ſich derfelbe in verfchiedene Arme mit vielen Krüm⸗ 
mungen theilt. Als num dabei mehrere Leute ertranken, ritt 


Militärifcher Büchertiſch. 


Blenker wüthenb zum General, warf ihm den Säbel vor 
die Füße und fündigte ihm den Gehorfam auf. Das 
Schickſal der deutſchen Divifion war dadurch beſiegelt, fie 
wurde vom Summer’fchen Corps getrennt und fpäter 
ganz aufgelöft. Bon der geringen Anerkennung, welche 
die deutfchen Truppen trog ihrer glänzenden Tapferkeit 
bei der großen Maſſe der Dankees gefunden, von der 
Anfeindung derjelben in den parteiifchen Sournalen weiß 
der Berfafler viel zu erzählen; er muß freilich zugeben, 
daß fie fich durch ihre „Räubereien“ im feindlichen Rande 
einen fchlimmen Ruf gemadt; mit der gerühmten Die- 
ciplin kann e8 alfo nicht weit Her getvefen fein. Auch 
mit der Suborbdination war e8 eigenthümlich beftellt. Ließ 
doch der Oberft von Gilfa dem General Fremont, der 
den Regimentsmarketender für fein Hanptquartier in Bes 
ſchlag nahm, durch den Adjutanten, welcher das meldete, 
jagen: „Ex fer verrüdt!” Er kam dafür in Arrefti und 
der General behielt die Lebensmittel, doch bewog ihn die 
drohende Stimmung des Regiments, diefe herauszugeben 
und Gilſa feines Arreſtes zu entlaffen. 

Die deutfchen Regimenter wurden, nachdem Blenker 
verabfchiedet war, dem erften Corps der Armee von Pir- 
ginien einverleibt, welches Sigl befehligte. Diefer wurde 
mit großem Jubel empfangen, rvechtfertigte aber die Ex» 
wartungen nicht, die man auf ihn feßte, und verbarb eg, 
al8 er auch im Felde Parteipolitif trieb, mit allen Deut⸗ 
hen. Er ſuchte bald feinen Abfchied nach, den er zwar 
nicht erhielt, aber wol eine andere Beftimmung; fein Corps, 
jegt das elfte, trat unter Howard’8 Befehl. Den Marſch 
unter Hooker, wo die ganze Armee buchftäblich im Rothe 
(unfer junger Autor gebraudjt dafür confequent den der⸗ 
bern Ausdrud!) fteden blieb, hat auch der Schweizer Aſch⸗ 
mann in feinem Buche draftifch gefchildert. Bei Chancel- 
lorsville wurde der Verfaſſer verwundet und kam ins 
Tazareth, deffen Einrichtungen er als vortrefflich ſchildert, 
wie er aud) die firenge Lager- und Onartierordnung im 
Heere ſehr rühmt. Nach einigen Wochen konnte ex wieder 
zur Armee abgehen, um die Schlacht bei Gettysburg 
mitzumadjen, im welcher fi das de Kalb⸗Regiment be= 
jonder® auszeichnete, freilich aber ein Drittel feiner Stärke 
verlor. Daffelbe nahm dann an bem Kampfe gegen Charlefton 
theil, den ein eigener Abfchnitt im Buche zugemeffen ift. 

Ueber die neucrrichteten Negerregimenter, von denen 
auch eine Brigade vor Charlefton eintrat, urtheilt der 
Verfaſſer fehr ungünftig: 

Die ideale Schwärmerei, daß die Neger fi ihrer Freiheit 
daburd) am mwürdigften maden würden, wenn fie für die Frei⸗ 
Heit ſelbſt kämpften, zerfiel in nichts, fobald die Schwarzen im 
Felde waren, denn fie zeigten fich al8 eine unbrauchbare Truppe, 
melde nur durch Hinter ihnen aufgeftellte Geſchütze ins Feuer 
getrieben werden Tonnte. Die in vielen radicalen Zeitungen 
ausgeſchriene Tapferkeit der Neger, welche durch höhere Gene- 
rale documentirt fein follte, war libertrieben, ich habe mich vom 
Gegentheil gründfich überzeugt. 

Ueber die graufame Behandlung der Kriegsgefangenen 
in den Südſtaaten lefen wir ſchauderhafte Meittheilungen, 
befonders über da8 Lager von Anderfonville, wo leider 
ein Deutfcher, Namens Wirz, commandirte, ber fpäter 
daflir gehangen wurde. Die Guerrillas der Conföberirten 
verführen auch graufam genug, was bann wieder Repref- 
falien hervorrief. Einen gefangenen Offizier der Union 





Militäriſcher Büchertifch. Ä 265 


hatten fie gezwungen, fich felbft ein Grab zu graben, hat- 
ten ihm darauf Hände und Füße und endlich den Kopf 
abgehauen. Der Präfident Lincoln befahl darauf: „In 
einem Umfreife von 15 Meilen von dem Plate aus, wo 
bie That gefchehen ift, verbrenne man fünmtliche Ort⸗ 
Ichaften, laſſe keinen Stein auf dem andern, führe Kin⸗ 
der, Männer, Frauen und reife nad) Wafhington und 
made die ganze Gegend dem Erdboden glei.“ Dieſer 
Befehl it wörtlich ausgeführt worden; Sheridan's Cava⸗ 
lerie vollendete das Werk der Zerftörung im Shenandoah⸗ 
thale. 

Empörend ift ferner, was der Berfaffer tiber bie un⸗ 
glücklichen Deutfchen berichtet, welche, von einem amerifa- 
nifchen Agenten in Amfterdam als Arbeiter engagirt, in 
Amerifa ohne weiteres als Rekruten eingeftellt wurden, 
ba fie, der englifehen Sprache nicht mächtig, einen dahin 
Iautenden Contract unterfchrieben hatten. Noch unbewaff- 
net wurbe ein großer Theil von ihnen bei einem feind- 
lichen Ueberfall hingeſchlachtet. 

Der Verfaſſer machte nach dem Fall von Charlefton bie 
leßten Feldzüge der Potomacarmee in Birginien mit, 
wovon er manches Interefjante erzählt. Er wurde nad 
dem Kriege zu den Freedmansburean commandirt, das 
im ganzen Süden eingerichtet wurde und fegensreidy auf 
alle Klaſſen der Bevölkerung wirkte. Seine Hauptaufgabe 
war, eine Bereinigung der Örundbefiger und ihrer nun 
freigewordenen Sklaven zu Stande zu bringen, da fid) 
beide Parteien jchroff gegenüberftanden. Die Neger wur⸗ 
den nach ihrer Arbeitsfähigkeit in drei Klaſſen getheilt 
umd danad) der Lohn beftimmt, fie mußten fich dafür ver- 
pflihten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang mit 
einer Mittagspaufe don zwei Stunden nad) ihren Kräften 
zu arbeiten. Die Weißen dagegen verpflichteten fi, den 
Megern in ihren Forderungen gerecht zu werden; daß die 
BPrügelftrafe aufhörte, verftand fih von felbft. Leider 
kamen aber viele Unterfchleife und Scündlichleiten von 
Lieferanten, felbft von Offizieren vor, welche dem wohl: 
thätigen Inſtitut ſchadeten. 

Mit einem kurzen Ueberblick der Operationen der an⸗ 
dern Armeen ſchließt das Buch, das wir als eine inter⸗ 
eſſante Lektüre nur empfehlen können. Ueber manches in 
der Form und in den Ausdrücken wollen wir mit einem 
jungen Autor nicht rechten; dagegen iſt die Correctur des 
Drucks ſehr mangelhaft: es ſind erhebliche Fehler, ſowol 
in engliſchen als in deutſchen Wörtern, ſtehen geblieben. 
2. Betrachtungen über die franzöſiſche Armee mit beſonderer 

Berückſichtigung des moraliſchen Elements. Von M. v. K 

Wien, Seidel und Sohn. 1868. Gr. 8. 20 Rgr. 

Im Gegenſatze zu dem vorigen Werke, das den jadj- 
Lich wehrmänniſchen Standpunft fefthält, ftellt dieſes zweite 
eingehende Betrachtungen über den Geift und das Weſen 
der franzöfifchen Armee an. Der Berfaffer ift ein ſchar⸗ 
fer Beobachter, der aus eigener Wahrnehmung urtheilt, 
und wenn wir auch dem Hefultate, zu dem er kommt, 
daß den Franzofen, was militärifche Tugenden anbelangt, 
vor den Deutfchen die Palme zuzugeftehen fei, niemals 
beiftimmen werben, fo geben wir- ihm doch in allem, was 
er über bie hohe Bedeutung des moralifchen Elements im 
Kriege und über die Entwidelung defjelben in der franzd- 
fiihen Armee fagt, volllommen recht. In der Einleitung 

1870. 17. 


erflärt er die jegigen Kriegsrüftungen Frankreichs aus der 
verlegten itelfeit der Armee, welche die Siege ber 
Preußen 1866 wie eine Beeinträchtigung ihrer eigenen 
Gloire anfah und für dieſe Unbill nad) Genugthuung 
lechzte. Frankreich ift von Preußen nicht bedroht, nur 
der friegerifche Ehrgeiz feiner Armee läßt es rüften. Das 
moralifche Element derfelben ift ein fo mächtiger Hebel, 
daß es allein fchon zum Kriege drängen kann. 

Der Berfaffer fuht nun die Ouellen und ben 
Urfprung biefes mächtigen Factors in der franzöfifchen 
Politik auf und betrachtet in der erften Abiheilung das 
Heer von 1792—1852, in der zweiten das Heer unter 
Kapoleon MI. Die Schilderung ber Revolutionsarmeen 
und ber Zriebfedern, welche bei denfelben in Bewegung 
gefegt wurden, um die Kriege in fo großartigen Maß- 
ftabe führen und fo ungewöhnliche Erfolge erzielen zu 
können, iſt ganz vortrefilih. Aus der Hand der Revo» 
Iution empfing das Saiferreich den Krieger fchon fertig, 
und die militärifche Ehre wurde feitdem die unverfiegbare 
Duelle, aus welcher das erfte Kaiferreich nnd alle folgen- 
ben Gewalten in Frankreich gefchöpft Haben. Die gläne 
zenden Erfolge deffelben Haben den Geift der Ehre in ber 
Urmee für die kommenden Zeiten gefichert. Nah bem 
Untergange Napoleon’8 verlettten die Bourbons immer 
rüdfichtslofer den Stolz des Heeres, und biefe verblendete 
Misachtung trug weſentlich zu ihrem Sturze bei. Ludwig 
Philipp war anfangs fo Hug, dem militärischen Stolze 
Genugthuung zu geben, um die Armee an ſich zu fefleln, 
feine Söhne bewährten ſich in Algier als echte franzöfifche 
Soldaten. Die Regierung entjremdete fid) die Truppen 
aber nur zu bald, und der Tod des Herzogs von Orleans 
fann hier als der Wendepunkt betrachtet werben. 

Trog aller Mieftimmung gegen Ludwig Philipp wäre das 
Heer im Februar 1848 auf eine ganz energiſche Weife für 
ihn in den Kampf gegangen, wenn der König nicht felbft in 
faft unbegreiflider Verblendung feine Sache fo voreilig aufs 
gegeben hätte. 

MWeiter wird ausgeführt, wie die republifanifche es 
gierung das Heer, das, wie jede feftgeordnete Armee, fich 
einer folchen nur ungern unterwarf, gegen fich exbitterte, 
wie diefer Haß gegen die rothe Partei fi) bei dem 
Juniaufſtande berjelben befundete, und wie enttäufcht Die 
Hoffnungen der Armee auf Capaignac wurden. Um fo 
leichter gewann Ludwig Napoleon diefelbe, nur mit ihrer 
Hülfe konnte der Staatöftreich gelingen; er hat fie zux 
fefteften Stüge feines Throns gemadt, wie er aud) 
neuerdings noch ausgefprochen Hat. Sehr treffend iſt, 
was der Berfaffer über den guten Geift, dieſes belebende 
Princip jedes Heeres, fagt, der nicht durch den Macht⸗ 
ſpruch eines Autofraten eingehaucht werde, fondern aus 
dem Grunde der gemeinfamen Eigenthiimlichkeiten einer 
Nation entwidelt, großgezogen und dann forgfältig ge 
pflegt werden müſſe, damit er fich ftets, wenn man feiner 
anregenden Wirfungen bedarf, wie durcd einen Zauber 
entflammen laffe. 

Frankreich und Preußen gehören zu den wenigen Staaten, 
in deren Armeen das moraliſche Element, beſonders das mili⸗ 
tärifche Ehrgefühl, als eine der wichtigſten Bürgſchaften für 
wahrhaft große Feiftungen im Kriege forgfam gepflegt wird. 
Diefem limftande verdanken aud die beiden genannten Mächte 
zum großen Theile ihre anßerordentlihen Erfolge in ben 
legten Kriegen. 


34 





266 Militäriſcher Büchertifch. 


Als Grundlage für- die num folgende Beſprechung der 
gegenwärtigen Verhältniſſe des franzöflichen Heers ftellt 
der Berfaffer einen Bergleich zwiſchen den geiftigen und 
phyſiſchen Eigenfchaften der Franzoſen und der Deutſchen 
an, der zu dem Refultate führt, dag der Sranzofe, wenn 
auch im allgemeinen weniger gebildet, in militärifcher 
Beziehung einen höhern Standpunft einnehme als jelbft 
der Preuße. Wir unfererfeits können den deutſchen Soldaten 
nicht dem franzöfifchen nachftellen: hat diefer mandje gute 
Eigenfchaft nad feinem Naturell für fi, jo wird das 
von dem deutfchen durch andere aufgeiwpgen. Die Kriegs⸗ 
gefchichte beweift das. Auch möchten wir die Charakteriftil 
des Berfaffers, die er felbft bittet nur cum grano salis 
allgemein zu verftehen, nicht blos in Bezug auf Individuen, 
wie er zugibt, fondern für Nord- und Süddeutſchland 
im ganzen mobificiren. In Norddentichland, follten wir 
meinen, könne ber praftifhe Sinn, die reale Richtung 
nicht vermißt werden. . 

Nah diefen allgemeinen Betrachtungen jchildert das 
Werk im erften Abſchnitte der zweiten Abtheilung die 
Drganifation und Ausbildung bed Heers; der Ber 
fafier deutet dabei auch bie Uebelſtände und? Mlän- 
gel an, die ihm aufgefallen find. Wir finden über viele 
Berhältnifie, namentlich über bie abgefchloffene Stellung 
der Armee, über bie fociale der Offiziere, viele feine 
Bemerkungen, die wir beftätigen können. Ueber die Be- 
Köaffengen und ben innern Dienft der Truppen, beſonders 

er die Savalerie, urtheilt der Verfaſſer wie ein prak⸗ 
tifcher Offizier dieſer Waffe; er hat zwar, wie in einer 
Note zur leſen, in der Nechtspraris gewirkt, doch zeigt 
fi überall, daß er fpäter Soldat geweſen oder noch ift. 
Man Iefe, was er über die Lanze ſagt. Nur waren 
die Bolen in der Somoflerra feine Lanciers, fondern 
Chevauzlegers, wie Niegolewsli, der bei dem Regiment 
geftanden, ausdrücklich bezeugt. Wir haben diefe irrige 
Annahme noch kürzlich in einem andern Werke gefunden. 
Den franzöfiſchen Miilttärbildungsanftalten widmet der 
Berfaffer eine eingehende Betrachtung, nicht ohne Seiten- 
blide auf „die ganz ungeheuere Bedeutung, welde in 
Deutſchland der Form aller amtlihen Schriftjtüde bei- 
gelegt wird”. Etwas gebefiert Hat es ſich darin, im 
allgemeinen müſſen wir ihm aber noch recht geben. Yu 
der franzöftfchen Militärliteratur findet der Verfaſſer mit 
Recht eine gewiſſe Einfeitigkeit oder ſtark franzöſiſche Für⸗ 
bung, der preußiſchen geſteht er dem Gehalte nach den 
Vorzug zu. 

Der zweite Abſchnitt enthält Betrachtungen über das 
moraliſche Element und die Pflege des Ehrgefühls in der 
franzöſiſchen Armee. Der Verfaſſer ſtellt dar, worin das 
moraliſche Element beſteht, durch welche Triebfedern es 
erwedt und genährt wird, und welche Attribute zur voll» 
fommenen Kriegstüchtigfeit noch dazutreten müfjen, um 
daffelbe zu fichern, nämlich Disciplin, taktifche Ausbildung 
und technifche Ausrüſtung. Doch erklärt er die Geiftes- 
fiimmung, das moralijche Element, für die Hauptfache, 
Diecipim, Taktik und Ausrüftung für untergeordnete 
(für die Armeen der Gegenwart jedody unerlaßlich noth> 
wendige) „accessoria”. Die gefchichtlichen Beifpiele für 
ben erften Sat find nicht alle von gleicher Beweiskraft: 
das Heer Mohammed’s IL Tann wol fein wilder Haufe 


fanatifcher Sarazenen mehr genannt werben, auch leifteten 
die elenden Griechen ihm wenig Widerftand; und welde 
Siege hätte denn das Heer Karl’ des Kühnen erfochten, 
um es „fieggewohnt” zu nennen, als es gegen bie 
Schweizer zog? Die Factoren des moralifhen Elements: 
militärifches Ehrgefühl, Baterlandsliebe, Anhänglichkeit 
an die Dynaftie, religidfe Motive und Pflichtgefüihl, bes 
jpricht der Verfaſſer einzeln in Harer Auffafſuug und 
erläutert ihre Wirkung durch Beifpiele aus der Gefchichte, 
Ueber die Vaterlandsliebe jagt er, daß fie ſtets mit bem 
Nationalbewußtjein zufammenfalle, und daß von dieſer mo« 
ralifchen Zriebfeder nur dann große Erfolge zu erwarten 
jeien, wenn ber Kampf wirflih um nationale Intereſſen 
gefiihrt werde. 

Man wird in DOeflerreih mit der Vaterlandsliebe als 
movens der Armee, im ganzen betrachtet, gar wenig ausrichten. 
Der Ungar wird Salzburg und Tirol nie als einen Theil feines 
Baterlandes betrachten. Bin ich nit Schwab, bin ich Ungar, 
wird er fagen. Ebenſo wenig fühle ih, als Oberöfterreicher, 
mid) zu den Czechen oder nad) der Bukowina hingezogen. 

In diefen freimüthigen Worten liegt ein Theil der 
Schwierigkeiten angedeutet, mit denen Defterreich noch im: 
mer zu kämpfen hat. „Dagegen“, heißt e8 weiter, „war 
die öfterreichifche Armee ſtets von ausgeprägt dynaſtiſchen 
Spympathien getragen.” Die Pflichttreue nennt der Ber 
fafler den Nothnagel unter ben Zriebfedern, das morali⸗ 


iche Commißbrot des Soldaten, dem jeboch anbere, mehr . 


biutbereitende Nahrumgsmittel Kraft und Energie verleihen 
müſſen. So niedrig ftellen wir die Pflichttrene nicht, 
wenn wir auch zugeben was im Bergleich zu dem milie 
tärifchen Ehrgefühl über biefelbe gejagt if. In der Re 
gel wird letzteres nicht fehlen, wenn erftere vorhanden ift, 
und beide vereint werden Großes wirken fönnen. Dann geht 
das Werk zu feinem eigentlichen Gegenflande zurüd und 
ichildert die Hebel, welche in der franzöftfchen Armee für 
das Chrgefühl gebraucht werden: die Geftattung bes 

Zweilampfs, Verleihung von Orden, eine nad ben Be 

griffen des franzöfifchen Soldaten ſchöne und glänzende 

Uniformirung, die Errichtung bes Gardecorps aus erle 

jener Mannfhaft (gegenwärtig befommt fie ebenfalls 

Rekruten), die Elitencompagnien (feit Erfcheinen bes Werks 

abgeſchafft), Die Beförderung von Unteroffizieren zu Offi⸗ 

zieren und die Berforgung ausgedienter und verftümmelter 

Soldaten. As Anhang ift eine Ueberfiht des franzö⸗ 

fifchen Heer8 nach feinen Beftanbtheilen und feiner Ein- 

tbeilung hinzugefügt. Auf eine Beiprehung der Bore 
und Nachtheile des franzöfifchen Wehrſyſtems hat der 

Berfaffer, wie er erklärt, ſich nicht einlaffen wollen, weil 

er eine Abhandlung über die in den verſchiedenen euro« 

päifchen Staaten jegt in Anwendung fiehenden Wehr- 
fofteme veröffentlichen wird. Wir ‚heißen fie im voraus 
willlommen. 

Zum Schluffe erwähnen wir noch eines höchſt ver⸗ 
dienftlihen Werls: 

3. Die Militärliteratur feit den VBefreiungsfriegeu mit beſon⸗ 
derer Bezugnahme auf bie „Militär-Literatur- Zeitung‘ wäh⸗ 
rend der erften 50 Jahre ihres Beſtehens von 1820 — 70 
von Theodor Freiherrn von Troſchke. Berlin, Mittler 
und Sohn. 1870. ©r. 8. 1 Thlr. 10 Nor. 

Das Werk ift eine Gelegenheitsfchrift, was feinem 

Werthe keinen Eintrag thut. Der VBerfafier wurde durch 


Neue Romane. 


die Redaction der „Militär-Literatur Zeitung” aufgefordert, 
das funfzigjährige Jubildum derfelben durch ein geeigne- 
tes Werk feiern zu helfen, und er entchloß ſich, dazu 
eine Ueberfit der gefammten Militärliteratur feit den 
Befreiungsfriegen zu geben, gewiß eine äußerft milhevolle, 
aber auch danfenswerthe Arbeit. Dadurch wurde zugleich 
eine Ueberfiät der Leiftungen der genannten Zeitſchrift 
unb ein concentrirte® abgerunbetes Bild des Inhalts 
ihrer 50 Bände gewonnen. Es kam zunäcft darauf an, 
den richtigen Standpunft für den großartigen Gegenftand 
zu gewinnen und den Stoff zwedmäßig zu gruppiren. 
Der letztere in feiner Maffenhaftigkeit -bot einer univer» 
ſellen Auffafung mit gleihmäßiger Berüdfichtigung aller 
in Betracht fommenden Nationalitäten faft unüberwind« 
liche Schwierigkeiten, fodaß ſich der Verfafler bewogen 
fühlte, das Deutfche, das Preußiſche in den Vordergrund 
zu ftellen. Für die Eintheilung des Stoffs behielt er 
die drei Kategorien der „Militär-Literatur- Zeitung“ bei,“ 
nämlic, Kriegägefhichte, Kriegswiſſenſchaften und militä- 
rifche Hülfswiflenfchaften, zu denen noch Journaliſtik und 
Miscellen hinzutveten. Um aber den Bildern der Dar- 
ftellung mehr phyfiognomiſche Schärfe zu geben, hat er 
jene drei Kategorien noch im logiſch geordnete Unter 
abtheilungen geſchieden. Ueber die Eintheilung felbft wer- 
den verſchiedene Anfichten walten, da bisjegt noch feine 
allgemein angenommene Klaffification der Militärwiffen« 





267 


ſchaften gefunden if. Die Ausführung des Werts ift 
fehr gelungen. Es Konnte nicht alle Erzengniſſe ber 
Militärliteratur in bem bezeichneten halben Jahrhundert 
beſprechen, ſondern mußte fi auf die bebeutendften und 
wichtigften beſchränlen. Darum wird vielleicht manches 
darin vermißt werden, befonder8 aus den legten Jahre 
zehnten, während in den frühern, deren Schriften ſchon 
ihren feftftehenden Ruf haben, bie Auswahl leichter war, 
doch wird man ſich im allgemeinen gewiß mit der Wahl 
einverftanden erflären. Sie wurde überbem noch dadurch 
bebingt, daß diejenigen Werke, welche in der „Subilarin” 
beſprochen worden, beſonders berüdfichtigt werben mußten, 
und die Yubilarin hat manches, immerhin intereffante 
Werk nicht befproden, ans verſchiedenen Grunden auch 
nicht befprechen Tönnen. Was wir noch befonders rih- 
men müffen, ift, daß ber Verfaſſer feine eigenen Anfich- 
ten in’ ber Beurtheilung der Werke nicht ben borgefuns 
denen Pritifen untergeorbnet, ſondern jelbftändig gewahrt 
hat. Ex fagt darüber: „Es wäre fonft bei dem oft fehr 
verfchiedenen Standpunkt der Referenten eine Moſaik zu 
Tage gefördert worden, im ber mancher Stein fehreiend 
von dem Nachbar abgeſtochen Hätte, ohne fich zu dem 
angeftrebten harmoniſchen Ganzen zu verfchmelzen.” Gi 
denn das Werk allen, die ſich für den Gegenftand inter» 
eſfiren und militärifche Werke im ihrer Bibliothek befigen, 
beftens empfohlen. Korl Suſtav von Berne. 


Neue Romane. 


1. Die Herzogin von Nemours. Hiflorifher Roman von Paul 
Feval. Ans dem Franzöfiihen liberfegt. Drei Bände. 
9. 8. 2 Thlr. 


Bien, Müller. 186 
2. Aus den Tagen des erfien Napoleon. Hiftorifher Roman 
Stuttgart, Kröner. 


von Paul Stein. Zwei Bünde, 

1869. 8. 3 Thlr. 10 Nor. 

3. Aus alten Tageblichern. Im Anſchluß an „Eine deutſche 
Zürgerfamilie”, bearbeitet von Julius von Widede 
Drei Bände. Iena, Coftenoble. 1868. 8. 4 Thlr. 

4. 1872, in Roman der Zutmmft im vier Bänden von 
Daniel von Käszony. Leipzig, Pardubitz. 1869. 8. 
4 Thlt. 

Nicht mehr die Vergangenheit allein, auch die Zufunft 
Schafft ſich jetzt ihren hiſtoriſchen Roman. Es ift nicht 
genug, daß man bemüht ift, die Vorzeit mit phantaſie - 
vollem Geift und poetifcher Geftaltung in das angeregte 
Bewußtſein der Gegenwart zu verpflanzen, man muß auch 
allmählich — gibt «6 doch auch eine Tonkunft der Zur 
Tunft! — die Ereigniffe mit einem glücklichen second sight 
vorausſehen; man muß nicht nur ein rüdwärts, fondern 
aud) ein vorwärts gewandter Prophet fein, um einen 
pifanten Roman zu fchreiben. Nähere Auskunft über bie 
Ingredienzien des Zufunftsromans ertheilt Daniel von 
Käszony, auf deſſen „1872 (Mr. 4) wir unten zurüde 
Tommen. 

Bie ein Saul neben dem Propheten magyarifder 
Zunge nimmt fi Paul Beval, der Autor der 
„Herzogin von Nemours“ (Mr. 1) ans. Diefe Herzogin 
von Nemours ift eine noble Dame von altfranzöſiſcher 
Zournure, aus ber Zeit, da noch micht napoleonifche 
Parvenus das blaue Blut des galliſchen Adels verdächtig 





roth gefärbt hatten. Wir bewegen uns in dem Feval'⸗ 
fen Roman in fehr guter Geſellſchaft, der beften Sranf- 
reichs von 1490; die Balois, Orleans, Armagnac find 
uns fo belannt, daß wir und nicht wundern würden, wenn 
einer von ben edeln Herren uns auf bie Schulter Hopfte 
und uns mit einem herablafienden „Better, wie geht's” 
beehrte. Diefe hohe und Höchfte Geſellſchaft finden wir 
in allen Romanen, die wir heute bejprechen, wieder. Bei 
Feval find es die letzten Balois, bei Stein das Negenten« 
geihleht der Würtemberger, in Wicede's Tagebüchern 
die hohe preußifche Generalität, bei Kaszony endlich die 
Potentaten ganz Europas. Dennoch ragt ber Frauzoſe 
weit über feine Genoffen hervor. Man fieht, Paul Feval 
hat ſich nad) Walter Scott, Paul Stein nad) der Mühlbach, 
und der Prophet Daniel nad; Retcliffe-Gödfche gebildet. 
Der Autor der „Herzogin von Nemours“ ift feinem Bor- 
bilde am nächjften gefommen. Er nimmt aus dem Gewirr 
franzöſiſcher Geſchichten die Fehden der Armagnac und 
die bewegten Tage der Minderjährigkeit Karl's VII. her⸗ 
aus, um daraus einen belebten und handlungsreichen 
Roman zu verfafien. Die Witwe des Kingerichteten Jean 
d’Armagnac, Iabella, die Herzogin von Nemours und 
ihr Sohn Jean, der Blonde genannt, find ber Mittel- 
punkt der Intrigue, die der Graf de la Mare, ber 
Sieur Graville, gegen Karl VII. und feine Freunde an- 
fpinnt. Der Sohn des geächteten und gerichteten Ar- 
magnac, der blonde Jean, tritt als Champion des jungen 
Valois auf, als Graville diefen bei einem prunfvollen 
Feſte an Leib und Leben bedroht, und erobert fo wieder 


34* 


268 


fi und feiner Mutter Namen und Beſitzthum des Vaters. 
Er heirathet ein fchönes Mädchen aus dem Volle, Blanche, 
und felbft die fchmerzensreihe Mutter Ifabella bat Luft, 
fih mit dem Retter ihres Kindes, dem wadern Bruder 
Trangquille, zu vermählen. So weit bie Fabel des Romans, 
die nicht ſtreng Hiftorifch ift: fo heißt 3. B. der Sohn 
Iſabella's nicht Jean, fondern Louis d’Armagnac. Diefer 
Louis ftarb, um bies beiläufig zu erwähnen, 1503 und 
finderlos, wie wir für bie auf den Ausgang feiner Ehe 
begierigen Xejer des Romans hinzufügen wollen. Abge⸗ 
jehen von derartigen Heinen Sünden gegen die Gefchichte 
ift Feval's Buch fo treu im der Hiftorifchen Zeitfärbung, 
die handelnden Perfonen find fo liebenswürdig altmebifch 
ihre Reben find fo hübſch naiv und fo biderb verftändig, 
daß wir Hierin das würdige Vorbild des Autors faft 
erreicht finden. Die Franzoſen haben fonft fehr wenig 
Talent fiir gefchichtliche Darftellung, fo wenig, wie fie es 
für geſchichtliche Auffaffung der Dinge Haben; außer 
Bictor Hugo's erften Romanen und ben Fed romantischen 
Projadichtungen Charles Nodier’s wüßten wir unter den 
Tranzofen keinen Hiftorifchen Romancier von Bebeutung 
zu nennen. Auch wo Feval großartige Schilderungen 
geben will, gelingt ihm dies in reihen Maße. So bei 
ber Beichreibung ber eftlichkeiten im Palaft de la Marche, 
bie faft die Hälfte des Romans einnimmt. Befigt Teval 
auch nicht jene goldene Weber, welche die wundervollen 
Tefte befchrieb, die Graf Leicefter feiner königlichen Herrin 
in Schloß Kenilmorth gab, jo mangelt dem Franzoſen 
andererfeit3 nicht ein Vorzug, den man oft bei dem 
Briten vermißt: der Vorzug der Knappheit des Ausdrucks, 
die Vermeidung von Weitfchweifigfeiten. Es ift ein gutes 
Stüd Erzählerkunft in dem bunten Gewebe Paul Feval's 
bemerkbar. Wer bes Autors frühere Flüchtigleit und 
Teuilletonarbeit fennt, wird ihm die Gauberleit der 
Zeichnung in feinem neueften Roman doppelt body an« 
rechnen müſſen. 

Paul Stein erzählt ung Gefchichten „Aus den Ta⸗ 
gen des erften Napoleon“ (Nr. 2). Es iſt der fluttgarter 
- Hof, zumeift König Friedrid) und fein Sohn Wilhelm, 
deren Daupt- und Staatsactionen die Folie des Romans 
bilden. Da ift feine forgfame Dispofition, keine inein- 
anbergreifende Mafchinerie der Handlung, wie bei Weval; 
bei Stein ift wüftes Chaos und eitel Gerede ohne Marl; 
die Reben der hohen Herren, die fo blinkend find, im 
denen fie der Menjchheit Schnitzel kräufeln, find uner⸗ 
quicklich — wie ber Nebelwind der Langenweile, ber über 
dem ganzen Nuftgebilde des Verfaſſers pfeift. Nicht ein- 
mal Heine Pilanterien aus dem Hofleben des Rheinbund⸗ 
königs find in die träge Handlung verflochten: die hod)- 
fürftliden Perfonen und ihr Anhang — bis auf ben 
nebelmindigen Grafen Eugen — find alle fo fträflich fo- 
lide und tugendhaft, daß fie viel beſſer in eine ſchwä⸗ 
bifche Theeftunde denn in einen Roman a la Mühlbach 
gehören. Die Tendenz Paul Stein’s Flingt uns oft burd) 
feine faftlofen Zeilen hervor als die eines königlich wür⸗ 
tembergifchen Hofromancierd. Wir erfahren in den zwei 
Bänden feines Romans nichts von einem Menfchenfchidjal, 
was bes Interefjes wert wäre. Nur die Lebensläufe 
der Söhne König Friedrich's, vor allem des Thronfolgers 
Wilhelm, werden mit einiger Füniglich privilegirten Phan⸗ 


Neue Romane. 


tafie befchrieben. Was dagegen ben verftändigen und 
biedern König Wilhelm bewegte und feflelte, woran fich 
feine Neigung und Thätigkeit ſchon als Jüngling bewies, 
davon erfahren wir nichts; ſtatt deſſen erfindet Stein ein 
romantiſches Liebesverhältniß der Prinzeß Katharina mit 
dem Baron Lepell, allerlei heimliche Ehe⸗ und Liebes- 
geihihten — natürlih alles in Ehren — des Kron⸗ 
prinzen, und wärmt dad alte Märchen von den unnatür⸗ 
lichen Tode der erften Gemahlin König Friedrich's noch 
einmal anf. Neben den fürftlichen Perfonen geht em 
intriguantes Mädchen ale Haus- und Tamiliendämon ber, 
obwol diefe Mademoiſelle Rofe durchaus nicht dazu an⸗ 
gethan ift, eine intereflante Romanfigur zu bilden. Wo 
ftedt denn nun eigentlih der Roman? Wir fehen nur 
eine Ausbeutung des Sothaifchen Kalenders in diefen zwei 
Bänden würtembergifcher Hofchronik: daß Prinz Wilhelm 
in unharmonifcher Ehe mit feiner erften Gemahlin gelebt, 
daß er fpäter die Witwe Peter's von Didenburg gechlicht 
und nit ihr drei Jahre glüdlichfter Ehe durchlebt, weiß ber 
patriotifhe Wirtemberger wie ber Kenner der Genealogie 
ebenfo mie Stein; daß es jo loyale und fürftenentzüdte 
Untertdanen gibt wie die ſchwäbiſche Pfarrersfamilie, die 
einmal vom Kronprinzen incognito bejucht und dadurd) 
ein undermeibliches Anhängfel des Romans wird, ift dem 
deutfchen Lefer durchaus nicht neu. Wo bleibt nun ber 
Roman? „Aus den Tagen bes erften Napoleon!" Da 
hatten wir nad) dieſem ftolzen Zitel doch einen ganz 
andern ‚Inhalt vermuthet. Die ganze militärifche und 
ftaatsmännifche Romantik des erften Kaiſerreichs, die mit 
Kronen wie mit Nüffen fpielt, follte — jo dachten wir — 
im Spiegel der Dichtung an und vorüberziehen. „Aus 
den Tagen des erften Napoleon!" Das klingt nicht wie 
eine königlich würtembergifche Samiliengefchichte, nicht wie 
ein ſchwäbiſches Schidfal; nein, das Hingt wie Ablerflug, 
friegerifche Mufif, Muth und Ehre ohne Anfehen der 
Perſon, wie wilder Schlachtendonner und heimliches Kofen 
im üppigen Bondoir fchöner vornehmer rauen! Selbſt 
ben Ereigniffen am fluttgarter Hof hätte in diefer Beleuch⸗ 
tung fid) manche poetifche Situation abgewinnen laſſen; 
jo müſſen wir es ſchon als Lob ausſprechen, daß der 
Autor fein manierlich jenen fchönen Leichtfinn des jungen 
Jahrhunderts unbeachtet gelafien und nad) waderer 
Scribenten Weife feinen Figuren zierlid) gefette Worte 
und gerade einfache Handlungen zugefchnitten hat. Bon 
itppigen Schilderungen wie von originellen Gedanfen hält 
fi Stein’ Roman fern. Über die Sentimentalität fließt 
von jeder Seite über und will ſich durch feine unhöfifche 
Derbheit eindämmen Iaffen. 

Dem Stein’fhen Roman fliegen wir ein Buch an, 
das bie gleiche Zeit, die Zeit des eriten Kaiſerreichs, aller- 
dings von der Kehrfeite der Medaille behandelt. „Aus 
alten Tagebüchern“ (Nr. 3) benennt Julius von Widede 
eine biographiſche Veröffentlichung, die er feiner 
„Deutſchen Bürgerfamilie“ anfchliegt. Iſt auch verhält 
nigmäßig nur meniges in dieſem Wert Eigenthum des 
Bearbeiters, fo macht doch die kecke forfche Art Wickede's, 
die fich in feiner Arbeit kundgibt, gegenüber ber phili⸗ 
ftröfen gothaifchen Filigranarbeit Stein's, einen erfriſchen⸗ 
den Eindrud. Auch Hier ift Geſinnung, ſtark accentuirte 
altpreußifche Gefinnung, oft nicht ohne Einſeitigkeit 


Neue Romane. 269 


befchränfter Ausartung, aber e8 ift doch eine richtige ver« 
ftändnißvolle Zeitauffafjung in den Tagebüchern bemerkbar. 
Es ging und bei der Leftüre diefer Tagebücher eigen« 
thümlich. Mitten in unfere Romanvertiefung taudte die- 
ſes Stüd foldatifher Biographie Hinein. Es paßte nicht 
zu den eben gelefenen Romanen, und doch paßt «8 zu 
den hier befprochenen Werken. Während bei Stein das 
napoleonifhe Decennium vom Standpunkt eines Rhein 
bundunterthanen betrachtet wird, fühlt der militärifche 
Biograph als Preuße, oft aud als echter Deutſcher. 
So ftellten wir bie Tagebücher denn getroft dem Stein’ 
ſchen Roman entgegen, als fräftige Hausmannsfoft nad 
dem füßen Zuderbrot! Ohne Vorwort, ohne Einleitung, 
ſchlicht genug führt der Herausgeber den Autor ber 
Tagebücher, einen preußiſchen Artillerieoffizier, ein. Wir 
machen mit dem wadern Erzähler die Nheincampagne, 
die jener Schlacht und die Befreiungskriege mit: freilich 
miüſſen wir dem Erzähler gegenüber fo anfpruchslos fein, 
wie er felbft es ift. Die gejchilberte Zeitperiode umfaßt 
ungefähr die Jahre 1790— 1815, alfo die Zeit ber 
Sranzöffchen Revolution. Wie diefe gewaltige Zeit we⸗ 
nig Eindrud auf bie politifchen und focialen Anſchauun - 
gen des braven Pommern macht, ift Höchft ergöglich zu 
Iefen. Auf Karl Auguft und die Weimaraner ift er nicht 
gut zu fprechen. So fagt er von Karl Auguft: 

Er hatte leider eine ſchlechte Erziehung erhalten, und feine 
Sugendjahre fielen in eine Zeit, wo Frivolität und Irreligiofität 
am nur zu vielen deutſchen Höfen traurigerweile Mode waren 
und elf ein Monarch, wie unfer preußifher König Friedrich 
der Große, einen Boltaire an feinem Hoflager duldete, an den 
unmorclifden Schriften der fogenannten frangöflfhen Poltofopgen 
fein Wohlgefallen fand und die Verbreitung derartiger ſchlechter 
Bucher nit uur duldete, fondern fogar beförderte. 

Obgleich unfer Artillerift ſehr ſchlecht auf Literaten 
und Komöbdianten zu ſprechen ift, nöthigt ihm doch Goethe's 
Berfönlicleit, mit dem er während ber Rheincampagne 
zufammentrifit, Achtung und Zutrauen ab. Sehr dyaral» 
texiftifh iſt feine Auffaſſung von der Erſcheinung bes 
Drannee, die er im erften Band des Nähern entwidelt. 
Die beiden heterogenen Naturen ſtimmen ganz gut mit« 
einander, and) noch da, als der Artillerift dem Dichter 
auf eine Bemerkung erwidert: er (Goethe) verftände nichts 
vom Xrtilleriewefen und folle bei feinem Leiften bleiben, 
worauf Goethe „nichts ermiderte und ganz roth warb“. 
Dem Seribifar hat's der Brave mal ordentlich gegeben! 
Und Goethe war nod; confervativ, nun denfe man ſich 
den Altpreußen gegenüber einem „Salobiner”! Seine 
Meinung Über die Anhänger der frauzöſiſchen Republik 
ift diefe: 

Die Anhänger des franzöfigen Republifanismus in Preu⸗ 
Ben waren größtentheils Subjecte, bie entweber fon im Zucht» 
Haufe gefeffen hatten, oder doc ſchon Tängft dafür reif waren, 
ober and) hirmverbrannte Poeten und ähnlihe nur im Neid, 
der Phantafte fhwelgende, in Wirflicjfeit aber unzurehunnge 
fähige Menſchen. 

Ueberhaupt find dem bienfteifrigen Kapitän die genia- 
len Militärs unſympathiſch, felbft wenn fie der Herrſcher⸗ 
familie angehören. Sowie unfer Tagebuchautor über den 
Prinzen Louis Ferdinand urtheilt, ſpricht er gewiß bie 
Meinung der Majorität des preußiſchen Dffiziercorps 
von 1806 aus: 

Er foll in feinem Palais zu Berlin nur fehr ſchlechte Ge⸗ 





ſellſchaft um ſich gehabt und mit jlidiſchen Schöngeiflern, Liter 
raten und Muſilanten häufig bie geruen Nächte beim Cham- 
pagnertrinfen verbracht haben, wobei emancipirte MWeibebilder, 
jrößtentheil® Judenmüdchen, dann and) nicht fehlten. Wie ein 
— des Königlichen Hauſes fi einen fo ſchlechten, unpaſſen- 
den Umgang vähfen fonnte, ift mir flet8 unbegreiflich geblieben. 

So weit bie Auszüge aus den „Zagebiihern“. Go ein« 
feitig und befchränft auch vielfach die Urtheile des Schrei» 
benden ausfallen, fo bat er andererfeits doch den Kopf 
auf dem rechten Fleck. Er weiß die unfähigen Generale 
von ben tüchtigen ſehr gut zu unterſcheiden, nimmt fein 
Blatt vor den Mund, wo es fi um einen faulen led 
im preußiſchen Staats- und Armeewefen handelt, und 
hält es für Preußen höchſt nöthig, von Nupoleon und 
feinen Heeresrefornıen zu lernen. Man denke, fo wie unfer 
Tagebuchfchreiber dachte ein Offizier von 1790, und man 
wird vieles begreiflicher finden. Kannten wir doch ſelbſt 
einen wadern Schulkameraden — auch bürgerlicher Ab- 
Tunft wie unfer Autor —, ber, wenn ihm biefe „alten 
Tagebücher” zu Geficht kommen, ſich weidlih an ihnen 
ergögen würbe, ba fie ganz feine Anſichten ausfprechen. 
Das heißt, wenn er fie lift! Denn aud) er — jegt ſchon 
lange Offizier — dachte wie unfer Artilerift, der „nie« 
mals weder Zeit noch Luft Hatte, feine Freiftunden mit 
der Leltüre poetifcher Werke zu verderben“. Aber unfer 
Schullamerad war ein Original, der den Marfchallftab 
im Kopf zu haben glaubte, und das kanun man von allen 
unfern Offizieren doch nicht fagen. Alfo wird wol auch 
jene altpreußifche Unfchanung, von der wir eben einige 
Proben gaben, nur vereinzelt im Heer vertreten fein. Wie 
viel übrigens Hr. von Wiebe zu den Tagebüchern hinzu« 
gethan hat, fei Bier nur vermutet; jedenfalls hat er mit 
großem Geſchick und bewundernswerther Ausdauer die 
fiher im Original vielfad vorhandenen lapsus calami 
ausgemerzt. 

Beſchuftigen ſich Fival, Stein und der Autor der „Alten 
Tagebücher” mit verfchiedenen Epochen der Bergangen- 


' heit, fo hat der ungarifch-beutfche Romancier Kaszony in 


feinem „1872. Ein Roman der Zukunft” (Nr. 4) ſich, 
wie wir bereit oben angedeutet, eine Frage an das Schid⸗ 
ſal erlaubt, indem er die Zukunft der Völker prophetifch 
auszumalen ſucht. In Mercier's „L’an 2440” iſt Aehn- 
liches verfucht worden, und ber Verfaffer führt uns felbft 
ein Luftfpiel: „Die drei Yahrhunderte”, an, das, wie er 
fagt, viele Jahre hindurch volle Häufer gemacht haben 
fol, Wir fennen diefes Luftfpiel nicht, wahrſcheinlich ift 
es faticiiher Natur, Denn eine derartige zufunftsträu« 
mende Dichtung follte doch nur dem ſatiriſchen Genre 
angehören: der Roman, ber Zuftände der Wirklichkeit 
nad) poetifchen Bedingungen behandeln fol, muß fi von 
phantaftishen Schilderungen fo fern wie möglich Halten. Ein 
Roman der Zukunft ift ein äſthetiſches Unding: entweder 
wird daraus ein utopiftifches Werk, das mit ibenlen Per⸗ 
fonen idealogifche Luftgebäube aufführt, ober e8 werben 
Individualitäten und Zuftände der Gegenwart auf eine 
kommende Zeit übertragen, bie folche vomantifche Prophetie 
nit ertragen. Wird nun gar mit den tomangebenden 
Erſcheinungen der Zeit jo freventlich gewirthſchaftet, wie 
in „1872” des Hrn. von Räszony, jo muß die Kritif 
bier, wie bei jedem Attentat auf den guten Geſchmadc, 
ihr Veto einlegen. Das Motto, das ſich der Autor 


270 Neue Romane, 


gewählt, berechtigt den „Roman ber Zukunft“ noch lange 
nicht. „The task of an historical writer is: to record 
the past, to describe the present, and to foreshadow 
the future” — ein geflügeltes Wort Bolingbrofe’s, ift vom 
Verfaſſer des „1872” gemisbraudt. Abgefehen bavon, 
daß er das Prädicat eines historical writer nit ufur« 
piren darf, gilt für ihn nur das record the past, went 
ex hiſtoriſcher Romanfchreiber fein will; die Verhältniſſe 
des present find bei Kaszony grob verzeichnet, und vom 
future weiß er ungefähr fo viel wie wir. Über Rafael 
weiß alles. Rafael? Wer ift Rafael? „Ein ähnlicher 
Charakter (sic!) wie Koffuth und Bismard“, ein Ungar 
und Rosmopolit, ein moderner Erzengel mit dem Schwert 
von Ehaffepot und Dreyje und dem Delzweige vom gen- 
fer Friedenscongreß. Rafael ift der Sohn eines Magparen 
von der Farbe Kofiuth und Beſitzer von 30 Millionen 
Pfund Sterling; aljo gehört ihm eine Summe, halb fo 
groß als Englands Staatseinkünfte. Er ift aber aud) 
noch mehr als Milliondr. Hören wir, wie feine Mutter 
ihm den Spiegel vorhält: 

Bei einem jungen Menichen von fo jeltenen Eigenfchaften, 
wie du fie befigeft, der die Schönheit eines Adonis mit ber 
Weisheit eines Plato, mit der Stärke eines Allid, mit der 
Tapferkeit eines Achill und der Anmuth eines Eros verbindet, 
ift es nichts, in einem Lande wie England ber Erſte zu jein, 
du geek mit deiner Zukunft der Weltgefhichte an, du mußt 
Böller ſchaffen () oder ausgeftorbene wieder ins Leben weden. 

Diefe Lehre beherzigt denn auch Rafael: er freift die 
Aermel auf unb beginnt gleich feine Arbeit. Mit Ungarn 
muß angefangen werben, bort allein verfteht man die 
Worte Freiheit und Patriotismus. Der neue Meſſias wird 
von Hrn. Schön (Bismard) heimlich unterſtützt; bei die⸗ 
fer Gelegenheit lernt er feinen Vater, Kaspar Schwarz, 
kennen, ber jedoch mit der Beglüdung Europas zu be- 
ſchäftigt iſt, um fich über feinen Halbgott von Sohn zu 
freuen. In Ungarn angelangt, wühlt Rafacl mit Geld 
und Liebenswürdigfeit; vorher jedoch hat er bei einem 
Beſuch in Turin den Erbdictator Koffuth mit feinem Plan 
befannt gemadt. „Ich will mich gern Ihren Anordnun⸗ 
gen fügen”, ſagt Koſſuth, und küßt demüthig die Hand 
des Meſſias. Nach einem Abenteuer à la Caſanova ver⸗ 
läßt der Gbttliche Turin, und nun geht's los. In Un⸗ 
garn lernt er die Gräfin Szennyei kennen und verliebt 
ſich in ihre Tochter; aber die Liebe ſtört ihn nicht, denn 
das Jahr 1872 bricht an und die ungariſche Revolution 
ſoll noch zur Zeit fertig werden. "In Gödölls trifft er 
Beuſt und die Faiferliche Familie; Beuſt küßt ihm beide 
Hände, und das Faiferlidhe Paar ift auf Du mit Rafael, 
die ſchöne Kaiferin lüßt fogar eine leife Neigung für dem 
fhönen Erzengel durchſchimmern. Rafael’8 Neigung zu 
Clorinde Szennyei wird erwibert: die Mutter, eine Feindin 
bes Helden, thut fich mit zwei intriguanten Weibern zum 
Iurienbunde wider Rafael zufammen; eins diefer Weiber 
ift Rafael's Mutter. Clorinde wird von ihrem Bruder 


im Bade belaufcht, der ein biutfchänderifches Attentat 
gegen die Schwefter verübt; dann wird fie eingelerkert, 
bis Rafael fie erlöf. Denn Ungarns Meſſias hat Wich- 
tiges vor: die Ruſſen ziehen gegen das Donaureich heran 
und fhlagen die magyarifche Armee. Rafael gilt für 
gefallen, lebt aber und hält fich verborgen, um von hier 
aus die Fäden der Regierung zu Halten. 

Der Zuftand Europas um diefe Zeit ift kläglich: den 
Diplomaten und Stantsmännern der Gegenwart zur Nadj= 
richt, daß fie ein genaues Expofe der Lage Europas Anno 
1872 auf ©. 50— 60 des zweiten Bandes vorfinden. 
Heben wir nur eine Stelle, die unfer Vaterland betrifft, 
daraus hervor: 

Im Centrum Europas hatte fi) endlich ein mächtiger Staat 
gebildet und das einheitliche Deuiſchland war endlich zu Stande 
gelommen, die Könige von Baiern und Sachſen und der Groß. 
— von Baden Hatten freiwillig zu Gunften des Königs von 

reußen ihren Sonveränetätsrechten entiagt, der König von 
Würtemberg aber wurde fpäter auch gezwungen, bafjelbe zu 
thun, Preußen hatte demnad ale Königreich aufgehört zu be⸗ 
fieben, und es gab num wieder einen deutſchen Kaifer, welder 
fih zu Frankfurt a. M. tönen und Friedrich VI. nennen 
tieß. Deutſchland anerlannte dankbarlich das Verdienſt jenes 
Mannes, der es dazu gemacht, was es geworden, unb der Graf 
Bismard-Schönhaufen wurde duch Parlamentedecret in bem 
Fürftenftand erhoben und ibm ber Ehrentitel „Gründer der 
Einheit“ beigelegt. 

Sp weit unfer Romanprophet. Nur noch ein paar 
Data: Am 18. November 1872 Schlaht bei Komorn, 
die Ruſſen werden gefchlagen und ziehen ſich aus Ungarn 
zurüd, zum Aerger der Baterlandsverräther Deat, Verczel 
und Horvath (der Autor ift ja Koffuthianer). Deu 19. De⸗ 
cember 1872 werben die Franzofen von der beutfchen 
Armee bei Leipzig gefchlagen u. ſ. w. Man fieht, wir 
haben bier die Zukunft der Völker in 52 Drudbogen 
vor uns, und das ift bequemer als alle Blaubücher der 
Zukunft. Es thut uns nur leid, daß wir unfern Leſe⸗ 
rinnen nicht die Adrefie des fchönen Völkerbeglückers Ra⸗ 
fael angeben können: ex ift nad) Kaszony 1846 geboren, 
alfo jett in dem Alter, in dem jeder hoffnungsvolle Sünge 
ling fid) wundert, noch nichts für die Unfterblichkeit ge= 
than zu Haben. 

Wenn Käszony’s Bud) nicht jo merkwürdig ernft wäre, 
jo wäre man verfucht, es für eine etwas ungeheuerliche 
Satire zu halten. Aber dem kühnen Phantafiefreibeuter 
ift die Pritfche der Ironie und des Scherzes voll tieferer 
Bedeutung fo fremd wie feinem Rafael die Armuth. Ihn 


gelüftet nach dem ſüßen Lorber der Leihbibliothefenhelden, 


nad) dem Kranze der Retcliffe und Genofien. Die Phan⸗ 
tafie ift ein fchönes Gut. Aber bald wird die misgeſtal⸗ 
tete Stieftochter der himmlischen Göttin, die Phantafterei, 
mehr Anbeter zählen denn ihre Mutter, und die dent⸗ 
fhen Dichter werben, im Hinblid auf die Zukunftsroman⸗ 
cierö, ſich fchämen müflen, von dem Gut der Göttin 
Phantafie zu zehren. Scan; Hirſch. 


Feuilleton. 


271 


Fenilleton, 


Notizen. 

Die Beilage bes „PBreußifchen Staatsanzeiger”, Nr. 12, ente 
hält ein Verzeichniß (preußifcher) „vaterländifher Dras 
men“, geordnet nad) den Zeiten, aus welden die Stoffe gewählt 
find, mit Angabe des Datums der erſten Aufführung der Stüde, 
welche vor 1786 von den in Berlin ſich aufpaltenden Schaufpielere 
truppen, und ſeitdem von dem Perſonal des Rationaltheaters und 
den Mitgliedern des königlichen Theaters dargeftellt wurden. 
Das Berzeihuiß ift mit großem Fleiß zufammengeftellt, enthält 
aud mehrere Stüde, die im vorigen Sahrhundert zur Auf- 
führung gelommen find, namentlid mehrere Feſtſpiele und 
Ballets zur eier Friedrich's des Großen. Bon den verjchier 
denen preußiſchen Geſchichtsepochen ift die Zeit vor dem Kur« 
fürfen Friedrich) Wilhelm, die Zeit des Königs Friedrich IL. 
und diejenige der Befreiungskriege und ihrer Vorgänger, eines 
Nettelbed, Schild, York, am meiften behandelt worden. Es 
ergibt fi aus_diefem Verzeichniß, daß die Zahl patriotifcher 
Stüde, deren Stoffe dem Volisbewußtſein nahe liegen, keines» 
wegs eine geringe ift. Jutereſſant ift aber jedenfalls die Ber 
tradtung, daß don allen diefen Stüden nur eine ausnehmend 

jeringe Zahl auf der berliner Hofbühne zur Aufführung ger 
ommen if. Haupthinderniß ift die nod immer beobachtete 
Borfcrift, die Mhnherren dee königlichen Hanfes nicht auf die 
Breter des Hoftheaters zu bringen. Ausnahmen hiervon find 
nur felten gemacht worben, wie mit Haus goeſter's Schaufpiel: 
„Der große Kurfürf‘'; aber aud die „Schill“ und „Hord, 
die fid auf andern Bühnen bewährt Hatten, wurden durch come 
ventionelle Rüdfihten von dem Hoftheater ausgeichloffen. 

Bon dem Werke: „Der mündliche Bortrag. Ein Lehrbud) 
für Schulen und zum Selbftunterricht‘, von Roderih Benedir 
iR eine zweite, vermehrte Auflage erfchienen (3 Bde.. Leipzig, 
Weber, 1870), ein Beweis, daß die Kunft des Vortrags zu 
erlernen immer mehr als ein Bedürfniß der Zeit anerfannt 
wird, wie dies bei ber machfenden Deffentlichleit in allen un« 
fern Berhäftniffen begreiflic) it. Nicht blos Bühne und Kanzel, 
aud der Gerichts und Parlamentsjaal, die verfchiedenen Ber- 
eine und Berfammlungen verlangen jet bie Kunft des Vortrags. 
Das verdienfvolle Werk vom Venedig legt im erfien Theil: 
„Die reine und deutliche Ausfpradhe des Hoddeutfchen", bie 
federn Grundlagen, auf denen der zweite Theil: „Die richtige 

omg und Rhythmif der deutihen Sprache“, welder die 
Richtigkelt des Vortrags, umd ber dritte, welcher „Die Schönheit 
des Vortrags behandelt, weiter bauen. Die Beiſpieie aus 
anfern — Dichtern find treffend gewählt, bie Unterſchiede 
im Vortrag des Epiſchen, Lyriſchen und Dramatiſchen mit 
Feinheit hervorgehoben, Das Werk iſt beſtens allen denen zu 
empfehlen, deren Beruf den mündlichen Vortrag bedingt, oder 
die ſich für eimen folhen Beruf vorbereiten; aber aud den» 
jenigen, welde den mündlichen Bortrag, namentlich, auf der 
Blipne, zu recenfisen haben, da aud die Kritif, wenn fie nicht 
tn® Blaue Hineintappen will, ſicherer Grundlagen nicht ent 
behren darf. 

Der 16. Band von Taudnit” „Collection of German 
Authors“ bringt eine Ueberfegung der Erzählung von Karl 
Seutzkko w „Durdh Naht zum Licht” unter dem Titel: „Through 
night to light‘ von Mrs. Faber. Diefe Ueberfegung if ein 
neuer Beweis dafür, wie rajch der Herausgeber werthvolle Er- 
zeugniſſe der neuern bdeutihen Literatur dem englifchen Leſe- 
publifum zu vermitteln weiß. 

Das Trauerfpiel: „Die Gräfin“, von Heinrid Krufe, 
in in dritter Wuflage (Leipzig, Hirzel, 1870) erſchienen, welche 
aud den Namen des Berfaflers an der Stirn trägt, Der 
Diäter, der bekanntlich für fein GStüd von dem berliner 
Sojiler-Breiscomite die Medaille erhielt, Hat die Einwendungen 
der Kritif beachtet und namentlich eine ſchwache Stelle des Stüds, 
die eigenmwillige Entfheidung der Mütter Über die Hand der 
Zöhter gegen deren Willen, durd) eingefügte Motive zu ver- 
ſtürten gefucht. Auch die Kataftrophe ift verflärkt, indem wir 








über das Schidfal der Almuth nicht in Unwiſſenheit bleiben. Die 
ternhafte Sprache und charalteriſtiſche Kraft wird dem Stücke flets 
nene freunde erwerben. 

Durch elegante typographiſche Ausſtattung und treffliche 
Holzſchnitte empfiehlt fi uns ein Prachtwerk: „Altdeutfche 
Sprüde aus der Wartburg; componirt und gezeichnet von 
Vh. Grot - Johann in Düffeldorff. Einleitung von Profeſſor 
A. Springer in Bonn. Sriginalgedichte von Emil Riiters 
Haus und Hugo Freiherrn von Ziemberg, Herausgegeben und 
in Oolzſchnitt anageführt von O. Gehrke" (Eiberfeld, Lucas). 
Die doppelte Iluftration der Sprüche durch Bers und Bild ift als 
eine gelungene zu betrachten. Die Gedichte von Rittershans find 
friſch und ſchwunghaft, diejenigen von Hugo von Blomberg 
finnig, wie man e8 von beiden Dichtern erwarten konnte, 

Ein anderes Werk von höchſt eleganter Ausflattung ift die 
Monographie „Das Handlungshaus Bizdinand, liu ſch. 
Gedenkbuh zu defien funfzigiähriger Jubelfeier am W. April 
1860. Herausgegeben von Fr. Wilfelm Süß" (Frankfurt 
a. M., 1869), So wenig die Geſchichte techniſcher Etabliſſe - 
ments in den Bereich d. BI. gehört, fo dilrfen wir doch einen 
für die literariſche Production fo wichtigen Geſchüftezweig und 
eine fo Hervorragende Vertretung deſſelben nit unerwähnt 
laſſen, denn, wie der Herausgeber fagt, „es erſcheinen diefe 
Blätter nur als ein Spiegelbild des Wohlwollens, mit welchem 
die deutſche und felbft die ausländiſche Prefle feit Jahren die 
Berbieufte des Haufes Flinſch um bie vaterländifhe Papiere 
induftrie wie auch um gewerbiiche Anlagen begrüßte.” 


Bibliographie. 
in Halle. Ben em Oihkanden, Bett, & Dakdn 1 Bir 











‚Qubwig dan Beethoven. Cin dramatiihes Cparakterbil Aufe 
güsen mit einem Gpilog zur Beier won Becipouen's Hund igem Ge» 
uttötage am 16. December 1870. Bon einem Bonner. Leipzig, Seiner. 


Gr. 8.035 pr. ® 
Deramann, W., cher und vermifgte Gelfte. Berlin, G. Die 





me, 4 
Wöitger, U, Pro gen ber Branen. Misum-Eprige and ben 
aitaen Selen. Yeltie, Kormanne 6 1 20 J von 

Bittner, 8, Eben Odlelermagen. Ihre D. Berlin, &, Rele 
mer, Gr, N 

Seas, Bier 6 dem Gebiete der Bortenirthfgaft 
und Welebgenunn” Boriefineen® Belpiig D, Mlaakhr 8 1a Han 


— Du Das Seltalter Ser Rovelle In Bellat, 
Berlin, ©. Reimer, 8. 8 Br 
enefti, Sulfe (M, v. Humbradt), Todtes Capital. Roman. 4 Bbe, 
Yena, Goftenoble. 8. 4 Zple. 
ebauleu über modernen Gonfervatismns und Aufruf an bie Eonfers 
vater, Basti, Rontampl, hr, 
5 Genfigen, D. 8. 1. Zrauerfpiel. Berlin, Heimann. 8. 


8 

© egoronius, #., Wanderjahre in Italien, Ufter Bo. . 
—— Sen une Scenes Safer Sie Huf. Ciba ondheen. 
Elfe. 2 myr 


. €, Drei Monate in Canada nebft Hin- und Hereeife 




















aber Samsung um jort, vom 20. Quli DIS zum 18. Deceıber 1868, 
agebach. Eiraljund, Hingf’ Nadf. Gr. 8. 15 
Müller, I., Der 2 t8+, Rultur» und 


arsanı, Seine veliüite, „He 
 ifte Lief. Zücib, Shultbeh. Br. 8. 

Müller, N. M., Ueber Erziehung und Bildun; 
Söriften aroßer Bädapogen und Weltmeifen Bearbeitet, 
8. 27 Nr. 


15 Nat. 
Na feltenen 
Hannover, Hahn. 





* 
Desterreiche jüngste Kreis, 
Gr, 8. 71, Ngr. 

EM, Der Spiritismus. Vortrag. Leipzig, Rofe 


Eine Märzbetrachtung von Ernst ***, 





auer, Sartened, 
ıpfe_ feiner EN 


de —— — —8 
National-Arhives in Hermannfladt, 


6 
dt, Spmiebide. 1869. 
Gr. ©. 2 pie. 20 gr. ————— 





272 Anzeigen, 


Unze 


igen. 


— — 


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Kampf und Gieg. Leben in Chriſto. Die Ietsten Dinge. 
1. Heimwehlieder. 2. Heimfahrt. 8. Troſtlieder. 4. Die 
Bollendung. — Erläuterungen und Nachrichten Über die Dichter. 

Ein Begleiter auf der Wanderung durch dieſes Leben. 


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16. XX und 812 Seiten. Broſch. 1, Thlr., in Leinwand 
b. 2 Thlr. 


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Inhalt: gebensftagen. Gott und feine Wege Der 
Menih und feine Geſchichte. Chriſtus und fein Werl. Die 
Straße des Heils. Lebensweisheil. Das Haus. Die Kirche. 
Die Vollendung. 

Eine Gedankencollecte religiöfer wie fittliher Wahrheiten 
in Ausfprüchen bedeutender Dichter und Denker zum Berfländ- 
niß der Dinge auf Erden und im Himmel, 








Berantwortlicder Rebdactenr: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Verlag von $. A. Brochhaus in Leipzig. 





Blätter 
literariiche Uuterbaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottfchall. 





Erfcheint wöchentlich. 


—4 Ar, 18 9 


28. April 1870. 





Inpalt: Neuere bramatifche Dichtungen. Bon deodor Webl. — Revue fiber neue mufllalifhe Schriften. — Vom Büchertiſch. — 
Senilleton. (Notizen; Grein's Heliand »Ueberfegung.) — Sibllographiee — Anzeigen. 





Yenere dramatifche Dichtungen. 


1. Wlafle. Dramatifhes Gedicht in einem Borfpiel und fünf 
Acten von Leo Meißner. Xroppau, Buchholz und Die- 
bel. 1868. 8. 20 Nor. 


Eine Yugenbarbeit, in der fi echte Begeifterung 
und der lebhafte Drang, etwas Tüchtiges zu leiften, vor⸗ 
derhand noch mit Unflarheit des Ausbruds und Man⸗ 
gel an burchgreifender Geſtaltungskraft paaren. Der 
junge Berfaffer, von Liebe und patriotifher Hingebung 
für fein deutfches Vaterland erfüllt, Hat in die graue 
Borzeit, in die erfte Hälfte des 8. Jahrhunderts, zurück⸗ 
gegriffen und hier eine Epifobe aus der böhmiſchen Ge⸗ 
fchichte erfaßt, in der Böhmen, Czechen und Deutſche 
um die Herrfchaft diefes Landes fümpfen. Als die Haupt: 
geftalten in diefem Kampfe führt uns das Stüd Primis- 
Ians, den Überlebenden Gatten der großen Libuſſa, Wlafte, 
Die Führerin der von Libuffa gegründeten Jungfrauen⸗ 
Leibwache, und einige Lehen, Adeliche der Czechen vor. 

Primislaus ift eine ruhige, eble, männliche Natur, die 
fih in Liebe zu Wlafla neigt, eine Neigung, welche diefe 
erwidert. Leider aber fchieben fich die Czechen mit ihren 
Intriguen zwiſchen die Herzen diefer beiden ein, weil fie 
Ang genug find einzufehen, dag, um felbft zur Gewalt 
und Herrfchaft zu gelangen, es nöthig erfcheine, zwei 
Elemente in Zwiefpalt zu bringen, die vereint ihnen ver⸗ 
derblich wirken müßten. 

Auf einem Landtage am Wyfchehrad befhuldigt man 
Wlaſta, einen czechifchen Fürſten ermordet zu haben, und 
Wlaſta, welche inzwijchen die Marlomannen, Thüringer 
and Sachſen, kurz die deutfhen Stämme in Böhmen 
ind geheim zu ihrer Königin erwäßlt hatten, die ſich aber 
von PBrimislaus nicht fo energifch gefchütt und vertheidigt 
fieht, als fie e8 erwartet — denn fie hat noch lurz vorher 
fein Kind vom Tode aus dem Waſſer gerettet —, Wlafta 
flürmt entrüftet mit ihrem Anhang davon und erklärt 
Primislans und den Ezechen den Krieg. 

Bon den letztern hat ſich einer, Mil, der die Cabalen 

1870. 18. 


feiner Landsleute kennt und biefe verabfchent, Wlafta an- 
gefchlofien, die er ſeurig liebt, eine Liebe, die indeß nicht 
erwidert wird, da, wie bereit8 gejagt, unfere Heldin in 
ihrem Herzen eine tiefe Empfindung für den Herzog begt. 
Aber eben deswegen flammt nun ihre Feindſchaft um fo 
wilder gegen biefen auf. Glaubt fie doc, ihr Gefühl fei ver- 
ſchmäht. Zwar zögert fie am Anfange des zweiten Actes 
noch mit dem Beginn des Kriegs; aber man ftachelt und 
reizt fie fo lange, bis fie endlich das Zeichen gibt und 
den Kampf eröffnet. . | 

Im erfien Anſturm ift fie flegreih; bie Gegner unter- 
fiegen. Ezechen und Böhmen wiüthen, indem fie den 
Herzog anfpornen, bie Aufrührerin zu verurtheilen und 
zu vernichten. Primislaus aber, auch jegt noch dem 
großen umd kühnen Weibe Hold, Täßt ihr ein Pergament 
in die Hände fpielen, das ihr Gnade und BVerzeihung 
verfpricht, wenn fie fich entjchließen ünne, ihrem Wüthen 
Einhalt zu thun. Ä 

In diefem Zeichen feiner Liebe ficht fie aber nur Hohn 
und Erniedrigung, und dabdurch außer ſich gebracht und 
nur noch mehr empört, führt fie die Uhren zu Kampf 
und Rache weiter gegen Primislaus an. 

Im dritten Aufzuge befindet. fih Wlafta auf dem 
Gipfelpuntt ihres Glücks. Als Siegerin zieht fie auf 
Dirwin, der Mägdeburg, ein. Dean huldigt ihr und - 
fie vertheilt Ehren aller Art. Gefängene Czechen läßt 
fie vor ein Kriegsgericht ftellen und tödten. Das alles 
thut fie wie im Rauſch des glüdlichen Erfolgs ihrer 
Waffen. Aber im ftillen fängt fie doh an ihr Unrecht 
einzufehen. Die Zudringlichkeit Mil's Täßt fie nur immer 
mehr erkennen, daß ihr Herz einem andern entgegenfchlägt, 
und diefer andere ift es, der num mit feiner ganzen Macht 
beranzieht und den es aufs Haupt zu fchlagen, ja zu 
verderben gilt. 

Diefer Gedanke entſetzt und lähmt fie. Die Kriegerin 
tritt zur und das Weib in ihrem Weſen vor. Gie 


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zagt und bangt und dies un fo mehr, al8 fie Hört, daß 
der verfchmähte Mil mit feinen Getreuen fie verläßt. 
In der vierten Abtheilung des Stüds ftehen Herzog 
Primislaus und Wlaſta fich gegenüber. Wlaſta kommt 
als ihr eigener Bote zu dem Gegner und fpridt: 
Ich bin des Krieges müd' 
Und mild’ der Macht, die ich durch ihm errungen. 
Ich z0g das Schwert nicht, mid an die zu rächen 
Für deinen Undank, den Berrath an mir; 
Ich zog es für mein Boll. Ich hab’ geflegt: 
Did ſchlug ich nieder, ſchlug die Lechen nieder 
Und, lüftet’s mich, bin Heut’ ich Herzogin 
Und kann bebrliden num dein eigen Bolf. 
Doch, wie gefagt, nicht danach firebte ich 
Und werth nicht acht’ ich's weitrer Kriegesnoth: 
Willſt du verſprechen, eidlich, feierlich, 
Den Marlomannen gleihe Macht und Recht 
Und Hoheit mit dem Czechen; willft du ung, 
Was ihr geraubt, fo weit uns wiedergeben, 
Daß glei das Anfehn, der Befi des Bodens, 
Stimmzahl im Landtag und das Recht zum Throne, 
Und daß der Herzog -Goldreif wechſelnd ſchmückt 
So deutſche Stirnen wie der Slawen Haupt — 
Willſt du das alles, daflic Geiſeln flellen, 
So wird noch Heut’ der Friede diefem Land 
Und heut’ nod) legt ihr Schwert die Wlaſta nieber. 
Doc ſtößt du fort mich, zwingt dur noch einmal 
Das Eifen mir, den Kriegsbrand in die Hand — 
Dann ſieh did vor! Dann foll ein Kampf es werben, 
So wild uud blutig wie noch feiner war! 
Bis eins ber Völker ward ein Boll von Todten! 


Primislaus antwortet mit ruhiger Würde und zeigt 
Wlaſta wie die Dinge ftehen, nämlich äußerft verzweifelt 


‚für fi. Dein Heer ift in Trümmern, du felbft, fagt er, 


bift die nicht mehr, die du warſt. Du haft Blut ver- 
goffen, ungerecht vergofien, und fängft an in Reue zu 
erzittern. Ä 

Ich zittere nicht, entgegnet Wlafta. Zieh dein Schwert 
und erprobe es. Über der Herzog weigert's, und als 
feine Gegnerin mit dem ihrigen auf ihn einſtürmt, bietet 
er ihr ftolz und kühn die unbeſchützte Bruſt. 

Das bezwingt fie und fie ſchwankt. Diefen Augen⸗ 


blick benugend, hält Primislaus ihr nachdrücklich ihr Un⸗ 


recht vor. Er zeigt ihr, wie übereilt fie gehandelt, wie viel 
er fiir fie gethan, wie gut er es mit ihr gemeint. Noch) 
jest jchlägt er ihr vor, das Land zu verlafien und erft 
wieberzulehren, wenn Srieden*geworben. Er verheißt ihr: 
Die Marbodsburg foll fi dir neu erhöhn, 
Und nad den Stürmen diefer wilden Zeit 
Wird uns vielleicht ein mildverflärter Abend. 
Eben ift, von des Herzogs Edelmuth gerührt, Wlaſta 
im Begriff nachzugeben und fich zu fügen, als von draußen 
ber ber Kriegsgefang ihres Volks ertönt und fie, fich auf- 
raffend und Primislaus zum Abfchied die Hand reichen, 
biefem zuruft: 
Dein Rath ift mild, doch fieh, er birgt die Reue — 
Did ruft die Pflicht, mid) ruft die deutfche Treue! 
Hierauf entbrennt die Schlaht und füllt zum Nadh- 
teil der Deutjhen aus; ſelbſt Wlaſta's Heldenmuth 
vermag den Unftern de8 Tags nicht zu wenden. Wir 


fehen fie im fünften Acte in einem legten Gefecht 


verzweiflungsvol den Tod in den Reihen bes Fein⸗ 
des ſuchen. 
Deutſche und Czechen haben fich gegenfeitig anfgerie- 


Neuere bramatifhe Dichtungen. 


ben, die Böhmen aber behaupten mit ihrem Herzog an 

der Epite triumphirend bas Feld. 

So endet diefes dramatiſche Gedicht, deffen Wirkung der 
etwas dunkle und Lärmende Stoff, der obenein nicht viel Sym⸗ 
pathifches für das deutfche Publikum haben dürfte, viel- 
fach beeinträchtigt. Auch die Sprache ift noch ungelenf 
und zu zeiten unklar und verfchwommen. Die Gliede⸗ 
rung und Entwidelung des Ganzen beweift dagegen Stu- 
dium und natürliches Gefhid, nur daß beibes in dem 
lärmenden Gange und den wirrigen Berhältnifien ber 
Handlung noch nicht recht zu artiftifcher Geltung und 
Abklärung Hat gelangen können. 

Bon demfelben Autor liegt und noch ein anderes, [pä- 
tere8 Drama dor: 

2. Schwerting, der Sachſenherzog. Drama in fünf Acten von 
Leo Meißner. Troppau, Buchholz und Diebel. 1869. 
©r. 8. 20 Nor. 

Auch diefes Stüd fpielt in der grauen Vorzeit, 
aber in feiner Ausführung ift es bereits viel Leichter, 
durchfichtiger und beftimmter, aud) bewahrt es in allem 
Sturm der Ereigniffe mehr künftlerifche Ruhe als, Wlafta”. 
Jedenfalls find in diefem Stüd, gegen das frühere ge- 
halten, große Fortſchritte zu erkennen. Macht fich in eini- 
gen Momenten und Figuren allerdings noch immer eine 
gewiſſe romantiſche Nebelhaftigkeit bemerkbar, tritt das 
Verhältniß von Schwerting zu feinem Bater Orbulf, von 
Waldulda zu Schwerting, und endlih von Aftrild zu 
Schwerting und Frotho noch keineswegs recht klar und 
dramatiſch wirkſam vor uns Hin, fo iſt doch im allgemei⸗ 
nen der Gang ber Entwidelung ſchon viel einfacher und 
ftrieter und nicht nur organifcher gegliedert, ſondern auch 
mit mehr Kunſt in der Peripetie und Sataftcophe bes 
handelt. 

Die Eröffnung des Stüds ift frappant und vollzieht 
fih mit einer Epigraͤmmatik der Erpofition, die an Shak⸗ 
ſpeare's „Hamlet“ erinnert. Schwerting fteht nachts am 
braufenden Meeresufer, um heimlich und Hinter dem 
Rüden feines Baters mit den Dänen zu unterhan- 
deln, mit deren Hilfe er dem Chriftentgum Schach 
zu bieten verſuchen will, zu weldem fich fein Bater 
und ein Theil der Sachſen hinneigten. Schwerting liebt 
Waldulda, die Ordulf mit Bolko, ihrem Bater, auf das 
Meer verbannt hat, weil fie fid) von den beibnifchen 
Dpfergebräuchen nicht trennen wollen. Auch in diefer 
Naht Hat Walhulda auf der Opferinfel in der Nähe 
des Strandes, an dem fich Schwerting befindet, geopfert; 
als fie von dem Eiland fich fortbegibt, wird ihr Boot vom 
Sturm erfaßt und droht umzufchlagen. Schwerting rudert 
ihr zu Hülfe und trägt fie an das Ufer, gerade in dem 
Augenblide, in dem fein Vater kommt, feine Unterhand- 
lung mit den Dänen, von der ex Kunde erhalten, zu 
vereiteln. 

Herzog Ordulf will Walhulda in den Kerker, ihren 
Vater in den Tod ſchicken, um feinen Sohn frei von ihren 
Negen zu machen; aber der Sohn, dadurch außer fid 


gebracht, empört ſich nun offen gegen den Vater, nimmt 


ihn gefangen, verweilt den Chriftenpriefter des Landes und 

fliegt mit den Dänen einen Bund, die ihm den Könige 

a verheißen. Dies alles ift der Inhalt des erften 
ctes. 








EEE 


Neuere bramatifche Dichtungen. 275 


Im zweiten zerfafert fi) die Handlung und verliert 
an Fluß. Schwerting darf feinen Vafallen, die zu ihm 
halten follen, nicht eingeftehen, daß er feinen Vater durch 
einen Staatöftreich entthront; er gibt ihn infolge deſſen 
fir wahnfinnig aus, ein DVorgeben, dem indeß durch 
Bolko feierlich auf dem Thing widerfprochen wird, weil 
diefer alte Starrfopf und Heide zwar ein Feind Drdulf’s, 
aber doch ein Dann des ftrengen Rechts und der Wahr- 
heit ift. 

Schwerting, um Bolfo verftummen zu machen und ſich 
Glauben zu verfchaffen, fieht fich gezwungen denfelben töd- 
ten zu laſſen, Bolfo, den Bater feiner Geliebten. Im dies 
ſem Act und in der Graufamfeit gegen feinen Vater, der 
feiner Gefangenschaft erliegt, ift des Helden tragifche Schuld 
zu fuchen, deren Beftrafung ihn nur zır bald ereilen foll. 

Frotho, der Dänenkönig, macht zwar Schwerting zum 
König der Sachſen, aber zugleich zum Bafallen Däne- 
marks. Er muß Frotho als Oberherrn anerkennen, eine 
Anerkennung, die dem Unabhängigfeitsfinn des Sachſen⸗ 
führers furchtbar fchwer wird und ihn um fo mehr zu 
Boden drüdt, ale doch am Ende auch fein Auflehnen 
gegen den Bater nichts anderes als ein unbändiger 
Zrieb zu unbefchränkter Willensfreiheit war. Nun fol 
er diefe, die er gegen ben Bater nicht einbüßen wollte, 
gegen den Bundesgenoſſen einbüßen — ein Umftand, der 
ihn zu äußerſter Bitterfeit und Berzweiflung treibt. 

In diefer Berfaffung feines Innern ruft er Wibulind, 
einen andern Sachjenführer, herbei und Täßt ſich felbft mit 
Frotho und deffen Begleitung in feinem eigenen Schlofie 
einfperren und verbrennen, um fein Volt unter anderer 
Herrfchaft volllommen frei und unabhängig zn erhalten. 

Diefer Tod, fowie der Auftritt, in welchem Schwer- 
ting nothgebrungen bem Dünen feine Huldigung leiftet, 
find nicht ohne alle Größe und dramatische Bedeutung; 
und da ber vorhin fchon erwähnte Eingang bes Stücks, 
fowie manche andere Scenen jedenfall eine poetifche Be⸗ 
gabung von nicht ganz gewöhnlicher Art befunden, fo 
mödjte Hoffnung da fein, Leo Meißner eines Tags mit 
einer Arbeit von gewinnendem Werthe und bucchichlagen- 
dem Erfolg auf den Bretern zu begegnen. 

Die eben beſprochenen Schaufpiele find Verſuche und 
Kroftproben, die bei rüftigem Weiterftreben und andauern- 
dem Studium einen glüdlichen Wurf entjchieden in Aus- 
fit ftellen. 

8. Vermiſchte Schriften von ©. Conrad. Zweiter Theil. 

Bremen. 1868. 

Diefe Sammlung enthält vier dramatifche Arbeiten: 
„Der Uleranderzug“, „Kleopatra”, „Lurley“ und „Ale 
randros“, die ſich allerdings nicht als fogenannte praftifche 
Bühnenftiide anfehen lafjen, ſondern mehr für fcenifche Car⸗ 
tons erflärt werben müflen, die zwar einen entfchieben künft- 
leriſchen Geift in Conception und Gruppirung, dagegen 
wenig durchſchlagende theatralifche Seftaltungsfraft zeigen. 
„Lurley“ wird im ganzen noch am meiften al8 abgerun- 


detes Schaufpiel zu gelten haben, ba es in feiner Hand | 


fung fih in einer gewiffen organischen Stetigkeit ent- 
widelt und fchlieglich auch zu einen einigermaßen befric- 
digenden, wenngleich keineswegs Maren Austrag kommt. 
Aber felbft in diefem ift doch Fein wahrhaft volles und 
padendes Leben, Der Autor. welcher, wie jet in den 


Iiterarifchen Kreifen allgemein belannt, ein preußifcher 
Prinz ift, befindet fi allem Anfchein nach mit feinem 
Zalent und feiner ganzen poetifchen Richtung noch halb⸗ 
wegs unter dem Himmelsftricd) der romantischen Schule, 
jener romantischen Schule, welde mit einem Fuße in der 
Sage des deutfchen Mittelalters und mit dem andern in 
der claſſiſchen Mythe des Alterthums fteht. Er Tiebt das 
Großartige, Heroifche, aber er liebt es umhaucht vom 
Wunder, umftrahlt von der Fabel zu fehen. Sogar ber 
Grieche und Römer müffen fi bis zu einem gewifien 
Grade eine romantische Coftümirung, etwas von der Gar- 
derobe der Tieck'ſchen Helden gefallen laſſen. Die Ges 
ftalten der „Lurley” erfcheinen jelbftverftändlich nun ganz 
in ſolchem Gewande, wenn dafjelbe auch freilich nicht 
mebr die Fülle und den Pomp erkennen läßt, in dem bie 
Geftalten von Meifter Ludwig an uns vorübergewan- 
delt. ©. Conrad's Figuren find etwas bürftiger an⸗ 
gepugt und nehmen ſich ihrem ganzen Weſen nach weni« 
ger üppig und lyriſch mwollüftig aus, als die Erfcheinun- 
gen des „Fortunatus“, der „Genoveva“ und bes „Kaifers 
Octavianus“; aber fie haben bafjelbe myſtiſche Behaben, 
den nämlichen mittelalterlichen Typus. Was Tiechs Dich⸗ 
tungen innerlid) durchdringt, der fromme chriſtliche Puls- 
flag, der gern mit dem Heidenthum ringt und fid) an 
allerhand Heilige Dffenbarungen und Mirakel mit eimer 
Art von bacchantiſchem Bergnügen Hingibt, verräth ſich 
auch bier in biefer Lurley, welche ber chriftlich erleuchtete, 
von Sanct«Gereon gefegnete Hermann von Sonneck in 
den Wellen des Rhein für immer verfchwinden macht. 
Es iſt der Fatholifche Kirchenglaube, der hier das ſchöne 
heibnijche Wabelmefen ganz ohne Gewalt und Grauſam⸗ 
keit, nur allein mit feiner erleuchteten Meberzeugung, auch 
im Vernichten noch fanft und duldfam, aus ber herr- 
lichen Sotteswelt und dem irdifchen Dafein hinaustreibt. 
Selbft Hermann liebt die Lurley und ift von ihrem Zau- 
ber beftridt, aber er ſteht in feines Gottes Hand unb 
Hofft auf feine Güte, und darum bleibt er mit ftiller 
Wehmuth und Rührung Sieger, indeß jene, von ihm er⸗ 
Löft, in den Wellen verjchwindet, nachdem fie gefagt: 

Jetzt wird es hell; es dämmert ſchon der Morgen 

Herauf des fchönften Tags; doc graue Nebel 

Berfchleiern no die Sonne, nur allmählich 

Kann deines Worts erhabnen Sinn ich faffen. 

O neige dich zu mir: nur kurze Zeit 

Haft du mid no; es zieht mich dort hinab 

Unwiberftehlihe Gewalt; der Rhein 

Berlangt fein Kind, mid drüdt die Erbenfchwere; 

Den Sonnengfuten müßt’ ich bald erliegen. 

O laß mid fterben, Freund, o laß mich ruhn 

In der Iryfallnen Flut! Ic lebte nur, 

Um dich zu finden; du haſt mich befreit: 

Du weiſeſt mi zu jenen Höhen hin, 

Do ew’ger Friedeu blüht. Auf diefer Welt 

Trennt alles uns; „es bleibt die Lurleynize, 

Die Fee des Rheine, dem heil’gen Strom geweiht": 

Erfüllt iR meine Sehnſucht und mein Ahnen, 

Es gab die Liebe mir, die ich erjehnte: 

Sie gab mir Tod und Freiheit; ohne did) 

Kann ich nicht weiter leben, will e8 nicht. 

Es ſchwindet meine Kraft, das Ende naht, 

Zu andern Welten werd’ ich fortgezogen, 

Und eine andre Sonne firablet mir. 

Sch flerbe durch die Liebe, wie die Opfer, 

Die meines Lieds verführeriicher Klang 


35 * 








276 | Neuere pramatifhe Dichtungen. 


Hinabzog in bes Nheines Flint. Auch ich 
Berfinke in den Wellen, und für immer! 

Durch dich warb id bejlegt ward ich vernichtet: 
Du brachſt den Zanberbann. 

‚Nun fährt der Schiffer an dem heil'gen Felſen 
Sorglos vorüber; eine nene Zeit 

Beginnt; die alten märcdenhaften Kläuge 
Berranfhen mit der Wellen ſanftem Plätſchern, 
Und nur im Liebe leben fie noch fort.‘ 

Das Chriftenthum, welches die fchönen Reizungen des 
Heidenthums derart beftegt und vernichtet, daß biefelben 
noch in ihrem Untergange ihren Bernichter und Beſteger 
fegnen: das ift die Tendenz diefes fo zu nennenden lyri⸗ 
ſchen Trauerſpiels in drei Aufzligen, das von den übri« 
gen bier vorliegenden dramatifchen Arbeiten die allerdings 
abgerunbetfte Ausführung erhalten hat, aber eben in biejer 
Ausführung ziemlich verfhwommen und unflar ſich aus- 
nimmt. 

Nächſt ihm erfcheint am fertigften „Kleopatra“, gleich⸗ 
fam ein Seitenftüd zur „Lurley“, denn diefe Königin Aegyp⸗ 
tens ift die Sirene des Orients, welche Roms männliche 
Heldenjugenb verführt und bezwingt, bis Octavianus 
Auguftus exrfcheint, der ftrenge, berechnende Staatsmann, 
welcher aller Koketterie und allem Liebreiz jener beraufchen- 
den Frauenerfcheinung gegenüber nur troden forjcht: 

Sehr bebentend fcheint 
Der königlihe Schatz, die Ländereien, — 
Wie hoch mag ſich wol der Ertrag belaufen? 

An diefer nüchternen Frage erkennt Kleopatra, daß 
ihre Zeit vorüber und ihre Künfte nicht mehr verfangen. 
Zwar ruft fie ftolz ihrem Meberwinder, der fie vor feinen 
Triumphwagen fpannen will, zu: 

So nimm mid mit! Berſuch' es nur! 
Ich werde dann den Sieger Überfirablen. 
Mir jauchzen deine Römer zn; ih kaun 
In meinen Zauberfreis fie bannen: denn 
Dämoniſch if die Kraft, bie in mir glüht. 
Und als Auguftus fie anherrſcht: 
SH bin dein Herr und Rom bleibt mir ergeben — 


da flammt fie allerdings zu der Antwort auf: 


Vernichtung werde bir und beinesgleichen, 

Vernichtung ſolcher niedern Sinnesart! 

Die Gottheit, die der Menſchen Schichſal lenkt, 

Wird folhem Herricher niemals huldreich fein. 

Die Lüge nagt an deiner Größe wie 

Der Wurm am Kern der Frucht, die lebensfrifch 

Uns noch erſcheint, ift fie auch halb verweſt. 

Dein Siegeslorber kann Fire lange griinen: 

Nichts Edles wird durch dich hervorgerufen. 

Da ift e8 größer, wie Antonine 

Zu enden, als zu leben wie Auguflus! — 
aber fie geht doch eilig Hin, um fi von dem Giftbiß 
der Natter töbten zu laſſen, obgleich Cornelius Dolabella, 
ein junger Römer und Freund des Auguftus, ihr noch 
immer buldigend zu Füßen liegt und Auguftus felbft im 
legten Angenblid noch, von ihrem Reiz und ihrem Stolz 
faft bezwungen, ihr zu huldigen im Begriff ift. 

Diefe Wendung jedoch ſcheint uns gerade ein Haupt- 
fehler diefer einactigen Tragödie und ein foldher, ber fie 
in ihrem Aufbau bis in den Grund erſchüttert. Unferm 
Dafürhalten nach durfte Auguftus nicht mit einem Schwan- 
Ten feines Charakters in diefem Stücke endigen, fondern 
mußte eher mit einem foldhen anfangen. Die Schönheit 
und Schmeichelei ber Kleopatra konnten ihn anf einem 


Moment umgarnen, aber auc nur auf einen Moment, 
denn ein Blick anf die unmännliche Verzüdung feines 
jungen Freundes und eine Erinnerung an die ihm zu- 
gefallene Hiftorifche Aufgabe mußten ihn fogleich wieder 
zur Befinnung und dem Lefer oder Hörer die Gewißheit 
bringen, daß in ber That die Zeit der Kleopatra vor⸗ 
über fei. Wie die heibnifche Rheinnixe am Chriſtenthum, 
fo muß die Circe des Morgenlandes an der römischen Welt- 
berrfchaft zu Grunde gehen, die Wr in dem überlegten, 
klugen und gewißigten Octavian noch einmal glorreich in 
Scene fett. Octavian darf der beftridenden Camellias⸗ 
dame auf dem ägyptifchen Königsthron nicht erliegen und 
keineswegs blos durch deren voreiligen Selbftmorb dieſem 
Erliegen entrückt werden, fondern er muß nothwendig dieſe 
Entrückung ſelbſt vollziehen, um hier nicht nur ſich, ſon⸗ 
dern auch das Stück vor einer Compromittirung zu retten. 
Nur ohne eine ſolche Compromittirung hat das Stück 
rechten Sinn und volle Bedeutung; mit ihr wird es, 
unſerm Erachten nach, ein ziemlich hinfälliger Verſuch, 
weil ihm damit zunähft das abhanden fomnıt, mas man 
eine moralifche Grundidee und Perfpective eines Dramas 
zu nennen pflegt. 

Man mag diefe „Kleopatra“ anfehen wie man will, 
als ein Nacjfpiel zum Antonius oder al8 ein Vorfpiel 
zum Dctavianus, immer wird nöthig fein, wenn fie von 
imponirender Wirkung fein fol, daß ſich eine neue Welt- 
ordnung von einer alten darin abhebt und daß ſich bie 
tragifche Collifion mit ganzer Schärfe vollzieht. 

Daran jedoch gerade gebricht e8 hier. Die Gegen⸗ 
fäge plagen bier nicht gewaltig genug aufeinander, es 
treten zwei Menfchen-, man dürfte fagen, zwei Welt- 
geſchicke nicht mit voller Macht auf die Wetterfcheide der 
Jahrhunderte. Zu einem bie Luft der Menfchheit reini- 
genden Wetterfchlage follte es kommen, und es kommt nur 
zu einem fernen und vereinzelten Donnern in der Atmo⸗ 
ſphäre. Das ift ber Schaden des Stücks. 

Ein drittes Tranerfpiel und das einzige flinfactige die⸗ 
ſes Buchs betitelt ſich „Wlerandros”. In diefem fehen 
wir der Reihe nad, wie Alexander zuerft nad) der Er⸗ 
mordung Philipp’s zum König, dann im zweiten Aufzug 
im Heiligtum von Zeus-Ammon zum Götterfohn er- 
Märt wird, wie er dann Perfopolis erobert, Dareios be⸗ 
flegt und ſich mit deffen Tochter Stateira vermählt, über 
diefer Vermählung aber Thais verliert, die atheniſche 
Hetüre, die ihm auf feinen Weltzuge gefolgt ift und feine 
Seele mit Rauſch und Begeifterung erfüllte. In der 
vierten Abtheilung, die in Indien fpielt, erfticht ex in ber 
Trunkenheit feinen Freund Kleitos, wie er denn überhaupt 
auf dem Gipfel feiner Macht und feines Ruhms dämo⸗ 
nifchen Neigungen und Anwandlungen nicht zu wider- 
ſtehen vermag. Im fünften Act hat ex auch feinen lieb⸗ 
ften Freund Hephaiftion bereits eingebüßt und damit zu⸗ 
gleih feinen Halt, feine Bejonnenheit, die Unbeirrtheit 
feines Weſens. Wir finden ihn Binfällig, erſchöpft und 
fterbend. 

Dies ift in wenigen Bitgen ber Verlauf des Stüds, 
das, wie man fieht, in diefem nur lofe, aber doch immer 
nod) derartig erjcheint, daß ſich darin eine ziemlich ge= 
fchlofjene Handlung in fletigem Fortgang barftellt. Nur 
iſt diefe Darftellung nicht markig und frappant genug, 





—— — — — 


Neuere dramatiſche Dichtungen. 


um uns den Alexanderzug gleichſam in einem dramati⸗ 
ſchen Fries mit wahrhaft erſchütternder Mächtigkeit vor 
die Seele zu führen. Es mangeln der Schöpfung bie 
wirklich heroifchen Geſtalten und der wahrhaft geniale und 
kühne Schwung der ausführenden Hand. Dieſer aus- 
führenden Hand find die Aufgaben, die ihr ber erfindende 
Geiſt geftellt, zu groß und zu maſſiv. Sie weiß nicht 
mit dem nöthigen Nachdruck zu meißeln und überall mit 
der zu wilnfchenden Kraft zu verfahren. So kommt es, 
dag die Umriffe fich vermifchen, die Linien verfchwimmen. 

Wir finden allerdings die artiftifchen Geſetze des 
Dramas beobachtet, wir finden im erften Act die Wurzel 
der Action mit jpannender Perfpective, im zweiten Schür⸗ 
zung des Knotens in dramatifcher Berwidelung, im drit⸗ 
ten den Höhepunkt der Kriſis, im vierten die Peripetie 
und im lebten die Kataftrophe; aber dies alles nicht in 
ber erforderlichen fcharfen und gewichtigen Ausprägung. 

Dies tritt um fo mehr hervor, je zufammengefaßter, 
je regelrechter der Dichter zu verfahren fi anfdidt. 
Wo er blos hingeworfen, mehr willlürlich und zwang⸗ 
los ſchafft, wie im erfien Drama: „Der Alerander- 
zug“, das gleichſam nur wie eine Skizze, ein flüchtiger 
Entwurf zum „Alerandros“ erfcheint, da zeigt ſich unfer 
Autor bei weiten glücklicher und poetifch einfchmeicheln. 
der und getwinnender. Es find Stellen darin, die Schiller’ 
ches Pathos gepaart mit Goethe'ſcher Anmuth erkennen 
loffen, fo 3. B. wenn Alexander fpridt: 

Stolzes Babylon, dein Schimmer 
Heilet ſolche Schmerzen nicht: 
Tiefe Sehnſucht endet nimmer, 
Flieht zum milden Sternenlidt. 
Nur der Tod kann uns vereinen, 
Und mir bleibt der Erde Dual, 
Frei und glüdlih muß ich fcheinen 
In der Herrſcher goldnem Saal, 
Euch bfeibt ein unſterblich Leben: 
Höchſte Gaben enden nit, 

Und die Himmliſchen, fie geben, 
Was den Sterblichen gebridt. 

Zu den Schatten ſteig' ich nieder: 
Sehnſucht kann nicht ewig dauern, 
Und nach bangen Todesſchauern 
Blühet dort das Glück mir wieder. 

Zwar ift auch hier in der Handlung wie in der Diction 
einigermaßen Harer und beftimmter Ausbrud zu vermifien, 
aber dies Bermiffen tritt in der fragmentarifchen Behand- 
Iung nicht fo merklich. hervor, als es ba der Fall if, 
wo ©. Conrad in mehr gefchloffener Production fi dich⸗ 
terifch ansgibt. Wie aber, follen wir unfere Meinung 
in einen kurzen Ausſpruch ſchließlich zufammenfaffen, dies 
dichterifche Ausgeben immer befchaffen fein mag, unter 
allen Umftänden bekundet e8 einen feinen, finnigen, dem 
Edeln zuftrebenden Geift, einen Geift, der liber den ge 
wöhnlichen Dilettantismus durch Hohe, echt Fünftlerifche 
Sutentionen weit hinausragt und das Intereſſe und die 
Theilnahme der Kenner ſich darum mit Recht erwer⸗ 
ben mag. 

4. Iacobäa von Baiern. Schanfpiel in fünf Aufzügen von 

Friedrich Marr. Leipzig, Ph. Reclam jun. 1869. 16. 

2 Nor. 

Das Stüd behandelt einen echt dramatifchen und dabei 
poetiſch wirkſamen Stoff, die Liebe der genannten Fürſtin 


277 


zu Frank von Borfell, den vom Tode burd) Henfers Hand 

zu retten fie dem Thron zu entjagen ſich entfchliekt. 

Jakobdia, die Erbtochter Wilhelm’s IV., Grafen von Hol- 

land und Hennegau, kam nad; dem Tobe ihres Baters 

in den Beſitz diefer Grafſchaften, welche ihr jedoch, nach⸗ 
dem fie ihren Gemahl, Johann von Brabant, verftoßen, 
nach defjen Ableben ihr Better, Philipp, der Gute ge 
nannt, ftreitig machte Nach langen Zwiſtigkeiten fah 
fih Ialobäa zu einem Vergleich genöthigt, durch den fie 

Philipp zum Mitregenten annahm. Diefer gab ihr in 

ihrem Jugendgenoſſen Frank von Borfel eimen Hüter 

und Wächter, welchen jedoch ihr Liebreiz, ihre Anmuth 
und ihr feiner Geift fo fehr für fle einnahmen, daß er 
fi) in eine Verſchwörung gegen Philipp einließ, um 

Zalobiia wieder zur unbefchränften Herrfcherin zu machen. 

Diefe Verſchwörung warb aber dent, gegen ben fie unter 

nommen war, verrathen und Hatte zur Yolge, daß Philipp 

die Hinrichtung Frank's befahl. Um den letztern zu retten, 
gab endlich die fehwergeprüfte Herrſcherin alle Anfpritche 
auf den Thron auf und zog ſich mit dem auf ſchwere 

Art erworbenen Geliebten in das Privatleben zurüd. 
Dean wird uns einräumen, daß biefe Handlung Theil- 

nahme und Spannung wol zu erregen im Stande it, 

and zumal wenn ein Dichter diefelbe in die Hand nimmt. 

Daß aber Friedrich Marx ein folder ift, das belegt fchon 

bad dem Schaufpiel vorgedrudte Widmungsgediht an 

Hermann Lingg, wenn er e8 nicht fchon durch ander 

weitige Schöpfungen belegt hätte. Auch das Drama felbft 

thut es. Daſſelbe ift allerdings in der Exrpofition nicht 
eben Mar, wie auch in feinem ganzen erften Theile ziemlich 
unruhig uud verworren; aber je weiter es vorfchreitet und 
fi) der Kataftrophe nähert, je beftimmter, anziehender 
und wirkfamer wird es. Es iſt jedenfalls von allen uns 
diesmal vorliegenden Dramen dasjenige, das uns menſch⸗ 

Gh und bichterifch mit am wohltäuendften berührt, ganz 

abgefehen davon, daß e8 auch bei weitem wol in feinem 

ganzen Bau das bühnengerechtefte und theatralifch ab- 
gerundetfte ift. Dabei Hat das Werk etwas von einem 
frappanten Biftorifchen Colorit, eine Charakteriftif, die 
einer gewiſſen Schärfe nicht entbehrt und bei allem knap⸗ 
pen Stil doch zugleich von ſchwunghafter Diction ges 
boben ift. 

Bon demſelben Poeten erſchien: 

5. König Nal. Dramatiſches Gedicht in einem Aufzuge nach 
dem Italienifhen des Angelo de Gubernatis von Friedrich 
Marr. Hamburg, I. 5. Richter. 1870. Gr. 16. 15 Nur. 
Diefe Ueberſetzung, die jedenfalls mit viel Talent und 

Geſchmack ausgeführt ift, dürfte doch wol kaum im Stande 

fein, eine allerdings veizende, aber uns etwas fremdartig 

anmuthende Dichtung auf unfern Bretern heimisch zu 
machen. 

6. Florian Geyer vom Geyern, Hauptmann der ſchwarzen 

har im großen Bauernkriege von 1525. Drama von 

F. Dillenins Stuttgart, Mebler. 1868. 8. 24 Nor. 
Dos Werk eines Siebziger ift als ſolches wegen fei- 
ner Friſche und Lebendigkeit höchſt beachtenswerth und 
intereffant. Ein eigentliches, fi organijch entwickelndes 

Schauſpiel ift e8 freilich nicht, denn es bietet durchaus nur 

loſe aneinandergefügte Momente aus dem Leben Geyer’s, 

Momente, bie gewiffermaßen nur mit Bimmermann’s 








278 Neuere dramatiſche Dichtungen. 


„Geſchichte des deutfchen Bauernkriegs“ in der Hand zu 
verftehen find, ans der eingetandenermaßen der Berfafler 
aud) allein die Anregung zu feinem Epos in bramatifcher 
Form gefhöpft. 
Sicherlich „ hat berfelbe recht, wenn er in Florian 
Geyer den Helden eines Dramas erblidt; auch ift diefer 
ſchon vielfach als ſolcher, nur bisjegt noch nicht in all⸗ 
gemein durchgreifender Weife behandelt worden. Die 
Behandlung von F. Dillenius gibt nun vollends nur ein⸗ 
zelne Bilder und Epifoden, aber kein Ganzes, das und 
durch Entwurf, Gang und Haltung zu imponiren ber 
möchte. Dabei ift die Charalteriftif nur wenig bedeutend 
und aud) ber Vers weder voll Mark bes Gedankens nod) 
vol Schönheit der Form. Der Reiz der gefammten Ar- 
beit Liegt allein in ber lobenswerthen und hier befcheiden 
ausgeſprochenen Abficht des Autors: den Namen des 
Helden im Gedächtniß der Zeit und gleichjam auf der 
Tagesordnung der dramatifchen Dichtung zu erhalten: 
eine Abficht, die biefe bramatifche Epopde erfüllt umd 
welche dem greifen Verfaſſer gewiß zum befonderer Ehre 
gereicht. 
Möchte unfere realiftifche Tugend von dem Idealis⸗ 
mus unferer Alten lernen! Es ift etwas Schönes und 
Herrliches, das hohe Alter von folcher Begeifterung und 
einem fo heiligen Intereſſe für die Menjchheit roſig über« 
glüht zu jehen. Gletfcher des Lebens im Alpenglühen 


‚des Geiftes — es Tann Fein entzückenderes Schaufpiel ge- 


ben, und wehe der Kritif, die nicht mit Bewunderuug und 
gefalteten Händen zu ihm aufblidt. 

Was uns betrifft, fo find wir noch fo glücklich, dies 
thun zn Können, wennfchon wir aud die Schwächen und 
Mängel des Gebotenen nicht überfehen. 


7. Ecce homo! Dramatiſche Dichtung von Karl Friedrich 
Holtſchmidt. Barmen, Bädeker. 1869. 16. 15 Ngr. 


Die Dichtung bietet Momente aus bem Leben des 


Heiland in dramatifcher Geſprächsform. Ein eigentliches 
Schaufpiel mit gefchlofjener und fortfchreitender Hand⸗ 


lung ergibt ſich nit. Alles iſt epifodenhaft umd loder 


aneinandergefügt, ohne dramatifchen Aufbau, ohne Kata⸗ 
ſtrophe. Das Ganze ift nur zum Lefen eingerichtet, und 
als Lektüre ift e8 immerhin empfehlenswerth, wenn and) 
keineswegs weber den Gedanken noch den Berfen nad) 
befonder8 hervorragend. 


8. Dentihe Treue. BDramatifches Gediht von Leonhart 

W Zimuth. Aarau, Sanerländer. 1869. ®r. 16. 

gr. 

Eine kleine freundliche Schöpfung, die ſich rund und 
gefällig, aber doch ohne jede hervorragende Eigenart und 
poetiſche Originalität vor den Augen des Leſers abfpinnt. 
Lukas Cranach, der berühmte dentjche Maler, bittet bei 
Raifer Karl V. um das Leben bes bei Mühlberg befiegten 
Johann Friedrich von Sachſen und folgt ihm ſchließlich 
mit deſſen Gemahlin in bie Gefangenfchaft. Weder der 
Meifter no Karl, weder Herzog Alba noch Kurfürftin 
Sibylle werden zu Charaftergeftalten. Der Künftler, ber 
in der nnfeligen Schlacht den eigenen Sohn verloren und 
den Schmerz befiegt, um ganz nur für feinen unglüd- 
lichen Herrn zu wirken, hätte eine impofante Figur wer- 
den können, wenn es ber Dichter verftanden hätte, ihn 


durch eine gewiſſe geiftige Größe von dem finftern Albe 
und düftern Karl hellglänzend abzuheben. Aber gerade 
die Farben find es, welche dem Autor fehlen. Sein dra» 
matifches Gedicht ift eine ziemlich gefchidte, aber durch⸗ 
weg ausdrudslofe Lithographie, hart im Wurf ber Linien 
und Falt im ganzen Ton. 


9. Kurd uud Blanda. Ein Nachſpiel zu Nathan dem Weifen. 
Heidelberg, €. Winter. 1867. 8. 6 Nur. 


Das Stüd ift gleihfam eine dramatiihe Nachbemer⸗ 
fung zu dem berühmten Toleranzgedicht Leſſing's, eine 
dramatifche Nachbemerkung, in welcher der Welt die Kunde 
wird, daß Nitter Kurd und Recha, jetzt Blanda genannt, 
im Laufe der Zeit ſich noch zu echten und rechten glau⸗ 
bensfeften Chriften ansgebildet. Die Scene fpielt zu 
Konftantinopel im Jahre 1204. Es hatte fi, wie ber 
anonyme Autor meldet, ein Heer von Kreuzfahrern im 
Jahre 1203 auf einer venetianifchen Flotte eingeſchifft, 
um dem bedrängten Kaifer Iſaak Angelus, auf Bitte von 
deſſen Sohne Alerius, gegen einen Ufurpator zu Hülfe 
zu kommen. Die Stabt wurde erobert und der alte 
Kaifer wieder eingefest. Da aber im folgenden Jahre 
durch einen Aufruhr ein anderer Ujurpator die Oberhand 
gewann, fo erftürmten die Sreuzfahrer im April 1204 
die Stadt und plünderten fi. Unter den Helden diefer 
Großthat befindet ſich nun auch Kurd; er trifft bei die⸗ 
fer Gelegenheit mit feiner Schwefter zufammen, bie nad) 
Konftantinopel übergefiedelt. Jedes von ihnen erwartet, 
in dem andern einen laren, freigläubigen Geift zu finden, 
entdedt aber zu feinem freudigen Erflaunen, daß dem 
nicht fo ift; vielmehr find beide Gefchwifter jo recht⸗ 
glänbig, als Hätten fie Tholud gehört oder Hengftenberg's 
Kirchenzeitung gelefen. 

Ob die Welt dem Berfafler für biefe Belehrung 
danfbar fein wird, wiffen wir nidt. Wir wiſſen nur, 
daß fie Leffing’s Geift und feinem unfterblichen Gedichte 
widerfpricht und die Pietät verlett, die wir beiden ſchul⸗ 
dig find. 

Bon Adolf Calmberg, einem Autor, ber in Küß- 
nacht bei Zürich lebt, erjhienen mehrere Dramen. Wir 
erwähnen von ihm: 

10. Jürgen Wullenweber. Bon Adolf Ealmberg Köln, 

Kaulen u. Comp. 

11. Der Erbe des Millionär. Ein Schaufpiel von Adolf 

Salmberg. Zürid, Orell, Füßli u. Comp. 1868. Br. 8. 

20 Nor. 

Letzteres ift ein bürgerliches Schaufpiel in fünf Auf- 
zügen, da8 nad) einer wahren Begebenheit, dem befannten 
Procefie de Bud zu Brüffel im Mai 1864, bearbeitet ift 
und damit immerhin feinen ungeſchickten Griff in das 
moderne Leben gethan hat. Es zeigt uns einen heuch⸗ 
lerifchen Arzt, der unter bem Scheine frommen und 
gottgefälligen Wefens fi in das Haus und Herz eines 
reihen Kaufherrn in der Abficht einniftet, um für feinen 
eigenen DBortheil und den einer geiftlihen Brüderſchaft 
defien Sohn und Angehörige gänzlich) daraus zu ver⸗ 
drängen. Wilhelm de Boot, eben jener Kaufherr, hat 
in feiner Jugend in der Havanna ein Mädchen verführt 
und dann ſchändlich feinem Schidjal überlaſſen. Dieſe 
Sünde feiner Zünglingsjahre laſtet auf feinem Gewifien 





Revue über neue muſikaliſche Schriften. 279 


und dient dem Doctor Loor vorzüglich dazu, ihn zu ver- 
anlaflen, den Sohn für den geiftlichen Stand zu beſtimmen, 
eine Beftimmung, der fi) Benedict indeß mit dem ganzen 
Aufgebot feiner Kräfte widerfegt, einmal weil er über⸗ 
haupt in ſich feine Neigung befigt der Welt zu entfagen, 
und dann weil er Helene, eine Waife, die fein Vater 
an Kindesftatt angenommen bat, von Herzen licht. In⸗ 
deß auch Doctor Loor begehrt Helene, und nachdem er 
Benedict durch gezwungenes Slofterleben zum äußerften 
Biderftande gereizt, faft zum Verbrecher gemacht, den al- 
ten de Boot durch ein frevelhaftes Gaukelſpiel getödtet, 
Helene aber an den Rand des Elends und durch bie 
Soripiegelung, daß fie wahnhnnig fei, im feine beinahe 
ausschließliche Gewalt gebracht, ift er eben dabei den 
Lohn feiner Verbrechen und Schandthaten zu ernten, als 
zum Glück der Kronprinz des Landes, ein Studienfreund 
Denedict’8, erfcheint und als echter deus ex machina 
der Unfchuld zu ihrem Recht, db. h. dem Sohne des 
Kaufherrn zu feinem Vermögen und der Hand feiner 
Geliebten, dem Uebelthäter aber zu feiner mohlverdienten 
Strafe verhilft. 

Die Handlung ift nicht ohne dramatiſches Intereſſe, 
leider jedoch breit und ziemlich unbehülflich ausgeführt 
worden. De Boak it ein gar zu bejchränfter Kopf und 
die Intrigue des Doctor Foor plump und ohne künſt⸗ 
ferifhen Aufbau. Für Benediet läßt fi) Feine rechte 
Theilnahme gewinnen, weil feinem Charakter aller eigent« 
Iihe Inhalt fehlt. Auch Helene ift Feine irgendwie her⸗ 
vorragende Erfcheinung. 

Abolf Calmberg fcheint nicht ohne Talent zu fein; 
aber er Bat, wie uns bünft, dafjelbe noch nicht genug 
ausgebildet und gefchult, um damit großen Aufgaben voll» 
fändig gewachlen zu fein. echt deutlich läßt das fein 
„Sürgen Wullenweber, Bürgermeifter von Lübeck“ er⸗ 
lennen, deſſen Leben und Wirken der genannte Schrift- 
fteller in zwei flinfactigen Dramen behandelt hat. Das 
erfte: „Wullenweber’8 Sieg“, zeigt und Wullenweber's 
ſteigendes Anfehen und feine Macht in der Vaterſtadt, die, 
auf gefunde demokratifche Grundfäte geftügt, biefe zum 
Haupt der Hanfa macht. Wullenweber fchlägt alle 
Gegner, die es nicht gut und ehrlich mit ber Sache des 
Bolls meinen, aus dem Felde und wird zum dirigirenden 
Bürgermeifter der Stadt. Als folder haucht er der 
Hanfa neues Leben und eine weitgreifende Bedeutung ein; 
allein vom Glück verlaffen, von Feinden umdrängt, fehen 


wir ihn im zweiten Stüd: „Wullenweber's Tob”, feinem 
Feinde, Herzog Heinrich von Braunfchweig-Wolfenbüttel, 
durch Ueberrumpelung in die Hände gerathen und auf 
Befehl deffelben auf dem Ylutgerüfte enden. 

Die ganze Arbeit ift nicht ohne dramatifches Leben 
und jedenfalls mit fichtlicher Liebe und großem Fleiße 
ausgeführt. Aber auch hier fehlen zum vollen Gelingen 
ein wahrhaft artijtifcher Aufbau und eine fichere, wohl 
geregelte und bemefjene Steigerung ber ſich belämpfenden 
Gegenfäge. Es mangelt überall an gefchloffener Haltung, 
an feltem Gang und glüdlicher Made. Für zwei Stüde 
üft der Stoff entſchieden nicht ausreichend, zu auseinander- 
fahrend und austragelos. Hierfür hätte man das Schidfal 
der ganzen Hanfa ind Spiel ziehen müſſen. Zulckt ift 
auch die Peripetie nicht Hinreichend genug vorbereitet 
und die tragiſche Schuld des Helden nicht gehörig genug 
ins Licht geftellt, 

12. Der König von Münſter. Tragödie von Ernfl Mevert. 

Hamburg, Hoffmann u. Campe. 1869. Gr. 8 1 Zhlr. 


Das Stüd wird wol auch nur eins von jenen Bücher: 
dramen bleiben, die, obgleich nicht ohne alles poetifche Talent 
und mit begeifterter Drangabe gefchrieben, doch die Breter 
nicht erreichen, weil ihre Berfafler deren Geſetze zu wenig ſtu⸗ 
dirt und beachtet haben. Der Autor, welcher fich nicht ganz 
ohne Erfolg im Roman verfucht Hat, ift in diefen „Rü- 
nig von Münſter“ fozufagen mit beiden Beinen zugleich, 
aber ebendeöwegen zu wenig vorbereitet und geſchult auf 
die Bühne gefprungen. Sein Stüd weiſt vorzügliche 
Einzelheiten auf, ift im ganzen jedoch zu unflar in der 
Handlung, zu wirrig im ang feiner Entwidelung und 
zu wenig dramatiſch verinnerlicht, um der Scene an- 


‚gemeflen und auf biefer von Geltung fein zu können. 


Es erfcheint als ein nicht ganz unintereffanter dramati⸗ 
her Verſuch, verdient aber noch nicht den Namen eines 
Dramas, Das Stüf, wie es nun einmal vorliegt, ift ein 
Roman in dramatifcher Verkleidung, ein Werk in ber 
Manier des Dramas, aber nicht in deffen Wefen, ba 
es breit in feiner Anlage und zerfloffen in feiner Cha- 
rakteriſtk und Motivirung erſcheint. Aber nachrüh—⸗ 
men läßt ſich ihm wenigſtens, daß es nicht alltäͤglich 
und farblos ift, fonbern eine gewiſſe Originalität bekundet 
und Spuren don pathetifchem Schwunge und Leben au 
ſich trägt. Seodor Wehl. 
(Der Beſchluß folgt in der nähfen Nummer.) 


Revne über nene mufikalifche Schriften. 


1. Grumdzlige einer Theorie der Oper. Ein theoretifch-praftifches 
Handbud für Küinftler und Kunftfreiimde, Dichter und Com⸗ 
poniften, Sänger, Kapellmeifter, Hegiffeure und Directoren, 
bafirt auf die Anforderungen der Gegenwart und auf 
zahlreiche in den Text verwebte Ausſprüche hervorragender 
Geifter. Bon Hermann Zopff. Erfter Theil: Die Pro⸗ 
duction. Leipzig, Arnold. 1868. 8. 1 Zhlr. 10 Ngr. 
Die Vorrede ſchließt mit folgenden uns etwas my» 

fteriös Elingenden Worten : 

Erſt müſſen die Menfchen die fich ſelbſt gefchmiedeten Feſ⸗ 
ſeln engherzigner Unnatur zerbrechen, ehe die Kunft, zumal bie 
dramatiſche, wahrhaft umfafjenden, rückhaltslos unmittelbaren 


Aufſchwung zu nehmen vermag. Erſt nachdem fich die Nationen 
vor allem eine Garantie ihrer weſentlichſten Lebensbedingungen 
geichaffen Haben werden, wird fi die Ueberzengung allgemein 
genug Bahn zu brechen vermögen, daß aud) die Kunft eine 
diefer Lebensbedingungen im höhern Sinne und zwar in ganz 
wefentlihem Grade if. Dann erft, nachdem ihre jüngflerfchloffene 
neue Blüte nicht nur unverlümmert durch das uns bevorftehende 
mächtige Wehen des menfchlichen Geiftes geblieben, ſondern 
vielmehr durch daffelbe erftarkt und gereift ift zu einem vielleicht 
nod) ungeahnten Einfluffe, dann erft wird die Kunſt im Stande 
fein, eben diejen ummittelbaren geiftesbewegenden Einfluß um: 
fafjend genug zur Entwidelung zu bringen als eine ihrer ſchön⸗ 


ften, fegensreichften Früchte. 


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2 N L Zu e 
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rien. ei. De 
er BCE ı . 








278 Neuere dramatiſche Dichtungen. 


„Geſchichte des deutſchen Bauernkriegs“ in ber Hand zn 
verftehen find, aus der eingeitandenermaßen der Verfaſſer 
au) allein bie Anregung zu feinem Epos in dramatifcher 
Form gefhäpft. 

Sicherlich , hat derfelbe recht, wenn er in Ylorian 
Geyer den Helden eines Dramas exrblidt; auch ift diefer 
ſchon vielfach als folder, nur bisjetzt noch nicht in all⸗ 
gemein durcchgreifender Weife behandelt worden. Die 
Behandlung von F. Dillenius gibt nun vollends nur eins 
zelne Bilder und Epifoden, aber fein Ganzes, das uns 
durh Entwurf, Gang und Haltung zu imponiren vers 
möchte. Dabei ift die Charakteriftit nur wenig bebeutend 
und aud) ber Vers weder voll Markt bes Gedankens nod) 
vol Schönheit der Form. Der Reiz der gefammten Ar- 
beit Liegt allein in der lobenswerthen und hier befcheiden 
ausgefprochenen Abſicht des Autors: den Namen des 
Helden im Gedüchtniß der Zeit und gleichfam auf der 
Tagesordnung der dramatiſchen Dichtung zu erhalten: 
eine Abficht, die dieſe dramatiſche Epopde erfüllt und 
welche dem greifen Berfafler gewiß zu beſonderer Ehre 
ereicht. 
Möchte unfere realiſtiſche Jugend von dem VOdealis⸗ 
mus unferer Alten lernen! Es ift etwas Schönes und 
Herrliches, das hohe Alter von ſolcher Begeifterung und 
einem fo heiligen Intereſſe file die Menſchheit rofig über« 
glüht zu fehen. Gletſcher des Lebens im Alpenglühen 
‘des Geiftes — es kann Fein entzüidenderes Schaufpiel ger 
ben, und wehe der Kritik, die nicht mit Bewunderung und 
gefalteten Händen zu ihm aufblidt. 

Was uns betrifft, fo find wir noch fo glücklich, dies 
thun zu können, wennſchon wir aud die Schwächen und 
Mängel des Gebotenen nicht überfehen. 


7. Ecce homo! Dramatiſche Dichtung von Karl Friedrich 
Holtfmidt. Barmen, Bädeker. 1869. 16. 15 Nor. 
Die Dichtung bietet Momente aus dem Xeben bes 

Heiland in dramatifcher Geſprächsform. Ein eigentliches 
Schauſpiel mit gefchloffener und fortfchreitender Hand⸗ 
lung ergibt ſich nicht. Alles ift epifodenhaft und Loder 
aneinandergefügt, ohne dramatifchen Aufbau, ohne Kata⸗ 
ſtrophe. Das Ganze ift nur zum Lefen eingerichtet, und 
als Lektüre ift e8 immerhin empfehlenswerth, wenn auch 
keineswegs weber ben Gedanfen noch den Berfen nad) 
beſonders hervorragend. 


8. Deutfhe Trene. Dramatifches Gediht von Leonhart 
* zZimuth. Yaran, Sanerländer. 1869. Gr. 16. 
gr. 


Eine Heine freunblihe Schöpfung, die fih rund und 
gefällig, aber doch ohne jede hervorragende Eigenart und 
poetifche Originalität vor den Augen des Leſers abjpinnt. 
Lukas Cranach, der berühmte bdeutfche Dialer, bittet bei 
Kaifer Karl V. um das Leben des bei Mühlberg befiegten 
Johann Friedrih von Sachſen und folgt ihm ſchließlich 
mit deſſen Gemahlin in die Gefangenfchaft. Weder ber 
Meifter noch Karl, weder Herzog Alba noch Kurfürſtin 
Sibylla werden zn Charaftergeftalten. Der Künftler, ber 
in ber unjeligen Schlacht den eigenen Sohn verloren und 
den Schmerz beftegt, um ganz nur für feinen unglild- 
lichen Herrn zu wirken, hätte eine impofante Figur wer⸗ 
den können, wenn es der Dichter verftanden hätte, ihn 


durd) eine gewiſſe geiflige Größe von dem finftern Alba 
und büftern Karl hellglänzenb abzuheben. Aber gerade 
die Farben find es, welche dem Autor fehlen. Sein dra- 
matifches Gedicht ift eine ziemlich gefchichte, aber durch⸗ 
weg ausdrudslofe Lithographie, hart im Wurf der Linien 
und kalt im ganzen Ton. 


9. Kurd und Blanda. Ein Nachſpiel zu Nathan dem Weifen. 
Heidelberg, C. Winter. 1867. 8. 6 Ngr. 


Das Stüd ift gleichfam eine dramatiſche Nachbemer« 
fung zu dem berühmten Toleranzgebicht Leffing’s, eine 
dramatische Nachbemerfung, in welcher der Welt die Kunde 
wird, dag Ritter Kurd und Recha, jetzt Blanda genannt, 
im Laufe der Zeit ſich noch zu echten und rechten glau⸗ 
bensfeften Chriften ausgebildet. Die Scene fpielt zu 
Konftantinopel im Jahre 1204. Es Hatte fi, wie ber 
anonyme Autor meldet, ein Heer von Kreuzfahrern im 
Jahre 1203 auf einer venetianifchen Flotte eingefchifft, 
um dem bedrängten Kaiſer Iſaak Angelus, auf Bitte von 
defien Sohne Alexius, gegen einen Ufurpator zu Hülfe 
zu kommen. Die Stadt wurde erobert und der alte 
Kaiſer wieder eingefett. Da aber im folgenden Jahre 
durch einen Aufruhr ein anderer Ufurpator die Oberhand 
gewann, fo erftürmten die Kreuzfahrer im Wpril 1204 
die Stadt und plünberten fi. Unter den Helden diefer 
Großthat befindet ſich nun auch Kurd; er trifft bei die- 
fer Gelegenheit mit feiner Schwefter zuſammen, bie nad) 
Konftantinopel übergefiedelt. Jedes von ihnen erwartet, 
in dem andern einen laren, freigläubigen Geift zu finden, 
entdedt aber zu feinem freudigen Erftaunen, daß bem 
nit fo iſt; vielmehr find beide Gefchwifter jo recht. 
gläubig, als hätten fie Tholud gehört oder Hengſtenberg's 
Kichenzeitung gelefen. 

Ob die Welt dem Berfaffer für biefe Belehrung 
dankbar fein wird, wiffen wir nit. Wir wiffen nur, 
dag fie Leffing’s Geift und feinem unfterbliden Gedichte 
wiberfpricht und die Pietät verlegt, die wir beiden ſchul⸗ 
dig find. 

Bon Adolf Calmberg, einem Autor, ber in Küß- 
nacht bei Zürich Lebt, erfchienen mehrere Dramen. Wir 
erwähnen von ihm: 

10. Jürgen Wullenweber. Bon Adolf Talmberg. Köln, 

Kaufen u. Comp. 
11.Der Erbe des Millionärs. Ein Schaufpiel von Adolf 

Calmberg. Züri, Orell, Füßli u. Comp. 1868. Br. 8, 

20 Nor. 

Letzteres ift ein bürgerliches Schaufpiel in fünf Aufe 
zügen, da8 nach einer wahren Begebenheit, dem befannten 
Procefje de Bud zu Brüffel im Mai 1864, bearbeitet ift 
und damit immerhin feinen ungeſchickten Griff in das 
moderne Leben gethan bat. Es zeigt uns einen heuch⸗ 
Terifchen Arzt, der unter dem Scheine frommen und 
gottgefälligen Weſens fi in das Haus und Herz eines 
reihen Kaufheren in der Abficht einniftet, um für feinen 
eigenen Vortheil und den einer geiftlichen Brüderſchaft 
deſſen Sohn und Angehörige gänzlih daraus zu ver⸗ 
drängen. Wilhelm be Book, eben jener Kaufherr, Hat 
in feiner Jugend in der Havanna ein Mädchen verführt 
und dann ſchändlich feinem Schichkſal überlafien. Diefe 
Sünde feiner Iänglingsjahre laſtet auf feinem Gewiſſen 





Revue über neue muſikaliſche Schriften. 279 


und dient dem Doctor Loor vorzüglich dazu, ihn zu ver- 
anlafjen, ben Sohn für den geiftlichen Stand zu beftimnen, 
eine Beftimmung, der fid) Benebict indeg mit dem ganzen 
Aufgebot feiner Kräfte widerſetzt, einmal weil er über- 
haupt in fich feine Neigung befigt der Welt zu entjagen, 
und dann weil er Helene, eine Waife, die fein Vater 
an Kindesftatt angenommen hat, von Herzen licht. In⸗ 
beß auch Doctor Loor begehrt Helene, und nachdem er 
Benediet durch gezwungenes Slofterleben zum üußerften 
Widerftande gereizt, fat zum Verbrecher gemadjt, den al« 
ten de Book duch ein frevelhaftes Gaukelſpiel getödtet, 
Helene aber an den Rand des Elends und durd bie 
Borfpiegelung, daß fie wahnhnnig fei, in feine beinahe 
ausfchliegliche Gewalt gebracht, ift er eben dabei den 
Lohn feiner Verbrechen und Schandthaten zu ernten, als 
zum Glüd der Kronprinz des Landes, ein Studienfreund 
Benedict's, erjcheint und als echter deus ex machina 
ber Unschuld zu ihrem Hecht, d. h. dem Sohne des 
Kaufherrn zu feinem Vermögen und ber Hand feiner 
Geliebten, dem Uebelthäter aber zu feiner wohlverdienten 
Strafe verhilft. 

Die Handlung ift nicht ohne dramatifches Intereſſe, 
leider jedoch breit und ziemlich umbehülflih ausgeführt 
worden. De Boat iſt ein ger zu befchränfter Kopf und 
die Intrigue des Doctor Loor plump und ohne Fünft- 
Ierifchen Aufbau. Für Benedict Täßt ſich Feine vechte 
Teilnahme gewinnen, weil feinem Charakter aller eigent- 
Iihe Inhalt fehlt. Auch Helene iſt Feine irgendwie here 
vorragende Erfcheinung. 

Adolf Calmberg ſcheint nicht ohne Talent zu fein; 
aber ex bat, wie uns dünkt, dafjelbe noch nicht genug 
ausgebildet und gefchult, um damit großen Aufgaben voll« 
fländig gewachſen zu fein. Recht deutlich läßt das fein 
„Zürgen Wullenweber, Bürgermeifter von Lübeck“ er- 
fennen, deflen Leben und Wirken der genannte Schrift- 
fteller in zwei flinfactigen Dramen behandelt hat. Das 
erfte: „Wullenweber’8 Sieg“, zeigt und Wullenweber's 
ſteigendes Anfehen und feine Macht in der Vaterftadt, die, 
auf gefunde demokratifche Grundfäge geftügt, diefe zum 
Baupt der Hanfa macht. Wullenweber ſchlägt alle 
Geguer, die es nicht gut und ehrlich mit der Sache des 
Bolts meinen, aus dem Felde und wird zum dirigirenden 
Bürgermeifter der Stadt. Als folder haucht er ber 
Hanja neues Leben und eine weitgreifende Bedeutung ein; 
allein vom Glüd verlafien, von Feinden umbdrängt, ſehen 


wir ihn im zweiten Stüd: „Wullenweber’8 Tod“, feinem 
Veinde, Herzog Heinrich) von Braunfchweig-Wolfenbittel, 
durch Weberrumpelung in die Hände gerathen und auf 
Defehl defjelden auf dem Blutgerüfte enden. 

Die ganze Arbeit ift nicht ohne dramatifches Leben 
und jedenfalls mit fichtlicher Liebe und großem Fleiße 
ausgeführt. Aber aud bier fehlen zum vollen Gelingen 
ein wahrhaft artiftifcher Aufbau und eine fichere, wohl⸗ 
geregelte und bemeſſene Steigerung ber ſich befämpfenben 
Gegenſätze. Es mangelt überall an gefchloffener Haltung, 
an feftem Gang und glüdlicher Mache. Für zwei Stüde 
ift der Stoff entfchieden nicht ausreichend, zu auseinander⸗ 
fahrend und austragelos. Hierfitr hätte man das Schiefal 
der ganzen Hanfa ins Spiel ziehen müſſen. Zuletzt ift 
auch die Peripetie nicht Hinreichend genug vorbereitet 
und die tragifche Schuld des Helden nicht gehörig genug 
ins Licht geftellt. 

12. Der König von Müufter. Zragödie von Ernfl Mevert. 

Hamburg, Hoffmann u. Campe. 1869. Gr. 8 1 Zhlr. 


Das Stüd wird wol and) nur eins von jenen Bücher⸗ 
dramen bleiben, die, obgleich nicht ohne alles poetifche Talent 
und mit begeifterter Drangabe gefchrieben, doc die Breter 
nicht erreichen, weil ihre Berfafjer deren Geſetze zu wenig ſtu⸗ 
dirt und beachtet Haben. Der Autor, welcher ſich nicht ganz 
ohne Erfolg im Roman verfucht Bat, ift in diefem „Rö- 
nig von Münſter“ fozufagen mit beiden Beinen zugleich, 
aber ebendeswegen zu wenig vorbereitet und gefchult auf 
die Bühne gefprungen. Sein Stüd weiſt vorzügliche 
Einzelheiten auf, ift im ganzen jedoch zu unllar in ber 
Handlung, zu wirrig im Gang feiner Entwidelung und 
zu wenig dramatiſch verinnerliht, um der Scene an- 


‚gemeflen und auf diefer von Geltung fein zu können. 


Es erjcheint als ein nicht ganz unintereffanter dramati⸗ 
ſcher Verſuch, verdient aber noch nicht den Namen eines 
Dramas. Das Stüd, wie e8 num einmal vorliegt, ift ein 
Roman in dramatifcher Verkleidung, ein Wert in ber 
Manier des Dramas, aber nicht in defien Wefen, da 
e8 breit in feiner Anlage und zerflofien in feiner Cha- 
rakteriſtik und Motivirung erfcheint. Aber nadrüh- 
men läßt fi ihm wenigitend, daß es nicht alltäglich 
und farblos ift, fondern eine gewille Originalität bekundet 
und Spuren von pathetifchem Schwunge und Leben an 
ſich trägt. Seodor Wehl. 
(Der Beſchluß folgt in ber nächſten Nummer.) 





Revne über nene mufikalifche Schriften. 


1. Grundzüge einer Theorie ber Oper. Ein theoretiich-praktifches 
Handbuch für Künſtler uud Kunftfreiinde, Dichter und Com⸗ 
poniften, Sänger, Kapellmeifter, Regiffeure uud Directoren, 
bafirt auf die Anforderungen der Gegenwart und auf 
zahlreiche in den Text verwebte Ausiprlüche hervorragender 
Geifter. Bon Hermann Zopff. Erſter Theil: Die Pros 
duction. Leipzig, Arnold. 1868. 8. 1 Thle. 10 Ngr. 


Die Vorrede fließt mit folgenden und etwas my⸗ 
fterids Mingenden Worten : 


Erf müffen die Dienfchen die fich ſelbſt geichmiedeten Feſ⸗ 
ſeln engherzigiier Unnatur zerbrechen, ehe die Kunſt, zumal bie 
dramatiihe, wahrhaft umfafjenden, rlickhaltslos unmittelbaren 


Aufſchwung zu nehmen vermag. Erft nachdem fich die Nationen 
vor allem eine Garantie ihrer wefeutlichften Lebensbedingungen 
geichaffen haben werben, wird ſich die Ueberzeuguug allgemein 
genug Bahn zu brechen vermögen, daß aud die Kunft eine 
diefer Lebensbedingungen im höhern Sinne und zwar in ganz 
wefentlichem Grade ift. Dann erft, nachdem ihre jüngfterfchlofjene 
neue Blüte nicht nur unverfünmert durch das uns bevorftehende 
mächtige Wehen bes menfchlichen Geiſtes geblieben, ſondern 
vielmehr durch baflelde erftarkt und gereift ift zu einem vielleicht 
noch ungeahnten Einfluffe, dann erft wird die Kunft im Stande 
jein, eben biejen unmittelbaren geiftesbewegenden Einfluß um: 
fafjend genug zur Entwidelung zu bringen als eine ihrer ſchön⸗ 
ften, ſegensreichſten Früchte. 


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280 


Das ift allerdings ſtark Wagnerifch geſprochen; der 
Berfaffer muß uns nun aber fchon erlauben zu ges 
fiehen, daß wir der Oper, fri es nad Wagner'ſchem 
Schnitt oder dem feiner Jünger, keine fo hervorragende Be⸗ 
deutung beizulegen vermögen. 

Der erfte Abſchnitt „Inhalt“ Handelt im erſten 
Kapitel von dem Weſen und Charakter der Oper und 
den Bedingungen ihrer Berechtigmg zum Kunſtwerk. 
Die Kunft hat es nicht mit dem Wiedergeben von Wirks 
Iichkeit, fondern vielmehr von Wahrheit zu thun. Erſt 
durch Gluck warb die Dper eine wirklich berechtigte 
Kunſtform. Alles jeboh, was nad) Gluck gegeben wor- 
den ift, bietet bei aller unendlich großen Bortrefflichkeit 
des einzelnen feine cigentlich neue Aera. Erſt Richard 
Wagner war es, nach dem Berfaffer, befchieden, den un⸗ 
motivirten Conventionalismus mit erfolgreicher Entſchie⸗ 
denheit zur befämpfen; ihm allein gebührt das Berdienft, 
für Miedererftarlung wahrhaft künſtleriſcher Grundſätze 
mit Ernſt und Feuereifer in die Schranken getreten zu 
ſein u. ſ. w. Das folgende Kapitel des erſten Abſchnitts 
‚trägt die.Ueberfchrift: „Höhere Anforderungen des Lebens 
an den Inhalt“ (im Berzeichniß beit es richtiger: der 
Gegenwart an den Inhalt), und handelt unter Unführung 
von Ausſprüchen Leffing’s, Schiller's u. a. von dem 
höhern fittlichen umb befehrenden Zweck der Kunft und von 
der Romantik. Der Berfafler jagt: 

Nicht etwa nur das Schaufpiel eignet ſich für diefe Auf- 
gabe, fondern auch in gleihem Grade die Oper. Ja fie ift in 
noch höherm Grade als jenes zu dieſer Beſtimmung geeignet 
und berufen, weil fte durch ihre ungleich reichern Mittel, zumal 
durch feelenvollen Geſang, unſtreitig noch unmittelbarer nnd 
mädtiger auf das Gemüth zu wirken vermag. 


Das legte Kapitel: „Studium und Darftellung der 


Geſchichte und des Lebens”, fpricht vorzugsweife ber bedeut⸗ 


famen Auffafjung der Oper da8 Wort und erörtert dia Trage: 
wie und inwieweit ift e8 wahrer Kunſt allein würdig und 
geftattet, Hiftorifche und fociale Momente behufs erkennt. 
nigwedender Beleuchtungen in da8 Bereich ihrer Dar- 
ftellung zu ziehen? Der Berfafler meint, daß das muſi⸗ 
kaliſche Drama kraft feines hohen focialen Ziels ſicher 
einft zu wahrhaft Ehrfurcht gebietendem Einfluſſe anf die 
Bervolllommmung des menfchlichen Geiftes, auf die Wedung 
richtiger Erkenntniß des Lebens und feiner Eonfequenzen 
fi erheben werde. 

Die Harmlofen Zeiten find vorüber, in denen ſich ber 
Componif- beguligen durfte, den ihm gelieferten Operntert 
gedanfenlos (H mit Haut und Haar zu bemufifen. Das Pu- 
biiftum iſt denn doch nachgerade fo weit erwacht, daß es neue 
Opern in dem albernen, abgeſchmackten Zuſchnitte früherer 
Zeiten bereits ziemlich unbarmherzig verurtheilt, und daß Pro» 
ducte ohne kräftigen dramatifchen Aufihwung, troß ſonſtiger 
Schönheiten, ganz unhaltbar geworden find. 

Wir find gewiß fein Freund abnormer conventioneller 
Formen, welde die Opernmuſik miögeftalten und über 
die fi) auch begabtere Componiften oft nicht haben er» 
heben können; indeß ift es nicht fo leicht, zugleich den 
rein muflfalifchen Intereſſen Genüge zu leiften umd dabei 
eine haarſcharfe Kritit des Formenweſens zur Geltung 
zu bringen. 

Der zweite Abfchnitt „Form“ handelt zubörberft über 
allgemeine künſtleriſche Anforderungen an ein dramatiſches 
Kunſtwerk (nach Hegel). Bei der Trage, ob der Componift 


Menue über neue mufifaliihe Schriften, 


den Text felbft dichten ſoll oder nicht, werden für beibes 
die Bedenken und Bortheile zur Sprache gebradt. In ben 
nächften Kapiteln Tommen bie Wahl der Stoffe, die allge- 
meinen Erfordernifje des Textes, bie technifche Structur 
defielben, Dialog, Melodrama zur Erläuterung. Der 
Berfaffer fagt fehr richtig: 

Eine an fi vollendet ſchöne Dichtung kann alfo untanglid 
zur Compofttion fein, eben weil fie zu pollkommen unb daber 
zu jelbftändig, ſchon für ſich allein ein abgerundetes Kunftwert 
if. Set man zu einem folhen Wert Muſik, fo macht diefe 
höchſtens einen ftörenden Eindrud u. |. mw. 

Die Frage wegen des Dialogs in der Oper wird 
von verfchiedenen Gefichtspuntten beleuchtet. Nach diefen 
Borbereitungen gelangt der Berfafler zur „Compoſition“. 
Die Abhandlungen über Befähigung und Berechtigung 
zur dramatijchen Compofition, über dramatifche Geftaltung, 
Charafteriftil, Situation, Declamation bringen, wie alle 
andern Kapitel, eine reichhaltige Blumenleſe von Aus 
ſprüchen der Autoren und zahlreiches Belehrendes für 
den Studirenden. Im Kapitel über Anlage und formelle 
GSeftaltung der dramatifchen Muſik heißt es: 

Diefe Factoren (die verſchiedenen Gefühlsmomente, welche 
mit dem mannichfaltigften Wechfel und Gemiſch von Affecten 
und Situationen an den Componiften herantreten), wicht her⸗ 
kömmliche fereotype Schablonen und Geſetze find es, melde 
unzweifelhaft in erfler Linie die Formen ber dramatijchen Muſil 
bedingen. Dieſe Freiheit des Gedankens, der ſich durch feinen 
Rüdblid auf Herlommen und Gewohnheit verfünmern lafſen will, 
dieſes beharrli auf die Scene gerichtete Wollen, diefe unver- 
brüdlihe Widmung und Hingebung an den dramatiſchen Inhalt: 
das iſt der Charakter und die Ehre Wagners, 

Der Berfaffer Hält es mit Wagner für Oruppirung 
und einheitliche Wirkung einer Oper von großem Bor« 
theil, wenn der Verlauf der Handlung dem Componiften 
geftattet, ein ober mehrere Gauptmotive an dazu völlig 
berechtigten Stellen zu wiederholen. Wir geftehen, daß 
wir darauf nicht viel geben und es mit ber alten claf- 
ſiſchen Schule halten (die Wiederholung bes Chors aus 
der Gluck'ſchen „Iphigenie in Aulis“ in der Tauridifchen 
Iphigenie ift eine ganz andere Sache). Weber Modulation 
wird das Richtige nach Lobe vorgebracht. Nach furzer Bes 
trahtung über „Thematiſche Kunft und Polyphonie‘” folgt 
„Senauere Betrachtung der für die bramatifche Muſik ge- 
eignetften Formen“ (Recitativ, Reim, muftlalifcher Dialog, 
Enfemble, Chor), Zopff nennt es auffallend, wie 
fpät fih im mufifalifchen Dialog und im Enfenrble die 
Bolyphonie Herausgearbeitet hat. Noch bei Gluck finde 
fi) Fein Duett mit felbftändig gegeneinander geführten 
Stimmen, fondern entweder Wechfelgefang oder höchſtens 
bomophone Mehrſtimmigkeit. Dies ift indeg nicht fo 
ganz der Tal. Bei Gluck find die Duette natürlich 
nur felten. In der „Iphigenia in Tauris“ z. 2. kommt 
nur ein einziged vor (zwifchen Oreſt und Pylades im 
dritten ct), aber von welcher Wirkung ift dies! Ebenſo 
da8 Befchtwörungsduett im zweiten Act der „Armide“. 
Diefe wenigen Beifpiele zeigen, daß Gluck ſchon das 
Richtige erkannte, 

Die folgenden Kapitel behandeln: „Das Orchefter” 
(Charakteriftit und Anwendung feiner Zonfarben; felb- 
ftändigere Verwendung befjelben zur Vorbereitung und 
Ergänzung, Ouvertüre, Introduction, Entreact, Ritornell, 
Zanz, Marfch m. ſ. w.; komiſche Oper, Operette, Sing« 


Revue über neue muſikaliſche Schriften. 


fpiel; die herrſchenden Opernflile; das nationale Element). 
Rüdblid und Schlußfolgerungen. Bei „Bantomime und 
Tanze“ find wol die fo charalteriſtiſchen Schthenmärjche 
und Tänze in ber Gluckſchen „Iphigenie in Tauris“ 
blos vergefien worden; dagegen fünnten mande andere 
Beifpiele wegbleiben. 

Auffallenderweife Tieft man, daß Koffini mit dem 
billigen Efjecte der großen Crescendos im Stretto feiner 
Dwerturen felbft einen Beethoven in der erſten Leonoren ⸗ 
Duverture angeftectt habe. Fa, aber ift denn letztere nicht 
lange, ehe Koffini als Operncomponift befannt wurde, 
gefchrieben worden? Wir fimmen ganz überein in der 
Berwerfung des Potpourriftild der Weber'ſchen Duver- 
turen, bie, da fie Stellen aus der Oper bringen, mehr 
Epiloge als Prologe zu nennen find. Wie ſieht es da 
aber erſt mit der Tanhäufer-Duverture? 

Ein eigenes Kapitel ift betitelt „Wagner’s Reformen“ 
(nad) Brendel). Auf das vielfach Uebertriebene, das in 
den angeführten verfchiedenen Urtheilen über Wagner ent» 
halten iſt und zulegt zum großen Theil in leeren Wortſchall 
ausläuft, Yönnen wir hier freilich nicht eingehen. 

Wie der Lefer aus unferer VBerichterftattung erſieht, 
enthält das Buch des Dr. Zopff eine Fülle anziehender 
Mittheilungen fir jeden, der fi für den Stoff und bie 
geoählte Behandlungsart intereffict. 

2. Gejchichte des Concertwefens in Wien. Bon Eduard 

— Wien, Braumuller. 1869. Gr. 8. 8 Thlr. 

gr. 

Hanslid beklagt ſich in der Vorrede über die Mangel» 
haftigleit der vorhandenen Materialien aus älterer Zeit, 
indem die wiener Journale bis 1820 herab faft gar feine 
Notiz don Concerten nehmen. Dennoch enthält das 
Bud) viel Intereſſantes, wie bei ber hervorragenden 
mufitalifchen Bedeutung Wiens allerdings zu erwarten 
war. Hansfid tHeilt feine Darftelung in vier Bücher. 
Das erfte Buch, „Die patriarchalifche Zeit‘ betitelt, veicht 
von 1750—1800 und umfaßt die Epoche Hayın-Mozart. 
Der Penfionsverein (Tonfünftlerfocietät) ift die ältefte 
organifirte Muſilgeſellſchaft und das erfte öͤffentliche 
Concertinftitut in Wien. Ihr Gründer war ber Hofe 
Tapellmeifter Florian Gaßmann. Er Hatte als dreizehn» 
jähriger Knabe das Aelternhaus verlaffen, als armer 
Tarlebader Mufifant mit der Harfe die Welt durchreift, 
Hatte Hunger und Kälte Kennen gelernt und hat das in 
feinen guten Zeiten nicht vergefien. Zum Hoflapellmeifter 
ernannt, gründete ec den Penfionsverein für Witwen und 
Waiſen öfterreihifcher Tonkünftler, deſſen regelmäßige und 
Haupteinnafme aus dem Ertrage bon vier jährlichen 
Concerten beſtand. Die Mitglieder diefer Geſellſchaft 
waren Fachmuſiler (die Mitglieder der kaiſerlichen Hofe 
Tapelle bildeten den Kern), während bie übrigen erften 
Eoncertvereine und muſilaliſchen Gejellfchaften in Wien 
aus Dilettantenkreifen hervorgingen. Der faftenmäßige 
Düntel der Tonkünftlerfocietät ift aus den Vorgängen 
mit Haydn befannt, den die Gefellj—haft denn doch, um 
die frühern Infolenzen der Inflitutsverwaltung wett zu 
machen, endlich im Jahre 1797 unentgeltlih zum Mit⸗ 
gliede aufnahm. Hanslid erzählt, daß auch Mozart 
Mitglied ber wiener Tonkünftlerfocietät zu werben 
wünſchte und es niemals wurde. Die Nefolution auf 

1870. ı8. 


281 


fein Geſuch lautete dahin, daß der fernere Beſcheid er- 
folgen follte, wenn der Taufſchein beigelegt fein werde. 
Da Mozart feinen Taufſchein wahrfcheinlid nicht finden 
tonnte, fo erhielt er auch niemals einen Beſcheid. Ohne 
Taufſchein ihm die Aufnahme anzutragen, fiel der Societät 
nit ein. Daß Salieri, damals Präfect der Societät, 
feinem Beſchiltzer Gluck nad) deſſen Tode auf Koften der 
Societät ein Requiem veranftaltete, wurde von den Mit« 
glicdern derfelben fehr gerügt. Im Yahre 1830 wurde 
Zoſeph Lanner die Aufnahme in bie Gocietät verfagt, 
„weil er bei der Tanzmuſik ift“, während man bie obfcur- 
ſten Orceftermitglieder mit Vergnügen in bie Gocietät 
aufnahm. Dratorien bildeten weitaus den größten und 
wichtigften Beſtandtheil der Socieäts-Alademie. Zwifchen 
den einzelnen Theilen ließen ſich öfters Virtuoſen hören. 
In der ganzen Zeit bis 1801 finden ſich Händel's Orar 
torien blos durch die einmalige Aufführung des „Judas 
Maftabäus” vertreten. Haydn's Oratorien „Schöpfung“ 
und „Jahreszeiten“ waren die erften, welche ganz ohne 


. Eoncert-Zwifchennummern zur Aufführung famen, unb nad} 


dem Jahre 1808 wurde biefe Einrichtung conjtant. 

Ein befonderes Kapitel handelt von ben fürftlichen 
Brivatcapellen und dem muficirenden Abel, jene fir das 
Mufiffeben namentlih in Wien fo wichtigen Momente, 
welche mächtig zur Hebung künſtleriſcher Strebungen 
beitrugen, wenn auch die Stellung der Künftler ihren 
Sebietern gegenüber im vorigen Jahrhundert befanntlich 
eine vielfach) erniedrigende war. Als gegen Ende bes 
18. Jahrhunderts die fürftlihen Kapellen aufhörten, war 
es dennoch immer noch der bel, welder die Muſik 
pflegte und unterftügte Es ift befannt, wie einflußreich 
und fördernd bie Mufifpflege des Adels für Beethoven 
wurde. Seine Ouartette, Trios und Sonaten wurden 
zum größten Theile in den Häufern Lichnowsty's, 
Roafumowsky’s u. ſ. w. zuerft aufgeführt. Auf die Blu⸗ 
tenzeit der fürftlichen Kapellen folgte die eigentliche Pe⸗ 
riode der Dilettantenconcerte. Die Ariftofratie tHeilte ihr 
Mufitprivilegium mit bem gebildeten Mittelftande, den 
bürgerlichen Kunftfreunden, und trat e8 bald vollftändig 
an legtere ab. Der BVerfaffer gibt einen Abriß ber 
— der Liebhaberconcerte und Muflfvereine nicht 
blos in Wien, fondern auch in Deutfchland überhaupt. 
In der Regel wurde jedes Orcheſterſtuck ohne Probe vom 
Blatt gefpielt. Unter ben Ausnahmen glänzt Stettin, 
wo alle vierzehn Tage eine Vorübung gehalten und jebe 
Symphonie dreis bis viermal probirt wurde, ehe man die ⸗ 
felbe öffentlich vorführte. Die „Berliner Müſikzeitung“ 
vom Jahre 1793 geräth darüber in bewunderndes Lob 
und fügt bei, daß in Berlin feine einzige ordentliche 
Probe zu erreichen fei. In Wien wurden die Spiritual« 
concerte in den zwanziger und dreißiger Jahren ohne Probe 
und bie Gefellfchaftsconcerte mit Einer Probe gefpielt. 
Bon einer Partitur war obendrein in den Heinen Städten 
nie die Rebe, der Concertmeifter dirigirte mit dem Bogen 
aus der Violinftiimme. Nod am 6. März 1826 fpielte 
man in Leipzig in einem großen Concert öffentlich bie 
eben erfchienene neunte Symphonie von Beethoven blos aus 
den Stimmen. Der Dirigent hatte die Partitur nie ge- 
fehen. Der Mangel an Proben war e8 auch, der Frem- 
den den Zutritt zu den Aufführungen erſchwerte, ſodaß 

36 


282 Reyue über neue muſikaliſche Schriften. 


felbft die „Geſellſchaft der Deufilfreunde” in Wien noch 
im Jahre 1825 anlündigte, wie Fremde zwar in ber 
Geſellſchaftskanzlei (nit an der Kaſſe) Billets gegen 
Bezahlung erhalten Innen, jedoch ihre Namen anzugeben 
haben. Man fcheute fich offenbar vor der Kritik. 

Den Schluß bes erften Buchs bilden die „Birtuofen- 
concerte” in Wien im 18. Jahrhundert in fehr ansführ- 
licher, nad den Juſtrumenten georbneter Beiprechung. 
Anzeigen wie folgende vom 15. Januar 1783: „Herr 
Kapellmeifter Meoffart (Mozart) macht die Herausgabe 


“ drei neuer erſt verfertigter Klavierconcerte befannt, 


welche gefchrieben auf Subfeription zu vier Dukaten in 
feinee Wohnung zu haben find“, finden fich Häufig in der 
„Wiener Zeitung‘ der achtziger Jahre. 

Das zweite Buch führt die Bezeichnung: „Aſſociation 
ber Dilettanten 1800—30. Epoche Beethoven -Schu- 
bert.“ Die wichtigfte Geftaltung der Afjociation der Dis 
fettanten ober des organifirten Dilettantismus in Wien 
war die „Geſellſchaft der öſterreichiſchen Mufilfreunde*. 
Der Verfaſſer gibt ein vollftändiges Verzeichniß der Con- 
cexte derfelben bi8 zum Yahre 1824. Die folgenden 
Kapitel begreifen: Confervatorien, Muſikzeitungen, patrios 
tiſche Eoncerte und Wohlthätigleitsafademien, Spiritual- 
concerte (der Cherubini-Eultus in Wien war auf allen 
mufifalifchen Gebieten in den zwanziger und dreißiger 
Jahren durchaus Iebhaft), die Pflege des Oratoriums 
(Beethoven Tieß fich von der Geſellſchaft der Muſilfreunde 
im Jahre 1819 auf ein für biefelbe zu componirendes 
Dratorium 300 Dulaten Vorſchuß geben, componirte aber 
nicht eine Note davon und that zeitlebens feinen Schritt 
zur Zurüdzahlung bes Geldes), Quartettproductionen, 
Birtuofenconcerte (wobei alle irgendwie namhaften Künftler 
figuriren) n. f. w. Den Schluß diefes Buchs bildet ein 
Kapitel, „Beethoven und Franz Schubert” betitelt. Die 
große C-dur- Symphonie des legtern wurde erft im Jahre 
1839 im Gefelfchaftsconcert bruchftücweife aufgeführt; 
man gab nur die zwei erften Säge und trennte fie über⸗ 
dies durch eine Donizettifche Arie. Die erfte vollftändige 
Aufführung in Wien erfolgte im Jahre 1850 durch die 
Geſellſchaft der Muſikfreunde, welcher Schubert diejelbe 
gewibmet und dafür 100 Gulden erhalten hatte. 

Das dritte Bud: „Die Birtuofenzeit”, umfaßt bie 
Periode 1830—48 (Epoche Liſzt⸗Thalbergſ. In den 
Sahren 1815 — 30 waren in den 100 Concerten ber 
GSefelfchaft der Muſikfreunde aufgeführt worden: Sym- 
phonien von Beethoven in 35 Concerten, von Mozart 
in 20 Goncerten, von Haydn in 2 Concerten. Don 
den Mendelsfohn’schen Compoſitionen wurden feine A-molle 
Symphonie erft 1851, die Muſik zum „Sommernachte» 
traum“ erft 1852 aufgeführt. Das frühere Anfehen der 
bon Dilettanten beforgten Gefellfchafts- und Spiritual« 
concerte erhielt feinen legten Stoß und diefer Stoß gleich» 
fam feine thatfächliche Sanction durch die Begründung 
der Philfarmonifchen Concerte ſeitens der Oxcheſter⸗ 
mitglieder und des Kapellmeifters des Hofoperntheaters, 
Dito Nicolai. Das erfte fand ftatt im November des 
Jahres 1842. Uebrigens Batte ſchon früher Franz Lach⸗ 
ner Aehnliches verfucht, war aber des ungenügenden Er- 
trags wegen genöthigt gewefen wieder aufzubhören. Mit 


bald ins Stoden und hörten 1850 gänzlid) auf. Die 
Entſtehung des Männergefangvereind und ber Schmibr- 
Ihen Mufikzeitung gehört nod in biefe Epoche. 

Der Berfaffer gibt ein Verzeichniß der Birtuofenconcerte 
bon 1831 bis inclufive 1849. Die erfte Stelle nimmt 
freilich Lifzt ein; außerdem Thalberg; dieſem ſchloß fid 
die ganze Heerſchar der Inftrumentenbändiger an, welche 
damals die Landftraßen weit und breit unficher machten. 
Die Revolution von 1848 machte diefem wenigftens der 
fchaffenden Kunft wenig förberlichen Gellimper ein Ende, 
Bon Eomponiften ift vor allem Berlioz hervorzuheben, der 
im Jahre 1845 vier Concerte im Theater an der Wien 
gab, denen ein fünftes und fechstes im Januar 1846 im 
großen Redoutenfaal folgten. Berlioz ſah den Eoncertfaal 
ftetö gefüllt und konnte mit dem Applaus wie mit dem 
materiellen Ertrag vollkommen zufrieden fein. 

Das vierte Buch: „Epoche der politifchen Renaiſſance“, 
wird als „Affociation der Künſtler“ bezeichnet und reiht 
von 1848 bis auf die Gegenwart. Ende bes Jahres 
1854 brachte die Gefellichaft der Mufikfreunde zum erften 
mal ein Wert von Robert Schumann zur Aufführung, 
die C-dur-Symphonte. Wegen der abfälligen Aufnahme 
wurde erft zwei Jahre fpäter ein weiterer Verſuch mit der 
B-dur»- Symphonie gemadt. Neben ihren ftatutenmäßi- 
gen vier Geſellſchaftsconcerten veranftaltete die Gefellichaft 
der Mufilfreunde noch Concerts spirituels (erft zwei, 
dann bier); letstere erhielten fich aber nur wenige Dahre, 
indem fie durch die wiedererftandenen pbilharmonifchen 
Concerte unter Edert verdrängt wurben. Doch wir müflen 
unjern Beriht bier abjchließen und es dem fich daflir 
intereffirenden Leſer überlaffen, an der Hand bes fundigen 
Verfaſſers felbft eine Wanderung durch die gegenwärtigen 
Mufilzuftände der Kaiferftadt zu unternehmen. 


3. Geſchichte der geiftlihen Dichtung und kirchlichen Tonkunß 
in ihrem Zufammenhange mit der politiiden und focialen 
Entwidelung, insbefondere des deutſchen Bolls. Bon H. M. 
Schletterer. Erfter Band. Hannover, Rümpler. 1869. 
Ler.»8. 4 Thlr. 


Der Berfaffer fagt in feinem Vorwort: 


Bol wäre der vorliegenden Arbeit der Borwurf zu machen, 
daß dem Hiftorifch- politifhen Theil in ihr eine zu große Ant 
dehnung eingeräumt wurde. einer Periode aber, wo man 
den Spuren der Poefle und Kunft durch die größten flaatlichen 
Umwälzungen und den erjchlitternden Jammer der Bölfer nad» 
geben mußte und es oft ſchwer hält, die feinen Fäden, welde 
fih am verſchiedene Kulturflätten anknüpfen Taffen, jeftzubalten, 
lag es zu nahe, den gejchichtlichen Ereigniffen aufmerkſam und 
eingehend zu folgen. In dem näcften Bänden, in benen bie 
Schilderung des @eiftesiebens die Dberhand gewinnen fans, 
wird auch das Berhältnig der Darſtellung ein anderes werben 
föunen,, denn nicht felten werden dann bie öffentlichen An⸗ 


gelegenheiten von jenem beherrſcht oder werden fie als eime 


Folge der Regſamkeit anf allen Gebieten des Denkens mb 
Wiſſens zu betrachten fein.... Um den Umfang des Buchs nicht 
allzu fehr auszubehnen, hat man von dem Griechifchen und La⸗ 
teinifhen nur die Ueberfegungen und nit die Originale ge 
geben. Ebenſo finden fich die älteften deutichen Dichtungen nur 
in neudeutfchen Webertragungen. in für den erfien Band be 
flimmter liturgifcher Excurs wird im zweiten Band nachfolgen. 
Die mufitalifhen Belege für das ganze Werk follen einen 
Sammelband für fi bilden. 


Der Inhalt des ungefähr 600 Seiten ftarlen Bandes 


bem Abgange Nicolai's (1847) geriethen diefe Eoncerte | bringt es mit fi, dag wir unfern Lejern blos eine 








Revue über neue mufilalifhe Schriften. 


Anzeige befielben geben können, wobei wir nicht ver- 
bergen mögen, daß der Berfaffer auch uns bed all» 
gemein Hiflorifchen etwas zu viel gethan zu haben jcheint. 
Wenigſtens im vorliegenden Bande ift ein großes Mis- 
verhältniß zu der eigentlichen Aufgabe bes Werks ein- 
getreten. Nach der bi8 ©. 49 reihenden „Geſchichte der 
Poeſie und Mufit bei den alten Völkern‘, folgt in ein- 
zelnen Abfchnitten die Geſchichte des SKirchengefangs der 
verjchiebenen Jahrhunderte von Ehrifti Geburt an bis zum 
10. Jahrhundert, welche bis ©. 454 reiht. Die legten 
150 Seiten füllen, nah einem kurzen Niücdhlide, eine 
„Auswahl geiftliher Dichtungen aus dem erften Jahrtaufend 
der chriftlichen Kirche” (griechiſche, fyrifche, Lateinifche und 
dentfche Kirche) und Berzeichniffe hymnologiſcher Quellen⸗ 
werte u. |. w. 
4, Beiträge zur Gefchichte der Muſik der ältern und neuern 
Zeit, auf muſikaliſche Documente gegründet, Bon F. 3. 
xöHlih. Erſter Band. Ser Dürzburg, Stabel. 

868. 4. 1 Thlr. 10 Ngr. 

Die Vorrede beginnt mit den Worten: 

Der würdige Berfafler Hatte diefes Werk noch felbft für 
bie Heransgabe völlig bereift(!), als er am 5. Januar 1862 hin⸗ 
ſchied. Der Drud verzögerte fi inzwifchen zunächft der Zeit. 
verbältniffe wegen; um fo dringender erjchien nunmehr die Ber⸗ 
öffentlihung des Werks als ein Act der Pietät, zugleich als 
wefentliche Förderung der Wifjenfdaft. 

Eigentlich bildet die über 100 Seiten lange Schrift 
eine weitausholende Betrachtung und Erläuterung zu ben 
Doeumenten, welche der zweite Band bringen fol. Ra- 
türlich ift der größte Theil der alten Muſik, ein Heinerer 
Theil der Mufit der chriftlichen Zeit bis Paleftrina ger 
widmet. Alles Spätere ift blos Anhüngfel. Es möchte 
jchwer fein, einen begeiftertern Bewunderer der altchine- 
fifchen, hebräifchen, griechifchen Muſik zu finden als den 
Berfofir. Man könnte manchmal glauben, daß es ſich 
um ganz andere Dinge, um große tiefe Kunſtwerle der 
Renzeit handle, nicht um die fargen Reſte, weldhe uns 
von der Muſik der alten Völker geblieben find. Der Ver⸗ 
fafier, feinerzeit Profeſſor ber Aeſthetik, philofophirt übri⸗ 
gens ganz unterhaltend, indem er ben Zuhörer an der 
Anstellung feiner Documente vorüberführt; nur fcheint 
es uns, als wenn ihn biefe im Stich Ließen, und als ob 
er bie Erwartung der Zuſchauer etwas zu hoch fpanne. 
Doch das ift ja bie Eigenheit vieler Cicerone. Wir glau- 
ben gern, daß der geeignete Lefer mancherlei Anziehendes 
amd Belehrendes in der Schrift finden wird, wenn aud 
vieles freilich mit einiger Kritik aufzunehmen fein dürfte, 
5. Giacomo Meyerbeer. Sein Leben und feine Werl. Bon 

Hermann Mendel. Berlin, R. Leffer. 1869. 8. 10 Ngr. 


Die ungeführ 150 Seiten ftarle Schrift in Klein⸗ 
octad gehört zur „Weltbibliothek“, welche in bemfelben 
Berlage erfcheint. Die Borrede jagt: 


Die Namen Aleranber von Humboldt und Giacomo Meyer- 
Beer, allenthalben bewundert und bochgefeiert, follen, wie fie 
in aller Munde und Herzen find, in einer Weltbibliothel nicht 
fehlen. Daß perfönlihe Zuneigung und Bewunderung ben 
Berfaffer wärmer und berzlicher fprechen laſſen als einen Frem⸗ 
ben, welcher ausfchlielid, aus mittelbaren Quellen ſchöpft, wird 


283 


ihm, welcher im übrigen der Wahrheit die Ehre zu geben be» 
fliffen ift, nit zum Vorwurf gereichen. 

Sol das etwa eine Entfchuldigung fein? Wir glau- 
ben allerdings, daß der Berfafler zu ſtark für feinen Hel- 
den eingenommen ift und in einer Weife flir denfelben 
plaidirt, welche geeignet fein möchte, Kopffchütteln unter 
den Mufifern von Fach nicht nur, fondern auch bei dem 
feiner gebildeten muftlalifchen Publikum zu erregen. Nach 
unferer Anſicht müßte e8 fchon ſchwer genug fallen, 
Meyerbeer's tonkünftlerifches Wirken in feinem Schielen nad) 
allen Gefhmadsrichtungen Hin genügend zu redhtfertigen, 
und Mendel gibt uns flatt deſſen einen Panegyrikus zu 
lefen, dev Meyerbeer ungefähr in eine Linie mit Mozart 
und Beethoven ftellt, aber zugleich auch die Unzulänglichkeit 
des Autors beweifen Fünnte, feiner Aufgabe in anderer Weife 
als in einer blos literarifchen gerecht zu werden. Und 
offenbar handelte es fich aud blos um eine Darftellung, 
die aller Fritifchen Erörterung aus dem Wege ging. 
©. 7 heißt es: 

Er war in bemfelben Jahre unter glücklichen Eonftellatio- 
nen geboren worden, in welchem im Wien der große Mozart 
ohne Klage fein junges, durch Noth und Sorge verbittertes 
Dafein befchloffen Hatte, um hinterher Hoch verehrt und bewun- 
dert zu werden. Könnte man nicht Hierin einen der geheimniß- 
vollen Züge des Schickſals finden, daß es der Welt den un⸗ 
vergleihlihen Schöpfer des „Don Inan“ in dem Augenblid 
entriß, wo es als ige Nachfolger den Eomponiften der 
„Hugenotten“ erfiehen Tieg® Die bob Kunſtmiſſion, von der 
Bühne aus in der Weltfpracdhe des Gemüths, in Tönen, nicht 
blos zu einer Nation, fondern zu allen (?) Völkern der Erde 
eindringlich und erhebeud zur veden, welche Mozart zuerft über» 
nommen Batte, von wen wurde fie zunächſt wieder im demſel⸗ 
ben (?) großartigen Sinn aufgenommen und durchgeflihrt als 
bon Meverbeer? 


Mendel überficht dabei blos den Heinen Unterſchied, 
daß Mozarts Muſik fich allgemeine Anerkennung errang, 
während Meyerbeer nur nad) Opferung aller fünftlerifchen 
Individualität und jedes nationalen Charakters durch Con⸗ 
ceffionen an den Geſchmack der Menge ſich Bahn brach. 
Auf der folgenden Seite erzählt der Verfafler, . wie der 
kaum dreijährige Knabe bier und dort einmal gehörte 
Melodien zu Haufe ohne jede Anleitung bewundernswerth 
richtig mit ber rechten Hand auf dem Pianoforte nad)- 
ipielte, während die linke in felbftgefundenen Harmonien 
dazu accompagnirte. Belanntlich wird in folchen Dingen 
viel gelogen; übrigens ift die Sade an ſich unerheblich. 
Wir haben Wunderfinder genug gehabt, aus denen fpäter 
nichts Bedeutendes geworben ift. Meyerbeer’s erftes Auf- 
treten als Pianift fällt ins Bahr 1800, wo er als neun- 
jähriger Knabe das D-moll» Concert von Mozart vortrug. 

Wir lönnen dem Verfaſſer in feiner Darftellung, die 
im allgemeinen nichts Unbelanntes bringt, aber einen 
fließend und unterhaltend gefchriebenen Lebensabriß bes 
Componiften liefert (abgefehen von Stellen wie 5. B.: 
„Bon einem gaftrifch-nervöfen Fieber ergriffen, wirkten bie 
Bäder von Spaa” u. f. w.) freilich nicht weiter folgen. 
Den Zwed, welchen ber Autor mit feiner Leiftung zu 
erfüllen hatte, wird er jedenfalls genügt haben, und mehr 
ift ja bei Schriften diefer Art nicht nöthig. - 


96 * 





Bom Büchertlſch. 
Vom Büchertiſch. 


1. Aphorismen ans den Papieren eines Verſtorbenen. Nürn⸗ 
berg, dv. Ebner. 1869. 8. 1 Xhlr. 

Nach einer Einleitung, die einen kurzen biographifchen 
Abriß bietet, ohne jeboc die Perfünlichkeit des verftorbenen 
Autors näher zu bezeichnen, werben uns die Briefe defjelben 
an Verwandte, fodann mehrere Abhandlungen religiöfen und 
philofophifchen Inhalts vorgeführt. „Weber religiöfe Ideen’ 
handelt der erfte Aufſatz; an ihm fchließen fi) „Unter- 
fuhungen über ben Staat‘, eine „Pſfychologie“ über⸗ 
fchriebene ſehr aphoriftifche Darlegung biefes inhaltvollen 
Begriffe. Aus allen diefen Unterfuchungen, die mehr 
bedeutfamen Inhalt als gefällige Form haben, Teuchtet 
ein freier und gewiffenhafter Geift hervor, der fih nur, 
3. B. im erfigenannten Aufſatz, über gewifle philofophi- 
Ihe Syfteme, liber das bes Pantheismus in den land» 
läufigen Anfchauungen, bewegt, fonft aber die Treiheit des 
Denkens ſich überall bewahrt hat. Wenn der Autor in 
feinen „Aphorismen über religiöfe Ideen zu dem Re⸗ 
fultat kommt, die Religion habe nicht blos die Ideen der 
Sittlichkeit in Gott hineingelegt, fondern in beren Ges 
folge auch alle Unfittlichkeiten; wenn er vom Socialismus 
ausfagt, er fei der Traum der Hungernden Maſſe von 
ewig gededten Tifchen mit Muſik und Tanz, fo ift das 
ein bedeutender Freimuth nad) links und rechts, der 
aus diefen Anfichten fpricht. —* minder wahr und 
fein empfunden find bie zahlreichen Definitionen ethiſcher 
und logiſcher Erfcheinungen, die in den „Aphorismen‘ 
über Piychologie zu Tage treten. Und wenn wir aud) 
nichts weiter aus biefen „Uphorismen” lernten, als daß, 
wie auf S. 256 erzählt wird, bei den Eskimos fich ein 
ftarker fittlicher Trieb findet, jo wäre bamit in der That 
fhon bewiefen, daß ber fittliche Trieb Tein Product weit 
vorgejchrittener Bildung ift, fondern zu den urfprünglich- 
ften, unmittelbarften Regungen ber Seele gehört. 

2. Vorſchlag an die —5 einer vernünftigen Lebensführung 
von A. Spir. Leipzig, Findel. 1869. GEr. 8. 3 Ngr. 
Spir, dem wir ſchon öfter in d. Bl. begegneten, macht 

in vorliegender Broſchüre den Vorſchlag, eine Art prote- 

ftantifcher Klöfter zu gründen, wo, wie Leſſing einmal vor- 
ſchlägt, ein lediger Mann ungeftört und doch nicht ver« 
einfanıt feinen Befchäftigungen obliegen könnte. So ftellt 

Spir, nach einigen Kapiteln philofophifcher Debuction, das 

Broject einer Gemeinde vernünftig Lebender, alſo einer 

Art moderner fratres communis vitae, auf. ©. 29—86 

gibt er 22 Paragraphen einer philofophifchen Kloſter⸗ 

orbnung an, die befonders in $. 14 cine große Abneigung 
gegen den Fleiſchgenuß zeigt und in $. 20 fehr natur⸗ 
ärztlich die möglichfte Vermeidung aller Arzneien vorjchlägt. 

Der Plan ift jo übel nicht, wenn er ſich nur verwirklichen 

ließe. Die Freunde biefes Unternehmens, auf das wir 

unfererjeit8 nicht verfehlen aufmerkſam zu machen, bittet 

Spir, fi Brieflih an die Verlagshandlung des Herrn 

I. ©, Findel in Leipzig zu wenben. 

3. Rede beim Schluß der erflen ifraelitifchen Synode zu Leip⸗ 
zig am 4. Inli 1869 gehalten vom Präfidenten der Synode 
M. Lazarns. Nebſt der Anfprache bes Oberrabbiners 
Löw aus Szegedin an den Präfidenten. Leipzig, Liſt und 
Srande. 1869. Gr. 8. 10 Ngr. 


Wenn Lazarus ein Wort fpricht ober ſchreibt, fo 


weiß alle Welt, daß es ein gutes ift, das aus klarem 

Kopf und warmem Herzen ſtammt. So ift auch diefe 

Rede des hervorragendften der gegenwärtigen jüdiſchen Phi- 

Iofophen, der vermöge feiner Hohen Bedeutung in ber 

preußifchen Hanptftadt ein Ehrenamt befleidet, wieder ein 

Zeugniß von feiner großen redneriſchen Begabung, der e8 

ebenfo darauf anfommt, wie fie e8 fagt, als was fie 

fagt. Wenn ſich Lazarus mit der Synode auf den Stand⸗ 
punkt der Idealität und Religioſität ftellt, die gegen die 

Berflahung kämpfen, wenn er betont, daß das Judenthum 

mehr auf das Innere fehen folle als auf die äußere 

Form, wenn er Berfühnung aller Denkenden fordert: dann 

bören wir nicht nur diefe inhaltsvollen Worte, wir be= 

wundern auch bie gejchmadvolle Form bes Redners. Und 
mehr noch, wir würdigen mit bem Oberrabbiner Low die 

Bedeutung des Moments, daß, wie Lazarus' Beiſpiel zeigt, 

die Philofophie, was felten gefchieht, mit der Theologie 

Hand in Hand gegangen if. Selten wird bie Lektüre 

einer Rede fo reiche Denkfrlichte tragen wie die Yel- 

türe der 18 Seiten von Lazarus’ Rebe auf der leipziger 

Synode. | 

4. Die Wahl des Berufs von Alfred Schottmüller, 
Separatabdrud aus dem raftenburger Gymaſialprogramm. 
Raftenburg, Schlemm. 1869. 

Noch immer ift die Programmenliteratur, troß ber 
Borfchläge Reinhold Bechftein’s, vielfach im Dunkel ver» 
graben und kommt über die Zahl. ber Pflichteremplare 
Binans wenig zur Kenntniß des Publikums, vom Bücher» 
markt ift fie faſt ganz ansgefchloffen. Da ift es denn 
danlenswerth, daß ftatt der beliebten philologifchen, mathe- 
matifchen und antil-Biftorifchen Excurſe einmal ein reales 
Thema uns in vorliegender Arbeit zu Tage tritt, das 
feinen Stoff in gefchmadvoller und zwedmäßiger Weife 
behandelt und alle Chancen fir die Wahl eines pafien- 
den Lebensberufs nad) ihrem Für und Wider mit lehr⸗ 
hafter Sorgſamkeit abwägt. 

5. Populäre Vorträge über Dichter und Dichtkunſt von Ernſt 
nad. Erſte Sammlung. Trieſt, Schimpfl. 1870. 
Gr. 8 20 Nor. 

Ein eigenthlimliches Zeichen der Zeit ift die aufe 
fallend fid) mehrende Anzahl äfthetifcher Vorträge, gewiß 
die Signatur eines reflectivenden Zeitaltere. Auf unferm 
Büchertiſch bilden die Afthetifchen Abhandlungen, die fidh 
mit mehr oder weniger Gefhmad über Dichter und 
Dichtwerke verbreiten, meift den Stamm, an ben fi 
Werke naturwifienfchaftlichen, Hiftorifchen, politifchen, jurie 
ftifchen, philofophifchen und hygieiniſchen Inhalts erft in 
zweiter Reihe anfchliegen. Auch die vorliegenden Vorträge 
find Abdrücke xhetorifcher Erpectorationen, die vor einem 
Publitum beiderlei Geſchlechts gehalten worden find. 
Ueber den Charalter der Heine’fchen ‚Dichtung, über den 
Weltſchmerz in der Poeſie, über Goethe's Lyrik verbreiten 
fie fih und wir Können ihnen das Zugeftändniß machen, 
daß fie die ſchon vielfach breitgetretenen Themata, wenn 
aud) nicht von einem neuen, fo doch don einem verftändniß« 
innigen Standpunft aus befpredhen. In Defterreich bes 
findet man fid) noch auf einer naivern Stufe der Poefie 
gegenüber als im deutſchen Norden, Man Tann fi dort 


« 





—— — — — — — — — — 70 m — — — 


noch lebhaft an einer Debatte über Schiller (den der 

Oeſterreicher hoch verehrt), über Goethe und feine Lyrik 

u. a. m. betbeiligen, wo der blafirtere Norddeutſche fich 

gelangweilt wie von einem überwundenen Standpunft ab- 

wenden würde Da nun Gnad's Darftellungen nächſt 
gründficher Kenntnif des Gegenftandes ſich auch durd) 

Lebendige bilderreihe Sprache auszeichnen, fo wird man 

wol dieſe Discurſe mit nicht minderm Beifall aufnehmen, 

als es das triefter Publikum gethan hat. 

6. Beiträge zur Vor⸗ ober Anrede der zehnten Auflage ber 
von Dr. Ludwig Büchner verfaßten Schrift: „Kraft und 
Stoff.” Bon M. E A. Naumann Bonn, Cohen und 
Sohn. 1869. Gr. 8. 8 Nor. 

Es ift eine perfönliche Angelegenheit, die Naumann 
in vorliegender ftreitbarer Brofchlire mit dem vielberufenen 


Berfafler von „Kraft und Stoff” ausmacht. Der ge- 


lehrte Herr geht feinem Gegner fcharf zu Leibe; da wir 

indeß Naumann's Schrift: „Die Naturwifienfchaften und 

der Materialismus“, die den Ausgangspunkt vorbemerkter 

Fehde gegeben, nicht fennen, fo vermögen wir auch nicht 

zu ermeilen, inwiefern jeder der Streitenden recht hat 

oder nicht. Eins aber wiflen wir doch. Wenn Büchner 
feinen Widerfachern vorwirft, daß fie, da es mit dem 

Widerlegen nicht recht gehen wollte, ſchließlich fi auf das 

Schimpfen verlegt hätten, fo können wir genanntem Herrn 

dreift verfichern, daß feine eigene Begabung in diefer 

Brande .wol noch von feinem ſeiner Gegner übertroffen 

worden ift, von Naumann, der ſich eines durchgängig 

anftündigen Tons befleißigt, am allerwenigften. 

7. Religion, Moral und Philoſophie ber. Darwin’ihen Art- 
fehre nad) ihrer Natur und ihrem Charakter als Meine Pa- 
rallele menſchlich geiftiger Entwidelung. Leicht verftändlich 
hervorgehoben -von Wilhelm Braubad. Neuwied, Heu⸗ 
fer. 1869. ©r. 8. 12 Ngr. 

Wenn die Pfychologie nach Baftian’8 Wort die Wilfen- 
Schaft der Zukunft ift, fo ift die. Wiflenfchaft vom Men⸗ 
ſchen ſchon jet der Gegenwart Pflicht und Bedingung. 
Was Darwin in feiner epochemachenden Artenlehre vom 
Pflanzen⸗ und Thierreih auseinanderfett, das will Brau⸗ 
badı in feiner Schrift auf den Menfchen angewendet 
wiflen. „In dem Menfchen als Mikrokosmus“, fagt 
Braubach, „Tann das Naturgefez der Bervolllommnung 
nicht untergehen, auch nicht in finnlicher Vernichtung; es 
ſpielt feine Role in jedem Yortfchritt, auch neben ſchlech— 
tem Rüchkſchritt.“ Allerdings rechtfertigt fich aus diefem 
Gefichtspunkt der Verſuch einer Parallele menfchlicher 
Entwidelung mit der Artlehre Darwin’s. Der Berfafler 
bat e8 in geiftvoller Führung des Inhalts, wenn aud) 
in oft baroder Form unternommen, für die menfchliche 
Entwidelung die Gefegmäßigkeit der eracten Wifjenfchaft 
in Anfprucd zu nehmen; ein ähnliches Unternehmen, wie 
e3 Budle in Bezug auf die Gefchichte verfucht Hat. Es 
wiirde dem zugemeſſenen Kaum dieſer Referate nicht ent- 
fprechen, wollten wir genauere Details über Braubach's 
Ableitungen und Hypothefen geben; der denfende Autor 
fielt ein Schema pſychiſcher Fähigfeiten auf, das in 
fi fo viel Parallelen aufweiſt, wie feine Schrift der 
Darwin’fchen gegenüber durchführt. Wenn er jedod) nad) 
der gründlichen Erläuterung diefes Schemas zum Schluß 
anf die nene Urt zu fprechen kommt, die aus der Menſchen⸗ 


Vom Büchertiſch. 285 


art, ähnlich wie dieſe aus einer niedern Thierart ent⸗ 
ſtanden, hervorgehen ſoll, ſo ſcheint er ſich etwas ins 
Vage zu verlieren. Oder iſt ſeine Hypotheſe über die 


Engelart von fo verſteckt ironifcher Färbung, daß ſie ge- 
wiſſen naturwiffenfchaftlichen Confequenzen, denen fle doch 


im Grunde beizuftimmen fcheint, einen leifen Hieb ver- 
ſetzen will, während fie doch vorher an der Seite ber 
neuen Phyfiologie wader dad Secundantenamt ausge⸗ 
übt bat? 


8. Die culturgefchihtliche Bedeutung des Hülfsvereins⸗Weſens 
mit befonderer Berüdfichtigung der Friedensthätigkeit der 
Genfer-Sonventions-Bereine und Begründung eines natio- 
nalen Hülfsvereine. Bon Marimilian Schmidt. Gotha, 
Zhienemann. 1870. GEr. 8. 8 Nr. 

Schon das neulih von uns befprochene Buch Yon 
Esmarch Hat über das Weſen der Hülfsvereine intereffante 
Aufjchlüffe gegeben. Eingehender nod und ausführlicher 
ale Esmarch zeigt und Schmidt bie erfprießliche Thätig- 
feit der genfer Conventionsvereine. Nach einer forgfältigen 
Beleuchtung der Errungenfchaften diefer internationalen 
Thatfache kommt er auf die fehr wünfchenswerthe Um- 
Ihmelzung der einzelnen Vereine in einen nationalen 
Hülfsverein für Krieg und Frieden zu fprechen. Hören 
le Berfaffer felbft, wie er fih auf ©. 36 aus- 
pridt: 

Die Erweiterung der vaterländifchen Vereine der Genfer 
Convention zu einem foldhen beutfchen Hülfsverein erfcheint uns 
thatſaächlich als eine natlirlihe Bedingung, um dem für die Ar- 
men und für die Nation gleich wichtig werdenden Unternehmen 


die erforderliche Theilnahme in allen vaterländifchen Kreifen 
dauernd zuzumenden, und e8 wäre fehr zu wünſchen, daß von 


diefen Bereinen felbft das Signal Hierzu gegeben und eine Be⸗ 


wegung nad diefer Richtung hin in Gang gelegt werden möchte. 
Denn einmal find gerade fie mit ihrer bereits befiehenden Lan- 
dbes-, Provinzial-, Kreis- und Localorganifation vorzugsmeife 
eeignet, zur erften Grundlage und zum Ausgangspuntt einer 
im nationalen Stil zu entwidelnden Hüffsthätigkeit gewonnen 


: zu werden; fodann bieten fie durch ihr ausgeiprochenes Princip 


eines durchgehenden Zuſammenwirkens mit den ftaatlidhen Or- 

ganen bie fichere Bürgſchaft einer Tendenz, welche eine ſolche 

Einrichtung ſowol vor dem Misbrauch wie vor der Beſorgniß 

vor dem Misbrauch ſchlitzen wilrde, und endlich wäre eine ſolche 

Umwandlung das unverlennbarfte äußere Anzeichen der erwei- 

terten Beſtimmung. 

Das find beherzigensmwerthe Worte, die, da fie von 
ſachverſtändiger Seite ausgegangen find, wol auch der 
Beachtung nicht ermangeln werben. 

9. Die Semi. Gäcularfeier der kbniglichen Kunftafabemie zu 
Düffeldorf in den Tagen des 22., 23. und 24. Juni 1869. 
Herausgegeben von Ludwig Bund. Diüffeldorf, Budich. 
1870. ©r. 8. 1 Thlr. 15 Ngr. 

Auch die feftlichen ISubeltage der büffeldorfer Afademie 
haben ihre Gefchichte, die Erben Schadow's haben ihren 
Bafart gefunden. Bund gibt uns ein treues Bild der 
weihevollen Tage vom 22. bis 24. Juni 1869; er ver⸗ 
gißt auch das Meinfte Detail nicht, führt Reden, Gedichte, 
Beftjpiele (darunter das gelungene Feftfpiel von Camp— 
baufen) ausführlich an, erwähnt auch die Heinften Zeichen 


föniglicher Huld und, was das wichtigfte ift, gibt einen _ 


gründlichen hiſtoriſchen Vorbericht über die Entftehungs- 
gefhichte der Akademie. Das Ganze ift etwas weniger 
troden gehalten, als ſolche Aufzeichnungen post festum 
in der Regel zu fein pflegen. 





poems of Julius Rodenberg, translated into English verse 


286 Feuilleton. 


10. Oſtfrieſiſches Jahrbuch. Altes und Nenes aus Oſtfries⸗ 
land. Heransgegeben unter Mitwirkung von Keunern und 
Greunben oſtfriefiſchen Landes und Volle. Erſter Band. 

fies Heft. Emden, Haynel: 1870. 8. 10 Nur. 
Die Oftfriefen, deren Geſchichte neuerdings mit Glück 
dramatifche Behandlung gefunden hat — wir erinnern an 

MWeilen’s „Edda“ und Kruſe's „Gräfin“ —, wollen, wie 

es ſcheint, thatkräftig in die deutſche Literatur eintreten, 

Sie haben in vorliegenden „Jahrbuch“, das, weil es viel 

bringt, mandjem etwas bringt, einen lobenswerthen Anja 

dazu gemacht. Da finden wir im „Jahrbuch“: eine emde⸗ 
ner Stabtgefchichte: „Die Watergeufen“, von Harberts; 
dann eine ethnographifche Skizze über die Zigeuner in 

Ofifriesland; ferner Schwänfe, Sagen und Aberglauben, 

biftorifche Kleinigkeiten; und endlich unter der Rubrik: „Am 

Theetiſch“, Heinere Mittheilungen aller Art. Das ganze 

Werken hat eine angenehme leichte Phyfioguomie, mit 

der es ſich gut auskommen läßt und bie gewiß geeignet 

ift, den Oftfriefen die langen Winterabende zu verkürzen. 

11. Satanas in Neuyorl. Na dem amerilaniſchen Original. 
Herausgegeben von Adalbert von Wildenfels. Ber: 
lin, Langmann und Comp. 1870. Gr. 16. 20 Rgr. 


12, Tagebuch des Sultans. Erinnerungen au Paris, London, 
Koblenz, Wien. Nach der türkiſchen Haudſchrift. Berlin, 
Langmann und Comp. 1870. 16. 20 Ngr. 


Wir haben es hier mit zwei Verlagswerken eines jener 
berliner Buchhandinngen zu thun, die mit Vorliebe ihren 
Berlag der pilanten fatirischen Branche zuwenden. Wir 
wollen es nicht allzu genau nehmen und nicht weiter nad) 


. 


dem „amerifanifchen Drigmal” und „ber türkifchen Hand- 
Schrift” fragen. „Satanas in Neuyork“ ift eine Urt mo⸗ 
derner Hauff’fcher „Memoiren des Satans” und ein ple- 
bejifches Gegenftüd zu ber nobel gefchriebenen Gatire 
Laboulaye’8 „Paris in Amerila”. Wenn bei Laboulaye 
Nordamerila vom optimiftifchen Standpunkt aus be= 
trachtet wird, jo ift e8 ein fehr pefftmiftifches Gemüth, 
das bier diefe Philippifa gegen bie PYankees fchleudert. 
Biel witiger und wirklich fatirifh im beften Sinne 
ift das „Tagebuch des Sultans” verfaßt. Es ift das 
eine ironiſche Illuſtration der Zeitgefchichte, die mit dem 
Griffel des „Punch“ gemalt ifl. Die europäifchen Mis— 
fände können kaum treffender gegeifelt werden als in 
dem ammfanten Reiſetagebuch des Beherrſchers der Gläu- 
bigen am Bosporus. 


13. Zimpel’s Auszug aus „Die elfte Stunde mit dem Anti⸗ 


rin. Achtundzwanzigſte Auflage. Frankfurt a. M., Win⸗ 
ter. 8. 7%, Nor. 


Man erlafie uns, ein Kefume bdiefes tollen Buchs zu 
geben. Wenn man den Propheten Daniel und die Offen- 
barung Bohannis in folder Weife zu Deutungen auf 
heutige politifche Zuftände benutzt, wie es hier gefchiebt, 
fo kann man foldye, leider zu allen Zeiten beliebte Pro⸗ 
pbezeiungen und Auslegnngen biblifcher Bücher in ihrem 
balb religiöfen, halb lächerlich profanen Miſchmaſch nur 
widerlid finden, ſodaß mir uns bie achtundzwanzigſte Auf- 
loge nur durch eine brennende Neugierde der großen 
Menge nach allem Abſonderlichen erflären Lünnen. 





Fenilleton. 


Notizen. 

Bon Iulins Rodenberg's Gedichten iſt in Amerika 
eine engliſche Ueberſetzung erſchienen unter dem Titel: „The 
and the original metres, with the German text on the op- 
posite page by William Vocke'' (Chicago 1869). Gegenüber⸗ 
ſtellung des deutſchen und englifchen Zertes läßt Vergleichun⸗ 
gen zu, welche die Ueberjegung nicht zu ſchenen braucht, ba 
fie ſowol durch Trene als durch anmuthige Freiheit der Be⸗ 
wegung fich hervorthut. Dan vergleiche 3. B.: 

Frühlingeſonne. 
Frühlingsſonne tritt mit Funkeln 
Aus ben Wolfen; Märzluft weht, 
Zief am Berg, im Wald, bem bunfeln, 
Und am Strom ber Schnee zergeht. 
Beilchendüfte, Lerchenſchall, 
Glanz und Inbel überall. 


D wie wonnig, 
D wie fonnig, 


Wenn der Frühling auferſteht. 
Spring-sun. 
Golden 8pring-sun bright is sparkling 
Through the clouds, while March winds blow; 
On the hills, in forests darkling, 
Near the stream he melts the snow. 
Violet odors, lark-songs fair, 
Joy and lustre ev’rywhere. 
O, how cosy, 
O, how rosy, 
When Spring’s beauties newiy glow! 


Der „Bexein zur Verbreitung guter und wohlfeiler Volls⸗ 
ſchriften“ in Zwidau verdient wegen feiner ſtillen, aber nad 


baltigen Wirkſamkeit nnd des großen Lejerfreifes, den er für 


feine Beröffentlihungen gewonnen bat, in den Organen ber 


Breffe nach Verdienſt hervorgehoben zu werden; ber geſunde, 
von allem Pietismus freie Sinn, der feine Drudtäriien be⸗ 
ſeelt, macht dieſelben um ſo empfehlenswerther, je mehr andere 
Vereine, namentlich in Norddeutſchland, die Vollebildung im 
Geiſt der Innern Miſſion betreiben. Auch auf Erweckung des 
vaterländiſchen Sinns hat der zwickauer Verein fein Augen⸗ 
merk gerichtet, wie eine uns vorliegende Volleſchrift beweiſt: 
„Aus deutfhen Gauen. Bilder und Skizzen von beutfcher 
Erde“, von Rudolf Müldner (Zmidan 1870). Der Ber- 
fafjer ſchildert einige von der großen Heerfiraße abliegende Ge⸗ 
enden volksthümlich und mit Venugung der gejhichtlicen 

ocumente, deu Petersberg, den Iberg, die Tour von Aachen 
nach Lüttich, ferner das Schill-Monument in Braunſchweig 
u. a. in allgemein verfländlicher und anfprechender Weiſe. 

Alfred Meißner, der Dichter des „Ziska“, abgeftoßen 
vom Treiben der Ezechen, deren Vergangenheit feine Mufe ver- 
herrlichte, hat Prag verlaffen und iſt nach Bregenz lbergefie- 
beit, wo er fih ein Beſitzthum erwarb. Er ift jet mit der 
forgfältigen Revifion feines im Feuilleton der wiener „Brefje’‘ 
erfhienenen Romans: „Die Kinder Gottes’, befchäftigt, der 
demnädft bei DO. Janke in Berlin in drei Bänden ericheinen 
fol. Emil Brachvogel, ber fi jetzt meiſtens in Dittel- 
deutfchland aufhält, hat feinen Wohnort in Eijenad) aufgegeben 
und ift nach Weißenfels übergefiedelt, 

Bon welcher Bedeutung die Wirkung eines Autors, eines 
Denters, oft nach defien Tode noch ift, erfehen wir aus einer 
Schrift, die aus den Werten eines bedeutenden Philofophen 
unter dem Separattitel erfhien: „Die erfofiung ber chriſtlichen 
Kirche und ber Geiſt bes Ehriftentbums. Blitzſtrahl wiber 





— Dun — — 


Feuilleton. 287 


Kom von Kranz von Baader‘ (Erlangen, Deidiert, 1870). 
Baader konnte nicht ahnen, daß feine Production Heute, unter 
den Verhandlungen des ölumenifcen Concils, ihre ganze Ener» 
gie geltend machen werde. Ber biefe Populär gehaltene Schrift 
lien, wird die gegenwärtigen Vorgänge in Rom mit ganz neuein 
Iutereffe verfolgen. Der Autor iſt ein fo treuer Anhänger der 
Wahrheit, ein jo tapferer Verfechter bes mahrhaften Foriſchritis, 
daß er mit edler Rüdfictslofigkeit die unglaublichen Aumaßun⸗ 
gen befeuchtet, welche fid} in einem großen Theil der bisherigen 
irhengefdichte vorfinden. Für alle Confeffionen, für die 
Rechte aller Gemeinden und civilifirten Nationen, für die Ges 
gear in ihren wichtigſten Problemen iſt obiger „Bligftrahl‘ 
der's don außerordentlicher Zündkeaft, damit alles Morſche, 
Unhaltbare, Abgeftorbene, der Vernunft, dem Weſen und Wil 
Ien Gottes inerfpreßenbe gefundem Leben Play made. Wir 
Können demnad; die Verbreitung und Leftüre der von uns ge- 
nanuten Schrift nur aufs angelegentlichfte empfehlen. 


Grein's Heliand-Ueberfegung. 

Bor nun bald 15 Jahren erſchien von Grein eine Heliand- 
Ueberfegung, melde fih freunbficher Aufnahme erfreute. Der 
Rachdichter war bemüht, feinem Werke eine größere Volllom⸗ 
menheit zu geben, aber flatt am der alten Ueberfegung beflänbig 
au beffern und zu feilen nnd Ah: auf ſolche Weiſe umzuarbeiten, 
entf&loß er fi, lieber die janz von neuem zu begin. 
men. Diefes verjlingte Werk "liegt jet 1 Da it unter folgendem Titel 
vor: „Der Heliond ober die altfähfihe Cvangelienharmo- 
mie. Üeberſetzung in Stabreimen nebit einem Anhange von 
C. W. M. Grein.“ Zweite durchaus neue Bearbeitung (Rafe 
fel, Kay, 1869). Wir zweifeln nicht, daß dieſe Ueberfeßung in 
ührer neuen Geſtalt dazu beitragen werbe, der Heliand-Dichtung 
immer mehr Freunde zu gewinnen. Die Uebertragung if, wie 
wir uns überzeugt, möglichft — dabei macht fie nicht im 
mindeſten den Eindrud der Gebundenbeit; im einzelnen if frei» 
id) der Ausdrud, um einestheils dem Originale Genlge zu 
thun und anderntheils den Stabreim zur Geltung zu bringen, 
mandmal etwas geſucht ausgefallen. Die Kapiteleintheilung 
if We Grein anders getroffen als in ber bielgebrauchteü 

— HR Heyne’, dod find die Rapitelzahfen derfelben 

tens ben 

werte aha befeet über die literarhiſtoriſchen Ber- 
Häftniffe. Es werden da die verfdiedenen Hanbferiften und 
Ansgaben genannt, und im Anſchluffe an Bilmar’s bedeutendes 
amd einflugreihes Buch über die Altertümer im „Heltand" der 
deutſche Charakter des Gedichts gezeigt. Ein zweites Kapitel 
beiprit. „Die Quellen des Hellaud“. Grein hat über diefen 
Bunkt eine eigene Monographie a? (Kafjel 1869) als 
erſter Band der „Heliand- Studien“, welder er vielfadh zu 
andern Refuftaten gelangt als Bindiih in feinem vorher er- 
fhienenen irefflichen Bude: „Der Heliond und feine Quellen“ 
(1868). Diernach beflimmt ih zum Theil auch bie „Beit der 
Abfafjung des Heliand‘‘, Über welde dann gehandelt wird. 
Scieblid wirb die Broge nad, dem unbelannten Didter bes 
„Seliand‘” zu beantworten gefucht. Hier gerade Herrchen die größ- 
ten Meinun mngeeriiebenheiten: den einen gilt er als Laie, den 
andern. als gzaugen Srein’s Anſicht geht dahin, daß er nicht 
bios ein großer Dichter gemefen jei, fondern auch grindlid 
Latein verflanden und foehaupı gelehrte Bildung befefen und 
allem Anfcein nad) dem hen Stande angehört habe. 

So if in dieſer © k nicht blos die —S 

eiten 


. „Heliand“ geboten, fondern der Herausgeber hat aud) al 


berüßrt, melde zu näherm Verfländniffe bes fo bedeutenden 
Berts nöthig find. 





—— 





—— Ye, Ü ee 
* *. ra Aue Di Bin —J 





Barth, Ex, Uaber den U Ein Boltr. Bchulpädagogik, 
Leipaig,. efnitzseh, nr a Baltrag. sur Behulpkdugoni 
1 —38— Der erfuntene " Enäplung. Berlin, Iante. Or. &. 

— 


reifen Entſtehung 
us, Leipzig, Per- 





ats. Kar. 8. 10 Ngr. 

ius, E., Kunstmussen, ihre Geschichte und ihre Bedeutang mit 

besonderer Rückaleht auf das königl. Museum zu Berlin. Vortrag. Ber- 

um ai ————— — D. @igar, Oak 
ante’ götttige Komdvle, Ueberfett don D. Rrigar. 
Bere. Dit eine et von. Mitte, ie Ole, M 


Rede. —— periodische, Schrift zur Belsuchtung deutschen 
Labens In Bunat, Gesellschaft, Kirche, Kun Wissenschaft, 


herai n 
‚Jahrgang 1870. 3 Ba Berlin, sälke u. van 
ichael Caspar Lundorp act, 


der Herausgeber dı 
zellen, Ein Aoutscher —— — Anfangs des 17% Jahrhunderts 
jrlin, Weber, 4. 15 Ni 












Das Hobelied ——— er und mit Anmerkungen nah bem 
Midrafh veriehen Kin Zie Berlin, Boppelauer. Gr. 8. 16 Mar. 

Kraut, Die — en Beykehungen zwilhen Deutjhlanb und Frank 
— iR zu nögen ostentfitung beo Ratfertfuma unter Heincig I. 
Seiltronn, 1368. 17, 

rufe, de, — Trauerſpiel in fünf Aufzügen. ate Aufl. 
zen, gel 'or 6. Dr. 

$fer, Nebe über bie Todeöfttafe, Gehalten am 23. Februar 1370 

in ber Ciblng bes nortveutjgen Meidstages, Berlin, Belle. Or, 5. 

* 


Sutritz, G., Aschenbrödel, Faschings- „Spiel. Dresden, E, Arnold. 


Gi ie 
Fliegende Blätter. Das ventfhe Bo, erein za 
auf —8— Strafgefeg und der norbbeutjche di 


—3 
8. 2, 8, Die gonfsffonttee Säule ig F nein Be 
siepung. Ein Gonferenzvortrag. Helmftedt, 

Whrifenbiätter (Seuguiffe auß älterer —5 Bei, von ber 
Sammierin der ee der Wahrheit”, „Ölaubensöl" ic, Gtutigart, 


Sacıer „Dr. & 
Mi und Can). Antwort auf pie 2ı Ganoneh ale Mabneaf an 
bas vater Bolt zur Abfgüttlung des Ioces römifgper Herrig« und Habe 

fügt, —53 D. Wigand. 16. 3 Nor. 
ᷣr Ausgewäßtte Romane und — „er Bb.: Berirrt 


tin 
J * xʒir, 

— ji J ei Einige feeimithige Bozle ur rung und Se ⸗ 

zußigung in * e —— an ale Freunde der Wahrheit. Par 


bertorn, Schönii Br 
3 Non, ‚Martin Suter über. bie Früßte ber Reformation. 
8. 4 Nor. 
in, Liht. Preiögehrönte Erzäplung. 
dar Jglht, u, ie feiner Ber 
re Inefonhete ne Grafen non Dlontfn DR eh 
Ihichte ber ehemaligen Amtsorte von Langenargen, ha ni —e 
uelfen zufammengeftelt und bearbeitet. Urfendorf. @r. 8. 18 Apr. 
Er v., Bon Sünde zu Clinde. Roman. 3 Bde. Bere 
“ 
SE Beusster Gesshichtskalender, 1869. Jar Jahr- 
16. 


ig — bar After Thi. geipsig, 




























etlin, Korttai 
‚Bbiipp Satos Eike in Refpemtier nach der 

Reformallon, Bahnmaler, 8. 5 War. 
langer, dr Ueber Umarbeiting eiäiger Arliophanischer Komö- 


dien, Leipzig, Teubner. Gr. 8. 12 Nar. 
Stifte, Dermine, Zagebug. Leipsig, Arnold. 4. 6 Tfle, 
* ', Wider Honig. Beeiburg im Br., Herder. @r. 8, 1Zplr, 


=. des Bohn.: Der Mufifteufer. 
Br; En ae 1Eran.; „De Duftteer, Safe mit Muft 
a Ei „Bene 


Keks: —— Auler, „Bon Se — &hrer, 
AN SIE Bir —5 Höngg. Urtunblig geſcildert. 


1. 8. 
fügen Ducen. Boltdaueg: Aa na a et, 


n, H., Kritische Umschau aid Gebiete der, Vor- 
tschen Mdns Behr, Tai a 


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288 Anzeigen. 


Anzeigen. 


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Verlag von S. A. Brockhaus in Leipzig. - 





Soeben erfdien: 


Sundert dahre. 
1770 — 1870. 
Zeit» und Lebensbilder aus drei Generationen. 


Bon Heinrich Albert Oppermann. 
Dritter Theil. 8. Geh. 1 Thlr. 20 Nor. 
(Der erfte und zweite Theil Eoften zufammen 2 Thlr. 10 Nor.) 


Die erften beiden Theile diefes von dem kurzlich verflor- 
benen belannten Mitgliede des preußiihen Abgeorbnetenhaufes 
Obergerihtsanmalt Oppermann aus Hannover verfaßten cul- 
turhiftorifchen Romans haben in der gefammten Prefie, felbft 
von feiten der politiichen Geguer des Berftorbenen, ſehr warme 
Anerfenuung gefunden. Sicher wird ber eben ausgegebeine 
dritte Theil das allgemeine günftige Urtheil noch mehr befefti- 

en. Die folgenden Theile find bereits im Druck, ſodaß das 
intereffante Werl binnen kurzem vollftändig vorliegen wird. 





Derfag von 5. X. Brockhaus in Leipzig. 


Wahrheit, Schönheit und Liebe, 
Philoſophiſch⸗äſthetiſche Studien von 
Vickor Granella. 

8 Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Nor. 

Der Berfafler, ein Tatholifcher Geiſtlicher, Hat in den reli- 
giöfen Gedankenreihen dieſes Buche — das ſich bereits zahl. 
reiche Freunde erworben hat — mit tiefer Einficht auf den 
Dualismus zwifchen der Geiftesfreiheit des Evangeliums 
und der Unfreiheit des kirchlichen Standpunfts hin 


gewiejen und die Fdeale ewiger Wahrheit, Schönheit und Liebe 
mit durchſichtiger Klarheit beleuchtet. 





Derfag von S. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 
Lao-tse Täo-t6-king. 
Der Weg zur Tugend. 


Aus dem Chinesischen 
übersetzt und erklärt von 


Reinhold von Plaenkner. 
8. Geh. 2 Thlr. 


Die erste vollständige deutsche Uebersetzung dieses 
berühmten Werks des Philosophen Lao-tse, eines Zeit- 
genossen des Confucius. Durch ausfülırliche Erläuterungen 
zu jedem Kapitel hat der Uebersetzer das Werk dem Ver- 
ständniss deutscher Leser möglichst nahe zu bringen ge- 
sucht. 


DEE Neue intereffante Erfcheinungen! "ug 


Soeben erfhienen im unterzeichneten Verlage und find 
vorräthig im jeder Buchhandlung: 


Dalınatien und feine Infelwelt 


nebft Wanderungen duch die Schwarzen Berge. 
on Heinrich Nos. 
30 Bogen 8. In illuftr. Umfchlag geheftet. 
Preis: 1 Thlr. 20 Ser. = 3 Er ö. W. 

In dieſem Buche entwirft ber Verfaſſer in feiner be- 
fannten Weije ein farbenreiches Bild des feltfamen Landes, 
welches man eine „Schweiz im Meere” nennt und das 
dem Berftändniß unjers Bublitums bis zu den neueften 
Greigniffen herab unbekannt geblieben iſt. Diefe Lebendige 
Schilderung des jüblichen Küftenlandes verdient die aflge- 
meinfte Aufmerkſamkeit. 


Die Herrfchaft des Mönchs 


oder Rom im neumzehnten Sahrhundert. 


Bon General Garibaldi. 
2. Aufl. Bolle-Ausgabe. In illuſtrirtem Umſchlag geheftet. 
Preis: 1 The. = 1 Fl. 80 Kr. 5. W. 

Das Schnelle Erſcheinen einer zweiten Auflage des epoche- 
madenden Romans von General Baribaldi beweift wol 
deutlich, daß die duch das Werk enthüllten erhabenen Im» 
tentionen des gefeierten Helden Widerhall finden im SHer- 
zen des deutfchen Volks. Der billige Preis diefer zweiten 
Auflage macht jedermann deren Anfıhaffung möglich. 

A. Hartieben's Verlag in Wien. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


TRES FLORES 


del 


TEATRO ANTIGUO ESPANOL. 


Publicadas con apuntes biogräficos y criticos 


por 
CAROLINA MICHAELIS. 
8. Geheftet 1 Thir. Gebunden 1 Thir. 10 Ngr. 
Dieser Band enthält drei bedeutende Erzeugnisse der 
altern spanischen dramatischen Literatur, und zwar: 


Las Mocedades del Cid de Don Guillen de Castro 


La Tragedia mas lastimosa de amor. Dar la vida 
por sa dama 6 El conde de Sex. Por Don Anto- 
nio Coello. 


El desden con el desden de Don Agustin Moreto. 

Das allgemeine literarhistorische Interesse, das sich an 
diese Dramen knüpft, wird noch durch die beigefügten bio- 
graphischen und kritischen Notizen erhöht. 

Dieser Band bildet eineu Bestandtheil der von der Ver- 
lagshandlung unter dem Titel 


COLECCION DE AUTORES ESPANOLES 


herausgegebenen Sammlung spanischer Werke, 
Ein Verzeichniss der bisher erschienenen 27 Bande dieser 
Sammlung ist durch alle Buchhandlungen gratis zu erhalten. 


Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus. — Drud und Berlag von S. A, Brochhaus in Leipzig. 





Blätter 
literarifhe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erſcheint wöchentlich. 


a Ar, 19, or 





5. Mai 1870. 





Inhalt: Die Novelfifin der „Bartenlaube". Bon Wudelf Gottfhet. — Neuere dramatiſche Dichtungen, Bon deodor Mehl. 
efchluß.) — Dtto Liebmann und feine Suconfmaen, on Gran von Hartmann, — Seuileten. (Notizen) — Biblio 
graphle. — gen. 





Die Novellitin der „Gartenlanbe“, 


1. Goldelfe. Roman von E. Marlitt. Fünfte Auflage. 
Leipzig, Keil. 1869. 8. 1 Thir. 

2. Das Geheimniß der alten, Mamfel. Roman von €. 
Marfitt, Zwei Bände. Bierte Auflage. Leipjig, Keil, 
1869. 8. 2 Zplr. 

3. Die Reihegräfin Gifela. Roman von E. Marlitt. 
Zwei Bände. Zweite Auflage. Leipzig, Keil. 1870. 8. 
3 Thlr. 20 Nor. 

„Spät kommt Ihr, doch IHr kommt“ — wird man 
den „Blättern für literariſche Unterhaltung” entgegenzufen, 
wenn fie jest erft das Bild einer Schriftftellerin zu 
grundiven beginnen, deren Werke in kurzer Zeit jo viele 
Auflagen erlebten, und beren Name auf ben über bie 
Deeane flatternden Bogen der „Gartenlaube“, dieſer ver⸗ 
breitetſten deutjchen Zeitfchrift, in alle Zonen getragen 
wurde. Bon der „Solbelje” und ber „Alten Mamfell“ 
fpriht man nicht nur im ben verborgenften Winfeln 
deutjchen Landes, wohin der Wellenſchlag ber literarifchen 
Bewegung fonft felten ein verlorenes Echo wirft, fondern 
in ber That „foweit die deutfche Zunge Mingt“, in den 
fernften Colonien des innen Rußland, an den halb» 
afiatif—hen Riefenftrömen, wie an den Ufern des Miſſiſſippi, 
in Chile und Brafilien. Mander ferne Auswanderer 
denft der anheimelnden deutſchen Walbberge, der Forft« 
und Pfarehäufer, der Schlöffer und Burgen der Heimat, 
wenn er ſich in die Leftüre diefer Erzählungen vertieft; 
und wenn er dann durch ben hochwogenden, Tianen- 
umjchlungenen Urwald wandelt, fo vermißt er mitten in 
all der iippigen Farbenpracht den frifchen Waldduft der 
harzigen Fichten und Tannenwälber. 

Doch in folder Verfäumnig von feiten ber Kritik 
Liegt zugieich eine Gunft für dieſe Werke. YIeht Tann der 
Erfolg mit in die Wagſchale gemorfen werden, und die 
Frage nach den Urfachen dieſes Erfolgs führt von felbft 
auf die Ergründung charalteriſtiſcher Eigentbümticfeiten, 
welche jonft der beobachtenden Prüfung vieleicht minder 
ſcharf ins Auge gefprungen wären. 

1870. 19. 





Sagen wir es nur dom vornherein, E. Marlitt (bes 
tanntlich Pfendonym für Fräulein John in Arnſtadt) ift 
ein bedeutendes erzäßlendes Talent. Das ift eben eine 
Noturgabe, die ſich nicht rnmingen laßt. Wir haben 
ſehr geiftreiche Nomanfchriftfteller, die eigentlich nicht zu 
erzählen verftehen. Sie wiflen zu ſchildern, zu charat- 
terifiren, durch finnige Gedanken zu fefjeln, durch funfeln. 
den Esprit zu blenden, doch das find alles nur Surrogate 
für die Kunſt des Erzählens. Worin diefe zu fuchen iſt, 
das lehrt und fchon das gejellichaftliche Talent einzelner 
Verſonlichteiten; das fchriftftelleriiche ift nur eine höhere 
Potenz deſſelben. Jene „Künftler der Converfation 
verftehen das Heinfte Erlebniß im einer fo feffelnden Weife 
vorzutragen, daß wir unmillfiiclih alles mitzuerleben 
glauben. Man kann folhen Erzählern einzelne Eigen« 
heiten abfehen und als „Kunftgriffe” zur Geltung bringen; 
doc) wer nicht diefe friſche Strömung der Phantafie be» 
figt, die und unmittelbar mit fortreigt, wer nicht Heine 
Ereigniffe durch die Lebendige Anſchauung und den eige- 
nen innigen Untheil auch dem unferigen nahe zu rüden, 
wer in uns nicht Fragen an die Vergangenheit und die 

kunft ſtets wach zu halten weiß: der wird, bei aller 

jeichichlichkeit und Sauberkeit der Außern Technik und 
bei allem innern Gehalt, vergebens nach den Lorbern ber 
erzählenden Kunft ringen. 

Einfeitig und mangelhaft wäre auch die Poetik, 
melde folhen Reiz der Romandichtung gering achtete. 
Bon den Zeiten des Homerifchen Urromans, der Obyfiee, 
von den fpätern griechiſchen Profaromanen bi® zu den 
orientalifhen Märchen und italieniſchen Novellen, bis zu 
den neufranzöfifchen Romanen, welche an bie Iegtern er⸗ 
innern, hat e8 ſtets für die Aufgabe ſolcher erzählenden 
Dichtungen gegolten, durch dem fpannenden Gang der 
Ereigniſſe die Phantafle zu feſſein. Ein Taugmeiliger 
Roman ift ein dverfehltes Product, Der Roman bleibt 
als folder aber auch langweilig, wenn er noch fo viele 

37 





290 


geiftreiche Neflerionen und Unterfudungen enthält, die in 
einem andern Werke, an einer andern Stelle unfern 
Beifall verdienen und finden würden. 

Doch E. Marlitt befigt nicht blos die Gabe der Erzäh- 
fung, fondern auch das Talent der Schilderung; wir jehen 
alles Iebendig vor uns, was fie befehreibt. Sie wählt mit 
Borliebe feltene Localitäten, bie nicht gerade an der großen 
Heerftraße der Nomanliteratur liegen. Die Dahmohnung 
der alten Mamſell wie das. verfallene Schloß der Gold⸗ 
elfe find Höchft originelle Zeichnungen; der architektonische 
Aufriß ift klar und beftimmt, die Ausführung bis ind 
Heinfte hinein von großer Sauberkeit und hervorftechendem 
Sinn für Fünftlerifches Detail. Auch bleibt es nicht bei 
dem todten Nebeneinander der Aeußerlichkeiten; fie erhal» 
ten Leben durch die Bewegung der Handlung. Die ger 
fährlichen Dachpromenaben des jungen Mädchens in das 
verftedte Logis der alten Mamfell, welde in und Un« 
wandlungen von Schwindel erregen, ziehen diefe hoch— 
gelegenen Regionen des Haufes aus dem Bereich des 
Maurermeiftere und Dachdeckers und einer blos den 
Bauriß machzeichnenden Phantafte in den Kreis inniger 
Theilnahme; und die idylliſche Wohnung der Goldelſe, 
die ſich hinembaut in das dem Einfturz drohende Schloß, 
die Thätigkeit, die vom Verfall vettet, was fich noch ret⸗ 
ten läßt, die Verknüpfung der Gegenwart mit alter Ver⸗ 
gangenheit durch die aufgefundenen Adelsurkunden — das 
alles bringt Leben in die Trümmerhaufen, deren noch fo 
anſchauliche Schilderung fonft nur einen todten Eindrud 
machen wiirde. Auch die Perfönlichkeiten, auch menſch⸗ 
liches Leben und Treiben weiß E. Marlitt "lebendig dar- 
zuftellen. Wie frappant ift glei die Ouverture der 
„Alten Mamfell“, der Tod der Schildjungfrau durch bie 
unvorfichtigen Kugeln im Rathhausſaal, wie bewegt und 
beherricht dis in alle Gruppen hinein das Geburtstagsfeſt 
in „Goldelſe“, das Hoffeft in „Reichsgräfin Giſela“! 
Das find wechſelnde Tableaur, bei denen die Bewegung 
der Handlung bald die eine, bald die andere Geftalt in 
den Vordergrund ftellt, bei denen aber ſtets in abgeftufter 
Gruppirung auch alle andern zu ihrem Rechte kommen. 
E. Marlitt vergißt niemals irgendeinen der Anweſenden; 
fie macht jedem bie ſchriftſtelleriſchen Honneurs mit 
größter Aufmerkſamleit, wenn fie auch einen oder ben 
andern bevorzugt, wie es gerade die Situation mit 
ſich bringt. 

Auch der Stil biefer Romane verdient alles Lob; er 
ift frei vom jeder Künftelei und Webertreibung, fließend 
und frifh, von anmutbiger dichterifcher Belebung, ohne 
Iyrifche Ertratouren, anſchaulich und bezeichnend, edel amd 
tabello8 im Ausdrud wie in der ſyntaktiſchen Fügung. 

Alle diefe Vorzüge würden indeß die großen Erfolge 
der Marlittfchen Romane nicht erflären,; die Verbreitung 
durch die „Gartenlaube” war allerdings die üußere 
Bürgichaft dafür, aber die Aufnahme in dies Wlatt 
mußte ſchon felbft als ein Erfolg betrachtet werden. 
Die Bolfsthümlichfeit der Stoffe warf das entjcheidende 
Gewicht in bie Wagſchale zu Gunften diefer Er- 
zählungen. 

Hier berühren fid) indeß bie Vorzüge alsbald mit 
einem Mangel. Allen drei Romanen liegt das Schema 
der volfsthümlichften deutſchen Sage, des Aſchenbrödel, 


Die Novelliftin ver „Sartenlaube”. 


zu Grunde. Die Vorliebe für diefen Stoff ift tief in 
deutfher Gemüthsart begründet. Denn derfelben ift ein 
unbeftechliches Rechtsgefühl eigen, welches die Entrüftung 
über unverdiente Zurüdjegung nie verleugnen Tann und 
den endlichen Triumph verfannter oder gefränfter Unjchuld 
mit Jubel begrüßt. Wenn diefe Unfchuld überdies mit 
dem Reiz echter Innigkeit und Lieblichkeit ausgeſtattet iſt, 
fo bleibt ihre Anziehungskraft eine nachhaltige. Gleichwol 
nennen wir es einen Mangel, daß bafjelbe ſehr durch⸗ 
fihtige Schema den drei Romanen der thüringer Schrift- 
ftellerin zu Grunde liegt, unter fo verfchiedenartigen Ber- 
Heidungen und reizvollen Arabeöfen fie auch diefe Gleidy- 
förmigfeit zu verfteden fucht. Reichthum der Erfindung 
zeigt fich gerade in der Mannichfaltigkeit der Grundlinien 
mehr als in der Fülle der Maskirungen. Wir zweifeln 
nicht, daß E. Marlitt auch andere Themata anzufchlagen 
und auszuführen weiß; bisher hat fie nur Variationen über 
daffelbe Thema gejchrieben. Aſchenbrödels Braut- und 
Himmelfahrt ift da8 Ende in allen drei Romanen. . 

Der erfte und dritte Roman fiihren uns Gegenſtücke 
vor, in dem dritten Roman find freilih die Grundzüge 
der deutſchen Sagenheldin am meiften verftedt. Denn 
die bochgeborene Reichsgräfin und Schloßherrin Gifela 
Scheint am wenigften gemein zu baben mit dem in der 
Aſche des Herdes figenden, zu niedrigfter Dienftbarkeit 
verurtheilten Mädchen des Bollsmärcdene. Gleichwol ift 
fie den Hoffreifen gegenitber das Aſchenbrödel, das fid 
nicht zeigen darf und zu unfreiwilliger Einſamkeit ver- 
dammt ift, ein Leben, das auch außerdem ein geifliger 
Aſchermittwoch ift, da fie tief in der Aſche der ariſtokra⸗ 
tifhen Vorurtheile figt. Wie aber Goldelſe, das fchlichte 
Bürgermäbchen, da8 auf dem vornehmen Schloſſe fo vie 
len Demüthigungen ausgeſetzt war, durd die Liebe des 
Herrn von Walde entfchädigt wird für alle erlittene Une 
bil und eingefegt in die Vorrechte der bisher feindfeligen 
Kreife, fo wird die Oräfin Gifela eines Bürgers 
Braut und entfühnt durch innige Hingebung an ben 
tüchtigen Mann die frühern Frevel eines ſchuldvollen 
Geſchlechts. 

Es ſind dieſelben Varianten, wie ſie Freytag's beide 
Dramen „Die Valentine“ und „Graf Waldemar“ 
enthalten, mit dem Abſchluß zweier bürgerlich⸗adelichen 
Miſchehen, in denen dort die vornehme Dame durch die 
Hand des Bürgerlichen, hier der Graf durch die Liebe des 
Bürgermädchens beglückt wird. 

Das eigentliche Aſchenbrödel iſt die Felicitas, die 
Vagabundentochter in dem, Geheimniß der alten Mamſell“, 
denn bier iſt aus dem alten Märchen auch die Ber- 
urtheilung zu gemeiner häuslicher Dienftbarkeit mit aufe 
genommen. Bier ift es ein gelbftolzes, frömmelndes 
Patriciat, das ein familienlojes Mädchen unterbrüdt, bis 
diefe den frommen Profefjor befehrt durch die innige Nei- 
gung, bie er zu der vielduldenden Schönheit empfindet. 

Felicitas ſowol wie Goldelfe finden, nad) einem gleich“ 
artigen Schema der Erfindung, zwar vornehme Ahnen, 
verleugnen aber diefen Bund und wollen nur ihrer Liebe 
Beglüdung und Erhöhung danlen. 


„Soldelje” (Nr. 1) verjchaffte zuerft der Berfaflerin 
die Sympathien des großen Publikums. Der Roman 





Die Novelliftin der „Gartenlaube“. 291 


enthält ftarfe, volksthümliche Züge, die Goldelſe felbit 
it eine jener troßig berben, naiden Schönheiten von 
fpröder Yungfräulichkeit, wie fle die deutfchen Sagen lie- 
ben. Das Erwachen der Liebe, das Hinfchmelzen dieſes 
Stolzes im Feuer der Leidenfchaft ift pfychologifch wahr 
und dichterifch anmuthig gefchildert. 

Volksthümliche Theilnahme verlangt entjchiedene Liebe 
und entjchiedenen Haß; die halben und fchmankenden 
Charaftere, jene feinern pfychologifchen Mifchungen, in 
denen bie Skepſis des modernen Beiftes die feſten Scheide« 
wände zwiſchen gut und bös verjchiebt, werden nie all- 
gemeinen Antheil mweden. Hier fteht die geiftige und 
dichterifche Bedeutung im umgefehrten Verhältniß zur 
Bolksthümlichfeit. Der Romandichter muß etwas Welt 
richterliches an ſich haben und die Schafe und Böde fon- 
dern, wenn das Bolt an feine ©eftalten glauben fol. 
So umſchwebt denn die Stirn von Golbelfe ein Lichter 
Schein der Berflärung, fie ift in fprödem Trog wie in 
liebender Hingebung ein ideales Mädchenbild; fie ift ent- 
ſchloſſen und energifh, voll von Selbftbewußtfein gegen- 
über den höhern Kreifen, vol von kindlicher Pietät gegen 
die Aeltern, und damit dieſe file Blume doch auch geiftig 
„gefüllt“ fei, eine vortreffliche Klavierfpielerin, 

Ebenſo it Herr von Walde „jeder Zoll ein Mann“, 
ebel, jelbftbewußt, durchgreifend energifch, den Schein ver- 
achtend, Human felbft unter rauhen Yormen. 

Breilich, oft gemahnen uns feine Neben, fein ganzes 
Weſen fo befannt, und wenn wir genauer aufmerfen, fo 
glauben wir, den Lord Rocheſter der Eurrer Bell zu 
hören; die Goldelſe erjcheint dann als eine in etwas 
andere Berhältnifie verjegte, milder gefärbte Jane Eyre, 
und einzelne Situationen, wie die Begegnung mit dem 
Keiter im Walde, kommen uns wie Varianten auf Vor⸗ 
gänge des englifchen Romans vor. Offenbar ift „Goldelſe“ 
unter dem Einfluß dieſes Vorbildes gedichtet worden, 
wenngleich die Erfindung eine weſentlich andere ift und 
englifche Grillenhaftigkeit durch Züge deutfchen Gemüths 
erſetzt wird. 

Gegenüber den beiden in Licht getauchten Haupt⸗ 
geftalten ſtehen nun die Vertreter der vorurtheilsvollen 
Ariftokratie im tiefften Schatten. Un diefem Herrn von 
Hollfeld ift fein gutes Haar, ba ift auch Fein einziger Zug, 
der mit bem heuchleriichen, berechnenden Wüftling ver- 
fühnen könnte. Und diefe pietiftifchdespotifche Baronin 
Leſſen gehört ebenfalls zu den Vogelfcheuchen, welche der 
volksthümliche Roman braud)t. 

Das Franke Fräulein von Walde dagegen mit ihrer 
fentimentalen Liebe ift, ebenfo wie die nachtwandelnde, lie⸗ 
bestolle Bertha mit dem großen Forſterhund, eine der 
Bhantafie ſich ſtark einprägende Geftalt, die aud) ein 
Holzfchnitt mit wenigen Zügen zur Geltung bringen würbe. 
Die Scene im Nonnentfurm zeugt für die außerorbent- 
liche Begabung der Verfaſſerin, durch lebendige Schilbe- 
rung bdraftiiche Wirkungen hervorzubringen. Die tolle 
Bertha Hatte mit angefehen, wie ihr Geliebter, Herr von 
Hollfeld, Eliſabeth im Pavillon umarmte, trog ihres 
Sträubens, das Bertha nicht bemerkte; in wüthender 
Eiferſucht folgt fie der Goldelfe in den Wald zum Non- 
nenthurm: 


Eliſabeth fühlte plötzlich, Teicht zufammenfchanernd, ihr 
Aleinfein mitten im Herzen des todtenflillen, bunfelnden Wal- 
des; troßdem zog es fie noch einmal unwiderſtehlich nach jener 
Stelle, wo Hr. von Walde von ihr Abfchied genommen hatte. 
Sie ſchritt Über den zerftampften Raſenplatz, blieb aber einen 
Augenblid wie feftgewurzelt fiehen; denn der Abendwind trug 
einzelne, abgebrochene Töne einer menfchlihen Stimme zu ihr 
herüber. Anfänglich klang e8 wie ein ferner, vereinzelter Hülfe⸗ 
ruf, aber olfmäßtid, reihten fi} die Töne aneinander, fie kamen 
raſch näher. Es war eine fchmeidend fcharfe, gellende weibliche 
Stimme, die ein geiftliches Lied mehr fchrie als fang. Eliſabeth 
hörte deutlich, daß das Wefen während des Singens fchnell vor- 
wärts Tief. Plötzlich zerriß die Melodie, und an ihre Stelle 
trat ein entjeliches Gelächter, oder vielmehr ein Gefchrei, das 
eine Scala von Hohn, Triumph und bittern Qualen bildete. 
Eine ſchlimme Ahnung ſtieg in Elifabeth auf. Ihr Blick tauchte 
erfhredt in das Baumbunfel nad der Richtung Hin, wo ber 
Lärm fid) näherte. Er verftummte in diefem Angenblid jedoch 
wieder, und die Stimme begann das Lied von neuem... jebt 
aber kam fie wie im Sturmfcritt heran. Eliſabeth trat in die 
offene Thür bes Thurms, denn fie modte der wandernden 
Sängerin, die offenbar ein unheimliches Wefen fein mußte, 
nicht in den Weg kommen; allein kanm hatte fie die Schwelle 
en, ald das Gelächter abermals und zwar fehr nahe 
erſcholl. 


Jenſeit des Raſenplatzes ſtürzte Bertha aus dem Wald⸗ 
dickicht hervor, ihr zur Seite lief Wolf, der grimmige Hofhund 
des Oberförſters. „Wolf, ſaſſ' an!“ kreiſchte fie, beide Hände 
nach Elifabeth ausftredend. Das Tier jagte heulend Über den 
Platz. Clifabeth warf die Thür ins Schloß und lief bie Treppe 
hinauf. Sie gewann einen Borfprung, aber noch che fie die 
Zinne des Thurms erreicht Hatte, wurbe drunten die Thür 
aufgeftoßen. Der Teuchende Hund ſtürzte herauf, ihm nach die 
Bahnfinnige, indem fie unausgejegt ihren hetzenden Zuruf 
wiederholte. Athemlos erreichte die Verfolgte die legte Stufe, 
fie hörte das Schnanben des ungeberdigen Thieres hinter fi) — 
e8 war ihren Ferſen nahe —, warf mit der lebten Kraftauf⸗ 
wendung die eichene Thür zu, bie anf das Plateau führte, und 
flennmte fi dagegen. Einen Augenblid darauf rüttelte Bertha 
drinnen am Thürſchloſſe, es wie nit. Sie tobte und warf 
fi) wüthend mit der ganzen Schwere ihres Körpers gegen die 
eihenen Bohlen, während Wolf abwechfelnd heulend und knur⸗ 
rend an der Schwelle kratzte. „‚Bernfleinhere da draußen!” 
ſchrie ſie. „Ich drehe dir den Hals um... Ich werde bich bei 
deinen gelben Haaren nehmen und dich durch den Wald fchlei- 
fen! ... Du haft mir fein Herz gefiohlen, du Mondfcheingeficht, 
du Tugendfpiegel, Scheinheilige! Wolf, faſſ' an, fall’ an!“ Der 
Hund winſelte und flug mit den Zaten gegen die Thür. 
„Zerreiße fie in Stüden, Wolf, fchlage beine Zähne in ihre 
weißen Finger, die ihn bebert haben mit der Muſik, die vom 
Zeufel kommt! ... Wehe, wehel Verdammt feift du da draußen, 
verdammt feien die Töne, bie deine Finger herporbringen; fie 
ſollen zu giftigen Mordfpigen werden, die fich gegen bein eigenes 
Herz wenden und es zerfleiſchen!“ Abermals warf fie fid) gegen 
die Thür. Das alte Bretergefüge erzitterte umd ächzte, aber 
e8 wich nicht unter ben Stößen des Heinen, ohmmädhtigen Fußes. 
Elifabeth lehnte währenddem mit feftgeichloffenen Lippen und 
bfeihem Gefiht draußen. Sie hatte ein Stüd Holz, das zu 
ihren Füßen lag, ergriffen, um ſich nmötbigenfalls gegen den 
Hnnd zu vertheidigen. Bei den Flüchen und Berwänfhungen, 
die Bertha ausfließ, erbebte ihr ganzer Körper, doch fie richtete 
ſich um jo entjchloffener und trogiger auf. Hätte fie einen 
prüfenden Blid auf das Thürſchloß geworfen, fo würde fie ge- 
merft haben, daß das Anſtemmen ihrer zarten Geftalt ganz 
unnötbig fei, denn ein mächtiger Riegel war vorgeiprungen, 
gegen dem die ſchwache Kraft der BBahnfinnigen nichts auszur 
richten vermodte. „Wirft du wol aufmaden? tobte fie wie- 
ber drinnen. „Du durchfichtiges, zerbredhliches Ding! ... Ha, 
ba, Ha! Goldelſe nennt fie der alte Brummbär, den ich haffe 
wie das Gift; der Alte will durchaus nicht fromm werden, er 
mag zur Hölle fahren, aber ich werde felig fein, felig!... 
Goldelſe nennt er fie, weil es berufteingelbes Haar hat! Pfui, 


97" 


292 Die Novelliftin ver „Gartenlanbe”. 


wie bift du häßlich, du Fühfin... Mein Haar if ſchwarz 

wie ein Rabenflägel, ich bin ſchön, tanfendmal ſchöner als du! 

Hörft du das, du Affengefiht da dranßen?“ Gie fchwieg er- 

eete auch Wolf unterbrach ſein Zerſtörungswerk an der 
we 


e. 

Doch neben dieſen draſtiſchen Bildern webt auch der 
Traumgeiſt deutſchen Waldes anmuthend und geheinmiß- 
voll durch das ganze Werk; die Beſchreibung des alten 
Schloſſes darf ſich mit ähnlichen Studien Adalbert Stif⸗ 
ter's mefien; die ariftofratifchen Kreife find mit fcharfer 
Satire gezeichnet. Hier ift alles einfeitig, fchroff, grell; 
aber der Hauch der Humanität, der durch bas Ganze 
weht, verfähnt mit diefen Falten ſchwarzen chinefifchen 
Tufchzeichnungen. 


„Das Geheimniß ber alten Mamſell“ (Nr. 2) iſt 
origineller als „Goldelſe“ und bürfte der befte der bis⸗ 
berigen Romane von E. Marlitt fein; fchon deshalb, weil 
der Charakter des Profeflors Johannes nicht von Haus 
aus als Inbegriff männlicher Tugenden erfcheint, fondern 
von fehr gehäffigen Eigenfchaften erft durch die Macht 
der Liebe geläutert wird. Die alte Mamfell mit ihren 
Blumen, ihren Vögeln, ihrem Klavier, ihren Handſchrif⸗ 
ten nnd ©eheimniflen, hoch oben in ihrem abgefperrten 
Dachlogis, ift eine durchaus originelle Erfcheinung, und 
die Kataftrophe, bie ſich dort in aller Stille vorbereitet 
und ein ftolzes Patricierhaus in die Luft fprengt, iſt wohl 
erfunden und doch nicht fo leicht zu errathen. Felicitas 
ift herber, ſtrenger, trogiger als Goldelſe, dem Charalter 
nad mehr Jane Eyre, während ber Profeſſor nichts don 
Lord Rocheſter beſitzt. Was in „Goldelſe“ bie Baronin 
Lefien, das ift im „Geheimniß ber alten Mamſell“ Yrau 
Hellwig, die in den Vorurtheilen bes Geldſtolzes ein- 
gefrorene Patricierdame. Auch fie ift eine Fromme; benn 
gegen bie Frommen, bie ihre Frömmigkeit zur Schau 
ftellen und andern aufzubringen fuchen, bat bie Mufe 
von E. Marlitt einen befondbern Stachel. Doc, wird dem 
Volkshaß hier fein Opfer durch einige milbere Züge ent⸗ 
zogen, die wir bei der Baronin vergeblich fuchten. 

Ein ausgezeichnetes Charakterbild ift die junge Re⸗ 
giernngsräthin mit „den weichen Linien bes Profils, dem 
Glorienſchein der hellen Roden über ber Stirn, ben blauen 
Augen, der rofigen Geftalt im duftigen, fledenlo8 weißen 
Kleide“. Diefe anmuthige Heuchlerin, die auf die Hand 
des Profeffors fpeculirt, und deren inneres Meduſen⸗ 
antlig nur bei ber entſcheidenden SKataftrophe durch die 
reizvolle Engelslarve blidt, ift eine geniale Zeichnung, 
welche der feinen Beobachtungsgabe der Berfafferin, forwie 
ihrer Gabe zu charakterifiren, das befte Zeugniß ausftellt. 

Daß es an jenen Ingredienzien des Vollsromans, 
welche man „Senfationsmomente” nennen könnte, auch in 
diefem Werke von E. Marlitt nicht fehlt, läßt fich bei der 
Richtung ihres Talents, welche das gewaltfam Wirkende 
nicht verfhmäht, von vornherein mit Beftimmtheit an- 
nehmen. Die Dachwanderungen ber Felicitas vertreten 
bier vorzugsweife die auf die Nerven berechneten Effecte. 
Der Schwindel in bes Wortes urjprünglicher Bedeutung 
wird durch derartige Senfationsfchilderungen hervorgeru- 
fen, die in der nenern Romandichtung nichts Seltenes find. 
Wir brauchen blos au Victor Hugo's „Notre-Dame” zu 
grinnern, an bie fortwährenden Wanderungen in jenen 


fehwindelerregenden Höhen und auf den fchmalen Pfaden, 
die fie erlauben, an bie Schauerfcenen, mo Quaſimodo den 
Priefter herunterftürzt und biefer, fich an den Dachrinnen 
feftflammernd, in den Lüften hängt, oder an Otto Lud⸗ 
wig's „Zwiſchen Himmel und Erde‘ und die Schiefer 
dederfcenen auf dem Thurmdadh. Dagegen erfcheinen bie 
Schwindelfcenen von E. Marlitt no immer im Stil des 
Familienromans gehalten, ohne bie ungehenerliche, auf bie 
Thürme Hetternde Romantik. Doch lebendig und [pan- 
nend find auch diefe Schilderungen: 

Ueber Felicitas’ Haupte zog es bald fenfzend, bald in lang 
gezogenen, leiſe pfeifenden Tönen bin, als fie ben Korridor 
unter bem Dade betrat. Das Sparrwerk knarrte, und durch 
die Oeffnungen der fonnenerhittten Hohlziegel fuhr ſtoßweiſe ber 
fhwüle, heiße Athem des Gewitterwindes. In diefem Angen⸗ 
blick hing eine grau nnd weiß gemifchte Hagelwolle Über dem 
Dächerquadrat, ein fahlgelbes Licht zudte fchräg auf den bin» 
menbebedten Firſt, es gligerte wie ein falſcher Blick in dem 
Glasſcheiben der Vorbauthüre, ber melde fich loegeriſſene 
Ranken des Ephen und der Kapuzinerfreffe baltlos bäumten, 
und beleuchtete grell das aufgepeitichte Blättergewirr des wilden 
Weins. ALS das junge Mädchen den Kopf aus dem Dadıfen- 
ſter ftedte, fuhr ihr ein heftiger Windſtoß über das Gefiht; er 
raubte ihr den Athem uud awang fie, augenblidiih zurüdzu- 
weichen — fie ließ den Unhold vorliberbraufen, dann aber ſchwang 
fie fi Binaus,.. Wem e8 vergönnt geivefen wäre, dies ſchöne, 
bleiche Geficht mit dem feft aufeinandergepreßten Lippen und dem 
düſter entichloffenen Ausdrud aus dem dunkeln Dachfenſter auf. 
tauchen zu fehen, der hätte erfennen müflen, daß das Mädchen einer 
entjeglihen Gefahr fid) vollfommen bewußt, und daß es bereit 
fei, felbft den Tod zu erleiden um feiner Milfion willen!... 
Welch ein wunderbares Gemifh war doch diefe jinnge Seelel 
Ueber einem heißen Herzen, das fo glühend haſſen konnte, ein 
fo fühler, befonnener Kopf! Sie lief leichten Fußes Über die 
knirſchenden Ziegel, und nicht einen Moment bunlelte e8 vor 
dieſen Haren Augen; ihr braufender Feind aber gönnte ſich nicht 
viel Zeit zum Ausſchnaufen — ein greller Pfiff, und er kam 
wieder daher mit niederſtürzender Wucht. Die Borbauthür flog 
klirrend auf, Blumentöpfe filirzten zerſchmetternd auf den Fuß⸗ 
boden der Galerie, und die uralten Sparren ädhzten und zit⸗ 
terten unter Yelicitas’ Füßen. Sie fland noch auf dem Nadj- 
bardadje, aber ihre Hände umllammerten das Galeriegeländer, 
das fie in demſelben Augenblide erreicht hatte. Wol riß ihr 
ber Sturm das Haar auseinander und peitfchte die gewaltigen 
Sträbne, als follten fie in alle Lüfte zerfireut werben, allein 
fie felbft Rand fe. Nach einem Momente geduldigen Aushar- 
tens Tonnte fie fi über das Geländer ſchwingen, und gleich 
barauf trat fie in den Vorbau... Hinter ihr braufte und tobte 
es meiter — fie hörte es nicht mehr, fie dachte auch nicht an 
den todbringenden Rüdwmeg — die gefalteten Hände ſchlaff nieder- 
bängend, ſtand fie in dem kühlen, epheuumfponnenen Raume — 
fie jah ihn zum letzten male, 

Noch fchwindelerregender ift die folgende Scene, wo 
Felicitas bei der Rüdkehr, um dem Brofeffor nicht zu 
begegnen, hoch auf den Firft Hettert und im Sturm die 
Eifenftange bes Blitzableiters erfaßt. 

Ueberhaupt bat diefer Roman durchaus frifches Leben 
und eine Fülle von genialen Zügen. 


Der legte Roman: „Die Reichsgräfin Gifela“ (Nr. 3), 
verleugnet durchaus nicht das bewährte Talent der Ver⸗ 
fafferin und intereffirt, indem er das Lieblingsproblem 
derfelben einmal von der andern Seite faßt; er enthält 
Schilderungen von Höchfter Lebendigkeit und Anſchaulich⸗ 
feit. Aber er kehrt die Abfichtlichkeit der Tendenz mehr 
hervor als die frühern. Da ift auch in ben ganzen Krei⸗ 
fen der vornehmen Geſellſchaft nicht ein einziger Charakter, 





Die Novelliftin der „Gartenlaube“. 293 


ber, fei e8 auch nur durch Laune und diberlegenen 
Humor, uns irgendwelhe Sympathien abgewönne. Der 
Premierminifter ift ein gemeiner Betrüger, feine fchöne 
Sattin eine putzſüchtige Kolette, die Gouvernante, Fran 
von Herbed, eine Heuchlerifche, adelsſtolze Närrin; die 
Sräfin Schlierfen eine für bie Splitter des Nachbars vor- 
trefflich andgerüftete, gallenbittere Hofdame; der Fürft 
felbft eine harmlofe, wenig anziehende Perfönlichkeit. Die 
Vorgeſchichte des Romans ift wol mit überzeugender Mo⸗ 
tivirung, aber doc etwas künſtlich erfunden. Dagegen 
find die Berfpectiven des Romans weiter als bie der vor» 
ausgehenden; feine offenen Flügelthüren gehen gleichfam 
binaus in das Freie, mo der Genius bes Jahrhunderts 
am xollenden Webſtuhl ber Zeit da8 Gewebe fchlingt für 
das Bild einer freiern und fchönern Dienfchheit, die fi) 
aus engberzigen Berbältniffen zum Licht der freiheit 
emporarbeitet. 

Inu dem Charakter ber Heldin, die, von dieſem freiern 
Luftſtrom angeweht, die Nee zerreißt, melde bie In⸗ 
trigue um fie gefchlungen bat, in ber Entwidelung dieſes 
Charakters aus der PBuppenhülle des fchwächlichen Kindes 
zu einer felbftbewußten Perfönlichleit durch die Macht der 
Liebe, in ihrer Belehrung von einfeitigem Vorurteil zu 
dem Glauben an die Rechte aller Menfchen auf Glüd 
und Bildung liegt der feflelnde Reiz diefes Romans, 
und in der That Haben die Begegnungen der ſchönen 
Reichsgräfin mit dem Braftlianer, dem frühern deutfchen 
Studenten, ber einft das Heine ſchwächliche Grafenkind 
hart von ſich geftoßen, denfelben poetifchen Hauch, wie 
er den Begegnungen ber Goldelfe und ihres ariftofrati- 
fchen Geliebten eigen ift. 

Der Charakter des Braftlianers hat Züge von eigen- 
thümlicher Kraft, und das exotifche Colorit, welches die 
Dichterin ihm felbft wie feinem Waldhaufe zu ertheilen 
weiß, gibt ihm ben Reiz der Originalität. 

An lebendigen Schilderungen ift „Die Reichsgräfin Gi- 
ſela“ fo reich wie bie frühern Romane E. Marlitt's; wir 
weifen nur auf die reizenden Idyllen des Pfarrhaufes hin, 
als deren Mittelpunkt die Figur ber tüchtigen, warm» 
gezeichneten Frau Pfarrerin erfcheint; auf die Scene mit 
dem tollen Hund, welchen der Brafilianer erſchießt; auf 
die Brandſcenen und die Schilderung des Feſtes im 
Schloſſe. Trog ihrer Begeifterung für den Tiers⸗Etat, 
welche es breift mit Guftav Freytag's Verherrlihung des 
Dürgertfums aufnehmen kann, hat die Dichterin dennod) 
einen chevaleresfen Zug: fie liebt die Pferde und Hunde, 
die in der „Neichögräfin Gifela“ wie in „Goldelſe“ eine 
nicht unwichtige Rolle [pielen. 

Um von dem echt malerischen Eolorit einzelner Schil⸗ 
derungen eine Probe zu geben, wählen wir die Scene 
ans, in welcher wir zuerft die zur Jungfrau erblühte 
Heldin des Romans wiederfehen, wie fie arme Dorflinder 
auf dem Heinen See [pazieren fährt: 

Die heiße Iulifonne brannte ſenkrecht über dem Gewäfler; 
glatt wie eine goldene Tafel lag fein Mittelpunkt da — nur bie- 
weilen zitterten leife Schwingungen vom Ufer her und gruben 


krauſe, wunderliche Charaktere — vielleicht ein Gedicht des Wal- 
des — in bie Flüche. Der Waflerring aber, fiber welchem das 
Ufergebüſch und die verſchränkten Eichen- und Buchenäfte hin- 
gen, war dunkel und geheimnißvoll wie der Wald ſelbſt.... Und 
anf diefer gründämmernden Bahn z0g leife ein Kahn hin. Das 
Ruder reichte hinaus in die ſonnendurchleuchtete Flut und bin- 
terließ, Leicht einfinfend, eine ſchmale, bligende Furche; manch⸗ 
mal verſchwand es — dann brebte ſich der Kahn und fuhr auf 
das Land auf. Ein Mädchen ſaß am Ruder, und anf der 
Shmalen Bank ihr gegenüber hodten drei Kinder, zwei Knaben 
und ein allerliebfles kleines blonbtöpfigee Mädchen. Die Kin- 
der fangen aus voller Bruſt, mit glodenbellen Stimmen: 

Ich hab’ mich ergeben 

Mit Her; und mit Sand 

Dir, Land voll Lieb’ und Leben, 

Mein beutiche® Baterland! 

Der Kahn faß fer und ſchwankte uicht mehr, nnd da Lie 
es ſich noch einmal fo ſchön fingen Über den See Hinfiber und 
zwiſchen die ernfihaften Walbbänme hinein. Das Mädchen am 
Ruder hörte fchweigend zu. Hinter ihr durchſchnitt ein fanft 
emporfteigender, moosſsbewachſener Weg das Didicht und ber 
Wald that ſich tief auf im feiner grünen Finfternig. Auf die 
Kindergruppe fiel noch ein Haud) des goldenen Tags draußen — 
das blonde Haar des Heinen Mädchens flimmerte, und die Kna⸗ 
ben, die nad bem See hinansfangen, hielten die Hand fchligend 
über die Augen. Die junge Scifferin aber faß tief im grünen 
Dämmerlicht, nur Über ihre Knie bin legte fi ein laſſer, 
durch das Blätterdach zuckender Goldſtreifen wie ein reichgewirk⸗ 
ter Tunicaſaum, nnd die perlmutterweiße Stirn umkreiſte traum⸗ 
haft ein blauſchimmerndes Stäbchen — eine verirrte Libelle. 

Die Verfaſſerin bat dieſen Roman Hrn. Ernſt Keil, 
dem Schöpfer der „Gartenlaube“, zugeeignet und fagt in 
der Widmung von ihrem Verleger fo viel Rühmliches in 
Proſa, wie nur Heinrich Heine in den Verſen feines 
„Wintermärchen‘ von dem feinigen fagt: 

Sie haben mid, hinausgeführt auf dem ſengend heißen Bo⸗ 
den der Deffentlichleit und Ihre ftarke Hand behütend und für» 
dernd tiber mein redlich gemeintes Streben gehalten; Sie haben 
mit mir gejubelt, als meine Worte Widerhall fanden iu ben 
Herzen der treuen Gartenlaubenlefer, und mich ermutbigt nnd 
getröftet, wenn bier nnb da eine Hand plump aus myftiichem 
Dunkel nad mir herübergriff und mein Wollen und Wirken 
zu verbächtigen ſuchte; Sie haben gemacht, daß das fo oft ge- 
hörte Wort vom kärglichen Brot des deutichen Schriftftellers 
für mid nur die Bedeutung einer von fern berüberfliugenben 
Mythe hat — iſt es da nicht felbfiverfländlih, daß ich einmal 
wenigftens meiner Hochſchätzung für Sie öffentlich Ansdruck 
geben möchte? 

Wenn fie aber der „Oartenlaube” nachrühmt, daß fie 
den Segen einer fittlich reinen, von verknöcherten Dog⸗ 
men und Formen fi) losringenden Weltanfhauung aus⸗ 
ftröme, daß aus ihr der weiche Odem der Menjchenliebe 
wehe, und daß fie mit denen zürne, bie nur ihres perſön⸗ 
lichen Bortheild willen nad) ber Wiederkehr alter verrot⸗ 
teter, menfchenfeindlicher Inftitutionen ringen: fo bat fie 
mit diefen Worten auch das geiftige Gepräge ihrer eigenen 
Schöpfungen treffend charalterifirt und diejenige geiftige 
Richtung, durch welche ſich diefelben über bie bloße Unter- 
haltungsliteratur erheben, obgleich wir ihnen das Lob nicht 
verfagen können, daß fie zu den unterhaltendften Werken 
unferer neuen erzählenden Literatur gehören. 

Rudolf Gottſchall. 





294 


Neuere bramatifhe Dichtungen. 


Neuere dramatifhe Dichtungen. 
(Beihluß ans Nr. 18.) 


13. Balentin. Ein bärgerfüßee Schauſpiel in drei Acten von 


Bictor Stern. Wien, Lehner. 1868. 8. 22 Ngr. 

Dies Drama gehört in die dramatifche Schule und 
Richtung don Dtto Ludwig und Friedrich Hebbel, mit 
denen es in realer Manier, in braftijchen Zügen und dem 
Ausdrud einer gewifien Naturwahrheit übereinftimmt. Es 
verräth emtfchieden Talent, ift aber wegen ber Craßheit 
feiner Handlung und einer durchaus unflaren, man möchte 
fagen fnabenhaften Intrigue für die Bühne underwendbar. 

Valentin, ein junger Volfsfcullehrer in einem Land» 
ftädtchen am Fuße des Riefengebirgs, ſteht in dem Ber- 
dacht, feinen Freund Oswald, einen Forftverwalter der 
felben Gegend, ermordet zu haben. Obſchon die geridht- 
liche Unterfuhung ihn wegen fehlender Beweiſe hat freis 
ſprechen müfjen, fo glaubt doch nichtsdeftoweniger das 
Voll an feine Schuld, und dies um fo hartnädiger, 
als aller Welt befannt if, dag Oswald fo gut wie 
Valentin um Marie, bie ſchöne Tochter des Weber⸗ 
meifters Wendelin, ſich beworben hat. Marie hat Ba- 
Ientin begünftigt und folte an dem Tage, an weldem 
Dswald verſcholl, mit jenem getraut werden. Das räth- 
ſelhafte Verſchwinden Oswald's, bie gefängliche Einzie- 
hung Balentin's, feine lange Haft während der Unter 
fuchung und endlich der auf dem Unglüdlichen zurüd« 
bleibende Verdacht haben ifn um Stellung, Unterhalt 
und infolge deſſen auch um die Möglichkeit gebracht, 
Marie heirathen zu Lönnen. Letztere hatte ſich denn end» 
Ti, anderweitig mit einem reichen Kaufmann aus ber 
Kefidenz, mit Namen Dorn, verlobt. Dorn fand mit 
ihrem Bater in Gejäften und fam, als biefer in Un- 
glüc gerieth, ihm zu helfen und ihn ans feinen Berlegen- 
heiten herauszureißen. Es geſchah dies wol nicht ganz 
ohne Abſichten auf Marie, die er kennen und Lieben ges 
lernt hat und im der er einen Erſatz für feine jung ver- 
ftorbene Frau ſowol fir fi als feine unerwachfenen Kin 
der zu gewinnen hofft. Marie, die Valentin noch immer 
fiebt, aber wohl erfennt, daß fie nun deſſen Gattin nicht 
mehr werden ann, Hat auf Drängen ihres Vaters in 
eine Verbindung mit Born gewilligt, und als der Bor- 
Hang im die Höhe geht, finden wir fie mit ihrer Iugend- 
freundin Chriftel am Borabend ihrer Hochzeit vor ihrem 
Brantftaat. 

Chriftel ift ganz rende, ganz Entzüden über alle 
die Pracht und Herrlichkeit, bie der reiche Dorn feiner 
Braut ins Haus gefickt. Die Braut felbft aber ift 
traurig, zerftrent und einfilbig. Als Chriftel fie wider 
ihren Willen anpupt, um zu fehen, wie Brautfranz, 
Schleier, Halsgeſchmeide und Ohrgehänge der, wie fie meint, 
gfüdfichen Jugendgefpielin zu Geſicht ftehen werden, er- 
ſchridt letztere und erzählt, wie fie in einer Art von Viſion 
ſich bereits darin erblidt : 

Marie. Piögfic fchien es mir, ala wären ang dem einen 
Spiegel drei geworden, und in jedem ſah id mich als Braut mit 
Myrtenfranz und Schleier gef müdt. Die Spiegel waren eigen 
bintereinandergeftelt, näher und ferner. Und wie id fo ſtaud 
und hineinblidte, da ſchienen die drei Bränte im Myrienkranz 
und Schleier fid) langfam von mir fortzubewegen und gingen 


Eine weitere Unterrebung der Sugendfreundinnen wirb 
durch das Erſcheinen Valentin's unterbrochen, der ſich 
ſtill und wortlos in eine Ecke der Stube fegt. Als Chri- 
ftel gegangen, berichtet er auf Mariens Befragen, daß 
feine Bemühungen um irgendeine Heine Stelle wieder ver- 
gebens gewefen. Niemand will ſich mit einem Menſchen 
einlaffen, der in dem Rufe ſteht, einen Mord begangen 
zu haben. Ein Pächter kommt, Feldarbeiter bei Wendelin 
zu fuchen; Valentin bietet ſich auch dazu an und wird 
auch hier wieder abgewieſen. Nun teilt er Marie mit, 
daß er nad Amerika wolle. Er hat Auswanderer ge» 
fehen, welche durch die Gegend fommen, und ift ent» 
ichloffen, ſich diefen anzureihen. Hier endigt der erfte Act. 

Im zweiten eradjtet es der alte Wendelin für feine 
Pflicht und Schuldigkeit, Dorn die Vergangenheit und 
Geſchichte feiner Tochter zu erzählen, die wir bereits len ⸗ 
nen. Sein künftiger Schmiegerfohn Hört ergriffen zu, 
und da er endlich auch vernimmt, daß Valentin auswan« 
dert, Hofft er alles vom der Zeit für das Glüd und bie 
Ruhe feines Haufes, das bereit fteht, feine zweite Gattin 
zu empfangen. . 

Nachdem nun Wendelin nod einmal mit Marie ger 
ſprochen Hat und in ſie gedrungen ift, Balentin zu ver⸗ 
gefien, bleibt diefe allein, um fich zu Bett zu begeben. 
Es find wunderbare, aber wahre und tiefergreifende Ges 
danken, die ihr durd) den Kopf gehen, Gebanfen wie die 
folgenden: 

Marie. Wer nur einen Blid in die nächſte Zukunft Hin, 
einwerfen Könntel Für ein Mädchen ift es doch ein fo banges 
Gefühl, daß fle beſchleicht, fühft fie die Nacht vorher fidh noch 
ganz als Mädchen, und Mädchen mehr ale je zuvor — und dann 
wieder eine Nacht, wo fie dem ungeheuern Kampf gleich einer 
wildgereizten Lzwin ausfämpfen muß; doch ift c8 der Kuß der 
Liebe, der fie bezwingt, und ehe fie noch ante, daß fie aufe 
gehört hat Mädchen zu fein, iſt fle fhon Weib in feinen Ar 
men — in feinen Armen! In weffen Armen? In Balentin’e? — 
In Dorn’s Armen! — Mir ſchaudert! 


Neuere bramatifche Dichtungen. 295: 


Diefer Schauder wirb erhöht durdy ein dunkel auf: 
fteigendes Wetter. Eben will Marie Fenfter und Laden 
ſchließen, als Balentin volllommen reifefertig einbringt, 
um einen letzten Abjchied zu nehmen. Bei diefen Ab» 
ſchied briht nun auf einmal fein ganzer Schmerz, fein 
voſler Zorn über fein Schidfal aus. Er verwünſcht und 
verflucht alle Zage feines Lebens, die Träume und Täu⸗ 
[dungen der Welt und zulest auch Marie. Er verlangt 
von biefer eine Kette zurück, bie er ihr einmal gegeben 
und welche feine fterbende Mutter ihm einft in die Hand 
gedrüdt, daß er fie derjenigen fchenke, bie er liebt und 
die ihn wieder liebt. Diefe Kette kann ihm Marie aber 
jest nicht zufommen laſſen. 

Marie. Ic trug die Kette noch diefen Abend, ba ber 
merkte es jpöttifch die Chriftel und fragte mich, ob die Fette 
auch zu den Übrigen Brautgefchenten gehöre; und ſei's num 
Scham, fei’8 Berwirrung — ich nahm ſchnell die Kette mir vom 
Halſe — Inlillte fie in meinen Händen zufammen — und fchob 
fie mir, ohne daß ſie's merfte — da vorn vor der Bruſt herein. 


Balentin gibt fich feltfamerweife damit zufrieden, bittet, 
die Kette ihm nad; Hamburg nachzuſenden, und will fort. 
Aber das Wetter iſt herauf und Marie will ihn nicht 
laſſen. Sie erinnert ihn an alte Zeiten, an ihre Kind⸗ 
Beit, ihre Spiele, an ihre Liebe endlih. Noch einmal 
fleigt diefe ſchöne Epoche mit all ihrem Reiz und Zauber 
in ihren Seelen empor. Die Leidenfchaft erwacht und 
entflammt ihre Herzen, mitten unter dem lo8brechenden 
Gewitter löſcht der liebestrunkene Valentin die Lampe und 
— der Borhang fällt. 

Im dritten Act wird e8 Morgen. Der Raufch ber 

Liebe ift verflogen, die Befinnung kommt und Hand in 
Hand mit ihr die Neue. Balentin ift ernüchtert, voll 
Sorge und ohne Rath; Marie entgeiftert, von der Schande 
niedergedrüdt und in Verzweiflung, faft ſinnlos. Ohne 
zu willen, was fie thnt, thut fie den Brautſtaat an und 
tritt vor ben Spiegel, und im Spiegel fieht fie nun aufs 
neue ihre Bifion. Schaudernd finkt fie zufammen, indem 
fie vol Entjegen fchreit: „Ich bin eine... .!” 
Das reißt Valentin empor. „Komm mit“, ruft er, 
„komm mit in die Neue Welt. Die ift groß und frei und 
fragt nicht, wen fie beherbergt. Wirf dich an mein Herz. 
Da findeft du Heimat, Name, Gatten, Vater, ulles, alles 
wieber. Bertrame dich dem Arm der Liebe, der dich auf 
Meereswogen wiegt!" 

Eben ift man im Begriff zu fliehen, da Hopft Chris 
ftel, welche die erfte fein will, die die Braut an ihrem 
Ehrentage begrüßt. Nun ift keine Rettung mehr mög» 
lich und das DVerberben da. Marie vergeht in Angſt 
und Scham. Außer fi ergreift fie die Piftole, die 
Balentin im Gürtel trägt. „Es bleibt Feine Wahl mehr“, 
fagt fie, „ichieß zu.“ 

Während num draußen die Hochzeitsmuſik und bie 
Hochrufe der Nachbarn und Freunde anheben, fällt der 
Schuß. Marie finkt todt zu Boden. Ehe aber Valentin 
Zeit bat, fich die tödtende Kugel ins eigene Herz zu jen- 
den, wird die Thür erbrochen und die Leute dringen ein. 

Da diefelben nun Marie todt am Boden, Valentin 
aber mit der Piftole in der Hand finden, jo ift e8 ihnen 
klar, daß fie in diefem einen Doppelmörder zu erfennen 
haben. Wüthend dringen fie auf ihn ein, und ſchon hofft 


Valeutin unter ihren Streichen zu erliegen, da wirft fid 
die Obrigkeit und ein Fremder dazwifchen. 

Diefer Fremde ift natürlich Oswald, der nun erfchüt- 
tert folgende fonderbare Gefchichte zum beften gibt: 

‚Bahr iſt's, ich liebte Marien, und den Gedanken, fie in 
wenigen Stunden mir unmwiederbringlich entriffen zu fehen, ver» 
mochte ich nicht zu ertragen. So ftürzte ich mich in die hoch⸗ 
ſchäumenden Wogen, Valentin zu meiner Rettung mir nad). 
Schon hatte er mid, gefaßt, vergebens, daß ih iöm den Tod 
abzuringen verfuchte; gerettet glaubte er mich ſchon von feinen 
Händen, da trennte ung eine hocherſchäumende MWafferwoge(!) 
und aus meinen Augen verfhwand er, dem Ufer zu; ob lebend 
oder todt, nod weiß ich's nicht. Mich aber riß der Strubel 
hin ans jenfeitige Ufer, und fort trieb's mid in Berzweiflung 
noch in jelber Nacht und fo viele Tage auf abfeits gelegenen 
Wegen, bis id, endlich die hohe See erreichte. Ein Schiff, 
das eben feine Segel blähte, begrüßte ich mit Jubelruf, nahm 
anatrofenbienfte darauf und hinüber fchiffte ich nach der Neuen 

elt. 


Diefe Ausfage Ändert viel. Man erkennt daraus, daß 
man Balentin unrecht gethan. Aber was weiter? Der 


Mörder Mariens bleibt er doch und das Schaffot ift ihm 


gewiß. Da Hat der Bürgermeifter einen Einfall. Er 
nimmt die Valentin entriffene Piftole und ftedt fie ihm 
mit den Worten zu: „Dein Leben ift verwirkt — id) biete 
dir diefe Waffe, tritt auf die Seite — ein Drud mit 
dem Finger, und du haſt's überſtanden!“ | 
Wr jedoch ſchleudert die Piftole von fih, indem 
er ruft: 
‚.„. Set nimmermebr! O ich verſtehe euch nur zu gut, die 
ihr euch früher fo forgenbedädhtig um mich ſchartet. Seht 
fpieltet ihr mir gern das Mordmwerkzeug in die Hände, doch 
niht um meinet-, nm euertwegen iſt's euch nur zu thun! 
Ich werde nicht Hand an mic legen. Hier Überliefere ich mich 
dem Arme der Geredtigleit. (Für fit.) Der Skorpion, wenn, 
er die Ferſe ſich ſchon auf dem Naden fühlt, hat noch ein letztes 
tödliches Gift für feinen ärgften Feind bereit, das er. nach 


zudend an im ausläßt. Auch ich habe ein foldes Gift für. 


euch, daB euch noch brennen wird, wenn euer Athem kürzer 
und das Gewilfen euch ans Ende mahnen wird; deum num 
müſſen fie mich richten, und das ift mein Troſt! 

Beweint, bemitleibet, faſt verehrt geht Valentin ab, 
inbeß Dorn ihm nachruft: „Doc, die Schuldigen waren 
wir! 

Dies tft das Stüd, das, wie bereitö gefagt, durchweg 
im realiftifchen Genre gehalten, manche Schönheit auf- 
weiſt. Es befigt Momente von überrafchender Wahrheit 
und jelbft von einer Art Größe, namentlich in den Auf 
teitten zwiſchen Balentin und Marie. Hier ift die Liebe 
mit einem lebhaften Pulfe, gleihfam mit dem warmen 
Herzſchlag des Lebens gefchildert. Das Aufbämmern, 
Erwachen und endliche Weberftrömen der Leidenfchaft ift 
mit wahrhaft finnlihem Hauche vergegenwärtigt. Auch 
bie Ernüchterung und das Elend danach erfcheint mit 
wirkſamen und echt dramatifchen Strichen ausgeführt. In 
der Stimmung, im Colorit ber Situation ift Victor Stern 
von hervorragender Bedeutung. Ganz unbedeutend, une 
reif und pueril erweift er fi) dagegen in der Motivirung 
und in der Entwidelung der Intrigue Warum foll-Ba- 
Ientin denn durchaus den Oswald ermordet haben? Cs 
kiegt ja gar fein Grund vor. Er ift doch der Beglin- 
ftigte, der fiegende Nebenduhler; ihn hat ja Marie er- 
wählt. Und wie curios bie Entweihung Oswald's. 
Konnte diefer nicht fchreiben, fich nicht erkundigen, was 


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296 Neuere dramatiſche Dichtungen. 


aus Balentin geworden? Und warum Fehrt er zurüd? 
Das alles ift unflar und haltlos. Diefer ganze Conflict 
mußte anders geftaltet werden, follte darauf eine Tragödie 
gebaut werden. Die Tragödie Liegt Hier nur im Dialog, 
durchaus nicht im Stoff und deffen Aufbau, Dazu kommt, 
baf ſich das Ende des zweiten Actes doc, nicht gut auf 
die Bühne bringen läßt. Hier find der Sinnlichkeit doch 
allzu große Zugeitändniffe eingeräumt. Es fehlt nicht 
viel, fo fehen wir vor unfern Augen die Liebe alle ihre 
Myſterien in oftenfibelfter Weife preisgeben. Und wie 
es fcheint, ift die Provocation dazu nicht einmal ganz 
natürlich ansgebeutet. Der Dichter, wenn er dod) ein- 
mal hier die Sinnlichleit in ihrem ganzen Recht zeigen 
wollte, warum ging er da nicht fo herzhaft ans Werk, 
als fich ihm die Gelegenheit dazu bot? 

Die Heine Epifode mit der Halskette nimmt fich ziem- 
fich nichtsſagend, ja faft albern aus. Valentin will bie 
Kette zurück; Marie wünſcht fie zu behalten und trägt 
fie auf der Bruſt. Was liegt da näher, als daß Da- 
Ientin in feiner wilden, aufgereizten Stimmung fie ihr 
zu entreißen, zu entmwinden trachtet? Dabei dürfte es 
leicht gefchehen, daß er ihr das Tuch, das Mlieber vom 
Buſen riß und dieſer in feiner ganzen jungfräulichen 
Fülle und Schönheit ihm entgegenquölle und feine Be- 
gehrlichkeit entflammte. Wilhelm Hertz hat in feinen Lie- 
dern und Balladen ſolche Momente glüclich erfaßt. Auch 
Bictor Stern hätte das für fein Drama thun Fönnen, 
fobald er eben davon abzufehen ſich entſchloß, daß es zur 
Darftellung gelang. Er hätte dann allerdings mehr 
Werth auf poetifchen Gehalt legen und in feinem Trauer⸗ 
fpiel uns vorzugsweife ein Gedicht von erotifch überfluten- 
dem Geifte bieten müffen, ein Wilhelm Heinfe des Dramas! 
14. Chriſta. Dramg in vier Aufzügen von Emerih Graf 

von Stadion. Peſt, Hedenafl. 1869. 8. 15 Nor. 

Ein ähnliches, nur literarifch viel fchwächeres fociales 
Schauſpiel. Hilmer, der Sohn des Oberfürfters Waldfee, 
liebt Chrifte, die Tochter eines Schmiede, geräth aber 


als Privatfecretär des Freiherrn auf Düftereihe in bie 


Nete einer vornehmen Kolette, einer Gräfin Ada Syr, 
beren Herzloſigkeit und Falſchheit er leider fo fpät er- 
fennt, daß er erft zu feiner Jugendgeliebten zurücklehrt, 
als deren Herz bereits gebrochen. 

Diefer nicht eben fehr neue Borwurf ift von dem 
Autor noch obenein weder fehr dramatifch geſchickt noch 
poetifch originell ausgeführt worden. Das Werk ift, wie 
der Berfafler auch felbft einräumt, mehr ein Product ber 
Muße als ber Mufe und verdankt feine Entftehung in 
höherm Gradel der Befliffenheit, Lila von Bulyowszky, 
der befannten Darftellerin, der es gewidmet ift, eine Hul⸗ 
digung darzubringen, als von dem Drange bichterifchen 
Talents Zeugniß abzulegen. 

15. Heimatlos. Schaufpiel in fünf Aufzligen von Marimi- 

liaun Gramming Münden, Fritſch. 1868. Gr. 8. 

21 Nor. 

Dies ift einer don jenen bramatifchen Berfuchen, bei 
denen es Mühe Eoftet, fich nicht über fie Inftig zu machen. 
Das Stüd ift ohne Zweifel mit Ernſt und Eifer ver- 
faßt, aber fo unreif und ſchülerhaft in feiner Idee, fei- 


‚ nem Gang unb feiner Sprade, daß e8 unter die weniger 


geglüdten Stilübungen eines Gymnaſiaſten gezählt wer⸗ 
den muß. 

Irgendein armer Poet, der daheim in feiner ſtillen 
Klanfe an einer Tragödie: „Das Mutterherz“, fchreibt, 
trifft zufällig draußen unter einem Lindenbaum mit Com⸗ 
teffe Amalie zufammen, die aus feinen Gedichten ein Epos: 
„Ahasverus“, Taut vor ſich Hinlieft. Die Begeiſterung, 
mit ber es gefchieht, entzüdt unfern Helden und er knüpft 
infolge deffen mit der vornehmen jungen Dame eine Unter- 
baltung an, im der er erfährt, daß fie noch nie einen 
Dichter gejehen und um alles gern den Autor ber Berfe 
fennen lernen möchte, aus denen fie foeben lange Stellen 
zum beften gegeben. Unfer Boet, der vorhin feinen 
Freunde Schwarz geftand, daß Dichter nur einmal des 
Zags efien, wahrſcheinlich weil die Natur, die precäre 
Stellung derfelben fenuend, ihren Magen befonders dar- 
auf eingerichtet, unfer Poet fchildert nun feiner jugend» 
lichen Berehrerin das Leben eines Dichters, fein Leben, 
das heimatlos erjcheint, feit man feine Mutter begraben. 
Der Dichter ift „ſchuldlos fluchbelaben, ohne Heimat, ohne 
Liebe! Nur feine Lieber find feine Freunde, fle find feine 
Begleiter auf feinem bornigen Lebenspfad; fie werben es 
bleiben und es (!) einftens geleiten dahin, mo feine Mutter 
gegangen ift und wo es (!) auch feine Heimat finden wird.“ 

Diefe Erzählung rührt Gräfin Amalie und fie fagt: 
„Ah, wenn Sie den Dichter wieder treffen, fo fagen 
fie ihm, er ſolle zu mir kommen, ich wolle ihm Belfen!“ 
Und um auch fogleicd, einen Beweis zu geben, wie ernft 
fie e8 damit meint, „langt fie jofort in die Taſche“ und 
gibt dem Dichter Geld, das diefer zwar anfangs aus 
ſchlägt, „weil Dichter auch ihren Stolz haben“, dann 
aber doch annimmt, weil die Comtefje ihn fehr bittet, 
es dem Armen zuzuftellen. Der Arme, verfpricht der 
Empfänger, wird nun aud fein nächſtes Gedicht der 
Spenberin weihen, wobei die legtere den Wunfch verlau⸗ 
ten läßt: „er jolle ja recht viel von Freiheit und von 
Liebe hineinſchreiben“. 

Im zweiten Act gibt fi ber Dichter bei einem ver- 
abredet gewefenen Stelldichein als Berfafier bes „Ahas- 
verus“ zu erkennen und wird nun felbftverfländlich ab⸗ 
göttifh von der Comtefje geliebt. Leider aber trifft diefe 
Liebe auf Hinberniffe. Amaliens Mutter, Gräfin Roſa 
von Schönhoff, eine frivole, eitle Frau, die um jeden 
Preis Minifterin und Ercellenz fein will, Hat ein firäf- 
liches Verhältniß mit Baron Haſelwitz. Damit dies Bere 
bältniß ja recht „ungenirt” fein könne, fol Hafelwig 
Amalie heirathen, denn, fo heißt es wörtlich weiter: 

Hafelwig. Wenn ich erſt verheirathet bin, dann befude 
ih Sie vet oft — noch öfter wie jett! Und dann — 

Roſa. Und dann — 

Hafelwig. Dedt ja die Ehe alles zu und ich klann meine 
Rofa recht ungenirt küffen. 

Es wird nun gegen ben Dichter cabalifirt: die Gräfin 
Schönhoff beftimmt ihren Mann, ber fid) den Minifter- 
poften glüdlih wieder bat entgehen laſſen, gegen ben 
Dichter und für Hafelwig zu operiren, der flatt Schön⸗ 
hoffe Minifter geworden und Schönhoff zu protegiren 
verſpricht. Schöndoff, ein guter, etwas fchwadhlöpfiger 
Mann, wirkt in der gemünfchten Art anf fein Kind ein 
und fagt zu diefem Ende zu Amalie: 





Nenere dramatiſche Dichtungen. 297 


Der Menſch Tann alles, wenn er will, und ſelbſt im Uns 
pläd kann — maß er ſich glüdtih fühlen! Ich hatt’ es auch 
gefonnt! Habe freilich einige graue Haare und feine Krigel ins 
Gefiht befommen; bie Bäume, die gegen bie Wetterfeite ſtehen, 
befommen auch fo eine gemiffe Rindenfarbe, fo einen gräulichen 
Anfhein, eine Moosbewachſung. Und der Menſch ift eine 
Beide, die fi) beugt, wenn der Sturm darüber hinfegt, und 
die, wenn der Sturm vorüber ift, ihre Krone wieder zum 
Himmel erhebt! So glaube id denn meine Pflicht als Vater 
erfüllt zu haben — behersige die Worte deines Baters und be« 
halte ihm lieb in deinem fünftigen Stande, grolle ihm nicht! 
Sei überzengt, deinem Vater koftete der Schritt mehr Thränen 
und mehr Kampf als vieleicht dir jelbft; denn Väter haben eine 
Verantwortung! (Gr weint.) 

Diefe Worte und Thränen befiegen Amalie und fie 
willigt ein. Inzwiſchen iſt Hafelmig bei dem Dichter 
eingedrungen und Hat demſelben Manufcripte entwendet, 
in denen cr fie Hafelwig und gegen Schönhoff auf feines 
Verlegers Beſtellung Partei in dem Zeitungen ergriff. 
Diefe Papiere verliert Hafelmig bei der Verlobung; fie 
falen Schönhoff in die Hände und biefer, der infolge 
defien die Intriguen durchſchaut, erflärt fich gegen Hajel- 
wig, ſodaß diefer rächeſchnaubend das Haus verläßt, in 
dem man noch kurz zuvor den Dichter mit der Verlobung 
Amaliens nit Hafelmig überrafcht hatte, 

Natürlich ift er verzweiflungsvol fortgeftürzt und 
geräth darauf bei feinem Freunde Schwarz in einen Zus 
fand, der fi) durch „wirre Blide und gräßliche Blicke“ 
als entfchiedener Wahnſinn zu Tage legt. Zum Ueber 
fluß hat ihn Hafelwig noch ins Gefängniß ſperren laſſen, 
und als Amalie und ihr Vater fommen, um ihn zu bes 
freien, ftirht er ifmen unter den Händen weg, im Ster - 
ben flehend, ihn umter der Linde zu begraben, unter der 
er zuerft Amalie gefehen. Zuletzt kommt noch heraus, 
daß der Dichter der Sohn Schönhoff's war, den. er fei« 
nem zweiten Weibe zu Gefallen verftieß. 

Diefe wirrigen, unklaren, verzwadten Vorgänge und 
die curiofe Sprache, in ber fie fid) ansdrüden, kennzeich ⸗ 
men die Arbeit als ein vollftändiges Stümperwerk, für 
welches wir aud) bei der größten Milde und Nachſicht 
nit umhin Können, diefelbe zu erflären. 

Daffelbe gilt von: 

16. Der Iudenhap. Ein Traueripiel in flnf Acten von Ernft 
Dswald. Meiningen, Brüdner und Renner. 1868. 
Br. 8. 12 Nor. 

Das Stüd fpielt in einer ſüddeutſchen Reichsſtadt im 
Jahre 1349, wo leichtfertige, liederliche Patricier eine 
ausbrechende Peſt benugen, um eine ganze Reihe von 
Iudenfamifien als Brumnenvergifter anzullagen und zu 
vernichten, blos um ſich fo die Schulden vom Halje zu 
ſchaffen, die fie bei den Hebräern gemacht. 

Das Stüd ift fo unfiher und ſchwankend, daß es 
fid) kaum auf den Beinen Hält und ohne allen dramatir 
fhhen Halt und ftricten Gang dahertaumelt. Es ift die 
baare dramatifche Unfähigkeit, die fich Hier zur Un 
ſchauung bringt. 

17. Der rehtmäßige Erbe. Schaufpiel in fünf Aufzugen von 
Eduard Bulmwer Lord Lytton. Ins Deutige liber- 
tragen von Karl Hermann Simon. Leipzig, Weber. 
1869. 8. 24 Nor. 

Bulwer's Schaufpiel dürfte ben Ruhm des englifhen 
Romanfhreibers nicht vermehren, wenn es freilich ihm 
auch wol feinen Abbruch thun wird, Diefes Drama 

1870, 1. 


zählt einigermaßen zu den Ritterftüden, und fpielt zur 
Zeit ber fpanifchen Armada, d. h. im jener Epoche der 
englifchen Geſchichte, in welcher Königin Eliſabeth einen 
Angriff Spaniens zur See erwartete und infolge deſſen ihre 
Flotten Friegegerüftet zur Dedung bereit hielt. 

In jener Epoche lebt eine Lady Montreville, eine 
Gräfin von Geburt, mit ihrem einzigen Sohne, Lorb 
Beaufort, in -ihrer ftattlichen Grafſchaft. Cie hatte, che 
fie fi legitim vermählte, einem Pfande der Liebe das 
Leben gegeben, einem Knaben, ben fie fpäter anzuerkennen 
in Abficht gehabt. Nachdem fie jedoch einen rechtmäßigen 
Sohn geboren, hat fle dies auch nad; dem Tode ihres 
Gatten nicht gethan, fondern ftatt deſſen den Baflard auf 
ein Kriegsſchiff fteden laſſen, don woher man bie Kunde 
von deſſen Tode ihr übermittelte, 

Die Familie der Lady meift nämlich einen armen 
Better, Sir Grey de Malpas, auf, welcher darauf ſpe⸗ 
eulirt, der Erbe der Montrevilles zu werben, und der, 
um zu diefem Ziele zu gelangen, nichts fehnlicher wünfcht, 
als daß der Teufel den Iegitimen ſowol wie den illegi- 
timen Sohn feiner Verwandten holen möge. Um dem 
Fürften der. HöNe dies freundſchaftliche Werk zu erleichtern, 
bat er einen zu Grunde gegangenen Dann, einen gewifjen 
Wredlyffe geworben, der Vyvian, den unehelicen Sohn 
der Gräfin, aus dem Wege ränmen follte, diefer löblichen 
Abſicht aber nicht nachgelommen ift. Vyvian, der zum 
Kapitän des Kriegsfchiffs Dreadnought emporgeftiegene See⸗ 
mann, ift eben jegt nad) England zurüdgefeprt, einmal um 
feiner Ablunft, namentlich feiner Mutter nachzuforfchen, 
dann aber aud um Eveline, eine Miündel der Gräfin 
Montreville, ſich als Gattin Heimzuholen. Er hat diefelbe 
auf dem Meere aus einer großen Gefahr errettet und 
fpäter von Herzen lieben lernen. Nach dem Tode ihrer 
Altern hat Lady Montreville Eveline zu fi genommen, 
und bier num fucht Vyvian fie auf. Daß er der erfi- 
geborene Sohn jener Hohen Dame ift, wird ihm, dieſer 
felbft und natürlich, aud) Grey fehr bald Mar. Lebterer 
reizt die Mutter, reizt Lord Beaufort gegen Vyvian auf. 
Bei der erftcen gelingt ihm dies, weil fie die Beeinträch⸗ 
tigung und gefegliche Hintanfegung ihres zweiten Sohnes 
fürchtet, der, reich und vornehm erzogen, es nicht ertragen 
würde, bie Hauptbefigungen, die von mütterlicher Geite 
herrühren, dem Grftgeborenen abzutreten; bei Lord Beau- 
fort, der natürlich von dem Geheimnig feine Kenntniß 
hat, nicht weniger, denn dieſer liebt Eveline und ift auf 
Vyvian eiferfüctig. So ſcheinen die Dinge für ben 
Intriguanten vortrefflich zu gehen. Lord Beaufort und 
Vyvian geraten aneinander und fehwören, fid) einander 
die Hälfe zu breden. Sie geben ſich zu ihrem Zwei 
tampf ein Stelldichein auf einem Felſen, den der Sciffe- 
Yapitän paſſtren muß, um an den Strand und zu feinem 
Schiffe zu kommen. Der Sicherheit wegen heut Grey 
noch Wredlyffe hinterher. 

Aber Vyvian, der inzwiſchen die Seele feiner Mutter 
hat ergründen lernen, will freiwillig auf alles, nur auf 
Eveline nicht verzichten, und als er auf fein Schiff 
zurüdgerufen wird, um gegen bie Spanier in See zu 
gehen, verzichtet er darauf, ſich mit Beaufort zu ſchlagen. 
Diefer, weil er die Beweggründe der Schonung nicht 
tennt, will ihn zum Zweilampfe zwingen und eilt ihm 

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298 Neuere dramatiſche Dichtungen. 


mit gezogenem Degen an den Rand ber Klippe nach, wo 
Bypian fih an den Aft eines Baums fügt. Hier nad) 
ihm fchlagend, nöthigt er den Gegner fi zurüd- 
zubengen, wobei der Aſt briht und Vyvian im bie 
Tiefe ſtürzt. 

Dies ift die Handlung von vier Ücten. Im fünften 
finden wir Lord Beaufort von feiner Schuld niebergebrüdt, 
Grey aber in Zweifel über den Ausgang der Sache, da 
man Vyvian's Leiche nicht aufgefunden. Dennoch liegt 
es natürlich in feinem Interefle, daß der Erzieher Vyvian's, 
dem er das Duell auf der Klippe verrathen, gegen Lord 
Beaufort Hagt und biefen vor Gericht zieht. Bor dieſem 
Gericht fol Beaufort, der reuig eingefteht, eben verur- 
theilt werben, als ein Ritter mit gefchloffenem Bifir er- 
fcheint, der den Handſchuh für des Lords Unſchuld hin⸗ 
wirft. Sir Grey de Malpas, in allen feinen Hoffnungen 
betrogen, denn er ift ja der Erbe von Montreville, wenn 
Beaufort dem Geſetze als Mörder anheimfält — Sir 
Grey de Malpas will eben mit dem Fremden in bie 
Schranken treten, als diefer den Helm abwirft und fich 
ale Vyvian zu erfennen gibt. | 

Vyvian ift nämlich wunderbar damals dem Tode ent⸗ 
gangen, und nur Wrecklyffe verunglüdt, der ihm nach⸗ 
träglich zu Leibe wollte. Er ift inzwifchen mit Eifer in 
ben Krieg gezogen und durch feine Tapferkeit zu hohen 


* Ehren gelangt. Nun bietet er Bruder und Mutter die 


eine Hand zur Berfühnung, feiner Eveline aber, die 
immer auf fein Wiederkommen in trener Liebe gehofft, 
die andere zum Chebunde, indeß Sir Grey verachtet 
und mit Schande bededt abziehen muß. 

Das Schaufpiel ift hicht unintereffant und hat ein 
paar höchſt wirkſame Scenen; einige Momente athmen 
fogar den Hauch echter Poeſie. Im ganzen aber ift dad 
Drama von etwas froftiger und bürrer Haltung; das 
warme, pulſirende Reben fehlt, e8 erfcheint gemacht — nicht 
ohne Geiſt und Geſchick gemacht, aber doch gemadit. 

Aehnliches gilt von: 

18. Der Millionär und der Künſtler. Drama in vier Acten, 


aus dem Stalienifchen des Baolo Giacomelli, von 
Ernft Preyer. Karlsruhe, Bielefeld. 1868. GEr. 16, 
20 Nur. 


Der Inhalt diefes Stüds fpielt fih in etwas zu 
fteifer umd abgemefener Form für feine innere Mager- 
feit ab, 

Der Millionär Giorgio hat feine Tochter Rachel dem 
Maler Michael nicht zur Yrau geben wollen, den fie liebt, 
fondern hat ihr einen vornehmen Spanier, den Orafen 
Rodrigo erwählt, der fie mit feinem maßlofen Stolze und 
feiner Eiferfucht aufs bitterfte quält. Michael Hat indep 
in der Fremde großen Auf erlangt und kehrt gerabe als 
Berlobter der Regina, einer Freundin der Nadel, zurüd, 
als deren Gatte bei diefer ein Porträt Michael's entbedt 
hat. Er ift im Begriffe, fein armes, unfchuldiges Weib 
zu mishandeln und Michael feiner blinden Wuth zu 
opfern, als gerade defien Bruder, ein Seemann, zurüds 
fehrt und in Graf Rodrigo einen ehemaligen Sklaven⸗ 
händler entpuppt, den die Regierung, zur Rettung aller, 
zu lebenslänglicher Feſtung verurtheilt, indeg Michael zum 
Bräfidenten der Akademie und zum Ritter bes Berdienft- 


ordens gemacht wird. So belohnt fi das Talent und 
wird die leere Eitelkeit und Prunkſucht beftraft. 

Das Drama hat wie da8 Bulwer'ſche feine fehr glüd- 
lichen Momente, leidet aber ebenfalls an Kälte der Diction 
und trodener Ausführung. 


19. Eduard Bloch's Volkstheater. Ar.31— 33. Berlin, Laffar. 
1868. ©r. 8 2 Thlr 15%, Ngr. 


Die drei Hefte biefer Sammlung, Nr. 31—33 ent 
balten folgende Stüde: „Undine oder eine verlorene Seele”, 
romantifche8 Zauberfpiel mit Geſang in vier Acten und 
einem Borfpiel von Wollheim; „Der Winkelfchreiber“, 
Luftfpiel in vier Acten von U. von Winterfeld, und „Wie 
geht's dem Könige”, Luftfpiel in fünf Acten von Arthur 
Müller. 

Alle drei Arbeiten find vielfach aufgeführt und bei 
diefer Gelegenheit von der Kritik nach ihrem Werthe ges 
würdigt worden. Es genügt daher wol, wenn wir an 
diefer Stelle einfach ein kurzes Refume diefer Würdigung 
veranftalten. 

Das letztgenannte Luſtſpiel gehört zu bes fleigigen 
Berfoflers beſſern Stüden, wennfchon freilich auch in 
ihm Spuren von Flüchtigkeit nicht zu verfennen find, 
Die Handlung fpielt in Berlin und Breslau, kurz vor 
dem Ausbruch der Freiheitöfriege, und gipfelt in ber 
Intrigue, zu der man fich veranlaßt fieht, um die 
Franzoſen über die Abfichten des preußiſchen Königs zu 
täufchen. Der Gang der Sache ift lebhaft und fpannend, 
gejchidt die Hiftorifchen Ereigniffe und Stimmungen aus 
beutend, der Stil frifh uud wirkſam, die Charakteriſtik 
oft von glücklichſten Wurfe. Hier und da ift freilich 
manches, was feiner und fubtiler hätte behandelt fein 
können; ohne Erfolg ift die Komödie aber wol nirgends 
gewejen. 

Aehnliches ift von dem zweiten Stüd zu fagen. Das 
Ganze ift jedoch troden und dürftig in feiner Mache fowol 
als auch in feiner Haltung; aber es bietet gute Rollen 
und zeigt den aus einem altrömifchen Drama entlehnten 
Stoff innmerhin mit fehägenswerthbem Talente in die mo⸗ 
dernen Berhältniffe hinein umgewandelt und für biefelben 
trefflich ausgebeutet. 

Wollheim's „Undine” ift in ihrem poetifchen Theile, 
d. 5. in der Benugung der befannten Sage etwas ehr 
fentimental und in ihren pofjenhaften Beigaben keineswegs 
immer von glänzendem Wig und Humor; troß alledem 
läßt fi) nicht leugnen, daß das Stück bei glatter und 
runder Darftellung nicht ohne Wirkung bleibt. 

Bon demfelben Berfaffer erfchien: 


20. Gold⸗Elſe oder Die Egoiften. Scaufpiel in fünf Acten, 
von A. E. Wollheim. Dit freier Benutung des gleich. 
namigen Romans von E. Marlitt. Hamburg, B. ©. 
Berendfohn. 1869. Gr. 8. 15 Nor. 


Das Stüd ift weder fein in den Motiven noch in 
der ganzen Ausführung, doc, gibt es immerhin den 
gelefenen Roman, namentlih fiir das Publikum Kleine 
rer Bühnen, zwedmäßig verarbeitet zum beften. Der 
belannte Autor hat Dankenswertheres geliefert, braucht 
fi indeß auch diefer Arbeit nicht zu fchämen, wenn 
freilich fon die bloße Mache und die Abficht, mit ciner 
populär gewordenen Geſchichte auf dem Theater in 


Neuere dramatifhe Dichtungen. 


dramatiſcher Verwendung ein gutes Gefcäft zu machen, 

mehr als nöthig darin zur Geltung gelangen. 

21. Der berliner Figaro. Lunfpiel in fünf Aufzligen von F . 
Hollander. eben, Ei Ihe sr 15 ER 
Dies iſt ein ziemlich curiofes Stüd, ein Stüd, von 

dem man nicht recht weiß, was man bamit anfangen foll. 

Es hat etwas vom Hauch und Weſen der alten Schule, 

einen Zug von Leffing oder doch von Schröder, er- 

ſcheint dabei aber zugleich überaus ſchüllerhaft und 
unfertig. 

Ein Major Halden, der eine liebenswürdige Tochter 
befigt, ift in Schulden gerathen, aus denen nur ein glüd- 
licher Zufal oder ein ebelmüthiger Freund ihn erlöfen 
Kann. Letzteres gefchieht, aber fo, daß der Unglüdliche 
feinen Netter nicht mit Beftimmtheit zu erkennen vermag. 
Ein Ungenannter hat große Mittel flott gemacht und zu 
feiner Verfügung geftellt. Ex räth auf Hofrath Finken- 
berg, einen glatten Weltmann, der fih um die Hand 
feiner Tochter bewirbt, und dem er, überrafcht von defien 
vermeintlichen Edelmuth, diefelbe auch geben will, ale 
zum Glück durch die Schwaghaftigfeit eines ziemlich un« 
berſchämten berliner Barbiers an ben Tag kommt, daß 
der Spender jenes zur rechten Stunde gelommenen Kar 
pital8 der Sergeant Preiß ift, der, urſprünglich ein ver« 
mögender Gutöbefiger, aus Liebe zu Sophie Soldat ge- 
worden ober geblieben if. Das Wahre und Klare der 
Sache tritt nämlich nicht recht ins Licht bei der Dürfe 
tigfeit, Knappheit und unbentlichen Art, mit ber die Bor- 
gänge behandelt find. Das Ganze macht einen etwas 
ſchattenhaften Eindrud: es fpielt wie im Dämmer- unb 
Slüferton. Es fehlt jede Regung wahrhaften Lebens, 
jedes Laute und ergreifende Wort. Selbſt der berlinifche 
Dit, der in dem Jargon des Barbier Wer zum Bor« 
fchein Tommt, lallt wie im Schlafe und vermag fein 
herzhaftes Lachen zu erzeugen. Es ift etwas Abgeftor- 
benes, Todtes in diefer Arbeit, wenn auch ſchon zuger 
ftanden werben Tann, daß fie in ihren Mienen und Be- 
wegungen ein Etwas zu Tage legt, das uns an große 
Vorbilder erinnert. Ueber die Erinnerung aber kommt 
fie nicht hinans, denn die Made ift troden und hölzern, 
die Geftaltung ausdrudslos und matt, und die Sprache 
impulslos und ohne Wärme. 

„Der berliner Figaro“! Welche Vorſtellung wedt 
dieſer Titel! Und doch hat er gar keine Bedeutung. 
Wer ift ein ganz gewöhnlicher Bartkrager, ein Bartkrager, 
im dem Feine Aber von dem Beaumarchais'ſchen Wind- 
beutel, ja nicht einmal die mindefte Aehnlichteit mit dem 
berliner Leben und Zreiben fledt, wie es ehedem Adolf 
Glasbrenner in feinen Skizzen und Genrebildern fo er- 
gðtzlich zu ſchildern verftand. Daß diefer Burfche aber, 
ohne von einem gemialm Humor und glänzender Laune 
geabelt zu fein, bier fo breift fich überall aufbrängen und 
einmifdhen darf, von Hofrath Finkenberg, Major Halden, 
Sophie, Preiß und Jürgen geduldet wird, die ganze 
Intrigue, foweit von einer folden Hier die Rede fein 
Fan, wenn auch nicht leitet, doch aufbedt, ift ein ganz 
entfchiebener Misgriff des Autors, denn dafiir hätte diefe 
Figur mehr Geift, mehr epigrammatifche Schärfe, mehr 
Immerlicjfeit und Perfpective erhalten müflen, als fie 
erhalten hat. Das Miegeſchick des ganzen Luftfpiels iſt 





299 


eben, daß es feinen weitgreifenden und höhern Inhalt 

hat, daß es mit feiner ganzen Idee in bloßem Sande 

fpielt. Wer an ſich felbft den Anfpruch erhebt, einen 

Figaro“ zu fchreiben, der muß auf der Höhe feiner Zeit 

ftehen und fie mit der Geifel feiner Ironie zu kitzeln im 

Stande fein, fonft wird feine Unternehmung unbezweifelt 

Schiffbruch leiden und als verfehlte Speculation der Ber- 

urtheilung nicht entgehen. 

22. Almanach dramatiſcher Bühnenfpiele zur_gefelligen Unter» 
haltung für Stadt und Land. Bon &. 9. Görner. 
Sfter Jahrgang. Altona, Berlagsbureau. 1868. 8. 
1 Thlr. 15 Nor. 

Diefer Jahrgang bietet zwei einactige Bluetten und ein 
funfactiges Luftfpiel, weldje die bühnengewandte Hand des 
Verfaſſers wiederum nen und oft recht fiegreidh befunden. 
Die größere Komödie: „Erziehung macht den Menfchen“, 
ift die Bearbeitung eines ältern Stücs, das chedem 
Beifall fand, aber fpäter wegen feines veralteten Zuſchnitts 
in totale Vergeſſenheit kam, aus der es unſer Verfaſſer 
dadurch hervorzuziehen verſucht Hat, daß er demſelben 
eine modernere Einkleidung gab. Doch auch dieſe zeigt 
noch ziemlich verjäßrten Schnitt, wenigſtens nichts weiter 
als die längft befannten und abgenugten Theaterfiguren: 
einen verſchuldeten Cavalier, der um jeden Preis eine 
reihe Heirat}; machen will; eine komiſche Alte, die mit 
verdrehten Fremdwörtern um fi wirft; einen humoriſti - 
fen Schmerbauch, der fich felbft über feine Toggenburg. 
natur fuftig macht, und eine naive und eine mehr pathetie 
ſche Liebhaberin. Immerhin aber ließe ſich auch mit bie» 
fen abgegriffenen Geftalten eine gewifſe Wirkung erzielen, 
wenn der Stoff felbft nicht etwas gar zu fabenfcheinig 
wäre. Eine Comteſſe, die in der Wiege von ihrer Ämme 
mit deren eigenem Bauermädchen vertaufcht worden ift, 
und die Entdelung dieſer Bertaufhung, nachdem bie beie 
den Kinder, jedes feinem Stande gemäß, erzogen worben, - 
ift ein Vorwurf von zu oft bagewejener Art, als daß er 
noch follte Eindrud machen Fönnen, wenn er nicht. eine 
ganz neue und frappante Behandlung erfährt, die er Bier, 
wie bereits gejagt, nicht erhalten Hat. 

Das Stüd zeigt danlbare Rollen und einen glatten 
Gang der Entwidelung, aber weder glänzenden Geift im 
Dialog noch frappirende Frifche im Wurf. 

Glüdliher ift Gdrner diesmal in den zwei Bluetten. 
„Rurzfihtig” behandelt zwar ein körperliches Gebrechen, 
mit dem uns nicht zu fpaßen ſcheint, obfchon es aller» 
dings zu den leichtern und crträglichern gehört; aber es 
iſt doch wirklich eine drollige Idee, daß eine junge Witwe, 
welche felbft kurzſichtig ift, feinen Furzfichtigen Gatten 
wählen will und doc nur zwiſchen Freiern die Wahl 
erhält, die es gleichfalls find und ihr Leiden ängfte 
lich verbergen, ohne zu ahnen, daß ihre Verehrte es 
ebenfalls theilt. 

Die befte Gabe dieſes elften Jahrgangs ift indeß un« 
bezweifelt: „Nur ein Band”, ein Luſtſpielchen, das in 
hochſt ergöglicher Weife die alte Wahrheit bekundet, daß 
der Teufel und nur bei einem Haare zu paden Gelegen- 
heit erhalten darf, um uns ganz und gar in Beſchlag 
zu nehmen. Ein nur eben verheirathetes Weibdhen be 
giant damit, nur ein neues Band für ihren Hut zu 
wünfchen, und fiche ba, kaum daß diefer Wunfch von 

38 * 





300 


dem glüdlichen Gatten erfüllt wird, fo zeigt fih auch 
fofort die Nothwendigkeit, daß das neue Band einen neuen 
Hut, der neue Hut ein neues Kleid, das neue Kleid einen 
neuen Ueberwurf und kurz Unfchaffungen erheifcht, die 
gleich im Beginn das Glüd des jungen Ehepaars unter- 
graben müßten, wenn nicht enblih das junge Frauchen 
felbft zur Einfiht gelangte und auf dergleichen Luxus 
verzichtete. 

Dies Stückchen ift fo geſund erfunden, fo Taunig 
durchgeführt, und trog einer gewifien Härte im ſchließ⸗ 
Iihen Umſchwung doch fo munter und befriedigend zum 
Austrag gebracht, daß es uns fehr beachtenswerth dünkt, 
und wir und aufrichtig wundern, bafjelbe nicht mehr und 
häufiger auf dem Repertoire zu finden. 

Der vorhergehende Jahrgang des Görner'ſchen Alma- 
nachs, der zehnte, welcher 1866 in bemfelben Verlage 
erichien, enthält ebenfalls drei Stücke des Heransgebers, 
nämlih: „Ein geadelter Kaufmann”, in fünf Acten, 
und zwei einactige Schwänle: „Der Hahn im Dorfe” 
und „Eine ftille, gemüthlihe Wohnung“. Der letztere iſt 
eine ſehr pofienhafte und derbdrähtige, wenig geſchmackvolle 
Arbeit. Auch „Der Hahn im Dorfe” kann nicht gerade 
ein ſehr glüdliher Hahnenjchrei der dramatifchen Mufe 
genannt werden; immerhin aber ift er zu leſen und zu 
jehen. Das größere Lebenebilb ift oft und viel gegeben 
worden, weil e8 ziemlich überall eine günftige Aufnahme 
fand, die e8 im Grunde auch verdient. Kann ihm freilich, 
namentlih im Ausgange, ber Vorwurf von Trivialität 
nicht ganz erfpart werben, fo ift ber Haupt» und Grundzug 


Dtto Liebmann und feine Inconfequenzen. 


darin doch von unbezweifelter Trefflichfeit, indem uns der» 
felbe einen tüchtigen, reellen Kaufmann zeigt. Dieſer wird, 
weil er einflußreihen Standesperfonen bemerfenswerthe 
Dienfte geleiftet, durch deren Betreiben von feinem Fitrften 
in den Abdelftand erhoben, weldye Erhebung Emannel Rohr- 
bed anfangs nur widerwillig und mit dem feften Gelöbnig 
aufnimmt, daß dadurch in feinem Haufe und Leben nichts 
geändert werden folle, die aber ſchließlich doc, ihm fo zu 
Kopfe fteigt, daß ex Thorheit über Thorheit begeht und 
endlich dadurch feinen Ruin berbeiführt. Natürlich kommt 
er nach demfelben wieder glüdlich zur Bernunft und 
führt damit einen verſöhnlich befriebigenden Schluß des 
Stüds herbei. 


23. Ein Depoffedirter. Komifches Singfpiel in drei Auf 
zügen. Frei nad) Voltaire's „„Baron d'Otranto“ bear 
beit bon Dtto von Breitfhwert Frankfurt a. M. 


Das Singfpiel führt und einen jungen ſich langwei⸗ 
Ienden Fürften vor, in defjen Heinen Staat türkifche Piraten 
einbrechen, die ihn entſetzen und ſich's an feiner Statt wohl 
fein Lafien, bi die Prinzeſſin Irene fie und igren Anführer 
trunfen macht und in diefem Zuſtande fie mit einigen 
Getreuen überrumpelt, wodurch der Fürft von Otranto 
wieder fouverain und felbftverftändlich der Gemahl feiner 
fürftlichen, ihm verwandten Befreierin wird, 

Das Meine, unbedeutende Libretto ift kaum des großen 
Namens und jedenfalls der Berdeutfchung faum würdig. 


Seodor Wehl. 


— — — — ——— — 


Otto Liebmann und feine Inconfequenzen. 
; welt producirt, d. 5. als „Borftellungsvermögen“, ebenfo 


von 


Weber den objectiven Anblid. Eine kritiſche Abhandlun } 
j r. 8 


Dtto Tiebmann Stuttgart, Schober. 1869. 
1 Zhlr. 9 Ngr. 

Die vorliegende Schrift behandelt im gefprächiger 
Breite die Theorie des Sehens als Beifpiel zur Demon- 
firation der. Principien des fubjectiven Idealismus. *) 
Der Berjafler bringt in feiner Weife etwas Neues vor, 
und gibt felbft zu, daß nit nur der Chorus der Phi- 
loſophen, fondern auch die neuere Phyfiologie der Nerven- 
und Sinnesorgane von Johannes Mitller bis Helmholtz 
den Sat anerkennt, daß die Sinneswahrnehmungen uns 
weiter nichts als unfere eigenen Zuftände zeigen. Cr 
zicht hieraus genau diefelben Folgerungen wie die drei 
Vertreter des fubjectiven Idealismus: Kant, Fichte und 
Schopenhauer, nämlid daß „die empirifhe Natur ein 
Secret unfers Geiſtes“ ift, d. h. daß fie blos Phänomen 
oder Erfcheinung ift „im Gegenſatz zum Weſen, welches 
intelligibel, Noumenon, ift“, daß die Welt der Erſchei⸗ 
nung zwar das intellectuelle Product des Menſchen, ber 
Menſch felbft aber ein Product derjelben Natur ift, wenn 
man fie als „unfaßbares Weſen“, als intelligible Welt 
foßt. Alles der intelligibeln Welt Angehörige bleibt uns 
ein unfaßliches X, alfo anch der Menſch als dasjenige 
Weſen, welches bie empirische Natur oder Borftellungs- 
*, Ich bemerke, daß ich fubjectiv und objectiv Im Bolgenden in anberm 


Einne brauche als Liebmann, ſodaß dieſer nel Dahl mmanent und trande 
ſcendent oder intellectuell und extraintelectuell dafür fegen wärde. 


wie die völlig unbefannten transfcendenten Ereigniffe, auf 
welche diefes Borftellungsvermögen mit feinen Borftellun 
gen „reagirt“. Alles, was uns zugänglich ift, ift aljo 
eine Erjcheinung, die mit unabweisbarer Nöthigung als 
Refultat einer Relation von ewig unerfennbaren Xen und 
Ys unferm Bewußtſein „octroyirt” wird. Das X iſt 
dasjenige, was dem Phänomen „zu Grunde liegt”, das 
Subftrat des Erjcheinenden wie es „an fih if”. Das 
D) ift das Vorftellungsvermögen, welches mit der „Er 
fheinung” auf ein Ereigniß reagirt, dem das „An ſich“ 
bes GErjcheinenden oder da8 X zu runde liegt. Das 
N ift das „Weſen“ des empirifchen Ich, wie das X das 
Weſen des empirifchen Objects; demgemäß gibt es ver- 
ſchiedene „animalifche, gleich uns organifirte Wefen”. Das 
Signalemient des & und ) ſtimmt haarfcharf mit dem 
bes Kant'ſchen „Ding an fi” und „Ich an fich” über 
ein, wie Liebmann felbft e8 auf ©. 155 aufftellt, und es 
ift ſchlechterdings unbegreiflich, woher er den Muth nimmt, 
zu verlangen, daß man bei feinen der Erſcheinnng zu 
Grunde liegenden intelligibeln Weſen oder Subftraten, 
wie fie an fich find, ja nicht etwa an das Kant’fche 
Ding an ſich denken folle! Sein X kann ebenfo wenig 
wie das Kant'ſche X umhin, das Borftellungsvermögen 
vorher zu afficiren, weil ohne das eine Reaction von fei« 
ten —8 undenfbar wäre; es muß alſo das „ber 





— —— —— — —— — non ——— 


Otto Liebmann und feine Inconfequenzen. 301 


Erſcheinung zu runde Liegen“ des Dinges an fih ale 
eine caufale Einwirkung gedacht werden, durch welche es 
das Vorftellungsvermögen zur Reaction nöthigt; nur auf 
Grund der Caufalität ift eine Nothwenbigfeit oder Nd- 
thigung verftändfich, 

Im Widerfpruh hiermit darf Liebmann's X doch 
ebenfo wenig wie das Kant’jche den Formen („Raum und 
Zeit") und den Kategorien (Caufalität, Subfiftenz) unter- 
worfen fein, wenn es wirklich zur intelligibeln Welt im 
Gegenfag der Exfcheinungswelt gehören foll, verwidelt 
ſich alfo in eben diefelben Widerſprüche wie jenes. Mag 
aljo Liebmann die Idealität beider Unbegriffe zugeben 
ober nicht, ſo gilt doch gegen feine X und 9) genau 
daſſelbe, was gegen Kant's Ding an fi gilt, d. h. er 
ift in diefer Schrift in Feiner Weile über den widerſpruchs- 
vollen Standpunkt Kant's hinausgefommen. 

Berückſichtigt man hiernach, daß Liebmann in philos 
ſophiſcher Beziehung einen feit bereits 80 Jahren antie 
quirten Standpunkt vertritt, und daß er andererfeit® auch 
in phyſiologiſcher Hinficht nichts als abgegriffene Scheide- 
münze bietet, ohne irgendwo felbftthätig die Probleme zu 
vertiefen, ober aud; nur don beren allgemeinfter und ober« 
flachlichſter Faſſung ſich zu derjenigen Freiheit ihrer For⸗ 
mulirung zu erheben, welche im neueſter Zeit Lotze, 
Helmpolg und Wundt herbeigeführt haben, fo würde man 
glauben fönnen, daß ber Verfaffer nur den didaltiſchen 
Zived einer Einführung eben von der Schule fommender 
Studenten in die Kant’jche Philoſophie im Auge gehabt 
hätte, wenn nicht die Gelbftgefülligkeit des Tons und bie 
burſchiloſen Schimpfreden gegen Andersdenkende es außer 
Zweifel ſtellten, daß er neue welterfchütternde Wahrheiten 
zu Dearkte zu bringen wäßnt. Hiernach konnte e8 ſchei · 
nen, als ob man einem folden Machwerk mit einer aus« 
führlichen Beſprechung zu viel Ehre erwiefe; indeſſen fteht 
demfelben der Umftand zur Seite, daß der Berfafler vor 
fünf Dahren eine höchſt intereffante, kurz und gewandt 
verfaßte Schrift: „Kant und die Epigonen“, herausgege ⸗ 
ben, welde in lehrreicher Weife eine ganz enigegengelegte 
Tendenz wie bie vorliegende verfolgte. Da die Thatjache 
de8 erfolgten Umſchwungs und Rüdfalls in längft über- 
wundene Irrthümer ebenfalls hier ſehr lehrreich ift, fo 
wollen wir nod) ein wenig bei dent Verhältnig beider 
Schriften verweilen. 

Der Gedankengang in „Kant und die Epigonen“ ift 
folgender: Die erclufid » fubjective Natur von Raum, Zeit 
und Kategorien ift über jeden Zweifel erhaben. Kant hat 
den unmittelbaren Conſequenzen biefer Wahrheit durch die 
Annahme des „Ding an fich” miberfproden. Er fagt 
zuerſt (©. 49 der „Rritit ber reinen Vernunft”), daß ein 
Ding an ſich der Erfcheinung zu Orunde Liegen mag, 
dann (©. 358) daß e8 zu Grunde liegt, endlid (S. 538) 
daß es zu Orunde liegen muß; fo wirb ber negative 
unmöglihe Orenzbegriff des Erkennens zu einem pofitiven 
Eindringling. Das Ding an fi Tann nicht nur fein 
Prädicat erhalten, kann nit nur zu Feiner Erklärung 
benugt werben, da es nichts bewirken ober bedingen fann, 
fondern kann nicht einmal Subftrat der Erſcheinung fein, 
weil die Subfiftenz ebenfo wie die Caufalität nur ſub⸗ 
jective Geltung hat zwiſchen Borftellungen untereinander. 
Mit andern Worten: dad Ding an ſich (oder da der 





Erſcheinung zu Grunde liegende Weſen) ift nit nur 
„ungewiß“ und für und = x, fondern „undenkbar und 
ungereimt" („Kant unb die Epigonen“, S. 51). Diefe Ar- 
gumentation des Wenefidemus erfannte Fichte an und fah 
ein, daß das finnliche empirifche Material der Vorftellun« 
jen ebenfo wie ihre apriorifche Form don innen gegeben 
Fin müfje (nicht wie bei Kant von außen, vom Ding an 
fih). Uber er ließ das Ding an ſich in anderer Form 
beftehen, nämlich als „Ich an ſich“, als das innere, dem 
empiriſchen Ich zu Grunde Tiegende, ſelbſt unerfennbare 
Weſen, als das Ding an ſich, defien Erſcheinung Id bin 
(©. 82). Fichte Hat alfo den Orundfehler Kant's gefannt 
und doc) beftehen laſſen, auch er muthet ung den Wiber» 
fpruc zu, „ein Unvorſtellbares vorzuftellen“. Fries ftelkt 
die drei Grundfäge auf (©. 155): „1) Die Sinnenwelt 
unter Naturgefegen ift nur Erſcheinung; 2) der Erſchei⸗ 
nung liegt ein Sein der Dinge an fi zu Grunde; 3) die 
Sinnenwelt ift die Erſcheinung der Welt der Dinge an 
ſich.“ Aber auch Fries Tann das , Afficirende“, das „zur 
Anfhauung nöthigt”, nicht nachweiſen, fondern denkt es 
ſich blos Hinzu (S. 148). Ebenſo geht Herbart dapon aus, 
daß bie Welt Erfheinung fei, und daß jeder Erfcheinung 
ein Weſen entſprechen müfle. „Wie viel Schein, fo viel 
Hindentung auf Sein“ (6.114). Es ift immer wieder 
derfelbe Iertfum, die unmahre Vorausfegung, daß bie 
Welt Erfheinung fei (S. 189, 195), während doch Er- 
ſcheinung ebenfo wie Dafein, Exiftenz und Wirklichkeit nichts 
weiter als Präbdicate find, die in den Formen unfers Ins 
tellects liegen (©. 209). „Wenn ich verſuche, meine Er 
fenntniß dadurch zu verbefiern, daß ich ftatt der unmittele 
baren finnlihen Anſchauung eine Menge von farblofen, 
nicht wahrnehmbaren Xen vorftelle, deren Complerionen 
und Verhältnifie Grund ber finnlichen Mannichfaltigfeit 
fein follen, fo habe ic alle Änſchaulichteit verloren und 
an Berftänblichfeit nichts gewonnen” (©. 128). An Stelle 
des faljchen confufen Begriffs der Eriftenz muß der rich 
tige gefegt werden: nur das Angeſchaute, die Vorftelung, 
exiftirt — nicht8 weiter („Objectiver Anblid”, ©. 147); jelbft 
mein Leib entfteht erſi, wenn er (vom mir oder andern) 
angefhaut wird, und die ganze Natur hört auf zu exiflie 
ren, fobald fie nicht mehr angeſchaut wird (ebend., ©. 145, 
132). Von einer Eriftenz zu fpreden außerhalb der 
Borftellung ift ein confufer, -falfcher Begriff. 

Auch Schopenhauer hat diefe Irrthlimer nicht über» 
wunden; obwol er einfieht, daß Kant’s Ableitung des 
Dings an fi aus der Caufalität falſch ift, Hält er doch 
am Ding an fi feft, da8 er aus dem Willen ableiten 
will, als ob die innere Wahrnehmung des Willens nicht 
auch blos Vorftellung vom Willen wäre, und als ob man 
von dem in feiner Erfahrung und keinem Bewußtſein zu 
findenden Wilen an ſich überhaupt noch irgendetwas 
ausfagen oder von ihm veben könnie! Auch der Wille 
kann nichts erflären, er Tann keinenfalls (weber als folder 
noch durch feine Objectivität al8 Gehirn) Urfprung der 
apriorifhen Formen des Intellects fein, da ein Urfprung 
nur als caufales Moment einen Sinn hat, Canfalität 
aber nur zwiſchen Vorftellungen untereinander Geltung 
hat („Kant und die Epigonen“, ©. 183). *) 
GEMRSIENLSTB BEIN TER SEN 


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302 Dtto Liebmann und feine Inconſequenzen. 


Schelling und Hegel fallen troß ihrer Verficherungen 
bes Gegentheils noch mehr als Fichte in einen unfritifchen 
Dogmatismus zurüd. 

Sp meit „Kant und die Epigonen”. Ich erfenne mit 
Vergnügen bie anfchauliche Klarheit und Schärfe ber Be 


‚weisführungen an und erachte die Konjequenzen, welche 


Liebmann aus den Kant'ſchen Prämifien zieht, fiir logiſch 
unwiberlegbar. DBergegenwärtigen wir uns furz das po⸗ 
fitive Reſultat biefes kritiſchen Gedankengangs, fo lautet 
es: 1) Ein Ding an fi, ein Weſen hinter der Erſchei⸗ 
nung, ſei e6 nun als unabhängig Objectives oder unab⸗ 
bängig Subjectived gebadht (S. 52), ift nicht nur unbeweis⸗ 
bar und unerfennbar, fondern fich felbft widerfprechend, 
d. h. unmöglich (S. 51, 156); 2) die empirische Welt ift 
nicht Erfcheinung, fondern Wirklichkeit, bedarf aljo gar 
keines Wefens Hinter fih, das in ihr erſchiene (S. 189). 
Die Borftellungswelt ift das einzige, was eriftirt, und 
weder draußen noch drinnen ift die Eriftenz trandfcenden- 
ter Correlate möglich, die diefen Vorſtellungen entfprechen 
könnten; fowol das empirische Ich wie die empirifche Natur 
fammt Berwandten und Fremden ift bloße Vorftellung 
und weiter nichts. Der Traum des Lebens ift die ein- 
zige und wahre Wirklichkeit, ein Traum ohne Träumer, 
ein Traum, ber fich felbft träumt, aber mit nothmwenbiger 
Berknüpfung ber Borftellungen (Caufalität), Wollte man 
fih 3. B. wundern, warum Liebmann „Kant und bie 
Epigonen“ gefchrieben habe zur Belehrung eines Publi⸗ 
fums, da8 doc nur in den Vorftellungen feines fogenann- 
ten Intelleets befteht, fo iſt darauf zu erwibern, daß ber 
Berfaffer wohl weiß, daß mit ber Vorflellung, ein gutes 
Buch gefchrieben zu haben, die Vorftellung, von bem vor- 
getellten Publitum applanbirt zu werden, in nothwendi⸗ 
ger Verknüpfung ftehe, und dag mit letzterer Vorſtellung 
ein angenehmes Gefühl unausweichlich verfmüpft fein werde. 
Die Anticipation dieſes angenehmen Gefühls aber zieht 
wiederum bie Borftellung von dem Schreiben des Buchs 
mit Nothwendigkeit nach fih, was zu erflären war. 
Man fieht, daß ſich auch mit biefer Auffaflungsweife 
leben läßt. Nur zwei Punkte önnten in dem frühern Stand- 
punkt Liebmann’s noch Anftoß erregen, nämlich der In» 
tellect und das Gefühl. Was der Intellect ift, ber fich 
in ben Formen ber Borftellung bewegt und im welchem 
die BVorftellungen find, erfahren wir nicht; follte aber 
damit mehr gemeint fein als das algebraifhe Summen- 
ziehen für den gefammten Vorftellungsverlauf, fo wäre 
fotort wieder da8 Ding an ſich in befter Form reftituirt 
und ber Widerſpruch von neuem eingefchmuggelt. Bes 
denklicher fleht e8 mit bem Gefühl, welches für Liebmann 
diefelbe Klippe geworben zu fern fcheint, wie für Scho⸗ 
penhauer der Wille. Die Sehnſucht nad dem unfagba- 
ren, tiefften Etwas iſt doch file den Philofophen bloße 
Wafelei, fobald das „Surrogat”, welches diefes Gefühl 
bietet, da8 Surrogat für einen unmöglichen und ſich felbft 
widerjprechenden Begriff iſt (S. 67 fg.). Das „mmabhängig 
Objective und unabhängig Subjective” durch das Medium 
des Gefühls retten zu wollen, nachbem das Denken es als 
unmöglich erkannt (5. 156), wäre doch eine „Gefühlsphilo⸗ 
ſophie“ der fchlimmften Sorte (S. 69). Ein unangenehmes 


erflärte, daß er der Eaufalität trandfcenbente Geltu eibt, wa® abe 
Ecqhopenhauner eben nicht wii, er ns zuſqhrelbt, Ion 


Geſtändniß aber iſt es doc, daß Gefühl und Intellect 
fih im unausweichlichen Widerſpruch befinden (S. 200 fg.), 
daß z. B. das Gefühl die „unabhängige Objectivität“ eines 
ltebreizenden Weibes mit Gewalt anerlennen will, wäh- 
rend der Intellect Tächelnd fagen muß: „Meine Gnäbdigfte, 
Sie find ja doch blos ein Secret meines Intellects!“ 
Aber die wächſernen Flügel, mit denen Liebmann „Kant 
und die Epigonen‘ überfliegen wollte, find geſchmolzen; er 
ift von feiner ätherifchen Höhe Herabgeftürzt und krümmt 
fih ald armer Erdenwurm zu den Füßen des alten Mei⸗ 
ſters. Seine Rritit der Epigonen paßt Wort für Wort 
auf ihn felbft als Verfafler der Schrift „Ueber den objecti« 
ven Anblick“, wie der aufmerkſame Leſer fchon hier bemerkt 
baben wird; er Hat fich felbft zu den Todten gelegt, noch 
ehe er geboren war, und es bliebe ihm in der Chat nichts 
mehr übrig, als im einer zweiten Auflage von „Kant und 
die Epigonen” einen neuen kritiſchen Abjchnitt hinzuzu⸗ 
fügen, in welchem er zum Schluß ſich ſelbſt mit feiner 
ftereotypen Wendung (vgl. S. 86) feierlichft beftattete: 
„Liebmann fest die Kant'ſche Philofophie vorand. Kr 
bat die Lchre vom Ding an fid) gefannt und aus ben 
ffeptifchen Angriffen gegen dieſelbe gewußt, baf fie eine 
Inconfequenz war. Er hat aber durch die Anfflellung 
einer intelligibeln Welt von unerkennbaren und unvorftell« 


baren Xen und Y), weldhe ber Erjcheinungswelt zu Grunde - 


liegen follten, denfelben Fehler begangen, alfo die Kant'⸗ 
fche Philofophie in diefem Punkte nicht corrigirt. Alfo 
muß auf Kant zurüdgegangen werben.’ 

Wir find mit unferer immanenten Kritit zu Ende 
und ziehen die Moral der bisherigen Betrachtungen: 
Die von Kant aufgeftellten Principien bes fubjectiven 
Idealismus find bisher noch von keinem confequent 
durchgebildet worden, weil das confequente logiſche Zu⸗ 
Endes Denken derfelben unausweichlich zu einer abfurden 
Karicatur führt. Liebmanu bat das Verbienft, die 
erfte Hälfte diefer Wahrheit in feiner kritiſchen Schrift 
mit Schärfe bargethan zu haben; als ihm aber: felbft die 
pofitiven Confequenzen klar wurben, zog er ebenfalls es 
vor, lieber mit der logiſchen Conſequenz als mit dem 
gefunden Menfchenverfiand zu brechen, gerade wie es Kant 
und die Epigonen gemacht Hatten. Daß ihm aber bies 
als eine Alternative erſchien, fam nur daher, daß er feine 
eigene Devife unausgeführt ließ: „Es muß auf Kant 
zurückgegangen werben‘, d. h., es müſſen die bisher 
blindlings acceptirten Fundamente kritiſch geprüft werden, 
welche zu einem fo unerquicklichen Dilemma geführt has 
ben. Diefe Prüfung hat Liebmann nicht nur verfäumt, 
jondern er Hat auch überfehen, daß fie anderweitig bereits 
theilweife ausgeführt war und zu negativem Reſultate 
geführt Hatte (vgl. Trendelenburg's „Hiftorifche Beiträge 
zur Philoſophie“, dritter Band, 1867, Nr. VI: - „Ueber 
eine Lüde in Kant's Beweis von der ansfchließenden 
Subjectivität des Raums und der Zeit”, und Tren⸗ 
delenburg, „Kuno Fiſcher und fein Sant“, Leipzig 1869). 
Aus der erfigenannten Abhandlung ergibt fi, daß alle 
Epigonen und Kant jelbft fammt dem gefunden Menfchen« 
verftand infofern im Rechte waren, als fie ſich nicht durch 
die Liebmann’schen Confequenzen der Kant'ſchen Principien 
beftriden ließen, und nur infofern im Unrecht, als fie 
der exeluſiv⸗ fubjectiven Geltung von Raum, Zeit und 


— — — — —— — 


on m — — — — — — 


VG ne — — — — — 
ö— Gr —ñ — — — — — — — — 


Feuilleton. 303 


Kategorien nicht unzweideutig und ausdrücklich genug wider⸗ 
ſprochen haben, was Schelling erſt in feiner „Darftellung 
des Naturprocefies” gethan Hat. Durch die reductio ad 
absurdum die Nothwendigkeit einer Revifion der Sant’ 
ſchen Grundprincipien gezeigt zu haben, ift das unfreis 
willige Verdienft der Liebmann’schen Schriften, und in 
diefem Sinne feien diefelben allen empfohlen, die nod) 
heute halbe oder ganze Anhänger des Kant’jchen Idea⸗ 
liomus find, alfo namentlich den Schopenhauerianern. 
Letztere ſeien Übrigens noch bejonders darauf hingewiefen, 
baß die Schopenhaner’sche Philofophie theils noch im Kopfe 
des alternden Meiſters jelbft, theils in feinen Schülern 
ganz benfelben Uebergang vom Idealismus zum Realis⸗ 
mus, oder vom fubjectiven zum objectiven Idealismus 
durhmachen mußte und muß, wie die Fichte'ſche Philoſophie 
in Schelling. Selbft Frauenftädt, der am firengften am 
Meifter feftzuhalten fucht, muß ſich zu dem Zugeſtändniß 
bequemen, 1) daß neben und vor der fubjectivsidealen 


Zweckmäßigkeit eine reale (objectiv-ibeafe) anzuerkennen fei 
(„Unfere Zeit“, 1869, ©. 771—774), 2) daß ueben 
und vor der idealen Bielheit eine reale beftehe (S. 701), 
und 3) daß jede Vielheit dur Raum und Zeit als 
priocipium individuationis vermittelt fei (S. 779), alfo 
auch die reale, dem Bewußtſein vorhergehende Vielheit 
durdy realen Raum und Zeit, wie man fchließen muß. 
Der bedeutendfte Kopf der Schopenhauer’fchen Schule, 
Julius Bahnjen, ftellt fi) unumwunden auf Trendelen⸗ 
burg’8 Seite, indem er die erclufiu »fubjective Gattung 
der Anfchauungsformen verwirft („Beiträge zur Charal- 
terologie“, II, 288—289). Wer fi nicht eigenfinnig in 
anachroniftiichen Anſchauungen gegen die übereinftimmen- 
den Zeugniffe aller von gleichviel welchen Ausgangspunlt 
beginnenden Betrachtungen verblenden will, der muß bie 
Unhaltbarkeit des fubjectiven Idealismus einjehen. 


Eduard von Hartmann. 





Fenilleton. 


Notizen. 

Mar Moltke in Leipzig bat ſoeben die erſte Nummer 
anes „Shakfpeare-Mufeum‘ ericheinen laffen, deſſen Ten⸗ 
denzen fi in dem Xitelfopf bereits deutlich ausprägen. Das 
„Shalipeare- Mufeum‘ ſoll eine Zeitfchrift für Geſchichte und 
Bflege des Shaffpeare- Studiums und Shafipeare- Kultus, ein 
Organ flür Frage nnd Antwort, für Rede uud Gegenrede in 
Shafipeare-Sadıen, ein literarifch-dramaturgifches Erörterungs- 
und Berftändigungsblatt für Shalipeare- Forfher und Shak⸗ 
fpeare- Freunde fein. Nach dem auge ebenen Programm mill 
es in einem anthologijch » efleftifchen Abe die wichtigften, nicht 
in Geftalt felbftändiger Druckſchriften erfhienenen Abhandlun⸗ 
gen und Aufſätze, fomie anderweitige in wiffenfchaftlihen und 
poetiihen Werfen enthaltenen Exeurſe, Ausiprüde oder Ge- 
dichte über und auf Shalipeare jammeln und mit Anmerkun⸗ 
gen begleiten, in feinem originalen Theile jelbfländige Abhand- 
Inmgen, fritifche Neberfetzungspergleiche, Recenſionen über neue 
Erfheinungen der Shalipeare-Titeratur bringen, aud eine mit 
befonderer Sorgfalt gepflegte Lesartenmuſterung. Dem „Jahr⸗ 
buch der Dentihen Shakſpeare⸗Gefellſchaft“ will das Blatt nicht 
Concurrenz machen, fondern ihm recht eigentlich in die Hände 
arbeiten. Das „Shakſpeare-⸗Muſenm“ erjcheint in zwangloſen 
kieferungen an einem in Shalſpeare's eigenem Leben bedeu- 
tungevollen Tage, oder auf den Geburts- und Todestag eines 
um Ghaffpeare verdienten Forſchers oder Dichters, jo 3. ©. 
die zweite Nummer am 9. Mai (Schiller's Todestag), die 
dritte am 31. Mai (Tied’s Geburtstag) u. |. w. 

Der gewifjenhafte Fleiß Mar Moltke's ift aus feinem 
„Dentihen Sprahwart‘, aus feiner Shakſpeare⸗Ueberſetzung, 
feiner Ausgabe des „Hamlet“ u. f. w. zur Genlge belannt; 
ex gebietet Über ein außerordentliches literarisches Material und 
weiß außerdem feine Blätter in einen anregenden Sprechſaal, 
ſeine Leſer in Mitarbeiter zu verwandeln; wir ‚können alfo 
dem „Shaljpeare- Miufeum’‘ nad diefer Seite Hin ein gutes 
Brognoftifon flellen. Möge es nur nicht die philologiſche 
Nußknackerei allzu fehr begünſtigen und den blauen Apotheofen- 
dunſt, ſondern auch das Recht ber modernen Kritit gegenüber 
den Dichtwerken Shakſpeare's zur Geltung bringen und daß 
Berhältniß unferer Bühnen zu feinen Schöpfungen berüdfichtigen. 
Dies gefchieht in dem vorliegenden erfien Heft nur in einer 
Miscele: „Hamlet in Leipzig‘, in welcher der „Advocat Ham⸗ 
It” als ein „Wfterhamlet” und „Hamletaffe‘ nad; Gebühr 
gegeifelt wird. Schr reichhaltig ift das „Shalſpeare Stamm⸗ 
buch”; Leopold Nantes und Johannes Scherr's Urteile über 
Shalfpeare, fowie Goethe's Aufſatz: „„Shalipeare und kein 


Ende”, kommen bier zum Abdruck. Der Herausgeber d. BT. 
erhält dabei eine levis notae macula, weil er in feinen „Lite 
roturbriefen an eine Dame’ in der „Sartenlaube” jene Lieber» 
fchrift als einen „Seufzer“ Goethe's betrachtete. Dies iſt aller- 
dinge nicht der Fall; Goethe rechtfertigt mr, daß er, troß 
jenes Seufjers, der in der Ausdrudsmeije des Titels unlenge 
bar liegt, auf Shaffpeare zurüdlommt; er erflärt dies damit, 
daß es die Eigenfhaft des Geiftes fei, daß er den Geiſt ewig 
anrege. Wir befennen daher, uns einer kleinen Imcorrectbeit 
ſchuldig gemadt zu haben, indem wir nur die Weberfchrift 
und nit die Erläuterung derfelben ins Auge faßten. 

Die bei Meyer in Hildburghaufen (Bibliographifches In- 


ſchteitet rüftig dor. Es Tiegerr uns die Hefte 108-113 vor. 
Sie enthalten: Byron's dramatiſche Werke, liberiett von W. 
Grutzmacher in zwei Heften („DManfred”, „Kain'‘, „Himmel und 
Erde‘, „Sardanapal“), Goldſmith's „Landprediger von Wale- 
field”, überfegt von Karl Eitner; Rouſſeau's „Belenntniffe‘, 
deutſch von Levin Schücking (bisjett drei Hefte), dem filnften 
Band des „Spaniſchen Theaters‘, herausgegeben von Morik 
Rapp (enthaltend Schanſpiele von Zirjo de Molina), Ghat- 
fpeare's „Antonius und Kleopatra‘‘, überjegt von Karl Sim⸗ 
rod, „Coriolan‘, „König Heinrid) IV. (2 Theile) und „Hein⸗ 
rich V.“, überfegt von Heinrich Biehoff. 


Bibliographie. 

Ener B., Davos in feinem Walferbialelt.e Ein Beitrag zur 
Kenntniß diefes Hochthals und zum ſchweizeriſchen Idiotikon. J. Sealco- 
raphiſcher Theil. eigebe: Wanderung turh Davos.) 1fte® Balbbänd- 
hen, A—8, Beidelberg. Gr. 8. 1 Thlr. 

Eſchebach, A., Aus der Buchbinderwerkſtatt. Gedichte. Berlin’ 
Loewenftein. 16. 7!/, Nor. 
Holtsmann, A., Altdeutsche Grammatik, umfassend die gothische, 
altnordische, altsüchsische, augelsächsische und althochdeutsche Sprache. 
ister Band. iste Abtheilnug. Die specielle Lautiehre. Leipsig, Brock- 


haus. Gr. 8. 1 Thlr, 20 Ngr. 

Kozmian, St. v., Graf Bismard und jein Werk, ber ide 
335 ine Dorn Bruni Vebertragungen von &M. P.⸗Pleß. 

ofen, ab. ®r. 8. r. 

öller, J., Ueber unfere weibliche Erziehung. Ein Bortrag. Kö⸗ 
nigeberg, Gräfe u. Unzer. Gr. 8. 3 zar. . 

Morgenftern, I, Die franzöfiige AHcademie unb bie ‚‚Beographie 
des Zalmubs”. Berlin, Benzian, S. 15 Nor. 
Der Nibelunge Nöt mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet, 


1 Tbir. 10 Ngr. 
Rüdert, F., Die Weisheit des Brahmanen. Ein Lehrgebit. Tie 
Aufl. Leipzig, Divzel. 8. 2 Thlr. 
uborfi, &., Gtunben ber Weihe. Cine Sammlung von Ausiprä- 
hen Friedr. Schleiermachers. Berlin, Boettcher. Gr. 16. 15 Ner. 





flitut) erfcheinende „Bibliothek ausländifher Elaffifer" 


deu Lesarten sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuche heraus- . 
gegeben von K. Bartsch. ister Theil. Text, Leipzig, Brockhaus. Gr. 8. 








Unze 


Anzeigen. 


igen. 


— — — 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erjdien: 


Endwig Börne. 


Lichtſtrahlen aus feinen Werten. 
Mit einer Biographie Börne's. 
Bon Guftau Karpeles. 
8. Geh. 1 Thir. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr. 


Cine überficgtlich geordnete Sammlung der originellen und 
vielfeitig onregenden Ideen in Ludwig Borne's Schriften, wie 
fie hier zum erften mal geboten wird, darf anf zahlreiche 
Freunde rechnen. Auch durch das mohlausgeführte Lebens⸗ 
und Charalterbild Börne's, welches der Heransgeber den ge- 
fammelten Stellen voranfchidt, empfiehlt ſich das Buch freund- 
licher Aufnahme. 

Doffelbe reiht fich folgenden, unter dem gemeinfamen 
Titel „Lichtſtrahlen“ im gleichen Berlage ervichienenen 
Sammlungen an: 


Johann Gottlieb Fichte. Lichtfirahlen aus feinen Werten und 
Briefen nebft einem Lebensabriß. Bon Eduard Fichte 
Mit Beiträgen von ISmmannel Hermann Fidte. 

Georg Forſter. Lichtftrahlen aus feinen Briefen an Reinhold 
garten Friedrich Heinrich Iacobi, Lichtenberg, Heyne, Merch, 

uber, Sohannes von Müller, feine Gattin Thereſe, und 
aus feinen Werken. Mit einer Biographie Forſter's. Bon 
Elifa Maier. 

Goethe als Erzieher. Lichtſtrahlen aus feinen Werken. Ein 
Sandbuch für Haus und Familie von Philipp Merz. 

Johaun Gottfried von Herder. Lichtftrahlen aus feinen Wer⸗ 
Pr ne einer biographifchen Einleitung. Bon Horf 

eferftein. 

Wilhelm von Humboldt. Lichtftrahlen aus feinen Briefen an 
eine Kreundin, an Frau von Wolzogen, Schiller, &. Forfter 
und %. 4. Wolf. it einer Biographie Humboldt's. Bon 
Elifa Maier. Fünfte Auflage. 

Gotthoid Ephraim Leſſiug. Lichtficahlen aus feinen Schrif- 

| in und Briefen. Mit einer Einleitung. Bon Friedrich 

vemer. 

Friedrich Schleiermacher. Lichtſtrahlen aus feinen Briefen und 
fänmtlihen Werten. Mit einer Biographie Schleiermacher's. 
Bon Elifa Maier. 

Arthur Schopenhaner. Lichtfirahlen aus feinen Werken. Mit 
einer Biographie und Charakteriftit Schopenhauer’s.. Bon 
Zulinus Krauenffädt Zweite Auflage. 

William Shalſpeare als Lehrer ber Menſchheit. Lichtſtrahlen 
aus feinen Werken, nebſt einer Einleitung. Bon Hermann 
Marggraff. 


Jedes biefer Werke koſtet geheftet 1Thlr., gebunden 1Thlr. 10 Ngr. 





Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Gedichte 


von 
Adolf Ritter von Tihabnihnige. 
Dritte Auflage. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Ngr. 





Die Gedichte Tſchabuſchnigg's (gegenwärtig Öflerreichifcher | 


Minifter), bereits in zwei Auflagen verbreitet, liegen hier in 
einer bedeutend vermehrten dritten Auflage vor. 


Verlag von F. Henschel, Berlin. 


Tiberius und Taeitus 


von 


L. Freytag. 


234, Bogen 8. Eleg. geh. 2 Thir. 10 Sgr. 


Die Lehren vom Zufall 


von 


Dr. W. Windelband. 


5 Bogen gr. 8. Eleg. geh. 15 Sgr. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Shaedon 


oder 


Ueber die Unſterblichkeit der Seele. 
Derufalem 
oder 


Ueber religisfe Macht und Judeuthum. 


urn pop 


Bon Mofes Mendelsfohn. 
Mit Sinleitung und Anmerkungen Berausgegeben von 
Arnold Bodek. 
8. Geh. 10 Ngr. Geb. 15 Ngr. 


„Phaedon“ und „Serufalem‘ find befanntlich die Haupt⸗ 
werte Mofes Mendel sſohn's und zugleich diejenigen, welche 
dem gegenwärtigen Gejchlecht nit nur nod volllommen ver- 
ſtändlich find, fondern auch in vielen Punkten, namentlih was 
Denk⸗ und Glaubensfreiheit und das Verhältniß zwiſchen Staat 
und Kirche betrifft, gerade jet wieder als leuchtende Wegweiſer 
dienen können. Zum erſten mal werben bie beiden Schriften 
hier in einem Band vereinigt, von dem Herausgeber mit einer 
ausführlichen Biographie Mendelsſohn's begleitet, und zu fo 
wohlfeilem Preile dargeboten. 

Die Ausgabe bildet zugleich den 28. Band der in demſel⸗ 
ben Berfage eriheinenden „Bibliothek der dentſchen National: 
Siteratur des 18. und 19. Jahrhunderts“; jeder Band der 
Sammlung koftet geh. 10 Ngr., geb. 15 Ngr. 








Im Verlage der Hahn’schen Hofbuchhandlung in Han- 
nover ist soeben erschienen und durch alle Buchhandlun- 
gen zu beziehen: Di 

6 


Länder an der untern Donau 
und Konstantinopel. 


Reise-Erinnerungen aus dem Herbst 1868 von 
Dr. W. Brennecke, 


Direkter der Realschule zu Posen. 
Gr. 8 Geh. 24 Sgr. 


Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Srochhaus. — Drud und Verlag von S. A, Srodhaus in Leipzig. 





| 


— — —— — — 


Blätter 
literarifde Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


ea Ar. 20, 9 


12. Mai 1870. 





Inhalt: Gefammelte Efjage. Bon udolf @ottigel. — Zur ſocialreformatoriſchen Literatur. Bon Aurelio Buddeus. — Neuere 


Werte deutſcher Humoriften. Bon Emil Müller: Gamdwegen. — 


Sammlwerle und Ueberfegungen. Bon Wilselm Andrei, — 


Feuilleton. (Englie Urteile ber neue Erfejeinungen ber deutfcjen Literatur.) — Bibllographle. — Anzeigen, 





Gefammelte Eſſays. 


1. Studien und Kritifen jur 


hiloſophie und Aeſthetil. Bon 
Robert Zimmermann. 


wei Bände. Wien, Braumliller. 
1870. Gr. 8. 4 Thle. 


2. Englifhe Charalterbildter. Bon Friedrich Althaus. 

Fe Bände. Berlin, von Deder. 1869. Gr. 8. 
It. 

3. „Am faufenden Webſtuhl ber Zeit." Bon Feodor Wehl. 
Zwei Bände, Leipzig, Matthes. 1869. 8. 2 Thlr. 

4. Litterarifcher Nachlaß von Friedrih von Ranmer. Mit 
dem photographirten Bildniß des Verfaſſers. Zwei Bände. 
Berlin, Mittler und Sohn. Gr. 8. 2 Thlr. 

5. Licht- und Tonwellen. Ein Buch der Frauen und Dichter. 
Aus dem Naclah der Fofepha von Hoffinger. Herans- 
gegeben und mit einer Lebens nnd Chara! figge verſehen 
durh Johann von Hoffinger. Wien, Prandel. 
1870. 8. 1 Thfr. 

6. Kritit der Sciller-, Shaffpeare- und Goethe ſchen Fraueu⸗ 
harattere von Julie Freymann. Gießen, Roth. 1869. 
Gr. 16. 1 Thir. 

7. Borlejungen von Bogumil Gold. Zwei Bände. Berlin, 
Ianfe. 1869. Gr. 16. 2 Zhle. B 
Neben den größern Werken, bie ihre Themata in ſy⸗ 

ftematifhen Zufammenhang ausführen, geht in Deutſch- 

land immer eine reiche Fiteratur von Efjays, Skizzen, 
gefammelten Aufjägen einher, wie ſchon in frühern Zei⸗ 
ten unfere alten Gelehrten neben ihren wiffenfchaftlichen 

Hauptwerfen Nlores et amoenitates ihrer Nebenftunden 

zu veröffentlichen pflegten. Ja es gibt geiftreiche Köpfe, 

welche gleichfan „Fragmentarifch” zur Welt gelommen find 
und über die Form der Skizze nicht hinausgehen, in 
diefer Form aber eine höchſt anregende und oft bebeutende 

Wirkung ausüben. Gebanken von fehöpferifcher Keim» 

traft find nicht an das Syſtem gebunden; auch ber Flug · 

famen des Apergu ſichert ihnen eine weitreichende Ber- 

breitung, und aus mandem verftrenten Samenkorn wächſt 
eine herrliche Pflanze empor. 

Es liegt ung eine Zahl von Werfen vor, die ihre jour- 
naliſtiſche Herkunft nicht verleugnen, eine Zahl von Efjays, 
ChHarakteriftifen von Dentern, Dichtern und Staatmännern, 

1870. 2. 


von Borlefungen über fociale und literariſche Themata, 
die aber doch in folder Zufammenftellung eine mächtigere 
Gebantenphalanr bilden als in der zerftreuten Solirtheit 
journaliſtiſcher Exiſtenz. Der weſentliche Unterſchied des 
Eindruds, den ſie in dieſer neuen Faſſung machen, von 
dem frügern beruht wol darauf, daß ber einzelne Journale 
artitel für die Sache, die ex vertritt, Propaganda macht, 
während die Perfönlichteit feines Autors dabei in den 
Hintergrund tritt; daß aber umgefehrt jede Sammlung 
von Eijays und Auffägen aud) die geiftige Bebentung des 
Berfaflers ins Licht fett, als das innere Band, weldes 
die einzelnen Geiftesblüten zufammenhält. Jedes Journal 
hat feine beftimmte Phyſiognomie, feine eigene Gefammt« 
perfönlichkeit, in welcher die Perſönlichkeit der Mitarbeiter 
aufgeht. Will dieſe ſich mach Gebühr zur Geltung brin- 
en, fo müſſen die zerftreuten Auffäge von der journali- 
ifhen Unfelbftändigfeit erlöft und gefammelt werben, 
um fo als Ausftrahlungen eines und deſſelben Geiſtes 
aud für die fchaffende Kraft zu intereffiren, aus ber fie 
hervorgegangen find. 


Die „Studien und Fritifen zur Philofophie und 
Aeſthetik“ von Robert Zimmermann (Mr. 1) zeigen 
durchweg den feinfinnigen Geift eines Philofophen ber 
Herbart'ſchen Schule, welcher beſonders der Aeftdetik, 
einer von Herbart nicht felbftändig gepflegten Disciplin, 
die aber doch, über dem Kreis der Künfte übergreifend, 
bei ihm die Ethik und Socialphilofopgie beftimmt, einen 
eifeigen Eultus widmet. Auch die vornehme Entfremdung 
der Herbart’ichen Schule gegenüber der zeitgenöffifchen 
Literatur ift ein Bann, der von Zimmermann durchbrochen 
wird, indem dieſer tüchtige Gelehrte mehrere hervorragende 
Größen des modernen Parnaffes einer eingehenden Ana- 
lyſe unterwirft. 

Bir wollen zuerſt den zweiten Band feiner „Studien und 
Keititen“ betrachten, ber die Separatitberfchrift „Zur Aeſthe ⸗ 

3 


— 








tik“ trägt. Hier finden fi) Charakteriftifen von Grillparzer, 
Hebbel und Auerbach, die von einer genauen Kenntniß diefer 
Schriftfteller und ihrer Werke Zeugniß ablegen. Das Por- 
trät des erſten Poeten bildet den Abſchluß eines Auffages: 
„Bon Ayrenhoff bis Grillparzer. Zur Gefchichte bes Dra⸗ 
mas in Defterreih” — ein Auffag, mit welchen man hie 
Darſtellung deſſelben Stoffe in Joſeph Bayer's Werk: 
„Von Gotiſched bis Schiller“, vergleichen mag, deſſen 
Anhang fie bildet unter dem Titel: „Bemerkungen: über 
die dramatische Dichtung in Oeſterreich.“ Weder Bayer 
noch Zimmermann erwähnen Heinrich Laube, der doch, 
wie man auch über feine Bühnenleitung und feine dra⸗ 
matifhen Productionen denken möge, für die Geſchichte 
des Dramas in Defterreih von Wichtigkeit geworden ift. 
Zimmermann gebenkt Hebbel’8, der die ragen der Ges 
genwart auf die öſterreichiſchen Bilhnen verpflanzt habe. 
Dies gilt body in höherm Maße von Laube's dramatifcher 
und dramaturgifcher Thätigkeit. Denn daß in Hebbel's 
„Ribelungen” 3. B. eine „Trage der Gegenwart” behan« 
belt werde, das ift boch eine allzu kühne Behauptung der 
Hebbel’fchen Dramaturgen. 

Bon Ayrenhoff, „Oeſterreichs Racine” — dein fanatifchen 
Shaffpeare-Feind, der Shakſpeare's Sleopatra „eine Metze 
von ber Wachifinbe”, den Dichter jelbit „einen Lunft- und 
geſchmackloſen Meifterfünger‘, feine Werke „Ungeheuer, 
den Hamlet „einen fchlecht durchgeführten, albernen, un⸗ 
moralifchen und verächtlichen Charakter“, den Othello einen 
„Gecken“, den Heinrich V. einen „Stallknecht“, und den 
Berfaffer des „Götz“ fowie feinen Freund Lenz „geſchmackloſe 
Nachahmer des Shalſpeare'ſchen Unrathes“ nennt — er- 
halten wir ein im fichern Umriſſen gezeichnetes Bild; 
ebenjo von Heinrich Kollin, ben Johannes Müller 
„Oeſterreichs Corneille” nannte, und deffen antikes, ethiſch⸗ 
politiiches Pathos von Zimmermann mit Nachdruck Her 
vorgehoben wird. Eollin’8 Dramen find alle mit Herois⸗ 
mus getränft; bie Helden treten faft alle in Situationen 
auf, in welchen ihre ſittliche Gefinnung ihnen feine andere 
Wahl läßt als den freiwilligen Tod. Collin wird von 
Zimmermann als öfterreichifcher Nationaldichter bezeichnet: 
ein Prädicat, da8 dem größer Dichter Franz Grillparzer 
ebenfalld zugeeignet wird; es Heißt von ihnen, daß fie 
„um Geifte der gefammtftaatlichen Regierung ein nationales 
Drama und ein nationales Theater‘ zu fchaffen verfuchten, 
um mittels berfelben ein nationales öfterreichifches Be⸗ 
wußtjein zu erweden“. Unſer Philoſoph vergißt, daß es 
ein nationales öfterreichifches Bewußtfein gar nicht geben 
ann, da die Defterreicher keine „Nation“ bilden, fondern 
ein aus verfchiebenen Nationalitäten beftehendes Gefammt- 
reich. Ein „ſtaatliches“ öfterreichifches Bewußtſein könnte 
man allenfalls gelten laſſen, um fo mehr, als die deutjche 
Nation als die herrfchende den Geſammiſtaat vertritt. 
Was aber eine nationale Öfterreichifche Poeſie zu bedeuten 
bat, das ift uns trotz aller Auseinanderfegungen Zimmer- 
mann’s unklar geblieben. Dan kann die in Defterreich 
geborenen Lyriker und Dramatiler öſterreichiſche Dichter 
nennen; man kann bei einzelnen hervorheben, daß fie die 
Tendenzen des öſterreichiſchen Geſammtſtaates fürderten, 
was bei Grillparzer übrigens doch nur in dem einen Drama: 
„König Ottokar's Glück und Ende”, welches den Sieg 
des deutſchen Rechts über ſlawiſchen Trotz verherrlichen 


306 Geſammelte Eſſays. 


fol, der Fall iſt; aber als Dichter find fie doch alle 
deutjch-nationafe Dichter; es ift nicht vortheilhaft, fie als 
aparte Klaſſe abzuzweigen, und wenn man rikparzer 
den „Schiller Oeſterreichs“ nennt, fo will man bamit 
doch nur den Primus in einer Secunda bezeichnen. Wir 
haben Grillparzer’s ſchönes Talent, wie es ſich namentlid 
in der „Sappho” offenbart, mit größerer Wärme aus 
erfannt, als dies andere norddeutſche Literaturhiftorifer zu 
tbun pflegen; aber eine Apotheoſe verfehlter Dramen, wie 
der „Ahnfrau“, Liegt doch außerhalb ber Sphäre unpar- 


‚tetifcher Kritik. Der Kritiker verwandelt fi) dadurch in 


den Wpologeten. Das ift bei Zimmermann unlängft 
der Tal, wenn er von einer fühnen und ethifchen 
Bergeltungsidee in der „Ahnfrau“ fpriht und das echt 
„Schiller'ſche Nemefisprincip”, das in ihr wie in der 
„Braut von Meffina” herrſcht, nicht mit dem albernen 
Müllner'ſchen Fatuu verwechfelt fehen wil. Es ift doch 
offenbare Sophiftit, wenn Zimmermann fagt: 

Beide Dichter haben im Gegentheil es ſich angelegen fein 
laffen, der eine den Fall des Meffinefer, der andere den des 
Borotiner Haufes durd die „Sreuelthaten ohne Namen‘, welde 
diefelben beherbergen, fo ftreng als möglich zu begrlinden. Diefe 
Verbrechen wirken uugefehen fort, weil im Leibeserben des 
Verbrechers dieſer jelbft fortbefteht; weil, obgleich ſcheinbar 
eine andere Perſon, die organiſche Anlage des Handelnden noch 
immer bie des urſprünglichen Uebelthäters iſt; weil in Don 
Eefar das phyſiſche und moralifche Naturell des alten Flrften, 
im Räuber Iaromir das flündenvergiftete und fündengebärende 
Blut der Ahnenmutter fih erhalten Hat. Die Schuld bes 
Ahnen rechtfertigt deſſen Strafe ethiſch, die Identität des 
im Bor» und Nachfahren flteßenden Lebensftroms die Beftra- 
fung des erftern im legtern weniger pſycho⸗ als vielmehr 
phyfiologiſch. 

Was iſt damit gewonnen? Das moderne Bewußtſein 
ſträubt ſich gegen die Sühne einer überlieferten Familien⸗ 
ſchuld; es erkennt derartige ethiſche Zuſammenhänge nicht 
an. Das Drama verlangt, daß der Held der Thäter 
ſeiner Thaten ſei, aber auch nur für dieſe verantwortlich 
gemacht werde; der Jaromir, welcher nach Zimmermann's 
Behauptung nur das ſichtbare Gefäß iſt, in welchem der 
ſündige Geiſt der längſt geſchiedenen Stammmutter in der 
Außenwelt fortfrevelt, iſt eine Marionette, kein drama⸗ 
tiſcher Held. Und gar die Ahnfrau, eine Geiſtergeſtalt 
im Drama, ſoll durch das Intereſſe der Kunſt gerecht⸗ 
fertigt werden: 

Wenn es die Aufgabe der Philoſophie iſt, durch den Ge 
danken, der Kumft dagegen, durch die Sinne, ber dramatifchen 
insbeſondere, durch ſichtbare Gegenwart auf das Auge zu wirfen, 
fo if in dieſem Punkte Schiller vielleicht philoſophiſcher, 
Grillparzer ohne Zweifel dramatifcher verfahren. Schiller, ber 
Kantianer, ſchloß das Intelligible, da es die Sichtbarfeit aus- 
hließt, aud von der Bühne aus; Grillparzer nimmt keinen 
Anftand, wo die dramatifche Wirkung es zu verlangen fcheint, 
dem Beiſpiele Shalſpeare's folgend, das Intelligibfe feinem 


Begriffe zuwider fihtbar darzuftellen. Wie er in richtiger Er⸗ 


tenntniß deffen, was die dramatifhe Handlung verlangt, feinem 
Principe zum Trotz die Willensfreiheit zu retten, den unwider⸗ 
ftehlichen in einen blos „‚verftärkten‘ Anreiz zum Böfen zu 
verwandeln fi bemüht, jo nimmt er bier, um Bergangenes, 
wie e8 die Form des Dramas fordert, als gegenwärtig darzu⸗ 
ftellen, lieber zur Geiftererfcheinung, für die es als Intelligibles 
feine Zeitfchrante gibt, feine Zuflucht. | 
Der theatralifhe Spuk als Verkörperung bes Intel⸗ 
ligibeln, als dramatische Kunſtthat — das ift offenbar 
eine fophiftifche Beweisführung. Wenn Jaromir ein 





Gefammelte Effays. 807 


Menſch don Fleiſch und Blut, aber nicht der wahre 
Thäter ift, fo ift die Ahnfrau, die wahre Thäterin, 
dagegen ein Geſpenſt, für defien Schidfale ſich fein 
vernünftiger Menſch interefficen Tann. Nicht blos die 
Schuld und die Sühne find vernunftwidrig und undra- 
matiſch an zwei verjchiedene Perfönlichkeiten vertheilt; die 
dramatische Action und der Wille ift bei dem Gefpenft, 
die Willenlofigfeit bei dem handelnden Menſchen: ein 
Programm fir die Vorftellungen eines Magnctifeurs und 
Geifterfehers, nicht für ein Drama. 

Zimmermann geht in der Wpotheofe Grillparzer’s 
glüclicherweife nicht fo weit, aud) für das verfehlte Stüd: 
„Der treue Diener feines Herrn“, eine Rechtfertigung zu 
ſchreiben. Ex gleitet über den Miserfolg deffelben mit 
der Bemerkung hinweg, daß die „dem modernen Fühlen 
allerdings unverftändlich gewordene, obgleich echt mittel- 
alterliche Vaſallentreue“ des Banlbanus von der gereizten 
öffentlichen Meinung als „Hunbetreue” verurtheift worden 
ſei. Jedenfalls zeigt das Stück fowie „Die Ahnfran“, 
daß Grillparzer nicht auf ber geiftigen Höhe einer freien 
und großen Weltanfhauung fteht, welche den Sündenfall 
in romantiſchen Fatalismus und politifchen Servilismus 
ausſchließt. J 

Der zweite Abſchnitt: „Shalſpeareana“, enthält 
zunädft einen Auffag: „Hamlet und Viſcher“, in welchem 
Zimmermann neue Schlüffel für das Berftändniß der 
engliſchen Tragödie ſucht. Im diefer oder jener Stelle 
wird von den Auslegern ber Grumbaccord für bie 
Gedanfenfymphonie dieſes Werls gefunden. Wehnlic wie 
Storffrich in feinen „Pſychologiſchen Aufſchlüſſen über 
Shaljpeare'3 Hamlet” fieht Zimmermann diefen Schlüffel 
in ben Worten, mit denen der Dänenprinz bie Truntſucht 
feiner Landsleute Harakterifirt, obwol wir von vornherein 
zweifeln, daß der Dichter fo leichtſinnig feinen Grund» 
gebanfen bei fo unwichtiger Gelegenheit aus der Tafche 
verloren haben ſollte. Hamlet ſpricht da vom einer 
„Angewöhnung“, von ber „Livree der Natur“, vom „Stern 
des Schidjals“, und nun wird anf dieſem Schlüffel bie 
Grundmelodie de8 gamzen Stüds gepfiffen. 

Sollte es eines Seelenfenners wie Shakfpeare_ unwürdig 
geweſen fein, Fluch und Gegen der Herrſchaft der Gewohnheit 
in einem umfafjenden Gemälde zu entwideln, in welchem Edle 
und Unedle, Hohle und Tieffüplende an den Folgen der durch 
Gewöhnung zur Livree der Natur gewordenen Ueberwucherung 
des äußern Scheins · fiber ben Innern Seinsmenfchen in tragi- 
ſcher Selbftzerflörung zu Grunde gehen? 

Hamlet ift alfo die Tragödie der gedankenloſen Ger 
mwöhnung — immerhin! Ein geiſtreiches Stüd bietet der 
Auffaffung viele Seiten, und mit einigem Scharfſinn 
läßt ſich jede diefer Seiten verallgemeinern als das gei- 
ſtige Grundwefen des Dramas. Wir machen indeß dar- 
auf aufmerfjant, daß der Gegenfag zwiſchen dem äufern 
Schein und dem imnern Sein zu ben Grundzügen ber 
Shalſpeare ſchen Lebensphilofophie gehört und in fehr vielen 
Reflerionen feiner Hauptwerke wieberfehrt. 

Der Aufſatz über „Shalſpeare's Sonette” enthält wer 
nig Neues. Die Kritik über „Rümelin und den Realismus“ 
hält ſich in den Schranken maßvoller Polemit; er gibt 
ihm recht, was den Nachweis betrifft, daß Shaffpeare's 
Nationaldihterrugm bei den Zeitgenofien ein Mythus 
feiz dagegen widerſpricht er dem Tadel, der von feiten 


Rumelin's das dramatische Compofitionstafent Shafefpeare's 
und feinen Weltverftand trifft. Cine fehr genane Anafyfe 
gibt Zimmermann von Hebbel's „Nibelungen“. Die Auf 
fafjung ift geiftreic), führt Perfpectiven weiter ans, welde 
die Dichtung doch nur andeutete; jeder moderne Drama- 
tifer Tann zufrieden fein, wenn er einen fo liebevoll ein 
gehenden Commentator findet. Gleichwol dürfte der Ta- 
del, welcher ben dritten Theil trifft, Herber fein, als es 
den Anſchein hat und Zimmermann felbft beabfichtigte: 

Nach fat ermüdender Dehnung im Lauf des zweiten, drit ⸗ 
ten nud vierten Actes, wo man dem Dichter be Mulhe an- 
merkt, dem raſch zur Kataſtrophe forteilenden Gang der Hande 
fung aufzuhalten, thürmt gegen den Schluß ein Todtenberg ſich 
auf, von einem Blutmeere befpilt, in welchem die von fird- 
mendem Blut bfind taftenden Helden bis ans Knie watend 
fi untereinander würgen. Wir bewundern den Dichter, dem 
hier noch Worte zu Gebote ſtehen, wo uns der Athem flodt, 
der troß Flammen und Leichenduft die einzige fühlende Bruft 
unter Larven fein Suhnwert zu Ende führt. Zuletzt Hille 
alles der Dualm ein, in dem bie kampfenden Helden wie 
Niefenfhatten umherſchwanken. Reden und Thaten arten ber- 
mafen ins Monfröfe ays, daß dom furchtbar Erhabenen mit · 
unter der Umfchlag ins Parodifde nahe Liegt. Die Grenzen 
des Epos find mehr als erreicht, die des Dramatifchen fiber« 
Schritten. Was kaum ſich erzählen läßt, ift noch viel weniger 
darflellbar. 

Eine breit ins Epifche verlaufende Sarblung in drei 
Hauptacten, eine Kataftrophe von einer ſich felbft paro- 
direnden Grußlichkeit — mas bleibt da nod für ein 
Lob übrig? 

Weit interefianter erfcheint uns die Charakteriftif 
Friedrich Hebbel's, nach unferer Anfiht die Glanzpartie 
in der Sammlung, durch jene einheitliche Behandlung, 
welche man felten bei ben Philofophen ber „realen Bielen” 
findet. Hier aber trifft fie den Kern dichterifcher Eigen- 
thümlichfeit. Aehnlich wie Linne die Eintheilung der ge- 
ſammten Pflanzenwelt auf das Saeattyfen begründete, 
führt Zimmermann ale Dramen Hebbel'3 zurüd auf ein 
feruales Princip, deſſen verjchiedene Modificationen den 
Orumbdgebanfen der einzelnen Stüde beftimmen. Dies if 
keine aufgedrungene, fonbern eine durchaus ungezwungene 
Berweisführung, denn fie ift in vollem Einklang mit der 
Sade; der gefchlechtlihe Gegenſatz ift das große Agens 
der Hebbel ſchen Dramatik, bie himmelmeit entfernt iſt 
von der ae, welche das Schönfte auf den Fluren 
ſucht, um die Geliebte zu ſchmüden; eher verfällt fie oft 
in einen bacchantiſchen Gi atlnehienfe Das Pathologifche 
und Phyſiologiſche überwiegt bei weitem bie eigentlichen 
Gefühlsmomente. Gibt es einen größern Gegenfatz 
gegen die Heldin einer Shaleſpeare ſchen Liebestragddie, 
eine Iulia, als die Maria Magdalena, „das pfiffige 
Bürgermäbchen, das fi mit kuhlem Raffinement aus 
Intereſſe preisgibt“, oder jene Hebbel’jche Yulia, die 
fi mit einem impotenten Eynifer trauen läßt in einer 
Scheinehe, um einen feiern Fehl zu verdeden und unter 
biefer Birma dem Geliebten nad, wie vor anzugehören? 
Beide Heldinnen befinden ſich überdies im Stadium der 
Schwangerſchaft, welches zwar manches abnorme Gelüfte 
rechtfertigt, an deſſen Bühnengemüßheit man aber wol 
mit Recht zweifeln darf. 

Zimmermann findet die vier weiblichen Hauptcharaktere 
der Hebbel’fchen Iugenddramen: die Witwe, die Braut, 
die wahre und die Scheinfran, mit der Symmetrie einer 

39* 








308 Gefammelte Effays. 


logiſch erfchöpfenden Eintheilung angelegt und fajert uns 
diefe ſchematiſche Tabelle in folgender Weiſe auseinander: 

Judith und Magdalena beweiien, daß fein revolutionärer 
Groll der Hingebung ohne Neigung, Genofeva und Julia, daß 
er der Ehe ohne Liebe galt. Sein Motiv der Berberrlichung, 
wie das der Verachtung bes Weibes ift ein weſentlich fittliches. 
Die Handlung der Judith legt dar, daß, was die Welt Unfitte 
nennt, immer noch fittli, die Situation ber Julia, daß, was 
jene Sitte tauft, tief unfittlich fein Tann. Der fittlichen Unfitte 
der Iudith flieht die fittlihe Sitte Genofeva's, Julia's unfitt- 
licher Sitte die unfittliche Unfitte der Magdalena gegenüber. 
Das fociale Problem der Stellung des Weibes zum Manne ift 
mit dem Scarffinn bes Logikers nad der 
Gegenfäte durchgearbeitet. 

Sn den fpätern Dramen wirb das fernale Problem 
zarter behandelt, ohne die Naturfeite fo ſcharf hervorzu- 
fehren. Der Proteft gegen den Despotismus des Man⸗ 
nes, weldjer das Weib mehr ober weniger als eine Sache 
behandeln will, tritt indeß ſcharf genug hervor, fowol in 
„Herodes und Mariamne“, wo das Streben, dieſen Beſitz 
über den Tod hinaus zu fihern, Urfache des tragifchen 
Eonflictd wird; im „Ring des Gyges“, wo der Held nicht 
nur ſelbſt „mit vergnügten Sinnen auf das beherrfchte 
Samos” hinſchaut, fondern auch einem andern Antheil an 
feiner Freude nnd den Anblid der nadten Schönheit der 
Gattin gönnt, eine Exrniebrigung, welche die legtere nur 
durch den Tod des Gatten und die Ehe mit dem profa- 
nirenden Eindringling fühnen zu können glaubt; in den 
„Nibelungen“, wo die nordiſche Walkyre, die Königin 
von Burgund, den Mann ermorden läßt, der, ohne ihr 
Ehemann zu fein, ihre Schwäche gefehen hat. 

Die Analyfe der Hebbel’fchen Stüde ift ſcharf und 
eonfequent von einem Punkte ausgehend, der fich in der 
That als der Centralpunkt der —8 Production 
erweif. Auch mit der Verwerfung der Luftfpiele bes 
Dichters und feines „Demetrins” als einer Tragilomdbie 
find wir volllommen einverftanden. 

Die Charakteriftit von Auerbach ift eine fehr aner- 
tennende; gleichwol vermiſſen wir eine Beſprechung feines 
Romans: „Auf der Höhe“. „Das Landhaus am Rhein“ 
ift möglicherweife nicht mehr zur rechten Zeit für eine 
Berüdfihtigung in Zimmermann’! Sammlung erfcdienen. 
Mir meinen, daß der Efjayift es nicht verfäumen dürfe, 
in feinem Porträt die Züge nadhzutragen, welche an dem 
Driginal inzwifchen mit größerer Schärfe hervorgetreten 
find. Der Abdrud eines frühern Aufſatzes ohne fo zeit- 
gemäße Umgeftaltung wird in dem Lefer immer das Ge⸗ 
fühl einer Lücke zurlidlaflen. 

Die Auffäge zur „Aethetil der Tonkunſt“, die fi 
an Werke von Hanslid, Ambros und Gervinus anfchliegen 
und fi gegen die beiden letztern polemifch verhalten, find 
ganz aus dem Geilte ber Herbart'ſchen Schule hervor⸗ 
gegangen; fie protefliven gegen das Streben, alles Schöne 
auf ein Princip zurüdführen zu ‚wollen. Das Scöne 
fiege in Verhältniſſen und biefer gebe es viele; der Com⸗ 
ponift ftelle nur rein mufllalifche Ideen bar. Hierin ſtimmt 
Zimmermann ganz mit Hanslid überein. „Einen Kreis 
von Ideen Tann die Muſik mit ihren eigenen Mitteln 
reichlich darftellen. Dies find unmittelbar alle diejenigen, 
welche auf hörbare Veränderungen der Zeit, der Kraft, 
ber Proportionen ſich beziehen; alfo die Idee des An- 
fchwellenden, des Wbfterbenden, des Eilens, Zögerns, des 


afel möglicher 


fünftlich Berfchlungenen, des einfach Begleitenden u. dgl. m.” 
Zimmermann wie Hanglid proteftiren dagegen, daß die 
Muftt Gefühle darftelle, dann fiele das ganze Gebiet 
ber Figuralmnfit weg; in der Inſtrumentalmuſik ſehen 
aber beide Aeſthetiker die reine abjolute Tonkunſt. Selbft« 
verftändlich ergeht e8 biefen Anfchauungen gegenüber den 
Berherrlichern der Vocalmuſik, wie Gervinus, ſchlecht genug; 
ebenfo dem Kunftwerk der Zukunft. „Misverſtandene Be⸗ 
griffe vom Drama der Alten find der Hiftorifche, mis⸗ 
verftandene Begriffe von ber Einheit der Kunft der philo- 
fophifche Quell biefer Irrthümer.“ „Der Werth der Muſik 
ift weit davon entfernt, abhängig zu fein von dem Werth 
ber Gefühle. Mag dieſer fteigen oder fallen, jener bleibt 
fich völlig gleih. Ihr Gebiet find die Tonvorftellungen, 
die weder Gefühle noch Gedanken find.“ 

Wenn indeß die Muſik auch nicht Gefiihle darftellt, 
fo wendet fie fi) doch an das Gefühl, und Ambros hat 
recht, wenn er behauptet, wer die Muſik nur für tönend 
bewegte Formen erkläre, könne in die Bezeidinungen: heroi⸗ 
ſche, paftorale Muſik u. ſ. w. nicht einftimmen: es gebe 
feine heroiſche Arabeste, Tein heroiſches Kaleidoflop, kein 
heroifches „Dreied oder Biere’. Wenn Zimmermann 
entgegnet, es gebe aber einen Rhythmus, der heroifchen 
Bewegungen als ſolchen eigenthümlich fei, folglich auch 
tönende Formen, die fih in folden Rhythmen bewegen, 
da färbt er doch offenbar die Tonverhältniffe ſchon mit 
ber Farbe des Gefühle. Ein Friegerifcher Rhythmus ift 
e8 doch nur infofern, als er auf das Friegerifche Gefühl 
wirft, und dag fhon im Rhythmus allein die größten 
Gefühlswirtungen liegen, daß ſchon das bloße Tempo 
freudig erregend oder elegifch fchmelzend wirken Tann, 
wird doch Fein Aeſthetiker leugnen wollen. 

Gleichwol wiſſen wir es ber eracten Schule der 
Aeſthetik dank, daß fie die Sphären der einzelnen Künſte 
rein Hält von jeder Vermiſchnng; denn ſcharfe Sonderung 
ift unerlaglich für die Erkenntniß eigenthitmlichen Wefens. 
Gerade in Bezug auf Mufil wird neuerdings viel ge= 
fündigt durch das Hereinziehen der frembartigften Elemente 
in ben abgejchlofjenen Kreis der Kunſt. Wie hat man 
mit vwillfürlichfter Deutung einzelne Tongemälde ald Ge⸗ 
dankenſymphonien ausgeführt, welches Unmwefen ift mit der 
Programmmmufil getrieben worden! Die Herbart’fche Schule 
wird die Muſik ftets mit befonberer Vorliebe behandeln; 
denn ihr Meifter war vorzugsweife vertraut mit dieſer 
Kunft, und wenn man noch die Architektur als „gefrorene 
Muſik“ mit ihren feften, ebenfalld mathematifch nachweis- 
baren Berbältniffen neben die bewegten der Tonfunft ftellt, 


fo Tann man fagen, die Herbart'ſche Aefthetit baut ſich 


auf dem Generalbaß auf. 

Die Auffüge „Maler und Bilder” geben eine inter 
effante Charakteriftil von Asmus Carftens, kritifiren Da- 
vid's Bild: „Die Ermordung Marat's“, Piloty's ‚Nero‘ 
u. a., und zeigen in der Schilderung des neuen „Fieſole“ 
Overbeck's umd Führich's eine etwas bedenkliche Hinnei⸗ 
gung zu dem modernen Nazarenenthum in der bildenden 
Kunft, wie fie fih nur aus einer gegen den Inhalt gleich» 
gültigen Aeſthetik erklären läßt. 


Der erſte Band ber Zimmermann'ſchen „Stubien 
und Kritiken“ ift der Philoſophie gewibmet. Bei der Auf 





Geſammelte Eſſahs. 309 


nahme der einzelnen Aufſätze war der Grundſatz maß- 
gebend, nur dajenige zuzulaffen, was ein mehr als vor⸗ 
übergehendes Imterefje darzubieten oder den größern wiſſen⸗ 
ſchafllichen Arbeiten des Verfaſſers zur Erläuterung und 
Ergänzung zu bienen geeignet ſchien. Gleich der erfte 
Auffat: „Ueber die Lehre.des Pherelydes von Syros“, 
wäre indeß am beften wol aus einer Sammlung aus. 
gefchloffen worden, die fi an das größere Publikum 
wendet. Diefer Beitrag zur Geſchichte ber Philoſophie 
ift mit einer Gelehrfamkeit abgefaßt, die für den Fleiß 
und das Quellenſtudium des Verfaſſers ein rühmliches 
Zeugniß ablegt; aber die philofophiſchen Ariome des Phe⸗ 
refydes haben doch nur ein geſchichtliches Intereſſe, und 
eine derartige Specialität, an die Spige einer Sammlung 
mit vielen allgemein interefjanten Auffägen geftellt, könnte 
einen nicht unbeträctlichen Leſerkreis zurüdidreden, wie 
eine beftaubte Rüftung, die vor einem archäologiſchen Waffen- 
mufeum hängt, das Publikum abſchredt, das fih für 
Piten, Helebarten und Arm- und Beinfchienen nicht 
intereffirt. 

Der zweite Auffag: „Ueber den logiſchen Grunds 
fehler der Spinoziſtiſchen Ethik“, Hat für und nichts Ueber« 
zeugendes, fo ſcharfſinnig einzelne, gegen den philofophie 
ſchen Monismus gerichtete Deductionen find; aber die 
Unterfcheidungen gehen oft bis zw einer Gubtilität fort, 
der nad) unferer Anficht die Spige abgebrochen wird. 
Spinoza's Syftem beruht weniger barauf, daß feine geo- 
metrifhen Demonftrationen niet- und nagelfeft find, als 
auf einer Intuition des Weltzufammenhangs, deren Ueber» 
zeugungskcaft durch Luden der Bemeisführung nicht ger 
ſchwächt wird. So können wir gerade in Bezug auf 
Spinoza der geiftreihen Einleitung des Auffages nur 
ſehr bebingt zuftimmen: 

Im ber Geſchichte des menfhlihen Denkens begegnen wir 
une zu häufig ber Erfeinung, daß wie im der Natur aus 
dem anfänglid, nnanfehnligen Klümpden Schnee die zerflörende 
Lavine, fo aus einem meiprünglid; unbebeutenb erſcheinenden 
Irrtum, der ſich das Anjehen der Wahrheit gibt, eime Kette 
inhaltfcäwerer Folgerungen fi entiwitfelt, die zuleßt über weite 
Gebiete bisher für mnantafbar gehaltener Wahrheiten ſich aus» 
breitend dieje ſelbſt im den Nebel des Zweifeld und der Un⸗ 
gewißheit mit ſich hineinzieht. Diefe Folge tritt um fo fiherer 
ein, je confequenter und in ſich vollendeter das Lehrgebäube ift, 
Über deffen Schwelle der Jruhum ſich eingeſchlichen FR umd 
je umangreifbarer die Methode erſcheint, am deren Hand das 
Syftem von jenem Meinen Anfang zu feiner endlihen Abrun- 
dung fortgeſchritien if. Wenn fi dann wie in einer ehernen 
Bhalanr Border» anf Hinterglied Iehnt und ftügt, Bfeibt der 
Kritif nichts übrig, als den Keil bis zu jenem Schluß» und 
Anfangsglieb zucäczutreiben, mit dem das Syſtem felbft ent- 
weder fefter beftchen oder für immer fallen muß. 

Zahlreich find die Auffäge über Leibniz, feine Vor⸗ 
gänger und Zeitgenofien. Dies darf bei einem Herbar« 
tianer nicht wundernehmen; Leibniz ift mit feinen Mo- 
naden der Vorgänger einer Philofophie der „vielen Rea⸗ 
Ten“. Bon diejen Auffägen Heben wir zwei hervor: „Ueber 
Leibniz’ Conceptualismus“ umd „Leibniz und Leſſing“. 
Im dem erftern geht der Berfaffer auf den Gegenſatz von 
Nominalismus und Realismus zurüd, welder in der 
Bhilofophie des Mittelalters herrſchte. Man muß befannt- 
lich diefen Bezeichnungen nicht die moderne Bedeutung 
anterlegen; fie würbe zu den größten Berwechfelungen 
führen. Herbart, der am meiften realiſtiſche Philoſoph 


der Neuzeit, würde nach mittelalterlichen Begriffen ein 
firenger Nominalift geweſen fein, während Fichte, Schel- 
ling, Hegel für Kealiften gelten müßten. Nach der Theorie 
des Realismus eriftirt der Begriff ald Idee vor und aufer 
feinen Gegenftänden, fodaß diefe nur Eriftenz befigen, 
fofern fie mit ihrem befondern Sein an feinem allgemeinen 
theilnehmen. Für den Nominalismus find die Dinge als 
Gegenftände für ſich und der Begriff ift nur die im Den- 
ten vollzogene Heraushebung und Zufammenfaffung bes 
Gemeinfamen mehrerer Dinge. Die vermittelnde Änſicht 
zwiſchen Nominalismus und Realismus ift der Concep- 
tualiemns, der ſchon zur Zeit der Scholaftiter Geltung 
hatte, und namentlich in einem Fragmente Abälarb’s 
„De generibus et speciebus“, veröffentlicht in deſſen 
„Oeuvres inedits' begründet wird. Mag dies Fragment 
nun don Abälard felbft oder, was wahrſcheinlicher ift, 
von einem andern ſcholaſtiſchen Philoſophen herrühren — 
es ift eine der wichtigſten Urkunden für die philofophi= 
ſchen Bewegungen jener Zeit. Der Eonceptualismus als 
vermittelnde Anſchauung befteht darin, daß er einerfeits 
nominaliftifch, andererjeits realiſtiſch ift, aber feines ganz. 

Diefe Anſicht ift 
nomiualiſtiſch, weil fie nur die Individuen als das wahrhaft 
Epriftirende anerfennt, das Allgemeine dagegen, die Gattungen 
und Arten, für bloße Inbegrife von Imdivibuen anfleht: rear 
liſtiſch, weil fie das Allgemeine dod nicht für bloße Worte, 
nicht einmal für blos fubjective Gedanken anfieht, die nur für 
den Betrachter Geltung haben, fonbern duch den Ausdrnd: 
Ähnliche Natur auf eine innerliche Verwandtſchaft "der zur felben 
Species gehörigen Individuen hinweift, bie eben den Grund 
enthält, daß fie auch vom Betrachter als zur felben Art gehörig 
erfannt und umter einen allgemeinen Begriff geftellt werden. 
Die Individuen find nit eine in der Gattung, aber ihrer 
viele von ähnliher Natur bilden die Gattung. Diele eriflirt 
als foldje nicht vor den Individuen als eine, 3. B. die Menfd- 
heit vor allen menſchlichen Individuen, fondern in ihnen, die 
ſelbſt ähnlicher, nicht derfelben Natur find. 

Oder wie Zimmermann am Schluß des Auſſatzes diefe 
Anfhauung zufammenfaßt: ü 

Einheit ohne Vielheit und Vielheit ohne Einheit find gi 
zeitig abgewieſen; der Verſuch, die Vielheit neben der Einheit 
und bie Einheit in der Bielheit gleihmäßig zu ihrem Rechte 
kommen zu laffen, ift der Conceptualismne. 

Unfer Philoſoph beweift nun, daß Leibuiz nicht ein 
reiner Nominalift wie Herbart gewefen fei, fondern jene 
bermittelnde Anſchauung aufredtgehalten habe. Indem 
der Artbegriff erfaßt wird als objective Zufammengehörig- 
teit gewifler Individuen vermöge ber Wehnlickeit ihrer 
innern Natur, wird der fubjective Standpunkt der No« 
minaliften überwunden. Dieſe Zufammengehörigfeit ob« 
jeetiver Art ſucht Zimmermann in dem Begriff „concep- 
tus“. Gleichwoi Haben auch die Nominaliften, wie William 
Decam, ben Ansbrud conceptus fir ganz fubjective Bor« 
ftellungen gebraucht. So weifen wir unfern Autor auf 
jene Stelle in den „Quaestiones super IV libros senten- 
tiaram“ Bin, wo der Doctor singularis et invincibilis 
fagt (Quaesturus, 8): „conceptus et quodlibet univer- 
sale est aliqua qualitas existens subjective in mente, 
quae ex natura sua est signum rei extra.” 

Im dem Auffag „Leibniz und Leſſing“ wird zunächſt 
der Gegenfag zwiſchen Spinoga und Leibniz mit großer 
Schärfe anseinandergefegt; dann fucht Zimmermann bie 
Anficht zu widerlegen, Leffing fei Spinozift geweſen, und 


310 


hebt im ©egentbeil hervor, wie Leſſing's metaphufifche 
Grundlage in Harmonie mit der Leibniz'ſchen geweſen fei, 
namentlih was bie Tehren von der präftabilirten Har⸗ 
monie, der Erziehung des Menſchengeſchlechts, ber fteten 
Vervollkommnung deſſelben u. a. betrifft. Leſſing's Spi⸗ 
nozismen ſind indeß ebenſo wenig zu leugnen. Keines⸗ 
falls war ber Kritiker ein „Iuftemfrommer‘ Philoſoph, und 
da er befanntlich gegen die „fertige Wahrheit die größte 
Abneigung hatte, fo konnte er bei dem Suchen berjelben 
wol einmal diefen und das andere mal jenen Weg ein« 
ſchlagen. 

Bon ben übrigen Aufſätzen: über „Schiller als Denker“, 
„Zum Fichte⸗Jubiläum“ u. ſ. w., heben wir noch zwei hervor, 
welche orationes pro domo des Berfaflers find: „Zur Re 
form der Aeſthetik als eracter Wiffenjchaft” und „Ueber 
Lotze's Kritik der formaliftifchen Aefthetif”. Zimmermann 
vertheidigt feine Aeſthetik als Formwiſſenſchaft oder, wenn 
man will, als Berhältnißlehre gegen verfchiedene Angriffe. 
Er fieht die Aufgabe der Aeſthetik darin, „nachdem fie 
biöher, ans dem Inhalt der Schönheitsidee beducirend, 
eine der aprioriſch⸗ conſtrnirenden Naturphilofophie ähn⸗ 
Iihe Rolle gefpielt”, auf Grundlage der einzelnen üfthe- 
tiſchen Zweigwiflenichaften aus dem Umfange des Schd- 
nen ſich zu einer allgemeinen Kunſtwiſſenſchaft aufzubauen: 
ürchte man ja nicht, daß eine ſolche Aeſthetik dem wah⸗ 
enius feindlich fein werde. Nur der falfhen Genialität, 
welche an die Stelle objectiv gültiger äſthetiſcher Principien, 
um bie Evidenz des äfthetifchen Urtheils unbekümmert, perfön- 
liche Autonomie fetten wollte, fündigt fie offene Fehde au. Weit 
entfernt, die Originalität in ein für allemal feftgezogene Schran⸗ 
ten einfchließen zu wollen, ift fle für jede wahrhafte Bereiche- 
rumg ihres Schages von äſthetiſchen Srundelementen dankbar, 
vorausgefeht, daß fie die Probe bes üſthetiſchen Urtheils ver⸗ 
trägt. Das Genie ift entdedend, fie iſt aufnehmend und prü⸗ 
fend. Das ganze Rei der Kunft- wie der Naturwelt ift vor 
ihr anfgefhloffen; aus der unendlichen Kormfülle, welche ſie 
darbieten, ift es ihr Geſchäft, die gefallenben oder misfallenden 
Kormen zum Zwed der Nachahmung oder Vermeidung auszu- 
fondern. Sie will der Kunft dienen und, wenn es angeht, fie 
leiten, aber es fällt ihr nicht ein, fie erfeßen zu wollen. Wah⸗ 
rend die myſtiſche Aeſthetik des 19. Jahrhunderts über das 
Schöne und die Kunſt in Ausdrücken zu philoſophiren ſich ge⸗ 
wöhnt hat, in welchen kaum noch ein leiſer Anklang an das 


ren 


Zur ſoeialreformatoriſchen Literatur. 


Weſen derjelben, an Töne, Farben, Umriffe, Sifben-, Worts 
nnd Gedanfenmaße Übriggeblieben war, hält dieſe Aeſthetik fi 
einfach an dasjenige, ohne welches ber Tonkünftler keine Muſik, 
ber Maler kein Gemälde, ber Bildhauer, Architekt und Poet 
weder Statuen noch Gebäude, noch Gedichte hervorzubringen 
vermöchten. Indem fie dem Künſtler nabe bleibt, von dem alle 
Kunft ſtammt, wird fie vielleicht im Stande fen, der Entfrem- 
dung Einhalt zu thun, welde, aller Bemühungen neuerer 
Aeſthetiker ungeachtet, zwifchen Künftlern und Kunſiphiloſophen 
immer mehr platgegriffen hat. Gewohnt, mit Farben, Um⸗ 
rifien, Tönen, Rhythmen und Worten umzugehen, ſucht der 
Künſtler vergebens nach Belehrung in Werken, in welchen von 
dem Geſuchten nur mit flolger Geringſchätzung geſprochen oder 
gänzlich geſchwiegen, dagegen vom Abſoluten, von der Idee 
und ihrer Erſcheinung in hohem, ihm unuverſtändlichem oder 
doch fernliegendem Tone gefprochen wird. Was wunder, wenn 
er endlich die fruchtlofe Beſchäftigung aufgibt ? In einer Aeſthetik 
im Geifte des Realismus hätte ihm das nicht widerfahren Tönnen. 
Wir hätten dann nicht das traurige Schaufpiel erlebt, daß bie» 
jelben Geifter, welchen wir die höchſten Schöpfungen der neue⸗ 
ſten Kunſtepoche verdanten, ber Aeſthetik zum Zro oder doch 
ohne Rückſicht auf diefelbe ſchufen, und daß eine Zeit, in ber 
empirifchen Kenntniß des Schönen aller Zeiten und Böller 
reicher als jede vorangegangene, an philofophifher Erkenntniß 
nefferben feld Hinter die Anfänge, des Alterthums berabgefun- 
en if. 

Wir können indeß ebenfo wenig wie Loge, gegen deſſen 
Kritik fich der Verfaſſer kehrt, das Wefen der Echünheit 
in der reinen Form finden; wir verlangen, daß die Kunft- 
werke etwas bedeuten, und finden nicht wie Derbart, daß 
in ſolcher Deutung ein Yenßerliches liegt, das dem innern 
Weſen der Kunft fremd ift. Bei geiftreichen Künſten, 
wie 3. B. der Dichtfunft, fpielt die Form und das har- 
monifche Berhältniß überhaupt nicht die bedeutende Rolle 
wie in der Architektur und Muſik. Man weiſe uns nad), 
daß große Dichter wie Shakſpeare und Schiller nur rei» 
ner Formenſchönheit ihre Macht über die Gemüther ber 
Menſchen verdanten! Diefer Beweis dürfte ſchwer fallen. 
Fülle des Geiftes und Tiefe der Weltanfhanung gehören 
gem großen Dichter, und dieſe laſſen fich ſchwerlich durch 

ie einfchlägigen äfthetifchen Verhältniſſe beftinnmen ober 
beziffern, wie die Intervalle des Generalbafles. 
Rudolf Soltfchall, 
(Die Fortfegung folgt in der nähften Nummer.) 


Bur forialreformntorifchen Literatur. 


1. Kapital und Arbeit. Neue Antworten auf alte Fragen. 

Bon ©. Dühring Berlin, Eichhoff. 1865. Gr. 8. 
1 Thlr. 5 Ner. 

2, Die Berlleinerer Carey's und die Krifis der Rationalölonomie. 
Sechszehn Briefe von E. Dühring. Breslau, Trewendt. 
1867. Gr. 8. 1 Thlr. 

3. 3. St. Mill's Anfihten über die fociale Frage und bie an⸗ 
geblihe Ummälzung der Socialwiſſenſchaft durch Carey. 
Bon F. U. Lange. Duisburg, Fall und Lange. 1866. 
Gr. 8. 1 Thlr. 


4. Carty's Socialwiſſenſchaft und dag Merlantilſyſtem. Cine’ 


literalurgeſchichtliche Parallele von Adolf Held. Würzburg, 
Stuber. 1866. ©®r. 8. Ir. 6 Nor, 

5. Der Profetarier. Drei Borlefungen zur Drientirumg in 
der ſocialen Frage. Bon Johannes Huber Münden, 
Lentner. 1865. 8. 15 Nor. 

6. Die confervattve Saciallchre. Mittels Erörterung von Tages⸗ 
fragen erfäntert von M. von Lavergne-Pegnilben. 
Erfteo Heft: Die Eoncurrenz und bie Ofiedernng der Staaten. 
Berlin, F. Schulze. 1868 -®r, 8. 15 Nor. 


7. Die Confnumvereine, ihr Weſen und Wirken. Nebft einer 

brattilgen Anleitung zu deren Gründung und Einrichtung. 

uf Beranlafjung des fländifhen Ausfchuffes der dentſchen 

Arbeitervereine herausgegeben von Eduard Pfeiffer. 
Stuttgart, Kröner, 1865. 16. 15 Nor. 

8 Die auf Selbfthülfe gelitten Benofjenfchaften im Handwerler⸗ 
und Arbeiterftande, „Borträge, gehalten im Yortbildunge- 
verein für Bnhdruder in Wien am 25, Febrnar, 4. md 
11. März 1866 von Mar Menger. Wien, Czermak. 
1866. Gr. 8. 6 Nor. 


Die Zeiten finb vorüber, in denen fich der ehrfame 
Dürger von gelindem Grauſen überlaufen fühlte, wenn 
nur ernſthaft von focialen Fragen gefprocdhen wurde. 
Auch fcheint die Polizei nicht mehr jeden, der fich wiflen- 
Ihaftlid) oder gar praktiſch mit dem focialen Problemen 
befhäftigt, amtspflihtig a priori für einen ftaatsgefähr- 
lichen Wühler zu halten. Die praltifchen Refultate, 
welche die fociale Reformarbeit, im Vergleich mit den 





Zur focialreformatorifghen Literatur. 311 


Beftrebungen auf andern Gebieten des öffentlichen Lebens 
errungen hat, find freilich auch fo vereinzelt und gering- 
fügig geblieben, daß felbft wol der beforgtefte Burcaukrat 
ſich nicht zu ängfligen braucht, es fünnten daraus für bie 
nächſte Zeit mehr als putſchhafte Störungen der öffent 
lichen „Ruhe und Ordnung“ hervorgehen. Die Ioyale, 
jelbft die vücziigelnde politifche Tendenz Hat fi im 
Gegenteil gerade mit den fcheinbar ertremften Richtungen 
focialer Fortſchrittspraris fo trefflich geſtellt, daß letztere bei 
der politifchen Demokratie — wenigften® in Deutſchland — 
in den übeln Geruch gekommen ift, hinter fehr radicalen 
Aushängefcildern eine geheime entente cordiale mit der 
politifchen Repreſſion zw pflegen und ihren abfofutiftifchen 
Endzielen, namentlich im Uxbeiterftande, wiſſentlich in die 
Hände zu arbeiten. Nomina ct exempla sunt odiosa! 
Indeſſen würde ſelbſt der Berdadjt eines ſolchen Verſuchs 
ſchwerlich haben entftehen können, wenn nicht die theore- 
tifche und praftifche Behandlung der focialen Frage dies 
felbe höchſt einfeitig und faft ausfhlieglih auf das Ge- 
biet der Arbeiterfrage, d. h. auf die Beflerftellung des 
mit feinen phyſiſchen Kräften feinen Lchensunterhalt er- 
werbenden THeild der auf den Dafeinsfampf durd) Er— 
werbsarbeit Geftellten, beſchränkt hätte. Die Fiction des 
fogenannten „vierten Standes” hat bie fociale Frage in 
eine ſchiefe Stellung zu den übrigen progreffiven Beſtre- 
bungen der Öegenwart gerildt. Sie aus diefer wieder auf 
ihren rechten Blag, namentlich in dev Öffentlichen Mei— 
nung und Landläufigen Auffaſſung zu ftellen, erfcheint und 
vorerft die dringendfte Aufgabe derer, bie es redlich mit 
der focialen Neform meinen und fie nicht blos als Reclame 
für ganz abjeit® gelegene Zwede benugen. 

Dean darf es aus dieſem Gefichtspunfte fogar als 
eine recht bedeutfame Signatur des praktiſchen Foriſchritis 
der politiſchen Demokratie betrachten, daß deren neuefte 
Kundgebungen mit Iebhafter Entſchiedenheit den Grund» 
faß betonen: jede Coalition einer politifchen Partei mit 
ben Arbeitern als geſchloſſenem Stand fei ber Freiheit 
gefährlich. Denn fei eim folder geſchloſſener Staub 
wirklich vorhanden, fo Hönne er nur Symptom einer 
focialen Krankheit fein; diefe indeſſen eriftive nicht, und 
die Heutige Demokratie dürfe e8 nicht mehr mit Ständen 
zu thun haben, fondern nur mit Inbividnen, weil fie es 
als Princip feſthalten müffe, daß der Arbeiter ſich buch 
mehrere Jahre hard works zur Gelbftändigfeit empor» 
ringe. Jedenfalls Hat diefes Princip fehr viel für ſich. 
Allein um bie Jahre der hard works handelt es ſich 
doch eben bei der Arbeiterfrage vorzugsweile; fie find bie 
träftigften des beften Lebensalters und kommen bei der 
intellectuellen, geiftigen, moraliſchen Arbeit kaum minder 
in Frage als bei der rein phyſiſchen Forterhaltung des 
menſchheitlichen Lebens. 

Die weitern Anwendungen diefer Thatſache auf bie 
ſocialwiſſenſchaftlichen Beftrebungen ergeben ſich von felbft 
und find Hier nicht abermals auszuführen. Dagegen 
möchte auf einen fehr allgemeinen Webelftand der litera- 
rifchen Erfcheinungen auf focialem und ſocialpolitiſchem 
Gebiete Hinzuweifen fein, welder unſers Erachtens zu 
ihrer relativ geringen Wirffamkeit gerade in denjenigen 
Bevölferungs- und Bildungsfchichten, auf welche fie ſich 
borzugsweile beredinen, erftaunlich viel beiträgt. Ihre 





Mehrzahl ift, wenn nicht zu wenig populär, doch jeden 
falls zu abftract, zu wenig ad hominem gehalten, um 
den don ber Zagesarbeit ermüdeten Manne nicht noch 
eine außerordentliche Geiftesanftrengung und eine große 
Willenskraft zu ihrem Studium zuzumuthen. Engländer 
und Franzofen find im diefer Beziehung den Deutfchen 
unzweifelhaft voraus; ihre Arbeiten find concreter ges 
ſchrieben, geben den Beifpielen breitern Raum, und willen 
außer dem Berftand und der Ueberlegung aud) dem all- 
gemein menfchlicen Intereffe Iebhaftere Anregung zu bie- 
ten. Dan braudt die möglichen Gefahren eines folden 
gewiffermaßen agitatorifchen Vortrags der Socialwiſſen - 
ſchaften gar nicht zu verfennen, wird aber trogdem 
bie nadte Thatſache nicht in Abrede zu ftellen vermögen. 
Dazu kommt in den meiften beutjchen Schriften dieſes 
Genres eine ſocialphiloſophiſche Nomenclatur, melde, ba 
die Grundlehren weder feſiſtehend noch unbeftritten find, 
ſchwankend und mehrbeutig ift, ja faft in jeder neuen 
Schrift wieder neue Abweihungen der einzelnen Wort ⸗ 
bedeutungen in die Discufflon einführt. Dies erfchwert 
demjenigen, weicher nicht ſchon durch das Studium theo« 
retiſcher Philoſophie an ſolche Berfahrungsweife gewöhnt 
ift, abermals die Leftiire derartiger Schriften. 

Banal wäre es faft, hier nochmais daran erinnern 
zu wollen, daß alle ſpecialwiſſenſchaftlichen Erörterungen, 
fofern fie wirklich aus den vorhandenen Lebenszuftänden 
neue und [cbensfähige Berhältniffe zu entwickeln trachten, 
ſich auf gewiffe feftftehende Grundprincipien der National 
öfonomie baſiren müflen. Aber bie Nationalöfonomie 
felber hängt fowol in ber theoretiſchen Aufftelung ihres 
Lehren, als in deren praktifcher Anwendung von den un⸗ 
aufgörlich wechfelnden und fi) umgeftaltenden Berhälte 
niffen des Lebens ab. Man könme mit Bezugnahme 
daranf felbft die Trage aufwerfen: ob fie auf ihrem 
jegigen Standpunkte den Bollbegriff einer Wiſſenſchaft 
bereit8 vepräfentirt? Laßt man jedoch auch diefen theo- 
retiſchen Zweifel ganz beifeite, gewiß ift, daß ſich die 
Zahl ihrer abfolut feſtſtehenden und unter allen Berhält- 
niſſen unumföglichen Principien auf einen überaus engen 
Kreis und eine fehr niebrige Ziffer beſchränkt. Dies 
mag traurig klingen, ift jedoch volllommen wahr und 
faum anders möglich. Die Entwidelung von Lehren und 
die Anftrebung praktifcher nationaldfonomifher Ziele auf 
diefer ober jener Grundlage ift in ber einen Periode 
ſicherlich volljtändig auedmääig und berechtigt, ja abfolut 
nothwendig; allein biefelben Lehren und prattiſchen Be- 
ftrebungen verlieren in ber folgenden, unter umngeftalteten 
Berhältniffen, nicht blos ihre Berechtigung und Zwed- 
mößigfeit, fondern aud ihre intellectuelle Bedeutung. 
Dan braudt beifpieldweife blos an das Zunftwefen und 
bie fegensvolle Erftartung des Bürgerthums auf feiner 
Grundlage im fpätern Mittelalter zu denken, während 
diefelbe Inſtitution ſchon zu Ende des 18. Jahrhunderts 
als ein Anachronismus von hemmendftem Schwergewicht 
auf die Neugeflaltungen bes Lebens drüdte und fid) in das 
19. Jahrhundert blos noch nad) dem Gefege ber Trägheit, 
in ſich felbft abfterbend, Herüberfchleppte. 

Neue Entwidelungen in ben Gebieten ber national 
ölonomifchen Wiffenfhaft find daher faft immer nur 
Proteſte gegen die unter veränderten Verhältniſſen unere 


Tee. 
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- —. 


312 Zur focialreformatorifchen Literatur. 


träglich gewordenen Einrichtungen des ſocialen Lebens 


ans überlebten Perioden. Die bahubrechenden Lehrer ber 
Boltswirtbfchaft treten fat immer zuerft polemifch in die 
Arena der Deffentlichkeit. Aus der Bekämpfung beſonders 
hemmender und läftiger wirtäichaftlichen Einrichtungen 
einer Zeit wachſen dann ganze Syſteme heraus. Gerade 
darin Liegt jedoch auch wieder die Haupigefahr dieſer 
Syfleme. Dem faft immer führt die Hartnädigfeit des 
geiftigen Kampfes gegen die Wirkungen des Gefeges der 
Trägheit im öffentlichen Leben über das felbftgeftedte Ziel 
der vollswirthſchaftlichen Reformer hinaus. Die einfeitige 
und übermäßige Ausbildung einer an fich, wie unter den 
gegebenen praftifchen Verhältniſſen, vollkommen berechtigten 
Anſchauung oder Lehre ift die natürliche Folge. Dabei 
mag. der an fih richtige Grundgedanke wol allmählich 
zur Anerfennung gelangen. Allein nach allen Richtungen 
wahllos ausgefponnen, auf alles ausgedehnt, auf Dinge 
und Verhältniffe angewendet, für welche feine innere Be⸗ 
rechtigung fehlt, ift er, ift das in feiner urjprünglichen 
Bedeutung Richtige und Heilfame oft fchon felber wieder 
ein Uebel, wenn der Moment zu feiner praftifchen Ber- 
wirklichung gelommen ſcheint. Es gibt darum fein be⸗ 
denflicheres Borurtheil, trogbem es noch immer fehr ver- 
breitet ift, als daß die Lehren der Nationalölonomen ab⸗ 
folut gültig, für alle Zeiten und Berhältniffe anwendbar 
fein müßten. Es eriflirt im Gegentheil keine politifche 


oder fociale Wiffenfchaft, welche fo fehr ein Product- 


ihrer Zeit und mit ber Geltung ihrer Principien wie 
ihrer praktifchen Anftrebungen auf diefe befchränft ift, 
als die Nationalölonomie. 

As in der erften Hälfte des vorigen Jahrhunderts 
die Auſicht zur Herrſchaft gelangte, daß in wirthichaft« 
lihen Dingen die Regierung einfchreiten müſſe, war fie 
in den damaligen politifchen Verhältniffen der Staaten 
und in den focialen des Publilums relativ bererhtigt. 
Allein während man fie praftifch auf die Spike trieb, 
ſodaß ſich alle productive Betriebſamkeit ausjchlieglich 
duch die und nad) ben von den Regierungen entworfenen 
Rormen entwideln follte, Hatten die politifchen und 
fociolen Zuftände bereits ſolche Wandlungen erlitten, daß 
die ſchürfſte Reaction gegen ein ſolches vollswirthfchaftliches 
Syſtem nothwendig daraus hervorbrechen mußte In 
vollkommen Elarer Geftaltung und fyftematifch durchgebil⸗ 
bet führte befanntlih Adam Smith biefe Reaction mit 
unmiderftehlicher Gewalt in das praftifche Leben ein. 
Die BVerbienfte feiner genialen Energie bleiben unfterblich, 
felbft wenn ein anders geftaltetes fociales Leben neue 
Forderungen ftellt. Sind biefe noch nicht geftellt worden? 
Ganz gewiß, und ebenfo gewiß ift es, daß die Neu: 
geftaltungen ſie vechtfertigen. Allein eine genügende und 
darum epochemachende Antwort darauf, wie Adam Smith 
fie für feine Zeit und Verhältnifie fand, erwartet man bie» 
jest umfonft. Hunderte von Schriftftellern aller Cultur⸗ 
länder, Zaufende von Büchern und Abhandlungen in allen 
ulturfprachen haben .an einer modernen Ausbildung der 
Volkswirthſchaftslehre gearbeitet. Allein trog des all- 
mählih erfolgten Zuſammenbrechens des Feudalſyſtems, 
trog der durch Dampfkraft, Eifenbahn- und Zelegraphen- 
weſen berbeigeführten Revolution bes gefammten focialen 
Berkehrs ift theoretiſch und praltiſch zur entfprechenden 


Umgeftaltung der focialen Berhältniffe vergleichsweiſe blat- 
wenig gejchehen. Man wandelte im großen und ganzen 
fortwährend die Smith’fchen Wege und trat fie breit, 
indem man hundertmal von neuem bewies, daß fie bie 
richtigen fein. Für die neuen Wege, welche man etwa 
davon abzweigte, ftehen dagegen. die Beweife noch zu 
fügren, daß fie im ihrer gar zu ſtrengen Nachfolge 
auf der Smith’fchen Richtung feine thatfächlichen Abwege 
werden. 

Es if, um nur auf eins von vielen Beifpielen bin 
zuweifen, eins der gültigften Dogmen modernfter Volls⸗ 
wirthihaft, daß principiell der Staat in erfter Reihe bei 
irgendwelchen induftriellen Unternehmen gar nicht, in 
zweiter dagegen wol durch indirecte Unterftilgungen, z. B. 
Zinsgarantien u. ſ. w., ſich betheiligen folle. Was war 
nun in hundert und aber Hundert Tällen das praltifche 
Refultat? Ueberaus nützliche, doch nicht fofort zinfende 
Unternehmungen kamen gar nicht ober verfpätet, ober 
nicht aus erfter und zunächſt betheiligter Hand zu Stande; 
oder aber noch gewöhnlicher: die Gefahren und Nachtheile 
zweifelhafter, doch von gejchidten Faiſeurs betriebener Unter 
nehmungen fielen zu Laften des Staats, d. h. der Steuer- 
träger. Es wurden dadurch wieder ganze Klaſſen zum 
Schaden der Geſammtheit bevorrechtet, prämürt, gleich 
ſam privilegirt, und es wucherten bei ihnen Prätenfionen 
auf, welche nicht felten alles überfteigen, was ehemals, 
wenn auch auf theilmeife andern Gebieten oder boch unter 
andern Formen, von den Feudalherren und Zünftlern in 
Anſpruch genommen worden war. Gewiffe, in folden 
Händen befindlihe und ſolchermaßen begünftigte Unter 
nehmen warfen allerdings ihren Actionären und den Groß⸗ 
induftriellen koloſſale Gewinne mühlos in den Schos; 
allein bezahlt wurden fie durch ebenſo Toloffale Dpfer bes 
Gemeinwefens, des Staats, ber Gefimmtgeib der Un⸗ 
bemittelten, während der auf diefe mittelbar herabträu- 
felnde Bortheil ein verſchwindend geringer blieb. Selbft 
eine große Schar derer, bie fich für liberal, fortfchrittlich, 
volksthümlich nicht blos ausgeben, fondern fich felbft in 
gutem Glauben dafür Halten, unterftüten, betreiben und 
fördern folde Deanipulationen, Und nachher wundert 
man fi) noch über Mistrauen, Argwohn, Berbitterung 
der eigentlichen Arbeiter gegen die im focialen Leben Höher- 
geftellten! 

Iſt das Uebel erfannt, fo muß auch die Heilformel 
dagegen gefunden werden. Das ift freilich die einfachfte 
und natürlichfte Forderung, die fi an die Volkswirth⸗ 
fhaftslchre ftelt. Der wildefte Socialismns und rohefte 
Communismus werden fonft durch folche Thatfachen fort- 
während aufs neue herauögefordert und großgezogen. 
Zrogdem verwünſcht man bie „jociale Frage”, die doc 
nun einmal da ift, und verrennt ſich immer wieder in die 
Einfeitigfeit der fogenannten Manchefterfchul-Theorie, als 
ob man abfichtlich bewirken wolle, daß die extremften 
jocialiftifchen und communiftifchen Forderungen aller Welt 
über den Kopf wachen. Was treibt denn die Arbeiter 
cohorten der Lafſalle'ſchen Doctrin in die Arme und ihre 
zweifelhaften Führer in die Schleppträgerei der politifchen 
Reaction? Doch wol vorzugsweife der Anblid jener Bei⸗ 
fpiele von Staateunterftügungen für bie Sroßinduftriellen, 
die man der Kleininduftrie verweigert. Daß fie dabei von 





— — — — — 


Neuere Werke deutſcher Humoriſten. 313 


der feudal⸗abſolutiſtiſchen Reaction unterſtützt werden, er⸗ 
Märt fi leicht nicht nur durch deren Rancune gegen die 
neu emporkommenden induftriellen Feudalherren, ſondern 
auch daraus, weil die Verwirklichung der Laſſalle'ſchen 
Theorien faſt naturnothwendig die ſcheinbar auf die Maſſe 
des Arbeiterſtandes übertragene Gewaltherrſchaft im Staate 
in die Hände einzelner Führer legen und dem craſſeſten 
Abſolutismus durch die Ochlofratie den Weg eben würde. 
Iſt nun aber zu erwarten, daß bie aufgehetten Maſſen 
ber „Arbeiter“ zu diefer Einficht gelangen, indem man 
ihnen vordemonftrirt, daß das Manchefterfyften, wenn 
aud) ohne fie, doch alles fr ſie, für ihr Beftes thue? Gewiß 


nicht. Ebenfo kann ihre Mitwirkung nad; Schulze - De» 


litzſch'ſchem Syftem, defien ganzer Natur und Anlage 
zufolge, immer blos auf einen relativ engen Kreis bes 
ſchwichtigend wirken; und immerhin blos beſchwichtigend, 
nicht befriedigend. Um den tiefiten ſocialen Erſchütterun⸗ 
gen wirkſam begegnen zu können, wird vielmehr, fo fcheint 
6, der bisherige Weg ganz verlafien werben müſſen. 
Ein neuer Adam Smith thut uns notd — dem Aus- 
druck dieſes Bedürfniſſes begegnet man in allen Sreifen, 
welche eimerfeits die Löſung der focialen Frage neben und 
mit der politifchen als das anfehen, was fie in That und 
Bahrheit ift, als bie nothwendige Ergänzung der Eultur- 
aufgabe unferer Gegenwart, ohne welche eine organifche 
Entwidelung bes Bölfer- und Staatslebens gar nicht ge= 
dacht werden Tann; und welche andererfeits mit dem „Volk“ 
und der „Freiheit“ nicht Begriffe verbinden, deren täu« 
ſchende Handhabung blos ephemeren Parteitendenzen dienen 
jol. Die Stärke dieſes Bedürfniſſes hat vielleicht das 
meifte dazu beigetragen, daß, nachdem bie Periode der 
ſocialen, foctalpofitifchen und theokratiſch myſtiſchen Utopien 
mehr glanzvoller als geiftestiefer und ernfter franzöſiſcher 
Lehrer der Gefellfchaftswiffenfchaften durch bie Praxis der 
Beltlcbensgärige widerlegt, zu überwundenen Standpunf« 
ten geworden ift, Stuart Dil und Carey don den ent- 
gegengefegten Standpunkten der Socialwifjenfchaft aus 
als Begründer einer neuen Aera auf das Schild gehoben 
worden find. Damit fol durdjaus nicht in Abrede ge⸗ 
Rellt werden, dag in den Aufitellungen beider ganz ent« 
ſchiedene reformatoriſche Elemente für bie Theorie des 
Geſellſchaftslebens vorhanden find. Allein ebenfo wenig 
darf man vergefien, daß beide, der Engländer Stuart 


\ 


Mill wie der Amerilaner Carey, auch genau an dem 
Boden baften, aus dem fie herausgewachfen find. Diefe 
Bemerkung Tann man, eben nad) dem Charakter der 
Geſellſchaftswiſſenſchaft, durchaus nicht als Vorwurf be- 
traten. Wenn bei jeder andern Wiffenfchaft die then» 
retifche Forderung geftellt werden mag, fie foll fein Bater- 
land haben, fo gilt dies, wie fchon berührt wurde, bei 
der theoretifchen Geſellſchaftswiſſenſchaft nur in befchränf. 
tem Maße, bei der praftifchen vollends blos bedingunge- 
weife. Der Subjectivismus Mill's wie Carey's Hat fein 
gutes Recht. Allein cbendeshalb kann auch die progrefjive 
deutjche Bollswirthfchaft die Lehren Stuart Mill's und 
vollends Carey's ſich blos durch praftifche Anwendung 
aneignen, und da beide Schriftfteller keineswegs eine leichte 
und fofort faßliche Darftellungsweife Haben, beide aud), 
aus ihrem realiftifchen Grundtypus heraus und in Rüd- 
fiht auf ihre praftifchen Ziele, bei den letzten Confequen» 
zen von einer Reihe ihrer Doctrinen Rückſchwenkungen 
machen, jo fann es einerfeits nicht fehlen, daß die deut⸗ 
ſchen Volkswirthſchaftslehrer (im weitern Sinne) über den 
objectiven Werth beider Koryphäen, andererſeits über bie 
praftifche Bedentfamfeit ihrer Syftente, noch ganz ab- 
gejehen von deren verfchiedente, Wegen und Zeitpunkten, 
fehr divergirende Anfichten verfeten. Die SKriti der 
Mill'ſchen und Carey'ſchen Princigien, die Erörterung 
ihrer fubjectiven Anwendbarkeit auf bie Praxis ber ge= 
gebenen Lebensverhältniffe, und der deutfchen in8befondere, 
bilben denn aud ein Hauptthema der eigentlich focial- 
wiſſenſchaftlichen Literatur in den letzten Jahren: . 

Zwei Hauptmomente find es befonders, um welche 


fi die Discuffion bewegt. Während von der einen Seite _ 
für Stuart Mil die beffere Logik in der Durchführung " 
feines Syſtems in Anſpruch genommen wird, befämpft‘ 


man von der andern Seite, im Intereſſe Carey's, dieſen 
angeblichen Vorzug als ein Haupthinderniß der Anwend⸗ 
barkeit des Mil’ichen-Syftems in der vollswirthfchaftlichen 
Praxis. Dagegen wird aber, und felbft für den Uns 
befangenften nicht ohne überzeugenden Eindrud, geltend 
gemacht, daß durch Carey einem volkswirthſchaftlichen 
Optimismus, welder die grümblichere fociale Reform 
zurüdzufchieben trachte, Thor und Thür nur allzu weit 
geöffnet werde. Aurelio Buddeus. 
(Der Beſchluß folgt in der nächſten Nummer.) 


— — 


Uenere Werke deutſcher Humoriſten. 


Bir ſprechen ausdrücklich von „Werken deutſcher Hu- 
moriſten“ und nicht von „humoriſtifchen Werken“. Letztere 
Bezeichnung würde zu einem der nachfolgenden Bücher 
siht gut flimmen. Und doch möchten wir demfelben 
kinen andern Pla anweifen, dba es von einem unſerer 
bewährteften Humoriften herrührt und das fprechendfte 
Zengniß für das gereifte Talent des Verfaſſers ablegt. 

Unfere Kritik umfaßt Bücher von Hadländer, W. 
Roabe, Graf Ulrich) Baudiffin, W. Grothe und U. von 
Binterfeld. Wer in einer humoriftifchen Dichtung nur 
das Grotesk⸗Komiſche liebt, der möchte in vorliegenden 
Derlen mit Ausnahme eines einzigen kaum feine Rech 
zung finden. Diefes eine möge bie Reihe eröffnen. , 

1870. 2. j 


1. Theolog und Komddiant. Humoriftifch »Lomifcher Roman 
von Wilhelm Grothe. Berlin, Grothe. 8. 1 Thlr. 
Schon ber Titel deutet Gegenfäge an, die, derb aus⸗ 

gebentet, dem Humor in draftifcher Form die größte Frei- 

heit geftatten. 
dem Weiche der Lampen und ber Schminke.“ Wir wer 
den Hinter die Couliſſen geführt, doch nur, um auf den 

Bretern, welche die Welt bedeuten, Perfonen und Gegen- 

ftände höchſt ungeſchminkt zu fehen. Der Berfafler ver- 

fteht fich auf die „Banden“ und „Schmieren“ ; mit lachen⸗ 

dem Munde erzählt er uns, ohne indeß das Draftifche 

bis zur Uebertreibung zu fleigern. Die komiſche Wirkung 

liegt zugleih in der Handlung und in Art und Weile 
40 


Das Weitere thut der Hinweis: „Aus . 


514 
der Darſtellung. Grothe ftellt ben fittlichen Ernſt bes 


wilfenfchaftlich gebildeten jungen Mannes der Leichtfertig- 


Yeit und Halbbildung des Bagabunden- und Komödianten- 
thums entgegen. Die Handlung glänzt nicht gerade 
durch befondere Fülle, fie genügt aber für den Umfang 
des mäßig ſtarken Bude. Ein junger Theolog wird 
durch eine wunberliche Teftamentsclaufel gezwungen, ein 
Fahr Lang den Director einer Wanbdertruppe zu fpies 
In. Er benimmt fih in dem Neiche der Rampen und 
Schminke natürlich wie ein etwas verfchrobener, für Sitt⸗ 
lichkeit begeifterter Heiliger. Vorherſagen läßt fi, daß 
er ber trübjeligften Erfahrungen mit ſchwindelhaften Agen- 
ten, talentlofen Helden, koketten Soubretten, vorlauten 
Naturburfchen, graugemorbenen erſten Liebhabern, pap⸗ 
penen Bruftharnifchen, fteifleinenen Helmen und — be: 
fecten fpanifchen Wänden in dem gemeinfchaftlichen Ans 
Heibezimmer genug zu machen haben wird. Natürlich nur 
zu unferer Freude. Denn wir lernen auf feine Koſten von 
diefen hochedeln Menſchen und Gegenftänden die wahrften 
Brachteremplare kennen und, wohlgemerkt, damit wir ben 
Ausbund der Tugend nicht vermifjen, auch den mit dem 
Vorſchuſſe regelmäßig „durchbrennenden“ fiebenten oder 
achten Liebhaber. D über bie renden eines „Schmieren- 
Directors”! Und einer Aufführung der „Lenore” wohnen 
wir bei, wie fie allerdings hier und da im lieben Vater⸗ 
Iande noch nicht ganz zu den Unmöglicjkeiten gehört. In 
Summa: wer in dem Buche nicht mehr fucht, ald darin 
zu finden, ber wird fi mit ihm ein Stündchen die Zeit 
leicht vertreiben Können. Leiftet der Berfafler auf dem 
Gebiete der Humoriftil anch nicht gerade das Höchſte, fo 
meinen wir and, daß er es mit diefem Buche nicht lei 
fien wollte 

Höhern Zielen ftrebten die drei andern der genannten 
Berfafler nach und fie erreichten auch höhere Ziele. 

2. Ab Telfan oder die Heimlehr vom Meondgebirge. Ein 

Roman von Wilhelm Raabe. Drei Bände. Stuttgart, 

E. Hallberger. 1868. ®r. 8. 3 Thlr. 

Raabe erfreut fih durch eine Reihe gern gelefener 
Romane eines beftimmten Rufs als Humorift. Er machte 
fi) urplöglich geltend und erwedte Hoffnungen, die fi) 
mit jedem neuen Werke fteigern follten. Erfreulich für 
den Sritifer, wenn er bei dem neuen Werke eines bewähr- 
ten Autors zwifchen den Zeilen nichts von einem Rück⸗ 
Schritt oder Seitenfchritt defjelben leſen zu laſſen braucht. 
Diefes Buch wird zwar nicht jedermanns Sache fein. 
Raabe fchreibt nicht für die gedankenlofe Maſſe, und in 
diefem Buche fchrieb er für fie um fo weniger, als er 
darin vielmehr gegen einen gewiſſen Bildungsdünkel offen 
auftritt. Aber ſeine Darftellungsweife hat nichts Abſtoßen⸗ 
des, nnd fie wird dem Heimkehrenden vom Mondgebirge 
manchen Freund gewinnen. Das Borrecht des Humori- 
ften geftattet die Wahl eines abfonderlichen Stoffe, es 
geftattet ihm ferner, ſich dreift über Berge und Meere 
‚hinwegzufegen, gleichviel ob fie vorhanden find oder ob 
nicht. Von diefem Vorrechte macht Raabe den weiteften 
Gebrauch, denn er wählt zum Helden feines Romans, 
man höre und ſtaune — einen Sklaven aus Afrika! Einen 
Sklaven, aber keinen zähnefletfchenden Neger, fondern 
einen aus zwölfjähriger Gefangenſchaft in die Heimat 
zurüdtehrenden Deutſchen. Raabe kennt Abu Telfan im 


Neuere Werke deutſcher Hu moriſten. 


Tumurkielande unfern des Mondgebirgs, artigerweiſe aber, 
um uns auf der Karte nicht unnöthigerweiſe fuchen zu 
laſſen, verwahrt er ſich: „Ich bitte ganz gehorſamſt, weder 
den Ort Abu Telfan, noch das Tumurkieland auf der 
Karte von Afrifa zu fuchen, und was das Mondgebirge 
anbetrifft, jo weiß ein jeder ebenfo gut wie ich, daß die 
Entdeder durchaus noch nicht einig find, ob fie daſſelbe 
wirklich entdedt haben.‘ 

Den Humoriften Bindert nichts, gleichwol an baffelbe 
unbedingt zu glauben. Ihn hindert ferner nichts, einen 
relegirten Studioſus der Gottesgelahrtheit auf allerlei 
Kreuz⸗ und Duerzügen unter die Hände der Dame Kulla 


Gulla zu bringen, ihn mit Fußtritten aller Art tractiren 


zu laflen, bis er fi reif fürs Barbarenthum erweif, 


und ihn darauf gnädig zur höchften Verwunderung aller 


Berwandten, Freunde, Nachbarn und dergleichen einen und 
einen halben Büchſenſchuß weftlich von der berühmten Stadt 
Nippenburg im Dorfe Bumsdorf anf ber heimatlichen 
Scholle wieder abzufegen, freilich mit der etwas unheim⸗ 
lihen Frage: „Wie nun weiter?” Die allmühliche Wieder: 
erwedung des Sklaven aus barbarifcher Stumpfheit und 
Geiftesöde bis zur Nutzbarmachung feiner immerhin bes 
deutenden Fähigkeiten. im Dienfte der Civilifation bildet 
bie Aufgabe, welche der Verſaſſer nicht wur ftofflich in 
einer |pannenden Erzählung, fondern mehr noch in zu. 
teeffender Charakteriftit der vielen Perjönlichfeiten humo⸗ 
viftifch geläft Hat. Ex bezeichnet fein Buch als ein nicht 
in Einem luftigen Sommer entftandenes Werl. Das 
merkt der Lefer an feiner oft füßfauern Miene. Ein 
bandwerlsmäßig gefchriebenes Buch ift es eben nicht, fon« 
dern eine durch und durch abfonderliche Dichtung, bei 
welcher Kopf und Herz des Berfaffers gleicherweife bes 
theiligt waren. Wusgelafienes Lachen foll die Geſchichte 
nicht hervorrufen, aber das flille Lächeln des Weiſen. 
Und der wahre Weife unter allen den bumsdorfer, nippen« 
burger und hauptſtädtiſchen Größen, den berühmten immer 
und ewig ind Koptifche vertieften Profeflor Reihenſchlager 
nicht ausgenommen, bleibt doc unfer guter. Freund aus 
dem Tumurlieland, der relegirte Studiofus der Gottes⸗ 
gelahrtheit, Hr. Leonhard Hagebucher. Es ift um Abn 
Zelfan und um das Mondgebirge ein eigenea Ding. 
Diefes Tiegt nicht immer in Afrika, fondern oft um Nip⸗ 
penburg und Bumsdorf, und Abu Telfan benennt ſich 
mehr als eine Hauptitadt. Ach und wie viele der Höchſt⸗ 
civilifirten feufzen nicht unter der Herrfchaft einer Kulla 
Gulla, fie wiffen nur nit, daß diefe Madame Kulla 
Gulla ihre eigene Eitelfeit, Selbftüberhebung und Unfrei- 
heit bedeutet! Weber den humaniſtiſchen Zwed feines Buch 
laſſen wir fchlieglih den Verfaſſer felbft reflectiren mit 
Worten, welche er bei Gelegenheit der Borlefung feines Hel- 
den über das Tumurkieland vor dem hauptftäbtiichen Pu- 
blikum ausſpricht: 


Hier Hatte fi jemand durch viel Dreck und Blut, durch 
ſehr unfolide und ungeordnete Verhältniſſe unter Türken, Moh⸗ 
ven und Heiden aller Schattirungen wader durchgeſchlagen und 
brachte aus der grimmigften Stlaverei, der heillofeiten Ernie⸗ 
drigung einen folchen Hauch der Freiheit in dieſe fo rationell 
geordnete Gewöhnlichkeit mit, daß das philifterhaftefte Selbſt⸗ 
gefühl darob mit einem bangen Efel und Ueberdruß und bei 
den m Naturen mit einem dunfeln Schmerz in Widerſtreit 
gerieth. | 


. 


Neuere Werke deutfher Humoriſten. 


8. Rouncburger Myfterien.” Humoriftiſcher Roman von Graf 
Uri Baudifſſin. Drei Bünde Stuttgart, Kröner. 
1869. 8. 4 Thir. 

Ein glüdlicher Verſuch, das Thema ber „Zärtlichen 
Berwandten” in noveliftifcher Form zu behandeln. Graf 
Richard Werneberg dat von feinem Vater nicht nur Gitter 
m Schweden von unermeßlichem Werth, ſondern aud) den 
Widerwillen gegen den Stammflg feiner Bäter, das Schloß 
Ronneburg, geerbt. Ex ift daher überall zu finden, in 
Rußland, Schweden, Kleinaften, nur nicht in Deutfd)- 
land. Seine näthften Verwandten, Couſins nnd Cou⸗ 
finen, kennt er nicht; aber fie kennen ihn, fie betrachten 
ihn als ihre irdiſche Borfehung und verfolgen ihm überall 
hin mit Bettelbriefen, da fie ſich zumeift in deiperaten 
Berhältniffen befinden. Er lieſt die Briefe, Tieft fie auch 
nicht; er unterftügt, unterſtützt auch nicht; er ärgert fidh, 
oder and) nicht — bis er endlich, fatt und müde der fleten 
Beläftigungen, einen nach dem andern auf Schloß Ronne- 
burg ſchickt, in das Familienaſyl. Bald fiten allda ihrer 
ſechs, zwei Männlein und vier Weiblein, die zärtlichiten 
Berwandten, nad Gutdünken und Laune wirthichaftend. 
Ratürlich gleicht die Zärtlichkeit der Lieben der zwiſchen 
Kate und Hund; das hat der Graf vorhergefehen, und 
er iſt malicid8 genug, den lieben Verwandten jeden mög⸗ 
fichen gegenfeltigen Uerger von Herzen zu gönnen. Der 
Graf ift alt, ohne directe Erben (zwei Söhne find ihm 
geftorben, ber ältere nachdem er ſich mit einem Bürger⸗ 
mädchen verheiratet und eine Tochter hinterlaffen Hatte, 
welche ex, ber alte Graf, gleichfalls für geftorben hält). 
Da guartiert er fich plöglich felbft incognito als lieber 
Better unter der Maske eines derben Seekapitäns auf 
Schloß Ronneburg ein, um bie lieben Berwandten zu 


verfaferben einzufegen. Begreiflichermweife zeigt fich bie 
Sippe der ſechs von dem Eindringlinge fehr wenig erbaut, 
er aber noch weniger von ihr. Zum Glück iſt da noch 
ein fiebenter, von der Sippe feines bitrgerlichen Namens 
wegen Geringgefchägter, ein junger talentvollex Landſchafts⸗ 
gürtner, welcher auf Betrieb des gräflichen Intendanten 
atit der Berbeflerumg ber Parkanlagen befchäftigt if. Dies 
fem wendet fi) die Theilnahme des Grafen zu, und 
er geht ſchließlich — dazwifchenliegende Berwidelungen 
übergehen wir — als Sieger mit der Erbſchaft von Mil- 
lionen hervor, beirathet die wiebergefundene Enkelin des 
Grafen, löſt das Familienafyl auf und gibt Schloß Ronne- 
burg feiner nrjprünglichen Beſtimmung zurück. 

Das Thema, fo viel wird aus dieſer Inhaltsangabe 
erfichtlich fein, gewährt dem Novelliften nadı beiden Sei- 
ten, nach dem des Ernftes und dem bed Scherzes, weiten 
Spielraum. Graf Bandiffin wählte nicht die Seite des 
Scherzes auf Koſten des Ernſtes; mag er felbft feinen 
Roman einen „humoriftifchen” nennen, doc würde der 
Leſer, der nur feine Hoffnung auf Scenen der Ausgelaſſen⸗ 
beit fett, fich etwas enttäuſcht fühlen. Ein Banptverbienft 
des Berfafjers finden mir in ber Zeichnung der Perfonen. 
Sie tragen beftimmte, feharfe Züge, ftreifen aber nicht 
en bie Caricatur, eine Yigur, die des wirklichen See⸗ 
Topitäns, ausgenommen, in welcher der Verfaſſer die Far⸗ 
ben doch wol etwas zu braftifh auftrug. Baudiſſin hat 
diefe Arbeit feiner Feder gewiß nicht jo ſchwer abgerun- 


| die Gefahr 





315 
gen, wie Raabe die vorhergenannte ber feinigen; trog ber 
fi aber an einzelnen Stellen zu fehr bervorbrängenden 
epifobenhaften Breite wird ſich der Leſer bie Einweihung 
in die ronneburger Myſterien gern gefallen Taffen. Zur 
Entfhuldigung der ab und zu etwas loſen Schürzung 
bedient fd der Berfaffer der Ausrede, ihm fei das Ma⸗ 
nufeript heftweiſe aus Schweben zugegangen, ſodaß er 
wegen bed Verlaufs der Geſchichte Yeine Verantwortung 
trage: eine höchſt glüdliche Ausrede, nur möchten wir 
ihn bitten, das Anreden des Lejerd und die Berathung 
mit ihm wegen des weitern Berlaufs nicht zur Mar 
nier werben zu laſſen. Der Zweck, gelegentlich einige 
Geitenhiebe auf die Berfafler padender Romane zu füh- 
ren, leuchtet ung fehr wohl ein, ebenfo, daf ein Humorift 
ohne eine beſtimmte Manier leicht blaß oder farblos er- 
ſcheint. Bei einem ſchnell producirenden Dichter ermübdet 
aber die Manier ſchneller, als er es felbft glaubt. Das 
bat ſelbſt Boz erfahren. Und um uns an das Nächſt⸗ 
liegende zu halten, aus fehr vielen Kritifen über Raabe 
ift deutlich heranszulefen, wie feine fpätern Werke eben 
feiner „Manier wegen ben frühern entfchieden nachitehen. 
4. Zwölf Zettel. Bon F. W. Hadlünber Zwei Bünde. 

Stuttgart, ©. Hallberger. 1868. 8. 2 Thlr. 

Diefes 8 wegen faßten wir bie Ueberſchrift bed 
Artikels in oben er Weiſe. Ein eigentlich humo⸗ 
riſtiſcher Roman find die 78wölf Zettel” nicht, fie ftam- 
men aber von einem unferer bekiebteften Erzähler und fie 
zählen zu dem Werthoollften, was wir aus bem reichen 
Schatze des trefflihen Humoriften kennen "gelernt haben. 


Da iſt die gleiche Sicherheit in ber Anlage wie in der 


Durchführung, die gleiche Geftlligkeit in der Motivixung 


u | wie im Stil. Die Handlung wäre vieleiht nicht ganz. 
Andiren und den würdigften unter. ihnen zı feinem Uni⸗ 


frei von Unwahrfcheinlichkeiten, wenn eine weniger ger - 
wandte Feder fich ihrer bemächtigt hätte; unter den Hän⸗ 
den Hadländer’s aber erſcheint ſelbſt das Gewagte ganz 
natürlich. Der Titel gehört zu denen, bei welchen ſich 
der Leſer fo gut wie nichts denken kann; darin Liegt oft 

Fe ben Novelliiten, die Erwartungen des 
Leſers Hinterbrein nicht bedeutend genug befriedigen zu 
können. Hadländer befriedigt aber die Srwartungen voll» 
auf. Zwei Schwindler, welche kein allzu großes gegen- 
ſeitiges Vertrauen befigen, deponiven ihr gemeinfchaftliches 
Bermögen bei einem Bankier, den Schuldfchein des Ban⸗ 
tier aber übergeben fie einem Notar in Wien und die 
Quittung des Notars zerfchneiden fie im zwölf Theile, 
von denen jeder ber beiben ſechs an fih nimmt. Die 
Abſicht leuchtet ein; da je ſechs Zettel nur zufammen- 
hangsloſe Silben enthalten, fo haben fich beide gegenfeitig 
gefichert, damit nicht der.eine hinter dem Rüden des an- 
dern ſich des Schuldfcheine und damit auch des Geldes 
bemäcdhtige. Der Notar ift angewiefen, den Schulbfchein 
nur gegen Ueberreihung ſämmtlicher zwölf Zettel zu ver⸗ 
abfolgen. Der eine ber beiden ermordet nun den andern, 
gelangt damit aber doch nicht in den Befig der ſechs, die 
feinigen ergänzenden Zettel, da der Ermorbete die Brief 
tafche mit den Zetteln im letten Moment von fi ge 
worfen. Theils nun die Jagd nad den Zetteln — denn 
and) der Bankier, deflen Glück zumeift durch die bedeu- 
tende Geldeinlage gegründet ift, intereſſirt ſich begreiflicher- 
weiſe für die Zettel außerordentlich —, theild die Entzif- 

40 * 





316 Neuere Werte beutfher Humoriften. 


ferung bes Geheimniffes feitens berjenigen, in deren Hänbe 
bie ſechs Zettel des Ermordeten durch Zufall gefpielt wur- 
den, bildet die Verwickelung ber höchſt fpannenden Ge- 
ſchichte. Daß ſich die Charafterzeihnung der Hanbelnden 
durch Einfachheit und Wahrheit auszeichnet, brauchen wir 
faum zu verfihern. Ein Cabinetftüd der Sauberkeit und 
Gefälligleit wie die Marquiſe von Reveillot ift die Frucht 
eines reifen Talents, dem freilich der gefellichaftliche 
Schliff zuweilen über originelle Befonberheit, nicht aber 
über bie Gediegenheit einer inhaltsvollen Unterhaltung 
gehen mag. 

Wir fchliegen hieran ein Sammelwerk defjelben Ver⸗ 
faffers: 

5. Eigene und fremde Welt. Bon F. W. Hadländer. Zwei 

Bände, Stuttgart, Krabbe. 1868. 8. 2 Thlr. 

Der erfte Band betitelt ſich: „Scherz und Ernſt aus 
der Weltausftellung”, ber zweite: „Wahrheit und Dich⸗ 
tung”. Dort gibt und Hadländer nicht gerade eine fyfte- 
matifche Befchreibung der parifer Weltausitellung, fondern 
eher eine Schilderung bes parifer Lebens während ber 
Ausftelung in und außerhalb derſelben. Leicht hingewor⸗ 
fen feffeln diefe Skizzen auch noch jett, nachdem das 
Intereffe an dem Weltereigniffe ziemlich erlofchen. Der 
Feerie „Aſchenbrödel“ im Theätre du Chätelet widmet er 
nicht weniger als 50 Seiten, eine Aufmerkſamkeit, bie 
er bem „Alchenbröbel” im Bictoriatheater zu Berlin wol 
nicht beweifen möchte, felbft wenn e8 daſſelbe wäre und 
auch im äußern Pomp dem parifer Vorbild wenig nad)- 
fände, Den erften Band befchließt er mit einer „Welt 
ausftellungs-Novelle”, „Die Gräfin Patatzky“ betitelt. Ein 
neue8 Genre von Novellen wollte er damit ſchwerlich be» 
gründen. Etwas übermiüthig geifelt er da8 Gebaren deut⸗ 
scher Philifter in der Weltftadt, dem Scherze aber den 
Ernft beimifchend, indem er eine in Ungnade gefallene 
polnische Gräfin durch ben Zaren wieder zu Gnaden auf- 
nehmen läßt. 

Im zweiten Bande fefleln die Heinen Gefchichten: 
„Eine Weihnachtsgeſchichte“, „Heidehaus“, „Zwiſchen zwei 
Regen“, durch den rührenden, elegiſchen Ton; zwei an⸗ 
dere: „Trouville“ und „Am Hofe zu Japan“ ergötzen, 
letztere als Perſiflage der kleinlichen Ränkeſucht hochgeſtell⸗ 
ter Hofbeamten. Im der Skizze: „Die Bucht des Todes 
ober das Krolodilgeftade”, gipfelt der Effect in ber Auf- 
löſung der Spannung in nichts. Eine Gefchichte ohne 
Ende, eine Gefhichte, zu welcher man bie Erfindung 
eines Schlufjes als Preisanfgabe ftellen könnte. 


Als Tetten der Humoriften führen wir U. von Win- 
terfeld mit zmei Romanen vor: 


6. Der Winkelſchreiber. Humorifiifhder Roman von A. von 
neh Drei Bände. Jena, Eoftenoble. 1869. 8. 
r. 


7. Fauatiker der Ruhe. Komiſcher Roman von A. von Win⸗ 
terfeld. Bier Bände. Leipzig, Dürr. 1869. 8. 5 Thlr. 


Gute Laune Hat dem beliebten Erzähler die Feder ge⸗ 
führt. Wir würden uns ihrer noch mehr freuen, wenn 


ein humoriſtiſcher oder fomifcher Roman gleich einem hiſto⸗ 


riſchen oder focial=politifchen nicht ſchlechterdings zu drei 
oder vier Bänden ausgedehnt werden müßte Unfehlbar 
verirrt fich der Humoriſt bei dem Deftreben, die dor» 


Ichriftsmäßige Seitenzahl zu erreichen, entweder in for 
cirte Situationen oder in Wiederholungen Tomifch fein 
follender Schlagwörter und Wendungen. - Der Titel des 
erftern Romans erflärt fi felbft, der des letztern be⸗ 
dürfte wol einer Erflärung. „Ein Fanatiker der Ruhe, fagt 
der Berfaffer, „iit ein Sanguinifer, ber danach ringt, 
ein Phlegmatifer zu werden, alfo nad) etwas Unmöglichem, 
denn mit bdemfelben Recht könnte fi) ein Chemiler die 
Aufgabe ftellen, ein Iuftig prafielndes Feuer in träge 
fließendes Waſſer zu verwandeln.” Ob der Leſer durch 
diefe Erklärung vollftändig befriedigt wird, laffen wir 
dahingeftellt. „ebenfalls ift das Beftreben gerade des 
geiftig untergeordneten, in kleinlichen Berhäftnifien wirken⸗ 
den Mannes, es zu etmas zu bringen und von biejem 
Etwas den Heft des Lebens in Ruhe zu zehren, ein ganz 
natürliches. Daß zu dem fogenannten „fid) zur Ruhe 
ſetzen“ und als Rentier die Zeit in Ruhe zu verbringen, 
ein eigener Charakter gehört, ift wahr; ſchon Johann, 
ber muntere Geifenfieder, machte darin Erfahrungen, 
wenn auch andere als Winterfeld's Materialwaarenhändler 
Tliedermüller und Conditor Schellenberg. 

Inwieweit diefe beiden echten berliner Kinder berufen 
find, Hanptrepräfentanten der Fanatiler ber Ruhe abzu⸗ 
geben, mag der Verfaſſer felbft verantworten. Er bes 
müht ſich wenigftens veblich, durch drollige Berwidelungen 
und komiſche Situationen die Geiftesarmuth der beiden 
Helden erträglich zu machen, und hütet fich vorforglich, im 
bie Gefellfehaft ber beiden andern als günzlich fade Per- 
fönlichkeiten einzuführen. Auch wirft er uns fortwährend 
„Knallerbſen“ oder „Du ſollſt und mußt lachen” an den 
Kopf. Da fich aber ber fomifche Roman „Fanatiker der 
Ruhe” zu dem Kumoriftifchen „Der Winkelſchreiber“ un« 
gefähr verhält wie eine Bofle zum Luftfpiel, fo kommt 
uns bei lesterm die Freude über die Handlung und bie 
Handelnden weit mehr als bei erfterm vom Herzen, und 
während wir dort mehr und mehr gezwungen lachen, laſſen 
wir uns bier weit ummittelbarer durch die humoriſtiſche 
Wirkung fortreißen. Wer das berliner Pflafter kennt, 
wird fih an den Localjhilderungen weidlich ergötzen, 
Kenntniß deffelben ift aber zum vollen Genuß der Schil⸗ 
derungen erforderlich. Dem „Winkelſchreiber“ können wir 
den leifen Vorwurf einer gewiffen Breite nicht erfparen; 
ein Stoff, welcher zu dem gleichnamigen Luftfpiel unfers 
Autor ausreicht, mußte, wie gejagt, zu einem breibän- 
digen Roman ausgedehnt werden. Dies veranlaßt den 
Berfaffer, den Schwerpunlt des Intereſſes an der Hand⸗ 
lung bier und da zu verrüden und 3.2. in den erften 
Kapiteln die Schilderung des Junggeſellenlebens Helfreich’s 
und fpäter die Eiferfuchtsfcenen zwifchen der Commerzien⸗ 
räthin und ihrem Gatten in einer Weife zu behandeln, 
al8 wären fie die Hauptſache. Im Mittelpunkte fteht, 
wie fchon der Titel befagt, der Winkeladvocat Knifflich, 
und alles, was mit biefem zufammenhängt, was biefen 
berührt und was diefen treibt, auf die Handlung beſtim⸗ 
mend einzuwirken, ift mit einer Behaglichkeit, zuweilen 
freilich auch mit einer etwas vedfeligen Wohlgefälligkeit 
geichildert, welche uns in bie heiterfte Laune verſetzt. 
Wir Hungern und dürften gern mit ihm, wir fertigen 
unbequeme Clienten ab und lafien uns abfertigen, wir 
fühlen alle Heinen Leiden des menfchlichen Lebens, bie 





Sammelwerfe und Ueberfegungen. 317 


Noth, die Schäbigfeit, den Geldmangel, und wie fie fonft 
heißen mögen, nad), wir ergögen uns fogar an ihnen, 
da fie und originell und witig geboten werden. Hin⸗ 
ſichtlich der Form, fpeciel der Echreibweife, muß man 
einem Humoriften ſchon eiwwa® dur bie Finger ſehen. 
Wir wilrden über gewiſſe draftifche Wörter auch kein 
Wort verlieren, wenn nicht gerade von untergeordneten 
Schriftſtellern, namentlich auf der Poſſenbühne, die komiſche 


Wirlung zumeift in plebejiſchen Ausdruden gefucht und 
dadurch felbft beſſere Schriftfteller verleitet würden, bem 
gewöhnlichen Gef mad unnöthige Conceffionen zu machen. 
Dan kann der bumoriftifchen Yaune immerhin etivas die 
Zügel ſchießen Laffen, ohne daß man glaubt, den Leſer 
in jeber Minute „ankrähen“, „anpuften“ und „anprufchen” 
zu müffen. 
Emil Müller- Samswegen. 


Sammelwerke und Veberfegungen. 


„ 


- Englischer Liederfhag ans britiſchen und amerilaniſchen 33 
teen von Karl Elze. Mit einem biographiſchen Verzeich⸗ 
niß der Berfaffer. Filnfte verbefferte und vermehrte Aufe 
Tage. Halle, Barthel. 1869. 8. 1 Thlr. 10 Nor. 

2. Kronen aus Italiens Dichterwalde. Ueberfegungen von 
Sofepha von Hoffinger. Mit einem Anhange eigener 
Dietungen. Halle, Barthel. 1869. 16. 1 Thlr. 

3. Die zwei erften Gefänge von Dante's Hölle. Ueberfetzt und 
befproden vom Friedrich Notter. Stuttgart, Schaber. 
1869., ®r. 8. 1 Zhlr. 

4. Das Leben ein Traum von Calberom be Ia Barca. 
Ueberfegt von I. D. Gries. Mit dem Bildniß des Dich⸗ 

ters. Berlin, Nicolai. 1868. Gr. 16. 25 Nor. 

Album ansländifcher Dichtung in vier Büchern: England, 
Sranteeig, Serbien, Polen. Im deutfher Ueberfetung von 

einig Nitfmann. Mit vier auf Stein gezeichneten 

klaren von Strioweli. Danzig, Vertling. 

Gr. 16. 1 Thlr. 

Karl Elze’: Sammlung: „Englifcer Liederſchatz“ 
(Nr. 1), Hat ſich in Deutfchland bereits ein weites Ge- 
biet erobert und dürfte kauin noch bei einem Verehrer 
der engliſchen Literatur vermißt werden. Die Gedichte 
find mit Geſchmadk ausgewählt, ein Umſtand, ber, foviel 
ums erinnerlih, ‘bei Beſprechung früherer Anflagen nicht 
minder ritfmend erwähnt wurde, wie die Art und Weife 
der Anordnung. Es ift dies nämlich die ftoffliche, für 
deutfche Leſer oßme Frage zwedmäßigfte, die auch in die» 
fer fünften Auflage beibehalten worben ift. Elze Hat die 
Zahl der Gedichte auch noch vermehrt und die iebens⸗ 
geſchichtlichen Nachrichten Hier und da vervolftändigt. 
Eine Einfügung älterer Gedichte Hat nur da flattgefunden, 
wo die planmäßige Reihenfolge diefelben offenbar ver⸗ 
mifjen ließ. 

Sofepha von Hoffinger, welche und vor einigen 
Yahren mit einer gefungenen Weberfegung von Dante’s 
„Söttlicher Komödie” überrafchte, führt uns in ben „Kro« 
nen aus Yaliens Dichterwalde“ (Mr. 2) in einer nicht 
minder Lobenswerthen Webertragung, bie bei ber ziemlich 
gewifienhaften Beibehaltung des oft fo ſchwierigen origi« 
nalen Veremaßes von ihrem Fleiß und ihrer Hingabe 
an die Sade zeugt, mehrere der herborragendften italie« 
niſchen Dichter mit voraufgefchieten biographiſchen Be⸗ 
merfungen vor, darunter Leopardi, Filicaya, Petrarca, 
Dante, Michel Angelo u. a. Daß dieſer letztere auch 
Dichter war und zwar in dem Genre ber religiöfen 
Sonette ziemlich bedeutend daſteht, wird vielleicht manche 
unferer Leſer überrafchen. Die in einem Anhange beie 
gefügten Originalgedichte der Ueberfegerin find dem In⸗ 


* 


Halte der italieniſchen Dichtungen entſprechend, gedanlen ⸗ 
reich und zugleich formgewandi. 

Notter’s Ueberfegung: „Die zwei erſten Gefänge 
von Dante's Hölle“ (Mr. 3), der auf der gegenüber- 
ftehenben Seite das Original Hinzugefügt ift, weicht in« 
fofern von diefem letztern ab, al8 in ihr nach dem Vor⸗ 
gange von Stredfuß die weiblichen Reime mit den männ- 
ug regelmäßig abwechfeln. Dante bebiente ſich befannt« 
lich nur im einzelnen fräftigen Stellen bes männlichen 
Reims. Wenn der fonft fo wadere Ueberfeger übrigens 
in der Vorrede bie Behauptung aufftellt, daß ihm feine 
Aufgabe dadurch ſchwieriger geworben fei, fo müſſen wir 
befennen, daß wir entgegengefegter Anſicht find. Seine 
Arbeit ift ihm dadurch weſentlich erleichtert worden. 
Uebrigens Tann ſich diefe Meberfegung, in der allerdings 
einzelne, vieleicht unvermeidliche Härten dem allgemeinen 
Wohllaute einigen Abbruch, thun, dem beften der bereits 
vorhandenen dreift zur Geite ftellen. Der angehängte 
Commentar zeugt von ebenfo gründfichem deutfchen Fleiße 
wie die Ueberfegung felbft. 

Der Werth der Ueberjegung von Calderon's „Les 
ben ein Traum“ durch Gries (Mr. 4) ift der ſchönen 
Ausftattung des Gedichts Teineswegs entſprechend. Sie 
ift fo gefünftelt und fteif, daß wir den Reiz eines poetie 
ſchen Werts faft vollftändig in ihr vermiflen, und daß 
es für etwaige Darfteller biefes berühmten Schauſpiels — 
welches in nenefter Zeit hier und da wieder auf das 
Repertoire gelangt ift — eine unmögliche Aufgabe fein 
dürfte, dafjelbe in biefer Geftalt zu memoriven. Wir 
era von Gries eine fliegendere Uebertragung erwarten 

ürfen, 

Im den Ueberfegungen, welche Nitſchmann's „Als 
bum ausländif—her Dichtung“ (Nr. 5) enthält, herrſcht 
Gewandtheit der Form und Klarheit des Ausbruds vor; 
dafür find fie aber oft außerordentlich frei. Es ift in 
ihnen weniger ber Wortlant als der Sinn, und oft nur 
diefer allein wiedergegeben worben. Gie verdienten da⸗ 
her eher Nachdichtungen als Ueberſetzuugen genannt zu 
werben, wenigftend gilt dies von vielen der englifchen 
und franzöfiichen Webertragungen. Im einzelnen Fällen 
hätte aud bie Wahl des Ausdruds eine poetifchere fein 
nnen. Uebrigens werben fie der großen Leſerwelt, bie 
feine vergleichende Kritit anſtellt, in ihrem anmuthigen 
Gewande gewiß eine willfommene Gabe fein. 

Wilhelm Andreä, 


318 nn Feuilleton, 


Feuilleton. 


Engliſche Urtheiſe über neue Erſcheinungen der 
deutſchen Literatur. 


Ueber Reinhold Pauli's „Auffägen zur engliſchen Ge⸗ 


ſchichie⸗ ſagt die „Saturday Review” vom 16. April: „Das 


gegenmärtige Zeitalter ift in einigen Hinfichten vorzugeweiſe das 
der hiſtoriſchen Literatur. Man kann faft fagen, die Hiftorifche 
Kritik fei in unferer Zeit erfunden worden; bie ungeheuern 
und unentbehrlichen Borräthe von öffentlichen Ardiven und 
Brivatcorrefpondenzen waren für die frühern Geſchlechter fo gut 


wie nicht vorhanden. Man kann indeflen bezweifeln, ob- diejer - 


Reihthum an geſchichtlichem Rohmaterial der literariſchen Un- 
fterblichkeit der Geſchichtſchreiber förderlich fe. Die große, 
nicht zu beherrſchende Maſſe bat eine am fich ſchon ſchwierige 
Aufgabe nur um fo mehr erſchwert. Die neuen, dem Geſchicht⸗ 
ſchreiber anferlegten Bebingungen find gegenwärtig mit dem 
Schliff, dem Ehenmaß, vor allem aber: mit der, dem dauernden 
Ruhme durchaus. nothwendigen Kürze faR ganz unverträglich, 
Gibbon wird ſtets gelejen werden; denn feine wunderbare Gabe 
der Zufammenbrängung vertritt und erfegt ganze Bibliotheken. 
Macaulay Hat zum Glück für feinen Ruhm blos ein Brud)- 
fd Hinterlaffen; glaubt aber irgendjemand, daf die Nachwelt, 
die mit ihren eigenen Intereſſen bejchäftigt fein wird und berem 
Ohr die zeitgendifiichen Schriftfteller in Anſpruch nehmen wer- 
ben, je Belt haben werde, Froude's zwolf Bände buchzulefen? 
Mau wird -fle wohl zu Rathe ziehen, nicht aber lefen. Die 
Hiſtoriker diefeg Beitalters werden fi) wahrfcheinfih mit dem 
Amte des Sammelnd und Sichtens bes Materials für die der 
künftigen Generation zu begnligen haben. Es ift daher ſchon 
befriedigend, wenn wir einen hervorragenden Hiſtoriker finden, 
ber im Stande iſt, etwas Züchtiges im Kleinen iu feiften, was 
ihm möglichermeife durch fein eigenes Verdienſt einen dauernden 
Platz im der ‚Literatur verfihaffen wird oder auch wicht, was 
aber jedenfalls nicht durch feinen bloßen Umfaug, wie die alten 
Mammuthe und Megatherien, im Kampf ums Dafein untexlie- 
gen wird, Pauli ſcheint foldje Betrachtungen fehler vor. Augen 
gehalten zu haben als die meiften feiner Zeitgenoffen. Seine 
Kürze darf durchaus nicht einem Mangel an Fleiß beigemefien 
werden; doch Find feine Werke niemals unmäßig lang. Am 
wenigften ift dies mit dem eleganten Bande von Auffägen zur 
engliſchen Geſchichte ber Kal, den wir kürzlich al® eine anmu⸗ 
thige Ergänzung zu wid gerer Arbeit von ihm erhalten haben. 
Er if in der Auswahl von Epifoden aus den ereignißvollen 
und maleriſchen Aunalen unfers Baterlandes glücklich gemeien. 
Der Schwarze Prinz und Richard III. find die Gegenflände zweier 
gebrängter und vortrefjliher Studien. Dies find Geftalten, 
welche der Vergangenheit angehören; der Einfluß Heinrich’s VIII. 
aber ift in unfern ftaatlihen und kirchlichen Einrichtungen im⸗ 
mer noch fühlbar, und Erörterungen nnd Entbdedungen der 
jängften Zeit haben das Tebhaftefte Intereſſe an feiner Politik 
und feinem Charakter von neuem wacd gerufen. Dieſe beiden 
bilden das Thema eines der Panli’ichen Aufſätze; ein anderer 
behandelt Heinrich's Berhältnig ‚gum Kaiſer Marimilian und 
feine ande auf. die kaiſerliche Krone. aufi ſcheint 
uns ein jehr unpartelifches Urtheil Über Heinrich's Charakter 
zu fällen; er ift zu leidenſchaftslos, um von dem ſtürmiſchen 
Parteigefühl grond beherrſcht zu werden, während er ale 
dentſcher Kritiker natürlich Über der entſtellenden Atmoſphäre des 
odium theologicum weit erhaben iſt. Er läßt Heinrich's große 
Eigenſchaften volſlkommen gelten, erklärt ihn aber als aller fei⸗ 
nern und edlern Charalterzlige gänzlih bar. Das Weſentliche 
eines andern überaus anziegenben Auffages, des über © 
Peter Carew, iſt den kürzlich veröffentlichten Caremw- Papieren ent- 
nommen. Ein fharf- und feinfinniges Mimoire Eanning’s 
zeugt von Pauli’e geigeln neuere Bolitif zu behandeln, 
und der Band fchlieht fehr paſſend mit einer von Froſtigkeit 
und Schmeidelei gleich fernen Lobrede auf den verflorbenen 
„Prinz⸗Gemahl.“ 

„Das Werk «Die deutſchen Republikaner unter der fran⸗ 
zöſiſchen Republiky, von Jakob Benedey“, heißt es dann, „ver⸗ 


dankt ſein unſtreitiges Interefſe mehr dem Reize des Gegenſtan⸗ 
des als dem Geſchick des Verfaſſers, da feine Conſtruction unzu⸗ 
jammenhüngenb und fein Stilvon Einfdiebfeln überladen ift. Auch 
ift das Werk zu fehr unter dem Einfluß perfönlihen Gefühls ge- 
ſchrieben, da des Verfaſſers Bater einer ber -intereffanten aber 


unglücklichen Männer geweſen — beren Verfahren er erzählt —, 


welche von vornherein in eine faljche Stellung gerathen waren, 
aus ber fie fih.unmöglid mit Ehren zu Sieben vermochten. 
Wenn es irgendein Land in Europa gab, wo mit Recht das 
erſte glänzende Verſprechen der Franzöſiſchen Revolution mit 
Frohloden begrüßt werden konnte, fo war es das von Fürſten 
und Prisftern überfüllte Tatholifche Deutfchland. Die Gebildet- 
ften und vom ebelften Streben Befeelten bes Landes nahmen 
eifrig Partei fir das, was die Sache der Freiheit fchien, doch 
nur um der großen und unlösbaren Aufgabe zu begegnen, wie 
Is fret werden könnten, ohne aufzuhören Deutjhe zu fein. 

an Tann fi ſchwerlich eine beffemmendere Lage benfen ala 
die, in welcher Georg Forfler und feine Freunde fich befanden — 
entweder nämlich zu der unerträgliden Korruption, und dem 
Stiliftand des alten Syſtems zurlidzufehren, oder ihre Natio⸗ 
nalität in der Franfreih8 aufgehen zu laffen und Pin mit den 
Sraufamteiten der Schredenehersihaft zu identificiren. Sie 
mählten den letztern Weg, deffen Thorheit und Unheil die Er- 
fahrung bald deutlich madte; dog ift e8 die Frage, ob er nicht 
unvermeidlich geworden war, Der interefjantefte Theil des 
Venedey'ſchen Buchs ift feine Erzählung der Erlebniſſe Korfter’s 
und feiner Genoſſen zu Mainz während der erfien franzöfiichen 
Beſetzung und die Geſchichte der unglüdlichen und ruhmlofen 
Sendung Forſter's nach Paris als Vertreter des neu einver⸗ 
leibten Departements der Republik. Die Iettere Hälfte feines 
Werks, welche bauptfählich die einige Jahre jpäter erfolgten 
Ereigniffe zu Koblenz, in welchen fein Bater eine wid“ 
tige Rolle geipielt Hat, behandelt, ift weniger anziehend, "und 
zwar nit etwa al8 ob die Ereigniffe jelbft einen minder dra= 
matifhen Charakter hätten, fondern weil das Romantiſche und 
die Begeiflerung der erſten Zeit der franzöftfchen Republik ihren 
abgeht. Benedey's Geſchichte ſchließt dramatifch genug mit der 
Entdedung der deutfchen Republilaner, daß fie für das Katfer- 
reich gearbeitet hatten, was ihre Ietten Illuſionen zerfiteute. 
Als Beurtheiler der PVerfonen und ahnt bie er ſchil⸗ 
dert, fcheint er uns fehr unparteiiſch zu verfahren, ein firenges 
Feſthalten an der Wahrheit mit einer edeln Wuslegung der 
Motive und Undliche Pietät mit den Gefinnungen eines pa» 
triotifchen Deutfchen vereinigt zu haben. In feiner Meinunge- 
änßerung ift er Übrigens durchaus nicht zurückhaltend oder 
wuhleriſch; fein Urtheil Über Goethe 3. B. lautet: «Goethe 
Inat bei der reihften geifiigen Begabung ein herzensarmer 

ann.» * ! 

‚ Ueber Guſtav Freytag's „Karl Mathy“ fagt das Blatt: 
„Einer der uaen und beliebteften der heutigen demtfchen 
Schriftſteller u! die Biographie eines Staatsmaunes gefchrieben, 
beffen Einfluß auf bie Bolitit Süddeutſchlands fehr bedeutend 
war und befjen Charakter wahrſcheinlich noch einige Zeit Gegen- 
Rand des Streites fein wird. Gnſtav Freytag war ein alter 
Frennd des verftorbenen Karl Mathy, und feine Ausſage zu 
Suuften Mathy's kann daher freilich nur als die eines partei» 
hen Zeugen aufgenommen werden. Sie bebarf allerdings 
feiner empfehlung in literariſcher Hinſicht. Die große, Mathy's 
perfönlichen Auf betreffende Frage ift die, melde Beweggründe 
ihn wohl veranloßt haben mögen, nachdem er lange Flihrer der 
liberalen Partei in Baden gemeſen und fich deshalb verbanmen 
mußte, feine alten Genoffen zu verlaffen und während der Un- 
ruhen von 1848 zu der Regierungspartei fiber ugehen, Nach 
einer Anſicht war es Widerwille gegen die Aue! reitungen er« 
teemer Demofraten, welcher ihn zu dem Schritte bewog; feine 
frühern Berblindeten indeffen betradjteten ihn als einen feilen 
Ueberläufer. Nach Freytag’ Schilderung von ihm könnte mar, 
wenn man die Wärme bes Colorits in Abzug bringt, eine oder 
die andere Anficht gelten laſſen. Mathy fheint nad ihm einen 








Beuiffeton. 319 


überfegten eigenfinnigen Kopf, eine große Fähigkeit für bie 
Leitung der Gefhäfte und eine praktiſche Richtung befeffen zu 
Haben, welche fid} leicht entweder zum Nerger, Über Unruhen 
oder zu Rüdjichten auf fein perfönliches Iuterejje neigen konnte. 
Welche auch immer feine Motive geweſen fein mögen, er erfuhr 
da8 gewöhnliche Schiefal der Abtrlinnigen und murde caffirt, 
als man feiner Dienfte nicht mehr bedurfte. Geudthigt, fih in 
einer privaten Stellung zu ernähren, entfaltete er eine.demer» 
tenswerthe Energie in feinem Kampfe mit ber Welt bie 1862, 
wo bie Annahme eines freifinnigen Syſtems in Baden feinen 
Rildruf Herbeiführte und er bald wieder ins Minifterium eintrat. 
Im diefer Eigenfchaft fpielte er eine höchſt wichtige Rolle, da er 
al8 leitender Gücfprecher der premfifchen Ullianz fid) auszeicnete 
amd aller Wahrſcheinlichteit nach die von Baden während bes 
Kriegs von 1866 und ſeitdem befolgte Politit leitete. Nach 
Fregtag’6 preußiihem Gefichtspuntte bildet diefe Handlungsweife 
natürlich Mathy’s Hauptanſpruch auf die Dankbarkeit des deut« 
fen Bolts; Süddeurfland wird fie freilich anders beurtheilen. 
Er farb im Januar 1868. Als Staatsmann waren FM 
Fähigkeiten umbezweifelt, wenn es ihm auch an der nöthigen 
BHantafie mangelte, um große Principien zu faſſen oder große 
Bervegungen einzuleiten. Er war ein Staatsmann von dem 
Typus, welder fi am beſten für comflitutionele Staaten in 
ruhigen Zeiten eignet — ſiarr, troden, pofitiv, für bie Nüt- 
tigkeit gefiunt und befondere gejchidt in finanziellen ragen; 
fo entfernt wie möglich von der Art bes typiſchen Revolutionäre 
und daher um fo mehr zu entihufdigen, daß er feine Barteifarbe 
geändert. WIE Titerariihe Leiflung if Freytag's "Biographie 
meifterhaft. Die trodenften Gegenftände werden interefjant ge» 
macht, und diejenigen Stellen, welche unterhaltende Dinge ber 
handeln, wiez.®. Mathy's Abenteuer während feiner Verbannung 
in der Schweiz, find in der That unterhaltend.” 

Ueber Fanny Lewald’s ade und wider bie rauen‘ 
fagt die „Saturday Review‘: „Ein Werk über die Erhebung 
des weiblichen Geſchlechts von einer Dame, welche Fanim Ler 
wald's Ruf für Geiftesftärke genießt, dürfte auf bem erfien 
Blid ein wenig erſchredend ſcheinen, es ift aber in Wirklich 
teit eine vernünftige und zeitgemäße Leiftung. Die öffentliche 
Meinung in diefer Hinfiht if in Deutſchlaud nod fo zurüd, 
daß die Bemühungen um eine Verbeſſerung der Lage ber Frauen 
dort noch keine Befürchtung auflommen laffen, fie könnten im 
einen Kreugug flr die Emancipation berfelben ausarten. Fanuy 
Lewald's Bemerkungen find verfländig und ſachgemäß und ber 
häftigen fi Hauptjählidy mit Fragen, welche der richtige Ber» 
Rand bei uns Tängft zu Gunften der frauen entſchieden hat; 
wie 3. B. die Noihwendigleit, ledige Frauenzimmer in dem 
Stand zu fegen, ihr Brot auf eine andere Weile deun ale Er» 
gieherinnen fid) zu erwerben, und eine durchgreiſende Reform 
in der Erziehung der Mädchen aus dem Mittelftande herbeizu- 
fügren. Gtreitigere Punkte find kaum berührt; die Frage jo 
weit fie hier geht, ift nicht zwiſchen zwei ſich befämpfenden 
Schulen, fondern zwifchen Vernunft und einer mngehenern 
Maffe veralteten und unvernünftigen Borurtheils, welches fich 
in den Sa zufsmmenfaffen läßt, daß ein Weib erniedrigt 
wird, wenu fie etwas fur ſich felöft feiftet. Manny Lewald gibt 
ahlreidhe Beilpiele von der Wirkung diefes Gefühle dorch alle 
Kaffe der Gefelfhaft. Eins ber feltjamften ift vom ihrer 
eigenen Erfahruug hergenonmen. Sange nachdem fie fi durd; 
ihre Feder bequem ernährt hatte, geflattete ihr Vater ihr, die 
Belt glauben zu maden, baß er fie erhalte, um die Schande 
ju vermeiden, welde daraus für fie nnd ihre Familie erivach - 
fen wäre. Der Ausgang des Kampfs zwiſchen gefuubem Men- 
jchenderſiand uud Sentimentafität diefer Art kann nicht zweifel- 
haft fein; unb wir erwarten vertranensvoll von dem häuslichen 
Sinn, der einfachen Reinheit, der echten Weiblichkeit der großen 
Mehrzahl deuiſcher Frauen, daß fie die Ertravaganzen verhin« 
dern werden, weiche ähnliche Bewegungen in andern Ländern 
in Berruf gebradit Haben.‘ J 

„Rudolf Genee’s «Gefichte ber Shaltpeare’ihen Dra- 
men in Deutfclande”, fefen wir weiter in der englifchen Zeit» 
förift, „AR ein werthvolles und interefjantes Wert, gründlich 


umd umfaffend umb dod nicht überfaben mit Gtoff. In den 
erfien Kapiteln, welche von den englifhen Schanfpielertruppen 
Handeln, die Deutſchland im Anfang des 17. Jahrhunderts 
durchzogen, und von den erfien fhwaden Dämmerungen eines 
Shalpeare ſchen Einfluffes in jenem Lande, hängt der Berfaffer 
hauptſaclich vom den erfchöpfenden Arbeiten Adolf Cohn's ab. 
Sein Beriöt über den großen Gtreit zwijhen Lefflng und 
Gottſched, welcher mit der Throuerhebung Shafipeare's auf 
den Trümmern der franzöſiſchen Schule endete, if fehr ange 
führfih und unterhaltend; wir bedauern nur, daß biefer Theil 
des Werts mit der «volfländigen Aneignung» Shalipeare's durch 
die Dentfchen vermittel® der Uebertragung von Schlegel und 
Tied fließt und daß nichts Über die fpätern Schidfale feiner 
BVerke auf der Bühne berichtet wird. Der größere Theil der 
Abhandlung hefchäftigt ſich mit einer Analyfe ber verfchiedenen 
auf Shaffpeare gegrlindeten Dramen und der vorzüglichften 
Umänderungen und Anpaffungen, die fie erlitten haben — ein 
merkwilrdiger Beitrag zur Geſchichie des iiterariſchen Geſchmads.“ 

„Bon Gottes Onaden, ein Roman aus Cromwell's Zeitn, 
von Julius Rodenberg, zeichnet ſich durch die.bemerteng- 
werthe Vollendung und Eleganz des Stile von dem gewöhn- 
tie Schlage der deutfchen Romane vortheilhaft aus. Jede 
Seite trägt ben Stempel eines hochgebildeten Geiſſes. Auch 
die Geſchichte an fih iſt vortrefflih, die Charaktere find gut 
gezeichnei, unb der englifhe Leſer wirb durch feine fo groben 
Beweife von Unfenntniß englijcher Dinge, wie man ihnen in 
Bictor Hugo begegnet, beleidigt oder beläRigt. Die geſchicht - 
tigen und häuslichen Elemente des Intereffes ud gefgidt ver» 
moben und nichts blrfte der Popularität des Werks bei uns 
im Wege ſtehen als feine Länge, melde allerdings ungewöhn⸗ 
Tidy erfgeint, wenn man den bei une üblichen Mahfab anfegt.' 


Bibliographie. 

Aus dem Leben und Wirken bes Königs kml L 
Bayern. Beriällgungen un Grläuterungen je Dr. Gene Bopcaptiiden 
Werte über König Ludwig I. von Bayern. Münden, Manz. Gr. 8. I Rpr. 

Babut, I., Holland auf Java, Roman. Zus dem Bramöfife 
Bbertragen ven bh. Frlßmann. 30. Brtin, Kangmann a Comp 


8 1, 2, De ir Berli ” 
teagemäite) Berln, Sanganı u Sue Geo ler jan sit 
&. — —— einer Kunſireiie Berlin, kangriann u. Comp. 

Dürd, — Blaze de, Der Liebe Rage und Sieg. Roman, 
guten jlifhen überjegt von Fine Kapfer. 9 Bde. Lelpyig, Slide. 


I. 15 Wr. 
Taler, &, Der Gpiveerabend im Spiegel bes Bollöglaubene. Gin 
tänblipe® Bühnenfüd. Eigmaringen, Zappen. 8 3 Bar. 
Enckeu, R., Ueber die Methode und die Grundlagen der Aristote-. 
Mischen Ethik.” Berlin, Weldmann. Gr. 4. 13 Ngr. 
en, Anmatt, Unter Mitmifing don fanny gewarb, Boni 
Büguer, f. Dr, Holgenborfi sc. Gerausgegeben bon Ienuy Biric. 
Aer Sahraeng. Mpall 1eO Wär 16T, 12 Hete, Berlin, Eoemenfen. 
r- 


1. 8. 2 Tple. 
Freytag: I, Tiborlan und Tacltak, Berlin, Henschel, Or. UThir, 
I, Henbel, @r. 16. 








.. Ti in, Hensel 
ige, ©, Breigefprogen! Griminat-Mobelle. Halle 


35 Apr. 
Beyie v., Dramatifihe Dißtungen. 6te® Bbhn.: Die Göttin ber 
Vernunft. Xrouerjpiel, Berlin, Herg. 8. 25 Rat. 

Hitzig, F., Zur Kritik Paullnischer Briefe. Leipzig, Hirzel. Gr. 8, 


re. 
umperbind, ©, Die Spradlante, phpfiologif@ und ſpraquiſſen- 
PR Beradte. leitung, ge POofoloait® und wraawin 
M Dillinger Härditer? Bon P. 9. d. Münden, Ofdenbourg. 
8. 6 Nat 
Junghans, ®., Yohann Gebaflan Bag ala Schäfer ber Bertitur 
Taridufe zu Gt. Migaetis in Cüneburg eine Bflepfätte Kiegliger Mufit. 
üneburg, Heroip u. Wahtfab. Or. d. 15 Mgr. 
Rarpeles, udınig Börne,“ Lidilttahlen aus feinen Werten. 
Mit einer Diograpki Börne'd. Leipzig, Brodhaus. 8. 1 zur 
det Heny Siroutberg. VBiogeaffhe Karakterifit. 
1.3. 10 


—* 
midt, Bolts« und Sugendfcriftiteller. Sel, Stlegenbeit 








orfi, 
Berlin, Cigle 











Gerbinand 
feines 2öjährigen Schrififteller-Iubiläums, OftereWtefie 1870. Berlin, Kaf» 

er. 8. gratiß, 
Sömiy, D., Ein Macaulap- Gommenter: Anmerkungen zu Macau 
Vol, 1. Zur Einführung in ein grünbliges 


— history of. England, 
Bertueniß visfet Öetgiägeiweitet ans ber saliiden Gpsade berpanpt, 
Afte Hälfte. Greifswald, Bamberg, tr. 8. 1 Thlr. 6 Agr. 

Shrder, R. d., Die veutjge Negptfgreibung in der &Gule und deren 
Eteilung zur Shreibung der Julumft. Mit einem Berzelhniffe ziweifel- 
Hafter Wörter. Yeipsig, Vrodfaus. 8. 20 Nat. 

Yoli, B., Die Eründung des Ferurohrs und Ihre Folgen für die 
Astronomie. Vortrag. Zürich, Schulthess, Gr. &, 9 Ngr, 








320 


Unze 


Anzeigen. 


igem 


— — 


Verſag von S. A. Brockhaus in Leipzig. 





Die beiden Veroneſer. 
Bon William Hhakefpeare. 
Ueberfegt von Georg Herwegh. 
Mit Einleitung und Anmerkungen. 


Diefes Stück bildet das 24. Bändchen von: 
William Shakeſpeare's Dramatifche Werke. Ueber- 
fest von Sriedrich Bodenftedt, Serdinand Sreiligrath, Otto 
Gifdemeifter, Paul Heyfe, Hermann Rurz, Adolſ Mil- 
Brandt u. a. Nach der Textreviſion und unter Mitwir- 
fung von Nicolaus Delius. Mit Einleitungen und An⸗ 
merfungen. Herausgegeben von Sriedrich BSodenſtedt. 


Das 1.—23. Bändchen enthalten: 

Othello. Ueberſetzt von Friedrich Bodenftebt. 

König Johann. Ueberſetzt von Otto Gildemeiſter. 

Antonius und Kleopatra. Ueberſetzt von Paul Heyſe. 

Die luſtigen Weiber von Windſor. Ueberſetzt von Her⸗ 
mann Kurz. 

Biel fürmen um Nichte. Ueberſetzt von Adolf Wil- 

ranbt. 

König Riders ber Zweite. Ueberfeßt von Otto Gilde- 
meifter. 

Machetb. Ueberſetzt von Friedrich Bodenftedt. 

König Heintih der Vierte. Zwei Theile. Uebrrfegt von 
Dtto Gildbemeifter. 

Romeo und Julia. Ueberfegt von Friedrich Bodenſtedt. 

Coriolanus. Ueberfegt von Adolf Wilbrandt. 

Zimon von Athen. Ueberfegt von Baul He wi e. 

König Heinrich der Fünfte. Ueberſetzt von Otto Gilbe- 
meiſter. 

Der Kaufmann von Venedig. Ueberſetzt von Friedrich 


Bodenſtedt. 

König Heinrich der Sechſte. Drei Theile. Ueberſetzt von 
Dtto Gildemeiſter. 

Ein Sommernachtstraum. Ueberſetzt von Friedrich Bo» 


den ftebt. 
König Richard der Dritte. Ueberfegt von Otto Gilde- 


meiſter. 

König Lear. —F von Georg Herwegh. 

König Heinrich ber Achte. Ueberſetzt von Otto Gilde⸗ 
meifter. 

Titus Anbronicus. Ueberjet von Nicolaus Deline. 

Was ihr wollt oder Heiliger Dreilönigsabend. Ueber- 
fett von Otto Gildemeiſter. 


Jedes Bändchen gebeftet 5 Ngr., cartounirt 74, Ngr. 

Eine neue deutſche Ueberſetzung der Shalefpeare’” 
ihen Dramen if längft als Bedürfniß empfunden, ba die 
Schlegel⸗Tieck'ſche Ueberſetzung, ungeachtet der hohen Borzlige, 
die namentlih den von Schlegel felbft überſetzten Stücken bei- 
wohnen, body den Zotaleindrud des Originals nicht wiederzu- 
geben vermochte und den gegenioärtigen Anfprühen keinesfalls 
mehr völlig genügt. Die obengenannten Scriftfielee — zu 
ben erften Namen zäblend, welche Deutfhland im 
Gebiete der poetifhen Ueberfegun 8literatur auf» 
zuweifen bat — Haben fich biefer großen Anfgabe gewid- 


met, uud barf deshalb die Tebhaftefte und allgemeinfte Theil⸗ 
nahme im deutſchen Publikum für das Unternehmen erwartet 
werden, zumal die Berlagshandlung im Jutereſſe der weites 
ſten Berbreitung einen überans wohlfeilen Preis geftellt 
bat. Jedes Bändchen enthält ein vollkändiges 
Drama nebft ausführliher Einleitung und erläu- 
ternden Anmerlungen und koflettrog des Umfangs 
von 8-10 Bogen geheftet nur5Rgr., cart. 7, Ngr. 

Die erfihienenen Bändchen find nebft einem Profpect 
in allen Buchhandlungen vorräthig. 





Einladung zur Subfeription auf die 
Sammlung semeinverftändlicher 


wiſſenſchaftlicher Worträge, 
, herausgegeben von 
Rud, Virchow um Fr. von Holizendorfl. 
V. Serie ober Jahrgang 1870. Heft I97— 120 umfaffend. 


WER Su Abonnement jedes Heft nur 5Sgr. "WE 
Soeben wurben ausgegeben: 
97. Brof. 9. Steinthal, Mythos und Religion. 6 Sgr. 
98. Prof. W. von Wittich, Ueber Phyſtognomik u. Phreno⸗ 
logte. 6 Sgr. 
Nah uud nah werben demnächſt folgen: 
Prof. Dr. Ehr. Peterjen, das Zwölfgötterſyſtem ber Grie⸗ 
hen und Römer. 
Obermedicinalrath Dr. Rob, Volz, ber ärztliche Beruf. 
Stabtrath Dr. Rob, Zelle, das heutige Bormunbfchaftswefen 
unb feine Reform. 
Bergrath Dr. H. Wedding, bas Eifenhüttenwefen. II. Abthei- 
Inng: bie Stabfbereitung. 
Geh. Rath Dr. Settegaft, 
modernen Thierzucht. 
Brof. Dr. Zoepprig, Ueber bie Arbeitsvorräthe ber Natur 
und ihre Benukung. 
Prof. Dr. Onden, Arifioteles Politik. 
Dr. Berger in Frankfurt a. M., Moderne u. antike Heizungs⸗ 
u. Bentilationg- Methoden, 
Berghauptinann Dr. Noeggeratb, Der Laacher See und 
feine vulfanifhen Umgebungen. 
Der Subferiptionspreis filr bie complete Serie von 
24 Heften iſt 4 Thlr., während ber Einzelpreis für jebes 
Heft 6 Sur. und barüber ifl. 
Su ber IV. Serie find foeben erfchienen: 


96. And. Virchow, Menichen- uud Affenſchädel. 


Mit 6 Holzfhnitten. Einzelpreis 8 Ser. 
95. Fr. v. Holsendorfj, Englands Preſſe. 6 Ser. 
9a. Aler. Braun, Die Eiszeit der Erde, 74, Ser. 


3 H. Wedding, Das Eifenhüttenwefen. 
1. Abtheil. Die Erzeugung bes Roheiſens. Mit 2 Holz- 
ſchnitten. 7, Ser. 

92. Ferd. Roemer, Die älteften Formen bes organifchen 
ebens auf ber Erbe. 6 Sgr. 

91. M. Perty, Ueber ben Parafitismus in ber organifchen 
Natur. 7%, Ser. 
zB Im Abonnement Toften auch biefe Hefte nur 

5 Sgr. Preis ber IV. Serie (Heft 73—96 umfaflend) nur 


C. G. Luderitz'ſche Berlagsbuhhandlung. 
A. Chariſius in Berlin. 


Aufgaben und Leiſtungen der 


Berantwortlichen Redactenr: Dr. Eduard Brocihaus. — Drud nud Verlag von F. A, Srodhaus in Leipzig. 








Blätter 
literarifhe Unterhaltung. 


Herausgegeben von 





Erſcheint wöchentlich. 


ea Ar. 21. er 


Rudolf Gottſchall. 


19. Mai 1870. 





Iuhalt: Gefammelte Efjays. Bon Mudelf Gottigal. (Fortſetzung.) — Bolfstäimliche Dichtungen, Erzählungen und Ueber- 

Kieferungen. Bon @ugen 2abes. — Zur focialreformatorifchen Fiteratur. Bon Murelio Buddens. (Beihluß.) — Cine Ueber 

fegung der „Bhagavad-@ite." Bon Augufk Müller. — an Golksthumliches aus dem Bogtlande.) — Bibliographie. — 
meigen. 





Geſammelte Eſſays. 


(GGortſetzung 

1, Studien und Kritilen zur Philoſophie und Aefthetikt. Bon 
Robert Zimmermann. Zwei Bände. Wien, Braumüller, 
1870. ©®r. 8. 4 Thlr. 

2. Engliſche Choralterbilder. Bon Friedrich Althaus. 
Beil, Bände. Berlin, vom Dede. 1869. Gr. 8. 

r. 

3 „Am foufenden Webſtuhl der Zeit." Bon Feodor Wehr. 
Zwei Bände. Leipzig, Matthes. 1869. 8. 2 Thlr. 

4. Litterarifer Nachlaß von Friedrid von Raumer. Mit 
dem photographirten Bildniß bes Berfaffers. Ziyei Bände. 

Berlin, Mittler und Sohn. Gr. 8. 2 Thlr. 

. Lichte und Tonmwellen. Ein Buch der Frauen und Dichter. 
Aus dem Nachlaß der Joſepha von Hoffinger. Herans- 
gegeben und mit einer Lebens und Sharatterfige verſehen 
dutch Johaun von Hoffinger. Wien, Prandel. 
1870. 8. 1 Zhlr. 

6. Kritik der Schiller, Shaffpeare- und Goethe ſchen Frauen⸗ 
charaltere von Julie Freymann. Giefen, Roth. 1869. 
Gr. 16. 1 Thlr. 

7. Borlefungen von Bogumil Golg. Zwei Bände, Berlin, 
Sanfe. 1869. Gr. 16. 2 Thlr. 

Triedrih Althaus bat in feinen „Englifchen 
Charakterbildern" (Nr. 2) eine Zahl von Auffägen ge- 
fammelt, welche in deutſchen Zeitfehriften, namentlidy in 
„Unfere Zeit“, Weftermann’s „Suftrirten Monatsheften” 
u. a. bereitö zum Abdrud gelommen waren, bie aber jegt 
in ihrer Zuſammenſtellung einen bedentendern Eindrud 
machen und fowol das Talent des Antors in günftigftem 
Licht erſcheinen laſſen, als auch die englifhen Zuftände 
der Gegenwart, Politik, Literatur und Sitten des neuen 
England in geiftvoller Weife daralterifiren. 

Friedrich Althaus Hat fi vorzugsweiſe an ben 
englischen Eſſayiſten gebildet, ohne den Kern beutfchen 
Weſens zu verleugnen. Im ganzen gibt es in Deutſch- 
land noch wenig Schriftfteller, melde einen „Eſſay“ mit 
ſolcher liebevollen Vertiefung auszuführen wiſſen wie die 
Mitarbeiter der großen franzöfifchen und englischen Rennen. 
Es wird in Deutjchland fehr viel über Literatur gefchrieben; 

1870. 2. 


5 


ans Nr. 20.) 


aber literariſche Porträts, wie fie 3. B. Sainte-Beuve 
in der „Revue des deux mondes” ausgeführt unb in 
feinen_„Lundis“ gefammelt hat, gehören bei und noch zu 
den Seltenheiten. Die Kritit überwiegt noch immer die 
Eharakteriftit, und bie Uehertragung einer eiitofopsiigen 
Darftellungsweife, welche vorzugsweife die Gedantengänge 
und Richtungen charalieriſirt, auf die neuefte Literatur. 
geihihtfegreibung hat zur nothwendigen Folge, daß Ser 
einzelnen ſchopferiſchen Perfönlighteit nicht das ihr gebihe 
vende Recht zutheil wird. Viel wichtiger aber ift e8 für 
bie Literaturgefehichte, den Duellpunkt dichteriſcher Eigen- 
thümlichteit zu erfafien, als eine Reihe von Linien zu 
ziehen und die Bewegung der Literatur in ein abftractes 
Gedankennetz einzufangen. Die Linie aber vertritt die 
gefige Richtung, und ihr gegenüber wirb das einzelne 

alent zu einem faft gleihgültigen Punkte degrabirt. Die 
Sucht zu verallgemeinern wird da verhängnigvoll, mo 
gerade auf dem eimelnen der Schwerpunkt geiftiger Ber 
deutung ruft. Dies iſt aber unbedingt der Fall bei al- 
lem tünftferifchen Schaffen; das Genie ift das Einzelne 
als Einziges in unergründlicher Cigenheit. Die Be 
wegung der Literatur iſt freier Flug der Geifter; fie 
barf nicht als ein Ganſemarſch dargeftellt werden, wo 
bie einen Rotten nad) rechts, die andern nad) links 
marſchiren. 

Abgeſehen von dieſer ungünſtigen Neigung ber deut · 
ſchen Literatur- und Kunftgejcichtichreibung, ja auch ber 
Geſchichtſchreibung ſelbſt, die Perfönlichkeiten gering zu 
achten gegenüber der logiſchen Nothiwendigkeit einer Ent- 
twidelung, bie ebenfo oft nur vage Conftruction umb -todtes 
Schema einer dden Schulweisheit ift, ftand der Ausbil- 
dung des Eſſay auch der Mangel an deutfehen Revuen 
entgegen; denn jedes literarifche Genre ift aud) von äußern 
Berhältnifen abhängig, deren Gunft und Ungunft e8 zu 

4 


322 


zeitigen und zu unterdrüden vermag. Die Revue ift das 
Spalier, an welchem fi der Effay zu früchtereicher 
Entfaltung ausbreitet. Erſt in jüngfter Zeit ift in 
Deutfchland mit Bezug hierauf eine Wendung zum Befiern 
eingetreten: Wir dürfen ohne Anmaßung behaupten, daß 
namentlich „Unfere Zeit‘ hierin bahnbrechend vorgegangen 
und ohne Aufopferung deutscher Eigenthitmlichkeit doc) 
den ausländifchen Vorbildern am nächften gekommen iſt. 
Wie viel Behentendes fie auf dem Gebiete bes Eſſay 
enthält, das zeigen die felbftändigen Sammlungen von 
Althaus, Wehl u. a., deren Auffäge zum großen Theil 
diefer Revue entnommen find. Doch auch Weftermann’s 
„Illuſtrirte Dionatshefte”, die „Preußiſchen Jahrbücher“ 
und einige andere Zeitſchriften, die nicht vorwiegend auf 
den Ton der Revue geſtimmt ſind, brachten in letzter Zeit 
manchen trefflichen Eſſay. 

Friedrich Althaus wahrt in feinen „Engliſchen Cha⸗ 
ralterbildern“ die rechte Mitte einer Charakteriftif, die fich 
weder mit oberflächlichen Allgemeinheiten begnügt, noch 
auf eine allzu fubtile Zergliederung ſich einläßt. Auch 
bier ift der fleißigen Detailmalerei eine Grenze geftedt, 
deren Ueberfchreitung zu allerlei Ueberladungen und zur 
Berwifhung des Gefammteindruds führen muß. Ges 
fährlih ift die Sucht des Aus⸗ und Linterlegens, der 
eigenmächtigen Conftruction der Charaktere, bei weldjer 
einzelne Momente ausſchließlich berüdfichtigt, andere mit 
ihrem unmwilllommenen Widerſpruch beifeitegefchoben wer- 
den. Althaus gibt ſtets ein volles, Lebensfrifches Por: 
trät mit jener Tüchtigfeit und Solidität, welche englifcher 
Geſchichtſchreibung eigenthümlich iſt; das Streben nad) 
objectiver Auffafjung ift durchweg vorwiegend; aus den 
Thatfahen, aus den Feiftungen heraus entwidelt ſich der 
Charakter vor unfern Augen. Nirgends zeigt fich jene 
Uebereilung, zu welcher eine nad) Bointen hafchende Dar⸗ 
ftellung leicht verführt; mit vollem Behagen, das unfere 
Theilnahme nicht fünftlich erregt, fondern gleichmäßig er- 
wärmt und fefthält, wird das Charakterbild grundirt, ent- 
worfen, mit lebhaften Farben, mit reichen Leben erfüllt. 
Deutfche Bildungsfchule zeigt fi, ohne aufdringliche phi- 
loſophiſche Kunftfprache, in der fihern Sondirung des 
Wefentlihen und Unmefentlihen, im Feſthalten des Ent⸗ 
widelungsgangs und feiner Hanptzüge; der Einfluß des 
englifchen Lebens in der bdurchfichtigen Behandlung aller 
politifchen und praftifchen Fragen. Der Stil ift durd)- 
weg bezeichnend ohne geſuchte Prägnanz, elegant ohne 
mit Grazie zu kofettiren, und nur hin und wicder ver⸗ 
räth ein etwas auffälliges Fremdwort, daß unſer deut⸗ 
cher Landsmann fi in einer fremden Nation eingebür- 
gert hat. Freilich verdankt er diefer Einbürgerung aud) 
feine gründliche Kenntniß englifcher Zuſtände, welche für 
den flüchtigen Touriſten unerreichbar iſt. Mit Recht ſagt 
Althaus in der Vorrede: 

Die in dieſen Bänden geſammelten Darſtellungen verdan⸗ 
ken ihre Entſtehung einem vieljührigen Aufenthalt in England 
und eingehenden Studien der neueſten engliſchen Geſchichte und 
des Bollsthums, auf welchem dieſelbe ruht. Eine einigermaßen 
umfaffende Anſchauung des gegenwärtigen Lebens eines alten 
Enlturvolfs ift unter affen Umftänden jchwer und ebenfo ſehr 
die Frucht der Zeit als eines redlichen Bemühens. Der Tourift 
hat den Borzug der fprihmwörtlichen Lebhaftigkeit erfter friiher 
Gindrüde; aber ex fieht meiftens nur die Façade der Dinge, 


Gefammelte Ejjays. 


und das Selbitvertrauen, womit diefe vorübergehende Auficht 
für eine gereifte Anſchauung, diefer flüchtige Schein als das 
Weſen geboten wird, trägt Tein geringes Maß der Schuld an 
den Misverfländniffen, welche die Urtheile der Nationen fiber 
einander verwirren. Das englifhe Bolt bat vielleicht mehr 
durch derartige flüchtige Anfichten zu leiden gehabt als irgendein 
anderes. Seine infulare Lage bedingte von vornherein eine 
abweichende, eigenartige Eutmidelung; fein verhältnißmäß 
verichlofiener Charakter bat die Schwierigkeit der Erkenntni 
feines Wejens und feiner Zuflände vermehrt. Während auf dem 
Feſtlande ruckweiſe Erſchütterungen, gewaltſame Wechſel zrotichen 
Reaction und Revolution vorwogen, und das gewonnene Gut 
ber Freiheit ebenjo oft wieder verloren wurde, durchlebte Eng⸗ 
land alle Phajen eines wefentlih oceauifchen Wachsſsthums, in 
deſſen Berlauf eine Bildungsſchicht ſich Liber der andern abla⸗ 
gerte, alle Neue auf dem feften Grunde des Alten emporftieg, 
und der Zuſammenhang des Bergangenen mit dem Gegenmwär- 
tigen fo feft begründet wurde, daß felbft die furchtbaren vulka⸗ 
niſchen Ausbrliche der Revolutionen des 17. Jahrhunderts nicht 
im Stande waren, ihn zu zerſtören. Die Gewißheit einer or» 
ganifhen Yortentwidelung des Nationallebens wurde damals 
al8 nnoeräußerlihes Befigthum errungen; aber in den Sitten 
und Traditionen, in den gejellfchaftlichen Zuftänden und den 
äußern Formen des Lebens und der Thätigfeit ließ die Ver⸗ 
gangenheit troßdem ihre tiefen Spuren zurüd., Neben bem 
Drange zur Freiheit machte die confervative Anhänglichleit an 
das Beftehende fi fortdauernd mit Erfolg geltend, und die An⸗ 
fprüche beider wurden nicht durch den Sieg ber einen über die 
andere, fondern durch eine friedlich fortfchreitende Berföhnung 
der Gegenjäte ausgeglichen. England bietet daher den ſeltenen 
Anblid eines Bolls dar, bei dem die Gefchichte überall binein- 
ragt in die Gegenwart, bei dem die Toleranz gegen das Her» 
gebradgte Hand in Hand geht mit der Praris der Selbſthülfe, 
und in beffen Mitte die nationale Eutwidelung nad keinem 
vorgefaßten Syfteme flattfindet, fondern nad) den Nothwendig⸗ 
feiten der Gegenwart, unter dem fteten Einfluß der öffentlichen 
Meinung. Diejer Zuftand der Dinge bedingt fo vielfache Ab⸗ 
weidhungen von ben Berbäftniffen, an welche der Seftlänber 
gewohnt ift, daß es unmöglich ift, feine oft fremdartigen ein⸗ 
zelnen Erſcheinungen zu verftehen ohne eine Kenntniß ihres alle 
gemeinen Zuſammenhangs. Eine ſolche Kenntniß ift aber, bei 
der unendlichen Mannichfaltigkeit der Berhältniffe, das Werf 
langer Beobadjtung, und nur in demjelben Maß, wie diefe an 
Umfang und Tiefe zunimmt, wird aud die Kritik zugleich trefe 
fender und gerechter werden. 

Die Auffaflung der englifchen Nation in den Efjays 
von Althaus ift eine unparteiifche, obgleich der Verfaſſer 
von der Ueberzeugung ausgeht, daß die Entwidelung Eng⸗ 
lands im Fortſchreiten begriffen ift, daß alle Zeichen auf 
den Anbrucd einer großen Epoche reformatorifcher Geſetz⸗ 
gebung und nationaler Wiedergeburt hindeuten: 

Daß aud) England an den Gebrechen der modernen Civi⸗ 
Tifation leidet, daß dort wie anderswo noch unendlich viel zu 
befiern, eine gewaltige Maſſe verjährter Misbräuche und Vor⸗ 
urtheile hinwegzuräumen bleibt, ift volllommen wahr. Aber 
ebenſo wahr ift es, daß feine Zuftände ein unendlich fruchtbares 
get ber Beobachtung darbieten, und daß von der Art und 

eife, wie die großen Aufgaben des Staats und der Gefell- 
ſchaft dort gelöft werden, noch immer viel zu lernen if. Das 
Bemliben, die Zuflände und die Perfönlichleiten unbefongen zu 
würdigen, die Einfeitigleiten fowol der „Anglomanen’ als der 
„Anglophoben’' zu vermeiden, war der leitende Geſichtspunkt, 
von dem aus die nachfolgenden Eharakterbilder entftanden. 


Der erſte Band des Werks enthält die eigentlichen 
Porträts und die Darftellungen der jüngften englifchen 
Geſchichte; der zweite Band Sittenfchilderungen und tou⸗ 
riſtiſche Skizzen mit einem weſentlich feuilletonartigen Zug. 
Die Porträts des erften Bandes find nicht zufällig ans 
der Galerie englifher Berühmtheiten herausgegriffen; eg 








find die bedeutendften Repräſentanten der Politik, Philo- 
ſophie, fchönen Literatur und Kunſt, die und hier vor—⸗ 
geführt werden und die fi) zu einem Gefanımtbild eng- 
liſchen Geiftesfebens ergänzen. Freilich muß ſich jeder 
hervorragende Zweig deſſelben mit einem oder zwei Ver⸗ 
tretern begnügen; man würde neben Cobden gern Bright, 
neben Thackeray Dickens mit in dieſe Galerie aufgenommen 
ſehen; neben dem humoriſtiſchen Roman würde man gern 
irgendeinen Hauptvertreter des Senſationsromans, auch 
der Lyrik begrüßen, obgleich Alfred Tennyſon wenig eng⸗ 
liſches Blut hat und oft nur wie ein ins Engliſche über⸗ 
fester Emanuel Geibel gemahnt; doch das Streben nad) 
einer derartigen Vollſtändigkeit iſt in einer Sammlung 
von Eſſays von ſelbſt ausgeſchloſſen. Die wahrhaft be» 
deutenden und charakteriſtiſchen Richtungen des engliſchen 
Geiſtes find alle vertreten. 

Bon leitenden Staatsmännern werden uns Lord Pal- 
merfton und Benjamin d’Israeli vorgeführt; der erfte eim 
„ mufterbafter Vertreter“ Altenglands, ber zweite eine 
etwas fremdartige, exotiſche Erſcheinung im englifchen 
Staatsleben. Lord Palmerſton wird treffend charakteriſirt 
unb bei der Bilanz feines Wirkens die Summe der Er- 
folge als überwiegend dargeftellt. Wenig belannt wird 
es in Deutfchland fein, daß Lord Palmerfton mit Sir 
Mobert Peel und Der. Cooke eine Zeit lang als Heraus- 
geber des torpiftiichen Witblattes „The new whig guide‘ 
fungirte, eines Witblattes, welchen Althaus Derbheit, 
Hoheit und Uebermuth zum Vorwurf macht, wie allen 
Witzblättern einer ſiegsgewiſſen, machtftolzen Majorität. 
Hier verdiente fih Balmerfton rite die Sporen als 
„Ritter vom Geift” oder vielmehr als der Mann des 
tauftifchen Parlamentswites. Seine oratorifhe Begabung 
war an und für fi) nicht glänzend: 

Sein Organ mar mangelhaft, fein Vortrag ziemlid ein⸗ 
förmig; er bejaß weder redneriihen Schwung, noch erftrebte 
er Glanz der Diction, und der natlirliche Fluß der Rede, die 
mehr converfationelle ala rhetoriſche Gewandtheit, welche ihm 
eigen war, wurde nicht felten durch ein gewiſſes Schwanten, 
ein Suchen nad) dem treffenden Ausdrud unterbroden. Doch 
unübertroffen war er in dem Takt, mit dem er fih in die 
Stimmung feiner Zuhörer zu verjeßen und die Mittel für den 
Zwechk, den er erreichen wollte, in Anwendung zu bringen wußte. 
Ueberdies war er ein Meifter des Details, und feine Ausdauer 
im Durdhhören der längften Debatten war ebenjo erftaunlid), 
als feine Gedächtnißkraft und die ſtete Schlagfertigleit, womit 
er, ohne jede Vorbereitung, ohne jede fhriftliche Notiz, auf die 
fängften Angriffe erwiderſe, bewundernswerth. Man fah ihn 
nie müde, nie in fchlechter Laune, und fo gewöhnt war man 
an den Einfluß diefes unverwüſtlich heitern energifhen Tem⸗ 
peraments, daß feine Abweſenheit, wenn er einmal in ben 
Situngen fehlte, fofort an der Stimmung des Hauſes bemerkt 
wurde. 

Eins ber intereffanteften Charakterbilder ift dasjenige, 
welches: uns Althaus von Benjamin d'JIsraeli entwirft. 
Schon in der Einleitung ift die Parallele mit Heinrich 
Heine und Ludwig Napoleon fehr anzichend: 

Benjamin d’Isracli ſtellt in der neneften englischen Gejchichte 
eine ähnlich merkwürdige Erfcheinung dar, wie feine Zeitgenoffen 
Heinrich Heine in Deutſchland und Ludwig Napoleon in Frank⸗ 
veih. Aber felbft in diefen hervorragenden Berfönlichkeiten, fo 
heterogene Elemente aud in ihnen vermifcht find, ift die Dop⸗ 
pelnatur , welche bie gegenwärtige Uebergangsepoche in ber 
Entwidelung der europäiichen Völker charalterifirt, nicht fo nad) 
alen Seiten jhillernd zum Ausdrud gelommen wie in bem 


Gefammelte Effays. 398 


Schriftfteller, dem Socialphilofophen, dem Bolitiler, deſſen 
?ebensgang uns bier beichäftigen fol. Zugleih Didter und 
praktifcher Staatsmann, zeigt er uns ein Janusgeſicht, das nad 
der einen Seite den imperialififchen Politiker, nach der andern 
den „romantischen Voltaire‘ erkennen läßt, und eine Kombination 
ähnliher Widerfprliche macht ſich in feiner gefammten Laufbahn 
geltend. Seine großen Naturanlagen voraudgefet, muß der 
Hanpterflärungsgrumd eines jo widerfpruchsvollen Weſens bei 
v’Israeli wie bei Heine ohne Zweifel in der Thatfache feiner 
jüdifchen Abftammung geſucht werden, und er felbft, obgleid) 
nominell ein Mitglied der englifchen Hochkirche, hat durchgängig 
mit fo erflaunlichem Nahdrud auf feinem Judenthum beftanden 
und fi als fo Teidenfchaftlichen Vorlämpfer der jüdiſchen An⸗ 
ſprüche auf Weltherrſchaft fundgethan, daß die Bebeutung dieſes 
Naffentypus in ihm auch der oberflächlichſten Betrachtung nicht 
entgeben kann. Der ſcharfe Berftand, die bilderreiche Phantafie, 
der fchneidende Wit, die zähe Ausdauer, der zudringliche Cy⸗ 
niemus des jüdifchen Weſens, das fi) dem europäiſchen Leben 
gegenüber nod immer als ein fremdes fühlt und eben dieſer 
Fremdartigleit halber feine Scheu empfindet, zügellos mit allen 
feinen Formen und Ideen zu fpielen — diefer Typus jeiner 
Kaffe hat auf englifhen Boden in d'Israeli einen ebenfo präg⸗ 
nanten Ausdrud gefunden wie auf deutfchem Boden in Heinrich 
Heine. Doch fein Ehrgeiz und feine Fähigkeiten waren nicht 
wie bei dem deutſchen Dichter auf die Laufbahn eines Schrift- 
ftellers und den in bdiefer zu erringenden Einfluß beicyränlt. 
Schon in früher Jugend gefiel er fi in der Borftellung eines 
Negenerators der modernen Geſellſchaft, eines allmädhtigen, ge- 
nialen Staatemanns, der vom Schidfal zu der großen Auf» 
gabe berufen fei, die verrotteten Zuftände einer zerfallenden Welt 
von Grund aus zu ernenern, auf dem politifch-focialen Lebens⸗ 
gebiet eine ebenfo Herrfchende Stellung zu gewinuen wie (um 
nit mehr zu fagen) feine Stammesgenofjen, die großen jüdi⸗ 
ihen Bankiers, in der Welt der Finanzen. In diefer zmeiten 
Hauptrichtung feines Charakters zeigt d’Israeli ſich unverfeunbar 
als den Geiflesnerwandten Ludwig Napoleon’. Diefelbe uner⸗ 
fättlihe Sucht zu glänzen und zu berrfchen, derfelbe fataliftifche 
Glaube an fih und feine Beſtimmung, diefelbe paradoxe Mi- 
fung der Eigenjchaften des Abenteurers und des Staatsman⸗ 
nes, der Ideen des Demokraten und Socialiften mit denen des 
Ariſtokraten und Cäfarianers, berfelbe ftaunenswürbdige Erfolg 
endlich gegen ſcheinbar unüberwindliche Hinderniffe find beiden 
Männern in der auffallendften Weife gemeinfam. Ganz ähn- 
lich verhäft es ſich mit dem öffentlichen Urtheil über ihre Cha⸗ 
raftere und Leiftungen. Bei d'Israeli wie bei Napoleon ſtehen 
den beimundernden Anhängern die abiprechenden Zadler gegen- 
über. Was auf der einen Seite ale der Gipfel genialfter Be- 
gabung gepriefen wird, wird auf der andern als täufchender 
Schein veradtet. Hier ergeht man fi in ſchwärmeriſchen 
Ansdrüden ber die Kunft des Redners, den weiten Blid des 
Politikers; dort erkennt man in dem einen nichts als den 
Sophiften, in dem audern nichts als den vollendeten Egoiſten. 
Ohne Widerrede wird nur das zugegeben, daß man es mit einer 
ungewöhnlichen Perfönlichleit zu thun habe. 


Alle die erwähnten Seiten des Charakters treten in 
der eingehenden Biographie und Schilderung fcharf hervor. 
D' Israeli gehört zu jenen gemifchten Charakteren, welche 
die Kunft des Biographen herausfordern. Ein Belletrift 
ohne Herkunft und Vermögen und ber Führer der ftolzen 
englifhen Zorypartei, ja nicht blos mehrfach englifcher 
Staatskanzler, fondern auch Premierminifter diefer großen 
Nation, ein Abkömmling jüdifcher Kaffe, in feinen Ro⸗ 
manen eifriger Vertreter des Judenthums und doch gleich- 
zeitig ein faft fanatifher Anwalt der Interefien des eng- 
tischen Hochlirchenthums — das find folche dein Anfchein 
nad) unvereinbare Widerfprüche, welche einem d'Israeli 
die Bedeutung eines Phänomens geben, wie es fi nur 
auf Englands politifch-focialem Boden in fo glänzender 
Weife entfalten Tann. In Deutſchland würde ſchon die 


41 * 





u 


324 Sefammelte Eſſays. 


jüdifche Herkunft für einen Makel gelten, der eine maß⸗ 
gebende ftaatsmännifhe Stellung ausſchließt. Warum hat 
ein jo begabter PBarlamentsreduer und Parlamentsleiter 
wie Simfon, der zugleih ein tüchtiger Fachmann if, 
bisher in Preußen kein Portefenille erhalten, aud nicht 
als feine Partei zur Zeit der Regentfchaft ans Ruder 
tom? Und doch bat er zum Mafel feiner Abftammung 
nicht wie d’Israeli den zweiten des Belletriften und 
Romandichters hinzugefügt, der in Preußen und Deutſch⸗ 
land überhaupt für ein unwiderfprechliches Zeugniß 
ftantsmänntfcher Unbrauchbarkeit gelten würde. Nur 
Defterreich macht Hierin eine Ausnahme, wie die Ernennung 
Zichabufchnigg’8 zum Inſtizminiſter beweift. 

Interefſant ift die Thatſache, dag d'Ssraeli's Verſuche, 
die Höhe bes Ruhms zu erklimmen, faſt alle mit einer 
Niederlage begannen. Aus dem Bureau eines Abvocaten 
auftauchend, warf er ſich in bie Publiciftil und gab 
ſchon in feinem zwanzigften Lebensjahre unter dem Titel 
„The representation“ eine londoner Zeitung heraus, die 
aber nad ſechs Monaten einging und dem Verleger 
200090 Pfb. St. koſtete. Ebenfo war feine Jungfernrede 
im Parlament ein entſchiedener Miserfolg. Auch fein Be- 
fireben, in feinem Revolutionsepos (‚„‚Revolutionary Epick‘) 
in Dante’3 und Milton’s Fußftapfen zu treten, misglüdte; 
das Gedicht, defien Held Napoleon Bonaparte in der Zeit 
ber franzöfifhen Republik war, erſchien mehr als das 
Wert eines Rhetors. Gleichwol muß die Infpiration, 
aus der es hervorgegangen ift, für volllommen berechtigt 
gelten, unb wir freuen uns, in d’IFöraeli einen Kampf⸗ 
genofjen in Betreff jenes äfthetifchen Grundſatzes zu ber 
grüßen, den mir ftets als maßgebend für Die moderne 
Poefte betrachtet haben. D'Israeli fagt in Bezug auf 
die Entftehung feines Gedichts, defien Plan ihm aufging, 
als er, in träumerifches Sinnen verloren, auf ber Ebene 
von Troja fland: 

Während meine Phantafle mit meiner Vernnuft kämpfte, 
ſchoß es durch meinen Geiſt wie der Blitz, welcher eben über 
den Ida dabinfuhr, daß in jenen großen Gebichten, welche als 
die Pyramiden dichteriſcher Kunft unter dem finlenden und ver» 
bleihenden Glanz geringerer Schöpfungen emporfleigen, ber 
Dichter lets den Geift feiner Zeit verförpert bat. Das hel- 
benhaftefte Ereiguiß eines heroifchen Zeitalters erzeugte in der 
Iliade ein beroifches Epos; die Begrlindung des mädhtigften 
Weltreichs erzeugte in der Aeneide ein politifches Epos; das 
Wiedererwachen ber Wiffenfchaften und die Geburt des Volls⸗ 
geiftes gaben uns in der , Böttlichen Komödie“ ein nationales Epos; 
die Reformation und deren Folgen riefen aus der begeifterten 
Harfe Milton’s ein religiöjes Epos hervor. Und der Geifl 
meiner Zeit follte allein ungefeiert bleiben ? 

Alle dieſe erften Miserfolge entmuthigten indeß den 
zähen Charakter d'Israeli's nicht; ihnen folgten bald glän- 
zende Erfolge auf dem Gebiete der Romandichtung und 
der Politik. Dan möge die geiftreihe Analyfe der d'gIs⸗ 
raeli'ſchen Romane, welche theils ein Selbftporträt bes 
byronifch blafirten, ungeſtümen Weltverbeflerers geben, 
wie „Vivian Grey“, theild den Parteitendenzen des 
Zungen England dienen, wie „Coningsby“, theils der 
Berberrlihung des Judenthums, wie „Faucold“, bei Alt- 
baus felbft nachlefen, ebenfo die genauere Schilderung ber 
merkwürdigen politifchen Laufbahn diefes originellen, ja 
in vieler Hinſicht paraboren englifchen Staatsmanns. 
Das Urtheil Über denfelben erſcheint durchaus unbefangen, 


trog eines leifen Schein® von Ironie, ber hier und bort 
auflenchtet, wo die Kontrafte des Charakters oder feiner 
Ueberzeugungen, die Reibungen der innern Widerfprüche 
biefen Funken von felbft hervorrufen. 

Gegenüber einem geiftfunfelnden, aber vielfach Hin 
und her irrlichtelivenden Charakter wie d’IEraeli zeichnet 
fih Cobden durch feine Gebiegenheit und die Concentration 
eines ftarfen Willens auf die Durchführung einer national» 
dlonomiſchen Meberzeugung aus; er gehört zu den Männern, 
bei denen ber Biograph nicht den Pinfel des Malers, fondern 
den Meißel des Bildhauers ergreifen darf, um eine har 
moniſch abgejchlofjene Statue auf das Poftament zu ftellen, 

Wenn Althaus das Bild Cobden's mit feften und 
tüchtigen Zügen ausarbeitet, fo zeigt er in der Charal- 
teriftit des philofophifchen Diosfurenpaars John Stuart 
MiN und Thomas Carlyle Gewandtheit in Ausführung 
geiftiger Parallelen, welche entgegengefeßten Richtungen 
gleichmäßig gerecht werden. Er leitet bie Auffätze mit 
folgender Ouverture ein: 

Unter den englifhen Denlern der Gegenwart liberragen 
zwei Männer an Einfluß und Bedeutung alle andern: Thomas 
Carlyle und John Stuart Mil. Beiden kommt im vollen 
Sinne des Wortes ber Name von Philofophen zu: Borkämpfern 
des Gedanfens, bie über dem Sclachtlärm der Barteien und 
dem Wirrwarr der Alltäglichleit die Welt der ewigen Ideen feft 
im Auge behalten und ihre Erkenntniß furchtlos verkünden. 
Beide find Meifter ber Sprache, der Maſſe gebildeter Leſer ohne 
Mühe zugänglih, und in beinahe gleichem Verhältniß haben 
fie ſchon zu ihren Lebzeiten einen tiefgehenden Einfluß anf bie 
Denkweije ihrer Zeitgenoffen gewonnen, wie er dem Philofophen 
nur felten autfeil wird. Auch darin gleichen fie einander, daß 
ee Bhilofophte weſentlich praltifcher Natur ift, den Drang zur 

erwirfiihung des Gedankens ebenfo mächtig betont al& das 
Belenntniß feiner Wahrheit. Und diefe Eigenthümlichkeit, welche 
beide uicht nur als große Denker, fondern als energiſche Cha⸗ 
raktere kennzeichnet, erklärt viel von dem Geheimniß ihres Er⸗ 
folge. Aber jo merkwürdige Aualogien fchließen das Borhan- 
denjein ebenfo entfchiebener Gegenſätze nicht ans. Im der That 
ſehen wir in den Geftalten diefer englifhen Denker recht eigent- 
lich jene alten Urtgpen der beiden Hauptrichtungen ber Philos 
fopbie wiederholt, die ihre erſte claffifche Verförperung fanden in 
Plato und Ariftoteles. Carlyle vertritt den Platonifchen, Mil 
den Arifloteliihen Geiſt. Für jenen arbeitet eine großartig 
dihtende Phantaſie am Webſtuhl der Ideen, im dieſem liber- 
wiegt die Macht des Haren, weit und tief fhauenden ‘Denkens, 
welches den Stu der Phantafle unter die Herrfchaft des Gei⸗ 
fies bänbdigt. ill iſt duch und durch modern, feine Sdeale 
liegen ohne Ausnahme in der Zukunft. Carlyle fommt vielfad 
nicht hinaus Über die humoriſtiſche Empfindung des Gegenſatzes 
zwifchen Ideal und Wirklichkeit und theilt mit den Romantikern 
die Neigung zum Idealiſtren des Vergangenen. 

Wie jeden diefer Dioskuren mit dem andern, paralle- 
lifirt ex beide wiederum mit einem, in ber Zeit voraus⸗ 
gehenden, englifchen Dioskurenpaar: 

Einzig in der Art aber if wol ber Umſtand, baß bie 
der jegigen unmittelbar vorangehende Generation in England 
dur die Philofophie zweier Männer gebildet wurde, welche 
unter fi, wie der Nation gegenüber, in ganz denfelben Bezies 
hungen einflußreich wirkten wie jene beiden: Jeremy Bentham 
und Sammel Taylor Coleridge. Bentham if in allen Haupt 
zügen das Prototyp Mill's, Coleridge in allen Hanptzligen das 
Prototyp Carlyle's. Jener entwidelte wie Mill die venliftifche, 
dieſer wie Carlyle die tdealiftifche Denkart feiner Epoche; jener, 
wie Carlyle, fchöpfte ans ber Quelle ber deutfchen Transfcendental« 
philofophie, diejer, wie Mill, aus der Duelle der engliſchen 
Realphiloſophie. Beide verließen die ausgefahrenen Gleiſe ber 
hergebradjten Anſchauungen, worin fie die Maſſe der Nation 
foden fanden, und verjuchten von neuen Gefichtöpunften aus 











Gefammelte Eſſays. 395 


eine kosmiſche Ordnung des Chaos ihrer Zeit: Bentham, wie 
fpäter Mill, vorzugsweife durd ein analytifches, logiſches, in⸗ 
ductives Verfahren; Eoleridge, wie jpäter Carlyle, durch die 
befruchtende Wirkung einer tieffinnigen Phantafie, einer poetiſch⸗ 
philofophifchen Inſpiration. Wir müffen. nur hinzufügen, daß 
Benthbam und Coleridge bei aller Bedeutung ihrer Verdienſte 
im übrigen nicht für die Meifter, fondern nur für die Borläu- 
jer ihrer größern Nachfolger gelten können. Denn ebenfo weit, 
als die Fortjchritte der gegenwärtigen bie Leiftungen ber ver- 
angenen Generation überflügeln, ragen Carlyle und Mill liber 
jene ihre philoſophiſchen Progonen hinaus. Fülle und Klarheit 
des Geiftes wie Gunft der Zeitumflände zeigen fie auf einer 
höhern Stufe der Entwidelung. 

Die „Logik“ von John Stuart Mil ftellt Althaus fehr 
hoch und vertheibigt fie gegen die Angriffe feftländifcher 
Kritiker; er meint, daß der Eindrud diefes Werks ganz 
dem jener feltenen Schöpfungen des Menfchengeiftes gleiche, 
die wie Minerva in voller Waffenrüftung aus dem Haupte 
bes Denkers hervortreten und feinen Ruhm fofort und 
für immer feft begründen; er nennt Mil einen Denker 
erften Rangs, einen tiefen, umfaffenden, analytifch-fynthe= 
tifchen Geiſt; er fpriht von den „ſtahlſcharfen, licht⸗ 
beſchwingten“ Gedanken, die er wie in feinen Schriften 
auch im lebendigen Fluß feiner Rede entwidele. Ebenſo 
wird Althaus aber auch bem genialen eigenartigen Cha- 
rakter Carlyle's gerecht, ben er zum Theil auf national» 
ſchottiſche Bedingungen zurückführt: 

Seine Phantafie, fo verſchieden and) die Gegenſtände fein 
mögen, an welchen fie ihre Kraft erprobt, trägt eine entſchieden 
offtanifche Färbung; fein Charakter, auf fo weſentlich modernen 
Boransjegungen der Philofophie und Bildung derſelbe auch 
ruht, erinnert ebenfo unverlennbar an bie antilen Puritaner- 
geftalten der reformatorifch:revolutionären Epoche der ſchottiſch⸗ 
englifhen Geſchichte. Die einzigen geifligen Koryphäen feines 
engern Baterlandes, die ſich in diefer Beziehung etiva mit ihm 
vergleichen ließen, find Robert Burns und Sir Walter Scott; 
aber bei feinem von beiden tritt neben dem Humor und 
der Bhantafie des Dichterherzens eine fo herbe, energifche, 
roßartige Urfprünglichleit des Dentens zu Tage als bei 
omas Carlyle. 

Treffend iſt auch das Bild des Humoriſten Thackeray, 
welchem Althaus den Vorzug vor Dickens gibt, und dasjenige 
des Malers William Turner, zugleich ein Beitrag zur 
Geſchichte engliſcher Sonderlinge. Die Aufſätze: „Irland 
und die Fenier“ und „Reform und Zukunft“ find zeit- 
gefhichtliche Gemälde von Harer Darftellung und prag- 
matiſchem Zuſammenhang, welche zugleih Muſter jenes 
Revueſtils And, wie ihn „Unfere Zeit“ in Deutjchland 
eingeführt hat. 

Der zweite Band der Eſſays von Althaus enthält 
zuerft die Schilderung einer „Billeggiatur auf der Infel 
Wight im Sommer 1860“, welche regen Sinn für land» 
ſchaftliche Schönheiten beweift und an anfprechenden Detail⸗ 
zügen reich ift, bann eine Galerie „Englifcher Geizhälſe“, 
welche als ein ebenfo amufanter wie werthvoller Beitrag 
zur Naturgefchichte des Geizes betrachtet werden kann. 
Denn da ſich bei faft allen Exemplaren „bes Geizigen‘ 
diefelben ober ähnliche Symptome und Eigenthümlichkeiten 
wiederholen, ganz wie die Eigenfchaften diefer oder jener 
naturwiſſenſchaftlichen Species aus dem Thierreih, fo 
lann man wol von einer Naturgefchichte des Geizes 
fprechen. Einen intereffanten Pendant dazu würde eine 
Darftellung des Geizes anf dem Gebiet ber dichterifchen 
Erfindung geben. Auch Hier treffen die einzelnen aneldo⸗ 


tifchen Züge in einer biefe Erfindung felbft beſchümen⸗ 
den Weife überein. Gleichwol wird niemand behaupten 
wollen, daß Plautus oder Moliere das chinefifche Luft- 
jpiel gefannt oder benußt haben, deſſen Held ganz Die 
jelben Charaftereigenfchaften bis in viele Kleine Züge hin» 
ein zur Schau trägt wie die Helden der europätfchen 
Luftfpiele. Die Galerie von Friedrich Althaus iſt ein 
abenteuerliches uriofitätencabinet; fie beginnt mit den 
Königen und endet mit den Beitlern. in fonberbarer 
Kauz zieht nach dem anbern vor unfern Augen vors 
über. John Eloes, der Befiter von 800000 Pfund, 
längere Zeit Barlamentsmitglieb, pflegte, zwei harte Eier 
in der Zafche, nad; London zu reiten, 60 — 70 englifche 
Meilen, ober ließ fich mitnehmen, wenn ihm ein Mann 
einen freien Sit im Wagen anbot: 

Sein Landhaus war Halb verfallen; nichtsbefloweniger 
Magte er über die Summen, die er für unnlte Möbel ver- 
fhleudert, und trug feine Knanferei in fo widerwärtiger Weife 
zur Schau, daß er die mitleidige Verachtung feiner ganzen 
Umgebung erregte. Oft fah man ihn, in beinahe zerlumptem 
Anzuge, mit bunter wollener Mütze auf dem Kopf, während 
feiner einfamen Wanderungen auf die Felder feiner Pächter 
geben, um bie zurüdgebliebenen Aehren einzufammeln, ober 
am Wege Reisholz für fein Feuer auflefen. Ein andermal 
fand man ihu bemüht, ein altes Krähenneft zu zerflören, und 
er erwibderte auf die Frage, was ihu dazu veranlafle: „DO, es 
ift wahrhaftig eine Schande, wie dieſe Thiere ihre Neſter bauen; 
ſeht nur, was für eine Verſchwendung!“ Wenn er ausritt, 
hielt er feine Pferde, nm die Hufeifen zu fhonen, auf weichem 
Rafengrund, indem er bemerkte, den Pferden ſei nichts an- 
genehmer als der weiche Raſeu. Befuchte ihn jemand, ſo ſchlich 
er in den Stall, um das Heu fortzunehmen, das der Stall» 
junge dem Pferde bes fremden in die Krippe gelegt. Dabei 
gönnte er ſich faum die nothiwendigften Subfiftenzmittel. lm 
nicht vom Fleischer laufen zu müffen, ließ er ein Schaf ſchlach⸗ 
ten und aß davon, bis es auf Haut und Knochen aufgezehrt 
war. Dann wurde in den Zeichen gefiicht, oder Wild geichof- 
fen, das wiederum bis zur Fäulniß gemoffen werben mußte, 
ebe ex eine neue Füllung feiner Borratbstammer zugab. Eines 
Zags binirte er von einem durch Hatten aus dem Fluß ge- 
zogenen Waſſerhuhn. An einem andern Tage af er ben unver⸗ 
dauten Heft eines Hechte, dem ein anderer größerer verichindt 
hatte. „Ja, ja’, bemerkte er dabei mit befriedigtem Ansdrud, 
„das heißt zwei liegen mit Einer Klappe ſchlagen.“ 

Dann begrüßen wir den Oberft Thornton, bei welchem 
fi der Geiz mit Renommiſterei verband, und den Reve⸗ 
vend Der. Jones, der in feiner Lebensweiſe wie in feinem 
Anzuge bie niedrigfte bettelhafteſte Armuth zur Schau trug: 

Derjelbe Hut und Rod, worin er feine Pfarrverweſung 
antrat, diente ihm, wenn man den Erzählungen feiner Pfarr» 
finder Glauben ſchenken darf, während der vollen dreiundvierzig 
Sabre feiner Amtsführung, und die Künfte, die er anwandte, 
um beide Stüde vor gänzlidem Berfall zu bewahren, machte 
fie zu Wunderwerken des unermüdlich ausbefiernden Erfindungse 
geiſtes. So erſetzte er einft dem abgetragenen Rand feines Huts 
durch ingenidfe Benußung einer mehr als gewöhnlich refpecta- 
bein Vogelſcheuche, während fein Rod, nad) mehrmaligem Keb- 
ren, durch wiederboltes Flicken endlich zu einer Jacke zuſam⸗ 
menfhrumpfte. Ein neuer Rod wurde nun zum Suegchen uns 
erlaßlich; aber zu Haufe fette die Jade nach wie vor ihre alten 
Dienfte fort. Bon Hemden hatte er aus früherer Zeit einen 
anſehnlichen Borrath, erlaubte ſich jedoch jahrelang nur ben 
Gebrauch eines einzigen und ließ diefes, aus Furcht vor vor» 
ſchneller Abnntzung, nur alle zwei oder drei Monate waſchen. 
Während es gewaſchen wurde, ging er ohne Hemd. 

Unter den Eitygeizhälfen zeichnet fi der große Aublay 
aus, Thomas Guy, ber Gründer des nad) ihm benann- 
ten bauptftädtifchen Hospitals, der wenigſtens durch 








326 


enbliche edle Benutung bes zufammengefcharrten Geldes die 
Nachwelt mit feinem vergangenen Leben ausſöhnte; der 
Wucherer Pope und der AJuderbäder Thomas Cooke, 
der fich bei feinen Bekannten zur Eſſenszeit einzufinden 
pflegte und nad vielem Widerftreben an deren Mahlzeit 
theilnahm, der auch Ohnmachten und Krampfanfälle in 
der Nähe von Häufern heuchelte, die er vorher dazu aus⸗ 
erfehen, und fi dann bort Wein zur Erfrifchung reichen 
ließ. Sein Hauptvergnügen war das Anpflanzen von 
Kohl; den Dünger dafür ſammelte er felbft auf der Straße. 
Das Bolt warf ihm Kohlftrünte mit Flüchen und Ber- 
wünjchungen in bie Grube nad. Auch von Frauen wird 
berichtet, welche das Princip des Geizes bis zu der Ich» 
ten furchtbaren Confequenz bes Hungertode8 durchführten. 
Eins der wildeften Eremplare ber fonft zahmen Species 
ber Geizigen war die ſchöne Elifabeth Bolaine, welche 
den Tod ihrer Mutter duch Knauſerei befchleunigte, das 
Teftament berjelben verfälfchte und auf ihren Bruder einen 
Mordanfall machte. Dabei hatte fie durch Schönheit 
und Wis fih mande Bewunberer in gefelligen Krei⸗ 
fen errungen, die fie als Kokette hinzog und ausplüuderte. 


In fpäterm Alter verfanf fie in den tiefften Geiz. Es 


ift ein interefjanter pfychologifcher Zug, daß bie größten 
Geizhälfe in ihren teftamentarifchen Beftimmungen ſich 
ein prächtiges Begräbniß zu verordnen pflegen. Go be- 
flimmte Miß Bolaine, die man, halb entkleidet, mit einer 
vertrodineten Schwarzbrotfrufte in der Hand auf ihrem 
Bette fand, daß die Todtengloden über ihren fterblichen 
Reſten geläutet werden, ihr Begräbniß pomphaft fein, 
ein Trauerſchild in ihrer Wohnung ausgehängt und cin 
Denkmal über ihrem Grab errichtet werben folle. 

Außer dieſen PBerfünlichfeiten, bei denen der Geiz als 
geheime Naturanlage wie mit inftinctartiger Nothwendigfeit 
wirkt, gibt es andere, bei denen er durch gewaltſame, plöß- 
lich eintretende Ereigniffe hervorgerufen wirb, während 
die Möglichkeit diefer Leidenfchaft in dem vorhergegangenen 
Leben weder angedeutet, noch begründet erfchien. Der 
fogenannte „hölzerne Krämer”, Richard Dart, wurde zum 
Geizhals infolge einer unglüdlichen Liebe, Hohn Andrews 
infolge einer ihm zufallenden Erbſchaft, ber Dollar- 
Richards durch den Fund glänzenden Metalls, das nad) 
emem Schiffbruch im Meerjand verftreut war und ſich 
bei der Ebbe ihm zeigte. Immer von neuem fuchte er 
an der Küfte zwilchen Sand und Felſen gierig nad) 
Schätzen und wurbe verbittert, als dies Suchen vergeb- 
lich blieb. 

Die „Memoiren der Prinzeffin Charlotte von Eng- 
land“ bilden die Glanzpartie des zweiten Bandes: es ift 
ein Hig-life-Roman, der fih hier vor unfern Augen 
entrollt, deſſen Helden der geniale Wüſtling Prinz von 
Wales, ber fpätere König Georg IV., feine Gemahlin, 
Karoline von Braunfchweig, mit den interefjanten Skandal⸗ 
und Ehebruchsprocefien, vor allem aber bie ſchöne Tochter 
des fürſtlichen Ehepaars, Charlotte, ift, welche fo früh 
einen felbftändigen Charakter entwidelte, der Tyrannei 
ihres Vaters energiſch entgegentrat und in Claremont 
mit ihrem jungen Gemahl, den Prinzen Leopold von 
Koburg, dem nachherigen König der Belgier, ein von ben 
Muſen ımd Grazien behütetes Stilleben führte, bis ein 
alzu früher Tod biefe file Englands Thron beftimmte 


Richtbeil der Guillotine legten. 


Gefammelte Effays. 


Prinzeffin hinwegraffte. Merkwürdiges Spiel des Zu. 
falls, welcher ihrer Coufine, ber Tochter des Herzogs 
von Kent, die Hand eines andern koburgifchen Prinzen 
und den Thron von England verfchaffte, wo bie kurze 
Idylle von Claremont ſich in einer Töniglichen Muſterehe 
wiederholte. 

Der legte Abjchnitt der „Englifchen Charakterbilder”, 
der faft die Hälfte des zweiten Bandes einninmt, behan- 
delt die „Geſchichte der englifchen Vollsſpiele“ und ift als 
ein nicht unmwichtiger Beitrag zur englifchen Eulturgefchichte 
zu betradhten. Die Schilderungen aus dem „Merry old 
England“ geben uns ein Bild der Feſte und Spicle, 
welches die Shakſpeare'ſchen Dichtungen vielfach, erläutert. 
Bon den „Bollsfpielen des neuern England‘ find die 
Jagden, namentlicd, die Fuchsjagden, und die Aegatten 
jehr eingehend gefchildert. Die Darftellung ift, wie immer 
bei Althaus, von durchaus gediegener und geläuterter 
Form, anziehend und feffelnd. 


Auch von den Auffägen, welche Feodor Wehl in 
feiner Sammlung: „Am faufenden Webftuhl ber Zeit“ 
(Nr. 3), herausgibt, ift die große Mehrzahl bereits in 
„Unfere Zeit” erfchienen. Wie Althaus nad, englischen 
Muftern, jo hat fi Wehl mehr nad franzöfifchen ge 
bildet; denn ein farbenreiches Colorit, ein ſchimmernder 
Esprit, ein oft leidenfchaftlicher Zug der Darftellung ver 
leugnet fi in ihnen nicht; fie wenden fich ebenfo oft an 
unfere nervös erregte Theilnahme, wie an unfer ruhig 
abwägendes Urtheil. Der erfte Band bringt zwei Stu- 
dien aus der Nevolution; er fchildert uns nad) neuen 
Duellen „Marie Antoinette” und „Manon Roland”, zwei 
intereflante Frauen, welche beide ihr Haupt unter das 
Das Porträt der leicht⸗ 
ſinnigen, liebenswürdigen Königin trägt folgende ab» 
ſchließende Unterfchrift: 

Was Marie Antoinette als Königin geflindigt, hat fle als 
Gattin und Mutter geſühnt. Sie ift von großen Fehlern, 
Schwächen und Misgriffen nicht frei, nicht frei von Schuld 
an der Revolution, der fie erlegen iſt. Ihr politifches Handeln 
würde fie vor den Verdammungsurtheil ber Geſchichte nicht 
ſchützen können; es ſchützt fie davor nur ihr mweibliches Handeln, 
Das Weib in ihr rettet Die Herricherin, und diefe unwiderftreit» 
bare Thatjache lehrt uns aufs neue erfennen, worin die Er 
babenheit und Größe des andern Geſchlechts zu fuchen iſt. Wäre 
Marie Antoinette in ihrem Glanz und ihrem Glüd immer nur 
Gattin und Mutter geweſen, wie fie e8 in ihrem Misggeſchick 
und in ihrer Erniedrigung war, fo hätte fie allerdings der 
Welt wol ſchwerlich die allgemeine geielihaftliche Erfchlitterung, 
aber der Hiftorie ohne Zweifel einen Blutfled eripart, vor 
welchem noch heute die Menjchheit mit erjchlitterter Seele flieht. 

Manon Roland aber nennt der Verfaſſer „die polis 
tifche Seele und das vorahnende Kaffandra-Gemüth der 
Gironde, den meiblihen Staatsmann der Revolution, 
jenen erhabenen Geift, der von der Freiheit im Namen 
der Tugend und von der Tugend im Namen ber Frei⸗ 
heit ſprach“. 

Wenn dieſe Charafteriftifen dur) Wärme und Glanz 
der Darftelung an jene Porträts revolutionärer Helden 
und Heldinnen erinnern, wie fie Lamartine in feinen 
„Girondiſten“ entwarf und ausfüthrte: fo find die literar- 
biftorifchen, äfthetifhen und dramaturgifchen Auffäte des 
zweiten Bandes durch den mobernsidealiftifhen Stand» 
punkt ausgezeichnet, den auch wir ſtets und überall vertreten 





Volk sthümliche Dichtungen, Erzählungen und Ueberlieferungen, 


haben, fodaß wir in Wehl einen tapfern Mitkämpfer 
für die echte Dichtkunſt und ihre großen Aufgaben in 
einer durd den Realismus vielfach, verflachten Zeit ber 
grüßen. Die Begeifterung für Schiller, die ſich nicht 
blos in der Schiller-Nede: „Was Schiller feinen Deut- 
ſchen iſt“, fondern namentlid) aud; in dem Aufſatz: „Goe - 
the's und Schillers Einfluß auf die Entwidelung ber 
deutfchen Pyrif”, ansprägt, welcher den Zufammenhang 
unſerer Poeſie, foweit fie überhaupt berechtigt ift, mit 
unfern Elaſſikern in einleuchtender Weife darlegt — biefe 
Begeifterung ift ſichere Burgſchaft dafiir, dag Wehl bie 
Bedeutung nationaler Dichttunſt richtig erfaßt Hat und 
den Fortgang unſerer Nationalliteratur vom richtigen 
Standpunft aus beurtheilt. Gegenüber dem namentlic, 
von Laube begünftigten Realismus darftellender Kunft er» 
hebt Wehl in feiner treffenden Charalteriſtik Bogumil 
Dawifon’s and) auf diefem Gebiet das Banner des Idea⸗ 
lismus: 

Die realiftifche Schule will die Wahrheit und noch einmal 
die Wahrheit. Sie will fie womöglich wie fie geht und fteht, 
mit Haut und Haar, mit Regenſchirin und Galofgen. Ihr 
iſt ſchon der Vers, als unnatürlid zuwider. Sie hält ihn 
gewiflermaßen für den Bortrag für jenen panifchen Reiter, den 
men einft in der Pferdedreffur fo fange und mit fo vieler Bor» 
liebe angewendet hat, und dem fie, wie biefe, fid) nun aud 
vom Halfe ſchaffen will. Es ift aber doch eine cigene Sache 
damit. Der Vers hemmt allerdings den freien Redefluß, aber 


521 
er regelt ihn aud. Er gibt ihm jene edle, gehobene Gangart, 
die ehedem aud) die mit jenem Reiter dreffirten Pferde Hatten. 
Alles kann natürlid; übertrieben werden, und wie man dem 
Schritt und bie Bewegung unſers edelften Thiers endlich von 
alzu eifernem Schulgwange freigegeben hat, fo darf man immer» 
hin aud die Declamation der gebundenen Rede mehr dem Weſen 
und dem thythmiſchen Inftinet der Natur überlaffen. Aber 
flürzen und verbannen fol man fie nur nicht. Der deutſche 
Bers iſt der fchönfte der Melt. So voll von Abel, weichem 
Gall und männliger Kraft gibt e8 feinen mehr. Aber er will 
aud freilich behandelt fein. Er läßt fich nicht zerbrödeln und 
verſchieppen wie der engliſche, nicht ſchleifen und abmeſſen wie 
der franzöflfhe, nicht fingen und fchnalgen wie der italienifche. 
Er will geſprochen fein, und fein Sprechen ift eine Kunft, eine 
eigene, befondere Kunft, bie noch ganz felbfländig neben der 
Scaufpiellunft dafteht. 

Die Charatteriftifen von Upland, Seume, namentlic, 
von Adolf Glafbrenner, einem ſatiriſchen Dichter von 
hervorragendem Rang, ber von ben Literargefdhichtfchrei« 
bern nod; immer nit nach Gebühr gewürdigt wird, 
zeigen Wehl's feinfinniges Talent und fein Streben nach 
Gerechtigleit. Auch die Lebensſtizze des Unterzeichneten 
ift aus der „Gartenlaube“, wo fie früher zum Abbrud 
am, in bie Sammlung mit aufgenommen worden, und 
wir können dem Autor file die liebevolle Beurtheilung 
und auch dem zutreffenden Tadel nur aufridtigen Dant 
fagen. Rudolf Goliſchall. 

(Der Befhluß folgt in ber nächften Nummer.) 


Volksthümliche Dichtungen, Erzählungen und Heberlieferungen. 


Auch die Literatur Hat ihre Moden fo gut wie Damen- 
leider, nur mit dem Unterfchiede, daß die Mode in der 
Literatur meift von einem wirklich bedeutenden Werke an« 
hebt, das im geiftvoller Weife, fei es in der Form, fei es 
im Inhalte, eine neue Richtung eingefchlagen. So können 
wir fagen, daß, obgleich es zu allen Zeiten Dialektpoefie 
gegeben hat, in Süddeutſchland diefelbe eine Zeit lang 
durch Hebel Mode wurde und daß fie in Norddeutichland 
durch Groth und Reuter in neueſter Zeit wieder Mode 
geworben ift. Die Aufgabe der Kritik wird es nun fein, 
die erfcheinenden Spracherzeugniſſe der Dialekte zu prit« 
fen, ob fie nur flüchtige Sonnenlinder der Mode find, 
oder ob fie die Saifon überdauern werden. Es liegen 
uns bor: 

1. Der frieſiſche Spiegel mit einer hochdeutſchen Meberfegung 
von M. Riffen. — De freske Sjemstin me en hugstiüsk 
Auerseting. Altona, Mentel. 1868. 8. 1 Ihr. 15 Ngr. 

2. Grain Tuig. Schmwänfe und Gedichte in fawerländifder 
Mundart vom Berfaffer der „Sprideln und Spöne“. 
Zweite Auflage. Soeft, Naſſe. 1866. 12. 7%, Nor. 

3. Der Berggeift. Ernſte und heitere Mittheilungen aus 
DMangfelde Bor- und Neuzeit in Bollsmundart von €. F. 
A, Giebelhauſen. Halle, Pfeffer. 1868. 8. 15 Nor. 
Der „Frieſiſche Spiegel” hat billigermeife den Bors 

tritt unter diefen Werken, weil uns in ihm Nachflänge 

der alten friefifchen Sprache entgegentönen, die viele 

Jahrhunderte lang Fräftig an den Ufern der Nordſee er - 

Mnngen und, wenn ihre Literatur auch vorzugsweife alte 

chrwürdige Nechtödenfmäler aufzumeifen Hat, durch ihren 

umfangreichen Bocalismus und eine gemiffe ihr ein 
wohnende Kraft ſich auszeichnet. Mit jedem Yahrzehnt 


nimmt das Sprachgebiet derfelben an Umfang ab, ſodaß 
fie jegt nur noch in Nordfriesland, Helgoland, Wangeroog, 
Saterland im Großherzogifum Oldenburg und Welt 
friesland in Holland geſprochen wird; um fo dankens⸗ 
werther ift der Verſuch, in Liedern und Sprüden fie zu 
verwerthen, um fo diefelbe, wenn nicht weiter außzubehnen, 
fo doch zu erhalten und einigen Nachwuchs der frühern 
Literatur zu zeitigen. Wir Haben damit ſchon die Abſicht 
des Verfaſſers angedeutet, der zumächlt feinem Volie 
Producte aus feiner eigenen Sprache darbieten wollte, in 
melde er Geſchichte, Sage und Sitte Meidet, um die 
„Naivetät und Derbheit, feinen Humor und Exnft, feine 
Licbe und Sehnfucht, feine Treue, feine Hoffnung und 
feinen Glauben in feiner ganzen Stärke auszudrücken“. 
Dadurch hofft er zur Hebung des frieſiſchen Vollscharalters 
beizutragen und dahin zu wirlen, daß das Bolt feine 
herrliche Sprache nicht aufgibt. 

Bon den fünf Abtheilungen des Buchs bringt bie erfte un. 
ter der Ueberſchrift: „Die Heimat“, gutgemeinte vaterländi« 
ſche Klänge, die zweite: „Gottes Heimat“, veligiöfe Lieder; 
bie dritte enthält Gedichte, die fi an Sagen anfchliehen; 
die vierte: „Unfere Sitte”, ift infofern mit der fünften, 
welche Sprüce, Sentenzen und Gleichniſſe bietet, die 
widhtigfte, al8 fie ung wirklich ein Stüd Frieſenthum im 
engern Anſchluß an den Volksmund Bietet, und nur dieſe 
beiden legten Abtheilungen rechtfertigen auch den Namen 
„Der frieſiſche Spiegel“, den der Berfafier feinem Buche 
gegeben. Wir heben von ben Profaftiiden „En Alkenine- 
Preitai“, cine Giebelprebigt, hervor, welche eine Anzahl 
echt frieſiſcher Sprüche und Wendungen enthält und wol 


328 


an ein vollsthümliches Mufter ſich anſchließt. Hier einige 
Broben: 


Mein Meifter bat von mir verlangt, eine Giebelpredigt 
zw Balten über diefes neue Haus, welches wir mit Gottes 
Hülfe gebaut haben. &o flehe ich hier denn hoch im Giebel 
und will predigen. Ihr müſſet aber wohl bedenken, daß ich 
nur ein Zimmermann bin und fein Predigen gelernt habe. 
Ich bin nicht im Kiel auf der Univerfität gewejen; ich bin bei 
Sammer und Kelle groß geworden und habe von meinem 
Lehrer nur fo viel gelernt, daß ich eine gute Rechuung aus- 
jhreiben fann.... Ja, wenn e8 mir gelingen möchte, alle 
Köpfe umter einen Hut zu bringen, fo konnte ich leicht etwas 
predigen; aber dg liegt der Hund begraben. Der eine hat 
einen folden Sinn, der andere einen andern, der dritte ift 
nicht genug gegaffelt, der vierte ift nur balbgebaden, und ber 
fünfte bat feine flinf nicht beieinander und kann ſich nicht be- 
finnen. Der eine ift von bem feinen, der andere von bem 
groben Ende abgefchnitten. Der eine Hat einen ganzen Kopf 
voll Verftand, und der andere faum einen Fingerhut voll. Der 
eine macht eine breite Lippe uud fängt an zu weinen, wenn 
die Schuhe etwas brüden, und ber andere tut feinen Mund 
nicht auf, wenn ber Kopf aud vor Füßen liegt. Der eine 

ocht wie eine Wanze, nnd der andere ftedt den Schnipp glei) 
in die Taſche. Der eine winkt und plinft und Hinft nad Nor⸗ 
den, umd der andere kehrt ihm den Rüden zu und geht nad 
Süden. Der eine ift etwas harthörig und kann nicht gut hö⸗ 
zen, namentlich nicht mit dem rechten Ohr, und der andere 
bat ein Paar gute Ohren und ift doch noch tauber als ber 
Taube. Bas fehr gut angehen kann, Leute! denn es iſt nie» 
mand fo taub, als welcher nicht hören will.... Sagt es mir, 
Leute, wie kann ich es denn jedem vecht machen? Gleichwol habe 
ih gearbeitet wie ein Yuhrmannepferd, um eine gediegene 
Predigt zu lieſern. Ich habe in vielen Nächten feinen Schlaf 
darliber befommen. Ja, glaubt es mir, Kopfbrechen ift bie 
ſchwerſte von allen Arbeiten. Zuletzt fam id nod auf einen 
aladlichen Einfall: „Gerade fo wie du die Steine in der Mauer 
nad der Schnur legſt, mußt du die Gedanken nad einer 
Sqe zurechtlegen, wenn dir das Predigen gelingen ſoll.“ 
Meine Gedanken über den Giebel Gabe ich denn zurechtgelegt 
nach der Schnur, daß ih euch ſage: „Was ein Giebel if; 
er gebraucht wird, und wie weit er Über die Erbe ver- 
breitet if.” Sch will euch I jagen, mas ein Giebel ift. 
Gerade fo wie du felber die Nafe Über dem Munde haft, muß 
dein Haus einen Giebel über der Thür Haben, fonft ift bein 
Hans fein friefifhes Haus. So haben die alten riefen ihr 
Sans nad) dem Manne gebaut. Der Giebel if die Nafe, die 
Thür if der Mund und die Fenfter find die Augen. 


Es wird dann weiter auögeführt, wie der Giebel ein 
Zeichen fei für die friefifche Mutterfprache umd wie weit die 
friefifche Sprache einft verbeitet gewefen fei. Auch die 
Sprüche der fünften AbtHeilung ſchließen ſich vielfach an altes 
aus der Volfsweisheit Ueberkommenes an, jo die Priamel: 


Kon ey hulpen warde. 
Deder alltidd fanget am Redd 
deder Nente to Wag set; 
deder alltidd snaket am en Bridd, 
to de Kost et eg käme let; — 
jii der alltidd bai a Priygel halt, 
an de Hös fale let; 
ju der Pone an Putte beslakket 
an her dag eg sat et: 

„kon eg hulpen wardel!“ 


Ihm iſt nicht zu Helfen. 
Ber immer um Rath fragt, 
und niemals etwas wagt; 
wer immer fpricht von der Braut, 
und doch vor der Hochzeit graut, — 
die immer bei dem Stridwir hält, 
während befien der Strumpf fällt; 


Volksthümliche Dichtungen, Erzählungen und Ueberlieferungen. 


die alle Pfanne und Zöpfe beledt, 
und fi doc nicht fatt it noch ſchmeckt: 
„dem ift nicht zu helfen! 

Auch unter den kurzen Sprüchen findet ſich mandher, 
der originell iſt na Inhalt und Form und fomit ein 
Recht auf Aufzeichnung bat. Wenn wir noch hinzufügen, 
daß der Verfaffer durch eine genaue Angabe der Laut. 
bezeichnung, Webertragung der fchwierigern Worte umd 
furze grammatifche Anmerkungen feinem Büchlein Beben- 
tung verliefen Bat, fo wird es fich dadurch auch Fach⸗ 
männern bon felbft empfehlen. 

Die Sammlung „rain Tuig“ (Nr. 2) Tiefert uns 
wiederum einen Beweis bafür, daß die Leute bes Landes, 
das fpärlich feine Bewohner nährt, darum nicht den 
ichlecteften Humor haben. Es find die in dieſem humori⸗ 
ftifchen „Allerlei uns aufgetifchten Erzählungen, Schwänfe 
und Anekdoten zum Theil recht naturwüchſig und gefund 
und enthalten eim gut Theil echten Mutterwitz. Dies 
fommt wol mit daher, daß der Berfafler mit ridti- 
gem Talt die Stoffe in feiner fauerländifchen Mundart 
wiedergibt, für welche diefer Dialekt, wie er int weſtfäliſchen 
Südland geſprochen wird, gerade ausreicht. Laflen wir 
uns vom Berfaffer erzählen, warum er feine Sammlung 
„Brain Zuig“ betitelt hat, wie er auch dies nicht ohne 
Humor auseinanderfeßt: 

Dat me junge Leders und Schnurrnburfen, Schüdtters 
un Backfiſte un ander Kleinvaich metunner met dem Namen 
„Brain Tuig“ behlinget, um ſei dann giäll um grain weert 
füar Aerger, dat me fei nau mit füar vull aufaihn wull — 
dat kümmert mif nit. Un dat ufe ſäll'ge Paftauer falſt worte, 
wann ſou Frailains un diergleyken int der Staat ankummen 
job met Parafölltes, Sundalen, Schlaiers un Tuigſchanuhen, 
un datte dann ſaggte „O Heer! bat graine Tuig is wier do! 
Guatt ſtoh us bey! — dat kümmert mil auf nit; if well kei⸗ 
nen Menſken intſchemen. Wenn if ug grain Tuig verhaite, 
dann mein if raue Xeppelfes, güllene Biätkes, jeite Plnimles, 
un fan derhilic — allerdinges en mengeft en wennig unreype; 
dött nix — bat kann if derfüür, darrt te Binkften innen 
Surlande jchuigget hiät, den ganzen Sumer riähnt hat, to 
Michäl oppem Aftenerge (Aftenberge), de grainen Sälmer oppem 
Selle wier taufchnigget find, un diärlimme de Schwätffen un 
Kraiken grafegrein, un Appeln un Biären Hein un ſchrumplig 
bliewen find? IE jegge ments dat: grain Tuig i® em ange 
nehm Dinges no der Middagesfoppe und des Owends fitlir 
Berregahn, giet geſund, friſt Blout in de Odern, gurren Schlop 
un ſcheine, lichte Droime. Freylik, wenn Heine Blagen teviel 
annem grainen Tuige guauftert, dann trift fe Leifwäih un 
ſchnitt Gefigter! Amer gutt! wenn ey ſau gutt ſeyn wellt un 
laden bey meynem grainen Tuige fau harre, dat ug bet Leyf 
wäih dött, unt Gefichte ganz iutem Faßonn kümmet, dat fol 
mey recht leif ſeyn, un kann ey mey feinen grötteren Gefallen 
dauhn. Diäm fey niu, biu diäm wolle — i⸗ winft ug gurren 
Aweteyt. 

Ein Vorzug dieſer Sammlung beſteht darin, daß 
alle in derſelben enthaltenen Erzählungen, Sprüche und 
Anekdoten nicht etwa nur aus dem Hochdeutſchen über⸗ 
tragen find, fondern daß fie aus dem gemilthlichen 
Dialekt hervorgewachſen, in demfelben gedacht und er- 
zählt find. 

Nicht in gleicher Weife gilt dies von der unter Nr. 3 
aufgeführten Sammlung: „Der Berggeift.” Auch fle 
bietet viel Komifches und Spaßhaftes, aber einzelnes, 
jo die „Schlacht am Welpesholze”, Tlingt mehr mie 
aus hochdeutſcher Gejchichtserzählung in die mandfel- 
der Mundart übertragen. Daß die Erzählungen mehr 





00 


Volksthümliche Dichtungen, Erzählungen und Ueberlieferungen. 329 


Komifches als Humoriftifches bieten, Tommt zum Theil 
auf Rechnung des Dialekts, der dem Erzähler felbft 
dieſe Schranke fest, und es wird in den Gegenden, 
wo biefer Dialekt belannt ift, an Leſern nicht fehlen, 
die fi lange Winterabende auf Furzweilige Weife ver» 
treiben wollen. 


4. Aberglaube und Sagen aus bem Herzogthum Dfdenburg. 
Herausgegeben von 8. Straderjan. Zwei Bände Ol⸗ 
denburg, Stalling. 1868. Br. 8. 2 Thlr. 

5. Der Bollsmund in der Mark Brandenburg. Sagen, Mär- 
hen, Spiele, Spridmwörter und Gebräuche, gejammelt und 
herausgegeben von A. Engelien und W. Lahn. Erſter 
Theil. Berlin, W. Schulte. 1869. Gr. 8. 25 Nor. 

6. So fprehen die Schwaben. Spridwörter, Redensarten, 
Reime gefammelt von A. Birlinger. Berlin, Dümmiler. 
1868. 16. 12 Ngr. 

Die drei vorftehenden Sammlungen verfolgen ſämmt⸗ 
lich wilfenfchaftlihe Zwede. Sie wollen durch möglichft 
objective Ueberlieferung des vorgefundenen Stoffs ein ge⸗ 
trenes Bild des Bollögeiftes geben, wie er fich in feinen 
Glauben, Bräuchen und Sprüchen abfpiegelt. 

Die Sammlung von Straderjan (Nr. 4), bisjegt 
die umfänglichfte von den genannten, verfügt über ein fo rei= 
ches Material, dag wir darauf verzichten müſſen, eine auch) 
nur annähernd erfchöpfende Charakteriſtik deſſelben zu ge« 
ben. Sie gibt außerdem mehr als fie verfpriht, indem 
fie außer den Mittheilungen aus dem Gebiete des Aber⸗ 
glaubens und der Sage noch Schwäne, Bräuche, Reime 
und Räthfel enthält. 

Das erfte Buch handelt von den unperfönlichen Gefegen, 
das zweite vom Spuk, das dritte von übernatürlichen 
perfönlichen Wefen. Im vierten Buche wird das Wirkliche 
in feinen Beziehungen zum Aberglauben abgehandelt, das 
fünfte Buch enthält Märchen und Schwäntle. 

Wie der Glaube auf dem Gefühl der Abhängigkeit 
don Gott beruht, fo entfpringt der Aberglaube wefentlich 
aus dem Gefühl der Abhängigkeit von Mächten und 
Kräften, file welche weder in den ihm befannten Natur» 
gefegen noch in ber geläuterten Religionslehre fich ein 
Blog findet. Eine feite Begrenzung des Aberglaubens 
läßt ſich nicht aufftellen, und es wird ſtets Glaubensſätze 
geben, welche zwifchen Glauben und Aberglauben gleich 
fam eine Vermittelung bilden. Der Verfaſſer will nur 
die Slaubensfäge zum Aberglauben rechnen, welche, fowol 
in den Augen des Priefters als auch des gebildeten Laien 
als Aberglaube anzujehen find. 

Diie Ueberreſte heibnifchen Glaubens, welche ſich im 

Herzogtfum Oldenburg als Aberglauben erhalten ha» 

ben, laſſen fih auf die Frieſen und Sachſen zurüd» 

führen. Die Priefter, welche ihnen das Chriſtenthum 
verfündeten, führten die guten Wirkungen der Götter» 
welt auf chriftliche Mächte zurüd, die böfen übertrugen 
fie auf den Teufel, Gefpenfter und Hexen. Donar's 

Farbe, die rothe, ward die Farbe des Teufel, der rothe 

Donar ftedt noch in dem „roden Jan Harm und 

dem Rattmann, die den Wildenloh bei Oldenburg fo uns 

heimlich, machen”. Auch die vorliegende Monographie, 
welche um fo wichtiger ift, als uns ein forgfältig ger 
fammeltes, reiches Material vorliegt, beftätigt, daß der 

Aberglaube des Volks in den verfchiedenen Gegenden ein 

ziemlich gleichartiger ift, was wiederum auf gleiche mytho⸗ 
1870. 21. 


logiſche Anfhauungen als gemeinfame Grundlage zurüd- 
deutet. Während man geneigt fein könnte zu ver- 
muthen, daß, wie dies bei Island im großen der Fall 
ift, fo hier Oldenburg im Fleinen, weil fpäter und weni» 
ger gewaltſam befehrt als andere Länder und von dem 
großen Verkehr abgelegen, ein anderes, älteres Gepräge 
des Aberglaubens bieten müſſe, wird diefe Vermuthung 
durch die vorliegende Sammlung nicht beftätigt. Eie er- 
gibt vielmehr das Refultat, dag Oldenburg in Bezug 
auf die Geftaltung des überlieferten Aberglaubens nur 
auf der Durdjfchnittshöhe fteht, ja daß viele Gebirgs- 
gegenden ihre Ueberlieferungen oft treuer bewahrt haben. 
Nur in Bezug auf die Walridersken und ‚Heren findet 
fich reicheres und eigenthüümlicher ausgeprägtes Material. 
Der Herxenglaube ift fehr fuftematifch gegliedert. Die 
Heren haben ihre Lehrzeit; das Vermögen, gefchwänzte 
(weiße) Mäuſe zu machen, ift ein Kennzeichen der nun 
vollendeten Lehrzeit. Die Hexen fünnen machen was fie 
wollen, aber weſentlich ift ihre Thätigkeit darauf gerichtet, 
Böfes zu fliften, und Böfes müſſen fie thun, fie mögen 
wollen oder nit. Sie können Menfchen und Vieh krank 
machen, Unwetter erregen, den Regen beheren, daß das 
Zeug auf der DBleiche ſchwarz wird, Früchte verderben, 
Ungeziefer erzeugen u. f. w. Die Walriderske, Walrie- 
fche, Weilridersfe kommt zu dem fchlafenden Menſchen 
meift in Geftalt eines rauhbehaarten Thiers, legt fich 
ihm auf die Bruft und drüdt ihn fo, daß er fich nicht 
regen und kaum noch athmen kann. Die Erfcheinung 
gleicht bald einem Pudel, bald einer Katze; ihre Farbe 
ift meift Schwarz, aber auch braum oder weiß. Mitunter 
find es auch Weſen menfchlicher Bildung, welche ſich 
zu dem Schläfer gefellen. 

Auh Sagen und Märchen hat der Berfafler feinen: 
Werke angereiht, weil die Sage nur eine befondere Form 
des Aberglaubens ift, und an die wiederum unter fich 
verwandten Sagen und Märchen ſchließt er eine Anzahl 
von Schwünfen und Legenden, welche zu der Form, in 
der wir anderwärts diejelben Stoffe finden, manche inter- 
effante Varianten bieten. 

„Der Bollsmund in der Markt Brandenburg”, von 
A. Engelien und W. Lahn (Nr. 5), bildet eine Ergän- 
gung zu der von Kuhn und Schwark veranftalteten Samm- 
lung „Norddeutſche Sagen” und enthält: Bolksfagen, 
Märden, Kinder» und Spielreime, Räthſel und Scherz. 
fragen, Sprücde und Sprichwörter und endlich Sprüche, 
Lieder, Formeln, die fih auf Sitten und Gebräuche des 
Bolfs beziehen. Im folgenden Bande follen Infchriften 
und Wahrzeichen an Häufern und eigenthilmliche Grab» 
jchriften vertreten fein, auch fol derfelbe ein Wörter: 
verzeihnig aus den Dialekten mit etymologifchen Erflä- 
rungen enthalten. Als Vorzüge des Werks treten hervor: 
die getreue Wiedergabe des Stoffs und die fehr danlens- 
werthen Anmerkungen, welche locale und ſprachliche Er- 
läuterungen enthalten. 

Anton Birlinger hat in feiner Sammlung: „So 
Iprechen die Schwaben” (Nr. 6), Spridywörter, Bauern» 
regeln, Sprichwortartiges, Lebensregeln und Hausreime 
aus dem Schwabenlande zufammengeftelt. Seine Fund- 
orte find Schwaben zwifchen Iller und Lech und das 
würtembergiſche Gebiet bi8 an den Oberrhein. Die 


42 


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330 


Sprichwörter, Bauernregeln und Redensarten find alpha- 
betifch georhnet, und dem Ganzen find, da die Mundart 
beibehalten wurde, am Schluß des Ganzen fprachliche 
Erläuterungen beigegeben, Das Heine Heftchen enthält 
manches dhargkteriftiiche Kraftwort und bürfte allen, bie 
fih für Schwaben intereffiren, eine willfommene Gabe 
fein. Zum Schluß einige Haus⸗ und Zimmerreime, in 
denen und Reminifcenzen aus mittelalterlicden Dichtungen 
(fo aus „Freidank's Beſcheidenheit“ u. f. w.) mit den 
neuern Producten des Vollsgeiſtes vereint entgegentreten: 


Neines Herz, frober Muth, 
Steht zu allen Kleidern gut. 
Guter Wein, rein und gut, 
Junget alter Lente Mutl. 
Ein Hausreim in Kinbingen: 
Loß die Neider neiden, 
Laß die Haffer haſſen; 


Zur focialvreformatorifhen Literatur. 


Was uns Gott bejcheret bat, 
Das wird er uns dod Taffeı. 


In Müsringen (Schloß): 
Gott behlit diefes Haus jo lang, 
Bis ein Schned die Welt ausgang : 


Und ein Ameis durft fo fehr, 
Bis fie austrinft das ganze Meer! 


In Gundelfingen: 


Biele find, die tadeln mid, 

Doch ich glaub’: fie irren ſich. 
Das if das Beite in der Welt, 
Daß der Tod nimmt an kein Gelb: 
Sonft würden die reichen ©efellen 
Die Armen vor die Lucken ftellen! 


Wer bauet an die Straßen, 
Muß die Leute reden laſſen. 
Eugen Kabes. 


Bur focialreformatorifchen Literatur. 
GBeſchluß aus Nr. 20.) 


1. Kapital und Arbeit. Reue Antworten auf alte Fragen. 
Bon E. Dühring. Berlin, Eichhoff. 1865. Gr. 8, 

- 1 Thle. 5 Ngr. 

2. Die Berkleinerer Carey's und die Kriſis der Notionalölonomie. 
Sechzehn Briefe von E. Dühring. Breslau, Trewenbt. 
1867. Gr. 8. 1 Thlr. 

8. 3. St. Mill's Anfichten über die fociale Frage und die an⸗ 
geblihe Ummwälzung der Socialwiſſenſchaft durch Carey. 
Bon F. a 9% Duisburg, Fall und Lange. 1866. 
Gr. 8.1 r. 

4. Carey's Socialwiſſenſchaft und das Mercantilſyſtem. Cine 
fiteraturgefchichtlicde Parallele von Adolf Held. Würzburg, 

Stuber. 1866. ©r. 8. 1 Thle. 6 Ngr. 

5. Der Broletarier. Drei BVorlefungen zur Orientirung in 
der fpeialen Frage. Bon Johannes Huber. Münden, 
Lentner. 1865. 8 15 Nor. 

6. Die confervative Sociallehre. Mittels Erörterung von Tages» 
fragen erläutert von M. von Lavergne- Peguilben. 

Erſies Heft: Die Concurrenz und die Gliederung der Staaten. 
Berlin, 5. Schulze. 1868. Gr. 8 15 Nor. 

7. Die Eomfumvereine, ihr Weien und Wirken. Nebſt einer 
raftiihen Anleitung zu deren Gründung und Einrichtung. 
uf Beranlafjung des ſtändiſchen Ausichuffes der deutſchen 

Arbeitervereine herausgegeben von Ednard Pfeiffer. 

. Stuttgart, Kröner. 1865. 16. 15 Nr. 

8. Die auf Selbſthülfe gefügten @enoffenfchaften im Handwerker⸗ 
und Arbeiterfiande. Borträge, gehalten im Fortbildungs- 
verein für Buchdruder in Wien am 25. Februar, 4. umd 
11. März 1866 von Mar Menger Bien, Czermak. 
1866. Gr. 8. 6 Rgr. 


Es ift faft unmöglich, fi in der Literatur der mo- 
dernen Volkswirthſchafter zu [bewegen, ohne von dem 
Barteiwefen präoccupirt zu werden. Borläufig wird auch 
fchwerlich jemand den Muth haben, fich bereit darüber 
ſchlüſſig zu machen, ob eine Ausgleihung der nah Mill 
und Carey vertretenen Gegenſätze ber Socialwiſſenſchaft 
zu erwarten fteht, ob nicht. Man ift in der That auf 
beiden Seiten zu fehr mit der Offenfiv-Defenfive gegen 
die andere Seite befchäftigt, als daß man recht ernfthaft 
daran. arbeitete, die eigenen Kernpofitionen unangreifbar 
zu machen. Die ganze focialwifjenfchaftlihe Bewegung 
gleicht einem wilden Kriegsgewühl, deſſen frategifche 


Situationen um fo ſchwerer Marzuftellen find, als bie 
Bannerzeichen und das Feldgeſchrei auf beiden Seiten die⸗ 
felben find, während die gleichen Farben und die gleichen 
Worte da8 Entgegengeſetzte bedeuten. 

Es kann nun nicht entfernt unfere Abficht fein, an 
diefer Stelle eine Ueberficht des Kampfes zu geben, oder 
ung auf die eine oder andere Seite der Kämpfenden zu 
fielen. Wir berühren nur flüchtig einige Erfcheinungen 
der bierhergehörigen Literatur, wie fte eben ber Zufall 
auf dem Büchertifche zufammengeführt Hat. Manche die- 
fer Schriften hätte, was durchaus nicht in Abrede ges 
ftellt werden mag, wol ſchon früher ihre Titerariiche An⸗ 
zeige finden follen, wenn nicht die politifchen Ereigniffe 
der legten beiden Jahre, indem fie den Geſammtbeſtand 
der enropäifchen Ordnungen theils ſchon mobdificirten, 
theils weiter in Frage ftellten, die Discuffion der focialen 
Reform in den Hintergrund gebrängt hätten. Sekt eben 
erhebt ſich dagegen die fociale Bewegung, theils als ſolche, 
theils als politifche Exrfcheinungsform, allenthalben zu 
neuem Aufſchwung. So fordern nicht nur die reforma- 
toriſchen Theorien auf dem Gefammtgebiet, fondern auch 
die praltifhen Beftrebungen zu Berbeflerungen, welde 
man vom Standpunkt der Wiſſenſchaftlichkeit blos als 
Palliative in fpeciellen Richtungen der Gefammtfrage aufr 
faſſen mag, ihre ernenerte Berüdfichtigung. 

ALS einen der eifrigften Verbreiter und Erläuterer des 
Carey'ſchen Syftens ift man gewohnt E. Dühring in 
Berlin zu betrachten. Seine „Briefe über Carey's Um- 
wälzung der Volkswirthſchaftslehre und Socialwifjenfchaft” 
baben jenen jedenfalls überaus bebeutfamen Volkswirth⸗ 
Ichafter zuerft in Deutfchland populär gemacht. Nach- 
dem dann Dühring in „Sapital und Arbeit; neue Ants 
worten auf alte Tragen“ (Nr. 1), mit Feſthaltung des 
Carey’fchen Syſtems, ſich gegen die von ihm als anti⸗ 
ſocial bezeichnete Richtung gewendet hatte, rettete er für 
Carey namentlich auch die Priorität gewiſſer Aufftellun« 
gen, die er früher ſelbſt Baſtiat's „Delonomifchen 





Zur focialreformatorifchen Literatur. 


Harmonien” zugeftanden hatte und bie auch das volls⸗ 
wirthfchaftliche Fublkum Baftiat zuzuſchreiben nur allzu 
gewohnt war. Ob die Bezeichnung Baſtiat's als eines 
Plagiarius mehr Werth al den einer polemifchen Formel 
hat, bleibe unentfthieben. Unzweifelhaft verdanken mir 
dagegen Dühring den Haren Nachweis der Thatfache, 
daß Garey’s öfonomifches Syſtem fid) als folgerichtige 
Weiterentwidelung und Confequenz der Liftjchen Grund» 
züge darſtellt. Carey felbft Hat die and) niemals in 
Abrede geftellt und dies noch jüngfthin in feiner „Review 
of the decade 1857—67 mit den Worten anerkannt: 
„Das deutſche Europa wird das Monument Friedrich 
Lif's fein” Dühring fügt dazu die Ueberzeugung: „Unfer 
Liſt wird als der erfte nationalöfonomifche Denker erfannt 
werden, welchen die Alte Welt im 19. Jahrhundert hervor» 
gebracht hat; von dieſer Erkenntniß wird das weitere Schid« 
al der Theorie abhängig fein, und das, was wir jet als 
Theorie im vollen Bewußtfein feiner Tragweite feitftellen, 
wird unter der Fahne des deutſchen Geiftes die Jahr⸗ 
Hunderte anfflären und civilificen helfen.” 

Daß ein fo begeiftertes Apoftolat ber Carey'ſchen 
Doctrin nicht ohne Polemik gegen andere fociafmifjen- 
Tchaftliche Richtungen beflefen Kann, ift felbftverftändlich; 
es ſchließt motäwendig jede eklektiſche Gonceffion aus. 
Dühring hat fehr viel in biefem Sinne gefämpft, doch 
dabei zugleich Carey's Hauptwerfe und die verſchiedenen 
Entridelungsftudien feines Syftems durch Ueberfegungen 
und Erläuterungen dem deutſchen Publikum nahe gebracht. 

„Die Berleinerer Carey’8 und die Kriſis der Natio« 
nalöfonomie" (Mr. 2) madjt num in ungebundener Brief 
form faft nad alfen Seiten gleichzeitig Tront. Und for 
gar nicht allein gegen die principiellen oder zufälligen 
Widerſacher Careys, fondern man Könnte beinahe fagen, 
gegen jeden, der im großen und ganzen oder auch nur 
im Einzelheiten eine von Carey abweichende Anficht ver- 
tritt. Alle ſechzehn Briefe find durchaus polemiſcher Natur. 
Sie follen zeigen, „was bie haupiſächlichſten feiner Ber» 
Heinerer find ober vielmehr nicht find“, nachdem ber Ber« 
faſſer in feinen Briefen über „Carey’s Ummälzung der 
Boltswirtäihaftslehre und Socialwiffenschaft” dargelegt 
Habe, „was Carey iſt“. Die erſten zehn Briefe wenden 
fich indeffen namentlich gegen Baftiat und deſſen Mei- 
mungsgenoffen, dann gegen Stuart Mil und Roſcher. 
Die legten ſechs Briefe gelten vorzugsweiſe ben Kritifen der 
von Dühring vertretenen Standpunkte hinſichtlich der von 
ihm demonftrirten Kriſis der Nationaldfonomie. In ber 
Form und Abficht diefer brieflichen Expectorationen mag 
68 liegen, daß ihr bitterer Humor und ihre Gereiztheit, 
ihr Aneinanderreihen des Verſchiedenartigſten und ihr Aus- 
einanderreißen des Zufammengehörigen für die Betroffenen 
möglicherweife recht ſchmerzhaft ift; dem unbetheiligten 
Lefer dagegen, welcher fi vorurtheilsfrei unterrichten 
möchte, erfcheinen fie namentlich in ihrer erften Hälfte 
weder belehrend noch erquidlich, weder überzeugend für 
Carey oder Dühring noch entfräftend gegen andere Stand» 
punkte. Die Perfonenibolatrie und ihr Gegenfag find der 
wiffenfchafflichen Üeberzeugungskcaft immer feindlih. Daß 
das Werk der wiſſenſchaftlichen Begründung einer focialen 
Reform und neuen Vollswirthſchaftͤlehre bei einem größern 
Publitum dadurch gefördert werde, möchten wir lebhaft 





331 


bezweifeln. Bei denen aber, welde Mil, Carey, Baftiat, 
Rofcher, Lange, Dühring u. f. w. zum Gegenftand ihrer 
fo eingehenden Studien gemacht haben, wie fie bie Briefe 
des Verfafſers offenbar vorausfegen, werden wiſſenſchafi - 
liche Anflagen, welde blos durch aus dem Bufammen- 
hang gerifjene Säte belegt find, ebenfo wenig als flüchtige 
Spöttereien mühfam gewonnene Ueberzeugungen brechen 
oder neue Anfchauungen begründen. Wer allzu viel be» 
weifen will, fommt leicht in bie Gefahr, nichts zu be 
weifen. „Dan merkt bie Abſicht“ u. ſ. w. 

Daß in der —— Broſchüre namentlich auch 
Albert Friedrich Lange zu denen gehört, über deren Wiſſen 
und Konnen ſich die Schale ihres Zorns, oder wie man 
es ſonſt nennen mag, reichlich ergießt, verſteht ſich nad 
der befannten Stellung Lange's zu den Lehren MilPs fo 
ziemlich von felbft. Ya, es fcheint, als ob die Arbeit 
Lange's über „I. St. Mill's Anfihten über die fociale 
Frage und bie angebliche Ummälzung der Socialwiſſen- 
haft durch Carey“ (Mr. 3) einen Hauptanſtoß zu den 
Dühring’fchen Briefen gegeben habe. Es ließ fih von 
Garey’8 unbedingten und fanatiſchen Anhängern, die fi 
doch wiederum ärgerlich dagegen wehren, als deffen Nach-⸗ 
beter ober Apoftel aufgefaßt zu werben, freilich aud nur 
ſchwer erträgen, daß Lange die allgemeine Antsendbarkeit 
der Carey ſchen Lehren in Abrede ftellt, indem er „mit 
voller Sicherheit” ausfpricht: „daß Carey's Werk auf dem 
Boben der amerifanifhen Literatur als eine bebeutende 
Erſcheinung gelten und als ſolche auch von uns anerfannt 
werben durfte; daß dagegen die Ueberfhägung feiner po⸗ 
fitiven Leiftungen in Dentfchland eins der traurigften 
Zeichen wiſſenſchaftlicher Verwilderung ift, welche die lege 
ten Jahrzehnte hervorgebracht Haben“. Indeſſen ift Lange, 
wie überhaupt fein doctrinärer Fanatiler, fo durchaus kein 
perfönlicher Widerſacher Dühring’s. Im Gegentheil, er 
ſtimmt mit ihm in der wiſſenſchaſtlichen Verurtheilung 
Mar Wirth’, Schulze's von Deligfch und anderer, der 
Mancheſterſchule naheftehenden Vollswirthſchafter überein, 
infofern als diefe den Carey’fchen Optimismus in einem 
Sinne gebrauchen, „der Carey's eigenen Grunbfägen völlig 
fremd ift“, während er zugleich die volle Anerkennung 
dafür hat, daß Dühring ſich bemüht Habe, „Carey in 
feinem wahren Lichte zw zeigen, und zugleich verfucht, 
auf Carey's Grundfägen felbft auch weiter bauend, ge- 
ade die reformatorifche Seite dieſes Syſtems hervor- 
zufehren“. Allein ſchmerzlich mag allerdings der Zuſatz 
berühren, „daß Dühring mit feinen eigenen Borfclägen 
dem gefchmäßten DIN weit näher fteht als Carey; ja, 
daß fogar ber Anſpruch der Neuheit, ben er fir feine 
Reformvorfchläge erhebt, von Mill — und theilweife von 
dem noch viel gröber geſchmähten Laſſalle — mit Erfolg 
beftritten werben Tönnte, während fid für den Zuſammen- 
hang berfelben mit Carey nichts Stichhaltiges vorbringen 
Täßt”. Dies wird dann aud) des Weitern entwidelt, und 
zwar gerade nad den Dühring'ſchen SHauptariomen: 
1) Untrennbarkeit der politif gen Wunctionen von den 
wirthſchaftlichen Beftrebungen; 2) Trennung von Staat 
uud Geſellſchaft; 3) Feſthaltung des eigenthümlich natio- 
nalen, a mals; 4) Beſchränkung, nit Aufhebung 

er Rechte. 

In diefer Ausführung findet die Schrift ihren parteie 

42° 


332 Zur focialreformatorifchen Literatur. 


mäßigen Abſchluß. Wefentlicher für den Lefer, welcher 
der Discuffton der Doctringegenfäge nicht in erfter Reihe 
nachgeht, erfcheinen dagegen die fonftigen Erläuterungen 
des Mill'ſchen Syſtems und die daran mit lebhafter 
Wärme gefnüpften Befpredjungen der „foctalen Trage“ 
aus dem, neben Mill, feine Eigenthümlichkeit wahrenden 
Standpunkte Lange’. Weilt er auch namentlich die Be⸗ 
ſchuldigung gegen Mill, als fuche diefer die Frage über 
die Nothwendigkeit einer focialen Umgeftaltung zu umgehen, 
mit ſcharfem Geift und einfchneidender Logik nicht blos ab, 
fondern wendet er fie fogar fpeciell auf Carey's Syftem an, 
jo geht er doc) zugleich in feinen eigenen Anforderungen 
und LRöfungsvorfchlägen noch bedeutend weiter ald Mill. 
Trotzdem ift ex felbft für Carey's Verdienſte in beftimm- 
ten focialreformatorischen Richtungen Teineswegs blind. 
Beſſere VBollserziehung, ein Gefchichtsunterricht, welcher 
nicht von „Berherrlihung der brutalen Gewalt und der 
Berhöhnung und Berleumdung des zertretenen Edelmuths“ 
ftrogen dürfe, Verlegung des Mittelpunfts des Volks⸗ 
unterrichts „in die zum Fortlommen bienlichen Kenniniſſe“, 
Zurückdrängung der „religiöfen” Erziehung, welche aller- 
dings „rei an guten Elementen” fei, aber aud) „zur 
Befeftigung einer Herrfchaft diene, die mit der Entwür- 
digung der Erwachſenen dasjenige zwiefach wieder ver- 
dirbt, was mit der Pflege der Jugend gut gemacht wird’ — 
dies gilt ihm als Element der focialen Zufunftsreform. 
Für die Gegenwart follen Geſetze gejchaffen werden, welche 
den freiwillig entftehenden communiſtiſchen und focialiftis 
fchen Genoſſenſchaften volle Freiheit der Bewegung geben 
(Coalitionsrecht); die Vererbung fol nur in gerade ab- 
fteigender Linie erfolgen; die Freiheit des Vermächtniſſes 
mit einer ftarfen Erbichaftsftener verbunden fein u. f. w. 
Man hat der Lange’fchen Schrift von verfchiedenen Sei- 
ten den Borwurf gemacht, dag fie die Erhöhung des 
Arbeitspreifes zu fehr als Poftulat und Selbſtzweck hin⸗ 
ftelle, ohne daß fie bedenke, wie deren factiſche Verallge⸗ 
meinerung, durch ein Steigen aller Preife und ein Sin- 
fen des Geldwerths, einen Theil ihrer in Ausficht ge» 
nommenen Wirkung fofort vereiteln müffe, womit natür- 
Ich aud das ganze geftellte Verlangen befeitigt werde. 
Man kann auch nicht in Abrede ftelen, daß die Lektüre 
des Buchs diefen Eindrud macht, und daß ſich den Lefer 
eben nur aus biefem unfichern Standpunkt heraus erklärt, 
wie „als höchſter Act der Selbſthülfe“, deren wichtigfter 
Theil dennoch, wie nad Lafjalle, der politifche fein fol, 
die Staatshilfe beanfprucht werden mag. 

Da es nicht in der Aufgabe diefer Zeilen Liegen ann, 
den einzelnen Anfichten der intereffanten Lange'ſchen Schrift 
weiter zu folgen, erwähnen wir an diefer Stelle fofort 
eine Inanguraldisputation Adolf Held's, melde unter 
dem Titel: „Carey's Socialwiſſenſchaft und das Mercantil- 
ſyſtem“ (Nr. 4) fih zur Aufgabe fest, in literatur- 
gefchichtlicher Parallele das Gemeinfame bei den Schrift« 
ftellern verfchiedener Jahrhunderte in Bezug auf die Frage 
nad) der relativen Berechtigung der Schußzölle und dem 
jelbftändigen Einfluß der circulivenden Geldmenge nad)» 
zuweiſen. Wir haben es zunächft mit der objectiven Ueber- 
fit der diesfallfigen hervorragendften Literarifchen Be- 
mühungen aus den letten Jahrhunderten und bei den 
bauptfächlichften Culturvöllern zu thun, ohne bie vom 


Verfaſſer daraus felbftändig gefolgerten Anſichten anders 
als in allgemeimen Andeutungen Iennen zu lernen. Dies 
ift dem Weſen einer Inauguralſchrift freilich angemeſſen. 
Indeſſen läßt deren zweite und drittes Buch, welche ſich 
mit Carey fpeciell befchäftigen, keinen Zweifel darüber, 
daß Held defien Standpunkt in Bezug auf das Mercantif« 
ſyſtem als einen Nüdjchritt betrachtet, der nur durch 
wiſſenſchaftliche Inconfequenzen der Lehre und fehr fpes 
cielle Conceſſionen an die Praris der gegebenen Berhälts 
niffe Amerilas erklärbar werde. 

Wenn aber die bisher berührten Theorien, fo ver 
Schiedenartig auch ihre Ausgangs⸗ und Zielpunkte fein 
mögen, eine Aenberung der Thatfächlichkeit unſers Staats« 
und Gefellfchaftswefens als unumgängliche Vorausſetzung 
der Möglichkeit ihrer Verwirklichung im Auge halten, ſo 
darf doch auch jener Standpunkt nicht außer Acht ge—⸗ 
Laflen werben, welcher in den beftehenden politifchen und 
nationalöfonomifhen Zuftänden die natirlihen Grund» 
lagen zur Entwidelung der Wohlfahrt der arbeitenden 
Volksſchichten erkennt. Johannes Huber, als con« 
jervativer Socialpolitifer fchon genugfam befannt, Hat 
auch in feinen unter dem Gefammttitel „Der Proletarier‘‘ 
zuſammengefaßten „Vorlefungen zur Orientirung in der 
focialen Frage“ (Nr. 5) diefen Standpunkt feftgehalten. 
Der Schwerpunft feiner Ausführungen liegt in dem Nadj- 
weile, daß die Wohlfahrt des Proletariats nicht mit der 
focialen Demokratie, fondern mit dem conftitutionellen 
Königthum folibarifch verbunden fei. Staatshilfe, foweit 
möglich, für die Affociationen, in denen er das vorzlig- 
lichſte Kettungsmittel für die Arbeiterklaſſen erkennt, ift 
die aufgeftellte Borderung. Aber fie nimmt dafür aud 
da8 Hecht des Staats zu einer überwachenden Regelung 
ber Ermwerbsthätigleiten in Anſpruch, durch welches allein 
eine Organifation der Arbeit, eine proportionale Annähe⸗ 
rung zwifhen Production und Confumtion, ermöglicht 
werden könne. 

Daß diefe radicale Umkehr aller jetzt praftifch gelten 
den Beftrebungen auf focialem Gebiet eine Hoffnung auf 
Berwirkliihung Habe, ift kaum denkbar. Um fo inter- 
eflanter erfcheint aber „Die confervative Sociallehre” 
(Nr. 6), welche von dem auch politifch befannten M. von 
Lavergne-Peguilhen „mitteld Erörterung von Tages⸗ 
fragen erläutert“ werden fol. Denn ber Berfafier Hält 
fpeciell die norddeutjche Bundesverfaffung im Auge, welde 
„überall den Grundgefegen ber confervativen GSociallehre 
entfpricht”, fodaß letztere „‚ebendeshnlb” berufen fei, „den 
weitern Ausbau des Bundeskörpers vorzuzeichnen“, wobei 
in Betraht komme, daß „die zur Bunbeseinheit vor« 
gejchrittenen Staaten durch den Einfluß des Liberalen 
Delonomismus, refp. der Specialprincipien von 1789 mehr 
oder weniger erkrankt find, daß das Gedeihen des Bun- 
de8 auf der Heilung feiner Glieder beruht, daß dieſe 
Heilung gleichzeitig mit der weitern Entwidelung des 
Bundesförper8 anzuftreben iſt“. Der Berfafler will nun 
in feinem Buche „die dieferhalb zu verfolgenden Wege im 
Detail beſtimmen“. Bisjetzt Tiegt jedoch nur das erfte 
Heft unter dem fpeciellen Titel: „Die Concurrenz und 
die Gliederung der Staaten”, vor, welches fich wieber in 
acht Abfchnitte zerlegt, deren weitern Erörterungen zu 
folgen der uns zugemeflene Raum verbietet, Bemerken 


EA 


Ds ME 55— — — 


Eine Ueberſetzung der „Bhagavad-Gita“. 333 


wir nur, daß die betreffenden Aufſätze bereits in den 
Glaſer'ſchen „Jahrbüchern“ abgedruckt waren. 
Wenngleich die moderne Socialwiſſenſchaft den Schulze⸗ 
Delitzſch'ſchen Beſtrebungen zur aſſociatoriſchen Drgani- 
ſation der Selbſthülfe aus ihrem theoretiſchen Standpunkt 
eine mehr als ephemere und palliative Bedeutung zuzu⸗ 
geſtehen nicht geneigt iſt, ſo wäre es doch mehr als partei⸗ 
blinde Befangenheit, ablengnen zu wollen, daß das Schulze’ 
ſche Genofienfchaftswefen in dem focialen Leben ber heu⸗ 
tigen Ürbeiterbevölferung einen Factor von überaus wich⸗ 
tiger Tragweite bildet. Mag man demnach aus jener 
focialreformatorifchen Perfpective heraus, die den factiſch 
gültigen Grundlagen unferer focialpolitifchen Zuftände — 
und ficherlich nicht ohne ethifche Berechtigung — den Krieg 


erklärt, dieſe Beftrebungen zur Berbeflerung der Tage des | 


Handwerker» und Arbeiterftandes befehden, dem nicht» 
politiichen Gefchäftspraftiler werben die deutfchen Arbeiter 
vereine fortdauernd einen der höchſten Beachtung würdigen 
Gegenftand bilden, deren Entwidelungen und Geftaltungen 
er aus dem Kreife feiner Berechnungen nicht ausjchließen 
darf. Je vielfacher und fanatifcher aber zugleich die Be» 
firebungen derjenigen focialen Agitatoren find, welche die 
Arbeitermaffen fiir die Laſſalle'ſchen und verwandte Bes 
wegungen zu gewinnen unb fie mit glänzenden Zukunfts⸗ 
hoffnungen von der freilich nüchternen und glanzlojen 
Arbeit für die bloße Erleichterung ihrer gegenwärtigen 
Bfonomifchen Tage abzulenken fuchen, deſto willlommener 
erfcheinen diejenigen Erläuterungen des Schulze'ſchen 
Syſtems und feiner praftifchen Organijationen, welche 
in gemeinverftändlicher Einfachheit deren Mittel, Wege 
und Endziele nad) den verfchiedenen Richtungen der orga- 
nifirten Selöfthülfe dem zunächſt betheiligten Publitum 
vor Angen ftellen. Diefe Auffafiung mag es rechtferti⸗ 
gen, wenn wie aus ber zahlreichen Literatur bierherge- 
böriger Schriften ein paar herausgreifen, welche unjers 
Erachtens diefem Zweck befonders entſprechen. Die eine 
davon, wenn auch ältern Datums, Tann man wol als 
einen praltiſchen Katehismus der Schulze» Deligfch’fchen 
Affociationsbeftrebungen bezeichnen. Es ift die im Auf- 
trag des ftändigen Ausfchuffes der deutjchen Arbeiter- 
vereine von Eduard Pfeiffer bearbeitete Darftellung: 
„Die Confumvereine, ihr Weſen und Wirken; nebft einer 
praftifchen Anleitung zu deren Gründung und Einrid)- 
tung” (Nr. 7). Sie geht von einer Einleitung aus, welche 
objectiv die nach den verfchiedenen Verhältniſſen und Tän- 
dern verfchiedenen Geftaltungen der genoflenfchaftlichen 
Beftrebungen ſchildert und dann vornehmlich die englischen 


Confumvereine ins Auge faßt. Aus einer hiſtoriſchen 
Ueberficht ihrer Oeftaltungen in Deutſchland, Frankreich 
und der Schweiz entwidelt fih dann ungezwungen die 
Erörterung ihres Zwecks und Nugens, fowie die Ver⸗ 
gleihung ihrer Organifationen. Der ausführlichen „prak⸗ 
tiſchen Anweifung zur Einrichtung der Confumvereine” 
find als praftifche Schemata die Statuten des Manchefter-, 
Delitzſch'ſchen und ftuttgarter Confumvereins angefügt. 

Trotz der, wie jedermann weiß, liberrafchenden Ause 
dehnung und Berbreitung, weldhe das Genoffenfchafts- 
weien nad) Schulze’fchen Principien im deutſchen Hand⸗ 
werler- und Ürbeiterpublilum binnen relativ kurzer Zeit 
gewonnen hat, fonnte fich dafjelbe in Defterreich, befon- 
ders auch in deffen deutfchen Landen, eines gleichen oder 
auch nur ähnlichen Erfolgs Teineswegs erfreuen. Es 
fommen bier freilich fo verfchiedenartige Lebensgeftaltungen 
und Bildungsftufen in Frage, daß felbft heute, da poli« 
tifche Hinderungen der genoffenfchaftlidhen Entwidelung 
fogar weniger als in Deutſchland entgegenftehen, ſchwer⸗ 
lich ſchon in nächſter Zeit eine Stärke und Lebhaftigkeit 
der aflociatorifchen Beſtrebungen zur Verbeſſerung ber 
öfonomifchen Lage der Arbeiterbevölferung, gleich der deut⸗ 
fhen, zu erwarten if. Um fo Iebhafter find aber bie 
Bemühungen patriotifcher Nationaldlonomen anzuerkennen, 
um fie aud) Bier in Gang zum bringen. Und im biefer 
Beziehung nehmen die Vorträge Mar Menger’s im 
wiener Yortbildungsverein fir Buchdruder, welde unter 
dem Zitel: „Die auf Selbfthlilfe geftütten Genoſſenſchaf⸗ 
ten im Handwerker⸗ und Arbeiterſtande“ vorliegen, eine 
höchſt beachtenswerte Stelle ein. Sie behandeln ihr 
Thema binfichtlich der allgemeinen Gliederung bes hifto- 
riſchen Theils ähnlich wie das Pfeiffer’fche Bud. Aber 
dem weitern Zwed ihrer Darftellung entjprechend, widmen 
fie den Borfhuß-, Konfum-, Nobftoffvereinen, fowie ben 
Bangenofienfchaften, Productivvereinen und Magazin- 
vereinen je befondere Erörterungen, um ſchließlich die 
Anwendbarkeit der befprochenen Genoflenfchaftsformen unter 
den fpeciellen Berhältniffen Defterreih8 noch befonders zu 
beleuchten. Allerdings bat es indeß etwas Beichämenbes 
für die Deutfchen Defterreihs, wenn Menger zum Schluß 
feiner Vorträge das Bekenntniß ablegt: „Die Führer der 
andern Volksſtämme in den deutfch-öfterreichifchen Ländern 
haben die Bedeutung des auf Selbfthülfe geſtützten Ge⸗ 
noſſenſchaftsweſens mit richtigem Blick erkannt. Mögen 
die Deutfchen in Oeſterreich in ihrer focialen Entwide- 
lung nicht zurückbleiben.“ 

Anrelio Buddeus. 


— — — — — 


Eine Ueberſehung der „Bhagavad- Gita“. 


Die Bhagavad-Gita. Ueberſetzt umd erläutert von F. Lorin- 
fer. Breslau, Aderholz. 1869. Ler.-8. 3 Thlr. 

Nachdem befonder® durch das Berbienft der beiden 
Schlegel die Aufmerkjamfeit auch des größern Publikums 
ſich auf die indifche Literatur zu richten begonnen hatte, 
mußte fi) das Berlangen geltend madjen, von wenigften® 
einem ber beiden großen indifchen Nationalepen, des „Ma—⸗ 
habharata“ und des „Ramajana“, eine ſichere Anſchauung 


zu gewinnen. Nach dieſer Seite machte ſich vor allen 
der unermüdliche Rückert durch die anziehende Ueber⸗ 


tragung der berühmten Nalas⸗Epiſode verdient; aber das 


war im wejentlihen auch alles, was vorläufig geleiftet 
wurde, bald trat das Drama in den Vordergrund und 
wurbe feitbem von den Veberfegern fat ausjchlieglich be» 
vorzugt. Der Grund liegt darin, daß die Dramen im 
Heinern Umfange ein gefchloffenes Ganzes bilden, während 





884 


bie and zähllofen Epifoden unregelmäßig zufammengefeg« 
ten Epen ſchon ihres Toloffalen Umfangs wegen (das 
„Mahabharata” zählt über 100000 Doppelverfe) an eine 
volftändige Webertragung faum denken Lafien, jedenfalls 
aber in derartiger Wiedergabe, die von Hippolyte Fauche *) 
verſucht worben tft, anf feinen bedeutenden Leferkreis rech⸗ 
nen dürfen. Schad bat indeß in feinem „Firduſi“ den 
richtigen Weg geaeigt: es müſſen ans den von zahlreichen 
und umflnglichen Interpolationen verunftälteten Gedichten 
die berborragendften Stellen ausgewählt und das Fehlende 
durd) eine kurze profaifche Weberficht ergänzt werben. So 
kann auch der 2ale einen Ueberblick über das Ganze ge 
winnen, ohne fi) durch eine ermüdende Maſſe unbeben- 
tender Gtüde bindurdarbeiten zu müflen. In biefer 
Weife gibt uns das vorliegende Werk einen ſchätzens⸗ 
werthen Beitrag zur Kenntniß des berühmten indifchen 
Epos. Die „Bhagavad-Gita” („Der Gefang des Ber- 
ehrungswürdigen”, d. h. bes Kriſchna) ift nämlich eine 
allerdings ziemlich fpät eingefchobene, aber in mannid)- 
facher Beziehung hervorragende Epiſode bes „großen 
Köonigsgedichts“, die uns von Lorinfer in verbienftuoller 
deutfcher Bearbeitung vorgeführt wird, und beren Stelle 
innerhalb des Epos ein voransgefchidter, freilich etwas 
trodener und befonders im Bergleid mit der ühnlichen 
eleganten Darftellung Schack's im „Firduſi“ ſtiliſtiſch 
ziemlich ſchwacher Auszug ans dem „Mahabharata” bezeich« 
net. Det Inhalt unfers Bruchſtücks ift nun folgender. 
Die beiben verwandten, aber unter fich entzweiten Königs⸗ 
gejchlechter der Pandaba und Kaurava ftchen fi zum 
wntjcheidenden Kampfe - gegenüber; da wird Ardſchuna, 
der erfte Held ber Pandava, von Zweifeln ergriffen, ob 
es nicht fiimdlich fei, gegen feine eigenen Verwandten zu 
fümpfen. Krifchna, der Hauptheld des Volks der Jadava 
und ber nahe Freund Ardſchuna's, fucht ihn durch ein 
pbilofophifch-theologifches Gefpräch ven der Unrichfigfeit 
feiner Anſichten zu überzengen; und indem er darin bie 
zur Darlegung bed innerftien Wejens der Gottheit fort- 
geht, erweift er fi dem Ardichuna felbft als Incarnation 


des höchſten Gottes Viſchnu. Die ganze Epifode zerfällt 


in drei Haupttheile umd achtzehn „Leſungen“, deren ges 
ringfter Theil erzählenden Inhalts iſt; hauptſfüchlich wird 
in den erften ſechs Leſungen abgehandelt, was die rechte 
Urt fei, gottjelig zu leben; der ftebente bis zwölfte Ab⸗ 
Schmitt befchäftigt ſich mit dem Weſen der Gottheit ſelbſt, 
und gipfelt in ber Offenbarung Kriſchna's als göttlicher 
Perſon; in den letzten ſechs Leſungen folgt dann eine im 
Gegenſatz zu den poetifcher gehaltenen frühern heilen 
mehr ſyſtematiſch ausgeführte Auseinanderſetzung über 
Gegenſtände und Art des Erfennens und Olaubens, welche 
der Veberfeger mit Recht als nicht unmittelbar zu dem 
Borangehenden gehörig, wenngleich wahrſcheinlich von dem⸗ 
felben Verfaſſer angefügt zu bezeichnen fcheint. 

Es würde zu weit führen, den philofopbifchen Inhalt 
diefer eigenthümlich fehönen Theodicee hier näher zu er⸗ 
örtern; nur auf einen Punkt wollen wir binmweifen, auf 
den auch der Bearbeiter das größte Gewicht legt. Dad 
myfifch-pantheiftiiche Syftem des philofophifchen Verfaſſers 
zeigt entfchieden das Beftreben, zwifchen den verfchiedenen 


-. 





Mahä-Bhäörata traduoit 


*) „Le r Ilimmolyle Fauche" (London, Williams 
und Forgate); die zum ſechrien ppolyie (eondon, Willie 


anbe vorgeſchritten. 


Eine Weberfegung der „Bhagavad-Gita“. 


Philoſophenſchulen zu vermitteln; daher fchließt er ſich 
war im wefentlichen an diejenigen an, welche vollfonmene 
Ueberwindung aller irbifchen Neigungen und gänzliches 
Aufgehen in Gott fordern, will aber anbererfeits durch- 
aus Feine Abkehr von den Pflichten ber verfchiedenen 
Lebensberufe zum Zwecke eines durchaus einfieblerifchen 
Büßerlebens, fondern verlangt nur, der Menſch jolle zu 
den Dingen biefer Welt ohne Begierde, aber aud) ohne 
Haß ſich verhalten. Klingt ſchon diefe Theorie in alle 
gemeinen fehr an das „haben als hätten wir nicht“ des 
Apoftels an, fo begegnen wir an ber Hand unfers Tun» 
digen Führer bald einer nicht geringen Anzahl fürmlicher 
Reminiſcenzen von ganz ſpeciell chriftlichnenteftamentlichen 
Lehren und felbft Ausdrüden, ans deren Geſammtein⸗ 
drude folgt, daß der Berfaffer unferer Epifode mit dem 
Neuen Zeftament bekannt gewefen fein muß. Wie dies 
möglich gewefen fei, weift der Ueberſetzer unter Hinzufli- 
gung einer Zufammenftellung aller einfchlägigen Stellen 
nah, zu welcher er als Theolog in bejonderm Maße 
befähigt war, und gegen welche jedenfall nur im einzel« 
nen Einwendungen ftatthaft fein können; damit gewinnt 
er zugleich ein chronologifches Datum für die Abfaſſungs⸗ 
zeit des Gedichts und fomit für den Abſchluß des 
„Mahabharata“ überhaupt, das ben indifchen Literarhiſtori⸗ 
fern willfommen fein wird; auch die Kicchengefchichte dürfte 
von biefem Nachweis einigen Gewinn ziehen. 

Aber nicht aus biefen Gründen allein ift die Arbeit 
Lorinfer’8 danfenswerth; vielmehr Liegt gerade dad Haupt» 
intereſſe derſelben für nicht fachgelehrte Kreife an einer 
andern Stelle. Nicht nur gibt das Gebicht trotz der im- 
imerhin nicht zu tief eingreifenden chriftlichen Reminifcenzen 
ein Bild von indifcher Weiſe zu denken und zu empfin- 
ben, das in uns bie höchſte Theilnahme zu erwecken ge⸗ 
eignet ift, fondern auch der poetifche Werth deflelben ift 
felbt vom Standpunkte abendländifhen Geſchmacks aus 
ein fehr bebeutenber. Keine Theodicee einer andern Li⸗ 
teratur wird erhabenere Verſe aufzumeifen haben, als biefe 
Anrede Ardſchuna's an „ben Erhabenen” (Krifchna), d. h. 
die geoffenbarte Gottheit: 

Mit Net, o Lodenhaupt, an beinem Ruhme erfreut bie 
Welt fi und iſt dir ergeben. 
Die Riefen fliehn erfhroden dur die Räume; es beten an 
dich aller Sel’gen Scharen. 
Weshalb verehrten fie dich nicht, Großgeifl’ger, der beſſer du 
als Brahına, erfier Schöpfer? _ 
Unendlicher Götterherr, Hans der Welten! Einfach bift du, 
was iſt nnd nicht ift, Höchſtes. 
Dun HM der Höcfte Bott, der Geiſt, der Alte; du diefes 
Weltalls allerhöchſtes Kleinod, 
Der Wiſſeude und was zu wiſſen, höchſtes Haus, bes Alls 
Gründer, Unenblichgeftalt’ger! 
Wind bift dir, Tod, Fener und Mond und Waffer, der Schöpfung 
err bift du, und der Urvater; 
Anbetung fei dir, taufenbmal Anbetung! Und wiederum 
Anbetung bir, Anbetung! 


Es ift befonderd anzuerkennen, daß der Ueberfeger 
die Zuthaten neuerer Verskunſt bei ber Wiedergabe dieſer 
eigenthümlichen Dichtung anzuwenden verſchmäht hat, durch 
welche der letzte Ueberſetzer eines Theils dieſer Epifode 
(Borberger im Programm der Realſchule zu Erfurt, 
1863) dieſelbe unfern Gewohnheiten näher zu bringen ver⸗ 
fucht Hat, Will man die Schütze orientalifcher Literatur 





Feuilleton. 535 


weitern Kreifen zugänglich machen, fo muß man auch bie 
äußere Form foviel als irgendmöglih dem Original an« 
zunähern fuchen, und daß dies felbft bei den merkwürdi⸗ 
gen Metren der Inder möglich ift, zeigt Lorinſer's Ueber- 
tragung, die fi in dem originalen Metrum der Sloken 
und des Triſchthubh ziemlich frei bewegt; e8 mag genügen, 
über diefe Metra auf das von dem Ueberfeger ©. 12 
Geſagte zu vermweifen. Auch im übrigen bat fich die 
Vebertragung möglichfte Treue zum Geſetz gemacht, und 
wir möchten zulegt gegen diefes Princip Einfpruch er- 
heben: nur muß die Durchführung befielben da eine 
Schranke finden, wo fie dem Genius der deutfchen Sprache 
wiberftreitet. Diefe Grenze hat der Berfafler nicht immer 
gewahrt; behält er zu Anfang bie für uns Außerft Läftige 
Menge bedeutuugslofer Flickwörter, von denen fich ber 
indiſche Epenftil nun einmal nicht freimadyen Tann, in 
ermiübender Weife bei (3.98. ©.7: „da fah der Prithafohn 
fie ftehn, bie Väter, die Großväter da, die Lehrer, Brü⸗ 
der, Oheim' al’, die Söhne, Enkel, Freunde da’ u. f. w.), 
fo Hat ihn auch die Syntar des Sanskrit oft zu fehr 
harten Conftructionen verleitet, wie Leſ. 1, SI. 43: „bie 
Kaftenmifhung fo bewirkt“, was franzöfifh, und ebend., 
Sl. 39: „daß uns von Sünd' fi zu enthalten iſt“, was 
lateiniſch, aber nicht deutfch if. Nicht geringere Härten 


finden fih 2, 42—44. 46. 64; 3, 3; 29. 35; 
5, 6 u. ſ. w. Nichtsdeſtoweniger ift die Uebertragung 
im ganzen als eine gelungene zu bezeichnen, deren volles 
Verſtändniß bei der Ausführlichkeit des äußerſt fleißig 
gearbeiteten Commentars feine Schwierigkeiten hat. Let- 


terer ift zugleich beftimmt, die Ueberfegung wiſſenſchaftlich 


zu rechtfertigen, und gibt, wie es feheint, das dazu nöthige 
Material in vielleicht etwas zu großer Vollſtändigkeit bei 
jeder controverfen Stelle; über die Berechtigung der Auf- 
faflung des Weberfegers in jedem einzelnen Fall müſſen 


wir und des Urtheils enthalten; body ‚macht feine Kritif 


und Eregefe, foweit wir ihr zu folgen vermögen, den 
Eindrud der Vorſicht und Gewiffenhaftigkeit. 

So darf denn die vorliegende Arbeit als eine fehr 
werthvolle Bereicherung ber leider immer noch zu ſpar⸗ 
ſamen Literatur bezeichnet werben, welche die Refultate 
fpecieller Studien für das Geiſtesleben der Nation zu 
verwerthen beſtimmt ift, deren befondere Eigenfchaft es ja 


| von jeher war, aus dem geiftigen Material felbft fcheinbar 


entlegener Eulturgebiete nicht immer nur das augenblid- 
lich durch teügerifchen Glanz Beftechende zu entnehmen 
und zue Erweiterung des eigenen Geſichtskreiſes zu ver- 
arbeiten. 

Auguſt Müller. 





Fenilleton. 


Volksthümliches aus dem Vogtlande. 

Trotz feiner Beſchränkung auf einen engen Umkreis, auf 
das Bogtländifhe, den öſtlichen Zweig bes fränkischen Dialekte, 
nimmt eine Meine Arbeit von Hermann Dunger, demſelben 
jungen Gelehrten, dem wir auch eine Ichrreihe Abhandlung 
Über die Trojanerjage verdanken, ein. allgemeines Intereffe in 
Aufprud. Im einem Bortrag, gehalten im Saale der Ge- 
ſellſchaft Erholung zu Plauen im Jannar 1870, der jet 
als Broſchüre vorliegt, fpridht Dunger „Ueber Dialelt und 
Bolfalied des Bogtlands“ (Planen, Neupert, 1870) und 
bietet ana bier einen kleinen Beitrag zur deutfhen Mund» 
ortforfhung und zur Literatur des deutſchen Volksliedes. 
Nur wenige Bemerfungen werden gegeben zur Grammatik, 
mobei fih Danger angelegen fein ‚läßt, ſprachliche Alter 
tbümlichkeiten hervorzuheben, welche gemeinhin als Sprach⸗ 
fehler angeiehen werden, als Berderbniffe der Schriftſprache. 
Dann fpricht er non dem Wortichate des Bogtländifchen und 
feinem Wortreichthum. Der zweite Theil des Bortrags hat» 
delt don ben vögtländifchen Bollsliedern, unter denen zwei 
Sruppen zu nuterſcheiden find. Die längern mehrftrophigen 


Lieder und Die biergeiligen. weile den Schnadahüpflu ent- | 


teen. Die längern Bolfslieder flimmen zum großen Theile 

berein mit den Liedern, welche auch in andern Theilen Deutſch⸗ 
lands gelungen werden, doc finden ſich auch manche Lieder, 
welche dem Bogtlande eigenthlimlich zu fein ſcheinen. Diefe 
Lieder find, wie auch anderwärts, in der Schriftſprache abge- 
faßt, nur bier und da klingen dialektijche Bormen durch. Ih⸗ 
rem Inhalte nach find es Überwiegend Liebeslieder, oft balla⸗ 
denähntich; auch Lieder der Geſelligkeit, Trinklieder u. ſ. w. 
ſind ziemlich häufig; geiſtliche Lieder, welche meiſt aus der ka⸗ 
tholiſchen Zeit ſtammen, kommen ſeltener vor; ein reiches Ka⸗ 
pitel machen ferner die Soldatenlieder aus; weniger vertreten iſt 
natürlich das Gebiet der hiſtoriſchen Volkslieder, von dieſen hat 


Dunger nur einige wenige aus der ältern Zeit aufgefunden. | 
Die Melodien diefer Bollslieder find nah Dunger's Urtheif | ft 


zum großen Theil ſehr anfprechend, oft wirklich ergreifend. Ei⸗ 
nige Proben von Liebertegten werben uns mitgetheilt. Dany gebt 


Gebhardi. 





ber Sammler zu den Schnadahupfln über, welche das Vogtland 
ebenfalls aufzuweiſen bat. Auch von dieſer Gattung werden 
Proben gegeben und zwar in ziemlich reicher Anzahl. 

Dunger beabfidtigt eine Sammlung vogtländifcher Volks⸗ 
tieder herauszugeben, und fpricht am Schluſſe feines zunächſt 
anregenden Vortrags aud die jpeeielle Vitte aus, ihn durch 
Beiträge zu unterſtützen. Gr möchte nicht gerne eher ab«- 
ihließen, als bis er wenigftens eine annähernde Bollftändigkeit 
erreicht habe. 





Bibliographie. 


ch, W., Der Naturwille in ſeinem Grundgeſetze und das Ge⸗ 


Brauba 
wiſſen nach Urſprung, Natur und Berlauf. Leicht — ndlih und kurz 


8. 10 Nor. 
De Elifabeth v., Die Hboptiv « Geigwifter. Roman. 

Wien, Kirſch. Br. 8.30 Nor. . 

& C., Der Oruppenführer im zerſtrenten Gefecht und die 


auseina ndergelegt. Neuwied, Henſer. Gr. 


ner, 
| Derttih eit8-Sefechte. Würzburg, Staudinger. 8. 7, Ror. 


8 
eonrob Iga Treifrau v. (geb. v. Schaezler), Berſchiebene Wene 
und ein Biel. ' Koman Dr ber Sage. 3 OA ae : 


r. 
Maria Therefia un ber ſchwarze Papfl. Roman. ıfte unb Ste Lief. 
Wien, Hartleden. Gr. 8. a4 . 
‚Mafaidel, F., Gimpelmeyer beim Konzil. Illuſtrirt von E. Juch. 
Wien, v. Waldheim. 8. 5 Rat. 
e, H., Dalmatien unb feine Spielwelt nebft Wanderungen durch 
leben. 8. Ir. 20 Ngr. 


| De 
bie ihwarzen Berge. Wien, Bartleb 
Oppe 


. Opp mann, A., Hundert Yahre. 17 0—- 1870, Zeit» und Res 
benäbilber aus brei Generationen, Ster Thl. Leipzig, Brodhaus, 8. 1 Thlr. 


r. 
alin, 8 Karl Gottlob Schönborn. Eine Lebens⸗Skizze. Breslau, 
tr. 8. 6 Agr 


gr. 
ng, M., Götter und Götzen. Roman. 4 Bde. Berlin, Haus⸗ 
freund»Erpebition. Gr. 8. 5 Thle. 10 Ngr. 

Shentel, D., Luther in Worms und in Wittenberg und bie Er- 
neuerung der Kirche in der Gegenwart, Ciberfeld, Friderichs. Er. 8, 
1 r. 


Schwetſchke, ©., Bismardias. Didactiſches Epos. é6te Aufl. 
Halle, Schwetigte. Gr. 16. 5 Nur. 
Shakeſpeare's W,, dramatifhe Werte, Ueberfett von F. Boden⸗ 
edt, F. veillgrath, D. qiinemeißer 2c. Nach der Zerirevifion 
und unter Mitwirkung von R. Delius, Mit Einleitungen und Aumer- 
tungen. Herausgegeben von F. Bodenftebt. 2aſtes Bochn.: Die beiden 
Beronefer. Ueberjegt von ©. Hermegd. Leipzig, Brochaus. 8. 5 Ngr. 


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bie and zahllofen Epifoden unregelmäßig zufammengejet« 
ten Epen ſchon ihres koloſſalen Umfangs wegen (das 
„Mahabharata“ zählt über 100000 Doppelverfe) an eine 
vollftändige Webertragung kaum denken laflen, jedenfalls 
aber in derartiger Wiedergabe, die von Hippolyte Fauche *) 
berfucht worden iſt, atıf feinen bedeutenden Leferkreis rech⸗ 
nen dürfen. Scad bat indeß in feinem „Firduſi“ dem 
richtigen Weg gezeigt: es müſſen aus den von zahlreichen 
und umflnglichen Interpolationen verunftalteten Gedichten 
die bervorragendften Stellen ausgewählt und das Fehlende 
durch eine kurze profaifche Weberficht ergänzt werben. So 
kann auch der Laie einen Weberblid über da8 Ganze ges 
winnen, ohne fi durch eine ermübende Maſſe unbeben- 
tender Stücke hindurcharbeiten zu müſſen. In diefer 
Weiſe gibt uns das vorliegende Werk einen ſchätzens⸗ 
werthen Beitrag zur Kenntniß des berühmten inbifchen 
Epos. Die „Bhagavad⸗Gita“ („Der Gefang des Ver⸗ 
ehrungswürdigen“, d. h. des Kriſchna) iſt nämlich eine 
allerdings ziemlich fp&t eingeſchobene, aber in mannich⸗ 
facher Beziehung hervorragende Epifobe des „großen 
Königsgedichtö“, die uns von Lorinſer im verbienftvoller 
deutfcher Bearbeitung vorgeführt wird, und deren Stelle 
innerhalb des Epos ein voransgefchidter, freilich etwas 
trodener und bejonders im Vergleich mit ber ühnlichen 
eleganten Darftelung Schad’s im „Firduſi“ ſtiliſtiſch 
ziemlich ſchwacher Auszug ans dem „Mahabharata” bezeich⸗ 
net. Der Inhalt unfers Bruchſtücks ift nun folgender. 
Die beiben vermaridten, aber unter fich entzweiten Könige 
geſchlechter der Pandaba und Kaurava ftehen fi zum 
entfcheibenden Kampfe gegenüber; ba wird Arbichuna, 
ber erite Held der Pandava, von Zweifeln ergriffen, ob 
es nicht ftindlich fei, gegen feine eigenen Verwandten zu 
fümpfen. Krifchna, der Hauptheld des Voll! der Jadava 
und der nahe Freund Ardſchuna's, fucht ihn durd ein 
philofophifch-theologifches Geſpräch von der Unrichtigfeit 
feinee Anfiten zu überzeugen; und indem er darin bis 
zur Dorlegung des innerften Wefens der Gottheit fort- 
geht, erweiſt er fich dem Ardſchuna ſelbſt als Incarnation 


des höchften Gottes Viſchnu. Die ganze Epifode zerfällt 


in drei Haupttheile und achtzehn „Leſungen“, beren ges 
ringfter Theil erzählenden Inhalts ift; hauptſüchlich wird 
in den erften ſechs Leſungen abgehandelt, was die rechte 
Art fei, gottfelig zu Teben; der fiebente bi zwölfte Ab⸗ 
fchmitt befchäftigt fich mit dem Weſen der Gottheit ſelbſt, 
und gipfelt in der Offenbarung Kriſchna's als göttlicher 
Perſon; in den leiten ſechs Leſungen folgt dann eine im 
Gegenſatz zu ben poetifher gehaltenen frühern Theilen 
mehr ſyſtematiſch ausgeführte Auseinanderfegung über 
Gegenftände und Art des Erfennens und Ölaubens, welche 
der Ueberfeger mit Recht als nicht unmittelbar zu dem 
Borangehenden gehörig, wenngleich wahrſcheinlich von dem⸗ 
jelben Verfaſſer angefügt zu bezeichnen fcheint. 

Es würde zu weit führen, den philofophifchen Inhalt 
diefer eigenthümlich ſchönen Theodiee bier näher zn er⸗ 
Örtern; nur auf einen Punkt wollen wir hinweiſen, auf 
den auch der Bearbeiter das größte Gewicht legt. Das 
myfifch-pantheiftiiche Syſtem des philofophifchen Verfaſſers 
zeigt entfchieden das Beftreben, zwifchen den verſchiedenen 


*) ‚Le Mahä-Bhärata traduit par Ilipnolyle Fauche” (London, Williams 
und Sorgate); BIS zum fehäten Bande vorgeigritten, l 





Cine Ueberfegung der „Bhagavad-Gita“. 


Philoſophenſchulen zu vermitteln; daher fchließt er ſich 
war im wefentlichen an biejenigen an, welche vollkommene 
Ueberwindung aller irdiſchen Neigungen und gänzliches 
Aufgehen in Gott fordern, will aber andererfeits durch⸗ 
aus Feine Abkehr von den Pflichten der verfchiedenen 
Lebensberufe zum Zwecke eines durchaus einfieblerifchen 
Büßerlebens, fondern verlangt nur, der Menſch folle zu 
ben Dingen diefer Welt ohne Begierde, aber and) ohne 
Haß ſich verhalten. Klingt ſchon diefe Theorie im all» 
gemeinen fehr an das „haben als Hütten wir nicht” bes 
Apoſtels an, fo begegnen wir an der Hand unfers kun⸗ 
digen Führers bald einer nicht geringen Anzahl fürmlicher 
Reminifcenzen von ganz ſpeciell chriftlicheneuteftamentlichen 
Lehren und felbft Ausdrüden, aus deren Gefammtein- 
brude folgt, daß der Berfaffer unferer Epifode mit dem 
Neuen Zeftament befannt geweſen fein muß. Wie dies 
möglich gewefen fei, weift der Ueberfeger unter Hinzufli- 
gung einer Zufammenftellung aller einfchlägigen Stellen 
nad, zu welcher er als Xheolog in befonderm Maße 
befähigt war, und gegen welche jedenfall® nur im einzels 
nen Einwendungen ftatthaft fein können; damit gewinnt 
er zugleich ein chronologiſches Datum für die Abfafjungs- 
zeit des Gebichts und fomit für den Abſchluß des 
„Mababharata” überhaupt, das den indischen Titerarhiftori- 
fern willfommen fein wird; auch die Kircheugefchichte dürfte 
von biefem Nachweis einigen Gewinn ziehen. 

Aber nicht aus diefen Gründen allein ift bie Arbeit 
Lorinfer’3 dankenswerth; vielmehr Tiegt gerade das Haupt- 
intereſſe derſelben für nicht fachgelehrte Kreife an einer 
andern Stelle. Nicht nur gibt das Gedicht trotz der im⸗ 
merhin nicht zu tief eingreifenden chriftlichen Reminifcenzen 
ein Bild von indifcher Weife zu denken unb zu empfin- 
ben, das in uns die höchſte Theilnahme zu erwecken ge- 
eignet ift, fondern auch der poetifche Werth deflelben ift 
ſelbſt vom Standpunkte abendländifchen Geſchmacks aus 
ein ehr bedeutender. Seine Theodicee einer andern Li⸗ 
teratur wird erhabenere Berfe aufzumeifen haben, als dieſe 
Anrede Ardſchuna's an „den Erhabenen‘ (Krifchna), d. h. 
die geoffenbarte Gottheit: 

Mit Recht, o Lodenhaupt, an deinem Ruhme erfreut die 
Welt fih und ift dir ergeben. 
Die Rieſen fliehn erfchroden burch bie Räume; es beten an 
dich aller Sel’gen Scharen. 
Weshalb verehrten fie dich nicht, Großgeiſt'ger, der beffer du 
als Brahma, erfter Echöpfer? 
Unendlicher Sötterherr, Hans der Welten! Einfach bift du, 
was iſt und nit ift, Höchſtes. 
Dan biſt der höchſte Bott, der Geift, der Alte; du diefe® 
Weltalls allerhöchſtes Kleinod, 
Der Wiſſende und mas zu wiſſen, höchſtes Haus, des Alls 
Gründer, Unendlichgeſtalt'ger! 
Wind biſt du, Tod, Feuer und Mond und Waſſer, der Schöpfung 
Herr biſt du, und der Urvater; 
Anbetung fei dir, taufendmal Anbetung! Und wiederum 
Anbetung dir, Anbetung! 


Es iſt beſonders anzuerkennen, daß ber Ueberſetzer 
die Zuthaten neuerer Verskunſt bei ber Wiedergabe dieſer 
eigenthümlichen Dichtung anzuwenden verſchmäht hat, durch 
welche der letzte Ueberſetzer eines Theils diefer Epifobe 
(Borberger im Programm der Realſchule zu Erfurt, 
1863) diefelbe unfern Gewohnheiten näher zu bringen ver 
fucht Hat. WIN man die Schäge orientalifcher Literatur 











a 


weitern reifen zugänglich machen, fo muß man auch hie 
äußere Form foviel al8 irgendmöglid dem Original an« 
zunähern ſuchen, und daß dies felbft bei den merkwürdi⸗ 
gen Metren der Inder möglich ift, zeigt Lorinſer's Ueber« 
tragung, die fi) in dem originalen Metrum der Slofen 
und des Trifchtäubh ziemlich frei bewegt; es mag genügen, 
über diefe Metra auf da8 von dem Weberjeger ©. 12 
Sefagte zu verweifen. Auch im übrigen bat fi die 
Uebertragung möglichite Treue zum Gefeg gemacht, und 
wir möchten zulegt gegen dieſes Princip Einſpruch er⸗ 
heben: nur muß die Durchführung deffelben da eine 
Schranfe finden, wo fie dem Genius der beutfchen Spradje 
wibderftreitet. Diefe Grenze Hat der Berfaffer nicht immer 
gewahrt; behält er zu Anfang die für uns üußerft läſtige 
Menge bebeutungslofer Wlidwörter, von denen fich der 
indifhe Epenftil nun einmal nit freimachen kann, in 
ermüdender Weife bei (3.8. ©.7: „ba ſah der Prithafohn 
fie fiehn, die Väter, die Großväter da, die Lehrer, Brü⸗ 
der, Oheim’ al’, die Söhne, Enkel, Freunde da’ u. f. w.), 
fo hat ihn auch die Syntar des Sanskrit oft zu fehr 
barten Conftructionen verleitet, wie Xef. 1, SI. 43: „bie 
Kaſtenmiſchung fo bewirkt“, was franzöfifch, und ebend., 
Sl. 39: „daß uns von Sind’ ſich zu enthalten iſt“, was 
lateiniſch, aber nicht deutfch iſt. Nicht geringere Härten 


Feuilleton. 333 


finden fih 2, 42—44. 46. 64; 3, 3; 29. 35; 
5, 6 u. ſ. w. Nichtsdeſtoweniger ift die Uebertragung 
im ganzen als eine gelungene zu bezeichnen, deren volles 
Verſtändniß bei der Ausführlichkeit des äußerſt fleißig 
gearbeiteten Commentars keine Schwierigkeiten hat. Let» 
terer iſt zugleich beſtimmt, die Ueberſetzung wiſſenſchaftlich 
zu rechtfertigen, und gibt, wie es ſcheint, das dazu nöthige 
Material in vielleicht etwas zu großer Vollſtändigkeit bei 
jeder controverſen Stelle; über die Berechtigung der Auf⸗ 
faſſung des Ueberſetzers in jedem einzelnen Fall müſſen 
wir ung bes Urtheils enthalten; doch macht feine Kritik 
und Eregeje, foweit wir ihr zu folgen vermögen, ben 
Eindrud der Vorſicht und Gewiffenhaftigkeit. 

So barf benn die vorliegende Arbeit als eine fehr 
werthoolle Bereicherung der leider immer noch zu ſpar⸗ 
famen Literatur bezeichnet werden, welche die Refultate 
fpecieller Studien für das Geiftesleben der Nation zu 
verwerthen beftimmt ift, deren befondere Eigenfchaft es ja 
bon jeher war, aus dem geiftigen Material felbft jcheinbar 
entlegener Culturgebiete nicht immer nur das augenblid- 
Ih duch trügerifchen Glanz Beftechende zu entnehmen 
und zur Erweiterung bes eigenen Geſichtskreiſes zu ver- 
arbeiten. 

Auguft Müller. 





Feuilleton 


Volksthlümliches aus dem Bogtlande. 

Trotz feiner Beſchränukung anf einen engen Umkreis, auf 
das Bogtländifche, den üfllihen Zweig bes fränkiſchen Dialekte, 
nimmt eine Heine Arbeit von Hermann Dunger, demjelben 
jungen Gelehrten, dem wir aud eine lehrreiche Abhandlung 
ber die Trojanerfage verdanken, ein. allgerheines Intereffe in 
Anſpruch. Im einem Bortrag, gehalten im Saale der Ge⸗ 
ſellſchaft Erholung zu Plauen im Januar 1870, der jetzt 
als Broſchüre vorliegt, ſpricht Dunger „Weber Dialekt und 
Boltalied des Bogtlands‘ (Plauen, Neupert, 1870) und 
bietet uns bier einen kleinen Beitrag zur dentichen Mund⸗ 
ortforfhung und zur Literatur des deutſchen Bolksliedes. 
Nur wenige Bemerkungen werden gegeben zur Grammatil, 
wobei fih Dunger angelegen fein läßt, ſprachliche Alter- 
thümlichkeiten hervorzuheben, welde gemeinhin als Sprach⸗ 


fehler angelehen werden, als Berderbniffe der Schriftipradhe. | 


Dann fpricht er non dem Wortſchatze des Bogtländifchen und 
feinem Wortreichthum. Der zweite Theil des Bortrags han» 
delt von den vögtländifchen Bollöliedern, unter denen zwei 
Gruppen zu unterfcheiden find. Die längern mehrſtrophigen 
Lieder und die vierzeiligen, melde den Schnadehlipfin ent 
rechen. Die längern Bollslieder flimmen zum großen Theile 
berein mit den Liedern, welche aud) in andern Teilen Deutſch⸗ 
Lande gefungen werben, doc finden ſich auch mande Lieber, 
welche dem Vogtlande eigenthümlich zu fein ſcheinen. Diefe 
Lieder find, wie auch anderwärts, in der Schriftiprache abge- 
faßt, nur bier und da klingen dialeltiſche Formen duch. Ih⸗ 
rem Inhalte nad; find e8 Überwiegend Liebesliede 
Senähnlich; auch Lieder der Gefelligkeit, Trinklieder u. ſ. w. 
find ziemlich Häufig; geiftliche Lieder, welche meiſt aus der Ta- 
tholiſchen Zeit ftammen, fommen feltener vor, ein reiches Kar 
pitel machen ferner die Soldatenlieder auß; weniger vertreten ifl 
natürlich das Gebiet der hiftorifchen Volkslieder, von diefen hat 


Dunger nur einige wenige aus der ältern Zeit aufgefunden. | 


Die Melodien diefer Bollslieder find nad Dunger's Urtheil 
zum großen Theil ſehr anfprechend, oft wirklich ergreifend. Ei⸗ 
nige Proben vom Lieberterten werden uns mitgetheilt. Dann gebt 


eölieber, oft balla- | 





der Sammler zu den Schuabahlipfin liber, welche das Vogtlaud 
ebenfalls aufzumeifen bat. Auch von diefer Gattung werben 
Proben gegeben und zwar in ziemlich reiher Anzahl. 

Dunger beabfitigt eine Sammlung vogtländiicher Volls⸗ 
lieber herauszugeben, und fpricht am Schluſſe feines zunächſt 
anregeuden Vortrags aud die fpeeielle Bitte ans, ihn durch 
Beiträge zu unterfliken. Gr möchte nicht gerne eher ab⸗ 
ſchließen, als bis er wenigſtens eine annähernde Bolftändigfeit 
erreicht habe. 


Bibliographie. 

Braubach, W., Der Naturwille in feinen Grund ejebe unb bag Ge⸗ 
wiflen nad Uiprang, Natur und Verlauf. Leicht verk ndlih umb kurz 
auseinandergelegt. Nenwied, Heuſer. Gr. 8. 10 Dar. 

@rottbuß, Elifabeth v., Die Aboptiv »s Geihwifter. Roman. 
ie Kitt . Br. an 835 aih im zerſtrenten Gefecht und d 

ner, : Der Oruppenführer im euten Gefecht und bie 
Dertlihleits. Gefechte. WW bung, ringen. . TYy Nor. 

Leonrod, Diga Freiran v. (geb. v. Sgaglen, Berichiedene Wege 

Dr ein Bier, Roman au der Sehenicaft. de. bin, Bachem. 8. 
L x. 

Binder, C., Die Declaration der Deutſchen in Defterreih. Leipzig, 
D. Wigand. 8 5 Nor, 

Maria Therefia und ber ſchwarze Papſt. Roman. iſte unb Ste Lief. 
Wien, Hartleden. Gr. 8, A 4 Ngr. 

Mafaidel, F., Simpelmeyer beim Konzil. Muſtrirt von E. Juch. 
Wien, v. Waldheim. 8. 5 Rat. 

‚No, H., Dalmatien und feine Snielweit nebft Wanderungen tur 
die [hwarzen Berge. Wien, Bartleben. 8, Thle. 20 Net. 
ındert Jahre. 1770— 1570, Zeit» und Les 


j apermann, D: A., Hund 
bengbilber aus brei Generationen. dter Thl. Leipzig, Brodhaus, 8. 1 Thlr. 


r. 
alm, Karl Gottlob Schönborn. Eine Lebens⸗Skizze. Breslau, 
r. 8. 6N 


Gebhardi. 6 Nur. 
ng, M., Götter und Göken. Roman. 4 Bde. Berlin, Hands 
freund»&rpebition. Gr. 8, 5 Täler. 10 Ner. . . 
Shentel, D., Luther in Worms unb in Wittenberg und die Er⸗ 
nenerung der Kirche in der Gegenwart. Elberfeld, Friderichs. Gr. 8. 


egu etſchke, ©., Bismarckias. Didactiihes Epos. é6te Aufl. 
Halle, Schwetigte. Gr. 16. 5 Nur. 

Shakeſpeéare's W., bramatifche Werte, Ueberſetzt von iz Boden» 
ſtedt, 9. Greitl rath, DO. Gildemeifter zc. Rad der Ze 
und unter D 


336 


Unze 


Anzeigen, ü 


igen. 


— — 


Yerlag von *. X. Brockhaus in Keipzig. 


Soeben erfdien: 


Kleine Scul- und Baus-Bibel,. 


Geſchichten und erbauliche Leſeſtücke aus den heiligen Schriften ber 
Israeliten. 


Von Dr. Jakob Auerbach. 
Zweite, verbeſſerte Auflage. 
I. Abtheilung. Bibliſche Geſchichte. 
II. Abtheilung. Leſeſtücke aus deu Propheten und Hagiographen. 


8. Jede Abtheilung geheftet 20 Ngr. Gebunden (in einem 
Bande) 1 Thlr. 20 Ngr. 


Bon diefem als vorzüglich bekannten Lehr. und Lejebudhe, 
das ebenfo wol zum praltifhen Unterrichtsmittel in Schulen 
dient wie zum Borlefen in Familienkreiſe geeignet ift, liegen 
jetst beide abtheilungen in der vom Berfaffer gründlich durch⸗ 
gejehenen zweiten Auflage vor. Trotz ber fehr wejentlichen 
Bermehrung des Umfangs wurde der billige Preis beibehalten, 
damit das Buh um fo leichter in Schulen Eingang finde, 
Für das Haus und die Familie fowie zu Geſchenken empfiehlt 
fid) vorzugsmeife die gebundene Ausgabe. 





Neu erfchienen im Verlage von Heinrich Matthes in Leipjig: 


Morik von Dranien - Haffan. 


Hiftorifches Drama in 5 Acten 
von 


Carl W. Bah. 
8. 1 Thfr. 





Sm Berlage von Hermann Costenoble in Iena ift er- 
ſchienen: 


Das heilige Land. 


Bon 
_ William Sepworth Dixon, 
Verfaſſer von „Neu⸗Amerika“ und „Seeleubräute”. 
Autoriſirte Ausgabe für Beutfchland. 
Rah der vierten Auflage 
aus dem Englischen 
von 
I. € A. Martin, 

Cuſtos ver Großherzogl. Geſammt-Univerfitaͤt zu Jena. 
Mit 15 Illuſtrationen nad Originalzeichnungen und Pho- 
tographien. 

Gr. 8. leg. broſch. Preis 2 Thlr. 20 Sgr. 


Diron, ſchon durch fein „ Neu» Amerila‘ und feine 
„Seelenbräuie“ in weiten Kreifen befannt, widmet feine Reis 
fen hauptſächlich dem Studium des religiöfen Sektenweſens. 
Hier läßt er uns eineu Blid auf Sprien werfen, „die Duelle‘, 
wie er fagt, „aus der faft alle Religionsfyfleme der 
Welt entfprungen find". 


Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erfdien: 


Die deutfhe Rechtſchreibung 
in der Schule | 
und deren Stellung zur Schreibung der Zukunft. 
Mit einem Berzeihnifle zweifelhafter Wörter, 
Bon Rarl Julius Schröer. 
8 Geh. 20 Nor. 

Borliegende Schrift wurde infolge eines Auftrags bes 
öfterreihifhen Minifleriums für Cultus und Unterricht verfaßt 
und Bat den Zweck, in die deutfche Orthographie der Volks⸗ 
und Mittelfchulen Ordnung uud Einklang zu bringen. Der 
Berfafjer gebt dabei von dem Grundfag aus, daß die Schreibuug, 
die in der Schule zu lehren ift, dem herrſchenden Schreib» 
gebrauch ſich anfchliegen müffe. Sein Bud empfiehlt ſich fo- 
wol zum Gebraud beim Unterricht, als für jedermann zum 
Nachſchlagen in zweifelhaften Fällen. . 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 





Beiträge zur Charakterologie. 
Mit befonderer Berüdfichtigung pädagogifcher Fragen. 


Bon Dr. Inlins Bahnſen. 
Zwei Bände. 8 Geh. A Thlr. 


Zum erſten mal wird in biefem nicht blos theoretifch, 
jondern auch praftifch wichtigen Werke die Erforfhung des 
menfchlichen Charakters als eine befondere Wiſſenſchaft be- 
Handelt. Der Berfaffer Inlipft dabei an die von Schopen- 
bauer ausgeſprochenen Grundgedanken iiber den Charakter an 
und gibt überall zu feinen Betrachtungen die pädagogiſche Nutz⸗ 


anwendung, weshalb das Werk die Theilnahme der Pädagogen, 


der Sriminaliften und Seelenärzte, der Ethiler und Philofophen, 
fowie jedes Gebilbsten in hohem Grade in Aufprud nimmt. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Die deuffhen Republikaner 
unter der franzöſiſchen Republik. 


Mit Benugung der Aufzeichnungen ſeines Baters Michel Venedey 
dargeftellt von 
Jakob Benedey. 
8 Geh. 2 Thlr. 10 Nor. 

Das vorliegende Memoirenwerk füllt eine Lüde in der 
Geſchichtſchreibung aus, indem es fiber eine bisher dunkle Par⸗ 
tie in den polittfchen Gefchiden des deutfchen Volks helleres 
und authentiiches Licht verbreitet. Die harten Kämpfe der deut» 
chen Bevdlferungen von Strasburg, Mainz, Koblenz, Bonn, 
Köln, Trier n. |. w. zu Ende des vorigen Sahrhunderts bile 
den den Gegenftand der Darftellung, welche theils auf eigener 
Forſchung des Berfaffers, theil® auf zeitgenöffiichen Erinnerun⸗ 
gen fußt und, mit ben Borboten der Hevolntion in den rheini- 
— Kurſtaaten beginnend, bis zum 18. Brumaire ſich er⸗ 

reckt. 


Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Druck und Verlag von F. A, Brockhaus in Leipzig. 








Blätter 


für 


literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


a Ar, 22, Br 


26. Mai 1870. 





Inhalt: rudwig Uhland's gelehrte Werke. 


Geſchluß.) — 


Bon Reinbold Berhein. — Geſammelte Effays. 
ie Kaiferlich Leopoldiniſche Aladernie. — Seuilleton. (Otto Ludwig's geſammeite Werke.) — Bibliographie. — 


Bon Rudolf Gottſchal. 


Anzeigen. 





Zudwig Uhland’s gelehrte Werke. 


Uhland's Schriften zur Gedichte der Dichtung und Sage. 
Dritter unb_ vierter Band. Stuttgart, Cotta. 1866-69. 
Gr. 8. 5 Thlr. 26 Nor. 

Nun endlich ift der lang erfehnte vierte Band ber 
„Schriften“ Uhland's erſchienen.*) Mit ihm findet die bes 
rühmte Liederfammlung ihren Abſchluß, foweit dies über- 
haupt dur) Uhland's üterariſche Hinterlaffenfchaft ge⸗ 
ſchehen Tonnte. Zugleich vervollftändigt er die im vorher- 
gehenden dritten Band gegebene „Abhandlung“ zu den 
Bollsliebern, deren Anzeige und Beſprechung wir deshalb 
bisjegt verzögert und aufgefpart hatten. 

Diefer dritte Band der „Schriften“ führt aud) typo⸗ 
graphifch nod einen beſondern Titel; ex bildet den zwei⸗ 
ten Band der „Alten hoch- und nieberbeutfchen Volislie⸗ 
der“, deren erfter in zwei Abtheilungen in den Jahren 
1844 und 1845 erfchienen iſt. Uhland verhieß damals, 
als er feine Liederfammlung herausgab, ſowol auf dem 
Titel als and; in feinem Vorwort eine Abhandlung über 
die deutfchen Volkslieder und fodann Anmerkungen, „welde 
zur Rritit, Erläuterung und Gedichte einzelner Lieder 
noch dienlich erfcheinen“; aber eine Verbindlichkeit zur 
wirklichen Lieferung dieſer vervollftändigenden Beigaben 
Iehnte er ausdrüdiih ab. Uhland gelangte befanntlich 
nicht zur Ausführung feines Vorhabens, nur einzelne 
Theile aus feiner Abhandlung ließ er in Pfeiffer's „Ger- 
mania” veröffentlichen. Glüdfichermeife Hat ſich noch mehr 
in feinem Nachlaß vorgefunden, Zwar bilden dieſe Stüde 
Teider nur einen Theil, etwa nur die Hälfte des urfprüng« 
lich beabſichtigten Ganzen, doch ift diefer Theil nicht nur 
äußerlich vollftändig abgefhloffen, fondern auch innerlich 
vollendet. 

Die Herausgabe übernahm Franz Pfeiffer; e8 war 
eine feiner legten Arbeiten. Sein Antheil bejchränft ſich, 
außer der Beifügung der inzwiſchen zugewachſenen Lite⸗ 


ri Pefel. we bie früher erſchienenen Bände Nr. 7, 14 und, 2 a. 
1870. 2. 


ratur und der Eitate nad; neuern Ausgaben, weſentlich 
auf Ordnung des durch die vielen Nachträge und Zufäge 
mandmal etwas aus den Fugen gerathenen Manuſcripts. 
Mit vollem Recht hat Pfeiffer die fehr ausgedehnten No— 
ten hinter den Tert geftellt. 

In feinem Vorwort erzäplt und der Herausgeber, 
wie früh fon in Uhland der Gedanke an eine Arbeit 
über das Volkslied geleimt habe, wie zu Ende der zwan- 
iger Jahre nach Abſchluß feiner Arbeiten über die beutfche 
Helbenfage der Plan zu einer Sammlung und hiſtori- 
fen Betrachtung der deutſchen Vollslieder gereift fei, 
wie Uhland dann nach dem Aufhören feiner leider nur 
fo kurzen afabemifchen und bald darauf auch feiner ftän« 
diſchen Wirkſamkeit feine freie Muße benugte, um da und 
dort feine Sammlungen zu vervollftändigen. Die erfte 
diefer Liederfahrten führte ihm im Sommer 1835 der 
Rhein hinab nach Köln; drei Jahre fpäter (1838) eine 
andere die Donau entlang nad) Wien. „Bon dieſer Zeit 
an galten faft alle feine jährlichen Ausflüge und Reifen 
der Erreichung diefed mit feltener Beharrlichfeit verfolgten 
Ziels, und man darf jagen, daß es von den Alpen bis 
zuc Norbfee kaum einen, hierfür irgendwelche Ausbente 
verfprechenden Ort gibt, den Uhland nicht auf Tängere 
oder kürzere Zeit befucht Hätte.“ Wo er felbft nicht aus 
den Quellen ſchöpfen fonnte, nahm er die Mitwirkung 
von Freunden und Fachgenoſſen in Anfprud. 

Das in folder Weife zufammengebrachte Material ift 
in hohem Maße umfangreich), beinahe vollftändig. Daß 
es aber mit der Sammlung nicht allein getan fei, fon» 
dern daß das Gefammelte ſoweit möglich ergänzt und aufe 
gehellt werden müſſe, das hat Uhland empfunden und hat 
diefen Gedanken zumächft auch auf einem einzelnen Blatt, 
auf weldem er den Plan einer Arbeit über die Volts- 
lieder kurz fligziete, niedergefchrieben. Nach biefer Skizze 
war Uhland’8 Aufgabe’ ungemein groß angelegt; er betont 
die Herbeiziefung des Volisgeſangs verwandter Stämme, 

43 





338 


das Eingehen auf das Wejen und den Grund aller Volks⸗ 
poefie. Danach würde feine „Abhandlung“, wenn ihm 
ihre Vollendung vergünnt geweſen wäre, nicht blos eine 
Gefchichte des deutſchen Volksliedes, ſondern gewiller- 
maßen eine vergleichende Geſchichte des indoenropätjchen 
Bollsgefangs geworden fein. An diefer groß und ſelbſt 
zu weit angelegten Aufgabe ſcheiterte Uhland; aber wir 
dürfen uns glüdlich preifen, daß bie vicr erſten Abjchnitte, 
bei deren Abfaffung er ſich engere Grenzen ftedte, voll: 
ftändig ausgearbeitet vorliegen. Ein fünfter ift nur be= 
gonnen. 

Auf jener Skizze ift Gliederung und Inhalt der Abhand- 
lung folgendermaßen angegeben: „Sommerfpiele = My. 
thus; Fabellieder — Thierfage; Wett- und Wunſchlieder 
— Sängerkümpfe; Liebeslieder — Minnefang;, Tage— 
lieder — Minnefang; Gefchichtslieder — Heldenfage, poli- 
tifche Lieder, Reimchroniken; Scherzlieder = Schwänke; 
Geiftliche Lieder = Evangelien, Legenden (Spruchgedichte).“ 

Bon den ausgearbeiteten Kapiteln der Abhandlung Liegen 
mandmal mehrere Niederfchriften vor, die Einleitung aber, 
welche da8 Ganze eröffnen follte, fcheint Uhland nad) den 
dazu genommenen zahlreichen Anläufen zu ſchließen, die 
meifte Mühe und Ueberlegung gekoftet zu haben. Erſt 
nach Erſcheinen der Liederfammlung brachte er fie zu 
Stande. Sie ift nun aber auch in der That nad In: 
halt und Form ein Meines Meiſterwerk. 

Diefe „Einleitung haben wir zunächft ins Auge zu 
faffen. Bei aller Kürze und Gedrungenheit ift fie von 
sehr belehrendem Inhalt und reich an anregenden Gedanken. 

In unſerm Mittelalter befteht vor und neben dem 
Hof» und Kunftliede das Volkslied. Durch den Funft- 
mäßigen Betrieb ber Lyrik eingeengt und in Schatten 
geftellt, erſtarkt das Volkslied wieder, als die höfifche 
Dichtung ſich ansgelebt. In Menge jedod) kommen Volks⸗ 
Lieder aller Art erft mit dem Eintritt des 16. Jahrhun⸗ 
derts zum Borfchein, nicht blos in Handſchriften, fon 
bern auch durch die neue Erfindung des Druds, welde 
alten und neuen Liedern den weiteften und raſcheſten Um- 
{auf verfhaffte. Befördert wurde das Bolfölied durch die 
Luft am Geſang und durch die Pflege, welche e8 bei den 

efchulten Muſikern fand. Diefer lebhafte Betrieb fegt 
ch bis in das 17. Jahrhundert fort, wo die Liederdich- 
tung dann andere Bahnen einjchlägt. 

Wenn die Sammlung der Bollölieder auch zumeift 
auf Druden und Handfchriften des 16. Jahrhunderts bes 
xubt, fo gehören doch viele Stüde ihrer Entſtehung nad) 
einer weit frühern Zeit an. Solche ältere Erzeugniſſe 
find faft niemals in ihrer urjprünglichen Geftalt liberlie- 
fert. Wie manches fi) auch aus der frühern Periode in 
die jüngere hinübergerettet haben mag, fo ift doch ber 
Berluft vieler Lieder der ältern und zugleich dichteriſch 
belebtern Gattung zu beftagen. „Erſcheint hiernad) die 
Sammlung“ — und hier ſpricht Uhland ziemlich denfel- 
ben Gedanken aus wie in jener Skizze — „als ſolche 
Lüdenhaft und bruchſtückartig, jo ift es um fo möthiger, 
daß die Forfchung erläuternd und ergänzend ſich bei» 

efelle.” on 

or Es gilt, die Lieder mit der Geſchichte der deutſchen 
Boefie ültefter und mittlerer Zeit in Beziehung zu fegen. 
Zweitens wendet fi) die Forſchung nad) den Volksdich⸗ 


Ludwig Uhland's gelehrte Werke. 


tungen des Auslandes, zunächſt des ſtammverwandten 
Anslandes; aber auch die fremdern Sprach⸗ und Lieder⸗ 
ftämme, die vomanijchen, die flawifchen und der neu- 
griechifche, felbft noch die zurüdgedrängten celtifhen und 
finnifchen, laden zu mannichfacher Aufnüpfung ein. Die 
mittellateinifchen Dichtungen volfsthüimlichen Inhalts dür⸗ 
fen nicht als fremde gelten. Der britte Weg der Erläus 
terung ſenkt fich hinab in das innere Leben und Wefen 
des Volks, das die Lieder gefungen hat. Dadurch macht 
ſich zugleich bemerklich, daß aud) umgekehrt das Volt ohne 
Beiziehung feiner Poeſie nur unvollftändig erkannt werde. 
Wie in der Einleitung zu jeinen literarhiftorifchen Vor⸗ 
lefungen ſpricht es aud) hier Uhland aus, daß nur im 
Lichte der Poeſie eine Zeit Mar werben könne, deren Gei⸗ 
ftesrihtung weſentlich eine poetiſche geweſen ſei. Und 
mit folgenden ſchönen Worten beſchließt er feine Einlei⸗ 
tung: 

Das dürftige, einförmige Dafein wird ein völlig anderes, 
wenn dem friihen Sinn die ganze Natur fich befreundet, wenn 
jeder geringfügige Befit fabelhaft erglänzt, wenn das prunflofe 
Feft von innerer Luft gehoben ift: ein armes Leben und ein 
reiches Herz. Erzählt die Geſchichte meift von bfutigen Käm⸗ 
pfen, fprechen die Geſetze von roher Gemwaltthat, fo läßt das 
Lied, die Sage, das Hausmärden im die ftillen Ziefen des 
mildern Gemlüths bliden. Beſonders aber wird im alten Göt⸗ 


‚ terreih und im weiten Gebiet des Aberglaubens fich manches 


vernunftgemäßer ausnehmen, wenn es vom Standpunkt ber 
Poeſie beleuchtet wird. Die Herrfchaft des dumpffien Irrwahns 
hebt eben da au, wo bie poetiſchen Vorſtellungen im Wandel 
ber Zeiten zum Gefpenfteripuf verbunfelt oder zu unverſtandenen 
Formeln erſtarrt find. Es ift des Berjuchs werth, diefen Baum 
zu löfen und dem gebundenen Geift, wo er e8 fordern kann, 
in feiner Freiheit herzuftellen. 

Der erfte Abfchnitt der „Abhandlung zeigt und das 
poeftereiche Gebiet von „Sommer und Winter. Ent⸗ 
fprechend der Ungabe auf dem Skizzenblatt Hatte Uhland 
diefe Betrachtung anfänglich „Mythiſche Nachflänge” über⸗ 
fchreiben wollen, was er dann in „Sommerfpiele” um⸗ 
änderte, bis ſchließlich der jet angenommene, jedenfalls 
pafjendfte Titel von ihm gewählt wurde. Diefer Abfchnitt 
it hier in den „Schriften bis auf einige Seiten am 
Schluß aus Pfeiffer’s „Germania” (V, 257 fg.) wiederholt. 

Den großen Gegenfag im Naturlchen, der durch alle 
Liederklaſſen fpielt, der Streit zwiſchen Sommer unb 
Winter, jenen beiden Zrägern ber alten Jahrestheilung, 
will Uhland hier an die Spige treten laffen, zunädft in 
feinem allegoriſchen Ausdrud, den auch die hriftlicye Zeit 
offen fich aneignen durfte, dann allmählich zurücgeleitet 
an die Grenze feiner verhülltern, heidniſch⸗mythiſchen 
Geftaltungen. 

Am Sonntag Lätare war noch in neuerer Zeit, haupt⸗ 
fächlih auf beiden Seiten de8 Ober⸗ und Mittelrhein, 
ein ländliche Kampffpiel üblich zwifchen zwei Winter und 
Sommer vorftellenden und entfprechend coftiimirten Per- 
fonen. Ein ſolches Gefprächslied finden wir in Uhland's 
Bolfsliederfammlung (Nr. 8) aus dem 16. Yahrhunbert 
mitgetheilt. „Sommer und Winter treten an dem fröh- 
lichen Tage, da «man den Sommer gewinnen mag», in 
einem Kreiſe von Zuhörern einander entgegen zu raſchem 
MWortwechfel: wer des andern Herr oder Knecht fei. ‘Der 
Sommer zieht «aus Defterreih», dem fonnigen Oſten, 
daher, und Heißt den Winter fi) aus dem Lande zu heben, 





| 
} 
| 
| 


Diefer fommt aus den Gebirg und bringt mit ſich den 
fühlen Wind, er droht mit einem frifhen Schnee und 
will ſich nicht verjagen laſſen.“ Beide ftreiten dann mit- 
einander über ihre Vorzüge, ſchließlich aber behält der 
Sommer recht, der Winter erflärt ſich für überwunden; 
Darauf endet der Sommer den Streit und wünfcht allen 
eine gute Nacht. 

Diefes Singgefpräd Tannte man noch in Schwaben 
in einer Umbdichtung Anfang des 17. Jahrhunderts, aud) 
in der Schweiz war e8 neuerlich noch gangbar. Und wie 
in die Gegenwart hinab, fo läßt es fich in hohes Alter 
Binauf verfolgen. Bekannt ift Hans Sachs' „Gefpräd) 
zwifchen dem Sommer und Winter“, doch weicht es etwas 
vom Bollsgebrauch ab. Auch in einem Liede meilter- 
fängerifcher Gattung ans dem 15. Yahrhundert brechen 
troß der ungelenken Schulform dichteriſche und volfe- 
mäßige Klänge von jenem Zwieſpalt hervor. Aus dem 
14. Jahrhundert betreffen dieſen Widerftreit ein wahr⸗ 
ſcheinlich nieberrheinifches Lieb und ein nieberländifches 
Schauſpiel. Altfranzöfifh, aber auf engliſchem Boden, 
begegnet das Streitgefpräd) um den Anfang bes 14. Jahr⸗ 
hunderts. Sogar eine fanctgallenfche Urkunde von 858, 
in welcher Wintar und Sumar ald Namen zweier Brüder 
zujanmenftehen, fcheint die Belanntfchaft mit dem Som- 
mer- und Winterfpiel zu verrathen. Deutlicher Tpricht 
ein lateinifches Gedicht in Herametern aus dem 8. oder 
9. Sahrhundert, welches unverkennbar bie „Eklogen“ Vir⸗ 
gil's zum gelehrten Vorbild Hat, und diefem liegen dann 
wieder Theokrit'ſche Idyllen zu Grunde. Hier wie in Alt 
england ift der Knkuk Träger des Frühlings, in Deutſch⸗ 
land ift es gewöhnlich die Nachtigall. Der allegorifche 
Wettſtreit der Jahreszeiten belebt fich noch weiter durd) 
Gegenfüge aus dem Pflanzenreihe: in England zwifchen 
Hulſt und Epheu, in Deutschland zwiſchen Buchsbaum 
und Felber. 

In fämmtlichen bisher aufgezählten Spielen und Kampf⸗ 
geſprächen find Sommer und Winter Tediglich allegorifche 
Berfonen, fie erfchemen mit ihren nadten begrifflichen 
Namen oder doch nur in leichter Verhüllung. Diejelbe 
Geſprüchsform brauchen vollsmäßige Lieder fir mehrerlei 
Segenfäge, z. B. des Waſſers und des Weines, der Faſten 
und Nichtfaften, geiftliche Dichtungen für den des Leibes 
und der Seele. In ber Mythenwelt des norbifchen Heiden- 
thums find Winter und Sommer nicht minder allegorifc 
beichaffen, als in den deutſchen Weitftreiten. 

Auch begrüßt wird der Sommer, empfangen, „ges 


wonnen“. Am ftattlichften geſchieht die Einführung bes 


Sommers in der „Maienfahrt”, dem Mairitt, und zwar 
hauptfählich in Skandinavien und in Norddeutſchland. 
Außer folden Zengniffen theilt Uhland noch weitere Bei- 
Spiele der Maienfahrt mit. Beſonders war hier der ge= 
ſchichtlich denkwürdige Ausritt des deutfchen Königs Als 
breit am 1. Mai 1308 zu erwähnen. Ein zweiter hi⸗ 
ftorifcher Mairitt gefchah von den Bürgern zu Soeſt im 
Jahre 1446 während ihrer Fehde mit dem köluer Erz- 
bifchof. Hierher gehört auch der „Walperzug” (Zug am 
Balpurgistage) der Bürger von Erfurt. Zum Schluß 
gebenft Uhland der Götterfage des heidnifchen Nordens, 
welche den großen Gegenfag der Jahreszeiten als einen 


Luüdwig Uhland's gelehrte Werke. 339 


Sieg des jommerkfräftigen Thor, des Donnergottes, über 
die Winterriefen faßte, und diefer Grundzug geftaltet ſich 
zu einer Reihe durchgedichteter Einzelmythen, auf welche 
zurüdgegangen werden muß, um denjelben müthifchen 
Zufammenftoß noch im beutfchen Volksgeſange heraus⸗ 
ftellen zu können. 

Der folgende Abfchnitt ift der Thierfage im Vollslied 
gewidmet und betitelt fi: „Fabellieder.“ Während das 
Thierepos die Thiere auf dem feften Boden ausgeführter 
Handlung und firenger Charakteriftit darftellt, Hat das 
Volkslied mehr noch bie urfprüngliche Gefühlsftiimmung 
bewahrt und, mo es biefelbe weiter entwidelt, feine Inf» 
tigern Wege theils in das Märchenhafte, theils in bie 
finnbildfiche Vergeiftigung genommen. 

Zuerft befpricht Uhland verfchiebene Walbgeifter, den 
Waldmann, die Wolfmutter, ben Thiermann und die 
Thiermutter, welche bald mehr als Leiter und Begünſti⸗ 
ger der Jagd, bald mehr als Pfleger und Beſchirmer 
des gejagten Wildes hervortreten. Der Jäger ift zugleich 
der Freund und Bewunderer der Thiere. Im Alterthum 
ahnte man eine hinter diefen Geſchöpfen ftehende Höhere 
Gewalt, ein aus ihren Augen blidendes dämoniſches We- 
fen. Wie diefe Stimmungen und Gegenfäße in ber Volks⸗ 
poefie mannichfach ſich ansfprechen und ineinanderfpielen, 
will Uhland an denjenigen Waldthieren, mit denen bie 
Lieder fich vornehmlich befaflen, der Reihe nach darthun. 

So betrachtet er den Büren, den Eber, den Wolf, 
den Hafen und ben Schwan. Das Klagelied des ge⸗ 
bratenen Schwans führt auf eine befondere Liedergattung, 
die Thierflage, welche mit der Anficht zufammtenhängt, 
daß den Thieren Antheil an den Gütern der Erbe und 
in der Noth der Schu der Menſchen zukomme. 

Im Gegenſatz zu Liedern und Sagen von der Noth 
der Thiere ftchen die heitern Lieder von ben Thierhoch⸗ 
zeiten. Uber wie zum SHochzeitzuge, fo werden fie auch 
zu Leichenbegängnifien eingereiht. 

Lieblinge des Liedes find die Vögel, befonders die 
Heinen gefangfundigen. Mancherlei ſchwankartige Lieder 
befingen den Zaunfönig, ebenjo find das Rothkehlchen und 
der Kukuk Gegenftand des BVollsgefange. Vor allen an- 
dern Befchwingten aber ift in unfern Vollsliedern, " wie 
ſchon im Minnefang, die tönereiche Nachtigall beliebt und 
hochgehalten. 

Die folgende Betrachtung über diefe poefiereihfte Sän- 
gerin des Waldes und des Hains kannten wir fchon aus 
Pfeiffer’ 8 Germania’ (III, 129 fg.) unter ber Veber- 
ſchrift: „Rath der Nachtigall”. Konnte man gerabe bie 
fer Arbeit unter allen kleinern Abhandlungen Uhland's, 
auch die zur ſchwäbiſchen Sagenkunde und die zur deut⸗ 
fchen Heldenſage mit inbegriffen, einen befonders hohen 
Rang megen ihres poetifchen Dufts zugeftehen, fo leuchtet 
eben dieſe Betrachtung inmitten des ganzen Buchs nicht 
minder hervor. 

In echt dichterifcher Weife fehildert und preift uns 
Upland gleich zu Anfang das Weſen und den Werth ber 
Sängerin. „Sie wird bald innig und zutraulich bie Liebe, 
viel liebe Nachtigall geheigen, bald erhält fle den Ehren⸗ 
namen Frau Nachtigall und wird mit Ihr angeredet. Ihre 

43 * 


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Stimme dringt ja am tiefften ins Gemüth; je ſchmächti⸗ 
ger und misfarbiger, um fo feelenhafter erfcheint die Sän⸗ 
gerin, deren mächtige Töne die zarte Bruſt zu fprengen 
drohen; aus der Dämmerung des Morgens oder in der 
ſtillen Nacht erfchallt ihr Gefang zauberhaft und ahnungs- 
voll.’ 

Bon den Mahnungen, dem Kath der Nachtigall han⸗ 
delt eine Reihe finniger, weithin anfnüpfender Lieder, welche 
ſich meift in lebendiger Wechjelrede bewegen. Solche Lie- 
der finden wir unter dem gemeinfamen Titel „Nachtigall 
in Uhland’8 Sammlung mitgetheilt. In einem ertheilt 
bie Nachtigall eine heilfame Warnung oder einen tröften- 
ben Rath. Anderwärts, wie in einer Sage von St. 
Bernhard hHervortritt, wirft der Nachtigallengefang ver» 
führeriſch und Teidenfchaftlih aufregend. Eigenthümlich 
erſcheint die Macht des Nachtigallengeſangs in der fran⸗ 
zöſiſchen Poeſie, wo er ſelbſt den Heldengeiſt weckt und 
zur Rache reizt. Auch die nordiſche Poeſie kennt ähnliche 
kriegeriſche Mahnrufe der Vögel, doch geſchieht dies hier 
nicht von der wohlſingenden Nachtigall, ſondern von der 
heiſern Krähe. 

Der morgenländiſchen Fabel von den drei Lehren der 
Nachtigall kamen Anklänge des heimiſchen Vollsgeſangs 
entgegen. In jener waltet der Lehrzweck vor, die Volks⸗ 
lieder find lebhafter empfunden. 

Beiderlei Arten des bedeutfamen Vogelfange, der aufs 
reizende und der lehrhafte, werden als „Rath“ bezeichnet. 

Dem Eindrud der Vogelſtimme gefellt fich derjenige 
bes Flugs, und auch ihn haben vielerlei Lieder, ernft oder 
fpielend, zur Darftellung gebracht. Die Poeſie überträgt 
den Vögeln den Dienft der Botjchaften. Als Liebesbotin 
wird befonders die Nachtigall verwenbet. Auch der Rabe 
wird zur Kundſchaft und zur Brautwerbung beigezogen. 
Die Vögel find ferner Zeugen heimlicher Liebe, fie ver- 
fünden das künftige Schidfal prophetifh. Die Sprade 
der Thiere, namentlich der Vögel, verfiehen, war dem 
Altertfum verfchiedener Bölfer ein Ausdruck für den tie- 
fern Einblid in daB Wefen der Dinge, wodurd die Gabe 
der Weiflagung bedingt war. 

Am Schluß gedenkt Uhland des Aberglaubene vom 
Bilwiz. Mit diefen Namen wird ein geſpenſtiſches We- 
fen bezeichnet, da8 aus einem Berge nad den Dienfchen 
fchießt, die Haare verwirrt und verfliht. Die Mahnun- 
gen und Rathſchläge dieſes Weſens Fommen denen der 
Bogelftimme nahe. 

Dom dritten Abfchnitt, betitelt „Wett- und Wunfch- 
bieder“, haben wir bisjetst nichts kennen gelernt, obwol 
fi) auch einzelne Partien in ihm finden, welche ſich zu 
einer gejonderten Mittheilung geeignet hätten. 

Stammte bie vorher betrachtete Fiedergattung aus dem 
einfamen Walde, jo ift diefe im gefelligen Verkehr ent- 
fprungen und erwachfen. „ragen und Antworten, Auf 
gaben und Löſungen, Begrüßungen und Empfünge, Wer- 
bungen und Ausflüchte, gute und fchlimme Wünſche, 
Scherzreden und Wettfpiele mannichfaltiger Art bilden 
den Inhalt biefer Erzengniſſe. Weitgereifte Pilger, Wan⸗ 
bergefellen, Fahrende Sänger und Spielleute, abentenernde 
Freier führen das Wort; die Schwelle des gaftlichen 
Daufed, die Zunftherberge, die Tanzlaube find der Schau- 
p ag," 


Ludwig Uhland's gelehrte Werte. 


Die „Rüthfellieder” find ein altes Erbgut germani⸗ 
her Stämme. Befondern Werth bat das fogenamnte 
ZTraugmundslieb, welchen fich der Reimfprud vom Mei- 
fter Irregang anreiht, fowie die dänifche Ballade vom 
jungen Bonved. Wie in biefen Dichtungen Frage und 
Antwort wechfeln, fo auch in den Handwerksgrüßen, 
Weibfprühen und Empfahungen der Sänger. Die hei- 
terfte Blüte des Ruthſelweſens entfaltet fich in den fo- 
genannten Sranzliedern. 

Manche der von Uhland beſprochenen Käthielaufge- 
ben nähern fich ſchon merflich einer weitern Gattung des 
Witzſpiels, den Liedern „von unmöglichen Dingen‘, die 
fih dann in förmliche Lügenlieder zufpigen. Hier be 
gegnen uns bie beitern Lieder vom Schlaraffenland, weldje 
Schon in das Märchenhafte hinüberſpielen. 

Märchenhaften Dingen gefellen fi) die „Wunfchlieder”, 
Dem Wunſche, der aus bewegter Seele, zur rechten Zeit 
und in feierlihen Worten, andgefprochen war, traute das 
germanifche Altertum eine bedeutende Kraft zu, mochte 
derjelbe nad) oben ala Gebet, nad) außen als Beſchwö⸗ 
rung, Gruß, Segen oder Fluch gerichtet fein. Die fol« 
gende Betrachtung Uhland's, welche ſich an viele kleine 
und unjcheinbare, fonft nur nebenbei behandelte Denkmäler 
anlehnt, ift im hohem Grabe beachtenswerth. Sie zeigt 
und den Aberglauben in feiner poefievollften Innigkeit. 
Erft fpäter erftarren die Wunfchlieder zu todten Formeln. 
Eine wohltäuende Erſcheinung inmitten dieſer Heinen Lite⸗ 
ratur find die volfsmäßigen Liebesgrüße. Die Verwün⸗ 
ſchungen Hungen auf einer Seite mit dem Zanberweſen 
zufammen, auf der andern ſtehen fie mit alten Rechts 
formeln in Beziehung. 

Biele Sagen nnd Lieder uehmen zum Ziele des 
Wunfches die Berwandlung in böfem und gutem Sinne, 
Reich an Berwanblungen find namentlich die ſchwediſch⸗ 
dänischen Märchenlieber. Die Wünfche nad) Verwand⸗ 
lung werden aber aud) frühzeitig in die Poefte eingeführt, 
wo fie nur zu dichterifchem Bilde dienen. 

„So lang es nicht eine greife Jugend gibt, wirb 
ſtets das Liebeslied die Blume der Lyrik fein.” Mit die 
fen fhönen Worten eröffnet Uhland den letzten Abſchnitt 
über die „Liebeslieder“. Ziehen fich die Liebeslieder durch 
alle Theile des deutfchen Vollsgefangs, fo haben fie and 
ihr eigened Gebiet, ihre befondere Heimatftätte, wo ſie 
wacjen und woher fie flammen, und anf diefem Boden 
will fie Uhland jest erfaflen und zur Beſchauung bringen. 
Wir. zweifeln nicht, daß gerade diefer Abfchnitt wegen 
feines allgemein anziehenden Gegenftandes fich beporzugter 
Theilnahme erfreuen wird. 

Die erften Spuren vollsmäßiger Tiebeslieder in deutfcher 
Sprache zeigen fich in Berbot und Berwerfung welt. 
lichen Geſangs. Die Anzeigen der ehemaligen volls⸗ 
mäßigen Liebeslieder find dürftig und fie ſetzen fich Lange 
nicht bi8 zu dem Zeitpunfte fort, von welchem an, um 
die Mitte des 12. Jahrhunderts, der ritterliche, der Kunft- 
dichtung angehörende Minnefang fich entfaltet. Die Grund- 
lage des Minnefangs aber ift eine volksmäßige. So künſtlich 
er ſich weiterhin ausbildete, fo blieb ihm dennoch ein Wahr- 
zeichen angeftammter Natürlichleit in der bald tiefer 
empfundenen, bald herfümmlich fortgelibten Berfegung ber 
innern Stimmungen mit den Wanblungen ber Jahreszeit, 





Ludwig Uhland's gelehrte Werte. 341 


In der Charakteriftit des Minnefangs nad} diefer Seite 
hin betrachtet Uhland vornehmlich die Höfifche Dorfpoefie 
Nithart’s. 

Nachdem der Höfifche Minnefang verffungen war, 
fanden die Liebeslieder von neuem Gehör und allgemeine 
Geltung. Sie find nicht ein Nachklang des abgeftorbenen 
Kunftgefangs, fonbern berüßren fi) weit mehr mit ben 
älteften volföthümlich friſchen Minneliedern. Diefen jün- 
gern Bollsfiebern ſchenlt Uhland eine fehr ausführliche 
Betrachtung, wobei auch der vorher nur flizziete Dinne- 
fang ſich in einzelnen Zügen verwandt und hülfreich er» 
zeigen fol. 

Liebeslieber und Tanzlieder berühren ſich mannichfach. 
Die Tanzluft der frühern Zeit Außert fi fogar in frank- 
hafter Weile, und fo gebenft Uhland auch des Johannis - 
tanzes und des Beitötanzes, weldem bie Tarantella ber 
Staliener entjpricht. . 

Nicht mur bie Luft des Sommers und ber Liebe 
tönt in dem Liedern wieder, auch die Trauer und das 
Leid, Liebeslieber, die beide Stimmungen vereinen und 
weldje gleihfam bie ganze jugendliche Liebe barftellen, 
find nicht minder verbreitet. Sie handeln gewöhnlich 
von „zwei Gefpielen“ (b. 5. Liebenden). Die folgende 
Betrachtung über dieſe Tiebergattung hat Uhland zur 
Mittheilung in Pfeiffer's „Germania“ (II, 218— 228) 
benugt. Hier im Rahmen einer allgemeinern und aud« 
gebehntern Betrachtung des Liebesliebes tritt fie noch 
farbenreicher hervor. . 

In der Vollsliederſammlung ift ein Stüd mit der 
Ueberfchrift „Zwei Gefpielen“ in hochdeutſcher und nieber- 
landiſcher Faffung mitgetheilt: 

Zwei liebende Mädchen gehen Über eine grünende Wieſe, 
die eine führt einen friſchen Bun, die andere trauert fehr; 
auf die frage jener fagt fte den Grund ihrer Trauer: fie ha⸗ 
ben beide einen Knaben lieb, und damit können fie fi nicht 
heilen; lann das nicht geſchehen, meint die erfte, fo wolle fie 
ihres Baters Gut und ihren Bruder dazu der Gefpielin_zu 
eigen geben, biefe Bat aber ihren Freund viel Lieber denn Sül⸗ 
ber oder rothe® Gold; der Knabe fleht unter einer Linde und 
Hört das Gefpräd, Hilf Ehrift vom Himmel! zu welder foll 
er ſich wenden? endet er fi zur Reichen, fo trauert die 
SHübjhe; die Reihe will er fahren laſſen und die Hübfche ber 
Halten; wenn die Reiche das Gut verzehrt, fo Hat die Liebe ein 
Ende: „Wir zwei find nod jung und flark, groß Gut wollen 
wir erwerben.“ 

Im heutigen BVoltsliedern finden ſich auch noch Spu- 
zen biefer Fieber. Im 16. Jahrhundert iſt es aud in 
Frankreich befannt, wenn aud) vom Deutſchen mannich- 
fach abweichend, doch in der Grundidee übereinſtimmend. 
Zwei Geſpielen find auch Gegenſtand ber altfrangöfif—hen 
Erzählung von vlorance und Biancheſlor, ebenſo im der 
zweiten Bearbeitung beffelben Stoffs, in dem Bruchſtüde 
von Eglatine und Hueline, ferner in einer mittellateinie 
ſchen Behandlung vom Anfang des 13. Jahrhunderts, 
in dem Sireite zwiſchen Phyllis und Flora. ü 

Mannichfach und weitgreifend ift im ber alten Lieber- 
Dichtung die Bedentjamfeit ber Blumen. Die Kranzlieber 
beſprach Uhland ſchon in einem der vorhergehenden Ab - 
ſchnitte. Am meiften befaſſen ſich bie Lieder mit dem 
Blumenlefen, Rofenbreden, Kranzwinden. 

Die Blumen als Symbole jugendlicher Anmuth und 
Zriſche, Liebe und Freude find fir ſich verſtändlich. Mit 





dem Anfang des 14. Jahrhunderts geftaltet ſich eine volle 
ftändige Farbenlehre, die jeder einzelnen Farbe fir die 
Angelegenheiten der Liebe einen beſondern Ginn beilegt 
und dieſen auch je auf die Färbung der Blumen über- 
trägt. Das 15. Zahrhundert entfernt ſich noch weiter von 
dem unmittelbaren finnlichen Eindrud, indem e8 ſprechende 
Blumennamen auf die Empfindungen und Gefchide der 
Liebenden anwendet. 

Die Kranz und Blume, fo wird aud der Garten 
als Bild der Liebe gebraucht. Erfrorene Blumen und 
das vermüftete Gürtlein dienen als Bilder des durch Tren- 
nung oder Untreue zerflörten Liebesglüds in den zahl- 
zeichen Abſchiedsliedern. 

Das nüchterne 16. Jahrhundert gab die Weife des 
alten Liebesliedes nicht auf. Im den Liederbüchern aus 
biefer Zeit finden ſich nicht bloße Ueberreſte echter älterer 
Vollslieder, fondern daneben auch eigene moderne Erzeng« 
niffe, welche bei aller Weitläufigfeit und Künſtlichkeil der 
Formen doch friſchen Sinn und muntere Beweglichkeit 
nicht entbehren. Uhland wählt am Schluſſe einige diefer 
anmuthigen Volkslieder aus, welche zum ‘heil von dem 
befannten Georg Orinewald, dem Sänger am Hofe des 
Herzogs Wilhelm von Mimchen, herrühren. Bon diefem 
berühmten Muſiler und Componiften, der auch ein guter 
Zechbruder war, erzühlt Georg Widram in feiner 
„Rollwagenbitcjlein“ genannten Schwanffammlung ein füft« 
liches Geſchichtchen. Diefer Grünewald nennt fih, öfters 
in feinen Gedichten, läßt aber auch öfters feinen Namen 
im Zerte felbft ducchbliden. „Aus bem grünen Walde 
ſtammt die alte, naturtreue Vollsdichtung, der legte 
Sänger dieſer Weife geht in dem grünen Wald wies 
der auf.” 

Diefer Bericht gibt nur eine ganz flächtige Andeutung 
von dem reichen, mannichfaltigen und poeflevollen Inhalt 
des Uhland'ſchen Werke. Die Gelehrfamfeit und Bele— 
fenheit Uhland's zeigt fi auch Hier im glänzendften Lichte. 
In bie Darftellung aber find nur die Ergebniffe verwebt, 
auf bie Quellen weifen uns bie beigefügten Anmerkungen, 
die mitunter fogar zu Meinen Ercurfen ausgedehnt find. 
Im noch höherm Grade als in feinen Borlelungm zeigt 
ſich hier Uhland’s beinahe inftinctive Begabung, das edit 
Voltsmäßige aus der fünftlerifch geftalteten oder aus ber 
formal vernadläfjigten Dichtung, aus ber fagenhaften 
Ueberlieferung und ſelbſt aus ben unſcheinbarſten Andeu- 
tungen herauszufinden und zu erfennen. Auch Hier 
müfjen wir feine Kraft und Schönheit der Darftellung 
bewundern. Jeder, ber ſich in biejes Werk mit Exnit 
und Hingabe vertieft, wird Franz Pfeiffer's, des verdien- 
ten, nun auch dafingegangenen Herausgebers Urtheile von 
ganzem Herzen beiftimmen, welches lautet: „Hier haben 
der Gelehrte und der Dichter fi verbunden, um ein 
Werk zu ſchaffen, das in unferer Literatur, und ich glaube 
nicht in unferer allein, feinesgleichen nicht Hat; denn noch 
niemals ift die Vollspoeſie mit folder Gründlichleit und 
Tiefe, mit fo viel Innigkeit und Wärme erfaßt und in 
fo bollendeter Form dargeftellt worden.” 


Beziehen ſich die im dritten Bande enthaltenen 
Anmerkungen nur auf die Abhandlung, fo knüpfen bie 
„Anmerkungen zu ben Bolteliedern" im vierten Bande, 








342 Ludwig Uhland's gelehrte Werke. 


zu welchem wir uns jetzt wenden, an die Stücke ber 
Liederſammlung an. Sie dienen, wie ed Uhland felbft 
bezeichnete, „zur Kritik, Erläuterung und Geſchichte ein⸗ 
zelmer Lieder. Aus diefen feinen Worten ergibt fi 
zugleich, daß keineswegs alle Lieder mit Anmerkungen 
bedacht werden follten, und fo enthält denn auch in der 
That das zum Abdrud gelangte Manufeript nur Er» 
läuterungen zu einem heile der 368 Nummern ber 
Sammlung. 

Die Herausgabe diefer Anmerkungen batte ebenfalls 
Franz Bfeiffer übernommen; mitten ans feiner Arbeit 
wurde er abgernfen; an feine Statt trat Wilhelm Lud⸗ 
wig Holland. 

Es verfteht fi, daß diefe Anmerkungen, welche bie 
Quellen der Lieder nachweifen, Lesarten bieten, ſchwierige 
Stellen beſprechen und erläutern, die verwandte Literatur 
zur Bergleichung heramziehen, nicht für bie größere Lefe- 
welt beftimmt find, fondeen für die Gelehrſamkeit, welcher 
fie Hoch willlommen fein müffen. Erſt jet ift Uhland's 
Hauptwerk, feine Liederfammlung, wahrhaft nutzbar ge- 
macht. Für die Hiftorifchen Volkslieder, die auch in 


diefer Sammlung berüdfichtigt find, bieten willlommene 


Ergänzungen die Schriften von Soltau und Hilden⸗ 
brand und namentlich das große Werk von R. von 
Liliencron. 

Dem urſprünglichen Plane nach ſollten in dieſem 
vierten Band diejenigen Theile aus der Abhandlung über 
den „Minneſang“ aufgenommen werden, welche nicht ſchon 
im dritten Bande daraus vorweggenommen ſind. Das 
iſt nun nicht geſchehen, ſondern der noch übrige Raum 
wurde benutzt zur Wiederholung der bedeutſamen gelehrten 
Erſtlingsſchrift Uhland's, der Abhandlung „Ueber das 
altfranzöſiſche Epos”. Sie erſchien bekanntlich in Fouqué's 
und Neumann's Zeitjchrift „Die Muſen“ im Jahre 1812. 
Denn auch eine Ingendarbeit, ift diefe Abhandlung doch 
von hohem und bleibendem wiſſenſchaftlichen Werthe, 
weshalb fie in den „Schriften unbedingt Aufnahme 
finden mußte. Ihr Wieberabdrud wird aud) deshalb fehr 
erwünfcht fein, weil Eremplare jener Zeitfchrift zu den 
größten Seltenheiten gehörten. Hat dod), wie uns ber 
Herandgeber Holland mittheilt, Uhland felbft das betreffende 
Heft lange Zeit. nicht mehr beſeſſen und die eigene Arbeit 
erft in ben funfziger Jahren wieder erworben. 

Uhland will in dieſer Abhandlung, die er befcheiden 
einen Berfuch nennt, ausführen und belegen, daß in der 
alten nordfranzöſiſchen Sprache ein Cyklus wahrhaft epi« 
fchee Gedichte ſich gebildet habe. Bon einer Erörterung 
über den Begriff des Epos, welcher dabei zu Grunde 
gelegt ift, fieht er ab, nnd will nur zeigen, „wie jene 
Gedichte durch Darftelung einer mächtigen Heldenzeit, 
durch Bildung eines umfaſſenden Kreiſes vaterländifcher 
Kunden, durch Objectivität und ruhige Entfaltung, ſowie 
durch angemeffene Haltung des Stils und Beftändigkeit 
der Bersweife, endlich durch Beſtimmung für den Gefang 
fi als ein Analogon ber Domerifchen Gefünge und des 
Nibelungenfreifes bewähren”. 

Sodann wird der Unterfchieb feitgeftellt, welcher zwi⸗ 
hen den Heldendichtungen, die ſich um Karl den Großen 
und feine Genofjenfchaft bewegen, und den Contes und 
Fabliaur, ben allegorifchen und abentenervollen Romanen 


und Erzählungen, waltet. „Die wefentlichfte Unterfcheidung 
wäre: epifcher Gefang und bloße Erzählung.‘ 

Dem eigentlichen Epos, der Heldendichtung, gilt die 
Betrachtung. Uhland disponirt ben Stoff dahin, daß er 
zuerft einen allgemeinen Umriß dieſes Fabelkreiſes nad) 
feinem Umfang und Zufammenhang geben, ſodann bie 
dazugehörigen einzelnen Gedichte namhaft machen will, welche 
ihm näher oder entfernter befannt find. Nachdem bierdurd) 
der Stoff gegeben ift, wird von den Versarten, dem Stil 
und dem muſikaliſchen Vortrag biefer Poeſien gehandelt 
werden. Hierauf follen Bemerkungen über die Gefchichte 
des Gedichtkreifes folgen und endlich feine Beziehungen zu 
einigen andern Tabelfreifen berührt werden. Die folgende 
Ausführung ift in Hohen Maße gebiegen, fie zeugt von 
bedeutender Umfiht und Beherrſchung des Materials, 
was um fo mehr Anerkennung - verdient, als damals 
keineswegs zahlreiche Ausgaben altfranzöfifcher Dichtungen 
zu bequemer Benugeng zur Hand gelegen, Uhland Hat 
vielmehr ebenjo wie er es fpüter bei feiner Schrift über 
Walther von ber Vogelweide that, feine Kenntniß zumeift 
aus unmittelbaren Duellenftudien, aus den Handſchriften 
geſchöpft. | 

Uhland, das kann getroft behauptet werben, war einer 
der Begründer der romanifchen Studien. Seitdem hat 
in Srankreich die Forſchung nicht geruht; aber auch in 
unferm Vaterlande erwachte fchon damald eine Lebendige 
Theilnahme file Sprache und Literatur der Romanen, ins⸗ 
befondere der Yranzofen, und biefes Studium verband fich 
mit dem der deutfchen Vorzeit. Ya, deutjche Gelehrte ha⸗ 
ben den Ruhm, in die Beichäftigung mit dieſem Wiffens- 
gebiete die ftrenge und wiſſenſchaftliche Methode getragen 
zu haben. 

Zahlreich find die Anmerkungen und literarifchen Nach 
weife, mitunter auch Berichtigungen, welche der auf dem 
Gebiete des Romanifchen hochverdiente Herausgeber der 
Abhandlung Uhland's mit auf den Weg geben Tonnte, 
wodurd fie einmal auf den Standpunkt der heutigen 
Wiſſenfchaft emporgehoben wird, andererfeit8 aber zugleich 
and) in ihrem Werthe noch beffer erfannt werben Tann; 
denn diefe Zugaben führen ja auch näher aus und be= 
gründen zulegt, was Uhland zuerft nachgewieſen hat. 

Auf die Abhandlung ließ Uhland in einem folgenden 
Hefte der „Mufen” „Proben aus altfranzöfifchen Gedichten” 
folgen, nämlich aus dem Helbengediht von Viane, woraus 
er wieder einen Theil, aber mit mannichfachen Aenderun«- 
gen, unter feine Gedichte eimreihte unter der Weberfchrift: 
„Roland und Alda.“ Auch biefe „Proben“ find natürlich 
im vierten Bande ber „Schriften” wiederholt. Uhland hat in 
feinem Exemplar der Zeitfehrift diefe Uebertragung mit 
handſchriftlichen Henderungen verjehen, die nun an ber 
Stelle der frühern, in bie Anmerkungen verwiefenen 
Lesarten in den Zert aufgenommen wurden. 

Vielen wird die Abhandlung Uhland's über das alt= 
franzöftjche Epos in diefer Geſtalt zum erftenmal vor Au» 
gen fommen. Wenn fie aud) die Wärme entbehrt, welche 
die folgende Schrift über Walther auszeichnet, fo iſt 
fie doch bei aller Gelehrſamkeit vorzitglid gut geſchrie⸗ 
ben. Beſonders feinfinnig ſcheinen mir die Bemerkungen 
über die poetiſche Form und den Stil jener alten Dich 
tungen zu fein. 


Gejammelte Ejfays. 343 


Der Einfluß diefer altfranzöfifhen Studien auf Uh— 
land's Dichtkunft war ein bedeutender ſowol hinſichtlich 
der Wahl der Stoffe ald aud) der angewandten Formen. 
Zugleich aber biente ihm jene Beihäftigung mit dem 


Dichtergeifte eines urſprünglich verwandten Volks wejente 
lich zur tiefern Crkenntniß unferer heimifchen Poeſie. 
Reinhold Bechſtein. 


Gefammelte Effays. 
Geſchluß ans Nr. 21.) 


1. Studien und Kritifen zur Philofophie und Aeſthetik. Bon 
Robert Zimmermann, Zwei Bände. Wien, Braumliler. 
1870. Gr. 8. 4 Zhlr. 

2. Englifce Üharatterbilder. Bon Eriedrih Althaus. 
Bu Bände. Berlin, von Deder. 1869. Gr. 8. 
5 Thlr. 

an Taufenden Webſtuhl der Zeit." Bon Feodor Wehl. 
ei Bünde, Leipzig, Matthes. 1869. 8. 2 Thlr. 
terarifcher Nachlaß von Friedrih von Raumer. Mit 
dem photographirten Bildniß des Verfaſſers. Zwei Bände. 

Berlin, Dlittler und Sohn. Gr. 8. 2 Thle. 

5. Lichte und Tonmellen. Ein Bud) der Frauen und Dichter. 
Aus dem Racjlaß der Fofepha von Hoffinger. Heraus 
gegeben und mit einer Lebens · und Sharatielligge verjehen 
duch Johann von Hoffinger Wien, Prandel. 
1370. 8. 1 Thlr. 

6. Kritit der Schiller», Shalfpeare» und Goethe ſchen Frauen⸗ 

haraltere von Julie Freymanı. Gießen, Roth. 1869. 

©r. 16. 1 Thir. 

Borlefjungen von Bogumil Golk. Zwei Bände. Berlin, 

Sanfe. 1869. Gr. 16. 2 Thir. 

Der „Literariſche Nachlaß“ von Friedrich von 

Raumer (Nr. 4) it glüdlicherweife nicht der Nachlaß 

eines Berflorbenen. Friedrich von Raumer hat am 

14. Mai 1870 feinen neunzigjährigen Geburtötag gefeiert; 

feine Freunde und Berehrer brachten ihm eine folenne 

Gratulation dar und überreichten feine Büfte, welche von 

dem Bildhauer Drake meifterdaft in Marmor ausgeführt 

worden if, Wir freuen uns an dem Glüd eines fo hohen 

Alters, das einem namhaften deutſchen Gelehrten be» 

Tchieden it, und begrüßen daher in feinem „Nachlaß“ 

eine Sammlung von Auffägen, Briefen und Notizen, 

welche und das vielfeitige und reiche Leben eines noch 
immer fortarbeitenden vegen Geiftes in erfreulicher Weife 
darlegt; denn in einer Zeit der „Specialitäten“, die man 
in vieler Hinfiht als geiftige Sfolichaft, als pennfyloa- 
niſches Zellenfpftem der Wiffenſchaft betrachten Tann, find 

Gelehrte von umfaffender Bildung doppelt hoch zu achten. 

Was in unferer claffifchen Zeit die Regel war, muß jegt 

als Ausnahme betrachtet werden. 

Der Hiftorifer der Hohenflaufen hat in feinem „Liter 
rariſchen Nachlaß“ nicht nur geſchichtliche Auffäge ger 
fammelt, ſondern auch äſthetiſche und literariſche, Reiſe- 
ffiggen, Randglofien zu naturwiſſenſchaftlichen Studien 
und Gebanfenfpäne über die verſchiedenſten Bereiche des 
geiftigen Lebens. Ueberall zeigt ſich der Selbftdener, der 
fi) aud) auf ferner liegenden Gebieten bie .geiftige Autos 
nomie wahrt, fid) anregen läßt, ohne auf die Worte des 
Meifters zu ſchwören, und alle zerftreuten Strahlen feiner 
Studien im Brennpunkte einer Weltanfhauung ſauimelt, 
deren charalteriſtiſches Kennzeichen eine ſchöne und milde 
Humanität iſt. 

Nach den autobiographiſchen Mittheilungen Raumer’s, 
die mandjes Interefjante enthalten, finden wir zumächft 








S 


Briefe Alerander von Humboldt's an Naumer, welcher 
in der Vorrede die Bemerkung macht, daß das in diefen 
Briefen über ihm ausgeſprochene allzu große Lob nicht 
mit dem übereinftimmt, was ſich gleichzeitig in Varnhä- 
gen's Nachlaß vorfindet. Das Lob in dem Briefen ift 
allerdings ein fehr glänzendes. So fagt Humboldt in 
Betreff von Raumer's Schrift über Stalien: 

Schon Habe id; den Genuß gehabt, einen großen Theil 

Ihres „Stalien’, mein hodverehrter Freund und College, geleſen 
m Haben. Das if ein großes, lebeudiges Bild der Nation 
und der jehigen Zufände unter partifularen Herrfchereinfläffen, 
Darftellung des eruften Kampfes, der fi) bereitet. Ein folhes 
Werk fonnte nur von dem ausgehen, der fo tief in die Ge— 
jchichte der Völter eingedrungen, im Mittelalter einheimifd) ift 
umd zugleid) einen fchönen Theil feines Lebens im Staatsdienfle 
au einer Zeit Heilbringend wirlſam war, wo man einmal in» 
terimiftifd; glaubte, die Regierungen follten nicht immer an dag 
Sälepptau ber zufälligen Begebenheiten gefefjelt jein. Das 
wenige Gute, das man zu zerfören firebt, und nicht den Muth 
hat, ganz zu zeflören, ift aus jener Beit, Ihr Werk if das 
Refultat einer zwiefachen, gediegenen Natur: dazu vol Würde 
der Darftellung, voll Mäßigung in den freieften Urtgeilen. Sie 
Haben dur den Eindrud, den Ihr Ruf und Ihre Perſönlich-⸗ 
keit gelaffen, die merkwürdigſten, ſelbſt numeriihen Elemente 
des großen Staatshaushalts ſammeln Lönnen. Welche Quellen 
für den Gefhichteforicer, wenn er für jedes Jahrhundert drei 
bie vier folder Schilderungen der Nationalzuftände hätte! 
. Bon ben Cfaffifeen Weimars fagt Humboldt bei 
Gelegenheit eines feharfen Urtheils, das Schiller über 
Herder gefällt: „Da oben werben bie großen Geifter ſich 
zwifden dem Gewölf vermeiden.“ Die politifhen Aus- 
Sprüche Humboldt'8 in den Jahren 1849 und 1850 
find zum Theil fo ſcharf wie in dem Varnhagen'ſchen 
Nachlaß. 

Die „Geſchichtlichen Aufſätze“ Raumer's zeigen die 
Klarheit und Gewandtheit ber Darſtellung, bie aud) feinen 
größern Geſchichtswerken eigen ift. Nirgends das Fünfte 
üche Aufthücmen von Perioden, geſuchten Worten, felt- 
ſamen Inverfionen, in welcher mande neuern Hiſtoriker 
die Witrde darſtellender Kunft ſuchen; alles ſchlicht, ein» 
fach, verftändig, ohne jedes Raffinement auch im Auf- 
ſuchen der Motive und ihrer Verkettung, ohne jenen oft 
verkehrten Pragmatismus, der über die Köpfe der han- 
delnden Perfonen hinweg die feinen Gefpinfte der Welt 
lage und unzerreißbarer maßgebender Berhältniffe wirft. 

Der erſte Auffag: „Reife nach Südamerika“, ift 
ein mühfames Mofaitbild, in welchem bie Lefefrüchte aus 
einer Reihe von Reiſebeſchreibungen in jenen Gegenden 
mit - Sorgfalt zuſammengetragen find. Diefe Art vom 
Mofaikbildern empfiehlt fih für unſere Journale, indem 
das Gefammtbild von Land und Leuten aus ſolcher ethno⸗ 
graphifchen Gedantenharmonie in ſcharfen Umriſſen her ⸗ 
voririti. Doch erfordert die Arbeit eine gefchidte Hand. 





344 


Es wäre zu wünfchen gewejen, daß Raumer vor bem 
Druck die zahlreichen Ergänzungen durch neue Reiſewerke 
mit aufgenommen hätte; denn gerade liber Südamerika 
haben wir feit 1854 fehr wichtige neue Aufſchlüſſe er- 
halten. 

Der zweite Auffag: „Zur neuern Gefchichte Spaniens‘, 
ſtellt, nach allgemeiner gefchichtlicher Einleitung, Hauptfäd)- 
(ich die Begebenheiten dar, welche gegen Ende des vori- 
gen Bahrhundert“ nd am Anfang des jegigen die ſpa⸗ 
nifche Halbinfel ın den Kreis der großen europäifchen 
Demegung zogen. Karl IV., Berdinand, vor allem der oft 
verfannte Friedensfürſt Emanuel Godoi find treffliche 
Porträts. Bon Godoi heift es: 


Emanuel Godoi, geboren am 12. Mai 1767 von abelichen 
nicht reichen Aeltern, ward forgfältig, jedoch zunächſt für den 
Soldatenſtand erzogen. Alte Literatur und Geſchichte waren 
ihm indeffen nicht fremd. Als Offizier der königlichen Leib» 
wache erregte er durch unlengbare Gewandtheit und fein ein- 
nehmendes Aeußere die Aufmerkfamkeit der Königin, und der 
König Hoffte an derı Tediglih durch feine Gnade erhobenen 
Mann einen durchaus treuen Freund heranzuziehen. Allmählich 
wuchs Godoi's Einfluß; er ward allmädhtiger Miniſter, Haupt 
bes Heer umd der Flotte, Herzog von Alcudia und verheirathet 
mit einer Prinzeffim des Löniglihen Hauſes. So gewiß dieſe 
Begüuſtigungen das gewöhnliche Maß weit überfliegen und 
durch außerordentliche Borzlige des Geiſtes und Charakters nicht 
binreihend begründet waren, fo gewiß find mande der gegen 
Godoi erhobenen Beſchuldigungen unwahr und ungerecht. Der 
übertriebenen Borliebe des Königs und der Königin flellte ſich 
üibertriebener Haß entgegen, und dem Gunſtling ward nicht 
6108 zur Laſt gelegt was er ſelbſt verſchuldet, ſondern all das 
Uebel, was feit Jahrhunderten unbezwinglich emporgewadjen. 
Der Gang feines Lebens führte Godot zu Selbfivertrauen umd 
Eitelleit, mühelos erworbener Reichthum zur Begier, ihn un- 

ebliprlih noch mehr zu vergrößern, und zu leichtſinniger Be⸗ 
Banblung des Finanzweſens; etliche Liebfchaften endlich waren 
Folge feiner Natur und allzn bequemer Gelegenheiten. Doch 
blieb fein äußeres Benehmen in den Grenzen des Anftandes, 
und es fehlte ihm nicht an Scarffinn und Menichenkenntniß. 
Er war von Natur leinesiwwegs böſe oder graufam, und das, 
was man ihm in vielen Beziehungen bitter vorwarf, ift nach⸗ 
mals von feinen Anklägern und Feinden in weit verbammlicdherer 
Weiſe geübt worden. In Neapel, Sardinien, Spanien (unter 
Serbinand VII.) haben Berfolgungen flaitgefunden,, gegeu welche 

oboi’8 Regierung milde und menſchlich erjcheint. Allerdings 
war er der ihm gewordenen großen Aufgabe nicht gewachſen, 
ihm fehlte der erforderlihe Muth, die tiefere Einfidht, die un⸗ 
bezwinglihe Thatkraft; wo aber gab es einen Staatsmann, 
das Schiff durch die Stiirme von 1793 — 1808 unverletzt hin⸗ 
durchzuführen? Selbft innere, umnleugbare Berbefferungen fan- 
den oft unüberfleigliche Hinderniffe, und eine von Godoi ver- 
ſtändigerweiſe eingefetzte Behörde zur Erforfhung vorhandener 
Uebel und Heilmittel brachte deshalb nicht die gehofften Früchte. 
„Sch mußte‘, Hagt Bodoi, „meine Berbeflerungsplane insgeheim 
nur wenigen Perfonen anvertrauen, um file nicht fogleich- zu 
vereiteln.“ Mebr als im mancher frühern Zeit geſchah für 
Wiſſenſchaft, Kunft und Gewerbe; aber fhon die Einführung 
befferer Lehrmethoden in den Schulen, ober der Kuhpoden- 
impfung, ward getadelt; aud waren in der That die Zeiten, 
welche Ferön einen Mann wie William Pitt vor größern Neue- 
rungen zurückſchredten, denfelben am wenigften in Spanien 
günſtig. Als Godoi z.B. die Rechte und Misbräuche der In⸗ 
quifttion beſchränkte und Verhaftungen ohne lönigliche Erlaubniß 
verbot, ward er Atheift gefcholten und von der Imanifition in 
Aufprud genommen. 


Napoleon’8 Eingriffe, die Regierung des ebelgefinnten 
JZoſeph, der fpanifche Aufftand und Krieg werben un in 
Yebendiger, antheilheifchender Darftellung vorgeführt. Bon 


Gefammelte Effays, 


der neuern Gefchichte Spaniens erhalten wir, fowie von 
feiner ältern, nur einen flüchtigen Umriß. 

Der Auffag: „Zur neuern Geſchichte Roms”, gibt 
einen Abriß der Bewegungen, welche feit der Thron⸗ 
befteigung des Papſtes bis zum Jahre 1850 in Rom 
ftattfanden, nach zahlreihen Quellen. Die Reformtheorien 
Balbo’8 und Gioberti's werden nach ihren Hauptwerken 
entwidelt, der Aufftand in Rom, Roſſi's Ermorbung, 
die Vertheidigung gegen die Franzoſen lebendig dargeftelt. 
Am Schluß des Auffates jagt Raumer: 

Aus den großen Bewegungen diejer Jahre ift für Stalien 
durch die Italiener leider faſt nichts hervorgegangen, nichts von 
dem gegründet, was fie wünſchten oder —** Deshalb 
ſagt Ceſare Balbo: „In Italien iſt Verſtand und Einficht weni⸗ 
ger zur Hand als Phantafle, und die Phantafie weniger als die 

eidenſchaften.“ — „Wir waren“, fchreibt Eoletta, „nicht reif für 
freiere Einrichtungen. Sie gehen hervor aus den Sitten, nidt 
aus Gejegen, nit aus revolutionären Sprüngen, fonbern aus 
Fortſchritten echter Bildung. Deshalb ift der Geiegeber weiſe, 
welcher hierfür den Weg bahnt und die Gejellichaft nicht auf 
ein deal Hintreibt, für welches die Einheit der Köpfe, bie 
Wünſche der Herzen und die Gewohnheiten des Lebens nicht 
paſſen. Bekennen und hoffen wir, daß wenig fidy fchidt und 
wenig genügt den meiften Italienern; fie find nicht genug oder 
zu viel gebildet (troppo civili) für die Unternehmungen der 
Freiheit. — Durd) diefe bittern Wahrheiten und eruften Warunn⸗ 
gen wollten zwei vaterlänbifch gefinnte Italiener keineswegs zu 
völliger Verzweiflung oder zu fauler Unthätigleit Beranlaffung 
geben; fondern auf das hinweiſen, was dem ſchönen Lande, 
dem geiftreichen Bolt wahrhaft fehlt und noththut. Nicht aus 
übereilten Ummälzungen, nicht durch leidenſchaftliche, verblen⸗ 
dete Schreter oder rückläufige tyrannifivende Fürſten, Zions- 
wächter und Beamte wird eine neue glückliche Zeit hervorgehen, 
fondern durch Unterordnung des eigenen Intereſſes unter das 
gemeinjame ‚ duch Lebendige Bewegung innerhalb gefetlicher 
Kranken, Unterfcheidung des Möglichen vom Unmöglicdyen und 
echter Freiheit von hochmüthiger, phantaftifcher Willkür! 

Wir glauben nicht, daß nach diefem Recept Stalin 
feine Einheit erobert haben würde. 
der Rom vertheidigte, bat biefe Einheit auf dem Wege 
gewaltjamer Revolution erobern helfen. Am Schluß des 
Auffates über „Sicilien und Palermo‘, welcher eine kurze 
Darftellung ber hauptſächlichſten Aufſtände anf dieſer In⸗ 
ſel gibt, ſcheint Raumer ſich mehr für die Idee Gioberti’s 
und Napoleon's, für einen italieniſchen Staatenbund zu 


begeiftern, als für den Einheitsftant, obgleich diefen Ich» . 


tern her die geſchichtliche Entwidelung felbft eingeſchla⸗ 
gen hat. 

Die Reifeflizzen aus Dänemart, Schweden und 
Norwegen, aus ber Türkei und Griechenland find 
durchaus anſpruchslos, ſchildern manches perfönliche und 
gleihgültige Erlebniß, aber werfen auch frappante Licht- 
blide auf Gegenden, Städte und Staatseinrichtungen. 
Konftantinopel wird uns nicht blos nad) feiner Kichtfeite, 
fondern aud nad, feinen unbehaglihen Schattenfeiten 
ſehr im Detail gefhilbert. Vom Meer her, von außen, 
ift e8 wol eine einzige Pradt. Im Innern gibt e8 in 
ganz Europa Feine häßlichern, unbequemern und Yang: 
weiligern Städte als Konftantinopel und Pera. Ueber 
den Drient felbft urteilt Raumer: 

Vom Orient habe ich kaum eine Klaue gefehen, darf aljo 
nicht wagen, ex ungue leonem zu beurtheilen. Reihe ich aber 
daran, was andere berichten, jondere ich mit ruhiger, geſchicht⸗ 
licher Kritit, fo ftellen fich einige Ergebniſſe immer deutlicher 
heraus. Siehe ich eine Linie von Kairo, fiber Serufalem, Da- 
masfus, Aleppo, Ikonium, Bruſſa nah Konflantinopel, und 


Derfelbe Garibaldi, 


————⏑ — 


Geſammelte Eſſays. 345 


nenne bie eingeichloffenen Länder den Orient, fo glaube id) 
weder, daß die vernacjläffigte, verbraudte Natur (mit Ans⸗ 
nahme einzelner glänzender Dafen) ſich jemals wieder zu frü«- 
berer Fruchtbarkeit und Schönheit verjüngen wird, nod daß 
die dortigen dünn zerfireuten Menjhenftämme berufen find, 
eine wahrhaft neue und gefunde Entwideluug der Menſchheit 
hervorzurufen. Alle Hoffnungen beruhen auf dem abendlichen 
Europa und dem nördlihen Amerika; verfehlen dieje ihren er- 
babenen Beruf, fo geht alles rückwärts! Indien, China, Japan 
lönnen uns nicht erziehen; es ift vielmehr ihr Glück, wenn fie 
fi) der Einwirkung einer höhern Bildung nicht länger entzie- 
ben lönnen. 

Aus dem Hiftorifch-politifchen Brief Raumer's an 
Nudolf Köpfe fieht man mit Vergnügen, daß der Hiflo- 
ziter ein Parteigänger der neuen Ordnung der Dinge ift 
und daß die unerwartet großen Ereigniſſe des „Jahres 
1866 in ihm die tröftlihe Hoffnung und das Bertrauen 
erweden, daß Preußen und Deutjchland nicht dem ge- 
fürchteten oder ſchändlich gewünſchten Untergang, fondern 
einer herrlichen, glüdlichen Wiedergeburt und Zukunft 
entgegengeben. 

In Raumer’s wiffenfchaftliches Atelier führen uns 
bie „Bemerkungen zu Profeſſor Erdmann's Gejchichte der 
Philoſophie“, die „Randglofſſen eines mehr ale adhtzigjäh- 
rigen Studenten zu naturwiffenfchaftlichen Studien”, die 
„Proben deutfchen Stils“ und die „Gedankenſpäne“ ein. 
Aus den Bemerkungen, welche Scolien zur Geſchichte 
der PBhilofophie bilden, erfehen wir, daß Raumer fich zu 
einer eklektiſchen Nichtung, jedenfalls mehr zu den No— 
minaliften als zır den Realiften, zu Ariftoteles mehr ale 
zu Plato, zu Loge und Zrendelenburg mehr als zu den 
Hegelianern hinneigt. Er macht Einwendungen gegen die 


‚Theorie, daß jeder neue Meifter den Fortſchritt zu einer 


Höheren Stufe bringe. „Man vergißt ganz, daß die Dinge 
in der Welt gewöhnlich einmal culminiren und nad) dem 
Steigen auch wol ein Sinfen eintritt.” 

Auch zu den Proben ſchlechten Stils, die uns Rau- 
mer mitteilt, müſſen die neuen Philofophen ein zahl- 
zeiches Eontingent ftellen. 

Die „Randglofien zu naturwifjenfchaftlichen Studien‘ 
enthalten mandje interefjante Bemerkung. Der „alte 
Student” ift ein Skeptiker gegenüber manchen Refultaten 
diefer Wiſſenſchaft und macht namentlid) allerlei Frage⸗ 
zeichen hinter die Behauptungen der Chemiker. ‘Die Be- 
tradtungen über Seelenheilfunde und gerichtliche Arznei 
Zunde zeugen von dem lebendigen Intereſſe, welches Rau⸗ 
mer an diefen, noch nicht genugfam durchgearbeiteten Dis- 


ciplinen nimmt. 


Die „Gedankenſpäne“ find meiftens von dem Ber- 
faffer mit allerlei Zuthaten eingelochte Leſefrüchte. Es be» 
finden fich darunter rein perfönliche Drientirungsverfudhe, 
welche vielleicht befler dem Publitum wären vorenthal- 
ten worben, aber auch finnreiche Reflerionen. Die poli» 
tifchen Betrachtungen gehören meift der neueften Zeit an; 
fie betreffen unter anderm Napoleon III., den Krieg von 
1866, die neuen Ereigniffe in Italien und Spanien. 
Bon dem letztern Lande Heißt es: 

Der Sturz der Königin Ifabella ward dadurch weſentlich 
erfeichtert, daß fie nicht bios große Regierungsfehler beging, 
fondern and) einen tadelnswerthen Lebenswandel führte. Doch 
iR ihr Sturz nur der Anfang einer Revolution. Das Ber- 
wideltere, weit Schwierigere ift nod zu thım übrig, und faum 
za erwarten, daß fo viele und fo verjchiedene Perfonen, daß 

1870. 22. u 


alle Theile des von Madrid nicht (mie Frankreich von Parie) 
beherrfchten Reichs liber Mittel und Zweck lange werben einig 
bleiben. Nur große Perfönlichkeiten (wie Heinrih IV., Wil 
beim von Oranien, Waſhington) können fo Getrenntes, Aus- 
einanderfahrendes einigen und beherrſchen. Ich Halte es fiir 
höchſt unwahrſcheinlich, daß ſich eine föderative ober einheit- 
liche Republik auf die Dauer in Spanien erhalten könne. Aber 
ebenjo unwahrſcheinlich if e8, daß ein mittelmäßiger, durch 
Berfafjungsformen bejhränfter, von einer neu fi, erhebenden 
Samarilla ringsum eingejchloffener Monarch nothiwendige und 
wahrhaft Heilfame Beſſerungen zu Stande bringe. eshalb 
wäre e8 vielleiht am wünſchenswertheſten, wenn die kühnen 
Republifaner zunächſt obflegten und echte Reformen fo weit 
durdfegten, daß Leine Reaction die frühern elenden Zuſtände 
berfteflen könnte. Gebe der Himmel, daß nach Sahrhunderten 
von bejammerns- und verdbammenswerther Misregierung der 
Habsburger und Bourboniden die Spanier endlich das wlr- 
dige Ziel erreichen, nad) dem fie fo oft vergeblich firebten. 


Pilant find die Betrachtungen über Sitten, ode 
und manches andere, was in das Departement des ewig 
Weiblichen gehört. ine Heine alphabetifche Bildergalerie 
mit den Porträts berühmter Männer, namentlih aus 
neuefter Zeit, ift mit manchen treffenden Unterfchriften 
ausgeftattet. Bon Wilibald Aleris heit es: 


Häring’s dramatische Arbeiten zeigten Talent, jedoch fein 
überlegenes, ſodaß der Beſchluß gerechtfertigt war, vorzugsweiſe 
Romane zu fchreiben. Nun erweift aber eine lauge Erfahrung, 
daß alle Romane (faft nur mit Ausnahme des „„Don Quigote‘‘) 
ein furzes Leben haben, bald aus der Mode fommen und daun 
gar uicht mehr gelefen werden, ober wenn einzelne die® ver- 
juchen, fo fehlt dod) die ehemalige Wirkung. Es kam alfo dar⸗ 
auf an, ein Mittel zu finden, diefem frühen Tode zu entgehen. 
Mit großem Süd und Geſchick fahte Häring den fehr Töblichen 
Beſchiuß, vaterländifche Romane zu fchreiben, wo ſchon der Ju⸗ 
halt eine Bürgihaft unverwüftlider Dauer gibt. Ja wenn 
manche fpäter beliebte Romane der Bergefjenheit anheimfallen, 
werben die Häring’8 wieder zum Tageslicht durchdringen. Aller- 
dinge mußte Dichterifches zu dem Geſchichtlichen hinzuerfunden 
werden, und fo ſchwierig und gefährlich dies Unternehmen aud) 
it, fo gewiß einzelner gegrändeter Zadel ſich ausiprechen Täßt, 
hat Häring doch im ganzen und großen beide Beftandiheile har- 
moniſch zu verbinden gemußt und den Charakter fowie die 
Betrachtungsweiſe den verjchiedenen Zeiten angemeſſen dar- 


‚geftelt. Ja es gelang ihm, die Art und Weile ausgezeichneter 


Schriftſteller mit großer Gejchiclichleit bis zur Täuſchung nad» 
zuahmen. AU viefem großen Lobe darf id, einige Bedenken 
binzufiigen, die ich gegen unfern Frennd öfter ausgeſprochen 
habe. Wefentlid) trug cr dazır bei, daß der Hauptbeftandtheil 
des Romans, die Erzählung, in den Hintergrund getreten if, 
und flatt deffen eine Geſprächsform vormwaltet, melde das Zu⸗ 
fanmengehörige in unzählige Heine Bruchſtücke zerfpaltet, zu 
einer leicht ermlidenden Weitläufigkeit führt und den Eindruck 
ſchwächt. Die ftete Unruhe des Stile zeigt nicht das wahre 
Leben, und größere Einfachheit wiirde den Inhalt wirkfamer 
hervorheben. Man erreicht nur den Schein des Dramatifchen, 
ohne defien wahre Kraft. Verhehlen darf ich indeflen nicht, 
das, was mir an der Schreibart mangelhaft erjcheint, werde 
von etlichen als ein Vorzug bezeichnet. 


Auch für das Theater hat Raumer zeitlebens das 
regfte Intereſſe gehegt. Intereſſant find die Notizen über 
das römifche Theaterwefen, und die „Briefe an Ludwig 
Tieck über das Theater”. Sie tragen freilich ein etwas 
veraltetes Datum (1824); die damaligen Tcheaterverhält- 
nifje befinden fi) noch fo im Stande der Unſchuld, daß 
Raumer als von einem wichtigen Ereigniß von der Er- 
Öffnung eines zweiten Theaters in Berlin fprechen Tann, 
was gegenwärtig, nach einer Errungenfchaft wie die 
Theaterfreiheit, ſehr mythiſch klingt. Dennoch enthalten 

44 


346 


die Briefe über die Stellung des Theaters, des Schau- 
fpielerftandes u. |. w. Bemerkungen von allgemeiner Gültig» 
feit, die an Feine Zeit gebunden find. 

Der Einfluß Ludwig Tieck's, mit welchem Raumer 
in langjähriger inniger Freundſchaft lebte, auf die üfthe- 
tischen Anfichten des Hiſtorikers ift unverfennbar, Auch 
unter den mitgetheilten Briefen find diejenigen Raumer’s 
an Tieck wol bie intereffanteften. Doc, ‘hält fich jener 
von allem frei, was wir al8 das romantische Zopfthum 
bezeichnen möchten. Seine Bewunderung für den Dichter 
fprit er in den folgenden Zeilen aus: 

Beim Rückblick anf ein längeres Leben findet jeber, daß 
nicht alle Knospen zur Blüte fommen und nicht alle Blüten 
Frucht anfeten — es kann und foll in der Natur nicht anders 
fein. Wenige Menſchen in der Welthaben jedoch fo viel gedacht, 
gefühlt, geleiftet, erihaffen wie Sie, und die Dankbarkeit Ihres 
Geiſtes und Herzens für all das Gute, was Gott Ihnen zu⸗ 
theil werben ließ, ift vielleicht der ſchönſte Edelſtein Ihres reichen 
Beſitzes. Ja, Krankheit, Schmerz, Sorge mandyerlei Art redjne 
ich ebenfalls zu den Gaben, die Ihr Leben reicher, mannichfal: 
tiger, poetifcher machten. Shalipeare, Camoens, Dante find 
Ihre Brüder auch in diefer Beziehung, und ich weiß nicht, ob 
Goethe's Außerlihe Allgenugfamkeit dagegen nicht als etwas 
erkünftelt könnte bezeichnet werden. Jene angeftrebte oder vor» 
handene Allgenugfamleit hat für mid) etwas Beunrnhigendes, 
Abſchreckendes, umd wenn Sie anf unfere vieljährige trene Freund⸗ 
ſchaft Werth legen, jo darf ich wol fagen: wären Sie mir wie 
ein Heros oder Titane entgegengetreten, dieſe Art von Kraft 
hätte mid) aus der Sonnennähe in die finftere Nacht wieder 
hinansgeichleudert. 

Tieck felbft tritt felten in der Correfpondenz redend 
auf. Bemerkenswerth ift feine Anerkennung Raupach's: 

Für Raupach habe ih eine aufrichtige Neigung gefaßt. 
Bir treffen doch in mehr Punkten zuſammen, als ih es je 
glauben konnte. Die große Verſchiedenheit bleibt deswegen dod). 
Er ift aber nicht unbillig, und das ift ſchon viel, viel für einen 
Mann, der jeßt der einzige Blihnenbichter iſt, von manchen 
geehrt, von noch mehrern geliebt wird. Den Shalfpcare ver» 
fteht er auf feine Weife. Was er gegen ihn bat (darauf läuft 
ja andy Goethe’ Demonftration hinaus), ift eigentlich, daß 
unfer Bublitum zu ungebildet ift, ihn fo zu verftehen, wie er 
if. Anders ihn zu fpielen, wie er ift, ift aber meiner Einficht 
nad nicht der Rede wertd. Sagen Sie bei Gelegenheit Rau- 
pach, mie ſehr ich ihn achte und eine gewiſſe Zärtlichkeit für 
ihn befommen babe. Sie wiſſen, daß ih nicht mit ſolchen 
Complimenten a la... Lügenhandel treibe. 

Wenn wir noch die Beziehungen Raumer's zu frem- 
den, franzöfifchen und englifchen, Gelehrten erwähnen, die 
in dem Briefwechfel vertreten find, und auf die Feine 
"Novelle „Marie” und die ganz pilanten „Unabgefendeten 
Briefe eines Thoren“ hinweiſen, fo haben wir die ein« 
“zelnen Poften diefer geiftigen Haushalt- und Tagebücher 
eines vielfeitigen Gelehrten erfchöpfend aufgtzählt: Poſten, 
deren Summe immerhin einen glänzenden geiftigen Etat 
repräfentirt, wenn fie auch oft in der Heinften Münze 
berausgabt wird. 


Joſepha von Hoffinger, beren „Licht- und Ton⸗ 
wellen (Nr. 5) der Bruder herausgegeben hat, gehört 
leider nicht mehr, wie Raumer, zu den Lebenden, ſodaß 
wir ihren Nachlaß erben könnten, ohne ein Gefühl der 
Trauer um den Verluſt. Aus der pietätvollen Einleitung 
des Bruders erfahren wir, daß die Dame, welche bisher 
in weitern Sreifen nur al8 Dante» leberfegerin und durch 
ihre Betheiligung bei Begründung der Dante-Gefelljchaft 


— 


Geſammelte Eſſays. 


in Dresden bekannt geworden iſt, von Jugend auf ein 
ſehr reges geiſtiges Leben geführt hat, in ben Geiſt frem⸗ 
der Literaturen, namentlich der engliſchen und italieniſchen, 
tief eingedrungen iſt, eine Zeit lang als Erzieherin wirkte 
und, lange kränkelnd, am 25. September 1868 ſtarb. 

Die „Licht- und Tonwellen“, ein etwas pretiöfer 
Titel, der und auf geiftige „Undulationen” und ihre 
pibrirende Unruhe zu ſehr hinweiſt, enthalten zunächft bie 
Anfichten der Schriftftellerin über die Frauenfrage, die 
fie nad allen Seiten Hin beleuchtet, und zwar weniger in 
eingehender Erörterung als in ſchlagkräftig aphoriftiicher 
Weife. Der Standpunkt der Reflerionen ift ein religiöſer; 
aber die Berfafferin Hat auch tüchtige philofophifche Stu⸗ 
dien gemacht und begnügt ſich nicht mit einer kahlen und 
trodenen Dogmatif. Gleihwol verwirrt das fortwährende 
Hereintragen religiöfer Anjchauungen alle diejenigen Yra- 
gen, weldye einer felbftändigen Löfung durch Bernunft« 
gründe bedürfen. Wenn Joſepha von Hoffinger die Ehe 
ohne Liebe eine „legale Proftitution” nennt, fo fann man 
ſich diefer Uebereinftimmung mit den fonft von ihr ver⸗ 
worfenen Schriftftellerinnen, wie Öeorge Sand u. a., nur 
erfreuen; wenn fle aber diefe Liebe zulegt wieder in ber 
religiöfen Harmonie fucht, fo wird die Frageſtellung da⸗ 
durch verwirrt und die Antwort einfeitig. Für bie wahre 
Bildung der Frauen ift auch Joſepha von Hoffinger 
begeiftert: 

Bewußtſein ihrer felbft und ihrer Beziehung zur Ges 
ftaltung ihrer Zeit, ift die Aufgabe, welche die Bildung der 
Frauen erfüllen fol, von der aber der bei weiten größere Theil 
der Mütter und Erzieherinnen feine Ahnung hat. Die weib- 
lie Bildung liegt im argen; bemußtlofe Natur und Unnatur 
find bie Klippen, zwifchen denen fie hin» und bergeworfen wird. 
In den befiern und feltenern Füllen wird das Mädchen zur 
guten Haushälterin erzogen; in den weit häufigern fchlimmern 
aber läuft ihre fogenannte Erziehung auf ein bloßes Abrichten 
u allerlei fcheinbaren Fertigkeiten hinaus, die als Nebenfadyen 
ihre Geltung Haben, aber alle zufammen nicht fo viel werth 
find als das cine, was noth thut: ein felbfibewußter, Flarer 
Wille. Früher modjte es dahingehen, daß die Frauen ver» 
gaßen, rauen zu fein; denn auch die Männer hatten ihrer 
Mannheit vergefien. Sept aber, wo fie fid) ermannt und mit 
einem Schlage das alte Gemäuer niedergeriffen haben, und wo 
fle fi rüften zur ungeheuern Arbeit des ans eines neuen; 
jegt, wo die große Zeit großen Sinn erfordert, fie zu verfichen, 
und großen Muth, die großen Opfer zu bringen, die file auf⸗ 
erlegt, und nicht zu jagen, weil die Glut der Some uns trifft 
unter dem weggeriffenen Dache, und die Stürme die Trümmer 
erfhüttern, unter denen wir wohnen, und der Staub der ab« 
gebrochenen Steine umnfere Augen blendet — jetst thut es noth, 
daß auch die Frauen erwachen aus den Träumen ihrer Tän⸗ 
deleien, und das faft erlofchene Feuer des Ideale wieder anfachen 
auf dem Altare ihres Innern als eine leuchtende und wärmende 
Flamme im Sturme der Zeit. 


Sie geifelt die jegige Erziehung und die jegigen Frauen⸗ 
arbeiten in treffender Weife: 

Wahrlich, nicht die Pflichten ihres Berufs find es, welche 
die Mädchen an dem Erwerben wahrer Geiftesbifdung hindern, 
fondern bie vier großen Modethorheiten, aus denen das finnlofe 
Moſaikgemälde ihrer fogenonnten Erziehung fi zufammenfligt; 
und zwar erſtens das Geplapper in fremden Zungen, zweitens 
das tägliche vielftündige Geflimper, wodurch bie Midastöchter 
fi zum Wettftreit mit den Mufen bilden möchten, drittens das 
Getändel mit ziwedlofen Arbeiten, die bei den praftiihen Eng⸗ 
ländern mit Recht nicht „ſchöne Arbeiten‘, fondern Lamen⸗ 
Arbeiten‘' (fancy-work) beißen, viertens das unwürdige Sagen 
nad Verſorgung, das fi in dem Umhertreiben auf Bällen, in 





Geſammelte Eſſays. 347 


Geſellſchaften u. ſ. w. zeigt, und das nebſt dieſem Hauptzwecke 
auch das Ausfüllen ihrer innern peinlichen Leere zum Zwecke 
hat. Räumt diefe vier Hinderniffe weg, und ihr habt alles 
gewonnen. 

Gleichwol Tehnt fie die Betheiligung der Frauen an 
ber Bolitit ab, und will auch den weiblichen Erwerböfreis 
nicht jo weit ausgedehnt fehen, wie dies im Durchſchnitt 
gegenwärtig verlangt wird: „Im Materiellen ift das Weib 
von allen Beſchäftigungen ausgeſchloſſen, die entweder 
ihrer fittlichen Beſtimmung oder ihrer Förperlichen Schwäde 
widerſtreben. Es bleibt ihnen alfo kaum etwas anderes 
übrig als die Land» und Hauswirthſchaft, die Kranfen- 
pflege und die Berfertigung der Wäſche und der weib- 
lichen Sleidungsftüde.” in freilich fehr beſchränktes 
Repertoire gegenüber dem großen Rollenfreife, der z. B. 
in Daul's Werk über die Yrauenarbeit ber weiblichen 
Arbeitöfraft eröffnet wird. Treffende, oft aber auch durch 
einfeitige Chriftlichkeit fchielende Bemerkungen enthalten 
die Abfchnitte über „Drei weibliche Lebenskreiſe bei Goethe”, 
„Voltaire, Kouffeau und die rauen”, „Rahel, ©. Sand 
und Bettina” u. a. Den genialen Frauen verbietet die 
Berfafjerin die Ehe, will ihnen aber damit keineswegs die 
freie Liebe geftatten. 

In allen diefen Aphorismen fpricht fi) ein energi« 
fcher Geift ans, und daß Joſepha von Hoffinger ſich auch 
auf die wichtigern Fragen der Liebe und Ehe einläßt, ſich 
nicht blos auf die rein praftifchen Erwerböfragen beſchränkt, 
wie ſehr diefelben auch durch die Noth des Lebens in den 
Vordergrund gebrängt werden: das gibt ihren Keflerionen 
eine tiefere geiftige Bedeutung. * Das täglide Brot ift 
zwar das MWichtigfte, doch nur, weil e8 das Unentbehr- 
lichſte iſt. Wenn man dem Leben nichts abkämpft als 
die Exiſtenz, das Heißt die Möglichkeit des Lebens, 
führt man noch immer nicht ein mienfchenwürbiges 
Dafri 


aſein. 

Der zweite Abſchnitt der Sammlung enthält äſthetiſche 
Aufſätze, voll mancher geſunder Gedanken, im ganzen aber, 
wieder durch das Betonen des chriftlichen Principe ein- 
feitig und beſchränkt. Shakſpeare erhält ein befferes 
Zeugniß in Bezug auf fein Ehriftenthum ausgeftellt als 
Schiller und Goethe. Uns erfcheinen biefe Unterſuchun⸗ 
gen ebenfo überflüffig wie diejenigen, ob Shakſpeare 
proteftantifch oder Tatholifch gefinnt war. An große 
GSeifter fol man nur ihren eigenen, feine fremde Maß⸗ 
ftäbe anlegen; jeder bedeutende Kopf hat feine eigene 
Sonfeffion. Ueber Schaufpiel und Theater fagt Joſepha 
von Hoffinger manches Treffende: 

Die Schaufpiele, die wir gewöhnlich zu jehen befommen, 
limmern fih freilich wenig um die geforderte Entfaltung bes 
menſchlichen Dafeins, fondern zu Zffland’s Zeiten konnte man 
die Geller'ſche Lebensbeichreibung eines berühmten Mannes: 
„Er lebte, nahm ein Weib, und flarb‘, mit folgender Abän- 
derung auf das rührende Scaufpiel anwenden: „Er lebte, 
bungerte, und ward geſättigt.“ Hingegen auf das moberne 
Schaufpiel läßt fih anwenden: „Er lebte, ward zerriffen und 
wieder geflidt.” Doc weder jenes alte, noch diefes moderne 
Schauſpiel erquicdt den Geift: jenes nidjt, weil das Leben nicht 
um der Speife, fondern die Speife um des Lebens willen da 
iR; dieſes nicht, weil wir lieber ein fidy entfaltendes Dafein 
hauen mögen als ein geflidtes, das immer eine [pitalmäßige 
Empfindung erregt. 

Die modernen Zerriſſenheitsſtücke mit ihren ſchwan⸗ 
fenden Helden werden durch diefe Bemerkungen ſcharf 


genug gegeifelt. Auch fpäter wendet fi der Wit ber 
Berfafferin gegen „den Ragenjammer der Gegenwart, der 
von einem Mitmiauenden als intereflanter Weltſchmerz 
ſympathetiſch dargeftellt wird”. Zu den modernen Heiden 
werben Wieland, Schiller, Heine, Byron gerechnet, Goethe 
aber fein moderner, fondern ein volllommen hellenifcher 
Heide genannt mit feinen unvergleichlicden Formenſinn 
und feiner naiven Naturauffafjung. Laube, Gutzkow als 
die „Modernen“ erhalten gelegentliche notae levis maculae; 
von Hebbel wird nur „Agnes Bernauer‘ als in fittlicher 
und äſthetiſcher Hinficht gleich ausgezeichnet gerühmt. „Yon 
unbedingten Xobeserhebungen hält feine Maßlofigfeit in 
äfthetifcher und feine dem pofitivern Chriftentfum zwar 
nicht feindliche, aber doch aud nicht zugewandte Richtung 
in religiöfer Hinfiht ab.” Ueber „wahren und falfchen 
Humor“, „wahre und falfche Romantik”, „poetifche Ten⸗ 
denziagdb und Tendenzſcheu“ ergeht ſich die Verfaſſerin 
in theologifch-philofophifchen Betradjtungen, denen e8 an 
epigrammatifch fcharfen Wendungen nicht fehlt. Im ganzen 
fönnen wir indeß in der Bewunderung der modernen 
und hellenifchen Beiden, bei dem Tadel ihrer antichrift- 
lichen Gefinnung, feine echte Confequenz finden. Stellt 
man fi; einmal auf den theologijchen Standpunkt, fo 
mag man auch den Muth Haben, wie Hengftenberg und 
Bilmar, in unfern großen Dichtern Werkzeuge der Bor« 
fehung zu fehen, „die es menſchlich dachten übel zu 
machen, während die Führung aus der Höhe es gut durch 
fie gemacht bat“. 

Noch ſchärfer „katechiſirt“ Julie Freymann (Nr. 6) 
Schiller, Shakſpeare und Goethe in einer Kritik ihrer 
Frauencharaktere. Yulie Freymann ift Feine Miß Anna 
Samefon, welche die Porträts Shakfpeare’fcher Frauen⸗ 
Schönheit mit hingebender Treue nachzeichnet; fie geht 
biefem Dichter, wie unfern großen deutfchen Genien, ernft« 
ch zu Leibe, indem fie vom fittlich-äfthetifchen Stand- 
punkte ihre Yrauengeftalten prüft und dabei öfter auf 
den Mangel an Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit, auf 
eine fubjectiv entftellte und deshalb ſchwankende Dar« 
ftelung ftößt. Allgemeine Betrachtungen über die Dich⸗ 
ter und die Haupttragddien gehen ber fpeciellen Charal- 
teriftit voraus. Die Elifabeth im „Don Carlos” wirb 
in ihrer innern Einheit, nad der Anfiht von Yulie 
Freymann, von ihrem Höhepunkte herabgezogen dadurch, 
daß fie dem Prinzen bei der geträumten Befreiung der 
Niederlande nit nur den Beiftand Frankreichs und 
Savoyens, fondern fogar auch zu bem nöthigen Gelbe 
Kath zu ſchaffen verfprechen läßt. Noch fchärferer Ta- 
del trifft die Schlußfcene, wo Eliſabeth wie ein junges 
noch nicht berangereiftes Mädchen unter dem Kuſſe des 
Geliebten fteht und ſich nicht empor zu der „Männergröße“ 
des Don Carlos wagt, wo fie zulegt vor dem Könige, 
dem Großinquifitor und ber männlichen Berfammlung 
des fpanifchen Hofs als die Verbrecherin erfcheint, als 
welche die Intrigue des Stücks fie zu bezeichnen ver- 
fuchte. Auch im Charakter der Thekla findet die firenge 
Richterin diefelbe Inconfeguenz: „Thekla, die erft ein tief 
begründetes Prineip der Familie zu verwirklichen ver- 
ſpricht, müſſen wir, nad) des Dichters Anlage, zulett 
auf den Pferden, die ihr der Stallmeifter willig borgt, 
romanhaft aus dem Stüde rennen fehen.“ 


44 * 


348 Geſammelte Effays. 


Die Schiller’fche Heuchlerin Elifabeth wird der gro⸗ 
gen gefchichtlichen Königin gegenübergeftelt. Die Mord- 
und Heuchelfcene, die fih durch das Ganze fortjpielt, 
drehe fich eigentlih nur um den Streit zweier Weiber 
um einen Mann, „das Niebrigfte, dad wir doch nur 
unter den Berworfenen ihres Gefchlehts vorausfegen 
dürfen“. Sehr ſchlimm ergeht es der „, Heiligen “ 
Maria Stuart: 

In keiner feiner Frauengeflalten bat der Dichter feine 
ſchwache Anſchauung des Weibes fo verrathen wie in Maria 
Stuart. Denn wo Berfiellung, Mord und fittlihes Sinken 
als vorbergegangene leicht zu begreifende und zu verzeihende 
Fehltritte des Weibes dargeftellt find, im alle es fih nur 
wieder Tiebend (?) einem Manne, wie bier Leicefter, in die 
Arme liefert und nad) dem Schillerihen Abſchluſſe: daß ihre 
„Schwachheit der Müännerkraft" eines Bothwell nicht Habe 
widerftehen können, zu der Seitigen wird, wie wir fie im Stüde 
wiederfinden, da muß doch der Dichter jede Verantwortung flir 
die zur That hinnausgetragenen Regungen hinweggenommen haben. 

Das Gefammturtheil über Schiller's Frauen lautet: 

Schillers männliche Dichternatur hatte ſich noch zu wenig 
zu rein menſchlichem Schauen gefammelt, als daß fle ungeftört 
von eigenen Regungen fich zu der Erfenntniß defien, was bie 
erwige Pate im Weibe niedergelegt, hätte erheben können, nm 
die Formen des bewegten Gedankenreichs nad) der Plaſtik einer 
innerften weiblichen Welt durch das Material des Wortes im 
Drama entfheidend heraufzuflihren. 

Shakſpeare dagegen trifft der Tadel, daß er in feinen 
Dramen allzu oft „Grauen als blinde Werkzeuge feiner 
Abfichten einführt‘: 

Eine Cordelia und Desdemona fallen ohne jede Rechtfer⸗ 
tigung den wilden Leidenfchaften der fie umgebenden Welt zum 
Opfer; die Kataflrophe begräbt auch fie unter den Trümmern 
diefer Welt, ohne daß uns der Gedanke ihres Dafeins, der doc) 
fein befonderes Recht in fi) trug, zum freien Bewußtſein werde. 
Dagegen verräth uns eine Julie Capnlet, im Gegenfage zu 
Haß und Streit, die jelbfibeftimmende Seelenfraft, nad) welcher 
der Geiſt ihrer Liebe aufgeht und ihr eigenes Geſchick bereitet — 
freilich einer Liebe, die, bezeichnend für den anglilanifchen Geift, 
erft nur anf dem praltiichen Wege zum Befige des Gegenſtan⸗ 
des unummunden vorwärts jchreitet. Und eine Lady Macbeth 
verräth die tiefere Anjchauung des Dichters, die hier liber die 
offenbaren Erſcheinnugen der Wirklichkeit hinaus das Weib als 
das nah dem Rechte des eigenen Dafeins gefchaffene Weſen 
erlannte, und nad) weldyer Shalſpeare daffelbe in feiner jelbfl- 
beftiimmenden Richtung — in diefem alle des Böſen — dar- 
flellte, es nicht blindling® den Abfichten einer fremden Welt 
opferte. Hat fi) des Dichters Anfhaunng in diefen tragiichen 

vanengeftelten am freieften entfaltet, fo wird fie bei Lady 

—* und Ophelien, nach willkürlicher Durchführung der 
gegebenen Motive, zur entſchiedeuen Verneinung des weib⸗ 
lichen Dafeins in feinem unlöslihen Zufammenhange alles 
Menidlichen. 

Lady Macbeth wird von Joſepha von Hoffinger wie 
von Julie Freymann nach Berbienft gewürdigt. Die er⸗ 
flere nennt die Lady ein abfcheuliches ausgeartetes Weib, 
das, weil es tiefer im Naturboden wurzelt, auch tiefer 
ſinkt als der Mann, und tadelt die äfthetifch-[entimentale 
Berkehrtheit, die in ihr eine liebevoll hingebende Frau 
erbliden will. Nach Zulie Freymann bat Shaffpeare in 
der Lady Macbeth durch den Gegenfag feine höchſte 
Anſchauung des Weibes zu erkennen gegeben: — das 
Böfe Hebt das Dafein des Weibes auf. Bei Julie 
Capulet macht die Berfafferin mit Recht auf die Refle⸗ 
rionen aufmerlfam, welche der Dichter bei der Anrede 
an die Nacht dem liebenden Mädchen in den Mund legt. 
Wir müffen befennen, daß Verſe wie: 


Dis. fheue Liebe kühner wird und nichts 

Als Unſchuld fieht in inn’ger Liebe Than — 
durchaus fir den Standpunkt eines unſchuldigen Mädchens 
nicht paſſen, ſondern einer fchon ziemlich weiſen Erfahrung 
in ber Liebe angehören. 

Goethe's weibliche Gebilde werden zwar aud vor das 
Forum der Kritik gezogen, auch an Klärchen und Gretchen 
wird gemäfelt; aber fie gelten doch für die ſchönſten dichteri⸗ 
hen Gebilde. Dieſem dichterifchen Genius ging das Weſen 
des Weibes in feinen innern Beziehungen auf: Oenialität, 
diefes unmittelbare Schauen des Geiſtes der Dinge, ift 
bem weiblichen Geiftesleben zunächſt verwandt. Doch die 
entfprechende männliche Würde war ihm nicht aufgegan- 
gen; feine Münner geben fi) an die Macht der Ber 
hältniffe und an bie Gewalt ihrer Leidenfchaften hin. 

Die Kritik der Frau Julie Freymann iſt eine ſtrenge 
censura morum, keinesfalls aber eine Apotheoſe, und der 
Beweis felbftändigen Urtheils, das dem Verftändniß unferer 
Claſſiker nur förderlich fein kann. 

Bogumil Golg gibt uns in feinen „Vorleſungen“ 
(Nr. 7) ebenfalls eine Sammlung von Eſſays, unter 
denen fich zwei üfthetifch-kritifche befinden: „Shakſpeare's 
Genius und die Tragödie Hamlet“ und „Das deutſche 
Bolfsmärchen und fein Humor“. Die Eigenthümlichkeit 
des Autors verleugnet fich aud in dieſen „Borlefungen” 
nicht; es ift berfelbe, oft geiftreich beredte, oft barod 
fpringende Stil, der Jean Paul'ſche Bilderreichthum, ein 
überans anregenbes Hinundherbligen von Gedanfenmeteoren, 
Feuerkugeln und Sternfchnuppen durcheinander, ein mit 
Lebenserfahrungen gefättigter Humor, ein oft treffender, 
oft etwas frivoler Wig, biefelbe nirgends über das Apho- 
riftifche hinausgehende Darftellungsweife, die deshalb oft 
manierirt erfcheint. Leicht ermüdet ein Reflexionshumor, 
der wohl das Talent der Schilderung, aber nicht das der 
Geſtaltung befitt, der an die Dinge ftets mit ben bun⸗ 
teften Laternen heranleuchtet, aber nichts von innen heraus 
mit dichteriſcher Schöpferkraft geftaltet. 

Auch über Shakſpeare's Genius fagt uns Golg nichts 
Neues; aber er fpricht über den britifchen Dichter mit 
Beredfamleit, mit Begeifterung. Colt hat feine ausge 
fprochenen Antipathien gegen gelehrte Weisheit, gegen 
Literaturpoefie und Literaturkritif; fobald er dies Katzen⸗ 
fell fteeihelt, fprüben gleich) elektrifche Funken heraus. 
Wenn es fich un angelernten Gelehrtenfram, akademiſche 
Bormenpoefie und philofophifche Kormelnanbetung handelt, 
kann man ihm nur recht geben; boch wirft er mandes 
mit in den Zopf, was nicht hineingehört, und was er 
nur aus autodidaltifhen Trotz gegenüber vegelrechter 
Geiftesbildung verurtheilt. Shaffpeare ift ihm ein Ber- 
treter der Lebenspoefie; er rühmt feine Philofophie, feinen 
Humor, feine tieffinnige Myſtik; in der Natur, in Homer 
und Shakſpeare find die Ausgangspunfte für eine neue 
Kunft und Fiteratur. Gegen Rümelin vertheibigt unfer 
Humorift den englifhen Dichter, er beſchuldigt den Kri⸗ 
tiler „claffifcher Marotten“, der Kunſtprüderie und meint, 
dag Formenharmonie, Afthetifche Delonomie und claſſiſcher 
Stil Forderungen von zweiten und brittem Hang find; 
er meint, daß nur Sunftpebanten oder Kumftfimpel alle 
Augenblide an ein Kunftganzes, an eine durchgreifende 
Idee erinnert fein wollen. Dagegen fieht er die Tugenden 


Gefammelte Efjans. 349 


und Schwächen Shakipeare’s als eines urgemwaltigen Poeten 
in feiner tiefen Natur, in feinen elementaren Leidenſchaften, 
in feiner alle Lebensreiche veprobucirenden Phantafie. In 
Dezug auf Motivirung proteftirt Goltz gegen den kahlen 
Saufalnerus: wir hätten felten von den nächſten Motiven 
unferer Handlungen ein Hares Bewußtjein, und mit ſchein⸗ 
bar einfahen Motiven und Intentionen verbänben ſich 
unzählbare mwahlverwandte Impulſe unferes Naturells. 
Diefe Myſterien könne kein Dichter zur Klarheit bringen, 
auch wenn er ein Piychologe vom reinften Wafler fei. 
Shalipeare habe num eben den glüdlihen Takt gehabt, 
den Wirrwarr der innern Motive und ihre Verſchlingun⸗ 
gen mit den äußern Berhältniffen ſehr enthaltfam und 
reſervirt darzuftellen, da8 Helldunkel ſtehe der Poeſie un- 
endlich beſſer zu Geſicht als eine fichtbar und taftbar 
gemachte pfychiſche Maſchinerie. 

Uns ſcheinen dieſe Urtheile einer wildwachfenden 


Aeſthetik nicht gerade den Nagel auf den Kopf zu treffen. 


Ein Helldunkel bei dramatiſchen Charakteren würde ſie 
um unſern Antheil bringen. Ohne ſtarke, allgemein ein⸗ 
leuchtende Motive läßt ſich kein packendes Drama zu Staude 
bringen, und Shakſpeare's Prarxis proteſtirt auch gegen 
die Lehre von einem Wirrwarr der Motive, welche da⸗ 
gegen ſehr viele confuſe Dichterlinge für ihre in zweifel⸗ 
after Beleuhtung ftehenden Schöpfungen in Anfprud) 
nehmen könnten. Rümelin's Zabel trifft auch weniger 
die Motivirung der Charaftere als diejenige der Situa- 
tionen, mit denen es Shaffpeare, geſtützt auf feine ver- 
wandlungsfähige Scene, leichter nimmt, als einem die 
wirflichen Lebensverhältniffe fcharf ins Auge fäflenden 
Realiften annehmbar erfcheint. Die Motive, welche bie 
Handlungsweiſe feiner Perfonen beftimmen, find ſtark und 
mit echt dramatischer Fracturfchrift hervorgehoben, 

Goltz ifl gegen alle äfthetifchen Rubriken eingenommen. 
Nachdem er das „unergründlic einzig ſchöne“ Drama 
„Hamlet“ und feine Helden in einer Auffaffung, welche 
der Viſcher'ſchen am nächſten fommt, erläutert bat, fügt 
er am Schluß Hinzu: 

Sn diefem „Hamlet“ werben wir endlich von den unpoetifchen 
Grenzſcheiden erlöſt, welche die Poetik zwiſchen der Iyrifchen, 
der epiſchen und der dramatiſchen Poeſie, zwiſchen den fittlichen 
und den poetiſchen Intentionen, zwiſchen der naiven und ſenti⸗ 
mentalen Dichtung gezogen bat. Dieſe Shakſpeare'ſche Wunder⸗ 
Tragödie iſt plaſftiſch und muſikaliſch; ſie Hat einen antik im⸗ 
manenten Verſtand und nicht minder eine romantiſch traus⸗ 
ſcendente Seele. Ein antikes Schickſal rächt nicht nur die ge⸗ 
meine Miſſethat, ſondern zermalmt auch den Träger einer freien, 
verfeinerten Bildung und Organiſation, welche über die Cultur 
und Forderung der Nation wie der Zeit hinauswuchern will. 
Dies ſymboliſche Drama iſt lyriſch und dramatiſch in demſelben 
Athem; lyriſch im Helden und ereignißſchwanger in der Fabel. 
Die Mifſſethat rollt von den Gletſchern geflihlloſer Selbſtſucht 
wie ein Eisſtück herab, das zur Lawine geworden bie bewohn⸗ 
ten Thäler zerfiört. Hamlet felbft ift ein epifcher Held, nur 
mit dem Unterjdhiede, daß er Löwen, Schlangen und Draden 
in feinem eigenen Bufen, mit Bernunft und Mitleidenfchaft zu- 
gleich, alſo in potenzirter Geſtalt befümpfen muß. Er ift ein 
nach innen gefehrter Hercules, der fi von Anfang bie Enbe 
ſelbſt —— indem er Mutter, Onkel, Jugendfreund, Geliebte 
und ſeine eigene weich geſchaffene Seele, ja ſeine Vernunft⸗ 
bildung, mit einen ihm vom Schichkſal aufgezwungenen brutalen 
Heldenthum zu Grunde richten muß. 

Wir fehen, der Humorift liebt es, alle Dichtgattungen 
in einen poetifchen Urbrei zufammenzurühren, im Gegen- 


ſatz zu Leffing, der auf ſcharfe Sonderung mit Recht das 
Hanptgewicht legte. Es kommt aber bei dieſer Geift- 
reichigfeit nichts Haltbares zu Tage. Das Schidfal von 
Hamlet ift durchaus fein antikes, jondern ſteht im Gegen- 
fag zum antilen Fatum der Dreftie. Daß das Drama 
„lyriſch im Helden” und der Held felbft dabei ein 
„epifcher Held“ iſt — diefe Behauptungen laufen doch 
nur auf ein verwirrendes Spiel mit unflaren Begriffen 
hinaus. Golg mag bie Poetik ignoriren, doch nicht ihr 
Handwerkszeug verkehrt anwenden, 

Anfprechender ift der Auffag: „Das beutfche Volks⸗ 
märchen und fein Humor.“ Colt hat feinen und tiefen 
Sinn für das Leben des Volks und das Leben der Kind⸗ 
beit; bier aber ift die Heimat bes Märchens. Die „Er- 
innerungen aus der Kindheit” find fehr anfprechend; das 
Alter aber wird nicht fo weihevoll und mit vielem Mis- 
behagen gefchildert, obgleich eine Fülle pfychologifch feiner 
Bemerkungen und jcharfer Beobachtungen in diefe Schil- 
derung verwebt find. Goltz befennt von fich felbft, daß er 
jest Todesgrauen, Gewiflensängftigung und feine rechte 
Lebensgegenwart mehr babe. 

Der ganze erfte Band ift einer Sittenfchilderung der 
Ehe wie der Frauen gewidmet; es ift dies die Biccolo- 
flöte, welche der Humor von Golg mit befonderer Bir- 
tuofität zu blafen verfteht. Hippel und Jean Paul ha- 
ben in unferm Humoriften hier einen ebenbürtigen Nach- 
folger erhalten. Das Grundthema feiner Orientirungs- 
verſuche ift, daß er die Männer als die Träger des Gei⸗ 
fies, die Frauen als die bevorzugten Organe ber Natur 
erfaßt. Auf das Thema laſſen ſich alle Variationen zu- 
rüdführen. Daß es den gelehrten Frauen babei nicht fon= 
derlich gut ergeht, ift von felbft einleuchtend; doch den 
Stubengelehrten geht es nicht befier. Weibliche Detail- 
züge aneldotiſcher Art, fein beobachtet und Heiter dargeftellt, 
bilden die Arabesfen eines Gemäldes, das felbft wieder 
aus krauſen Arabesken eines funkelnden Humors und ſei⸗ 
ner leuchtfäferartigen Flüge befteht. 

Zu bedauern find nur bie häufigen Wiederholungen, 
die bei forgfältiger Redaction ſich wohl hätten ausmerzen 
laſſen. Richt blos einzelne Gedanken, jondern ganze große 
Gleichniſſe wiederholen fih. So finden ſich die nachfol- 
genden Säge fowol in der Einleitung zu den Anden- 
tungen über allerlei Frauenmalheur (I, 255) als auch 
in der Einleitung zu dem Auffage über das deutſche 
Bollsmärchen (II, 221): 

Wer Frauen und Menſchen aus der Maffe des Volks 
Ihärfer ins Auge faßt, den erinnern fie an die Gartenkünſte 
um altfranzöflichen Stil: — berfeümittene Heden und gefchorene 
Laubwände, liniirte, mit Kies geebnete Gänge; alle Naturwüch⸗ 
figfeit ſcheinbar gezähmt und regulirt: aber im Untergrumde 
werden die Wurzeln vom Erdreich und in den Lüften die 
DBaumfronen ernährt, und wenn's ein naffes Jahr gibt, oder 
die Gartenkunſt Paufen madıt, fo wächſt in ſechs Boden eine 
Wildniß, welche nicht nur die Spatiee und Gänge übertondhert, 
fondern aud) den marmornen Weltweifen mit den Liebesgöttern 
in die Wette grüne Alongenperrüfen macht. 


Man kann nichts dagegen haben, wenn Schriftfteller 
ſich ſelbſt beftehlen, wie der nachtwandelnde Geizige in 
der Novelle von Balzac; doch in derfelben Sammlung 
müßten derartige Wiederholungen vermieden werden. 

Rudolf Gottſchall. 


Die Kaiferlih Leopoldinifhe Akademie. — Feuilleton. 


Die Kaiferlicd) Leopoldinifche Akademie. 


Zur Berfländigung aller der bei der letzten Prüſidentenwahl 
entflandenen Misverfländniffe und Misgriffe. Allen Mit- 
gliedern der Kaiſerlich Leopoldinifc, - Karoliniihen Alademie 
dentfcher Raturforfcher vorgelegt von &.Hermann Schauen. 
bnrg. Quedlinburg, Baſſe. 1870. Gr. 8. 6 Nr. 

Die Lepoldinifche Afademie iſt nicht nur eins der 
älteften Inſtitute der Art in Deutfchland, fondern auch 
ein urjprünglich ſehr bevorzugtes und felbftändig freies. 
Ihr lag und liegt nur die Cultur der Naturwiffenfchaften, 
nicht deren Lehre ob; zu Mitgliedern wurden und werben 
nicht altverbiente Forſcher und Denker ernannt, fie für 
ihre Leiftungen zu belohnen, fondern jugendliche Geifter 
vol ernften, echten Eifers für die Wiflenfchaft, fie zu 
weitern und belangreichen Arbeiten anzufpornen, fie ma- 
teriell zu unterſtützen und jedenfalls für geeignete Drud- 
legung ihrer Schriftwerle zu forgen. So war die Ale: 


bemie eine höhere Stufe der Univerfitäten, denen zugleich 


mit der Cultur die Lehre aller einzelnen wiſſenſchaftlichen 
Disciplinen obliegt. 

Jedenfalls ift dieſe Akademie ein echt beutjches In⸗ 
ftitut, ihren Privilegien und Statuten gemäß eigenthüm⸗ 
lich in feiner Art und feinen Aufgaben. 

Es TYiegt in der Natur wie aller Dinge fo aud 
folder Inſtitute, daß auch fie fi dem Forderungen der 
vorſchreitenden Zeit anzubequemen haben, daß auch fie 
Borfehritte machen milſſen; allerdings nicht in ihren Auf⸗ 
:gaben, die ihr Weſen find und die fie nicht modi- 
ficisen dürfen, ohne dieſes eigenthümliche Wefen und ihre 
ganze: Exiftenz zu geführden. Aber hinſichtlich der rein 
änerlichen Art und Form muß die Alabemie fi ent- 
wirfelungsfähig machen und erhalten, denn nur dadurd) 
erhält fie fih im der Lage, ihre Aufgaben erfüllen zu 
nen. 

Diefem Ziele zuſtrebende Schritte find feit geraumer 
Zeit verfucht, aber ohne Anwendung der richtigen Mittel 
und ber erforderlichen Energie und deshalb ohne Erfolg. 
Denn man muß ſich Mar machen, dag Alademiereform 
identisch ift mit Vergichtleiftung auf namhafte Privilegien 
feitens der akademiſchen Beamten, ſowol des PBräftdenten 
als der Adjuncten, und daß demnächſt bie alademifchen 
Aemter anfhören werden glänzende Sinecuren zu fein, 
fondern ſchwierige Arbeit fordern. 


Es fei nur kurz darauf hingewiefen, daß die Reopoldinifche 
Akademie unter der Regierung ber Präfidenten feit Wendt 
und Nees in ihren Aemtern faft nur Votaniler, refp. 
Specialiften in den Seitenzweigen der Bippofratifchen 
Wiſſenſchaft gehabt hat, daß in den afademifchen Schrife 
ten nur andnahmöweife die eigentliche Medicin bedadıt 
wurde. Wichtiger ift e8, daß feit Einführung des Scröf- 
ſchen Wahlmodus, der die Adjuncten allein mit ber Wahl 
des Präfidenten beauftragt und das Collegium der Afa« 
demifer nur als contribuens plebs behandelt, eine innere 
eigentliche Akademie der Adjuncten entflanden ift gegen- 
über der äußern, re vera imagmären Alademie ſämmt⸗ 
licher Mitglieder, zur Zeit über. 300, während e8 nur 
etwa ein Dutend Adjuncten gibt, untereinander befreum- 
dete und fich gegenfeitig begünftigende Beamte, zum Theil 
wirklich gelehrte und verdiente Männer. Die Dligardjie 
derfelben artete oft in derart kleinliche Cameraderie aus, 
daß Männer wie E. H. Weber, Bunſen u. a. aus ber 
Adjunction fi) zuritdzogen und das Eingehen der Ala⸗ 
demie als eine felbftverftändfiche und gleichgültige Sache 
betrachteten. 

Seit Fahresfrift nun hat Kiichenmeifter, Medicinal⸗ 
vath in Dresden, gegen biefen auf abuflve Wahlformen 
bafirten Schlendrian eine glänzende Fehde begonnen und 
aud) den Nachfolger des Präfldenten Carus, Gcheimen 
Hofrath 2. Reichenbach, von ber Richtigkeit feiner Reform: 
ideen zu überzeugen gewußt; er ftcht in rühmlicher Oppofie 
tion feft gegen das Kollegium ber Adjuncten, welche auf 
ihre Prärogative nicht verzichten wollen und in dem Ad⸗ 
juncten Behn einen geeigneten Gegenpräfidenten aufgeftellt 
zu haben glauben. ‘Die Umtriebe behufs Seitenerwählung 
Behn's erzäglt und beleuchtet obengenannte Schrift von 
Schauenburg, Kreisphufitus in Ouedlinburg, und, da fie 
überall nur Thatfahen ſprechen läßt und auf Briefe des 
Prüfidenten Reichenbach und des Senioradjuncten Bifchof 
geftügt ift, fo liberzeugend, daß eine Widerlegung kaum 
noch möglich) erſcheint. Braun, Botaniker in Berlin, hat 
deshalb auch auf jede Widerlegung iu feiner letzten Schrift 
verzichtet und Tämpft nur gegen Stüchenmeifter und Re⸗ 
naud für die Hinfälligen Privilegien der Adjuncten, vor» 
ausſichtlich ohne Erfolg. 





Fenilleton. 


.Otto Ludwig's gefammelte Werte. 

Otto Janke's „Nationalbibliothekt neuer deutſcher 
Dichter“ enthält in zwanzig Lieferungen (fünf Bänden) „Otto 
Ludwig's gejammelte Werke”. Es erfcheint als verdienſtlich, 
daß biefe Rationalbibliothet durch ſolche Geſammtausgabe Dich- 
tungen in weitern Kreiſen verbreitet, beren Popularität nod) 
nicht im Berhältniß zu ihrem inmern Werthe fieht. Die geifl- 
volle Einleitung von Guſtav —— welche unſers —3*— 
bereits in deu Grenzboten“ zum Abdruck gekommen iſt, zer⸗ 
gliedert die Eigenthümlichkeiten von Otto Ludwig's dichteriſchem 
Schaffen mit feinem Verſtündniß. Nur ſcheint uns nicht genug 
der fomnambule Zug hervorgehoben, ber in biejen vifionären 
Farberrerfheintungen liegt, die nad) des Dichters eigenem Be⸗ 
fenntniß fein inneres Schaffen und Geftalten begleiteten. 


Angeordnet ift die Sammlung von Dr. Lücke; dabei ifl das 
eigenthümliche, aber entſchuldbare Malheur paffirt, daß zwei 
Zrzählungen mit aufgenommen worden find, welche einen au- 
dern Bertaffer haben, den vollftändig gleichnamigen Kreisrid: 
ter Otto Lubwig ans Reichenbach in Schlefien, und aus beffen 
Nachlaß veröffentlicht worden find. Diefe Srzählungen erſchie⸗ 
nen in dem von F. A. Brochaus herausgegebenen Taſchenbuch 
„Urania“ und zwar die eine: „Der Todte von Gt.» Auna’s 
Kapelle‘ in dem Jahrgang 1840, die andere: „Neden ober 
Schweigen” in dem Sahrgang 1848. Die Brodhaus’iche Ber- 
lagsbuchhandlung glaubte jelbft an die Identität des Verfaſſers 
mit dem eißfelder Otto Ludwig, bis ſich aus ihren Archiven 
der wahre Sachverhalt herausſtellte. Aeußere Gründe wiber- 
ſprachen anfangs der Aufnahme nicht; bei genauer Prüfung 





—— —üe — —— — — 
ẽ 


Feuilleton. 351 


der Stoffe, des Stils und der Darſtellungsweiſe hätten indeß 
dem Herausgeber doc Bedenken aufſtoßen ſollen; denn die Ge⸗ 
ſellſchaftskreiſe, melde der Gerichtsafjefjor (hifdert, lagen dem 
einfamen thüringifhen Dichter gänzlich fern; die eingehende 
Darftelung der Gerihtsverhandlungen befundete den Fachmann, 
und der Stil jelbft war zwar frifh, aber conventionell, ohne 
die unverlennbaren Eigenthlimlichkeiten der oft harten, unge 
lenken, aber an originellen Bildern reihen Proſa des {hlicingie 
ſchen Dichters. 

Bon dem Dramatiter Dtto Ludwig enthält die Samm- 
lung einige Fragmente, ein ganz und ein halb ausgeführtes 
Stüd, die bisher noch nit zum Abdrud gelommen waren 
nnd für den Entwidelungsgang des Dichters von Interefie find. 
Namentlich zeigt das nad "Hoffmanns Erzählung verfaßte, 
vollendete Stüd: „Das Fräulein von Seudery'“, die Abhängig- 
keit des Dichters von der romantifhen Schule. Der Stoff iſt 
ohne wahrhaft tragifches Intereffe; die Charaktere, namentlich 
derjenige des bizarren Goldſchmieds, der ſeine Kunden ermor⸗ 
det, um ſeine Juwelen wieder zu haben, erinnern an ähnliche 
abnorme pſychologiſche Eharalterrounder der nenfranzöftichen 
Schule, wie wir fie namentlih bei Balzac und Bictor Hugo 
finden. Die Ausführung gibt die ſchönſten Proben ‚jener, dra- 
matiſchen „Kraftdramatil”, die wir in unferer „NRationalliteratur” 
als eine durchgehende Richtung des neuen deutihen Dramas 
bezeichneten. Neben genialen Gedanken von tiefer Urſprüng⸗ 
lichkeit gebt die geſchmackloſeſte Bizarrerie einher, und die dich⸗ 
teriſche Form ift ebenfo oft verzerrt umd nnfhön, als bedeutfam 
und im Lapidarſtil ausgeprägt. 

„Das Fräulein Seudery“ ging den befanuteften Werken 
von Otto Ludwig vorans, dem „Erbförfter" und ben „Malka⸗ 
bien‘. Die andern Fragmente find von fpäterm Datum. 
Driginell ift das bis über die Hälfte vollendete Schaufpiel: 
„Der Engel von Augsburg‘, concipirt. Die Heldin, Agnes 
Bernauer, ift nicht das holde traute Bürgermädden, das fid) 
in Liebe dem hoben Herrn Hingibt, wie wir gervöhnt find es 
in andern Stüden bargeftellt zu fehen, welche dies Thema be⸗ 
handen. Es ift eine Schöne von ehrgeigigem Streben, die 
glei; mit der Schauftellung in einem SHexenfpiegel anftritt. 
Bom romantiſchen Hcrenfpiegel bis zur modernen Drehſcheibe 
ift fein fo gewaltiger Sprung. In dem Streben, feine Heldin 
nit nad) der Schablone zu zeichnen, ift e8 nun aber dem 
Dichter paffirt, daß er einen ziemlich unliebenswärdigen Gras- 
affen aus ihr gemacht bat. 

Aug) Friedrid) deu Großen wollte Otto Ludwig zum Hel⸗ 
den eines Schauſpiels machen, von welchem nur das Vorſpiel: 
„Die torgauer Heide‘, vorliegt, ein Srieg- und Lagerbild im 
Stil von Grabbe's Schlachtendramen. Das bedeutendfle Frag⸗ 
ment ift der erſte Act eines „Tiberius Gracchns“; es enthält 
Stellen von großer dichterifher Schönheit; nur war nad) ben 
Mittheilungen aus dent Nachlaß Ludwig's zu beflicchten, daß 
er den Charakter feines Helden nad) allzu peinlicher drama⸗ 
turgifcher Analyſe verlünftelte. Dieſer uns befannte Nachlaß 
enthält, außer allerlei Ercerpten und Schulſludien doch fo viel 
dramaturgifch Intereffantes, für Ludwig's einfeitige und befon- 
ders fchillerfeindliche Kichtung Bezeichnendes, daß wir geru 
eine Auswahl aus demſelben den ‚„‚Gefammelten Werken“ 
hätten einverleibt geſehen. 





Bibliographie. 
Biedermann, W. Freih. v., Zu Goethe's Gebihten. Leipzig, 


a en 10 Nor 
Sa Sie ‚Sorte a zum Be an ben Er Ha Todes» 
an rchtegott Geller ern, Huber u. Com Nor, 
108 & ii n is 9. d., Die Geliebte des Prinzen. Novelle. Bern, 


L .8. 5 Re 
i as heilige and: Autorifirte Ausgabe für Deutſch⸗ 
tend. Rad der Men m a auf. ‚ud dem bem Gnsligen von I AR. —S 
a Pr 2 Das Ber ältaih © —3 zum Chriſtenthum. Bor⸗ 
trag. Erlangen Deidert. Br. 8. 


5 
SI;e, 8., Lord Byron. Berlin, Oppenpeim, Dr. 8 2 ar. 
altland, H., Gedichte. Wien, Faeſy u 1 Thlr. 
iſcher, K.Geiſchi He bes —ãA Ratte er Friebe I. deipzig, 
Dander n. Dumblot. Gr. 8. 24 Ngr. 


Frank, F. H. R., System der christlichen Gewissheit. 1ste Hälfte. 
Erlangen, Deichert. Gr. 8 1 Thir. 22 Ngr. 

Geibel, E., Sophonisbe. Tragäbie. 8te Aufl. Stuttgart, Cotta. 
8. 1 Zhle. 5 Sir. 

Blafßbrenner, A., Gebite. Ste vermehrte und verbefferte Aufl. 
Berlin, Brigl. ®r. 8. 1 The. 10 Ngr 

©. Straf, Mesa Üencen., Roman. 3 Bde. Berlin, 
Handfreund-rpebltion, 8, * Thlr. 
T., Weber b gie ehtigen, *Oranbbedingungen theologifcher 
Foicait Bier, Son. Gr. Un Nor: 
rieß, 9. K. A. v., Staat und Kirhe oder Irrthum und Wahr: 
Pan Y "den srftellungen von en Staat und von „freier Kirche. 
eipzis Dunder u. Humblot. 
ansen, K., Die ersten Regungen eines staatsbürgerlichen und na- 
ionalen. Bewusstseins in Schleswig-Holstein. Kiel, Uuiversitätsbuchhand- 
lung. Gr Ngr. 

Kaufmann, G., In wie weit darf die Geschichtschreibung subjectiv 
sein? Eine Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung von B. Erd- 
maunsdörfer. Zur Geschichte und Geschichtschreibung des dreissigjähri- 
gen Krieges in H. v. Sybel’s ner Zeitschrift Bd. 14. Göttingen, 

nopman u. a: RB hant „on 
o utaſie und enbarung. Letztes Wort 
wider Ser, Brof. Dr. $ eıpfins — 5— Gr. 8. % 3 
Kretz ſchmar, W., Ein feommer — Original·Roman. 3 Bde. 


Berlin, fatgmann u. Comp. fein. Kup & eine Geſchichte, bie nicht mit 
an oßen fein. Au eine te, bie nit mit ber 
Deirat ueßt se Leipzig, Rötſchke. — — 
Ph Ein Jub benmäbßhen, Roman. 2 Die. Berlin, Saus- 
—2——— 8 2 Thlr. 15 Nor. 
, &., Washington Serine, „Ein gebend» unb Charalterbild. 
2 Be. "Bern, Dppenheim. 3. 2 10 
Marpurg, O,, Briefe g Wer religtöse Dinge. iste Folge. Leipzig, 
Dunaner u. — u 34 Gedi 
ahr⸗ er, J. Wo ten. edichte. 2te Ausgabe. Graz, Ber- 
lag des „Leytam“. Gr. 8 Ngr. ’ 8 ’ 
Noack, L., Die Pharaonen im Bibellande. Ein Ueberblick der äl- 
testen aegyptischen Geschichte in Ihrem gusammenhange mit der bibli- 
schen, Sbellenftrauß. Fler Bon * Fic 32 Der: 
ovelfenfirauß. 13ter adtviole von €. Zaftrom. Leipzi 
Rötjchte, 8. ı Zhlr. 9 Saft valß, 
Raten, H., Geschichte der Universität zu Kiel, Kiel, Schwers. 
Gr. 8 1 Thlr, id Ngr. 
Dio Reform der proussischen Verfassung. Leipzig, Dancker u, Hum- 
blot. Gr. 8. 1 Thlr, 15 Ngr, 
Rohlfs, @G., Land und Volk in Aka Berichte aus den Jahren 
1565 — 1870. "Bremen, Kühtmann u. Com p- Gr. 6. 1 Thlr. 10 Nge. 
Nuffe $., Aus drei Welten. Aus dem En Ligen von M. 
Walde 3 Bde: Berlin, Langmann u. Comp. 8. 3 
Saintine, X. B., Picciola. Rad ber 42ten berne en unb vers 
beffexten Isanzöfiigen Kin. Bar von A. W. Peters. Bremen, Küht⸗ 


mang * — % 

Bon Ahtinboier ga bis Einunbfünfsig. Eine Komöbie 

ber — Bet ai 2ler Bd. 2te eo Bi Leipzig, O igand. Gr. 8, 
t, 

um dee K., Die Siegessäule Mesa’s, Königs der Moabiter, 
Ein Beitrag zur hebräischen Aorthamskunde, Halle, Buchhandlung des 
a mibt, ae 12 N ei g 

m . er aus dem geiftigen eben unferer Zeit. Leipzi 
Dunder u Humblot. &r. 8. 2 Thir. 20 Near ſerer 8 pꝛis. 
chrenck, A. v., Von der —— Nomanzen und Balladen. 
Leipzig, Weber. 16. 3 Thlr. 

Schulze, R., Die Wahrheit wird ench frei machen. Ein Trost- 
— Mahuruf an die streitendo Kirche. Alteuburg, Schnuphase,. Gr. 4. 
6 

Star de, R., Diavola bie Geheimnißvolle, ober der Kampf eines 
Weibed. Roman nadı einer wahren Begebendeit. iſte und 2te Lief. Ber⸗ 
Un, Sacıs Nachſ. Gr. 8. à 3 Nur. 

owe, Harriet Becher, Die Leute von Oldtown. Roman, Aus 
dem —— überfegt von 3. N. Heynrichs. Antorifirte Ausgabe. 
# Bor. erlin, Sanfte. 8 4 Zhlr. 
Zheiler, H. Rigiblumen. Gebidhte. Luzern, Prell. 8, 10 Ngr. 

Thomsen, W., Ucber den Einfluss der germanischen Sprachen auf 
die finnisch - lappischen. Eine sprachgeschichtliche Untersuchung. Ans 
dem dänischen übersetzt von E. Bievers und vom verfusser durchge- 
schen. ünfeg Wartelinge,, ir ——— Gr. * ı Thlr. 

ie Unfehlbarkeitsfrage. Eine Beleuchtung ber in ben ‚oreölaner 
Hansblättern” enthaltenen Gloſſen zum Banken Dölfingers in der Un« 
teblöazteitöfrage er ben Suftimmungdabreffe beutfcher eh Bres⸗ 
au, Mar u. Comp. Gr. 8 

Ungarns Staatdmänner, Bariheifüßrer und ubliciften ber nationalen 
unb Raatti en Wiebergeburt 1825-— 1870. ert für beutie Leer 

Berfaffer_ber Werte: „Moderne Sinbere —* „Franz ir 3. 
(1ftes Heft.) Berlin, Eichler. Gr. 8. 10 Nr. 

Usiuger, R., Das Köni a der Ottonen und Baller. Kiel, Uni- 
versitätsbuchhandlung. 4. 3 

Virchow, R., Die siamesischen Zwillinge, Vortrag. Berlin, A, 
Hirschwald,. Gr. 8. 5 Ngr. 

Voigt, G., Die Denkwürdigkeiten (1207—1238) des Minoriten Jor- 
— von Giano herausgegeben uud erläutert. Leipzig, Hirzel. Hoch 4. 

gr. 

Populär - naturwissonschaftliche Vorträge über neuere Forschungen. 
6tes Heft: Ueber Luftelektricität, Nebel und Höhenrauch. Nach Unter- 
suchungen (les Verfassers von F. Delimann. Kreusnach, Voigtländer. 

r. 8, gr 
or. Win adelband, W., Die Lehren vom Zufall. Berlin, Henschel, 

8. gr 

Die Zukunft Polens. Eine ethnographisch - histerische Studie von W, 
N. Breslau, Gebhardi. Gr. 8. 5 Ngr. 











Anze 


— 


Verſag von S. A. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 


Der Nibelunge Nöt 


ınit den Abweichungen von der Nibelunge Liet, den Lesarten 
sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuch 


herausgegeben von Karl Bartsch. 
Erster Theil. Text. 8 Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. 


Diese grössere kritische Ausgabe des Nibelungen- 


lieds von Karl Bartsch bildet den Abschluss von dessen 
Forschungen über unser altdeutsches Nationalgedicht. Sie 
enthält in dem vorliegenden ersten Theil den Text beider 
Bearbeitungen, sodass aus der Nebeneinanderstellung klar 
wird, wie sich beide zueinander und zu ihrer gemeinsamen 
Quelle verhalten. Der zweite Theil, der bald nachfolgen 
soll, wird den vollständigen kritischen Apparat und ein 
den Wortvorrath erschöpfendes Wörterbuch bringen. 

Durch den sehr billigen Preis für diesen (27 Bogen 
gr. 8. umfassenden) ersten Theil wird die Einführung des 
Werks in Gymnasien und der Gebrauch bei akademischen 
Vorlesungen erleichtert. 





Derfag von 5. A. Brockhans in Leipzig. 


Soeben erschien: 


Altdeutsche Grammatik, 


umfassend die gothische, altnordische, altsächsische, 
angelsächsische und althochdeutsche Sprache. 
Von 


Adolf Holtzmann. 


Erster Band. Erste Abtheilung. Die specielle Lautlehre. 
8 Geh. 1 Thir. 20 Ngr. 

Der berühmte Gelehrte übergibt mit diesem Werke die 
Resultate seiner vieljährigen Studien der Oeffentlichkeit. 
Neben ausführlicher Darstellung der obengenannten fünf 
altdeutschen Sprachen wird auch das Friesische, Niederlän- 
dische, Mittelhochdeutsche u. s. w. im allgemeinen Theil 


‘der Grammatik berücksichtigt, und jede Regel ist durch 


zahlreiche Beispiele erläutert. Das Werk soll drei Bande 
umfassen, doch bildet der vorliegende Theil, die specielle 
Lautlehre der einzelnen Sprachen enthaltend, auch für sich 


ein geschlossenes Ganzes. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Wahrheit, Schönheit und Liebe, 
Philoſophiſch⸗äſthetiſche Studien von 
Bichor Granella. 

8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 20 Ngr. 

Der Verfaſſer, ein katholiſcher Geiſtlicher, Hat in den reli⸗ 
giöfen Gedankenreihen dieſes Buchs — das fich bereits zahl⸗ 
reiche Freunde erworben hat — mit tiefer Einfiht auf den 
Dualismus zwifchen der Geiftesfreiheit des Evangeliums 
und der Uufreiheit des kirchlichen Standpunkts hin- 


gewiefen und die Ideale ewiger Wahrbeit, Schönheit und Liebe 
mit durchſichtiger Klarheit beleuchtet. 


Anzeigen. 


igenm 


— — 


:Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erſchien: 


Bunfen’s KBibelwerk, 


Sechster Band. 

(Eifter und zmwölfter Halbband.) 
Herausgegeben von Heinrich Sulius Holymann. 
Inhalt: Die Jüngern Propheten und die Schriften. 

8. Geh. 2 Thlr. 20 Ngr. Geb. 3 Thlr. 

Bunſen's Bibelwerk liegt hiermit vollendet vor; der 
flebente bis nennte Band find ſchon früher erfchienen. Das 
berühmte Werk ift jetzt vollffändig auf einmal, gebeftet 
und gebunden, oder in drei Abtheilungen (die aud) einzeln 
—5— werben), oder in 18 Halbbänden durch alle Bud- 

andlungen zu beziehen. | 

Um die Aufhaffung des Werks noch mehr zu erleichtern, 
veranftaltet die rd demnädft eine 

neue Audgabe in 30 Sieferagen zu je 20 Ngr., 
worauf ſchon jeßt Unterzeihnungen angenommen werden. 

Bunfen’s Bibelwert foftet vollfländig in 9 Bän- 
den geh. 20 Thlr., mit Bibelatlas 21 Thlr.; geb. 23 Thlr., 
mit Bibelatlas 24 Thlr. Die erfie Abtheilung (Bibelüber- 
fegung) in 4 Bänden koſtet geb. 10 Thlr., geb. 11 Thlr. 
10 Ngr.; die zweite Abtheilung (Bibelnrkunden) iu 4 Bän- 
den geh. 8 Zhlr. 10 Ngr., geb. 9 Zhlr. 20 Ngr.; die dritte 
Abtheilung (Bibelgeihichte) in 1 Bande geh. 1 Thlr. 20 Ngr., 
geb. 2 Thlr.; der Bibelatlas cartonnirt 1 Thlr. 





Derlag von 5. A. Brockhans in Leipzig. 
Dr. Slügel's 
Praktiſches Wörterbud 
Englifhen und Deutfegen Sprade. 


Dritte Auflage, neunter dur geeſehener nnd verbefferter 


ru U} 
Zwei Theile. 8. Geh. 5 Thlr. Geb. 5 Thlr. 20 Near. 
Engifg-deutfher Theil: geh. 2 Thlr., geb. 2 Thlr. 10 Nor. 
Deusfhenglifher Cheil: geh. 3 Thlr., geb. 3 Thlr. 10 Nor. 
Flügel's englifch-deutfches und deutfchenglifches Worterbuch 
(früher Berlag von Joh. Ang. — In Sambnrg) gilt all⸗ 
gemein als das vorzligliäfte für den praftiichen Gebraud. Es 
iR in feinen verſchiedenen Auflagen immer mit den Bedürf⸗ 
niffen der Zeit fortgefchritten und enthält die Ausdrücke des 
täglichen Berlehrs ſowie die im Handel und in den Gewer⸗ 
ben, in ber Kunft und in den Wiffenfchaften gebränchlichen 
Wörter in größerer Vollſtändigkeit als andere viel umfängfichere 
und theurere Werke. 





Verlag von 5. A. Broddaus in Leipzig. 
Gedichte 
von 
Adolf Ritter von Tſchabuſchnigg. 


Dritte Auflage. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Rgr. 


Die Gedichte Tſchabuſchnigg's (gegenwärtig öſterreichiſcher 
Dinifter), bereit6 im zwei Auflagen verbreitet 8 liegen ve m 
einer bedentend vermehrten dritten Auflage vor. 





Berantivortlicder Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Druck und Berlag von 8. A, Brockhaus in Leipzig. 





cd 


Blätter 
literariihe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erfcheint wöchentlich. 


—e Ar. 23. Pr- 


2. Juni 1870. 





Inhalt: Neue lyriſche Gedichte. — Preußifhe Geſchichte. 


Bon Sand Prug. — Johann Georg Hamann. 


Bon Morig 


Carrier. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Vene Iyrifche Gedichte. 


. Reue Gedichte von Wilhelmine Gräfin Widenburg- 

Almafy. Wien, Gerold’s Sohn. 1869. ®r. 16. 1Thir. 

. Gedichte von Elifabetb Guzkowski. Berlin, Ebeling 

und Plahn. 1869. ®r.16. 1 Zhlr. 

Gedichte von Augufte Zind. Berlin, Arnold, 1869. 

®r. 16. 20 Nor. 

Gedichte von F. Manfried. Berlin, Mittler und Sohn, 

1869. 16. 20 Ror. J 

Jugendparadies. Dichtungen für Iung und Alt von Emil 

Taubert. Neu-Ruppin, Petrenz. 1869. 8. 15 gr. 

Gedichte von Theodor Goltdammer. Berlin, v. Deder. 

1869. 16. 22%, Nor. 

. Ate Bilder und junge Blätter. Sonette von Georg von 

Dergen. Wismar, Hinftorff. 1869. 8. 20 Rgr. 

. Seite von F. 3 F. Hohmuth. Luxemburg, Brüd. 

1869. ®r. 16. 6 Ngr. 

. Beachte von Wilhelm Stein. Stuttgart, Böfchen. 
9. 8. 15 


1869. 8. 15 Nor. 

10. Gedichte und —* von C. Hoffmann. Stuttgart, J. F. 
Steinkopf. 1869. Gr. 16. 18 Ngr. 

11. Offenes Biſir! Zeitgedichte von Friedrich Kraſſer. Ham⸗ 
burg, DO. Meißner. 1869. ©r. 16. 10 Nr. 

12. Perpetna. Erzahlendes Gedicht in drei Gefängen von 
Guſtav Bafig. Schneeberg, Goediche. 1869. 16. 10 Nur. 
Der Kritiler, wenn er das Gebiet der modernen Lyrik 

betritt, befindet fi in einer ähnlichen Lage wie jener 

Philoſoph von Sinope, da er in den Gaſſen von Athen 

mit feiner Laterne nach einem „Menſchen“ fuchte. Denn 

eine eigengeartete, groß und energijch ausgeprägte Dichter- 
phyſiognomie ift felten, felten wie der „Menſch“ des Dio- 
genes, Im der Lyrik ift e8 einzig die Hinter den Pro⸗ 
ducten ftehende bedeutende Perfönlichfeit des Dichters, 
welche denſelben ihren Werth verleiht, indem fie ihnen, 
wie die Muſchel der feuchten Thonerde, ihr eigenes, ſcharf 
umriffenes Bild aufprägt, zugleich aber das Colorit ihrer 

Zeit mit hinübernimmt in diefe Producte. 

Wir finden nad) Maßgabe dieſer principiellen Boraus- 
ſetzung in der ganzen Serie der uns heute vorliegenden 
Lyriker alten und nenen Datums neben einigen beachtungs- 
werthen Talenten nur eine einzige volle dichterifche Phy- 

1870. 23. 


SS OO 1 nn m an m m 


fiognomie. Das alte Klagelied vom Pygmäenthum ber 
Poeſie von Heute wollen wir nicht mit anflimmen — 
der Bogel Apollon’8 war eben von je und zu allen Zeiten 
eine feltene Erjcheinung unter den Dohlen des Marktes. 
Aber es flötet unter ihnen dennoch mancher hübſche Vogel 
fein Lied, und wir laſſen es uns gefallen, lauſchen ihm 
und — vergeſſen es. 

Die ritterliche Galanterie erheiſcht es, daß wir bei 
unferer heutigen kritiſchen Revue dem ſchönen Gefchlecht 
ben üblichen Bortritt laſſen. So führen wir denn zuerft 
drei Damen in die Inrifche Arena, von benen die erſte 
bereit8 durch eine frühere Ebition von „Gedichten“ vor- 
theildaft befannt ift, bie beiden andern aber unfers Wif- 
ſens mit den vorliegenden poetifchen Sammlungen debuti« 
ren: Wilhelmine Gräfin Wickenburg⸗Almäſy, Elifabeth 
Guzkowski und Augufte Zind. Diefe Dichterinnen ge- 
bieten alle drei in gleichem Maße tiber eine gewandte, 
leichtfließende poetifche Form, die fich bei der erftern, dem 
tiefern Gedankeninhalt ihrer Poefie gemäß, hier und da 
zu kühnern und freiern Strophenbildungen erhebt, wäh- 
rend fie bet unfern beiden Debutautinnen nur ganz ver- 
ag über die Einfachheit des fangbaren Liebes hinans- 
greift. 

Wilhelmine Gräfin von Widenburg-Almdfy 
documentirt in ihren „Neuen Gedichten“ (Nr. 1) ein ſchätz⸗ 
bares Talent. Mit dem Auge des Denkers vertieft fie fich 
nad) allen Seiten hin in das Weltleben, inden fie e8 bald 
objectiv betrachtet und nachgeftaltet, bald in den bewegten 
Wogen fubjectiver Empfindung feine Gebilde wiberfpiegelt. 
Es weht eine geiftige Atmojphäre in diefen Gedichten. 
Uber fie gehen weniger in den Kern der Dinge ein, als 
fie die Peripherie derjelben mit finnreichen Arabesken 
Ihmüden. Sie find mehr poetifche Studien eines feinen 
Kopfes als Fünftlerifche Thaten einer originellen Perſdulich⸗ 
feit. Sie verrathen viel Geift und Herz, viel ©efin- 
nung und Geſchmack, aber es fehlt ihnen jene prägnante 

45° 


354 Neue lyriſche Gedichte, 


Eigentbitmlichfeit des Genies, welche fie vor andern Produc⸗ 
ten ihrer Gattung auszuzeichnen im Stande wäre. Für die 
große Formgewandtheit der Verfaſſerin fprechen Gedichte 
wie „Waldesdunkel“, welches durch wirkungsvolle Alli- 
terationen excellirt. ‘Dagegen erfcheint uns die Form bes 
Gedichts: „Sich dem Glück dahinzugeben“, virtwofenhaft 
und gemacht. ALS befonders Ar ungen find Hervorzuheben: 
„Die Wolken Binfaufend”, „Mondgeſicht“, „Glück“ und 
„Geweihter Tag‘. Die „Ungarifchen Volkslieder” treffen 
den. nplfsthütmlichen Ton glücklich und bieten viel des 
Anmuthigen. Als charakteriftifche Proben der dichterifchen 
Doppelnatur der Gräfin Almaͤſy mögen hier zwei Gedichte 
ſtehen, von benen das eine eine faſt männliche Thaten⸗ 
fehnfucht, das andere eine echt weibliche Hingebung athmet: 

Schließ dich auf, bewegtes Leben, 

zu dich meinem Sehnſuchtsblick! 

haten leihe meinem Streben 

Und ein reicheres Geſchich! 

Müuͤde bin ich dieſes Träumen, 

Diefes Bauu im Wollendunft; 

Lebenswellen hör' ih ſchäumen 

Nur im Traumbereich der Kunfl. 

Nur ein Ahnen und Errathen, 

Bie in Dämmerung gehüllt! 

Kein Erleben, keine Thaten, 

Nur ein Sehnen unerfüllt. 

Nur ein inneres „Sichfühleu“, 

Eine glühnde Thatenluft, 

Und die Schmerzen, die da wählen 

In der fehnjuchtsvollen Bruſt. 

Nur ein fill ermüdend Ringen, 

Und kein Kampf, der Ruhm verleiht, 

Nur ein Spielen mit den Dingen, 

Und der Eruft nicht, ber fie weißt. 

Schließ dich auf, bewegtes Leben, 

Zeig’ did meinem Sehnſuchtsblick! 

Thaten leihe meinem Streben 

Und ein reicheres Geſchick! 
Ferner: 

Du bifl der Stamm, ich bin die Kante, 

Du ſteheſt feſt, auch ohne mich; 

Sch aber, Liebſter, beb’ und wanke 

Und finke kraftlos — ohne did). 

Und darf ich fchmliden and dein Leben 

Und did) umklammern inniglid), 

Du mußt mich fligen, heben — 

Du bifl der Stamm — die Ranke id). 

Wenn die eben befprochene Dichterin durch Geiſt und 
Reflerion glänzt, fo beweift dagegen Elifabeth Guj- 
kowski in ihren „Gedichten“ (Nr. 2) mehr Empfindung 
ala Geift. Ihre hübſchen Lieder fließen wie ein klarer 
Waldbach aus der Tiefe bes Frauenherzens, finnig unb 
zart, wie eben nur ein ſolches fie hervorbringen Tann. 
Am meiften haben uns in diefer Sammlung bie „Lieder der 
Braut“ angefprochen. Dean höre aus ihnen das folgende: 


Meine Liebe. 
Meine Lieb’ iſt eine Tanbe, 
Die den Flug zum Himmel hebt, ° 
Losgelöt vom Erdenſtaube 
Seguend dir das Haupt umfchwebt. 
Meine Lieb’ iſt eine Roſe, 
Dir nur fpendend ihren Duft, 
Daß di ſchmeichleriſch umlofe 
Selbſt im Winter Frühlingsluft. 


Fr} 





Meine Lieb’ ift eine Duelle — 
Durd den Wüfteufand der Welt 
Rinnt fie kühl und ſilberhelle, 
Zur Erquickung dir beftellt. 
Meine Liebe ift ein Beten, 

Dir geweiht — zu jeder Frift 
Did im Himmel zu vertreten, 
Bis du dort einft heimifch bifl. 


Was diefe anmuthigen, aber freilich wenig eigenarti» 
gen Gedichte noch beſonders der Beachtung empfizhlt, iſt 
der edle Zwed, dem fie ihre Herausgabe verdanten: der 
Ertrag derfelben ift den vom Miswachs betroffenen Eften 
beftimmt. . 

Ein den liebenswürdigen Poeſien Eliſabeth Gujlows- 
ki's verwandtes Talent bekundet die Liedergabe Augufte 
Zind’8 (Nr. 3) Auch Hier iſt es die Welt des Her- 
zens, jene enge aber fo unendlich reiche Welt der Frau, 
welde und aus den gemüthvollen Strophen der Berfaflerin 
anfpridt. Es Liegt über ihnen die Beleuchtung tiefer 
Wehmuth ausgegoffen und man fühlt e8 ihnen an, daß 
an dem Lebenshimmel der Berfafferin manche ſchwarze 
Wolfe vorüberzog, Aber eine gläubige Milde geht ver- 
ſöhnend durch alle diefe Heinen Lieder. Wer fühlte fi 
nicht zugleich gehoben und gerührt durch das folgende 
Gedicht? 

Meine Mutter. 
Sie iſt nun alt, ihr Haar iſt längſt ergraut, 
Und manches ſchwere Leid bat fie ertragen: 


Drum bitt’ ih euch, wenn ihr die Mutter ſchaut, 
Der alten Yrau ein freundlih Wort zu jagen. 
Und wenn dort draußen Liegt der Sonnenſchein, 
Denn Blumen blühn und wenn die Fluren grünen, 
Ein Sträußchen legt zum Yenfter ihr hinein, 
Damit fie weiß, der Frühling fei erfchtenen. 
Wenn's jemand wagt und mir die Mutter kränkt, 
Daß ihr die Alte wader dann vertheidigt: 

Sie hat ja auch, folang’ fe lebt und denkt, 

Nicht eine Seele auf der Welt beleidigt. 

Und ift der Weg, auf dem fie wandelt, rauh, 
Dann mäßt ihr gütig fie ein Stück geleiten, 
Damit auf ſchlimmem Pfad der alten Fran 

Die ſchwachen, müden Füße nicht entgleiten. 

Und leidet fie — ich weiß, daß ſie's verfchweigt, 
Sie klagte nie — dann gebt doch zu der Kranken: 
Was ihr der Mutter Liebes je erzeigt, 

Das will ich ench, folang’ ich lebe, danken. 


Bon andern Tiederblüten erwähnen wir noch: „Sprich 
milde Worte” und „Hoffnung“. Unbebentend ift die bei- 
gegebene kurze Profa» Novellette: „Dem Andenken Friedrich 
Curſchmann's“. 

Wir glauben nicht zu irren, wenn wir die „Gedichte“ 
von F. Manfried (Nr. 4) ebenfalls als von weiblicher 
Hand gefchrieben bezeichnen, eine Bermuthung, zu welder 
ung der weiche Grundton derſelben Beranlaffung gab. 
Bon ihnen gilt das bereitS an den Liedern der beiden 
vorher befprochenen Dichterinnen Gerühmte. Sie find, 
ohne originell zu fein, meiftens warm empfunden und 
Iefen ſich gefällig,‘ Doc Läuft noch viel Unbedeutendes 
mit unter, weshalb eine Sichtung dringend geboten gewe⸗ 
jen wäre. Als Probe aus den Manfried'ſchen Gedichten 
ftehe bier: 





Der höcdfte Feiertag. 

Das ift ein rechter Feiertag, 

Wenn Herz zu Herz fi neigt — 

Was ſchen im Schacht der Seele lag, 

In Wort und Blick ſich zeigt; 

Doch dann erſt feiern wir entzückt 

Das allerhöchſte Feſt, 

Wenn Lieb' durch Liebe voll beglückt 

Kein Wort uns finden läßt. 
Als das Geſchenk eines wirklich aus innerm Drange 
fchaffenden Talents begrüßen wir das „Jugendparadies“ 
von Emil Kaubert (Nr. 5), dem Sohne des befannten 
berliner Componiſten. Diefer Dichter, welcher bereits 


früher „Gedichte und „Ein Brautgeſchenk“ veröffentlicht 


bat, gemahnt ums in der vorliegenden Sammlung lebhaft 
an ben liebenswürdigen alemannifchen Dichter Hebel. 
Denn wie jener entnimmt auch Taubert feine Stoffe der 
Heinen friedlichen Welt bes Dorfs, der Kinderftube und 
des Feldes. Es weht uns der warme Odem reiner, 
frommer Kindlichkeit und naiver Friſche ans biefem 
„Jugendparadies“ an. Wie reizend find Gedichte wie: 
„Mein Gärtchen”, „Große Wäſche“ und „Störenfried”! 
Ein wahres Cabinetſtück poetiſcher Kleinmalerei ift das 
folgende Liedchen: 
Dorffiraße am Morgen. 

Laut tönt der erſte Hahnenfchrei, 

Da fehlitteln ſich die Linden, 

Erzählen ihre Tränmerei 

Neugier’gen Morgenmwinden. 

Dorfftraße fchläft noch ernft und flumm, 

Die Dorfuhr ruft hernieder. 

Thurm hängt den Nebelmantel um, 

Es fröfteln ihm die Glieder. 

Die Büſche Ingen regenſchwer 

Durch morſcher Zäune Lücken. 

Ein frühes Kätzlein ſchleicht daher 

Und gähnt und ſtreckt den Rücken. 

Nur dann und wann klingt aus dem Stall 

Ein Wiehern und ein Brüllen. 

Die Gänle träumen Peitſchenknall, 

Und Wiefenluft die Füllen. 

Bei aller Trefflichkeit ſolcher Poefie der Kindlichkeit 
und Unfchuld darf die Kritil, zumal bei Dichtern wie 
Zanbert, die fich bereits in bebentendern Iyrifchen Tönen 
bewährt haben, dennoch nicht unterlaffen, darauf Hinzu- 
weifen, daß diefelbe dem poetifchen Bebürfnig der Gegen- 
wart in feiner Weife entgegenlommt. Unfere Zeit weift 
die Dichter vornehmlich anf die fünftlerifche Hebung und 
Flüffigmahung des ihr innewohnenden Gedankenſchatzes 
hin: eine Aufgabe, welche zu Löfen vor andern Gattungen 
dev Poeſie namentlich ber Lyrik vorbehalten bleibt, eine 
Aufgabe, welche aber leider in unfern Lagen wenige 
Apoftel gefunden hat. Zwar darf die Dichtung nirgends 
und zu feiner Zeit ben Accent des Herzens entbehren, 
aber. die wahre dichterifche Weihe können ihr immer nur, 
zumal in unferer auf das Gedankenleben gerichteten Zeit, 
die energifchern Farben des Geifte® und ber Gefinnung 
geben. Das möge auch Taubert beherzigen! 

Einen Anlauf. nad) biefer zeitgemäßen Richtung ber 
modernen Lyrik bin, aber keineswegs einen glüdlichen, 
machen die „Gebichte” von Theodor Goltdammer 
(Mr. 6), einem Poeten, welcher bei allem anerkennungs⸗ 


Nene Iyrifhe Gedichte. 355 


werthen Streben nad) dichterifcher Geſtaltung ben Geiſt 
echter Infpiration nur zu oft vermiffen läßt. Goltdammer 
bat feine Hohenzollern-Loyalität bereits frither in feinen 
„Preußenliedern“ an den Tag gelegt, einer Sammlung 
wohlgemeinter patriotifcher Lieder, welche den vorliegenden 
„Gedichten“, und zwar um einige neue Nummern ver⸗ 
mehrt, einverleibt if. Auch aus diefen neuen „Gedichten“ 
weht e8 und oft wie berliner Hofluft an. Man fithlt 
bei der Lektüre derfelben zu oft, daß fie ihre Entftehung 
einer äußern Beranlafjung verdanfen, nicht aber mit 
innerer Nothwendigfeit dem Drang des Herzens entſprun⸗ 
gen find. Diefes Gefühl aber hat etwas Erfültendes. 
Am beften leſen fich diejenigen Poeflen Goltbammer’s, 
welchen ein Balladenfloff zu Grunde Tiegt, wie „Der 
nächtliche Heiter und „Das Mädchen von Stubbenlammer”. 
Unter den „Preußenliedern” heben wir den „Nächtlichen 
Appell auf dem Wilhelmsplage” hervor. ine eigene 
Phyſiognomie fehlt den Gedichten Goltdammer's gänzlich. 
Seine Form grenzt oft an das Chronitenhafte und Trockene. 
Ganz hübſch ift das folgende Lieb: 
Wiegenlied 
(am 27. Januar 1859, dem Geburtstage des älteſten Sohnes 
bes Kronprinzen von Preußen). 
Schlummre füß, 
Sohu der Hohenzollern, 
Hörft den lauten vollern 
Inbelruf noch nicht, 
Der von tauſend Zungen 
Grüßend dir erllungen, 
Hörſt ihn fhlummernd nicht. 
Schlummre füß! 
Schlummre füß, 
Su roßer En 
Unter ıhren Fahnen 


Ruht es fi jo ſchön. 
Lug an deiner Wiege 
Das Panier der Siege 
Deine Stimm ummehn. 
Sälummre füß! 
Bade auf! 
Herzensſohn ber Preußen, 
Friedrich fotlft du heißen, 
Wachen einft wie er; 
Solft den Namen erben, 
Un den Lorber werben, 
Den er trug fo hehr! 
Bade auf! 

Die Goltdammer'ſchen Gedichte find von Reichardt, 
Grell und Taubert vielfach componirt worden. 

Wenn wir den Gedichten Goltdammer's im ganzen 
eine gewiſſe chronifale Yürbung vorwerfen mußten, fo 
gilt dies in noch höherm Grabe von den „Alten Bildern 
und jungen Blättern” von Georg von Dergen (Rr. 7), 
welche in einer etwas nüchternen Form viel Unklares und 
Berworrenes produciren und ein bichterifches Unvermögen 
befunden, welches in der hier gewählten Sonettenform, 
die bekanntlich neben der ſtrengen Folgerichtigkeit und ge⸗ 
drungenen Gliederung ihres Gebanfeninhalt® namentlich 
eine fein herausgemeißelte Architektonik in ihrem formellen 
Bau erfordert, um fo mehr bervortritt. Wir bitten ben 
Verfaſſer, einmal unbefangen das Sonett auf ©. 103, 
namentlih aber deſſen Schlußterzett zu prüfen. Dann 
wird er uns zugeftchen müflen, daß unſer nbfülliges 

46 * 








356 j Neue lyriſche Gedichte. 


Urtheil über ſeine Poeſien ein gerechtfertigtes ſei. Georg 
von Oertzen zeichnet ſich, wie wir bereitwillig und gern 
geſtehen, durch eine humane Geſinnung und ein wohl⸗ 
wollendes Herz aus; aber dieſe Vorzüge, welche aus vie⸗ 
Ien feiner Sonette fprechen, machen noch feinen Dichter. 
Zu ben befjern gehört das folgende Sonett: 


Sohmohlgeboren. 
Durch Arztes Hand in unfre Welt gelommen, 
Dies feine Kind, gefillt von einer Amme 
In bunter Tracht ans Fräft’gem Bauernſtamme, 
Wächſt zierlid auf und wird in Zucht genommen 
Bon Kriftlihen Hausfehrern, die beflommen 
Und Höflih find. Erhitzt von feiner Flamme, 
Ja nicht gelämmt mit einem rauhen Kamme, 
Bon feiner Arbeit jemals übernommen: 
So Iernt es, an gebratne Tanben geben 
Sein offnes Mäulchen, lernt auch tanzen, reiten 
Und wärbevoll nad) Eleganz zu fireben. 
Doch braufen Stürme, dann, wo Männer ftreiten, 
Entſchlüpft e8 aus dem Garn von Lieb’ und Leben 
Kühl in die Aalhaut glatter Höflichkeiten. 

Man muß zugeben, daß bei aller Ungefügigleit der 
Form und Manierirtheit des Ausbruds aus diefen Stro⸗ 
phen ein Stachel gefunder Satire hervorblidt, der um fo 
mehr Achtung verdient, da Hr. von Derten felbft zu den 
„Hochwohlgeborenen“ gehört, deren in der That mitunter 
höchſt verfchrobene pädagogijche Marimen er hier geifelt. 

Die „Gedichte von F. 3. F. Hochmuth (Mr. 8), 
in welchem wir, wie aus dem Gedicht „An die Muſe“ 
hervorgeht, einen noch ſehr jugendlichen Dichter kennen 
lernen, find nad) der formellen Seite hin ziemlich gewandt, 
zeigen aber in ihrem geiftigen Gehalt noch eine gewiſſe 
Unreife, welche fih namentli in dem Mangel an con- 
cifer und einheitlicher Compofition der meiftend etwas 
langathmigen Gebichte documentirt. Wo Hochmuth re 
flectirt, da geräth er meiftens in jene unklare Zerfahren- 
heit und feraphifche Verzückung, welche durch Kiopftod 
und feine Schule in unferer Fiteratur repräfentirt wird, 
eine längft überwundene Phafe der Lyrik, gegen welde, 
wenn fie als Anachronismus noch einmal wieder auftaucht, 
die moderne Kritik energifch proteftiren muß. In den 
Adern unferer Dichter fol das Blut der Gegenwart pul⸗ 
ſiren. Glücklicher ſchafft Hochmuth meiftend da, wo er 
geftaltet, fo in „Komeles Traumgeſicht“, „Johann der 
Blinde“ und namentlih in dem ſehr ſchönen Gedicht 
„Farnimund“. Die Länge diefer Gedichte, die ihren Werth 
beeinträchtigt, macht e8 uns Leider unmöglich, fie hier 
folgen zu laſſen. Bon tiefem und innigem Gefühl zeugt 
die „Elegie am Grabe eines Freundes“, in welcher e8 heit: 

Alle deine Träume find zerronnen, 

Sind verblüht fon in des Lenzes Pracht; 
Alle deine goldig-füßen Wonnen 

Sanfen mit dir in die Grabesnacht. 
Aber deine Liebe bat gezäindet, 

Lächelt ewig uns mit ſüßem Schein; 

Sie bat dir ein ſtolzes Mal gegründet, 
Zaubervoller ale von Erz und Stein. 


Wenn die Todten auferflehen, 

Wenn der Geift den Körper nen befeelt, 
Werden wir uns wieberjehen 

Ewig durch der Liebe Band vermäßlt. 


Unfer jugendlicher Dichter wird vielleicht einmal etwas 
Tüchtiges Leiften. Nur muß feine Mufe zuvor lernen, 
mit den Yactoren des wirflichen Lebens zu vechnen und 
prägnanter zu geftalten. In Bezug auf die Hochmuth'ſche 
Form miüfjen wir noch erwähnen, daß Heime wie: „ftehe” 
und „Höhe“, „Leiden und „Zeiten“ und „möllen” und 
„welken“, Beute, nachdem ein Platen unfere Sprache von 
ben profodifhen Schladen unferer claffifchen Literatur- 
periode gereinigt hat, vor dem Fritifchen Hichterftuhl Feine 
Gnade mehr finden dürfen. Aud) find Hochmuth's Verſe, 
wie die letzte Strophe des angeführten Gedichte beweift, 
nit immer correct gebaut. Wir möchten den talentvol- 
len Berfafler, und viele andere Poeten mit ihm, bei Pla- 
ten in die Schule fehiden. Das Ferment bes Eigenarti- 
gen fehlt auch Hochmuth's Gedichten. 

Im Gegenfag zu der durchweg ernftgeftimmten, con« 
templativen Natur bes eben befprochenen Dichters tritt 
diefes Moment faft ganz zurlid in den „Gedichten von 
Wilhelm Stein (Nr. 9), aus welchen eine blühende 
Sinnlichkeit ſpricht, welche, aller Reflerion abhold, mit 
den kecken Farben einer gefunden Erotik zu malen ver- 
fteht, ohne inbeffen immer die gebotenen Grenzen der 
Decenz immezubalten. Die in nicht ganz correcten Difti- 
hen gejchriebene „Idylle“ und das Gedicht „Diebe“ find 
taktlos und lasciv. Die erftere gehört entfchieden in die 
Rubrik „des Nadten”. Das „Mädchenkummer“ über- 
ſchriebene Gebicht ift gerabezu unmoraliſch zu nennen. 
Stein fcheint durch das feinen Poefien eigene, vorwiegend 
finnlihe Colorit befonder® auf erotifch gefürbte Balladen- 
ftoffe Hingewiefen zu werden, und man muß geftehen, daß 
er in biefer Gattung ſchon in der vorliegenden Samm- 
lung Lesbares geleiftet Hat, wie die beiden folgenden Pro- 
ben beweijen mögen: Ä 

Die Räuberbrant. 
„Leg auf bie Seite den Roſenkranz, 
Geh mit zum Tanz! 
Schon Klingen die Flöten und Geigen, 
Was willſt du dich denn nicht zeigen?” — 
„Ich bin fo matt, id bin jo müd', 
Mein Blut, das glüht, 
Ih hatt? einen Traum, einen herben, 
Mir iſt's jo weh zum Sterben. 


„Mir träumte fon dreimal um Mitternacht, 
Die Thür ginge facht, 

Ich fühlte ein kühles Wehen 

Und konnte doch niemand fehen. 


„Ich fühlte auch auf der Bruft — gewiß — 
Einen ſcharfen Biß (!) 

Und fplrte in heißen Wellen 

Mein Herzblut langſam entquellen. 


„Und was e8 war — id) ahne es ſchier — 
O, bete mit mir! 

Mein Schag, dem den Tod ich gegeben, 
Er fommt und entzieht mir. das Leben. 


„Ich hab’ ihn verratben um bianles Gold, 
Was nie ich gefollt; 

Ums Hochgericht flattern die Raben; 

Dort bleihet er unbegraben.“ — 

„Hilf, Simmel, o rufe den Pater glei! 
Du wirft fo bleich.“ 

Zu fpät, zu fpät kommt die Reue; 

Der Tod rächt gebrochene Treue. 





Neue lyriſche Gedichte. 


Mag man über die ſprachliche Einfleidung dieſes Ge- 
dichts denken wie man will, jedenfalls bat e8 den echten 
Tenor der Ballade. Dafjelbe gilt von: 


Senora. 

Senora, Ihr feid Tran. 
Berändert feid Ihr ganz — 
Wie habt Ihr Leidenfchaftlich 
Geliebt den Zanz. 
Sonft, wenn Muſik erklang, 
Habt Ahr geftrahlt vor Glück, 
Jetzt fchleicht Ihr lei davon 
Mit finferm Blick. 
Senora, wißt Ihr noch, 
Wie ich einft um End warb? 
Wie Ihr mid habt verfhmäht, 
Wie Liebe ftarb? 
Senora, denkt Ihr nod 
An jene Nacht jo warm, 
Wie Ihr dem fremden Mann 
Geglüht im Arm? 
Senora, hättet Ihr 
zwei Degen kreuzen ſehn — 

a8 bebt Ihr denn fo fehr? 
Es ift gefchehn. 
Senora, Blut vertilgt 
Nicht Liebe und nit Haß — 
Senora, Yhr feid krank, 
Ihr ſeid fehr bla. 

Daß unfer Dichter indeſſen auch fanftere Töne an- 
zufchlagen verfteht, beweift das hübſche Lied: „Zu bir.‘ 
In Bezug auf die Form läßt auch Wilhelm Stein manches 
zu wäinjchen übrig. Hier und ba ift in feinen Verſen 
ein Fuß zu viel oder zu wenig, und unreine Reime lau- 
fen häufig mit unter. Stein, welcher bereits früher frifche 
Gedichte in ſchwäbiſcher Mundart unter dem Titel: „Us 
’m Nederdhal”, veröffentlichte, Hat Talent, aber feine 
Bhyfiognomie — die alte Leier! Er theilt diefen Mangel 
mit den ſämmtlichen vor ihm in diefer Revue beſprochenen 
Dichtern und Dichterinnen. 

Auch die „Gedichte und Lieder” von E. Hoffmann 
(Nr. 10) find ohne eine frappante Phyſiognomie, aber fie 
fügen in hohem Grade Ehrfurcht ein vor dem Charal- 
ter ihres Verfaſſers. Hoffmann lebt in Yaffa in Palü- 
fina, „in ber ſchwierigen Aufgabe begriffen, Bahn für 
eine Hriftfiche Eolonifation im Heiligen Lande zu brechen”, 
wie er in der Vorrede jagt, und jendet feine Gedichte, 
welche meiftens biblifche Stoffe in Legendenform behandeln, 
als einen poetifhen Gruß in die ferne deutſche Heimat. 
Diefelben ftanımen mit wenigen fpätern Ausnahmen aus 
den dreißiger und vierziger Jahren diefes Jahrhunderts — 
der Berfafler fand erft jetzt Muße, fie zu fammeln — 
und befunden durchweg dichterifches Weſen und Form⸗ 
gewandtheit. Sie haben einen gewiflen großen Zug und 
gemahnen uns wie Fresken aus der heiligen Geſchichte. 
In den „Cedern des Libanon” fingt Hoffmann: 

Des Berges Furſten find gefallen, 
Geraubt ıft Libans Herrlichkeit, 

Und Afche find des Tempels Hallen, 
Dem er den grünen Schmud geweiht. 
Kahl blickt der Libanon zum Thale, 
Gehüllt in finftres Wollenmeer. 

Kahl raucht, gedörrt vom Mittageflrahle, 
Des Tempels Stätte, ewigleer. 


357. 


Seit Golgatha, mit Blut begofien, 
Der Früchte Fönfichfte gezeugt, 

Sn fer des Himmels Thor verichloffen 
Dem Libanon, ber trauernd fchweigt. 
Berhallt ſchon längſt find jene Töne, 
Die ihn belebt mit Luft und Schmerz; 
Stumm drüdt er feine legten Söhne 
An fein zerrifines Feljenherz. 

Mag unter ihm der Schlachtlärn walten, 
Schneelleib verhlillen fein. Geſicht, 
Der Bligftrahl feine Gipfel fpalten, 
Es mwedt ihn aus der Trauer nidt. 
Um feine legten Cedern wehen 

Die Stürme wol in finfirer Nadt; 
Dod feine leiten Cedern fiehen 

Und trogen aller Stürme Macht. 


Wenn einft Judäas letzter Sproffe 
gern draußen im der weiten Welt, 
er Heiden frevelnder Genoffe, 
Bom Glauben feiner Bäter fällt, 
Dann hört man weitumher verhallen 
Dumpf rollend feines Donners Ton, 
Und feine legten Cedern fallen 
Sieht dann der flolze Libanon. 
(Gedichtet 1834.) 

Dos ift echte Poeſie! Es ſpricht etwas Grandiofes 
aus der lapidariſchen Kürze diefer Strophen, etwas Welt- 
weites und Fernhinſchauendes. Aber die Perle der Samm⸗ 
lung ift das den Gedichten beigegebene Iyrifhe Drama 
„Maria” (1843 gedichte), welches von dem chriſtlichen 
Geiſt des edeln Dichters voll ift und, namentlich in der 
wuchtigen Gewalt feiner Chöre, etwas Ehrfurchtgebieten- 
bed bat. Es behandelt die Baffionsgefchichte Chrifti. Und 
dennoch — bei aller ihrer Gebanfentiefe und Formſchön⸗ 
beit haben diefe paläftinifchen Gedichte, obgleich der Weih⸗ 
rauch des Heiligen Grabes aus ihnen duftet und vielleicht 
eben deshalb, für den Lefer der Gegenwart etwas Fremd- 
artiges, Vormärzliches. Man fühlt es ihnen an, daß 
fie meiſtens vor mehr als zwanzig Jahren gefchrieben wor- 
den. Sie haben nichts vom Pulsichlag der modernen 
Dichtung, melde unmöglich den Beruf haben Tann, Le 
genden im Munde, fi rüdwärts zu träumen in die ver- 
ftaubten Bahnen aftatifchen Eulturlebens, fonbern welche 
den Blick nad) vorwärtd gezogen fühlt in die Zukunft und 
finnend über den großen Gedanken der Zeit fikt. 

Die großen Gedanken ber Zeit, ber Gegenwart — das 
ift die Lofung, welche derjenige Dichter auf fein Banner 
gefchricben hat, welcher als der einzige unter den bier 
beſprochenen die Mar ausgeprägte Phyſiognomie energifcher 
Männlichkeit und felbftbewußter dichterifcher Miſſion trägt, 
das ift die Lofung Friedrich Kraſſer's, des Verfaffers der 
Zeitgedichte: „Offenes Bifir 1” (Nr.11.) Welch einen Gegenfag 
zu den paläftinifchen Legenden Hoffmann’ — mit Refpect 
vor denſelben ſei's gejagt! — bilden dieſe freimüthigen poeti⸗ 
ſchen Proteſte gegen alles Verkommene und Veraltete in 
Geſellſchaft und Staat; Gedichte, welche in faſt makel⸗ 
lofer Form fi) zu Sachwaltern der edelften Tendenzen 
des Zeitgeiftes machen. 8 ift nicht die Einfeitigkeit einer 
fhalen Idealität, welche fich die Unzulänglichkeiten und 
Schäden ber Gegenwart mit einer ertränmten „beffern 
Zukunft” übergoldet, es ift nicht der Stoicismus eines 
zahmen Optimismus, ber die Welt geduldig nimmt wie 
fie ift, und zu den Dingen ſpricht: „Ihr feid gut, wie 


358 


ihr feib“, fondern es ift der unbefangen und unbeſtochen 
mit den realen Zuftänden calculirende Scharfſinn des 
Philoſophen, welcher in Kraſſer's Poefien, das poetiſche 
Wort geſchidt als Waffe handhabend, Fronte macht gegen 
die Unnatur und Unwahrheit dieſer Tage und unter der 
Fahne der Freigeiſterei für eime freie Entwidelung der 
Menſchheit freitet. In bem Gedicht „Berwegener Wunfcd” 
jagt Kraffer: 

Ich wollt’, es wär’ mein Genius 

Ein Feuergeiſt voll Licht und Flammen 

Und unter feinem Lavaguß 

Sänf jedes ‚Sroingherem Bau zufammen; 

Es tilgte feine Heil’ge Glut 

Verheerend in gewalt’gem Brande 

Der dh age Schlangenbrut, 
Des ÜAberglanbens eio’ge Chan! 

Id wollt’, es wurd' zum Schwert fofort 

Mein Lied in feinem wilden Grimme, 

Ein Donnerfeil mein zürnend Wort, 

Ein Racheblitz des Sängers Stimme; 

Und Donner, Blig und Schwert zugleich 

Fuhr' in die Herzen der Zeloten 

Und fänberte mit einem Streich 

Die Welt von Mudern und Deöpoten! 

=: En ein Lieb, Ins retten Tann, ? 

in Schwert, die ettern 

Um biefen heil’gen a m 

Bolt’ ringen fr mit Sturm und Wettern, 

Wollt’ pilgern um das Erdenrund, 

Vom eigen Pol zur Glut der Tropen, 

Bolt’ tauchen in des Aetna Schlund 

Zur Feuereffe der EyMopen! 

Som iſt die Geſchichte ein ewiges Ringen und Sehnen 
der Menſchheit nad) Vefreiung und Freiheit. Noch liegt der 
— im ben Banden des Aberglaubens und der Knecht 
haft: 

Jahrtauſende find drüber Hingegangen, 

Ob jenem tiefen Weh, das ihm verzehrt, 

Er bat Jahrtauſende mit Todesbangen 

Des Elendẽ Üübervollen Kelch geleert; 

Es war von je fein Leben und fein Streben 
Ein wilder Kampf mit Leib» und Geelennoth, 
Ein finftrer Dämon ſchuf ihn zum Verderben, 
Und fein Erldſer war allein der Tod. 

O fpredit mir nicht von Glüclichen und rohen! 
Der Meufäheit ‚große Waſſe war es Age -_ 
Es janten ihre edelften Heroen 

Durh Sceiterhaufen, Krenz und Hochgericht; 
Die wen’gen aber, die fi wohlgemuthet 

Des Lebens freuten, hatten wol fein Herz, 
Sonft hätten fie gelitten und gebintet 

Bei Ahrer Brhder mugehenerm Schmerz. 

Dat hat das Dogma je geleiftet, 

Das iht den BI ‚pflangtet ins Gemüth? 
Der if’, der zu behaupten ſich erbreiftet, 
Daß Dies auch eine Wahrheit nur errieth? 
Banı 8 je anf unſre bangen Fragen 
Endgültigen und zedfichen Beſcheid? 

Warn hat es je die Welt vom Noth und Plagen, 
Den Geif vom Alp ber Zweifelfucht befreit? 

Kraſfer's Polemik gegen ben Mofticismus Hat etwas 
Imponirendes. Im dem Gedicht „A basl” rufi er aus: 
Hinab mit end) zum tiefften Grund, 

Ihr Helden der Soppiftit! 
Sing mit dir vom Erdenrund, 
u Ruttencorps der Mufil! 


heidniſche Geliebte, Perpetua an den ftolzen 


Neue tyriſche Gedichte. 


Die Freigeit ſoll um ihren Thron 
Sorten die Bölter ſcharen, 
ie Zyrannei mit Schimpf und Hohn 
Zu allen Teufeln fahren! 
Bon der Wiffenfhaft und der Mlarheit des Denkens 
erwartet er das Heil in Kirche, Schule und Staat: 
Ohne Shumen laßt das Träumen, 
Drans bes Irrthums Onellen [Häumen — 
Bollt ihr Menſchen fein, humane: 
zer im Wiflensaltorane, 
In dem Bud) voll Licht und Marheit, 
S gibt fein ander Buch der Wahrheit — 
mperismus, Communismus 
Brachte euer Myſticismus. 


Zitternd wanfen ſchon die Schranken 
Bor dem Sturmiauf der Gedanken — 
Sträubt vergebene eud; nicht länger, 
rürften, 5 iefter, Geiftesbrän, er 
'aßt der Venſchheit heißes Ringen 
Nad; Glüdfeligkeit gelingen. 
Bebend wanken alle Schranten 
Bor dem Heerbann der Gedanken. 


Die bichterifche Begabung Kraffer’s ift ohne Zweifel 
eine vielverfprechende. Die gemeinen Talente des, Alltags 
gehen ohne igenartigfeit in den ausgetretenen Gleiſen 
dichterifcher Production einher — und verfchwinden. Wer 
aber ſchon bei feinem erften Auftreten fo felbftändig aus 
den geiftigen Strömungen ber Gegenwart zu ſchöpfen und 
feine poetifcen Gebilde mit fo eigenem Aroma zu um 
gießen weiß wie Kraffer, der berechtigt zu Lühnern Hoffe 
nungen. Wein das Intereffe und die Empfänglichkeit bes 
Bublitums für die gedanlenvolle Lyrik if in unfern Ta⸗ 
gen bis auf den Gefrierpunft herabgefallen. Wird man 
auch gegenüber den Poeſien Kraſſer's zur Tagesordnung 
übergehen? Wir birfen bier die angenehme Brig des 
Kritifers, anf tüchtige Erſcheinungen aufmerkfam zu machen, 
nicht verfänmen: wir empfehlen die vorliegenden Zeite 
gedichte von Friedrich Kraſſer einer alfeitigen Würdigung; 
denn fie haben etwas vom echten Kunftftil und find mit 
den Ideen der Gegenwart gefättigt. 

Schließlich mögen hier noch einige Worte ber An 
erfennung über bie in Mangvollen ottave rime geſchriebene 
Dichtung „Perpetua”, von Guftav Pafig (Nr. 12), 
Plag finden, da die Beurtheilung berfelben ſich wegen 
des vorwiegend lyriſchen Colorits der hübſchen Erzählung 
an diefe Beſprechung lyriſcher Gedichte paſſend anjchließt. 
„Perpetua“ derſetzt uns in bie Zeit der erſten Chriſten- 
gemeinben und hat Karthago zum Schauplag. Der poetiſche 

onflict der Dichtung liegt in ber Collifion bes aufblügen 
den Ehriftentfums mit dem untergehenden Heibenthum: 
einem weithiſtoriſchen Kampfe, welder uns hier in bem 
Seelenftreit ber beiden Hauptträger der Erzählung, der 
edeln Perpetua und ihres Bruders Placidus, welche beide 
die Taufe der Ehriften eınpfangen haben, mit Gejchid in 
der äußern Anordnung der fortfchreitenden Handlung und 
mit vielem Feuer in der dichteriſchen Geftaltung der han- 
delnden Charaktere auf der ſchmälern Baſis der Familie 
veranſchaulicht wird, ohne uns tiefere Perfpectiven in bie 
geſchichiliche Conſtellation der damaligen Zeit zu eröffnen. 
Beide Geſchwiſter find durch zärtliche Leidenſchaft an 
Taufns, 





Preußiſche Geſchichte. 359 


Placidus an die ſchöne Blanda, gebunden. In beiden ſiegt 
der Glaube über die Liebe; ſie ſterben auf Geheiß des 
Proconſuls mit der ganzen karthagiſchen Chriſtengemeinde 
unter den Zähnen der Beſtien des Circus. Ohne weiter 
auf die Einzelheiten der Handlung der Heinen Dichtung 
einzugeben, bezeichnen wir den Ausgang des zweiten Ge 
fangs als befonbers gelungen, wie aud) das Schlußtableau 


des Ganzen, bie höchſt lebhafte Schilderung des Blut⸗ 
bades im Circus eine effectvolle Wirkung nicht verfehlt. 
Der Berfaffer hat in diefer intereffanten poetifchen Er⸗ 
zäblung eine hübſche Zalentprobe abgelegt, die geeignet 


wäre, die Aufmerkſamkeit des Bublitums auf ihn zu len- 


fen, wenn die poetifche Erzählung in unfern Tagen über- 
haupt noch ein Publikum hätte, 


Preußiſche Geſchichte. 


1. Geſchichte des preußiſchen Staates und Volles unter ben 
Hohenzollern'ſchen Fürſten. Nach den beften Quellen bear- 
beitet und den Gebildeten aller Stände des preußifchen und 
deutfhen Volle gewidmet von E. von Coſel. Erſter bie 
dritter Band. Leipzig, Dunder und Humblot. 1869. Br. 8. 
Jeder Band 1 Thlr. 24 Ngr. 

2. Geſchichte Friedrich's II. von Preußen, genannt Friedrich 

der Große von Thomas Carlyle. Deutfh von J. Neu- 

berg, fortgefeßt von Friedrich Althaus. Fünfter und 
fester Band. Mit 7 Tafeln in mehrfarbigem Stein. 

— Berlin, von Decker. 1869. Gr. 8. 5 Thlr. 

r. 

—8 des preußiſchen Staats. Bou Felir Eberty. 

Zweite Abtheilung. Erſter und zweiter Band. 1740-63. 

(Des ganzen Werkes dritter und vierter Band.) Breslau, 

Trewendt. 1868. 8. 2 Thlr. 15 Near. 

4. Geſchichte des Bairifchen Erbfolgekriegs. Bon E. Rei⸗ 
mann. Seipig, Dunder und Humblot. 1869. Gr. 8. 
1 Thlr. 10 Nor. 

Seitdem die Ereigniffe des Jahres 1866 in bie bis 
dahin mehr und mehr zum Stillſtand neigende Gefchichte 
Preußens und Deutfchlands neue Bewegung gebradjt und 
an Stelle der bisher herrfchenden trägen Langſamkeit ein 
krüftiges pulficendes Leben erwedt haben, hat auch die 
Geſchichtſchreibung einen nachdrücklichen Antrieb mehr 
empfangen, fich gerade der Entwidelung Preußens zuzu- 
wenden und in der Bergangenheit des nunmehr an die 
Spige Deutſchlands getretenen Staats die erſten Keime 
und Anfänge des endlich weuigftens theilweife verwirklich⸗ 
ten beutfchen Staats anfzufuchen. Hat doch die preußi- 
ſche Geſchichte, welche bisher in einem ſehr wohlgemeinten, 
aber feineswegs nützlichen Patriotismus oft der erclufio- 
flen Art befangen und ſchon deshalb für den Nichtpreußen 
oft mit einem unangenehmen Beigeſchmack behaftet war, 
jegt eine ganz anbere Bedeutung gewonnen, da das, was 
früher einige wenige Einfihtsuolle erfannten, andere nur 
unklar fühlten, eine allgemein einleuchtende, durch bie 
Gewalt wuchtiger Thatfachen auch den fih Sträubenden 
völlig zur Erkenntniß gebrachte Wahrheit geworden ift, daß 
nämlich Preußen der Staat der deutſchen Zukunft ift und 
daß bie Zukunft Deutfchlands nur in ber Preußens ge= 
wonnen werden kann. Eine nicht unbedeutende Anzahl 
von Werken über die preußifche Gefchichte find, von die⸗ 
fem durch die jüngfte Vergangenheit jo nachdrücklich her⸗ 
vorgehobenen Gefichtöpunft ausgehend, während der letzten 
Hahre in die Deffentlichkeit getreten; ältere Werke, deren 
Anfänge bei ihrem größern Umfange noch vor die Ereig⸗ 
niffe von 1866 zurildreichen, find ebenfalls durch ben 
gewaltigen Umſchwung des merkwürdigen Jahres weſent⸗ 
lich beeinflugt worden, und haben, indem fie zu der jo 
entfcheibenden jüngften Vergangenheit klar und beflimmt 


5 


Stellung zu nehmen genöthigt wurden, ein neues Intereſſe 
gewonnen. Daß aber eins von dieſen Werlen ſich auf 
die Höhe der Zeit zu erheben und dem dieſelbe beherr⸗ 
ſchenden und durchdringenden Gedanken völlig gerecht zu 
werden vermocht hätte, kann nicht behauptet werben; 
vielmehr bleiben die meiften fehr weit hinter den An 
ſprüchen zurüd, die man an ein diefen Stoff behanbeln- 
des Bud; machen muß, wenn dafielbe wirklih ans den 
Ideen, welche bie Zeit erfüllen, hervorgewachfen fein fol. 
Unfere preußifhe Geſchichtſchreibung Liegt noch — und 
daraus zunächft erklären ſich viele auch noch ben neueften 
bierhergehörigen Werken anbaftende Mängel — in bem 
Bann einer althergebrachten, für bie Anforderungen ber 
neuen Zeit viel zu engen Gchablone, wie fie durch 
die erſten bedeutendern Verſuche auf biefem Gebiete feft- 
geftellt worden ift. Wir Haben fchon mehrfach Gelegen- 
heit gehabt, auch in d. Bl. auf die Gebrechen hinzu⸗ 
weiſen, aus denen dieſes Zuridbleiben der preußifchen 
Geſchichtſchreibung hinter der ſtaatlichen Entwidelung 
Preußens und Deutfchlands zumeift zu erflären ift, und 
auf die Art und Weife, in welcher nach unferer Meinung 
eine den Anforderungen ber Zeit entſprechende Gefchichte 
Preußens angelegt werben müßte. Die meiften fogenann« 
ten preußiſchen Geſchichten find nämlich weniger Geſchich⸗ 
ten des preußifchen Landes und Volles, als vielmehr ber 
Hohenzollern’schen Herrſcher des brandenburgiſch⸗preußiſchen 
Staats. Die untrennbare Zufammengehörigleit von Fürſt 
und Bolt abzuleugnen, wird keinem in den Sinn kommen, 
am wenigften gerade in der preußifchen Gefchichte, wo 
die perfünlihe Bedeutung des Herrſchers entjcheibender 
zur Geltung gelommen ift als in manchen andern Staa 
ten. Eben aus biefem Verhältniß aber erklärt ſich bie 
überwiegend perjönliche Färbung, welche den Bearbeitun⸗ 
gen ber preußifchen Geſchichte bis in die neueſte Zeit 
eigen geblieben if. Hat dieſe Art der gefchichtlichen 
Auffaffung an und für ſich fchon ihr Bedenkliches, fo 
muß fie vollends zu ganz abfonderlichen Confequenzen 
führen, wo es fid) um thatfächlich nicht bebeutende und 
binter den Aufgaben ihrer Zeit zurücdgebliebene Regenten 
handelt. Bei biefer ganzen Richtung Liegt die Gefahr 
nahe, daß die Gefchichtfchreibung auch ba in einen pane⸗ 
gyriſchen Ton verfällt, wo derfelbe am allerwenigften an« 
gebracht ift, und ihre Aufgabe nicht in ber Ueberlieferung 
ungefchminkter Wahrheit fucht, fondern in officiellen und 
oft übermäßig loyalen Lobpreifungen. Wollten wir die 
lange Reihe hierhergehöriger Werke buxchgehen, bei der 
Mehrzahl — defien find wir ficher — würben diefe Eigen- 
thiimlichkeiten auf den erften. Bli in die Augen fallen. 


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360 Preußiſche Geſchichte. 


Den Gegenſatz zu dieſer Art, die preußiſche Ge⸗ 
ſchichte zu einem fürſtlichen Ehrenſpiegel umzuwandeln, 
möchte man nicht mit Unrecht in jenen Werken ſehen, in 
denen bie hiſtoriſchen Verhältniſſe, des perſönlichen Mo—⸗ 
ments faſt ganz entkleidet, mit diplomatiſtrender Spitz⸗ 
findigkeit zu lauter „Fragen“ zurechtdeſtillirt werben; 
den ſichern Boden realer Verhältniſſe verliert man in 
ihnen ſehr bald unter den Füßen und fühlt ſich verſetzt 
in die von lauter Hypotheſen erfüllten Regionen der allein 
im Geheimniß der Cabinete und in den Chiffren der 
Depefchen arbeitenden höhern Politik. Man möchte dieje 
beiden Ertreme miteinander zu einem neuen Ganzen ver⸗ 
fchmelzen: es Tüme dann wenigſtens etwas VBrauchbareres 
heraus. Solange aber einerfeits das dynaftifche Moment 
fo ausſchließlich betont, anbererfeits bie Geſchichte ver- 
flitchtigt wird zu Complicationen, in denen außer fchreib- 
feligen Diplomaten niemand etwas Bedeutendes an wahr⸗ 
haft geichichtlichem Leben zu erlennen vermag, folange 
werden wir auch feine preußifche Gefchichte befiten, welche 
den herrlichen, für die nationale Entwidelung unſers 
Volks fo hochbebeutenden Stoff in feiner ganzen Wirk. 
ſamkeit zur Geltung zu bringen geeignet ift. Die welt- 
biftorifche Bedeutung folcher Perfjönlichfeiten, wie bie 
preußiſche Gefchichte uns im Großen Kurfürften und in 
Friedrich dem Großen darftellt, anzuzweifeln, wird nie 
mand verfuchen; wenn aber diefe Gejchichte zugleich bie 
Geſchichte ihres Staats, ja ihrer ganzen Zeit ift, fo fin« 
bet ein gleiches Berhältniß doch bei feinem andern Für⸗ 
ften bes Hohenzollern’fchen Haufes flat. Der erfte und 
größte Antheil an dem, was aus Preußen geworden, 
muß dem preußifhen Volle angerechnet werben, denn 
diefes hat feinem Baterlande, dem von den Hohenzollern 
regierte Staate feine ehrfurchtgebietende Stellung in 
kriegeriſchen Mühſalen fowie in friedlicher Arbeit erftritten 
und errungen. 

Auch in den oben verzeichneten neuern Werfen über 
die Geſchichte Preußens finden wir flir die eben entwidel- 
ten Bedenken ber Belege genug: diejenigen gerade, Die 
am entjchiedenften mit der Abſicht populär zu werben 
auftreten, werben dieſe Abfiht am wenigften erreichen, 
weil fie am meiften und am auffallendften alle die Ge⸗ 
brechen an ſich tragen, von denen wir erwähnten, baß 
fie ber preußiſchen Gefchichtfchreibung im allgemeinen 
anhaften. 

Gleich das an erſter Stelle aufgeführte Werk: 
„Geſchichte des preußiſchen Staats und Volkls unter den 
Hohenzollern’schen Fürſten“ (Nr. 1), von E. von Coſel, 
ift dur) das oben im allgemeinen Geſagte fo gut wie 
vollftändig charakterifirt.. Daß der Berfaffer die ein- 
fhlagende Literatur gewiffenhaft ftudirt und dadurch ein 
recht reichhaltiges Material zuſammengebracht bat, wird 
ihm niemand ableugnen. Doc ift er damit noch nicht 
weiter gelommen, als daß er eine umfangreiche Compi⸗ 
Iation geliefert hat. Neues, eine Bereicherung unferer 
Renntnig von dem Thatſächlichen konnten wir nirgends 
bemerken. Auch in der Darftellung der Friegerifchen 


Begebenheiten, für welche in dem beigegebenen Pro— 


fpect auf die dem Verfaſſer zu Gebote ftehenden Ma- 
terialien des preußifchen Generalftabes als eine befonders 
werthoolle Duelle verwiefen wird, ift une, foweit das 


Werk bisjetzt vorliegt, Fein wefentlich neues Moment auf- 
gefallen; ja, wir müſſen gleich hier bemerken, daß gerade 
diefe Seite an einigen befonders wichtigen Stellen nicht nur 
Inapp, fonbern geradezu ungenügend behandelt ift: wer wird 
3. B. aus dem, was hier über die Schlacht bei Leuthen ge 
jagt wird, ein Bild von dem Gange bes merkwürdigen 
Kampfes gewinnen, da felbft der befannten ſchrägen Schlacht⸗ 
ordnung auch nicht mit einem Worte gedacht wird? 

Bon dem Werke, welches der Verfaſſer den Gebil- 
deten aller Stände des preußifchen und des beutfchen 
Boll widmet, alfo zu einem Volksbuche beftimmt, 
wie daflelbe denn auch im Profpect nicht blos ben 
Kriegsfchulen und abettenhäufern des Norbdeutichen 
Bundes, fondern auch der Bibliothek jeder gebildeten 
Familie empfohlen wird, Liegen uns bisjett drei Bände 
vor, in denen die Gefchichte Preußens bis zum Tode 
Friedrich Wilhelm’s I. geführt wird. Zwei Bände follen 
nachfolgen, und zwar fol der Stoff auf diefelben fo 
vertheilt werben, daß der vierte die Geſchichte Friedrich 
Wilhelm's II. bis zur Beendigung der Befreiungskriege, 
und der fünfte die Zeit von 1815—66 behandeln wird. 
Das ift fiir ein Werk, welches feine Leſer in der großen 
Menge der Gebildeten fucht, ein etwas gewaltiger Umfang: 
durch fünf fo compreß gedrudte Bände ſich hindurchzu⸗ 
arbeiten wird es in diefen SKreifen ben meiften wol an 
Geduld fehlen. Auch die Darftellung ift nicht der Art, 
daß fie den mächtigen Umfang vergeffen machen und ben 
Lefer unmerklih von einem Bande zum andern gelangen 
lafien könnte. Es fehlt derjelben vor allem an Einheit, 
an klarer Ordnung und Weberfichtlichkeit; dabei Leibet fie 
an einer Ungleichmäßigfeit der Ausführung, bie oft über- 
rafhen muß. Zuſammengehöriges wird getrennt, an 
fpäterer Stelle exſt Vorzubri zu Ehen 
eingefhoben mit ber 6i8 zur Ermüdung wieberfehrenden 
Wendung „der VBolftändigfeit halber möge bier gleich bes 
merkt fein”; was früher hätte erwähnt werden müſſen, 
kommt erſt da vor, wo es eigentlich ſchon als befannt 
vorausgefet werden mußte. Fortwährenb behält fo der 
aufmerffame Lefer den Eindrud einer nicht völlig verar- 
beiteten Compilation, deren einzelne Beſtandtheile nicht zu 
einem Ganzen zufammengewachfen, fondern rein äußerlich 
aneinandergefügt find; die zahlreichen, immer befonbers 
bervorgehobenen, oft ganz unndthigen Citate ftören geradezu. 
ragen von der größten Wichtigkeit werden entweder nur 
beiläufig berührt oder auch ganz mit Stillſchweigen über- 
gangen, an andern Stellen dagegen wird nicht zur Sache 
Gehöriges mit ermübdender Breite eingeflochten. So wird 
einmal die doch im wefentlichen als befannt vorauszufeßende 
Geſchichte der Reformation mit unnöthiger Ansfüthrlichkeit 
erzählt, die Gefchichte Preußens bis zu feiner Bereinigung 
mit Brandenburg dagegen jo obenhin abgefertigt, daß 
niemand zu der Einficht kommen wird, daß erſt die Ver⸗ 
einigung mit Preußen Brandenburg zum Staate gemacht 
und ftreng genommen die Wiege des preufifchen Staats 
als eines folchen nicht an der Spree, fondern an ber 
Weichfel geftanden Hat. Später wird bie Gefchichte des 
Dreißigjährigen Kriege mit einer bier in feiner Weiſe 
begründeten Ausführlichleit erzählt; von dem für die Ges 
ſchichte des Großen Kurfürften fo hochwichtigen polnifch- 
fchwedifchen Kriege dagen erfährt der Lefer kaum das 





— nu — — 


Preußiſche Geſchichte. 


Allernothdürftigſte. An vielen andern Stellen werden 
dann Ereigniſſe, die nicht an ſich, ſondern nur durch ihre 
Stellung inmitten der eigenthümlichen Verwickelungen der 
ganzen Zeit eine größere Bedeutung beanſpruchen können, 
von dieſem Zuſammenhange gelöſt und daher jo darge⸗ 
ſtellt, daß man ihren eigenthümlichen Werth gar nicht zu 
begreifen vermag. So hat das Auftreten des falſchen 
Waldemar (1348), wie es hier berichtet wird, gar nichts 
hiſtoriſch Denkwürdiges; von wirklicher Bedeutung wird 
daſſelbe erſt, wenn man es erkennt als den Höhepunkt 
des damals in ganz Deutſchland zwiſchen den Luxemburgern 
und Wittelsbachern durchgefochtenen Kampfes. Selbſt der 
Zülich⸗Cleveſche Erbfolgeſtreit, ein Ereigniß von europäijcher 
Bedeutung, das ohne den plöglichen Tod Heinrich's IV. 
von Frankreich den Kampf zum Ausbrudy gebracht Hätte, 
der zehn Jahre fpäter durch bie Vorgänge in Böhmen 
erregt wurde und Deutſchland für die nächften dreißig 
Jahre namenlofen Greueln preißgab, finkt, jo aus dem 
großen Hiftorifchen Zufammenhang herausgerifien, wie er 
bier vorgetragen wird, zu einem aus rein dynaſtiſchen 
Intereffen geführten Zwiſte herab. 

Mit diefer Oberflächlichkeit und Ungleichmäßigkeit fteht 
dann in einem um fo auffallendern Contrafte die ermüdende 
Breite, mit der an andern Stellen durchaus unnöthiges Detail 
vorgebracht wird. Daß der kurfürftliche Günftling von 
Burgsdorf bei der Taufe des erften Sohnes bes Großen Kur⸗ 
fürften in elf verfchiebenen Prachtgewändern erfchienen tft, 
wird den meiftenLefern wol völlig gleichgültig fein, ebenfo wie 
die Notiz, daß der Große Kurfürft als Yüngling bei einem 
von dem Minifter von Schwarzenberg gegebenen Feſtmahl 
ſehr wenig geteunfen hat; auch die Feſtlichkeiten bei der 
Königsfrönung Friedrich's I. wird niemand gerade in die 
fer Ausführlichkeit kennen zu lernen wünſchen. Der ganze 
dritte Band, der auf 541 Seiten die furze und ruhmloſe 
Regierung Friedrich Wilhelm's II. behandelt, leidet an 
einer Weitfchweifigteit, welche ihn gerade den Leferkreifen, 
auf die das Werk zunächſt berechnet ift, völlig ungenieß⸗ 
bar machen muß; die Häglichen Feldzüge gegen Frankreich 
1792—94 werben mit einem Detail erzählt, das felbft 
den Militär von Fach nicht mehr intereffiren Tann. 
Wie will der Berfafler, wenn er folcden Dingen fo viel 
Raum gewährt, dann mit einer Periode wie die ber 
Befreiungskriege jemals fertig werben? Auch fällt gerade 
in diefem Bande die Werken dieſer Art fo oft anhaftende 
Schwäche der Urtheile auf: die Beurtheilung Friedrich 
Wilhelm's II., Wöllner’8 und Biſchofswerder's find fo 
verclaufulirt und auf Schrauben geftellt, daß man den 
Iopalen Verſuch, auch ſolche Männer noch zu verthei- 
digen, nicht verfennen kann. Endlich muß noch die Ab- 
weſenheit jeder fcharfen, ins einzelne durchgeführten Ord⸗ 
nung gerügt werden; im Durcheinanderwerfen der ver- 
fhiedenften Dinge wird zuweilen geradezu Unglaubliches 
geleiftet, felbft da, wo einfach an die chronologijche Reis 
henfolge der Ereigniffe fi zu halten nöthig war, um 
einen völlig genügenden innern Zuſammenhang berzuftellen. 

In dem kurzen „Rückblick anf die legten Jahrhunderte 
in Bezug auf Cultur und Sitten‘, der nad) der Darftellung 
der Regierung des Kurfitrften Johann Sigismund einge- 
Schaltet if, wird zuerft die Entwidelung der Reformation 
nach Luther gelennzeichnet, dann bie Gefchichte der Erfin- 

1870, ®. 


361 


dung ber Buchdruderkunft erzählt, auch unnöthig aus- 
führlich, jedoch ohne der Entftehung der exften Drudereien 
in der Mark Erwähnung zu thun, und daran reiht fich 
dann eine Schilderung der geographiſchen Entdedungen. 
Hier ift die Hiftorifche Ordnung doch geradezu auf den 
Kopf geſtellt. Daß dabei Columbus als der erfte Ent- 
decker angeführt wird, läßt fich doch auch nicht redhtfer- 
tigen. An ähnlichen Fehlern aber ift namentlich in den 
die ältern Zeiten behandelnden Partien des erften Bandes 
Ueberfluß: König Heinrich J. wird der Finkler, Albrecht 
der Bär gar Kurfürft genannt, Ulrich von Hutten wird 
zufammen mit Hans Sachs als dentjcher Liederdichter 
angeführt; daß das ganze fchweizerifche Volt ſich zur 
Lehre Zwingli’s bekannt habe, ift doch eine unerlaubte 
Hyperbel; daß das Religionsgefpräc zu Marburg 1527 
und die Verlegung des Sites des Hochmeiflers des Deut- 
jhen Ordens nad) Marienburg 1306 angefegt wird, 
find wol Drudfehler für 1529 und 1309, obgleich fie 
nicht als folche berichtigt find. Weiterhin wird gar 
Wilhelm von Oranien, der fpätere König von England, 
mit feinem großen Ahnherrn, dem Gründer der nieber- 
ländifchen Freiheit, verwechjelt, und als „der Schweigfame“ 
bezeichnet. Was in einer Anmerkung bei Gelegenheit des 
Zwiſtes des Kronprinzen Friedrich mit feinen ftrengen 
Bater Friedrih Wilhelm I. über das Ende des Don 
Carlos und des unglüdlichen Alexei gejagt ift, ift theils 
unrichtig, theild ungenau; ebenfo unrichtig wird bei einer 
ähnlichen Gelegenheit der die Schladht bei Cannä überlebende 
römische Conful ftatt Varro Varus genannt. 

Doc) genug der Einzelheiten, die nur deshalb hier an- 
geführt find, um das oben im allgemeinen auögefprochene 
Urtheil zu begründen. Freier von ſolchen Berftößen find 
die fpätern Abjchnitte, obgleich auch da vieles angeführt 
wird, was nad) dem heutigen Stande der Forſchung als 
antiquirt oder als völlig ungegründet bezeichnet werden 
muß. Auch. vermißt man oft die Benutung der neneften 
einfchlägigen Arbeiten. So ift 3. B. in dem zweiten 
Bande, der die Geſchichte Friedrich's des Großen enthält, 
die tiefgreifende Umgeftaltung, welche zwifchen dem zweiten 
Schleſiſchen und dem Siebenjährigen Kriege in der euro- 
päifchen Politit eintrat, keineswegs in einer ihrer Bedeu⸗ 
tung entfprechenden Weife erörtert worden, wie überhaupt 
die Entftehungsgefchichte des Siebenjährigen Kriegs weit 
hinter den Anforderungen zurüdbleibt, welche man an ein 
Buch Stellen muß, welches bie treffliche Arbeit Arnold 
Schäfer's über diefen Gegenſtand ſchon hat benugen kön⸗ 
nen. Müffen wir demnach die Abſicht, in welcher der 
Verfaſſer des vorliegenden Werts an feine Arbeit gegan⸗ 
gen, anerkennen, und können wir auch bie eifrig patrioti- 
ſche, zuweilen freilich etwas ſtark militärifch-abfolutiftifch 
gefürbte Gefinnung, die aus der Darftellung ber preufi- 
ſchen Gefchichte uns anweht (man vergleiche die ent- 
ſchieden nicht berechtigte VBerdammung der „Demago- 
gen” Rothe und Kalfftein und ihres Auftretens fir bie 
Rechte der preußischen Stände gegen bie abfolutiftifchen 
Neuerungen des Großen Kurfürften und den Stoßfeufzer 
über Preffe und Parlamentarismus, III, 484), rübh- 
mend hervorheben: im ganzen und großen wird das 
Werk, wie e8 bisher vorliegt, ber zu Löfenden Aufgabe 
nicht gerecht. 

46 

















1 





362 Preußiſche Geſchichte. 


Weit größeres Intereſſe als das Coſel'ſche Werk zu 
erwecken im Stande iſt, wird einem jeden der mit dem 
fünften und ſechſten Bande nunmehr vorliegende Schluß 
der „Geſchichte Friedrich's IL. von Preußen“, von Tho- 
mas Carlyle (Nr. 2), einflögen. ‘Der eigenthlimliche, ja 
man möchte jagen abjonderlihe Charakter des merkwür⸗ 
digen Buchs ift aus den erften vier Bänden befannt 
genug. Es ift zunächſt durch und durch engliſch; damit 
ift eigentlich alles gejagt. Eine Rüdficht auf den Leſer, 
ſei er nun ein englifcher, fei er ein deutfcher, Tennt der 
Berfafler nicht: während der Gefchichtfchreiber fich fonft 
bemüht, ſchon durch die Form der Darftellung feine Lejer 
für den behandelten Gegenftand zu gewinnen und den⸗ 
felben einem allgemeinen Verſtändniß möglichſt zugänglid) 
zu machen, rührt fi Carlyle nicht aus feinem Ich, und 
wer fich ihm nicht anbequemen, fich nicht in feine Härten 
und Schärfen, Schrullen und Wunderlichkeiten fügen will, 
der läßt es eben bleiben und wird von dem vornehmen 
Autor wol zu den „schlechten Leſern“ gerechnet werden, 
von denen am Schluß ebenfo wie von den guten Abſchied 
genommen wird. Selten dürfte ein auf einen größern 
Leſerkreis berechnetes Buch in einer foldhen Yormlofig- 
feit in die Deffentlichleit gelommen fein; doch Täßt fich 
dabei nicht leugnen, daß auch in diefer Yormlofigfeit 
ber bedeutende Geift des Autors ſich geltend macht. 
Zuweilen freilich iſt das ein Geift fehr fonderbarer Art 
and wird die Darftellungs- und Betrachtungsart geradezu 
barod. Die Ausbrudsweife ift hier und da jo wunder⸗ 
(ich, dag man nicht recht weiß, was des Verfaſſers eigent- 
liche Auficht ift: der faft durchweg tronifche, Hier und da 
fogar fatirifhe Ton macht den Eindrud, als ob der 
Gefchichtichreiber nur ungern, nur wiberftrebend die Größe 
feines Helden anerkennt. Aber diefer Kalte, fpöttelnde, 
alles bewigelnde Geift erhebt fich doch, von der Größe 
ſeines Stoff8 ergriffen, aud zu einem wärmern und 
vollen Gefühle. Beſonders eigenthümlich ift die ftellen- 
weife den Ton der Erzählung völlig aufhebende Neigung 
zum. Dramatifiren: es wird nicht mehr erzählt, fondern 
das Ereigniß felbft wird als ein Kleines Drama dar⸗ 
geftellt; daß dabei das Hiftorifche vielfach durch die 
Individualität des Autors gefärbt wird, ift natürlich, 
denn der Gefchichtfchreiber fteht nicht mehr über ben von 
ihm behandelten Vorgängen, fondern nimmt gleichfan 
perſönlich Antheil am denfelben: er hält mit bem großen 
König und deſſen Feldherren Zwiegeſpräche, verhandelt 
mit- ihnen bie Schlachtpläne, wirft ihren Maßregeln feine 
Bemerkungen, feine Warnımgen und Bedenken entgegen, 
ja feitenlang erzählt er ald ob er feine eigenen Er- 
lebniſſe berichtete und fpricht von Friedrich und deilen 
Armee in der erften Perfon: „Wir thun nun dies" — 
und „Wir werden nun fo und jo handeln”. Daß bies 
originell iſt, wird nicht geleugnet werden können; der 
beutfehe Leſer aber findet fi) nur ſehr fchwer in biefe 
Manier und wird ein Gefühl des Befremdens, des 
Mishehagens nicht völlig los werden. Die draftifche, 
berbe Art Carlyle's offeubart fich ſchon in den Ueber⸗ 
Schriften der einzelnen Kapitel, nach denen man zumerlen 
meinen follte, ber Lektüre eines komiſchen Romans entgegen« 
zugehen. „Reichs⸗Donner, flüchtige Ueberſicht deſſelben, 
nebſt Frage: wohin? wenn überhaupt irgendwohin?“ 


„Von dem abſonderlichen quaſi⸗behexten Zuftande Englands”, 
„Was thut der ſtändige Präſident Maupertuis dieſe ganze 


Zeit über? Iſt er noch in Berlin, oder wo in der Welt 


iſt er? Ach armer Maupertuis!“ — das iſt nur eine 
kleine Blumenleſe aus den Abſonderlichkeiten, die uns in 
dieſer Hinficht geboten werden. An ähnlichen Derbheiten 
ift die Ausdrudsmeife reich; namentlich in Vergleichen und 
Bildern wird Starkes geleiftet. Wir heben auf gut Glüd 
ein paar Stellen heraus; V, 35: 

Die prager Salat, eine jener fürchterlichen Weltfchlachten, 
laut wie der Jüngſte Tag — fon ihre finnbilblihe Darſtel⸗ 
lung, von energifchen fFrauenzimmern auf dem Klavier ausgefiihrt, 
jagt die Menjchheit, die ihre Ohren Tiebt, in bie Flucht. 

V, 11: 

Eine Allmacht des Brummens vermifht mit grellem Ge⸗ 
ſchrill, welches das Univerſum nicht auf wohlthuende Weile er⸗ 
füüllt. Bon den Tiefen der Tonleiter an bis wieder hinauf zu 
ihren fchrilen Höhen — ein Brummen, das etwas vom Cber 
oder Wildfehwein an fih bat. Dean denke fi) alle. milden 
Schweine in der Welt verfammelt, alle oder den größten Theil, 
und jedes mit einem Meffer in ber Seite, das ein nur zu 
befannter Mifjethäter foeben Hineinftieß, fo bat man einen 
Begriff von dem Zon diefer Dinge — 
der Reden nämlich, die in Regensburg von Defterreih 
und andern gegen Preußen geführt wurden! Dan fieht, 


faft craffer noch als in den frühern Bänden des Carlyle'⸗ 


chen Werks ift Hier aufgetragen: der Ton ift ftellen- 
weife für den Exrnft der behandelten Sache und die Größe 
des Stoffs ein geradezu unangemefjener und macht faft 
den Eindrud der Poſſenreißerei. Es ift fchabe, daß 
Carlyle fi fo ganz in diefe Manier verliert. Daß ihm 
ein fchlichter, ernfter, ber Hoheit des Gegenſtandes ange» 
mefjener Ton nicht verfagt ift, zeigt er oft genug: wie 
ſchön und würdig, wie ergreifend ift bie ganz ſchmuckloſe 
Darftellung, die er von dem Tode bes großen Königs 
gibt. Der fir gewöhnlich angefchlagene Ton ift aber 
um fo befremdlicher, al8 die Auffafjung und die Urtheile 
Carlyle's meiftens durchaus zutreffend find und ſich auch 
don jeder nationalen Beſchränktheit frei halten, felbft da, 
wo er, Ereignife der neueften Zeit berührend, auf Fragen 
zu fprechen kommt, für welche auch heute noch fehr vielen 
Engländern die richtige Einfiht abgeht. Charakteriftifch 
in dieſer Hinſicht ift die Würdigung, welche er bem 
Siebenjährigen Kriege angebeihen läßt und welche zugleich 
auf die jüngfte Vergangenheit und die demnächſt zu Id« 
ſenden politifchen Probleme ein Mares Licht wirft. Als 
erſtes bedeutendes Ergebniß des gewaltigen Kampfes hebt 
er nümlich folgendes hervor: 

Es if unmöglich, diefem Manne Schleftien zu entreißen, 
unmöglich, ihn in die orthodoren alten Grenzen einzuzwängen; 
er und fein Land find bandgreiflich Liber diefelben hinausge⸗ 
wachſen. Defterreich entfagt der Aufgabe: „Wir haben Schlefien 
verloren!” Ia, und was ihr faum wißt, und was — wie 
ih merke — Friedrich felbft noch weniger weiß —, Deutfchland 
hat Preußen gefunden. Preußen, ſcheint es, kann nicht erobert 
werden, obgleich die ganze Welt es verfucht; Prenßen Bat feine 
Senertaufe zur Befriedigung der Götter und Menfchen beflan- 
den und ift Hinfort eine Nation. Im und gehörig zu bem ar- 
men aus den Fugen geriffenen Deutſchland, gibt es hinfort 
eine der Großmächte der Welt, eine wirkliche Ration. Und 
eine Nation, die ſich nicht auf erlofchene Traditionen, Perrüken⸗ 
thum, Papſtthum, unbefledte Empfängniffe gründet, nein, fon- 
dern auf lebendige Thatfachen — Thatſachen der Arithmetik, 
Geometrie, Sravitation, Martin Luther's Reformation und das; 
jenige, woran fie wirllid glauben kann — zum wuendlichen 


— — — 


Preußiſche Geſchichte. 363 


Bortheil beſagter Nation und des armen Deutſchland. Eine 
Nation zu ſein, das zu glauben, wovon ihr überzeugt ſeid, 
ſtatt euch zu ſtellen, als glaubtet ihr, wozu bie Teufel um euch 
ber euch beflochen und eingefchlihtert Haben — was für ein 
Vortheil für alle Betheiligten! Wenn Preußen feinem Sterne 
folgt — wie es wirklich zu thun verſucht, troß gelegentlichen 
Strandelns! Um Dentihlands willen hofft man immer, daß 
Preußen e8 thun werde, und daß es feine verfchiedenen Kinder- 
krankheiten überfiehen möge, ohne Tod: obgleich es traurige 
Sturze und Krifen gehabt hat — und vielleicht gerade jest ſich 
in einem feiner ſchlimmſten Slußfteber befindet, dem Flußfieber 
ber parlamentarifchen VBeredfamfeit oder der Wahlurne ine 
ber gefährlichften Krankheiten des nationalen Wachsſthums; ge- 
genwärtig äußerſt vorherrichend in der Welt — in der That 
anvermeidlid), aus Gründen, welche einleuchtend genug find. 
„Sie itur ad astra’; alle Nationen find liberzeugt, daß ber 
Weg zum Himmel im Abftimmen Tiegt, tm bevedten Bewegen 
ber Zunge in den Parlamentshänfern. Krankheiten, wirkliche 
oder eingebildete, erwarten Rationen wie Individuen, und 
laſſen ſich nicht zurückweiſen, fondern müffen befianden und 
durchgemacht werben, fo gut e8 eben gebt. Maſern and Bräune, 
ihr könnt fie auch bei Nationen nicht verhindern. Und felbft 
Moden, bie Mode der Erinolinen 3. B. (mie unendlich viel 
mehr die der Wahlurne und bes vierten Standes), könnt ihr 
ſelbſt die verhindern? Ihr müßt Geduld dabei haben und Hoffen ! 

Noch eine andere Stelle wollen wir hier hervorheben, 
bie uns befonders bemerkenswerth erfcheint, wegen bes 
entfchiebenen Gegenfages, in welchem wir da Carlyle mit 
ber von der überwiegenden Mehrheit feiner Landsleute 
vertretenen Anſicht über die Polen und deren Schidjal 
finden. Die Beurtheilung bes polnifchen Volks und Staats, 
die er bei Gelegenheit der erften polnifchen Theilung gibt, 
wird zu einer fcharfen und rückhaltloſen Berurtheilung. 
Carlyle fpricht ſich deutlich genug aus: 

Die Bolen geben diefem allen eine ſchöne Färbung und 
find fehr zufrieden mit ſich felbft. Die Ruffen betrachten fte 
als ein weſentlich untergeordnetes, barbarifches Volk, und bie 
auf diefen Tag kann man zornige poladifche Herren in dieſel⸗ 
ben Phrafen ausbrechen Hören: „Noch Barbaren, mein Herr; 
keine Cultur, Teine Literatur‘ — untergeordnet, weil fie feine 
Berfe mahen, die deu unfern gleihlommen! Wie es mit den 
Berjen fein mag, will ich nicht entfcheiden: aber die Ruſſen 
ſtehen unvergleichlich viel höher darin, daß fle in einem unter 
ben Rationen feltenen Maße die Gabe befigen zu gehorchen und 
ſich befehlen zu laſſen. Das poladifhe Nittertfum rlimpft bei 
der Erwähnung einer ſolchen Gabe die Naſe. Das poladifche 
Kittertfum empfing arge Streihe wegen des Mangels an die- 
fer Gabe. Und wurde endlich zu Tode gepeitſcht und ans ber 
Belt Hinausgeworjen, weil es gegen jenen Mangel blind blieb 
und fich die Gabe nie erwarb. 

Wie abweichend von andern Autoren, bie fi in hohlen 
Declamationen ergehen, Carlyle über die Theilung des in 
„pHosphorefcirende Fäulniß“ geratbeuen Polen urtheilt, 
ergibt fi) danach von felbft. Als beſonders charalteriſtiſch 
fei ferner noch die allgemeine Auffaffung hervorgehoben, 
welche Carlyle von ben fpätern Regierungsjahren bed Großen 
Königs und dem politifchen Zuftande der ber Fran⸗ 
söfifchen Revolution — „jenem allgemeinen Aufbrennen 
des Lugs und Trugs“ — entgegeneilenden Welt vor- 
trägt, wenn aud da die Abfonderlichkeit der Form den 
tiefen Gedankeninhalt zu verhlillen und unkenntlich zu 
machen geeignet if. 

Was den fachlichen Gehalt des Carlyle'ſchen Werks 
betrifft, fo zeigen auch diefe beiden Bände den emfigen 
und erfolgreihen Sammlerfleig, mit dem ber Berfafler in 
einer für einen Ausländer vollends feltenen Bollftändigfeit 
das gefammte, fehr umfangreiche Material ſich zugänglic) 


zu machen gewußt Hat, natürlich nur das gebrudt vor- 
hanbene; denn bisher unbenutzte Quellen haben ihm nicht 
zur Derfügung geftanden. Neue Auffchlüffe über die hi- 
ftorifchen Thatſachen werden daher hier auch vergebens 
gefucht werden; doch ſchweift Carlyle gelegentlich, nament⸗ 
ch da, wo die Verhältniſſe Englands ins Spiel kommen, 
etwas bon der Sache ab und geht auf eigentlich ferner 
liegende Fragen näher ein: fo wird gleich im Beginn bes 
fünften Bandes bie Gefchichte der Belagerung von Prag 
unterbrochen durch eine ausführlichere Erzählung von ben 
Anfängen Pitt's. Aehnliche Epifoden find auch fonft noch 
vielfach eingefhoben. Befondere Sorgfalt ift durchgehende 
der Kriegsgeſchichte gewidmet: die Schilderungen ber 
großen Schlachten des Siebenjührigen Kriegs find Teben- 
dig und anfchaulich, namentlich dadurch, daß uns durd)- 
gehends zunächft ein genaues Bild des Schlachtfeldes ge- 
geben wird, welches Carlyle in vielen Fällen aus eigener 
Anfchauung ergänzen und ausführen kann. Man ver- 
gleiche einmal dieſe Carlyle'ſchen Schlachtenbilder, z. 2. 
das von dem Kampfe bei Leuthen, mit den entſprechenden 
Partien des Coſel'ſchen Werls, und man wird ſehen, 
wie weit ber Ausländer und Laie den preußischen Militär 
binter ſich läßt. Die forgfältig gearbeiteten Karten» 
ffizzen, welche bie wichtigern heile bes Kriegsſchauplatzes 
und die Hauptſchlachtfelder barftellen, tragen weſentlich 
zum Verſtändniß biefer oft complicirten Sragen bei. So 
ift denn ſchließlich der Eindrud, mit dem wir son dem 
gleich bei feinem erften Erfcheinen zu fo viel Controverfen 
Anlaß gebenden Werke Thomas Carlhle's ſcheiden, bei 
aller abfonderlichen Eigenartigkeit befjelben ein befriedi- 
gendes und bedeutendes; und unfer nationales Gefühl 
wird angenehm berührt, wenn wir fehen, wie auch ein 
fo eigenfinniger und fleptifcher, babei fo ironiſcher Geiſt 
ſich vor der Heldengröße Friedrich's beugt umd derſelben, 
wenn aud) zuweilen mit unverlennbarem Wiberftxeben, 
feine eben dadurch doppelt werthvolle Huldigung darbringt. 

Bergefien wir über den Autor aber nicht des Dante, 
den wir dem Weberfeger dafür fchulden, daß er dieſes 
merkwürdige Werk der Geſammtheit des deutfchen Publi- 
kums zugänglid) gemacht hat. Yulius Neuberg, den wir 
die Uebertragung der erſten vier Bünde verdanken, ift vor 
Bollendung des ganzen Werks durch den Tod abgerufen; 
die Sachkenntniß, Ausdauer und Liebe, womit er ſich der 
wahrlich fchwierigen Aufgabe gewidmet, ift alljeitig aner- 
fannt worben und fihert ihm bei allen freunden bes 
Carlyle'ſchen Werks auf bie Dauer ein chrenvolles An- 
denken. Bon dem flinften Bande rührt nur die Ueber- 
jegung des achtzehnten Buchs noch von Neuberg her; 
vollendet ift die Arbeit in gleichem Sinne, mit glei 
warmer Hingebung und daher auch mit gleich günftigem 
Erfolge von dem als Kenner der englifchen Literatur und 
Sprache längſt rühmlichſt befannten Friedrich Althaus. 
Mit Recht hebt derfelbe gewiß bie freundliche Unterſtützung 
hervor, deren fo wie einft Neuberg auch er ſich von feiten 
Carlyle's felbft zu erfreuen gehabt Bat: fle mag weſent⸗ 
lich mit dazu beigetragen haben, daß die Ueberfegung uns 


den wunderlichen, harten, zerhadten, dabei doch fo ala aus - 


Einem Geift wirkenden Stil Carlyle's in fo treuer und 
dabei dem Genius ber beutfchen Sprache doch nirgends 
widerftrebender Weife nachgebildet hat. 

46 * 


— — — — —— — — 


364 


Bon ber „Geſchichte des preußifchen Staats” von 
Felix Eberty (Nr. 3), deren dritter-Band, die Jahre 
1740—56 behandelnd, uns vorliegt, ift früher ſchon bei 
dem Erfcheinen der beiden erftn Bände ausführlich in 
d. DI. die Rede gewefen. So wenig wir und mit der 
für ein populäres Wert durchaus unpafjenden umfang» 
reihen Anlage einverfianden erflären Tonnten, und fo 
fehr die Ungleichmäßigkeit der Arbeit, in der Auswahl 
und Anordnung des Materiald cbenfo wie in der Form 
der Darftellung, als verfehlt und ftellenweife geradezu 
ungenießbar Bingeftellt werden mußte, fo darf doc, nicht 
verfannt werden, daß diefer dritte Band in all diefen 
Hinfihten weit über feinen beiden Vorgängern fteht. 
Augenfcheinlich bewegt ſich der Verfaſſer bier auf einem 
Gebiete, auf dem er fich beimifcher fühlt als auf dem 
der ältern brandenburgifch- preußifchen Geſchichte. “Die 
Literatur ift im wefentlichen gebührend ausgebeutet und 
namentlich find auch die neueſten Forſchungen nicht über- 
fehen. In der Darftelung find und nicht wieder fo 
grobe Verſtöße begegnet, wie fie in den beiden erften 
Bänden in bebenflicher Menge enthalten waren. Den⸗ 
noch ift die Erzählung nod immer allzu breit, ergeht fich 
zu behaglih in Nebendingen und läßt daburch das wirk⸗ 
lich Bedeutende und Entfcheidende ungebührlich oft in 
den Hintergrund treten. *) 

Nach Aulage und Charakter wefentlich verſchieden von 
den bisher befprochenen Werken ift das oben an letter Stelle 


genannte: „Geſchichte des Bairifchen Erbfolgekriegs“, von 


E. Reimann (Nr. 4). Der durch feine Studien über 
das 16. Jahrhundert rühmlich bekannte Verfaſſer deflelben 
behandelt darin monographifch einen an fich eigentlich wenig 
anziehenden Stoff, der jedoch wegen feiner hohen politi- 
fchen Bedeutung und feiner entfcheidenden Wichtigkeit für 
die Entwidelung der öfterreichifch-preußifchen Beziehungen 
ein größeres Intereſſe zu erweden im Stande fein wird. 
Die Gefchichte des fogenannten Bairifchen Erbfolgefriegs 
ift, jo Iehrreich fie für den Militär von Fach fein mag, 
im ganzen do arm an jedem irgend bedentendern Er- 
eignig und fleht in diefer Hinficht in einem eigenthüm⸗ 
lihen Gontraft zu der an gewaltigen Vorgängen faft 
überreichen Geſchichte der frühern Kriege des Großen Kö— 
nigs. Als Krieg unbedeutend und ſchon von den Zeit 
genoffen dur) die Spottnamen „der Kartoffelfrieg‘ oder 
„der Zwetfchenrummel‘ dem Gelächter preiögegeben, hat 
er jedoch, vom allgemein politifchen Standpunkte aufgefaßt, 
eine eminente Bedeutung, Mit diefem Kriege eigentlich 
beginnt : da8 bewußte Antipodenthum zwiſchen Preußen 
und Oeſterreich; es ift dies der erfte folgenreihe Anlauf, 
den die preußifche Politit nahm, um Oeſterreich und die 
egoiftifche habsburgiſche Politik nicht blos in der Ber- 
wirklihung ihrer VBergrößerungsgelüfte zu verhindern, ſon⸗ 
bern auch aus bem auf das vielgefpaltene Deutſchland 
geüibten Einfluß zu verdrängen. Eben biefer Geſichts⸗ 
punkt ift c8 auch, von dem eine neue Behandlung die⸗ 
fe8 ange vernacdhläffigten Stoffs gerade in unfern Ta- 
gen als ein bejonders dankenswerthes Unternehmen er⸗ 
Scheint, und zwar um fo verdienftlicher, als bie deutjche 
Geſchichtſchreibung aus Leicht begreiflichen Gründen ge- 
rade diefe Borgänge jahrzehntelang ganz unbeachtet hat 
=) Inzwiſchen ift aud ber vierte Band erfggienen. D. Red. 


Preußiſche Geſchichte. 


beiſeiteliegen laſſen. Die einzige Geſchichte des Bairi⸗ 
ſchen Erbfolgekriegs, die wir bisher beſaßen, war die von 
dem bekannten preußiſchen Staatsmann Dohm im Jahre 
1814 veröffentlichte, Welche Fülle neuer und höchſt 
werthuoller Materialien aber ift feitdem und namentlid) 
in den legten Jahren veröffentlicht worden! Die Dent- 
wiürbigfeiten bes Grafen von Görg, der in den während 
des Erbfolgefriegs geführten Unterhandlungen cine höchſt 
bedeutende Rolle gefpielt, und ähnliche Memoirenwerke, 
die von 8. W. von Schöning veröffentlichte militärifche 
Correfpondenz Friedrich's I. mit feinem Bruder Heinrich), 
vor allem aber die neuerdings durch den um die öſter⸗ 
reihifche Geſchichte ſo Hochverdienten Ritter von Arneth 
herausgegebene Correfpondenz Maria Thereſia's mit ihrem 
Sohne Kaifer Zofeph eröffnen und in das Innere diejer 
merkwürdigen Vorgänge einen Blick, tiefer und klarer, 
als felbft die beftunterrichteten der mitbetheiligten Zeit 
genoffen ihn jemals haben thun fünnen. Wir haben ben 
nicht hoch genug anzufchlagenden Vortheil, in beide Lager 
zu ſehen und die Abfichten und Beweggründe der han« 
delnden Hauptperfonen genau zu erlennen. Auf Grund 
diefer koſtbaren Duellen und mit gewifienhaftefter Be- 
nugung aller einfchlägigen Hülfsmittel — von archivali⸗ 
chen abgefehen, aus denen gewiß für mandje auch jebt 
noch nicht ganz are Partien ein helleres Licht zu gewin⸗ 
nen gewefen wäre — entwirft uns Reimann ein leben« 
diged und forgfältig bis in das Heinfte Detail ausgeführ⸗ 
tes Bild des Bairiſchen Erbfolgekriegs. 

Nach einer Haren Darlegung der öfterreichifch-bairi« 
ſchen Beziehungen und namentlich der ftreitigen öfterreicht« 
chen Anſprüche werden uns die ſchlau angelegten und 
anfangs aud einen fichern Erfolg verfprechenden Jutri⸗ 
guen Joſeph's II. und Kaunitz' bargeftellt, dann die ſeit der 
Intervention Preußens fich zu einer wirklich europäifchen 
Krifis fleigernden Berwidelungen bis zum Ausbruch der 
Veindfeligfeiten verfolgt. Die Gefchichte der an fi un⸗ 
bedeutenden wmilitärifchen Operationen wird mit der aller 
größten Genauigkeit gegeben. Für einen weitern Leſer⸗ 
kreis wirb bie Rolle von befonderm Intereſſe fein, melde 
Maria Therefia in diefen Fragen fpielt: fo fehr man ba 
auf der einen Seite betroffen wird durch die zumeilen 
geradezu fanatiſche Leidenjchaftlichkeit des die Herrfcherin 
noch immer gegen Preußen und namentlich gegen Fried⸗ 
rich II. felbft erfüllenden Haſſes, fo kann man fi) doch 
auf der andern Seite des Mitleids nicht erwwehren, wenn 
man fieht, wie Maria Thereſia mit fteigender Angft bie, 
unbefonnenen Schritte ihres Sohnes verfolgt, und wie fie 
angefihts der Gefahr, Defterreih am Ende gar einer 
europäifchen Coalition gegenüber zu fehen, faft von Ver⸗ 
zweiflung ergriffen wird. 

Beſonders ergreifend ift die Art des Verkehrs ber 
Kaiferin mit ihrem Sohne, den fie mit Ausbrüchen müt- 
terlicher Zärtlichkeit beftürmt, für den fie fich abängftigt 
und um beflen Leben und Gefundheit fie jeden Augen- 
blid von banger Sorge ergriffen iſt, um von dem launen⸗ 
baften und eigenfinnigen, heftig aufbraufenden und empfind- 
lichen Joſeph dfters in wahrhaft verlegender Weife ab» 
gewiefen und zurechtgewiefen zu werden. Auf ber andern 
Seite find e8 die Figuren bes greifen Friedrich und fei- 
nes Bruders Heinrich, die unfere Aufmerkſamkeit zumeift 


Johann Georg Hamann. 


anf fich ziehen und unſer Intereſſe befonders lebhaft 
erregen. Was die Handlungsweife Friedrich's II. in dem 
Bairifchen Erbfolgekriege betrifft, fo legt Reimann mit 
vollem Rechte befondern Nachdruck darauf, zu zeigen, daß 
der König weit davon entfernt gewefen ift, fich wie die 
Sache wol hier und da irrig aufgefaßt ift, zum Bor- 
fümpfer der verrotteten und ja durch ihm felbft erft zwei 
Jahrzehnte früher vollends niedergeriffenen Reichsverfaflung 
aufzuwerfen, fondern daß er ausſchließlich aus egoiftifchen 
Motiven handelte, daß feine Politik Keine deutfche oder 
gar deutjch - fürftliche, fondern einzig und allein eine 
prenfifche war, d. h. dictirt von der Erfenntniß, daß 
jede Vergrößerung Defterreich8 zugleich eine Schwächung 
Preußens fei. Beſonders eingehend werben auch die mili- 
tärifchen Beziehungen Friedrich's und des Prinzen Heinrich 
erörtert; das Ergebniß jedoch, zu welchem unfer Geſchicht⸗ 
fchreiber Hier kommt, fcheint uns nicht" das richtige. Hei 
mann ftellt nämlich den Prinzen Heinrich” dar als den 


365 


Urheber der gänzlichen Erfolglofigleit des Feldzugs; er 
fchließt fi darin dem Urtheil an, in dem Zriebrih I. 
jelbft fich gefiel, womit derfelbe aber feinem um ihn fo 
bochverdienten Bruder ein fchweres Unrecht that. Friedrich 
felbft war nicht mehr der Alte, er war weder Förperlich 
noch geiftig den Aufgaben, die der Krieg ihm ftellte, ge- 
wachſen, wie er felbft das gefühlt. und auch mehrfach 
offen ausgefprochen hat. Des Königs Unentſchiedenheit 
und Langſamkeit lähmte auch die Thätigfeit des Prinzen 
Heinrich, der außerdem noch auf dem ihm zugewiefenen 
Kriegsichauplage mit den ärgerlichften Hinderniffen und 
Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen hatte. In diefem 
einen Punkte können wir der Auffaffung Reimann's nicht 
beipflichten,; in allem übrigen hat er mit feiner fcharf 
eindringenden Kritik aus einer geiftvollen Combination 
die Erkenntniß eins der lehrreichſten Stüde deutfcher Ge- 
ſchichte weſentlich aufgeflärt und unfere Literatur um ein 
werthvolles Werk bereichert, Hans Pruß. 


Johann Georg Hamann. 


Johann Georg Hamann’s Briefmechfel mit Friedrich Heinrich 
Sacobi. Mit einem einleitenden Borworte und Anmerkungen 
herausgegeben von C. 9. Gildemeiſter. Gotha, F. A 
Perthes. 1868. Gr. 8. 3 Thlr. 10 Nor. 


„Hamann ift ein wahres AU an Gereimtheit und Un⸗ 
gexeimtheit, Licht und Finfternig, Spiritwalismus und 
Materialismus“, fo ſchrieb Jacobi von dem Manne, zu 
dem er mit verehrender Freundſchaft emporſah; was wun- 
der, daß die Literaturhiftorifer je nach ihrer Sinnesart 
den Stab über ihn brechen oder den Magus aus Nor» 
den zu den Sternen erheben? Gottes Spur und Siegel 
in allen Dingen fehen, alle Dinge zugleich mit dem Ge- 
fühl und dem Berftand auffaflen, Erfahrung und Offen- 
barung vereinigen, in der Poefie die höchfte Weisheit, die 


Mutterſprache der Völker erkennen, das war es, was 


Hamann im Sinne Hatte; oder wie Goethe in feiner 
pofitiven großartigen Weife fagt: „Alles, was der Menſch 
zu leiften unternimmt, es werde nun duch That oder 
Wort oder fonft bervorgebraht, muß aus jämmtlichen 
vereinigten Kräften entfpringen, alles Bereinzelte iſt Stück⸗ 
werk.” Uber Hamann fam aus dem Durdjeinandergären 
diefer Elemente niemald zur ruhigen Klarheit; ftetS den 
Eindrüden der Außenwelt verhaftet, ſprach und fchrieb 
er gelegentlih, ohne fein Denken in geordnetem Zu- 
ſammenhang darzulegen; und fo Hat er funkenſprühend, 
bfigartig erleuchtend in räthſelhaften fibyllinifchen Blättern 
auf ©eifter, welche fie zu deuten wußten, welche die An- 
regungen ausbildeten, einen befruchtenden Einfluß gewon- 
nen. Franz Baader war ihm vielfach verwandt, und 
überragt ihn; fermenta cognitionis bringen beide. 
Hamanu hat neuerdings an E. H. Gildemeifter einen 
Biographen gefunden, der, zugleich ein Ausleger und Ord⸗ 
ner feiner Schriften und Ideen, in einem vierbündigen 
Berl die Summe feines Lebens und Denkens gezogen hat. 
Zur Kenntniß des Mannes hatte der Briefwechfel mit 
Jacobi viel beigetragen; Jacobi hatte mit feinem Takt 
daraus das Intereſſante, Werthoolle ausgezogen. Yet 


legt uns Gildemeifter auch bier das Ganze vor, in einem 
Bande von 700 Seiten, und ich muß befennen, die Aus- 
bente des Neuen ift gering. Wäre Hamann ein Geift 
erften Range, wie Goethe ober Shaffpeare, Leibniz oder 
Kant, dann möchten wir fagen, es fer alles wichtig, was 
er geichrieben; fo aber heißt e8 ber Gegenwart viel zu⸗ 
muthen, ſich mit dem Heinen Detail zu befchäftigen, das 
biee nachträglich veröffentlicht wird. Gildemeifter - fagt 
zwar, e8 jei mit dem Ausziehen und Abkürzen von Brie- 
fen eine eigene Sache; dem einen fcheine wichtig, was 
der andere entbehrlich finde; und fo wollen wir die Ge- 


meinde ber Hamannianer nicht flören, wenn fie fich immer 


und immer von neuem beftätigen laſſen, was Hamann 
ſelbſt fagt: 

Meine Briefe find ein Tebendiges Gemälde meiner wüflen 
Lebens- und Denkungsart, daß ich zu feiner Ruhe kommen 
kanu, immer von innen nad) außen, von vorn und hinten hin⸗ 
und bergemworfen werde. Mit dem beften Willen ordentlich 
zu fein, bin ich eins der confufeften Gefchöpfe. 

Im Begriff, feine Brofchüre von Niemand dem Kund- 
baren zu fchreiben, äußert er: 

Ein Schroefelregen Über Sodom und Gomorrha! Ich Liege 
beinahe der Wuth unter, die in allen meinen Adern podt und 
tobt, und erichrede vor meiner eigenen Kraft, bie einem higigen 
Bieber ähnlich iſt und mir ſelbſt nicht natürlich vorfommt. Der 

eſſel meines brauenden Gehirns ſchäumt fo entfelich, daß ich 
beide Hände nöthig habe, den Unrath abzufhäumen und das 
Ueberlanfen zu verhindern. 

Dann fagt er: 

Das Manufcript ift fein Kinderfpiel, fonbern der ganze 
Schat meines Kopfes, meines Herzens und fämmtlider Ein- 
geweide, die pudenda nicht ansgeichloffen. 

Es ift etwas Großes, ſich immer ganz zu geben, feine 
Individualität voll auszuprägen, wie dies z. B. Schiller 
thut; aber diefer flellte und erfüllte auch früh die For⸗ 
derung, daß die Perfünlichkeit fi zur Humanität, zum 
allgemein Menſchlichen läutere, zur Freiheit, Klarheit, 
Schönheit ih bilde. Hamann dagegen befennt von ſich 
in feiner preiswerthen Offenheit: 


366 


Aus dem ekeln Detail meines Lebenslaufs erhellt ſattſam 
meine Unfäbigleit im geriugftien Zuſammenhang. Inwendig 
find Magen, Herz und Kopf in ewigem Zwieipalt; auswendig 
geht's nicht befier... .. Ich bin volllommen überzeugt — äußert 
er ein andermal —, daß blos bie infarctus meiner Eingeweide an 
meiner fonberbaren Unbermögenbeit zu denen ſchuld find, unb 
daß alles oben wie in ber Mitte Schleim, Moraft und Eru- 
bitäten ſtockend und verflopft ift..... Mein verfluchter Wurfiftil, 
der von Berftopfung herkommt und von Lavater's Durchfall ein 
Gegenſatz ift, macht mir Grauen und Ekel. 

Wenn er fihrieb, fo machte er feine hypochoudriſch⸗ 
bumoriftifchen Aufpielungen auf alles, was der Tag mit 
fi brachte, ob e8 das „Königsberger Wochenblatt‘ oder 
Kant's „Kritik der reinen Bernunft”, Friedrich der Große 
oder ein herumreifender Duadfalber war; da mußte er 
denn befennen, daß ihm die eigenen Schriften felbft un⸗ 
verftändlich wurden. Gelegentlich einer Sendung feiner 
Auffüpe an die Fürſtin Gallitzin bemerkt er: 

Sid in alle die Situationen zu verfegen, welche bieje 
Irrwiſche hervorgebracht, ift eine wahre Seelenfolter, und ich 
babe allen Appetit verloren, an eine fo berculiiche Arbeit zu 
denfen, als erfordert würde, einen folchen Miſtſtall auszukehren 
und anfzuräumen, und mich anf alle bie Heinen Anläſſe zu 
befinnen, welche Einfall und Ausdrud mit und ohne Fug 
erzeugt. ' 

Edel und wahr ſpricht er über fi felbft in einem 
Brief vom 4. November 1786, den aber, wie alles Wich⸗ 
tige derart, Jacobi Längft mitgetheilt bat: 

Das Individuelle meiner Autorfchaft und ihres Ausgangs 
bleibt immer mein Eigenthum, das mir nicht entwendet wer⸗ 
beu Tann. Kommen andere auf die Spur meines Ganges, der 
jedem nahe und offen Tiegt, jo gewinmt meine Abſicht durch 
audere mehr, als vieleicht durch meine eigene Ausflibrung der- 
felben. Diele Ausführung ift noch immer zu unzeitig, für mid 
ſowol als für die öffentlichen Leer. Beide haben nod nicht 
die Reife. Wenn ich auch als hinkender Bote endige, was ich 
als Vorläufer angefangen, fo wird mein fliegender Brief troß 
aller widerfprehenden Mobificationen in ber Form feinem In⸗ 
halt nad) das bleiben, was er werben follte: Entkleivung mei⸗ 


Feuilleton. 


ner Heinen Schriftſtellerei und Verklärung ihres Zwecks, das 
verkannte Chriſtenihum und Lutherthum zu ernenern und bie 
denſelben enigegengeſetzten Misverſtändnifſe aus dem Wege zu 
räumen, und dem Drachen von Babel einige Küchlein von 
Pech, Fett und Haar, untereinander gelocht, in den Rachen zu 
werfen. 


Gewinnen wir etwas, wenn zu den harten Worten 
über Moſes Mendelsfohn, die Hamann während Jacobi's 
Kampf über Leſſing's Spiuozismus, in den er ſich ein⸗ 
miſchte, wiederholt ſchrieb, und die Jacobi veröffentlicht 
bat, auch noch eine von ihm unterdrüdte Stelle fommt ? 
„Sin Jude, ein Sophift — und point d’honneur und 
Delicatefje!” Mochte Hamann im Aerger ſolch eine Ros 
heit entjchlüpfen; fie ohne feinen Willen dem Publikum 
mitzutbeilen, beißt ihm einen fchlechten Dienſt ermeifen. 
Halten wir uns lieber an einige Ausſprüche Hamann's 
von allgemeiner Bedeutung : 


Ein guter Schrififteller hat Gegner und Feinde aud) nöthig, 
muß gegen folche dankbarer fein als gegen die blinden Bewun⸗ 
berer. Die firenge Gerechtigkeit felbft ıft nicht Tieblos. Selbfl- 
erfenntniß ift und bleibt das Geheimniß echter Autorfchaft. Sie 
ift der tiefe Brunnen der Wahrheit, die im Herzen, im G@eifte 
liegt, von da in die Höhe fleigt und fi wie ein dankbarer 
Bad durh Mund und Feder ergießt, mohlthätig ohne Ges 
räuſch und Ueberſchwemmung. 

Auch Irrthümer und Ketzereien, auf die man bona fide kommt, 
find bisweilen lehrreicher, als der alte Sauerteig der Orthodorie, 
den man mala fide mit dem Munde befemnt ohne Antheil des 
Sewiffene. Die Wahrheit muß aus der Erde herausgegraben 
werden und nicht aus der Luft geſchöpft, ans Kunfwörtere, 
fonbern aus icdifchen und unterirdifchen Gegenfländen ans Licht 

ebracht werden durch Gleichniſſe uud Parabeln der Höchften 
Speer. Die Schulvernunft theilt Ih nur in Idealismum und 
Realismum; die rechte und echte weiß nichts von biefem er. 
dichtetem Linterjchied, der nicht in der Materie der Sache ge- 
gründet ift und der Einheit wiberfpricht, die allen unfern de 
griffen zu Grunde Tiegt oder wenigſtens liegen follte. 

Hlorik Carriere. 





Fenilleton. 


Notizen. 

Das dreiundzwanzigſte und vierunbzwanzigfle Bändchen ber 
von Friedrich Bodenſtedt herausgegebenen neberjehung von 
„Billiam Shaffpeare’8 Dramatifhen Werken‘ (Leipzig, 
Brodhaus, 1870) enthält zwei Luftfpiele: „Was ihr wollt oder 
Heiliger Dreilönigsabend”, überfeht von Otto Gildemeiſter 
und „Die beiden Beronefer", eins der ſchwächern Luſtſpiele 
des britifchen Dichters, Überfet von Georg Herwegh. 

Es ift jedenfalls intereffant, einen politifchen Lyriker fich mit 
einem romantischen Luſtſpiel Shakſpeare's beichäftigen zu fehen. 
Nach den neneften Proben der Herwegh'ſchen Lyrik bat fich der 
Dichter indeß ganz auf bie Heinifirende Pointe verlegt und das 
politifche Pathos mehr an den Nagel gehängt ober mindeſtens 
die Freiheitsſonne nur zur Erzeugung von Negativbildern ver- 
wendet. Man darf aljo von ihm erwarten, daß er die Poin⸗ 
ten und Euphnismen des Shalſpeare'ſchen Lufipieldialogs in 
angemeffener Weife wiederzugeben vermag. Ueber die Theater: 
zufläude der Gegenwart und Über einige Eigenthümlichkeiten 
der Shatfpeare’ihden Luſtſpieldichtung fpricht er fih am Schluß 
der Einleitung mit folgenden Worten ans: 

„Konnten «Die beiden Beronefer» in unfern Tagen noch 
mit Erfolg aufgeführt werden? Ic glaube ſchwerlich. Die 
Berwidelung iſt unjerm Thenterpubliltum nicht verwidelt ge 
ung; für die Porfie in einem Drama ift bei demfelben wenig 
Sinn vorhanden; aud die Zahl der Schaufpieler, die einen 


wohllautenden Vers zur Seltung zu bringen verſtehen, ift nicht 
ſehr groß. Haltpunkte an fogenannten (dönen Stellen erlaubt 
unfere Eifenbahnperiode auch auf dem Theater nicht mehr; nnd 
da, wie jemand richtig bemerkt, gerade in den Shakſpeare'ſchen 
Luftipielen der Weg ebenfo wichtig ift wie das Ziel, fo werden 
wol die meiſten derjelben nach und nad) ad acta gelegt werben. 
Mit der Selbfiherrlichkeit des dichteriſchen Wortes iſt es nad) 
den neneften Kunſtdogmen ohnehin vorbei. Es fcheint, die 
Mufit und befonders die Dper will ſich der ganzen menſchlichen 
Empfindungsiphäre allein bemädtigen. Von der fogenannten 
roßen Welt ihres äußern Bompes wegen vorzugsweiſe gehät- 
Net, macht fie ſich mit einer Unverihämtbeit breit, die ans 
Groteske grenzt, und beanfprudit einen größern Bla im mo⸗ 
bernen Leben, ale alle Künſte zufammen zu beanfpruchen bes 
rechtigt find, da es noch anbere als kimſtleriſche Fragen gibt, 
von denen umfere Zeit beivegt wirb.‘‘ 
Ueber das Weſen des romantischen Luftipiels Altenglands 
fagt Gildemeiſter treffend in der Einleitung zu „Was ihr wollt‘: 
„Die altenglifhe Bühne hat eine ganz eigenartige Gattung 
der Komödie entwidelt, welde man in Grmangelung eines 
beffiern Namens die «romantifche» nennen könnte. Im Gegen- 
fat zu ber Moliere'ſchen und der moberuen Komödie jucht 
ihre Stoffe nicht im der bürgerlichen Geſellſchaft ihres Zeit» 
alters und nicht im eigenen Baterlande, fondern im einer fin- 
girten Welt, in jenem phantaftifchen fernen Lande, welches die 


S enilleton. 367 


olte Novellendichtung Syrien, Böhmen oder Cypern oder den 
Ardennerwald oder Navarra nennt. Im folder Umgebung, frei 
von den hinderlichen Wahrſcheinlichkeitsregeln der Alltäglichkeit, 
fäßt fie die menfchlichen Affecte in Iuftigem Conflicte miteinan- 
der und mit den Nedereien des Zufalls fi tummeln, und fie 
verleiht ihnen, in Stil und Vortrag, den vollen dichteriſchen 
Shmud, den andere Bühnen vorzugsweife der Tragödie vor- 
behalten. Die Fabel, welche fie darftellt, ift faft immer roma⸗ 
niſchen Urjprungs oder wenigftens durch romaniſche Erzähler 
nad) England gebracht, und ein Hauch füdenropäifcher Eleganz 
ſcheint den Stoff dorthin begleitet und die englifchen Poeten bei 
der Behandlung diefer welſchen Geſchichten infpirirt zu haben. 
Eine gewiſſe fhimmernde Localfarbe, welche an das Mittellän- 
diſche Meer erinnert, fheint haften zu bleiben, fo wenig Fleiß 
auch die Engländer auf Coſtüm und landſchaftliche Correctheit 
verwenden; dagegen tritt alles national Eigenthümliche im den 
Hintergrund und, wie in ben italienifchen Novellen jelbft, tra» 
gen die Perfonen nur das Gepräge einer allgemein enropäiichen 
höſtſchen Cultur, in einer ganz beſtimmten, conventionellen 
Stififirung. Ein and dem Stoffe nad englifhes Luftipiel 
eriftirt allerdings anf den londoner Theatern des 16. Jahrhun- 
derts — was find die «Luftigen Weiber von Windfor» andere?—, 
aber das romantifche Luftipiel hat ungleich reichere Blüten ger 
trieben. Auch entbehrt es Teineswegs der national» engliſchen 
Ingredienzien. Der Zug der engliihen Poefie zu dramatiſcher 
Bertiefung, zur Darftellung menſchlicher Charaktere, und das 
englische Behagen an den komiſchen Seiten des gemeinen Lebens 
folgen dem Dichter im jene phantaſtiſche Welt conventioneller 
Prinzen, Cavaliere, Edeldamen und Pagen, und drängen ihn, 
die fhablonenhaften Geftalten der Novelle und des italieniſchen 
Intriguenſtücks mit dem Fleiſch und Blut natürlicher Menſch⸗ 
üchkeit anszuſtatten nnd ſie mit derbern, der Wirklichkeit näher⸗ 
ſtehenden Fignren, den Trägern voltsthlimlicher Komik, zu um⸗ 
geben. Dies letztere volksthümlichere Element läßt ſich aller⸗ 
dings in den Sklaven⸗ uud ſpäter in den Bedientenrollen der 
antifen und der romanifchen Komödie entdeden, es gewinnt aber 
auf der altenglifchen Bühne eine jo ungleich höhere Bedentung, 
daß hier von Nachahmung fremder Mufter kaum mehr geiprochen 
werden Tann.‘ 

Daß die Ueberſetzungen die ganze Sprachgewandtheit be- 
funden, durch welche ſich Gildemeiſter al8 Ueberſetzer und Her⸗ 
wegh als Dichter ausgezeichnet haben, braucht wol nicht erſt 
beſonders hervorgehoben zu werden. 

Bon der neuen Originalausgabe ber Werle Shalſpeare'e 
von Nik olaus Del ins liegt die zwanzigfte bis vierundzwanzigſte 
Lieferung vor, welche bie legten Königsdramen; „König Hein⸗ 
rih VI.*, drei Theile, „Richard III.“ und „Heiurich VILL‘ 
enthalten. SIntereffant find die Unterfuchungen von Delius über bie 
beftrittene Autorichaft Shalſpeare's, was das Drama „König 
Heinrich VI.“ betrifft. Delius erklärt ſich entſchieden für dieſelbe 
und will aud) den erſten Theil des „König Heinrich VL" als 
eine Jugendarbeit dem großen Dichter zugelprochen willen. In 
den Einleitungen theitt Delins die beiden alten Dramen mit, 
welche denfelben Inhalt haben, wie der zweite und dritte Theil 
von „König Heinrich VI”, oder vielmehr die erflen Bearbei⸗ 
tungen, die Shalfpeate feinem Thema zutheil werben ließ. Er 
kämpft auch gegen die von Marlowe und ben andern Kriti⸗ 
fern anfgeftellten innern nnd äußern Gründe, welche ber Quart⸗ 
ausgabe den Shakſpeare'ſchen Urſprung abſprechen, und ſagt am 
Schiufſe feiner Beweisführung: 

„Das Reſultat unſerer Unterſuchung if demnach, daß He⸗ 
minge und Condell im Jahre 1623 mit demſelben vollen Reqte 
die drei Theile de «King Henry VL» als echt Shakſpeare'ſche 
Schöpfungen in ihre Golioansgnbe aufnehmen durften, mit 
weichen fie den «King Richard III.», der nad) feiner ganzen 
Anlage ohne die drei vorhergehenden Schaufpiele gar nicht ger 
dacht werden kann, darauf folgen ließen; daß ferner etwaige 
Ungleicgheiten des Stils oder ber Charabteriſtik, die man zwi⸗ 
ſchen diefen Dramen bemerken will, fi) genügend ans der in 
einem längern Zeitraum und durch fortſchreitende Uebung ſich 
immer mehr entwidelnden und ansbildenden Kunft bes Did 


ters erflären; daß endlich der First Part of the «Contention» 
u. f. w. und die True Tragedie u. ſ. w. ber Quartausgabe ſich 
zn dem «King Henry VI.» Second Part und Third Part 
ebenfo verhalten, wie die erften Ouartausgaben bes «Hamlet», 
des «Romeo and Juliet». und des «King Henry V.» (vgl. bie 
Einleitungen zu diefen drei Dramen) zu dem «Hamlet», dem 
«Romeo and Juliet» und zu dem «King Henry V.» der Folio.“ 


Die dem Text der Dramen vorausgefchidten Mittheilungen 
aus dem Chroniken von Hal nnd Holinfheb dienen dazu, bie 
Art und Weiſe zu erläntern, wie Shalipeare ben überlieferten 
Chronitfloff iu dramatifche Handlung umzuſetzen fuchte, wobei 
er, nad) unferer Anficht, doch mit einem Fuß in der Chronik 
fieden blieb und auf dem Boden der „Hiftorien‘ nicht die echt 
fünftferifche Freiheit errang. 


Bibliographie. 


Baumgärtner, H., Natur und Gott. Stubien über bie Entwicke⸗ 
Inngögeiege im Univerfum unb bie Entfiefung be Menf engeihlehtd. 
Di & ner rüfung der Glaubensbekenntnifſe. Leipzig, Brodhaus. 8. 

. r. 
ör n ſt ein, H., Staliex in den Jahren 1968 und 1869. 2 Bbe. Ber 
lin, Sanfte. Gr. 8. 2 Thle. 10 Ngr. 

Braddon, M. E., Entlarvt. Roman. Aus dem Englifhen von U. 
erez3327 4 Bde. Berlin, Iante. 8. 2 Thlr. 20 Rgr. 
rien, Ada, Aus ber Ace. Nexe Gedichte. Bamburg, Hoff⸗ 
mahn u. Campe. 16. 15 Mgr. 

Ezersti, I, Die gefuiten unb ber Jefuitismue. Magdeburg. 
Gr. 8. 4 Nor. 


Erdenjohn, C., Hübſche Leute! Humoriſtiſche Erzählung. 2 Bbe. 
Berlin, Langmann u. Comp. 8._2 Thlr. 15 Ner. 
8a v., Ein Bolar. Bilder aus dem ruffiſchen Leben. 2 Bbe. 
geipatß, ennow. 8. 3 Thlr. 
‚®laubregt, J., FAolde, das Sranfenmäbhen. Erzählung aus den 
Zeiten der Kreuzzüge. Regensburg, Many. 8. 10 Ngr. 
Goldihmidt, Heuriette, Die Frauenfrage eine Culturfrage. 
Bortrag. Leipzig, Leiner. Gr. 8. 6 Nur. 
ondbecour, U. ©. de, Die Martinsllippe. Romau. Nah bem 
Granzöfifgen frei bearbeitet. Derlin, Janke. 8. 20 Nor. 
anus, Papst und Concil. Autorisirte russische Uebersetzung von 
P. W. Ladinski. Berlin, Behr. 8 2 Thir. 
König, R., Zur Charatteriftit der Frauenfrage. Bielefeld, Belhagen 
und Mlafing. 8. 5 Nar- 
® en n, Marie, Ranken. Gedichte. Bremen, v. Balem. 
x. 16, r. 
Müller, M., Ueber den Buddhistischen Nibillsmus. Vortrag. Kiel, 
Schwers. 1869. Gr. 8. 7! Ngr. 
Niemeyer, E., ng9 Dinna von Barnhelm. Bifkorifch »Fritifche 
Sinleitung nebſt Pet LH Sommentar. en, hai a 
r. 


oeggerath, J. Die Erdbeben im Kheinggbiet in den Jahren 1868, 
1869 und 1870. Bonn, Cohen u, Sohn. Gr. 8. 25 Ngr. 

Nöldeke, T., Die Inschrift des Königs Mesa von Moab (9. Jahrhun- 
dert vor Christus) erklärt. Kiel, Schwers, Gr. 8. 30 Ngr., 
ei A einte ns I, Das Mädchen and Böhmen. Idylliſches Epos. Trier, 

ing. 8. gr. 

Renan, &, Das Leben Jeſu. Autorifirte deutſche Ausgabe. Dritte 
Auflage, vermehrt mit neuen Borreben des —5 — und einem Anhan 
nad den Iehten Ausgaben des Originals. Leipzig, Vrockhans. Gr. 8. 


1 Zhlr. 20 
— — Daſſelbe. Supplement, neue Borreden des Berfaflers un» ein 
Anhang über da® vierte Evangelium enthaltend. Autori a deutſche —* 


x. 
Sau e und Müller in ber Schweiz. Humoriſtiſche Neifebilber. 
u BER Menlar ein Sem tan ur 
ulae=De ‚, Der inbduftrielle efig nnd die Arbeiter⸗ 
bewegung in Deutichland mit befonberer Hinweifung auf bie Gewerk⸗Ver⸗ 
eine Pre . Setn. — dos 2 Bar. webinr Fo 
erin, Fran a Gräfin oder? un u man. 
2 Bde. Leipzig, Kormank. 8. 2 Tüte. 15 Br Mi 
wider, I. H., Die Katholiken » Autonomie in mgarn. Weſen, 
Geſchichte und Aufgabe derſelben. Beh, Aigner. Er. 8. Nor. 
Vermehren, M., Piatonische Studien. Leipzig, Breitkopf u, Här- 
tel. Gr. 8. 24 Ngr. 
Virchow, R., Ueber Gesichteurnen. Vortrag. Berlin, Wiegandt u, 
Hempel. Lex.-8, 7!/, Ngr. 
18 N ogt, T., J. d. u's Leben. Wien, Gerold’s Sohn. Lex.-8. 
gr. 
Wagner, A., Die Abschaffung des privaten Grundeigenthums, Leip- 
zig, Duncker u. Humblot, Gr. 8, 12 Ngr, 
Zimmermann, H. O., Leipzigs Varzeit bis zum fünfzehnten Jahr- 
hundert, Ein Beitrag zur deutsched Städtegesthichte. Leipzig, Hinrichs. 


' Gr. 8. 7, Ngr. 












ae te u ° = 
Fi 


368 | Anzeigen. 


Unzeigen. 


— — 


Derfog von 5. A. Brockhaus im Leipzig. 
Soeben erfdien: 


Das keben Iefn. 


on 
Erneft Renan. 
Autorifirte deutfhe Ausgabe. 
Dritte Auflage, 
vermehrt mit nenen Dorsreden des Derfaffers nnd einem Anhang nad) 
den feßten Ausgaben des Originafs. 
8. Geh. 1 Thlr. 20 Nor. Geb. 2 Thlr. 

In die vorliegende Dritte Auflage ber autorifirten deut- 
ſchen Ausgabe von Renan's „Leben Sein‘ (frliher Verlag von 
Georg Wigand in Leipzig) wurden des Verfaſſers Borworte 
zur 13. franzöftfchen Auflage (1867) und zur illuſtrirten fran⸗ 
zöſiſchen Vollsausgabe (1870) ſowie ein beſonders wiqht ger 
Anhang: „Ueber das vierte Evangelium‘ aufgenommen: Er⸗ 
gänzungen, welche in feiner andern beutichen Ausgabe ent- 
halten find. Ungeachtet der Hierdurch veranlaften bedeutenden 
Bermehrung des Umfangs (um 6 Bogen) blieb der bisherige 
Preis des Werks unverändert. 

As Supplement zn allen frühern Ausgaben 
von Renan's „Leben Jefu' ift zugleich ein Separatabdrud 
jener Ergänzungen erfhienen umb zum Preife von 10 Nor. in 
allen Buchhandlungen zu haben. 





Verlag von Eduard Trewendt in Breslau. 


Soeben erſchien und iſt durch alle Buchhandlungen zu be⸗ 


ziehen: 
Anſichten vom Leben. 
Ein Verſuch 


von 
ſigmund Scott. 
Gr. 8. 20 Bg. Eleg. broſch. Preis 1 Thlr. 15 Sgr. 


Inhalt: Bon der BVergänglichleit. — Bon der Trauer 
um Todte. — Bon den Frauen. — Bom Herzen. — Bom 
Gottvertrauen. 

Die tiefſten Geheimniſſe des menſchlichen Weſens, ſeine 
Borzüge und Mängel legt der Verfafſer, ein ſcharfſinniger, 
vorurtheilsfofer Beobachter des Lebens, dar, indem er fich nicht 
blos auf eigene Forſchung ſtützt, fondern aud) das, was vor 
ihm die bebeutendften Denker Über die Menfchennatur ausge» 
fproden haben, näher erörtert. Jeder Gebildete wird in die» 
jem Bude anregendfte Belehrung finden und daffelbe wird 
fiher ebenfo günftig beurteilt werben, wie dies mit Schott's 
vorangegangener Schrift: , 

„Bon menfchlichen Schwächen“ 


der Yall war: 





Neu erichienen im Berlage von Heinrich Matthes in Leipjig: 


Mori von Oranien - Naſſau. 
Hiftorifches Drama in 5 Acten 
von 


Carl W. Bah. 
8 1 Thlr. 


Desfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 


Vollständiges Handwörterbuch 


der deutschen, französischen und englischen Sprache 


zum Gebrauch der drei Nationen. 


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Zweite Abtheilung: English, German, and French. 
Dritte Abtheilung: Deutsch - Französisch - Englisch. 


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8. Cart. 2 Thir. 20 Ngr. Geb. in Halbfranz 3 Thlr. 


In der vorliegenden neunten Auflage erscheint das 
rühmlichst bekannte Werk, das mit seiner so bequemen 
Vereinigung der drei Weltsprachen einzig dasteht, innerlich 
wie äusserlich den Bedürfnissen der Gegenwart gemäss 
umgestaltet. Es bietet ein vorzügliches Hülfsmittel des in- 
ternationalen Sprachverkehrs, indem es bei der Lektüre wie 
„bei der Conversation, zu Hause wie auf der Reise gleich 
‚gute Dienste leistet. 





Soeben erschien und ist in allen Buchhandlungen zu 
haben: 


Musikalischer Hausschatz. 15,000 Exemplare verkauft. 


Concordia. 
Anthologie classischer Volkslieder 


für Pianoforte und Gesang. 
1—12 Lieferungen a 5 Groschen. 


Diese Sammlung, deren Absatz für ihre Gediegenheit 
bürgt, enthält über 1200 unserer herrlichen Volkslieder 
und bietet allen Freunden volksthümlicher Musik eine will- 
kommene Gabe. 


Leipzig. Moritz Schäfer. 





Im Verlage d , ter’ 
ade der Br. Hurterigen Buchhandlung in 


Allgemeine Weltgeſchichte 


Cäfar Cantu, 


nad) der flebenten Originalausgabe für das katholiſche Deutfch- 
land bearbeitet von Dr. I. 4, M. Brühl, Profeffor Dr. 
Weiß in Gra und Dr. Cornel. Wilt, 

und verweilen wir auf die vereinigten Stimmen ber auerkann⸗ 
teften Journale, die ſämmtlich Cantu's Werk als eine ber 
ausgezeichnetfien Leiftungen anf dem Felde der Geſchichte begrüßt 
haben. Umfaffende Forſchungen und Ouellenftudien vereinigen 
fi bier mit genialer Behandlung des Stoffe und dem ebelften 
Charakter. Die neue gänzliche Umarbeitung trägt namentlich 
der dentſchen Gefhichte mehr Rechnung und flellt damit 
das Werk auf die Höhe der heutigen Forſchung. 

Erſter Band, erſte Abtheilung. 

Zweite durchgeſehene und verbeſſerte Auflage 
von Prof. Dr. 3. 8. Weiß in Grab. 
Gr. 8. 54 Kr., oder 15 Sgr. 


CE Die zweite und bite Abtheilung erſcheinen im nächfen 
onat, 


Berantwortliger Redactenr: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Verlag von S. A, Brockhaus in 2 eipzig. 





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— — — — — — — 


rn 


Blätter 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Goittſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


ae Ar, 


24. — 9. Juni 1870. 





Inhalt: Biographiſches. Bon Alexander Jung. — Deutſche Romanliteratur. Bon I. J. Sonegger. — Die ſchwediſchen 
Nordfahrten. Bon Richard Audree. — Vom Buchertiſch. — Fenilleton. (Engliſche Urtheile über neue Exfcheinungen ber 
deutſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Biographifches. 


1. Luther, Guflav Adolf und Marimilian I. von Baiern. 


Biographiſche Skigzen. Bon Heinrich W. I. Thierſch. 

Nördlingen, Bed. 1869. Gr. 8. 27 Nor. 

Durch diefe Schrift, die ſchon der Name des Ber- 
faſſers empfiehlt, wird der Gefchichtsfrennd vollauf be 
fätigt finden, daß da, wo das gewöhnliche Wiflen- 
wollen Längft zur Genüge gelangte, das ungewöhnliche 
ber Befriedigung erſt noch entgegenfieht. Die Vorgänge 
einer biftorifchen Periode ober der Geſchichte als folder 
Ennen in ihren Örundzügen über allen Zweifel feftgeftellt 
fein, da aber, wo es fi) um die auferordentlihen In⸗ 
bividuen handelt, welche jene herbeiführten, fie lenkten, 
zum Austrage brachten, beginnt erſt die eigentliche Un- 
endlichleitsrehnung der Geſchichte, bie erſt im höchften 
Sinne intereffante Gefchichtsforfhung und - Erledigung. 
Der einzelne Borgang läßt fich ermitteln oder nicht. Iſt 
er ermittelt, fo läßt ſich über ihm weiter nichts jagen. 
Er if das Enblihe des hiftorifchen Procefſes. Ganz 
anders verhält es ſich mit den hervorragenden Meenfchen, 
mit den Ideenträgern, mit den die Ereigniffe berbeifüh- 
renden, über fie gebietenden Charakteren der Gefchichte. 
Sie willen, was ihre Miſſion ift, werden nie irre baran, 
fie ftellen fich felbft ihre Aufgaben, Löfen fie jedenfalls, 
wenn fie Geifter erſten Rangs find; dennoch werden fie 
durch folche Löfung noch keineswegs befriedigt, neue Plane 
geben ihnen auf, erfüllen fie bis zu ihrem Lebensende, 
Dies ift die unendliche Größe ihrer Wirkſamkeit. Daher 
fie auch Unerfchöpfliches dem Forfcher darbieten. Preis 
wärdig der Hiſtoriler, ber fi auf die Ideen verfteht, 
welche feinen Helden erfüllten. Jener kann erſt Jahr⸗ 
hunderte fpäter geboren werden, als diefer gewirkt hat. Er 
aber bringt den Zeitgenoffen feinen Helden erft zum Ver⸗ 
ſtändniß, indem ex Geſichtspunkte für ihn faßt, Motive, 
Zwede in ihm entbedt, durch Thatfachen beweift, von 
welchen frühere Hiftorifer keine Ahnung hatten. So fehen 
wir, dag man auch in ber Gefchichte mit dem bloßen 
Realismus nicht ausreicht. 

1870. 2. 


Das obige, vortrefflihe Buch ift, wie wir dem Vor⸗ 
wort entnehmen, aus Wintervorlefungen entftanden, bie 
der Berfaffer zu München einem Kreife auserwählter Zu- 
börer hielt. Es war gerade Hier Feine gewöhnliche Auf- 
gabe, außer einem Fatholifchen auch zwei evangelifche Hel« 
den zu feiern, bon benen der eine die Reformation ins 
Leben gerufen, durchgeſetzt, der andere fie mit dem Schwert 
vertheidigt, fogar fein eigenes Leben dafür eingeſetzt hatte. 
Die Aufgabe war um fo delicater, als unter den Zu⸗ 
börern, ungeachtet auserlefener Bildung, doch mancher 
fein mochte, der Luther und dem Schwedenklönig ihre volle 
Größe zuerkennen beim beiten Willen nicht Tonnte, da 
ſchon bie Ergebniffe vieljähriger Studien ihn daran hin⸗ 
derten. Uber eigentliche Vorurtheile ließen ſich ablegen, 
gewiſſe Annäherungen ließen fid) wol erreichen, wenn der 
Borlefer gerecht, Human im Sinne einer hriftlichen Welt- 
anfhauung war, wenn er jeder Eonfeffion ihr Hecht ließ, 
vielleicht fogar, jeder Trennung unter wahrhaften Chriften 
abhold, über das einzelne Jahrhundert, auch das heutige, 
Binausdachte. Alles das zeichnete den Bortragenden aus, 
wie es dem Berfaffer des Buchs eigen iſt. Er läßt fi 
in feinen geiftreichen, wahrhaft populär gehaltenen Skizzen 
mit Recht auf das hiſtoriſche Detail nicht ein, gleichwol 
zieht er mit gefchidter Hand alle die Facta heran, welche 
den fruchtbaren Boden abgeben, aus bem feine Helden 
heranreifen. Dies beweift ex an Luther fogleich, wie er 
auch auf das Genenlogifche der Aeltern und Borältern 
zurüdgeht, wie er und die Jugendeindrücke des Tünftigen 
Reformatord vergegenwärtigt. Die mwejentlichften, hiftori⸗ 
chen Momente treten genugfan hervor, kurze Reflerionen 
erläutern die Thatfachen, bringen die Charakterziige oft 
in eine ganz andere Beleuchtung, als jede bisherige, jo- 
dag man fich überzeugt, ein Dann wie Tuther, ber ganze 
Berlauf der Reformation, von welchen fo viele meinten, 
es jei Über beide nichts Neues mehr zu fagen, werben von 
unferm fcharfblidenden Hiftorifer in völlig neuer Weiſe 
gewürdigt. Dergleichen ergiebige Momente find: Luther 

47 


er ce ———— EHEN ae ; 
Tat . sn 0. hans 


BE 








370 Biographiſches. 


auf der Schule bei den Franciscanern in Magdeburg, 
harte Behandlung, reiche Ausſaat zu religiöſer Melancholie; 
Eiſenach, erfreulichſte Zeit für unſern Martin; Frau 
Cotta und das deutſche Bürgerthum; Univerſität Erfurt, 
Luther Auguſtiner⸗Eremit; Staupitz, Studium des Au⸗ 
guſtiuus, ſcholaſtiſche Theologie; Friedrich der Weiſe; 
Luther in Rom. Dieſer Aufenthalt in der Ewigen Stadt, 
dieſes lange von Luther's Gemüth geforderte höchſte Er⸗ 
lebniß, welches ihn durch eine Generalbeichte von allen 
Leiden erlbſen, ihm das Paradies wiederbringen ſollte, 
war für ihn der tiefſte Niedergang in ſich ſelbſt, aber 
auch die Eröffnung deſſen, was er ins Werk zu richten 
berufen ſei. Die durchweg klare, ſtets wichtigere Ereigniſſe 
in ſich hereinnehmende Darſtellung des Verfaſſers wird 
von Seite zu Seite ſpannender. Mit wahrhaft hiſtori⸗ 
ſcher Kunſt bildet der Autor das, was ſeinen Helden 
unaufhaltſam weiter führt und zwar faſt wider deſſen 
Abſicht, wie das, was mehr Staffage der Umgebung, des 
Zeitalters iſt organiſch ineinander, ſodaß beides ſtets zu 
unterſcheiden iſt und doch gegenſeitig auf eine Wieder⸗ 
geburt der Kirche hinarbeitet. Beachtenswerth ſagt der 
Verfaſſer: „Die Vereinigung der geiſtlichen und weltlichen 
Macht wirkte zu allen Zeiten nachtheilig auf die Träger 
derſelben.“ 

Wir erhalten aufs neue weitreichende Einblicke in das 
damalige Italien, bie dann wieder nach Deutſchland zurüd- 
lenken. Dieſe Italiener von Intelligenz, dieſe Lebemänner, 
dieſe Gelehrten, Denker, Dichter, theils Epiluräer, theils 
Platoniker (wir würden heute ſagen: Materialiſten und 
Idealiſten), dieſe Humaniſten und Zeloten gleichen auf 
ein Haar den gegenwärtigen, ſodaß man ſieht, die Menſch⸗ 
beit erhält fich immer vollfländig, und derer, die nicht 
einfeitig, die ohne Vorurtheil und univerfell find, gibt es 
ſtets nur wenige. Der Verfaſſer charakterifirt kurz, aber 
glücklich, mit feiner Pointe Man vergleihe ©. 31 fg.: 
Erasmus, Mutianus Rufus, die „Epistolae obseurorum 
virorum“, die Bauernkriege, Hutten. Der Berfafler hat 
einen Liberalen, fcharfen, politifchen Blick, nirgends ift 
er parteigängerifch befchränkt; auch in Parallelen trifft er. 
Schon bei den erfien Erhebungen der Bauern ruft er 
ans: „ES waren Zeichen einer fchweren Krankheit im 
Reichskörper, nicht bedentungslofe Regungen, fondern 
Borzeichen einer größern Erſchütterung, wie der unter« 
irdiſche Donner eines nahenden Erdbebens.“ Und fo führt 
er an uns im Folgenden die nngeheuere Satajtrophe ber 
Reformation, den Zufammenftoß der Geiſter in Kirche 
und Reich vorüber, und aus allem hebt fich Luther in 
ganzer Figur und Größe umbeirrt umd fiegend hervor, 
fodag wir von bem Manne in ber Umrahmung einer 
bloßen Skizze ein meifterhaftes Titelbild erhalten. Außer 
dem lernen wir Luther in ber Politik, in der Literatur, 
ale Bibelüberſetzer, in feiner fprachfchöpferifchen Gewalt, 
als Gatten und Familienvater kennen. Auch feine Diän- 
gel, pofitiven Fehler werben keineswegs verjchwiegen, ſo⸗ 
daß Licht und Schatten in dem Gemälde die Wirkung 
gar erfreulich verftärten. 

So find wir, ehe wir es merlen, im nächſten Jahr⸗ 
Bunbert angelommen. Der deutjche Krieg mit feinen maß⸗ 
Iofen Berwäjtungen, feinen Beillofen Folgen nimmt feinen 
furchtbaren Berlauf. Wir haben es mit einem Reprä- 


fentanten des Proteftantisimus, Guſtav Adolf von Schwe- 
den, und einem des Katholicismus, Marimilian I. von 
Boiern, zu thun. Wir dürfen uns im Volgenden kurz 
fafien, da der Verfaffer all die edeln, glänzenden Eigen- 
haften, auf die wir hingedeutet haben, auch in der Dar⸗ 
ftellung ber in Rede ftehenden Helden darlegt. Wir wer⸗ 
den und daher damit begnügen, hier nur einige Proben 
zu geben, die unfere Lejer zur Lektüre des Ganzen an« 
reizen. Impoſant ift die denkwürdige Prophezeiung bes 
Tycho de Brahe, der im Sternbilde Kaffiopeia Guftav 
Adolf bereits kommen fieht. Da aber vielen Mobdernen 
neben dem Impoſanten aud) das Pilante erwünſcht if, 
jo wollen wir aud damit dienen als Beweis, daß der 
Autor in den Soireen feiner Borlefungen aud) mit der 
artigen Gängen zu regaliren weiß. - Zudem noch, obwol 
auf einen groben Angriff ein feines Schweigen meiftens 
das Beſte ift, kann doch jeder in den Tall gerathen, grob 
antworten zu müſſen. Der Berfafler teilt uns eine ber- 
artige Antwort mit, an deren genialer, claffifcher Grob⸗ 
beit Studien zu machen wir biermit Gelegenheit geben. 
Wir erfehen aus beiden Citaten, mit weldyer Kraft bie 
nordifchen Helden nicht blos das Schwert, auch die Weder 
zu führen wußten. Keine energifchere Einleitung kann zu 
den Großthaten Guſtav Abolf3 gedacht werden. Deſſen 
Bater, Karl IX., war mit Chriſtian IV. von Dänemark 
und Norwegen in Spannung gerathen. Noch dazu wurde 
er jest vom Schlag gerührt. Dennoch fordert ex ben 
Dünenkönig zum Duell heraus. Er fchreibt ihm: 

Bir, Karl IX., König von Schweden, laſſen dich wiſſen, 
daß du nicht ala ein chrifllicder und ehrlicher König gehandelt 
haft. Stelle dich nad) der alten Gewohnheit der Bothen wider 
uns im freien Felde zum Kampfe ein, mit zwei beiner Kriegs⸗ 
Iente. Wir werden bir in Iedernem Koller ohne Helm und 
Harniſch, blos mit dem Degen in der Kauft, begegnen. Wo⸗ 
fern du dich nicht einfellft, fo halten wir dich für keinen ehr⸗ 
liebenden König, viel weniger für einen Soldaten. 

Der König Dünemarks antwortet; 

Wir laffen dich wiffen, daß uns bein grober Brief durch 
einen Trompeter überliefert worden if. Wir merken barans, 
daß die Hundstage nod) nicht vorbei find und daß fie mit aller 
Macht auf dein Gehirn wirken. Wir haben daher beſchloſſen, 
uns nad dem alten Sprichwort zu richten: Wie man in ben 
Wald fchreit, jo ballet es wider. Was den Zweikampf bes 
trifft, fo kommt uns bein Verlangen höchſt lächerlich vor, weil 
wir willen, daß du nöthiger Hätteft, Hinter dem warmen Ofen 
zu figen. Weit geſünder wäre dir eim guter Arzt, der bein 
Gehirn zurechtbrächte, ald ein Zweilampf mit uns. Du follteft 
dich ſchämen, alter Narr, einen ehrliebenden Herrn anzugreifen. 
Du Haft wahrſcheinlich ſolches Gewäſch von alten Weibern ge- 
lernt. Nimm dic in Acht, daß du nichts anderes thuſt, als 
was du ſollſt. 

Gewiß, wer in der Polemik, mag es fich um ein 
Duell, um einen Schlachttanz oder um einen bloßen Feder⸗ 
krieg handeln, einen ſolchen Gegner findet, wird ſich 
plötzlich aller Luft beraubt ſehen, ben ‘Degen zu ziehen, 
er wird mit dem Gewinn zufrieden fein, daß felbft ein 
eigener Schlaganfall dur einen derartigen Gegenfchlag 
jo gut wie gehoben ift. 

Im Folgenden find Guſtav Adolf, Wallenflein, Tiiy 
u. a., wenn einige auch nur kurz, alle jedoch mit Meifter- 
ſtrichen charakteriſirt, Beberzeihnungen, die auch dem 
grändlichften Kenner ber Geſchichte höchſt willlommen fein 
werben, da das Maſſenwiſſen fo leicht das feine Gepräge, 








Biographiſches. 


die Eigenart großer Individuen in Vergeſſenheit bringt. 
Die ſaubere Skizze des Verfaſſers wird oft Gemälde. 
Geber, der das Heine Bild fieht, wird auch ohne Unter⸗ 
ſchrift ausrufen: das iſt Tilly! Auch die Gefchichte hat 
wie die Natur ihre wunderbaren Analogien, eine Wieder- 
fehr der Geftalten, der Situationen und boch feine Wieder- 
holung. Niemand merkt fie oft. Unfers Autors Sinnig⸗ 
feit entgehen fie niemals. So wenn er bei dem zurüd- 
gezogenen, grollenden Wallenſtein an den Homeriſchen 
Achilleus gemahnt. Wir haben ſchon vor Yahren, bei 
Gelegenheit Lord Byron's, auf diefes fchöne Analogon 
aufmerffam gemacht. Auch auf ftrategifche Darftellungen 
verfteht fich der Berfafier; dabei ift feine Umficht in dem 
Ganzen damaliger Politik ftets fo durchdringend, daß ihm 
nichts entgeht, auch die Winkelzüge und offenbaren An⸗ 
maßungen franzöfifcher Diplomatie und Eroberungsſucht 
nicht. Auch wirft ihm felbft jene heillofe Berwültungs- 
geihichte Deutfchlands immer noch einiges für die Cultur 
ob. Nicht blos der proteftantifche Guſtav Adolf, aud) 
ber Tatholifche Maximilian wird mit unparteitfcher Würdi⸗ 
gung in Betracht gezogen, obmol ber legtere im ganzen 
diefer Skizzen weniger hervortritt, weil die Ungunft der 
Umftände ihn zur vollen Ausgeftaltung deſſen, was er 
wollte, nie gelangen ließ. Dagegen fteht und bewegt ſich 
der Schwedenkönig in ben Unterhandlungen mit Fürſten, 
Feldderren und Bürgern, im Lager und in ber Schlacht 
bi8 zu feinem Heldentod in einer ſolchen Glorie von Fröm⸗ 
migfeit, Brapbeit, moralifcher mie Friegerifcher Ehrenhaf- 
tigteit, daß auch das heutige Schweden unferm deutjchen 
Hiſtoriker Dank fagen wird, daß berfelbe einen ber größ- 
ten Heroen aller Zeiten fo nad) Gebühr verherrlicht und 
lebendig der Nachwelt überliefert hat. 

2. Heinrich Friedrich Karl von Stein. Bon 9. Benedey. 

Iſerlohn, Bädeker. 1868. Gr. 8. 1 Thlr. 

Dieſes biographiſche Buch iſt ein nicht minder rühmens⸗ 
werthes als das eben betrachtete, wenn auch der ganzen 
Ausführung nach durchaus anderer Art. In raſcher Ab⸗ 
folge reiht der Verfaſſer kurze und daher leicht überſchau⸗ 


liche Abſchnitte, die aber nie flüchtig gehalten ſind, unter 


prägnanten Ueberſchriften, bie oft ſehr frappiren, an⸗ 
einander. Sein Stil iſt gewichtvoll, mannhaft kurz, ent⸗ 
ſchieden, nie zerfloſſen, beſtimmt gefaßt und dennoch fließend 
und nie geſucht. Die Ueberſchriften ſind ſchon von vorn⸗ 
herein vielſagende, lockende, nicht geiſthaſchende Deviſen auf 
dem Denkmale, welches der Autor ſeinem Helden ſetzt. Sie 
packen den Leſer gerade durch ihre Einfachheit, bisweilen 
‚durch Antitheſe. Nur einige Proben führen wir auf: 
„Stantsmännifche Vorſchule““, „Die Franzöſiſche Revo- 
Intion“, „Uebergang ohne Umkehr”, „Schlacht bei Jena“, 
„Stein und Daru. Diplomatenzüge‘, „Das Morgen» 
roth der Befreiung“, „Le nomme Stein — genannt Karl 
Frücht“, „Napoleon’s höchſte Macht. Deutſchlands tieffte 
Schwach”, „Die Sonnenwenbe im Geſchick Napoleons“, 
„Stein’3 Berufung nad) Rußland”, „Stein’s Rüdkehr 
nach Deutfchland”, „Das Dachſtübchen im Scepter zu 
Breslan”, „Auf dem Ieipziger Schlachtfelde“, „Der Par 
zifer ‚Friede, „Der Wiener Congreß“, „Die ftänbifche 
Berfaffung der Einzelftnaten Deutſchlands“, „Zweiter 
Barifer Friede”, „In Naſſan und auf Sappenberg“, 
„Die Imlixevolntion”, „Die legten Tage”. 


371 

Der Berfafler zeigt fi) überall vom reinften Patrio« 
tismus für Deutfchland begeiftert, daher er aud) ganz 
dazu geeignet ift, das Leben und die Thaten eines Man- 
ned wie Stein zu befchreiben, der von echt deutſchem 
Schrot und Korn war, der für Preußen, für Deutſch⸗ 
land Zeit feines Lebens erglüßte und, wie oft aud) unter« 
broden in der Verwirklichung feiner Plane, fie immer 
wieder aufnahm, fortjegte und zuletzt fogar über den 


fiegte, der feinerzeit foft allgemein für unboſiegbar galt. 


Wie jeder, der fich felbit Feine Grenze zieht, ober gar 
über ganze Nationen dahinfährt, als wären fie nur dazır 
da, ſich ihm zu ſchmiegen, zu dienen, von ihm despotiſch 
beherrjcht zu werden, ficher fein darf, daß ihm gegen- 
über einer erfteht, ber ihn zuerft mit der Macht der 
‚dee, dann und faft gleichzeitig mit dev Macht ‚eines wohl⸗ 
überlegten Handelns zurüdwirft, fo follte das Napoleon I. 
an dem Freiherrn von Stein ‚erfahren. Noch dazu war 
Napoleon verblendet genug, darauf zu dringen, daß Hr. 
von Stein preußifcher Minifter würde. Und wenn Na- 
poleon, der faft allen Furcht einflößte, ex, der eine Furcht 
zu kennen fchien, dennoch die deutjchen Ideologen fürch⸗ 
tete, die fi in Fichte dem eltern zu Berlin verlkör⸗ 
pert, aljo doch reakifirt hatten, jo follte der Diann wahr⸗ 
baft „ohne Menſchenfurcht“, Hr. von ‚Stein, die Idee der 
Bölferfreiheit dem Kaifer bald fo ſchnell und maflenhaft 
verfürpern, daß er ihm bie Heere Europas heraufbeſchwor, 
die ihn von feiner Höhe flürzten, ihn zweimal nad) Paris 
zurüdwarfen, auf daß er im Exil feinen Tod fünde. Wie 
das ‚alles im Schritt der Allmählichkeit heranmwuchs, wie 
einer der gewaltigften Eroberer, der zulegt alle Unter⸗ 
bandInngen ablehnte, auch in Perfon fcharf, ſchneidend, 
iprüde wie Glas war, wie der in einem beutfchen Ebel- 
mann den Edelftein fand, den Diamanten von reinften 
Waſſer, der den gläfernen Corficaner und Weltbezwinger, 
troß alter und junger Garde, zerfchnitt und wieder zer⸗ 
Schnitt, das ftellt unfer Autor in einer Galerie von klei⸗ 
nen hiftorifchen Bildern dar, die unfere Aufmerkſamkeit 
ununterbrochen feithalten und uns, je weiter wir lefen, 
erquiden und freimachen, als hätten wir felbft noch vor 
Inrzem das Napoleonifche Joch getragen. Aber ‚night 
allein diefen Proceß der neuern Geſchichte fehen wir .in 
obigen Blättern vor ſich geben, fondern auch ben einer 
andern Reform und Umgeftaltung deutfchen Stantenwefens, 

Der Freiherr von Stein wollte die deutſchen Staaten 
nicht blos befreien, er wollte fie auch neu organiftet wifien. 
Die Bolfövertretung, der wahrhaft conftitutionelle Staat, 
zur Sicherheit, zum culturgefchichtlichen Gebeihen, zum 
Wohle in jeder Hinficht der Fürſten wie der Völler, war 
eine feiner Hauptidbeen. Wie er fih damit teug, wie er 
Anſatz auf Anſatz nahm, in fchriftlichen und mündlichen 
Dorlegungen fi Mühe gab, bie Nothwendigkeit folder 
Umwandlung aud) andern zur Ueberzeugung zu bringen, 
der Berwirklihung näher zu rüden, fie womöglich noch 
jelbft zu erleben, auch das ift der ſpaynende Inhalt, jener 
Abfchnitte. Endlich ſehen wir in ihnen. einen Mann groß 
werben, der wohlerzogen, mwohlgefhult, von geſunder 
Trömmigkeit erfüllt, keuſch, fittlich und ehrenwerth in jedem 
Betracht, gewiffenhaft, taktvoll, Har in allen Wechjelfällen 
des Lebens, auch in den äußerſten Berwidelungen und 
jelbft Gefahren feiner eigenen Berfon war. Doch — wir 

47* 





372 
verweilen noch einige Yugenblide bei einzelnen Momenten 
der vorliegenden Biographie. Sehr bebeutfam dafür, daß 
Hr. von Stein der Eckſtein werden follte, an dem bie 
wilde Sroberungsflut der Franzoſen ſich brach und Na⸗ 
poleon ſelbſt zerjchellte, treffen wir beim Berfafler gleich 
am Anfang ber Yugendgefchichte feines Helden die Stelle: 
„In dem Haufe der Freiherren von Stein wurden Shal- 
ſpeare'ſche Dramen aufgeführt, und Karl übernahm in 
einem bdiefer Stüde, in bem «Sommernaditstraum», die 
bochwichtige Rolle des Wald. Er Hatte nur die Worte 
zu fagen: «I am the wall.» Go fehr dichtet der Ge- 
nins für eine unendliche Zukunft und wird Prophet für 
kommende Geſchlechter, fogar für den einzelnen Menjchen. 

Der Knabe erhält eine vielfeitige Ausbildung. Hr. von 
Stein widmet fich fpäter den Studien der Rechtswiffen- 
haft, bejchäftigt fi) aber auch viel mit Gefchichte, Po- 
litik, Staatsreht, der Nationalökonomie. Er lernt ver- 
fchiedene Höfe unmittelbar Tennen, verweilt aud einige 
Zeit in Wien. Bon Berlin aus erhält er eine Anftellung 
im Bergfade. Ein mehrmaliger Aufenthalt in England 
ift gewiß für feine Wirkſamkeit ald Staatsmann entfchei- 
dend gewejen, wie e8 der Kal war bei einem ähnlich 
GSefinnten, dem preußifchen Burggrafen Hrn. von Schön. 
Zwanzig Jahre wirkte Stein in der Grafſchaft Mark im 
Berg- und Hüttenwefen. Bon großem Belang ift ferner 
feine Sendung nah Mainz und feine Berührung dafelbft 
mit Dalberg und Metternih. Hier mag wol, wie uns 
glanbliche Gejdide für ihn noch im Schofe der Zukunft 
Ihlummerten, diefe [don manchmal an ihm wie in einem 
Geſicht vorübergegangen fein. Mit dem Ausbruch des 
Terrorismus der Revolution kündigt fi) in Stein bereits 
in aller Entfchiedenheit fein Anti» Sranzofenthum an, um 
nie zu verjchwinden, wol aber mit den Jahren ſich zu 
fteigern. Eine Parallele zwifchen den Herren von Stein 
und von Schön, auch im Verhalten den Franzoſen und 
Napoleon gegenüber, würde fehr belehrend fein. Seit 
Stein’8 Oberpräftdentichaft in Weftfalen nimmt fein Ein- 
fluß auf bie politifchen Ereigniffe fo zu, daß folder in 
einem bloßen Referate gar nicht mehr überfehen werden 
Tann, fondern in dem überaus interefianten Zuſammen⸗ 
hang des Buchs gelefen werden muß. Und überall fteht 
Stein im Vorbertreffen, wie denn derjelbe Dann auch 
unermübet thätig ift, neue Mittel zu entdeden, den öffent» 
Iihen Verkehr für Handel und Gewerbe zu erweitern, 
den Bauer und Bürger zu fürbern, das Beamtenthum 
zu veredeln, wo e8 baranf ankam, auch als Sittenrichter 
gegen Hohe und Niedere aufzutreten. 

Inzwiſchen ift Friedrich Wilhelm II. König von Preu- 
Ben geworden. Ein fo edler König wußte Stein zu 
ſchätzen. Auh wird Stein preußifcher Tinanzminifter. 
Die Neugeftaltung des Zollſyſtems, das ftatiftifche Bureau, 
Stein's Denkſchrift an den König, fowie feine weitern 
Plane werben vorgeführt. Napoleon tritt jest immer 
Teer hervor, Stein zurüd. Hr. von Stein wird wieder 
Minifter. Napoleon felbft empfiehlt ihn den König von 
Preußen mit den Worten: „Prenez donc monsieur de 
Stein, c’est un homme d’esprit.” Das heißt denn wol: 
unbewußt fich felbit feinen Untergang bereiten! Preußens, 
Deutfchlands Wiedergeburt im umfafjendften Sinne, bie 
Befreiung der Bölfer Europas vom ſchmachvollen Joche 


Biographiſches. 


des franzöſiſchen Kaiſers, und was fich nach dem Wiener 
Eongreß des Tranrigen und wieberum Erhebenden, von 
Reaction und Evolution zu Gunften des Fortſchritts und 
insbefondere des deutſchen Verfaſſungsweſens daranfnüpft, 
wird in den folgenden Abjchnitten, unter dem Wechfel 
mannichfaltigfter Geftalten und Ereigniffe zur Darftellung 
gebracht. Vollsvertretung in Preußen, Bollövertretung 
in allen beutfchen Landen, parlamentarifche Wechfelwir- 
fung und parlamentarifcher Austaufch der Ideen in ganz 
Dentfchland, und zwar in einem in fich einigen, nad 
innen unb außen Hin ftarfen Deutfchland, ift Stein’s 
erfter und legter Gedanke, ift dasjenige, worauf er in 
Denkſchriften, in Noten, in öffentlichen Verhandlungen, 
in Briefen immer wieder zurüdfommt. Diefer "Staats 
mann ift fo ficher in allem, was er fordert, fördert, ab« 
lehnt und einrichtet, er ift fo frei von aller Menſchen⸗ 
furcht, weil er fo rein in feinem Gemiffen if. Er war 
überhaupt in feinem Leben ſtets von ftreng fittlicher Energie 
und zugleich von zartefter Empfindung, ſogar Empfindlich⸗ 
keit. Es gibt bekanntlich Naturen, welche ungebrocdenfte 
Männlichkeit und jungfräuliches Weſen in fi) vereinigen. 
In ihrer Umgebung darf fein Wort fallen, welches aud) 
nur im geringften gegen das Decorum anläuft, auch nit 
im Scherz oder vollends mit einer ausnahmsweifen Nederei, 
mit einer fpaßigen Anspielung zur Unterhaltung perjön- 
(ich wird, und wäre es auch nur die Stegreifdichtung des 
Augenblicks. Ein ſolches Naturell, forgfältig ausgebildet, 
batte Hr. von Stein. Kam fo etwas an ihn heran, fo 
verbat er es fich mit Entjchiedenheit, und man wußte nun 
ein für allemal, baß man dergleichen in feiner Nähe nicht 
anbringen dürfe. Sitte und Sittlichkeit waren bei ihm 
aus Einem Guf. Ein folder Mann war auch in ethie 
cher Hinficht dazu berufen, Staatsmann zu werden, tn 
jedem Betracht ftärfer als jeber feiner Feinde zu fein, 
fein Boll von Grund aus zu erziehen, ihm die volle, 
urangeftanmte Freiheit wiederzugeben, einem ganzen Heer 
von Feinden gegenüber. Außerdem war er unterneh- 
mend im Unglüd, vorfihtig im Glüd, während es her⸗ 
gebracht ift, da man im Unglüd verzagt, im Glüd 
übermüthig und tolfühn wird. 

Doc in ber ganzen zweiten Hälfte unſers Buchs drän- 
gen fich die Tugenden, bie Berdienfte, die im Kern ftets 
gediegenen, foliden, in der Außenwelt unbeabfihtigt glän« 
zenden Kigenfchaften feines Helben fo dicht zuſammen, 
daß die entfprechende Würdigung und Hochſtellung eines 
derartigen Mannes nur aus der Lektüre felbft hervorgehen 
kann. Da wird es denn bem Leſer hell vor die Seele 
treten, welche ftaatsmännifche Größen auch Deutfchland 
aufzuweifen hat, die leider fo vicle meift nur dem Aus⸗ 
lande zuzugeftehen geneigt find. Der Leer wird auch 
bier wahrnehmen, daß die Ebenbürtigen ſich gegenfeitig 
anziehen, daß die Größe Größen um fi verfammelt, 
daß ein großer Gedanke oft der Vater von vielen großen 
Inftituttonen iſt. Der felbft fo verbienftvolle Deinifter 
von Schön, der aber vielleicht eine zu einjeitige Vorliebe 
für England hatte, pflegte im gejelligen Kreiſe gern bie 
Anforderung auszufprehen: „Nennen Sie mir einen gro« 
Ben deutjchen Staatsmann!" Man hätte ihm Hrn. von 
Stein nennen müſſen, freilid) auch noch andere in Era 
wühnung bringen dürfen, Nun ging allerdings Schön, 


Deutfhe Romanliteratur. 373 


der noch Kant gehört hatte, davon aus, daß jeder wahr- | Vorgänger, Verfündiger, Erwecker ber heutigen Philofophie 
bafte Staatsmann vor allem auch Philofoph fein müſſe. | der ZThatfachen. 


Indeſſen gibt e8 auch eine praftifche Philofophie. Stein 
war ein praftifcher Philoſoph. Er war in der That ein 


Alexander Jung. 
(Der Beſchluß folgt in ber nächſten Nummer.) 


Deutfche Romanliteratur. 


1. Die Grafen Barfus. Hiftorifher Roman von U. E. Brad» 
pogel. Vier Bände. Leipzig, Dürrfhe Buchhandlung. 
1869. 8. 5 Thlr. 


Eine ganz tüchtige Arbeit! Es ift eine ftarf mit 


‚biftorifchen Berwidelungen durchflochtene Familiengefchichte, 


die den in zwei Oenerationen Frebsartig um fid) freffen- 
den und die trübften VBerwirrungen erzeugenden Haß der 
Marfchälle von Schöning und von Barfus, zweier Paladine 
des Großen Kurfürften, behandelt. Die Epoche durchläuft 
die Regierung der beiben erften Preußenkönige, die Nach⸗ 
Hänge der Heldentage von Tehrbellin und ber ruhmwür⸗ 
digen Mitwirkung an den Türkenkriegen, bis hinem in 
die leuchtenden Anfänge der Regierung des großen Friedrich. 
Dabei verfolgt der Autor auch die Schliche der kaiſer⸗ 
lichen Bolitif, vertreten durch die Gefandten von Frydank 
und von Sedendorf: Macjinationen, aus denen er den 
politifch und menjchlic tief gegründeten Haß erklärt, 
welcher den Ausbruch der großen preußifch-öfterreichijchen 
Kriege ſchürte. Die gefchichtlichen Geftalten der beiden 
Marſchälle, jowie des Minifters Dandelman unb des 


tüchtig originellen greifen Feldmarſchalls Derfflinger mit 


dem Anbängfel ber übrigen Yamilienglieder auch aus den 
verwandten Gefchlechtern Dohna und Dönhoff, vor allen 
aber die piychologifch furchtbare der Marfchallin von 
Barfus, die durch den mächtigen Zerftörungseinfluß ihrer 
unbändigen Leidenſchaft felber eine Art gefchichtlicher 
Größe wird, find meilterhaft gezeichnet. Was man etwa 
die Moral bes Stüds heißen darf, Liegt in folgendem 
Sat ausgeſprochen: „Die vorgeführten Charaktere muß- 
ten nothwendig von dem wilden Kampfe der Leidenfchaften 
und Intereſſen, von der Berblendung ihres Hafles zu 
ihlımmen Thaten fortgeriffen werden, damit ihr eigenes 
Schickſal fie verfühnend reinige!” Das ift eben das Intereffe, 
dag wir dem an fpringendem Leben reichen Proceß ber 
vernichtenden Leidenschaften, Haß und Stolz, von feinem 
Auffeimen bis zur rafenden Höhe und dann umgekehrt 
der Verſöhnung durd) die Tiebe bis ans menſchlich ſchöne 
Ende gefpannt folgen. Die tragifche Berwidelung, welche 
fo bedeutende Lebens» und Familienſchickſale freiwillig und 
unfreiwillig in ihren Strudel ziehen follte, beginnt gleid) 
zu Anfang am Kreuz von Bonn unter ſchwer padenden 
Umftänden, die das wmerbittlihe Verhängniß herbei⸗ 
rufen, und der Knoten ſchürzt fich mit dem Augenblide, 
da die fchöne und hodymüthige Leonore von Dönhoff von 
ihrem ebenfo eigenfinnigen Vater zur Heirath mit dem 
nachherigen Marfchall gezwungen und die von da an 
gradweiſe finfterer und tigerhafter werdende Jungfrau 
uns in der ganzen verhängnigvollen Eigenrichtigkeit ih- 
res Weſens vorgeführt wird. Eine eigene, pſychologiſch 
tief bewegende, ja erſchütternde Complication, die Wen⸗ 
dung zur Löſung, mifcht fich aber mit dem Augenblicke 
ein, wo Eugen Barfus durch befondere Schidfalsfitgung 
zufammentrifft mit der Tochter Sophie des von feinem 


Bater geſtürzten Todfeindes Schöning und beide fid) 
lieben. „Unter dem Dad eines Schöning verbrachte 
Barfus’ Sohn feine erfte Nacht auf ber Reiſe, eine 
Höllennadt. In ihm ging etwas Süßes‘, unendlich 
Zrauriges, etwas Grauenhaftes vor.” Es ift, nur mit 
äußern Varianten, das alte Lied von Romeo und Julie; 
zwei Leben werden einem nicht zu tröftenden Schmerze 
bingeworfen und innerlich fi) Gehörende äußerlich für 
immer getrennt, einem großen und fchweren Opfer zu Liebe, 
und der Conflict löſt fich nur durch den Tod. Die Scene, 
wo Sophiens Bruder, den Sohn bes Zodfeindes erfen- 
nend, erft in furchtbarer Leidenſchaft Vergeltung von ihm 
fordert, dann wie ein Edler dem Edeln gegenüber den 
Manneswerth anerkennt und voll hoher Trauer den be- 
freundeten Feind in die Arme preßt, ift eine von ben 
menſchlich⸗ſchönen, die und immer paden, treffen wir fie 
nun im Leben oder in der Schrift. Die Seelenkämpfe 
des Marſchalls aber, der, von feinem Dämon Leonore 
geftachelt, dem Ehrgeize zu Xiebe, ein infames Berbrechen 
auf fich Iud, bis zur Höhe des Conflicis, wo er feinen 
und Eugeniens, feines erften und beffern Weibes Sohn, 
in zürnender Tiebe aus dem Haufe treibt, gibt ein trübes, 
aber ſcharf und confeguent gefaßtes Lebensbild. Das 
ganze Leib eines fehuldbewußten Herzens, das noch nicht 
völlig im Falten Stolz erftarrt ift, gipfelt in den an ben 
Sohn gerichteten Worten: „Bete zu Gott, daß du mid) 
nicht wieberfiehft denn als Leiche! Weg! Bringt ihn zu 
feinem Pferde! Eugeniens Sohn fol mid mit ‚grauem 
Haar nicht als — Schächer vor fich ſehen. Mag. dich 
der Ewige beſſer leiten als mi!” Und doch foll das 
gefchehen, was der Alte in fortwährendem Beben abwen- 
den will; auch äußerlich. ereilt ihn die unaufhaltfame 
Race, ale der Marſchall für infam erflärt wird vor eben 
demjelben Sohn, der den geächteten Vater niederftechen 
will, um deflen Schande in Blut zu Löfchen. Das 
Furchtbarſte, die Peripetie der Gefchichte ift der Tob der 
„ſchlimmen Marſchallin“, die aus Haß auf den eigenen 
Stieffohn, meil er ſich mit der verfeindeten Familie ver- 
bündet hat, ihr prächtiges Schloß mit feinen Schägen 
verbrennt, während der Sturm heult und die nur noch 
von der innern Unruhe des Rachegeiſtes Zehrende halb 
wahnfinnig und erjchöpft flirbt. Damit ift der Fluch 
der Leidenſchaft gelöfcht und die fühnende Liebe tritt in 
ihr Recht. 0 
So wird das Gemälde überwiegend finfter und er- 
jhütternd, und doch find der fchönen und Hochherzigen 
Züge genug, um daſſelbe nicht in ein monotones Nachtbild 
umſchlagen zu laſſen. 
Eine höchſt eigenthümliche Geſtalt iſt der Türke Schamir, 
ſeltſam durch ſein Schickſal und ſeinen Geiſt, des bei 
Spalankament von Barfus gemordeten Veziers Köprili 
Bruder, der nachher dem Mörder als Diener folgt, be- 
herrſcht von einem blinden Glaubenswahn, und über das 


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874 


Hans beſſelben eigene Rache und doch auch wieder eigenen 
Segen bringt. 

Ueberraſchend nehmen fi Heute, nad) 1866, in des 
Minifters Danckelman Munde, der vor dem blendenden 
Trugbilde ber Königsfrone warnt, bie jet zwar post festum 
ben bloßen Lauf der gefchehenen Dinge belenchtenden, 
aber trogdem den Eindrud einer Prophetie machenden 
Worte aus: 

Bern man doc Then genug if, den Glückswürfel fo auf 
vie Karte gu werfen, fo ſei man aucd gleich großartig in feinen 

Kiffen! Vreche man doc den Reichsverbund, kündige man 
Habsburg Erhn, Eid und Kur! Menue man die Hohenzollern 
Könige von Oftgermanien und ſende 20000 brandenburgifche Beute 
mit ebenfo viel Millionen Thalern an den Main! Man wird 

Deutſchland zerreißen, beutiches Bint gegeneinander ine 

Id gefſthrt, eines Weltfriege Bluifackel entzlidet haben, aber 
die Tebende Generation ladet männlich denn doch auf ſich alle 
Gefahr umd Berantwortung, ſchlägt wenigſtens jetzt ritterlich 
einen Streit, ber höchſtens vertagt, hingehalten werden mag, 
aber einft doc Tommen wird, blutig imd verzweifelt, ımd ben 
‚Sohn, Enkel und Arurenkel in eimer langen jammervollen Reihe | 
von Kriegen deshalb werden befiehen müfien, weil Preußens 
Flrſten die Hand zu früh nad) der Krone ausfredten. Einſt | 
tommt die Stunde, wo Einer nur in Deutichland beflehen 
tan, ſoll's nicht für Immer auseinanderfallen. Habsburg ı 
“ober Hohenzollern wird dann ans den dentſchen Guuen 'ge- 
worfen fein. 


2. Schellen⸗Moritz. Deutſches Leben im 18. Jahrhundert. 
Hiſivriſcher Roman von George Heſekiel. Drei Bünde. 

Berlin, Rule. 1869. 8. 4 ls. | 

Das Stüd deutſchen Lebens, da8 ums ba vorgeführt 
wird, begreift das flabtblirgerliche Treiben und Denten, 
wie es im einer Mittelſtadt fich geftaltete; enger 'genom- : 
"ten if es das Tpecififche Leben der alten Stadt Halle 
und am dllerengften das ‚ganz eigenartige, bis auf bie 
narefe. Zeit in Tracht und Sitte - abfonberliche tes 
Hallorenguartiers mit feinem erbthumlich zuſammenhalten⸗ 
den Volllein der Hallburſchen oder Salzwirkerbritberfchaft. 
Getreulich immer in diefen felben Sreifen ſich bewegent, 
führt and der Roman, ber von eigentlich gefchichtlichen 
Elementen nicht gar viel, mehr dagegen von ſittengeſchicht⸗ 
lichen aufgenomuten, an einem durchgeführten Lebensbilde 
"von den ‚Kinderfpielen anf ben Moritzkirchhof bis ans 
Grab daſelbſt. 

Unſer Held Schellen⸗Moritz ſelbſt, bus Kind der Liebe 
von vornehmer Geburt, das dem ſchwer "verfolgten Vater 
und der eigengearteten fürſtlichen Mutter ein Gegenſtand 
fchweren Leides "und 'Kanmmers werden follte, wird durd) ı 
eine Reihe von Kreuz⸗ und Duerfahrten übers dentſche 
"Baterland ‘hingeleitet, bis er als waderer Oberftlieutenant , 
und als Kirchenvorfteher der ehrſamen Stadt Halle im 
glucklicher Ehe lebt und flicht. Das freundliche Jugend⸗ 
[eben im forgjam pflegenden reife, das Studententreiben, 
illuſtrirt durch eine enthuſiaſtiſche Jugendliebe, und her⸗ 
na eine ziemlich thotichte und anf ein Haar ſchlimm 
endende Cavaliersliebe, dann die offidiell zu Leben und 
Bildung der Zeit gehörende Wanderſchaft, die fogenannte 
Cavalierſtour, ausgeſchmückt mit allerlei feltfamen Aben- 
teuern ud Berflechtungen, mormiter ein ſchlecht angelegter 
Berſuch der Belehrung zum Katholiciemus, einige der 
nun einmal heilloferweife nicht aus der Romancompofition 
„zu verbrängenden, halb wunderbaren und ganz unglaub⸗ 
lichen Erkennungeſcenen, bie langen Anffchlüffe über das 


zwiſ 


Deutſche Romanliteratur. 


traurige Geſchick des todten Vaters und der verſchollenen 
Mutter, ein Raubanfall, der den jungen Mann ebenfalls 
wie dur ein Wunder ins Schloß der Mutter und in 
bie Nähe des geheimnißvollen Allwiſſers und ZTanfend- 
fünftlers Grafen Saint-Germain führt, Kaffeehaus» und 
Spielauftritte in fehr gemifchter Gejellichaft, dann allerlei 
Militärfcenen aus dem Siebenjährigen Krieg, welche die 
wieder auf einen flarfen Glauben berechnete Situation 
herbeiführen, daß bei einem Ueberfall die Mutter durch 
den Sohn gerettet wird, und zum erſten und letzten 
mol ihn fehend und erfennend in feinen Armen flirbt, 
mehreres aus dem Leben eines armen Landebelmanne, 
Struenfee3 Größe und Fall und endlich im Gegenſatze 
zu diefen bewegenden Scenen der friedliche Reſt eines 
wohlgenügten und ehrbaren Bitrgerlebens: diefe Dinge 
machen das Gerüft des Gebäudes aus. 

Bon hiſtoriſch bedeutenden Perfonen iſt e8 außer 
dem. als feiner Studiofus vorgeführten jungen Struenſee, 
'deffen fpäteres merkwürdiges Geſchick den ftärfften Faden 
wirklich geſchichtlichen Einſchlags liefern fol, nur noch der 
alte Muſikheros Händel. 

Der FKammerpräfident von Dieskau, Struenfee unb 
Saint-Germain jollen drei hervorragende Geiftesrichtungen 
des 18. Jahrhunderts darftellen und der Held bes Ganzen, 
ebenfalls ein echtes Kind des Jahrhunderts, im Gegenſatze 
zu ihnen allen die vierte. Ihre Grundzüge faßt der Autor 
etwa in folgenden Sägen: 

Was Dieskau fagte, war nichts anberds als eine bürre 
"Abftraction im Geift jener Tage, der unklare Begriff einer Pflicht, 
die von Gott nichts wußte, und doch ber Menfchheit dienen 
wollte ober ihr zu dienen vermeinte, ber Ausfluß der gauzen 
Philofophie des Jahrhunderts. Es war in dem Lächeln, mit 
welchem Dieskan die Priefe fehnupfte, die er ſchon eime Weile 
hen den Yingerfpigett gehalten, etwas Hochmiithiges und 
Fanuniſches zugleich —, das feine, aber bittere Lächeln einer alt 
gewordenen Gejellichaft, die an Feine warmen, ehrlichen Regun- 
gen der einzelnen mehr glauben wollte, weil fie jelbft greifen 
dat verknöchert war. Daher der faunifhe Zug neben dem 

ochmlithigen in feinem Lächeln; umd dieſe Miſchung ift ftereotyp, 
man betrachte nur Bilder aus der zweiten Hälfte des vorigen 
Sahrhunderts; fie haben jehr oft ein Lächeln, Männer wie ffranen, 
welches kaum vorher, felten naher erfcheint, ein Lächeln, doe 
dem Beſchauer Herzweh macht. 

Zwiſchen Dieslau und Struenſee war ein großer Unter⸗ 
ſchiebd, aber auch eine beſtimmte Verwandtichaft. Jener war ein 
edler Charakter, der fi) aus hochmüthiger Menſchenverachtung 
in dürre Abftractionen verloren hatte, Struenfee ein finwlicher 
Büfling, der in hochmüthiger Selbſtüberſchätzung zum frivolen 
Spötter geworben. Beiden hochbegabten Männern aber fehlte 

erabe das, mas die wahre Größe gibt, Begeifterung, Schwung, 
fauben. So war denn der eine ein Pedant, der andere ein 


Poltron, unb .beide waren en 


Auch von Saint-Germain fühlte ſich Schel-Morik abge 
en, weil ihm in demfelben eine britte Perfonification des 


gen, 
Geiſtes des 18. Jahrhunderts entgegentrat. Es war die Ger 
"heimmißfrämerei, die abenteuerliche 
liche Spiel mit Kräften und Mächten der Natur, die ih damale 
der Wiſſenſchaft noch ‘ganz entzogen 


derthuerei, das gejähr- 


Schell-Morig felber war das Kind des 18. Jahrhunderts, 
gens und gar, durch nnd durch. Verhältnifſe wie die geheime 
he feines Vaters mit ber Prinzeffin waren nur im jener Zeit 
dentbar. Gr repräfentirte die männliche Kraft, den gefunden 
Sinn,:die Frömmigkeit und Tüchtigkeit, die auch damals neh 
im bentichen Leben lagen und eine weitere Entwidelung zum 
Beſſern verbürgten, aber inter den falfchen Glanz der Aug 
wücfe nnd den verblendenden Strahl der großen Irrthümer 
zurücktraten. Weil aber Mori mitten in einer Bat fand, 





Deutfhe Romanliteratur. 


gerieth er nicht in den Kampf mit dem gewöhnlichen Sammer 

jener Zogt, der Enge des bürgerlichen Lebens, der vornehmen 

Liederlichleit und der plumpen Gemeinheit. 

Bon trüben Sitten- oder Unfittenbildern der Zeit 
werden uns da die Stäupung einer Diebin und das 
Spießruthenlaufen eines Deferteurs in aller Nadtheit vor⸗ 
geführt. Man vermeilt nicht gern bei den immer gleid) 
geundhäßlichen Scenen, fondern wendet fich Lieber ganz 
andern, freundlich ans Herz fprechenden zu, als beren 
Mufter 3. B. das Ende des greifen Kirchenvorſtehers und 
Mufiffreundes Gruner angeführt fei, der den Zod des 
Gerechten ſtirbt (I, 229). Uebrigens ift der Ton ziem- 
fich ungenirt, um Eleganz fehr unbekümmert. Man höre 
z. B. wie ber Verfaſſer ſich das Spiel anfteht: 

Ei! Wie kunſtverftändig die winzigen Frauenzimmer die 
Wechſelfälle des Spiels beurtheilten! wie eifrig fie bie Stärke 
oder die Geſchicklichteit des „großen Bruders’ bewunderten, 
oder, bereit8 einer zärtlichen Regung folgend, Nachbars Karl 
und Teller's Frigen flir befiere Ballipieler erklärten, ale Krus⸗ 
nes Wilhelm und Fad’s Guſtel. Mande drei Küfe hohe Mine 
oder Tine war fogar fhon unwillig oder gar traurig, wenn 
der Gegner ihres Schätschens den Ball fiegreich ins Loch trieb, 
und fühlte fich fehr geneigt, bei dem oft entfiehenden Zänlereien 
Bartei zu nehmen, nicht nur mit eifernden Worten, fondern 

mit ben Meinen unſaubern Fäuften nnd den durchaus nicht 
mehr ganz ungefährlichen Nägeln. Die Jungen dagegen küm⸗ 
merten fi), mit dem ganzen Stolz ihrer Knabenhaftigleit be» 
waffnet, durchaus nicht um bie zärtlichen Dirnlein, wieſen fie 
brutal zurück, oft handgreiflich fogar, nnd war je einmal einer 
unter ihnen, der ſchon eine zartere Regung fpürte gegen das 
ihöne Geſchiecht, fo ſchloß er fie vorſichtig ein in feinem Her⸗ 
zen, denn tm alle der Kumbgebung wäre der volle Hohn der 

GSefammtheit über ihn gelommen, uud nichts if jo unbarm⸗ 

herzig wie der Junge, nichts jo empfindlich gegen den Hohn 

der Genoffen wie wiederum ber Junge. 

Aber gerade diefe Kinderfpiele, das ganze frohe Ju⸗ 
gendtreiben einer gejund und kräftig aufwachſenden Ge 
neration, find mit viel Jovialität und Natur wiedergegeben, 
bis auf die unfchuldigen Wortfpiele und Nedereien herab. 

Die Charakterzeichnung ift zuweilen vecht gelungen 
man nehme als Exempel die alte Kreuzmannin, ein Weib, 
wie fie häufig find, und als Gegenbilb ihre wadere Tochter, 
die Bertramin. 

Das Ganze ift in ruhigem, gleichmäßigen Ton gehalten, 
der felten eine ſtarke Erſchütterung aufkommen läßt, aber 
auch felten tiefer bewegt; man möchte ihm den Ton beö 
bürgerlichen Lebens heißen, in dem wir und vorwiegend 
bewegen. | 

Faft wäre man verfucht, dem Autor eine beftimmte 
Abſicht zuzufchreiben, wenn er uns nicht minder als zwei⸗ 
mal mit großer Beftimmtheit die von der aligewohnten 
Ueberlieferung abweichenden Anſichten über den Urjprung 
der Hohenzollern auseinanderfegen läßt. Darüber gibt 
IL, 197—200 Auſſchluß. 

Bewegten wir ung mit den zwei angeführten hiſtori⸗ 
fhen Romanen im 18. Jahrhundert, in defien Hofe und 
Bürgerleben, fo werden und nod) zwei andere, mobernften 
Stils, in die unmittelbare Gegenwart hineinführen, beren 
Gepräge fie vollauf entwideln. 

3. Drei Gefellen. Eine heitere und ernſte Erzählung von 
Ernſt Pas qué. Bier Bünde. Jena, Coftenoble. 1869. 
8 4 Thlr. 15 Nur. 

Erzähfung oder Roman, der Name thut nichts zur 
Sache! Jedenfalls iſt die Gefchichte ganz modern, ziem⸗ 


375 


lid) ſtark à la frangaise gehalten, ſpielt aud) zum größten 
Theil in ber Stadt der Abenteurer und der Speculanten, 
in Paris, ber Großftadt des gefammten neuen Romane; 
faflen wir nun Schrift oder Leben ind Auge. In jedem 
Zuge find es Licht und Luft und Farbe unſerer Tage, 
wie fie fi in jenem Mikrokosmus der ganzen Weltbewe⸗ 
gung wiberjpiegeln. Ernſt und heiter in ber That! 
Wir werden in allen Schattirungen be Tons herum- 
geworfen, vom Wurchtbaren bis zur faft zigennerhaften 
Luſtigkeit. 

Die Geſchichte fußt auf folgenden Grundzügen: Elſen, 
nachher als Mr. John Harley auftretend, Kaſſirer eines 
Bankierhauſes in einer Rheinſtadt, durch untergeſchobene 
Briefe betrogen, glaubt ſein Weib in ehebrecheriſcher Ver⸗ 
bindung mit dem Sohne des Chefs und entflieht heimlich 
feinem Elend, um nad Auftcalien zu gehen. Dan Omen, 
nachher Mr. d’Auvent, Buchhalter defielben Geſchäfts und 
Elſen's angeblicher Freund, bat bem doppelten Schurlen⸗ 
ſtreich begangen: erſtlich hat ex jene Briefe gefälſcht und 
ſeinen Freund zur Flucht perhetzt, dann beſtiehlt er in 
derſelben Nacht, da dieſer entweicht und auf Koſten von 
deſſen Ehre, bie Kaſſe bes Geſchäfis, das ex nach einiger 
Zeit verläßt, um in Paris als großer Herr zu lehen. 
Die beiden treffen wir nach einem langen und verſchie⸗ 
denen Lebenslauf, innerhalb deſſen ſich Elſen als thätig⸗ 
tüchtiger Chrenmann ein großes Vermögen erworben, 
während Owen als Gutsbeſitzer und Börſenſpeculant in 
ſchlechten Streichen und Ausſchweifungen feine Jahre ver⸗ 
bracht, im Alter wieder, zu einer Zeit, wo die rächende 
Gerechtigkeit den furchtbaren Knoten löſt. Die drei Ger 
ſellen aber, um deren Laufbahn ſich's handelt, find fair 
gende: Friedel (Fridolin Grein), ein tüchtiger Schreiner, 
ernft und gefegt, eine Träftige Arbeitsnatur, der Sohn 
eines in eben jenem MBanliergaufe zus Zeit des perübten 
Verbrechens angefiellten Kaſſendieners; Heinrich Remy, 
fein Ingendfreund, leicht und lebensluſtig, übrigens ehr⸗ 
bar und gutmüthig, ber das Handwerk aufgegehen und 
fih ald Sänger eine glängende Laufbahn machen wi; 
endlich Gerhard Elfen, der Sohn jenes Kaſſirers, der 
Laufmann geworben, bann wegen bed auf feinen Namen 
liegenden Makels Unglüd bat, in der Hüften Roth auf 
Zuredben Remy's, ber ihn in der Weltbaupiflabt trifft, 
ſich entfchliegt, ebenfalls Muſiker (artiste) zu werben, 
endli amf Verwenden jeines ihm unbekannten Batexa 
wieber eine folide Stellung findet und glücklich wird. 
Wir geleiten diefe drei jungen Leben, bis Friedel, dem 
zuexft Dir. Harley aufgeholfen, nachdem er fein Gejhäft 
ind Große ausgedehnt und viel Geld erworben, als glüd- 
licher Gatte einer lieblichen und braven Pariſerin auf 
einer Campague am Rhein den Heft feiner Tage .vexlebt; 
Gerhard Ehen, vereint mit Bater and Matter, die fih 
ausgeſöhnt, ehenfalld reich und glücklich, wohnt in feiner 
Nüpe. Das Pilantefte an feinem Leben if, daß ex ſich in 
bie herzensgute Tochter jenes Schurken d'Auvent verliebt 
und nad manden Schwierigkeiten ihre Hand gewonnen 
hat; Remy, der fi) in der halben Welt Herumgetrieben 
und Kurze Zeit als Sänger geglängt, hat feine Stimme 
verloren und ift fhwindfüchtig geworden, er lonumt zuckd, 
arm und verlaflen, um auf Friedel's Landfit, wo man 
ihn noch die kurzen guten Tage über pflegt, zu ſterben. 


Are Mer 


. 7 


TTS» z 


874 Deutfhe Romanliteratur. 


Hans deſſelben eigene Rache und doc) auch wieder eigenen 
Segen bringt. | 

Ueberrafchend nehmen fich heute, nad) 1866, in des 
Minifters Danckelmun Munde, der vor dem blendenden 
Trugbilde der Königsfrone warnt, die jegt zwar post festum 
den bloßen Lauf der gejchehenen Dinge beleuchtenden, 
aber trogdem den Eindrud einer Prophetie machenden 
Worte aus: 

Wenn man doch kühn geung iM, den Glückswürfel fo anf 
die Karte zu werfen, fo fei man anch gleich großartig in feinen 
Wuirhtüifien! Vreche men doch den Reichsverband, kündige man 
Habsburg Erhn, Eid und Kur! Nenne man die Hohenzollern 

e von Öftgermanien und jenbe 20000 brandenbnrgifche Leute 
mit ebenfo viel Millionen Thalern an den Main! Man wird 
' Deutſchlemd zerreißen, beutiches Bint gegeneinander ins 
Bild gern, eines Weltkriegs Blutfackel entzlinidet Haben, aber 

ende Generation ladet männlid denn boch auf fi alle 
Gefahr umd Berantwortung, ſchlägt wenigſtens jet ritterlich 
einen Streit, der hochſtens vertagt, Hingehalten werden mag, 
aber einft doch kommen wird, blutig und verzweifelt, ımd den 
"Sohn, Enkel und Ürurenfel in einer Iangen jammervollen Reihe | 
von Kriegen deshalb werben befiehen miüffen, weil Preußens 
Flrſten die Hand zu früh nad der Krone ausfredten. Gift | 
lommt die Stunde, wo Einer nur in Deutſchland beflehen . 
fon, ſolls nicht für immer auseinanderfallen. Habsburg ı 
öder Hohenzollern wird dann aus dem bdeutfchen Gmien ge⸗ 
orfen fein. 


2. Schellen⸗Moritz. Deutſches Leben im 18. Jahrhundert. 
Hiſivriſcher Roman von George Hefetiel. Drei Bände. 
Berlin, Sanle. 18069. 8. 4 Vhlr. 

Das Stüd 'deutfchen Lebens, das uns ba vorgeführt 
wird, Begreift das fladtblirgerliche Treiben und Denken, 
wie es in einer Mittelftedt fich geftaltete; enger genom⸗ 
"men iſt es das fpecififche Leben ber alten Stadt Halle 
nund am dllerengften das ganz eigenartige, bis auf bie 
narefe. Zeit in Tracht und Sitte  abfonberliche tes 
"Halloretigttartiers mit feinem erbthumlich zufammerrhalten- 
den Volktein der Hallburſchen oder Salzwirkerbritberfchaft. 
Getreulich immer in dieſen felben Sreifen fich bewegend, 
führt and ber Roman, ber von eigentlich gejchichtlichen 
Elenenten wicht gar viel, mehr dagegen von fittengejchicht« 
Then aufgenommen, an einem durchgeführten Lebensbilde 
‘von den ‚Kinderfpielen anf bem Moritzkirchhof bis ans. 
Grab 'dafelbft. 

Unfer Held Schellen-Morig fetbft, bus Kind der "Liebe 
von vornehmer Geburt, das dem ſchwer "verfolgten Vater 
und der eigentgearteten fürftlichen Mutter ein Gegenftand 
ſchweren Leides und Kummers werden follte, wird durch 
eine Reihe von Krenz⸗ und Querfahrten übers bentfche. 
"Baterland "hingeleitet, bis er als wackerer Oberſtlieutenant 
und als Kirchenvorſteher der ehtſamen Stadt Halle im. 
glucklicher Ehe lebt und flicht. Das freundliche Jugend⸗ 
leben im forgfam pflegenben Kreiſe, das Studententreiben, 
illuſtrirt durch eine enthuftaftifche Jugendliebe, und her⸗ 
nach eine ‚ziemlich thörichte and auf ein Haar fchlimm 
“endende "Eavaltersliebe, dann bie offitiell zu Leben und 
Bildung der Zeit gehörende Wanderſchaft, die fogenannte 
Savalierstour, ausgeſchmückt mit allerlei ſeliſamen Aben- 
teuern und Verfleihtungen, mormiter ein fchlecht angelegter 
Berſuch der Belehrung zum Katholicismus, einige der 
nun einmal heilloferweife nicht aus der Romancompofition 
„zu verbrängenben, halb wunderbaren und ganz unglaub- 
‘Tigen Erkennungeſcenen, die langen Anffchlüffe über das 


traurige Geſchick des tobten Vaters und der verſchollenen 
Mutter, ein Raubanfall, der ben jungen Mann ebenfalls 
wie dur ein Wunder ins Schloß der Mutter und in 
bie Nähe des geheimnißvollen Allwiſſers und Tauſend⸗ 
fünftlerse Grafen Saint-Germain führt, Kaffeehaus- und 
Spielauftritte in fehr gemifchter Geſellſchaft, dann allerlei 
Militärfcenen aus dem GSiebenjährigen Krieg, welche bie 
wieder auf einen flarfen Glauben berechnete Situation 
herbeiführen, daß bei einem UWeberfall die Mutter durch 
ben Sohn gerettet wird, und zum erften und letzten 
mal ihn fehenb und erkennend in feinen Armen ftirbt, 
mehreres ans dem Leben eines armen Landebelmanne, 
Struenſee's Größe und Fall und endlich im Gegenſatze 
zu diefen bewegenden Scenen der friedliche Reſt eines 
wohlgenützten und ehrbaren Bürgerlebens: diefe ‘Dinge 
machen das Gerüft des Gebäudes aus. 

Bon Hiftorifch bedeutenden Perſonen iſt e8 außer 
dem. als feiner Studiofus vorgeführten jungen Struenfee, 
deſſen fpäteres merkwürdiges Geſchick den ftärkten Faden 
wirklich geſchichtlichen Einſchlags liefern ſoll, nur noch der 
alte Muſikheros Händel. 

Der Kammerpräfident von Dieskau, Struenfee und 
Saint-Germain follen brei hervorragende Geiftesrichtungen 
des 18. Jahrhunderts darftelen und der Held bes Ganzen, 
ebenfallß ein echtes Kind des Jahrhunderts, im Gegenſatze 
zu ihnen allen die vierte. Ihre Grundzüge faßt der Autor 
etwa in folgenden Sägen: 

Was Dieskau fagte, war nichts anderes als eine dürre 
"Abftraction im Geift jener Tage, der unklare Begriff einer Pflicht, 
bie ‚von Gott nichts wußte, und doch ber Menfchheit dienen 
wollte oder ihr zu dienen vermeinte, der Ausfluß der ganzen 
Philofophie des Jahrhunderte. Es war in dem Lächeln, mit 
welchem Dieskan die Prieſe fchnupfte, die er ſchon eine Weile 
zwiſchen den Fingerſpitzen gehalten, etwas Hochmüthiges und 
Fauniſches zugleich —, das feine, aber bittere Lächeln einer alt⸗ 
gewordenen Gefellichaft, die an keine warmen, ehrlichen Regun⸗ 
gen der einzelnen mehr glauben wollte, weil fie felbft greifen» 
haft verfnöchert war. Daher der faunifche Zug neben dem 
bochmlithigen in feinem Lächeln, und dieſe Miſchung ift flereotyp, 
man betrachte nur Bilder aus der zweiten Hälfte des vorigen 
Sahrhunderts; fte haben ſehr oft ein Lächeln, Dlünner wie Dranen, 
welches kaum vorher, felten nachher erfcheint, ein Lächeln, das 
‘dem Beſchauer Herzweh macht. 

Zwiſchen Dieskau und Struenſee war ein großer Unter- 
ſchied, aber auch eine beſtimmte Verwandtſchaft. Jener war ein 
edler Charakter, der ſich aus hochmüthiger Menſchenverachtuug 
in dürre Abſtractionen verloren hatte, Struenſee ein ſinnlicher 
Wüſtling, der in hochmüthiger Selbſtüberſchätzung zum frivolen 
Spötter geworden. Beiden hochbegabten Männern aber fehlte 
gerade das, was bie wahre Größe gibt, Begeifterung, Schwung, 

fanben. So war benn der eine ein Pedant, der andere ein 
"Beltron, und beide waren Junggeſellen. 

Auch ‚von Saint-Germain fühlte ſich Schell⸗Moritz abge- 
ftoßen, weil ihm in bemfelben eine dritte Perfonification des 
Geiſtes des 18. Jahrhunderts entgegentrat. Es war die Ge⸗ 
heimnißkrumerei, die abenteuerliche dertänerei, das gefähr- 
liche Spiel mit Kräften und Mächten der Natur, die ich damals 
der Wiffenfchaft noch "ganz entzogen. 

Schell⸗Moritz felber war das Kind des 18. Jahrhunderts, 

anz und gar, durch und durch. Verhältnifſſe wie die geheime 
Ebe feines Vaters mit der Prinzeffin waren nur in jener Zeit 
benfbar. Gr repräfentirte die männliche Kraft, den gefunden 
Sinn,:die Frömmigkeit und Tüchtigleit, die auch damals meh 
im deutfchen Leben lagen und eine weitere Entwidelung zum 
Bellen verbürgten, aber Hinter den falſchen Glanz der Aus- 
wüchſe und ben verblendenden Strahl der großen Srrthlimer 
zuriitraten. Weil aber Morit mitten in einer Zeit Rand, 





Deutſche Romanliteratur. 375 


gerieth ex nicht in ben Kampf mit dem gewöhnlichen Sammer 
jener Tage, der Enge: des bürgerlichen Lebens, der vornehmen 
Liederlichleit und der plumpen Gemeinbeit. 

Bon trüben Sitten» oder Unfittenbildern der Zeit 
werden uns da die Stäupung einer Diebin und das 
Spiefruthenlaufen eines Dejerteurs in aller Nadtheit vor⸗ 
geführt. Man verweilt nicht gern bei den immer gleich 
grumdhäßlichen Scenen, fondern wendet ſich lieber ganz 
andern, frennblic) and Herz fprechenden zu, als deren 
Minfter z. B. das Ende des greifen Kirchenvorftehers und 
Mufiffreundes Gruner angeführt fei, der den Tod bes 
Gerechten ftirbt (1, 229). Uebrigens ift der Ton ziem- 
lich ungenirt, um Eleganz fehr unbekümmert. Dan Höre 
3. B., wie der Berfaffer ſich das Spiel anfteht: 

Ei! Wie kunftverftändig die winzigen Frauenzimmer die 
Wechſelfälle des Spiels benrtheilten! wie eifrig fie die Stärke 
oder die Gefchidtichkeit des „großen Bruders’ bemunberten, 
ober, bereits einer zärtlihen Regung folgend, Nachbars Karl 
und Teller's Fritzen für befjere Ballipieler erklärten, als Krus⸗ 
peis Wilhelm und Facks Guſtel. Manche drei Küſe hohe Mine 
oder Tine war ſogar ſchon unwillig oder gar traurig, wenn 
der Gegner ihres Schätzchens den Ball ſiegreich ins Loch trieb, 
uud fühlte ſich ſehr geneigt, bei dem oft entſtehenden Zänkereien 
Bartei zu nehmen, nicht nur mit eiferuden Worten, fondern 
auch mit den Heinen unfaubern Fäuften und den durchaus nicht 
mehr ganz ungefährlichen Nägeln. Die Jungen dagegen küm⸗ 
merten fih, mit dem ganzen Stolz ihrer Knabenhaftigleit be» 
waffnet, durchaus nit um bie zärtlihen Dirnlein, wiefen fle 
brutal zurück, oft handgreiflich fogar, und war je einmal einer 
unter ihnen, der ſchon eine zartere Regung ſpürte gegen das 
ſchöne Geſchlecht, fo ſchloß er fie vorfichtig ein im feinem Her⸗ 
zen, denn im alle der Kundgebung wäre der volle Hohn der 
Gefammtheit über ihn gefommen, und nichts ift jo unbarm⸗ 
herzig wie der Junge, nichts fo empfindlich gegen den Hohn 
der Genoffen wie wiederum der Junge. 

Aber gerade diefe Kinderfpiele, das ganze frohe Ju⸗ 
genbtreiben einer geſund unb kräftig auſwachſenden Ge⸗ 
neration, find mit viel Jovialität und Natur wiedergegeben, 
bis anf die unſchuldigen Wortfpiele und Nedereien herab. 

Die Charakterzeichnang ift zuweilen vecht gelungen; 
man nehme als Erempel die alte Kreuzmannin, ein Weib, 
wie fie häufig find, und als Gegenbilb ihre wadere Tochter, 
die Bertramin. 

Das Ganze ift in ruhigem, gleichmäßigem Ton gehalten, 
der felten eine ſtarke Erſchütterung auflommen läßt, aber 
auch felten tiefec bewegt; man möchte ihn den Ton des 
bürgerlichen Lebens heißen, in dem wir und vorwiegend 
bewegen. 

Faft wäre man verfucht, dem Autor eine beſtimmte 
Abſicht zuzufchreiben, wenn er ung nicht minder als zwei- 
mal mit großer Beftimmtheit die von der aligewohnten 
Ueberlieferung abweichenden Anfidjten über den Urſprung 
der Hohenzollern auseinanberjegen läßt. Darüber gibt 
II, 197—200 Auffchluß. 

Bewegten wir uns mit ben zwei angeführten hiftoris 
hen Romanen im 18. Yahrhundert, in befien Hof⸗ und 
Bürgerleben, fo werden uns noch zwei andere, modernften 
Stils, in die unmittelbare Gegenwart bineinführen, berem 
Gepräge fie vollauf entwideln. 

3. Drei Gefellen. Cine heitere und ernfle Erzählung von 

Ernft Basqud. Bier Bände. Jena, Eoftenoble. 1869. 

8 4 Thlr. 15 Ngr. 

Erzählung oder Roman, der Name thut nichts zur 
Sade! Iebenfalls ift die Geſchichte ganz modern, ziem⸗ 


lich ſtark à la frangaise gehalten, fpielt auc zum größten 
Theil in ber Stadt der Abenteurer und der Speculanten, 
in Paris, ber Großſtadt des gefammter neuen Romans; 
faffen wir nun Schrift ober Leben ins Auge. In jebem 
Zuge find es Licht und Luft und Farbe umferer Lage, 
wie fie fi in jenem Mikrolosmus der ganzen Weltberogs 
gung widerfpiegeln. Ernſt und heiter in ber That! 
Wir werden in allen Schattirungen des Tons herum⸗ 
gemorfen, vom Furchtbaren bis zur faſt zigeunerhaften 
uſtigkeit. 

Die Geſchichte fußt auf folgenden Grundzügen: Elſen, 
nachher als Mr. John Harley auftretend, Kaſſirer eines 
Bankierhauſes in einer Rheinſtadt, durch untergeſchobene 
Briefe betrogen, glaubt ſein Weib in ehebrecheriſcher Ver⸗ 
bindung mit dem Sohne des Chefs und entflieht heimlich 
ſeinem Elend, um nach Auſtralien zu gehen. Van Owen, 
nachher Mr, d'Auvent, Buchhalter deſſelben Geſchäfts und 
Elſen's angeblicher Freund, hat den doppelten Schurlen⸗ 
ſtreich begangen: erſtlich hat ex jene Briefe gefälſcht und 
feinen Freund zur Flucht verhegt, dann beſtiehlt ex in 
derfelben Nacht, da diefer entweicht und auf Koſten won 
befien Ehre, bie Kaffe des Geſchäfts, das ex nad riniger 
Zeit verläßt, um in Paris ale großer Herr zu Ichen. 
Die beiden treffen wir nad einem Jangen und perſchie⸗ 
denen Lebenslauf, innerhalb deſſen ſich Elfen als thätig- 
tüchtiger Ehrenmann ein großes Bermögen eripprben, 
während Owen als Gutsbefiger und Börfenfpeculant in 
ſchlechten Streichen und Ausichweifungen feine Jahre ver⸗ 
bracht, im Alter wieder, zu einer Zeit, wo die rächende 
Gerechtigkeit den furditbaren Knoten löſt. Die drei Ger 
jellen aber, um deren Laufbahn fich's Handelt, find falr 
gende: Friedel (Fridolin Grein), ein tüchtiger Schreiner, 
ernft und gejeßt, eine kräftige Urbeitönatur, der Sohn 
eines in eben jenem Vankiechnuſe zur Zeit des peräbten 
Verbrechens angeſtellten Kaſſendieners; Heinrich Remy, 
fein Ingendfreund, leicht und lebensluſtig, übrigens ehr⸗ 
bar und gutmüthig, der das Handwerk aufgegeben und 
ſich als Sänger eine glängende Laufbahn machen wii; 
endlich Gerhard Elfen, der Sohn jenes Kaſſirers, der 
Kaufmann geworben, bann wegen bes auf ſeinem Namen 
liegenden Malels Unglück bat, in ber hüchſten Noth auf 
Zureben Remy’s, der ihn in ber Welthaupfflabt trifft, 
ſich entſchließt, ebenfalls Muſiler (artiste) zu werden, 
endlich amf Verwenden ſeines ihm unbelanuien Vaters 
wieder eine ſolide Stellung findet und glücklich wird. 
Wir geleiten dieſe drei jungen Leben, bis Friedel, dem 
zuerſt Mr. Harley aufgeholfen, nachdem er fein Geſchüft 
ins Große ausgedehnt und viel Geld erworben, als glüd- 
licher Gatte einer lieblichen und braven Pariſerin auf 
einer Campagne am Rhein deu Heft feiner Tage werlebt; 
Gerharb Een, vereint mut Bater and Mutter, die ih 
ausgejöhnt, ebenfalls reich und glücklich, wohnt in ſeiner 
Nähe. Das Pilantefte an feinem Leben iR, daß ex ſich in 
die herzensgute Tochter jenes Schurken d'Auvent verliebt 
und nach manden Scwierigfeiten ihre Hand gewonnen 
hat; Remy, der ſich in der halben Welt herumgetrichen 
und kurze Zeit als Sänger geglänzt, hat feine Stunme 
verloren und ift ſchwindſüchtig geworden, er fommt zurkd, 
arm und verlafien, um auf Friedel's Landſitz, wo man 
ihm noch bie kurzen guten Tage über pflegt, zu ſterben. 





376 Deutſche Romanliteratur. 


Führen wir dieſe fünf inhaltſchweren Lebensſchickſale an 
und nehmen wir hinzu, daß mit ihnen noch eine Reihe 
untergeordneter ſich eng verknüpft, ſo wird uns klar, daß 
ſich da reiche und mannichfache Gemälde entfalten müſſen. 
Folgende kurze Aufzählung mag eine Vorſtellung geben 
von dem Wechſel der Scenen und Gefühle, in denen wir 
förmlich herumgeſchüttelt werden. 

Nach dem einleitenden Nacht- und Nebelbilde des 
Diebſtahls geleiten wir die jungen rüſtigen Männer Frie— 
del und Remy bei hellem Sonnenſchein in die Straßen 
und Dachſtuben von Paris, lernen die treuherzige Arbei- 
terin Annette und die leichtfüßige Griſette Agapita kennen, 
treffen nad einer jener entfcheidenden Begegnungen un- 
fere drei Helden beifammen, geleiten den ehrlichen Fries 
del in feine Manfarde auf den Weg ber Liebe und den 
Shwärmenden Remy zum Nafchen von der Liebe Luft, 
werden in eine „SKünftler”-Colonie geführt und machen 
deren gutmüthig-phantaftifches Treiben und Iuftige Armuth 
im Haus und Feld mit, was einige der weitaus anzie 
benbften und gelungenften Genrebilder liefert, und ftoßen 
auch auf die beiden alten Herren, den Schelm und den 
Betrogenen, bei ihren befrembenden Gängen. Nachdem 
er uns fo alle Hauptperfonen nahe gebracht, ſchließt der 
erfte Band. Don da an verflicht fi) die Erzählung im- 
mer mehr mit Dir. Harley’8 geheinmißvollem und groß⸗ 
müthigem Thun, das bald mächtig in Friedel’8 und Ger- 
hard's Leben eingreift; wir geleiten die drei jungen Freunde 
auf neuen Bahnen und treffen im d'Auvent's Landhaus 
eine ehemals entführte, dann furchtbar mishanbelte Ge⸗ 
liebte und in deffen Logis in der Stadt die uns bereits 
befannte Agapita als feine jegige Maitreſſe. Damit ift 
der zweite Band zu Ende Mit dem dritten, „Harley 
an der Arbeit”, beginnt die Entwidelungsgefcicte. 
Elfen ftelt mit aller Energie und onfequenz eines 
feines Rechtes und feiner Witrde bemußten Mannes 
feinen gejchändeten Namen wieder ber und entlarvt 
den Verbrecher, defien Halbeynifcher Zodesfampf „Das 
Iegte Glas”, bis er fih durch Gift ind — Nichts 
hintiberbefördert, eine der furchtbarften, nervenerjchüt« 
ternden, ja wild abftoßenden Scenen ift, jo neuroman- 
tiſch als irgendeine bei den im diefer Malerei fo 
ftarfen Franzofen. Der Kampf der beiden feltfamen 
Münner, des einen um feine Ehre, des andern Übrigens 
bereit3 vom Himmel Gefchlagenen und Geläßmten um 
fein Leben, bat in feinem ganzen Berlaufe des Aufregen- 
den und Gewaltfamen fo viel, daß diefer lebenswahr durch« 
geführte Proceß eine unausgefegte fieberhafte Spannung 
bildet. Am Ende treffen wir die Guten in glüdlichem 
Frieden, auch der leichte, fonft brave und talentvolle Remy 
findet wenigftens nad; harten Prüfungen noch einen fried⸗ 
lichen Lebensabend: damit ift nad) allen Seiten die poe« 
tifche und menjchliche Gerechtigkeit hergeftellt. 

Man kann fi) des Eindruds nicht erwehren, daß 
diefe Geſchichten, wie fie, abgerechnet die Zuthaten der 
Bhantafie, ganz in die losgebundene Gejellichaft des 
Augenblids paſſen, auch vollitändig im Stil des fran- 
zöſiſchen Romans concipirt und wiedergegeben find, Fehler 
und Vorzüge beffelben theilend. Wer an biefem nur 
Böfes fieht, der wird auch Pasqué's Hier entwideltes 
Lebensbild nicht verwinden; wer aber die Schilderungs- 


fähigfeit, die Kraft und Parbenfrifche, die Energie auch 
in der Seelen- und Gefühlsmalerei nicht gering anfchlägt, 
wird umgefehrt diefe Erzählung ebenfo anziehend und ſpan⸗ 
nend — ängftliche Moraliften würden fagen verführerifch — 
finden als irgendeine. 

Doc, fei eines Hauptjehlers noch bejonders erwähnt. 
Wir hatten oben ſchon Anlaß, uns ftreng gegen ein mid 
bräuchliches Hauptmittel der neuern Nomanfchreiber aus 
zufprechen: das find die mafjenhaften Perfonenbegegnungen 
und Erfennungen, bet denen der Zufall eine jo plumpe 
Rolle fpielt, daß er aufs Haar dem nadten Wunder 
gleichlommt. Das wohlfeile Mittel ift um fo verwerf⸗ 
licher, wenn e8 für die Gefanumntentwidelung nicht einmal 
nothwenbig iſt, fondern blos dazu dient, eine pilante 
Epifode anzufpinnen. Natürlid) drüdt fih darin immer 
die Armuth an Logifher Motivirung aus. Auch Pasque 
bat förmlichen Misbrauch damit getrieben, fo oft foll die 
Manier aushelfen, theil® um den ftodenden Gang weiter 
zu führen, theils auch blos, um uns mit einer Ueber⸗ 
rafhung zu beſchenken. Wir würden das geradezu als 
den unverzeiblichen Hauptmangel in der Compofition bes 
zeichnen. Es geht uns wie bei dem überrafchten Gerhard 
Elfen; wir gerathen bei ben Entbedungen und Enthül⸗ 
lungen und Berwandlungen, die und da ganz unbor« 
bereitet aufgetifcht werden, in ein „gemwaltiges, fprachlofes 
Erftaunen”, denn die Dinge gehen über den Begriff einer 
logischen Folge der Thatſachen. 

Auf anderer Seite dagegen Tiegt fo ziemlih das 
Hauptverbienft. Der Berfaffer weiß und Scenen von der 
tollften Heiterfeit fo drollig hinzumalen, daß fie ein köſt⸗ 
liches Lachen erweden. Man nehme einmal bie Scene, 
wo einer der impropifirten „Künftler” auf die Bitten einer 
gefühlvollen Witwe, die ihres feligen Mannes wegen dem 
Serpent liebt, das dubidfe Inftrument handhabt: 


Der lange muftlaliihe Tauſendkünſtler fette das gewaltige 
Snftrument an den Mund und begann zu blajen. Beim erften 
Ton, der laut wurde, wurde die Gefellichaft ebenfalls laut, 
und helles luſtiges Lachen ertönte von alt und jung, denn der 
Geſang des ledernen Inflruments war zu drollig, und fein 
Bläfer, wie er in feiner langen Figur daftand und beu Ser- 
pent mit Gefühl bandhabte, hatte etwas Urkomiſches, das den 
ärgfien Hypochonder zum Laden bringen mußte. Madame 
Sodard war anfänglich recht entrüftet über dieſe Seiterfeit, 
welche ihr eine Sünde gegen ihr Lieblingsinftrument dünken 
mochte; doch fchließlich Härte fi ihr Antlig wieder auf, fie 
mußte fogar im Berein mit den Übrigen lachen, denn der 
Bläſer fchien feine höchſt Iamentable Melodie nur an fie zu 
richten. Er ſchaute fie zugleih mit feinen großen Augen fo 
gefühlvoll an, mährend feine Baden fi furdtbar anfblähen 
mußten, um den nöthigen Wind für den gemaltigen Leib des 
Serpents zu finden, daß die allgemeine Heiterkeit immer größer 
wurde, bejonders als nun die hohen, überans kläglich uud 
herzbrechend lautenden Töne in das allertieffte Brummen über⸗ 
ingen. Auch Hold fonute endlich feine Ruhe nicht mehr ber 
bauten, er mußte mitlahen und — das Gerpentconcert war 
zu Ende. 


Die Scene berührt um fo drolliger, wenn wir uns 
erinnern, daß der ange bald darauf bei der biden, ges 
fühlvollen Witwe die Stelle ihres Seligen einnimmt und 
fie für ben Berluft ausreichend tröftet., Nicht minder 
koſtbar ift der draftifche Auftritt, da Remy, der feiner 
leichtfertigen Schülerin Agapita verjprochen, fie empfeh- 
lend dem großen Componiften Auber vorzuftellen, diefelbe 


Deutfhe Romanliteratur. 377 


im miſerabel zugeftugten „Salon“ der Künftlercolonie 
empfängt, und bie mitgefonmene Alte, empört über die 
Nichtachtung des Talents ihrer hoffnungsvollen Tochter, 
aus fettiger Zeitungshülle ein angefnabbertes Cervelat- 
würftchen, das fich der improvifirte Componift zum Diner 
aufgejpart Hatte, herauswidelt. 

Jetzt richtete Mutter Morel fi) in ihrer ganzen Größe 
ober vielmehr Breite auf. Ihr Auge, ihr ganzes Geficht 
flammte wie das Feuer ihres Herdes, und ihr armes, unfchul- 
diges, mishandeltes Kind an den weichen Dutterbufen dridend, 
bielt fie mit der Nechten das angelnabberte Knoblauchwürſtchen 
hoch empor, alfo eine wahrhaft tragifche Gruppe bildend, welche 
ihre Wirkung jelbft auf den in feinem blau damaftenen Schlaf- 
rocke fi nicht mehr recht behaglich fühlenden falichen Auber 
nicht verfehlte. Nachdem fie den Mann, der ihre Tochter zur 
Choriſtiu hatte berabwürdigen wollen, mit unfaglicher Beradytung 
gemefjen, ſprach fie mit Wlirde und einem wahren Pathos: 
Weine nit, mein Kind! Ein Mann, ber foldye miſerable 
Zwei⸗Sous⸗Würſte mit Knoblauch verjpeift und die Reſte fogar 
noch in eine alte Zeitung widelt, kann uns nicht beleidigen. 
Kommen Sie, Herr Remy! Auch dir, mein armer Junge, hat 
er Unrecht gethan. Wir wollen heimgehen und werden aud) 
fon ohne ihn auf die Bühne kommen, aber als etwas Befjeres 
denn eine Choriftin, wie wir auch — Gott fei Danf! — noch 
Befferes zu frühftliden vermögen als eine Knoblauchwurſt! — 
Dabei warf fie dem langen großen Dann die angebifjene Wurſt 
mit einer fuperben Bewegung vor die Füße und wendete fidh, 
um das ſchiefe Stubirzimmer zu verlafien- 

Wir meinen, dergleichen Auftritte könnten einen argen 
Hypochonder zum Lachen bringen. 

4. Königstren. Roman von Karl von Kefjel. Zwei Bände. 
Leipzig, Srunow. 1869. 8. 2 Thlr. 20 Ngr. 


Der Kritiker weiß nicht recht, wie er ſich zu dieſem 
Broduct ftellen fol. Es kommt fehr darauf an, was er 
eigentlich fucht und ſchätzt, und noch mehr, ob er eigene 
gefeftete Welt⸗ und Lebensanfchauungen den etwas un» 
beftimmten des Autors entgegenzufegen bat, und welche? 

Mit Rüdfiht auf die Compofition muß zunächft auf 
fallen, daß diejenige Perfon, die dem Zitel nad) als der 
Held des Stüds erfcheinen follte, nichts weniger als biefe 
Rolle fpielt, ja wir ftehen tief im erften Bande drinnen, 
ehe fie nur geboren wird, und auch fpäter nimmt biejer 
jedenfalls nad) einem fonderlichen Einfall fo geheißene 
„Konigstreu“ ale Minifterialrath nur eine untergeordnete 
Stelle in der Erzählung ein. Iſt aber nicht er der Held 
des Stüds, fo fragt ſich's, ob überhaupt einer da fei? 
Nein. Am eheften käme die Rolle noch dem Hauptmann 
von Woldeck zu, der flarf in alle vorgeführten Lebens» 
verhältnifle eingreift und fo ziemlich überall den Netter 
fpielt; aber im Grunde Haben wir feine eigentlich herr- 
fchende Hauptperſon. Es ift eine ganze Reihe von Fa— 
miliengefchichten, die nebeneinander durchgeführt werden, 
und daneben gehen noch allerlei Scenen aus der Revo⸗ 
Iution von 1848 mit, aber blos als politifche Zuthat. 

Auf dem Schlachtfelde von Tigny treffen wir den 
Hauptmann und deflen Begleiter Stein, einen reichen 
Bauernſohn, bie beide nachher in die Heimat entlafjen 
werden. Der Autor führt uns in ihre Yamilien ein; 
dabei erfahren wir gleich zu Gunften des fehr bevorzug- 
ten Charakters des abelihen Hauptmanns, wie er für 
einen fterbenden Soldaten feiner Compagnie und deſſen 
Geliebte Elsbeth und fpäter auch deren Kind beforgt ift. 
Stein gewinnt zu Haufe mit Hülfe feines Oheims, eines 

1870. 24 


hageſtolzen Sonderlings, gegen ben Willen feiner im 
Banerngeldftolz befangenen Aeltern ein armes, aber bra- 
ves und tüchtiges Mädchen zur Frau. Woldeck, in ein 
Fräulein von Rhinow verliebt, findet biefelbe als eman« 
cipivtes Weib wieder, das mit dem Abvocaten Willenberg 
in die Welt Hinausreift, ein Kind bekommt und heimlich) 
zurüdläßt, nachher vornehme Frau und fromm und gut 
confervativ wird; er felbft bleibt nach diefer Erfahrung 
unverheirathet und erzieht die aufgefuchte und in fein Haus 
aufgenommene Tochter feiner einftigen Geliebten. Die Els⸗ 
beth findet er todt; von ihrem Herrn Isbert verführt und 
dann verftoßen, hat fie einen Knaben hinterlaffen, der 
trog Wolded’8 Borforge ein mit Gott und der Welt zer- 
fallener, Bagabund wird. Darauf werben wir des Nähern 
in die Familien Skine und Isbert eingeführt, zweier 
reihen Yabrilanten, die gleich geldftolz, hochmüthig, hart⸗ 
berzig und erbürmlich find, nur daß Isbert noch den 
Scheinheiligen fpielt. Diefer, zuerft durch einen un⸗ 
gerathenen Sohn gedemüthigt, wird in der Nevolution 
gänzlich geſtürzt. Jener wird nach allerlei Prüfungen 
durch einen curiofen Stiefbruder, den Amerikaner Walter, 
zur Bernunft und Humanität zurüdgeführt. Willenberg 
fallt in der badifchen Revolution. Die gereinigten Fa⸗ 
milien blühen in ihren Kindern fort. 

Was die Zendenz fein fol, verftehen wir nicht recht: 
jedenfalls wird eine gut confervative und loyal⸗ monarchifche 
Geſinnung als da8 Rechte gelehrt; im übrigen erfcheinen 
fo ziemlich) alle Elemente, mit Ausnahme des im der 
Doppelfamilte Woldeck gefeierten Adels, in fchlechtem Licht. 
Die gelöftolze Bourgeoifie und Yabrilantenklaffe zeigt in 
ben Skine und Isbert fo ziemlich ihre fchlechteften Exem⸗ 
plare, die Arbeiterwelt erfcheint in Lumpen, die Revo⸗ 
Iution führt uns nur ihre carifirt-vagabundirenden Aus- 
wüchſe vor, and) die Reaction hat verehrt über die Schnur 
gehauen. Was ſoll denn Recht und Beftand Haben? Wir 
gehen umnbefriedigt vom ganzen Zeitbilde meg. 

Eins aber erfrent und ift allerdings hoch anzuſchla⸗ 
gen, nämlich eine am „Patinenpapa”, „Tantchen Unver⸗ 
zagt”, Waller u. |. w., vor allen aber an ben Stine geübte 
meifterhafte Perſonencharakteriſtik. Man fehe ſich einmal 
folgende wie ausgemeißelte Figur an: 

Hr. Stine war ein Mann von mittlerer, gebrungener 
Geſtalt, mit einem runden, rothen Geficht und einem berans- 
fordernden Blick, mit einem ſchwarzen Badenbart, welcher in 
Hufeifenform an feinen Mundwinkeln auslief und auf den er 
fehr viel zu halten ſchien, denn jeden Augenblid fuhr er fid) 
mit einer gewiffen Kofetterie mit den Fingern durch denfelben, 
und zum Ueberfluß hatte er auch noch die urſprüngliche röth- 
liche Farbe defjelben auf künſtlichem Wege in ein glänzendes 
Schwarz verwandelt. Hr. Stine war der Egoifl vom reinften 
Wafſer, und wenn man ihn mit ausgefpreizten Beinen, den 
Kopf herausfordernd zurückgeworfen und beide Hände in den 
Hofentafchen, auf dem Piedeflal ftehen ſah, welches er fich in 
jeinem Hochmuth und feiner Eitelkeit felbft errichtet hatte, fo 
gewann man die unfehlbare Weberzeugung, daß alle übrigen 
Menſchen nur dazu da feien, um ftaunend zu der Höhe der 
Unfehlbarkeit, auf deren oberfter Spite Hr. Stine fand, empor- 
zubliden. In der That, es gehört eine andere Feder als die 
unfere dazu, um die Erhabenheit zu befchreiben, mit welcher 
Hr. Stine durchs Leben ſchritt, und die Blicke zu ſchildern, mit 
denn diefer würdige Repräfentant des Kapitals mit Mitleid 
und Geringihägung auf alle Menſchen herabblidte, welche das 
Unglüd hatten, fi) in Ermangelung einer Anzahl wohlgefüll⸗ 
ter Geldfäde auf andere Hülfsmittel fügen zu müffen, um 

48 


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378 


anftändig durchs Leben zu kommen. Hr. Stine durfte es ſich in 
feiner Erhabenheit und Unfehlbarteit jogar erlauben, mit dem 
Himmel zu rechten, wenn diefer e8 einmal unterlaffen hatte, 
feinen Wünfchen entgegenzufommen, oder wenn das Scidjal 
einmal fo verwegen geweſen war, ihm einen Stein in den Weg 
zu vollen, fiber weldyen ex hätte ftolpern können. Weshalb war 
es 3.8. nicht fhöne, reine Luft, wenn Hr. Skine in den Gar⸗ 
ten trat?... Hr. Sfine wollte doch den Morgen genießen, und 
es hätte deshalb jedenfalls reine Luft fein müffen — Pahl... 
Barum ſchien Hrn. Stine die Sonne ins Geſicht, während ihn 
dies doch incommodirte? Der Himmel hätte unflreitig daran 
denlen müſſen — Pabl... Weshalb fing es denn gerade an 


Die ſchwediſchen Nordfahrten. 


zu regnen, als Hr. Sline ausfahren wollte? Dies war ein 
umverzeihliches Bergehen, welches Hr. Sline nimmer vergeflen 
würde — Pah!... Weshalb fette fi ihm eine Mücke auf die 
Nafe? — Bahl... Warum incommodirte ihn jetzt eben eine 
Sliege? — Babl... Kurz, Hr. Stine war aus lauter Pahs 
zufammengefett, und bei jedem Pah wurde fein Blick hoch⸗ 
müthiger und niederfchmetternder u. f. w. 

Glänzend, vortrefflih! Solder Pah⸗Skines gibt e8 
beutigentags auf Schritt und Tritt, nur find fie in ber 
Regel noch unverbefjerlicher als unfer Muſterexemplar. 

3. 3. Gonegger. 





Die Schwedischen Nordfahrten. 


Die ſchwediſchen Expeditionen nad Spigbergen und Bären- 
Eiland, amsgeführt in den Jahren 1861, 1864 und 1868 
unter Leitung von DO. Torell und A. E. Nordenſkisld. 
Aus dem Schwebilhen überſetzt von 2. Baffarge Nebft 
9 großen Anfichten in Tondruck, 27 Illuſtrationen in Holz 
fchnitt und einer Karte von Spipbergen in Farbendruck. Jena, 
Coſtenoble. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 

Spitzbergen, ſo hat man mit Recht geſagt, iſt heut⸗ 
zutage bekannter und beſſer erforſcht, als manche Land⸗ 
ſchaft auf dem europäiſchen Continent. Nachdem die Zeit 
der großen Fiſcherei dort vorüber, das Vorkommen der 
Walfiſche ein ſeltenes geworben war, Hatte jene Inſel⸗ 
gruppe für die große Menge ihr Intereſſe verloren. 
Wiſſenſchaftlich waren bort jedoch noch wichtige Aufe 
gaben zu löſen und mit danfenswertbem Eifer haben die 
Schweden dies aud) gethan. Ihnen log ja Spigbergen 
recht eigentlich vor der Thür; von Tromſö in Norwegen 
bis zur Sübfpige jenes arktifchen Landes beträgt die Ent⸗ 
fernung in geraber Linie nur 100 deutſche Meilen, und 
biefe wurben alljährlich oft felbft von Heinen Fifcherbooten 
zurüdigelegt, die auf den Robbenſchlag auszogen. Inner 
halb des legten Decenniums haben denn die Schweden 
nicht weniger als vier Expeditionen nach Spigbergen ge» 
fandt: im Sommer 1858 die kleine Recognofcirungsfahrt 
von Torel, Duennerftedt und Nordenftiäld; dann 1861 
mit Unterflügung der Regierung und ber Akademie ber 
Wiffenfchaften die vortrefjlich ausgerüftete Expedition des 
Heolus und der Magdalena mit einem Gtabe von 
elf Gelehrten. Zu ben vielen Aufgaben, welche diefer 
zweiten Spigbergenfahrt geftellt waren, gehörte eine vor⸗ 
läufige Aufnahme fir die fpätere Meflung eines Meridian- 
bogen® durch die ganze Länge der Infeln; aber wegen 
ungünftiger Winde und der Tage des Eiſes Tonute man 
diefe Aufgabe nicht vollftändig löſen und es wurde daher 
1864. eine neue Expedition unter Nordenffiöld auf dem 
Schiffe Arel Thordſen ausgefandt. Diefen beiden Ey- 
peditionen, die unter anderm ausgedehnte geographijche 
Meffungen und Beobachtungen anftellten, verdanlen wir 
eine neue Karte Spitbergend. Als dann die Norbfahrten 
eiffiger in Gang famen, wurde 1868 der Dampfer Sofia 
abermals in die norbifchen Gewäfler gefandt. Er war 
gleichzeitig mit der Deutfchen Erpedition bei Spitzbergen 
und erreichte die höchſte mit einem Schiffe gegen Norden 
gewonnene Breite 81° 42°. 

In dem vorliegenden Werke nun ift die erſte Recog⸗ 
nofeirungsfahrt nicht berührt, die Expedition von 1868 
nur fehr kurz und vorläufig, fogar kürzer als ber fchon 


in Deutfchland publicirte Bericht bes Kapitäns von Otter. 
Titerarifch genommen ift die Arbeit gerade fein Meifter- 
ftüd, denn fie wirft zufammengehörige Gegenſtände aus 
einander, behandelt ein unb diefelbe Sache oft an em 
Dutend , verjchiebenen Stellen, ftatt fie ein für allemal 
abzumachen. Seehunde, Walroffe, Eisbären, Henthiere, 
Gletſcher, Eis u. f. w., alles wird zerftveut, nirgends in 
abgerundeten Bildern befprodhen. Das ermüdet oft; aber 
trogdem ift das Buch durch die Fülle bes gebotenen und 
viele hübſche, äußerſt anfprecjende und auch gut geſchil⸗ 
derte Partien immerhin zu ben befiern über die Polar« 
regionen zu rechnen. Die Ausflattung, im ganzen trefi- 
Ti), leidet doch an Mängeln. Hierhin rechnen wir eine 
Anzahl der in den Text gebrudten Holzjchnitte, welche 
(S. 129, 136, 257 u. ſ. f.) in Zeihnung und Aus- 
führung fo ſchlecht find, daß fie noch aus der Zeit 
zu ftanımen fcheinen, in welcher die Zylographie in ben 
Kinderſchuhen ftand; aber die größern Bilder find gut. 
Endlich die Karte. Sie flammt aus Petermann’s Er⸗ 
gänzungsheft Nr. 16 vom Jahre 1865. Seitdem if 
unfere Kenntniß Spigbergen® wefentlich vermehrt worden. 
Es fehlen die Ergebniffe ber Expedition von 1868 daher 
gänzlich, mithin die Kichtigftelung der innern Theile des 
Eisfjords, des Forelandſunds, der Liefbebai; es fehlen die 
deutfchen Eorrecturen im füblichen Theile der Hinlopen⸗ 
frage. Das find unfere Ausftellungen. Gehen wir nun 
auf einzelnes ein. 

Die große Trage, welche bei allen Norbfahrten zu- 
nächſt in Betracht fommt, ift jene: Gibt es eim offenes 
Polarmeer oder nicht? und Hierin flehen fi bekanntlich 
zwei Anfichten fchroff gegeneinander über. Die Schwes 
on fagen „Rein“, bie Deutfchen „Ja“. Zorell fchreibt 
(S. 117): 


Manry Bat aus rein tbeoretifchen Gründen zu beweifen 
geſucht, daß das Polarmeer offen und fchiffbas fe. Petermann 
trat ihm bei und bezog fid) auf die bis dahin gemachten Er» 
fahrungen. Mit Ausnahme von Kane und Hayes hat indeffen 
feiner von den Männern, welde ſelbſt das Polareis beobachtet, 
diefe Anficht getheilt. Im Gegentheil, Sir Leopold M’Elintod, 
vieleicht die erfte Autorität auf dieſem Gebiet, hat die Eriftenz 
eines offenen Polarmeers beſtimmt in Abrede gefiel. Die 
aufgeſtellte Theorie ift indeffen, infolge des großen, wohlbegrün⸗ 
beten Anfehens der Männer, welche fie adoptirt haben, zu einer 
wichtigen Streitfrage in der Wiffenfhaft geworden und kann 
nur auf empiriſchem Wege gelöft werden. Ich fe meinen 
Theil bie durch die für die Eriftenz eines Polarmeers ange 
führten Gründe nicht überzeugt, und dba meine erſten Eindrücke 
und Wahrnehmungen in Spigbergen flir das Gegentheil fprachen, 


—— — — — — — — — — — — — — 


Die ſchwediſchen Nordfahrten. 379 


ſchloß ich mid unbedingt der Anficht au, daß das nördliche 
Polarmeer mit Eis bedeckt, obwol nicht ohne größere und geringere 
offene Stellen fei. 


Noch fchärfer fpricht Nordenſkiöld fih aus, welder 
bie Borftellung eines offenen Polarmeers „offenbar eine 
nicht haltbare Hypotheſe“ nennt. Nach ihn ift der einzige 
Weg, den man mit ber Ausficht den Pol zu erreichen 
betreten mag, der von den Englänbern vorgefchlagene: 
nad einer MUeberwinterung im nörblihen Spitbergen 
oder im Smithjunde, im Frühjahr auf Schlitten nord- 
wärts borzudringen. 

Wenn wir volle Auftlärung liber bie ſchwebende Frage 
auch erft auf dem Wege der Thatfachen erwarten dürfen, 
fo geziemt es uns doch, die minbeftens ebenfo beredhtig- 
ten Anfichten unfers bier angegriffenen Landsmanns kurz 
zu recapituliren. Nach Petermann ift das Meer zwijchen 
Spigbergen und dem Nordpol ein ebenfo ſchiffbares als 
bas am Südpol jenfeit des 66° ſüdl. Br., welches ein fo 
ausgezeichneter Seefahrer wie Cook als „undurchdringlich 
und als eine bis zum Pol reichende fefte Eismaſſe“ an» 
nahm, welches aber Roß 12 Breitengrade über 66° Hin- 
aus, in einem größern Raume als dem zwiſchen Spih- 
bergen unb dem Nordpol, ſchiffbar fand. Wie die ſchwe⸗ 
difchen Forſcher fprechen, fo ſprach and) Cook, bis ein 
tätiger Mann wie Roß kam und die alten Vorurtbeile 
zerſtörte. Das Urtheil der Schweden ſtand feft, ſchon 
ehe fie 1868 mit der Sofia nach Norden vorzudringen 
fuchten. Aber was beweift das? Lütke, der berühmte 
ruſſiſche Admiral, der vor emigen vierzig Jahren auch 
zwiſchen Nomwaja-Semlja und Spisbergen nad Norben 
ſchiffen wollte und umkehren mußte, fagt ganz richtig, 
daß vereinzelte Berjuche nichts beweifen, und Meteorologen 
erften Ranges treten aus wifjenfchaftlichen Grlnden 
unbedingt für Petermann ein. Doch laſſen wir bie 
Controverfe und betrachten wir bie wichtigften Ergebniffe 
der Expeditionen. 

Faſt alle Karten Spitzbergens, bie bisher vorlagen, 
berudten auf alten Zeichnungen und Aufnahmen, die vor 
hundert und mehr Jahren von holländifchen und englifchen 
Walfiihjägern gemacht waren. Sie erſchienen ſtümper⸗ 
baft, und find nun durch Duner's und Nordenſtidld's 
dem Buche beigegebene Karte erfegt, die, wie ſchon bes 
merkt, durd) die Aufnahme von 1868 noch einige wefent- 
Tiche Berbefferungen erhalten hat. Die Karte beruht auf 
aftronomifchen Beobachtungen, welche an 80 verfchiedenen 
Küfenpunften mit guten Inftrumenten ausgeführt wur- 
den. Auch wurde das halb fagenhafte Land im Often 
von Spigbergen, Gillisland, von bem 3000 Yuß hohen 
Weißen Berge gejehen und in bie Karten eingetragen. 
Es war ſchon von bem norwegifchen Walroßfänger Carl- 
en und dem aberdeener Fiſcher Birkbeck gefehen, dann, 
— wir hinzu, 1868 von Kapitän Koldeway. Es iſt 
ſomit vorhanden, wenn auch noch keineswegs erforſcht. 
Eine andere Frage iſt die, ob im Norden von Spitzbergen 
fich noch ein unbekanntes Land findet? Auf deſſen Da— 
ſein kann wenigſtens dadurch geſchloſſen werden, daß im 
Frühjahr große Scharen von Vögeln von den SKüften 
Spitzbergen aufbrechen und nach Norden ziehen. Wohin 
nehmen biefe alfo ihren Flug? Die Söhe der fpigen 
Berge, weldie dem Lande ben Namen geben, ift durd) 


die Schweden beflimmt worben. Unter den gemeflenen 
Gipfeln ift ber Hornfund-Pil mit 4560 Fuß englifch der 
hochſte. Aus den Erceurfionen, bie vielfach ins Innere 
gemacht wurden, ergab ſich, daß biefes ein ebenes, nur 
bier und da von Felfen unterbrocdhenes Eisplateau, bildet, 
das feinen Abflug durch die riefigen Gletſcher hat, welche 
faft überall an den Küſten in das Meer niederftürzen 
und in den Polargegenden die Rolle der Flüſſe milderer 
Zonen übernehmen. 

Befondere Bereicherung haben die Geologie und Mi- 
neralogie, die Zoologie und Botanik Spigbergens erfahren. 
Stark magnetiſche Gefteine, welche in verfchiedenen Thei- 
fen in ungehenern Maſſen vorlommen, machen jene Ge- 
genden ungeeignet zu magnetifchen Beobachtungen, befon- 
ders in der Hinlopenſtraße, wo große Maſſen flarf 
magnetifchen Hyperits, abwechfelnd mit Kalle und Sand⸗ 
feinen, auftreten. in Yängerer Aufenthalt auf Spitz⸗ 
bergen würde mit großen Schwierigkeiten verbunden fein, 


wenn man nicht an vielen "Stellen Treibhol; und na- 


mentlich Kohlenlager anträfe. Das reichte Kohlenlager 
bat Blomftrand am Kohlenhafen in der Kingbai gefunden. 
Es befindet fi) unfern der Küfte, ift horizontal und Liegt 
zum Theil frei, bietet alfo Dampfern Gelegenheit, ihre, 
Borräthe zur ergänzen. 

Am Saurierhoof und andern Stellen wurde die Trias⸗ 
formation, die bei uns in Schwaben und Thüringen am 
beften entwidelt ift, nachgewiefen, mit Neften von unter 
gegangenen Rieſeneidechſen. Weber bie foffilen Pflanzen 
Spitbergens, welche bie Schweden mitbrachten, hat der 
befannte jchweizer Baläontologe Oswald Heer eine mufter- 
gültige Abhandlung geliefert. 

Was die lebende Pflanzenwelt angeht, fo wurden, ab» 
gejehen von Moofen, Algen, Flechten, Pilzen, gerade 100 
höhere Gewüchſe aufgefunden, von denen faft die Hälfte 
auch in den PByrenüen, den Alpen, dem Kaukaſus, den 
Gebirgen Perfiend und Tibets und im SHimalaja vor⸗ 
fommen, gewiß ein wichtiges Ergebniß für bie Verbreitung 
der Gewächſe. Auf dem niedrigen Lande fchmilzt übri— 
gens der Schnee im Sommer vollftändig, dann grünt die 
nordifhe Zmergvegetation, die an einzelnen Stellen bis 
zu 2000 Fuß Höhe Hinaufgeht, im allgemeinen jedoch 
beginnt die Grenze des ewigen Schnees bei 1500 Fuß. 
Wir finden in dem Werke fehr Lebhafte Schilderungen 
der ungeheuern Bogelmengen, bie in thatfächlich unabfeh- 
baren Scharen, ein auf Stunbenweite hörbares Gefchrei 
berurfachend, an den Uferflippen niften und buchſtäblich 
gleich Wolken die Sonne verfinftern, wenn fie anffliegen. 
Die ſchöne Eiderente ift infolge der raſtloſen Nachftel- 
lungen dem Ausfterben nahe, auch das Walroß wird fel- 
tener, da es von den Fiſchern allzu fehr verfolgt wird. 
Das Renthier — eine eigene Spielart auf Spitzbergen 
bildend — gibt die wichtigfte Fleiſchnahrung ab und zum 
Glück eriftiren dieje ftattlichen Thiere dort noch im großer 
Zahl. Man fieht fie in allen Theilen des Landes von 
den Steben Inſeln im Norden bis zum Südcap gelegent- 
lich; nur im Nordweften erfcheinen fie felten. Polar- 
bären treten am Bäufigften im Norden und Often auf. 
Wenn der Eisbär nicht kurz vor feiner Erlegung von 
einem balbverweiten Seehund gefrefien bat, jo ift fein 


Fleiſch, obwol etwas grob, doch ſchmachhaft und keineswegs, 


48 * 


380 


wie ältere Keifebefchreibungen angeben, der Geſundheit 
nachtheilig. Wer Vergnügen an Bürenabentenern hat, 
findet im vorliegenden Buche vollauf Befriedigung. 

Die Fiſche find von Malmgren bearbeitet worden. 
Sie kommen an den Küften nur in geringer Anzahl vor, 
und man fann nicht darauf rechnen, aus biefer Quelle 
einen Beitrag zur Tafel zu erhalten. Weiter nad) Sü—⸗ 
den, nad) der Büreninfel hin, bietet die Fifcherei aber 
eine unerfchöpfliche Duelle des Reichthums. Wir Tennen 
jest 22 Meerfifche, unter denen ein Heiner Hai, der 
Haaljäring, vortrefflichen Leberthran liefert. Heiligbutten, 
Dorſche, Schellfifche, Marulten können in ganz ungeheuern 
Maſſen gefangen werben. Es unterliegt gar keinem Zwei- 
fel, daß diefe Vorräthe einft ausgebeutet werden, ja es 
ift anzunehmen, daß bie Norweger, denen jenes Meer 
vor ber Thür Liegt, ihre Rechnung dabei finden werben, 
zumal wenn fie auf der Bäreninfel (Füblich von Spitzbergen) 
eine Station errichten. Am intereffanteften ift Yolgendes. 
In der Umgebung der Aldert-Dirkfes-Bucht fanden die 
Schweden einige Süßwaflerfeen, und in dieſen präd- 
tige Lachsforellen, diefelbe Art, die in unfern Alpen 
borlommt. 

Man fieht fchon aus obigen kurzen Anführungen, 
daß es nicht an Leben und Reichthum in jenem arktifchen 
Lande fehlt. Wenn doch exft die falfchen Borftellungen 


Bom Büchertiſch. 


von todten Eiswüſten, unerträglicher Kälte u. ſ. w. ver- 
Ihwinden möchten, die fo vielfach mit den Borftellumgen 
von den Polargegenden verfnüpft find! Die Lektüre der 
ſchwediſchen Nordfahrten wird gewiß dazu beitragen, und 
da auch fejlelnde perfönliche Abenteuer nicht fehlen, fo 
wird gewiß niemand das Bud, unbefriedigt ans der 
Hand legen. Aufgefallen ift uns nod der ftarfe Slan⸗ 
dinavismus, ben die Erpeditionsmitglieder bis in die arfe 
tifchen Regionen Hineingetragen haben. In der Moffal- 
bai feierten fie das ihmen allen heilige Yohannisfeft, fie 
zündeten ein Freudenfeuer von Zreibholz au, einen ge- 
waltigen Balderbäl, und ließen die jtandinavifchen Flaggen 
im uordifhen Winde wehen. Auf einem mit Flechten 
überzogenen Felsblod wurde dann Renthierbraten fervirt 
und Skandinaviens Wohl getrunken: 

Es war ein echt flandinavifches Feſt, unvergeßlich flir je—⸗ 
den, ber daran theilgenommen. Die vier nordiſchen Bölfer: 
Schmeden, Rorweger, Dänen und Finnen waren bier vertreten, 
und ſelbſt Lappländer fehlten nit. Der Scheiterhaufen, die 
Sohannisftange und die feltfame vom Feuer beleuchtete Geſell⸗ 
haft, der Hügel mit den alten Gräbern, das unüberſehbare 
Padeis, über welchem die Mitternacdhtsionne recht im Norden 
an dem wolfenfreien Himmel ftrahlte, mild und verheißend — 
diefes alles bildete ein wunderbares Gemälde, das mit feinen 
Contraften einen unauslöfchlichen Eindrud auf uns made. 

Richard Andree. 


Vom Büchertifc. 


1. Die nächſten Aufgaben für die Nationalerziehung ber @egen- 
wart mit Bezug auf Friedrich Fröbel's Erziehungsiuften. 
Eine teitifch päbagogifcie Studie von 3. H. von Fichte. 
Berlin, Lüderitz. 1870. ®r. 8. 8 Nor. 

Die päbagogifche Literatur wächſt von Jahr zu Jahr. 
Auch auf unſerm Büchertiſch nimmt fie einen beträcht⸗ 
lichen Raum ein, und nicht die ſchlechteſten Leſefrüchte find 
es, die wir aus der Lektüre des pädagogiſchen Theils die⸗ 
ſes Büchertiſches davontragen. In vorliegender Schrift, 
die der Wiederabdruck einer im Juliheft 1869 der „Deut⸗ 
ſchen Bierteljahrsfchrift‘ erjchienenen Abhandlung ift, tritt 
die Philoſophie für die Tröbelfchen Ideen ein. Fröbel 
war, wie Fichte richtig hervorhebt, wie alle genialen Er⸗ 
finder und inftinetiv Begeifterten, ſelbſt unfähig, feinen 
tiefen und wahren Grundgedanken die volljtändige willen 
Schaftlihe Form und eben damit die durchgreifende Klar⸗ 
heit zu geben, welche das eigentlich Entfcheibende defiel- 
ben, frei von allem Beiwerk und angeflogenen Yormel- 
weſen hingeftellt hätte Daß eine große püdagogifche 
Mojorität und darunter auh Immanuel Fichte in Frö⸗ 
bel's Lehre den einzig richtigen Ausgangspunft für die 
Nationalerziefung der Gegenwart findet, ift begreiflid. 
Fröbel fand, daß das Spiel das Vorbild und Nachbild 
des gefammten Menfchenlebens ift; er betonte zuerft mit 
Nachdruck, dag das Kind unter den Einflüffen der Natur 
groß werden müſſe unb eben bie große Bedeutſamkeit die- 
fer Lehren weiß Fichte jehr richtig Hervorzuheben. Wenn 
der berühmte Sohn eines berühmten Philofophen erklärt, 
daß Fröbels Erziehungsmarimen fortan die leitenden 
Grundfäge der Staatspädagogif werben müßten, fo Hat 
diefer Ausfpruch weitgehende Tragweite; er conftatirt auch 


eben wieder, daß eine neue Weltepoche naht, für melde 
die alten Formen der Erziehung fich ungenügend erweiſen. 
2. Pudagogiſche Wanderungen von A. Wittſtock. Kaffel, 

C. Ludhardbt. 1870. Gr. 8 1 The. 

Der Berfaffer Hat in verjchiedenen europäifchen Rän« 
dern und an den verfjchiedenartigften Schulen als Lehrer 
gewirkt. Daß durch diefe felbftverftändlich reichen Erfah- 
rungen das vorliegende Buch ein doppeltes Intereſſe ge⸗ 
winnt, ift natürlich. Befonders das erfte fittengefchichtlich und 
pädagogisch interefjante Bild: „Eine pädagogifche Schwei« 
zerreife”, fellelt durch die Wahrheit einer urſprünglichen 
Anſchauung. Dabei Tennzeichnet den Autor ein verftän- 
diger Bli fir Literarifche und culturhiftorifche Zuſtände, 
jowie er fi aud durch eine ſehr belebte Schreibweife 
beim Leſer beftens einzuführen weiß. Die „päbagogifchen 
Briefe aus Paris” zeigen, daß die Franzoſen im Felde 
der Schulerzichung und bed Volksunterrichts noch viel 
von den Deutfchen Iernen können. So ift der Unterridt 
in Geſchichte und Geographie eine der ſchwächſten Seiten 
des franzöfifchen Unterrichts; die neuefte Gefchichte Franlk⸗ 
reichs beſonders wird, wie zu erwarten ift, tendenzibs 
entftellt. Auf einem päbagogifchen Ausflug nad) Eng- 
laud Hat Wittftod wieder Gelegenheit, die Wahrnehmung 
zu machen, daß in England die Kenntniß der Pädagogik 
als einer felbftändigen Wiffenfchaft noch ganz fehlt. Gegen 
den Schluß feines Werks ftellt der Berfaffer mehrere 
Hauptpunkte für ein allgemeines deutſches Schulgefeg auf. 
Wie weit diefe Thefen Berüdfichtigung finden werben, ift 
abzuwarten; jedenfalls zeigt Wittftod, daß er zu be. 
obachten und zu berichten verfteht, ein Vorzug, den nicht 





Vom Büchertiſch. 


alle deutſchen Pädagogen in fo hervorragendem Maße 

als der Berfaffer der ,„‚Püdagogifchen Wanderungen” 

befigen. 

3. Aus Diefterweg’8 Tagebuch von 1818-22. linter Zur 
fimmung der Familie herausgegeben von E. Langenberg. 
Frankfurt a. M., 3. &. Hermann. 1870. 

Goldene Worte, die der jüngere Mann in Frankfurt, 
Elberfeld, Mörs aufzeichnete. Langenberg hat das Ber- 
dienft, die körnige Lebensweisheit diefer Aufzeichnungen 
dem jüngern Gefchlecht übermittelt zu haben. Eine tiefe 
Religiofität ſpricht aus diefen Zeilen, die nicht nur fr 
den Pädagogen, auch für den Piychologen von tiefgehen« 
dem Intereſſe fein müſſen. Leider ift unfer Raum zu 
befchränft, um aus dem reichen Vorrath diefer Tagebuch⸗ 
notigen ein paar Aphorismen als Proben herauszunch- 
men. Praktifche Winke für den Lehrer und den Erzieher 
finden fi darin genug. Wir können bier nur mit dem 
Herausgeber zur Lektüre einladen und den Wunſch hegen, 
daß biefelbe dem Lefer reiche Früchte fchaffen möge! 

4. Wie mir’s erging. Antobiographiſche Sklizzen von Augufl 
Biegand. Halle, Nebert. 1870. 8. 20 Nur. 

Der Selbftbiograph, ehemals Lehrer der Mathematik 
and Raturwifjienfchaften an mehrern höhern Unterrichts- 
anftalten der Provinz Sachſen, ift jetzt technifcher Director 
ber Lebensverfiherungs-Gefellihaft Iduna zu Halle an 
deu Saale. Es ſcheint ihm nad) langen Kämpfen und 
Sorgen gelungen zu fein, in einen friedlichen Hafen, ber 
ihm eine behagliche Eriftenz fichert, einzulaufen. Seine 
Autobiographie bietet nichts Ungewöhnliches, nichts originell 
Empfundenes, nichts neu Gedachtes; es ift das Lebens⸗ 
ſchickſal eines deutfchen Lehrers, der, wie Zaufende feiner 
Collegen, fiir fchwere Mühe und Geiflesarbeit fchlechtes 
Brot erhalten Hat und der mit deuticher Geduld doch 
unabläffig bemüht gemwefen ift, fein Amt treu und ge- 
wifienhaft zu verwalten. Preilih hätte derjelbe ohne 
ſchriftſtelleriſche Thätigkeit, die fih in der Abfafjung 
mathematifher und naturhiftorifcher Lehrbücher äußerte, 
wol kaum fein und ber Seinen Leben friften können. Die 
Honorare deutſcher Buchhändler, unter denen Philipp 
Reclam in Leipzig ſich vortheilhaft auszeichnete, find hier 
wieder im ihrer lächerlichen Winzigfeit erwähnt; nichte» 
deftoweniger fchreibt der unermübliche Autor Iuftig darauf 
fort, bis e8 ihm gelingt, in der Verſicherungsbranche eine 
Schriftftellerifche Autorität zu werden. Als der Sohn 
eines armen Bauern bat er fi rüftig in die wiſſenſchaft⸗ 
liche Laufbahn Hineingearbeitet; befonders für den prafti- 
fchen Lehrer werden die auf ©. 62— 71 mitgetheilten 
Erlebniſſe nebft den daraus gezogenen Refultaten hochſt 
Iehrreich fein, 

5. Religion und Chriftentfum. Sechs Borträge gehalten von 

WBilhelm Müller. Berlin, Henfchel. 1870. 8. 24 Nur. 
Bon dem Linken Centrum bes Proteflantismus kommt 

die vorliegende Schrift, aber fie Fämpft nicht mit den 

meift beliebten Angriffswaffen der proteftantifchen Rechten. 

Der Berfafler denkt jehr Har und wie er fich felbit Ge⸗ 

wißheit über das Weſen der von ihm beantworteten Fra⸗ 

gen verjchafft Hat, fo ift es ihm auch darum zu thun, 
feinen Leſern eine folgerechte Entwidelung des veligiöfen 

Begriffs, der dem Autor mit dem chriftlichen nicht überall 


381 


ibentifch ift, zu geben. Die Kirche, bie der geiftuolle Ver⸗ 
faffer im Sinne hat, beruht auf echter Frömmigkeit und 
innerfter Hingebung an das chriftliche Gottesbewußtſein; 
fie fucht und gibt für den fittlichen Ausbau des Lebens 
auf allen Gebieten Kraft. Und fo kommen biefe Unter- 
fuchungen auf den Entfcheid, daß die Kirche der Zukunft 
weder Kirchenftaat noch Staatskirche fein dürfe: fie gehen 
alfo auf das Ziel jeder unabhängig denkenden Theologie, 
auf bie freie Kirche hinaus. 

6. Gedächtnißrede auf Alerander von Humboldt. Im Auftrage 
der Töniglichen Alademie der Wiffenfchaften zu Berlin ge- 
halten in der Leibniz⸗Sitzung am 7. Juli 1859 von C. ©. 
Ehrenberg. Berlin, Oppenheim. 1870. ©r. 8. 10 Ngr. 
Bei weiten die bebeutendfte und intereffantefte lite⸗ 

rarijche Leiftung auf unfern heutigen Büichertifch ift Ehren. 

berg’8 Gebächtnißrede auf den damals eben verfchiedenen 

Neftor der Naturmwiffenichaften. Mit feinem Blick für 

Perſonen und Zuftände, mit liebevollem Eingehen auf die 

Iugendgefchichte des großen Geiftes, deffen Säceularfeier 

wieder in erneuertem Maße die öffentliche Aufmerkſamkeit 

anf feine Lebensumftände gerichtet bat, fchildert der. be= 
rühmte berliner Naturforfcher, wie fein anderer dazu bes 
rufen, beſonders eingehend die drei erften Decennien von 

Alerander von Humboldt'8 Leben. Zum Theil verdanken 

wir eine Menge intereflanter Specialnotizen den Briefen 

Alexander von Humboldt's an den fpäternsöniglich füchftfchen 

Berghauptmann Freiesleben, welche in bie Zeit der neun- 

jiger Jahre fallen und aus denen Ehrenberg mehrere Aus- 

züge mittheilt. Ueberall zeigt fi uns der Schöpfer bes 

„Kosmos“ als ein warm empfindender, fehnell faflender 

und alles umfaffender Geift, der fchon in früher Jugend 

die Seime feiner fpätern Größe zeigt. Es ift neben dem 

Neuen zumeift der angeregte Ton, den Ehrenberg’8 „Ge⸗ 

dächtnißrede“ athmet und der feinerfeitS eine anregende 

Wirkung auf den Leſer nicht verfehlen dürfte. 

7. Bon der Univerfität. I. Die Dortoren-Collegien. II. Er« 
innerung an die Doctoren: Karl Freih. von Hod und 
M. Hörmes; Victor Aime Huber und Heinrich Ritter. Bon 
: Fi Bollinger. Bien, Mayer und Comp. 1869. Gr. 8. 


Die berechtigte Eigenthlimlichkeit der Doctorencollegien 
an der wiener Univerfität legt dem fcheidenden Dekan ber 
philofophifchen Facultät die Pflicht auf, ein Refumd ber 
wichtigern Borkommnifje feiner Yunctiongzeit zu verdffent«. 
lichen. Hoffinger hat, als er das Dekanat fiir das ver- 
flofjene Jahr niederlegte, jener Pflicht entfproden. Er 
ift einmal für die Organifation, beziehentlich Reorgani⸗ 
fation der beftehenden Doctorencollegien eingetreten, und 
darüber ift Hier nicht der Ort, mit ihm zu rechten; er 
bat aber andererfeits in den Nekrologen vier dahingeſchie⸗ 
dener Mitglieder des Collegiums einen danlenswerthen 
Beitrag zur Gefchichte der Wiffenfchaft in Defterreich 
gegeben. Der Mineraloge Dr. Morig Hörnes (1815—68), 
der Gefhichtjchreiber und Staatsmann Karl Freiherr von 
Hod (1808— 68), der geiftreiche Publicift und Touriſt 
Bictor Aime Huber (180069), endlich ber göttinger 
Philoſoph Heimih Ritter (1791 — 1869), fie alle (zu- 
mal Huber, deſſen Lebensabriß ſehr ausführlich behandelt 
ift) erhalten in ben biographiſchen Ausführungen Hoffin⸗ 
ger’3 ein würdiges literarifches Denkmal, das um fo mehr 


382 Vom Büchertiſch. 


allgemein intereſſiren wird, als die beiden letztgenannten 
Männer auch über die Grenzen Oeſterreichs hinaus ſich 
eines weitverbreiteten Namens erfreuten. 


8. Semmlung gemeinverſtändlicher wiſſenſchaftlicher Borträge 
heransgegeben von R. Virchow und Fr. von Holgen- 
dorff. ierte Serie. Heft 3— 98. Berlin, Lüderitz. 
1870. &r. 8. Jedes Heft 5 Nor. 

Heft 93. Das Eifenhlittenwefen. Erſte Abtheilung: Die Er- 

— bes Roheiſens. Bon H. Wedding Mit 2 Holz⸗ 
nitten. 


Nachdem uns der Verfafler über das Eifen und feine 
Berbindungen des Nähern belehrt hat, kommt er fpeciell 
anf die Erzeugung des Roheiſens zu fprechen, welches bie 
Grundlage für die Darftellung aller Sorten Eiſen ifl, 
mit mas für Eigenſchaften nder Formen biefelben aud in 
ben Berkehr treten mögen. Er zeigt ung fehr anfchaulid) 
die Procefje, welche zur Austreibung ber Waſſer⸗ und 
Kohlenſäurt aus den Eifenerzen führen; fo fchildert er 
die Röftung in ben Röftäfen und die für die Eifenhütte 
höchſt wichtigen Operationen der Verlohlung des Holzes 
und der Berlofung der Steinfohle. Die beigegebenen 
Holzſchnitte perbeutlichen ung bie Eonftruction ber Hoc» 
öfen, beren Thätigkeitserllärung ber leute Theil bes Vor⸗ 
trags gewidmet ifl. 


Heft M. Die Eitzeit der Erde. Bon Alexander Braun. 


Nachdem uns Prof. Zaddach in einem ber frühern 
gete die Tertiärzelt ber Erbe gefchildert, thut Alerander 
raun das Side mit der fogenannten Eiszeit. Einen 
rogen Raum bed Bortrags nehmen die Ermittelungen 
ohann von Charpentier's, weiland Salinendirectore zu 
Der im Waadtland, über die fogenannten erratifchen Blocke 
der Schweiz ein. Braun erflärt bei biefer Gelegenheit 
die Gletſcher nicht fitr Eisberge, ſondern Eisftröme, welche 
die Thäler erfüllen. Uebrigens finden ſich Spuren der 
Eiszeit and) im Norben Europas unb im Norden der 
Neuen Welt. Auf ber füdlichen Hemijphäre haben Dar- 
win und Hochſtetter nachgewiefen, daß bie dortigen Glet⸗ 
ſcher einft bis zum Meere herabgereicht haben. Daß die 
Wifienfchaft durch die Lehre von ber Eiszeit neue Ein- 
blide in die Vertheilung des Pflanzen- und Thierreichs, 
ja in die Urgeſchichte des Menfchengefchlechts jelbft Hat 
thun Lafien, geht aus Braun's anregendem Vortrag deut⸗ 
lich hervor, | 


Heft 95. Englands Preffe. Bon Kranz von Holgendorff. 


Bon der Behandlung naturwiffenfchaftliher Themen 
kommen wir zu einem Bortrage focialer Natur. ‘Der 
getviegte Kenner des englifchen Strafrechts und Gefüngniß⸗ 
weſens gibt uns einen Einblid in die Welt der englifchen 
Preſſe. Die einzelnen intereffanten Notizen über biefe 
Großmacht entziehen fich der detaillirten Berishterftattung, 
nur fo viel fei erwähnt, daß in England, anders als in 
Dentichland, die Wirkfamkeit bes Literaten in ihrer vollen 
ſtaatlichen Bedentung erlaunt wird, Holgendorff fagt: 

Die begabtefien Staatemfinuer veriämähen es nicht, in 
der Preſſe mitzuarbeiten an dem großen Werke einer niemals 
vollendeten Aufklärung. Der Dienft des Schriftflellers, der 
gewifienhaft prüft, bes Forfchers, der fein Wirken zum @e- 
meingut macht, iſt allemal ein Staatedienfl. Unermeßlich ift 


ber Nutzen, ben eine freie Preffe für England geftiftet hat und 

fortbauerub fiftet. 

Heft 96. Menſchen⸗ und Affenſchüdel. 
Mit 6 Holzichnitten. 

Die beiden Herausgeber der vorliegenden Sammlung 
haben Bintereinanber zwei wichtige Themata der Gegen- 
wart fi) zur Behandlung gewählt: Holgendorff die Zu⸗ 
flände der englifhen Preſſe, Virchow das vielbefprochene 
anthropologifche Thema, für deffen Erörterung die Schübel- 
formation meift den Ausfchlag gibt. Da ber Menſch 
nur einen vernünftigen Geiſt hat, infofern und infoweit 
er Gehirn befist, und letzteres wieberum nur, infofern 
er Wirbelthier ift, fo fpielt die Schädelbildung, aus welcher 
man auf das Gehirn zurückſchließen Tann, eine wichtige 
Rolle. Ueber Kielmeyer's, bes Vaters der vergleichenden 
Anatomie, und jMedel’8 Theorien kommt Virchow zu ber 
Darwin’fchen Lehre und fucht hier Karl Vogt's Ausben- 
tung der Darwin’fchen Thejen zu widerlegen. „Es liegt 
auf der Hand”, fagt Virchow, „daß durch eine fortſchrei⸗ 
tende Entwidelung des Affen nie ein Menfch entftehen 
fann. So ift der Mikrocephale wol ein durch Krankheit 
veränderter Menſch, aber Fein Affe.” Es führte Hier zu 
weit, die geiftvolle Virchow'ſche Beweisführung Glied an 
Glied zu wiederholen; es genüge, daß aus dem Vortrage 
die Thatſache hervor di ein Nachweis der Abſtammung 
des Menfchen vom } en fei bisjegt noch nicht geliehgrt 
worden. 

Heft 97. Mythos und Religion. Von H. Steinthal. 


Eine der Koryphäen der vergleichenden Sprachwifſen⸗ 
ſchaft gibt lichtvolle Aufſchlüſſe über das muthifche Den- 
fen und bamit den Schlüffel zu vielen Träumen ber 
Völkerkindheit. Den phyſiſchen Urſprung der Götter- 
mythen weift Steinthal als einen fpäterhin aus bem Zu= 
ſammenhang geriffenen und unverftandenen nad. So 
erlitt der Mythus allmählich das Schiefal, daß bie in 
den ober fi) fortwährend wiederholenden 
Thaten himmliſcher Perfönlichkeiten für einmalige Begeben⸗ 
heiten unter Gbttern oder Menſchen gehalten wurden. 
Die Menſchengeſchlechter, in denen ſich ſalcher Wandel 
des Mythus vollzog, blieben in ihrer Naivetät ohne jedes 
Bewußtſein darüber, daß in ihrem Geifte ſich etwas ge⸗ 
ändert babe, daß alte Erzählungen umgeftaltet worden. 
Daß aber auch der Mythus, der überall noch heute fort- 
lebt, auch religiös geworden iſt, zeigt bie zweite Hälfte 
des Steinthal'ſchen Vortrags, wenn auch nur im abftracter 
Weiſe. Die Befeitigung des Mythus aus ber Religion 
ftelt Steinthal als wlnfchenswerth hin, wenn er aud 
erffärt, daß Hier mit roher Bilderſtürmerei noch nichts 
gethan ift. 

Heft 98. Phyfioguomit und Phrenologie. Bon W. von Wittid. 

Der befannte königsberger Phyſiolog gibt in vor⸗ 
genanntem Aufſatz eine hiſtoriſche, fehr ergögliche und in. 
ftructive Weberfiht der Phafen, in welche die phrenolo⸗ 
giſche „Wiſſenſchaft“ (7) feit ihrem Entftehen getreten ift. 
Erft gegen den Schluß Hin übt er felbftändige Kritif und 
findet, worauf ſchon Lichtenberg hingedeutet hat, daß eine 
wiſſenſchaftliche Phyſiognomik ſich an die beweglichen Theile 
de8 Antliges, nicht an die ruhenden wird zu machen 
baben, Es würde ſich alfo bei einer begründeten 


Bon R. Birdom. 








Benilfeton. 


Vhyſiognomielehre um die phyfiologifche Beziehung gewiffer 
Bewegungen des Gefichts zu beitinmten Sinnegempfin ⸗ 
dungen und den ihnen folgenden Vorſtellungen handeln. 


383 


Der Wittich ſche Vortrag dürfte feines Stoffe wie der 


feffelnden Ausführung 


halber auch für weitere Kreife von 
größtent Intereſſe fein. . 





Fenilleton. 


Engliſche Urtheile über nene Erfheinungen der 
deutſchen Literatur. 

Ueber W. Roßmann's „Vom Geflabe der Cyllopen und 
Sirenen” fagt die „Saturday Review" vom 21. Mai: „Es 
möchte ſchwierig feinen, über ein fo abgenugtes Thema ein 
auzichendes und wirklich Nenes enthaltende Werk zu ſchreiben; 
dus die Schwierigteit fo ſiegreich Mberrunden worden, ift_ber 
feltenen Bereinigung der dazu nöthigen Eigenſchaften im Ber« 
faffer zu verbanfen. Inu Romann vereinigen ſich nämlich 
philologiſche und ardäologijce Belehrfamteit mit einer aus- 
gebreiteten Bildung, Sreifinnigfeit der Gefinnung, Phantafie, 

jeläuterten Geihmad und Liebe zur Kunſt. Diefe mannich- 
Fatigen Gaben und Kenntniffe befähigen ihn, abwechſelnd jede 
Seite feines unendlich mannicfaltigen Gegenftandes zu befeud;« 
tem; mährenb bie zahlreichen Webergänge jo gefdjidt gehandhabt 
find, daß der Eindrud, den das Werk hervorbringt, dem gleicht, 
welden das vom Lande felbft dargebotene große und unmert- 
lich fi verändernde Panorama macht. Aud die reine und 
duvchſichtige Diction erzeugt fortwährendes Vergnügen, Im den 
Gegenfländen felbft kann man nailirlich feine Neuheit erwarten; 
der eig liegt in ihrer Behandlung. Neapel, Pompeji, Capri 
und ber Aeina bieten Beranlafjung zu einer Reihe glänzendes 
Gemälde; die ihres Inhalts wegen intereffanteften Kapitel, 
melde zugleih am meiften Neues bringen, find vielleiht die 
über Paͤſtum und über die Verwandlung der alten Götter in 
FR Jungfrau und bie Heiligen der heutigen italieniſchen My- 
thologie. 
‚Dr. Sqchenkel's «Luther in Worms und in Wittenberge"; 
Heißt e8 in demfelben Vlatte, „iſt weniger eine Biographie 
als eine Pazteifejrift, bie inbeffen Dusch des Berfaffers Stellung 
als einer der herborragendften Vertreter des liberalen Pro— 
tefantismus in Deutjhland große Bedeutung erlangt. Soweit 
ſie biographiſch ift, enthäft fie weder Nenes: nod Wichtiges, 
außer dem Eifer, mit welchem die ganz befondere Bedeutfams- 
Zeit des frühern Theils der reformatorifchen ige Luthers 
betont wird, während es eher angedeutet als behauptet wird, 
daß er fpäter einigermaßen von feiner anfänglichen Pofltion 
zurudwich. Der wirtlich wichtige Theit des Werte if der 
Schluß, in welchem Schenkel den Pfad vorzeichnet, den der 
deuiſche Proteftantismus feiner Meinung nad) verfolgen follte, 
wenn ex im Geiſte Luther's wirken und feine Arbeiten bie zu 
ihrer logifchen Eonfequenz fortfegen möchte. Die hauptſachlich 
hervorgehobenen Punkte find die Berwerfung der gegemmärtig 
in den Lutheriigen Kirchen geltenden falramentalen Dogmen 
und die Trennung der Kirche vom Staate. Diefe Ichtere 
Frage if bisher im Deuticjland wenig beadptet worden.. Es 
wird intereffant fein, zu beobadten, immiefern Schenkel die 
allgemeine Gefititung der deutfchen Protefanten vertritt.‘ 

„Des zweite Theil von Büchner's «Die Stellung des 
Menfen in der Natut» it fo Mar, fo febendig nnd ebemo 
feicht wie der erſte. Es ift nicht ein neuer Gedanke im Bude; 
die nähe Annäherung zu einem folchen verdankt der Berfafler 
dem Profeſſor Schanfhaufen, der — zwar beim europäifchen 
Bublifum noch fein Gehör verſchafft Hat, defien Bemerkungen 
über die Verwandtſchaft der Bimana und Quadrumana gewiſſer 
Gegenden aber unzweifelhaft Aufmerkſamkeit verdienen. Büdj« 
ner’s eigene Antwort auf die zweite gleich auf dem Litelblatte 
geſtellie Frage, if Turz und einfah: «Affen» Cr ift der An 
fht, daß der Menfc dem Unterichted zwifchen fih und feinen 
befeeidenern Verwandten auf nugerehtfertigte Weile übertreten 
Habe, und verfehft teine Gelegenheit, ifım zuzurufen: «Erinnere 
dig, dag du ein Affe bill» Er fagt, er fei im Befige einer 
großen Anzahl von höchſi intereffanten Thaiſachen, welche dazu 





dienen, uns von der Intelligenz der Thiere eine höhere Mei» 
nung beizubringen, und hat allerdings eine große Zapf fehr 
gweifelgafter gejammelt, welde die der Wilden in einem un 
gänfigern Lichte erfheinen laſſen. Diefer Iegtere Theil der 
Streitfage wird gewöhnlich auf beiden Seiten vermittels einer 
den Streitenden fehr natürlichen «Maturahl» gefühet, und befteht 
darin, aus den lodern Angaben von Reifenden und Miffiona- 
ren dasjenige auszuwählen, was für die befondern vom Ber- 
faffer gehegten Anfigten zufällig paffend if, und alles übrige 
zu ignoriven. Büdner folgt im diefer Hinſicht dem üblichen 
Gebraude. Beſonders flark witd die Darwin’fce Theorie bes 
nugt, und ihre Anwendbarkeit auf das Menſchengeſchiecht wird 
als von felbft einleuchtend angenommen.” 





Bibliographie. 
Atadı ib. i 
in ——— 


Erhard, Seg Rriepsgefgigte van Bayern, Praklen, Barz und 
Sgwaben von der älte 4 25, .: — um 
re e ire 









und. Nomen, 


—8— 
8. Dr 22", Nor. 

— Di, Der beit inien. & J 
RE aeg an ge 





Se ac. 6. DE ‘ 

eregrin, Das vaticanfge Concil und bie Peiefterche, Zugla 

in Deitag zuE Galnr- uud eitengelgigte, ike a Werhih 
1.6. ; 

Kachele M., Reimbrechang und Dreireim im Drama dos Hans 
— und andrer gleichzeitiger Dramatiker. Freiberg, Eugelhardt. 4. 
Stichart, P, O., Brasmus von Rotterdam. Beine Stellung zu der 
Kirche und zu den kirchlichen Bewegungen seiner Zeit. Leipzig, Brock- 
Be 1 Thir. 9 N; ar Die veutfe Oßfe Brovi % 

iefenhaufen, on, ie em fee« Pre jen be 
und die Aut € Sowtnalifit, Grmicberung auf dir Beunpei — 
„üerelnigung ber baltiigen Psooinzen mit Rußland” Ta Ber 1ei 
ber Wiodiawjgen Beitung vom 3%. Sunt 186%, Leipilg, Eteinader. Gr. & 


» ——8 Zypen und Efigen. Bon 9. ©. D. Bella, dante. 6. 


ber ben Urjprumg unb bie Dauer bes Die, zul 
und die griflige Offenbarung. Relpaler Qnebladı 8. Ip pure welt 
Dent{ges Wanverbüdlein. Cine poctiice Weifedegleitäng für Rature 
fteunde. Berlin, Wiegandt u Grieten, &x. 16. 20 De. 
Webeltaedt, d., Entwurf eined neuen Lanbebveriheibigungs « Gp« 
me Daft „auf ber gängtigen Gatfeigung fämmiiger Etantiefungen. 
tig, D- Bigen, One. is War, 
m Rinterlehbr nn ‚Srmsresten fü: Gopha me> Gifenbapn «Come. 
. Berlin, Ber, * 
Ziemffen, ẽc. Umwege zum Ginc. Romau. Verlin, Iante. 8, 


1 Thir. 

















Unze 


Anzeigen. 


igem 


— — 


Verſag von 5. 4. Brockhans in Leipzig. 





Soeben erfdien: 


Dichtungen von Hans Sachs. 
Erfter Theil. 
Geiflliche und weltliche Kieder. 
Herausgegeben von Karl Goedeke. 
8. Geh. 1 Thle. Geb. 1 Thlr. 10 Nor. 


Hans Sachs’ Dichtungen werben in der vorliegenden 
Sammlung drei Theile umfaſſen, von deinen der erfte Geiftliche 
und weltliche Lieder (Meiftergefänge), ber zweite Sprudhgebichte, 
der dritte Schau» und Faftnadhtipiele enthält, ſodaß die ver- 
fhiedenen Dichtungsarten dieſes deutjchen Volksdichters vollftän- 
dig darin vertreten find. Durch die gründlichen und ansflihr- 
lichen Einleitungen der Herausgeber ſowie durch die beigefügten 
Worterklärungen ift jedem Leer das Verſtändniß in literarifcher 
wie in ſprachlicher Hinficht Fat gebradit. 

Der erfte Theil von Hans Sachs' Dichtungen bildet zu- 
gleich den vierten Band der Sammlung: 

Dentſche Dichter des Techzehnten Jahrhunderts, 
Mit Einfeitungen und Worferklärungen. 
Herausgegeben von Karl Goedeke und Iulins Zittmann. 
Die erften drei Bände enthalten: 
I. Liederbuch aus dem fechzehnten Jahrhundert. 
I. Schaufpiele aus dem jechzehnten Jahrhundert. Erſter Theil. 
III. Schaufpiele aus dem jechzehnten Sahrhundert. Zweiter Theil. 





Im Verlage von F. Tempsky in Prag ist soeben 
erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Die Wissenschaft des Geistes 


von 
Dr. G. Biedermann. 
Dritte ganz umgearbeitete Auflage. 
Gr. 8 Geh. 3 Thlr. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Dictionnaire Tresor Praktiſches Wörterbuch 


francais-allemand et allemand- ; ber franzöfifhen und deutſchen 
francais, Sprade. 


Bon Jakob Heinrich Kaltfchmidt. 
Zweite Auflage. 

Zwei Theile. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor. 
Franzöfifch-Dentfcher Theil. 24 Ngr. 
Deutfh-Franzöfifher Theil. 1 Thlr. 6 Nor. 

Kaltſchmidt's Praktifches franzöfiſch⸗ deutfches und dentſch⸗ 
frangöfifches Wörterbuch (früher Berlag von Georg Wigand 
in Leipzig) zeichnet fid) beſonders dadurd aus, daß es neben 
den für die Lektüre und Converfation nöthigen Wörtern aud) 
die technifchen Ausdrücke, welche in den Wiffenfchaften, Künften 
und Gewerben vorlommen, in großer Bollftändigkeit enthält. 
Der Preis ift außerorbentlid billig geftellt und jeder Theil 
auch einzeln zu haben. 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erjdien: 


Die Serben an der KHdria. 


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a 5. Tafeln. 


Mit einem Terte von circa 60 Bogen Kteinfolto, in 12 Lieferungen. 
Preis jeder Lieferung ber Tafeln und bes Textes je 2 Thlr. 
Erfte Lieferung der Tafeln. 


Dieſes Prachtwerk wird einen werthuollen Beitrag zur 
Kenntniß der den Küftenftrih von Fiume bis zur Nordgrenze 
von Albanien bewohnenden Südſlawen bilden. Der ungenannte 
(den höchſten Kreifen angehörende) Herausgeber bringt darin 
eine Reihe vorzüglicher, nach an Ort und Stelle aufgenomme- 
nen Aquarellen ausgeführter Typen» und Trachtenbilder aus 
jenen Gegenden zur Darſtellung. Die Nationaltradhten der 
Bergbewohner von Dalmatien und Montenegro zeichnen ſich 
durd) originelle Formen⸗ und Karbenzufammenftellung vor denen 
aller andern Völker Europas aus, und eine Bereinigung diefer 
Trachten, wie joldhe in diefem Werke ftattfinden wird, ift gewiß 
geeignet, das lebhaftefte Intereffe zu erregen. 

Zunächſt erfcheinen die Lieferungen der Tafeln, der erläus 
ternde Text folgt erft fpäter. Ein ausführlicher Proſpect if 
gratis durch alle Buchhandlungen zu erhalten. 





Im Berlage von F. Tempsky in Prag ift ſoeben er- 
ſchienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Der Maid, 


feine Abftammung und Gefittung 
im Lichte der Darwin’schen Lehre 


von der Art- Entftehfung und auf Grundlagen der neuern 
geologischen Entdedungen dargeftellt 
von 


Dr. Friedrich Rolle. 
Zweite Ausgabe mit 36 Holzfchnitten. Gr. 8. Geh. 24 Ngr. 





Im Verlage von Wiegandt « Grieben in Berlin ift foeben 
erihienen und durch alle Buchhandlungen zu erhalten: 


Deutſches Wanderbüchlein. 


Eine poetiſche Reiſebegleitung für Naturfreunde. 
20 Sgr. 





Im Verlage von F. Tempsky in Prag iſt erſchienen 
und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Don Inan und Fanſt. 


Eine Tragödie 
von 


Chr. D. Grabbe. 
Zweite Auflage. 8. Geh. 6 Ngr. 





Berantwortliher Rebacteur: Dr. Eduard Brodhaus, — Drud und Verlag von S. A. Brockhaus in Leipzig. 





Blätter 
literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erfcheint wöchentlich. 


a Nr. 25. ÿöæ 


16. Juni 1870. 





Juhalt: Umſchau anf dem Gebiete naturwifſenſchaftlicher Unterhaltungsleltüire. Bon Seinrich Birnbaum. — Biographifches. 
Bon Alexander Jung. Geſchluß.) — Aus der erzühlenden Literamr der Neuzeit. Bon Feodor Webl. — Feunilleton. (Notizen.) — 
Bibliographie. — Anzeigen. 





Umſchau anf dem Gebiete naturwiſſenſchaftlicher Anterhaltungslektüre. 


—2 


. Geſchichte und Beſchreibung der vulkaniſchen Ausbrüche bei 
Santorin von der älteſten Zeit bis auf die Gegenwart. 
Rad) vorhandenen Quellen und eigenen Beobadhtungen dar⸗ 
geftellt von W. Reif und A. Stübel. Heidelberg, Bafler- 
mann. 1868. Gr. 8. 2 Thlr. 

Obgleich diefes Werk nicht eigentlich in die Klaffe der 
notırewiffenfchaftlichen Unterhaltungsleltüre gehört, fondern 
ganz den Charakter der Fachgelehrſamkeit an ſich trägt, 
fo enthält es doch vieles, wofür fich ein großer Kreis von 
allgemein gebildeten Leſern lebhaft intereffirt, und zwar 
auf eine jedem zugängliche Weiſe beſprochen, ſodaß wir fein 
Bedenken getragen haben, dafjelbe in ben Kreis unferer 
Unterhaltung zu ziehen. Die vullkaniſchen Ausbrüche im 
Solf von Santorin, welde im Jahre 1866 die ganze 
gebildete Welt in Staunen jegten, find von den Berfaflern 
und einigen andern befreundeten Sachverſtändigen an Ort 
und Stelle unterſucht. Diefe Unterfuhung nebft Des 
fhreibung bildet die Hauptgrundlage des Werks. Da 
aber da8 genannte Schredensereigniß an den bezeichneten 
Orte nicht allein fieht, fondern eine große Reihe von 
Borgängern hat, die felbft noch beinahe zwei Jahrhunderte 
über unfere Zeitrechnung hinausgeht, fo haben die Ber- 
faſſer es nicht unterlaffen, das Hiſtoriſche des Ganzen 
anfzufuchen und mit Sorgfalt zufammenzuftellen, wodurd 
wir nun über Santorin eine ebenfo zufammenhängende 
Geſchichte erhalten haben, wie wir fie [don vom Aetna 
und Befun befigen. Seit der vielbewunderten Entjtehung 
der Nea⸗Kaimeni auf der Weſtſpitze der Inſel waren nicht 
weniger denn 150 Jahre verfloffen, als ſich im Jahre 
1866 die Kunde über ganz Europa verbreitete, daß die 
vulkaniſche Thätigkeit im Golf von Santorin aufs neue 
vor fi gehe, und zwar ohme Erdbeben. Die Inſel 
Nea⸗Kaimeni, welche den Scauplag biefed Ereignifjes 
abgab, ift nur im Sommer bewohnt, während im Winter 
fi hier blos ein Wächter mit feiner Familie aufhält, 
am die Häuſer und Kirchen zu überwachen. Dadurch 
find wahrſcheinlich die erften Anzeichen des Ausbruchs 
1870, 25. 


unbeachtet geblieben. Erft am 30. Januar des genannten 
Jahres, als fih in den Mauerwerken und ‘Deden der 
Häuſer Riffe zeigten, als plötzlich große Welsblöde von 
dem 3—400 Fuß hohen Nea-Kaimeni-Kegel herabrollten, 
wurde die Aufmerkfamfeit rege. Am 31. Januar bemerkte 
man eine auffallende Unruhe im Meereswaſſer: 

Eine Menge Gasblafen fliegen durch das Wafler auf und 
verſetzten daffelbe in wallende Bewegung, weiße nach Schwefel 
und Schwefelwafferftoff riehende Dämpfe erhoben fi) von der 
Waſſerfläche. Während diefer Zeit fenkte fih ganz allmählich 
und ohne irgendwelde Erdſtöße jene Landzunge, melde die 
Vulkanobucht auf der Nordfeite begrenzt. Bis dahin war der 
Berlauf der Erſcheinung feineswegs auffallend genug, um all- 
gemeine Beſorgniß zu erregen; als aber am 1. Februar mor- 
gens gegen 5 Uhr während einer ganzen Stunde eine eigen- 
thlimliche Feuererfcheinung in der Vulkanobncht fich zeigte, welche 
von Decigalle, nach dem Berichte des noch auf der Juſel wei- 
enden Wächters, ale 4—5 Meter hohe Flammen beichrieben 
wird, da verbreitete ſich Schreden auf der ganzen Infelgruppe, 
und einige der höhern Beamten der Iufel verfügten fi in 
Begleitung des Herrn Derigalla nad) der Nea-Kaimeni, um an 
Ort und Stelle ſich felhft von der Wahrheit der umlaufenden 
Gerüchte zu liberzeugen. 

Sie fanden alles beftätigt. Durch das Senken der 
Südfpige hatten fich vier Heine Seen zwifchen den La⸗ 
vablöden gebildet, die bald fi noch um einige ver- 
mehrten. Das Waſſer war falzig wie das Meer, aber 
Har und duchfichtig, während das Meerwafler roth ge⸗ 
färbt und trübe erſchien. Die unterirdifche Thätigkeit 
fteigert fich nun von Tag zu Tag. Am 4. Februar wird 
eine neue Inſel aus dem Waſſer gehoben, aber immer noch 
ohne Erdbeben, ohne unterirdifches Geräufch: 

Inzwiſchen war bdiefe neue Imfel, Georg I., dergeftalt au» 
gewachſen, daß fie fi bereits am 6. mit ber Nea⸗Kaimeni 
vereinigte, und ihre ſchwarze, langſam fich fortbewegende Blod- 
maſſe das Land der alten Inſel überdeckte. Wie groß der 
Georg um diefe Zeit war, läßt fi kaum angeben, da bei der 
immer fortdauernden Senkung der Südſpitze Nea⸗Kaimenis 
die Vulkanobucht eine weſentliche Vergrößerung erfahren ha⸗ 
ben mußte. 

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886 Umſchau auf vem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsteftüre, 


Am 11. Februar waren ſchon 30 Häufer am Bulkans⸗ 
hafen unter der Lava begraben, welche der Georg mit. 
brachte, und deren Spalten und Riſſe bei Nacht glühten. 
Am 13. Februar wurde wieder eine neue Infel, Aphrocifa, 
aus dem wallenden Waffer gehoben. Diefe Inſel ver- 
größerte fich im derſelben ruhigen Weife wie der Georg, 
und war wie diefer ein Vulkan, der feine Lavamaſſe von 
der Mitte nach der Peripherie hinſandte. Vom 19. Fe— 
bruar an entwidelten fi auch mit Donnergetöfe Heftige 
Erbftöße, die Temperatur des Bodens fteigerte fih um 
12° C., und die bes Meeres ftieg fogar bis zu 85° ©. 
Die weitere Entwidelung dieſes großartigen Ereignifles 
durch den ganzen Februar und März hindurch wird dann 
Schritt vor Schritt genau verfolgt und befchrieben. Dom 
23. April bis zum 31. Mai find die Verfaffer dann 
felbft auf dem Schauplage. Es ift nicht möglich Hier 
alles mitzutheilen, aber das bereits Gegebene wird genil⸗ 
gen, um zur Lektüre der höchft intereffanten Schrift zu 
veranlafien. 

2. Ausflug nad) den vulfanifhen Gebirgen Aegina und Methana 
im Jahre 1866 von W. Reiß und U. Stübel, nebft 
mineralogifhen Beiträgen von 8. von Fritſch. Mit 
einer Karte. Heidelberg, Baffermanı. 1867. ©r. 8. 
1 Thlr. 18 Ngr. 

Wir haben e8 hier mit einer Art Fortfegung bed unter 
Nr. 1 befprochenen Werks zu thun. Nachdem die Berfafler 
die vulkaniſchen Ausbrüche des Santorin beobachtet hatten, 
wurden fie durch den Ausbruch des Kriege zwifchen 
Preußen und Defterreih noch länger als fie es wünſchten 
auf der Inſel feftgehalten. Der Verkehr zu Waffer lag 
plögih ganz danieder. Da entſchloſſen fie fi, von 
Athen aus einen kleinen Ausflug nach dem Peloponnes 
zu unternehmen, um die vulfanifchen Gebilde von Aegina 
und Methana zum unterfuhen. Ste mietheten einen Kaik 
zur Weberfahrt nach Aegina und fegelten am 12. Yuni 
nachmittags ab. Die Hoffnung, an demfelben Tage noch 
nad) Aegina zu kommen, ſchlug aber fehl, weil der Wind 
nicht günſtig war. 

Um Mitternacht erwedte uns ein heftiger Stoß. Lautes 
Nufen, unruhiges Hin- und Herlaufen, vor allem aber die 
Bewegungsfofigleit unſers Fahrzeugs veranlaßte uns auf das 
Ded zu fleigen, um die Urſache diefer plöglichen Veränderung 
zu erforfhen. Im der ſternhellen Nacht fahen wir dicht vor 
uns die dunkeln Bergmaffen Aeginas, auf deffen weit in das Meer 
fid, erfireddenden Klippen das von den ſorglos fchlafenden Griechen 
fi felbft überlaffene Schiff feſtſaß. 

Dann wird die Inſel Aegina befchrieben, welche 
ziemlich im Mittelpunfte des Golfs von Athen gelegen ift, 
die Stadt und das Treiben ihrer Bewohner in Augen⸗ 
ſchein genommen. Bei Bejchreibung der Weiterreife zu Pferde 
merkt man fogleich den Herren ihr Handwerk an, fie legen 
überall nur geologifches Interefie an ben Tag. Hierin 
find fie aber in ber That ausgezeichnet, und für LXefer, 
welche vulkaniſche Bergformationen und deren Steinarten 
ftudiren mögen, hat dann die Reife ungemein viel An⸗ 
ziehendes, fie eignet ſich aber befler zum Gelbftlefen als 
zu Mittheilungen. 

3. Ueber die Skmmerbewegung. Bon Th. W. Engelmann. 
Mit einer Tafel. Leipzig, Engelmann. 1868. Gr. 8. 
Yih? Ngr. 

Für die Phyſiologen von Fach, welche fi) ganz ſpe⸗ 
ciell für dieſe Art der Naturthätigkeit intereſſiren, enthält 


das Buch ſicher einen reichen Schatz der wichtigſten Be 
obachtungen und Forſchungen. Für dieſe möchte es aber 
ſchon genügen, wenn wir darauf aufmerkſam machen, daß 
daſſelbe die Beſchreibung einer Gaskammer für mikroſko⸗ 
piſche Unterſuchungen enthält, und daß ſich die angeſtell⸗ 
ten Unterſuchungen auf Verſuche 1) an Flimmerzellen von 

Wirbelthieren, 2) an Flimmerzellen wirbelloſer Thiere, 3) an 

Spermatozoen beziehen. Was wir übrigens unſern Leſern 

von dem Inhalte noch wiittheilen könnten, möchte ſich 

fhwerlid der allgemeinen Aufmerfjamkeit erfreuen, fo 
klar und gründlich auch die Gegenftände darin behandelt 
worden find. 

4. Elektron, oder Über die Vorfahren, die Verwandtſchaft und 
den Namen ber alten Preußen. Ein Beitrag zur älteften 
Sejichichte des Landes Prengen. Bon William Pierjon. 
Berlin, Beifer. 1869. Gr. 8 1 Thlr. 10 Ngr. 

Der Berfaffer ift unverkennbar ein ſehr titchtiger 
Geſchichtsforſcher, dem befonders bie Erforfchung der Ur— 
gejchichte feines Baterlandes am Herzen liegt, wobei bie 
Fundorte de8 Bernfteins und die darauf bezogenen Quellen 
des Alterthums den Leitfaden abgeben. War nun die 
vorhergehende Schrift ganz vorzugsweife den Phyfiologen 
gewidmet, jo gehört die vorliegende ebenfo ausſchließlich 
den philologifchen Hiftorifern. Diefe finden darin eine 
anlodende Heimat; für alle andern gebildeten Leſer ift 
fie wol zu fpecififch gelehrt. Webrigens können wir nicht 
unterlaffen, die Arbeit Herzlich zu begrüßen, ba fie un. 
geachtet ihres philologiichen Standpunftes doch fehr ge 
neigt ift, ſich mit der Naturkunde auf einen freundfchaft- 
Iihen Fuß zu ftellen. Wir haben folche Annäherung 
bei den Willenfchaften ſchon mehrfach bemerkt und auch 
gehörig gewürdigt. Dies fol nun auch Hier nicht fehlen. 
5. Zur Bhyfiographie des Meeres. Ein Verſuch von A. Gareie 

und A. Beder. Mit 2 Karten und 15 Figuren. Trieſt, 

Schimpffl. 1867. Gr. 8. 2 Tlr. 

Gleich bei dem erſten Auffchlagen und Durchblättern 
erinnert died Wert an Maury's „Phyſiſche Geographie 
des Meeres”, welche mit folder Anerkennung ihres wiſſen⸗ 
Haftlihen und praftifchen gediegenen Werthes aufgenom- 
men worden tft, daß in dem Furzen Zeitraum von fechs 
Jahren ſchon zehn Auflagen nöthig waren. Und bei nd« 
herer Prüfung ftelt fih denn aud) heraus, daß baffelbe 
ein Geitenftüd hierzu oder richtiger eine Crmweiterung 
und weitere Feſtſtellung abgeben fol. Es war fchon 
längft befannt, daß ungeachtet der allgemein anerkannten 
Bortrefflichleit des Maury'ſchen Werks doch noch man⸗ 
cherlei Lücken und ſogar Unrichtigkeiten darin vorkamen; 
man wird es den Verfaſſern der vorliegenden Schrift 
daher nur danken können, wenn fie fi) zu der gewünſch⸗ 
ten Bervollitändigung und Berichtigung verftanden haben, 
denn fie find tüchtige Fachmänner, die der fchweren Auf⸗ 
gabe volllonımen gewachfen zu fein fcheinen. | 

Die Berfaffer find in den drei eriten Kapiteln, welche 
von der allgemeinen Ueberficht der geologischen Wirkungen 
des Wafjers und der Luft, von den Hauptgeſetzen der 
Meteorologie, umd von den Urfachen, welche Wind und 
Waflerftrömungen nad ſich ziehen können, ganz ſelb⸗ 
ftändig und neu; während fie ſich in den acht übrigen 
Kapiteln — über den Golfftrom, über die Zags- und 
Jahresbewegung der Erde, über oceaniſche Ströme, über 








bie Ditielmeerftrömung, über Driftftrömung, über locale 

unterfeeifche Strömung, über Sondir-Inftrumente, über 

den Kreislauf der Winde — mehr kritiſirend auf andere, 
befonder auf Maury, bezichen. Ueberall bleibt aber 
bie ganze Schrift belehrend und intereffant. 

Um vom Buche felbft eine Heine Probe zu geben, 
wählen wir aus dem Kapitel über Sondir«Inftrumente 
eine Stelle, die fi auf eine neue Erfindung der Ver⸗ 
fafier bezicht, von welcher man in der That wünſchen 
muß, daß fie forgfültig erprobt werde. Es ift von dem 
allgemein befannten und bisjegt beften Broole'ſchen Tief⸗ 
meſſer die Rede gewefen, wobei ſich die Kugel, wenn fie 
den Meeresgrund erreicht hat, von der Sondenfchnur los⸗ 
Löft, damit diefe wieder heraufgewunden und zu neuen 
Berſuchen benutt werben kann. Die Berfafler fligen 
dann hinzu: . * 

Sollte es aber nicht möglich fein, noch Vollkommeneres zn 
Stande zu bringen und ein Inſtrument zu conftruiren, welches 
von der Strömung unabhängig ift, folglih die wahre Tiefe 
und den Moment anzeigt, in weldem es den Grund berührt, 
fowie and) eine Grundprobe heraufholt, und außerdem mit 
geringern Koften verbunden ift? — Bei biefer Gelegenheit wäre 
es vielleicht nicht unintereffant zu zeigen, auf welche Idee wir 
vor fünf Jahren in diefer Beziehung verfielen; wir conftruirten 
nämlich ein Sondir-Iuftrument, deffen PBrincip wir fpäter bei 
einem andern wiederfanden und das bei gehöriger Ausführung 
vielleicht geeignet wäre, allen Anforderungen zu entſprechen ... 
Bei unferm Lothe, welches gleichzeitig die Temperatur der ver⸗ 
ſchiedenen Wafferfhichten anzeigen fol, wird deffen Ankommen 
am Grunde durch ein fehr verlaflihes Zeichen bemerkbar. Es 
fchließt fi nämlich beim Anlangen am Boden eine eleltriiche 
Kette und verurjaht die Ablentung der Magnetnadel eines 
Multiplicatore. Der Sondir-Apparat zerfällt in drei Theile: 
a) das eigentliche Loth, welches durch feine Berührung des 
Grundes die Kette fchließt und eine Grundprobe heraufholt; 
b) die Leine, welche zur Leitung der Elektricität eingerichtet 
fein muß; c) die Rolle mit ber elektrifchen Batterie und dem 
Multiplicator. 

Das Weitere bezieht fid) dann auf eine fpeciellere 
Beſchreibung und Abbildung, wovon bier natürlich nicht 
die Rede fein kann. Die Sache hat aber in der That 
eine große Wahrfcheinlichkeit des praftifchen Gelingens 
für fih, und es käme daher nur noch auf die wirl- 
lihe Ausführung an. Man kann nit vecht begreifen, 
warum diefelbe nicht fchon längſt zu Stande gebracht 
worden ift. 

6. Kraft und Wärme der Organismen entftammen einer Quelle. 
Der Refpirationsproceß ift die Urfache befländiger Abküh⸗ 
Yung. Bon Guſtav Manu. Stuttgart, Kod. 1866. 
8. 12 Nor. 

Die ganze Arbeit deutet überall auf eine ſehr hoch 
gejpannte Naturphilofophie.e Es wird vorausgeſetzt, daß 
Die Molecule der fämmtlihen Naturftoffe fi) nirgends 
unmittelbar berühren, fondern dur eine umgebende 
Atmofphäre von Aether voneinander getrennt auftreten. 
Die Möglichkeit, einem Körper durch Drud Wärme zu 
entloden, nimmt ab mit dem Grade feiner Didhtigleit, 
folglih) muß die größere oder geringere Atmofphäre im 
nahen Zufammenhange zur Wärmeerzeugung fichen. Die 
Begriffe von Kraft und Wärme find diefelben, wie wir 
fie durch Dr. Mayer in Heilbronn Eennen gelernt haben, 
fodaß beides nur Bewegungsarten find, ‚welche bald als 
Urſache, bald als Wirkung auftreten, aber nie in nichts 
zerfallen Fönnen. Der Verfaſſer jagt: 


Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftliher Unterhaltungsleftüre, 387 


Freiherr I. von Liebig ftellt den Satz auf, daß, wo und 
wie der freie Sauerftoff mit dem Kohlen- und Waflerfloff des 
tbierifchen Körpers fich verbinde, die befannten Wärmemengen 
frei werden müffen. Ich zolle dem enormen Wiffen und der 
Geiſteskraft dieſes Mannes die größte Hochachtung und Verehrung. 
Diefen angeführten Sat kann ich nicht anerkennen. Diefer 
Sat ſetzt voraus, was bewiejen werden foll, daß nämlich die 
Refpiration gleichviel bedeute wie Verbrennung. 

Das ift ein Angriff auf Leben und Tod der fo 
lange vielbewunderten Liebig'ſchen Theorie der Thierchemie. 
Damit charakterifirt ſich das Büchelchen als eine ent- 
jchiedene Streitfchrift gegen fehr viele Anfichten, welche 
man als eine glüdlihe Errungenschaft der heutigen Che- 
mie und Phyfiologie betrachtet hat. Da man indeß fchon 
drei volle Jahre darüber bat hingehen Lafien, ohne von 
diefer Einrede viel Notiz zu nehmen, fo fcheint es fat, 
als wolle man fi) dadurch nicht beirren laffen. Und im 
Grunde genommen bat ein folcher Kampf der Anfichten 
und Hypothefen wenig Werth für die Wiffenfchaft, jolange 
da8 Schwert der Thatjachen nicht entjcheidend drein« 
ſchlagen fann, um ben Sieg zu entfcheiden. Der Ber- 
faffer läßt e8 nun allerdings nicht an Bezugnahme auf 
Thatſachen fehlen, aber fie jcheinen noch nicht vollwichtig 
genug zur Entfcheidung des Kampfes zu fein, 

7. Der Weinbau im Rheingau. Bon Karl Braun (Wies- 
baden). Nach einem am 20. Februar 1869 in Berlin ge 
haltenen Bortrage. Berlin, Lüderit. 1869. Gr. 8. 6 Nr. 

8. Das mechaniſche Wärmeäquivalent, feine Refultate und 
CSonfequenzen. Bon H. Toepfer. Berlin, Lüderitz. 1869. 
Gr. 8 6 Nur. 

9. Der Streit Über die Entflefung bes Baſaltes. Bon 4. 
von Laſaulx. Berlin, Lüderitz. 1869. ©®r.8. 6 Nor. 


Alle drei Nummern gehören zu der „Sammlung gemein- 
berftändlicher wifjenfchaftlicher Vorträge‘, welche ſchon feit 
einiger Zeit von R. Virchow und 5. von Holtendorff heraus» 
gegeben werden. In diefer Sammlung find meiftens fo aus- 
gezeichnete Arbeiten zum Vorſchein gelommen, daß man 
darauf mit einem hohen Grade von Achtung blidt. Alles 
ift populär gehalten und paßt für das gefammte gebildete 
Volk Deutfchlande, aber es ruht auf ftreng wiflenjchaft- 
licher Baſis, ſodaß es ein vollgültiges Charakterbild des 
Fortſchritts der Wiffenfchaften unſers Jahrhunderts ab- 
gibt. Das Unternehmen fteht in fchönfter Blüte. Wir 
wünſchen ihm aud) ferner Glück und Gedeihen. 

Die erfte diefer drei ſehr intereflanten Schriften beginnt 
mit der Naturbefchreibung des Rheins im Vergleich mit 
den anmohnenden Menſchen und kommt dann auf ben 
Rheingau, wo der Wein zwifchen Waſſer und bewaldeten 
Bergen vor kalten trodenen Winden geſchützt in ber vollen 
Kraft der deutfchen Sonne wächſt und zur Reife gedeiht, wo er 
eine Grundlage des mittelrheinifchen Schiefergebirgs befitzt, 
welche der Natur des Weinwuchſes fo recht eigentlich zu⸗ 
jagend if. So kommt der Verfaſſer zum Weine jelbft, 
der, fo verfchieden er auch auftritt, doch immer mit bem 
eigenthlimlichen fehönen Bouquet, mit ber Tieblihen Milde 
neben einer derben Kraft auf feine Freunde wirkt. Er fagt: 

Ich erinuere mid, in einem Feuilleton von Jules Ianiu 
eine fehr gelungene Schilderung der verjchiedenen franzöflichen 
Weine gelefen zu haben. Er vergleicht den Burgunder mit 
einem misvergnlüigten, unrubigen Frondeur, den Bordeaur mit 
einem falten, glatten und indifferenten Weltmanne, den Cham- 
Pagner mit dem branfenden Leichtfertigen Pariſer; dabei erwähnt 
er aud) den rheingauer Wein, indem er ihn charalteriſirt ale 


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388 


einen musfelträftigen, tapfern Soldaten mit großem Schnurr⸗ 
bart uud Hingenden Sporen, der jederzeit bereit ifi, vom Les 
der zu ziehen und durchzuhauen. So gefährlich iſt nun gerade 
der Rheingauer doch nicht, aber es läßt fich demſelben nicht 
abfprechen, daß er im Bergleich zu den franzöfifchen Weinen 
einen weit ernftern und fräftigern Charakter hat. 

Mir find dem geiftreichen, deutfchgefinnten Manne für 
diefe begeifterte Schilderung unſers ſchönſten deutſchen 
Weins von ganzem Herzen zugethan und geftehen gern, 
dag wir lange feine fo wahren warmen Worte für eine 
durch und durch gute deutfche Sache vernommen haben. 

Indem wir uns nun zu Nr. 8 wenden, müſſen 
wir und and der patriotifchen Begeifterung der vorigen 
Nummer erft wieder zurechtfinden, damit wir den ruhigen 
Ernſt, womit uns bier die größte wiffenfchaftliche That 
unſers Jahrhunderts entwidelt wird, gehörig würdigen 
und in uns aufnehmen können. Das darin behandelte 
Thema ift viel befprocdhen, aber fo kurz und gründlich 
und dabei doch fo leichtfaßlich, Mar und beftimmt Hat es 
faum ein anderer durchgeführt. Ich kann e8 mir gar 
nicht auders denken, als daß felbft ein Mayer, Joule, 
Helmholtz, Tyndall mit Freude darauf bliden werden. 
Toepfer ift ein ganzer Dann des Wiſſens, das bemeift er 
durch die Meifterfchaft, da populär zu fchreiben, wo 
eigentlich die Münner der Wiffenfchaft noch mitten im 
Ausbau einer ihrer allerfchwerften Aufgaben begriffen find. 
Der Berfaffer fagt 5. B.: 

Da Bewegung Wärme erzeugt, oder befier, fich in ſolche 
verwandeln kann, fo muß fie jelber Bewegung fein, nicht eine 
Bewegung des erhigten Körpers in feiner Gejammtheit, aber 
eine befondere Form ſchwingender Bewegung ber Heinften Kör- 
pertheile, der Molecule. 

Und damit macht er fi nun an die Erffärung ber 
gefammten Wärme, von ber wir nur noch ein Wort über 
Iatente Wärme, die fchwerfte Klippe für die neue Lehre, 
bier mittheilen wollen: 

Bel dem Vebergang aus einem niebern in einen böhern 
Aggregatzuftand wird Wärme verwandt, die Atome auseinander« 
zutreiben, fie in neue Stellungen zu bringen; fie verwandelt 
fih in Spanntraft gerade fo, wie fie fi, zum Heben eines 
Gewichts gebraudt, in Fallkraft umſetzt. Wenn umgelehrt 
Dampf zu flüffigem Wafler wird, oder dieſes zu feftem, fo 
flürzen die Molecule wieber aufeinander, ihre Spannkraft wird 
als Wärme frei, als genau fo viel Wärme, wie vorher zum 
Auseinandertreiben der Molecule verbraudht wurde. 

Wir wollen dem Buche, das uns viel Freude bereitet 
bat, viel Glück zu feiner literarifchen Reife wünfchen. 

In Nr. 9 iſt die Hiftorifche Entfaltung eines fehr 
alten geologifchen Streit8 gegeben und mit der Wagfchale 
einer unparteiiſchen Kritik umd fichern Gelehrjamteit er- 
wogen. Bor dem großen Werner Hatten ſich ziemlich) 
alle Gelehrten von Fach darin geeinigt, daß die Bafalte 
bildung einen vullanifhen Weg durchgemacht habe. Da 
veröffentlichte diefer von allen Seiten angeftaunte Geolog 
am 20. October 1788 in Nr. 57 ber „Allgemeinen Lite 
raturzeitung‘ feine Entdedung, wonach das Entſtehen des 
Bajalts ueptunifcher Natur fei. Er erwarb einen großen 
Kreis von Anhängern, befonders in der Heimat, aber es 
fehlten auch bie Gegner nicht, unter denen fich befonbers 
die Engländer mit den Nachweiſen von widerftreitenden 
Thatfachen Hervorthaten. Er mußte es fogar erleben, 
daß feine größten Schüler, Alerander von Humboldt und 


Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftliher Unterhaltungsleftüre. 


Leopold von Bud, ſich mit feinem älteften Schiller Boigt 
in Weimar verbanden und einer entgegengefeßten Hypo⸗ 
thefe anbingen. Alles andere möge man in der Bro« 
ſchüre felbft leſen. 

10. Geognoſtiſche Wanderungen im Gebiete der Trias Fran⸗ 
tens. Bon Karl Zelger Mit einem lithographifhen 
Ouerprofil. Würzburg, Staudinger. 1867. Gr. 8. 24 Ngr. 
Der Verfaſſer ſcheint ein eifriger geologifcher For⸗ 

ſcher ſeiner Heimat zu ſein. Wir finden dies ſehr 

natürlich und beklagen nur, daß eine ſolche Heimats⸗ 
liebe nicht allgemeiner vorlommt. An ein Veröffentlichen 
feiner Forfchungen dachte er urjprünglich nicht, alles For⸗ 
ihen und Sammeln geſchah nur aus Liebe zur Wiſſen⸗ 
Ihaft, aus Liebe zu dem Grund und Boden, auf dem 
er wanderte, in bem alle feine Gedanken wohl und 
glücklich gefühlt Hatten. Seine Freunde, welche das Wif- 
jen und das emfige Yorfchen bewunderten, ruhten nicht 
eher, als bis fie ihn dazu beftimmt Hatten, feine Yor« 
dungen herauszugeben, was nun in dem vorliegenden 

Werke in gedrängter Kürze geſchieht. Für die Minera- 

logen und Geognoften von Fach enthält das Werk ficher 

einen reihen Schag von Erfahrungen, Sammlungen und 

Mittdeilungen; für unfere Abficht, einen Beitrag zur 

naturwiſſenſchaftlichen Unterhaltungsleftüre darin zu finden, 

ift aber wenig zu holen. Wir können nur noch den Fleiß 
und die Ausdauer rühmen, womit ber Verfaſſer fein Feld 
bebaut bat. 


11. Natur» und Eulturbilder von Karl Ruß. Mit zwei ſan⸗ 
ber in Holzfchnitt ausgeführten Titelbilbern nad Zeichnun⸗ 

gen von Robert Kretſchmer. Breslau, Trewendt. 1868. 

Gr. 8. 2 Thlr. 

Es gewährt uns jedesmal eine große Freude, fo oft 
wir mit ben Geiftesproducten bes fleifigen Berfaflers zu⸗ 
jfammentreffen, denn überall bringt er anmuthige be- 
Ichrenbe Genüſſe, tft er frifh und anregend für feine 

efer. 

Das vorliegende Werk zerfällt erftens in „Schilderungen 
aus dem Natur» und Thierleben” und zweitens in „Schil- 
derungen aus dem Mienfchenleben”. Dort bringt es 
„Jahreszeitenbilder der beutjchen Vögel, Hansbilder von 
Hund und Kate und der Geflügelwelt des Hofs, Bilder 
des zoologifchen Gartens und allerlei Jagderlebniſſe; hier 
finden wir in bunter Reihenfolge Gemälde von Land und 
Leuten der Heimat und der Fremde, von hiftorifcher Ente 
widelung aller Verkehrsmittel. 

Um dem Buche felbft Gelegenheit zu geben, fich zu 
empfehlen, wählen wir aus den Bildern vom Hühnerhof 
etwas von der Tanbe. Nachdem von den verjchiedenen Arten 
und ber Eigenthümlichkeit diefer Thiere in gemüthlicher Aus⸗ 
fügrlichkeit gefprochen worden ift, kommt der Verfaſſer 
auch auf die Brieftanben. Man verwendet dazu am 
fiherften blaue Feldtauben, weil biefe am fchnellften flie- 
gen und nicht leicht von Raubvögeln gefangen werden: 

Sie werden dazu ohne große Mühe abgerichtet, indem 
man fie in einem offenen Behälter nad) dem fremden Ort bringt. 
Keine Taube fliegt jedoh Hin und zurüd, weil fie eben mur 
nad) der Heimat eilt. Auch darf jede flets nur für ein nnd 
denfelben ch benutt werden. Der Brief wird auf ein Kleines 
leihtes Stüd Papier gefchrieben, diefes gegen Regen in Del 
getaudt, dann in eim leichtes Leinwandbeufelchen geftedt und 
der Zaube an den Fügen feftgenäht. Eine gute Brieftaube fliegt 


Umfhau auf dem Gebiete naturwiffenfhaftlider Unterhaltungsleftüre, 389 


dann in der Stunbe gegen 10 Meilen. rüber befland ein 
regelmäßiger Zaubenverlehr zwifchen London, Paris, Amſter⸗ 
dam, Antwerpen und vielen andern Städten. In neuefter Zeit 
iſt derjelbe jedoch dem Telegraphen gewichen. Uebrigens ift ber 
Gebrauch der Brieftaube befanntlich ein ſehr alter, denn bereite 
im Sabre 44 v. Chr. bediente fih, wie Blinius erzählt, De⸗ 
cimus Brutus ihrer, als er von Antonius in Mutina belagert 
wurde. In Aegypten Hatte man eigene Thürme erbaut, zu 
welchen von Strede zu Strede die Taubenpoften flogen. 

Beſonders anziehend find aber die Yagdbilder; hier 
fcheint der Verfaſſer jo recht in feinem Lieblingselement 
zu fein. Um aud hiervon eine Kleine Probe zu geben, 
wählen wir etwas aus der reizenden Befchreibung, welche 
„Mein erfter Meifterfchuß‘‘ betitelt iſt. An einem rauhen, 
ftürmifchen Herbftabend begibt fih Hr. Trig auf den 
Entenanftand. Der befreundete Förfter warnt den jugend⸗ 
lichen Jäger, fi ja zu hüten, feine Diana für einen 
wilden Erpel anzufehen, wie dies fein Lehrling vor kurzem 
gethan babe. Der Ort des Anftandes ift aber nad) der 
Bollsfage ein ſehr unheimlicher, und das lange nächtliche 
Warten am finftern Waldfaum ruft allerlei Phantafiebil- 
der in dem Gemüth des unerfahrenen Weidmanns her- 
vor, welde wol nicht ganz frei von Angft fein mögen: 

Huhuhu! rief plötlich dicht neben mir eine große Eule 
und huſchte in der Nähe bei mir vorüber. Und im nächſten 
Angenblide tauchte von dem Spiegel des Sumpfes vor mir ein 
Menichenlopf empor. Dies war feine Schöpfung meiner er: 
regten Einbildungsfraft. Ganz deutlich fah ich die Umriffe und 
Beroegungen des Spuks. Und nun erft erinnerte ich mid, daß 
auf biefer Stelle im vorigen Jahre ein betrunfener Jägerburſche 
im Bruce feinen Tod gefunden, und daß viele Leute das Ge⸗ 
fpenft des einft fo ruchlofen Menichen, der natürlich in feinem 
naſſen Grabe feine Ruhe finden konnte, bier umgehen gejehen 
haben wollten. ... Ganz deutlich Tonnte ich es unterfcheiben, 
wie er feinen runden Kopf aus dem Waſſer erhob und wieder 
fenfte, ja, ih glaubte Iogar ganz Tebhaft zu fehen, wie er mit 
feinen entfeßlich flieren Augen mich anglogte.e Da mit einem 
mal erhob er fi) gar aus der Flut, höher und höher... und 
im nämlidhen Augenblid, mir jelbft fat unbewußt, knallten 
meine beiden Schüffe los und ich ftürzte ohnmädhtig bintenüber. 

Es ergab fi dann, daß ein großer Fiſchotter Die 
Beranlaffung des Spuls geweſen war, der gut getroffen 
mit Jubel als Siegeszeihen aus dem Waller gezogen 
wurde. Der Verfaſſer verhehlt e8 nicht, daß er biefe 
Geſchichte nacherzählt habe. Das thut ihr aber keinen 
Abbruch. Im ähnlicher Weife ift das ganze Bud) voll 
der angenehmften Unterhaltung. 

12. Das Leben des Menſchen in feinen Lörperlihen Beziehun. 
gen für Gebildete bargeftellt von I. Wallad. Zweite 
uflage. Mit zahlreichen Holzfhnitten. Erlangen, Ente. 

1869. Gr. 8 1 Thlr. 14 Nor. 

Das Werk ift eine ärztliche Mitgabe für das Yamilien- 
Leben aller Gebildeten. Es fehlt uns an vortrefflichen 
Leiftungen diefer Art jegt wahrlich nicht, dennoch wollen 
wir uns hüten, über Weberfluß zu Magen, jondern 
darin viel lieber den fehr erwünſchten Beweis flir die 
rege Theilnahme des gebildeten großen Publilums an den 
Studien über den menfchlichen Körper erbliden. Der 
Berfaffer trant feinen Lefern ſchon etwas mehr zu, er 
gibt keine leicht vorüberfliegende Unterhaltungslektüre, fon 
dern verweilt bei jedem Gegenftande bis zu feiner gründ⸗ 
lichen Erkenntniß und verfteht es bei diefer Gelegenheit 
doch meifterhaft, nie ermüdend breit zu werden. Das 
Buch Hat fich in der erſten Auflage ſchon einen namhaf- 


ten Freundeskreis erworben und wird dies jebt um fo 
mehr thun, da es wefentlich verbefjert und inzwifchen 
auch die Neigung ber Leſer fir folche Gegenftänbe be- 
dentend gewachſen ift. 

Die Einleitung des Buchs bezieht fih auf die ben 
Menfchen umgebende Natur als Bedingungsgebiet für bas 
eigene Leben. Dann befpricht e8 die Nerventhätigleit, den 
Kreislauf des Bluts, die Athmungsthätigkeit, die Thätig⸗ 
feit der Haut, die Nahrungsaufnahme und Berbauung, 
die Thätigkeit der Sinne, die Willfürbewegung, die Thätig- 
keiten und die Stufenfolgen der Entwidelung bed Men⸗ 
hen, die Grenzen des menjchlichen Lebens. Bei jedem 
Abfchnitt wird auf die dazugehörenden Möglichkeiten der 
Erkrankungen und deren Berhütung bingewiefen. Man 
fieht, das Buch ift gerade fo eingerichtet, wie man es in 
denfenden verftändigen Bamilienfreifen wünſcht. Keincs- 
wegs ift fein Zmed, ben Arzt entbehrlich zu machen, fon- 
dern es will ihn nur unterftügen durch allgemeiner ver- 
breitete beffere Naturkenntniß des menfchlihen Körpers 
und feiner Leiden, durch beffere Einfiht in das Wefen 
und die Thätigfeit der Tebensorgane in und an und. Und 
damit dies um fo ficherer erreicht werde, unterftütt es 
feine Befchreibungen und Aufflärungen zugleich mit 
ganz vortrefjlichen Abbildungen. Doc nun wollen wir 
das Buch noch etwas näher Teunen lernen. Nachdem es 
nachgewiefen, daß das Gehirn das Organ ift, in welchem 
fih alle unfere Empfindungen vereinigen, kommt es 
auch auf die Nothwendigkeit, biefem Organ die erforder- 
liche Ruhe zu geben, welches nur durch einen gefunden 
Schlaf möglich ift: 

Zwei Bemerkungen dürfen bier jedoch nicht unterdritdt 
werden. Erſtens ift es nicht blos die Erfchöpfung, welche zum 
Schlaf geneigt macht, fondern es gehören Gerber fämmtliche 
Borgänge, welde die zur Empfindung erforderlihe Beſchaffen⸗ 
heit des Gehirns beeinträchtigen. Belanntli ruft fchon eine 
reihlihe Mahlzeit, ja felbft die wagerechte Lage unjers Körpers 
einen gewiffen Grad von Schläfrigleit hervor. Es ift hier ein 
verftärkter mechaniſcher Druck, welcher hemmend auf die Ge⸗ 
hirnthätigkeit wirkt. Auch beobachtet man bei krankhaftem Aus⸗ 
tritt von Blut oder Waſſer in das Gehirn Betäubung und 
Schlafſucht; und endlich bewirken mande chemiſche Einflüffe 
eine Schwächung in der Empfindungsfähigleit des Gehirns, wie 
aus der einfchläfernden Wirkung des Opiums, des Ehloroforms 
und ähnlicher Gifte hervorgebt.... Sodann ift die den Schlaf 
erzeugende Erſchöpſung niemals eine vollfländige, denn eine 
folche würde nicht Schlaf, fondern den Tod zur Folge haben. 
Bielmehr entfleht der Schlaf, wie e8 die Anftrengung der ver- 
fhiedenen Körpertheile mit fi bringt, ans ungleicher Erſchö⸗ 
pfung der Empfindungsvorgänge, wobei nod eine gewiſſe Er- 
vegbarkeit übrigbleibt. IA nämlich die zu den Gehirnverrich⸗ 
tungen erforberliche Beſchaffenheit der Molecule durch angemeffene 
Ruhe wiederhergeftellt, fo erlangen die Vorgänge, von welchen 
wir fonft Empfindungen zu erhalten pflegen, von neuem ihren 
Einfluß und wir erwachen unter Rückkehr des Bewußtſeins. 

Dann wird aud der Traum und das Nachtwandeln 
im Sclafe beſprochen und gezeigt, wie die Krankheit des 
Irrſinns ebenfalls ein traumartiger Zuftand ift, wobei 
nur die Wiederkehr des Maren Bewußtfeins verzögert wird 
oder gar nicht wieder eintritt. Die Urſachen der Schlaf- 
loſigkeit Liegen nad) der Anficht des Berfaflers meiftens 
in ungewöhnlichen Aufregungen oder in krankhaften Vor⸗ 
gängen des Stoffwechſels im Gehirn. Im dem weitern 
Berlauf der Unterfuhung der Nerventhätigkeit fommt dann 
noch ſehr vieles vor, von dem man wünſchen fünnte, daß 


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Per. 


1 


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390 Biographiſches. 


es recht allgemein bekannt und beherzigt würde. Daſſelbe 
läßt fi auch von den Betrachtungen über den Kreislauf 
des Bluts, tiber Athmungsthätigkeit, über die Thätigkeit 
der Haut u. f. w. fagen. 

In Hinfiht der Grenzen des menſchlichen Alters 
ſchließt fih der Berfaffer den befannten Anfichten der 
heutigen Statiſtiker an und theilt auch die erforderlichen 
Tabellen mit: 


. Die Kraft der Bölfer gibt fig nicht unmittelbar im der 
Geburtsziffer zu erkennen, vielmehr berußt diefelbe auf dem 
Verhältniß, in welchem die gefunden arbeitsfähigen Klaffen fo- 
wie Bildung und Gefittung vertreten find. Es ift daher auch 
die Frage nad) den Grenzen, bis zu welchen fi eine Bevöllke⸗ 
rung vermehren kaun ohne in Elend zu verfallen, feine ein- 
fahe. Die Beantwortung fett jederzeit voraus, daß man das 


Verhältniß zwifchen der Erwerbsfähigfeit und ber Bollszunahme 
ferne. Eilt lettere der erſtern voraus, fo ift ein bafdiger Unter⸗ 
gang des jüngern Nachwuchſes die unausbleiblihe Folge, falle 
nicht Auswanderungen in großem Mafftabe der ſich vermehren 
den Sterblichfeit vorbeugen. 

Solche vernünftige Winke für das Wohl ganzer Völler- 
ſchaften fommen viele im Buche vor. 

Damit befchließen wir nun überhaupt unfere Heutige 
Umſchau. Hoffentlih haben unfere Leſer darin einiges 
gefunden, was ihnen zufagt, was anregend ift fürs Les 
ben, für die Liebe zur Natur, und follten fie dadurd 
auch noch zu einem felbftändigen tiefern Eingehen in die 
empfohlenen Schriften veranlaßt werden, fo wäre unfer 
Hauptzwed vollftändig erreicht. 

Heinrich Sirnbaum. 


Biographifches. 
(Beſchluß aus Nr. 24.) 


3. Karl Mathy, großherzoglich badiſcher Staatsminifler der 
Finanzen und Bräfident des Staats- nnd Handelsminifte- 
rinms. Gin Lebensbild. Zugleich ein Beitrag zur Ge⸗ 
fhichte der deutfchen Bewegungsjahre. Bon E. H. Th. 
Huhn. Tanberbiſchofsheim, Lang. 1868. Gr. 8. 18 Ngr. 
Es ift feinem Zweifel unterworfen, daß die Biel- 

ftagtigfeit eines Landes, zumal wenn es wie unfer Deutſch⸗ 

land ein fo ganz eigenthilmliches Grundgepräge barbietet, 
eine gute, aber auch eine fchlimme Seite hat. Wie heute 
die Öffentliche Meinung fich kundgibt, werben manche die 

Borzüge vieler verfchiedener Staaten in einer und berjelben 

Nation zu leugnen nicht den geringften Anftand nehmen; je 

boch bei näherer Prüfung ſehr übereilt. Schon dies wäre von 

Gewicht, daß eine Nation, die fich der reichften Anlagen 

erfreut, deren Individuen bon Intelligenz fi nie und 

nimmer unter eine, blos politifche Benennung bringen 

Iofien, für die Ausbildung derfelben bei weitem mehr 

Gelegenheit findet in dem Nebeneinander großer und klei⸗ 

ner Staaten. Allerdings führt die Vielftaatigfeit dieſer 

Art auch wieder ben Uebelftand herbei, daß fie der Tum⸗ 

melplag für Neid, Misgunft, Rivalität und Intriguen⸗ 

fpiel wird. Das Borhandenfein Heiner Staaten innerhalb 

Einer Nation gibt endlih dazu Beranlafjung, daß in» 

dividuelle Größen eines Heinen Landes über defien Grenze 

hinaus oft kaum gelannt find, daß deren Verdienſte dem 
gefammten Nationallörper zwar zufließen, aber doch lang- 
fam, und ebenjo langſam und fpät der Name des Ber: 
dienftoollen in der ganzen Nation populär wird. Da gibt 
es nur zwei Mittel, das Nebeneinander großer und Heiner 

Staaten nit blos unfchädlih, vielmehr heilbringend zu 

machen: ein großer, das Ganze der Nation umfafjenber 

Berfafiungsorganismus, und die mit Wahrheitsliche, Ge⸗ 

wifien und Gefchidlichkeit verwaltete Preffe, welche das 

Sefammtbewußtfein einer Nation befeftigt, hebt, mit jedem 

Tage erweitert, alfo die Cultur ftetig befördert. Wir 

befinden uns in Betreff alles beffen erft auf dem Wege 

allmählicher Annüherungen. 
Es verbient unfern Dank und weitere Beachtung, daß 
ber obengenannte Autor in Karl Mathy der deutfchen 

Nation einen Staatsmann vorführt, ber feinerzeit Außer 


ordentliches gewirkt, in der feit Yahren fo überaus leb⸗ 
baft vor fi) gehenden, politiichen Entwidelung Badens 
eine bedeutende Rolle gefpielt hat. Iſt jener Mann aud 
viel in Zeitungen, in politifchen Brofchliren und Büchern 
genannt worden, jo dürfte feine ganze Xhätigfeit doch 
noch lange nicht genugfam belannt geworden fein. Noch 
aber ift Bier ein anderer, durchaus denkwürdiger Umftand 
zu bemerken. Karl Mathy ift einer von ben in Deutſch⸗ 
land höchſt feltenen Xiteraten, in ber Bedeutung unfers 
modernen Zeitalters, welche allen Ernſtes Carriöre, Staats» 
carriere gemadt haben. Das Bud, ift fiir die Gefchichte 
der neuern Politik in Deutfchland nicht zu umgehen, es 
verarbeitet ein reiches Material, es ift überaus inftructiv, 
es gewährt dem Publiciften und jetigen wie künftigen 
Hiſtoriker eine fehr mannichfaltige Ausbeute, e8 wirft felbft 
dem Freunde leichter Lektüre, dem Dilettanten in ber 
Politik, manche Anekdote, ein fo buntes Vielerlei von 
Vorgängen ab, daß der Mann der Tageöfeder, des Stu« 
diums wie der Liebhaberei bier feine volle Rechnung finden 
wird — und dennoch müffen wir eine Heine Rüge ung er- 
lauben bei aller Anerkennung, die wir fonft dem cdeln, 
ebenfo kenntniß⸗ wie geiftreichen Berfaffer zollen. Die 
Darftelung des Buchs, die ganze Einrichtung defjelben 
ift nicht leicht überſchaulich. Unfer Autor hätte mit we— 
nigem nachhelfen können. Diefes wenige fehlt, und wir 
find nicht durchweg befriedigt. Die an fid) Meine Schrift 
leidet an einer gewiffen Ueberladenheit. Manche Notiz, 
manches Detail hätte der Autor bdreift weglaffen dürfen, 
jein Erzeugniß hätte dadurch um vieles gewonnen. Es 
find meift zwar fo wichtige wie feſſelnde Mittheilungen, 
die wir erhalten, dann jedoch ermüden wir wieder, fchon 
weil es uns fcheint, daß unfer Führer unter einer ges 
wiffen Ueberlaft, mit der er fich trägt, ermattet. Wir 
ſehen uns nad) einem Ruheplag um. Unfer Autor ge 
währt ihn mit einem neuen Abfchnitte, und ift nad) dies 
ſem auch ſogleich wieder frifch geworden, wir mit ihm. 
Hätte der DVerfaffer die Abtheilungen feines gehaltvollen 
Buchs mit gedrängten Ueberfchriften verfchen, es würde 
fogleich überfichtlicher geworben fein. Hätte er auch nur 


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Biographiſches. 391 


ein Inhaltsverzeichniß beigegeben! Ungeachtet dieſer kleinen 
Unebenheiten und Mängel iſt das Ganze mit vielem Fleiß, 
mit Sachkenntniß und Geſchicklichkeit behandelt. 

Karl Mathy, 1807 zu Manheim geboren, erhielt 

feine erſte Ausbildung befonder8 in der Mathematik vom 
Bater. Er ſtudirte im Heidelberg zumal die Kameral⸗ 
wiffenfchaften und die neuern Spraden. Später inter- 
effirte er fich Lebhaft für den Befreiungskrieg der Neus 
griehen. Er nahm einen längern Aufenthalt in Paris, 
der gewiß für feine ganze Zukunft entfcheidend wurde, 
kehrte dann im feine Heimat zurüd, und erhielt, nad 
rühmlichft abgelegtem Eramen, bald eine amtliche Stellung 
als Praktifant im Finanzminiſterium. Schon jet machte 
er fi) auch als Autor bemerkbar durch eine Schrift: 
„Vorſchläge über die Einführung einer Bermögenfteuer in 
Baden” (Karlsruhe, Müller, 1831). Sie bietet manches 
dar, was jchlagend beweift, daß die Politif, das Yinanz- 
weſen neuerdings Einblide gewonnen, Fortſchritte gemacht 
haben, mit denen fich Feine frühere Zeit vergleichen darf. 
Mit Karl Mathy gehen nun fchnell hintereinander, mit 
Einfluß der angedeuteten, die verfchiedenften Metamor⸗ 
phofen vor, er übt die abmweichenditen WYunctionen aus, 
inden er ſich überall raſch orientirt, über jede Niederlage 
erhebt, in allen Wandlungen feinen Charakter bewahrt. 
Er wird Journalift, Publiciſt, Schriftfteller aud) im wei» 
tern Sinne, Buchhändler, er liegt mit der Cenſur in 
mehrfachen Kampfe, betheiligt fich lebhaft an politifchen 
Berfammlungen, kommt in Unterfuchung, wir jehen ihn 
als Lehrer wirffam in der Schweiz, er ift fleißiger Mite 
arbeiter an dem Rotted» Welder’ichen „Stantslerilon‘‘, kehrt 
nad) Baden zurüd, wird Abgeordneter in der Kammer 
u. f. w. 
In den Deputirtenverhandlungen und überall, wo 
er öffentlich auftritt, ift er einer der felbftlofeften, edel- 
ften, berebteften Sprecher, die jemals gehört worden, und 
es find diefe Reben ſchon allein Köftliche Seiten unſers 
Bude, Mufter politifcher Beredfamteit, von jeder Eitel- 
Zeit und Oftentation frei, nur auf das Staatswohl be- 
dacht, dabei aber doch mit Yovialität und Humor ge- 
würzt. Gleichwol drängt er fich nie vor, tritt felten als 
Redner auf; fpricht er aber, fo übertrifft ihn feiner. Nach 
vielen Hemmungen, die man ihm in den Weg legt, be- 
ginnt nun Karl Mathy feine glänzende Laufbahn, deren 
Erlebniſſe, Triumphe, bedeutende Refultate der Tefer in vor» 
Itegender Schrift gründlich aufgezeichnet finden, mit Wohl⸗ 
gefallen und Nuten kennen lernen wird. Zur Charakteriſtik 
unſers Staatsmannes fagt der Verfaſſer unter anderm: 

Mathy war eben nicht der Mann, der einreißen und zer- 
Rören wollte, wie man aufänglich von ihm beflicchtet Hatte, 
fondern fein Haupiftreben ging dahin, wirkſame und nütliche 
Reformen zu fördern, das gefammte Staatsweſen auf einen 
durchaus gejetlichen Boden zu ftellen und weiter aufzubauen 
an dem Staate im Sinne des echten conftitutionellen Syſtems. 

Auch in der Gefchichte der deutfchen Preſſe hat fid) 
Mathy einen ehrenvollen Namen gemadt. Was er für 
bie freie Prefie gethan, gefchrieben, geſprochen Hat, ift 
im höchſten Grad erquicklich. Mit Teinem Wort ift in 
neuerer Zeit wol mehr Misbrand) getrieben worden als 
mit dem Ausdrud liberal, fodag im Misbrauch des 
Bielfagendften, in der Verwirrung der Vorftellungen und 
Begriffe der wahrhaft Freiſinnige oft auszurufen fich ge⸗ 


nöthigt ſah: wer möchte denn nicht liberal fein, im höch⸗ 
ften Sinne des Worts! Es ift uns um fo wohlthuender, 
bier, im Charakter, in der ganzen Gefinnungd- umd 
Aeußerungsweiſe eines Mannes wie Karl Mathy den 
Tiberalen, wie er unter allen Umftänden, auch dem Gegner 
gegenüber, fein fol, auftreten, fchreiben, handeln, fprechen 
zu jehen und zu Hören. 

Merktwürdig und für die Eigenthilmlichleit unfers 
Helden ſpeciell charakteriftifch ift es, dag durch dem tiefen, 
echt patriotiſchen Ernſt, der fid) überall in ihm kundgibt, 
ein Faden von Jronie mitten bindurchgeht, der aber nie 
dem Ernſt umd der Sache Eintrag thut, wohl aber bie 


' jedesmalige Situation und Scene lebendiger macht. Ebenfo 


charakteriſtiſch iſt es, daß, je verhängnißvoller die Zeit 
wurde, Mathy flets entfchieden — die Folge beweilt es 
immer mehr — von jedem Ertrem, aber auch freilich von 
jeder Iauen, Traftlofen Mitte fi fern hält. Ein politi⸗ 
ſches Drama von höchſtem Intereffe beginnt in unferm 
Buche mit dem dritten Abfchnitte, mit dem Ausbruch der 
Vebruarkataftrophe in Paris, ein Drama, deſſen einzelne 
Aufzüge man aber durch die Feder des Verfaſſers felbft 
fi! vor Augen bringen laſſen muß, da jeder Bericht 
ihren feften Zufammenhang zum Nachteil unterbrechen, 
auch einen zu großen Raum Hier einnehmen würde. Bon 
jeßt ab treten die bereitS von uns angedenteten treffe» 
lichen Eigenfchaften unfers werdenden Stantsmannes in 
ihr volles Licht. Unfer Autor führt bie Vertheibigung 
Mathy's gegen die Beichuldigungen exaltirter Radicaler 
in der rühmlichſten Weife. Sehr beachtenswerthe Aeuße⸗ 
rungen über Preußen, aus der Feder Mathy’s, leſen wir 
©. 104. Sie bewähren ihn fogar als Propheten. Es 
beißt unter anderm bajelbft: 

Der Anſchluß an Preußen ift für das übrige Deutſchland 
die unerlaßlihe Bedingung feiner Sicherheit und feines Gedei⸗ 
bene.... Was Preußen einbüßt, wird Überall als ein Verluſt 
für Dentihland betrachtet, und auf der andern Seite ftellt 
N yo Preußen gewinnt, ſogleich als eine deutſche Errungen- 

a T. . 

Und zwar äußerte ſich ber Berfafler über Preußen 
bereitö fo im Jahre 1854, in feinen „Vaterlänbifchen 
Heften”. Xraurig genug, daß noch immer viele in dem 
Grade verblendet, durch bie kleinlichſten Vorurtheile be- 
ſchränkt find, um jenem fcharfblidenden, wahrheitslieben« 
den, gerechten Publiciften nicht aus vollfter Seele bei- 
zuftimmen ! 

In der Folgezeit befchäftigte fih Karl Mathy wieder 
viel mit dem Finanzweſen, ftets jeboch fo, daß er bie 
Borgänge auf dem Gebiet der Politik, der Kirche, der 
Induſtrie, des Zollvereins, bes Handels in weitefter Bezie- 
dung im Uuge hatte, feine Anfichten, Ratbfchläge dar- 
über niederfchrieb oder bei Gelegenheit ausſprach. War 
fein Aufenth TE jet ſchon lange im verfchiedenen beut- 
Ihen Städte.., zulegt in Leipzig, gewefen, fo fehen wir 
mit dem fünften Abfchnitte unfern Staatsmanu wieder 
nad Baden zurücklehren, und hier verfolgte und vollendete 
er feine Laufbahn mit einer Kaftlofigkeit und Kühnheit, 
daß alles, was er begann und ausführte, wie z. B. 
feine Wörderung der Eifenbahnunternehmungen in ben 
weiteften Dimenfionen, bis zu des trefflihen Mannes 
Tode faft eine fymbolifche Bedeutung erhält. 

Der Verfaſſer rundet feine Schrift durch den Nachruf, 








ar 


Ende aus gejehen auch jene Heinen Ermüdungen jetzt 
faft als Schönheiten der Darftellung erjcheinen, indem fie 
die auch nur momentanen Entmuthigungen des Gefeierten 
trem abfpiegeln, welche ihn ergriffen, wenn die Unbill 
feiner Feinde ihm mit ſchnödem Undank lohnte. Auch 
die Beilagen, der „Anhang“, bieten uns ebenfo Inter⸗ 
effantes wie Wichtiges unter dem Ueberfchriften: „Das 

Tinanzgefeg und die Armee”, „Die Centralgewalt”, „Das 

Wahlrecht“, „Zur Durchführung der Reichsgewalt“. Es 

find in gedanklicher wie ſprachlicher Hinfiht Muſterſtücke 

ftantsmännifcher Rebegewalt. Kurz, die ganze von und 
zur Unzeige gebrachte Schrift verbient eine allgemeine 

Verbreitung in Deutfchland, und darf noch bejonders 

zum Befig und zu wiederholter Lektüre empfohlen wer- 

den jedem Deputirten zu einer Landtags⸗- oder zur Reichs⸗ 
tagsverfammlung. *) 

4. Mittheilungen aus dem Tagebuch und Briefwechſel der 
Fürftin Adelheid Amalia von Gallitzin nebſt Fragmenten 
und einem Anhaug. Mit dem Bildniß der Fürſtin. Stutt⸗ 
gart, S. ©. Liefhing. 1868. Gr. 8. 1 Thlr. 

Darin waltet zwifchen Franzoſen und Deutfchen, wie 
fehr fie fi) fonft voneinander unterfcheiden, eine merf- 
würdige Achnlichkeit, daß beide ihre Literatur- und Bil» 
dungeinterefien bi8 in den Umgang, in das Geſpräch 
hinausmünden laſſen, daher denn auch, unfers Willens, 
fich bisjegt nur bei diefen Nationen der literarifche Salon 
in bie Erfcheinung gejegt hat. ‘Die eigentliche, höhere 
Sefelligkeit, die aus Ideen ober auch nur aus Gedanken, 
ans der Culture nad allen Richtungen bin, wobei aber 


die Thatſachen nie ausgefchloffen find, den Aufwand ihrer 


Unterhaltung bezieht, Rang, Ceremoniell, Etikette ver- 
gefien läßt, indem ihr nur Bildung bie Eintrittsfarte zur 
guten Geſellſchaft ift, diefe Kreife auserwählter Conver⸗ 
jation finden fih im Durchſchnitt nur in Sranfreih und 
Deutſchland vor, es müßte denn, nach dem, was wir 
hören, in einem Theil von Amerila, wo die beutjche 
Intelligenz immer weiter vordringt, namentlich in einer 
Stadt wie Bofton, etwas Analoges in der Geftaltung 
begriffen fein. Wo unter Franzofen und Deutfchen aud) 
ber Salon nicht ausreichte, um den Austaufc der Ge— 
danken fir beide Gefchlechter zu vermitteln, inneres wie 
ünßeres Leben, wenn zunächſt auch nur fitr fich ſelbſt oder 
für Freunde, zu objectiviren, da Half ſchon früher bei 


den Branzofen das Memoire, bei den Deutſchen das 


Tagebuch, bei beiden der Briefwechſel weiter aus, bis 
wir Deutfche fo fehr uns vervollftändigten, daß wir an 
Zahl und an Werth der Memoiren unfere Nachbarn 
bereit8 eingeholt, in Tagebüchern und Briefen fie über» 
flügelt Haben. Varnhagen ſchon allein beweift fo fehr 
das Geſagte und die Yortdauer feines Werks, daß er 
eben im Begriff ift, fich felbft nach feinem Tode noch zu 
einer ganzen Bibliothef von Memoiren, Tagebüchern, 
Briefen auszulegen; feine Productionen im reichiten Um⸗ 
gange, in ber Selbftbetrachtung, Diplomatie, Strategie, 
Biographie, fogar im Roman, in der Novelle, im Ges 
dicht find unerfchöpfliche Denkwürdigkeiten. Es hat auch 


*) Guſtav Frehtag's Biographie Karl Mathy's bat durch ihre Tlinfileri- 
i9e Bofung un, altung — ige —* mas in Ben Kintergrun 
gebrangt. Bgl. bie Beſprechung in Nr. 6 b, DL. «Ned. 


Biographiſches. 
den er ſeinem Helden weiht, aufs ſchönſte ab, ſodaß vom 


in Deutſchland feit dem vorigen Jahrhundert ſehr beden⸗ 
tende Salons gegeben. Warum der eigentliche Salon in 
der Gegenwart entſchieden zurücktritt, wer ihm für Fran⸗ 
zoſen und Deutſche auf lange hin ein Ende gemacht 
bat, worin poſitiv die wahrhaft höhere Geſelligkeit be- 
fteht, darliber ditrfen wir uns des Raumes halber hier 
nicht ausſprechen. Auch haben wir e8 an einem andern 
Orte bereits gethan. *) 

Der Kreis, den die Fürſtin Amalia von Galligin in 
und bei Münfter um fidy zu verfammeln pflegte, gehört 
ſicher zu den fehr eigenthümlich gearteten wie einflußreichen. 
Sie übte hier die edelfte, vorurtheillofefte Gaftfrenndichaft 
aus. Jeder Gebildete, wiefern er ſich vor allen als ein 
Wahrheitliebender, auch an feinem fittlichen Heil Arbeiten- 
der auswies, wurde willlommen geheißen. Es war eine 
Art geiftlich «weltlichen Hoflagers, welches die Fürftin hier 
unterhielt, indem man Seelforge mit Bildungsbeflifjenheit 
in jeder Hinficht verband. Wir begegnen in biefer Sphäre 
hervorragenden Männern mie Hemfterhuis, Jacobi, Over 
berg, Dalberg, Spridmann, Fürftenberg, Hamann, F. L. 
Stolberg, Buchholz, und es wird aud) an entjprechenben 
Frauen nicht gefehlt haben. Fremde kehrten ab und zu 
ein. Wir wiffen, aud) Goethe nahm einigen Aufenthalt. 
Im Geſpräch erging man ſich völlig ohne Gene Dies 
jpiegelt fich denn auch in den vorliegenden Tagebüchern 
und Briefen aufs beutlichfte und anmuthigfte ab. Die 
Fürſtin, lebhaft wie fie war, lenkte unbeabfichtigt das 
Ganze. E8 herrichte Hier feiner, aber e8 herrſchte eine 
fo großartige, naive Zoleranz, daß man jeden gewähren 
ließ, daß jeder feine Meinung, Anficht, feine Zweifel 
ausfprechen durfte Die Fürſtin felbft, ungeachtet ihres 
Rangs, fühlte fi fo fehr die Gleiche unter Gleichen, 
daß fie ihrer anfrichtigen Demuth nie Einhalt that, und 
doch ſtets ihre Würde behauptete, Die Fürſtin von Galligin, 
geborene Comtefje von Schmettau, war eine rau von 
außerordentliden Anlagen, von zartem Gemüth, von hel⸗ 
lem Berftand, aber mehr aneignender als fchöpferifcher 
Natur. Sie hatte ein enormes Gedächtniß, machte mit 
Schneller Auffaffung Studien in alten und neuen Spradgen, 
in der Medicin, Mathematit, Metaphyſik. Sie bedurfte 
jedoch fletS eines Seelen- und Gewiffensrathes. Diefe 
Käthe und Beiftände in der Philofophie waren ihr Hem- 
ſterhuis und Jacobi, ihre geiftlichen Väter und Seelforger 
in der frühern Zeit Hamann, fpäter auch Dverberg und 
Fürſtenberg. Trog des katholifchen Belenntniffes der 
meiften, welches fih aus dem Hintergrunde bemerkbar 
macht, nahn man fogar Heidnifches mit herein, huldigte 
dem Sokrates und Plato ebenfo lebhaft wie Leibniz, war 
gegen Proteſtanten ebenfo zuvorkommend wie gegen fatho- 
liſche Glaubensgenoſſen, dennoch mitterte der Scharf 
blidende, Feinſpürige hier eine gewiffe, wenn auch äußerft 
delicate, fern gezogene, klerikale Donanenlinie, die um⸗ 
ſchauend überwachte, wo und wie viel Contrebande über 
die Schwelle Tam, und es ftets im Ange behielt, daß 
in dem Magus aus Norben ein Ketzer eingetwandert war, 
der ſich häuslich Hier niebergelaffen hatte und in feiner 
neuen Heimat als Proteftant fogar ftarb. 

Aus dem Tagebuche der Fürftin Können wir fogleid 


e) Man vergleige: „Borlefungen über focialed Leben und ere Ge⸗ 
senfateit Bon Wlegander Jung”, (Danzig, erben, 1844). vo 


— 


m — —— — ——— — 


Biographiſches. 393 


eine Stelle citiren, die eine ſo heitere, rein menſchliche 
Duldſamkeit ausſpricht, daß ſolche manchem finſtern Ze⸗ 
loten von heute alle Ordnung des Weltganzen zu gefähr⸗ 
den ſcheinen wird. Es heißt dort: 

Ich beurtheile die Menſchen blos nach der Beſchaffenheit 
ihres Willens; wäre dieſer rein und ganz nach dem Beſtreben 
auf beſtändige Beſſerung hingerichtet, ſo könnten feine Meinun- 
gen nie die geringſte Veraͤnderung in meinen Geſinnungen gegen 
ihn, in meiner Neigung und Liebe zu ihm zu Wege bringen, er 
könne katholiſch, lutheriſch, mohammedaniſch, ein Idealiſt oder 
Realiſt, ein Stoiker oder Epikuräer feinen Meinungen nad) fein, 
wenn er nur mit Wahrhaftigkeit irrt. Kurz, wenn nur feine 
Handlungen mit feinen Dleinungen übereinflimmten oder wenn 
er nur nach biefer Hebereinftimmung ftrebte, fo märe er mir 
ehrwürdig. 

Wir finden in dieſen Tagebüchern eine Diätetik der 
Seele in Ausübung gebracht, welche in hohem Grade 
Anerkennung und Nachahmung verdient; dennoch war hier 
ein Aeußerſtes zu vermeiden, was wol nicht immer ver⸗ 
mieden worden if. Wie man fich in Selbftbeobachtung, 
in Belenntniffen an andere, im Gefpräd über die gegen- 
feitigen Seelenzuftände nie genug thun konnte, fo führte 
biefes zulegt etwas Krankhaftes mit fi, mas jogar ge- 
führlich zu werden drohte. Man wollte dem Wohlgefallen 
an ſich ausweichen, und beabfichtigte e8 unbewußt. Man 
wollte Pflichten erfüllen, und fegte fi der Gefahr aus, 
darüber andere Pflichten zu überfehen. kan veflectirte 
auf den jtttlihen Verdbauungsproceß, und ftörte ihn da- 
durch. Man wollte das moralifche Seelenauge rein hal⸗ 
ten, und rief gerade durch zu minutidfe Beobachtung 
Sleden in ihm hervor. Es wäre dem zu vergleichen, 
wenn jemand jene frankhaft wechjelnden Yigurationen des 
pꝓhyſiſchen Auges, die man mouches volantes nennt, forg- 
fältig beobachtete, zählte und fie dadurch erſt recht in ſei⸗ 
nen Geſichtskreis citirte. In obigem Sal entging es der 
Fürftin keineswegs, weldhe Syrien bier drohten, ſodaß fie 
vor jeder Schönfeligkeit zurückbebte. Auch Jacobi und 
Hamann, der Magus, warnten in der Nähe. So lejen 
wir im Tagebud) die Aufzeichnung: 

Bei Gelegenheit eines Streits zwiſchen Buchholz nnd Ha⸗ 
mann war es, daß Hamann folgende Worte fagte, die mir tief 
ins Herz fuhren: „Wenn id einen Samen in bie Erbe für, 
40 bleibe ich nicht flehen und horche und fehe zu, ob er aud) 
wachſe, fondern ich füe und gehe don dannen, weiter zu fäen, 
and Überlaffe Gott das Wachen und Gebeihen.‘ Ich fühlte 
mid in meinem Innerſten durch diefen erhabenen Grundſatz 
gerührt und getroffen. 

Hamann wird überhaupt in diefen Kreifen wie ein 
hriftliches Drafel gehört. Wir fehen aber auch, wie ein 
gewaltiger Naturmenfc in ihm nod immer im Born auf» 
zubraufen vermag, um freilich von feinem chriſtlichen Ich 
fogleich wieder niedergeworfen zu werden. Hamann's Tod 
wird von ber Fürftin ergreifend gefhildert, was fi) nod) 
fleigert, da Hemfterhuis zum Beſuch anlangt, erkrankt, 
amd ebenfalls dem Tode faft erliegt. Es kommen im weis 
tern fehr tiefe, überaus feine Bemerkungen über Chriften- 
thum vor, befonders da, wo die Fürftin fozufagen bes 
Gegenfages gedenft zwifchen Afcefe und Genuß. Sie 
fährt fort, mit Hamann, mit defien Schriften, auf deren 
Tieffinn und Werth ja auch Herder, Yean Paul, Jacobi 
und Goethe ein fo flarfes Gewicht legten, Umgang zu 
pflegen, und es bleibt ſtets denkwürdig, wie eine Frau, 
die Ratholikin im ftrengften Sinne des Worts war, in 


1370, 9. 


dem proteftantifchen Magus aus Norden eine fo unend- 
liche Welt fand. | 

Sie macht von ihrem Landfige bei Münfter einen Ab⸗ 
ſtecher nach Düſſeldorf, und vermweilt gewiß oft bei Ja⸗ 
cobi und deſſen Schweſtern in Pempelfort, wo der Eul- 
tus einer auserwählten Gefelligfeit ebenfalls begangen 
wurde. Wir Iennen die Reize des Umgangs mit Friedrich 
Jacobi aus Goethe's „Dihtung und Wahrheit“. Bei« 
läufig fei bemerft: das Deutſch der Fürſtin im Tage—⸗ 
buche ift bisweilen etwas weitfchichtig und ungelent, wenn 
im einzelnen Ausdrud auch oft fehr glüclich, geiſtvoll 
und tief. Vielleicht war jener Umftand bei ihr eine Yolge 
davon, daß fie in ihrer ariftofratifchen Stellung nur zu 
häufig mündlich und fchriftlich franzöfifch fi) vernehmen 
lafien mußte, und daß ihr die anhaltende Beihäftigung 
mit andern Spradhen den Genius ber deutfchen um ein 
Beträchtliches entfernt hatte. Menſchliche Schwächen an 
andern, felbft an den Größten, wie an fich zu entdeden, 
aufzuzeichnen, führt die trefflihe Frau aud hier fort. 
Sie beſucht fpäter Hamburg und Claudius; auch bei F. L. 
Stolberg und den Seinigen verweilt fie längere Zeit zu 
gegenfeitiger Erquickung. 

Aud in dem Briefmechfel, den fie in weiter Ausdeh- 
nung unterhielt, erfreuen wir und einer großen Mannich- 
faltigkeit des Intereflanten wie Charafteriftiichen und Be⸗ 
beutenden. Der Inhalt, die Ausdrudsmeifen diefer Briefe 
find allerdings fehr ungleich. Oft find fie überladen mit 
Complimenten, Elogen, bie einer fo edeln, bochgebildeten, 
felbftlofen Frau nur läftig fein konnten; dann drängt ſich 
in ihnen wieder ein folcher Reichthum des Innen- und 
Außeulebens, ſogar der damaligen Politik und Diplo» 
matie zujammen, daß der Empfängliche fort und fort 
angezogen, unterhalten wie belehrt wird. rau von Gallitin 
erfcheint uns oft wie eine regierende Fürſtin an der Spitze 
einfichtspoller Miniſter. Alle holen und finden bei ihr Rath, 
alle, auch noch jo verwidelte Fäden ihres Eulturftants laufen 
in ihrer Hand zufammen, werden von ihr entwirrt. Einer 
ber edelften Männer feiner und aller Zeiten, Hr. von 
Fürſtenberg, fteht bemundernswürbig vor uns, wir hören 
ihn fprechen, fehen ihn Handeln; fogar angefeindet bleibt 
er fich ſtets gleich, und darf als das Muſter eines Staats» 
mannes, Eulturbeförderers und chriftlichen Weifen bezeichnet 
werden. Auch das eigenthümliche Berhältnig der Fürſtin 
zu Hemfterhuis tritt neu hervor und gewährt uns den Ein- 
Fa in den Verkehr zweier wahrhaft ſchöner, platonifcher 

eelen. 

Un unfern Leſern eine Borftellung von der Bielfeitig- 
feit diefer ganzen Correfpondenz zu geben, wie bier bie 
verjchiedenartigften Dinge von den entfernteften Stand- 
punkten her zur Sprache kamen, erwähnen wir von ben 
Briefjendern nur folgende: Kaiferin Katharina von Ruß—⸗ 
land, Goethe, Dohm, Heyne, Johannes von Müller, 
Sömmerring, Hamann. 

Bon Sömmerring find e8 vier Schreiben aus Kaſſel. 
Es handelt fi) unter anderm um nichts weniger als um 
„einige Präparate in Spiritus”, ja um Anatomie über- 
haupt. In welcher Art der trefflihe Mann von ber 
Erhebung fpricht, welche ihm die Naturwiſſenſchaft ge- 
währt, dürfte dem heutigen Stodrealiften zu vernehmen 
bon einigem Gewinn fein. Er fehreibt der Fürſtin: 

50 


394 


Das Wiffen gibt nur allein Nahrung und erhält uns auf 
recht. Alles fonftige Äußere Vergnügen wird doch zu manden 
Stunden gleichgültig, unangenehm, jelbft ſchmerzlich, die Wonne 
hingegen, die uns Wiffen gewährt, ift dauerhafter, in jedem 
Augenblide angenehm, wird nie bereut, gehört uns am eigen- 
ften und ift feinen äußern Zufällen auögejegt, und das, weil 
fih’8 allein Übers Körperliche erhebt und daher feiner Beränbe- 
rung nnterworfen if. Das Studium der Anatomie wiirde nie 
fo leicht, und das blos um fein felbft willen, ſelbſt zur Leiden» 
Schaft werden, wenn es blos Betrachtung der Schale wäre, 
nicht von der Einrichtung des Haufes auf defien edlere Be- 
wohner oft mit Sicherheit gefchloffen werden könnte und müßte. 

Indem er das blos Aeußere abweift, fährt ex fort: 

Wie viel erhabener aber find nicht die Geſinnungen und 
Abfihten, die Euere Durchlaucht Außern, und nad welchen 
Höchſtdieſelben Kenntniffe und Wiffenfchaften lieben und beför- 
dern, nicht um des eiteln Wiffens willen, fondern um bamit 
zu nüten und darauf vor allem bie Perfectibilität des Indivi⸗ 
duums zu bauen und zu erhöhen, und fi fo, was das Be- 
fireben aller Weiſen war, dem Urweſen zu nähern. 

Es ift belannt, in welchem Grade aud Goethe bie 
Fürftin von Oalligin auszeichnete, ihr vor allen andern 
Frauen fein Bertrauen ſchenkte. Daß die Fürftin auch 
für die Antife ein fo feines Anempfinden und Berftändniß 
batte, daß fie auch zur Philofophie ſtets wieder zurüd- 


Aus der erzählenden 


Es ift eine Heine Gruppe von Romanen, Erzählun« 
gen und Novellen, die wir einer kurzen Beſprechung un⸗ 
terwerfen wollen, um unfere Leſer auch auf dieſem Ge⸗ 
biete einigermaßen im Zuge zu erhalten. Freilich haben 
wir dabei nicht don irgendeiner epochemachenden Arbeit, 
von einem wirklich genialen Wurfe oder einer neuen Kraft, 
die Großartiges wenigftens in Ausficht ftellt, zu berichten, 
wohl aber find Leiftungen zu erwähnen, die immerhin 
einer freundlichen Beachtung und Anerkennung werth fein 
dürften. Zwar der eigentliche Titerarifche Beteran unter 
den hier zu beurtheilenden Schriftftellern, Auguſt Lewald 
nämlich, ift keineswegs derjenige, deſſen Buch: 

1. Anna. Bon Anguft Zewald. Mit einer Mufilbeilage 
von Fanny von Hoffnaas. Schaffhauſen, Hurter. 1868. 
Br. 8. 2 Thlr. 24 Ngr. 

wir fehr zu rühmen im Stande wären. Die Erzählung 

ift breit, langjfam und jchwerfällig, und dabei in der 

Darftellung weder von tief pfychologifhem Werthe nod) 

poetifchem Reize. Der Berfafler fhildert uns eine Che, 

die badurd) getrübt wird, daß ein jüngerer, ziemlich ver- 
wachfener und Liederlicher Bruder des Gatten dem ſchönen 
und heitern Weibe nadjftellt, und es durch diefe Nach⸗ 
ftellungen und die damit verbundenen Intriguen beinahe 
bi8 zum Bruce zwilchen dem Paare bringt. Zum 

Süd ift jedoch eine Freundin der Frau, eine Blinde, da, 

welche durch ruhige und feinfinnige Yutention alles wie 

der in bie Reihe bringt und eine tragifche Kataſtrophe 
vereitelt. 

Man wird uns einräumen, daß für ungefähr drei⸗ 
bundert Seiten diefer Stoff nicht wohl ausreiht und 
Bebentung nur durch eine geiftvolle und pilante Einklei⸗ 
dung hätte erhalten können, die indeß hier leider durch⸗ 
weg vermißt wird. Nirgends belebt fi das Werk durch 


Aus der erzählenden Literatur der Neuzeit. 


fehrte, während fonft von nicht wenig Gläubigen bildende 
Kunft und Philofophie oft mit Enghexzigkeit und Verdacht 
abgelehnt werden, beweift den meiten Horizont, den fie 
beherrfchte. Ihr Glaube war feft, aber fie mußte, daß auch 
Kunft und Wiſſenſchaft auf demfelben feften Grunde ruhen. 

Wir empfehlen obiges Buch fehr angelegentlih. Ks 
it reich an Menſchen⸗ und befonders an Selbftbeobad- 
tung. Die Fürſtin Hatte fich die wichtigfte aller Auf⸗ 
gaben gewählt, täglich an der Lauterkeit ihrer felbft und 
ihrer Umgebung zu arbeiten, und Hatte dies Problem 
gelbſt. Schließlich verweifen wir auf die köſtliche Dar- 
ftellung, in der Goethe feinen Beſuch der Fürſtin zu 
Münfter in der „Campagne in Frankreich” jchildert, und 
machen auch noch befonders aufmerffam, daß man doch 
ja den originellen „Anhang“ unferer Schrift nicht überfehe, 
in welchem eine edle Matrone aus ariftolratifcher Per⸗ 
fpective bie Jugendzeit unferer Heldin aufnimmt und 
zeichnet, faft bis zu einer Hochzeit gelangt, und das alles 
mit ganz apartem Geift in einem fchätbar treuherzigen 
Franzöſiſch⸗Deutſch vorträgt, welches uns ergögt und zu 
aufrichtigem Dank auffordert. 

Alexander Jung. 


Literatur der Wenzeit. 


tiefe umd überrafchende Gedanken, durch erſchütternde 
Herzenswahrheiten und gemwinnenden Zauber des Stils 
ober erhebenden Schwung der Sprade. Es ift im gam« 
zen, wie wir ehrlich bekennen müſſen, von gewöhnlichen 
Schlage und durch nichts befonder8 ausgezeichnet. Um 
jedoch dem Autor und feiner Schöpfung nicht unrecht zu 
thun, bleibt daneben zu befennen, daß die letztere in jeder 
Beziehung den durchweg angenehmen und erwärmenden 
Eindrud macht, zur Befeftigung der Sitte und Moral 
gefchrieben zu fein. Der Hauch deutſcher Ehrbarkeit und 
häuslicher Tugend tritt dem Xefer in wohlthuendſter Art 
daraus entgegen und flempelt damit die Erzählung zu 
einem lobenswerthen Gegenſatze der frivolen Senfationd« 
romane, die man ſich nur zu eifrig bemüht, in Nachahmung 
franzöſiſcher Muſter bei uns einzubätrgern. 

Auch eine bei weitem jüngere Kraft, Edmund Hoefer, 
beftrebt fi) nicht ohne Erfolg, einen ſolchen Gegenfat zu 
liefern, wie die folgende Erzählung beweift: 

2. Der verlorene Sohn. Eine Geſchichte von Edmund Hoefer. 

Stuttgart, E. Hallberger. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 


Diefer verlorene Sohn tft ein preußifcher Junker, ber 
die ſchmachvolle Schlacht bei Jena mitgemacht und infolge 
derſelben, weil man ſich in dem Unglück jener Tage nicht 
die Mühe gibt, fich von feiner eigenen Schuldloſigkeit zu 
überzeugen, von feiner Familie gewiffermaßen in Acht 
und Bann gethan wird. Ex felbft verhilft dieſem Bann⸗ 
ſpruch und diefer Aechtung dadurch zu einer gewiſſen 
Zuftändigkeit, daß er bie Miene vollftändigfter Unempfind- 
lichkeit und Gleichgültigkeit gegen die Gefchide feines 
Baterlandes annimmt. Im Grunde aber ift er ein ange 
gezeichneter Patriot und ein Dann, der unter der Masfe 
politiſcher Imdifferenz ein warmes Gefühl für die Ehre 





Aus der erzählenden Literatur der Neuzeit. 395 


feines Bold bewahrt und im ftilen mit ausdauerndem 
Eifer an defien Erhebung mitarbeitet. 

Daß diefer Borwurf ein anziehender und fpannender 
ift, wird fich leicht erkennen laſſen; nur ſchade, daß Ed» 
mund Hoefer nicht Sorge getragen bat, durch tiefer 
gehende Hiftorifche Studien feiner „Geſchichte“ einen höhern 
Werth und vollere Bedeutung zu geben. Hätte ber 
liebenswilrdig und ſtets gefällig ſchaffende Novellift feine 
Erfindung mehr mit dem Geift und Leben jener denk⸗ 
würdigen Jahre durchtränkt, mehr die Menfchen und 
Begebenheiten berjelben hervortreten laſſen, fo würde ohne 
Zweifel das Ganze nicht: nur ergreifendere Gewalt, fon- 
bern auch imponirendern Ausdrud gewonnen haben. Im 
allgemeinen bleibt die Phyfiognomie diefes Werks, fo fehr 
e8 auch wiederum das Talent des Dichters im feiner 
Zeichnung und Ausmalung bekundet, doch zu unvertieft 
und novellenhaft, um den Zeitcharafter voll und treu 
wiederzugeben, in bem es feine eigentliche Weihe und fein 
höchftes Pathos zu finden hätte. 

8. Die Dorflolette. Eine Erzählung von Friedrich Spiel: 
bagen. Schwerin, Hildebrand. 1869. 8. 1 Thlr. 

Es ift dies. eine Heinere Arbeit bes Berfaflers, der, 
nicht weniger fleißig als Hoefer, doch für gewöhnlich ſich 
in Productionen von größerm Umfange auszugeben pflegt. 
Seine Erzählung, mit der wir e8 hier zu thun haben, 
verräth aud gerade in ihrer Hauptlataftrophe ftärkere 
Ausdrudsweife und Contouren, als diefelbe eigentlich ver- 
trägt. Ein verfchloffener, hart geprüfter und von ber 
Welt fcharf mitgenommener Menſch, der fih von einem 
bübfchen und gefallfiichtigen Landmädchen nur ziemlich 
wiberwillig hat erobern lafjen, und nachher erfahren muß, 
daß fie auf dem beiten Wege ift, fi) an einen erbärm- 
lichen Geden wegzuwerfen, den fie mit ihrem Lärvchen 
gleichfalls in fich vernarrt zu machen wußte, läßt ſich im 
feiner Entrüftung dazu hinreißen, dies Mädchen dadurd 
in ihrer Schönheit zu beeinträchtigen, daß er ihr die 
Ohren abſchneidet. Diefer Act der Brutalität wird ein 
wenig in zu grandiofen Strichen und fo gezeichnet, daß 
ber Lefer im erften Moment nicht anders meint, als daß 
es fih um Mord und Todtſchlag handelt. Auch ift das 
alte unheimliche Weib, welches Konrad zu diefer Gewalt- 
thätigkeit aufftachelt, ein wenig zu fpät und zu plöglic 
in den Gang der Handlung eingeführt. Das pfycholo- 
giſche Problem, bas Spielhagen ſich zum Vorwurf ge- 
ftellt, ift ganz fücher intereffant und fpannend, aber in ber 
Behandlung nicht ganz von der künſtleriſchen Subtilität, 
welche dafür erwünjcht geweien wäre. 

4. Der Regenbogen. Gieben Erzählungen von Wilhelm 

Raabe. Zwei Bände. Stuttgart, E. Hallberger. 1869. 

Gr. 8. 2 Thlr. 15 Nor. 


Diefe Erzählungen vermögen wir nicht gerade zu den 
gelungenern Erzeugniffen des Berfaflers zu zählen. „Die 
Hämelfchen Kinder“, welche die Sage vom Rattenfänger von 
Hameln novelliftifch verwertet zeigen, find chronitenmäßig 
breit und im. Grunde doch zu einer ziemlich nichtsſagen⸗ 
den und gewöhnlichen Liebesgefchichte ausgefaſert. Mit 
„Elfe von der Tanne‘ ift e8 dafjelbe. Unter den Greneln 
des Dreißigjährigen Kriege hatte fich zu Wälrode im 
Eiend ein geheimnigvoller Mann, wahrjcheinlih ein Arzt 


oder Aftronom, im Walde, fern von Dienfchen, mit fei- 
ner Zochter niedergelaffen. Friedemann Leutenbecher, der 


Diener Gottes in jener Gegend des Harzes, gewinnt ein 


inniges Intereſſe für diejes Mädchen, muß dafjelbe aber 
leider unter dem Haß und den Mishandlungen der aber- 
gläubifchen Menge zu Grunde gehen fehen. 

Stil und Yarbenton fcheinen uns bier von ebenfo er- 
fünftelter Härte und Dunkelheit, wie iu der modernen 
Keifenbenteuergefchichte „Keltiſche Kochen” der Humor 
erzwungen und wirkungslos. „Sanct⸗Thomas“ ift eine 
jpanifche Novelle, die einen gewillen romantifchen Heiz 
befigt und ſich gleichfam fchattenhaft in Naht und Fin- 
ſterniß abſpielt. Die Menfchen handeln alle wie in 
Träumen und Biftonen; da aber diefe Handlungen und 
ber ſchwarze Hintergrund, auf dem fie vor ſich gehen, 
nicht ohne grell auffladernde Beleuchtungen bleiben, fo 
muß der Gefchichte doch jedenfalls ein durchgehender Zug 
von Pilanterie zugeftanden werden: ein Zug freilich, der 
nicht felten in Effecthafcherei ausartet, aber durch frap⸗ 
pante Ausprägung des fpanifchen fowie des niederländi- 
ſchen Vollkscharakters einen höhergehenden Werth erlangt. 
„Die Gänſe von Bilgow“ bringen eine medlenburgifche 
Kleinftadt-Emente, bie ihr Ergötzliches, aber in breitfpuriger 
Detailausmalung auch ihr Misliches hat. „Gedelrike“ 
ift eim tragifcher Pendant dazu, und, wenn bier und 
da von unheimlich verwifchten Colorit, doch don über- 
raſchend glüdlichen Einzelheiten. „Im Siegeskranz“ bie- 
tet die Leidensgefchichte einer armen Wahnfinnigen, die 
ihren Geliebten zum vorzeitigen Aufftand gegen bie Fran⸗ 
zojenherrfchaft von 1809—12 anftadhelt, und als derfelbe 
dann hierbei feinen Untergang findet, in geiftige Umnad)» 
tung verfällt, welche unfer Autor wahrhaft erfchütternd zu 
ſchildern und über manchen widerwärtigen Eindrud hin⸗ 
weg zu verfühnendem Ausgange zu bringen weiß. 

Eme ähnliche, mit einer entjchiedenen Hinneigung zu 
dunkler Romantik verfehene Begabung begrüßen wir in 
einem nenern Autor, Wilhelm Jenſen mit Namen. 
Es liegen uns von ihm drei Bücher zur Beſprechung 
vor: 

5. Die braune Erica. Novelle von Wilhelm Jenſen. 

Berlin, X. Dunder. 1868. 16. 15 Ngr. 

6. Das Erbtheil des Bluts. Erzählung von Wilhelm Ien- 

| en r?rlin, Erpedition des Sonntags⸗Blatts. 1869. 8. 


T 
7. Rene Novellen von Wilhelm Ienjen. Stuttgart, Kröner. 

1869. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Ngr. 

„Die braune Erica” (Nr. 5) ift eine Art von novel» 
liſtiſchem „Sommernachtstraum“. Es herrſcht darin eine 
ſchwüle, märchenhafte Stimmung, ein myſtiſches, ſchlaf⸗ 
trunkenes Leben, ein phantaſtiſcher Zug von Ludwig Tieck, 
Achim von Arnim und Clemens Brentano. Die Welt 
liegt wie im Dämmer, und was ſich darauf bewegt, iſt 
wie Schemen und Schatten, die langſam und geſpenſter⸗ 
haft vorüberziehen. Das Ganze erweiſt ſich nicht ohne 
Poeſie, aber es iſt die Poeſie, welche unter dem Alpdrucke 
ber Romantik liegt, der fo lange eine ganze Schule be- 
ſchattete und eine Dichtung erzeugte, die ſich wie im 
Fieber umherwälzte und unverftändliche Dinge in Berfen 
fowol als Profa lallte, 

„Die braune Erica” zeigt von dieſem Trankhaften 
überreizten Zuflande mancherlei Symptome auf. Der 


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396 


Inhalt ift dunkel und überwacht, fchwerfällig und ſchwan⸗ 
end im Gang der Entwidelung, verworren und unklar 
im Ausdrud, Es ruht wie Nacht auf dem Werken; 
Wolken verbüftern den Mond und beängftigende Stille 
breitet fich überall aus. Die Berfe, die fid) aus der 
Proja hier und da erheben, lafjen ſich wie ein jchläfriges 
Bogelzirpen an, das zu zeiten wie aus der Erde oder 
aus der Luft zu ertönen fcheint, einen Augenblid andauert 
und dann wieder langjam erlijcht und ftirbt. 

Höre man den Hergang: Ein Brofeffor der Botanik, 
deſſen alte Haushälterin zu Pfingiten das Haus ſäubern 
und lüften will, wird durch diefe aus feinem Studir⸗ 
zimmer vertrieben und weit hinaus ſcheucht auf die timasger 
Heide, wo er Erica janthina ſuchen geht, und ftatt ihrer, 
ſich zu einer Zigeunerfamilie verivrend, ein braunes Heiden- 
mädchen findet, das ihn durd; feine natitrlihe Schönheit, 
feinen abenteuerlichen Geift und feine wunderbare Naivetät 
fo anzieht und fefjelt, daß er fie als gefundenes Blümchen 
Wunderhold mit nad) Haufe nimmt und heirathet. 

Es liegt poetifher Duft und Zauber über der Ar- 
beit; aber bieje find nicht ganz gefund und wirken be» 
Hemmend und bedrückend. Es iſt eben die dide, jchwere 
Luft der romantifhen Schule,. die mitternächtig darüber 
ſchwält und brütet. 

Bon der Erzählung „Das Erbtheil des Bluts“ (Nr. 6) 
gilt dafjelbe. Es fpielt darin die grausliche Geſchichte 
einer Doppelheirath. Ein adeliher Gutsbeſitzer Hat in 
ftürmifcher Naht fih in feiner Schloßfapelle mit einer 
Schaufpielerin trauen laffen, wie er meint, von einem 
verfappten Gauner; aber es ift der wirkliche Paftor des 
Nachbarguts, der in aller Form das Paar zufammengibt. 
Diefer Paſtor wird von dem Zwifchenträger, einem 
Kammerdiener bes Junkers, vergiftet, berichtet vorher aber 
den dunkeln und geheimnißvollen Vorgang noch einem 
Collegen, der ihn in feinem Tagebuche aufzeichnet und, 
nachdem er der Nachfolger des Geftorbenen geworben ift, 
fpäter, natürlich ohne es zu wiflen, jenen Gutsbeſitzer 
mit einer reichen, vornehmen Dame nod einmal bei hellem 
Tage traut. Die erfte, auf fo ſchändliche Weife betrogene 
Gattin, welche den Betrug inzwilchen inne geworden, ift 
ans dem Schloß, in dem man fie verftedt hielt, ent- 
wichen und trägt ein Zöchterchen, das fie bald darauf 
geboren, den Paftorleuten zu, die es nebft einem Sohne 
des unglüdlihen Borgängers in demfelben Predigtamte 
aufziehen. 

Der zweite Abjchnitt der Erzählung gibt nun die 
Gefchichte diefer beiden Kinder. In dem Mädchen regt 
fih des Blutes Erbtheil, d. H. der abenteuerliche, Fünft- 
lerifche Trieb der Mutter. Das einfame, ftille Leben auf 
dem Lande und bie ehrbare Erziehung der Pflegeältern 
bedrüden ihren Geift, und ba man diefen einſchränken 
und auf ebener Bahn chriftlicher Häuslichleit bewahren 
will, empört fie ſich und verleitet ihren Pflegebruber, mit 
ihr in die Stadt zu gehen. Hier begibt fie fi unter 
die Schaufpieler, ohne indeß auf der Bühne durch etwas 
anderes als -ihre Schönheit Glüd zu machen. Der 
Stieffohn ihres Vaters, ein wüſter, Tiederlicher Menſch, 
fucht fie zu verderben. Das Mädchen ift in eine Gefell- 
ſchaft von ſchlechten Menjchen und Dirnen gerathen und 
auf dem Punkte, durch diefelbe Liſt und Borfpiegelung 


Aus der erzählenden Literatur der Neuzeit. 


wie ihre Mutter zu fallen. Aber biefe Mutter, die, von 
Stufe zu Stufe gefunten, für ihr Kind doch noch ein 
beſſeres Gefühl bewahrt bat, rettet fie in Gemeinfchaft 
mit dem Pflegebruder vom zeitlichen und ewigen Ber. 
derben. Schließlich kehrt die Heldin zu den Paſtor⸗ 
leuten zurüd und fieht fih als Kind des Edelmanns 
anerkannt. 

Auch diefe Erzählung iſt, wie fih ohne Zweifel zur 
Genüge aus unferer flüchtigen Darftellung des Inhalts 
ergibt, von romantifcher Dunkelheit, ſchroff wirfend und 
herzbeklemmend. 

Deſſelben Autors „Neue Novellen“ (Nr. 7) ſind es 
nicht weniger, zum mindeſten einige davon. „Aus dem 
Heu“, eine ſchläfrige Geſchichte, wie fie der Dichter fel- 
ber nennt, erinnert an „Die braune Erica”, nur daf fie 
tindlih naider und mehr wirkliches Märchen ift, ein 
Märchen, das von zwei Kindern auf dem Heuboden ge= 
träumt wird. Der phantaftifche Zug zur Erlöfung der 
verwunfchenen Prinzeſſin ift wahrhaft reizend und in ſei⸗ 
ner Urt ein Kleines Meifterftüd. 

„Valenzia Gradonigo“ ift eine in keden Strichen hinge⸗ 
zeichnete Epifode aus der Gefchichte Venedigs. Eine vornehme 
junge Dame diefer alten Meerftabt liebäugelt mit einem Dich» 
ter, den fie infolge dejlen auf Anordnung ihres eigenen Baters 


meuchlings ermordet fehen muß, obſchon in der That ihr 


Herz weit mehr für Antonio Yoscarini, den freund bes 
Dichters, fchlägt. Nach dem Tode des Poeten lernt An- 
tonio Balenzia erft wirklich kennen, verliebt fich im fie 
und will fie heirathen. Aber ein Werkzeug des Gradonigo, 
der ftille Vollftreder von deſſen biutigen Gedanken, der 
jelber die Signora liebt, ftedt dem Bräutigam ihr Ber 
hältniß zu Xeonardo, dem Sänger, und veranlaßt dadurd) 
Foscarini, fi von Valenzia noch vor dem Altare los⸗ 
zufagen. Der alte Gradonigo wüthet über biefe feinem 
Kinde und fi felbft angethbane Schmah und ruht 
nicht eher, als bis der junge Patricier angeffagt und 
zum Tode verurtheilt wird. Aber feine Tochter, die ihn 
aufrichtig und leidenſchaftlich liebt, eilt ihm zu befreien, 
wobei fie indeß mit dem Unglüdlichen vereint den Tod 
findet, in dem Augenblide, in dem ihr Vater gerade das 
Fe feiner Wünfche erreicht und ben Stuhl des Dogen 
efteigt. 

„Die Liebe der Stuarts“ ift weniger grell und viel 
zarter im Ton. Die Feine Novelle gibt die Geſchichte 
einer Halbſchweſter von Karl IL, die, an einen Theo⸗ 
logen verheirathet, den jungen Stuart beim Ausbruch 
der Revolution retten hilft. Der Eingang ber Erzählung 
ift intereffant und von fpannendftem Reize, aud die Er- 
zählung felbft voll feiner Züge und geiſtvoll; nur daß 
der neu eingejettte König, um feine Aehnlichkeit mit ber 
inzwijchen geftorbenen Halbfchwefter mehr in die Augen 
fallend zu machen, biefelbe in weiblicher Kleidung feiner 
Hofumgebung zum beften gibt, will uns unpaflend und 
beeinträchtigend für den Eindrud vorlommen. Ohne die 
fen Mummenfhanz und die birecte Cinmifchung von 
Karl I. würde fi, unferm Bebiinfen nad, die ganze 
Sade ungezwungener und mehr zum Herzen fprecend 
machen. 

Die am reinften und beften wirfende Schöpfung dies 
je8 Novellenbuchs ift ohne Zweifel aber „Das Buch Ruth“; 


Aus der erzäblenden 


benn über biefer Meinen, fchlicht und einfach vorgetrage⸗ 

nen Liebesgefchichte zwiſchen einem Chriften und einer Jü⸗ 

din lagert ein wahrhaft idyllifcher und tief verſöhnender, 

man möchte jagen biblifcher Hauch, der auf edlere Ge- 

müther ganz ficher von erhebendem Einfluſſe fein wird. 

8. Novellen von Adolf Wilbrandt, Berlin, Serk. 1869. 
8. 2 Thlr. 


Diefe Novellen find mehr der modernen Welt ent« 
nommen und infolge deffen in ihren Motiven weniger 
romantifch, aber dafür vielfach wahrjcheinlicher. Die Er- 
findung ift zwar weder fehr neu noch originell, aber die 
Darftellung doch fo, daß ſich derfelben mit Antheil fol- 
gen läßt. In der Erzählung „Die Brüder” wird uns 
ein Mädchen vorgeführt, in das ſich ein Brüderpaar zu 
gleicher Zeit verliebt. Obſchon dieſes Mädchen nun ihr 
Herz eigentlich dem jüngern Bruder zugewendet bat, hei- 
rathet fie do, durch Misverſtändniſſe und fonftige Um⸗ 
ftände veranlaßt, den ältern, mit dem fie denn auch in 
ruhiger und äußerlich glüclicher Ehe lebt, indeß ber 
geliebtere der beiden auf Reiſen geht und erft nad) 
Jahren wiederkehrt. Cr hat umfonft verfucht, feiner 
Leidenfchaft Here zu werden, und als er num mit der 
Gattin feines Bruders einen Augenblid allein ift, gefteht 
er derfelben fein Unglüd ein, indem er zugleich bei diejer 
Gelegenheit alle die Irrthümer aufdedt, die einft vere 
anlaßten, daß ihre Herzen auseinandergegangen. Der 
Satte wird durch Zufall ein Obrenzeuge diefes Geſprächs, 
und da er Heroismus genug befitt, fein Glüd demjenigen 
des Bruders zu opfern, fo entjagt er und tritt zurüd, 
um fein Weib dem Bruder zu überlaſſen. Er befteht 
auf einer Scheidung und fieht dann mit Freuden die 
beiden Schwergeprüften vereinigt. Dieſer Hergang ift 
ein wenig umftändlid und breit vorgetragen, läßt aud 
zu zeiten wirklich feine und poetifche Detailausführung 
vermifien; einzelne fchöne Züge und ergreifende Momente 
dürfen indeffen der Arbeit immerhin nachgerühmt werben. 

„Heimat” gibt in Briefform die Liebesgefchichte eines 
etwas fonderbaren Kauzes, jebenfalls eines Poeten oder 
Künftlers. Herr Friedrich hat die Welt, Hat namentlich) 
Stalien gefehen und ſchwärmt für Rom. Nach Haufe 
zurücgelehrt, findet er eine Jugendgeliebte wieder, und 
an diefer, die in kleinſtädtiſchen Verhältniſſen weiter gelebt 
bat, vielerlei auszufegen. Er quält und martert das 
arme Mädchen, bis es zum Bruche kommt, und als 
biefer erfolgt ift, erkennt er doch erſt, was er in ihr 
verloren. Selbft fein gepriefenes Welfchland vermag ihn 
nicht ganz dafür zu tröften, und fo ift er glüdlih, daß 
eine vernünftige Schwefter die Vermittelung zwifchen ihm 
und ber aufgegebenen Jugendgeliebten übernimmt, und 
er endlich‘ mit diefer, die ihm mit einer Freundin 
nachgereift ift, in fein deutſches Zuhaufe zurüdfehren 
kamm. Wir haben ähnliche Herzenscapriccios geiltreicher 
und pilanter audgeführt gelefen, dürfen aber immerhin 
befennen, daß auch diefes nicht ohne alle Vorzüge und 
Berdienfte ift. 

„Reſeda“, die dritte und letzte Novelle diefes Buchs, 
nimmt füch faft wie die Erzählung eines Luſtſpiels ans. 
Wir fehen darin einen Dichter, Herrn don Stegen, der 
fi um eine fchöne, glänzende Witwe bewirbt, aber 
endlich deren unfcheinbare Schwefter heirathet, weil er 


Literatur der Neuzeit. 397 


in dieſer eim weit begabteres und edleres Wefen hat 
kennen lernen. Die Novellette ift nicht gerade durch» 
meg gefhidt gemaht und im Gang ihrer Entwicke⸗ 
lung jedenfalls nicht ohne Gewaltſamkeiten und Härten; 
aber fie entwidelt an vielen Stellen nit nur einen 
oft brillanten Wi und Geift, fondern auch frifch erfaßtes 
draftifches Leben. 

9. Frau Lee. Roman für gebildete Frauen und Yungfrauen 

von Agnes le Grave. Berlin, Habel. 1869. Br. 8. 

1 Thle. 25 Nor. 

Dies ift ein fogenannter Tenbenz= und bier fpeciell 
ein Erziefungsroman, in welchem bie Berfafferin nicht 
nur zeigt, wie man Kinder, fondern aud) Väter, alte 
förrifche Leute und Leidenfchaftliche Liebhaber von ihren 
Unarten, fchlechten Angemohnheiten und thörichten Ein» 
bildungen nach und nad; befreit. Frau Lee, eine junge, 
hübſche, geſcheite Frau, melde einen guten, braven, 
aber wie es fcheint etwas unbedeutenden Mann befigt, 
bemuttert fozufagen alle Welt und ift jedenfalls in ihrem 
eigenen Haufe und ganzen Umgangsfreife das dominirenbe 
und beftimmende Element. Da ihr Gatte ein Beamter 
der Stadt oder des Staats iſt umd viele Stunden des 
Tags außer bem Haufe in feiner Kanzlei zubringen muß, 
fo ergreift fle die Zügel des Regiments daheim und hält 
Haus und Hof, Kind und Kegel in ber gehörigen guten 
Ordnung. Der Roman berichtet und erörtert, auf welde 
Weife das geſchieht, und gibt fomit aufhorchenden und 
achtſamen Gemüthern hundertfach Gelegenheit, ſich danach 
vorkommendenfalls zu bilden. Ob dieſe Bildung nun 
gerade immer die zupaſſende und richtige iſt, wollen wir 
dahingeſtellt ſein laſſen; ſicher iſt, daß eigentlich neue 
und überraſchende Grundſätze, Grundſätze, wie ſie z. B. 
Rouſſeau in feinem „Emile“ aufſtellte, hier nicht vorhan⸗ 
den find. Agnes le Grave entwidelt weder ein eigent- 
liches Syftem noch eine beftimmte Lehre, fondern begnügt 
ſich, durch Beifpiele und Erläuterungen ihren Leferinnen 
Anregungen und Anlaß zum Nachdenken zu geben. För⸗ 
bernd ift das Buch jedenfalls, wenn es vielleicht auch 
ſchon im allgemeinen das Weib etwas gar zu felbftändig 
hinſtellt, beſonders dadurch, daß Frau Lee fih einem 
Ehemann zur Seite gegeben fieht, der allerwegs und 
äußert bereitwillig ihren Anfichten, Planen und Anord⸗ 
nungen fi fügt und anheimgibt. Möglicherweife würde 
das ganze Werk bedeutfamer geworden fein, wenn in 
manchen Dingen die Gattin auf Widerfprud und Oppo⸗ 
fition bei ihrem Gatten geftoßen und fid daraus Zufam- 
menflöße ergeben Hätten, die zu überwinden und auszu⸗ 
gleichen e8 manche Anftrengung und Refignation gefoftet 
hätte. Der Kampf und die Beflegung von Hinderniffen find 
in Aufgaben folcher Art gewöhnlich die beften Lehrmittel und 
Tehrmeifter. Auch Agnes le Grave hat das wohl empfun- 
ben unb aus dieſem Grunde in ihren Lehrroman dadurch 
einen Conflict gebracht, daß fie einen nahen Verwandten 
bon Herrn Lee fich fterblih in Frau Lee verlieben läßt: 
eine Liebe, welche bie lettere gefchidt dadurch zu pariren 
weiß, daß fie diefelbe auf ein junges Mädchen überlent, 
das fie eigens für diefen Better ihres Mannes erzieht. 
Dieſer Conflict ift nun freilich ſchon etwas, aber unferm 
Dafürhalten nach doch nicht genug, um Fran Lee ihrem 
innerfien Wefen und Wirken nad) auf die Probe zu fegen. 





398 


Nichtsdeftoweniger bleibt der Roman ein Tchätenäwerther 
Verſuch. Dan wird ihn vielleicht ein wenig altflug, 
pedantiſch und allzu ſchulmeiſternd fchelten, indeß ihm 
immerhin einräumen müſſen, daß er, von verftändigen 
Borausfegungen ausgehend, auf vernünftige Zielpunfte 
fosftenert. Jedenfalls entipringt das Buch aus einem 
fühlbaren Bedürfniß. Die Nenzeit verlangt nad) einem 
beftimmten Erziehungsprincip: ein Berlangen, das die 
Berfafferin in ihrem Werke wenigftens bedeutfam be» 
rührt bat; dafür verdient fie unter allen Umftänden un« 
fern Dank. 


10. Su ben preußischen Hinterwälbern. Erzählungen von Robert 
San e sel. I. Der Artſchwinger. Berlin, Sanfte. 1868. 
8. gr. 


Mit der Novelle „Der Axtſchwinger“ beginnt der Autor 
feine Sammlung von Erzäßlungen „In ben preußifchen Hin» 
terwäldern”. Die Geſchichte läßt fi mit warmem Antheil 
und vollem Intereſſe lefen, namentlich in ihrem erften Theile, 
der uns das Leben und Treiben jener polnischen Bollsmafle 
vorführt, die unter die Herrfchaft Preußens gerathen ift. Der 
eigentliche Held (Simon Bronilowsly), fein Haus, fein 
Umgang, fein Thun und Laſſen, der Gegenfiand feiner 
Liebe, werden uns frifh und gegenftänblich geſchildert, 
eine Schilderung, die in der Spannung bis zu dem 
Augenblide beftändig fteigt, in welchem Bronilowsky's 
Bruder der Kugel feiner Gegner erliegt. Bon da an 
verliert fi die Erzählung in die Greuel ber Niebder- 
meßelung des legten polnifchen Aufftandes durch die Ruffen, 
und wenn man in biefen auch noch immer die Fäden ber 
Geſchichte wahrzunehmen und zu verfolgen vermag, fo 
wird bie Aufmerkfamfeit doch allzu baftig und wild hier⸗ 
hin und dorthin gezogen, als daß man noch mit ganzer 
Sammlung ausfhlieglich auf fie gerichtet bleiben könnte. 
Der eigentliche Auslauf des Ganzen wird zu bunt und 


Fenilleton. 


raus, um noch von überall ausgeglichener und einem 

Kunftwert angemefjener Wirkung zu fein. 

Höher fteht in diefer Beziehung: 

11. Der Bodreiter, Bine Eriminalnovelle von Adolf Muͤtzel⸗ 
burg. Berlin, Medienburg. 1868. 8. 25 Nor. 

Es ift dies eine Diebs⸗ und Gaunergefchichte, die wir 
glauben fchon früher einmal in anderer Bearbeitung ge- 
lefen zu Haben, die aber in ber vorliegenden uns in ihrer 
Urt nahezu meifterhaft bebünft, fo ruhig, Mar, Iebendig 
und die Aufmerkfamteit des Lefers unausgejegt in Anſpruch 
nehmend ift fie abgefaßt. Einfach und doch padend, wie 
fie in ihrer Darftelung ift, kann fie anf bem Gebiete dies 
fer Literaturgattung wol als Mufter gelten. 

Zulegt fei Hier auch noch eine Üeberfegung aus dem 
Franzöfifchen angeführt: 

12. Der fremde Knecht. Eine waabtländifhe Dorfgeſchichte von 
Urbain Olivier. Aus dem Kranzöfiichen von der Ueber- 
fegerin der „Förſterstochter“. Baſel, Schneider. 1869. 
8. 15 Nor. 

Der auf dieſen Felde der Dichtung zu bedeutenden 
Aufe gelangte Autor hat in feiner neuen Production ein 
durchaus ‚lebensfrifches, wahrheitägetreues und zugleich die 
Seele tief und rein ergreifendes bäuerliches Genrebild ges 
liefert. Der Hergang ift ſchlicht und alltäglich, aber mit 
einem ebenfo wunderbaren als natürlichen Reize erzählt. 
Das Hanptverdienft der Arbeit liegt in der Charakteriſtik 
der bäuerlichen Geftalten, die darin vorfommen und von 
überzeugendfter Treue der Wirklichkeit fein dürften. We 
nigftens empfindet man das aus der Leltüre Heraus, bei 
ber man fih in die Menfchen und Verhüältniſſe einer 
waadtländifchen Landſchaft in jo vollftändiger Weiſe ver- 
jest fühlt, daß man ſich gleichjam von deren Athem und 
Geiſt im Lefen umgeben meint, Urbain Olivier ift ber 
franzöfifche Jeremias Gotthelf (Albert Bigins). 

Seodor Wehl. 


Fenilleton 


Rotizen. 

Der ahtundzwanzigfte Band der „Bibliothek der deut. 
ſchen Rationalliteratur des achtzehnten und neunzehnten Jahr⸗ 
hunderts“ (Leipzig, Brodhaus) enthält von Moſes Men- 
delsfohn die beiden Schriften: „Phädou oder Über bie Uns 
ftierblichfeit der Seele“ und „Sermfalem ober über religiöfe 
Macht und Indenthum“, mit Sinteitumg und Anmerkungen 
herausgegeben von Arnold Bodel. ie @inleitung, die 
Biographie und Charablteriſtik Mendelsſohn's ift mit vieler 
Wärme gefchrieben, ohne daß ber Berfaffer ben objectiv bar» 
ſtellenden Standpunkt verließe. Die Beziehungen Mendelsjohn’s 
zu Leffing, Lavater, Jacobi find mit genaueſter Sachkenntniß 
dargefteflt. Weber eine der wichtigften ragen, ob und inwie⸗ 
fern Mendelsfohn als ein Bopularphilofoph zu betrachten fei, 
Kan fi) Bodek in der Vorrede in geiftvoller Weife wie 
olgt aus: 

„Dan bat, gerade mit befonderer Bezugnahme auf ben 
«Phädonn, Menbelsfohn einen «Popularphilofophenn genaunt. 
Manu bat mit diefem Worte eine verächtliche Nebenbebeutung 
verbunden und ben Berfafler des «Phädon» mit Engel, Crnſius 
und andern wohlmeinenden, aber allerdings fehr feichten Schrift. 
ftellern feiner Zeit in eine Reihe geftellt. Ein Popularphilo» 
ſoph in diefem Sinne ift Mendelsjohn nicht; er jelbft ſprach 
fi offen und wiederholt gegen das damals beliebte ſyſtemloſe 
und flache Bhilofophiren aus. «Man trägt ſich bentigentags», 
fo warnte er, «mit der Brille, alle Wiſſenſchaften leicht und ad 


captum, wie man e8 zu nennen beliebt, vorzutragen. Dadurch 
glaubt man die Wahrheit unter den Menſchen auszubreiten 
umd fie wenigftens nach allen Ausmefiungen auszudehnen, wenn 
man ihren innern Werth nicht vermehren kann... Mi dünkt 
aber, e8 fei nichts fo ſchädlich als eben dieſer Lönigliche Weg 
zu den Wiffenfchaften, den man hat finden wollen... Um bie 
Beweiſe kümmert man fi wenig, weil man überzeugt fein 
wollte. Die Wahrheit ſelbſt ward durch bie Art, wie man fie 
annahm, zum Vorurtheile. Lieber mag fie mit ber größten 
Heftigkeit angefeindet werden, ehe ſie ſich unter der Geſtalt 
eines Borurtheils einen kalten Beifall erſchleichen fol!» Und im 
einem fpätern Briefe (an Herder) Hagt er: «Es ſcheint, ale 
wenn die feichten Metaphyſiker jet das große Wort hätten, 
und man muß fih Öffentlich zumeilen mit ihnen einlaffen, fo 
lange die wahren Denker nur Privatbriefe fchreiben wollen. 
Man kann es in öffentlihen Schriften faum mehr wagen, 
metaphyſiſch zu denken, weil diefe Sprecher der Metaphyſik bei 
allen Gelegenheiten die Zähne weiſen. Man muß diefen Her» 
ren nur einmal eine Art von Punſch vorfegen. Wenig meta 
phyſiſche Grüindfichkeit, mit einer Menge von wäflerigem Ge 
ſchwätz verblinnt, erhält allgemeinen Beifal.v Wie unrecht 
thut man aljo, Mendelsjohn mit vornehmer Handbewegun 

unter die philofophirenden Dilettanten zu wein! Kant fa 

in ihm «ein Genie, dem es zufäme, in der Metaphyſik eine 
nene Bahn zu brechen, die Schnur ganz aufs nene anzulegen 
und den Plan zu diefer noch immer aufs bloße Gerathewohl 








Feuilleton. 399 


angebauten Disciplin mit Meifterhand zu zeichnen». Bieles 
vereinigte fih, um Mendelsſohn an der Erfüllung fe hoher 
Erwartungen zu hindern. Ja, er felbft geftand, daß er fid 
«das Bermögen oder die Fertigkeit nicht zutraute, feine Gedan⸗ 
en beftändig an eine firenge ſyſtematiſche Ordnung zu binden». 
Doch kann dieſes beſcheidene Bekenntniß für unſer Urtheil ebenſo 
wenig maßgebend ſein, als uns dasjenige Leſſing's, daß ihm 
der innere Dichterbernf fehle, in der ebergengung beirren fann, 
daß in den Adern eines Mannes, der eine «Minna von Barn⸗ 
gem», eine «Emilia Salotti», einen «Nathan» ſchrieb, echtes 

ihterblut fließen mußte, Soll aber Menvdelsfohn bucd) die 
Behauptung, daß er ein Popularphilofoph geweſen ſei, nicht 
zum Dilettanten geftempelt werden, foll dieſes Wort in Kürze 
nur das bezeichnen, daß er der Bhilofophie ein vollsthümliches 
Kleid umgeworfen und fie ans den Gelehrtenzellen, in denen 
fie einfam ihr Leben friftete, Hinausführte auf den Markt des 
2ebens, hinein in die Häuſer umd Herzen bes Volls: fo können 
wir nicht abfehen, wo denn hier das Verächtliche liege. Denen, 
die achfelzudend jene Pieihnung vor fih hinmurmeln, erwi⸗ 
dern wir aljo getroft mit ihren eigenen Worten: Mendels- 
fohn war ein Popularphilofoph. Denn dies ift gerabe 
der Punkt, durch den er fi mit unjerer Zeit berührt, durch 
den er zu und herüberreicht und lebendig in unferer Mitte 
wandelt. In einer Zeit, in der das Willen noch ausfchließ- 
liches Eigenthum weniger bevorzugter Stände war, hielt Men⸗ 
delsſohn das Banner der Bolfsbildung hoch. Wußte er doch 
aus eigener Erfahrung, wie weh es thut, von diefem Gute 
ausgeſchlofſen zu fein, das allen Menfchen gemein fein follte, 
und wel ein Zauber in feinem Befite liegt. Wie ſchwer war 
es ihm geworden, bie Ungunft der Berbältniffe, die Mängel 
einer acmfectigen Erziehung zu überwinden!’ 

Aus Friedrich Schleiermadher’8 Werken bat €. Ru⸗ 
borff eine Sammlung von Ausſprüchen: „Stunden der Weihe, 
zufammengeftellt (Berlin, Böttcher), und zwar in den Abſchnitten: 
„Des Ehriften Charakter und Wandel’, „Der Chrift als Teh- 
rer und Bilder‘, „Der Ehrift im Verhältniß zu feinen Freun⸗ 
den und feiner Familie”, „Der Auffhwun ng der Seele zu Gott“, 
„Trübſal und Tod verflärt durch den Glauben”. Geiſireich 
find alle dieſe Gedanken bes Theologen; aber Schleiermacher 
war im Grunde eine Natur, in welcher das Diafektifche mit feinen 
feinverſchlun genen Zujammenhängen vorherrjchte, deren Bedeu⸗ 
tung u phorigmen nicht erihöpft werden kann. 

Bon Karl Zettel’s „Edelweiß“ liegt eine dritte verbef- 
ferte und veränderte Auflage vor (Eichftädt, KHül), ein Be⸗ 
weis, daß bie geſchmackvolle Anthologie mit ihren zahlreichen 
neuen Originalgebidhten das Publikum angeſprochen hat. 

Eine andere neue Anthologie ift „Hreya. Das Leben der 
Liebe in Liedern und Gedanken deuticher und fremder Did 
ter von Th. Buddeus (Berlin, Stilfe und van Muyden). 
Die Sammlung enthält nicht blos Gedichte, fondern auch dra⸗ 
matiſche Liebesfcenen und Sentenzen in einer fich ergänzenden 
Auswahl. 





Kibliographie. 
Unter Is Flock. Mittpeilungen ans ben Sehr. und Wander⸗ 
v 0 d, . Or. ER 
daher — — Inſe er Das Aniett, nr Leben 


and Wirlen in bem Dauhalte ber Natur, gemeinfaßlich bargeftellt. Soeft, 
Rafie: &r. & ı Thlr. 71 
Ku * .Ein ge "ai lag zur Löſung ber deutſchen Münzfrage. 
r 
Bad er a oekngeffin Sivcnie, Roman. 3 Bde. Leipzig, Wr. Flei⸗ 


fer. 8. 4 Ile. 
Biähr, J. K., Ueber die Einwirkung der Reibungs - Electricität auf 


das Pendel, Dresden, Türk. Lex.-8. 15 Ngr 
Barené, J., Der preußifhe Staat und bie hannoverſche Kirche. 
Deutſche Worte an bie Dannoveraner in Stabt und Land. Haunover, 
Brandet, @®r. * 5 Nor 
rtbel, K., N deu 8. Ank., dard Anm Neuzeit in elner 
Reihe don Borlefungen dargeftellt. 8. Anfl., durch Anmerkungen ergänz 
rl bis u, He 3. rt. ıfte Lief. Berlin, Ebeling u, Blabe. 


"Hera fer © "a, 4 ber alten Fabrik. Deutſche Ausgabe. 1fte Lief. 
Reipzig, t Bein, 8 8. 

—X Popolo. Novellen⸗Cyklus aus Rom. Mit 

—5 — ng — ereutſcht von A. Strodtmanu. 3 Bde. 

Derlin, 8. nder. 8. 


Bernhardi, W., Berlin im Keller und im erflen Stod. Gin Bere 
liner Gittengemälbe. Bertin, Zangmann u. Comp. Gr. 16. 15 Ngr 

— — Die Wollarbeiterin. Ein Sittenbild der Gegenwart, erfin, 
Langmann u. Comp. Gr. 16. 15 Ngr. 

Bette, W., Unterhaltungen | über einige Capieaı der möcanique cöleste 
und der Kosmogonie. Halle, Neb Gr. 

ra El Beuft und bie esiethantfgen irren, Eine Stimme and Un⸗ 
gar. Ver, Aigner. Gr. 8 
ee ei Eile einge ; peutthen Kleinftäbters. ı1fter Bd. Leipzig, 

® . . Tr 

Karsten, —* > zer. Geschichte der Botanik. Berlin, Friedländer u. 
Sohn, Hoch 4, ü Ngr 
ninght Ia ber, er, es Die Grauen der bentfchen Helbenfage. Stuttgart, Grü⸗ 

r. 

La — "Dup a ecq, E. de, Das SINE im Kriege. Eine Dent- 
ſchrift. Intetinirte dee Ueberfegung aus bem ranoſiſchen von K. Ed⸗ 
len’ neh ler, Prag, Hunger. Or, 8, 4 

pert, F., Das $ af 
und —e— Bin une 


tet: a J Roman Reg gem Enslilgen frei —E 2 Bde. Ber⸗ 
anfe. 8. 1Thlr. 10 Rgr. 

Loewenthal, ©, Der Militarismus al® Urfache der Maffenverar- 
mung in Europa und die enropäljge Union als Mittel einer Leberflilffig- 
madung ber flebenden Heere. Ein Mahnruf a n alle aa sieibenben 
Friedens und Wozbigaudee Potſchappel, Säge. Gr. 8. 

Massou, H Appendix zu Schiller's Wilhelm ne oder. noth- 
wendiger Reisebe egleiter in die Schweiz, wenn man die durch Schiller 
verherrlichten und zu klassischen Punkten geschaffenen Oertlichkeiten und 
Gegenden, mit höherem Genuss und benserem ne betreten und 
beschauen will. Frankfurt a, M., Hess. Gr. 

Menzel, W., Was at Beenden für Deutihlan® geleifet? Stutt⸗ 
gart, Kröger. Gr. 8. 1 Zhl 

Die Österreichisch - -unekrlsche Monarchie und die Politik des Grafen 
Beust. Ein politische Studie der Personen und der Begebenheiten wäh- 
rend der Jahre 1866 bis 1970 yon, einem Engländeg. Deutsche, autorisirte 

Ausgnon, Leip 2 Weber. Gr. 8, 3 Thir. 
üller, * Politiſche Beigiär: ber Gegenwart. II, Das Yahr 
100. Berlin ringer. 

Mueller, Sp Die musikalische? Br Betz der königl. und Univer- 
sitaets - Bibliothek zu Koeni sberg in Pr. Aus dem Nachlasse F. A, 
Gotthold’s. Nobst Mitcthellungen aus dessen musikalischen Tagebue- 
chern. Ein Beitrag zur Geschichte und Theorie der Toukunst, 1ste Lief. 
Bonn, Marcus. Hoch 4. 2 Thlr. 

DObfieger io 35. Freidenker. Eine Erzählung. Wien, Gerold's 

O a —*8 ber. zößte Kämpfer für Menfgenrehte. Gtutte 
gart, — ®r. 16. 10 Mg. pie fü enrech 

Der Panſlav —*8 Wien, Gerolde So) Lex.⸗8. Rat. 
Duitinne, 1 Nur. Driefe vom Conclil. ifte Lief. ‘m nen, Ol⸗ 


dentzutg 
eſchichte der Literatur des rhäto⸗romaniſchen oe 
mit Da — e und Character deſſelben. Frankfurt a. M 
aperli änder. Gr, 8, 
eigaspt-Gttombers, Mathilde, Wranenreht und Frauen⸗ 
zus, ine Antwort auf Eon. 5 gewaid⸗ 8 Briefe „ und wider bie 
rauen”. Bonn, Cohen u, 8, Nor. 
Reichenbach, O., Die eisltung er Erdoberfläche nach bestimm- 
ton Gesetzen. Berlin, Lüderits. Gr. 8, 15 Ngr. 

Reumont, A. v., Geschichte der Stadt Rom, Ster Bd. Von der 
Rückveriegung des heil, Stuhls bis zur Gegenwart. Ne Abth. Das mo- 
derne Rom. Berlin, v. Decker. Lex.-8. 5 Thir. 20 N 

Ritter, AL Re Leben und Wirken. Bortran. Glarnus, Senn 


u. Gr 
e Unfehlbarkeit bes * und die Stellung der in 


honefpiet | in —— Zur Führung 


Deutfihland Sin tbeologifgen Lehrbücher zu biefer Lehre. Durh 
getzeue Auszüge und Neberjegungen bargeftellt. ünfter, Rufſel. Gr. 8 


Fan im Berhör. Ein Syivefter- Müferium. Wufgeführt in einer 
Stabt Defterreigs am 31. December 1869. Leipzig, Priber. 16. 7'/, Ner. 
Schwierigleiten der Lehre von ber päpftligen Unfehlbarteit und (re 
Löſung dur bie modernen Infauibiti ften. „don einem Prieſter der Diö- 
ceje Saverborn, Münfter, Brunn. 8. 5 
n Seel vor Gottes Füßen lag. Seriht ans dem Anfang bes XIV. 
Dahrhunderts übertragen von A. Freybe. Leipzig, Nanmanı. Gr. 16. 


Senn, W., Charaktorbilder schweizerischen Landes, Lebens und Otro- 
bens, Nach den besten Musterdarstellungen der schweizerischen und aus- 
ländischen Literatur und eigenen Teobachtungen zu einer bildenden Lek- 
ar für Jedermann. Liste Serie. Glarus, Senn u, Stricker. Hoch 4. 

r. 
Shakeſpea re's, W., bramattjdhe Werte, Neberie t Fk F. Bo⸗ 
denſtedt, F. Freil Ilg rath, DO. Bil bemeif ſt er ac. der Text⸗ 
reviſion und unter Mikwirkung von Bi. D einleltungen * 
Anmerkungen beransgegeben von %. Bobenfiebt. 25fte8 und 26ſtes 
Bochn.: Hamlet, Prinz von Dänemart. Aeberient von B. Bodenftedt. 
—— — Liebewuge Ueberſetzt von Idemeifter. Leipzig, 
rochaus. 8. à gr. 

Todesurtheil und Sinrigtung. Kriminaliftifhe Yenilletone. Bon 

einem Breunde der Wahrheit und bes Rechte. Krems, Löhner. Br. 8 


—9 — aus Denn Meer ber Gnade in Liedern und PBarabeln von ©. 
N. T. Breslau, Dülfer. Br. 8. 22'/, Ngr. 
us hagen von nie, K. A., "Tagebücher. ins dem Naglab 
bes Berta Klee ı2ter Bdb. Hamburg, sffmenn u. Ca .8. Ir. 
olff, P., au blätter aus ser alem vom Novem mber und December 
2 Stuftga elfer. — 
tegler, — E "ein otläufer ber Rejoemation. Derlin, 
Henſchel. 8. 8 Kar. 





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Anzeigen. 


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Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erfdien: 


Natur und Gott, 


Stubien über die Entwidelungsgefege im Univerfum und die 
Entftehung des Menſchengeſchlechts. 
Mit einer Prüfung der Glaubenöbelenntnifie. 
Bon 
Zeinrich Baumgärtner. 
8 Geh. 2 Thlr. 20 Ngr. 


Der Berfaffer gibt bier eine populäre Ausführung ber 
Theorien, welche er in frühern Werfen auf fireng wiſſenſchaft⸗ 
lichem Wege entwidelt hat. Indem er der Darwin’schen Lehre 
iu beflimmter Umgrenzung Berechtigung zuerkennt, wird aber 
auch gezeigt, daß die Neubildungen und die Typenverwandlun⸗ 
gen in den organifchen Reichen unter einem allgemeinen Na⸗ 
turgefeße vollbracht wurden, welches ſelbſt in den Entwide- 
Inngsvorgängen am Himmel zu erkennen if. Zugleich werden 
vom Standpunkte det freien Naturforfhung die Satzungen der 
religidjen Glaubensbelenntniffe geprüft, was zur Beſeitigung 
mancher Borurtheile und Irrthümer wefentlidh beitragen ınag; 
insbejondere wird gezeigt, daß der Infallibilitätslehre die Na⸗ 
turgeſetze fchroff entgegenftehen. 

Don dem Derfaffer erfhien früher in demfelden Verlage: 


Die Naturreligion oder: Die allgemeine Kirche. Zweite 
Auflage. 8. Geh. 16 Nor. 





Im Verlage von F. Tempsky in Prag ist soeben 
erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Metaphysik 


in ihrer Bedeutung 
für die Begrifiswissenschaft 


von 


Dr. Med. et Phil. G. Biedermann. 
Gr. 8. Geh. 12 Ngr. 





Neun erfchienen im Berlage von Heinrich Matthes in Kripzig: 


Moxitz von Oranien - Waffau. 


Hiftorifches Drama in 5 Acten 
von 


Carl W. Kat. 
8 1 Thlr. 





Im Berlage von F. Tempsky in Prag if foeben er- 
Schienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Napoleon 


oder 


die hundert Tage. 
Ein Drama in fünf Aufzügen 


von 


Chr. D. Grabbe. 
Zweite Auflage. 8. Geh. 10 Nur. 


"26. Bändchen. 


Derfag vou 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


William Shaleſpeare's Dramatifche Werke. 


Ueberſetzt von 
Sriedric, Bodenfledt, Nicolaus Delius, Serdinand Sreilig- 
rath, Otto &ildemeifler, Georg Herwegh, Paul Heyſe, 
Hermann Aurz, Adolf Wilbrandt. 
Nach der Tertrevifton und unter Mitwirkung von Nicoland Delius, 
Mit Einleitungen und Anmerkungen. 
Herausgegeben von 


Friedrich Bodenſtedt. 
In 38 Bündchen. Jedes Bändchen geh. 5 Ngr., cart. 7Y, Nor. 


Soeben erfdien: 
25. Bändchen. Hamlet, Prinz von Dänemark, Ueberſetzt von 
Friedrich Bodenfledt. 
Verlorene Liebesmüh. Ueberfegt von Otto 
Bildemeifter. 

Die Borzlige der von VBodenftedt im Berein mit den nam⸗ 
bafteften deutſchen Dichtern und Textkritikern herausgegebenen 
neuen Shafefpeare-Ueberfegung find allgemein anerkannt, wes⸗ 
Halb fie ſich and) einer fortwährend fteigenden Verbreitung er- 
freut. Jedes Bändchen enthält ein vollftäudiges Drama nebft 
ausführlider Einleitung und erläuternden Aumerlungen; 
26 Bändchen liegen bereit vor, die Übrigen 12 find zum Theil 
ae ſchon im Drud und werden in furzen Swifchenränmen 
olgen. 


Nenefle Erfcheinungen der ,„Welt-Bibliothek“. 


Liebeszanber. Hiftorifhe Novelle aus der Zeit Au« 





guſt's des Starken von Claire von Glümer. Preis 
10 Ser. 
Die Geheimniffe einer kleinen Stadt. Humoriſti⸗ 


jche Novelle von Mar Ring. Preis 10 Sgr. 


MN. Leſſer, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 





Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 


Das sgrossherzogl. Orientalische Münzcabinet 
zu Jena, 


beschrieben und erläutert von 


D. Johann Gustav Stickel, 
Senior der Universität Jena, 
Zweites Heft. 
Aelteste muhammedanische Münzen bis zur Münzreform 
Abdulmelik’s. 
Mit einer lithographirten Tafel. 
4. Geh. 4 Thir. 


A. u. d. T.: Handbuch der morgenländischen 
Münzkunde. Zweites Heft. 


Das vorliegende Werk hat den Doppelzweck, dem An- 
fanger in der muhammedanischen Numismatik eine Bei- 
hülfe zu gewähren, und den neuen überaus reichen und 
bedeutenden Stoff für die Erweiterang der Wissenschaft zu 
verwerthen. Das erste Heft (1845, 2 Thir.) enthalt die 
Omajjaden- und Abbassidenmünzen. 





Berantwortliher Redacteur: Dr. Eduard Grokhaus, — Drud und Berlag von 8. A, Srodhaus in Leipzig. 





Dlätter 


literariſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottfchall. 





Erfcheint wöchentlich. 


— a Ar, 26, > 


23. Juni 1870. 





Inhalt: Karl Gutzkow's neuefte Werke. Bon Rudolf Gottſchall. — Militärifcher Büchertiih. Bon Karl Bullav von Berned. — 


Aeltere dentfche Literatur. Bon Geinris Mäder. — Feuilleton. 


(Englifhe Urtheile Über neue Erſcheinungen der deutſchen 


Literatur; Eine deutfche Literaturgefhichte für Schulen) — sSibliographie. — Anzeigen. 





Karl Gutzkow's 


1. Die Söhne Peſtalozzi's. Roman in drei Bänden von 

Karl Gutzkow. Berlin, Janke. 1870. Gr. 8. 5 Thlr. 

20 Nor. 

Lebensbilder von Karl Gutzkow. Erſter und zweiter Band. 

Erfter Band: Durch Nacht zum Licht. Zweiter Band: 

Novellen x tinen. Stuttgart, E. Hallberger. 1870. 
r. 


80 


Gr. 8. 


Die Vollendung von „Hohenſchwangau“, „Die Söhne 
Peſtalozzis“ und ber „Lebensbilder“ beweiſen, daß Gutzkow 
wieder mit friſcher Kraft in die Reihen der rüſtig Schaf⸗ 
fenden getreten, daß der düſtere Bann, der eine Zeit lang 
über feinem Leben lag, vollſtändig gebrochen iſt. Wir 
freuen uns diefer Wiederverjiingung; denn wir haben in 
Gutzkow ſtets einen der bedeutendften Vertreter des neuen 
Dramas und Romans gejehen und eine nachhaltige pro- 
ductive Kraft, deren Verſiegen, trotz der in unſerer Bel⸗ 
letriſtik Herrjchenden Waffersnoth und Ueberſchwemmung, 
Ichmerzlih empfunden worden wäre. 

Gutzkow gehört jedenfalls zu den eigenartigften Roman- 
antoren der Neuzeit, fein Stil hat ein Arom von feiner 
WBlrzigkeit, feine Weltanſchauung einen bedeutfamen Zug. 
Er geht öfter auf die Ideenjagd, als ben gewöhnlichen 
Romanleſern lieb ift; aber er ift fein Sonntagsjäger auf 
dieſem Gebiete. Wir begegnen ihm am liebſten mitten 
im den geiftigen Bewegungen der Neuzeit, die er ja auch 
in feinen umfaffenden Zeitromanen, diefen großen Eultur- 
gemälden, gefchildert hat. Sein neuefter Roman ift ein 
päbagogifcher, und zwar im engern Sinne ald Auerbach's 
„Landhaus am Rhein‘; denn er begnügt fich nicht damit, 
und eine vom idealen Standpunkte aus geleitete häusliche 
Erziehung darzuftellen, er führt uns ein in den Haus- 
halt eines pädagogifchen Inſtituts, zeigt und die verjchie- 
denen Richtungen, bie fi) noch mit größerer prismatifcher 
Bielfarbigkeit in den verfchiebenen PBerfönlichkeiten brechen, 
und Stellt uns in einem Findling ein päbagogijches Pro- 
blem auf, welches ja feinerzeit auch die Wiſſenſchaft in 
hervorragender Weife befchäftigt hat. 

1870. 26. 


neneftle Werke. 


Es war ein kühner Griff Gutzkow's, Kaspar Haufer 
in einer frei erfundenen Fabel, welche ſich an einige 
Hauptereigniffe feines Lebens anlehnt, für die Roman⸗ 
dichtung zu erobern. Es ift zwar jet längft Gras ge- 
wachen über den Gefchiden des Findlings; aber ihre 
romanhafte Abentenerlichkeit bleibt ebenfo unleugbar wie 
das pfychologifche Intereſſe, das fie darbieten. Gutzkow 
läßt zwar den gefchichtlihen Mordanfall auf feinen Kaspar 
Haufer, der den Namen Theodor Waldner führt, ftattfinden, 
aber den Betroffenen dabei nicht zu Grunde gehen, ſon⸗ 
dern errettet werden zu gefichertem Xebensglüd. Cine 
vornebme Mutter, die fi) von ihrem Gatten jcheiden 
will, verleugnet das Kind, das fie von ihm unter dem 
Herzen trägt, um ihr großes Vermögen ungejchmälert in 
die neue beabfichtigte Ehe hinüberzuretten. Sie will den 
insgeheim geborenen Sohn nach Amerifa bringen lafien; 
do er wird von dem wüſten Theilnehmer des Ver⸗ 
brechens in ihrer Nähe aufgezogen oder vielmehr im 
Verſteck aufgefüttert, ohne jede Anregung der Bil 
dung und menfhlihen Strebens, als ein Wald- und 
Urmenfd). 

Das erfte piychologifche Räthſel, das der Dichter 
bierbei zu Löfen Hat, ift, das Herz einer foldhen Raben- 
mutter zu ergründen, die jchlimmer als Medea ihr eigenes 
Kind finanziellen Rüdfichten opfert. Die Gräfin Jadwiga 
fteht von vornherein im Mittelpunkte des Romans — 
und das Schwierige dabei ift, daß der Dichter uns ihr 
abjcheumwürdiges Verbrechen in einer Weife motiviren muß, 
welche doch nicht alle Theilnahme für diefelbe ausfchliet. 
Aus innerer Unbefriedigung in der Ehe mit dem kenntniß⸗ 
reihen Sonderling, dem Grafen Wildenfchwert, aus ver⸗ 
blendeter Neigung für einen Unwürdigen, Otto von Fernau, 
begeht Jadwiga die frevelhafte That. Die Borgefchichte 
ſchildert uns den Charakter der feheidungsluftigen Gräfin, 
ihrer Helfershelfer, ihres erften und zweiten Gemahls in 
glaubwürdiger Weiſe. Die Motive der That find gegeben, 


61 


> x . 
u .Nt ne 
. 
—34 








402 Rarl Gutzkow's neueſte Werte. 


aber doch nicht ausreichend genug, um fie pſychologiſch 
ganz zu erllären. 

Das zweite Buch führt uns in eine fiebzehn Jahre 
jpäter liegende Zeit; feine Kataftrophe ift die Entdeckung 
bes Freveld. Ohne Trage ift e8 das gute Recht bes 
Romandichters, ein Hecht, auf welchem ein großer Theil 
der Spannung berubt, Ereigniffe in ein geheimnißvolles 
Dunkel zu hüllen, ans welchem fie erft allmählich hervor⸗ 
tauchen und fo die Gegenwart durch die immer lichter 
werdende Bergangenheit zu erhellen. Doch auf den eigent- 
lihen Duellpunft des Romans muß früher oder fpäter 
ein concentrirtes Licht fallen. Dies ift Hier der Entſchluß 
der Mutter, das eigene Kind preiszugeben, ein Entſchluß, 
der jo im Widerſpruch mit den Gefühlen der Natur fteht, 
daß er ohne ſchweren Kampf doch nicht ausgeführt wer⸗ 
den konnte. Das geſammelte Licht, das auf biefen Ent⸗ 
ſchluß fällt, vermiffen wir in dem Roman, wir jehen 
zwar fpäter Reue und Buße, die Strafe der Schuld in 
innerer Unfeligfeit, in unglüdlicher Ehe, in dem vor dem 


‚ Rebensende eintretenden Wahnſinn; aber das tieffte pfycho- 


logische Myſterium tft doch der Kampf, der dem moralis 
fchen Kindesmord vorausging — und gerade dies bleibt 
für den Roman ſtets nur eine gegebene Thatfache, 
zu der wir uns in den Berbältniffen und Charakteren 
den Schlüſſel fuchen müſſen. 

Noch bebenklicher ift das Beſtreben des Dichter, une 
für das unheimliche Medufenantlig diefer Jadwiga ſym⸗ 
pathiſchen Antheil abfchmeicheln zu wollen, wir find in- 
deß nur allzu geneigt, dem Grafen Wildenfchwert vecht 
zu geben, wenn er bei der Enthüllung des Freundes 
ausruft: 

Das iſt ja fürchterlich! Das erinnert ja an die alten 
Geſchichten von Medea, die wir auf den Schulen nicht 
haben glauben wollen! Eine Mutter mordet, einem Manne 
zum Zroß, ben fie haft, ein Kind, das fie fein nennt vou 
ihm — das war die alte Zeit! Die neue fett noch Hinzu: 
Nicht aus Haß gegen den frühern Mann thut fie es, fondern 
ans Liebe zu dem Buhlen, der ihre neue Leidenjchaft wird! 
Was ſchreibt fie da? Sie, fie hätte ihm nicht ermordet? 
Sie wäre nicht betheiligt an den neuen Verſuchen, meinen Sohn 
aus der Welt zu fchaffen? Im Gegentheill Sie bat die 
eine That vollbracht und die andere. Die Furcht ift die Ver⸗ 
anlaffung diefes Briefs, die Furcht vor dem Anwachſen der 
Schuld, die Beſorgniß vor dem überlaufenden Gefäß, dem Ge- 
wiflen der Frau des Schurken Willfing. Den folk ich in mei⸗ 
nen Dienſten behalten? Hahahaha! Und fie ſchwört zu Gott, 
Fernau wäre unſchuldig? Der Bube Hat ihr das Meifter- 
nüd der Berftellungstunit, eine Mutter, die auf Reiſen ein Kind 
wie aus Verſehen liegen Täßt, gelehrt, es ihr angerathen! 
Begegne ih ihm, ich floße ihm nieder oder rufe ihm den 
Mördernamen zu und vermweigere ihm Batisfaction. Kein 
Ehrengericht der Welt wird mich zwingen, fie ihm zu geben. 
Großmuth! Nicht um einen rotden Heller Übe id) Großmuth 
an diefen — mehr al8 Banditen! Denn der Bandit ift ohne 
Bildung und mordet friſchweg ohne alles Raffinement. 

Nachdem der Findling feinem Dunkel entriffen wor- 
den, läßt der Dichter fünf Jahre vergehen, che er uns 
den jungen Theodor Waldner als Zögling und Hülfs- 
lehrer des von einem Jünger Peſtalozzi's, Lienhard 
Neffelborn, geleiteten Inſtituts wieder vorführt. Wir 
hätten indeß gerade dies Entwidelungsftadium bes neu- 
geborenen Siebzehnjährigen gern in nächſter Nähe mit 
durchgemacht und glauben, daß der pädagogifhe Roman 
gerade den Proceß der Inoculation menfhliher Bildung 


auf dieſen Wildling uns nicht ohne Einbuße an unmittel- 
barftem pfychologiſchen Intereſſe erft in einer immerhin 
lüdenhaften Rüdfchau vorführen durfte. Wie verheigungs- 
voll fpannend auf diefen Entwidelungsgang ruft Lienhard 
am Schluſſe des erften Bandes aus: 


Bater, diejer Knabe ift mein! Das ift der Urmenſch — 
die Tafel, die noch des Lebens verworrene Runenſchrift nicht 
befrigelt hat mit den Borurtheilen von Sahrtaufenden! Das 
iR der Dienich, der neugeborene, der noch nicht das Licht, nicht 
die Luft erträgt, nicht die Luft der Zeit, nicht das Licht diefer 
Welt! Er jammert zurück in den Leib feiner Mutter, in die 
Nacht des Friedens, in den Traum eines ſchönern Dafeins! 
Bater, Bater, den will ich erziehen zum Muſter der Menſch⸗ 
heit — zur Glorie unjerer Meifter Sirach, Sokrates, Ehriftus, 
Baco, Rouſſeau, Peſtalozzi! Himmliſches, ewiges Licht vom 
Urſitz der Ideen, gib mir deinen Segen zu dieſem Werke, Vater, 
gib du ihn mir! O mehr verlange ich ja nicht. Behalte 
bein Geld nund dein Gut! Ich bin gefommen und nehme 
reihen, reichen Gewinn mit, Gewinn über alles! Cine 
Seelentnospe, einen reinen, unentweihten, vom Leben, von ber 
Schule, vom Staat, von Kirche, Haus, Geſellſchaft noch uuder» 
gifteten — Begriff! Den, den werde Ich zum Menfchen 
machen, den merde ich erziehen ! 

Wir fehen den Findling halb ohnmächtig in den Ar⸗ 
men der Gensdarmen liegen, jammern und rings herum 
alles mit Entſetzen betrachten: 

Selbft die ſchmeichelndſten, fanfteften Worte fchienen dem 
armen Sünglingsfinde wie ſpitzes Schuf zu fein, an das der 
dinger nicht reifen kann, ohne die Nerven des ganzen Körpers 
verletst zur fühlen. Licht, Schall, Geruch, alles that ihm weh. 
Der Knabe jammerte nur nad) feinem Spielzeug, den Pferbchen, 
und nad) „den Mann“ Das follte Heunenhöft fein, fein 
Mörder. Seine Sprade bradte immer nur biefelben Worte 
„Pferd“ und „Mann und „Mann und „Pferd. Diefe ber 
deuteten ihn Baum und Haus, Thier und Menjchen, Himmel 
und Erbe. Es war der Menſch, der noch in der Krippe Liegt, 
ber neugeborene — doch ſchon vielleicht ſiebzehn Sabre alt. 
Das Entjegen der Menſchen verwandelte fih in Andacht. 
Selbſt den Männern traten die Thränen in die Augen über 
eine Feierſtunde der Natur, Über die wie unmittelbar empfun- 
dene Nähe der allwaltenden Gottheit. 


Der Sprung von diefer „Feierſtunde der Natur“ über 
ein ganzes Luftrum des Menfchenlebens hinweg wird uns 
nur durch einige nachträgliche püdagogifche Mittheilungen 
über Nefjelborn’s Peſtalozzi'ſche Erziehungsmethode erläus 
tert, über den Aufenthalt Theodor's auf dem Rande, na⸗ 
mentlic) aber über den Antheil, den ein weibliches Weſen 
auf die Bildung des Jünglings ausübt, ein Wefen, das 
ihm Zuneigung, aber nicht Liebe einflößt. 

Diefe Gertrud ift offenbar eine LXieblingsgeftalt des 
Dichters; zwei Lehrer des Inſtituts verlieben fich in fie; 
der alte Graf Wildenſchwert zeigt ſich ganz hingeriffen 
von ihrer Liebenswürdigkeit und Energie; als die wohl⸗ 
thuendfte Erzicherin des Yindlings ift fie die eigentliche 
Mufe des pädagogifhen Romans, und Peſtalozzi's Geift 
ſcheint ſich noch mehr auf fie als auf ihren Onkel Lienharb 
vererbt zu haben. Sie fieht auf Zucht und Ordnung im 
Inftitut, fchreitet energifch ein gegen jede Abirrung und 
Ausfchweifung der Zöglinge und ift dabei in gewinnenden 
Contraft geftellt zu den beiden fofetten und gefallfiichtigen 
Töchtern des Directors. 

Gleichwol erinnert uns diefe Gertrud an einen weib⸗ 
lichen Charakter Gutzkow's, der ſich allerdings zu Gertrud 
verhält wie Lucifer zu einem Cherub — wir meinen bie 








Pr 


Karl Gutzkow's neuefte Werke, 403 


Lucinde im „Zauberer von Rom”. Diefe ift freilich 
in Nacht getaucht, Gertrub von Licht verklärt, es find 
Gegenſätze in Betreff ihres moralifchen Werthes; aber 
gewiffe Grundzüge des Charakters find doc, beiden ge- 
mein. Sie find beide unliebenswürdig; wir behaupten 
dies von Gertrud auf die Gefahr hin, den beiden Lehrern 
Hellwig und Bechtold umd felbft dem Grafen Wilden- 
ſchwert widerfprechen zu müſſen; fie find beide fehr ſcharf, 
fehr beftimmt, refolut und Hug: die eine in ihren Liebes⸗ 
abenteuern, die andere in ihrer pädagogiſch⸗-haushälteriſchen 
Wirkſamkeit; aber dieſer Altklugheit ohne Reſerve fehlen 
die Grazien. Ihr Beſuch bei dem Grafen Wildenſchwert, 
aus rühmenswerther Entſchloſſenheit und dem eifrigen 
Streben, für Waldner zu wirken, hervorgegangen, zeigt 
alle dieſe Eigenſchaften, die der Dichter ſelbſt als Vor⸗ 
züge hinzuſtellen geneigt iſt, im grellſten Licht. Wie ſie 
da in der Dorfſchule herumrumort und dem Grafen Vor⸗ 
leſungen hält über die beſten Einrichtungen der Schulen; 
wie ſie demſelben beweiſt, daß ſeine Beſitzungen ſich mehr 
für die Viehzucht als für den Getreidebau eignen; wie 
ſie vom Hegen des Wildes, vom Verfolgen des Borken⸗ 
käfers, von der Nothwendigkeit, das Heu umzuwenden 
docirt; wie ſie bei einem Huhn als Hebamme auftritt und 
dafſelbe eines Eis entbindet: das ſpricht alles für ihre 
praktifche Tüchtigkeit, für ihre Kenntuiffe, für die durch⸗ 
greifende Energie ihres Charakters — aber wir verftehen 
Theodor Waldner, wenn er bdiefer Pädagogin von Ge- 
burt und Fach wol ein dankbares Herz entgegenbringt, 
aber von keiner LXiebesleidenfchaft zu ihr ergriffen wird. 
Der Reiz des Weiblichen, namentlich in der Yugend, 
liegt in einer gewiffen unausgefprodhenen Naivetät, in dem 
Knospenartigen, das Hinter zarter Hille ſich zu entfalten 
zögert; die unbedingte Klarheit eines regelrecht entwidelten 
Berfiandes, welcher für alle Dinge der Welt das erfte 
und letzte Wort ftets bei der Hand Hat, gleichſam das 
Lineal, das er an alles anlegt und mit dem cr gelegent- 
ich auf jeder Art von Irrthum Herumfuchtelt — dieſe 
Klarheit fließt den Reiz und Zauber der Liebe und 
Leidenschaft aus, die nur im Helldunkel, in welchem 


" Natur und Geift, Schatten und Licht verweben, fid) träu⸗ 


meriſch bebeutend entfaltet. 

Dem Dichter brauchen wir indeß kaum wegen ber 
unverfchleierten Borliebe für foldhe Naturen einen Vorwurf 
zu maden; die Moral feiner Fabeln gibt und recht. 
Nicht der junge, zum Grafen entpuppte Waldner, fondern 
der Pater Graf erhäft die Huge Gertrud zum Weib, und 
in der That, diefe Gertrud iſt vom Dichter von Haus 
ans fir einen alten Herrn gefchaffen, dem fie eine titchtige 
Begleiterin durch das Leben fein wird. 

Neben diefer‘ Jüngerin Peſtalozzi's, deren Stellung 
in einem Knabeninſtitut doch eine fehr ausnahmsweiſe ift 
und eine gewilfe Emancipation von weiblichen Lebens⸗ 
bedingungen zur unvermeiblicdhen Folge haben muß, grup« 
pirt fih nun eine Zahl von Lehrern, deren Richtungen 
etwas von Peſtalozzi in größern und geringern Dofen 
bis zu homdopathiſcher Winzigkeit beigemijcht if. Der 
Director der Anftalt ift ein wmohlgetroffenes Lebenebild; 
die Sorgen um Eriftenz und Glanz des Inſtituts drän⸗ 
gen ihn immer mehr von ber freien, humanen Richtung 


des Beftalozzi’schen Syſtems hinweg in eine ängftliche, mit 
frömmelnden Elementen verfegte Stimmung, ohne daß er 
deshalb fi den Schulmodulativen und ihrem Bertreter 
Bögendorf ganz in die Arme würfe. Peftalozzi felbft 
hatte eine Ähnlihe Wandlung durchgemacht und feinen 
Heiligen „Humanus“ zu Ounften einer fpecififch religiöfen 
Richtung in den Schatten geftellt. Gegen bie „Schul« 
modulative“, denen ber officiele Name „Sculregulative‘‘ 
nicht gefchadet Haben wiirde, geht eine gefinnungsvolle 
Dppofition durch das ganze Wert, an welder ſich gele⸗ 
gentlih auch Gertrud betheilig. In der Zeit des 
jugendlichen Glanzes feiner päbdagogifchen Begeifterung 
fagte Lienhard Neffelborn: 


Die Geiſtlichen beanſpruchen das Auffitsrecht über bie 
Schule, ohne etwas vom Yugendunterricht zu verftehen. Das 
find noch Reſte jener Zeiten, wo Friedrich der Große feine 
Unteroffiziere als Schulmeifter abcommandirte. Seitdem in uns 
fern Tagen das Schidjal aller Staaten, die nur irgend nennens⸗ 
werth, darauf bingewiefen bat, daß fi in den tiefften Unter⸗ 
lagen des Volkslebens alles erneuern, erfräftigen, in feiner 
Leiſtungsfähigkeit fteigern müßte, ift auch die Bollefchule über 
den Horizont der gelehrten oder Tateinifchen Bildung hinaus⸗ 
gewachſen. Es ift leicht gefagt: Leſen, fchreiben, rechnen ler⸗ 
nen — man vergißt, welche Schwierigkeiten felbft mit der rich⸗ 
tigen Anbahnung diefer einfachen Disciplinen verbunden find! 
Dil man entgegnen: Auch, die alte Zeit hat diefe Fähigkeiten 
zu Stande gebradht ohne den neuen — Schwindel, wie Sie es 
wol nennen, Herr Graf! fo fragt fih: An wie viele gelangte 
denn damals die Austheilung des Heiligen Geiſtes? Und aud) 
das fragt fih: Was waren diefe Pfingfigaben — wirflid vom 
Himmel gefahrene feurige Zungen, oder ein bloßer Mechanismus, 
ver den Menſchen felbft nicht ergriff, ihm weber eine moraliſche 
noch eine weitere intellectuele Ausbildung gab? Lehren, das 
muß zugleich Erziehen beißen, Wiffen, das muß zugleich Können 
werden. Der Elementarunterricht muß die Keime einer weitern 
Entwidelung mit ſich bringen, und die individnelle Menſchen⸗ 
bildung muß Hand in Hand gehen mit dem Belaflen des Ge⸗ 
bächtniffes, dem Ueben und Stühlen der geifligen Fähigkeiten. 
Wahrlih, unfer großer Meifter Heinrich Peſtalozzi, der edle 
trefflihe Schweizer, hat zwar von feiner Methode gefagt, fie 
ließe fi) wie ein Mechanismus, wie ein förmlicher Rechenknecht, 
ein Küchenrecept jelbfi von einem Stümper anwenden. Dod 
hat er damit nur den Folgen des traurigen Zufalle, daß mehr 
Lehrer nötig find als geboren werden, vorbeugen wollen. 
Wie dem fei, auch diefer Mechanismus ift nicht leicht, er will 
gefannt, angewendet, nad) den Umftänden gemodelt fein. Das 
find alles Gebiete, durch welde wir Theologen, die wir nur 
vom metrifchen Aufbau eines Sophofleifhen Chors und von den 
verfchiedenen Lesarten an einer verfänglichen Stelle im Römer- 
brief wiffen, wie in finfterer Nacht dahintappen. 

Wie anders lautet die Anficht des Schulraths Bögen- 
dorf, welcher Nefjelborn zwar nicht beiftinnmt, welcher 
er aber doch Heine Zugeftändniffe zu machen gezwun- 
gen ift: 

Der Geift Peftalozzi’s ift der der Serbngereäitigteit, des 
Hin⸗ und Hertaumelns zwifchen Alleswollen und Nichtsvoll⸗ 
bringenfönnen! Die ganze Schule habt ihr auf eine ſchwin⸗ 
deinde Höhe gebracht! Der Verſucher ift es gemweien, der 
Tauſenden von dummen Lehrern den Kopf verwirrte und ihnen 
zurufen wollte: Diefe Schäte da find euer, fo ihr niederfallt 
und mid; anbetet! Sie haben angebetet, fie haben die Schätze 
des Wiffens in weltlicher Macht, Ueppigteit, Großmäutligfeit, 
Unabhängigkeit von Kirche und Staat gefunden! Sie find 
niedergefallen und haben den Fürſten der Hölle für den Erlöſer 
genommen! Auch du Tiebäugeli mit dieſen Welt- und 
Menfchheitsverbeflerern, die den Fluch unferer Zeit, jebe Em- 
pörung, jede Sünde des Zeitgeiftes auf dem Gewiſſen haben! 


51 * 


1 
\ 





SO EREB TE Gegen 


-.. .garn, ” m Wi n.. 
TIEREN 


— TE 


404 Karl Gutzkow's 


Du weißt es, daß unſere Regierung das Uebel erkannt hat, es 
ans der Wurzel heraus bat heilen wollen, neue Grenzbeſtimmun⸗ 
gen, ein Bis-hierher-undnichteweiter für die Vollsſchule, Real- 
und GEymnafialſchule aufftelte! Du Haft mir hundertmal 
geftanden, dur bewunderteſt den @eift, der die Modulative redi- 
girt, den erſten Entwurf gemadt bat, das Ganze in beftimmte 
Geſichtspunkte ordnnetel Du haft mir felbft geftanden, daß es 
mit dem Befalozzt’fhen Lehrertfum bis zur Affenfchande ge 
biehen war, bis zum dilnfelvolifien Mitfprechenwollen bei allen 
Angelegenheiten, bis zum Sichvordrängen felbft vor die Männer 
der Wiffenfchaft, bis zum Abtrumpfen den Ordnern der Ge⸗ 
meinde gegenüber, ja bis zum Berwildern auf der Bierbant 
des Wirtbeshaufes und in noch ſchlimmern Wucherflätten fitt- 
lichen Unkrauts — und dennoch, dennoch bleibt dein Gebaren 
immer noch kühl gegen deu Geift, der der einzige gewaltige 
gegen deinen Geift ift, den Geift, der da heißet: Ehriftus, ber 
Herr, aus welchem heraus allein die Schulreform im erfter 
Linie gelingen fann! O wohl, aud du nenuſt ihn zuweilen, 
den Namen des Mittlere und des wahren Meiftere, läſſeſt dem 
Herrn wenigftens die Auszeichnung, die ihm aus dem Setzer⸗ 
kaſten einer Druderei zutbeil werden kann, aber im übrigen 
bleibt du durch und durch weltlich, fragmentarifch, halb, unzu⸗ 
reihend in allem! 


Ueber diefen Schulrath und den Meinungsumfchlag, 
der durch Beeinflufjungen von feiner Seite veranlaßt wird, 
erfahren wir noch einiges Nähere: 

Neffelborn fchlug das Herz. Diefer alte Gtubiengenofje 
erfchien ihm fein böjer Dämon. In jeder Schwierigfeit, bie 
ihm in den Weg trat, fpielte diefer Mann mit dem flereotypen 
Läheln eine Role. Bögendorf war doppelzüngig, faljd bis 
ins innerfte Herz. Neffelborn kannte ihn und doch mußte er 
fih vor ihm winden, ihn ſchonen, fogar ihn auszeichnen. Wie 
wehe wurde ihm, wenn er an den förmlichen Bund dachte jener 
berporragenden und einflußreihen Schulmäuner, bie fich jekt 
von Nord bis Std, von Of bis Welt unter dem Symbol des 
Angelommenfeins beim ‚wahren Meifter” zum Bereintwirken 
und zum unduldfamen Ansfchließen jedes „Meifterlofen‘ die 
Hände reihten! Noch Hatte man foeben bier und da im 
Schulleben einen friihen grünen Baum auf der Höhe geiehen, 
einen Träger feiner flolgen Zweige im Revier der Borurtheils- 
lofigkeit, der fchönen Idealität, die Peſtalozzi in die Herzen der 
Lehrer wie ein ewiges Morgenroth hat leuchten laffen — und 
mit einem einzigen Schulprogramm, mit einer gelegentlichen 
Lehrertagrede, mit einer Borrede zu einem Lefebuch bringt man 
eine wunderbare Umkehr in Erfahrung. Auch diefer frifche, 
fröhliche, freie Belenner ſtammelt plöglih die Sprache vom 
„wahren Meiſter“ und macht gleihfam gewifje Freimanrer- 
zeichen, freilich in einem ber Freimaurerei entgegengelegten Sinne, 
offen hinweg über bie verwunderten Köpfe und die überraſcht 
dreinfchanenden Angen der Menjchen, Zeichen, dem Bunde der 
Erleucdteten und Wiedergeborenen gegeben, von denen dann — 
bie Gnaden und die Beförderungen fommen! O, alle diefe 
Renegaten wieberholten die Anekdote, die fie fr verblirgt er- 
Härten, Peſtalozzi hätte am Abend feines Lebens, achtzigjährig 
und felbft ein Kind geworden, die Kinder im pietiftifch geleiteten 
Rettungshanfe zu Beuggen in der Schweiz einen Choral fingen 
hören, dazu gemeint und antgerufen: Das ift der rechte Weg, 
den and ih hätte wandeln follen! Darauf bat man dann 
das Erbe Peſtalozzi's unterfchlagen. Seine Baftarde haben jeine 
echten Söhne verdrängt. 


Die Charaktere der Lehrer der Anftalt find gejchidt 
gezeichnet und gruppirt. Gutzkow ift ein Meifter darin, 
die verfchiedenften geiftigen Richtungen mit feltenfter Fein⸗ 
beit aufzufafien und zu analyfiren; er wendet in Bezug 
hierauf eine Art von geiftiger Spectralanalyje an, welche 
die Bedeutung derfelben in den leifeften Yarbenlinien 
auffängt. Diefe Kunft hat er bereits im feinen großen 
Romanen bewiefen, in denen alle Strömungen zeitgendf« 
fifcher Theologie in beiden Confeſſionen bis in das feinfte 


neuefte Werke. 


Geüder ihrer Syſteme aufgefangen und wiebergegeben 
wurden. Durch biefe Kunft unterjcheibet fi Gutzkow von 
den Realiften, deren photographifches Atelier nicht bis in 
die Welt des Geiftes hineinreicht, fonbern nur an ben 
äußern Lebenserfcheinungen haftet. 

Die Lehrercharaktere des Nefielborn’schen Inftituts bil⸗ 
ben eine pädagogifche Flora mit den bunteften Varietäten. 
Der geledrte Humanift, Hr. Zipfel, der Humorift, ber 
felten in einem Xehrercollegium fehlt; Wehrmann, bas 
bequeme Hausfactotum, der Ueberdauerer ber Genera- 
tionen, der mit den Penfionären eine berühmte Schwei- 
zerreife unternommen halte; das treue Freundespaar Bed- 
told und Hellwig, das in gemeinfamer Liebe für die praf- 
tifche Gertrud entbrennt — das find alles Federzeichnun⸗ 
gen von feinften Linien! Und welche treffende Ironie Liegt 
darin, daß Frau Hedwig Neffelborn, die Wirthstochter 
aus dem Mohrenkopf, in Gemeinſchaft mit ihrem Gatten, 
troß Peſtalozzi und aller Heiligen der Pädagogik, zwei 
Töchter erzogen hat, die ganz im Stande finb jedes 
Erziehungsinftitut zu ruimiren, fortwährend Verhältniſſe 
mit den vornehmen Zöglingen „anbänbeln”, und in der 
Walachei als Gefelfchaftsfräuleins einer rumänifchen Für- 
flin oder eines rumänischen Fürften ihre Lebenschronik mit 
neuen pilanten Kapiteln bereichern, über welche der Dich⸗ 
ter, „wie Maro, fittfam von Natur‘, einen leifen Schleier 
ausgebreitet hält. Etwas verjchoben hat ſich diefer Schleier 
in der Schilderung ber Tänzerfamilie Lindenthal, der 
folgen Asminde und der göttlihen Cora; beide find 
echte Balletphotographien, wie wir fie in den Ladenfen- 
ſtern erbliden, vol pilanter Lebenswahrheit. 


Die Charaktere aus dem Boll, der wüfte Hennenböft, 
defien erfte Einführung fehr charafteriftifch ift, der Yör- 
ſter Wülfing und feine Gran, die Bartel’fche Vagabunden⸗ 
familie, die liederliche Marlene, die Portierfamilie — das 
find alles Zeichnungen, die nirgends ind Groteske verlau- 
fen, nirgends an die Dickens-Cruikſhank'ſchen Vorbilder 
erinnern, deren Copien auf diefem Gebiet faft unvermeid⸗ 
lich erjcheinen in den deutſchen Romanen, fonbern die 
ohne Aufdringlichkeit fi in den Rahmen des Ganzen 
einreihen. 

Der nene Roman von Gutzkow zeigt durchaus feinen 
Rückſchritt gegen die frühern; im Gegentheil ift feine 
Haltung prägnanter, die Begebenheiten find romanhaft 
fpannend, bie Kataftrophen der Handlung: der Tod bes 
Wilddiebes, die Entdeckung des Findlings, die Mord⸗ 
anfälle auf denfelben und anderes, werden mit großer Les 
bendigkeit gefchildert. Was bie Genremalerei betrifft, fo 
find die Scenen aus der Nefjelborn’fchen Erziehungsanſtalt 
gewiß den beten ebenbürtig, welche Didens in feinen 
Erftlingsromanen zur Charakteriftit englischer pädagogi« 
her Anftalten gezeichnet Hat, obfchon die ganze Darftel- 
Iungsmanier eine wefentlich verfchiedene ift. 

Daß eine Fülle geiftreicher päbagogifcher Reflexionen, 
wie wir fie namentlich auch in Jean Paul's Romanen 
finden, in denen allen ein Stüd der „Levana“ Iatent 
erfcheint, auch überall in Gutzkow's Roman zerftrent if, 
bebarf bei der Tendenz des Romans und ber feinfpitrigen 
Eigenthlümlichleit des geiftreichen Antors wicht erſt der 
Erwähnung. 








Karl Gutzkow's neueſte Werke. 405 


Karl Gutzkow's „Lebensbilder“ (Nr. 2) find eine 
Zufammenftellung von Novellen und Skizzen. Der erfte 
Band enthält eine größere Erzählung: „Durch Nacht zum 
Licht”, die als ein Heiner biftorifcher Roman betrachtet 
werben könnte, wenn nicht das Gefchichtliche mehr den 
Hintergrund eines im Grunde anefdotifchen Gemäldes bil- 
dete. Denn im Mittelpunft der Handlung fteht hier eine 
eigenthümliche Art der londoner Induftrie, die und an- 
fang® durch geheimnißvolle Weberrafchungen fpannt, bis 
wir ihr eigentliches Weſen Tennen lernen. Nach biefer 
Seite hin Fünnte man den Roman fogar ald ein genre- 
bildfiches Gegenftüd zu den „Söhnen Peſtalozzi's“ be= 
traten; denn wie e8 ſich in diefem um einen gefundenen 
Menſchen handelt, jo Handelt es fich in dem andern um 
„gefundene Sachen“. Die Induftrie John Robertfon’s, 
feine nachtwandelnden Spaziergänge durch die Straßen 
Londons, feine Societät mit dem Trödler Merdaunt — 
das alles beruht auf dem finden verlorener Sachen, 
welche ber lettere verlauft. Die Jakobitiſche Verſchwörung 
gegen das Haus Hannover bildet nur einen hiſtoriſchen 
Dintergrund, welcher fiir anfgefundene Brieftafchen mit 
hochverrätherifchen Inhalt von Wichtigkeit if. Die bei⸗ 
läufige Art und Weife, mit welcher einer der Haupt⸗ 
beiden der Erzählung, Samuel, in dieſe Kataftrophe ver- 
widelt und vom Dichter befeitigt wird, zeigt am deutlich“ 
ften, daß die gefchichtlihen VBerwidelungen, fowie alle 
andern Figuren, mit fo feiner und fauberer Charafteriftif 
fie gezeichnet fein mögen, nur Rahmenbegebendeiten und 
Kahmengeftalten fiir den anckdotifhen Mittelpunkt find, 
Gutzkow harafterifirt feine völlig anfpruchslofe Erzählung 
ſehr treffend in der Vorrede mit folgenden Worten: 

Auf dem Gebiet der „Erzählung" oder „Novelle“ haben die 
Ießten Jahrzehnte unferer literariihen Entwidelung jo eigen. 
thumliche Hervorbringungen erlebt, die Gelee alles bichteri- 
ſchen Schaffens find in fo unmittelbar nahe Berührung mit 
deu Bedingungen der Pflege diefes Zweige, und body wol nur 
eines Nebenihößlingse am Baum ber Literatur, gebracht worden 
und einzelne hervorragende Birtuofen der Erzählungstunft haben 
fi, beftärft durch glänzende Erfolge, ihr bejonderes Leiften und 
Bermögen dermaßen fchablonenartig ausgebildet, daß fich bei⸗ 
nahe mit einer Art Entfchuldigung novelliſtiſche Mittheilungen 
einführen müſſen, die lediglih nur aus dem Xriebe hervor» 
gegangen find, eine mehr oder minder abenteuerliche Bermwide- 
Jung anfpruchslos, falls nur fpannend wieberzuerzählen. Die 
Mauieriften, denen die literariihe Kritik und der Geſchmack 
des Publikums in der Regel die meifte Auszeihnung zutheil 
werden läßt (die Gefchichte ber deutihen Novelle in den lebten 
dreißig Sahren ift ein befonderer Beitrag zur Gefchichte der 
poetiihen Manieren), können nicht jeden, wenn noch fo aneldo- 
tiſch intereffanten epifhen Stoff benugen. Wir möchten fehen, 
wie N. N. und N. N. mit einem Novellenſtoff aus dem Mittel» 
alter, ans der Zeit der Renaiffance fertig werben wollten! Der 
Berfaffer der vorliegenden Erzählung belennt von fi, daß ihm 
die Novelle eine Dichtungsform iſt, wo nicht nur die Art der 
Behandlung Iediglih vom Charakter des zufällig gefundenen 
Stoffs abhängt, fondern aud Überall der Stoff da gegeben vor⸗ 
Tiegt, wo fidy eine Anekdote natlirlih anlegt, entwidelt, flei- 
gert und löſt. 

Wir Haben diefer Selbftcharalteriftil nur hinzuzufügen, 
daß die Darftellung eine freie und bewegliche, daß fie 
ganz in die Stimmung der londoner Stadtatmojphäre 
getaucht ift, daß bie beiden geheimnigvollen Induſtrieritter 
mit recht tüichtigem Realismus gezeichnet find, der un 
an ähnliche paradoxe Geftalten der Balzac'ſchen Erzäh⸗ 


lungen erinnert, und daß über den Liebesfcenen fo viel 
poetifcher Duft Tiegt, wie er nur hinter Londons ruß« 
geſchwärzten Häufermauern in feine fohlengefättigte Luft 
durchzudringen vermag. 

Der zweite Band der „Lebensbilder“ bringt zunächſt 
eine Novelle: „Das Opfer”, ein häusliches Stimmungs- 
bild, wie es nur ein deutfcher Autor fehreiben Tann, mit 
den einfachſten Motiven auf das Gemüth wirkend, eine 
leife Diffonanz, die nur als ſchwärmeriſche Erinnerung 
bereintönt in eine fonft harmonifche Eriftenz, auflöfend in 
volles eheliches Glück. ° 

Die Skizzen: „Das Kaftanienwälbchen bei Berlin“ und 
„Aus Empfangszimmern‘, find autobiographifcher Art; fie 
zeigen und den Autor der „öffentlichen Charaktere” mit 
ber umverlorenen Kraft feinfter Auffaſſung. Die erfte 
Skizze gilt der alademifchen Jugendzeit Gutzkow's; es 
find Porträts der berliner Univerfitätsprofefforen; Schleier« 
macher, Neander, Marbeinefe, Lachmann, Hagen, Rante, 
Raumer, Beneke, Michelet, Henning, auch der Demagogen- 
feind von Kamptz, ein Gönner des jungen Studenten, 
treten in greiflicher Lebenswahrbeit vor uns hin. Bon 
dem diesjährigen Säcularphilofophen Hegel erzählt Gutzkow: 

pe entgegengejett zur Vortragsweiſe aller diefer be- 
rühmten Männer, die wir bisher geſchildert haben, war die- 
jenige Hegel's, der noch in voller Kraft ſtand und nicht ahute, 
daß eine noch damals in Aflen weilende Seuche, die Cholera, 
und einige nad) einem Souper verzehrte Melonenſchnitte feinem 
Leben jo bald ein Ende machen follten. Die einzige Weiſe 
Schleiermacher's kam dem Charakter nad) dem Bortrag Hegel’s 
glei, falls man nit fofort eine Ungehörigkeit darın finden 
will, die große Virtuoſität im Bortrage Schleiermacher's mit 
dem lahmen, jchleppenden, von ewigen Wieberhofungen und 
zur Sache nicht gehörenden Flidwörtern unterbrochenen Bor» 
trage Hegel’3 verglichen zu ſehen. Die Gleichartigkeit Liegt 
darın, daß bei beiden die Redeweiſe den Charalter der Im⸗ 
provifation trug, beide gleichfam ein Herausſpinnen bes 
Vortrags aus einer erfi im Moment vor den Augen der 
Hörer thätigen Denkoperation gaben. Die andern gaben fer- 
tige Ergebniffe vorangegangener Meditation, Schleiermacher 
ſowol wie Hegel erneuerten, um dies oder jenes Refultat zu 
gewinnen, den Denkproceh, Hegel vollends wie eine Spinne, 
die in der Ede ihres Netzes verborgen liegt und ihre Süden, 
nad außen immer weiter hinaus, nad) innen immer enger zu⸗ 
fammenzuziehen ſucht. Die Weife, wie in einem meiner Jugend⸗ 
verſuche, „Nero“, ber dritte unter den dafelbfi auftretenden So⸗ 
pbiften feinen Schülern Sein und Denken paralichfirt, ifl wört- 
li die Kopie der Hegel'ſchen Bortragsweile mit ihren mehr- 
maligen Wiederholungen des eben Gefprochenen und einem 
ſtereotypen „alſo“ nach jedem dritten Wort. Der Gedanten- 
gang ſchiebt fich da langſam vorwärts, geht immer wieber einen 
halben Säritt zurück nad) einen ganzen Schritt vor. Dabei 
lag der Kopf der, proportionirten, männlich gereiften Erſchei⸗ 
nung dicht auf Yen Pult des Katheders und ließ die Augen, 
die fich gleichfang von innen mit Flören bebedten, unſicher und 
ausbrudslos im Kreife feiner etwa adhtzig bis hundert zählenden 
Zuhörer umherirren. Es waren die fcheinbar ausdrudelofen 
Denferaugen, die nad innen leuchten. Im wefentlichen war 
Hegel’8 Aeußere immer noch nad der Weile eines ſchwäbiſchen 
Magifters. Ottilie Wildermuth würbe ihn für ihre ſchwäbiſchen 
„Pfarrhäuſer“ Haben brauchen können. Oft erzählte mir in 
jpätern Jahren eine Schwefter Wilhelm Hauff's, des ſchwäbi⸗ 
Shen Dichters, daß fie im Kloſter Schöuthal vor „des Hegel‘ 
Cynismus, feinem Verſchmähen aller Sauberkeit, Ordnung und 
Seife ein „Horreur“ gehabt Hätte. Gleiches berichtete man aus 
Frankfurt Über den Kaufmann Gogel'ſchen Hauslehrer am Ed 
des Roßmarkts und der Deihabiergafie, wo Hegel in die ele- 
gante Sphäre des Romans feines Landsmannes Hölderlin ein- 
trat. Und daheim, in feiner am SKupfergraben belegenen 


406 


Wohnung, den damala noch nicht erifirenden Mufeen gegenüber, 
trug er eine runde breitrandige Sammtmüge wie ein „Mayfter 
der freien Klinfte”’ aus den Tagen bes Mittelalters. Er behielt 
im Sprechen immer eine gleid mürriſche, abgefpannte Miene. 


In der zweiten Skizze: „Aus Empfangszimmern“, 
führt uns Gutzkow in eine Galerie meift vornehmer DBe- 
rühmtheiten, bei denen er im Laufe feines Lebens mit 
weißer Halsbinde Beſuche gemacht. Metternich, der Groß- 
herzog von Weimar, der Herzog don Gotha, ber öfter- 
veihifche Bundestagsgefandte Münch von Bellinghanfen, 


Militärifher Büchertiſch. 


Guizot, Thierd und manche andere hervorragende Perſön⸗ 
lichkeiten werden uns mit fcharfen Zügen und gfüdlicher 
Beobachtungsgabe geſchildert. Die Sammlung fchlieft 
mit einer anziehenden Novelle: „Die Witwe von Bologna.“ 
Wir wiederholen am Schluß unferer Kritif, was wir 
am Anfang ausfpracdhen — wir freuen und, eine fo fein 
finnige, in ihrer Eigenart unerſetzliche Schriftftellernatur 
wie diejenige Gutzkow's in fo vielfad) erneuter Bewährung 
auf dem Gebiete unferer fchönen Titeratur wieder zu bes 
grüßen. Rudolf Gottſchau. 


Militärifher Büchertiſch. 


Wir beginnen unfere Heutige Weberfiht mit cinem 
Werke, das zwar fchon vor drei Jahren gefchrichen, uns 
aber erft jegt zu Geſicht gelommen ift: 

1. Die Freiheitsfriege Heiner Böller gegen große Heere. Bon 
Franz von Erladj. Bern, Haller. 1867—68. 8. 1 Thlr. 
18 Ngr. 

„Allen Bölfern, die frei find und es bleiben, und bie 
e8 nicht find, aber werden wollen! Den Böllern, vom 
neugeborenen wimmernden Bettlermägblein an warmer 
Mutterbruft — bis zum ftolzen Kaifer im kalten glänzen⸗ 
den Krönungsſchmuck, diefes Buch!“ So beginnt der Ber- 
faſſer. ALS Repräfentanten jener beiden Gruppen von 
Bölfern find auf dem Umſchlage Eidgenofien, obenan 
Tell mit feinem Knaben, auf der andern Seite Polen, 
beide einander zuwinkend, dargeftellt, zwifchen ihnen die 
Sreiheit mit dem Banner, den Fuß auf dem Lictorenbeil, 
unten ein Weib mit bloßem Schwert, das Knie auf einen 
erfchlagenen Kriegsknecht geftemmt. Der Verfaſſer Hat 
das Buch gefchrieben, „weil er für dafjelbe Ziel gegen- 
wärtig nicht handeln kann, wie er im Jahre 1863 in 
Polen gethan; er will nicht zeigen, was gefchehen fei, 
fondern was fiir die Freiheit gefchehen könne“, verwahrt 
fih aber am Schlufle, ein Syftem oder eine Theorie der 
Freiheitöfriege, ein Necept, wonach der Staatdapothefer 
einen Freiheitäfrieg zurechtbrauen, oder ein Reglement, 
wonach der Militär von der Schule oder vom Handwerl 
im eintretenden Fall operiren könnte, gefchrieben zu haben. 
Er ift zufrieden, wenn in feinem Bud für künftige Frei 
heitöfriege etwas weniges an Stoff und Samen gefunden 
wird, und hofft, daß es ihm noch vergönnt fein werde, 
mit Wort oder Wert, mit Rath oder That, mit Feder 
oder Wehr und Waffe über und für einzelne Freiheits⸗ 
friege der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft etwas 
arbeiten zu Fünnen. 

Wir haben mit des Verfaſſers eigenen Worten die 
Tendenz und den Geift bes Werks bezeichnet. Der 
Stoff ift nach logiſch geordneten Kategorien gruppirt. 
Der Berfafler Hat nit die Abficht gehabt, die ganze 
zufammenhängende Geſchichte jedes oder nur der beden- 
tendften einzelnen Sreiheitöfriege zu ſchildern, er meint, 
das würde, um es gehörig zu thun, weit mehr Zeit und 
Kaum erfordert haben. Wir find nicht damit einverftan« 
den. Das Werk hätte durch zufammenhängende Darftel« 
lung nur gewonnen, es wäre dadurch eine große Zer- 
ftüdelung und die vielfache, ermiüdende Wicderholung ein- 
zelner Thatſachen vermieden worden. ine allgemeine 
Ueberfiht nad) denfelben Kategorien, die der Berfafler 


gewählt, mit feinen, von wahrer Einfiht in das Weſen 
der Kriegskunſt zeugenden Bemerkungen erläutert, hätte 
ben Schluß bilden können, um die Charakteriftif, die An« 
forderungen und bie Durchführung ber Freiheitskriege 
recht anfchaulid) in ihrer organischen Verbindung zu zei⸗ 
gen. Der Berfaffer hat einen andern Weg eingejdjlagen, 
den er für beſſer gehalten. Er befpricht als Einleitung 
die Macht der Freiheit in der Ieblofen Welt, in der Thier⸗ 
und Menfchenwelt und in den Völkern, ferner die Innern 
Zuflände der um freiheit kämpfenden Völker (Leibes- 
befchaffenheit, Ernährung, Lebensweife, Verſtandesbil⸗ 
dung, Sitten, Glaubensleben, Staatsverfafiung und 
Sefege, Wehrweſen, Kriegsipiele und Feſte, Erziehung), 
dann geht er zum eigentlichen Thema über. Die ver⸗ 
ſchiedenen Urfachen und der Ausbruch der denkwürdigſten 
Vreiheitöfriege werben gefchildert, mit befonberer Vorliebe, 
was wir erflärlich finden, aber fehr einfeitig, wie aud 
polenfreundlihe unbefangene Leſer zugeben werden, bie 
polnifche Revolution von 1863. Doc fagt der Berfafler 
felbft: „Daß der Dolch, vielleiht auch Gift im Polen- 
aufftand von 1863 berechnete Anwendung fanden, fchwächte 
bedeutend feine fittliche Kraft, fchuf ihm viele Feinde und 
trug deshalb viel zu feinem Mislingen bei. Die Mord⸗ 
thaten der Hüngegensdarmen ftellt er dagegen als fem⸗ 
gerichtliche Executionen, durch Urtheilsfpruc der geheimen 
Regierung fanctionirt, dar! In den Betrachtungen, die 
er an das Kapitel knüpft, fordert ex für den Freiheits⸗ 
frieg ein Ideal, das ſich wol nur höchſt felten wie bei 
feinem eigenen Bolfe, bei den Polen aber nie finden wird: 
Einigfeit des ganzen Volks. 

Der Gang der Freiheitskriege nad) der bedingenben 
Bolfsthümlichkeit, hervorragende Mannesthaten einzelner 
und gemeinfame Thaten mehrerer, denfwirbige Gefechte 
und Schlachten, Beriheidigung von Städten und Felten, 
das Brechen ber Burgen im eigenen Sande und die tal 
tifchen Berhältniffe nebft der Sorge für die Erhaltung, 
die Führung, die Seelforge, Freiheitsthaten der Schwachen 
im Bolfe (Kinder und rauen) bilden den Inhalt ber 
folgenden Gefchichtsbilder. In den Anfichten über Füh—⸗ 
rung weicht der Verfaſſer wol von allen Kriegskundigen 
ab, nicht daß er den Werth der einheitlichen Führung 
verfennte, fondern nur, weil er auch hier ein Ideal auf 
ftellt: „freie Führung durch den Gefammtwillen“; die 
Kriegsgemeinde oder der Kriegsrath werde ohne eigentliche 
einzelne Anführer im Sriege ſich ſchon zurechtfinden, bie 
Theilnahme des Volls ober der Mannfchaft, fer es durch 
Mitrathen oder Mitwählen der Führer ſei eins der weſent⸗ 


Milttärifher Büchertiſch. 


lichſten Erforderniffe zum Gelingen ber Freiheitskriege. 
Wir erwarten erft noch die Hiftorifche Verwirklichung 
dieſes Ideals: Beifpiele aus alter Zeit beweifen nichts, 
denn fie paflen nicht auf die neuere Entwidelung ber 
Kriegskunſt und die koloſſalen Kriegsmittel der Gegenwart, 
die ein aufftändifches Volk nicht befigt. Von einem or- 
ganifirten Kriegsweſen, wie das fchmeizerifche, reden wir 
natürlich nicht, wir finden feine Wehrverfaflung eines 
Milizheers den Verhältniffen der Schweiz durchaus an- 
gemeflen und haben von jeher die lebhafteften Sympathien 
für die Freiheitskriege der Eidgenofien gehegt. Das Wert 
hat aber eigentlih nur Bollserhebungen im Sinne, die 
fi nicht auf eine beftehende Organifation fügen. “Die 
Kriegsgeſchichte hat jedoch gezeigt, daß ſolche Volkserhe⸗ 
bungen wol durch Ueberrafhung, begünftigt von der Lan⸗ 
desbejchaffenheit und bejondern Umftänden, gegen regel 
mäßige Truppen einige Bortheile erlangen, dieſe aber nicht 
behaupten und ihren Zwed nie erreichen lünnen. Man 
nenne und doc) eine folche‘ in neuerer Zeit, welche glück⸗ 
lich abgelaufen wäre. 

Bon den Darftelungen des Verfaſſers haben uns die 
aus den Kriegen der Eidgenoffen und der wenig befannte 
Kampf der Waldenfer, um fich ihre Heimat wieder zu 
gewinnen, am meiften intereffirt. Die Sriege der Juden 
zur Eroberung und Behauptung von Kanaan finden wir 
der dee bes Werks nicht entjprechend: die Juden waren 
doch frenıde Eindringlinge gegen die Stämme der Kanaa⸗ 
niter, bier würden letztere vielmehr, die Bertheidiger ihrer 
Heimat, ald Freiheitslämpfer gelten! Wie die Hure Nahab 
zu der Ehre kommt, gerühmt zu werden, begreifen wir 
num gar nicht: mach der Heiligen Schrift verrieth fie ihre 
Baterftadt Jericho an die Juden; ift das nachahmenswerth? 
Ein Motiv dazu gibt die Bibel nicht, das Hat ihr erft 
ein neuerer Dichter, Dar Waldau (Spiller von Hauen⸗ 
ſchild), draftifch genug erjonnen. Und Judith! Wir tra⸗ 
gen gewiß der Zeit Rechnung und find vollkommen mit 
dem Verfaſſer einverftanden, daß Thaten nur aus ihrer 
Zeit und ihrem Volle beurtheilt werden können, aber des⸗ 
halb können wir Judith doc) ninmermehr chriftlichen 
Frauen als Borbild aufftellen! Ihre Gefchichte füllt am 
Schlufſe des Werks acht Seiten. Mit dem Urteil, daß 
fie in vielen Stüden gewaltiger ſei als die mehr „ſchwär⸗ 
merifche und träumerifche” Jungfrau Johanna d’Arc, wer- 
den wol nur wenige, welche die Thaten des heldenmüthi⸗ 
gen Mädchens von Orleans kennen, übereinftinmen. 

In den Bemerkungen, welche der Berfaffer den ein» 
zelnen Kapiteln Hinzufügt, Bemerkungen über das Weſen 
des Vollkskriegs und deflen Durchführung (Kampfweife, 
Märſche, Formen des Angriffs u. ſ. w.), finden wir die 
Früchte gediegener kriegswiſſenſchaftlicher Studien und 
eigener Sriegserfahrung; die Darftellung ift frifch und 
lebendig, frei im Ausdrud und treffend. Wir haben das 
Berk, wenn wir auch mit manchem nicht einverftanden 
tein konnten, mit Intereſſe gelejen. 

2, Skizzen aus dem Leben Friedrich David Ferdinand Hoffe 
bauer'e, weiland Paſtors zu Ammendorf. Ein Beitrag zur 
Geſchichte des Lützow'ſchen Korps von J. A. Boigt. Halle, 
Buchhandlung des Waiſenhauſes. 1869. Gr. 8 1 Zhlr. 
15 Ngr. 


Dir möchten das Werk nicht blos einen Beitrag zur 


407 


Geſchichte des Lützow'ſchen Corps nennen, es gibt in fei- 
nem Zert und befonders in feinen umfaffenden Anmer- 
fungen einen inhaltreichen Beitrag zur Charafteriftil jener 
großartigen Zeit der Erhebung Deutjchlands gegen das 
Fremdjoch und des Geiftes, von welchem jene Zeit durch⸗ 
weht war. Davon ift befonders im erften und zweiten 
Abſchnitt viel zu leſen, wenn aud) Einzelheiten über die 
lateiniſche Schule in Halle und das Studentenleben auf 
der dortigen Univerfität nur file die noch lebenden Ge— 
noffen defjelben oder ihre Angehörigen, weil viele Perfön- 
lichkeiten genannt find, Intereſſe haben mögen. Der dritte 
Abfchnitt erzählt die Ankunft Hoffbauer’8 und feiner Ge» 
führten in Schlefien, wohin fie fich heimlich unter vielen 
Gefahren begeben, um als Freiwillige in das Lützow'ſche 
Corps zu treten; er fhildert die Organifation defjelben 
mit all den Misgriffen und Fehlern, welche dabei geſche— 
ben, den Aufbruch des Corps und feine Thatenloſigkeit 
bi8 zum Ueberfall von Kitzen. Das Urtheil über den 
Führer, das fich feit jener Zeit fchon allgemein gebildet 
bat, wird durch das, was man hier Lieft, nur beftätigt: 
er war feiner Aufgabe nicht gewachfen und troß vieler 
glänzenden perjänlihen Eigenfchaften nit ber Mann, 
dem jene Schar, in welder fo edle Elemente fich ver- 
einigten, hätte anvertraut werben follen. Die ganze un« 
glüdliche Kataftropge von Kigen, zum großen Theil durch 
jeine forglofe Führung troß aller Warnungen vor ber fran- 
zöſiſchen Hinterlift verfchuldet, ift ein Beweis dafür. 

‘Der Herausgeber fchildert diefen Ueberfall im vierten Ab⸗ 
Schnitt nach allen Quellen, die er darüber Hat benuten können, 
wie nach mündlichen Mittheilungen noch lebender Augen⸗ 


| zeugen und bemüht ſich, die Widerfprüche, denen er 


natürlich begegnen mußte, zu löſen. Dadurch hat freilich 
die Darftellung etwas Schleppendes und Weitjchmeifiges 
befommen, das ihr Eintrag thut: der Herausgeber fuchte 
aber vor allem nach Wahrheit. (Vgl. Nr.42 d. Bl. f. 1863.) 
Hoffbauer wurde mit andern bei Kitzen verfprengten 
Lütowern von polnischen Ulanen gefangen und nad) Leipzig 
gebradt. Bier fperrte man fie auf die Pleigenburg, von | 
wo fie nad) Mainz transportirt wurden, um vor ein 
Kriegsgericht geftellt zu werden, da Napoleon ihnen das 
Schickſal der Schill'ſchen Gefangenen, die auf die Gale⸗ 
ren gefchiclt wurden, bereiten wollte Im Berhör follte 
bewiefen werden, daß das Lützow'ſche Corps nur eine 
Art Räuberbande ohne militärifche Orgamifation gewefen, 
die in Sachſen mordend und brennend umhergezogen fei 
und eine Revolution babe bewirken wollen. Das Gericht 
ging aber auf diefen Unfinn nicht ein, und das Los der 
59 Gefangenen war, als foldye nad) Frankreich trans⸗ 
portirt zu werden, wo fie in der Feſtung Feneftrelles bis 
zu Napoleon’s Sturze blieben. Hoffbauer und ein Freund 
von ihm, Weber, erkrankten auf dem Marſche und kamen 
in Kaiſerslautern ins Tazareth, nad) ihrer Genefung wur- 
den fie weiter gefchafft, aber nicht zu ihren Kameraden, 
fondern nah Meg, fpäter nad Limoges und Bellac. 
Die perfünliden Schiäfale Hoffbauer’8 in der Gefangen- 
haft, das häusliche Leben und die Sitten damaliger Zeit 
in Frankreich werden fehr genau und anſchaulich gefchil- 
dert, und diefe Partie des Buchs wird auch einem 
größern Leſerkreiſe von Intereſſe fein. Nach dem Siege 
der Berbündeten wurden die Gefangenen befreit, Hoffbauer 


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408 Milttärifher Büchertiſch. 


kam in Belgien wieder zu feinem Corps, melbete fich bei 
Lützow, erbat aber zugleich feinen Abſchied und kehrte 
mit Weber in die Heimat zurüd, we er feine Studien 
wieder aufnahm. Beim Ausbruch des Kriegs von 1815 
trat er nochmals freiwillig ein und zwar beim 8. Hu⸗ 
farenregiment unter Colomb. Nach dem Trieben wurde 
er als Offizier entlaflen. Das Merkwürdigfte in feinem 
Feldzuge ift wel, daß er, der Kandidat ber Theologie, 
als Hufarenunteroffizier in Blois, weil kein Feldprediger 
beim Corps geweien, auf Colomb’8 Wunſch die Kanzel 
beitiegen und im Dolman gepredigt hat. 


3. Loſe Skizzen aus dem öſterreichiſchen Solbatenleben von 

Ludwig Rihard Zimmermann. Graz, Pod. 1869. 

8. 20 Nor. 

Der ehemalige Brigantenddef (vgl. Nr. 12 d. BL.) 
wibmet feine heitern Blätter der lefetundigen Dienfchheit 
im allgemeinen und feinen alten guten Sameraben vom 
öfterreichifchen 14. Infanterieregiment Großherzog von 
Heſſen im fpeciellen; er wünſcht, daß man nach Möglich⸗ 
keit über diefe aus dem ftehenden Heer gefchöpften Ideen 
lachen möge; „denn“, fagt er, „bie Zeit ift wol nicht 
mehr fo fern, in welcher man laden wird über die Idee 
ber ſtehenden Heere ſelbſt.“ Damit warten wir aber nod) 
ein Weilchen, wie? Der Berfafler, ein geborener Rhein⸗ 
beiie, war als DOffiziersafpirant in öfterreihifchen Dienft 
getreten und erzählt aus diefem viel Luftige Gefchichten, 
über deren mande auch wir herzlich gelacht haben, ob- 
gleich mehrere befier auf mündliche Mittheilung befchränft 
geblieben wären. Der Oberſt Strengau ift eine höchſt 
ergögliche und dabei doch ehrenhafte Figur; ob der da⸗ 
malige Commandant des Regiments Großherzog von 
Heflen das Original dazu geliefert hat, und die anbern 
al8 Caricaturen gezeichneten Offiziere, beſonders Major 
Schleiherle, fi) in demfelben vorgefunden, werden bie 
Kameraden, denen die Skizzen gewibmet find, wiſſen. An 
Ausfällen gegen die Ariftofratie und bie höhern Befehls⸗ 
baber in der öflerreichifchen Armee fehlt e8 nicht; fie 
find aber wigig und erreichen darum ihren Zweck der 
Erbeiterung. 


4. Erinnerungen ans dem preußifhen Kriegslazarethleben von 

- 1866. Beiträge zur Sumanität und Chirurgie für Laien 
und Aerzte von Hermann Schauenburg. Altona, Ber- 
lags⸗Bureau. 1869. 8. 1 Thlr. 


. Das Gebiht „Kriegäbente”, welches bem exnften 
Buche vorangeftellt ift, bildet eine feltfame Introduction. 
Die Kriegöbeute ift der Schädel eines „Zigeunerjungen“, 
ber im Lazareth geftorben, nachdem er einem vor ihm 
verſchiedenen Kameraden das Portemonnaie geftohlen und 
fterbend auf feinen Kaifer gefchimpft bat, ber ihm noch 
2 51. 20 Kr. ſchuldig fei. Wozu das hier? Das Wert 
verfolgt den Zwed, die Mängel des Lazarethweſens, die 
karge Belöftigung in den Lazarethen, und die Nachteile 
des Evacuirungsſyſtems, defien entjchiedener Gegner der 
Berfafler ift, aufzudeden, um die Erfahrungen von 1866 
verwerthen zu helfen. Im Vorwort lefen wir allerdings 
au), daß der Verfaſſer während feiner Dienftleiftung als 
fiellvertretender Stabsarzt im Reſervelazareth zu Görlitz 
mit feinen ärztlichen Borgefegten in Mishelligkeiten ges 
sathen ift, welche den Generalflabsarzt ber Armee be» 





mwogen, auf feinen Mebertritt in den Militärdienſt zu ver⸗ 
zichten. Dem friegäminifteriellen Schreiben, welches ihm 
diefe Eröffnung gemacht, fett er ein höchſt ehrenvolles 
Zeugniß feines directen Chefs, des Generalarztes Wagner, 
über feine Thätigfeit entgegen. Wir können alſo das vor⸗ 
liegende Buch, dem noch ein zweiter Band folgen fol, 
auch als eine Rechtfertigung biefer Thätigfeit, dem Urtheil 
der Laien und Aerzte vorgelegt, betrachten. Doc tritt 
biefer Zweck keineswegs flörend hervor, fondern der Ber- 
faffer erzählt neben feinen ärztlichen Operationen und 
Euren aud) feine perfönlichen Exlebniffe, feine Begegnun⸗ 
gen mit bedeutenden Perfönlichkeiten, die Erjcheinung der 
Königin und der Prinzeffin Karl in den Lazarethen u. f. w. 
in frifcher und anziehender Weife, ſodaß er fein Werl 
mit Recht nicht blos den Kachgenofien, fondern auch bem 
allgemeinen Leferkreife gewidmet hat. Das Hauptſtück iſt 
aber natürlich der Eriegschirnrgifche Theil, und biefer wird 
freilich auf Laien oft denjelben Eindrud machen wie ber 
Blid in das Operationszimmer auf bie ſchöne Hofbame 
der Prinzeffin Karl (Gräfin ©.?), welche äußerte: „So 
muß es unter der Guillotine ausfehen.” Dem ärztlichen 
Publilum werden dagegen bie chirurgifchen Erörterungen 
ſehr lehrreich fein. 

Den Krieg von 1866 vorzugsweiſe zum Gegenſtande 
hat ein ſcharfkritiſches Werk unter dem Titel: 


5. Die Strategen und die Strategie der neueſten Zeit. Kriege⸗ 
geisiäige Skizzenbuch von Eduard Ruffer. Prag, 
atow. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Rgr. 


Als Eingang ſagt der Verfaſſer, daß die Strategie 
oder Heerführung wol auf den Militärakademien vor⸗ 
getragen, aber nicht erlernt werden fünne. Wir ſtimmen 
ibm darin volllommen bei, geht er wel zu weit, 
wenn er behauptet, „es fei unmöglich, jemand zum Heer 
führer zu machen, dem die Heerführung nicht ſchon im 
feinen früheften Knabenſpielen fi als unwiderftehlicher 
Hang, ald geheimnigvolles Drängen feiner innern Eigenart 
geltend machte”. Die Beifpiele, die er anführt, Napo— 
leon und Alerander, laſſen wir gelten, es gibt deren noch 
mehr, aber e8 gibt auch vicle große Feldherren, die als Sena- 
ben, einem ganz andern Berufe gewidmet, nicht entfernt 
jenen Drang gefühlt Haben. Die Verhältniffe entwidelten 
jpäter das Talent, das in ihnen gefchlummert hatte. Vor⸗ 
handen muß es gemwejen fein, barin geben wir dem Ber« 
faſſer volllommen recht, wie in allem, was er über bie 
„Belöherren don Gottes Gnaden“ fagt. Sein Skizzen⸗ 
buch beginnt mit Napoleon’s Feldzügen und hebt dann 
Suworow hervor (Hier immer Suwarow genannt), von 
bem der Verfaſſer rühmt, daß er durch feine Energie und 
durch feine Taktik, bei jedem Angriff immer in Ueber⸗ 
macht zu fein, fo große Erfolge erzielt habe. Die DMa- 
rimen feiner Heerführung hat er einem feiner Vertrauten 
dictirt, fie Lauteten: „Nur Offenfive, fchnelle Märſche, 
Nahdrud beim Angriff, blanke Waffe, kein Methobil- 
angenmaß, volle Tsreiheit dem Obergeneral, den Feind im 
Felde aufzuſuchen und zu fchlagen, feine Zeit mit Bela⸗ 
gerungen verlieren.” 

Haben biefe ftrategifchen Grundſätze nicht, mit Ans⸗ 
nahme der in den Vordergrund geftellten blanfen Waffe, 
noch heute volle Geltung, und find fie nicht 1866 von 





Militäriſcher Büchertifch. 


preußischer Seite angewendet worden? Wir machen hier 
gleich unfere militärifchen Lefer auf die vielen eingeftreuten 
ftrategifchen Bemerkungen des Berfaffers aufmerkjam, fie 
find ebenfo treffend als fcharffinnig und zeugen von hoher 
Einfiht in das Weſen bes Kriegs und der wahren Kriege- 
funft. Die Kriege unfers Jahrhunderts bis zu dem von 
1866 ffizzirt er in Bezug auf die Heerführung nur kurz, 
es lag nicht in feiner Abficht, fie eingehend zu analyfiren; 
fänger verweilt er bei dem polnifchen Infurrectionskriege, 
weil diefer lehrreich beweift, „daß ſehr tüchtige, taftifch 
wohlgebildete und felderfahrene Generale mit dem beiten 
Material und dem heroifchften Muthe ihrer Streitkräfte 
nicht8 auszurichten vermögen, wenn ihnen in fehwierigen 
Berhältniffen die ſtrategiſche Conception und Schnellfraft 
fehlt”. Die öfterreichifchen Kriege von 1848 und 1849 
find noch ausführlicher behandelt, die Feldherren in Un- 
garn einer fcharfen Kritik unterworfen. Bon Radetzky 
fagt der Berfafler: „Wenn er auch für Defterreih in 
damaliger Zeit alles war, fo ift er doch in der Geſchichte 
der Strategie nicht epochemachend.“ Bon Haynau heißt 
8: „Sein Name war fchon ein ganzes politifch - militäri« 
ſches Programm, er bedeutete den fchonungslofen Krieg 
bis ans Mefler. Haynau war, abgefehen von feinen 
Eigenthiimlichkeiten, ein gar nicht zu verachtender Stra- 
tege. Schnell wie böfes Wetter Hinter dem Feinde ber, 
wußte er and) größere Combinationen ganz hübſch zu ent- 
werfen.” Dem SKrimkriege wibmet das Werk nur eine 
kürzere Betrachtung, weil er Fein bejonberes ftrategifches 
Intereffe darbietet, indem er eigentlich in einen Belage⸗ 
rungskrieg ausartete. Dagegen wird daran die politifche 
Bemerkung geknüpft, daß niemand daran denken folle, 
Rußland zu bekämpfen, wenn er nicht entjchlofjen ift, 
Bolen zu befreien. Defterreich, fagt er, babe jegt bie 
Formel in der Hand, durch den Föderalismus das Na- 
tionalitätSprincip zu paralyfiren, und e8 hänge nur von 
ihm ab, in Gongrekpolen wie auf ber Hämushalbinfel 
den großen „öfterreichifchen Gedanken’ zu weden und zu 
einer furchtbaren Waffenmacht zu geftalten: es fei jeßt, 
bei einer gefunden innern Politik, eine beitändige ſtrate⸗ 
giſche Gefahr für Rußland: „Der Tag, wo Rußland 
auf Defterreich flogen wird, rüdt mit verhängnißvoller 
Wucht näher und näher heran. Wo find die Strategen 
in Wien, die ſchon jest an bie Vorbereitung des Siegs 
denfen ?' 

Ein größeres Interefie als der Krimkrieg bietet dem 
Berfaffer der Srieg von 1859, „weil das, was dort von 
öfterreichifcher Seite geſchah, ficd im vergrößerten Maß- 
Rabe im legten böhmischen Kriege nur wiederholte”. Er 
führt das weiter aus und rügt befonbers, daß die Defter- 
reicher Feine Gelegenheit benugt haben, in die Taktik ihrer 
Gegner einzudringen. „Napoleon IM. mußte die feinigen 
aber gründlich kennen, um jenen Zug feines großen Oheims, 
der zum Siege von Marengo führte, an Bermefjenheit 
noch zu übertreffen, als er eine Operationsbafis wählte, 
die allen ftrategifchen Lehrſätzen ins Geficht ſchlug.“ Den 
Feldzug Garibaldi’8 in Süditalien 1860, ſowie den ber 
Auftro= Preußen 1864 in Scleswig-Holftein übergeht 
das Werk, da fie zwar für den Strategen ganz inter- 
eflantes Material bieten, aber doch zu fehr gegen den 

1870. 286. 


409 


fetten ebenfo kurzen als großen Krieg zuriictreten, „welcher 
den Namen des Deutjchen Kriegs davongetragen hat, weil 
er ein Erztind der deutſchen Bolitif war”. Seit dem 
Hubertusburger Frieden ftand er bevor, und ber Berfafler 
findet alle Berlufte, die er Defterreich auferlegt hat, nicht 
zu theuer, weil er „Defterreih von zwei Vampyren be» 
freit hat, von Venedigs zehrendem Befig und der Leichen⸗ 
umarmung des Deutfchen Bundes”. Diefer Krieg wird 
num in firategifcher Beziehung ausführlich), mit dem ſchärf⸗ 
ften und geiftreichften Urtheil beleuchtet. Der Schilderung 
find die Werke der gegenfeitigen Generalftäbe zum Grunde 
gelegt, welche kritiſch mebeneinandergeftellt werden, um 
fi) zw ergänzen. Seitdem find auch von Baiern und 
Sachſen Berichte erfchienen, welche fi durch Offenheit, 
Unparteilichleit und Klarheit auszeichnen. Geftütt auf 
jene officielen Beröffentlihungen, die ihm überall die 
Belege zu feiner unerbittlichen, oft wahrhaft vernichtenden 
Kritik Liefern, ftellt der Verfaſſer die Thatſachen, ihre 
Beranlaffung und ihren Zufammenhang dar und bedient 
fich daber auch der Waffe bittern Humors und fchneiden- 
der Satire. 

Mas er Über Defterreihs Politit, die Schäden und 
Mängel feiner Kriegsverfaffung, die leitenden Kreife in 
Wien und bie Heerführung fagt, ift wol das Stärkſte, 
was von einen Defterreicher dariiber ausgeſprochen wor⸗ 
den if. Wir können hier nicht einzelnes aus dem Zu⸗ 
fammenhang reißen, nur ein paar Heine Proben wollen 
wir geben: 

Der technifche Ausdrud für unfer paſſives Verhalten lau⸗ 
tete damals, man müſſe die Preußen bereinloden: ein Syſtem, 
das fich trefflich bewährte, denn die Preußen waren in ber 
That jo unvorfiätig, fi bis Wien und Presburg loden zu 
laffen. Hr. von Henifftein und Conforten fpielten dieſen leicht» 
finnigen Blauröcken gegenüber geradezu den Rattenfänger von 
Hameln. Die hätten fi, wenn man nicht Frieden mit ihnen 
gemacht, wol noch bis an die türkiſche Grenze locken laſſen. 

Und über „das in feiner Art unerhörte” Telegramm 
vor der Schlacht von Königgräg, das den Kaifer drin- 
gend bat, um jeden Preis Frieden zu ſchließen, weil eine 
Kataftrophe für die Armee unvermeidlich, fagt er: 

Wie weit mußte der Feldherr Benedek ſchon an feiner 
Aufgabe irre geworben fein, um an feinen Kriegsherrn eine 
ſolche Bitte zu richten? Wo ift der Held Rüſtow's, der bei 
Solferino feinen Kaifer beinahe zum Siege gezwungen bätte? 
Die Militärveclame war zu Ende, der ſtrenge Dann des Heinen 
Dienftes erſchrak vor der. ihm obliegenden geiftigen Rieſenauf⸗ 
gabe bis zum, fagen wir e8 offen heraus, bis zum Kindiſch⸗ 
werden. 

Der Berfaffer geht bei feiner fcharfen Kritit, wie er 
zum Schluß feiner Schrift fagt, von dem aufrichtigen 
Beftreben aus, auf eine Reform des öfterreichifchen Heer- 
weſens im Geifte des Erzherzogs Karl hinzuwirken, darum 
bat er die neuefte Strategie „draſtiſch“ vorgeführt. Die 
Reform ift im vollen Gange; ob aber jener Geift über ben 
Waſſern ſchwebt, ift die Frage. 

6. Der Krieg in Neufeeland. Bon Guſtav Droege Mit 

einer Keingsfarte, Bremen, Kühtmanu und Comp. 1869. 

gr. 

Seit zwölf Jahren ift auf der Inſel Neufeeland ein 
Krieg zwifchen den’Eingeborenen, die fih Maoris nennen, 

b2 








410 Militärifcher 


und den engliſchen Coloniſten entbrannt, über welchen 
die enropäifchen Zeitungen periodiſch abgeriffene Berichte 
gebracht Haben. Dieſe find, wie der Verfaſſer mit Recht 
fagt, parteiifch, weil fie nur aus englifchen Quellen ge⸗ 
schöpft find. Er bat es daher unternommen, etwas mehr 
Licht über die dortigen Verhältniſſe zu verbreiten, und ift 
dazu durch einen langjährigen Aufenthalt in Neufeeland 
und den benachbarten auftralifchen Colonien wohlbefähigt. 
„Fuür Nenfeeland”, fagt er, „mit feinen romantifchen Land» 
Schaften, feinen hohen mit ewigem Schnee bebedten Ge⸗ 
birgsfetten, feinen Lieblichen Tälern, feinen vielen feuer- 
fpeienden Bergen, feinen malerifchen Landfeen, und vor 
allem mit feiner geiftig und phyſiſch jo hochbegabten ein- 
geborenen Kaffe, fühlte ich von jeher eine befondere Bor- 
liebe.’ 

Neuſeeland wurde 1642 entbedt, aber erft 1769 von 
Cook genauer erforfcht, und fpäter von Sidney aus durd) 
entlafjene Verbrecher und zahlreiche Abenteurer colontfirt. 
Diefe Menfchen wurben von den Maoris freundlich auf 
genommen, bald aber hallte die ganze Inſelgruppe von 
ihren Schandthaten wider, Es war als ob der ganze 
Auswurf der Berworfenheit und des Laſters hier den 
Eulminationspunft erreicht hätte. Die inzwifchen nad)» 
gefommenen Miffionare fahen mit Entfegen die täglichen 
Borgänge und mußten Fein befieres Schugmittel dagegen, 
als foviel als möglich das Zufammenleben ber Weißen 
und Maorid zu verhindern. Sie fagten den letztern, 
unter denen die Belehrung fo raſche Fortjchritte machte 
wie ſouſt nie und nirgends, daß fie fo viel beffere Dien- 
fchen ſeien als die Weißen und mit ihnen unter feiner 
Bedingung Gemeinfhaft pflegen müßten: eine Lehre, 
welche den Nationalftolz der Eingeborenen wedte und viel 
zu der Erbitterung des fpätern Raſſenkampfes beigetragen 
hat. Die Difftonare forderten dann die englifche Regie» 
rung auf, bie nenfeeländifche Infelgruppe dem Colonial- 
befig der englifchen Krone einzuverleiben. Dies gefchah 
1842 durch einen Bertrag mit einer fogenannten Föde⸗ 
ration von Hänptlingen, welche, ohne dazu von ihren 
Stämmen bevollmädtigt zu fein und nur im geringften 
zn begreifen, um was es fich handelte, die Souveränetät 
ihres Landes der britifchen Krone cedirten. Seitdem 
firömte eine große Menge von Auswanderern dorthin 
und begann die lange Reihe der Landberaubungen dur) 
Lift und ſchnöde Verhöhnnng alles Rechts, welche bald 
zu Blutvergiegen und Greuelthaten und enblih, als die 
Maoris fi einen König gewählt und bie Briefter einer 
neuen Religion, bie unter ihnen ſich fchnell verbreitete, 
fie zum wildeften Fanatismus aufgeftachelt hatten, zum 
offenen Kriege führte. England ſchickte nach und nad) 
16000 Mann feiner beften Truppen und feche Kriegs⸗ 


Büchertiſch. 


ſchiffe dorthin, und es iſt ihm bis auf den heutigen Tag, 
wenn es auch den Krieg für beendigt erklärt hat, nicht 
gelungen, die Maoris vollſtändig zu unterwerfen, Die 
ungünftigen Berichte, welche die Zeitungen bald wieder 
brachten, nachdem England feine Truppen bis auf zwei 
Regimenter (d. h. Bataillone) zurüdgezogen und der Co- 
lonie erklärt hatte, daß fie fortan auf keine militärifche 
Unterftügung vom Mutterlande mehr zu rechnen habe, 
fowie die jüngfte Nachricht, daß Unterhandlungen mit 
dem Könige der Maoris zur Begründung friedlicher Ber 
hältniffe angelmüpft worden, beweifen, daß legtere nod) 
nicht eingetreten find, 

Dean wird der Heinen tapfern Nation feine Achtung 
für ihren Kampf nicht verfagen, wenn man erfährt, daß 
fie, die im Erlöfchen begriffen ift, kaum noch 45000 Sees» 
len zählt. Der Berfafler hat nad) feiner Berficherung 
den Krieg ganz unparteiifch gefchildert, obgleich er ftir 
die Eingeborenen, denen fo empörendes Unrecht gejchehen 
ift, Sympathien bat; in der That verfchweigt er aud) 
die Orenelthaten nicht, deren fie ſich, fanatifirt durch die 
Priefter ihrer neuen Religion, einer Mifchung hriftlicher, 
mofaifcher und budöhiftifcher Lehren, ſchuldig gemacht 


baden. Zum Schluß feines Buchs fpricht er die Hoffe 


nımg aus, der Weg werde nod gefunden werden, bie An« 
ſiedler zu ſchützen, ohne die urjprünglichen Beſitzer dieſer 
herrlichen Inſeln auszurotten. 


Mehrere Werke über Waffenkunde, welche uns zu 
gegangen find, können wir hier nicht eingehend befprechen, 
weil dies den Fachjournalen überlaſſen bleiben muß. Wir 
begnügen uns, ihre Titel für unfere militärischen Lefer 


zu noliren: 


7. Die Kriegswaffen in ihrer biftorifchen Entwidelung von ber 
Steinzeit bis zur Erfindung des Biindnavelgeweßre. Ein 
Handbuch der Waffenkunde von Auguft Demmin. Mit 
circa 2000 Illuſtrationen. Leipzig, Seemann. 1869. 8. 
3 Thlr. 6 Nor. 

8. Kriegsfeuerwaffen. Praktiſche Studie über die Hinterladungs⸗ 

ewebre, die Kugeliprige und ihre Munition. Bon €. 3. 
oda 6 Mit Genehmigung des Berfaflers aus dem Fran⸗ 

zöſiſchen überſetzt von Oden. Kaffel, C. Ludhardt. 1869. 

Or. 8. 2 Thlr. 10 Ngr. 

9. Geſchichte der Waffen. Nachgewieſen und erläutert durch 
die Eulturentwidelung der Boͤller und Beſchreibung ihrer 
Waffen aus allen Zeiten von F. A. K. von Spedt. Kaffe, 
C. Luchhardt. 1869. Sr. 8. Im Lieferungen zu 1 Tilr. 


Wir machen befonders auf das lettere Werk aufmerlk⸗ 
fam, das fich eine umfafjende Aufgabe, von böhern Ge⸗ 
fihtspunkten ausgehend, geftellt hat und daher auch für 
allgemeine Kreife von Intereſſe fein dürfte. 

Karl Guſtav von Berned. 





— — — — ————— — — 


Aeltere deutſche Literatur. 411 


Aeltere dentſche Literatur. 


1. Deutsche Classiker des Mittelalters. Mit Wort- und Sach- 
erklärungen. Begründet von Franz Pfeiffer. Siebenter 
und achterBand: Gottfried’s vonStrassburg Tristan. 
Herausgegeben von Reinhold Bechstein. Zwei Theile. 
Leipzig, Brockhaus. 1869. 8. Jeder Band 1 Thir. 


2. Deutſche Dichter des 17. Jahrhunderts. Mit Einleitungen 
und Anmerkungen. Herausgegeben von Karl Goedeke und 
Zulins Tittmann. Erſter Band: Ausgewählte Dich⸗ 
tungen von Martin Opit, herausgegeben von Julius 
Zittimann. Zweiter Band: Gedichte von Paul Fleming. 
Herausgegeben von Julius Tittmann. Dritter Band: 
Sinngedichte von Friedrih von Togan. Herausgegeben 
von Önftav Eitner. Leipzig, Brodhaus. 186970. 8. 
Seder Band 1 Thrl. 


Die Publication der erften der beiden Sammlungen ift 
in d. Bl. fchon öfters befprochen worden. An Walther von 
der Vogelweide, ihrem in jeder Hinficht würdigen Schuß» 
patron und Bahnbrecher, reihten ſich bisher die „Nibelnn- 
gen“, Kudrun“, Hartınann von Aue. Mit Gottfried’8 von 
Strasburg „Triftan” und dem in nächſte Ausficht geftellten 
„Barzival” und „Titurel“ Wolfram’s von Eſchenbach, fowie 
einem Bande „Erzählungen und Schwänfe” wäre der ur« 
ſprünglich von dem verewigten Begründer bes Unternehmeng, 
Franz Pfeiffer, vorgezeichnete Rahmen ausgefüllt. Doch liegt 
bei der bisherigen großen Theilnahme, welche daſſelbe gefun⸗ 
den, die Erwartung nahe, daß man ſich nicht innerhalb dieſer 
Grenzen halten werde. Vor ſeinem Beginnen mochte es 
gerathen ſein, ſie ſo enge zu ziehen. Da ſich aber durch 
unwiderlegliche Zahlen herausgeſtellt hat, daß es im 
eminenten Sinne zeitgemäß war, fo wäre das, was ur⸗ 
ſprünglich als eine verftändige Selbftbefchränfung gelten 
konnte, jegt nur noch ein pedantijcher Eigenſinn. 1864 
erjchien Franz Pfeiffer's erfte Ausgabe Walther's, heute 
Tiegt eine dritte vor, von Karl Bartfch bejorgt, im weſent⸗ 
lichen natürlich noch das Werk des erften Herausgebers 
bemwahrend, wiewol im einzelnen felbftändig fortgebildet. 
Bon den „Nibelungen“ und der „Kubrun“, beide von 
Bartſch Herausgegeben, gibt e8 auch fchon je eine zweite 
Auflage, und daß Hartmann von Aue bisher nur eine 
einzige erlebt bat, erklärt fi) weder durch die geringere 
Theilnahme bes Publilums noch durch das geringere Ver⸗ 
dienſt bes Herausgebers, Fedor Bech, fondern nur durch 
Das langſamere Erjcheinen diefer bisher umfänglichften Pu- 
biication, deren drei relativ ftarfe Bünde von 1867 —69 
ausgegeben worden find. Ohne Zweifel werden die näch⸗ 
ſten Yahre auch Hier die unverminderte Nachfrage durch 
nene Auflagen darthun *), wie man es aud) ohne alle Pro- 
phetengabe für die allerlegte Publication, die zwei Bände 
von „Triſtan“, vorausfagen kann. 

Der das urfprünglihe Programm Franz Pfeiffer’s 
jet einmal wieder nad Ablauf von mehr als ſechs Jahren 
durchlieſt, und ſich erinnert, welche Bedenken damals da- 
gegen von feiten mancher um bie Wiſſenſchaft hochverdien- 
ten Männer Laut geworden find, wird jett mit leichter 
Mühe ein abgeflärtes Urtheil über die Gegenfüge, die 
einſtmals recht fchroff aneinanderftiegen, auszuſprechen 
vermögen. Es iſt nicht zu leugnen, Pfeiffer hatte die 
Bebürfnigfrage, deren Löfung er auf bem von ihm ein« 


* Bine zweite Auflage des „Erec” ift bereits unter ber Preſſe. D. Red, 


geichlagenen Wege anftrebte, mit einer gewiſſen herben 
Einfeitigkeit, nicht ohne einen Anflug von Trankhafter 
Ditterfeit, einfeitig auf die Spite getrieben. Dente, nach⸗ 
dem ein allzu früher Tod ben hochverdienten Dann hin⸗ 
weggerafft bat, weiß e8 ober könnte es jedermann wiſſen, 
dag ein gutes Theil davon nur auf Rechnung eines ver⸗ 
bängnißvollen körperlichen Leidens zu fetten und der dadurch 
beherrichten Stimmung der Seele und des Gemüths zu⸗ 
zufchreiben war, alfo keineswegs fo hart und fchroff zu 
perftehen ift, wie bie Worte klingen. Die Xheilnahm- 
loſigkeit des Publikums gegen die germaniftifchen Studien, 
ihre Iſolirung und infolge defien ihre Berfnöcherung wa- 
ren ihm zu einer Art von Schredgefpenft geworben, das 
ihn fortwährend verfolgte Er vermifchte, eben infolge 
des finftern Schleierö, der fich immer feindfeliger über 
feine einft fo frifche und freudige Seele legte, allerlei 
objectiv wohlbegrünbete Wahrnehmungen mit fubjectiven 
Wünſchen und Befürchtungen, und geftaltete ſich daran 
ein Phantom, über welches feine Gegner es leicht hatten 
zu lachen, während es doch im Grunde nur ein rührendes 
Zeugniß von der ernften und tiefen Irene des Gemüths ge 
wefen ift, mit welcher er — nicht blos, wie fo viele in der 
Gegenwart, mit dem fühlen und nüchternen Kopfe — feiner 
Wiffenfchaft bis zu feinem Ketten Athemzuge ergeben blieb. 

Denn ohne Zweifel war es richtig, daß jene durd- 
fhlagende Wirkung der altdentfchen —E*— und jene 
begeiſterte Theilnahme weiter Kreiſe nicht eingetreten war, 
auf die 3. B. von der Hagen im Jahre 1819 in fei- 
nem befannten Buche „Die Nibelungen, ihre Bebeutung 
für die Gegenwart und fir immer“, mit großartiger 
Sicherheit zählte. Die altdeutjche Literatur hat ſich höch⸗ 
ſtens in Ueberjegungen einiger ihrer Hauptwerle ein be« 
ſcheidenes Plätchen neben der breiten Maſſe, bie, von 
allen Seiten herangefchwenmt, den Markt und den Ge- 
ſchmack in Deutfchland beherrjcht, fichern können, und fie 
wird in ihn mehr geduldet als begünftigt. Auch hat fie 
weder Homer noch auch nur Birgil aus den Schulen zu 


drängen vermodt und wird und foll e8 and) niemals 


vermögen. Wer alfo fi von jenen erften hochfliegenden 
Hoffnungen nicht trennen wollte, der konnte mit Recht 
über ihr gänzliches Fehlſchlagen fich befümmern, und es 
Scheint faft ala fei Pfeiffer, ohne e8 beftimmt auszufprechen, 
für fi immer in biefem alle geweſen, indem er das, 
was ihm ans Gemüth gewachfen war, auch fiir etwas 
hielt, das allen mit Fug und Recht ebenfo and Gemüth 
gewachſen fein ſollte. Aber ftatt jener geftaltlofen, wenn 
auch bunt ſchillernden Phantafte Hatte ſich etwas Unfchein- 
bareres, doc um fo Gehaltvolleres und Lebeuskräftigeres 
beraudgebildet, eine firenge eracte Wiflenfchaft, eine deut⸗ 
ſche Philologie, welche felbft wieder, wie jeder Unbefangene 
anerkennen muß, die LTehrmeifterin mancher viel älterer 
Schweftern und die Erzeugerin anderer ganz neuer Zweige 
ber wiflenfchaftlichen Tchätigkeit geworben if. Davon fah 
man 1819 nod feine Spur, und wäre der Weg weiter 
verfolgt worden, der damals als der allein heilfame ge⸗ 
priefen wurde, fo wäre ſie auch fpäter niemals entftanden. 
Selbftverftändlih aber brachte e8 der firenge Bann ber 
Methodik einer wirklichen Wiffenfchaft mit fi, daß fie 
52 * 





412 Aeltere deutſche Literatur. 


zünftig wurde, d. h. daß fie bie ganze Kraft bes Geiftes 
und der Thätigkeit des einzelnen, der ſich ihr Bingab, 
beanfpruchte. Wer eine Frucht von ihr genießen wollte, 
der mußte fi) auch zu der ſauern Arbeit des Pflügens 
und Säens verftehen, und die Arbeit wurde hier um fo 
mühfeliger, als das Feld noch einen wahren Neubruch 
darftellte, einen Urwald voll Geftrüppe und Gefchlinge, der 
felbft dann, wenn er in Fruchtboden verwandelt worden 
war, in genug fiehen gebliebenen Strunfen und Storren 
feine urfprüngliche Natur deutlich kundgab. Weußere 
Neizmittel, um zahlreihe Hände zu feiner Bewältigung 
heranzuziehen, fehlten Hier gänzlich. Entweder vornehm 
ablehnendes Ignoriren, oder dünkelhaft fpöttifches Herab⸗ 
fehen war die gewöhnliche Stimmung, die außerhalb Herrjchte, 
wenn es galt, die Bedeutung und Berechtigung dieſes 
neuen Stubdienkreifes theoretiſch und praktiſch zu firiren. 
Sp Tonnten e8 nur wenige, aber durchaus nur berufene, 
in felbftlofee Hingebung arbeitende Hände fein, die fich 
feiner annahmen. Allmählich find durch ihr Verdienſt 
und ihre Zähigfeit die meiften jener Außeru Sinderniffe 
befiegt, und es ift wenigftens an Schule und Univerfität 
und ebenfo auf dem Literarifchen Markt die Berechtigung 
der Germaniftit nicht mehr in Frage geftellt. Bon bie 
fem Standpunft aus gefehen, kann aud ihr. eifrigfter 
Bertreter nur zufrieden mit ihren bisherigen Erfolgen 
und ihrer gegenwärtigen Stellung fein. Daß fie nad) 
allen Seiten hin einer weitern Berbefjerung fähig ifl, ver⸗ 
ſteht fih von felbft, und an irgendeine Art von Stilftand 
ift bier, wie einfach ſchon jeder Meßlatalog zeigt, we⸗ 
niger als in irgendeinem anbern Fache, das mit annähernd 
gleicher Kraft betrieben wird, zu denlen. 

Ein wirklicher Fortſchritt ift es num auch geweſen, 
als Pfeiffer verjuchte, die Ergebniffe ber fireng zunft- 
mäßigen Gelehrfamfeit einem weitern Kreiſe von Gebil- 
beten zugänglich zu machen. Seine „Dentſchen Claſſiker 
des Mittelalters” follten fi an diejenigen wiſſenſchaftlich 
gebildeten Leſer adreffiren, denen es zu ihrer eigenen 
Törderung oder für ihre auf ein anderes Fach gerichteten 
Studien darauf anlommen mußte, die authentiſche Geftalt 
unferer wichtigften ältern Literaturdentmäler fo weit felb- 
ftändig zu benugen, ald man dies ohne Fachmann zu fein 
vermag. Es follte aljo vor allem eine Brüde zu den 
zahlreihen Hiftorifern und Literarhiſtorikern geichlagen 
werden, die täglich mehr das Bedürfniß, fi) eingehend 
von unjerm Altertfum zu unterrichten, empfanden, und 
bie e8 doch mit den bisherigen Hilfsmitteln, die natur- 
gemäß von Zunftgenofjen für Zunftgenofien gemacht find, 
nicht recht Tonnten. Infofern Können die „Deutſchen Elaf- 
filer des Mittelalters” alfo nicht direct die Anforderungen, 
die dieſe an eine für fie beftimmte Herausgabe eines alt« 
deutſchen Sprachdenkmals ftellen, erfüllen, aber wie das 
bisher Geleiftete gezeigt Hat, find fie neben ihrem Haupt- 
zwed doc auch im Stande, einen werthvollen Beitrag zu 
der Tertesreftauration und Erflärung für die zunftmäßige 
Wiſſenſchaft zu liefern, nur nicht gerade in den Formen, 
welche diefe herfümmlich dafür zu gebrauchen pflegt. Kein 
Tachgenoffe kann, falls er fich nicht lächerlich machen will, 
jene „populären“ gelben Bändchen ignoriren, die für alle 
darin eingefchlojienen Autoren die neuefte Bhafe der ftreng 
wifienfchaftlihen Durcharbeitung repräfentiren. 


Was ſür die Vorgänger gilt, gilt auch für Bechſtein's 
„Triſtan“. Es ift jedenfalls diejenige Ausgabe, nad) welcher 
auch der eingefleifchtefte Bachmann zuerft greifen wird, 
wenn er im einzelnen oder im ganzen fi in felbftändiger 
Forſchung mit diefem Gegenftande befchäftigt. Freilich ift 
damit nicht gefagt, daß er jedem bier auf Grund um« 
faflender Neudurcharbeitung des handfchriftlichen Materials 
recipirten Verſe oder jeder Wortgeftalt unbedingt beipflichten 
ober die fprachlihen und fachlichen Erlänterungen des 
Herausgebers überall als zutreffend anerkennen wird. In 
der einen wie in der andern Beziehung wird jeder, und 
Referent nicht am wenigften, in jehr vielen und relativ 
ſehr wichtigen Punkten fich feine felbftändige, von der des 
Herausgebers abweichende Anſicht wahren, worauf jedoch 
bier begreiflich nicht eingegangen werden Tann, Denn jo 
fanften Fluſſes Gottfrieb’8 Verſe und fcheinbar aud) feine 
Gedanken dabingleiten, jo häufig man fie auch einer auf⸗ 
gereihten Schnur an Farbe und Größe zum Bermwechjeln 
ähnlicher Perlen verglichen Hat, fo viel verborgene Spiten 
und Haken eines nicht blos originellen, fondern, wie es 
vielleicht weniger zugegeben werden dürfte, überfeinen und 
verzärtelten Empfindens und Fühlens enthalten fie doch. 
Die Poeſie des abendländifchen Mittelalters bietet dazu 
fein völliges Gegenftüd, und wir müßten bis in unfere 
modernfte Literarifche Phaſe berabfteigen, wenn wir ein 
ſolches finden wollten. Außerhalb des Kreiſes der abend- 
ländifchen Welt finden fi) namentlich in der gleichzeitigen 
perfifchen Lyrik überrafchend ähnliche Stimmungen und 
daraus geborene Geftaltungen, wobei wol nicht ausdrück⸗ 
lid) gefagt zu werben braudt, daß am irgendeine Art 
von Außerm Zujammenhang gar nicht gedacht werden 
fann, Aber c8 wäre nicht ohne Werth für die tiefere 
Erfaffung der Eulturgefhichte, wenn man ben innern 
Zufammenhängen oder vielmehr den innerlid verwandten 


und doch wieder nicht blos ränmlid und ethuographifch 


fo eigenartigen Seelenſtimmungen emimenter poetiſcher 
Talente, die zeitlich ungefähr zufammengehören, nach⸗ 
geben mollte. 

Keine Frage, daß eine ſolche verfchlungene Subjecti= 
pität, ein folches bis in die feinften Nervenfpigen feines 
aparten Gefühlsraffinements bewußtes Wefen jeder andern 
Subjectivität immer ald etwas anderes erfcheinen muß, 
und darum ift hier, wenn man nicht mit dem Dünkel 
bes unfehlbaren Pedanten herantritt, in unzähligen Fällen 
nicht blos die Möglichkeit einer verfchiedenen Erflärung 
zuzugeben, fondern auch, daß mehr als eine davon ebenfo 
rihtig wie die andere fein kann. Der neuefte Heraus 
geber jcheint dies gerade fo, wie wir e8 hier ausfprechen, 
auch empfunden zu Haben. Wir fchliegen e8 aus dem 
Umftande, daß er Häufig mehrere Erklärungen einer Stelle 
nebeneinanberreiht, häufig anch die eine oder die andere 
oder alle zufammen mit einem Tragezeichen begleitet, wol 
um das anzudeuten, was eben von uns ausgeführt wurde. 
Denn dies ift doch noch etwas anderes, ald was man 
von jedem echt poetifchen Gedanken oder Worte, ja genau 
bejehen, von jedem echten Gedanken behaupten Tann, näm⸗ 
ih daß er unerſchöpflich und niemals völlig ausſprechbar, 
infofern alfo auch niemals ganz durch eine, wenn aud) 
nod fo gründliche Paraphraje oder Erklärung zu bewäl« 
tigen fei. Lerifon und Grammatik aber, überhaupt dag 








Aeltere deutſche Literatur. 4138 


bloße gelehrte Wiſſen wird verhältnigmäßig für Gottfried’s 
Berftändniß weniger in Anſpruch genommen als für je- 
den andern feiner Fünftlerifchen Zeitgenoffen. Während 
z. B. Wolfram meift — aber nicht ausſchließlich — des⸗ 
halb jo ſchwer verftändfich fir uns ift, weil er aus der 
unmeßbaren Ziefe einer Sprache fchöpft, die wir fonft 
nur nad) ihrer geglätteten Oberfläche kennen, verſchmäht 


Gottfried alle folche Mittel zu befonderer Wirkung. Sein 


Sprachmaterial ift jo ganz plan unb gemeingültig, daß 
es als folches eigentlich von jedem, der nur einige Vor⸗ 
ſtellung von den äußern Sormunterfchieden zwifchen der 
Sprache bes 13. und der des 19. Yahrhunderts befigt, 
ohne alle weitern Hülfsmittel erfannt, aber freilich noch 
nicht verftanden werden kann. Auch in der äußern 
Scenerie der Begebenheiten, in dem Zufchnitt der Cha⸗ 
raltere und Situationen ift, abgefehen von der Fabel jelbft, 
die der Dichter aber nicht erfunden hat, fondern als eine 
fertige hinnimmt, nichts oder fo viel wie nichts, was einer 
befondern Berbeutlihung und Annäherung an unfere 
Degriffe, Denkweife und Zuftände bedürftig fcheint, und 
infofern hat eim Erflärer auch in dem fachlichen Theile 
ein unendlich leichteres Geſchäft als wieder bei Wolfram, 
ben man doch mit Recht, wie e8 ja Gottfried ſelbſt un- 
übertrefflich geiftvoll gethan, al8 feinen felbftverftändlichen 
Segenfap immer ihm entgegenzuftellen verfucht if. Und 
doch kehrt fich bei tieferm Eindringen aud; da das Ver⸗ 
hältnig um. Befäßen wir ober könnten wir in den Be- 
fig des dazu nöthigen Apparat an cultur- und fitten- 
geichichtlichen Notizen gelangen, fo würben fi Wolfram’s 
ſachliche Dunkelheiten meift ebenſo zerftreuen laſſen wie 
ſeine ſprachlichen; je weiter wir aber bei Gottfried in den 
Kern der Thatſachen eindringen, deſto ſchwieriger wird es, 
fie zu verſtehen, weil ſie auf der Grundlage eines in ſeinem 
Kerne ſo ganz unfaßbaren, ebenſo reichen wie abſonder⸗ 
lichen Geiſteslebens ruhen. 

Neben ben „Claſſikern des deutſchen Mittelalters“ ſchrei⸗ 
tet nun auch die dritte der vier gleichzeitig und im ganzen 
nach gleichem Plane angelegten Sammlungen, die „Deut⸗ 
Then Dichter des 17. Yahrhunderts”, rüftig fort und hat 
es innerhalb zweier Fahre ſchon zu drei Bänden gebradit, 
die an ber Spite diefes Artikels genannt worden find. 
Es fcheint, als wenn ſich auch für diefen wenig begün⸗ 
fligten Abfchnitt unferer Literatur doch eine größere Theil» 
nahme findet, ald man bisher vorausſetzte. Hier hat die 
firenge Zunftgelehrfamfeit noch fehr wenig vorgearbeitet; 
kaum daß die eracte Kiterargefchichtliche Forſchung, die 
etwas anderes ald die gewöhnliche Literargefchichtfchreibung 
ift, hier und da einmal, nicht ohne gewifje Referven und 
Entfchuldigungen ob des wenig anmuthenden Gegenftandes, 
ihn von der Seite her geftreift hat. Nur für einen der 
bier aufgenommenen Dichter, für Paul Fleming, hat Lap⸗ 
penberg in feiner gewöhnlichen gründlichen und zuver⸗ 
Täffigen Art durch Ausgabe und Commentar Muſter⸗ 
gültiges geleiftet, für Opitz ift e8 biöher nur bei ber 
bloßen Abficht und einigen vorläufigen Anfägen geblieben, 
und Logau war noch ganz vernadhläffig. Denn mas 
auf Leifing’8 Anregung Ramler einft für ihn gethan, 
darf fiir die Gegenwart als unbrauchbar bezeichnet wer: 
den, fo verdienſtlich e8 auch damals war, eine fo ganz 
pergefiene und doch fo bedeutende Geftalt unferer Literatur 


förmlich) wieder entdedt zu haben. Form und Gehalt 
diefer Literaturperiode find aber dennoch nicht fo gering, 
als daß manche ihrer Erzeugniffe nicht aud) an fi, und 
nicht blos im Zuſammenhang ber ganzen deutſchen lite- 
rarifhen Entwidelung als ein zu ihrem Berftändniß 
nothwendiges hiftorifches Hülfsmittel, eine gewiſſe Bedeu⸗ 
tung beanfpruchen dürften. 

Dies gilt freilich am wenigften von Opig, dem man 
nur gerecht werben fan, wenn man ihn ganz und gar 
in 2iteratur- oder ulturgefchichte auflöfl. Denn ab 
gejehen von einigen kleinern lyriſchen Producten, in denen 
er aber auch nicht originell, fondern nur ein gefchidter 
Uneigner fremden, ſei es volfsthümlich dentfchen oder 
franzöfifchen Gutes gemwefen ift, hat er, wie man wol, ohne 
MWiderfpruch zu gewärtigen, behaupten darf, aud nicht 
eine Zeile gebichtet oder gefchrieben, bie, fo wie fte dafteht, 
noch jegt unmittelbar wirkt und der Phantafle und dem 
Gemüth die Befriedigung gibt, die aus jedem echten 
Dichterwort herausftrömt, auch wo e8 durch die befondere 
Umbüllung feiner Zeit oder feines Erzeugers nicht am ſich 
durch und durch verſtändlich ober faßbar für den fpätern 
Lefer if. Daher möchten wir, fobald fich, wie zu Hoffen 
fteht, die Beranlaffung zu einer zweiten Bearbeitung 
diefer vorliegenden Ausgabe ergibt, den Wunfd aus» 
ſprechen, daß dieſelbe noch in durchfchlagenderer Weife 
als die erfte fozufagen blos literargeſchichtlich behandelt 
werde. Die ausführliche Einleitung des verdienftvollen 
Herausgebers deutet zwar alle die mefentlichen Geſichts⸗ 
punkte an, aus welchen es ſich erklärt, daß ein an fid) fo 
unproductives und innerlich unpoetifches Talent‘, wie es 
Opig war, jene in ihrer Art fo einzige Wichtigkeit für 
die geſammte deutfche Literatur erlangen konnte, die ihm 
heute fein vorurtheilefreier Kenner derfelben mehr beftreitet. 
Dod würden ſich biefe Andeutungen zum Nuten der 
Lefer ohne große Mühe viel weiter ausführen und, was 
und die Hauptfache fcheint, aud) in greifbarere Beziehung 
zu den gleichſam nur als Belege zu benugenden Driginal« 
productionen des Mannes fesen lafjen, woburd auch dieſe 


erſt in die rechte ihnen gebührende Beleuchtung gerüdt 


würden. Wer felbft ſchon eine etwas tiefere Kenntniß des 
innern Lebens unferer damaligen Literatur und des gan« 
zen deutfchen Volksgeiſtes befitt, bedarf folder Hülfs- 
mittel zwar nicht, aber auf die Heine Zahl ſolcher ift diefe 
Sammlung fo wenig berechnet, wie die analoge der „Deut⸗ 
Shen Claſſiker des Mittelalters‘ auf die drei oder bier 
Dugend literarifch oder dom Katheder thätiger beutfcher 
Philologen. Und da, fo fonderbar es auch Hingen mag, 
ed doch feftfteht, daß dem Durchichnitt der heutigen wiſſen⸗ 
Ihaftlih, aber nicht fachmäßig Gebildeten das 12. und 
13. Jahrhundert im ganzen und großen doch durchſichti⸗ 
ger und befannter find als die Epoche vor und um den 
Dreißigjährigen Krieg — unbefchadet deffen, daß ſie un⸗ 
zweifelhaft mehr einzelne Notizen, Namen und Zahlen 
aus der Zeit des 17. Jahrhunderts im Gedächtniß tragen 
als aus dem 12. und 13. Jahrhundert —, fo liegt darin 
aud) noch eine weitere Verſtärkung des von uns oben vor⸗ 
getragegen Wunſches. Bei Fleming dagegen, der minde- 
ftend in einigen feiner geiftlichen Lieder noch bis heute 
lebendig geblieben ift, und bei Logan, deſſen biedere Ver⸗ 
ftändigfeit und ſchlichte Herzensgüte auf ein deutſches 











416 


Unze 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Bollffändig erfhien foeben: 


Dolltändiges Bibelwerk für die Gemeinde. 


In drei Abtheilungen. 
Bon Ehriftian Carl Yofias Bunſen. 
Neun Bände 8. 
Geheftet 20 Thlr., mit Bibelatlas 21 Thlr. 
Gebunden 23 Thlr., mit Bibelatlas 24 Thlr. 

Erfte Abtheilung: Die Bibel oder die Schriften des Alten und 
Neuen Bundes nah den Überlieferten Grundterten überſetzt 
und für die Gemeinde erflärt. Sm vier Theilen. Geheftet 
10 Thlr. Gebunden 11 Thlr. 10 Ngr. 

Zweite Abtheilung: Bibelurfunden. Geſchichte der Bücher und 
Serflellung der urkundlihen Vibelterte. In vier Theilen. 
Geheftet 8 Thlr. 10 Ngr. Gebunden 9 Thlr. 20 Nor. 

Dritte Abtheilung: Bibelgefchichte. Das ewige Reich Gottes 

und das Leben Jeſu. Herausgegeben von Heinrih Ju⸗ 
lius Solgmann. In einem Bande. Geheftet 1 Thlr. 

20 Ngr. Gebunden 2 Thlr. 

Bibelatiad von Henry Lange (10 Karten). Eartonnirt 1 Thlr. 
Das berühmte Werk liegt jetzt vollendet vor und ift voll» 

ſtändig auf einmal, geheftet und gebunden, oder nad und nad) 

in neun Bänden ober 18 Halbbänden, oder in drei Abtheilun- 
gen (die andy einzeln abgegeben werben) zu beziehen. 

Der verewigte Berfaffer hatte es fi) zur Lebensaufgabe ge- 
macht: dem deutihen Bolke das Bud der Büder 
wirklich zugänglich zu maden, demfelben die weſentlichen 
Ergebniffe der biblifchen Wiſſenſchaft in allgemein verftändlicher 
Darſtellung mitzutheilen. 

Die Ueberſetzung iſt eine fireng getreue Wiedergabe des 
Bibeltertes in der allgemein verfländlihen Mufterfpradhe Lu⸗ 
ther'e, aber mit Berbefferung der anerfannten vielfachen Män⸗ 
gef feiner Meberfegung. Die Erklärung der Bibel (in An- 
merkungen unter dem Zexte) bildet eine fortlaufende Erläuterung 
fowol der Gedanken als der Thatfachen des Bibeltertes. Außer- 
dem enthält das Werk eine zufammenbhängende geſchichtliche 
Darftellung und Erklärung, fowie eine weltgefhidt- 
lihe Betrachtung der Bibel nebft einem Leben Jeſun. 

Nah dem Tode des Berfaffers wurde das Werk mit Be- 
nutung feiner Borarbeiten von Prof. Kamphauſen in Bonn 
und Brof. Holtzmann in Heidelberg fortgeſetzt und vollendet. 

Bunfen’s Bibelmerk, das ſchon während feines allmählichen 
Erſcheinens eine weite Verbreitung gefunden bat, ift troß ein- 
zelner Anfeindungen von Tatholifher und orthodorer proteftanti- 
ſcher Seite allgemein als ein höchſt bedeutendes Unternehmen 
anerfarıt worden, da8 bie vollfte Beachtung nicht nur 
der theologifhen Welt, fondern der weiteften Kreife 
des dbeutfhen Volks verdient. 


Als Separatabdrud ans bem Werke erfchien: 


Das Neue Teftament. Nach dem überlieferten Grund» 
terte überfegt von Chriftian Carl Yofias Bun- 
fen. Herausgegeben von Heinrih Julius Holk- 
mann. 8. Geheftet 15 Ngr. Gebunden in Lein- 
wand 24 Ngr., in Leder mit Goldſchnitt 1 Thlr. 

Diefe Ausgabe des Neuen Teftaments wird nicht nur allen 

Freunden Bunken’s willfommen fein, fondern auch zahlreichen 

weitern reifen, welche fein Bibelwert noch nicht kennen. 

Selbfiverftändlich ift es nicht die Abficht, durch diefe Ausgabe 

die im deutſchen Volke mit Recht eingeblirgerte Luther'ſche 

Ueberfegung verdrängen zu wollen. Aber gewiß wird fie 

auch neben diefer allen willfommen fein, welde das Neue 

Teftament in einer dem jegigen Stande der Wiflenfchaft ents 

fprehenden Ueberfegung leſen wollen. 


Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brodihaus. — 


Anzeigen. 


igenm. 
Deutfche Allgemeine Zeitung. 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Die Deutſche Allgemeine Zeitung ift ein entſchie⸗ 
ben Liberaleö und nationales, nah allen Seiten 
nnabhängiges Degen und gehört zu den verbreitet: 
ten Blättern in Mitteldentfhland. Sie hat zahl: 
reihe DOriginalcorrefpondenzen und Depefden, ein 
reihhaltiged Yentlleton und Driginaimittheilungen übe 
gandet und Induſtrie. Außer dem Norddeutfde 

unde, Süddentſchland und Defterreid widmet 
namentlich den Uugelegenheiten Mitteldentfhlauds u 
ſpeciell Sachſens eine beiondere Anfmerkiamteit uud I 
als banptiädhlichfte Drigiunlauelle darüber den weite 
Kreifen des Ju- und Anslandes empfohlen werden, 





Mit dem 1. Juli beginut ein neues Abonnement af 
die Deutfche Allgemeine Zeitung, und werben deshalb alle aus- 
wärtigen Abonnenten (die bisherigen wie neu eintretende) erſucht, 
ihre Beftellungen auf das nächſte Vierteljahr baldigft bei dem 
betreffenden Poflämtern aufzugeben, damit feine Verzögerung 
in der Ueberſendung ftattfinde. Der Abonnementspreis 
beträgt vierteljährlih 2 Thlr. 

ie Deutihe Allgemeine Zeitung erſcheint außer Sonn 
tags und Feiertags täglich nachmittags mit dem Datum des 
folgenden Tags. Rad auswärts wird fie mit den nächſten 
nah Erſcheinen jeder Nummer abgehenden Poften verjandt. 

Inſerate finden durch die Dentfche Allgemeine Zeitung, 
welche zu bdiefem Zwecke von den meiteften Kreiſen und ua 
mentlich einer Reihe größerer induftrieller Inftitute regelmäßig 
benußt wird, die allgemeinfte und zwedmäßigfte Berbreitung; 
die Inſertionsgebühr beträgt für den Raum einer viermal ge 
fpaltenen Zeile unter „Anlündigungen‘‘ 1%, Ngr., einer drei 
mal gefpaltenen unter „Eingeſandt 2, Nor. 

Bon 1870 an haben die Herren Haafenftein & Bogler 
in Leipzig, Berlin, Breslau, Frankfurt a. M., Köln, Hamburg, 
Stuttgart, Wien, Bafel, Zürich, Genf, St.- Gallen und Dres 
den den ausſchließlichen Inferatenbetrieb für die Deutſche All⸗ 
gemeine Zeitung übernommen und find alle Injerate an eins 
diefer Etabliffements zu fenden. 





Im Verlage von F. Tempsky in Prag ist soeben 
erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben: 


Christi Leben und Lehre 
besungen von 
Otfrid. 
Aus dem Althochdeutschen übersetzt von 


Johann Kelle. 
Gr. & Geh. 2 Thir. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Gedichte 
von 
Adolf Ritter von Tſchabuſchnigg. 
Dritte Auflage. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor. 


Die Gedichte Tſchabuſchnigg's (gegenwärtig öfterreichiicher 
Minifter), bereits in zwei Auflagen verbreitet. liegen —* 
einer bedeutend vermehrten dritten Auflage vor. 


— — — — — — — — 


— — 


Druck und Verlag von S. A, Brochhaus in Leipzig. 









Blätter für literarifde Unterhaltung. 


3ahrgang 1870. 


Zweiter Band. 


*5 
Iur 
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» .. ee er: - 
> J .. ‚ er 
.. gr 1: er oo . 
u it , Ai: - * 
ĩ x Ba. 









Blätter 


für 


literarifche Unterhaltung. 


Jahrgang 1870. 


Zweiter Band. 
Iuli bis December. 


(Entpaltend: Nr. 27—52.) 





Leipzig: 
5 U Brodhans. 


1870. 


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Blätter 


für 


literarifche Unterhaltung. 





Jahrgang 1870. 


Zweiter Band. 
Iuli bis December. 


(Enthaltend: Nr. 27—52.) 





Leipzig: 
5 U Brödhans. 


1870. 


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Blätter 


literarifche Unterhaltung, 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erfcheint wöchentlich. 


—4 Ar. 27. er 


1. Juli 1870. 





Die Blätter für literariſche Unterhaltung erfäeinen in woͤchentlichen Lieferungen zn dem Sreife von 10 Ahlen. jährlich, 5 Zhlrn. 
bafbjährlih, 2%, Thlrn. vierteljährlig. Alle Buchhandlungen und Hoflämter des In» umd Unslaudes nehmen Beſtellungen an. 





Inhalt: Revue neuer Lyrik und Epik. Bon Rudolf Gottſchall. — Neue fpiritnaliftifche Schriften. Bon Marimilten verty. — 
Neue Romane. Bon Jeanne Marie von Gapette Georgend. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Reuge nener Lyrik und Epik, 


1. Stil und bewegt. Zweite Sammlung der Öebichte bon 
Karl Bed. Berlin, H. Schneider. 1870. 8 1 Thlr. 


Auch auf die Liebe zu Dichtern paßt das Sprichwort: 
„Alte Liebe voftet nicht.” Seit den „Nächten“ von Karl 

Bed, in benen trog jugendlicher Veberſchwenglichkeit und 
Unflarheit ein fo glühender dichterijcher Puloſchlag Icbendig 
war, ſeit dieſen geharnifchten Liedern des jungen Stu» 
denten, welche auf den jüngern Gymnaſiaſten einen fo 
bewältigenden Eindrud machten, daß er fie neben ben 
Glaffifern ſtets zu recitiren pflegte und daß ihre kühnen 
Strophen ihm beftändig vor den Ohren ſchwirrten, ift 
uns die Muſe Karl Becks ſtets fympathifch geblieben, 
fowenig ſich verfennen Tieß, daß das Teuer der Jugend 
längft emer fehr maßvollen Beſonnenheit gewichen iſt, 
welche ſich bin und wieder ſogar in einer künſtelnden 
Cabinetslgrif gefällt. Ueber diefe Wandlung fpricht fid 
ber Dichter felbft in feinen Elegien „Züubchen im 
Neft” aus, welche wir früher beiprochen haben und welche 
in diefe neue Sammlung mit aufgenommen find. Außer 
bem finden wir „Myrten und Cypreſſen⸗ (1847 -534), 
eine Nachleſe aus früherer Zeit, welche im weſentlichen 
den Charakter der „Stillen Lieder” trägt, „Geſchichten“ 
(1847 — 61) und „In meinem Herbfte (1861 —69), 
zeifere Igrifche Trauben in jüngfter Zeit gefeltert. 

In den „Myrten und Cypreſſen“ herrſcht ein weicher 
und zarter lyriſcher Ton vor; es find Herzenderlebnifle, 
welche der Dichter befingt, das Glück einer Liebe und 
Ehe, und die Klage über fein rafches Borüberraufchen; 
benn die frohen Liebeslieder werben bald abgelöft durch 
elegifche Gedenkhlätter, durch Todtenkränze, die der Did 
ter auf das Grab feiner jungen Gattin legt. Wie zart 
einzelne diefer Lieber find, beweife das folgende: 

1870, 27. 


Bo Tauben find. 
Laß ai mit meinem eh, 
Laß mid mit meiner düſtern Glut: 
Ich wäre nur der Tropfen Blut 
Auf reinem Schnee. 
Di fucht, was fromm und Kind; 
Was fromm und lind, das ſuche du 
Denn ſieh, es fliegen Tanben zu, 
Wo Tauben find. 

Doch die Beck'ſche Muſe liebt auch den orientalifchen 
Hymnenton; fie beginnt wol ein melobifches, file Mufit 
gedichtetes „Schlummerlied“ mit ber Strophe: 

Schwört jo mander Kuabe hohe Schwüre 
Bor der ae hohe Sqh 
Ad, fie ſchließt der Liebſten Haus; 
Lockend tönt die Mandoliue 
In die Sommernacht hinaus: 
Nahe bin ich dir, 
Truͤume hold von mir! — 
aber ſie beſchließt eine ſolche Serenade mit einer hohe⸗ 
prieſterlichen Geſte: 
Nur den Somenaufgang deiner Augen 
Will ich ſangen, 
Will eh m geläntert fein: 
Alfo harret ein Bromine 
Stumm im Tempel und allein — 
Naht das große Licht, 
Raufcht zu arfenflängen fein Gebicht. 

Ganz in den Odenton und feine freiefte Rhythmik 
ergießt fich das Gedicht „Vermählt“, ein ſchwunghafter 
Hymenäos, wie die folgenden Verſe beweifen: 

Gekettet war ich jahrelang 
Bom flarren Troß, 

Bon mürriſcher Einfamtelt, 
Bom ſchadenfrohen Gelüſt 
Der Selbſtvernichtuug — 


53 


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418 


Da lam die Liebe, 

Die Liebe fa, 

Und gab mir die Freiheit, 

Und gab mir das Leben! 

Da rief id mir zu mit quellenden Augen: 
Ergib did), ergib dich, 

Du trutiges, tapferes Herz dul 

Schön fiehn dir die Wunden, 

Geſchlagen vom Schidſal 

Mit mäfender Schneide 

Im athemfofen, im täglichen Kampf; 

Nun aber ergib di mit inniger Demuth, 
Dein Rüfen und Brüſten 

Kann dir nit frommen, . 
Ein Wunder if über did) gelommen! 

S fenfe nur alle die folgen Fahnen, 

Weit öffne dich, weiter, bepwungene® Herz! 
Einzicht mum die Liebe mit Rofen befrönet, 
Bon Palmen umfähelt, von Pjalmen umtönet; 
Etenuſt du nicht in ihrem Geleit 

Die Jugend mit der Unfterbfichteit? 
Gefunde 

Im diefer vom. Göttern gejegueten Stunde! 


Unter den „Geſchichten“ finden ſich einige, melde 
an die „Lieber vom armen Mann” erinnern, Gefchichten 





aus dem Voltsleben, wie „Arm Trautchen“, „Poste re-. 


stante”, mit der Lieblingswendung des Dichters, ber 
Freude des zum Herrn gewordenen Knechts und ber 
Magd, welche felbft zur Herrin wird, „der am eigenen 
Herd die eigenen Pfähle ſich heben“, wie es in dem be 
lannten fchönen Gedicht Becks: „Knecht und Magd“, heißt. 
Einige dieſer Geſchichten kranken indeß an zu weiter Aus- 
führung. So behandelt das Gedicht: „Die Blume bes 
dritten Friedrich Wilhelm", eine Anekdote, die an und für 
ſich anfprechend ift, mit einer Fülle dichterifher Aus- 
Ihmüdung, melde den eigentlichen Kern und die Pointe 
nicht feharf und bedeutſam genug Hervortreten läßt. Dafe 
felbe gilt von dem Gedicht: „Getauft“, einer Variante 
auf Schiller's „Taucher“. Ein Hymnus auf Sohneslicbe 
find die Situationsbilder „Mit der Feder“. „Der blinde 
Geiger”, „Der Dorfſchulmeiſter“ find Genrebilder, von 
denen das legtere einen gewiſſen grandiofen Zug hat. Die 
befte dieſer poetifchen Erzählungen ift offenbar das Ges 
dicht: „Los.“ Hier ift der Anekdote die Prägnanz be 
wahrt, und die finnbildliche Bedeutung tritt ſcharf hervor. 
Kaifer Franz ift bei dem Ungarbaron Weffelenyi zu Gafte. 
Diefer erbittet fi von ihm als befondere Gnade, ben 
Wagen des Kaifers mit feinem ungarifchen Biergefpann 
lenten zu dürfen. Der Zug fauft beflügelt, „gleih Stür- 
men und Sommergewittern‘; zulegt wirft der Vaſall die 
Zügel hin und entfeffelt völlig die Pferde: 


Sie brauſen in Haft dem Weiher zu — 
Da ftöfut in bitteren Nöthen 

Der greife Monarch: „So trachteſt du, 
Verräther, den König zu töbten?'‘ 


Nun — Jeſus Maria — mun droht der Schwall 
Den dampfenden Zug zu verfchlingen — 

Da läßt Weffellugi mit lauten Schall 
Beſchworend ben Pfiff erklingen. 


Aufhorgen die Renner, ſtehn gebaunt, 
Und jharren zahm mit dem Hufe, 

Sie haben des Meiflers Gebot erianut, 
Und folgen gewohnt dem Rufe. 


Revue neuer Lyrik 


und Epik. 


Dranf hat ſich der Lenker tief verneigt: 
„Mein ürft, und wolle vergeben! 

Dir Hab’ ih im Bilde Mar gezeigt 
Magyariſches Walten nnd Weben. 

„Dir Hab’ id} gezeigt mit fefter Hand 
Mein König an diefen vieren, 

Wie du da8 gewaltige Ungarland 
Begeiftern mußt und regieren. 

„Frei laß es gewähren, wie Gott es ſchuf, 
So geftern, fo heut und morgen, 

Dann folgt es im Nu des Meifters Ruf, 
Und Fürft und Bolt find geborgen!" 

Dies Gediht ift ein gelungener Pendant zu dem 
ſchönen Gedichte Becks: „Das rothe Lieb‘, beide ge» 
mahnen wie feuriger Tokaier; dort findet die Elegie des 
Prätendententhums einen flimmungsvollen Ausdrud; hier 
die politifche Weisheitslehre eine treffende Allegorie. Aus 
den Gedichten: „In meinem Herbft”, ſpricht eine ebene 
mübigfeit, bie fih in den Schlußgedichten wieder zu ver⸗ 
jüngtem Schwung aufrafft; ein Hauch der Pietät durd- 
weht wohlthuend diefe Gedichte. Eine ſchöne Gefinnung 
ſpricht aus den Strophen: 

O, ſchaffen, ſtets beſcheren, 
Und lufiern nicht begehren 
Nach Dank und Opferrand); 
Berborgen in der Wolfe 
Eiu Tröfter fein dem Volle, 
Ein Hort nad Geiſterbrauch; 
Ein Blatt vom Zweige ſchwinden, 
Im Kranz fi wiederfinden, 
Ergänzend umd ergänzt; 

ie One mi ralhen Sinten 
Im Strome fi verbfuten, 
Den bald das Meer begrenzt; 
Mit wachfenden Gebanfen 
Sih um das AU zu ranten, 
Im Ganzen aufzugehn: 

Das if die volle Glte, 

Das Menſchenherz in Blüte, 
Das große Auferftehn! 

Auch der „Abſchied vom Landhaufe” enthält Stro- 
phen von Lapibarem Gepräge: 

Gerumptih ie der Biking lächeln 

ine Welt, bie längft erflactt, 
Und den Hauch der Götter fächeln 
Um den Schweiß der Gegenwart. 
Zartes Empfinden fpricht aus dem Gedicht „Getroft“: 

Wenn das am dürren Baum geſchieht, 
Was jet dein feuchtes Auge ficht, 
Dann athme ferner nicht beflommen: 
Urplöglih wird in filler Radıt 
Auch Über did mit ganzer Pracht 
Die Zeit der grünen Oftern fommen. 
Was ihm der Regen, o das ift 
Die Thräne die zu diefer Wrift, 
Befrudhtet dich mit neuen Xrieben; 
Getroft, und wieder blühft du bald: 
Denn minder ala das Holz im Wald 
Wird Gott ein Menſchenherz nicht lieben! 

Wol fehlt es in biefen Gedichten nicht an Stellen, 
an benen der dichteriſche Ausbrud mehr gefucht als ge⸗ 
funden erfdeint, das Gezierte das Natürliche verdrängt 
und überladene Schildereien mit zerftreuender Wirkung 
den eigentlichen poctifchen Kern arabeöfenhaft überwuchern ; 
aber aus einem echten Dichtergemüth ift all diefe Pocfie 


Pr 


beransgeboren und bisweilen find in ihr jene Klänge an» 

gefchlagen, durch welche ſich das urfprünglice Talent 

von dem gewandteften Dilettantismus unverkennbar unter- 
fcheibet. 

2. Lieder und Bilder. Neue Dichtungen von Julins Sturm. 
Zwei Theile. Leipzig, Brockhaus. 1870. 8 1 Thlr. 
18 Ngr. 

Der beliebte Sänger geiftlicher Lieder, welche durd) 
ihre geſunde Frömmigkeit fo lebhaften Anklang gefunden 
baben, hat die Zionsharfe mit ber profanen Lyra ver- 
taufcht und eine Sammlung von Liedern und Bildern 
veröffentlicht, im welcher durchweg biefelbe Wärme ber 
Empfindung und die Anmuth und Melodie geglätteter 
Formen vorherrfcht. Ansgejchloffen find alle unruhigen, 
pridelnden, titanischen Elemente der Zeit; bie Liebe tritt 
ftets als „teufche blonde Minne“, nicht als glühende Lei⸗ 
denfchaft auf; in andern Gedichten herrſcht häusliches 
Behagen vor; der Dichter läßt die Kleinen zu fich kom⸗ 
men und plaudert mit ihnen, erzählt ihnen Märchen und 
Fabeln. Es ift der milde, priefterliche Geift, der diefe 
Sammlung zu einer lyriſchen Hauspoftile geeignet macht; 
die Diffonanzen des Lebens tönen nur wie von fern ber- 
en in dieſe ftillzufriedene Welt; jchlicht und einfach, oft 
warm und gefühlsinnig, von feinem Hauch der Stepfis 
getrübt, find diefe Gedichte das weltliche Gegenbild zu 
den geiftlichen Liederflängen des Autors, welche ſich aud) 
von aufdringlicher Theologie fo fern wie möglich halten. 

Tür den fchlichten Charakter diefer Lyrik ift das „Lied“ 
die geeignetſte Form; im ihren Reichen wachjen mehr 
Veilchen, Maßliebchen und DBergigmeinnicht als ofen 
und andere prunfende Gartenblumen. In ber That ift 
dee erſte Liederftraußg „Aus Feld und Wald” gefammelt; 
eine große Zahl von Frühlingsliedern duftet und entgegen, 
aber auch Herbftlieder, Morgen» und Abendlieder werden 
angeftiimmt, die Wollen, die Wetter, Alpen und Sem, 
Hinmel und Erde befungen — alles Inapp, oft an bie 
Karl Mayerichen Wanberlieder erinnernd, oft nur leifer 
poetifcher Anflug, flatternde Blättchen, vieles geeignet für 
mufitalifche Begleitung, weldye dem Inospenhaften Empfin⸗ 
den eine vollere Entfaltung im Reiche der verwandten 
Kunft gönnt. Wie ſtimmungsvoll einige diefer „Lieder“ 
find, beweife das folgende: 


Sm Walde. 
D wel ein friedlich Wandern, 
Wenn fih der Tag geneigt, 
Ein Böglein nad dem andern 
Im grünen Walde ſchweigt, 
Hoch auf der Fähre Gipfel 
Der Amel Lied verklingt 
Und laufchend durch die Wipfel 
Das erfte Sternlein blinkt! 


Nun ranſcht in dunkeln Zweigen 
Der Abendwind allein, 

Und tiefer hüllt in Schweigen 
Der Wald ſich träumend ein; 
Mir aber iſt, als ſtünde 

Hier ewig ſtill die Zeit 

Und wüßten dieſe Gründe 

Nur von Waldeinſamkeit. 


Sehr ſinnig iſt das Gedicht: 


Revue neuer Lyrik und Epik. 


419 


Bergeblid. 
Feuchter Nebel wogt im Thal, 
Hebt und ſenkt fich wieder; 
Bleih und mit gebrochnem Strahl 
Blidt die Sonne nieder. 


Schnee verhüllt der Saaten Grün, 
Reif umzieht die Heden; 

Dennoch if’ vergebnes Mühn, 
Lenz, dich zu verfteden. 

Zu dem grauen Nebelmeer 

Ueber jungen Saaten 

Hat ein jubelnd Lerchenheer 

Längft dich mir verratben. 

Freilich unter dem Unfcheinbaren findet ſich auch man- 
ches Unbebeutende, viel Anflingendes an belannte Dichter- 
worte. Wenn e8 am Schluß der „Wetterwolle“ Heißt: 

Ber kennt das Ziel von Gottes Wegen 
Und wer ergründet feine Wahl? 
Aus einer Wolke träuft fein Segen. 
Und zudt fein glühnder Wetterfirafl — 
fo werden wir doch an bie Schiller’fchen Verſe in dem 
„Lied von der Glocke“: 
Ans der Wolfe 
Strömt der Regen, 
Duillt der Segen; 
Aus der Wolfe 
Ohne Wahl 
Zuckt der Strahl — 
um fo nachdrücklicher erinnert, als die Neminifcenz an 
den Schluß des Gedichts als feine hervorgehobene Pointe 
geftellt if. Die Form diefer Lieberchen ift fo einfach wie 
möglich; fie laufen meift auf zwei, brei, vier iambifchen - 
oder trochäifchen Versfüßen, and nur eine fapphifche Ode 
und ein Ghaſel finden fi) als vornehmere Formen unter 
dem leichtfüßigen Vollchen. 

Die Liebeslieder haben nichts mit Hafis und Anakreon 
gemein; wir halten fie für die ſchwächſte Partie der 
Sammlung Es pulfirt in ihnen fein voller Strom der 
Empfindung; e8 find mehr feichte Wäflerchen, dur die 
man ſchon oft gewatet ift. Der Dichter will „ihre Lieben 
Augen” fragen, ob fie feine Sterne fein wollen; ein 
andermal findet er mit Shaffpeare in „Romeo und Julia‘ 
in der Nacht ihrer Augen zwei vom Himmelsbogen herab- 
gezogene Sterne; dann fieht er wieber des Himmels Thore 
dur den Blick der Geliebten aufgethan; Nachtigall nnd 
Roſe halten diefelbe Zwiefprache wie in den Gärten von 
Schiras, eine Zwieſprache welche Heinrich Heine bereits 
glücklicher belaufcht Hat. 

In dem Heinen Cyklus: „Aus dem Haufe“, findet fich 
ein Gedicht: „O pflegt das Heimgefühl in euern Kindern“, 
das in dem Ton feiner fünffligigen rveimlofen Jamben 
an ähnliche Dichtungen Leopolb Schefer’3 erinnert. Die 
„Gedenkblätter“ find namentlih Friedrich Rückert und 
den Dichter Petöft geweiht, einem im feiner eigenartigen 
Sangesweife von unferm frommen Sänger fehr verjchie- 
denen Dichter, deſſen Schwung indeß ben Feiernden aud) 
zu vollern Klängen anregt: 

Du bift die Nachtigall, die tief im Haine 
Das fühe Weh der Liebe klagt der Nadıt; 
Ich lauſche dir am thymianduft’gen Raine, 
Berauſcht von deines Liedes Zaubermadit. 
53 * 











420 


Du bif die Schwalbe, die den zarten Jungen 
Ein muntres Liedchen zwitichernd fingt am Neſt; 
Ich lauſche dir, und R: dein Lieb verflungen, 
Hab’ ich mein Kind an meine Bruſt gepreßt. 
. Du bift die Lerche, die im Morgenrothe 
Ihr Lieb dem Frühling und der Freiheit fingt; 
Ich Yaufche dir, und fühl’ wie jede Note 
Als glühnder Tropfen mir zum Herzen dringt. 
Du bift der Aar, der am verfalluen Bronnen 
Den morgen Ballen ſich gewählt zum Sit; 
Ich aber leſ das Lieb, das du erfonnen, 
Das wilde Lied in deines Auges Blitz. 
So wogt um mid) die Fülle deiner Lieber, 
Unb jedes ift an nenen gen reich; 
Und doch bift du, Petöft, immer wieder 
Sn jedem Liebe nur dir jelber gleich. 

Die patriotiſchen Gedichte des Abſchnitts „Aus ber 
Zeit” find in ähnlichem Ton gehalten, doch immer lieder 
artig, zur Compofition heransfordernd. Die Schatten⸗ 
feiten ber, Zeitpoefle bezeichnet der Dichter ſchlagend in 
dem folgendeu Bere: 

Do wer zu feines Liebes Kern 
Die Gegenwart erloren, 
Dem ſchlagen Alt und umge gern 
Die Leier um die Ohren. 

Der patriotifche Geift diefer Gefänge ift kernhaft; der 
fromme Sänger proteflirt gegen einen fanlen Frieden umd 
feiert die Stege von 1866. 

Allerliebft find die „Kinderlieder fiir meine Kleinen“, 
ein lyriſcher Chriſtbaum, reich behangen mit ben niedlich⸗ 
fin Sächelchen. Hier trifft ber Dichter den muſtergülti⸗ 
gen Ton! Wie wiegenlieberartig, märchenhaft anheimelnd 
beginnt das Gedicht „Schneewittchen“: 

Säneewittgen hinter den Bergen, 

Bei den fieben Zwergen, ” 
Macht fieben Bettchen mit flinfer Hand, 
Beftrent das Stäbchen mit golduem Sand. 

Wie kindlich Ted, wie volksthümlich fangbar iſt „Der 
Heine Yäger“: 
| Das ew’ge Buchſtabiren, 
Das fleht mir gar nit an; 

Ich Lauf’ mir eine Flinte 
Uub werd’ ein Jügersmann. 


Huſch! ans dem Federbette, 
Wenu laum der Morgen tagt, 
Das if im grünen Walde 
Die befte Zeit zur Jagd! 
Ich ſchleiche dur die Tannen, 
Dis an den fillen See; 
Ein Wild muß ich erjagen, 
Ein Hirfchlein oder Reh. 
Doch kommt ein Wolf gelaufen, 
Ein Ziger oder Bär, 

Dann wäre mir’s doch lieber, 

Wenn id zu Haufe wär”, 

Der Werth ber „Bilder“ ift ungleih. Bei Stoffen, 
bie eine gefättigtere Särbung verlangen, wie 3.8. „De 
rodes der Grauſame“, erfcheint die Art und Weiſe des 
Dichters doch als eine Aquarellmalerei, welche diefe tiefere 
Sättigung und das Abtönen der Contrafte zu jehr ver⸗ 
miffen läßt; einzelne Bilber erfcheinen ſogar gänzlich ver- 
blaßt; ambere erinnern zu beutlich an beftimmte Muſter, 
wie 3.8. „Die nächtliche Ueberfahrt ber Zwerge”, „Der 
große Wind zu Weißenberg” und „Wendewein“ an ähn⸗ 


Revue neuer Lyrik und Epit. 


liche Gedichte von Kopiſch. Wohl aber finden wir aud 
bier manches Poetifhe und Sinnreiche. „Allem im 
Walde” ift eine Tindlihe Waldphantaſie, vol Walbbin- 
menduft, frifch und würzig wie Maitrank und an die ges 
fundeften Waldfymphonien der romantifchen Schule er- 
innernd; „Mumienweizen“ ift ein gedankenvolles Gedicht 
in prägnanter Faſſung. Die Weizenlörner ans der Hand 
der Mumie werben in die Furchen gefüet und fproffen 
üppig auf: 

Und fie ſtaunten ob des unbe, daß nach fo viel taufend 

ren 


Nicht des Lebens zarte Keime in dem Korn erftorben waren, 
Und ein Greis ſprach felig lächelnd: „Heut' erfi warb der 
prud mir Mar: 
Bor dem Herrn find taufend Jahre wie ein Tag, ber ge 
ſtern war.” 

„Die Verlaſſene“, deren Tagebuch Julius Sturm uns 
mittheilt, fchlägt durchaus fchlichte, elegifche Klänge an, 
oft von einer Einfachheit, die an das Unbedentende grenzt, 
bisweilen aber auch in anmuthiger Yaflung, z. B.: 


Letter Wunſch. 
Wenn bies Herz bat ausgefchlagen, 
Mögt ihr’s fill zu Grabe tragen; 
Spart am Garge Kranz nnd Zier, 
Nur ein Kreuz vergönnet mir. 
Pflanzt auch Leine duft’gen Roſen 
Auf das Grab der Freudeloſen, 
Wählt für meine Schlummerftatt 
Immergriin nnd Epheublatt. 

Daß Sturm zulegt auch als lyriſcher Yeldprediger 
auftritt und Lieber „Aus dem Goldatenleben” bichtet, 
wird vielleicht bei dem fanften Sänger befremden. Gleich 
wol haben diefe Lieber — denn das „Lieb” überwiegt in 


‚| biefem Abſchnitt das „Bild“ — frifchen, kriegerifchen Talt, 


echte Marfchmelodie, und das „Stückchen vom alten ie 
then” zeigt, daß die Mufe Sturm's auch gelegentlich in 
deu Bahnen Scherenberg’8 und einer martialifch- humori« 
ſtiſchen Schuurrbartöpoefie zu wandeln weiß. 

Durchweg ift in diefen Gedichten die Klarheit umd 
Durchſichtigkeit von Form und Inhalt zu rühmen, welche 
allerdings bei mangelnder Tiefe leichter dem anmuthenden 
Sänger erreichbar ift. 

8. Die Brant bes Ril. Erzählendes Gedicht von Oscar Elsner, 

Koburg, Riemann. 1870. Gr. 16. 10 Nor. 


Die Braut des Nil ift die Tochter bes Hoheprieftert; 
welche dem Strom als Tribut der Dankbarkeit geopfert 
werben fol. Rhodopis aber, das beflimmte Opfer der 
Wogen, wird von einem Jüngling geliebt, der als alt« 
ägyptiſcher Treigeift die Glaubensfagungen fiir Wahn, bie 
Geremonien für Thorheit hält. Diefer Jüngling Apiftes 
ruft ihr im Stile Feuerbach's zu: 

Und wer gebot e8 bir, die Bahn 
Des jungen Lebens zu verlafien? 

Ein Bhantaftegebild, ein Wahn 

Der Sinne — und ber Bollesmaflen! 
Bor ſelbſtgemachte Götter treten 

Sie hin und beugen fid zum Staub, 
Sie ſtets beſtürmend mit Gebeten — 
Allein die Götter bleiben taub. 

Und nimmer brachen fie das Schweigen, 
Kein Bötterwort iſt noch erichallt, 
ob fi) die Völker ihnen neigen, 

Ob nit — die Steine läßt es Kalt! 





Revue neuer Lyrik und Epik. 


Und weiterhin fett er wie ein Anhänger Moleſchott's 
die Kraft auf den Weltenthron: Ä 
Der Völker Angſt und Furcht erſchuf 
Die Götter nur und ihre Throne. 
Drum laß die todten Steingeſtalten, 
Erfaſſe, daß im Weltenreich 
Nicht Weſen, die dir ſelber gleich, 
Der Herrſchaft höchſtes Amt verwalten. 
Die wahre Gottheit lerne kennen, 
Die um dich ber wie in dir ſchafft — 
Und foll ich ihren Namen nennen: 
Es ift die ew'ge Heil’ge Kraft! 
Wohl wurde früh fie ſchon erfaunt, 
Doch niemals noch in voller Klarheit; 
Man nahm die Formen, ihr Gewand, 
Kür ihres Kernes Lichte Wahrheit. 


Er will mit der Geliebten fliehen, und fliehend ſchlägt 
er Hapi's Marmorbild in Trümmer; die Priefter eilen 
herbei, bie Flucht wird vereitelt, die feftlich geſchmückte 
Rhopodis dem fegenfpendenden Strome geopfert. In 
correcten, fließenden, oft ſchwunghaften Verſen, mit dem 
ganzen büftern Bomp bes altägyptifchen Colorits, ohne 
zögerndes Verweilen und frhleppendes Ermüden bewegt 
fi diefe Erzählung, welche uns das Talent des jugend- 
lichen Dichters, das wir bereit3 in feiner Tragödie „Bar: 
Kochba“ ſchätzen lernten, in günftigem Lichte zeigt. 

4, Gedichte von Adolf Stern. Zweite vermehrte Auflage. 

Leipzig, Matthes. 1870. 16. 1 Thlr. 15 Nor. 

Wenn es zwei Gattungen von Dichtern gibt, die eine, 
in welcher der Maler, die andere, in welcher der Muſiker 
überwiegt, fo kann man zu der erftern, welche ihre Gel⸗ 
tung behält, ohne mit Leſſing's „Laokoon“ in Conflict zu 
gerathen, den Dichter Adolf Stern rechnen. Er ift ein 
geſchmackvoller und glänzender Colorift, wie fihon feine 
Projaerzählungen beweifen, und wir möchten daher feinen 
epiihen Dichtungen vor den Inrifchen den Vorzug ein⸗ 
räumen. Gleichwohl enthalten aud, die „Lieder und 
Träume manches anziehende Gedicht — nur daß auch 
hier der Hauptton mehr auf dem Gedankenvollen, bild- 
lih Bedeutſamen ruht, wie 3. B. in dem Gedicht: 


Melufine 
Des Knaben Traum verläßt mid) nit, 
Die Märe von ber Delufine; 
Mir ift, als wenn das Mondenlicht 
Durch deine Fenfler ſchimmernd ſchiene. 


Ich ſchau' hinein, violenfarb 
Koſt das Gewand um deine Glieder, 
Die Lippen, drum ich flehend warb, 
Sch ſeh' fie dunkelblühend wieder. 


Doch ſchwebt ein Lächeln drauf —, bei Gott! — 
Es liegt das Haffen und das Minnen, 

Die Sehnſucht und der bittre Spott 

In diefem einen Lächeln innen. 


Und bangend frag, id: gilt mir da8? 
Dann muß ich dich anf Immer meiden! 
Gib ganze Liebe, ganzen Haß —, 
Doch nicht das Lächeln zwifchen beiden! 
Auch überwiegt oft im den Liedern das Maleriſche, 
obſchon ſtimmungsvoll und Iyrifch berechtigt, wie gleich in 
dem erften, gelungenen Gedicht: 


421 


Borfrähling zwifhen Bergen. 
Unter mir die Waldung des Thals, 
Bor mir die Gruppen der Tannen, 
Die im Glanze des Sonnenftrahle 
Moofige Felſen umſpannen. 

Ueber mir des Himmelsdachs 

Blaue wölbige Runde, 

Und von ferne das Rauſchen des Bachs 

In dem felſigen Grunde! 

Rings verſchwindet das Wintereis, 

Um mich fallen die Tropfen, 

Iſt mir doch, als hörte ich leis 

Pulſe der Erde klopfen! 

Jedes Tropfens gelöfter Kryſtall 

Lockert die ſtarre Rinde, 

Und es kundet fein blitzender Fall 

Nahende Frühlingswinde! 

gs — beſceiten Revier 

onn ie zackige Fichte — 

Tief im — —* 

Iubelnde Lenzgedichte! 

Die zwei an Jone gerichteten Liebesliederchkien erin⸗ 
nern nit an Tibull umd den verwegenen Properz; es 
find gefälige, finnige Liebesgedichte mit warmer Empfin- 
dung, welche die Stimmungen des Naturlebens in ihre 
Kreife zieht und fi von ihnen anregen läßt; aber Größe 
und Kühnbeit der Leidenfchaft würden wir vergeblich in 
ihnen fuchen. ' 

In den „Tagebuchblättern“ finden fih Gedichte an 
Franz Liſzt, Robert Schumann, Friedrich Hebbel; das 
zweite, an ben lettern gerichtete Sonett lautet: . 

Dn fankft dahin im frendigfien Entfalten, 
Erfüllt vom Räthſelſpiel der Weltgejchide, 
Umgeben noch im Todesaugenblide 

Bon bleihen Schatten mächtiger Geſtalten. 


Sie ſchwirrten um did, ſuchten dich zu Halten, 
Daß deine Glut mit Leben fie erquide, 

Sie drängten fi vor deine letzten Blicke, 

Um nun mit dir au fchmwinden, zu erlalten! 


Die Götter zürnen! Keiner fol vergleichen 
Sich heut mit Meiftern aus beglücten Tagen —, 
Du firebteft raftlos, muthig, ohne Weichen 
Dem höchſten Ziele zu, mit ſtolzem Wagen; 
Weil fie gewußt, du würdeſt es erreichen, 

So Tiegft du nun vom Götterblitz erfchlagen! 

Bon den „epifchen Dichtungen“ fteht „Thais“ in erfter 
Reihe; dies „Frauenbild“ Hat Schwung und gefättigte 
Shut. Auch „Ada Vitella“ iſt mit Tebendigem Kolorit 
und finnvoll behandelt. „Andre Chenier“ ift in bewegten 
Rhythmen gehalten und verherrlicht den Bund der Freiheit 
und Schönheit: 

Die Schönheit bleibt des Lebens Licht, 

Der Henker von Arras verſchencht fie nicht, 
Sie wird fi) neue Jünger werben, 

Und Tieß man noch hundert Dichter ſterben. 
Und Bis die Freiheit nicht erkennt, 

Daß von der Anmuth, der Schönheit getrennt 
Zum Spotte werden die Güter des Sebens, 
So lange kämpft und ringt fie vergebens. 

Ein militärifches Bravourſtück ift die „Sonne von 
Aufterlig", „Jagello“ ein polnifches Nachtſtück: der Knecht, 
ber ſich wegen einer Strafe an bem Herrn rächen wollte 
und die Wölfe durch die auögeftreuten Stücke einer er- 
offenen Hirſchkuh auf den Pfad lockt, opfert ſich ſelbſt 








422 


für die ihm freundlich gefinnte Tochter und gibt ſich der 
wilden Meute preis. Die unheimliche winterliche Be⸗ 
leuchtung ift hier glücklich wiedergegeben. Ebenſo trefflich 
ift das fimmungsvolle Colorit in den „Strandräubern‘, 
welche ein Schiff ans Ufer Loden durch verrätherifchen 
Tadelglanz, um das gefcheiterte zu plündern, Die Ringe, 
die fie ben Todten rauben, zeigen ihnen dann, daß der 
eigene Sohn unter den Opfern iſt. Diefe Wendung ift 
tragifch, aber nicht genugfam ausgebeutet. Mit heroiſchem 
Pofaunenflang wird der „Hal von Maſada“ gefchildert, 
ein Epilog zu ben frübern Maflabliertragddien. „Der 
Schweizer“ führt uns in bie Franzöftfche Revolution und 
die Schreden des Tuilerienſturms, welche in Contraft 
geftellt find mit den Naturbildern der Heimat, bie der 
Sohn des Alpenlandes Iebendig vor ber Seele ſchweben. 
Das Schlußgedicht „Eldorado“ ift ein Gegenbild zu 

Heinrich Heine’s „Bimini“; doch während das lettere mit 
einer elegifchen Diffonanz fchließt, führt das erftere zu 
harmonischen Abſchluß. In der Sehnfuht nad ber 
BZauberinfel Bimini und ihrem verjüngenden Wunderquell 
altern die feefahrenden Pilger, ohne e8 zu merken; das 
Grab zeigt fih als das wahre Bimini. Bei Abolf 
Stern aber fucht der Jüngling das golbumflofjene, filber- 
bligenbe Eldorado, die Stadt mit den Demantthoren, und 
trennt fi von ber Geliebten, um ihr ein reiches Glück 
zu gewinnen. Nach langer endlofer Wanderung fieht 
er Gold die „Waldung ſäumen“, erblidt zwifchen den 
Zweigen einen lichten Spiegel, ben er für den See von 
Silbererz hält; er glaubt fein Ziel erreicht zu Haben 
und fieht wieder — San Maria’ Bucht, von der er 
ausgegangen war; 

Hell ſchimmernd Liegt die Stadt am Strande 

Mit Hänfern Inftig, keck umd leicht, 

Die erfle auf dem feften Lande, 

Das jüngft Colombo's Kiel erreicht, 


Neue fpiritualiftifhe Schriften. 


Er ſchaut die Palmen am Geflabe, 
Die Blütengärten rings umher, 
Er fieht die Hänfer, die Poſade, 
Die weißen Segel auf dem Meer. 


Am Strand, im Schmud des leichten Flores, 
Die Jungfrau, die zum Meere fchaut, 

Er kennt fie wohl, es ift Dolores, 

Die bangende verlaffne Brant. 

Und fand er erft zum Tod betroffen, 

Als fo fein Tränmen fi verlor —, 

So wird ihm dod die Seele offen, 

Aus Thränen jauchzet er hervor: 


„D 0b des Wahns, der mid gebunden! 
Das Eldorado ift erreicht, 

Im eignen Herzen wird's gefunden, 

Es liegt fo nah, der Pfad iſt leicht, 

Do braucht e8 Kampf, das Herz zu Ienfen, 
Daß es im LZiefften Har erkennt 

Das Land des Glückes im Beichränfen 

Und Frieden die Erfüllung nennt!“ 


Und auf dem oft betretnen Pfade, 

Mit Dank zur Himmelsfönigin, 

Eilt nun der Wanbrer am Öefade 

Zur Stätte der Geliebten bin; 

Sein Arm hält glübend fie umwunden, 
Zur Ferne ſchaut er nicht zurüd —, 
Sein Eldorado iſt gefunden, 

An feinem Herzen ruht das Glück! 


In der That ziehen wir diefe pofitive Löfung jener 
jteptifchen vor, welche in Heine’s „Bimini“ uns am Schluß 
jo ironisch lächelnd den Becher Lethe als Berjüngungs- 
trank credenzt. 

Rudolf Gottſchall. 


(Die Fortſetzung folgt in ber nächſten Rummer.) 


Jene fpiritnalifiifche Schriften. 


1. Die Prineipien der Natur, ihre göttliche Offenbarung und 
eine Stimme an die Menſchheit. Bon Andrew Jacſon 
Davis. Ans der breißigfien Ausgabe des amerilanifch- 
englifhen Originals mit Autorifation des Verfaſſers ins 
Deutſche Überfett von Gregor Konflantin Wittig und 
mit einem Vorwort nebft Anhang herausgegeben von A. Ak⸗ 
fätom. Zwei Bände. Leipzig, Wagner. 1869. 8. 6 Thlr. 
20 Nor. 

Seit mehr als zwanzig Yahren bat in der Union ein 
fogenannter Seher fo bedeutendes Auffehen erregt und 
feine Schriften haben fo große Verbreitung gefunden, daß 
in d. BL abermald von ihm gefprocdhen werden foll. 
Mag man den Spiritualismus oder Spiritismus, dem 
namentlid in Amerifa Millionen anhängen, für eine phan- 
taftifche Erfcheinung der Zeit anfehen, oder mit feinen An⸗ 
bängern für ben Vorboten eines neuen Weltalters, für 
die Morgenröthe eines beffern Zuftandes der Menſchheit — 
immer bleibt derſelbe eine bemerkenswerthe Aeußerung des 
mobernen Geiftes. 

Um Davis ben Leſern näher befannt zu machen, 
wurbe das obengenannte Wert gewählt, auch nad) dem 
Urtheil des verdienten Ueberſetzers Wittig fein wichtigftes 


fowol der Entftehung als dem Inhalt nad. Ein neunzehn- 
jähriger ungebildeter Jüngling von der bitrftigften Her- 
funft und Erziehung entwidelt im magnetifchen Schlafe 
in 157 „Borlefungen” ein vollftändiges Syflem der Natur- 
und Geiſtesphiloſophie und erörtert alle Haupterfcheinun- 
gen in der materiellen Schöpfung und in ber Gefchichte 
der Menfchheit. Er behauptet, hierzu „beeindrudt“, in⸗ 
jpirirt worden zu fein, und feine Vorlefungen bilden ein 
großes zufammenhängendes Syſtem, während er im 
wachen Zuftande kaum einen Sat richtig fprechen Tann, 
feine eigenen Dictate aus dem magnetifchen Schlafe nicht 
begreift und fie erft mühſam verftehen lernen muß. An 
Betrug von irgendeiner Seite ift in feiner Weife zu den⸗ 
fen. Davis, geb. 1826, war als Knabe in einer Mühle 
befchäftigt, wurde dann Ladenburſche, Hirt, Yeldarbeiter, 
Scufterlehrling, bis ihn 1843 der Schneibermeifter Le— 
vingſton magnetifirte, wo er dann Kranke „mit über- 
vafhendem Erfolg” behandelte und als „der Scher von 
Poughlkeepſie“ bekannt wurde. Wenigftens vor den „Prin- 
cipien der Natur" hat Davis feine witjenfchaftlichen Bücher, 
fondern nur einige Yugendfehriften und leichte Romane 





Neue fpiritualiftifde Schriften. 


gelefen, aber nicht Lange nad) der Entwidelung feiner 
Heilfraft wurde (1844) aud) feine intellectuelle Fähigkeit 
im magnetifhen Zuftand ungemein erhöht und er ſchien 
alle Wiflenfchaften zu verfiehen. Am 7. März 1844 fiel 
‘er, ohne magnetifirt zu fein, zwei Tage in einen ganz 
ungewöhnlichen Zuftand, war gefühllos für die äußern 
Dinge, lebte nur in der innern Welt, erhielt dabei „durch 
den Geift Swedenborg“ eine Belehrung über feine eigen- 
thünlihe Sendung in die Welt und wurde zu feinen 
Vorträgen angeregt. Er wird in diefer Zeit von feinem 
fpätern Secretär Fiſhbough als ein junger Menſch von 
äußerft wenig Schulbildung und großer Herzenseinfalt 
geihildert, mit zarter Empfänglichkeit und befähigt, Natur⸗ 
principien zu erfaflen, wie nur wenige feines Alters. Im 
November 1845 bezeichnete Davis, der ſich nad) Neuyork 
begeben hatte, den Arzt yon als denjenigen, ber ihn 
magnetifiven follte, und den Baftor Tifbough als ben 
Protofollführer; beide hatten dieſes weder erwartet nod) 
gewünſcht. Außer diefen wählte Davis noch drei beftän« 
dige Zeugen, neben welchen aber noch eine Menge an- 
derer Perfonen zeitweife den Sieungen anmwohnten, fodaß 
die „Prineipien der Natur‘ von 267 Zeugen unterzeichnet 
wurden, unter welchen fich Geiftliche, Richter, Gelehrte 
befanden, von befanntern Namen Bufh, Profeſſor der 
hebräiſchen und orientalifchen Sprachen, die Richter Par⸗ 
fons und Edmonds, Dr, med. Lee, Coleman, ber Her- 
ausgeber bes „Spiritual Magazine”, der englifche Ver⸗ 
leger von Davis’ Werken Chapman m, f. w. Jede ber 
157 Borlefungen dauerte 40 Minuten bis etwa 4 Stun⸗ 
den, in jeder dictirte Davis 3—15 große enggefchriebene 
Seiten. Die erfte fand am 28. November 1845, bie 
letzte am 25. Januar 1847 ftatt. Fiſbough wurde wegen 
des von ihm mniedergefchriebenen Werks Unglauben und 
Materialismus vorgeworfen; er erklärte aber noch 1869, 
daß er Fein Urtheil über den innern Werth der Lehren 
von Davis fälle, fondern nur bezeuge, daß fie jo aus- 


gefprochen wurden, wie er fie blos mit grammatiſchen 


und Stilverbefferungen niedergefchrieben habe. Er habe 
aber nicht wiedergeben können „die feierliche Eindringlich- 
kit und himmliſche Reinheit‘ der Vorträge. 

Im Heüfehenden Zuftande, wo Davis dictirte, lag er 
talt und ſtarr wie tobt mit ftodendem Athem und ſchwachem 
Puls, und er behauptete, daß fein Förperliches Leben nur 
noch durch den mit ihm verbundenen Magnetiſeur erhal 
ten werbe und fein Geift nicht mehr in den Körper zurück⸗ 
fchren könnte, wenn durch einen Zufall die Verbindung 
mit dem Magnetifeur aufgehoben würde. Dr. Lyon, den 
das Magnetifiren fehr angriff, proteftirt gegen die An» 
nahme, etwa ihm oder den andern Anwefenden die außer» 
ordentlichen Einfichten zufchreiben zu wollen, welche Davis 
entwidelte. Diefer ftand im magnetischen Zuftand mit 
den Engeln und Geiftern der zweiten Sphäre, wie er fid) 
ausdrückte (nämlich der zunüchſt auf diefes Leben folgen- 
den), in Derbindung und fehaute ihre Zuſtände. Sowie 
er einen deutlichen „Eindruck“ erhalten hatte, kehrte fein 
Geiſt zum Körper zurück und brauchte die Sprachorgane 
zur Mittheilung; nad) jedem Sage ſchwieg er, um wieder 
nener „Beeinfluſſung“ zu harten. Er bereitete fi) mandj- 
mal durch Faſten auf dns Helljehen vor, wodurch fein 
Blut ganz ruhig und er der innern Concentration fähig 


423 


wurde, und fprah don der himmlischen Freude im ben 
Stunden des Hellſehens. Die Frage, ob er fich nicht 
häufig in perjönlicher Berührung mit geiftigen Wejen be- 
fände, verneinte er, weil er ſonſt phyfifch und geiftig nicht 
gefund bleiben könnte. Er fchrieb an Akſaͤkow: „Der 
Inhalt der « Principien der Natur» gelangte Wort fiir Wort 
durch meine Lippen, ohne die geringfte Vorüberlegung 
oder Erziehung auf meiner Seite und während id) äußer- 
lich deffen ganz unbewußt war, was innerlich durch mich 
in die Form üÜberging, in der Sie e8 haben.” Reverend 
Ripley fchreibt itbertreibend: „Wenn biefer junge Mann 
auch nur als ein philofophifcher Poet betrachtet würde, 
welcher fein Epos vom Univerfum gefungen hat, fo müß- 
ten Dante und Milton wol ihre Häupter vor ihm ver⸗ 
bergen.” Reverend Harris bezeugt, daß ihn Davis von 


| einer gefährlichen Krankheit geheilt, feine geheimften Ge 


danken gelaunt und ihm erftaunliche Dinge vorhergefagt 
babe, die genau eintrafen. 

Davis beginnt mit der Vernunft und fieht bie einzige 
Hoffnung für BVerbefferung der Welt im freien Gedanken 
und der unbefchränkten Forfhung Er ift Deift, die 
Natur weift ihn auf eine erfte Urfache, „den großen 
pofitiven Geift” Bin, ber aber eigentlich doch nur den 
erſten Anftoß gibt, denn Davis führt alles auf Bewe⸗ 
gung und Entwidelung zurück. Er ftellt die Behauptung 
auf, daß jede Subftanz nur die unter ihr fiehenden Sub» 
ftanzen, aber nicht fich felbft begreifen fünne, weshalb 
er da8 Weſen und Princip des Geiftes offenbaren müſſe. 
Bon der menfhlihen Drganifation gibt er eine höchſt 
unbebolfene und unrichtige Darftellung, weil hierzu pofitive 
Kenntniffe gehören; wenn es ſich aber um allgemeine, 
durch die Vernunft erfennbare Dinge handelt, trifft er 
oft das Richtige, fo wenn er behauptet, daß keine menſch⸗ 
the Kunft einen Organismus zu erzeugen vermöge, daß 
Bemwußtfein und Intelligenz kein Refultat ber Organi« 
fation fei, daß in allem ein intelligentes bewußtes Princip 
walte, oder wenn er fagt, der wahre Anatoın werde nicht 
die Theile des Ganzen vereinzeln, wenn er zu allgemeinen 
Prineipien gelangen wolle, fondern er werde aus ben 
Theilen das Ganze erforfchen. Die, welche ben Geift 
aus der Materie entftehen laſſen, irren darin, daß fie 
die Wirkung mit der Urfache verwechjeln; das erfte ift 
der große pofitive Geift, und die Natur ift feine Wirkung, 
die er benugt, um den menſchlichen Geift al8 letzten Zweck 
bervorzubringen. Der große Geift beſitzt unbegreifliche 
Macht und Kraft, göttliche Weisheit, unendliche Güte, 
volllommenfte Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, ewige 
Wahrheit. Ganz unvolllommen ift, was I, 145 über die 
Kunft gejagt wird. 

„Sm Anfang war das Univercölum oder der All- 
himmel ein einziger grenzenlofer, unerdenfliher Dcean 
von flüffigem Feuer.“ Die wiffenfchaftlihe Kosmologie 
Läßt Hingegen das Teuer erft durch Anziehung und Reis 
bung der materiellen Theilchen entftehen. Dieſe „fichtbare 
Kugel“, der Allhimmel, wird nun mit bem großen pofi- 
tiven Geiſte identificirt, mit feinen Eigenfchaften aus« 
geftattet, ‚fo war das Ganze der Weltprincipien in einen 
einzigen ungeheuern Wirbel reiner Intelligenz, bewußter 
Geiſtigkeit vereinigt, defjen Entwidelung ewige Bewegung 
iſt“. Hierdurch entflanden verjchiedene Cirkel von Welt. 


424 Neue fpiritualiftifde Schriften. 


törpern, und es follen Sonnen, die noch Feine fefte Con⸗ 
fiftenz gewonnen haben, „flammende Kometen” fein. In 
der Eonftruction des Sternhimmels finden ſich eine Menge 
ganz ımhaltbarer Borftelungen, und bie Regelmäßigfeit 
der Weltenvertheilung, welche Davis ftatuirt, eriftirt nicht. 
Alle Sonnen follen fi) um eine Centralfonne bewegen 
und bie durch Mädler erwiejen fein, während dieſer 
doch nur die Hypotheſe aufftellte, daß die Plejadengruppe 
der Gravitationspunft für die Sonnen bes Milchſtraßen⸗ 
foftems fei, welches befanntlich nur eins der unzählbaren 
Sternfyftene if. Davis ſpricht von einem achten umd 
neunten Planeten, und weil um dieſe Zeit Neptun er⸗ 
rechnet und wahrgenommen wurbe, fo wird dies als etwas 
Erftaunliches dargefiellt, aber Davis konnte ebenfo gut 
ftatt von acht oder neun von zwölf Planeten fprechen und 
immer behaupten, die legten wilrden nod) entdedt werben. 
Uebrigens hatte ja bereit 1821 Bouvard aus der Be: 
wegung des Uranus auf einen noch unbekannten flörenden 
Planeten gefchlofien. Die Beleuchtung des Neptun durch 
die Sonne foll erftaunlich hell, fiir das menjchliche Auge 
ganz unerträglich fein, während doch ihr Licht im Qua⸗ 
drat der Entfernung abnimmt unb fir Neptun über neun⸗ 
hundertmal geringer als für die Erde if. Die Bildung 
des Sonnenſyſtems, wie Davis fie darftellt, ift die be= 
kannte Kant» Laplace’fche, welche ihm auf irgendeine Weiſe 
zur Kenntniß gelommen fein muß. Wenn er die Pflan- 
zen, Thiere umd intelligenten Weſen auf den fernen Pla- 
neten in abentenerlicher Weiſe jchildert, fo hat dieſes kaum 
mehr Werth als die wieder ganz anders lautenden Ans» 
gaben mancher Somnambulen, welche Sonne, Mond und 
Sterne durchreift Haben. Die Wfteroiden läßt er nad) 
einer früher angenommenen, jegt befeitigten Hypotheſe 
duch Zerfprengung eines größern Planeten- entfliehen. 
Die urfprüngliche Form der Erde fol edig geweſen fein, 
was nach dem Gravitationsgeſetz bei einer flüffigen Maſſe 
unmöglih if. Der Granit beſitzt nad ihm etwa bie 
Dichtigkeit des Duedfilbers, der am meiften verdünnte 
Endzuftand der Atmojphäre ift das „Fluorin“, noch dünner 
find die imponderabeln „Elemente Magnetismus und Elek⸗ 
tricität, eine längft befeitigte Borftellung. Der Diamagne- 
tismus, wobei er Faraday nennt, wird als ein neuentded- 
tes imponberables Element bezeichnet. In der Steinfoh- 
lenzeit ſoll fich der früher viel größere Umfang der Erbe 
durch Verdichtung bereit8 auf 435 geographifche Meilen 
vermindert haben, während er doch jetzt noch 5400 Mei- 
Ien beträgt. Und ©. 380 will Davis nachweiſen, daß 
Ebbe und Flut nicht auf der Anziehung von Mond und 
Sonne beruhen, „weil die Anziehung nicht über die At⸗ 
mofphäre eines Körpers hinansreiche‘‘! 

Davis ſpricht von Stigmarien und Sigillarien, von 
den großen foffilen Sauriern, unter anderm von einem 
„Pleitheoſaurus“ (wol Plateofaurus); der Megalefaurus 
bat zwei Beine, „welche infolge ihrer gefpreizten und zu⸗ 
fammengefetten Form Schwingen genannt worden find, 
er hat auch zwei Floſſen“. Er will in der Paläontologie 
die Lage der Geneſis anbringen, während er ſich doch 
früher gegen den Begriff der Schöpfung erklärte und nur 
Entwidelung annahm, und läßt am Schluß der ſechs Tage 
die lebenden Arten zerflört werden: ebenfalls eine ver- 
laſſene Meinung. Er glaubt ferner, daß feine Darftel- 


Iung ben biblifchen Urbericht über die Schritte und Grabe 
der Schöpfung unbeftreitbar bewahrheite, während er bie 
Bibel fonft doch ſcharf kritifirt und nicht den richtigen 
Begriff von ihr Hat, weshalb Richter Edmonds beklagt, 
daß Davis fo wenig orthodor fei. Die Glieberthiere follen 
aus der erften Ordnung der Mollusfen entfliehen, bie 
Vierhänder waren am erften Theil bes fechsten Tags 
fehr von den jetigen verfchieben und glichen denen auf 
dem Planeten Saturn. Höchſt phantaftifche VBorftellungen 
folgen fi bis zum Schluß des erfien Bandes. Dabei 
ift immerbin fehr merkwürdig, daR ‘Davis trog dem ge⸗ 
finnungstüchtigften Darwinianer den Keim des Dienfchen 
in den niederften Formen des Thierreichs entbedt und ihn 
allmählich durch den großen vielverzweigten Stamm der 
thierifchen Schöpfung als deſſen Frucht fi entwideln 
läßt. Freilich wurden fchon von Lamard, Dfen m. a. 
verwandte Anjchauungen ausgeſprochen. Die niebrigere 
Form des Menfchen läßt Davis in Afrika, bie höhere im 
Alten entftehen: eine Möglichkeit, bie ich, ohne von Davis 
zu willen, bereitö 1863 in meinen „‚Anthropologifchen Vor⸗ 
trägen‘‘, ©. 91, beiprochen habe. Die fünf Blumenbach'⸗ 
hen Raffen Hält Davis für ganz correct und feiner Modi 
fication bedürftig. Sehr unrichtig ift ein oft von ihm 
ausgefprochener Grundfag, dag nur die allgemeinen Ideen 
wirklich feien, „bie Einzelheiten aber nur die unwirkliche 
und auswüchſige Berzweigung allgemeiner Principien“, 
und jene allein der Betrachtung würdig, was an Hegel’fche 
Anfchauung erinnert, wo ber Begriff als das Wefentliche, 
die veale Eriftenz der Dinge als der wertblofe Schein 
gilt, während die Sache ſich umgekehrt verhält. 

Was im zweiten Bande, wo bie fchon im erſten be» 
gonnene Geſchichte der Urvölker fortgefegt wird, über 
beren Entftehung und Schickſale, fowie über beren Reli- 
gionen, Meinungen, Sitten, die hervorragenden Männer, 
namentlich Religionsftifter und Philofophen, gefagt wird, 
muß als eine zwar mandjmal großartige, aber meift ganz 
phantaftifche Kombination erflärt werden. Bei der Pro- 
phetie muß nad) Davis die Perſon in Gemeinschaft ſtehen 
„mit der urfprünglichen Abficht bes göttlichen Schöpfers 
und mit den Gefegen, welche feine Abficht erfüllen“, in- 
dem alles das Reſultat unveränderlichee Gefege ſei — eine 
theilweiſe berechtigte Anſchauung. In Davis’ Kopfe be» 
gegnen ſich ſehr verfchiedene Auffaffungen der Welt und 
die Gedanken fehr verjchiebener Denker, ſodaß es nicht 
wundern darf, auch die Swedenborg’sche Vorſtellung zu 
finden, daß das Univerfum als Ganzes einen großen 
Menfchen bilde, was dadurch möglich werde, daß es von 
dem großen pofitiven Geifte bejeelt fe. Bon einem Sün⸗ 
denfall, von Erlöfungsbedürftigteit des menſchlichen Ge 
ſchlechts will Davis nichts willen; Jeſus, obwol vollkom⸗ 
mener als je ein Menſch vor ihm, fei wie alle durch 
bie Naturgefege entftanden, und da das Menfchengefchlecht 
nichts verloren, nichts verwirkt habe, bebürfe es Feiner 
Erlöfung, fondern nur fanfter Belehrung Das Neue 
Zeftament wurde nicht vom Alten eingegeben und die 
Propheten fahen erfteres nicht vorher, die Bibel Habe 
feinen göttlichen Urfprung und fei keineswegs das Gen» 
trum aller Wahrheit. Webernatürliche Dinge, d. h. folche, 
welche den Naturgefegen zuwiberlaufen oder fie tberftei- 
gen, gebe es nicht; behaupten, daß die Wunder von einer 





Neue fpiritualiftifde Schriften. 


übernatürlichen Kraft bewirkt wurden, heiße fie von einem 
Nichts ableiten. Sehr verkehrt wird Charakter und Be- 
fiimmung der Apoftel aufgefaßt. Davis zweifelt die Wun⸗ 
der der Bibel an und verlangt doch für jene, welde er 
berfündet, Glauben. 

Bon ©. 898 an wird nun ber Menſch nad, feiner 
phyſiſchen und geiftigen Seite noch genauer betrachtet, 
wobei Wahres und Falſches vielfach gemifcht find. Es 
follen bie edigen Formen der Mineralwelt, die Freisrun- 
den dem Pflanzenteiche, die fpiraligen dem Xhierreiche, 
die geiftigen und himmlischen der Menfchenwelt entjprechen. 
Schön ift, was Davis über das Sterben und ben Tod 
ſagt. Die Anſchauungen jenfeitiger Zuftänbe find bei 
jedem Biflonär anders, obwol alle, auch Davis, von einer 
Bnfammengefellung der Abgeſchiedenen nach Sympathien, 
von einer Ölieberung in niebere und höhere Vereine nad) 
den Graben der Bolllommenheit fprechen, wie benn Davis 
ſechs Stufen oder „Sphären” annimmt: die natürliche 
(da8 gegenwärtige Leben), die geiftige, himmliſche, über⸗ 
natürliche, übergeiftige, überhimmlifche, und fpäter noch 
eine fiebente, „ben unendlichen Wirbel der Liebe und 
Weisheit und die große Sonne bes göttlichen Geiſtes, 
welche alle geiftigen Welten erleuchtet” und welcher Davis 
einmal jo nahe kam, daß feine Fähigkeiten eine Störung 
erlitten Hätten, wäre er nicht ſchnell aus dem magneti- 
hen Zuftand befreit worden — Angaben, wie fie aud) 


bei einigen andern Biftonären fi finden. 


Der letzte Abſchnitt mit der Ueberfchrift: „Eine Stimme 
an die Menfchheit”, ift eine Art Socialphilofophie, wo 
Davis die traurigen Zuftände, die Unvolllommenheit und 
die Lafter der Menfchheit betrachtet, als Duelle alles 
Elends den Egoismus und den Widerftreit der Intereſſen 


bezeichnet und nach feiner Weiſe praftifche VBorjchläge zur. 


Berbefferung madt. Er glaubt, die Menfchheit werde 
zulegt zu „vertheilender Gerechtigkeit und Harmonie” ge- 
langen, und beruft fich Hierbei auf Swebenborg und Fou⸗ 
ir. Schlecht kommen die Geiftlichen weg, welchen alles 
Elend, alle Streitigkeiten, Kriege und Berwüftungen zu- 
geihrieben werden. Jeder Menſch fei jegt ein Gegner 
des Wohlſeins und Glücks der andern; die Menfchheit 
müßte fo organifirt werben, daß die Stellung eines jeden 
dem Natur⸗ und göttlichen Gefeße entſpricht, „Fortſchritt 
ift ber Name des Erlöfers der Welt, den der Spiritis- 
mus offenbart, welcher ber Welt wahre Medicin ift”. 
So viel ift richtig, daß viele Amerikaner, welche durch 
das Chriftenthum nicht befriedigt find, ſich zu den Schrif- 
ten von Davis, überhaupt zum Spiritismus wenden. 
Davis’ „Principien der Natur” find jedenfalls eins 
der merkwürbdigften Producte bes magnetifchen Zuftandes, 
eine Berbindung von Erkenntniffen der pofitiven Wiflen- 
haft mit eigenen, häufig unhaltbaren Combinationen, 
vielen Irrthüumern, wie auch Bufh und Chapman an- 
erlennen — nnd zugleich genialen Einbliden in das Syſtem 
der Welt, ſoweit foldhe ohne empiriſche Forſchung durch 
die Intelligenz allein möglich find und wozu unter anderm 
der Grundgedanke gehört, daß alle fihtbaren Dinge Aus- 
drud der innern erzengenden Urfachen, “der geiftigen We⸗ 


jenheiten find. Nach meiner Meinung kann und fol die‘ 


pofitive Erkenntniß der finnlichen Welt nur dur den 
finnlichen Menſchen zu Stande kommen; es gehören hierzu 
1870, 37. 


426 


mit einem Organismus ausgeftattete Geifter. Noch nie 
find dur Seher und Somnambulen finnliche Berhältniffe 
der materiellen Welt als folche erfannt, noch nie ift auf 
biefem Wege eine empirifche Wahrheit der Naturwifien- 
haft entdedt worden. Die Gegner wollen den unver- 
ſöhnlichen Widerſpruch bedenken, in welchen fie fich mit 
ihrer Meinung befinden. Der Clairvoyant (alfo auch 
Davis) Liegt unempfindlich für die äußere Welt mit ge- 
ſchloſſenen Sinnen da und foll doch ©egenftände der 
materiellen Welt auf finnliche Weife erkennen. Nur 
Phantafieanſchauungen und Ideencombinationen von ber 
materiellen Welt find in jenen Zuftänden möglich, welche 
wahr oder auch faljch fein können. Anders ift e8 mit 
der Erkenntniß metaphyſiſcher Wahrheiten und mit ben 
Beziehungen auf das geiftige Reich, aus welchem Grunde 
manchmal in der Ekſtaſe menfchliche Schidjale und Er- 
eignifje geſchaut werden, welche räumlich entfernt vorgehen, 
früher eingetreten find oder auch erft eintreten follen. 
Wenn ein Biflonär uns über Verhältniffe der materiellen 
Welt belehren zu können glaubt, jo befindet er fi in 
einer für diefen Zuſtand charakteriftifchen Selbſttäuſchung 
und feine Kundgebungen können nur den Unwiſſenden und 
Halbgebildeten imponiren. 

Wie find aber die piychologifch jo merkwürdigen „Prin⸗ 
cipien der Natur” zu Stande gelommen? Die Spiritiften 
zweifeln feinen Augenblid daran, daß fie Davis von 
Geiftern mitgetheilt wurden, allerdings wie Chapman 
meint, wegen ihrer vielen Irrthümer von folden, die 
zwar „einige Grade” über der höchſten menſchlichen In⸗ 
telligenz erhaben, aber doc dem Irrthum unterworfen 
find. Davis felbft erflärt, daß er nicht wörtliche Ein- 
gebungen von höhern Geiftern erhalte, fondern nur 
Eindrücke aus einer höhern Sphäre, die er in feine geiftige 
Anſchauung aufnehme, innerlich verarbeite und dann mit feinen 
Worten barftelle.... Der befondere Einfluß und Schuß geifti- 
ger Weſen ift fozufagen nur eingefchaltet in die unabhängig 
geichriebenen Kapitel unſers Dafeine.... Meine Belehrung ift 
nicht hergeleitet von irgendwelchen Perfonen, die in der Sphäre 
eben, in die mein Geiſt eintritt, fondern fie ift das Refultat 
eines Geſetzes der Wahrheit, das von dem großen pofitiven 
Geifte ausgeht und alle Sphären des Dafeins durchdringt. 

Und an einer andern Stelle jagt er (I, 67 fg.): 

Meine innere Lebensiphäre ift gejellt mit dem Iettten Zu- 
fländen oder Wirflichkeiten aller gröbern Subftanzen, und durch 
eine folhe Verbindung verfolge ih die Subjecte oder Gegen⸗ 
fände analytifch, doch angenblicklich von ihrer Urſache zu ihrer 
Wirkung, und diefes verfieht mich mit der Kenntniß, welde 
auf enern Geift und Berftand den Eindrud macht, als wlirde 
fie von einem birecten übernatürlichen und geiftigen Verlehr 
hergeleitet... Urfahe und Wirkung ftellen ſich mir faft im 
felben Augenblid dar und verleihen mir das Vermögen, vom 
Allgemeinen auf das Befondere zu fließen. 

Deutlicher konnte Davis nicht ausdriden, daß feine 
eigene gefteigerte Intuition, welche ihn das Innere der 
Dinge und die caufalen Berhältniffe durchdringen Täßt, 
feine Erfenntniß herbeiführe. Wenn wir in allen folchen 
Fällen e8 mit Geiftern zu thun haben follen, warım 
zeigen fih denn dieſe nah Zeit und Bildungsgrad fo 
verjchteden: greulich oder läppiſch und kindiſch bei den 
Heren bes Mittelalters, bet Beaumont, Anna Jefferies 
u. f. w., hingegen menfhli und anftändig bei den Spi- 
ritiften unferer Zeit? Man will PBroductionen wie die 
von Davis durch Geifter Abgefchiedener hervorbringen 

64 


7 








lafien, weil man die Kraft des Iebenden Menſchen zu 
gering anfchlägt, während doch viele Heroen der Wiſſen⸗ 
ſchaft und Kunft, wie Rafael, Mozart, Schiller n. f. w. 
in einem verbältnißmäßig kurzen Leben der Welt eine 
Fülle der bebeutendften Schöpfungen gefchentt haben. Man 
vergißt die Macht des Genius, der oft mit wenig Hülfs- 
mitteln ohne lange Vorbereitung Außerordentliches Leiftet. 
Davis ift ohne Zweifel in feiner Art ein Genie, befien 
Geiſt wol lange vor dem Dictiven der „Principien“ inner« 
lich viel gearbeitet hat. Hierzu kommt dann die Er- 
böhung der Seelenkräfte beim Helljehen, wo alles, was 
je gejehen und vernommen wurde und durch Seelen» 
gemeinfchaft mit den Anwefenden gewonnen wird, zur 
leiten Dispofition ficht. Aber jo ganz ohne äußere 
Hülfsmittel, Kenntniffe zu erwerben, war Davis doch 
nicht. In jedem Zeitungsblatt werden jetzt wiſſenſchaft⸗ 
liche Gegenftände befprochen,, in jeder Converfation Flingen 
folde an. Und ein Brief von Bartlett an Fiſbough von 
1847 lehrt uns, daß der junge Davis ein forfchender 
Geiſt war, die Bücher, befonders die religiöfen Streit⸗ 
ſchriften liebte und ein guter Denker geworden fei, weldyer 
die Gejellfchaft erfahrener Männer fuchte, gern und viel 
fragte, zugleich ein höheres Streben offenbarte und ganz 
wahrhaft war. 

Und doch werden durch all diefes allein die Pro⸗ 
ductionen von Davis wie ähnliche nicht erflärt, fondern 
es muß noch das magifche Vermögen des Menfchen Hinzu- 
fommen. Diefes befähigte einmal Davis, im magnetischen 
Zuftande im Geifte der Anweſenden zu lefen und bis zu 
einem gewillen Grade an ihren Gedanken und Erinne 
rungen theilgunehmen, und zweitens, auf eine außerordent« 
liche Weife felbft von Büchern Kenntniß zu erhalten, die, 
wie es fcheint, auch den Anweſenden unbelannt "waren. 
Frau Mary Davis ſchreibt an Alſakow unter dem 6. Ja⸗ 
nuar 1869, ihr theuerer Gatte habe bisjetzt nie Bücher 
gelejen, er leje aber wie immer die Zeitungen. Manchmal 
lefe fie ihm einen Mufterroman vor, aber ihm fei das 
Lefen widerwärtig, er könne ja mit den Verfaſſern birect 
Belanntichaft machen: 

Wenn er Über einen Gegenftand fchreibt, fo ſcheint er zu 
wiffen, was darüber von andern gejchrieben worden iſt, und 
kann ans ihren Blichern citiren, ohne diejelben zır fehen. Er 
thut diefes, wenn dergleihen Bücher nicht Leicht zugänglich find; 
wenn fie aber zur Hand find, fo ſchlägt er die betreffende Seite 
auf, von der er eine inftinctive Kenntniß hat.... Aber obgleich 
mein geliebter Jackſſon Feine befondere Berehrung für Bücher 
und nie ein wiflenfchaftliches, philofopHifches oder theologifches 


426 Neue Romane. 


Werk außer den Correcturbogen feiner eigenen Werle gefefen 
bat, fo ift er dennoch durch feine innere Methode bekannt mit 
den Gedanken vergangener und gegenmwärtiger Schriftſteller, 
felbN mit ihrem Gemüth, ja noch tiefer, mit deu Tendenzen 
ihrer geifligen Natur. Daher ift ihm Platon fein Fremdling, 
nod) Galen, noch Smwebenborg, noch Emerfon jebt. 

Prof. Buſh führt an, Davis habe im magnetischen 
Zuftand mit außerorbentlicher Genauigkeit Worte und 
Sätze aus alten Sprachen citirt, von denen er im Wwa- 
hen Zuftand nicht die mindefte Kenntniß beſaß. Es if 
bier nicht der Ort, diefe außerordentliche Fähigkeit weiter 
zu erörtern, und ich will nur anführen, daß einige wenige 
analoge Fälle befannt find, und daran erinnern, was in 
meinen „Bliden in das verborgene Leben bes Menfchen- 
geiftes” von Herfch- Dänemark gefagt ift, und an den von 
Delrien berichteten Fall („Myſtiſche Erſcheinungen ber 
menfchlichen Natur”). Wenn man night Mittheilung duch 
individuelle Geifter mit den Spiritiften annehmen will, 
fo bleiben nur zwei Annahmen zur Erklärung. Entweber 
iſt nämlich die Erfenntnißfphäre eines Menfchen in folchen 
außerordentlichen Zuftänden ungewöhnlich erweitert umd 
es treten bei ihm Kräfte in Wirkung, welche im gemöhn- 
lichen Leben latent find, oder er participirt für beftimmte 
Gegenflände am Wiffen des univerfalen Geiftes, vor dem 
alles offen Liegt. 

Nach Parſons war der wache und magnetifche Zuftand 
bei Davis bis zum 16. Mai 1847 ftreng gefchieden, aber 
von jest an trat eine Vermiſchung beider Zuftände ein, 
d. 5. wenn ich vecht verftehe, es fand Erinnerung mb 
Einwirtung aus dem magnetifchen in das wache Leben 
ftatt. Bom December 1847—68 entwidelte nun Davis 
eine ungemeine Thätigkeit als Schriftfteller, indem er eine 
Menge von Werken herausgab, Artikel in die Zeitjchrift 
„Univercölum“ ſchrieb, eine Zeit lang den von) ihm ges 
gründeten „Herald of Progress’ redigirte, was alles Hof- 
rath Alfalow in feiner Einleitung zum erften Bande der 
„Principien“ dargeftellt hat. Bon William Green erfährt 
man, daß Davis 1850 bei ihm Wohnung nahm, wo er 
die „Große Harmonie” fchrieb, täglich unter den Bäumen 
im Garten figend und mit einem Bleiftift fo ſchnell ſchrei⸗ 
bend, al8 ex zu fchreiben vermochte, worauf er das Ges 
fchriebene Tag für Tag drudfertig für die Preſſe ins 
Haus brachte. Man ficht, daB Davis, obſchon nicht 
magnetifirt, doch fortwährend in dem Zufland war, in 
welchen man beim fogenannten „Geiſterſchreiben“ ift. 

, Maximilian Perlp. 
(Der Beichluß folgt in der nächſten Numıner.) 


Hene Romane. 


1. Das Geheimnig der Frau von Niya. ine Gefchichte 
aus den Testen Lebensjahren Ludwig's XIV. von Emile 
Mario Bacano. Jena, Coftenoble.. 1869. 8, 
1 Thlr. 15 Nor. 


Warum nicht gleich auf dem Titelblatt jagen: Cine 
Siftmifchergefchichte? das würde jedenfalls lockender fein. 
Denn bie Zeit Ludwig's XIV., durch unzählige Romane 
und Novellen, Luſt⸗ und ZTrauerfpiele wie durch ebenfo 
viele bedeutende und unbedeutende Autoren und Schau- 
fpieler uns unabfäffig in das Gedächtniß gerufen, ift 


nachgerade erfchöpft, und fie ınuß etwas ganz Abnormes 
darbieten, um das Intereſſe fiir die Maitreffenregentfchaft, 
unter welcher Frankreich zu jener Zeit faulte, immer wies 
der zu weden. Ludwig XIV. ift in dem vorliegenden 
Buche nicht viel mehr als eine DMarionette mit bidem 
Bauh auf dünnen Beinen, einer Alongeperrüfe und 
einem Stod, ben er in einer wüthenden Stimmung 
über ein auf ihm gemachtes Pasquill zum Prügeln eines 
Bedienten benukt. 

Auf eine für die Sfandalintrigue immer empfängliche 





Neue Romane 427 


!efewelt rechnend und mit Hülfe eines flets die Neugier 
pridelnden Gcheimnifjes ift die Gefchichte der Frau von 
Nizza — mit den grünen Augen und ben rothen Haaren 
und den erft bronzenen, dann aus Zerftreutheit des Autors 
blütenweißen und ſchließlich ſogar alabafterweißen Hän⸗ 
den — zuſammengekünſtelt: eine Verbrechergeſchichte, 
die ebenfo gut an jedem andern Ort, mit jeder andern 
Staffage als der jenes verkommenen Hofs hätte erzählt 
werden können. Und wie iſt ſie erzählt? Mit einem 
Aufwand von Abſurditäten, der uns vorkommt wie die 
mouches ridicules, wodurch ſich ein fades Geſicht inter⸗ 
eſſant zu machen ſucht, mit einer Sofetterie des Stile, 
welche das gefchraubtefte Salongeplauber unferer Moder- 
nen noch überbietet, und dabei mit einer Farbenver⸗ 
jhwendung bei Ausmalung des Ekelhaften, welches die 
Nervöfen, die nah Vacano greifen, nur noch nervöfer 
machen muß. 

Als wir Vacano zum erfien mal in einem Journal 
antrafen, glaubten wir einem fatirifhen Schriftfteller zıf 
begegnen, der es fich angelegen fein laſſe, feine fchon 
outrirenden Autoren⸗Collegen noch zu überbieten; nad) 
und nad) find wir aber von diefer Anficht zurückgekommen, 
obwol wir und noch immer nicht davon losmachen können, 
daß Bacano fi über das Publilum, für welches er vor» 
zugsweiſe fehreibt, luſtig machen will, daß er es gewiffer- 
maßen auf die Probe ftellt, wie weit man es im Unfinn 
treiben Tönne, indem er babei mit ſtiller Genugthuung 
wahrnimmt, wie er nur immer heißhungriger verfchlun- 
gen wird, 

Einige Sprachverriidtheiten, die wir aus der „Frau 
von Rizza” geben, find nicht etwa jenen einzelnen Worten 
Talleyrand's zu vergleichen, mit denen er einen unfchul« 
digen Menſchen an den Galgen zu bringen ſich vermaß; 
nein, fie find die gäng und gebe Miinze, mit der Bacano 
übermüthig klimpert. Aber man büdt fi) nach diefen 
andgeftreuten Euriofitäten, da e8 wirklich Seltenheiten find; 
denn wo findet man fonft als bei ihm „eine Nafe, die 
Witze macht”, „Vorhänge, welche niederragen”, „Augen, 
welche dunkle Lichter ſprühen“, „von Gedanken überfchwellte 
Augen”, „tugendhafte Blumenbeete”, „lachende und knixende 
Buchsbaumgewächſe“, „Lüchelnden Sammt“, „einen apoplek⸗ 
tiſchen Seſſel und eine affectirte Hand”? wo ſtirbt man, 
wie bei ihm, „zum todten Leben des Augenblicks Bin‘? 
Und dabei glogt und lechzt, fröftelt und rauſcht, Klingt, 
peitjcht und kriecht e8 bei ihm auf fo eigenthümlich Bacano’sche 
Weiſe. „Die Bäume fröfteln‘, „die Menfchen fröfteln 
biß in die Lederüberzüge der Möbel”; der Himmel glogt 
dazu und der Spiegel glotzt; da8 Laub der Bäume rauſcht 
wie Schuppen gegeneinander, und die Engel umraufchen 
die Menfhen; das Blut eined Ermordeten kriecht am 
Schleppfehleier einer Dame in die Höhe, und die Augen 
einer Lefenden Friechen über die Lettern des Gebetbuches; 
die Stimme Hlingt wie Dornen, die man zertritt, das 
Schilf wuchert in den Bafen, da8 Geld riefelt, der 
Schleier rinnt, bie Lippen find feft verbiffen, die Heirath 
wird gejchlihtet, der Sturm brüllt die Dame an umd 
peitfcht die Locken in ihrem Naden, benn es ift „eine 
winmernde Sturmnacht“, und fo werden bie Leſer von 
Seite zu Seite gefoppt. 

Doch nun zu ber Zabel ſelbſt. Bacano fcheint aud) 


der Anficht zu fein: daß alles begreifen auch alles ver- 
zeihen ift; denn: „Was ift Sünde?“ fragt feine geheimniß- 
volle Frau von Nizza, durch die eben drei Menfchen 
vergiftet wurden, obwol fie nur auf ihre Nebenbuhlerin 
pointirt hatte. „Warum war fie nicht in einer norbiichen 
Hütte geboren, unter den ziehenden Wolken eines ruhigen 
Himmels, einer friedlichen glüdlichen Ehe, oder einen 
einfomen ergebenen Alter entgegengewachſen?“ Bei 
Bacano wachen die Menfchen demnah noch im Alter, 
wie die Bäume in den Himmel. „War es ihre Schuld”, 
fragt die Giftmifcherin weiter, „daß fie, mit Flammen im 
Herzen, ihm begegnete?“ der fie zum Morden veranlaßte. 
Demnach könnte man allen denen, die unter einem ſüd⸗ 
lichen Himmel geboren find und Flammen im Herzen 
haben, das Morden und Giftmifchen verzeihen, das bei 
den nordifchen Frauen unverzeihlich bleibt. Das ganze 
Geheimnig der Frau von Nizza befteht nämlich darin, 
daß fie, weil fie die Tiebe des Malers Rene Jadien, für 
den fie Flammen im Herzen Hat, nicht erzwingen kann, 
die Gunſt Ludwig's XIV. dazu benutzt, das unſchuldige 
Mädchen, das der Maler liebt, an einen unausſtehlichen 
Gecken zu verheirathen, und da dies nichts fruchtet, indem 
Rene auch an die Verheirathete mit der gleichen Liebesglut 
denkt, jo wird diefe durch vergifteten Schnupftabad von 
der Gräfin: von Nizza aus dem Wege geräumt. 

Da alle Welt am Hofe Ludwig’s XIV. and Refpect 
gegen die Maintenon ſchnupft, und die Dofe zufällig noch 
in bie Hände von zwei andern Perfonen kommt, die 
daraus fchnupfen, fo fterben biefe beiden auch. Das 
Geheimniß der Frau von Nizza bleibt nicht unverhüllt, 
aber e8 fehlt der Beweis ihres Verbrechens; fie verläßt 
mit ihrem fiebzigjährigen Gatten Paris und wird von ihm 
nach Holland geführt, wo der alte Herr, der bisher 
als durchaus edel gefchildert war, ben Maler Rene zu 
Leyden in einem Garten ermordet, und dann feine ftraf- 
bare Gattin — der er immer noch Hand und Stirn 
füßt, obmwol er weiß, daß fie fih Rene angetragen hat, 
von ihm zurüdgewiefen wurde und dann das unfchuldige 
Weib vergiftete, das ihr im feinem Herzen im Wege 
war — wie zu einer Üeberrafhung an das Bosket in 
leydener Garten führt, wo der ermordete Rene in feinem 
Blute ſchwimmt, das bis „in die Spigen feiner Hals- 
krauſe kriecht“. 

Der edle alte Graf alſo mordet den ſchuldloſen Maler 
Rene, obgleich dieſer keine Beziehungen zu Frau von Nizza 
haben wollte, nur um Beatrice durdy den Anblid des 
Todten von ihrer wahnfinnigen Liebe zu curiren und fich 
ben Nebenbuhler vom Halſe zu fchaffen. Iſt das nicht 
mehr wie roh und abſcheulich? fteht die Giftmifcherin aus 
flammender Yugendleidenfchaft dem greifen Mörder nicht 
erhaben gegenüber, ſodaß er mit Recht ihr noch ehr- 
furhtsvoll bie Hände küſſen kann? Warum der Mord 
in Holland und gerabe an einem Sonntag Nachmittag, 
bei hellem lichten Tage, während alles in Leyden tanzt, 
fidelt, lacht und fcherzt, ausgeführt werden muß, bleibt 
unerklärlich; vielleicht war die Schilderung eines Sonntags 
in Holland fchon früher für eine holländiſche Novelle ge- 
fhrieben und wurde Bier nur zur Verlängerung des 
Buchs eingefchoben. Daß nun — wie lebendig und far- 
benrichtig auch bie Schilderung fein mag, die nur zu viel 

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4928 Neue Romane, 


Aufgeftillptes bringt, denn die fetten Holländer haben 
nicht blos aufgeflülpte Nafen, fogar aufgeftlilpte Gefichter — 
diefes Bild gemüthlichen Sonntagsbehagens als Einleitung 
zu dem fcheuglihen Mord ausgemalt wird, zeugt von 
einer Barbarei der Aefthetik, fir die wir Feine Bezeichnung 
haben, ebenfo wenig wie für bie umnfittliche Tendenz der 
gemeinen Berbrechergefchichte jelbft. 

Kommen wir nun zu dem Fetten und Magern, wo- 
durch Ludwig XIV. und feine Umgebung in der Geſchichte 
der Frau von Nizza gezeichnet find: „Das alte Weib, die 
Lavalliere, Freuzt die dürren Arme über ber Bruft und 
öffnet den zahnlofen Mund in dem gelben eingetrodneten 
Geſicht“; dagegen erjcheint Ludwig „in feiner felbft be- 
wußten Bette, in feinem verfallenden öligen Greifentfum 
der ausgebörrten ehemaligen, Öeliebten gegenüber”. Vacano 
„lorgnirt den König nur in feinem fetten Erlöfchen, denn 
der liche Gott wird ihn richten nad feinen Wurzeln‘, 


Er malt deshalb das Fettbild des Königs jo unäfthetifch 


genau aus, „weil er nichts Widerwärtigeres Tennt als 
die Frivolität deutfcher und franzöflfcher Romanfchreiber, 
welche die volliten Namen bernehmen, um eine Heirath 
zu ſchlichten, ober ein Verbrechen zu ftrafen, ohne daß 
ihr Auge jemal® auch nur bis zur Hüfte diefer hiſto⸗ 
riſchen Geftalt oder diefer Hiftorifchen Weone gelangt 
wäre”, 

Sehr viel anderes Magered und Fettes wechſelt bei 
andern Perfonaljchilderungen. Auch wird ganz commun 
geplaubdert, denn Ninon de l'Enclos, welche der Frau von 
Nizza gute Lehren aus eigener Erfahrung gibt, bemerkt 
unter anderm: „Die Frauen würden ſchlecht fahren, die 
nichts weiter hätten als ihre Schönheit.‘ 

VBacano's Novellen mögen in allen Salons und Pepfions- 

anftalten mit Wolluft verjchlungen werden und der Autor 
mag aus diefem Grunde der Begehrte aller Journale fein, 
wir müffen bedauern, daß ein geiftreiher Schriftfteller wie 
er fi) nicht auf einem würdigern Felde und mit edlern 
Mitteln die Herzen feiner Lefer zu erobern ſucht. So 
viel wird er als erfahrener Mann felber willen, daß die- 
jenigen, welche Bacano- Novellen goutiven, durch diefe ihr 
faltes Inneres nur galvanifiren, nicht aber erwärmen, daß 
fie durch folche Koft ihren nad Pilantem hungrigen Geift 
momentan wol Fe und neden, aber nicht bilden und 
erheben. Bielleiht gibt e8 beren, welche diefe Novellen 
dennoch bejonders den Damen empfehlen ! 


2. Künftlerfireihe. Roman von Wilhelm Jäger. Drei Bänbe. 

Leipzig, Kollmann. 1869. 8. 3 Thlr. 

Wenn es die Aufgabe eines Kritikers fein foll, unter 
ber Titerarifchen Spreu ben Weizen zu finden uud unbe 
fannte Autorennamen zu Ehren zu bringen, fo ift es 
wol zunädhft die Aufgabe der Unbelannten, fich felbft 
einen Ehrenpreis zu erringen. Übgefehen davon, daß 
man Erſtlingswerke ſtets nachfichtiger beurtheilt als fpätere 
aus derſelben „Feder“ — denn auch das Schriftftellern 
madt ſich nicht fo von felbft, wie viele meinen, die ruhm⸗ 
und geldgierig an das Zintenfaß appelliren —, fo gibt es 
doch Erftlingswerke, die das Prognoftilon der Uunbe⸗ 
dentendheit für alle jpätern fo umnbezweifelbar herans- 
ftellen, daß fich Feinerlei Hoffnung für ſolche möglicher- 
weife noch erfcheinende hegen Läßt. 


Indem wir uns hier bei einem unbebeutenden: Werke 
deshalb Länger aufhalten, als daſſelbe feinem Juhalte nad) 
beanfpruchen darf, handeln wir im Intereſſe des Leſe⸗ 
publitums, da8 vor der Nachfolge zu fehlen ift, wie aud) 
im Intereſſe folher Autoren, die viel Beſſeres und Nütz- 
licheres thun können, als ohne Poefie und Phantaſie Ein- 
tagsromane zu fehreiben. 

„Künftlerftreiche” nennt Wilhelm Jäger einen Roman, 
der feiner Einbildung — wir unterfcheiben das Wort 
von Einbildungsfraft — entjprungen, und will durch 
diefen genial Eingenden Titel locken, während er doch nur 
damit täufcht; denn in dem ganzen Buche — drei Bünde 
in Einem Umſchlag — kommt aud nicht ein einziger 
Künftlerftreich vor, dagegen viele andere Streiche, deren 
genauere Bezeichnung uns erlafen fein möge, die aber 
beſſer geftrihen wären. Unäfthetifches miſcht fid) mit 
Frivolem und Abenteuerlihen. Einem entlanfenen Leib⸗ 
eigenen, einem Böhmen und Sagottbläfer, ber feinen deutſchen 
Namen Pider in ben italienifch Hingenden Carbonelli un 
gewandelt, follen bie Vorderzühne zur Strafe für fein 
Weglaufen und Namenwechfeln ausgebrochen werden; bie 
Brechſtange ſchwebt ftets wie das Schwert des Damofles 
nicht blos in effigie, fondern in Wirklichfeit über dem 
Haupte des Unglüdlichen, nämlich in der Hand eines ge 
bungenen Zahnausbredgers, der in unbewachten Diomenten 
fein Attentat auszuüben beabfidhtigt. Ein verbeiratheter 
Advocat taufcht mit einer Zukunftsjchanfpielerin, inzwischen 
noch Kammerjungfer, Küſſe im Poſtwagen auf eine nichts 
weniger als belicate Weife. Cine Zugendheldin und 
Heldin des Romans will fi in das Waſſer ftürzen, 
weil fie eine unglüdliche Liebe zu einem von fern am 
Genfter gefehenen Studenten hegt, und wird von einem 
Gärtner gerettet, der diefes Mädchen in feine Wohnung 
aufnimmt, da e8 einer Zwangsverlobung und dem vüter« 
lihen Haufe entflohen ift. Ein regierender Fürſt, der die 
Maitreſſen begünſtigt und Hübfchen jungen Mädchen nad)- 
ftellen läßt, ein Orgelbauer, ein penfionirter Lieutenant, 
das find die Hauptfiguren, bie fih in dem Roman tiber 
Muſik, Staatsintereffen und Liebe unterhalten und Heine 
Intriguen anzetteln. 

Einzelne geſchichtliche Figuren in einem fonft ganz 
ungefchichtlichen Roman nehmen ſich immer fehr lomiſch, 
wie mit den Haaren berbeigezogen aus; fo auch bier 
der Abt Vogler, den jeder andere Drgelfpieler hätte 
vertreten können, und der Kurfürſt Karl Theodor von 
ber Pfalz, der ein beliebiger frivoler Fürft X fein 
onnte. 

Hätte Wilhelm Jäger, ftatt ſolche Relieffiguren herbei⸗ 
zuziehen, bie ſich ihm bieten, bie Motive beffer zu benuten 
gewußt, jo würde der Augenblid, in welchem Klara durch 
den heimlich geliebten Studenten bei tiefftem Dunkel ans 
einem Bollögedränge gerettet wird und er zum erften mal 
ihr Angeficht zu jehen befommt, als fie in feinen Armen 
ruht und eben der Mond durch die Wolfen bricht, zu 
einem hochpoetifchen ſich haben fteigern laſſen. So bot 
fi) bei der Lebensrettung Klara's durch ben Gärtner 
ebenfall8 eine Gelegenheit, die Heilung der Unglüdlichen 
dur die Befchäftigung mit den Blumen im Garten auf 
poetifhe Weife berbeizuführen. Statt befien aber fin 
det ſich nirgends ein pfychologifches Eingehen, fondern nur 





Neue Romane, 


ein buntes Durcheinander, das verfchiedenen Ehebünd⸗ 
niffen entgegeneilt, wodurd diejenigen Leferinnen, wel« 
den das Eheftiften im Blute liegt, auf ihre Rechnung 
lommen. 


3. Das Erbe Tosbka's. 


Erzählung von T. S. Braun. 
Ziel Bünde. Leipzig, Grunom. 1870. 8. 2 Thlr. 
r. 


4. Eine angene Eur. Bon T. S. Braun, Leipzig, Grunow. 

1870. 8. 1 Zhlr. 10 Nor. 

Die beiden Romane von Braun, obwol beide in 
weiblich anmntdiger Weife gefchrieben, find doch einander 
ganz unähnlid, indem der erftere von Anfang bis zum 
Schluß im höchſten Grade ſpannend ift, der zweite nicht 
einen Moment der Spannung enthält, nur ein heiter 
lachendes Bild eines Badeaufenthalts und des Zufammen- 
lebens von acht Perfonen bietet, ans denen vier Ehepaare 
werden. Das Piychologifche bei der „Gelungenen Eur“ 
liegt zwifchen den Zeilen, der Leſer kann es ſich ergänzen, 
der Erzählung damit Füllung geben. Nicht der Gedanke 
allein, daß das Aufeinanbersangewiefen-fein in einem Heinen 
Badeort das Sprichwort wahr werden läßt: Umgang made 
Liebe, wie Gelegenheit Diebe, ift hervorzuheben, es kommt 
auch noch das zweite Moment hinzu: daß der Anblid von 
Liebenden den Wunſch, ebenfo geliebt zu werben, erweckt. 
Diefer Wirkung zufolge wird denn aud ein fonft pro« 
faifch denkender Witwer durch das „Angefhwärmtwerden‘ 
feiner beiden Töchter, die er gerabe deshalb in das Heine 
Bad Le Preſe geführt, um fie vor Freiern zu ſchützen, 
veranlaßt, felber zu ſchwärmen und einer tugendhaft 
tranernden Witwe, die fi) aber erweichen läßt, fein Herz 
und feine Hand anzubieten, Desgleichen hat ſich ein bis 
dahin gegen Amorsmwaffen hieb⸗ und ftichfeft gebliebener 
bierzigjühriger Engländer in ein Berliebtfein bineinlorg- 
nettirt und läßt fich mit einer malade imaginaire höchſt 
dramatifh am Waflerfall trauen. Die beiben jungen 
Mädchen machen bie beiden jungen Männer in dem 
Badeort glüdlih, und alles ift befriedigt bei ber Abreife 
von Le Preſe — und dem Schluffe des Buchs, 

Weniger ift bie der Fall bei „Toska's Erbe“. Die 
je8 Erbe befteht in dem durch eine gemeine Abſtam⸗ 
mung überfonmenen Hang zur Intrigue, zur Gelbgier 
and zum Stehlen. Die vornehm erzogene Toska ſchau⸗ 
dert vor fich felbft, als fie den erften Griff in einen 
fremden Beutel gethban, und obwol fie das entiwendete 
Geld unter einem raſch erfonnenen Vorwand haſtig wie- 
der zurüdgibt, thut fie nichtsdeftoweniger ben zweiten. 
Dabei ift diefe geborene Diebin hinreißend geiftreih, ta- 
lentvoll, kokett und pilant; fie fefjelt und flachelt, reizt 
junge und alte Männer, macht den tranernden Witwer 
feiner erſt beftatteten Gattin untreu, entreißt der unſchul⸗ 
digen Braut ben Bräutigam, kurz ift gewifjenlos nad) 
allen Seiten bin und hält niemand ber Berückſichtigung 
werth, wo es bie Befriedigung ihres Egoismus gilt. 
Zosfe endet in dem Buche mit den Belenntniffen ihrer 
Schlechtigkeiten und will, nachdem fie fi in einem 
anftändigen Haufe unmöglich gemacht Hat, einen neuen 
Lebensweg einfchlagen, von dem wir jedoch nichts mehr 
erfahren. So fehlt auch die frühere Entwidelung des 
im Zuchthauſe geborenen und dann von einer Herzogin 
angenommenen Kindes, fowie bie des fpäter in dem 


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429 


Haufe eines Majors erzogenen Mädchens; wir erfahren 
nicht, ob fich die Begierde zu ftehlen ſchon in dem Kinde 
regte und wie man ihr im ber Erziehung begegnete. 
Wie num trog des Zugs zum Gemeinen Toska durch 
ihr vornehmes und berechnetes Weſen imponirt und bien- 
bet, das ift Fünftlerifch durchgeführt und macht das Bud) 
im höchſten Maße interefjant. Die Fortfegung von 
Tosta's Leben können wir der Berfafferin jedoch nicht er- 
lafien, will ſie nicht, daß wir diefes Werk nur als ein 
Fragment betrachten follen. 


5. Die Rofe von Urach. Eine Erzählung in drei Bänden von 
Gottfried Flammberg. Stuttgart, 3. F. Steinfopf. 
1869. 8. 2 Thlr. 6 Ner. 


Diefer dreibündige Unterhaltungsromean ift von ten- 
denziöfen Standpunfte aus mit fpeciell confeffioneller 
Värbung abgefaßt. Gottfried? Flammberg nennt fein 
Werk eine Erzählung. Immerhin, die Sache bleibt ſich 
gleih. Das romantifch Rohe und das roh Romantifche 
ift jo ſtark in dieſer „Roſe“ vertreten, welche den großen 
literariſchen Roſenkranz nicht um ein Zwergröschen, viel- 
mehr um eine recht dide volle Klatſchroſe erweitert, 
dag wir der Erzählung mit gutem Recht für „die 
Berfchlingenden” den Lodtitel Roman geben dürfen, Ge- 
wöhnlid find die ZTitelrofen von Romanen und Erzäh- 
lungen junge Mädchen, in welche ſich fämmtlihe in 
dem Roman auftretende junge Männer verlieben. Ss 
auch bier. Pfarrersröschen von Urach, kaum im Auf 
Inospen, hat der Freier bereit zwei, von denen fie den 
einen zu lieben glaubt, doch aber aus Dankbarkeit fir 
eine Ehrenrettung fi mit dem andern, einem muntern 
Soldaten, verlobt und den mürrifchen Scholaren fahren 


läßt, der dann fpäter der Meuchelmörber des Borgezo- 


genen wird, 

Röschen, das ſich immer noch quält, ob fie nicht un« 
recht gethan, den Georg zu wählen, den fie eigentlich 
nicht liebt, und den Richard nicht gewählt zu haben, den 
fie eigentlich Tiebt, verliebt fih dann endlih in „ben 
Rechten”, den fchönen frommen Fohannes, ber erft Pfarrer 
werden und eine Buhldirne des Gutsheren, der bie 
Pfarrftelle zu vergeben hat, mit heirathen fol, wozu er 
ſich auch feſt entfchließt, nur um feine arme Mutter zu 
verforgen, dann aber genöthigt ift, unter bie Soldaten 
zu gehen, und, bildhübſch in der fchwedifchen Uniform, 
KRöschen’3 Herz erobert. 

Aber auch von biefem Geliebten ihrer Seele wird fie 
wieder getrennt. Johannes geräth durch fonderbare Kreuz⸗ 
und Querzüge in dem Roman zu einem Geiler, deffen 
Tochter Cordula er im Begriff fteht zu lieben umd zu 
beirathen, als er das Pfarrersröschen vorübergehen ſieht und 
nun nicht begreift, wie er diefe Roſe jemals habe ver« 
geſſen können. Doc die Auflöfung des Knoteus iſt Leicht 
bewerfftellig. Cordula, des Seiler Tochter, liebt den 
bildſchönen Johannes gar nicht, fondern den armen Her⸗ 
mann, ber feit Jahren Seilergefelle bei ihrem Vater ift, 
und die Berlobung mit diefem ift raſch durch Johannes 
bewerfftelligt, der num wieder Rofa im Berzen trägt, die . 
inzwifchen mit Richard, dem Meuchler, zufanmengetroffen, 
dem fie immer nod) unrecht gethan zu haben vermeint. 
Endlich kommt alles an den Tag. Richard, Roſa's erfte 





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430 Teuilleton. 


Liebe, der Mörder ihres erfien Bräutigams, wird zum 
zweiten mal wahnfinnig und beunruhigt glei einem wil⸗ 
den reißenden Thier die Gegend, in der er bis zu feinem 
Untergang herumſtreicht. 

Auffallend ift in dieſem Roman, daß fein reiner und 
Harer Charakter darin gezeichnet ift, dag an jedem ein 
Flecken haftet, felbft an dem feiner Roſa untrew werben« 
den Johannes und an Rofa felbft, die inımer im Un⸗ 
Haren mit fi ift. Ebenſo ſchwankend erjcheinen die reli- 
giöfen Auffafjungen. Daß Gott alles zum Beten Hin- 
ausführe, ift die eine Maxime, auf welcher der Autor 
fein Gebäude von Coincidenzen zufammenftelt und auf. 
führt; außerdem wirb aber außerordentlich viel Spaß mit 
kirchlichen Dingen getrieben. Die Tatholifchen Geiftlichen 
werden gefoppt wie die Heinen Kinder; e8 werden Teufeld- 
und Engelöverheißungen und »-VBerfleidungen benugt, um 
den Geängfteten Hinter ihrem Rüden die fetten Braten zu 
ftehlen, die fie eben verzehren wollten. Sie find gewifjer- 
maßen bie lomifchen Figuren im Roman, und wer an 
dergleichen Scherzen, wie an Blut und Eifen, oder Morden 
und Rauben, Brennen und Stehen Geſchmack findet, 
wird feine volle Befriedigung in dem Buche mit dem 
zarten Titel und dem Raubritter⸗ und Bagabundenmwefen 
auf den Landftraßen haben. 

Der Stil ift fließend und correct, ftellenweife poetifch 
und feſſelnd, und die Iocalen Schilderungen find mit fol- 
der Orts⸗, ja Terrainkenntniß gegeben, daß es für den 
Lefer etwas Peinliches Hat, fi in dieſen gewundenen 
und ineinandergefchlungenen Pfaden, Schluchten, Höhlen, 
Wäſſerchen und Waſſern, zwifchen denen man fich verftedt, 


auf Beute ausgeht und heimliche Diorde ausführt, zurecht» 
zufinden, mit zufriechen, zu lauern, zu waten. lieber- 
haupt feßt der Autor viel Geduld und Ausdauer bei dem 
Lefer für Derhältnifie und Zuftände voraus, die im gan« 
zen doc) nur fehr wenig interejfiren können und die wir 
heute nur in einem hochpoetifhen Gemande, wie von 
Schiller im „Wallenflein“, oder von Scheffel und ähnlichen 
Meiftern der Dietion und Darftellung gern vorgeführt 
Sehen. Das Auslofen der Deferteure, das Hauen, Sau- 
fen, Lüdern, wie es im Dreißigjährigen Kriege feine 
volle Auslebung fand, Liegt außerhalb der anmuthigen 
Unterhaltungsleltüre neuerer Zeit. Wir verweilen Schil- 
derungen folcher Art in das Gebiet der epifchen Dichtung 
oder in das der wiffenfchaftlichen Gefchichtfchreibung. 
Wer den „Dreißigjährigen Krieg” von Schiller gelefen, hat 
jedenfalls feine Zeit genußreicher und lehrreicher ausge⸗ 
füllt al8 ber, welcher die drei Bände der „Roſe von Urach“ 
durchgefnetet. Dennoch werden fich immerhin noch Leſer 
genug finden, welche dieſes letztere Werk mehr goutiren 
als die Sprache und die Gedanken Schillers. 


Nichts weniger als praktiſch erfcheint uns die Sitte, , 


drei Bände in Einem Umſchlag geben. Die volumi« 
nöfen Bücher find unbequem für ben Leſer zu hal 
ten und reißen ungebunden noch leichter auseinander ale 
andere. Auch die Leihbiblioihelen, fiir welche diefe Werte 
bauptjächlich beftimmt find, dürften mit ber Einrichtung 
nicht einverflanden fein, die fie in ihrer Einnahme bei dem 
Verleihen verkürzt. 


Jeanne Marie von Gapelie- Georgenz. 





Fenilleton, 


Notizen. 

Die von Martin Perels beransgegebene „„Dentfhe Schau. 
bühne‘, welche jetzt bereits den elften Jahrgang erreicht hat, 
bringt in jedem ihrer Hefte nad) wie vor ein neues Stüd, 
verfchiedene Aufſätze, Kritilen und Gedichte und einen kurzen 
Rückblick auf die Leiftungen der deutihen Bühne. Das vierte 
und fünfte Heft des Jahrgangs 1870 enthalten einige Interefjante 
Mittheilungen, namentlih Alfred Meißner's „Erinnerun- 
gen an Wien”. Diefe ‚Erinnerungen‘ betreffen vorzugsmeife 
die Aufführungen der Meißner'ſchen Stücke am Burgtheater 
und geben zugleich einen Kommentar zu der bedauerlichen That⸗ 
ſache, daß Meißuer fih ganz von der dramatifhen Production 
zurüdgezogen bat. Es ift dies mit andern namhaften Drama- 
titern, wie mit Oußlomw, ebenfo der Fall — auch der letztere hat 
nad großen Erfolgen jetzt feit fait fechzehn Jahren der Produc- 
tton für die Bühne entjagt. Die deutfche Bühne weiß die Talente, 
die fich ihr zumenden, nicht zu feſſeln; ja es macht oft den 
Eindrud, als ob die Intendanten und Directoren es als eine 
befondere Bergünftigung den Dichtern gegenüber betrachteten, 
wenn fie deren Stücke überhaupt zur Aufführung bringen, 
Eine nit durchſchlagende Borftelung an einem erfien Theater 
ift aber, jo fehr fie oft durch ein Zufammentreffen wenig gün⸗ 
figer Zufälle bewirkt fein mag, genügend, um ein Stüd ber 
Bergeffenheit zu überliefern. Meißner, deſſen beide Dramen: 
„Reginald Armſtrong oder die Welt des Geldes“ und „Der 
Brätendent von Horl' am Burgtheater nur einen succes d’estime 
ae agen baben, fpricht ſich hierüber ſehr ſachlich und tref⸗ 
end aus: 

„Die beiden Dramen find bald nach den Aufführungen 
im Drud erfhienen. Das ift freilich eine höchſt ungenligende 
Appellation an eine andere Inflauz, denn welde Wirkung bat 


ein gedrudtes Zraueripiel? Was nüht es, daß jebe Literatur. 
geihichte beide Dramen unter den charakteriſtiſchen Erzeugniffen 
ber Epoche anführt, befpriht, analyfirt? Für die Bühne find 
fie wie nit vorhanden. Denn das Theater macht nur einmal 
den Proceß mit einem Drama durch, gibt fein Verdict ab und 
dies ift nicht zu caffiren, fondern wird aufrecht erhalten, follte 
e8 ſich auch fpäter für jedermann berausftellen, daß die Jury, 
die darliber geſeſſen, unter den flörendften Einflüffen zuſammen⸗ 
trat. Was vom tarpejifhen Felfen gefloßen wurde, lebt nidt 
mebr, mag das Urtheil ein gerechtes oder ungeredhtes newefen 
fein. Nur in den feltenften Fällen wird bei einem Dichter 
wert eine Reviſion des Procefieg vorgenommen, bann aber 
gleicht dieſer fait immer den fpätern Reparationen der Ge⸗ 
Ichichte, die nicht einen der Diitfebenden mehr am Leben treffen.“ 

Siebzehn Jahre nachher kam Meifiner wieder nah Wien 
und fand dort eine junge, ihm in Gedanken und Ueberzeuguns 
gen fumpathifche Beneration: 

„Das einzige Object Wiens, das mir völlig unverändert 
vorkam, war das Burgtheater. Da faß ich faft auf derfelben 
Stelle wie ehemals und blidte auf dafjelbe Haus und auf diefel- 
ben Decorationen, und vor mir bewegte ſich eine Handlung, 
bie mir ſchon vor flebzehn Jahren total veraltet vorgelommen 
wäre. Ic fah 3.8. ein Stüd, in welchem eine wilde Opern- 
zigeumerin vorkam und allerhand wilde Flüche umberfchleuderte. 
Und dabei gab es bald einen Sonnenaufgang, bald Mondlicht 
auf ben Wellen, bald läuteten die Bloden zur Kirche, bald 
flammte ein Abendrotb auf. Man hätte meinen follen, es 
gelte, Kindern eine Freude zu machen. Und wenn bie Lente 
in dem Städe etwas Entjcheidendes unternehmen wollten, fo 
fingen fie e8 immer auf die verfehrtefte Weife an, unb fo ent- 
Banden jhrediihe Mieverſtändniſſe, die mit einem balben Gran 


Feuilleton. 


Berſtand gelöſt werden konnten. Da aber ſämmtliche am Stücke 
Betheiligte dieſen halben Gran Verſtand nicht hatten, ſo wurde 
die Sache immer tragiſcher, ich aber hielt es nicht länger aus 
und lief davon. Deine Aufregung aber war heiterfter Art. 
Ich machte die pfychologiihe Erfahrung, daß ich die glüdlichen 
Dramatiker nicht mehr um ihre Kränze beneide, und dankte 
dem Geſchicke, daß es mic vom Theater weg auf eine andere 
Bahn und auf eine andere Kunflform gewiejen: auf die große, 
edle, zulunftreiche Bahn des deutihen Romans.’ 

Es ift dieſelbe Bahn, welche Karl Gutzkow und mehrere andere 
Dramatiker nachher betreten haben. Dennoch halten wir die 
dramatiihe Schöpfung in ihrem Wefen wie in ihren Wirkun- 
gen flir bedeutender al8 den Roman, und bedauern aufridtig, 
daß gerade begabte dramatifche Schriftfteller, abgefchredt dur 
die Ungunft der Verhältnifſe, dem Theater den Rüden kehrten, 
um der firengen und ftraffgefpannten Kunftform de8 Dramas 
gegenüber fich in der läffigern, aber für die freie Entfaltung 
einer umfafjenden Bildung und einer reichen Phantafie will» 
lommenern des Romans zu bewegen. 

Freilih, an nenen Anläufen fehlt e8 auf dramatifchem Ge- 
Biete nicht. Einer der productioflen unter den Jüngern ift 
Adolf Wilbrandt, deſſen Schaufpiel: „Der Graf von 
Hammerftein am berliner Hoftheater eine fehr günftige Aufe 
nahme fand und der auferdem mit mehrern Luflipielen an 
verfchiedenen Bühnen mit ungleichem Erfolg bebutirte. Da 
Wilbrandt auch als Novellift aufgetreten ift und fi durch 
Ueberfegungen mehrerer Stüde Shakſpeare's in der von Bo⸗ 
denftedt Herausgegebenen Shaffpeare-Veberfeßung bekannt ger 
macht hat, fo werden die biographiſchen Notizen fiber den Aus 
tor, welche die „Deutſche Schaubühne“ an anderer Stelle bringt, 
gewiß unſern Lejern willlommen fen. Wilbrandt if am 
24. Auguft 1837 in Roftod geboren. 

„Der Bater Wilbrandt’s war Mitangellagter in dent bes 
kannten mecklenburgiſchen Hochverrathsproceß und zwei Jahre 
in Unterfuchungshait; Adolf war ein lebensfroher Junge, kecker 
Reiter, kühner Schwimmer, ftudirte in Roftod, Berlin und 
Münden, und befchäftigte fi ans einem von früh auf flarken 
Triebe nach möglihft vielfeitiger Entwidelung mit Spraden, 
Surisprudenz, Philofophie und ganz befonders Geſchichte. Spä⸗ 
ter war MWilbrandt zwei Jahre hindurch Mitredacteur der Brater’- 
fhen «Siddeutichen Zeitung», und ging dann, ganz in die 
Künfte und Antike vertieft, feinem angeborenen Schönbeitsfinn 
folgend, auf ein Jahr nad) Italien und Südfranfreih. Außer 
dem fchrieb Wilbrandt eine treffliche Biographie Heinrih von 
Kleif’s, einen dreibändigen Roman, deſſen Autorihaft er aus 
Gründen verleugnet, eine Flugſchrift für Schleswig - Holftein 
(1864), die in mehr Eremplaren erſchienen ift, als alle andern 
Wilbrandt'ſchen Werke zuſammen je aufbringen dürften; ferner 
hat er die Werke des Sopholles und Euripides (in zwei Bän- 
den) mit Nüdfiht auf die Bühne bearbeitet, umd eine Reihe 
von Novellen und Theaterflüden verfaßt, die theils im Buch⸗ 
handel geſammelt erſchienen find, theils erfcheinen werden, von 
den Heinern Bühnenſtücken iſt am bekannteſten «Unerreichbar I» 
Den Sommer Über lebt Wilbrandt bei ſeinen Verwandten in 
Stadt und Land in Mecklenburg und beabſichtigt vor Herbft ab 
jeinen bfeibenden Aufenthalt in Berlin zu nehmen. 

Am 5. Juni farb in Berlin Friedrid Wilhelm Gu- 
big, ein Beteran der berliner Journaliftit uud Theaterkritik, 
dem es das Schickſal nicht vergönnt Hatte, feine „Erlebniſſe“ 
noch Erinnerungen und Aufzeichnungen, deren zwei bisher er» 
ihienene Bünde wir in Nr. 49 d. Bl. f. 1868 befprochen 
haben, zu Ende zu führen. Gubi war am 27. Februar 1786 
in Leipzig geboren und perſönlich mit den Häuptern unferer 
cloffiichen und romantifchen Literaturepocdhe befaunt. Sein „Ge⸗ 
ſellſchafter“ war lange Zeit das einfinfreichfte berliner Journal, 
welges auch viele Scriftfieller, wie Heinrich Heine, in bie 
Literatur einführte, Seit 1806 war Gubitz, ein Meiſter der 
Holzſchneidekunſt, Mitglied der berliner Alademie. Bis in die 
neneſte Zeit hinein war er der Theaterkritiler der „Voſſiſchen 
Zeitung“, und wenn auch die Form feiner Kritiken oft fleif, 
ſpröde und verſchnörkelt bis zum Ungenießbaren erſchien, fo 


— — — — — 


431 


war doch der Inhalt ſehr oft ſachgemäßer und treffender als 
die Urtheile, welche jüngere Schriftſteller in eleganterer Ein: 
kleidung ausſprachen. Dem Theaterkritiker Gubitz hat Karl 
Frenzel in der „Nationalzeitung“ ein pietätvolles Feuilleton 
gewidmet, und mit Recht; denn bis in ein ſo hohes Alter einer 
der ſchwierigſten und undankbarften Aufgaben Iiterarifcher Thä⸗ 
tigfeit gerecht geworben zu fein, ift eim anerfennenswerthes 
Berdienſt. Der Theaterfrititer nimmt den erponirteften Poſten 
der Literatur ein, er fteht mehr in der Breſche als auf der 
Schanze, und e8 gehört viel Begeifterung für die Kunft dazu, 
— Jahre hindurch unerſchütterlich auf dieſem Poſten aus⸗ 
zuhalten. 


Bibliographie. 


Bernhardi, W., Walded ber Mann bes Bolkes! Sein Leben und 
Wirken, jein Tod und Begräbniß. Berlin, Bergmann. Ör. 8. 2'/, Ngr. 
Bibliothek der deutihen Nalionalliteratur des achtzehnten und neun 
er —R Neunundzwanzigſter Band: Gedichte von Ludwig 
& viRop Hölty. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben 
von Karl Balm. zeinis, DBrodhaud. 3. 10 Ngr. 

auer, &,, Die Mörderin aus Woluft oder Giftlüge und Gifttoft. 
n. Nach den Alten bes berühmtelten Criminalptoceſſes bearbeis 

tet. gie bis He Lief. Berlin, Köppen. Gr. 8 AI N 


a 3 Nor. 
Gr. — 8 W. Freih. v., Ein Pilgerſtrauß. inebach, Junge. 


arm⸗ 
8. 15 Ngr. 
ernau, R., Das A und das O ber Vernunft. Leipzig, DO. Wigand. 
&r 3. 3 Thlr. 

Fonck, F,, Chile in der Gegenwart, 
. Berlin, Landau. Gr. 8, 10 Ngr. 
Frommann, %., Zur Kritit bed florentiner Uniondbecrets und feiner 
bogmatifchen Sermwertpung beim vatifanifhen Conzil der Gegenwart. Leip⸗ 
dig, Lißner, Gr. 8.12 War. 
j he r kr nu, P., Der Brievendengel. Roman. 3 Bde. Berlin, Janke. 

. r. 

Gauvain, H. v., Der lautere Beweggrund und das zerſtörte Male⸗ 

part er Beige, Sr. 7 F A t zeiß 
erſtenberg, K. v., Die Kirche und da riſtenthum der Zukunſt. 

Ein VBortrag. Zurich⸗ Reumünſter. Gr. 8. ſtenth 3 

Goeben, A. v., Das Gefecht bei Dermbach am 4. Iuli 1866. Darm» 
flabt, Zernin. Gr. 3. 15 Bar. 

Grund, O., Die Wahl Rudolfs von Rheinfelden zum Gegenkönig. 
Leipzig, Duncker u. Humblot. Gr. 8. 20 Ngr, 

Guden, 8, Johann Chriſtiau Edelmann. Gin Beitrag zur beutfchen 
— und Firgengeſchichie im 18. Jahrhundert. Bortrag. Hannover, 

eher. 8, r. 

Hammer, P., Was es um bie Stellung gewiſſer deutſcher Wrofefio- 

ven zum Concil ein abſonderlicher Standpunkt iſt. Soeſt, Raſſe. 8. 5 Kar. 
arleß, ©. 6. A. v., Jatob Böhme ynd die Alchhmiſten. Ein Bei⸗ 

trag zum Berftändniß I. Böhme’s. Nebſt einem Anhang: 3. G. Gichtel’s 
Leben und Irrthümer. Berlin, Schlawitz. Gr. 5. 1 Zhlr. 

Haupt, R., Die äußere Politik des Euripides. iſie Hälfte. Berlin, 
Galvary u, Comp. Gr. 4. 20 Jigr. 

Hausmann, R., Das Riugen der Deutschen und Dänen um den 
Besitz Estlands bis 1227. Leipzig, Duncker u, Humblot, Gr. 8. 24 Ngr. 

Novellenftrauß. Aäter Vd.: Orangenblüte von Baula Herbft. Leip⸗ 


sig, Kötſchle. 8. ı Thlr. 

Oppermann, H. %., Hundert Jahre, 1770—1870. Zeit» und Les 
ae aus brei Generationen. Ster Thl. Leipzig, Vrockhans. 8. 

r. r. 

Ring, a. Die Geheimniffe ciner Heinen Stabt, Humoriſtiſche No» 
velle. Berlin, R. Lefier. 8. if Nor. . v ſtiſch 

Sacher⸗Maſo g: Das Bermächtniß Kains. Novellen, iſter Thl. 
Die Liebe. 2 Bde. Stuttgart, Cotta. 8. 8 Thlr. 

Sgloenbach, A. Handbuch der beutihen Literatur ber Neuzeit. 
2te Aufl. 7 Bde. Hildburghauſen, Bibliogr. Inſtitut. Br. 8. 3 Thlr. 


15 Ngr. 

Egmib’s, 9., gelammelte Schriften. Volks⸗ und Familien » Aus- 
abe. 2ifter Bd.: Friebel und Oswald. Roman aus der Tyroler⸗Ge⸗ 
dichte. iſter zu. veipnig, Keil. Gr. 16. 7% Nor. 

Schu de: . ®., Ueber romanifitende Tendenzen. Ein Wort zum 
Brieden. Berlin, Stille u. van Muyden. Gr. 8. 1 Thlr. 20 Nor. 
Steub, L., Die oberdeutschen Familiennamen. München, Olden- 


bonrg: 8. 1 Thlr 
16 traeter, T. Graf Strafford. Trauerfpiel. Münden. 1369. Br. 8. 
r. 
erena, Ss pie Ueber Alles bie Pflicht. Noman. 3 Bde. Ber 
r. 


alded, M., Bom Norbfeeftrand zum Wüftenfand. Eulturgefchichts 
liche Blider aus Deutſchland, Btalien und Aegypten. Berlin, Laugmann 
u. Comp. Gr. 3. 1 Zhle. 

Die Welturkunde, Metaphysiologie des menschlichen Gehirnes, Die 
Welt-Regung in ihrem Gruud- und Ausbau zu der regen Welt des Anub- 
havan-Ahamkrita-Bauppa. ister Thl.: Anubhävan& : die Welt-Auffaszung 
in Erkenntnis und Sprache, Leipzig, M. Schäfer. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 


20 Neger. 

Wirth, ®., Die Fortſchritte ber Naturwiffenfcgaften mit befonberer 
Berüdfigtigung ihrer prattiihen Anwendung, 1ftes Heft. Langenjalza, 
Greßler. 8, 12 Ster. 


In einem Vortrage geschil- 





Unze 


Anzeigen. 


igem. 


— — 


Yerlag von F. A. Brockhaus In Keipzig. 


Soeben erschien; 


Sprachvergleichende Studien 


mit besonderer Berücksichtigung der 


indochinesischen Sprachen 
von 


Dr. Adolf Bastian. 
8. Geh, 2 Thlr. 15 .Ngr. 


Dieses neue Werk des berühmten Ethnographen und 
Sprachforschers enthalt, nebst einer allgemeinen sehr interes- 
santen Einleitung, die folgenden vier Kapitel: I. Das Flüssige 
schriftloser Sprachen, ihre Wechsel und Mischungen; II. Das 
Birmanische; III. Das Siamesische; IV. Die Sprachgestal- 
tung. Eine ausserordentliche Fülle neuen werthvollen Stoffs 
wird darin für die Wissenschaft zu Tage gefördert und in 
anregender Weise dargeboten. 





Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erschien: 


| Premier livre 
de lecture, d’eeriture et d'instruction allemande 


a [usage de la maison et des &coles. 
Par B. Sesselmann, 


Professeur à l’Kcole superieure de Nancy. 
Seconde edition. In-8. Geh, 6 Ngr. 


Ein bereits in zweiter Auflage vorliegendes Elementar- 
buch, das, nach einer höchst praktischen Methode bearbeitet, 
‚die französische Jugend mit Leichtigkeit in die ersten Grund- 
lehren der deutschen Sprache einführt. 
| Im Anschluss hieran erschien: 
Second livre de leeture, de version et d’instruction alle- 
mande à l’usage des familles et des &coles frangaises 





pouvant servir de themes aux eltves allemands. Par B. 
Sesselmann. In-8&. Geh. 12 Ngr. 
Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Soeben erschien: 


Erasmus von Rotterdam. 


Seine Stellung zu der Kirche und zu den kirchlichen 
Bewegungen seiner Zeit. 
Von 
Franz Otto Stichart. 
8. Geh. 1 Thlr. 24 Ngr. 


Die gegenwärtige an Conflicten auf dem confessionellen 
Gebiete. so reiche Zeit wird dem vorliegenden Werke, 
einem geistigen Bilde des Erasmus von Rotterdam, das der 
Verfasser aus dessen zahlreichen Schriften geschöpft, be- 
sondere Theilnahme schenken. Erasmus geiselte die Ge- 
brechen der Kirche und die Unsitten der Geistlichkeit mit 
ebenso viel Witz und Geist als Klarheit und Scharfe; und 
was er von seiner Zeit gesagt, passt noch vielfältig auf die 
Gegenwart. 


Derlag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erfdien: 
Theorcliſch - praktifcher Lehrgang 


zur Erlernung der italieniihen Sprache 
für dentfhe Schulen und zum Selbſtunterricht. 


Bon 
Heinrich Wild, 
Director der Handelsſchule in Mailanp. 
Zweite vermehrte und verbefierte Anflage. 
8. Geh. 16 Nor. 

‚.. Ein auf die Ahn'ſche Methode bafirtes, aber biefelbe man- 
nichfach vervollfommmendes Lehrbuch der italienifhen Sprade, 
das bereits in vielen Schulen eingeflihrt ift und hier in zwei- 
ter, weſentlich vermehrter Auflage vorliegt. 





Verlag von 5. A. Broddens in Leipzig. 


Bunſen's Bibelwerk,. 


Sechster Band. 
(Eifter und zwölfter Halbband.) 


Herausgegeben von Heinrich Iulius Holkmann. 
Inhalt: Die Jüngern Propheten und die Schriften. 
8. Geh. 2 Thlr. 20 Ngr. Geb. 3 Tür. 

Bunſen's Bibelwerf liegt Hiermit vollendet vor; der 
fiebente bis neunte Band find fchon früher erjchienen. Das 
berühmte Werk ift jet vollftändig auf einmal, gebeftet 
und gebunden, oder in drei Abtheilungen (die auch einzeln 
geliefert werden), oder in 18 Halbbänden dur alle Bud 
bandlungen zu beziehen. 

Um die Anfhaffung des Werks noch mehr zu erleichtern, 
veranftaltet die Berlagshandlung demnächſt eine 

nene Ausgabe in 30 Sicherungen zu je 20 Ngr., 
worauf ſchon jetst Unterzeihnungen angenommen werben. 

Bunfen’s Bibelwerk koftlet vollftändig in 9 Bän- 
den geh. 20 Thlr., mit Bibelatlas 21 Thlr.; geb. 23 Thlr., 
mit Bibelatlas 24 Thlr. Die erfte Abtheilung (Bibelüber- 
feßung) in 4 Bänden foftet geb. 10 Thlr., geb. 11 Tülr. 
10 Ngr.; die zweite Abtheilung (Bibelurkunden) in 4 Bän- 
ben geh. 8 Thle. 10 Ngr., geb. 9 Thlr. 20 Ngr.; die dritte 
Abthetlung (Bibelgefhichte) in 1 Bande geb. 1 Thlr. 20 Ngr., 
geb. 2 Thlr.; der Bibelatlas cartonnirt 1 Thlr. 








Derfag von 5. A. Brodidaus in Leipzig. 


Lao-tse Täo-te-king. 
Der Weg zur Tugend. 


Aus dem Chinesischen 
übersetzt und erklärt von 


Reinhold von Plaendkner. 
8. Geh. 2 Thlr. 

Die erste vollständige deutsche Uebersetzung dieses 
berühmten Werks des Philosophen Lao-tse, eines Zeit- 
genossen des Confucius. Durch ausführliche Erläuterungen 
zu jedem Kapitel hat der Uebersetzer das Werk dem Ver- 
standniss deutscher Leser möglichst nahe zu bringen ge- 
sucht. 





Verantwortlicher Redaeteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Berlag von F. A, Brohhaus in Leipzig. 





Blätter 


für 


literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


7. Juli 1870. 


Erfcheint wöchentlich. —3 Ar. 28. —RB 


Inhalt: Revue neuer Lyrik nnd Epik. Bon Rudolf Gottſchall. (Fortſetzung.) — Zur Geſchichte des Jeſuitenordens. Bon 
Aubpif Doehn. — Neue ſpiritualiſtiſche Schriften. Von Maximilian verty. (Beſchluß.) — Senilleton. (Benedir »- Fonds und 
Benedir⸗Feſt.) — Sibliographiee — Anzeigen. | 





Revne neuer Lyrik und Epik. 
(Kortfegung aus Nr. 27.) 


5. Sonnenfhein auf dunklem Pfade. Gedichte von Moritz 
Heydrich. Leipzig, Matthes. 1870. 16. 1 Zhlr. 15 Ngr. 


Morig Heydrich zeigt fich in diefen Klängen als ge- 
müthooller Dichter; es ift viel Herziges und Inniges in 
ihnen: warmes Heimatögefühl, tiefe8 Empfinden ehelichen 
Glücks, die Leiden der Krankheit, die Freuden der Gene 
fung, die Seligkeit idylliſcher Beſchränkung — das alles 
tritt und aus diefen Gedichten anmuthend entgegen. 

Freilich, es Liegt im Weſen des Gemüths, feine 
Empfindungen zu überfchägen, und es ift Aufgabe ber 
Dichtung, auch andern folche Ueberfchägung glaubwürdig 
zu machen. Bei Heydrich aber vermilien wir oft die 
dichterifche Kraft, welche dem eigenen Empfinden foldhe 
allgemeine Glaubwürdigkeit zu geben vermag. Wir füh- 
len, es kommt ihm das alles vom Herzen; es find feine 
unerquidlihen Reden, in denen fih der Menfchheit 
Schnitzel Fräufeln — aber tro& des Goethe'ſchen Spruchs 
genügt es nicht, daß das Wort vom Herzen kommt, um 
zum Herzen zu dringen, wenigftens in ber Dichtkunft 
nidt. Das wahr und warm Empfundene wird zwar 
fiet8 einen Nachklang in uns weden; aber uns zu be« 
geiftern und binzureißen, fih uns unauslöſchlich einzu- 
prägen, dazu bedarf es ſtets der höhern Ddichterifchen 
Weihe. Wir wollen Heydrich bieje nicht abjprechen; aber 
infolge mangelhafter Sichtung fteht die Zahl der Gedichte, 
in denen fie bervortritt, nicht im Verhältniß zu der gan« 
zen Mafje des Deitgetheilten. Celegenheitspoefie, die ſich 
gemüthlich gehen läßt, die es nicht fo genau nimmt mit 
dem künſtleriſchen Ausdruck und der unerlaglichen Prägnanz 
der Poeſie, überwuchert das Beſſere mit einer Yülle von 
Zrivialitäten; die häuslichen Gelegenheitögedichte gemahnen 
oft etwas hausbaden, und die verjchiedenen Yeftgedichte, in 
denen Prof. Ludwig Richter, Prof. 3. Hähnel, das 
Shakjpeare-Fubiläum in Weimar, Dtto Ludwig's Grab, 
Kapellmeifter Dorn u. a, m. bejungen werden, erinnern 
zu fehr an die Gedichte, die man bei Felt- und Zweck⸗ 

1870. 28. 


effen vorzutragen pflegt; fie find aus lebhaften Antheil 
hervorgegangen, aber auf eine Hand voll Gemeinpläge 
kommt es bei ihnen nicht an, ihr Bau ift loder, ihre 
Form bequem und etwas breitfpurig; das Finftlerifche 
Deficit muß buch die Geſinuung gededt werben. 

Ueberhaupt geben in formeller Hinſicht die Gedichte 
Heydrich's Veranlaſſung zu vielen Ausſtellungen; nament- 
[ih erklären fi) in ihnen die unreinen Reime in Per- 
manenz. „Höhen — gefehen”, „Seligkeiten — Freuden“, 
„Freude — heute”, „Lied — zieht”, „Bild — enthüllt‘, 
„Freund — meint“, „Grün — hin”, „wohl — fol”, 
„Kelchen — ſchwelgen“: dergleichen Reime find nicht 
Ausnahmen, wie man fie fi gefallen läßt bei unvermeid» 
lichen Collifionen, wo der Gedanke nur durch Aufopfe- 
rung ber Yorm in feiner Kraft bewahrt werden Tann, 
fondern ber Dichter gebraucht fie mit einer durchgängigen 
Läffigfeit und principiellen Nichtachtung des „reinen Reims“, 
gewiß mit ftillfchweigender Berufung auf das Volkslied 
und die vielfachen Licenzen unferer Claſſiker. 

Gleichwol enthält die Sammlung des Gelungenen viel, 
namentlich) aus dem Bereiche des treuherzigen Liedes, 

D.: 


d- 
Srühlingsgebet. 


Laßt uns fill im Frühling beten, 
Wenn's am ſchönſten um uns blüht, 
Daß die Menſchen nicht zertreten 
Still erblühendes Gemüth; 


Daß fein wildes, neid’fches Auge 
Auf die Blumentnospe fällt, 

Der beim fanften Frühlingshauche 
Ahnung bang den Buſen ſchwellt. 


Stört die Engel im Gemlithe, 
Die drin weben jpät und früh, 
Stört fie nit, damit die Blüte 
Nicht verdorre, noch verblüh'! 


55 


434 


Denkt daran, wie man zertreten 
Eud die Blumen im Gemüthb, - 
Laßt uns ſtill im Beihling beten, 
Wenn ein Herz fi einfam blüßt. 
„Ständchen”, „Frühlingsengel“, „Frühlingstöne“ und 
andere Gedichte eignen fi ganz zu mufilalifcher Com⸗ 
pofition, fie athmen eine comcentrirte Innigfeit des Ge⸗ 


fühls. Eine wackere, tüchtige Geſinnung ſpricht aus an⸗ 


dern Gedichten, wie; 
Lebensziel. 
Was in dir war und lebte, 
Was in dir rang und ſtrebte, 
Das bringt die Zeit ans Licht! 
Das Haſten und das Jagen, 
Das trotzige Verzagen, 
Das bringt die Reife nicht! 
Biſt du dir treu geblieben, 
Im Haſſen und im Lieben 
Dem Edeln zugethan, 
Haft du in büflern Tagen 
Den Schmerz getroft ertragen, 
Tren der erwählten Bahn; 
Dann laß die Wunden brennen, 
Laß alle di verkennen, 
Hart’ aus! Harr au das Licht! 
Was dich getäuſcht, betrogen, 
Auf wilden Lebenswogen 
Das war dein Ziel ja uicht! 
Was ewig bleibt bein eigen, 
Das wird getrem ſich zeigen 
In Freuden wie im Leib, 
Das if das Ziel im Leben, 
Nach dem wir follen fireben 
Treufich zu jeder Zeit! 
Berwandten- Inhalt bat bas Gedicht: „In Sturms 

zeit; anmuthig ift „Das Erwachen“: 

Du ruhteſt wie in einem’ Traume, 
Und läcelteft jo mild und fill, 
Wie wen am zarten Mandelbaume 
Die erfte Knosp' erblühen will, 

In deinem Ange ſtand's gejchrieben, 
Daß du fchon oft an mid gedacht, 
Und daß ein innig zartes Lieben 
In deiner Seele ſei erwacht. 

Da war es mir, als ob ſich ſtille 
Der Frühling rege auch in mir, 
Und eine wunderbare Fülle 

Des Herzens trieb mid Hin zu dir. 


Und immer Tichter warb dein Auge, 
Und immer milder warb dein Blick, 
Still, wie beim erften Frühlingshauche 
Fühlt' ich ein nie geahntes Stüd u. |. w. 

So umfangreich das Bändchen ift, fo beſchränkt ſich 
doch der Inhalt auf Lieder und Gelegenheitsgebichte im 
engern Sinne; Oben und Hymnen, Balladen und Er⸗ 
zählungen und alle andern Formen der Lyrik fehlen. Der 
Dichter fingt und plaudert Empfindungen und Erlebnifje 
aus, nirgends verjucht er, „fein eigen Selbſt zum Selbft 
der ganzen Menſchheit zu erweitern”. 

Achnliches gilt von der folgenden Sammlung: 

6. Was mir die Stunden bradten. Dichtungen von Georg 
Sid. Köln, DuMont- Scauberg. 1870. Br. 8. 24 Nor. 
Nur ift in diefer Sammlung die Yorm reiner und 

gefeilter. Sie beginnt mit einer Ouverture von kind» 


Revue neuer Lyrik und Epik. 


lichem Ton: „Vaterſchmerz“ und „Vaterglück“, zeigt in 
dem traulichen Genrebild „Daheim“ daſſelbe Heimats- 
gefühl, welches mehrere Gedichte Heydrich's durchweht, 
und enthält einzelne Lieder von kryſtallklarer, von der 
Empfindung durchleuchteter Form, wie z. B.: 


Abendgang. 
Wieder, wie vor langen Jahren, 
Als wir angelobt und waren, 
“Sind wir traut binausgewallt 
Auf diefelben flillen Wege, 
Bo aus dunkelm Laubgehege 
Nachtigallgeſang erichallt. 


Weißt bu no, wie ba im Dunkeln 
Nur des Glühwurms Tieblih Funleln 
Unfre einz’ge Leuchte war? 
Wie ein herrlich Goldgeſchmeide 
N ih, uns zur Augenweibde, 

iv die Fünkchen in das Haar. 


Jahre find ſeitdem verfloffen, ” 
Und wir haben reich genofien 

Unfrer Liebe Leid und Luft, 

Haben in den langen Jahren 

Biel erlebt und viel erfahren, 

Aber eins iſt mir bewußt: 


Wie in jenen frühen Zeiten 

As wir koften, al8 wir freiten, 
Schlägt in Freuden und im Schmerz 
Sanz fo warm und ganz fo innig, 
Ganz jo feurig und jo minnig 

Dir entgegen dieſes Herz. 


Uubd fo foll es fein und bleiben, 
Bis in ſpater Zeit fi ſchreiben 
Uns ins Buch der Todten ein — 
Noch das letzte meiner Worte J 
An des Jenſeits dunkler Pforte .— 
Sol dein füßer Name fein! - 
.. Hin und wieber verfüllt der Dichter in einen kindlich 
tändefndeun Ton, der die Liederchen wie ladirtes nürn⸗ 
berger Spielzeug erfcheinen läßt. Die Rückert'ſchen Di⸗ 
minutive tänzeln dann durch die Strophen mit allzu her⸗ 
ausforbernder Harmlofigleit, wie 3. B. in bem Gedicht 
„Dunkle Stunden“: 
Wandelſt nun an meiner Seite 
Wie der Mond in dunkler Nacht, 
Sternlein gibt er das Geleite, 
Weun er dur die Wollen lacht. 


Ach, fo brich auch du durch meine 

Zrüben Wollen hell hervor! 

Mit der Aeuglein Sternenſcheine 
Lichte meiner Seele Flor! — 
Gediht „Zur Wiederkehr“ : 
Blümden von der Heimat Flur 
Wagen's, dich zu grüßen, 

Wenn die armen Dinger(]) nur 
Nicht den Frevel büßen. 

Wir haben diefen kindlichen Tändeleien ſelbſt bei 
Rückert nie Gefchmad abgewinnen können; die Poefie Tann 
findlicdh fein, ohne im Kinderſchuhen zu gehen. 

Ernfter und weihevoller befingt Hick die Mleifter Uh—⸗ 
land und Arndt, den deutfchen Dom und das beutfche 
Baterland, melde fchon die politifche Lyrit am Anfang 
ber vierziger Jahre in poetifchen Zufammenhang brachte: 


oder in dem 





Revue neuer Lyrik und Epik. 


O ſchöne Zeit, wenn einft der Boden Lünten 
Die deutfhen Völker ruft von fern und nah, 
Und ihre Yubelflänge dann bedeuten: 

Der dentſche Dom fteht ganz vollendet ba! 

D, daß wir dann and endlich uns erfreuten 
Des Wunderbaus, den noch fein Deutidher fah: 
Des Dölterdoms, gebaut aus dentihen Staaten, 
Der nie mehr an die Zwietradht wirb verrathen ! 


Shakſpeare wird nicht nur in einem Sonett, fondern 
auch in einem Feſtſpiel gefeiert, in welchem Germania 
und Britannia, al8 „derſelben Mutter reichbegabte Kin⸗ 
der”, geloben, in Einigkeit zufanmenzuhalten, nachdem 
fie in ſtolzem Wetteifer ihrer Berdienfte gebachten. 

Die Balladen find unbedeutend. Der Verſuch einer 
humoriſtiſchen Epiftel in Diftihen: „Aus ben hinter 
Iaffenen Papieren eines alten Sournaliften“, bringt eine 
mit Unrecht verwaifte Dichtform wieder zn Ehren, wenn 
au die oft cäfurlofen Herameter mehr rhythmiſche Plaftit 
efäßen. 


7. Sadowa. Bon Leo Boldammer Berlin, Goldammer. 
1869. ©®r. 8. 25 Nor. 


Ein glänzendes und großartiges Thema filr ein 
Schlachtgemüälde von Hiftorifcher Bedeutung mit weitreichene 
den politifchen Perfpectiven! Selten genug find die Ent» 
ſcheidungsſchlachten, in denen ſich die Gefchichte felbft wie 
in einer bedeutfamen Pointe zuſammenfaßt. Sadowa 
ift eine folche Entſcheidungsſchlacht; auf den Hügeln von 
Chlum und Prim, an den Thalrändern der Biſtritz und 
Zrentina ift ein Abſchnitt deutfcher Gefchichte gm Abſchluß 
gekommen. Sadowa iſt aber auch eine Schlacht von 
dramatiſcher Spannung und glänzender Ueberraſchung 
und hierin nur mit Belle⸗Alliance vergleichbar. Leider 
entſpricht das epiſche Gedicht von Goldammer, trotz ein⸗ 
zelner gelungener Stellen, nicht den Erwartungen, die 
ein ſo günſtiger Stoff rege macht; es fehlt ihm an orga⸗ 
niſcher Gliederung, an Klarheit und Anſchanlichleit; es 
iſt zu fehr Chaos, zu wenig Helief; der Nebel von Ehlum 
Schwebt auch über diefem Gebiht! Es find dissolving 
views; die Bilder heben ſich nicht Scharf genug voneinander 
ab; die großen Wendungen und Kataftrophen der Schladht 
treten nicht ſpannend und fchlagend genug hervor. 


Der Grund hiervon Liegt zunächſt in dem traditionel- 
Im Stil der prengifchen Bataillenpoefie, welcher Scheren- 
berg mit feinem oft genialen Griff in Bezug auf gran- 
dioſe Bildlichkeit und erhabene Lalonismen des Ausdruds 
als Mufter vorleuchtet. Scherenberg ift aber ein origi⸗ 
neller Dichter, der ſchon, wo er fich felbft nachahmt, in 
Manier verfällt und defien Gefchmadlofigkeiten man nur 
feiner oft glüdlichen Kühnheit zugute hält. Das Harte 
und Zerhadte feines Stils, feine oft bärbeißige Bravour, 
das Gemifh von Kalembourg, Anekdote und Hymne, 
das fi durch feine Dichtungen Bindurchzieht, machen ihn 
ganz ungeeignet zum Stifter einer Schule. Bei ben nad)- 
eifernden Jungern treten diefe Fehler als Manier ftörend 
hervor; die Lalonismen verwandeln ſich in einen bomba- 
ſtiſchen Krafiftil, und die Härten der Form find fehr 
haufig. Man höre z. B.: 


435 


Er komme nur! Achthundert Hunde hellen 

Ihm einen wirbelwind'gen Gteticherfähn 

Aus Batterien von Terraſſenſchwellen, 
Auf deren Blatten ihre Krater ſtehn, 
Und feine Mähne foll der Föhn zerzaufen 
Mit einem flählernen Granatenfanım, 
Soll durch die Wälder auf ihn nieberfaufen 
Die Keulen Simſon's, Knorrn ans AR nnd Stamm! 
Dber: 
Drum Übers Hanpt wirft er ihm einen Reigen 
Bon Tänzern, bie von Blei und Eiſen find, 
Die fi zugleich als Mufltanten zeigen 

Rah Noten, blind gefchrieben in den Wind; 

Sie ſchwirr'n wie Bremfen, ſchrill'n wie Bogelpfeifen, 

Sie brummen au, ber Bär, die Bombe kann's, 

Sie ſoll'n ine Ohr ihm gel’n, ins Herz ihm greifen 

Nach feiner Serle für den Tobtentanz ! 

Allzu Tede Katachrefen, wie: „Hunde, die einen Glet⸗ 
ſcherföhn bellen“, find hier ebenfo flörend, wie bie 
harten Üpoftrophirungen, bie ſich durch das ganze Gedicht 
binziehen, 3. B.: 

Die Kugeln kommen, Schwarm auf Schwarm wie Zanben, 

Und bell'n der Uhu Bell'n in bleicher Nacht, 

Sie fall'n und krachen, platzen, pruften, ſchnauben, 

Knarr'n, kuurr'n und Häffen, eur wie wilde Jagd — 
und oft in den Reim geftellt find, z. B.: 

Der Pfaffenwis bat von je erdreiſtet 
Bi m ont w — Bi m fell’n; 
In weldem Volk das meifte er geleiftet, 

Das will id drum zerfchmettern heut, zerſchell'n. 

Bon diefer oft ungeläuterten dichterifchen Form ab» 
gefehen ift es aber auch die von Goldammer in Anwen- 
dung gebrachte „Gdttermafchinerie”, welche die Klarheit 
der Darftellung trübt. Es ift ein Zwiſchenreich der Hel- 
den umd Halbgdtter, welches in dies Schlachtgeinälde aus 
dem Gewölk mit eingreift, ähnlich wie dies in den Pyr- 
ker'ſchen Epen ber Fall if. Wir meinen, daß es dem 
Dichter auch in einem modernen Schlachtenbild gelingen 
mag, für politifche Ziele und Ideale einen poetifchen Aus- 
drud zu finden, der fi zu traumhafter PBerfonification 
fteigern darf. Wenn dem Kaifer Franz Joſeph die „Öyäne 
bon Brescia” mit dem rothblonden Rieſenſchnurrbari im 
Halbtraum erfcheint, fo ift dies eine bichterifche Erfin⸗ 
dung, welche vollkommen berechtigt ift, denn fie fchweift 
nit aus dem Gedankenkreiſe des Kaifers hinaus; wenn 
ihm aber dann ein ©eftaltenpaar aus Allwalter Wodan's 
Himmel erfcheint, diefelben Schwanenjungfrauen, welde 
dann auch dem König von Preußen erjcheinen, fo werden 
wir gänzlid) aus dem Coſtüm und dem Gebanfengang 
ber Gegenwart berausgeriffen — was foll die altgerma- 
nifhe Mythologie, welche den Kämpfern von Königgräg 
fowie dem Vollsglauben unferer Zeit gänzlich fremd ift, 
in einer Schilderung diefer Schlaht? Wenn Prinz Eugen 
und der Alte Brig fih in den Wolken unterhalten, fo 
läßt man ſich dies eher gefallen, obgleich uns and) eine 
derartige Perfonification zu handgreiflich erfcheint und 
nicht flimmungsvoll genug aus dem Gemüth der Han- 
deinden herausgeboren. Dffenbar ift aber durch diefe 
directe mythologifche Einmifhung der Gang der Hand- 
lung etwas verdimfelt und die Schwierigfeit, bie in ber 
allfeitig Haren Entfaltung eines fo umfaflenden Schlacht 


| bildes liegt, vermehrt, 


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436 Revue neuer Lyrik und Epik. 


Wir unterfchäten diefe Schwierigkeit um jo weniger, 
als die fortgefchrittene militärische Technik ber Neuzeit 
eine Menge von Detailfchilderungen nöthig macht, zu 
deren dichterifcher Belebung cin Talent von nicht gewühn- 
licher Energie gehört, ein Talent, wie «8 Victor Hugo 
und Freiligrath befigen, welche auch die anfcheinend pro» 
faifche Specialität, zum Beifpiel aus dem Gebiet des 
Marineweſens, bdichterifch zu adeln willen. Niemals dür⸗ 
fen Verſe wie gereimte Parolebefehle gemahnen, wie der 
folgende: 

Acht Stunden lang durch Cerekwitz marſchirten 
Nach den Rapporten vierzigtanſend Mann, 
Die im Sadowagrund ſich coucentrirten 

Mit andern mehr als hunderttanſend dann, 
Und diefer Zahl Hinzugezählt die Sachſen, 

Beil deren Fahnen ſchon um Problus wehn, 
Auf zweimalhunderttanfend angewachſen 

Bird. hinterm Biſtritzbach fie vor uns ſtehn! 
Bei Nachod, Skalitz, Trautenau, drei Tage, 

Wich vor dem Kronprinz Marihall Benedek, 
Bom Norden ber bekannt muß ohne Frage 

Ihm nuſer Anmarſch fein nad Ziel und Zweck; 

Drei andre Tage trieb aus Wer zur Eile 

Ihn Friedrich Karl von Turnau bis Gitſchin, 
Und beider Fühlnng trennt nur eine Meile 

Noch zwiſchen Kön’ginhof nnd Miletin. 

Ebenſo wenig wollen wir fchlecht ftilifirte Leitartikel 
leſen: 

en will ih rechnen mit der deutfchen Rage 

Nah Billigkeit mit ihrem Einbeitstrieb; 
Koftfpiel’ge Ambaffaden - Spionage 

Fällt beim Suffrage- — beim Jenachdems⸗Princip; 
Bon vierzig Fürften mögen mit ben Welfen 

Noch drei bis vier Herrn bis zur Elbe fein — 

Sch will ihr Deutfchland einiger machen helfen . 

Und dafür mauf’ id — mauſ' ih mir den Rhein? 

Der gleichmäßige Adel der dichterifchen Haltung muß 
ſich durchweg bewähren, auch wo bie Darftellung zu 
voilsthümlichem Humor oder techniſchem Detail herabfteigt. 
Dies vermiffen wir bei Scherenberg felbft, noch mehr 
aber bei den oft forcirten Nachahmern des Waterloo- 
ſängers. 


Gleichwol enthält „Sadowa“ von Goldammer manchen 


glücklichen Gedanken, manches treffende Bild, manche 
ſchlaghafte Wendung, und es bleibt nur zu bedauern, daß 
das Ganze nicht mehr aus dem Brouillon herausgearbeitet 
iſt. Selbſt in ben mythologiſchen Bildern, in den Ge⸗ 
wölkgruppen findet ſich manches, was für dichteriſche 
Intuition Zeugniß ablegt; doch das Ganze macht einen 
ungeklärten Eindruck, es fehlt alle Oelonomie der Dar⸗ 
ſtellung, jede künſtleriſche Gruppirung, und der hyper⸗ 
boliſche Sturm fegt eine Maſſe entblätterter und verwelk⸗ 
ter Metaphern in trüben Wirbeln an uns vorüber. 
8. Aus der Aſche. Neue Gedichte von Ada Chriſten. Ham⸗ 
burg, Hoffmann und Campe. 1870. 16. 15 Ngr. 

Die. „Lieder einer Berlorenen” gaben uns Veranlaf- 
fung, von ber Dichterin eine Photographie zu entwerfen, 
gegen welche ber Berleger und fie felbft glaubten prote- 
ftiren zu müſſen. Die darin gefchilderten Drgien fchienen 
uns allzu beutlic) auf zweidentige Localitäten hinzuweiſen, 
fobaß wir daraus glaubten Schlüffe ziehen zu müflen 
auf die Perfünlichkeit der Verfaſſerin. Wir bekennen alfo, 
daß wir uns hierin geirrt haben, um fo lieber, als auch 


die vorliegenden „Nenen Gedichte” einen gemäßigtern 
Charakter tragen. 

Freilich, der Trotz gegen bie Gefellfchaft und der 
Hohn gegen die „Sitte oder vielmehr gegen das, mas 
für fittlich gilt, iſt fich unverändert gleichgeblieben. Die 
Dichterin verfpottet die biedern „Hausfrauen“: 

Sol ih es nochmals wiederholen? 
Ihr Habt mich ja fo oft gefragt 
Und taufendmal hab’ ich auf Ehre 
Die volle Wahrheit euch gejagt. — 
Sa, tch bemundre eure Tugend, 
Und id bewundre eure Kinder, 
Bewundre eure magern Mügde, 
Bewundre eure fetten Rinder; 
Bewundre mehr noch eure Männer, 
Bewundre eure kluge Stummbeit, 
Bewundre eure feine Wäſche — 
Beneide euch um eure Dummheit. 


Sie verhöhnt die fittliche Beuchelei: 


Belle Hel£&ne!l 
Belle Helene! Belle Helene! 
Altberlihmte Griechen- Schöne, 
Did) bewundern unfre Bäter, 
Dich verehren unſre Söhne! 
Die entblößende Gewandung, 
Sie begeiftert unſre Schönen, 
Unten kurz und oben kürzer — 
Wer wird nicht der Mode fröhnen?! 
Unfere Frauen, unſere Töchter 
Freuen ſich der Menelaufe, 
Und die Paris- Studien treiben 
Sie sans gene im eignen Hanje! 


Und von der „Goldſchnittlyrik“ Heißt es: 
Hubſch gelaffen und hübſch zahm 
Und der Sitte hübſch gehuldigt, 
Die um jedes wahre Wort 
Sich zehntaufendmal entſchuldigt! 
Iſt der Pegaſns and lahm 
Und gehörnt anſtatt geflügelt, 
Trabt er hübſch ſolid doch fort, 
Galopirt nie — ungezligelt! 
Dieſe ſatiriſchen Liederchen ſind nicht bedeutend, weil 
ſie das Urbild Heinrich Heine's allzu wenig verlenguen. 
Dagegen enthält die Sammlung mehrere ſtimmungs⸗ 
volle Lieder, die von einem unleugbaren Talent Zeugnif 
ablegen, und wenngleich auch fie an Heine erinnern, fo 
doch nur an feine befjern einheitlichen Gedichte, 3. B.: 
Todte Liebe — kalte Aſche! 
Armer , längft zerſtobner Traum — 
Wie ein geifterhaftes Mahnen 
Weht es durch den dden Ranm! 
Oft ift mir, als müßt’ ich hüten 
Dich, wie einft mein fierbend Kind — 
Doch ein Luftzug — und die Aſche 
Hliegt Hinaus in Nacht und Wind! — 
Dber: 
Durch die dicht verhängten Fenſter 
Dringt das dumpfe Wagenrollen 
Und verſcheucht die Nachtgeipenfter, 
Die im Traum mir nahen wollen, 
Aber rauſchend durch mein Zimmer 
Wogt ein Meer von wirren Tönen, 
Und aus all dem Schmerzgewimmer 
Hör’ ih meine Seele ftöhnen! 
Hör’ id meine Seele weinen — 
Nicht um diefes Leibes Sterben — 
Doch es bangt ihr vor bem kleinen, 
Müden, einfamen Verderben. 


Revue neuer Lyrik und Epit. 


Ohne Frage liegt in Abjectiven, wie dieſe legten, eine 
gewiſſe dichteriſche Energie, da fie bezeichnend, ungemwöhn« 
üch und kuhn find. Einfach rührend ift die poetiſche 
Anrede an ein geftorbenes Kind: 

Weſen, Meines, längſt verflärtes, 
Stern in meines Lebens Nacht, 
Neingeliebtes, heißentbehrtes, 
Sprich zu mir im Traume fat! 
Schlinge deine Heinen Arme 

Um die Bruft fo glüdberaubt, 
An mein Herz, das Iebenswarme, 
Leg’ dein tobtes Taltes Haupt! 

Die Melandolie, die über fehr vielen diefer Gedichte 
brütet, hat etwas Dumpfes und Bleifchweres, es fehlt 
ihr zu fehr die poetijche Verflärung. Doch verdient bie 
Sammlung vor ber erftern bei weitem ben Vorzug, bie 
Haltung 4 maßvoller, und in der Form find bie aufe 
fallenden Incorrectheiten vermieden, bie ſich in dem frü- 
been Gedichten zeigten. . 

Kein größerer Gegenfag gegen diefe leck emancipirten 
umb dabei dem perfönlichften Herzensgeſchick mit ausſchließ · 
Hier SHingebung geweihten Lieder als bie folgende 
Sammlung: 

9. Gedigte von Clifabeth Gräfin Zedlig Trützſchler. 

Altenburg, Bonde. 1870. 16. 2 The. 

Man könnte dieſe Gedichte mit Schwertlilien verglei- 
hen; fie haben etwas Männlic;-Energifches, einen heroiſchen 
und kriegeriſchen Grundton; nichts Weiches, Ueppiges, 
Sentimentales findet fid) in ihnen, und was bei den Ges 
Dichten einer Dame gewiß auffallend if, fein einziges 
Liebesgedicht; nur bie ſchwärmeriſche ehelicde Treue wird 
in dem Gedicht: „Der Schidjalsftern“, gefeiert. Im 
Übrigen wird aufopfernde Menfchenliebe, das Samariter- 
t5um und Johannitertfum verherrlicht, und jene heilige 
Landgräfin Elifabet von Thüringen, melde vom ber 
Mufit und Malerei gleichmäßig zur Heldin künſtleriſcher 
Schöpfungen auserleſen wurde, hat auch unfere Dic- 
terin zu einem Balladencyflus begeiftert, dem es nicht 
an Iegendarifcher Innigkeit fehlt. 

Gleichwol ift nicht die mittelalterliche Zaubermacht 
und die verfunfene Traumwelt ber Romantik bie Muſe 
unferer Dichterin, obwol fie Stoffe wie „Boabdil“ mit 
orientalif—her Glut auszuftatten weiß und aud) Heinrich 
den Seefahrer, ein Gemälde, deſſen Ausführung ebenfalls 
zum Theil ein erotifches Colorit verlangt, zum Helden 
ritterlich heldenhafter Romanzen macht. Diefer fühne 
Seefahrer hat ja nichts romantiſch Träumerifches, es pul» 
firt in ihm modernes Blut; er ift ber Ahnherr der mor 
dernen Entdekungsreifenden, jener Helden der Neuzeit, 
welche im Dienfte ber Cultur und der Menſchheit fo viele 
fangeswitrdige Thaten vollbringen. 

Die Dichterin wählt aber auch mit Vorliebe ihre 
Stoffe ans der jüngften Vergangenheit und aus der Beite 
geihichte. Das Jahr 1866 begeiftert fie zu mehrern 
Kriege- und Siegägefängen; wir theilen einen berfel» 
ben mit: 

Der dritte Juli 1866. 
jumendem Renner, in ftürmifcher Nacht, 
= renden Sporn jagt der Rufer zur Schiacht. 
„Entfaltet die Fahnen zum blutigen Strauß, 
Fra siehe d Br gerüftet Hinaus, 











437 


Zu ihnen im Siegen und Sterben gefeltt, 

D Königsfohn, führ’ deine Krieger ing Feld.“ 

Da ziehen fie ſchweigend durchs böhmiſche Land, 
Die Augen und Herzen gen Weften gewandt, 
Entgegen des Kampfes wildmorbender Wuth, 
Entgegen dem Tode mit preußifem Muth. 
Dumpf rufen Kanonen den reifigen Troß, 

Da zügelt der Kronprinz fein ſchnaubendes Roß. 
„Der Baum auf der Höhe, er weift uns bie Bahn. 
Die Brüder, fie Haren, Ihr Zapfern, Hinanl' 
Laut Mingt im dem Herzen fein ritterlich Wort. 
Dort drüben, ba wüthet die Rieſenſchlacht fort. 
In lämpfender Helden gelichtete Reihn 

Fällt donnernd der eherne Schlachtgruß hinein. 
„Ihr bintigen Streiter auf biutigem Pfad! 

Nun vorwärts noch einmal! Die Hütfe, fie naht." 
Der Himmel ift dunkel, die Exde ift roth, 

Und graufige Ernte hält wilrgend der Tod. 

Doch ſiegreich erhebt der preußiſche Aar 

ur Yale er Vin, Dentgtann In Math’und Gefahr. 
Du fühlft deine Stärke, die Feſſel zerbrach, 

Das Mündet Sadomas gewaltiger Tag. 

Die Dichterin befingt „Die Kinder Frankreichs” in 
einem elegifchen Gedicht, das dem. dafür geeigneten Stoff 
volllommen gerecht wird; fie widmet Lord Byron zwei 
ſchwunghafte Gebichte in wechfelnden Rhythmen, bei denen 
nur, wie bei dem oben mitgetheilten Gedicht, zu bedauern 
bleibt, daß die Daftylen unrein find und allzu häufig 
duch Längen getrübt werben. Die lyriſche Ouderture 
des Gedichis, in welcher der Sturm, die Nacht und die 
einfom flatternden Möven dem Dichter das Wiegenlied 
fingen, erſcheint ung befonders gelungen. Auch die „Her- 
zogin von Orleans“ wirb in einem Gedicht befungen. 

Die Gedichte gehören mit wenigen Ausnahmen der 
erzählenden Gattung an; einige, wie „Guſtav Maja”, 
„Die vier Heinriche“, Könnte man faſt iyriſche Hiftorien 
nennen. Bon ben mehr balladenartigen hat „Gesril bei 
Duiberon”, ein Gedicht, das einen modernen Negulus 
feiert, heroiſchen Schwung und „Das Feuer” eine ſpan— 
nende Peripetie. Der Stoff bes legten Gedichts, die 
Strandräuberei, ift derfelbe, wie in dem oben befprodje- 
nen Gedicht von Adolf Stern. 

Die Form der meilten Gedichte ift Mar und gefeilt, 
wenig leuchtend durch originellen Glanz, aber aud alles 
Bizarre und Geſchmackloſe glüdlich vermeidend. 

10. Schloß Herzberg. Ein Harzgediht von €. Helm. Ber- 
lin, Gaertner. 1869, Gr. 16. 1 Thlr. 10 Nor. 
Diefe Dichterin unterfcheidet fi wieberum von den 

voransgehenben; fie ift weber fleptifch-frivol, noch heroiſch⸗ 

patriotifch; fondern fie entfpricht dem Durchſchnittscharaf - 
ter beutfcher Weiblichkeit, fie ift fentimental, voll von 

Naturempfindung, eifrige Blumiftin, gleich bewandert in 

der freien Flora des deldes wie in den Varietäten der 

Sartencultur und von einer barmlofen Rebfeligkeit, die 

allein es möglich machte, einen für eine poetische Erzäh- 

lung von wenigen Seiten ausreichenden Stoff zu einem 

Bändchen von 247 dicht mit Berfen bedrudten Dctav- 

feiten auszudehnen. 

Und biefe Gedichte felbft Hat dem Fehler, daß der 
Eonflict fowol wie feine Loſung etwas trivialer Art find. 











438 Revune neuer Lyrik und Epit. 


Mir wenigſtens intereffiren uns durchaus nicht dafiir, 
bag der junge Prinz Georg von Lüneburg⸗Celle von 
einer nicht flandesgemäßen Liebe, die fein Thronrecht ge- 
führbete, durch den glüdlichen Zufall gerettet wird, daß 
feine Geliebte, ein fchlichtes Kind der Berge, ſich als die 
Prinzeffin von Darmftadt entpuppt, gerade als diejenige 
Prinzeffin, deren Hand ihm eventuell beflimmt ift und 
feine Throufolge ſichert. Wir finden dies ebenfo wunder- 
bar wie erfreulich, ohne uns für dies der celler Dynaftie 
günftige Zufallsfpiel zu enthuflasmiren. Eine Agnes Ber- 
nauer flößt uns gerade beshalb Theilnahme ein, weil fie 
des Barbiers Töchterlein ift, und biefe Theilnahme wilrde 
augenblidlich erlöfchen, wenn fi) das Mädchen aus dem 
Bolle durch irgendeinen Märchenfpul in eine geheimniß- 
volle Prinzeffin verwandelte. 

Auch für die dynaſtiſchen Erbſchaftshändel in Celle 
Lüneburg, fo breit diefelben behandelt find, Hegen wir 
nicht das geringfte Intereſſe, fowie auch bei den ver- 
ſchiedenen Beſitztiteln anf Schloß Herzberg, die uns 
genealogiſch⸗hypothekariſch mit archivariſcher Trockenheit 
vorgetragen werden, die Muſen jedenfalls am leerſten 
ausgehen: 

Im Jahre tanfenb ſchon baut’ einft da droben, 

Bo jetst Schloß Herzberg ſtolz und würdig thront, 

Graf Fauterberg ein Jagdſchloß, das erhoben 

Zur Burg dann ward, die fort und fort bewohnt 

Bon Sproffen edler Hänfer war feit langen. 

Sier fa der Löwe Heinrich kühn und groß, 

Und feiner Söhn’ und Enkel Namen prangen 

Sechshundert Jahre jest in jenem Schloß. 


Doch als die Linie Braunſchweig⸗Wolfenbilttel 
Erloſchen war in ihrem lebten Stamm, 

Und Herzog Philipp Wappen, Schild und Titel 
Als letzter Sproß mit in die Grube nahm, . 
Da warb durh Kaiferfpruch in jenem Lande 
Zum Erben Lüneburg nun eingefekt, 

Und feiner Söhne jüngften drauf entſandte 
Ins neue Reich der Herzog Wilhelm jebt. 


Dergleichen ſchlechte Berfe find allerdings felten in 
dem Gedicht; in der Regel find die Berfe fließend umd 
wohlklingend, aber von jeder geiftigen Prägnanz verlaffen 
und überreich an Gemeinplägen. Die Vedute vertritt oft 
bie Stelle des Gemäldes, und nur wo bie Dichterin ben 
Naturftimmen oder Märchen des Harzes lauſcht, gewinnt 
ihre Darftellung poetifchen Reiz. Der alte Pfarrer un- 
ter feinen Blumen, in dem Paradies im Sieberthal, 
gibt ein idyllisch anfprechendes Bild, und die theils an 
Shakſpeare's „Königin Mab“, theils an die Naturbilber 
der Drofte-Hülshoff erinnernde Schilderung einer Blumen- 
hochzeit, die nur weiterhin in dem botanifchen Turnier 
etwas zu gefucht und manierirt erfcheint, hat namentlich 
in der erften Hälfte viel Anmuthendes und fpricht für einen 
zarten Raturfinn bei der Verfaſſerin: 


Und wie das Mädchen jetst bie zarten Wangen 
Auf Moos und Thymian bettet, länger dann 
Die Blicke finnenb hebt, da war's, als drangen 
Melodiſch füße Töne danu und warn 

Zu ihrem Obr, und Blüten, Gras und Kräuter, 
Die fie umblühn in üppig reicher Pracht, 
Begrüßen fih mit Stimmdhen froh und heiter 
Und feinen alle wie vom Schlaf erwacht. 


Der wilde Roſenſtrauch erzittert leiſe, 

Und lieblich, wie der erfie Morgenſtrahl, 

Hebt ans der Blüte fi mit einem mal 

Ein Elfenkind. Das ſchauet rings im Kreife 

Entzückt umher; dann winkt es mit der Haud, 

Und aus den Blumen fhllipfet rings gewandt 

Der Heinen Elfen wunderholde Schar 

Und bringet jener ihre Dienfle bar. 

Bom Blatt der Rofe legt man ihr ein Kleid 

Geſchäftig an, und Schleier buftig weit, 

Gewebt von Heinen Spinnen früh und fpät, 

Durchwirkt mit Perlen, die der Than gefätt, 

Sie ſchmücken dann das feine Köpfchen traut 

Der lieblih jungen Meinen Rofenbraut. 

Geſchäftig eilt die Spinne nun Hinfiber 

Zum andern Straud, auf dem der König thront, 

Und eine Brüde fchlägt fie raſch herliber 

zu ihm, ber fern von feinem Liebchen wohnt. 
a kommt, von einer Mückenſchar gezogen, 

Ein Benuswagen raſchen Fluges jet 

Zum Dienft der Braut hoch durch die Luft geflogen ; 

Ameiſen find als Diener ihr geſetzt; 

Die halten ſchützend zartes Farrenkranut 

Zu Häupten dort der ſchönen Königebraut; 

Goldfliege ſchwebt als Bote fchnell davon, 

Und ihre Blüten ſchwingt Ai; ellem Ton 

Die Slodenblume jest. Mit lautem Summen 

Umſchwebt die Biene fie, und fröhlih Brummen 

Erhebt die Hummel mit dem fanımtnen Kleid, 

Die ſchön geputzt der Braut gibt das Geleit. 

Jetzt ſchickt der König ſeine Diener aus, 

Die Holde zu empfahn. Ihm ſelbſt voraus 

Schwärmt dicht gedrängt der Roſenkäfer Zahl, 

Und alle Schmetterlinge ringe vom Thal, 

Sie führen ihre Herrin hold und fein 

zum Thron des Königs fröhlich jetzt herein. 

aber zieht voll Wonne und Entzücken 

Die —5 — an ſein Herz mit ſtolzen Blicken, 

Und jubelnd tönt es ringsum in der Runde: 

„Hoch unferm König! Hoc dem Liebesbunde!“ 


Das iſt recht niedliche poetiſche Schnitzarbeit; nur 
find die Blumen In dem Gedicht poetiſcher als bie Men⸗ 
hen, deren Charakteren jede feinere Nuancirung und je⸗ 
des tiefere Colorit fehlt. 


11. Herbfiblumen. Rene Gedichte von K. G. Ritter von Leitner. 
Stuttgart, Kröner. 1870. 8. 20 Nr. 


Die neuen fowie bie ältern Gedichte von Leitner bar 
ben etwas Anziehendes fchon dadurch, daß fie ganz frei 
von Manier und Gefuchtheit, daß fie fchlicht, einfach und 
kernhaft find. Freilich fehlt es ihnen dafür an melodifchem 
und einſchmeichelndem Reiz, und mande Härte ber Form 
trübt den äſthetiſchen Genuß. 

Die neue Sammlung befteht aus fünf Büchern, in 
denen meiften® Inrifche und epifche Gedichte in buntem 
Wechſel fih ablöfen. Nur bas dritte Buch: „Die 
Sennerin von Kaiſerau“, bringt eine Dorfgefchichte im 
Berfen, die Liebe eines Yand- und Bergmädchens zu einem 
Maler, die kein glüdliches Ende nimmt. Nach der Ehe 
kehrt die Berlaffene zu altgewohntem Thun in die heimat« 
Iihen Berge zurüid. Die Farben der Darſtellung find 
nicht fentimental verſchwommen, fonbern es herrſcht eine 
gefunde Tüchtigkeit darin vor. Das Landmädchen muß bem 
Maler figen, fo fehr fie ſich anfangs davor fchent: 

Wie dranf er ihr zärtlich ins Aug’ oft fchaut, 

Da wird ihr gar ſüß beflommen, 

Es wogt ihr Buſen, ihr Herz Hopft Iaut; 

Doch fucht fie nicht mehr zu entkommen, 


— — — © 


— — — — —— —— — ——— nn 


Revue neuer Lyrik und Epik. 


Und kaum, daß ein Paar der Lage vorbei, 
So lächelt ſchon — roth das Mieder, 

Und blau das Rödlein — ihr Eonterfei 
Gar lieb von der Wand hernieder. 


Sie ſchrickt zuſammen, und fhreit: „Flurwahr!. 
Das bin ich, zum Reden, ja felber, 

Setroffen fo gut und beffer fogar, 

Als dort die Kühe und Kälber.” 


Da zieht er fle lachend an feine Bruſt, 
Und hält fie im Arme’ gefangen, 

Und macht erglüben mit Küffen der Luft 
Der Sträubenden Lippen und Wangen. 


Drauf lispelt er traulich Teil ihr ins Ohr: 

Und willft du nicht ganz mein werden? 

„Das will ich“, ruft fie mit Thränen empor, 

„Und eines andern auf Erden!“ 

Das vierte Buch ift das Buch der Sonette und 
Canzonen. Diefe Dichtformen haben etwas Stühlernes in 
Leitner’8 Behandlung ; fie erinnern dadurd) an die Sonette 
von Rückert und Hebbel, die fich aud) in der üppig reichen 
Gewandung nicht ganz wohl zu fühlen fcheinen und ſich 
bisweilen auf die Bersfchleppe treten. Mindeſtens wird 
der melodifche Fall, der auf harmonifchen Vollklang des 
Reims fehnfüchtig Hinftrebenden Berfe fehr beeinträchtigt 
dich Einfchachtelungen wie die folgende: 

Sind diefe Dinueweilen dir zumiber, 

So fol, if Rofen fummend zu umringen 
Selbft Bienen gleich geftattet, doch verklingen 
Mit diefem Reim das letzte meiner Lieber. 

Gerade die Funftuoliften Reimgebäude verlangen ben 
leichteſten Bau, und die Muſe muß gleich einer ausge⸗ 
zeihneten Akrobatin lächeln, wenn fie die größten Schwie- 
rigfeiten überwindet. Auch darf nirgends der Reim als 
ein ber harten Notwendigkeit gebrachted Opfer gemahnen. 
Beam es in dem Sonett „Umarmung“ beißt: 

So bift du endlih mir ans Herz gefunfen, 

Und meines pocht mit deinem froh zufammen; 
Aus felgen Augen Ichlagen loh die Flammen, 
Die lang’ nur glommen in verfiohluen unten. 


Du, die mit Kaltfinn erft noch ſchien zu prunken 
Und jeden Schein von Milde zu verdammen, 
Du duldeft diefer Arme, dieſer firammen, 
Umfangen nun faft willenlos wie trunfen — 
fo ift der vierte Reim, der uns die Arme des Liebenden 
als „ſtramm“ fchildert, doch nur ein ſehr unpoetifcher 
Nothanker. 
Unter den Diſtichen finden ſich manche finnige und tref⸗ 
fende; wir theilen bie vier legten „Aufſchriften“ mit: 
Anf ein Herbarinm. 
Fördernd dein Willen bewahrt Hier getrodnete Blumen 
Gelehrtheit; 
Duftig und farbig im Kranz reicht ſie allein dir 
die Kunſt. 


Auf eine Lampe. 
Weck in dem Erdöl hier, das dem Dunkel entſtammt, 
nur die innre, 


Ewige Lichtnatur: leuchtend erwacht es zum Licht. 


Anf eine Sonnenuhr. 
Weiſ' ich die Stunden dir gleich nicht alle; bedenle doch 
dankbar: 
Die id), Sterblicher, bir weiſe — ſind ſonnige nur. 


439 


Auf eine Laube. | 
Liebenden fliht Hier traut aus dem elütengeranf ſich 
i dach. 


ein 
Raſch nun, ihr Blöden, geküßt! Haus und Bewohner 
verblühn. 

Die erzählenden Gedichte der andern Bücher behan⸗ 
deln theils hHeitere Anekdoten, theils ernſtere Stoffe, die 
auch nit weit über das Anekdotiſche hinausgehen. 
„Der Bürger von Hildesheim” gehört ganz zur erftern 
Gattung und ift eine Art Nachzügler ähnlicher Gedichte 
von Kopiſch. Modernen Balladenton hat „Die leberfahrt“; 
in dem Öfterreichifchen General, der freudig flicht, weil 
er den Kaiſer Napoleon zittern fieht, Liegt ein ftarker Zug 
von Patriotismus. Einen unheimlich gefpenftigen Cha- 
rakter und den Ton der altjchottifchen Romanzen zeigt 
das durch biefe ſcharf ausgeprägte Eigenheit gelungene 
Gedicht: 

Die ſchöne Brigitte. 
Die ſchöne Brigitte, die Füße bar, 
Schweift irr durch die Nacht mit loſem Haar. 
Sie ſchweift durch die Nacht voll Jammer, un) lauſcht, 
Was nahe hier wispert, was fern dort raufcht. 
Die blitenden Sterne bedrohen fie: „Du! 
Bir fanden hier Wade, nnd fahen dir zu.‘ 
Der Mond lacht hümiſch: „Der See ift naß. 
Drin feh’ ich es liegen; du weißt ſchon was.“ 
Sie ſchleicht dur die Au’, und das Blümchen weint: 
„Sch habe mit ihm zu fpielen gemeint.‘ 
Sie Himmt auf den Felſen, da mahnt das Moos: 
„Ich hätt’ es fo weich gebettet im Schos.“ 
Sie Täuft in den Wald; der fllftert: „Geſcheit! 
Nun brauchſt du kein Bäumchen zur Weihnachtzeit.“ 
Sie fpringt davon, da frächzet ein Rab', 
Ein fchwarzer, ihre nah: „Kopf ab! Kopf ab!“ 
Sie rennt und rennt durch Buſch und Straud, 
Bis vanfhet der See: „Nun hab’ ih di auch!“ 

Etwas zu breit ausgefiihrt erfcheint und dagegen die 
Erzählung: „Bauerntod“, deren glückliche Pointe vielleicht 
durch eine mehr Iafonifche Faſſung gewonnen hätte. Ernſt 
und ſchwunghaft ift das Gedicht: „Der Dombaumeifter“; 
legenden⸗ und märchenhaft find: „Ave Maria” und 
„Hirtin und Schlange”; bie „Königin des Balles“ tritt, 
trog ähnlicher als Refrain wieherfehrender Pointe, gegen 
„Die ſchöne Brigitte” fehr zurüd. 

Der eigentlich Iyrifhe Klang, das melodifche Lied, 
liegt dem Leitner'ſchen Talent fern; wir finden aus dies 
fem Bereich wenig Beachtenswerthes; ed überwiegt das 
Erzählende und Genrebildliche, die Schilderung und An- 
ſchauung in oft kräftiger, bisweilen harter und berber 
Yorm. 

12. Sromm und Fröhlich. Dichtungen von Wilhelm Jerwitz. 

Dresden, Burdad. 1869. 16. 15 Ner. 

Bor kurzem ift der fchwäbifche Wanderfänger, Karl 
Mayer, in hohem Alter geftorben; was er bichtete, das 
waren alles Heine fliegende Blätter der Liederpoeſie, un- 
erſchöpfliche Miniaturlyrit in Bezug auf ben Inhalt und 
nicht auf das Yormat. Wilhelm Jerwitz jchließt fich 
diefem Vorbild an; er dichtet diminutive Gedichtchen. 
Freilich, auc große Gedanken brauchen nicht viel Raum, 
und man kann in zwei Zeilen etwas Unfterbliches fagen. 


440 


Dod) diefe Liederchen und Sprüchlein treten nicht fo 
prätentid8 auf; e# find einfache Gefühlchen, ſchlicht, warn, 
treu und traut: im erften und zweiten Abſchnitt, der in 
Profanpforismen fein Kleingeld ausgibt, Herzftärfende 
Tropfen gefunder Frömmigkeit; in ben fpätern muntere 
Klänge, „Blumenfcerze‘, „Maiengrün“; oft find bie 
Gedanfen winzig wie ihr lyriſches Format, Nipptiſch- 
figiirlein vol appetitlicher Nichtigkeit, oft von anziehender 
Anmuth, 3. B.: 

Grau ift heut der weite Himmel, 

Weißer Reif dedit alles Grin: 

Aber doc regt ſich im flillen 

Toufendfältiges Erblühn. 


Und die Schar der Sangesbrüder 
Zwitfgjert Sant ihr Frühlingefich, 
Ahnend, daß der Reif muß fcmelzen, 
Benn bie Wolle fich verzieht. 


Armes Herz, fei drum nicht bange, 

Laß die alte Fitanei: 

Bolle wird auf Wolfe ziehen, 

Glaubſt dur fe an deinen Mail 
13. Dichtungen von €. N. von Gerbel. 

Leipzig, Matthes. 1869. 16. 1 Thle. 

Im den Gedichten des deutſchruſſiſchen Poeten über» 
wiegt das erotiſche Element, das don einer keuſchen blon- 
den Minne nichts weiß. Bioweilen prägt es ſich friſch 
und feurig aus; bisweilen mit jener frivolen Blaſirtheit, 
die wie ein Echo aus den petersburger Salons gemahnt. 
Das deutſche Elbflorenz ſteht im Mittelpunkte dieſer 
„Gedichte. Die ſchöne Umgebung Dresdens wird mit einem 
Dichtergeuß angefungen: „Das Heimweh nad Dresden“ 
tagt ſich in Diftichen aus; der Brühl’fchen Terraſſe wird 
ein Hymnus geweiht. Namentlich aber ift es die dred« 
dener Bildergalerie, welche nicht nur das größte Gedicht 
der Sammlung, eine Art von verfificirtem Katalog auf 
die Benuß- und Dianen-, Madonnen- und Magdalenenbilder, 
auf die Gemälde, welche den Eultus des ewig, Weiblichen 
vertreten, veranlagt hat, fondern außerdem auch noch 
einzelne Gemälde durch befondere poetiſche Inſchriften 
verherrlicht. 

Wir halten diefe Galeriegedichte nicht für die Glanz« 
partie der Sammlung. Theile nimmt die Dichtkunſt als 
Auslegerin ber Kunftwerke der Malerei nur eine dienende 
Stellung ein, theil® ift der Tom biefer Gedichte allzu 
profaijc, erflärend und großen Kunftwerken gegenüber oft 
zu profan. Man fann die Madonnen Rafael’s und 
Tizian’8 Venusbilder nicht auf eine gleich finnliche Infpi» 
ration zurüdführen. Vorherrſchend ift der Standpunkt 
des frivofen parifer „Rococo“, ber für große Meifter- 
werfe nicht den geeigneten, am wenigften den poetifchen 
Maßſtab hergibt. 

Dagegen athmen die feinern erotiſchen Gedichte eine 
Glut der Leidenfhaft, die und nad dem „überfinnlich- 
finnlichen“ Fiebeögetändel moderner Minnepoeten nur will- 
tonmen fein Tann und trog einzelner unreiner Reime 
und Katachreſen und allzu häufiger Fremdwörter doch 
in dem Bann einer poetifchen Stimmung feftgält. Unfer 


Erſte Sammlung. 


Revue neuer Lyrik und Epik. 


„Anakreon“ ſtößt zwar oft die Seufzer eines mohlconfer« 
dirten Greiſes aus, ben die Damen nicht mehr mögen 
und der von „Erinnerungen“ zehren muß; gleichwol feiern 
die „Kleinen Gedichte" Rofen, Wein und Mädchen in echt 
anakreontiſchem Stil oder auch — in hafiſiſchem: 

Nicht zu weile muß man fein | 

Und zu viel nicht ſchwarmen; . 

Mandmal auch an Lieb’ und Wein 

Muß man fi erwärmen, 

In Gedanken und in Wort 

Sei nit metaphyſiſch 

Und bes Lebens immerfort 

Freue dich hafifiſch. 

Keine Luft darf uns entgehn: 

So kann man uns preifen, 

Daß zu leben wir verfiehn, 

As die rechten Weifen. 

Der Weiſe will mit der Liebe nur ſcherzen: 

Willſt du weife fein, danu fpiele 

Mit der Liebe froh und friſch: 

Denn der Schönen gibt es viele, 

Amor if} gebieterifd). 


Für das erotif—he Feuer, das auf dem Altar ber 

Gerbel'ſchen Mufe Ioht, ſpreche das folgende Gedicht: 
Schön iſt der Abendröthe Brangen, | 
Des Mondes träumerifhes Licht — 

Doch ſchöner mir dein Angeficht, 

Wenn trantes Sehnen, ſühes Bangen 
Mit vofgem Feuer es umflicht. 

Schön ift der Seele füße Reine 

Bom Liebeshaude nie Burigfüht: 
Doch Holder deine Aumuth blüht, 
Benn füge Luft die, Siebe Kleine, 
Begehriich durch die Seele zieht. 
Schön if, o Mädchen, beine Tugend, 
Die nie der Wonne ſich geſchmiegt: 
Doch ſchöner, wenn fie, fanft beflegt, 
Dem holden Drange füßer Jugend 

In meinen Armen unterliegt. 

Schön bift du felbft wie Hauch der Hofe, 
Schön wie der Sonne golbne Pracht: 
Doch ſchöner, wenn im fliller Nacht, 
Im heimlich traufihem Gelofe 

Der Liebe Glut ſich dir eutfacht. 

Und in der Dämm'rung fügen Schweigen 
Am jhönfen möchte ich dich fehn, 
Wenu bei der Zephyrlüfte Wehn 

Sid Sonn’ und Abendröthe neigen — 
O Mädchen, kannſt du widerftehn? 

Die Muſe des Dichters erhält Fluß und Guß, je 
bald fie das erotifche Feuer befeelt. Auffallend find bie 
in ben Tert gedrudten Noten, profaifche Erläuterungen 
zu oft ſehr befannten Stoffen, melde der Dichter ſich 
gewählt hat. Wir wünſchten in einer zweiten Auflage 
diefe Noten nicht blos unter den Text, fondern im einen 
Anhang verwiefen zu fehen. Dabei könnten und die Nor 
ten über Frau von Maintenon, Machiavelli, Savonarola 
u. a, biligerweife erlaſſen werden. J 





Rudolf Gottſchall 
(Der Beſqhlaß folgt in ber nähen Rummer.) 





Zur Gefhichte des Jeſuitenordens. 


441 


Zur Geſchichte des Iefnitenordens. 


Studien Über das Inftitut der Gefellichaft Jeſu mit befonderer 
Beridfihtigung der pädagogifhen Wirkſamkeit dieſes Ordens 
in Deutfhland. Bon Eberhard Zirngiebl, 
Fues. 1870. Gr. 8. 3 Thlr. 

Biele Hunderte von Büchern find für und wiber bie 
Geſellſchaft Jeſu gefchrieben, und in manchen ift über 
biefen Gegenftand viel ZTreffliches und Beherzigenswerthes 
gefagt worden. Dennoch kann man die in Rebe ftchende 
Schrift nur mit aufrichtiger Freude begrüßen, da fie das 
umfangreiche, äußerft intereffante Material in der fleißig. 
fien Weife zufammengefaßt und mit Umfiht und gediege- 
ner Schärfe verarbeitet bat. Einer befondern Recht—⸗ 
fertigung bedarf das Erjcheinen des Buchs nicht, da ge- 
sade die gegenwärtigen Zeitverhältniffe daſſelbe als eine 
höchſt zeitgemäße Arbeit erfcheinen laſſen. Der Ber- 
faſſer Hat bei der Ausführung feiner „Studien vornehm⸗ 
fih auf eine möglichft objective und unparteiifch gehaltene 
Berwerthung des vorhandenen Hiftorifchen Materials und 
der vorhandenen kritiſchen Beurtheilungen Bedacht ge- 
nommen; er enthält fich in hohem Grade aller gehäffigen 
Polemik, vermeidet mit Vorſicht confeſſionelle Einfeitig- 
kiten und haſcht nicht duch pifante Erzählungen nad) 
dem Beifall des großen Haufens, Dafür aber läßt er 
mit unbeftechlicher Wahrheitöliebe die Thatſachen felbft 
ſprechen, und dieſe fprechen allerdings in dem vorliegen« 
den Falle laut und deutlich genug. Der Autor Hat bei 
der reichen Fülle des hiftorifchen Stoffs feine Studien 
über den Jeſuitenorden weſentlich auf Deutſchland be» 
ſchränkt, und uns auf dieſe Weife Ichrreiche, aber auch 
ebenfo ſchmerzenreiche Erinnerungsblätter aus der Ce» 
fhihte unfers Baterlandes aufgeſchlagen. Möchte fich 
das Werk in die weiteften Kreiſe hinein Bahn bredjen 
und der Anſicht den Sieg verfchaffen helfen, daß in der 
That nur der allein „zur größern Ehre Gottes“ kämpft, 
wer da kämpft im Geifte der Liebe und der Wahrheit, 
der Gerechtigkeit und der Freiheit. 

In dem Bormworte feines Buchs weift der Verfaſſer 
mit Recht darauf hin, daß in dem großen Kampfe, der 
in unfern Tagen von Rom aus wider die Ideen, melde 
den modernen Staate zu Grunde liegen, in Scene gejekt 
werd umd der ebenfo fehr die ſtaatliche Selbftändigfeit 
wie die individuelle Freiheit, die Parität der verfchiede- 
nen Confeffionen im Staate und die humanen Tendenzen 
auf dent Gebiete des Unterrichts und der Erziehung ver» 
nichten fol, die Jeſuiten offenbar die hervorragendſte 
Rolle fpielten. Sie waren und find unleugbar die intel 
lectuellen Urheber diefer umfangreihen Reaction inner- 
halb der katholiſchen Welt und jener großen Begriffs⸗ 
verwirrung, nad) welcher nur noch der Jeſuit und 
Jeſuitenfreund (alfo der fogenannte Ultramontane) das 
Prädicat eines guten Katholifen verdienen fol; fie find 
dies, wie Zirngiebl behauptet, zumeift aus zwei Gründen: 
einmal ift der Kampf wider alles, was nicht ihres Cha- 
rakters und Weſens ift, gemwiffermaßen der Athmunge- 
proceß der Societät; fodann ift nur zu gewiß, daß der 
enblihe Sieg ſolch einer Reaction der Societät allein 
den Lömwenantheil der Beute zuführen würde. Infolge 

1870. 28. 


Leipzig, 


des Sieges nämlich würde die Geſellſchaft Jeſu, wie fie 
ift und weil fie fo conftituirt ift, das unentbehrlichfte 
Element in der Fatholifchen Kirche werden; der Sieg 
würde eine geiftlihe Gewaltherrfchaft, einen geiftlichen 
Militarismus fchaffen, deffen abjchredendes Vorbild un- 
fchwer in der Prätorianerherrfchaft während der römifchen 
Kaijerzeit zu erkennen fein dürfte. Wenn man jagt, daß 
gegenwärtig ber fogenannte Cäſarismus in einigen Staa» 
ten drohend fein Haupt erhoben hat, fo unterliegt es 
ſicherlich keinem Zweifel, daß der Jeſuitismus faft überall 
in noch viel geführlicherer Weife und unter den verfchies 
denften Formen feiten Fuß zu fallen bemüht ift. 

Das vorliegende Werk zerfällt in fieben Abfchnitte 
oder „Studien“, denen jedesmal befondere Anmerkun- 
gen mit zahlreichen literarischen Nachweifungen beigefügt 
find. 

Die erite Studie behandelt den „Bau und die Ten» 
denzen der Gefellfchaft Jeſu“. Zu Anfang des 16. Jahr⸗ 
hunderts war das Anſehen der Kirche tief von der Höhe 
berabgefunfen, welche e8 zu der Zeit des Mittelalters 
eingenommen; der Papft Hatte fein oberſtes Schieds- 
richteramt in den politifchen Zwiſtigkeiten der chriftlichen 
Höfe und Völker verloren, denn fchon feit dem Streite 
der Päpſte mit Ludwig dem Baier Hatte ſich das Ver⸗ 
hältniß von Kirche und Staat zu Gunften der Selbftän- 
digfeit des letern zu Hären begonnen, Die Kirche war 
lange nicht mehr das eigentliche Herz des Chriftenthums, 
und der Geift, der einft von ihr ausftrahlte, alle Bezie- 
bungen des Lebens durchdrang und felbft die Inſtitu⸗ 
tionen, die er nicht gefchaffen, wenigftens fürbte, war 
nahezu ganz vernichtet. Die Korruption, melde Haupt 
und Glieder der Kirche ergriffen und tief angefreflen hatte, 
war bie Urſache von reformatorifchen Wünfchen und Be- 
ftrebungen gewefen. Wir erinnern an die Waldenfer, 
die Begharden, die Spiritualen, Fraticellen, Gottesfreunde 
und andere myſtiſche Selten, welde gegen die Ber- 
berbtheit und Berweltlichung der Kirche Fronte machten. 
Männer, wie Meifter Edart, Tauler, Sufo, Ruysbroed, 
Gerfon, Eufanus u. a. eiferten gegen die moralifche Ver⸗ 
funfenheit und Unwifjenheit des Regular- und Gäcular- 
Herus und erfchütterten die Herzen des Volks mit ihren 
fhwärmerifchen Predigten; felbft gegen die firchlichen 
Heilmittel trat in den Wlagellanten ein entjchiedenes 
Mistrauen zu Tage. Wichffe rief der weltlihen Macht 
zu, die günftige Zeit zur Reformation der Kirche zu 
benugen, und vindicitte dem Volke das Recht auf die 
heiligen Schriften; ähnlich fprad) und handelte der Böhme 
Matthiad von Yanow. Johann Huß und Girolamo 
Savonarola ftarben den Ketzertod in ben Tlammen. 
Am 31. October 1517 flug Dr. Martin Luther feine 
95 Süte gegen den Ablaßhandel an die Schloßliche zu 
Wittenberg. In der Schweiz erhoben fid) Zwingli und 
Calvin. Ehe Rom fih nur recht befann, waren ſchon 
neun Zehntel des deutfchen Voll von der Reformation 
ergriffen, und bald drangen die Strahlen dieſes neuen 
Geiſtes ins Ungarland, in die Niederlande, nad Frank⸗ 
reich, England, Spanien und Italien, felbft innerhald der 


56 


”.. r en ı LA ... .. ..- 


442 Zur Geſchichte des Jeſuitenordens. 


Mauern Roms that ſich ein Prediger im neuen Geiſte 
hervor. Der Stuhl Petri wankte. Aber er ſollte nicht 
zuſammenbrechen. Ohne alles Zuthun der Päpfte ſam⸗ 
melte ſich ein Heerhaufe, der, für die mittelalterliche Idee 
der päpftlichen Allmacht bis zum Fanatismus begeiſtert, 
derſelben Gut und Blut zu opfern bereit war und, in 
dieſer Begeiſterung viele feiner Zeitgenoſſen mit ſich fort⸗ 
reißend und am ſich ziehend, zum mächtigen Koloß an⸗ 
wuchs, aber als ſolcher ſchließlich nicht blos dem von 
Luther erwedten und von dieſem ſowie von Zwingli und 
Calvin geſtalteten Reformationsgeiſte, ſondern überhaupt 
jeder den Ideen der Neuzeit Rechnung tragenden Re⸗ 
formation einen verderblichen Damm entgegenſetzte. 

Drei Jahre, nachdem Luther im deutſchen Wittenberg 
alle Längft angefammelten Sturmesfräfte gegen Rom und 
feine hierarchiſch⸗kirchliche Heilsanftalt ins Feld geführt, 
vollzog fi auf einem unfcheinbaren Stammfige, auf 
Loyola im ſchönen Spanien, ein unſcheinbares Ereigniß; 
und doch follte gerade diefes Ereigniß eine Haupturfache 
davon fein, daß fich feit Mitte des 16. Jahrhunderts 
eine immer mächtiger anfchwellende, in Dentjchland zum 
Dreißigjährigen Kriege drängende ©egenrevolution für 
dafjelbe Rom offenbart. Die durch das Leſen von 
Heiligenlegenden bis zum Uebermaß gereizte Phantafie des 
kranken Ignaz von Loyola legte den Grund zum Orben 
ber Jeſuiten. 

Im kriegeriſchen Schmucke verläßt der ſüdliche Cavalier 
ſein Stammſchloß, zieht nach dem Kloſter Mont⸗Serrat, 
ſchenkt daſelbſt einem Bettler ſeine Kleidung, zieht ſelbſt 
ein ſchon vorher erfauftes Büßerhemd an, umgürtet mit 
einem Stride die Tenden und nimmt einen Pilgerftab in 
die Hand. So kehrt er.in die Kirche zurüd, Im ber 
Naht vor dem Feſte Mariä Berkündigung weiht ex fid 
durch den alten Gebrauh der Waffenwahe zum Ritter 
der Heiligen Jungfrau, hängt beim Anbruch des Tags 
Schwert uud Lanze an einer Säule des Altars auf, 
nimmt bie heilige Communion, vermacht dem Kloſter fein 
Pferd und bezieht unweit von Manreſa erft ein Hospital 
für Arme und Kranke, dann eine ſchwer zu entdedende 
Höhle — zur Abtödtung, Kafleiung und geiftigen Samm⸗ 
ung. In diefer Höhle erfand und übte Ignaz an fich 
jelbft die befannten „Exercitia spiritualia” des Jeſuiten- 
ordend; er fol fpäter einmal zu Lainez gefagt haben: 
„Eine einzige Stunde des Gebet zu Manrefa bat mir 
über göttliche Dinge mehr Aufſchluß verſchafft, als die 
Lehren aller Doctoren zufammen es vermochten.“ 

Am 27. September 1540 geſchah die Einfegung der 
Geſellſchaft Jeſu durch die Beftätigungsbulle Paul's IIL: 
„Regimini militantis Ecclesiae”. In einem Senbfchreiben 
vom 26. März 1553 an die Mitglieder des Ordens 
beißt e8: 

Der Gehorſam ift die einzige Tugend, weiche die übrigen 
Zugenden in bie Seele ſäet und die eingeſäeten bewacht. Im 
der Berfon des Obern erblicdt ihr Leinen DMenfchen, welcher 


Irrthümern und Armſeligkeiten unterworfen if, fondern Chri⸗ 


fins ſelbſt. Der Ordensmann muß fi) für eine Leiche Halten, 
weicher kein Wille und feine Einſicht eigen ift, flir ein verklei⸗ 
nertes Bild des Gelreuzigten, melcyes, wohin immer gewendet, 
beliebig ſich legen läßt, für deu Stod eines Greifes u. f. w. 
(perinde ac cadaver, vel similiter atque senis baculus). 


F. J. Buß, biefer unermüdliche Advocat jeſuitiſchen 


Wirkens, iſt — wie unſer Autor S. 13 hervorhebt — 
von der Zucht des jeſuitiſchen Inſtituts und feiner Ge— 
treuen jo überzeugt, daß er den Hal für undenkbar hatt, 
daß etwas an fid) Unrechtes oder Böfes befohlen würde; 
dennoch fügt er zur Gewiſſensberuhigung bei, daß ja 
„nicht der Gehorchende, fondern der Obere, dem jener folgt, 
die Berantwortlichkeit trägt”. 

Die Mitgliederzahl des Ordens follte nach der Beſta⸗ 
tigungsbulle Paul's II. die Zahl 60 nicht itberfchreiten; 
diefe Beſchränkung wurde indeß bald aufgehoben, fowie 
die Rechte und Privilegien der Gefellfhaft im Laufe der 
Zeit bedeutend erweitert wurden. Der Hanptorganifator 
des Ordens war Übrigens Rainez; ihm ift es vornehmlich 
zuzufchreiben, daß die directen Eingriffe des Papſies in 
die Gefchide der Böller dem mächtigen Einfluffe ber 
Jeſuiten gegenüber fo bald zurüdtraten. Schon ber britte 
General, Franz Borgia, unterhielt einen eigenhändigen 
Briefwechfel mit den Fürften Europas, die ihn in kirchlichen 
und faatlihen Dingen um Rath fragten. 

Während die Geſellſchaft Jeſu im Dienfte der fire» 
tenden Kirche fand, Hatte fie als ſolche Dienerin eine 
dreifache Wirkfamteit: eine lirchlich⸗politiſche, eine religide« 
ſittliche, und endlich eine pädagogifche. Auch noch jekt 
befigt und übt fie diefe Wirkſamkeit ans in einem Maße, 
wie gerade Zeit, Ort und Umftände es erlauben. 

Die firhlich-politiiche Aufgabe des Ordens gipfelt ſich 
nad) Zirngiebl „in der Reftauration und Ausbreitung bes 
mittelalterlichen Katholicismus“; und da der Proteftantisumg 
in fo vielfacher Hinfiht mit dem kirchlich Hergebrachten 
brach, hielten es die Yefuiten für ihre weſentlichſte Anfe 
gabe, „den ſchärfften Ausdruck bei der Ausſcheidung, 
Unterfheidung und Gegenüberftellung bes Katholicisinns 
gegen den Proteflantismus zu vertreten — alfo jene 
Pofitton, welche der proteftantifchen Auffaffung im ber 
ausgeſprochenſten Antitheſe gegenüberftand”. Darum tres 
ten denn auch die Jeſuiten gegenwärtig wieber in ber 
entſchiedenſten Weife für bie Allgewalt des Papſtes und 
für deſſen Unfehlbarkeit auf. Der Bapft iſt den Sefuiten 
infalliblee Interpret des in der Kirche anfgeftellten gött- 
lichen Lehrwortes und höchfter Richter in allen Glanbend- 
ſachen. So oft der Papft in Glaubensfachen ex cathedra 
ſpricht, ift fein Ausſpruch als infallible Lehrentfcheidung 
anzuerkennen, und alle Gläubigen Haben fich bemfelben 
zu unterwerfen. Deshalb geht es nach der Anficht der 
Jefuiten wohl an, vom Concil an den Papſt, nicht aber 
umgelehrt vom Papft an das Concil zu appelliren. Im 
jefuitifchen Geiſte ift jede Staatsgewalt eine ungehörige, 
alſo rechtlich (im Firchenpolitifchen Sinne) zu befämpfende, 
fobald fie nicht die Macht und das Anfehen der römischen 
Kirche mehrt. Aus diefem Grunde hat der Orden das 
bebeutjame Wort „Bollsfouveränetät” nicht felten dazu 
benugt, fih in die Gunſt der Maſſen einzufchmeiceln 
und zugleich den Fürſten zu imponiren. Wenn es baber 
wirklich wahr ift, daß ein hochgeſtellter norddeutſcher 
Staatsmann feit 1866 den Yefuiten wohl will, weil fie 
bie Lehre vom „unbedingten Gehorſam“ predigen, fo follte 
er nicht vergeffen, daß diefe Lehre in Bezug auf bie 
weltlichen Machthaber fehr dehnbar iſt. Sehr entſchieden 
trat die lirchlich⸗politiſche Tendenz des Jeſuitenordens ſchon 
in dem Verhalten feiner Mitglieder auf dem Concil von 


—— — ——————— — —— ee N EEE — 


Zur Gefhichte des Jeſuitenordens. 


Trient hervor; bier redete bereitS, wie unfer Autor ©. 37 
bemerkt, Lainez der Idee der Vollsfouveränetät das Wort 
(1562), und gegen Ende des 16. Jahrhunderts gaben 
einzelne Iefniten dem Volke, ja fogar einem Privatınanne 
das Hecht, in gewiffen Fällen einen Tyhrannen zu tödten. 
Auf der andern Seite follten fi) aber auch gewiſſe 
Bollöbeglüder vorfehen, einen zu innigen Bund mit den 
Ultramontanen und Jeſuitenfreunden zu ſchließen, denn 
die Jeſuiten becomplimentiren ein „fouveränes Volk“ nur 
fo lange, als fie ficher find, daß fich diefe Sonveränetät 
unter die Fittiche jefuitifch-Firchlicher Tendenzen ſtellt. 
Der Verfaſſer ftütt fi auf unanfechtbare Belege, wenn 
ex Sagt: 

Die Iefuiten waren — wo immer ihnen bie Macht ger 
geben — die Zuchtmeifter derjenigen Individnen, welde ſich 
anger ber Tatholifchen Kirche zu fielen erdreifteten; fie athmeten 
Rebellion gegen Tirchenfeindliche Fürſten; fie befämpften bis 
aufs Meſſer ungefügige Corporationen, ja felbft für felbftherr- 
fie Metropoliten hatten fie furchtbare Waffen bereit. Sie 
fümmern fih nicht um die befle Staatsform, nit um ber 
Boͤller materielles Wohl und Berderben; ihnen ift der Despot 
fo Tieb wie ber Republifaner, der Bauer fo lieb wie ber 
Melihde — wenn fie ihrem letzten Zwede dienen. Wie die 
Kirche fich mit der Monardie, mit der Ariftofratie, mit der 
Demokratie unter der Vorausſetzung verträgt, daß fie dem 
Reihe Gottes (der Kirche nämlich) Huldigen: fo aud die 
Gefelihaft Jeſn, wenn fie nur die Gelbfiherrlichkeit der auf 
den Schwingen des Ordens getragenen römifchen Kirche gefichert 
weiß; denn alles andere ift wandelbar und mobdificirt ſich nad 
den Bebingungen der Zeiten, der Dertlichleiten und der Per- 
fonen. Selbft der Papft kann nur fo weit auf ihre Unterfligung 
rechnen, als feine Haltung ihren (dem mittelalterlich-Tirchlichen) 
Juterefſen entſpricht. 

Wie die lirchlich⸗politiſche Wirkſamkeit der Societät 
Jeſu ſich als eine in theokratiſchem Abſolutismus tief⸗ 
begründete Praxis gezeigt hat, fo tritt nun ihre religids⸗ 
fittliche Wirkfamfeit und als eine durch und durch an» 
thropomorphiftifche entgegen. Der nächfte Grund dieſer 
Berfinnlichung alles Religiöſen Tiegt, wie Zirngiebl meint, 
in der Auffafjung der Kirche als des in die Erfeheinung 
getretenen und durch den Papft vermittelten göttlichen 
Kegiments, das im Jenſeits nur volllommener, aber nicht 
weientlich verfchieden fich fortjeßt; ein anderer Grund 
befteht aber darin, daß der fübländifche Himmel die Bhan- 
tafie mehr als das Herz anregt, daß derſelbe — im all» 
gemeinen — bie Menfjchen mehr verfinnlicht als verinner- 
licht. Thatſache if, daß aus diefen und andern Grün⸗ 
ben im Laufe der Zeit in der Tatholifchen Kirche das 
Imerliche über dem ſich aufblähenden Aeußerlichen völlig 
verloren ging. Namentlid) gaben ſich die jefuttifchen 
Schriftfteller alle erbenkliche Mühe, zum Begriffsvermögen 
des rohen Haufens Herunterzufteigen. So fandte 3. B. 
da8 „goldene Almofen“, ein Tatholifcher Bücherverlag, 
Tractate und Tractätlein in bie Welt „zur Bildung des 
Geiftes und bes Herzens”, deren Inhalt jedes nur einiger« 
maßen zartfühlende Menfchenherz mit Efel erfüllen muß. 
Die Andachtsübungen athmen nicht weniger wie die Rath- 
fhläge zur Bezähmung der finnlichen Gelüfte, die Tugend⸗ 
beifpiele, die Hymnen u. ſ. w., den roheften Sinnengenuß,. 
Es kann bier nicht der Pla fein, biefen Gegenftand wei⸗ 
ter zu erörtern; doch führen wir ein charakteriftifches 
Beifpiel, welches Zirngiebl ©. 50 gibt, an: 

Die Abgdtterei, welche Maria zutheil wurde, zieht ſich 


448 


durch fo und fo viele Eongregationsfhanfpiele, erhebt fih aber 
perabezu nit mehr über die Roheit indianiſcher Fafſungsweiſe 
n dem Hymnus „am die heiligen Haare Mariens”: 


Doch Maria, deine Loden 
Mich zu deiner Lieb’ anloden, 
Schönfte Iungman, beine Streinen « 
Pfleg’ ich allzeit anzuflehnen. 
Die im Hochenlieb zu leſen, 
Seynd der Branthaar Pfeil geweſen. 
Ich befehl’ mich deinen Haaren, 
Die dem GEſpons fo angenehm waren. 
Steh uns bei in all Gefahren, 
Ded’ und zu mit deinen Haare, 

ühre uns an deinen Loden 

die Stadt, wo all’ frohloden. 

Mit diefer religidfen Veräuferlichung fteht die ethifche 
oder vielmehr umethifche Wirkfamleit der Gefellfchaft Jefu 
im innigften Zuſammenhang. Die Bedeutung der Moral- 
principien für das chriftlich- fittliche Leben wird von einer 
raffinirten und durch die Jeſuiten in eine andgebreitete 
Praris übergegangenen Caſuiſtik überwuchert. Im diefer 
Beziehung jagt Zirngiebl: 

Wie den Iefniten die Religion im Grunde nur Mittel zum 
Zwed, um gerade die von der Kirche verheißene ewige Selig. 
feit zu erlangen, ift, fo ift der Gebrauch dieſes Mittels zum 
ausſchließlichen Zwed der Kirche Tugend. Ohne Heilsmittel 
feine Tugend. Jedes Mittel bat aber Überhaupt keine abfolute, 
fondern nur eine relative, dur den Zweck felbft modificirte 
Bedeutung; und hinwieder richtet fidh der Gebrauch nach dem 
Mittel und Zwed zugleich. Es ift tief im Weſen der Societät 
begründet, daß das —* in der That keine andere Tugend 
als ein durch den Zweck geheiligtes Mittel anerkennt und au⸗ 
erkennen kaun; denn alle Einrichtungen, alles Leben und Stre⸗ 
ben, im Inſtitut und durch dafjelbe, ift getragen und geheiligt 
durch den Zwed, und namentlich gibt diefer für den Gebrauch 
der Mittel (Tugend) das Maß her. Aber biefe Behauptung 
ift mit der gleihnamigen vnlgären Beſchuldigung nicht identiſch; 
fie erklärt jedoch Iettere und zeigt, mie ein Abirren ins Un- 
moralifhe nicht allzu ferm Liegen mochte, nachdem einmal der 
urſprünglich reine Zwed verloren gegangen; denn nicht heilige, 
jondern nur fheinheilige Zwecke, nicht Zwecke des allgemeinen Be- 
fen, fondern nur egoiftifche vertragen fich mit verderbten Mitteln. 

Hinfihtlih der päbagogifchen Thätigkeit griffen bie 
Jeſuiten, wie der Berfaffer ©. 58 bemerkt, von Anfang 
an nur in das Lehr» und Erziehungswejen ein, weil und 
foweit es ihrem Zwecke bienlih war. Das Ziel ber 
jefuitifchen Pädagogik ging dahin, tüchtige umd mohl- 
geübte, vor allem aber mohldisciplinirte und an ftrenge 
Subordination gewöhnte Streiter heranzubilden, bie theils 
als Glieder der Gefellichaft, theils außerhalb derfelben in 
den verfchiedenften Lebensftellungen ben einen Ordenszweck 
zu fördern bereit wären. Nicht für bie Schule wurde 
von ihnen der Menfc erzogen, aber auch nicht für das 
Leben, nicht für das Zeitliche, nicht für das Emige, nicht 
für das irdifche Vaterland, aber auch nicht für das Neid, 
Gottes, fonderi file die römische Kicche, für das Reich 
des Papftes, oder eigentlich in letzter Inſtanz für ben 
Orden felbft, der ja nach Umftänden feine Zwede fogar 
noch über die der Kirche und des Papſtthums zu ftellen 
weiß. Der Jeſuitismus will weder die Religion, noch 
die Wiffenfchaft, noch die Kunft um ihrer felbft willen, 
er will alles nur um der Kirche oder vielmehr um feiner 
felbft willen. Das Subject mit allen feinen Anlagen, 
Bebürfniffen, Intereſſen ganz und gar in die Peripherie 

56 * 











444 


der römischen Kirche, in die Dienftbarkeit des Ordens 
zu ziehen und im diefer Umgrenzung feftzuhalten, alſo 
daß der Jeſuit oder jeſuitiſch gefchulte katholiſche Chrift 
nichts thut, nichts redet, nichts denkt wider die Kirche 
und wider die Autorität der Obern, daß er, was fen 
Auge ſchwarz fieht, weiß zu nennen bereit ift, wenn die 
. Kirche e8 gebeut — dies macht das eigenfte Wefen und 
Streben des Jeſuitismus aus, das ift auch fein oberftes 
Erziehungsprincip. (Bol. Wagenmann in 8. U. Schmid’s 
„Encyklopädie des gefammten Erziehungs- und Unterrichts- 
weſens“, 1862, II, 743.) Es beißt bei Birngiebl: 

Sn den Schulen ber Jeſuiten ift jene Disciplin Hebel ımd 
Kunft, welche die Menjchen nicht zur Freiheit und Selbfländig- 
feit beranbildet, fondern ihnen vielmehr die kirchliche Zwangs⸗ 
jade jo angemöhnt, daß fie derſelben zeitlebens entbehren weder 
fönnen noch wollen. In diefer Intention liegt auch eine an« 
dere, von der Geſchichte anfs evidentefte bewiefene Thatſache 
begründet, nämlich bie, daß die Sefuiten den eigentlichen Volks⸗ 
unterricht, foweit er nicht pafloraler Natur war, ganz außer 
Acht gelaffen, dafür aber ihre Gymnaſien in Bauſch und Bogen 
mit Schülern vollpfropften, um die größtmögliche Auswahl 
für ihren Zweck tauglier Individuen zu haben, nicht Bios in 
Bezug auf das Inftitut felbft, fondern aud) im Beziehung auf 
den Staat und feine Regierung. In dieſer Intention Tiegt 
endlich auch jenes Hafen und Drängen nad Alleinherrfchaft, 
nah Monopolifirung ihres Unterrichts ſowol nad) Inhalt als 
nad) Form — ein Berfahren, wie es uns in den Geichichten 
der einzelnen Univerfitäten nur zu oft entgegentritt, welches 
nichts vom Geifte Ebrifti, wol aber viel von „jüdiſchem Han⸗ 
delögeifte‘ im gemeinen Berfländnig enthält, und welches auf 
bittere Klagen ber freiburger Univerfitätsprofefioren bin der 
vorberöfterreihifhe Statthalter Freiherr von Pfirdt alfo tref- 
fend charakterifirt: „Die Bäter der Geſellſchaft Jeſu beſäßen 
einen langen Arm, fländen allenthalten bei Fürſten und Her- 
ren in Snaden und könnten alles durchſetzen; die weltlichen 
Profefforen dagegen feien ſehr ſchwarz angeſchrieben“ u. f. w. 
Der Zwed if in den Augen der Societät der heiligſte von 
der Welt; denn die Wiſſenſchaft ift nur Heilig und wahr im 
Dienfte der Kirche, das Amt zu ehren folglich ausſchließliches 
Eigenthum der Kirde. Die Mittel freilih waren nur heilig 
in Rückicht auf den Zwed. 

Der ung zugemefjene Raum verbietet e8 uns leider, 
den Inhalt der folgenden Studien genauer anzugeben ; 
wir mäfjen uns daher begnügen, auf einzelne darin ent- 
haltene Hauptpunfte aufmerlfam zu machen. Der Bere 
faffer verfolgt die Grundfäge und gefeglichen Einrichtun« 
gen des Ordens diberall von ihren erften Anfängen bis 
in die neuefte Zeit herab, wo ein Roothaan ober ein 
Bedr theils tänfchende Zugeftändniffe dem modernen Zeit 
bewußtfein machten, theil8 jede freifinnige Negelung des 
Schulweſens zu Bintertreiben bemüht waren. 

In der zweiten Studie befpricht der Autor die Ge- 
ſchichte, die Tendenz und den Bau der „Ratio Studiorum”, 
diefes vielerwähnten und vielgetabelten alten Lehrplang, 
den die Jeſuiten durchweg im Geifte ihres Inſtituts 
meiſterlich anszubeuten verftanden. Die dritte Studie 
enthält eine genaue, quellenmäßige Darftelung des Colle- 
gium Germanicum in Rom, bejpriht das Gemina- 
riendecret der tridentiner Synode, die römifch-Fatholifche 
Propaganda (Congregatio de propaganda fide) n. f. w. 
Der Berfaffer beſchränkt fich Bier nicht auf eine Ge- 
Schichte der jeſuitiſchen Seminarien in Deutſchland, fon- 


Zur Geſchichte des Jeſuitenordens. 


bern ſchildert auch die Gründung derfelben in Spanien, 
Tranfreih, Italien, in den Niederlanden u. ſ. w. Die 
vierte Studie bietet und eine ausführliche Geſchichte der 
Einflhrung und Ausbreitung des Jeſuitenordens in alle 
Theile von Deutfchland bis zum Beginn des Dreißig- 
jährigen Kriegs. Die fünfte Studie behandelt die Thätig« 
feit der Jeſuiten während des Zeitraums vom Ausbruch 
des Dreißigjührigen Kriege bis gegen die Mitte bes 
18. Jahrhunderts. Diefer Zeitraum bezeichnet die un- 
befchränfte Herrfchaft des Ordens im Tatholifchen Deutid- 
land; er wird aber auch zugleich durch einen gänzlichen 
Berfal der Wiffenfchaft charafterifirt, die fowol durch 
den Staat wie durd) die Kirche gefeffelt wurde, durch bie 
Ueberhebung de8 Romanismus über ben Germanismus 
in Sitte, Sprache, Politik und Religion, durch confelfio« 
nellen Fanatismus, duch Hexenprocefie, Teufelsaustrei⸗ 
bungen und Aberglauben jeder Art. Auch im proteftan« 
tifchen Norddeutfchland war der geiftige und fittliche Zu⸗ 
ftand in, diefer Periode ein beffagenswerther, bis mit dem 
Anfang des 18. Jahrhunderts ein literarifcher Frühling 
bier anbrach, aus deſſen Blüten die Früchte reiften, an 
denen die Gegenwart noch vielfach zehrt. Die fechste 
Studie ſchildert die Zeit des Niedergangs der Geſellſchaft 
Jeſu bis zw ihrer Aufhebung durch Papft Clemens XIV. 
im Jahre 1773. Sämmtliche bourbonifche Höfe forder⸗ 
ten in Rom die Aufhebung des Ordens. GSelbft in Baiern 
begann e8 durch den energifchen Johann Adam Ydftatt 
und deſſen Gefinnungögenoffen zu tagen. Die fichente 
Studie endlich gibt uns ein höchſt intereffantes und lehr⸗ 
reiches Bild der Wirkſamkeit der Jeſuiten während des 
18. und 19. Jahrhunderts, namentlich auch in Rußland, 
in der Schweiz, in Belgien, Neapel, Sicilien, England, 
Spanien, Portugal: und Franfreih. Die aus Rußland 
vertriebenen Väter Jeſu fanden fofort in Defterreich eine 
Zufluchtöftätte und reichlihen Erſatz für das Verlorene; 
fie Haben Defterreich dafür gedankt, indem fie e8 an den 
Rand des Verderbens brachten. Nicht fo glücklich mie 
in Oeſterreich war der aus. dem Grabe erftandene 
Zefuitenorden in den übrigen beutfchen Territorien; höch⸗ 
ftens hat Preußen davon in neuerer Zeit eine nicht genug- 
zu beffagende Ausnahme gemacht, wie zuverläffige ftati« 
ſtiſche Angaben beftätigen. 

Die Jeſniten find geblieben was fie waren: das lehrt 
uns die Geſchichte unferer Tage, das lehrt uns das vor: 
liegende Bud, Aber auch über fie wird das Weltgericht 
hereinbrechen. Mag General P. Nicci oder Papft Cle⸗ 
mens XIU. gerufen haben: „Sint, ut sunt, aut non sint!“ — 
da8 Echo des richtenden Weltgeiftes kümmert fich nicht 
um die rufende Perfönlichleit, es hat Har und vernehm« 
lich für alle, die Ohren haben zu hören, fein „Non sint!“ 
zurückgerufen. 

An Zirngiebl's Buche iſt nur zu tadeln, daß ſich dann 
und wann unnöthige Wiederholungen finden und der Stil 
häufig etwas holperig und ſchwerfällig ift. Doch thun biefe 
entjchieden mehr üußerlichen Mängel dem innern Gehalt 
und Werth bes Buchs wenig oder gar feinen Abbruch. 

Rudolf Doehn. 





Neue fpiritualiftifhe Schriften. 


445 


Ueue fpiritnaliftifche Schriften. 
GBeſchluß aus Nr. 27.) 


9. Poſitive Pneumatologie. Die Realität der Geifterwelt, fo- 


wie das Bhänomen der birecten Schrift der Geifter. Hifto- - 


riſche Ueberficht des Spiritualismus aller Zeiten und Böller. 

Bon Baron Ludwig von Güldenſtubbe. Stuttgart, 

Lindemann. 1870. Gr. 8 2 Thlr. 

Das vorliegende Buch ift eine deutfche bereicherte 
Bearbeitung der 1857 zu Paris erfchienenen „Pneuma- 
tologie positive et experimentale” des Verfaſſers, worin 
die Experimente und Betrachtungen über die „Geiſter⸗ 
schriften" (die man nicht etiwa mit dem fogenannten Geiſter⸗ 
fhreiben verwechfeln wolle) bi8 zum „Jahre 1868 fort 
geführt, eine Anzahl von Hauptſtücken umgeftellt und die 
„Pensees d’outre tombe“, welche früher in einem eige- 
‚nen Schriftchen erjchienen waren, aufgenommen find; die 
Facfimiles der Geifterfchriften, deren Zahl in dem fran- 
zöfiſchen Werke 67 betrug, find Hier auf 30 reducirt. 
Der Hanptzwed des Berfafjers ift, die Eriftenz einer 
überfinnlichen Welt aus dem Glauben und der Tradition 
oller Bölfer und zugleich aus bem merkwürdigen Phä—⸗ 
nomen der birecten ſogenannten Geifterjchriften zu erweifen. 
Indem er ferner alle Hiftorifchen Religionen nur als ver⸗ 
ſchiedene Entwidelungsftufen der Menſchheit betrachtet, 
„die den gleichen himmlischen Urjprung haben und fänmt- 
fi überfinnliche Geifter- und Göttermittheilungen ent- 
halten“, wie er ın einem Briefe vom 24. März 1865 an 
mid, ausführt, und ihnen allen nur einen relativen Werth 
zugefteht, macht er, wie auch im feinem Werke „Morale 
universelle“ den Verſuch zur Gründung einer allgemei- 
nen Religion im wahrhaft univerfalen Geifte des Spiri- 
walismus und fegt als Motto auf: fein Buch die Worte 
von Lamennais: 

Töt ou tard une grande religion, qui ne sera qn'une 

phase de la religion, immuablement une, aussi ancienne 
que le genre humain, aussi invariable dans ses bases essen- 
tielles que Dieu même, sortira du chaos aciuel et realisera 
parmi les hommes une plus vaste unité que lo pusse n’en 
connüt jamais. . 
. Nach dem Verfaſſer wäre das Chriftentfum im Ver⸗ 
fall begriffen, und diefer habe ſchon im 3. und A. Yahr- 
hundert begonnen; Priefter, welche den Gottesdienft als 
Broterwerb handwerksmäßig betrieben, hätten die infpirir- 
ten Apoftel und Propheten erfegt. Er äußert fi oft 
in ungerechter Weife über die Geiftlichen aller Kriftlichen 
Sonfeffionen und fpricht fi) namentlich gegen die Fatho- 
liche Kirche feindjelig aus. 

Hr. von Güldenſtubbe follte bedenken, daß die Re— 
figionen nicht ohne Kirche beftehen können, und daß letztere, 
indem fie zugleich eine menſchliche Inftitution fein muß, 
nothwendig auch an der Unvollkommenheit des menjd)- 
fihen Wefens theilnimmt. Er tabelt fehr die Orthodoren, 
weil fie die Phänomena des Somnambulismus, Spiri⸗ 
tmalismms u. ſ. w. nicht gebührend würdigen, fie ſelbſt 
als verdächtige Producte dämonifcher Weſen anfehen, wie 
3. B. ber proteftantifche Paftor Adolf Monod in Paris 
in feiner letzten Krankheit vom Lebensmagnetismus feinen 
Sebraud zu machen magte, „weil er als engherziger 
Ehrift diefes Heilmittel für ein Höllifches Product pythi⸗ 
ſchen Geiſtes Hielt umd die Behandlung feines Bruders 


borzog, eines Arztes, der fogar die Symptome der Blat- 
tern mit denen des Typhus verwechfelt Hatte“. Hr. von 
Güldenſtubbe will fogar die Verblendung der Ortho⸗ 
doren dem „Einfluß des Fürſten der Yinfterniß ſelbſt“ 
zufchreiben.. Wenn de Mirville fürdte, daß durch den 
Spiritualismug eine Rückkehr zum Polytheismus an⸗ 
gebahnt werde, fo meint Hr. von Giülbenftubbe, unfer 
Jahrhundert habe Hierzu feine Neigung, wol aber zum 
Atheismus und Materialismus. Diefe Richtung der Gegen- 
wart veranlaßt Hrn. von Güldenftubbe zu bittern Klagen; 
niemals, meint er, fei die Berfennung, die Leugnung alles 
Ueberfinnlichen, die Anbetung ber Materie, da8 Streben 
nad) blos irdiſchem Wohlfein fo meit gegangen wie in 
der Gegenwart, jelbft in der verborbenen römiſchen Kaifer- 
zeit wurden noch die Orakel und andere überfinnliche 
Dffenbarungen von vielen berühmten Männern Hochgefchägt. 
In dem Beftreben, möglichft viele Stützpunkte für feine 
Anfihten von Kundgebung überfinnlicher Mächte aus ber 
Geſchichte der alten Bölfer zu gewinnen, geht ber Ber- 
fafler jo weit, felbft die Memnonsfäulen als fprechende 
Drafel anzuführen, deren Töne doch auf dem durch Tem⸗ 
peraturwechfel bewirkten Zerfpringen einzelner Steintheil⸗ 
hen beruhen. Er tadelt die Einfeitigfeit der jetzigen Natur- 
forfher, deren geiftige Sinne durch Mikcoffopie und 
chemiſche Analyſen abgeftumpft feien und fie unfähig 
machten, felbft nur Phänomene aus dem Xagleben ber 
Seele zu beobadjten. Im Jahre 1863 zum Präfidenten 
einer pfychologifchen Gefellfchaft von Naturforſchern und 
Alademilern gewählt, deren Beftätigung fpäter „die des— 
potiſche Regierung Bonaparte’8“ verweigerte, habe er be- 
obadhtet, daß fogar Kinder von ſechs bis acht Jahren in 
experimentalen pſychologiſchen Sigungen ergraute Akade⸗ 
mifer täufchten und zum beiten hielten. Ex eifert gegen 
den Phyſiker Babinet, der behauptet: „que la volonte ne 
franchit pas l’Epiderme“, was ſchon der Mesmerismus 


widerlege. 


Güldenſtubbe verſichert, er habe ſeit 20 Jahren viele 
tüchtige Somnambulen gebildet, welche ſich nicht blos 
durch das Durchſchauen der Gedanken anderer Perſonen, 
ſondern auch durch ihre Fernſicht auszeichneten, er habe 
deren Blicke vorzüglich auf die Geiſterwelt gelenkt und 
ſei ſo allmählich in das Gebiet des Spiritualismus ein⸗ 
getreten, deſſen zwei Grundideen die Unſterblichkeit der 
Seele und die Offenbarung einer Geiſterwelt feien, welche 
beide in innigem Zuſammenhang mit der Idee Gottes 
ftehen, Durch das Zuſammenwirken des Berfaffers mit 
feiner Schweſter, einer entfchiedenen Geifterfeherin, feien 
bi8 1855 die medianimifchen Kräfte beider ſehr erhöht 
worden, fodaß fie ein Piano in ber entgegengefetzten Ede 
de8 Zimmers in Bibration fegen konnten; 1856 folgten 
die Tiſche dem Willen des Verfaſſers unbedingt und be= 
mwegten fich Ichenden Wefen gleich nach jeder beliebigen 
Richtung. DOdifche Tenerkugeln mit Negenbogenfarben ver- 
wandelten ſich allmählich in Säulenformen, aus denen 
nad) und nad) fchattenartige Menfchengeftalten fi ent- 
widelten, Graf d'Ourches brachte „mit Hülfe feines 


446 


Familiengenius“ die Kfingeln aller Thüren bes Verfaſſers 
in heftige Bewegung, wenn er nicht jelbft zum Berfafler 
fommen konnte, aber den lebhaften Wunfc hatte, ihn zu 
ſehen, wo dann der Berfaffer und feine Schwefter öfters 
den Grafen d'Ourches in ätheriſcher Geftalt in das Zim⸗ 
mer treten ſahen. Auch der Verfaſſer und feine Schwe- 
fter können fid) al8 Doppelgänger nach Belieben an fremde 
Drte verfegen. Die vorzüglichften Zeugen diefer Erfchei- 
nungen waren der Deputirte Hr. von Rance, der preußi⸗ 
ſche Geſandtſchaftscavalier von Voigts⸗Rheetz, der Alabe- 
miter Matter, Graf d'Ourches, General von Brewern, 
der Prinz Dimitri Shakowskoy, der Literat Delange, 
Hr. Wilfinfon, Redacteur des „Spiritual Magazine‘, und 
viele andere auch in der Wiſſenſchaft und Literatur ber 
kannte Perfonen. 

Dereitd 1850 hatte dem Verfaffer bie amerifanijche 
Hellfeherin d'Abnour aus Neuorleans „die frohe Botfchaft 
der Entdedung eines experimentellen Verkehrs mit der 
Geifterwelt durch das Klopfen gebracht”. Es gelang ihm, 
mit ihr einen Cirkel nad amerikaniſchem Muſter zu bil» 
den, aber die Magnetifeure in Paris arbeiteten mit aller 
Macht dagegen und erflärten das ©eifterflopfen für Thor⸗ 
beit; ebenfo verfagte Cahagnet mit feiner Hellfeherin Adele 
die Mitwirkung; blos Rouftan und deſſen Somnambnle, 
Madame Japhet, welche fpäter Allan Kardec das „Bud 
der Geiſter“ dictirte, ſchloſſen fih ihm an. Im Yahre 
1853 bemerkte Hr. von Güldenftubbe fremdartige Schrift. 
züge auf ganz reinem in feinem Pult verfchloffenen Schreib- 
papiere und „dies feltfame und myſteriöſe Geſchreibſel“ 
wiederholte ſich jo oft, daß ihm manchmal fein reines 
Papier mehr zum Brieffchreiben blieb. Er begann nun 
(1. Auguft 1856) mit feiner Schwefter zn experimentiren; 
zugleich verfchlog ex reines Papier mit einem Bleiſtift in 
ein Käftchen und übergab dem abreifenden Grafen d'Ourches 
bie Schlüffel. Als man e8 nad) deſſen Zurückkunft öffnete, 
fand man am 14. Auguft in demfelben mehr als zehn 
Geafterfchriften, darunter eine in eſtniſcher Sprache, die 
man in ben baltifchen Provinzen, dem Baterlande des 
Berfaflers, ſpricht; diefe Schrift war von der Hand feines 
verftorbenen Vaters. Graf d'Ourches verlangte aber eine 
directe Antwort in Geifterfchrift auf eine von ihm auf 
ein Blatt Papier gefchriebene Frage. Erſt nad ſechs⸗ 
maligem Verſuch antwortete der Geift bes Vaters des Ver⸗ 
faffers, am 16. Auguft, am Jahrestag feines Todes, um 
11 Uhr abends bei hellem Kerzenfchein in franzöftfcher 
Sprache auf demſelben Blatt: „Je confesse Jesus en 
chair“, ſodaß die Schrift unter den Augen des Orafen 
d'Ourches fich bildete, und er unterzeichnete mit den ge⸗ 
wohnten Anfangsbuchftaben feines Namens mie im Leben. 

Bon 1856 — 69 erhielt nun der Berfafler in Gegen- 
wart von mehr als 250 Augenzeugen, denen e8 frei ftand, 
das Papier felbft zu liefern, mehr als 2000 birecter 
Geiſterſchriften. Er legte Papiere anf die Antilen im 
Louvre, in ber Kathedrale von St.» Denis und anbern 
Kirchen und Friebhöfen von Paris, in den Parks von 
Berfailles, Trianon, St.-Cloud, Compiègne, Rambonillet 
und En, in den Ruinen des Schloffes von Argues bei 
Dieppe, im Britiſchen Mufenm und in der Weftininfter- 
abtei in London, in ber Yrauenfirche und Glyptothek in 
Münden, in feiner Wohming, Im Yahre 1858 ope- 


Neue fpiritnaliftiihe Schriften. 


tirte er mit dem Amerilaner Dale Owen in ber Könige 


gruft von St.-Denis, die ihm aber durch das Kapitel 


plötzlich verfchloffen wurde, weil die Journale zu häufig 
von ber Sache fprachen und weil er „‚die Ruhe der Königs- 
gruft ſtöre“. Im Jahre 1859 verbot die Regierung das 
Erperimentiren im Louvre und im Schloß von Berfailles; 
de Mirville bezeichnete den Berfafjer als einen gefährlichern 
Feind der Kirche als felbft Renan ſei. Im Jahre 1859 
bildeten fich in den Sonnabendfreifen des Berfaflers in 
feiner Wohnung auf dem Parket vor den Augen aller 
Anweſenden bei 30 Kerzenlichtern große Figuren von ver⸗ 
ſchiedenen Farben, welche man entftehen und vergehen fah; 
bie Frauen der großen parifer und londoner Welt eilten in 
Scharen herbei, um diefe Phänomene zu fehen. Diefe 
Parketfiguren dauerten bis 1861, wo der Berfafler er- 
franfte; 1863 geſchah dieſes auch ſeiner Schwefter, und 
feitbem gaben „die Schußgeifter bes Verfaſſers“ nur felten 
Erlaubniß zu folhen Experimenten. Zur Erflärung biefer 
Schriften und Figuren behauptet der Berfaffer, die Geis 
fter vermöchten direct auf die Materie einzuwirken durch 
den bloßen Willen, ohne materielle Werkzeuge, wie wir 
fie nöthig haben, indem fie eine eleftrifhe Strömung 
auf die Gegenftänbe richteten. Er und feine Schwefter 
ſehen hierbei faft jedesmal Geftalten von Geiftern im 
Coftiim ihres Zeitalters, und die Identität ber Handfchrife 
ten könne vielfach conftatirt werben. Theils erfcheinen 
Geifter von Anverwandten, theils foldye von Freunden 
oder von Perſonen, welche durch gleichartige geiftige Rich 
tung angezogen werben. Der Berfafier gibt übrigens zu, 
dag man öfters von Geiftern niedriger Ordnung getäufcht 
werde, welche fich für berühmte hiftorifche Berfonen aus⸗ 
geben, wie dieſes namentlih den Anhängern Kardec's, 
den fogenannten Spiritiften, mit dem angeblichen heiligen 
Ludwig und St.- Auguftinus begegnet fei. Wenn Hr. von 
Süldenftubbe von Heilungen fpricht, welche durch bie 
erwähnten auf dem Fußboden erfchienenen magifhen Figu- 
ren bei gewiffen Perfonen bewirkt wurden, wie 3. 2. bei 
dem Hiftorifer de Bonnechoſe, Bruder des Cardinal⸗Erz⸗ 
biſchofs von Rouen, fo gehören dieſe Heilungen in biefelbe 
Kategorie wie jene bei Wallfahrtöbildern oder durch Be⸗ 
rüßrung von Reliquien bewirlten: fte kommen durch die 
Kraft der glänbigen, auf den Organismus influenzirenden 
Seele zu Stande und find häufig nur vorübergehend. 
Die griechifchen und lateiniſchen Geifterfchriften find 
meift in Sapidarfchrift gefchrieben, weil der Verfaſſer, wie 
er fagt, fie meift in den Mufeen der Antiken erhalten 
bat, indem er Stüde leeren Papiers auf die Dentmale 
und Statuen legte. Die Iateinifchen Ramensunterfchrife 
ten der alten Könige von Frankreich, von Dagobert bis 
Ludwig XI., ebenfo; die Namensunterjhriften der nemern 
Könige, von Franz I. bis Karl X., dann jene von Ludwig 
Philipp und den verftorbenen Gliedern der Familie Or⸗ 
leans follen wirklich die Identität erkennen laſſen, ebenfo 
die don Boltaire, Montesgnien, d’Alembert, Diberot, 
Roufſeau, Schiller und Wieland; der Berfaffer erhielt 
auch Schriften von Plato, Cicero, Virgil, Iulins Cäfar, 
Germanicus, Euripides, den Apofteln St.» Fohannes, dem 
heiligen Panlus, Abälard, ferner von Maria Stuart, 
Marie Antoinette, Pascal. Er ift volllommen überzeugt, 
daß die Schriften von jenen Berftorbemen herrühren. IE 


Beuilletom. 


babe bereit an andern Orten zu erweifen gefucht, daß 
diefe Schriften, wie viele andere Phänomene des Spiri« 
tualismus, wahrfcheinlicher durch die unbewußt wirkende 
magische Kraft der lebenden Menfchen zu Stande kommen, 
und al8 Grund Hierfür angegeben, daß die Schriftfteller 
und Heroen des Altertbums, von denen Hr. von Gillden- 
ftubbe Schriften erhalten Hat, eben ſolche find, deren 
Werke er kannte, und daß er fehr charakteriftifch zwar 
Schriften von St.⸗Johannes und Paulus erhielt, welche 
die Proteftanten voranftellen, aber Feine von Betrus. 
Diefe Schriften find ferner nur in Sprachen gefchrieben, 
welche Güldenftubbe befannt find: griehifh, lateinifch, 
eftnifch, ruſſiſch, englifh, franzöfifch, deutſch, und ent- 
halten nur Sätze aus der Bibel und aus Claſſikern, mit 
denen er vertraut iſt. Dabei ſoll jedoch das große Ver⸗ 
dienst nicht in Abrede geftellt werden, welches ſich Hr. von 
Güldenſtubbe durch die Entdeckung und Berfolgung eines 
jedenfalls höchſt mierfwürdigen Phänomens erworben hat, 
welches er mit den Geſetzestafeln Mofis, der von Daniel 
ausgelegten Schrift beim Gaſtmahl Beljazar’s (mo man 
bie Finger einer ütherifchen Hand fah, wie bei manchen 
Prodbuctionen Homer’3 u. f. w.), mit den Bedas, ber 
Geheimlehre der Aegypter, den Draleln Griechenlands — 
fämmtlih nach ihm DOffenbarungen einer Geifterwelt — 
im Zufammenhang bringt. Wenn Hr. von Güldenftubbe 
und feine Schwefter ein Piano in der entgegengefegten 
Zimmerede zum Tönen bringen Tonnten, wenn der ab- 
weiende Graf d'Ourches alle Klingeln in der Wohnung 
Guldenſtubbe's in Bewegung fegen und als Doppel⸗ 


447 


gänger in feinen Galon treten konnte, fo zeugen biefe 
Phänomene wie fo viele andere fiir die magifche Kraft 
lebender Menſchen, und es ift in zahlreichen Fällen offen- 
bar unnöthig, die Wirkung BVerftorbener hierbei anzuneh- 
men. Man darf dabei nicht verſchweigen, baf die von 
ſolchen gegebenen Aufflärungen weder über diefe noch eine 
andere Welt uns weſentlich Neues gelehrt haben. 

Die Spiritualiiten und Spiritiften, welche ich Kennen 
gelernt habe, find übrigens felfenfeft von der Kealität der 
Dffenbarungen einer Geifterwelt in allen möglichen Fällen 
und in den verjchiedenften Formen überzeugt. Sie ge 
hören faſt ſämmtlich — mit Ausnahme eines Homöopathie 
hen Arztes — der Ariſtokratie an, in deren Preifen 
jene Erperimente und Beobachtungen vorzüglich geübt wer- 
den, während die eigentlichen Gelehrten ihnen viclleicht 
zu wenig Beachtung widmen. Die Anſichten der Spiri⸗ 
tualiften find allerdings in Uebereinftimmung mit großen 
Wahrheiten, welche die Menſchheit nie wird entbehren 
können, und wenn e8 ihnen auch nicht gelingen follte, auf 
ihre Art die Gültigkeit berfelben in umnmwiderfprechlicher 
Weile, mit mathematiſcher und phufitalifher Evidenz, 
wie fie glauben, gegen bie verneinenden Mächte zu er- 
weilen, fo verdient doch das Streben danach Anerken- 
nung, vorausgeſetzt, daß es fi) von ben Auswüchſen 
der Schwärmerei und Frömmelei freifält, welche fo leicht 
auf diefem Gebiet fich einftellen. Die Freiheit für alle, 
foweit fie nicht das Wohl des Ganzen gefährdet, bürfen 
fiher auch die Spiritualiften wie ihre Gegner in Anſpruch 
nehmen. Maximilian Pertp. 





Fenilleion. 


Benedir-Fouds und Benedir⸗Feſt. 


Zu einer Ehrengabe für Roderich Beuedix fordern in ber „Gar⸗ 
tenlanbe‘' eine Zahl namhafter Männer, darunter Laube, Eduard 
Devrient, Baron von Münd, Geheimrath von Wächter, Ernſt 
Keil u. a. auf. Diefe Gabe foll dem Dichter am 21. Sannar 1871, 
wo er fein fechzigftes Lebensjahr vollendet, überreicht werden. Im 
der Aufforderung heißt es: „‚Dreißig Jahre hat Benedir für 
die dentihe Bühne gewirkt, mehr als neunzig Stüde hat er 
geihrieben, und mit feinen Stüden ift er überall willtommene 
Grundlage des jeigen deutſchen Theaterrepertoires geworden. 
Roderich Beuedix vertritt eine ferndeutfche Richtung in feinen Dra⸗ 
men nnd wirft dadurch gefund und wohlthätig auf den Geſchmack 
unferer Nation. Der Grund feiner Arbeiten ift fittlich rein, 
Form und Ausdrud derjelben find allgemein verſtändlich, bei 
ho wie niedrig wirkfam. Darum find auch feine Stüde 
auf den erflen Theatern heimiſch wie auf ben Heinften Büh⸗ 
men, ja felbft für die Darftelung in Familienkreiſen find 
fie geſucht. So ift Benedir im wahren Sinne des Wortes 
ein dramatiſcher Volksdichter. Das deutſche Bolt bat das 
überall anerkannt, denn eine große Anzahl der Benedir’ichen 
Stüde, obſchon in ihren Mitteln von her größten Einfachheit, 
find Zug- und Kaffenfiidle geworden, und die Nation, welcher 
er angehört, hat wol die Verpflichtung, fold einem, auch von 
allen Nachbarvölkern Überfegten, weil auch dort hochgejchägten 
Dichter einen Ausdrud des Dankes zu bieten. Cs if in 
Deutſchland Teider nicht wie in andern Ländern Brauch, daß 
der Staat Sorge trage flir verdiente Schriftfieller, namentlich) 
dann diefelbe Sorge trage, wenn das Alter ihre Erwerbstraft 
verringert. Wir haben and) feine Alademien, welche verdienft- 
vollen Schriftſtellern Breife und Gehalte zuerfennen. Ergän⸗ 
zen wir darum diefen Mangel durch freie Sammlung, erfüllen 
wir eine Ehrenpflit, indem wir das Alter eines unferer be 


Ttebteften dramatifhen Dichter zu erleichtern und forgenfrei zn 
machen fuchen.‘ 

Infolge diefer Aufforderung fand in Leipzig im Schützen⸗ 
Banfe eine Benedix⸗Feier flatt, welche die Räume defielben fiber. 
füllt Hatte. Die Feſtrede hielt Paul Lindan im leichten, 
muntern Zon, nit im pomphaft oratorifhen Stil; fie war 
eine anfprechende und geiſtreiche Canſerie, nud wurde den Ber- 
dienften des Dramatifers volllommen gerecht, was um jo mehr 
anzuerfennen if, als Lindau im feinen eigenen Productionen 
eine weſentlich verſchiedene Richtung verfolgt. Auch das Feſt⸗ 
gedicht von Franz Hirfc war voll von Schwung und Esprit. 

Wir wünſchen dem Benebir- Fonds die reichten Zuflüſſe 
und bem Dichter ſelbſt, daß er friih und munter feinen Ehren. 
tag eriebe. 





Bibliographie. 


Sqhasler, M., Hegel. Populäre Gedanken aus feinen Werken. Ein 

Beitrag zur Weiler der hunbertjährigen Wiederkehr feines Geburtötages für 

die Gebildeten aller Nationen zu ammengeftellt und mit einer kurzen Les 

benebeihreibung, verieben. ‚Berlin, Loewenftein. Or. 8. 1 Thlr. 

Zenner, 8. &. Gedichte. Darmftadt —5 Gr. 16. 2 Nar. 

Zrofhte, X. Weib. d., Skigge der Mllitair » Piteratur feit den Be- 
eiungsfriegen enthalten in ber f- Rede bei ber Jubiläumsfeier ber 
Itiunv-Elteratur- Jeitun am 28. Februar 1870 gehalten. Berlin, Mittier 

und Sohn. Gr, 8. gr. 

83 bed. Eine biographiſche Skizze mit Porträt. Berlin, F. Duncker. 


8 ING 

Wanner, M., Die Revolution des Kantons S i 
—2* afrpaufen, plane: Br ch Ber. i —— im Jahre 
aſſmanusdor . Se ulen (d. aus unb is- 
echten) der Marrbrüber und Federfe ter aus De Zope 1573 —R 
Ürnberger Fechtſchulreime vom Jahre 1579 und Röfener’s Gedicht: Chr 
ventitel unb Lobſpruch ber Wedtlunft vom Jahre 1589. Cine Vorarbeit zu 
dner Geſchichte der Margbrüber und Feberfechter. Heidelberg, 8. &roo8. 


Te 8, 16 Nor. 
Wilbrandt, A. Dramatifge Schriften. I. . 
Berlin, Laffar. Br. 8 W ya drifte Unerreigbar. Luſtjpiel. 


448 


Anze 


Anzeigen. 


igen. 


— — 


Derfag von S. A. Brocihaus in Leipzig. 


Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur 
des 18. und 19. Iahrhunderts. 


Neue, jhön ausgefattete, correcte Ausgaben der 
Schatze der deutſchen Nationalliteratur, 
von den angefehenften Schriftftelern der Gegenwart heraus⸗ 
gegeben mit Einfeitungen und Anmerkungen. 
Unter Mitwirkung von 
Sartfdı, Kiedermann, Buchner, Carriere, Dünker, Ebeling, 
Frenzel, Gervinus, Gordehe, Gottſchall, tgetiner, Möhler, 
Sermann Aur, Max Müller, Morig Müller, Oeferlep, 
Küdert, Julian Schmidt, Carl Schwarz, Tittmann, Zöll- 
ner und Andern. 


Soeben erfäien ber 29. Banb: 
Hölth's Gedichte. Mit Einleitung und Anmerkungen 
herausgegeben von Karl Halm. 


Die frühern Bände (1—28) enthalten: 
Scyleiermadjer'3 Reben Über die Religion, von Earl Schwarz; 
Kopitod'3 Oben, von Dünger; 

Mufäns’ Bollsmärden, von Morig Müller (Doppelband); 

Kortum’s Jobſiade, von Ebeling (Doppelband);; 

Ernft Schulze's Bezauberte Roſe, Poetiſches Tagebuch, von 
Tittmannz 

Leſſing's Minna von Barnfelm, Emilia Galotti, Nathan, von 
Hettnerz 

Wieland's Oberon, von Köhler; 

Maler Nüler'd Dichtungen, von Hettner (zwei Theile); 

Körner'd Leier und Schwert, Zriuy, NRofamunde, 
Gottſchall; 

Forter’8 Auſichten vomn Niederrhein, von Buhmer (zwei Theile); 

Herder's Eid, von Julian Schmidt und Karoline 
Midaslis; 

Seume's Spaziergang nad) Syrakus, von Defterley; 

Wilhelm Müller's Gedite von Mar Müller (zwei Theile); 

Goethe's Fauſt, von Carriere (zwei Theile); 

Bürger's Gedichte, von Tittmann (Doppelband); 

‚Herder’d Ideen zur Geſchichte der Menſchheit, von Julian 
Schmidt (drei Bände); 

Boß' Luife, Ioylen, von Goedeke; 

Schleiermacher's Monologen, Die Weihnachtsfeier, von Earl 
Schwarz; 

wu Nendelsſohns Phadon, Jeruſalem, von Arnold 
Bodel, 


von 


Ein Band koſtet geheftet 10 Ngr., in elegantem Leinwand» 
band 15 Nge.; Doppelbände geheftet 20 Ngr., gebunden 1 Thlr. 
Jeder Band if aud) einzeln zu haben und die Käufer find 
nicht zur Abnahme der Übrigen Bände verpflichtet. 
‚Die erfdienenen 29 Bände find nebſt einem Brofpert 
über die Sammlung in allen Buchhandlungen vorräthig. 





Dertag von 5. 4. Brocihaus in Leipsig. 
Bollftändig wurde foeben: 


Sdiller- Halle. 
Alphabetifch geordneter Gedanken - Schatz aus 
Schillers Werken und SKriefen. 
Im Berein mit Gottfried Frigfhe und Mar Moltle 
herausgegeben von 
Dr. Aoritz Bille, 
Divector des Gefammt« Gpmnaflume zu Leipzig. 
8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor. 

Die „Sciler- Halle” ſtellt alle bedeutfamen Ausfprüde 
Säiller’s, nad) den Gegenfländen oder Stihworten alphabetifd 
geordnet, in bequemer Weberficht zufammen, bildet alfo gewiſfer⸗ 
maßen eine Real-Encyllopädie aus und zu Schiller's fümmt- 
lichen Schriften, eine Art von Schiller-Eonverfations- 
Lexikon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’ eigenen Worten 
geihriebener Erläuterungs- und Ergänzungsband zu 
Sciller’8 Werten gemaunt werden, ber jedem Beſiher 
derfelben zur Anfchaffung zu empfehlen if. Auch zur Berwen- 
dung als Schulprämie iſt das Werk vorzüglich geeignet. 





Verlag von 5. A. Brocthaus in Leipzig. 
Soeben erſchien: 


Der Neue Pitaval, 


Eine Sammlung der intereffanteften Criminalgeſchichten 
aller Länder aus älterer und neuerer Zeit. 
Begrlindet von 
3. €. Hihig und W. Häring (Bilidald Alexis). 
Fortgeführt von Dr. A. Vollert. 

Neue Serie. Sünfter Band. Zweites Heft. 


8 Geh. 15 Nor. 

alt il . . 1869.) — 
ren In Oi Genies in den 

Die Procegverhandlungen wider den achtfahen Mörder 
Troppmann (Traupmann) in Paris werden hier zum erfen 
mal vollftändig im Zufammenhange dargeftellt und vom Stand« 
punfte des deutichen Criminalverfahrens beleuchtet. 

Der „Neue Pitaval“ if in vierteljährlichen Heften zu 
15 Ngr. ober in jährlichen Bänden zu 2 Thle. durch alle 
vuchhandlungen zu beziehen. 





Dering von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Alfred de Musset. 


Eine Studie von 


Karl Eugen von Ujfalvy, 
Professor am kalserl, Lyceum su Versailles, 
8 Geh. 1 Thlr. 

Mit dieser Schrift beabsichtigt der Verfasser, den grossen 
franz; en Lyriker Alfred de Musset dem Verständniss des 
Publikums näher zu bringen, indem er die einzelnen Diehtungen 
im Zusammenhange mit dem Leben des Dichters vorführt und 
sie mit sprachlichen und ästhetischen Erläuterungen begleitet. 











Verentwortlicher Redacteur: Dr. Eduard BSrockhhaus. — Druck und Verlag von F. A. Brochhaus in Leipzig. 








Blätter 
literarifhe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich). 


—e Ar. 29, e— 


14. Yuli 1870, 





Inhalt: Rußland und die deutichen Oſtſeeprovinzen. Bon Edwart Kattner. — Revue neuer Lyrik und Epik. Bon Rudolf 


Gottſchall. (Beſchluß.) — Fenilleton. 


(Die Leopoldiniſche Alademie.) — Sibliographie. — Anzeigen. 


Rußland und die deutfchen Oſtſeeprovinzen. 


1. Rußlands ländlihe Zuftände feit Aufhebung der Leibeigen- 
ſchaft. Drei ruffifche Urtheile, Überfet und commentirt von 
Sulius Edardt. Leipzig, Dunder und Humblot. 1870. 
®r. 8. 1 Thle. 24 Nor. 

2. Juri Samarin’s Anklage gegen die Oſtſeeprovinzen Ruß⸗ 
lands. Ueberſetzung aus dem Ruſſiſchen. ingeleitet und 
commentirt von Julius Edardt. Leipzig, Brodhaus. 
1869. ©®r. 8 2 Thlr. 

3. Livländiſche Beiträge. Herausgegeben von ®. von Bock. 
Neue Folge. Erſter Band. Erſtes bis drittes Heft. Leipzig, 
—— und Humblot, 1869—70. Gr. 8. Jedes Heft 

r. 

4. Livländiſche Antwort an Herrn Juri Samarin von C. Schir⸗ 
—F Leipzig, Duncker und Humblot. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 
10 Ngr. 

5. Offener Brief an Herrn Prof. Schirren Über deffen Bud: 
Liolandiige Antwort. Bon Pogodin. Aus dem Ruſfſi⸗ 
fhen des Golos. Berlin, Behr. 1870. GEr. 8. 10 Ngr. 

6. Der deutfh-ruffiihe Conflict an der Oftfee. Zukünftiges, 
eigen im Bilde der Vergangenheit und ber Gegenwart. 

on W. von Bod. Leipzig, Dunder und Humblot. 1869. 
®r. 8. 24 Nur. 


Die Tragen, welche zwifchen den europäischen Völkern 
ſchweben, namentlich die Grenz⸗ und Herrfchaftsfragen, 
find wefentlich zugleich Fragen der Eultur, und da die 
ſelbe nichts Unbedingtes, fondern etwas Bezügliches (Rela⸗ 
tives) ift, Tragen der höhern oder niedern Cultur. Bölfer, 
welche eine gleiche Höhe in ihr einnehmen, verftändigen 
fi troß der Berjchiedenheit der Sprache fehr leicht, ja, fic 
vermögen auch ein gemeinfames Staatswefen zu bilden, 
wie das in der Schweiz thatjächlich erwiefen iſt. Es 
erhellt daraus zugleich, daß Franzoſen, Deutſche und 
Italiener, wenn fie gegeneinander Billigfeit üben, ebenfo 
friedlich im großen nebeneinander Leben können, wie fie 
es im Kleinen in der Schweiz thun. Anders ift das Ver⸗ 
hältniß der Ytaliener zu den Südſlawen und das der 
deutfchen Nation zu ihren zahlreihen Nachbarn im Oſten. 
Hier überall find die Deutfchen und Italiener die Träger 
einer weit höhern Cultur und einer damit verbundenen 
focialen und politifchen Ueberlegenheit. Dieſe Auffaſſung 

1870, 9. 


wird nicht dadurch widerlegt, daß einzelne verfprengte 
deutfche Bruchtheile unter der großen Uebermacht der 
rohern Nachbarn zur Zeit zu einer untergeordneten poli- 
tifchen Stellung verurtheilt find. 

Das ift der Grund, weshalb in den Herrſchaftsſtreitig⸗ 
feiten zwifchen uns und unfern bezeichneten Nachbarn von 
beiden Theilen der Beweis geführt oder wenigftens ber- 
ſucht wird, daß man in der Eultur im ganzen, oder doch 
in den wichtigften Zweigen derfelben, höher ſtehe. Mean 
will dadurd vor der öffentlichen Meinung Europas er- 
weiſen, daß man das Hecht der politifchen Herrſchaft auf 
feiner Seite habe. 

In einer der ſchwierigſten diefer Fragen, welche fort- 
während an Bedeutung gewinnt, der baltifch-ruffifchen, 
wird es den Ruſſen nicht leicht, dieſe innere Berechtigung 
den Deutfchen gegenüber zu erweifen. Schon daß fie 
feinen eigenen Mittelftand befigen, berfelbe vielmehr ein 
fremder, beſonders deutjcher ift, zeigt hinreichend, daß 
ihnen eine felbftändige Eulturentwidelung abgeht. Die 
Städte find die Werfftatt jeder Eultur und ber Mittel- 
ftand ift der fchaffende Werkmeifter in ihr. Wenn diefer 
Werkmeifter in Rußland ein Ausländer (Deutfcher) iſt, 
fo widerlegt ſich ſchon allein dadurd der Anſpruch der 
culturlichen Ueberlegenheit oder Ebenbürtigleit der Rufſen 
den Deutfchen gegenüber im Innern bes Reiche, aber 
noch mehr in den Oſtſeeherzogthümern. 

großen und ganzen geben es die Ruſſen denn 
auch auf, ſich in ben wichtigſten Eulturzweigen neben uns 
zu fielen; indeg haben fie in nenerer Zeit ein Eultur- 
gebiet entdedt ober vielmehr durch uns (Freiherr von 
Harthaufen) entdeden laffen, auf welchen fie uns ein 
Borbild zu liefern vermeinen. Es ift dies das fociale 
und wirthichaftliche Berhältnig der Bauern und Ländlichen 
Ürbeiter. Sie rühmen ſich, in dem Gemeindebeſitz des 
Grund und Bodens, welcher in Europa einzig noch bei 
ihnen erhalten geblieben ift, ein Mittel zu befigen, durch 
welches der Berarmung und dem BProletarierwefen der 

57 








ww 3 .:$+ 3 
5 


rag — 





450 | Rußland und die deutſchen DOftfeepropinzen. 


gefammten arbeitenden Klaffe des Volks vorgebeugt wird. 
In den Oftfeeprovinzen ſtehen die Rechts- und Wirth- 
fhaftsverhältniffe der Landbevölferung völlig auf derfel- 
ben Grundlage, wie im ganzen weftlichen Europa, näm⸗ 
(ich auf der des perfünlichen Eigentums. Zwar ift der 
Bauernftand bisher noch zum geringen Theil im eigen- 
thümlichen Befig feiner Höfe, doch ift dem Webergange 
aus dem Pachtverhältniß, welches durch alte, feit- 
gewurzelte Sitte weſentlich ein Erbpachtverhältniß ift, durch 
die Gefeßgebung freie Bahn geſchaffen, und alles ift im 
guten Zuge, um dort in wenigen Jahrzehnten einen ebenjo 
kräftigen und reichen Bauernftand zu fchaffen, wie er nur 
fonft irgendwo in Europa zu finden ifl. Allerdings hat 
weitaus ber größte Theil des Landvolks feinerlei DBefig- 
recht an den Boden, fondern ift für feinen Broterwerb 
auf feiner Hände Arbeit angewiefen, welche ihm aber bei 
Gutsbefizern und Bauern reihlidh und zu gutem Lohn 
dargeboten wird — eine Sadjlage, wie fie im ganzen 
Welten ähnlich vorhanden if. 

In Innerrußland Hingegen bildet der loſe Arbeiter- 
ftand des platten Landes einen geringern Bruchtheil der 
Bevölkerung; der weitaus größere verfügt über Grund 


und Boden, allerdings nicht als perfönliches Eigenthum, 


fondern als Befig der Gemeinden; und au für den 
beſitzloſen Arbeiterftand gibt e8 in Sibirien und in den 
mittelafiatifchen Eroberungen, ſowie aud in den ältern 
Brovinzen umnermeßliche Ländereien, welde entweder 
Staatseigenthum oder völlig herrenlos find, leichte Ge⸗ 
Iegenheit zum Landbefig zu gelangen. Dieſes anfcheinend 
günftige wirthfchaftliche Verhältniß des ruſſiſchen Land— 
volts, biefe anfcheinende Sicherheit der Dafeinsbedingun- 
gen wird von den Ruſſen der angeblihen Armuth und 
Dafeinsunficherheit der größten Mehrzahl unter den Yand- 
[euten Europas im allgemeinen und der Oftfeepropinzen 
insbefondere als ein glänzender Beweis überlegener, eigen« 
artiger Cultur angepriefen. Die deutſchen Gutsbefiger 
der baltifchen Herzogthiimer dagegen werden für die Befig« 
Iofigfeit der Eften und Xetten von ihnen verantwortlich 
gemadjt; fie werden ohne Umfchweife Räuber des natür« 
lichen Befigrehts der Bauern, Tyrannen, Blutfauger 
u. f. w. genannt. Es wird von. ber nationalen Partei 
unabläffig in die Regierung gedrungen, daß fie dem bal- 
tifchen Adel feinen Raub, d. i. feinen Landbefig, wieder 
entreiße und ihn dem enterbten Bauernftande, d. 5. aljo 
den befiglofen, ländlichen Arbeitern übergebe, damit er 
denfelben nach ruffifchem Recht, d. h. im Gemeindebefig, 
benuge und fo ber ruffifchen Nationalität zugeführt, die 
Deutjchen aber wirthſchaftlich zu Grunde gerichtet, wenn 
nicht von den racheentflammten Bauern vernichtet werben. 

Es ift die Trage, ob diefer Ländliche Gemeindebefig 
der Ruffen, wie in ihrer Tagespreile und in der Theorie, 
auch in Wirklichkeit und Praris, fi) als eine fo vorzüg- 
liche Inſtitution bewähre, daß er auf die ländlichen Ber- 
bältniffe der Dftfeeprovinzen ohne Bedenken anmendbar 
erſcheint und eine wejentliche Verbeſſerung derjelben her⸗ 
beizufüthren verſpricht. Es ift fehr. verdienftlih von Yu- 
lius Edardt, daß er in ber Schrift: „Rußlands länd- 
liche Zuftände” (Nr. 1), uns drei Abhandlungen von ruſ⸗ 
ſiſchen Schriftftellern über den genannten Gegenftand in 
deutfcher Weberfegung vorführt. Die drei Verfaſſer, auf 


fehr verfchiedenen Barteiftandpunkten ftehend, entwerfen 
dennoch übereinftimmend ein höchſt trauriges Gemälde von 
dem Zuſtande Rußlands auf dem Lande. Hr. P. von 
Tılienfeld, welcher unter der Chiffre B. L. die Brofchüre 
„and. und Freiheit“ im Jahre 1868 fchrieb, ein Ruſſe 
von deutfcher Abftantmung, gegenwärtig Civilgouverneur 
von Kurland, fteht wefentlih auf dem Standpunkte des 
ruſſiſchen Conſervativen. U. Koſchelew, der Verfaſſer 
der Schrift: „Ueber die gegenwärtige Lage des ruſſtſchen 
Bauernſtandes“, gehört zu der Slawophilenpartei, nur 
paſſen ſeine auf eigener Erfahrung beruhenden Mitthei⸗ 
lungen in der Schrift nicht in das Programm, zu welchem 
er ſich bisher bekannt hat. Der dritte Aufſatz, welchen 
Edardt überjetst hat, ift älter, er ftand fchon im Yahre 
1866 in der „Moskauer Zeitung‘, in biefem berühmten 
und berüchtigten Blatte, welches unter feinem Leiter Kat 
kow eine ganz eigenthümliche Richtung bewahrt, bie 
weder mit der liberalen, noch mit der flawophilen, nod 
mit der confervativen Partei genau übereinftimmt. Dies 
fer „Brief vom Lande” ftraft aber merkwürdigerweife bie 
optimiftifchen Darftellungen von den ländlichen Berbält- 
niffen Rußlands empfindlid) Lügen, die gerade durch die- 
jes einflußreihe Journal gehegt und gepflegt, fozufagen, 
zur politifchen Religion Rußlands gemacht waren. Seine 
Schilderung ſtimmt vollftändig, faft wörtlich mit den An- 
gaben der beiden andern Auffäge überein. Um den In« 
balt von allen dreien zu Tennzeichnen, wollen wir hier 
einige hauptfächlihe Parallelftellen folgen laffen. Bor 
allem find die drei Schriftteller darin einig, daß die 
ruffifche Landbevölkerung, die anſäſſige wie die lofe, welche 
bei den großen Gutähefigern in Lohn und Brot fteht, 
unglaublih roh, Tiederih, faul, unzuverläſſig, trunk⸗ 
ſüchtig, diebifch, überhaupt unfittlih if. Der Brieffteller 
der „Moskauer Zeitung‘ fpriht unter anderm ©. 245 
von der „Liederlichleit und Zuchtlofigkeit”“ der gemietheten 
ZTagelöhner : 

Kein Landwirth Tann fiher fein, daß nit am nädften 
Morgen alle jeine Arbeiter auf» und davongehen, ohne Pferde 
und Vieh getränkt und gefüttert, ohne die Defen geheizt zu 
haben, und zwar davongehen nicht infolge eines Streits oder 
einer Unzufriedenheit mit ihm, fondern weil in einem Nachbar 
dorfe in 10 oder 15 Werft —A gerade Feiertag iſt und 
weil Wanka dem Fedka geſagt hat: „Gehn wir Kamerad, bei 
uns iſt heut’ ein Brauntweinchen angeführt, du ſollſt ſehen!“ 
Dem Fedla folgt auch der Stepan; Jegor und Nikita aber 
balten es für eine Schande, flir andere zu arbeiten und ver: 
ſchwinden gleichfall® nad einer andern Seite hin u. ſ. w. Der 
ganze Haufe kehrt nad) drei oder auch vier Tagen wieder, aber 
unterdeß ift das Vieh crepirt oder wenigſtens eine dringende 
Arbeit liegen geblieben. Das alles verfieht fich gleichſam ganz 
von jeldft, und daß der Landwirth für feinen Verluſt ſchadlos 
gehalten werde, gehört zu den undenkbaren Dingen. Man findet 
entweder keine Behörde und müht ſich vergebens ab, ober, was 
noch ſchlimmer ift, die Schuldigen werden einer angeblichen 
Strafe unterzogen, und dann ftehlen fie euch euere Pferde weg 
oder fteden euere Koruſchober in Brand, um euch die Luf am 
Klagen zu benehmen! | 

©. 248 zeigt der Berfaffer, daß der eigentliche Bauer 
Sommer und Winter viel Gelegenheit zum Geldverdienſt 
bat, aber fie aus Zrägheit nicht benugt. Weiter ſpricht 
er von der entjeglichen Dieberei auf dem Lande. Mit 
noch größerer Strenge ſpricht ſich Lilienfeld über die 
Untugenden und Lafter des ruffiihen Bauern aus: 


— — — — — — — — — — 


⸗ 


Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen. 


Mord, Raub und Diebflahl nehmen in unglaublichem 
Maßſtabe zu; Entfittlihung, Trunkſucht, Bettel- und Baga- 
bundenweſen geben mit diefen Verbrechen Hand in Hand. Mit 
der Nichtachtung des Eigenthumsrechts iſt e8 auf dem flachen 
Lande bereits fo weit gelommen, daß gemiffe Zweige der Land- 
wirthichaft, die in andern Ländern noch zu den Attribnten eines 
balbwilden Zuflandes gerechnet werden, in unjern Dörfern 
wit mehr gebeihen. Erben, Rüben, Möhren und andere 
Gemilfe, Gartenfrlichte, wie Obft, Beeren u. f. w., werden 
gegenwärtig nicht mehr gezogen, weil e8 nicht möglich ift, fie 
vor Heinen und großen Dieben zu fchligen. Der ruſſiſche Dorf. 
bewohner, der ſich mit der Anlage von Gemlife- und Frucht⸗ 
gärten abgeben wollte, würde nicht für fi, fondern für andere 
arbeiten. Nur wo Anlagen diefer Art von ganzen Dörfern 
als Gewerbe betrieben werden, können diefelben jetzt noch ge- 
Deiben, denn in ſolchem Falle find die Interefien des einzelnen 
und der Geſammtheit diejelben, und wird die Unverletlichkeit 
fremden Eigentums einigermaßen refpectirt. Die meifteu rujfl- 
ſchen Bauern müffen das Gemüfe und die Früchte, deren fie 
bebärfen, Taufen, und die Möglichkeit, aus dieſem Zuftande 
Berauszulommen, ift infolge der Zerrüttung aller Berhältniffe 
auf unbeflimmte Zeit hinansgeſchoben. Auf den Höfen der 
GSutsbefiger werden Gemüfe und Früchte nur unter dem Schutze 
Hoher Zäune und ſtarker Wachen gebaut; auf offenem Felde 
wären fie dem Diebftahl der Bauern bedingungelos preisgegeben. 

Aehnlich äußert fi Koſchelew ©. 212 fg.: 

Man muß auf dem Lande eben, um felber zu jehen, bis 
zu welch entfeglicher Höhe die Völlerei fich gefteigert hat; nicht 
nur au Sonn⸗ und Feiertagen wälzen Trunkene fih auf allen 
Gaffen, auch in der Woche nnd namentlid) an den Montagen 
ſteht man ganze Scharen Tanmelnder. Selbſt Weiber und 
Kinder tragen das Geld, das fie erworben haben, in die Schente 
und faufen, bis fle umfallen. Auf die Folgen brauchen wir nicht 
weiter einzugeben, denn wer wüßte nicht, daß fie in Raufereien, 
Diebflählen und Ausſchweifungen aller Art beftehen. 


Ueber die Rechtspflege und Berwaltung geben unfere 
Smwährsmänner übereinftimmend in gleichem Maße troft- 
Ioje Berichte. In dem „Briefe vom Lande” heißt es 
©. 251 über bie Rechtöpflege: 

Sollte die Klage auch wirklich von einer Perſon als be- 
gründet erachtet werden, jo gibt e8 doc fein Mittel, dem er- 
Littenen Verluſt erfeßt zu erhalten ober wenigftens den Schul⸗ 
digen zur Vollendung der von ihm im Stich gelaffenen Arbeit 
zu zwingen. In meiner Nachbarſchaft ereignete fich folgender 
Fall. Ein Kronsbauer Hatte fich bei dem Gutsbefiger ©. für 
irgendeine Arbeit verbungen, hatte Handgeld genommen und 
zwar trotzdem ausgeblieben. Es ergab fi, daß er bei einem 
andern Herrn in Arbeit getreten war, der höhern Lohn zahlte. 
Auf die Klage des S. wurde er verurtbeilt, das Handgeld her- 


auszugeben; dies fchien ihm fo ungeredht, daß er dem Kläger 


ein Gebäude in Brand ftedte. 

Bir müſſen e8 uns verfagen, eine draſtiſch erzählte 
Wegeausbeſſerungs⸗Geſchichte Lilienfeld’8 (S. 177) bier 
wiederzugeben und laffen nur noch nachftehende Schilde- 
zung Kofchelew’s von den bäuerlichen Bezirksgerichten 
S. 210 folgen: 

Der zweite Grund der Berarmung nnd moraliſchen Ber- 
tommenheit unferer Bauern ift in der Abmefenheit jeder Art 
von Auftiz in den bäuerlichen Bezirksgerichten zu ſuchen. Auch 
bier if der Branntwein der einzige Richter, d. 5. regelmäßig 
gewinnt die Partei, weldje das größte Branntweingnantum 
fpendet. Bon Achtung des Eigenthumsrechts und der Sicher- 
heit der Berfon ift auch nicht die Rede, und die Bauern jelbft 
Magen über ihre Gerichte am meiften. 

Es liegt auf der Hand, daß bei ſolchen Zuſtänden 
Die Landwirthfchaft in hohem Grade leiden muß. Ueber 
Diefen Gegenftand jagt der DBrieffteller der „Moskauer 
Zeitung“ in Betreff der großen Güter ©. 246: 


451 


Die einen verpadten es (ihr Gut) um einen Spottpreis 
und müſſen gejchehen laflen, daß es völlig ausgeſogen wird, 
da von Düngung feine Rede if; die andern arbeiten mit hal« 
ber Wirthichaftsfraft und verwenden daher auch nur die Hälfte 
Dünger, obgleich auch diefes hHomdopathifhe Quantum zufam- 
menzubringen ſchwer wird, da bei der Liederlichleit der Hof- 
dienerfchaft eine ordentlidye Biehzucht fo gut wie unmöglich if; 
bie dritten laffen ihr Aderland Steppe werden und benutzen es 
als Rinderweide, wodurch wenigftens das Kapital für künftige 
Generationen ungeſchmälert bleibt. Die dritte Methode, die 
an die Zeiten unſerer Erzväter erinnert, erweiſt ſich als die 
vortheilhafteſte, läßt ſich aber leider nur in der Nähe der Städte 
oder der großen Ochſendurchzugsſtraßen anwenden. Im übrigen 
weiß ich nicht, worüber ich Hagen joll, über bie letzterwähnte 
Einfhränfung oder über den Rückgang unferer Civilifatton 
überhaupt, infolge deffen die Steppe und die Steppenwirth- 
Kr das dlomomijche Ideal geworden iſt, dem wir zuznftreben 

aben. 


Hr. von Lilienfeld fchließt aus der wachſenden Zahl 
der Misernten, daß in Rußland die Landerträge fich feit 
Jahrhunderten vermindert haben, was wol hauptfächlich 
als eine Folge des Gemeindebefiges und der damit ver- 
bundenen Bobenausfaugung anzufehen if. ©. 66 berichtet 
er Folgendes: 


Nah von der peterhofihen Kreisverwaltung (Bonverne- 
ment Petersburg) gefammelten zuverläffigen Nachrichten war 
im Jahre 1865 auf 11 von ben in diejem Kreife befindlichen 
63 Privatgütern, die Ackerwirthſchaft vollfländig gefchloffen - 
und der Biehſtand bebentend vermindert worden, obgleich der 
peterhofſche Kreis bezüglich feiner Bodenbefchaffenheit, des Ab⸗ 
ſatzes von Producten, der Gommunicationswege n. |. w. un⸗ 
gleich günfliger geftellt ift, als die entferntern Kreiſe des peters⸗ 
nrgifhen, nowgorodiſchen, plesfauifchen und andern nördlichen 
Souvernements; in biefen Provinzen gehen die Gutswirthichaf- 
ten unwiederbringlih jammt allen auf biejelben verwandten 
Kapitalien zu Grunde; eine erneute Fruchtbarmachung derfelben 
wirb bei unferm nördlichen Klima große Schwierigleiten haben 
und längere Zeit erfordern. 


Bon den drei bier zufammengeftellten Verfaffern hat 
zwar derjenige des „Briefs vom Lande” auch einen 
tabelnden Hinweis auf den Gemeinbebefit gegeben, Hr. von 
Lilienfeld erklärt ihn, wie ſchon vor ihm Schedo⸗Ferotti 
in „Le Patrimoine du peuple‘ ohne Bedenken für eine 
der Haupturfachen der bedenflichen Ländlichen Zuftände auf 
dem Lande in Rußland, namentlih in den nördlichen 
Theilen. S. 100 fagt er über ihn: 


Der Gemeindebefig bat eine hohe, unüberſehbare und noch 
nit genug anerlannte Rolle in der Gefchichte des ruffischen 
Volks geipielt, namentlich für die Eolonifation noch unbewohn⸗ 
ter Gegenden, indem er zur Ausbreitung der Bevölkerung bes 
trächtlich beitrug. Jene plögfichen Eolonifirungen im Süden 
und Südoſten Rußlands, die ohne Geräufh und ohne heftige 
Erjhlitterungen vor ſich gegangen find und eine mächtige, un- 
aufpaltfame Bewegung bildeten, die ſich nah Often hin nod) 
gegenwärtig fortfegt, Haben mit diefem Inſtitut im engften 
Zuſammenhang geftanden. Aber nur fo lange die erſte Periode, 
das Zeitalter der Ausbreitung des Volls Über einen ungeheuern 
Flächenranm, dauerte, Hatte der Gemeindebeſitz eine Berechti⸗ 
gung, für die jpätern Stadien erweift er fi) als hemmend und 
ſchädlich. Die Gemeinfamkeit des Beſitzes am Grund und 
Boden mwird zum Hemmſchuh der Entwidelung, und die Schäd- 
lichkeit dieſes Hemmſchuhs nimmt in demfelben Maße zu, in 
weldem die Forderung moraliſcher und materieller Entwidelung 
des einzelnen Individuums für das progreffive Wachsthum des 
Gemeinde » und Stantsorganiemus dringender wird. Der 
Gemeindebefit droht gegenwärtig bie mächtigen Kräfte des ruf- 
ſiſchen Volks für die Dauer zu feffeln und gerade die verfländig- 
nen Maßregeln der Regierung in todte Buchflaben zu verman- 

e nn, 


57 * 





452 Rußland und die deutſchen Dftfeepropinzen. 


Es gehört für einen ruſſiſchen Publiciften, der denn 
doch menigften® von den Mittheilungen der Zagesliteratur 
und von den einfchlagenden Ylugfchriften in ruffifcher 
Sprade, alfo aud) von dem vorftehend charafterifirten, 
Kenntniß befigen muß, viel Verwirrung der Begriffe, viel 
Kurzfichtigkeit, viel blinder Fanatismus dazu, um für 
Nebenländer feines Baterlandes, insbefondere für bie 
Dfifeeprovinzen, die ruffifhen ländlihen Einrichtungen 
und Berbältniffe ala Muſter aufzuftellen. Dennoch thut 
dies Juri Samarin in der am Cingange angeführten 
Schrift: „Anklage gegen die Oftfeeprovinzen Rußlands“ 
(Nr. 2). Die Emführung der ruffifchen ländlichen Ge- 
meindeverfaflung , der Ländlichen Verwaltungs» und Rechts⸗ 
orbnung und der Landwirthſchaft ift allerdings nicht der 
einzige Beftandtheil der Ruffifictrung, welche er in ben 
baltischen Landen durchgefett wiffen wil. Wir wollen 
uns aber zunächft hiermit befchäftigen, indem wir alsdann 
noch in befchränfterm Maße auf die andern Punlte feiner 
Anklagen und Hebereien zurückkommen werben. Im all- 
gemeinen fann man feinen Ausführungen über die größere 
Güte der ruſſiſchen Einrichtungen in ber Theorie oft fehr 
wohl beipflichten; es ift nicht zu leugnen, daß die rufftfche 
Geſetzgebung feit dem Jahre 1860 auf diefen wie auf 
andern Gebieten meiſtens nach den Orundfägen oder 


wenigſtens nad) den Schablonen des weitlihen Europa 


und des 19. Jahrhunderts abgefaßt ift, während die ent- 
fprechenden Einrichtungen in den Dftfeeprovinzen noch 
immer, wenn auch in geringerm Maße, das Geprüge 
älterer Zeiten an fi tragen. Was aber Samarin ganz 
überfieht, das ift das Ergebniß der ländlichen Verfaſſung 
öftlih und weftlic vom Peipusſee. Wie e8 dort ausfieht, 
haben wir foeben nach den Ausfagen von Augenzeugen 
dargelegt. Samarin ift jedoch vol fittliher Entrüftung 
über die entmenfchten Ariftofraten Liv-, Eft- und Kur⸗ 
lands; über ihre Standesfelbftfuht, über ihre Ränke, 
welche verhindert haben, daß die demofratifchen Principien 
der ruffifchen ländlichen Gemeindeordnung und Selbſt⸗ 
verwaltung in den baltifcden Serzogthümern Anwendung 
gefunden haben. Er führt nämlich die Behinderung einer 
volftändigen Ruffificirung diefer Provinzen in Geſetz⸗ 
gebung, Berfaffung, Religion, Sprade und Net, wie 
fie von der national=rufftfchen Partei feit einigen Jahr⸗ 
zehnten betrieben wird, anf die fogenannte „baltiſche In⸗ 
trigue” zurüd. Diefe „baltifche Intrigue“ befteht nad) 
ihm in einem theils verabrebeten, theils ſtillſchweigenden 
Complot zwifchen den baltifchen Deutfchen, namentlich den 
dortigen adelihen Gutsbeſitzern, Iutherifchen Geiftlichen 
und Beamten, denen ſich die Mehrzahl der ruſſiſchen 
MWiürdenträger deutfcher Abkunft im ganzen Reiche an⸗ 


* Schließen, und von welchen ſich ſelbſt Staatsdiener ruſſi⸗ 


ſcher Abkunft mit oder ohne Bewußtſein als Werkzeuge 
benugen laflen. Das Ziel diefes Complots ift nad 
Samarin nit blos die Bewahrung der bisherigen, 
Scharf abgegrenzten Sonderftellung der Herzogthümer dem 
eigentlichen Rußland gegenüber, fondern fogar in ber 
vollftändige Loslöfung derfelben vom Reiche und die 
Herbeiführung einer preußifchen Beſitzuahme. Samarin 
wendet eine große Kunft ber Umdeutung, Berdrehung 
und Fälfhung der Thatſachen an, um feinen ruſſiſchen 
Lefern dieſe Vorftellung glaubwürdig zu machen. Cs ift 


far, daß er um fo mehr Glanben finden muß, wenn er 
die einflußreichen Stände der Oftfeeländer in einem mög. 
Tichft gehäffigen, freiheitsfeindlichen Lichte darſtellt. Das 
gejchieht denn auch Hauptfächlih durch Entwerfung eines 
möglichſt düftern Gemälbes von dem Zuftand ber länd- 
lichen Bevöfferung in denfelben. 

Ein Hauptgewicht legt ex bei feiner Darftellung dar⸗ 
auf, daß die Pacht der Bauerhöfe nicht geſetzlich fefl-, 
geftelt, fondern der freien Vereinbarung anheimgegeben 
if. Folgt man feinem Bericht auf Treue und Glauben, 
fo wird man nicht errathen, ja es fogar nicht einmal 
für möglid) halten, daß in den baltifchen Herzogihlimern 
der abziehende, bäuerliche Pächter nad) dem Geſetz eine 
jo genügende Entfchädigung erhält, daß er zu feiner Klage 
Beranlaflung findet, und daß der Grundbeſitzer es nicht 
jo leiht auf eine Löfung des Pachtverhältniffes durch 
Uebertheuerung anlommen läßt. Es ift aus der Dar 
ftellung Samarin’8 ferner keineswegs erſichtlich, daß durch 
Abſetzung eines Pachters dem Bauernftand überhaupt nicht 
der geringfte Nachtheil gejchieht, indem der Gutsherr nicht 
berechtigt ift, einen ſolchen pachtloſen Bauerhof einzuziehen, 
fondern gefeglid; gezwungen, den abziehenden Pachter wieder 
durch einen andern und zwar aus ber Mitte des Bauern 
ftandes zu erfegen. Statiftifche Berechnungen erweifen fer- 
ner, daß trog der allerdings ftetig wachfenden Höhe der 
Pachten von 35699 livländifchen Pächtern im Verlauf der 
fetten fünf Jahre nur 190 (d.h. O,,; Procent der Geſammt⸗ 
zahl) die in Befig gehabten Pachthöfe aufgaben, obgleich die 
Pachtſumme in dieſem Zeitraum von 3 Rubel 92 Kopelen 
Silber für den Thaler (d. 5. für einige Morgen) Landes anf 
6 Rubel 62 Kopelen Silber geftiegen find. Doch Tehren 
wir zu unferın Vertheidiger der baltischen Bauern zurück; 
er ſchwingt fih noch zu folgendem Ausbruch fittlicher 
Entrüftung über bie Verwandlung der Frone in Geld 
pacht auf (S. 74): 


Eudlich hat der Lebergang von der Frone zur Pacht bei 
nne an dem Anrecht der Bauern anf den Grund und Boden 
nichts geändert; dieſes fteht vielmehr umnerjchütterlich feſt. Daſ⸗ 
jelbe Zerritorium, das die fronleiftenden Bauern befafien, haben 
die pachtzahlenden behalten, fobaß ihnen aus dem Webergang 
von der Frone zur Geldpacht in diefer Beziehung kein Schaden 
erwächſt und aud nicht erwachlen kann. In den baltifchen Pros 
vinzen bot die Einführung des Pachtſyſtems den Grundbefigern 
einen neuen Vorwand bazu, die Bauerwirthe ans ihren Gefin- 
ben zu vertreiben. Auf Grund der für Liv», Eft- und Kur⸗ 
land beftehenden Agrarverordnungen eröffnet der Gutsbeſitzer 
dem Wirthe einfach, daß er, der Gntsbefiter, die Frone nan- 
mehr in eine fo und fo hohe Geldpacht verwandeln wolle und 
fragt dann den Bauer, ob er dieſe Pacht zu zahlen geneigt fei? 
Der Bauer ſchwört und betheuert, baf er Kein Geld Habe, daß 
e8 ihm noch an der Zeit gefehlt, fich einzurichten, und flebt, 
ihn doc ein oder zwei Jahre noch in dem Fronverhältniß zu 
belafſen; allein der Gutsbeſitzer fchlittelt den Kopf und fpridt: 
„Ich Tann nicht, mein Lieber, und ich will nicht; die Frone 
it mir ein Greuel; fie ift eine veraltete, nichtonntzige Einrich⸗ 
tung und, indem ich fie bei mir abichaffe, erfülle ich außerdem 
ben Willen der Regierung. Eniſchließe did alfo oder räume 
dein Gefinde; Liebhaber find genug da und das Gefinde wird 
nicht leer bleiben: der und ber drängt fi) mir fchon auf. Der 
eingeſchüchterte Bauer bietet die Hälfte oder ein Drittbeil der 
geforderten Summe, indem er erflärt, er fei aus dem und bem 
Grunde außer Stande, mehr zu zahlen; der Gutsbefiger bleibt 
nnerbittlih, und unterwirft fid) der Bauer den an ihn geftellten 
Forderungen nicht, fo wird er vertrieben und das Befinde geht 


r 


Rußland und die deutfchen Oftfeepropninzen. | 453 


an einen andern, leichter zu liberrebenden, bemitteltern oder 
minder vorfidhtigen Bauerwirth Über. 


Eckardt berichtigt diefe Darſtellung Samarin’s in fol- 
gender Weile: 


Jedem Kenner baltiicher Agrarzuftände, ja jedem denkenden 
Dienfchen, muß diefer Paſſus Über die Greuel der Fronabolition 
geradezu lächerlich erfcheinen. Fanatismus oder Kurzfichtigleit — 
wir überlaffen die Wahl zmifchen dieſen Erflärungsgründen 
dem Leſer — drüden unfern Autor auf einen Stanbpunft volls⸗ 
wirthichaftlicher Ignoranz herab, der felbft für unſere zähen 
und Neuerungen abgeneigten Bauern Tlängft ein Übermwundener 
iſt. Die Eonverfion der Frone in Geldpacht ift von ber ge- 
fommten gebildeten Bevölkerung Liv», Eſt⸗ und Kurlands und 
nicht zufegt von den Bauern diefer Provinzen als ungeheuerer 
Kortichritt begrüßt worden, und nur die reactionären Guts⸗ 
befißer, welche fich diefer Umgeftaltung bornirterweije wider» 
fegten, haben den Muth gehabt, dieſe Maßregel für eine Schü⸗ 
digung der bäuerlichen Intereffen auszugeben. Nur unter der 
Herrſchaft „halbbarbariſcher“ Zuftände und Anfhauungen Tann 
außer Augen geſetzt werden, daß die Arbeitspadht ſchon wegen 
des nothivendigen Zeitverluftes, den fie dem Pachter verurfacht, 
eine der [Hädlichften Hemmungen wirthihaftliher Entwidelung 
if. Freilich gibt es Länder, in welchen freie Zeit nicht Geld, 
fondern Berluft ift, weil diefelbe herkömmlich nur zur Böllerei 
benußt wird. Die Oftfeeprovinzen können diefen Ländern leider 
nicht mehr zugezählt werden, denn die wefteuropäifche Bilbungs- 
franfheit Hat auch ihre Bauern ſchon fo weit inficirt, daß die 
jelben Zeitverfuft ebenfo hoch anfchlagen wie Geldverluft, und 
auszurechnen verftehen, daß fechs freie Arbeitstage mehr werth 
find als drei Arbeitstage. Wir werden es wahrſcheinlich ſchon 
in einigen Jahren erleben, daß die auf dem Bauernflaude ru- 
henden Laften (Wegebau, Fuhrenſtellung u. |. m.) mit Gelb 
abgelöft werben. 


Zur weitern Berichtigung der Samarin’shen Anſchul⸗ 
digungen führen wir noch nah von „Yung-Stilling: 
„Statiftifches Material zur Beurtheilung Livländifcher 


Banernverhältniffe” (Petersburg 1868), einige Thatjachen. 


über den Erfolg der baltifchen ländlichen Gefeßgebung 
und Verwaltung an. Der Erfolg kann doc ſchließlich 
über den Werth beider allein die Entjcheidung abgeben, 
Auch Huer gilt das Wort des Apoftels: An den Früchten 
ſollt ihr fie erkennen. Wenn Samarin die ihm fabelhaft 
hohen Breife der Gefinde (Bauerhöfe) beim Verkauf an 
die Bauern dem Eigennute der Gutsherren zur Laft legt, 
fo wirb diefer Vorwurf dadurch leicht widerlegt, daß in 
Livland von den 4002 bis zum Frühjahr 1868 in bäuer⸗ 
liches Eigenthum übergegangenen Höfen nur zwei wegen 
Bankrott der Käufer zum öffentlichen Verlauf gelommen 
find. Wenn nım aud) der Durchſchnittspreis einer Deffätine 
Bauerlandes in Livland 61 —66 Rubel, in den Gou⸗ 
vernements Petersburg 1 Rubel 831, Kopelen, Perm 
1 Rubel 56 Kopeken, Smolenst 1 Rubel 22°/, Kopelen, 
Nowgorod 351/, Kopelen, Twer 26%/, Kopelen, (Niſhnij⸗) 
Nowgorod 5 Kopelen beträgt, jo Tann wol nur ein fo 
turzfichtiger und verworrener Kopf wie Samarin daraus 
fhließen, daß dort der Bauer arm, gedrüdt und aus⸗ 
gejogen, bier überall dagegen wohlhabend und menjdjen- 
freundlich behandelt if. Wir willen aus den Auszügen 
bes Edardt’fchen Buchs, wie es mit Wohlhabenheit und 
Gerechtigkeit bei den ruſſiſchen Bauern fteht. 

Auch der Lohn für den Ländlichen Arbeiter ift in 
Kivland ftetig geftiegen; im Jahre 1868 betrug der bem 
verheiratheten Bauernknecht gezahlte Arbeitslohn durch» 
ſchnittlich 106 Rubel 89 Kopelen, während berfelbe in 
Preußen durchſchnittlich nur 105 Thle, 29 Sgr., in 


Belgien 81 Rubel 35 Kopefen betrug. Das Bermögen 
der livländiſchen Gemeinden bat fi) von 199583 Aubel 
41%, Kopeken, welche 1849 in ben Gemeindekaſſen vor- 
handen waren, binnen 18 „Jahren auf 997928 Rubel 
56 Kopelen gefteigert, d. 5. von 75 Kopeken pro Kopf 
auf 3 Rubel 40 Kopeken. Ueber den Bermögensftand 
der in Gemeinbefig wirthfchaftenden ruſſiſchen Landgemein⸗ 
den fehlen uns ftatiftifche Ueberblide; wir können aber 
aus den Schlaglidhtern unferer obigen Anführungen auf 
folche fattfame Schlüffe ziehen. . 

Ein zweites Heft von Samarin’3 „Ruffifhen Grenz⸗ 
gebieten”, enthaltend die angeblichen Denkwürdigkeiten eines 
ruffificirten Letten Indrik Straumit, ift uns von Edardt 
mit dem erften Heft nicht zugleich überfegt worden. In 
Schirren's „Livländifcher Antwort“ findet ſich ein Auszug 
daraus, welcher eine Anpreifung Rußlands gegenüber den 
Dftfeeländern aus dem naiven Munde von xufflfchen 
Arbeitern enthält, die mit den vorftehenden Thatſachen 
ſchlecht ſiimmt. Wir müſſen fie bier übergehen und 
bemerken nur noch, daß biefelbe nach Indrik Straumit 
und Samarin in den vierziger Fahren des Jahrhunderts 
den Erfolg Hatte, die Leiten und Eften von ber Uns 
wahrheit des Proteftantismus zu überzeugen und fie dem 
höhern Lichte der ruffiichen Rechtgläubigkeit zuzuführen. 
Samarin jagt: daß damald in dem ganzen baltifchen 
Bolfe ein „freier Zug zu Rußland“ hervorgetreten fei 
(ein Zug, hervorgegangen aus unbefriedigten geiftlichen 
Bedürfniſſen und gleichzeitig aus tiefem Unwillen tiber 
die Stodung, welche in den damaligen Bauernverhältnifien 
eingetreten war). Diefen Zug habe Kaifer Nikolaus er⸗ 
kannt, welcher beſonders befähigt gewefen fei, „ben Inſtinct 
der Bollsmafjen mit Sicherheit zu errathen“. Er babe 
den Leuten ben bentfchen Bebrüdern gegenüber freien 
Spielraum für ihr Streben gewährt, bald aber fei bie 
„baltifche Intrigue“ doch wieder fo mächtig geworben, bie 
Bewegung einzudämmen. „Zwifchen allen Baftoren, Guts⸗ 
befigern, Polizei» und Berwaltungsbeamten und Richtern 
beftand ein geheimes Einverftänbniß, das unwirkfam zu 
machen keiner Kraft möglich geweien wäre.” Sa kam 
es denn, daß „die neubelehrten Letten und Eſten fich 
nit nur nit in ihrem Glauben befeftigten, fondern 
daß fie fi ihm gegenüber gleichgültig, ja feindlich ver- 
halten und den Kaifer anflehen, ihnen die Rückkehr im 
das Lutherthum zu geftatten“. Man fieht, die baltischen 
Deutfchen find wirklich treulofe und gefährliche Hoch— 
verräther. Woldemar von Bold macht in feinen „Livlän- 
difhen Beiträgen” und andern Schriften wiederholt dar⸗ 
auf aufmerkfam, daß Bekehrungen zu der Rechtgläubigkeit 
niemal8 ohne eine greifbare Beilage, die er Prämie nennt, 
borfallen, möge diefelbe in einer Landparcelle, in Abgaben- 
freiheit oder aud in Fünftlichen Perlen und Tüchern, 
oder gar nur in einem Meffingfnopf beitehen. Bon 
einer Erhellung des Geiſtes und Länterung des Herzens, 
al8 Mittel zur wahren Kirche zu belehren, hat fein 
ruſſiſcher Glaubensapoftel nur eine Ahnung, auch Yuri 
Samarin nidt. 

Der Widerftand der Balten gegen eine Verſchmelzung 
mit Rußland beſchränkt ſich aber nicht auf die beiden 
genannten Punkte, fondern, fie wollen auch ihre ange- 
erbte Sprache, ihre Verfaſſung (Landesitant), ihr ange 





464 | 
ſtammtes deutſches Hecht bewahren und nicht ber 
„Reichseinheit” opfern. Sie verlangen ſogar ein befon- 
deres baltifches, von dem ruffiihen Senat getrenntes 
Dbertribunal. Und barin find fie, wie der Tribun Sa⸗ 
marin feftftelt, den Polen völlig gleichzufegen. Zwar 
fingen fie nicht „revolutionäre Hymnen“ in den Kirchen, 
zwar gehen „dieſe Gefänge ben Proceffionen in ben 
Straßen nicht voraus“ unb es „folgen diefen wieberum 
bewaffnete Banden in den Wäldern nicht nach“, auch 
drehen die Lioländer den Schnurrbart nicht in die Höhe 


= 


Revne nener Lyrik und Epil. 


und tragen feine „zurlidgefrämpte Aermel“; doch verfichen 
fie ſich um fo befier auf „jene allgemeinen Kunſtgriffe 
politifcher Intrigue, vermittel$ deren manchmal revolutio- 
näre Minen gelegt werben, manchmal aber, mit andern 
Mitteln, und zwar ganz fill, ohne jegliche Verlegung bes 
Anftandes, ohne Alarm und ohne geftidte Fahnen, der 
Geiſt eines ganzen Landes umgemwälzt wird”. 
Edwart Kattnır. 


(Die Fortſetzung folgt in der nächſten Nummer.) 


Reune nener Lyrik und Epik. 
(Beihiuß aus Nr. 28.) 


14. Neue Gedichte von Stephan Milow. Stuttgart, Krö- 
ner. 1870. 8 20 Rer. 

Ein ernfter Gedankenſchwung, eine philofophifche Welt⸗ 
anfhanung, welche nicht mit abftracten Wendungen Hap- 
pert, fondern ihren Betrachtungen dichteriſches Fleiſch und 
Dint zu geben weiß, charakterifirt diefe „Neuen Gedichte‘ 
bes öfterreichifchen Sängers. Auch in ben „Liedern“, 
vielleicht Hier zu Ungunften des einfach innigen und ſtim⸗ 
mungsvollen Gefühlsauspruds, überwiegt die Neflerion, 
oft von büfterfler Färbung, wie fie dem von Milow in 
einem längern Gedicht gefeierten Grofmeifter der Welt- 
Ichwermuth, Arthur Schopenhauer, Ehre machen würde, 

Einjames Los. 
Drünend flarrt vor mir das Leben, 
Dunkler Schredgeftalten voll, 
Wie ein Fluch, dem unentriunbar 
Yh zuın Opfer fallen fol. 
Einſam will mein Los ich tragen, 
Welcher Schmerz mich auch durchwühlt, 
Wil fogar den Troſt entbehren, 
Daß ein andrer mit mir fühlt. 
Und entſchlüpft mir eine Klage, 
Wenn mein Herz zu bange fchlägt, 
Sei's ein Schrei in einen Abgrund, 
Den fein Echo weiter trägt. 


In den „Gebenkblättern“ ſpricht fi) die ernfte Ge 


finnung des Dichters in mehr betrachtender Darftellungs- 
weife ohne didaltifche Nitchternheit aus. Der Dichter 
erflärt e8 für einen Vorzug und einen Beſitz zu leiden; 
er verſenkt fi in die Erinnerung der Sinderzeit, in den 
Morgentranm bes Lebens; er betont die Einfamleit unter 
tanfend andern, von denen jeder eine eigene Welt; er 
fehnt fih Hinaus aus dem treibenden Gewühl begieriger 
Menfchen in friſchen Waldesbuft: 
Hinaus, hinaus! Gern will ich alles Lafien, 
Was mich noch reizt, wo ich fo lang’ gewohnt, 
Auf nenem Boden will ich Wurzel faffen, 
Und üÜberreichlich Bin ich einft belohnt, 
Wenn mir and nichts die neue Stätte gab, 
Als nur in ihrem Frieden, weich und lind, 
Bi mid ein ftilles, waldumfränztes Grab 
nd eine beitre Heimat für mein Kind! Ä 
Ueberall tritt aud) der heitern Lebensluft das Me- 
mento mori entgegen: 
Was iſt's, das uns fo wunbderfam ergreift, 
Wenn wir dem regen Frühlingstreiben Taufchen, 
Wenn unfer Auge durch die Weiten ſchweift 
Und taufend Stimmen unfer Obr umraufchen? 


Da geht ein heil'ges Flüſtern durch die Bäume, 
As küßte fie ein Hauch der Ewigleit, 

Ein Summen, Weben füllt die fonn’gen Räume 
Und bunte Bögel fingen weit und breit; 

Sie fingen forglos, fingen luſtdurchglüht, 
Als blieb’ es ewig geahing, ewig Fig ‚ 

Als bliebe ftets die Erde überblüht 

Vom Schmud, der rings aus allen Knospen bridt. 
Und wir — wir jauchzten gene mit dem Chor, 
In uns and) lebt, was hell da draußen fchallt, 

Es wogt in ung und ſchwillt und drängt hervor 
Unwiderſtehlich, heiß, mit Allgewalt, 

Als firebt’ es ohne Schranken iu den Himmel; 
Bie ſchlägt das Herz, entzüctt dahingegeben, 

Ganz eins mit all dem fröhlichen Gewimmel, 

Es kennt nur Luft und ew’ges volles Leben — 
Doch adj! darüber brütet unfer Geift, 

Und Tod ift nnd Bernichtung, was er finnt; 

Er fließt, daß alles nur auf Öräber weh 

Und Wehmuth faßt uns und bie Thräne rinnt. 


Stephan Milow ift, wie biefe Gebichte beweifen, 
wefentlich Elegiker und Reflerionspoet; auch in den „Ber 
mifchten Gedichten”, den „Dden’ und „Sonetten“ ift die 
fer vorberrfchende Zug unverkennbar. Erhaben und bie 
Form der Diftihen mit künſtleriſcher Gicherheit aus 
prügend, ift die 


Kosmifhe Phantafie. 
Heiß umflutet vom Scheine des ſommerlich glühenden Mittags, 
Schwimmt, als träumte fie füß, ſchweigend die Erbe im Licht, 
Gänzlich zerſchmolzen erfcheint in quellendes Feuer die Some, 
Daß fie den Erdball nur wärmend ummoge mit Gut, 
Und wie trinten die Wälder, die ringsum fproffenden Kluren, 
Leis ſich dehnend, das Licht innig begehrlich in fich! 
Rieder vom Gipfel des Berges saufen ich die fchmweifenden 
ide 


' 
Und dies gligernde Meer, welches vor mir fi erftredt, 
Lullt mir felber den Sinn mit mächtigem Zauber in Träume, 
Und ins Schauen gelöſt, ſchwimm' ich befeligt dahin. 
Ad, wer denlt's! daß fern jet riefige Welten ſich drehen, 
Haftig fi} ſuchen und fliehu, eilend in ſchwindeludem Flug! 
Daß in nnendlihen Fernen vieleicht jet Sterne zerſchellen, 
Schaurig mit Dounergekrach, ſiäubend dahin in den Raum, 
Während aus gärendem Nebel fi neue verdichten und rollen; 
Daß im weiteflen Kreis alle Bewegung und Kampf, 
Und wer denkt's! daß einem begnadeten höheren Geifle, 
Slög’ er erleuditeten Augs ſchauend bahin durch das UN, 
Diele von Licht und Wonne durchzitterte Runde nichts wär, 
Als ein verfhollener Fleck, welder des Blickes nicht wert. 


Bon gleich tadellofem Gepräge, Erguß eines echten 
Talents, ift das Gedicht: „Auf einer Bergesfpige”, wie 
die folgenden Strophen beweifen mögen: 





Revue neuer 


Und nicht mehr wie aus anderm Sein verichlagen 
Ein Fremder, Eingedrungner fieh’ ich bier, 

Das Starrfte will mir was Bertrautes jagen 

Und heilt das Antlis auf und lächelt mir; 

Die fernfien Spiten glaub’ ich leicht zu greifen, 
Mit holdem Gruße niden fie mid) an, 

Bis zu des Horizonts verſchwommnen Streifen, 
So weit im raſchen Flug die Blide ſchweifen, 
Erſcheint mir alles liebend unterthan. 

Hier ruht die Wolle, die im Niedertriefen 

Der Erde Durft mit reihem Segen ftillt, 

Hier meilt, noch ungetrübt vom Dunft der Tiefen, 
Der Sonnenftrahl, der aus dem Wether quillt; 
Nicht Dlumen gibt es bier, nicht zarte Sprofien, 
Todt fcheint der weite Kreis und ohne Zier, 

Uud doch — was unten prangend ausgegoffen, 
Dem ift von bier der Odem zugefloffen, 

Und alles Leben mifcht fih wogend hier. , 

Man könnte an dieſen ſchönen Berjen nur den rhyth⸗ 
mich unklaren Beginn der erften Zeile und den nicht ganz 
Haren Reim „an und „unterthan‘ tadeln. 

In den „Oden“ find asklepiadeiſche, ſapphiſche und 
alcäifche Strophen mit großer Formgewandtheit, ohne 
Inverfionen, Wortungeheuer und den grammatifchen und 
ſyntaktiſchen Schwulſt behandelt, der fi) Häufig in den 
dentſchen antiken Oden findet. 
Liebe“, den „Weltverband“; er geiſelt die „Entartete 
Jugend“: 

Doch es kommt der Ernſt und die Zeit zu handeln, 

Und den Jugendloſen gebricht die Mannheit; 

Einſtens Stürmer, ſchleichen fie jetzt verkümmert, 

Platte Geſellen. 

„Treuga Dei“ fleht einen Gottesfrieden herab für den 
Erdenſtreit, einen Gottesfrieden „auf Minuten“. Die 
„Liedgenoſſen“ fordert der Dichter auf, nicht zu klagen, 


eilen: 
So bleib’ es einſam! nur dem Bedurft'gen ſtets 
Ein Troſtesaublick; reiner beſteht's vielleicht, 
Weil im Begegnen, erdenblinden 
Auges, die andern es nicht erkennen. 

Auch die in ihrer Form ſaubern „Sonette“ enthalten 
manchen ſinnigen Ausſpruch. Sehr treffend wird „Den 
Männern des Effects“ das ſtille Wirken des Schönen 
gegenübergeſtellt: 

O laßt verborgen, nach des Lenzes Weiſe, 

dortwirten eure ſtill gehegten Träume, 

o werden fie, gleich ihm, die Welt durchdringen. 

Da ift nichts greifbar, heimlich regt ſich's, Teile, 

Unſichtbar weht's befruchtend durch die Räume 

Und plöglic blüht's und taufend Stimmen klingen. 

Die „Sprüche und Diftichen“ find zwar nicht epigram- 
matiſch ſcharf, ſchneidend und beißend; aber fie geben dod) 
den Gedanken genugfam marfirte Contraſte. Die „Zeit 
gedichte” athmen öfterreichifchen Patriotismus, der ſich 
in dem Gedicht: „Nettes Heil”, in die vielfagenden Worte 
zulammenfaßt: 

Wir brauden Unglüd, daß wir weiſer werden, 

Der Dichter erfehnt einen ganzen, großen Helden, ber 
alle Willkür, alles Uebel wegfegt; den falfchen Patrioten 
ruft er zu, daß es wahrer Größe bedarf, um das Bater- 
land zu retten: 

Uns frommt fein Schleihen und kein Klügeln, 
Wir dringen nur mit fühnen Flügeln 
Trotz jedem Hinderniß voran. 


Lyrik und Epif. 


Der Dichter feiert „Dobe | 


daß die meiſten kalt, verſchloſſen am Schönen vorüber⸗ 





455 
Sehr ſchön iſt der „Epilog“: 


Die ihr, zerſtreut in weiter Runde, 
Das Ew'ge hütet, feſtbewußt, 

Trotz jedem Widerſpruch der Stunde, 
Eud) allen Gruß aus voller Bruft! 
Die ihr, und wär's im Wliftenbranbe, 
Und zudte noch fo müd' der Fuß, 
Fortwallt nach dem Gelobten Lande, 
Auch allen, allen diefen Gruß! 


Wir brauden Zeichen nicht zu tanfchen, 
Es braucht des Drudes nicht der Hand, 
Im Strahl des Lichts, im Waldesraufchen 
Liegt, was uns fanft umfchlingt als Band. 
Uns eint, was wir als Leben achten, 
Uns eint des tiefften Herzens Schlag, 
Das gleiche Fühlen, Hoffen, Trachten, 
Die nichts zu einen fonft vermag. 

So mög’ uns unfer Schat erquiden, 

So Iodre hell, was in uns brennt, 

Und laßt uns nit mit Hochmuth bliden 
Auf jene, die von uns getrennt; 

Was iſt's denn mehr ale ein Almofen 
Des Himmels, fill, in fel’ger Glut, 

Zu fchauen jedes Lenzes Rofen, 

Zu lieben treu, was ſchön und gut? 


Bie follten wir uns Überheben, 

Beil unferm Sehuen, ewig laut, 
Bard der Erflilung Traum gegeben, 
Der Troſt in unfre Herzen thaut; 
Weit über uns wir Götter fpüren, 
Die für ein andachtsvoll Gebet 

Uns warm mit ihrem Hauch berühren, 
Denn um uns Falter Schauer weht? 


Und wie fich alles rings verwirre, 

Unb ſcheint au), was wir begen, Wahn, 
Empor den Blid! daß nichts uns irre, 
Und ungebroden fort die Bahn! 

Und wird uns nie der Tag geboren,. 
Ro wir erfüllt die Träume ſehn, 

Uns bleibt doch alles unverloren, 

Denn wir im Glauben untergehn. 

Die Sammlung diefer Gedichte nimmt unter den 
in unferer Revue beſprochenen einen hervorragenden 
Rang ein. 

15. Aus alten Tagen. Gedichte von Karl von Thaler. 

Hamburg, 93. F. Richter. 1870. 16. 15 Ngr. 

Das Märchen „Germania” und die poetifche Erzäh—⸗ 
lung „Die Fahrt nach Canoſſa“, die beiden Gedichte 
Karl von Thaler's, werden durch die Einheit des Gedan- 
tens verbunden, welche ber Dichter in dem Widmungs- 
gedicht ausſpricht: 

Welſche Lift und deutſche Zwietracdht 
Reichten fi) die Hand zum Bunde, 
Dran das fühne Streben Heinricy’s 
Und er felber ging zu Grunde. 
Welle Fift und deutſche Zwietradht 
Sind bis Heut’ der Fluch geblieben, 
Der in Schande, Schmah und Jammer ’ 
Unfer Baterland getrieben. 

Welſche Fit und deutſche Zwietracht 
Ringen ſchon durch taufend Jahre, 
Daß ſie grinſend zimmern könnten 
Für Germania die Bahre. 

Wehe euch, feid ihr nicht wachſam, 
Seid ihr nicht zum Kampf gerüftet, 
Wenn die beiden dunkeln Mächte 
Nah dem Opfer neu gelüftet. 


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456 Revue neuer Lyrik und Epif. 


Baht! ſonſt möchte einſt der Dichter 
Nach dem deutfhen Volle fragen 

Und bei Heinrich's bleichem Schatten 
Um den Schatten Deutfchlands Hagen! 

Das erfte Gedicht: „Germania“, das der Dichter als 
ein Märchen bezeichnet, ift im Grunde eine Allegorie und 
leidet an dem unvermeidlichen Fehler der Allegorien, daß 
fih Geftalt und Begriff niemals ganz deden; die Niren 
und zarten Elfen, welde ber Dichter herbeibeſchwört, 
haben im Grunde mit einer poetifchen Allegorie wenig zu 
thun. Die Borgejchichte des Märchens bildet ein Liebes⸗ 
handel der Europa mit einen aus dem Orient fommen- 
ben großen Unbelannten, der ſich fpäter als der Geift 
der Geſchichte enthüllt. Europa ik im Grunde mehr ein 
geographifcher Begriff als eine Fee, und unfere Phantafle 
gibt fi) ungern dazu ber, diefe Europa in einem Waldfee 
in der Nähe des baltischen Geftades baden, ihre weißen 
Glieder füßlodend aus den Wellen herborfchimmern zu 
jehen, ihre Liebesfeufzer zu hören, bis ein hoher Götter⸗ 
jüngling fie erhört. Die Frucht ihrer Liebe ift Germania. 
Der Fremde verlangte, daß nie die Geliebte frage, wer 


.er fei, weil er, fie jonft verlaffen mülfe. Europa ift neu» 


gierig, wie alle Feen und alle Weiber; fie fragt ihn den- 
noch nad, feines Weſens Grund, und er verjchwindet, 
nachdem ex ſich als ben Geift der Gefchichte offenbart hat, 
ein Fremdling aus ben Hegel’fchen Eollegienheften, in den 
fi fo leicht Feine blühende Jungfrau verlteben dürfte. 
Die Weltgefchichte geht indeffen fort ohne „Geiſt“. Ger- 
mania verfällt der böfen Fee Discorbia, und machtlos 
und verftogen gräbt fie aus der Berge Schacht das Gold 
zu Tage, bis: im Sturme des Vaters Stimme ihr ertönt: 

Mein Kind, mein Kind, wo iſt dein Schwert? 

Die Stunde naht, die du begehrt. 

Discordia ift frank zum Sterben, 

Jetzt mußt du wieder dir erwerden 

Den alten Glanz, den du verlorft, 

Als ſchlechte Bahnen du erkorſt. 

Heraus aus tiefem dunkeln Schacht 

Mit deines Geiftes hoher Macht, 

Laß deinen alten Adler fliegen 
Sa ſtolzem Schwung zu Ruhm und Siegen, 

Die Krone hole bir zurüd, 

Die dir entriß das falſche Süd. 

Es fol mein unbefiegter Wagen 

Zum größten letzten Kampf dich tragen, 

Und wankſt du müd' im heißen GStreite, 

Dann ſteh' ich fhirmend dir zur Seite. 

Die Geifter regen ſchon die Schwingen, 

Um ihre Hälfe dir zu bringen, 

Die Welt durchzuckt ein wildes Gären, 

Sie will die neue Zeit gebären; 

Sie windet fih in fchwerem Krampfe 

Und zittert vor dem nahen Kampfe. 

Germania, du trittfi voran 

Der Erde Bölfern auf der Bahn 

Der Zulunft, wenn du erft mit Macht 

Discorbia den Tod gebradt, 

Und ewig ſchön und ewig jung 

An Kraft und hohem Geiſtesſchwung 

Sch’ ich dich ſtrahlen göttergleich 

Und new erblühn dein altes Reich, 

Den Eichenkranz auf deinem Haupt 

Mit grünen Knospen frifch belaubt; — 

Ertönet in der rechten Stunde 

Das Zanberwort aus deinem Munde, 

Zerreißeft du mit ſtarker Hand 

Die böſe Madıt, die dich umwand! 


Es brauft der Sturm ber Weltgeſchichte, 
Ich fie wieder zu Gerichte 

Und werfe deine Trauerllage 

Hin anf der Zeiten große Wage. 
Sermauia, fein Zaudern, Säumen, 
Kein unnütz Zögern jet und räumen, 
Erringe dir die alte Macht 

Und füge einer Krone Pracht 

Und Herrſcherglanz für alle Zeit 

Zur geiftigen Unfterblichkeit ! 

Was Germania darauf erwidert oder getfan — bare 
über läßt uns ber Dichter zunächft im Dunkeln. Sehen 
wir don den unvermeiblichen Schattenfeiten jeder Allegorie 
ab, welde der letztern ein für allemal das Prädicat 
„ſtrohern“ zugezogen haben, fo ift die Darftellung belebt 
und ſchwunghaft und athmet, wie bie mitgetheilten Berfe 
beweifen, einen feurigen Patriotismus. “ 

Das zweite Gebicht führt uns ftatt allegorifcher Fign- 
ren biftorifche Geftalten -von Fleifch und Blut vor. In 
einer Zeit, in welcher Anaftafins Grün das öſterreichiſche 
Concordat ein gedrudtes „Canoſſa“ nannte, war es gewiß 
nabeliegendb, auch einmal die Hiftorifche Königsfahrt nad) 
Sanoffa dichterifch zu beleuchten. Die Romanzen begin⸗ 
nen mit einem Alpenhymnus voll Schwung und führen 


ung dann auf die Harzburg, wo uns Heinrich's üppige 


Buhlerin Adelheid und feine fromme Gattin Bertha als 
zwei fcharf contrajtivende Frauengeſtalten entgegentreten. 
Als dritte veiht fich ihnen fpäter die große Gräfin Ma- 


thilde an, welche ber Dichter mit befondberer " Vorliebe 


ſchildert: 
Prachtvoll war ſie anzuſchauen 
Ya dem ſchwarzen Trauerkleide 
Ganz umwallt vom Witwenſchleier, 
Reich an fürſtlichem Geſchmeide. 
Schon ſeit funfzehn Jahren ſtrahlte 
Ihrer Schönheit Glanz bewundert; 
Welſchlands mächtigſten und reichſten 
Fürften naunt' fie ihr Jahrhundert. 
Klugen Sinne regiert’ Mathilde; 
Saß im Rath wo Männer dadıten, 
Gab Geſetze, liebt’ die Künſte, 
Führte ſelbſt ihr Volk in Schlachten. 
Mutter war ſte ſtets den Armen, 
Milde Pflegerin den Kranken, 
Stab und Stütze den Bedrückten, 
Sich am ihr emporzuranken. 
Denken zündeten und Wiſſen 
Ihres eignen Geiſtes Funken; 
Königin an Macht verſchmähte 
Mit dem Namen fie zu prunfen. 
Wollte ihres Volles Rechte 
Nur als Gräfiu unterfhreiben — 
Mag fie drum fir alle Zeiten 
Auch die große Gräfin bleiben. 

Auch räth Thaler's Mathilde dem Papft ab von 
einer chmachvollen Demüthigung Heinrich's; Lieber möge 
der deutfche König gewonnen und verföhnt werben. Gregor 
hört nicht auf den Rath der ſchönen Freundin; die fehr 
anſchaulich gefchilderte Buße im Schloßhof zu Canofla 
findet flatt; die fpätern Scidjale des Kaifers werden nur 
in einem kurzen Epilog gejchilbert. 

Beide Dichtungen legen Zeugniß ab von cinem fein 


gebildeten Geifte, der bie dichteriſchen Formen beherrſcht, 





Revue neuer Lyrik und Epik, 


und von einem patriotifch beutfchen Sinn, der uns bei 
einem öfterreichifchen PBubliciften doppelt erfreulich if. 


16. Gedichte von Friedrich Marc, Dritte Auflage. Leipzig, 
Briber. 1868. 16. 20 Nor. 


‚ Diefe bereits in dritter Auflage vorliegenden Gedichte 
find bisher in d. Bl. nicht bejprochen worden. Der Ber- 
faffer Hat fie, wie das anınuthende Widmungsgebicht mit⸗ 
iheilt, in London verfaßt: 

Ro maftenbededt, wo bautenbefrängt, 

Durch Meeresgewog in dem Laufe beherricht, 

Bald flutet zurüd, bafd firömt zu dem Meer 
Die den Böllern befreundete Themſe; 


Wo alles umwöllt durch ſchwärzlichen Rauch, 
Der auffteigt rings in gewaltiger Stabt, 
Zu dem Himmel ſich hebt, bleifarben ihn deckt 

Und den Nebel verdidend, herabfinkt: 

Hier, Blumen des Liedes, hier wuchſet ihr auf, 
Wenn eilernen Gangs auch feffelte mich 
Alltägliches Werk in der tojenden Stadt, 

Und ihr barbtet, der Pflege bedlirfend. 
Helffarbigen Scheins mid habt ihr ergökt, 
Süpduftend zugleich mir die Sorgen verfüßt; 
Trenliebenden Blicks oft habt ihr geſchenkt 

Mir ein Glück in verdüſterten Stunden. 

In dem Sonett „London” fingt er: 

Ich glaubte mid für diefen Ort geboren, 

Ein heiter freies Leben zu gewahren, 

Und daß mir diefes Ziel vom Glück erloren. 
Berwehter Traum! Ih muß nun Leid erfahren, 
Im Bolke, das nad Schätzen jagt, verloren, 
Das ftürmend raft, wie Dante’s Geifterfcharen. 

Er fehnt fi) nad) den bdeutfchen Aheingeftaden umd 
Niefenfoppen. Diefe Sehnſucht wird ihm zur begeiftern- 
den Muſe, ſodaß er namentlid einen längern Cyklus 
von Diftichen heimatlichen Erinnerungen an die Main- 
landſchaft weiht („Waldmühle”, „Mühlberg“, „Oberrad“, 
„Aepfelallee”, „Offenbach'“). 

Gefühl für landſchaftliche Eigenthümlichkeit bewähren 
auch die Anapäſte, in denen Norwegens wilde Natur ge⸗ 
feiert wird, die Gedichte an den Rhein, die Sturm⸗ und 
Meexrbilder der zweiten Abtheilung. Dagegen jcheint uns 
in dem Cyklus „Paris“ die Vedute über das Bild vor- 
zuwiegen und ber Frembenführer über die poetifche Ver⸗ 
geiftigung. | 

Der Berfafler verräth in den gewählten Formen und 
der reichern Rhythmik, welche Anapäfte, Diftichen und 
die antiken Odenſtrophen aufnimmt, gediegene claffifche 
Bildung; die Oden „Endymion” und „Sappho” haben 
eine edle, der antiten Mufter würdige Haltung, wie die 
erften Strophen des „Enbymion‘ beweijen mögen: 

An MWaldeshöh’, in nächtiger Schlummerluft, 
Auf weihem Moos fanft ruht ein Hellenenſohn, 
Wo qellbethaute Blumen farbHell 

Lodten zu wonniger Raft den Füngling. 
Aus Felſen ſtürzt ein rauſchender Duell herab; 
Die Nymphe pflegt holdlränzendes Blumenbeet. 

Hinmurmeln fteilab gleich zum Thale, 

Ueber Gerölle, die Wellen büpfend. 
Hochſtrebend ſchmückt den grünenben Bergeshang 
Ein Eichenhain von mächtigem Riefenwuche. 

Leis ranſcht ein Traumlied durch die Laubnacht, 

Liehlichen Zaubers wie Klang des Orpheus, 

1870, 9. 


457 


Und Todt herbei füßtänfchender Träume Chor, 
Die gern der Unfhuld bringen die Seligfeit. 
Da flreift ein Lächeln leicht dem Schläfer 
Ueber gefchloffene Hofenlippen. 

Bom Haupte rollt fein üppiges Haargelock, 
Mit goldnem Glanz, braunfarbige, weiche Bier 
Umfängt den ftolzen Hals, die Schultern, 
Hüllend wie Blätter die reiche Blüte. 

Die Frühlingslieder und die andern leichten Klänge 
enthalten viel Unbedentendes, 
17. Gedidhte von Heinrih Falkland. Wien, Faeſy und 

Sid, 1870. 16. 1 Thlr. 

Diefe Gedichte find unglih an Werth; auf dem 
Gebiete der Gedankenpoeſie findet ſich in den „Elegien und 
Inſchriften“ manche anfprechende Gabe, wie 3. 2.: 

Im Hochwald. 
Rauſchende Wipfel, durchwogt vom Winde, was wollt ihr 
| verkünden ? 
Schauer erfaffen das Herz, Ahnung bewegt das Gemlith. 
Wie zu Dodona im Hain, durchwehen die ſchwaukenden Kronen 
Worte verborgeneg Siuns, nur dem Geweihten vertraut. 
Zal vom Geheimniß der Welt, vor dem die Herzen erbangen, 
Hlüftert, ein Seher im Zraum, bier der verlaffene Wald. 

Auch in dem Abfchnitt „Betrachtung“ Haben die Ge⸗ 
dichte: „Allleben“, „Vanitas vanitatum”, „Unbeftand“, 
„Sehnſucht“ u. a. einen Zug finniger Befchaufichkeit, der 
uns anmuthet. Daß der Dichter eine reihe Sprach⸗ und 
Literaturfenntniß befigt, zeigen die griechifchen, italieni« 
ſchen, ſchwediſchen Mottos vieler Gedichte, die uns aller« 
dings etwas zu aufdringlich gemahnen. 

In den größern Liederchklen: „Jünglingsliebe“, „Man⸗ 
nesliebe”, „Mädchenliebe“, „Tageszeiten“, erjcheint ung 
manches zu jehr nad) der Schablone gefchaffen; auch 
mifcht fich zu viel Spreu in den Weizen. Unfere Lyriker 
follten jeden Gedanken und jeden Vers vor dem Nieder- 
fohreiben genau prüfen, ob er nicht eine matte Wieder- 
holung ſei; e8 würde und unendlich viel DBersgeflingel 
damit erjpart werden. Namentlich die „Mädchenliebe“, 
ein Cyklus, in welchem fich der Dichter in das Herz einer 
jungen Maid, in ihre Ball» und Liebesgefühle hinein- 
verſetzt, enthält viel Triviales, jene poetifchen Cotillon- 
orden, die man in jedem Laden kaufen Tann. 

In den „Sonetten“ macht fich oft ein harter, fogar 
die Grammatik entftellender Reimzwang fühlbar: 

Ya, die ihr ſchnell ihn zu befritteln wagt, 
Glaubt mir, ein flärkres Herz ift ihm gebrochen, 
Als mancher wol von eud im Bufen tragt(l) — 
Oder: 
Schon verglühn der Wolken Purpurſäume, 
Abſchiedsgrüße, die der Tag gewunken. 
Selbſt die Winde find in Schlaf gelunfen n. |. w. 

Ausdrüde wie: „Mit dieſem Glück will ich mein Herz 
durchtränken“, fiheinen aud nur bed Reims wegen 
da zu fein. Unfchön find wegen der matten oder zwei⸗ 
deutigen, in den Reim geftellten Wörter Verje wie der 
folgende: 

Im Land des Nils fieht oft mit ſtillem Grauen 
Der Wandrer Grab an Grab in Felfen gähnen, 
Da ruhn viel Hundert Jahre die, von denen 
Mit vielem Fleiß fie wurden ausgehauen. 


Manche Sonette find indeß mohlflingend und Klar, 
wie z. B. das zweite „Grabſonett“: 
58 





458 
Bange Lüfte wehn mit leifer Klage 
Um das Grab, wo blaue Blumen ſchwanken 
Zart im Abendlichte, wie Gedanken 
Der Erinnrung an vergangne Tage. 
Roſen blühen in dem nahen Hage 
Zraurig bleid) wie Wangen eines Kranken; 
Hangen läßt die Weide ihre fchlanken 
Zweige, ale ob Gram ihr Mark zernage. 
Mutter, könnteſt meinen Dank du wiffen ! 
Keine Frenden konnte dir ich ſchenlen: 
Biel zu früh Bat dich der Tod entriffen. 
Ah! was Hilft e8 jet, den Schritt zu lenken 
u dem ®rab, anf feinem Rafenfiffen 
einend deiner treuen Lieb’ zu denken! 

Auch an Katachrefen fehlt e8 nicht, wie in dem Ge⸗ 
dicht „Wiebertraum”, wo der Dichter „die Wellen ſich 
im filbernen Mondſchein baden läßt“. 

Unter den Bildern und Erzählungen hat uns befon- 
ber das Gedicht „Buddha“ angeſprochen. Die politifchen 
Gedichte wie: „Ein Tagebuchblatt“, „Fragment aus einer 
Epiſtel“, find aus einer, der neuen politiſchen Entwicke⸗ 
lung Deutjchlands feindfeligen Gefinnung hervorgegangen. 
Die Terzinen des erftern gehören an und fiir fich zu ben 
formell gelumgenften Gedichten; doc der Inhalt gipfelt 
vorzugsweiſe in den Schmähungen auf „preußifches Jun⸗ 
kerthum“, „Frechen Raub” u, |. w., wie man fie aus vielen 
fübdentfchen Blättern keunt. Gegen den Grundfag: „Ers 
folg ſchafft Recht”, eifert der Dichter mit Entrüftung. 
Dan muß fi) aber doch einmal klar machen, daß jeder 
Fortſchritt der Geſchichte unmöglich würde, wenn ftets 
bie beftehende Ordnung und das beftehende Recht für alle 
Zeiten unangetaftet bliebe. Kriege und Umwälzungen 
ändern in jedem Jahrhundert die Phufiognomie Europas 
und hier entfcheidet nur ber Erfolg, von bem ein Fran» 
zoſe fo geiſtreich ſagt: „Rien ne r&ussit que le succès.“ 
18. Römifhe Sonette. Mit Roten zum Text. Ein Beitrag 


zum Öölumenifchen Concil von Guſtav Kühne. Leipzig, 
Hartknoch. 1869. Br. 8. 12 Nor. 


Guſtav Kühne's neunzehn Sonette find ein lyriſcher 
Proteſt gegen das Papfttgum und feine Unfehlbarkeit, eine 
Berherrlichung der politiichen und geiftigen Rebellen, die 
ſich gegen die Kirche auflehnten, eines Arnold von Brescia, 
Giordano, Bruno, Cola Rienzi u. a.; er verſammelt fie 
alle auf Sanct- Betri Ruf: 

Sanct- Petrus ruft. Wohlen, wir kommen alle, 

Aus fernften Zonen aller Zungen Boten, 

Und aud die flillen, Tangverfiummten Todten 

Wie zum Gericht bei dem Pofaunenfchalle. 

Und in der buntgeſchmückten Prieſter Schwalle 

Sieht man, zur großen Disputa entboten, 

Auch Arnold, Rola, Bruno, Huß in rothen, 

In Flammenkleidern treten in die Halle. 

„Was wollt ihr?’ fpricht der Wirth zu diefen Bäften. 

Blutzeugen thun aud) noth zu Kirchenfeften: 

So fpredhen wir, und was wir einft geiprochen, 

Iſt unfer Wort noch Heute, ungebrochen. 

Bir fprachen’s unter bittern Zodesfchmerzen: 

Gebt frei den Glauben, frei die Menſchenherzen! 


Diefe Sonette haben unlenugbaren Lapidarftil und in 
ihren poetifchen Geften etwas Großes und Bebentfanes, 
freilich oft auf Unkoſten zartmelodifchen Falles. Die je 


vier Reime der erſten zwei Strophen bewegen fich bis⸗ 


weilen in freieen Berjchlingungen, als die ftrengere Archi⸗ 


Revue neuer Lyrik und Epik. 


tektonik des Sonetts erlaubt. Die Noten enthalten eine 
Fülle von thatfählihen Material, welches, auf Papſt⸗ 
thum und Concil bezüglich und auf die Biographien römi- 
ſcher Freiheitshelden und Freideuker, gegenwärtig allgemet« 
nes Intereſſe beanipruchen darf. 


19. Freimaureriſche Dichtungen. Bon Emil Rittershaus, 

eipzig, Sindel. 1870. Gr. 16. 10 Ngr. 

20. Gedichte von Emil Rittershaus. Dritte vermehrte und 
verbefjerte Auflage. Breslau, Trewendt. 1870. 16. 2 Thlr. 


Emil Rittershaus Hat fich durch die „Gedichte“, bie 
und in dritter Auflage vorliegen, in weiteften Kreiſen bes 
fannt gemacht; ber frifche, gejunde Ton berfelben, eine 
durch nichts angekränfelte Empfindung, ein Fluß und Guß, 
welche frifches Hervorftrömen aus unmittelbarfter Ein- 
gebung befunden, Haben den Dichter zum Liebling großer 
Kreife gemacht. Ä 

Als Ergänzung zu biefer bereits mehrfach beſprochenen 
Gedichtſammlung läßt Rittershaus jegt Freimaureriſche 
Dichtungen“ erſcheinen, deren Reinertrag, wie wir aus 
einer Vorbemerkung des Verlegers erfahren, der Central⸗ 
hülfskaſſe des Vereins deutſcher Freimaurer zufließen ſoll. 
Die Gedichte enthalten ſchwunghafte Verherrlichungen ber 
Vreimaurerei, von denen und meniger bie weitausgeführ- 
ten: „In der Nacht”, „Zur funfzigiährigen Jubelfeier der 
Loge Hermann zum Lande der Berge”, und andere, die 
nicht ganz von freimaurerifcher Nedjeligkeit und den mit 
diejem Eultus verbundenen conventionellen Ausdrücken frei 
find, zufagen, als das kürzere Gedicht: „Zum Johannis⸗ 
feite.” Drei Strophen in demfelben erſcheinen uns als 
die gelungenflen der Sammlung: 

Fa a yenteon ulm. 
au aus der. Johannisna 
Sat dem men, der erblindet, 
Neues Augenlicht gebradt; 
Hat dem Sieden Kraft gegeben, 
Den die Krankheit Hingefiredt, 
Und zu neuem, friſchem Leben, 
Nener That ihn aufgeweckt. 


Liebe Brüder, feſtlich frohe 

Bauer an dem Tempelbau, ' 

Iſt das Maurertfum, das Hohe, 
Nicht fol ein Sohannisthan ? 
Bon dem Auge nahm's die Binde, 
Die gefloten Trug und Wahn, 
Zeigte dem verirrten Kinde 

Die verlaffne Sonnenbahn. 


Stärkung gab es, Balfamfpenden 
Jedem, der bie Kraft verlor, 
Und es bob mit Bruderhänden 
Den Gefallnen gern empor. 

Gib, o Himmel, daß erblühe 
Unfer Bund in jeden Gau 

Daß auf alle Häupter {prüße 
Lenchtender Johanniethau! 

Humboldt wird in ſchwunghaften Terzinen gefeiert: 
Nicht will die Menfchheit mehr an Träume klammern 
Ihr Süd und Heil! Mit fliegenden Standarten 
Zieht aus der Geift aus der Gelehrten Kammern. 


Er führt das Bolt aus feiner ron, der harten, 
zum freien Denfen und zum freien Leben 

nad ſchafft die Welt ihm um zum NRofengarten. 
Seht, wie des Wahnes flolze Burgen beben! — 
Ein Feldherr war in jenem NRiefenftreite 
Der Dann, dem heut' den Kranz die Wölfer geben. 





ti u u u — 
#1 WET ur — — ı ——⏑—————⏑ 96 


DE ⏑ ⏑ —— — 


Revne neuer Lyhrik und Epik. 459 


Auch Leſſing find zwei Gedichte gewidmet, das eine 

im weit ausholenden, pomphaften modernen Nibelungen⸗ 
vers, das andere in mehr liederartiger Haltung. Sehr 
ſchön ſind die lapidariſchen Schlußworte des Gedichts 
„In böſer Zeit”: 

In der fluchtigen Erſcheinung 

Gilt der ew'ge Kern allein; 

Nur die Liebe ſchafft Bereinung, 

In dem heißen Kampf der Meinung 

Bleibe ſtets die Seele rein. 


Das Gedicht: „Zu Hülfe“, für die Verwundeten von 
1866, athmet warme Empfindung, und hat dabei den 
müchtigen Ton, deſſen die Poeſie des Forums, die ſich 
an ein großes Publilum wendet, bedarf. 

Die Pietät mahnt uns, des poetiſchen Erinnerungs- 
males nicht zu vergefien, welches Rittershaus dem frühern 
Rebacteur d. Bl, Hermann Marggraff, errichtet und 
welches mit den folgenden Verſen beginnt: 

Noch alles ift, wie's war, als ich zuletzt 

Im Haufe vor der Stadt deu Freund gejehen! — 

Ich Ihau’ ihn noch im Geifte vor mir flehen, 

Den bleihen Dann, von Sorgen müd' gehetzt, 

Die Stimm gefurdt — 0, jede Furche war 

Wohl einer Freude file Leichengrube! — 

Und do, wie war das Auge mild und Mar, 

Und wel ein tranter Frieden, wunderbar, 

Umwehte mid in dieſer Heinen Stube! 


Neun Mägdlein und ein Bnbel Weld ein Schwarm 

Sich Abends um den Lieben Bater drängte! 

Au Seſſels Lehne fi der Knabe Hängte, 

Eins hing am Knie, ein andres lag im Arm. 

Und er, er fah fo felig froh barein 

Als Ienchtet’ ihm ein Himmel im Gemüthe, 

Als kehrten alle Engel bei ihm ein, 

Und freundlich Areicheit ‘er dann groß und Hein 

Die Zoden und der Wangen Rojenblüte — 

Noch alles if, wies war. Am Fenſter ſtehn 

Wie damals noch die grünen Blumentöpfe; 

Die Holden, hlondgelockten Kinderköpfe, 

Noch Tann ich alle fie beifammen jehn. 

Doch abends, wenn das graue Dämmerlicht 

Geſchlichen lommt, dann grüßt vom Kindermunde 

Ein helles Jauchzen jenen Wadern nidit, 

Dann grüßt der Mond mand) thränenfeucht Seit! - 

Todt Tiegt der Bater in dem Grabesgrunde. 

21. Album fchlefliher Dichter. Herausgegeben vom Berein 
für Poefle unter perjönficher Redaction des Vorſitzenden 

R. Finckenſtein. Mit drei Iluftrationen in Kupfer von 

Bernhard Mannfeld. Siebente Folge. Breslau, Mälzer. 

1870. Gr. 16. 1 Thir. 

Schleſien ift das Land der Dichter und der Dichter⸗ 
Schulen, feine Geſangesfreudigkeit bewährt ſich aud in 
jüngfter Zeit. Bon allen deutſchen Ländern iſt es das 
einzige, welches feit fieben Jahren regelmäßig fein lyriſches 
Album ans Licht fördert und in welchem ein „Berein 
für Poeſie“ beſteht — fonft eine Seltenheit in unferer 
vereinsluſtigen Zeit. 

Die meiften Sänger, bie uns auch in diefem Album 
entgegentreten, zeigen Phantafie und geiflige Beweglichkeit, 
wie fie dem fchlefifchen Naturell eigenthümlich find, auch 
verkennt man nicht, daß fie fi) an guten geiftesverwandten 
Muſtern herangebildet haben. Daß die Gedichte ungleich 
an Werth find, ift ſelbſtverſtändlich; doch iſt gänzlich 
Verfehltes ansgefchlofien, und hierin bewährt fi eine 


anerfennenswerthe kritiſche Ueberwachung von jeiten bes 
Dereins und der Redaction. Wahrhaft Bedeutendes zu 
leiften, ift ſtets nur einzelnen vorbehalten; aber wo es 
fi um ein Vorrücken en masse handelt, verlangt man 
mindeften® eine correcte poetifche Taktik, welche fich von 
auffallenden Fehlern frei hält. 

Sehr beliebt ift in der Sammlung die poetiſche Er⸗ 
zählung, die ein gewiſſes farbenreiches, mitunter exotifches 
Solorit verlangt. So befingt gleich der erſte Dichter, 
Wilhelm Ehrenfeld, der fi, wie eine Ueberjegung 
aus Byron's „Giaur“ beweilt, zum Theil an dem britifchen 
Dichter herangebildet hat, den „Pag von Somo⸗Sierra“, 
eine Epifode aus den franzöfifch-fpanifchen Kriegen, ben 
fühnen Reiterangriff der polnifchen Legion auf fpanifche 
Geſchütze. Die Berfe find fließend und ber polnifche 
Patriotiemus findet in der Schlußwendung einen poetifchen 
Ausdrud. Der Wechfel vier- und fünffüßiger Jamben 
erinnert an Byron's Vorbild, der auch in Meinen poetifchen 
Erzählungen mit dem Rhythmus zu wechjeln pflegt. Zu 
empfehlen iſt er nicht; am wenigſten aber iſt das willlür⸗ 
liche Hereinſchieben einzelner fünffüßiger Jamben in den 
Gang der vierfüßigen zu loben. Der Redacteur des 
Albums, Rafael Finckenſtein, bringt außer einer 
dramatiſchen Schillerſeene: „Der Traum des Dichters“, 
eine größere Erzählung: „Wilhelm und Emma”, in mehrern 
Gefängen und achtfüßigen Trochäen. Der Stoff ericheint 
und, troß der friegerifchen Epifode aus dem nordamerifa- 
nifchen Kriege, nicht reich genug für die breite Behand- 
lung, und der dichterifche Ausdrud verfällt oft in das 
Profaifche, 3. B.: 

Und die Bomben ſchlagen krachend im die langen Glieder 


ein, 
Kein Geſtränch und kein Gemäner Tann den Leuten 
edung leihn. 

Die Schillerfcene enthält manchen ſchwunghaften und 
melodifchen Vers. 

Adolf Freyhan's poetifche Erzählung: „Seeska“, 
ift eine Indianergeſchichte, die Ermordung eines Häupt« 
lings durch fein mishandeltes Weib, und die Rache, die 
dafiir an ihr genommen wird, gibt den Stoff zu bem 
Gedichte Her. Es pulfirt in dem Gedicht wildes Blut, 
namentlich ift der Ritt des trunkenen Häuptlings und feiner 
Schar mit ftürmifcher Bewegtheit gefchildert: 

Am Waldesrande wirbelt hoch der Staub in dunleln Wol- 


en au 
Bon weiter Ferne tönt es wilb, wie Sturmesbraus den Strom 


herauf, 
Mit tobendem Geheul daher ftlirzt eine dunkle Reiterſchar, 
Wie flattert wild im Abendwind das ſchwarze, das zerzaufte 


aar, — 

Wie weht der bunte Federſchmuck im Sturmesfluge hin und 
er, 

Wie blitzt im lebten Sonnenftrahl fo bintig foth der blanke 

eer 

Dem wilden Reiterzug voran ſprengt eine müchtige Geſtalt, 

Den Leib verhüllt ein reiches Kleid, auf hochgewundnem 
Scheitel wallt 

In ausgewählter Farbenpracht die Federkrone ſtolz empor, 

Aus reichgeſchmücktem Gürtel blitzt er fharfe Tomahawk 
ervor, 

Wie muthig bie gewalt’ge Fauſt das Meffer in den Läften 


w t, 
Imdeß die Linke, kraftgewandt, fih um des Koffes Mähne 
ſchlingt. 
bg * 


460 
Der ſchlanke, vorgefiredte Leib, hängt an des Pferdes Hüfte 
m 


aum, 

Das fliegt in wilder Haft dahin, bededt mit Schweiß und 
Staub und Schaum, 

Des Reiters tolle Luft vergönnt dem müden Fuß nicht Haft, 


So jagt dem heimatlichen Herb Banter, der Sehlängentönig, 
Bom fernen, luſt'gen Kriegestanz fehler mit feiner Schar 
Wie düftres Flammenblitzen ſprüht's enden wit in feis 
Denn als zum wüften Trinkgelag' ſich niederließ die braune 
Da bot der weiße Mann den Krug, gefüdt mit Seuerwafler 
Der fühne Häuptling fürchtet nicht des Gries wunderbare 


Er ſchlürft mit langem durſt'gem Bug den. Trant voll Gier 
und Leidenfchaft, 

Big wilder Tanmel ihn erfaßt, da ſchwang * lärmend fich 
aufs Ro 


Bon dannen ging's im Sturmesflag, ihm tobend nad) der 
trunkne Tro 


Die Versbehandlung wäre tadellos, wenn nicht den 
achtfüßigen Jamben oft die Cäſur fehlte und fie nicht 
durch diefen Mangel fi in endlos Frabbelnde Bers- 
ungeheuer verwandelten, z. B.: 

Das if. des ſchwarzen Schlangenkünigs zügelloſe Reiterſchar, 
Im bleihen Mondenſchimmer flattert das geipenfterhafte Haar. 

Heiter parobiftifch find die poetifchen Erzählungen von 
Adalbert Harnifch, namentlich „Des Ganymebes Him- 
melfahrt” im Blumauer⸗Offenbach'ſchen Stil, 3. B.: 

Apoll faß vor der Himmelsthür 
Behaglich da und rauchte, 
Indeß in Nektar für und für 
Ambrofla Bachus tauchte. 
„Das Zeng wird immer fchledhter jetzt 
Und paßt für Menfchenlumpen‘‘, 
Sprit Bacchns Ärgerli und ſetzt 
An feinen Mund ben Humpen. 
Und trinfet aus und fchenfet voll 
Und läßt Frau Venus leben. 
„Schon wieder leer”, fo fchreit er toll 
Und fieht ſich um nach Heben. 
Jedoch fo weit fein Ange reicht, 
Iſt Hehe nit zu ſchauen. 
„Das Wettermäbel ift vielleicht 
Im Bouboir der Frauen, 
„Wo Suno hält ihr Frühlenee, 
Im Schmadten, Schwören, Fluchen 
Sich übet Mars und in den Thee 

Sie tunken Sträußelkuchen.“ 

„Die Erfindung der Geige“ von Eliſabeth Mente 
iſt nach einer walachiſchen Sage nicht ohne Form⸗ 
gewandtheit gedichtet, doch viel zu weit ausholend. Daſ⸗ 
ſelbe gilt von der Gebirgsſage: „Der Schatz im Iſergebirge“, 
welche Ludwig Schweiger dichteriſch behandelt Hat. Für 
foldye ins Breite gehende Behandlungsweife ift die Pointe 
nicht bedeutend genug. Die Berje find übrigens correct 
und nit unmelodifd. 

Guſtav Dtto, der. das anmuthige Schleflerthal in 
wohlflingenden Berfen feiert und eine melodifche „Bar⸗ 
carole” fingt unter Neapel Prachthimmel, läßt im Ge⸗ 
dicht „Am Paara’ die Klage eines braunen Knaben um 
ein weißes Mädchen in Berjen anstünen, benen es nicht 


Revue neuer Lyrik und Epit. 


an Empfindung und melodiſchem Ausbrud fehlt. eben 
falle gehört der Dichter zu den beften Coloriften ber 
Schleſiſchen Schule. Siegbert Pniower's „Rebella”, 
eine milde Ghettogejchichte, ift zu gebehnt und zu breit 
ausgeführt, bei anfchaulichen Einzelheiten auch nicht 
immer correct in der Behandlung des Daktylus. Das 
gelungenftr erzählende Gedicht der Sammlung it „Mac 
arthy's letzter Gang“ von Sylvins Radig, ber auch 
in den andern mitgetheilten Gedichten Formgewandtheit 
und mehr Eigenthümlichkeit zeigt, als die meiſten übrigen 
Dichter des Albums. „Mac Karthy's letzter Gang“ iſt 
eine Ballade im ſchottiſchen Romanzenſtil, voll duſterer 
Färbung und unheimliher Anſchaulichkeit. Mac Karthy 
bat die Geliebte in den Elfenmoor geftürzt; er wandelt 
über die Heide zur Nachtzeit: 
Es wechſeln die Lichter und Schatten 
Im Srlengebiih und im Robr 
Und biiden anf die Matten 
Wie nadte Befpenfter hervor. 
Sie bengen fi) und neigen 
Das Haupt im Mondenſchein, 
Und tanzen in tollem Reigen 
Durd Ried und Heide und Hain. 
Und fieh, wie im Elfenmoore 
Der Rebel fi formt und ballt! 
Es winkt aus bem flüfternden Rohre 
Eine grauenhafte Geftalt. 
Ihr Antlig if vom Harme 
Entftelt nud tobtenblaß. 
Sie Hält anf ihrem Arme 
Ein Kind, vom Nachtthau naß. 
Die Geftalt winkt ihm in den Weiber: 
Mac Karthy fleigt die Röthe 
Des Zorns ins Angefſicht. 
„Weun ich di zweimal tödte, 
Iſt meine Schuld es nicht. 
Hinunter, Hinuuter zur Hölle! 
Hinunter, du bleiches Weib! 
Sinunter, fonft zerfchelle 
Ich firads deinen Schattenleib 1’ 

As er den tödlichen Stoß ausführen will, verfinft 
er im grundlofen Moor. Schade, bag unreine Daftylen, 
unflare Wendungen wie: „bein Borwurf zu lange gebulbet“, 
„das Schemen“ für „den Schemen” und ühnliches mehr, 
das fonft ſchöne Gedicht entftellen. 

Der politifche Lyriker der Sammlung ift Adolf Weiß; 
er feiert den Jahrestag der Union und bie Helden von 
Mentana, die letztern mit Nero und Kraft: 

Da Tiegt die Saat. Der Schnitter wantlt. 
Kein Lorber feine Stirn umranft: 

Es war ein ehrlos Schlachten, 

Kein Eannä war's, fein Hannibal 
Schwang hier den flolzen Siegerſtahl: 
Es war ein ehrlos Shlahten! 

Einft gräbt fih aus Mentanas Erd’ 
Stalia ihr flärkres Schwert, 

Und gürtet ihre Lenden! 

Einft reißt Mentanas Todesfchrei 
Stola und Kaiſerkleid entzwei 

Mit taufend Rächerhünden. 


Mentanas Race trifft ench all, 

Die ihr bejauchzt der Helden Fall: 
Denn Blut zerfrißt die Ketten! 
Denn aus den dden Tuilerien 

Die Geier und die Eulen fliehn: 
Ber ların, wer wird euch retten! — 





Revue neuer Lyrik und Epif, 461 


Schlechte Reime, noch dazu mit harten Apoſtro⸗ 
phirungen, wie „Erb’ und Schwert” entftellen das Ge⸗ 
dicht. Deutſche Kriegsbilder fchaffen Jakob Gottftein: 
„Bor Königgräg”, Alerander Schabenberg: „Am 
Abend vor der Schladht”, und Theobald Noethig: 
„Nach der Schlacht“, das letztere befonders ein anfprechen- 
bes Senrebild. Julian Wohlgemuth bichtet Räthfel und 
Eharaden, Hugo Söderſtröm zeigt in feinen Gebichten, 
3.2. „Es zudt ein Wetterleuchten“ Tühnere Anjchauung. 
Anfprechend ift das folgende Gedicht: 

O fchonet fie, die wellen Kränze! 
Zerftört fie nicht mit fllicht’ger Hand —, 
Ihr wißt nicht, welchem goldnen Lenze 
Sie einft geraubt als Beilig Pfaud. 
Welch Herz voll Liebe und Vertrauen 
In dieſen Blüten einſt geſchwelgt, 

Und ob mit ihrem Herbſt, dem rauhen, 
Nicht eine Seele auch verwellt; — 
Verblichen iſt ihr Lenz für immer, 

Doch ihrer ſtummen Sprache Wort 
Setzt ihren längſt erſtorbnen Schimmer 
In unſerm tiefften Herzen fort. 

Dort Heibet er mit hellem Glanze 

Das Herbfllaub ber Erinnerung, 

Und jedes Blatt an diefem Kranze 
Träumt ſich noch einmal wieder jung. — 
Drum ſchonet fie, die welken Kränze, 
Zerftört fie nicht mit fllicht'ger Hand; — 
Ihr wißt nit, welchem golden Lenze 
Sie ein geraubt ale heilig Pfand. 

Eigenartig find die Gedichte eines in einem franzd« 
fischen Trappiftenflofter verftorbenen Deutfchen, Theodor 
Falkner. Der Stil iſt außerordentlich gedrängt, mar- 


fig, lakoniſch, oft unſchön, aber doch nicht unbedeutend. 
Zu ben beiten Gedichten der Sammlung gehört das 


folgende: | 
Nenn’ groß es Unvermeibliches zu tragen, 
Und eh'rnen Herzens jedem Schichſal ftehn, 
Groß, wo des Todes bleiche Fahnen wehn, 
Berblutend ſterben aber nicht verzagen. 
Doch ſchön auch if’s, von Sehnſucht fortgetragen, 
Sinwallen zu bes Lebens Soumenhöhn, 

Und wiledig dann dem Heiligen nah’ zu ſtehn, 
Und für das Höchſte feine Kraft zu wagen. 
Sieh! diefen Zwiejpalt ringender Gewalten | 
Hat meine Bruſt zum bin fi erwählt, 
Die, rubelofer als Harpyien, ſchweben, 

Nie flegend, nie befieget um ein Leben, 
zu ſchwach das Große in ſich feſtzuhalten, 
u arm, daß fi das Schöne ihm vermählt. 

Den Hymnenſchwung vertreten die Dichterinnen. Do⸗ 
rothea Erfiling fingt eine Hymne in frei ergoffenen 
Rhythmen mit Schlußreimen, ähnlich wie der Dichter 
Zendrini die Heine'ſchen „Nordfeebilder‘‘ überſetzt hat. 
Malwine Beister feiert in wohllautenden ottave rime 
„Die Erſcheinung“, die ihr Gott, Religion, Unfterblichkeit 
verkündet. Schlichter find die Klänge von Franziska 
Weirich⸗Dohms, welde in anmuthigen Verſen das 
„zobte Veilchen“ befingt und ihr Aſyl unter hohen Tannen 
am branfenden Waldſtrom ſucht. Männlihen Ton haben 
die Gedichte von A. Somme; Albert Teihmann 
zeigt lebhaften fchlefifchen Patriotismus. Von den Ge- 
dihten von Heinrich Pleban ift „Abjchied von ben 
Dergen” das gelungenfte; es athmet frifche, gejunde 


und Sprüche”. 


Naturempfindung; von Johannes Puchat's Beiträgen 
verdient das Gebicht „Maimorgen“ den Vorzug; es ift 
mit Ausnahme eines unreinen Reims tadellos: 
Rings ein Winken und ein Grüßen, 
Sede Knospe nickt und lacht, 
Wenn der Mai auf leiſen Füßen 
Durch das Land die Runde macht. 
Ringe ein Winken und ein Grüßen 
Sn dem fhönen weiten AU! 
Süßes Flüftern, zartes Sprießen 
Beim Concert der Nachtigall. 
Laue Früblingsläfte Lofen, 
Sonnenftrablen bliten hell 
Um die Kelche junger Rofen; 
Leife mnrmelnd eilt der Quell. — 
Ale Schmerzen müflen fehweigen, 
Jede Schuld ift voll gejlihnt, 
Denn es in den jungen Zweigen 
Paradieſiſch knospt und grlnt. 
Rings, fo weit die Blicke reichen, 
Grünt und blüht die junge Welt! 
Eine Wonne ohnegleihen 
Herz und Sinn gefangen hält. 

Auch unter den nicht erwähnten Gedichten findet fich 
manches, was Yormgeübtheit und tüchtiges Streben be⸗ 
kundet. Zu den meiften findet zwar der Titeraturfundige 
leicht die vorjchwebenden Mufter; immerhin aber ift es 
erfreuliher, wenn es im fchlefifchen Dichterwald von 


| allen Zweigen fingt, al® wenn in andern beutfchen 


Gegenden die Theilnahme an ber Lyrik erlofchen zu 

fein fcheint. | 

22. Aus einem Dicterleben. Lieder und Sprüche aus den 
Jahren 1860-68 von Inlius Altmann. Zwei Bände, 
Berlin, Moeſer. 1869. 8 2 Zhle. 15 Nor. 0 
Zwei bide Bände Lyrik, der erſte von 536, der zweite 

von 346 Seiten, erheben an die Genußfähigfeit des deutſchen 

Publitums in Bezug auf Lyrik größere Anſprüche, als 

diefe zur befriedigen vermag. Und wenn in diefen umfang- 


‚reichen Bänden wenigftens größere, erzählende Gebichte, 
Oden und Hymnen, humoriſtiſche Epifteln enthalten wären! 
| Do keins diefer Gedichte überfchreitet das Maß einer: 


Seite; es find lauter kurzathmige, Teichtgeflügelte „Lieder 
Ihrer atomiftifchen Menge gegenüber 
kann ſich die Kritit kürzer fafien, als man bei diefem 
Bolumen vermuthen follte. Es ift befannt, daß fich die 
Heinften Inſekten in den größten Schwärmen einfinden — 
und über die Unerjchöpflichleit gnomifcher Lyrik wundern 


‚wir uns nicht mehr, feitbem wir Rückert's Vorbild in ber» 


artiger Probuctivität kennen. Doch ift mit einem Exemplar 
leicht die ganze Species charafterifirt. 

Der legte Abjchnitt der Sammlung: „Dies Bud) 
gehört den Dichtern“ enthält eine Poetik in Verſen, aus 
der wir den Standpunkt des Dichters am beften erkennen. 
Er betont die Fräftige und jcharfe Geftaltung des Liedes, 
die ftille Sammlung des Gemüths, erflärt fich gegen die 
„Drommete” in bie Poefie, gegen die politifche Lyrik, 
gegen die ©eifter der Berneinung, gegen das Sturmläuten 
und das SHereinziehen des Ungewohnten in die Poeſie, 
gegen die Verberrlichung des eigenen Ich, gegen den engen 
Scitlerwig, gegen den Bilderfehmud, das Flitterwerf, 
mit welchem die Armuth ihre Blöße zu verbergen fucht, 


7 u — — — 


460 
Der ſchlanke, vorgefiredte Leib, hängt an bes Pferdes Hüfte 
m 


aum, 

Das fliegt in wilder Haft dahin, bededt mit Schweiß und 
Staub und Schaum, 

Des Reiters tolle Luft vergönnt dem müden Fuß nicht Haft, 


no ; 

&o jagt dem beimatlichen Herd Wankee, ber Schlangentönig, 
zu. 

Vom fernen, luſt'gen Kriegestanz kehrt er mit feiner Schar 
aurug, 

Wie düftres Flammenbligen ſprüht's unheimlich wild in fei- 
nem Blid, 

Denn als zum wüften Trinkgelag' ſich nieberließ die braune 

Da bot der weiße Mann ben Krug, gefüllt mit Fenerwafler 
ar; 

Der kühne Häuptling fürchtet nicht bes Geifles wunderbare 


Er ſchlürft mit langem durſt'gem Zug ben Trank voll Gier 
nnd Leidenfchaft, 

Bis wilder Tanmel ihn erfaßt, da ſchwang a end fi 

a 0 


Bon bannen ging's im Sturmesflug, ihm tobenb nad) ber 
trunkne Tro 


Die Versbehandlung wäre tadellos, wenn nicht den 
achtfüßigen Jamben oft die Cäſur fehlte und fie nicht 
durch diefen Mangel fih in endlos krabbelnde Vers⸗ 
ungeheuer verwanbelten, 5. B.: 

Das ift.des ſchwarzen Schlangenkönige zligelloje Reiterſchar, 
Im bleihen Mondenſchimmer flattert das gejpenfterhafte Haar. 

Heiter parodiftifch find die poetifchen Erzählungen von 
Adalbert Harniſch, namentlich „Des Ganymedes Hin- 
melfahrt” im Blumaner-Dffenbach’fchen Stil, z. ®.: 

Apoll jaß vor der Himmelsthlir 

.  Bebagli da unb rauchte, 

Indeß In Nektar für und für 
Ambrofia Bacchus tauchte. 

„Das Zeng wird immer fchlechter jett 
Und paßt für Meufchenlumpen‘‘, 

Sprit Bachus Ärgerli und ſetzt 
An feinen Mund den Humpen. 

Und trinfet aus und fchenfet voll 
Und Täßt Frau Venus leben. 

„Schon wieder Teer‘, fo fchreit er toll 
Und fiedt ih um nach Heben. 

Jedoch fo weit fein Auge veicht, 
Iſt Hebe nit zn ſchanen. 

„Das Wettermäbdel iſt vieleicht 
Im Bouboir der Frauen, 

„Wo Suno hält ihr Frühlevée, 
Im Schmadten, Schwören, Fluchen 

Sich übet Mars und in den Thee 
Sie tunlen Sträußelkuchen.“ 

„Die Erfindung der Geige“ von Eliſabeth Mente 
ft nah einer walachiſchen Sage nicht ohne Form⸗ 
gewandtheit gedichte, doch viel zu weit ausholend. Daſ⸗ 
ſelbe gilt von der Gebirgsſage: „Der Schag im Bfergebirge”, 
- welche Ludwig Schweiger dichterifch behandelt Hat. Für 
foldye ins Breite gehende Behandlungsweife ift die Pointe 
nicht bedeutend genug. Die Berfe find übrigens correct 
und nicht unmelodifch. 

Guſtav Otto, der. das anmuthige Schlefierthal in 
wohlflingenden Verſen feiert und eine melodifche „Bar- 
carole” fingt unter Neapels Prachthimmel, läßt im Ge- 
diht „Am Paara“ die Klage eines braunen Knaben um 
ein weißes Mädchen in Verſen austönen, denen es nicht 


Revue neuer Lyrik und Epik. 


an Empfindung und melodiſchem Ausdruck fehlt. Seven 
falls gehört der Dichter zu den beften Coloriften der 
Schleſiſchen Schule. Siegbert Pnio wer's „Rebekka“, 
eine milde Chettogefchichte, ift zu gebehnt und zu breit 
ausgeführt, bei anſchaulichen Einzelheiten and) nicht 
immer correct in ber Behandlung des Daktylus. Das 
gelungenfte erzählende Gedicht der Sammlung ift „Dar 
Karthy's letter Gang” von Sylvins Radig, ber au 
in ben andern mitgetheilten Gedichten Yormgewandtheit 
und mehr Eigenthümlichkeit zeigt, als die meiften übrigen 
Dichter des Albums. „Mac Karthy's letzter Gang” ift 
eine Ballade im ſchottiſchen Romanzenftil, voll büfterer 
Färbung und unheimlicher Anſchaulichkeit. Mac Karthy 
hat die Geliebte in den Elfenmoor geftitrzt; er wandelt 
über die Heide zur Nachtzeit: 

Es wechſeln die Lichter und Schatten 

Im Erlengebüſch und im Rohr 

Und biiden auf die Matten 

Die nadte Geſpeuſter hervor. 

Sie beugen fi) und neigen 

Das Haupt im Mondenſchein, 

Und tanzen in tollem Reigen 

Durch Ried und Heide und Hain. 

Und fieh, wie im Elfenmoore 

Der Rebel fi formt und ballt! 

Es winkt aus dem fläfteruden Robre 

Eine grauenbafte Geftalt. 

Ihr Antlig ift vom Harme 

Entftelt und todtenblaß. 

Sie hält auf ihrem Arme 

Ein Kind, vom Nachtthau naß. 

Die Geſtalt winkt ihm in den Weiher: 

Mac Karthy fleigt die Röthe 

Des Zorns ins Angefidt. 

„Wenn ich dich zweimal tödte, 

Iſt meine Schuld es nit. 

Hinunter, hinunter zur Hölle! 

Sinunter, du bleiches Weib! 

Hinunter, fonft zerfchelle 

Ich ſtracks deinen Schattenleib 1.’ 

As er den tödlichen Stoß ausführen will, verfinkt 
er im grumdlofen Moor. Schade, daß unreine Daltyien, 
unflare Wendungen wie: „dein Borwurf zu lange geduldet”, 
„das Schemen“ für „den Schemen“ und ähnliches mehr, 
das fonft fchöne Gedicht entftellen. 

- Der politifche Lyriker der Sammlung ift Adolf Weis; 
er feiert ben Jahrestag der Union und die Helben von 
Mentana, die letztern mit Nero und Kraft: 

Da Tiegt die Saat. Der Schnitter wankt. 

Kein Lorber feine Stirn umrantt: 

Es war ein ehrlos Schlachten, 

Kein Eannä twar’s, kein Hannibal 

Schwang bier dem ſtolzen Siegerſtahl: 

Es war ein ehrlos Sclasten! 

Einft gräbt fi) aus Mentanas Erd' 

Stalin ihr ſtärkres Schwert, 

Und gürtet ihre Lenden! 

Einf reißt Mentanas Todesfchrei 

Stola und Kaiſerkleid entzwei 

Mit taufend Rächerhänden. 


Mentanas Rache trifft ench all’, 
Die ihr bejauchzt der Helden Fall: 
Denn Blut zerfrißt die Ketten! 
Benn aus den dden Tuilerien 

Die Geier und die Enlen fliehn: 
Ber Tann, wer wird euch retten! — 





Revue neuer Lyrik und Epik. 461 


Schlechte Reime, noch dazu mit harten Apoftro- 
phirungen, wie „Erd' und Schwert“ entftellen das Ge- 
dicht. Deutſche Kriegsbilder ſchaffen Jakob Gottftein: 
„Bor Königgrätz“, Alerander Schadenberg: „Am 
Abend vor der Schlacht”, und Theobald Noethig: 
„Rad der Schlacht“, das letztere befonders ein anfprechen- 
bes Senrebild. Iulian Wohlgemuth dichtet Räthfel und 
Charaden, Hugo Söderſtröm zeigt in feinen Gedichten, 
3.2. „Es zudt ein Wetterleuchten“ Tühnere Anfchauung. 
Anfprechend ift das folgende Gedidt: 

O fchonet fie, die welken Kränze! 
Zerftört fie nicht mit flücht'ger Hand —, 
Ihr wißt nicht, welchem goldnen Lenze 
Sie einft geraubt ale Bei Pfand. 
Welch Herz voll Liebe und Bertranen 
In diefen Blüten einft gefchtwelgt, 

Und ob mit ihrem Herbſt, bem rauhen, 
Richt eine Seele auch verweilt; — 
Berblichen ift ihr Lenz fiir immer, 

Doch ihrer ſtummen Spradye Wort 
Setzt ihren längſt erflorbnen Schimmer 
In unjerm tiefften Herzen fort. 

Dort Heidet er mit bellem Glanze 

Das Herbfllaub ber Erinnerung, 

Und jedes Blatt an diefem Kranze 
räumt fi) noch einmal wieder jung. — 
Drum ſchonet fle, die welken Kränze, 
Zerftört fie nicht mit flücht'ger Hand; — 
Ihr wißt nicht, welchem goldnen Lenze 
Sie einft geranbt ale Heilig Pfand. 

Eigenartig find die Gedichte eines in einem franzd« 
ſiſchen Xrappiftenklofter verftorbenen Deutfchen, Theodor 
Falkner. Der Stil ift außerordentlich gebrängt, mar- 
tig, lakoniſch, oft unſchön, aber doch nicht unbedeutend. 
Zu ben beiten ©ebichten der Sammlung gehört das 
folgende: 

Nenn’ groß e8 Unvermeidliches zu tragen, 
Uud eh'rnen Herzens jedem Scidfal ftehn, 
Groß, wo des Todes bleihe Fahnen wehn, 
Berbintend fierben aber nicht verzagen. 
Doch ſchön and iſt's, von Sehnfucdht fortgetragen, 
Hinwallen zn des Lebens Sonnenhöhn, 
Und würdig dann dem Heil'gen nah’ zu flehn, 
Und für das Höchſte feine Kraft zu wagen. 
Sieh! diefen Zwiejpalt ringender Gewalten 
Hat meine Bruſt zum — ſich erwählt, 
Die, ruheloſer als Harpyien, ſchweben, 
Nie ſiegend, nie befieget um ein Leben, 
Ei ſchwach das Große in ſich feftzuhalten, 

u arm, daß fi das Schöne ihm vermäßlt. 

Den Hymnenſchwung vertreten die Dichterinnen. Do⸗ 
rothea Erftling fingt eine Hymne in frei ergofjenen 
Rhythmen mit Schlufreimen, ähnlich wie der Dichter 
Zendrint bie Heine’fchen „Norbjeebilder‘’ überſetzt hat. 
Malwine Beisker feiert in mwmohllautenden ottave rime 
„Die Erfeheinung‘‘, die ihr Gott, Religion, Unfterblichkeit 
verkündet. Schlichter find bie Klänge von Franzioka 
Beirih-Dohms, melde in ammuthigen Berfen das 
„Todte Veilchen“ befingt und ihr Afyl unter hohen Tannen 
am branfenden Waldftrom fucht. Münnlichen Zon haben 
die Gedichte von A. Somme; Albert Teihmann 
zeigt lebhaften fchlefiichen Patriotismus. Bon den Ge- 
dichten von Heinrich Pleban ift „Abjchieb von den 
Bergen” das gelungenfte; es athmet frifche, gefunbe 





Naturempfindung; von Johannes Puchat's Beitrigen 
verdient das Gedicht „Maimorgen” den Vorzug; es ift 
mit Ausnahme eines unreinen Reims tadellos: 
Rings ein Winken und ein Grüßen, 
Jede Knospe nickt und fact, 
Wenn der Mai auf leifen Füßen 
Dur das Land die Runde mad. 
Rings ein Winfen und ein Grüßen 
In dem Schönen meiten Al! 
Süßes Flüftern, zartes Sprießen 
Beim Concert der Nachtigall. 
Laue Früblingslüfte koſen, 
Sonnenſtrahlen bligen heil 
Um die Kelche junger Rofen; 
Leife murmelnd eilt der Quell. — 
Ale Schmerzen müfien ſchweigen 
Jede Sun vo een gen, 
Wenn es in den jungen Zweigen 
Paradiefiſch knospt und grünt. 
Ringe, fo weit die Blicke reichen, 
Grünt und blüht die junge Welt! 
Eine Wonne ohnegleichen 
Herz und Sinn gefangen bält. 

Auch unter den nicht erwähnten Gebichten findet fidh 
manches, was Yormgeübtheit und tüchtiges Streben be⸗ 
kundet. Zu den meiften findet zwar der Literaturkundige 
leicht die vorfchwebenden Mufter; immerhin aber ift es 
erfreuliher, wenn es im fchlefifchen Dichterwald von 
allen Zweigen fingt, ald wenn in andern beutfchen 
Gegenden die Theilnafme an der Lyrik erlofchen zu 
fein fcheint. 

22. Aus einem Dichterleben. Lieder und Sprüdie aus ben 

Jahren 1860-68 von Inlius Altmann. Zwei Bände, 

Berlin, Moeſer. 1869. 8 2 Thlr. 15 Nor. 


Zwei dide Bände Lyrik, der erſte von 536, der zweite 
von 346 Seiten, erheben an bie Genußfähigkeit des deutſchen 
Publitums in Bezug auf Lyrik größere Anfprüche, als 
diefe zu befriedigen vermag. Und wenn in diefen umfang- 
reichen Bänden wenigftens größere, erzählende Gedichte, 


Oden und Hymnen, humoriftifche Epifteln enthalten wären! 
' Doc; keins dieſer Gebichte überſchreitet das Maß einer 


Seite; es find lauter kurzathmige, leichtgeflügelte „Lieder 


"und Sprüche”. Ihrer atomiflifchen Dlenge gegenüber 


kann fi) die Kritik kürzer faſſen, als man bei dieſem 
Volumen vermuthen ſollte. Es iſt bekannt, daß ſich die 
kleinſten Inſekten in den größten Schwärmen einfinden — 
und über die Unerſchöpflichkeit gnomiſcher Lyrik wundern 
wir uns nicht mehr, ſeitdem wir Rückert's Vorbild in der⸗ 
artiger Probuctivität kennen. Doc iſt mit einem Exemplar 
leicht die ganze Species charalteriſirt. 

Der letzte Abſchnitt der Sammlung: „Dies Bud 
gehört den Dichtern“ enthält eine Poetik in Verſen, aus 
der wir den Standpunkt des Dichters am beſten erkennen. 
Er betont die kräftige und ſcharfe Geſtaltung des Liedes, 
die ftile Sammlung des Gemüths, erklärt ſich gegen bie 
„Drommete“ in die Porfie, gegen die politifche Lyrik, 
gegen bie Geifter der Berneinung, gegen das Sturmläuten 
und das Hereinziehen des Ungewohnten in die Poefie, 
gegen die Berherrlihung des eigenen Ich, gegen den engen 
Schülerwitz, gegen den Bilderfhmud, das Flitterwerk, 
mit welchen die Armuth ihre Blöße zu verbergen fucht, 





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462 Revune neuer Lyrik und Epik, 


gegen die Glut des Farbenſcheins u. f. f. Wenn wir 
aus diefer Polemik gegen verfchledene Gattungen und 
Richtungen der Lyrik das Facit für die eigene Poefie des 
Dichters ziehen, jo ergibt es fi), daß diefelbe Leiben- 
ſchaftlicher Glut und dem Reichthum des Colorits, ſowie 
allen Stoffen von tiefer greifender Bedeutung abgeneigt ift 
und fih auf den einfachen Gefühldausbrud, auf Lied und 
Bild oder eine ſtimmungsvolle Verfnüpfung von beiden 
beſchränkt. Damit ift aber zugleich der Vorwurf einer 
Armuth ausgefprochen, die ſich fowol in Bezug auf ben 
Inhalt als auf die Form, durch den Mangel aller größern 
und kühnern Rhythmik verräth und gegen einen Versſpruch 
der Altmann’schen „Poetik“ fündigt: 

Ausfpanne weit der Dichmug Reifen, 

Verſuche dich in allen Tönen; 

Es muſſen in die Arme greifen 

Sich Liebenb fümmtlihe Camdnen. 

Auch ein anderer Reimſpruch hätte von dem Dichter 
bei der Sichtung feines Lieberftoffs mehr beherzigt wer⸗ 
ben follen: 

Nicht Iege Werth auf alles, was du fingeft, 

Du haft gebichtet dies, dies nur gefchrieben, 
Beſcheiden nicht, noch klug bift du, verlangefl 
Dun, daß wir alle deine Werle lieben. 

Das Gepräge biefer fragmentarifchen ars poetica ift 
bisweilen Har und fcharf; oft werden aber auch die Verſe 
durch philoſophiſche Termini entftellt, die fie geradezu 
ungenießbar madıen, 3. B.: 

Laß mir bein Heines Ich mr aus bem Spiele, 
R Du mußt in Objectivität bi Hüllen — 
oder: 
Univerfalität if nur zu loben — 
oder: -" 
Du mußt dich felber identificiren, 
Mit deinem Gang aus freier Dichtermacht. 

Da Neigung und Theorie den Dichter auf bie Pflege 
des fangbaren Liedes hinweiſen, fo finden wir auch auf 
diefem Gebiete unter den „Melodien“. bie beften Gaben 
feiner Diufe, und auch die „Romanzen“ und „Genrebilder“, 
fowie die mehr politifchen Lieder bes Abfchnitts „Libertas‘ 
verleugnen meiftens die fangbare Fiederform nit. Kine 
große Zahl dieſer Lieder ift, wie ein am Schluß bei- 
gefügtes Regifter beweift, von verjchiedenen Componiften 
bereits in Muſik geſetzt worden — und in der That 
eignen fie ſich dafür durch die fchlichte, einfach innige 
Faſſung. Es finden fi in beiden Theilen der Samm⸗ 
lung Lieder, welche hierin den Uhland'ſchen Vorbildern 
fehr nahe kommen. Liebesglüd, Liebesſchmerz an Gräbern, 
Naturbilder mit finniger und inniger Empfindung beleuch⸗ 
tet, Wanderluft, idyllifches Glück ber Beſchränkung — 
das bildet den Hanptinhalt diefer in dichten Schwärmen 
außfliegenden Lieder. Für den Ton berfelben ſpreche das 
folgende Lieb: | 

Gruß Gott, du golbengrliner Hain, . 

Grüß Gott, ihr blanken Stämme! 
riſch weh’ auf euch die Luft Berein 
er fonn’gen Bergesfämme. 

Ihr Sitberquellen all herbei, 

Auf, Hinget glodenhelle. 

Es if in Lenz, es if d Mat, 

Da finge Wald und Welle, 


Ihr Bögel all heran, heran, 

Wie dürftet ihr denn ſäumen! 

Der Winter legt die Welt in Bann — 
Im Lenz da gilt fein Träumen. 

Ihr Quellen fpringt, ihr Vögel fingt, 
Du Wald magft raufchend Klingen: 
Und wenn uns heut fein Lied gelingt, 
Wird's nimmermehr gelingen, 

Die Farbung zeigt manchen Teden originellen Strich 
auch in ſprachlicher Hinfiht; die Rhythmik, welche die 
drei= und vierfüßigen Verszeilen und die vierzeiligen 
Versſtrophen faft ansfchließlich Tiebt, ift im ganzen flie 
Bend und correct. 

Die „Lieder einer Braut” im zweiten Theil erinnern 
uns an ähnliche lyriſche Studien in andern Sammlungen; 
man follte indeffen dergleichen Stoffe billigerweife ben 
Dichterinnen überlaffen. Wie einer Braut recht eigentlich 
zu Muthe ift — das willen doch nur die Frauen, und 
derartiger Singfang der Männer hat oft etwas Geziertes. 
Unter den „Aguarellen” finden ſich einige Alpeubilder, 


welche an die beiten ſchweizer Schilderungen in Mat- 
thiſſon's „Gedichten“ erinnern. Hier und dort fehen wir 


zwar die Vedute flatt des Gemäldes, doch die Mehrzahl 
diefer Bilder ift flimmungsvoll, .B.: 


Abendlondiäaft. 
Des Abends Lichter glimmen 
Schon mild am Himmelsthor; 
Blaugolöne Strahlen ſchwimmen 
Gedämpft um Ried und Rohr. 
Den grünen Seesaipie el 
Ummweht kryſtallne af 
Auf fernem Felſenhũgel 
Ruht lilagraner Duft. 
Nur an des Dorfbühls Schwelle, 
Umfäumt vom Waldeskranz, 
Strahlt noch die Berglapelle 
Hochpurpurroth im Glanz. 
Aufleuchten ſonnumbebet 
Die Fenſter, das Portal, 
Doch um das Chriſtbild ſchwebet 
Der allerhellſte Strahl. 

Unerſchöpflich wie der Liederquell iſt auch der Quell 
der Gnomen und Epigramme, der in dieſer Sammlung 
fprudelt. In Vierzeilern, Alexandrinern, Diſtichen ſpendet 
uns eine „Laienagende“ ihre Weisheitsfchäge; ſtatt Uhland's 
wird bier Rüdert das Vorbild; es fehlt diefer gnomiſchen 
Lyrik nicht an prägnanter Faſſung und einem fernhaften 
Inhalt, und wir möchten diefem Abjchnitt den Vorzug ver 
allen andern geben; wir theilen bier einige Proben in 
den verfchiedenen Versformen mit: 

Jage nicht nad flücht’gen Schemen 
Steebe Sein — ee 
Gib dich Hin und laß dich nehmen, 
Eine Welle trägt die andre. 


Sitzt gleich der Rief im Thal, der Zwerg anf hohem Ber 
Doch Bleibe der Riefe groß und winzig bleibt —S 
Beide verbüllen ſich uns, Vergangenheit alſo wie Zukunft 

Die mit dem Witwengewand, die nit dem Schleier de Braut, 


— — 


Wenn Gott will ſeine Frommen ſegnen, 
Laßt er's im ihre Blüten eguem 


Feuilleton. 


Was die eigentlich fatirifchen Epigramme und Gnomen 
betrifft, jo geben wir denjenigen, bie in Diftichen gedichtet 
find, den Borzug. Die Madrigale an Adele, die Reim⸗ 
verfe, welche bie Geizhälfe und Aerzte und die langen 
Naſen, Harpar und Star und Bav geifeln, erjcheinen ung 
etwas veraltet und erinnern an die Mufter des vorigen 
Jahrhunderts. 


Man wird in Altmann's „Aus einem Dichterleben“ 
ftets mit Befriedigung blättern, fih an einem Lied, an 
einem Weisheitöfpruh in gelungener Form erfreuen. 
Nur muß man diefe ganze Verscascade fih nicht auf 
einmal ins Geficht fprigen laſſen — «8 ift fonft eine 
nleberfül des Sleichartigen, welche nur ermüdend wir 
en Tann. 


463 


23. Gedichte von Adolf Glaßbrenner. Fünfte vermehrte 
und verbefferte Auflage. Illuſtrirt von ©. Heil. Berlin, 
Brigl. 1870. Gr. 8 1 Thlr. 10 Ngr. 

Zum Deffert nach diefem an Gängen reichen Iyrifchen 
Diner empfehlen wir die längft befannten, eben in neuer 
Auflage vorliegenden fatirifchen Gedichte Glaßbrenner’s, 
in vieler Hinficht Muſter ihres Genres, pilante Deffert- 
weine, bumoriftifche Knackmandeln, fchäumende Couplets, 
wie fie der Bater des berliner Wites feinem jet fehr 
groß und ungeberdig gewordenen Rinde in die Wiege ge- 
legt. Manches vormärzlihe Straf» und Rügelied zeigt 
uns den Yortfchritt der Zeit. Glaßbrenner's Satire 
fuchtelt nicht in der Luft umher, fie geht ans echter Be- 
geifterung fiir Humanität unb Freiheit hervor. 

Kudolf Gottſchall. 





Fenilleton. 


Die Leopoldiniſche Akademie. 

An unſer Referat in Nr. 22 d. Bl. anknüpfend, bemerken 
wir, daß ſeitdem wieder eine ganze Flut polemiſcher Schriften 
und amtlicher Circulare gefolgt if. Ob die Partei des Prof. 
Braun in Berlin glaubte, auf deffen zweite Beurtheilungs- 
fchrift werde die gejeßestreue Partei die Waffen fireden uud 
Aber fih und die Alademie ergehen Taffen, was Herr Braun 
und Genoffen im hohen Rathe für gut befänden — wir willen 
es nicht, aber es muß wol fein, denn zu Anfang Juni ver- 
fandte Herr Behn, der fi noch immer nicht entfchließen konnte, 
grieden zu fchliegen und in einen Kompromiß zu willigen, ein 

irenlar mit der unrichtigen Angabe, der Friede fei ohne Com⸗ 
promiß bergefiellt und er im Beſitz der alademifhen Präfldial- 
gewolt. Wie wenig das wahr und wirklich ift, beweifen nicht 
nur die vier Schriften Klichenmeifter’8 und die zweite Schauen 
burgche Berfländigungsjchrift (Quedlinburg. Bafle), fondern 
vor allem der gleichzeitig, d. h. ebenfall® Anfang Juni ver- 
fandte: „„Elenchus operum scriptorumque editorum ab Aca- 
demise C. L-C. @. N. C. legitimo praeside Ludovico Rei- 
chenbach in et pro Academia ipsa rite electi primarium 
oficiam‘, — ein Blicherverzeihniß eines einzigen Autors, das 
wol Erflaunen erregt, da diefe Werke, zu je einem Exemplare 
gefauft, 1025 Thaler koſten! Wie unbedentend muß fi da- 
gegen Herr Behn mit feinen wenig befannten fieben Four» 
nalauffägen vorkommen. Faſt ein Jahr lang bat jebt Herr 
Behn vergeblich um den Präſidentenſtuhl gelämpft — er jollte 
nunmehr den Kamıpf aufgeben, die Alademie in Frieden laffen 
und zu feinem Rücktriit fi entichließen. 


Bibliographie. 
C., Theorie und Praris auf dem Gebiete ber Päbagogit. 
lautern .8, 4 Nor. 
n Briefen. (Bon ®, 2. Plitt.) ter Bb. 
irzel. ©r. 8. 9 zu. 20 Nor. 
enfey, e Stellung Bayern® zur beutien Frage. Genb- 
Igreiben an bie norddeutſchen Gefinnungsgenoſſen. Münden, Fritſch. 


.8. T, 
Deife, P., Die Königin Luiſe von Preußen und ihre welthiftorifche 
—*s] Säle, Bäbeler.. Gr. 8. 10 NE 
Brömel, A., 305. Geo. Hamann. Ein Literaturbild bed vorigen 
Sahıfunberts. Berlin, S Iawiß. Gr. 8. 10 Ngr. 
in Elage . d., Reue Kovellen. 1fter unb 2ter Bb.: Geborgenes 
Strandgut. „zrene Seelen.” Leipzig, Schlide. 8. a1 Zhlr. 15 gr. 
Dollhopf, 8., Der Ring der Nibelungen von R. Wagner. Sach⸗ 
Lige und fpradplie Griäuterungen mit einer kurzen Sharakterifit ber 
Diätung. Münden Fritſch. Gr. 8. 6 Nr. 
Eggers, F., an € auf bie Sunftrihtung ber Gegenwart, Bortrag. 
an. 8, 7%, Nor. 
+ Die Naturlebre be Staates ala Grunbiage aller Staats⸗ 
zig, C. F. Winter.” ®r. 8. 1 Thlr. 20 Ylgr. 
. Ein Da 2 zur Geſchichte des 
nl » Blätter aus dem 


. f a 
nn, 
u \ 
ahm, M., 
menſchlichen Geiftet. Berlin, Gaertner. Br. 8. 
ilder, ©., Ein friebliger Feldzug. Tagebu 
Jahre 1866, Berlin. Gr. 8. 10 Ngr. 


& 8 end J., Mifflonsvorträge. 2 Bde. Paderborn, Schöningh. 
"Sinüber, 9., Dämmerungen. Sentimentale und burſchiko . 
Böttingen, Eli en. 16. IN 3 richitoſe Lieber 
Jahrbuch der deutschen Shakspeare - Gesellschaft im Anftrage des 
Vorstandes herausgegeben durch K. Elze. Ster Jahrgang. Berlin, Asher 
u Comp. Lexz.-8. 3 Thir. 
Janisch, J., Washington. Historisch-epische Dichtung in vier Ge- 
An eu. ned geschichtlichen Erläuterungen. Leipzig, M. Schaefer. 4. 
r. gr. 
und Sort —— — Sein een und Keine Werte, aus ‚Zagebüßern 
riefen an feine Familie aufammengeftellt. erandgegeben von ©. 
au a 8.) 2 —* ee erg. —* 8. 3 5 88 
as Kapital unb bie Arbeit. Bon einem denkenden M . 
wien Ri, "rt ) Woi N Autorifirt — 
avanagh, Zulia, via. Roman. Autorifirte Ausgabe. 6 Bbe. 
Leipuig —* 8. 4 Thle. 15 Ngr. R 8 . 
ein, H. 3., An den Nordpol. Schilberung ber arktiſchen Gegen⸗ 
ben und ber Norbpolfahrten von ben älteften Zeiten bis zur Gegenwart. 
Krengnad Boigtländer. Er. 8. 22, Ngr. 
obler, 4., er Slorian Bande, ein Iefuit in Paraguay (1748— 
1186.) Rag beilen eigenen Aufzeihuungen. Regenoburg, Bufle. Gr, 8. 


., Das Zeugniß ber Natur für Gottes Dafein. 
r; N ß für Go afein. Freiburg 


9 % 
König, 
im Br. Herder. gi 

Krasicki, L Graf, Der Mönche-Krieg Dronnohomachin). Komisches 
Heldengedicht in Stanzen. Aus dem Polnischen von A. Winkiewski. 
Berlin, Oehmigke. Gr. 16. 15 Ngr, 

Kraszewski, J. J., Dante. Vorl en über die göttliche Comö- 
die gehalten in Krakau und Lemberg 1867. Ins Deutsche übertragen von 
8. Bohdanowioz. Dresden, Kraszewski. Gr. 8, 1 Thir. 10 Ngr. 


Der Krieg gegen Breußen im Iahre 1866 bis zur Schlacht von Kö⸗ 
er Fategifche Skizze vs Foo... Belnn, Inifer, 1869, 

Srü er, g., amburger Raubodgel. Dem Leben nacherzählt. ⸗ 
velle, —2 —— — 8. 3 Nar. Gergähtt. Do 
eof Die materielle Lage des preußiihen Richterſtaudes. Wittenberg, Her⸗ 
[+] 4— “ t. 

—B6 E., Der Wald im Haushalt der Natur und der Mensehen. 
Vortrag. Zürich, Schulthess. Lex.-8. 9 Ngr. 

Lenor, Anna, Blätter und Blüthen. Einfache Geſchichten. Bre⸗ 
En aan er ne} Ficte der Gtäbteverfaffung in D 

aurer, G. 8. v., Ge everfaffun . 

3ter Dr. gelangen, Ente. .8. 4 Thlr. 24 Nor. 8 In Deutſqhland 
8 Bei ner, A., Die Kinder Roms. Roman. 4 Bde. Berlin, Tante. 
. r. 
Meyer, J. B., Philoſophi e & . , 
PERL) u 3; ®- auf phiſche Zeitfragen. Bopuläre Auffäge,. Bonn 


Me rm. Duell uub Ehre. Roman. 2 Bde. ipzig, 
28 4 2 Thlr. —* pr. « Seipalg, Durriche 
s. et F., Im Foyher. die ne Bühnen-Briefe. Münden, Merhoff. 

2 v. - 
Müller, 5. A., Briefe über die chriſtliche Religion. Stuttgart, 


lie, en Die Pfliht. Zwei Vorträge. Aus d ö 
a e, &., Die Pfli orträge. Aus dem 3 . 
Augsburg, Kolmann. Gr. 16. 9 Ngr. 8 Branzöffgen 

Nenmaun, R., Die Rache des Scheintobten, ober: Ein Fürſtenſohn 
als Leichenhändler. Ein wahrheitögetreuer Roman mit forgfältiger Be⸗ 
nugung euffifher Sitten. ıfte bis 6te Lief. Berlin, Köppen. Gr. 8. 
a r. 

—* ruhig Blut! Mahnwort an die Völker Oesterreichs. Von einem 
Oesterreicher. Wien, Wallishausser. Gr. 8. 4 Ngr. 

Ring, M., In der Schweiz. us und Novellen. 2 Bbe. Leip⸗ 
ig, Dürriie Buchandfung. 8. 2 Thlr. 7°, Nor. 

Wille, R., Die Rieſengeſchütze des Mittelalters und ber Neuzeit. 
Berlin, Mittler u. Sohn. ®r. 8. ud Nor. ae 


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Chronik als Quelle bezeichnet, andere von ihm benugte 
Bücher deutet der Chronift felbft hier und da an, ohne 
daß file genauer zu erkennen find; der weitgreifenden Be⸗ 
nngung der Chronik des Martinus wurde bereits gedadht. 
Für den Abſchnitt über die Sicilianifche Vesper, welcher 
zu Ende des Werlks zwifchen florentiniſche Gefchichten 
epifodifch eingefchaltet ift, weiſt der Verfaſſer die „Historia 
conspirationis Johannis Prochytae“ als leitende Duelle 
nach unter überzeugender Widerlegung Amari's, welcher 
das Urfprungsverhältnig beider Erzählungen geradezu 
umkehren möchte. Als Hauptvorlagen für die SDarftellung 
der heimiſchen Gefchichten zwifchen den Jahren 1107 — 
1259, wo meiftens von Jahr zu Jahr die Confuln und 
Podeftk der Stadt angegeben find, werden florentinifche 
Annalen erfannt, doch mit vielfältigen Einfchiebungen und 
andern als actenmäßigen Quellen; die Glaubwürdigfeit 
jener Annalen erfcheint nad) den archivalifchen Forſchun⸗ 
gen T. Wüſtenfeld's unanfehtbar, wie auch durch die von 
Perg herausgegebenen annaliftiihen Aufzeichnungen aus 
dem 12. Jahrhundert beftätigt. Die hierauf folgenden 
Kapitel, von der Gefandtfhaft Brunetto Latini's an bie 
zum lUntergange Konradin's, weifen dagegen in ihrer 
Bollftändigfeit und Oenauigleit, abgejehen von einzel 
nen Unricdhtigfeiten, auf befondere unmittelbare Duellen- 
bezüge hin. 

Die Benugung der „Istoria” durch Giovanni Billani 
anlangend, ift von früher Ber bekannt, daß berfelbe faft 
das ganze Wert der Malespini, ohne Namensnennung, 
feiner Chronik einverleibt hat; wie er dabei zugleid ver» 
beffiernd und ergänzend zu Werke gegangen, auch bie 
Duellen ber Malespini felbftändig eingefehen und noch 
anbere verwendet, erfahren mir erft aus gegenmwärtiger 
Darlegung. Zu einer Anzahl Stellen bei Billani glaubt 
der DVerfafler den Anlaß in Dante's „Commedia’ ent» 
bet zu haben; wir müffen bier, nad) genauer Erwägung 
diefer Stellen, einigen Widerſpruch erheben. Die meilten 
derfelben beftehen bei Dante in fo kurzen Andeutungen, 
daß die umfünglichern Erzählungen Villani's ſich nicht 
ohne Zwang auf fie zurückführen laflen; auch die „Inci- 
denza” vom Eonte Raimondo und Romeo (Billani, VI, 
Kap. 91) erfcheint einfach genug motivirt durch den aus⸗ 
brüdlichen Rüdbezug auf das vorangehende Kapitel, worin 
von der Gemahlin Karl's von Anjon, ber Tochter des 
Grafen Raimondo, die Rede ift, abgejehen davon, daß 
die Erzählung felbft wieder vollftändiger ale bei Dante 
und in dem einen Punkte, nämlich der Zahlenaugabe von 
der Vermehrung ber Einkünfte des Grafen durch die red⸗ 
liche Verwaltung Romeo's, abweichend von biefem be⸗ 
richtet („Paradiso”, VI, 138). Die Uebereinftimmung bes 
Verihts von dem Hungertode des Grafen Ugolino bei 
Billani (VII, Kap. 121, 128) und Dante („Inferno“, 
XXXIII) hatte bereit8 Dönniges („Kritik der Quellen fir 
die Geſchichte Heinrich’8 VII. des Luxemburger”) nad 
gewiefen; doch ift ſowol dieſem als dem Berfaffer gegen- 
wirtiger Schrift der Widerſpruch in ben angeflihrten bei 
ben Kapiteln entgangen, indem znerft drei Enkel des 
Grafen angegeben werben, bann nur zwei, und trogbem 
bei Angabe diefer Leuten Zahl anf jene erſte mit den 
Borten Bezug genommen wird: „Siccome addietro fa- 
cemmo menzione.” So bat die Editio princeps von 


466 Zur italienifhen Literatur. 


1587, jo Muratori und die triefter Ausgabe von 1857; 
nur ald Variante des einen Coder fiihrt Muratori unter 
dem Tert den Wortlaut der zweiten Stelle mit der An. 
abe von drei Enkeln an. Dante felbft weiß nichts von 
nteln des Grafen, fondern nennt vier Söhne deffelben, 
die mit ihm verhungerten. 


In dem legten Abfchnitte, der von befonderm Intereſſe 
für alle Dante» Befliffene fein wird, führt der Verfafſer 
den überzeugenden und im ganzen unwiberleglichen Be 
weis, daß der Dichter eine gewifje Anzahl von Thatjachen 
und Schilderungen lediglich aus der „Istoria” von Ma» 
lespini geſchöpft haben miüffe; auch Unrichtiges in ber 
„Commedia”, wie 3. B. daß Konftanze, die Gemahlin 
Heinrich's VI., gemaltfam zur Berheirathung aus dem 
Klofter gezogen worden fei, ift auf diefe Quelle zurüd⸗ 
zuführen. Nur in einem Falle weicht der Dichter von ihr 
ab, indem er nämlich den Abt von Beccheria des Verratht 
ſchuldig erkennt (‚„Inferno”, XXXIII, 118 fg.), trotzdem 
daß Malespini (Kap. 159), welchem dann auch Giovanni 
Billani (VI, Kap. 65) beiftimmte, ausdrücklich feine Un- 
Schuld bezeugt. Schließlich gibt der Verfaſſer anheim, 
ob nicht der Umftand, daß die Benutzung der „Istoria” 
erft von dem zehnten Gefang des „Inferno“ an erfichtlich 
wird, mit ins Gewicht falle für die Exrflärung der noch 
zweifelhaften Anfangsworte von „Inferno“, VII: „lo dico 
seguitando”. Der Referent ift nicht der Meinung; denn 
einmal ift das von dem Berfafier gewonnene Reſultat in 
Detreff des fchriftftellerifchen Abfchluffes der „Istoria” nur 
eine Wahrfcheinlichkeitsrechnung; dann gilt ja bie Frage, 
wann der Dichter die „Commedia’ begonnen, ebenfalls 
noch als eine offene, und drittens boten vielleicht die erften 
neun Öefänge des „Inferno“ dem Dichter keinen Anlaß 
zum Einblid in die „Istoria“. Doc könnte e8 im Gegen 
theil aud nicht ſchwer werden, ſchon im zweiten Geſang 
eine Spur von dem Einfluß des ältern Malespini zu ent- 
deden: wenn nämlid) Dante in Bers 13 ben Aeneas als 
„di Silvio lo parente” bezeichnet, während er ihn in dem 
viel fpäter gejchriebenen „Convito“ (IV, Rap. 26) nur als 
Bater des Ascanins Tennt, fo fcheint es, als ob er jene 
frühere Bezeichnung direct von Malespini entnommen 
babe, welcher (Kap. 10) von feinem andern Sohne bes 
Aeneas als von Silvins berichtet. Freilich bleibt Hier 
auch der Ausweg anzunehmen, der Dichter babe fid in 
diefem alle, wo es ihm darauf anlam, ben Aeneas als 
Stammvater Roms zu feiern, lediglich an fein Vorbild 
Birgil gehalten, nad deflen Darftellung („Aen.“, VI, 
760 fg.) nicht Ascanius, fondern Silvins Gefchleht und 
Herrſchaft fortleitete, 

Der Berfafier gibt felbft zu, wie oben erwähnt, daß 
feine Forſchung fi vielfach nur auf bloße Bermuthungen 
flüge; zieht Dies der Benrtheiler der Schrift mit in Rech⸗ 
nımg, wie er bei dem vorliegenden Gegenſtande und ber 
Spärlichleit und Unficherheit der vorhandenen Quellen 
nicht anders Tann, fo wird er, im Hinblid auf die von 
dem Berfafier gewonnenen Refultate im ganzen, bie Lei⸗ 
ftung deflelben als eine höchſt dankenswerthe anerlenuen 
müflen, fowol bezüglich der beiten Chroniften an ſich, als 
noch insbefondere zur gründlichern Erforſchung Dante's 
und des ftofflichen Urfprungs der „Commedia”, 








7 u BE EEE. 02 — — u Bd 2 En Er GE EEE. re EEE —— — 5575— 


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Zur italieniſchen Literatur. 467 


2. Jahrbuch der Deutſchen Dante⸗-Geſellſchaft. Zweiter Band. 
Mit Dante's Bildniß nach einer alten Handzeichnung. Leip⸗ 
zig, Brockhaus. 1869. Gr. 8. 3 Thlr. 

Der Inhalt diejes zweiten Bandes des Dante⸗-Jahr⸗ 
buchs gibt Zeugnig von dem rüftigen Yortbeftehen der 
vor nun vier Jahren zu Dresden gegründeten Deutfchen 
Dante- Gefelihaft. Während das Mitgliederverzeichniß 
des erften Bandes die Zahl von 90 aufwies, beträgt die- 
jelbe in dem gegenwärtigen bereit8 121; leider find da- 
von zugleih 7 als in letter Zeit durd) den Tod aus 
gejchieden verzeichnet, nämlich) der Senior der deutſchen 
Dante⸗-Forſcher, 2. ©. Blanc in Halle, Fräulein Joſepha 
von Hoffinger in Wien, durch ihre Leberfegungen der 
„Commedia” und einer Reihe italtenischer Iyrifcher Ge⸗ 
dichte in werthem Andenken, der Maler Vogel von Vogel» 
ftein in Münden, A. Doerr in Darmftadt, Abegg in 
Breslau, von weldem der erfte Band eine umfangreiche 
Arbeit enthielt, E. Gerhard in Berlin und Giovanni 
Tamburini in Imola. Am Schluß des vorliegenden Ban- 
bes befinden fich längere und kürzere Tebensnachrichten von 
diefen Berftorbenen; Hervorragendes Intereſſe bieten die 
Nekrologe der Joſepha von Hoffinger und 8. ©. Blanc's, 
jener von Huber, diefer von dem Herausgeber K. Witte 
verfaßt. Auch der Bericht über die zu Dresden auf- 
gefammelte Dante» Bibliothek, allerdings noch in ihrem 
Beginn, von dem Bibliothelar der Gejellichaft Dr. Petzholdt, 
zeigt einen guten Erfolg. 

Die wiflenfchaftlihen Arbeiten des Bandes find wie: 
berum von mannichfaltigfter Art, theild allgemeinere Wün⸗ 
{he und Bedürfniffe befriedigend, theils jpeciel auf den 
Dante⸗Forſcher berechnet, die einen von beträdhtlicher 
Ausdehnung, eine Dienge anderer aus kurzen Notizen und 
Andeutungen beftehend, alle zufammen ſowol des Did 
ters perfönliche Berhältnifie als Bedeutung und Urfprung, 
Form und Fiteratur feiner Werke betreffend. Den weiteft- 
greifenden Inhalt hat der Auffag: „Dante, ein Schattenriß“, 
von B. A. Huber. Derfelbe fchildert des Dichters Lebens» 
entwidelung, Charakter und Wirkſamkeit: auf dem Grunde 
der politifch»kirchlichen, der literarifchen Berhältnifje der 
Zeit erhebt fich die energiſche Staatsweisheit, der heilige 
Zorn gegen die entartete Kirche, die fchöpferifche Dichter- 
kraft; der Geift des claffifhen Alterthums, die Offenba- 
rung des göttlichen Worte, die Liebe zu Beatricen ver- 
einigen fich zur wunderbarften Harmonie in der „Gött⸗ 
lien Komödie“, dem Epos der Weltfhöpfung und Welt- 
erlöfung. Alles das finden wir hier anziehend dargelegt, 
nad) allen Seiten entwidelt, und der Aufſatz würde fo 
einen vollkommen befriedigenden Eindrud hinterlaflen, wenn 
der Verfaſſer die nicht ohne Gewaltſamkeit herbeigezogene 
Oelegenheit vermieden hätte, feinem Berdruß an dem 
Parlamentarismus und Conftitutionalismus der Gegen- 
wart, ſowie an der ftaatlichen Neugeftaltung Italiens auf 
leidenfchaftlich» parteiiiche Weife Luft zu machen. Die 
zwei auf diefen Aufſatz folgenden Gedichte: „Dante's 
Gattin“, von Joſepha von Hoffinger, und das Sonett: 
„Dante und Jacopone“, von Julius Sturm, find wie 
liebliche Blüten zwifchen die übrige Maffe geftreut und 


gewähren eine anmuthige Abwechfelung. 


Mit des Dichters äußerer Perfönlichkeit und wie die⸗ 
jelbe. von den Mit- und Nachlebenden bildlich dargeftellt 


worden, befchäftigt fich fpeciel die Abhandlung des unter- 
zeichneten Referenten: „Dante's Borträt.” Ueber den 
Werth diefes Verſuchs, fern von Italien, von Florenz, 
der Heimat des Dichters, die derfchiedenen Bildniffe deſ⸗ 
jelben zu charafterifiren und in eine hiftorifche Folge zu 
bringen, in&befondere die Einwendungen gegen die Authen- 
ticität des Giotto- Bildes zu widerlegen, mögen anbere 
urtheilen.. Wenn e8 ſich verwirklicht, was von Florenz 
aus verlautet, daß die Herren Maggi und d’Aucona ben 
Auffag in das Italieniſche überfegen, fo dürfte die Er- 
wartung weitergehender Forſchungen und Aufflärungen 
über den Gegenftand gerechtfertigt erfcheinen; für jetzt Ent 
der Verfaffer nur noch die Notiz beizufügen, welche er 
wiederum Seymour Kirkup in Florenz verdankt, daß 
außer dem Dante» Porträt im Bargello auch das Miche⸗ 
lino'ſche Zafelbild im Dom die Unbilden einer Marini'⸗ 
ſchen Reftaurirung zu erleiden gehabt Hat — diejelbe be> 
traf, wie es fcheint, ausſchließlich das Untergewand, jo- 
weit diefes an der Geftalt fichtbar, und gefiel fi in der 
Bertaufhung der grünen wit blauer Yarbe. Außerdem 
müflen wir dem Zitelporträt, geftochen von J. Thüter, 
das Zeugniß einer forgfültig treuen Nachbildung der im 
der münchener Sammlung vorhandenen Zeichnung, an⸗ 
geblich von Mafaccio, ausftelen; über den wahrſchein⸗ 
lichen Urſprung des Bildes ift in dem Auffate eine Ver⸗ 
muthung gewagt, welcher die hinter dem Titelblatt ge- 
gebene Erörterung des berufenen Kunfthiftoriters E. För⸗ 
fter in München nicht wiberfpridht. 

Bon Alfred von Reumont bringt diesmal das „Jahr⸗ 
buch” einen Auffag über „Dante's Familie“, in welchem alle 
Nachrichten von Dante’8 Eigenthumsverhältnifien, feinen 
Borfahren, Gefhwiftern, Kindern und Nachkommen bis 
zum Ausfterben des Dannsftammes im Jahre 1563 und 
in der dem gräflicheri Haufe Serego angeheiratheten weib⸗ 
lichen Linie bis zur Gegenwart, aus den gelegentlichen 
Bemerkungen des Dichters felbft und den Berichten der 
Chroniften und DBiographen, fowie aus vorhandenen Urs 
funden gejchöpft, überfichtlich zufammengeftellt find. ‘Der 
Verfaſſer erhebt nicht den Anſpruch, etwas Neues gefun- 
den zu haben; aud) zeigt die Bergleichung der beigefügten 
Geſchlechtstafel mit der ausgeführtern in Pelli's „Memorie“ 
feinerlet wefentliche Abweichung — als Verdienft der Arbeit 
aber ift die Vollſtändigkeit, Genauigkeit und lichtvolle Dar⸗ 
legung des Materiald anzuerlennen. 

Alle übrigen Aufjäge befaffen fich mittelbar oder un⸗ 
mittelbar mit Dante’8 „Commedia“, entweder mit der 
Interpretation und Deutung einzelner Beftandtheile der- 
felben oder mit ihren woahrfcheinlichen Vorbildern und 
Duellen, auch mit analogen Geiftesproducten, oder endlich 
mit ihrer Literatur und Zerteskriti. Nachträge am Schluf 
des Bandes von K. Witte liefern hierzu, genauer genom⸗ 
men zu der einen Hauptarbeit des vorigen Bandes von 
demfelben, noch einige VBervollfländigung. "Hervorragende 
Bedeutung auf dem Gebiet der Interpretation haben die 
Arbeiten von Oiambattifta Giuliani: „Dante spiegato con 
Dante”, und von F. 4. Scartazzint: „Dante's Bifion im 
irdiichen Baradiefe und die biblifche Apokalyptik.“ Erſtere, 
in ttalienifcher Abfaffung, ift die Fortſetzung einer von 
dem audgezeichneten Dante« Forfcher längft in Angriff 
genommenen, von Terzine zu Xerzine fortfchreitenden 

59 * 


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468 Zur italieniſchen Literatur. 


Erflärung des Zertes aus analogen Stellen ebendeſſelben 
und dem Zuſammenhange des Ganzen, fowie aus ben 
übrigen Werfen Dante's, in zweiter unb britter Linie aus 
den von dem Dichter angezogenen Schriften anderer und 
den älteften Commentatoren und Chronographen. Der 
hier vorliegende Abjchnitt betrifft den dreizehnten Geſang 
des Inferno”; voransgefchidt ift die Einführung und Be⸗ 
grünbung der ungewöhnlichen Lesart „froda“ flatt „ſonde“ 
im bierundvierzigften Berfe des elften Geſangs, wonach auch 
in die Abtheilung der Gewaltihätigen an dem eigenen Be- 
fige, wie in den vierten Höllenkreis, der Gegenjag von 
Berfhwendung und Geiz gebracht und jo allerdings für 
die am Schluß des dreizehnten Geſangs aufgeführte Berjon 
eine pafjendere Rolle gefunden wird. Der Referent hält 
dies fir eine überaus gelungene Auskunft. Abweichender 
Anſicht iſt er dagegen in nachftehenden zwei Punkten. Bes 
züglich des anfcheinend tändelnden „lo credo ch’ei cre- 
dette ch'io credesse” in Ber8 25 mag es von Intereſſe 
fein, auf ganz Aehnliches bei Boccaccio und Arioft hin« 
zuweifen; die Hauptſache bleibt indeß immer, die Correct⸗ 
heit des Ausdruds aus Dante's eigenem Sinne berzulei- 
ten, und dies feheint nicht fehwierig, indem der Dichter 
auf keine frappantere Weife das zmweifelnd ſpürende Auf- 
bliden des Schauenden zu feinem Yührer ausdrüden konnte, 
als durh Hin» und Hermwerfen des Meinens auf feiner 
und Virgil's Seite. Dann findet der Referent die auf 
das Verhältniß der drei menjchlihen Vermögen, der ve- 
getativa, sensitiva und ragionativa, gegründete Analogie 
der Höllenftrafe für die Selbftmörder nicht ohne Zwang 
durchführbar; denn wenn es auch der Intention des Dic- 
ter8 gemäß ift, daß der Selbfimörber ſich nicht blos von 
der ragionativa, fondern auch von der sensitiva fcheidet, 
fo ift doch nicht einzufehen, auch durch feine Aeußerung 
Dante’8 belegt, wie er nad) Vernichtung des Körpers doc) 
die potenza vegetativa — „per la quale si vive“, wie 
Dante felbft jagt — noch behalten fünne, woraus ber 
Interpret die Verwandlung in Pflanzengeftrüpp berleitet. 
Auch die zweite Hälfte des fiebenten Kapitels im „Con- 
vito” (tratt. IV) ſpricht nicht fir, fondern bagegen, daß 
der Dichter das Pflanzenleben dem animaliſchen Tode 
conform gedacht wiſſe wolle. 

Auf die Einzelheiten der Auslegung der Dante’fchen 
Viſion am Schluffe des „„Purgatorio” von Scartazzini fann 
hier nicht eingegangen werden; ber Gegenftand ift für 
wenige flüchtige Bemerkungen ein viel zu fchwieriger, und 
forderte, wenn man ihm gerecht werden wollte, die hin- 
gebenfte Aneignung heraus. Die gründliche, in allen ihren 
Theilen auf die beften Beweismittel geftüste, forgfältig aus⸗ 
geführte Arbeit mag deshalb ohne weiteres dem Studium 
der Dante⸗Freunde empfohlen werben, nicht weniger aud) 
der fih daran anſchließende Auffag von Leopold Witte 
mit beadhtenswerthen Einwendungen gegen gewifle Punfte 
bei Scartazzini. Wird vielleicht in biefen Dingen nie= 
mals die Stufe der zweifelfreien Gewißheit erreicht, fo 
bleibt doch die fortgefegte Uebung des Scharffinns an 
denfelben keinesfalls ohne Frucht für die Erforfchung der 
„Söttlichen Komddie” im ganzen. Die bieranf folgende 
Eregefe des fiebenten Geſanges bes „Paradiso“ von 6. F. 
Goeſchel, ein Vortrag aus dem Jahre 1853, iſt in der 
an dem Verfaſſer befannten inbritnftig-liebevollen Weife 


gehalten, die fo unvermerft dad Anbeten an die Stelle des 
Forſchens fest und ſich ohne Bedenken der von Schloffer 
gewährten Licenz bedient, nad) welcher e8 weniger dar⸗ 
auf anfommt, die Gedanken bed Dichters zu finden, als 
vielmehr nur, eigene aus den Worten defielben heran 
zufpinnen, 

Auf den Grund und Boden wirklicher Unterfuchung 
ftelt uns dagegen wieder der in englifcher Sprade ge- 
fchriebene fürzere Auffag „The Matilda of Dante“ von 
Henry Clark Barlow; es ift derfelbe, welchem die Dante 
Forſchung die vor vier Jahren erfchienenen „Critical, hi- 
storical and philosophical contributions to the study 
of the divina commedia” verdankt. Der Berfafler ſtellt 
den Charafter der Erſcheinung Mathildene in bem 
Paradiefesgarten des „Purgatorio‘ feit und prüft danach 
in vollftändiger Reihenfolge die verjchiebenen gefchichtlichen 
Deutungen ihrer Perſon; er gelangt dazu, aud die all- 
gemeinere Annahme zurüdzumeifen, daß die Friegsluftige, 
den weltlichen Beflg des Papſtthums verftärfende Gräfin 
von Toscana zur Zeit Gregor’s VII. als das Prototyp 
der fingend blumenpflüdenden Frühlingsjungfrau gelten 
müffe, bie mit ihren fchönen Händen dienend voraus 
wirkte, was Beatrice mit ihren fchönen Augen an Dante’ 
Vorbereitung für das Anfchauen Gottes vollendet. Wenn 
der Berfafler e8 anßerdem nicht wahrjcheinlich findet, dag 
Dante bis in eine fo frühe Zeit zurüdgegangen fa, 
um für eine Zeitgenoffin von fi) eine Gefährtin zu ſu⸗ 
chen, fo hat diefer Umſtand offenbar wenig zu bedeuten, 
da er ja die Genofjenfchaft für fich felbft gar ans bem 
claffifchen Altertum heransgreift. 

Zur Interpretation der „Commedia‘ dient aud) der wer 
fentliche Inhalt des Aufjages „Michel Arıgelo und Dante* 
von Moriz Carriere; denn, abgefehen won einer trefien- 
den Hervorhebung des Berhältnifies beider Mürnmer zu⸗ 
einander und der zwei Sonette am SchIuffe, bietet der⸗ 
felbe nur die intereflanten Mittheilungen aus Donate 
Giannotti's Geſprächen mit Michel Angelo vom Jahre 
1545 über bie in die „Commedia” eingeführte Zeitrechnung: 
der große Künftler führt darin hauptſächlich das Wort, 
und läßt uns erkennen, gleichviel ob die Aufzeichnungen 
authentifch oder nicht, eine wie unbegrenzte Verehrung 
für den Dichter die Zeitgenoffen ihm beimaßen. Was 
bie zwei Sonette betrifft, jo ift das eine im drei verſchie⸗ 
denen Zerten mitgetheilt, von denen der erfte im vierten. 
der zweite im fiebenten Verſe kaum mögliche Lesarten 
enthalten; diefer fiebente Vers ftimmt übrigens mit bem 
Abdrucke bei Adolf Wagner im „Parnasso Italiano” nicht 
überein, trotzdem daß beide Herausgeber den,,Codex Vaticano”' 
al8 Duelle angeben. Der Tert des andern Sonetit- 
lautet bei Wagner ebenfalld anders als hier; ſeltſam 
daß die nachfolgende dentſche Weberfegung von Harry, 
abgejehen von den legten beiden Berfen, weit mehr bem 
Wagner’ihen als dem hier abgebrudten Texte entfpridt. 
In diefelbe Reihe terterflärender Arbeiten mag bier noch 


‚der Bortrag des Herausgebers K. Witte: „Die Thierwelt 


in Dante's göttlicher Komödie“, geftelt werben: in ein 
facher Aneinanderreihung legen die feinen und lebensvollen 
Charateriftiten von Lamm, Ziege, Stier, Hund, von 
Geſang, Klug und Wanderung ber Vögel, von Faltenjagd,. 
Froſch, Eidechje, Ameife und Biene —* ab fir ben. 





De Ve EEE. SEE 


Zur italieniſchen Riteratur. 469 


ſcharf erfaflenden Naturfinn, jene eigenthümliche Gabe 
unfers Dichters, die befonderd bazu mitwirft, feinen 
Sebilden das frifchefte Gepräge der Wahrheit und Wirk⸗ 
lichkeit zu verleihen. | | 

Eine Anzahl anderer Auffäge, meift von geringeru 
Umfange, enthalten Dittheilangen über Analogien und wahr- 
fcheinlihe Duellen der „Commedia”. So meift Guſtav 
Wolff ans Aeußerungen vordantejcher Schriftfteller nad, 
wie der Dichter dazu kommen konnte, Cato den Jüngern, 
anftatt ihn in den Höllenfreis der Selbfimörder zu ver- 
fegen, zum Hüter des Reinigungebergs zu beftellen, Rein⸗ 
hold Köhler bringt zu dem OMO im Menfchenangeficht 
(‚„Purgatorio‘, XXI, 32) eine überraſchende Parallelftelle 
aus Berthold von Regensburg, der freilich jede beftimmte 
Durchbildung fehlt; Eduard Boehmer erhärtet die Ver⸗ 
muthung Hillebrand’8 in Donai, daß der Veltro ans dem 
erften Geſange des „Inferno“ urfprünglich von dem Veltre 
ber faiferlichen Traumgefichte im nordfrangöfifchen Rolands- 
lied flamme, durch bezügliche Mittheilungen aus demfel- 
ben, widerlegt dagegen die Behauptung Rathery's von 
der Priorität der Terzine bei Adam de la Halle und 
Rutebenf um ein halbes Jahrhundert vor Dante; eben- 
derfelbe theilt Auszüge aus dem mit einigen Dante'ſchen 
Merkmalen ausgeftatteten allegorifch-moralifchen Gedicht 
„lintelligenza“ mit, und macht ald Schöpfer deſſelben, ab- 
weihend von Ozanam und Hillebrand, welche dem floren- 
tinifhen Gefchichtfchreiber Dino Compagni das Gedicht 
zufchreiben, vielmehr deffen gleichnamigen Großvater 
geltend. Der kurze Auffag über die Benugung ber 
„Istorie fiorentine” des Ricordano Malespini in Dante's 
„Commedia” ift nur ein Excerpt aus der foeben erfchienenen 
Schrift des Berfaflers über denjelben Gegenftand, in welcher 
das Berhältniß der beiden Malespini zu ihren Quellen, 
zu ihrem Nachfolger Giovanni Billani und zu Dante 
vollftändig und überzeugend nachgewieſen ifl. Ueber die 
von Dante benugten provenzaliihen Quellen, bezüglich 
beren früher der Romanift Dahn eine Arbeit für das 
Jahrbuch in Ausſicht flellte, hat nın K. Bartſch, haupt⸗ 
ſächlich den Spuren in Dante's Schrift „De vulgari elo- 
quentia” folgend, nicht blos einen Nachweis geliefert, fon 
dern dieſen durch fcharffinnige Combination bi8 zu dem 
Punkte präcifirt, daß ihm felbft die nähere Bezeichnung ber 
Handſchrift, deren fich Dante bedient haben mag, gelingt. 

Endlih find noch drei kleinere Mittheilungen, der 
DantesLiteratur und Dandfchriftenkunde angehörig, zu er⸗ 
wöhnen. Die eine, von A. 3. U, berührt die frühern 
englifchen Ueberfegungen der „Commedia‘ und bleibt dann 
bei der in legter Zeit erfchienenen von dem amerilanijchen 
Dichter Longfellow ftehen; doch ift die Beurtheilung feine 
eigene, jondern der Wochenjchrift „Chronicle” entnommen; 
am Schlufle folgen, in zweifacher dentjcher Weberfegung, 
von dem Berfaffer und von Panline Schanz, die fünf 
herrlichen Sonette, womit Longfellow feine engliſche De- 
arbeitung der „Commedia’ einleitet. Die beiden andern 
Mittheilungen, von Hermann Grieben und dem Heraus⸗ 
geber K. Witte, geben Auskunft tiber einige Handſchriften 
der „Commedia” in der Eapftadt, in Ronftantinopel und in 
Sagliari: die zwei am erfigenannten Oste, ein Gefchent 
des Gouverneurs George Grey, find bereitd von K. Witte 


in deu „Dante-Forfchungen" nad) ihrem Werthe geſchätzt; 


die im Serail verfchloffen gehaltene erfcheint faft unnah- 

bar, und die ficilifche, laut den daraus befannt gewor- 

denen Lesarten, verfpricht nur geringe Ausbeute für die 

Kritik des Textes. 

Zum Schluffe fann Referent nicht unterlaffen, ber 
Rebaction des „Jahrbuch“ abermals den dringenden Wunſch 
an das Herz zu legen, daß fie in den nachfolgenden 
Jahrgängen für die Aufnahme einer regelmäßig fortlau- 
fenden Bibliographie der nen erfcheinenden Dante-Titeratur 
möglichfte Fürforge treffen möge. ‘Das Bedürfniß einer 
folchen Ueberficht wird jedem, der fi) arbeitend mit Dante 
befchäftigt, immer fühlbarer. 

3. Hundert ausgewählte Sonette Francesco Perrarca’s, 
überfegt von Julius Hübner. Mit einem Titelkupfer. 
Berlin, Nicolai. Br. 8. 1 Thlr. 15 Nur. 

Eine Uebertragung der feinfinnigen, jedes Wort, jeden 
Klang wähleriſch verknüpfenden Sonette Petrarca’8 in 
das Deutfche mit Tefthaltung der dem Sonett eigenthüm- 
lichen Reim⸗ und Strophenform ift ein bedentliches Unter- 
nehmen, deflen Gelingen immer nur in einzelnen von 
glüdlicher Stunde beginftigten Fällen zu erwarten ifl. 
Es werden deshalb in einer folhen Sammlung bie daß 
Drigingl in allen Beziehungen tren wiedergebenden und 
dabei leiht und anmuthig lesbaren Stüde ftets in der 
Minderzahl fein; bei den Hbrigen hat der Ueberſetzer ent 
weder, um den Worten bed Dichters tren zu bleiben, 
fprachlid) unbequem werden oder charakteriftifche Züge des 
Originals fallen laſſen müffen, um mit fauerm Schweiße 
die erforderlichen zweimal vier Reime aufzubringen. Ber- 
gleiht man dann hier und da Driginal und Nachbildung 
genau miteinander, fo ift e8 Häglich, wie zugerichtet in 
dem einen Tal ein folches Sonett fih ansnimmt oder 
wie wenig im andern alle von den dichteriſchen An- 
ſchauungen und ihrer zarten Verknüpfung in das neue 
leidlich glatt polirte Gefäß fi) Hinübergerettet. Die 
Noth um Reime wirb meiftens zum Fluche für unfere 
Ueberfegungstunft. Was die vorliegende Ueberjegung von 
mehr als hundert ausgewählten Sonetten Betrarca’8 an- 
fangt, deren Driginaltert zugleich der Verſaſſer überall 
beigefitgt hat, jo find vortrefflich gelungene Nachbildungen 
darnnter, 3. B. ©. 34, 92, 102, 108. Dagegen finden 
ſich audy Stellen, wo marfirte Ausdrudsweilen und Bil 
der des Driginaltertes, denen da8 Recht auf Yorteriftenz 
in dem neuen Gewande nicht beftritten werden könnte, in 
der Ueberfegung verwiſcht find. Dahin gehört S. 22, 23, 
wenn der Dichter die Geliebte, die ihn nicht erhört, als 
feinen Tod bezeichnet und ausruft: „Ich will nur auf 
denjenigen hören, der von meinem ode ſpricht“ (Ne 
mi lece ascoltar chi non ragiona Della mia morte), 
wofür der Ueberfeger den Liebenden fehr alltäglich fa- 
gen läßt: | 

Nicht will ich mehr von allem andern hören, 
Als nur von ihr. 

Dder wenn der Dichter (S. 30, 31) nad) dem himm⸗ 
Iifchen Urbilde für Laura's Antlig fragend von lekterm 
fagt, die Natur babe in demfelben hienieden (laggiü) 
zeigen wollen, was fie droben (lassü) vermödte, fo 
wollte er offenbar damit einen Gegenſatz bezeichnen, den 
der Ueberfeger nicht iguoriren und verwifchen durfte, was 
der unfrige jedoch thut, indem er überjegt: 


470 


(Wo nur im Simmel entlehnte die Natur dag Ideal der Züge) 

Zu ihrem Antlit, daß es beides trüige, 

Den Stempel höchſter Allmacht, fanfter Milde! — 

Dafielbe findet S. 110, 111 flatt, wo der Dichter 

den frübzeitigen Tod der Geliebten mit ben Worten be- 
agt, fie habe fcheidend auf Erden die irbifche Schale 
zurüdgelafjen, und fih in nadter Schöne zum Himmel 
erhoben (lasciando in terra la terrena scorza — bella 
e nuda al ciel salita), während unfer Ueberfeger, ohne 
Rückſicht auf die bezeichnenden Gegenfüte des Originals, 
offenbar dem Zwange des Reims nachgebend, die Stelle 
weniger anfchaulich und prägnant fo überfegt: 

Berließ mein Leben diefer Erde Nacht, 

Zaura flieg auf zum Sig der ew’gen Güte — 
woran fi) allerdings noch, mit dem folgenden Gate zu⸗ 
fammenhängend, anfchließt: „in reiner Schöne”. Die 
Reimnoth ift dann noch weiter an manden Entftellun- 
gen und Abſchwächungen des urjprünglichen Wortfinns 
Schuld: der Verfaſſer wiirde fonft gewiß nicht von der 
Abficht fprechen, fi den Tod zu „verleihen“, nicht von 
einem Blumenbeet, das bunte Schlangen „ſpendet“, 
würde nicht dem Dichter den unedeln und Tomijchen 
Ausdrud in den Mund legen: „ob ich mich ins fernfte 
Thal verfröche”, würde fih auch gewiß nicht, wie 
©. 94, die unmögliche Dativform „dem armen Herz”, 
anftatt „Herzen“, erlauben. Dazu gefellen ſich hier und 
da mangelhafte Reime, die man allenfalls in einem lan- 


Rußland und die veutfhen Oftfeepropninzen. 


gen epijchen Gedicht hinnehmen würbe, nimmermehr aber 
im Sonett, bei welchem die eine Hälfte feines ganzen 
Werthes in der rein durchgeführten Vers⸗ und Reimform 
befteht: Reime, wie „reden — Nötben”, „hörte — 
gewährte”, „Kameraden — verrathen” find tm Gonett 
entſchieden verwerflih. Dagegen hat der Berfafler recht 
daran gethan, daß er einigemal ben Zwang ber vier- 
fahen Reimung aufgegeben und, nach Shakſpeare's Bor- 
gange, von der Erleichterung der paarweilen Reimung 
Gebrauch gemacht; es wäre zu wünſchen, er hätte fid 
zu Gunften des Hauptzwecks dieſe Bequemlichkeit viel 
öfter erlaubt. Der italienifche Text ift nicht ohne Druds 
fehler, z. B. S. 11, 2.7: alra fl. altra, ©. 15, V. 14: 
chiarmarmi ft. chiamarmi, ©. 25, 3. 10: di fl. di, 
©. 27, B. 4: piance ft. pianse, ®. 13: bo ft. ho, 
S. 53, B. 8: arriechirma ft. arricchirmi, ®. 12: de ft. del, 
©. 101, V. 8: ricercagli ft. ricercargli. Die budhänd- 
lerifche Ausftattung des Werkchens verdient alle Aner- 
kennung; die Geftalt Laura's auf dem Titelfupfer ift em 
Phantafiebild von gemereler Natur, wie folde Titel: 
illuftrationen meiftens; was endlich das einleitende So— 
nett von dem Derfafjer felbft betrifft, fo bedauern mir, 
erflären zu müflen, daß uns das Organ fehlt, um 
die ungleichartigen und auseinandergehenden Einzelbor⸗ 
ftellungen bes Gedichts zu einem harmonifchen Ganzen 
verfnüpfen zu können. 

Theodor Paur. 


Rußland und die dentfchen Oſtſeeprovinzen. 
(Fortſetzung aus Nr. 29.) 


1. Rußlands ländliche Zuftände feit Aufhebung ber Leibeigen- 
ſchaft. Drei rufftfche Urtheile, überfegt und commentirt von 
Sulius Edardt. Leipzig, Dunder und Humblot. 1870. 
®r. 8. 1 Thlr. 24 Ngr. 

3. Juri Samarin’s Anklage gegen die Oftfeeprovinzen Ruß⸗ 
lands. Ueberſetzung aus dem Nuffiihen. Cingeleitet und 
commentixt von Iulius Edardt. Leipzig, Brockhaus. 
1869. ®r. 8. 2 Thlr. 

3. Livländifche Beiträge. Herausgegeben von W. von Bod, 
Nene Folge. Erſter Band. Erſtes bis drittes Heft. Leipzig, 
— und Humblot. 1869—70. Gr. 8. Jedes Heft 
1 Thlr. 

4. Kivländifche Antwort an Herren Juri Samarin von C. Schir⸗ 
ren. Leipzig, Dunder und Humblot. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 


10 Ngr. 

Offener Brief an Herru Prof. Schirren Über deffen Bud: 

Linfändifhe Antwort. Bon Pogodin. Aus dem Auffi- 

fen des Golos. Berlin, Behr. 1870. GEr. 8. 10 Ngr. 

6. Der deutſch⸗ ruſſiſche Eonflict an der Oſtſee. Zuflinftiges, 
eſchaut im Bilde der Vergangenheit und der Gegenwart. 

Bon W. von Bod, Leipzig, Dunder und Humblot. 1869. 

©r. 8. 24 Ngr. 

As Samarin’s Schrift „Die Grenzgebiete Rußlands“ 
erfchien, war es W. von Bod, welcher zuerft vom balti- 
fhen Standpunft aus ihm entgegentrat. Das geichah in 
den zweiten Bande der ültern „Livländifchen Beiträge”. 
Seine Widerlegungen erftrediten fih dort hauptfächlich auf 
die falſchen Darſtellungen des Moskowiters über die bal- 
tischen Banernverhältniffe, über die kirchlichen Zuftänbe 
und die Lanbesgrundgefege (Capitulationen). Auch in’ 


2 


Titel wir oben angegeben haben (Nr. 3), befchäftigt fid 
W. von Bock befonders in feiner einleitenden „Umjdan“ 
vielfach mit der Polemik gegen Samarin. So kommt er 
im erften Heft auf deffen Vorwurf zurüd, daß die bal« 
tifche Kitterfchaft von der Kegierung „eine radicale Ab- 
ſchaffung aller frühern Beftfegungen, welche den Gutsherrn 
in feiner Berfligung über das Bauerland und in Erke 
bung der Frone befchränkten”, im Jahre 1819 erbeten 
babe, wodurd die Unantaftbarkeit des Bauerlandes und 
die verbindende Kraft der ſchwediſchen „Wackenbücher“ 
(d. i. Grundbücher, welche die Grenzen und die Laften 
der Bauerböfe der Grundherrfchaft gegeniiber feftftellten) 
erloſch. Dieſer Borwurf des ruffifhen Schriftftellers 
wird in feiner Nichtigkeit erwiefen; es wird beſonders 
darauf aufmerffam gemacht, daß die Ritterſchaften 1819 
nur darum Aufhebung der alten, fchwedifchen „Waden- 
bisher‘ bei Alexander I. beantragten und erlangten, weil 
neue und berichtigte an die Stelle ber gegen 200 Jahre 
alten und deswegen zum Theil veralteten, treten follten, 
was auch geſchah. Die neuen „Wadenbitcher‘ blieben 
denn auch in Kraft, bis die Frone der Geldpacht voll 
ftändig Plag machte, was im Jahre 1869 geſchah. Die 
Angriffe auf die Wadenbücher, welche allerdings in ben 
legten Jahrzehnten vielfach unternommen worden find, 
gingen nad; von Bock nicht von der baltifchen Ritterſchaft, 
fondern von der ruſſiſchen Regierung ans. 


der Neuen Folge der „Livländifchen Beiträge”, deren: Kurz nad W. von Bock hob auch Profeſſor Karl 


/ 


mi 





Rußland und die deutſchen Oftfeepropinzen. 


Schirren den Handſchuh Yuri Samarin’s auf. Scirren 
war in Dorpat zuerft für Statiftif und Staatswirthfchaft 
angeftellt, bewarb fich aber fpäter um den freigewordenen 
Lehrſtuhl der ruffifchen und baltifchen Geſchichte, um von 
der dentfchen Hochſchule die Anftelung eines Ruſſen ab» 
zuwenden, und erreichte fein Ziel. Seine große, wiſſen⸗ 
Ichaftliche Thätigfeit war feitdem noch mehr, als es fchon 
vorher der Tall gewejen, auf Erforſchung der Geſchichte 
der baltifchen Herzogthümer gerichtet, wovon eine Menge 
Urkundenherausgaben und andere gefchichtlihe Werte 
Zeugniß geben. Seine alabemifche Lehrthätigkeit war für 
die Belebung der deutſchen Gefinnung der findirenden 
Yugend von großer Bedeutung; feine Vorlefungen gehör- 
ten zu ben befuchteften der Hochſchule; fchon feit einer 
Reihe von Jahren war fein Name in allen wiſſenſchaft⸗ 
lichen und vaterländifch-ftrebfamen Kreiſen der baltischen 
Lande hochgefeiert. Die ſchnöden und böswilligen Beſchul⸗ 
Bigungen trafen den wadern Dann wie ein Fauſtſchlag 
in das Geſicht; er vermochte die Berleumdungen feines 
Heimatlandes und feines Stammes nicht ohne Abwehr 
binzunehmen, obwol die Angriffe weniger jeine bürgerlichen 
Standeögenofien, jondern vielmehr den Abel trafen, an 
deffen Privilegien er keinerlei Antheil hatte. Schirren ift 
aber ein viel zu einfichtiger und umeigennügiger Patriot, 
am dem gemeinjamen Feinde durch innere Zwiſtigkeiten 
umd Eiferfüchteleien Gelegenheit zur Yußfaflung im eigenen 
Lager zu geben; er weiß, daß die baltifche Ritterfchaft 
im Kampfe mit dem Ruffentyum mit nichten vorzugsweife 
ihr Standesinterefle, fondern das Intereſſe des Landes 
vertritt, daß es nicht an der Zeit iſt, von ihr Verzicht 
auf ihre Standesrechte und demokratiſche Berfafiungs- 
xeformen zu verlangen, welche die Ruflen nur zur weitern 
Beeinträchtigung der beutfchen Nationalität und Cultur 
benugen würden; er weiß, daß den baltifchen Adel preis- 
geben das Deutjhthum der Provinzen preißgeben heißt. 
Mit dem Haren Bewußtfein, daß er feine fchöne, befrie- 
digende und einträgliche alademifche Lehrthätigkeit opferte, 
unterzog er Samarin’8 Anklagen einer fcharfen, gründlichen, 
niederfchmetternden Kritik; feine „Linländifche Antwort‘ 
(Rr. 4), in Leipzig erfchienen, kam in Zaufenden von Erem- 
plaren nach Dorpat, um feiner eigenen Entfcheidung über die 
Zulaſſung zum ruſſiſchen Buchhandel unterworfen zu wer- 
den, da er gerade das Amt eines Cenſors verwaltete; er 
gewährte diefe Genehmigung und in wenigen Tagen war 
die Auflage vergriffen, zugleich aber auch auf telegraphi- 
fihem Wege ihm feine Amtsentfegung aus Petersburg 
angelimdigt. Um meitern VBerfolgungen zu entgehen und 
freie Hand in der Wirkfamkeit für fein Heimatland zu 
erhalten, entſchloß er fich, nach Deutſchland auszuwandern, 
beiam aber erft nad; längerer Zögerung feinen Paß. 
Jetzt weilt er im unferer Mitte, indem er die wichtigften 
Staatsarchive, welche tiber Johann Reinhold Patlul’s 
Schicſal Auskunft geben, durchforſcht, da ex eine Geſchichte 
diefes großen Livländers und feiner Zeit zu fchreiben im 


A ikr elandiſche Antwort“ iſt in zehn Abſchnitte ge⸗ 
theilt, welche handeln: 1) Von dem Angriffe auf die 
Prodinz, 2) von den Converſionen der vierziger Jahre, 
3) von der neuen Brovinzialpolitit der Regierung, 4) von 
dem Syſtem der Ruſſificirung, 5) von dem Rechte des 


471 


Landes gegen die herrſchende Kaffe, 6) von dem nordi⸗ 
hen Kriege und den Capitulationen, 7) von dem Angriffe 
auf die Capitulationen, 8) von der fortdauernden Geltung 
der Capitulationen, 9) von dem Bruce des Landesrechts 
dur Polen und Schweden, 10) von der Entwidelungs- 
fühigfeit des Landesrechts. Ä 

Den Kernpunft der Kritik Schirren’8 bildet ber iro⸗ 
nifche Hinweis auf die Unvernünftigkeit der Aufftellung 
Samarin’s, daß dem „Inſtinct“ bes ruſſiſchen Stammes 
alle Güter der Eultur geopfert werden müſſen, wenigftens, 
was die von Rußland abhängigen, nicht ruſſiſchen Völker 
angeht. Auf den „Unftinet der Kaffe” kommt er immer 
wieder zurüd. 

Der Kreuzzug, welden Sie, Herr Samarin, heute gegen 
das Recht der Provinz predigen, erllärt aller Rechtsorduung 
und allem Gefege im Reiche den Krieg. Wer den Juſtinct 
einer Rafje zum oberften Geſetz erhebt, bedroht alles, was den 
Inftinet zu zůgeln berufen if, mit Untergang. So ſchmeichleriſch 
und hofiſch Ihre Rede, der Inſtiuet fragt weder nad Majeflät 
noch Berträgen, Einmal auf Zerflörung gerichtet, durch Erfolge 
gereizt, findet er weder Grenze noch Di 

Treffend find folgende Schilderungen der Tage in ben 
Oftfeeprovinzen (©. 15): 

Wenn das Berlangen, mit Verſtändniß gerichtet zu werben, 
nicht allzu unbillig if, fo bietet fi in der Einrichtung eines 
baltischen Obertribunals, ein ebenfo natur- wie traftatenmäßiger 


- Ausweg. Ueberall empfiehlt fi Theilung der Arbeit. — Sie 


legen Ihr Beto ein. Verſtändniß ift Ihnen ein Grenel. Wer 
nah Berfländuiß traditet, ift Pole, wer Berftändniß vermittelt, 
Berräther. 

Weiterhin verbolmeticht Schirren die Auslaffungen Sa» 
marin’8 und Genoſſen in folgender Weile (S. 84 fg.): 

Nicht der geringftie Zwang iſt euch zugedacht, mas ge» 
ſchieht, verſteht ſich alles von ſelbſt. Fügt euch und ihr wer» 
det bald fehen, wie wohl euch wird, Erf wo der Wiber- 
ſtand andebt, begimmt der Zwang. Es hängt alles von euch ab. 
Eure Behörden müſſen freilich ruffifh werben; enre Schulen 
nicht minder; untereinander dürft ihr euch aber deutich unterhalten, 
umd die beutiche Sprache behält ihre Rechte. — Die Gewiſſens⸗ 
freiheit werden wir denen, die fie nicht mehr haben, fo leicht nicht 
wiedergeben; aber das geht euch nichts an. Ihr könnt thun, was 
euer Gewiſſen euch vorfchreibt und die orthobore Kirche nicht Übel 
nimmt. Um anderer Leute Gewiflen habt ihr euch nicht zu 
fimmern. — Eure Ritterfchaft werben wir ſich felbft überlaffen; 
es ift billig, daß fie das and) andern gönnen, und wenn fie 
ihre politifißen Rechte allmählich verlieren, jo bleiben fie immer 
noch als adeliche Clubs mit eigenen Statuten in allen Ehren 
und Würden. — Ihr habt die Bauern nicht zu germanifiren 
verftanden; ihr habt fle nur gebildet. Jetzt werden wir euch 
ablöfen, und nun mögt ihr es mit anfehen, wie man ruffiflcirt. 
Die Mittel find einfach; ihr könnt uns dabei nicht belfen, 
nur zufehen und ſchweigen. — Euch jelbft wollen wir die Genfur 
gern lafen. Sie wird euch wie bisher berathen und beſchir⸗ 
men. Alles Erlaubte dürft ihr fagen, und ihr werdet doch 
nit fagen wollen, was unerlaubt it? — Und num ergehen von 
allen Seiten offtciöfe, vertrauliche, freundſchaftliche Stimmen: 
Nur ſchweigen! Nur ja mit Reden nicht reizen! Nur ja fi 
auf nichts anderes berufen, als dringendſtenfalls auf bie 
„politiſche Utifität”, auf das „Staatsinterefje‘. Ums Himmels 
willen nicht gar die „Rechtsfrage“ wie einen „Feuerbrand in⸗ 
mitten des Zundſtoffs des bfinden und übermüthigen Fanatis- 
mus, welcher zur Zeit hoch und niedrig beherrſcht, fchleudern”. 
Nur ſchweigen. 

Wahrhaft claſfiſch iſt folgende Charakteriſtik der ſla⸗ 
wiſchen, beſonders der ruſſiſchen Eigenart, (S. 102): 

Ber die Stimmführer der Slawen befragt, vernimmt, wo 
die Stimme des Uebermuths fchweigt, nar Jammer und Klagen. 


412 


Wenn flawifhe Stäume ihren Geift nicht fo entfaltet, ihre 
Cultur nicht fo entwidelt, ihre Kirche nicht fo weit ausgebreitet 
haben, als ihnen erwünſcht wäre: immer find die Umflände 
daran ſchuld, oder fremde Stämme haben e8 zu verantworten; 
bald die Türken, bald die Deutſchen; bald hat es der PBapfl 
auf feinem Gewifſen. Bollends von allen Seiten angefallen 
und bedrfidt, hat das riefige Bolf ber Ruſſen fein kümmerliches 
Dafein gefriftet; von Often haben e8 die Mongolen geplagt; 
von Siden Zataren und Türken, von Weften die Bolen, die 
Schweben, die Dentihen. So lange das her fein mag: der 
Inſtinct lehrt: es gibt keinen Weg zur Freiheit und zur Cultur, 
als mitten durch die Revanche, und feinen würdigern Gebraud 
der wiebergewounenen Cigenbewegung, als num die Mongolen 
und Türken zu plagen, die Polen, die Schweden, die Deutichen 
grnblint wieder zn drüden. Nur fo kommt die Nation zum 

ewußtſein ihrer ſelbſt. Auch in dieſem Amte verleugnet fich 
bie urflawifche Paſſion nicht, fich leidend zu fühlen und flir ange- 
griffen zu halten. Die Uebermadt darf noch fo erbrlüdend fein, 
die Zerfiörungswuth mag bie legten Schranfen niederreißen: 
auch die wildefte Laune behält die hyſteriſche Miene gefränfter 
Unſchuld. Das ift der Inftinet der Kaffe: ein großes Bolt 
wüthet und weint dabei Über fein unverdientes Los. Da iſt 
mebr als Ziberius. 

Zwei ruffifche Entgegnungen auf Schirren's epoche- 
machendes Werl find uns durch Webertragung ine 
Deutfche zugänglich gemacht worden. “Die eine ift von 
dem befannten Panjlawiften Profeſſor Pogodin in 
Moskau (Nr. 5) — ein fehr ſchwaches Machwerk. Der 
gute Moskowiter fcheint, gleich Jakob I. von England, 
anzunehmen, daß Wiederholen einer wiberlegten Behaup- 
tung diejelbe beweifen beißt: er thut nichts, als daß er 
Stellen aus Samarin’s Schrift wieder abdrudt und dann 
binzufügt: fein Gefinnungsgenofje habe dennoch vedit, 
denn die frühern ruſſiſchen Beamten und redtgläubigen 
Biſchöfe in Riga hätten es ihm gejagt. Um feinen ruf- 
ſiſchen Leſern zu zeigen, ein wie böjer Mann Scirren 
fei, führt er ferner eine Anzahl der ftärkften Zornes⸗ 
ausbrüche der „Livländifchen Antwort“ auf, und fegt da⸗ 
zwifchen nur einige Ausrufungen, durch weldye die Lefer 
zum Haß gegen bie Deutjchen ber baltifchen Herzogthümer 
gehett werden. Die eingeflocdhtenen Bemerkungen zeugen 
von einer leidlichen Unwifjenheit des moskauer Profeſſors 
der Gefchichte, wenn er 3. B. durch Tilly Nürnberg zer- 
ftören läßt. Nicht übergangen foll e8 werden, daß in 
der uns vorliegenden Weberfegung ein Ausfpruch der Ur- 
fchrift des biedern Gelehrten unſerer Kenntnißnahme ent⸗ 
zogen ift, den wir nicht entbehren wollen. Nach den 
neueften „Livländijchen Beiträgen“ (I, 3) jagt Pogodin 
nämlich von Schirren: er habe die „Livländiſche Antwort“ 
gefehrieben „trunfen vom Genuffe eines Gemifches von Tinte 
und dem Geifer eines — tollen Hundes!“ 

Eine andere Antwort von ruffifcher Seite hat uns 
W. von Bod in den „Lioländifchen Beiträgen” (I, 2) 
überſetzt; fie führt den Titel: „Antwort auf die Livländi⸗ 
ſche Antwort Schirren’s. Die ruſſiſche Urſchrift ift als 
Brofhüre anonym in Dresden erſchienen. Der Verfaffer 
ftelt ſich als Unparteiifcher zwiſchen die Balten und ihre 
mogfowitifchen Gegner, namentlih Samarin; er theilt 
sach beiden Seiten fcharfe Hiebe aus. Indem er das 
rechtsverachtende Berfahren und Andrängen der legtern 
und der ruffifchen Regierung feineswegs billigt, behaup- 
tet er dennoch: die Balten hätten fi ihre Bedrängniß 
ſelbſt zugufchreiben, indem fie ftets mit rückhaltloſem Ei⸗ 
fer dem Despotismus des Zaren gedient und das rufſi⸗ 


Rußland und die deutſchen Oftfeeprovinzen. 


ide Bolt unter dem Joche zu halten beigetragen 
(S. 119): getragen hätten 

So oft uns bie Luft ankam, jemand zu würgen, dam 
wart ihr Deutſche immer bei der Hand und halft ung herzhaft 
in Keinrußland, im Kaukaſus, in Sibirien, in Bolen, fefbft in 
Defterreih, von Rußland gar nicht einmal zu reden. t 
Dienft um Dienft — wollen wir euch helfen — euch feihf in 
erwärgen. Mit wem haben euere Großväter und Urgroßpäter 
accordirt? Mit der unbegrenzten Gewalt, mit der Willfir 
deshalb haben euere Privilegien keinerlei Kraft. Wir rathen 
euch, das werthloſe Papier zu verbrennen, denn das Selbſt⸗ 
herrſcherthum ſchafft alte Geſetze ab und gibt neue immer nur 
nad eigener Cingebung. Wenn ihr fo einfache Dinge mi 
begreift, fo gereicht da8 euerer Aufflärung, auf die ihr fo ſtoi 
ſeid, nicht zur Ehre. 

Wollten die Balten dem ruſſiſchen Volke gegenüber 
im Rechte ſein, dann ſollten ſie ſich vom Despotismus 
abwenden und jenen helfen ſich zu befreien. „Die Liebe 
zur flaatlihen und kirchlichen Freiheit ſei den Rufen 
immer theuer geweſen.“ Das freie vuffifche Voll werke 
den Balten die nmöthigen Sonberrechte gern bewilligen. 
In diefem Verſprechen liegt einer ber vielen innern 
Widerſprüche der Brofchüre; denn vorher har der Ber 
faffer mit großer Bitterkeit gegen die „Privilegien“ der 
Balten —* indem er fle als Standesprivilegien be 
handelt, da fie doch nichts anderes ald Lanbesprivilegien 
find, und Hier verfpridht er ihmen wiederum gerade folde 
Landesprivilegien vom ruſſiſchen Volle. „Die Balten“, 
fagt von Bod, „vermögen nicht einzufehen, wozu fie mit 
ihren nöthigen Sonderinterefien ſich freiwillig follten in 
Paufe feßen, wenn es wirflih wahr wäre, daß man 
ihnen biefelben nach der Paufe wiedergeben will.“ Wenn 
wir ferner davon abfehen, daß fein Europäer, aljo aud 
kein Balte, begreifen wird, worin ſich die „Liebe ber 
Ruſſen zur „Freiheit“ erwiefen bat, und daß es dem⸗ 
nah auch den Balten unbegreiflidh fein muß, auf melde 
Weife fle dem ruffifchen Freiheitsdrange zu Hülfe lom⸗ 
men können, fo fpricht der Verfaſſer ihnen ſelbſt auch 
noch jede Befähigung, fih in bie ruſſtſche Eigenart zu 
finden, ab. 

Eine höchſt fonderbare Vorſtellung muß der Berfafler 
auch von der „Wiſſenſchaft“ haben, die bei den Ruſſen 
„befondere Principien“ babe, welche „wenig bekannt“ feien. 
Wir meinen, daß eine Wiflenfchaft, welche nur Einem 
Volke begreiflich und zugänglich ift, weil fie auf „beſon⸗ 
deren Principien” beruht, feine Wiffenfchaft ift; denn es 
gibt nicht nad) der Nationalität verſchiedene, fondern mır 
Ein allgemeines und gleiches Denkvermögen aller Menſchen, 
alfo auch nur Eine Wiſſenſchaft. 

In demfelben dresdener Verlage und wahrfcheinlic von 
bemfelben Verfaſſer, wie die „Antwort“ auf Scirren's 
„Antwort“ erſchienen, ift auch eine Flugſchrift in rufe 
her Sprache herausgelommen unter dem Titel: „Ende 
der bdeutfchen Herrſchaft.“ In dem nemeften Hefte ber 
„Livländiſchen Beiträge” (Bd. 1, Hft. 3) gibt ung W. von 
Bock aud) davon eine deutfche Ueberfegung. Es zeigt ſich 
in dieſem Auffag noch mehr als in dem erften ein chr⸗ 
licher, offener, patriotifcher, aber unklarer Charakter. Die 
Deutfchen Rußlands werden darin überwiegend in Shut 
genommen, wenn aud) andererfeitö mit vielen ‚und keines 
wegs immer gerechtfertigten Vorwürfen überhäuft. Ne 
mentlih wird niemand anders als ihnen das Unter» 


ee. EEE er ee _ tt TE 


Rußland und die deutſchen Oftfeepropinzen. 473 


liegen Rußlands im Krimkriege zur Laft gelegt. Der 
umgenannte Berfafler fagt von ben Deutfchen in der Zeit 
vor dem Falle von Sebaftopol: 

Die Ruſſen galten ihnen nichts; fie blidten auf das ruf- 
fifche Bolt, wie auf ein gedankenloſes Werkzeug, von der Bor- 
ſehnng verliehen — nit zur Ausbreitung der großen Ideen 
der abendländiſchen Civiliſation, nein, alle Propaganda hatten 
fie Tängft aufgegeben, fondern als ein Werkzeug zur Erlangung 
von ReichtHümern, Aemtern und Staatewürden u. |. w.... 
Die Deutihen haben uns bezanbert durch den Glanz ihrer Knöpfe, 
durch das Ebenmaß in ihren Bewegungen; die von ihnen in 
Gang gebradte Stantsmafchine ging richtig, und verſetzte alle 
unfere enropäiſchen Nachbarn in Schreden, welche vor dem 
nordiſchen Koloß erzitterten und fi ohne Widerfiand vor ihm 
verneigten. , 

Der Autor mag mel vet haben, daß die Niko- 
lai'ſchen Deutſchen zu viel anf die Form, das Aenfere 
gejehen und in die Staatsmaſchine zu wenig Geift gebradht 
haben. Die Aufgabe war aber eine äußerſt ſchwierige, 
diefen geiftigen Inhalt zu beſchaffen; denn der ganze 
Geift, der damals in Rußland vorhanden war, ftedte 
eben in den dorthin verfprengten Deutfchen, und es ift 
noch heute kaum andere. Es ift faum eine Frage, ob 
es bei Sebaftopol beiler gegangen wäre, wenn fie alles 
in Unordnung, Unfauberkeit und Rauheit gelafjen Hätten. 
Die Einführung der rufflfhen Sprade in den Oſtſee⸗ 
provinzen hält der Berfafier aus bem Grunde für un- 
möglid, weil e8 feine ruſſiſchen Spracdlehrer gebe. Er 
fchlägt vor, die Balten auf eine andere Weife ald dur 
Gewalt für Rußland zu gewinnen; indem er behauptet, 
daß „Duldfamkeit” und „Billigkeit“ der herporftechendfte 
Charalterzug der Rufen fei, empfiehlt ex diefelbe gegen 
die abhängigen Bölfer anzuwenden. Auf das Ruſſiſch⸗ 
Sprechen ift es auch von ihm abgejehen. Nun, wir haben 
Dagegen auch nicht einzuwenden, wenn zur Erreichung 
dieſes Ziels feine andern Mittel angewendet werden, 
als „Duldſamkeit und Billigkeit“; wir fehen aber nod 
nicht die Leifefte Spur zu einer Wenduug auf dieſe 
Bahn. 

In demfelben dritten Heft der „Livländiſchen Beiträge” 
berichtet der Herausgeber auch von einer Stodung in ber 
Nuffificirung der Oftfeeprovinzen: 

Richt daß wir ein offenes, ehrliche Aufgeben beiber ver, 
derblichen Plane zu melden in der Lage wären, d. h. Berzicht 
anf Einführung der ruffifhen, als der Unterrichtsiprache in 
deutſchen Schulen, Beſchränkung des obligatorischen ruffifchen 
Sprachnnterrichts auf das vom örtlichen Beblrfniffe wirklich 
erforderte und mit den Anforderungen der wichtigern Unterrichts» 
gegenftände gar wohl verträgliche, fehr befcheidene Maß, und 
tbatfächlihe Anerfennung des unzweifelbaften Rechts ber Pro- 
vinzen, von octroyirten, nicht ihrem eigenen Rechtsleben ent- 
fprofienen Iuftigreform-Schablonen verfchont zu bleiben, vielmehr 
ihre eigenen, fehr umfafjenden und „dem Gonvernement“ ſchon 
vor länger als fünf Jahren „präfentirten‘ Iuftizreform-Projecte, 
obue alle krankhafte Eentralifatioustendenz berfdfichtigt zu ſehen; 
o nein, fo weit find wir nod lange nit! Aber das Aujfifi- 
cationstreiben ift in ein gewifles, verlegenheitvolles Stoden se 
rathen. Im Stadium der Ausführung erſt fcheint man eine 
dunkle Ahnung von allen Schwierigkeiten nnd Gefahren alles 
deffen gewonnen zu haben, was anfänglich, in dem wohlfeilern 
and fühern Stadium der Erfindung ober Conception, mit fo 
viel officielem und offlciöfem Lärm, mit jo viel Beradjtung 
alles befiehenden Rechts, mit fo viel Geringſchätzung jeber be- 
ſcheidenſten und Ioyalfien, aus den Provinzen felbft hervorge⸗ 
gangenen Oppofttion, oder and nur Warnung in Angriff war 
genommen worden, um die baltiſchen Landesrehte vor dem 

1870. 30. 


Inſtinete der Raſſe verſchwinden zu machen. So verfäumt bie 
moslauer Zeitung neuerdings feine Gelegenheit, mit tiefer Ent- 
mutbigung und Berfiimmung zu bekennen, daß die Ruffification 
der baltiihen Schule nit von der Stelle rückt. Bald klagt 
fie, daß man dabei flehen geblieben fei, neben den deutſchen 
Gymnaſien ruffifche zu errichten, bald wieder, daß in die Land⸗ 
voltſchule immer nod nicht die ruffifche Sprache eingeführt ſei. 
Nur if ihre Erflärung eine falfche: nicht an der Lauheit bes 
Auffificationseifers liegt es, ſondern einfah an der Wahrheit 
Des Spruchs: „Wo nichts if, bat der Kaiſer fein Recht 
verloren !" 

Unter dem 4. Januar 1870 klagt dafjelbe Blatt: 

In der für Rußland künſtlich geichaffenen fogenannten hal⸗ 
tiſchen Frage if im Laufe des verwichenen Jahres keine Ber- 
änderung vorgegangen, d. 5. fie hat in antiruffiiher Richtung 
Fortſchritte gemacht. Na wie vor, unter der Einwirkung ber 
Örtlichen fſündiſchen Mächte, jedoch auch der mittlern und hö⸗ 
bern Kromunterrichtsanftolten, führt die ungeheuere Mehrzahl 
der Bevöllerung, ungeachtet ihres Zugs zu Rußlaud Hin und 
ihres Berlangens nah ruffliher Sprache, fort, unwillkürlich 
fi) zu germaniftren und wird zu dem benachbarten Deutfchland 
bingezogen. 

Ehe wir uns von Woldemar von Bod, biefem 
überans thätigen und fruchtbaren Vertreter der baltifchen 
Herzogthiimer verabjchieden, haben wir nod einer ein- 
fchlagenden Schrift von ihm zu erwähnen. „Der deutſch⸗ 
ruffiſche Conflict an der Oftfee (Nr. 6) enthält im 
wefentlichen zwei Borträge von Bod’8, welche er in 
Quedlinburg in dem dortigen wiſſenſchaftlichen Berein 
gehalten hat. Der eine behandelt „Die erften Begegnun⸗ 
gen der Deutfchen mit den Ruſſen in Livland‘, und bes 
trifft den Srieg, welchen der Heermeiſter Walter von 
Plettenberg im Anfange des 16. Jahrhunderts mit Iwan I, 
von Mosfau, dem Großvater Iwan's I., des Schredlichen, 
geführt, nnd in welchem er in der Schlacht bei Pleskan 
eine der glänzendften Waffenthaten der Geſchichte voll« 
bracht hat. Bemerkenswerth ift das Urtheil des Biographen 
Plettenberg’, des Freiheren Schoulz von Afcheraden, aus 
dem vorigen Jahrhundert über dieſen Helden; es lautet 
nah von Bod folgendermaßen: 


Man hat durchgängig dieſem Regenten den Beinamen dee 
Großen zuerlannt; ja einige Baben ihn gar Alerander dem 
Großen und Yulins Eäfar zur Seite geftellt. Ich ſelbſt, von 
dem allgemeinen Borurtbeile eingenommen, hatte mir vorgefett, 
durch die Beichreibung feiner Regierung meinem Kleinen Ber- 
fuche einen Relief zu geben. Ich babe daher alles, was von 
ihm gejagt worden, mit vielem Fleiße zuſammengeſucht, und 
mehr als einmal Überlefen, muß aber dennoch gefiehen, daß 
ih zu meiner Veftärzung diejenige Größe nicht gefunden, die 
ich wir eingebildet hatte. Ein jeder wird hHierüber ſelbſt ur- 
theilen können, wenn er das von mir entworfene Bild feiner 
Regierung, darin gewiß fein einziger vortbeilhafter Zug über⸗ 
gangen ift, anfieht. Hatte er fi anfangs durch die erfochtenen 
zwei Siege als ein kunſtverſtändiger Kriegeheib fignalifirt, fo 
effipfirte doch wiederum der große General ganz und gar, fo- 
wol in bem gefchlofjenen nachtheiligen Frieden, als anch in den 


nachher vernadläffigten Bertheidigungsanftalten. Was er zur 


Berbefjerung der innern Staatsverfafiung getban, befteht in 
den von mir angeführten drei Verordnungen. Im librigen 
Iebte er mit den Biſchöfen in Frieden. Das war rühmlich, 
aber noch Tange nicht groß. Woher ift denn ber große Ruf 
entflanden? wurde die Welt durch das dunkle Gerlicht 
von feinen Giegen frappirt. In der That war e6, wenn man 
den Bortheil des groben Geſchützes nicht in Betracht zieht, recht 
erftaunlih, dag eine Hand voll Volle die ganze und in mehr 
als 100000 Mann beflehende Kriegsmacht eines großen Reichs 
anfs Haupt gefchlagen Hatte. Daß aber diefer erfte Ruf auch 
nachher in der umfländlichen Geichichte foutenirt worden, daran 


60 


474 a 


mag wol folgender Umfanb fdyuld fein. Walter begünftigte 
bie Einführung ber Iutherifhen Religion. Die livländifchen 
Shronilenichreiber Rüffom nnd Kelch, beide Prediger, hielten es 
alfo flir eine Pflicht ihres Berufs, ihn dafiir bis in den Himmel 
zu erheben. Sie fhrien: der Sroßel und die Welt fchallte 
wieder: der Große! Ih glaube aber, daß fein Ruhm am 
richtigſten appreciret fein wird, wenn man fagt: Er war ein 
tapferer General und ein frommer Regent. Biel! in den ba» 
maligen Zeiten, aber lange nicht genug! 

Der andere Bortrag von Bock's enthält eine Ver⸗ 
gleihung der livländifchen und der ruffifchen Landgemeinde. 
Die Grundlage der Verſchiedenheiten in beiden findet 
aud) von Bock in dem perſonlichen Grundbeſitz — fei es 
Eigenthum oder Pachtung in jenen und in dem Gemeinde⸗ 
deftg von dieſen. Schon ber Freiherr von Harthaufen 
bat vielfach darauf Hingewiefen, daß aus dem Gemeinde⸗ 
befig, die dem rufflichen Bauern eigenthümliche Abneigung 
und Geringſchützung des Aderbaues herzuleiten iſt. Da⸗ 
mit zufammen hänge auch bie verächtliche Nebenbebeutung 
des Wortes Smerd, Aderbauerr. Der ruffifhe Bauer 


‚ Reifeliteratur. 


treibt den Ackerbau nur aus Noth, ergreift daher jehen 
andern Lebensberuf lieber als biefen, und zwar ben am 
wenigiten jeßhaften am liebften, nebenbei ift er zu allen 
andern Handarbeiten aufgelegt und geſchickt, wenn au 

nur oberflächlich. Der beliebteſte Beruf iſt ihm der Schacher. 
Der livländiſche Dauer dagegen, d. h. der Gefindepäcter 
und ber Lostreiber, d. 5. deſſen Afterpachter von Land⸗ 
parcellen, liebt feinen Acker und feine Wiefe, und betrachtel 
es ala ein Unglüd, von der ererbten Scholle weichen zu 
möüflen; er ift ein eifriger Landwirth und lußt es ſich 
angelegen fein, feine Bodenerträge zu fteigern. Bon 
feiner undergleichlich höhern Gefittung und Bildung den 
ruſſiſchen Standesgenofien gegenüber haben mir ſchon 
mehrfach gejprohen. Einen ähnlichen Unterfchied wie 
zwifchen den Bauern findet von Bock auch zwifchen dem 
Adel Rußlands und Livlands, überhaupt der Oſtſee⸗ 
provinzen. Edwart Mattuer. 


(Der Beſchluß folgt in der nachſten Nummer.) 


Reifeliteratur. 


Eine Reife durch Bosnien, die Sapeländer und Ungarn. Bon 
— Maurer. Berlin, C. Heymann. 1870. Br. 8. 
L 


Der Verfaſſer einer Ueberſetzung der Keifeerinnerun« 
gen des fchwedifchen Dichterd Atterbom, welche fi in 
ierlihen Yormen an das maßvolle Driginet anfehmiegte 
befchreibt bier in gröbern Umriffen eine Reife, bie er fe f 
mehr oder weniger im Dienfte der Publiciftit gemacht Hat. 
Jene Ueberfegung führte: uns in die Linder Europas, 
welde fi am meiſten durch Kunft und Wiſſenſchaft aus 
gezeichnet Haben. Dur dies Originalwerk werben wir 
mit Bölfern näher belannt, welche weder durch ihre gegen⸗ 
wärtige Culturſtufe, noch durch flaunenswerthe Hefte einer 
großen Vergangenheit die Reiſenden anzuloden pflegen. 
Atterbom's Heife nach Dresden und Italien fteht in einem 
ziemlich ſchroffen Gegenfage zu Maurer's Reife in Land⸗ 
ſchaften, deren politifche Geltung noch von ber größern 
oder geringern Energie abhängen wird, die ihre den Kün⸗ 
fin und den Wiſſenſchaften noch immer nur wenig zu- 
gewandten Bewohner zu entwideln im Stande fein werden. 

Es Tag unter diefen Umftänden dem Berfaffer der 
obenangeführten Schrift ganz fern, eine Reifebejchreibung 
zu liefern, welche etwa felbft den Eindrud eines Kunſt⸗ 
werts machen könnte. Mit dem, was er in diefer De- 
ziehung (ſtolz darauf, daß von feinem Buche wenig oder 
nichts vorher in Zeitfchriften veröffentlicht iſt) über Tou⸗ 
riftenfeuilletons einfließen läßt, jagt er manches Wahre, 
verſchüttet aber doch beinahe fchon das Kindlein mit dem 
Bade. Es ift gewiß: von den größern oder geringern 
Naturfchönheiten einer Gegend ober den Kunftichönheiten 
einer Stadt wird nur eine felbft den Geſetzen der Aeſthetik 
untergeordnete Darftellung und ein treues Bild geben kön⸗ 
nen, alfo ein Buch, das zur Veröffentlichung in Feuille⸗ 
tons wol geeignet iſt. Das Heifehandbud freilich, welches 
und fagt, wie wir am beften an einen Ort gelangen unb 
wie wir einen kurzen Aufenthalt an demfelben einzurich⸗ 
ten haben, dieut une bem alltäglichen Bedürfniß. Es 


bat keineswegs bie Aufgabe, uns durch Schilderungen 
einen Antbeil an den poetifchen Genüſſen zu verfchaften, 
die e8 verzeichnet. Zwiſchen den ftatiftifchen Nachweiſun⸗ 
gen der Reiſehandbücher und zwiſchen den äſthetiſchen 
Schilderungen der Yeuilletonreifen Liegen jedoch noch die 
Beichreibungen ber literarifchen Pfadfinder, melde, wen 
ihnen auch die eigentlichen Entdecker Tängft voraufgegan⸗ 
geu find, noch eine Menge neuer Notizen aus dem weniger 
bekannten Ländern und Landfchaften nachzuholen Haben, 
Auf der andern Seite aber pflegen folche Befchreibungen 
noch viel zu unvollftändig zu fein, um uur als Grund⸗ 
lage für ein fyftematifches Reiſehandbuch zu dienen oder 
gar ein folched zu erjegen. Das Reiſehandbuch erzielt 
Bollftändigkeit, kaun diefelbe aber blos Durch feine weſent⸗ 
lich nur tabellarifche Form erreichen. Mit den Charakter 
der Reiſebücher jener dritten Art läßt ſich die Vollſtändig⸗ 
feit nicht vereinigen. Ihre Form ift weder ftatiftifch noch 
poetifch, fondern in ber Regel die Form der breitem 
pbilofophifchen Entwidelung, welche ihre Principien immer 
nur an einzelnen Beifpielen barlegt. 

Zu den Büchern diefer dritten Art rechnen wir das 
vorliegende Reiſewerk von Franz Maurer. 8 bietet fah 
nur die eigenen Erfahrungen feines Verfaſſers dar. Denn 
wenn derfelbe auch tüchtige ethnographifche und lingniſtiſche 
Borftindien zu feiner Keife gemacht hat, fo muß ihm biefe 
boch eben dazu dienen, die Nefultate feiner häuslichen 
Studien zu prüfen und zu ergänzen. 

Franz Maurer nennt fi einen „Niederunger“, nicht 
etwa von Niederungarn, fondern von der norddeutſchen 
Niederung. Er ift zu Klein⸗Dedeleben an der preufifd- 
braunfchweigifchen Grenze geboren und lebt jet in Ber- 
In. Er fcheint anſehnliche Reifen in Nordweſteurope 
gemacht zu baben. Einer gewifien Wärme in bem vor- 
liegenden Buche aber merft man es immerhin an, daß 
er Ha ihm feine erfle größere Reiſe in fitblicher Richtung 
erzählt, 

Der Verfaſſer bejchreibt zunächſt bie Reiſe über Dres 


“ 


Vom Büchertifch. 


den, Prag, Wien, Marburg und Steinbrück. Der fol⸗ 
gende Abſchnitt handelt über Kroatien und die Militär⸗ 
grenze. Uns hat in demſelben beſonders intereſſirt, was 
ex über die Trachten der Kroaten ſagt. Nicht minder, 
bag die Kroatoferben ihren Kindern vorſprechen, ihre neu⸗ 
geborenen Gefchwifter feien von ber Zigennerin gekauft. 
Freilich ift diefe Auffafjung wol nicht damit zu vergleichen, 
baf jest in den Städten Deutſchlands der Klapperſtorch 
die Kinder bringt. Man muß dabei eher an die ältere 
und auf dem platten Lande in Deutjchland gewöhulichere 
Auffaffung denfen, wonad bie Kinder bis zu ihrer Ges 
durt in einem Sinderbrunnen ober Dorfteiche bei der 
Woflerfrau figen. Zur Zeit ihrer Geburt werden fie von 
der Hebamme aus dem Teiche geholt. Diefe deutſche 
Bauernfage ift namentlich in phyfiologiſcher Hinficht viel 
interefjanter, al8 die vom Klapperſtorch oder von der 
Zigeunerin. 

Die Haltung der Grenzerfolbaten erklärt der Verfaſſer 
in dieſem Abſchnitte für vortreffih. Bei der Einübuug 
follen fie fich feiner Darftelung nad) als fehr geſchickt zeigen. 

Der nüchfte Abjchnitt handelt von Bosnien. Außer 
eimer gewiſſen Wichtigkeit biefes Landes, welches ja auch 
in Maurer's Buche ald Ziel dafteht, verpflichtet uns eigent- 
lid) eine gerade zu diefem Abfchnitte angefertigte Routen⸗ 
farte von Kiepert zu längerm Verweilen bei diefem Ka⸗ 
pitel. Allein, durch eigene Reifen oder anderweitige Lek⸗ 
türe über Bosnien nicht näher informixt, bitten wir um 
Entfhuldigung, wenn wir und zum nähern Eingehen auf 
das Hauptfapitel zu ſchwach fühlen nnd auch dasjenige 
Kapitel übergehen, welches ſich unmittelbar baranfchliekt. 
Dagegen möge e8 uns erlaubt fein, an ben Schluß ber 
Anzeige von Maurer's trefflichem Buche, die Riüdreife 
durch Ungarn, nad) einer nähern Kenntniß von Ungarn 
durch eigene Reifen und verwandtjchaftliche Beziehungen 
einige Bemerkungen anzulnüpfen. 

Franz Maurer erzählt uns, daß Räuber in Ketten 
zum Mitfahren auf das Schiff gebradht feien, auf dem 
er bdonanaufwärts fuhr. Bon den ungarischen Banern, 
bie fich auf dem Schiff befanden, wurden fie „bewunbert“. 
Da gewährt dann freilich aud die Schilderung ber jetzt 
mehr als früher allgemein gewordenen ungarifchen Volks⸗ 
tracht (des vielgefalteten kurzen Hembes, der noch mehr 
gefalteten Beinkleider, der Stiefeln mit hohen Scäften 
und des befannten ungarifchen Gutes) dem Freunde bed 
Bollslebens Teine rechte Befriedigung mehr. Und doch — 
wie hat uns dieſe bis im die vierziger Jahre des Gäch- 


475 


lums hinein in Karl Beck's „Tahrendem Poeten“, auch wol 
in deſſen „Janko““, und bei Nikolaus Lenau entzückt! Erſt 
gegen das Ende ber vierziger Jahre gab man der ver⸗ 
fländigen Erwägung Raum, daß aud die Deutfchungarn, 
denen die Dagyaren in Ungarn fo vieles verdanken, ge 
wiß einiges Intereſſe verdienen. Die Deutfchungarn, ge- 
führt von einem hochbegabten Belletriften, entfalteten da⸗ 
mals auch eine verhältnuigmäßig nicht unbedeutende Reg⸗ 
famkeit. Ihre Agitation blieb jedoch immer eine Litera- 
rifhe, während es einer politifchen Agitation für das 
dentfche Element in hohem Grabe beburft hätte Bon 
ben fiebenbürger Sachſen fehen wir bier ab. Über fogar 
biefe Sachſen fchloffen fih faſt ſtets an Defterreih an. 
Da die Agitation ihren Sig in Presburg hatte, fo waren 
ihre Vertreter den Wienern ftammperwanbt, was befaunt- 
lich bei ben tiefer in Ungarn wohnenden dentjchen Berg⸗ 
und Hittenleuten Teineswegs der Fall if. Während nun 
die Führer der Deutichen in Ungarn ihre Stüge nur im 
Defterreich fuchten, fanden die Magyaren felbft ihre Stütze 
in Norddeutſchland. Deshalb erlangten die Magyaren 
durch das Jahr 1866 eine Unabhängigkeit von —* 
reich, welche fie früher durch die Revolution vergeblich 
erftrebt hatten. Seitdem vermag Defterreich dem beut« 
fchen Element in Ungarn noch weniger Schu zu gewäh⸗ 
zen als früher. Ein engerer Anfchluß der meiften Deutſch⸗ 
ungarn, welche nicht blos für Goethe ſchwärmen, fon» 
bern auch in politifcher Hinficht echt deutſch gefinnt find, 
an bie Magyaren war daher vor und nach 1866 natür⸗ 
lich. In diefem Augenblid ift die Gefahr einer immer 
mehr machfenden Magyarifirung und eines allmählichen 
volftändigen Verſchwindens bes deutfchen Elements in 
Ungarn nicht zu verlennen. 

Wie jeher wir es auch bedauern, daß die Deutfchen 
in Ungarn zu ihrem größten Nachtheil fiir Preußen im 
allgemeinen nicht einmal ebenfo große Sympathien gehegt 
Haben als die Magyaren: fo ift body eben jet das Ber: 
halten der Norddeutſchen gegen die deutjch-ungarifchen 
Brüder von ber größten Bichtigteit, um benfelben eine 
möglicäft ehrenvolle Stellung unter den Magyaren zu 
bereiten.” Möchten daher Publiciften, welche Ungarn be« 
reifen, ja nicht verfüumen, forgfältig über das dortige 
dentfche Element zu berichten! Ehe die Norddeutſchen für 
die Deutfchungarn ſich intereffiren können, müffen fie erft 
wieder ausführlicher über deren jetzige Verhältniſſe belehrt 
werden. Hier Hätte gerade fir Franz Maurer eine ſchöne 
Aufgabe gelegen. Heinrich Pröhle. 


Dom Büchertiſch. 


1. Die Regeneration der dentfchen Stubentenfchaft. Bom Ber- 
fafjer der Broſchüre: „Die dentſche Studentenſchaft; eine 
otabenifge Zeitfiudie Würzburg, Studer. 1869. 8. 

gr. 


Den verftändigen und zur Sache redenden Ton feiner 
erfien Brofchüre hat der Verfaſſer vorliegenden Schrift. 
chens and) wieder durchweg gewahrt. Ex geht, ohne zu 
weit nad) rechts oder links abzufchweifen, den Webel- 
ftänden bes ſtudentiſchen Corporationsweiens zu Leibe, 
ohne fich in blos negirender Polemik zu verlieren. Im 


Gegentheil, es muß uns, bie wir bei der Beſprechung 
der „dentfchen Studentenfchaft” die Aeußerung nicht unter- 
brüden konnten: „Der Worte find genug gewechjelt, laßt 
uns nun endlich Thaten ſehn“, freudig überraſchen, daß 
der Autor im zweiten Abjchnitt feiner Broſchüre ganz 
entichieden, mit der Anfnahme unfers Citats als Motto, 
zu pofitiven Organifationsvorfchlägen kommt. Er ſchlägt 
einen allgemeinen Studentencongreß zur Wegelung der 
gegenwärtigen Parteiverhältnifie vor, der die drei Car⸗ 
dinalpunkte: „Geſelligkeit, Wiſſenſchaft, Politik“, zu 
60 * 





476 
debattiren hätte. Oder vielmehr, blieben nach firengerer 
Sonderung ale Discuffionsgegenftände übrig: „Wiſſen⸗ 


fchaft“, „Regelung ber Ehrenftreitigleiten‘‘, „Betheiligung in 
alademifchen Angelegenheiten.” Bei der Realifirung des 
zweiten Punktes wird — fo fürchten wir, ohne zu peſſi⸗ 
miſtiſch zu fein —, falls ein foldher Congreß zu Stande 
füme, die alte beutfche Uneinigkeit wieder zu Tage kom⸗ 
men. Denn die vorgefchlagene Ehrenjury, die aus Der 
legirten der gefammten Stwdentenfchaft zufammenzufegen 
wire, würde ficher am Widerſtand des SC. fcheitern. 
Und wenn dann auch ſchließlich, wie der Verfaſſer S. 40 
meint, fih ber SC. von einer Betheiligung an dieſer 
Inſtitution ausfchliegt und allein die andern Parteien ihre 
Maßregeln in der Duellfrage treffen follen, fo ift damit 
eben noch feine Einigung und in der Duellfrage keine ein» 
heitliche Auſchauung über die Satisfaction, diefen Brenn- 
punkt aller ftudentifchen Fragen, gefchaffen. Sollte indeß 
einmal ein folcher Congreß zujammentommen, fo wären 
immerhin die fehr zwedmäßigen Vorfchläge, die der Ver⸗ 
fafler auf den letzten Seiten feiner Broſchüre gibt, zu 
acceptiren. Nur wird der fonft fo kaltblütige und ficher» 
blickende Autor fich wol nicht mit verderblichem Optimis⸗ 
mus. verhehlt haben, daß nirgends Reformvorſchläge auf 
fo fteinigen Boden fallen, wie in demjenigen Theil ber deut- 
chen Studentenfchaft, welchen der Paukboden und bie 
Kneipe noch immer der unerfchütterliche Rechtsboden bleibt, 
2. Gottesidee und Kultus bei den alten Preußen. Ein Bei⸗ 

‚ trag zur vergleihenden Spradhforfhung. Berlin, Beier, 

1870. ©r. 8. 12 Nr. 

Während die bisherigen Bearbeiter der altpreußifchen 
Götterlehre fich faft ausfchlieglih darauf befchränften, bie 
Nachrichten der Chroniften zufammenzuftellen oder über 
die in der Form crafien Aberglaubens erhaltenen Hefte 
des Bollsglaubens zu veferiven, ſchlägt der Berfafler des 
genannten Werks einen entgegengejeßten Weg ein. Cr 
geht von der Anfiht aus, daß jene, von den mönchiſchen 
Chroniften gebrachten Nachrichten zum Theil auf unver- 
ftandenen Wahrnehmungen beruhen und daß auch die 
Bollsüberlieferungen nur ein Zerrbild geben, welches 
keineswegs die urfprängliche Religionsidee der. altpreußi« 
(chen Vorzeit barzuftellen vermag. Um diefe Idee in 
ihrer Reinheit zu ermitteln, hat der Autor den Weg ber 
vergleichenden Sprachforſchung eingefhlagen und gelangt 
jo zu durchaus neuen Refultaten. Sich an bie For⸗ 
ſchungen Bröal’s, Grimm's, W. Müller's, Preller's an⸗ 
lehnend, unterzieht er Mythus und Cultus der alten 
Pruzen einer eingehenden Unterſuchung. Ex weiſt ſehr ge⸗ 
ſchikt nad), wie die religiöſen Begriffe und Vorſtellungen 
des Volks mit denen der Inder und Griechen zufammen- 
hängen, und kommt fo auf die allgemeine Duelle arifcher 
Mythologie zurüd. Auch die Eultusgebräuche werden 
genaueſter Erörterung unterzogen und manche Aehnlichkeit 
mit griechifchen Gebräuchen nachgewieſen. Gebr inter 
effant ift das neue Ticht, das bie vorliegende Unterfuchung 
auf die vagirenden Sänger der Pruzen wirft. Bon ber 
bürgerlichen und bierarchifchen Organifation entfaltet der 
Berfafler ein anfchauliches Bild, überhaupt erfcheinen die 
religiöfen, wie bie ftaatlichen Inflitutionen des merkwür⸗ 
digen Volls in einer von der bisherigen Auffaffung ab- 
weichenben Darftelung, durch welche in vielen Punkten 


Vom Büchertiſch. 


die Vorſtellungen berichtigt werden, welche ſeither auf 

dieſem Gebiet Geltung hatten. 

8. Deſterteichs jüngſte Kriſts. ine Märzbetrachtung vom 
Ernuſt ***, Leipzig, Lißner. 1870. Gr. 8. 7% Re 
Eine Märzbetradhtung! Da wir diefes nieberfchreiben, 

ftehen wir erft im April und fchon Hat fich die wiener 

Hofburg wieder für ein ganz anderes Cabinet entſchieden, 

als das von Ernft *** verherrlichte! In Oeſterreich jagen 

fi die Minifterien wie die Kinder beim Blindekuhſpiel 
der Berfaffer diefer Brofchitre begrüßt frendig das Mint- 
fterium Hasner mit allen Hoffnungen auf eime gefunde 

Zukunft Deutfch -Defterreiche, und nun ift die Nachricht 

von dem neuen Ausgleihöminiftertum Potocki ſchon wieher 

eine alte Gegenwart. Ja fie wird vielleicht beim Abdrud 
diefer Zeilen fchon eine Bergangenheit fein und das nenefte 
wird das neue Cabinet verdrängt haben! Schade um bie 
forgfame Auseinanderfegung der Öfterreichifchen Verhält⸗ 
niffe, um die fachgemäße Entwidelung der jüngften Si⸗ 
tuationen, um die warme Tcheilnahme am dem gehofiten 
freiheitlichen Aufſchwung des Donaureichs, ſchade um 
dieſe, den anonymen Verfaſſer auszeichnenden Eigenſchaften, 
da ſein Buch doch ein in vieler Hinſicht vergebliches iſt. 

4. Berner Taſchenbuch auf das Jahr 1870. Gegründet von 
Ludwig Lauterburg. Im Verbindung mit Freunden fort⸗ 
geſetzt von G. Ludwig. Nennzehnter Jahrgang. Mit 
2 Abbildungen. Bern, — 1870. 8. 1 Thlr. 2 Nor. 
Der jegige Herausgeber des „Taſchenbuchs“, Pfarrer 

Ludwig, hat es an mannichfaltigen Beiträgen feffelnder 

Art nicht fehlen laſſen. Beſonders werthvoll find die 

Memoiren des Generals Hahn über feine Betheiligung 

am griechifchen Freiheitslampfe von 1825—28. „Das 

Herenweien im Canton Bern” ift eine forgfältige archi⸗ 

valifche Studie; ebenfo zeichnet fi Hagen's Mittheilung 

eines „Stammbuchs aus dem Ende des 16. Sahrhunderts” 
durch große Wichtigkeit fiir die Sittengefchichte der Schweiz 
aus. Daſſelbe Lob verdient ein Auffag über „Die Ger 
jellfchaft zu Möhren“, den man einen Beitrag zur Ger 
chichte des Zunftwefens nennen kann. Die Wälder der 

Stadt Bern erfahren auf ©. 240 fg. eine eingehende 

Beichreibung; felbft das dramatische Element ift nicht ver» 

gefien; wir meinen den breiactigen dramatiſchen Berfuß: 

„Die Limmatfchäfer”, von Alfred Hartmann, dem, um 

die Grenzen des Verſuchs zu tiberfchreiten, zwar nicht 

der inhaltreiche Dialog, wol aber die. Handlung fehlt. 

5. Meine Religion in ihren Grundzligen. Gewidmet allen 
denen, welche im alten Schriftglauben keine genligende Br 
friedigung mehr finden, welche aber auch der neuen Lehre 
des Unglaubens nicht zu buldigen vermögen. Bon A. Hein 
fius. Verbefſerte und zum Theil umgearbeitete zweite 
Auflage. Koburg, Sendelbah. 1869. Br. 16. 10 Rgt. 
„Wie anders wirft dies Zeichen auf mid) ein!” würde 

L. Büchner ausgerufen haben, wenn er nad) Daumer’s 

Polemik gegen ihn die Heinfins- Religion zu Geſicht be 

fommen bättel Dem Büchlein vorgebrudt ift eine lobende 

Anerkennung beffelben vom vielberufenen Verfaſſer von 

„Kraft und Stoff”. Daumer hingegen würde fid über 

Heinſius nicht ärgern, er würbe lachen. Nachdem Daumer 

in feinen „Charakteriftilen und Kritiken“ mit anerkennens⸗ 

werther Ausführlichkeit die Beweiſe neuerer Naturforſcher 
für die Nichtidentität des Gehirns und der Seele 


— — — — —— — — — 


wage ge — — — —— — 


— — — — — — nem nn 


ö— —— — — — — — 








Vom Büchertiſch. 


beigebracht hat, erzählt uns Heinſius mit gläubigem Ges 
mäth die materialftifge Fabel von dent Sit ber Seele 
im Gehirn. Erſt auf ©. 58 u. fg. entpuppt fidh die 
Religion Heinfin®’ ans einer negativiſchen Hülle als poſi⸗ 
tiver Pantheismns, der nur durch eine ſtark anthropo- 
centriſche Beimifhung ins Theiftifche hinüberſpielen dürfte, 
Da das Büchlein menfhlih und vernünftig ftilifiet 
iſt und ſich von theologiſcher Ueberfchwenglichkeit wie 
von philoſophiſcher Confuſion fern hält, ſo dürfte es 
ficher auf einen denkenden Leſerkreis rechnen können. 


6. Schriftlehre und NYamrwigenſgott Neun Vorleſungen im 
Winter 1868 gehalten von A. Stüler. Mit zehn Illuſtra⸗ 
tionen. Berlin, Nicolai. 1869. Gr. 8. 1 Thlr. 


Wenn man die Behandlung, die Stüler, Paſtor zu 
St.⸗Johannis in Neuftabt-Eherswalde, feinem Stoffe an- 
gedeihen läßt, eine wohlthuende nennt, fo thut man dem 
ernft und redlich gemeinten Buche nicht zu viel. ‘Der 
Standpunkt, die Schriftlehre mit den Refultaten neuerer 
Wiſſenſchaft zu verfühnen, ohne doch dem Wiffen gegenüber 
den Ölauben Terrain verlieren zu laffen, ift bei der Lebens⸗ 
ftellung des Autors ein begreiflicher. In der That find 
die Kenntniſſe Stüler's in der eracten Wiffenfchaft fo um⸗ 
faflend, daß er getroft eine Unterſuchung des wiſſenſchaft⸗ 
lichen rundes biblifcher Lehre beginnen kann, ohne zu 
fürdten, ſchon auf der zweiten Seite durch eracte Gegen⸗ 
bemeije jeine Theorien bloßgeftellt zu ſehen. “Der Tos- 
mologiſche Theil des Buchs zerfällt in die Erörterung 
der Schöpfungsgefchichte, wobei Tyell und Darwin mit 
Moſes confrontirt werden und die merkwürdigen Eigen⸗ 
thümlichkeiten im mofaifchen Schöpfungsbericht näher her- 
vorgehoben werden. Der zweite, anthropologijche Theil 
des Werks bejchäftigt fi mit der Urgejchichte des Men⸗ 
fchengefchlehts, mit den Fragen nad bem Weſen des 
Geiſtes und den Conſequenzen des Materialismus. ‘Der 
Schwächfte Theil ift der apologetifche Schluß, der von ber 
feinen Detailunterfuchung der frübern Borlefungen (das 
Bud ift ans Vorlefungen entftanden) auffallend abfällt und 
fi in einer fehr allgemein gehaltenen Belämpfung des 


Materialismus und des Vorzugs des Willens vor dem, 


Glauben verliert. Nichtsdeftoweniger nöthigt uns bie 
vielfeitige Bildung des theologifchen Autors hohe Achtung 
ab, wenn wir aud) nicht der Meinung find, die das Motto 
des Autors ausfpridt: „Denn der Unglaube in einem 
Zeitalter das Uebergewicht gewinnt, geht dieſes feinem DBer- 
derben entgegen”, fo müſſen wir doch anerkennen, daß 
die vorliegende Schrift fic durchweg von der Gehäffig- 
Zeit und den Schmähungen der Partei fernhält, die meift 
ein Zeichen des günzlichen Unvermögens find, die Quelle 
entgegengefegter Lebensanſchauung zu erkennen. 


7. Ueber die fittlihe Werthſchätzung menſchlicher Größe. Vor⸗ 
trag von Wilhelm Krämer. Gera, Strebel. 1870. 
Gr. 16. 7%, Nor. 

Die Gymnafiallehrer, zu denen der Autor wol zu rech⸗ 
nen ift, haben meift eine fo erhabene Anſchauung über 
fittlihe Werthſchätzung, daß die andern Sterblichen bor 
dem abftracten Pathos, der über jenes Thema in der 
Programmen- und Bortragsliteratur zu Zage gefördert 
wird, nur eine ſchaudernde Hochachtung empfinden kön⸗ 
sen. ‚Um fo mehr find wir dem Autor vorliegender 


477 


Schrift zum Dank verpflichtet, daß er und feine gewiß 
höchſt achtungswerthen Theorien nicht in dem üblichen 

Duartformat, das meift für die fittliche Größe als noth⸗ 
wendig erachtet wird, fonbern in befcheidenem Kleinoctav 
geſchenkt hat. Wir bewundern das Geſchick des Verfaſ⸗ 
ſers, der es verſtanden hat, auf 29 Seiten gar nichts 
zu ſagen; der noch auf dem Standpunkt des Verdam⸗ 
mens oder Nichtverdammens weltgeſchichtlicher Erſcheinun⸗ 
gen ſteht und in Betreff deflen wir der Geſchichte nur 
wünfchen können, daß fie nie von Krämer gefchrieben 
werden möchte. 


8 Die Lehren vom Zufall von asitdeim Winbelband. 
Berlin, Henſchel. 1870. GEr. 8. 15 Nor. 


Auch jüngere Verleger wagen doch nod ben Verlag 
philofophifcher Monographien. Das ift doch noch ein 
erfreuliches Zeichen von dem Idealismus der Zeit, ber 
uiht nur dem ſchnöden Mammon nachgeht, wenn es 
auch immerhin zu ber „Lehre vom Zufall” gehören dürfte, 
wenn ein nichtphilofophifcher Leſer fich das obengenannte 
Bud anfchaffen follte. Für den Nichtphilofophen von 
Fach wird aus der Windelband’shen Unterfuchung wol 
zumeift der Umſtand Intereſſe Haben, daß die Statiftik 
nach bes Verfaſſers Angabe auch für die Philofophie von 
größtem Werthe if. Bon dem Zufälligen möchte bem 
Autor die ariftotelifche Bezeichnung des rap @ucıv 
(neben der Natur her) Gefchehens als keine unebene De- 
finition gelten. Danach wäre der Zufall gleichſam ein 
Nebenfprößling, den die Natur wie in überquellender 
Kraftfülle neben der organifchen Entfaltung ihrer Zweck⸗ 
thätigkeit in blinder Cauſalnothwendigkeit Gervortreibt; fo 
wäre das Zufällige das, was die Natur in dem Reich. 
thum ihrer Oeftaltungetraft an bem Wege ihrer Thätig⸗ 
feit nebenherfireut — Spüne gleichfam, wie fie abfallen, 
wenn des Sünftlers Hand aus dem an fidh werthlofen 
Material die vollendete Oeftalt feiner zwedthätigen, ſchöpfe⸗ 
riſchen Phantafte bildet. Die Eriftenz des Zufälligen bleibt 
damit doch immer feftgeftelt, und um fo mehr müſſen 
wie uns ber Meinung des Verfaſſers anfchließen, daß 
alles wifjenfchaftliche, alles moraliſche, alles künſtleriſche 
Leben ein unermüblicer und menigftend an einzelnen 
Punkten ftets fiegreiher Kampf gegen die Zufälligkeit. ift. 


9. Ueber die Methode und die Grundlagen ber arifotehfihen 
Ethik von R. Euden. Berlin, Weidmanı. 1870. Gr. 4 
12 Nor. 

Hier haben wir es mit einem jener obenerwähnten 
Programmwerke zu thun, die dem Bewußtſein des Ver⸗ 
fafjers gewöhnlich mehr wohlthun, als dem Hinter einen: 
angehäuften Büchertiſch vergrabenen Schreiber dieſer Zeilen. 
Indeffen, wenn wir gewöhnt find, jeder Abhandlung über 
den Weifen von Stagira den Nebentitel „Trendelenburg und 
fein Ende” geben zu können, fo macht Euden’s Unter 
fuhung eine Löbliche Ausnahme, Der Autor, der nidt. 
gerade Neues beibringt, hat fi) mit großem Fleiß feiner. 
Aufgabe unterzogen und fo an Ausführlichleit der Dar⸗ 
ftellung nichts zu wünſchen übrig gelafien. Noch heute‘ 
will der pietätvolle Autor das ethifche Yundament des’ 
Ariftoteles nicht verlaffen wiſſen, wenngleich er nicht ver⸗ 
fennt, daß zur Gewährung religidfer Borausfegungen bie 
immanente Xeleologie des Ariftoteles troß ihrer eminenten- 


IC Zu 2 SEE 


478 Fenilleton. 


(immanent und eminent — ein philoſophiſcher Calembourg!) 

Bedeutung für die Ethik nicht ausreicht. 

10. Ludwig Borne. Lichtſtrahlen aus ſeinen Werken. Mit 
einer Biographie Börne's. Bon Ouſtav Karpeles. 
Leipzig, Brochhaus. 1870. 8. 1 Thlr. 

Zu ben mannihfachen eflektifchen Sammlungen, welche 
die DVerlagshanblung aus ben Werken epochemachender 
GSeifter unter dem Namen „Lichtftrahlen” veranftaltet 
bet, tritt vorliegende Auswahl Börne’fcher Ausſprüche 
hinzu. Gerade Börne mit feinem aphoriftifchen reflecti⸗ 
senden Geift eignet ſich vorzugsweife zum Ertract für 
diejenigen Lefer, die am Baume geiftvoller Anſchauung 
der Zuſtände und warmer vaterländifcher Geſinnung ihre 
Tiebften Lefefrüchte fammeln. Karpeles gibt eine ver⸗ 
ſtändige und eingehende Biographie, und bat es ver- 
fanden, die Sentenzen aus Aperçus bes großen Publi- 
ciften in wohlgemefjene Ordnung zu bringen. Die An⸗ 
thologien haben noch immer ihr Bublitum und das Publi- 
kaum, das diefer Blumenleſe aus Bbrne's Werken feine 
Theilnahme fchentt, wird nicht das fchlechtefte fein. 

11. Hans - Abum. Loſe Gkiggenblätter von Eliſe Polko. 
Leipzig, Hartleben. 1870. 8. 1 Thlr. 10 Ngr. 

Es ift ber fechöte Band ber „Dentichen Frauenwelt“, 
der bier vorliegt. Die allezeit rübrige nnd Mädchen⸗ 


berzen rührende Dichterin bat wieder einige ihrer belichten 
Eifenbeinmalereien verſucht, die mehr pilant wären, wenn 
fie weniger füß fein würden. ie brauchen fo viel Zuder, 
diefe Figlirchen, denen ein Kiftorifche® Gewand umgethan 
wird, und die fi) dann mit zuderfühem Munde durch 
die empfindfame Lefewelt durchfreſſen müſſen! Die Witwe 
Scarron, Andrea del Sarto, Maria Thereſia, die Her⸗ 
zogin von Berry, Windelmann, Händel u. a. — es find 
fehr viele und bunte ©eftalten, die uns ‚begegnen. Ras 
türlih find es wieder ſehr viel „weiße ſchöne Frauen 
hünde“, die irgendwo ruhen (meift auf dem Haupte de 
Helden), ſehr viel dunkelaugige Yrauenaugen und ſehr 
viel Meine zierliche Frauenfüße. Die Geſchichte vom 
Schuh der Herzogin von Berry ging: wieber zur felben 
Zeit durch die Blätter, als das „Haus⸗Album“ erſchien; 
übrigens ift die Gefchichte doch noch ein Mein wenig anders, 
als fie die liebenswürdige Berfafferin erzählt. Bewun⸗ 
berungswürbig ift das Zalent von Elife Polko. Wo aus 
dere Erzähler vor Furt, immer daſſelbe zu erzählen, 
verzweifeln würden, erlahınt der unerfhöpflichen Fabuli⸗ 
zerin nie da3 Thema und nie das wirllich bedeutende 
Reprobnctionstalent. Nur möchte man an ber Tafel der 
Polko auch ansrufen: Toujours perdrix! 





Senilletion. 


Notizen. 

Die Verlagsbuchhandlung F. A. Brodhaus in Leipzig läßt 
ihrer Goethe⸗, Sciller- und Leifing-Galerie jet eine „Shale- 
fpeare-Galerie‘ folgen, „Charaktere und Scenen aus Shate- 
fpeare’8 Dramen, gezeichnet von Mar Adamo, Heinrich Hofmann, 
Hanns Makart, Friedrich Becht, Fritz Schwoerer n.a. Sechtund⸗ 
dreißig Blätter in Stahlſtich, geſtochen von Bankel, Goldberg, 
Raab, Schultheiß u. a. Mit erläuterndem Text von Friedrich 
Pecht.“ Die Galerie fol in 12 zueferungen zu je 3 Blatt nebft 
dem dazu gehkrigen Tert erfcheinen. Die erſte Lieferung ent- 
hält „Heinrich .", gezeihnet von Pecht, geflohen von Raab; 
„Die Iufligen Weiber von Windſor“, gezeichnet von Malart, 
geſtochen von Goldberg; „Der Kaufmanı von Benedig’‘, ge- 
zeichnet von Hofmann, geflohen von Goldberg. 

Ohne Biss ift Shakſpeare's reiche Futafie auch ein 
nnerfhöpflider Quell für Geſtaltungen der zeichneuden und 
malenden Kunſt und ergiebiger noch für eine charakteriſtiſch 
ſcharfe Auffafſung, als die Dichtungen Goethe's und Schiller's. 
Deshalb Tann man dem neuen Unternehmen nur das beſte 
Horoſtop ſtellen. Mit Recht macht der Brofpect darauf anf- 
merliam, daß Shakſpeare's Charaktergeftalten, foviel fie auch 
von der bildenden Kunft benugt worden, noch nie eine jo glück⸗ 
liche Darfiellung fanden, daß ihre Kuffaflung eine typiſch feſt⸗ 
—5 — geworden wäre, wie dies mit denen der Bibel nnd bes 

aters der griechiſchen Götter längft ber Fall if. „Hat es in- 
deſſen funfzehn Jahrhunderte erfordert, bis Michel Angelo den 
BWeitichöpfer, Leonardo Chriſtus und bie Apoflel, Rafael bie 
göttliche Mutter fo überzeugend zu geftalten vermodten, daß 
voransfichtlic Fein Maler mehr über fie hinausgehen ober fie 
nur ignoriren können wird, fo bleibt uns offenbar nod ein 
weiter Spielraum, bis Shakſpeare's Hamlet oder Kalftaff, 
Lear oder Lady Macbeth, Shylock ober Julia ihre erichöpfende 
Berlörperung durch den Binfel oder Stift gewonnen haben 
werden, obwol aud fie unzmeifelhaft ganze Klaffen von Indi⸗ 
vidnen in mufterbildlicher WBeife perfonifictren.‘‘ 

Die „Shaleipeare- Galerie‘ unterfcheidet fi von den frli- 
bern Dichtergalerien durch zweierlei: einmal ift ihre Darſtel⸗ 
Iungeform eine erweiterte, indem fie nit einzelnen Perfonen, 
fondern ganze Scenen zus Darfiellung bringt; bann aber {fl 


es nicht Pecht allein, fonbern ein Berein von Künflern, ber 
biefe re Aufgaben zu Idjen ſucht. Hierüber heißt 
es im Profpect: 

„Weil Shaffpeare der dramatifchfte aller Dichter if, 
Garakterifiren ſich auch feine Menſchen vorzugsweiſe durch 
ihr Handeln und Thun. Sie nicht in ber Bewegung, nit 
in ihrem nn e zu andern, fondern mur als Einzel⸗ 

eflalten vorzuführen, hieße fle von vornherein eines gro 
en Theils ihrer Charalteriftif berauben. Wer kann 
einen Lear ruhig denken, einen Coriolan ohne Gegner, eine 
Iulia ohne Romeo? Wer fühlt nicht, daB ein ich V. 
einen Falſftaff als Gegenſatz braucht, wie Caſar einen Brutn? 
Schwerlich dürfte aber ein einziger Klinfiler, und wäre er and 
mit der Ieuchtbaren Phantafte begabt, dem fibermwältigenden 
Geftaltungsreichtäum dieſes Dichters gewachſen fein, w 

von einer Bereinigung künſtleriſcher Kräfte zu erwarten if, 
daß eine jede in der Richtung, die ihrem Naturell und Zalent 
vorzugsweife entipricht, Erfrenliches Leiften werde. Bedingen 
doch die komiſchen Sloffe eine ganz andere Ader als bie tragie 
fen, die hiſtoriſchen eine andere Begabung als die phanta 
fen und märchenhaften, in welch allen wol ein Shalipeare 
gleich Unüibertreffliches ſchaffen konnte, jeder Nachſchaffende aber 
der Gefahr einer gewifſen Eintönigleit und Manier mur zu 
leicht verfallen müßte.” 

Die Erläuterungen zum Text wollen nit den Anſpruch 
machen, Über Shalfpeare Neues zu fagen, fjondern nur, bie 
Auffaffung des den Dichter wiedergebenden Künftlere darm⸗ 
legen. Durch diefe Betrachtung des Dichters von ber maleri⸗ 
ſcheu Seite tritt indeß von felbft biefer oder jener bisher weni⸗ 
ger beadhtete Zug in den Vordergrund. 

Die vorliegenden Bilder beftätigen die Angabe des Pro 
fpects von ber ungewöhnlichen Begabung der mitwirlenden 

fller für ihre Anfgaben. Heinrich VILL und Anna Bo 
leyn find anf dem Pecht'ſchen Bilde durchaus anzichend 
und charaktervoll dargeftelt, ebenſo Shylod und Seffile auf 
dem Hofmann’fchen. Imtereffant ift das Makart'ſche Bild: 
„Die Iuftigen Weiber von Windſor“; es erſcheint ums faſt u 
grazibs für den Stoff, zu italienijch ſtilvoll, während die Situm 
tion eine berb niederländiſche Bebandlungsweife verlangt. 


1 


m 





Feuilletou. 


Wer über die Maler und Kupferſtecher, die ſich an der 
„Shakeſpeare⸗Galerie“ betheiligen, nähere Auskunft wünſcht, 
den verweiſen wir auf den „Ergänzungeband‘ zu F. Müller's 
„Reueftem Künftlerlerilon‘‘, bearbeitet von A. Seubert (Stutt- 
det Ehner und Eeubert), ein Band, von dem foeben die ab» 
chließenden Lieferungen erfchienen find. Diefer Ergänzung 
band enthäft eine alphabetifhe Weberfiht der Küuſtler der 
Gegenwart und ihrer Leiftungen. Die Lebensnachrichten find 
allerdings ‚oft lüdenbaft, auch fehlt eine beträchtliche Zahl von 
Künftlern, welde der Aufforderung, ihre Selbfibiographie mit- 
äutbeilen, nicht entſprachen. Die Urtheile Über die Künſtler 
find maßvoll und fuchen mit wenigen, aber feften Zügen zu 
Soralterificen, 

Die neueflen Aeferungen der „National»Bibliothef 
neuer dentſcher Dichter”, welche D. Janke in Berlin her- 
ausgibt, beginnen die Veröffentlichung von Friedrich Spiel- 
hagen's „Sämmtlihen Werten‘, welche in 10 Bänden oder 
etwa 9% Lieferungen zunächſt abgefchloffen ſein follen, ſoweit 
von einem derartigen Abſchluß bei einem raſtlos productiven 
Autor die Rede ſein kann. 

Bon Oskar Paul's „Handlexikon der Tonkunſt“ (Leip⸗ 
x5. Weißbach) liegt die zweite und dritte Lieferung vor. Das 

erk if vollſtändig und handlich zugleih. Die terininologifchen 
Srllärungen, die kunſttheoretiſchen Begriffsbefimmungen find 
kutz gefaßt und treffend, das biograpbifdhe Material iſt eben- 
falls moglichſt zufammengedrängt. 

Bon der „Coſtlmkunde. Handbuch der Geſchichte der 
Tracht und des Geräthes vom 14. Jahrhundert bis auf die 
Gegenwart. Bon Hermann Weiß" (Stuttgart, Ebner und 
Senbert) liegt die fiebente und achte Lieferung vor, welche das 
Coſtüm des 16. Jahrhunderts, die Trachten und Waffen, die 
Derriher- und Amtsornate, die Kuuftbandwerfe und die Ge- 
räthichaften behandelt. 

Die „Schiller-Halle. Alphabetiſch geordneter Gedauken⸗ 
ſchatz aus Schillers Werfen und Briefen. Im Berein mit 
Sottfried Frigfhe umd Max Moltke herausgegeben von 
Morit; Zille“ (Leipzig, Brockhaus) ift jet mit der fünften 
und fechöten Lieferung abgefchloffen und erweift fich als eine jehr 

fleißige Arbeit. Die alphabetifde Anordnung läßt biefe oder 
jene geſuchte Sentenz raſch auffinden. Namentlich aber find 
aud die Correſpondenzen Schillers reichlich benutzt und dadurch 
maude Gedankenſchätze ans Licht gefördert, die fonft nicht fo 
offen zu Tage liegen. Es finden fih manche wenig bekannte 
Stellen; wir mödten z. B. auf eine fehr bezeichnende Mitthei- 
Iung aus dem Briefwechſ 
Hier fpricht fih Schiller Über das Publikum fehr bezeichnend aus: 

„Dos allgemeine und revoltanie Olück der Mittelmäßigfeit 

in jeßigen Zeiten, die unbegreifiiche Inconjequenz, welche das 

z Elende auf demſelben Schauplatze, auf welchem man vor⸗ 
der das Bortrefflihe bewunderte, mit gleicher Zufriedenheit auf- 
nimmt, die Rohigkeit auf der einen und die Kraftlofigfeit auf 
der andern Seite, erwecken mir, ich geſtehe es, einen folchen 
Stel vor dem, was man öffentliches Urtbeil nennt, daß es 
mir — vielleicht zu verzeihen wäre, wenn ih in einer unglüd- 
lihen Stunde mir einfallen ließe, dieſem beillofen Gefhmad 


entgegenwirken zu wollen, aber wahrlich nicht, wenn ich ihn | 


zu meinem Führer und Muſter machte; daß ich mich für ſehr 


unglücklich halten wärde, für diefes Publikum zu fchreiben, wenu | 


es mir überhaupt jemals eingefallen wäre, für ein Publikum 
zu fchreiben.‘ 


Bibliographie. 


Becker, J. C., Abbaudlungen aus dem Grenzgebiete der Mathe- | Sprin Ka 
beitere Butt der. Berlin, Langmann u. Conip. 
a 


matik und Philosophie. Zürich, Schulthess. Gr. 8 12 N 


BT. 
DBoefe, E. B., Das Himmelreich. Ein eplich-bidactiihes Gedicht. 
3 Bre. Berlin, Langmann 4 Comp. 9 6 is ide 9 


% “ x. 
Drandes, H. K. Der Name des Badeortes Pyrmout erklärt. Det⸗ 
mol, Meyer. 8. 5 


r. 
zaun, K., Biber aus ber beutihen Kleinftaaterei. gueue Folge. 


ifter und 2ter Bd. Berlin, Rorttampf. ®r. 8. 2 Ihlr. 20 . 
Büdinger, M., Lalayotto. in Lebensbild. Leipsig, Teubner. 
@r. 8. 20 Ngr. 


dert 
el Schiller's mit Fichte hinweiſen. 
von 1776. Berl 








473 


Coneiliar-Briefe, Eine österreichische Staats- und Streitschrift. Wien, 
Beck. Gr. 8 Tip N 


Dalton, ©. ante unb fein Beiu8 zur Reformation und zur mo⸗ 
— evangeli gen Bewegung in Italien. Vortrag. St. Petersburg, 


sr 
— — Midelangelo und die Girtinifhe Kapelle im Batilan zu Nom. 
Bortrag, Et, Heteraburg, Nöttger. at Fi Pd 3 

— — Rafael und die Stanza bella Segnatura im Batilan zu Nom, 
Bortrag. St. Pamnedur ‚ Röttger. 16. 5 Rgr. 

— — Ein Zag in St. Petersburg 1770. Bortrag. Gt. Petersburg, 
Röltger. 16. 6 Nor. 

ante Alighieri’s göttliche Comödie. lete Abth.: Die Hölle, Neu 

metrisch übertragen mit Erläuterungen von BR. Baron. Oppeln, Reise- 
witz, Br. 8. 28 Ngr. 

Freuerwig ELůſtſpiel in 1 Aufzuge von M. Lo. Wien, Perles. 


. 8 
Grabbe’s, ©. D., fämmtlide Werte. Erſte Sefammtausgabe, 
Serausasaeben und eingeleitet BR. Gottſch A he —28 
h. Reclam jun. Gr. 16. 1 x. 
aas, J. Ein und Al. 3 Thle. Wien, Gerold's Sohn. 8. 2 Thlr. 


Wien, Gerold’s Sohn, Gr, 8. 4 Ngr. 

Kam pe, F. F., Die Erkenutnisstheorie des Aristoteles, 
Fues. Gr. 8. 3 Thir. 10 Ngr. 

Lefmaun, 8., August Schleicher. Skizze, Leipzig, Teubner. Gr. 3. 


20 Ngr. 
Fauti, C., Ueber gemitiennamen, insbefonbere die von Minden. I. 
Minden, Auguſtin. 4. 8 Ngr. , 
aff, U, Das Gtaatsreät der alten Eidgenofſenſchaft bis zum 16. 
Jahrhundert. Schaffhauſen. Hurter. Br. 5. 18 Net. 
itawall, &., Gabriele, Das Weib des Spielers. Sriminal-Novelle, 
Berlin, Brigl. Br. 8. 10 Ngr. 
— — Ein verrathenes Herz. Novelle. — Der Morb im Nebenzimmer, 
Erzählung von Baul Barfaıt. Berlin, Brigl. Br. 8. 10 Nr. 
Plönntes, Luiſe v. Die heilige Elifabeth. Frankfurt a. M., Alt. 
®r. 16. 20 Rgr. 


Precht ler, O. Sommer unb Herbſt. Neue Gedichte. Ste Samm⸗ 
indemann. Ngr 


Leipaig,. 


gesehichte. . Vortrag. Müuchen, Franz. Gr. 4. 10 Nyr. 
Butlis, &. zu, Walpurgis. Novelle Berlin, A. Dunder. 8, 


r. 
ie fett, G., gefammelte Schriften. Hera chen im Auftrag bes- 
Comite I Nie a lm von M. Jeler. ae ankfurt Pi M., 
Berlag ber Mi er Stitung. 1867 und 1868. Gr. 8. 6 Thlr. 
Rolenger, PB. 8., Sittenbilder aus bem fleierifhen Oberlande. 
Gray, erlag bes „Lehlam.” Gr. 8. 38 Ner. 
ach Die Anfänge der Büchercensur in Deutschland. Leip- 
zig, Lissner. Gr. 8. 71, Ngr. 
Saunders, J. Hicel, die Tochter bed Salviniften. Roman. Aut 
e 


| dem Englifgen von U. Krekfgmar, Autorifirte Ausgabe. 3 Bbe. Leip⸗ 


sig, Günther. 8. 2 Thlx. 15 Ngr. . 

Schack, U 8. u Durs alle Wetter, Roman in Berjen. Berlin, 
. 8. % 7 

Shäaefer, U, Geſchi te des fiebenjäßrigen Kriege. 3 Bde. iſte 
Abth. — —T— —— 11 Ar N Sröffnung des eu 
n, er “ 17 [ c 

Sch Auenburg, * H., Zur Verstäudigung über die bei dor letzten 


: Präsidenteuwahl entstandenen Missverständnisse und Missgriffe, Allen 


Mitgliedern der kaiserl. Leop. - Carol. deutschen Akademie der Naturr 
forscher vorgelegt. iste Fortsetzung. Quedlinburg, Basse. Gr. 8. 6 Nr, 

Shröber, Marie Louife Henriette, Gerichte. Bremen, Tan 
nen. Gr. 16. 1 hir. 15 Nor. . 

Säuler, G. M., Die Teugnung ber Gottheit iſt ber Selbfimorb ber. 
Menſchheit. Der olitifhe Atheiomũse und bie fochale Barbarei. Ein 
Beitrag zur religiöfen Aufklärung. Brixen, Weger- .8. 20 Nor. 

Die Schulfrage. Beleudrung berfelben aus dem Gefichtepunkt voller 
Breipelt und ächter Bildung. : Bernfladt. 8. 4 Nor. 

hwarz, WB. Aus Sommertagen. 2er Bd. Gejammelte Novellen. 
(4te Sammlung.) Berlin, Hoffmann. 8. ı Zhir. 10 Star. 

Semper, H., Donatelio, seiue Zeit und Schule. ister Abschultt, 

Die Vorläufer Donatellos. Leipzig, Seemann.. Gr. 8. M Neger. 
epp, Das Hebräer-Evangelium oder die Markus- und Matthäusfr 
und ihre friedliche Lösung. München, Lentner. Gr. 8. 20 Ngr. . 

Spielberg, D., Discrete® und Indiscretet. Cauſerien. Berlin, 
Saxngmann u. Gomp. Gr. 16. 15 Rat. 

— — Berliebte Herzen. Berlin, Langmann u, Comp. Gr. 16. 10 Ngr,. 

— — Lebensanfiäten eines Sonberlings. Berlin, Langmaun u. Comp. 


: Ur. 16. 15 Nor. 


Bpir, A., Kleine Schriften. Leipzig, Findel. Gr. 8 1 Thlr, R 

i R., Berliner Brojpecte und Ponfiognomien. Eruſte und 

. r. 

r, A., Soethe’s —— Ste vermehrte a abe. Mit 
einem Anbang: Minna Herzlieb, Goethe's „Ditilie” Wahlverwandt⸗ 
Iaften uud dem Facſimlle eines von Goethe. an biefelbe gerichteten Ge⸗ 
Dicpte. 3 Bde. Bellin, Önttentag. Gr. 8. 2 The 
’ Str auß, D. F., Voltaire. Gehs Borträge. Leipzig, Hirzel. Or. 8. 


r. 
Strodtmann, A., Gedichte. 2te, ſtark vermehrte Ausgabe. Ham⸗ 
burg, Soflmann u. Gamya Gr. 16. 1 





——— — 
_ _ "u A _ 5... 

















Ange 


Anzeigen, 


igen. 


— —— 


Verlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Natur nnd Gott, 


Studien über die Entwidelungsgefege im Univerfum und die 
Entftehfung des Menſchengeſchlechts. 
Mit einer Prüfung der Glaubensbelenntniſſe. 
Bon 


Heinrih Baumgärtner. 
8 Geh. 2 Thlr. 20 Nor. 


Der Berfofler gibt bier eine populäre a — der 
Theorien, welche er in frühern Werfen anf ſtreng wiſſenſchaft⸗ 
lichem Wege entwidelt hat. Indem er der Darwin'ſchen Lehre 
in beflimmter Umgrenzung Berechtigung zuertennt, wird aber 
auch gezeigt, daß die Neubildungen und die Typenvermandluns 
gen in den organifchen Reihen unter einem allgemeinen Na⸗ 
turgejege vollbracht wurden, welches felbft in den Entwide- 
Inngsvorgängen am Himmel zu erkennen if. Zugleid werden 
vom Standpunkte der freien Naturforihung die Satzungen ber 
religidjen Glanbensbekenntniſſe geprüft, was zur Befettigung 
mander Borurtbeile und Irrthümer weſentlich beitragen mag; 
insbejondere wird gezeigt, dag der Iufallibilitätslehre die Na⸗ 
turgefege ſchroff entgegenftehen. 
Don dem Derfaffer erfchien früher in demfelden Derlage: 


Die Naturreligion oder: Die allgemeine e. Zweite 
Auflage. ig Geh. 16 Nor. 18 emne 3 








ERGÄNZUNGSBLÄTTER, 


1870, 2. Juliheft. 


@eschiehte: Historische Literatur, von Dr. J. J. Honeg- 
ger. — Die Slovenen und ihre Bestrebungen, von Dr. Rich. 
Andree. — Nekrolog. 

Rechts- und Staatswissenschaft: Das norddeutsche 
Strafgesetzbuch, von Dr. Dühring. — Nekrolog. 

Literatur: Das moderne französische Drama und die 
Sitten, von Dr. A. Wittstock. — Nekrolog. 

Kunst: Moriz von Schwind, von C. A. Regnet. — Ne- 
krolog. 

@eeographie: Nekrolog. 

Zoolbein: Die Untersuchungen über das Thierleben in 
der Meerestiefe, von Fr. Ratzel. 

‘ Botanik: Die Bewegungen der Schleimpilze. — Das 
Reifen der Weintrauben. — Nekrolog. 

Mineralogie und Geologie: Die ältesten Reste organi- 
schen Lebens (Eozoon), von Fr. Ratzel. — Die Kalisalze 
von Kalusz in Galizien. 

Velkswirthsehaft: Der amerikanische Socialismus, von 

. Dühring. — Aus den Südstaaten der Union. 

Landwirthschaft: Der Dampfpflug. — Australisches 
Fleisch auf dem Londoner Wochenmarkt. — Trüffeln und 
Trüffelbau in Frankreich. 

Kriegswesen: Moncriefis Gleichgewichtslaffete, von 
Chr. v. Sarauw. — Nekrolog. 

Technologie: Manganlegirungen. — Beleuchtung. — 
Weinverbesserung mit Glycerin. — Nekrolog. 

Illustrationen: Bathybius, Diseolithen, Coccosphäre. — 
Pentacrinus Caput medusae. — Terebratula Caput serpen- 


tis. — Eosoon canadense. — Geschütze mit der Moncriefi- 


schen Laffete. 
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 


Berantwortlicher HRebactenr: Dr. Eduard Brockhaus. — 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Das Leben Iefn. 


Bon 
Erneft Renan. 


Autorifirte deutfhe Ausgabe, 
Dritte Auflage, 
vermehrt mit neuen Vorreden des Derfaffers und einem Anhang nah 
den ſetzten Ausgaben des Originals. 
8. Geh. 1 Thlr. 20 Ngr. Geb. 2 Täler. 

Im die vorliegende dritte Auflage ber autorifirten dent⸗ 
chen Ausgabe von Renan’s „Leben Jeſn“ (früher Verlag von 
Georg Wigand in Leipzig) wurden des Verfaſſers Vorworte 
zur 13. franzöflfhen Auflage (1867) und zur iluftrirten fran⸗ 
zöſiſchen Bollsausgabe (1870) ſowie ein befonders wichtiger 
Aubang: „„Ueber das vierte Evangelium” aufgenommen: Er⸗ 

änzungen, welche in feiner andern deutichen Ausgabe ent 

alten find. Ungeachtet der hierdurch veranlaßten bedeutenden 
Deren des Umfangs (um 6 Bogen) biieb der bisherige 
Preis des Werks unverändert. 

As Supplement zu allen frühern Ausgaben 
von Renan’s ‚Leben Jeſu' ift zugleih ein Separatabdrud 
jener Ergänzungen erfhienen und zum Preife von 10 Nor. in 
allen Buchhandlungen zu haben. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Altdeutsche Grammatik, 


umfassend die gothische, altnordische, altsächsische, 
angelsächsische und althochdeutsche Sprache. 


Von 
Adoif Hoitzmann. 
Erster Band. Erste Abtheilung. Die specielle Lautlehre. 
. Geh. 1 Thlr. 20 Ngr. 

Der berühmte Gelehrte übergibt mit diesem Werke die 
Resultate seiner vieljährigen Studien der Oeffentlichkeit. 
Neben ausführlicher Darstellung der obengenannten fünf 
altdeutschen Sprachen wird auch das Friesische, Niederlän- 
dische, Mittelhochdeutsche n. s. w. im allgemeinen Theil 
der Grammatik berücksichtigt, und jede Regel ist durch 
zahlreiche Beispiele erläutert. Das Werk soll drei Bände 
umfassen, doch bildet der vorliegende Theil, die specielle 
Lautlehre der einzelnen Sprachen enthaltend, auch für sich 
ein geschlossenes Ganzes. 





Dertag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Theorelild - praklifcher Lehrgang 
zur Erlernung der italieniihen Sprade 


für dentſche Squlen und zum Selbftunterriät. 
on 
Heiurih Wild, 


Direstor der Handelsſchule in Mailand. 
Zweite vermehrte und verbefierte Auflage. 
8 Geh. 16 Nor. 

Ein auf die Ahn'ſche Methode bafırtes, aber diefelbe man- 
nichfach vervollfommmendes Lehrbuch der italienifhen Gprede, 
das bereits in vielen Schulen eingeführt iR und hier in zwei. 
ter, weſentlich vermehrter Auflage vorliegt. 


Drud und Berlag von 8. A. Brodhaus in Leipzig. 





4 Karl Immermann. 








Blätter 
literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erfcheint wöchentlich. 


—4 Ar. 31. - 


28. Juli 1870. 





Inhalt: Literariſche Porträts. Bon Rudolf Gottigal. — Rußland und die deutſchen Oflfeeprovingen. Bon Edwart Kattner 
(Beſchluß.) — Erzählungen und Romane. Bon Rudolf Sonnenburg. — Kleine philojophiiche Schriften. — Feuilleton. (Engfifche 
Urtheife Über neue Erſcheinungen der bentichen Literatur; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Kiterarifche Porträts. 


1. Lord Byron. Bon Karl Elze. Berlin, Oppenheim. 1870. 
®r. 8. 2 Thlr. 

2. Waſhington Irwing. Gin Lebens» und Eharakterbild von 
Adolf Zaun Zwei Bäude. Berlin, Oppenheim. 1870. 
8 2 Thlr. 10 Nor. 

3. Emanuel Geibel. Bon Karl Goedeke. Erſter Theil. 
Mit dem Bildniffe Geibel's und einem Facfimile. Stutt⸗ 

art, Cotta. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 

Sein Leben und feine Werfe ans 
Zageblichern uud Briefen an feine hemuie zuſammengeſtellt. 
Herausgegeben von Guſtav zu Putlitz. Zwei Bände. 
Berlin, Hertz. 1870. Gr. 8. 3 Thlr. 

5. Adalbert Stifter's Briefe, herausgegeben von Johan⸗ 
ze⸗ prent. Drei Bände. Peſt, Heckenaſt. 1869. 8. 
3 r. 

6. Gräfin Ida Hahn⸗Hahn. Ein Lebensbild nah der Natur 
gezeichnet von Marie Helene, Leipzig, Fr. Fleiſcher. 
1869. 8. 27 Nr. 

7. Friedrich Rüdert. Ein biographifches Denkmal. Mit vielen 
bisjegt ungedrudten und unbelannten Actenftüden, Briefen 
und Poeflen Friedrich Rüderts. Bon K. Beyer. Frant- 
furt a. M., Sanerländer. 1868. GEr. 8. 2 Thlr. 

8. Dichter, Patriarch und Ritter. Wahrheit zu Rüdert’s Dich⸗ 
tung. Bon €. Kühner. Frankfurt a. M., Sauerländer. 
1869. Gr. 8. 1 Thlr. 


Das „literarifche Porträt” übt einen doppelten Reiz 
ans. Einmal gibt e8 der Xiteraturgefchichte, die fi gern 
in den Schematismns allgemeiner Richtungen verzettelt, 
den friihen Halt individuellen Lebens. Dann aber feflelt 
e8 zugleich als ein Lebensbild die Theilnahme, welche wir 
ſtets einem einzelnen Gefhid zuwenden. Denn lehrreid) 
und intereffant zugleih ift jedes Mienfchenleben, wenn 
wir es in feinem Zuſammenhang, in feiner Entwidelung, 
in feinen Kriſen und Glückswechſeln nüher ins Auge 
foffen — nm fo intereffanter das Leben bedeutender Men⸗ 
fen, welche in ber Gefchichte, Cultur⸗ oder Titeratur- 
gefchichte eine Spur zurüdlaffen. 

Das Intereſſe für die letztere ift jetzt in Deutfchland 
fo lebendig, daß auch das literarifche Porträt auf befon- 
dern Antheil rechnen darf. Wünfchenswerth ift nur, daß 

1870, 31. 


e8 zu den Dichtern und Schriftftellern ebenfo wie zu ihren 
Werken Hinführt und nicht jene ſchlechte Genügfamtfeit 
hervorruft, mit der man einen Poeten vollftändig zu ken⸗ 
nen glaubt, wenn man feine Biographie und die Charak⸗ 
teriftif feiner Gedichte gelefen hat, ohne biefe Kenntniß 
jelbft aus der Duelle feiner Poeften zu fchöpfen. Lite» 
raturfunde aus zweiter Hand — das wäre ein bebauer- 
liches Verhängniß der Gegenwart; denn mit ihr hängt 
das Urtheil aus zweiter Hand, die Begeiſterung aus 
zweiter Hand zufammen. Und das find alles GStieflinder 
des menſchlichen Geiſtes. An die Stelle des Genufles 
tritt die Gelehrſamkeit — und doch laſſen fich äfthetifche 
Genüfje jo wenig definiven wie materielle, an deren 
Scattenbildern fich noch Feine menfchliche Seele wahrhaft 
erquidt hat. 

Die vorliegenden literariſchen Porträts find mei- 
fiens vom, fremder Eundiger Hand entworfen; nur einzelne 
beruhen mehr auf Selbftporträtirung durch Briefe und 
Tagebücher, ſodaß die Herausgeber nur ergänzend und 
erläuternd auftreten. 

Das Interefie für Lord Byron ift durch den neueften 
literarifhen Standal, mit welchem die fromme Mrs, 
Beecher- Stowe das englifche Publikum in Aufregung 
brachte, wiederum ein fehr lebhaftes geworden. Wir 
glauben nicht zu irren, wenn wir hierin den Grund 
fuchen, daß Karl Elze eine neue Biographie des eng⸗ 
liſchen Dichters (Nr. 1), nach Eberty und andern eng- 
liſchen Vorgängern, unternahm, weil er früher kaum be⸗ 
rührte Punkte, Punkte von großer Wichtigkeit für den 
Charakter und das Leben des Dichters, jegt einer einge 
henden Erörterung unterwerfen konnte. Elze ftellt ſich 
in Bezug auf diefelben ganz auf die Seite Lord Byron's 
und ſucht die Anfchuldigungen der Mrs. Beecher-Stowe zu 
widerlegen, wie dies ein großer Theil der englifchen 
Dlätter und auch Friedrich Althaus in dem Xrtikel: 
„Die wahre Gefchichte von Lord Byron's Leben“, in 


61 





482 


„Unfere Zeit“ (Jahrgang 1870, erftes Heft) gleichfalls zu 
thun beftrebt find. Bekanntlich Hat ſich Mrs. Beecher-Stome 
zu: biefen nachträglichen Enthüllungen durch die Memoiren 
der Terefa Guiccioli, der Geliebten Byron's in Italien, 
beftimmen laſſen, indem fie Lady Byron gegen die An« 
Hagen der italienischen Gräfin dur die fchweren An- 
fhuldigungen in. Schuß nahm, die fie gegen den Dichter 
erhob. Es Handelt fih ganz einfach um einen Ineceſt, 
den Byron mit feiner Halbſchweſter Angufta Leigh be- 
gangen haben fol. Schon zur Zeit von Byron’s Eher 
fheidung war biefe Anjchuldigung ein öffentliches Ge- 
beimniß; die Prefje verglich den Dichter damals jchon 
mit Nero, Apicius, Caligula, Heliogabalus, wie er jelbft 
in einem Briefe ſchreibt. Byron ftellt dieſe Anklagen 
mit einem bisjunctiven Schluß in Abrede, der freilich 
bei feiner merkwürdigen Yafjung den Zweifel nicht aus» 
ſchließt: „Ich fah ein, daß ich ungeeignet für England 
war, wenn das, was geflüftert, gezifchelt und in die 
Ohren geraunt wurde, wahr war; war es im Öegentheil 
unwahr, fo war England ungeeignet für mich.” Es bleibt 
immerhin eine jehr milde Selbftbeurtheilung, wenn der 
Dichter fiir den Fall, daß jene Gerüchte wahr ſeien, nur 
meint, daß er dann „ungeeignet für England war‘; wie 
überhaupt diefe logifche Zwidmühle eigentlich weder eine 
Beftätigung noch eine Ableugnung enthält. her können 
einzelne Stellen aus Byron’s Gedichten, die Elze anführt, 
als Zeugniffe fiir die Reinheit des gefchwifterlichen Ver⸗ 
bältniffes gelten. Lady Byron felbft glaubte anfangs, 
daß der Dichter an geiftiger Störung leide, als fie fi 
von ihm entfernte und zu ihren Weltern begab. Go 
lange fchien eine Ausſöhnung möglih, Erft als die Lady 
von dem Verhältniß der Geſchwiſter unterrichtet war: 
ein Sachverhalt, den fie den eltern verſchwieg und 
nur ihrem Advocaten Dr. Tufhington mittheilte, erfchien 
die Trennung als unvermeidlih. Karl Elze will bie 
ganze Anklage auf Hallucingtionen der Lady Byron zurüde 
führen und meint, daß Mrs. Beecher-Stowe fich fowol 
wie die Lady durch die Veröffentlihung diefer Anlagen 
compromittirt hätte. Es bürfte ſchwer fein, über die 
Thatfachen felbft ins Klare zu kommen. Wenn bie, Gründe 
der beiden Damen nichts beweifen, fo geht es den Gegen- 
gründen nicht befier. Weibliche Logik läßt ſich Leicht ad 
absurdum führen — damit ift aber eine Thatſache felbft 
nicht ans der Welt geſchafft. Lady Byron war offenbar 
von diefer Thatſache überzeugt. Man muß mit ben 
Bertheidigern des Dichters annehmen, daß dieſe Ueber- 
zeugung eine fire Idee war, wenn man ihr jede Beweis- 
kraft nehmen will. Manches in der Welt Täßt fich eben 
nicht mit mathematifcher und juriftifcher Evidenz beweifen, 
und doch bilden ſich Ueberzeugungen aus Inſtincten, aus 
einer Menge Heiner einzelner Züge, die fpäter wieder 
in Bergefienheit geraten. Unabweislich ift manches 
Unbeweisbare. 

Wenn Byron’s Teftamentsvollftreder nur durch gänz« 
liche Bernidtung der Memoiren zu befriedigen waren, 
wenn Walter Scott diefer Mittheilung binzufügt: „Es 
war ein Grund vorhanden — premat nox alta!” wenn 
Lady Byron und Mrs. Leigh wünſchten, die Memoiren 
an fih zu bringen, fo läßt dies alles doch kaum einen 
andern Schluß zu, als daß Byron in denfelben über 


Literarifhe Porträts. 


fein Verhältniß zu Augufta Leigh Enthüllungen gemacht Habe, 
welche die Erecutoren des Teftamentsbeitimmten, die Memoiren 
zu vernichten, während die beiden Frauen das gleiche Inter. 
effe hatten, weldes nur von der Neugier auf die Faſ⸗ 

ng jener Mittheilunget itberwogen wurde. Hätte Byron 
jene Anlagen in feinen „Memoiren widerlegt, fo wäre 
ja das Benehmen der Teftamentsereeutoren gänzlich unbe, 
greiflich und ungeredhifertigt gewefen. Mrs, Beecher⸗Stowe 
(priht von einem Kinde der Sünde, das dem blutſchän⸗ 
derifchen Umgange zwifchen Bruder und Schwefler ent» 
fprungen fei, und welches Lady Byron zu fich genommen 
und gepflegt habe, bis fie durd) ben Tod defielben von 
der übernommenen Berantwortlichkeit befreit worden ſei. 


"Dies ift denn doch eine Thatſache, die tiber alle Hallnci⸗ 


nationen erhaben if. Das Kind, Medora Leigh, iſt die 
Heldin einer ſehr tragischen Gefchichte, welche neuerdings 
Charles Maday in feinem Buch „Medora Leigh“ mit: 
getheilt Hat, allerdings nicht mit der Abficht, des Dichters 
Schuld darzuthun, fondern in der Ueberzeugung, daß fie 
eben nichts für diefelbe beweife : 

Die ältefte Tochter der Mrs. Leigh, Georgiana, beirathete 
im Sabre 1826 einen entfernten Berwandten, Henry Trevanien, 
ber ohne Bermögen und nicht ſehr verträglichen Temperamenis 
war. Nach dreijähriger Ehe zog fi das Paar auf ein Landhaus 
beit Canterbury zurlid, das ihnen Lady Byron zur Berfügung 
ftellte, und wo Georgiana ihre bevorftehende Entbindung ab- 
warten wollte. Zur Pflege und Gejellihaft nahm biejelbe ihre 
vierte Schwefter, die damals vierzehnjährige Elifabeth Medora, 
mit fi. Medora wurde hier, fo unglaublich es Mingt, binnen 
furzer Zeit von ihrem Schwager verflihrt, ſah fich gezwungen 
ſich ihrer Schwefter zu entdeden und ging mit ihr umd ihrem 
Schwager nad) Ealais, wo fie heimlich entbunden wurde. Nach 
England zuritdgefehrt, fegte fie ihr Verhältniß mit ihrem Schwa- 
ger fort und fam wiederum in die Lage, ſich nicht nur ihrer 
Schmefter, fondern aud ihrer Mutter entbeden zu möüflen. 
Oberſt Leigh, deffen Lieblingstochter fie bis dahin gewejen war, 
bradte fie jetzt ohne ihr Wiffen und ihren Willen in eine 
Privat-Irrenanflalt, von wo fie unter Trevanion's Berfand 
entfloh und ihm nad der Normandie folgte, wo beide unter 
dem Namen Herr und Frau Aubin lebten. Georgiana wollte 
fich nunmehr ſcheiden laffen, wenigftens ftellte fie ſich fo, viel- 
leiht nur um ihre Schwefter zu beſchwichtigen, die dann Tre⸗ 
vanion heirathen follte. Da nun nad dem englifchen @efepe 
ein Mann die Schwefter jeiner verftorbenen ober gefchiebenen 
Frau nicht heirathen darf, jo theilte das wlirdige Ehepaar, um 
der armen Mebora nicht alle Hoffnung zu rauben, ihr mit, daß 
Oberft Leigh nicht ihr Bater fei, ohne ihr jedoch zu fagen, wem 
fie da8 Leben verdanfe. Medora fand dies glaublich, da fe ſo 
wenig als ihre Gejchwifter jemals zu Achtung und Liebe gegen 
ihren Bater angehalten worden war. Da jebody die Scheidung 
nit zu Stande fam, gewann fie nad) der abermaligen Geburt 
einer Tochter die Kraft, fi von dem unwürdigen Verhältniß 
zu ihrem Schwager zu befreien. Bon ihrer Mutter ohne bie 
erforderliche Unterſtützung gelaffen, wandte fie fich in ihrer Roth 
an ihre Tante Lady Byron, welche ihr Tiebevollen Beiſtand ver- 
hieß, mit ihr in Tours zufammenfam und fie umd ihr Kind mit 
nad Paris nahm. Bon da gingen fie nad Fontainebleau, wo 
Lady Byron erkrankte und ihrer Nichte entdeckte, daß fie bie 
Tochter ihres Oheims Lord Byron fei (1840). Sie fügte Hinzu, 
daß fie aus dieſem Grunde die innigfte Theiluahme und Liebe 
für fie fühle und flets fühlen werde. 


Doc lebte Medora nachher lange in Südfrankreich, 
fpärlih von Lady Byron unterftügt, fam dann nad) 
London, wo ihre Berwanbten und ihre Mutter nichts von 
ihr wiſſen wollten, verfchwand 1843 wieder aus der eng- 
liſchen Hauptftadt und ftarb bald darauf. 

Man muß hier die Thatfachen von der Beleuchtung 


— — — — —— — 


Literariſche Porträts. | 483 


fondern, in welche die Darftellung fie rüdt. Die leßtere 
zeigt zum Theil abfonderliche Logik. Georgiana habe fich 
„jo geftellt, als wolle fte fich fcheiden Lafien, vielleicht nur 
um ihre Schwefter zu befchwichtigen“. So ausnehmend 
zarte Rückfichten find bei einem derartigen Verhältniß 
doch fonderbar. Man follte glauben, daß eher Georgiana 
ala Medora hätte „beichwichtigt” werden müſſen. Daß 
fie in foldem Streben nad) Beſchwichtigung fogar um 
die Möglichkeit einer künftigen Ehe zwiſchen dem Ehe⸗ 
brecher und feiner Geliebten befiimmert waren und des⸗ 
halb der Ießtern enthüllten, daß fie nicht die Schweſter 
Seorgiana’s, nicht die Tochter des Oberften Leigh war — 


ericheint ebenfalls unmwahrfcheinlih. Die. Thatfache bleibt 


aber doch befichen, daß Medora dem Trevanion'ſchen 
Ehepaar nicht fir die Tochter des Oberften Leigh galt, 
und daß Lady Byron ihr felbft ſpäter mrittheilte, fie ſei 
die Tochter Lord Byron's. Uns jcheint das mit ziemlich 
ſchwerem Gewicht in die Wagfchale zu fallen. Daß Lady 
Byron gerade Medora für biefe Tochter hielt, dazu 
müffen doch Gründe vorgelegen haben, bie über die bloße 
Hallucination binausgingen. " 

Elze führt in diefem Abfchnitt alles Thatfächliche mit 
Sorgfalt an, wenn auch feine Beweisführung zu Gunften 
Lord Byron's für uns nicht übberzengend if. Im übri⸗ 
gen ift das Werk maß- und gefhmadvoll ausgeführt; 
wir ftoßen nirgends auf Längen, die aus bem Hervor⸗ 
beben des Unweſentlichen hervorgehen, nirgends anf über⸗ 
flüffige Ercurſe, zu denen es keineswegs an verlodender 
Gelegenheit fehlt. Die Darftelung, welche alle neu 
erſchlofſenen Duellen mit benugt, gibt em Bild des Dich⸗ 
ters, in welchem Licht und Schatten mit werfer Mäßigung 
vertheilt find. Die Charakteriftit ber einzelnen Werte 
verwandelt fi nirgends im üfthetifche Abhandlungen, was 
bei einem vorzugsweiſe biographifchen Werke ſtörend wäre. 
Gleichwol entwirft Elze in einem der Schlußlapitel em 
literarifches Gefammtporträt des Dichters, welches das 
vorausgehende Charakterbild bes Menſchen in Harmonifcher 
Weiſe ergänzt. Wenn Elze indeß, auf eigene Bemerkun⸗ 
gen Byron's tiber feine Doppeleriftenz geſtützt, behauptet, 
daß Leben und Poefie bei ihm unvermittelt nebeneinander 
bergingen, jo muß man gegen diefe Behauptung doch ben 
fubjectiven Charakter feiner Poefie anführen, die eben 
gerade fein eigenfte8 Leben fpiegelte. Elze felbft hebt den 
improvifatorifchen Charakter feiner Poefte hervor, fowie 
dag er nur an Ort und Stelle jchreiben konnte oder doch 
an Drt und Stelle bie Infpiration zu feinen Dichtungen 
empfangen mußte; er fagt, daß das äußere und innere 
Erlebniß die Grundlage für Byron's Poeſie bildete: wo 
fol da bei Byron der Gegenfat zmwifchen Leben und 
Boefie Herfommen? And flieht die Behauptung Elze's: 
„Seine Boefte verhält fich zu feinem Leben wie fein eigener 
Apollofopf zu feinen Satyrfüßen“, offenbar auf der Spike. 
Doß auch feine Poefie Satyrfüße Hat, beweift jein 
„Don Inan“ zur Genüge, und daß fein Leben auch 
von der Begeifterung des Mufengottes durchdrungen war, 
das zeigt feine lebhafte Betheiligung an den poli» 
tifhen Beſtrebungen für bie Freiheit Italiens und 
Griechenlands. 

Byron’s Stellung in ber Literatur wird indeß von 
Elze mit feinem Berftändnif gefchildert. Er vergleicht 


ihn in Bezug auf die englifche Fiteratur mit einem Me- 
teor; der Dichter babe viel mehr die Hauptnahrung für 
feine Poeſie und feinen eigentlichen Schwerpuntt außerhalb 
Englands gefunden und darüber jenen mütterlichen Boden 
eingebüßt, in welchem ‘Gerz und Poeſie am ficherften ge⸗ 
deihen. Auch vor den englifchen großen Dichtern hatte 
er Feinen fonderlichen Refpect. Shakſpeare wird oft bitter 
bon ihm getadelt: 


Selbft wenn er ihn Iobt, wie im „Don Inan““, XIV, 75, 


wo er ihn Se, britifche Gottheit nennt, klingt heimlicher Aerger, 
Spott und Neid hindurch. Er erflärt ihn zwar flir den auffer- 
ordentlihften Schriftfteller, aber für das fchlechtefte Borbild; er 
zweifelt, ob er wirklich ein jo großer Genius gemwefen ſei, ale 
mofür man ihn halte, und meint, die Mode habe zu feiner 
Ueberfätung geflihrt; er bezeichnet ihn als einen Barbaren 
und verfteigt fi bis zu der Behauptung, daß die Engländer 
noch gar Fein Drama gehabt Hätten. Shaffpeare wie Milton, 
fagt er, haben ihr Auffteigen gehabt und werden ihren Nieder- 
gang haben. Segen bie Gräfin Bleffington äußerte er, Shäl- 
fpeate verdante die eine Hälfte ferner Volksthümlichkeit feinem 
niedrigen Urfprunge, welcher bei dem großen Hanfen eine Dienge 
Sünden zubede, und die andere Hälfte der zeitlichen Gerne, durch 
die er von und getrennt fei. 


Dagegen widmete er Pope feine ganze Sympathie 
und Berehrung und nannte ihn den „Nationaldichter der 
Menſchheit“; er verwechfelte bei diefem Urtheil offenbar 
die Correctheit und Schönheit der Form mit der geiftigen 
Bedeutung. Sehr fein weift Elze die Urſache dieſer 
Sympathie in der Geiftes- und Charakterverwandtſchaft 
der beiden Dichter nach. Die neuere englifche Poeſie Hielt 
Byron für herabgefunten und nahm feine eigenen Gedichte 
nicht aus. Am meiften verhaßt war ihm die „Seeſchule“, 
und von diefen „Teichdichtern“ verfolgte er namentlich 
Southey mit Haß und Hohn. Diefer rächte fi), indem 


er Byron's Poefle als die „fatanifche Schule” bezeichnete 


und fie eme Mirtur von Obfeönität und Blasphemie 
nannte. Nur zu Walter Scott und Shelley ftand Byron 
in achtungsvollſtem Berhältniß, fowie er mit Thomas Moore 
dne dauernde Frenndfchaft verbunden bfieb. 

Das Urtheil Elze's über Byron’d Dramen ift fehr 
gutreffend. Das Suritdgreifen zu den claſſiſchen Feſſeln 
der Einheiten, der Compofitionsftrenge wird zum Theil 
motivirt durch den Einfluß der italienifchen Poefie und 
namentlich Alfiert’s, mit welchem fi Byron in mannich⸗ 
facher Hinſicht zu vergleichen Tiebte: im Hinficht anf feine 
ariftofratifche Rebensftellung, auf feine Wreiheitsliebe, fogar 
auf fein Liebesverhältniß. „Marino Falieri“ und „Die bei- 
den Foscari” find in der That Dramen ohne Reben, von 
nüchterner Correctheit. Dagegen verdient „Sardanapal”, 
dem auch Elze Charakterentwidelung nachrühmt, in Bezug 
auf Grundgedanken und Ausführung immerhin den Na⸗ 
men eines bedeutenden Werte. 

Der „Don Yuan” wird von Elze als das Epos 
bes epikurfifchen Nihilismus bezeichnet; wir meinen, daß 
da8 Gedicht mehr eine Satire auf die wechfelnden 
Bolksfitten, namentlich in Bezug auf die Liebe iſt und 
fih mit Recht dagegen zur Wehr fest, in der Sitte 
etwas Abſolutes zu fehen, indem es die Abgötterei 
verbößnt, melde jedes Volt mit fernen befonders gemo- 
delten Gögen treibt. Eine folche Satire ſcheint wird nidht 
unberechtigt und nicht nihiliftifch zu fein; denn file trifft 
mit den Kern, nur bie Schale, nicht das Weſen der 

16* 


484 Literarifhe Porträts, J 


im, d das jenes oft nenng ! nen Schilderungen einer uns neuen, transatlantiſchen Welt. 
— nen nur ihr Coftiim, durch das jen ſt genng Frühere m een in bie zu dee ahnt 

"12 0: og: der romantifchen Schule und kamen mit ihren märchenhaften, 
q Mari vorn ⸗ Biographie & —— eine banfbare —— und ſentimentalen Stoffen unſerer damaligen 
cin Doman iR. At Die Yutoren, VOOrae, Willen, | Duckelung nt Sunsehigen Beiginnt uiadfala der 
Dettinger u. * haben Abſchnitte aus vhrows Leben für baflir fi, entwicefnden Sinn entjprah. Irwing war eine 


- m: eit lang faft fo populär bei uns wie Walter Scott, fein 
die movelliftifhe Behandlung benugt. Elze erzählt gut kenne befondere war in aller Händen, und jeder bon 


und fließend ; feine durch fleißige Duellenforfchung unter: der damals ; innert it welder ® 

ſtützte Wahrheitsliche entkleidet freilich manchen Abfchnitt a wunderfame Gefehichte ——— ip cher Pla 
in Byron's Leben feines nonelliftifchen Reizes. Die | gelefen. Irwing bat nicht wie Walter Scott eine Schule ge. 
Orgien von Newſtead⸗Abbey werden auf ein befheideneres | fiftet und eine neue Gattung geſchaffen. Er war der Fort 
Maß zuridgeführt; dafür erfahren wir etwas von einer entwickler der ältern engliſchen humoriſtiſchen Weife, hat die 


N. ‚ . elbe aber mit neuen romantifhen Elementen verſetzt und i 
" Jugendgeliebten Byron s, welche den Studenten in männ- re ein Vorgänger —5* Humoriften, tem M 
2 lichem Anzuge begleitete. Auch über den mehr platonifchen | England geworden. Auf Didens, der ihn bald auch bei ung 
ge Neigungen zu Mury Duff, zu Margarethe Parker und | verdrängte, bat er einen unverfennbaren Eiufluß geübt. 

w zu Mary Ana Chaworth, von denen die legtere im Ge⸗ Zaun belennt, daß es weniger der, große Schriftfteller 
de müth des Dichters die flärkften Wurzeln ſchlug, erhalten | Irwing als der liebenswürdige Menſch geweſen fei, der 
dr wir nähere Mitteilung. Die Reife nad) dem Orient, | ihn zum Entwurf des vorliegenden Lebensbildes veranlaft 


Ehe und Ehefcheidung, der Aufenthalt in der Schweiz | Habe Im Vergleich mit Lord Byron's Leben ift das 
und in Venedig, der Stadt der wildeften LTiebesabentener | jenige Irwing’s arm an Abenteuern, an effectvollen Gi. 
des Dichters, das Verhältniß zu Tereſa Guiccioli, die | tuationen, an fpahnenden Kriſen; es iſt eim eigentliches 
NRüftung für Griehenland und der Tod vor Miſſolunghi — Schhriftftellerleben, in welchem mur ein diplomatifches In- 
das alles zieht vor unferer Seele im feljelnden Bildern | termezzo eine interefiante Unterbrediung bewirkt. Dot 
vorüber, deren Umriſſe zwar befannt find, Die aber | ift der Autor vielfach mit hervorragenden Zeitgenoſſen in 
bier im jo lebendiger Farbengebung einen neuen Reiz | Berührung gelommen, er bat fie fcharf beobachtet und 
ausüben. treffend geſchildert. Zahlreiche Stellen aus Irwing's 
Kein größerer Gegenſatz gegen Lord Byron als | Briefen zeigen ein mildes und doc; richtiges Urtheil. So 
Waſhington Irwing, von dem uns Adolf Tann ein | Lieft ſich diefe gutgefchriebene Biographie, ber wir diefelbe 
„Lebend» und Charakterbild” (Mr. 2) entwirft. Aus dem | maßvolle Haltung und Schägung des dargeftellten Autors 
Bereich eines vullanifchen Charakters, einer an Eruptio- | nachrühmen müfjen wie der Elzeichen Biographie Byron’s, 
nen reichen Poefle treten wir im die mildefte Geiſtes- recht angenehm und ift ein nicht unwichtiger Beitrag zur 
temperatur; folratifche Seelenruhe, horaziſche Lebensweis⸗ Kenntniß einer literarifchen und politifchen Epoche, deren 
beit Löfen die himmelftürmenden Ergüſſe eines Fauft- | Ausläufer noch vielfach im die Gegenwart Bineinreichen. 
Don Yuan ab. Auch Wafhington Irwing ift ein Welt⸗ Waſhington Irwing war am 3. April 1783 in Neu 
fahrer, aber fein Childe Harold, Fein Enthuſiaſt, Fein york geboren und zeigte ſchon früh eine ſcharfe Beobadh- 
Elegiker, fondern der Dann ruhiger Beobachtung, deren | tungsgabe für das Komiſche fowie große Vorliebe für 
Kefultate er mit feinfinnigem Humor und in warmer | die Leltitre von Neifebefchreibungen: 
Schilderung der Welt mittheilt. Während freilich Byron's Wie früh er ſich ſchon verliebt hat, zeigt folgendes komi⸗ 
Merle noch in den meiteften reifen ihren poetifchen Zau⸗ ſches Ereigniß: Bei einer Schultheater- Aufführung wurde ihm, 
ber ausüben, find diejenigen von Wafhington Irwing, | dem Zehnjährigen, bie Rolle des Juba in Addiſon's „Late 
welche eine Zeit lang zu den literariſchen Modeartikeln N ontatudhen unit ber mt Höhmort ihn af Di 
ber europäijchen Nationen gehörten, jegt etwas in Ber- | Zähne rief, um eine Rede zu halten, die aus beim mit ber 
f&hollenheit gerathen. Die Zeit der „Slkizzenbücher“ ift | braunen, Mlebrigen Materie gefliliten Munde nicht eher heraus 
vorüber — mindeftens würde e8 heutzutage unmöglich fein, | wollte, als bis ex letztere zum Gelächter.des Publikums heraus. 


durch ein Skizzenbuch, fei e8 noch fo geiſtreich und ge» | gesogen Hatte. Dies Unglüd verhinderte ihm aber nicht, fd 
0: in ein großes Mädchen, welches die Marcia fpielte, zu der 
ſchmadvell abgefaßt, weitreichenden Ruhm zu erwerben. lieben; bie Erdffnungen, die — ihr machte, — —* mit 


Irwing's Schriften, ſagt Laun in ber Vorrede, ger | per Bemerkung, „er fei zu Hein’, zuruahewieſen, das dänpfte 
hören feiner beflimmten Kunftgattung an. Trotz feiner | feine Gint. „Ich entfagte”, fo erzählt er, „meiner großen 
Beſchränkung auf eine Mittelgattung zwifchen PBoefie und | Geliebten und kehrte zu meinem Honigkuchen zurüd.‘ 

Profa rief er doch eine neue Aera der amerilanifchen Sehr früh begann Irwing zu dichten und zu ſchrift⸗ 
Literatur hervor. Vor allem war er bahnbrechend in | ftellern, auch feine Verſuche anonym drucken zu laflen. 
geihmadvollerer und anziefenderer Behandlung der Ge» | Mit dem- vier Jahre ültern Paulding arbeitete er an 
ſchichte, und von ihm datirt die Hiftorifche Kunft, in der | einem Stücke, das auch wirflic zur Aufführung kam. 
die Amerifaner jegt anerfanntermaßen mit dem beften euro- | Merkwürdigerweife ift Irwing auf die dramatifche Pro- 
päifchen Hiſtorikern ſich meſſen fönnen. Ueber den Ein- | duction nie wieder zurüdgelommen. Mit dem ſechzehnten 
flug auf die Beitgenofjen jagt das einleitende Vorwort: Sabre galt feine Erziehung für vollendet, er kam ald 

Waſhington Irwing und Cooper belehrten zuerft Europa | Schreiber zu einem Abvocaten. Einige Ausflüge an ben 

darüber, daß es eine amerifaniihe Literatur gäbe, ober daß Hubfon- und Lorenzfluß brachten angenehme Abwechſelung 


eine folche mwenigftens im Entſtehen begriffen fe. Beide wur | wi, . , ce , 
den vor einigen Decennien viel bei uns gelefen; im Cooper fah in die eintönige, poetifch nicht anregende Thätigleit. Jn 


man ben ameritaniſchen Walter Scott und erfreute fi an fei- zwiſchen fchrieb Irwing eine Reihe humoriſtiſcher Artikel 








Literarifhe Porträts. | 485 


für die neuyorfer „Morning Chronicle“, die viel Aufjehen 
machten und fpäter, ohne fein Wiffen und Wollen, als 
„Old-style Papers“ herausgegeben wurden. Ein Bruft« 
leiden veranlaßte ihn zu einer Reife nah dem Süden 
Europas; er befuchte Italien und Eugland und kam ge- 
fund nad Amerika zurüd, wo er alsbald als felbftändi- 
ger Advocat auftrat und brollige Beiträge zur Zeitjchrift 
„Salmagundi” gab. Eine Yugendliebe zu einem anmu⸗ 
thigen und geiftvollen Mädchen, Mathilde Hoffmann, 
war die einzige derartige Epifode in Irwing's Leben, 
welche befannt geworden ift; er blieb zeitlebens ein Jung⸗ 
gefelle und wahrte ber frühverftorbenen Geliebten eine 
rührende Anhänglichfeit. 

Irwing’s erſtes größeres Wert war „Knickerbocker's 
humoriſtiſche Gejchichte von Neuyork.“ Dies luſtigſte 
und wigigfte Werk des Dichters ift in Europa am menig- 
ften befannt: 

Die erfte Anregung zu diefem Werke, das er mit feinem 
Bruder Beter, der aus Europa nad einjähriger Abweſenheit 
zurüidgefehrt war, entwarf, war der Iuflige Einfall: Dr. Samuel 
Mitchel's „Gemälde von Neuyork“, das foeben erfchienen war, 
ins Burleafe zu ziehen. Zu dieſem Zwecke fammelten die bei« 
den Brüder eine gewaltige Maſſe gelehrter Notizen, um mit 
jenem Werke, das mit den „„Aborigenes’' begann, zu wetteifern. 
Sie begannen deshalb mit der Erfchaffung der Welt, wie ja 
auch unfere Stäbtechronifen thun, gaben dann eine Beſchrei⸗ 
bung der Erde, fpraden von Noah und feinen drei Söhnen, 
der ein unverzeihliches Berfehen darin beging, daß er feine vier 
hatte, von der Eutdedung Amerikas und behandelten die Frage 
der erften Bevölferung defelben u. ſ. w.; fie entfalteten dabei 
eine fabelhafte Gelehrfamkeit mit Eitaten aus allen möglichen 
alten und neuen Schriftftelleen, natlirlic) alles nur zum Spaß, 
etwa in der Art wie Sterne feine Gelehrfamteit zum be» 
fen gibt. 

An dem. Kriege gegen England 1813 — 15 betheiligte 
ſich Irwing als Stabsoffizier und Oberft, ohne befondere 
©elegenheit zu militärifcher Auszeichnung zu finden, wohl 
aber zu allerlei ernften und humoriſtiſchen Betrachtungen. 
In dem Jahre 1815 unternahm Irwing feine zweite 
Reife nad; Europa, wo er fiebzehn lange Jahre verweilte. 
Diefer Aufenthalt wird uns von Laun in einer Weihe 
von Kapiteln gefchildert, welche durch interefjante Stellen 
aus Irwing's Briefen ihre eigentliche Würze erhalten. 
Bon allen Perfönlichkeiten, mit denen Irwing zufammen- 
traf, war ihm Walter Scott am meiften ſympathiſch; 
auch diefer nennt Irwing's Belanntfchaft die befte und 
angenehmfte, bie er feit langer Zeit gemadt habe. Ir⸗ 
wing ſchreibt über Scott an feinen Bruder Peter: 

Was Scott anbetrifft, fo kann ich meine Yreude über fei- 
nen Charakter und fein Wefen gar nicht ausbrüden, er if ein 
alter, echter, goldherziger, würdiger Mann, voll jugendlicher 
Fröhlichkeit, mit einer Phantafle, die immer nene Bilder vor⸗ 
führt, und von einer Einfachheit des Benehmens, die jogleich 
macht, daß man ſich bei ihm zu Haufe fühlt. Es war mir 
eine Frende, zu fehen wie er mit feiner Familie, feinen Nach⸗ 
barn, feinen Bedtenten, ja mit feinen Kagen und Hunden um- 
ging; alles, was unter feinen Einfluß kommt, fcheint von dem 
Sonnenſchein, der um fein Herz fpielt, berührt zu werben. 
Ih war mit Scott vom Morgen bis zum Abend zufammen, 
wir wandelten durd; Berg und Thal, und jeder Punkt rief in 
ihm eine alte Gefchichte oder eine malerische Bemerkung hervor. 
Es ift ein wahres Idyll, Scott umd feine Hausgenofjenichaft 
abenbs verfammelt zu fehen. Die Hunde liegen am Fener aus⸗ 
geſtreckt, die Kate fauert auf einem Stuhl, Frau Scott und 
die Mädchen nähen, und Scott Tieft entweder eine alte Romanze 
vor oder erzühlt eine Grenzgeſchichte. Mitunter fingt auch 


Sophia, die ältefte ber beiden Töchter, die im Minftrelgefang 
ebenfo bewanbert ift wie ihr Bater. 

Die genauere Schilderung findet man in Irwing's 
belannter Schrift: „Abbotsford and Newstead-Abbey.“ 
Großes Auffehen machte „Gottfried Crayon's Skizzen⸗ 
buch“. Zaun fagt hierüber: 


Die Gattung der humoriftiichen, miscellenartigen Eſſays, 
zu denen e8 gehörte, war feit Aodifon, Steele, Smift, Sterne 
und Goldſmith nichts Neues, und es Tieß ſich Yeicht erkennen, 
daß Irwing fi) nad ihnen gebildet hatte, wenn auch die Art 
feines Humors und feiner Darftellungsmweife eine andere war. 
Es ift wol anzunehmen, daß die Schilderungen Euglande, eng- 
liſchen Lebens, englifher Sitten und englifcyer Charaktere, wie 
fie ih im Auge eines Fremden und noch dazu eines, Kindes 
der Neuen Welt fpiegeln, fir John Bull etwas Auziehendes 
hatten, zumal bie Skizzen mit fo milden Striden und jo ge 
dämpften Farben gemalt waren, daß er nicht dadurch verlett 
werben fonnte. Der liebenswürdige, faft zu beicheidene Zon, 
der anmuthige Stil, die Reinheit und Eleganz der Sprache 
gewannen zum voraus umd ließen bie flellenmeilen Schwächen 
des bier und da leichten und gewöhnlichen Buchs, eine gewiſſe 
weichlihe Sentimentalität, Breite und Zerfloffenheit, einen 
weniger friihen und Fräftigen Humor, als er in feinen frühern 
Schriften gezeigt, und eine mangelnde Tiefe und Schärfe der 
Charakteriftil, in der ihn Dickens fpäter übertreffen follte, über⸗ 
ſehen. Bor allem aber litt das Bud infolge des periodifchen 
Erſcheinens an Abrundung und Einheit; die verſchiedenen Skiz⸗ 
zen find gar zu bunt durcheinaudergemwäürfelt nnd entbehren des 
Yeitenden Fadens, wie er fich in feinem nächften Werte „Brace- 
bridge Hall’ dod) bis zu einem gewiffen Grade zeigt. 

Dieſe Charakteriftit ift faft erfchöpfend fiir Irwing's 
Productionsweife, fobald wir von feinen mehr Hiftorijchen 
Werken abfehen. 

Bon England begab fi) Irwing nad) Paris und von 
dort nach Spanien, einer Aufforderung des amerifanifchen 
Sefandten dafelbft, Alerander Everett, folgend, der ihm 
den Vorjchlag machte, nach Madrid zu kommen und Na⸗ 
varete’8 „Reife des Columbus” zu überjegen. Er fchrieb 
ftatt deſſen felbft eine Biographie des Columbus. Sehr 
anregend waren weitere Reiſen in Spanien und nament- 
lich fein langer Aufenthalt in der Alhambra, dem wir 
fein poeflereichftes Werk, die Schilderung des altmauri- 
chen Herrfcherfchloffes, verdanken. Außerdem verfakte er 
eine Chronik der Eroberung Granada. 

Nach Neuyork zurüdgelehrt, wurde Irwing feftlich 
empfangen. An eimem großen Feſtmahl ihm zu Ehren 
nahmen alle feine alten Yreunde und die Hervorragend» 
ften Perfonen der Stadt theil. Er machte dann eine 
Reife durch den Norden und Süden der amerilanifchen 
Freiftaaten und in die Prairien. Dann befchloß er, fi 
an den Ufern bes heimatlicdyen Stroms, des Hudfon, ans 
zufiedeln, baute fi ein Landhaus, dem er fpäter ben 
poetiihen Namen „Sunnyſide“ (Sonnenfeite) gab: 

Es wurde zn einem fhmuden, maleriſchen Giebelgebäude 
mit fo vielen Eden und Winkeln wie ein dreiediger Stülpbut, 
um die Wände wanden fich wilde Rofen und Sclingpflanzen, 
und die Bäume, die Irwing dort pflanzte, umſchatteten es 
fpäter fo, daß, wie er gewünſcht hatte, es ein immer verfted- 
terer Ruheplatz für feine alten Tage wurde. 

Hier verfaßte er die „Aftoria”, ein Wert, das feinen 
Namen dem reichen Kaufmann Aftor und der von ihm 
gegründeten Colonie am Stillen Meer entlehnte, eingehende 
Aufklärung gab über alles Land jenfeit der Rocky⸗Moun⸗ 
taind und der Ufer des Columbiafluffes und aud die 





484 Literarifhe Porträts. 


Liebe, fondern nur ihr Coſtüm, durch das jenes oft genug ! nen Schilderungen einer uns neuen, transatlantiihen Welt. 


entftellt wird. 

Lord Byron's Biographie ift infofern eine banfbare 
Aufgabe für einen gewandten Erzähler, als fie fich wie 
ein Roman Tiefl. Wie viele Autoren, d’Israeli, Willlomm, 
Dettinger u. a., haben Abfchnitte aus Byron's Leben für 
die novelliftiiche Behandlung benutzt. Elze erzählt gut 
und fließend; feine durch fleißige Quellenforſchung unter» 
ftüste Wahrheitsliebe entkleidet freilich manchen Abjchnitt 
in Byron's Leben feines novelliftifchen Reizes. Die 
Orgien von Nemftead-Abbey werden auf ein befcheideneres 
Maß zurüdgeführt; dafür erfahren wir etwas von einer 
Yugenbgeliebten Byron’s, welche den Studenten in männ- 
lichem Unzuge begleitete. Auch über den mehr platonifchen 
Neigungen zu Mary Duff, zu Margarethe Barker und 
zu Mary Ana Chaworth, von denen die letztere im Ge— 
müth des Dichters die flärkften Wurzeln fchlug, erhalten 
wir nähere Mitteilung. Die Reife nad) dem Orient, 
Che und Ehefcheidung, der Aufenthalt in der Schweiz 
und in Benedig, der Stabt der wilbeften Liebesabentener 
des Dichters, das Verhältniß zu Tereſa Guiccioli, die 
Rüftung für Griechenland und der Tod vor Miffolunghi — 
das alles zieht vor unferer Seele in feilelnden Bildern 
vorüber, deren Umrifie zwar befaunt find, die aber 
bier in fo lebendiger Farbengebung einen neuen Reiz 
ausüben. 

Kein größerer Gegenfag gegen Lord Byron als 
Bafhington Irwing, von dem uns Abolf Laun ein 
„Lebens⸗ und Charakterbild” (Nr. 2) entwirft. Aus dem 
Bereich eines vulkaniſchen Charakters, einer an Eruptio- 
nen reihen Poefle treten wir in bie mildeſte Geiftes- 
temperatur; fofratifche Seelenrube, borazifche Lebensweis- 
beit Iöfen die bimmelftürmenden Ergüſſe eines Yauft- 
Don Yuan ab. Auch Wafhington Irwing ift ein Welt- 
fahrer, aber fein Childe Harold, fein Enthufiaft, kein 
Elegiter, fondern der Mann ruhiger Beobachtung, deren 
Refultate er mit feinfinnigem Humor und in warmer 
Schilderung ber Welt mittheilt. Während freilich Byron's 
Werke noch in den meiteften Kreifen ihren poetifchen Zau- 
ber ausüben, find diejenigen von Wafhington Irwing, 
welche eine Zeit lang zu den literariichen Modeartikelu 
der europäifchen Nationen gehörten, jettt etwas in Ber- 
fhollenheit gerathen. Die Zeit der „Slizzenbücher“ ift 
vorüber — mindeftend würde es heutzutage unmöglich fein, 
durch ein Skizzenbudh, fei es noch fo geiftreich und ge- 
ſchmackvoll abgefaßt, weitreichenden Ruhm zu erwerben. 

Irwing's Schriften, jagt Laun in der Vorrede, ge- 
bören keiner beftimmten Kunftgattung an. Trotz feiner 
Beichränfung auf eine Mittelgattung zwifchen Poefie und 
Proja rief er doch eine neue Aera der amerikanifchen 
Literatur hervor. Bor allem war er bahnbrechend in 
geihmadvollerer und anziehenderer Behandlung der Ge⸗ 
fhichte, und von ihm batirt die hiſtoriſche Kunft, in der 
die Amerikaner jest anerlanntermaßen mit den beften euro» 
pätfchen Hiftorifern fich mefjen fünnen. Ueber den Ein- 
fluß auf die Zeitgenoſſen fagt das einleitende Vorwort: 

Waſhington Irwing und Cooper belehrten zuerft Europa 
barliber, daB es eine amerilanifche Titeratur gäbe, ober daß 
eine ſolche wenigftens im Entflehen begriffen fe. Beide wur⸗ 
den vor einigen Decennien viel bei uns gelefen; in &ooper ſah 
man den amerikaniſchen Walter Scott und erfreute fi an fei- 


Irwing's frühere Schriften fielen in die Zeit des Nachklangs 


der romantifchen Schule und famen mit ihren märcenhaften, 
phantaftifhen und fentimentalen Stoffen unferer damaligen 
Geſchmackrichtung entgegen, während die genveartige, realiſtiſche 
Darftelung mit humoriſtiſchem Beigeſchmack gleichfalls dem 
dafür fich entwidelnden Sinn entſprach. Irwing war eine 
Zeit lang faft fo populär bei uns mie Walter Scott, fein 
„Skizzenbuch“ bejonders war in aller Händen, und jeder von 
uns, der bamals jung war, erinnert fi, mit welcher Wonne 
er die wunderſame Geſchichte des fchläfrigen Rip van Winfie 
gelefen. Irwing bat nicht wie Walter Scott eine Schule ge- 
ftiftet und eine neue Gattung geſchaffen. Er war der fort 
entwidler der äÄltern englifchen humoriſtiſchen Weiſe, bat die 
felbe aber mit neuen romantifchen Elementen verfett und if 
dadurch ein Vorgänger jlingerer Humoriften, wenigſtens in 
England geworden. Auf Didens, der ihn bald aud bei uns 
verdrängte, bat er einen unverlennbaren Einfluß gebt. 

Zaun befennt, daß es weniger der. große Schriftfleller 
Irwing als der liebenswürdige Menſch gewefen fei, der 
ihn zum Entwurf des vorliegenden Lebensbilbes veranlaft 
babe. Im Vergleich mit Lord Byron's Leben ift das 
jenige Irwing's arm an Abentenern, an effectvollen Si⸗ 
tuationen, an fpahnenden Frifen; es ift ein eigentliches 
Schriftftellerleben, in welchem nur ein diplomatijches In- 
termezzo eine interefjante Unterbrechung bewirkt. Doch 
ift der Autor vielfach mit hervorragenden Zeitgenoflen in 
Berührung gekommen, er bat fie fcharf beobachtet und 
treffend geſchildert. Zahlreiche Stellen aus Rwing's 
Briefen zeigen ein mildes und doch richtiges Urtheil. So 
lieft fich diefe gutgefchriebene Biographie, ber wir biefelbe 
maßvolle Haltung und Schägung des dargeftellten Autors 
nahrühmen müffen wie der Elze'ſchen Biographie Byron’s, 
recht angenehm und ift ein nicht unwichtiger Beitrag zur 
Kenntniß einer literarifchen und politiichen Epoche, deren 
Ausläufer noch vielfach in die Gegenwart hineinreichen. 

Waſhington Irwing war am 3. April 1783 in Nen- 
york geboren und zeigte ſchon früh eine fcharfe Beobach⸗ 
tungsgabe für das Komiſche fowie große Vorliebe für 
die Leltitre von Keifebefchreibungen: 

Wie früh er fi ſchon verliebt hat, zeigt folgendes komi« 
ſches Creigniß: Bei einer Schultheater- Aufführung wurde ihm, 
dem Zehnjährigen, die Rolle des Juba in Addiſon's „Cato 
zutheil. Er war gerade hinter der Coulifje mit dem Verſpeiſen 
eines Honigfuchens befhäftigt, als fein Stichwort ihn auf bie 
Bühne rief, um eine Rede zu halten, die aus dem mit ber 
braunen, Mebrigen Materie gefüllten Munde nicht eher herauf 
wollte, als bis er letztere zum Gelächter. des Publikums heraus 
gezogen Hatte. Dies Unglüd verhinderte ihn aber nicht, fd 
in ein großes Mädchen, welches die Marcia fpielte, zu ber 
lieben; die Eröffnungen, die er ihr machte, wurden jedod wit 
ber Bemerkung, „er fei zu klein“, zurlidgewiefen; das dämpfte 
feine Gint. Ich entfagte”, fo erzählt er, „‚meiner großen 
Geliebten und Tehrte zu meinem Honigkuchen zurück.“ 

Sehr früh begann Irwing zu dichten und zu fahrift- 
ftellern, auch feine Verſuche anonym drucken zu laflen. 
Mit dem vier Jahre ältern Paulding arbeitete er an 
einem Stüde, das auch wirklich zur Aufführung kam. 
Merkwürdigerweiſe ift Irwing auf die dramatiſche Pro- 
duction nie wieder zurüdgelommen. Mit dem fechzehnten 
Jahre galt feine Erziehung für vollendet, er kam als 
Schreiber zu einem Advocaten. Einige Ausflüge an den 
Hudfon- und Lorenzfluß brachten angenehme Abwechſelung 
in die eintönige, poetifch nicht anregende Thätigkeit. Im 
zwifchen fchrieb Irwing eine Reihe humoriſtiſcher Artikel 





Literarifhe Porträts. 485 


für die neuyorfer „Morning Chronicle“, die viel Auffehen 
machten und fpäter, ohne fein Wiffen und Wollen, als 
„Old-style Papers“ herausgegeben wurden. Ein Bruft- 
leiden veranlaßte ihn zu einer Reife nach dem Süden 
Europas; er bejuchte Italien und England und kam ge 
fund nad) Amerika zurüd, wo er alsbald als felbftändi- 
ger Advocat auftrat und drollige Beiträge zur Zeitfchrift 
„Salmagundi” gab. Eine Yugendliebe zu einem anmu- 
thigen und geiftvollen Mädchen, Mathilde Hoffmann, 
war die einzige derartige Epifobe in Irwing's Neben, 
welche befannt geworden ift; er blieb zeitlebens ein Jung⸗ 
gefelle nnd wahrte der frühverftorbenen Geliebten eine 
rührende Anhänglichkeit. 

Irwing's erſtes größeres Werk war „Knickerbocker's 
humoriſtiſche Geſchichte von Nenyork.“ Dies luſtigſte 
und witzigſte Werk des Dichters iſt in Europa am wenig⸗ 
ften befannt: 

Die erfte Anregung zu diefem Werke, das er mit feinem 
Bruder Peter, der aus Europa nad einjähriger Abwefenheit 
zurlidgefehrt war, entwarf, war der luftige Einfall: Dr. Samuel 
Mitchel’8 „Gemälde von Neuyork“, das foeben erichienen war, 
ins Burleafe zu ziehen. Zu dieſem Zwecke fammelten die bei« 
den Brüder eine gewaltige Maſſe gelehrter Notizen, um mit 
jenem Werke, das mit den „Aborigenes“ begann, zu wetteifern. 
Sie begannen deshalb mit der Erſchaffung der Welt, wie ja 
auch unſere Stäbtechronifen thun, gaben dann eine Beſchrei⸗ 
bung der Erde, fpraden von Noah und feinen drei Söhnen, 
der ein umverzeihliches Berſehen darin beging, daß er feine vier 
hatte, von der Entdedung Amerilas und behandelten die Frage 
der erfien Bevölkerung deffelben u. ſ. w.; fie entfalteten dabei 
eine fabelhafte Gelehrſamkeit mit Eitaten aus allen möglichen 
often und neuen Schriftfielern, natlirlich alles nur zum Spaß, 
etwa in der Art wie Sterne feine Gelehrſamkeit zum be- 
ſten gibt. 

An dem Kriege gegen England 1813 — 15 betheiligte 
fih Irwing als Stabsoffizier und Oberſt, ohne befondere 
Gelegenheit zu militärifcher Auszeichnung zu finden, wohl 
aber zu allerlei ernften und humoriſtiſchen Betrachtungen. 
In dem Jahre 1815 unternahm Irwing feine zweite 
Reiſe nad) Europa, wo er fiebzehn lange Jahre verweilte. 
Diefer Aufenthalt wird uns von Laun in einer Reihe 
von Kapiteln gefchildert, welche durch interefjante Stellen 
ans Irwing's Briefen ihre eigentlihe Würze erhalten. 
Bon allen Perfönlichkeiten, mit denen Irwing zufammen- 
traf, war ihm Walter Scott am mieiſten ſympathiſch; 
auch diefer nennt Irwing's Bekanntſchaft bie befte und 
angenehmſte, die er feit langer Zeit gemacht habe. Ir⸗ 
wing fchreibt über Scott an feinen Bruder Peter: 

Was Scott anbetrifft, fo kann ich meine Freude über fei- 
zen Charakter und fein Weſen gar nicht ausdrücken, er ift ein 
alter, echter, goldherziger, wlrbdiger Mann, voll jugendlicher 
Fröhlichkett, mit einer Phantafie, die immer neue Bilder vor- 
führt, und von einer Einfachheit des Benehmens, die ſogleich 
madt, daß man ſich bei ihm zu Haufe fühlt. Es war mir 
eine Frende, zu jehen wie er mit feiner Familie, feinen Nach⸗ 
barn, feinen Bedienten, ja mit feinen Katen und Hunden um- 
ging; alles, was unter feinen Einfluß kommt, fcheint von dem 
Sonnenfdein, der um fein Herz fpielt, berührt zu werden. 
Ich war mit Scott vom Morgen bis zum Abend zufammen, 
wir wandelten durch Berg und Thal, und jeder Punkt rief in 
ihm eine alte Gefchichte oder eine malerifche Bemerkung hervor. 
Es ift ein wahres Idyll, Scott und feine Hausgenofjenichaft 
abends verfammelt zu ſehen. Die Hunde liegen am Fener aus⸗ 
gefiredt, die Kate fauert auf einem Stuhl, Frau Scott und 
die Mädchen nähen, und Scott lieft entweder eine alte Romanze 
vor oder erzählt eine Greuzgeſchichte. Mitunter fingt auch 


Sophia, die ältefte ber beiden Töchter, die im Minftrelgefang 
ebenfo bewandert ift wie ihr Bater. 

Die genanere Schilderung findet man in Irwing's 
befannter Schrift: „Abbotsford and Newstead-Abbey.” 
Großes Aufſehen machte „Gottfried Crayon's Skizzen- 
buch”. Laun fagt hierüber: 

Die Gattung der humorififchen, miscellenartigen Eſſays, 
zu denen e8 gehörte, war feit Addifon, Steele, Swift, Sterne 
und Goldſmith nichts Neues, und es ließ fich leicht erkennen, 
daß Irwing fich nad ihnen gebildet Hatte, wenn auch die Art 
feines Humors und feiner Darftellungsmweife eine andere war. 
Es ift wol anzunehmen, daß die Schilderungen Englands, eng- 
liſchen Lebens, euglifher Sitten und englifcher Charaktere, wie 
fie ih im Auge eines Fremden und noch dazu eines, Kindes 
der Neuen Welt fpiegeln, für Iohn Bull etwas Anziehendes 
hatten, zumal die Skizzen mit fo milden Strichen und fo ge- 
dämpften Farben gemalt waren, daß er nicht dadurch verlett 
werden konnte. Der liebensmwürdige, faft zu beicheidene Ton, 
der anmutbhige Stil, die Reinheit und Eleganz ber Sprade 
gewannen zum voraus und ließen die flellenweilen Schwächen 
des bier und da leichten und gewöhnlichen Buchs, eine gewiſſe 
weihlihe Sentimentalität, Breite und Zerfloffenheit, einen 
weniger friſchen und kräftigen Humor, als er in feinen frähern 
Schriften gezeigt, und eine mangelnde Tiefe und Schärfe der 
Charakteriftif, in der ihn Didens fpäter übertreffen follte, über- 
fehen. Bor allem aber litt das Buch infolge des periodifchen 
Erfheinens an Abrundung und Einheit; die verfchiedenen Skiz⸗ 
zen find gar zu bunt durcheinandergewürfelt und entbehren des 
leitenden Yadens, wie er fich in feinem nächſten Werte „Brace- 
bridge Hall’ doch bis zu einem gewiffen Grade zeigt. 

Diefe Charakteriſtik ift faſt erfchöpfend für Irwing's 
Productionsweife, fobald wir von feinen mehr hiftorijchen 
Werfen abfehen. 

Bon England begab fi) Irwing nad) Paris und von 
dort nad Spanien, einer Aufforderung des amerikanischen 
Sefandten dafelbft, Alerander Everett, folgend, der ihm 
den Vorfchlag machte, nad Madrid zu kommen und Na⸗ 
varete’8 „Reife des Columbus” zu überfegen. Er fchrieb 
ftatt deſſen felbft eine Biographie des Columbus. Sehr 
anregend waren weitere Reiſen in Spanien und nament- 
lich fein langer Aufenthalt in der Alhambra, dem wir 
fein poefiereichftes Werk, die Schilderung des altmauri» 
chen Herrfcherfchlofles, verdanken. Außerdem verfaßte er 
eine Chronif der Eroberung Granada. 

Nah Neuyork zurückgekehrt, wurde Irwing feftlich 
empfangen. An einem großen Feſtmahl ihm zu Ehren 
nahmen alle jeine alten Freunde und die bervorragend- 
ften Perjonen der Stadt thel. Er machte dann eine 
Reife durch den Norden und Süden der amerilanifchen 
Sreiftaaten und in die Prairien. Dann befchloß er, ſich 
an den Ufern des heimatlichen Stroms, des Hudſon, an« 
zufiedeln, baute fich ein Yandhaus, dem er fpäter den 
poetiihen Namen „Sunnyſide“ (Sonnenfeite) gab: 

Es wurde zu einem ſchmucken, malerifchen Giebelgebäude 
mit fo vielen Eden und Winkeln wie ein dreiediger Stülphut, 
um die Wände wanden fi wilde Roſen und Schlingpflanzen, 
und die Bäume, die Irwing dort pflanzte, umfchatteten es 
fpäter fo, daß, wie er gewünſcht hatte, es ein immer verfted- 
terer Ruheplatz für feine alten Tage wurde. 

Hier verfaßte er die „Aſtoria“, ein Werk, das ſeinen 
Namen dem reichen Kaufmann Aſtor und der von ihm 
gegründeten Colonie am Stillen Meer entlehnte, eingehende 
Aufklärung gab über alles Land jenſeit ber Rocky-⸗Moun⸗ 
tains und der Ufer des Kolumbiafluffes und auch die 








wunderbaren Abenteuer ber Colonie zu Land und Meer 
erzählte: 


Das Werk gibt zugleich eine reiche Charalteriſtik der Theil⸗ 
nehmer und Anflihrer diefer beiden Expeditionen, der Trappers, 
Jäger, Pelzhändler und indianiſchen Krieger, ihrer Eigenthiim- 
fichleiten, Sitten und Coftlime und eine anſchauliche Beſchrei⸗ 
bung der großartigen Ianbichaftlichen Scenerie, der Pflanzen 
und Thiere m. f. w., kurz, es bat das erreicht, was Irwing 
fih vorgeſetzt Hatte, es iſt bei aller durchgeführten biftorifchen 
Darlegung und genetifchen Entwidelung der Greiguiffe zugleich 
ein unterbaltendes Lejebud für ein gebildetes Publikum. 


Das Stilleben auf Sunnyſide wurde dur manchen 
intereffanten Beſuch unterbrochen, wie 3. B. den des 
Prinzen Ludwig Napoleon, der, nah dem ftraäburger 
Attentat, einige Donate lang Staatsgefangener auf einem 
franzöfifchen Kriegsichiff gewelen und im Frühling 1837 in 
Norfolk an der virginifchen Küfte in Freiheit geſetzt wor⸗ 
den war. Irwing, ber fih für den Gaft und deſſen 
eigenthlimliche Lage intereffirte, war fehr freundlich gegen 
ihn, fand ihn aber äußert ſchweigſam. Ueber den Staats- 
ſtreich ſprach ſich Irwing fpäter fehr günftig aus, wäh. 
rend er aus den Erinnerungen feines zweiten fpanifchen 
Aufenthalts das Bild der Kaiſerin und ihrer Familie fich 
heraufbeſchwor: 

Ich glaube, ich habe dir erzählt, daß ich den Großvater 
der Kaiſerin gekannt babe, deu alten Kirkpatrick, der amerikani⸗ 
icher Eonful in Malaga war. Ich brachte einen Abend in fei- 
nem Haufe zn, nahe bei Adra an der Küfte des Mittelländifchen 
Meeres. Einige Zeit darauf war ih im Haufe feines Schwie- 
gerfohns, des Grafen Teba in Granada, eines Höflichen, intelli- 
genten Mannes, der im Kriege viele Wunden davongetragen, ein 
Auge verloren Hatte und an Hand und Bein gelähmt war. 
Seine Frau war abwefend, aber er hatte mehrere Heinere Töchter 
um fih. Die jüngſte derjelben muß die jetige Kaiferin gewe⸗ 
fen fein. Mehrere Jahre darauf wurde ih in Madrid zu 
einem großen Ball im Haufe der Gräfin Montijo, einer der ton- 
angebenden Damen, eingeladen. Als ich ihr meine Verbeugung 
machte, war ich erflaunt, von ihr wie ein alter Freund empfan- 
gen zu werden. Sie berief fid auf meine Belanntichaft mit 
ihrem verflorbenen Gemahl, dem Grafen Teba, fpäter Mar- 
quis Montijo, ber, wie fie fagte, oft mit großer Wärme von 
mir geſprochen Babe, und führte mi dam zu den Mädchen, 
die ih in Granada gelannt hatte und die nun fafbionable 
Schönheiten in Madrid waren. Darauf fam ich öfter in ihr 
Haus, eines der luftigften der Hauptſtadt. Die Gräfin und ihre 
Töchter ſprachen engliſch. Die älteſte Tochter verbeirathete 
ſich in Madrid (Irwing's Gegenwart bei der Hochzeit wurde 
ſchon erwähnt) mit dem Herzog von Alba und Berwick, die 
jüngfte fist uum auf dem Throne von Frankreich. 


Er Inüpft gleich darauf an diefe Erinnerungen noch 
die folgenden Bemerkungen: 

Ludwig Napoleon und Eugenie Montijo, Kaifer und Kai- 
ferin von Srantreich! Den einen babe ich als Gaſt in Sunnyfide 


ebabt, die andere habe ich als Kind anf den Knien gejchaufelt! 
Das ſcheint doch der Höhepunkt des Dramas zu fein, welches 


:A86 Literatifhe Porträts, 


fi während meiner Lebenszeit in Paris abgefpielt Hat, % 
babe öfter geglaubt, der jebesmalige Theatercoup fei der I 
den ich zu erleben hätte, aber es folgte immer eim noch über. 
rafheuderer darauf; was wird nun der nächſte fein, wer kam 
e8 ahnen! Ale in Eugenie Montijo zulegt in Madrid ſah, 
war fie eine der Ballköniginnen, und fie mit ihrem Iufligen 
Kreife riß mir meine junge reizende Freundin, die ſchöne had 
gebildete R., in ihre modischen Zerſtreuungen mit fort. Sept 
figt Eugenie auf dem Thron, und ihre Freundin, die N., hat 
fih freimillig in ein Kloſter von ber firengften Hegel begeben. 
Die arme N.! Bielleicht ift jedoch ihr Los ſchließlich das glüd⸗ 
fichere von beiden. Die Stürme find für fie vorliber, umd fe 
ift in Ruhe, die andere von einer See, die wegen ihrer Stchif⸗ 
brüche Übel berlichtigt ift, an eine Küſte geworfen, von ber 8 
feine Heimkehr gibt. Werde ich noch lange genug leben, um 
die Kataftrophe ihrer Laufbahn und das Ende bdiefes plotzlich 
heraufbeſchworenen Kaiſerthums zu fehen, das aus ſolchem Stoff 
zu fein fcheint, aus dem die Träume gewoben werden? Kb 
geftebe, daß meine perfünliche Bekanntſchaft mit den Perjonen, 
die in diefem biftorifchen Roman figuriren, mein Intereffe daran 
bedeutend erhöht, aber ihr Los jcheint mir voll Unbefändigkät 
und Gefahr und zu fo abenteuerfihem Schichſalswechſel be⸗ 
lan zu fein, mie fie in Alexander Dumas’ Romanen vor 
ommen. 


Der zweite fpanifche Aufenthalt, den wir erwähnten, 
wurde veranlaft durch die Ernennung Irwing's zum 
Geſandten in Spanien 1841. Er gerieth hier in eine Epoche 
politifcher Bewegung, der Revolutionen, Deilitärrevolten, 
Cabinetsintriguen, welche uns von Zaun, zum Theil nad 
Irwing's Aufzeichnungen, recht lebendig dargeftellt wird. 
Espartero, Narvaez und andere fpanifche Staatsmänner 
ftehen im Mittelpunkt des Gemäldes. Im Jahre 1846 
fehrte Irwing von feinem Poſten in die Idylle vom 
Sunnyſide zurüd, wo er bis zu feinem Tode 1859 febte 
und noch die fünf Bände feiner Biographie Wafhingten’e 
vollendete. Eine milde Beleuchtung ruht auf diefen letz⸗ 
ten Lebensjahren: 


O holde Einfamleit, du Freundin des zur Neige gehenden 
Lebens! Wie glücklich ift mein Los geweien, daß ich es fo veil- 
kommen babe genießen können, daß ſich das, was ich mir ols 
bloßes Phantafiebild ausmalte, realifirt Hat! Könnteft du doch 
das Fleine Sunnyſide in diefer Jahreszeit fehen! Es ift ſchöner 
denn je, die Bäume, die Sträucher, die rankenden Weinföde 
üppiger denn je. Nie hörte id) fo viele Vögel in meinen Ger 
büſchen fingen, und immer find Kolibris unter meinen few 
ſtern Hinter dem Geißblatt und den es überhangenden Schling⸗ 
gewüchſen. 


Die Charakteriſtik, die Laun von dem Schriftſteller 
Irwing entwirft, iſt durchaus zutreffend und frei von 
Uebertreibungen, die ganze Schrift überhaupt durch ſchlichte 
und doc graziöſe Haltung eine anſprechende Lektüre. 

Rudolf Gotiſchal. 
(Die Yortfegung folgt in ber nächſten Nummer.) 





oe — — — — — — — — 


Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen. 








Rußland und die dentſchen Oſtſeeprovinzen. 
(Beihluß aus Nr. 80.) 


7. Baltifche und ruffifche Eulturftudien aus zwei Jahrhunderten 
von Julius Edardt. Leipzig, Dunder und Humblot. 
1869. Gr. 8. 3 Thlr. 6 Nor. 

8. Aus baltifcher Vorzeit. Sechs Vorträge Über die Geſchichte 
der Oflfeepropinzen von $: Bienemann. Leipzig, Dunder 
nnd Humblot. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 6 Nor. 


9, Bürgerthum und Bureaufratie. Bier Kapitel aus der neue⸗ 
ſten livländiſchen Gefhichte von Julius Edardt. Leipzig, 
‚ Dunder und Humblot. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 

Wir haben am Anfange diefes Aufjages darauf aufs 
merkſam gemacht, daß das ruffifche Volk aus feiner Mitte 
feinen Mittelftand hervorgebracht hat und daß deshalb im 
eigentlihen Rußland auch keine Städte im weftenropäifchen 
Sinne vorhanden find: „Es find Refidenzen, Häfen, Dör- 
fer, ihre Bürger find keine Bürger”, jagt Schirren. Im 
Gegenſatz dazn befigt das Baltenland feit dem Anfang 
feiner deutfchen Beſiedelung einen Fräftigen Bürgerftand 
in mehr oder weniger jelbfländigen, mauerumfchlofjenen 
Städten. Mehrere von diefen, namentlid) Riga, Dorpat, 
Reval und Narwa, nahmen im Hanfabunde eine geachtete 
und zum Theil mächtige Stellung ein. Riga hat vermöge 
der natürlichen Vortheile feiner Tage niemals alle Beden- 
tung als deutjche Handelsftadt verloren; dagegen haben 
Narwa und Dorpat nach mehrmaligen, vollftändigen Zer⸗ 
ſtörungen durch die Ruſſen längere Zeit ihr Dafein nur 
fünmerlich gefriftet, bis in den letzten Jahrzehnten das 
erftere durch feine Großinduftrie und das legtere als Sit 
der baltiſchen Hochichule fich wieder mehr und mehr auf- 
geſchwungen Hat. Reval, welches niemals jo mächtig ald 
Riga, aber dennoch lange Zeit die bebeutendfte Stadt 
nördlich von diefem gewefen ift, Tann ſeit der Erbauung 
von Petersburg die Concurrenz diefer Reichshauptſtadt 
nicht beftehen und nicht wieder zu Kräften kommen. 

In den drei obengenannten Werken von Edardt und 
Bienemann werden uns theils Abriffe der gejammten 
Geſchichte, tHeild ausführliche Erzählungen aus Perioden 
ber drei bebeutendften von den vier genannten Städten 
Livlands und Eftlands mitgetheilt. Aus Eckardt's „Balti⸗ 
{chen und ruffifhen Eulturftudien‘ (Nr. 7), einer Samm- 
Inng von Auffägen über die verfchiedenten Gegenftände 
auf ruſſiſchem und baltifchem Gebiet, beachten wir bier 
zunächft den Gefchichtsabrig von Dorpat. Dieſe malerifch 
auf Anhöhen am Embach, unweit des Peipusfees gelegene 
Stabt gibt in ihrer Gefchichte im verkleinerten Maßſtab 
ein Spiegelbild von ber Geſchichte des ganzen Landes. 
Etwas abweichend ift der Urfprung des deutichen Dorpat 
von demjenigen anderer beutjchen Städte Altlivlands da- 
dur, daß vor feiner Gründung an der Stelle nicht eine 
Wohnftätte der Urbewohner, jondern die Raubburg eines 
ufflihen Großen geftanden hat, durch welche die um—⸗ 
wohnenden Eften in Zributpflichtigkeit und Unterwürfig⸗ 
feit gehalten wurden. Bon Einführung des Chriftenthums 
oder irgendweldher Cultur war nicht die Rede; dennoch 
gründete fich Hierauf der Anfpruh Iwan's I., fowie 
Ywan’s II. im 16. Sahrhundert, anf den Beſitz oder 
mwenigftens die Zributpflichtigleit der Stadt und der Um- 
gegend. Jener ruffifche Bojar Wjäczlo wurde im Jahre 


1223 von den Schwertrittern aus Yurjew, fo hieß das 
Raubneſt, vertrieben und die Feſte verbrannt, An deren 
Stelle gründete der Landesherr, Erzbiſchof von Riga, 
eben die Stadt Dorpat. Sie wurde zum- Gig eines 
Suffraganbifchofs gemacht und blühte raſch auf, indem 
man einen großen Theil des Handels des nördlichen Ruß⸗ 
land nach ihr über den Peipusfee leitete. In der zwei— 
ten Hälfte des 13. Jahrhunderts bricht die Olanzepoche 
Dorpats an. 

Ueber die Bevölferungsverhältniffe, die Zahl der Ge- 
büude u. dgl. befigen wir ans der bifchöflihen Zeit feine 
genauern Angaben. „Eine Borftellung von denfelben kann 
man fid) aber danad) maden, daß ein Chronift behaupten 
fonnte, eine einzige Seuche habe in Dorpat 15600 Men⸗ 
ſchen hingerafft, und daß ſich noch am Anfang des 17. Jahr⸗ 
bunderts, nachdem Dorpat bereitd von der Höhe feiner 
Bedeutung berabzufteigen begonnen hat, elf Kirchen nad): 
weisen ließen.” 

Wie das raſche Aufblühen, fo hatten Stadt und Bis- 
tum Dorpat auch die innern Ywiftigfeiten und Kämpfe 
mit Witlivland gemein, von dem fie von Anfang. an bie 
beften Kräfte aufzehrten: 

Aber das Gericht über die hadernden Fürſten und Stände 
Livlands blieb nicht aus: Iwan Waſfſiljewitſch III., den die 
Auffen den Großen oder auch den Sammler (Sobiratelj, d. 5. 
denjenigen, der die Theilfürſtenthümer fammelte) nannten, hatte 
das Mongolenjoch gebroden, die Einheit der ruſſiſchen Mon⸗ 
ardhie begründet, die Macht der flolzen Republik Nowgorod für 
immer zerflört und zog mit großer Seeresmadt heran, den 
durch innern Hader ohnmüchtig gewordenen Livländifchen Bundes- 
float zu vernichten. Raucherde Trümmer bezeichneten feinen 
Weg, und das Bisthum Dorpat, das noch im Jahre 1487 den 
Landmeifter Borch bei einer Unteruehmung gegen die Ruffen 
ſchmählich im Stich gelaffen Hatte, war der am meiflen be- 
audige am ſchwerſten bedrohte Theil des Bundesſtaats. Nur 
der Muth und die weiſe Politik des großen Plettenberg wand⸗ 
ten das Unheil noch einmal ab. Er ſtellte den Frieden inner- 
halb des Landes ber und ſchlug die ruſſiſchen Heere in zwei blu⸗ 
tigen Schlachten, 1501 vor Fellin, 1502 bei Plestau. 

Der funfzigjährige Frieden, den Plettenberg ſchloß, 
wurde jedoch mit einem Xribut, melden das Bisthum 
Dorpat an den Zaren leiften follte, erkauft. Es ift ein 
viel und oft ausgefprochener Vorwurf, den man Pletten- 
berg und den Altlivländern mit Recht macht, daß fie diefe 
lange Zeit der Ruhe nicht zur Herftellung einer feften 
politifchen Organifation und der Wehrfähigleit des Lan⸗ 
des nach außen benugt haben. Indeß zog dafjelbe dar- 
aus doch einen Bortheil, der in ihm die Herrſchaft des 
deutfchen Geiftes auf unabjehbare Zeit ficherte und aud) 
heute den Hauptftügpunkt des Deutſchthums gegen die an- 
drängende Ruſſificirung bildet — wir meinen die Einfüh- 
rung der Kirchenverbeſſerung. Dorpat verdankt fie haupt- 
ſächlich dem fchwäbifchen Kürfchner Meldior Hofmann. 
Im übrigen dauerte die Zerfplitterung des Landes in ein- 
zelne Türftenthlimer und Städte fort, und es wurben nicht 
unerhebliche Fehden zwiſchen diejen mittelalterlihen Ge— 
meinwefen geführt. Inzwiſchen war auf den Thron von 
Moslau der furdtbare Tyraun Iwan der Schredliche 
gelommen; er verlangte im Jahre 1555 ben Tribut ber 


487 








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488 Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen. 


Dorpater, den ſogenannten Glaubenszins, der ihm ſchon 
lange vorenthalten worden war, und als man ihm den⸗ 
ſelben verſprach, aber das Wort nicht hielt, fiel, er im 
Jahre 1557 mit einer xuffifch-tatarifchen ungeheuern 
Horde in das Stift und hauſte darin in einer ſeines 
Namens würdigen Weiſe. Im Yahre 1558 unterlag die 
Stadt felbft nach einer kurzen Belagerung der Gewalt der 
Barbaren. Die Eapitulation wurbe nicht gehalten, viel- 
mehr wilrgten die bintgierigen Rotten die Bitrgerichaft 
faft bis auf den legten Mann ab, Der Krieg, der das 
unglüdliche Land zerfleifchte, blieb nicht auf die Rufſen 
befchränft, vielmehr wurde Altlivlandb der Zummelplag 
des Kriegsvolls aller nordifchen Staaten, der Polen und 
Litauer, der Schweden und Dünen, neben ben Mosko— 
witern. Im Jahre 1561 unteswarf fih der Haupttheil 
des Landes, das heutige Livland, der Herrfchaft des Kö⸗ 
nigs von Polen, während der legte Landmeiſter, Gotthardt 
Kettler, das heutige Kurland als erbliches Herzogthum 
behielt und Eftland den König von Schweben zu feinem 
Schutzherrn wählte, die Infel Defel aber von einem däni⸗ 
fchen Prinzen als erbliches Fürftentfum erworben wurde. 
Erft im Jahre 1582 gelang es den Polen, die Ruſſen 
ans Dorpat zu vertreiben. Indeß wurde dadurch keines⸗ 
wegs für die Stadt eine befjere Zeit herbeigeführt, fon 
dern mit dem polnifchen Heere zogen zugleich die Jeſuiten 
ein und begannen fofort die furchtbarſten Glaubens. 
bedrüdungen und Berfolgungen. Daß die Stadt bei 
folder Wirthſchaft größtentheils wüft liegen blieb, läßt 
fi, denken; um das Jahr 1606 befanden ſich dort nur 
etwa 30 Bürger. An äußern Feinden fehlte e8 auch nicht; 
mit kurzen Unterbrechungen wütheten Kriege mit den 
Schweden, Rufen und Dänen während der ganzen Zeit 
der polnifchen Herrſchaft. Dazu traten noch wiederholte 
Fenersbrünſte, welche die ganze Stadt in Afche legten. 
Ein furchtbares Schickſal, aber nicht weſentlich unterjchie- 
den von demjenigen bed ganzen Landes. Endlich im Jahre 
1626 wurde man die argen Bebrüder los; Guftav Adolf 
befreite das ganze Land nnd, mit ihm diefe unglüdliche 
Stadt. Unter ſchwediſcher Herrichaft erfreute man ſich 
im ganzen eines geordneten Staatelebens und in der leg- 
ten Zeit auch eines dauerhaftern Friedens. Mit dem 
Beginn des 18. Jahrhunderts fand diefer wieder ein Ende 
und es begann eine neue Zeit des Ruſſenſchreckens. Der 
Zar Beter, fpäter der Große genannt, hatte fi mit den 
Königen von Polen und Dänemark vereinigt, um gemein- 
ſam über das ſchwediſche Keich herzufallen und es jeiner 
werthvollſten Provinzen zu berauben. Der junge König 
Karl XU. von Schweden ſchlug zwar nacheinander bie 
Dünen, die Ruflen, die Polen und Sadfen aufs 
Haupt, erlag aber zulegt der Uebermacht. Während er 
in Südrußland gegen Peter operirte, fiel der Zar im 
Livland und Eflland ein und ließ es auf eine entſetzliche 
Weiſe verheeren, indem die Bewohner zum Theil nad dem 
Innern von Rußland getrieben, zum Theil mit kaltem 
Blut ermordet wurden. Dorpat wurde im Jahre 1705 
eingenommen und im Jahre 1708 zum größten Theil: zer- 
ftört, die Bürgerfchaft in das Imnere von Rußland ge 
ichleppt. Indeß änderte fich das Berfahren Peter’ gegen 
die beiden Herzogthümer: er entſchloß fi, fie für fid 
zu behalten und nicht, wie in den erften Verträgen mit 


dem König Auguft von Polen abgemacht war, fie an die. 
fen auszuliefern; fomit lag feine Beranlaflung mehr vor, 
fie zu verheeren. Als keine Ausficht mehr zu einer Wieder- 
eroberung durch die Schweden vorhanden war, erhielten 
die dorpater Bürger, fo viel ihrer noch übrig waren, bie 
Erlaubniß zur Rückkehr in ihre Vaterſtadt; es war im 
Jahre 1714. Dem traurigen Dahinftechen des ftäbtifchen 
Lebens wurbe erft 1802 dadurch gründlich Einhalt gethan, 
daß in Dorpat die baltifche Hochjchule errichtet wurde, 
welche die Stände ber drei Provinzen feit deren Vereini⸗ 
gung mit Rußland mit Anftrengung und Ausdauer er- 
ftrebt und unter bedeutenden Opfern von Alexander 1. 
endlich erlangt Hatten. 

Nicht im gleichen Maße wie Dorpat gibt uns die 
Geſchichte von Reval, wie fie uns aus Bienemann’s 
„Aus baltifcher Vorzeit” (Nr. 8) in einzelnen Bildern ent 
gegentritt, ein Spiegelbild der Geſchichte der gejammten 
Dfifeeprovinzgen. Schon daß Reval nit von Deutſchen, 
fondern von Dünen (1224) — wol der einzige Fall biefer 
Art — gegründet worden ift, bildet eine Eigenthümlichfeit 
der Stadt. Sie hat, während Livland und Kurland bis 
zum Berfall des Ordensſtaats (1561) ununterbrochen 
unter deutfcher Herrfchaft flanden, zweimal im Laufe des 
13. Jahrhunderts in Gemeinfhaft mit dem Herzogthum 
Eftland zur dänifhen Monarchie gehört, wenn auch die 
Bürgerfchaft der Stadt und bie Ritterfchaft des Landes 
niemals itberwiegend däniſch, fondern vielmehr deutſch ges 
wefen find. Abweichend von Dorpat ift Reval aud nit 
mals von feindlicher Macht, am mwenigften unter fo ſchred⸗ 
fihen Umftänden wie jene Schweiterftadt eingenommen 
worden, was feinen Grund in der natitrlichen Yeftigfeit 
des Platzes hat. Ein einziges mal capitulirte Reval mit 
dem Belagerungsßeer, es war im Jahre 1710; die Ca 
pitulation war aber zugleich ein Friedens⸗ und Unter 
werfungsvertrag, welcher abgejchloffen wurde, nachdem 
ſchon ganz Livland ſich bemfelben Feinde ergeben hatte 
und biefer, der Zar Peter der Große, bei der völligen 
Ohnmacht der bisherigen Schutzmacht Schweden fich felbft 
ſchon nicht mehr als Feind, fondern als Schugheren der 
beiden Herzogthümer betrachtete. 

Im meitern glitdlihen Gegenſatz zu Dorpat ift die 
eftländifche Stadt auch nicht von furchtbaren Feuersbrün⸗ 
ften heimgefucht worden, was wol der maffiven, feuerfeften 
Bauart der dortigen Gebäude zugufchreiben ift. Dexfelbe 
Kalkfelfen, welcher der Stadt eine fo unüberwindlide 
Feftigkeit gibt, bietet ihr auch den vortrefflichen, dauer. 
haften Bauftoff für ihre Bürgerhäufer, die unverändert 
zum Theil feit 5— 600 Jahren ber Gegenwart erhalten 
find. Der größte Theil der Stadt trägt den Charalter 
der erften Hälfte des 15. Jahrhunderts. Bienemann fagt: 


Das war bie Zeit Adam Kraft’s, Dürer’s, Peter Biider's, 
da die Bormbolienbung der italieniſchen Künſtler and auf die 
Werke der dentfchen Meiſter einwirkte, da die äußerfle Spät 
gothit von Motiven, die der Renaiffance entnommen ware, 
durchhrungen wurde. Wir find Hier in umferer Architektur nicht 
über den Stil des 14. Jahrhunderts Kinausgelommen. Rur 
der lichte Chor von St.-Dlat zeigt die Struͤctur der Spät 
gothik, wie fie im 15. Jahrhundert fi) Bahn gebrochen. Die 
Formen derſelben treten zuerft in Hans Paul's Gedächtnißmahl 
vom Jahre 1513 an der Außenwand der erwähnten Kirde auf; 
fie waren entfchieden Bier das Neneſte, denn fie fehren nur noch 





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Rußland und die deutſchen Oſtſeeprovinzen. 489 


1539 am Wappenſchilde des großen Strandthors wieder. Um 
ein Jahrhundert etwa ift das Denkmal zuridgeblieben. 

Zur Charakteriſtik unſers Schriftftellers bemerken wir, 
daß. uns aus feinem Werke ein Geift der Baterlandsliche, 
des deutfchen Nationalgefühls und des Mannesmuthes ent« 
gegenweht, wie wir zu unferer Freude aus den Oſtſee⸗ 
provinzen mehr als aus irgendeinem andern beutfchen 
Gebiet in faft allen öffentlichen Aeußerungen bemerken, 
und worauf wir die zuperfichtlihe Hoffnung bauen, daß 
diefe alten deutfchen Lande unferer Nation nimmer durch 
die Slawen entfremdet werden künnen. Wenn wir be- 
denken, daß diefe „Sechs Vorträge” von Bienemann wirk⸗ 
lich in Reval gehalten worden find, während vielleicht die 
ruſſiſchen Trommeln feine Worte unterbrachen, ſowie Fichte 
im Jahre 1811 zu Berlin von franzöflihen Trommeln 
bei feinen „Neben an die deutfche Nation‘ geftört wurbe, 
fo werben wir einigermaßen an diefes zündende, gewaltige 
Werk und feinen großen Meifter erinnert, wenn wir in 
Bienemann’s Vorträgen auf Stellen ftoßen wie diejenige, 
wo er Deutfhland — aljo niht Rußland — das „Vater⸗ 
and“ ber Balten nennt, eine Aufftellung, welche von den 
Ruſſen einftimmig als Landesverrath angefehen wird. Es 
dürfte wol fein Fehlſchluß fein, wenn wir nad dem 
vorliegenden Geſchichtswerk den Charakter der baltifchen 
Tagespreſſe beurtheilen, da Bienemann, bis Ende 1869 
Dberlehrer am Gymnaſium in Keval, feitdem Redacteur 
der „Revalſchen Zeitung” geworden ift. 

Bon der größten und wichtigften Stadt der fänmtlichen 
drei Oftfeeprovinzen, von Riga, bieten die uns vorliegen- 
den Werfe nicht wie von den beiden vorerwähnten 
Schwefterftäbten eine Ueberfiht der ganzen Gejchichte, 
auch nicht die allerfürzefte; es find vielmehr nur vier 
Epifoden aus der neueften Zeit, welche ung Edardt in 
„Bürgertum und Bureaukratie“ (Nr. 9) in Aufzeichnun- 
gen von Zeitgenoffen vorführt. Er Hat diejelben unver» 
ändert veröffentlicht, fie jedoch mit erläuternden Einlei- 
tungen verjehen. Die Bureaufratie, mit welcher es die 
Rigaer zu thun und weldje fie meiftentheils zu befümpfen 
hatten, iſt jelbftverftändlich die ruffifche. In das Vor⸗ 
handenfein und das Fehlen einer ſolchen, al8 der mädhtig- 
ſten Boltsflafle, fette Edardt den wefentlichiten Unter- 
ſchied der politifch-foctalen Zuftände des eigentlichen Ruß- 
Iand und ber deutfchen Oftfeeprovinzen, während anderer: 
ſeits dort wieder ein Mittelftand fehlt und Hier vorhanden 
if. Mit Recht verwirft er, als Unterfcheidungsmerfmal, 
die Machtſtellung, welche die baltifche Kitterfchaft den 
übrigen Ständen gegenüber bier einnimmt, denn der bal« 
tifche Adel befige allerdings eine feltene politifche Macht, 
biefelbe finde aber nicht blos im der ruſſiſchen höhern 
Bureaufratie, fondern auch in den größern Städten und 
ihren intelligenten Bürgerfchaften ihre entjchiedene Begren- 
zung, während der ruſſiſche Adel in Innerrußland mit 
der Vureaukratie ziemlich in eins zufanmenfalle, faft un⸗ 
umfchränfte Macht ausübe. Einen Hauptanlaf zu den Con» 
flieten der ruffiichen Regierung mit den Herzogthümern 
findet Edardt in der Eigenthümlichkeit der Bureaufratie, 
daß fie jedes felbftändige Leben neben ſich Haft und ver- 
folgt. In neuerer Zeit hat man von der Dina und dem 
Beipusfee Hauptfählih nur von Kämpfen zwijchen der 
Ritterſchaft und ihren Organen einerfeits und der ruffi- 

1870. 31. 


chen Regierung und ber ruffifchen Nationalpartei anderer- 
feitö gehört. Die Städte des Baltenlandes find aber des» 
wegen durchaus nicht von Anfechtungen feitens der legtern 
freigeblieben. Borfälle der Art find der Gegenftand ber 
Edardt’fchen Beröffentlichungen. 

Der letzte derſelben fand unter dem berüchtigten 
Generalgouverneur Golowin ftatt, welcher allem Deut 
ſchen mit Einſchluß des Proteftantismus den Tod ge- 
ſchworen Hatte, und unter dem die betrügerifchen Belch- 
rungen von 80000 livländiſchen Eften und Leiten vor 
ih gingen. Auch Riga blieb nicht unangefodhten: 

Wührend das Land noch unter dem Drude der kirchlichen 
und agrariſchen Wirren und unter dem Cindrud der neuen 
Schreckensnachricht ftand, daß in Petersburg die Aufhebung der 
Univerfität Dorpat vorbereitet werde, begannen die Tage jener 
aus Beamten des Minifteriums des Iunern zufanmmengejegten 
Revifionscommilfion, welche (nad der treffenden Bejeihuung 
des Grafen P. D. Kiffelem) „vor Riga zog‘, d. 5. die über⸗ 
fommenen deutſchen Lebensformen aud bier zu Falle bringen 
wollte. Es war direct daranf abgefehen, alles, was fih von 
Misbräuchen und Uebelſtänden feit einem Bierteljabrhundert 
aufgejammelt hatte, mit ‚‚fittliher Enträftung‘ ans Tageslicht 
zu ziehen und im Namen der allgemeinen Wohlfahrt den Um⸗ 
fur; der alten Stadtverfaffung und die Einführung einer 
„Duma“ nad ruffiſchem Reihemnfter zu proclamiren. Ale 
jet man in Feindesland und nicht in einer Provinz, deren Zu- 
fände, trog aller Mängel, immer nod fiber denen ber innern 
Gouvernements fanden und deren Loyalität über allen Zweifel 
erhaben war, wurden alle beftehenden Autoritäten mit Mistrauen 
und Geringihägung angeſehen, die alten Korporationen wie 
Berſchwörerbanden behandelt, die Zuflände, die man vorfand, 
blos nad ihren Schattenjeiten geprüft und die Regierten förm⸗ 
lich eingeladen, vorzubringen, was fie gegen ‚die Regierenden 
auf dem Herzen hätten. 

Ale diefe Bemühungen, welche befonders von einem 
ritterfchaftlichen Weberläufer, von Stadelberg, und von 
einem rigaifchen Berräther, Bürgermeifler Timm, eifrig 
betrieben wurden, blieben jedoh in ber Hauptſache 
ohne Erfolg; fie prallten machtlos an der Kraft der 
deutſchen Inftitutionen und des wieberermachten Bürger- 
finnee ab. 

Zulegt werden no in dem Eckardt'ſchen Buche die 
Zuftände bei den rufflfchen Altgläubigen in Riga, nad) 
den Aufzeichnungen eines ruffischen Beamten, der von 
einem ausnahmsweife wohlwollenden Minifter zum Be- 
richte darüber dorthin gefandt war, dargeſtellt. Dieſe 
Sektirer haben fi ſchon in vorruffiiher Zeit vor den 
jchweren Berfolgungen der orthodoxen Popen nad) diefer 
deutjchen Stadt gefliichtet und wurden von deren Rath 
menfjchenfreundlich aufgenommep und geſchützt. Auch ge- 
gen die ruffifchen Beamten und die hinter ihnen flehen- 
den Pfaffen hat der Magiftrat fie bis auf die Gegenwart 
immer möglichſt in Schug genommen, was diejelben ihm 
und überhaupt den Deutfchen durch große Anhänglichkeit 
und Treue dankten. Indeß reichte dieſer Schutz doch 
nicht aus, um ſie unbehelligt zu erhalten, vielmehr ver⸗ 
ſuchte man, fie durch allerhand Gewaltmaßregeln in die 
rechtgläubige Kirche zurückzuführen. Empörend ift es, 
daß ihnen mwiederholentlich die Schulen gewaltfam entriffen 
und der Unterricht der Jugend in Privathäufern bei 
ſchweren Strafen verboten wurde. Dean hat e8 dadurd) 
erreicht, daß die Unglüdlichen zum größten Theil fih in 
einem furchtbar vermahrloften geiftigen und fittlichen Zu- 
ftande befinden. Wir bemerken hierbei, daß I. Edardt in 

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490 Erzählungen 


einem Artikel feiner „ulturftudien” über die Sekte der 
griechifch-orthodoren Kirche, namentlich über deren neuefte 
Geſchichte, Höchft intereffante Aufſchlüſſe erteilt. 

Bon andern Auffägen dieſes Buchs machen wir noch 
auf folgende befonders aufmerkſam; zunächſt auf den 
erften: „Die deutjch-ruffifchen Oftfeeprovinzen.” Eckardt 
vertheidigt darin fein Heimatland gegen das abfprechende 
Urtheil des Hrn. Heinrich von Treitſchke, welches in der 
Hauptſache auf Unfenntniß beruht. Der gelehrte Pro» 
feſſor verdankt feine Anſicht Hauptfählih ruſſiſchen 
Quellen und ſeit Merkel's Zeiten bei uns eingeroſteten 
Borurtheilen, die er kritiklos angenommen und wieder 
weiterverbreitet hat. Danach befindet ſich das baltiſche 
Landvolk auf einer Culturſtufe und in einem wirthſchaft⸗ 
lichen und Sittlihen Elend, wie beides ungefähr Samarin 
barftellt/ auch hegt daffelbe gegen die Deutfchen einen Haß 
noch fürchterlicher, als diejer behauptet, und verdankt die 
Befferung feiner Rage in neuerer Zeit lediglich den Ruſſen. 
Es Fällt Edardt nicht ſchwer, folhe Behauptungen auf 
ihren wahren, geringen Werth zurüdzuführen. 

Sehr intereffant ift ferner auch befien Auffag über 
die „Baltiſchen Aus- und Einwanderer”; es ift gar nicht 
bekannt, welche große Anzahl von Balten nad Weiten, 
beſonders nad) Deutfchland, gegangen find uud dort her- 
vorragende Stellungen eingenommen haben. Unter ihnen 
befinden fi in frühern Jahrhunderten vorzugsweife viele 
Generale und höhere Offiziere; bekannt find von biejen 
namentlich der dfterreichifche Feldmarſchall Laudon und 
der franzöftfche Roſen. aß aus den Oſtſeeprovinzen 


‚feit ihrer Vereinigung mit Rußland zahlreihe Männer 


nach diefem Lande gegangen und dort ihr Glüd gemacht 

baben, das weiß man bei uns allerdings, Edardt gibt aber 

über einzelne von ihnen nach Berbienft nähere Auskunft, 

für uns im Weflen fehr oft bie erfte. 

10. Baltiihe Briefe. Bon B. ©. Werren. Hamburg, Hoffe 
mann und Campe. 1870. 8. 20 Nor. 


Wie fehr das Imterefie für das verlaffene deutſche 
Tochterland fich bei uns ausbreitet und vermehrt, dafür 


Erzählungen 


1. Aus Stadt nnd Dorf. Zwei Erzählungen von Auguft 
Beder. Berlin, Janke. 1869. 8. 20 Nor. 

2. Das Muttermal. Roman von Bonfon du Terrail. 
Berlin, Brigl. 1869. 8. 10 Nor. 

3. Hohenzollern und Welfen. Hiſtoriſch⸗politiſcher Roman aus 
der Gegenwart von Edmund Hahn. Drei Bände Wirz- 
burg, Sulien. 1869. 8. 3 Thlr. 18 Nor. 

4, Das Schloß an der Oftfee. Erzählung von Adolf Mützel⸗ 
burg. Berlin, Brigl. 1869. 8. 10 Nor. 

5. Winifrid Bertram und die Welt, in der fie lebte. Bon ber 
Berfafferin der „Familie Schönberg - Cotta’. Aus dem Eng- 
lichen von Charlotte Philippi. Zwei Bände Baſel, 
Schneider. 1869. 8. 1 Thlr. 20 Nor. 

6. Wie man regiert. Humoriſtiſche Erzählung nach thatfäch- 
fihen Borgängen au kleinſtaatlichen Höfen aus der Kriegs: 
eit 1866 von M. Anton Niendorf. Berlin, Gold- 
chmidt. 1869. 8. 22%, Nor. 

7. Georg ber II. und die ſchöne Minette. Erzählung aus ber 
erften Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bon der Berfafferin 
von „Ein Pfarrhaus vor 50 Jahren”. Berlin, Janke. 
1868. 8 1 Thlr. 


„Aus Stadt und Dorf” von Auguſt Beder (Nr. 1) 


und Romane, 


gibt auch die vorftehende, foeben erfchienene Schrift einen 
Beweis. Es ift anfcheinend ein Süd⸗ oder Weſtdeuiſcher 
welcher, angeregt durch Samarin's „Grenzgebiete und 
Schirren's „Livländiſche Antwort”, auch ein Wort der 
Sympathie für die bedrängten Stammverwandten an die 
Deutſchen im Mutterlande richtet. Er fagt wenigfteng, 
daß er fein „Balte, fondern ein Deutſcher aus ven fern 
ften und von Rußland am wenigfter bedrohten Gauen 
germanifcher Erde fe“. Seine Darftellung der baltischen 
Verhältniſſe bringt, mit den vorfichenden Grörterungen 
über denjelben Gegenfland zufammengehalten, nichts er. 
beblich Neues. Er fchliegt mit einem Aufruf, weldem- 
auch wir uns anfchließen, indem er fagt: 

Um fo mehr muß aber diefes Berhältuig (Unterdrkdung 
des baltifhen Deutſchthums und Proteſtantenthums) entrüften, 
als es eine Nation ift, welche ſich eine chriſtliche nennt, die anf 
unfere proteftantifhen Glaubensgenoffen an der Öftfee einen 
Druck ausübt, welcher demjenigen um nichts nachſteht, ben die 
Mohammedaner Konftantinopels auf den byzantinifchen Chriften, 
die noch unter ihrer Macht fiehen, Taften lafien. Wenn man 
ferner fieht, wie die Ruffen noch jegt im echt aflatifher Weiſe, 
nad dem Beifpiele der einftigen Affyrier und Babylonier, die 
unglüdlichen Polen in weit entfernte Länder und öde Steppen 
wegführen, und dadurch bemeifen, daß der Geift, der fie zu 
ſolch barbarifger Handlungsweiſe fhon in frühern Zeiten, wie 
bei der Eroberung und vandalifchen Verwüſtung Livlands am 
Anfange des vorigen Jahrhunderts, trieb, wo fie die Bewoh⸗ 
nerichaften einer Menge verbrannter Städte mit Weibern und 
Kindern wegichleppten — wenn man, wie gejagt, fieht, daß 
diefer uralte afiatiſche Geiſt noch immer in ihnen lebt um 
wirkt, fo kann aud ber Weſteuropüer nichts fehnlicher wünſchen, 
als dag es dem ruſſiſchen Reiche ebenfalls ergebe wie einf dem 
afiyrifhden und babyloniſchen, damit die ſtets drohende Gefahr, 
feinen wilden Horden and) zur Beute zu fallen, von den Stan 
ten und Ländern der civilifirten Welt abgewendet werde. — 
Darum erhebe fi) alles, was noch in germanifchen Landen 
Sinn für Freiheit und Liebe zum gemeinfamen Vaterlande und 
ein Herz für die bedrängten &laubensbrlider an der Offer im 
Bufen trägt, zum Schuß diefer Bormauer gegen rohe Bar» 
barei und umerfättliche Herrichfucht, diefer Außerften Borpoften 
deutfher Sitte, deutſcher Sprache, deutichen Glaubens und 


deutſcher Eultur. 
Edwart Kattner. 


und Romane. 


enthält zwei Erzählungen: „Todt und lebendig, eine Er- 
zählung aus der münchener Cholerazeit”, und „Zigeuner 
ftoffele, eine Abventgefchichte”. Der Held der erften Er⸗ 
zählung ift ein leidenfchaftlicher Kaffeehausmenſch, der 
bon fich zu fagen pflegte: „Todt und lebendig lanf' ich ine 
Kaffeehaus. Glaubt ficher, man fieht mich noch dan, 
wenn ich einmal geftorben bin.” Er ift in München als ein 
böchft origineller und ungewöhnlicher Menſch befannt, und 
feine ganze Exiſtenz iſt in ein gewiſſes romantifches Duntel 
gehüllt. Er wird Doctor titulirt, führt eine Literaten 
eriftenz und brütet über großartigen Planen, wie er durch 
fchriftftellerifche Productionen Geld und Anfehen erwerben 
will. Er ftirbt plöglih an der Cholera, und nun fcheint 
fein prophetifcher Ausſpruch zur Wahrheit werden zu fol 
len, denn von glanbwürdigen Leuten in München wird 
behauptet, fie hätten den Doctor in dem Kaffeehauſe wieder: 
gefehen. Zuletzt erfcheint diefe gefpenfterhafte Perfönlid” 
feit, von welcher ganz München fpricht, in einer Geſell⸗ 
haft, welche fi in ber Neujahrsnacht in dem Kaffee - 





Erzählungen und Romane. 


hauſe zu verfammeln pflegt, und an welcher auch der 
Doctor theilgzunehmen gewohnt war. Nun klärt fidh end- 
ih) das KRäthfel auf. In einer nicht fehr entfernten Stadt 
wohnt des Doctor Better, welcher ihm auffallend ähnlich 
fieht; diefer Better ift nach dem Tode des Doctors einige- 
mal nad) München gelommen, um bie Angelegenheiten 
befielben zu ordnen, und ift. jedesmal in dem Kaffeehauſe 
eingefehrt, in welchem der ‘Doctor Stammgaft war. In⸗ 
folge hiervon entftand in Münden das Gerlicht, der 
Doctor fei aus dem Grabe wiedergefehrt. Dies bildet den 
Angelpunlt der Erzählung und gibt zu jpannenden Situa- 
tionen Veranlafjung. 

In „Zigennerftoffele” ift einfach und getren eine Ge⸗ 
ſchichte erzählt, welche uns einen Blick in das Familien⸗ 
und Volksleben des gofjersweilerer Thals werfen läßt, das 
fih in jener rauhen, grotesfen Schönheit Hinter dem Berg- 
gelände von Klingenmünfter durch die Wellen bes Was- 
gam zieht. Der Berfafier bat fi) ganz auf den Stand- 
punft jener armen, gutmüthigen Gebirgsbewohner geftellt; 
ihre naiv⸗kindlichen Glanbensanfhauungen boten ihm Ge⸗ 
legenheit zu verjchiedenen poetifchen Zügen, die hoffent⸗ 
lich dem Xefer fo zu Herzen fprechen, wie fie es ver- 
dienen. Wer, auf einem „höhern Standpunkt“ fich wäh⸗ 
nend, fpöttifch über jo manches davon lachen wollte, möge 
bedenken, ob nicht diefer vermeintlih Hohe Standpunkt 
noch viel mehr Seiten zum Belächeln böte. 

In der Wohnung eines armen Waldhüters, welcher 
eine fehr zahlreiche Familie hat, wird während feiner 
Abwefenheit in der Chriftnacht ein Zigeunerfind ausgeſetzt. 
Der Waldhüter zieht es groß, und dies Kind wird fpäter 
für ihn der Retter aus der Noth. Dies iſt der Stoff 
ber Erzählung. 

Der Berfafler hat eine fehr anfprechende und lie 
benswürbige Erzählungsgabe Auffaffung und Darſtel⸗ 
fung find fräftig und lebendig, fern von jeder jentimen- 
talen Schönthuerei und moderner Öeziertheit, und dabei 
ift das Ganze phantafle- und gemüthvol. Der Verfafſer 
verſteht es, aus einem einfachen Stoffe ein anziehendes 
abgerundetes Ganzes zu machen. 

Der Roman „Das Muttermal” von Ponfon du 
Terrail (Nr. 2) fpielt in der neuern Zeit. Bor etwa 
neun Jahren lebte bei Terolles, eine Biertelftunde von 
der Loire, eine Müllerin, welche einen einzigen Sohn, 
Lorenz, hat und eine hübjche Pflegetochter, Naẽmi. Beide 
lieben fi) und wollen ſich heirathen. Da nuß Lorenz, 
welcher feine Militärzeit abbient, plöglich mit nad) Italien 
gegen die Defterreicher. In der Schlacht bei Magenta 
wird er verwundet, geräth in Gefangenfchaft und wird 
in eine Citadelle an der Donau gebradt. Bon bier ent- 
fliegt er und nimmt feinen Weg durch die Türke. Nach 
einer mühjeligen und gefahrvollen Wanderung erreicht er 
eine Hafenftadt, wo der franzöſiſche Conful ſich feiner 
annimmt und ihn zu Schiffe nad Frankreich zurüdichidt. 
Seine lange Abwefenheit hat fein Milchbruder Michel, 
ein Tangenichte, dazu benugt, um ihn aus dem Haufe 
feiner Mutter zw verdrängen. Michel's Mutter ift bie 
Amme von Lorenz gewefen; diefe bat, wie Michel's Vater 
der Müllerin nachweift, auf dem Sterbebett das Belenntniß 
abgelegt, der echte Sohn der Miüllerin ſei Michel, und 
fie habe die beiden Kinder vertaufcht; zum Beweiſe diene 





491 


ein Muttermal, welches Michel auf dem Rücken trage. 
Da auf Michel’8 Leibe diefes Mal wirklich fichtbar ift, fo 
muß die Müllerin ihn wohl oder übel für ihren richtigen 
Sohn Halten. So ftehen die Sachen als Lorenz wieder- 
kehrt. Es beginnt num von feiten des letztern ein Höchft 
geſchickter Operationsplan, um bie Betrüger zu entlarven. 

Die Eompofttion des Romans ift fehr geſchickt an⸗ 
gelegt; der Stil ift mufterhaft; bie Darftellung hat eine 
gewiſſe objective Ruhe, verbunden mit Lebendigkeit und 
Anfchaulichkeit. Die Charaktere find richtig und interefiant 
geichildert und confequent durchgeführt. Der Roman ges 
hört zu derjenigen Klafje der neuern franzöfifchen Roman⸗ 
literatur, in welcher gediegene Einfachheit und Natürlich 
keit jowie innere Wahrheit bei Darftellung der Charaktere 
angeftrebt wird. Die Ueberſetzung ift recht lesbar. 

Auf den Inhalt des hiftorifch-politiichen Romans von 
Edmund Hahn: „Hohenzollern und Welfen” (Nr. 8), 
gehen wir nicht näher ein, ba die Ereigniffe, welche er 
behandelt, im ganzen allgemein befannt find. Der erfte 
Band erzählt von Friederike von Medlenburg -Strelig und 
Ernft Auguft, Herzog von Cumberland; der zweite Band 
ſchildert das Leben bes Königs Ernft Auguft von Hanno» 
ver und feines Hofs; im dritten Bande wird König 
Georg V. vor und nad der Schlacht bei Langenfalza dem 
Lefer vorgeführt. Die Compofition des Romans ift man- 
gelhaft, e8 ift eine etwas bunte Mofaifarbeit. Am mei- 
fin wird er den rauen gefallen, welche aus Bildern 
diefer Art Häufig ihre gefchichtlichen Kenntuiſſe zu ver- 
vollftändigen pflegen. Als folche Lektüre kann das Bud) 
empfohlen werden, zumal aud der Standpunkt bes 
Verfaſſers ein durchaus gemäßigter ift und ſich von ver» 
blendeter Parteifucht fern hält. 

Die Erzählung von Adolf Mützelburg: „Das Schloß 
an der Oſtſee“ (Nr. 4), ift mit einer gemwiffer routinirten 
Geſchicklichkeit gefchrieben und wird gewiß ihr Publikum 
finden; vom Standpunkt der Kritif aus kann man fie 
indeß nicht fehr loben. Das Ganze ift etwas fchablonen- 
haft; die Charaktere und die einzelnen Handlungen be- 
ruhen mehr auf romanbafter, nad Effect hafchender Be⸗ 
rechnung als auf Natürlichkeit. Der Inhalt der Erzäb- 
lung ift ungefähr folgender: Ein Hr. von Ernedomw 
hat in dem falfchen Wahne, er müſſe die Ehre feiner 
Familie rächen, auf grundlofen Verdacht Bin einen Ver⸗ 
wandten niedergeftochen. Er glaubt ihn getödtet zu haben; 
doch ein Diener feines Hauſes hat ihn gerettet, da bie 
Wunde nicht tödlich gewefen if. Diefer Diener bewahrt 
fein Geheimniß feinem Herrn gegenüber audy da noch, 
als Pflicht und Menfchlichkeit längſt gefordert hätten, ihm 
Aufllärung zu verichaffen. Nach langen Jahren rettet 
Ernedow einem Schiffbrüchigen auf der Oftfee das Leben. 
Dies ıft, wie fich herausftellt, der Verwandte; und e8 
erfolgt nun, da Ernedow tiefe und wahre Reue zeigt, 
eine Berföhnung. Die meiften Handlungen und deren 
Berfnüpfungen beruhen auf Unnatürlichkeiten und innern 
Unwahrfcheinlichkeiten. 

„Winifrid Bertram und die Welt, in der fte lebte” 
(Nr. 5) ift mehr ein Erbauungsbud ald ein Roman; in 
der Form ift e8 daher ganz verfehlt, da die Handlung 
jo gut wie feine if. An trivialen Borlommniflen bes 
Lebens wird gezeigt, wie der wahre Chrift fich verhalten 

62 * 


492 


fol; zu gleicher Zeit wird dargethban, wie das Gebet und 
die Gnade Gottes den Menfchen zum rechten kichhlichen 
Glauben bringen. Manche einzelne Gedanken find recht 
gut; das meiſte ift indeß in einem Katechismustone ge- 
halten, der fi in einem Romane wunderlich ausnimmt. 
Das Bud ift, wie es bei fo verfehlter Form nicht an- 
ders fein kann, von einer ermübdenden monotonen Breite. 
Es eignet fich jedenfalls vortrefflich für englifche Sonn⸗ 
tagslektüre. 

„Wie man regiert” (Nr. 6), eine Erzählung von 
M. Anton Niendorf, beruht, wie ausbrüdlich mit- 
getheilt wird, als hiftorifche Erzählung auf thatfächlichen 
Borgängen an Hleinftaatlichen Höfen. Dies glauben wir 
ſehr gern; aber iſt alles Thatſächliche auch darum 
interefjant ? Die Thatfächlichkeiten, welche bier erzählt 
werden, find trivial und unbedeutend; auch find fie nicht 
in beſonders anjprechender Form dargeftellt. Stellenmweife 
find fie in nicht gerade glüdlicher Weife carilirt. Schließ- 
lich iſt die Erzählung ohne eigentliche Pointe, und es ver- 
läuft alles im Sande. Es werden die Kächerlichkeiten und 
Thorheiten an dem Hofe eines Heinen Fürſten gefchildert, 
welcher eine große Freundſchaft fiir Oeſterreich hegt, aber 

ezwungen wird, in dem Annerionsjahre 1866 fidh an 
Beeußen anzuſchließen. 

In Nr. 7: „Georg I. und bie ſchöne Minette“, iſt 
Minette die Tochter eines Oberamtmanns in Thedinghaufen, 
welcher außer ihr noch drei andere Töchter hat. Da der 
Amtmann rei) und die Töchter berühmte Schönheiten 
find, fo kommen Freier in großer Zahl. Doch der Vater 
will fehr hoch hinaus und weift fie alle zurüd, da fie 
ihm nit vornehm genug find. Die Töchter, im Ein- 
vernehmen mit ber Mutter, verloben fich ohne fein Wiffen 


Kleine philoſophiſche Schriften. 


und warten auf eine günftige Zeit, um vom ihm feine 
Einwilligung zu erhalten. Einft macht der Amtmann 
mit feinen Töchtern eine Reife nad) Hannover, um den 
Feſtlichkeiten beizumohnen, welche bei Gelegenheit der An- 
wefenheit von Georg II. veranftaltet werben. Seine Töd- 
ter machen in der Hauptftadt das größte Auffehen; die 
ſchöne Minette zieht felbft die Blicke des Königs auf fid, 
welcher eine Neigung für fie faßt und ihr Anträge zwei» 
deutiger Natur macht. Der Vater, dem dies Hinterbradt 
wird, ift außer fich, und gepeinigt von der Furcht, feme 
Töchter Könnten die Maitreflen von Fürſten werben, finnt 
er darauf, fie fobald wie möglich zu verhgrathen. Durd 
—* Umſtand erreichen die Verlobten ſehr leicht ihren 
weck. 

Die Erzählung würde recht hübſch und ſpannend ſein, 
wenn ſie nicht in einem gänzlich ungenießbaren Stile ge⸗ 
ſchrieben wäre. Die Perſonen ſprechen durchweg einen 
Jargon von deutſch⸗franzöſiſch, wie er im vorigen Jahr⸗ 
hundert theilweiſe in Deutſchland Mode war. Dies iſt 
ein großer Misgriff. Wenn auch im Anfang, um den 
Charakter der Zeit zu zeigen, die Perſonen mit dieſer 
Sprade eingeführt würden, fo hätte doch im Verlauf der 
Erzählung dies widerlihe Gemiſch aufgegeben werden 
müſſen. Dazu kommt noch, daf die franzöfifchen Redens⸗ 
arten zum Theil aus dem Lerifon in unverftändiger Weile 
zufammengefucdht und daher Häufig ganz falſch find. Auch 
ftrogt das Franzöſiſche von groben orthographiſchen und 
grammatifalifchen Fehlern. Iſt das auch mit Abficht ger 
macht? Wie kann ber Gefchmad fich fo verirren! Man 
könnte e8 jemand als Strafe zuerfennen, ein foldes Buch 
durchzuleſen. 

Rudolf Sonnenburg. 


— — — — — — 


Kleine philoſophiſche Schriften. 


1. Die Solidarität alles Thierlebens. Vortrag gehalten in 
der feierlichen Sitzung der kaiſerlichen Akademie der Wiſſen⸗ 
ſchaften am 31. MRai 1869 von Karl Rokitaunsky. Wien, 
C. Gerold's Sohn. 1869. 8. 5 Ngr. 


Es ift ein erfreuliches Zeichen der Zeit, daß mehr 
und mehr bie renommirten Naturforfcher fich wieder ge- 
drungen fühlen, ihre Specialforihungen als beftimmten 
Theil einer philofophifchen Gefammtanfhauung der Welt 
und zunächſt der Natur aufzufaflen, ein Umſchwung gegen 
früher, der wefentlic dem Weiterumfichgreifen des Dar⸗ 
winismus zu verdanken ift, durch welchen zuerft wieder 
die Naturforfcher auf den großen Yujammenhang der 
Lebewelt in nicht abzulehnender Weife Hingewiefen wurden. 
Der vorliegende Bortrag gibt hierzu einen Beleg, denn 
er bietet gewiffermaßen eine Raturphilofophie nach mo⸗ 
dernem Zufchnitt in nuce. Der Berfafler ſelbſt faßt 
am Schluß die Zwede feines Vortrags folgendermaßen 
zufammen: 1) zu zeigen, daß bie Wurzeln alles Thier- 
lebens und Thierverkehrs von den höchſten Streifen herab 
. in das protoplasmatifche Urthier reihen; 2) zu zeigen, 
worin weſentlich die unveräußerliche, in ihrer empirischen 
Entfaltung an Gefege gebundene Thiernatur beftehe, und 
wie folche eine durchgreifende Solidarität des Thierlebens 


begründe; 3) zu zeigen, daß wir in naturgemäßem fort 
ſchritte begriffen fein. Als die Urphänomene des Thier- 
lebens entwidelt der Berfafler Hunger und Bewegung — 
den Hunger als Reaction auf die empfindlich gewordenen 
Stoffverlufte, welche der nie raftende Stoffwechſel mit 
fich bringt, und die lebendige Bewegung, welche ſich da- 
durch don der Bewegung im Reich der anorganiſchen 
Natur unterfcheidet, daß fie als Folge einer Perception 
von Reizen erfcheint. „Hunger und Bewegung find aljo 
zwei Dinge, die nothwendig auf ein Bewußtwerden bed 
innern Zuftandes und einer Außenwelt in feinen erften 
dumpfen Anfängen binweifen” (©. 6). Dabei verkennt 
der Verfaſſer keineswegs die Bebentung einer unbemußten 
Zwedthätigkeit, fei e8 in den erften Lebensregungen pro: 
toplasmatifchen Urftoffs, ſei e8 in den höchften Aeuferun 
gen des menfchlichen Intellects, wobei er ſich auf Wundt 
und Carpenter beruft. Aus Hunger und Bewegung ald 
Urphänomenen ergibt ſich die fchlechterdings aggreffive 
Natur des Thiercharakters. Schopenhauer’3 Hungriger 
Wille zum Leben und Darwin’s Kampf ums Daſein 
werben bier in berebter Weife zu einer einheitlichen An- 
ſchauung zufammengefchmolzen, ihre abfolute Herrſchaft 
von dem niedrigften Anfängen bes Thierreichs bis zu den 





u Fenilleton. 493 


höchſten Regionen des menſchlichen Geſellſchaftolebens dar⸗ 
gethan, und die Allgemeinheit des Leidens als die noth- 
wendige Folge dieſes aggreifiven Thiercharakters aufgezeigt. 
Daß der Verfaſſer die Solidarität des Leidens im ftreng- 
ſten Sinne zu nehmen ſucht, ift hoch anzuerlennen, in- 
befien gehört zur erntlihen Durchführung dieſes Gedan⸗ 
tens doch nothwendig die Borausfegung eines in allen 
Lebeweſen identifchen Subjects des Leidens, da ohne die 
ſes die behauptete Solidarität allzu ſehr an die fataliftifche 
Auffaffung der Gefammtfumme des einem beftimmten 
Menjchenleben zugemefjenen Leides erinnert, welche zur 
Folge hat, daß 3. B. der Ruſſe fich über jede neue Anzahl 
empfangener Knutenſtreiche als über ein von der ihm 
vorherbeftimmten Gefammtfumme von Kuutenhieben ab- 
gefponnenes Penſum freut. 

Den Fortſchritt des Weltprocefies fucht der Ver⸗ 
faſſer fehr richtig allein auf dem Gebiete der Intel⸗ 
ligenz, welche im Stande ift, den Willen durch Vor- 
haltung geeigneter neuer Motive in neue Bahnen zu 
Ienfen. Der aggreifive Charalter des Willens ſoll 
nicht vernichtet, der Kampf ums Dafein nicht auf- 
gehoben werden — denn aus ihm allein Tann der Fort⸗ 
ſchritt entfpringen — , fondern er fol nur eingefchränft 
werden auf das abfolut nothwendige Gebiet, wo er das 
relative Minimum von Leiden verurjacht, auf bie pro- 
ductive Arbeit, und foll befeitigt werden für das Gebiet, 
wo er nuglofe Qual fihafft, oder wo er mehr ſchadet 
als nutzt. Mit andern Worten: der aggreffive Charalter 
und die Concurrenz fol auf das wirthichaftliche Gebiet 
der Production (im weiteften Sinne) befchränft, für alle 
andern Gebiete aber als unftttlih und den Rechten der 
Benachtbeiligten wiberfprechend befeitigt werden. Daß 
felbft zum Zweck der Production ein partieller Berzicht 
auf unbefchräntte Concurrenz behufs der freien Afjociation 
möglich ift, deutet der Berfafler allerdings auf S. 34 an, 
unterläßt aber die Ausführung, daß gerade auf diefem 
Gebiete die nüchfte Zukunft Hoffen darf, ihre fchönften 
Palmen zu pflüden und das humane Bewußtſein der 
Solidarität als Gegenmotiv gegen das bisher herrſchende 
Tauftreht des unbefchränkten Egoismus in noch zu 
findenden Formen auch in das mirtäfchaftlihe Gebiet 
einzuführen. 


2. Die Gefundheit der Seele von Bernhard von Beskow. 
Nach der zweiten Auflage des ſchwediſchen Driginale fber- 
fegt und mit einem kurzen biographifchen Abriß des Ver⸗ 
fafjfere verfehen von Chriſtian von Saraumw. Berlm, 
C. Dunder. 1869. 16. 12 Rer. 

Sp nahe verwandt auch die fchwebifche Nationalität 
der deutfchen, mamentlich der norbdeutfchen tft, fo wenig 
pflegen wir uns um das zu befümmern, was jenfeit der 
Oſtſee vergeht. Es ift deshalb fchon vom culturgefchicht- 
lichen Gefichtspunfte aus mit Dank zu begrüßen, daß 
der in weitern Streifen als gewandter Militärfchriftfteller 
befannte Weberfeger es unternommen bat, uns mit 


einer Probe der jchwedifchen Literatur von allgemeinem. 


Intereffe befannt zu machen. Allerdings würde man 
vergebens in diefer Fleinen Schrift nene und epodhe- 
madende Gedanken ſuchen; das ſchwediſche Geiftesleben 
ift überhaupt nur als ein Planet um die Sonne bes 
deutfchen zu betrachten, wenn man auch zugeben muß, 
baß es die englifchen und franzöfifchen Leiftungen auf- 
merffamer verfolgt als wir felbft umd theilweife fi in 
eigenthümlicher Weife entfaltet hat. Der Berfafler iſt 
ein vor einem Jahre als fünfundfiebzigjähriger Greis 
verftorbener Dichter, welcher noch mit Goethe in freund- 
ſchaftlichem Briefwechfel geftanden hatte. Im der vorlie- 
genden Schrift hat er die behagliche Lebensanfchauung 
eines jederzeit vom Geſchick begünſtigten Greifes niedergelegt, 
der fein Glück ſtets mit der Weihe einer poetifch-Yeligiös- 
philoſophiſchen Stimmung genofien hat. Eine zwar nit 
tiefe, aber edle, feine und liebenswürdige Natur fpricht 
aus diejen Betrachtungen, die fi) angenehm und fließend 
in ber eleganten Ueberjegung lefen. Der Gedankenkreis 
bewegt fich etwa in ber Sphäre der frühern beutjchen 
Vopularphilofophen (man denfe an Engel's „Philoſoph 
für die Welt“), obwol der Stoff uns fofort ind Moderne 
verfegt. Wenn auch der auf der Höhe der beutfchen 
Bildung ftehende Mann manche fo behaglich vorgetragene 
Wendung trivial und das Gefichtöfeld etwas fpiekbür- 
gerlich finden wird, fo ift doch das Publikum, welches 
gerade diefe Gattung von Lektüre nicht nur mit Nuten 
lieft, fondern auch eifrig fucht, groß genug, um das 
Heine Büchlein einer Empfehlung werth zu halten, zumal 
es ſich in feiner eleganten Ausftattung ganz befonders 
zum finnigeu Geſchenk an Frauen oder Yünglinge eignet. 


Feuilleton. 


Englifhe Urtheile Über neue Erfheinungen der 
deutfhen Literatur. 

„Karl Eize’s «Lord Byron»“, fagt die «Saturday Re- 
view» vom 18. Juni, „das Buch könnte mit Nuten ine Englifche 
überfegt werden, da e8 einem wirklichen Bedürfniß in unſerer 
Literatur abhilft, dem nämlich einer gebrängten und handlichen 
Biographie, welche das Wejentliche von der Moore's enthält, zu- 
glei) aber mit Hilfe von Seitenquellen viele Lücken berfelben 
ergänzt und gründlich auf ben Fritiichen Theil des Gegenftandes 
eingeht. Eine vortreffliche kurzgefaßte Biographie, die von 
Cherty, ift allerdings bereits im Dentihen vorhanden; bod) 
haben neuere Erörterungen ein anderes Werk nöthig gemadit. 
ir lönnen zwar nicht jagen, daß Elze's Arbeit ganz befriedi- 
gend wäre; fie trägt zu viele Spuren übereilter Zubereitung 
an fi, um einem Bedürfniß entgegenzulommen, vom dem der 


Berfaffer beforgt zu Haben fcheint, es möchte nur vorübergehend 
fein. Deffenungeachtet verdient fein Werk das Lob eiues verflän- 
digen, Iesbaren und im allgemeinen genauen Compendiums; 
wenig brauchbare Duellen feinen ihm entgangen zu fein, und 
feine ausgebreitete Belanntihaft mit der kritiſchen und dichteri- 
chen Literatur Europas bat ihn in den Stand gefett, viele 
werthvolle Erläuterungen aus diefer Quelle herbeizuziehen. Eine 
der anziehendften Partien des Buchs ift da8 Kapitel Über By- 
ron’s Einfluß auf die Literatur des feftländifhen Europa. 
Elze's eigene Beurtheilungen find nüchtern und einfach, ohne 
auf Tiefe oder Originalität Anſpruch zu maden. Sein Urtheil 
über Byron als Menfch fcheint uns zu günſtig, und zwar nicht 
deshalb, weil er etwa die glänzenden umb intereffanten Eigen» 
ſchaften feines Helden übertreibt, als vielmehr weil er eine be- 
ftändige Geneigtheit zeigt, alles andere zu ignoriren. Das muß 


1 
0, mit na 


494 


indeſſen flets der Kal fein, wenn der Gegenfland der Haupt⸗ 
ſache nach von der üſthetiſchen Seite betradjtet wird; doc muß 
man allerdings einräumen, daß eine Biographie, welche den 
Dichter dem Menſchen unterordriete, weder des Schreibens noch 
des Lefend werth wäre. Biel Raum iſt dem jlingfien Skandal 
gewidmet, welcher, wie zu flirten if, dem Buche fiberbaupt 
erſt Entſtehung gab. Er wird jedodh in einem maßvollen und 
geziemenden Zone beiprodhen. Wie alle, die auf dem Feftlande 
darliber gefchrieben Haben, erklärt der Berfafler Lady Byron's 
Beſchuldigung für unnnterſtützt durch Außern nnd unglaublich 
nad innerm Beweis. Nur in zwei Hinfichten weicht er von 
andern ab: er räumt ein, daß die gegen Mrs. Stowe gemachte 
Enthülung aller Wahrjcheinlichleit nach biefelbe war wie die, 
welche urfprünglich dem Dr. Lufhington anvertraut wurde; und 
dann bat er eine eigenthümliche Erffärung flir den Wahn ber 
Lady Byron, weldyer aus ihrer Übertriebenen Eiferfucht auf den 
Einfluß, den Mrs. Leigh auf ihren Bruder gehabt, entftanden 
fein fole. Wir halten nun zwar dieſe Anfiht von der Sache 
für ganz unhaltbar; man muß indefien zulaffen, daß Lady By- 
ron alles Recht verwirkt babe, fich Über irgendeine Bermuthun 

zu beflagen, welche ein Biograph im feiner Berlegenheit, fi 

ihr rätbjelhaftes Benehmen zu erflären, ergreifen mag.’ 


Ueber Julian Shmidt’s „Bilder aus dem geifligen 
Leben unferer Zeit‘ lefen wir mie folgt: „Julian Schmidt ift 
der Apoflel des Realismus in der kritiſchen Titeratur des beu- 
tigen Deutfchland. Was diefes fen Hauptkennzeicheu betrifft, 
fo fünnte man den talentvollen Kritiler faſt ale einen zur Un⸗ 
zeit geborenen bezeichnen, denn von allen nur möglichen Mah⸗ 
nungen, die an die zeitgenöſſiſchen Schriftfteller Deutichlauds 
gerichtet werden können, ift mol die gegen den Misbraud; der 
dichteriſchen Begabung die überflüffigfe. Im der That, wenige 
von ihnen Haben eine ſolche Begabung zu misbrauchen, und 
Schmidt würde feinen Landsleuten mehr Dienft leiſten, wenn, 
anftatt immer wieder auf die unleugbaren Schwächen der ro- 
mantifhen Schule zurädzulommen, er ihuen etwas von dem 
poetifchen Geifte einflößen könnte, welcher den Leiftungen diefer 
letztern ſolchen Zauber verlieh. Solche Begeifterung ift ans 
den nächtlichen Betrachtungen eines trodenen, Haren, profaiichen 
Berſtandes nicht zu ſchöpfen. Julian Schmidt’s Stelle in der 
Literatur iſt deſſenungeachtet feine unbedeutende, denn findet 
ſich auch nur wenig echte Phantafie in der deutſchen Belletriftik, 
fo gibt es dod) gegenwärtig genug ſchwächliche Erhenchelung 
einer ſolchen nnd jogar noch weniger gefunden Realismus und 
Naturtreue. So if denn aud die pofitive Seite feiner Kritik 
wertbuoller als die negative. In Ermangelung des fchöpferi- 
fhen Dranges, ber nicht nad Belieben hervorgerufen werden 
kann, kann vielleicht das Studium der engliſchen Schriftfieller, 
das er fo dringend empfiehlt, eher als alles andere einen heilfamen 
Erfolg haben. Die Efjays fiber englifche Literatur find übrigens 
unter dem mannichfaltigen Inhalt diefe® Bandes die forgfältigft 
ausgearbeiteten. Scott ift ausflihrlicher behandelt al8 irgend» 
ein anderer, und Schmidt's hohe und richtige Schägung feines 
Genie lünnte mit Nugen bei uns fludirt werden. Der Eſſay 
über Bulwer unterhält durch die ernſte, fcrupulöfe und ach⸗ 
tungsvolle Aufmerffamleit, die bier einer Maske gewidmet wird, 
welche die anfgeflärte Meinung bei uns längſt mit der Imfchrift 
versehen hat: «Pulchra species, cerebrum non habet.» @eorge 
Eliot wird ebeufalls ausführlich gewürdigt, und wenn e8 tirl- 
ih wahr if, wie der Berfaffer jagt, daß ihre Werke in Deutſch⸗ 
land nur als unterhaltende Novellen betradjtet werden, fo ver- 
dient fein Berſuch, deren Bedeutung ans Richt zu ftellen, um 
fo wärmerer Anerfennung. Doch ſcheint e8 uns, daß er dabei 
einen zu niedrigen Ton anfchlägt. Alles, was er über die 
fittlihe Ziefe und den religidfen Anftrih ber Eliot'ſchen Ro⸗ 
mane fagt, if} vortrefflih; allein er wird weder ihrem Stil, 
ihrem Qumor, noch ihrer Beobachtungsgabe gerecht; and) ber 
rührt er nicht einmal dasjenige, was, wie man hätte erwarten 
follen, einem geiftreihen Kritiker zu allererft aufgefallen fein 
würde, nämlich die Weite und das volllommene Gleichgewicht 
ihres Verſtandes. Turgeniew nnd Sainte-Benve bilden ben 
Inhalt zweier fehr guten Abhandlungen, auch finden wir eine 
höchſt unterhaltende Skizze Über Schelling’8 perſönliche Be⸗ 


Feuilleton. 


ziehungen zu den vorzäglichften Schriftflellern ber romantiſchen 
Schule, mit befonderer Bezugnahme auf die fehr unregelmäßi- 
gen Eonjugationen derjelben. 


Ueber Alfred Reumont's „Geſchichte der Stadt Rom“ 
fagt das Blatt: „Das große Werk iſt endlich, vollendet. In 
deifen fo groß es auch ift, fo hätte e& doc im doppelten 
Sinne des Wortes noch größer fein können. Wir können näm- 
lich nicht umhin zu bedauern, daß Über den letztern Theil, vom 
Tode Sirtus’ V. bis auf unſere Zeit, fo hinweggeeilt worden 
if. Ermangelt aud die Geſchichte dieſes Zeitraums allerdings 
des Glanzes der vorhergehenden Epochen, fo verdiente doc 
ihre Wichtigkeit gerade in Bezug auf dem eigentlichen med 
bes Reumout'ſchen Werts eine ausführlichere Behandlung. Die 
Sache jedoch ift, der Verfaſſer liebt augenſcheinlich die Einzel 
heiten der Archäologie und Zopographie nicht fehr. «Bethlirmte 
Städten gefallen ihm weniger, als «das geichäftige Summen der 
Menichen», das Gewirr der Politik, die Entwidelung der Literatur, 
das Malerifche individueller Porträtirung. Der größere Theil 
diefes Werks ift der glanzvollſten Periode des neuern Rom gemib- 
met. Das Bild ift voll, doch nicht Überladen, von glänzenden 
Geftalten, und die Empfindung, die man dabei bat, iſt, als ob 
man einer prächtigen Maskerade beimohue, im welcher "der 
Papft, die Cardinäle, die Conftabler, der gekrönte Dichter umd 
die Künſtler raſch vorlibereilen, Reumont's Porträts find 
meifterhaft, befonders die hervorragend intereflanter Geftalten, 
fowie der Päpfte des 15. und 16. Jahrhunderte. Im als 
gemeinen beurtheilt ex ihren Charakter mild, vielleicht zu mild 
für die Strenge der hiſtoriſchen Wahrheit oder dem fittlichen 
Maßſtab des 19. Iahrhunderts, Der Hiſtoriker kann ſich in⸗ 
defien damit entihuldigen, daß ein folder Maßſtab nicht mit 
Hecht an die Männer der Renaiffance angelegt werden fönne, 
und mit dem Geifle diefer Epoche hat er fich fo viel, ale es 
für einen, der den Verluſt der alten geiftlichen Oberherricaft 
Roms bedauert, möglich ift, identificirt und betradjtet diefe Ich 
tere in dem Lichte, in welchem fie von den aufrichtigen Katho⸗ 
liken jener Zeit angefehen wurde. Der Rüdfchlag, welcher auf 
die Reformation und die Plünderung Roms erfolgte und feinen 
Ausdrud in der vom Concil zu Trident zu Stande gebradten 
Halbreformation fand, ift gut geichildert. Unter den Kapiteln 
don weniger allgemeinem Intereſſe, die aber mehr zu dem ein- 
geftandenen Zweck des Werks flimmen, mögen die fiber bie 
päpftlihen Finanzen, bie ſtädtiſche Verwaltung Rome, die 
Campagna, gelehrte Gejellichaften, Muſeen, die Peterskirche 
und die reichlichen Notizen Über die vorziglichfien Künftler, die 
durch ihr Leben oder ihre Werte mit der Emigen Stadt in 
Verbindung flehen, erwähnt werden.’ 


Ueber E. von Hartmann’s „Schelling’s pofitive Philo- 
fophie ale Einheit von Hegel und Schopenhauer‘ beißt es dar 
ſelbſt: „Einer der origineüſten philofophifchen Denter Deutid 
fonds, deffen frlheres Wert uns veranlaßt haben würde, ihn 
der Hauptfadhe nad) für einen Jünger Schopenhaner’s zu hal 
ten, bringt auf einmal Schelling als ben Bermittler vor, m 
welchen die Halbwahrheiten Hegel’8 und Schopenhauer's in 
Uebereinflimmung gebracht werden. Er erflärt, daß die Nach⸗ 
weiſung fi nicht auf die frühern unter dem Einfluß der to 
mantifhen Schule geichriebenen Werke Schelling’e, nod anf 
das myſtiſche und theofophifche Element in feinen fpätern Schrif- 
ten anmwenden lafle. Es möchte nad mehren Anzeichen ſchei⸗ 
nen, als ob auf die lange Bernadläffigung, mit der Schelling 
behantelt worden if, eine Reaction zu feinen Gunften folgen 
follte.‘' 


_ „E. Edftein’s «Schad der Königin»', heißt es ferner, 
„if einer der am wenigſten mislungenen von ben vielen ver⸗ 
fehlten Berfuchen, die man gemacht hat, die Manier des Don 
Juan nachzuahmen. Das Gedicht befitzt ſowol Anmuth wie 
auch Humor; ber Hauptfehler if ein Mangel an Kern, was 
den Dichter zu allerlei Behelfsmitteln treibt, um feine Octaven 
auszufüllen. Die Strenge ber claſſiſchen Form ift nicht überal 
ee was ſchon an fich ein bedenfliher Mangel m 

edicht iſt.“ 


Feuilleton. 


Notizen. 

Das dritte Heft des Jahrgangs 1970 der „Deutſchen Viertel⸗ 
jahrefgrift‘‘ enthält einen größern Juſag von 9. Dünger: 
„Boethe's Eintritt in Weimar“, in melden nicht nur das 
bieher Befannte Mar gruppirt und zufammengeflellt if, fondern 

auch mandes Neue aus bisher nicht erfchloffenen Brief 
Ihägen und Tagebüchern findet. Wie der junge frankfurter 
Dichter, mit feinem Sturm und Drang und feinem flurme 
fnellen Auffteigen im Staatedienſt, der Held dieſer Mitthei- 
Iangen, fo if rau von Stein, die goldene rau, welche die 
Herzen nicht mit „Pfeilen“, fonbern mit „Netzen“ befiegt, die 
Heldin derfelben. Dünger theilt ein bisher unbefauntes Scherz. 
gebicht von ihr mit, „Ryno, ein Scaufpiel in drei ae 
dam en‘ (1776). Die mittoirtenden Perfonen find: Ryno (©: u 

jeide — Mutter), Thusnelde (Fräulein Göchheim, 
ha Scham), migunde (rau von Mother), Gertrud (fra 
von Stein). Frau von Stein, die fpäter in der —S g 
gehörige fatirifche Krallen zeigt, ſtreichelt den Dichter hier nı vu 
fa jerahaft nedend, obgleich auch Hier ſchon humoriſtiſche Funken 
HE Kegno führt fi mit den Worten ein: 
Stud da eine Menge Geſichter herum, 
Seiten alle veht adelid gänfebumm. 

Gertrud fagt dem Dichter nad), daß er auf aller Frauen 
Spur gehe und wirklich das fei, mas man eine „Kofette” 
nenne, daß ihm Liebe immer forttreibt und daß er an jedem 
zuen Ort einen neuen Ge, genanb findet. Alle mitwirfenden 

eigen ihre diden Briefpadete. Frau von Stein verzieh 
dem ug ter den Don Juan, aber die Heirat mit der Schwägerin 
des „Rinaldo Rinaldini" bat fie ihm nie verziehen. 

Wie das „Athenaeum” aus Nordamerika mittheilt, hat eine 
Junge und unternehmende Buchhandlung, Lippoldt umd Holt 

euyorf, die Abficht, eine Reihe ausländifcer Autoren in 
Ueberfegungen zu bringen, ein ähnlides Unternehmen, wie das 
von Tauchnitz in Europa if. Die Firma hat zunächft Ueber» 
fegungen der Romane von Auerbach und Spielhagen gebracht, 
und merlwurdigerweiſe mit großem äußern Exfolg, mährend 
die Ueberfegungen von Balzac, George Sand und felör Dumas 
fich als erfolglofe Unternefmnngen erwiefen haben. Anerbad's 
„Landhaus am Rhein‘ hat ihm in Amerika einen Namen 

gemadt, a Spieß en’ „Problematifhe Naturen‘, 
eur Nacht zum Licht‘, „In Reh und Glied und „Hammer 

umd Amboß‘ die Gunft des Publitums in unerwarteter Weiſe 
gewonnen haben. Auch von Heſeliel's „Leben Bismard's" iſt 
eine Ueberfegung ericienen. 

Bon Friedrich Wilhelm Schlofier’s „Weltgeſchichte 
für das deutſche Bol’ (Oberhaufen, Spaarmann) erſcheint eine 
mene vevidirte Volfsausgabe, mit Zugrundelegung der Bears 
heitung von Dr. ©. 2. Rriegt. Die Revifion übernehmen 
Dr. D. Jäger und Prof. Th. Ereigenad, während Dr. Er 
Bernhardt das Wert bis auf die Gegenwart fortjegt. Die 
Borzüge Schioſſer's; Wahrheitsſinn, Schärfe der fittlien 
Krint, Mare und beſtimmte Darftelung, fennzeichnen auch dies 
Rationafiwert, 





Bibliographie. 
'r, L., Vertrauliche Briefe aus dem Zollparlament (1868 - 
reslau, Günther. 8. ‚20 Ngr. 
A Sn Das and gas er retten im be @ Gr 
rn gt, 1. Bamburg, Seolle. 8, 
mein Be — en 0 un! ae nee —ã — ber Gebidte. 2te — — 
— uf an,da nei — Theorie des Bewusstseins. Berlin, 
es 8. 1 Thir, 10 Ngr. 
 Dı, EI paso de las auimas. Roman. 2 Bbe. Leipzig, 
er ©. & File 10 ter. 
n, @., Pragmatische und hesrifwwiorgnechaftliche 
der Philosophie, Fre, Tem —* —*8 16 Ngr. 


lichen enge 
B —A I Die ——————— —— u ua im 
—— Ev Gorgeiiiig. Auliutfortige Rovelle. Meinz, 


—— — und Wette, Inaugural-Dissertation. Greifs- 














wald. 
2 in, @oroiamer. HiRari 
mat ana ug Kayan u in olbſe Diſtoriſcher Ro· 








495 


Das Carmen de bello Sazonico oder Gesta Heinriei IV. nen heraus- 
gegeben von G. Waitz. Göttingen, Dieterich. Gr. 4. 1 Thlr. 
Das Jatipatala. Lehrbuch des Jatäpätha 





® 
ie. SIG: Alter Grund. Distumgen. Ban, $. 


feuohter, B., Die Annalen von Niederaltaich, Eine q 
lenuntersschung, Göulogen, Vandenhoeck u. Ruprecht. 8. 16 Ner. 
Die Gegsawart und Zukunft der Mrei in, Deutschland, Yon einem 


aan Logenbruer. Lei, Final : 
mm iſtoriſhe Kar 08. 8. 1 Thu. 
elne, ge * —* Seien. 16, 15 Mar. ’ 
oder Fachschule Rede. Zürich, 


—* —— Burton „ Qeiemmeite Novellen und Humoresten, 


amthorne, ®. Binde Sin Kamen, Dauft von &. D.Be- 
Per} Bremen, Fübtmann u. Comp, 8. 1 Zhle. 15 Fa 
‚Heiteres aus Eile, Altes und Neues in —E und nee 
jger Muntart, Caflet, Volmann, 8 3 Bag, 
elmuth, Aus alten Tagen ber eig 
Zraltilonen vet Garnlion Burn; ci — —E 
SB bem vorigen Jabrhubert, "Burg, 
üider Roman, 4 Die. 


Die Bank des Verdi M 
Says, M., Boltetputt une peeriefen. Vortrag. Berlin, Dünme 











Meyer u, Zeiler, Gr’ &, 10 N 





Brite, Yausfreunbe@rpeniin. 6 5 Eike D 











ler. Gr. 8. Nor, 
3 „ Die O) Erbi }. I, Die ober ‚Ra teuer 
in ——— & pen licher Baht tee H up 
fü * —— — fe a über. '& Hi —* —J 
ler 5, — ——— 
—— u. wa Se 15 Kr. 


. Wi — ‚von Rgiten an Erpbljof zu Galı 
— im Kompfe Mi 9 m Seh mas Are tiert Eat Kae bene 
i .d gaalan bes 17. —— 





open 
* — Dürr’fge Buch. S. au 1 
en. 1. formen F ne "ng W. Bir. 
u ga — Beger. 4 Rs. n “6 
— ———— ‚Europas von Augustus hie aut 
Karl den Öfouen, Nach der Da vorbomerten Auf male Han des 











Verlagsere übersalet von Be Yolowien. Astar Bd, Leipeig, 6, F- Wine 
ver. „Gr, 8. „1 Thlr, 34 Mar 

Yy.M. A,, — Studien. 4tes Heft. Breslau, Schletter. 
@r. 3. 7 Kar. 103, 


Lochner, G. K., Die Personen - Namen in Albrecht Dürer's 
Briefen aus Venedig, nürnberg, Korn. Gr. 
Wider den Stadel. Bramatifhe Bitung. Leipsig, 


Deutschlands Geschlohtsquellen im Mittelalter von der 
1 Me zur Mite des riarsshoten Jahekundaru, Ta 








2% —* — — eienen — Geist. Ham- 


— NS sch weiseriechen hintrlschen Volks- 
15, Jahrhunderte: Vortrag. Mit einem Aubang: Fünf Altort- 
om Epoche in deutscher Uebersetzung. Zü- 








lieder & 
sche Lie 


—S An der Calturgeschichte. Lier Bd. 
Me Hälfte. Berlin, Behr. Gr. 8. 3 Thlı 

—— Rev Su, am 3. ai 1870 von 
Battiae, Moltte, Zeit, Anfammengeheit un mit einem Bormort 
Begleitet von ©. Jahn. Berlin, Zortlamp Rat. 

Ongaro, F. dall', Phasma, —— F nauder edichtet. 
Aus dem —8 übersetst von F. Baerenspru: ichwerin, 
Ser ige be en etc reines Bufenfreundes Stubirkud: 

einige beim Kustehern von meinet Bufenfecane be 
aufgetelen” Srehumetertal u Sldaparat für Die Brennenbe Oiulfenge, 

Bond. ©. — —* 

es "slac ver beten Mufl, des Orte 

— 


jramm ber Zukunft. Mrabemifae Stu ‚Stubie, —F bie hentige 


1870, % ig, D. 
* Br a e 


BET ah er Jeseigang vom Rebenben zum 
zigid, D, feine Deife nad Bhtelte, Wagdehtit, Beinrigt- 
ee oder Dice, Zune von 




















von Bern. Sarg —V — 
suche. Ulm, 

ed Weib. Bon ber —S son 
dem & gülden von Sephie Besen. 
ee, Shniger. 8. 2 2hln. 18 Apr. 


Satire Aus 
anne Bubgater 3 Die 











496 Anzeigen, 


Anzeigen. 


Derfag von 5. 2. 9 Brodfaus in — 


Sprachvergleichende Studien 


mit besonderer Berücksichtigung der 


indochinesischen Sprachen 
von 


Dr. Adolf Bastian. 
8 Geh. 2 Thir. 15 Ngr. 

Dieses neue Werk des berühmten Ethnographen und 
Sprachforschers enthält, nebst einer allgemeinen sehr interes- 
santen Einleitung, die folgenden vier Kapitel: I. Das Flüssige 
schriftloser Sprachen, ihre Wechsel und Mischungen ; II. Das 
Birmanische; III. Das Siamesische; IV. Die Sprachgestal- 
tang. Eine ausserordentliche Fülle neuen werthvollen Stoffs 
wird darin fur die Wissenschaft zu Tage gefördert und in 
anregender Weise dargeboten. 


BEE Ieue intereffante Erfcheinungen! "u 


Soeben erſchienen im unterzeichneten Berlage und find 
borräthig in allen Buchhandlungen: 


Cumtoni der reiwillige. . 


Geſchichtlicher Roman von General Giuseppe 
Garibaldi. 
2 Bände, Gleg. geh. 1 Thlr. 10 Sgr. = 2 Fl. 10 Kr. oõ. W. 


Unter seifliden Finde. 


Roman aus den Ruinen reines Schloffes von Isidor 
Gaiger. 
leg. geh. 38 Sgr. er 47 Kr. o6. W. 


Die kleine Life, 


MAumorififcher Roman von Paul de Kock. 
33 Egr. = 1 81.417 8.5. W. 


Carl v. Ke— el. Dar a aa auf Beifen. Roman, 3 Bbe. 
Michael Pal —* ET FR ea 38 ei - 


life Pollo. %% am SCH TE 


5 
p Imatien und feine Infelmelt 
Heinrich Not. durg die Sämaryen Serge. 1 Eile, yon 


Arthur Stahl. 2 — an „Novellen. 
General Garibaldi. EL aft des Mönie, „ Barte- 


A. Hartleben’s Verlag in Wien. 


Desfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Gedichte 


bon 
Adolf Ritter von Tſchabuſchnigg. 
Dritte Anflage. 8 Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor. 
Die Gedichte Tſchabuſchnig ap (gegenwärtig öſterreichiſcher 


Minifter), bereits in zwei Auflagen verbreitet, liegen hier in 
einer bebeutend vermehrten dritten Auflage vor. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Erasmus von Rotterdam, 


: Seine Stellang zu der Kirche und zu den kirchlichen 
Bewegungen seiner Zeit. 
Von 
Franz Otto Stichart. 
8. Geh. 1 Thlr. 24 Ngr. 


Die gegenwärtige an Conflicten auf dem confessionellen 
Gebiete so reiche Zeit wird dem vorliegenden Werke, 
einem geistigen Bilde des Erasmus von Rotterdam, das der 
Verfasser aus dessen zahlreichen Schriften geschöpft, be- 
sondere Theilnahme schenken. Erasmus geiselte die Ge- 
brechen der Kirche und die Unsitten der Geistlichkeit mit 
ebenso viel Witz und Geist als Klarheit und Schärfe; und 
was er von seiner Zeit gesagt, passt noch vielfältig auf die 
Gegenwart. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Rleine Schul- und, Bans-Bibel, 


Geſchichten und erbauliche Tefeftlicke aus ben heiligen Schriften der 
Seraeliten. 


Bon Dr. Jakob Auerbach, 
Zweite, verbejferte Auflage. 
I. Abtheilnug. Bibliihe Geſchichte. 
II. Abtheilung. Leſeſtücke ausden Propheten und Hagiographen. 


8. Jede Abtheilur⸗ geheftet 20 Nor. Gebunden (in einem 
ande) 1 Thlr. 20 Nr. 

Bon diefem als —* bekannten Lehr⸗ und Leſebuche, 
das ebenfo wol zum praktiſchen Unterrichtsmittel in Schulen 
dient wie zum Borlefen im Familienkreiſe geeignet if, liegen 
jest beibe aötheilungen in der vom Berfaffer gründlich durch⸗ 
gefeheuen zweiten Auflage vor. Troß der fehr wejentlichen 
Vermehrung des Umfangs wurde ber billige Preis beibehalten, 
damit das Buch um fo leiter in Schulen Eingang finde. 
Für das Haus und die Familie fowie zu Geſchenken empflehlt 
ſich vorzugsweiſe die gebundene Ausgabe. 








Derfag von 5. 4. Brockhaus im Leipzig. 


Premier livre 
de lecture, d’ecriture et d’instruction allemande 


a lusage de la maison et des &coles. 
Par B. Sesselmann, 


Professeur & I’Ecole superieure de Nancy. 
Seconde edition. In-8. Geh, 6 Ngr. 


Ein bereits in zweiter Auflage vorliegendes Elementar- 
buch, das, nach einer höchst praktischen Methode bearbeitet, 
die französische Jugend mit Leichtigkeit in die ersten Grund- 
lehren der deutschen Sprache einführt. 

Im Anschluss hieran erschien: 

Second livre de leeture, de version et d’nstraction alle- 
mande & l’usage des familles et des ecoles frangaises 
pouvant servir de themes aux élèves allemands. Par B. 
Sesselmann. In-8. Geh. 12 Ngr. 








Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von 5. A, Brochhaus In Leipzig. 








Blätter 


literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erjcheint wöchentlich, 


Inhali: Naturwiffenfchaft und religidfer Glaube. Bon Julius Srauenftäst. — Literarifche Porträts. 


—e Ar. 32, #9 


4. Auguft 1870. 


Bon Rubolf Gottſchall. 


Gortſetzung.) — Der malaiifhe Ardjipel. Bon Richard Audree. — Feuilleton. (Motizen.) — Biblisgraphie. — Anzeigen. 


Noturwiffenfhaft und religiöfer Glaube. 


1. Die freie Naturbetradhtung gegenübergeftelt der materiali- 
ftifhen Lehre von Stoff und Kraft. Wegweiſer zum Frie⸗ 
den zwiſchen Ehriftenthum und Naturwiſſenſchaften mittels 
unpartetiiher Benrtheilung des Dr. 2. Bücdnerihen Werts 
„Kraft und Stoff". Bon Ionas Rudolf Stroheder. 
Fur alle Gebildete. Augsburg, Kollmann. 1869. 8. 25 Ngr. 


2. Die Darwin’ihe Theorie und ihre Stellung zu Moral und 
Heligion. Fünf Vorträge von G. Jäger. Stuttgart, Thiene- 
manı. 1869. Gr. 8. 21 Nor. 

Die Gefchichte bezeugt, daß überall, wo die Wiffen- 
haft frei ift und fortfchreitet, fie mit dem religidfen 
Glauben in Conflict geräth — ein Beweis, daß die reli- 
giöfen Dogmen aus einer andern Quelle entfpringen als 
die wiffenfchaftlichen Urtheile. Denn entfprüngen beide 
aus einer und berjelben Duelle, woher alddann der 
Conflict? 

Die Dogmen entfpringen aus dem Herzen, bie wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Urteile dagegen aus dem Kopfe. Der Con⸗ 
flict zwifchen Glauben und Wiſſen ift alfo im Grunde 
nur der Conflict zwifchen Herz und Kopf. Das Herz 
verlangt 3. B. Wunder und Gebetserhörung; es will einen 
perfönlichen theilnehmenden Gott, der das herzlofe Walten 
der Naturmächte zum Beften des Menfchen durchbrechen 
fonn; es verlangt auch perfönliche Unfterblichleit und 
MWiederfehen nad dem Tode. Der Kopf dagegen fagt, 
daß der Menfh nur ein Glied eines Gliedes bed Uni» 
verfums ift und feinetwegen die gefegmäßige Naturordnung 
nicht durchlöchert werden kann. Das Herz ift egoiftifch, 
der Kopf univerfaliftifh. Die aus dem Herzen entfprin- 
genden Dogmen machen das menfchliche Individuum zum 
Mütelpunkt des Univerfums, laffen die ganze Welt ſich 
um das Individuum drehen; die aus dem Kopfe entjprin- 
genden wiſſenſchaftlichen Säge dagegen machen das In⸗ 
bividuum zu einem verjchwindenden Moment des Ganzen. 

Es iſt nun Har, daß in dieſem Conflict zwifchen 
Glauben und Wiffen an eine Ausſöhnung fo lange nicht 
zu benfen ift, als das Herz auf feinen egoiftifchen, 
der mifienfchaftlich erfannten Ordnung der Dinge wider 

1870. 32. 


ftreitenden Wünfchen und Bedürfniſſen beſteht. Soll der 
religiöfe Glaube mit der Wifjenfchaft nicht blos fcheinbar, 
fondern wahrhaft und nachhaltig in Einklang gebracht 
werden, fo muß vor allen Dingen das Herz ſich refor- 
miren, muß feinen engen egocentrifchen Standpunkt auf- 
geben, muß feine Wünſche und Bebürfniffe mit der phy⸗ 
ſiſchen und moralifchen Weltorbnung in Einklang bringen. 
Eine Berföhnung des Glaubens mit dem Wiffen alfo, 
ohne dem Glauben ein Haar zu krümmen, ift nicht mög⸗ 
Ih. Doppelte Buchhaltung ift ebenfalls nicht möglich. 
Denn der menfchliche Geift ift kein Behälter von Schub- 
füchern, in deren eines egocentrifcher Glaube, in das 
andere Hingegen umiverfaliftifches Wiſſen fich unterbringen 
läßt. Bon zwei einander widerftreitenden Annahmen kann 
im Geifte immer nur eine herrſchen. Entweder alfo treibt 
das herrſchende Willen den ihm widerftreitenden Glauben, 
ober der herrfchende Glaube das ihm widerftreitende Wiflen 
aus. In der That fehen wir auch in denjenigen Kreiſen, 
wo em Knak Herrfcht, Kopernicns nichts gelten, in ben» 
jenigen Kreiſen hingegen, wo Kopernicus herrfcht, Knak 
nichts gelten. 

Bon biefem Standpunkt aus müſſen wir den in der 
Stroheder’fchen Schrift: „Die freie Naturbetrachtung 
gegenübergeftellt der materialiftifchen Lehre von Stoff und 
Kraft” (Nr. 1), gemachten Verſöhnungsverſuch zwifchen 
Stauden und Willen roh und ungefchidt nennen. Stro⸗ 
hecker verbindet mit materialiftifchem Naturalismus religid- 
fen Supranaturalismus auf eine höchſt unphilofophifche 
Weile. Beſſerer Art dagegen ift, wie wir fehen werben, 
HN Zäger’sche Verſöhnungsverſuch zwifchen Glauben und 

iffen. 

Strohecker's Anficht ift folgende. Das Chriftenthum 
wird nicht, wie Büchner mit vielen andern meint, von 
ben Naturwifienfchaften beeinträchtigt und die Naturwiſſen⸗ 
ſchaften nicht durch das Chriſtenthum, denn ber chriftliche 
Glaube und naturwifienfchaftliches Wiſſen fchließen fich 
gegenfeitig nicht aus, fondern beftehen ruhig nebeneinander — 

63 





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498 . 


fie find gegenfeitig imdifferent. Nicht der Unfriede, wie 
Büchner meint, fondern der Friede zwiſchen Chriſtenthum 
und Naturwiffenfchaften ift das Reſultat einer unpartei- 
lichen Unterfuchung über das Verhältniß zwifchen beiden. 

Die „Thatſache der Schöpfung” wird von Stroheder 
der Büchner’fchen Behauptung von der Ewigkeit des Stoffs 
entgegengeftellt; die Schöpfung foll fein bloßer Glaubens⸗ 
artikel, ſondern chemiſch bewieſene Thatſache fein. Der 
Berfaſſer bezeichnet ſich ſelbſt als Chemiker und wirft 
Büchner mangelhaftes chemiſches Wiſſen vor: 

Hr. Büchner hat ganz recht, wenn er ben Beweis jeiner(!) 
Unfterblichleit des Stoffs, d. i. der Kreislauf des Lebens ober 
der Stoffwechſel, unferu Wagen und Retorten zufchreibt ; jedoch 
haben Letstere auch bewiejen, daß die Welt ihren Schöpfer hat, 
und zwar als diefen den Geift, welchen Hr. Büchner und Ge⸗ 
nofjen aus reiner Unwiſſenheit oder vielleicht auch Willkür leug⸗ 
nen.... Recht bat Hr. Büchner, vielen religions-naturphilofo- 
phiſchen Berfuhen von Naturforfhern und Philofophen un⸗ 
glüdtiche Refultate nachzureden; aber durch diefe zwar logiſchen, 
jedoch fachlich falſchen Reſultate aus falſchen Borausjegungen 
foflte er nicht veranlaßt tworben fein, den Schöpfer — den Geber 
der Naturgeſetze — zu leugnen, fondern vielmehr, als Mann 
feines tüchtigen Berftandes, ſchärfer geblickt Haben. Er gebt in 
feinem Borurtheile fo weit, daß er die ganze Thatjache der 
Schöpfung, von weldier ein Ehemiler fo fchr überzeugt ift, als 
Glaubensgegenftand bezeichnet, wogegen fie doch ausſchließlich 
Gegenftand des Willens if. 

Man ift, nachdem man diefes beim Verfaſſer gelefen 
bat, gejpannt auf feinen chemifchen Beweis des Dafeins 
Gottes und der Schöpfung. Nun, diefer Beweis ift fol- 
gender; Die Chemie hat mit größter Ausführlichkeit, durch 
Taufende und abermals Taufende von Thatjachen gelehrt, 
daß die ganze Welt aus chemifchen Berbindungen beftebt, 
welche leßtern wieber von den chemifchen Elementen (Ur⸗ 
oder Orundftoffen) zufammengefegt find; jebe chemiſche 
Berbindung befteht nicht, ohne aus der thatfüchlichen gegen- 
feitigen Einwirkung von Elementen hervorgegangen zu fein. 
Woher die Welt, wie fie vor uns liegt, woher bie chemi- 
chen Verbindungen ftammen, welche die Welt zujammen- 
fegen, wiflen wir genau durch bie Chemie; jedod) die 
Frage, woher die Elemente find, kann uns feine Natur- 
wiſſenſchaft beantworten, denn dies gehört auf das Gebiet 
der Religions» und Naturpbilofophie, auf welchem wir 
uns bier befinden. Die chemiſchen Elemente (Ur⸗ oder 
Grundſtoffe), Körper, welche nicht weiter trennbar, d. i. 
nicht zuſammengeſetzt, fondern abfolut einfach find — kön⸗ 
nem nicht von ungefähr gelommen fein, fie müſſen eine 
Duelle haben. Sie könuen ſchon deshalb nicht von Ewig⸗ 
feit fein, weil fie ſich einmal miteinander verbunden haben 
und zwar in bemfelben Angenblid, in welchem fie auf- 
getreten find. Das Antecedens der Elemente muß mäd)- 
tiger fein, ala alle Elemente e8 find. Wie die Elemente 
mit ſinnlich wahrnehmbarer Kraft die Verbindungen, aus 
denen die Welt befteht, fchaffen, fo muß eine höhere Kraft 
die Elemente gefchaffen haben. 

Dieje letzte Kraft ift die Schöpferkraft oder der Schöpfer, 
welcher durch die Chemie, unter Anwendung des Gaujalitäts- 
princips, ein für allemal ale das Antecebens ber Elemente, 
alſo der ganzen von dem Materialismns für ewig erflärten 
Welt, hiermit nachgewieſen. Hierin feiern die Raturwifjenichafe 
ten, zugleich mit der Religion, den höchſten Triumph über den 
Atheismus, der in der Schöpfung — wo er feine Baſis juht — 
als ein Frevel an der höchſten Wahrheit fich darfellt. 

Der Augenblid, in welchem Gott der Schöpfer bie 


Naturwiffenfhaft und religiöfer Glaube, 


Elemente in das Dafein rief, ift nach dem Verfaſſer „je- 
dem Chemiler klar“; die Wiflenfchaft der letzten Natur- 
principien — die Chemie — habe feinen Zweifel mehr 


über eine Thatfache, welche durch die gegenfeitige Berüh— 


rung der Elemente bedingt if. Die Elemente haben im 
Augenblid ihrer Schöpfung in statu nascente, d. h. im 
Augenblick ihres freien Auftretens fich befunden, ein Zu⸗ 
ftand, in welchem die Elemente die höchfte Fähigkeit haben, 
hemifche Verbindungen zu bilden. 

Es ift uns nun — durch die Chemie — Mar, daß zu die 
ſem Borgange nur ein Augenblid — kaum eine Secunde — 
nötbig geweſen ift, benn ein chemifcher Proceß ift Überhaupt 
eine Sache eines Augenblids, von umberechenbarer Kleinheit. 
Ein Heiner Gedanke erfordert fo viel Zeit, als nöthig geweſen 
ift, daß Gott geiprodhen Hat: Es werde, und die Elemente ge- 
worden find, indem diefe zugleich fih verbunden Haben. 

Den Schöpfungsact näher ausmalend, jagt der Ber- 
faſſer, es fei Har, welche ungeheuere Temperatur in dem 
Augenblid der Schöpfung beftanden hat; die Elemente, 
in statu nascente ſich berührend, haben unter.der Heftig« 
ſten Fenererfcheinung, in dem glühendften Zuftande, weichen 
man fih nur benten kann, fich verbunden; alles, was es 
damals gegeben hat, ift in gasförmigem Zuftande geweſen, 
der allmählich) theilweife in den feuerflüffigen überging. 
Das Wafler war glühender Dampf, die Metalloryde in 
einem -glühenden gasförmigen Zuftande, wie wir fie heute, 
durch die Spectralanalyfe, in der Sonnenatmofphäre fin- 
den, und die ganz ſchwer ſchmelzenden Metalle — Blatin 
und Blatinoide, Silber, Gold und das flüffige Queck⸗ 
füber — waren nit chemiſch verbunden (weil fie in der 
Hige ſich nicht verbinden Tönnen) und auch als Dampf 
im Weltraum verbreitet. „Welcher Chemiker kann gegen 
diefe detaillirte Schöpfungslehre einen Einwand erheben ?”— 
Keiner!" ruft der Derfafler triumphirend aus. 

Sehen wir und nun biefen chemifchen Beweis des 


Dafeins Gottes näher an, fo finden wir, daß es weiter - 


nichts als der alte kosmologiſche Beweis in modernem 
hemifhen Gewande if. Durdy Anwendung des Cauja- 
litätsprincips, wie der Verfaſſer felbft eingefteßt, ift er 
von ben chemifchen Elementen zu Gott al8 deren Urheber 
aufgeftiegen. So roh kann aber eben nur ein Chemiler 
pbilofophiren, der nichts von Kant's und Schopenhauer’s 
zermalmender Kritik des Tosmologifchen Beweiſes des Da- 
jeins Gottes weiß, der nicht gelernt hat ober nicht ein- 
fieht, daß das Caufalitätsprincip nur immanente, nicht 
transfcendente Gültigkeit hat, d. 5. daß es nur Gefeß der 
Verknüpfung der innerweltlicden Erſcheinungen ift, nicht 
aber über die Welt als Ganzes Hinausführt zu einer 
überweltlicden Urſache derfelben. Es ift vom Verfaſſer 
durhaus nicht bewiefen, daß die chemifchen Ur⸗ ober 
Grundſtoffe, aus denen alles in der Welt befteht, von 
einem au germweltlihen Schöpfer ins Dafein geſetzt worden, 
vorher alſo nicht eriftirt Haben; denn das wird man doch 
für feinen Beweis halten, daß er fagt, bie dhemifchen 
Grundftoffe „Lünnen nit von ungefähr gefommen fein, 
fie müffen eine Duelle Haben”. Was hindert denn, bie 
chemiſchen Grundftoffe als ewig, als unerfchaffen, als 
den Urfprung aller Dinge zu denfen? Die Chemie gewiß 
nicht. Der Verfaſſer befennt ja felbft, daß die Chemie 
nicht weiter führe, als bie chemifchen Verbindungen, aus 
denen bie weltlichen Dinge beflehen, anzugeben, nicht aber 








NRaturwiffenfhaft und religidfer Glaube. 


ir Beantwortung ber Frage, woher die Elemente diefer 
Berbindungen flammen. Diefe Frage könne überhaupt 
keine Naturwifienfhaft beantworten, fondern ſie gehöre 
in das Gebiet der Naturphilofophie. 

Wenn ſich diefes aber fo verhält, fo ift Mar, daß 
andy fein Beweis des Daſeins Gottes fein chemiſcher, 
fondern ein naturphilofophifcher ift. Einmal aber aufs 
philoſophiſche Gebiet übergetreten, muß er ſich eine phi ⸗ 
Iofophifche Kritik feiner Anficht gefallen laſſen. Das Re- 
ſultat einer ſolchen kann aber fein anderes fein, als bag 
feine Art zu philofophiren eine höchſt rohe ift, ſodaß 
man verſucht wird, ihm zuzurufen: Schuſter, bleibe bei 
deinem Leiften, d. h. bei deiner Chemie. 

Der Berfaffer bildet fi ein, gleich den Materialiften 
alles phyſiſch aus den Kräften und Geſetzen ber Materie 
erftären zu können, ohne doch darum dem Atheismus zu 
verfallen. Denn, obgleid; in den chemiſchen Elementen 
alle Bedingungen der Natur ſich finden, fo fei doch das 
Dictum Dei, die Schöpfung ber Elemente, die Urfache 
davon, daß die Elemente mit ſolchen Kräften und nad 


ſolchen Gefegen wirkende geworden find, wie fie find. 


Aber diefe Art der Verbindung des Materialismus oder 
Naturalismus mit dem Supranaturalismus ſcheitert an 
dem philofophifchen Begriffe der Kraft. »Eine geſchaffene 
Kraft iſt eine contradictio in adjecto. Dem wefentlihen 
Merkmal der Kraft, der Spontaneität oder Gelbftthätig- 
feit, wiberfpricht e8, von einem außer ihr befindlichen 
Urheber gemacht zu fein. Kräfte find das Urſprünglichſte, 
was es gibt. Sie können zwar durch äußere Urfachen 
gewedt, erregt, aber nimmer geſchaffen werben. Dede 
äußere Wirkung oder Erregung fegt vielmehr ſchon ihr 
Dafein vorans. 

Nachdem einmal ber Verfafjer dem erften Schritt ge- 
than, ben innerweltlichen Kräften und Gefegen, in denen 
alles feinen natürlichen Urfprung Hat, ben außerweltlichen, 
Abernatürlichen Schöpfer entgegenzufegen, wird es ihm 
nun freilich auch nicht ſchwer, im Dualismus weiter zu 
gehen und auch innerhalb der Welt wieder einen Gegenfag 
3a machen zwifchen rein materiellen und fpirituellen Er- 
ſcheinungen. Er verführt Hierbei ebenfa roh wie bei der 
Ableitung der materiellen Welt aus Gott. Während der 
Materiausmus confequent verführt, indem er die geiftige, 
dem Thiere überlegene Thätigkeit des Menſchen aus dem 
höhern Organismus befielben erklärt, im übrigen aber 
feinen weſentlichen Unterfchied zwiſchen Menſch und Thier 
macht, ſondern bie menſchliche Gattung nur für eine höhere 
thierifche erflärt, iſt der Verfaſſer beſtrebt, den alten 
Dualismus zwiſchen Menſch und Thier wieder aufzurich- 
ten, um jenem im Gegenfatz zu biejem die Unfterblichfeit 
zu fichern. Der Geift des Menſchen darf ihm alſo nicht 
an die Gehirnfunction gebunden fein, fondern er muß 
unmittelbar aus Gott flammen und in birecter Beziehung 
zu Gott ftehen. Durch diefe privilegirte Stellung aber, 
die der Berfaffer dem menſchlichen Geifte gibt, geräth er 
in Wiberfprudy mit feinem fonft zur Schau getragenen 
Beſtreben, gleich, den Materialiften alles natürlih, aus 
den immanenten Kräften ber Stoffe zu erflären. Wenn, 
obgleich die chemiſchen Grundſtoffe von Gott geſchaffen 
find, doch, nachdem fie einmal gefchaffen find, fi, wie 
der Berfaffer zugibt, alles natürlich ans ihren Berbin- 





499 


dungen erflären läßt, warum macht denn ba auf einmal 
der menſchliche Geift eine Ausnahme von der natürlichen 
Ordnung ber Dinge und wird vom Verfaſſer zu einem 
Mebernatürlichen geſtempelt? Iſt dies confequent? Iſt es 
conſequent, zu ſagen: „Die Feuerbach' ſche Meinung, daß 
ein fupernaturaliftifcher Anfang eine fupernaturaliftifche 
Bortfegung nothwendig bedinge, kann auf die Natur nicht, 
fondern nur auf geiftige Dinge in Anwendung gebracht 
werden“? 

Hören wir, wie der Berfaffer die Nebernatürlichfeit 
des menfdjlichen Geiftes im Gegenfag zu der Natürlichkeit 
der in der Gehirnfunction ſich fundgebenden animaliſchen 
Seele, die der Menſch mit dem Thier gemein habe, zu 
beweifen ſucht. Nachdem er anerkannt, daß der Materia« 
lismus durch natürliche Erklärung der piychifchen Vor⸗ 
gänge etwas Gutes geleiſtet, und daß Moleſchott nebſt 
Genoſſen mit dem Sage: „Ohne Phosphor kein Gedanke" — 
„Der Gedanke ift eine Bewegung des Stoffe‘, recht hüt- 
ten, fährt er fort: 

Gehen wir aber einen Schritt weiter, fo finden wir neben 
der Thatſache der natürlichen Gehirnvorgänge noch eine andere, 
von welcher die Materialiften jedoch nichts wiſſen wollen; biefe 
Bhilofopgen ignoriren die Thatfadhe oder, beffer gefagt, fudhen 
fie tobtaufchweigen, weil fie eben nichts bietet, was das Scal« 
pell fchneiden und das chemiſche Reagens nachweiſen kann; anf 
das Gehirn laſſen fi diefe Mittel zwar ammenden und kann 
man damit auf die Gehirnfunction einwirken, jedoch die Sache, 
welche id eben im Ange Habe, Hat Leine Eigenfdaften eines 
Natürlihen, fondern nur de6 Außernatürlichen oder Geifligen. 
Die Thatfache, welche ich meine, if die Stimme, bie ber 
Wenſch oft in fi vernimmt, die zu feinem Berſtaude ſpricht, 
ohne daß legterer eine Prämiffe gefet hat, um eine Conclufion 
zu bilden. Die Stimme, welde gebieterifd), broßend, Tobend, 
verheißend u. f. w. zu dem menſchüchen Berftande ſpricht, kenni 
jeder Menſch, fogar der Atheift Ludwig Büchner. Napıentlich 
bei ruhigem Körper, bei kühlem R fen am Gtexbebette 
eines gutgefannten Menſchen, überhaupt in bedentungsvollen 
Momenten vernimmt ber Menfh, ohne zu concludiren, eine 
directe Diction in feinem Berftand; diefe Stimme im Menſchen 
ift alfo aprioriſch, nicht apofleriorifh wie die "Schlüffe, und 
ann deshalb nichts vom Gehirn Ausgehendes, d. i. nichts der 
Sehirnfunetion Angehöriges, fondern muß vielmehr ein dem 
menſchlichen Berftande Gegebenes fein. 

Diefe Oottesftimme im Menfchen, biefe birecte, zn. 
mittelbare Offenbarung Gottes, melde den Geift bes 
Menden vor dem Thier auszeichnet, ift nad) dem Ver⸗ 
faffer der pſychologiſche Beweis des Daſeins Gottes, der 
zweite neben dem erſten ober phyfilaliſchen Beweiſe aus 
der Schöpfung der Elemente. Außer dem phyſikaliſchen 
und pſychologiſchen führt er aber noch brittens den mora- 
liſchen Beweis bes Dafeins Gottes. Richten wir nämlich, 
jagt er, unſern Blick auf die Schiefale der Menfchen, 
jo finden wir im ben wunderbar imeinandergreifenden, 
häufig höchſt verfchiedenen Berhältniſſen die gerechteſte, 
väterlichfte und zugleich allmächtigſte Würforge, ald deren 
Träger wir nur den Schöpfer der Elemente erkennen 
Tönnen. Dies ift der moralijche Beweis Gottes. Hin⸗ 
gegen den ontologifchen und teleologifchen Beweis — dieſe 
beiden befannten Beweiſe des Dafeins Gottes- Hält er für 
zu ſchwach, um fie dem Materialismus entgegenzuftellen. 

Iſt nun nicht der Atheismus des Materielismus auf 
dreifache Weife von dem Verfaſſer zerjchmettert? Und ift 
durch ihn nicht die Naturwiſſenſchaft mit dem Ehriften- 
thum dauernd verföhnt? Im den Augen aller fo roh Philo- 

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500 Literarifhe Porträts. 


fophirenden, wie ber Berfafjer, gewiß; aber in den Augen 
Fritifcher Denker deſto weniger. Die Halbirung der gött« 
lichen Thätigkeit in eine natürlihe und in eine über- 
natürliche Hälfte, jene in der den Geſetzen der gejchaffenen 
chemiſchen Elemente unterworfenen Natur (inclufive der 
menfhlichen Gehirnfunction), dieſe im überanimalifchen 
Geifte des Menfchen ſich Außernd, befriedigt weder das 
wiffenjchaftliche noch das religiöfe Bedürfniß. Die Wiffen- 
ſchaft ift moniſtiſch, nicht dualiſtiſch. Bor der Wiſſen⸗ 
ſchaft kaun die dualiftifche Entgegenfegung von Gott und 
Delt, Materie und Geift, Menſch und Thier, die der 
Berfaffer macht, nicht beftehen: 

Aber nicht blos die Wiſſenſchaft perhorrefcirt ben 
Dualismus des Verfaſſers, fondern auch der religiöfe 
Glaube. Denn indem diefer Wunder und Gebetserhörung 


annimmt, befchräntt ex die übernatlirlichen, birecten Macht⸗ 
erweifungen Gottes nicht, wie der Berfafler, auf das 
geiftige und gefchichtliche Gebiet, fondern dehnt fie aud 
auf die Natur aus. Nicht erft im Gewiſſen des Men⸗ 
ſchen ftieht der Gläubige bie unmittelbare Offenbarung 
Gottes, fondern auch fhon in der Natur, in ben Wun- 
dern, die er glaubt. Die Chemie ift dem Glauben zu« 
folge fiir Gott keine Schranfe. Er kann fie durchbrechen 
und durchlochern, kann Waſſer in Wein verwandeln, Tann 
Todte vom Tode erweden. Halbheit liebt alfo der Glaube 
jo wenig als die Wifjenfchaft. Glaube und Wiffenfchaft 
find beide montftifch gefinnt, nur beide auf verfchiedene 
Art. Beide müffen daher den Berföhnungsverfuch des 
Verfaſſers entfchieden ablehnen. Iulins Srauenflädt. 
(Der Beſchluß folgt in der nächſten Nummer.) 


Literariſche Porträts, 
(Fortjegung aus Nr. 31.) 


1. Lord Byron. Bon Karl Elze. Berlin, Oppenheim. 1870. 
Br. 8 2 Thlr. 

2. Waſhington Irwing. Ein Lebens» und Eharalterbild von 
Adolf Laun. nei Bände. Berlin, Oppenheim. 1870. 
8 2 Zhlr. 10 Ngr. 

3. Emanuel Geibel. Bon Karl Goedeke. Erſter Theil. 
Mit dem Bildniffe Beibel’8 und einem Facfimile. Stutt- 
art, Cotta. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 

4. Karl Immermann. Sein Leben und feine Werke aus 
Tagebüchern und Briefen an feine le zufammengeftellt. 
Seransgegeben von Guſtad zu Putlitz. Zwei Bände, 
Berlin, Herb. 1870. Gr. 8. 3 Thlr. 

5. Adalbert Stifter's Briefe, beransgegeben von Johan⸗ 
nes Aprent. Drei Bände. Bei, Hedenafl. 1869. 8. 


3 Thlr. 

6. Gräfin Ida Hahn⸗Hahn. Ein Lebensbild nad der Natur 
gezeichnet von Marie Helene. Leipzig, Fr. Fleiſcher. 
1869. 8. 27 Nor. 

7. Friedrich Rückert. Ein biograpbifches Denkmal. Mit vielen 

iSjeßt ungedrudten und unbelanuten Actenfiliden, Briefen 
und Poefien Friedrich Rückert's. Bon 8. Beyer. Frank⸗ 
furt a. M., Sauerländer. 1868. Gr. 8. 2 Thlr. 

8. Dichter, Patriarch und Ritter. Wahrheit zu Rüdert’s Dich» 
tung. Bon C. Kühner. Frankfurt a. M., Sauerläuber. 
1869. ®r. 8. 1 Thlr. 


Die ausführliche Biographie eines noch lebenden 
Dichters zu fchreiben, ift eine fehwierige Aufgabe, deren 
Löfung immer eine lüdenhafte bleiben wird; jebes Dien- 
fchenleben hat feine Geheimnifje, deren Schleier zu lüften 
den Mitlebenden kaum verftattet ift; auch läßt fi nicht 
die Summe eines Dichterlebens ziehen, folange ber 
Tod nicht den abfchliegenden Strid unter bafjelbe ge- 
macht hat. Wie viele Wandlungen, ſelbſt im fpätern 
Alter, haben namhafte Dichter durchgemacht! Der DBio- 
graph Emanuel Geibel's, Karl Goedeke (Nr. 3), ver- 
ſchließt fich keineswegs folder Einfiht; er fagt in der 
Einleitung : 

Biographien lebender Dichter, von denen ich hier eine be- 
inne, fiellen, da weder ein abgefchloffener noch abgeklärter 
toff zu behandeln vorliegt, eigenthümliche Schwierigkeiten 

entgegen. Der fortfcgreitende Menſch verwiſcht im Laufe feiner 
weitern Entwidelung manchmal die Leifiungen, die zu einem 
gewiflen Zeitpunkte den Kern feiner Bedeutung ausmachten, 
duch höhere und vollendetere. Der reifende Dichter, dem die 
Formen feiner Kunft zu gewohnten Lebensäußerungen geworden, 


entfaltet fi bei reiherm und tiefeem Gehalt, wie die fletig 
andauernde Selbfibildung ihn verleiht, nicht felten von völlig 
neuen Seiten. Der fiherer gewordene Blid in die Welt, die 
klarere An qauung vergangener Zeiten und großer Menſchen⸗ 
geihide, die unbefangenere Einſicht in die innern Motive, 
welche das Handeln und Leiden der Gegenwart bedingen, das 
durch Gelingen und Verfehlen erworbene richtigere Gleichgewicht 
zwiſchen den eigenen Kräften und ihrer Anwendung machen die 
Behandlung von Stoffen und Formen möglich, die dem jün⸗ 
gern Talente ſich fpröde verjagen mochten. Was in der glück⸗ 
lihen Ingend eine halb unverftandene Gabe des Genius umd 
mehr ein Treffen als ein Schaffen war, wird ein durchdachtes, 
nad allen Seiten hin bewußtes Herausarbeiten des Nothwen⸗ 
digen und Wefentlihen. Au die Stelle des geiftvollen Ein- 
fall tritt die fünftleriihe Löfung des Probleme. Der erhöhten 
Lebensftufe verdankt die gehobene Kunft ihr Eutfichen. Bon 
diefer Höhe Mindigt fi dann nicht jelten ein Sinten an; bie 
künſt leriſche Einficht ift geblieben und oft noch reifer geworden, 
während die frifche Geiftesfülle, der warme Seefenaud) ge» 
ſchwunden find und das Kunftwerk, umgelehrt wie im Beginn, 
äußerlich volllommener, innerlich flarrer geworden if. Welche 
Unterjchiede zwifchen dem ahnenden Zalent, das mit den For⸗ 
men rang; dem reifen Daum, ber Korm und Gehalt zum vol⸗ 
len Einflang führte; dem in fefter Form erflerbenden Genius! 
Und doch immer derjelbe Menfch in fletiger, naturgemäßer Ent- 
widelnng, deren Epochen fi nach abgeſchloſſener Bahn und 
aus weiterer Ferne deutlich mögen jondern laſſen, dem nahe» 
ftehenden Beſchauer aber unmerflich ineinander verlaufen, um 
fo mehr, je weniger der Umfang der Lebensentwidelung fich 
hinfichtlich des Abſchluſſes berechnen Täßt. 

Zu diefen innern Schwierigkeiten gefellen fih äußere. 
Der lebende Dichter, möge feine Eriftenz noch jo fehr au bie 
Deffentlichleit treten, bleibt von einem gewiffen Dunkel um- 
büllt, da viele und zum Theil die wichtigften Momente, auf 
denen jein Werden und Sein beruht, aus billigen Rüdfichten 
ge en ihn fowol als gegen die Menſchen, mit denen er ver 
ee, fs der Darflelung entziehen. Die Geheimniffe des 
Privatlebens, von denen kaum eins ohne fürdernden oder hem⸗ 
menden Einfluß auf feine geiftige Bildung bleibt, und die fi 
meiftens in feinen Leiftungen, im Ton des Xiebes, im Cha⸗ 
ralter der dramatifchen Schöpfung andeuten, gehören, folange 
die Betheiligten leben, felten der Oeffentlichleit. Wer fie aus 
unmittelbarer Nähe zu überſchauen vermag, wird, in der Be⸗ 
forgniß befangen, zu viel ober zu wenig zu fagen, und im 
Zweifel, ob die eigene neobachtung das objectiv Richtige erfaunt 
bat, lieber leicht darliber weggleiten als umflänblih barauf 
eingeben, nicht de&halb, weil die Sache an fi, nad ihrer 
gejelligen oder moraliihen Seite des verbüllenden Schleiers 





Literarifhe Porträts, 


bedürftig wäre; aber das ſtille Glüd zweier Herzen, die über 
Standesunterfchiede erhabene Freundſchaft zweier Naturen läßt 
fi den Lebenden gegenüber kaum mit voller Unbefangenheit 
erörtern. Wer hätte im Goethe’s blühendem Alter fein Ber- 
bältniß zu Frau von Stein, feinen Freundſchaftsbund mit 
Karl Auguft darftellen mögen wie beutel Niemand, dem die 
Betheiligten werth, das heißt nad ihrer vollen Bedeutung 
lebendig waren, hätte die ſchonungéloſe Dreifligfeit gewinnen 
können, die Lebenden wie geihichtlihe Perfonen zu behandeln. 
Es würde eine Profanirung geweſen fein, deren fich gerade der 
am wenigften ſchuldig machen durfte, der in die Dinge felbft 
am beften eingeweiht war. Und wie viele gibt es denn, 
welche die flillen Tiefen eines Dichterlebens vor dem Abfchluffe 
zu überſchauen vermöcdhten? 

Sleihwol glaubt Goedeke, daß eine biographifch- 
literariſche Darftellung des Dichters Emanuel Geibel 
feiner umftändlichen Befürwortung bedbürfe, fon wegen 
der Stellung, die er als bichterifche Perfünlichkeit that⸗ 
ſächlich in der Literatur” der Gegenwart einnimmt. Auch 
fehle es bisher an einer zufammenfafenden Darftellung 
feines Lebens, und and) die Beurtheilungen der Gefammt- 
erjcheinung Hätten verfäumt, feinen Entmwidelungsgang 
darzulegen. Dies ift die dankenswerthe Aufgabe, der ſich 
Goedeke unterzieht. ‘ 

Mas ihm dabei zu ftatten kommt, ift der Charalter 
des Dichters felbit, der in deſſen Lebenslauf fich fpiegelt. 
Seibel gehört durchaus nicht zu jenen problematischen 
Naturen, die andern und auch ſich jelbit ein Räthſel 
find. Wer durfte e8 unternehmen, bei Byron's Lebzeiten 
eine Biographie dieſes Dichters zu ſchreiben? Auch nad) 
feinem Tode bleibt fo viel Wichtiges dunkel und unent» 
hüllt, und die Urtheile der Biographen gehen nady allen 
Richtungen der Windrofe auseinander. Geibel's Leben 
und Dichtungen dagegen find flar und durchſichtig; feine 
berausfordernden Widerfprüche, feine Ader des Skepticis- 
mus, keine zweifelhafte, noch weniger zweideutige Beleud)- 
tung, nichts Frivoles, Hypergeniales, keine Verirrungen 
wild überfhäumender Kraft — eine, wir möchten fagen, 
geradlinige Entwidelung aus allgemein verfländlichen Vor⸗ 
ausfegungen zu ebenjo verftändlichen Zielen charakteriſirt 
Leben und Werke diefes Dichters. Er ift nicht wie 
Beatrice unter einem tanzenden Stern geboren — Feine 
Ironie des Schickſals Hat einen Poeten von gefunden 
und fhlihten Empfinden in verwidelte Lebenslagen ge- 
bracht, in jene dämonifchen Zwidmühlen, die wir aus 
bem Leben anderer Dichter kennen. Man vergleiche nur 
3. B. das Leben Schillers mit demjenigen Geibel's. 
Welder Sturm und Drang, welche Gewaltſamkeit in der 
Jugend des erftern; und wie glatt verläuft die Bio— 
graphie Geibel’8 durch Gymnaſium, Abiturienteneramen, 
Univerfitätsfiudien, eine Haußslehrerftellung, die allerdings 
dadurch einen poetifchen Heiz gewinnt, daß fie dem Dich⸗ 
ter im Schatten der Akropolis und an den Ufern des 
Kephifſos zutheil wird! Dazu Liebe und Dichtkunſt — 
beide ohne große Kataftrophen in friedlicher Entfaltung. 
Der politifche Conflict in Geibel’8 Leben füllt in eime 
fpätere Epoche. Der vorliegende Band fchildert dafjelbe 
nur bis zum Ueberfiedelung nad) Münden. Die Dar- 
flelung des münchener Aufenthalts und feines difjoniren« 
den Abjchluffes wird in einem in Ausficht geftellten zwei— 
ten Band erfolgen. oo 

Doch auch die Einfachheit. eines folchen Lebenslaufs 


501 


bat ihre Klippen für den Biogsaphen. Da bie großen 
frappanten Züge fehlen, wird er leicht verleitet, auf min- 
der Wichtiges, wir möchten jagen Alltägliches, einen be- 
Sondern Nachdrud zu legen und uns Mittheilungen zu 
machen, denen in der That jede Bedeutung und damit 
jede Anziehungskraft fehlt. Wir wollen ung gern in alle 
Tamilienverhältniffe eines Dichter einweihen laffen, der 
uns lieb geworden ift; wir wollen feinen Stammbaum, 
feine Agnaten und Cognaten mit in den Kauf nehmen, 
feinen Beziehungen zu Titerarifchen Größen zweiten, brit- 
ten und vierten Ranges ohne Ermüdung nachgehen, weil 
in ihnen doch immer eine leife Einwirkung auf feine 
Entwidelung unverkennbar ift; aber wir wollen nicht jede 
Ferienreife des Studenten, jeden Ausflug in der Poſt⸗ 
ſchnecke mit Ausführlichkeit befchrieben fehen. Wir wollen 
feine Befchreibung des Ahrthals Iefen; was kümmert es ung, 
ob der Student Geibel den Thurm des mainzer Doms 
beftiegen hat, um einen Ueberblid über die Gegend zu ge= 
winnen, oder daß er mit feinen Keifegefährten „ermüdet 
und durchfroren” in Darmftadt ankam, oder fpüter, bei 
Gelegenheit einer Reife nach Würtemberg, daß er bei 
dem Weinhändler Lade den Wein im Seller probirte. 
Eine Probe derartiger Schilderungen mag diejenige ber 
Reife des jungen Studenten von Hamburg nad) Det« 
mold geben: 


Nachdem die übrigen Pflichtbefuche abgethan und mit Hilfe 
ber Gene e die Habfeligkeiten wieder gepadt waren, rollte der 
angehende Student, mit einer ſchönen Uhr, die der glitige Oheim 
ihm gefchentt Hatte, im der Taſch“ zum Altonaer Shore hinaus 
ans Dampfihifi, nach Harburg. Auf dem Dampffchiffe traf er 
mit einem alten Senofjen, Namens Erasmi, zufammen, ber die 
Univerfität Göttingen beziehen wollte und die Fahrt bis Han- 
nover mitmadhte. & Harburg Iangten beide etwa um zwei Uhr 
nachmittags am 23. April an. Die Poſt ging erft abends 
zehn Uhr. Die langen Warteftunden wurden mit Spaziergängen 
durch graue Straßen und fandige Pappelalleen des damals 
fehr unbedentenden Städthens verbradt. Als fie in der Däm- 
merung beimfamen, trafen fie zwei junge engliſche Literaten, 
die in demſelben Gaſthauſe eingekehrt waren und bis Hannover 
mitreiſen wollten. Obwol weder die Lübeder fertig engliſch, 
noch die Engländer fertig deutjch ſprachen, wurben fie doch 
bald miteinander bekannt und tauchten radebrechend und fi) 
gegenfeitig aushelfend ihre Liebe und Bewunderung vor ben 
großen Namen Shakſpeare und Byron, Goethe und Schiller 
aus. Die Unterhaltung wurde lebhaft und endete damit, daß 
man Puuſch forderte und die deutſchen und englifchen Poeten 
leben ließ. Auch an einem fomifchen Intermezzo follte es 
nicht fehlen. Plöglih ging die Zhür auf. Eine Fleiſchmaſſe 
im gelben Ueberrod, mitt gedunſenem Geſicht, den weißen Hut 
auf die Stirn gezogen, tritt unbeholfen ins Gaftzimmer, flarrt 
alle eine Zeit lang mit ausdrudslofen Augen an und ruft 
dann im englifhen Accent mit fetter breiter Stimme: „Gebt — 
mid — was — zu — freſſen!“ Einige der Anweſenden konn⸗ 
ten fid) des Lachens nicht enthalten. Der hungrige Gentleman 
braufte auf, bis fi die jungen Engländer ins Mittel legten 
und ihm die LTächerlichleit feines Ausdrucks begreiflicd machten. 
Um 10 Uhr abends ging die Poft ab. Die Heine Reiſe⸗ 
gefelichaft drückte fi in die Eden des Wagens, der Rothrock 
biies die Weife des Mantelliedves, und fort ging's in die Lline- 
burger Heide. Nach langer ermüdender Fahrt langte der Zug 
am 24. abends 6 Uhr in Hannover an, wo die Trennung 
von den Gefährten ftattfand. Crasmi fuhr nad Göttingen 
meiter, wohin damals die Pot beim Beginn des Semefters oft 
hundert und mehr Pafjagiere in langem Zuge beförderte. Die 
glüdlichen Baffagiere des Hauptwagens behielten auf der ganzen 
Route ihre Plätze, während bie in den Beichaifen Untergebrachten 
auf jeder Station die Wagen wechfeln und mandmal froh fein 








502 


mußten, wenn fie gegen Winb und Wetter ein verdedtes Gefährt 
echalten konnten. — Geibel, der nad) Detmold wollte, war 
nicht fo glücklich, gleich befördert zu werden. freitags war er 
in Hannover angelonmen und er am Sonnabend fpät 10 Uhr 

g die nüchſte Poſt nah Detmold, Bekannte hatte er nicht 
in der Stadt. Langeweile die Fülle und in dem damaligen 
Haunover mehr als in einer andern Gtadt gleihen Ranges. 
Aber auch diefe Prüfung ber Geduld mußte beflanden werden. 
Mit einem einzigen Paffagiere wurde endlich die Fahrt nad) 
Detmold fortgejet. 

Diefe höchſt trivialen Begebniffe, die genaue Angabe 
der Stunden, wann bie Poften abgehen und anlommen — 
gehört das wol in eine Dichterbiographie? Dergleichen 
wiederholt fih viel zu oft, um nicht ermübendb zu 
wirken. 

Anders verhält es ſich mit den Begegnungen des 
Dichters mit bekannten und berühmten Perſönlichkeiten. 
In Bonn traf der junge Student 4. W. von Schlegel, 
mit dem fich Fein Verhältnig bildete, während zum alten 
Ernſt Morig Arndt, der alle Geſellſchaften, in denen er 
erichien, belebte, ein mehr als zufälliges beftand. Bon 
Bonn begab ſich Seibel nad) Berlin (1836), wo er flatt 
der Theologie da8 Studium der Humaniora trieb. Hier 
lernte er zuerſt Steffens kennen, von dem er felbft fchreibt: 

Selten babe ih an einem Menſchen eine ſolche Babe ber 
Rede gefunden. Er begann leife und langſam; aber allmählich 
entwidelte fih ein munderbares Leben auf feinen Zügen, die 
Augen glänzten, die Bewegungen wurden heftiger, und die Worte 
firömten von den Lippen wie ein Übertretender Waldbach, ber 
fih ein neues Felſenbette bricht und Steine und Bäume in 
Wirbeln mit fi fortreißt. ° 

Dann wurde er bei Neander eingeführt, ber wenig 
ſprach; die Unterhaltung wurde meiftend von der Schwer 
fter geführt. 

Mit Lachmann machte Beibel befangenen Herzens Bekannt⸗ 
ſchaft. Als er den erften Beſuch abflatten mwollte, fand ihm 
ein Bild vor der Seele, das von Lachmann's firengem, nur 
allzu oft herbem und fchneidendem kritiſchen Charakter genom- 
men war, eine Art von Hagen aus den Nibelungen. Anftatt 
deffen zeigte fich ein Feiner feiner blonder Mann mit Frad 
und Brille, der ihn freundlich aöthigte, neben ihm auf dem 
Sofa Pla zu nehmen, und allerlei über Bonn nnd Lübeck 
fragte. In der Folge wurden gelegentlich einige Spaziergänge 
gemadjt; ein näheres Verhältniß bildete fich nicht. 

Die folgenreichfte Bekanntſchaft war die mit Bettina: 

Nachdem Geibel fie früher einmal verfehlt hatte, ging er 
Mitte Inni wiederum bin und traf fie zu Haufe. Er gab einen 
Smpfehlungsbrief Rumohr's ab, ließ fi) melden und wurde 
angenommen. Als er eintrat, fam fie ihm freundlich entgegen. 
„Sie find mir da’, fagte fie in ihrem frankfurter Dialekt, „von 
jemand empfohlen, dem ich bisjegt noch nicht kenne, denn ich 
faun trog aller Bemühung den Namen der Dame nicht leſen.“ 
Geibel Tieß fi) durch das fonderbare Quidproquo nicht verwirrt 
machen, fondern fagte ihr, fie babe fich diesmal doch verſehen, 
der Brieffieller babe durchaus nichts Damenartiges, es fei der 
Hr. von Rumohr. Kaum war der Name geramt ‚ fo führte 
fie Seibel in ein Meines mit Gemälden, Statuen und Gips 
abgüiffen gejhmüdtes Zimmer, wo ex neben ihr Pla nehmen 
und eine Frage um die andere beantworten mußte: was Rumohr 
teeibe, wie er über ihr Buch ſpreche, ob er böfe fei, daß fie ihn 
bier und dort ein wenig mitgenommen. 

Wilibald Aleris wird als ein einer jchnurrbärtiger 
Mann von gefetten Jahren und mohlwollendem Ausdrud 
gefhildert. Bon Chamiſſo Heißt es: 

Geibel’s fehnlichftee Wunfh war es, mit Ehamiffo, der 
damals den „Deutichen Muſenalmanach“ rebigirte nnd ſchon 
einige aus ber Ferne eingefandte Gedichte Geibel's aufgenommen 


Literariſche Porträts, 





batte, bekannt zu werden. Hitig, ber dies Verlangen lannte, 
ſprach mit feinem alten Freunde darliber und Hindigte dem 
Studenten eines Tags an, er dürfe ohne weiteres zu Cha⸗ 
miffo gehen. Zu Anfang November 1836 trat er bet bem 
verehrten Manne ein, ber ihn freundlich bewilllonmmete und 
in fein hohes, etwas düfteres, von einer Lampe wenig erhelltes 
Zimmer führte. An den Wänden hingen Landlarten; Globen, 
Bücher und Inſtrumente flanden umher. Der Dichter war, 
wie ein Magier, in einen langen faltigen Schlafrod gehüllt, 
eine große hagere Geſtalt. Geibel mußte fid) d. ihm auf ben 
Sofa fegen, und bald war ein Geipräh im Gange, das Cha⸗ 
miſſo äußerſt lebendig, aber in einem fremdartigen franzöfifch 
anflingenden Accente führte. Den Greis, der ſich nad viel- 
bewegte Leben mehr und mehr im ſich gegen die Hänbel der 
Belt abſchließt, wie ihn Geibel nach den letzten Gedichten und 
ben Aeußerungen anderer erwartet hatte, fand er nicht; im 
Gegentheil, er ftand mitten in den Dingen und manchmal brad 
eine Art von Kampfluft gegen die Welt, doc ohne Berbit- 
terung, weit cher als eine Jugendmuthigkeit, hervor. Kurz nnd 
Har fprach er über den Zufland der Titeratur jener Zeit, über 
Drama und Bühnenweien und deren Mängel; dann wieder 
von fernen Ländern, der Südſee und ihren jeltjamen Menſchen 
und Snfeln. 

Raupad) erfcheint als ein Kleines zufammengefauertes 
Männchen mit fchwarzer Perrüfe und fehmarzer Horte 
brille; er madjt eine überaus wegwerfende Miene, fobald 
die Rede auf irgendein neueres dramatiſches Product 
fommt, wirft aud) fonft mitunter ein ziemlich gewöhnliches 
Wort in die Unterhaltung und ſchnupft dabei ungebühr- 
[ich ftarf. Näher wurbe das Band, welches Seibel mit 
Gruppe verknüpfte, und welches zunädft mit dem Inter⸗ 
effe beider Dichter für bie römifchen Elegifer zuſammen⸗ 
Bing. Yranz Kugler’8 Gedichte hatten ſchon früher einen 
tiefen Eindrud auf Geibel gemacht; die Liebenswürdigfeit 
bes Menfchen z0g Seibel nicht minder an. Bald murbe 
er wie ein Mitglied der Familie angefehen. Auch bie 
Bekanntſchaft der Frau Mathienr, die fpäter Kinkel's 
Gattin wurde, eine Frau ſo reich an Talenten, daß ſie 
keins zu künſtleriſcher Vollendung ausbildete, und die 
eine ganze Geſellſchaft mit Geſchichten, Späßen, Reflexio⸗ 
nen zu unterhalten verſtand, machte er im Salon der 
Bettina. 

Durch Savigny's Vermittelung wurde dem jungen 
Dichter die Hauslehrerſtelle bei dem Geſandten von Ka⸗ 
takazi in Griechenland zutheil. Der Abſchnitt, welcher 
den Aufenthalt Geibel's in Griechenland (1838—40) be 
handelt, gehört zu ben interefianteften ber Goedeke'ſchen 
Schrift. Wir Haben e8 hier doch nicht blos mit Pro= 
fefforen und Predigern zu thım, wie im lieben Deutſch⸗ 
land; vornehme Griechen und Türken treten auf die Bühne; 
wir bewegen und unter Platanen und in Delwäldern, und 
die Nichte des Gefandten, Maria Sofiano, ein wildes, 
leidenfchaftliches Mädchen, mit dunfeln Locken und bligen- 
dem Ange, war mindeſtens eine angenehme Abwechſe⸗ 
lung für den Dichter der blonden Minne; bo er erin- 
uerte fi, da er fein problematifcher Spielhagen'ſcher 
Hauslehrer war, der zwifchen ihm und ihr gezogenen Kluft 
und widmete ihr nur ein Sonett: „Der Ungenannten“. 
Die Imfelreife nad) Paros und Naros ift ebenfalls 
intereflanter al8 die von Hamburg nad Detmold, und 
bier läßt man fi eine eingehendere Schilderung gern 
gefallen. 

Die Eindrüde, die Geibel in Griechenland empfing, 
haben freilich nur auf das Colorit feiner Gedichte gewirkt. 





Literariſche Porträts. 


Wie ganz anders iſt dies bei Byron der Fall! Hellas 
hat ſeiner Muſe einen unverkennbaren Schwung gegeben. 
Doch iſt auch ein großer Unterſchied zwiſchen einem rei⸗ 
ſenden Lord und einem reiſenden Hauslehrer. Die Er- 
fahrungen, die der Dichter im feiner untergeordneten 
Stellung ſammelte, find von geringerm ntereffe, und 
was wir von den Gouvernanten der gutgearteten Töchter 
erfahren und von der GSelbftündigfeit, die ſich „Made— 
moijelle Renard“ zu geben wußte, flößt uns auch feine 
tiefer gehende Theilnahme ein, 

Nach feiner Rückkehr hielt fich Geibel von 1840—52 
theils in Lübeck auf, theils an verfchiedenen Orten in 
Deutfhland, wohin er feinen Wanderftab ſetzte. Kin 
ganzes Zahr Lang lebte er als Gaft bes Freiherrn von 
Malsburg in Ejcheberg ein dichterifch freies Leben, ähnlich 
wie fpäter bei mehrfachen Beſuch auf den fchlefifchen 
Bütern des Fitrften Carolath, defien Belanntfchaft er in 
dem Dftjeebade Häringsdorf gemacht hatte Außerdem 
gielt er ſich eine Zeit lang in St.Goar als Freilig- 
rath’8 Gaſt auf, in Stuttgart und Weinsberg, bier als 
Yufinns Kerner's Saft. Einen feftern Halt gewann fein 
Leben erft, ala er ſich 1851 mit Amande Trummer ver- 
Iobt hatte und 1852 von König Marimilian nah München 
als Ehrenprofefjor berufen wurde. 

Seibel’ 8 Biographie bietet bis zu feiner Berufung 
na München kaum eine Seite dar, welche fich nicht 
andy in dem Leben der meiften Literaten und Kandidaten 
fünde. Bornehme Bekanntſchaften und Protectionen be= 
güinftigten den jungen Dichter, der ſchon auf der Schule 
in Lübeck ein fleißiger Schüler und Primus der Prima 
war und ein von allen Ertravaganzen, Abenteuern, polizei= 
wibrigen Berhältnifien und Gedanken freies, regelrecht 
nad) der Schnur gezogenes Leben führte. Da man bie 
beutfchen Dichter bereits im ſynchroniſtiſche Tabellen ge- 
bracht hat, jo wird man fie auch vielleicht einmal mit 
Condnitenliften bedenken; dann dürfte Emanuel Geibel bie 
erfte Nummer gefichert fein. 


Was num in diefes, von feinem Sturm und Drang, 
höchſtens von profaifchen Eriftenzjorgen bewegtes Leben 
ein tieferes Intereſſe bringt, das ift die Entwidelung des 
Dichters, die vielfach fi an die Verhältniffe und Ein- 
drücke des Lebens anſchloß und wie diefes frei von jedem 
Sturm und Drang blieb. Goedeke hat den Zuſammen⸗ 
hang der einzelnen Gedichte mit den perfünlichen Bezie- 
Hungen des Dichterd mit vieler Sorgfalt aufgeſucht und 
nachgewiefen; er hat jedes der Hauptgedichte einer liebe- 
vollen Analyſe unterworfen, die nur felten, wie bei ber 
Tragödie „Roderich“, zu Eritifchen Bedenken führt. Die 
lebendige Auffafjung und Zergliederung der Gedichte von 
feiten des gebiegenen Literarhiftorifers bildet den anziehend- 
Ten Beftandtheil des Werks. Doc, je größer Goedeke's 
Gewiſſenhaftigkeit ift, namentlich im Nachweis der litera- 
riſchen Zufammenhänge und poetiſchen Vorbilder des 
Dichters, defto deutlicher ift e8 und geworden, daß, wer 
nigſtens in biefer erften Epoche feines dichterifchen Schaf. 
Jens, Seibel durchaus ein Nachdichter aller von ber zeit 
genöffifhen Literatur angefchlagenen Töne iſt und einer 
wahrhaft jchöpferiichen Originalität ermangelt, die bei 
andern jungen Dichtern oft minder formgewandt, oft hart 


503 


und ſchroff, aber doch mit den gewaltigen Exruptionen einer 
urfprünglichen vullanifchen Kraft auftritt. 

Wir wollen uns bei dieſem Nachweis jebes eigenen 

Urtheils begeben und uns ftreng an die Ausſprüche bes 
Biographen anjchliegen. Schon auf der Schule dich⸗ 
tete Geibel, und ein fehr wefentliches Element in ber 
formalen Entwidelung feiner jugendlichen Poeſie bilbete 
die Belanntfchaft mit Heine Er erlag dem Eindrud 
der Heine'ſchen Lieder, weil er nod nichts entgegen« 
zufegen hatte. 
Berezeichnend iſt e8 aber, daß die tronifche Seite Heine’s Feine 
Gewalt über ihn gewann. Das tränmerifhe Wogen des jungen 
Herzens ging in den weichen Strom ber fentimentalifhen Lyrik 
Heine’8 über. Da ftieg die file Rotosblume (die fpäter in eine 
Wafferrofe verwandelt wurde) aus dem blauen See; da träumte 
die dufterfüllte Blüte am Drangenbaum von künftigen Früchten, 
wie die Blüte des Herzens von den goldenen Frlichten Liebesleid 
umd Liebesluft; da waren die Sterne fromme Lämmer — nein! — 
Silberlilien? Nein ; lichte Kerzen am Hochaltare? Nein: e8 waren 
Silberlettern, in denen ein Engel auf das blane Tuch des Himmels 
taufend Lieder der Liebe gejchrieben. Da war der Dichter das Meer, 
über welches feine Lieder mie Sonnengold binziehen, während, 
wie die Perlen in der dunleln Ziefe ruhen, fein dunkles Herz 
ſchweigend in verborgener Bruft blutetl Daun wieder waren 
die Lieder Goldpokale, darin die Liebe ala Wein Ichäumte, aus 
denen bie Geliebte kurzweg zu trinken aufgefordert wurde, bis 
fie dem Dichter im holden Raufche an das fehnjuchtsvolle Herz 
fine. Oder num ruhten alle Wipfel und leiſe floß ber Rhein, 
die blauen DBergesgipfel Leuchteten im Mondenſchein — ganz 
fo, al8 ob da8 Heine'ſche Lied von der Lorelei nod einmal ge- 
ſchaffen werden müſſe. 


Daneben zeigen ſich Nachklänge aus Franz Kugler's 
Gedichten. Bon den Gedichten ded Studenten Flingt bie 
„Rothenburg in Anlage, Ton und Wendung, nad 
Goedeke's Ausſpruch, an Anaftafius Grün in feinem 
„Schutt“ an, während in dem kriegeriſchen Genrebild 
„Der Hufar“ ein Ton Rilolaus Lenau's hindurchklingt. An 
Rückert erinnerten dur ihren gleihförmigen Bau und 
die ausgefponnene Bildlichkeit einige berliner Gedichte: 
„Ich bin die Roſe auf der Au’ und „Wenn die Sonne 
hoch und heiter Lächelt”“ umd „Der Ritter vom Rhein“, 
und fpäter, wie wir Binzufügen wollen, die „Schleswig- 
Holfteinifchen Sonette”. Verſe wie der folgende: 

Seid eine, fonft muß ich euch gleich fpröden Erzen 

Zerbrechen oder neu zuſammenſchmieden | 

Im Feuer meines Zorns und eurer Schmerzen — 
find ganz wie aus den „Geharnifchten Sonetten“ entlehnt. 
Bon dem „Mädchen von Albano” fagt Goedeke, daß 
Seibel es auch einmal in Gaudy's Manier verfuchen 
wollte. Den Ton des norbifchen Heldenlieds verfuchte 
Seibel in den Balladen: „Zwei Könige” und „Der 
legte Stalde”. Die Einflüffe Chamiſſo's und namentlich 
Freiligrath's find in fpätern Gedichten unverkennbar. In 
dem Gedicht „Der Stan“ erlennt Goedeke ſelbſt eine 
formelle Einwirkung ber Freiligrath'ſchen Darftellungsweife 
im Bau der Strophe wie in der Iyrifchen Objectivität an. 
In „Clotar“ zeigt fi) nach Goedeke in dem feinlaunigen 
Gemiſch von lachender Sative und Igrifchem Schmelz die 
Einwirkung des „Don Juan“ von Byron. Im claffiichen 
Athen fludirte er den marmornen Dichter Platen, der ihn 
zu größerer Klarheit und Schönheit der Formen führte. 
Er hat Platen nicht nur mehrfach mit DBegeifterung be⸗ 
fungen, ex bat auch in leichten, für Freundeskreiſe be⸗ 
ſtimmten Gedichten, Heinen ariftophanifchen Luſtſpielen 





504 Literariſche Porträts. 


und Parabaſen mit ihm zu weiteifern geſucht. Zahlreiche 
Nachdichtungen claſfiſcher Dichter trugen dazu bei, ber 
Form Geibel's eine größere Plaſtik und Klarheit zu ge- 
ben. Georg Herwegh, ein politifcher Antagonift, wirkte 
in Deutichland nach der Rückkehr wiederum auf Geibel’s 
Boefle. Das Lied: „Ich möchte fierben wie der Schwan“, 
ft ein ſchwacher Abklatſch des Herwegh'ſchen: „Och 
möchte bingehn wie das Abendroth.” Das Gegengebicht 
gegen Herwegh ift ganz von Herwegh'ſchem Geiſt dictirt; 
den Schlußvers hätte Herwegh felbft nicht zu verleug- 
nen brauchen: 

Ich fing’ um feines Königs Gunft, 

Es herrſcht fein FZürft, wo ich geboren; 

Ein freier Prieſter freier Kunft 

Sab’ ich der Wahrheit nur geſchworen. 

Die werf’ ich keck dir ins Geſicht, 

Keck in die Flammen beines Branders; 

Und ob die Welt den Stab mir bridt: 

In Gottes Hand if das Gericht; 

Gott beife mir! — Ich kann nicht anders. 

Spätere Gedichte: „Der Ticherkeffenfürft”, „Der Alte 
von Athen“, find eine Mifhung von Herwegh und Freir 
ligrath, defjen Eigenthümlichleit bei Geibel doch in etwas 
abgeblaßter Copie erfcheint, und wo Geibel eine politifche 
Attitude annimmt, da fteht er auf Herwegh's Poftament. 
Spanische und ferbifche Bolkslieder wirkten beftinmend 
auf den Ton einzelner Geibel'ſchen Gedichte ein. 

Fürwähr, eine buntere Mufterfarte von Einflüffen zeigt 
wol die Entwidelung keines andern deutfchen Dichters. Alle 
biefe Vorbilder: Heine, Anaftafins Grim, Rüdert, Platen, 
Freiligrath, Herwegh, hatten einen unverwiſchbaren Zug 
Iräftiger Eigenheit, während Geibel fih an alle der Reihe 
nad anlehnte. Nur in einigen Liebesliedern fieht Goedeke 
die Eigenthümlichkeit des Dichters: 

Das war Geibel’8 eigenfter Ton. Diefe einfachen Seelen- 
Iaute haben ihm zuerft die Gunſt gewonnen, deren er fidh feit- 
bem danernd erfreut hat. Es gab Dichter genug, mit denen 
er unter ben Zeitgenofjen um den Kranz zu ringen hatte, im 
Liede der Liebe fand er hinter feinem zuriid. Seit Goethe 
war wenigfiens feiner, felbft Uhland und Rückert nicht, fähig 
geweſen, das frohe Glück der Liebe fo einfach und feelenvoll ans» 
zuſprechen wie @eibel, bei dem man fühlt, daß er wahrhaft 
empfindet, was er Iogt- Das Liebeslied ift nicht das Höchſte 
der Lyrik, aber in aller Poeſie gibt es nichts Höheres als ven 
vollendeten Anshrud defien, was den Dichter als Inbegriff der 
edeln Menſchheit erfüllt. 

Der Eklekticismus war das Kennzeichen jener Gedicht. 
jammlung, welche von der Kritil wenig Beachtung, bei dem 
Publikum defto freundlihere Aufnahme fand und jet be- 
reits in der vierundjechzigften Auflage vorliegt. Die Ges 
finnung Geibel's war redlich und überzengungstreu; aber 
feine Weltanfhauung ging nicht weit über das Credo der 
religidfen und politiichen Mittelparteien hinaus; nirgends 
zeigten fich in feinen Gedichten bewegende Reformgedanken, 
bie in die Zukunft binausmeifen. Erſt in feiner fpätern 
Epoche gab dieſer Ellekticismus eine neue, edle und voll- 
tönende dichterifche Miſchung. 

Das Buch Goedeke's ift vortrefflich gefchrieben und 
wird jedem Freunde des Dichters, jedem Freunde ber neuern 
Literatur willlommen fein. Gefpannt find wir auf den 
zweiten Band, der uns das einheitliche Gemälde des 
münchener Lebens vorführen fol. 


Kein größerer Gegenfag, als ber zwifchen Geibel und 
Immermann; jener einer der weichſten, dieſer einer der 
hürteften, ſchroffften Dichtercharaktere der nenern Zeit, 
Guſtav zu Putlitz hat foeben eine eingehende Biograpfie 
Karl Immermann's (Nr. 4) herausgegeben, welde mit 
Benugung feiner Briefe und Tagebücher und ein Cha» 
rolterbild des merkwürdigen Mannes entwirft. Und im 
der That ift das Reſiduum einer ernften Gebanfenarbeit, 
das uns in dieſen fchriftlichen Aufzeichnungen erhalten ift, 
in vieler Hinficht interefjanter als manches der poetifchen 
Werke des Dichters, die zum Theil früher Vergeſſenheit 
verfallen find. 

Wir konnten bei der Lektüre biefer umfaſſenden Bio 
graphie ein Gefühl der Wehmuth nicht unterdrüden über 
das raftlofe Streben eined begabten Mannes, liber bie 
Träume von Unfterblichkeit, die ja allein einen Dichter 
über die geringe Anerkennung der Zeitgenoſſen tröften kün- 
nen, und dann über ein literarhiftorifches Facit, das die, 
fen Träumen fo wenig entfpridht. Denken wir nur an die 
dramatische und dDramaturgifche Thätigkeit Immermann's — 
welch ein Aufwand geiftiger Kräfte, welch ein das ganze 
Leben erfüllender Inhalt, und doch — der Reft ift Schwei⸗ 
gen! Diefe Stüde entfprecden alle dem Zitel des lebten; 
fie find „Opfer des Schweigens” geworden. Wer fpridt 
von ihnen noch? Kalt verzeichnet fie die Titeraturgefchichte, 
um ihr bibliographifches Gewiſſen nicht zu fchäbigen, und 
bier und dort taucht das „Zrauerfpiel in Tirol“ auf, um 
nad einem errungenen succes d’estime wieder in ben 
ZTheaterbibliothefen zu verfchwinden. Und auch die düfid- 
dorfer Mufterbühne bleibt nur eine Quriofität unferer 
Theatergeſchichte — wo find die Spuren ihres Wirkens? 
Selbft das Calderon⸗Tieck'ſche Repertoire, welches ein 
ihrer Specialitäten war, bat Teine Wurzeln gefchlagen auf 
bem beutfchen Theater und ift ein Experiment geblieben, 
Wollen wir die Spuren ber Tieck'ſchen ironiſchen Märden- 
Dichtungen weiter verfolgen, fo finden wir fie jenfeit bes 
Rhein in den Offenbach'ſchen Burlesken. Tieck's ironiſcher 
„Blaubart“ und der burleske Offenbach's find wahlverwantt. 





J 





Bon Immermann's ſämmtlichen Schöpfungen Hat ſich 


nur der Roman „Münchhauſen“ einer nachhaltigen Wir⸗ 
fung zu erfreuen und lebt noch fort in der Gegenwart, 

Und doch — welch ein reicher, tiefer Geift der Dichter 
war, das tritt und wieder aus dem Werke von Butlik 
lebhaft entgegen. Sein Talent aber hatte etwas Spröbes 
und Starres, das ſchwer in Fluß fam. Die Shaffpearo- 
manie mit ihren gefuchten und verzwidten Eigenheiten war 
feinen erften Dramen verhängnißvoll, wie allen feinen 
Dichtungen ein Tieffinn, dem es an Durchfichtigkeit ehlte 
und der bie künſtleriſche Harmonie in bedenklicher Weife 
erfchwerte. Seine Harften Gedanken und fchönften Ge 
ftalten Tiefen ſtets in einen romantifchen Fiſchſchwanz ans, 
Ya fein Leben zeigt diefelbe Unklarheit; denn er ift fid, 
wie aus der Biographie von Putlitz hervorgeht, eigentlih 
Jahre lang über fein Verhältniß zur Gräfin Ahlefeldt 
jelbft nit Mar geworben und bietet das merkwürdige Bei- 
fpiel eines preußifchen Beamten, der allen Traditionen 
feines Standes zum Trotz mit einer ihrer Standesvorrechte 
vollbewußten Gräfin in wilder Ehe lebte und dann fogar 
einen Abftecher auf ein Gebiet machte, das dem preußi⸗ 
fen Beamtenthum als ganz abgelegen gilt. Ein Gerichts⸗ 


Titerarifhe Borträts. 


rath als Theaterdirector ift eine Anomalie in den Anna⸗ 
fen defjelben. Immermann erhielt zwar aus befonderer 
Bergünftigung Urlaub zu diefer Directionsführung ; gleich» 
wol war fie in feiner Condnitenlifte ein nicht minder 
fhwarzer Fled als fein Verhältniß zur Gräfin Ahlefeldt, 
und er durfte fich nicht wundern, wenn ihm im Avance- 
ment immer andere Käthe vorgezogen wurden. 

Abgefehen von dieſen beiben romantijhen Excurſen 
feiner Neigung bietet Immermann’3 Leben wenig Abwechſe⸗ 
lung. Er ift, mit Ausnahme eines Beſuchs in Holland, 
nicht über die Grenzen Deutfchlands Hinausgefommen und 
hat nur in feiner Jugend den Weldzug von 1815 mit» 
gemadt. Pecuniäre Sorgen ziehen ſich wie ein rother 
Baden durch fein ganzes Leben; der Conflict zwijchen dem 
Dichter und Beamten, ein innerer und äußerer Conflict 
zugleih, bilden das verfiimmende Element in demfelben, 
während Heine Dichterfreuden, Ausſichten auf Auffüh- 
zungen ber Stüde, hier und bort errungene Erfolge, 
günftige Kritifen u. dgl. m. die lichten Punkte darin aus⸗ 
maden. 

Ueber die Entftehungsgefhichte der Biographie, welche 
urfprünglich für die nicht zu Stande gelommene Gefanmt- 
ausgabe der Werke des Dichters beftimmt war, theilt 
Putlitz in der Vorrede Yolgendes mit: 

Die Freunde Karl Immermann’s hatten längſt eine Lebens- 
beſchreibung defjelben verlangt und das um fo dringender, jeit 
eine andere Lebensichilderung veröffentlicht war, zwar nicht des 
Dichters ſelbſt, aber doch mit eingehend in feine Schidjale, und 
in dieſer war fein Bild nicht nur verzerrt, fondern dur Ent- 
ſtellung der Facta fogar fein Charakter in faljches Licht geftellt. 
Bas fi) dem Wunſche der Freunde entgegenftellte nnd zugleich 
das vorliegende Buch entfiehen ließ, wie ich es heute dem Leſer 
übergebe, ift dies: Die unumgänglid nothwendigen Quellen 
zur Xebensbeihreibung des Dichters waren Briefe und Tage⸗ 


. büdger, die fich in den Händen feiner Familie befanden und von 


diefer in faft zu weit gebender Discretion zurlidgehalten wur⸗ 
den oder doch nicht fremden Händen zur Benutung anvertraut 
werden follten. Da fand fih im Kreife der Verwandtſchaft 
ſelbſt eine Hand, die fidy muthig der mühevollen Aufgabe unter- 
zog, das Material zu fammeln und aus den Briefen zu excer⸗ 
piren, um fo dem Biographen vorznarbeiten. So einfach das 
anfangs erſchien, fo ſchwierig ftellte es fich bald Heraus. Ueberall 
mußten zu den lückenhaften Einbliden, die die Briefe gewähr- 
ten, die Ergänzungen und Bermittelungen gegeben werden; die 
Documente, die nur dem Inhalt, nicht dem Wortlaut nad) 
brauchbar erſchienen, mußten umgefchrieben, combinirt und ge⸗ 
Hirzt werden: und fo gewannen bie Excerpte immer vollere, 
voflftändigere Geftalt, und es wurde unwillkürlich ein gejchlof- 
fenes Ganzes, das einem neuen Bearbeiter faum etwas zu thun 
Hbrigließ; ja die Gefahr, an der Urfprünglichfeit der Faſſung 
etwas zu verderben, lag näher, al8 die Hoffnung, das zuwei⸗ 
fen mit der objectiven Kälte des Vorarbeitere geformte Material 
wärmer beleben zu können. Nicht ohne Widerftreben fligte man 
fi dem Entihluß, die fleißige Sammlung und Bearbeitung 
des Materials, die jo, ohne es zu mollen, zur jelbfländigen 
Biographie geworden mar, als ſolche der Deffentlichleit zu über⸗ 
geben; aber die Hand, bie anfangs fo ſicher die Feder geflihrt 
hatte, legte diefe nieder, als eigene Erlebniffe und Empfindun- 
gen ihr die Objectivität zu rauben drohten, die fie bis dahin 
fo gemifjenhaft feitgehalten hatte, und fie trug num für den 
letzten Abſchnitt des Werks einen andern das Dlaterial zu, um 
den Bau zu vollenden, den fie faft bis zum Abfchluß feibitändig 
errichtet hatte. Daß diefe letzte Aufgabe ſowie die Herausgabe 
mir übertragen wurde, war wieder fein Zufall, und wenn ich 
meinen Namen anf ein Bud) fee, das dem Andenken Karl 
Immermann's gewidmet ift, fo ift das nicht vordrängende Ber» 
mefjenheit, fondern Erfüllung mehrfacher Freundſchaftspflicht. 
1870. 82. . 


505 


Putlig Hatte einen Hauslehrer, der ein jüngerer Mit» 
jhüler Karl Immermann’s gewefen war, und wurde jelbft 
ein Schüler von Immermann's jüngerm Bruder Ferdi⸗ 
nand. Außerdem war Putlig der jungen Witwe, mit 
der er zuſammen aufgewachjen war, in treugefchwifter- 
licher Freundſchaft verbunden und ift e8 geblieben. Auch 
den Dichter felbjt hat er perfönlich kennen Iernen: 

Karl war nad) Magdeburg gelommen zur Tanſe vos Fer⸗ 
dinand’s Erſtgeborenem, und ich jah ihn im Kreiſe feiner Fa⸗ 
milte, in dem er Marianne fennen lernte, bie ein Jahr fpäter 
jeine Gattin wurde. Mit melder Spannung und Scheu trat 
id, halb noch ein Knabe, dem Dichter entgegen, den ich fo 
lange Hatte nennen hören, deſſen Dichtungen ich alle kannte nud 
urtheilelos bewunderte. Wie imponirte mir bie fräftige Geſtalt, 
die hohe gewölbte Stirn, das kluge Auge, die fchmalen aber 
energisch aufgeworfenen Lippen. Und dann las er „Heinrich IV.’ 
von Shalfpeare mit kräftig heldenmäßigem und doch fo modu- 
fattonsfähigem Organ und dramatiih anfhaulihem Bortrag- 
Mit welchem überjprubelnden Humor gab er Falftafj wieder 
nnd erläuterte, als die Vorleſung gejdjloffen war, feine Auf- 
faffung durch allerlei Schilderungen der Wirkung bei der von 
ihm geleiteten Darftellung in Düſſeldorf während feiner Theater» 
leitung. Ja, er hatte jelbft einmal den Falftaff in einem Freun⸗ 
besfreife gejpielt. 

So war die Herausgabe der Biographie ein Act der 
Pietät,; die auch ans allen den ergänzenden und abjchlie- 
Benden Zeilen fpridht, in denen der biographifche Inhalt 
zufammengefaßt wird oder eine feinfinnige Kritik die Werke 
des Dichters in ihrer Bedeutung erflärt. 

Immermann war 1796 in Magdeburg geboren und 
war der Sohn eines Kriegs⸗ und Domänenraths. Zu 
feinen Sugenderinnerungen gehörte der Durchzug ber preußi⸗ 
jhen Flüchtlinge nah der Schlaht von Jena. Nach 
tüchtigen Öymnaflalftudien, die durch poetifche Verſuche 
und theatralifche Probefpiele nicht beeinträchtigt wurden, 
bezog Immermann 1813 bie Univerfität zu Halle, um 
Jurisprudenz zu ſtudiren. Die Borlefungen wurden durch 
Kriegsereigniffe unterbrochen. Napoleon hob im Auguft 
1813 die Univerfität Halle auf. Immermann trat in 
das erfte Jägerdetachement des Leib-Infanterieregiments; 
doch wurde er durch ein Nervenfieber zurückgehalten. Spä- 
ter betheiligte er fi) 1815 bei den Schlachten von Ligny 
und Waterloo und Tehrte als Offizier zurüd. Bei jpätern 
Stubentenunruben in Halle trat er entfchieden gegen Die 
Burfchenfchaft Teutonia auf, melde ſich als eine Art von 
Sittengericht conftituirt hatte. Eine Eingabe, die Immer⸗ 
mann an ben König machte, Hatte die Aufhebung der 
Tentonia zur Folge. Immermann wurde dadurch im 
höchften Grade unpopulär und die Flugfchriften, die er 
auf diefen Anlaß hin veröffentlichte, wurden bei dem Wart- 
burgfefte mit verbrannt. " Im Jahre 1818 machte Immer- 
mann fein erſtes juriftifches Examen; in dieſe Zeit fällt 
eine ſchwärmeriſche „‚erfte Liebe‘. Bon Magdeburg wurde 
Immermann 1819 nad Miünfter verfegt ald vortragender 
Auditene beim Generalcommando. Es iſt ein pilantes 
Zufammentreffen, daß Immermann's eifrigfter Mitftre- 
bender in der dramatifchen Arena, Grabbe, aud) längere 
Zeit Auditeur war. Im diefe Zeit fallen „Gedichte, denen 
jeder melodifche Fluß fehlt, und die erften Trauerfpiele: 
„Das Thal von Ronceval“ und „Edwin“, im ganzen 
verfünftelte und ungenießbare Productionen. Auch das 
phantaftifch tolle Luftfpiel: „Der Prinz von Syrakus“, 


| wurde in Münfter abgefoßt. Außerdem erſchien eine Art 


64 


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wir ul Sc 


506 Literarifhe Porträts. 


von Roman: „Die Papierfenfter eines Eremiten‘‘, in wel- 
hem ein Ton der Zeit angefchlagen wurde und der tro& 
mancher Rängen und Uebertreibungen lebendig wirkte. Wenig 
erfreulich ift der darin herrſchende Humor. Ueber diefe 
Erftlingswerke erhalten wir die folgende Kritik: 
Gedankenreich iſt feine Welt, Träftig, kühn, nicht hohle 
Worte und leere Phraſen ſpricht er aus. Seine Dichtungen 
find Belenntnifje feiner Seele, und in allem, was er darſtellt, 
will er als Priefter anvertraute Geheimniffe im rechten @eifte 
verfündigen. Noch fehlt dem flogen Bau die Vollendung, nod) 


liegt um ihn zerfirent Geftein, noch entbehren feine Gebtlde die 


verfnüpfende Anmuth, in der fih erft völlig die Blüte der 
Schönheit entfaltet. Richt gleichgültig empfing die Kritik dieje 
erſten größern Arbeiten des jungen Dichters, obmol fie vieles 
on ihm tabelte und zu tadeln berechtigt war. Aber man er» 
fannte an, daß ferne Irrthlimer Fehler der Kraft, nicht Mängel 
der Schwäche waren, und darum regte ihn manche Öffentliche 
Stimme mit ermnthigender Theilnahme an. Bei aller Ent- 
fchiedenheit des Auftretens glaubte man Immermann übrigens 
nicht frei von Nachahmung, namentlicd; ward ber Bormwurf laut, 
er babe ſtark ſhalſpearifirt. „Zum Theil kannte ich nicht ein- 
mal“, fagte er fpäter, „was ich follte copirt haben. Ich hatte, 
ohne daß ih mich mit Shaffpeare zu vergleichen wage, eine 
eigene freie, feltfame Weltanihanung wie er, das mag denn 
Hin und wieder die Aehnlichleit, die den Schein der Nach⸗ 
ahmung trug, erzeugt haben. Später follte ih Schiller nach⸗ 
geahmt haben und zuletzt nun Goethe in den «Epigonen». Ich 
habe mich nie vor Muftern gejchent und vor Reminiſcenzen, 
denn ich war mir meines Eigentums bewußt und wußte übri- 
gens auch, daß noch niemand mit Stiefeln nnd Sporen iſt aus 
feiner Mutter Leib gekrochen, fondern daß jeder fi an Vor⸗ 
bilder angelehnt bat. Zweifellos trat übrigens in allen biefen 
Schöpfungen der Einfluß hervor, deu die Romantil auf den 
Dichter gefibt hatte. Die Willkür, die in diefer herrfchte, fagte 
dem nod nicht in jenen Schranten gefaßten Geifte zu, nnd 
verführte ihn, mit kühnen Sprüngen tiber die formellen und 
innerlihen Schwierigleiten wegzugehen, bie ihm entgegentraten. 
Der Reiz der Schule hatte feine jugendliche Bhantafte ergriffen, 
ihre Poeſien klangen friſch und lieblich durch feine Studienjahre, 
umd wir merben beobachten, daß er nur allmählich von einer 
Einwirkung frei wurde, die ihm einen feiner Natur eigentlich 
fremden Ton gab. 

Die Nachahmung der Shakſpeare'ſchen Eigenheiten und 
zwar gerade der baradften, die dem vergänglichften Zeit- 
geſchmack angehörten, die Bhantaftereien der Romantik und 
eine gewiſſe refervirte Vornehmheit Liegen diefe Werke im 
Grunde als verfehlt erjcheinen, ſodaß die obige Kritik 
eine viel zu günftige ift. 

Die verhängnigvollite Belanntfchaft in des Dichters 
Leben war diejenige mit Elife von Lützow⸗-Ahlefeldt. Der 
Biograph findet, daß Hiermit eine Verbunfelung in dem 
Leben des Dichterd beginnt. Im Jahre 1821 wurde 
Immermann in das Hans des Generals von Lützow ein⸗ 
geführt. Anfangs war der Verkehr ein fchläfriger: 

Erft ale bei dem Erfheinen bes „Prinzen von Syrakus“ 
Fran don Lützow das Stüd mit der ihr eigenen warmen 
Empfindung gegen alle Angriffe vertheidigte, als allerliebfte 
rothe Blättchen ın des Dichters Zimmer flogen und ihn drin- 
gend zu vertraulichen Beſuchen aufforberten, begann der Antheil 
der ausgezeichneten Frau anziehend und verwirrend zu wirken. 
„Ich war drauf und dran‘, ſchrieb Immermann bamals dem 
Bruder, „den dummften Streih in meinem Leben zu machen 
und mich in eine Frau zu vergaffen und fo muthwillig das 
Schöne geiftige Verhältniß zu zerflören, welches ein edles Weib 
mit Vertrauen zu bilden im Sinne bat. 

Bon ber Gräfin Ahlefeldt entwirft der Biograph das 
folgende Bild: 


Elife von Lützow gehörte zu den Erſcheinungen einer ab- 
gethanen Zeitperiobe, welde der Gegenwart kaum noch ver« 
ftändlih find, und auf welche die Romantik, unter deren Herr⸗ 
ſchaft fie fich entwidelte, einen ebenfo anziehenden als gefähr- 
lichen Einfluß übte. Ste übertrug die Anſchanungen, im welchen 
fi) eine geiſtreiche aber phautaſtiſche Titeratur bewegte, anf das 
wirkliche Leben, und zwar zu einer Zeit, in welcher große Welt⸗ 
erfchüitterungen alle Berhältnifie aus ben gewöhnlichen Bahnen 
riffen. Das Ungewöhnliche war damals nicht felten das Be- 
rechtigte, und Eliſe gehörte zu denen, welche einen befonbern 
Heiz gerade in den Berhältuiffen fanden, die fi außerhalb des 
Gewöhnlichen entwidelten. Sie geriet dadurch in einen Irr⸗ 
tum, aus welchem ſich ihr felbft ein Schweres tragiſches Geſchick 
entwidelte und durch welchen fie auch einen dunkeln Schatten 
über Immermann’s Leben warf. 


Man vergleiche übrigens die Biographie von Ludmilla 
Aſſing, die allerdings entfchieben für die Gräfin Partei 
ergreift, aber doch vielfah die Mittheilungen der vorlie 
genden Lebensbefchreibung ergänzt. Die Liebenswürdigkeit 
und die Vorzüge ber Gräfin werben auch von Putlig mit 
Wärme anerlannt. Für Immermann’8 Scelenfrieden blieb 
das Verhältniß ſtets ungenügend und ftörend. Er jelbft 
ſchreibt in einigen unfhägbaren Blättern feiner jpätern 
Lebensjahre darüber: 


Selten bat wol das Geſchick ein jeltiameres Verhältniß 
geftiftet als dasjenige, welde® die Leidenjchaft zwiſchen der 
Gräfin und mir herbeigeführt Hatte. Ich nenne ımfer damali- 
ges Geflihl eine Leidenichaft und vermeide dag Wort Liebe, weil 
der ſtarken und beftigen Empfindung von Anfang au viel Irres 
und Wirres beigemifcht war. Unſer Berhältuiß entwickelte fi 
meiftentheil® von jeher wur in der Form des Kampfes zwiſchen 
zwei entgegengejegten eigenartigen Naturen, denen ganze Re⸗ 
ionen des andern Theils dunkel und unzugänglich blieben. 
azu kam, daß die Frau, in ihrem fünfunddreißigſten Jahre 
fiehend, ihrem ganzen Weſen nad) fertig und abgeichloffen war, 
ber Mann, 26 Jahre alt, nod mit allen braufenden Kräften 
nad Entwidelung rang. Ich darf mit Wahrheit fagen, daß 
ih in diefen vierzehn Sch 
Bingerifjen, nie aber eigentlid glücklich geweſen bin; fern fei 
e8 aber von mir, das, was mtr einft thener war und, wenn 
auch in anderer Art, ewig theuer bleiben wird, zum beichelten. 
Nein! Wenn ich litt, jo war es mein böfer Stern, nidt bie 
Schuld der Armen, die ja oft gar nicht wußte, wie tief fie 
mich verlegte! Wenn ich aud hier, wo es um Wahrheit geht, 
den nnlösbaren Zwieſpalt unſers Weſens nicht verfchweigen 
darf, fo muß ich doch hinzufegen, daß fie getban hat, was in 
ihren Kräften fland, daß fie mir taufend Opfer gebracht Hat, 
und daß ich bis an mein Lebensende ihr großes Gemäütb ver- 
ehren werde. Indeſſen gleicht diefes einen ſolchen Urzwift, wie 
ih ihn andeutete, nicht aus. In der Freundfchaft Tann man 
den andern theilweife nehmen und fchäten, die Liebe aber ver- 
langt dem ganzen Menfchen ohne Abzug und Ausnahme; umd 
der ganze Menſch gehörte niemals weder ihr noch mir. Die 
Grundverſchiedenheit unferer Charaktere bethätigte fich fogleich 
an der Lebensfrage unfers Verhältniffes. Ich hatte von Anfang 
an auf die Ehe gebrungen, al® das einzige Heil. Nach heftigen 
Scenen jhien fie fi meinem Verlangen zu fügen, plöglidh 
aber fprang fie in da8 Entgegengefegte über — meinen Wunſch 
entichieden verjagend. 


Die Gräfin wollte mit Immermann nur ihren Ge— 
fühlen leben und weigerte fich entſchieden, eine Ehe 
mit ihm einzugehen. Eine foldhe erfchien ihm nicht un⸗ 
bedenklich, aber doch als ber einzig fittliche Ausweg, wel- 
her den geheimen Kriegszuftand- endete, in dem er mit 
den Menſchen lebte. Bon Jahr zu Jahr wuchs die Ber- 
ſtimmung zwifchen beiden, bis in ber jugendlichen Ma- 
rianne dem Dichter die Erlöfung kam, feiner Freundin aber 
durch diefe Liebe und die Ehe mit ihr ein tiefer Seelen⸗ 


ven zwar oft angeregt, entzlidt und 


Der malaiifche Archipel. 


ſchmerz bereitet wurde. Die legten Kapitel des zweiten 
Bandes behandeln diefe geiftig verjlingende Liebe, einen fpät 
eintretenden Lebensfrühling, der durd den frühen Tod 
des Dichters ein plögliches Ende fand. Dieſe Kapitel 
gehören zu den anmuthigften der Biographie. Immer» 
mann gibt fid) Übrigens damals viel Mühe, fein Ver⸗ 
hältniß zur Kirche und zur Religion fich felbft und feiner 
Braut auseinanderzufegen. Faſt jcheint es, als ob er 
fi) in der Lage des Fauſt befunden hätte, der von feinem 
Gretchen „Latechifirt‘“ wurde. 

Im Iahre 1824 wurde Immermann Eriminalrichter 
in Magdeburg, wo er mit feiner Mutter zufammenlebte; 
hier verfaßte er das Trauerfpiel: „Cardenio und Celinde“, 
das nur aus einem heftigen, tieferfchiitterten Gemüth her⸗ 
vorgehen Tonnte und ein fpröbes fchauerliches Thema rauh 
und berb behandelt. Das Stüd machte mehr Auffchen 
als die frühern Dramen. Im Juni 1825 machte der 
Dichter fein drittes Eramen und wurde 1826 nad) Düſ⸗ 
jeldorf als Landgerichtsrath berufen. Borher Hatte er 
noch fein „Zrauerfpiel in Tirol“ vollendet. Von dieſem 
Werke fagt fein Biograph: 

Mit diefem Gedichte fette er feinem Namen das erfte blei- 
bende Dentmal in feiner Nation, denn die poetiihe Schönheit, 
in welcher da8 Gemüth des Dichters die Geftalt Hofer’s erfaßt 
und Har und Träftig dargeſtellt hat, wird allen Zeiten verftänd- 
lich bleiben und immer wieder ihre reine Wirkung auf deutiche 
Herzen üben. Mag auch die Kritik die Fehler nicht überſehen, 
von denen das Drama leineswegs frei iſt, mag mandes ein- 


zelne vergriffen fein, doch hält der Dichter die Fäden kräftig im 


feiner Hand, die fih zum ſchönen Ganzen ſchlingen, und hell 
und hoch Hingt durch feinen Gefang der Strom der Poefle, der 
aus jeiner erregten Bruſt quillt. 

Die Schilderung des Lebens in Düffelborf, welches 
der Dichter, mit Ausnahme einiger Ausflüge und Reifen 
bis zu feinem Tode 1840 nicht mehr verließ, mögen un- 
fere Lefer in dem Werke jelbft nachleſen; fie ift ebenjo 
fiebevoll eingehend wie reich an kritiſchen und dramatur⸗ 
giſchen Betrachtungen, die theils der Dichter in feinen Auf⸗ 


507. 


zeichnungen macht, theil® ber Herausgeber an die Be- 
urtheilung der einzelnen Dramen und Werke fnüpft. Dieſe 
Kritik ift im Durchſchnitt wol zu günſtig. Immermann 
war ein fcharfer Denker von großem fittlichen Ernft; als 
folhen lernen wir ihn gerade aus feinen Memoiren und 
Tagebüchern faft noch mehr ſchätzen als aus feinen Dicht« 
werfen; aber der ſchöne Schwung dichterifcher Begeifte- 
rung, ihre frifch einherflutende Unmittelbarkeit fehlte ihm, 
und die romantifche Doctrin hatte feine Poeſie verwirrt. 
Man vergleiche den „ Merlin‘ mit dem „Fauſt“ — und man 
wird ben Unterfchied zwifchen einer Gedankenarbeit, die 
fih nicht in Fleiſch und Blut umzufegen weiß, und einem 
genialen Dichtwerfe leicht erfennen. Bei Immermann 
herrſchte ſtarre Gebundenheit reicher geiftiger Schäge; echte 
Poeſie aber ift lebendige Freiheit. Erſt auf dem Gebiete 
des Romans fand Immermann’8 Mufe ſich heimiſch; hier 
fam ihre geiftige Bedeutung in der freien Form zur 
Geltung. 

Die erfte Hälfte des zweiten Bandes enthält eine Schil« 
derung von Immermann's Wirken als Theaterdirector; 
fie ift ſehr lehrreich und mit einer Fülle intereffanter Be- 
merkungen ausgeftatte. Aud bringt fie im einzelnen 
manches Nene, wie z. B. über das Verhältniß zu Mendels⸗ 
fohn. Die Beziehungen zu Grabbe erjcheinen uns zu 
beiläufig und nicht unparteiifch genug behandelt. Immer⸗ 
mann als Theaterbirector hatte etwas Dictatorifches, wie 
in erhöhten Grabe es aud) Laube befaß. Sein drama- 
turgifcher Eifer kannte Feine Grenzen. ALS tüchtiger Bor- 
Iefer pflegte er die Schaufpieler zuerft mit dem ganzen 
Stüd und dem Geift deſſelben befannt zu machen. Dod 
blieb die düffeldorfer Bühne ein künſtliches Experiment 
und machte, trogdem daß es Alltagswaare, Boflen, 
Spectakelſtücke nicht verfchmähte, ein finanzielles Fiasco; 
fie war und blieb, mit Calderon und Tieck, eine „Tochter 
ber Luft”. Rudolf Gotiſchall. 


(Der Beſchluß folgt in ber nähften Nummer.) 





Der malaiifche Ardipel. 


1. Der malatifhe Archipel. Die Heimat des Drang - Utan 
und des Paradiesvogels. Neifeerlebniffe und Studien über 
Land und Leute von Alfred Ruſſel Wallace. Autos 
tifirte deutfche Ausgabe von A. B. Meyer. Zwei Bünde. 
Mit 51 Original-Jluftrationen in Sojgnätt und 9 Karten. 
Braunſchweig, Weftermann. 1869. Gr. 8. 4%, Zhlr. 

2, Heilen im ofiindifhen Archipel in den Jahren 1865 und 
1866. Bon Albert ©. Bidmore. Autorifirte vollftän- 
dige Ausgabe für Deutſchland. Aus dem Englijchen von 
3. E. A. Martin. Nebft 36 Sluftrationen in Holzſchnitt 
und 2 Karten in Farbendruck. Jena, Coftenoble. 1869. 
Sr. 8. 2 Thlr. 20 Nor. 

3. Die Philippinen und ihre Bewohner. Gehe Slkizzen. 
Nach einem im Frankfurter geographifchen Verein 1868 
gehaltenen Eyflus von Borträgen von &. Semper. 

Würzburg, Stüber. 1869. Gr. 8. 1 Thle. 20 Ngr. 


Das größtd, wichtigſte und intereffantefte Inſelgebiet 
anferer Erde if dem Dften Aſiens vorgelagert. Vom 
Aequator li und von dem lauwarmen Wafler 
der tropifchen Meere umflutet, zeichnet es ſich durch ein 
Klima aus, das gleichmäßiger heiß und ſeucht iſt als 


dasjenige irgendeines andern Landes. Die Ueberfülle der 
Producte, welche dieſer Archipel erzeugt, iſt geradezu 
ſtaunenerregend: die köſtlichſten Früchte und die theuerſten 
Gewürze kommen von dort; die Raffleſia, die rieſigſte 
aller Blumen, der menſchenähnliche Orang-Utang, die 
herrlich gefiederten Paradiesvögel, dann zwei außerordent- 
lich verfchiedene Menfchenrafien, die Malaien und die 
Papuas, haben dort ihre Heimat. Unter den Zaufenden 
von gleichſam zerbrödelten Eilanden, die fcheinbar wirr 
und regello8 über den weiten Raum zerftreut find, ge= 
wahren wir auch die größten Inſeln unſers Erbballs: 
Borneo und Neuguinea, jede für fid) Deutfchland an 
Flächeninhalt übertreffend. Oberflächlich betrachtet bilden 
alle diefe Infeln ein compactes geographifchee Ganzes; 
bei näherer Erwägung zeigt ſich indeffen, daß fie in zwei 
gefonderte Theile zerfallen, welche in Betreff ihrer Natur- 
erzeugniffe weit voneinander abweichen. 

Diefe Zrennung des Archipels nachgewiefen, feine 
phyfifalifchen und ethnologiſchen Berhältniffe in mufter- 

64 * 


508 


gültiger Weife feitgeftellt zu haben, ift das Verdienſt bes 
großen britifchen Naturforfchere Wallace, deifen Wert: 
„Der malaiifche Archipel“ (Nr. 1), unter den in den 
legten Jahren erjchienenen geographiſch⸗ naturhiftorifchen 
Schriften anerfanntermaßen eine der erften Stellen ein- 
nimmt. Wallace ift ein eifriger Anhänger Darwin’s, und 
ein großer Theil feines Werks ift auch dem Zwecke ge- 
widmet, neue Belege für die Theorie feines Freundes 
beizubringen, was ihm auch in verfchiedenen Fällen außer« 
ordentlich glüdte. Zu allem, mas uns das inhaltreiche 
Buch Neues bringt, gefellt fich eine ſehr feſſelnde und 
leichtverftändfiche Schreibweife, die der Weberfeger gut 
wiederzugeben wußte. Nirgends ift der Wiffenfchaftlich- 
feit des Ganzen Zwang angethan, und doch Tann jeder 
Gebildete das Buch in die Hand nehmen, jo gemein- 
verftändlich ift e8 wieder. 

Wallace Tennzeichnet ben größten vullanifchen Gürtel 
unferer Erde, der burch den Archipel zieht und einen 
merfwitrdigen Gegenfag in der Scenerie der vulfanifchen 
und nicht vulkaniſchen Inſeln Hervorbringt. Bon Su⸗ 
matra ausgehend reicht er bis zu den Philippinen, in 
einer Breite von 12 deutfchen Meilen und einer Länge 
bon 90 Graben. In der ganzen Region und auf beiden 
Seiten derfelben find Erdbeben häufig; ſchwächere Stöße 
fommen bier und da faft jede Woche vor, und ftürfere, 
durch welche Verheerungen angerichtet werden, in jedem 
Jahre. Im Centrum ber großen vulfanifchen Curve 
liegt die große Inſel Borneo, auf welcher dagegen gar 
feine Erdbeben vortommen. Auffallend find die Contrafte 
im Pflanzenreihe. Auf Timor finden wir noch deutlich) 
auftralifches Gepräge, weiterhin aber die üppige aftatifche 
Begetation. Nicht minder auffallend find die Gegenfäge 
in Bezug auf bie Tiefe des Meeres, auf die ſchon 1845 
Windfor Earl hinwies. Er hob hervor, daß ein feichtes 
Meer Sumatra, Borneo und Java mit dem aftatifchen 
Feſtlande verbinde, mit welchem ja auch die Naturproducte 
diefer Eilande übereinftimmen. Andererſeits verbindet 
fol ein feichtes Meer Neuguinea und feine benachbarten 
Infeln mit Auftralien. Alle dieſe letztern Eilande find 
auch durch das Auftreten auftralifcher Beutelthiere ge- 
fennzeichnet. Die Tiefe oder die GSeichtigfeit de8 Meeres 
beftimmen die Gegenfüge im. Archipel. Wallace zieht eine 
Scheibe zwifchen den Inſeln, die nach Weſten zu eine 
aftatifche, nah Oſten eine anftralifche Hälfte abtrennt, 
und bezeichnet diefe Abtheilungen als indo-malaitfche und 
auſtro⸗malaiiſche. Er zeigt ferner, wie bie geologische 
Trennung zwijchen diefen Landen in eine verhältnigmäßig 
neue Epoche füllt, und wie auch das Vorkommen ihrer 
Thierwelt durch geologifche Ereignifje bedingt wirb. 

Nachdem Wallace die Scheidung des Archipels auf 
geologifchen, zoologifchem und botaniſchem Gebiete durd)- 
geführt bat, tritt er an den Menfchen heran. Waren 
früher alle oceaniſchen Raſſen von der Dfterinfel bie 
Sumatra ald Abänderungen eines und defjelben "Typus 
bingeftellt worden, fo zeigt Wallace — was aud) andere 
Schon thaten — daß Malaten und Papuas radical ver- 
fchiedene Menfchen nad) ihrem phyſiſchen wie pfychifchen 
Weſen find. An diefe beiden Grundtypen fchließen ſich 
alle andern Völker des malaiiſchen Archipels und Boly- 
nefiens an. Eine Linie, welche beide Typen boneinander 


Der malaiifhe Archipel. 


ſcheidet, liegt etwas üftlich von jener, welche bie beiben 
zoologifchen Regionen trennt. Es erflärt fich leicht, wes⸗ 
halb beide Linien nicht zufammenfallen. Der Menſch 
bat mancherlei Mittel, die See zu überfchreiten, welche 
den Thieren abgehen, und eine höhere Raſſe hat Mittel 
und Macht, eine untergeordnete zu verdrängen. Den 
Malaien ift durch ihre Unternehmungen zur See und ihre 
höhere Civilifation möglich geworden, einen Theil der an- 
grenzenden Gegenden in Beſitz zu nehmen und die Ur- 
einwohner zu verdrängen. Sie verbreiteten ihre Sprade, 
ihre Hausthiere und manche ihrer Sitten und Gebräuche 
weit und breit über ben Stillen Ocean, auch nad, ſolchen 
Infeln, wo fie an ben phyfifchen oder moralifhen Merk⸗ 
malen der Bewohner keinerlei Art von Ummandlung ber 
vorgebradht haben. 

Das find einige der Grundzüge, die durch das ganze 
vortreffliche Buch wiederflingen und in den Einzelfdhil- 
derungen ihre Beftätigung finden. Die Reifen, die von 
1854—62 dauerten, nahmen ihren Ausgang von Sin- 
gapore, dann wendet Wallace fi) nad) der britifchen 
Befigung Malaka und befteigt den Berg Ophir; es folgt 
die Schilderung Borneos, das der Berfafler durch mehr 
als einjährigen Aufenthalt im Gebiete des Radſchah von 
Sarawak, des damals noch lebenden edeln Sir James 
Brooke, Kennen lernte. Hier au Hat er ausgedehnte 
Drang-Ütang-Fagden unternommen und uns mit vortreff- 
lichen neuen Beobachtungen über diefen menfchenähnlichen 
Affen befchenft. Er Hat viele diefer merkwürdigen Tchiere 
erlegt, und auch ein Junges, wiewol vergeblid, auf 
zuziehen verſucht. Der Drang-litang bewegt fi in den 
Bäumen der dichten Wälder fo raſch und behende, daß 
er nach Wallace's eigenen Beobachtungen in einer Stunde 
bis zu ſechs englischen Meilen zurüdlegt. Bielfach ift die 
Behauptung in Zweifel gezogen worben, daß der Mias — 
jo lautet der einheimifche dajafifche Name — Zweige 
abbreche und diefelben auf feine Verfolger herabjchleudere; 
es bat aber die Sache ihre volle Richtigkeit, und Wallace 
fonnte fid) mehr als einmal davon überzengen. Auch 
Bat er feftgeftellt, daß der Drangelitang ein Neft baut. 
Wallace ſchoß einen Mias an, ein großes Männchen, 
das auf einem hoben Baume faß, und zerjchmetterte ihm 
einen Arm; mit dem andern brady nun das Thier oben 
im Gipfel eines mächtigen Baums Zweige ab und legte 
biefelben querüber, derart, daß fie ein Neft oder Lager 
bildeten. Er Hatte fih dazu eine fehr geeignete Stelle 
auserforen und ging fo raſch zu Werke, daß er nad 
wenigen Minuten fchon fi) bequem bergen. konnte. Ein 
anderes Männchen, das fi im Laubwerk her Bäume zu 
verfteden wußte, konnte, nachdem es geſchoſſen war, nur 
mit Mühe durch Schütteln an den Schlitgpflanzen her- 
abgebracht werden. \ 

Mit einem Krad und mit einem Iuftgeräufh wie beim 
gel eines Rieſen ſtürzte er herab. Und er war ein Riefe; 

opf und Körper hatten volle Mannesgröße. Er gehörte zu der 
Art, die von den Dajald „Mias-EChappan’ oder „Mias⸗Pappan“ 
genannt wird und bei der die Haut des Gefichts jederfeits kamm⸗ 
oder faltenartig verbreitert ifl. Mit ausgeftreckten Armen maf 
er fieben Fuß drei Zoll, und feine Höhe von der Spige bes 
Kopfs bis zur Hade bequem gemefien betrug vier Fuß zwei Zoll 
Der Körper gerade unter den Armen hatte einen Umfang von 
drei Fuß zwei Zoll und war ebenjo groß wie der eines Mannes. 
Die Beine waren verhältnißmäßig fehr kurz. Bei der Unter 


Der malaiifhe Ardipel, 


fuhung fanden wir, daß er fchredlich verwundet worben war. 
Beide Beine waren gebrochen, ein Hüftgelenk und ein Theil 
des Rückgrats ganz zerſchmettert, zwei Kugeln faßen plattgedrildt 
in feinem Naden und den Badenfnohen! Und dod lebte er 
noh ale er fiel. Die beiden Chinefen trugen ihn an einen 
Stod gebunden nad Haufe, nnd ich hatte den ganzen folgenden 
Tag daran zu thun, die Haut zu präpariren und die Knochen 
auszulochen, um ein vollfommenes Stelet zu machen, welches jet 
im Mufeum zu Derby aufbewahrt wird. 


Nachdem Wallace no einige Streifzüge ind Innere 
Borneos unternommen und uns mit den kopfabſchneidenden 
Dajals befannt gemacht, befuchte er Java, das einem 
großen Eulturgarten gleicht und das er filr das ſchönſte 
Eiland der Erde erklärt. Dem Colonialſyſtem der Nieder⸗ 
länder läßt er volle Gerechtigkeit widerfahren; er hatte 
dann Gelegenheit, dafjelbe Urtheil auf Sumatra zu wie 
derholen, wo, fo weit die Herrfchaft der Holländer reicht, 
jest Sicherheit bergeftellt if. Während die meiften Rei⸗ 
fenden die Weftküfte der zulegtgenannten Infel aufjuchen 
und in Padang oder Bankulen Station machen, fehen 
wir Wallace im Südoſten, in PBalembang, wo er durch 
bie angeſchwemmten Ebenen bis nad; Cobo Ramon ins 
Gebirge aufftieg. Weit diefer Reife ift die Schilderung 
des eigentlich indo-malaiiſchen Archipels abgeſchloſſen, 
deſſen naturwiſſenſchaftliche Verhältniſſe in klarer Ueber⸗ 
ficht ſchließlich reſumirt werden. Dann kommt die Timor⸗ 
gruppe (Bali, Combock, Timor) an die Reihe, und hier 
find es namentlich die anziehenden Schilderungen der wil- 
den papuanifchen Einwohner Timors, und der Berfall, 
der im portugiefifchen Theile diefes Eilands (Delli) herrſcht, 
auf die wir befonders aufmerffam machen wollen. Ce- 
Iebes ift fowol im Süden (Malaffar) ale im Norden 
(Drenado) von Wallace befucht worden. Auch hier wies 
der, in ber Minahatta, begegnen wir einem Sichtbilde, 
denn unter dem Einfluſſe ber Niederländer find bie 
alfurifchen Eingeborenen binnen kurzer Zeit zu einem 
wirklich ftaunenswerthen Grabe der Civilifation empor- 
gehoben worden. 

Sehr eingehend werben bie gewürzreichen Moluklen: 
Banda, Amboina, Gilololo, Ternate, Batdhian, Caranı, 
Burn, gefhildert. Hier kommt der Keifende auf vielfad) 
noch unbelanntes Gebiet, und manche feiner Forſchungen, 
die er auf Caram, Burn, Batchian angeftellt, führen uns 
in eine völlig neue Welt. 

An die Befchreibung der Molukken fchließt ſich die pa⸗ 
puanifche Gruppe, bei der wir etwas länger verweilen wol- 
len. Die Ke⸗ und Aruinfeln, auch Waigiou find nod) nir⸗ 
gends fo anſchaulich und eingehend gefchildert worden wie 
gerabe hier, während Neuguinea in dem berühmt gewor⸗ 
denen holländiſchen Werke der Etna-Erpedition zumal vom 
ethnographiſchen Standpunft ausführlicher als von Wallace 
behandelt iſt. Alle jene zahlreichen, von fchwarzen Men- 
fhen bewohnten Eilande hat der Berfaffer in einer ein- 
beimifchen Praue befucht, mit der er oft unter großen Gefah⸗ 
ren das keineswegs ſanfte Meer befchiffte. Wo er aber auch 
zu jenen Papuas kam, er fand, daß ber Handel das 
große belebende Element war, welches die verſchiedenen 
Stämme zufammenführtee Auf den Aruinfeln liegt ber 
Meßplatz Dobbo, es ift das Leipzig des Dftens, in dem 
im Sannar der Markt beginnt, der im März feine Höhe 
erreicht. Bortwährend langen Schiffe oft aus weiter 


509 


Ferne an, und alle zwei oder drei Tage entfteht ein neues 
Haus, eine lange Straße wird gebildet, die bereit ift bie 
anfcwellende Menſchenmenge aufzunehmen. Jedes Haus 
wird nun zum Saufmannsladen, und bie einheimifchen 
Erzeugniſſe, wie Zripang, Perlmutter, Schildpadd, efbare 
Schwalbennefter, Perlen, Baradiesvögel, werden gegen bie 
mannichfachften europäifchen und chinefifchen Induſtrie⸗ 
erzeugniffe ausgetaufcht. Morgens und abends ftreichen 
die bezopften Chinefen durch die Straßen, zu ihnen ge= 
fellen fi Buginefen, Malaien, einzelne Europäer — alles 
wohlgekleidete Leute, die von den nadten Schwarzen felt- 
fam abftechen. Es ift ein buntes wirres Bild, das die 
500 nad Dobbo gelommenen fremden Menſchen der ver- 
ſchiedenſten Nationalitäten hervorbringen. Sie alle wollen 
dort ihr Glück machen, alle find aber mehr oder weniger 
Schurken, und trogdem verläuft die Meſſe in Ruhe und 
Drdnung. Die merkwürdige Erfcheinung de8 Mearlt- 
friedens, die wir auf allen großen Märkten im deutfchen 
Mittelalter Tennen lernten und die in der jogenannten 
Meffreiheit Heute noch nachklingt — dort ift fie im fernen 
Dften des Archipels noch in voller Geltung. Ohne einen 
Schatten von Regierung, ohne Polizei, ohne Gerichte Lebt 
diefe buntſcheckige, unwiſſende, blutbürftige und diebifche 
Devölferung zuſammen; und doc), fchneiden fie einander 
weber die Fehlen ab, noch berauben fie fih. Es ift der 
Genius des Handels, der hier den Frieden dictirt und 
vor dem jene Wilden und Halbwilden fich beugen. 

Wir erwähnten, daß Paradiesvögel einen wichtigen 
Handelsartifel in Dobbo ausmachen, und in der That find 
die Arninfeln einer der Hauptfundorte diefer Edelfteine 
unter der geflederten Welt. Wallace wibmet ihnen, wie 
ſchon ber Titel feines Werks bezeugt, eine befondere Auf- 
merkſamkeit, ja er gibt uns eine völlige Naturgeſchichte 
diefer herrlichen Vögel, von denen er viele lebend beobach⸗ 
ten, andere fich wenigftens in Bälgen verfchaffen konnte. 
Sie in Käfigen zu erhalten, ift ihm aber niemals gelun- 
gen, bie Thiere flarben bald, und fo werden auch wir 
wol darauf verzichten müſſen, fe je lebend in einem un⸗ 
ferer zoologifchen Gärten zu erbliden. Namentlich ift der 
große Paradiesvogel von Wallace genau in feinen Sitten 
beobachtet worden, doc wollte e8 auch ihm nicht gelingen, 
das Neft oder ein Ei des Thieres aufzufinden, troß hoher 
ausgefegter Belohnung, Im Mai find die Vögel am 
fchönften, und dann Halten die Männden, um ihr Ge- 
fieder zu zeigen, eine Art Ball ab: 

Die Bögel hatten jet ihre Tanzgeſellſchaft begonnen; fie 
findet auf gewiffen Waldbäumen ftatt, welche nicht Fruchtbäume 
find, welche aber meit ſich ausbreitende Zweige und große zer- 
fireut ftehende Blätter haben und den Vögeln fchönen Raum 
zum Spielen und zur Entfaltung ihres Geftebers geben. Auf 
einem der Bäume verfammeln fih ein Dußend bis zwanzig 
voübefiederter männlicher Vögel, erheben ihre Flügel, fixeden 
ihre Naden aus und richten ihr erquifites Gefteder auf, indem 
fie e8 in beftändiger zitternder Bewegung erhalten. Dazwiſchen 
fliegen fie in großer Erregung von Zweig zu Zweig, ſodaß 
der ganze Baum mit wallendem Gefieder in großer Mannich⸗ 
faltigleit der Stellung nnd Bewegung gefüllt if. Diefe Ge⸗ 
wohnbeit fett die Cingeborenen in die Tage, mit verhältniß- 
mäßig wenig Mühe das Thier zu befommen. Sie bauen fi 
ein Weines Dach von Palmblättern unter den Zweigen und der 
Jäger verbirgt fih vor Tagesanbruch mit feinem Bogen und 
einer Anzahl in einen runden Knopf endenden Pfeilen bewaffnet, 
unter demfelben. Ein Knabe wartet am Fuß des Baums, und 


510 Der malaitfche Archipel. 


wenn die Vögel mit Sonnenaufgang fommen nub zn tanzen 
anfangen, ſchießzt der Jäger feinen ſtumpfen Pfeil fo ftarf ab, 
daß der Vogel betäubt herunterfält und von dem Kuaben ge- 
tödtet wird, ohne daß ein Tropfen Blut auf das Gefieder [prikt. 
Die Übrigen nehmen feine Notiz davon nnd fallen einer nad) 
dem andern, bi® einige von ihnen iu Angft gerathen. 


Einen großen Theil des Gebiets, das den Schauplag 
der claffifichen Reifen von Wallace ausmacht, Hat aud) 
der Profeſſor der Naturgefchichte an der Madifon- Unis 
verfität zu Hamilton im Staate Neuyork, Albert ©. 
Bickmore, befudht. Aber zwifchen den Werken der bei- 
den Naturforfcher ift ein himmelweiter Unterfchied. Wäre 
Bickmore's Buch: „Reifen im oftindifchen Archipel in den 
Jahren 1865 und 1866 (Nr. 2) nicht gleichzeitig mit 
demjenigen von Wallace erfchienen, es würde unftreitig 
mehr Beachtung gefunden haben; aber es behandelt dies 
felben Gegenden, nur ungleich weniger geiftreih und 
weniger wiſſenſchaftlich, und fteht in jeder Beziehung fehr 
Binter Wallace zurüd. Wir würden aber ungerecht gegen 
den Autor fein, wollten wir nicht hervorheben, daß es 
fi) unterhaltend lieſt; namentlich wer nad) vielen gefahr- 
vollen Abentenern lechzt, wird feine Rechnung hier finden, 
und es ift wirklich ſtaunenswerth, wie oft Bickmore in 
Lebensgefahr geräth. Dabei fpielt ale Schlufeffect eine 
Schlangengefhichte, ein ungeheuerer Python, „ſicherlich 
groß und ftarf genug, um das größte Pferd zu zerquet- 
ſchen“; aber zu unſerer Verwunderung lefen wir eine 
Seite früher, daß diefes Ungeheuer in einem nur andert- 
halb Fuß langen Kaſten Plag gefunden hatte! Recht inter- 


effant fhildert der Verfaffer feine Fahrt durch das Land 


der menſchenfreſſenden Battas auf der Inſel Sumatra, 
von welcher er weit mehr als Wallace kennen lernte. 
Ueber die Entftehung des Kannibalismus umter den Bat⸗ 
ta8 theilt Bickmore folgende Erzählung mit, deren Werth 
wir dabingeftellt jein laſſen wollen: 

Bor vielen Zahren beging einer ihrer Rajahs ein großes 
Berbrechen, und e8 Ieuchtete allen ein, daß er, jo hoch er auch 
fiehe, beftraft werden müſſe, aber niemand wollte die Berant- 
wortlichfeit auf fi) nehmen, einen Fürſten zu beftrafen. Nach 
langer Berathung famen fie endlih auf den glüdlihen Gedan- 
ten, daf er folle hingerichtet werben, aber fie wollten jeder ein 
Stud von feinem Leichnam effen und auf diefe Weiſe alle an 
feiner Beftrafung theilnehmen. Während des Schmaufes fand 
jeder zu feinem Erſtannen die ihm zugetheilte Portion höchſt 
ihmadhaft, und fie befchloffen alle einftimmig, wenn wieder ein- 
mal ein Verbrecher bingerichtet würde, ihren Appetit anf die- 
felbe Art zu befriedigen, und fo entftand die Sitte, die von 
einer Generation auf bie andere Übergegangen ift und ſich bis 
auf den heutigen Tag erhalten hat. 


An die beiden Meberfegungen reihen wir die Beſprechung 
eined vortrefjlichen deutfchen Originalwerks: „Die Philip- 
pinen und ihre Bewohner“, von C. Semper (Nr. 3), an. 
Semper, ber verdienftvolle Generaljecretär der Deutfchen 
anthropologifchen Gejellfchaft, Hat mehrere Jahre hindurch 
von Manila aus die Philippinen durchforſcht und nament- 
lich die Vulkane biefer Infelgruppe, die Korallenriffe und 
die Bewohner in ben Bereich feiner Unterfuchungen ge⸗ 
zogen. Was er bier in dem ſechs Skizzen un bietet, foll 
nur als der Vorläufer eines größern Werks angefehen 
werden, er bezeichnet e8 als „Leichte Waare“, und doch ift 
es das Befte, was wir über die Philippinen in unferer 
Sprache befigen, eine gründliche umd vieljeitige Arbeit. 


Sehr ansführlich behandelt Semper die Vulkane der In⸗ 
feln, deren Natur er feftftellt und die eigentlich in ihm 
den erſten Erforjcher finden, denn die berrfchenden Spa- 
nier haben ſich biutwenig um die Natur des ihnen unter» 
worfenen Arcdipels gekümmert. Semper hat auch die 
ftetig fortjchreitende fücnlare Hebung der Inſeln in ber 
ununterbrocdyenen Reihe vullanifcher Ausbrüche, wie in 
den ältern und neuern Sforallenbildungen nachgewieſen. 
Sämmtlihe Philippinen find von einem SKorallenfranze 
umfäumt, ber fid) bald an das Ufer anlehnt, ohne ein 
eiggntliches Riff zu bilden, bald aber zu echten Kiffen 
wird, die num als Küftenriffe oder als Barrenriffe Die 
zahllofen Meeresarıne zwifchen ben Imfeln einengen. Was 
die Entftehung der Korallenriffe angeht, fo ftellt Semper 
eine neue Theorie auf, die fich im vollſten Gegenſatze zu 
den bisher allgemein anerkannten Anſichten Darwin’s 
befindet. 


Bortrefflih ift, was über die ethnographifchen Ver⸗ 
bältniffe gefagt wird. Namentlich, die untergehenden Ur- 
eingeborenen, die Negritos, die jogar ihre Sprache ſchon 
eingebüßt haben, fodann die heidnifchen malaiiſchen Stämme, 
die fowol von fpanifch=katholifchen ale mohammedanifchen 
Einflüffen unberührt blieben, find berüdfihtigt worden. 
Semper zeigt, wie der Charakter diefer Negritoftänme 
beſſer ift als ihr Auf; er macht und vertraut mit ihrer 
Lebensweife, führt uns die Heinen in Schluchten und Ber- 
gen umberziehenden Horbden vor, die bald einer Wurzel 
nachgeben, bald eine Fijchart in den Flüſſen ſuchen und 
deren ganzes Daſein ein Umherſchwärmen nad) Nahrung 
if. Neues Leben theilt fi der Horde mit, wenn im 
Mai die Zeit zur Einerntung bes wilden Honigs gelom- 
men ift. 

Jetzt find die Waben gefüllt, denn die Zeit naht, in welcher 
Feuchtigkeit und Sonnenwärme die Larven der Bienen zum 
Ausichlüpfen bringen. Aber ehe diefe zum Leben erwaächten, 
hat der nad) Honig Tüfterne Neger durch Rauch giftiger Kräuter 
den Schwarm der Bienen aus ihrem Baum vertrieben. Den 
Honig läßt ſich der Negrito wohl ſchmecken, das Wache aber 
preßt er in wenig gereinigte Kuchen, welche er gegen Glas 
perlen, Strohmatten, etwas Reis und den Über alles geliebten 
Taback an deu hrifllichen Händler verkauft. Bald aber ift ber 
Reis und der Honig verzehrt, und nun geht das alte Wandern 
wieder von einem Ort zum andern, raft- und rubelos, bald 
am Meer, bald in den tiefiten Bergichluchten, bis ihnen endlich 
im nächſten Jahre das ſtärkere Schwirren der Infelten die Rüd- 
febr ihres Honigmonats anzeigt. 


Mit allgemeinem Interefje dürfte zu vernehmen fein, 
daß gleich fo manchen andern Reifenden Semper ben 
Stab über die fpanifche Verwaltung der Philippinen bricht. 
Eine fürmliche Misregierung und demoralifirende Pfaffen- 
wirthſchaft Herrfcht auf dem ſchönen Archipel, ber weit 
blüthender ſich hätte entwickeln fünnen, wenn bie Spanier 
zu colonifiren verftanden hätten. „Seine gemeinfamen 
politifchen Volksintereſſen verbinden bie Kolonie mit dem 
nur uneigentlid) jogenannten Mutterlande, und ebenfo 
wenig wie in der politifchen Sphäre hat der Spanier 
fonft in geiftiger Beziehung großen Einfluß auf den Cha« 
rafter ber Bewohner zu gewinnen gewußt.“ Auch das 
Chriſtenthum hat keineswegs fo feften Boden gefaßt, wie 
die Priefter oft gern glauben machen möchten. „An ein« 
zelnen Orten fcheint fogar ein Rüdfall in bie alten Heid. 


Feuilleton. 511 


nifchen Zeiten flattgefunden zu haben.” So fehr uns die 
Natur und die Schilderungen der Eingeborenen anziehen, 
das Gefühl wird allemal in da8 Gegentheil verkehrt, wenn 


bon ber ſpaniſchen Herrſchaft auf den Philippinen die 
ede ift. 
Richard Andree. 





Notizen. 


Die dramatifden Schriftfieller Deutſchlands 
rühren fih, um eine, ihre Rechte wahrnehmende Gejellfchaft 
zu begründen, ähulich derjenigen in Paris. Folgende Aufforde- 
rung iſt uns zugegangen: 

„Nachdem der hohe Reichstag des Norddeutſchen Bundes 
in dem Geſetze, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerlen, 
Abbildungen, muſikaliſchen Compofitionen nnd dramatifchen 
Werten, 1. Legislaturpertode, Sigungsperiode 1870, Ar. 189, 
das ausſchließliche Hecht zur öffentlichen Aufführung von dramati« 
ſchen und dramatiſch⸗muſilaliſchen Schriftftücden ben Autoren und 
ihren Rechtsnachfolgern geftchert, bedarf es wol kaum des Hin- 
weifes, daß es an der Zeit fei, den in den Motiven zu befagtem 
Belege bereits angedeuteten Weg der freien Bereinbarung zur 
Regulirung der Theaterverhältuiffe nunmehr zu betreten unb 
eine anf Selbſthülfe gegründete Inflitution zu fchaffen, deren 


Segnungen in Frankreich unverkennbar feit einer Reihe von 


ven an der Sociöte des auteurs dramatiques erfichtlich find. 
Die Umnterzeichneten laden daher alle dramatiſchen Schriftfieller 
und Componiften ein, fi an einer in Nürnberg am 20. Sep» 
tember a. c. beginnenden Berathung von Statuten zur Grün. 
dung einer Senoffenfhaft dramatifcher Autoren und Componi⸗ 
fen entweder perjönlich oder durch Bevollmächtigte zu betheiligen. 
J. 3, Abert, Eduard Bauernfeld, Mar Bruch, Fr. Grillparzer, 
5. W. Hadlünder, Paul Heyfe, Ferd. Hiller, W. Jordan, 
G. Köberle, Franz Lacher, Paul Lindau, E. Mautner, Melch. 
Meyr, S. H. Mofentbal, Iaques Offenbach, Guſt. zu Putzlitz, 
Joach. Raff, Julius Roſen, Bernh. Scholz, Sigm. Schlefinger, 

eod. Wehl, J. Weilen, Ernſt Wichert, Ad. Wilbrandt, Max 
er.“ 

Gleichzeitig liegt uns ein Promemoria zur Bildung einer 
Genofſenſchaft deutſcher dramatiſcher Schriftſteller und Compo⸗ 
niſten von Ernſt Wichert in Königsberg vor, mit Amende⸗ 
ments von Carl Batz in Wiesbaden. Dieſes Promemoria theilt 
die Grundſütze mit, über welche man ſich vor der Ausarbeitung 
des Statuis zu vereinigen hätte und hat das Verdienſt, auf die 
weſentlichſten Punkte aufmerlfam zu machen, obgleid) es durch 
die Einfhiebung der Amendements in den Tert vielfad unklar 
getworben tft und gegen feine Beflimmungen jehr wichtige Ein- 
wendungen geftattet. 

Der foeben ausgebrochene große Krieg zwifchen Frankreich 
und Dentihland, der bereits die Schließung vieler beutjcher 
Stadttheater zur Folge hatte, wird wol aud) bie dramatiſchen 
Schriftfieller, die vom Schidjal niemals begünftigt zu merden 
pflegen, nöthigen, ihre Beſtrebungen zu vertagen. 


In der Berlagsbudhhandlung des „Kladderadatſch“ (Berlin, 
A. Hofmann u. Comp.) erihheinen „Luftige Werke von D. Ka- 
liſch“, illuſtrirt von W. Scholz, eine Auswahl aus den humo⸗ 
rifttfchen Arbeiten des befannten Schriftftellers, welche theils 
in den Jahrgängen und den Stalendern des „Kladderadatſch“ 
ſich abgedrudt finden, theils auch im dramatiſcher Form über 
die deutſchen Bühnen gingen. Der Herausgeber jagt in ber 
Einleitung: „Die literariihen Arbeiten des Herrn D. Kaliſch 
find von fo unverwüſtlicher Natur, mit fo ungezwungener 
Munterkeit und Laune, mit fo friſchem Humor gefchrieben, daß 
fie der Gefahr, mit der Zeit veraltet und unſchmackhaft zu 
werden, nicht ausgefett find. Man darf dies Urtheil wol 
unterſchreiben; Kaliſch gebietet Über einen fchlagenden Wit und 
eine treffende Satire, und nirgends flogen wir dabei auf die 
Wißhafcherei um jeden Preis, auf die Gefinnungslofigkeit ber 
Saphir’fchen „Klatſchroſen“ und ähnlicher vormärzlicker Bon- 
bonritter des Humors, der meiftens das wohlfeilfte Genre des 


Feuilleton. 


Witzes, den Wortwit, pflegte. Bon der Sammlung ber Werke 
von Kalifch Tiegen uns fünf Hefte vor. In dem erſten, zweiten 
und vierten Heft treffen wir viele alte Belannte aus dem 
„Kladderadatſch“ und freuen uns des Wiederſehens. Karlchen 
Miesnick, der werdende Elaffifer, erfreut uns durch feine tief» 
finnige Syntar und einen Satzbau, deſſen Vorbild die Loco- 
motive mit den darangebängten Waggons iſt. Bortrefflich 
find die Parodien auf die „Zrau in Beige „Gelb und Ehre‘, 
den „Sokrates; es find ebenfo viele treffende uud fcharfe 
Kritiken. Das dritte umd fünfte Heft bringen eine Kleine Poſſe 
von Kaliſch: „Aurora in Del’, ferner „Berlin wird Weltfladt‘‘, 
„Sin gebilbeter Hauskuecht“, „Doctor Peſchke“ u. a. Die be- 
Tannten Kladderadatſch⸗Illuſtrationen von rot tragen dazu 
bei, den Wi von Kalifch handgreiflich und anſchaulich zu machen, 
denn Scholz beflgt einen witigen Crayon, der nicht der Em- 
pfehlung bedarf. 


Bibliographie. 

Srabowsti, ©. Graf, Des Könige und der Königin Soldat. Ro⸗ 
man. 3 Bbe. — — Srunow. 8. 4 Ihlx. 

—E und Reiſe⸗Bibliothek. ifter bis Iter Bd. Berlin, F. May. 8. 
gr. 

Krause, J. H., Die Eroberungen von Constantinopel im 13. und 15. 
Jahrhundert durch die Kreuzfahrer, durch die nicäischen Griechen und 
durch die Türken , nach byzantinischen, fränkischen, türkischen Quellen 
und Berichten dargestellt. Halle, Schwetschke. Gr. 8. 1 Thlr. 5 Ngr. 

Luther’s Stimme über die Concilien. Wien, Perles. Gr.8. 6 Ngr. 

Roszskowski, G., Ueber das Wesen des Eigenthums. Inaugural- 
Dissertation, Freiburg im Br,, Wagner. Gr, 8. 11 Ngr. 

er Schak im Brunnen ober bie han ber Pyrmonter Heil⸗ 
quellen, ein E Ärden von einer Freundin Pyrmonts. Dannover, Bran⸗ 
e ® “ ® 

Säulg-Egul en ſtein, ©. Bi: Der Zuftand ber Wiſſenſchaften 
auf Univerfitäten im Berhältniß zur ebenöprazie mit Desiehung auf bie 
Zulaffung der NRealihulabiturienten zum Untverfitätsftubium und ben Weg 
dur Wiedergeburt, Berlin, Memal. Br. 8. 20 Ngr. 

Shakespeare-Galerie, Charaktere und Scenen aus Shakespeare’s Dra- 
men. Gezeichnet von Max Adamo, Heinr. Hofmann, Hanns Makart, 
Frär. Pecht, Fritz Schwoerer u. A. Mit erläuterndem Text von F, Pocht. 
iste Lief, Leipzig, Brockhaus, 4. 1 Thir. 10 Ngr. 

Sierke, E., B. G. Lessing als angehender Dramatiker, geschildert 
nach einer Vergleichung seines „Schatzes‘* mit dem Trinummus des Plau- 
tus. Eine ästhetisch-literarhistorische Abhandlung, Königsberg, Schubert 
u. Seidel. 1869. Gr. 8. 8 Ngr. 

Der Staatsstreich vom 2. December 1851 uud seine Rückwirkung auf 
Europa. Leipzig, Duncker u. Humblot. Gr. 8. 24 Ngr. 

Streiflichter auf bie alabemifepen Gnutachten über bie uedeng von 
Fealſchul⸗Abiturienten zu Facultäts-Studien. Bon einem Realſchullehrer. 
Berlin, Landau. 5 Nr. 

Stugau, C., ch Nacht zum Licht, Großer hiſtoriſcher Roman 
aus den Jahren 1846—1866. 1fte bis 15te Lief. Zroppau, Kold. Br. 8. 


Nor. 

Toeppen, M., Geſchichte Maſurens. Sin Beitrag zur preußiihen 
Landes» und Kultur — 55 — Nach gedruckten und ungebruckten Quellen 
dargeſtellt. Danzig, Bertling. OEr. 8. 3 Thlr. 10 Ngr. 

Ulrici,$. o | e. Halle, Bieffer. Gr. 8. 20 Ran. 

Das Berhältnißg der Provinz Bojen zum preußiichen Staatögebiete. 

H afften.) Berlin, Korttampf. Gr. 8. 
eber, T. Sohannes ber Täufer und bie Parteien feiner Zeit. Ein 
Zeitfpiegel. Gotha, F. A. Perthes. 8. 12 Rgr.. 
ilbrandt, U, Neue Novellen. Berlin, Hertz. 3. 2 Thlr. 

Winter, A, Ueber die Bildung ber erfien Kammern in Deutſchland. 
Zübingen, sanpy.. Gr. 8. 3 Thlr. 20 Ngr. 

3 Pe Shen, Die confeffionslofe Schule. Oldenburg, Schulze. Gr. 8. 
r. . 

Wohlwill, E., Der Inquisitionsprocess des Galileo Galilei. Eine 
Prüfung seiner rechtlichen Grundlage nach den Acten der römischen In- 
:quisition. Berlin, Oppenheim, 8. 16 Ngr. 

Wolff, ©. Befsißte bes brandendburg-preußiichen Staates. Langen⸗ 

r. 6, . 

Wolzogen, U. Frei. v., Wallenftein. Zrilogie von F. v Schil⸗ 
ler. Als fEnfactiges Trauerfpiel für die Bühne bearbeitet. Schwerin, 
Stiller. 1869. Ler.«d. 10 Ngr. 

- Woermann, K., Aus der Natur und dem Geiſte. Gerichte. Ham⸗ 

immermann, C., Rom und seine Umgebung. In Holzschnitt 
nach Skizzen und Studien, Mit erläuterndem Texte von Kühne. Iste 
Lief. Leipzig, Serbo, 4. 15 Ngr. 





512 Anzeigen. 


Anzgeig 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschienen: 


=> KRIEGSKARTEN = 


von Henry Lange. 
Kar des deutsch-französischen Kriegsschauplatzes. 
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Karte der deutschen Nord- und Ostseeküsten. Preussen, 
Der Norddeutsche Bund und Dänemark. 5 Ngr. 


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Diese Karten zeichnen sich durch Genauigkeit der Orts- 


’ angaben wie durch Uebersichtlichkeit der Terrainverhält- 


nisse aus und empfehlen sich deshalb ganz besonders zu 
rascher Orientirung auf dem Kriegsschauplatze. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Sciller- Halle. 


Alphabetiſch geordneter Gedanken⸗Schatz aus 


Schiller's Werken und BSriefen. 
Im Berein mit Gottfried Fritzſche und Mar Moltle 


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. Morib Bille, 
Director "Scammt» Gymnafiums zu Leipzig. 
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Die „Schiller-Halle” ſtellt alle bedeutfamen Ausſprüche 
Schiller's, nach den Gegenftänden oder Stihworten alphabetifch 
georbniet, in bequemer Ueberſicht zuſammen, bildet aljo gemiffer- 
maßen eine Real-Encyliopädie ans und zu Schillers ſämmt⸗ 
lichen Schriften, eine Art von Shiller-Eonverfations- 
Lerilon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller’ eigenen Worten 
geiöriehener Erläuterungs- und Ergänzungsband zu 

hiller’s Werten genannt werden, ber jedem BBefiger 
derfelben zur Anſchaffung zu empfehlen ifl. Aud zur Berwen- 
dung ale Schulprämie ift das Werl vorzüglich geeignet. 








Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Vollständiges Handwörterbuch 
der deutschen, französischen und englischen Sprache 


zum Gebrauch der drei Nationen. 


Erste Abtheilung: Frangais- allemand - anglais. 
Zweite Abtheilung: English, German, and French. 
Dritte Abtheilung: Deutsch - Französisch - Englisch. 


Neunte vollstandig umgearbeitete und verbesserte Auflage. 
8. Cart. 2 Thir. 20 Ngr. Geb. in Halbfranz 8 Thlr. 


In der vorliegenden neunten Auflage erscheint das 
rühmlichst bekannte Werk, das mit seiner so bequemen 
Vereinigung der drei Weltsprachen einzig dasteht, innerlich 
wie äusserlich den Bedürfnissen der Gegenwart gemäss 
umgestaltet. Es bietet ein vorzügliches Hülfsmittel des in- 
ternationalen Sprachverkehrs, indem es bei der Lektüre wie 
bei der Conversation, zu Hause wie auf der Reise gleich 
gute Dienste leistet. 





igenm. 


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SHAKESPEARE - GALERIE. 


Charaktere und Scenen aus Shakespeare’s Dramen. 
Gezeichnet von 


Max Adamo, Heinrich Hofmann, Hanns Makart, Friedrich 
Pecht, Fritz Schwoerer u. a. 


56 Blätter in Stahlstich 
Mit erläuterndem Text von Friedrich Pecht. 





Quart. In 12 Lieferungen zu je 3 Blatt nebst Text. 
Preis jeder Lieferung 1 Thlr. 10 Ngr. 


Erste Lieferung: 

Heinrich der Achte. Gez. von Pecht. — Die lustigen Wei- 
ber von Windsor. Gez. von Makart. — Der Kaufmann von 
Venedig. Gez. von Hofmann. 

Die „Shakespeare-Galerie“ reiht sich den bekannten 
aus demselben Verlage hervorgegangenen Prachtwerken 
„Schiller-“, ‚„Goethe-“, „Lessing- Galerie“ an und darf 
gleich günstiger Aufnahme wie diese bei allen Kunstfreun- 
den gewiss sein. Indem nicht Einzelgestalten, sondern 
Gruppen und Scenen aus Shakespeare’s dramatischen Dich- 
tungen vorgeführt werden, gewinnt die Darstellung eine 
Belebtheit und Mannichfaltigkeit, die dem Reichtbum der 
Shakespeare’schen Charakteristik zu entsprechen vermag. 
Für den Werth der Compositionen bürgen die Namen des 
Herausgebers Friedrich Pecht und der mit ihm vereinigten 
Künstler; der Stich wurde anerkannten Meistern in ihrem 
Fache anvertraut. 

In allen Buch- und Kunsthandlungen werden Unter- 
zeichnungen angenommen und ist die erste Lieferung 
nebst einem Prospecot über das Werk vorräthig. 





Derfag von 5. 4. A. Brodßaus in Leipzig. 


Die deuifche Regtſchreibung 


in der 8 
und deren Stellung zur kung der Zukunft. 
Mit einem Verzeichniſſt te Voͤrter. 
Bon Karl Julius Schröer. 
8. Geh. 20 Nor. 

Borliegende Schrift wurde infolge eines Auftrags bes 
öfterreihiichen Minifleriums für Eultus und Unterricht verfaßt 
und hat den Zmed, in die deutſche Orthographie der Sure 
und Mittelfhulen Ordnung und Einflang zu bringen. 
Berfaffer geht dabei von dem Grundja aus, daß die —E 
die in der Schule zu lehren iſt, dem herrſchenden Schreibe 
gebraud; ſich anſchließen müſſe. Sein Bud empfiehlt fi fo- 
wol zum Gebraud) beim Unterridt, als für jedermann zum 
Nachſchlagen in zweifelhaften Fällen. 


Derfag von 5. 4. Brodifans in Leipzig. 


Die Oeffentlichkeit 


in den 


Baltischen Provinzen. 


8. Geh. 15 Ngr. 

Diese Schrift enthält einen neuen energischen Ruf der 
russischen Ostseeprovinzen nach Mündlichkeit und Oeffent- 
lichkeit der Justiz, Beseitigung der Censur, Freiheit der 
Presse und Wahrung germanischer Civilisation. 





Berantwortliher Rebacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von $. A, Brodhaus in Reipzig. 


— — 7. 





— u ⏑———⏑—⏑— — — — ——— ⏑ — — —— — —— 7575 —7 77 7— 








Blätter 


literariide Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erfcheint wöchentlid). 


—4 Ar. 33. ÿæ 


11. Auguft 1870. 





Inhalt: Literarifche Porträts. Bon Rudolf Gottſchal. (Beſchluß.) — Neue Novellen und Romane. Bon Oskar Elöner. — 
Raturwiffenfhaft und veligiöfer Glaube. Bon Julius Frauenſtädt. (Beihluß.) — Vom Büchertiſch. — Feuilleton. (Notizen) — 
Kibliographie. — Anzeigen. 


Kiterarifche Porträts, 
Geſchluß aus Nr. 32.) 


er 
— 


Lord Byron. Bon Karl Elze Berlin, Oppenheim. 1870. 

&r. 8. 2 Thlr. 

Waſhington Irwing. Ein Lebens» und Charalterbild von 

Adolf Zaun. Zwei Bände. Berlin, Oppenheim. 1870. 

8 2 Thlr. 10 Nor. 

3. Emanuel Seibel. Bon Karl Goedeke. Erfter Theil. 
Mit dem Bildniffe Geibel's und einem Facfimile. Stutt- 
gart, Cotta. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 

4. Karl Immermann. Sein Leben und feine Werke aus 
Tagebüchern und Briefen an feine Familie zuſawmengeſtent. 
Herausgegeben von Guſtav zu Putlitz. Zwei Bände. 
Berlin, Hertz. 1870. GEr. 8. 3 Thlr. 

5. Adalbert Stifter's Briefe, herausgegeben von Johan» 

us en Drei Bände. Peft, Hedenaft. 1869. 8. 

3 r. 

Gräfin Ida Hahn⸗Hahn. Ein Lebensbild nach der Natur 

gezeichnet von Marie Helene. Leipzig, Fr. Fleiſcher. 

1869. 8. 27 Ngr. 

Friedrich Rückert. Ein biographifches Denkmal. Mit vielen 

bisjegt ungebrucdten und umbelannten Actenfiicden, Briefen 

und Poefien Friedrich Rückert's. Bon 8. Beyer. Frant- 
furt a. M., Sauerländer. 1868. Gr. 8 2 Thlr. 

Dichter, Patriard) und Ritter. Wahrheit zu Rückert's Dich⸗ 

tung. Bon €. Kühner. Frankfurt a. M., Sauerländer. 

1869. Gr. 8. 1 Zhlr. 


Die von Johannes Aprent herausgegebenen Briefe 
Adalbert Stifter’s (Nr. 5) werben eingeleitet durch 
eine Biographie bes Dichter, welche feine Correſpondenz 
erläutert und ergänzt. Wenn überhaupt das Leben der 
deutfhen Dichter im Durchſchnitt wenig veih ift an 
änßern reigniffen, an Abenteuern und pilanten ro- 
mantiſchen Borkommniffen, fo gilt dies befonders von 
dem Reben Adalbert Stifter's, das im ganzen fo hand» 
Iungsarm ift wie feine Romane. Bon bäuerlicher Her- 
kunft, aus jenen Gegenden Böhmens ftammend, durd) 
welche die obere Moldau fließt und bie er in feinem 
„Hochwald“ und im „Witiko“ fo eingehend gefchildert Hat, 
wurde er auf öfterreichifchen Kloftergymmafien erzogen, 
kam als Hauslehrer in die ariftofratifchen Kreiſe Wiens, 
wo er manche anziehende und auch für fein Fortlommen 

1870, 33. | 


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nüglihe Verbindung anfnüpfte, und begann früh durch 
feine Erzählungen fid) einen Namen zu machen. Als 
Schulrath in Linz brachte er eine lange Reihe von 
Fahren in eifriger amtlicher Wirkſamkeit zu, die aber 
oft durch Krankheiten unterbrochen war, bis er penflonirt 
wurde und nach wenig „Jahren der Muße aus bem 
Leben fchied. 

Auch von Liebesabenteuern, von Herzensverirrungen 
weiß jeine Biographie nichts. Eine treue Gattin ftand 
ihm faft dreißig Yahre lang zur Seite. Diefe oder jene 
„ſchöne Seele” Tebte in platonifcher Breundfchaft zu dem 
Dichter des „Witiko“. Irgendwelche Spuren von Sturm 
und Drang zeigen fi) nicht in feiner Entwidelmg. Wir 
wiflen daher von vornherein, was wir von einer drei» 
bündigen Brieffammlung Stifter’8 zu erwarten haben: 
feinen Bericht über Abenteuer, Feine Geftändniffe und 
Belenntniffe, Feine ausfchäumenden Gärungen des Ge- 
müths, feine innern Kämpfe, feine äußern Berwidelun- 
en — wohl aber die Heinen Leiden bes menfchlichen 

ebens auf der einen Seite, auf der andern die Offen⸗ 
barungen eines auf die Erfaffung des Schönen in Na- 
tur und Kunſt eifrig und verfländnißvoll gerichteten Sinns. 
Den eigentlihen Ballaft in diefer Brieffammlung, wie in 
allen veröffentlichten Correfpondenzen von Sphriftftellern 
und Dichtern, bildet der buchhändlerifche Verkehr. Die 
überwiegende Mehrzahl der mitgeteilten Briefe ift an 
Stifter’8 Verleger, Guſtav Hedenaft, gerichtet, und ob⸗ 
ſchon fid) in diefen Briefen auch viel Gemüthvolles, viel 
Allgemeingültiges befindet, jo find doch die Gefchäftsbriefe 
vorherrſchend, deren Inhalt bei vielen Lefern lebhafte Un- 
geduld erweden muß. Die Vorſchüſſe, welche der Autor 
von feinem Verleger verlangt, die Honorarforberungen 
und die Angelegenheiten des finanziellen Etats ftehen in 
erfter Linie Dean follte das Publikum doch mit diefen 
häuslichen und gefhäftlichen Nothwendigkeiten verfchonen. 
Stifter Hatte 1500 Gulden Gehalt und Fonnte bei feinen 


65 


514 


Liebhabereien oder Fünftlerifchen Bedürfniſſen damit nicht 
auskommen. Mie oft wünſcht er fih, von feinem Amte 
befreit, nur künftlerifcher Muße eben zu können. Mit 
einer Rente von 1000 Gulden wollte er fchon feinem 
Amte entfagen. As Kaifer Franz Joſeph ihm den 
Franz⸗Joſeph⸗Orden fchenft, Tann er den Wunſch nicht 
unterdrüden, ber Kaiſer möchte ihm lieber durch eine 


Penfion die Muße za freiem Schaffen gewähren. Plan | 


Begreift dieſe Wunſche, wie fle in ähnticher Weiſe wol 
die meiſten Dichter hegen. Gleichwol können die Ver—⸗ 
handlungen mit dem Verleger über Honorare, über die 
Auszahlungstermine m. ſ. f. für das Publikum kein 
Intereſſe haben. Daſſelbe gilt von ben zahlreichen Stel⸗ 
fen, weiche von € , dem ruumlichen Umfang 
der Manuſeripte, der Seitenzahl u. ſ. f. handeln. Im 
legten Bande ſpielt namentlich der „Witiko“ eine unlieb- 
fame Rolle. Der Verleger wird bisweilen ungeduldig und 
die innige Freundfchaft zwiſchen ihm und dem Autor er- 
leidet dadurch vorlbergeheride Störungen. 


Ein anderes Leiden für die Lefer find die Bulletins, 
die befonder8 im dritten Bande in den Vordergrund tre 
ten. Gewiß nehmen wir Antheil aud) an dem törper- 
lichen Befinden eines uns liebgewordenen Schriftftellers. 
Aber wir hören fo viel von Anfchoppungen, von einem 
chroniſchen Magenkatarrh, der ſich aus einem fehleppenden 
Schleimhautszuſtande entwickelt hat, von der zuletzt zu 
den gaftrifchen Zuftänden hinzufommenben Grippe u. f. f., 
daß wir den Wunfc nicht umterdrüden Tünnen, der 
Rothſtift des Herausgebers Hütte den Muth gefunden, 
diefe Bulletins ſowol wie die buchhändlerifchen Gefchäfts- 
briefe ganz zu ftreichen oder doch weſentlich zu kürzen. 

Für diefen Ballaſt entfchädigt uns nun der tiefere 
Einblid in das Gemüth und die Richtung des Autors; 
wir lernen alle feine Vorzüge ſchätzen, freilich auch die 
Schranken feines Geiftes kennen, die hier noch fchärfer 
bervortreten als in feinen Erzählungen und Romanen. 
Jene Vorzüge beftehen in einem ausnehmend feinen Em⸗ 
pfinden für die Schönheiten der Natur und ber Kunft, 
das fid) ebenſo in feinem eigenen Stil ausprägt und 
Stifter zu dem erfien Profaifer Defterreih8 macht; dieſe 
Schranken dagegen in einer felbftgenügfamen Scön- 
feligkeit, welche die großen Bewegungen der Zeit nur als 
perſoͤnliche Störung empfindet und jede Poefie vermirft, 
welche über die idylliſche Selbftbefchränfung des Natur-, 
Kunft» und Lebensgenuffes hinausgeht. Stifter Tiebte 
zeitlebens Blumen und Bilder, ein Geiftesverwandter des 
roßen Dichters in Weimar. Er betrieb namentlich bie 

ortuszucht mit befonderm Eifer und pflegte z. B. Exem⸗ 
plare ‘mit fchönen violetten und weißen Stacheln“ an 
feine Freundinnen zn verfchenfen, Am 29. Yuli 1858 be 
richtet er an feinen Verleger: | 


Mrine Cactus machen mir heuer weniger Freude als fonft, 
da fie das ungleiche und daher unglinftige Wetter fehr empfinden. 
Sie blühen nicht jo reichlich wie fonft. Nur zwei Stüde Echinopsis 
multiplex, die jonft fehr Schwer blühen, hatten heuer die Laune, fünf 
unſaglich praditvolle Blumen auf einmal zu bringen (fie öffneten 
fi) alle fünf an einem Abende). Die Blume ift blaß rojenroth 
biäulich, thront auf hohem Stengel ımb hatte 5° 2" Durchmeffer. 
Der Anblid der fünf palmartigen Blumen, die vor einem Spiegel 
fanden, hatte etwas Märchenhaftes wie aus Zaufenbundeine Nacht. 


Literariſche Porträts. 


Noch kurz vor feinem Tode fchreibt er: 

habe ein Herz flir Gottes Herrlichkeit in ber Natur, 
Seit funfzehn Iahren bin ich ein Eactuszlächter, und Sie ahnen 
faum ‚von der märchenhaften Schönheit ihrer Blumen abge- 
ſehen (nicticalus, uranus, hexaedrophorus), was für wunder⸗ 
bare Geflihle es mir oft gab, wenn ich die Unendlichleit ber 
Diannichfaltigleit und Schönheit der Stacheln an einigen Sum 
dert Arten mit der Lupe duechuisflerte. 

Nicht minder lebhaft war Stifter’3 Intereſſe fir bil 
dende Kımfl; zahlreiche Briefe gene den Bewmeis hierfür. 
Bald begeiftert er ſich für die Holzſchnitzwerke von Rint 
und berichtet über diefelben mit Liebevoller Detailfenntnif, 
Ueber die Bilder non. Geiger, von Heinrih Bürke u. a. 
finden fi) Häufige begeifterte Mittheilungen; an einen 
jungen Künftler, Namens Piepenhagen, fehreibt Stifter 
einen intereffanten Brief, in welchem er die Wi en 


der Maler und Dichter vergleiht; mit dem Kupfer 


ftecher Joſehh Axmann Iebfe er in ftetem Verkehr; bie 
Sammlung bringt eine große Zahl von Briefen m ihm. 
Daß Stifter oft felbft an der Staffelei faß, daß er in 
feiner Jugend zwifchen der Miffion des Tandfchaftsmalers 
und des Dichters ſchwankte, ift befannt, und würe es 
dies nicht, fo würden feine „Studien“ e8 beweifen, in denen 
meiften® das Landſchaftsbild überwiegt und bie Mienfchen 
nur bie Staffage bilden, Freilich ift das ftimmungsvolle 
Naturgefühl diefer Erzählungen in neuer Zeit nicht über: 
troffen worden. Auch in den Briefen finden ſich tief- 
empfundene Landſchaftsbilder. Aus Kirchſchlag, einem Dorf 
auf hohem Berge in Oberöfterreih, fchreibt er am 
22. Januar 1866: 

Ih Habe ein Zimmer mit zwei großen Yenftern nad) 
Süden. Die Apenkette vom Dachſteine an big über den 
Schneeberg gegen Ungarn hinab liegt an heitern Tagen in 
diefen zwei Fenſtern, und unzählige Höhen, Wälder und Hügel 
und weithin die Ebene der Donau mit dem glänzenden Bande. 
Das weitet die Bruſt und gibt erhobene Gedanken. Wenn die 
Ebene Nebel bat, Haben wir den reinften Himmel mit ſcharfem 
Sonnenlihte und milder Wärme Zum Jahreswechſel war 
vierzehn Zage in Linz Hochnebel ohne Sonne, bier war ſtets 
Sonne und Wärme Wir fehen dann ben Nebel unter uns 
wie ein ſchimmerndes Silbermieer. Jetzt iſt es fchon wieder brei 
Tage fo. Auch ift ein Naturgefe, dag im Winter die Höhen 
wärmer, im Sommer kühler find als die Thäler. 

Die Winteridylle vom November 1866 in ben Lafer 
häufern wird uns von Stifter mit der in feinen Er- 
zählungen bewährten Kunft gefchildert; die ungeheuere 
Schneelandfchaft madjt einen gewaltigen Eindrud auf ihn. 
Bon deutfchen Dichtern übten, wie aud) aus dem Brief 
wechfel hervorgeht, nur Goethe und Jean Paul einen 
nachhaltigen Einfluß auf ihn aus. Mit Goethe fühlte 
er fih dur Natur- und Kunftfinn und einen gewiſſen 
Duietismus der Weltanfchauung verwandt. Was ihn 
bei Sean Paul anzog, war deſſen Naturbegeifterung und 
„böhere Menſchen“, eine Lieblingswendung Stifter's, die 
fi) in den Briefen deffelben öfters wiederholt. Dagegen 
dürfte der öfterreihifhe Dichter kaum für ben reichen 
bumoriftifch-fatirifchen Genius Jeau Pauls Sinn gefaht 
haben, noch weniger für jene nationale Begeifterung, aus 
welcher die „Friedenspredigten“ hervorgegangen find. 

Unter den Zeitgenofjen findet Stifter nur eine einzige 
Größe, die er anerkennt — Grillparzer, der ihm bis 
weilen fogar „riefenhaft groß” erfcheint, Nach einer 
Analyfe der „Griſeldis“ feufzt Stifter: „OD Grillparzer, 


Selbft die trodenften Menfchen wurden von diefem Anblicke ergriffen. | o Grillparzer!“ Wir haben in diefem Dramatiter ſiets 





Literariſche Porträts. 515 


ein ſchönes Talent erblidt, niemals aber einen „großen 
Dichter”, auf die Gefahr Hin, von ber gefammten öfter- 
ceichifchen Kritik verkegert zu werden. Die norbdeutfchen 
Literaturhiftorifer find Hierin ebenfo einftimmig. Zu einem 
großen Dichter gehört Größe der Weltanfchauung; diefe ver- 
miſſen wir bei Grillparzer, ebenfo wie wir fie bei Stifter 
vermiſſen. Somie diefer Grillparzer bewundert, fo ver- 
urteilt er fat alle andern neuen Dichter; die eingehende 
Beſprechung der „Griſeldis“ fchließt er mit den Worten: 

Charakter ift in dem ganzen Stüde feiner. Bercival nimmt 
wohl im erfien Acte einen Anlauf, aber eben der tragiſche Kampf 
zwiſchen dem feften Willen, das Angefangene durchzuführen, 
and dem Schmerze um fein Weib wird flach durch keinen ein» 
zigen energifchen, originellen Zug, oder dur Riſſe, die in ein 
ungemeines Gemüth biiden laſſen, das fih nur färglic mit 
dem Ruhme der Feltigleit panzert, nirgends ein Erponent der 
Leidenſchaft, fondern der Gemeinplat des Herumſchwankens, des 
Herumlehnens, Kopfhaltens, Auffeufzens u. ſ. w.... Eine 
einzige Nebenfigur wäre bald ein Charakter geworden, weil er, 
den wir feit dem erſten Acte ſchon vergeffen haben, plötzlich 
fagt, er gebe nach Frankreich, da er nicht flürder der Ritter 
feiner Dame, der Königin, fein könne; denn feine Dame müſſe 
rein fein wie fein Schild, diefe Handlungsweiſe aber beflece 
fie. (Es ift Lanzelot vom See.) Grifeldis ift ein mittel» 
mäßiges Stüd, da® ganz in die Klaffe des poetiſchen Materia- 
lismus fällt. 

Den „echter von Ravenna” dagegen nennt Stifter, 
trog jeiner Fehler, eins der größten beutfchen Werke 
umd freut fih, daß es wieder ein „öfterreichifches“ ift; 
er meint, es fei gegenüber den krampfhaften Berfuchen, 
das Häßliche und Verworfene als Reiz wieder aufzutifchen, 
eine gewonnene Teutoburger Schlacht: 

Mein Glück wäre es, wenn ich in greifen Tagen noch er» 
lebte, daß ein deutjcher Dichter aufflände, der Goethes und 
Sciller’8 Geift vereinte, e8 wäre dann der größte aller bis- 
herigen Zeiten; und da beide genannte Dichter fo erfchöpfend 
die zwei Pole deutichen Volkes darftellen: Objectivität (die fi 
in allen unfern, oft kindiſch gründlichen wiſſenſchaftlichen Ar- 
beiten zeigt) und Idealflug (der in unfern oft ebeln, oft phan⸗ 
taftifchen Anftrengungen fi kundthut), fo ift faſt mit Noth⸗ 
wendigfeit zu vermuthen, ein Dichter werde einmal beides, alfo 
ganz recht urdeutich fein. Wenn ih dann im Hohen Alter em 
Berk von diefen Manne leſen könnte, würde ich gern fterben, 
fagend: „Bin ich auch tief unter diefem Manne, ein Borlänfer 
war id) doch.“ 

Sehr antipathiſch ift unferm Defterreicher Hebbel; es ge⸗ 
reiht ihm nur zum Troſt, daß diefer Fein Landsmann ift: 

Auffallend ift es, daß der einzige in Oeſterreich lebende, 
grotestefte und fittlich verfröpftefte und wibernatürlichfte Poet 
(Hebbel) fein Defterreiher. Mir ift es faft Troſt, daß, wenn 
wir auch ſchlechte Dichter haben, diefe windigen Mühlfteine, 
die Hebbel für Größe hält, die aber, weil fie aus Wind be- 
ſtehen und doch Mühlſteine heißen wollen, nur lächerlich find, 
feinen ans Oeſterreich eingefallen find. 

Ueber Freytag's „Sol und Haben” fchreibt Stifter 
am 7. Februar 1856: 

Freytag gebt es in ber Poeſie wie dem Birtuofen in der 
Mufl. Ste fünnen meiftens in der Technik Außerordentliches 
leiten, ohne daß ihr Spiel Muſtk if. Freytag macht Theile 
äußerſt geichidt, ohne daß ein Hauch von Poeſie vorhanden ifl. 
Theile, ſagt Jean Paul, kann das Talent auch machen, oft 
beſſere als das Genie — nur auf das Ganze kommt das Ta- 
lent nie. So auch Freytag. Er Hat lauter Theile, die nie ein 
Bud machen, man muß in den drei Bänden ewig neu anfan- 
gen, feine Begebenheit bleibt fie felber, kein Charakter bleibt 
er felber, und immer hat man an Erlebniffen feine Freude. 
3.8. nichts iſt trefflicher als das zähe und gebuldige Warten 
des Beitel Itzig auf den Baron auf der Stiege mit dem Wed). 


fel, ferner nichts natürlicher, als der Mord in der Situation 
Veitel's mit dem Betteladvocaten — nur ift e8 ganz unmöglich, 
daß biefelbe Perfon die zwei Dinge thut. Hätte er Beitel 
entwidelt, wie er auf lauter fhlechten, aber lauter gefeßlichen 
and don dem flaunenswertheften Dulden und Leiden begleiteten 
Wegen endlid zum Beſitze des Gutes des Barons fommt, fo 
hätte das Ding ein Meifterwerf werben mögen; hätte er hier⸗ 
bei die Geſchichte des Barons als eines Mannes, der von 
georbneten Berhältniffen durch Lift und Schlechtigkeit der Suden 
in Unordnung geräth, im die Veitel's geſchickt verflodhten, den 
andern Juden als nöthige Nebenfigur und: von Beitel über- 
flügelt behandelt, Fink's unter allen am loſeſten daliegende Ge» 
ſchichte gar nicht eingemengt, die ehreuwerthe Firma als milde 
und bindende Luft um das Ganze gegoffen, Anton’s Schidfale 
mit der Baronsfamilie verflochten, manche trefflich behandelte 
Comptoirsfcene nur als Entwidelungswege Anton’s behandelt; 
bätte er die zwei anonymen Revolutionen, Gefechte, Selbſtmord⸗ 
verſuche, Spelunfen, geheimnißvolle Gewäfler und Treppen zu 
ihnen hinab als ganzen fpindlerijchen Apparat weggelaffen: jo 
hätte auch das Buch ein treffliches werben mögen. Dann hätte 
freilich müflen der Verfaſſer Empfindung für Totalität haben. 
Wie das Buch jest if, Halte ic) es troß der Virtuoſenkunſtſtücke 
für Leihbibliothekfutter. Trotzdem, daß mir ein paarmal bei 
Einzelheiten die Augen feucht werben mollten, halte ich doch 
das Buch für eiskalt. Alles ift nur erdacht und gemadit, ba» 
her nichts entwidelt und organiſch. Was die Charaktere an- 
langt, halte ich Fink troß der Berfuche des Autors, ihn auf 
zufteifen, für den misrathenften. ‚Er ift blos ein anmaßender, 
jeichter Zaugenichte. Bon dem Baron begreift man blos 
niht, warum er nicht längft zu Grunde gegangen Äfl, oder 
wie er überhaupt je im georbneten Berhältniffen gelebt ha- 
ben könne. 

Alle diefe UrtHeile Hängen mit Stifter’8 Grundanfchau- 
ungen von der Kunft zuſammen. Er denkt groß von ihr, 
aber er fann fie fid) nur in olympifcher Selbftgenugfam- 
feit denken. So fchreibt er am 16. October 1849: 

Meinten doch auch viele, die Kunft fei dem Ernfte und 
der Größe der Zeit gegenüber unbedeutend, und auf viele Sahre 
hin würden fi die Menſchen mit diefer Spielerei nicht mehr 
abgeben. Ich fagte darauf, die Kunfk.fei nit nur höher als 
alle Welthändel, fondern fie fei nebft ber Religion das Höchfte, 
und ihrer Würde und ihrer Größe gegenliber feien die eben 
laufenden Dinge nur thörichte Raufhändel; wenn die Menſchen 
nicht alles Selbftgefühls bar geworden find, werben fie fih 
bald von dem trüben und umreinen Strudel abwenden und 
wieder bie ftille, einfache, aber heilige und fittliche Göttin au- 
beten. Und flebe, jo ift es. Ja, des hohlen und öden Phrafen- 
thums müde und efel, werden fie baffelbe jett auch in der 
Kunft erfennen, wenn e8 auftritt, werden es verſchmähen, und 
es fteht daher diefem ſchönſten irdiihen Dinge der Menfchen 
eine Reinigung bevor. Die Revolution ift fogar aus dem 
Phraſenthume der Afterliteratur hervorgegangen. Ich babe 
Briefe aus der Gegenwart zu fchreiben begonnen, fie follten 
in die „Allgemeine Zeitung‘' fommen, aber ich that es nicht. 
Sn denfelben wird die Revolution aus der Hohlheit unferer 
Sitten und Literatur hergeleitet. Vielleicht wäre in kurzem bie 
Zeit, mo eine folhe ruhige, philoſophiſche Entwidelung An⸗ 
Hang fände. 

Am 8. Februar 1854 fchreibt er an Ottilie Wildermuth : 

Unfere Zeit verlangt Großes, Nationales, Zeitgemäßes, ja 
fogar Diätungen der Zukunft und wie die Worte fonft noch 
heißen, und gerade diefe Dinge find das Armuthszeugniß der 
Zeit. Nicht was ınan madt, iſt die Kunſt, fondern wie man’s 
madt, ober ift der Elefant und der Großglockner ein größeres 
Kunſtwerk als die Müde und das Sandkorn? Wer das behauptet, 
fenut alle vier nit, Nur unerfahrene Kinderaugen flaunen 
das räumlich Große oder das Lärmende an. Wenn eine Ge- 
ftalt riefenhaft ift, aber nicht mobellirt, ift fie ſchön? In der 
Zeit bes Kunftverderbniffes und der Ohnmacht ftedt man fi 
hinter den Stoff, den man groß nennt, und gibt ihn roh, man 
verdirbt ihn noch. Wer es weiß, wie fchwer es ift, dem lieben 


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516 


Gotte feine Welt, die endlich das Muſter aller Kunftwerte ift, 
nachzuerſchaffen (und in winzigen Theilen thut e8 ja die Kunft), 
der ift fehr furdtiam in der Wahl des Stoffs, den er er» 
ihöpfen fol, und von dem er die bezeichnenden Züge alle (die 
Merkmale des Lebens) bringen, und die falfchen (die Merkmale 
der Unmöglichkeit) wegſchenchen fol, in wie fhimmernder Ge⸗ 
ftalt fie fi auch aufdrängen, er fieht feinen Stoff lange an, 
ehe er ihn nimmt, und wär's aud wur der Kopf eines Bettel- 
manns. Wem fid) das Wie der Kunft verbirgt, dem verbirgt 
fih die Fülle des Stoffs, er muß da® daher durch die Maſſe 
erfegen, und darum braucht ein fprubeluber Jüngling fat die 
halbe Weltgefhichte zu feinem Xrauerfpiele, während ber den- 
fende Mann beinahe verzagend vor einer einzigen Geftalt des 
Altertbums fteht. Nicht Glut umd fittliche Tiefe allein bilden 
den Klinftler, jondern auch das Geftaltungsvermögen, das alle 
Glieder wahr, rein, harmonisch unb Tiebreich bildet. Sonfl wäre 
die „Amaranth“ bie vollendetfie Dichtung, in der fo erſchrecklich 
viel Schönbeitögeftrlippe wuchert und die Stämme nicht fo ge⸗ 
fund und einfach emporragen, als wären fie in ber That auf 
dem natürlichen Erdboden gewachfen. 

Die falfche akademiſche Theorie von der Gleichgültig- 
feit des Stoffe liegt diefen Neflerionen Stifter's zu 
Grunde Dazu kommt feine Abneigung gegen die großen 
gefchichtlichen Stoffe, ja fein Mangel an gefchichtlichem 
Geift, wie er ihn im „Witiko“ bekundet Hat; denn 
feine Behandlung der Geſchichte ift eine archäologifche, 
welche die leinmalerei eines Waffenmufeums in den 
Bordergrund des Gemäldes ftellt. Die Gefchichtsbramen 
Schiller's und Shakſpeare's müſſen für ihn ein Buch mit 
fieben Siegeln gewejen fein; ja er mäkelt felbft an feines 
Lieblingsdichterd Goethe „Egmont“, weil er dem Außer- 
achtlaffen der gefchichtlichen Wahrheit bei gefchichtlichen 
Dichtungen entjchieden feind ift und bei hohem Fünft« 
Lerifchen Werthe einer folden Dichtung ſchmerzlich denkt: 
„tie jchön wäre da8 Wert, 3.8. «Egmont» von Öoethe, erft, 
wenn es auch wahr wäre”. Ein folder Standpunkt kann 
nur nüchterne Gefchichtschronifen erzeugen! 

In einem Brief aft Hedenaft vom 11. Februar 1858 
meint Stifter, daß die Goethe’fche Liebe zur Kunft, die 
innige Bingebung an ftille, reine Schönheit der heutigen 
Dichtkunſt fait abhanden gelommen fei: 

Heute wird wilde Luft gezeichnet, die die Welt bemegt, 
oder Leidenfchaften und Erregungen. Das halten fie für Kraft, 
was nur Häglide Schwäde if. Das Sittengefets allein ift in 
feiner Anwendung Kraft (darum, weil e8 in Shaffpeare’s 
Stüden über den Leidenſchaften thront, find fie groß, nicht 
weil Leidenſchaften darin find), gelaffene Pflichterfiillung, genaue 
Gewifjenhaftigfeit und ein Bid in das Leben tiber Sriege, 
Staatsverhandlungen und Zeitverpraffungen hinaus ift Kraft; 
darum find ihrer fo wenige, bie auf dem feflen Boden der 
Pfliht und der höhern Lebensanſchauung ftehen, und fo viele, 
die Leidenschaften haben. 

Die Schönfeligleit des „Nachſommers“ fucht Stifter 
in ein Syſtem zu bringen; ift e8 doch allbefannte That- 
jache, daß jeder die Schranfe feines Zalents gern zur 
Schranke der Kunft madt. Ein Dichter, der Menjchen 
und Handlungen fdildert ohne leidenſchaftliche Bewegtheit, 
fann es nie über die Idylle Hinausbringen; wenn aber 
Stifter fih gegen die Politik in der Poeſie wehrt, fo 
darf man mol fragen, mit welchem Geift er bie alten 
Claſſiker ftudirt Hat, einen Aeſchylus und fein politifch-zeit- 
gemäßes Trauerjpiel „Die Perfer“, die griechifchen Elegifer 
und Sriegsfänger oder gar einen Ariftophanes? 

Der politiihe Standpunkt des Dichters war natürlich 
ein fireng confervativer, und als das Oeſterreich Metter- 


faſſende Lebensbild oder 


Literarifhe Porträts. 


nich's aus den Fugen ging, fah Stifter nur die Ausfchreis 
tungen der freiheit, nicht bie gefchichtliche Nothwendigfeit, 
die eine alte, mürbe Form zerbrad. Das Jahr 1848 
nennt er ein fürchterliches Jahr: 

Ich babe diefen Sommer dur fo vieles Schlechte, Freche, 
Unmenfhlihe und Dumme, das fih breift madte und für 
Höchſtes ausgab, unfaglich gelitten. Was in mir groß, gut, 
ſchön und vernlinftig war, empörte fih, ſelbſt Tod iſt ſüßer, 
als fol ein Leben, wo Sitte, Heiligkeit, Kunft, Göttliches 
nichts mehr ift und jeder Schlamm und jede Thierheit, weil 
jegt Freiheit ift, ein Recht zu haben wähnt, hervorzubredhen, 
ja, nicht blos hervorzubrechen, fondern zu terrorifiren. Das 
Thier fennt nicht Vergleich mit dem Gegner, fondern nur beffen 
Dernichtung. Sind diefe Menſchen frei? fragte ich oft. Früher 
lag der Stein der Polizei auf ihren Laftern, jet trete 
diefelben auf, und bie Befiger werden von ihnen zerrifien. 
Sind fie frei? Darum gibt e8 nur ba® einzige Mittel: 
„Bildung !‘ 

Wenn der Krieg zwifchen deutſchen Ländern den 
Dichter tief betrübt, wenn er dabei die Gefinnungen eines 
öfterreichifchen Patrioten hegt, fo fann man ihm das nicht 
verdenken; doch verfteigt er fich offenbar zu dem ihm fonft 
jo verhaßten falfchen Pathos, wenn er mit Bezug auf 
Preußen ausruft: „So lange die Geſchichte fpricht, hat 
Frevel nie dauernd geſiegt.“ DBerechtigter und prophe= 
tijcher find die folgenden Worte an Joſeph Türk vom 
5. October 1866: 

Preußen riß Deutichland an fich, vielleicht reift es einmal 
das ganze an fi, dann wächſt Deutſchthum dem Preußenthun 
über das Haupt, es entfteht erft recht ein Deutihland, in 
welchem e8 auch eine Mark Brandenburg gibt. Wie es ſei — 
Gott waltet gerecht, und Europa ift fo Teichtfertig geworben, 
daß e8 einer Züchtigung bedurfte, und die Züchtigung iſt noch 
nit aus. 

Der Briefwechfel Stifter’8 ift intereflant als Com⸗ 
mentar zu einer Oefinnung und Richtung, welche in der 
Literatur ausgezeichnete Cabinetsftitde fchaffen konnte, aber 
daran ſcheitern mußte, als fie verfuchte, aud) das ume 
gar das Geſchichtsbild für das 
Cabinet zu malen. | 

Keine Idyllen, wie Stifter, dichtete jene Romans 
fhriftftellerin, weldde uns Marie Helene in einem lite 
rarifchen Porträt vorführt, die „Gräfin Ida Hahn⸗Hahn“ 
(Nr. 6), in ihren Romanen eine Darftellerin menfchlicher 
Leidenſchaft, zulett eine mit geiftlichem Rüſtzeug gewaff- 
nete Vorkämpferin der Tatholifchen Kirche. Die Biographie 
ift eine Art (von Rechtfertigungsfchrift; die Verfaſſerin, 
die mehrere Jahre in der Nähe der Gräfin zubrachte, 
will jo manche Unbill, die man der Fran ebenfo wol 
wie der Schriftftellerin zufüigte, vergiten und zum 
befiern Berftändnig einer fo begabten Berfönlichkeit 
beitragen: 

Wie es dem Naturforfcher intereffant und belehrend ift, 
in die geheime Werkſtatt alles Seins und Werdens einzudringem, 
um mit rafllofer Sorgfalt aufzufinden und darzulegen, wie aus 
diefer und jener Miſchung ber Elementarfubftanzen eine joldye 
und feine andere Pflanze und Blume bervorleimen konnte; um 
wie viel mehr muß es dem denkenden Menſchen ein Gegen- 
fand nie raflenden Studiums fein, zu prüfen und zu erforſchen, 
unter welchen Bedingungen nnd Berhältniffen eine menſchliche 
Seele fi fo und eben nicht anders entfalten und offenbaren 
mußte. Bejonders aber wol dann, wenn diefe Individualität, 
in wie großem oder wie geringem Maße es immer fein möge, 
Einfluß gewonnen hatte auf die Zeitepoche, im der fie Iebte. 
Man kann Über den Einfluß, den die Schriften und das Leben 








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Literariſche Porträts. 517 


der geiftreihen Frau, deren Biographie wir jet mit Krauen- 
hand aufzuzeichnen vwillens find, verjchieden benfen und vieles 
und mauches daran zu tadeln haben, immerhin ift er ein ganz 
entfchiedener gemwejen, der in feinen Grundprincipien fich bie 
Aufgabe geftellt Hatte: den edelften Hichtungen und Regungen 
des menjchlichen Herzens Sertung zu verfchaffen. Ihr ſchien es 
Beruf, der weiblichen Seele, insbeſondere im Bereich ihrer 
tiefften und wahrften Empfindungen, eine Freiheit zu vermitteln 
und zu erobern, wie fie, von Borurtheilen bes Standes, her- 
gebrachter Sitte und Üüberfeinerter Civiliſation überwuchert, einer 
Zeit unruhiger Zerfahrenhbeit und SHaltungslofigfeit wie bie 
unfere, der jebes Gefühl für Recht und Wahrheit immer mehr 
verloren geht, durchaus entzogen worden ift. 

Die Schrift beginnt mit einer Schilderung des med- 
fenburgifchen Landadels und des unruhigen, -phantaftifchen 
Vaters der Dichterin, der befanntlih vom Landmarſchall 
Führer einer wandernden Komddiantentruppe wurde. Wir 
jelbft haben ihn, an einem Sommertheater in Altona, die 
Drden auf der Bruft, an der Theaterfaffe ftehen fehen. 
Die Warnungen des Großherzogs, die Ehefcheidung feiner 
Gattin, die Entfremdung feiner hochgeftellten Yamilie, der 
Berluft feiner Aemter und feines Vermögens — alles 
dies vermochte nichts gegen feine übermächtige Paſſion. 
Sräfin Hahn-Hahn vermählte ſich am 3. Juli 1826 mit 
ihrem älteften Better, dem Grafen Friedrich Hahn auf 
Bafedow, einem ungleichartigen Gemahl, der nur für 
Pferde und Hunde Sinn hatte Die Zerwürfniffe zwi⸗ 
ſchen den Gatten nahmen zu; am 5. Februar 1829, 
während ihres Scheidungsproceſſes, wurde ihr ein- 
ziges Kind geboren, eine Tochter, die ohme alle Fähig⸗ 
keiten blieb, weder zu ftehen noch zu gehen oder etwas 
mit den Händen feft zu greifen oder zu halten vermochte — 
ein Jchlagender Beweis, daß aus liebeleeren Verbindungen 
nur ein geiftesfchwaches Geſchlecht erwächſt. ALS junge 
Frau fol Gräfin Ida anmuthig und fympathifch gewe- 
fen fein. Im Yahre 1845 erblidte die Verfafferin ber 
Schrift die vierzigjährige Braun, der fie das folgende 
Signalement ſchreibt: 

Sie hatte bereits das eine Auge eingebüßt, und ihre zwar 
feinen Geſichtszüge waren durchaus nicht mehr anjprechend zu 
nennen. Eine faft durchfichtige Hautfärbung und das erhaltene 
Aug und tief blidende Auge gaben ihrer Phyfiognomie den 
Ausdrud geiftiger Begabung und eines mchr als gewöhnlich 
regen Seelenlebens. Ihre Figur, groß und jehr ſchlauk, war 
ſehr mager, fobaß ihre eigentlich graztöfen Bewegungen zu- 
weilen edig und der fefte Zritt ihres ſchmalen Fußes wol 
allzu männlich zu zeiten erfcheinen konnten. Dem Fuße gleich 
war ihre Hand ebenfalls lang und ſchmal, und widmete fie 
diefen beiden Theilen ihres Körpers eine ganz befondere Auf- 
merkſamkeit, wie fie denn auch mit Vorliebe Hände und Füße, 
den ihren gleihend, an ihren Heldinnen zu ſchildern pflegte, 
Sie trug damals ihr matt blondes Haar glatt gefcheitelt; ihre 
Naſe war fein, der Mund friih und, troß der ſchmalen fcharf 
geichnittenen Lippen, von einem fo wohlwollenden, freundlichen 
Zuge oft umfpielt, daß die innere Güte des Herzens fich wie ein 
rofig Licht iiber ihr ganzes Geſicht zu verbreiten ſchien. 

Den „Rechten Hatte Gräfin Hahn- Hahn in dem 
Baron Byftram gefunden, der ihr 25 Jahre mit edel 
fter Hingebung zur Seite fland, ein Mann von männ- 
lichem Aeußern und edler Bildung; fie lebte mit ihm zu« 
fammen, wie die Gräfin Ahlefeldt mit Immermann, ohne 
das Band der Trauung. Eine Epifode, eine Diverfion 
ihrer Empfindungen war bie Liebe für den hervorragenden 
Juriſten und Publiciften Heinrid) Simon, einen Mann 
von ftattlichem Aeußern, ſchönen, ruhig falten Zügen und 


energifcher Geſinnung. Diefe Liebe wurde von Simon 
glühend erwidert; er bot ihr feine Hand an, doch fie 
liebte ihren Rang mehr als den Mann, zu dem fie ſich 
mit unwiderftehlicher Gewalt ingezogen fühlte. Simon 
verzichtete, mit gewohnter Energie, auf diefe Liebe, Wei⸗ 
terhin lefen wir: 

Eine jeltfame und gewiß der Erwähnung werthe Conftella- 
tion im Leben des geiftvollen Mannes war e8 mol, daß er zu 
gleicher Zeit von einer andern herborragenden Frau im Herzen 

etragen wurde, und zwar ebenfalls, wie fie es felbft erzählt, 

in leidenjchaftlichfter Weife. Aber bei ihr follte dieſe Neigung, 
wie fie in früheſter Jugend begann, die tiefern Wurzeln jchla- 
gen und, einen Zeitraum von zwölf Jahren umfafjend, nur mit 
feinem Tode endigen. Fanny Lewald, die Couſine Heinrich 
Simon’s, wurde von dem Geliebten verfhmäht und durch die 
Entdedung feiner Leidenfhaft für die Gräfin Hahn tödlich ge- 
teoffen. ie ſelbſt jchildert in der „Geſchichte meines Lebens‘ 
fehr ergreifend die Dualen der Eiferſucht und des tiefften 
Herzeleids, dem fie erlegen und die fie jahrelang mit fih herum⸗ 
getragen. Was immer und welde Gründe die beredte Feder 
für BVeröffentlihung ihres die berühmte Schriftftellerin paro⸗ 
birenden Romans „Diogenn‘ angeben möge, wir fühlen uns 
zu der Annahme berechtigt, daß es ber Haß gegen die bevor- 
zugte Nebenbuhlerin war, der fie geleitet, und der dem tief 
verwunbdeten Herzen Schmähungen entlodte, die ebenjo maßlos 
find wie das Gefühl, das jener Haß erzeugte. 

Intereffant und zutreffend ift die Parallele, melde 
Marie Helene zwifchen der Gräfin Hahn⸗Hahn und Lifzt 
zieht. Als Touriſtin bereifte die Gräfin die Schweiz, 
Defterreih, Italien, Frankreich und Spanien, den Orient, 
Konftantinopel und Yerufalem — koſtſpielige Reiſen, die 
fie allein dem Ertrag ihrer Feder verdanfte.e Im Jahre 
1845 ließ fie fi) in Dresden nieber, wo fie mit ben 
Bertretern der ariftofratifchen Literatur, mit Sternberg 
u. a. verkehrte. Durch eine Operation Dieffenbadh’s, 
oder vielmehr durch die Folgen derfelben, verlor fie 1848 
das eine Auge. Der Tod Byftram’8 im Yahre 1849, 
die März⸗ und Mairevolution, welche ihr höchſt wider: 
wärtige und feindfelige Elemente und Tendenzen in voller 
Thätigleit zeigte, der dämoniſche Einfluß einer energifchen 
Perfönlichkeit, des Freiherrn von Setteler, eines jungen 
leidenfchaftlichen Priefters, defien Belanntfchaft fie in 
Berlin gemadht und welcher das Jahr darauf den 
mainzer Bifchofsfig beftieg, bewirkten ihren Uebertritt zur 
katholischen Kirche. Es wurde ihr die Gründung eines 
Kloſters übertragen, das dem Schuge der gefallenen Tu⸗ 
gend gewidmet werden follte; in wenigen Jahren war 
dass Werk vollendet, und Gräfin Hahn bezog als Klofter- 
frau, nit als Nonne, dies geiftlihe Haus in Mainz. 
Die Kirche gönnte ihr indeß Raum zu freiefter literari- 
ſcher Wirkſamkeit; fie hat, außer Biographien der Kirchen— 
väter, namentlich des heiligen Auguftinns, feit 1851 
folgende Werke vollendet, deren Regiſter wir hier anführen, 
weil fie, mehr der Ficchlichen als der nationalen Literatur 
angebörig, wenig befannt geworben find: 

„Aus Serufalem", 1851. — Ein Bändchen Gedichte: 
„Unferer lieben Frau“, 1851. — „Bon Babylon nad Jeruſalem“, 
im felben Jahre. — ‚Die Liebhaber des Kreuzes, 1852. — 
„Sin Büchlein vom guten Hirten‘, 1853. — „Das Jahr der 
Kirche‘, 1854. — Ein Bändchen zur „Legende der Heiligen‘ 
von Johannes Laicus, von welchem die beiden erflen 1854 und 
1855 erſchienen find. — „Bilder aus der Gefchichte der Kirche‘, 
vier Bände, 1856-59. — „Maria Regina‘, 1860. — „Do⸗ 
ralice, ein Familiengemälde aus ber Gegenwart‘, 1861. — 
„Bier Lebensbilder: Sin Papft, eim Bijchof, ein Priefler, ein 








N Sue 


518 giterarifche Porträts. 


Jeſuit“, 1861. — „Die Märtyrer”, 1862. — „Zwei Schwes 
fern. Eine Erzählung aus der Gegenwart“, 1863. — „Ben 
David. Ein Phantafiegentälde von Ernft Renan“, 1864. — 
„Peregrin. Ein Roman“, zwei Bürbe, 1864, 

Wir fügen diefen Negifter noch Hinzu: „Eudoria, die 
Raiferin” (2 Bde. 1867); „Die Erbin von Eronenftein“ 
(2 Bde, 1869); „Die Gefchichte eines armen Fräuleins“ 
(2 Bde., 1869). 

Das Urteil der Verfaflerin über das ungewöhnliche 
Talent der Gräfin Hahn-Hahn unterjchreiben wir unbe. 
dingt; fie war an urfprünglicher Energie der Empfindung 
und Leidenfhaft ihren aufgeflärten, geiftreichen Neben» 
buhlerinnen überlegen. Nur die excluſiven Verhältniffe, 
in benen fich ihr Leben bewegte, Berhältniffe, bie ihren 
Stil erdufiv, d. h. unſchön, und ihre Lebensanſchauung 
einfeitig, nur der individuellen, nicht der politifchen und 
Tocialen Freiheit zumendeten und fie zulegt vollfländiger 
geiftiger Unfreiheit in die Arme warfen, ließen ein fo ſchö— 
nes Talent zu feiner gedeihlichen Entwidelung gelangen. 

Wir fchließen die Galerie literarifcher Porträts mit dem 
Bildniß Friedrih Rückert's, welhem C. Beyer in Ko— 
burg ein „Biographifches Denkmal” (Nr. 7) errichtet Hat, 
während C. Kühner in der Schrift: „Dichter, Patriarch) 
und Ritter” (Nr. 8), Berfönlichfeiten und Beizehungen aus 
dem Jugendleben des Dichters eingehend charalterifirt. 

Friedrich Rückert ift eine dichterifche Perjönlichkeit von 
jo Scharf ausgeprägten Zügen, von fo marfirter geiftiger 
Bedeutung, daß man ſtets gern zu ihm zurüdgeführt wird. 
Beyer hat uns ſchon mehrfach über des Dichters Lebens- 
verhältniffe genaue Ausfunft gegeben, befonders in feinem 
anſpruchsloſen Buch: „Friedrich Rückert's Leben und Dich- 
tungen”. In ber Borrede fagt Beyer: 

Der Zwed von „Friedrich Rückert's Leben und Dichtungen‘ 
war neben präcijer Zeichnung des Dichters die Einführung in 
ben Geift und in das Verſtändniß feiner Schöpfungen, fowie 
ein beftimmter Nachweis, inwieweit die dichterifchen Erzeugniſſe 
Friedrich Rückert's durch fein Leben bedingt waren. In dem 
vorliegenden Buche geben wir nun mit Ausichluß einer jeglichen 
Analyie eine nur den Gehalt der einzelnen Dichtungen Ruckert's 
ins Auge faflende, möglichſt vollfändige Biographie Rückert's, 
verbunden mit einer eingehenden Charakteriftit und Würdigung 
des Menſchen und des Dichters Friedrich Rückert unter befon- 
derer Berüdfihtigung und Firirung feiner Stellung auf dem 
deutſchen Parnaß. Zugleich liefern wir unter Veröffentlichung 
bezügliher Actenftüde und Forſchungen einen Nachweis über 
bes Dichters und des Gelehrten Friedrich Rückert Geiftesentwide- 
fung, und wir können fomit das vorliegende Buch als Ergän- 
zung und Bervollftändigung zu „Friedrich Rückert's Leben und 
Dichtungen‘, fowie al8 Supplement und Kommentar zu der 
eben erjcheinenden Gejammtansgabe der Rückert'ſchen poetifchen 
Werke betrachten. 


Beyer hat alle Mittheilungen und Angaben, alle münd⸗ 
lichen und fehriftlihen Zeugniffe von Verwandten, Sreun- 
den und Berehrern Rückert's, alle die vielen Zeitfchriften 
in verfchiedenen deutſchen Bibliothefen benutt, um ein 
erfchöpfendes Gefammtbild des Rückert'ſchen Lebens dar- 
zubieten. „Wahrheit war fein erſtes Geſetz, aud) bei 
der Beurtheilung ber NRüdert’fchen Gedichte, und in ber 
That verleugnet das Werf zwar nirgends die Pietät gegen 
den Dichter, hält fich aber frei von überſchwenglichen 
Lobeserhebungen. 

Rückert's Geburt im Ylußgebiet des Main veranlaft 
unfern Autor zu der folgenden Bemerkung, welche zugleich 
harakteriftifch ift für Rückert's Titerarifches Porträt: 


Diefe wohlberufene Heimat deutſcher Borfie zählt auch dem 
univerjellen Friedrich Ridert, bei dem fi) dns Vollsthümliche 
der Meifterfänger mit den fünftlichen Weiſen und ber ſpielenden 
Kunft der Pegnigichäferei, durchprägt von einer vollen und tie 
fen Naturanihauung und SHerzenspoefle, vereinigt, zu ihren 
treueften Söhnen. 

In Schweinfurt geboren, zog Rückert, Idum vier 
Jahre aft, nach Oberlauringen; die Anregungen des Dorf» 
lebens, welche dem Kinde geiftige Nahrung boten, wer- 
den von Beyer mit Fleiß zufammengetragen, fie erjtreden 
fi von dem Gutsherrn und bem Pfarrer, von den Miuh- 
men mit den Strohblumen im Haar, dem Gevatter Schnei- 
der und dem Krautfchneider Graumann bis zur märden- 
erzäblenden Frau Barbe, bis zur Knabenliebe zu der Heinen 
Annel, mit der er im „Tannich“ Beeren ſuchen ging. 
Wie wir von Kühner erfahren, war Annel des Ritter» 
boten Steigemeier „blauäugiges, tannenſchlankes“ Tboch⸗ 
terlein. 

Das Wert von Kühner gibt für Rückert's Knaben⸗ 
und Sünglingsjahre eine willkommene Ergänzung. Da 
einzelne Abfchnitte deſſelben früher in Journalen felbfländtg 
gebrudt waren, fo haben fie dem Beyer'ſchen biographi- 
fchen Denfmal als Duelle gedient. Der Dichter auf dem 
Titelblatt der Kühner'ſchen Schrift ift Rückert felbit; der 
Patriarch Hohnbaum der würdige Superintendent von 
Rodach; der Kitter Chriſtian Truchſeß von Wetzhauſen 
auf Bettenburg. Beide letztern gewährten dem jungen 
Dichter, nachdem er ſeine Studien vollendet, mehrfach 
längere Gaſtfreundſchaft und leben deshalb in feinen Lie 
dern fort. Wir müſſen freilih befennen, daß die Schil- 
derung, die ung Kühner von dem alten Hohnbaum ent» 
wirft, uns ein bei weiten ſprechenderes Porträt gibt als 
Rückert's keineswegs von aller Berfünftelung freie Di⸗ 
ftihen. Die Tülle von Gemüt) und Humor in dem 
würdigen Geiftlichen, fein volfsthümliches Patriarchenthum, 
die ebenfo idylliſchen wie pifanten Züge des robacher 
Stillebens haben uns weit mehr gerührt und intereffirt 
in ber lebhaften Brofa der Kühner’fchen Schilderung als 
in den, Überdies oft durch mangelnde Cäſuren hinfälligen 
Herametern und Pentametern Rückert's. 

Daffelbe gilt von dem Ritter auf der Bettenburg; 
diefer wadere Ritter, „die hohe Geftalt mit der Hünen⸗ 
bruft und der gewaltigen Glieder reinem Ebenmaß, das 
ſchöne Haupt mit weißen Locken befränzt”, in feiner finde 
lichen Hingebung an feine Ideale, mit feinem patriarcha⸗ 
lichen Hauswefen, feiner Sorge für da8 Wohl feiner Leute, 
für die fchönen Anlagen um das Schloß, mit feinem Lefe- 
eifer, mit feiner großartigen Gaftfreundfchaft, welche Jean 
Paul, Heinrich Voß, Ernft Wagner, Rochlig und andere be- 
rühmte Männer um fich verjammelte und den Bauer 
wie den Fürften mit gleicher Herzlichkeit begrüßte — diefer 
geiftig ftrebende, hünenhafte Ritter erſcheint uns auch weit 
bedeutender in Kühner's Schilderung als in Rüccert's 
Berfen. Freilich dürfen wir nicht vergefien, daß das 
große „Hochzeitsgedicht für bie Bettenburg‘, welches Rüdert 
im April 1815 zur Vermählung des jungen Dietrih von 
Truchſeß, eines Neffen des Dichters, mit Charlotte von 
Sedendorf gedichtet hat, ein Gedicht, das mehr als tau⸗ 
ſend Verſe enthielt, nur im Manuſcript vorhanden ift 
und nur zwei Heine Bruchftüde des Gedichte in Rückert's 
Gedichtſammlungen aufgenommen find. Kühner theilt 





— ger —— — — — on 


Literariſche Porträts. 


größere Partien aus dem Gedichte mit. Der Charakter 
des Gelegenheitsgedichts wird hier nur hin und wieder durch 
höhern Schwung unterbrochen, wie wenn der Dichter den 
würdigen Burgherrn ſelbſt ſchildert oder die alten Reichs⸗ 
ritter, die zur Hochzeit kommen: 
Und draußen durch den Eichenwald 
In kriegeriſcher Rüfung wallt 
Der alte Götz von Berlichingen, 
Deß Hand ift eins mit feiner Klingen, 
Ihm brüderlich zur Seite Franz 
Bon Sidingen im Waffenglanz. 
Der edle Burgherr hat die beiden, 
Die keine Macht vermocht zu ſcheiden, 
“ Borlängft verfebt in feinen Hain, 
Ihr Bild geprägt auf feinen Stein; 
Drum haben fie fih vorgenommen, 
Zu feinem Hochzeitfeft zu kommen, 
. Und.aus dem Huttenberg herbei, 
‘Bor feinem Monument vorbei, 
Kommt au der Ulerich von Hutten, 
Der einft gekämpft mit finftern Kutten, 
Und reicht dem Sidingen die Hand, 
Weil er die feine treu einft fand. 
O Kleeblatt, wie nicht mehr zu haben, 
Ihr drei ans Frankenland und Schwaben, 
Ummwandelt das geweibte Rund, 
Wo jetst den feierlichen Bund 
Ein Frank' und eine Schwäbin ſchließet; 
Seid Zeugen ihrem Schwur und gießet, 
‚ Wenn lieb euch ift der Enkel Heil, 

Bon euerm Geift auf fie ein Theil. 

Kühner ſagt in der Vorrede, daß er nicht eine zu—⸗ 
fammenhängende Sugendgefchichte gebe — nur loſe anein« 
andergereihte Bilder, deren Züge er zunächſt den Dich. 
tungen Rückert's felbft, andern gedrudten, aber nur wenig 
befannten Ouellen und größtentheils handfchriftlichen und 
mändlichen Ueberlieferungen fowie feiner eigenen Jugend⸗ 
erinnerung entlchnt. Gleichwol tritt die Jugend des Dich⸗ 
ter8 in feiner durchaus anfprechenden, lebensfriſchen Dar» 
ftellung in einem Zuſammenhang vor uns hin, in welchem 
fich der Tert des Biograpken und die Verſe des Dichters 
auf willkommene Weife ergänzen und erläutern. 

Außer den Dorf-Annel von Oberlauringen fpielen noch 
drei Iugendgeliebte des Dichters in beiden Biographien 
eine wichtige Rolle; doch erſcheint Bier Beyer als bie 
eigentliche Duelle, aus der Kühner ſchöpft. Agnes, die 
„Steruengleiche”, der Rüdert einen jo ſchönen Todtenkranz 
in Sonetten gewidmet hat, war die Tochter des Juſtiz⸗ 
amtmanns Müller in Rentweinsdorf, Agnes Tiebte indeß 
nicht den Dichter, fondern einen Freund Rückert's, Haber- 
mann in Koburg, wie fte furz vor ihrem frühen Tode 
befannte. Kühner meint, menn der Dichter wirklich zu 
ihr Liebe empfand, fo ift e8 eine Liebe gewefen, bie erft 
auf dem Grabe der Geliebten die Blütenfnospe fprengte, 
Mas die Liebe zu Amaryllis, der Dorfichönen aus dem 
Wirthshaus „Die Spede” betrifft, fo bezweifelt Kühner, 
Daß der Dichter, was er gefungen, auch innerlich empfun- 
den hat. Beyer ift anderer Anſicht und theilt ſogar bie 
Abficht der Liebenden mit, die Verlobungsringe zu wech⸗ 
fein. Kühner jagt dagegen: 

Draß ſolche aus Spinnengeweben gebrehte Zauberbande 
nahe daran geweſen fein follten, in goldene Eheringe 19 zu 
verwandeln — wie im „Biographiichen Denkmal“ berichtet wird —, 
und daß. die Liebenden, um die Ringe ihren Fingern aupaflen 
zu Iaffen, felbander bereits auf dem Wege zum ventweinsborfer 


519 


Goldſchmied geweſen wären, als noch zur glücklichen Stunde 
die Heine Braut durch ben heilfamen Spott einer ihr begegnen 
den Freundin von neuem widerfpenflig gemacht und ein unheil⸗ 
barer Bruch herbeigeführt wurde — ein jolcher Verlauf des Ro⸗ 
mans iſt aus der Dichtung felbft ſchwer erflärlih und ſcheint 
uns wie an innerer, fo auch an äußerer Unwahrſcheinlichkeit 
zu leiden. 

Wir möchten uns auch der Testen Anftcht anfchließen; 
eine Dichterphantafte dichtet fich oft das Leben zurecht für 
ihre idealen Zwede; fie empfindet nicht aus ihm heraus, 
fondern in daffelbe hinein. So mag e8 bei verfchiedenen 
Dichterliebfchaften der Fall gewefen fein, gewiß auch bei 
diefem Dorfliebchen, das überdies fi) ja gegen Rückert 
fpröde genug verhielt. Gegenſeitige Neigung charakterifirt 
nur das dritte Liebesverhältnig Rückert's zu dem Pfar- 
rerstöchterchen Friederife aus Effelder, deren Name be- 
reits clajfifche, fejengeimer Erinnerungen wachruft. Diefe 
Liebesidylle habe nicht nur „Goethe'ſche“ einfame Spazier- 
gänge in das „Himmelreich”‘, den nahen Kieferwald, auf« 
zumeijen, fondern auch fiundenlange Piquet- und Mariage⸗ 


-partien, ein in Seſenheim unbelanntes Vergnügen. ‘Doch 


auch dieſe Neigung, welche ſich durch die italienifche 
Poeſie des Dichters mie ein rother Faden hindurchzieht, 
war nicht von langer Dauer. Friederife wurde fpäter 
die Frau des königlich preußifchen Geheimrathg Keßler. 
Rücker“s ſpäteres Leben, feine wiffenfchaftliche und 
dichterifche Earriere ift befannter; dennoch theilt das Werk 
von Beyer manches Neue daraus mit, manchen anefdo- 
tifchen Zug, namentlih aus dem erlanger und berliner 
Univerfitätsleben. Intereffant ift die Analyſe von Rückert's 
jo verſchieden beurtheilter Inauguraldiffertation. Wir er- 
fehen aus berjelben, daß diefe Differtation allerdings fchon 
mit Bemwußtfein und Ahnung die Wege einjchlug, welche 
fpäter die vergleichende Sprachforſchung betrat, und daß 
fie manche geiftreiche Perfpectiven in die Zukunft diefer 
Wiſſenſchaft eröffnet, daß fie aber auch auf der andern 
Seite in den etymologifchen Herleitungen von jenem Spie- 
ferifchen und Verzwickten nicht freizufprechen ift, welches 
auch den mislungenen Gedichten Rückert's eigenthümlich ift. 
Ueber Rückert's Patriarchenleben in Neufeß mit feiner 
indogermanifchen Welt» und LXebensweisheit gibt Beyer 
die genauefte Ausfunft und Hat alle Berichte, melche daifelbe 
ſchildern, die Mittheilungen der verfchiedenften Befucher 
forgfältig zufammengetragen. Die Gejammtcharafteriftik, 
welche Beyer von dem Dichter entwirft, ift von einfeitiger 
Apotheofe entfernt, wird auch den Mängeln der Rüdert’- 
fhen Gedichte gerecht und entjpricht im ganzen dem Cha- 
rakterbild, welches wir felbft in der „Nationalliteratur‘, 
in „Unferer Zeit“ und in d. Bl. mehrfad) entworfen haben. 
Dem Beyer'ſchen Denkmal ift eine Auswahl aus den 
bisjetzt ungedrudten Poeſien Friedrich Rückert's beigefügt, 
von denen die hinkenden Jamben für MWangenheim zur 
Geier der Landftände als Mufter dentfcher Choliamben 
dienen fünnen, während das Gedicht an die Schwiegertochter 
„Alma“, das legte Gedicht Rückert's, bei aller Gefucht- 
heit der Wendungen doch noch die feltene Sprachgewandt- 
beit des Poeten zeigt. Das befte diefer Gebichte ift ein 
patriotifches aus dem Jahre 1814, welches werkwürdiger- 
weife in die Sammlungen der Zeitgedichte nicht aufgenom- 
men wurde, obſchon es viele darin enthaltene Bänfel- 
fängereien dur eble ſchwunghafte Haltung übertrifit. 


520 


Bir theilen einige, jegt in die ernſte Bewegung ber 
Gegenwart mächtig eingreifende Strophen aus demſel⸗ 
ben mit: 
Nun ift gelommen 
Die Heiße Arbeit und die firenge Tugend, 
Das Kreuz genommen! 
So rief der Herr, gebändigt Luſt der Jugend! 
Richt mehr anf Rofen 
Soll ih im Sonnenfhein die Freude beiten; 
Ro Waffen tofen 
Und Kämpfe ringend fid) an Kämpfe fetten, 
Da ſei dein Leben! 
Das if dem Mann zum höchſten Troft gegeben. 
O fei willlommen! 
D ſei willlommen mir, bu ernfle Freude 
Du Bild der Frommen, 
Auf deren Antli Liebe ſtrahlt im Leide! 
Wie Harfen Hingen, 
Benn Engel auf den Sternen Hymnen tönen, 


Yene Novellen 


1. Lieben und Leben. Neue Erzählungen von Mar Ring. 

Drei Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 4 Zhlr. 

Der Romanfcriftftellee verhält fih zum Novelliften 
ungefähr ebenjo wie der Fredco- zum Genremaler. In 
großen Zügen entwirft er fein Weltbild und führt es in 
großen Linien aus. hm gilt vor allem das Ganze und 
der Sefammteindrud, den fein Werk hinterläßt. Discretion 
in der Farbengebung oder, wenn wir uns mufifalifc) aus« 
drüden bürfen, in der Unftrumentation, wie das Eingehen 
auf das einzelne und deſſen Ausführung überhaupt, wer⸗ 
den durch bie Größenverhältniffe von vornherein aus⸗ 
gefchlofien. Der Novellift ift von alledem das Widerfpiel. 
Er gibt ein Weltbild im Fleinen, das aber über feinen 
engen Rahmen in die Welt hinausweift. Ihm kommt «8 
daranf an, mit Heinen Mitteln bedeutend zu wirken; ihre 
gewifienhafte Benutzung ift daher feine Hauptaufgabe. Die 
fpecififche Eigenheit diefer Form nöthigt den Schriftfteller, 
der fie cultivirt, den Schwerpunft nicht, wie e8 vorzugs⸗ 
weile der Roman bedingt, nach außen, fondern nach innen 
zu verlegen. Der enge Rahmen geftattet Feine Aneinander- 
veihung bedeutender äußerer Momente, weil ihre Conje- 
quenzen größer als fie felbft und zu feinem Verhältniß 
untereinander, viel weniger aber zu einem harmonifchen 
Ausklang zu vereinen find. Daraus ergibt fi, daß der 
Novellift vorzüglich auf die Darftellung pfychologifcher 
Zuftände angewiefen ift und von äußern Momenten nur 
fo viel benugen darf, al8 zur Erzeugung ber von ihm 
zu fehildernden innern Vorgänge unerlaßlich iſt. 

Bon dieſem Geſichtspunkt aus betrachtet, find Paul 
Heyſe's Novellen, wenigftens in der Mehrzahl, mufler- 
gültig, und Mar Ring's Erzählungen, fpeciell die vor⸗ 
Yiegenden, verfehlt. Hier handelt es fi) um lauter äußere 
Ereigniffe, die ohne jede innere Verbindung immer un- 
mittelbar, je nachdem es dem Verfaſſer am effectvolliten 
ſchien, aufeinandergepfropft find. Wir befinden ung mit 
ihm auf einer wahren Hetjagd nad) Effecten. Kaum ift 
ein Wild glücklich erlegt, fo zeigt ſich auch fchon ein neues 
noch mehr verheißendes, und fo geht es fort durch drei 
nicht eben dünne Bände Mar Ring läuft nad einigen 


Neue Novellen und Romane. 


So lieblih dringen 

Die Laute aus des Bufens ſtarkem Sehnen, 
Mit Bräutigams Wonne 

Den füßen Reiz der Iugend zu umfangen, 
Und wie die Lerche an ber Morgenjonne 

An isrem Glanz zu hangen. 


O fei gegrüßt, 

Dein Baterland im blut’gen Siegeskleide! 
Dein Ruhm umfließt 

Dich wie die Jungfraun blinfenbes Gefchmeibe, 
Wann fie den Reigen 

Der bunten Früblingstage fröhlich zieren. 
Du bift dein eigen, 

Und darfft dich jelbft in eigner Freiheit führen. 
Die welſche Rotte 

Hat der Germanen Heldenarm gebündigt; 
Dir ift die Ehre wieder eingehänbigt 

Bom deutſchen ©otte. 

Rudolf Gottſchall. 


und Romane. 


mwohlverbienten Erfolgen Gefahr, der Bieljchreiberei zu 
verfallen. 

Zu einer Analyfe der vorliegenden vier Erzählungen 
baben wir keine Veranlaſſung. Nur ihren Inhalt wollen 
wir furz andeuten. Die erfte: „Die Eheſcheuen“, behan⸗ 
delt eine Liebeögefchichte trivialer Art und vermag ihren 
Titel in nichts zu rechtfertigen. Die zweite: „Im Daufe 
ber Bonaparte, ſchildert Leopold Robert's unglüdlicde Nei⸗ 
gung zur Prinzeffin Charlotte Bonaparte. Die dritte: 
„Der Sieg der Liebe“, behandelt den Bar⸗Kochba ber 
Mauren, Aben-Humeya, ohne tieferes Verſtändniß feiner 
gefhichtlichen Bedeutung, und die vierte: „Der Bhilofoph 
von Charlottenburg”, führt den berühmten Leibniz in Schlaf- 


‚rod und Nachtmütze vor. 


2. Familienrache, oder: das Erdbeben von Ealabrien im Jahre 
1008 Novelle von Karl Zetter. Graz, Mofer. 1869. 
. gt. " 


3. Die letsten Grafen Kery, oder Chriſt und Mohammebaner. 
Hiftorisches Charaktergemälde von Karl Zetter. Graz, 
Mojer. 1869. 8. 16 Nor. 
Schon die Titel deuten an, welche Attentate der Ber 

fafjer beabfichtigt. Beide Bücher find unftreitig für den 

Papierkorb gefchrieben und werden dies Ziel auch ficher 

erreichen. Die Kritil kann ſich mit derartigen Producten 

nicht befaſſen. 


4. Und fie bewegt ſich doch! Roman von Friedrich Karl 

Schubert. Zwei Bände. Hannover, Rümpler. 1870. 

8 2 Thlr. 

Der Gattungsname Roman ift bier nicht zutreffend. 
Halb Geſchichte, Halb Erfindung iſt vorliegendes Wert 
weder dns eine noch das andere. Beide Elemente laufen 
nebeneinander ber, ohne ſich, wie es ein Kunſtwerk boch 
bedingt, gegenfeitig zu durchbringen und zu erläutern. 
Der Berfafjer ift offenbar Fein Dichter, aber ein philo- 
ſophiſch und Hiftorifch tüchtig gebildeter Mann. Der 
Schwerpunkt des Romans Liegt in feinen fehr intereffan- 
ten Gejchichtsbildern, die mit großer Anfchaulichkeit ent⸗ 
worfen find, und in feinen geiftvollen philofophifchen 





Neue Novellen und Romane, 


Ercurfen. Wenn wir noch hinzufügen, daß der Stil fließend 
und ziemlich ebenmäßig ift, haben wir aller Vorzüge ges 
dat. Weniger gelungen find dagegen die poetifchen An— 
firengungen des Berfafjers, fowol in Bezug auf Geftal- 
tung ale Combination. Galilei, das Centrum des Gan- 
zen, erſcheint als ein Schatten ohne Fleifh und Blut, 
unter Umftänden als bloße Staffage. Man erwartet die 
piychologifche Entwidelung feiner - Lehre und namentlich 
feines Widerrufs — und erhält ftatt defien nur Facta. Man 
wünfcht bie gewaltige Umwälzung veranfchaulidht, welche 
Galilei's Lehre hervorbrachte — und erhält eine Verflüch⸗ 
tigung ihrer Bebeutung zu Liebesgeſchichten, die nichts 
Neues bieten und auch in Feiner Weife zur Iluftration 
der Zeit dienen können. Ebenſo wenig hat das Bud) 
Beziehungen zur Gegenwart, die doch fo viele übereinftim- 
mende Momente mit ber Zeit, die es behandelt, in ſich trägt. 
5. Der Schügling des Kaijers. Roman von Stanislaus 

Graf Srabowsti. Drei Bände. Berlin, Langmann u. 

Eomp. 1870. 8 3 Thlr. 

Aehnlich, nur umgefehrt, verhält es ſich mit diefem 
Roman; bier überwiegt die Erfindung die Geſchichte. Ein 
gewiſſer finnlicher Hauch liegt über bem Ganzen, wie ſchwüle 
Sommerluft, und wird dem Lefer zum Medium, durch 
daß er die bunte Welt, die fi) ihm darbietet, betrachtet. 
Grabowslki beſitzt ein fcharfes Auge für die Erfcheinungen 
der Sinnenwelt und weiß fie lebendig zu geftalten; aber 
ihm fehlt die Kraft, fie zu vergeiftigen und ſomit Fünft- 
lerifch zu verwerthen. 

Wir haben einen biographifchen Roman vor und. Er 
beginnt mit der Geburt des Helden, oder vielmehr noch 
vor feiner Geburt, und endet mit feiner Berheirathung. 
In gerader Linie folgen die Ereigniſſe einander, ohne tie- 
fern Grund, ohne innigen Zufammenhang. Der Held 
jelbft ift fertig von dem Augenblid an, wo er in bie 
Handlung eintritt, und wandelt fi) in der Folge nicht. 
Er heißt Napoleon Brifjot und ift ein natürlicher Sohn 
. Napoleon’s I., ein Sind der Liebe, deflen Mutter der 
fpätere Kaifer treulos verlaffen. Auf dem Schlachtfelde 
von Friedland macht er die erfte Bekanntſchaft feines Soh⸗ 
nes, der, ohne das Geheimniß feiner Geburt zu kennen, 
aus innerm Drange ſich den Fahnen des Eroberere an- 
gefchlofien hat und durch perfönliche Tüchtigkeit bereits 
zum Corporal avancirt ift. Der Kaiſer findet feinen 
Sprößling feiner nicht unwerth und zieht ihn, ohme ihm 
indeß den Grund mitzutbeilen, in ſeine unmittelbare Nähe. 
Brifiot wird zum Lieutenant der Adjutantur ernannt und 
in ber Folge, theils zufällig, theils abfihtlih, mit ver- 
fchiedenen Kurierfahrten, zunächſt nad) Frankreich, dann 
nad Spanien, endlich nah Rußland betraut. Er erlebt 
eine Menge Abenteuer, die meiften in Paris und Madrid, 
und entwidelt vor unfern Augen eine nicht unbedeutende 
Anlage zum Don Yuan. Er verftridt fid) nad) und nad) 
in drei verſchiedene mehr oder minder eingeftändene Lieb- 
fchaften, eine immer abentenerlicher als die andere, begeht 
dann hinter der Scene zur Abwechfelung ein paar Helden- 
thaten als Soldat, avancirt immer höher und begleitet 
ſchließlich als Oberſt den Kaifer überall Hin, bis zu defien 
Einfhiffung nad) St.- Helena. Napoleon felbfl, im übri⸗ 
gen nad) gewohnter Schablone gezeichnet, fcheidet aus dem 
Buche, ohne ung mit der Anerkennung feines Sohnes zu 

1870. 33. 


521 


erfreuen, und bleibt uns auch die Gründe dafür fchuldig, 
weshalb ex die Iugendgeliebte, Briſſot's Mutter, in Noth 
und Sorge verlommen ließ. 

Natürlich fpielen eine Menge andere Gefchichten zwei 
ten und dritten Ranges mit, ſodaß an eine Concentration 
des Intereſſes nicht wol zu denken ift. Poetiſch muthet 
die Epifode Eſtrella's an, die den argen Leichtfinn ihrer 
Jugend mit dem zur Rettung des Geliebten freiwillig er- 
wählten Tode an den Ufern der Berefina fühnt. 


6. Ehrifline Roman in drei Bänden von D. von Pafd- 
fowsfy. Haunover, Rümpler. 1870. 8. 4 Thlr. 


Ein Roman von Frauenhand, aber mit mehr Talent 
als viele Yrauenromane gejchrieben. Wir begegnen hier 
entjchiedener Befähigung für pfychologiſche Schilderung 
und einem bei Damen feltenen künſtleriſchen Yormfinn, 
der inftinctiv dem äfthetifchen Anforderungen, wenigftens 
im wefentlihen, gerecht wird. Die geiftige Phyfiognomie 
der Berfafferin ift keineswegs eine fchärfer beftimmte, ori« 
ginelle, aber fie ragt um etwas über die literarifchen 
Durchfchnittsgefichter ihres Geſchlechts hinaus, 

Der Roman bejchäftigt fi) mit einer Frage, die 
wifjenfchaftlich noch nicht endgültig gelöft worden iſt: mit 
der Trage nach dem Uebergewicht zwifchen Natur und 
Gef. Natürlich kann fie auch Hier nur einfeitig ent« 
fchieden werden, aber da diefe Entfcheidung gleiche Be⸗ 
rechtigung wie die gegentheilige hat, können wir fie ung 
wol gefallen laſſen. D. von Paſchkowsky räumt der Natur 
den Sieg über den Geift ein. Die Heldin ihres Romans, 
Chriftine, ift ein durch und durch leidenfchaftlicher, allen 
äußern Einwirkungen unbedingt unterworfener ertremer 
Charalter, defjen Möglichkeit aus der Verfchiedenheit des 
Geiftes der Aeltern hergeleitet wird. Alle Verfuche, diefe 
wilde Natur zu bändigen, der Herrfchaft bes Geiftes zu 
unterwerfen, ob fie nun im Heinen von Chriftinens An- 
gehörigen, oder im großen vom Schickſal ausgehen, blei- 
ben wirkungslos. Chriftine felbft gelangt zur Erkenntniß 
ihres unfeligen Naturelle, aber fie ift unfähig, fich irgend- 
welchen Schranken zu fügen. Es verfteht fi) demnad) 
von felbft, daß fe in gewaltige Conflicte ſowol mit fid) 
als mit der Außenwelt geräth, aber daraus nicht etwa 
geläutert, fondern gebrochen hervorgeht. Chriftine geht 
an fich jelber zu runde. 

Das alles ift im fehr anfchaulicher, zumweilen drama- 
tifcher Weife dargeftellt, und die Entwidelung diefes dämo- 
nifhen Frauenherzens hat einen eigenen Reiz. Weniger 
gelungen find dagegen die meiften andern Yiguren des 
Romans; namentlich kommen die Männer über das übliche 
Maß nicht hinaus. Der Bau ift im allgemeinen klar 
und richtig. Unangenehm berührt die Zerfaferung bes 
Schluſſes und das pathologiſch, aber nicht künſtleriſch ge- 
rechtfertigte Ende der Heldin. Der Stil ift ungleih und 
nicht frei von fchlimmen Gemeinplägen und Trivialitäten, 
wie 3.8.1, 91: " 

Im Genuß des milden Herbfitages dachte fie der Winter- 
tage, an denen dieſe Kerne, in Eijfig eingemacht, dem Bruder 
trefflich ſchmecken und die theuern Kapern erjegen follten. (!) 

I, 121 fg.: 

Als fie endlich nach einigen Jahren die Hoffnung zeigte, 
ein Kindchen zu befommen (}), da war fein Entzücken vol- 
lends groß. 

66 











| u n 


520 


Bir theilen einige, jegt in die ernfle Bewegung ber 
Gegenwart mächtig eingreifende Strophen aus demfel« 
ben mit: 
Nun if gefommen 
Die heiße Arbeit und die firenge Zugend, 
Das Kreuz genommen! 
So rief der Herr, gebändigt Luft der Jugend! 
Richt mehr auf Rofen 
Sol fh im Sonnenſchein die Freude beiten; 
Ro Waffen tofen 
Und Kämpfe ringend ſich au Kämpfe fetten, 
Da fei dein Leben! 
Das ift dem Manu zum bödften Troft gegeben. 
O fer willlommen! 
D fer willlommen mir, du ernfle Freude 
Du Bild der Frommen, 
Auf deren Antlig Liebe ſtrahlt im Leide! 
Wie Harfen klingen, 
Benn Engel auf den Sternen Hymnen tönen, 


Neue Novellen und Romane. 


So Tieblich dringen 

Die Laute aus des Buſens ſtarkem Sehnen, 
Mit Bräutigams Wonne 

Den füßen Reiz der Jugend zu umfangen, 
Und wie die Lerche an ber Morgenjonne 

An ihrem Glanz zu bangen. 


O fei gegrüßt, 

Mein Baterland im blut’gen Siegesfleibe ! 
Dein Ruhm umfließt 

Dich nie die Jungfraun biinfendes Geſchmeide, 
Wann fie den Reigen 

Der bunten Frühlingstage fröhlich zieren. 
Du bift bein eigen, 

Und darfft dich felbf in eigner Freiheit führen. 
Die welfche Rotte 

Hat der Germanen Heldenarm gebändigt; 
Dir ift die Ehre wieder eingehändigt 

Bom deutichen Gotte. 

Rudolf Gottſchall. 





Yene Novellen 


1. Lieben und Leben. Neue Erzählungen von Mar Ring. 

Drei Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 4 Zhlr. 

Der Romanſchriftſteller verhält fich zum Novelliften 
ungefähr ebenjo wie der Fresco- zum Öenremaler. 
großen Zügen entwirft er fein Weltbild und führt es in 
großen Linien aus. Ihm gilt vor allem das Ganze und 
der Gefammteindrud, den fein Werk binterläßt. Discretion 
in der Farbengebung oder, wenn wir uns mufilalifch aus⸗ 
brüden dürfen, in der Inſtrumentation, wie das Eingehen 
auf das einzelne und deſſen Ausführung überhaupt, wer⸗ 
den durch die Größenverhältnifie von vornherein and« 
gefchlofien. Der Novellift iſt von alledem das Widerſpiel. 
Er gibt ein Weltbild im Kleinen, das aber über feinen 
engen Rahmen in die Welt hinausweift. Ihm kommt es 
daranf an, mit Heinen Mitteln bedeutend zu wirken; ihre 
gemifjenhafte Benugung iſt daher feine Hanptaufgabe. Die 
fpecifiiche Eigenheit diefer Form nöthigt den Schriftfteller, 
der fie cultivirt, den Schwerpunkt nicht, wie es vorzugs⸗ 
weife der Roman bedingt, nach außen, fondern nach innen 
zu verlegen. Der enge Rahmen geftattet feine Aneinander- 
reihung bedeutender äußerer Momente, weil ihre Conje- 
quenzen größer als fie ſelbſt und zu feinem Verhältniß 
untereinander, viel weniger aber zu einem harmonifchen 
Ausklang zu vereinen find. Daraus ergibt fi, daß der 
Novellift vorzüglich auf die Darftellung pfychologifcher 
Zuftände angewiefen ift und von äußern Momenten nur 
jo viel benugen darf, als zur Erzeugung der von ihm 
zu fchildernden innern Vorgänge unerlaßlich iſt. 

Bon diefem Gefichtspunft aus betrachtet, find Paul 
Heyſe's Novellen, wenigftens in ber Mehrzahl, mufler- 
gültig, und Mar Ring's Erzählungen, fpeciell bie vor« 
Tiegenden, verfehlt. Hier handelt es fich um lauter äußere 
Ereigniffe, die ohne jede innere Verbindung immer un- 
mittelbar, je nachdem es dem Berfaffer am effectvollften 
ſchien, aufeinandergepfropft find. Wir befinden ung mit 
ihm auf einer wahren Hetjagd nach Effecten. Kaum: ift 
ein Wild glüdlich erlegt, fo zeigt ſich auch fchon ein neues 
noch mehr verheißendes, und jo geht es fort durch drei 
nicht eben dünne Bände. Mar Ring läuft nach einigen 


und Romane. 


wohlverbienten Erfolgen Gefahr, der Bielfchreiberei zu 
verfallen. 

Zu einer Analyfe der vorliegenden vier Erzählungen 
haben wir feine Beranlaffung. Nur ihren Inhalt wollen 
wir kurz andenten. Die erfte: „Die Ehefcheuen”, behan⸗ 
delt eine Liebesgefchichte trivialer Art und vermag ihren 
Titel in nichts zu rechtfertigen. Die zweite: „Im Haufe 
der Bonaparte”, ſchildert Leopold Robert's unglückliche Nei- 
gung zur Prinzeffin Charlotte Bonaparte. Die dritte: 
„Der Sieg der Liebe“, behandelt den Bar⸗Kochba ber 
Dauren, Aben-Humeya, ohne tieferes Verſtündniß feiner 
geihichtlichen Bedeutung, und die vierte: „Der Bhilofoph 
von Charlottenburg”, führt den berühmten Leibniz in Schlaf- 


rock und Nachtmütze vor. 


2. Familienrache, oder: das Erbbeben von Calabrien im Jahre 
1783. Novelle von Karl Zetter. Graz, Mofer. 1869. 
8. 16 Ner. " 

3. Die legten Grafen Kery, oder Chrift und Mohammebaner, 
Hiftorifches Charaktergemälde von Karl Zetter. Graz, 
Mofer. 1869. 8. 16 Nor. 

Schon bie Titel deuten an, welche Attentate der Ber- 
faſſer beabfichtigt. Beide Bücher find unftreitig für dem 
Papierkorb gefchrieben und werden dies Ziel auch ſicher 
erreichen. Die Kritik kann fi) mit derartigen Producten 
nicht befafjen. 


4. Und fie bewegt ſich doch! Roman von Friedrich Kart 

Schubert. Zwei Bände Hannover, Rümpler. 1870. 

8 2 Thlr. 

Der Gattungsname Roman ift hier nicht zutreffend. 
Halb Geſchichte, Halb Erfindung ift vorliegendes Werk 
weder das eine noch das andere. Beide Elemente laufen 
nebeneinander her, ohne ſich, wie es ein Kunſtwerk body 
bedingt, gegenfeitig zu durchbringen und zu erläutern. 
Der Berfaffer ift offenbar fein Dichter, aber ein philo⸗ 
ſophiſch und Hiftorifch tüchtig gebildeter Mann. Der 
Schwerpunkt des Romans Tiegt in feinen fehr interefian- 
ten Geſchichtsbildern, die mit großer Anfchaulichfeit ent⸗ 
worfen find, und in feinen geiftuollen pbilofophifchen 





Neue Novellen und Romane. 


Ercurfen. Wenn wir noch hinzufligen, daß der Stil fließend 
und ziemlich ebenmäßig ift, haben wir aller Vorzüge ge- 
dacht. Weniger gelungen find dagegen die poetifchen An- 
firengungen des Berfaflers, fomol in Bezug auf Geftal- 
tung als Combination. Galilei, das Centrum des Gan- 
zen, erfcheint als ein Schatten ohne Fleifh und Blut, 
unter Umftänden als bloße Staffage.e Man erwartet die 
pfychologiſche Entwidelung feiner Lehre und namentlich 
feines Widerrufs — und erhält ftatt defjen nur Facta. Man 
wünfcht die gewaltige Umwälzung veranfchaulicht, welche 
Galilei's Lehre hervorbrachte — und erhält eine Verflüch⸗ 
tigung ihrer Bedeutung zu Liebesgefchichten, die nichts 
Neues bieten und auch in feiner Weife zur Illuſtration 
der Zeit dienen können. Ebenſo wenig hat das Bud) 
Beziehungen zur Gegenwart, die doch fo viele übereinftim- 
mende Momente mit ber Zeit, die e8 behandelt, in fich trägt. 
5. Der Schügling des Kaifers. Roman von Stanislaus 

Graf Srabowsti. Drei Bände. Berlin, Langmann u. 

Comp. 1870. 8. 3 Thlr. 

Aehnlich, nur umgekehrt, verhält es fich mit dieſem 
Roman; Hier überwiegt die Erfindung die Geſchichte. Ein 
gewifjer finnlicher Hauch liegt über dem Ganzen, wie ſchwüle 
Sommerluft, und wird dem Lefer zum Mebium, bucd) 
das er die bunte Welt, die fich ihm darbietet, betrachtet. 
Grabowöli befitt ein fcharfes Auge für die Erfcheinungen 
der Sinnenwelt und weiß fie lebendig zu geftalten; aber 
ihm fehlt die Kraft, fie zu vergeiftigen und fomit Fünft- 
lerifch zu verwerthen. 

Wir haben einen biographifchen Roman vor und. Er 
beginnt mit der Geburt des Helden, ober vielmehr nod) 
vor feiner Geburt, und endet mit feiner Verheirathung. 
In gerader Linie folgen die Ereigniffe einander, ohne ties 
fern Grund, ohne innigen Zufammenhang. Der Held 
ſelbſt ift fertig von dem Augenblid an, wo er in die 
Handlung eintritt, und wandelt ſich in der Folge nicht. 
Er heißt Napoleon Briſſot und ift ein natürlicher Sohn 
Napoleon’s I., ein Kind der Liebe, deſſen Mutter der 
fpätere Kaifer treulos verlaflen. Auf dem Sclachtfelde 
von Friedland macht er die erſte Belanntfchaft feines Soh- 
nes, der, ohne das Geheimniß feiner Geburt zu kennen, 
aus innerm Drange ſich den Fahnen des Eroberer an« 
geſchloſſen hat und durch perfünliche Tüchtigkeit bereits 
zum Corporal avancirt iſt. Der Kaifer findet feinen 
Sprößling feiner nicht unwerth und zieht ihn, ohne ihm 
indeß den Grund mitzutheilen, in feine unmittelbare Nähe. 
Briflot wird zum Lieutenant der Adjutantur ernannt und 
in der Folge, theils zufällig, theils abfichtlich, mit ver- 
fhiedenen Kurierfahrten, zunächſt nad Frankreich, dann 
nach Spanien, endlich nach Rußland betraut. Er erlebt 
eine Menge Abenteuer, die meiften in Paris und Madrid, 
und entwidelt vor unfern Augen eine nicht unbedeutende 
Anlage zum Don Yuan. Er verftridt fi) nad) und nad) 
in drei verfchiebene mehr oder minder eingeftändene Lieb» 
fchaften, eine immer abenteuerlicher als die andere, begeht 
dann Hinter der Scene zur Abwechfelung ein paar Helden- 
thaten als Soldat, avancirt immer höher und begleitet 
ſchließlich ale Oberft den Kaiſer überall hin, bis zu defien 
Einfhiffung nad) St.- Helena. Napoleon felbfl, im übri- 
gen nad; gewohnter Schablone gezeichnet, ſcheidet aus dem 
Buche, ohne uns mit ber Anerkennung feines Sohnes zu 

1870. 33. 


521 


erfreuen, und bleibt uns aud die Gründe dafür ſchuldig, 
weshalb er die Jugendgeliebte, Briſſot's Mutter, in Noth 
und Sorge verlommen lief. 

Natürlich fpielen eine Menge andere Gefchichten zwei- 
ten und britten Ranges mit, ſodaß an eine Concentration 
des Intereſſes nicht wol zu denken iſt. Poetiſch muthet 
die Epiſode Eftrella’8 an, die den argen Leichtfinn ihrer 
Jugend mit dem zur Rettung bes Geliebten freiwillig er- 
wählten Tode an den Ufern der Berefina fühnt. 


6. Ehrifline Roman in drei Bänden von D. von Pajd- 
kowsty. Hannover, Rümpler. 1870. 8 4 Thlr. 


Ein Roman von Frauenhand, aber mit mehr Talent 
ald viele Frauenromane gefchrieben. Wir begegnen bier 
entfchiedener Befähigung für pſfychologiſche Schilderung 
und einem bei Damen feltenen Tünftlerifchen Formſinn, 
der inftinctiv den äſthetiſchen Anforderungen, wenigftens 
im wefentlichen, gerecht wird. Die geiftige Phyfiognomie 
der Berfafferin ift keineswegs eine ſchärfer beftimmte, ori⸗ 
ginelle, aber fie ragt um etwas über die literarifchen 
Durchſchnittsgeſichter ihre Geſchlechts hinaus. 

Der Roman befchäftigt fi) mit einer Frage, die 
wiffenjchaftlich noch nicht endgültig gelöft worden ift: mit 
der Trage nach dem Webergewicht zwifchen Natur und 
Gift. Natürlih Tann fie auch hier nur einfeitig ent- 
ſchieden werden, aber da diefe Entfcheidung gleiche Be⸗ 
rechtigung wie die gegentheilige hat, fünnen wir fie ung 
wol gefallen laſſen. D. von Paſchkowsky räumt der Natur 
den Sieg über den Geift ein. Die Heldin ihres Romans, 
Chriftine, ift ein durch und durch Leidenjchaftlicher, allen 
äußern Einwirkungen unbedingt unterworfener ertremer 
Charakter, deſſen Möglichkeit aus der BVerfchiedenheit des 
Geiftes der Aeltern hergeleitet wird. Alle Verfuche, dieſe 
wilde Natur zu bändigen, ber Herrfchaft des Geiftes zu 
unterwerfen, ob fie nun im Heinen von Chriftinens An⸗ 
gehörigen, oder im großen vom Scidfal auögehen, blei- 
ben wirkungslos. Chriftine felbft gelangt zur Erkenntniß 
ihres unfeligen Naturells, aber fie iſt unfähig, fich irgend⸗ 
welchen Schranken zu fügen. 8 verfteht fi) demnad) 
von felbft, daß fle in gewaltige Conflicte ſowol mit ſich 
als mit der Außenwelt geräth, aber daraus nicht etwa 
geläutert, fondern gebrochen hervorgeht. Chriftine geht 
an fich felber zu Grunde. 

Das alles ift in fehr anfchaulicher, zuweilen drama- 
tiſcher Weife dargeftellt, und die Entwidelung diefes dämo⸗ 
nifhen Frauenherzens hat einen eigenen Reiz. Weniger 
gelungen find dagegen die meiften andern Figuren des 
Romans; namentlich fommen die Männer über das übliche 
Maß nicht Hinaus, Der Bau ift um allgemeinen klar 
und richtig. Unangenehm berührt die Zerfaferung des 
Schluſſes und das pathologifch, aber nicht künſtleriſch ge⸗ 
rechtfertigte Ende der Heldin. Der Stil iſt ungleih und 
nicht frei von ſchlimmen Gemeinplägen und Trivialitäten, 
wie 3.2.1, 91: " 

Im Genuß des milden Herbfitages dachte fie der Winter- 
tage, au denen diefe Kerne, in Eſſig eingemacht, bem Bruder 
trefflich fchmeden und die theuern Kapern erjegen jollten. (!) 

I, 121 fg.: 

Als fie endlih nad einigen Jahren die Hoffnung zeigte, 
ein Kindchen zu befommen(!), da war fein Entzliden vol- 
lends groß. 

66 





522 Naturwiffenſchaft und religiöfer Glaube. 


I, 123: 

Ein Schiff wurbe gefunden und Dtto au den Kapitän 
abgeliefert. 

II, 228: 

Niemand ift unerfehlih. Wer lange lebt, dem tritt diele 
Wahrheit mit größter Ueberzengung entgegen. Jede Lücke, bie 
der Tod in ınfer Reben reift, wird wieder ausgeflillt, jebe 
Wunde unſers Herzens vernarbt und heilt wieder. 

I, 115: 

Die große Hiße hatte ihre Kräfte verzehrt(!), welche ohne⸗ 
hin das Alter ſchon bedeutend verringert hatte. 

II, 117: 

Der Schmerz wird dem Menfchen ein Frennd, an den er 
fich ſchwer, aber fett gewöhnt und von dem er fih nur un⸗ 
bewußt (!) trennt. 

III, 124: 

War's das Abendroth, welches ob Antlitz fo hell erleuch» 


’ 


tete, daß er wie illuminirt (N) ausſah? 

Dies und viel Aehuliches Hätten wir gern vermißt. 
Endlich find von den Perfonen des Romans drei ohne 
jede Bedeutung für die Sache mit förperlichen Gebrechen 
behaftet. 

7. Der Löwe von Luzern. Roman von Philipp Galen. 
Fünf Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 8 Zhlr. 10 Nr. 
Ueber Philipp Galen fteht das Iiterarifche Urtheil be⸗ 

reits ziemlich fett. Er hat alles, was ihn zum Handwer⸗ 

fer, aber leider nichts, was ihn zum Künftler mad. 

Sein nenefter Roman ift nicht beſſer und nicht ſchlechter 

als frühere Arbeiten: roh in der Conception und roh in 

der Ausführung. Es ift darüber nicht viel zu fagen. 

. Zwei junge Kaufleute, Schweizer von Geburt und 
ungertrennliche Freunde, Werner von Altftetten und Urs 
nold Halder, treten, nachdem fie längere Zeit in Rio 
conditionirt und dort mancherlei Abenteuer, unter anderm 
mit einem gewifjen Pinto Machado, beftanden haben, als 
erfte Commis in das Bankhaus Irminger, Koch und Comp. 
in Luzern. Beide find wahre Mufter von Tüchtigkeit 
und unterfcheiden ſich voneinander nur durch die verfchie- 
dene Individualität. Arnold ift vom Verfaſſer prädefti- 
nirt, fpäter Löwe von Luzern, alfo auch Löwe bed Ro— 
mans zu werben; mithin muß er ein Ritter fonder Furcht 


und Tadel fein. Das ift er denn auch, während fein 
Freund Werner mehr ald Mond diefer Sonne fungirt. 
Er dient durchgängig zur bloßen Folie. Nun fügt es der 
Zufall, daß Pinto Machado nad) Luzern kommt und Hrn. 
Irminger um 100000 Francs betrügen will. Die beiden 
Freunde, zumeift Arnold, vereiteln das auf fehr fchlaue 
Meile, verfolgen den flüchtenden Pinto Machado und 
nehmen ihn auf dem Wetterhorn feſt. Er wird nad) Lu⸗ 
zern zurüdgebradht, entfpringt aber in einer Sturnmacht 
ans dem Gefängnig und verübt einen Einbrud im Ir» 
minger’f—hen Comptoir. ‘Die beiden Freunde ertappen ihn 
dabei und werden in bem fich entipinnenden Kampfe ſchwer 
verwundet. Nachdem fie genefen, beirathet Arnold Hrn. 
Irminger's Tochter, Werner eine Freundin aus Rio, 
die durch wunderbare Verkettung der Umftände gleichfalls 
nach der Schweiz gelommen und zu Irminger’8 Familie 
in nähere Beziehungen getreten ift. Arnold und Werner 
werben darauf Irminger's Compagnons und leben, wie 
der Berfafler verfihert, noch heute munter in Luzern. 

Das ift der Kern, die Handlung des Romans, alles 
übrige Erpofttion und Epifode. Und zur Darftellung 
diefer bedeutungslofen Fabel brauchte der Verfaſſer fünf 
dide Bände von zufammen mehr ald 100 Druckbogen! 

Der Roman hat außer feinem Selbſtzweck auch noch 
die Beftimmung, als Bädeker für Schweizerreifende zu 
dienen. Alle Wirthe, bei denen Galen einmal gewohnt 
und preiswürdig gegeflen bat, find mit Namen genannt, 
ebenfo die tüchtigften Bergführer; auch erhält man bie 
genaue Befchreibung aller fehenswerthen Punkte in und 
um Interlafen. Zu den lettern gehört auch eine gewilte 
„Philipps Bucht”, welche, wie die unter dem Text befind⸗ 
liche Anmerkung bejagt, „ihren Namen von einem Schrift. 
fteller trägt, der, wenn er in Interlafen weilte, bier gern 
ſaß und morgens zu arbeiten pflegte. Um ihn zugleich 
zu ehren und zu erfreuen, haben feine interlafener Fremde 
diefem Platz jene Bezeichnung nad) feinem Bornamen zu⸗ 
theil werden laſſen.“ 

Brave Interlakener, die das DVBerdienft anzuerkennen 
wiſſen! Oskar Eisner. 


4 .o 


Uaturwiſſenſchaft und religiöfer Glanbe. 
GBeſchluß aus Nr. 32.) 


1. Die freie Naturbetrachtung gegenübergeftellt der materiali- 
flifchen Lehre von Stoff und Kraft. Wegweifer zum Frie- 
den zwiſchen Ehriftentbum und Naturwiſſenſchaften mittels 
unparteiiſcher Benttheilung des Dr. 2. Büchner'ſchen Werke 
„Kraft und Stoff”. Bon Jonas Rudolf Stroßeder. 
Hr alle Gebildete., Augsburg, Kollınann. 1869. 8. 25 Ngr. 

3. Die Darwin'ſche Theorie und ihre Stellung zu Moral und 
Religion. Fünf Vorträge von G. Jäger. Stuttgart, Thiene⸗ 
mann. 1869. Gr. 8.- 21 Nur. 


Ganz anderer und befjerer Art, ald Stroheder's, ift 
Yüger’s Verföhnungsverfuh: „Die Darwin'ſche Theorie 
und ihre Stellung zu Moral und Religion” (Nr. 2) zwi- 
ſchen Glaube und Wiſſenſchaft, zu dem wir nun übergeben. 

Zäger läßt fi micht anf dogmatifche Fragen ein, 
fondern er fragt vom Darwin'ſchen Standpunlt aus nad) 


dem Werth der Religion in dem Kampfe um das Dafein. 
Der Darmwinianer, jagt er, unterfucht Folgendes: Was 
leiftet die Religion für die Bildung und BVertheidigungs- 
fähigkeit der Gefelfchaft, was Ieiftet fie für die Vervoll⸗ 
fommnung und die Vertheidigungsfähigkeit des einzelnen ? 
Er wird ſich nie einlaffen auf dogmatifche Spitzfindigkei⸗ 
ten, nie darüber ftreiten, ob die Formulirung eines reli- 
giöſen Dogmas die Kritik objectiver naturwifjenichaftlicher 
Prüfung beſtehen kann, fondern er unterfucht ganz einfach: 
welche Rolle fpielt die Religion für die Dienfchen als 
Waffe im Kampf ums Dafein, inwiefern fteht fie im 
Dienfte des höchſten Naturgefeges fiir belebte Weſen, in 
dem des Gelbfterhaltungstriebes? Mit einem Wort, in« 
wiefern ift fie praftifch? 





Naturwiſſenſchaft und religiöfer Glaube. 


Bon diefem ntiliftifchen Standpunlt aus nun geht 
Züger die Naturreligionen und die ethifchen Neligionen 
durch und kommt zu dem Kefultat, nicht nur daß die 
Religion im allgemteinen eine Waffe in dem Kampfe um 
das Dafein ift, fondern auch daß die chriſtliche Religion 
im Bergleid) mit allen andern Weligionsformen hierin 
das Höchſte leiſtet durch Proclamation der Nächftenliebe 
and Beſeitigung bed Particnlarismus: 

Mit der Proclamation der Nächſtenliebe wurde das In⸗ 
dividunm frei, denn fie verbietet den Zwang, damit war dem 
Geſetz der individuellen Bariation, dem Princip der Freiheit 
volle Rechnung getragen, und an Stelle des genealogifchen Or⸗ 
genifationsprincips mußte mit Naturnothwendigkeit die Orga⸗ 
niſation auf Grund der Arbeitstheilung treten. Weiter war 
mit der Proclamation der Nähftenliebe auch die Abfchliefung 
ach außen befeitigt; die Religion war nicht mehr bie eines 
inzelnen Staats, eines beflimmten Dolls, fie wurde Welt. 
religion, und damit war die Möglichkeit zur Bildung von Welt- 
reichen gegeben. Das Chriftenthum wurde, mie fein Gründer 
fagt, zum Sauerteig, der in die Welt geworfen wird. 

Doch nicht blos durch Proclamation der Nächitenliebe 
und Bejeitigung des jüdischen Particularismus, fondern 
auch durch feine Unfterblichkeitslehre ift das Chriftenthum 
nach dem Berfaffer eine werthvolle Waffe in dem Kampfe 
am das Dafein. Den gleichen Werth, wie das Eigen- 
thum für die individnelle Vervollkommnung und für bie 
Drganifirung der Geſellſchaft Hat, Habe auch die Lehre 
von ber Unfterblichleit. Denn mit bem Gebote der chrift- 
Iihen Religion: „Der Menfch foll forgen für feine uns 
fterbliche Seele”, trat neben dem leiblichen Selbfterhal- 
tungstrieb der geiftige; die bisher gewiflermaßen unbewußt 
ſich vollziehende Vervollkommnung der wichtigften Waffe 
des Menjchen im Kampf ums Dafein wurde jegt zum 
Gegenftand einer felbftbewußten Thätigfeit gemacht, der 
Menſch gezwungen, ſich ftets feine fittlihen und intel«- 
Tectuellen Aufgaben gegenwärtig zu halten und feine Hand— 
lungen unter fittliche Eontrole zu ftellen. Diefe Anſpan⸗ 
nung bes Denkvermögens war das ficherftie Mittel zu 
einer Vervollkommnung defjelben. Ferner, durch den Sag, 
daß der Menſch eine unfterbliche Seele befige, wurde bie 
gegenfäßliche Stellung des Menſchen gegen bie Natur 
auf den höchſten Ausdrud gebradt. Damit war vie 
Kluft, die den Menfchen von der Natur trennt, um eine 
große Spanne erweitert und die Waffe, bie der Menſch 
gegen fie führt, fein Dentvermögen, zur höchſten Schärfe 
geichliffen. Endlich war die Lehre von der Unfterblichkeit 
fir die Organifation und den Zufammenhalt der Gefell- 
{haft von bedeutendftem Werth. Der Tod, der das In- 
Dividunm aus der Gefellfehaft reift, berge eine gewiffe 
Gefahr fr den Beftand derfelben, infofern als der ein⸗ 
zelne dadurch in Berfuchang kommen kann, bie Pflichten, 
die ihm die Geſellſchaft auferlegt, nicht mehr für rechts⸗ 
verbindlich zu halten, wenn das Leben feinen Werth mehr 
fie ihn hat, oder wenn er den Tod als ihm ohnedies 
nahe bevorſtehend weiß. Zur Befeitigung diefer Gefahr 
nun kennt der Berfafler fein wirffameres und einer all 
gemeinern Anwendung fühiges Mittel als die Lehre von 


der Unfterblichteit, melde an jeben die Forderung ftellt, 


fo zu handeln, als ob er ewig lebte und fiets für fein 
Thun und Laſſen zur Rechenſchaft gezogen würde. Ein 
weiterer Vortheil der Unfterblichfeitsiehre fei diefer. Jede 
organifirte Geſellſchaft verlange unter Umftänden von 


523 


ihren Mitgliedern Opfer, und deshalb fei eine Lehre, 
welche die DOpferfühigkeit fteigert, der Geſellſchaft nützlich. 
Die Forderung des Opfers Tönne fich fleigern bis zur 
Forderung des Opfertodes. In diefen müſſe der einzelne 
aber fo freudig gehen Yünnen als die Ameife, die fich 
erfäuft, um mit ihrem Leib ihren Genoffen eine Brüde 
zu bauen. Könne e8 nun wol etwas Einfacheres, Ziwede 
mäßigeres, weil allgemeinfter Anwendung Fühiges geben, 
um den Mitgliedern einer Gefellfhaft Opfermuth und 
Opferfreudigfeit zu geben, als bie Xehre von der Unfterb- 
Iichteit, welche dem Tode feine Schreden nimmt und den 
Lohn für die gebrachten Opfer in fichere Ausficht ftellt ? 

Die Einwendungen, die ſich hiergegen erheben, ver» 
hehlt fich der Berfaffer nicht; aber er glaubt fie wider» 
legen zu können. Zuerft die Einwendung, daß man ja 
auch durch Unterweifung in Völker» und Eulturgefchichte, 
durch Auseinanderfegung der gefelfchaftlichen BVerhältnifie 
den Menſchen die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit 
des Dpfers beibringen und fo das Wiſſen an die Stelle 
des Unfterblichleitöglaubens, der doch eine naturwiffen- 
ſchaftliche Unrichtigkeit enthalte, fegen künne Dem gegen« 
über weift der Berfafler auf die Unmöglichkeit bin, allen 
Mitgliedern der menfchlihen Geſellſchaft eine folche Unter- 
weifung angedeihen zu lafien, dann darauf, daß dieſe 
Art der Unterweifung viel zu abftract fei, um in ber 
Zeit des Unterrichts, der Jugend, anmendbar zu fein. 
An dem Gefühlsmenſchen — und das fer jeder Menſch 
in der Zeit, wo er zum Menjchen erzogen werben foll — 
pralle ſolche nüchterne abftracte Unterweifung ab. Auh 
bleibe die Hälfte der Menſchen, das weibliche Gefchlecht, 
zeitlebens Gefühlsmenfchen. Die Cultur des Gefühls, 
welche in dem Familienleben eime fo wichtige Rolle fpiele, 
könne durch Feinerlei nüchterne Unterweifung zu Stande 
gebracht werden, fondern nur durch die Lehre von der 
perfünlichen Unfterblichfeit. Ueberhaupt gewinne die Re— 
ligion durch ihre Perfonificationen, alſo auch durd) die 
Lehre vom perfünlihen Gott und ber göttlichen Perfon 
Chriſti, Zutritt dahin, wohin fie Abftractionen nicht finden 
fönnen: in das Herz der Mutter und das Herz des Kin— 
des. Weiter feien es gerade die Perfonificationen, denen 
wir die Wedung und Ausbildung derjenigen Seite des 
menſchlichen Denkvermögens verdanken, die uns nicht nur 
in den Momenten, wo wir audruhen im Kampf ums 
Dafein, das Leben verfüßt, fondern die felbft der For⸗ 
cher nicht entbehren kann — der Phantafie, jenes un⸗ 
erfchöpflichen Borns für Kunft, Poeſie und echte Wiflen- 
haft. 

Diefen ungeheuern Vortheilen gegenüber, meint der 
Berfafler, habe der Einwand der Materialiften, daß die 
Lehre von der perfünlichen Unfterblichfeit vor der Kritik 
ber Naturforfchung nicht beftehen könne, kein Gewicht. 
Der Berfafler bemüht fich nachzumeifen, daß feiner, fei 
er Gelehrter, Politiker, Gefchäftsmann oder was immer, 
bes- Glaubens entbehren könne, des Glaubens nämlich als 
einer „gewifien Zuverficht dei, das man Hoffe, und nicht 
zweifelt an dem, das man nicht fiehet‘. Auf allen Ge⸗ 
bieten ſei diefer Glaube „die Fauſt, welche die Waffe im 
Kampf ums Daſein ſchwingt“. Auf den Einwand ber 
Gegner, e8 komme doch aber auf den Inhalt des Glau⸗ 
bens an, auf das, was man glaubt, entgegnet er: Wenn 


66 * 


mi Zur 
v 


524 Naturwiffenfhaft und religidfer Glaube. 


der Inhalt des Glaubens von höchſtem praktifchen Werth 
für den einzelnen und die Geſellſchaft ift, wie dies mit 
den Lehren des Chriftentbums ber Fall fei, wer wolle 
einen Stein auf ihn merfen? Der Berfafler ſcheut von 
diefem feinen Standpunft aus fogar vor der Billigung 
des gegen die Naturforfhung verftoßenden Wunderglan- 
bens nicht zurüd. Auch der Wunderglaube, richtig an- 
gewendet, fei eine Waffe in dem Kampf ums Dafein. 
In Fällen der höchften Noth, mo das Denkvermögen des 
Menfchen Feine Rettung mehr fieht, werde der, welcher 
den Glauben bat, daß ihm ein Netter nahe, und felbft 
durch ein Wunder, feine Außerften Kräfte anftrengen und 
dann ficher im Kampf ums Dafein noch eher Rettung 
finden al® der, welcher verzweifelnd zum Gelbftmorb 
ſchreitet. Inſofern alfo der Wunderglaube eine Waffe 
im Kampf ums Dafein ift, welche in Fällen, wo alle 
andern Waffen verfagen, nicht im Stich läßt, dürfe man 
ihn nicht angreifen. Nur da, wo der Wunberglaube bie 
Energie der Selbftvertheidigung lähmt, wo er zum fata- 
liſtiſchen Ouietismus führt, fei er zu verwerfen. 

Auf diefe Weife, durch Sonderung des theoretischen 
und praktiſchen Standpunftes, glaubt der Berfafler Wif- 
fen und Glauben miteinander verjöhnen zu können. Seien 
die religiöfen Dogmen auch keine wiflenjchaftlichen Wahr- 
heiten, fo feien fie doch unentbehrliche Waffen in dem 
Kampf ums Dafein, alfo praftifch werthrol. Da nun 
nach der Darwin'ſchen Theorie die Erhaltung und Ber- 
vollfommmung in dem Kampf ums Dafein durch verbeflerte 


Organe oder Waffen die wichtigfte Rolle fpielt, fo glaubt 


der Verfaſſer bewiejen zu haben, daß die Darmwin’fche 
Theorie den Lehren der Religion nicht zuwider fe: 

Ya nicht nur das: während bisher Naturforscher und Theo⸗ 
logen vergebliche Anftrengungen machten, eine ehrliche Verjöh- 
nung zwiſchen Religion und Naturforfhung zu Stande zu brin- 
gen, reißt die Darwin’sche Lehre beide aus dem unfruchtbaren, 
feine Berföhnung zulaffenden Irrgängen der Dogmatik herab 
auf den nüchternen Boden der Praris, auf dem eine Berfländi- 
gung bei ehrlichem Streben und Abftreifung vechthaberifcher 
Unduldfamleit leicht zu finden if. 

Die Haupturſache des Streites zwifchen Naturwifjen- 
Schaft und Theologie befteht nach dem Verfaſſer in der 
Verwechſelung von objectiv und fubjectiv, ın der Un- 
fähigkeit, den objectiven und fubjectiven Standpunft aus- 
einanderzuhalten. Immer werbe ein gewijjer Wiberfpruc) 
zwijchen objectiver Beurtheilung und fubjectiver Pflicht 
ber Selbfvertheidigung beftehen. Bor objectiver Betrach⸗ 
tung werden die Afpirationen des Selbfterhaltungstriebes 
Binfällig; andererfeit8 zwinge der Gelbfterhaltungstrieb, 
der höchſtes Geſetz für Lebende Wefen ift, den fubjectiven 
egocentrifchen Standpunkt einzunehmen. Der Aftronom 
als Dann der Wiflenfchaft müfle ſich auf den heliocen- 
triſchen Standpunkt ftellen; allein fobald er ſich auf den 
Boden der Praris begibt, fobald er die Aufgabe erhält, 
dem Menjchen eine Waffe in dem Kampf ums Dajein 
zu jchmieden, ihm einen Kalender zu machen u. f. w., fo 
mäfje er fich fofort anf den geocentrifhen Standpunkt 
ftellen, er muß den fcheinbaren Lauf der Planeten berechnen, 
in feinem Kalender muß die Sonne fi) bewegen, d. h. 
auf⸗ und untergeben, u. |. w. In der gleichen Lage fei 
der Zoolog. Der objectiven miflenfchaftlihen Zoologie 
gelte der Menſch nicht mehr als der Maikäfer. Allein 


wenn beim Vortrag der angewandten Zoologie der Zoolog 
fi) für das objective Recht des Mailäfers auf unfere 
Obſtbänme, für die Berechtigung ber Flöhe ımd Wangen, 
unjer Blut abzuzapfen, ereifern wollte, fo würde ihn fein 
Auditorium auslachen. Sobald es fi für den Zoologen 
darum bandle, dem Menſchen eine Waffe in dem Kampf 
gegen das Ungeziefer zu fchmieden, müſſe er den objectie 
ven Standpunkt verlaffen und fi) auf den fubjectiven, 
anthropocentrifchen ftellen. 

Es ift nun nad) dem Berfaffer ein trauriger Beweis 
mangelhafter alademifcher Bildung, wenn Theologen und 
Naturforicher gegeneinander ftreiten, weil fie jenen Unter- 
ſchied zwilchen objectiv und fubjectiv verfennen. Witrden 
ſich Naturforſcher und Theologen das bargelegte, höchft 
einfache Verhältniß zwifchen der objectiven Forſchung und 
der jubjectiven Religion ſtets vor Augen: halten und ſich 
nicht zu einer wenig Ingenium verrathenden Berwechfe 
lung von objectiv und fubjectiv Hinreißen laſſen, dann 
hätten fie ebenfo wenig Urſache, miteinander zu zanfen, 
als der wiſſenſchaftliche Aftronom und der Kalendermader, 
oder al8 der willenfchaftliche Zoolog und der Docent der 
landwirthfchaftlichen Thierkunde. 

Schließlich faßt der Berfaffer die Stellung des Dar⸗ 
wintanerd in folgenden Süßen zufammen: 

Der Darwintaner ftellt ſich mit Ueberzeugung auf den 
Boden des Chriftentfums, an die Seite des praftifchen 
Seelſorgers, und vertheidigt die Grundlagen des Chri- 
ſtenthums. 

Er kämpft gegen die Unduldfamkeit nach zweierlei 
Richtungen: er vertheidigt die objective Forſchungsmethode 
des Naturforfchers gegen diejenigen Theologen, welche ihn 
zwingen wollen, nur den fubjectiven Standpunkt einzu= 
nehmen, und vertheidigt den anthropocentrifcehen Stand» 
punkt der Religion gegen die unduldfamen Parteien unter 
den Naturforfchern und Philofophen, welche dem Men- 
ihen Berziht auf bie GSefbftvertHeidigung aufnöthigen 
wollen, indem fie ihm zumuthen, ſich auf den objectiven 
Standpunft zu ftellen. 

Weiter kämpft er gegen den Fatalismus, möge er 
wurzeln, mo er molle. 

Er kümpft gegen jede faule Legalität, welche fich den 
Vorderungen, welche die Geſellſchaft an ihre Mitglieder ftellt, 
entzieht und den Menſchen zum Baraftten in der Gefell- 
Schaft herabwürdigen will. 

Er verdammt ben Ignorantiömus, weil er die Ueber⸗ 
zeugung bat, daß Unwiſſenheit noch niemals eine Waffe 
im Kampf ums Dafein war. 

Er ſtemmt fich gegen den Imdifferentismus, der eine 
Gefahr ift für die Geſellſchaft; er verlangt von jeder- 
mann, daß er fein Willen und feinen Glauben einige zu 
einer Ueberzeugung, die für ihn eine nie verfagende Waffe 
im Kampf ums Dafein fei. 

Da aber bei den verfchiebenen Menſchen weder Wiffen 
nod Glauben vollfländig gleich befchaffen fein können, fo 
verlangt er auch Freiheit der Ueberzeugung; er haft auf 
diefem Gebiet das Yauftreht, den Terrorismus der 
Ueberzeugung und verweilt auf die Geſetze der indivi« 
duellen Variation. 

In einem Anhange ſucht Yäger noch mehrere Ein- 
würfe, die gegen feine Vorträge — fein Buch befteht 





Naturwiffenfehaft und religiöfer Glaube. 525 


nämlich aus Vorträgen, die er gehalten — privatim und 
halb öffentlih gemacht worden, zu widerlegen. Er er- 
widert feinen Gegnern, welche meinten, feine naturwiffen- 
fchaftliche Anfhauung bringe e8 nicht mit fih, alle in 
ber chriftlichen Religion aufgeftellten Lehren von Gott 
anzuerfennen: 

Allerdings nit. Die Gründe diefer Anerkennung find 
auch nicht naturwifjenfchaftliche, fondern rein menfchliche. Ne- 
ben meiner Eigenſchaft als Naturforfcher bin ich auch Menſch, 
Mitglied der menſchlichen Geſellſchaft, und als ſolches verichließe 
ih) mich nicht der Erkenutniß, daß ber einzelne Menſch und die 
menſchliche Geſellſchaft fittlihe und intellectuelle Bedürfnifſe 
bat, denen nad) meiner vollften Weberzeugung auf Teine andere 
Art Genüge gefchehen kann, als durch den Glauben an einen 
Gott. Ihr, die ihr die Religion für einen überwundenen Stand- 
punkt erflärt, vergeßt, daß ihr Philoſophen und Naturforjcher 
zur kraft des Umftandes jeid, daß ihr zuerft Menſchen gewor⸗ 
den, und wenn ihr euch im jene ‘Periode eures Lebens zurlid- 
denken könnt, fo werdet ihr finden, daß ihr diefe erſte Erziehung 
der Religion verdanft. . . . Eine Moral ohne Religion ma 
fih als PBaradedegen recht gut ausnehmen, aber wenn Not 
an Maun gebt, umd ihr vom Leder ziehen follt, fo zieht ihr 
eine Pfauenfeder aus der Scheide, ein Ding, das nicht Haut 
und nicht fit. So probirt’8 doch einmal, wenn ihr Kinder 
haben werbet, und jagt ihnen vor, fie jollen brav und tugend⸗ 
Haft fein! Ihr werdet bald fehen, daß das nicht verfängt; aber 
erzählt ihnen vom lieben Bater im Himmel, ber ins Berbor- 
gene fieht, vom heiligen Chrift, der fte befchenft, und von den 
Engeln, die fie beihirmen — dann merbet ihr am leuchtenden 
Auge bemerfen, daß das ins Herz trifft, und daß Religion 
das gprige Mittel iſt, um den Menſchen zum Menſchen zu 
erziehen. 

Auf den Einwand der Gegner: „Nun, da haben wir’s 
ja, gut für Weiber und Kinder!“ erwidert Jäger: 

Wäre das nicht allein genug, um bie Religion allen An- 
fehtungen zu entziehen? Wenn ihr anerkennt, daß Weiber und 
Kinder fie brauden, dann müßt ihr felbft ſofort Gebraud von 
ihr maden, fo lange ihr Kinder feid, wenn ihr Weiber und 
Kinder habt. Mithin kann fie niemand entbehren, der ſich 
nicht zum dürren Zweig am grünenden Baum der Menjchheit 
verdammen will. 

Aus allem Angeführten ift zu erfehen, daß, was 
Jäger anftrebt, nicht eigentlich eine Verſöhnung zwifchen 
Glauben und Wiffenfchaft ihrem Inhalt nad) ift, fondern 
eine Berföhnung zwifchen Gläubigen und wifjenjchaftlichen 
Forſchern. Jäger fieht jehr wohl ein, daß der objective, 
heliocentrifche Standpunkt der Naturwiffenfhaft und ber 
fubjective, egocentrifche des religiöfen Glaubens einander 
widerftreiten, daß ebenfo die naturwifjenfchaftliche Lehre 
von der unverbrüchlichen Gefegmäßigfeit der Natur und 
ber religiöfe Wunderglaube einander wibderftreiten. Es 
fommt ihm daher auch nit in den Sinn, beide ihrem 
Inhalt nad) vereinigen und verfühnen zu wollen. Aber 
bie Unvereinbarfeit des fubjectiven Inhalts des Glaubens 
mit dem objectiven der Wiffenfchaft ift nah ihm noch 
fein Grund, ben Glauben zu verwerfen, anzufeinden und 


zu vernichten. Denn es können nicht alle Menſchen auf 
dem Standpunkt der Wiſſenſchaft flehen, können nicht 
alle des Glaubens entbehren. ‘Diefer ſei vielmeht ein 
wichtiges Erziehungsmittel fiir einen großen Theil der 
Menfchheit. 

Mit diefer pädagogifchen Auffaffung der Religion 
fünnen wir uns im allgemeinen einverftanden erklären. 
Auch, Leffing Hat ja in feiner „Erziehung des Menfchen- 
geſchlechts“ die Religion ähnlich aufgefaßt. Aber aus 
diefer Auffafjung folgt and erftens, daß das Erziehungs⸗ 
mittel von allem gereinigt werden muß, was dem Zweck, 
fiir den es die Menſchen erziehen und bilden will, Hin- 
derlih ift, daß alfo alle jene Dogmen der Religion, die 
für den Einzelnen, fowie für die menſchliche Geſellſchaft 
entfchieden nachtheilige, dem phyfifchen und moralifchen 
Wohl entgegenwirkende Folgen haben, aus dem religiöfen 
Belenntniß ausgemerzt werden müſſen. Schonung gegen 
diefe Dogmen wäre nicht blos unwiſſenſchaftlich, ſondern 
unftttlih. Ein die menfhlihe Entwidelung hemmender 
Dffenbarungs- und Iufpirationsglaube, ein die menfchliche 
Selbftthätigfeit und Selbfthülfe lähmender Wunderglaube, 
ein vom Dieſſeits und feinen Interefjen völlig abziehender, 
auf das Jenſeits verweifender und vertröftender Unfterb- 
lichkeitsglaube ftreifen an jene ebenerwähnte Grenze. 

Nur diejenigen Dogmen find zu ſchonen, die in ihrem 
mythiſchen Gewande heilfame Wahrheit enthalten. 

Zweitens folgt aber auch, daß das religiöfe Erziehungs- 
mittel nicht länger feftgehalten werden darf, als bis der 
Zögling fähig ift, bie ihm in mythifchen Gewande mit- 
getheilten Wahrheiten rein, in Form vernünftiger Gedanken 
zu faffen und zu beherzigen. Ich erinnere nur an fol- 
gende Ausfprüche Leſſing's: 

Ein Elementarbuch für Kinder darf gar wohl dieſes oder 
jenes wichtige Stüd der Wiffenfchaft oder Kunft, die es vor- 
trägt, mit Stillfhmweigen libergehen, von dem der Pädagog ur- 
theilte, daß es den Fähigkeiten der Kinder, für die er fchrieb, 
noch nicht angemeffen ſei. Aber es darf fchlechterdings nichts 
enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltenen 
wichtigen Stüden verfperre oder verlege. Bielmehr müfjen 
ihnen alle Zugänge zu denfelben forgfältig offen gelaffen wer«- 
den, und fie nur von einem einzigen diefer Zugänge ableiten, 
oder verurfachen, daß fie denfelben jpäter betreten, würde allein 
die Unvollftändigfeit des Elementarbuchs zu einem weſentlichen 
Fehler defjelben machen ... Jedes Elementarbuch ift nur für 
ein gewiffes Alter. Das ihm entwachfene Kind Tänger, als bie 
Meinung gewejen, dabei zu verweilen, iſt ſchädlich.... Die 
Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Bernunftwahrheiten ift 
fchlechterdings nothwendig, wenn dem menſchlichen Geſchlechte 
damit geholfen fein ſoll. 

Diefe Säge aus ber „Erziehung des Dienfchengefchlechts 
follten fich ſtets diejenigen gegenwärtig halten, welche 
beftrebt find, zwifchen Glauben und Wiffenfchaft Frieden 
zu ftiften. Julius Srauenflädt. 


526 Bom Büdertifg. 


Dom Büchertiſch. 


1. Deutſchland. Eine perisdifhe Schrift zur Belenchtung 
deutfchen Lebens in Staat, Geſellſchaft, Kirche, Kunft und 
Wiſſenſchaft, Weltgefhichte und Zukunft. Im Vereine mit 
mehrern beransgegeben von W. Hoffmann. Erſter Jahr⸗ 
gang. 1870. Erfter Band. Berlin, Stille und van Muhden. 
1870. Er. 8. 2 Thlr. 


Den Reigen ber Hier zu beiprechenden Werke eröffnet 
ein neues Unternehmen, das fi in zwanglofen Bänden 
das Ziel einer Revue der verjchiedenen Gebiete des Eul- 
turlebens zu ſtecken fcheint. Zu unferer nicht geringen 
Verwunderung beweift der als theologifche Eapacität be- 
kannte Herausgeber in dem einleitenden Wort „Deutſch⸗ 
fand“ eine fo überrafchend eingehende und überfichtliche 
Kenntniß der Phyfiologie deutſchen Landes und Lebens, 
eine fo gründliche Würdigung gefchichtlicher Proceſſe, daß 
wir ihm zu diefer Bielfeitigkeit nur gratuliven können. 
Im übrigen läßt das Unternehmen die orthodore Kid) 
tung feines Herausgebers viel weniger hervortreten, als 
zu erwarten war. Während Hoffmann faft nirgends den 
thatfächlichen Boden der Geſchichte, deren Kenner er ift, 
verläßt, leiftet ein anderer Mitarbeiter, von Bethmann⸗ 
Hollweg (der frühere Eultusminifter?), in jeinem Aufjag: 
„Sdealismus und Realismus in Staat und Kirche‘, in 
der kirchlichen Polemit bedeutend mehr. Die Thatfachen 
fpielen in jenem Artikel eine ſehr fecundäre, die fubjec- 
tiven Anfchauungen eine fehr große Rolle. Einen Aus» 
fprudy) wie den folgenden würde ein verftändnißreicher 
Hiftorifer, würde felbft der ftrengkicchliche Hochtory Hoffe 
mann nit thun: „ES fehlt nur, daß auch des Eng- 
ändere Budle Leugnung des freien Willens in ber Ge- 
ſchichte und ihre ftatiftifche Zurücdführung auf Naturgefege 
bei und importirt und zur Herrſchaft gebracht wiirde, 
um unter dem Trugbild falfcher Eivilifation alle Grund» 
lagen echter Eulturentwidelung zu zerflören.” Das klingt 
benn doc) mie ohnmächtiger Zorn gegen eine mächtige 
Theorie neuerer Gefchichtöforfchung, ‚wenn Bethmann- 
Hollweg, der übrigens biblifche Citate alle Augenblide in 
den Mund nimmt, fi) jo ausdrüdt. Einen viel erfreu- 
lichern Eindrud macht Roſcher's Unterfuchung „Ueber die 
Anfünge des Zollvereins‘, eine, wie von dem berühmten 
Berfafjer zu erwarten war, höchſt gründliche inftructive 
Arbeit. Rofcher ftellt den badifchen Staatsmann Nebenius 
in dem mit reichem Material genarbeiteten Aufſatz geradezu 
als eigentlichen Urheber des SZollvereins bin. Die „Urs 
fachen der gegenwärtigen Misftimmung wider bie Kirche‘ 
werden von dem Serausgeber einer eingehenden Prüfung 
unterworfen, die durchaus nicht blind gegen das richtige 
Berhältnig von Urſache und Wirkung ift und ſich be= 
rechtigten Yorderungen der Gegenpartei nicht verfchließt. 
Auf ein anderes, auf das äfthetifche Gebiet leitet ber 
Eſſay: „Goethe und die deutfchen Frauen von einer deut⸗ 
Shen Frau“, der ſachgemäß und mit einer gewiſſen Be⸗ 
baglichkeit an pfychologiſcher Motivirung gefchrieben ift. 
Ein Seitenftüd zu den hyperorthodoxen Erpectorationen 
Bethmann⸗Hollweg's bildet der „apologetifche Verſuch“ 
A. F. Fürer's über „Naturwiſſenſchaft und Heilige Schrift”. 
Wie jede Apologie immer eine Polemik in ſich ſchließt, fo 
ift e8 bier natürlich der „Fortſchritt“, fpeciell der der eracten 


Willenfchaften, der gegenüber dem Autoritätsglauben berbe 
Diebe ausgetheilt erhält; wenn dieſe Hiebe nicht fo ziellos 
wären und die Anfichten des Verfaffers ein Duentchen 
weniger confus wären, würde das oft Richtige in diefem 
Verſuch weniger unter dem Wuft theologijcher Borurtheile 
ber buchftabengläubigen Art begraben werden. Selbſt auf 
die Gefahr hin, für einen der „ungefchneuzten Jungen‘ 
gehalten zu werden, auf die Fürer fo fchlecht zu ſprechen 
ift, müflen wir ihm feurige Kohlen auf fein Haupt fam- 
meln, indem wir ihm minfchen, feine Predigt über den 

Tert des wiflenfchaftlihen Unglaubens möge nie in bie 

Hände eines naturwifjenjchaftlihen Yachjournals kommen: 

fie würde unbarmherzig von dem kritifchen Mühlrade 

zerftampft werden. Die „Deutjchen Briefe” von Germanus 

Sincerus find mit ihrer nationalen Tendenz doch viel 

erquidlicher als ber Leichtſinn zu leſen, mit bem ber 

Autor des „apologetifchen Verſuchs“ die Tinte und das 

ſehr fchöne Drudpapier verfchwendet hat. 

2. Die Schnle der Hierardjie und des Abjolutismus in Preußen. 
Eine Bertheidigung des Zreimaurerbundes wider die Angriffe 
ber „höchſtleuchtenden“ Großen Landesloge der Freimaurer 
von Deutihland. Bon I. ©. Findel. Leipzig, Yindel. 
1870. ®r. 8 9 Nor. 

Germanus Sincerus muß wol unrecht haben, wenn 
er für Preußen und fein Herrjchergefchleht fi) jo ein⸗ 
genommen zeigt. Nach Windel fcheint e8 mit der Frei⸗ 
maurerei und reigeifterei in Preußen doch ziemlich ſchlecht 
auszufehen. Kaum bat fid) die Erde über Hengjtenberg 
gefchloffen, und der proteftantifche Papft von Preußen 
muß fih ſchon von einem Theile der Yreimaurer fehr 
flarfe Dinge jagen laſſen. Mit der freimaurerifcher 
Literatur, zu ber Findel fehr Vieles und Tüchtiges bei- 
getragen hat, ift e8 ein eigen Ding. „Ihre Beſprechung 
entzieht fi) den Grenzen ber Yournale, da die Frei- 
maurerei in ihrer Abgeſchloſſenheit unter den nicht frei« 
maurerifchen Recenſenten unmöglich auf Sachverſtäündniß 
und Unparteilichkeit rechnen kann. Eine Sache, die ſich 
dem Zeitalter zum Trotz noch immer in die Geheimmiß⸗ 
thuerei des Zeitalters der Aufklärung Hält, gehört nicht 
vor das Forum einer Zeit, bie ihre Aufklärung nicht in 
myſtiſchen Formen, fondern in freier Debatte zeitgemüßer 
Tragen ſucht, die ihre humanitären Zwede nicht durch 
Geheimbünde, fondern durch thatkräftige Unterftigung der 
Deffentlichkeit gefördert fehen will. | 
3. Charabteriſtiken und Kritiken, betreffend die wiffenfchaftlichen, 

religiöfen und fociolen Denkarten, Syſteme, Brojecte umd 

Zuftände der neueſten Zeit. Nebſt pofitiven Erörterungen 

und Nachweiſen von G. 5. Daumer. Hannover, Rümpfer. 

1870. ©®r. 8. 24 Ngr. 

Der alte rüftige Federkämpe regt fi) wieder, diesmal 
um eine Polemil gegen die Auswüchfe des Materialismus 
loszulaſſen, bie indeß nirgends perſönlich wird und meift 
zu motiviren verſteht. Die Partei ber Gegner bes 
Materialismus wird auch unter den Nichttheologen von 
Zag zu Tage größer, und auch die große Menge betet 
niht mehr fo unbedingt den Ausſprüchen ber Führer 
nah. Beſonders erhält Büchner arge Hiebe von dem, 
freilich einer Hinneigung zum Myſtiſchen im Menfchen- 





Feuilleton. 527 


leben ergebenen Berfaffer vorliegender „Charakteriſtiken 
und Kritiken“. Die materialiſtiſch-darwiniſtiſche Welt- 
anfhauung wird mit Beziehung auf Häckel's „Natürliche 
Schöpfungsgefchichte einer wenig ftichhaltigen kritiſchen 
Prüfung unterworfen. Deögleichen wird Buiffon’s „Freies 
Chriſtenthum“ und feine „” Kirche der Zukunft” zum 
Gegenftand einer Correſpondenz mit einer Dame. Diefe 
Dame muß indefjen in unferer Literatur nicht jehr be= 
wandert fein, da Daumer ihr Heine's Gedicht „Frieden“ 
(aus den „Rordfeebildern‘) als etwas ganz Neues prüs 
ſentirt. Ein Lieblingsthema des Autors, „Anfichten über 


Seele, Geift und Schidfal des Menſchen nach dem Tode”, 
findet zu unferer Berwunderung auf nur fechs Seiten 
feine Erläuterung. Mehr fachlicher und eingehender Na- 
tur find die Heimen, „Die Wunder der Natur‘ betitelten 
Auffäge, die fich befonders mit intereflanten Regenerationd« 
erörterungen bei Thieren befafjen. Was die junge Gene— 
ration Europas und Amerikas betrifft, über die Daumer 
viel zu ſchwarz fieht, ‚fo würde die Statiftif dem beliebten 
Zeter Mordio, das man über die Entartung der heu- 
tigen Jugend anzuftimmen geneigt ift, bei genauerer Zu- 
ziehung energiſchen Einhalt gebieten. 





Fenilleion, 


Notizen. 

Die Säcularfeier Hegel's, welde am 27. Auguft diejes 
Jahres flattfinden ſollte, ift infolge des großen beutfd-franzöfl- 
fen Kriegs vertagt worden. Einen Philofopken zu fetern, der 
feit Tängerer Zeit nicht mehr wie früher im Mittelpunfte dev 
geifligen Bewegung ftebt, fondern von den verfhiedenften Fah⸗ 
nenträgern vderjelben beifeitegefchoben wird, erlaubt eine kriege⸗ 
rifch bewegte Zeit nicht, deren Theilnahme used von 
dem nationalen Kampf in Anfprud genommen wird. Gleidj- 
wol ift die Philofophie Hegel's keine Sriebenöphitofophit, beren 
Feier in einer Kriegsepocdhe als ein 
müßte. Gegenüber der Kant'ſchen Lehre des „ewigen Friedens, 
welhe ben Träumen der Dichter ebenfo wie dem Zeitalter 
Roufjeau’s Rechnung trägt und dem Gewaltigen der Erde ein 
Sciebögericht von Philofophen zur Löfung ihrer Streitfragen 
als eine Art höherer Austrägalinftanz zur Seite ftellen wollte, 
tritt Hegel in feiner „Rechtsphiloſophie“ mit einer begeifterten 
Berherrlihung des Kriegs auf, welder gewiffermaßen als ein 
über die Erde braufender Sturm des allgemeinen Geifles er» 
fcheint, indem er dem Einzelnen und Zufälliger das ihm ge- 
bührende Recht, das Recht der Vernichtung, zutheil werden läßt. 
Man leſe diefe Paragraphen, die in einem ſchwunghaft groß- 
artigen, faft apokalyptiſchen Stil abgefaft find, man wird fi 
überzeugen, daß Hegel, der ja bie Bernünftigfeit des Wirklichen 
bemeijen wollte, mehr ein philofophifcher Feldprediger als Frie- 
densprediger gemejen ift. Hoffentlich wird die Hegel⸗Feier nicht 
ins Unbefiimmte hinausgeſchoben. Das deutſche Volt vartheidigt 
jetzt mehr als ſeine Grenzen, es vertheidigt ſein geiſtiges N 
tionaleigenthum gegen die Fremdlinge, welche ihm gegenüber 
wie gegenüber den Dericanern und Ehinejen die Kedheit haben, 
das Banner ber „Eivilifation‘ zu entfalten. Zu diefem Na⸗ 
tionaleigenthum gehört vor allem der geiſtige Schag, den uns, 
fere Denker ihrem Bolfe gefammelt, und unter diefen ſteht He- 


gel in erfter Linie, 


Bon Georg Weber's „Allgemeiner Weltgeſchichte““ (Leip⸗ 
sig, Engelmann) liegt die zweite Hälfte des achten Bandes vor, 
welche den vierten Theil der „Geſchichte des Mittelalters‘' bil- 
det. „Der Berfall der Lehnsmonarchie und des PBontiflcats und 
die Herausbildung fländijcher Verfaſſungen“ (zweite Abtheilung), 
und der Sieg des monarchiſchen Princips über den Feudalis⸗ 
mus fowie der Ausgang des Mittelalters bilden die beiden 
Hauptabſchnitte des Halbbandes. 


Bibliographie. 
aim a mahlerı ı Gedichte. —* Trewendt. 16. 25 Ngr. 
u Anna. 5 ges aus dem Lebensbilbe einer chriſtlichen Pfarrfrau. Ber⸗ 
in, . . 


Asc hbich, Rat Die Anicier die römische Dichterin Proba, 
Wien, Gerold’s Sohn, Lex,-8. 1? N 
8 * Fr ‚ Zur Selbſtkritik. Vortrag. Nordhauſen, Förſtemann. 
ardi, W., Berlin arm und reich. Romantifches Lebensbild. 
Berlin, £ gang mann u. Comp. Gr. 16. 20 Ngr. 
8 ins dritte und vierte Glied, Roman aus ber Gegenwart. 
Berlin, Fangmann u. Comp. Gr. 16. 20 Ngr. 


— 


nachronismus eriheinen | 


Bernhardi, W. Yinette oder: die Perle des Ballets. Sin, Sitten» 
gemälbe der Gegenwart. Berlin, Langmann u. Comp. Gr. 16. 
Bertalan, C. J. v. Das 1, ding. Theater. Stizzen über "die lei 
aenen (pelbiährigen) Dühnen in Deflerreih. Klagenfurt, Bertidinger. 
u 9 
Boem —* E., Die provenzalische Poesie der Gegenwart. Halle, 
Barthel, 8. 12 Ner 
Deutsche Classiker des Mittelalters, Mit Wort- und Sacherklärungen. 
Begründet von F. Pfeiffer. Y9ter Bd.: Wolfram’s von Eschenbach 
Parzival und Titurel. Herausgegeben von K. Bartsch. 18ter Thl, 
Leipeis, Drooknnus, 8. 1 Thir, 
W., Die deutſchen Verwandtſchaftsnamen. Cine fprachwif« 
enfoafii € "Unterfagung u vergleihenden Anmerkungen. Welmar, 
bien. Tr. 8 ® 
Dreves, L., Sehiäte, 3ie "Aufl, Halle, Barthel. 16. 1 Zhlr. 
u? ald, 83 Die drei Nebel in Europe. Leipzig, Roßberg. 1869. 8. 
gr 
— — Neue Worte an bie ‚Preußen: Mit einem Anhangs: Aus dem 
norddeutſchen Reichstage. Leipzig, R 
örn er, &., Geſchichte ber oien nen Kunf- "ter Bd. Leipzig, 
T. DO. Weigel. Gr. 5. 2 Chr. 24 Ngr. 
Geldern, W. v., Bogtlanb unter den Bögten. Nach bem Tode des 
Berfaffers beranöge eben von Bruno von Geldern-Erispenborf. 
1fte und 2te Xief. Greiz, Henning. Gr. 8. & 7! Nor. 
Gschwind Theologische Studien und Kritiken. Ein Beitrag 
zur kirchlichen Tagesgeschichte. Bern, Wyss. Br. 8. 1 Thir. 4 Ngr. 
Haan, W., Sächsisches Schriftsteller-Lexikon, Ein Verzeichhiss der 
von den jetzt lebenden Universitäts-Professoren (theologischer und philo- 
soph hischer Faeultät), Geistlichen, Gymnaslal-Professoren, Seminar-, Real-, 
eren und Volksschullehrern aller Contessionen des Königreichs Bach- 
von herausgegebenen Druckschriften nach alphabetischer Ordnung ihrer 
Verfasser und unter Voranstellung eines kurzen Lebenslaufs derselben, 
sowie Anfügung eines die Schriften systematisch ordnenden Anhanges, 
lste Lief. Leipzig, Serbe, Gr. 8, gr. 
Hagen, F. W., Studien auf dem Gebiete der aerztlichen Seelen- 
kunde, FGemeinfassliche Vorträge. Erlangen, Besold. Gr. 8. 1 Thilr. 


Haha, R. E,, Wilder aus ber Didter- unb Künſtlerwelt. Nach der 
Natur gezeichnet. Leipzig, Matthes. 8. 1 Thlr. 

Heije, J. P., Unsterblichkeit. Eine symphonische Dichtung. Der 
holländische T Text, mit deutscher Uebersetzung von W. Berg. Berlin, 
Behr. 8 Ngr. 

Krones, F., Zur Geschichte Ungarns im Zeitalter Franz Rakoczi’s II. 
Historische Studie nach geäruckten | er ungedruckten Quellen. iste Abth. 
Wien, Geroeld’s Sohn, Lex.-8. 

Krüger, W., Die onfeifionsiore Saul. Gin Dort Fi Berflänpis 
gung mit Beigänfige, Barmen, Langewieſche. 8. 

Kübel Die ociale uns Bote aigakrüpe & Gefeggebung bes 
Alten Teſtaments unter ur moderner Anjchauungen barvges 
ſtellt. Dieebader rg 


!ambert, E. Die —— ih, ber freien Reiheftabt Mühlhau⸗ 


U 


fen in Thüringen im 14. Jahrhundert nad ben Duellen des Stadtarchivs 
mit einer Ein end in bie ine ber eat Muͤhlhaufen herausgege⸗ 
ben. Halle, Pfeffer. Er. 8. a 
ender, rei Leben und wire — Böhm’s, weil. Geh. Med,-R. 

und Prof, in Berlin. Berlin, Seehagen. Gr. 8. 20 Ngr. 

Löbker, G. Wanderungen dur Weftfalen. 2te® 3 n. — A. u. %: 
Wanderungen burch das Silderland. Münfter, Negensberg. 8. 10 Ngr. 

Luthers Philoſophie von Theophilos ı1fer Thl. Die Logik. 
Hannover, Meder, Sr. 8. 1 Thir. 

Miklosich, Beiträge zur Kenntniss der slavischen wke- 
possie. I. Die Yolksepik der Kroaten. Wien, Gerold’s Sohn. Gr. 


ı T 
Most, F., Die sten Predigten. Neuſtadt a. d. H. Oottſchick⸗ 
Witte, Gr.v. 12%, 
Müller, 9, Yermiiäte Gedichte. Leipzig, Peiner. 16. 1Thlr. 
Overbeck, J. J., Die providentielle Stellung des orthodoxen Russ- 
land und sein Beruf zur Wiederherstellang der rechtgläubigen katholischen 
Kirche des Abendlandes. Autorisirte Ense vche ebersetzung von W. 
Ladinsky. Leipzig, Kasprowicz. 8. 
er Be etß ch, Pre Der Tag von Smeburg. “Eine Erzählung. Harburg, 
an. 2 








528 


Anzeigen. 


igem 


Unze 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 


Deutsche Classiker des Mittelalters. 


Mit Wort- und Sacherklärungen. 

Begründet von Franz Pfeiffer. 

Band geh. 1 Thlr., geb. 1 Thlr. 10 Ngr. 

Neunter Band. 

Wolfram’s von Eschenbach Parzival und Titurel. 
Herausgegeben von Karl Bartsch. Erster Theil. 
Diese Ausgabe des ganzen Parzival ist der erste Ver- 

such, die gewaltigste und gedankentiefste Dichtung des 

deutschen Mittelalters, das Meisterwerk Wolfram’s von 

Eschenbach, dem Verständniss heutiger Leser im Original- 

test zugänglich zu machen. Franz Pfeiffer hatte sich 

bereits viel mit den Vorarbeiten zur Herausgabe beschaftigt; 
als er aber seinen Tod herannahen fühlte, überliess er das 
von ihm gesammelte reiche Quellenmaterial seinem gelehr- 
ten Freunde Karl Bartsch, der nun im Sinne des Ver- 
storbenen das schwierige Werk vollendete. Wegen der 

Verwandtschaft des Stofs wurden auch die erhaltenen 

Bruchstücke von Wolfram’s Titurel in die Ausgabe mit 

aufgenommen. 

Inhalt des I.— VIII. Bandes: 

I. Walther von der Vogelweide. Herausgegeben von 
Franz Pfeiffer. Dritte Auflage, herausgegeben 
von Karl Bartsch. 

II. Kudrun. Herausgegeben von Kar! Bartsch. Zweite 
Auflage. 

III. Das Nibelungenlied. Herausgegeben von Karl 
Bartsch. Zweite Auflage. 

IV.—VI. Hartmann von Aue. 
dor Bech. Drei Theile. 

VII. VIII. Gottfried’s von Strassburg Tristan. Heraus- 
gegeben von Reinhold Bechstein. Zwei Theile. 


8. Jeder 


Herausgegeben von Fe- 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erfdien: 


Grundriß der hebräifhen Grammatik. 


Bon Guſtav Bidell. 
Ehe Abtheilung: Sprach- und Schriftgeſchichte; Lautlehre. 


RNgr. 
Zweite, Abtheilung: Stamm- und Wortbildungsichre; Syntar. 
17 


8 
Der Berfaffer, Profeffor der orientalifchen Philologie zu 
Münfter, beabfihtigt mit diefer Grammatik hauptſächlich zur 
Berbreitung der hiftorifch-comparativen Methode im hebräiſchen 
Spradunterridt fowie zu einer rationellen Begrlindung der 
hebräiſchen Sprachformen beizutragen. 


Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Wahrheit, Schönheit und Liebe, 
Philoſophiſch⸗äſthetiſche Studien von 
ictor Granella. 

8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. Geb. 1 Thle. 20 Ngr. 

Der Verfafſer, ein katholiſcher Geiftlicher, bat in den reli- 
gisien Gedankenreihen diefes Buchs — das ſich bereits zahl⸗ 
reiche Freunde erworben hat — mit tiefer Einficht auf den 
Dualismus zwiſchen der Geiſtesfreiheit des Evangeliums 


Mmit durchſichtiger Klarheit beleuchtet. 


I A 
zug: 


und der Unfreiheit des kirchlichen Standpunkts bin- 
gewiejen und die Ideale ewiger Wahrheit, Schönheit und Liebe 


— 


Verlag von S. A. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erſchien: 


Die bibliſche Gefdjichte 
in ihrem Zuſammenhang mit der allgemeinen Religionsgeſchichte. 
Ein bibliſches Lehr⸗ und Leſebuch für die reifere Jugend. 
Bon 


Bernhard Kähring, 
evang.⸗prot. Pfarrer. 
Erfte Abtheilung: Dad Alte Teſtament. 
Zweite Abtheilung: Das Neue Teftament. 
8. Geh. Jede Abtheilung 20 Ngr. 

Bähring’s „Biblifhe Geſchichte“, mit umfichtiger Benugung 
ber neueften wifjenfchaftlichen Forſchungen und unter Zugrunde⸗ 
Vegung von Bunjen’s Bibelwert bearbeitet, ift zum Gebrand im 
Sculiehrerfeminarien, Lateinihulen, Gewerbfääulen, höhern 
Privatinflituten und Töchterfchulen befiimmt, empfiehlt fich aber 
auch zu gemeinfamer Lektüre in gebildeten Familien. 





Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Dietionnaire Tresor ! Praktiſcheß Wörterbud 


frangais-allemand et allemand- ! der franzöflihen und deutſchen 
francais. Sprade. 


Bon Jakob Heinrich Kaltſchmidt. 
Zweite Auflage. 

Zwei Theile. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nur. 
Sranzöfiich-Deutfcher Theil. 24 Nor. 
Deutſch⸗Franzöſiſcher Theil. 1 Thlr. 6 Ngr. 

Kaltſchmidt's Praktiſches franzöſiſch⸗deutſches und deutſch⸗ 
franzöſiſches Wörterbuch (früher Verlag von Georg Wigand 
in Leipzig) zeichnet ſich beſonders dadurch aus, daß es neben 
den für die Lektüre und Converſation nöthigen Wörtern auch 
die technifchen Ausdrücke, welche in den Wiffenichaften, Klinften 
nud Gemerben vorlommen, in großer Vollſtändigkeit enthält. 
Der Preis ift außerordentlich billig geftellt und jeder Theil 
and einzeln zu haben. 





Derfag von 5 N. Brockhaus in Leipzig. 


Beiträge zur Charakterologie. 
Mit befonderer Berüdfihtigung pädagogifcher Fragen. 
Bon Dr. Julius Bahnfen. 

Zwei Bünde. 8 Geh. 4 Thlr. 


Zum erflen mal wird in biefem nicht blos theoretiſch, 
fondern auch praftifh widtigen Werke die Erforfhung bes 
menſchlichen Eharafters als eine befondere Wiſſenſchaft ber 
henden Der Berfaffer knüpft dabei an die von Schopen⸗ 

auer ausgeſprochenen Grundgedanken über den Charakter an 
und gibt überall zu feinen Betrachtungen die pädagogiſche 
Nutanwenbung, weshalb das Werk die Theilnahme der Pu⸗ 
dagogen, der Eriminaliften und Seelenärzte, der Ethiker und 
Philofophen, forwie jedes Gebildsten in hohem Grade in Aus 
fprud nimmt. 


Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Brochihaus. — Drud und Verlag von 8. A. Grockhaus in Leipzig. 











Blätter 


literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erfcheint wöchentlich. 


—#e Ar, 34, er 


18. Auguft 1870. 





Inhalt: Ein hinefifher Claſſiker. Bon Eduard von Hartmann. — Zur Geſchichte Napoleon’3 I. Bon Rudolf Doebn. — 
Skizzen und Novellen von Frauenhand. — Seunilleton. (Ein dramatiihes Driginalgenie.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Ein dinefifcher Claſſiker. 


Lao⸗tſe Tao-tö-king. Der Weg zur Tugend. Aus dem Ehi- 
nefiſchen überſetzt und erflärt von Reinhold von Blaend- 
ner. Leipzig, Brodhaus. 1870. 8. 2 Thlr. 


Ein uralte Heiligtum des fernften Orients öffnet 
feine Pforten und ruft den erflaunten Dccibentalen zu: 
Tretet ein, auch bier find Götter! Nicht das Heiligthum 
eined zornigen, eifrigen, blutbürftigen Gottes, von Priefter- 
herrſchſucht zur Erweiterung ihrer Kaſtenmacht durch Volks⸗ 
einfhüchterung gemisbraucht, nein, ein Heiligthum des 
ewigen namenlojen Gottes, den alle meinen und den keiner 
zu nennen vermag, das friedliche Aſyl einer ftillen Ge⸗ 
meinde, ein Tempel fchönfter und reinfter Sumanität, nur 
jo weit angebaut von dem contemplativen Quietismus 
des Drients, um den ruhigen Hafen barin zu finden, in 
welchen ber vom Wogendrang der Leidenſchaften und 
Zagesintereffen ermüdete Menſch fi flüchten Tann. Bes 
kannt ift der beruhigende Einfluß, den Goethe von Spi- 
noza's „Ethik“ verfpürte; auch Hier Haben wir ein Werft, 
das fih Ethik nennt, und dod in feinem erften Theil, 
wie die Ethik Spinoza's, weſentlich Metaphyſik if; auch 
hier einen ſtrengen Pantheismus des Einen, Abſoluten 
(Taͤo), aber welch ein Unterſchied bei aller Aehnlichkeit! 
Wenn Spinoza ein hartgemeißeltes, ſtarres Meduſenhaupt, 
das uns verſteinernd anblickt, ſo erſcheint Lao⸗tſe wie 
ein uraltes Frescobild mit halbverwaſchenen Contouren, 
aber ein Bild von bezaubernder Schönheit und Weichheit, 
an deſſen herzgewinnender Lieblichkeit und Milde man ſich 
nicht ſatt ſehen kann. 

Wenn die Entſchiedenheit des moniſtiſchen Pantheis⸗ 
mus nur mit Spinoza zu vergleichen iſt, fo ſteht in fei- 
nem abfoluten Idealismus Lao⸗tſe unmittelbar an Plato’s 
Seite, erinnert aber oft in überrafchendfter Weife an 
Hegel, namentlid) an deſſen Aeligionsphilofophie. Aber 
alle diefe Vergleiche betreffen nur den metaphyſiſchen Stanb- 
punkt; hinſichtlich der eigentlichen Ethik kenne ih nur 
zwei Schriften, die ihm ähnlih find: das, Johannes⸗ 
Evangelium und Fichte „Anweifung zum felgen Leben‘ 

1870. 3%. 


(welche Tegtere felbft als eine Kombination von Spinozis- 
mus und VYohannes-Evangelium betrachtet werden muß). 
Hier iſt der Punkt, wo ein gewilfer Myſticismus zum 
Vorſchein kommt; aber er zeigt ſich in feiner anſpruchs⸗ 
Iofeften Geftalt und geht durchaus nicht weiter, als bis 
zu dem Maß, in welchem er für bie Ermöglihung einer 
innerlichen Religiofität Bedingung if. 

Die Sprache des dhinefifchen Originals ift durchweg 
von epigrammatifcher Prägnanz; Bilder find fparfam ge- 
braucht, aber fie treffen ftetS den Nagel auf ben Kopf, 
wenn uns aud die DBergleichungsgegenftände mitunter 
frembdartig anmuthen. Eine befondere poetifche Gewalt 
entfaltet fi) in den Bildern nirgends (wie dies 3. B. im 
Alten Teftament der Fall ift), fie dienen vielmehr immer 
nur zur Veranſchaulichung der abftracten Wahrheiten, wie 
in einem modernen wifjenfchaftlichen Werke. So verbindet 
fich myſtiſche Innerlichkeit mit klarer Nüchternheit des 
Gedankens und anfchanlicher Darftelung. Das Ganze 
baut fi als ein architektoniſches Kunftwerk vor den Augen 
des flaunenden Lefers auf. ‘Die kurzen Kapitel (wir wür⸗ 
den eher Paragraphen fagen) find in trefjlicher Gedanfen- 
verbindung untereinander, und fcheinbares Abjchweifen und 
Wiederzurückkommen auf den Gegenftand in fpätern Ka— 
piteln ift offenbar berechnete Abficht, um den Leſer all» 
mählich in ben ©egenftand einzuführen und nicht durch 
längeres Verweilen bei jchwierigen Abftractionen zu er- 
müden. 

Der Parallelismus der Glieder, der in der hebräiſchen 
Poeſie eine fo wichtige Rolle jpielt, wird auch hier fehr 
viel benutzt, aber doch in einer Weife, welche eine bloße 
Wiederholung deſſelben Gedankens in anderm Gewande 
ausſchließt und dafiir mehr eine antithetifche Gruppirung 
fegt. Der Klimar findet häufige und ſehr wirkfame An- 
wendung, öfters auc der Antiklimax. Jeder Sag kann 
für eine Berszeile gelten, da die Ränge der Säge nur in 
ziemlich engen Grenzen differirt. Faſt jeder Sat ift zwei- 
theilig gebaut, ſodaß die Sonderung biefer ‘heile ber 

67 


530 Ein chineſiſcher Claſſiker. 


Cäfur entſpricht. Nicht ſelten finden ſich abſichtliche End⸗ 
reime. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Worte nach 
Rückſichten des Wohlklangs und eines erhabenen Stils 
gefügt ſind, und es beſtätigt ſich hiermit das allgemeine 
Geſetz, daß die primitive Literatur aller Völker in poeti- 
fcher Form verfaßt ift. 

Die vorliegende Weberfegung enthält etwa dreimal. fo 
viel Worte als das Driginal, wobei noch zu beritdfichti- 
gen, daß bie chineſiſchen Worte faft alle einfilbig find. 
Hiernach würde das chinefifche Driginal in Tateinifchen 
Buchſtaben ohne Berseintheilung gebrudt etwa 10—15 
Seiten einnehmen. 

Die vorliegende Ueberfegung ift als die erfte zu be» 
trachten, welche einen annähernden Einblid in den Inhalt 
des Originals gewährt; denn die franzöfiiche von Stanis- 
laus Julien ift völlig unbrauchbar, die von Abel Remufat 
befteht nur in vereinzelten Bruchftüden. Die Wifjenfchaft 
Europas Hat die Reiftung bes deutſchen Ueberjegers als 
eine epochemachende That dankbar und freudig zu begrüßen, 
da fie die bisherigen Anfchauungen über den Geift des 
hinefifchen Volks entfchieden modificirtt. Wenn die Be- 
forgniß des Herausgebers aud) unbegründet erjcheinen 
muß, daß er mit feinem Wagniß bem auf China in den 
Augen der ungebildeten Maſſe haftenden Fluch der Lücher- 
lichkeit anbeimfallen könne, fo wird es boch nicht leicht 
einen unvorbereiteten Leſer geben, ber nicht von dem In⸗ 
balt des Buchs auf das höchſte überrafcht würde. 

Wir find nur zu fchnell bei der Hand, die facies 
hippocratica, die kindiſche Greifenhaftigfeit, welche uns 
die gegenwärtige chinefifche Welt zeigt, als einen dauern⸗ 
den Zubehör des chinefiichen Stammtypus ftatt als das 
Product einer feit Jahrtauſenden flagnivenden und bis 
zum Ueberdruß ausgelebten Gultur zu betrachten. Dieſes 
Buch aber lehrt uns, welch ein fprudelnder Duell fri⸗ 
fcheften Geiſtes vor dritthalbtaufend Jahren aus dem 
Genius diefes Volks entfprang; es lehrt und, daß eine 
Nation, die ein ſolches Genie aus dem Schofe ihres eigen- 
ften Lebens erzeugt, ihren Anlagen nad) den indogerma- 
nifhen Nationen weſentlich ebenbürtig ift, und daß fie 
zu der Zeit, als Lao⸗tſe und Kong⸗fu⸗tſe lebten, fich in 
einer ‘Periode des Hoffnungsvolliten Auffhwungs befunden 
baben muß; es lehrt uns aber auch, daß fchon damals 
diejenigen Züge des Volksgeiſtes in bedrohlicher Weiſe 
zum Vorfchein famen, deren Ueberwuchern im Lauf der Zeit 
den Stilftand des Culturfortſchritts und den theilweifen 
Rüdgang bedingte: die Indolenz, die Gleichgilftigkeit gegen 
das Metaphyſiſche, Weberfinnliche und die idenlen Güter 
des Lebens, und der praftifche Dlaterialismus bei cor- 
rumpirten Regierungszuſtänden. Lao=tfe erkennt und 
zeichnet auf das fchärffte die Grundübel feines Volks: 

Kap. 80. Die Heinen Leute im Reiche find aber leider nur 
zu roh, zu ungebifdet... Und wenn die Wiſſenſchaft umkehrte, 
wenn man zurädginge zum Kerbholz und zu den Knötchen im 
Fabden, fo wäre ihm das eben vecht, es würde auch damit aus- 
tommen. Wenn nur den Leuten ihr Efjen nnd Trinken ſchmeckt, 
wenn fie etiwas Hübſches amzuziehen, wenn fie eine hübſche 
Häuslichkeit haben. Kurz, das Volk hat nur Freunde am Ma» 
teriellen, es ergögt fi nur am Alltäglichen, es kennt nur das 
Gewöhnliche, Gemeine. 

Die Indolenz iſt fo groß, daß ſich kaum die Nach— 
barn umeinander kümmern, ja fogar, daß das Volk ſich 





aus dem Tode nichts macht, „weil es die einzigen Genüfſe, 
die es kennt, die ſinnlichen, felten — oder faſt nie erreichen 
und befriedigen kann“ (Kap. 75). „Das Volk freilich be⸗ 
kümmert fi) wenig um das Heilige und Geweihte, ihm 
find die Großen der Erde das Erhabenfte, was es kennt“ 
(Kap. 72); es haftet blind an dem äußerlichen Ceremoniell, 
und feine Sorgen erflveden ſich nicht fiber bie irdiſche 
Nothdurft hinaus. „Denn das Boll im allgemeinen ift 
ja doch moraliſch blind, unfelbftündig und verworren in 
feinen Begriffen. Ya, fo ift e8 heutzutage, jo war «8 
feit Menfchengedenten” (Kap. 58), jo wird es immer fein. 
Dei diefer Unmündigfeit des Volks kommt alles darauf 
an, wie ed vegiert wird; eine unredliche Regierung muß 
nothwendig auch die guten Unterthanen zur Liſt und 
friecdenden Schmeichelei verführen. „Weil die hohen Be⸗ 
amten üppig leben wollen, fo wird das Volk durh un⸗ 
geheuere Steuern und Abgaben gedrüdt, und deshalb muß 
e8 hungern“ (Kap. 75). Die ausſchließliche Sorge für 
das irdifche Wohlergehen führt „zu Ränken, Liſt unb 
Detrug, Raub und Diebftahl einerjeits, andererfeits zum 
Großthun, zur Prahlerei und Anmaßung“ (Kap. 53) und 
zur Bollsbedrückung; obenein ift „das Aufhäufen irdiſcher 
Güter ein nur allzu vergänglicher Gewinn“ (Kap. 44). 
Die Hochgeftellten aber finden es für ihre Ausbeu⸗ 
tungszwede bequem, das Bolf in feiner Unwiffenheit md 
feinem Meaterialismus zu beftärken. „Denn ein Bolf, 
da8 zu viel wifle, fei jchwierig zu regieren; wolle man 
daher durch Intelligenz den Staat regieren, fo verurſache 
man nur Schaden und Nachtheil und begiinflige Mord 
und Diebſtahl“ (Kap. 65). Dieſe weifen Negenten mei« 
nen: „man müfje das Gemüth unb den Geift des Men⸗ 
hen leer Laffen, dafiir aber feinen Bauch füllen, man 
müſſe ihm mehr die Knochen als die Willenskraft flärken, 
man müſſe immer dahin ftreben, daß das Volk in feiner 
Unwiſſenheit bleibe, denn dann begehre es auch nicht fo 
viel” (Kap. 3). Auf diefe volfswirthfchaftliche Weisheit 


| aber thun fie ſich etwas Befonderes zugute, ald wäre e8 


reine Dumanität. Darum ruft Lao⸗tſe ihnen zu: 

Kap. 19. Reißt euch los von diefer Hohen Weisheit, entfagt 
euerer gewaltigen Klugheit, und das Bolt wird hundertmal glüd- 
hier fein. Heißt euch los von euern Humanitätöprincipien, 
entfagt euern jogenannten Bildungsrüdfigten, und das Boll 
wird zurüdfehren zur Pietät und Liebe. Reit euch los von 
dieſem blos auf Erwerb gegründeten Schaffen, entjagt euerm 
Eigennußge, und die Diebe und Räuber werden ſchwinden. 


Kann man e8 dem ibealiftiichen Weifen zum Vorwurf 


machen, daß er in feinem Kampfe für die vernachläffigten 
idealen Güter gegen die Excluſivität materieller Beftre- 


bungen etwas zu weit ging, daß er bie hohe Berechtigung 
der volfswirthichaftlichen Beftrebungen als einer unent- 
bebrlichen Grundlage des höhern geiftigen Volkslebens ver- 
fannte, wenn die Gründer des Chriftenthbums, wenn felbft 
noch im vorigen Jahrhundert ein Rouſſeau und Helve⸗ 
tius ſich deſſelben Fehlers in noch weit höherm Grabe 
ſchuldig machten? 

Wenn bie Lehre bes Lao⸗tſe ſich als ein eontemplativ⸗ 
myſtiſcher Idealismus darftellt, fo darf man nicht ver⸗ 
geilen, daß fie nur die Eine Seite des chinefifchen Geiftes 
ihrer Zeit repräfentirt, daß der legtere nur dann ganz ge= 
würdigt wird, wenn man den jüngern Zeitgenoffen des 
Lao⸗tſe, den Kong-fustfe (Confucius), als beffen polare 

















— 





Ein chineſiſcher Clafſiker. 531 


Ergünzung mit ihm zuſammenfaßt. Sind wir auch über 
die Lehren des Kong-fu-tfe bisher beſſer unterrichtet ge» 
wejen als über bie des Lao⸗tſe, jo wird doch auch bei 
dieſem eine gerechte Würdigung erft dann möglid) fein, 
wenn eine gute Ueberfetzung der Driginalwerle vorliegi. 
Se viel fann man fchon jest fagen, daß Kong-fu=tfe der 
Nüchternere, Rationaliftifchere, Neakiftiichere und Prakti⸗ 
fehere von beiden ift und deshalb and dem fpätern 
Chineſenthum verftindlicher gewefen und nüher gelegen 
hot, ald der mehr myſtiſche, tdealiftifche und theoretifch- 
contemplative Lao⸗tſe. Das Berhältmiß ift ein ähnliches 
wie zwifchen Ariftoteles und Blato oder Paulus und Jo⸗ 
Banned. Der comtemplativ - muftifche Idealismus muß fich 
immer und überall mit einer Pleinen und ftillen Oemeinde 
Begnägen, während fein Nebenbuhbler die offictelle Herr⸗ 
Fchaft behauptet. Bei Lao⸗tſe ift aber diefe Zurückdrän⸗ 
gung in China fo meit gegangen, daß feine Anhänger 
ihn ſpüter nur durch eine umdentende Annäherung an den 
importirten Buddhismus Halten zu können glaubten, wo⸗ 
durch das Verftändniß der Eigenthiimlichkeit des Lao⸗tfe 
vollſtändig verloren ging. Hieraus erflärt es fih, daß 
die (übrigens auch felten untereinander übereinſtimmen⸗ 
den) chineſiſchen Commentatoren nur mit äußerfter Bor- 
Fit zu benutzen find, eine Vorſicht, am welcher es Yulien, 
der franzöfifche Ueberfeger, gänzlich Hat fehlen Laffen. 
Da ih vom Chinefifchen nichts verftehe, fo fteht es 
mer nicht zu, über den philologifchen Werth ber vorlie- 
genden Ueberſetzung ein Urtheil zır füllen, das fi) body 
wur anf dasjenige ſtützen könnte, welches der Weberfetser 
ſelbſt in feinem Kommentar über den genauen Wortſtun 
verräth, und wo es denn allerdings manchmal fcheinen 
will, als wäre ohne Roth eine längere Umschreibung ftatt 
der präcifern mörtlichen Ueberfegung gewählt. Julien 
dentet eine nicht vorhandene Uebereinſtimmung mit bem 
Buddhismus hinein. R. von Plaendner fagt S. 219: „Abel 
Remufat träumte ben Gedanken nur, weil er mit ber 
vorgefaßten Meinung an das Buch herantrat, er müſſe 
darın überall Analogien mit griehifchen u. f. w. Philoſo⸗ 
phen finden. Mein Traum ift der geworden, daß un- 
gemein viel chriftliche Hdeen in dem aTäo⸗te⸗kingo find.“ 
Hält man diefes Bekenntniß mit folgender Stelle zufam- 
men (S. 147): „Ich hätte es nicht über mich vermocht, 
Anfichten niederzufchreiben, oder aud) nur andern nad. 
zufchreiben, die fo fchnurftrads den meinen ... zuwider 
find” — dann feheint allerdings die Beſorgniß nit un- 
begründet, daß der Ueberfeger e8 nicht über fich vermocht 
hat, Stellen tren wiederzugeben, welche den Grundlehren 
des Chriſtenthums fehnurftrads zumider find. In einem 
Tolle bin ich im Stande, dies nachzuweiſen. Dus Ab⸗ 
folute (Tao) bes Lao⸗tſe ift ein unperſönliches Weſen, 
wie aus allem Folgenden hervorgehen wird. Nun heißt 
e8 aber in Kap. 25: „Denn der Menſch ftamınt ven der 
Erde, die Erde ſtammt vom Himmel, der Himmel flammt 
vom Tao.” Hieraus fchließt der Commentator, daß das 
Tao perfönlich fei, weil der Menſch von ihm abftamme 
ober, nach altteftamentlicher Redeweiſe, „ihm zum Bilde 
geſchaffen“ fei. Dann müßten doch auch Erde und Himmel 
perfönlich fein, wenn überhaupt diefer Schluß zuläſſig 
wäre! Das Taͤo foll ferner Schöpfer fen. Soviel id) 
gefehen Habe, find es nur zwei wieberfehrende Worte, bie 


Plaendner durch Schöpfer überfeht; das eine derjelben 
bedeutet „Wurzel”, das andere „die Mutter, die die 
Welt geboren”. Diefe Mutter kann nicht deutlicher, ale 
es im Rap. 52 gefchieht, als die „Mutter Natur”, als 
die natura naturans des Spinoza tm Gegenfat zur na- 
tura naturata gefennzeichnet werden. Es ift ber ewige 
Mutterfhos bes Werdens, die Wurzel des Dafeins. 
Aber der Weberfeßer Hatte eine fo innige Freude wegen 
der vermutheten Uebereinſtimmung mit mofaifchen Lehren, 
daß er fein Mares Urtheil beirren Tief. Lao⸗tſe wäre 
erheblich in ſeiner Achtung gefunfen, wenn er es ſich 
hätte verfagen müſſen, ben perjönlichen allfiebenden Schd- 
pfer in deften Lehre hineinzuinterpretrten. Wenn er auf 
©. 100 jagt, daß Lao⸗tfe im Kap. 21 ben Bantheisınne 
negire, jo wird diefe Bemerkung underſtändlich bleiben, 
bis er Hinzufügt, mas er unter Bantheismus verfteße. 

Nach diefer Probe darf man mit Recht einiges Mis- 
trauen in die auf die Unfterblichkeit bezüglichen Stellen fegen. 
Um es kurz zu fagen, fo ſcheint mir das Wort „Uns 
fterblichkeit” den Sinn des Originals zu entftellen, da 
Lao⸗tſe die Erlangung des Ewigen (Lebens) nur als eme 
Tpeilnahme des (fich feiner Weſenheit und Identität mit 
dem Tao inne geworbenen) Ich an der Ewigleit bes Taͤo 
auffaßt, nirgends aber den bie Frage verwirrenden Zeit. 
begriff hineinbringt, nirgends don eimer Unfterblichteit als 
zeitlicher Fortdauer fprict. 

Unter „Fortdauer“ verfteht Lao⸗tſe viekmehr etwas 
dem Begriff der Uinfterblichkeit geradezu Entgegengeſetztes, 
nämlich) „den Kreislauf des Lebens“. Cr fagt Rap. 16: 

Um den Begriff des höchften Geifligen zu erfaffen, um zu 
ihm zu gelangen, müſſen wir mit der größten geifligen Ruhr 
und Klarheit beobachten, wie ale Weſen entfiehen, wachſen, 
blüben, aber aud) wie fie wieder zurlidfehren in den Schos 
der Natur. Wir müſſen eingedent fein, daß von allen deu 
lebenden Wefen jedes wieder zu feinem Urfprung zurldfehrt, 
jedes wieder in feine Grundelemente fi auflöſt. Diejes 
Zurückkehren zum Urfprung, diefe® Sichauflöfen in feine Grund» 
elemente nennt man „zur Ruhe kommen”. Aber diefer Rube 
folgt immer ein Wiederaufleben, ein Wiederermachen zu neuem 
Zwed, zu neuer Beſtimmung, zu neuem Leben. Ein Immer- 
wiederfehren, ein ſtets erneutes Wiederaufleben nennt man 
Fortdauer. 

Dieſer Kreislauf des Lebens bei Fortdauer der fub⸗ 
ſtantiellen Grundelemente ift offenbar das gerade Gegen- 
theil derjenigen perjönlichen Fortdauer, welche mit ber 


‚Unfterblichfeit gemeint if. Diefe Kenntniß der Unerbitt- 


Lichfeit der „ewigen Naturgeſetze“, welche weiß, daß alles 
Geſchaffene wieder vergehen muß, macht jeben Glauben 
an Unfterblihfeit im gewöhnlichen, zeitlichen Sime un⸗ 
möglich; daher muß der Schluß bes Kap. 7 falſch überſetzt 
fein, wie auch daraus hervorgeht, daß er gar nicht zu 
dem Borhergehenden paffen will. Nirgends ift von einer 
Seelenwanberung bie Rede, nirgends don einem jenfeltl- 
gen Leben; wohl aber wird gefagt, daß für denjenigen, 
ber die Ewigkeit des Abſoluten im Kreislauf feines Lebens 
erfannt Hat, der Tob bedeutungslos geworben ift, weil 
er weiß, daß der Tod nur Rückkehr in den Mutterfchog 
ber Natur, ein nimmermehr zu fürdtendes Zurruhelommen 
if. Wer an die Realität des Sinnlich⸗Materiellen glaubt, 
den map: diefe Eventualität furchtbar ſcheinen, nicht aber 
denrjenigen, welcher weiß, daf das Ewige, Subftantielle der 
Wefen ſelbſt das Geiftige, Tav-liche if, da ja das Taͤo 
67° 


532 


fi dem Staube affimilirt und ibentificirt bat, ſodaß alfo 
nur das Nicht⸗Täo⸗liche, die vergängliche Form, ber Ver⸗ 
nichtung anheimfällt, die wahre Subſtanz aber in bie 
ungetrübte Reinheit ihrer ewigen Herrlichkeit zurüdkehrt, 
welche zugleich die Wahrheit und das Schauen der Wahr: 
heit im Lichte ift. 

Nirgends Spricht Lao⸗tſe, foweit ich verftanden habe, 
auch nur von einem ewigen Leben, fondern Plaendner 
überjegt „da8 Ewige” durch „das ewige Leben“. Wenn 
nämlich der Menſch fich der Einheit mit dem Tao be 
wußt wird, fo weiß er, daß er mit feiner geiftigen Sub- 
ſtanz Antheil hat am Ewigen, db. 5. er bat dann für fein 
Dewußtfein. da8 Ewige erlangt. Nun Hat zwar alle, 
was da lebt, fein Leben durch das Tao, aber der fittlih 
reine Weife empfängt die Theilnahme am Tao noch in 
eminenter Weife durch eine geiftige Verklärung, bei welcher 
der göttliche Hauch fich in ihm ausbreitet; ein folcher alfo 
wird nod in ganz anderm Sinne einen Antheil am 
Ewigen erlangt haben, indem er das Täo in feiner To⸗ 
talität als Einheit umfängt. Diefes Befigen des Tao 
oder des Ewigen bat aber ebenfo wenig eine Aehnlichkeit 
mit der gewöhnlichen Unfterblichleitslehre wie die Yort- 
dauer des Ewigen im Kreislauf des Lebens. ‘Der Antheil 
des Tao, der im Menfchen tft, bleibt freilich nad) dem 
Tode, aber daß diefer Menſch nicht bleiben könne, fon- 
dern im Tode vergehe, ift deutlich genug ausgeſprochen. 
Es verhält fich diefe Lehre von der Gewinnung des Ewi⸗ 
gen ähnlich wie die efoterifche Lehre des Sohannes - Evan- 
geliums zur gewöhnlichen Unſterblichkeitslehre, nur daß 
bei Johannes die philofophifche und die vulgäre Auffafjung 
kraus durcheinanderlaufen, was mir hier nicht der Yall 
zu fein ſcheint, obwol der Ueberfeger alles aufbietet, um 
dem Lao⸗tſe die gewöhnliche Unfterblichfeitsiehre unter- 
zufchieben. 

Wenn wir in dem Bisherigen fchon mehrere vom Ueber» 
feger nicht eingeräumte Abweichungen von der orthodoren 
hriftlichen Lehre kennen gelernt haben, fo will ich aud) 
noch diejenigen Abweichungen anführen, welche derfelbe 
anerfennt. Lao⸗tſe Eennt feinen Teufel und feinen Ber- 
ſucher, keine Ungelologie und keine Dämonologie, feine 
Möglichkeit eines Wunders, keine äußere wunderbare 
Offenbarung, ſondern nur eine innere durch geiſtige Er- 
kenntniß, keinen Glaubenszwang, kein Streben einem 
andern ſeine Anſichten aufdringen zu wollen, keinen Got⸗ 
tesdienſt durch Worte und Gebet, ſondern nur durch ſitt⸗ 
lichen Wandel, keine Drohungen durch dieſſeitige ober jen- 
ſeitige Strafen (da der Tod den Chineſen nicht furchtbar 
iſt, kann auch dieſer nicht als Drohung verwendet wer- 
den). Der Gott des Lao⸗tſe ift Fein eifriger und zorni⸗ 
ger Gott, der bie einen erwählt und die andern verwirft, 
fondern er forgt für alle Weſen gleihmäßig, er kann 
„nur beglüden und fegnen, und niemand fchaben und 
verderben” (Kap. 81); nicht zu feinem Ruhm und Ehre 
bat er Himmel und Erbe gejchaffen, wie der orthodore 
Chriftengott, nein, „er bat Fein irdiſches Verlangen‘ (mie 
Ehrgeiz und Ruhmſucht) und „will nicht ihr Herr und 
Gebieter fein” (Kap. 34). „Wie aber, vereinigt fich nicht 
alles, was da lebt, in ihn und ift ihm unterthänig? Frei⸗ 
ih wol, aber denuoch will e8 (das Taͤo) nicht als ihr 
Gebieter angefehen fein. Daher wollen wir e8 erhaben über 


Ein chineſiſcher Claſſiker. 


alles nennen. So iſt auch des Weiſen Endzweck nicht, groß 
und erhaben zu erſcheinen; weil er aber vollkommen iſt 
und alles weiſe einrichtet, iſt er erhaben“ (Kap. 34). 

Hat je ein Europäer den Gedanken fo ſchön aus- 
gejprochen, daß Gott es ablehnen muß, der Herr zu fein? 
Selbft der Begriff Vater hat dem Chinefen noch zu fehr 
den Nimbus der Autorität und Strenge, darum ift ihn 
Gott weder Herr noch Vater, fondern nur die für alle 
ihre Kinder forgende Mutter, bie alle wieder in ihren 
Schos zurüdnimmt. Zwei andere Unterfchiede vom Chri⸗ 
ſtenthum find folgende: Lao⸗tſe kennt Feine Erbſünde und 
daher kein Erlöſungsbedürfniß im chriftlichen Sinne. Sei- 
nem Bott läge es fern, alle Geſchlechter der Menſchheit 
mit dem Fluch unentrinnbarer Sünbdhaftigleit zu behaften, 
weil ihr Urahn einmal gegen fein Gebot verftieß. Er kennt 
die Sünde nur als Schwachheit, Thorheit und Unverftanb, 
als ein Verkennen ber idealen Ziele und Güter des Men⸗ 
chen über den finnlicy- materiellen, als eine thörichte Ueber⸗ 
bebung der Selbſtſucht. Aber jeden Menſchen ift zu jeber 
Zeit die natürliche Möglichkeit gegeben, weifer und beſſer 
zu werden, und zwar das eine nicht ohne das andere, 
fondern beides in Wechſelwirkung aus ſchwachen Anfän- 
gen erwachfend, auch nicht auf einmal, fondern nur lang- 
ſam und allmählich, aber doch ficher zum Ziele führend. 
„Deine Worte find jehr Leicht zu verftehen, und ebenfo 
leicht ift e8, ihmen gemäß zu Handeln“ (Kap. 70). „Es 
ift Jo wenig verlangt“, dem Taͤo mit Aufrichtigkeit an⸗ 
zugehören (Kap. 32). Er verfennt nicht die Schwierigfeiten, 
welche die Indolenz und Ungebildetheit der Mafje wie die 
Corruption der Regierung dem Fortfchritt des Guten in 
den Weg legen, und meiß, daß die Beflerung der Menſch⸗ 
beit nur fehr langſam gehen, auch wol niemals das Ideal 
(des Gottesreihs auf Erden), das ihm vorſchwebt, errei- 
hen wird, aber fein Glaube an den allmählichen Fort- 
fhritt des Guten auf natürlihem Wege fteht unerſchüt⸗ 
terlich feſt, und mie Jeſus Ichöpft er Troft aus dem 
Gleichniß des ftarken ſchützenden Baums, der aus Heinem 
haardünnen Reis emporgewachſen, oder aus dem Anblid 
des neun Etagen hohen Gebäudes, das Stein für Stein 
allmählich aufgebaut worden if. Daher braucht er feine 
durch ein Wunder ins Werk gefeste Erlöfungsanftalt, 
jowenig er zwifchen dem Individuum und den Abfoluten, 
zwifchen dem Menfchen und Gott einen Mittler brauchen 
fann. Der Sünder in der Tiefe feiner Zerfnirfchung 
findet am Taͤo feinen Troſt, er kann ſich unmittelbar an 
demſelben aufrichten. Gott ift nicht blos droben im Him- 
mel, er ift auch hier unten; man braucht nicht aus dem 
Tenfter zu fehen, um ihn zu erfchauen, „er ſpricht in 
ganz beftimmter und entfchiedener Weife zu uns" (Kap. 45). 

Kap. 56. Wer das weiß und erkannt hat, der macht 
nicht viel jhöne Worte darliber, wer viel davon ſpricht, der 
weiß es nicht, der ift fi nicht Mar. Jene aber (die e8 wiffen) 
juhen fid) immer mehr zn befeftigen in ihrem Glauben unb 
verwahren diefem feft im ihrem Buſen. Berborgen und gebor- 

en im Herzensfchrein ift das Heingeiftige; unn Löfen fi) ihre 
weifel, ihre Wirren und Berwirrungen ganz, und fie fiub 
durchdrungen von der Gewißheit, daß der ewige Fichtfirahl des 
Taͤo fich ihnen, dem Staube, affimilirt bat. Das heißt, fie 
find mahrhaft Eins geworden mit dem Unerforſchlichen; 
mit dem Unerfaßlichen, der doch fo nahe ihnen ift; dem Un⸗ 
begreifliden, der bas AU durchbringt; dem Unergrünplichen, der 
doch alles beglückt und ſegnet; dem Umnenblichen, der fo ge» 





Fin chineſiſcher Claſſiker. 


waltig, fo unerforſchlich und doch fo herrlich, unbegreiflich und 
doch —E nn “ra q ſo herrlich greiflich 

Hegel Hatte das Chriſtenthum die abſolute Religion 
genannt, weil ihr Dogma in der Menjchwerdung Gottes, 
in der Einheit von Gott und Menſch befteht; daß biefe 
Einswerdung nur einmal ftattgefunden habe, das fei die 
abzuftreifende und in den allgemeinen Begriff zu erhebende 
Torm der Vorſtellung. Was würde Hegel gefagt haben, 
wenn er erfahren hätte, daß ſechs Jahrhunderte vor Ent- 
ftehung des Chriftenthbums ein chinefifcher Religionslehrer 
und Philofoph die Einswerdbung von Gott und Menſch 
als allgemeine Wahrheit in der Form des Begriffs ge- 
lehrt habe? 

Wenden wir und nunmehr zu ber Betrachtung ber 
Erkenntnißmethode des Lao⸗tſe. Er kennt drei Wege. 
Der eine ift die Tradition, die bereit damals mit dem 
Nimbus einer heiligen Clafftcität befleideten Anfichten der 
Alten, bie er als refervirt, als mehrdeutig aus Borficht, 
als „kernig wie die Ureinfachheit felbft, und doch tief wie 
ein Abgrund, und — unklar wie trübes Waſſer“ charakteri⸗ 
firt (Rap. 15). Er verachtet die geduldige Aufhellung diefer 
Dunfelheiten nicht, verſpricht fi) aber nicht viel davon 
und bewahrt fich feine volle Selbftändigteit. 

Der zweite Weg ift die Naturerfenntniß. „Es gibt 
ein Tao, welches jedermann verftändlich gezeigt werben 
kann“; dies „ift die fort und fort erfchaffende Kraft der 
Natur, die Natur ſelbſt, die Mutter alles Seienden“. 
„Das aber ift nicht das ewige Tao in feiner ganzen Voll⸗ 
kommenheit“, das ewig Unnennbare, Namenloje, weldyes 
die Wurzel oder der Urgrund der Naturkraft if. Das 
irdiſche Taͤ ober die Natur ift das Tao in feinem An« 
dersfein, in feiner Entänßerung, wie Hegel jagen würde; 
daher führt die Naturerkenntnig nicht zur Erkeuntniß des 
ewigen, himmlifchen Taͤo in feinem Anſichſein; zu dieſem 
führt nur der dritte Weg, die myſtiſche Intuition oder 
intellectuelle Anſchauung. Diefe wird aber verhindert, 
wenn der Geift von Leibenfchaften und Begierben getrübt 
amd von Sünden befledt ift; man muß daher zunächſt ſich 
von feinen Fehlern und Gebredhen zu befreien und mora⸗ 
liſch geſund zu werden fuchen, indem man das unlautere 
Begehren dem reinern und befiern Selbſt unterwirft und 
fi zu einem barmonifchen Ganzen ausbildet. Erſt wenn 
die Seele von allen Schladen geläutert und Mar und rein 
geworben ift wie die eines neugeborenen Kindes, erſt dann 
kann man Gott ſchauen und fein geiftiges Weſen ergrün- 
den. Indem fich diefe Reinheit des Herzens in einer, die 
ganze Menjchheit umfafjenden Liebe äußert, erjcheint die 
Tiebe als das, was zum Gottſchauen und bamit zur Theil 
nahme am Ewigen (Leben) führt und vor dem Tode 
bewahrt. 

Hat man aber einmal das unmittelbare Schauen des 
Tao erreicht, dann empfängt man eben feine Erkenntniß 
unmittelbar vom Taͤo ſelbſt und „blidt vollſtändig Har 
und deutlich nad allen Seiten. hin“ (Kap. 10). Freilich 
gejchieht auch dies nur in geweihten Augenbliden, denn 
„das Erhabene ift eine Stimme, die nur jelten vernom- 
men wird, und nad deren Klang ſich der Weife doch 
unendlich fehnt” (Kap. 41). 

Was ift nun der Fern deflen, was diefe Stimme 
{ehrt ? Das Tao ift die Negation des Sinnlich-Realen, 


533 


ed ift alfo für uns nad der pfychologifchen Entftehung 
jeines Begriffs bie höchſte Ahftraction, an ſich aber das 
böchfte Ueberſinnliche. Die Negation bes Realen, oder das 
„Ideale (nad) dem Johannes⸗Evangelium: das Licht), ift 
aber keineswegs eine Negation des Seienden; denn „da das 
All alles Seiende enthält, fo wäre ein Nichtfeiendes un- 
möglich ausreichend, damit das AU zu umfaſſen“ (Kap. 48). 
Diefe Negativität gegen das Reale wird des weitern aus⸗ 
gemalt: es ift unfichtbar, unfaßbar, überhaupt mit feinem 
Sinne wahrzunehmen; es hat Fein vorn oder Hinten, es 
ift formlos und geftaltlos, und unendlich. Es ift ewig, 
unerfchaffen, nur von ſich felbft ſtammend, allzeitlich und 
allgegenwärtig, durchaus Fräftig, ſtark und allmächtig, all⸗ 
erfüllend, alldurchdringend, unvergänglich und unerfchöpffich 
in feiner Kraft. Es ift durchaus volllommen und höchſt 
erhaben. Es ift „jo ganz unferer Vernunft entfprechend” 
(Kap. 45), ja e8 Tann vielleicht am beften durch den 
Johanneiſchen „Logos“ wiedergegeben werden. Es ift 
immateriell, aber alles Materielle ift nur dur das 
Immaterielle, hat nur in ihm fein Beftehen. 

Kap. 21. Die ganze gejchaffene Natur und ihr Schaffen und 
Birken ift nur eine Emanation des Tao... Diefes, obgleich an 
fi) ein rein geiftiges Wefen... umfaßt doch alles Sichtbare, 
obgleich immateriel und geiftig, ſchuf (?) es doch und find\ in 
ihm alle Wefen. Unbegreiflih und unfihtbar wohnt aber im 
ihm ein erhabener Geift. Diefer Geift ift das höchſte und voll» 
fommenfte Wefen, denn in ihm ift Wahrheit, Glaube, Zuverficht. 
Bon Emigleit zu Ewigkeit wird fein unendlider Ruhm nicht 
aufhören, denn in ihm vereinigt fih da8 Wahre, Gute und 
Schöne im hödften Grade der Bollendung. 

Kap. 51. Ja, durch das Taͤo entfliehen wir, durch das 
Tao werden wir ernährt, durch das Tao wachfen wir auf, 
das Tao leitet uns zum Guten, e8 vervollfommnet uns darin, 
es ftärkt uns in der Tugend, es läßt uns dariu feft werben, 
und ſchützt uns auf allen umnfern Lebenswegen vor jeglicher 
Gefahr. j 

Die Welt, in welche das Tao ſich ergoffen hat, ift 
ganz aus einem Guß; „es läßt ſich nichts daran ändern 
noch beflern“, während doch der weiſeſte der Menfchen 
nicht damit zu Stande kommen würde, eine folche Welt 
einzurichten (Rap. 29). 

Man flieht, die Zäolehre ift ein Monismus ober 
Pantheismus des Geiftes, in welchem die Natur als bie 
Entäußerung des Taͤo in einen ihm in feiner Reinheit 
nicht zufommenden Zuftand aufgefaßt wird, während der 
Menfh das Tao in zweifacher Weife in fich haben Tann, 
einerfeits in feiner natürlichen, andererfeits in feiner rein 
geiftigen Geſtalt. Das Taͤo ift die einzige und alleinige 
Subitanz des Weltprocefjes, der im Kreislauf des Lebens 
befteht; „der Proceß ift die Selbfibewegung des Taͤo“ 
(Rap. 40). 

Wir kommen num zur eigentlichen Ethik des Laostfe. 
Es fteht ihm über allem Zweifel erhaben der Grundfag, 
dag wahre Tugend nur durch das Täo, nur im Hinblid 
auf das Tao möglich if. „Nur der, welcher vom Qao 
befeelt iſt“, ift fähig, feinem Egoismus Abbruch zu thun. 
Aus irdifhen Motiven, aus bloßen Klugheitsrüdfichten 
läßt fi allerdings ein Berhalten des Menſchen zu Stande 
bringen, das in feiner äußern Erfcheinung der echten Tu- 
gend fehr ähnlich fieht, aber das ift keine Tugend, es ift 
eine Hülfe ohne Kern, ja fogar es kann binter bie- 
ſer Hille der äußerlichen Werkgerechtigfeit ein fauler- 














DE Tai et ar J 
“ie .. 


534 Sin chineſiſcher Elaffiler. 


perberbter Sefinnungäfern fich verbergen. Sonad) hat man 
zwei Arten ber Tugend, bie irdijche oder weltliche und 
die himmliſche oder Tao-Tugend, zu unterjcheiden. Bao 
testing heißt „Leitfaden der Tao-Tugend“. Die brei chi⸗ 
nefifchen Cardinaltugenden: Menfchenlicbe (Nächftenliebe), 
Gerechtigkeit und Wohlanftänbigkeit (Höflichkeit), bilden eine 
Neihe, deren Glieder fi immer mehr dem Irdiſchen 
nähern, ſodaß Lao-tje felbit zweifelhaft ift, ob es fich 
fit, die Wohlanftändigfeit mit dem ao in Berbindung 
zu bringen, was übrigens durch das Zartgefühl ſehr wohl 
möglih if. ragen wir, wie das Taͤo ben Menſchen 
zur Tugend führt, fo ift e8 vor allem dur) Beruhigung 
und Befeitigung ber Begierden und Leidenfchaften und 
duch ein Gegengewicht gegen die menfhlihe Schwäche 
und Derirrung, welche ſtets in Begierden und feiden- 
ſchaften zu verlinken droht. Nach Befeitigung der Affecte 
mürde von ſelbſt ſchon die Gefeglichleit in der Welt 
herrſchen, weil jeder Anreiz zur Sünde bejeitigt wäre; 
aber das Tao thut mehr als das, es gibt die Menfchen- 
liebe, deren Urjprung himmliſch if. Dieſes „Einathmen 
des göttlichen Hauches“, infolge deſſen das beſſere Selbft 
Gewalt erlangt über den gröbern Theil unjers Seins, 
nennt Yao«ife „die Verklärung“ (Kap. 36); es entfpricht 
dies völlig der Paulinifchen „Wiedergeburt“. Wer fo 
vom Tao erleuchtet und volllommen im Guten ift, der 
gerade iſt fich deilen am meiften bewußt, daß alles das 
nicht fein Derdienft ift, fondern daß er es nur dem Taͤo 
verdankt, daß er aljo auch mit felbftverleugnender Pflicht. 
erfüllung durhaus nur etwas Selbftverftändliches thut, 
das feines Aufpebens werth. ifl. 

Kap 42. Die Segnungen des Tao, die uns fein Räuber 
nehmen, der innere Werth, den es uns gibt, den uns kein Wege⸗ 
lagerer zerfiören fann, das eben foll her Titel und der Haupi⸗ 
inhalt (Örundidee) meines Buches fein. 

Kap. 67. Die vom Too Befeelten befiten drei Kleinode 
und müfſen ſich dadurch auszeichnen, daß fie diefen Beſitz als 
ihr höchſtes Gut betrachten. Das exfle dieſer Kleinode if 
bie. Liebe. Das zweite iſt die Zufriedenheit, Genügſamkeit. 
Das dritte ift, daß fie fid) nicht für die Erfien und Beſten ver 
Belt, nicht für Borbilder ausgeben, demnach die Demuth 
und Beicheidenheit. Wer aber die Liebe befist, der hat Seelen⸗ 
fiärke. Wer Genügfamteit befitt, Seelengröße. Wer nicht als 
Safer glänzen will, ſondern Demuth, befitt, der iſt bahin ger 
fammen, das Werk der Liebe an feinen NRebenmenfchen erflillen 


zu köonnen, und der macht ſich fo würdig für die Ewigkeit. 


Wie flieht es aber jegt in der Welt? Da vermwerfen und ber- 
achten fie die Liebe und fomit die Seelenſtärke. Sie wollen 
nichts wiflen von Genügjamfeit und opfern damit ihre Seelen⸗ 
größe. Sie wollen. nicht demüthig nachftehen, foudern jeher 
drängt fid) vor, der Erfle zu. fein. Für fie alle iſt der Tob. 
Jene aber, die mit den Waffen ber Liebe kümpfen, erringen den, 
höchften, den ſchwerſten Sieg, den Sieg Über fi) ſelbh. Da- 
durch werden fie vor allem Unheil geſchützt, vor allem Böſen 
hbewahrt jein, demnach das ewige Lehen haben. Der Himmel 
wird fie zum Heil führen, denn durch ihre Liebe wurden. fie 
gerettet und vom Untergang bewahrt. 


Wenn die Liebe die höchſte Tugend ift, jo if ea 
jelhftperßänhlih, daß der Zugenhhafte nicht dabei ſtehen 
bleiben, Tann, für das Heil feines. eigenen Ich zu. forgen, 
fondern hie Bethätigung feiner. Liebe auf fo. weite, reife: 
ausdehnen. muß, als ihm feine fasiale Stellung. geftattet, 
alfo für das: Wohl der. Familie, ber Gemeinde, des Kreiſes; 
dey Propinz ober womdglirh des, ganzen Reichs wirken, 
nah, hier übexall das Gute und Edle pflegen wird. Denn 


erft in Gemeinſchaft werden bie Menſchen ſtark, mit 
Hülfsmitteln verfehen, gebildet und aufgeflärt, während ber 
Bereinzelte hülflos und rathlos irrt wie ein verſchlagener 
Schiffer, und nur dann kann das Ganze der Gefellfchaft 
gebeihen, wenn die Großen herablafjend, Die geringen Leute 
ergeben gegen bie Großen find, und die Siunde ber- 
trauenspoll zuſammenwirken. (Es zeigt ſich hier, daß ber 
Lao⸗tſe häufig gemachte Borwurf, über der individuellen 
Ethik die ſociale Seite ber Ethik völlig anßer Acht zu 
laffen, teineswegs begründet ift.) Die höchſten und am 
fhwerften zu erfüllenden Pflichten find aber jedenfalls die 
Pflichten des Negenten, ba, wie wir fchon eben fahen, 
Laostfe dem Berhalten der Regierung im Guten wie im 
Schlimmen einen ungeheuern Einfluß auf das Volk bei- 
mißt. In der Urt diefer Einwirkung zeigt ſich aber 
wiederum feine übertriebene Oppofltion gegen voll9wirth- 
schaftliche Beſtrebungen. 

Kap. 57. Durch das Einwirken auf das Immaterielle, auf 
das Geiftige im Menfchen, gewinnt man die ganze Welt.... 
Deshalb jagt ein weifer Regent: Ich werde das Nichtmaterielle, 
den Geift ausbilden, jo wird da8 Volk an feiner Beflerung ar⸗ 
beiten. Ich werde die Liebe zur Geiftesreinheit, Geiftesflarheit 
und Gemüthsruhe in meinem Sande erweden und pflegen, fo 
wird das Boll von ſelbſt gut und brav, AH werde das 
Smmaterielle, @eift und Gemüth der Menichen zum Gegenftand 
meiner Bearbeitung machen, jo wird das Volt in jeber Weiſe 
für fich ſelbſt ſorgen können. 

Dabei ſollen aber Wort und Handlungen der Men⸗ 
ſchen möglihft unbefchräntt fein, niemand fell eine 
Lehre aufgedrungen ober aufdisputirt werden, niemand 
joll herbeigerufen werben, fondern man ſoll ihn von ſich 
felbft aus dazu gelangen laſſen, indem das Vorbild ber 
Tugend auch in ihm die Tugend erweckt. Diefe Toleranz 
wisd in China, dem Lande der abfoluten Glaubensfreiheit 
und vielleicht des beften Bolksſchnlunterrichte, thatſachlich 
geübt. An fich find diefe Forderungen vortrefflich; wenn 
aber Lao⸗tſe glaubt, daß die Regierung damit alles gethan 
babe, jo liegt eben hierin fein Irrthum, der mit fernene 
contemplativen Quietismus zufammenhängt. Es zeigt ſich 
bier die Achillesferfe des muftifchen Idealiſten, der in 
theoretifcher Hinfiht von Kong-fustfe willig als der Höhere 
anerkannt wurde, ohne daß letzterer dadurch Luſt befam, 
fh zu feiner Anficht zu bekehren. Kong-fu⸗tſe wußte 
ſehr wohl, was er that, abs er feinen prallifchen Renlis- 
mus dem myſtiſchen Idealiomus des Lao⸗tſe entgegen⸗ 
ſtellte — denn ber Realiſt übt allemal größere Einwir⸗ 
ungen auf die realen Berhältniffe aus —, mud bie 
Tolgezeit bewies, daß er den Bedürfniffen feines. Bolts 
beffer Rechnung getragen bat als fein genialerev Zeit⸗ 
genoffe. Die Negation. gegen das Sinnlich-Realt, weiche 
den Grundzug der Philofophie des Lao⸗tſe bildet, erſtreckt 
ſich auch auf das. praftifche Neben; dies. iſt ein Punkt, 
den ber Weberfeges vollftändig verkunnt Hat, indem ihn 
feine unerquicdliche Polemik gegen Inlien dazu fortriß, in 
ter Widerlegung der. irrthümlichen Auffaffung bed letztern 
zu weit, zu gehen. Aber Lao-tfe ift contemplatives Quietiſt 
ganz in demfelben Maße, wo nicht in noch höherm, als es. 
Spinoza iſt. Schon die Nebenordunng von Genügfamleit und 
Demuth neben die Liebe follte dies zeigen, da beide in einem 
feft ja rigoriftifchen Sinne verſtanden find wie bei. Jeſus (vgl. 
Matth. 10, 9. 105 5, 20 —41). Bon aller Sinnenluft, Begierben 








Zur Geſchichte 


und betäubenden Bergnügungen muß der Weiſe als von 
Verunreinigungen feines Gleichmuths ſich fern Halten; 
„Gunftbezeigungen, Gnadenbeweiſe, Macht, Ehren müfſen 
in und ebenjo wol Bejorgniß, ein beflenımendes Gefühl 
erzeugen, als Schande, Entehrung, Beihämung, Zurück⸗ 
fegung; hohe Würden, Hoher Stand muß uns ebenfo 
beläftigen und betrüben, wie das Gefühl, daß wir über- 
hanpt einen Körper haben“, woraus nämlich allein „al 
unſer Gram, unfere Sorge, unfere Betrübniß entſpringt“ 
(Rap. 13); — in ber That eine vollfländige theoretifche 
Kreuzigung des Fleiſches. Alles Streben nad Erwerb 
und Befig oder gar nad) Luxus iſt fehlechterdings thöricht 
und verkehrt. Was, frage ich, bleibt da übrig als Trieb- 
feder des Handelns, wenn alles dies verpönt, und Zurück⸗ 
ftelung der eigenen Perſönlichkeit oder abjolute Selbſt⸗ 
verleugnung unbedingte Forderung ift? Iſt es nicht 
genug gejagt, daß das deal der Tugend, das wie im 
Stoicismus als „der Weiſe“ bezeichnet wird, niemals aus 
feiner Gelafjenheit und ruhigen Würde heraustreten foll, 
daß er fih durchaus nur mit dem rein Geiftigen beſchäf⸗ 
tigen und nur diejes genießen fol, und daß er fi) da— 
mit tröften fol, „daß das Größte und Erhabenſte der 
Welt ficher weniger durch Außendinge als durch Geiſtes⸗ 
kraft vollbraht wird‘? Die Demuth des Weifen fol 
(wie bei Jeſus) fo weit gehen, daß er auf fein Recht 
verzichtet, während er feine Pflicht erfüllt, daß er die 
Rechte anderer achtet, aber nicht verfucht, diefelben zur 
Erfüllung ihrer Pflichten gegen ihn anzuhalten. Sollte bei 
folden Grundſätzen die Fulien’fche Ueberfegung vom Schluß 
des fiebenundfumfzigften Kapitels wirklich fo weit von der 
Wahrheit abliegen, wie Plaendner meint? Freilich verirrt 
ſich diefer Quietismus nirgends in Askeſe, nirgends auch in 
geiflige Mortification; aber doch iſt ein idyllifcher Zuftand 
fein Ydeal, in dem man vom Körper und irdifchen Be⸗ 
ftrebungen möglihft wenig weiß und ganz einer tugend- 
haften Befchaulichkeit lebt. Aber auch mit dem Wirken 
blos durch den Geiſt ift ed nicht fo genau zu nehmen; 


— o — 


Zur Geſchichte 


1. Geſchichte Napoleon's des Erſten. Von P. Laufrey. Aus 
dem Franzöſiſchen von C. von Glümer. Eingeleitet von 
Adolf Stahr. Erſte bis achte Lieſezung Berlin, Sacco 
Nachfolger. 1869 — 70. Gr. 8. Jede Lieferung 15 Nor 

2. Napoleon J. und ſein Geſchichtſchreibet Thiers. Bon Ju⸗ 
les Barni. Verdeutſcht von A. Elliſſen. Leipzig, 
O. Wigand. 1870. 8. 1 The. 

Bis auf die neueſte Zeit herab wurden die Geſchicht⸗ 
Schreiber Napoleon's I. bei der Darftellung der Thaten 
und des Charakters biefer dämonifhen Menſchennatur 
vorwiegend nur durch Bewunderung oder durch Haß ge- 
leitet. Wie die Bewunderung einerfeitS zu Schmeichelei 
und Abgötterei führte, fo ließ ambererfeits der Haß den 
Parteileidenfchaften, mochten bdiefelben auch immerhin in 
hohem Grade ihre Berechtigung haben, blind bie Zügel 
ſchießen. Wenn noch vor dem Sturze des gewaltigen 
Corſen in Deutſchland Johann Gottlieb Fichte mit dem 
fittfichen Zorn eines edeln Patriotismus den Unterjocher 
der Bölfer als einen verabfcheuungsmürdigen Deöpoten 


Napoleon’s 1. 535 
denn der Weife ſchätzt die Waffe an feiner Seite auch in 
Griebenspeiten, und wenn e® fein muß, weiß er fie mit 
Nahdrud zu gebrauchen. Dagegen polemifirt Lao«tfe 
gegen ftehende Heete im Frieden und gegen offenfive 
Politif; wird das Reich zu einem politifchen Defenftnfrieg 
genöthigt, dann freilich foll es alle Kräfte aufbieten und 
concentriren und in unmiderftehlicher ftrategifcher Offen- 
five den Feind mit einem entfcheidenden Schlage nieder« 
werfen, dann aber des Befiegten fehonen, wie ber Un- 
bewaffneten überhaupt. Roheit und Graufamleit, Zorn 
und Race ziemt fih im Krieg fo wenig wie im Frieden. 
Wie weit die Humanität des Lao⸗tſe geht, erkennt man 
in überrafehender Weife aus dem Kapitel 74, wo er 
gegen die Nützlichkeit und gegen bie Berechtigung der 
Todesſtrafe plaidirt. 

Ich babe zu Gunften eines Gefammtüberblids über 
die Lehre des alten chinefifchen Weifen darauf verzichten 
müſſen, von der reichhaltigen epigrammatifchen Spruch- 
mweißheit feines Buchs umfaffendere Proben zu geben, 
melde häufig eine frappante Aehnlichkeit jelbft in den 
gebrauchten Bildern und Wendungen mit befannten 
Sprüchen des Neuen Teſtaments aufweifen. Es fteht zu 
hoffen, daß die Sinologen die von Plaendner erfolgreich 
begonnene Arbeit der Auffchließung Lao⸗tſe's mit Eifer 
fortfegen werden. Zu wünſchen wäre auch, daß in einer 
neuen Auflage des vorliegenden Werks in den Commen⸗ 
taren ftatt weitjchweifiger päbagogifcher und erbaulicher 
Excurſe durchweg eine mortgetreue Leberfegung des Chi⸗ 
neftfchen eingefchaltet würde, welche allein dem Laien eine 
gewiſſe Controle des frei überfegten Textes ermöglicht. 
Ein vorn im Inder ausgeworfenes Inhaltsverzeihniß der 
Kapitel würde die Meberficht weſentlich erleichtern. Ich 
Schließe mit den Schlußworten bes Kapitel 58, melde 


als charakterificendes Motto der Natur des alten Weifen 


dienen können: „Licht, nicht Glanz!“ 
Eduard von Hartmann. 


Mapoleon’s L 


binftellte, wenn Frau von Steel in firenger, ja leiden- 
ſchaftlicher Weife die Schwächen und Fehler des „Ver⸗ 
gewaltiger8 der Freiheit“ unbarmberzig bloßlegte, fo fehlte 
ed dafür an enthufiaftifchen Bewunderern und feurigen 
Zobrebnern deſſelben weber in Frankreich noch bei andern 
Nationen. Im Laufe der Zeit brach ſich indeſſen Bier 
und dar eine kühlere Beurtheilung Bahn, und namentlich 
haben viele deutfche Gefchichtfchreiber, z. B. Schloffer, 
Häuffer u. a., im den legten drei oder vier Decennten 
das Bild des corſiſchen Welterſchütterers jo trefflich ge- 
zeichnet, daß eine unpurteiiſche und gerechte Würdigung 
defielben volfftändig ermöglicht wurde. Seit aber die 
legte franzöfiiche evolution Napoleon IT. der Weg zur 
MWieberaufrichtung des Kaiſerthrons in Frankreich bahnte 
und die Idees Napol&oniennes dadurch wieder neue 
Rahrung erhielten und dem Napobeon⸗Cultus frifche Kraft 
gaben, traten vornehmlich im Frankreih Männer auf, 
die mit kritiſchem Scharfblid und fittlichem Ernſte das 


534 


perberbter Sefinnungätern fic verbergen. Sonach hat man 
zwei Arten der Tugend, bie irdijche oder weltliche und 
die himmlische ober TAo-Tugenb, zu unterſcheiden. Tan 
tesfing heißt „Leitfaden der Taͤd⸗Tugend“. Die drei chi⸗ 
neſiſchen Cardinaltugenden: Menfchenliche (Nächftenliebe), 
Gerechtigkeit und Wohlanftänbigkeit (Höflichkeit), bilden eine 
Reihe, deren Glieder fi immer mehr dem Irdiſchen 
nähern, ſodaß Lao-tfe felbft zweifelhaft iſt, ob es fic) 
jchickt, die Mohlauftändigkeit mit dem Tao in Berbinbung 
zu bringen, was Hbrigens durch das Zartgefühl fehr wohl 
möglih if. Fragen wir, wie das Tao den Menſchen 
zur Zugend führt, jo ift e8 vor allem durch Beruhigung 
und Befeititgung ber Begierden und Leidenfchaften und 
durch ein Gegengewicht gegen die menfchlihe Schwäche 
und DBerirrung, welche ſtets in Begierden und feiden- 
ſchaften zu verſinken droht. Nach Befeitigung der Affecte 
würde von ſelbſt fchon die Gefeglichleit in ber Welt 
berifchen, weil jeder Anreiz zur Sünde befeitigt wäre; 
aber das Tao thut mehr als das, es gibt die Menſchen⸗ 
liebe, deren Urfprung himmliſch if. Diefes „Einathmen 
des göttlichen Hauches“, infolge deſſen das beflere Selbft 
Gewalt erlangt über den gröbern Theil unfers Seins, 
neunt Lao⸗tſe „bie Verklärung” (Kap. 36); es entjpricht 
dies völlig der Baulinifchen „Wiedergeburt“. Wer fo 
vom Tao erleuchtet und volllommen im Guten ift, der 
gerade ift fich deflen am meiften bewußt, daß alles das 
nicht fein Derdienft ift, fonbern daß er es nur dem Taͤo 
verdankt, daß er alfo auch mit ſelbſtverleugnender Pflicht- 
erfüllung durchaus nur etwas GSelbftverftändliches thut, 
das feines Aufhebens werth ift. 

Kap 42, Die Seguungen des Tao, die uns fein Räuber 
nehmen, der innere Üerth, den es uns gibt, den uns kein Wege- 
lagerer zerftören kann, das eben fol der Titel und der Haupt 
inhalt (Grundidee) meines Buches fein. 

u. 67. Die vom Too Beſeelten befiten drei Kleinode 
und müſſen fi. dadurch auszeichnen, daß fie diefen Beſitz als 
ihr höochſtes Gut betrachten. Das erſte diefer Kleinode if 
bie Liebe. Das zweite if die Zufriedenheit, Genügſamkeit. 
Das dritte ift, daß fie fich nicht für die Erſten und Beften ver 
Belt, nicht für Vorbilder ausgeben, demnach die Demuth 
und Beſcheidenheit. Wer aber die Liebe befist, der hat Seelen- 
flärke. Wer Genügſamleit befitt, Seelengröße Wer nicht als 
after glänzen will, fonbern ‘Demuth. befigt, der ift dahin ge» 
tommen, das Werk der Liebe an feinen Rebenmenfchen erfüllen 

u tönnen, und der macht ſich jo würdig für die Ewigkeit. 
ie flieht es aber jegt iu der Welt? Da verwerfen und ver- 
achten fie bie Liebe und fomit die Seelenſtärke. Gie wollen 
nichts willen von Genligfamfeit und opfern damit ihre Seelen⸗ 
größe. Sie wollen nicht demüthig nachſtehen, fondern jeher 
drängt fi) vor, der Erfle zu fein. Sr fie alle iſt der Tod— 
Jene. aber, bie mit den Waffen der Liebe impfen, erringen. den, 
höchſten, den ſchwerſten Sieg, den Sieg Über fi) ſelbh. Da- 
durch werden fie vor allem Unheil geſchützt, vor allem Böſen 
hewaprt fein, demnach das ewige Leben haben. Der Simmel 
wird fie zum, Seit führen, denn durch ihre Liebe wurden. fie 
gerettet und vom Untergang beiwahrt. 

Wenn die Liebe die hoöchſte Tugend ift, jo ift ea 
jelbftverBünhlih, daß der Tugenhhafte nicht: dabei flchen 
bleiben, Yaun, fiir das. Heil feines, eigenen Ich zu. forgen, 
ſondexn die Bethätigung feiner: Liebe auf fo. weite Kreiſe 
ausdehnen. muß, ale. ihm feine fnsiale Stellung. geitattet, 
alfo file das Wohl der. Familie, der Gemeinde, deö Kreiſes 
dev Proninz ober womðöglich des, ganzen Neid wirken 
nah, bier überall das Gute und Edle pflegen wird. Denn 


Sin chineſiſcher Elaffiler. 


erft in Gemeinfhaft werden bie Menſchen ftarl, mit 
Hülfsmitteln verfehen, gebildet und aufgeflärt, während der 
Bereinzelte hülflos und rathlos irrt wie ein berfchlagener 
Schiffer, und nur dann kann das Ganze der Gefellfchoft 
gebeihen, wenn bie Großen herablafiend, bie geringen Leute 
ergeben gegen bie Großen find, und die Stände ver⸗ 
iranensvoll zuſammenwirken. (Es zeigt ſich Bier, daß der 
Laostfe häufig gemachte Borwurf, über der individuellen 
Ethik die fociale Seite der Ethik völlig außer Acht zu 
loffen, keineswegs begründet ift.) Die böchften und am 
ſchwerſten zu erfüllenden Pflichten find aber jedenfalls die 
Pflichten des Regenten, da, wie wir ſchon oben fahen, 
Lao⸗tſe dem Berhalten der Regierung im Guten wie im 
Schlimmen einen ungeheuern Einfluß auf da Bollk beis 
mit. In der Art diefer Einwirkung zeigt fid) aber 
wiederum feine übertriebene Oppofition gegen vollswirth- 
schaftliche Beftrebungen. 

Kap. 57. Durch das Einwirlen auf das Immaterielle, auf 
das Geiftige im Menfhen, gewinnt man bie ganze Welt... 
Deshalb jagt ein weifer Regent: Ich werde das Nichtmaterielle, 
den Geift ansbilden, fo wird das Bolf an feiner Beflerung ar⸗ 
beiten. Ich werde die Liebe zur Geiftesreinheit, Geiftesklarheit 
und Gemüthsruhe in meinem Lande erweden und pflegen, fo 
wird das Boll von felbf gut und brav. Ich werde das 
Smmaterielle, Geift und Gemüth der Menfchen zum Gegenſtand 
meiner Bearbeitung madjes, jo wird das Bolt in jeder Weiſe 
für ſich felbft forgen können. 

Dabei folen aber Wort und Handlungen der Men« 
Shen möglihft unbefchräntt fein, niemand foll eine 
2ehre aufgedrungen oder aufdisputirt werden, niemand 
fol herbeigerufen werden, fondern man ſoll ihn von ſich 
felbft aus dazu gelangen laſſen, indem das Borbild der 
Tugend auch in ihm die Tugend erwedt. Dieſe Toleranz 
wird in China, dem Lande der abfoluten Glaubensfreiheit 
und vielleicht des beften Bollsſchulunterrichts, thatſüchlich 
geübt. An fich find diefe Yorderungen vortrefflih; wenn 
aber Lao⸗tſe glaubt, daß die Regierung damit alles gethan 
babe, fo liegt eben hierin fein Irrthum, ber mit ſeinem 
eontemplativen Duietismus zufammenhängt. Es zeigt fi 
bier die Achillesferfe des myſtiſchen Idealiſten, der in 
theoretifcher Hinficht von Kong⸗fu⸗tſe willig als der Höhere 
anerlannt wurde, ohne daß legterer dadurch Luſt bekam, 
ih zu feiner Anſicht zu bekehren. Kong-fu⸗tſe wußte 
ſehr wohl, was er that, abs er feinen praktifchen Realis- 
mus dem myſtiſchen Idealiomuos des Lao⸗tſe entgegen⸗ 
ſtellte — denn der Realiſt übt allemal größere Einwir⸗ 
fungen auf die realen Verhältniſſe aus —, und die 
Folgezeit bewies, daß ex den Bedürfniſſen ſeines Bolle 
beſſer Rechnung getragen hat als fein genialeren Zeit⸗ 
genofſe. Die Negation gegen das Sinnlich⸗Realt, welche 
den Grundzug der Philoſophie des Lao⸗tſe bildet, erſtreckt 
ſich auch auf das. praktiſche Leben; dies iſt ein Punkt, 
den der Ueberfetzer vollſtündig verkunnt hat, indem ihn 
feine unerquickliche Polemik gegen Inlien dazu fortriß, in 
ber Widerlegung der irrthümlichen Auffaſſung des letztern 
zur weit, zu gehen. Aber Lao⸗tſe iſt coutemplativer Quietiſt 
ganz in demjelben Maße, wo nicht in noch Höhen, ala es 
Spinoza ift. Schon die Nebenorduung von Genügfomkeit und 
Demuth neben bie Liebe follte dies zeigen, da beide in einen: 
faft fo rigoriſtiſchen Sinne verftanden find wie bei Jeſus (vgl. 
Mattb.10, 9. 10; 5, 20 — 41). Bon aller Sinmenluft, Begierdon 





Zur Gefgigte 


und betäubenden Vergnügungen muß der Weiſe als von 
Berunreinigungen feines Gleichmuths fi fern Halten; 
„Bunftbezeigungen, Gnadenbeweiſe, Macht, Ehren müſſen 
in uns ebenſo wol Beſorgniß, ein beklemmendes Gefühl 


erzeugen, als Schande, Entehrung, Beſchämung, Zurüde 


ſetzung; hohe Würden, Hoher Stand muß uns ebenſo 
befäftigen und betrüben, wie das Gefühl, daß wir über⸗ 
haupt einen Körper haben‘, woraus nämlich allein „al 
unfer ram, unfere Sorge, unfere Betrübniß entſpringt“ 
(Kap. 13); — in der That eine vollftändige theoretifche 
Kreuzigung bes Fleiſches. Alles Streben nad Erwerb 
und Befig oder gar nad) Lurus ift ſchlechterdings thöricht 
und verkehrt. Was, frage ich, bleibt da übrig als Trieb- 
feder des Handelns, wenn alles dies verpönt, und Zurlid- 
ftellung der eigenen BPerfönlichkeit oder abfolute Selbft- 
verleugrung unbedingte Forderung if? Iſt es nicht 
genug gejagt, daß das Ideal der Tugend, das wie im 
Stoicismus als „der Weiſe“ bezeichnet wird, niemals aus 
feiner Gelafjenheit und ruhigen Würde heraustreten fol, 
Daß er ſich durchaus nur mit dem rein Geiftigen beichäf- 
tigen und nur biefes genießen fol, und daß er ſich ba- 
mit tröften fol, „daß das Größte und Erhabenſte der 
Welt ficher weniger durch Außendinge als durch Geiſtes⸗ 
kraft vollbracht wird‘? Die Demuth des Weifen foll 
(wie bei Jeſus) fo weit gehen, daß er auf fein Recht 
verzichtet, während er feine Pflicht erfüllt, daß er die 
Rechte anderer achtet, aber nicht verfucht, diefelben zur 
Erfüllung ihrer Pflichten gegen ihn anzubalten. Sollte bei 
folden Srundfägen die Sulien’fche Heberfegung vom Schluß 
des fiebenundfunfzigften Kapitels wirklich fo weit von ber 
Wahrheit abliegen, wie Plaendner meint? Freilich verirrt 
fich diefer Quietismus nirgends in Askeſe, nirgends auch in 
geiftige Mortification; aber doch ift ein idyllifcher Zuftand 
fein Ideal, in dem man vom Körper und trbifchen Be: 
firebungen möglihft wenig weiß und ganz ciner tugend- 
haften Befchaufichkeit Iebt. Aber auch mit dem Wirken 
blos durch den Geift ift es nicht fo genau zu nehmen; 


Zur Geſchichte 


1. Geſchichte Napoleon's des Erſten. Bon P. Laufrey. Aus 
dem Franzöſiſchen von C. von Glümer. Eingeleitet von 
Adolf Stahr. Erſte bis achte eleferung. Berlin, Sacco 
Nachfolger. 1869— 70. Gr. 8. Jede Lieferung 15 Rgrt 

2. Napoleon I. und fein Geſchichtſchreibet Thiers. Bon Ju⸗ 
les Barni. Berdeutfht von A. Elliffen. Leipzig, 
D. Wigand. 1870- 8. 1 Thlr. 

Bis auf die nenefte Zeit herab wurden die Geſchicht⸗ 
fchreiber Napoleon's I. bei der Darftellung der Thaten 
und des Charafters diefer dämoniſchen Menſchennatur 
vorwiegend nur durch Bewunderung oder durd) Haß ge- 
leitet. Wie die Bewunderung einerfeit8 zu Schmeichelei 
und Abgötterei führte, To ließ andererfeitS der Haß ben 
Parteileidvenfchaften, mochten diefelben auch immerhin in 
hohem Grade. ihre Berechtigung haben, blind die Zügel 
ſchießen. Wenn noch vor dem Sturze des gewaltigen 
Corſen in Deutſchland Johann Gottlieb Fichte mit dem 
fittfichen Zorn eines edeln Patriotismus den Unterjocher 
der Bölfer als einen verabſcheuungswürdigen Despoten 


Napoleon’e 1. 535 
denn der Weife ſchätzt die Waffe an feiner Seite auch in 
Wriedenszeiten, und wenn es fein muß, weiß er fie mit 
Nachdruck zu gebrauchen, Dagegen polemifirt Lao-tje 
gegen fiehende Heere im Frieden und gegen offenfive 
Politik; wird das Reich zu einem politifchen Defenftofrieg 
genötbigt, dann freilich ſoll e8 alle Kräfte anfbieten und 
concentriren und in ummiderftehlicher ftrategifcher Offen⸗ 
five den Feind mit cinem entfcheidenden Schlage nieber- 
werfen, dann aber des Beſiegten jchonen, wie der Un- 
bewaffneten überhaupt. Roheit und Graufamkeit, Zorn 
und Race ziemt fih im Krieg fo wenig wie im Trieben. 
Wie weit die Humanität des Lao⸗tſe geht, erkennt man 
in überrafehender Weife aus dem Kapitel 74, wo er 
gegen die Nützlichkeit und gegen die Berechtigung der 
Zobesftrafe plaidirt. 

Ich Habe zu Gunften eines Gefammtüberblids über 
die Lehre des alten chinefifchen Weifen darauf verzichten 
müffen, von der reichhaltigen epigrammatifchen Sprud)- 
weisheit ſeines Buchs umfaffendere Proben zu geben, 
welche häufig eine frappante Aehnlichkeit felbft in den 
gebrauchten Bildern und Wendungen mit befannten 
Sprüchen des Neuen Teftaments aufweifen. Es fieht zu 
hoffen, daß die Sinologen die von Plaendner erfolgreich 
begonnene Arbeit der Auffchließung Lao-tje's mit Eifer 
fortfegen werden. Zu wünfchen wäre aud, daß in einer 
neuen Auflage des vorliegenden Werks in den Commen- 
taren ftatt weitjchweifiger pädagogischer und erbaulicher 
Ereurfe durchweg eine wortgetrene Leberfegung bes Chi⸗ 
nefifchen eingefchaltet wiirde, welche allein dem Laien eine 
gewiffe Controle des frei überfegten Textes ermöglicht. 
Ein vorn im Inder ausgeworfenes Inhaltsverzeichniß ber 
Kapitel wiirde die Ueberfiht wefentlich erleichtern. Ich 
Schließe mit den Schlußworten des Kapitel 58, melde 
als charakterificendes Motto der Natur des alten Weifen 
dienen fünnen: „Licht, nicht Glanz!‘ 

Eduard von Hartmann. 


Hapoleon’s L 


binftellte, wenn Frau von Stael im fixenger, ja leiden- 
ſchaftlicher Weile die Shwäder und Fehler des „Ver 
gewaltigers bee Freihert“ unbarınherzig bloßlegte, fo fehlte 
es dafür an enthufiaftifchen Bewunderern und feurigen 
Zobrednern deffelben weder in Frankreich noch bei andern 
Nationen. Im Laufe der Zeit brach fich indeſſen bier 
und da eine kühlere Beurtheilung Bahn, und namentlich 
haben viele deutſche Gefchichtfchreiber, 3. B. Schloffer, 
Häuffer u. a., m den legten brei oder vier Decennien 
das: Bild des corfiichen Welterſchütterers jo trefflich ge- 
zeichnet, daß eine unpurteiiſche und gerechte Würdigung 
defielben vollftändig ermöglicht wurde. Gelt aber die 
legte franzöfifche Hevolution Napoleon UI. der Weg zur 
MWieberaufrichtung des Kaiſerthrons in Frankreich bahnte 
und die Id&ees Napol&oniennes dadurch wieder neue 
Nahrung erhielten und dem Napoledn⸗Cultus frifche Kraft 
gaben, traten vornehmlih im Frankreich Männer auf, 
die mit kritiſchem Scharfblid und fittlihem Ernſte das 


536 Zur Geſchichte 


innerfte Wefen des Gründers ber Napoleonifchen Dynaftie 
enthilllten und mit überlegener Wahrheitsliebe und ziem- 
{ih frei non falſchem Nationalflolze der hiftorifchen Kritik 
und der öffentlihen Moral ihr Recht angedeihen Tießen. 
Wie früher die Amerikaner Channing und Emerfon von 
dem Standpunkte einer tiefen Sittlichkeit und erhabenen 
Sreiheitsliebe den maßlofen Egoismus und den Mangel 
jedes fittlichen PBrincips in dem Charakter Napoleon’s 1. 
nachgewiefen haben, fo trugen, feit Napoleon III. das 
second empire inaugurirte, die Franzoſen Charras, Edgar 
Duinet, Duvergier be Hauranne, Scherer, Chauffour« 
Keſtner u. a. durch ihre gründlichen, ein genaues Ge⸗ 
ſchichtsſtudium verrathenden Arbeiten nicht wenig bazu 
bei, den fchillernden Nimbus des Napoleonismus zu zer» 
fireuen. Wuchtigere Hiebe aber, als alle genannten Ge⸗ 
ſchichtsforſcher, Philofophen und Bubliciften es zu thun 
im "Stande waren, verjegten jüngft dem napoleonifchen 
Zobendienſte die zwei Franzoſen P. Lanfrey und Jules 
arni. 

Betrachten wir nun zunächſt das umfangreiche Werk 
Lanfrey's, „Geſchichte Napoleon's J.“ (Nr. 1). Es 
liegen uns von demſelben acht Lieferungen in deutſcher 
Ueberſetzung vor, von welchen die letzte die Geſchichte 
Napoleon's J. bis zur Zuſammenkunft deſſelben mit Kai⸗ 
ſer Alexander in Tilſit fortführt. 

Der erſte Band, welcher zwölf Kapitel enthält, fchil- 
dert Napoleon’8 Yugend, fein erftes Auftreten und feine 
fernere Laufbahn bis zum verhängnigvollen 18. Brumaire 
(9. November) 1799. Hier Heißt e8: 

Der KLontraft zwiſchen dieſem außerordentlihen Manne 
und dem allgemeinen Bewußtſein feiner Epoche braucht nicht 
gefucht zu werden, er fpringt fofort in die Augen. Napoleon 
erfcheint durch feinen Charakter, feine Ideen, befonders durch 
das Ziel, das er verfolgt, als ber Sohn eines andern Zeit- 
alters; aber je mehr wir ihn fludiren, um fo deutlicher fo: 
men wir zu der Erfennutiß, daß nur die Theile feines Werks 
lebendig geblieben find, die er dem Geiſte feiner Zeit entlehnte; 
alles Übrige ift vergänglide Erſcheinung. In der Rolle, die 
Napoleon geſpielt Hat, liegt alfo für die Gejchichte nichts Uner- 
Härliches. 

Schon Titus Livius charakterifirt die Einwohner von 
Corfica ale „ebenfo ımbezähmbar wie die Thiere des 
Waldes”. Und dieſen Typus trugen die Corfen noch 
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, ja fie tragen ihn, 
wie Lanfrey verfichert, noch jest. Mit einer unbezwing- 
lichen, wilden SHartnädigleit verband ſich indeflen im 
Laufe der Zeit eine gewifje, aus Italien flanımende Ge 
jchmeidigfeit, mit der Energie bes Charakters vereinte 
fi ein feiner, gewandter Gef. Müäßig, muthig, gaſt⸗ 
freundlich, aber zugleich Hinterliftig, abergläubiſch, rach⸗ 
fühtig — fo waren die Corſen vor Jahrhunderten, fo 
find fie noch heute. Sie gleichen ihrem in den Ebenen 
glühend heißen, auf den Höhen eifigen Klima: ihr Herz 
ift Teidenfchaftlih, ihre Kopf kalt, und fie find ebenfo 
geneigt, fih in der Diplomatie auszuzeichnen wie 
im Kriege. Napoleon’s Familie ftammte aus Italien 
und vereinigte in fich eine nahezu gleiche Miſchung italie- 
nifcher und corfifcher Eigenfchaften, fie zeigte jene „Spu⸗ 
ren ber feinorganifirten, kraftvollen Rafſſe, welcher Mac- 
chiavelli entfproßte”. Carlo Bonaparte, Napoleon’s Vater, 
gehörte zu den Gefährten des corfifchen Patrioten Baoli; 


Napoleon’s ]. 


und längere Zeit erſchien es dem jungen Napoleon als 
das höchſte Ziel, biß zur Stellung eines Baoli emporzu- 
ſteigen. Noch im Jahre 1791, wo er fein erſtes politi⸗ 
ſches Manifeſt unter dem Titel „Lettre a Matteo Butta- 
fuoco” drucken ließ, war er, troß feiner franzöflfchen 
Erziehung zu Brienne und Paris, bis in den tiefiten 
Grund feiner Seele Corfe geblieben und vermochte fi 
itber den Fall feines Heimatlandes nicht zu tröften. Man 
erfennt in jenem Briefe an YButtafuoco, der bei ber Ver⸗ 
einigung Corficas mit Frankreich ein Werkzeng Choiſeul's 
gewefen war, noch die Erbitterung bes Patrioten, welcher 
Granfreih, trog der Metamorphofe von 1789, bie ge» 
machten Eroberungen nicht verzeihen Tonnte. 

Lanfrey führt nun weiter aus, wie perfönlicde Ver⸗ 
hältniffe Napoleon der Franzöfiichen Revolution in die 
Arme trieben, wie er mit Paoli zerfiel, auf Corſica zum 
Landesverräther erflärt wurde und fih nur mit Mühe 
retten konnte. Der fenrige Anhänger der nationalen 
Sache Corſicas wurde zum Diener der franzöſiſchen Re- 
publit; aber während er die Farben und die Sprade 
der Revolution annahm, theilte er doch weder ihren 
Enthuflasmus noch ihren Haß. Durch Lift, Beſtechung 
und Gewalt, durch diefelben Mittel, welche er in feinem 
fpätern Reben noch fo oft anwandte, wußte er über feine 
Porteigegner auf Corſica, Marius Peraldi und Bozzo 
di Borgo, zu fiegen und feine Wahl zum Bataillonschef 
der Miliz von Ajaccio durchzufegen. Bei Gelegenheit 
eines Bollsaufftandes auf Corſica fprach er gegen feinen 
Freund Bourienne das Bedauern aus, „den revolutionären 
Pöbel nicht niederfartätfcht zu fehen”. Obſchon er das 
Boll verachtete, war er doch längere Zeit ein eifriger 
und mit Beifall aufgenommener Redner in Vollsverſamm⸗ 
ungen. Als die Alternative an ihn berantrat, fi} ent⸗ 
weder für die Unabhängigfeit feines Geburtslandes ober 
für die Vortheile zu entfcheiden, die ihm das Feſthalten 
an Frankreich verfprach, ſchwankte er nur wenige Augen- 
blide. Er organifirte eine Verſchwörung, um die Citadelle 
von Ajaccio zu überrumpeln und die Stadt ber fran- 
zöftfchen Republik zurückzugeben. Der Plan mislang; 
fein Vaterhaus wurde von den corfifchen Patrioten zer- 
ftört, feine Mutter und feine Gefchwifter mußten flüchten 
und ſahen ſich genöthigt, wie Napoleon felbft ein Afyl 
auf dem Kontinent zu fuchen. Bald war auf ganz Cor» 
fica nicht mehr ein erflärter Anhänger Frankreichs zu 
finden (Mai 1793). 

Nachdem Napoleon die Seinigen in Marfeille unter» 
gebracht Hatte, ſchloß er fi), wie feine gegen Ende Yuli 
1793 veröffentlichte Schrift „Das Souper de Beancaire“ 
beweift, der franzöfifchen Bergpartei an, obſchon alle feine 
Sympathien, wie er felbft wieberholt geftanden hat, anf 
feiten der Girondiften waren. Nicht mit Unrecht fagt 
beshalb Lanfrey ©. 44: 

Es ift nicht zu leugnen, daß in Bonaparte, ſobald die Ge⸗ 
iaicte von ihm Befitz ergreift, Berechnung und Ehrgeiz fiber 
alle andern Zriebfedern den Sieg davontragen. Wir fehen 
ihn — frei von jedem Gemiffensfcrupel, frei von jeber politi- 
ſchen Leidenſchaft, auf dem beften Fuße mit den Siegern, ohne 
den Befiegten feindlich zu fein, losgelöſt von allen großberzigen 
Illufionen von ehemals — da8 unbegrenzte Feld der Thätig⸗ 
feit überſchauen, da® fih ihm öffnet. Der Auserwählte des 
Ruhms hat nur nod einen Rathgeber: feinen unerfättlicher 





u ⸗ 


Zur Geſchichte 


Ehrgeiz; nur noch ein Geſetz: ſein eigenes Ideal von Größe 
und was er ſelbſt „die Umſtünde“ zu nennen pflegt, das heißt 
bie vollendeten Thatſachen, das Glück, den Erfolg. Er wird 
fih, feine Gelegenheit entgehen laſſen, das Glück zu ergreifen. 
Und die Gelegenheit fam nad kurzer Zeit, glänzender als er 
erwarten konnte. 


Mit der Belagerung von Zoulon beginnt der Name 
Napoleon Bonaparte fit) dem Gedächtniß der Menfchen 
einzuprägen; und bei ihrem erften Erfcheinen auf dem 
Schauplatze der Gejchichte ift die Geftalt diefes aufer- 
gewöhnliden Menfchen von Bildern des Schredens und 
Entjegend umgeben. Napoleon wurde bald ein intimer 
Freund des jüngern Robespierre; er entledigte fich aber 
ſchnell der Protection der äußerſten Demokratie, als 
er fand, daß ihm daraus mehr Gefahren als Vortheile 
erwuchfen. Er trennte fich von biefer Partei, wie ex 
fi) von der Paoli's getrennt, und zwar aus gleichen 
Gründen. 

Der Verfaſſer jchildert (Bd. 1, Kap. 2) Napoleon’s 
Laufbahn in der itafienifchen Armee, bis er, misvergnügt 
über die Behandlung von feiten des Depntirten Aubry, der an 
Carnot's Stelle da8 Departement des Kriegs übernommen 
hatte, mit feinen Adjutanten Yunot und Marmont, bie 
ihm beide, durch fein geiftiges Webergewicht beherrſcht, 
leidenſchaftlich zugethan waren und feinem Stern bereits 
unbedingt vertrauten, nad) Paris ging, um dafelbft im 
Bunde mit Barras in den erflen Tagen bes October 
1795 die Sectionen der parifer Nationalgardiften nieder- 
gulämeitern. Der 13. Bendemiaire lieferte aber ben 

eweis, von welchen Gewicht der Degen eines Soldaten 
zu fein vermochte; und fo gemöhnte der Unglüdstag die 
Regierung daran, auf die Armee zu zählen, und bie 
Armee, ſich der Regierung zu bedienen — mit einem Wort, 
er bereitete der Militärherrfchaft die Wege. 

Um fi) von der gefährlichen Nähe eines hochftreben- 
den ehrgeizigen Menfchen zu befreien, übertrug das vom 
Convent gewählte Directorium Napoleon den Oberbefehl 
ber italienischen Arme. Er hätte aber, wie Lanfrey 
meint, dennoch Fein fo ſchnelles Avancement gemacht, 
wäre nicht feine Heirath mit Joſephine Beauharnais 
Binzugelommen. 

Napoleon hat ſelbſt erzählt, in welcher Weife er Frau 
von Beauharnais Tennen lernte. Einige Tage nach ber 
Entwaffnung der Sectionen erfchien ein Knabe von 10— 
12 Yahren im Bureau des Generalftabes und bat um 
den Degen feines Vaters, eines alten Generals der Ne- 
publik, der auf dem Schaffot geftorben war. Diefer Knabe 
war Eugen von Beauharnais. Durd) feine Thränen ges 
rührt, ließ ihm ber General den Degen geben und empfing 
am nächſten Morgen den Beſuch und Danf der Frau 
von Beauharnais, die er nur dem Namen nad) kannte, 
obſchon fie die intime Freundin feines Protector Barras 
war. Ueber dies Verhältniß, fowie über den Antheil, 
den Barras an den Entfchlüfjen der Frau von Beaubarnais 
gehabt, beobachtete Napoleon ſelbſt ſtets ein tiefes Still- 
Schweigen; die Thatſache fteht jedoch feft und wird durch 
viele Zengniffe aus. jener Zeit ſowie durch Joſephine felbft 
beftätigt, daß fte, die leichtfinnig unbekiimmerte Creolin, 
fich vielleicht nie zu dieſer Heirath entfchloffen haben würde, 
hätte nicht Barras den Oberbefehl über die italienifche 

1870. 3. 





537 


Armee als Hochzeitgefchent verfproden. Sie ſchrieb furz 
vor ihrer Verheirathung: 

Barras verfichert, daß er dem General, wenn ich ihn hei⸗ 
vathe, den Oberbefehl über bie italienifche Armee verjchaffen 
wird. Als ich geftern mit Bonaparte von dieler Beglinftigung 
ſprach, die, noch ehe fie ihm gewährt iſt, das Murren feiner 
Waffenbrüder erregt, fagte er: Glaubt man etwa, daß ich der 
Protection bedarf, um vorwärts zu fommen? Eines Tags 
werben fie fi) alle glücklich ſchätzen, wenn ich ihnen die mei- 
nige gewähre. Ich habe meinen Degen an der Seite, und mit 
feiner Hülfe gedente ich es weit zu bringen. 

Daß die rauen auch zu jener Zeit gar viel in Paris 
vermochten, und daß Napoleon dies fehr wohl erkannte, 
geht zur Genüge ans einem Briefe hervor, ben er am 
12. Juli 1795 an feinen Bruder Joſeph fchrieb und in 
welchem folgende Stelle vorlommt: 

Die Frauen find überall, in ben Theatern, auf den Pro⸗ 
menaden, in den Bibliotheken. Paris ift der einzige Ort der 
Erde, wo die Frauen verdienen, das Steuerruder zu führen. 
Die Männer find aber aud) völlig in fie vernarrt, denken nur 
an fie, leben nur für fie und duch fie. Eine Frau braucht 
nur ſechs Monate in Paris zu leben, um zu wiſſen, was ihr 
zulommt und wie weit fi) ihre Macht erfiredk. 

Es ift übrigens befannt und auch Lanfrey betätigt 
es, daß Napoleon Joſephine von Beauharnais mit glüs 
hender Leidenfchaft Tiebte, vielleicht die einzige, bie je fein 
Herz erregte. Diefe Liebe wurbe indeffen auch noch durch 
feinen Ehrgeiz genährt, da er fehr wohl wußte, daß bie 
Heirath mit Frau von Beauharnais ihm einerfeits die 
Stellung gab, die er am meiften erfehnte, und ihm an⸗ 
dererſeits einen Geſellſchaftskreis eröffnete, der fein Ent- 
gegenfommen bisher mit dem größten Mistrauen auf- 
genommen hatte. Als aber feine Liebe und fein Ehrgeiz 
in Conflict famen, zögerte er nicht allzu lange, Joſephine 
zu verſtoßen; wie gemein, falſch und Hinterliftig Napoleon 
fi) wiederholt der harmloſen Joſephine gegenüber benahm, 
erzählt Jules Barni in dem gleichfall oben angeführten 
Buche „Napoleon I. und fein Gejchichtfchreiber Thiers“. 
Die Wahrheit Hat der Amerifaner Channing in feinen 
„Remarks on Napoleon Bonaparte” („Works”, Bofton 
1843, I, 117) mit treffenden Worten ansgefprochen: 

Die Liebe zur Macht nnd Herrſchaft nahm fein ganzes 
Weſen dergeftalt in Anſpruch, daß feine andere Neigung oder 
Leidenfchaft, keine Yamilienliebe, keine Privatfreundfchaft, Keine 
menſchliche Sympathie, keine menſchliche Schwäche in feiner 
Seele neben der Leidenfchaft zu Herrfchen und dem Wunſche, 
feine Macht in glänzender, geräufchvoller Weife fundzugeben, 
Play Hatte, daß vor dieſer Leidenfchaft und diefem Wunfche 
Ehre, Liebe und Menſchlichkeit für ihn gleichjam ins Nichte 
jerrannen. 

Am 23. Februar 1796 wurde Napoleon zum Ober- 
befehlshaber der italienifchen Armee ernannt, am 9. März 
deſſelben Jahres feierte er feine Hochzeit, und am 26. März 
erreichte er Nizza, wo fich damals das Hauptquartier der 
italienifehen Armee befand. 

Der uns zugemefjene Raum verbietet ung, den reichen 
Inhalt der einzelnen Kapitel genauer anzugeben; unfere 
Aufgabe ift es, auf die charakteriftiiche Manier, bie 
gründliche Kritik und die Hiftorifche Treue aufmerkfam 
zu machen, womit Lanfrey den modernen Cäſar auf 
defien blutigem und fchwindelndem Lebensgange verfolgt. 5 
Hierzu genügt es, einige der wefentlichflien Punkte 
hervorzuheben. 


NRapoleon’s 1. 


68 





. 


538 Zur Geſchichte 


Die Proclamation, durch welche Napoleon ber fran- 
zoſiſchen Armee die Eröffnung des Feldzugs in Italien 
anzeigte, war fern von dem Geifte, der biöher die repu- 
biifanifchen Heere beſeelt Hatte. Der Krieg mußte fi 
durch den Krieg ernähren; die unebelften Begierden dien» 
ten al® Sporm zur Tapferkeit. An die Stelle ber 
Principien trat der BVortheil, die Gewalt an die Stelle 
des Rechts. Der Freiheitskrieg wurde zum Eroberungs- 
krieg, wovon bie umbermeidliche Folge war, daß das 
Uebergewicht in der Republit dem militäriichen Elemente 
anheimfiel. 

Die Reihtgämer, welde die Mehrzahl der franzöfiicen 
Generale ſich in Italien erwarben, waren da® Unterpfand der 
Herrſchaft, die Napoleon fiber fie ausliben wollte. Daß Na 
poleon felbft inmitten fo vieler käuflichen Seelen unbefiechlich 
blieb, geihah mehr aus Stolz und Hug berechnendem Chrgeiz 
als aus Tugend. 

In Bd. 1, Kap. 3—7 ſchildert Lanfrey die Unter 
werfung Piemonts und bie Eroberung ber Lombardei, bie 
Berlegung der Neutralität Venedig, Wurmſer's Nieder- 
Inge, die Gründung der Cispadanifchen Republik, die 
Schlachten bei Arcole, Rivoli, Tolentino u. |. w., bie 
Unierhandlungen mit Neapel, Rom und andern italienifchen 
Staaten, ben Präliminarfrieden von Leoben u. f. w. 
Ueberall zeigte Napoleon als fühner Soldat und uner- 
ſchrodener Feldherr flaunenswerthe Fähigkeiten, nicht wer 
niger aber offenbarte er fi als einen gewiſſenloſen 
Heuchler, einen durchtriebenen Intrignanten und einen 
Menfchen, der vor feinem Mittel zurüdicredt, ſobald 
dafielbe zur Befriedigung feines Ehrgeizes dient. „Die 
Befreier der Völker“, wie ſich bie Franzoſen den übrigen 
Nationen angekiindigt Hatten, wurden unter Napoleon in 
Htalien die gewaltthätigften Eroberer und gemeinften 
Räuber; und die Herren vom Directorium in Paris, den 
elenden Barras an der Spike, ließen ben ehrgeizigen 
General nit nur gewähren, fondern beflärkten ihn, 
da er fie mit einem Goldregen überſchüttete, in bem 
verruchten Plünderungsfuftem, das er Stalien gegenüber 


verfolgte, 
ie jene Fürften von Gottes Gnaden — fagt unfer Autor, 
vom tiefften fittlichen Unwillen erregt —, die fie im ihren 


Decreten fo oft gebrandmarkt Hatten, fahen fie in Italien nur 
nod einen nad Möglichkeit auszubentenden Meierhof und in 
den Stalienern ein ihrer Willfür preisgegebenes, ſteuerpflichtiges, 
zu Srondienften herabgewürdigtes Bolt, 

Mit Recht tadelt unfer Autor (Bb. 1, Kap. 8) das 
verrätherifche Verfahren Napoleon’8 gegen Venedig im 
Mai 1797. Ohne einen befondern Drud von außen 
hatte er bie neue, mad) feinem eigenen Rath anf den 
Ruinen der venetianifchen Ariftofratie gegründete, durch 
einen von ihm felbft unterzeichneten Vertrag garantirte 
Republik, welder er täglich Verfiherungen feines Schuges 
fandte, freiwillig und ohne den geringften Verſuch, fie zu 
vertheidigen, an Defterreich ausgeliefert. Und nicht zu 
frieden, fie dem Haufe Habsburg ausgeliefert zu haben, 
bereicherte er ſich auch an ihrem Eigenthum und verließ 
fie nicht eher, als bis fie ansgebentet und zu Grunde 
gerichtet war. Bon ſolcher Art war die „Erldſerrolle“, 
die Napoleon und feine Soldaten in Italien fpielten. 

Den politiſchen Umtrieben, welde um diefe Zeit und 
etwas fpäter in Paris ftattfanden, widmete Napoleon die 
hochſte Aufmerkfamteit, ſoweit feine perfönlichen Interefien 





Napoleon’s L 


dadurch berührt wurden. Gein Ehrgeiz war bereits jo 
jewachjen, daß ihm die Rückkehr ber Bourbonen mit ber 
akanft, die er für fich felbft erträumte, unvereinbar ſchien. 
Die conftitutionele Partei flößte ihm faft ebenfo ſiarke 
Abneigung ein, denn ihr Sieg hätte die freie Berfafjung 
befeftigt und die Militärdietatur unmöglich gemacht. Auch 
die Mitglieder des Divectoriums haßte und veradhtete ber 
General von Grund der Seele, aber er leitete fie nad) 
Gefallen und legte ihnen ein Doch auf, das fo leicht 
feine andere Regierung ertragen hätte; er war überzeugt, 
daß ihn bie öffentliche Meinung bereits über fie ftellte, 
und daß er eines Tags berufen fein würde, ihre Erb⸗ 
{haft anzutreten. 

Der 18. Sructidor des Jahres V (4. Sept. 1797), 
an welchem bie Directorialregierung jenen Stagtsſtreich 
beging, welcher die von jo vielen Veränderungen ermübete, 
von den verjchiebenften Parteien jo oft betrogene und 
deshalb ihrer überbrüßige franzöfifche Nation immer mehr 
demoralifirte, war, wie Sanfeen treffend bemerkt, der bei= 
nahe augenblidlich eintretende Gegenfchlag gegen bie heim- 
tüdifhen Rechtsverletzungen, die Napoleon in Benebig 
begangen Hatte. Die Proteftationen des Gefeßgebenden 
Körpers riefen die drohenden Kundgebungen Bonaparte’s 
und feiner Soldaten hervor; bie Aufregung ber Armeen 
gab dem Directorium die Waffen in bie Hände, ohne 
welche e8 ihm nie gelungen wäre, den Sieg liber die 
Näthe davonzutragen, und als gerechte Sühne ſah 
Frankreich feine Freiheit unter demfelben Schlage fallen, 
der die Unabhängigkeit Venedigs vernichtet. Das Heer 
hatte ben 18. Fructidor gemacht, fomit war die Militär 
dietatur vorbereitet. Wir Können unferm Autor nur 
beiftimmen, wenn er mit Bezug auf ben 18. Fruc- 
tidor fagt: \ 

Die Hauptmaht des republikaniſchen Regime Hatte bie 
dahin in der Anfrichtigfeit feines Fanatismus gelegen. Un dem 
Tage, wo es verrieth, daß es nicht mehr am ſich felbft glaubte, 
und feirie eigenen Grundfäge verhöhnte, indem es den National» 
willen offen mit Füßen trat, verlor es als Princip feinen ganzen 
Werth und exiſtirie nur noch durch die Intereffen, die es ver- 
trat oder unterflügte. Jede Macht, welde biefen Jutereſſen 
eine genligende Schugwehr bot, konnte vom jegt am einer guten 
Aufnahme ſicher fein. Hätte fi das Directorium, flatt jo viele 
Unfgulbige zu verbannen und fih über das Gele zu fiellen, 
damit begnügt, die royaliſtiſche Verſchwörung niedergumerfen, 
indem es biejelbe, ale Verbündete des Anslandes, dem Hab 
und der Beratung preisgab; hätte es ſich zw gleicher Zeit 
willig finden laffen, fomeit es fih mit der Verfaſſüng vertrug, 
eine Bolitif zu verfolgen, bie erwiefenermaßen den Wünjhen 
des größten Theils der Bürger entiprah, fo würde ſowol 
feine moralifhe Herrſchaft wie die allgemeine freiheit im 
biefer Krifis erflarkt fein, auſtatt im derfelben zu Grimde 
zu gehen. 

Nachdem Lanfrey (Bb. 1, Kap. 9) den Frieden vom 
Campo«Formio berieben, ſchildert er im zehnten und 
elften Kapitel die Expedition nad) Aegypten und den Feld» 
zug in Shrien. Der Friede von Campo«Formio über- 
ließ den Defterreichern, deren Kaifer ſich durch einen ge- 
heimen Artikel verpflichtet hatte, alles aufzubieten um 
Frankreich die Mheingrenze zu verfchaffen, befanntlich: 
Venedig, Iftrien, Dalmatien und alles venetianifche Ge» 
biet jenfeit der Etſch. Der Er-Doge Manin follte im 
Namen feiner Mitbürger den Eid leiften; mit zerriffenem 
Herzen verftand er fi dazu. Aber im Augenblid als 





Stizzen und Novellen von Frauenhand. 


er vortrat, um die verhängnißvolle Formel auszuſprechen, 
fah man ihn fchwanken, und von Schmerz und Scham 
überwältigt ftürgte er, wie vom Blitz getroffen, leblos 
zu Boden. So unterlag bie Republit Benedig nad) lan- 
ger, ruhmvoller Eriftenz; allein das venetianifche Bolt 
ftarb nicht mit ihr, es dulbete und litt lange, bis das 
Yahr 1866 das Berbrechen fühnte, welches das Jahr 
1797 begehen ſah. 

Weber Lanfrey noch Barni vermögen bie Expedition 
nad Aegypten und den Feldzug in Syrien anders an- 
zufehen als ein fluchwürbdiges Unternehmen, nur dazu 
beftimmt, dem Piebeftal von Bonaparte's Ruhm eine neue 
Stufe hinzuzufügen. Der Kern diefes Unternehmens, 
welches fo lange die Augen ber Welt gefefjelt unb ge- 
blendet hat, war der Tod und das Elend unzähliger bra- 
ver Menſchen. Napoleon wollte England einen empfind⸗ 


539 


lichen Schlag verfegen, indem er, um feinen eigenen Aus- 
drud zu gebrauden, von Aegypten und Syrien aus 
„Europa von hinten zu paden‘ ſuchte. Allein fein wag- 
halſiges Unternehmen mislang, und er verließ feine Sols 
baten, bie er tolllühn ins Verderben geführt, in heim- 
licher und feiger Weife. Sowol Lanfrey wie Barni mei- 
nen, daß es feine Pflicht geweſen fei, bei feinem unglüd- 
lichen Heere bis zum legten Augenblid auszuharren. 
Allein die Pflicht war niemal® der Regulator von Na⸗ 
poleon’s Handlungen. Er nahm für fi) den Ruhm und 
überließ dem edeln Kleber die Gefahren und bie Berant- 
wortlichleit. Und das Schidfal hatte fiir den einen ben 
Dolch des Fanatikers, für den andern einen glänzenden 
Thron in Bereitfchaft. Rudolf Wochn. 


(Der Beſchluß folgt in ber nächſten Nummer.) 


Skizzen und Novellen von Frauenhand. 


1. Marimus Caſus, ber Oberlehrer von Druntenheim. Social⸗ 
padagogiſche Cartons von Jeanne Maria von Gayette— 
Georgens. Berlin, Frank. 1869. 8. 1 Thlr. 

2. Die Nebeliheuhe. Bon Marimns Caſus, Oberlehrer 
zu Druntenheim. Erſte Heliade. Berlin, Frank. 1869. 
Gr. 16. 5 Nur. 

. Novellenftrauß. Zehnter Band: Sonnenblume von Amely 
Bölte. upue, Rötſchle. 1869. 8. 1Thlr. 

Gertrud von Stein. Erzählung von Clara Ulrici. Ber⸗ 

lin, Sanfte. 1870. 8. 20 Nor. 

. Novellenſtrauß. Neunter Band: Stiefmütterden von Baula 

Herbſt. Leipzig, Rötfchle. 1869. 8. 1 Thlr. 

. Edle Frauen. Skizzen von Augelika von Lagerfiröm. 
Gotha, 5. A. Pertbes. 1870. 8. 28 Nor. 


Man bat bemerken wollen, daß Frauen keinen Humor 
befiten, und in ber That zeigten ihn bigjetzt die fchrift- 
ftellernden Frauen felten. Mangel an Objectivität foll 
der Grund fein. Gayette-Georgens ift indeß eine 
Sumoriftin, ihr „Maximus Caſus“ (Nr. 1) hat viele Kenn- 
zeichen bes Wappens „der lächelnden Thräne“. Wir möch⸗ 
ten diefe Schrift mit den Worten Rahel’, die dieſe an 
einen Freund fchrieb, als die erften Artikel von Börne 
erfchienen, einführen: „Lejen Sie die Zeitfchrift von Börne, 
Sie werben fi) gefund lachen.” In der That hat das 
genannte Buch fo viel Wig, fo richtigen Menfchenverftand, 
fo reihen Humor, daß wir die Lektüre deſſelben allen 
Freunden gefunder geiftiger Nahrung von Herzen gönnen. 

„Socialpädagogifche Cartons“ nennt die Berfafferin 
das Buch; diefe originelle Bezeichnung entfpricht dem In⸗ 
halt. Das Berhältniß von Kirche und Schule, die Re- 
form der Bollsfchule, die Erziehung im allgemeinen, die 
Sramenemancipationsfrage wird nicht in falbungsvoll rüh⸗ 
render, auch nicht in abftract ernfter Weife, fondern mit 
künſtleriſchem Verſtändniß lebensvoll an ©eftalten ent- 
widelt. Frifhe und Unmittelbarkeit geben den trodenen 
Brineipien anmuthigen Reiz, bie Gebanlentiefe und Bil. 
dung der Berfafferin forgt dafür, daß auch bei den lächer⸗ 
lichſten Scenen und den Tomifchen Figuren der ſittliche 
Grundton nicht fehle. 

Caſus, der Zukunftsſchulmeiſter, hat zu ſeiner geiſti⸗ 
gen Ergänzung Clarifſa, die Fortſchrittspädagogin. Beide 


nn pw 


wollen gemeinfhaftlich die Reform der Erziehung in ber 
Bolksſchule beginnen. Doc, Paftor Krälelmeier, Sabine, 
des Caſus eheleiblihe Kran, früher Wirthichafterin des 
genannten geiftlihen Herrn, das wadelige mit Einſturz 
drohende Schulhaus ftellen ſich als Hinberniffe entgegen. 
Aber Paſtor Kräfelmeier ftirbt; das Schulhaus ftürzt 
unter dem Knall ber erften und einzigen Champagner- 
flafhe, die e8 je in feinen Mauern gehabt, zuſammen; 
Sabine, die aus des Paſtors Keller biefe Flafche mit⸗ 
gebracht, ftürzt gleichfalls, betäubt von dem Eindrud ber 
Berfehwendung des Ehegatten, zuſammen unb wird unter 
dem Schutte des Hanfes begraben. Der Denfiprud, den 
Caſus aus der Ehe mit diefer „Praktiſchen“ gewonnen, 
lautet: „Fluch allen Frauen, die fieden und fchmieden 
glühendes Eifen ftatt häuslichen Frieden, und mit ihrer 
Tugend, Ehrbarkeit und Würde find eine glühende eiferne 
Bürde. Nur Fein von ſich felbft begeifterter Fleiß, ber 
nicht8 von dem Bedürfniß des Nächften weiß.“ 

Caſus und Elarifja wandern von Druntenheim nad) 
Drübenheim, wo Auerbach's Höhe fleißig von den Mit⸗ 
gliedern der Frauendereine beſucht wird; „bie Damen 
fommen mit Irma⸗Shawls, um fie auf freiem Felde unter- 
breiten und fi) malerifch ſchwindſüchtig daranf hinſtrecken 
zu können“. 

Sehr draftiich find die Bezeichnungen ber Bereine: 
1) „Zum blauen Strumpfband”; 2) „Zu ben gebulbigen 
Länımern; 3) „Zu den heiligen Bräuten”; 4) „Zu den 
bimmlifchen Rofenflechterinnen”. 

Es gelingt Clarifja durch ihre Beredſamkeit, einigen 
ihre verfchrobenen Köpfe zurechtzufegen und Helferinnen 
für bie Reformen ber Vollserziehung zu gewinnen. Die 
Zufunftsfchule beginnt fehr Hoffnungsreih, um fchnell 
durch Konfiftorialbefchluß zu enden. Die Keformer ziehen 
fort aus dem Lande der bevormunbenben Firchlichen und 
Staatögewalt und gehen dorthin, „wo in heller Morgen⸗ 
pracht ein freies Land (Amerika) ihnen winft, wo ſtark, 
wer Kopf und Hand zur Arbeit mitgebradt.‘ 

Frau von Gayette-Georgens ift ſprachgewandt in Vers 
und Profa; vielleicht wäre ihr in diefer Beziehung etwas 

68 * 


u 2 ri — — 


540 


Beſchränkung anzuempfehlen, denn „Würze darf nicht 
Speiſe fein”. Gewiß aber verdient ihr Bud die volle 
Beachtung auch des männlichen Publikums. Das Ein- 
gangswort fei zum Schluß als ein berechtigtes anerkannt: 

Allen ; bie fi) aufwärts ringen, 

Nicht den Bortheil nur erfchwingen, 

Iſt dies offene Buch geweiht, 

Als ein Kind der ueuen Zeit. 

„Die Nebelfcheuhe von Marimus Caſus“ (Nr. 2) 
ift eine Yortfegung, aber Fein Fortfchritt auf dem fo glüd- 
lich betretenen Pfade; mit Ausnahme des Schlufles, wo 
die Effecthafcherei in modernen Romanen geiftreich gezeichnet 
wird, rechtfertigt die „Nebeljcheuche” nicht ihren Namen; 
fie verfcheucht feinen Nebel, fie erhellt fein Dunkel: fie 
befpöttelt in aphoriftifcher Weife die Mängel der Erzie- 
hung, Bildung und der Gefelligfeit; die Kleidernarren und 
Närrinnen mit Frad und Klemmer, mit Chignon und 
Schleppe werben gegeifelt, aber weder Gegenftand nod) 
Behandlung flößen ein tieferes Intereſſe ein. 

Ameln Bölte's „Sonnenblume (Nr. 3) ift eine 
Novelle mit zwei Heldinnen. Mutter und Tochter find 
beide liebreizend. Die Mutter, Frau von Tellenberg, gilt 
als Witwe, und der Hausarzt, Dr. Kamftein, bewirbt ſich 
um fie. Doc fie hat ſich von ihrem Manne nur durd) 
eiferfüchtige Empfinbelei getrennt, bewahrt ihm aber im 
Herzen treue Xiebe und weift daher den Antrag Ram⸗ 
ftein’8 zurüd. Die Tochter Viola langweilt fid) bei dem 
Stilleben im mütterlihen Haufe, macht mit dem Bruder 
und Dr. Ramftein eine Reife in die Sächſiſche Schweiz, 
Iernt dort bie berühmte Slavierfpielerin Szawardy und 
Arthur Lincoln, einen jungen Amerifaner, Tennen. Diefe 
Belanntfchaften erregen einen Sturm von Gefühlen in 
Biola’8 Bruft. Sie will Künftlerin werden. Die üblichen 
Emancipationsphrafen müffen herhalten, um ben Wunfd), 
nad) Paris zu ihrer Ausbildung zu gehen, zu unterftügen; 
denn Arthur Lincoln geht auch nad) Paris. Die Mutter 
ift nicht gewillt, diefen Wunfch zu erfüllen; doc fchnell 
Löft fi alles glüdlih genug. Arthur Lincoln ift der 
Pflegefohn von Biola’8 Vater. Diefer war nad) der Tren- 
nung von feiner Frau nad Amerika gegangen und ift jegt 
glücklich zurüdgelehrt. Dr. Ramſtein verfühnt Mann und 
Frau, und Arthur und Biola erreichen glüdlicd das Ziel 
der Novelle und ihrer Wünſche. Zweierlei ift uns bei 
diefer anmuthig gefchriebenen Erzählung aufgefallen. Amely 
Bölte fcheint eine Chiromanie zu haben; die Hand 
fpielt bei ihr eine unverantwortlich große Rolle. Hatte 
fie in einer frühern Novelle ein Judenmädchen wegen 
häßlicher Hände (bekanntlich Fein charakteriftifches Zeichen 
reicher Jüdinnen) bis zur Verzweiflung, ja bis zum Selbſt⸗ 
morb (wiederum gar nicht charafteriftifch für die Töchter 
Ifrael's) getrieben, jo machen die weißen Hände von 
Mutter und Tochter fich in dieſer Novelle gar zu wichtig. 
Das zweite ift die Ausbeutung des modernen ‘Themas 
von Bethätigung geiftiger Kräfte bei der Yrau. Wozu 
Tendenzen aufftelen, die entweder mit fittlihem Ernſt 
oder gar nicht zu behandeln find? Frau von Hillern hat 
das Mögliche in ber Verfälfchung der Tendenz geleiftet; 
es iſt nicht nöthig, ihr nachzuhinken. Biola ift ein ganz 
gutes Mädchen und kann einfach hangen und bangen in 
ſchwebender Bein, bis der Liebhaber erjcheint; muß fie 


Sfizzen und Novellen von Frauenhand. 


denn Sonnenblume betitelt werden, um durch einen fal 
hen Titel falſche Empfindungen zu deden oder umgekehrt? 

„Gertrud von Stein” von Clara Ulrici (Rr. 4) 
ift eine Xendenznovelle und war 1868 in der „Kölniſchen 
Zeitung“ ohne Autornamen erfchienen. Ob die Tendenz 
eine Sünde gegen den heiligen Geift der Poeſie fei, dar- 
über find die Gelehrten uneinig; wir halten e8 jedenfalls 
für einen Vorzug, wenn der Dichter diefe Sünde offen 
begeht und Fein DVerfteden mit ihr fpielt und wenn er 
überhaupt nicht mit ihr — fpielt. Dieſen Borzug hat 
die genannte Erzählung; fie ift tendenziös in Bezug af 
die Frage nad) Stellung und Beruf der Fran; fie fi 
auch in gewiflem Sinne politiſch tendenzids. Das dahr 
1848 ift die Zeit, innerhalb deren fie fich bewegt, eine 
preußifche Landrathsfamilie der Boden, dem fie entnom- 
men. Gertrud und ihr Vater find Vertreter der beiden Ten. 
denzen. Der legtere wird in die conftituirende Verſamm⸗ 
lung nach Berlin gewählt, und es vollzieht fich in ihm 
die Wandlung vom Royaliſten zum Demokraten, damals 
unverföhnliche Gegenfäge. Er verzichtet auf feine De 
amtenftellung, geht ald Abgeordneter nad Frankfurt a. R. 
und muß ſchließlich in die Verbannung : 

Das Baterland hatte damals nicht Raum für feine beſten 
Männer. Alles Mark und alle Kraft einer Generation wurde 
der Fremde preisgegeben. Eine beffere Zeit bricht an für das 
aufftrebende Geſchlecht. Kühn erhebt der Genius des Barı- 
landes wieder fein Haupt, umd unter feinem ſtolzen vanjchenden 
Fittich reiht IH Stamm an Stamm zu feſtem Bunde, 

Was jene edeln Kämpfer erftxebt, „halte die Jugend 
heilig: das Vaterland!” Wie hier das fittliche Pathos der 
Vaterlandsliebe ſich ausfpricht, fo ſpricht ſich in Gertrud 
die Wandlung von dem unbewußten, träumerifchen Leben 
eined finnigen Mädchens zur bewußten Yungfrau ans: 

So mögen die lieblihen Kinder der Natur, die hofde Welt 
der Blumen, fi träumerifchh wiegen im Sonnenglan;, ihnen 
droht fein Erwachen. Das Leben des Menſchen ift fein @arten, 
wo zarte Hänbe jedes Pflänzchen forgfam ſchützen vor rauber 
Berührung. Das ift ein vielverfchlungenes Labyrinth, wo «& 
beißt, fich ſelbſt einen Pfad fischen mit fcharfem Blid und ſich 
einen feften Punkt erobern für ben eigenen Fuß. 

Gertrud ergreift zuerft das Nächſte: fie wird Eizie 
berin, und zwar zieht fie als Demolcatentochter in em 
polnifhes Haus, in bie Molewski'ſche Familie. Bald 
vertaufcht fie diefen Beruf, der ihr feine Befriedigung 
gewährt, mit dem ärztlichen, bei dem ſie ihr Bruder, ein 
Arzt, unterftügt. Diefer oder vielmehr die Verfaſſerin 
Öffnet ihr die Hörfäle der Univerfität, und „kein Spott 
beftet fi) an ihre Werfen“. Nach vollendeten Studien 
übernimmt Gertrud in ihres Bruders Anftalt für Heil 
gymnaſtik die Frauen und Kinder und findet im dieſer 
Thätigkeit einem befriebigenden Abſchluß ihres Strebens. 
Im Anſchluß an diefe Anftalt bat die Frau des Dr. Stein 
einen großen Garten, wo unter ihrer Leitung eine beden⸗ 
tende Anzahl junger Mädchen Kunftgärtnerei erlergen, 
die einen zum Vergnügen, die andern um fi ein 
Erwerb zu begründen. Auch bier ift die Abfiht Hay 
die weibliche Jugend auf naturgemäße Befchäftigungen, 
hinzuweifen. i 

Wer aber fürchtet, daß bei all diefen Tendenzen dei 
Erzählung das fo unentbehrliche und von Hegel als Ca⸗ 
price auf das Individuum bezeichnete Motiv der Liebe 


fehlt, dem theilen wir zur Beruhigung mit, daß Gertrud 


— 


Pi 


Feuilleton. 


als echtes deutjches, finniges Mägdlein eine fehr tendenz- 
Iofe Liebe zu einem Aflefior von Rödern fühlte, der aber 
fi von ihr zurückzog, weil er durch Beziehungen zu einem 
Demokratenhaufe feine Carriere gefährdet ſah, und daß 
auch die Liebesgefchichte des Dr, Stein mit der kleinen 
Kunftgärtuerin, feiner zufünftigen Frau, eine ganz aller- 
liebfte Idylle ift. 

„Stiefmütterchen” von Baula Herbft (Nr. 5) macht 
ung mit den Liebes- und Leidensgefchichten fowie einigen 
Ehefchliegungen von Sünglingen und Yungfrauen befannt, 
die den Zweck haben, müßige Stunden angenehm zu ver- 
kürzen. Das anfpruchslofe Weſen der Erzählung, bie 
der Anmuth der Darftellung nicht entbehrt, fordert feine 
Kritik heraus. 

Das letztere läßt fih aud von den „Edeln Frauen‘ 
ber Angelika von Lagerſtröm (Nr. 6) jagen. Dabei 
haben fie noch den Borzug, als wirkliche Frauen der 
Geſchichte anzugehören; fo ift die Bekanntſchaft mit ihnen 
eine Bereicherung. Es ift intereffant, zu erfahren, daß 
Marie Edgeworth für Walter Scott eine Art von Bor- 
bild in Bezug auf den Hiftorifchen Roman war, fodaf er 
in der VBorrede zu feinem „Waverley“ fagt, „er fei nicht 
fo vermefien, zu glauben, daß er den reihen Humor, die 
Zartheit und den bewundernswerthen Takt erreichen werde, 
der Miß Edgeworth's Werke durchzieht”. 

Charlotte Bronte'8 Tebensgejchichte, die unter dem Na- 
men Currer Bell „Jane Eyre“ gefchrieben, erwedt ein war- 


541 


mes Mitgefühl: es ift eine Leidensgefchichte in vieler Be⸗ 
jtehung. 

Eine refpectable Zahl italienifcher gelehrter Frauen, 
namentlich aus Bologna, werden ung vorgeführt. Laura 
Baſſi⸗Verrati, 1711 geboren, 1778 geftorben. Sie war 
glüdlihe Gattin und Mutter und Docentin für experi« 
mentale Phyfl. Donna Morandi war 1758 Profeffor 
der Anatomie in Bologna. Sie wird als Erfinderin und 
Berbefferin anatomifcher, in Wachs geformter Präparate 
gerühmt. Clotilde Tamborini wurde 1794 Profeffor der 
griehifhen Sprache. Marie Gaetana Agnefi war 19 
Jahre alt, als fie ihre philofophifchen Propofitionen her⸗ 
ausgab, einige zwanzig, als fie ihre Abhandlung über 
Kegelfchnitte und ihre analytifchen Grundfäge fchrieb. 

Das Buch ſchließt mit der Biographie von Florence 
Nightingale, die buch ihre aufopferungsvolle und ener⸗ 
gifche Thätigkeit im Krimkriege allgemeine Berühmtheit er⸗ 
langt Bat. 

Wir möchten die ruhige, objective Darftellung biefer 
biographifchen Skizzen als nachahmenswerthes Beifpiel für 
Ichriftftelernde rauen hinftellen, da leider bei uns in 
Dentfchland Mangel an Originalität, Mangel an wirk⸗ 
licher Leidenschaft durch Bizarrerien, durch unnatürliche 
und deshalb unſchöne Konflicte erfegt werden fol. Wem 
aber die Gabe der Phantafie verfagt ift, der fafle die 
wirklichen Berhältniffe an und fuche „die rechte Lebens⸗ 
arbeit“, wie fte in den „Edeln Frauen fi ausfpridt. 


Fenilleton. 


Ein dramatiſches Driginalgenie. 

Der Herausgeber d. BI. bat im Berlag von Philipp 
Reclam jun. (Leipzig 1870) auf Anregung diefer Berlags- 
buchhandlung „Ehriffian. Dietrich Grabbe’s ſämmtliche 
Werke“ in einer erſten zweibändigen Geſammtausgabe ver⸗ 
öffentlicht und mit einer läugern Einleitung, Biographie und 
Charakteriſtik diefes oft genannten, aber in feinen Werken 
Yet pegenwürtigen Generation faft unbefannten Bramatilers 
verjehen. 

Man dürfte geneigt fein, Grabbe zu den fonderbaren Käuzen 
zu rechnen, die es nach dem Ausſpruch eines großen Dichters 
„geben muß‘ und in jeder Nationalliteratur gibt, Spott- 
geburten von Dred und Feuer, von Eynismus und Genie, die 
durch ihre abfonderlichen Launen und burlest gigautifchen Ge⸗ 
dankenſprünge ein Ergögen hervorrufen, das wenig gemein hat 
mit den officiellen Wirkungen der Tragödie, wie fie feit den 
äfthetifchen Bulletins des Stagiriten als unerlaßlih für ein 
regelrechtes Kunſtwerk hervorgehoben werden. Wäre Grabbe 
blos fol ein dramaturgiſcher Alrobat, der topfüber von dem 
Kothurn auf den Sollus und von dem Sokkus auf den Kothurn 
doltigirt, jo würde man biefe Sprünge und Kunfifiläde der Ber- 
gefjenheit anheimgeben können. 

Doch Grabbe ift mehr als ein Sonderling und dramati- 
ſcher Turnkünſtler; er ift der hervorragende Bertreter eines 
Kraftftils, deffen Bedeutung für die Literatur fiets von neuem 
bervortritt, wenn die Seichtigkeit der überlieferten Phraje, ein 
ewiſſer Vers⸗ und Gedankentrab, ber fih wie eine ewige 
Prantpeit forterbt, eine Schablonendichtung fchafft, in welcher 
der Kortichritt der Literatur ftaguirt. Solche Epochen treten 
immer wieder ein; eine mit technifchem Geſchick ‚ausgeführte, 
aber gebantenarme Bühnendichtung ohne die Muskeln drama 
tifcher Kraft und Leidenjchaft, halb gallertartige Molluste, bald 
bunte leere Schale, bemädhtigt fih der Bühnen, wie dies auch 
zu Grabbe's Zeiten der Fall war. Dann aber, und aud für 
alle Zukunft, find Dramen wie die von Grabbe Wahrzeichen 


einer urfprünglichen Kraft, und ans diefem Duell kann auch die 
verirrte Bühnendichtung neue Verjüngung fchöpfen. 

Ferner hat Grabbe, wenn er auch, durch fein Förperliches 
Befinden und durch feine Lebensverhältniffe ſowie durch feinen 
Trotz gegenüber ben beftehenden Bühnenformen verhindert, kein 
ganzes Kunſtwerk gedichtet hat, einzelne Situationen von fo 
marfiger dramatifher Kraft und von einem fo großen Stil 
des dramatiſchen Pathos gefchaffen, daß er ſchon deshalb 
unter unfern Dramatilern immerhin eine der erften Stellen 
einnimmt. 

Bisher find Grabbe's Werke noch nit in einer Gefammt- 
ausgabe erfchienen. Ueber die Urfachen der fo frühen und be- 
fremdenden Verſchollenheit des Dichters fagt die Einleitung: 

„Zunächſt ift Grabbe mit feinen Dramen nicht auf die 
deutfche Bühne gedrungen; ein Dramatiker aber, deſſen Stilde 
nicht gegeben werden, füllt Leicht der Vergeffenheit von feiten 
des Bublitums anheim, fo nahdrüdiih auch die Titerarifche 
Kritik auf feine hervorragende Begabung aufmerffam machen 
mag. Auch Hat nad) Grabbe's Tod feiner unferer erperimen« 
tirenden Dramaturgen e8 übernommen, eins feiner Stüde für 
die Bühne einzurichten umd fo dem Genius des Dichters eine 
verfpätete Huldigung darzubringen, wie dies doch mehrfach bei 
den Dramen von Heinrih von Kleift geihah, welche aud 
während ihr Berfaffer Iebte nicht zur Auffihrung gelommen 
waren, nad feinem Zode aber, im verfchiedener Bearbeitung, 
die Runde über die Bühnen machten. Die meiften Dramen 
von Grabbe erweijen ſich allerdings noch fpröber gegen die 
Bühneneinrihtung als die Dramen von Kleift, und die letzten 
Schöpfungen des Dichters verzichten mit ihren großartigen 
Maffentableaur und Schlachtbildern gm auf eine Darftellung 
durch fcenifche Mittel. Der zweite Grund, daß Grabbe bereits 
zu einer literargeichichtlichen Größe geworden ift, deren Werke 
nur dem Namen nach belannt find, Tiegt aber darin, daß nie» 
mals eine Geſammtausgabe derjelben erſchienen ift, und daß 
derjenige, welcher dem Dichter näher treten will, fich die 


— 


542 Feuilleton. 


einzelnen Schriften deffelben mähfam zufammenfuchen muß, eine 
Arbeit, deren ſich nur der Literaturforicher in Deutfchland unter» 
zieht, während das größere Lefepublitum gegenwärtig durch be» 
queme und handliche Ausgaben verwöhnt ift, welche ihm felbft 
den Genuß der entiegenfien Literaturfchöpfungen in müheloſer 
Weiſe vermitteln. Hierzu kommt, dab liberhaupt nur zwei 
Dramen Grabbe's: «Don Juan und Yaufl» und «Napoleon 
oder bie hundert Tage» in zweiter Auflage und in einer den 
En er en ber Gegenwart entfprechenden buchhändleriſchen 
Geſtalt erfchienen find, während die meiften Werke des Dichter 
nur in einer faft ungenießbaren und nnaugänglichen Korn, nn- 
revidirt, entflellt durch zahlreiche Drudfehler vorliegen, durch 
Drnd und Papier ausgefchloffen von jedem Verkehr mit der 
eleganten Welt.‘ 

Ueber die Principien, welche den Herausgeber leiteten, 
heißt ee am Schluß der Kinleitung: 

„Wir glaubten durchaus eine vollfländige Ansgabe ſämmt⸗ 
fiher Werke Grabbe’s geben zu müflen, denn was die Kenut⸗ 
nißnahme derfelben mwefentlich beeiuträchtigte, war ja eben bie 
Mühe, die disjecti membra poõtae zufammenfuchen zu müflen, 
und zwar ans veralteten nud gefchmadiofen Druden, weldhe ben 
Anforderungen der Gegenwart nicht entiprechen. Es war noth- 
wendig, eine gleichartige Interpunktion und Orthographie ein- 
zuführen und namentlich die geſchmackloſe Häufung ber Gedanlen⸗ 
ftriche, fo harafterifitich fe für eine in kurzathmigen Lakonismen 
fih gefallende Dichtweiſe fein mag, etwas zu mindern. Die 
neuen bereits revidirten Auflagen von «Don Juan und Yaufl» 
und «Napoleon» gaben hierfür erwünſchte Anbaltspnulte. 
Aufgenommen babeu wir Überdies zum Abſchluß einer Folge, 
in welcher die größern Werke nad) chronologifcher Anordnung 
den Heinern Stüden, Luftipielen, Fragmenten voransgehen, 
noch die intereffante und Höhft zeitgemäße «Abhandlung fiber 
die Shaffpearomanie» und die Kritilen fiber «das Düffeldorfer 
Theatern. Denn fo ephemer Theaterkritifen an fih find, und 
fo vergefien bereits die Künſtler jein mögen, denen Grabbe feine 
Tritijche Theilnahme ſcheulte, jo bezeichnet doc) die Immermann'ſche 
Direction in Düffeldorf ein nicht unwichtiges Moment in der 
Entwidelung deutfhen Theaterwefens, und anbererfeits enthal⸗ 
ten die Grabbe'ſchen Krititen eine Fülle geiftreiher Gedanken 
und treffender Bemerkungen. So übergeben wir diefe Gefammt- 
ausgabe dem Publikum in der Ueberzeugung, damit einem halb⸗ 
vergeflenen Dichter eine Ehrenrettung zutheil werden zu lafjen, 
und gleichzeitig jedem fiir bichteriihe Schönheit empfänglichen 
Gemüth eine Fundgrube reicher Genüffe zu eröffnen; denn daß 
dieſe dichteriſchen Schönheiten in dramatiſcher Einkleidung 
und in einer unanfführbaren Form verborgen find, kann ihrem 
Werth fo wenig Eintrag thun, wie die gleiche Einfleidung 
alle die genialen Byron'ſchen Sabpfungen, einen «Kain», 
«Manfred» u. a, dem Genuß der Mit- und Nachwelt ent- 
frembet hat.“ 

Das Dichterleben Grabbe's, das mit Benukung ber ver- 
ſchiedenen Mittheilungen und Sichtung der oft ſich widerſpre⸗ 

enden Nachrichten und Urtheile der Biographen geſchildert if, 
lien fi wie ein Roman, allerdings wie ein Roman aus der 
Zeit ber Sturm- und Drangepodye, wo die Hyperbel der Dich⸗ 
tung ſtets durch die Noth des Lebens eorrigirt wurde. ine 
Fülle pilanter Anekdoten ift in der Biographie verfirent; Grabbe 
ſelbſt hatte einen grotesten Schlagwitz, und feine Lebensgemohn- 
beiten, fo verhängnißvoll fie flir die Entwidelung bes Diptrs 
fein mochten, hatten faft alle and eine burleske Seite. Das 
Kolofjale feiner Hyperbeln war Übrigens bei ihm nichts Ge⸗ 
machtes und Gejuchtes; es lag in feinem ganzen Weſen; auch 
im gewöhnlichen Leben bediente er fich biefer tropifchen Mitrail- 
leufen, wo ein anderer fih mit einem einfadhen Kernſchuß 
genigen ließ. So 3. B. wünſchte er einem feiner Feinde, 
„ber Kerl müßte an einem rviefengroßen Rafirmeffer in bie 
Höhe Friechen‘‘, einer der frommften Wünſche, der nur in 
einer an ertreme Bilder gewöhnten Phantafie Wurzel ſchlagen 
onnte. 

Man kann bie dramatiſche Production Grabbe's in drei 
große Perioden theilen. Die erſte, die Sturm- und Drang- 
periode, wenn man von einer foldhen bei einem Dichter fprechen 


fann, ber zeitlebens den Sturm und Drang nicht zu Überwin- 
den vermochte, wird charakterifirt durch Webertreibung in den 
Handlungen, den Charakteren und des Ausdrudg, die an. Ber- 
zerrung grenzen, aber and durch eine Macht des Schwungs 
und der Leidenſchaft, die zu den fchönften Hoffnungen berechtigte. 
Das Trauerfpiel Denon Theodor von Gothlanb‘ war das 
Ingendwerk, das ſolche Gewaltſamleit zur Schau trug. Die 
Einleitung nennt e8 eins der ungeheuerlichſten dramatifchen 
Broducte aller Zeiten mit einer abenteuerlichen Compoſition, 
einem convulfivifhen Streben nad titanifcher Größe und einem 
Zieffinn, der kaum eine andere Form fand als die Blasphemie, 
um fi mit dem Weltgeheimniß auseinanderzufegen. Das 
Chaotiſche der Kompofltion, das Crafſe, Abftoßende, Widerwär- 
tige diefer in Greueln fchwelgenden Melpomene wird ſcharf 
analyfirt; dann aber heißt es: = 

„Es jcheint, als ob dies Tranerfpiel nad feinem Stoff und 
Inhalt, nad) feiner Anlage und Ausführung nur das Imterefie 
einer Titerarifhen Euriofität haben könne und unter ben im 
Spiritus aufbewahrten Misgeburten der dramatiſchen Muſe 
feinen Platz finden müffe. Und nicht minder ericheint es frag. 
fih, ob die Befammtansgabe eines Dichters auch den Anſprü⸗ 
hen zu genfigen habe, die man eben an ein literarhiftorifches 
Eurtofltätencabinet ſtellt. Dennoch ift diefe in vieler Hinſicht 
einem dramatifhen Monftrum vergleichbare Dichtung keines⸗ 
wege aus Grabbe's Schriften zu verbannen. Ihre Bedentung 
für den Entwidelungsgang des Dichters wollen wir nicht ein- 
mal betonen; denn es ift manches widtig für die Entwidelung 
der Poeten, was doch der Nation gleichgültig fein kann, und 
man müßte bei confequenter Durchführung biefes Principe 
mauches Berfeblte und Schülerhafte mit aufnehmen, was doch 
nur bei gelehrten, hiſtoriſch⸗kritiſchen Ausgaben ftatthaft if. 
Der felbftändige Werth einer Dichtung kann allein endgültig 
über ihre Aufnahme und Zurückweiſung entſcheiden. Nun ifl 
aber im «Herzog von Gothland» nicht nur bereits der ganze 
Grabbe enthalten, jondern das Zrauerfpiel enthält auch Stellen 
von einer fo großartigen Schönheit, von einem fo berauſchen⸗ 
den Schwung und dämonifchen Tieffinn, daß fie verdienen, 
unferer Rationalliteratur nicht verloren zu geben. Bei allem 
Webertriebenen und Berzerrten des vorzugsweile hyperboliſchen 
Ausdruds erreicht bie Diction an andern Stellen wahrhaften 
Odenſchwung, bier und dort herrſcht ein Ausdrud der Empfin- 
dung von nreigener Innigkeit und Wärme oder eine Prägnanz 
und darakteriftifhe Schärfe, wie fie nur hervorragenden dra⸗ 
matifhen Zalenten eigen zu fein pflegt. Das Colorit der nor» 
diſchen Landfchaft ift durchweg flimmungsvol und contraftirt 
in fefjeinder Weife mit jenen tropifchen Phantaflen des Moh⸗ 
ren Berdoa, Über welchem der Gluthauch des Sübdens zittert. 
Grabbe's Landsmann, Freiligrath, verdankt den Anregungen 
biefer erften nrwlichfigen Tragödie des fpäter von ihm verherr- 
lichten Dichters offenbar manche Infpiration zu feinen Pol» 
und Wüftenbildern. Was aber an Weltſchmerzdichtung fpäter 
um Vorſchein fam, erſcheint ſchwächlich neben dieſen grandio- 
eu Ausbrüchen des Weltelels und einer, man möchte jagen, 
gigantifchen Blaſirtheit, wie fle diefe befremdliche Schöpfung 
eines jugendlichen Dichters charafterifirte, defien Muſe bald 
durch ihr Mednfenhaupt entfetst, bald greifenhaft gefpenflig mit 
dem Kopfe wadelt.‘' 

Die zweite Epoche bezeichnet den Höhepunkt feines dichteri⸗ 
ſchen Schaffens, die ſchöne Mitte feiner Dichtweije. Ihr ge- 
bören „Don Juan und Fanſt“ an, eine Dichtung, die einen 
Byron'ſchen Geift athmet, die durch Schwung und Tiefe der 
Gedanken wie durch die Borliebe für große landſchaftliche Per⸗ 
fpectiven und begeifterte Naturichilderung dem britifchen Dichter 
verwandt if. Die Anregungen der Dichtung finden ſich bei 
Nikolaus Lenau wieder, der einen „Fanſt“ und einen „Don 
Yuan’ gefondert bichtete: 

„Dei allen großen Schönheiten dieſer Dichtwerle mödhten 
wir doch ber Grabbe'ſchen Tragödie den Vorzug geben; es iſt 
mehr geniale Urjpränglichkeit und jener Lapidarfiil darin, wel⸗ 
her den Worten und Sentenzen ein unvergängliches Gepräge 
leiht. So ln Gedanlenwurf, wie im ber erfie Faufi⸗ 

u 


monolog auf dem Aventin in Rom zeigt, foldhe tiefe Schwär⸗ 





Feuilleton, 543 


merei der Leidenſchaft, wie fie die Fauftfcenen zwiſchen Yauft 
und Anna auf dem Montblanc athmen, werden wir in dem 
Nikolaus Lenau’fhen « Fauſto vergeblich fuchen; und aud die 
fede Bizarrerie in den Einfälen, Reden und Thaten Don 
Juan's hält vollfommen den Bergleih aus mit allem, was 
Nikolaus Lenau in feiner gleichnamigen nachgelaffenen Dichtung 
bietet. Schon um diefes «Don Yuan und Fauſt» willen, ber, 
wenn auch nicht neben Goethe's Dichtung, doch neben benen 
Byron's und Nilolaus Lenau’s ganz ebenbirtig dafteht, verdient 
e8 Grabbe, der Nation wieder nachdrücklich in Erinnerung ge- 
bradt und zur dauernden Aneignung empfohlen zu werben. 
In der That darf man es nur der Unbelanntihaft mit diefem 
Dichter anfchreiben, wenn fo viele feiner Gentenzen, bie in 
geifliger Tragweite und Iapidarem Gepräge nicht hinter deuen 
Shafipeare's und Byron's zurückſtehen, bisher nicht Blrger- 
redt in unfern Albums und Mottos und unter den geflügelten 
Worten gefunden haben.” 

Die beiden Hohenflaufendramen: „Friedrich Barbarofſa“ 
und „Kaiſer Heinrih VI.“, reih an Zügen von Größe und 
Mächtigkeit und genialem Schwung, trog ber Ungunft des 
Stoffs und der undramatifchen Zeripfitterung, und „Napoleon 
oder die hundert Tage“, ein Stüd voll Frifche und Eriegeri- 
ſchen Feuers, voll meifterhafter Vollsjcenen, in denen ein 
wahres Feuerrad von Epigrammen fprüht, gehören ebenfalls 


dieſer mittleren und beften Epoche des Dichters an, obgleich iu 


der Napoleon » Tragödie, namentlich in der zweiten Hälfte der- 
felben, fich bereits jene Wendung zum Parador Lafonifchen und 
epifch erfahrenen bekundet, welche feine beiden legten Tragö⸗ 
dien charalterifiren. Ueber dieſe Dramen, welche die dritte, 
mit der unglücklichſten Lebensepodhe des Dichters zuſammen⸗ 
fallende Periode feines Schaffens bezeichnen, fagt die Einleitung : 

„Es fehlt nicht an kritiſchen Stimmen, welche den fetten 
Tragddien: «Hannibal» und der «Hermanusſchlachto den Preis 
ertheilen unter Grabbed Dramen. Wir Tönen uns ihnen 
nicht anſchließen. Diefe Tragödien tragen den Stempel einer 
zerrütteten Dichterkraft; fie find als Fragmente geboren, es 
find gedichtete Ruinen. Man könnte fie auch als Tragödien 
in Epigrammen bezeichnen. Alles fpikt fih in ihnen zum 
Epigramm zu, der Dialog, die Situntion, Es find nicht Ste 
Iete, aber e8 find bloßgelegte Muskeln der Tragödie. Hermann 
Marggraff nennt irgendwo Grabbe den Michel Angelo bes 
Trauerſpiels. Gewiß hat er Verwandtichaft mit diefem mar- 
figen, ins SKolofjale verliebten Genius; doch in den legten 
Stüden fehlt die künftleriihe Ausführung, die auch das Fühnfte 
Wert des italienifchen Meiſters adelt. Ir haben es mit nur 
wenig bebauenen Marmorblöden zu thun; es find Andentun⸗ 
gen des Genius; aber das genligt nidht in der Kunſt. Der 
concentrirten gewaltigen Kraft fehlt jede Ausdehnung; und fo 
wird die Erploflon ihre einzige Lebenslußerung. Die Fehler 
der Shalipearomanie, welche Grabbe in feinem Auffate felbft 
gegeifelt bat, ber fortwährende Scenenwechſel, das Springen 
über Raum und Zeit, die gänzlihe Verachtung der übficen 
Bühnenform , die in der «Hermannsichladt» ihren Gtpfelpunft 
erreicht, indem ſich zufegt die Handlung nur nad Tagen und 
Nächten gliedert, der Mangel an einer concentriichen Einheit, 
an jeder Spannung und Entwidelung, die Auflöfung bes 
Dramas in das Epos — alles das tritt in dieſen letzten Tra- 
gödien im einer faft grotesfen Weife hervor, Die Berbitterung, 
der Hohn, der Troß, welcher den Menſchen Grabbe erfüllte, 
welcher fich vielfach im Inhalt ber Tragödien, namentlich des 
«Hannibal» fpiegelt, prägt ſich auch in biefer, wir möchten fa- 
gen gelledfien dramatifchen Korn aus, welche die Anforderun- 
gen der Bühne wie mit grimaffirendem Spott verlacht und 
alle Bermittelungen und Uebergänge, den Reiz und Schwung 
der bichterifhen Einkleidung verfhmäht, welche die frübern 
Stüde Grabbe's mit fo reihen Schönheiten ausſtatteten. Gleich⸗ 
wol enthalten der «Hannibal» und die «Hermannsihlacdht» Stel- 
fen und Scenen, wie fie nur Grabbe fhaffen konnte; die Cha⸗ 
ralteriſtik zeigt einen grandiofen Wurf; die Lalonisıneu des Aus⸗ 
drucks haben ftets etwas Schlagfräftiges, oft etiwa® Erhabenes.“ 


Der hier erwähnte Aufſatz Über die Shaffpenromanie, ger 


gen ben übertriebeuen Shakſpeare⸗Cultus der damaligen Ro- 
mantiler und ihrer Schule gerichtet, ift noch Heutigentags fehr 
lefenswerth: 

„Die Schattenſeiten des britiſchen Dichters werden, bei 
aller warmen Anerkennung ſeines Genies, mit Schärfe hervor⸗ 
gehoben, namentlich aber fein verhängnißvoller Einfluß auf die 

ichtweife der damaligen dramatifchen Epigonen, die graffirende 
Nachahmung und Nachbeterei, die Uebertreibungen der Schüler 
und der Despotismus einer Kritik, welche das Unendliche in 
einer Berfon, in Shalfpeare baunen will. Goldene Worte 
ſpricht Grabbe gegen den Schluß hin über die Anforderungen 
einer deutfchen Dramatil; er betont bie Fortſchritte des Sad 
hunderts auf allen geiftigen Gebieten gegenüber dem Shaffipeare’- 
fhen Zeitalter und erwartet Talente, welche Shalfpeare liber- 
bieten, indem fie alle Fortfchritte der Zeit in fi aufnehmen.‘ 

Bon Heinern Dramen enthält die Sammlung das tragi- 
[he Spiel: „Nanette und Marie”, das geniale Luftfpiel: 
„Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung", das Märchen: 
„Aſchenbrödel“, die unvollendete Tragödie: „Marius und Sulla‘‘, 
und Heine Yragmente aus zwei Dramen: „Chriftus und 
„Alexander der Große”. 


Möge diefe Sammlung der Grabbe'ſchen Schriften dazu 
beitragen, die todte, aus der Literaturgefchichte fchöpfende Theil⸗ 
nahme für ein nambaftes Talent in eine lebendige zu verwan- 
deln, welche aus den Dichtungen felbft Wefen und Charalter 
befjelben zu erfeunen ſucht. 


Bibliographie. 
Arnetd, A. v. ichte Maria Therefia’s, dter Bd. — A. u. b. T.: 
Zerie —5— ——— — —1756. Wien, Braumüller. 
+ [} t. t. 
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C. Dunder. 8. gr 
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. . T, 
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Ben. Leipzig, Veit u. Comp. Gr. 8. 3 Thl 


“ ® Tr 
Eruf, ©, Die Eroigkelt, deren Gewißhelt, Baitigteit unb baraus 
hervorgehende a en. Berlin, Heinersporff. 8. 15 Nur. 

te ber esgangenpeit Gegenwart und Zufunft. 1800. — 
1870. — 1900. Ein politiider Rund (id und Dapnruf von einem preußi⸗ 
fen Eonfervativen. Brandenburg, Koh. Gr. 8. 6 Nr. 

Puschl, C., Ueber eine kosmische Anziehung, welche die Sonne 
durch ihre Strahlen ausübt. Wien, Gerold’s Sohn, Lex.-8. 4 Ngr. 

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Scherer, W., Deutsche Studien. I. Spervogel. Wien, Gerold’s Sohn, 
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Shlagintweit, R. v., Die Pacific⸗Eiſenbahn in Norbamerita. 
Leipzig, Mapner, 8. 1 zur. 10 Nur 

& 2. eigichte öhmens. 2te vermehrte und verbefierte 
Aufl. Herausgegeben now Dezeine ür a? ber Deutigen in Böh⸗ 

. «nd, T. T 
Erf nozeln. 3tes Soda. Erfurt, Körner. Gr. 16. 10 Nor. 
8 ® 2 h e a 8; Luther in Rom. Roman. 3 Bde. Hanuover, Rümpler. 
® t. T. 
. 29 warz, F. Aus Sommertagen. Geſanmelte Novellen. Ster Bb. 
er in, 9 aun, “ ° 
—— e Sonette, deutſch von B. Tſchiſchwitz. Halle, Bar⸗ 
. r. 

Sonn enbürg, 8, Burg Bentheim. Nah alten Sagen erzählt. 
iſte Novelle. Burgfteinfurt, Falkenberg. Gr. 8. . 

Streiflichter auf die akabemiſchen Ontachten über die Zula ung von 
ReatihulrAditurienien u Sacultäts-Studien. Bon einem Realſchullehrer. 
Derlin, Landau. Gr. 8. 5 Nor. 

Nlrici, H. Zur Iogligen Brage. Halle, Pfeffer. Er. 8. 20 Ngr. 

Vahlen, J. Otto Jahn. ien, Gerold’s Sohn. 8, 4 Ngr. 

Margarethe Berflofien. Ein Bilb aus ber Tatholiihen Lirde. Ban- 
nober, eyer. 8. 5 gr. J 

W nhußen, H. Satau's Manfefallen. Bade⸗Photographien. 
Bei fra ws le Air 8 el der nenern deutihen Di 

olfram, F. ndyüge e e ber neuern e ⸗ 
ah Bon Es Tod ge Gegenwart. Leipzig, Matthes. Gr. 8. 
8 
Z 


r. L 


r. 71, Nur. 
ell * F., Der Unterschied in der Auffassung der Logik bei Aristo- 
teles und bei Kant, Berlin, Weber, Gr. 8. 10 Ngr. 
Zimmermann, R,, Samuel Ciarke’s Leben und Lehre, Wien, Ge- 
rold’s Bohn. Lex.-8. 2 Ngr. 
Zingerle, I, v., Findlinge II. Wien, Gerold’s Sohn. Lex.-8. 
2a, Ngr. . 





544 


Anze 


Anzeigen. 


igen. 


— — 


Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipzig. 


William Shaleſpeare's Dramatiſche Were. 
Ueberſetzt von 
Seiedri na rer Weine, en 
emeij ʒeor⸗ eh, 
ve German Mer, Anaıf Bien pe gert, 
Nach der Tertrevifion und unter Mitwirkung von Nicolaus Delind. 
Mit Einleitungen und Anmerkungen, 
"_ Herausgegeben von 
Friedrich Bodenſtedt. 
In 38 Bändchen. Jedes Bändchen geh. 5 Ngr., cart. 7Y, Ngr. 
Soeben erfgien: 
27. Bänden. Zähmung einer Wiberfpenftigen. Ueber 


fest von Georg Oerwegh. 
28 Eanpaen. Ber Sturm. Ueberfegt von Friedrich 
Bodenftedt. 
Das 1.—26. Bändchen enthalten: 
1. Othello der Mobr von Venedig. Ueberfegt von 
Hriedrih Bodenſtedt. 
. König Johann. Ueberjegt von Otto Gildemeifter. 
. Antonius und Kleopatra. Ueberfegt von Paul Heyſe. 
. Die Iuftigen Weiber von Windfor. Ueberfegt vom 
Hermann Kurz. 
Biel Lärmen um Mitd. Ueberfegt von Wbolf 
Bilbrandt. 
6. König Richard ber Zweite. Ueberſett von Dito 
Gildemeifter. 
7. Macbeth. Ueberjegt von Friedrich Bodenſtedt. 
8. König inrich der Vierte. Erſier Theil. Ueberſetzt 
von Otto Gildemeifter. 
9. König Heintih der Vierte. Zweiter Theil. Ueber 
fegt von Otto Gildemeifter. 
10. Romeo und Julia. Ueberfegt von Friedrich Bor 


denftedt. 

11. Pr Ueberfegt von Adolf Wilbramdt. 

12. Zimon von Athen. Ueberfegt von Paul Heyfe, 

13. König Heintih der Fünfte. Ueberiegt von Dtto 
Gildemeifter. 

14. Der Kaufmann von Wenebig. Ueberfegt von Fried- 
ri Bodenftedt. 

15. König Heinrich ber Sechsſte. Erſter Theil. Ueberſetzt 
von Otto Gildemeifter. 

16. König Heinrih der Sechsſte. Zweiter Theil. Ueber» 
jegt von Otto Gildemeifter. 

17. König Heinrich der Sechste. Dritter Theil. Ueber 
fegt von Otto Gildemeifter. 

18. en Gonmernaßtstaum. Ueberfegt von Friedrich 

obdenftebt. 

19. König Richard der Dritte. Ueberfegt von Otto Gil⸗ 
bemeifter. 

2%. König Kear. Ueberfeht von Georg Herwegh. 

21. wönig Seel der Achte. Ueberfegt von Otto Gil- 

emeifter. 

22. Titus Andronicus. Ueberjegt von Nicolans Delins. 

23. Was ihr wollt oder Heiliger Dreikoͤnigsabend. Ueber- 
jet von Otto Gildemeifter. 

24. Die beiden Beronefer. Ueberiegt von Georg Herwegh. 

25. Hamlet, Prinz von Dänemark. Ueberfegt von Friede 
rich Bobdenftedt. 

26. Verlorene Liebesmüh. Ueberfegt von Otto Gilde» 
meifter. 

Die Vorzüge der von Bodenſtedt im Verein mit den nam⸗ 
bafteften deutichen Dichtern und Tertkritikern herausgegebenen 


PpBD 


* 





nenen Shaleſpeare ⸗ Ueberſetzung find allgemein anerfannt, wes - 
halb fie fi auch einer fortwährend ſteigenden Verbreitung er- 
freut. Jedes Bändden enthält ein volftändiges Drama nebft 
ausführlicher Einleitung und erfänternden Anmerkungen; 
28 Bänden gen bereits vor, die übrigen 10 find zum Theil 
34 ſchon im ick und werden in furgen Zwiſchenräumen 
folgen. 





Derlag von 5. A. Brochfans in Leipzig. 





Soeben erſchien: 
Tnschen- Wörterbuch 


italienifhen und deutſchen Sprade. 
Bon Dr. Francesco Balentini. 
Siebente Auflage. 

Swei Cheile. 8. Geh. 2 Thlr. 10Ngr. Geb. 2 Thlr. 18 Ngr. 
Itafieniph- Dentfher Cheit· geh. 1 Täfr., geb. 1 Thlr. 5 Ngr. 
Deut raenifher Tpeit: geh. 1 Tür. ft Nor, geb. 1 Thit. 

gr. 


Schon feit einer langen Reihe vom Jahren ift Balen- 
tini’8 italienifh-demtihes und dentfd-italienifhes 
Börterbucd, zum Gebraud für Deutſche wie für Italiener, 
als eins ber —— geisäbt, Bie feft fih das Werk in 
der Gunſt des Publitums behauptet, zeigt das Erfcheinen der 
vorliegenden fiebenten Auflage. Der fehr billige Preis 
ermöglicht beffen immer weitere Berbreitung. 





Derfag von 5. A. Brodfiaus in Leipsig. 





Soeben erſchien: 
Das Staatd-Hecht der Preußiſchen Monardie. 
Bon 


Dr. Tudwig von Rönne, 
Mopelationt-@erihte.BlceNeäpbent 5. D. und Mitglied bes Haufes ber 


Dritte vermehrte und verbefierte Auflage. 
Achte Lieferung. 
Subferiptionspreis jeder Lieferung 20 Ngr. 

Die dritte Auflage des berühmten Werks erſcheint auf 
vielfeitig ausgefprohenen Wunfh in Lieferungen, um die 
Anfhaffung durch allmählihen Bezug zu erleichtern. Sie 
wird aus zwei Bänden beftchen, die in 16 Lieferungen ausgegeben 
werden. Mit der foeben erjdienenen achten Lieferung jhliegt 
der erfte Band, fodaß nun bereits die Hälfte des Werks vorliegt. 

In allen Buchhandlungen it dad Erfhienene vorräthi— 
nud ein Profpert gratis zu haben. u ie 





Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipzig. 


Die Oeffentlichkeit 
in den 
Baltischen Provinzen. 


8. Geh. 15 Ngr. 
Diese Schrift enthält einen nenen energischen Ruf der 








und Wahrung germanischer Civilisation. 





Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus, — Drnd und Berlag von 8. A, Srochhaus in Leipzig. 


Blaͤtter 
literariſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. —e4 Hr. 35. ÿæ 3. Auguſt 1870. 





Inhalt: Zur Geſchichte Napoleon's I. Bon Rudolf Doebn. (Beſchluß.) — Novellen und Romane. Bon Suſtav Sauff. — 
Ein Fürfiinnenleben. Bon Gans Yrug. — Feunilleton. (Die Kriegslyrit von 1870; Aufdeckung einer Titerarifchen Fälſchnug.) — 
Kibliographie. — Anzeigen. 


Zur Geſchichte Mapoleon’s I 
(Beihluß aus Nr. 34.) 


1. Geſchichte Napoleon’s des Erften. Bon PB. Lanfrey. Aus | „Hätte die franzöfifche Republik (zur Zeit des 18. Bru- 
dem Frauzöflihen von C. von Glümer. Cingeleitet von maire) einen Cato befefien, fo wäre ihr der Cäfar viel- 


Adolf Stahr. Erſte bis achte Lieferung. Berlin, Sacco . . 4 
Rechfelger 1869— 70. @r. 8. Jede Fieferung 15 Nor. leicht erfpart geblieben.” Ein moderner Cato hätte die 


2. Napoleon I. und fein Geſchichtſchreiber Thiers. Bon Iu- | franzdfifche Republik ebenfo wenig gerettet, wie der alte 
les Barni. Verdeutſcht von A. Elliſſen. Leipzig, | Cato die römifche zu retten vermochte. Unter der Larve 
D. Bigand. 1870. 8. 1 Thlr. eined Republikaners ward Napoleon zum Mörder ber 
Wir glauben zwedmäßig zu verfahren, wenn wir bei | Republik. Seinen einzigen, noch übrigen Nebenbuhler, 

der fernern Befprehung des Laufrey'ſchen Werks das | den General Moreau, machte er fiir fi) unſchädlich, in- 

Buch von Yules Barni: „Napoleon I. und fein Ge- | dem ex denfelben mit in fein Verbrechen verwidelte. Lan- 

ſchichtſchreiber Thiers“ (Mr. 2), heranziehen; einestheils frey wie auch Barni bezeichnen die That des 18. Bru- 

um Wiederholungen zu vermeiden, anderntheils weil beide | maire al8 einen Act bes Verraths, der Lüge und der 

Schriftfteller nahezu denfelben Gegenftand behandeln und | Gewalt, als den Triumph des brutalen Zwangs im 

meiftens zu demfelben Kefultate gelangen. Bunde mit Liſt und Trug, als das MWiederaufleben des 
Das Buch von 9. Barni, welches er felbft als „eine | Cuſarismus in dem Frankreich des 18. Jahrhunderts und 

Hiftorifche und moralifche Studie“ bezeichnet, Liegt ung in | der Revolution. Während Thiers in dem ganzen Ka— 

der zweiten (parifer) Ausgabe vom Jahre 1869 vor; es | pitel, in dem er biefen empdrenden Gewaltſtreich ziemlich 

ift, einige Anmerkungen abgeredjnet, eine getreue Repro- | treu berichtet, nit ein Wort für den damit begangenen 
duction ber erſten (genfer) Ausgabe vom Jahre 1865. Frevel übrig hat, erflärte Yules Favre am 24. Juni 

Den Hauptinhalt des Buchs bilden zwölf BVorlefungen, | 1870 in ber Specialdebatte über das Geſetz, betrefjenb 

welche der Serieher im Jahre 1863 im Saale en Gro- | die Ernennung der Maires durch die erecutive Gewalt: 

Ben Raths zu Senf hielt, und in denen er als Kritiker un der Konvent in der erfien franzöfiihen Revolution 

des Hrn. Thiers die Geſchichte Napoleon's I. vom 18. Brus | pie munieipafen Freiheiten —5 bar r Eh das für mid 

maire 1799 bis zu deſſen Ende auf St.» Helena verfolgt. keine —— denn —8 bertogt mehr ale ic die Ara 

in und breit die „Geſchichte des niihen Maßregeln, welche iefe große Serjammlung getroffen 

—— — ee von Fe ri , ſo hat. Aber der eigentliche Bernichter der Gemeindefreiheit war 

. im ce . | der 18. Brumaire des Jahres 1799, und do will man jetzt 
fnapp, gebrängt und kernig ift bie Darftellung von Barni, Serade am bie Gefeßgebung jener Zeit anknüpfen. Ich fürchte 
der allerdings nicht zur Bergötterung des Napoleonismus | in der That, daß man in ber Huldigung zu weit gebt, wenn 
beiträgt und weniger die fehler und Mängel, als die | man für eim rettendes Genie den Mann nimmt!, der Frank. 

Sünden und Verbrechen Napoleon’s I. aufzählt. F ne einen ephemeren Ruhm gegeben und es |päter zum 
Bon Aegypten nad) Paris zurückgekehrt, fuchte Na- win und zur Demüthigung geführt ha 

poleon, der Dann des Schwerts, dor allen Dingen bie Bei diefen Worten unterbrad; Hr. Schneider, der Prä- 

Hülfe von Sieyes, dem Mann ber Kirche, um das Werk | fident bes Gefeggebenden Körpers, den muthigen und elo- 

des 18. Brumaire zu vollenden. Wir zweifeln, ob Lan | quenten Rebner mit der Bemerkung: „Er hat es jeden- 

frey recht hat, wenn er (Bd. 1, Kap. 12, ©. 339) meint: | falls zu einem Ruhme geführt, welcher in dem Gefühle 
1870. 35. 69 


548 Zur Geſchichte 


Kaifer durch den Helden fo vieler ruhmmitrdiger Schlach⸗ 
ten entzitdt wurde; er fügt aber als charafteriftifch für 
Napoleon Hinzu: 

Niemand konnte wie er freundlich und herrifh, einfchmeie 
chelnd und hochmũthig fein, aber er war bei dem allen maßlos 
wie ein Mann, der feines Eindrude fiher und gewöhnt ift, zu 
bienden, binzureißen und fi immer auf der Bühne zu zeigen. 
Daher wurde er auch leicht ſchwülſtig, wenn er edel, trivial, 
wenn er einfach fein wollte, und war im Stande, eine italies 
niſche Harlelinade mitten ‚in eine Tirade a la Talma hinein⸗ 
zuwerfen. 

Daß ſeine bekannten heftigen Zornausbrüche häufig 
fingirt waren, kann ſelbſt ſein Lobredner Thiers nicht 
wegleugnen. 

Die Erweiterungen und Verwandlungen ber „Napo⸗ 
leonifchen Legende” bezüglich alles defien, was zur Berfon 
Napoleon’s I. gehört, erftreden fich bis auf feine Hirn⸗ 
ſchale. Es gibt nämlich au, wie Barni ©. 236 fg. ſich 
ausdrüdt, „eine traniologifche Legende Napoleon's“. Diefe 
Legende hat Bictor Hugo zu ben byperbolifchen Verſen 
in den „Chants du cr&puscule‘ begeiftert: 

Ce front prodigieux, ce cräne fait au moule 
Du globe imperial! *) 

Auch der Gefchichtfchreiber des Conſulats und des 
Kaiſerreichs Hat nicht verfehlt, fie vorzubringen, indem er 
berichtet, Napoleon habe „den größten Kopf gehabt, deſſen 
Borhandenfein durch die anatomische Wiſſenſchaft confta- 
tirt“ je. Nun beweift aber Barni a. a. O., daß die 
anatomische Wiſſenſchaft das gerade Gegentheil conftatirt 
hat, indem er das Zeugniß eines denkenden Phyſiologen 
und ebenfo guten Beobachters wie geiftreihen Schriftftel- 
lers, Louis Peiffe, anführt. Diefer fagt nämlich: 

Was an Napoleon’8 wirklichem Kopfe zuerft auffällt, iſt 
die Kleinheit des Schädelse. Die Büſte Cauova's und bejon- 
ders auch die von Chaudet, fowie das Brufibild auf den Mün- 
zen, haben die wahre Dimenfion des Schädels Napoleon’s und 
namentlich die der Stirngegend dergeftalt übertrieben, daß gegen 
dies ideale Maß gehalten der wirkliche Schädel Hein, ja winzig 
ericheint. Indeſſen ift er äußerſt wohl proportionirt, ſowol tm 
Berhältniß zu dem Geſicht, wie zu dem ganzen Körper. Da 
fein Umfang 20 (parifer) Zoll 10 Linien beträgt, bietet feine 
ganze Ausdehnung durhaus nichts Merlwürdiges dar; es ift 
das eine der gewöhnlichfien Dimenflonen. Unter zehn Köpfen 
erwachjener Männer beträgt bei mehr als füufen der Umfang 
des Schädel 20— 21 Zoll, fodaß alſo Napoleon’s Hirnfchale, 
was ihre vermeinte außerordentlihe Größe betrifft, nichts vor 
der des dümmſten feiner Kammerherren voraushatte. Ich habe 
den Stirmmwinlel gemeffen: er beträgt in natura, nad) der Gips⸗ 
larve von Antommardi, nicht Über 75 Grad, auf einer Bronze- 
mebaille dagegen 90 Grad und darüber. Nun ift es begreif- 
Lich, daß mit einer Zugabe von 15 Graden die Künftler ihren 
Napoleon mit einer Stirn nad dem Mufter der des olympi- 
ſchen Zeus mobelliren konnten. In Wirflichleit war die Stirn, 
phrenologifch gefprochen, ziemlich mittelmäßig; es ift dies eine 
Thatfache, die jeder aufrichtige Beobachter zugeben wird. Der 
einfache Augenjchein genügt, um fi davon zu vergewiffern, 
und das Maß des Winkels (von 75 Grad) iſt ein mathemati- 
jcher Beweis, ber feinen Widerſpruch leidet. 

Als Dr. Antommardi Gall's und Spurzheim’s phre- 
nologifches Syſtem an Napoleon's Schäbel erprobte, fiel 
ihm als erſtes unverkennbares Merkzeichen an bemjelben 
da8 Organ der Heudjelei in bie Augen. 

Auf die Frage, welche heute noch vielfeitig discutirt 

*) Die wundervolle Stirn, ber Schäbel nad der Form 
Des Kaiferapfels weitgewölbt! 


\\ 


Napsleon’s J. 


wird, 0b Napoleon I. Polen wiederberftellen Tonnte, und 
wenn er e8 konnte, ob er es wollte, antwortet Panfıey 
VI, 9 fg.: „Er betrachtete die Wiederherftellung der Un 
abhängigfeit Polens nicht als über feine Kräfte gehend, 
fondern er mollte fie nit.” Zu bemjelben Reſuliat 
fommt auch Inles Barni ©. 255 fg. und begründet feine 
Anfichten mit den beften Zeugniffen. 

Vaflen wir alles Gefagte zufammen, fo können and 
wir nur mit Channing ©. 11 jagen, daß, „wer feine mor⸗ 
derifche Hand gegen die Rechte und die Freiheit feines 
Landes erhebt, wer den Fuß auf den Naden von 30 Mil⸗ 
lionen feiner Mitmenfchen fegt, wer ſich allein alle Gemalt 
in einem mächtigen Reiche anmaßt, deſſen Schätze ver- 
geubet, das Blut bes Boll wie Wafler vergießt, um an- 
dere Nationen zu Sklaven und die Welt zu feiner Bent 
zu machen, daß ein folder Menſch, dem fein VBerbreden 
auf feiner blutigen Laufbahn fremd bleibt, in den Bann 
des Menfchengefchlechts gethan zu werben und auf feiner 
Stirn ein Brandmal, fo fchmachvoll wie das des erften 
Mörders, zu tragen verdient”. So lautet, nad unſerer 
Meinung, das Urtheil der unparteiifchen und unbeſtech⸗ 
Tichen Gefchichte durch die Stimme Channing’s; und wenn 
man den Ufurpator fallen fieht, fallen durch eben bie 
Werkzeuge, deren er ſich zu feiner Erhebung bediente 
(Talleyrand, Fouche u. a. m.), dann exft glaubt man 
in biefem Schaufpiele, welches allen Gewalthabern und 
Machtanbetern zur Warnung dienen follte, in Wahrheit 
die rächende Hand der vergeltenden Borfehung, die Re 
mefis der Geſchichte zu erfennen. 

Bor der ruhigen, Hiftorifchen Prüfung Laufrey’s, die 
das Allgemeine wie das Einzelne mit gleicher Schärfe 
umfaßt, und vor der einfchneidbenden Kritik Barni's, die 
unerbittlih die Ausſchmückungen und Unwahrheiten ber 
„Napoleoniſchen Legende” bloßlegt, finkt die ſchnell zum 
mythiſchen Heros geworbene Geftalt Napoleon’s I. fehr zu⸗ 
fammen, und flatt eines großen Mannes erkennen wir in 
ihm kaum einen großen General. Es ift fein Zufall, daß 
die Geſchichte Napoleon I. den Beinamen des „Großen“ 
verjagt hat. 

Zum Schluß wollen wir nur noch kurz auf die aus⸗ 
gezeichnete Einleitung hinweifen, welche der wohlgelungenen 
Ueberfegung des Lanfrey’ichen Werts von Claire vom 
Glümer vorangefchidt if. Was Jules Barni anbetrifft, 
jo ift derfelbe als Verfaſſer ber „Martyrs de la libre 
pensée“, als franzöfifcher Ueberfeger der Werke Kant 
u. f. w. in ber literarifchen Welt rühmlichft bekannt. Sei⸗ 
nem im Rebe ftehenden Werke gehen zwei Vorreden des 
Berfaflers und ein Borwort des talentvollen Leber, 
fegerö voran. Als dankenswerther Anhang ift hinzu⸗ 
gefügt: 1) eine Schilderung Napoleon’s I. von 9. © 
Fichte, aus einem Vortrag „Ueber den Begriff des wahr⸗ 
hafien Kriegs“, gehalten im Februar 1813; 2) eine geil 
volle, retroſpectide Betrachtung zum hundertſten Geburte 
tage Napoleon’8 I. aus ber Feber des Ueberfegers, A. El⸗ 
liffen, betitelt: „Seanzöftfche Thronfolger.“ Diefe Ber 
trachtung ſchildert in erſchütternden Zügen jenes eigen. 
thümliche, feit Jahrhunderten und in&befondere feit den 
legten achtzig Jahren über den defiguirten franzdfiichen 
Thronfolgern waltende Fatum. Rudolf Wochn. 





Novellen und Romane. 549 


Yovellen und Romane. 


1. Die Miffionare. Roman aus der Südſee von Friedrich 
Gerſtäcker. Drei Bände Jena, Eoftenoble. 8. 4 Thlr. 


Ein Zendenzroman gegen die Miffion, und zwar in 
erfter Linie gegen die proteftantifche Miffion namentlich 
ber Eugländer, im weitern Sinne aber gegen die Miffion 
überhaupt, alfo auch gegen bie katholiſche. Ein adeliches 
Fräulein, Bertha von Schölfe, wird durd ihren bigo- 
ten Vater und einen Miffionsprediger bewogen, auf eine 
Infel der Südfee zu fahren, dort fih mit einem ihr 
früher ganz unbelannten Miffionar zu vermählen und 
ebenfallg — in Sachen der äußern Miffion zu machen, 
um diefen Ausdrud zu gebrauchen, der deswegen der 
pafjendfte fein dürfte, weil nad) Gerſtäcker's Darftellung 
die Miffion von den Engländern ohne tieferes Intereſſe 
für Religion und Chriftentfum wie ein faufmännifches 
Gefchäft betrieben wird. Die Frau des Miffionars findet 
ſich bald enttäufcht: mit Uebergehung der Moral werden 
ben Indianern unverftandene Glaubenslehren vorgetragen; 
auf die Sabbatsfeier wird mit unnatürlicher, kleinlicher 
Strenge gehalten, unjchuldige Freuden werben fireng ver- 
boten, die Eingeborenen dürfen 3. B. nit Tabad rauchen, 
feine Blumen in den Haaren tragen, nicht dem nationa- 
Ien Zanzvergnügen fich hingeben; bei ben rauen wird 
ein wunderlicher Kopfputz eingeflthrt, der, nach oben hoch 
ausgefchweift, Hinten einer ftumpf abgefchnittenen Kanone 
gleiht und felbft nah den Schultern hinab ein paar 
Flügel fendet; De jungen Mädchen, früher gewohnt bar- 
fuß zu gehen, müſſen fi) zum Tragen von Strümpfen, 
die don europätfchen Miffionsfreunden ihnen zugejchidt 
wurben, bequemen, kommen aber damit nicht zurecht und 
haben fie bald wieder zerrifien; aus den friedlichen Natur⸗ 
findern werden unnatürliche Culturmenfchen mit dem gan- 
zen Gefolge der modernen Civilifation; die Religion wird 
von einigen Hänptlingen als Mittel zu politifchen Zwecken 
benugt, und blutige Kriege zwiſchen den dhriftianifirten und 
den heidnijch gebliebenen Iufulanern find im Gefolge der 
Miffionsbeftrebungen. Mit der Verſicherung von der 
friedlichen Ruhe der Infulaner in ihrem frühern Zuftande 
will freilich nicht ftimmen, was wir III, 38 von ihren häufi⸗ 
gen Kriegen Iefen, die fie mit der größten Grauſamkeit [zu 
führen gewohnt fein. Wir empfehlen dem Berfaffer zur 
Berichtigung feiner Anſicht von der vermeintlichen Unſchuld 
diefer Naturmenfchen einen gewiß unverdächtigen Schrift» 
fteller, Immanuel Sant, im Anfang feiner „Religion 
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft”. Das Fräu⸗ 
lein findet fi) natürlich enttäufht und fagt (II, 198): 


Zerſtört if} die Heimat glüdficher, guter Menſchen, die 
Gott mit allem gefegnet, was er au Schägen auf feiner herr- 
Kihen Erde barg; muthwillig, mit teufliicher Bosheit zerfiört 
von Menihen, die in dem wahnfiunigen Glanben gehalten 
wurden, daß fie damit ein Gott mwohlgefälliges Werl thaten, 
während fie nur den Zielen ebrgeiziger, ſchlechter Menſchen 
dienten. 

Beſonders empört fie fi über ben Misbrauch, der 
mit der Lehre von den ewigen Höllenftrafen getrieben 
wird, um die Heiden über das Los, das ihre Verwand- 
ten im Jenſeits betroffen hat, zur Verzweiflung zu brin- 
gen und der Miffton in die Arme zu treiben. Nachdem 


ihr Gatte in dem Bürgerkriege zwifchen heibnifchen und 
Hriftlicden Infulanern gefallen ift, fagt fie der Miffion 
Lebewohl, kehrt mit ihrem Diener Klaus, dem Vertreter 
der nüchternen, rationellen Anficht über die Miffion, nad) 
Haufe zurüd und erflärt, daß fie auch aus dem in ihrem 
Wohnort beftehenden Miffionsverein austrete, folange die- 
fer nämlich das Ziel verfolge, „Geld und andere Artikel 
bier im Lande zu fammeln unb über See zu Leuten zu 
ſchicken, die fein Bebürfnig dafiir haben, während hier 
im Baterlande die Armen Mangel leiden“. 

In einem Tendenzroman tritt natürlich die Tendenz 
dor und die Afthetifchen Anforberungen, denen jedoch ber 
Verfaſſer im allgemeinen entjprochen hat, treten zurück. 
Gerftäder fagt ausdrücdlich in der Vorrede, er habe faft 
nicht8 erfunden, fondern nur eine Kette von Thatſachen 
Bingeftellt und zwar dieſe mit den verfchiedenen Miffions- 
Ichriften felber belegt. Ex hat ans eigener Anſchauung 
gejehen, wie die fortwährenden Geldfammlungen für die Hei- 
den zum großen Theil verwandt werben; er hat in vielen 
fremden Ländern beobachten können, in welcher Weife das 
Chriſtenthum verbreitet und von den verjchiedenen Stäm- 
men aufgefaßt wurde: 

Nichts Habe ich von den Berfolgungen der verfchiedenen 
Selten untereinander erzählt, die viel, viel Blut, befonders auf 
Tahiti gefoftet Haben und jogar, wie z. B. auf Neufeeland, nicht 
allein zwijchen Proteftanten und Katholiten, nein, fogar unter 
proteftantiihen Selten felber ftattfanden. Ich Habe tren und 
wahr zu ſchildern verſucht, was wirklich geſchehen ift und noch 
bis auf den heutigen Tag geſchieht. 

Den objectiven Thatbeftand zu prüfen, würde und zu 
weit führen. Die Heidenblätter, Miſſionsmagazine u. dgl. 
Zeitfchriften mögen fehen, wie fie mit dem vielgereiften 
Gerftäder fertig werden. 


2. Kaufmann und Ariftofret. Roman von Wilhelm DOtto- 
Zwei Theile. Berlin, Wegener. 8. 2 Thlr. 


Auch diefer Roman ift offenbar ein Tendenzroman, 
aber in einem ganz anbern Geift als Gerftäder’8 Wert, 
denn er kämpft im Sinne Wichern’3 ober der Kreuz⸗ 
zeitung für bie Innere Miffion, predigt die Umkehr von 
einer toll gewordenen Wiffenfchaft zum fronmen Glauben 
der Väter, führt dem Kaufmannsſtand die Gefahr zu 
Gemüth, durch materialiftifche Gefinnungen das Heil der 
Seele zu verjcherzen, und verlangt in dem Abfchnitt, der 
als lebendiger Mittelpunft des Ganzen zu bezeichnen ift, 
in dem Teftament bes alten Grafen, von Abel, wenn er 
überhaupt eine Zukunft Baben fol, Buße und Recht⸗ 
gläubigkeit. Damit ift das Buch Hinlänglic, gefennzeichnet. 
Aeſthetiſch betrachtet erhebt es fich nicht über den Mittel⸗ 
flag. Mehrere Abſchnitte erinnerten mich Lebhaft an 
Schiller's Sinngedicht auf Klopftod’3 „Meffias‘: 

Religion befchenkte dies Gedicht. 
Auch umgekehrt? Das fragt mich nicht. 

Außerdem finden fid, mehrere Beiträge zu der immer 
mehr einreißenden Sprachverwilberung; fo z. ®. I, 136: 
„Aufmerkfamteit des Weins“ ftatt: „auf den Wein‘; faft 
immer „wie nad) einem Comparativ, eine unberechtigte 
Eigenbeit, die übrigens weit mehr im Norden als im 


550 


Süden Deutfhlands zu Haufe ifl; II, 169: „fich das 
Lieferungsrecht begeben“, und noch viele andere faljche 
Conftructionen. Der Verfaſſer merke fi, daß die 
Sorge für das Heil der Seele mit der Sorge für 
einen grammatiſch richtigen Ausdrud fi recht wohl 
verträgt. 


3. Modern. Roman von Adelheid von Auer. Zwei Bäude. 
Berlin, Lefſer. 8. 1 Thlr. 


Diefer Roman verfolgt einen ähnlichen Zwed wie der 
von Wilhelm Dito, aber ohne die jener Richtung anflebende 
Einfeitigkeit und die damit zuſammenhängende Beeinträd- 
tigung des äfthetifchen Elements. Die Berfafferin fchil- 
dert in Briefen — eine glüdli gewählte Form — das 
von ihr miterlebte Schidfal einer Familie, die, vom 
Schwindel der modernen Zeit erfaßt, ihre Tage in Wohl- 
leben und Mammonsdienſt zubringt, bis durch ben plöß- 
lichen Tod des Yamilienvaters die Täufchung über ben 
Bermögensftand zerrinnt und die Kinder gezwungen wer⸗ 
den, durch eigene Thätigkeit fich eine gefelfchaftliche Stel- 
lung zu erringen. Die Darftellung ift belebt und an- 
ziehend. Wir führen den Schluß an: 


Ein Wort wollen wir ftreigen aus dem tonangebenden 
Lerilon unferer Sprache, und das ift die Mode, und ein an- 
beres an die Stelle fegen, ih meine Sitte im engfien, un⸗ 
trennbarften Zufammenhang mit Sittfamteit; zwei andere, jebt 
nicht fireng gefchtedene wollen wir zufammenzufligen verfudhen, 
Bergnügen und Pflicht. 


4. Aus der Ehewelt. Roman von T. ©. Braun. Drei Bände. 
Leipzig, Orunow. 8. 4 Thlr. 15 Ngr. 


Folgende Stelle in diefem Werke erinnert an die Klage 
des foeben beſprochenen Romans über die moderne Ver⸗ 
bildung, und diefes Zufammentreffen ift ein Beweis, daß 
ſolche Klagen nicht ganz aus ber Luft gegriffen find. Eine 
Regierungsräthin in Berlin fagt: 

In unfern Refidenzleben ift jeder fo überbeſchäftigt, daß 
nicht alle Aeltern, wenn fie auch felbft dazu befähigt wären, fo 
viel eigenes Intereffe und Sorgfalt anf die geiftige Entwide- 
lung und Ausbildung ihrer Töchter verwenden fünnen. Sie 
ſchicken fie in Erziehungsanftalten und Penfionate, nachdem fie 
ihren erſten Unterricht in überfüllten Schulen erhalten, und bie 
natlirliche Folge von biefer mafjenhaft gleichmäßigen Erziehungs- 
weiſe ift allerdings das Verwiſchen jeglicher Originalität. Die 
Sudividuafitäten gleihen fomit, im geringer Weife nuancirt, 
einander wie ein Ei dem andern, wozu die ähnlichen Orts» 
nnd Berfehrsverhältniffe noch das Ihrige beitragen. Auch der 
unabläffig fleigende Lurus, der in keinem Verhältniß zu dem 
meift fehr geringen Einfommen aller Beamten ſteht, welche nun 
einmal einen jehr großen Theil der biefigen Bevölkerung aus- 
machen, wirkt hindernd auf dem geifligen Aufſchwung ein, denn 
der erforberlihe Glanz nah außen Toftet eine Menge unver- 
bältnigmäßiger Opfer an Zeit und Mitteln, welche auf andere 
wilrdigere Gegenftände verwandt werben könnten, bei benen 
das innere Leben befjere Nahrung finden würde. Auch die herr- 
fhende Vergnügungsfucht hat ihren tiefen Grund in den äußern 
Berhältniffen. Die eltern! mifjen meiftens eifrig wünſchen, 
ihre erwachſenen Zöchter fobald wie möglich zu verhetrathen, 
um ihre Zukuuft gefihert und ſich ſelbſt pecuniär erleichtert zu 
jehen; daher kommt es, daß fie fie willig von Fyeft zu Feſt be- 
gleiten und die Töchter, welchen die Motive gutenfalls un⸗ 
befannt bleiben, an ben fortgejeßten Genuß gefelliger Vergnü⸗ 
guugen völlig gewöhnen, 


Die Heldin unferer Erzählung freilich bat eine andere 
Erziehung genoſſen, fie ift in einfachen, natürlichen Ver⸗ 
bältnifien aufgewachſen, hat neben den Haushaltungs⸗ 


Novellen und Romane. 


' Lippen haltend, flüfternd Hinz, „‚e® lommt was brin vor 





gefchäften die edfe Kunft der Malerei erlernt, ift fchon 
mit 20 Jahren ein Mädchen von feftem Charakter und 
entſchiedenen Grundfägen, geräth trog aller Verſuchungen 


‚nie auf einen Abweg und weiß auch andern, mit deren 


fie, nachdem fie in die größere Welt eingetreten, in Be 
rührung fommt, auf den rechten Weg zu helfen. Hier 
erhebt fich von felbft die Frage, ob diefes vom Zauber 
reiner Idealität umflojlene Mädchen, das fich doch in der 
Welt fo ficher zu bewegen weiß, nicht zu farblos geſchil— 
dert ift. Unſerer modernen Anfchauumg wenigſtens ent 
fpricht eine ſolche Entwidelung ohne alle tiefere Bernie 
lung nicht recht. Damit hängt zuſammen, daß bie Dar⸗ 
ftellung überhaupt etwas breit und einförmig ift; «8 fehlt 
das, was der Franzofe mit dem Worte verve bezeichnet. 
Im übrigen gibt der Verfafler eine Reihe wohlgelungener 
Bilder aus dem Eheleben; da find unglückliche und gläd- 
liche, probehaltige und täuſchend überfirnißte Ehen, auf 
diejenige Klaffe, zu der die meiften Ehen gehören, die der 
balbglüdlichen, halbunglüdlichen, ift einigermaßen vertreten, 
Im höchſten Himmel ehelicher Glückſeligkeit ſchwebt natür- 
lich zu gutem Schluſſe die über das gewöhnliche Mädchen⸗ 
volk ſich weit erhebende, überall, wo ſie hinkam und hin⸗ 
kommt, heil» und ſegenverbreitende Heldin des Romans 
Eſther Haideborn. Nur ift, wie ich fürchte, ihr Better 
Ernft, der fi ohne Erfolg um ihre Hand bewarb, dur 
feinen häufigen Aufenthalt bei Efther’s Aeltern, die ihn 
wie ein Kind behandeln und denen er ihren Lebensabend 
erheitert, noch nicht gehörig in der Ehewelt untergebradit; 
diefes Bild Hat etwas nicht ganz Befriedigendes; es fehlt 
zudem alle Ausſicht auf feine fernere Entwickelung. 

Einer unferer erſten Lyriker ſoll gejagt haben, fo 
lange es Badfifche gebe, werde es ihm wicht an einem 
Publifum fehlen. Bon diefem Roman läßt fid etwas 
Achnliches fagen und Hoffen. Die Haupthelbin ift bie 
vom Backfiſch zur Braut und Gattin fich entwidelnde 
Eſther Haideborn, um ſie ſcharen fi) alle diefe glüdlichen 
und unglüdlihen Ehen. So wünſchen wir beun dem 
Berfafler, daß er wenigflens ben zwanzigften Theil vom 
Iiterarifchen Erfolg feines lyriſchen Geſinnungs⸗ und 
Geiftesbruders erleben möchte. 

Sprache und Darftellung verdienen alles Lob, fie find 
gewählt und edel. Beiträge zur Sprachverwilderung der 
Gegenwart fucht man vergeblich). 

5. Cavalier und Jüdin. Roman von H. von Schönau Zwei 

Bände. Berlin, Janke. 8. 2 Thlr. 15 Ngr. 

Ich kann mich nicht enthalten, auch bier gleih zu 
Anfang eine merkwürdige Partie mitzutheilen, de 
unfere modernen Zuftände ein ſchlagendes Licht wit 
Anna fagt in diefem Roman (I, 73): 

„Denkt nur, von den «Wahlverwanbtichaften» haben fie au 

efprochen, und Mama fagte mir, eine junge Dame dürfe I 
Segenwart eines Herrn das Wort gar nicht erwähnen, eb ji 
der Titel von einem ganz entjetlichen Buche. Ich fragte, 06 
id) das Buch nicht Iefen könnte, auch nicht, wenn ich älter Ki, 
aber doch mit vierundzwanzig Jahren? Nein, nie. Ware es fen 
zöftfch geichrieben, ſo würde fie nichts dagegen haben, fagte Maztt 
weiter, bie franzöftiche Leftfire vermehre meine Spracplenntnifi, 
und zubem würde ich die beficaten Stellen auch nicht verſtehen. 
Ganz fo dumm, wie die Mama glaubt, bin ic rum doch Mi 
mehr! Ich verfichere euch, der nene franzoͤſiſche Roman, ben if 
jest Iefe, iR bimmiifh! nnd‘, fügte fie, dem finger am Die 


—E 


-w— 


— — 


Novellen und Romane. 551 


„Ss kommt was drin vor!” wiederholten die andern, beinahe 
athemlos vor Wißbegierbe; „wie beißt das Buch?“ — „Ich 
will e8 mit ins Kränzchen bringen, ich weiß die Stelle noch, 
ih babe fie mir gemerkt, dann könnt' ihr ganz verfiohlen auch 
einmal bineinfehen.‘ — „Ad ja! Aber bitte, vergiß es nicht!‘ 

Goethe's „Wahlverwandtſchaften“ find freilich die 
Achillesferſe diefes Romans, und der Verfaſſer hätte viel- 
leicht mehr in feinem eigenen Intereffe gehandelt, wenn 
er diefe Parallele weggelaſſen Hätte. Bei Goethe ift eine 
Wahlverwandtſchaft zwifchen Eduard und Dttilie nicht zu 
leugnen; wie aber kann eine folche zwifchen dem Rittmei- 
fter Walburg und Magdalene Oſthoff ftattfinden? Wal- 
burg, obgleich ext gegen 30 Jahre alt, ift blafirt, Hat 
eine fündenvolle Bergangenheit, wie er felbft gegen Mag⸗ 
dalene Ofthoff, die fich durch biefes Geftändniß in ihrer 
blinden Liebe nicht beirren läßt, aufrichtig genug erflärt; 
über fein Gavalierleben fagt ihm feine Sattin offen ing 
Geficht: 

„Eure Berufsehre iſt ein lächerliches Unding, das nichts 
gemein hat mit dem wahren Ehrgefühl, welches ſich auf Moral 
gründet und das die wenigſten unter euch kennen! Einen Ka- 
merad (flatt Kameraden) im Duell erſchießen, im Pferbehanbel 
betrligen, die fauern Erfparniffe der Aeltern in einer Nacht 
verpraffen, einem Freunde im Hazard fo hohe Summen ab- 
nehmen, daß er ruinirt if: dies alles, glaube ich, gehört zu 
den Vorzügen eines Cavaliers! Ein armes junges Ding be- 
thören; einem ebeln Mädchen das gegebene Wort nicht halten, 
die fo oftmals beſchworene Liebe und Treue, weil fie euch zu 
tugendhaft ift, ober ihr ein reicheres findet; den Frieden einer 
fremden Ehe flören, oder die heiligen Gelübde der eigenen brechen: 
nit wahr, das nennt ihr Cavalierfünden, zu denen ihr lachend 
die Achſeln zudt? Die wahre Ehre würde freilich zu Schan⸗ 
den bei alledem, doch euere ſogenannte Berufsehre kann vor- 
trefflih daneben beſtehen“ u. f. w. Wortlos flarrte fie der 
Satte an. 

Walburg hat nämlich die fchöne Jüdin Yudith Halel 
geheirathet, theils durch ihr Geld, theils durch ihr raſches, 
balbemancipirtes, ‚aber immer in den Schranken der Gitt« 
lichkeit bleibendes Wefen angezogen, wird aber von plöß- 
licher Liebe zu der fiebzehnjührigen Magdalene Ofthoff er- 
griffen. Er bat diefe, als fie noch ein Find war, bei 
einer Aufführung lebender Bilder vom Flammentod er- 
rettet, von dem fie durch die Unvorfichtigkeit einer Fackel⸗ 
trägerin bedroht war; dadurch ſoll nun die unwiderfteh- 
liche Anziehungskraft, die der alte Sünder beim erften 
Zuſammentreffen auf das ald rein und unſchuldig geſchil⸗ 
berte flebzehnjährige Hoffräulein ausübt, erklärt werben. 
Iſt dies pfychologiſch wahrfcheinlih? Hätte Ditilie, ber 
doch offenbar das Hoffräulein ähneln ſoll, an diefen Ritt⸗ 
meifter ihr Herz verlieren lünnen? Der Berfafler tadelt 
einmal (durch befagtes Hoffräulein), daß Ditilie gar feine 
Gewiſſensbiſſe jpürt über ihre Liebe zn Eduard; wie man 
nun über diefe objective Haltung des Goethe'ſchen Werks 


denken mag, jedenfalls bat Goethe die pſychoiogiſche Wahr- 


ſcheinlichkeit nicht verlegt, Durch diefen verunglüdten Zug 
iſt das ganze Gemälde unſers Romans entftellt, der im 
übrigen manche fchöne, rührende Scenen und gelungene 
Schilderungen enthält. 
6. Kunſtlerſtreben umd Alltagsleben. Roman von Feodor 
Steffens. Drei Bände Berlin, Jaunke. 8 4 Th. 
. 15 Nor. 
Der Titel erinnerte mid; an Goethe's „Künftlers Erden⸗ 
wallen“ und „Künſtlers Apotheoſe“. Zur Apotheoſe kommt 


es nun freilich in unſerm Roman nicht, aber doch zu 
einer glücklichen, weil auf Wahlverwandtſchaft beruhenden 
Verbindung eines Architekten mit einer Sängerin. Hier 
kann man wirklich ſehen, was Wahlverwandtſchaft iſt und 
wie die bereits geſchloſſene Verbindung zweier Weſen (des 
Architekten und ſeiner erſten Braut, einer glänzenden, 
aber alles tiefern Gehalts ermangelnden Weltdame) durch 
ein drittes (eben die Sängerin) wieder gelöſt werben kann, 
wenn e8 mit einem der fchon verbundenen in näherer 
Beziehung fteht und dieſes nun feine erfte Verbindung 
aufgibt, um mit dem Hinzugelommenen eine neue ein⸗ 
zugehen. Bon biefem wichtigen Geſichtspunkt aus ift der 
Roman unanfehtbar; die piychologifche Begründung ift 
gelungen, 

Was nun das Alltagsleben im Zufammenftoß mit dem 
Künſtlerſtreben betrifft, jo ift diefer ſchon öfter dageweſene 
Gegenftand Bier, foweit dies möglich ift, originell und 
bumoriftifch genug behandelt worden; z. B. IN, 216: „Die 
Kunft ift fo Schön, wenn nur das Leben nicht fo ver- 
dammt Foftjpielig wäre!“ | Der Berfaffer hat aber fein 
Thema, nad) meiner Anficht wenigftend, zu ſehr in bie 
Länge gebehnt und unterbricht ben ruhigen Gang der Dar⸗ 
ftellung allzu oft durch allerhand Abfprünge, Einfchiebfel, 
Anreden an ben Lefer und Recenſenten. Doch ift dies 
vielleicht Geſchmackſache, weswegen ich Fein zu großes Ge⸗ 
wicht darauf legen will. Im gauzen Lieft fich dieſer aus 
ernften, komiſchen und fentimentalen Elementen zufanmen- 
gefegte Roman recht angenehm. Auf den jprachlichen 
Ausdrud hätte der Verfaſſer hier und da mehr Fleiß 
verwenden dürfen. Ausdrüde wie: „Programms“ ftatt 
„Programme (diefe franzöfirende Pluralforım greift ime« 
mer mehr um fi; ich habe irgendwo einmal „Bräuti⸗ 
gams“ gelefen); „unſer gute Baufe ftatt „guter“ (fo 
öfters im Buch); „Belobigung“ ftatt „Belobung“, find 
zu tadeln. — Mehr fseilel 
7. Erzählungen. Die Feuerdore, Erzählung aus dem pfälzer 

Bollsleben. Der Helm von Cannd. Bon Dtto Müller. 

Stuttgart, ©. Hallberger. Gr. 8. 1 Thlr. 10 Nor. 


Zwei Erzählungen, bie weit auseinanderliegen. Die 
erfte gehört den berufenen Dorfgeſchichten an, ohne hier 
eine neue Saite tieferer umd reinerer Poefie anzufchlagen. 
Nach S. 149 ift die Geſchichte, die in einem etwas fal- 
bungsvollen Moralton vorgetragen wird, im der Haupt- 
fache Hiftorifch beftätigt — dies beweiſt aber noch nichts 
für ihren poetifchen Gehalt. Hingegen ift „Der Helm 
von Cannä”, d. 5. der Helm, den Hannibal bei Cannä 
getragen haben fol und der 1790 auf originelle Weife 
bem Haupt der Minerva pacifera im Batican zu Rom 
abgenommen und auf das Schloß des Grafen zu Erbach 
gebracht wurde, wo er fid) nad unferer Erzählung noch 
befindet, ein Prachtſtück eines wahrhaft ergöglichen Hu⸗ 
mors, mag nun die Erzählung gefchichtlich beftätigt fein 
oder nicht. 

8. Die wilde Rofe. Eine rheiniſche Dorfgeihichte von Eugen 

Senthis. Düfjeldorf, Stahl. 1869. Gr. 8. 20 Nigr, 


Ebenfalls eine Dorfgeſchichte wie „Die Feuerbore“, aber 


nech viel gräßlicher als dieſe. Hier zeigen ſich die meiſten 


dieſer Dorfbewohner in ihrer reinen Thierheit, worauf 
ſchon die Ramen: bie Füchſin, der junge und der alte 


552 


Htis, hinweiſen. Biel Poeſie abe ich auf diefem Ader 
voll von Dornen, Difteln und Unkraut, anf dem die 
Tochter der Füchſin wie eine wilde Roſe aufgewachſen 
ift, eben nicht gefunden; aber auch bier beruft ſich der 
Berfafier darauf, daß die Gefchichte wirflich in dem Orte 
Heiderich am Rhein vorgefallen fei, und meint zum Schluß: 
„Und da fomm’ mir einer mit der Behauptung, daß es 
im Leben keinen Roman gebe!” Indeſſen fcheint mir ber 
Berfaffer nicht immer fireng bei ber Geſchichte geblieben 
zu fein; denn ©. 59 ſtirbt der „Malzbauer“ eines gemalt- 
famen Todes, ©. 83 lebt er noch und erkundigt ſich nach 
dem Schidjal feines Sohnes. Diefer Sohn, der Geliebte 
der milden Rofe, muß nach ©. 57 als Soldat nadı 
Schleswig. Holftein, nach ©. 83 wird er bei Langenſalza 
verwundet. Das find doc Widerſprüche! 
9. Ins Kloſter. Ein Familienbild aus den Rheinlanden. Ro- 
den Den eitgelm Freimuth. Düffeldorf, Stahl. 1869. 
. t. 


Auf die Dorfgeſchichten folgt eine Kloſtergeſchichte, in 
der und die Menſchennatur mehr nad) ihrer Schwäche 
und Beftimmbarfeit entgegentritt. Auch dieſer Roman (von 
130 Seiten) fpielt im Sommer des Jahres 1866. Er 
enthält eine wohlgemeinte Warnung vor dem Klofterleben; 
die Hauptperfon, bie durch priefterliche Borfpiegelung Nonne 
geworben ift, wird durch die Macht der Liebe «dem Leben 
wiedergegeben. Der Schluß lautet: „Veritatem secutus 
stultitiam pugnavi“, und legt eben kein günftiges Zeugniß 
für die Schulbildung des Berfafiers ab. 

10. Der legte Maktabäer. Hiſtoriſcher Roman. Aus den Ba- 
pieren eines Berflorbenen. Drei Bände. Hannover, Klind⸗ 
worth. Gr. 8, 2 Thlr. 

Ber diefer „Verftorbene” ift, wird nicht angegeben, unb 
feine Spur im Buche weift deranf Hin. Der Titel leitet 
irre; denn e8 Handelt fi Hier nicht um den legten Maf« 
Tabäer allein, der erft gegen das Ende auftritt, fondern 
um den Kampf ber Juden gegen die Uebermacht der Syrer 
unter dem Heldengefchleht der Mallabäer. Der letzte 
Maflabäer wäre eigentlich Iohannes Hyrkanus, Sohn des 
von feinem Schwiegerſohn Ptolemäus ermordeten Simon 
Moffabäus. Eine bei weitem bedeutendere Rolle als die⸗ 
fer Johannes fpielt der erſte Maflabäer Judas. Wozu 
alfo der irreführende Titel? 

Im Vorwort wird bemerkt: 

In der Geſchichte des Heldengeſchlechts von Matathias offen. 
bart fi die Wahrheit aller Zeiten: jede Nation bringt vor 
ihrem gänzlihen Verfall Repräfentanten ihrer Nationalität, 
patriotifch erglühte Charaktere hervor, und an diefe fnüpft fid 
die Glanzperlode des bahingefunfenen Bolls, Ihre Namen find 
die Träger des feinigen. Es gibt wol fein Beifpiel in der 
Geſchichte, das uns den Contraft zwiſchen den Juden der Jetzt⸗ 
zeit und denen, die ber Malfabäer Zeit- und Kampfgenofjen 
waren, fo deutlich vor bie Seele führt, ale wir bei mur flüch- 
tigen Bergleich ihn erfennen müffen. Darum ermählte ich mir 
da genannte Heldengefhlecht zum Gegenftanb diefes biflorifchen 
Romane, und man wird au in vorliegendem Buche die tiefe 
und auf alle Zeiten bezügliche Bedeutung der bibliichen Ge— 
ſchichte erkennen. 

Dies alles gilt weit mehr von dem Kriege der Juden 
mit den Römern, in dem Iernfalem zerftört wurde. Im 
diefem Kriege ließen e8 bie Juden gewiß an Tapferkeit 
ebenfo wenig fehlen wie-in bem ſyriſchen Krieg, wenn 
fich gleich fein Heldengeſchlecht bejonders in ihm hervor⸗ 





Novellen und Romane, 


that, und biefer Krieg dauert im feinen Wirkungen uoch 

weit mehr fort als jener ſyriſche, der für Nicjtifraeliten 

feine beſondere Anziehungskraft hat. Das „auf alle Zi» 
ten Bezügliche ber bibliſchen Gefchichte” zeigt fid ;. ©. 

1, 108, wo ber fterbende Matathias, der Water der Male 

tabäer, die Kreuzigung Jeſu, die Kreuzzüge und nod, 

Späteres, freilich ohne alle pfgchologifche Meotivirung, vor 

ausſagt. Der erbittertfte Feind der Maftabüer ift a 

Keren Ofal, ein von Iſrael abtrünniger Räuber, Sflaven- 

händler und Falſchmünzer, ber zulegt, von Johannes, bem 

legten Maflabäer, befiegt, anf einem Thurm fich jelbft 
den Tod gibt. „Er breitete die Arme weit aus, ben 
ſelbſtgewahlten Tod (in ben Flammen) an bie Ichenemüde 
und doch muthige Bruft zu drüden — fo war er anju- 
ſchauen wie ein Gekreuzigter!“ Die Juden ſchrien mit 

Entfegen: „Höre, Irael! Der Herr — !" Da ftürgte ber 

Thurm mit Donnerfrahen zufammen. 

Hier fchließt das Bud. Diefer Ha Keren Ofal if 
offenbar ein prophetifches Zerrbild des Iſa Ben Miriam 
Geſus, Sohn der Maria), wie der Erlöfer einmal ge— 
nannt wird. Aber Zweck und Zufammenhang diejer Er 
findung ift mir nicht ganz Mar geworden. Der Berfafier 
war offenbar Sfraelit, aber zugleich Freund des Chriften- 
thums umd Verehrer Jeſu. Das Ganze ift eine rheioriſche 
Erweiterung. und Ausſchmückung des erſten Buchs der 
Maltabäer. 

11. Der deutſche Michael. Hiſtoriſcher Roman von A E. 
Brahvogel. Bier Bände. Berlin, Janke. 8. 5 Thlr. 
20 Nor. 

Der Titel ift zwar nicht irreführend, aber doch un 
beftimmt. Der Held dieſes hiſtoriſchen Nomans ift ein 
Erzeugniß der Phantafie des Dichters, womit natiirlid 
durchaus Fein Tadel ausgefprochen fein fol. Der heilige 
Michael ift ber Schugpatron ber Dentfchen, ber Engel 


des Lichts, der die Finfternig und Lüge befiegte; unler 


Michael Felgentren ift Kämpfer gegen Aberglauben, Un- 
recht, Gewalt und Hinterlift im NReformationgzeitalter, 
entflieht aus dem Kloſter Zinna bei Jüterbog, in das er 
widerrechtlich geftoßen war, belämpft den Ablafträmer 
Tegel, errichtet in Yüterbog eine neue Stabtmiliz, ver- 
breitet Luther's Säge gegen den Ablaß, Hilft die Refor- 
mation in Süterbog einführen, flegt bei Franlenhauſen 
über Münzer, tritt mit Luther und Melanchthon in Ber- 
bindung, hilft der wegen ihres evangelifchen Glaubens 
von ihrem Gatten verfolgten Kurfürftin von Brandenburg 
ur Flucht nad) Sachſen und kämpft mit Glüd gegen die 
Türen. Er will den bei Mühlberg gefangenen Kurfürften 
Iohann Friedrich befreien, doc) ber Anfchlag mislingt und 
Michael ſoll zwiſchen den Spießen laufen, wird aber 
wunderbar errettet, zeigt ſich anf einmal wieber als Gtrei- 
ter gegen ben flüchtigen Karl V. im Schmalfatdifdjen Kriege, 
wird aber bier von feinem frühern Freund und fpätern 
Feind Krähenfutt durdbohrt. Diefer Michael ift der gute 
Genius der deutſchen Nation in jener wichtigen Zeit, nad) 
den Worten des Kaifers Karl V.: „wie Puther umanteft- 
bar, ein granitner Mann in feinem Trotz bes Rehtt, 
furchtbar in dem Bewußtſein feiner Zeit und feines Dolls, 
unüberwinblicher als Glaubengeiferer als fonft ein Mann.“ 

Das Denfen freilich, ift feine Stärke nicht, wienol 
wir I, 225 Iefen, er fei vom vielem Denken gebantenlos 





Ein Fürftinnenleben. 


gewefen. Ihn treibt ein gewiſſes biderbes ritterliches Pathos 
für Gerechtigkeit und deutfche Freiheit. Desgleichen hat 
er feine Entwidelung, die eine Verwidelung wäre und 
ihn in tiefe Kämpfe mit fich felbft führte, ex ift ja das 
irbifche Abbild des Schutengels der Deutſchen. Freilich 
muß man fid) verwundert fragen, warum denn biefer 
Michael Telgentreu gerade bei den erzählten und nicht 
auch bei andern wol noch widtigern Kämpfen zugegen 
gewejen fei, warum er 3.8. beim Reichstag in Worms 
fehle. Wir befommen eine Reihe von Gemälden aus der 
Reformationszeit, die durch den Antheil, ben ber biedere 
Ritter Michael an ihnen nimmt, zufammengehalten wer⸗ 
den. Dffenbar fehlt e8 dem Roman an wahrer Einheit, 
und diefer Mangel läßt fi durch die glänzendften Bra⸗ 
vourftüde nicht erfegen. Es kommt aber nod) etwas in 
Betracht. Der Roman ift halb eine pathetifche Verherr⸗ 
lichung, halb eine Anklage des Lutherthums. Beim Ka⸗ 
pitel vom Banernfrieg macht der Berfafler einen Anfat 
zu einer freifinnigen Kritik des Lutherthums. Der biderbe 
Michael weiß freilich auf die Anlagen, die der flerbende 
Münzer gegen das Lutherthum fchleudert, nur mit nichts» 
fagenden Allgemeinheiten zu antworten; aber II, 209 fagt 
Brachvogel felbft: 

Der allmächtige Schreden des Bauernanfftandes war der 
Damm des freien Gedankens geworben. Luther trat mit fi 
felhft in Widerfprud, wurde dem großen Grundſatze ungetreu, 
den er gegen Cajetan fo glänzend vertheidigt hatte, „daß der 
Menic feinen Gewiflen, dem Gott in fi allein zu geboren 
babe”. Indem er jest in fich felber eine neue unfehlbare Au⸗ 
torität aufftellte, den Glauben unter die politifche Imriediction 
des Staats fegte und die Fürften zu feinen Wächtern, hatte er 
die Bewegung geftaut und fein ganzes weiteres Leben wurde 


553 


nur ein Kampf gegen das, was er al® „zu viel’ bezeichnete. 
In diefem Eutihluffe, wahrhaft tragifcher Natur, an dem das 
Herz des großen Mannes fortan frauen follte, lag der Keim 
zu all den Tünftigen Wirren des deutſchen Weſens, und der 
Grundſatz: „Weſſen das Land, deffen die Lehre”, wurbe bie 
Wurzel unferer nationalen Spaltung, die Mutter der — Klein- 
ftaaterei. Hier ber PBapft, dort Thomas Münzer, das war lei⸗ 
der die Alternative; Martin aber ging eifern zwifchen beiden 
durch, beide vernichtend, und rettete jo nur das evangelifche Pa⸗ 
nier für fpätere Geſchlechter. 

Da flimmt ja ber Berfaffer ganz mit dem fterbenden 
Münzer überein; wie reimt ſich aber mit biefen und an» 
dern Stellen die abftracte Berherrlihung Luther’3, Die 
anderswo angeftimmt wird? Wie paßt diefe ſcharfe Kritik 
zu bem biberben Pathos, das fonft im Roman waltet? 
Wie kann der Berfafjer namentlich am Schluß IV, 323 
fagen: „Der Baflauer Vertrag brachte Deutſchland nicht 
nur bie freie Xehre in aller Schönheit wieder, fonbern 
aud) das Kleinod der Barität, der Gleichberechtigung“? 
Wurde denn nicht durch den Augsburger Religionsfrieden 
1555 der vom Berfofler fo fireng getabelte Grundfag: 
„Cujus regio, ejus religio“, erft recht befeftigt ? 

Sonſt ift uns aufgefallen das häufig vorkommende 
„Sonftl“ ftatt „Concil“ (Kirchenverfammlung), „Iuden‘‘ ftatt 
„lugen“ (Drudfehler?), die Erflärung ber Redensart: „Die 
Sade hat einen Halen”, von dem Ritter Hale, ber bei 
güterbog dem Mönch Tegel feinen Kaften auf eine Weife 
wegnahm, die allerdings nicht ganz gebilligt werben Tann, 
Ueber legteres mag ſich der Verfafler mit dem Grimm’- 
[hen Wörterbuch; auseinanderfegen, das von diefem Ur- 
fprung der genannten Redensart nichts weiß. 


Sufan Hauff. 


Ein Fürſtinnenleben. 


Jakobäa von Baiern und ihre Zeit. Acht Bücher nieberlän- 
difcher Geſchicht von Kranz von Löher Auf Beranlaj- 
fung und mit Unterffügung Seiner Majeftät des Königs von 
Baiern Marimilian U. Zwei Bünde. Nördlingen, Bed. 
1869. ®r. 8 5 Thlr. 


Keine Beriode der Geſchichte ift von ber in unfern 
Tagen im allgemeinen doch fo regſamen und fhöpferifchen 
Hiftorifchen Wiffenfchaft bisher fo auffallend wenig berüd- 
fichtigt worben, wie die merkwürdige Zeit, in welcher die 
Bildungen des Mittelalters im Gebiete des Stantslebens, 
der Geſellſchaft, der Literatur und Kunft zu ſchwin⸗ 
den beginnen und zwifchen und anf den aufgehäuften 
Trümmern bie erftien Schößlinge einer neuen Zeit empor» 
zufproffen anfangen. Und doch bat die Erfenntniß gerade 
dieſes Mebergangs aus dem Mittelalter in die neuere Zeit 
einen befondern Werth, da wir nur von ihr eine voll» 
flündige Bloßlegung der eigentlichen Orundpfeiler, auf 
denen die Cultur der neuern Zeit fi) aufgebaut hat, zu 
erwarten haben. Eben darin aber liegt zugleic) der Grund, 
weshalb gerade auf diefem Gebiete verhältnigmäßig fo 
Selten eine bebentendere Leiftung zu verzeichnen iſt. Wer 
die Gefchichte des 14. und 15. Jahrhunderts fchreiben 
will, der muß nicht blos in dem von ihm darzufiellen« 
den Zeitraum völlig heimiſch, fondern auch dieffeit und 
jenfeit deflelben, mit der voraufgehenden und der nach⸗ 

1870. 8. 


folgenden Zeit fo vertrant fein, daß er das Ineinander⸗ 
übergreifen, die Bermifchuug verfchiedener Enlturperioden, 
die im folcden Webergangszeiten ftattfindet, durchdringen 
und in ihre verfchiedenen Zeitaltern angehörigen Beftand- 
theile zerlegen Tann. Das fett aber nicht blos ein ebenfo 
umfangreiches wie tiefes Wiſſen voraus, jondern auch eine 
Congenialität des Darftellers mit dem Stoff, ein finniges 
Sichvertiefen in die Vergangenheit, die Fähigkeit, mit den 
Menfchen entſchwundener Jahrhunderte zu denfen und zu 
fühlen, zu lieben und zu baflen, zu leben und zu leiben, 
wie fie doch nur einigen wenigen Auserwählten aus ber 
großen Schar der Jünger der hiftorifchen Wiffenfchaft 
verliehen ift. Ein anderer Umftaud kommt noch hinzu, 
der nämlich, daß gerade für dieſe Zeit des Webergangs 
aus dem Mittelalter in die nemere Zeit e8 mit ben 
Duellen, aus denen die Darftellung zu fchöpfen hat, 
außerordentlich ſchlecht beſtellt ift und im biefer Hinficht, 
von einigen wenigen Ausnahmen abgefehen, eigentlich nicht 
weniger als alles zu thun if. So werden denn immer 
ungewöhnlich günftige Umſtände zufanmentreffen mitfien, 
wenn biefer noch jo wenig erſchloſſene Theil der Gefchichte 
im einer nicht blos den Fachgelehrten, fondern allen Ges 
bildeten zufagenden Weife und zugleich zum Nutzen der 
Wiſſenſchaft jelbft behandelt werden fol. Kiner ſolchen 
Conftellation verdanken wir denn aud das Erfcheinen bes 


70 








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554 Ein Fürftinnenleben. 


obengenannten Buchs über „Jalobia von Baiern und 
ihte Zeit” von Franz bon Löher, welchem wir unter 
den jene merkwürdige Uebergangäpertode behandelnden Wer- 
ten ohne Bedenken einen sche hervorragenden, ja geradezu 
den erften Plag einräumen. ' 
Auch in dieſem vortrefflichen Buche, deſſen erfter Band 
Schon vor mehren Jahren erſchien, und ſich allfeitigen 
Beifals erfreute, auch fofort in fremde Spradhen über⸗ 
Ist wurde, begrüßen wir bon neuem die tiefgehende 
hregung und bie wahrhaft Königliche Förderung, welche 
der feinem Volke und der von ihm beſchützten Wiſſenſcha 
allzu früh entrifjette Kbnig Marimilian II. von Baiern 
wie jedem hoben geiſtigen Streben, fo nantentlid) ber 
deutſchen Peſzihchrehung hat zutheil werden laſſen. 
Wenn auch zunächſt dad Inteteſſe art der Vorgeſchichte 
jenes, des Wittelsbuch'ſchen Hauſes, den hochſinnigen König 
eſtimmt haben mag, eine genaue quellenmäßige Bars 
ftelung des Lebens feiner Ahnfrau Jakobän dort Balech 
zn. veranlaſſen, jo zeigt doch diefe Wahl zugleich ein 
tiefes Verſtündniß Für das wirklich Bedeutende, Epoche⸗ 
machende in der Geſchichte; denn eine Biographie Yalo- 
bin’! mußte, in großem Sime gefaßt und in wahrhaft 
hiſtoriſchem Stil ausgeführt, zugleid eine Geſchichte der 
europaiſchen Cultur in ber erften Hälfte des 15. Jahr⸗ 
hunderts twerben. Beſſern Händen aber als denen Löher's 
Tonnte, wie der Erfolg zeigt, die in biefein Sinne gu 
idſende Aufgabe nicht anderträrt werden; denn Bier fegen 
wir, der Neigung des geſchichtskandigen Königs ent⸗ 
fprechend, die hiſtoriſche Perfönlichteit aufgefaßt wirklich 
im Lichte ihrer Zeit, und die Zeit betrachtet auf beit 
Hintergrunde der leitenden Ideen, welche mit frühern 
Sahrhunderten verknüpfen und in die folgenden hineinführen. 
Mit treuer Hingabe und mit feinfühligem Verftändnig hat 
ſich der Gefchichtjchreiber in die Zeit feiner Heldin, in das 
ganze Leben und Weſen derſelben vertieft; nicht blos koſt⸗ 
vare Quellenmaterialien, weiche bisher unbekannte That⸗ 
fachen ergaben oder doch bisher berfantite in dad richtige 
Dicht Teen, hat er durch die auf Beranlafſfung und met 
Unterftägung König Marimiltan’s IL. unternommenen For⸗ 
ſchungstriſen zu Tage gefötbert, ſondern er Hat ſich um 
ie genaue Bekanntfchaft ertvorben mit der eigenthüm⸗ 
Then Natur des Landes, welches der Schauplatz ber 
VGiſchichte Iatobäa’s ift, und mit bein fo Apeneztigen und 
felbſtndigen, Fehroffen und doch wieder Tiebenswlirbigen 
und anziehenden Charukter der Menſchen, in deren Mitte 
das Wentendrreiche Leben ber fchönen Wittelsbucherin Fich 
abfpltte. Aus dem eingehenden Studium von Land und 
Lernen hat fi) dem Gefſchichtſchteiber, der bis in bus 
Teinfte Detail der Cultur des vitteefichen und bürgerlichen 
Pebens jener Zeit eingedvangen iſt, ein jo lebensvolles und 
anfchanliches Bild ber Bergangenheit ergeben, daß «er ıhit 
beſonderer Vorliebe, aber Auch init befonders günftigem 
Srfolge in ſaftigſtet Farbengeberng den Hitttergrund ums 
ut, Auf dem die Perſoönlichkett der vielgepeuften 
Sctebta vun Batem Handelnd and Ixibend Fi abhebt. 
Gerede diefe eulturgeſchichtliche Seite feines Stoffs hat 
Loher angenſcheinlich befditbers angezogen, und im ihrer 
uberdus friſchen und glücllichen Dehandlung fehen wir das 
Hauptverdienſt ſeines Töten Werka. Daß ber Ber- 
faſſer ſelbſt darüber die eigentlich hiſtorifche Entwickelung 


hier und da beinahe fallen läßt und mit behaglicher Breite 
ſich im Ausmalen und Schildern ergeht, wird ihm nie⸗ 
mand zum Vorwurf machen, denn gerade in ſolchen 
Abſchnitten tritt uns fein glänzendes Darſtellungstalent 
amt erfreulichften und wirkungsvollſten entgegen. Freilich 
wollen wir nicht verhehlen, daß diefe breiten und farben- 
präditigen Schilderungen, welche das höfiſche und ritter- 
liche Leben des 15. Jahthunderts in plaftifcher Auſchau⸗ 
Cichleit vor uns erflchen laſſen, bier und da fo im den 
Borbergrund gefihoben zu fein feinen, um die zumeilen 
zweifelhafte oder dach zeitweife ſehr fragliche Hiftorifche 
Bedeutung der eigesitlichen Heldin gewiſſermaßen zu ver⸗ 
decken und den Leſer in der liebenswürdigſten Weife über 
Abfchnitte Hinwegzuführen, wo er, ohne durch fo intereſ⸗ 
jante Schilderungen völlig in Anſpruch genommen zu fein, 
dem Gejchichtjchreiber ficher im Geifte mit der Frage 
entgegeitieten würde, warum denn gerade Jakobäa von 
Baiern gur Trägerin diefer ganzen Periode gemadgt um® 
in den Mittelpunkt der Darftellung einer Zeit gerüdt jet, 
deren darakteriftiiche Eigenfchaften zu repräfentiren andere 
Perfönlidgkeiten ſehr viel mehr berufen erſcheinen. Phi⸗ 
lipp von Burgund, der glückliche Gegner Jakobäa's, hätte, 
wie es uns ſcheint, feiner ganzen hiſtoriſchen Bedentung 
nach ſehr viel mehr ein Recht darauf gehabt, als der 
Träger der ganzen Cultur der uns hier geſchilderten Zeit 
auch in den Mittelpunkt der Darſtellung derfelben gerückt 
zu werden; denn er repräſentitt vor allem das in den wil⸗ 
den Kampfen jener Zeit klarer hervortretende monarchiſch⸗ 
abſolutiſtiſche Princip des Fürſtenthums. Gerade dieſen 
Zug aber vermiſſen wir in Jakobäa von Baiern, wie 
Köher ſelbſt von feiner Heldin fagt, fie fei „doch mehr 
Weib als Fürftin und fchöpfe ihre Kraft aus dem Herzen, 
jodag ihre Kraft dahin war, ſobald fich dieſes fröftelnd 
zufammenzog”. Wi es und denmacd, wenn der Maßſtab 
wirffich hiſtoriſcher Bedeutung allein gelten fol, nicht ganz 
gerechtfertigt erfcheinen, daß diefe Frau, welcher die eigent- 
liche Herrfchergröße abgeht, die ihrer Zeit keinen fort- 
wirkenden Impuls gegeben, auch Leine neue Idee im die- 
felbe gepflanzt Hat, zur Reprüſentantin einer ganzen 
Culturepoche gemacht wird, fo erklärt ſich dies doch Leicht 
einmel aus der Beranlaffung, auf die Hin das Bud 
entftanden At, und damı ans den: Zauber, welchen ber 
die poetifch reizende Geſtalt der ſchönen und unglücklichen 
Fürftin umftraflende Nimbus ber Romantik auf jeben, 
der dem Stoffe näher tritt, auoiben witd. Liber feleſt 
fugt von feiner Heldin, „ſie Hade ben alten Xitterthuuu 
noch era flatterud fern Basiaer vdrangetragen, ihre 
Ideale aber ſeien uatergegangen, weil der ſtaatorechtliche 
und ſociale Boden, auf dem fie beharoten, brüchig ge 
worden“. Die durch und durch romantiſche Etſtcheinug 
der abenteuerlichen Wittelsbacherin ragt doch nur wie die 
einzige Berttsterkn einer fremden, vergangenen, ſchon dem 
Untergange verfallenen Belt in das Zauhrhundert der poli⸗ 
Hichen und ſoeialen Neubildungen herein; fie kann wech 
unſerer Meinung nicht als die ſelbſtihätige Vertreberin 
eines beſtimmten hiſtorifchen Princips gebten, fondern üſt 
vom SäHifal dazu verurtheilt geweſen, ohne vigene Schuld 
und ohne eigene bedentende That die Murcyrerin der 
ren Zeit zu werden, die ſobche Furſtinnen nicht mehr 
brauchen konnte. | 





Ein Fürftinnenleben. 


Nur durch ihre Abſtammung aus dem wittelsbacher 
Haufe hängt Jakobäa mit Baiern zuſammen; durch ihr 
Leben unb Leiden ift fie gerabe mit ihrem Stammlande 
niht in Berübrung gekommen. Der Schauplag ihrer 
wechfelvollen, ja geradezu abenteuerlichen Geſchichte iſt das 
Land, welches, in den frühern Jahrhunderten bes Mittel» 
alters wenig berportretend, gegen das Enbe beflelben der 
Sig einer bejonders glänzenden Entwidelung im politifchen 
Leben ebenfo wol wie im jocialen und geiftigen, und dann 
endlich jozufagen die Wiege bes mobernen Staats gewors 
den if. In den Niederlanden und deren Berhälmnifien 
haben wir die Grundbedingungen für Jakobäa's Gefchichte 
zu fuchen. Bon der Schilderung Hollands nad) Land 
und Lenten geht daher auch Löher's Darfiellung aus; 
aus den Parteilämpfen des Mittelalters, dem Gegenfage 
zwifchen den auf dem Lehensftaate beruhenden Adel unb 
Ritterthum und dem in ben Städten zu herrlicher Ent- 
faltung kommenden Bürgerthum wird bie tiefgehende 
Porteifpaltung hergeleitet, die mit bem Kampfe zwifchen 
Hoeks und Kabeljaus Holland zerriß und zu einer fo 
tiefen und feindfeligen Zerflüftung des Volls führte, 
„daß mit feinen Süften und feinem Blute zugleich ber 
Parteihaß dur feine Adern rann und jedes Creigniß 
und jeder Charakter feiner Gefchichte die Spuren bavon 
trägt”. Dann wird die Herrfchaft der durch Ludwig's 
des Baiern glüdlihe Hausmachtspolitit nach den Nieder- 
landen verpflanzten Wittelöbacher in dem ihnen ſo frem⸗ 
den Gebiete gefchilbert. Anziehende, lebensvolle Bilder 
werden uns in diefen Abfchnitten, namentlih von der 
ritterlicden Gefellfchaft und ihrem Treiben, den Banketen, 
Turnieren und Tehden entworfen. So lernt der Leſer 
gleichjam die Rebensluft kennen, welche Jakobäa, die 1401 
geborene Tochter des Herzogs Wilhelm, von gend auf 
athmete; die Schilderung ihres Jugendlebens, ihrer Er⸗ 
ziehung, ihrer frühzeitigen Verlobung mit Johann, dem 
zweiten Sohne des blödfinnigen Karl VI. von Frankreich, 
ihr Leben an dem damals fo tief gejunfenen franzöfifchen 
Hofe, die Berflehtung ihrer Stellung mit dem großen 
englifch = franzöfifchen Erbfolgefriege, ihre Erhebung zur 
Dauphine und künftigen Königin Frankreichs nah dem 
Tode bes ültern Bruders ihres Gemahls, die daneben 
hergehenden Streitigkeiten wegen Hollands, in denen 
Jalobäa ſchließlich die Nachfolge zugefichert erhält, bilden 
den erften fozufagen präludicenden Abfchnitt zu dem be⸗ 
wegten Leben, befien Bild uns bier entrollt wird: mit 
der Vergiftung ihres Gemahls, welcher bie fechzehnjührige 
Jakobäa zur jammernden Witwe macht, und in dem jü- 
hen Tode ihres Vaters findet derſelbe einen grauenhaften 
Abſchluß. Weiterhin wird dann Yalobän gefchilbert als 
Herrin Hollands, an der Spitze ber ritterlihen Partei 
ber Hoeks gegen bie Kabeljaus, die reichen Städte und 
deren Anhang kümpfend, in ihrer Herrſchaft gefährdet 
durch ihren gewaltthätigen Oheim Johann von Baiern 
und den mächtigen Herzog von Burgund; wie in einem 
Kaleidoflop wechfeln die bunteften Bilder in fchneller Folge, 
und bie ganze Zeit mit ihrem gewaltthätigen unb rohen, 
babei doch ritterlichen nnd romantifch ſchwärmenden We⸗ 
ſen fteht vor und, als ob wir mit und in ihr lebten. 
Bon ihren Gegnern überwältigt, jucht Jakobäa durch bie 
Bermählung mit ihrem Better, dem jungen Herzog von 


—————— ——— — — — — — — — — — — — — — — —— — — — — — — — — — 


555 


Brabant, einem elenden Schwächling an Leib und Seele, 
eine Stütze zu gewinnen. Wieder entfaltet Löher hier 
vor uns ein farbenglänzendes und an feſſelndem Detail 
reiches Bild von dem Leben an dem brabanter Hofe zu 
Brüſſel. Hier gewinnt man auch für feine Heldin, felbſt 
wenn man die gejchichtliche Bedeutung derſelben nicht allzu 
hoch anfchlagen mag, doch ein tebfaftes, rein menjchliches 
Mitgefühl. Durch die Flucht entzieht fich Talobia end⸗ 
fi den Demütbhigungen, denen fie am Hofe ihres ganz von 
ihren Gegnern beherrſchten Gemahls ausgejegt iſt; weil 
der Papft den früher ertheilten Dispens zurüdgenommen, 
feheidet fie eigenmädhtig ihre Ehe mit Johann von Bra» 
bant, flieht abenteuernb nad) England, wo fie Schug 
und Aufnahme findet und ſich endlih mit Humfried 
Herzog von Glocefter, dem ſchönen und ritterlihen Bru⸗ 
der Heinrich's V., vermühlt. Damit erreicht der Conflict 
eigentlich feinen Höhepunkt: Johann von Brabant ver- 
langt feine Frau zurüd, welde ihre Ehe mit ihm als 
anfgelöft anfteht; ein fürmlicher Proceß wird zwiſchen 
Johann und Humfried um Yalobün’s Beſitz vor ber 
päpftlichen Curie geführt. Die Schuld, welche die ſchöne, 
an einen unwürdigen Gemahl gefeffelte Frau auf fi 
geladen batte, iſt ſchwer an ihr gerächt worden. Hum⸗ 
fried, für den fie mit Leidenfchaftlicher Liebe ſchwörmte, 
fieß fie, old er im Kampfe zur Wiebergewinnung ihres 
Erbes fein Glück gehabt Hatte, allein zurüd und ging 
nach England, wo er bald ganz unter den Einfluß ber 
ſchönen Eleonore von Cobham gerieth und fchließlidh froh 
war, feine Ehe wit Jakobäa vom Papft als ungitltig ver⸗ 
worfen zu fehen, da er nun feine Buhlerin zur recht⸗ 
mäßigen Gattin machen Tonnte. 

Wir müſſen e8 uns leider verfagen, den bunt beweg⸗ 
ten Lebensgang Yalobla’s nad) der Darftellung Lüher's 
weiter ins einzelne zu verfolgen; niemand wird ohne das 
größte Intereſſe Iefen, wie die merkwürdige Frau endlich 
ihren Gegnern erliegt und gefangen gehalten wirb, wie 
fie fih in Mannskleidern durch eine lan geplante und 
fühn ausgeführte Flucht aus dem Gefängniß befreit, von 
neuem an der Spige ihres mehr und mehr zujammen- 
ſchmelzenden Anhangs den Kampf um ihr Erbe beginnt, 
um ſchließlich doch in der Hauptſache zur Nachgiebigkeit 
und zur Anerfennung des Willens ihrer übermächtigen 
Widerfacher gemöthigt zu werden. Bei der Xheilnahme, 
welche Löher durch feine warme und lebensnolle Dar⸗ 
ftellung für das Geſchick der ſchönen Zalobäa in jebem 
feiner Lefer zu erweden weiß, bat es etwas Beruhigen⸗ 
bes und Wohlthuendes, zu fehen, wie and) diefer viel- 
verfolgten Fran ſchließlich noch ein neues, wenn auch 
befcheideneres Glück erblüht. Durch den Tod Johann's 
von Brabant von der Kette befreit, in der fie bisher ge⸗ 
ſchmachtet und deren — Löſung ber Grund 
alles über ſie hereingebrochenen Elends geworden war, 
findet Jakobäa ſchließlich in der Che mit dem edeln 
Ritter Franz von Borfjelen ein neues Glüd, das bis zu 
ihrem Tode im Jahre 1436 ungetrübt beftand; auf die 
einft fo hartnädig vertheibigte Herrfchaft über die Nieder« 
Iande hatte fie Berzicht geleiftet und den Anſpruch aufe 
gegeben auf eine Stellung, bie auszufüllen fie nicht ſtark 
genug und überhaupt in jener kampfdurchtoſten Zeit ein 
Weib nicht berufen war. 

70 * 


556 


Mit Iebhaftem Dank, der fowol dem Andenken bes 
königlichen Förderers dieſes Werks wie dem hochver⸗ 
dienten Verfaſſer gilt, ſcheiden wir von der ſchönen 
Biographie; nur einen Wunſch möchten wir nod aus 
fprehen, den nämlich, daß es und vergönnt fein möge, 
Löher bald mit einem Werke hervortreten zu fehen, das 
fih als die natitrliche Yortjegung des bier beſprochenen 
darftellen würde. Die Geſchichte der Niederlande unter 
der burgundiſchen Herrſchaft, die durch die Verdrängung 
Jalobüa’8 von Baiern begründet wurde, würde faſt noch 


Feuilleton, 


Iehrreicher und intereffanter fein als die in ber hier be- 
bandelten Periode; denn in bem burgundifchen Staste 
Philipp's des Guten und Karl's des Kühnen kommt alles 
das zur Entfaltung und reift zur Frucht, was in ber 
Zeit Jakobäa's erſt keimend und fchwellend erfcheint, ſehen 
wir das Mittelalter zuerft ganz überwunden und bem 
modernen „been gemäß die Monardie ſich entwideln. 
Diefen merkwürdigen Proceß zu fchildern wäre niemanb 
jo berufen wie der Gefchichtfchreiber Jakobäa's von 
Baiern. Yans Drug. 


Senilleton. 


Die Kriegsiyril von 1870. 


Einge wem Gefang gegeben 

In dem deutſchen Dichterwalb — 
die Kriegslyrik von 1870 macht diefe Uhland'ſche Mahnung 
wiederum zur Wahrheit. Myriaden von Liedern und Ge- 
dichten find bei den Redactionen der deutfchen Hauptzeitungen 
eingelaufen und ſchlummern dort zum großen Theil in den 
Redactionspulten den Schlaf ber Gerehten. Doch aud bie 
Zahl der abgedrudten Gedichte ift Legion; jedes deutfche Local» 
blatt füllt feine Spalten mit Erzeugniffen freundnachbarlicher 


oefle. 

Die Einmlithigkeit der deutjch-nationalen Gefinnung, von 
der fih nur die Vertreter des engherzigſten Particularismus 
ausfchließen, und bie gerechte Enträftung über den Uebermuth, 
mit dem Frankreich einen fo furdtbaren Krieg vom Zaun brad), 
wurden alsbald zu infpirirenden Mufen der deuntſchen National» 
Igril; da es in der Kunft indeh auf das Können und nidt 
auf das Wollen, die Geſiunung, ankommt, fo fcheidet fich 
fogleidh eine ungehenere Maſſe gutgemeinter lyriſcher Maculatur 
von den werthuollern Gedichten ab. Auch dieje Poefle hat in- 
deß ihren, nur außerhalb der Kunſtſphäre Iiegenden Werth als 
Ausdrud der Gefinnung und als eine in alle Kreife dringende 
Propaganda patriotifcher Gefühle, 

Damit ift indeß nicht gejagt, daß gerade bie namhaften 
Dichter unbedingt in diefem Iyrifhen Concurs den Sieg liber 
die andern davontragen. Oft thnt eim unbelannter Poet auf 
diefem Gebiet einen glüdlihen Wurf, während die Kriegs⸗ 
Per manchem begabten Poeten nicht fonderlih zu Ge⸗ 
ficht lebt. 

Anh an Sammlungen fehlt es nicht, fo jung noch 
diefer Federwein ber Kriegsiyrif if. Im einer Stereotypans» 
gabe erſcheint: „Alldeutſchland. Nene Lieder zu Schuß uub 

rußg im Jahre der deutſchen Erhebung 1870. Sefammelt von 
Müller von der Werra und Wilhelm Baenſch“ (Leipzig, Baenſch, 
1870). Uns Tiegt das „fiebente Tauſend“ vor; jeder neue Ab⸗ 
drud wird durch bie inzwiſchen erfchienenen Gebichte vermehrt. 
In dem unferigen fehlen noch mehrere Hauptgedichte, nament⸗ 
ih die von Geibel und Freiligrath. Im Übrigen ift die 
Sammlung fleißig zufammengetragen unb bat auch manches 
gelungene humoriſtiſch⸗volkothümliche Lied von anonymen Ber. 
faffern aufgenommen. 

Der „Preußiſche Staatsanzeiger‘ kündet ebenfalls eine 
Sammlung der neuen Kriegslieder an und bat die deutfchen 
Dichter zur Einfendung der bereits in den Blättern abgedrud- 
ten Erzeugniffe aufgefordert. Der bei A. W. Hayn's Erben 
in Berlin erjheinende Feld- Solbatenfreund gibt ale Beilage 
ein Album: „Leier und Schwert für 1870“ heraus, welches 
jehr viele nenere Kriegslieder enthält. Eine Sammlung auto- 
graphiſcher Kriegslieder veranftaltet die Verlagsbuchhandluug 
von Franz Lipperheide in Berlin unter dem Xitel: „Lieder 
zu Schng und Trutz.“ 

Wenn es fi blos um die Zufammenflellung der Maſſen⸗ 
Igrit handelte, fo wiirde das Jutereſſe ſolcher Sammlungen 
nur eim cultur« und zeitgefchichtliches fein; doch enthalten die⸗ 


felben auch werthuolle Gaben, denn bie ferrig aufgehenbe 
Kriegsfonne Hat Gedichte gezeitigt, welche wol für den National- 
hat beutfcher Literatur bleibend errungen find unb den Ver⸗ 
glei mit ben Gedichten der Befreiungsfriege nicht zu ſcheuen 
rauhen, obwol e8 feinem unferer Dichter vergöunt war, wie 
Theodor Körner, die Leier mit dem Schwert zu vereinigen. 

Seltfamerweife ift das volksthümlichſte diefer Gedichte, wel⸗ 
ches hauptſächlich den Demonftrationen patriotiſcher Sefinnungen 
dient, bereits von alter Herkunft. „Die Wacht am Ahern“ 
ſtammt aus dem Fahre 1840; gegenwärtig hat fie fiber das viel 
fernigere Becker'ſche Aheinlied deu Sieg davongetragen. Der 
Dichter, bis vor kurzem unbelannt, ift der im Sabre 1851 ver⸗ 
flordene Mar Schnedenburger aus Würtemberg gewefen, 
der zulegt im Cauton Bern ein Etabliffement der Eiſeninduſtrie 
beſaß. „Die Wacht am Rhein‘ war das einzige Gedicht bes 
Dichters. Durch die Compofition von feiten des Muflfdirectors 
Wilhelm brang das Lied in weitere Kreife und hat gegenwärtig 
faft den Rang einer deutfchen Bollshymme errungen. Der erfte 
Bers des vielgefungenen Liedes lautet: 

Es brauſt ein Ruf wie Donnerhall, 

Wie Schwertgeklirr und Wogenprall: 

Zum Rhein, zum Rhein, zum deuten Rhein! 
Wer will bes Stromes Hüter fein? 

Lieb Vaterland, magſt ruhig fein, 

Ger fteht und treu bie Wacht am Rhein. 

Namentlih der Refrain, der in aller Mund if, bat 
das Glüd des Liedes gemacht, obwol die an die ſüßminnig⸗ 
lichen Gedichte der Romantiler erinnernde Wendung: „Lieb 
Baterland‘‘, dem emergifchen Stil einer Vollshymue wenig 


pridt. 

Cs bedarf ſtets einiger Zeit, ehe Liedercompofitionen in 
das Bolt dringen; kanm dürften die jetzigen Kriegsgedichte, von 
denen mehrere, 3. B. das Kriegslied Geibel's, das Kriegslied 
des Herausgebers d. BL. u. a., zum Theil don nambafteır 
Componiften componirt find, noch fiir den jetigen Feldzug 
vollstHüimlihe Bedeutung gewinnen. Bei diefer Gelegenheit 
fcheint es angemeflen, einen weit verbreiteten Irrthum aufe 
zuflären, ber in Bezug auf die Körner’ichen Lieder herrſcht. 
Dan glaubt faft allgemein, daß bie Lützower bie „Wilde Jagd‘‘, 
ehe fie ins Feuer eilten, fo gefuugen haben, wie wir fie fingen. 
Die Wahrheit ift, daß die Körner’fchen Gedichte damals unr 
yanbferiftlich verbreitet fein Tonnten. Componirt bat fie Karl 

via vom Weber erſt gegen Ende 1814, alfo länger als ein 
Jahr nah Körner’s Tod. Dagegen iſt Schiller's Reiterlied, 
das ja ſchon von 1799 ſtammt, in den Befreiungsfriegen ge- 
jungen worden. 

Bon den jet gebichteten Kriegsliedern ſteht in erſter Linie 
das von Emanuel Geibel durd feinen ſchlicht edeln Stil, 
feine gehaltene Kraft. Der erfte Vers lautet: 

Empor, mein Bolt! Das Schwert zur Hand, 

Und brich hervor in Haufen! 

Bom beil’gen Zorn ums Baterlanb 

Mit Teuer laß bi taufen! 

Der Erbfeind beut bir Schmach und Spott, 

Dad Maß ift voll, zur Schlacht mit Gott ! 
Borwärte ! 








Feuilleton. ' 557 


Beſonders energiſch und volksthümlich find die beiden 
legten Berſe: 
Boran denn, Fühner Preußenaar, 
Boran buch Schlacht und Grauſen; 
Wie Sturmwind ſchwellt dein Flügelpaar 
Vom Himmel ber ein Brauſen; 
Das ift des alten Blücher's Geiſt, 
Der bir bie rechte Straße weit. 
Borwärts! 


Flieg, Adler, flieg! Wir firmen nad, 
Ein einig Bolt in Waffen , 
Wir flürmen nad, ob tauſendfach 
Des Todes Pforten klaffen. 
Unb fallen wir: flieg, Adler flleg! 
Ans unſerm Blute wächſt ber Sieg. 
Borwärts ! 
Sehr erfreut hat es allgemein, als auch Ferdinand 
Beeiligrath, der als ein Gegner der preußiſchen Hegemonie 
elaunt ift, in die Arena der deutſchen Kriegefänger trat, und 
zwar mit dem Gedicht „Hurrah, Germania‘, welches weder 
die wilden Impulſe noch das glänzende Colorit des Dichters 
verlenguet; das letztere fpricht fi noch mehr in feinem, mehr 
rhetoriſch ſchwunghaften zweiten Gebicht aus, Wenn fir 
„Hurrah, Germania‘ umter die jchärfere äſthetiſche Lupe neh⸗ 
men, jo finden wir allerdings, daß für ben Charakter des Lie- 
bes, der dur den Refrain klar bezeichnet iſt, die maleriſche 
Darfellumgeweile zu fehr in den Vordergrund tritt, wie gleich 
im erſten Bere: 
Hurrah, du ſtolzes, ſchönes Weib, 
Hurrah, Germania! 
Wie kühn mit vorgebeugtem Leib 
Am Rheine ſtehſt du da. 


Auch find bisweilen unbedeutende Worte in den Reim ge- 
ſtellt, 3. B.: 
Da warf bie Sichel du ins Korn, 
Den Aehreukranz dazu. 
Da fuhrſt du auf in hellem Zorn, 
Tief athmend auf im Nu. 


Andere Verſe, wie die Mobilmachung der deutſchen Flüſſe, 
haben geläuterten Schwung: 
Da rauſcht das Haff, da rauſcht der Belt, 
Da rauſcht das beutihe Meer, 
Da rüdt die Ober breift in Felb, 
Die Elbe greift zur Wehr, 
Near und Weſer flürmen an, 
- Sogar bie Ylut des Mains. 
Bergefien ift ber alte Span, 
Das deutſche Bolt if eine. 
Hurrah, hurrah, hurrah! 
Hurrah, Germania! 


Ausnehmend friſch find die Gedichte von Emil Ritters- 
hans; fie haben kriegeriſchen Klang und vollsthümlichen Hu⸗ 
mor, wie 3. B. das Gedidt: „Der erfte Sieg‘, deffen drei 
erfte Berfe lauten: . 

Ein erfter Sieg! Herüber ſchallt's 
Und füllt die Bruft mit Wonne: 
Uns ftrahlte in ber ſchönen Pfalz 
Bon Waterloo die Sonne! 

Wie hat's das deutſche Herz erfrifcht! 
Ein donnernd Hoch den Truppen, 
Die unferm Feinde aufgetiſcht 

Die erfien Brügelfuppen! 


Wie warft ihre Ted dem Kugelblitz 

Die breite Bruft entgegen! 

Glüdauf, du Sproß vom alten Fri, 
Du tühner, junger Degen! 

Durch Waffenlärm und Pulverraud 
Erklingt bie frofe Märe, 

Und Deutſchlaud hört's, im Blauen Aug’ 
Die heiße Yreubenzähre! 


Sie fuhren drein wie Wirbelminb ! 
Es zeigten unfre Braven, 

Dat Leine Eifenfrefier finb 

Die Turcos und Zuaven. 


Der erſte Zweig zur Loxberkcom’, 
Doch Lauter Iubel warte! 
Wir gaben Herrn Napoleon 
Erf die Bifitentarte. 
Ebeuſo friich ift das „Neue Rheinlieb”. Das große Gedicht: 
„Wider Bonaparte“, ift eine ſchwunghafte Kriegserflärung: 
Ein einig Deutfhland! Ad wie lang’ begehrt, 
Wie oft erfleht in unfrer Träume Dämmen! — 
Nun droßt ber Fremdling beutihem Hof und Herb, 
Und es if da! Nun muß das Frantenihwert 
Mit einem Schlage und zufammenhämmern! 
Die Söhne Deutihlande find von mander Urt, 
Doc feit der Mutter Schmad geboten warb, 
Gibt's Leinen Grenzſtrich mehr auf unfrer Karte, 
Da kennen wir unr einen Schrei der Wuth 
Und einen Lampf aufs Mefier, bis aufs Blut! 
Nur einen Wahlſpruch: Nieder Bonapartel 


Bortreffiih ift das Gedicht „Generalmarſch“ von Ju» 
lius Große; es bat etwas von Beranger'ſchem Elan und 
Marſchtakt: 


Tambour, ſchlag an! Laßt hoch die Fahnen ragen, 
Ein Sturmwind brauſt herauf ans alten Tagen, 
Und alte Wunden bluten nen. — 
Wie Geiſterruf Hör ich's bei Nachtzeit Hagen: 
Sind Friedrich fon und Blücher Märchenſagen? 
Starb deutſche Ehre ſchon und deutſche Treu? 
Hält euch ein Corſe wiederum im Bann? 
Hellauf, e8 will der Morgen tagen! 

Tambour, ſchlag an! 


Tambour, ſchlag au! Laßt donnern die Kanonen, 
Was liegt uns an Hiſspaniens Tand und Thronen, 
Haut gilt's das deutſche Kaiſerreich! — 
Daß wir im Glanze deutſcher Freiheit wohnen, 
Daß einig wurden vierzig Millionen — 
Das machte Gallien krank und frech zugleid. 
Und wenn ein Strom von Heldenblut verraun, 
Seht Raum den beutfchen Bataillonen! 

Tambour, flag an! 


8 Ebenſo prägnant, wie dieſe beiden erſten, iſt der letzte 
ers: 
Zambour, ſchlag an, Laßt blaſen bie Trompeten. 
Ob morfhe Throne au in Staub verwehten, 
Wir bau'n am nenen beutihen Reich! 
Uns hilft kein David, helfen nit Propheten, 
Zum zweiten mal nicht laffen wir zertreten 
Die Ehre Preußens, Deutſchlauds Hort zugleich. 
Hilf Blut und Eifen, und was helfen Tann! 
Erſt nad dem Siege laßt und beten! — 
Zambour, fhlag an! 


Weit ſchwächer ift das „„Deutiche Soldatenlied zum Feldzug 
na Frankreich“. Aud der Dichter des Mirza⸗Schaffy, der 
Sänger friedlicher Lebensmeisheit, Friedrich VBodenftedt, 
ift mit Kriegsgedichten aufgetreten, die im derb voltsthlimlichen 
Stil gehalten find, wie der Schlußvers bes „Neuen Kriegslied‘ 
beweiſt: 

Wenn der Kaiſer wackelt auf ſeinem Thron, 

Läßt er ſtolz ſeine Schnapphähne kollern. 

Hier handelt ſich's nicht um Hispaniens Kron' 

Und den Prinzen von Hohenzollern: 

Wir kämpfen für Freiheit und Vaterland 

Und ſchlagen dem Räuber das Schwert auß ber Hand, 


Originell ift jedenfall der neue Reim auf „Bobenzollern”. 
Altgermanifh, ſchwerwuchtig, ftahlhart ertönt Wilhelm 
Jordaun's Kriegslied mit dem Schlußvers: 

Ein heilig ernfle® Rüften fei 

Bom Riemen bis zum Rheine, 

Bom Schneeberg zu ben Küften fei 

Nur Eine Kampfgemeine, 

Ein waltend Wort, 

Ein Herr, Ein Hort, 

Ein Regen und Ein Singen. 

So werben wir, ob fih die Welt 

Euigegenftelli, 

Das deutſche Reich erzwingen. 


Inlins Rodenberg fingt ein Sturmgedidt: „Nach Baris‘‘, 


558 Feuilleton. 


in welchem namentlich der Siegeseinzug mit lebhaften Karben 
ausgemalt wird: 
Nah Paris — und nicht eher fol raften ber Fuß, 
Dis hoch vom Montmartre her bonnert der Gruß, 
Bis die Fahne, die flatternd voran uns geht, 
Bon dem Dache der Tuilerien weht, 
Der deutfihe Reiter das Roß, das er Ientt, 
Aus tem breiten Bette ber Seine träntt, 
Bis der Sieger im Luremburg Lorber pfiüdt, 
Bis der Eorfe daliegt, im Staube zerbrüdt, 
Bis die deutſche Fauſt ihn zerſchlug und zerftieß — 
Wohlanf, für den Rhein! Nah Baris, nach Paris! 

Das Gedicht von Albert Traeger: „Cäfar, die Todten 
grüßen dich”, iſt eim poetifches Lebensgemälde des Kaiſers, 
das durch den Refrain Igrifche fee Gliederung erhält. Der 
Schlußvers Lantet: 

Ein Schatten noch if feiner Gruft entſtiegen, 

Nicht Ruhe läßt's ihm bei den Invaliden, 

Die beutfche Loſung: Sterben oder Siegen! 

Sat einft auch feinen jähen Sturz entichieben ; 

Im grauen Node mit dem Tleinen Hute 

Zum Abmarſch fertig ſtebt der Ahnherr da, 

Dog blidt er nit in wilden Kampfesmuthe, 

Er deutet rüdwärts auf Sanct⸗Helena, 

Als ſehnt' er nach dem flillen Grabe fh — 
EAfar, bie Todten grüßen pic! 


Auch der religiöfe Sänger Inlius Sturm dichtete ein 
choralartiges „Deuiſches Bebetlied‘‘ und ein Kriegslied von ſehr 
comprefier Form: 

Preußen voran! 

Mitten durch feindliche Heere 
Hau'n wir mit bligenber Wehre 
Kühn uns die Bahn. 


Ringsum bebroht 

Folgen wir ruhmreichen Ahnen, 
Rufen unb fhwingen bie Fahnen: 
&ieg oder Tod! — 

Zahlreich find die Inrifchen Gaben bes Herausgebers von 
„Alldeutſchland“, Müller von der Werra; man kann dieſe 
Gedichte am beflen charalterifiren, wenn man fagt, daß bie 
meiften die jhmarzsroth-goldenen Farben tragen und das alte 
Deutjche Reich mit dem neuen bichterifh zu verfchmelzen fu- 
hen. Diefe Zendenz fpricht fi namentlih in dem Gedicht 
„Barbarofja's Erwachen“ ans. Der beransgefenhete Zwerg 
meldet dem Katjer, baf der alıe Feind, der uns oft frech beraubt, 
uns wieder aufs Haupt fchlagen will: 

Zornflammend fpringt der Kalfer vom Stuhl empor und ſchwingt 
Sein Schwert in bem Kyffhäufer: „Mein Reich fei neuverjüngt! 
Hurrah! ihr alten Braven, ihr Kämpen, anf! erwadt! 

Sr ſollt nit länger Ichlafen, vorüber iſt bie Nacht! 


„Verfluchet fei ber Scherge, wohlan! zum Kampf und Streit!” — 
Da wirb e8 bel im Berge, er öffnet fi gar weit. 

Und Wome Über Wonne, ber Kaiſer figt zu Roß, 

Berläßt im Glanz der Sonne daß alte Felſenſchloß. 

Er zieht mit mächt'gem Heere in® Frankenland Binein, 

Sein Lofungswort, ba hehre: „Ganz Deutſchland fol es fein!“ 
Und jauchzend, voll und voller, erflingt’8 von Fels zum Meer: 
Wilhelm dem Hobenzoller, vem König, Ruhm und Chr’! 

Bon den Übrigen Gedichten Müller's erwähnen wir bie 
Bidmung zu „Alldeutjchland‘‘, die fangbaren Lieder „Wach' auf‘, 
„Döllerfrühling” und „Germania“. 

—— J Müller von Königswinter hat ein Lied: 
„Zum heiligen Krieg‘‘, gedichtet, von ftühlernem Klang und feft- 
gegliedert mit dem Refrain: 

Habt Acht, ber böfe, böſe Feind, 
Der grimme Eorfenwolf erſcheint, 
> Die Trommel ruft, die Fahne fliegt, 
N Gälagt zu, 5i8 ber Tyraun erliegt! 
‚Zum Cifen, zum Eijen! 

Das „Kriegslied“ von Dtto Roquette if im Ton nidit 
frifh und muthig genng, während das fonft ſchwunghafte Ge⸗ 
dicht von Adolf Strodbtmann: „An Deutihlands Krieger”, 
durch den folgenden, ftillofen Bere entſtellt wird: 


Was confervativ? Wir alle 
Sind heute confervativn, 

Weil und zum Schug vorm Falle 
Daß Baterland berief. 

Georg Heſekiel's „Kriegelieder“ tragen ein ſpecifiſch 
preußifches Gepräge, das ihnen eine gefättigte Färbung fichert. 
Wir erwähnen: „Gott mit uns, „Der Meg der Bäter“, 
„König Wilhelm in Ems“. Auch der Dichter der „Amaranth‘, 
Oskar von Redwig, hat ein Gedicht „Un Napoleon‘ ver» 
öffentlicht, das fih von dem Gezirpe feiner Jugendlieder ſehr 
Er cheidet und den an Anathemien gewöhnten Kraftfiil zeigt. 


Wie Über beinen Ohm und Namensvetter 
Wirb Fluch um Fluch auch über dich ergehn 
Und wie bei Leipzig einft ein Schlachtenwetter, 
Das big vernichtet: das ift unfer Flehe! 

Trefilic find die ernfien und heitern Gedichte des „Klad- 
deradaiſch“. Hochpathetiſchen Schwung hat: „Untergang 
der Lügenbrut“ und „Gegen den Tyrannen‘‘, Iehteres mit dem 
Schlußverſe: 

Berlöſcht die Leuchten! Doch unlöſchbar lodert 
In deutſchen Herzen der Begeiſterung Flamme. 
Noch ſteht die dentſche Eiche unvermodert, 
Und neues Leben quillt im alten Stamme. 


Ya, friſch belaubt fleht fie in neuem Glanze 
Und wi mit Friedensſchatten euch umjpannen. 
Auf denn zum Wettlampf nach bem Eichenkranze, 
Zum letzten Kampfe gegen ben Tyrannen, 
Das „Ehaffepotlied‘ ift im humoriſtiſchen Genre das befle 
don denen, bie bisher erfchienen find, mit dem foldatiichen Kraft. 


refrain: 
Immer frif, frei, fromm und froh 
Haut fie auf den Chaffepot, 
Chaſſe — pot — pot — pot — pot — pot — 
Auf ven Chaff’pot mit Hurrah! , 

Ein Kriegslied von Fritz Ohneſorge im Stil der Arndt'- 
chen oder Rückert'ſchen Spottlieder bat folgende ſehr glücliche 
Schlußwendung: 

Was kann's denn weiter Eoften, das iſt fo ſchrecklich nicht: 
Denn höchſtens zwei Napoleons und Schmarren im Geiſicht. 

Einige frifche Kriegslieder von May Moltfe, 2. Pedretti, 
Zreitfchle (ein „Lieb vom ſchwarzen Adler‘), Rudolf Genée 
(„Das Kaiferreich der Friede‘), Hoffmann von Fallers- 
leben („Wir find da‘), ſowie die uns nicht zugänglich gewor- 
denen Gedichte von Gruppe („Unfere Sendung‘), Wilhelm 
Dunder („Kriegslied“), Simrod („Hiebe auf Diebe‘), Ague® 
Le Grave („Zwei Buß- und Bettage‘) wollen wir Bier nod 
erwähnen. 

Der Heransgeber d. BI. hat vier Lieder bisher erfcheinen 
loffen. Das erfle, das „Kriegslied“, beginnt mit der Strophe: 
Die Bahnen wehn — anf ins Gewehr! 

Den Säbel in die Fauſt! 

Das beutfhe Bolt ein großes Heer, 
Das von den Alpen bis zum Meer 
Ein zürnend Wetter brauft. 

Es Hopft an unire Pforten an 
Des Fremblings Uebermuth; 

Da opfert jeder beutfhe Mann 
Mit Freuden Gut und Blut — 


und endet mit der Strophe: 
Und nabt der Tod, wir Jagen nidt. 
Leb wohl, du ſchöne Welt! 
Nacht decke unſer Angeficht, 
Doch ringsum wird von freud'gem Licht 
.  Da® beutige Land erhellt. 
Und Rorb und Süd vereint zum Bund 
Der Main, ein Silberbaud. 
Wir legen einen feften Grund 
Dem ein’gen Vaterland. 
Der „Deutſche Schwur“ (unter dem Titel: „Schild der 
Pr Ehre‘, von Karl Reinede componirt) beginnt mit ber 
tropbe: 
Wir ftehn vor Gott und ſchwören, 
Das Schwert in unfrer Hand, 
Dir einzig zu gehören 
Du theures Vaterland, 





Feuilleton. 


Zu leben und zu ſterben 
As deines Ruhmes Erben. 
‚Heil Flingt vom Gele zum Meere 
Der SHild der deutſchen Ehre, 
Das „Reiterlied‘ und die „Rache für Waterloo" haben 
bewegtere, ſtrmiſche Rhythmen. 
ſieher — faſt ansfchliehlich im unſerer Kriegspoefle 
die Liederdichtung mit Refrain und ſchlichter Faſſung; 2 wir 
zweifeln nidt, daß auch die Ode, die Elegie, die Blgere und 
gedantennolie Lyrik mit ihrer mehr architeltoniſchen als fang- 
yaren Rhythmit durch die Zeitereiguiffe ta bebewtfamer Weife 
befruchtet werden wird. 


Aufdedung einer literarifgen Fälfhung. 

Bor etwa zwei Jahren erregte eine in bem „Comptes 
rendus‘ von Chaoles mitgetheilte alte Eorrefpondenz zwiſchen 
Bascal und Newton gerwaltiges Auffchen, weil darans kiar 
hervorging, daß alle Bisher dem Newton zugeſchriebenen großen 
wiffenigaftlihen Berdienfte mit ihm, fondern —æ— 
dem vascal zulämen. Jener ertlärt darin, wie er Descartes 
für den größten Gelehrten des 17. Jahrhunderts halte, von 
dem er alles gelermt habe, was er wiſſe, mie er füh durch 
eifrige Benugung ungedrudter Manufcripte vou Galilei, Kep⸗ 
ier und Leibniz einen geaditeten Namen erworben Habe. Und 
aus Pascal's Briefen folgt auch nod die Mar und ſcharf aus 

efprohene Idee der allgemeiten Gravitation, woranz fid alle 
Geivegungögeiege der himmlischen Körper mit mathematifher 
Stderheit ganz von felbft ergäben. Gomie man man ameh- 
men durfte—doß dieſer Briefwechſel ungefüliht wahr fei, fo 
fant ale 9 acqhtung vor Nemton in ein erbärmlides Nichte 
jufammen, : ward zu einem Plagiarins, zu einem ehrlojen 
iebe der fh sifhen Mechte umd Thaten amderer. Das war 
eine harte Ba Idigung. Die franzöſiſche Mabemie der Wiſ- 
fenihaften ern te fofort eine Commilfion zur Prüfung des 
ihochwichtigen 4 egenflandes, und dieſe erklärte daun, daß fie 
außer Gtande fehe, ein eutſcheidendes Uethen fiber bie 
Echtheit oder Unechtheit abgeben zu können. Nur eine einzige 
Stimme erhob fi zum Schuy de Newton, diefe rührte von 
Sur her umd fiel gar menig ine Gewicht, da derfelbe fein 
itglied der Mfabemie war. igte man MA in Frankreich, 
nun [don ziemlich allgemein zu dem Glauben am die Wahrheit 
und Ridkigfeit der Gcriftfllüde, fo war dad in England nicht 
eine einzige Spur der Zuſtimmung amzut Wan trat hier 
mit patriotifcher Einfimmigfeit dem umparteiifchen Metheile eines 
David Breifler, eines Robert Grant bei, welche als gun 
zweifeltos eine Falſchung der Correipondenz canftatirten. 
iedtere erflärte in feinem vom 18. September 1867 daticten 
Briefe an die „Times“: „There is only one possible solu- 
tion of the diffieulties which I have proposed, and it is 
this: The entire mass of the documents, communicated to 
the Academy of Sciences by M. Chasles, are pure forgeries.” 
Die Correfpondenz reihe von 165862, falle alſo in eine Zeit, 
wo Newton da jugendliche Alter von 11 bis 20 Jahren durd- 
Tebt habe, und es fei unbegreiflich, wie ein anerfaunter Gelehrter 
von europäif—em Rufe wie Pascal es nicht unter feiner Würde 
gehalten haben follte, mit dem namenlofen Knaben und Sing. 
ing Newton über hodwiffenfchaftliche Gegenfände in Brief- 
wechfel zu treten. Aud wife man aus den Schriften Pas- 
cal g genau, daß er fi mie fo fpeciell mit ſpecifiſch 
aftronomifgen Fragen beihäftigt Habe, wie jene Manufcripte 
ihm zuſchrieben. Frau er, die Schweſter Pascal’, 
welche feine Biographie gefhrieben und ihn bie zu feinem Le 
bensende trem verpflegt Hat, berichtet uns, daß ihr Bruder 
mit dem breißigfien Jahre alle ſtreng wiſſenſchaftliche Beihäf- 
tigung aufgegeben habe, weil er zu Kaut und ſchwach geworden 
jet, daß die legten zehu Jahre nm veligtöfen Gedanken gemid- 
met geivefen wären, die er wegen feiner großen Leiden nicht 
einmal eigenhändig Babe niederfchreißen Tönen. An der Txme 
amd Wahrgeit biefer ausgezeichneten Lebensbeidhreibung Hat bis 
her nod wiemand gezweifelt. Pascal if 1623 geboren; als er 





30 Jahre alt war, das ift 1653, beginnt gexade bie angegweifefte 


559 


Correfpondenz, welche dann in fireng wiſſenſchaftlichen Untere 
fajungen neun Jahre lang eigenhändig geführt fein fol. Das 
war eine zu freche Lüge. ferner find bie Zahfenangaben Pas- 
cal'8 über die Dictigkeiten, Maſſen und Failgeſchwindigteiten 
für Erde, Jupiter und Saturn ım Bergleich mit der Some 
offenbar aus der dritten Ausgabe ber Nemwton’sdhen „Brincipien‘' 
genommen, welde 1726 erjchienen if, und in welder Fefftelun- 
gen von lamfteed, Bradley und Pound vorfommen, die erft zwane 
zig bis dreißig Jahre nach Pascal’8 Tode befannt fein fonnten. 
Diefe_umd noch einige andere Wiberfprädie waren es, melde 
den Glauben an bie Cihfheit der Correfpondenz nicht blos ftark 
erfhütterten, fondern ganz vernidteten. Aber dennoch fehlte 
nod immer die endgültige pariſer atademiſche Erklärung, daß 
das ige eingereidhte umd von ihr geprüfte Manufcript des 
Briefwechſels ein wirkliches Falfum ſei. Man glaubte ſchon, 
die Anderie würde die ihr fehr unangenehme Angelegenheit mit 
Schweigen begraben, wie fie dies in ähnlichen Fällen ſchon 
öfters gethan bat. Diefe Bermutgung ging tmdefjen micht in Er⸗ 
füllung. Cs hat nämlich Chales der verfammelten Aademie 
vor kurzem freimitgig erilart; dafs es ihm endlich nad langem 
vergeblihen Bemühen geglüdt fei, die Unedjtheit der genanuten 
Correfponbenz wirklich zu erforfchen, er fei durch einen gemei» 
nen Füulſcher gröblich betrogen worden. 

teroton, dem beinahe zwei Jahrhunderte hindurch die 
eminenteſten Denker feines Fachs die allerhöchſte Bewunderung 
gezollt Haben, von dem der unſterbliche Halley einſt in tief- 
gefühlter Begeiſterung ausrufen konnte: 

Nimmer iſt Denen vergsönnt, ſich mehr den Göttern zu napen! — 

in welchem Männer wie Laplace, Gauß, Beſſel ſtets mit ehr- 
furchtsvollem Staunen ihren geniafften Meifter verehrten —, 
Newton hatte aber auch Rivalen, Neider und feinde, wie 
fie kaum ein anderer Gelehrter je befeffen hat. Wir erinnern 
in diefer Hinfigt nur am feine erften Widerfacher Hoole, 
Hungens, Caffini, an Feibuig, der ſich im der dibe des Streits 
einft fo weit vergefien und ermiebrigen konnte, unfern Newtou 
des Plagiats zu beihuldigen, und an Goethes Polemik, von ber 
wir ans Hohahtung vor dem großen Didter aufritig wlin- 
fen müffen, daß fie mie gefdrieben fein möchte. Doc alle 
diefe Gegenlämpfer find befiegt, und Newton ſteht da in feiner 
ganzen Gerrtigkit und Größe. Und wir innen es nur ber 
dauern, daB es in unferm aufgeffärten Jahrhundert mod mög» 
lich gemwefen if, einen fo unmärbigen Standal vor die Oefiente 
lichteit zu bringen, mie er duch bie geflffdhte Eorrefpondenz 
in Scene geſeti worden if. 








Siblisgraphie. 
ide diefer Etadt. © 


Nach ver Bf ch de. Lei) 
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“ Beten, A 2. ein ri Da 
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Uingen, Bau 





Sanfe 
nen, €, Der Deltsug bes Jahred 1A0E in Meite und Eihbe 
uDeH, &., Der Aeldgug bes Gabred 1806 in Weite . 
Tan, fi a — 
Belfner, 6 " 
eber eine® Heim it. Beleg, Bröwer,” 9, 15 Mar. 
— sende Uber Kunf unb Batſaz. Nücn« 
ee era a Hrte und verbeffeete Auf. Paberb 
re, d., Gedichte. 2te vermeprte und veröeffeete Aufl. Paderborn, 
(einen ak, ia Yan. er 


Save, C., Zur Nibelungensage. Siegfriedbilder beschrieben und er- 
schen überavtat und mit achträgen versehen 


Hamburg, O. Meissner. Gr. 8. 24 Ngr. 
‚ Kabitalisens und Eoclalismue mit befonderer 









Esäffte, u € 
Ri Geigäfte- und een. Borträge B — 
Fe —* —————— * m—e — —8 I. * 


Krütifge und unfeitiihe Wanderungen über_bie Gefegtäfeiber ber 
——— ——— Ge. Das N Haean, 
Belle Witer u. Sohn. "Gerd 35 Rgr- 

Weyho-Eimke, A Freih. v., Die historische Persönlichkeit des 


Max Picoolomini im Schilier’schen Wallenstoin und dessen Ende in der 
Bohlacht bei Jankau am 6. März 1645. Eine geschichtliche Quellenstudie 
aus dem Schlossarchive zu Nachod, Pilsen, Bteinhauser u. Korb. Gr. 8. 





8 Bar. 





560 Anzeigen. 


Anze 


igen 


——— 


Derfag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschienen: 


gc=” KRIEGSKARTEN = 


von 
Henry Lange. 

Karte des deutsch-französischen Kriegsschauplatzes. 
(Bis Paris reichend.) 5 Ngr. 

Karte von Frankreich. (Mit einem Carton: Umgebung 
von Paris.) (5 Ngr.) 

Karte der deutschen Nord- und Ostseeküsten. Preussen, 
der Norddeutsche Bund und Dänemark. 5 Ngr. 

Karte von Deutschland und den enden Län- 
dern. Neue revidirte und vervollständigte Ausgabe 
(1870). In Umschlag gefalzt 20 Ngr. Cartonnirt 1 Thir. 


Diese Karten zeichnen sich durch Genauigkeit der Orts- 
angaben wie durch Uebersichtlichkeit der Terrainverhalt- 
nisse aus und empfehlen sich deshalb ganz besonders zu 
rascher Orientirung auf dem Kriegsschauplatze. 





Derlag von 5. X. Brockhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 


NUOVO METODO PRATICO E FACILE 


per imparare 


LA LINGUA TEDESCA 
dai 
Dr. F. Ahn e Prof. Enrico Wild. 


Seconda edisione emendata. 
Corso primo, dal Dr. F. Ahn. 12 Ngr. 
Corso secondo, dal Prof. Enrico Wild. 16 Ngr. 
Traduzione tedesca dei temi nei due corsi. 8 Ngr. 


Vorliegende drei Bändchen bilden zusammen eine voll- 
standige Anleitung für Italiener zur leichten Erlernung 
der deutschen Sprache. Der erste Cursus ist von Dr. 
F. Ahn verfasst; nach dessen Tode bearbeitete Professor 
Heinrich Wild, Director der Handelsschule zu Mailand, 
unter genauem Anschluss an die bewährte Ahn’sche Me- 
thode, den zweiten Cursus, wie derselbe auch die soeben 
erschienene zweite verbesserte Auflage beider Curse 
herausgegeben und mit einem Schlüssel vermehrt hat, 





Derfag von 5. N. Brockhaus in Leipzig. 


Das Seben des Generals von Shamhorfl. 


Nah größtentHeils bisher unbenugten Quellen 
dargeſtellt von 


Georg Heinrih Klippel. 


Erſter umd zweiter Theil. Mit dem Bildniffe Scharnhorfts. 


8 Geb. 3 Thlr. 15 Nor. 

Eine Biographie Scharnhorft’s, diefes echt dentfchen 
Mannes, von Arndt ‚Der Deutſchen Waffenſchmied“ genannt, 
darf gerade in unfern Tagen auf die wärmfte Theilnahme rech⸗ 
nen. Das vorliegende Wert hat aber um fo größern Werth, 
weil der VBerfafler ein ſehr reichhaltiges handſchriftliches Mate- 
rial bemigen Tonnte, das den frühern Biograpfen Scarn- 
horſt's verichloffen war. Es verdient nicht blos Militärs und 
Hiftorilern, jondern den weiteften Kreifen bes deutſchen Volks 
empfohlen zu werben. 


Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 





Soeben erfdien: 


Hundert Jahre. 
1770— 1870. 


Zeit» und Xebensbilder aus brei Generationen. 
Bon 


Heinrich Albert Oppermann. 
Siebenter Theil. 8 Geh. 1 Thlr. 
(Der erfte bis fechste Theil Koften zufammen 7 Thlr. 10 Nar.) 


Die bisher erfchienenen Theile diefes von dem kürzlich ver» 
ftorbenen befannten Dlitgliede des prenfiiden Abgeordneteuhauſes 
Ibergerihtsanwalt Oppermann aus Haunover verfaßten cul⸗ 
turbiftoriihen Romans haben in der gefammten —5 ſelbſt 
von ſeiten der politiſchen Gegner des Verſtorbenen, ſehr warme 
Anerkenuung gefunden. Sider. wird der eben ausgegebene 
fiebente Theil, in welchem die Ereigniſſe des Jahres 1848 dem 
geihichtlichen Hintergrund bilden, das allgemein günſtige Ur⸗ 
tbeil noch mehr befeftigen. 

Der achte und neunte Theil, womit da8 intereffante Wert 
abfchließt, befinden fich bereits im Drud. 





Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Dichtungen von Hans Sachs. 
Erfter Theil, " 
Seiflliche und weltliche Lieder. 
Herausgegeben von Karl Goedele. 
8 Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Nor. 

Hans Sachs’ Dichtungen werden in der vorliegenden 
Sammlung brei Theile umfaflen, von denen der erfte Geiftliche 
und weltliche Lieder (Meeiftergefänge), der zweite Spruchgedichte, 
der dritte Schau» und Faftnachtſpiele enthält, ſodaß die ver- 
ſchiedenen Didytungsarten dieſes deutſchen Bollsdichters vollſtän⸗ 
dig darin vertreten ſtnd. Durch die gründlichen und ausführ⸗ 
lichen Einleitungen der Herausgeber ſowie durch die beigefügten 
Worterklärungen iſt jedem Leſer das Verſtändniß in literariſcher 
wie in ſprachlicher Hinficht nahe gebracht. 

Der erfte Theil von Hans Sachs' Dichtungen bildet zu- 
glei den vierten Band der Sammlung: 

Deutſche Dichter des fechzehnten Jahrhunderts, 
Mit Einfeitungen und Worterklärungen. 
Herausgegeben von Karl Goedeke und Julius Tittmann. 
Die erften drei Bände enthalten: 
I. Liederbuch aus dem fechzehnten Jahrhundert. 
III. Schaufpiele aus dem jechzehnten Jahrhundert. Erſter Theil. 
II. Schaufpiele aus dem fechzehnten Jahrhundert. Zweiter Theil. 





Für ein größeres encyllopädifhes Wert wird bie 


Betheiligung eins . . 

Hiforikers 
geſucht. Gründliche wiflenihaftlihe Bildung, Gewandtheit in 
der eneytlopädiſchen Form und umfaflende Kenntniß der neuern 
and neueften Geſchichte find die Hauptbebingungen. Gef. 
frco. Anträge unter N. Q. 665 befördert die ucen-Erpebition 
von Hanfenftein & Vogler in Frankfurt a. M. 





Berantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brockhaus, — Drud und Berlag von $. A. Brockhaus in Leipzig. 








Blätter 


für 


literarifde Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erfcheint wöchentlich. 


—4 Ar, 36. #9 


1. September 1870. 





Inhalt: Woligang Menzel's neue Schriften. Bon Rudolf Gottſchal. — Aſtronomiſches. Von Seinrich Birnbaum. — Vom | 
Bücertiih. — Feuilleton. (Englifche Urtheile über neue Erfcheinungen der deutſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Wolfgang Menzel’s nene Schriften. 


ad 


. Bas bat Preußen flir Deutfchland geleitet? Bon Wolf- 
gen Menzel. Stuttgart, Kröner. 1870. Gr. 8. 


T 
2. Kritik des modernen Zeitbewußtfeins. Bon Wolfgan 

Menzel. Frankfurt a. M., Heyder und Zimmer. 1869. 

Gr. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 

Wolfgang Menzel, „der Franzoſenfreſſer“, wie ihn 
Ludwig Borne feiner Zeit benannte, der Anfläger des 
Jungen Deutſchland, der Gegner eines andern Wolfgang, 
den er fir die Emancipationstheorien feiner Jünger ver- 
antwortlih) machte, hat inzwifchen in Hiftorifchen und 
literarhiſtoriſchen Werken, die von allzu fchroffer Einfeitig- 
Reit frei find und denen man Friſche der Darftellung und 
reſolutes, jelbftändiges Urtheil nachrühmen muß, einen 
anerfennenswerthen, auf Popnlarifirung der Geſchichte ge- 
zichteten Fleiß bekundet. Freilich, ben alten Adam wird 
man fo leicht nicht los und der alte Zopf hängt dem 
Autor immer hinten. Das Motto feiner Werke könnte 
man dem Luftfpiel eines von ihm anfangs protegirten, 
nachher angefeindeten Schriftfteller8 entnehmen, dem Luft- 
jpiel Gutzkow's „Zopf und Schwert”. Beides vereinigt 
fi) bei Menzel: das Schwert feines Geiſtes ift ſcharf 
und fehneidend; aber er wendet e8 nie dazu an, feinen 
Zopf damit abzufchneiden. 

So ungleich find auch feine beiden neuern Schriften: 
in der erften zeigt er ein volles Verſtändniß des hiftori- 
fchen Geiftes, ſoweit es ſich um die politifche Entwidelung 
Deutſchlands handelt; die zweite aber ift eine Kapuzinade 
gegen den modernen Geift, eine Straf- und Bußprebigt 
vol von Afchermittiwochägebanfen, in denen das Kind mit 
dem Bade auögefchüttet wird. 

In dem erflen Werke verfuht Wolfgang Menzel, der 
ſich feines Hiftorifhen Willens rühmt, eine gedrängte 
Revifion der beutjchen Acten. Er fagt in ber Ein- 
leitung: 

Zwiſchen der geſchloſſenen Einheit des franzöſiſchen Bolte, 
welches zugleih nad der Hegemonie im ganzen Gebiete ber 
romanischen Raffe firedt, und dem Hiefenreihe der Ruſſen und 

1870. 38. 


ihrem Panflawismus in der Mitte, ift die germaniſche Raffe im 
hoben Grade bebrobt und bat auch bereits nach beiden Seiten 
hin Einbuße gelitten, indem ſowol jenfeit des Rhein als an 
der Oſtſee dentiche Provinzen in bie Gewalt bier der Franzofen, 
dort der Auflen gefallen find. Wenn num in der weltbiftorifhen 
Entwidelung, weldhe das Raflen- und Rationalitätenprincip zur 
Geltung gebracht hat, das dentfche Bolt zurlidbleibt, jo wird es 
faum einer fortdauernden Beſchränkung und Berfleinerung und 
fchlieglich feiner ftaatlihen Auflöfung entgehen können, wie aus 
gleicher Urſache das in viele Staaten und göberationen geteilte 
alte Griechenvolk politifh umtergegangen iſt. Deshalb kommt 
alles darauf an, daß der einzige fefte Verband, der unter uns 
Deutſchen befteht, der Norddeutihe Bund, fi) ausbehne, und 
Süddentſchland mit Norddeutſchland fid) verſöhne, fi) an daf- 
ſelbe als der ſchwächere Bruder an den flärfern anfchließe. 
Indem id) für den Nordbentihen Bund fchreibe, ſchreibe ich für 
ganz Deutfhland, nicht als Kleindentfcher, fondern als Groß⸗ 
deutfcher „in des Worts verwegenfter Bedeutung”. Mir galt 
immer nur da8 ganze große Deutihland. Schon in früher Jugend 
nahm ich feurigen Antheil an der deutfchen Begeifterung bes 
Zahres 1813, verließ aber Preußen fleben Jahre fpäter, weil es 
damalß feiner deutſchen Politik entſagt und jene Begeifterung für 
Deutfhland in den Bann gethan hatte. Sobald es aber zu 
feiner deutfchen Politik zurlidfehrte, Habe ich mich ihm aud in 
Liebe wieder zugewendet und um fo freudiger, al8 mid) langjährige 
Geſchichtsſtudien überzeugt hatten, daß Preußen den deutſchen 
Beruf ſchon lange in fi) trug und unter äͤußern Widerwärtig- 
feiten und aud mancher innern Fahrläffigfeit dennoch an ihm 
fefthielt und ihn mit immer mehr Energie verfolgte. 


Die ganze erfte Hälfte des Buchs ift dem Nachweis 
gewidmet, wie Preußen die nationalen Intereſſen nad) 
außen gewahrt habe. Das glänzende Schlußfapitel zu 
diefem Abſchnitt fchreibt die Gegenwart — zu fpät für 
das Werk, aber nicht zu fpät um feinen Inhalt zu bes 
flätigen. Die machtvolle Organifation eines gewaffneten 
Deutichland, die glänzende Führung, die glorreichen Siege 
von Weißenburg, Wörth, Saarbrüden und Meg, denen 
ſich noch andere anſchließen werben, find beweisfräftiger als 
alles, was Menzel felbft aus der frühern Geſchichte an- 
führt, um zu zeigen, wie Preußen nad) außen Deutſchlands 
Intereſſen vertreten hat. Und daß die deutfche Ehre ein 
noli me tangere für König Wilhelm ift — das bewies 


71 


562 


wol die Energie, mit welcher der greife Monarch die 
beransfordernde Bevormundung de8 second empire zu— 
rückwies. Niemand wird nad den letzten Ereigniſſen 
den folgenden Worten Menzel’8 ein Pragezeichen bei« 
fügen wollen: 

Das ſchwäbiſche Gefchlecht der Hohenzollern Hat unter allen 
deutſchen Dynaftien am beften ben Beruf erkannt, ben von 
Rechts wegen jeder deutfche Fürſt haben follte und könnte, feine 
andere Politik zu treiben als die nationale, die deutſche. Das 
Geſchlecht der Zollern allein hat fid) aus dem Verderben und ber 
Fäulniß unfers Reichs emporgearbeitet zu einer Macht und zu 
einem Bewußtſein, die es ihm möglich machen, Deutſchland zu 
verjüngen, den Gedanken Karl’s des Großen und der fächftichen 
Dttonen wieder ins Leben einzuflihren und unferm großen Volt 
eine Zufunft zu fihern, die endlich feiner würdig fein wird. 
Das Unglüd und die Schande der Nation, die wir leider jahr- 
hunderte lang als jcheinbar unaufhörliche Gegenwart befeufzen 
mußten, fangen endlid an in die Vergangenheit, die nicht 
wiederkehrt, hinabzufinlen. 

Der Ertract brandenburgifch=preußifcher Geſchichte, 
den uns Menzel mittheilt, um den deutjch-nationalen Zug 
der Hohenzollern in den Jahrhunderten ihrer werdenden 
Macht nachzumeifen, verleugnet allerdings nirgends das 
Etikette des Werks und ift mit forgfältiger Ausjcheidbung 
aller Ingredienzen zufammengebraut, welche die reine 
Wirkung bed Tranks ftören könnten. Jedenfalls muß 
der Hiftorifer doch unterfcheiden zwifchen den Fürſten in 
Preußen, welche mit vollem Bewußtfein Schild und 
Schwert der deutfchen Nationalität waren, und folchen, 
welche im Grunde nur an Sicherung und Vermehrung 
ihrer Hausmacht dachten, oder durd die Kreignifie, 
duch den Gang der Gejhichte felbft zu einer ihrem 
Denken und Wollen fremden nationalen Bedeutung er» 
höht wurden. 

Zu den erjtern gehört jedenfalls der Große Kurfürft, 
welcher, gegenüber der franzöfiichen Räuberpolitik und 
den zahlreichen Füriten, die fi) ihr anfchloffen und ihr 
Vorſchub leifteten, feſt zu Kaifer und Reich hielt. ins 
feiner früheſten Manifeſte lautete: 

Ehrliher Deutjcher, dein edles Vaterland war leider bei 
den leßten Kriegen unter dem Vorwand der Religion und reis 
heit jümmerlich zugericätet. Wir haben unfer Blut, unfere Ehre 
und unfere Namen dabingegeben, und nichts damit ausgerichtet, 
al8 daf wir uns zu Dienftlnechten, fremde Nationen berühmt, 
uns des uralten hohen Namens faft verluftig, und diejenigen, die 
wir vorher faum kaunten, damit herrlich gemacht haben! Was 
find Rhein, Elbe, Wefer, Oderftrom nunmehr anders, als frem- 
der Nationen Gefangene? Was ift deine Freiheit und Religion 
mehr, denn daß andere damit fpielen! 

Daß aber die Politit des Großen Kurfürften aud 
gegen Defterreich Fronte zu machen fuchte, und zwar durch 
einen Yürftenbund, der nicht blos die katholiſchen Fürften 
umfaſſen follte, das jehen wir aus der Biographie des 
Grafen Georg Friedrih von Walde von Erdmanns- 
dörfer (vgl. Nr, 14 d. BL) Diefer Vorgänger Bis- 
marck's erftrebte die Verbindung einer feftgefchloffenen 
Union unter brandenburgifcher Leitung und kann jomit 
als der erfte Borkämpfer der Hegemonie der Hohenzollern 
in Deutſchland betrachtet werben. 

Einen fehr ftarfen nationalen Zug zeigt auch König 
Triedrih Wilhelm I., bekanntlich ein Gegner alles fran- 
zöfifchen Weſens, der fih nicht nur für den erſten 
Staatsdiener, fondern auch für einen „NRepublifaner‘‘ er— 
Härte, inden er nur für da8 „gemeine Weſen“ (res 


Wolfgang Menzel’s neue Schriften. 


publica) lebe. Er hafte die Nachahmung der franzöfifhen 
Moden und rief einmal aus: „Meinen Kindern will ich 
Degen und Piſtolen ſchon in die Wiege legen, daß fie 
die fremden Nationen aus Deutſchland Helfen abhalten.“ 
In die franzöfifchen Dioden Heidete er feinen Profos. 

Weniger wird e8 gelingen, die national-dentfche "Ges 
finnung des größten preußiſchen Königs außer Frage zu 
ftellen. Friedrich der Große mochte auf die Eroberung 
Schleſiens ein noch nicht verjährtes Erbrecht, auch infolge 
der Unterdrüdung des Proteſtantismus und der Gefinnung 
der Schlefier jelbit ein moralifches Recht Haben; er Hat 
den Ruhm, die Franzoſen in einer Entſcheidungsſchlacht, 
und zwar wie im Spiel gefchlagen zu haben — aber 
fein Tosmopolitifher Sinn, das Weltbürgertfum eines 
Genies, da8 auch bei allen andern Nationen nur die 
verwanbten großen Geiſter aufſucht, Hinderte ihn, ein be- 
wußter Vertreter deutjchen Nationalfinns zu fein, wie er 
denn auch franzöfifche Sitte und Fiteratur bevorzugte. 
Das Refultat feines Wirkens kam freilih Deutjchland 
ugute: 
zug Preußen blieb der deutſchen Natur treu, handelte im dent⸗ 
fhen Imtereffe, und der glitige Gott verlieh eben deshalb dem 
Zollern'ſchen Fürftenffamm mehr Talt und Genie als andern. 
Sonft wäre Deutſchland Tängft zu Grunde gegangen. Man 
muß fi nur erinnern, daß das ganze Norbbentichland noch zur 
Anfang des vorigen Jahrhunderts entweder fremden, Deutſchlaud 
feindlichen Mächten des Auslandes angehörte, oder wenigfiene 
unter deren Einfluß fland. Und wenn im Siebenjährigen Kriege 
Friedrich der Große nicht geftegt hätte, wären aud Ofl- und 
Weftpreußen ruffifch geworden. In Königsberg hatte fi) Damals 
die ruſſiſche Kaiferin ſchon huldigen Taffen. 

Unter Friedrih Wilhelm II., der gegen Frankreich 
einen unglüdlihen Krieg führte, wurde der DBafeler 
Frieden 1795 gejchlofen, der die Niederlande, das ganze 
überrheinifche Deutfchland, wie auch Franken, Schwaben 
und Baiern der Ueberſchwemmung dur franzöfifche 
Sansculotten preisgab und Preußen alle Sympathien in 
Deutſchland Toftete. 

Die Niederlage Preußens 1806 unter Friedrich Wil- 
helm "III, der glänzende Auffhwung der Befreiungsfriege 
find befannt; ebenfo daß in der darauffolgenden Reſtau— 
rationgepoche die deutſche Gefinnung für ſtaatsgefährlich 
galt. DBegeifterung für die Herrlichkeit deutfcher Nation 
darf man am wenigften König Friedrich Wilhelm IV. 
abjprechen, er hat ihr mehrfach einen dichterifch beredten 
Ausdrud gegeben; aber ihm fehlte in fchwieriger Zeit die 
Energie, Beitrebungen, die nach dem gleichen Ziel, aber 
bon abweichendem Standpunft aus gerichtet waren, für 
den gemeinfamen Zweck zu benugen. Was auf parla- 
mentarifchem Wege und durd) den großartigen Aufſchwung 
deutfcher Gefinnung in den Revolutionsjahren nicht zu 
erreichen war, das follte auf dem Wege großer, blutiger 
Kriege, durch „Blut und Eiſen“ verwirklicht werben. Es 
ift ein trauriges Geſetz der Gefhichte, daß die Wirklich 
feit dem deal hart und fpröde gegenüberfieht, und daß 
ed der ernften Arbeit von Gefchlechtern bedarf, un ben 
Gedanken ins Leben einzuführen. Sagt doch Schiller 
Thon treffend: 

Leicht beieinander wohnen die Gedanlen, 
Dod hart im Raume ftoßen fid) die Dinge. 

Welch ein Unterfchied zwifchen der beutjchen Kaiſer— 

frone, die von einer Deputation des franffurter Par- 





Wolfgang Menzel’s neue Schriften. 


laments frieblich nach Berlin gebraht und dem König von 
Prenßen gleihjam auf einem weichen Kiffen präfentirt 
wurde, und der andern, die auf den Schladhtfeldern von 
Königgräg, Wörth, Met durd) den Opfertod vieler 
Taufender als Krönung des Gebäudes deutfcher Einheit 
erobert wird. 

Dem erſten Abfchnitt der Schrift fehlt mit dem 
gegenwärtigen deutfchefranzöfifchen Krieg noch die glorreichfte 
Seite und der enticheidendfte Abſchluß. Nachdem der 
Autor Bismard’8 Beftrebungen und den Kampf des 
Parlaments mit dem Minifterium gefchildert und der 
Stahl⸗Gerlach'ſchen Partei, welche ihm durch ihr fpe- 
cifiſches Chriſtenthum ſympathiſch iſt, den Vorwurf eines 
höchſt einſeitigen preußiſchen Particularismus gemacht hat, 
ſchließt er ſeine Skizze der „Geſchichte Preußens“ mit 
den Worten: 


Im Übrigen war in der Einigung Norddeuitſchlands ber 
feftefte Grund zur Einigung aller Deutſchen gelegt. Man braucht 
nur den gegenwärtigen Xerritorialbeftand mit dem zu vergleichen, 
wie er noch vor hundert Jahren war. Damals waren die Elb⸗ 
herzogthlimer dänifh, Vorpommern, Bremen und Verden ſchwe⸗ 
diſch, Hannover englifh, die Sänder am Mittel- und Nieder- 
rhein mehr oder weniger rheinbündiſch, Sachſen dem deutjchen 
Intereſſe durch feine Verbindung mit Polen entfremdet. Ganz 
Norddeutſchland war innerlich zerriffen und zum Theil dem Aus- 
fand untertban. Davon ift nun jest feine Spur mehr übrig. 
Das ganze Norddeutihland ift mit Ausnahme des ehemaligen 
burgundiſchen Reichskreiſes (Belgien und Holland) wieder eins, 
ein mächtiger deutſcher Gefammtftaat, finanziell und militäriſch 
mufterbaft organifirt. Zum erjten mal feit dem Untergang der 
Hanſa biüht die feit Jahrhunderten vernachläffigte deutjche See- 
macht an der Nord» und Oſtſee wieber auf. Nah außen bin 
iſt der Norddeutihe Bund flark genug, nm jedem Angriff zu 
trogen. Defterreich ift durch Ungarn gehindert, fich wieder ftörend 
in die Einigung Deutfchlands einzumiichen. Nur Rußland und 
Frankreich, die romaniſche und die ſlawiſche Großmacht, vermögen 
nod) die germaniſche Großmacht, zu welcher Preußen tm Nord- 
deuiſchen Bunde herangemwachjen ift, zu bedrohen; allein jede von 
beiden hat wieder ein Intereffe, es mit uns Deutfchen nicht zu 
verderben, nicht nur weil die orientalifche Frage beide trennt 
und in Spannung hält, jondern auch weil wir Deutſchen ſtark 

enug find, aud mit wenigen Allürten, zu denen jedenfalls 
England gehören würde, uns beider zu ermwehren. Alfo bat 
das Hans Zollern den Beruf erfiillt, der ihm ſeit Jahrhun⸗ 
derten mehr und mehr zum Bemwußtjein gelommen ift, den 
großen Beruf, Deutſchland aus feiner jahrhundertelangen Zer- 
fplitterung zur Einheit zurückzuführen. 

Die Bedrohung von feiten Frankreichs iſt inzwifchen 
zu einer Thatjache geworden; die Gegenwart fchreibt mit 
blutigen Zügen die Gefchichte der fiegreichen deutſchen 
Abwehr. Rußland indeß ift zunädft fein Gegner 
Deutſchlands, das auch ohne Alliixte, zu denen jeden- 
falls England nicht gehört, über Frankreich den Sieg 
bavontragen wird. 

Sehr düfter ift das Gegenbild entworfen: was 
Defterreich für Deutfchland gethan und nicht gethan hat, 
führt ung Menzel in Hiftorifcher Folge vor; nod) jchlim- 
mer ergeht es dem Welfenregime. Das Benehmen König 
Georg's wird auf das fehärfite gebrandmarkt. Dabei 
theilt der durch feinen Sammlerfleiß auh auf dem 
Gebiet der Euriofitäten hervorragende Autor das folgende 
Suriofum mit: 

Beiläufig noch eine kleine Frage: warum ber bepoffebirte 
König Georg von Hannover nad) Hieking gezogen iſt? Im 
Nicolai's berühmter „Reife durch Deutfchland‘‘, III, 96, leſen 


563 


wir von dem Dorfe Hieting bei Wien: „Als bei ber erften 
türfifhen Belagerung von Wien 1529 die Feinde allhier ihr 
Lager hatten und die Kirche ausplünderten, flieg ein Türke auf 
den Altar, um dem hölzernen Viarienbilde die Krone abzunehmen. 
Das Bild aber rief ihm auf gut Öfterreihifh zu: Hütts eng! 
d.h. Hütet euch! Der Türke erjchraf dermaßen barüber, daß er 
nicht allein die Krone nicht raubte, fondern auch den chriſtlichen 
Glauben annahm und eın Märtyrer wurde. Es ift fonderbar 
genug, daß die Jungfrau Maria öfterreichifch fprad und daß 
der Türke das Deflerreichifche verfiand. Doc dem fei, wie ihm 
wolle! Bon der Zeit an gab der Aberglaube dem Dorje den 
Namen Hütte eng und die Kirche ward ein berühmter Gnaden⸗ 
ort. Die Wallfahrer bildeten fih ein, von dem Marienbilde 
marianifhe Gnaden zu erhalten.’ — Daraus erflärt ſich die 
Wallfahrt des Königs von Hannover nad; Hieging auf die 
natürlichfte Weife von der Welt. Wer felber eine Krone vers 
loren bat, wohin follte fi} der eher um Schub hinwenden 
als zu der hölzernen Statue, die fih ihre Krone nidjt nch- 
men ließ? 

Was Preußen jpeciell für Baiern und Würtemberg 
gethan Hat, faßt Menzel in folgender Weiſe zuſammen: 

Defterreich hat blutige Angriffstriege gegen Baiern geführt. 
Immer war es Baiern ein bedrohlicher Nachbar, und im vo— 
rigen Sahrhundert wollte e8 befanntlicd, Baiern annectiren und 
fi mit dem Kurfürften Karl Theodor in der Art abfinden, 
daß derjelbe ftatt Baiern die öfterreichifchen Niederlande befommen 
hätte. Damals nahm Preußen Batern in Schut, und Friedrich 
der Große fing fogar deshalb den fogenannten Bairifhen Erb- 
folgetrieg au. Defterreich gab nad und Baiern blieb felbtländig. 
Daffelbe Wohlwollen hat Preußen Baiern immer bemwiejen und 
e8 niemals angegriffen, obgleic, es von Baiern im Siebenjährigen 
Kriege, im Jahre 1806 und im Jahre 1866 angegriffen murde, 
ohne Baiern irgend gekränkt zu Haben. Daſſelbe gilt von 
Würtemberg. Dieſes proteftantifche, Herzogtfum wurde lange 
Zeit von Defterreich begehrt. Zur Zeit der Reformation erhielt 
es eine Öfterreihifche Verwaltung. Daffelbe wiederholte ſich im 
Dreißigjährigen Kriege nad der Schlacht bei Nördlingen. In 
der erften Hälfte des vorigen Jahrhunderts wollte Herzog Karl 
Alerander, der fatholifch geworden war und in Defterreich ge» 
dient hatte, das Würtembergerland katholiſch machen. Diefes 
Land if, wenn man es auf der Lanblarte von Deutichland be- 
fieht, nur ein Heiner füdlicher Ausläufer des in Norddentſchland 
ausgebreiteten Proteftantismus, überall von katholiſchen Nachbarn 
umgeben, ſchien alfo aud) leicht vom proteftantijchen Gebiet ab- 
gejhnitten werden zu können, und der Plan Karl Alerander’s 
wäre wahrjcheinfich gelungen, wenn nit fein ſchneller Tod 
und die Dazwiſchenkunft Preußens es verhindert hätten. Denn 
Friedrich der Große nahm ſich des proteftantiihen Volks und 
jeiner Stände an und den jungen würtembergiſchen Thronfolger, 
Herzog Karl, eine Zeit lang fogar zu fih nad Berlin. Wer 
auder® hätte Würtemberg diefen Schuß gewähren können und 
wollen? And bat Preußen niemals feindlih gegen Würtem⸗ 
berg gehandelt, obgleich würtembergifche Truppen gleich den bai- 
rifhen in der Reichsarmee des Siebenjährigen Kriegs, 1806 un- 
ter den Rheinbundstruppen und 1866 im Bunde mit Deflerreich 
Preußen angriffen. Hätte Preußen den beiden ſüddeutſchen 
Staaten im vorigen Jahrhundert feine wirkſame Hülfe nicht 
geleiftet, jo würden fie öfterreiifch Haben werden müſſen. 
Das Haus Wittelsbadh würde zwar zum Erfat für Baiern die 
öfterreichiichen Niederlande erhalten haben, aber anf wie lange? 
Würternberg würde Fatholifch gemadt worben fein. Und mas 
würde gefchehen, wenn fein Preußen, fein Norddeutſcher Bund 
mehr eriftirte? Würden fih Baiern und Würtemberg, um 
fich Oefterreich8 zu erwehren, an Frankreich aufchließen, um 
ſchließlich wie die Eifäher und Lothringer ihre deutſche Ab- 
flammung zu verleugnen? Der echte Baier, der echte Schwabe 
kann nur in deutfcher Luft athmen, würde fich felbft aufgeben, 
feinem eigenften Weſen entfremdet werden, wenn er der Helote 
eines undentjchen Herrſchervolks würde, fei es eines franzöfi⸗ 
ſchen oder magyaro⸗ſlawiſchen. Nur im Anſchluß an die nord- 
deutfchen Brüder Lönnen die Süddeutſchen auf die Dauer freie 
Deutſche bleiben. 


71* 





564 Wolfgang Menzel’s neue Schriften. 


In Bezug auf den zweiten Abfchnitt: „Die Wahrung 
der nationalen Interefien im Innern“, können wir une 
fürzer faflen; er zerfällt in brei Theile: „Die confeffionelle 
Neutralität”, „Die materiellen Intereſſen“, „Die Pflege 
des Geiftes”. Während ber zweite Theil eine Reihe von 
Thatfahen in ihrem Zufammenhang mit beweisfräftiger 
Unbefangenheit vorführt, zeigt fi im erften und dritten 
die ganze infeitigkeit der Menzel’fchen Richtung. Es 
flingt ſeltſam, und doch ift e8 die ganze Wahrheit, daß 
Menzel von ben, was Preußen für den Geift gethan, 
gar keinen Begriff dat. Hr. Eichhorn und Hr. von Raumer 
find ihm die Großmürdenträger der preußischen Intelligenz, 
die „Regulative“ die Großthaten derfelben. Der glor- 
reihe Geift ber Forſchung und Wiſſenſchaft aber wird 
von dem Obfeurantismus Menzel's in Bann gethan. 
Zur rechten Zeit füllt e8 uns ein, was Menzel an 
Goethe u. a. gefündigt hat; fein ganzes Fritifches Nacht⸗ 
wächtertHum tritt zu Tage, wenn er mit feinem Spieß und 
lärmblafenden Horn auch in diefer Schrift wieder einen He⸗ 
gel und Humboldt arretirt und als Ruheſtörer auf die 
Hauptwache der orthodoren Nachtwächter fchleppt. Aus 
der feindfeligen Kritik des Altenſtein'ſchen Minifteriums 
brauchen wir nur die folgende Stelle anzuführen, zum 
Beleg, daß diefe Abfchnitte Menzel’8 einer eingehenden 
Beiprehung unwürdig find: 


Die Männer, deren fi Altenflein zur Durchflihrung feines 
Programms bediente und von deren Gutachten die Belegung aller 


Lehrämter abhing, waren folgende. Zuerft der berühmte Alerander 


von Humboldt, Mitglied der franzöfiichen Alademie, der ſeine 
Werke franzöftich fchrieb, ſchon 1814 bei der erfien Eroberung 
von Paris den König überredet hatte, alle von den Franzoſen 
aus Deutfchland geraubten Kunftwerke nicht zurüdzufordern, 
fonderu den Branzofen zu lafien, und als Liebling und Ber- 
trauter des Königs in Berlin nicht nur die Alademie ganz nad) 
feinem Willen Ientte, fondern auch fonft jede Anftellung durch⸗ 
ſetzen oder hintertreiben fonnte, und doch faft täglich mit dem 
unendlich, fufflfanten Barnhagen im Haufe reicher Jüdinnen, die 
ihn anbeteten und mit Delicatefjen fütterten, über feinen guädigen 
König fpottete und hohnlachte. Derfelbe große Humboldt kannte 
feinen Gott in der Natur und glaubte an feinen Schöpfer. Sofern 
er die Natur für etwas hielt, das von felber entflanden fei, 
und Bewunderung nur für die Naturforfcher in Anſpruch nahm, 
die immer Neues in der Natur auffanden, er felbft aber für den 
größten Naturforfcher gehalten wurde, ſcheint es, er habe dem 
Schöpfer nur escamotiren wollen, um fi) ſtatt feiner anbeten 
zu laſſen. Kurz, er wollte von Feiner Pflicht weder gegen das 
Baterland nod gegen Gott etwas wiffen. — Der zmeite Hand» 
langer Altenflein’s war Hegel, der Philofoph, der den Trumpf 
auswarf, die Studenten in Berlin würden dur) Anhörung 
feiner Borlefungen zn Göttern und wären von da an fiber alle 
Menſchen hoc erhaben. In der That ein Überrafchender Coup. 
Daß die Aueſicht, ein Gott zu werden, für viele dumme Jun⸗ 
gen etwas außerordentlich Anziehendes hatte, ift leicht begreiflich. 

8 verband fi) aber damit auch nody die irdiſche Ausficht, 
ſchnell zu einer Anftelung im Staate zu gelangen, wenn man 
Hegel gehört Hatte und für ihn begeiftert war oder ſich wenig⸗ 
ftens für ihn begeiftert ftellte. Denn weder Theologen, nod) 
Zuriften, noch Studenten der philoſophiſchen Facultät Hatten 
Ausfiht auf Beförderung, wenn fie nicht Anhänger Hegel's 
waren, nnd folhe Anhänger wurden maffenhaft auf allen Uni⸗ 
verfitäten und Gymnaſien angeftellt, um ben Geiſt Hegel’s fo 
ſchuell und weit als möglich zu verbreiten. Nur die Regierung 
trifft dabei die Schuld. Unter andern Umftänden würde Hegel 
mit feiner verrückten Selbfivergötterungsiehre von der Regie⸗ 
rung abgemwiefen und von den Studenten felbft verlacht worden 
fein. Sofern aber Altenftein ihm zu feinem politifchen Zwecke 
benugte, ihn daher hochſtellte, auf alle Art begünftigte und 


gewiffermaßen mit der Autorität der Regierung (ef umfleidete, 
ja felbft Theologen und einige ber erſten Würbenträger der 
unirten Kirche Hegelianer wurden, war es fein Wunber, daß 
aud die Studenten an ihn glaubten und iu dem ungehenern 
Hochmuth von alademiſchen Prätoriauern fchwelgten. 


Außerdem werben noch Lachmann und Diefteriweg als 
gemeinfchäbliche Handlanger Altenſtein's denuncirt. 

Wenn ber vortreffliche erfte Theil der Menzel'ſchen 
Schrift ſchon durch die gehäfftgen Kinfeitigleiten des 
zweiten entitellt wird, fo ift das ganze zweite Werk: 
„Die Kritit des modernen Zeitbewußtjeins” (Nr. 2) 
geradezu eine Ausgeburt des Obfcurantismus zu nennen, 
der um fo bedauerlicher und unbegreiflicher erfcheint bei 
einem Autor, der für den politifchen Fortfchritt der Zeit 
ein fo gründliches Berftändniß zeigt. 

Als ob das geiftige Leben ſich theilen Liege wie Die 
Glieder der Würmer und Mollusten, ald ob eine poli» 
tifch große Zeit im übrigen den moberduftigen Hauch 
geiftiger Verweſung athmen fünnte! Wir meinen, daß 
Menzel Hier durch das Stedenpferd der Orthodorie, das 
er mit folchem Behagen reitet, auf migliche Abwege ge- 
rathen if. Wir verlennen nicht, daß fein Buch trog 
deffen manche trefiende Wahrheit euthält, und daß der 
Ihlagfräftige Stil, wo er fatirifch die Mängel der Zeit 
geifelt, hin unb wieder einen juvenalifchen ‚Charakter 
annimmt; aber die Grundſtimmung des Werts ift eben 
eine ganz verfehlte. Menzel malt mit dinefifher Tuſche 
in tiefftem Schwarz und der dhinefifche Zopf hängt ihm 
hinten. Wie der Abgefandte eines Inquifitionstribunals 
jpürt er mit unermüblicher Kegerriecheret die „falſchen 
Meinungen” auf. Das ganze Buch iſt die Enchelica 
eines verrotteten Literariichen Papftthums, das fi mit 
dem Anathem der LUnfehlbarkeit waffnet. Da werden 
die „falſchen Meinungen von der Natur“, die „falfhen 
Meinungen von der Beſtimmung des Menfchen‘ ver- 
urtdeilt und verworfen und alle Schriften, die fie ent⸗ 
balten, auf den index librorum prohibitorum geſetzt; 
ja felbft der Papſt iſt dieſem Kiferer nicht päpftlich 
genug, und die „heidnifche öttermafchinerie des Va⸗ 
ticans” wird dem Papſtthum zum fchweren Borwurf 
gemacht. 

Die Grundzüge der Naturphiloſophie, nach denen 
Menzel die falſchen Meinungen der irrgläubigen Natur- 
forfcher corrigirt, faßt er in der Einleitung in folgender 
Weife zufammen: 


Wie diefe Wiffenfchaft vom Aeußern ausgeht, fo gehen wir 
vom Innern aus. Wie fle lehrt: im Anfang war die Materie, 
jo lehren wir: im Anfang war der Geiſt. Wie fie die Ma- 
terie in Urftoffe fcheidet und aus biefen allmählich organifche 
Bildungen, aus der Pflanze das Thier, aus dem Affen zulett 
deu Menfchen entfiehen läßt, fo laffen wir zuerſt aus Gott den 
Menfhen entfliehen und nur um des Menſchen willen, nur als 
Mittel für feinen Zwed, die zu feiner Eriflenz und vollſtändi⸗ 
gen Entwidelung erforderliche räumliche und zeitliche, unorga» 
nifhe und organifhe Umgebung ihm vorangehen. Wie jene 
Wiffenfchaft einen leeren Raum vorausſetzt, der um jeden Preis 
babe gefüllt werben müffen, jo fegen wir nur eine göttliche 
Kraft voraus, die ans dem innerflen Keim ber Dinge berans 
die zu ihrer Eriftenz erforderliche Materie, den für fie nöthigen 
Raum, die fiir fie nöthige Zeit ins Nichts bineinfchafft, nur 
um diefer Dinge willen, nur al® eine relative, nicht als eine 
abfofute Materie, als einen nur relativen, nicht als einen ab» 
foluten und ewigen Raum; denn es gibt einen Raum und eine 








Wolfgang Menzel's neue Schriften 


Zeit nur fo viel und fo lange, als fie für die von Gott ge- 
ſchaffenen Wefen nöthig find. 

Das wird nun in dem erften Buche näher auseinan- 
dergeſetzt. Was unfere großen Denfer über das Nichts 
und den Raum gejagt, wird gründlich ad absurdum ge 
führt. Wir erfahren, daß, wenn Gott die Welt aus 
nichts ſchuf, dies nur fagen will, daß er die Welt fchuf, 
die vorher nicht dawar; daß er bie Körper nicht fchuf, 
um den Raum auszufüllen, fondern der Raum nur der 
Körper wegen dawar, bie ſich darin befinden follten. 
Eine fehr bequeme Philofophie fr die Weftentafche! Die 
tiefften Probleme, die feit Kant und feiner „transfcenden- 
talen Aeſthetik“ ale Denker befchäftigten, werden von 
Menzel im Handumdrehen zurechtgebreht wie die Düten 
von einem Materialmaarenjüngling. Weiterhin fpricht 
Menzel von der „fogenannten Natur“. Er ruft aus: 
wo eriftirt diefe „Dame Natur”? Diefe Art von Stepfis 
ift wenigftens neu. Dann bricht Menzel eine Lanze für 
die teleologifche Weltanfchauung, obgleich ex die Perfecti- 
bilität der Natur leugnet. Eine Philippifa wird gegen 
die pedantifchen Naturgrammatifer gerichtet: 

Die Natur, wie fie fih uns in einer reihen Landſchaft 
mit dem über ihr gemwölbten Himmel darſtellt, gleicht einem 
funftreihen Gemälde, einer wundervollen Dichtung, welche die 
Seele tief ergreift und an deren Urheber man nicht ohne Be- 
munderung denken fann. Nun verhalten ſich aber die vulgären 
Raturforfher zu diefem Kunſtwerk nicht als vernunftbegabte 
Kritiler, nicht als Kenner des Schönen, Bewunderer des Er- 
babenen, fondern als pedantifhe Silbenftecher. Sie verfahren, 
wie ein gemeiner Grammatiker verfahren würde, der in den 
göttlichen Werken des Homer, Dante und Shalfpeare nur gram⸗ 
matiſche Regeln und Ausnahmen ängftlich zufammentragen wollte. 
er blos daran dädte, an biefer Stelle braucht Homer einen 
Aorift oder nicht, oder hier weicht feine ionifche Mundart ab, 
der wlirde damit beweifen, daß ihm der Sinn für das Gedicht 
fehlt. Wer an einem Gemälde Rafael's nur die darin gebrauch⸗ 
ten Farben Llaffificiren oder die Profile mit dem Zirkel nad) 
meffen wollte, würde damit beweifen, daß ihm bie Schönheit 
und der Geift des idealen Werks fremd geblieben fei. Aber 
die meiflen Naturforſcher verfahren nicht anders. 

Diefe Tiraden find lächerlich. Daß der Naturforfcher 
das Geſetz der Natur und die Eigenthilmlichfeit der Er» 
fcheinung zu ergründen ſucht, ift doch wol jelbftverftänd- 
lich; er braudt deshalb keineswegs eines tiefern Natur- 
gefühls zu entbehren; dies aber hat er nicht nöthig zur Schau 
zu ftellen, wo es willenfchaftlihe Unterfuchungen gilt. 
Ein Chemiker iſt eben fein Landichaftsmaler. 

Das zweite Buch: „Die falfhen Meinungen von der 
Beftimmung des Menfchen‘, leitet Menzel mit folgender 
Charafteriftit des Zeitgeiftes ein: 

Dem heutigen Zeitgeift ift nichts mehr zuwider als die 
Mahnung an ein Jenſeits. Hier im Dieffeits Haben die Maul- 
beiden freies Revier. Hier können fie raifonniren, renommiren, 
debattiren, majorifiren und vernünftige Leute tyrannifiren nad) 
Herzensluft. Aber in jenem dunleln Jenſeits, was für eine 
geheimnißvolle Macht könnte dahinterfieden, die ihnen ihre 
Ohnmacht fühlbar machte oder fie wol gar zur Verantwortung 
zöge? Wirf dich in die Bruft, Fortſchrittsmann! Das Hier ifl 
dein, aljo laß es nicht fahren und fpotte des Satzes: ‚Mein 
Reich iſt nicht von biefer Welt.” Aide toi! fei deine Loſung. 
In deiner Bruft find deines Schickſals Sternel Bade die Welt 
nur herzhaft an und fie ift dein. Haft du nicht ſchon fo vieles 
erreiht? Freiheit im allgemeinen, Freiheit im befondern und 
alferbefonderften, Redefreiheit, Lehrfreibeit, Preßfreiheit, Par- 
lament, Deffentlichleit und Mündlichkeit, die ganze liberale 
Schablone? Und was kannſt, was wirft du nicht noch alles 


565 


erreichen? Die Weltrepublit ohne Zweifel, bie gleiche Austhei- 
fung aller Exdengliter und deren Verfeinerung und Vervielfäl⸗ 
tigung durch fabelhafte neue Entdedungen in der Phyfik und 
Chemie. Ans eigener Kraft wirft du, o Menfchheit, die Erbe 
wieder zum Paradiefe umgeflalten. 

Eine Widerlegung diefer Anſchauungen fuchen wir 
vergebens bei Menzel; nur triviale Raifonnements, wie 
man fie in manden Mifftonstractätlein findet, ziehen fich 
wie ein rother Baden durch dies ganze Bud. Der „Bibel- 
haß“ und der „Chriſtushaß“ werden als Zeitkrankheiten 
gegeifelt. In dem Abjchnitt über „Die Ieifetretenden Ver⸗ 
mittler und die Zoilettentheologie” nimmt ſich Menzel des 
Zeufeld an, von dem zu fprechen der gebildete Zeitgeift 
für unanftändig umd lächerlich hält. Weber die „Toiletten⸗ 
theologie“ jagt der Verfaſſer indeß einiges Treffende: 

Die jentimentalen Erzieher meinen, weil fie junge Mädchen 
vor fi Haben, gegen die man allemeg galant und zart und 
ſüß fein müffe, müfſe aud Gottes Wort ihnen verzärtelt, ver- 
dünnt und verfüßt werden. Die Sprache der Bibel fcheint 
ihnen viel zu rauh und unmanierlich, alfo zieht man wie von 
fräftigen Gebirgsfräutern nur ein Tröpfchen Effenz davon ab, 
miſcht es mit Zuder, padt e8 in feines Poftpapier mit einer 
niedlihen Devife und gibt es als gottfeliges Bonbon dem lie⸗ 
ben Beichttöchterchen zu jchluden. Auf diefe Weife wird der 
zarten Flora der Stabt, oder der Penfion, oder des Hofs die 
ganze Religion glatt und zuderfüß beigebradt. Der Gott des 
Schredens, der Donnerer vom Sinai darf die lieben Mädchen 
nicht erfchreden, darum faltet er feine Blitze zierlich zufammen 
und dämpft den Donner in leihthinfhanfelndem Versmaß. Die 
Schauer des Grabes und die Qualen der Hölle dürfen die lie- 
ben Mädchen nicht erfhreden, fie werden zugededt durch einen 
antilen Sarlophag mit Matthiffon’fchen Basreliefs und ein 
Ihöner Genius fentt mit graziöfer Tournure feine Fadel. 


Den SKernabjchnitt diefes Buchs bildet das Kapitel: 
„Von der Sünde der Philofophie.” Dem labyrinthifchen 
Wahngebäube der Philofophen wird die „reelle Kirche Got- 
tes“ gegenübergeftellt. Die ganze moderne Philoſophie ift 
unferm Autor nur ein „bewußter Abfall von der geoffen- 
barten Wahrheit“. Zuerft erhält Kant das Lineal auf 
die Finger: 

Zu feinem Syſtem bildet der Menſch allein das A und 
das DO, und es würde von Gott gar nicht die Rebe fein kön⸗ 
nen, wenn nicht im Menſchen etwas von einem Streben nach 
dem höchſten Gute vorgefunden würde, wenn ber erhabene 
Menih anf dem Thron der Erde nicht die Hand ausftredte und 
ausriefe: Begriff des höchſten Gutes und demnad) vielleicht auch 
des höchſten Wefens, du bift zum Handkuß gnädig zugelafien! 
Das ift in der That die Kant'ſche Beicheidenheit. Blos wegen 
unfers Bedärfniffes, wegen unſers Wunfches ift fo etwas mie 
Gott möglih und wahrſcheinlich. 


Schelling's erfte Philoſophie wird als ein optifches 
Erperiment, und bie Vorftellung eines „Wiederzuſammen⸗ 
flidens des Gottes“ als kindifch bezeichnet. Am ſchlimm⸗ 
ften ergeht e8 Hegel, deſſen berüchtigte Selbftvergötterungs- 
lehre das Wahnfinnigfte genannt wird, was die Philo- 
fophie jemal8 ausgehedt habe. Bon Schopenhauer, einem 
der geiftreichften Philoſophen, Heißt es, er fei bei dem 
Mislingen aller Verſuche, die gemeine Menfchheit mit 
dem philofophifchen Wahnfinn zu eleftrifiren, in eine Art 
von Berzweiflung gefallen. Gegenüber dieſem Beblam 
der deutfchen Philofophie, verkündet Menzel das A und 
D der ſcholaſtiſchen und encycliſchen Weisheit mit den 
Worten: „Die Philofophie hat nur eine Berechtigung ale 
Borfchule und Dienerin der Theologie.’ 





566 


Der Abjchnitt: „Bon der Geſchichtsverfälſchung“, wen- 
det ſich gegen die Parteilichkeit, mit der alles Claſſiſche, 
der hellenifche Geift und die römische Tugend gepriefen 
und höher angefchlagen werden als das Chriftliche. Unter 
den „faljchen Idealen“ Führt Menzel fosmopolitifche, re— 
publifantfche, ſocialiſtiſche und communiftifhe an. Die 
Bergötterungsfucht, der Servilismus der Fortſchrittsmän⸗ 
ner fpricht fih nach feiner Anfiht im „ultus bes 
Genius“ auß: | 

Die größte Zahl der Vergdtterten haben immer die Par- 
Iamente geliefert. Diefe Berühmtheiten eines Tags ober doch 
nur weniger Sabre fommen und verſchwinden wieder, verdrängt 
durch andere. Fünfhundert große Männer der Paulskirche fahen 
die Schauläden Frankfurts; es war unmöglid, alle ihre un- 
fterblihen Namen in der Geſchwindigkeit zw behalten. Man 
konnte fie nur in Bauſch und Bogen in Unfterbliche mit Bart, 
und in Unfterbliche ohne Bart eintheilen. Seht find fie alle 
bis auf ein Halbdutzend Namen vergeſſen. 


Wo Menzel den „pädagogifchen Schwindel” charak⸗ 
terifirt, da werden namentlich Rouſſeau und Dieftermeg 
die Leviten gelefen; das Verlangen einer Unabhängigfeit 
ber Schule von der Kirche wird zurüicigewiefen, die Ueber- 
bildung und Standeshoffart unferer Seminariften gegeifelt. 

Einen Heinen Beitrag zur Charakteriftil unferer Poeſie 
liefert der folgende Pafjus aus bem Abfchnitte, der „Vom 
Weltſchmerz“ handelt: 


Der Weltſchmerz in den gebildeten Klaffen der Neuzeit hat 
gewöhnlich nur einen perjönlichen Grund. Der Heißhunger des 
böjen, unfittlichen Triebes kann nicht befriedigt werben, obgleich 
er immer neu gereizt wird. Das cdarakterifirt vornehmlich die 
fentimentale Donjuanerie fo vieler unjerer modernen Dichter. 
Eine Geliebte ift ihnen nit genug, fie wollen da8 ganze fchöne 
Geſchlecht zu ihrer Dispofition haben, und e8 fehlt ihnen doch 
alles, um der indifche Gott Kriichna fein zu können. Oder fie 
haben ihr Herz verzärtelt und lünnen nicht begreifen, warum 
diefes koſtbare Herz nicht in einer Monftranz von aller Welt 
angebetet wird. Anftatt num einzig fich jelber anzuffagen, kla⸗ 
gen fie Gott nnd bie Welt an und Halten ſich zu gut filr Diefe 
Welt. Daß fie nicht alle ihre unfittlichen, oft fogar unnatür⸗ 
lichen Begierden flillen Können, oder zu entnerbt find um fie 
noch ftillen zu können, erfüllt fie mit einer Melancholie, mit 
ber fie dann fo viel als möglih in ſchönen Berfen kokettiren. 
In Deutſchland Hat zuerft Goethe's „Werther“ diefe moralifchen 
Schwädlinge in die Mode gebracht, niht um vor ihnen zu 
warnen, fondern um fie zu fanonifiren, wie denn Goethe über⸗ 
haupt in feinen fo überſchwenglich gepriefenen Dichtungen dem 
deutſchen Volk eine Menge füge Gifte gemifcht Hat. 

Bon ben übrigen Abfchnitten des Buchs erwähnen 
wir noch dem über die „Zodesftrafe”, für welche Menzel 
natürlich) mit großem Eifer eine Lanze bricht, und die 
jenigen, welde „Vom unnatürlichen Hinauffchrauben der 
Geſellſchaft“ und „Bon den liberalen Philiftern“ handeln, in 
denen beiden fi) manches Salz- und Pfefferförnlein von 
pikanter Wirkung findet. 

Das dritte Bud: „Chriftenthum und Vernunft im 
Einflang in Bezug auf den. fittlichen und ewigen Beruf 


Wolfgang Menzel’s neue Schriften. 


des Menfchen”, enthält, gegenüber den fatirifchen Negativ 
bildern, nun bie pofitive Dffenbarungsphilofophie Wolf. 
gang Menzel’s, nach der Kritil des Falſchen die Apotheofe 
der Wahrheit. Es werben über das Ienfeitd, in welchem 
ſogar mufteirt werben und der Genuß der landfchaftlichen 
Schönheit nicht aufhören fol, Vermuthungen aufgeftelt, 
welche bie Feuerbach'ſche Theorie vom religiöfen Glauben 
vollfommen beftätigen. Einen apofalyptifhen Schwung 
nimmt Menzel in jenen Abfchnitten an, welche von ben 
„Hieroglyphen der Weltgefchichte”, von dem „Rothen Ges 
ſpenſt“, ebenfalls eine Hieroglyphe der Weltgefchichte, und 
vom „Antichrift” Handeln. Als Hauptvertreter des Anti⸗ 
chriſt erſcheiint Proudhon mit feinem Cultus des Satans. 
Zum Schluß heit es: 

Eine andere finnreihe Sage faßt den Antichrift nicht ale 
ben von ber Menfchheit unabhängigen Dämon, fondern als ein 
Product der Menfchen felbft, als eingeborenen Sohn der fün: 
digen Menjchheit auf, als den vereinigten böjen Willen aller 
Menſchen in einer Perfonification, welche vollkommen folgeredt 
dem Chrift als Antihrift gegenüberfieht. Es ift eine alte Sage, 
von den Inden des Talmud aufbewahrt oder der Offenbarung 
Sohannis nur nachgebildet, jedenfalls entftanden unter den Ein- 
drücken der tiefften heidniſchen Corruption im römiſchen Kaiſer⸗ 
thum. In den legten Zeiten, fo berichtet Die Sage, wird man 
eine weiblihe Statue von weißem Marmor finden, fo fchön, 
daß alle Männer auf Erden von ihr werden bezaubert fein, 
nicht von ihr laſſen könuen und mit ihr buhlen werden. Da- 
durch wird Leben in den Marmor fommen, die Statue wird 
wachſen und endlid; einen ungeheuern Rieſen gebäreu, genanut 
Armillus, den die Menſchen für ihren Herrn erfennen werden 
und der fie alle beherrjchen und durd ben das Maf der Sim- 
den auf Erden erfüllt werden wird, bi8 Gott Feuer vom Him⸗ 
mel wird regnen laffen, um die Böfen alle zu vertilgen. Diele 
fagenhafte Variante der Apofalypfe ift infofern bedentfam, als 
fie die verführeriiche Leibesfchönheit als Hauptimotiv der Sünde 
und ses Verderbens betont. So fahten ſchon die alten Griechen 
das erfie Weib, die Pandora mit dem Gefäß, worin alle Uebel 
enthalten find, und die ſchöne Helena, das reizvollſte aller Wei⸗ 
ber, auf. Diefelbe Helena war e8 wieder, die in der geiftvollen 
Fanſtſage am Schluß des Mittelalters die aus dem Grabe ge- 
wedte antife Schönheit, den Zauber der Renaiffance bedeutete. 
Denfelben Sinn hatte die wunderjhöne weiße DMarmoritatue 
auf dem Bilde des Spagnoletto, deffen wir früher gedadıt 
haben. Und dieſes ſchöne Bild verfolgt die Menjchheit bie zum 
Ende der Erde, e8 wird die Mutter des Antichrifl. 

Mit diefer legten Hieroglyphe der Weltgejchichte, die 
übrigens in Offenbach's „Schöner Helena” ſehr durd- 
fihtig und fehr wenig räthfelhaft erfcheint, fchließt Men⸗ 
zel feine Kapuzinerpredigt gegen die Berirrungen, Frevel 
und Greuel der Neuzeit. Für ihre Fortſchritte Hat er 
nur Achjelzuden, für ihre großen Männer nur Invecti⸗ 
ven. Es gab eine Zeit, wo folche Geifelgiebe den Geifel- 
fchwinger gefürchtet machten; jest verhallen diefe Straf: 
predigten fpurlos. Mögen fie noch jo redlich gemeint, 
no) fo haarfträubend beredt fein — die Zeit hat beflere 
Dinge zu thun, als fi) von den Orthodoren katechiſtren 
zu laffen. Rudolf Gottſchall. 





- 


Altronomifches. 567 


Aftronomifdes. 


1. Handbuch der allgemeinen Himmelsbejchreibung vom Stand» 
punlte der kosmiſchen Weltanfhauung, dargeftellt von Her⸗ 
mann. Klein. Erſter Theil: Das Sonnenfyflen nad) 
dem gegenwärtigen Zuftande der Wiffenfchaft vom Stand⸗ 
punkte der kosmiſchen Weltanſchauung, dargeftellt von Her⸗ 
mann J. Klein. Mit 3 Tafeln Abbildungen. Braun- 
ſchweig, Vieweg und Sohn. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 
Der zweite, noch nicht erfchienene Theil wird die Topo- 

graphie des Firfternhimmels bringen. Weber den vorliegen- 

den erften ift unfer Urtheil ein fehr günftiges. Das Werk 
erfaßt feinen Gegenftand mit ganz befonderer Vorliebe 
und behandelt ihn kurz und bündig und für jedermann ver⸗ 
ſtändlich. Der BVerfaffer it Dann von Fach, welder 
überall den neueften Forfchungen und Fortfchritten feiner 
Wiſſenſchaft Rechnung zu tragen verfteht, aber auch dahin 
firebt, daß jeder Gebildete eine Klare Einficht derfelben er- 
halte. Mit diefer Eigenſchaft wird ſich das Werk recht 
bald einen großen Kreis vom Freunden erwerben. Von 
den fogenannten populären Aftronomien unterjcheidet es 
ſich weſentlich, da e8 gar nicht in feinem Plane liegt, die 
Unterweifung in ben Anfangsgründen felbft mit geben zu 
wollen. Diefe ſetzt es voraus. Aber ungeachtet diefer Vor⸗ 
ausfegung paßt die Darftelung dennoch für das denkende 
große Publifum. Die ganze Arbeit charakterifirt fich 
al8 ein aftronomifches Gemälde im kosmiſchen Sinne, 
wie e8 und Alerander von Humboldt in den lebten Bän- 
den feines unfterblichen „Kosmos“ jo meifterhaft vorgeführt 
bat. Da indeß die aftronomifche Rundfchau des großen 
Berftorbenen ſchon ein Alter von 20 Jahren befißt, fo 
entjpricht diefelbe unferm heutigen Wiffen und Anfchauen 
nicht mehr. Eine Fülle von ganz neuen Erfahrungen, 
von ganz neuen Forfchungsmitteln ift feitdem hinzugekom⸗ 
men, movon Humboldt noch gar nichts wiſſen und ahnen 
fonnte. Darin lag der Grund, daß der Berfaffer fich 
dazu entfchlofien hat, einen allgemein faßlichen Bericht über 
die neneften Errungenfchaften in der Sternkunde zu geben. 

Man darf in diefer Hinfiht nur daran erinnern, was 

in unfern Tagen die Spectralanalyfe, die Photographie 

zur Erforfchung der phyſiſchen Natur der Himmelsförper 

Großes geleiftet hat, um fogleich überzeugt zu fein, daß 

Dumboldt’3 Standpunkt ein veralteter, ein ungenügender 

geworden if. Das beruht auf Thatſachen des Hiftorifchen 

Fortſchritts und kann der Pietät für den unfterblichen gro- 

gen Naturforfcher auch nicht den Tleinften Abbruch thun. 

Im Gegentheil ift dies gerade im Geifte des großen 

Mannes; hat er doc; in ganz ähnlicher Weife das „Systeme 

du monde” von Taplace, feinem hochbewunderten Vorbild 

und Meifter, vielfach abändern und verjüngen müſſen, 
damit bafjelbe feinem befjern Wifien genau entjprad). 

Noch richtiger ift Übrigens das vorliegende Werk als eine 

neuefte Gefchichte der Aftronomie zu bezeichnen, welche 

fih der von ©. A. Jahn in jeder Beziehung würdig an⸗ 

ſchließt und gewiffenhaft dasjenige weiterführt, was ſeit 1842 

auf dem Gebiet der Sternkunde Neues geleiftet worden iſt. 

Diefer hiſtoriſche Standpunkt beherrſcht und belebt das 

Ganze viel mehr als die fosmifche Weltanfchauung. Doc) 

find wir weit entfernt, mit dem Berfaffer darüber zu 

rechten. Das Bud ift gut und kann mit dem beiten 


Gewiſſen als ſolches empfohlen werden, mag auch fein 
Titel oder Standpunkt fo oder fo bezeichnet fein. 

Nach einer das Ganze überblidenden furzen Einlei⸗ 
tung faßt der Autor fogleich feinen Hauptgegenftand, die 
Sonne, ind Auge, beipricht die Beftrebungen zur Erfor⸗ 
jung der Größe, Entfernung und Rotation diefes Him- 
melskörpers und kommt dann auf die Wahrnehmungen 
und Deutungen der Sonnenfleden. Darauf geht er über 
zu den Altern und neueften Anfichten über die phyſiſche 
Natur der Sonne, wobei natürlich die fpectralanalytifchen 
Unterfuchungen zulegt den Hauptausſchlag geben. Nachdem 
nun aud) von den neweften Beobachtungen bei der Sonnen» 
finfterniß die Nede gewefen, wird die Aufmerkfamfeit auf 
dag räthjeldafte Phänomen des Zodiafallichts gelenkt und 
die Wahrfcheinlichkeit ausgeſprochen, daß daſſelbe ein zwi« 
Shen Erde und Mond circulivender Nebelring fei. Der 
Berfafler bemerkt: 

Bei dem gegenwärtigen Zuftande unfers Wiffens bleibt es 
ſchwierig, zu entjcheiden, was von diefen Wahrnehmungen ob» 
jectiv, in der Natur begründet, was fubjectiv, ein Refultat 
mebrerer,, oft ſehr vermidelter Urſachen iſt. Im ganzen aber 
findet fich die Hypotheſe (Heis’), welche in dem Thierfreislichte eiuen 
innerhalb der Mondbahn unfere Erde umkreiſenden Ring flieht, 
nod am beflen mit den Beobachtungen in Webereinftimmung. 
Nur bleibt es nad) derjelben noch unaufgellärt, weshalb der 
Gegenſchein des Thierfreistichts auch im Herbft und Winter fo 
felten und unbeflimmt erfcheint, weshalb man ihn dann nit 
bon bderfelben Intenfität wie das eigentliche fogenannte Zodiakal⸗ 
licht erblickt. Alle Eigenthiimlichkeiten biefes geheimnifvollen 
Phänomens müffen in füdlichern Regionen, befonders an Orten 
bon bedeutender Sechöhe, unterfucht werden, vor allem zur 
Zeit unferer Sommermonate, 

Er maht dann auch noch darauf aufmerffam, daß 
die günftigften Regionen zur Beobachtung die auftralifchen 
SInfeln der Südſee find, wo die Erfcheinung in den 
Monaten Juni, Yuli und Auguft morgens und abends 
fehr Har fich darftellen muß; auch werden die Hochebenen 
von Peru und Mexico faft ebenfo dringend empfohlen, 
und zugleich die Punkte angebeutet, welche die Beobachter 
borzugsweife ind Auge zu fallen haben. | 

Darauf behandelt das Werk ebenfo fpeciell alle Pla- 
neten und Nebenplaneten, gibt deren nenefte Elemente, 
ihre Bahnen und überhaupt alle Größenbeftimmungen; 
auch unterläßt e8 nicht, die wichtigften hiſtoriſchen Notizen 
beizubringen und zu zeigen, wie weit man, hier in der 
Erforſchung der phyſiſchen Natur diefer Himmelsförper 
durch die Spectralanalyje vorgefchritten ift. 

Hieran ſchließt fi dann eine fehr eingehende Unter» 
juhung über die Kometen. Bekanntlich herrſcht noch 
vielfach Dunkel und Unficherheit unſers Willens, fobald 
es auf die Natur und Stellung diefer Himmelskörper 
anfommt; daher Hat die ganze Kometentheorie durch die 
neueften Unterfuchungen von Schiaparelli, Leverrier, Weiß 
u. a. eine ftarke Erſchütterung erfahren, worauf natürlich 
von unjerm Werke mit Nachdrud hingewiejen wird. 

Den Schluß bildet das fehr intereflante Kapitel über 
die Meteoriten. Außer einem umfafjenden Bericht von 
den biftorifch bewahrheiteten Beobachtungen über das Fallen 
der Meteorfteine und ihrer chemifch »mineralogifchen Unter« 


A 
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u 
4 
E 





ST m ee N: 








568 Aftronomifhes. 


ſuchung wird auch ihre Identität mit den fogenannten 

Sternfchnuppen außer Zweifel gefegt, wobei dann One» 

telet’8 Anficht über die Natur bdiefer Körper am meiften 

Glauben verdient. Die Höhenbeftimmungen durch Heis und 

Secchi, welche jegt allgemein zu Grunde gelegt werben, 

faßt ber Verfafſer beſonders ins Auge, und ebenfo aud 

die periobifche Wiederkehr ber Sternfänuppenfämirme: 
Die Meteoriten bieten uns in vielfachen Beziehungen noch 
Näthfelhaftes dar. Manches if durch die andauernden, verein ⸗ 
ten Bemühungen einer großen Zahl ſcharfſinniger Forſcher wiffen- 
ſchaftlich erkannt worden, aber mod; bleibt vieles zu erforichen 
übrig. Bon dem Punkte aus, bis zu welchem man vorgedrungen 
if, hat man neue Regionen in ungewiffenm Dämmerſchein her- 
überbliden fehen. Daß ift der Faden, ber ſich durch die gefammten 
Naturwiſſenſchaften hindurchzieht, daß von jedem Gtandpunfte 
aus eine immer neue Perfpective des zu Erſorſchenden ſich er- 
öffnete, daß niemals der Kreis des Wiffens als ein genetifd) ab» 
geichloffener betrachtet werden kann. Wie das Unendfihe, nah 
dem Ansbrud des fharffinnigften, confequenteften Denfers, Gauß, 
nurt als ein ewig Unvollendetes aufzufafien ift, fo aud) die Wil- 
ſenſchaft, bie eine immer größere Summe des Endlichen im Un- 
endlichen ber Natur intellectuell zu begreifen unternimmt. 
Das ift ein ebenfo vortreffliches als beherzigenemwerthes 

Schlußwort, weldes zugleich die Gebiegenheit des gan- 

zen Werks fpiegelt. 

2. Die Widerſprüche in der Aftronomie, wie fie bei ber An⸗ 
nahme des Kopernicanifen Syfiems entftehen, bei der ent« 
gegengejegten aber verſchivinden. Bon Karl Schöpffer. 
Mit einem Borwort von A. rang. Mit einer Kithographir- 
ten Figurentafel. Berlin, Bed. 1869. Gr. 8. 12% Rgr. 
Der Uebergang von ber Beſprechung des vorigen 

Buchs zu dieſem erwedt ein tief empfundenes Bebauern, 

denn der Gegenſatz ift fo fhroff, wie er in der Welt 

nur gedacht werben kann. Hatten wir dort überall Ge- 

Tegenheit, über bie wiſſenſchaftliche Gründlichkeit und 

ZTüchtigfeit und über das gewiflenhafte Streben nach dem 

Foriſchritt der menſchlichen Erfenntniß. uns aufrichtig zu 

freuen, fo müfjen wir bier die confufe Oberfläcjlichfeit 

und die leidenſchaftliche Sucht, die Wifienfchaft im bie 
traurige Zeit des finftern Mittelalter zurüdzuführen, 
ſchmerzlich beflagen. Doch beftätigt ſich auf allen literari« 
ſchen Gebieten die gleiche Thatſache, daß es ſolche Känze 
gibt, welche Unfinn fchwatzen. Die Weder firäubt ſich, 
nur in bie Nähe eines ſolchen Auginsftalls geführt zu 
werben, und würde geradezu den Dienft auffagen, wollte 
man ihr bie Herculedarbeit de Ansmiftens zumuthen. 
Der Verfaſſer ift Tängft befannt. Geit 20 Yahren 
arbeitet er unabläffig an der Aufgabe, die Erde wieder 
gm Stillſtehen zu bringen. Seine Brojhüren: „Die 
rde ſteht ef“, „Die Bewegung der Himmelskörper“, 

„Blätter der Wahrheit“ u. |. w., find Zeugniffe feines 

Streben. Und als nun gar der famofe Streit zwiſchen 

dem Paſtor Knak uud dem Prediger Lisco ausbrach, fo 

belam feine Schriftftellermühle aufs neue Oberwaffer, - er 
trat mit dem vorliegenden Machwerk auf, in der Hoffe 
nung als gfüdlicher Sieger zu glänzen. Wir mögen num 
nicht gern einem Menfchen die Freude verderben oder 
die Hoffnung rauben, darum flören wir aud Karl 

Schöpffer in feinem vermeinten Triumphe nit. Er mag 

mit feinen Olaubensgenoffen und Sinnvermandten nad 

Herzensluft fcwelgen, die verftändigen Männer von Fach 

werden fich darob fein graues Haar wachſen laſſen, auch 

werben fi darüber bie verftorbenen Großen, melde er 





fo platt und niedrig verleumbet, verhöhnt, gejcholten hat, 
im ihren Gräbern nicht umgefehrt haben. 

Der Verleger, bei dem auch einige Werke Knal's er- 
ſchienen find, hat an U. Srang, welcher mit unferm 
Berfaffer aus derſelben Pofaune bläft, die Aufforderung 
ergehen lafien, zu dem vorliegenden Werke ein Vorwort 
zu fehreiben. Dem ift num mie es ſcheint fehr bereitwillig 
gewilfahrtet. Denn dies Vorwort ift eine Kapuzinade, wie 
fie die Welt noch nicht erlebt Hat. Wir können ung die Freude 
nicht verfagen, ben Leſern etwas davon mitzutheilen: 

Wer hat die unmittelbare Beobachtung gemacht, daß die 
Sonne wider allen Augenfdein wirklich ſtiüſtehe, und die Erde 
wider alle Wahrnehmung in einer doppelten Bewegung ſich 
abmühe? Man hat dem philofophifchen Stein des Kopernicus 
immer höher mit Gerüflen umbaut und von diefem Gerüfte 
herab den Stein gemeffen, berechnet, mit Teleflopen betrachtet, 
darüber Eonjecturen gemacht, Hypoiheſen erfonnen und wun⸗ 
ders viel gerühmt, mas für einen köftlichen Ebelftein man im 
diefem Gerlifte eingepferdht habe; aber feiner kann jagen, ob er 
ein Edelftein ober ein Kufusei fei.... Am GEnbe ift vom dem 
ganzen Univerfum nichts übriggeblieben als die Vorſtellung 
einer todten Mafchine, deren Räderwerf durch die Gravitation 
im Bewegung gefegt wird. Der Himmel iR nichts Befonderes, 
die Geftirne find nichts Befonderes, ihre Bewegung ift nichts 
Vefonderes, die Exbe if nichts VBefonderes; der Menih ift es 
nicht, fein Leben, fein Denten ift es nit; und was hat im 
diefer vereinerleiten Welt Gott zu tfun?... Es iſt ſchier mit 
Händen zu greifen, wie mit biefer Aſtronomie der Atheismus 
verwandt ift und feine Gtüße in ihr hat. Und doch — gegen 
diefe atheiſtiſche Königin, d. i. gegen diefen Gögen menichlicher 
BWiffenfgaft die Anklage erheben, „daß fie läge“: das jolte 
ein Berbredien fein gegen die heutige Eultur und Bildung und 
gegen den prächtigen Pfauenfhweif der Raturwiſſenſchaft, der 
[77 darin aufthint® ... So wollen wir biefer Wifjenihaft umd 
biefer Bildung wenigfiene die Erflärung nicht fhuldig bleiben, 
daß fie heidniſch — und ſchlechter als Genie) if. Gott be- 
wahre uns in Gnaden vor biefer neuen Finfterniß und jegue 
auch diefe Schrift (des Berfaffers) zu Geines Namens Ehre! 

Dies Probchen Berebjamfeit lodt an und macht be- 
gieig, das Wert felbft zu ſtudiren. Wir können unfern 

'efern aud; nur dazu rathen, dies Studium ja nicht zu 
unterlaffen. Langweilig ift e8 durchaus nit, im Gegen- 
theil durchweg amufant, auch ift die Warnung vor der Au⸗ 
ftedung durch feine Irrthümer unnöthig, da e8 überall ſelbſt 
dafür forgt, das fo leidenfchaftlich befämpfte Wahre uud 
Gute in Schu zu nehmen und als bleibendes Eig 
thum zu bewahren. Uebrigens ift nicht in Abrede zu fiel- 
len, daß ber Berfaffer ein umfangreiches aftronomijches 
Wiffen beherrfcht, und daß er oft mit Geift und Geſchick 
zu fechten verſucht, dennoch ift er flet® wieder mit Hohn 
und Schmähworten aufzutrumpfen bemüht, wenn er bei 
feinen Beweifen an bie Ungläubigen dent, welde da- 
durch nicht überführt werben bürften. 

Das Intereffantefte vom ganzen Buche bildet aber 
unftreitig der Abſchnitt, welcher bie Ueberſchrift „Zu mei · 
ner Rechtfertigung” trägt. Hier erfahren wir, daß der 
Verfaſſer ſchon in ben früheften Jahren, wo er im ber 
Schule ven Schülern und Schülerinnen den Umlauf der 
Erde um die Sonne zu verfinnlichen hatte, es ſehr ſchwer, 
ja geradezu unmöglich fand, die tägliche Umdrehung mit 
dem jährlichen Umlauf in einen vernünftigen Einklang zu 
bringen. Kein Handbuch, keine Nachfrage wollte genügen. 












Da entfhloß er ſich, ein Lehrbuch der Phyſik für Lehrer 


und Schülerinnen der höhern Töchterfchule auszuarbeiten, 
mobei die Punkte über die Bewegung der Erde und der 





Aſtronomiſches. 


übrigen Planeten und Nebenplaneten ſo recht faßlich und 
deutlich abgefaßt ſein ſollten. Das machte indeß die 
Schwierigkeit noch viel größer. Um dieſelbe Zeit kam 
anch Dr. Menzzer nad) Quedlinburg, um den Yancault'- 
fhen Pendelbeweis für die Umdrehung der Erde zu wieder- 
holen. Das Pendel wurde angebunden, der Faden durch⸗ 
brannt, die Schwingungen begannen, aber die Abweichung 
war links flatt rechts. Auch war fein Glaube an bie 
Kopernicanifche Lehre gerade durch ben Vortrag des 
Dr. Menzzer und duch deflen mislungene Pendelverfuche 
Schon ſehr ſchwankend geworden. Jetzt ſuchte er bei Alexan⸗ 
der von Humboldt Belehrung und Stütze: 

Er empfing mich ſehr freundlich und ſagte die denkwürdi⸗ 
gen Worte: „Das babe ich auch längſt gewußt, daß wir 
noch feinen Beweis für das Kopernicaniihe Syſtem haben, aber 
als erfter e8 anzugreifen, wiirde ih nie wagen. Stoßen Sie 
nicht in dieſes Wespenneſt. Sie werden fi nur ben Hohn der 
urtheilsloſen Meuge zuziehen. Erhebt ſich einmal ein Aftronom 
von Namen gegen die heutige Anfchaunung, fo werde auch ich 
meine Beobadhtungen mittheilen, aber als erfter gegen Anſichten 
auftreten, die der Welt Tiebgeworden find, uerfplire ich nicht 
den Muth. Mich aber ermuthigten diefe Worte, denn ich er- 
launte aus ihnen, daß der berühmte Gelehrte ebenfalls feine 
Bedenken babe. ° 

Bei Ende wurde er weniger freundlich aufgenommen; 
verdrießlich erklärte derfelbe, dag die Aftronomen andere 
Dinge zu thun hätten, als fi mit Hypotheſen abzugeben ; 
er babe nicht die Zeit, jeden, der irgendwelche Zweifel 
hätte, zu belehren; es gäbe Bücher genug über Aftronomie, 
die möchte er nachleſen. Diefe harte Abweifung begrün- 
dete einen bittern Haß gegen Ende, den er im meitern 
Berlaufe des Buchs noch oft frei walten läßt. In Mün« 
hen wird er von Tamont ähnlich wie von Ende abgefer- 
tigt. Jetzt faßt er den Entfhluß, auf ein Jahr nach 
Göttingen zu gehen, um die dortige Bibliothef zur Be- 
antwortung der Frage zn benugen, ob Kopernicus oder 
Tycho recht habe. Da befuchte er auch Gauß, dem theilte 
er feine Bedenken und alle vergeblichen Berfuche, biefelben 
zu befeitigen, mit, erwähnte auch Humboldt's Worte. 
Gauß Hörte alles ruhig mit an, ohne bie geringfte Ein- 
rede zu thun, nur bemerkte er, daß auch ihn jede neue 
Entdedung in der Aftronomie mit neuen Zweifeln an dem 
herrfchenden Syſtem erfüllt habe. 

Die Verſammlung deutfcher Naturforfcher und Aerzte 
wollte gerade in Göttingen tagen, als Schöpffer ſich da- 
ſelbſt ſtudirenshalber aufhielt ; da beſchloß berfelbe in 
diefer Berfammlung die Frage anfzuwerfen: „Warum man 
nit aus den Eigenthümlichkeiten des SKometenlaufs fo» 
wie aus der mathematifchen Unmöglichkeit elliptifcher Bah⸗ 
nen der Weltlörper längft den Grundirrthum des Koperni- 
canifchen Syſtems erlannt habe?" Es hing nun davon 
ab, ob er dazu die Genehmigung erlangen Tonnte, denn 
ohne diefe würde er ſich nicht haben entfchliegen können, 
ein Mitglied der Gefellichaft zu werden. Er begab fi 
daher zu dem erften Gefchäftsführer, Dr. Baum, von dem 
er zu dem zweiten, Dr. Lifting, gewiefen wurde, Diefer 
meinte, der Berfafjer möchte zur Verhütung von Un⸗ 
annehmlichleiten die Frage lieber nicht einreichen. Auf die 
Aeußerung des lettern, daß er vollfländig gerüftet ſei, 
allen Einwendungen zu begegnen, machte ber Profeſſor 
den Verſuch der Belehrung, „aber im Gefühl ber Ohn⸗ 

1870, 36. 


569 


macht mit niedergefchlagenen Augen“. Der Verfaffer war 
nicht verlegen, gehörig zu antworten. Er erzählt: 

In dieſem Augenblid trat die Frau Profefforin herein und 
fagte, ihr Mann babe noch nicht zu Mittag gegeffen. (Es war 
3 Uhr nachmittags und in @öttingen pflegt man früher zu 
Mittag zu effen.) Ueberdies muß ich aud aus dem Umftande 
ichließen, daß die Fran Profefjorin nur auf ein mir unbemerkt 
gebliebenes Zeichen des Herren Gemahls zu deſſen Erlöſung 
herbeigeeilt war, weil fie, obgleih ich mich fofort erhob und 
zum Gehen anſchickte, doch mindeftens fehemal wiederholte, 
daß ihr Mann no nicht zu Mittag gegeffen habe und der 
Menſch doch nothiwendig zu Mittag effen müfſe. 

Er wurde an Weber gewiefen, den er in feinem Gar- 
ten antraf. Auch diefer wollte ausweichen und ihn an 
Baum und Lifting zurädichiden, er entfchuldigte ſich auch 
damit, daß Aftronomie nicht eigentlich fein Fach fei. Der 
Verfaſſer fagte: 

„Es ift wahr, Sie find Phyſiker. So beantworten Sie mir 
denn die rein phyfilalifche Frage, ob fi} die Kepler'ſchen Ellip- 
feu mit der Newton'ſchen Gravitation vereinigen laffen, da diefe 
im Berbältniß des Duadrats der Entfernung abnehmen fol 
und gleihwol erlaubt, daß die Erde aus der Sonnennähe in 
eine Sonuenferne entflieht, dann aber aus der Sonnenferne 
in die Sonnennähe zurückkehrt?“ — „Das überlaffe ich Ihnen“, 
antwortete der Profefior, der kaum zur Noth athmen konnte, 
und retirirte Über das fchönfte Blumenbeet des Sarteus. — „Ge⸗ 
ftehen Sie lieber, daß Ihre Wiſſenſchaft nicht ausreicht‘, ant- 
wortete ich ihm und ging. 

Aus der ganzen weitern Meittheilung geht benn zur 
Genüge hervor, daß ber Verfaſſer ein ziemlich Läftiger Que- 
rulant war, mit dem man ungern zu thun bat, und in 
biefem Geifte machte er fi) denn endlich an die Arbeit, 
das vorliegende Werk abzufafjen. 


3. Die kosmiſche Bebeutung der Xerolithen, namentlich) gegen- 
über der Sonne, den Eiszeiten und dem Magnetismus der 
Himmelskörper. Im gedrängter Darſtellung von ©. Zeh⸗ 
fuß. Frankfurt a. M. Hermann. 1869. GEr. 8. 3 Ngr. 


Die vorliegende Heine Arbeit bildet eine Vorlefung, 
welche vor einem gemifchten Publitum gehalten worben 
ift, und fügt fich auf einen wiffenfchaftlichen Vortrag, ben 
dev Berfafler 1867 vor der zu Frankfurt tagenden Ver⸗ 
fammlung der Naturforfcher gehalten hat. Sein Stand⸗ 
punkt ift der von J. R. Mayer, mwonad) die Sonne ein 
Feuerball ift, zu dem die Meteorfteine des Thierkreislichts 
da8 Brennmaterial liefern. Der Berfaffer fagt: 

Für diejenigen, welche bie heutzutage durch Helmholtz, 
Claufius u. a. über allen Zweifel erhobene Mayer'ſche Wahr- 
beit nicht kennen, klingt es freilich erſtaunlich, daß Steine ein 
Heizmatertal fein follen. Könnten wir aber auf unferer Erbe 
diefe Steine nur in die Bedingungen verjegen, welchen fie in 
der Nähe der Sonne unterworfen find, fo hätten wir nicht 
nöthig, einen fofffpieligen Aufwand zur Heizung unferer Defen 
zu maden. Die Bebingung beſteht in einer koloſſalen Ge⸗ 
ſchwindigkeit, mit welder ſich die Steine zulegt in ihrer Um⸗ 
laufsbewegung auf die Oberfläche des mächtigen Sonnenlörpers 
ſtürzen. dem fie alsdann die ihnen innewohnende — 
geſchwindigkeit verlieren, verwandelt fich die letztere nach Mayer's 
Hauptſatz zum größten Theil in jene feine, heftige, ſchwingende 
Molecularbewegung, welche wir Wärme nennen, 

Damit ift die Grundlage bezeichnet, auf weldye der Vor⸗ 
trag feine weitern Betrachtungen und Entwidelungen ftügt. 
Das Ganze zeichnet ſich aus durch ein Leichtfaßliches tie- 
feres Eingehen in einen Gegenftand der neueften phufifchen 
Aftronomie, für welche eben jetzt ein ſehr Iebhaftes allge- 
meines Intereſſe erwacht ifl. 

72 





570 Aftronomifches. 


4. Grundzüge zu einer Theorie der Erdbeben und Bulkan- 
ausbrüche. In gemeinfaßlicher Darftellung von Rudolf 
ar Zweite Lieferung, Graz, Pod. 1869. Gr. 8. 

r. 

Belanntlich leitet der Verfaſſer feine neue Theorie von 
der Ebbe und Flut bes fenrig-flüffigen Erbinnern ab. Diefe 
Oypotheſe ift jedenfalls ganz originell und hat ungeachtet 
vielfacher Einreden doch das Glüd gehabt, daß mehrere 
Vorherſagungen wirklich in Erfüllung gegangen find und 
daß gerade das Jahr 1869 eine ganze Reihe von Bei⸗ 
fpielen Lieferte, welde ftets neu an diefe Falb'ſche Theorie 
erinnerte und ihr befonder8 im großen Publitum einen 
gläubigen Anhang verſchaffte. Im dem vorliegenden Hefte 
ſetzt der Verfaſſer feine im erften begründeten Anfichten 
als bekannt voraus und ſucht num feine Lehre durch eine 
Reihe von Hiftorifch feftgeftellten Thatſachen weiter zu be 
wahrheiten. Dazu wählt er bie zwanzigjährigen Beobad)- 
tungen von 1848—68, über die Er in feiner „Wochen ⸗ 
ſchrift fur Aftronomie, Meteorologie und Geographie” 
und Bolger in feinen „Unterfuchungen über das Phäno- 
men der Erdbeben in der Schweiz“ berichtet haben. Der 
Berfaffer hat diefe Fälle ohne Ausnahme alle vorgeführt, 
um fi vor dem Verdacht zu fihern, als wähle er nur 
das, was zu Gunften feiner Theorie fprehe, aus. Der 
Berfaffer meint: 

Manche davon dürften allerdings Iocale Urſachen haben, 
aber jedes Erdbeben, von welhem nur fpärlihe Nachrichten 
vorliegen, als locales zu betrachten, bagegen firäubt ſich der 
gefunde Menfchenverftand. Wir wiflen ja, wie viele Beben in 
fpärlic bewohnte oder uncultivirte Gegenden fallen, wie viele 
den Meeresboden treffen; ſelbſt in dem cultivirteften Orten wer» 
den bie ſchwächern Beben nicht von jedermann wahrgenommen. 
In den Ländern der heißen Zone, wo Erdbeben Häufig find, 
gibt man ſich aud gar nicht meht die Mühe, jeben Fall zu 
notiren oder nad; Europa zu beriäten. Alles dieje® und der 
Umftand, daß die Wirffamfeit de Druds and) von der Boden- 
beſchaffenheit abhängt, macht ſehr wahrſcheinlich, daß viele von 
den Erdbeben, welde als locale zur Eriheinung fommen, that 
faafich doch eine fehr allgemeine Urfadhe haben. Das Wort local 
ift viel raſcher ausgeſprochen als erwielen. 

In dem Werke felbft wird nun für jeden Monat, wo 
innerhalb des bezeichneten Zeitraums ein Erdbeben wirklich 
ftattfand, eine Tabelle gegeben, in der die Stellung der 
Sonne und des Mondes jowie ihre jedesmalige Entfer- 
nung von ber Erde oder, wie ber Verfaſſer es richtiger 
benennt, der Miteinfluß und das Gewicht der Haupte 
factoren numerifch bezeichnet find. Daran ſchließen ſich 
dann einige kurze, aber für bie neue Lehre ſehr charafe 
teriftifche Bemerkungen. Wir haben das Ganze mit un« 
geteilten Aufmerkſamleit ftudirt und können kaum anders, 
als der neuen bee unfern Beifall, unfere Anerkennung 
ſchenlen. ebenfalls Haben wir hier etwas, was bie 
Widerfprüche der alten Hypotheſe nicht in fich fchließt 
und dennoch damit in einem ber wichtigften Punkte genan 
übereinftimmt, wir meinen bie Annahme des feurig-flüfe 
figen Innern der Erde. Allerdings dürfen wir dabei 
nicht unerwäßnt laffen, bag man in nenerer Zeit auch 
fon wieber viel an dieſer durch Leopold von Buch und 
Aerander von Humboldt ehrwilrbig gewordenen Annahme 
gezweifelt und gemeiftert hat. Man Hält nur beshalb 
daran noch feft, weil alles andere, was man dafür in Vor« 
ſchlag gebracht Hat, noch weniger haltbar war und von 
anderer Seite ebenjo ftarfe Widerfprüche herbeiführte. 





5. Das Nord» oder Bolartiät, wie es iſt und mas es if. 
Eine Zufammenfelung von Thatſachen über daffefbe und 
dieſem verwandte Seiceinungen der Atmofphäre. Nah Be 
sbactungen in Bern & erinigen, Staaten von Nord. 
amerifa von F. ©. J. ers. Hamburg, I. 5. 
1870. Gr. 8. 15 Sigr. % 3. 8 Riten. 
Dem Verfaſſer kann ber Vorwurf eimer übertricbenen 

Beſcheidenheit nicht gerade gemacht werden, er gehört aljo 

nad; Goethe s berühmten Ausſpruche auch nicht in die 

Llaſſe der Lumpen. Mit einem felbftgefälligen innen 

Behagen glaubt er der Welt etwas ganz Neues, noch nie 

Dagewejenes verkünden zu müfjen. Der Lefer wird durch 

diefe Miene der Wichtigfeit erwartungsvoll gejpannt, aber 

recht bald auf das unangenehmſte enttäufcht, denn er 
findet gar nichts, was ihm nicht ſchon längft und viel 
beffer befannt wäre, nämlich tabellariſche Aufzeichnungen 
über das Vorkommen des Phänomens in Verbindung wit 

Wetterbeobachtung. Nur eine kurze Probe von der Art 

der Behandlung: 

Die firahlende Wärme des Erdbodens verfüngt fih in den 
Nebeldunſiſchwaden und ſchwellt die Dampfbläshen gleihfen 
zum Zerplagen an. Das Nordlicht verwahrt fid denn au 
nod) in biefem legten Zuge gegen ben Berdacht einer Gonter- 
natur und tritt hier wie überall innig vermuͤhlt dem Reigen 
der Witterungsfälle, der denfenden Erfenutniß gegenüber. Wir 
haben uns beftrebt, das Phänomen des Polarlichts dem Lefer 
don einem Standpunkte vorfberzuführen, welchen die Ratur 
felöft dazu eingeräumt Hat. Diefe Blätter fühlen ſih damit 
ihrer Anfgabe erledigt. 

Auch die unferige dürfte nach diefer kurzen Mitthei- 
Tung erledigt fein. 

6. Die Somne. Zwei phyſikaliſche Vorträge, gehalten in der 
Rheinifen naturforihenden Geſellſchaft au Mainz. Neät 
einer neuen Sonnenfleden- Theorie. Bon Paul Reit. 
Leipzig, Ouandt und Händel. 1869. 8. 15 Kar. 
Das ift eine fehr intereffante Schrift. Sie dient mit 

ganzer Hingebung nur dem allerneueften Fortſchritte der 

Aftronomie. Darin lebt und webt fie und verficht es 

auch ihre Leſer dafiir zu begeiftern. Wir Lönnen es nur 

beklagen, daß fie für ihre Zwede ſich räumlich gar zu 
eng beſchränkt Hat. Es ift zwar dankenswerth, daß fie ad 

Vorbereitung und Grundlage aud ein erflärendes Bart 

über die Spectralanalyfe bringen will, aber dam 

mußte dies eingehender, gründliche gefchehen, ober gan; 
wegfallen und auf andere Leiftungen vermwiefen werden, 
welche diefen höchſi wichtigen Gegenftand ausſchließlich für 
ſich behandeln. Wir geben, um etwas näher mit dem 

Buche bekannt zu maden, eine Heine Mittheilung aus 

der neuen Sonnenfleden- Theorie: 

Für bie Bildung der Sonnenflede önnen nur von Interefit 
fein die Verbindungen derjenigen Stoffe, die fid im größerer 
Menge in der Sonnenhülle Aiiden, alfo bie Berbinbung dei 
Eiſens und Wafferftoffs. Diefe zwei Stoffe aber verbinden fa 
nicht direct miteinander, fondern nur duch Wermittelung di 
Sauerfioffe, während zugleich das Vorhandenſein des Waftt- 
Moffs das Eifen und den Sauerftoff beiwegt,. fich im größerer 
Menge zu einem gm beftimmten Stoffe, dem Cifenorgbulbutrat 
oder Roſt, zu verbinden. Wir haben nun ſchon Be, daß in 
der Sauerftoffihicht fih Eifen und Wafferfloff befinden, abe 
nur in fo geringer Menge, daß eine Bildung vom graben 
Mengen großer und dider Sonnenſieden hierdurch undenldar 
iſt. Die Berbinsung von Eifenorybhydrat ann nur dann in 
gelte: Menge ftattfinden, wenn an die Eifenfauerftoffihihte 

jafferftoff im größerer Menge Herautritt. Diefe Bedingung 
aber durd die Protuberanzen erfüllt; denn ſowol much der 





Aſtronomiſches. 571 


ſpeetralanalytiſchen Unterſuchungen der Protuberanzen am 18. Au⸗ 
uſt, wie auch nach den Beobachtungen, die ſeitdem nach der 
nfien’ihen Methode ausgeführt wurden, bat ſich ergeben, daß 
die Protuberauzen hauptfählih aus Wafjerftoffläulen von mehr 
oder minder großer Höhe beftehen. 

So kommt der Berfaffer feiner Hypotheſe allmählich 
näher und näher, bis er in den Sonnenfleden nichts ale 
Eifenorybulhydrat, Roft, erkennen läßt, von dem befannt ift, 
daß fein Schmelzpunft weit Höher liegt als der des metalli- 
fchen Eifens. Es muß daher überall der braune Roſtſtaub 
entftehen, wo fid) das Waſſerſtoffgas zwifchen die Eifen- 
fauerftofffchichten Hindurchdrängen Tann. Und damit ift 
die Möglichkeit des Entſtehens der Sonnenflede und zu- 
gleich ihre Natur angedeutet. Der weitere Verfolg dieſer 
Theorie legt wie das ganze Werk Mar an den Tag, daß 
der Verfaffer mit den allerneueften Forſchungen und An⸗ 
fihten über die phufifche Natur der Sonne genau be- 
kannt if. Wir können daher fein Wert allen denen, 
welche Hiermit auf eine ebenjo angenehme als Leichte 
Beife bekannt zu werben wünfchen, aus befter Ueber⸗ 
jeugung warm empfehlen. 

7. Reben und Abhandlungen liber Gegenflände der Himmels⸗ 
kunde. Bon 3. H. von Mädler. Berlin, Oppenheim. 
1870. Gr. 8. 2 Zhlr. 20 Nor. | 
Dex Verfaſſer diefes Werts hat ſich ſchon Längft 

einen anerlannt günftigen Ruf ſowol unter feinen Fach⸗ 

genofjen als unter dem gebildeten großen Publikum er- 
worben. Dean erwartet von ihm nur das, was jeden 
aftronomifc, gebildeten Denker lebhaft intereffirt. Er ift 
ein Meifter in der Weiterförderung feiner Wifjenfchaft, 
zugleich aber auch ein begeifterter Freund einer po» 
pulären Verwerthung derſelben. Und gerade in dieſem 
zweiten Punkte verſteht er ganz ungemein zu feſſeln. 

Seine Mitwirkung in den der allgemeinen Bildung die- 

nenden Bormeinung wird überall mit Freuden begrüßt, 

weil er ftetS nur Anziehendes auswählt und dies leicht⸗ 
foplih und elegant zu behandeln weiß. Nach diejem 

Urtheil erwartet man von dem Berfafler nur Gediegenes, 

daher geht dem vorliegenden Werfe fchon überall eine 

jehr günftige Bormeinung voranf, welche aber während und 
nad) dem Lefen zu einer wohltäuenden innern Befriedigung 
umgewandelt wird. 

Das Bud) bringt 25 Reden und Abhandlungen des 
Berfaffers, von denen aber ſchon 11 früher als Beiträge der 
ſtuttgarter „Deutſchen Bierteljahrsfchrift” und der wiener 
„Smternationalen Revue” veröffentlicht find. Es iſt alfo 
mehr als die Hälfte des Inhalts neu, und bei dem 
andern hat es der Berfafler nicht an zweckmäßig zuge 
fügten Anmerkungen und Bervollftändigungen fehlen laſſen, 
ſodaß daffelbe gerade wie das erfte genau dem Stande 
der wiflenfchaftlichen Gegenwart entjpridt. Den Anfang 
bildet des Verfaſſers Antrittsrede bei feiner 1840 erfolg- 
ten Heberfiedelung von Berlin nad) Dorpat, in der er daß 
bebeutungspolle Thema: „Die Zukunft der Aftronomie‘, 
geiſtreih und für jeden Gebildeten Mar und verftänd- 
Pi behandelt. Der Berfafler ruft am Schluſſe feiner 

ede aus: 


Ich Habe ein Bild der Zukunft vor Ihnen entwidelt, wie 
es meinem Geifte Tebendig vorfchwebte an dem Tage, wo Ihr 
ehrenvoller Ruf an mid gelangte. Die ganze Größe meiner 
Verpflichtung und Berantwortlichkeit erkennend, fragte ich mid), 


auf welhem Wege es mir gelingen würde, Ihrem Bertrauen 
zu entfprechen, und die bedeutenden Mittel, die in meine Hände 
elegt wurden, fo zu benugen und anzumenbden, wie es den 
weden der Wiffenihaft am förberlichfien ſei. Noch ſchwerer 
aber ward diefe Verpflichtung, wenn ich bedachte, wie Großes 
mit ihnen bereit® geleiftet worden und welchen hohen Ruhm 
diefe Anftalt ſchon errungen hatte. So entwarf ih mir die 
Grundzlige eines Zulunftsbildes der Aftronomie, um innerlich 
vorgebildet, mit beflimmten Plänen für meine hiefige Thätig- 
feit in Ihren Kreis eintreten zu können. Einfl, wenn id zu- 
rüdbliden Tann auf vollbradjte Jahre des Wirfens unter und 
mit Ihnen in Kraft und Gejunbheit, jei e8 mir vergdunt, an 
diefer Stelle Rechenſchaft zu gebeu und nicht wie heute nur von 
Soffnungen, fondern von Thaten zu ſprechen. 

Zwölf Jahre fpäter redete der Berfaffer auch wieder 
vor den verjammelten Profefforen der Univerfität Dorpat, 
bei der funfzigjährigen ubelfeier ihrer neuen Begrün⸗ 
dung durch Alerander I. Er wählte das Thema: „Die 
Aftronomie des Unſichtbaren“, für das fi die fcharffin- 
nigften Denker dieſer tieffinnigen Wiffenfchaft am leb⸗ 
bafteften intereffiren. Beſſel legte hierzu 1845, ein Jahr 
vor feinem Tode, ben Grund durch eine ebenſo benannte 
Abhandlung. Die Beranlaffung dazu gab ganz vorzugs⸗ 
weife die damals noch unbelannte Urfache der Störungen 
in der Bewegung de8 Uranus, von denen fchon Beſſel ver- 
muthete, daß fie durch einen noch unfichtbaren, unentded- 
ten Planeten herrühren könnten, deſſen Bahn noch über die 
des Uranus hinausliege.e Der Berfaffer jagt: 

Noch iſt mir ein Geſpräch im lebhafter Erinnerung, welches 
ih und einige Freunde der Aftronomie 1834 in Berlin mit 
Befjel Über diefes Thema führten. Schon damals ſprach Beffel, 
gegen den ich jene Bermuthung erwähnte, ſich mit großer Be⸗ 
fimmtheit dahin aus, daß die unvereinbaren Abweichungen im 
Uranuslaufe in der Wirkung eines ſolchen Planeten einft ihre 
hauptſächlichſte Erledigung finden blirfte. 

Es ift befannt, mie einige Jahre fpäter Beſſel wirk- 
lich Hand anlegte, den unbelannten Störenfried durch 
Rechnung aufzufuchen, daß ihn aber Kränklichkeit und 
dringendere Geſchäfte verhinderten, das fehr fchwierige 
Werk zum Schluß zu bringen. Im Sommer 1844 kam 
Mädler noch einmal mit Beſſel zufammen: 

Wir ſprachen liber die Bewegungen der Doppelfterne und 
die daraus zu ziehenden Refultate. „Sa, lieber Freund‘, fuhr 
er fort, „das alles ift wol recht ſchön und wichtig. Aber 
ich werde Ihnen bald noch ganz andere Doppelfterne zeigen, 
von denen Sie nichts ahnen. Die Bewegungen der Firfterue 
find nicht jo einfah, als wir bisher angenommen haben.‘ 
Näher fprah er fih nit aus, nur daß er fi über bie 
Unzuverläffigfeit der Masklyne'ſchen Beobadtungen, die ihm 
eine ſehr große und gleichwol erfolglofe Mühe gemadjt, mit 
einiger Bitterfeit äußerte. Im folgenden Jahre erfchien end- 
ich die wichtige Abhandlung, der ich das Thema meiner heu⸗ 
tigen Rede entlehnte. 

Damit bat er nun das Feld bezeichnet, auf welchem 
die heutigen Aftronomen fo emfig thätig gewefen find. 
Die weitere Entwidelung ift ganz vortrefflih und muß 
dem Selbftlefen auf das angelegentlichfte empfohlen werden. 
In diefelbe Kategorie gehört auch die Rede, welche der 
Berfafier am 23. September 1844 vor dem Ofterthore 
in Bremen zur Einweihung des Plates für das Olbers⸗ 
Denkmal gehalten Hat. Hier wird mit Furzen kräftigen 
Zügen ein Lebensbild von dem großen Manne entwidelt, 
welches niemand ungelejen laſſen follte, der fich für die 
Thaten unferer deutſchen Aſtronomen wahrhaft intereffirt. 
Durch Olbers' Vorbild und begeifternden Einfluß entftand 


12” 





En 








574 Bom Büchertiſch. 


mit «Elend» zu verfuppeln pflegt”, zu jprechen kommt; 
oder wenn er Friedrich dem Großen das Beiwort human 
abjpricht, weil „auf feiner Stirn die Bandmark «Mojeftäts 
ſteht“, jo ftößt uns nicht-radicale Europäer das fofort 
feiner Form wegen ab, von ber Berechtigung des Inhalts 
nod gar nit zu reden. Indeß ift der Schluß von 
Heinzen’8 Bortrag wol geeignet, das deutſche Na⸗ 
tionalgefühl mit den groben Auswüchſen der Gefinnung 
des Verfaſſers zu verfühnen. Wenn ber Ultraradicale 
dem „defecten und lüdenhaften Denken ber Amerilaner 
das confequente und umfaflende der Deutſchen“ gegenüber- 
ftelt, wenn ex geradezu auf die Frage: Was iſt Huma- 
nität? die Antwort gibt: „Es ift der vielgefchmähte deutfche 

Radicalismus”, fo if} diefer Schlußtrumpf vielleicht dazu 

angethan, dem Büchlein mehr Freunde zu jchaffen — unter 

den „deutjchen Radicalen”. 

5. Der Schaufpielerberuf in künſtleriſcher, geſellſchaftlicher und 
fittlicher Beziehung. Borlefung, gehalten im „Wifſenſchaft⸗ 
lichen Cytlus“ zu Dresden am 22. November 1869 von 
Emil Walther. Dresden, Türk. 1870. ©r.8. 7% Nor. 


Eine oratio pro domo, allerdings mehr abftract als 
ing Detail gehend. Aber Wärme für die Ehre des Stan- 
des, Meberzeugung von der hohen Aufgabe des Berufs 
und Glaube an die fittliche Wirkung des Theaters ſpricht 
aus diefen Worten. Nur hat der Redner etwas zu vofig 
über gewiſſe fittliche Verhältniſſe feines Standes hinweg⸗ 
gefehen. Wenn wir aud) die Entfchuldigungen gelten lafjen, 
die er für das Vorkommen folcher Fülle wie des auf S. 24 fg. 
erwähnten vorbringt, fünnen wir doch nicht jo optimiftifch 
über jene Zuftände denken wie der VBerfaffer; er müßte denn 
eine Statifti der Theaterfittlichkeit beibringen, deren Zahlen 
uns von unferm Unglauben belehren würben. Ganz ſtim⸗ 
men mir mit dem Autor überein, wenn er ©. 33 fagt: 

Wenn das Bublitum dem Theater gegenüber aufhören wird, 
mir ben pridelnden Reiz nach immer neuen, pilanten Unter» 
haltungsfloffen zu empfinden, wenn es aufhören wird, nur 
immer neue, ſeltſame Schaufpielerleiftungen jehen und bemun- 
dern zu wollen, und dagegen Intereffe nehmen lernen an einer 
wahrhaft großen, auf der Bühne dargeftellten Geſammthand⸗ 
lung, wo alles einfach und natirli zueinander paßt und har- 
moniſch mit- und durdheinander wirkt: dann werben auch die 
Schauſpieler aufhören, auf deu Sirmenlitel des Bublilums be- 
rechnete Einzelerfolge erzielen zu wollen, dann werben ſie gleich- 
mäßig durhdrungen werden von der wirklichen Größe und Be 
deutendheit ihres Bernfs und werbeu erfennen lernen, baß es 
fih dabei in der That noch um etwas anderes handelt als bie 
bloße Unterhaltung des Publikums, und daß es no einen 
höhern Ruhm für den Schaufpieler gibt als den, der Liebling 
bes Publikums zu fein! 


6. Aphorismen über das Drama von E. von Hartmann. 

Berlin, Müller. 1870. 8. 

Diefe neuefte Schrift des fchnell befannt gewordenen 
Philofophen ift ein Abdrud aus der „Deutſchen Biertel- 
jahrsſchrift“ (Nr. 129). Weil Uriftoteles und Hegel ſich fo 
eingehend mit der Uefthetil des Dramas bejchäftigt haben, 
bat e8 auch den Philofophen „des Unbewußten“ getrieben, 
feine Gedanken über die Gefege der dramatifchen Kunſt⸗ 
form der Deffentlichfeit anzuvertranen. Mit unleugbarer 
Klarheit und Eleganz bes Stils bat Hartmann fein 
Thema durchgeführt. Er beginnt mit der Beſprechung 
des Dramenftoffs und definirt des Nähern feine Forde⸗ 
rungen: nad) ihm muß der Stoff 1) poetifh, 2) dra- 


matiſch, 3) bühnenfähig, 4) verftändlih, 5) einfach fein. 

Die Borzüge der Diction fest Hartmann zumeift in die 

Deutlichleit; wenn der Ausdrud treffend fei, fo fei er 

ſchön. Dem Rührenden wie dem Gräßlichen werden, wie 

dem Mitleid und der Erſchütterung, geiftvolle und er- 
ſchöpfende Discourfe, die durchaus nichts Aphoriftifches 
haben, gewidmet. Natürlich ann bei der Erörterung tiber 
das Weſen des Tragifchen die Ariftoteliiche Katharfis nicht 
unbefprochen bleiben. Hartmann meint ſehr ketzeriſch, es 
ließe fih wol conftatiren, was Wriftoteles mit jeiner 
Katharfis nicht gemeint habe, aber nicht mit Gewißheit 
befiimmen, was er mit berfelben gemeint habe. Ganz 
verkehrt findet es der Autor, bei Betrachtung eines Dicht⸗ 
werks von moralifchen Gefichtspunften auszugehen, und 
der Gewinn, ben die Xefthetif aus dem Disconrs darüber 
zieht, ift nicht minder bedeutend als die Stelle, wo Hart⸗ 
mann auf das Weſen des Humors zu fprechen kommt. 

Ueberhaupt ift flir die üfthetifche Begrenzung der drama⸗ 

tifchen Form der Heine Eſſay des talentvollen Philofophen 

gewiß jo werthvoll wie ganze Bände dramaturgifcher 

Gelehrſamkeit oder gar die eine ganze Bibliothek aus⸗ 

machenden Werke über die Katharfis des Ariftoteles. 

7. Ueber Grimm's Wöorterbuch in feiner wiſſenſchaftlichen und 
nationalen Bedeutung. Borlefung gehalten am 24. April 
1869 zum Antritt einer anßerorbentlichen Profefjur für 
beutfche Literatur von R. Hildebrand. Leipzig, Hirzel. 
1869. GEr. 8. 5 Nor. 

Wie lange hat e8 gewährt, bis man die großartige 
Bedeutung des Grimm'ſchen Unternehmens im Lande der 
Denker und Dichter gewürdigt Hat? Und wie lange, bis 
man dem ortfeger bes gewaltigen Werks, dem kennmiß⸗ 
reichen Rudolf Hildebrand, die Mittel gewährt bat, um 
das unvollendete Werft im Sinne der Wiffenfhaft und 
der Nation fortzufegen! Da faß er, der unermübliche, 
liebenswitrdige und geſchmackvolle Gelehrte, an die dornen- 
volle Eriftenz eines deutſchen Gymnaſiallehrers gebunden: 
gewiß milde von der täglichen Schulmeifterarbeit und doch 
nimmer müde, mühjam und forgfam für den Ausbau 
des Doms deutfcher Sprade thätig zu fen. Nun bat 
der ſprachkundige Dann Ruhm und Muße für fein Schaf- 
fen gefunden, und mit einem würdigen und warmen Wort 
(man verzeihe uns die unmwillfürliche Jordan'ſche Allite- 
ration) tritt er feine außerordentliche Profefiur an. Ueber 
das Werk deutfchen Fleißes und beutfcher Gelehrfamleit, 
über Grimm's Wörterbuch) fpricht er, das ihm zumeift 
am Herzen liegt — und aud) ung allen. Denn das Wör- 
terbuch „arbeitet zugleich, es mag wollen oder nicht, an 
einer wichtigen Ergänzung, ich möchte jagen Unterbanung 
der politifchen Geſchichte, an einer deutfchen, in gewiſſem 
Sinne europäifchen Sulturgefchichte, die die Königin der 
Wiffenſchaften zu werden ſich anfchidt”. Und wenn, wie 
Hildebrand a. a. D. meint, „das Große und. Neue unſerer 
Zeit mit darin liegt, daß fie das philofophifche Begreifen 
der Weltdinge erjetst oder doch ergänzt durch ein ſtreng 
biftorifches Begreifen, daß das abftracte Denken über bas 
Lebendige ſich umfegt in ein gefchichtliches Denken, fo 
wollen wir im dieſer heilbringenden Strömung ber Zeit 
tapfer mitſchwimmen“. Oder follen wir im Bewußtfein, 
welch nationales Wahrzeichen wir in und an der Spradye 
haben, Hinter dem Mittelalter zuritdbleiben, wo man für 





Feuilleton. 575 


Nationalität kurzweg „Sprache“ ober „Zunge“ fagte? 
Und müffen wir ung erft von einem Böhmen des 14. Jahr- 
hunderts (Dalimil's „Böhmiſche Chronik“, 96, 25) fagen 


laflen: „einem iclichen ist daz herze zü siner zungen 
gröz“ (jeder hängt mit vollem Herzen an feiner Na» 
tionalität)? 





Feuilleton. 


Englifhe Urtheile Über neue Erfheinungen der 
deutfhen Lfteratur. 

Ueber bie „Tageblicher“ von 8.9. Barnhagen von Enfe 
fügt die „Saturday Review’ vom 16. Juli: Sie verfolgen 
ihren Lauf, und obſchon fie jet nahe an dem Zeitpuntt hinan« 
reihen, wo der unermüdliche Verfaffer die Feder für immer 
beifeitelegte, fo Hat er dod immer mod fo viel einzutragen, 
daß wahrſcheinlich noch Stoff genug für zwei ober drei Bände 
vorhanden if. Im allgemeinen bleibt der Charakter des Werts 
das, was er bisher geweſen. Es ift das Erzeugniß eines ein ⸗ 
gewutzelten Frondeure, deſſen natürlicher Yang zur verneinen» 
den Kritif durd, ‚Gntttufgungen im Leben, geiftige Einfamteit, 
fociale Abgeſchloſſenheit und Ältersſchwächen bedeutend vermehrt 
werd. GB ift wirklich, bemerfenswerth, daf; das Tagebuch trot 
diefer vielfahen Veranlaffungen, das Gefühl der Langenweile 
zu erregen, doch fo wenig langweilig und der Eindrud im 
ganzen dem Berfafjer fo vortgeilgaft if. Varnhagen ift dem 
geröhnfihen Schidjal derjenigen nicht entgangen, welche, in- 
dem fie fi} bemühen, die Schwächen anderer zn Tage zu för- 
dern, ihre eigenen bloßftellen; doc läßt es ſich Taum beftzeiten, 
daß die Veröffentlichung feines Tagebuchs feinem Andenken 
von Nugen gemwefen if, und der Grund davon liegt in der 
Entfaltung einer geifigen Kraft, wie fle in feinen Jahren nur 
felten it, und einer gleich unbefiegbaren und in feinen Lebens“ 
verhältnifien noch feltenern Liebe zırc Freiheit und Aufklärung.‘ 

Bir lafjen den Übrigen Theil der Beiprehung, der mehr 
Inhaltsangabe als Beurtheilung if, unüberfegt und gehen auf 
die nächfte Über: „Aus der alten Regifiratur der Staatstanzlei. 
Briefe politifchen Inhalts von und au F. von Geng her- 
ausgegeben von €. von Klinfowfiröm‘. „Das Werk ift 
weniger anziehend, als man hätte Hoffen Munen, und wir ere 
fahren daraus nicht viel Neues über den Mann und feine por 
Kitifche Thätigfeit. Das Intereffantefte find acht oder zehn an den 
Grafen Kolowrat und einige an den engliſchen Geſchafteiräger Fr 
Zeit des unglüdtichen agramfelbiuge gerißtek Briefe. Sie 
Taffen une die günftigften Seiten von Geng' Charakter erbliden, 
den thätigen, unverwüßllihen Widerfprudjsgeift nämlich gegen 
fremden Angriff; ein Zug, der uns mit feiner fſyfteriatiſchen 
Selbftbefriedigung, feiner gelegentlichen Käufiichteit und bem von 
Panique ergriffenen CEonjervatismuß feiner letztern Tage aus- 
föhnt. Sie zeugen nebenbei aud von Scharffinn und politie 
jchem Talt, und in feinen dringenden Abmahnungen gegen bie 
Berlängerung eines hoffnungsloſen Kampfes liegt viel gefunder 
Berftand. Cine etwas feltfame Seite der Diplomatie wird in 
dem Briefwechſel mit dem Prinzen Karadja, Hospodar von der 
Walachei, beleuchtet. Gen ſcheint als eine Art nichtamtlihen 
SefGäftsträgers für biefen rumänifen Hospodar am Hofe 
Biens fungirt und einen beträchtlihen Theil feines Einfom- 
mens von biefem Poften bezogen zu haben. Es ift ebenfo 
amnfant wie Harafteriftiich,, — in einem nach varis geſchrie - 
benen Geſchaftsbriefe eine Bitte ganz privater Natur pour une 
petite provision d'une drogue pour les dents einfdjließen zu 
finden.“ 

Ueber „riebrid, Chriftoph Dahlmann“‘, von Anton Sprin« 
ger, fagt die „Saturday Review’: „Der verftorbene Dahimann 
war ohne Zweifel ein bedeutender Mann, hervorragend als Belchr- 
ter und als patriotifcher Staatsmann. Seine —S— in der 
ietztern Eigenſchaft rührte indeß nicht ſowol von wirklichen Leiftun- 

en als von dem Gericht feines Charakters und einer rauhen Ge⸗ 
Annungeihitigteit her, bie merkwürdigerweiſe mit einer iden- 
ifizenden Geiftesrihtung gepaart war, was ihn zu einem vor⸗ 
trefflichen Vertreter des Nationaldaraktere in defien Kraft 
und Schwäche machte. Diefe Züge berechtigen ihn nubezweifeit 





zu einer Biographie; allein der Mangel an andern als häus- 
Kris Ereiguiffen während eines beträchtlichen Theils feines 
Lebens macht des Biographen Arbeit ziemlich ſchwierig. Sein 
Gelehrtenleben war nicht ereignißvol; ale Staatsmann 
wird man fi, feiner hauptfädfid der Rolle wegen erinnern, 
die er im frankfurter Parlament im Jahre 1848 gefpielt hat, 
bis wohin Springer’s Biographie freilich nod) nicht gelangt 
if. Der Berfaffer hat in jeder Hinficht feinen Gegenfland gut 
verarbeitet und feines Helden Freundfchaft mit Niebubr, das 
intereffantefte feiner intimern Werhältniffe, geicidt benußt. 
Die politifhen Kämpfe, in welde Dahlmann bald nad) feiner 
Habilitirung in Göttingen im Jahre 1829 verwidelt wurde, 
find, wie fie auch die Selbftändigfeit und das Männliche eines 
Weſens beleudten, wegen ihres localen Charakters und des 
gänzlichen Berfhwunbenfeins Hannovers und hannoderſcher 
Bolitit vom Schauplag Europas, verhältnißmäfig uninterefe 
fant. ... Die zweite Hälfte der Biographie wird wahrideinfid) 
mehr Stoff von allgemeinem Intereffe enthalten. Die Leir 
fung ift eine ehrenwerthe; Stil und Geift derfelben find gleich 
vortrefflic).* 

Ueber eine andere Biographie, „Auguft Schleier" von 
©. Lefmann, lefen wir: „Auguft Schleicher, wenn auch ein 
guter Patriot, nahm doch feinen wigtigen Antheil an öffente 
lichen Angelegenheiten, und fein Biograph hat es für rathſam 
befunden, fid) zu befcränfen. Cr hat ein anziehendes Bild 
don dem wunderbar fleißigen, Idarffinnigen und emergifchen 
Bhifologen entworfen, defjen Kraft zuweilen in Rauheit ausartete 
und veifen grammatiiche Fähigleit von feinem entjprehenden 
Einblid im die Feinheiten der Spradje begleitet war. Schilei- 
her pflegte feine Wiffenfhaft im Geifte eines Datpematiters, 
cher als im dem eines Gelehrten, und feine Schriften werden 
nicht weit über dem Kreis der Philofogen von ad) Hinaus 
ſtudirt werden.‘ 








Sibliographie. 

Bächtold, J., Der Lanzelet des Ulrich von Zatsikhoven, Frauen- 
feld, Huber. Ar. 8, 10 Ner, 

Bernbarbi, W., Die Banbiten des Salons. Roman aus ber Ge» 
genwart, 2 Bbe.' Berlin, Cangmann u, Comp. 8., 1 Thlr. 

Born, D., Deutihlands Bertheidigungstampf gegen Frantreich im 
Sapre 1870. 1fte Lief. Berlin, Gerjgel. 8. 5 Nar. 

ie fünf Einfamen auf den Audlandsinfeln. Bafel. 8. 3 Nor. 


J Ri 
Koniedi, D., Trübfal und Troft. Shidberg. ®r. 9. 7Y, Ngr. 
id, ®., Bom Kurhut_bid zur Königsfrone. GEpifoden aus * 


— 

ittershaus, €, Vorwärts! Nah Paris! Drei Kriegslicder nah 

Bolteweifen für bie beutfhen Soldaten. Wpeydt, Sangewieihe. 8. 27, Rat. 

Nittingbaufen, M., Gocial- bemokratifge Abhandlungen. Ates 

gef, Neber Sie Organifation der direien Gefehaebung tund das Bolt, 
in, 8. 5.Ng 


Be ber Bermaltungsiehee und be& Bermaltungs- 
h 9 





Stein, 8. 
sets mit, Bergl 
England und Deut 
Gotta. Gr. 8. 2 ar. e 

Säge, 9%, Samuel Heinide. Sein Leben un Wirten. Leip- 

18 Nr, 

Eyset, 9. 2. Oefdiäte ber Revolutionspeit van 178 . dter 

8. Un 8, 2,5 Ocidihte der Revolutionsgeit von 1795-1800. After 








nn ber Siferatus und @efehgebung ben Frantreig, 
(hland. As Grundlage für Vorlefungen. Stuttgart, 


Ir, 20 Net, 











Db._Düffeldorf, Subbeus. Cr. 8. 3 Zhlr. 
Zenupfen. — reuise-Klage. Hai Ai Zennpions in mens, 
riam" frei übertragen von R. Walbmüller- Duboc. Pamburg, Grür 


wing, 16. 1 &hle, « 
Tpornton, W. T., Die Arbeit, ipre unberegtigten Anfprüce und 

;e berechtigten Forberungen, ihre wirflige Gegenwart und ihre mögliche 
jutunft. it Autorifation bes Berfafjers aus dem Englifhen übertragen, 
fowie durd Unmerfungen erläutert und vermehrt von d. Schramm. 


eipnig, Küintharbt. Or. 8. I. 
Ubiene * Säriften zur Geißigte ber Digtung und Sage. Ster 
Br. Stuttgart, Cotta, Gr. 5. 2 Zplr. 24 Nor. 





- 








576 
Anze 


verlag von S. A. Brodfans in Leipzig. 
Der Raub 
der 
drei Kisthümer Meb, Tull und Verdun 


im Jahre 1552 


bis lien Abtretui frei 
u klare Sri a Santınh 





Der Verrat; Strasburgs an Frankreich 
im Jahre 1681. 


Bon $. Säerer. 


Die genannten Auffäge verdienen gegenwärtig erneute Be- 
achtung, da in ihnen ur kundlich und fo eingehend wie 
in feinem Geſchichtswerke dargelegt wird, durch melde 
Mittel des Trugs umd der Gewalt frankreich die beutſchen 
Länder Elſaß und Lothringen an fich gebradt Bat. Der 
Berfaffer fhfießt mit der Mahnung, daß e& eine Pflicht des 
deutſchen Volkes fei, die dem Vateriaude zugefligte breihundert» 
Aue Unbill duch Wiedergewinnung jener Provinzen zu 

men. 

Die zwei geſchichtlichen Monographien find in Friedrich 
von Rolmere „Siforifhem Tafhenbud‘, Jahrgang 
1842 nnd 1843, enthalten; jeder dieſer beiden Jahrgänge ift 
zum ermäßigten Preife von 1 Thlr. 10 Nor. (früher 
2 Thlr.) durch alle Buchhandlungen zu beziehen. 





Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipgig. 


Beiträge zur Charakterologie. 
Mit befonderer Berüchſichtigung padagogiſcher Tragen. 
Bon Dr. Iulins Bahnſen. 

Bwei Bände, 8. Geh. 4 Zhlr. 


Zum erflien mal wird in biefem nicht blos theoretiſch, 
fondern auch prattiſch wichtigen Werke die Erſorſchung bes 
inenſchlichen Charafiers als eine befondere Wifſenſchaft ber 
handeit. Der Berfaffer Inlipft dabei an die von Schopen- 
Hauer ausgeſprochenen Grundgedanken über den Eharalter an 
und gibt überall zu feinen Betrachtungen die padagogiſche 
Nuganmendung, weshalb das Wert bie Theilnahme der Pä- 
dagogen, der Criminaliften und Seelenärzte, ber Ethiler und 
Philofophen, ſowie jedes Gebildsten in hohem Grabe in An» 
ſpruch nimmt. 





ir ein größeres eneyklopädiſches Werk wird bie 
Betheiligung eines . . 
Hiforikers 
geſucht. Gründfiche wiffenfhaftlihe Bildung, Gewaudtheit in 
der enenttopdbiihen Ari und ee Kenntniß der neu or 
d e e ie Haı en. . 
—* unter N. Q. 665 befördert die nuanen-Expenition 
don Haafenftein & Vogler in Frankfurt a. M. 











Anzeigen 


igen. 


— — 


Verlag von F. A, Brockhaus in Leipzig. 


Elöments du droit international 


par 
Henry Wheaton. 
Qustrieme edition. 2 volumes. 8. Geh. 4 Thir. 


In diesem bekannten, bereits in vierter Auflage 
vorliegenden Werke sind die Verhaltungsregeln zusammen- 
gestellt, deren Beobachtung der wechselseitige Verkehr der 
Nationen in Kriegs- wie in Friedenszeiten erheischt. Ge- 
stützt auf Entscheidungen in der Praxis vorgekommener 
Fälle, auf unparteiische Urtheilsspräche von Staatsrechts- 
lehrern und Schiedsgerichten, auf Verhandlungen zwischen 
den Cabineten und auf parlamentarische Debatten in den 
gesetzgebenden Körperschaften der verschiedenen Nationen, 
bilden sie in ihrer Gesammtheit einen Codex des jetzt gel- 
tenden internationalen Rechts, der von keinem Diplomaten 
und Staatsmann entbehrt werden kann. 


Histoire des progrös du droit des gens 


en Europe et en Amerique 
depuis la paix de Westphalie jusqu’a nos jours 


par 
Henry Wheaton. 
Quatritme edition. 2 volumes. 8. Geh. 4 Thlr. 


Auch dieses Werk desselben Verfassers erscheint be- 
reits in vierter Auflage, der vollgültigste Beweis seines 
grossen praktischen Werthe. Unter Zugrundelegung einer 
dem Institut von Frankreich überreichten Preisschrift gibt 
der Autor in der Einleitung einen Abriss des Völkerrechts 
von den Zeiten Griechenlande und Roms bis zum Westfü- 
lischen Frieden und schliesst daran eine vollständige Ge- 
schichte des Entwickelungsgangs, welchen das europäische 
Völkerrecht vom Westfälischen Frieden bis zum Wiener 
Congress und von da bis auf die Gegenwart genommen hat. 


Commentaire 


sur les Elöments du droit international et sur l’Histoire 
des progrös du droit des gens de Henry Wheaton. 


Pröcöd6 d’une notice sur Is carridre diplomatique de 
M. Wheaston. 


Par William Beach Lawrence, 


Anclen ministre des Htats - Unis d’Amörique ä Londres, 
Tomes I et II. 8. Geh. Jeder Band 2 Thlr. 


Dieser lang erwartete Commentar zu den zwei obi- 
gen Werken des amerikanischen Stastsmanns Wheaton 
gibt nicht blos Zusätze und Erläuterungen zu denselben, 
sondern führt zugleich die Geschichte und die verschiedenen 
Materien des Völkerrechts bis auf die neueste Zeit fort. 





Berantwortliger Rebactenr: Dr. Eduard Grodhaus. — Drud und Verlag von F. A, Srochhaus in Leipzig. 





een ee nn 





Blätter 


für 


literariihe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


— a Ar. 37. e— 


8. September 1870. 





Inhalt: Poetifhe Weberfegungen. Bon Hans Serrig. — Hiftorifches und Hiftorienhaftes. Bon Hermann Schauenburg. — 


Religionsgeihichte. — Neue Romane. Bon Wilbelm Undrei. 


— Fenilleton. (Die deutſche Rechtſchreibung in der Schule; 


Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen. 


Poetifche Heberfehungen. 


1. Die Dame vom Ger. Dichtung in ſechs Gefängen von 
Walter Scott. In den Bersmaßen des Urtertes über- 
tragen und mit ben nothiwendigftien Bemerkungen verjehen 
von 2. Freytag. Bremen, Kühtmann und Comp. 1869. 
Gr. 16. 20 Nor. 

L. Freytag hat ſich bereits als gewandter Ueberjeger 
zweier Gedichte Eſaias von Tegner's, der „Frithjofsſage“ 
und der „Nachtmahläfinder”, den Beifall der Kritik er- 
worben. Auch die vorliegende Verdeutſchung verdient im 
reihen Maße Anerkennung. In einem kurzen Bormorte 
entwidelt er die babei befolgten Principien. Wie viel es 
ihm auf Treue und Reinheit ankommt, beweift folgender 
Sag: 

Die Reime find durchweg männlich. Einmal findet ſich 
bei Scott ein Reim, den man weiblich nennen kann; wer dies 
benugt, um, mo es ihm belicht, weibliche Reime einzuſchmug⸗ 
geln, verführt noch Ülliger als der kluge Maler, der jemand 
porträtiren follte, und einen Zintenfled, den der jemand zu- 
fällig auf der Naſe hatte, gewifjenhaft verewigte. 

Mit diefem Rigorismus können wir uns indeflen nit 
einverftanden erklären; den Reim durchweg männlich zu 
bringen, heißt dem Genius der neuhochdeutſchen Sprache 
Gewalt anthun; im Mittelhochdeutſchen noch war bies 
anders, wie denn das „Nibelungenlied” ja nur männlich 
reimt. Die engliihe Sprache ift infolge ihrer Einfilbig- 
feit arm an weiblichen Reimen und faft nur auf Parti- 
cipien und Doppelreime angewiefen; die deutfche hält bie 
Mitte zwifchen ihr und den romanifchen Idiomen. Wie 
e8 nun aber gewiß zu weit ginge, italienifche Ottaven rein 
weiblich) nachzubilden, jo muß es auch einer Weberfegung 
englifcher Poeſie geftattet fein, flatt lauter männlicher ab- 
wechſelnd weibliche Reime eintreten zu laſſen. Auch einer 
andern Anficht Freytag's können wir nicht zuſtimmen, die 
ebenfalls die Gefege des Reims betrifft. Er Hält nämlich 
Keime wie „Held — Welt‘, „hätten — Ketten‘, „Noth — 
Tod”, „Bord — Ort” fiir tadelhaft und muß demnach 
glauben, bie Media am Ende eines Worte werde wirklich 

1870. 87. 


als Media gefprodhen, da es doc eine bekannte Regel ift, 

daß die labiale und dentale Media ftets als Tennis, die 

gutturale nur nad einem n, fonft aber als Afpirata an 
diefer Stelle erklingt. Auch das A und e in „hätten“ und 

„Ketten haben genau bdenjelben Ton, da fie beide Ab- 

laute von a find, hätten von haben und Fetten von ca- 

tena. Der Freytag'ſche Irrthum ift übrigens weit ver- 
breitet; befonders auf Bühnen befommt man oft eine hor- 
rende Ausſprache zu hören. Die Deutfchen können ihre 

Pedanterei auch darin nicht verleugnen, daß fie fich ein- 

bilden, die Ausſprache müſſe fi) nad) der Schrift richten, 

ftatt daß es Höchftens umgekehrt der Sal fein follte. *) 

Ueber die Dichtung felber, die bereits in ben ver⸗ 
ſchiedenſten Meberfegungen feit ihrem erften Erfcheinen vor- 
liegt, noch etwas zu fagen, wäre überflüſſig. Freytag 
bat jedenfall® feine fänmmtlichen Vorgänger und Borgän- 
gerinnen übertroffen, und wir wünſchten, daß er mit ſei⸗ 
nem andgezeichneten Zalente fi einmal an ben „Mar⸗ 
mion“ machte. Derfelbe fteht uns weit höher als „Die 
Jungfrau vom See”, die ihre größere Popularität wol 
vor allem dem Antheil des fchönern Geſchlechts verdantt. 
Da dies Bündchen ben fechsten Theil einer Miniatur- 
bibliothet claffifcher Schriften des In⸗ und Auslandes 
bilbet, fo bereichert ſich dieſe vielleicht auch mit einer 
Ueberfegung des „Marmion“. 

2. Shalfpeare’s Heinere Dichtungen. Deutſch von Aleran- 
der Neidbardt, Berlin, Hofmann und Comp. 1870.» 
Gr. 16. 7% Ngr. 

Bekanntlich bedauerte ein zeitgenöffifcher SKritiler des 
großen Briten mit einem Scharffinn, der diefem Gefchlecht 
den Mitlebenden gegenüber eigenthümlich if, daß ber 
Dichter fi mit der unfruchtbaren Mühe des Tragödien⸗ 
jchreibens abgebe, während er doch die Palme ber Un- 
fterblichleit hätte erringen Tünnen, falls ex bei feiner 


*) Was bie Reinheit der anslautenden Reimconſonanten betrifft, Tön- 
nen wir mit dem gecehrten Referenten nit Abereinſtimmen. D. Red. 
78 





578 


italienischen Manier geblieben wäre. Wenn nun aud das 
deutfche Publilum nicht ganz diefem Urtheil zuftimmt, fo 
möchte man doc faft annehmen, daß e8 beide Manieren 
auf gleiche Stufe ftellt: fo viele Ueberfegungen der Poe- 
fien diefer „italienifchen” Epoche erfcheinen. Befonders die 
GSonette jcheinen unfere Ueberfeger gar nicht ruhen laſſen 
zu wollen. Wir können nicht einfehen, was dazu jo reizt. 
Denn wenn fie auch als einziges Denkmal der Shaffpeare'- 
Shen Subjectivität — dafür erflären fie wenigftens un» 
fere Shakſpeare-Weiſen, obgleich ein unbefangener Lefer 
auch in den Dramen genügend Subjectivität findet, über- 
haupt Poefie ohne darin mwaltende Subjectivität des Dich- 
ters ein Unding ift — hohes Intereſſe verdienen, fo ift 
ihr poetifcher Werth, mit wenigen Ausnahmen, keines⸗ 
wegs ein folder, daß fie immer und immer wieder auf 
den Markt gefchleppt zu werden brauchten. Nach ihrem 
Inhalt find fie fhwülftig und dunkel, ihre Sprade ift 
meiftentheil® gefucht, oft gefehmadlos, ihre Form ift eben 
feine Sonettenform. Schopenhauer meint zwar in dem 
binären Heimen eine Weinheit zu entdeden, weil das Ohr 
„nur einen binären Reim erfaßt”, und biejenigen, bie in 
Cordelia eine Schuld hineininguiriren, das Ende Romeo's 
und Julia's dem Zufall abfprechen und in Hamlet's fchließ- 
Iichem Untergang dramatische Motivirung fehen, werden ihm 
beiftimmen. Hierzu gehören wir nicht und erlauben uns daher, 
unfer Urtheil über die Sonette auch auf die beiden epifchen 
Dichtungen zum Theil auszudehnen, wenn auch hierin das 
gewaltige Genie des Berfaffers ſchon mehr zu Tage tritt. 
Neidhardt Hat ſich fehon mehrfach als tüchtiger Ueber⸗ 
feger documentirt, und auch vorliegende Arbeit legt von 
feiner Befähigung Zeugniß ab, wenn wir ihr aud) Boden- 
ftedt’8 Ueberſetzung und beiden die Jordan's vorziehen. 
Neidhardt findet naturgemäß feine Ueberjegung vortreff- 
licher als bie Bodenſtedt's, er würde fie ja fonft nicht 
unternommen ober wenigſtens nicht edirt Haben. Daß ihn 
indefjen dieſes verzeihliche Selbſtgefühl verleitet, im einer 
Bollsausgabe in derartiger Weife gegen feinen Vorgänger 
zu polemifiren, verdient eine ernfte Rüge. Die Sonette 
werden nämlich von einer laufenden Reihe Anmerkungen 
accompagnirt, in denen die theils wirkliche, theils angeb⸗ 
lihe Unrichtigfeit Bodenſtedt'ſcher Weberfegungen nad). 
ewiejen werden fol, ſodaß wir förmlich deilen ganzes 
erf mit in Kauf befommen. 


3. Aylmer's Field von Alfred Tennyſon. Aus dem Eng- 
Iifhen übertragen von H. A. Feldmann. Mit einem 
Vorwort von Emanuel Beibel. Hamburg, Grüning. 
1870. 16. 15 Nor. 


4, Aylmer's Field. Ein Gedicht von Alfred Tenuyion. 
Ueberfegt von F. W. Weber. Leipzig, Naumann. 1870. 
Gr. 16. 10 Nr. 

Das Hier vorliegende Gedicht Alfred Tennyſon's: 
„Aylmer's Field“, ftammt aus der Yugendperiode des Lau⸗ 
reatus, prägt aber ſchon den vollen Charakter deſſelben 

aus, den Charakter, der nicht nur ihn, fondern die ganze 
hdhere englifche zeitgendfftfche Literatur in Feſſeln gejchla- 

-gen bat und alles euer, alle That» und. Erfindungsfraft 

ih in Senfationsrönianen und Schauermelodramen ruini⸗ 
ren läßt. Swinburne, ein Poet voll glühender Begeifte- 
rung, aber leider von größerm Wollen als Können, hat diefe 
Richtung treffend definirt: die englifche Poefte kennt nur noch 


Boetifhe Ueberfegungen. 


ein Genre: das der Idylle. Und fo verwandelt fich denn 
dem Koryphäen der Epoche alles in Idylle: fogar die 
alten romantifchen Sagen von König Artus und der Tafel- 
runde, von Parcival und vom heiligen Gral; während 
fih in Deutfchland Richard Wagner bemüht, bie Schüge 
der Sage zu heben, und ihre Geftalten in funkelndem 
Harniſch Hinter das Licht der Lampen ftellt, fucht Tenny- 
fon das Verſchwommene noch verfchwommener, das Ro⸗ 
mantifche noch romantifcher, das Phantaftifche zum Bu- 
koliſchen zu machen. 

Weit genießbarer ift der Poet deshalb, wenn er das 
Idylliſche da auffucht, wo es wirklich zu finden, in den 
Genrebildern des alltäglichen Lebens. Auch diefe bieten 
einen weiten Spielraum: von der erhabenften Tragik zur 
ausgelafjenften Komik, von fpießbitrgerlicher Abgeſchloſſen⸗ 
beit bis zum regſten Antheil an den Creigniffen der 
draußen vorgehenden Geſchichte. Hier erweiſt fidh 
nun der große Vorzug Tennyſon's, ein Sohn des 
meerbeherrfchenden Albion zu fein, in einem Sande zu 
leben, wo die Dialoge der politifchen Parteien fo laut 
erihallen, daß fie gehört werden müffen, mollte man fich 
jelbft, wie einft Odyſſeus, das Ohr mit Wachs verffeben. 
Wie anders fein deutfches Ebenbild, Seibel, der zu einer 
Zeit groß ward, wo von flantlichem Leben in Deutſch⸗ 
land nicht zu ſpüren, unſer Baterland nad Heinrich 
Heine's Ausſpruch einer „Kinderſtube“ gli, darin gefpielt 
und Schularbeiten gemacht werden durften, während die 
erwachſenen Völker mannhaften Geſchäften nacdgingen. 
Bei Seibel werden wir deshalb auch nie, wir wollen nicht 
jagen ein politifches Gedicht, aber doch faft nie eine Zeile 
finden, in welcher ber Pulsſchlag des gefchichtlichen Le— 
bens fühlbar wäre. Er hat feinen Ueberzeugungen viels 
fach Ausdrud gegeben, in legterer Zeit fogar beöhalb lei⸗ 
den müflen, aber was er brachte, war nur die Geibel’fche 
Form, der Inhalt erhob fi) nicht über das Niveau eines 
Leitartikels. Diefer Vorwurf wird Tennyfon nie treffen, 
und auch „Aylmer's Field“ zeigt fein Talent, die Fragen 
des Tags ind Gewand der Poefie zu hüllen. Das Thema 
ift ein für Deutfchland allerdings ziemlich abgedroſchenes: 
die Mesalliance; für England jedoch, wo es eine wirkliche 
Ariftofratie gibt, von größerm Intereſſe. Edith, die ein: 
zige Tochter des alten Sir Aylmer, wächſt mit dem fünf 
Jahre ältern Leolin Averill, dem Sohn des Geiftlichen 
auf ihres Vaters Befigung, zufammen auf: 

Die beiden wurden miteinander groß, 

Diefelbe Amme hatte fie genährt, 

Erft Leolin und nad) fünf Jahren Edith: 

Um fo viel war der Knabe ihr voraus; 

Doch als er doppelt ihre Jahre zählte, 

Da, in Ermanglung andrer Spielgenoffen, 

Weil anderthalb Defaden jünger er 

Als Averil *), und ihre Aeltern todt, 

Warf er den Ball und ließ deu Drachen fleigen, 

Und trieb den Keif zur Luft für Edith nur; 

Mit ihr auf hochgeſchwungner Schaufel ſchoß 

Er dur die Luft; ihr macht' er Blumenbälle 

Und Mafliebränze; pflegte ihren Garten, 

Sät’ ihren Namen in lebend’gen Letter . 

Und hielt ihn friſch; erzählt ihr Feenmärchen; 

Zeigt’ auf dem Grafe ihr der Elfen Spur, 

Im feuchten Grund die Primeln, Elfenpalmen, 


*, Sein älterer Bruder und Amtönachfolger des Vaters. 





Poetiſche Ueberfegungen. 579 


Den winz'gen Wald des Schafthalms, Elfenfichten; 

Blies von der feingenarbten Scheibe aud), 

Bas einem Schwarm von Eifenpfeilen güch 

Nac; einem Punkt gezielt und feiner fehlend, 

In feiner und im Edith’s Phantafie. 

Aud) dacht’ er fidh, doch das war fpäter ſchon, 

Vagh Kuabenart Geſchichten aus von Schiacht 

Und fühnem Wagniß, Schiffbruch, Kerter, Flucht 

Und unerhoffter Rettung, treuer Liebe 

Setrönt nad Prüfung: Stigzen, roh und ſchwach — 

Doc lag vielleicht {—hon eine Leidenschaft 

Noch ungeboren, unbemwußt darin, 

Wie das Concert der Mondnadht fhlummernd Liegt 

Im unfheinbaren Ei der Nachtigall. 

(Seldmann’fde Ueberſetzung.) 

Diefe Leidenfchaft ſtellt fi natürlich ein; der alte 
Sir Aylmer aber fommt dahinter und wirft Leolin aus 
dem Haufe. Derfelbe verläßt fein Heimatsborf, um ſich 
der Jurisprudenz zu widmen und fo Anfehen und Ehre 
zu erwerben. Die Correfpondenz ber Liebenden wird dem 
eiferfüchtigen Baron ebenfalls verrathen, der nun durch 
Spott, Hohn und ſchlechte Behandlung feine Edith von 
ihrer Liebe abzubringen fucht. Aber er Hat einen un. 
erwünſchten Erfolg: Edith ftirbt an einem Nervenfieber. 
Als Leolin von ihrem Tode benachrichtigt wird, töbtet er 
fich ſelbſt. Sein Bruder muß, als Geiftliher Sir Ayl- 
mer’s, Edith eine Leichenrede halten, aber hierbei gebenft 
er auch feines hingeopferten Bruders; über den Spruch: 
„Sieh, euer Haus ift wüſte euch gelaſſen“ (Matth. 23, 35; 
Luc. 13, 35; 1 Kön. 9, s), prebigend, verdammt er 
mit mächtigen Worten den ſchnöden Stolz und Hochmuth, 
der in ariftofratifcher Hartherzigfeit mit Glück und Leben 
der eigenen Kinder fpielt: 


Nie, feit ein Meer ward unfre böfe Erbe, 

Das übergoß der Stolgen Thlrm’ und alle, 

Die nicht erfannten den Iebend’gen Gott — 

At blieben, eine reinre Welt zu gründen — 

Bann ſchuf jeitdem Flut, Brand, Erdbeben, Donner 

Soich Weh und Unheil, ale der Gögendienft, 

Der von dem niedern Licht der Sterblichkeit 

Zum höchſten Himmel feine Schatten hob 

Und feine Nacht als feinen Gott verehrte? 

„Schneid dic zur Ehre Baal’s, des Thiers, du Priefter, 

Und opfre felbft dich deinem ärgern Seibſt, 

Dein aͤrgſtes Selbft ift deines Gottes Kleid.” 

Dann am ein andrer, ganz ungleidh dem Baal; 

Nun wird das Kind den Löwen führen, num 

Die Wildniß gleich der Roſe blühn. — O kröne 

Dich felbft, du Wurm, anbetend deine Füftel — 

Kein klotzig plumper Gott der Felder ſteht 

An deinem Thor, daß du vor ihm did irlimmeſt; 

Dein Gott it weit gedehnt in prächt'gen Wäldern, 

Im — — Gütern, grünen Au’n, 

Im Haufen glühen Golds, bie täglich wachſen, 

Im Pergamenturkunden, flolgen Wappen, 

Im folder Bildung fiehft du deinen Gott. 

Du jchneiden nicht dein Fieiſch für ihm, dein Fleiſch 
rührt wohl, in zarten Leinen, nicht ein Härchen 
ommt aus der ar auf deimer Haut ; dieweil 

Sie, die beherrſcht dein ſterblich Haus, die ew'ge, 

Verwundet {ft zum Tod, der nimmer flirbt, 

Und ob du gleichwol zum Gefolge zählft 

Deß, der da rief: Laß alles, folge mir. 

Di, weil fein Licht dor deinen Hagen leuchtet, 

Did), dem ins Ohr lant feine Botſchaft Mingt, 

Did; wird dein Bruder, er, der Herr vom Himmel, 

Der Dorfmald Lind, der Sohn des Zimmermanns, 

Der Friedensfürft, der mäct’ge Gott, ber Hehre, 





Den ſchlechtern Gögentneht von beiden nennen, 
Graufamer nodj: nicht Leiber treibft du durch 
Die Gfut, nein, Seelen — deiner Kinder — durch 
Den Oualım, den Brodem ſchnöder Gier, und ſchwärzeſt 
Zu deinesgleichen beine Brut. 

Weberſche Ueberie 


Edith's Mutter ſtirbt mit gebrochenem H 
Aylmer aber 


ung.) 
en, Sir 





Verfiel 
In Stumpifinn; wüſte war fein einz'ges Ban; 
Todt war er ſchon zwei Jahr vor feinem Tod. 
Ums Weihnadtefett im zweiten Jahr entfloh 
Er feinen Wägtern und des Schweigens Dual, 
Doch noch ein tiefres Schweigen ſucht' er auf 
Im enger dunkler Gruft bei Weib und Kind, 
Und nit verfagte feinem Ende ſich 
Der jhwarze Troß, des Todes Huldigung 
An goldnen Schwellen; nod von zartern Herzen, 
Die ein erlofchnes Haus betrauerten, 
Mitleid das Veilden am Torannengrab. 
Ganz abgebrohen ward hernad; das Schloß, 
Der folge Wald zu Pachtungen vertheilt, 
Und wo bie zwei für Edith’ Wohl geplant, 
Niftet der Habicht, wirft der Maulwurf auf, 
Gräbt fi) der Igel unterm Wegrid) ein, 
Die Natter kriecht, das ſchlanke Wiefel jagt 
Die Maus, und überall ift offnes Feld. 

Feldmann.) 

Aus den mitgetheilten Proben werden unfere Leſer 
bereits entnommen haben, daß die beiden Ueberſetzungen 
einander ziemlich die Wage halten und beide Lob verdie- 
nen. Sollen wir etwas tadeln, fo ift es die oft allzu 
ſehr verfchräntte Wortftellung und Sagfügung, die das 
Verſtändniß erft nad meßrmaligem Durchleſen erlaubt. 
Dergleichen ift bei einem Versmaß wie der reimloje Qui« 
nar, ber fih der Sprade faft von felbit aufdrängt, 
immerhin leicht zu vermeiden. Wird die Verszahl des 
Originals dadurch alterirt, fo ſchadet dies unſers Er— 
achtens einer ſolchen ungefchloffenen, ſich rein novelliſtiſch 
gebenden Form gegenüber durchaus nichts. 

5. Das Leben ein Traum. Schanfpiel in fünf Acten von Cal - 
deron de la Barca, Aus dem Spanif—en neu überjeht 
und für die deutfche Bühne bearbeitet von Paul Herith. 
Berlin, Schröder. 1868. 8. 22%, Ngr. 

Der Ueberfegumg ift eine Iehrreihe und interefjante 
Einleitung vorausgeſchidt. Herlth nimmt ſich darin warm 
der jetzt don einigen aufs ſchroffſie verdammien ſpaniſchen 
Bühne an und piaidirt für ihren nüglichen Einfluß aufs 
deutfhe Drama, falls man nur ihre Vorzüge in objecti 
ver, Fritifcher Weife würdigen wolle und nicht mit jenem 
Tatholifirenden Enthufiasmus herantrete, wie ihn einft 
Schlegel zur Schau getragen. Wir können ihm nicht 
unrecht geben. Wenn denn einmal immer das Auslän- 
difche Hervor- und in die Höhe gehoben werden muß, jo 
laſſe man and) die gewaltigen Genien eines Lope, Alar- 
con, Tirfo de Molina und Ealderon gelten und bilde ſich 
nit ein, in Shalfpeare das A und d der dramatischen, 
ja womöglich aller Kunft zu befigen. Was die Form des 
fpanifchen Dramas anbetrifft, kann es nur ein Blinder 
unter das englische ftellen, da es daffelbe durch Gejchlofien- 
heit und Harmonie der Form, wahrhaft dramatijche Durd;- 
führung des Conflict® und feiner Löfung bei weiten 
übertrifft. Un Gedanfenreichtfum möchte and, Calberon 
ſchwerlich Hinter Shaffpeare. zurüdftchen. Die Melt- 


73 * 





580 Poetiſche Ueberfegungen. 


anfchauung, aus der die caftilifchen Poeten herausdichte- 
ten, fteht allerdings der modernen vielfady fern; allein 
daß auch dies oft ein bloßes Vorurtheil ift, weiſt Herlth 
ſchlagend an Lope's grandioſem „Stern von Sevilla” nad), 
den unfere Kritiker faft alle nur in ber traurigen Be- 
arbeitung des Baron von Zeblig zu kennen ſcheinen, fo 
3.8. der frühere Leiter des wiener Burgtheaters. In einem 
allerdings find die Engländer den Spaniern überlegen — 
das ift die Charafterifti. Ob jedoch diefe „englifche‘ 
Charakteriftil, das Reſultat einer dramatifchen Kunftform, 
bei der alles auf die einzelnen Perfönlichkeiten anfam und 
alles wahrhaft Bühnliche fortfiel, fiir das Drama unerläßlich 
fei, das möchte denn doc) noch fehr dayingeftellt fein. Die 
Feinde des „decorativen Luxus“, der „ſchnöden YAugenluft” 
u. f. w. jehen natürlich in diefen ärmlichen, mit Teppichen 
verhängten Scheunen das Ideal des dramatiſchen Kunſtwerks. 
Wir hegen in deſſen ſtarke Zweifel an der Berechtigung dieſes 
äſthetiſchen Dogmas, zumal es nur aus dem einen Factum 
abſtrahirt iſt, daß die Engländer eine ſolche detaillirte Cha⸗ 
rakteriſtik anwandten und die Deutſchen — vielleicht zur 
Beeinträchtigung ihrer wirklichen Fähigkeiten — es ihnen 
nachzumachen ſuchten, andere Nationen aber, die Griechen, 
die Spanier, die Franzoſen, ſich ganz gut ohne dieſelbe 
beholfen und ſie dem Romane überlaſſen haben. 

Ueber die Geſchichte des vorliegenden Calderon'ſchen 
Meiſterwerks in Deutſchland macht uns Herlth folgende 
Mittheilungen: 

In Deutſchland begann Leſſing (1749) zuerſt eine Ueber⸗ 
tragung des unſterblichen Gedichts, die indeß unvollendet blieb, 
während 1750 zu Strasburg eine freie Bearbeitung „Das Le⸗ 
ben als ein Traum“ von D. F. H. W. M. ans Licht trat. Im 
Jahre 1760 fpiefte man auf dem k. k. Stadttheater zu Wien 
als Novität: „Das menichliche Leben ift Traum, in fünf Xcten, 
aus dem Stalienifchen überlegt und im deutiche Verſe (Aleran- 
driner) gebracht durch M. Julius Friedrich Scharfenftein”, umd 
20 Jahre fpäter erſchien im einundzwanzigiten Bande der 
Stege'ihen „„Schaubühne‘ eine fi [don durch den Titel felbft 
harakterifirende Nachbildung: „Sigismund und Sophronie, oder 
Graufamleit aus Aberglauben, Scaufpiel in drei Acten von 
Bertrand. Die nächfidem zu nennende, eigentlich erfte deutjche 
Driginaliberfegung rührt von dem al® Lebemann und Schön- 
geift am weimarer Hofe vielbeliebten Präfidenten des Ober- 
Appellationsgerichts zu Jena von Einfledel ber, eine treue, bem 
Spanifhen fih eng auſchließende Arbeit, die 1812 von Goethe 
auf die Bühne gebracht murde. Julian Schmidt iſt daher im 
Irrtum, wenn er in feiner beutichen Literaturgefchichte ale 
Berfaffer der von Goethe infcenirten Uebertragung Gries nennt, 
der exit fpäter (1815) die Herausgabe der „Schaufpiele Ealde- 
ron's“ mit „Das Leben ein Traum“ begann umd darin, im 
Grunde genommen, nichts anderes gab als ein Plagiat von 
Einfiedel. Hierauf ergriff Schreyvogel (E. A. We) bie Arbeit 
von Gries, dehnte die Trochden durch Zuthat einiger Süben 
zu iambifhen Rhythmen ans, verfllichtigte durch ſolche Aus- 
fülung und Abſchneidung alles Poetiichen und echt Dramati- 
Ihen in ber Diction die Ibee und den Gehalt der Dichtung, 
und bradte jo am 4. Zuni 1816 fein „dramatiſches Gedicht 
in fünf Aufzügen nad) dem Spanifchen des Ealderon, bearbeitet 
von C. A. Weſt“, im k. k. privilegirten Theater au der Wien 
zum erften mal mit einem Erfolge zur Aufführung, der feit- 
dem das Stüd auf allen Theatern Deutfchlande, befonders auf 
der berliner Hofbühne einbüirgerte. 


Herlth unterfcheibet fih nun fowol nad Form wie 
nah Inhalt feiner Bearbeitung von feinen Vorgängern. 
Wenn wir ihm auch zugeben wollen, daß feine Verſifi⸗ 
cation gefehidt und feine Accomodationsverfuche theilmweife 


‚gelungen find, fo ift es body noch eine Frage, ob eine 





jolhe vadicale Veränderung überhaupt noch Ueberfegung 
zu nennen iſt. Statt der Trochäen hat er den Jambus 
gewählt und fucht diefes durch verfchiedbene Gründe zu 
rechtfertigen. Es ift wahr, wenn er fagt: 

Der deutſche Trochäus, wie ihm Schlegel und Gries an. 
gewendet, ift fo ziemlich das völlige Gegentheil der ſpaniſchen 
Bersart: bärenhaft ungelen! und geiſtlos im Affonanzentan;, 
erdrüdt er vollends in der Zmangsjade feiner Reimform ale 
dramatifche Bewegung, während er im Übrigen anch nicht einmal 
die Kraft hat, einen vollern Strom der Perioden ſtilvoll zu⸗ 
ſammenzuhalten und wohllautend in das Ohr des Hörers zu 
eiten. 

Dies iſt wahr, doch eben nur mit der Einſchrän⸗ 
kung: „wie ihn Schlegel und Gries angewendet“. Daß 
felbft der Trochäus mit Reimverſchlingungen im Dent- 
ſchen fehr melodiöss gehandhabt werden kann, beweiſt Grill⸗ 
parzer's „Ahnfrau“, die von ſeiten der Sprache untadel⸗ 
haft zu nennen iſt. Aſſonanzen allerdings find im Deut⸗ 
hen unangemefjen: fein Menſch Hört fie heraus, zumal 
jelbft Schlegel fi die Freiheit nimmt, Längen und Kür 
zen afjoniren zu laſſen, was natürlich alle Affonanz zer- 
ftört. Aber ginge es nicht anftatt der aflonirenden, 
meinethalb auch ftatt der gereimten Trochäen, falls es dem 
Ueberfeger zu ſchwer fällt die letttern nachzuahmen, reim⸗ 
lofe zu gebraudhen? Daß diefer Vers alle die von Herlif 
aufgezählten Fehler entbehren Tann, hat Heinrich Heine 
glänzend bewiejen, denn kaum möchte es einen Poeten 
geben, der „ftilvoller den Strom ber Perioden zuſammen⸗ 
hielte“ al8 er. Aber Herlth Hat nicht nur die Trochäen 
beifeitegefhafft, jondern auch die fogenannten liras, ge 
reimte Mifchungen von Duinaren und kürzern iambiſchen 
Berjen, die im Deutjchen nit nur nicht ſchlecht, fondern 
geradezu höchſt mufifalifch klingen; nur ein paar Stanzen 
haben vor feinen Augen Gnade gefunden. Hierdurch ift 
der ganze Charakter der Poefie verloren gegangen, ja, wie 
er jelber zugefteht, die ganze Diction hat fürmlih um⸗ 
geftaltet werden müflen: vom wahren Calderon ift nur 
noch wenig übriggeblieben. Man Iefe den berühmten 
Monolog des Sigismund, der mit den Worten enbet: 

E los suefios sueno son — 
bei Gries: 
Und die Träume felbf find Traum — 
bei Herlth: 
Und felbft das Träumen it — nur Traum — 

ob da nicht die Calderon’fche Muſe einen Eindrud madt 
wie ein Schmetterling, dem aller Schmelz vom Flügel 
geftreift ift, um ihn für eine Sammlung zu präparicen? 
Sollte dies wirklich nöthig fein, um ihn dem beutfchen 
Theater zu gewinnen? Dann laßt ihm Lieber feine freiheit! 

Auch an die innere Structur des Stüds hat Herlth 
feine germanifche verbefjernde Haub gelegt. Aus bem wil- 
den Polen hat er die Acteure nad) dem „goldenen Hes—⸗ 
perien“ geſchickt, in das ja alle Dichter ber Exde für und 
eine Welt der Wunder hineingedichtet Haben! Tiefergrei⸗ 
fende Abänderungen befpricht er felbft auf S. xx ber 
Einleitung. Wenn man fein Princip anerlennt, muß man 
fie billigen. Aber eben gegen diefes Princip fträuben wir 
uns. Gewiß, der deutfche Dramatiker kann und foll von 
den Spaniern lernen, und wie Mozart, um feine unſterb⸗ 
lichen Meifterwerfe zu fchaffen, Italiens und Dentfchlande 


Poetifhe Ueberfeßungen. 581 


Kunſt zu einer ſüßen Harmonie verband, dadurch aber 
der Schöpfer und Begründer einer neuen Kunſtentwicke⸗ 
lung ward, ſo iſt es ſeine Pflicht, aus dieſer anſcheinen⸗ 
den Antitheſe des ſpaniſchen und engliſchen Theaters eine 
höhere Einheit zu produciren. Das Wort Schiller's, 
das Herlth citirt, daß er und Goethe, wenn ſie Calderon 
früher gekannt, viele Fehler vermieden haben würden, kenn⸗ 
zeichnet ein Bedürfniß unſerer Poefie; aber dieſer Einfluß 
der fremden Literatur darf fih nur auf die Form er» 
fireden, den Inhalt gebe der Dichter als die Denkkraft 
des eigenen Jahrhunderts. Will man die fremden Dra- 
men auf die Bühne bringen — unfere Bühne ift ja num 
leider einmal mehr fozufagen eine Chreftomathie der Welt- 
literatur als ein nationales Inftitut —, fo gebe man fie 
uns auch in ihrer Eigenthümlichkeit, font fteht es ſchlecht 
an, über „Sigismund und Sophronie, oder Grauſamkeit 
aus Wberglauben” zu lachen. 


6. Die Lufiaden des Luis de Camoens. Deutſch in der 
Bersart der portugiefifchen Urfchrift von 3. I. C. Donner, 
Dritte, vielfach verbefierte Auflage. Leipzig, Fues. 1869. 
8. 10 Ngr. 

Die Güte der Donner’fchen Ueberfegung ift genugfam 
anerkannt, ſodaß wir und des weitern —* entheben 
können. Dieſe neue Auflage hat mannichfache Verbeſſe⸗ 
rungen durch den fleißigen und genialen Ueberſetzer er⸗ 
fahren. Was Camoens ſelber betrifft, ſo iſt es über⸗ 
flüſſig, über ſeinen Werth noch ſprechen zu wollen: wir 
verweiſen auf die vortreffliche Charakteriſtik, die Julian 
Schmidt von ihm gibt, und die ebenſo dem großartigen 
Schwunge feiner Poeſie gerecht wird, als auch die Un- 
vollkommenheit hervorhebt, die num einmal aller Renaifſance 
anflebt, und welche die Epiker jener ftrebjamen Jahrhun⸗ 
derte ftetS ihren Pegafus nur innerhalb der Manege Pir- 
gil'ſcher Regelxechtigfeit tummeln ließ. 

7. Lieber und Chanfons von Béranger. Uebertragen von 


Adolf Zaun. Bremen, Kübhtmann und Comp. 1869. 
Gr. 16. 20 Nur. 


Wenn irgendein Schriftfteller ſchwer zu überfegen ift, 
fo ift e8 Beranger, denn feine Poefie — und feine Poefte 
faft allein — ift aus dem Genius der franzöfiſchen Sprache 
geboren. Lamartine und Muffet, jo vollendet auch ein- 
zelne Berfe fein mögen, find Kosmopoliten: die Gedanken 
fonımen ihnen aus fremden Literaturen; aber Beranger 
ift ganz Yranzofe: 

J’aime, qu’un Russe soit Russe, 

Et qu’un Anglais soit Anglais; 

Si l’on est Prussien en Prusse: 

En France soyons Frangais! — 
er ift e8 in feinem Leichtfinn, in feiner Sinnlichkeit, er 
ift e8 in feiner GSeelenglut, in feinem Cultus der Frei- 
beit und des Baterlandes, aber nicht eines nebelhaften 
Baterlandes wie es dereinft in Jahrhunderten fich ge 


ftalten Fünnte: der Sohn des Schneiders, ber Gefangene 
von Saint» Pelagie ſchwärmt für Napoleon und die große 
Armee, für den Ruhm und das Anfehen feiner Nation. 
Er ift ein Chauvinift, würden die heutigen Doctrinäre 
fagen. Bielleiht ift das für fie ein Schimpfwort; ein 
nationaler Poet aber fann nichts anderes fein, und daß 
Beranger e8 war, bemweift, daß er ſich nicht in Grübe- 
leien über Bölferwohl und die befte Verfaſſung vertiefte, 
fondern daß er ein Dichter war. 

Laun bat feine Aufgabe im ganzen vortrefflich gelöft, 
jeine Berdeutfchungen lefen ſich weit fließender und melo- 
difcher als die Chamiſſo's und Gaudy's und Seeger's, 
von denen Silbergleit’8 zu ſchweigen. Daß natürlich die 
unnahahmliche Nonchalance der Beranger’fchen Diction, 
die zauberhafte Melodie feiner Verſe in der deutfchen ge» 
regelten Scanfion verloren gehen muß, tft nicht zu ver⸗ 
hindern. Die Ueberfegung gibt immer nur eine ſchwache 
Borftellung vom Original, zumal wenn man fich dies, 
wie ber Dichter will, gefungen denkt. Einige Chanſons 
haben wir unter der Sammlung ſchmerzlich vermißt, z. 8. 
das erhabene 


On parlera de sa gloire 
Sous le chaume bien longtemps etc. 


8. Sternlofe Nächte. Nuits sans Etoiles. Bon Emanuel 
Slafer. Paris, Lemerre. 1869. 8. 24 Ngr. 


Mit diefem Buche iſt e8 uns fonderbar gegangen; 
wir fehlugen e8 auf, ohne den Titel genau angefehen zu 
haben. Da finden wir anf der einen Seite beutfche Verfe, 
auf der andern franzöfifche Proſa. Wir verglichen bei- 
des und merlten, daß der Inhalt bei beiden derfelbe war, 
nur mit dem einen Unterfehied, daß die Profa melodifch 
und durchweg flinnmungsvoll, die Poefie hingegen holperig 
und platt war, 3.8. ©. 84 fg.: 

Mit ihre träumt’ ih bimmlifche, göttliche Träume, 
Mit ihr wurden Palmen Sibiriens Bäume, 
Mit ihr ſchuf aus Schlamm ih ein Sternengezelt, 
Mit ihr aus dem Chaos mie Gott eine Welt. 
Par Elle je revais de celestes, de divins röves; par 
Elle devenaient des palmiers des arbres siberiens; par 
Elle je tirais du limon une tente d’etoiles, par 
Elle du chaos, comme Dieu, un monde. 


Wir famen alfo auf den Gedanken, daß bier profaifche 
Dichtungen eined Franzoſen vorlägen, bie ein Deutſcher 
in Reime gebracht. Allein das Titelblatt enttäuſchte uns. 
Die deutſchen Gedichte rühren von Emanuel Glaſer her 
und ſind original, die Proſa iſt eine von Catulle Mendez 
verfaßte Ueberſetzung, und das Ganze iſt den Manen 
Heinrich Heine's gewidmet. Unglücklicher Catulle Mendez! 
beklagenswerthe Manen! Das Papier ift vortrefflich, die 
Ausftattung verdiente eine Ueberfegung ins Deutſche. 


Hans Gerrig. 


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582 Hiftorifhes und 


Hiftorienhaftes. 


Hiftorifches und Hiſtorienhaftes. 


1. Haus», Hof» und Stantsgefhichten. Ans vergangenen Ta» 
en. Bon Iulius Ebersberg. Drei Bände. Prag, 
Bellmann. 1869. Gr. 8 2 Thlr. 

Bon den nicht fireng gelehrten und doch anf fleißiger 
eigener Forſchung beruhenden Geſchichtswerken des legten 
Luſtrums hat fih faum eins folchen Beifalls zu erfreuen 
wie die jegt in vier Bänden, refpective fünf Theilen voll⸗ 
ftändig erfchienenen „Bilder aus der deutfchen Vergangenheit‘ 
von Guſtav Freytag, und es ift Fein leicht wiegendes 
Zeugniß dieſer wohlverdienten Anerkennung, daß es bei 
dem Preife von faft zehn Thalern fchon zum fünften 
male new aufgelegt werden mußte. Sole Schöpfungen 
find es, die unfer biftorifches Wiſſen nicht blos mit 
Fleiſch und Blut befleiden, fondern ihm auch Athem und 
Geift einhauchen, ſodaß wir das Thatjächliche, für das 
wir ein wachjendes perfünliches Intereſſe empfinden, aud) 
mit unfern Sinnen zu erfaffen vermögen und jelbit mit 
zu erleben glauben. In meld, anderer Art Behje- ar- 
beitete, der deshalb öffentlich auch nur ephemere Theil- 
nahme erwecken konnte, ift befannt. Er publicirte die 
chronique scandaleuse der Dynaſtengeſchlechter, und da 
er nicht eben glimpflih zu Werke zu gehen liebte, fo 
mußte er vielfach, Anftoß erregen. Einen Pla zwifchen 
den beiden genannten Schriftftellern möchten wir Julius 
Ebersberg anmeifen, der in feinen 23 Geſchichten aus 
dem Haus-, Hof- und Staatsleben der lettverflofjenen 
Sahrhunderte ſowie des gegenwärtigen nicht blos von 
pifanten, ſondern auch von wiſſenſchaftlich intereffanten 
Einzelheiten den Schleier hebt und dabei mit dem Stre- 
ben nad) Hiftorifcher Treue überall leichte, feffelnde und 
wohltäuend anmuthende Darftellung glücklich zu verbinden 
weiß. Er fagt felbft im Vormorte, daß diefe Schilderun⸗ 
gen und Bilder ohne bedächtige Auswahl einer großen 
Anzahl ähnlicher Auffüge entnommen feien, die fich feit 
zwanzig Jahren als Früchte fleigiger Auszüge und Ercurfe 
gelegentlich tieferer gefchihtlicher Studien in feinem Pulte 
angefammelt hätten. Dann fährt er fort: 

Ich Hatte diefe Mojaikarbeiten, wie fie am eheflen genannt 
zu werden verdienen, nicht für bie gelchrte Welt, urfprünglid) 
nicht einmal für die Oeffentlichkeit beſtimmt, als ich fie ohne 
Haft und Eile in behaglichen Mußeftunden und Lediglich zu 
meinem Bergnügen zu Papier bradte. Wenn id) fie jet dem 
Drud libergebe, fo Teitet mich ber Wunſch, jenen, die eine an⸗ 
genenme und nicht unnüge Unterhaltung ſuchen und denen die 

ektüre der Romane feine erwünjchte Nahrung für Geift und 

Herz ſcheint, bier zu bieten, was fie freumdlich anſprechen und 

nicht unbefriedigt laffen möge. 

Diefen Lefern zu Liebe Hat der Verfaſſer von dem 
Onellenpompe, dem übrigens auch in gelehrten Werken 
nur noch das zufländige Maß geftattet wird, gänzlich 
Abftand genommen; er erzählt, was er vielfach vergilb- 
ten Documenten in flaubigen Archiven entnommen hat, 
sine ira et studio und in dem Vertrauen, daß der Lefer 
ihm glauben und ihn nicht für einen bloßen Schönrebner 
halten möge. Einzelne diefer Auffäge Haben wir fchon in 
Beitfchriften gefunden, denen fie zur Sierde gereichten, 
anderes war ungedrudt. Aber alles — welcher Stoff 
wäre e8 für die Feder einer Mühlbach geweſen! Wir 
mußten an diefe überfruchtbare Dame denken, da das 


Material des erften Aufſatzes „Die Frauen Joſeph's II.“ 
auch ihr in die Hände zu fallen das Unglüd gehabt. 
Ebersberg läßt und erfennen, daß es wirklich eine 
der trübften Schattenfeiten im eben Joſeph's II. war, 
daß ihm die Freuden bed häuslichen Herdes, aus denen 
der Mann einen großen Theil feiner Kraft, Ruhe und 
Heiterkeit fchöpft, verfagt waren. Die Infantin von Parma, 
Sfabella, wurde ihm zuerft von feiner Mutter vermäßlt; 
aber wenn fie andy nicht ohne Reize und begabter als 
die Erzherzoginnen war, wenn fie auch oft Anläufe nahm, 
ihrem Gatten in ded Wortes wahrer und höherer Beden⸗ 
tung Frau und Freundin zu fein, e8 nagte ein Trübfinn 
an ihrem Herzen, defjen wahre Urſache niemals ficher er» 


| mittelt worden ift, der aber die Ehe zu einer vollfändig 


unglüdlichen machte und an bem frühen Tode Ijſabella's 
ſchuld war. Joſeph's Kummer über ihren Verluſt war 
fo heftig, daß er untröftlich zu fein und alle Herrfchaft 
über fi) verloren zu haben fchien. Damals beging feine 
Schwefter Marie Chriftine -die große Zaftlofigleit, durch 
die fie ihn wieder aufrichten zu fünnen vermeinte, ihm zu 
fagen: „Die Frau, welche Sie fo ſchmerzlich betrauern 
und bie Sie mit jo viel Sorgfalt und Zärtlichkeit behan⸗ 
delt haben, gab fi) nur den Anfchein der Zärtlichkeit für 
Sie und hat Sie nie geliebt.” Es ift bekannt, daß Ehri- 
ftine fehr glüclich verheirathet war, daß dieſer ülteften 
Tochter die fo pebantifche Maria Thereſia eine reine Nei⸗ 
gungsheirath mit einem tief untergeordneten Prinzen ge⸗ 
ftattete; es ift nicht unwahrscheinlich, daß Chriſtine von 
einer heimlichen und abgeſchworenen Liebe ihrer Schwägerin 
in Italien Kenntniß hatte. 

est hätte Joſeph noch glüdlicd werden können, denn 
feine refolute Mutter zögerte nicht, für ihren erſt drei« 
undzwanzigjährigen Sohn fofort von neuem Brautſchau 
zu halten. Bier Prinzeſſinnen famen auf die engere Wahl — 
und die gewählte, Joſepha, eine Schwefter Mar Joſeph's 
von Baiern, war wieder nicht bie rechte Partie fiir den 
geiftvollen Kaiferfohn: 

Zuerfi Hatte man an bie reizende Elifabetb von Braune 
ſchweig gedacht, die man bald darauf mit dem Neffen und Nach» 
folger Friedrich's IL. vermählte, eine Art von Bitellius, der 
dieſe liebenswürbige Dame nicht verdiente. Sie war nicht blos 
ſchön von Geflalt und Geficht, jondern hatte auch viel Geift 
und tanzte zum Entzliden. Gerade ihre Talente und Reize 
waren vielleicht die Urſache, daß fie von der Wahl ausgeſchloffen 
wurde; von Natur etwas eiferfichtig, mochte Maria Zherefia 
fürchten, verdunfelt zu werben. Ueberdies war Wilhelm Fer⸗ 
dinand von Braunſchweig, einer der beften Generale des preu⸗ 
Bifhen Heers, der Bruder der jungen Dame, und — bie Kaiſerin 
wollte nicht von ihr reden hören. Für die Prinzeffin und Io- 
feph II. war dies ein Unglüd. Bon ihrem Gatten bald an- 
geelelt und durd feine Ausfchmweifungen gereizt und ermächtigt, 
fi) einige Freiheiten zu erlauben, wurde fie nad vier Jahren 
verfiohen und im die Feftung Küftrin eingeſchloſſen, wo ihre 
natürliche Heiterkeit fle nicht gegen die Langeweile zu fchligen 
vermochte. Sie überlebte ihren Gatten um 43 Jahre und ftarb 
94 Jahre alt im Sabre 1840. 

In diefer ruhig Maren und faft überall parteilofen 
Weiſe erzählt der Derfafler ſtets. Bon Joſeph II. berich- 
ten wir ferner deſſen tragifches Geſchick: Seine erfte Frau, 
die er anbetete, batte Feine Zuneigung zu ihm, und bie 
zweite, die er nicht leiden konnte, liebte ihn leidenfchaft- 





Hiftorifhes und Hiftorienhaftes,. 583 


lich. In der Hoffnung, fein Herz zu rühren, trieb fie 
die Gefäligfeit und ben Gehorfam gegen ihn bis zur 
Demuth. Vergebliche Mühe! Ihre Zürtlichfeit machte 
ihn nur um fo älter, und als vollends ein Skorbutanfall 
ihr Geficht ſehr bald häßlich machte und ihren Körper 
entftellte, founte er ihren Anblid fo wenig noch ertragen, 
daß er eines Tags zu einer Bertrauten fagte: „Meine 
Frau wird mir unausſtehlich...“ Bezüglich der mancherlei 
Einzelheiten miüffen wir bie Lefer auf das Wert felbft 
verweifen. Es befreite den unglüdlichen Kaifer die be- 
fonders für das Haus Habsburg jo verhängnißvolle Poden- 
krankheit, die Joſepha fortraffte: 

Dan erinnerte fi feiner Zeit, in ber drei Mitglieder 
derjelben zugleich die Blattern gehabt hätten, denen im 18. Jahr⸗ 
hundert ein Kaifer (3ofeph I.), zwei Kaiferinnen, ſechs Erzher⸗ 
zoge und Erzherzoginnen, ein Kurfürft (von Sadfen) und der 
legte Kurfürft von Baiern erfagen, da man die Krankheit nicht 
zu behandeln wußte. 

Jofeph II. ließ jeinen Neffen Franz nad) Wien kom» 
men und beftimmte ihn zu feinem Nachfolger. Er jelbft 
verzichtete, wenn aud) wol ungern, auf ein dritted Ehe⸗ 
bündniß, Ließ fir fein Förperliches Bedürfniß nur einfache 
Nymphen zu, mit denen ber Verkehr trog Brambilla’s 
Vorſorge ihn in ftetem Siechthum erhalten Haben fol, 
und ftand fpäter filr die idealen Regungen feines reichen 
Herzens mit einem Kreiſe von fünf ausgewählten Damen, 
bie jämmtlich verheirathet waren, in einer ebenſo jchönen 
als feltenen Verbindung, die bis zu feinem Tode währte. 
Diefe Damen waren bie zwei Fürſtinnen Liechtenftein, 
die Fürſtin Klary, Gräfin Kaunitz und bie „himmlifche‘ 
Therefe Kinsky. Ernſte Befprechungen über Wifjenfchaf- 
ten und Künſte wechfelten in diefem traulichen Cirkel mit 
barmlofem Scherz, Borlefungen intereffanter Bücher mit 
muftlalifhen Aufführungen. Charakteriftifch und rührend 
ift der Brief, mit dem er auf feinem Zodbette (18. Fe⸗ 
bruar 1790) von diefen Freundinnen Abjchied nahın. Er 
trägt die liebenswürdig galante Adrefje: „Aux cinq da- 
mes da la societe, qui m'y toleraient”: 

Mein Ende naht heran. Es ift Zeit, Ihnen durch diefe 
Zeilen noch meine ganze Erkennilichkeit für jene Güte, Politeffe, 
Freundfchaft und angenehme Feinheit zu bezeigen, die Sie mir 
während fo vieler Fahre, welche wir in Geſellſchaft miteinander 
zugebracht haben, zu ermweijen und amgedeihen zu laffen bie 
Gewogenheit hatten. Ich bereue keinen Tag, feiner war mir 
zuwider. Das Bergnügen, mit Ihnen umzugehen, ift das einzig 
verdienfllicde Opfer, das ich darbringe, indem ich die Welt ver» 
laffe. Haben Sie die Güte, fi) meiner in Ihrem Gebete zu 
erinnern. Ich kann die Gnade und unendliche Barmherzigkeit 
der Borfehung in Anbetracht meiner nicht genug mit Dank an- 
erfennen; im Bertrauen auf fie erwarte ich mit ganzer Refig- 
nation meine leute Stunde. Sie werden meine unlelerliche 
Schrift nicht mehr Iefen können. Sie bemeift meinen SuRum. 

ojeph. 

Auch die nächſtfolgenden Berichte handeln von Unglück 
und viel bald häßlichen, bald mehr komiſchen Kämpfen in 
den Familien alter Fürſtengeſchlechter. Zunächſt wird die 
Abdankung Victor Amadeus’ von dem piemonteſiſchen Throne 
eingehend behandelt und der unfelige Zwift, der zwifchen 
ihm und feinem Sohne entbrannte, als er fid) wieder in 
den Befig der Krone verfegen wollte. „Die letzten Heffen- 
Homburg” feffelt in noch höherm Grade, weil jeder Freund 
der Gefchichte für diefes Dynaftengefchlecht, aus dem in 
den legten zwei Jahrhunderten eine Reihe von Helden 


und Feldherren bervorging, Intereſſe haben muß, das 
denn der Berfaffer durch manche pilante und neue Ein- 
zelheiten wefentlich zu fteigern weiß. „Eine unglüdliche 
Ehe aus Mangel an Delicateſſe“ behandelt eingehend das 
wibderlich triviale und doc gefpreizte Benehmen der Prin- 
zeſſin Charlotte in ihrer Ehe mit Karl Ludwig von der 
Pfalz, die 1650 abgefchloffen war. „Der legte Eſte“, 
Hercules Rainald, ift auch wieder eine mehr tragifomifche 
Figur, obgleich er oft unerwartet glüdliche Anläufe nahın. 
So berichtet der Verfaffer unter anderm: 

Als Hercules die Regierung antrat, fand er, daß die Ge- 
neralpächter dur alle nur möglichen Bedrüdungen das Volt 
und den Staat arm gemadt batten. Hercules, von feinen 
Berleumdern wol mit den aflatiihen Despoten verglichen, ver» 
hielt fi) ganz anders als diefe. Er nöthigte die Generalpächter 
durch einen gerichtlichen Ausſpruch, das von ihnen unrechtmäßig 
Erworbene zurüdzuzahlen, und behielt nur was ihm zulam; 
er ließ den Gemeinden, was ihnen widerrechtlich genommen 
war, wiedererftatten und felbft die Summen, welche man feit- 
ber Berflorbenen gegen das Geſetz entriffen hatte, ihren Erben 
ohne den mindeften Abzug zuftellen. 

„Eine falſche Königin von England‘ macht uns mit 
einer Abenteurerin befannt, welche als flüchtige Königin 
Anna von England, Heinrich's VII. Gemahlin, an ver- 
fchiedenen Heinen deutfchen Höfen Ehre und Geld zu er- 
preffen wußte, bis fie ald Gefangene zu Grunde ging. 
Bielleicht hat man ihr aud) die Freiheit wiedergefchentt, als 
Herzog Johann Friebrih von Gotha 1567 das Land 
räumen mußte. „Eine Feindin der Etikette führt uns 
an den fpanifchen Hof zur Zeit Philipp's V. (1701—46), 
der an einer ber feltfamften Berrüdtheiten litt: 

Ohne eigentlih Trank zu fein, wollte er bisweilen fechs 
Monate hintereinander weder das Bett verlajjen, noch den Bart 
ſcheren, noch die Nägel abfchneiden, nod die Wäſche wech⸗ 
feln, und wenn ihm endlich das Hemd felbft vom Leibe faulte, 
fo zog er nicht eher ein veines an, ale bis die Königin es zu⸗ 
vor getragen, aus Furcht, er möchte durch die reine Wäſche 
vergiftet werden u. |. w. 

An den Hof diefes Potentaten kam als Schwieger- 
tochter im Jahre 1722 die dreizehnjährige Tochter Phi- 
Iipp’8 von Orleand, des Hegenten von Frankreich, direct 
aus dem Klofter, und bald nach der Thronentfagung Phi⸗ 
lipp's V. fonveräne Königin. Ihr leichtes franzöfifches 
Blut empörte fi gegen den Zwang ber Etikette ſehr bald, 
die denn auch abfonderlich genug war. Wollte der Ge⸗ 
mahl fie nachts beſuchen, jo mußte es in folgendem fo- 
miſchen Aufzuge gefchehen: 

Die Schuhe mußten eingetreten fein, der Mantel Über der 
Schulter hängen, eine Art von Schild hing an einem Arme, 
am andern an der Schnur ein filbernes Nadıtgefhirr. In der 
einen Hand hielt der König einen großen ſpaniſchen Degen, in 
der andern Hand eine Vlendlaterne, und jo mußte er — gleichſam 
beimlih — ſich zur Königin jchleichen! 

Bon den vielen Thorheiten der jungen Königin wollen 
wir fehweigen, ebenfo von dem „Geheimniß der Kurfürftin‘ 
von Sachſen, das an Abjcheulichkeit nicht wol zu über- 
treffen ift und um fo fchlimmer erfcheint, ale die hohe 
Dame ſich wahrfcheinlich nur felbft verleumdet und ihr 
Berbrechen erlogen hatte, um an Ehre und Reichthum zu 
wachen. 

Wir verzichten auf Skizzirung der in den folgenden 
zwei Bänden enthaltenen Geſchichten, überzeugt, dem Lefer 
db. BL. duch das Gefagte ſchon zur Genüge gezeigt zu 





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ne Te 


584 Religionsgefchichte. 


haben, wie viel des Lehrreihen und Pilanten er in dies 

fem Werke finden wird, das der Berfafler als heitere 

Nebenarbeit gefchaffen Hat und das er fortzufegen fid) 

vielleicht beftimmen läßt. 

2. Zwei mecklenburgiſche Herzoge oder Pflicht und Leidenſchaft. 
Hiflorifcher Roman ans dem 18. Jahrhundert von I. Will⸗ 
born. Zwei Bände Malin, Wendt. 1869. 8. 2 Thlr. 

Wir bedauern, in der medlenburgifchen Geſchichte nicht 
zur Genüge heimifch zu fein, um mit Sicherheit die Grenze 
zwifchen Wahrheit und Dichtung in obigem Werke erken⸗ 
nen und bezeichnen zu können. Aber wir ftehen nicht an, 
das Heine Werk den Beten an die Seite zu ftellen, was 
die bändereihe Mühlbach raftlos liefert, in ruchtbarkeit 
der Webtiffin von Maubuiſſon Luiſe Hollandine nicht un⸗ 
ähnlich, die nicht anders zu ſchwören pflegte, als „bei 
ihrem Leibe”, der vierzehn außereheliche Kinder getragen 
hatte. 

Beſonders am Schluß des zweiten Bandes, der die 
feindlich getrennten Brüder wieder vereinigt, entwickelt die 
Verfaſſerin oft eine tragiſche Kraft, die für etwaige fer- 
nere Urbeiten zu ben fchönften Hoffnungen bereditigt. _ 
3. Eines Könige Dank. Hiftoriiher Roman aus der Zeit des 

legten fpantfhen Kriege aus dem Haufe Bourbon. Bon 

E. Heufinger. Drei Bünde. Leipzig, Rötſchke. 1869. 

8 3 Thlr. 

Ueber dieſen fogenannten hiſtoriſchen Roman Tünnen 
wir nit in derſelben anerfennenden Weife uns äußern, 
denn je gemauer uns die betreffenden Kapitel aus der 
Geſchichte unfers Jahrhunderts befannt find, um jo we- 
niger find wir mit der romanhaften Berquidung einvers 
ftanden, welche Heufinger uns bietet. Nur felten erhebt 
er fi) zur feflelnden Darftelung eigentlicher Handlung, 
aber Erpofitionen folgen eimander nnausgefegt und bie 
zum Schluß, ber teineswegs der Spannung gerecht wird, 
in die der Leſer von vornherein verfegt werden follte und 
in die er fich bei ſchon vorhergewonnener Kenntniß diejer 
äußerft unerquidlichen Gefchichte vielleicht felbft verſetzt 


hatte. Einige male fcheint es als follten perfönlihe Er. 
lebniffe erzählt werden, aber bald wieder erkennen mir, 
daß wir es nur mit Dingen zu thun haben, die — „einer 
jelbft gemacht Hat“. Zu erzählen verfteht ber Verfaſſer 
nit, in „Eines Könige Dank” Hat er wenigftens feinen 
Beweis davon gegeben. 


4. Gebilde und Geftalten. Bon A. Mels. Drei Bänke, 
Leipzig, ®runow. 1869. 8. 4 Thlr. 


Zu unbebingtem Xobe find wir wieder verpflichtet bei 
Berichterftattung über die Gabe von A. Mel, die er auf 
die frühern Sammlungen: „Erlebte8 und Erdachtes“ (wei 
Bände) und „Herzenskämpfe“ (drei Bände), nunmehr als 
dritte Sammlung feiner ganzen beletriftifchen Vergangen⸗ 
beit folgen läßt. Bier ift überall feine Beobachtung und 
feine Darftelung, Vermeidung alles Mitfchleppens von 
Ballaft, der nur Bände macht, Charakter und Eleganz 
im einzelnen wie im ganzen, ſodaß wir nicht zweifeln, 
dag Kritif und Publikum diefer legten Gabe bes hoffent- 
ih auch fernerhin fleißigen Autors dieſelbe Gunft zu 
wenden wird wie feinen frühern Werfen. 

Der erfte Band bringt uns die Erzählung „Clelia“, 
„Im Pfarrhauſe zu Köftrig” und „Beim Zeichner bei 
deutfchen Haufes“, über die durchweg das obige Urtheil gilt, 
auch da, wo rein Hiftorifches berichtet wird. Der zweite 
Band führt uns die anfchaulichjten Skizzen, die bedeu 
tendften „Geſtalten aus dem zweiten Saiferreiche” vor: 
Canrobert, Mac Mahon, Montauban, Rouber, Berfigup, 
I. Favre, Berryer, Thiers, Otrardin, Haufmann, Moc- 
quard, Nigra und — Ludwig XVIL.?, alles Charafterbil. 
der, fharf und pifant nach dem Leben gezeichnet und aud 
unfern deutſchen Diplomaten und Politifern zur Lektüre 
getroft zu empfehlen. Der dritte Band plamdert wieder 
und erzählt in liebenswürdigſter Weife tiber ſpaniſches 
Schmugglerleben und bringt Scenen aus der afrilaniſchen 
Fremdenlegion, die bis auf den legten Strid, mie es 
fcheinen muß, dem Leben entnommen find. 

Hermann Schauenburg, 


— — — — — — 


Keligionsgeſchichte. 


Die Religion, ihr Weſen und ihre Geſchichte, auf Grund des 
gegenwärtigen Standes der philoſophiſchen und ber hiſtori⸗ 
ſchen Wiſfſenſchaft dargeftellt von Otto Pfleiderer. Leipzig, 
Fues. 1869. ©r. 8 4 Thlr. 

Diefes Erzeugniß eines jüngern, vielverfprechenden 
Gelehrten, hervorgegangen aus alademifhen Vorlejungen 
in Tübingen, zerfällt, wie fchon fein Titel befagt, in 
einen pbilofophifchen und in einen hiftorifchen Theil, deren 
jeder einen eigenen Band von A10 und von 495 Geiten 
ausmacht. 

Der erfte Band theilt fi in einen erften Untertheil: 
„Pſychologie der Religionsphilofophie oder Darftellung des 
Weſens der Religion als eines menfchlichen Verhaltens“, 
und in einen zweiten: „Metaphyſik der Religionsphilofophie 
ober Darftellung des Weſens der Religion als eines gött- 
ih» menschlichen Berhältnifjes". Die Piychologie der Re⸗ 
Yigionsphilofophie befpricht nad) einer Kritik des philofo- 
pbifchen Religionsbegriffs die Frömmigkeit, ihre Genefis 


und Bethätigung im Gemüth, ihre Beziehungen zu den 
Seiftesfunctionen des Erkennens und Wollens, d. h. zu 
dem Denken über die Religion und zur religibs⸗ſittlichen 
Praris, ihre Ausbreitung zu einer Gemeinfchaft, bei der 
jelbft wieder ihre Entftehung und ihre Selbftbarftelung 
im Cultus unterfchieden wird. Die Metaphufil der Re 
Iigionsphilofophie enthält die drei Abfchnitte: „Gott mb 
Welt“; „Der Menſch“; „Die göttliche Offenbarung”. Der 
Abſchnitt „Gott und Welt” behandelt die Beweiſe für 
Gottes Dafein und bie verfchiedenen Lehren über das Ver⸗ 
hältnig Gottes zur Welt. Der Abfchnitt vom Menſchen 
erörtert den Anfang und das Endziel der Menſchheit 
(Unfterblichfeit), der von der Offenbarung außer dem 
Dffenbarungsbegriff auch die dogmatifchen Begriffe: Wun⸗ 
der, Weiflagung, Inſpiration. Fügen wir zu biefer An 
gabe, in der ſchon die beiden Iegten Begriffe für bie Ke 
figionsphilofophie überflüffig erfcheinen önnten, hinzu, daß 
diefe Metaphyſik den Raum von S. 159— 410 einnimmt, 


Religionsgeſchichte. 


und daß Lehren wie Unſterblichkeit und Wunder nicht 
allgemein religionsgeſchichtlich, ſondern nur philoſophiſch⸗ 
theologiſch behandelt ſind, ſo dürfte es nicht zu gewagt 
ſein, zu behaupten, daß der dogmatiſche und apologetiſche 
Stoff, zumal auch durch die ausgedehnte Erörterung der 
göttlichen Eigenſchaften, über Verhältniß angewachfen iſt. 

Das religionsphiloſophiſche Credo des Verfaſſers, mit 
dem er ſich auf der Höhe der Zeit zu ſtehen ausmeift, 
ift ausgefprochen in der Borrede ©. xıu: 

Es iſt feine noch fo abgelegene, noch fo wunderlide Er- 
fheinung der vordhriftlichen Aerigionsgejchichte, die nicht im der 
Geſchichte unfers eigenen religidjen Lebens ihre Analogien fände 
in frommen und unfrommen Empfinduugen und Borftellungen, 
und umgefehrt ift feine Tiefe und Höhe in unferm chriftlichen 
Bewußtfein, die nicht ihre Borflufen und Vorbilder, wenn and 
nur als abgeblaßten oder grobgezeichneten Umriß, in der vor» 
chriſtlichen Religionsgefchichte hätte. 

Sein philofophifches Credo ift der confequent durd)- 
geführte Theismus der nach⸗Hegel'ſchen Philofophen, zu 
dem er fi), in der Hand die Beweiſe für das Dafein des 
„perfönlichen” Gottes, durch cine mit viel Schärfe und 
Klarheit durchgeführte Kritif der anti» und pfendo «-theifti- 
fhen Syſteme vom indifchen Pantheismus an bis auf bie 
nenefte Zeit den Weg gebahnt hat, um auf demfelben fein 
ganzes Syſtem der theologifchen Anthropologie und So— 
teriologie zu erbauen. Ohne mit dem Berfafler über diefe 
feine Weberzeugung rechten zu wollen, möchten wir nur 
auf das ziemlich inbividwaliftifche Gepräge feines Theis⸗ 
mus aufmerffam machen. Bei der perfünlichen Fortdauer, 
deren Solidarität mit dem Glauben an den perfönlichen 
Gott verfochten wird, ift völlig von allen Intereſſen der 
Gemeinde, die doch von den legten Dingen ihre und bes 
Reiches Gottes Vollendung erwartet, abgefehen, und bei 
der Berurtheilung der religionslofen Sittlichkeit Kant's 
und Fichte's ift dem Verſuch Hegel's, der Sittlichkeit 
eine religiöfe Grundlage, nicht zwar an einem überwelt⸗ 
fihen ®ott, aber doch an der auf menfchlichem Boden 
gegenwärtigen Gottesordnung der objectiven Mächte ber 
Wirklichkeit zu fchaffen, lediglich feine Beachtung gejchentt; 
es ift unbejehen der punftuelle abſolute Wille Gottes als 
Grund aller fittlichen Verpflichtung feftgefegt. Dagegen 
ift das bogmatifche Credo des Verfaſſers frei von theo» 
fogifchen Borurtheilen; er verhält fih zu Schrift und 
Kicchenlehre Fritiich und weiß den ethifchen Menfchheits- 
proceß, der fi der Vorſtellung als ein äußerliches Ge- 
ſchehen darſtellt und in beftimmte zeitliche Acte auseinander- 
gezogen wird, in der Simtltaneität und Iunerlichfeit fei- 
ner Momente aufzufaſſen. 

Die kritiſche Analyfe der Standpunkte und Meinungen 
ift eine Hauptftärke des Buchs. Die Darftellung der verfchie- 
denen Yaflungen des Religiond-, Gotted- und Offenbarungs« 
begriffs, die in der Gefchichte zu Tage getreten find, ift 
anſchaulich und läßt nichts Wefentliches außer Acht; das 
Urtheil ift eindringend und durch Präcifion und Beſtimmt⸗ 
beit überzeugend. Dan vergleiche hierzu die Stelle S. 377fg., 
die wir bier ausheben wollen: 

Wir haben alfo bei Hegel Leine Offenbarung Gottes an 
den von ihm perſönlich unterjhiedenen Menſchen, fondern nur 
ein fi felbft Offenbarwerben Gottes unter der Form bes menjch- 
lichen Selbſtbewußtſeins. Bei Schleiermacher hatten wir ums 
gelehrt nur ein Sichhoffenbarwerden der menſchlichen Natur, 
das nur auf eine göttliche Urfächlichfeit bezogen, alfo unter der 

1870, 3. 


585 


Form eines göttlichen Acte® aufgefaßt wird. Bei Hegel haben 
wir nur ein Thum Gottes in Beziehung auf fidh felbft, nicht in 
Beziehung auf den Menſchen als ein wirfliches Anderes gegen 
Gott, das daun auch feinerfeits wieder ſich zu Gott in ein ent- 
ſprechendes Berhältnig fegen könnte; wir haben mit andern Wor⸗ 
ten blos Offenbarung, aber nicht Religion; denn Religion ift 
eben dies der Offen rung entiprehende Berbalten des Men- 
Ihen zu Gott. Bei Schleiermacher umgekehrt haben wir blos 
Religion, aber nicht Offenbarung, blos ein piychologijches Ber- 
balten des Menſchen ohne enifprechendes metaphyſiſches Ber- 
bältniß Gottes zu ihm. Beiden alfo fehlt eins der nothwen⸗ 
digen Glieder des Wechjelverhältuifies, das wir in der Religion 
nothwendig fefthalten mäffen: dort, bei Hegel, fehlt das end⸗ 
liche Subject, bier, bei Schleiermader, das unendliche Object 
der Religion, oder: dort fehlt das Object, bier das Subject 
der Offenbarung. 

Auszeichnen möchten wir ferner das Reſultat der Un- 
terfuhungen über die Frage von Glauben und Wiflen, 
wie e8 ©. 106 fg. gezogen ift, wo der Proceß, den bie 
Religion in der Dogmenbildbung durchzumachen Hat, gut 
verfinnlicht iſt; ſodann die Rettung der Urfprünglichkeit 
religiöfer Neufchöpfungen gegenüber der von Hegel an- 
genommenen geradlinigen Yortentwidelung ©. 139 fg., und 
nicht weniger die glüdliche Verfechtung einer anfangslofen 
Schöpfung S.271fg. Ausftellen möchten wir bei der Revue, 
welche wiederholt Philofophen und Theologen pafjiren müſ⸗ 
jen, daß bei dem Religionsbegriff nicht ſchon mit Wolf, 
dem Bertreter der einfeitig theoretifchen Anfchauung an- 
gelangen, bei der Dffenbarungslehre Leſſing's „Erziehung 
des Meenfchengefchlechts" ganz übergangen, Fichte mit ſei— 
nen beflimmten Hinweifungen anf die Wurzeln des reli« 
giöfen Gefühlslebens, z. B. im Anfang der „Rüderinne- 
rungen“, nicht mehr, als es gefchehen ift, als ein Uebergang 
zu Schleiermacher betrachtet und dieſer felbfl mehrmals 
verfannt worden if. Der Berfaffer achtet nämlich die 
löbliche Behutjamkeit des geiftuollen Empirikers und Piycho- 
Iogen nicht, wenn er Schleiermacher ©. 75 die Leugnung 
des Seligkeitsgefühls als eines in der Erfahrung gegebenen 
Acts verargt, wenn er ihn ©. 99 fg. darob anläft, daß 
er die Erlöfungsidee nicht in der Religion als folder fin- 
den wolle, wo doch das Princip diefer Ihre, die voll 
ſtündige Entbindung des höhern Selbſtbewußtſeins, erſt 
in der ethiſchen Vertiefung des Paulinismus mit der 
Emancipation des nveip.a über die sapE vor das Be⸗ 
wußtfein treten kann; wenn er endlih ©. 132 fg. gegen- 
über feinem vorfichtigen Ublehnen der ſchlechthinigen Boll- 
kommenheit einer einzelnen Religion Hegel mit feiner „ab. 
foluten Religion‘, richtig verftanden mit feinem abfoluten 
Syftem, recht gibt. 

Unferm bisherigen Referat zufolge ift e8 eine einheit- 
liche, gründlich methodifche Arbeit, die und Pfleiderer über 
das Weſen der Religion geliefert bat. Aber es bewährt 
fi in feinem Erſtlingsverſuch recht, wie ftarf zwar die 
Kraft der Abftraction in der Jugend ift, wie wenig fie 
aber noch das Bedürfniß concreter Beobachtung fühlt. 
Es ift nit von ohngefähr, daß Hume feine unfterblichen 
„Unterfuchungen” über ben menſchlichen Berftand und Strauß 
fein „Leben Jeſu“, beides Denkmale einer fyftematifchen 
Confequenz, vor dem breißigften Jahre gefchrieben haben, 
An diefe Thatſache erinnerte uns das auffallende Ausblei- 
ben der empirifhen Forſchung mit ihrer gemüthlichen 
Behaglichkeit in dem uns vorliegenden Erzeugniß einer 
reifen, wunderbar gewandten Dialefti. Da ift durchweg 


74 








586 


ein Hineilen aufs Princip, ein raftlofes Ringen nad) einer 
philofophifhen Conftruction des Thatbeſtandes, ohne daß 
der gehörige Raum gegönnt wäre fir die verweilenden 
Ruhepunkte der fich mit Liebe in die gefhichtlichen Be- 
fände vertiefenden Phantaſie. Dan fage nicht, die Ne« 
Tigionsphilofophie fordere nicht empirifches Detail; fie ge 
ftattet nur nicht, daß es logiſch ungeordnet aufgenommen 
werde, aber fie verlangt anfchauliche Bilder vom religiöfen 
Leben unter den begrifflichen Rahmen gebracht. Man leſe 
nur einmal in Hegel’8 „Neligionsphilofophie‘‘, die es doch 
gewiß nicht am Dedneiren und Conſtruiren fehlen läßt, 
Abſchnitte wie die von den Culturformen ober von ber 
von Hegel als allgemeines Geiftesphänomen aufgefaßten 
Zauberei. Schilderungen wie fie dort gegeben find, con- 
cret, Iebendig und unter allgemeine Rubriken untergebradit, 
fönnen uns über die ungefähren Anforderungen an die 
Religionsphilofophie aufllären. Sol die Religion an 
ihrer Duelle ſtudirt werben, fo muß ihr in den ganzen 
Compler der von ihr herporgerufenen ober mitveranlaßten 
Gemüths⸗ und Dafeinszuftände nachgegangen werden. 
Daß eine Arbeit, die fi in diefer Hinficht Teine Har 
bewußte Aufgabe ftellt, einen ftarfen Abgang an Mate- 
rial ausweifen muß, liegt auf der Hand. Unſer Ber- 
fafler redet wol vom religiöfen Gefühl; aber wo zählt 
er die religidfen Gefühle, nieberfchlagender und erheben- 
der, phyſiſcher und ethifcher Art, Gemüthserregungen und 
Gewifjensregungen, wo bie religiöjen Geiftesthätigleiten, 


wie Andacht, Sammlung, Entſtehung des frommen Ein« 


druds, Verwerthung der Eindrüde in den Willensacten 
des Borfates, heiligen Entfchluffes, vor allem bes &e- 
lübdes, das ja allein ſchon eine ganze Geſchichte Hat, 
anf? Wo bekommen wir ausreichende Auskunft iiber bie 
religiöfen Uebungen, nicht blo8 des üußerlichen Menfchen, 
fondern auch des innern in der Meditation, Gelbftprüfung, 
Tagebuchführung, oder über die verfchiedenen Stadien des 
der Menjchheit über die Sünde und ihre Tilgung auf 
gegangenen Bewußtfeins, von dem Ekel vor dem phyſiſch 
Unreinen des Todes und der gemeinen Enblichleit an bis 
zur unendlihen Tiefe wirklicher Selbſt- und Gitnden- 
erfenntniß, von der Wegichaffung des äußern Greuels 
und Makels in den Weihungen uud Sithnen an bis zur 
innern Belehrung in der Buße und im Glauben hinauf? 
Wohl wird bier und da ein Anfag zur Detailzeichnung 
genommen, worunter wir die Zuſammenſtellung des 
Drientalen, Griehen und Chriften bezüglich der front. 
men Geberbe und die Darftellung des Cultus als Her- 
bes der fittlichen Gemeinschaft rechnen. Aber warum 
beim Beten e8 nicht erwarten Können, bis das Princip 
richtig geftellt it (S.141)? Wäre ja doch fo manches aus ber 
Geſchichte und Pſychologie des Betens beizubringen ge⸗ 
weſen! Warum bei der Solidarität des Cultus und der 
Cultur nicht ein wenig länger verweilen? Das hätte auf 
den Zuſammenhang zwilchen Gottesverehrung und con- 
creter Lebensweiſe, auf die verfchiedenen Stellungen, bie 
der Gottesdienft und das Werktagsdafein in den verfchie- 
denen Religionsftufen und Formen einer und derjelben 
Religion, wie der chriftlichen, gegeneinander annehmen, 
geführt. Ueberhaupt find die realen Zuftände fehr ver» 
kürzt. So hätte der freundlichen ober feindlichen Bezie⸗ 
bung, die ſich die Religionen zur bildenden Kunft gegeben 


genommen werben. 


Religionsgefchichte. 


haben, ein befonderer Abjchnitt gebührt; fo hätte die reli— 
giöfe Gemeinfchaft bis in die Formen ihrer äußern Orb- 
nung: Theofratie, Priefterfiaat, Hierarchie, Cäfareopapte, 
Staatskirche, und bis in die vielfach conftanten Schickſale 
ihrer Geſellſchafts- und Xehrentwidelung, wie fie in Re—⸗ 
ligionsurfunden und Symbolen, Kegereien und Schiemen 
zu Tage liegen, hinein verfolgt werden follen. 

Die gerügten Mängel fallen im zweiten Bande, ber 
„Geſchichte der Religionen‘, natürlicherweife weg, weil bier 
der Stoff von felbft dem Geſchichtſchreiber die Hand führt. 
Nach einer gründlichen, gedrängten Einleitung über die 
Geneſis der Religionen und bie verfchiedenen Theorien 
hierüber, bei der wir dem Verfaſſer befonders danlen, 
daß er dem fonft manchmal überfehenen Hume gerecht 
geworben tft, und etwa nur den bizarren Dupuis „De l'ori- 
gine de tous les cultes“, vermiffen möchten, wirb ın die 
gejchichtliche Darftellung eingetreten. Hiftorifher Sinn, 
feine Combination, deutliche und gewandte Zeichnung, 
Meifterfchaft über das pofitive Dlaterial, völliges Zuhauſe⸗ 
fein in der vergleichenden Religionskunde zeichnen dieſen 
Theil des Werks vortheilfaft aus. Die gelungenfte Partie 
möchte neben der ganz befriedigenden, auf hiſtoriſch⸗kriti⸗ 
fher Baſis unternommenen Darftellung des Judenthums 
und, joweit e8 aufgenommen ift, des Chriſtenthums bie 
Schilderung der griedifchen Religion fein, deren Ehren⸗ 
retter der DBerfaffer insbefondere dadurch geworden iſt, 
daß er bie reinern veligiöfen Vorſtellungen, wie fie bei 
Pindar und den Zragifern im ©egenfat gegen den Ho⸗ 
merifchen Götterglauben zu finden find, gewiffenhaft anf- 
gefucht Hat. Dagegen dürfte die Darftellung des Islam, 
die überhaupt etwas Zerhadtes hat, was allgemeine maß⸗ 
gebende Geſichtspunkte betrifft, am meiften vermifien laflen. 
Es fei bei diefer Gelegenheit an die eindringende Charak⸗ 
teriftil, die 8. T. Pland in feinen „Weltaltern” vom 
Islam gibt, erinnert. Ihm ift derfelbe die Zurüdführung 
des chriftlichen und jüdifchen ©ottesbemußtfeins auf dem 
bloßen Geiſt des Drients, oder ber unter ben geſchicht⸗ 
lichen Vorausſetzungen des Judenthums und bed morgen- 
ländifhen ‚Chriftenthums fi als Selbftawel zum Ber 
wußtfein gefommene, einfache Geift des Orients. Pflet- 
derer hat ibm, wenn er ihn ©. 369 „einen Segen filr 
Millionen Menſchen auf Sahrhunderte hinaus” nennt, fo- 
zufagen fein localed Recht gelaflen, nicht aber daran ge= 
dacht, ihm ebenfo auch fein meltgefchichtlichee Recht zu 
wahren. &8 hängt dies damit zufammen, daß er das 
Chriſtenthum nicht im ganzen’ Fluſſe feiner Entwidelung 
verfolgt bat, fondern mit einiger Willtür bei Auguftin 
halt macht. Es muß aber der Islam als Gegenftrd- 
mung gegen die morgenländifche, auch ins Abendland 
berüberreichende Strömung der Kirche begriffen unb feine 
Ueberwindung wit der Verjelbftändigung und Vertiefung 
der abendländifchen Entwidelung, wie fie mit. ber Refor: 
mation auf ihren Höhepunkt gelommen ift, zufammen- 
Doch die Rubricirung der Religionen 
ift überhaupt die ſchwache Seite diefes zweiten Bandes. 

Im guten Zutrauen zu den eigenen Maßſtäben, dem 
idealen Religionsfactor der Freiheit und Abhängigkeit und 
bein realen ber Beziehung und Stimmung gegen die Natur, 
bat der Berfafler offenbar die Vorarbeiten, unter denen 
wir namentlih das obige Pland’ihde Wert und den 





Religionsgefchichte. 


gebrängten Auffag von H. Paret über die Eintheilung der 
Religionen in Ullmann’s „Studien“ von 1855 empfehlen 
möchten, nicht gehörig berüdfichtigt.. Er macht die fehon 
etwas üußerlihe und mit den Rubriken: natürlih und 
ethiſch, zu vertaufchende Unterfcheidung: Heidenthum und 
monotheiftifhe Religionen. Das Heidenthum wird in bie 
drei Abjchnitte: „Religionen der unmittelbaren Natitrlic)- 
feit”, „Religionen der cultivirten Natürlichkeit”, „Reli 
gionen des Mebernatürlichen”, getheilt. 1) Der unmittel- 
baren Natürlichkeit wird die Naturreligion a) unter dem 
überwiegenden Typus der Abhängigkeit: Semiten und 
Aegypter; b) unter dem überwiegenden Typus der Frei⸗ 
heit: Arier am Indus und in Deutfchland, und im An⸗ 
bang Fetiſchismus und Schamanismus, zugewiejen. 2) Der 
cultivirten Natürlichkeit wird die Eulturreligion a) unter 
dem - überroiegenden Typus der Freiheit: Griechen und 
Römer; b) unter dem überwiegenden Typus der Ab- 
hängigteit: Chinejen, zugetheilt. 3) Unter der Religion bes 
Uebernatürlichen wird befaßt: a) Brahmanismus und 
Buddhismus als Erhebung über die Naturabhängigkeit 
durch negativ-fittliche Selbfterlöfung; b) Parfismus als 
Erhebung über die natürliche Freiheit durch pofitiv-fittliche 
Beziehung auf das göttlich Gute. 

Auf den erften Anblid dürfte in diejer Ueberficht das 
Berweifen des Fetiſchismus und Buddhismus in einen 
Anhang, das Hinausdrängen der Aegypter mit ihrer im« 
menfen, im Dienft der Religion verwendeten Arbeits. 
fraft, die freilich der Verfaſſer auch mit feinem Wort 
berührt, aus der Reihe der Eulturreligionen und Zurüd« 
weifen in die Ordnung der Naturreligionen, fowie die 
Zurüdftelung der Griehen und Römer und verhältniß- 
mäßig ftarfe Bevorzugung ber Chinefen auffallen. Auch 
möchte man geneigt fein, in der Bezeihnung: Religionen 
des Uebernatürlichen, und in dem Vornhinftellen der indi- 
ſchen Religionen eine theologifche Vorliebe für die an- 
fcheinende Transſcendenz dieſer Phafen der Geiftesentwide- 
lung zu erbliden. Jedenfalls möchten wir theil8 die ziem⸗ 
lich apofryphe Erklärung der Egoitätsreligion der Zau- 
berei aus einem gejellfchaftlichen Zerjegungsproceß, ſowie 
bie durchgängige Zufammenwürfelung von Orient und 
Decident rügen. Das erfte in der Gefchichte ift der 
Atomismus, und erft da8 zweite die Gemeinſchafts⸗ 
bildung, nicht umgekehrt, wie es ber Verfaſſer, um 
Fetiſchdienſt und Schamanenthum zu erflären, wenig- 
ftens auf Einem Punkte annimmt. Warum nicht mit 
Hegel die Religion mit diefen beiden, dem Glauben an 
Zaubermittel und an Zauberer, anfangen lafien? Was 
ift denn am Kind, alfo doch wol auch an der Menfchheit 
als Kind, natürlicher als das Geltendmachenwollen des 
eigenen Begehrens bei völliger Unkenntniß aller Natur- 
fchranten, was das Bezeichnende bei den Religionen ber 
Zauberei ift? Wenn fodann die Pland’ihe Anſchauung 
von China als dem ulturfuften des urfprünglich ato- 
miſtiſch vorhandenen Zauberwefens, wofür übrigens unter 
anderm die Berantwortlichkeit ber Regierung für alle 
Naturcalamitäten ſprechen würbe, zu kühn fein follte, fo 
diirfte wenigftens der Ort, an den China zu ftellen ift, 
von da weg nicht weit entfernt liegen. Die Auseinander- 
haltung des Orients und Occidents — bort ber Religionen 
der Subſtanz, der felbftlofen Hingebung an die höhere 


— — — — 


587 


göttliche Naturmacht, der Gottheiten mit dem vorherr⸗ 
ſchend uraniſchen Typus; hier der Religionen der Sub⸗ 
jectivität, des Bewußtſeins freier Selbſtheit, der Gott⸗ 
beiten mit dem vorherrſchend telluriſchen Typus — drängt 
ſich ſo feſt den Sinnen auf, daß es nur befremden 
muß, warum bis daher nicht mehr Ernſt damit gemacht 
wurde. Es mag wol der Umſtand daran ſchuld ſein, 
daß man immer auf eine ſucceſſive Reihenfolge reflectirt 
bat, ſtatt ſachentſprechend Orient und Occident zu coordi⸗ 
niren, wie z. B. auch H. Paret kein Bedenken trägt, Bud⸗ 
dhismus und altgermaniſche Religion als negative Vor⸗ 
bereitungen auf die ethiſche Religion einander gleichzuſtellen. 

Richtig liegt deshalb auch dem Plane des Verfaſſers 
die Gleichſchätzung des orientaliſchen und occidentaliſchen 
Heidenthums, an der uns die Vorliebe für die griechiſche 
Welt nicht verhindern darf, zu Grunde. Aber innerhalb 
ihrer ſelbſt haben die beiden parallelen Reihen wieder je 
ihre beſondere Entwickelung. Auf ſeiten des Occidents iſt 
feine Stufenfolge. Der ſkandinaviſche Norden mit dem 
Kampf der freien Selbftheit gegen die ihr anhaftende na- 
türliche Endlichfeit in den grotesfen Mühen und Genüffen 
des Reckenthums; das Germanenthum in feiner heroifchen 
Bertrautheit mit der Natur und feinem Eingeftändniß ber 
Endlichkeit feiner Götterwelt in der vom Verfaſſer S.101 fg. 
weit nicht nad) Gebühr gemwürbdigten Götterbämmerung; 
Griechenland mit feiner Weberwindung ber Natürlichfeit 
durch die geiftige Yorm; Rom mit dem fi als Selbft- 
zwed fegenden endlichen Inhalt feines Wollens — fie alle 
ftehen mit gleichem Gehalt und Werth nebeneinander. Aber 
in der orientalifhen Reihe iſt ganz unzweidentig eine 
Stufenleiter vorhanden. Sie beginnt mit dem Hinduis- 
mus, der in feiner erften Erfcheinung, dem frifchen und 
vom Verfaſſer friſch gefchilderten Naturpantheismus der 
Bedas, allerdings im Intereffe des Indogermanismus viel- 
fach an die altdeutſche Religion erinnert, bereit3 aber in 
dem ausgebildeten Gebets⸗ und Opferdienft, der den wohl- . 
thätigen Naturmächten gewidmet wird, das fpecififche Ge⸗ 
präge des Drients bat und darum vom Brahmanismus, 
fowie diefer vom Buddhismus, abgelöft werben kann. Der 
Fortſchritt über Indien hinaus fchließt fi nicht an bie 
beiden lettern als folhe an, fondern an das Refiduum 
der Bolfsreligion, das von ber Priefter- und Mönchs⸗ 
religion ber Brahmanen und Buddhas nicht ganz weg- 

ebracht werden kann und in einem finnlich- phantaftifchen 
aumel bes Cultus und der Lebensweiſe befteht. Die 
ſyro⸗phöniziſche Religion, der demnach eine viel höhere 
Stelle gebührt, al8 ihr in unferm Buche zugetheilt 
wird, fchreitet dazu fort, da8 Moment der Endlichkeit in 
dem vergötterten Naturleben zu firtren, den Gott fterben 
zu laffen, mit der fchredlichen Difjonanz des Todes und 
der Trauer zu fließen, nm in der ägyptiſchen Verewi⸗ 
gung des Natnrlebens, beziehungsweife in einem wirk- 
lichen Culturleben, theoretiich, fowie in der Beſeitigung 
des Endlichen und Böſen in ber perfifchen Lichtreligion 
praftifch aufgehoben zu werben. 

Mag es an diefen allgemeinen Grundlinien genligen, 
tHeild um durch eine ſachgemäßere Zufammenftellung der 
Religionen den Verfaſſer zu berichtigen, teils aber auch, um 
dadurch dem Publikum zu eigener Orientirung in feiner ans 
fprechenden, gründlichen Detaildarftellung Luft zu machen. 


74 * 





} 


588 Neue Romane. 


Vene Romane. 


1. Kaifer Iofeph und fein Laudetnecht. Hiſtoriſcher Roman 
von Suife Mühlbach. Cafe Abtheilung. Bier Bände, 
Leipzig, Dürr’fhe Buchhandlung. 1870. 8. 5 Thlr. 

2. Die Frau des Nebellen. Roman von I. D. H. Temme. 
Zmei Bände. Leipzig, Dürrfhe Buchhandlung. 1870. 8. 
2 Tolr. 

3. Schloß Hrawodar. Roman aus den Jahren 1842 —50, 
von R. Edmund Hahn. Drei Bände. Berlin, v. Deder. 
1870. 8. 3 The. 

4. Fried Eigenreich oder die Schule des Lebens. Roman von 

arl von Kefjel. Zwei Bände. Leipzig, Dürrfhe 
Buchhandlung. 1870. 8. 2 Thlr. 7, Nor. 

5. Das Rind aus dem Chräergang. Roman in zwei Bänden 
von Adolfine Boldhaufen. Stuttgart, Vogler und 
Beinhauer. 1870. Gr. 8. 2 Thlr. 

6. Blühendes Leben. Roman in zwei Büchern von Auguft 
Corrodi. Bern, Haller. 1870. Br. 8. 1 Thlr. 10 Ngr. 

7. Ein Thron und kein Geld. Hiftorifhe Erzählung von 
Fa gouue. Zwei Bünde. Leipzig, Matthes. 1869. 
8 2 Zhle. 


8. Loreley. Roman von Egon Fels. Bier Bände. Jena, 
Coftenoble. 1870. 8. 5 Thlr. 15 Ngr. 
Der Held des Romans „Raifer Joſeph und fein Lands- 

Enecht, von Luiſe Mühlbach“ (Mr. 1), ift ein Student, 

der durch fein leichtſinniges Leben und beſonders durch 

die Entführung der jungen Frau eines alten, reichen 

Herrn in allerlei Widerwärtigkeiten geräth und zulegt 

Soldat, oder wie die Verfafferin fagt, Landsknecht bei 

dem Kaifer Joſeph wird. Hiermit fließt die aus vier 

Bänden beftehende erfte Abtheilung ded Romans. 

Frau Mühlbach Hat ihre Stoffe großentheils der 
Öfterreichifchen Geſchichte und zwar der legten Hälfte des 
vorigen Jahrhunderts entnommen und zu dieſem Behuf 
den „Defterreichifchen Plutarch“ von Hormayr mehr als 
gut ift ausgebeutet. Sie führt uns in dem vorliegenden 
Romane aber auch noch andere Ouellen an, unter anderm 
mehrmals ben „Rheiniſchen Antiquarius”. An Geſchichts- 
ſtudien zur Bearbeitung ihrer „Hiftoriichen Romane“ hat 
es bie Verfaſſerin nicht fehlen laffen, aber das eigentliche 
Weſen eines geſchichtlichen Romans Hat fie dennod nicht 
erfaßt; denn anftatt die von der Gefchichte gegebenen mar- 
tirten Pinfelftriche im Geifte der Hiftorie und im Sinne 
des Zeitgeiftes weiter auszuführen, die vorhandenen Lücken 
auszufüllen und auf diefe Weife ein abgerundetes Gemälde 
zu ſchaffen, derwiſcht und verändert fie die gegebenen 
Umriſſe nach ihrem Wohlgefallen, fodaß ein ganz anderes 
Bild als das von der Gelchichte vorgezeichnete unter ihren 
Händen entfteht, mit andern Worten, fie entftellt häufig 
die Hiftorifchen Thatſachen, fie legt ſich die Gefcichte zu 
ihrem Zwed zureht. Dazu kommt in dem vorliegenden 
Romane noch der Mangel an Sitten und Coftimfunde, 
Luife Mühlbad läßt die Studenten des vorigen Jahre 
hunderts bei ihren Gelagen und in ihrem ganzen Wefen 
und Treiben auftreten wie etwa die Studenten aus den 
dreißiger Jahren unſers Jahrhunderts, Luftig, frivol, bur« 
ſchilos! Wir wollen der Verfafferin nur im geheimen ver» 
trauen, daß eine weibliche Geber die Gelage der fogenann- 
ten Mufenföhne des vorigen Jahrhunderts nicht zu zeich 
nen im Stande ift, aber wenn fie es märe, aus Echam« 
gefühl es nicht dürfte. Außerdem möge die Berfaferin fi 
gefagt fein laſſen, daß die Herren Studenten zur Zeit ber 





Maria Therefia weder Koller nod Kanonen, weder 
Sammtrod noch Cerevismüge trugen, fondern Schuhe und 
Strümpfe mit Schnallen, Unausiprehlihe, bie bis an die 
Knie reichten, ziemlich lange Röde mit großen Flapp- 
tafchen und — Dreimafter! Solche Anahronismen find 
ebenfo ftörend wie die incorrecte Pluralbildung „die Me- 
dicus“ ftatt „die Medici”. Dan fann ein vortrefilides Er⸗ 
zahlungstalent befigen und im Stande fein, auf einige 
Stunden dadurch recht angenehm zu unterhalten, man 
Tann fogar fämmtlihe Commis-voyageurs, die ihre Hifto- 
riſchen Kenntniffe aus den Werten der Luife Mühlbach 
zu fchöpfen pflegen, zur Begeifterung hinreißen; aber da= 
mit ift den höhern Anforderungen wiſſenſchaftlich und be- 
fonders äſthetiſch gebildeter Leſer noch fein Genüge ge» 
leiſtet. Wir müſſen in dieſer Beziehung auch nod) die 
in Romanen überhaupt gänzlich verwerflichen, häufig vor= 
kommenden Monologe tadeln, die gleihfals als Lücen- 
büßer eingefchoben werden, um Motive Har zu legen, die 
aus der Handlung felbft hervorgehen follten. 

Wie meiland Karoline Pichler, weiß Luife Mühlbach 
leicht über ale Hinderniffe Hinwegzufpringen. Stellt ſich 
einmal eine Schwierigkeit ein und hat fi die Berfafferin 
mit irgendeiner aufgeführten Perfon in einer Sadgafie 
feftgerannt, fo erfcheint auch fofort ein mitleidiger deus 
ex machina, der den unglüdlichen Verierten — in die- 
ſem Falle dem Helden des Romans mit der entführten 
jungen Frau — zur Rettung herbeieilt‘ und fie fogar 
mitten in der Stadt Paris ind Freie ſchlüpfen läft. Und 
wenn das fündige Paar eine ſolche Rettung noch verdient 
hätte! Die Baftille für dafjelbe, aber nicht die Freiheit 
und noch weniger die den Ehebruch beſchönigende Feder 
der Schriftftellerin! 

In dem Roman von I. D. H. Temme: „Die Frau des 
Rebellen“ (Nr. 2), ift der Rebell ein zur Zeit der Fremd - 
herrſchaft von den Franzoſen verfolgter und, weil er eine 
Misheirath getan, von feinem Bater verfloßener junger 
Freiherr, ber aber durch die aufopfernde Liebe feiner Frau 
und durch einige andere deutfchgefinnte Berfonen in demjelben 
Augenblide, ala Kofaden erſcheinen, gerettet wird. Der 
nicht unintereffante Stoff, der für eine Novelle von mittel- 
mäßigem Umfang ausgereicht haben würde, ift trotz der 
befannten kurzen Säge des Verfaſſers, deren jeder ge- 
wöhnlich den Raum einer Zeile nicht überfteigt, ja im 
vielen Fällen nur ein Wort ausmaht, zu einem Noman 
von zwei Heinen Bänden ausgedehnt worden. Temme 
ſchreibt wie ein Kind erzählen würde: „Der Wagen fuhr 
iangſam. — «Barthel, fteig’ vom Bods, befahl er dann. — 
Der finftere Mann ftig vom Bod. — «Werben wir noch 
verfolgt, Barthel?» — «Die Reiter find noch Hinter ung.» — 
«Barthel, gehe ins Haus.» — «Man fol mir nicht mit 
Lichtern entgegentommen. Noch beffer, du allein empfängft 
ung am Portal.» — Barthel ging voraus zum Schlog. — 
Das Schloß war dunkel“ u. f. w. 

Schließlich fei noch benerft, daß die in dem Koman 
vorfommenden Franzoſen ebenſo geläufig deutſch reden wie 
der Verfaſſer. Nun, eine Unwahrſcheinlichkeit Liegt nicht 
darin. 








Neue Romane. 


Der Roman: „Schloß Hramwodar“, von Edmund 
Hahn (Nr. 3), erfchien zuerft im „Berliner Fremden» 
und Anzeigeblatt“, und es wurde ihm ein Beifall zutheil, 
der weit über die Erwartung des Verfaſſers ging, wie 
derfelbe in der Borrede bemerkt. Wir glauben Hahn 
gern, denn der Roman gehört zu den beften, bie wir zur 
Beurtbeilung feit langer Zeit in Händen gehabt Haben. 
Er ift ein Bild aus dem eben der legten Jahrzehnte 
und fchließt auch das Jahr 1848 mit in fi; jedoch Hat 
ber Derfaffer mit feinem Zakt jene bewegte Zeit nur ober- 
flählih berührt, nur im großen Ganzen, fofern fie näm- 
lich auf das Gefhid der in dem Romane vorgeführten 
Berjönlichkeiten Einfluß ausübt. Er ift ein prächtig ab- 
gerundetes, im einzelnen wie im großen fünftlerifch faft 
vollendetes Ganzes. Keine Perſon, auch nit die un- 
bedeutendſte ift überflüſſig, Teine füllt aus ihrer Rolle. In 
einer beutfchen Landftadt beginnend, endet die Erzählung 
auch dafelbft, obfchon fie meiftens in Ungarn und Böh- 
men, fowie auch in den verjchiedenften Lebenskreiſen jpielt. 
Daß auch der öfterreichifche Erzherzog Stephan als ein» 
facher Privatmann und Liebhaber mit in die Entwide- 
lung der Erzählung eingreift, verleiht diefer noch einen 
befondern Reiz. Der Inhalt des Romans ift fo reih 
und manntidfaltig, daß wir e8 uns verfagen müſſen, 
denfelben in feinem Umriffe den Leſern mitzutheilen. Wir 
verweijen fie auf das Buch felbit, das ihnen ficherlich einen 
hohen Genuß gewähren wird. 

„Bried Eigenreich”, von Karl von Kefjel (Nr. 4), 
ift cin recht waderer, gut erfundener, gut durchdachter und 
in gebildeter Sprache auch gut ausgeführter Roman. „Die 
Scyule des Lebens“ Hat ber Verfaffer ihn genannt. Aller 
dings hat der junge Kaufmann Eigenreih, der Held der 
Erzählung, den wir mit feinem Jugendfreunde Heimchen 
bis zur jelbftändigen LTebensftellung und bis in den Che- 
ftand begleiten, mehrere Schidfalsjhläge erlebt, aber 
Iediglih durch eigenen Leichtfinn. Der Verfaſſer hätte 
aber bedenken follen, dag Eigenreich's jugendliche Ver⸗ 
irrungen allein ihn noch nicht würdig machen, und den- 
felben ald aus den Kämpfen mit dem Schidfal geläutert 
hervorgegangenen Mann Hinzuftellen. Unannehmlichkeiten, 
die durch eigene Schuld, aus jugendlichen Leichtfinn ent- 
fprangen, bat wol jeder gereifte Dann durchgemacht. 
Anders wäre e8, wenn Yried auch mit Entbehrungen, 
mit Noth, Sorgen und Misgefchid anderer Art zu käm⸗ 
pfen gehabt hätte. Dies ift aber nicht der Fall, im Gegen- 
theil, ex erhält fchon als Lehrling von feinem reichen 
Onkel, den er, wie er weiß, auch beerben wird, ein für 
feine Verhältniſſe fo rveichliches Gehalt, daß feine Lebens⸗ 
Schule eine fehr leichte und bequeme war und er die ihm 


wiberfahrenen Unannehmlichkeiten und felbft Unbilden fi, | 


Lediglich felbft zuzufchreiben hat. Bei einer ſtets gefüll- 
ten Börfe und bei der tröftenden Ausficht, dereinft einen 
reihen Kaufmann zu beerben, gehört wahrlich nicht viel 
Muth dazu, „fi in bie Welt zu wagen und mit Stür- 
men fi herumzuſchlagen“! 

Eine andere Ausftellung, die wir an dem Romane 
zu machen haben, ift der Umftand, daß der Verfaſſer 
die Knaben in ebenfo gewählter Sprache reden läßt als 
Erwachſene, ja als erwachfene gebildete Menfchen. Auch) 
hätte die poetifche Gerechtigkeit es verlangt, daß der durch 


589 


Fried's Freundfchaft gehobene und durd Fleiß und Spar- 
famfeit zu einem reihen Mann gewordene Heimchen das 
Out in feiner Heimat gefauft hätte, damit feine jugend« 
lichen Träume völlig verwirklicht worden wären. 

Die Charakteriftit fämmtlicher Berfonen, befonders aber 
die der alten geizigen Tante, des erfindungsreichen Plum⸗ 
pert und des fingenden Schuflmeifters, ift meifterhaft und 
erinnert an Boz. 

Wir wenden und zu dem Roman: „Das Kind aus 
dem Ebräergang“ von Adolfine Boldhaufen (Nr. 5). 
Der „Ebräergang“ ift eine enge, ſchmuzige Gaſſe in Ham⸗ 
burg, wo das Lafter und das Elend ihren Si auf- 
gefchlagen Haben. Hier wurde der Held des Romans, 
der uneheliche Sohn eines reichen jungen Kaufmanns und 
eined recht armen Mädchens, geboren. Der Vater lebt 
zur Seit der Geburt feines Kindes in Merxico, überſendet 
aber für feine arme Geliebte an den Haußsfreund feiner 
pietiftifch gefärbten Familie, an den hoch in Anfehen 
ftehenden Paftor Gravenfund, die Summe von 1700 
Marl. Der Geiftliche, ein Hauptvertreter der fogenann- 
ten Innern Miffion, aber ein proteftantifcher Tartufe, 
entledigt fich des Auftrags nur infofern, als er die Wöch⸗ 
nerin auffucht und für diefe einer Verwandten bderjelben 
einen Yünfthalerfchein einhändigt, indem er fid natürlich 
das Anfehen gibt, als fei er felbft der mitleidige Geber; 
den großen Reft des Geldes läßt er zur größern Ehre 
Gottes und der Kirche — in feine Tafche fteden. Aus 
diefem fcheußlichen Betrug entipringt, da die Mutter noch 
in derfelben Nacht ftirbt, ohne den nur. von dem Paſtor 
gefannten Namen ihres Verführers verrathen zu haben, 
die Verwidelung des höchſt fpannenden Romans. Der- 
jelbe „beanfprucht nicht auf die äſthetiſche Höhe des Kunft- 


werks geftellt zu werden und eine Rolle in der Titeratur- 


gefhichte zu fpielen”, wie die Verfaflerin befcheiden meint, 
ift jedoch, wie in der Vorrede fehr richtig von einer an- 
dern Feder bemerkt wird, „im beiten Sinne des Worts 
ein Zendenzroman‘, in welchem der pfäffifchen Heuchelei, 
die noch immer ihre Herrfchaft über Yamilien und ganze 
fociale Schichten zu behaupten und unter dem Schuge hei⸗ 
liger Autorität ihre Lafter und Verbrechen der ftrafenden 
Gerechtigkeit zu entziehen weiß, unbarmherzig Maske und 
Mantel abgeriffen wird. Mit glücklichem Griff bat die 
Berfafjerin Charaktere und Situationen dem vollen Men- 
fchenleben entnommen, und deshalb macht der Roman aud) 
den Eindrud ber volften Wahrheit, zumal bet benjenigen 
Leſern, welche die in den Hanfeftädten neben der größten 
Hreifinnigkeit fi) breitmahende Muderwirthihaft aus 
Erfahrung fennen. Wir empfehlen die Lektüre diefes Ro⸗ 
mans angelegentlid). 

Für den Roman „Blühendes Leben“ von Auguft 
Corrodi (Nr. 6) wäre der Titel „Buntes Reben‘ pafjender 
gewefen, denn bunt genug geht e8 in demfelben ber. Er 
fpielt in der Schweiz und handelt von Jugendluſt und 
Liebe, Zreulofigfeit und Liebesfehnfuht, Trennung und 
MWiederfehen, Suchen und Finden, ſchönen Mädchen und 
Sibyllen, Landbewohnern und Städtern, von Theologie 
und Bhilofophie, von Kunft und Natur. Die Scenen 
wechſeln wie in einem Saleidoffop die Farben, ohne daß 
jedoch der ‚häufig abgerifjene Faden ber Fabel verloren 
geht. Der Berfaffer ift ein claffifch und vielfeitig gebils 











590 Teuilleton. 


deter Mann, der in feiner ganzen Art und Weile des 
Erzäßlens — den feinen Humor mit einbegriffen — viel- 
fad an Jean Paul erinnert und wie diefer und auch eine 
ganze Mufterfarte von Gelehrfamteit und befonders Re- 
minifcengen in ben verſchiebenſten Sprachen auskramt. 
Abgefehen aber von dieſen legten Ungehörigkeiten, die ja 
befanntlih Sean Paul vielen und felbft unferm Schiller 
unleidlich machten, und abgejehen ferner von den unzäh- 
ligen Provinzialismen, bie in dem Roman vorkommen, 
bietet er dennoch viel Schönes und gebildeten Leſern — 
aber aud) nur ſolchen — eine angenehme, anregende Lektüre. 

Der Roman: „Ein Thron und fein Geld” von Amely 
Bölte (Mr. 7), geifelt die Affenkomödie eines deutſchen 
Duodezſtaats des vorigen Jahrhunderte. Der Held deſ- 
felben ift der verwitwete Markgraf Georg Karl Friedrich 
von Baireuth, welcher ſich das ſchwere „metier d’etre 
Prince“ durd eine Liebfchaft mit der Erzieherin feiner 
Großtochter zu verfüßen fuht. Seine Abſicht, ſich bier 
felbe an die linfe Hand trauen zu laſſen, wird durch 
feinen Tod vereitelt. Die Schilderung biefes verfhulde- 
ten Fürftenpopanz von Gottes Gnaden, feines Hofe und 
feiner Heinftädtifchen Reſidenz ift geſchichtlich ziemlich treu 
gehalten, nicht minder auch die feiner Schwiegertochter, 
Friederile Wilhelmine, der Schweſter Friedrich's des Großen, 
die ſich bei ihrer Neigung zum Lurus und zur Reprä 
fentation in ihren bejcränften Verhältnifien grenzenlos 
unglücllich fügt. Die Erzäßlung ift eine fehr einfache; 
ruhig wird der Faden derfelben abgefponnen ohne alle 
und jede Verwidelung, ſodaß fie auf den Namen eines 
poetifchen Kunftwerfs, ja nicht einmal auf den eines 
Romans einen Anſpruch machen kann. Dem großen Leje- 
publifum wird fie aber trogdem eine unterhaltende Lel- 
türe fein. 

Die falſche Appofition ©. 2 in den Worten: „vertieft 
in Erinnerung an eine abweſende Geliebte, einem roth« 
wangigen Landmädchen“, ift wol nur ein lapsus calami. 

Was die „Loreley“ von Egon Fels (Nr. 8) betrifft, 





fo hätte der erſte Theil — ober vielmehr der ganze Roman — 
mit dem zweiten Kapitel des zweiten Bandes feinen Ab» 
ſchluß finden müſſen, weil bis dahin bereits die Haupt» 
perfonen der Erzählung bis auf zwei Söhne und zwei 
Töchter des Grafen Ferenzy geftorben und ermordet find, 
und auch bie Heldin (eine in Indien erzogene junge Eng · 
länderin, die, gleich ihrer fagenhaften Namensjchwefter, 
durch ihren Gefang, mehr aber noch durch ihre Reize bie jun» 
gen Männer ins Berberben zieht) den freilich durch Zufall 
vereitelten Sauptzwed ihres Lebens, die Vergiftung ihres 
Stieffohns, erfüllt zu Haben glaubt. Alle ihre übrigen Nichts» 
würbigfeiten find bei den Haaren herbeigezogen, um den 
Roman auszubehnen. Dit dem dritten Kapitel des zwei- 
ten Bandes beginnt gleihfam ein ganz neuer Roman, im 
welchem e8 toller als bei einem Herenjabbat hergeht. Die 
Ungehenerlishfeiten in ben modernen berliner Fabrikaten 
von Pitawall und Dorn find nichts dagegen. Der Ber- 
faffer fennt nur Engel und Teufel, wirflihe Menſchen 
fuchen wir in diefem fogenannten Roman vergebens, der 
nur wenig pſychologiſch Wahres enthält, aber uns alle 
vier Bände hindurch auf die Folter fpannt. Bier Bände! 
Freilih, man führt ein paar adelihe Familien von den 
Großvätern bis zu den Enkeln Hinab fammt ben dazır 
gehörigen bienftbaren Geiftern vor, man ftiftet Liebſchaften 
mit Hinderniffen, ſchildert Scenen der Race, der Ent« 
führung und Verführung, rührt noch etwas pifante Sauce 
von Duellen und geheimnigvollen Morbthaten hinzu, er- 
zähft alles recht weitſchweifig, ja diefelben Thatſachen, 
die ſich fchon vor des Leferd Augen abgewidelt haben, 
in bialogifher Form noch einmal, läßt bie wenigen, die 
ganze Sündflut überlebenden Perfonen ſich am Ende 
teiegen“, und — ber vierbändige Roman ift fertig! 
Incorrectheiten wie: „Sie haben wahrſcheinlich im 
Haufe darauf vergefien“, oder: „An was ftarb er?“ oder: 
„Zu was ich das Geld benuge?“ Können bei ſolchem 
Quodlibet faum noch in Betracht kommen und einer Rüge 
werth gehalten werden. Wilhelm Andreä, 





Fenilleton. 


Die deutſche Rechtſchreibung in der Schule. 

Die Reformbeſtrebungen auf dem, Gebiete der deutſchen 
Rechtſchreibnng find zahlreich und mannidfah. In den Kreifen 
der Lehrerwelt hauptfachlich werden orthographiſche Fragen er⸗ 
örtert umd nicht felten mit Entidjiedenheit, ja ſelbſt mit Exbit- 
terung verfodhten. Cine Einhelligkeit ift nicht erzielt worden, 
die Anfihten gehen oft ſchroff auseinander, fodaß in den Squ⸗ 
Im, auf — — der theoretiſche Kampf zunächkt feinen Einfluß 
äußert, im Gegenfage zu der in der Literatur im großen und 
ganzen herrihenden Einheit die buntefte Mannichfaltigkeit der 
orthograpifchen Regeln gefunden wird. Es konnte nicht feh- 
Ten, daß auch von Staats wegen die Rechtſchreibung vorſorglich 
ins Auge gefaßt wurde, daß Fachmänuer amtlihe Gutachten 
abgeben mußten. Auch das öfterreihiiche Miniflerium für Cul ⸗ 
tu8 und Unterricht ſchenkte diefer Angelegenheit feine Theil» 
nahme und erteilte bem befannten @ermaniften Karl Iu- 
Lius Scähröer in Wien, der fi namentlich buch feine For- 
gungen auf dem Gebiete der bentfch -ungariihen Mundarten 
Berbienfte erworben, ben Auftrag, eine Schrift abzufaffen, „die 
den Zwed haben foll, in die deutiche Orthographie der Bolls- 
und Mittelſchulen Ordnung und Einklang zu bringen“. Diefe 





Schrift if vor kurzem im Buchhandel erſchienen unter dem 
Titel: „Die deutſche Rechtſchreibung im der Schule und deren 
Stellung zur Schreibung der Zufuuft. lit einem Berzeih- 
niffe zweifelgafter Wörter” (Leipzig, Brodhaus, 1870). Schröer 
bat fein Werfen dem Manne zugeeignet, ber in Sachen der 
Orthographie als erfle Autorität anerfannt wird, Rudolf von 
Raumer; ſchon aus dieſer Widmung wird von vornherein jeder, 
der bie betreffende Literatur nur einigermaßen verfolgt hat, zu 
ſchliehen geneigt fein, daß ber Berfaffer das Princip der herr- 
ſchenden Kechtſchreibung vertrete und Gegner der fogenannten 
hiſtoriſchen Schreibung fei. 

Obwol Sqhrder es night fr wünſchenswerth hält, daß ein 
einzelner deutſcher Staat eine fefte Norm ber Rechtſchreibung dicta- 
torifch anbefehle, hat er doch jenen Auftrag übernommen. Ihm iR 
es nicht darum zu thun, „Das Schwankende zu regeln'‘ oder 
„sine feſte Norm aufzuftellen‘‘, fondern er fucht ſeinerſeits das 
hin zu wirken, daß man in den Lehrerkreiſen zu der beruhigen» 
den Erfenntniß gelange, daß nicht im der Literatur, fondern 
nur in der Schule ein allerdings heilloſes Schwanken einge 
tiffen fei; er will die Weberzeugung hervorrufen, daß im Un- 
terricht nicht die Schreibung der Zukunfi, alfo eine problematifche 


Feuilleton. 591 


Screibung, Sondern die Schreibung der Gegenwart, wie 
fie bei der Mehrheit der ſchreibenden Welt Geltung hat, gelehrt 
werden müfle. 

Die kurzgefaßte „Einleitung fucht unter anderm datzu- 
tun, daß eine — uuferer Rechtichre ibung wünfdhens- 
werth fei, daß fie ſich aud von ſelbſt, wenn au langſam 
vollziehe. Gin weiteres Kapitel beipricht „Ausſprache, Schreie 
bung und Unterricht“. Kapitel III behandelt „Die Laute, ihre 
Screibung und Ausiprade‘ im eimgelnen. Hier wird ung 

ewiſſermaßen eine Heine Grammatik des Neuhochdeutſchen auf 
jiftorifcher Grundlage geboten, welche fehr viel Lehrreiches ente 
ält und warn empfohlen werden fann, wenn es aud nicht 
an einzelnen Punkten fehlt, welde eine andere Auffaflung zu- 
loffen. Auch die „Fremdwörter“ und die „Silbentrennung‘‘ 
werben bier erörtert, nicht minder „Der Apoftropf‘ und die 
Sroßen Anfangebuchflaben". 

Den größten Raum der Schrift nimmt das „Wortver- 
zeichniß‘‘ a weiches fehr bramgbar eingerichtet if, auf die 
Ältern Formen mitnnter Rüdficht nimmt, aud) die Fremdiodr- 
ter wit Angabe der Ausiprache heranpieht. Auc) hier werden 
fich einzelne Widerſprüche nit unterdrüden Lafjen, jelb wenn 
man mit der Theorie des Berfaffers im gamgen übereinftimmt. 
Derartige Differenzen find aber ſchlechterdings nicht zu vermei⸗ 
den, benn wenn ein anderer andere Schreibart aufftellt, fo 
werden au ihm Einwendungen gemadt werden. Dem Werthe 
diefer fleißigen und wohlbedahten Zufammenftellung zweifele 
Hafter Wörter gefchieht kein Eintrag durch etwaige Nichtannahme 
der oder jener angefegten Schreibung. 

Indem wir diefe nach der theoretifhen wie nad der praf- 
tifhen Seite Hin gleih werthoolle Schrift Schröer's allen 
Hütfefuhenden und namentlih um ihrer principiellen Tendenz 
willen den Schulmännern angelegentlih empfehlen, wollen wir 
den Rath, welhen der Berfaffer am Schluffe feiner Einleitung 
eriheift, hier mütheilen: „Und fo möchten wir denn dem Lehe 
zer vor allem empfehlen: zu fchreiben wie es herkömmlich if, 
d. i. wie man allgemein fcreibt. In dem meiften gällen 
herrſcht fein Zweifel, und neue Zweifel zu idaffen, iſt vor 
allem nicht Sage der Schule. Wo aber Zweifel vorhanden 
find, Kat der Lehrer ſich umzufegen, ob denm nicht doc die 
Medrheit bereits einer der verfchiedenen Schreibungen fih mit 
Borliebe zumendet, und diefer hat er dann ſich anzufgließen. 
Bo die Sprachforſchuug leicht erfennbare Irrtpümer aufgehellt 
Hat, wird die richtigere Wortdarſtellung gewiß immer allgemei» 
mer werden. Die Schule wird aber aud im folden Fällen, 
wo Abmeihungen vom Schreibgebrauch dadurch nothwendig 
werden, nicht vorangehen, fondern nachfolgen, denn nicht der 
Säule flieht die Eutſcheidung zu, ſondern der Literatur.’ 

Daß e8 der Schrift von Sqhrber nicht an gegnerifhen 
Stimmen fehlen werde, können wir vorausfihtlih annehmen. 
Benn dur fie auch mander Theoretifer fozufagen vor den 
Ropf geftoßen wird, fo wird fle um fo dankbarer von der All- 
gemeinheit aufgenommen werben, weil fie fih der Allgemeinheit 
anfließt, nicht aus Bequemlichkeit, fondern auf Grund eines 
wiffenihaftlihen Principe. 


Notizen. 

Bon Ludwig Scälefinger’6 „Gelgihte Böhmens' 
(rag, Berfog be6 Vereine für Gefüge ber Deutihen in 
Böhmen, 1870), einem Bert, weldes in Nr. 29 d. DL. f. 
1869 nad) Berdienft gewirdigt warden iſt, liegt bereite eime 
weite vermehrte und verbefierte Auflage vor. ie wir aus 
dem Vorwori zu berielben exfehen, iſt die erſte bereits acht 
Boden nad; dem Erſcheinen vergriffen worden. Gelegenheit 
zu Berbefferungen boten dem Berfaffer die inzwiſchen erſchiene · 
nen einfglägigen Werten Rante's, Gindely’s, Wolfe u. a., ab⸗ 
geiehen von gerfirenten Auffägen und fcht lichen Mittheilungen 
wiffenfhaftliher Freunde. Der Berfoffer ſchließt feine Borrede 
mit den Worten: „Der ſchönſte Kohn m wird mir der Gedanke 
bleiben, wenn die "ehrliche Forfhung ein Scherflein dazu bei» 
getragen hat, durch Vorfüßrung der ſtolzen Vergangenheit das 
nationale Bewußtfein der Deutfhböhmen im ber Gegenwart 














zu kräftigen und ihre Thatkraft nicht blos im beißen Kampfe, 
fondern vielmehr noch im jener höhern Friedensmiffton zu fläre 
ten, wozu fie das Schidjal berufen hat.“ 

Die Berlagsbuchhandlung von D. Jane in Berlin hat 
„Dito Ludwig’s gefammelte Werke. Mit einer Cinfeitun; 
von Guflao Freptog in vier Bänden“ (Berlin 1870) jept aus 
in einer Gearatausgabe eriheinen laffen, im welder felbfle 
verfländlic die Erzählungen des Sreißrihters Dti Ludwig 
aus Reichenbah, welche in der „Nationalbibliothef neuer deut« 
fer Dichter“ Ludwig's BVerten ans Berſehen eingereift war 
ten, nicht mit aufgenommen find. 





Bibliographie. 
Artol Das © met 1b ). I“ 
— ER ee ven Blech. Daran De ar 
us 2 preußij ven Iahrbikc — Die be bi 

* 

ie Rote! U bed Krieges von @. We 
öfterreichife ie je 
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ai onen Bl and her dern na onen 


Prag, Dominicus. er 
Frontreig! ‚oder ber Xrieg ber Deutigen 

















Önneten, 9. {mas 
ws Die Bran; Hu im Fi 1870. After Zpl. Der beglanende Rampf. 


er Bon ri je 
[Fr on a 670. Gin rn ae a eiieecen 


Ihe Kir to A— euere Sonette an u deut 
Sonata, ürfae Skutm-Bieber gegen ben Granofen. Dresden, 


er, . a 

— —*— Er Erden Neue gefemmelte Erzablangen. 

nn ., All t von Graefe. Berlin, G. Reimer. Gr. 8. 

t, B. Bilpelmi Becih. v attilh! — 

ui Sylt, Sin Wa. Be ge Prailß Origtnet 

sen —— und Bemaffaung. „it 

einem Anh, si — Flotte. Bon © or... Bilde 
Furagaufen, ig —— 


ften»Zuromo, Sat olitiſche Berichte über 
Be e — ehe u» bad frangfilge Bolt, pe I a 


—— %, MWutimmen. even. I. Wien, Herzfeld u. Bauer. 
2, Der Feieg Deatiäiunde gegen Brantreid im gehre 


Reffel 
10000 Ale ie Beer * 

Der beutihe franjöfice Krieg Im Oafte 1870 ober Dentfäfands Brei- 

— geaen Krantse Senalı daft. Siedle maähte von 9. 
artmanı 

Der kant ie — e— Wöcpte und ihre Intereffen. 

N ———— "fatgeifge Zuieghkilder, Ar. 1m. 2. Berlin, Sießling. 


wor —8 macht des norddeutschen Bandes und Frankreichs, An- 
1970. Von ion, Seldel u. Sohn, Gr. 8. 1 Thlr. 10 Ngr. 
ed etfse a Mlufrirte Blätter vom Krieg 1870. Wr. 1. 
ol. 


—— —2*— * 
nr Jaben beutjdher Dichter aus ber Ju 
Su — —— — 


Sbseheid, W,, Das polische Testament Patare den Gromen. 
Be, — 2 Eertentepre. Gemeinfaßtig bargefeit. 
— Baßhol u. Bibel a. 1a RaE “ 

de tionalfrieg. 1870, fen Geft. Lelpzis, Ouandt u. 
Düne E% 


Opa In. d, M., Qundert Jahre, 1770-1870. Bit. und ter 
bat ber aus Drei @enerallonen. Mer Acht. Leipiig, Brodhant. 8 


Biene, U. Ge ziuB niebee! Ginrmglodennufe wider den Einireger, 


Berlin, By Ra, 

Eisien, 2% 5*8* in Bi nnd Gprug. Berlin, Hofmann 
” Bom Wiener, yachtertage 15T. Berlin, Biohn, de © 3 Rec, 
Pf har, Üußrirte Beitgronif. Rr. 3 uml Rei 
a Rein! Ani if. IM 
— Be gut un Beuth, keiner — 


be Sin, n A ch atatieg. Hefskce Egiberun- 
19 De Berbannte. Qufeiliges Ghaufpiet. 
Eau us. 8. 


Wellzer, — Stuen. Bien, v. Walbfein. 


Re J 
* En Drentivung Ihe ie frayOfide mer. Berlin, Mitier n. Cohn. 


Gr. ie. 5 Ren. 








—* 























ipälg, 











592 


Unze 


— — — 


Verſag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 
Geſchichte 
Krieges von 1813 in Dentſchland. 


Bon 
Oberſtlieutenaut Charras, 
Antorifirte deutfhe Ueberfegung. 

Mit zwei Tithographirten Karten. 8. Geh. 2 Thlr. 

Der durch feine politifhe und militäriſche Laufbahn fo be- 
rühmte, vor einigen Jahren im Eril in ber Schweiz verftorbene 
Berfafier hat mit dieſer Gefchichte des Kriegs von 1813 ein 
Werk binterlaffen, dem gerade in der Gegenwart das lebhaftefte 
Intereſſe des dentichen Publikums gefidert if. Denn zum 
erften mal wird hier ans der Feder eines Franzoſen der fieg- 
reiche Kampf gegen die Heere Napoleon’8 in unpartetifcher Weiſe 
dargeftelt, werden bie lügenhaften Verfälſchungen, deren fidh 
franzöfiſche Geſchichtſchreiber ſchuldig gemacht haben, in ihrer 
ganzen Blöße enthüllt. Mit Recht empfiehlt daher die Hiftorijche 
Kritit das Charras’sche Werk als eine epochemachende Bereiche⸗ 
rung der Geſchichtsliteratur. DBorliegende antorifirte Ueber. 
jegung macht dafjelbe allen dentſchen Leſern zugänglich. 


Das franzöfifhe Original erichien in demjelben Berlage 
unter dem Titel: 
Histoire de la guerre de 1813 en Allemagne. 
tes speciales.. 8 Geh. 2 Thlr. 10 Ngr. 
Hieran ſchließt fih das ebendaſelbſt erjchienene und jetzt 
bereits in fünfter Auflage vorliegende Wert des Berfaflers: 
Histoire de la campagne de 1815. Waterloo. 5mwe edition, 
revue et augmentee de notes en reponse aux assertions 
de M. Thiers dans son recit de cette campagne. 2 vol. 
Avec un atlas nouveau. 8. Geb. 2 Thlr. 


Avec car- 





Derlag von $. A. Brockhaus in Leipzig. 


Hregor von Tours 
und ſeine Zeit, 
vornehmlich aus ſeinen Werken geſchildert. 
Ein Beitrag zur Geſchichte der Entſtehnug und erſten Entwickelung 


romaniſch⸗ germanifher Verhältniſſe 
von 


Johann Wilhelm £oebell. 


Zweite vermehrte Auflage. 


Mit einem Borwort von Heinrich von Spbel, 
8 Geh. 2 Thlr. 10 Nor. 

Brof. Heinrih von Sybel fagt in der VBorrebe, womit 
er diefe zweite Auflage von dem Werte feines verftorbenen 
Freundes begleitet: „Das treffliche Buch bedarf feiner Empfeb- 
lung — die beſte Legitimation trägt das Bud in fich jelbft 
und in dem Umftande, daß es auf dem vielbewegten literari- 
ihen @ebiet, auf dem es auftritt, mehr als zwanzig Jahre 
hindurch feine Stellung behauptet hat, baß es heute mie zur 
Zeit feiner Entftehung allgemeines Intereſſe erwedt und bes 
lohnt. Die von Dr. Theodor Bernhardt hinzugefügten 
Bermehrungen, welche die wichtigſten Ergebniffe der einfchlägi- 
gen neuern Literatur enthalten, fihern dem Werke auch ferner- 
hin einen ehrenpollen Pla in der wiſſenſchaftlichen Welt. 





Anzeigen. 


igem 


Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Der Nibelunge Nöt 


mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet, den Lesarten 

sämmtlicher Handschriften und einem Wörterbuch 

herausgegeben von Karl Bartseh. 

Erster Theil. Text. 8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. 

Diese grössere kritische Ausgabe des Nibelungen- 
liedes von Karl Bartsch bildet den Abschluss von dessen 
Forschungen über unser altdeutsches Nationalgedicht. Sie 
enthalt in dem vorliegenden ersten Theil den Text beider 
Bearbeitungen, sodass aus der Nebeneinanderstellung klar 
wird, wie sich beide zueinander und zu ihrer gemeinsamen 
Quelle verhalten. Der zweite Theil, der bald nachfolgen 
soll, wird den vollständigen kritischen Apparat und ein 
den Wortvorrath erschöpfendes Wörterbuch bringen. 

Durch den sehr billigen Preis für diesen (27 Bogen 
gr. 8. umfassenden) ersten Theil wird die Einführung des 
Werks in Gymnasien und der Gebrauch bei akademischen 
Vorlesungen erleichtert. 

In demfelden Verlage iſt erichienen: 

Das Nibelungenlied. Mit Wort- und Sach- 
erklärungen herausgegeben von Karl Bartsch. 
Zweite Auflage. 8. Geh. 1 Thir. Geb. 1 Thlr. 
10 Ngr. 

Diese Ausgabe des Nibelungenliedes im Originaltert — 
die zugleich den IH. Band der von Franz Pfeiffer begrün- 
deten Sammlung „Deutsche Classiker des Mittel- 
alters“ bildet — ist mit allen Hülfsmitteln zum sprach- 
lichen Verständniss versehen und erscheint in so gefalliger 
ausserer Ausstattung, wie sie bisher noch nie den altdeut- 
schen Dichtungen zutheil geworden. Sie hat in kurzer Zeit 
die weiteste Verbreitung gefunden und liegt bereits in zwe- 
ter, vom Herausgeber sorgfältig revidirter Auflage vor. 


Das Nibelungenlied. Ueberſetzt von Karl Bartid. 
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Neger. 

Karl Bartfch’s Uebertragung des Nibelungenliedes ins Hod- 
deutſche bat wefentliche Vorzüge vor allen bisherigen Ueber 
fegungen. Während fie fih in der Bersform enger am das 
Original anfchließt, vermeidet fie dagegen, ohne jebod die Lo⸗ 
calfarbe zu verwiichen, die Beibehaltung altdeutſcher Ausdrüde 
und Wendungen, melde dem mit dem alten Idiom nicht bers 
tranten Lefer das Berftändniß erfchweren würden. Im einer 
borausgehenden Einleitung gibt der Weberfeter banfenswerthe 
Auffhlüffe über den Stoff und die Entſtehungségeſchichte des 
Nibelungenfiedes. 


Derfag von 5. 4. Brockhaus in Leipzig. 


Grundriß der hebräifhen Grammatik, 


Bon Guſtav Bicell. 
Erfte Aotgeitung: Spradh= und Schriftgeſchichte; Lautlehre. 
2 


7 gr. 
Zrcie Abtheilung: Stamm: und Wortbildungslehre; Eyniar- 
r. 


Der Verfafſer, Profeſſor der orientaliſchen Philologie ji 
Münfter, beabfihtigt mit diefer Grammatik hanptjählid zur 
Verbreitung der Hiftorifch-comparativen Methode im hebräiſchen 
Sprachunterricht ſowie zu einer rationellen Begründung der 
hebräifhen Spradformen beizutragen. 








Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Brochhaus. — Drud und Berlag von $. A, Brochhaus in Leipzig. 


Blätter 
literarifche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 








Erſcheint wöchentlich. 


—4 Ar, 38. Pr 





15. September 1870. 





Inhalt: Zur Eharakteriftit des 2. December. Bon Mudelf Gottſchal. — Literaturgeſchichtliches. Bon Sitvelm Buchner. — 
Romane von Mölgaufen, Brachvogel und Hoefer. Bon Jeanne Marie von Bayette-Beorgene. — Eine Biographie aus dem 
Mittelalter. Bon Heineig Mädert. — Seuileton. (Zur Kriegslyrik.) — Kihllographle. — Anzeigen. 





Dur Ehnrakterifik des 2. December. 


De — vom 2 Desember 1851 und feine Ridnir- 
mg auf Europa. Leipzi um. d Humblot. 1870. 
er er um Gum 


Die vorliegende Schrift enthält wichtige Actenftüde 
zur Charakteriftif des Staatsſtreichs und ber furzen Epoche, 
die zwifchen ihm und bem Kaiſerthum felbft liegt, Acten- 
ftüce, welche befonbers bie Aufnahme dartfun, bie 
Ludwig Napoleon’s kühne und vom fittlihen Standpunkt 
aus verbrecheriſche Politik bei den europäifchen Cabineten 
fand. Aus dieſen diplomatifchen Eorrefpondenzen, welde 
für die Gegenwart erhöhtes Intereſſe bdarbieten, gebt 
unzweidentig hervor, daß ein getheiltes Gefühl damals 
die Staatsmanner des legitimen Europa beherrſchte. Auf 
der einen Seite begrüßte man in dem Prinzen den Wier 
berherfteller der focialen Ordnung in Frankreich und frente 
fich der Rückwirkung diefer geſeüſchaftlichen Rettung auf 
das übrige Europa; auf der andern fonnte man ſich ge» 
wiffer unheimliche Gefühle nicht erwehren bei dem de 
danken, daf wiederum ein Napoleon die Geſchicke Frant- 
reichs in Händen halte, und daß die Erinnerungen der 
„großen Nation“ wieder erwachen und Europa in neue 
Kriege ftürzen Könnten. Darüber, daß der 2. Decem- 
ber der erfte Schritt fei zur Wiederherftellung des Kaifer- 
thums (weldes der 4. September 1870 geftürzt hat), 
machte ſich die Diplomatie von Haus aus feine Illuſionen. 

Der Berfaffer der Heinen Schrift fagt in bem kurzen 
Vorwort: 

Die nachftehenden Ausführungen beruhen auf einer Reihe 
ungebrudter widtiger Actenftüde, die dem Berfaffer zur Bers 
fügung geftellt find. Derfelbe fieht voraus, daß manche feiner 
Behauptungen beftritten werben dürften; indeß bieten die in 
dem Anlagen wörtlid; mitgetheilten Staatsſchriften wol hin⸗ 
veihende Blirgichaft dafür, daß die ganze Arbeit nur auf Grund 
guverläffigen diplomatifhen Materiald unternommen ift und es 
vielmehr als eine Pflicht der Discretion gegen noch Iebende 
gürten und Staatömänner angefehen wurde, die Zahl jener 

ocumente nicht uoch erheblich zu vermehren. Da, wo ber 
Berfaffer nicht in der Lage war, mad authentifhen Actenftüden 
au urtheilen, hat er dies offen gejagt. 

1870. 38. 





Im der Einleitung heißt es über die parifer Impro- 
vifation der Repnblit, die Nation Gabe ſich willenlos 
und betäubt durch einige Ideologen und Radicale eine 
Staatsform aufzwingen laſſen, melde ihrer unermef- 
lichen Mehrheit zuwider war und deren Dauer die ganze 
Geſchichte und Bildung Frankreichs unmöglich machte”. 
Daß: die Februarrepublit fcheiterte, lag indeß mol an ans 
dern Gründen als an der Unmögfichkeit der Republit in 
Frankreich. Bor ſolchen Algemeinheiten follte ſich über- 
haupt ein die Thatſachen guellen- und actenmäßig be— 
handelnder Hiftoriter hüten. Daß bei der Prüfidenten« 
wahl durd; das allgemeine Stimmrecht ein, Napoleon ge 
wählt werden würde, hatte ſchon in den vierziger Jahren 
ein fharfblidender Schriftfteller, Peauger, bei einer da- 
mals rein theoretifchen Discufflon über das allgemeine 
Stimmrecht vorausgefagt: „Das allgemeine Stimmrecht 
fann nur diejenigen wählen, die es fennt, und follte man 
eines Tags zu einer Wahl des Stantsoberhaupts kommen, 
fo wird ber befanntefte Candidat der Erbe Napoleon’s 
fein.” 

Die widerſpruchsvolle Lage des neuen Präfidenten be— 
fand darin, daß er zwar unumfchränft über die ganze 
Verwaltung gebot und über Heer und Marine verfügte, 
dagegen ein für die Repräfentation nicht ausreichendes 
Gehalt von nur 400000 Francs bezog und fein Veto 
hatte, auch nicht das Meinfte Corps perſonlich befehligen 
und die für drei Jahre gewählte Nationalverfammlung 
weder auflöfen noch vertagen konnte. 

Auf diefe Weife befand eine principiell fonveräne Verſamm⸗ 
fung, der aber jede Madıt fehlte, ihrem Willen materiellen 
Nahdrud zu geben einem Präfdenten gegenüber, welcher nichts 
weiter fein follte als ihr ausführendes Organ, der aber that- 
fichlich die ganze Macht eines ceutralificten Staatöweiens in 
feiner Hand vereinigte. Damit war die Nothwendigteit eines 
Eonflicts zwiſchen beiden Factoren faſt unvermeiblic gegeben, 
audh ein felbfllofer Republifaner wie Cabaignae wäre ihm ſchwer⸗ 
ũg auf die Länge entgangen. Rum aber Iegte das Volt dieſe 
Machtfülle der cutionsgewalt in bie Hände eines Mannes, 
der ſich ſelbſt unter ben unglinfigfien Umfländen mit fataliſtiſcher 

75 


— — 





594 Zur Charafteriftil des 2. December. 


Eonfequenz als Prätendenten und Erben des Kaiſerreichs be- 
zeichnet, defjen Namen durch zwei Schilderhebungen gegen ben 
Julithron befannt geworden war und der nicht nur Die napo⸗ 
leoniſche Politik in zahlreihen Schriften verherrlicht hatte, ſon⸗ 
dern der auch feine Bertheibigung vor dem Pairshofe mit den 
Worten beichloffen: „Je reprösente une cause, celle de l’Em- 
pire, un principe, celui de la souverainete da peuple, une 
defaite , Waterloo.‘ 

Wie in dem Programm des Prinzen, ben Idées Na- 
pole&oniennes, fpielt aud in diefer Rebe die Niederlage 
von Waterlooo eine Hervorragende Rolle. Die Rache des 
Napoleonismus an dem verbiindeten Europa zu vollziehen, 
welches den großen Saifer befiegt und auf die Inſel im 
Weltmeer verbannt hatte, hielt Prinz Napoleon ftets für 
den wichtigften Theil feiner Sendung. Es war nad) aufßen- 
hin die Krönung des Gebäudes der Idées Napol&onien- 
nes, bie Sieger bei Waterloo zu züchtigen. Und nach⸗ 
dem Rußland und Oeſterreich beflegt waren, blieb nod) 
Preußen übrig, der gefährlichfte Gegner. Es fehlte gleich- 
fam die legte wichtigfte Nummer des Progranıms, und als 
fi) die Möglichkeit bot, durdy Ausführung derjelben zu- 
gleich die wanfende Popularität im Innern zu fichern, 
wurde der Krieg vom Zaun gebrochen mit einer Will- 
fürlichkeit, mit einer Unkenntniß der deutſchen Verhältniffe, 
mit fo ungenligenber eigener Borbereitung, daß ber Cäſar 
in feine Teinesfalls „blöden“ Jugendeſeleien von Stras⸗ 
burg und Boulogne in bedauerliher Weife zuriidzufallen 
ihien, nur mit dem verhängnißvollen Unterfchied, daß 
dies legte Abenteuer zwei große Nationen in einen bluti- 
gen Krieg fegte und vor dem Richterſtuhl ber Geſchichte 
als ein finnlofes Verbrechen bafteht. 

Schon bei der Wahl zum Deputirten ber National- 
verfammlung zeigte Ludwig Napoleon das Doppelfpiel, 
das feiner Politik ftetd eigen war. Er lehnte anfangs 
das Mandat ab, wobei er betonte, er habe nicht die ge« 
ringften ehrgeizigen Abſichten; und als Cavaignac bei die- 
ſem Schreiben bemerkte, daß in demjelben das Wort 
Republik nicht vorfomme, beeilte fi) der Prinz, einen 
zweiten erflärenden Brief nachzufenden, in dem er ver⸗ 
fiherte, er wünſche die Erhaltung einer weifen, großen 
und intelligenten Republif. Bei mehrfacher Wiederwahl 
nahm er indeß das Mandat an, und mit eifriger Ver⸗ 
fiherung feiner Ergebenheit gegen die Republif trat er 
als representant du peuple in die Berfammlung ein. 

Die Gefchichte der Präfidentfchaft Ludwig Napoleon’s 
ift befannt. Er verhielt ſich als Präfident fehr ſchweig⸗ 
fam und galt damals fiir einen befchränften Kopf; defto 
thätiger war er als Verſchwörer gegen die Republik, eine 
Verſchwörung, die er mit allen Hitlfsmitteln der Staats- 
gewalt in Scene fegen konnte. Die Verſammlung arbei« 
tete ihm durch ihre Parteifämpfe, namentlich durch bie 
Aufhebung des allgemeinen Stimmredts in die Hände. 
Napoleon blieb ein Vorkämpfer befjelben, in dem er bie 
fiherfte Grundlage feiner Macht fah; überdies gewann 
er damit eine Popularität, welche den Mitgliedern der 
Nationalverfammlung verloren ging. Ueber die Verſchwö⸗ 
rung bes 1. December im Einfee, über welche Bürger 
Beron in feinen „Denkwürdigkeiten“ fo manche interefjante 
Mittheilung gemacht bat, theilt unfere Schrift den ergän- 
zenden Bericht eines Augenzeugen mit: 

Geſtern Abend fand der gewöhnliche Montagsempfang beim 


Präfidenten im Elyſée flatt; in der Couverſation des Präfiden- 
ten und in feinem ganzen rubigen Weſen war auch nicht das 
geringfte Anzeichen von den: bemerkbar, was damals ſchon in 
der Ausführung begriffen war und wobei furdhtbar viel auf 
bem Spiele fteht; eine folche äußere Ruhe in ſolchem Augen- 
blick ift vielleicht beifpiellos. Es war mir auffallend, daß un- 
gewöhnlich viele Offiziere die Salons füllten, während fehr 
wenige Repräfentanten gegenwärtig waren. Gpäter ging ich 
zum Serzog von Broglie, wo viel über einen GStaatsfireich 
geicherät wurde, wo aber niemand an eine fo ſchnelle Verwirk⸗ 
ihung badıte. 

Das Plebisctt vom 20. December ratificirte den Staats⸗ 
fireich; der Klerus, durch die Expedition gegen Rom ge- 
wonnen, feierte ben Präfidenten als das auserwählte Rüft- 
zeug zur Rettung der Religion und Geſellſchaft, uud Fürſt 
Metternich), der Vertreter der alten Stantöweisheit, fagte 
über den Staatöftreih: „Je ne lapprouve pas, je ne le 
bläme pas, je l’accepte.“ 

Hier find wir bei dem eigentlichen Kern unferer Schrift 
angelommen; fte beantwortet die frage, wie ſich die Ca— 
binete Europas zu den Decemberereignifien ftellten. Die 
Mehrzahl fah darin einen Sieg bed Legitimitätsprincips. 

„Wenn auf der einen Seite‘, fchrieb ein wohlunterrichteter 
Gefandter am 9. December aus Frauffurt, „ſich ein gewiffes 
Bedauern zeigt, daß die Sache der Legitimität fo wenig Chancen 
in Frankreich zu haben fcheint, fo bat doch der Triumph ber 
milttärifhen Gewalt und der Schlag, welder der parlamenta- 
riſchen Regierung verfegt ift, die rückhaltloſeſte Befriedigung 
verurſacht.“ 

Dieſe Auffaſſung war natürlich in einer Zeit, in 
welcher die größten Staaten Europas dem Abſolutismus 
Buldigten. Auffallender war die Zuflimmung der beiden 
bedeutenditen Liberalen Staatsmänner, Palmerfton und 
Cavour, zu dem Staatsftreih. Unjer Autor fagt hier- 
über: 


Cavour's Scharfblid erkannte, daß nach der Beflegung der 
Anardie Napoleon auf die auswärtige Politit werde hingelenkt 
werben: „L’Europe va rentrer en mouvement“, ſchrieb er 
und begriff fofort, von welcher Wichtigkeit es für feine Plane, 
für die Befreiung Italiens fein müſſe, fi) gut mit dem neuen 
Machthaber in —8*— zu ſtellen. In anderer und doch ähn⸗ 
licher Lage befand ſich Palmerſton. Seine Politik hatte in den 
letzten Jahren bei allen Schwanknngen doch die ſehr beſtimmte 
Richtung verfolgt, ſtetig dem ruſſiſch⸗öoſterreichiſchen Einfluß 
entgegenzutreten. Er bielt für diefe Politik die Unterftligung 
der oppofitionellen Richtungen in ben abfolutifiifch regierten 
Staaten als ein wirkfames Mittel, war aber eben dadurch den 
betreffende Regierungen befonders verhaßt geworden. Bei der 
Wendung der Dinge in Franfreih, die in Wien und in Pe 
ter8burg mit großer Befriedigung gefehen ward, ſchien es nun 
Palmerflon von entfheidender Wichtigleit, jenen beiden Cabi- 
neten zuporzulommen und den neuen Gewalthaber für fid zu 
gewinnen. Er ſprach deshalb nicht nur privatim, fondern auch 
officiell in einer Depeihe an Normanby feine Zuftimmung zum 
Staatsftreih aus und beglückwünſchte den franzöfifchen Bot⸗ 
Ihafter in London. Dies brachte die ſchon Tauge beftehende 
Differenz zwiſchen Palmerfton und feinen Kollegen zur Krifis. 
Das Whigminifterium bekannte in feiner überwiegenden Ma- 
zorität fi fireng zum Princip der Nichtintervention und mie 
billigte die Neigung des auswärtigen Secretärs zur antiabfos 
lutiſtiſchen Tendenzpolitik, es hielt ein beſtimmtes Gutgegen« 
wirken gegen Oeſterreich und Rußland nicht im Interefſe Eng- 
lands und wollte mit beiden Staaten auf gutem Fuße bleiben, 
jolange nicht engliiche Intereſſen direct im Spiel waren. Dem 
Princip der Nichtintervention gemäß beſchloß das Minifterium 
denn auch, ſich jeder officiellen Aeußerung über den Staats⸗ 
ſtreich zu enthalten, obwol die meiften englifchen Politiker bei» 
der Parteien benfelben für nothwendig anerfannten. Als 








Zur Charafteriftil des 2. December. 595 


Palmerſton im offenen Widerſpruch mit dieſem Beſchluß ſich förm⸗ 
lich für Napoleon ausſprach, ließ ihm die Königin durch Lord 
Sohn Ruſfſell die Siegel des auswärtigen Amts abfordern; der⸗ 
ſelbe ſchrieb ihm hierbei ausdrücklich December 17), daß bie 
materielle politiſche Frage dabei gar nicht berührt werde. 


Am rüdhaltlofeften ſprach Fürſt Schwarzenberg feine 
Anerkennung des Staatsſtreichs aus in einem Memoire 
vom 29, December 1851, defjen Zert in den Beilagen 
vollftändig enthalten ift. 

Er faßte fofort die Wahrfcheinlichkeit ins Auge, daß fich 

ans dem Stantöflreich das Kaiferreich entmwideln werbe, und bes 
ſprach dieſe Eventualität im Hinblid auf eine zwifchen den Ca» 
bineten von Wien, Berlin und Petersburg zu trefiende Ber- 
fändigung. Der gegen bie Napoleoniden gerichtete Bertrag 
vom 20. November 1815 fet durch die veränderten Umftände 
feinem Buchſtaben nad entlräftet. Die monardifche Gefinnung 
Ludwig Napoleon’s fei jetzt eine beffere Garantie der Ordnung 
als die Bourbons mit ihrer Neigung zum Conftitutionalismus, 
Ueberbies fei e8 jett fchon zu fpät, den Vertrag zur Anmen- 
dung zu bringen. Ludwig Napoleon fei bereits im Beſitz der 
böchften Gewalt und die Annahme des Kaifertitel® würde eben 
nur eine Aenderung des Namens fein; wolle man die Anerken⸗ 
nung weigern, fo möüfje man fi) zu einem unabjehbar langen 
Kriege entichließen. Zudem werde man ausbrädlih nur die 
Thatfache, nicht ein Recht anerkennen. Jetzt feien die Bonr⸗ 
bonen unmöglid, vielleiht aber bahne Ludwig Napoleon der 
Reftanration derjelben unter günſtigern Berhältniffen den Weg 
durch die vorherige Befeitigung des Parlamentarismus. Durch 
die Anerfennung des Kaiferreihe würden die drei Mächte ihren 
Principien nichts vergeben, aber Napoleou gewinnen und Eng- 
fand iſoliren. Eine wohlverftandene Intereſſenpolitik gebiete 
alfo ſich Aber alle Bedenken hinwegzuſetzen, welche fi} dagegen 
geltend machen lünnten, einem „individu tel que Louis Na- 
poleon‘ Ranggleichheit zuzugeſtehen. Auch rathe er nur, die 
Anerkennnng unter der Borausjegung erfolgen zu laſſen, daß 
vorher Napoleon die befimmte Verfihernng gebe, daß die Ver⸗ 
änderung feines Herrichertitel® die durch die Verträge beſtimm⸗ 
ten auswärtigen Berhältniffe, namentli die territoriale Be- 
renzung der Staaten unberührt laſſen folle und baß er die 
Eroberungspofitif feines Onkels nicht wieder aufnehmen werde, 
Man wiirde ihm zugleich warnen, daß er gegen eine ſolche 
Politik die drei Höfe ſtets vereint finden werde. 

Kaiſer Nikolaus zollte dem Staatsſtreich warmen Bei⸗ 
fall, aber er wollte darum die Sache der Legitimität nicht 
anfgeben. Er fah deshalb die Lage Frankreichs im Herbſt 
1851 nit fo gefährlih an und meinte, das Land fe 
durch den Kreislauf der Revolutionen, die e8 durchgemacht, 
fo ermattet, daß es beginne, Ruhe und Ordnung ale das 
böchfte Gut anzufehen. 

Frankreich, äußerte er Mitte October gegen einen bei ihm 
beglaubigten Geſandten, ift nicht mehr was es war, als es zu- 
legt Europa Überrannte, und Europa iſt noch weniger was es 
damals war. Sch wünſche aufrichtig, Frankreich ruhig, blühend 
und mächtig zu. fehen, aber, recht verfanden, bei fich zu Haufe, 
nicht bei audern („chez elle, pas chez les autres‘‘), 


Zu dem portugieflfchen Gefandten Baron Paiva fngte 
ber Kaifer im December, daß er dem Unternehmen Lud⸗ 
wig Napoleon’8 den beften Erfolg wünfche, nur möge er 
weife fein und fi zum Präftdenten ernennen lafien, 
felbft auf zehn Jahre, felbft fiir Lebenszeit, aber nie» 
mals daran denken, fi) zum Kaiſer zu machen, weil dies 
gegenüber den beftehenden Verträgen den Anlaß zu ern- 
ſten Berwidelungen geben könnte. 

Die Mraßregein, welche vajch den Weg zum Empire bahn⸗ 
ten, die Wiedereinführung der Napoleonifhen Berfaflung, die 
Annahme der Adler als Armeeflandarten, die Inftallation in 


ben Tuilerien, machten inzwifchen auch den Kaifer Nikolaus 
fiugig. Am Abend bes 19. Januar ließ er ben franzöfiichen 
Gefandten General Kaftelbajac zu ſich fommen, fette ihm feine 
Gründe gegen die Annahme des Kaifertitels auseinander und 
ln ihn, diefe der Aufmerkfamleit des Präfldenten zu em⸗ 
pfehlen. 

Die Depefche ging ab. Im Januar folgte ein Schrei« 
ben des Kaifers Nikolaus als Antwort auf bie Mitthei- 
lung des Prüfidenten in Betreff der ihm durd; den 2. Des 
cember übertragenen Befugniffe. Dies Antwortfchreiben, das 
unter den Xctenftüden des Werks mitgetheilt wird, ift adref- 
firt: „ANotre grand et bon ami, Monsieur le president 
de la Republique francaise, le prince Louis Napoleon’‘, 
und berührt am Schluß in freundfchaftlicher Faſſung ge- 
jchict die Verträge unb die Unabhängigkeit der Staaten. 

England hatte den Vorſchlag Rußlands abgelehnt, 
durch gemeinfame Vorftelungen gegen die Annahme des 
Kaifertitel® zu wirken. Die englifhen Staatsmänner 
fürdhteten, daß, wenn Napoleon fich mit feiner Stellung ale 
lebenslänglicher Präfident begnüge, Kaifer Nikolaus in 
feiner reactionären Schwürmerei geneigt fein werde eine 
enge Allianz einzugehen, die für England möglichermeife 
ſehr bedenklich werden une, daß aber die Annahme des 
Raifertiteld von feiten Napoleon’s die Iegitimiftifchen Ideen 
des Zaren verlegen und das Verhältniß zwifchen Paris 
und Petersburg zu einem gefpannten machen werde. 

In der zweiten Hälfte des Februar erhielt der ruf- 
ſiſche Sefandte, Hr. von Kiffeleff, den Auftrag, Ludwig 
Napoleon die Bedenken feines Gebieterd gegen die Her- 
ftellung des Empire officiell mitzutheilen. 

Hr. von Kiffeleff ſuchte befonders fi) den Weg zur Erfül- 
fung diefer plößliden Aufgabe dadurd zu bahnen, daß er bie 
Stellen feiner Inftruction, von bemen er vorausjah, fie könn⸗ 
ten an höchſter Stelle verlegen, vorher dem ansmwärtigen Mi⸗ 
nifter und feinem Unterftaatsjecretär Hrn. Thouvenel mittheilte, 
damit fie den Präfidenten vorbereiten fünnten. Beide fuchten 
ihm den Gedanken auszureden, daß Napoleon beabfihtige, den 
Kaifertitel anzunehmen, ohne indeß die Möglichkeit beſtimmt zur 
verneinen. Bei feiner Aubienz fand Kiffeleff demgemäß ven 
Prinzen vorbereitet und fuchte bejonders hervorzuheben, daß 
die Broclamirung bes Kaiferreih8 deu Frieden gefährden müffe, 
bie franzöfifhe Armee wilde dadurch von Enthuflasmus flir 
ihre große Zeit ergriffen werden und nicht mehr zu zügeln fein, 
Napoleon aber würde, wenn er anf biefe Weife zum Kriege 

ebrängt werde, ganz Europa gegen fidh vereinigt finden. Der 
Bräfident wies diefe Befürchtungen als unbegründet zurüd, be- 
merfte aber, daß er jeden Verſuch, bie Würde und Unabhängig. 
keit Frankreichs, wie fie in feiner Perfon vertreten feien, anzu⸗ 
greifen (d’attaguer la dignite et l’ind&pendance de la France, 
representees dans ms personne), zu vereiteln wiſſen werde. 


Der Prinz umging jede Zufage und betonte feine un- 
umſchränkte perfönliche Stellung. 

„Ueber den Eindrud, den der Staatäftreich in Preußen 
macht, erfahren wir, daß er bem in Petersburg ähnlich war: 


Mat..frente fich der Niederlage ber Revolution, und eine 
gleich bernach erjchienene Ueberſetzung ber Napoleoniſchen Flug⸗ 
hrift: „La revision de la Constitution‘, die durch die Deder’- 
the Geheime Oberhofbuchdruckerei nicht blos verlegt, fondern 
mit Rabattpromefjen verbreitet warb, ſprach in ihrem Vorwort 
die feftle Ueberzeugung aus, daß Napoleon am 2. December die 
partamentar ice egterung auf dem europäifchen Kontinente für 

mer vernichtet habe. Aber auf der andern Seite waren nicht 

nur bie 2egitimitätsbebenfen am preußiſchen Hofe ſehr fark, 

fondern die Befirchtungen, daß der Präfident feine unumſchränkte 
75 * 








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ZI 
.” - . 


— 


596 Zur Charakteriſtik des 2. December. 


Macht zu einem auswärtigen Kriege benutzen könne, mußten be⸗ 
greiflicherweiſe bei der einzigen Großmacht, die zugleich Grenz⸗ 
macht Frankreichs war, beſonders ſtark hervortreten. 

Ein eingehender Abſchnitt unſerer Schrift, der auch 
durch mehrere Actenſtücke in beweiskräftiger Weiſe illuſtrirt 
wird, behandelt das händelſüchtige Auftreten Frankreichs 
gegen Belgien, die Schweiz und Sardinien. Oeſterreich 
ſtand dabei ſtets auf Frankreichs Seite. 


Hr. von Bismarck, der bekanntlich in Frankfurt raſch von 
ſeiner Vorliebe für Oeſterreich zurückgekommen war, behauptete 
ſogar Beweiſe zu haben, daß das wiener Cabinet Frankreich 
zum Vorgehen gegen die Schweiz, Belgien und Sardinien an⸗ 
ſtachle, daß es im Bunde mit Frankreich Preußen überrennen 
wolle, ehe eine ruſſiſche Armee demſelben zu Hülfe kommen 
könne. 

Weiterhin ſchildert uns der Verfaſſer, wie Ludwig 
Napoleon ſich drängen ließ, die Kaiſerkrone anzunehmen, 


wie er nur durch eine „offenbare Nothwendigkeit“ zur Füh⸗ 


rung dieſes „titre pompeux“ ſich wollte zwingen laſſen. 
Die neue Verfaſſung, „welche die Willkürherrſchaft des 
Staatsoberhaupts mit der Volksſouveränetät zu dem 
Princip der populären Tyrannis des Cäſarismus zuſam⸗ 
menfchmiedete”, verhalf der Regierung zu einer unbedingt 
willfährigen Kammer. In feiner Anſprache an die Ma⸗ 
giftratur bemerkte der Prinz- Präfident, daß er ſchon durch 
das die erbliche Kaiferwürde einführende Plebiecit von 
1814 als heritier de l’empire bezeichnet fei. Im Herbfte 
fand dann die große Reiſe in den Süben ftatt, welde 
die Frucht des Kaifertfums zeitigte. Das Boll wurde 
nad) der Rückkehr in die Comitien berufen und erklärte 
fi) mit 8 Millionen gegen 253000 Stimmen für das 
Kaiſerthum, das am 2. December 1852 proclamirt wurde. 

Wie verbielten fih nun die Großmächte gegenüber 
diefem fait accompli? Rußland fette eine fcharfe Fritifche 
Brille auf, um das neue Kaiferreich zu beäugeln. Die 
vertrauliche Depefche des Grafen Neffelrode an Kiffeleff, 
welche unter den Actenftüden dem Wortlaut nad) mit- 
getheilt wird, wendet ſich mit der Kleinlichkeit einer dyna- 
ſtiſchen Etikettenfucht gegen die Ziffer III. Alles andere 
fei innere Angelegenheit Frankreichs; diefe Ziffer verftoße 
gegen die Gefchichte und gegen die Intereſſen Europas. 
Der Sohn Napoleon’8 I. habe, mochte der Kaifer auch 
zu feinen Gunften 1815 dem Thron entfagt haben, in 
den Augen ber übrigen Welt weder de jure noch de 
facto geherrſcht. Ein foldyes doppeltes Staatsrecht, wie 
es in der Annahme des Titeld als Napoleon III. Liege, 
könne Europa nicht dulden. Weit wichtiger aber als dieje 
Frage ber gefchichtlihen Kontinuität war die herab- 
geftimmte Anſchauung über die Verdienſte der Rettung der 
Geſellſchaft, als deren Preis Napoleon die Krone vers 
langte. Diefer Preis für einen Dienft, welchen ber 
Kaifer der Sache der andern Staaten wie feiner eigeneu 
geleiftet haben wollte, erfchien auf einmal zu hoch. Da 
ruft der Staatsfanzler aus: „Wie groß auch der Einfluß 
fein mochte, den Frankreich auf feine Nachbarn ausgeübt, 
fowol im Guten wie im Böfen, e8 ift nicht bemiefen, daß, 
wenn die Anarchie, welcher der 2. December ein Ende 
machte, im Jahre 1852 triumphirt hätte, das ganze 
Europa nun unmiberruflic) verurtheilt gewefen wäre, mit 


feiner Eivilifation in denſelben Abgrund zu verfinfen. Möge 
man nicht vergefien, daß infolge der 1848 überall eingetre- 
tenen Ummälzungen ganz Europa bereits ſich durch feine 
eigenen Kräfte gerettet Batte, und daß, während Frank⸗ 
reich allein fich abarbeitete unter dem Drude einer un⸗ 
möglichen Conftitution, die andern Regierungen bereits 
mit der demokratiſchen Partei fertig geworden waren.” Ganz 
entfchieden wehrt fich die ruffifche Regierung gegen irgend⸗ 
welche Berpflihtungen der Dankbarkeit für den Staats- 
ftreih, die ihrer Würde nicht entfprähen. Dronin de 
Lhuys wollte in feiner Entgegnung feine Discnffion über 
eine vollendete Thatſache zulaffen und erflärte, daß er 
über die Neſſelrode'ſche Depefche nichts weiter jagen könne, 
als daß er die Eleganz ihres Stils bewundere. Der 
Berfaffer fagt über da8 Verfahren Rußlands: 

An ih Hatte die ruſſiſche Regierung in ihrer Kritif gewiß 
recht, aber wenn fie entichloffen war, fchließlich doch Napoleou III. 
anzuerkennen, mozu ihn dann erft durd eine derartige Lektüre 
verlegen? Wenn man die Anerkennung als eine Niederlage der 
Legitimität empfand, warum die Demüthigung durch ohnmäch⸗ 
tige Klagen verftärten? Der Bertrag vom 20. November 1815 
war doch ſchon beifeitegefhoben, denn er ſchloß, wie Fürft 
Schwarzenberg in feiner Denkſchrift vom 29. December 1851 
ganz richtig bemerkte, die Napoleoniden nicht blos vom Throne, 
fondern von der oberften Gewalt in Frankreich aus; die oberfte 
Gewalt aber hatte Napoleon mit dem Staatsſtreich und ber 
Berfaffung von 1852 unzweifelhaft am fi geriſſen; damals in- 
deß dachte man nicht daran, jene Ausichliegung geltend zu 
machen, fondern beglüdwlünichte den neuen Machthaber Biber 
das vollbradhte Wert. Wie wollte man nun, de es fih um 
die Anerkennung des erblichen Kaifertitel8 handelte, diefe dem⸗ 
jelben Manne verweigern, den man als unumfchränttes Staats 
oberhaupt mit Jubel begrüßt hatte? Nicht daß, fondern wie 
das Kaiſerthum proclamirt ward, war die Frage, auf die alles 
anlam. . 

Die englifche Regierung vereinigte fich mit Defterreich, 
Preußen und Rußland in einem geheimen Protokoll von 
3. December 1852 zu einer Erklärung, daß fie mit Frank⸗ 
reich Freundſchaft halten wollten, daß die Beſtimmungen 
von 1815 nicht mehr anwendbar feien, baf fie aber über 
die Erhaltung des territorialen Statusquo wachen würben. 

Ueber den letztern Punkt beruhigten bas englifche Ca⸗ 
binet alsbald Erklärungen der franzöfifchen Regierung, und 
am 6. December bereits erfolgte die Anerkennung Eng⸗ 
lands. Die andern Mächte, auch die beutfchen Mittel 
ftaaten, ließen noch den ganzen December hindurch mit ihrer 
Anerkennung warten. Preußen bemühte fih, England für 
ein Separatbündniß zu gewinnen; bie englifchen Dinifter 
entgegneten, fie würden für die Aufrechthaltung der Ver⸗ 
träge einftehen, könnten fid) aber darüber hinaus durch⸗ 
aus nicht binden. Das Nähere findet fih in den am 
Schluß der Schrift mitgetheilten Actenftiiden. 

‚Jedenfalls ift die Schrift fehr lehrreich, indem fte zeigt, 
wie die Mitfchuld am 2. December mehr oder weniger auf 
den Cabineten Europas laftet und die Anerkennung diefes 
Gewaltſtreichs als einer rettenden That eine faft allgemeine 
war, während bie öffentliche Meinung fih von Haus aus 
gegen ein Attentat empörte, dad nur der Ausfluß eines 
politifhen Macchiavellismus fein Tonnte. 

Rudolf Sottfchall, 





Literaturgeſchichtliches. | 597 


kiteraturgefchichtliches. 


1. Goethe's Unterhaftungen mit dem Kanzler Friedrich von 
Müller. Herausgegeben von ©. A. 9. Burkhardt. 
Stuttgart, Cotta. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 14 Ngr. 

Der neuen Auflage von Edermann’s „Geſprächen mit 
Goethe” folgt Hier eine willlommene Ergänzung in den 
„Unterdaltungen Goethe's mit dem Kanzler von Müller‘. 
Jedes Werk, welches den großen Dichter von einer neuen 
Seite beleuchtet, erſcheint als ein Gewinn. Jede Ver—⸗ 
öffentlichung über Goethe zeigt demjenigen, welcher fich 
ihrem Eindrud offenen Herzens hingibt, das Bild einer 
bei manchen Eigenheiten überwältigend großen und lie- 
benswerthen Natur; und wenn der Dichter, welcher den 
zweiten Theil des „Fauſt“ fchrieb, nicht mehr die Spann- 
fraft des jungen Mannes hatte, jo war und blieb er 
bi8 zum legten Athemzuge ein Mann von unvermwültlicher 
Geiſtes⸗ und Lebensfülle, von einer Kraft des Schaffens, 
Aneignens, allfeitigen Theilnehmens, von einer Fähigkeit 
de8 Anregens, von einer perfönlich gewinnenden Anmuth, 
wie fie fchlehthin einzig erfcheint. Was haben nniere 
Väter, was haben wir von Goethe empfangen! 

Geboren 1779 in Franken, trat Müller bereits 1801 
in weimariſche Dienfte und erwies ſich fehr bald als eine 
überaus tüchtige Kraft; Müller's aus den „Denkwürdig- 
keiten“ wohlbefannte Thätigfeit nad) der Kataftrophe von 
Jena ließ ihn um fo rafcher emporfteigen; noch nicht 
dreißig Jahre alt ward er bereit8 Geheimer Regierungs- 
rath, ward dann geadelt, trat mit 35 Jahren als Kanz⸗ 
ler an die Spite der Landesjuſtiz. Das will viel fagen 
in einem Lande, weldes einen Karl Auguft zum Herr⸗ 
her Hatte. Fortan entfaltete Müller faft drei Jahrzehnte 
lang eine bedeutungsvolle ZThätigfeit; im Jahre 1848 
bat er um feine Entlaffung; im Herbſt 1849, 70 Jahre 
alt, ward er durch den Tod Hinweggenommen. 

So mußte Mitller’s Verhältnig zu Goethe ein ganz 
andere® fein als dasjenige Eckermann's. Miller war 
nicht der junge Autodidakt, der allezeit verehrende Gehülfe 
bei den Studien und bei der Redaction der Werle; er 
trat dem greifen Dichter allerdings auch als 30 Jahre 
Jüngerer gegenüber, aber doc mit der Berechtigung, 
welche eine geachtete Stellung, eine bedeutungsvolle Wirk⸗ 
jamleit, eine reife Bildung gewähren. Beide jlingere 
Freunde aber begegnen ſich in der liebevollen Verehrung 
ded großartigen Mannes, der wie menige es verfland, 
jedem der Seinen gegenüber diejenige Seite feines unend- 
(ih reihen Weſens hervorzufehren, welche denjelben wie. 
der zu der Entfaltung eigenften Weſens anregte, 

Kanzler Müller zeichnete feine Gefpräche mit Goethe 
alsbald auf; er trat dem Dichter fo nahe, daß diefer 
ihn zum Bollftreder feines legten Willens ernannte; er 
hat den Goethe» Reinharb’fhen Briefwechſel veröffentlicht. 
Das Ausfterben der Familie des Kanzlers ift die Urſache, 
daß erft jet, 20 Jahre nach Müller's Tode, diefe Unter- 

baltungen in die Deffentlichkeit treten. Der Herausgeber 
hat das Buch, wie es bereitd von Müller drudfertig 
bergeftellt vorlag, durch manche darin übergangene Noti- 
zen aus den Zagebüchern vervollftänbigt; Hin und wieder 
berechtigen ausgedehnte Lücken zu der Vermuthung, daf 
and Müllers Aufzeichnungen nicht vollftändig find, mie 


3. B. das Jahr 1820 nur mit zwei kurzen Notizen 
vertreten if. So umfafjen diefe Unterhaltungen zwar 
den Zeitraum von 1808 bis zu Goethe's Tode, aber die 
letzten zwölf Wahre bilden den bei weiten größten Theil, 
alfo diefelbe Zeit, welche uns in Eckermann's Wert vorliegt. 

Wenn ein geiftreiher Mann feinen Verkehr mit einem 
großen Dichter aufzeichnet, fo wird immer Bedeutendes 
zum Borfchein kommen. Und fo treten des Kanzlers 
„Unterhaltungen” würdig neben Edermann’s „Geſpräche“. 
Goethe's Bild kommt uns ans beiden gleichartig ent- 
gegen: bei Edermann mol etwas mehr der Dichter und 
Naturforscher, bei Miller mehr der an der Entwidelung 
des ftantlichen Lebens Antheil nehmende Mann, der Welt 
philoſoph. Eckermann ift der bei dem Schaffen und Ordnen 
emfig biülfsbereite tägliche Hausgenofje, Müller mehr der 
allgemein gebildete hochgeftellte Hausfreund. Ein wefent- 
licher Unterfchted ift im Grunde nicht vorhanden, denn 
Goethe blieb immer er felbft, wählte feine Stoffe dem 
eigenen Bedürfniß der Unterhaltung entjprechend, hatte 
mehr die greifenhafte Liebhaberei des Docirens als der 
belebten Wechſelrede. So kommt ung aus biefen Unter- 
baltungen und Geſprächen überall dafjelbe Bild entgegen, 
das Bild des alten Goethe, welcher für die verjchiedenartig- 
ften Intereſſen ein offenes Auge fich erhält, täglich durd)- 
Ichnittlich feinen Band durdjlieft, auf ben mannichfachen 
Gebieten der Kunft, Poefte und Naturmiffenfchaft weiter 
arbeitet, unermüdlich thätig, und mit jener wechjelnden 
Stimmung des Alters bald mild und liebenswürdig, bald 
bumoriftifch-fcharf ift, ein Charafterzug, der, um es ge= 
fegentlic) zu erwähnen, in Edermann’s „Geſprächen“ min- 
der häufig entgegentritt. Es Hat feine Schwierigleit, aus 
folden Unterhaltungen einzelnes herauszuheben, doch mag 
dies und jenes Wort um feiner Bedeutſamkeit oder Ab⸗ 
fonderlichkeit willen bier wieder erfcheinen: 

Seht, Tiebe Kinder, was wäre ich denn, wenn ich uicht 
immer mit Mugen Leuten umgegangen wäre und von ihnen 
gelernt hätte? Nicht aus Blichern, fondern aus Tebendigem. 
Ideentauſch, burch heitere Gefelligkeit müßt ihr lernen. — 

Die Erziehung ift nichts anderes als die Kunft zu lehren, 
wie man über eingebildete oder doch Leicht befiegbare Schwier 
rigfeiten binauslommt. — 

Die Conftitutionen find wie bie Kuhpocken; fie führen 
über einmal graffirende Krankheiten leichter hinweg, wenn man 
fie zeitig einimpft. — 

Ja wenn man in der Jugend nicht tolle Streiche machte 
und mitunter einen Buckel vol Schläge mit wegnähme, was 


wollte man im Alter für Betrachtungsſtoff haben? 

Mit dem fehr fchroffen, nad) einem Wort Goethe's 
an Zelter „in Widerſpruch erfoffenen“ Fr. A. Wolf 
„machte ich Befuch bei Goethe, der heute ſehr launig war 
und Wolf ironifirte‘: 


Ihr Diötfehler it gar nicht fchuld an Ihrem Uebelfein; 
es ift ein bloßer Ausflug Ihrer Höflichkeit, weil Sie zu Hofe 
geweien und den Großherzog nicht herab zu fi in den Schloß- 
hof beftellt haben. Ueberhaupt geht die Krankheit den Menſchen 
gar nichts an; er muß fie ignoriren, nur die Gejundheit ver- 
dient remarquirt zu werden. — 

Ih weiß, was id kann und nicht kann, und will nur 
das, was ih kann. — 

h will Ihnen etwas fagen, woran Sie fih im Leben 


haften mögen. Es gibt in ber Natur ein Zugänglides und 


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ein Ungugängliches. Diefes unterfcheide und bebente man wohl 
und habe Rejpect. Es ift uns ſchon geholfen, wenn wir e6 
überall nur wiffen, wiewol es immer fehr ſchwer bleibt zu ſehen, 
wo das eine anfhört und das andere beginnt. Wer e8 nicht 
weiß, qualt fich vieleicht Lebenslängli am Unzugänglihen ab, 
ohne der Wahrheit nahe zu kommen. Wer es aber weiß und 
Ang ift, wird fih am Ingängliden Halten, und indem er in 
diefex Region nad) allen Seiten geht und fich befeſtigt, wird er 
joe: anf biefem Wege dem Unzugänglihen etwas abgewinnen 
Snnen, wiewol er bier doch zulett geftehert wird, daß manden 
Dingen nur bis zu einem gewiffen Grabe beizulommen if, 
und die Natur immer etwas PBroblematifches hinter fich behalte, 
welches zu ergründen die menfchlichen Fähigkeiten nicht hinreichen. 

Ein Frankfurter, Hr. F., wurde angemeldet und ab» 
gewieſen: 

Man muß den Leuten abgewöhnen, einen unangemeldet 
zu Kberfallen, man bekommt doc immer andere fremde Ge⸗ 
danfen duch ſolche Beſuche, muß fi in ihre Zuftände Hinein- 
denken. Sch will Feine fremden Gedanken, ich Habe an meinen 
eigenen genug, kann mit biefen nicht fertig werden. 


Ein Student aus Berlin, nad) Paris reifend, war 
bei ihm biefen Nachmittag eingefprochen und fofort an» 
genommen worden: 

Ich fehe ſolche Leute gern, man thut dabei einen Blick in 
die weite Welt hinaus und bat die behagliche Empfindung, 
nicht felbft reifen zu müflen. — 

it ich Feine Zeitungen mehr leſe, bin ich ordentlid) 
wohler und geiftesfreier. an kümmert fi doch nur um 
das, was andere thun und treiben, und verfäumt, was einem 
zunächſt obliegt. 

Was die Cultur der Natur abgenommen habe, dürfe 
man nicht wieder fahren laſſen, e8 um feinen Preis auf- 
geben. So fei aud) ber Begriff der Heiligkeit der (Ehe 
eine ſolche Culturerrungenfhaft des Chriſtenthums und 
von unfhätbarem Werth, obgleich die Ehe eigentlich un⸗ 
natürlich Set: 

Sie wiffen wie ih das Chriſtenthum achte, oder Sie wiffen 
e8 vielleicht auch nicht: wer tft denn noch heutzutage ein Chrift, 
wie Chriftus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr 
mid gleih für einen Heiden haltet, Genng, dergleichen Cul⸗ 
turbegriffe find den Böllern nun einmal eingeimpft und laufen 
dur alle Sahrhunderte; Überall bat man vor ungeregelten 
ebelojen Liebesverbältniffen eine gewiffe unbezwingliche Scheu, 
und das ift recht gut. Man follte nicht fo leicht mit Eheſchei⸗ 
dungen vorfdreiten. Was liegt daran, ob einige Paare fi 
prügeln und das Leben verbittern, wenn unr ber allgemeine 
Begriff der Heiligkeit der Ehe aufrecht bleibt. Jene würden 
doch auch andere Leiden zu empfinden haben, wenn fie dieje 
los wären. — 

Ich will nichts von den Freuden der Welt, wenn fie 
mih nur auch mit ihren Leiden verihonen wollte. Wenn 
man etwas vor fi bringen will, muß man fi Inapp zu- 
fammennehmen und fi wenig um das kümmern, was ans 
bere thun. 

So könnte man von jeder Seite irgendein treffen- 
des Wort entlehnen, irgendeine Yeußerung, welche zur 
Kenntniß von des Dichters Leben, Charakter, Anſchanung 
von Werth if. Die reife Lebensweisheit, die troß der 
bin und wieder hervortretenden Bitterfeit ober Weltmüdig- 
feit vorwaltende Menfchenliebe, der Ernſt in Betrachtung 
fittlicdee oder religiöfer ragen, die Freude an jedem 
Guten und Schönen, der nicht felten fehr zutreffenbe 

olitifhe Blick, fie zeigen fich ebenfo unverhüllt wie bie 
nluft an den neuen Auftänden in Politik, Literatur und 
Naturwifienfchaft, welche dem Hochaltrigen wiberftrebten 
oder ber Keuntnißnahme nicht mehr werth erjchienen. So 


Literaturgefhichtliches, 


dürfen wir diefe „Umterhaltungen‘ als einen willflommenen, 

andy neben Edermann bedeutungsvollen Beitrag zur Kennt⸗ 

niß Goethe's bezeichnen. 

Der Herausgeber hat bie Geſpräche mit einer biogra- 
phifchen Einleitung über Müller verfehen. Die im Texte 
wünſchenswerthen Erlänterungen über Berfonen, Bücher 
u. f. w. find in kurzen Anmerkungen beigefügt. Die 
Correctur erfcheint hin und wieder nicht ganz zuverläffig. 
Sp werden S. 15 die „ſturmumregten“ Fichten wol „um- 
wogte“ fein; die Mölnifche Kirche ©. 43 heißt „St.-Euni- 
bert“, nicht „Humbert“. Brecioja’s „Einſam bin ich nicht 
alleine“ (S. 110) bat Goethe ſchwerlich eine „reichliche“, 
fondern eine „weichliche fentimentale Melodie” genannt. 
„Klopftod war Hein, beliebt, zierlich“ u. ſ. w. (S. 114), 
ſoll wol „beleibt‘ beißen. 

2. Sandblichlein für Freunde des dentſchen Volksliedes. Bon 
a. 5. C. Bilmar. Zweite Auflage. Marburg, Koch. 
1868. Gr. 8. 24 Nr. . 
Ans Bilmar’s Nachlaß find in der legten Zeit meh» 

rere Meinere Schriften veröffentlicht worden, welche ihre 

Entftehung Borträgen verdanken. Derart ift das al8bald 

zu beiprechende Büchlein über Taſſo, derartig das vor- 

liegende über das deutſche Volkslied. Was uns auch der 

Berfaffer bringen mag, wir werden immer, foweit ihm 

nicht feine theologifhe Anſchauung im Wege fteht, die 

eingehende Kenntniß, den guten Gefchmad zu ſchätzen 
willen, und befonders in Bezug auf die ältere deutſche 

Kiteratur gehört er zu denjenigen, welche vor vielen an- 

dern mitzufprechen berechtigt find. Ueber die Aufgabe, 

die fih der Verfaſſer in dieſer Schrift zu löſen vor- 
genommen, fagt das Vorwort: 

Die Aufgabe befland darin, den weſentlichen Charakter 
des volfemäßigen ‚Liedes an deffen ältern Erfcheinungen nachzu⸗ 
weifen, nnd bier und da deſſen geſchichtliche Entwidelung umd 
Umgeftaltung fowie deſſen Zuſammenhang mit der modernen 
Kunſtdichtung anzudenten. Diefe Nahweifung mußte der Natur 
der Sache gemäß vorzüglih an dem ältern hiſtoriſchen Volls⸗ 
liede, in deffen engerm und weiterm Sinne, volljogen werden, 
weshalb denn dieſes auch den größten Raum in Anſpruch zu 
nehmen batte, 

So beipriht Vilmar zumächft die Hiftorifchen Volks⸗ 
lieder, welchen er die gefammte vollsmäßige Balladen- 
dihtung anſchließt. Darauf folgen, zufammen nur bie 
halbe Seitenzahl des erften Abfchnitts beanjpruchend, bie 
Liebeslieber umd die Lieder der Gejelligkeit. Bon ben ver⸗ 
fchiedenen Arten diefer Volkslieder hebt der Sammler eine 
Anzahl als befonders charakteriftifch heraus, theilt fie mit 
und begleitet fie mit kurzen gefchichtlichen oder fprachlichen 
Erläuterungen. Da nun die Menge der neuerdings ge⸗ 
fammelten Bolfslieder ganz außerordentlich groß ift, wird 
es vielen wünſchenswerth fein, eine Anzahl der beften und 
bauptfählichen Vertreter in bequemer Zufammenftellung 
vereinigt zu finden. Die einleitenden Abfchnitte find von 
befonderm Werth und laffen ben gründlichen Kenner ber 
ältern beutfchen Dichtung und Sage wohl erkennen; wo Bil- 
mar im einzelnen moderne Zufäge annimmt, läßt fich freilich 
mit ihm rechten. Wer über das weite Gebiet bes beutfchen 
Bollsliedes einen Maren Ueberblid wünſcht, wem es von 
Werth ift, eine beträchtliche Anzahl der wichtigften Volkb⸗ 
Iteder in ihrer echten Geftalt gefammelt zu befigen, mit 
den Einleitungen und Erläuterungen eines geſchmackvollen 


— — — 





Literaturgeſchichtlich es. 599 


Kenners, wird in dem Buche finden, was er ſucht. Be⸗ 
reits im zweiter Auflage erſchienen, läßt ſich das Büchlein 
fehr wohl betrachten als eine bie Vollsdichtung behan- 
delnde Ergänzung zu des Verfaſſers „Literaturgefchichte”. 
3. Bon der Bollspoefie. Nebft ausgewählten echten Bollslie⸗ 

dern und Umbdichtungen derfelben. Zweite verbeflerte Auf- 

lage. Zugleich ein Supplement zu „SKleinpaul’s Poetik“. 

Bom Ausarbeiter ber legtern. Barmen, Laugewieſche. 1870. 

8 22%, Nor. 

Das Buch mit dem langen Titel ift ein munderliches 
Buch. Kleinpaul’s „„Poetil“ iſt ein bekanntes Werk, welches 
durch eine Reihe von Auflagen feine Brauchbarkeit erwie⸗ 
fen hat. Dem Berfafler ging bet der Bearbeitung der 
weitern Auflagen ein ungenannter Freund zur San, 
der nun das Bedürfnig empfand, den kurzen Abſchnitt der 
Poetik über dag Volkslied in einem Ergäuzungsbändcdhen 
weiter auszuführen. Auf dem Titel der vor zehn Jahren 
erfchienenen erften Auflage nannte ſich der Verfaſſer Rein⸗ 
hard Wager, da er die Veröffentlichung derſelben „für 
eine Art Wagniß hielt”. Diefe zweite Auflage erjcheint 
ohne das Pſeudonym, vielleicht weil der Verfaſſer nad 
mehrern, feiner Auffafjung des Volksliedes günftigen Be⸗ 
urtheilungen das Ausſprechen feiner Anfiht nicht mehr 
als ein Wagnif betrachtete; den Namen bes Schriftitellere 
und Dichters dagegen vermiſſen wir noch immer. 

Der Leſer verzeihe den nothgedrungen langathmigen 
Bericht über den langathmigen Titel. Der Berichterftatter 
fieht eigentlich nicht recht ein, weshalb eine Abhandlung 
des ungenannten Verfaſſers über das Bollslied gerade 
ein Supplement zu Kleinpaul’s „Poetik“ fein muß, melche 
nur um ein Drittel der Seitenzahl größer ift. Indeß 
gegen Thatſachen läßt ſich nicht ftreiten; alfo betrachten 
wir da8 Supplement zu Kleinpaul’8 „Poetik“ felbft. 

Das Buch enthält zunähft zwei Abhandlungen. Die 
erfte: „Ueber Begriff, Umfang, Eintheilung, Entftehung, 
Eigenthümlichkeit, Werth und Bedeutung der Vollspoefie“, 
umfaßt 42 Seiten. Wir find im wefentlichen mit der- 
felben einverftanden, auch mit der Polemik gegen den 
nebelhaften Begriff der Vollspoeſie, welcher in die Be- 
trachtung der Homerifchen Gedichte, des Nibelungenliedes 
a. f. w. jo gewaltige Verwirrung gebracht hat. 

Die zweite Abhandlung betrachtet die Frage, „inwie⸗ 
feen eine kunſtgemäße Abänderung und Umdichtung volls- 
poetiſcher Producte unzuläffig, umd inwiefern fie zuläffig 
md wünfchenswerth ſei“. Der Berfafler will ins Klare 
jegen, „ob e8 erlaubt und erfprießlich fer, beflimmte Pro⸗ 
ducte der Bollspoefie, namentlich Volkslieder, formell zu 
verbollflommmen, mit andern Worten, fie nad) den be 
vechtigten Regeln der Poetik umzudichten”. Er weilt dar- 
auf Hin, daß bie BVollsdichtung dem Jugendalter eines 
Bolls entiproffen, dem Iieblichen Lallen, Stanmeln und 
unvollkommenen Sprechen unferer Kinder ähnlich fei, daß 
aber zwifchen dem oft wahrhaft tiefen poetifchen Gehalt und 
der Empfindungs- und Aeuferungsweife des Volksliedes 
ein gewiſſer Contraſt beftehe; er hält daher gute Umdich⸗ 
tungen, die ſich als folche geben und keinen Anſpruch 
auf volfspoetifche Echtheit machen, nicht nur für erlaubt, 
fondern auch, fofern fie gelingen, für durchaus dienlich 
im Intereſſe des Volls und des poetifchen Genuſſes aud) 
der Gebildetern. Er beruft ſich dabei auf vortreffliche 


Autoritäten, auf Herder, Burns, Bürger, Goethe, welcher 
legtere in feinem „Heidenrbslein“ ein muftergültiges Vor⸗ 
bild einer folchen guten Umdichtung eines Vollsliedes ge- 
geben babe; er empfiehlt neuern Umbdichtern, fich diefe 
Arbeit Goethe’ zum Mufter zu nehmen, und bemerkt: 

Bei der Umbichtung ohne Noth und Erſatz auf wirkfiche 
Schönheiten eines vollspoetifhen Driginals zu verzichten, wäre 
ſelbſtredend thöricht; aber die Hauptaufgabe, gegen die jede 
Rückficht auf Einzelheiten des Bolksliedes zurlicdtreten barf, muß 
dabei doch immer die fein, ein wirklich ſchönes Ganzes herzu- 
ſtellen. Die den nahfolgenden echten Bollsliedern gegenüber⸗ 
gebrudten, meiner Feder entfloffenen Umdichtungen wollen fei- 
neswegs als vollflommene Mufter, fondern zunähft nur ale 
Berſuche gelten. 

Mit diefer Entwidelung, deren Bejcheidenheit wir gern 
anerkennen, rechtfertigt der Verfaſſer den Berfuh, im 
Anflug an Goethe eine Anzahl dentſcher Bolkslieder 
umzudichten, welche ben Heft bes Buchs, etwa 130 Sei- 
ten, ausfüllen. 

Nun find wir mit der Entwidelung des Berfafjers 
theoretifh ganz eimverftanden und fchlagen mit nicht ge« 
ringer Erwartung feine Umbichtung einer Reihe unferer 
befannteften Volkslieder auf, wobei bie linke Seite das 
Original, die rechte die Umdichtung enthält. 

Es find nun bald 25 Jahre her, da brachte der Bes 
richterftatter dem Haren fcharfen Lachmann eine Abhand⸗ 
lung zur Beurtheilung. Lachmann war mit dem Ergebniß 
ganz einverflanden und meinte nur: „Sie dürfen nicht 
jo von vornherein fagen, was Sie beweifen wollen; Sie 
müffen den Leſer von felbft daranf hinführen!” Der Fuge 
Dann hatte fehr recht; aber es gibt im Menfchenleben 
Augenblide, wo man alle umftändlide Entwidelung in 
den Wind wirft und wie ein Student gerade aufs Ziel 
losgeht: und fo rufe ich hier aus: „DO du mein Himmel! 
wie hat der Herr Reinhard Wager unfere lieben deutfchen 
Bolkslieder erbärmlich mishandelt!“ 

Worin beſteht der Reiz des Volksliedes? Darin, daß 
es der Empfindung und dem Gedanken den kürzeſten Aus⸗ 
drud gibt, alles Unweſentliche beifeiteläßt; es ift fo aus- 
fchlieglih Sprache der Empfindung, daß es, um diefelbe 
fo frifh wie möglich auszufprechen, auf Regelmäßigfeit 
bes Reims völlig Verzicht Leiftet, ihn nach Belieben durch 
den Klangreim erfegt, reimlofe Zeilen einmifcht, Vorſchlag⸗ 
fülben zufligt, die Berfe ganz zwanglos baut, allezeit das 
einfachtte Wort wählt. Und wie fein Dichter die drei 
Worte: „Ich Liebe dich!" ſchöner ausdrüden, Tein Muſiker 
den ©efang der Nachtigall auf Noten jegen, kein Philo⸗ 
ſoph den Rofenduft definiren kann, fo läßt ſich auch das 
Bolfslied nicht einfach dadurch „fir gebildete Lefer um⸗ 
dichten”, daß man an bie Stelle feiner Unregelmäßigfei- 
ten die ftraffe Form ber Kunftdichtung fegt. Aber Goethe 
bat es gethan! Quod licet Jovi, non licet bovi, fagt der 
Lateiner. 

Gleich Nr. 1 iſt das alte herzige: „Kein Teuer, keine 
Kohle thut brennen ſo heiß.“ Die ſechs Strophen des 
Liedes ſind hier auf acht erweitert; die Ueberſchrift „Liebes⸗ 
geplauder“ und die ganze Anordnung zeigt, daß dreierlei 
Berfonen, „ver Dichter und die beiden Liebenden auftreten; 
Strophe 2 und 7 werben Hinzugearbeitet und fo kommt 
denn jchließlich eine „Umbichtung” zu Stande, der wir hier, 
wie im Folgenden, das urjprüngliche Gedicht voranjegen: 


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600 


Kein Gem, feine Kohle 
Thut brennen fo heiß, 

Als Heimliche Liebe, 

Bon ber niemand nichts weiß. 


" Xeime Rofe, feine Relte 
Thut blühen fo jhön, 
AS wenn zwei verliebte Geelen 
&o beieinander ſiehn 


Wie's Bögelein fingt, 
Benn der Frühling aumeht, 
&o bringt mir ins Herze 
Deine Kiebticje Red. 
Zwei Sternlein am Himmel, 
Fi Röslein im Gag; 

ein Herz und das deine 
Sind vom felbigen Schlag. 
Und willſt du es wiſſen, 
Wie treu id es mein’, 
So fiel! einen Spiegel 
Ins Herz mir Binein. 
Unb der Spiegel wird's weiſen, 
Es if nichts darin, 
As Liebe und Treue 
Und ehrlicher Sinn. 

Umdichtung: 

Die fenrigfe Kohle 
Brennt nimmer jo heiß, 
As heimliche Liebe, 
Da niemand drum weiß. 


So muß fi ja öffnen 

Dem Herzen das Herz; 

Sonft mödt' es zerfpringen 

Bor Wonn’ und vor Schmerz. 

„Hör, wiäh du es wi 

Ei 

So fiel? einen Spiegel 

Ins Herz mir Hineiu. 

„Di igt bir der Spiegel, 

Daß nichts iR Darin, 5 

Als treuliche Liebe 

Und ehrlicher Sinn.“ — 

„Wie Vögeleins Singen, 

Benn Lenzeshaud; weht, 

So thut mid, burKbringen, 
O Freund, deine Red’! 

„Mein Herz und daß deine 

Sind gleich fih an Schlag, 

E Zöglein im Hame, 
wei Röslein im Hag.“ 

Kein Bogel im Walde 

Kann fingen fo hold, 

Wie Liebe mit Liebe 

Bol plaudern wollt. 

Nicht Rofe noch Nele 

Kann blühen fo fhön, 

Bie folde zwei Seelen 

uf Liebeshöhn. 

Wenn jemand bie „feurigfte Kohle” und die 
beffer gefallen, fo ift das Gefchmadsfade, 
Nr. 3, „Des Müllers Gram“, Tautet: 

Da broben auf jenem Berge, 
Da flieht ein Hohes Haus, 

Da fhanen wol alle frühmorgen 
Drei ſchöne Jungfrauen herans. 


„Liebeshöhn" 
Nun weiter. 





Literaturgeſchichtliches. 


Die eine, die heißet Suſaune, 

Die andre Anna Marei, 

Die dritte, die tu’ ich micht nennen, 

Die fol mein eigen fein. 

Da drunten im tiefen Thale, 

Da treibet das Waffer ein Rad, 

Mic aber, mid, treibt die Liebe 

Bon Morgen bis Abend fpat. 

Das Mühlrad if zerbrochen, 

Die Liebe hat doch kein End’; 

Und wenn fi zwei Herzlieb ihun ſcheiden, 

So reichen fle fih die Händ’, 

AG Scheiben Scheiben, aı jeden! 

Be hal Dog 3 a” = 

Der hat mein jung friſch Herze 

So frühzeitig traurig gemacht. 
Umbichtung: 

Da droben auf jenem Berge, 

Da fteht ein vornehm () Hans, 

Da fhauen an jedem Morgen 

Drei freundliche Mädchen (I) heraus. 

Die eine, die Heiget Sufanne, 

Die andre Anna Marie; 

Die dritte, die will ih nidt nennen, 

Mein Herz ſchlug einzig für fie. (1) 

Hier unten im engen Thale 

Trieb Waſſers Gewalt ein Rad; 

Mid) felbft aber trieb die Liebe, 

Die ſchier mich zerrieben Hat. (1) 

Das Rad ift num zerbroden, 

Zerbrochen auch mein Gemüth, (N) 

Beil meine herzige Liebſte 

Für mid nun nicht mehr bluht. (1) 

AH Scheiden und Meiden, o fagt mir, (1) 

Wer hat dod euch wol erdacht? 

Ihr Habt mein jugendfrifh Herze 

So früh ſchon zur Trümmer gemacht. (1) 

Der Berichterftatter zwingt fein Herz und lieft weiter; 
aber es ift ihm übel zu Muth. Gottlob, da kommt Nr. 7, 
das jüße Lieb: „Morgen muß ich fort von hier“, das 
wir Studenten vor langen Jahren fo manchmal mit be- 
benber Seele fangen, indem wir unfer ganzes Herz in diefe 
wenigen fehmerzerfüllten Zeilen ergoffen. Wir glaubten 
damals ziemlich gebildet zu fein, lafen Sophofles und 
Shaffpeare, und hatten unfere innige Freude an dem un- 
vergleihlihen, in feiner Einfachheit und Herzenswärme, 
in feiner unbeſchreiblich wehmüthigen Weile jo einzigen 
Liede. Wie manchmal Hat die ſtille Nacht unfer Abjchieds- 
ſtundchen gehört! Vergangene Zeiten! 

Nun, wie lautet das Lied hier? Die drei Strophen, 
weldje der Berfaffer eingeflebt Hat, dürfen wir ihm fchen- 
ten und nur die alte Form, und was er daraus geftaltet 
bat, hierherfegen: 

Morgen muß ich fort von hier 
Und muß Abfcieb nehmen. 

DO du allerihönfte Bier, 
Scheiden das bringt Grämen. 
Da id dic) fo treu geliebt 
Ueber alle maßen, 

Soll ih dich verlaflen. 

Wenn zwei gute Freunde find, 
Die einander Tennen, 

Soun’ und Mond bewegen fih, 
Ehe fie fi trennen, 


Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Hoefer. 


Noch viel größer if der Schmerz, 
Wenn ein trem verliebtes Herz 
Im die Fremde ziehet. 
Küffet dir ein Lüftelein 
Wangen ober Hände, 
Dente, daß es Seufzer fein, 
Die ih zu dir fende. 
Tauſeud ſchick ich täglich ans, 
Die ba wehen um dein Haus; 
Unbiätung Weit ich dein gedente. 
it : 
Morgen muß ich fort von hier, 
Muß num Äbſchied nehmen; — 
Abſchied nehmen — id) von bir: 
Gibt's noch größtes Grämen? 
Alles, alles bi bu mir, 
Kann es felbf nicht faffen, 
Und ich fol dich lafien! 
Wenm ein treues Freundepaar 
Sic fortan ſoll meiden, 
Re, ale wollte man Ein Herz 
Im zwei Städe fdjneiben. (I) 
eher noqh iſt doch der Schmerz, 
Wenn zwei Liebesleute 
Scheiden, wie wir heute. 
Küffet dir ein Luftelein 
Künftig Stirn und Hände, 
Denke, daß es Seufzer fein, 
Die ich zu dir fende. 
Zaufend ſchick ich täglich aus, 
Unb um did; zu finden, 
Fahren fie anf Winden, (1) 





601 


„Beim böllifchen Elemente! Ich wollt, ich wüßte 
was Xergres, daß ich's fluchen könnte!” Heißt das um- 
dichten? If das nicht um aus der Haut zu fahren, 
wenn ein ſchwaches SKunftpoetlein fol ein Volkslied, 
das feit zwei=, bdreifundert Jahren auf allen Gaffen 
von ungebildeten und „gebildeten" Fiebesleuten gefungen 
wird, dadurch zu verfchönern meint, wenn er es zur bop« 
pelten Lunge firedt, den ganzen Holden Schmelz der Poefie 
abwifcht und uns dafür durch nüchternfte Fraubaſerei ent» 
ſchadigen will? Goethe würde fi im Grabe umdrehen, 
wenn er fähe, wie darum, weil er ein etwas unzartes 
Vollslied mit leifefter Hand verflärend berüßrte, jetzt ſolch 
ein Wafferpoet meint, umfere wunberbollen alten Bolls- 
lieber, babei die herzigſten und füßeften Klänge der Poeſie 
„für Gebildete umdichten“ zu dürfen. Es ift ein Graus! 

In biefer Weife find 36 umferer ſchönſten Volkslieder 
zurechtgemacht worden, etwa für ein Krunzchen von ges 
bildeten Backfiſchen, bei Thee und Butterbrot zu fingen. 
Dem es Vergnügen macht, Iefe die weitern nad. Es 
gibt Hoffentlich auch fernerhin beſchrünkte Gemüther, bie 
ſich an einen ungeſchidten Reim, an ein ſchlichtes altes 
Wort nicht kehren, die ſich freuen können an dem Maren 
duftigen Goldtrant unſers Volksliedes und der Pome- 
ranzenſchale und des Zuders nicht bebürfen. Und wenn 
es noch das wäre! Aber das Mare Brunnenwaſſer! 

Wilhelm Buchner. 
(Der Beiglaß folgt in der nägfen Rummer.) 


Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Horfer. 


1. Das Hundertgufdenblatt. Erzählung von Balduin MöIlI- 
banfen. Zwei Abtheilungen & drei Bünde. Berlin, Janke. 
1870. 8. 9 hir. 

Im Mittelalter hatte man eine mi-parti-Tracht, fpä- 
ter gab man fie den Gefangenen; jegt hat man mi-parti- 
Bücher. Ein ſolches ift der obige Roman, in deſſen er⸗ 
ſten drei Bänden man ebenfo wenig von der „Heilung 
des Kranken”, dem berühmten Gemälde Rembrandt's, das 
einer Anekdote zufolge das „Hunbertguldenblatt“ genannt 
wurde, wie in ben drei legten von ber Heldin ber 
drei erflen, jener zarten jungen Dame mit den „halblangen” 
Haaren und dem wundervollen Sammetteint, erfährt, bie 
ihre Sklaven blutig peitf—hen läßt und mit dem Helden 
des Romans, bem liebenswürdigen jungen Mann, ber bie 
Yugendkroft des Damenritterd und den Gehorfam bes 
Sohnes gegen die Mutter repräfentirt, ein tofettes 
Augenfpiel treibt; die auf ber Menfchenjagb, unter 
zufammengefchoffenen Pferden und Leihen ganz heil und 
munter herborfommt und num in theatralifher Weife 
Kranke befucht, den Helden Wilmot, den fie feurig Lie 
benden, im Schlafe fügt, darauf zu dem Sklavenhalter 
und Vater zurüdtehrend, bei Nacht verſchwindet und fi 
ſchließlich in tieffter Verſchleierung den Augen des Helden 
und bes Leſers entzieht, dem nur noch angebeutet wird, 
daß biefes widerwärtig ſchöne Weſen Schaufpielerin ge⸗ 
worben fei umd fi mit einem WVBühnenhelden verhei- 
rathet habe. 

1870. 38. 


Nachdem alfo in den drei erften Theilen des „Hunderte 
gulbenblattes” die Neger gründlich mafjacrirt worben, 
Spione ihr wiberwärtiges Handwerk getrieben, die er⸗ 
niebrigte Menſchheit vor der ſich felbft buch den 
Sklavenhaudel erniebrigenden kroch und winfelte, zugleich 
aber auf Hintergehung und Berrath fann, Ränke fpann, 
zerriſſene Briefblättchen auf Holzbreter zufammenklebte 
umb dadurch Ueberfallplane erfpähte und das Intereſſe 
des Lefers, das eben in der Sklavenfrage Fuß zu fa 
fen begonnen, mit Blut und Leihen erlaufie, fommen wir 
plöglich in Band 4 zu harmloſen dentſchen Nähtermäd» 
hen mit ihren Liebhabern, zu Trödleen mit langweilig 
breiten Hausgefpräden, ärmlichen Kunſtſammlern und 
reihen Kunftliebhabern, kurz in eine ganz andere ziemlich 
nüdterne Geſellſchaft. Was kümmert «8 den für bie 
unglüdfichen gepeitfchten Schwarzen im mitleidsvoller 
Sympathie Entbrannten, ob der ſchwarze Schloffergefell, 
der Liebhaber von Luischen Spranger, am Gonntag, 
wenn er fi gewafcen Hat, ganz anders als am 
Berktag ausfieht, oder ob der alte „Runfllauz“ fi 
auf das für 10 Sgr. in einem Xröblerladen gefaufte 
Hımbertguldenblatt beim Butterbroteſſen Fettflede macht! 
Nein, das überſteigt die „Lefegebuld“ und niemand wird be⸗ 
greifen, wie Möllhauſen „Geduld“ haben konnte, dergleichen 
zu „ſpinnen“. Wenn nur erlaubt ift was gefällt, fo ift 
eine ſolche Romanfchreiberei ficherlich unerlaubt, wenig- 
ſtens iſt das fechebändige — glüdlicherweife nicht neun. 

76 








602 


bändige Hunbertguldenblatt weber ein Nebeneinander noch 

ein Nacheinander, felbft nicht einmal ein Durcheinander, 

nur ein Yuseinander. 

Wilmot Mutter und Sohn treten allerdings im 
BDerlauf von Band 4—6 wieder auf, und der Roman⸗ 
knoten löſt ſich auch infofern ganz glimpflich, als die 
frühere Pugmaderin, fpätere Mrs. Wilmot, ſchließlich 
noch ihre erfte Liebe — zur zeit fchon einen contracten 
ältlichen Deren — heirathet und das Pfeudonym Wilmot 
für den Helden fällt, weil diefer nunmehr in dem zweiten 
Gatten der hochverehrten Mutter zu feinem rechten Va⸗ 
ter und Namen gelangt; aber das gibt feine Entfchä- 
digung für die große dreibändige Introduction, ebenfo 
wenig wie der Uebergang des Helden von den ſchwarzen 
zu den blauen Augen, von Flora, der Stlavenhalterin, zu 
der fleißigen Iſſe, dem Großtöchterlein des alten Kunft- 
kauzes. Das find Spielereien der Sinne, bei denen we- 
der die Phantafie noch das Gemüth des Leſers Befriedigung 
finden Tann. 

Hätte Balduin Mölhaufen das Motiv wie es 
fih zu Beginn des Romand ganz gut anließ, den 
Kampf des Sohnes zwifchen der edeln Weiblichkeit der 
Mutter und der Unweiblichleit der fchönen Geliebten, mit 

ſychologiſcher Schärfe und Vertiefung in diefe Herzens- 

—* durchgeführt, ſo wäre damit etwas Neues und 

Ganzes, kein mi-parti geboten worden. Wäre ferner 

Mölldanfen auf amerilanifhem Boden, wo er ja beben- 

tende Rocalfenntniffe befigt, daher nicht wie fo viele 

andere Amerikamüde nur aus der Phantaſie fchöpfen 
durfte, geblieben und hätte Naturbilder ftatt Hundert- 
guldenblätter — e8 kommen deren zwei in dem Roman 
vor, natürlich ein echtes und ein falfches Blatt — ge- 
boten, fo würden wir ihm fir die Wahrheit der groß- 
artigen Urwaldsnatur gern die Kunftfchäge in der Dad)- 
fammer geſchenkt haben. Wir überlafien dem Lefer, auf die 

Brage, ob „Das Hundertguldenblatt” ein zeitgefchichtlicher, 

ein pfychologifcher, ein Künftler- oder ein Intriguenroman 

fei, fjelber zu antworten; unferer Anficht nad ift der 

Roman, obwol darin fehr viel gejchlachtet wird, ohne 

Fleiſch und Blut. 

2. Ludwig ber Bierzehnte oder die Komöbdie des Lebens. Ro⸗ 
man von A. E. Brach vogel. Bier Bände. Berlin, Janke. 
1870. 8 6 Thlr. 

Das erfte, was uns bei einem Buche Beranlaffung 
wird es zu Iefen, ift deſſen Titel, folange der Autor 
noch eine unbelannte Größe ift, fonft aber der Name des 
Verfaſſers ſelbſt. Wir müfjen zugeben, daß uns „Ludwig 
der Vierzehnte“ nicht reizen würde, der Stoff ift allzu 
befannt, allzu viel bereits bearbeitet und variirt, und vor 
furzem erft legten wir Vacano's „Geheimniß der Fran 
von Nizza’ aus der Hand, in welchem die befannten Ge- 
falten des Königs, welcher jelbft der Staat ift, der Ninon, 
der Lavalliere u. ſ. w. an uns vorüberzogen; demnach 
ift e8 bei dem hier in Beſprechung gezogenen Buche der 
Name des Verfaſſers, der uns ermuthigt, die vier Bände 
romantischer Gefchichte oder gefchichtlicher Romantik durch. 
zulefen. Brachvogel ift ‘Dramatiker und bleibt es in dem 
Roman, der, wie ja fchon fein Titel befagt, die Komödie 
beoingt. Unferer Anſicht nach wäre nun der bezeichnen- 
dere Titel für das und vorgeführte politifche Intriguen« 


Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Hoefer. 


jpiel, da8 von der ſchönen Anna von Orleans einge- 
leitet wird und an dem Betpult der WMaintenon en- 
det, „Frauenpolitik“ gewefen; denn wie glänzend auch 
immerhin da8 Auftreten Ludwig's XIV. iſt, mag er 
hinter dem goldenen Gitter in ber ihn verlängernden 
Perrüfe fpeifen ober fi auf der bezauberten Inſel an- 
beten laſſen, er bleibt doc, ftetS eine an den Drähten 
der Frauenpolitik geleitete Puppe, wodurch gewifjermaßen 
die Frauen felbft, die, fo ſcheint es, mit ber größten 
Leichtigkeit das Regiment führen — bei ber Maintenon 
kann man fchon fagen den Pantoffel ſchwingen —, ſich 
herabfegen. Die Schmeicheleien, von denen aller Lippen 
überfliegen, erfcheinen faft wie eine Verhöhnung bes eiteln 
Monarchen, und wenn e8 ber Autor nicht verftanden 
hätte, bei Ludwig's Exfcheinen alles Licht in feiner Perſon 
zu concentriren, von ihr ausſtrahlen zu laſſen, ihn zur 
Sonne des Romans zu machen, würbe der große König 
wie ein willenlofer Schwädling erfcheinen. 

Ueber die Grenze des Romans ift der Autor beinahe 
binausgefchritten, indem er uns ein Herrfcherleben vom 
erften Beginn aufwärts bis zur legten Stufe abwärts 
vorführt. Der Roman verliert dadurch feinen Charaf- 
ter als folder, er wird eine gefchichtliche Biographie. 
Sehen wir doch Ludwig XIV. in dem Bracdhvogel’fchen 
Roman zuerft in dem neuen Sindermobdecoftiinm, dem 
haut de chausse, welches fich feine noch jung fein wol- 
lende Mutter fir den fiebzehnjährigen Jüngling aus 
gedacht, und fchliegli als „Gebete plärrenden Greis“. 
Dabei find die Zeitabfchnitte, die Uebergänge nicht chro- 
nologifh Far, es werden oft längere Zeiträume über⸗ 
Schritten, ohne daß man begreift, wie man fo plötzlich 
den Siebenmeilenftiefelfchritt gethan ; das aber wieber 
zeigt die VBerwandtichaft diefes Romans mit dem Drama. 
Alles vollzieht fich in draftifcher, fnapper Gefchwinbigfeit, 
ſodaß wir nicht blos in der Komödie Moliere's, welche 
fi) neben der Füniglichen Komödie im Lonvre durch den 
Roman zieht, ftets im Theater zu fein wähnen, daß wir 
Handlung auf Handlung an und vorüberdrängen fehen 
und fowol mit breiten Naturfchilderumgen wie andern 
Ueberladungen von Bildern und Vergleichen — eine Ge 
ſchmackloſigkeit, die bei vielen unferer modernen Koryphäen 
bis zur widerlichen Manie ansgeartet ift — verfchont blei⸗ 
ben. Brachvogel fchreibt ohne allen Bombaft, nirgends 
findet fih bei ihm ein Schachtelſatz oder ein bei ben 
Haaren herbeigezogener Vergleich. Aufgefallen in diefer 
Beziehung ift uns nur die Gtelle, wo das Beifalle- 
gelächter des Publikums. für den Schaufpieler mit Tauf⸗ 
waſſer verglichen wird; außerdem, „daß Ludwig XIV. bie 
ganze Bürde der Regierung auf feine hohen Schultern 
nehmen wollte”, wodurch man einen hochjchulterigen König 
bekommt. Ferner fcheint und in dem Sage: „Leider 
floffen beide feheinbar ſich wiberfprechende Gedanken ans 
berjelben Quelle und waren eines fo abfoluten Monarchen 
gleich würdig, der eben nur feinen eigenen Bortheil im 
Glücke feines Volks ſuchte m. |. w.“, das „gleich würdig“ 
nit ridtig angewandt. Abſolutismus, der im Egoismus 
wurzelt, ift niemals eines Königs würdig. 

Was und im der Konception aufgefallen, ift bie 
Unmöglichkeit, mindeftens Unmwahrfcheinlichkeit, daß Anna 
Stuart, diefer glänzende weibliche Geift, diefes intriguante 





Romane von Möllhaufen, Brachvogel und Hoefer. 


fchöne Wefen, diefe mit fiebzehn Tahren allen Prunk eines 
Maskenballes verbunfelnde Schönheit, zwei Jahre zuvor 
noch fo abfchredend reizlos und linkiſch dem König er- 
ſcheinen konnte, daß er flatt für fih, für feinen Bruder 
um diejenige warb, die er dann Jahre hindurch unglüd- 
lich liebte. Es ift, wie gefagt, nicht denkbar, daß ein fo 
bezauberndes Weſen jelbft in einem bürftigen Anzuge 
nit auch noch Hinreißend fchön fein könne; im Gegen⸗ 
theil trägt ja oft die Macht bes Contraftes noch dazu 
bei, eine Schönheit zu erhöhen. Daß Anna fpäter bie 
Heldin des Romans wird, gibt diefem eine gewiſſe Noblefie; 
die Herzogin von Orleans, zu welcher fie —* gemacht, 
ſteht heroiſch und rein inmitten der unſaubern Geſell⸗ 
ſchaft von Schleichern, Schmeichlern, Giftmiſchern und 
Maitreſſen. Dennoch ſtirbt mit ihrem Tode das Intereſſe 
für das Buch nicht ab, was häufig bei Werken der Fall 
iſt, in denen ein Nebenheld oder eine Nebenheldin zu 
früh aus dem Gang der Erzählung tritt; denn das Haupt⸗ 
intereffe nimmt eben doch Ludwig für fi) in Anfprud). 
Es iſt nicht der König, es ift auch nicht der Menſch, 
der uns dieſes Intereſſe erzeugt, jondern die in ihm 
wurzelnde Idee bes Jahrhunderts: das Streben, in der 
Perfon des Königs die Gloire des ganzen Reichs durch 
übermäßigen Prunk, gewaltthätige Eigenmacht, beraufchende 
Großmuth, vernichtende Befehlskraft darzuftellen. 


Daß wir dieſe majeftätifche Deajeftät in dem Roman 
balb als unglüdlich Liebenden, der Herzogin von Orleans 
gegenüber, und andererfeitd als Sultan feinen Maitreſſen 
gegenüber jehen, bringt einen Dualismus in die Königliche 
Erſcheinung, vor der alles tiefgebückt fteht oder „ausein⸗ 
anderftiebt‘; wir befommen dadurch eine Berguidung von 
Romantik und Materialismns, die deshalb fo uner- 
quicklich ift, weil wir die Liebe und von der finnlichen 
Genußſucht und jene von diefer getrennt denken müſſen. 
Die unbedeutend gefchilderte Herzogin von Lavalliere, 
die als Dedmantel für das romantifche Verhältniß des 
Königs zu feiner Schwägerin bienen muß, fpielt dadurch 
eine halb lächerliche, halb verächtliche Rolle. Ganz pro- 
ſaiſch ift die Anknüpfung mit der Montefpan; die Yon- 
tange muß auch noch mit hinein, während die bettelnde 
Scarron fih ſchon den Dispens vom Papſt zu einer 
Trauung mit Ludwig an der Iinfen Hand erwirkt: aller» 
dings ein gefchichtliches Factum, das fidh aber doch wol 
nicht mit folder Sicherheit voransfehen und gejchäfts- 
mäßig vorbereiten Tief. 


Neben Ludwig und Anna von Orleans erwedt Mo⸗ 
tiere die Theilnahme des Lefers, weniger durch fein Schau 
fpielerleben und feine unglüdlichen häuslichen Berhältnifie, 
al8 durch den piychologifchen Nachweis der Entitehung 
feiner berüifmt gewordenen Komödien. Indem wir den 
Komddianten und Komödbdienfchreiber in feinen Beziehun- 
gen zur Ninon, zur Herzogin von Orleans und zum 
König felbft Tennen lernen, erfcheint die Entwidelung fei- 
ner Stüde eine vollkommen natürliche und zeitgemäße, ja 
mit ihrer praftifchen Unterlage ein Stüd Gefchichte jelbft, 
benn früher machten ja eben bie Könige bie Gefchichte; 
wer bas Wort ausfpracdh: l’ötat c'est moi, war ſich befien 
mehr bewußt mie jeder andere, und indem Ludwig ben 


603 


armen Komdbianten an feine Tafel 309, ehrte er zugleich 
feinen eigenen Gejchichtfchreiber. 

ragen wir nun, zu welchem Zweck Brachvogel das 
Bud) gefchrieben, von weldjen Beweggründen er bei diefer 
Ürbeit geleitet gewefen, fo möchten wir ftatt feiner ant- 
worten: um uns ben Gegenſatz der Gefchichte von da- 
mal® und jetzt zu zeigen; von damals, mo fie in ber 
Hofintrigue ihre Duelle hatte, und von jett, wo fie als 
die Entwidelung des Menfchengeiftes gefaßt und begriffen 
wird und an die Stelle der Komödien. an den Höfen ber 
Könige die fociale Bewegung der gefammten Menfchheit 
getreten ift. 


3. Aus Kriege» und Friedenszeiten. 
Edmund Hoefer. Zwei Bände. 
1870. 8 3 Zhle. 15 Ngr. 


Der Titel läßt darauf fchließen, daß vorzugsweiſe 
Bilder ans dem Kriege und als Gegenſütze folche des 
ſtillen Friedens gegeben, daß die Contrafte diefer verfchie- 
denen Zuftände hervorgehoben werden und ein Zuſammen⸗ 
bang zwiſchen beiden nachgewiefen wird. Das iſt aber 
nicht der Fall, die Geſchichten ftehen in keiner Berbin- 
dung unter fi; auch find fie in ruhiger, faft zu leiden- 
fchaftslofer Weife erzählt, fie erregen keinerlei Spannung 
und bringen Feine überrafchende Apergus. E8 geht ein Geift 
der Nefignation durch die meiften diefer Gefchichten und 
der Schluß derjelben gleicht Häufig einer Diffonanz, welche 
beim Anhören eines Mufilftüds, wenn dieſes mit einer 
ſolchen abbricht, ein unbefriedigtes Gefühl zurüdläßt. 


So haben wir uns z. B. in der Geſchichte „Zer- 
brochen“ mit einem Zweifelnden und Liebenden von Seite 
zu Seite gequält und befommen endlich doch keinen Auf- 
ſchluß über das Schickſal und den Charakter de Mäd⸗ 
chens, für welches die lebhafteſte Theilnahme zu weden 
des Autors Abficht war. Ebenſo ergeht e8 uns mit der 
„Goldenen Rofe”, wir erfahren nichts Beftimmtes über diefe 
etwas plumpe Berfüihrungsgefchichte, ebenfo wenig wie 
über die Unfchuld des Mädchens in dem zweidentigen 
Haufe, wo heimlich Bank gehalten wird: wir follen ver⸗ 
muthen und errathen, 

Diefe Art von Myſtification Hat viel Entmuthigendes; 
dazu kommt etwas Gebehntes, Weitandgefponnenes, was 
oft den Lejer die Gebulb verlieren läßt, denn es find 
Nebendinge mit einer zu großen Wichtigkeit behandelt und 
Hanptfachen zu kurz abgethan, gleichjam als fomme es nur 
auf den Weg, nicht auf ben Zweck und das Biel der 
Keife an. Das mag in manden Fällen ganz richtig fein, 
wenn der Weg wirklich fo fchön ift, daß feine mwechjeln- 
den Reize uns vergefien laflen, wo wir eigentlich hin⸗ 
wollen und was wir vorhaben; ja eine entzüidende Land⸗ 
Schaft vermag einen Naturſchwärmer felbft auf der Keife zu 
einem fterbenden Freunde fo zu erheben, daß er auf Augen- 
blide feinen Kummer vergißt und in dem Anblid des 
Schönen ſchwelgt. In einem Buche aber, das nur den 
Zwei bat zu unterhalten, wollen wir nicht viele einförmige 
Streden durdwandern, um hier und da ein Ruheplägchen 
zu finden. Wir find überdem durch das Drängen und 
Treiben, das unfere Zeit mit fich bringt, nicht mehr 

| 76” 


Neue Gedichten von 
Breslau, Trewendt. 


U 





604 Eine Biographie aus dem Mittelalter. 


innerlich ruhig genug, haben in Wahrheit nicht Zeit genug 
übrig zur bloßen Beſchaulichtkeit. 

Jedenfalls aber find diefe „Neuen Geſchichten“ mehr 
dem mannlichen ald dem weiblichen Geſchmad entfprechend, 


Eine Biographie ans 

Friedrich der Freidige, Markgraf von Meißen, Landgraf von 

Aheingen, und die Wettiner feiner Zeit. (1247— 1325.) 

Ein Beitrag zur Geſchichte des deutfchen Reiches und der wetti⸗ 

nifgen Länder von Franz X. Wegele. Nördlingen, Bed. 
1870. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Nor. 

Friedrich der Freidige ift der Mehrzahl der Gebilde» 
ten unter der Bezeichnung „Friedrich mit ber gebiffenen 
Wange” eine mohlbefannte Geftalt. Schon Tängft hat 
zwar die Kritik jenen romantiſchen Nimbus von ihm ab- 
geftreift, mit welchem ihn die echte Volksſage, oder die Ge- 
ſchichte in volfsthümlicher Auffaffung, bekleidet Hatte, aber fein 
hiſtoriſch berechtigtes Prädicat „der Freidige“ ſcheint doch 
noch immer nur innerhalb des eigentlich gelehrten Kreiſes 
Geltung zu haben. Hochſtens daß es in falſchverſtande · 
ner Auslegung ſchon im vorvorigen Jahrhundert einmal 
in der „Freudige“ verballhornt und fo im die Literatur 
eingefchleppt und von ihr mit fortgefdhleppt worden ift. 
Und wi paßt auch das Prädicat freidig, mit feinem 
auf der Grenze zwiſchen gut und bös fehmebenden 
Sinne, den man am beiten durch „ein Mann, mit dem 
es nicht gut ift Kirfchen zu effen“ geben wird, nicht wohl 
zu dem vom Bollögemüth fo fentimental aufgefaßten 
Sohn der unglüdfeligen Kaiferstochter. Der hiſtoriſche 
Friedrich dagegen war ein freidiger Mann in des Wortes 
verwegenfter Bebeutung, ja fogar in feiner älteften, wo 
es den landfluchtigen, von Beute fi nährenden Partei 
gänger bezeichnet; aber er war aud) etwas mehr ala das, 
ein verftändiger, hartgefottener, phyſiſch und moraliſch 
tapferer Mann, ein echter Sohn einer finftern und har» 
ten Zeit, des Interregnums im Reiche und der in Meinerm 
Kreife ebenfo verhängnigvollen Exbfolgeftreitigkeiten über den 
reichen Nachlaß der ritterlichen Nachlommen Ludwig's des 
Värtigen, geftäßlt in ben nicht minder verberblichen häus · 
lichen Wirren innerhalb ber Familie der damaligen Wet 
tiner, des vielbefungenen und doch fehr wenig poetiſchen 
Heinrich des Erlauchten, feines Sohnes, des zerfahrenen 
und launiſchen Albrecht, des wahren Typus der unfuoge, 
wie fie ſchon feit Walther von der Bogelmeide mehr und 
mehr die deutſchen Fürſtenhöfe befchmuzte, und wiederum 
feiner Söhne, unter denen eben bdiefer Friedrich felbft 
und fein Bruder Diezmann allgemein befannte Geftalten 
geblieben find, weil fi die Volfsfage ihrer bemächtigte, 
die doch ihren Großvater Heinrih, aber nicht feinen 
Sohn Albrecht, freilich zu feinem Schaden vergefien 
burfte. 

Bon jeher Bat die Particulargeſchichtſchreibung mit 
einer gewiſſen Vorliebe bei der Geftalt dieſes Friedrich 

jerveilt, und begreiflich genug. Iſt ex doch ber typiſche 

epräfentant des vom Olüde gefrönten offenen Wider 
ſtandes des Territorialfürſtenthums oder ber fürftlichen 
Hauspolitit gegen die Reichspoiitik oder das Kaiferthum. 
Zwei —* Könige, die, als bloße Männer gewogen, 





namentlich werben ältere Leute, insbeſondere auch Militär- 
perfonen, barin manches Bild an ſich vorüberziehen jehen, 
das fie mit befannten Dingen in vertraute Beziehungen 
fest. Ieanne Marie von Gapetie- Georgens. 


dem Mittelalter. 


bei aller ihrer Verſchiedenheit untereinander doch zu ben 
tüchtigften zählen, welche das damalige Deutſchland Her- 
vorbringen konnte, Abolf von Naffau und Albrecht, Au- 
dolf's von Habsburg nicht umebenbikttiger Sohn, hatten 
es vergeblich verfucht, geftügt auf das formale Recht, ge- 
gen ihn bie Anfprüce des Reichs, wenn es im Hinter« 
grunde eigentlich auch nur ihre Plane zur Ermeiterung 
der eigenen Territorialmacht waren, durchzuſetzen. Beide 
find von dem einen Fürften befiegt worden, und wenn 
auch fein Sieg erft durch unberechenbare Zufäle, durch 
den anderweitig veranlaßten gewaltfamen Tod beider Kö- 
nige zu einem entſcheidenden geftempelt wurde, fo ift er 
doch in feinen Folgen ein folder gewefen. Bon da an 
ſteht die territoriale Legitimität des Haufes Wettin im 
Thüringen, dem Ofterlande und Meißen unangefochten 
feft, und niemals hat ein fpäterer Träger der Srone 
Karls des Großen baran gedacht, die formell unanfecht- 
baren Rechtstitel zur Execution zu bringen, auf melde 
ſich Adolf und Albrecht ftügten. 

Begreiflich ruht das Hauptinterefie einer geſchichtlichen 
Darftellung- des Lebens Friedrich's auf biefem feinem 
Kampfe gegen das Reich oder bie Könige. Iſt ja doch 
in Wirklichkeit der größte Theil feiner ungemeinen Kraft 
und Begabung dafür eingefegt worden. Und jo hält 
aud) dies meuefte Buch bie allgemeinen Gefidtspunfte 
vorzugsweife feft, ohne doch das Particulare, die innern 
BVerhältniffe und Beziehungen Friedrich's zu feiner Familie, 
zu Land und Leuten, außer Augen zu laſſen. Es bedarf 
Taum ber Bemerkung, daß der Verfaffer mit aller Gründ- 
lichkeit und Umficht einer durchweg ben lauterften und 
urjprünglichften Quellen nachgehenden Kritik und, foweit 
dies möglich ift, erſchöpfend den Stoff behandelt, jegen 
wir hinzu, auch in anfprechender und durchgebilbeter 
Eonception und Darftellung. 

Die neuere beutfche Gefchichtfereibung ift bekanntlich 
geneigt, im jedem Conflicte zwiſchen dem Barticulare 
fürftentfum und der faiferlichen Gewalt des Mittelalters 
für diefe legtere Partei zu nehmen, und fo aud hier. 
Markgraf Friedrich erſcheint unfern ghibelliniſchen Hifto- 
tifern, einem Böhmer, Kopp, Lorenz, nicht viel beſſer 
als ein vom Glüd begünftigter Rebell, während er der 
Landesgeſchichtſchreibung noch immer als das Ideal eines 
Helden und Fürften gilt. Ein Rebell müßte er nun 
freilich auch dem unbefangenen Urtheil eines ſolchen er- 
fcheinen, welcher fich von allem Phrafennebel des gefchicht« 
lichen Doctrinarismus frei gemacht hat, wenn man nad) 
Iandläufigem Sprachgebraud, darunter einen Mann ver 
fteht, der fich gegen das formelle Recht mit den ‚Waffen 
in der Hand erhebt. Aber es hat allerlei Rebellen vom 
befonderer Art gegeben, melden die Geſchichte jals das 
wahre Gottesgericht mehr als bloße Amneftie, eine voll · 





Eine Biographie aus dem Mittelalter. 


ftändige Upologie und Apotheoſe zutheil werden läßt. 
Bar nun Friedrih ein Hebel diefes Schlag? Wir 
meinen ed nicht, trogdem wir und von allem roman⸗ 
tiſchen Ghibellinismus frei wiſſen. Jene von der Gefchichte 
fanonifirten Rebellen empörten fi im Namen einer großen 
Idee, wie fie fie verftanden, gegen ben ftarren und hohlen 
Formalismus der Legitimität; biefer ,‚freidige Mann‘, : 
ein echter Strauchritter dieſer claffiichen Epoche des 
Stegreifritterthums, kannte nichts weiter als bie nüchtern⸗ 
ften Intereffen des Befiges und des Privateigennutes, der 
zufällig bei ihm auf die embryonifchen Elemente ſtaats⸗ 
rechtlicher Verhältniſſe baſirt war, weil es fi um das 
Mein und Dein einer Familie handelte, die flaatliche 
Yunctionen in Privatbefis gebracht hatte, oder, wie man 
das technisch nennt, zum Keichefitcftenftande gehörte. So 
iſt und bleibt er, troß unleugbarer Kraft des Willens 
und ebenfo unleugbarer Tüchtigleit der That, doch ein 
durch und durch profaifcher Geſelle, und die Weltgefchichte 
ift num einmal fo fonderbar gelaunt, nur ideale oder im 
tiefften Sinn poetifche Geftalten, verfteht fich beileibe 
nicht folche, die Verſe gemacht Haben, fondern eher einen 
Percy als einen Owen Glendower, ber 


framed to the harp 
Many an English ditty, lovely well — 


ber Heroenanbetung würdig zu erflären. Nicht alfo weil er 
gegen das Reich arbeitete, wird er auch von uns nicht zu 
den großen Seftalten der Vorzeit gefegt, fondern weil er es 
in beſchränktem Sinne that, gleichviel ob er damit un« 
willkürlich das eigentlich Zeitgemäße traf, d. 5. das, was 
nach Lage der realen Dinge nothwendig Ausfiht auf 
äuferliches Gelingen haben mußte. Denn jene faiferliche 
Politik, die er befiegte, wäre, wenn fie wirklich das be⸗ 
abſichtigte, was ihre modernen Xobpreifer mwähnen, das 
denkbar verfehrtefte Ding von der Welt gewejen. Aber 
fie bat, auch felbft wenn ihre Träger ſich darüber ge- 
täufcht haben follten, einen ganz andern wirklichen Inhalt 
gehabt. Rudolf I. gibt ja dafür das bdeutlichfte Zeugnif. 
Wenn irgendeinem, jo war es ihm Ernft mit dem kaiſer⸗ 
tihen Gedanken. Und woranf lief diefer fchließlich hinaus? 
Daß er feiner Yamilie eine flattliche, hübſch abgerundete 
Hausmacht hinterließ. Ein Adolf brachte es freilich nicht 
fo weit, eben weil er fein Rudolf war. ber !die Er- 
oberung des wettinfchen Samilienbefiges, wenn fie geglückt 
wäre, hätte nur eine neue Familie von Territorialherren 
groß gemacht, dem eich ober der Idee des Kaiſerthums 
wäre damit nicht geholfen worben. Ihnen war überhaupt 
nicht mehr zu helfen, und ber Inſtinet davon mag es 
gewejen fein, ber auch in diefem- Kampfe der Territorial⸗ 
gewalt ihr die Sympathien der Bevöllerung ficherte, nicht 
wie wir e8 von moderner Denkweife aus anzunehmen ges 
neigt find, ein wirkliches Band des Gemüthes, etwa jene 
von unfern Barticulariften auch in das Mittelalter hin- 
eingefälfchte Liebe und Treue zu den „Angeftammten“. 
Dazu war die Zeit zu Bart und zu nüchtern, und bie 
Angeftammten forgten durch unaufhörliche Kaufe, Taufch- 
und Pfandgefchäfte, die alle mit mehr als jüdiſcher 
Betriebſamkeit als ihre Hanptlebensaufgabe behanbelten, 


605 


genugjam dafür, daß ſich das ruhige Gefühl der Zuſam⸗ 
mengehörigfeit zwifchen Herren und Unterthanen nicht bil 
den konnte. Wenn nnd wo bie legtern die erflern gegen 
Kaifer und Reich unterftügten, geſchah es, meil fie im 
ihnen doch noch einen beflern Halt fahen als im jenen 
fhon zu Schemen gewordenen Mächten. Go viel als 
der Geift der Nation damald vom Staate wollte und 
ertragen konnte, genau, fo viel gewährte ihm das Terri⸗ 
torialfürftenthum, freilich wenig genug in unfern Augen, 
aber doch nody genug, um die völlige Auflöfung ber 
Angehörigen des beutfchen Volks in blos fociale und 
gänzlich flaatlofe Atome zu verhindern. Denn ein ge- 
wiſſes Staatsbebürfnig hat fich doch immer und in allen 
Situationen ber deutichen Gefchichte ald das eine große, 
fie beftimmende Moment bethätigt; das andere, ihm ge 
rade entgegengefegte ift das der abfoluten Staatslofigkeit, 
welches gleichfalls von Anfang an dagegen Tämpfte. Die 
Phaſen ihres Kampfes bedingen die Ereigniſſe, die man 
deutfche Gefchichte nennt. Damals ftand e8 fo, daß das 
Kaiſerthum, wenn auch dem Namen nad) eriflirend, dem 
Staatsbedürfnig bes Bolksinftinctes nichts mehr bieten 
tonnte; hundert Fahre früher mochte dies noch zweifelhaft 
fein, folange dies Kaiſerthum felbft noch nicht fein Geſchick 
erfüllt Hatte. Dies beftand darin, daß es in dem gleich“ 
zeitigen Verſuch ber Löfung zweier innerlich unvereinbaren 
Aufgaben ſich aufrieb. Die Idee bes Univerſalreichs 
und die innerlich entgegengeſetzte des Nationalſtaats hat 
alle großen Geſtalten unferer deutſchen Herrſcher zu einem 
ebenjo großartigen, wie zunächſt und vor allem für ihr 
eigenes Bolt verhängnißvollen Ringen gegen die Natur 
fozufagen getrieben. Fragt man aber, woher es kam, 
daß fo tüchtig angelegte, alfo auch felbftverftändlich von 
feiten der Intelligenz reich ausgeftattete Männer auf einer 
fo vernunftwibrigen Bahn fich bewegten, fo ift die Ant⸗ 
wort nur aus einer richtigen Einfiht in die legten 
Grundlagen der pfychologiſchen Eonftruction des deutfchen 
Boltscharalters, oder der deutſchen Volksſeele ald dem 
Subftrat des Charakters, zu entnehmen. Die Ungezogen- 
beit des fubjectiv fi) zur Außenwelt verhaltenden Ger 
müths, bie felbft nad der fehonungslojen Zucht einer 
zweitaufendjährigen Gefchichte noch jegt die weſentlichſte 
Signatur der deutfchen Art bildet, hat im Mittelalter 
den Bau eines deutfchen Staats, der nad) den Begriffen 
der Zeit diefen Namen verdient hätte, vereitelt, aber das 
Bedürfniß nah ftaatliher Zuſammenfaſſung war doch 
mwenigftens auch ftark genug, um das völlige Aufhören 
des Dolls, was mit dem Aufhören feiner ftaatlichen 
Formen hätte eintreten müflen, zu verhüten. In der- 
jelben Weife fümpfen ja aud) jett noch beide Momente 
mit unleugbarer Erftarkung des letztern, das, wenn über« 
haupt das deutſche Volk ſich phufiich behaupten will, in 
der von ber gegenwärtigen Weltlage geforderten Form 
des ftricten Einheitsſtaats sans phrase ſich realifiren muß. 
Aber wenn wir dies auch Mar erkennen, oder weil wir 
dies thun, können wir auch einer fcheinbar nad) der ent» 
gegengefegten Richtung ſtrebenden Geftalt der Vergangen⸗ 
heit wie Friedrich der Freidige gerecht werben. 
Heinricd, Rücert. 





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606 Fenilleton. 


Fenilletan. 


Zur Kriegslyritk. 


Die drei erſten Hefte der „Lieder zu Schutz und Trug”, 
welche in Berlin im Berlag von Franz Lipperheide erfchienen 
find, bringen eine Zahl bisher unbelannter Driginalgebichte, 
welche eine erweiterte Rundſchau Über das gewaltige Iyrifche 
Aufgebot der Neuzeit geflatten. Wir können bier nicht alle 
Poeten nambaft machen, welche jet das Banner ber Kriegs⸗ 
Igrit hochhalten; die Thatſache ſteht feſt, daß kaum ein Name 
von literarifcher Bedeutung in ihren Reihen fehlt, ja daß felbft 
diejenigen Schriftfteller, deren Miffton flir bie Lyrik zweifelhaft 
ift, ausnahmsmeife den Pegafns zum Ritt in das vomantifche 
Land der Strophen und Reime fatteln. Unter den patriotifchen 
Lyrikern finden wir fogar die Hauptvertreter der jungdentſchen 
Proſa, Karl Gutzkow und Suftan Kühne, welder letztere 
Autor allerdings in jlingfter Zeit die Lyrik mehr pflegt als in 
ben Tagen feiner Sugend. Auch Dramatiler und Novelliften, 
wie Roberich Benedir und Guſtav zu Putlig, finden fi 
unter den Lederfängern ein. Der erſte befiugt in humoriſti⸗ 
cher Weiſe den „Spaziergang nad Berlin‘. Einige bdiefer 
Strophen find bereits in Erfüllung gegangen, fo z. B. bie 
gereimte Doppelgeile: 

Bielleiht auch jehen wir Daun Ihn 
Auf dem Spaziergang nad Berlin. 
Guſtav zu Putlitz fingt in ſchwunghaftern Strophen: 
Dem Herrn der Schlachten ſei empfohlen 
Fürs Vaterland der heil'ge Krieg; 
Er Tommt, wenn auch auf blut'gen Sohlen, 
Ia, er muß Tommen — und ber Sieg, 


Die tobumranichten Lorberreifer 

Dann füget alle Zweig an Zweig, 

Zur Krone für ben deutſchen Kaiſer, 
Zum Breiheitsbaum im deuntſchen Reich. 


Auch an einzelnen Euriofitäten fehlt e3 in der Sammlung 
nicht; wir rechnen dazu, ohne der tüchtigen Gefinnung zu nabe 
zu treten, die Verſe, im denen der alte Maßmann „Ernft 
Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn“ herbeibeſchwört; 
die ganze Dichtweiſe gemahnt jo altburſchenſchaftlich wie ein 
Geiftergruß aus der Zeit der verfemten Turnerei: 

Ich wollt', ih könnt' euch weder, 
Ernft Morik Arndt nnd Jahn, 
Euch treue Zwillingsreden, 
Zur neuen Siegesbahn; 
Was ihr gewollt, gewaget 
In fchwerer, ſchwüler Zeit, 
HM nun beraufgetaget 
Zu ſfichrer Herrlichkeit. 


Ihr Habt der Corſen Erften 
Geftürzt von feinem Thron; 

Nun gilt’8 bem Liebeleerften, 
Dritten Napoleon, 

Dem Lügner, ber die Laufbahn 
Begonnen mit Meineib, 

Und nun ben welfden Raufbahn 
Läßt 108 auf deutſcher Heib. 


O Körner, ruf nun wieder 

Den Geiſt von Dreizehn wach; 
Ernen're beine Lieber 

Und Rogau's Shwur zur Nach’! 
Und riefen, ſchwinge fröhlich 

Nun deinen Flamberg blant! 
Gewiß, ihr blicket felig 

Auf unfern Schwertergang. 

Auch plattdeutſche Kriegslieder enthält die Sammlung, 
Klaus Groth fingt ein Lied: „Bun alle Bargen, de Krüz 
un Queer“. Auch der unpolitiſche Liederdichte Hoffmann 
von Fallersleben ſtimmt ſeine Leier nach alter Voiksweiſe 


und aͤngt ein Lied: „Wir find da'“,, deſſen erſte Strophe 
autet: 


Friſch auf, friih auf! Zu den Waffen 

Rufet uns das Baterland. 

Komm, Kalfer der Franzoſen, 

Mit deinen rothen Hofen ! 

Nun, wolan, kommt heran! 

Wir find da Daun für Mann, 

Ohne Zagen ench zu fchlagen, euch zu jagen weit vom Rhein, 

Sucher ihr follt dran denken! 

Guſtav von Meyern fingt ein fräftiges Lieb: 

Herunter vom Sattel ben Reiter, 

Du feurig franzöſiſchet Roß! 

Auf, Bäume dich, trag’ ihn nicht meiter, 
Bon dem unfer Herzblut floß- 

Ein frifches Landwehrlied theilt H. Biehoff mit; dagegen 
gemahnen die ‚, Dentjchen Schlagwörter” von Ludwig Baner 
mit " deutfche Diebe, deutfche Keile, deutſche Wichfe”, etwas 
trivial. 

Wenn wir in unferm vorigen Bericht über die „Kriegslhrit 
erwähnten, daß bisher das Kriegslied faft ausſchließlich gepflegt 
werde, fo können wir jetzt bereits mehrere Kriegsgedichte in 
gemäbiteren Kunftform, in Odenſtrophe und Sonett, regiftrien. 

on Julius Grofſe, ber in der „Dentfchen Allgemeinen Zeitung" 

ein Gedicht im freien Ahythmen: „Auf die Kuiee, Franteeid 
veröffentlichte, und der fich Überhaupt zu der pomphaften, voll⸗ 
tönenden Dichtweiſe Hinneigt, findet fich im den „Liedern zu 
Schug und Trug‘ noch ein Sang in Terzinen: „Ihr habt's ge 
wollt‘, welcher der verfchlungenen reflectirenden Strophenform 
einige energiiche Wendungen abnöthigt: 

Ihe habt's gewollt! Die Eifenwärfel rollen — 

Europa bebt. Es wogt die Bölterflut 

Des Rieſenkampfes, bes verhängnißvollen. 


Ihr habt's gewollt! Auf euer Haupt Dies Blut, 
Nicht zehnfach Löfcht es biefe SchredensBrände, 
Die ihr entfacht mit frewelhaften Muth. 


Ihr Habt’s gewollt! Die ränberlichen Dande 
Ruchloſer Gier, wahnfinniger Eiferfucht 
Ausftredtet ihr nach friedlichem Gelände. 


Ihr habt's gewollt! Weil uns bie heildge Frucht 
Der Einheit reifte und ber deutſchen Treue, 
Entfefielt ihr des Kriegs Dämonenwucht — 


Ihr wollt's — iſt doch bie Rechnung Teine neue: 
Zweihundert Jahr ſchon prahlt ihr mit dem Raub 
Bon dentſchen Ländern ohne Scham und Scheue. 


Noch blüht die Schmach, ſolang der Eiche Laub 
Im Elfaß grünt, und deutſche Roſen fprofien, 
Solang in Strasburg ſchlummert Ermin’s Staub, 


Ihr habt's gewollt! Diesmal wird abgeſchlofſen 
Die große Rechnung auf dem Blutaltar 
Mit jedem Wahn, der euch ins Hirn geſchoſſen. 

Zwei kräftige Sonette widmet Oswald Marbach den 
Franzoſen und ihrem Imperator, welcher der „würdigſte Dictator 
der Schafalhunde‘ in dem zweiten Sonett genannt wird. 
Daſſelbe fchließt mit den Zerjen: 

Dein „Bott der Schlachten” führt auf biutigen Wegen 
Dig, feinen Sohn, durch Nacht dem Ziel entgegen: 
Der leidige Satan gibt bir feinen Segen! 


Wir halten's mit dem heiligen Yriebensgotte, 
Den bu verhöhnft mit übermüthigem Spotte; 
Er wintt — und du zerftiehft ſammt beiner Rotte! 


Eine Ode in ſapphiſchen Strophen richtet Heinrich 
Pröhle an Franfreih, eine andere Julins Sturm. Un 
ſcheint indeß mehr die alcäifche als die fapphifche Strophe für 
Kriegsgefänge geeignet. 

Unter dem Titel: „Deutichlands Traum, Kampf und Sieg", 
bat Hans Mindwit geharnifchte Sonette nebft einem Anhang 
vaterländifcher Gedichte (Leipzig 1870) herausgegeben. Der größere 





Pr 


Feuilleton. 607 


Theil diefer Gedichte ift ſchon vor bem deutſch⸗franzöfiſchen Krieg 
geiäte, aber auch in diefem fpricht fich die Ueberzeugung bes 
rfaffers aus, daß nur durch Preußen die nationale Einheit, 
Freiheit und Sröße herbeigeführt werden fann. Die gehar⸗ 
niſchten Sonette haben den flählernen Klang der Rückert'ſchen; 
fie wenden fi an die Particnlariften, an die Süddeutſchen, an 
die Radicalen; fie feiern Preußen und die Bolitit von Blut und 
Eifen. Das erfle, treffliche Sonett: „Germania“, lautet: 


Sn einem Thale lag ein fhöner Garten, 
Drin viele junge, ſchlanke Bäume fproffen: 
Gie wurden von ded Himmels Flut begoffen, 
Und Sonnenftraßlen jhoflen, fie zu warten. 


Sie wuchſen, grüne, rauſchende Standarten, 
Bon Blurtenreichthum herrlich oft umfloſſen, 
Doch ſtanden, ach! fie eng und eingeſchlofſen 
Wild durcheinander in dem Grund, dem harten. 


Drum konnten nidt bie volle Pracht fie zeigen, 
Da nit genug fie Raum und Sonne hatten, 
Und viele mußten fih dem Tode neigen. 


Dog eine Eiche firedii empor den glatten, 
Gewalt’gen Stamm mit laubgeſchmückten Zweigen 
Und fpeudet weit ergnidend Ihren Schatten. 


Unter den „Baterländifchen Liedern” Hat „Vater Arndt’s 
Todeslied den lebhafteſten Schwung, mie die erflen Berſe 
beweifen mögen: 

Weine nicht, wenn ich gefchieben, weine nicht, mein Baterlanb, - 
Wenn dein wärmftes Herz erfaltet, wenn bein treufter Sänger ſchwand. 


Laß mi ſtil hinüberziehen, denn mein Herz ift faft verzagt, 
Da von heut bein Tag ber Freiheit ſtets auf morgen fich vertagt. 
Ad, für pi hab’ ich gelitten, wie für dich kaum Einer litt, 

As Tyrannentrug und Schlaffheit tief in beine Wurzel ſchnitt. 


Für das Licht, für alles Große ſandt' ich glühend mein Geſchoß: 
Klang mein Lieb, in das ich meiner Seele ganzes Feuer gof. 


Deine Hoffnung war mein Pulsſchlag, deine Wunbe war mein Schmerz, 
Deine Größe war mein Ringen, beine Schmach brad mir das Herz! 


Schön ift das im „Neuen Blatt‘ mitgetheilte Gedicht von 
Albert Roffibad: „Der Krieg” Form und Inhalt haben 
den Reiz der Originalität. Es beginnt mit der Strophe: 

D Glülck der Menfchen, auferbaut im Yrieben, 
Beſcheibdnes Bauwerk du auf engem Raum, 

IR alfo jäh dein Sturz? BiR du bienieben 
Kurz wie vom Gaſtmahl eines Bettlers Traum? 
Millionen fah ich ſchaffen und vollenden 

Die Urbeit, bie bes Wriebens Tag erlaubt — 
Da fiel aus eines Einz'gen ſchlaffen Händen 
Das blante Schwert raſſelnd auf aller Haupt. 

Sehr erfreulid if es, daß jegt auch bie öfterreichiichen 
Dichter in bie Arena treten zum Wettgefang mit den Lyrikern 
Deutſchlands. Alfred Meißner dichtet ein Strafgedicht: 
„An die Deutfch-Defterreicher‘‘, deffen erfte Strophen lauten: 

War das ein Singen und Sichbrüſten 

Am Fürftentag, am Schultzenfeſt, 

Ein ſchwarzrothgoldnes Fahnenrüſten, 

Als Deutſchlands Krone ſchien das „Beſt“! 
Da war in allen deutſchen Gauen 

Nichts deutſcher als Deutſch⸗Oeſterreich, 
Es kam dem Stamme „an ber blauen, 
Der jhönen Donau“ Teiner gleich. 


Dort fand „feit Babenbergerzeiten” 
Des Reiches Wehr, des Reiches Ruhm; 
De „blübte in des Marchfelds Welten 
Der Biinnefang, das Ritterthum“! 

Es war „das Land ber Nibelungen“, 
Bol Lit und Sang und ®lodenerz, 
In tanfend Liedern fon befungen — 
Die Oſtmark war „bad beutfge Herz“. 


Und nun, da unter Strömen Blutes 

Ganz Deutihland Tämpft ums höchſte Ziel, 
Seht ihr dem Ringen Höfen Muthes 
Nur zu wie einem Schachbretſpiel? 


Berboten iſt's, zu deuten Siegen 
Zu jauchgen, denn es kränkt zumal 
Boladen, Gzehen und Jazygen — 
Aud if die Loſung ja: neutral! 


Anaftafins Grün fingt „Zeitllänge, im Sommer 1870°, 
drei Sonette, von denen wir das dritte mittheilen wollen. 
Wenn auch der erfien Verszeile deſſelben ein Fuß fehlt, fo wird 
bies durch die enthufiaſtiſche Bewegung ber übrigen hinreichend 
wieder eingeholt: 


Doch nein! — Wie arg das Leib auch wäre, 

Ob um bie Wipfel Nebelbünfte jagen, 

Die Sumpfluft auf ben Höhn fol nicht verklagen 
Das Thal und feines Stromes Wellenkläre. 


Im Thal, bei ſchlichtem Bolte, wi ich fragen 
Nah Rettern, nad ben Rädern beutfiger Ehre: 
Ha, mie Ein Wetterſtrahl flammt alle Wehre 
Und Eines Sinns die Herzen alle fchlagen! 


Wo ſolcher Zorn auf Männerflirnen lodert, 
Sol edler Trutz das Net, fein Recht nur fobert, 
Berzage, büben, brüben, ber Bebränger! 


Wer dieſes Volkes Ringen und Vollbringen 
Einft jubelnd darf den freien Enteln fingen, 
Set mir begräßt ald glüdlichfter der Sänger. 


Wie viele Perlen die lyriſche Sturmflut des Jahres 1870 
zu banerndem Gewinn an ben Strand gemorfen bat: das wird 
er eine fpätere Sichtung entfcheiden; jedenfalls if neben vielem 
Unbedeutenden auch viel Zreffliches fowol der Form als bem 
Subalt nad) gebichtet worden. . 


Bibliographie. 
16. 8 YA d onfebt, F., Neun Kriegslieder. Bielefeld, Belhagen u. Klafing. 
q T. 
Ohomäkoft, A. 8,, Versuch einer katechetischen Darstellun der 
Lehre von der Kirche, "Ans dem Russischen. Berlin, Behr, 8, 
gr. 
Du Bois-Reymond, E., Ueber den deutschen Krieg. Rede. Ber- 
in, A, Hirschwald, 8, 8 "Ner. 
Die Brangojen in Deutſchland. Münden, Fritſch. Gr. 8. 4 Nor. 
Der Rhein fol deutih verbleiden! Ka eber und 
si Eine Mit abe für a Brave Srieger Fa Mars 
he nah Fraukreich. Halle, Herrmann. 8. 2 Nor. 
ow, K., Das Duell wegen Ems, Gedanken Über ben Frieben. 
Bahn ———— u. Muhlb Breit, ®r. 8. 24,, Ner. 5 
erwart, L., Zwei Jahre Schlüffelfoldat. Rus bem Ta ebuche eines 
päp Then Solbaten, Münden, ann ©r. 8. 18 Nor. Brand 
Hofstede de Groot, P., Aa Schefler. Ein Charakterbild, Ber- 
lin, Heinersdorff. Gr, 8. 35 N 
utelmann, C., Ein 4 ni ien® anf bie Eultur des Occibents. 
a hmib b. dh. » 5 Ar. 
Deutſche Kriegslieder 1870. Bindım, Stahel. 32. 1 Ngr. 
meutfüe Kriegs⸗ und Marſch⸗Lieder. Hamburg, I. F. Richter. 32. 


& Der Brtgeiganpie, ıfies Heft. Leipzig, Onmibus » Erpebition. 
x. 4. 

Livlands lebendiges Recht nach neuen Archivstudien dargestellt von 
einem Livländer. Berlin, Behr. Or. Ngr. 

Müldener, R. Deutich » franzöfiiche Kriegs - € pen. Ei i ei e 
Darftellung dee — F Frrutez Kae on s ige 
zung, für Puſtreitend e und Mitlebende. ief. FR e, ans 

.. 8. gr. 

Millervon ber Werra u. W. Baen nl Dentilant. Neue 
Lieber er a — und Trutz im Sabre ber neigen G erhesun 1870. Stereo» 
typ- Hu eipzig, Baenid. 

ri ‚ Betraßtungen ber b bie Sandler von Minneſota. Gotha, 
Stollberg. Ör. 8. 10 Near. 

— — Die Deutfhen in den sunexeinigten Etanten von Norbamerika. 
Eine Beleuchtung. Gotha, Stolberg. ®r. 8. 10 Ngr. 

Shramm's, R., Kriegs-Brofchären. I. Die europäi de Diplomatie, 
Be beutiche voltev — * und die allgemeine Leipzig, 

D. Wigand. 8, 5 Ngr. 

Der protestantische Standpunkt. Bedenken eines Protestanten. Nebst 
einem Anhang: „Die primitire Kirche.‘“ Berlin, Behr. Gr. 8. 1 . 

Strobl, J., Ueber das Spielmannsgedicht von St, Oswald. Wien, 
Gerold’s Sohn, Lex-8. 7, Ngr. 


Uhde, AT Weimard Tünflleriihe Glanztage 26.— 29, Mai unb 19, 
— 29. Juni 1870. Ein Erinnerung$blatt. Leipzig, Kabnt. "& 8. 5 Ngr. 


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608 Anzeigen. 


Anzeigen 


Seit Januar d. J. erscheint: 


Mittheilungen 


von 


F. A. BROCKHAUS m LEIPZIG. 


Verlagshandlung — Sortiment — Antiquarium — 
Commissionsgeschäft — Bucohdruckerei — Schrift- 
giesserei — Stereotypie — Galvanoplastik — Xy- 
lographische Anstalt — Lithographie — Stahl- 
druckerei — Stempelschneiderei und Graviranstalt — 
Mechanische Werkstätte — Buchbinderei. 


Durch die „Mittheilungen‘‘ beabsichtige ich, zunächst 
meinen Geschäftsfreunden im In- und Auslande von 
den Unternehmungen und Leistungen der verschiede- 
nen Zweige meines Etablissements vollständigere, über- 
sichtlichere und zusammenhängendere Kenntniss zu 
geben, als es durch vereinzelte Circulare, Anzeigen, 
Berichte u. s. w. geschehen kann. Indem abwechselnd 
bald aus diesem bald aus jenem Zweige speciell be- 
richtet wird, sollen die „Mittheilungen‘‘ in ihrer Folge 
das Ganze des Geschäfts zur Anschauung bringen. 


Inbalt von Nr. 1—4. 


Nr. 1. Verzeichniss der im Jahre 1869 im Verlage von 
F. A. Brockhaus in Leipzig erschienenen Schriften. — 
Aus anderm Verlag in den von F. A. Brockhaus in Leipzig 
übergegangene Werke. — Verzeichniss von Recensionen 
in deutschen und ausländischen Zeitschriften. — F. A. 
Brockhaus’ Sortiment und Antiquarium, Buchhandlung 
für deutsche und ausländische Literatur. Antiquarische Ka- 
taloge und Antiquarische Anzeiger. — Die technischen 
Geschäftszweige von F. A. Brockhaus in Leipzig. 

Nr. 2. Neuester Verlag, Januar und Februsr 1870. — Preis- 
ermässigung. — Unter der Presse befindliche Werke, — 
Verzeichniss von Recensionen in deutschen und ausländi- 
schen Zeitschriften. — Uebersetzungen von Werken aus dem 
Verlage von F. A. Brockhaus. — Prospect über die elfte 
Auflage des „Conversations-Lexikon‘ und den Umtausch 
alterer Auflagen. — Neuigkeiten der ausländischen Lite- 
ratur, zu beziehen durch F. A. Brockhaus’ Sortiment und 
Antiquarium. 

Nr. 8. Neuester Verlag, März 1870. — Aus anderm Ver- 
lag in den von F. A. Brockhaus übergegangene Werke. — 
Neuigkeiten der ausländischen Literatur, zu beziehen 
durch F. A. Brockhaus’ Sortiment und Antiquarium. — 
Neuer. antiquarischer Anzeiger. — Desideratenliste. — 
Prospect über „Unsere Zeit. Deutsche Revue der Ge- 
genwart“. — Prospect über das Werk: „Die Serben an 
der Adria. Ihre Typen und Trachten“, 

Nr. 4. Neuester Verlag, April 1870. — Preisermässigung. — 
Königlich Sächsisches Gesetz, die Presse betreffend, vom 
24. März 1870. 

Nr. 5. Neuester Verlag, Mai 1870. — Neuere Publicationen 
der Congregatio de Propaganda Fide in Rom. — Preis- 
ermässigung und Inhaltsangabe von Friedrich von Rau- 
mer’s „Historischem Taschenbuch“. Vierzig Jahrgänge: 
1830—69. — Norddeutsches Bundesgesetz, betreffend das 

“ Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musika- 
lischen Compositionen und dramatischen Werken. Vom 
11. Juni 1870. 





Nr. 6. Neuester Verlag, Juni 1870. — Künftig erscheinende 
Werke. — Neuigkeiten der ausländischen Literatur: Its- 
lien. — Prospect über die „Shakespeare-Galerie“, heraus 
gegeben von Friedrich Pecht. — Prospect über Bunsen's 
Bibelwerk. — Kriegskarten. — Für Zeitungsverleger. 


Literaturfreunden, welche sich für meinen 
Verlag interessiren, lasse ich auf ihren Wunsch 
die in der Regel monatlich erscheinenden Num- 
mern der „Mittheilungen“ gratis zugehen. 


F. A. BROCKHAUS. 





Den Smtereffenten ber 


Genoſſenſchaft Dramatiiher Autoren und 


Compomiften 

bringt zur Kenntniß, daß die flir den 20. September a. c. nach 
ruberg anberaumte Conferenz in Rüdficht auf die Kriege 

verhältnifje bis auf weiteres vertagt iſt und mähere Anzeige 

durch dies Blatt fpäter wieder erfolgen wirb. 


Biesbaden, Ende Auguft 1870. 
Der interimiftifche Schriftführer 


Carl W. Sat. 


Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipgig. 





Soeben erfdien: 


Hundert Dahre. 
1770 —1870. 

Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen. 

Bon 


Heinrich Albert Oppermann. 
Achter Theil. 8 Geh. 1 Thlr. 
(Dex erfte bis fiebente Theil Toften zufammen 8 Zhlr. 10 Rpr.) 


Die bisher erſchienenen Theile dieſes von dem Hifi 
verfiorbenen Mitgliede des preußifhen Abgeordnetenhauſes 
Obergerichtsanwalt Oppermann aus Hannover verfaßten cul⸗ 
turhiſtoriſchen Romans haben in der geſammten Preſſe, ſelbſt 
von ſeiten der politiſchen Gegner des Verftorbenen, jehr warme 
Anerfennung gefunden. Sicher wird ber ebem ausgegebene 
achte Theil, in welchem die Ereigniſſe von 1848 bie 1852 den 
geſchichtlichen dinte gund bilden, das allgemein günſtige Ur⸗ 
theil noch mehr befefti 

Der neunte Theil, "mit welchem das intereffante Werl ab⸗ 
ſchließt, befinden ſich bereits im Drud. 





Derfag von 5. 4. Brockhans in Ceipzig. 


Soeben erschien: 


Paris als Waffenplatz. 
Plan von Paris und seinen Festungswerken. 


2'/, Ngr. 

Ein nach sorgfältigen Aufnshmen in Stahl gestochener 
Plan von Paris nebst Umgebung, auf welchem alle Fortifi- 
cationen durch Farbendruck hervorgehoben und die wich- 
tigsten Gebäude, Plätze, Brücken u. s. w. namentlich an- 
gegeben sind. 





J 
Berantwortlier Redactenr: Dr. Eduard Brockhaus. — Drud und Berlag von $. A, Brockhaus in Lefpzig. 
t 


——— 


Blätter 
literariihe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—e4 Ar, 39. #— 


22. September 1870. 





Inhalt: Neue Effays von Heinrich von Treitſchke. Bon Audolf Sottſchal. — Literaturgefchichtlicdes. Von Wilhelm Buchner. 
GBeſchluß.) — Bergleihende Erdkunde. Bon Rigard Andre. — Senileten. (Sin Wörterbuch zu Luther’s deutſchen Schriften; 
Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Uene Eſſays von Heinrich von Ereitfchke. 


Siftorifche und politifche Auffäe von Heinrich von Treitſchke. 
Neue Folge. Zwei Theile. Leipzig, Dirzel. 1870. Gr. 8. 
2 Thlr. 24 Ngr. 


Unter ben politifchen Effayiften nimmt Heinrich von 
Treitfchle eine hervorragende Stellung ein; er bat das 
os magna sonaturum, Schwung und prophetifche Geften, 
und befleifigt fich einer von Parteiftandpunkten unabhän- 
gigen Kritik, welche nur bisweilen in ihrer vornehm ftaats- 
münnifchen Haltung der abweichenden Anficht gegenüber 
allzu überlegen ablehnend erjcheint. Daß mehrere Pro- 
phezeiungen feiner erſten Effays fich inzwifchen erfüllt ha⸗ 
ben, fpricht dafür, daß die Vegeifterung diefes ſchwärme⸗ 
riſchen Unitariers die Ziele unferer politiichen Bewegung 
rihtig erfaßt Hat. 

Außer den politiihen Efiays finden fich in ber 
vorliegenden Sammlung biftorifhe Abhandlungen und 
ein paar literarhiftoriiche Porträts, lettere allerdings 
von geringer Bedeutung. Was Treitſchke über Kleift, 
Hebbel und Otto Ludwig fagt, ift mit größerer kriti⸗ 
her und charakteriftifcher Schärfe bereits öfters aus- 
gefprochen worden. Die Vornehmheit, mit welcher 
Hr. vom Treitfchle die deutſche Kritik mishandelt, ift 
gegenüber feinen eigenen Leiflungen auf biefem Ge» 
biete fehr wenig motivirt; wenn er fagt: „Wir empfinden 
für den Kritiker fogar eine gewiſſe Hochachtung, wenn er 
die Kenntnifje eines angehenden Oberfecundaners entfaltet‘, 
fo darf man wol fragen, welche Yenilletonkritit er dabei 
im Auge bat? Denn die Yeuilletonkritifer unferer erften 
Zeitungen ftehen auch nicht um eines Haares Breite hin- 
ter der geiftigen und wiſſenſchaftlichen Befähigung des 
Hrn. von Treitfchle zurück, und dies hochtrabende Herab- 
fehen wird dadurch nicht befier, daß es fich in vager 
Allgemeinheit Hält und ehrenwertfe Ausnahmen aner- 
kennt. 

Die literariſchen Porträts von Kleiſt, Hebbel und 
Ludwig, 
allen —Se — mit der Entwickelung unſerer neuern 

1870. 8. 


welche Treitſchke entwirft, ſind überhaupt ohne 


Literatur hingeſtellt. And macht die Wahl den bedenk⸗ 
lichen Eindruck, als ſei ſie durch ein literariſches Coterie⸗ 
weſen beſtimmt; denn Kleiſt, Hebbel und Ludwig werden 
in gewiſſen Zeitſchriften fortwährend beleuchtet und in 
allen möglichen Attituden porträtirt, gleich als wenn es 
außer ihnen keine dramatiſchen Dichter von Bedeutung 
gäbe und die Fortentwickelung unſers Dramas ſich aus⸗ 
ſchließlich an dieſe Namen knüpfte, während doch das 
Gegentheil der Fall iſt und dieſe an ſich bebeutenden Ta- 
lente theil® eine krankhafte, theils eine paradore und ver- 
fehrte Richtung vertreten, welche bei der Nation wenig 
Anklang findet und von den allein zufunftspollen Bahnen 
des Schiller'ſchen Dramas abführt. 

Die biftorifchen und politifchen Auffüge Haben alle 
einen Mittelpunkt und einen Zwed: theild durch Vorfüh- 
rung geſchichtlicher Vorbilder, theild durch Kritik Fremden 
und eigenen Verfafjungswejens die Kortentwidelung Deutfch- 
lands. zu einen parlamentarifchen Einheitsftaat zu fördern. 
Treitſchke weicht vielfältig von der conftitutionellen Scha- 
blone ab, und gerade in diefer Hinficht ergänzen ſich die 
Hauptauffäge des Werks: „Frankreichs Staatsleben und 
der Bonapartismus‘ und. „Das conftitutionelle Königthum 
in Deutſchland“. Die Kritit des Julikönigthums ſowol 
wie diejenige ber preußifchen Liberalen im Landtage zeigt, 
daß Treitichle den Ruhm eines Realpolitifers in Anſpruch 
nimmt, der in die conftitutionelle "PBarteidogmatit Brefche 
zu Schießen fudht. 

Treitſchke's Darftelung bes Bonapartismus ift aller- 
dings durch die jüngften Ereigniffe, welche eine fo fcharfe 
Kritit des Napoleonifchen Regierungsſyſtems und feiner 
innern Fäulniß liefern, in vieler Hinficht veraltet, min⸗ 
deftens fehlt ihr der entſcheidende Abſchluß. Sie trifft 
in vielen Punkten mit der eingehenden Analyfe zufammen, 
welche Heinrich Blankenburg in „Unfere Zeit” ber Ber- 
faſſung des second empire gewidmet hat. Beide Auto⸗ 
ten —* in dem demokratiſchen Imperialismus eine 
Staatsform, welche vor dem engliſchen Parlamentarismus 


77 


[2 


610 


und feinen Nahbildungen in den Charten der Bonrbons 
und Ludwig Philipp’s fowie in ben deutfchen Berfaflun- 
gen manche Vorzüge und minbeftens den Werth der Ori- 
ginalität voranshat. Die jüngfte Politik des Kaiſerreichs, 
feine Liberale Wendung, das Plebiscit und feine Folge, 
der dentfch-franzöfifche Krieg, Ereigniſſe von einer feltenen 
weltgefchichtlichen Tragweite und zugleich vom der größten 
kritiſchen Bedeutung gegenüber dem Syftem bes Bonapar- 


tismus, fallen noch außerhalb des Rahmens der Treitfchle'- | 


fchen Abhandlungen, genügen aber, das Facit derfelben 
wefentlich zu erſchüttern. 

Der Autor beginnt feine Abhandlungen mit einer Ber 
merkung über „Heroenverehrung“ und dem Nachweis, wie 
auch der jegige Kaifer der Franzoſen dem Eultus des 
Genius huldige: 

Seit er die Kaiſerkrone trägt, hat Napoleon III. nur felten 
durch ein achtlos entfallenes Wort verrathen, weld ein ſtarkes 
cäfarifches Selbſtgefühl er Hinter ſchweigſamer Hülle birgt: jo 
bei jenem Geipräche zu Plombieres, als er zu Cavounr jagte: 
„In Europa leben nur drei Männer, wir beibe und noch ein 
dritter, dem ich nicht nennen werde.“ Da trieb ihn einmal 
Titerarifche Eitefleit ganz und gar aus jener Zurüdhaltung her- 
aus, welche gelrönten Häuptern anftebt; zu den vielen Räthſeln, 
die er dem Zeitgenoffen aufgegeben, fligte er ein neues, größtes. 
Unverhohlen füindete er die Lehre von ben bevorredhteten Weſen, 
die, Hoch erhaben über der gemeinen Regel des Sittengeſetzes, 
wie Leuchtthürme im die Nacht der Zeiten ragen und mit dem 
Siegel ihres Genius eine neue Yera fiempeln. Jedermann las 
in den Zeilen, daß der Kaifer felbft das Recht feines Thuns 
von der erlauchteften Ahnenreihe herleitet, bie ein Menſch fi 
wählen fann, von Eäfar, Karl dem Großen, Napoleon. Alle 
die alten fadenfcheinigen Kraftworte des Bonapartismus, die 
man dem Prätendenten verzeihen mochte, hörten wir mit Be» 
fremden wieder aus dem Munde des KHaifers: das verfchworene 
Europa Bat, ruchlos und verblendet, feinen Meſſias gelreuzigt, 
aber das Werk des Erlöfers, das Kaiſerreich, tft wieder auf⸗ 
erftanden! Und diefe Worte unbeimlicher Meberhebung flanden 
in der Vorrede eines verunglüdten hiſtoriſchen Werts, deffen 
unbeftreitbare Schwäche deu wohlerworbenen fchriftftellerifchen 
Ruhm des Verfaffers nahezu zu vernichten drohte. Sie waren 
geichrieben zur Verherrlichung eines politiihen Syſtems, das 
freilich einigen edeln und vielen gefährlichen Neigungen der 
Sranzofen entfpricht, aber den Beweis feiner Lebenskraft und 

auer noch zu führen hat. 


Einige prophetifche Anwandlungen, denen die Gegen⸗ 
wart recht gibt, und zugleich die Beſtimmung der Zwecke 
des Eſſay finden wir in den folgenden Zeilen: 


Noch jedes politiſche Syſtem des modernen Frankreich 
wähnte fich in dem Augenblick am ficherften, da feine Tage be⸗ 
reit® gezählt waren. Als die Adler des rüdlehrenden Napoleon 
von einem Kirchthurm Frankreichs zum andern flogen, verfiherte 
Talleyrand in Wien: Millionen Fäuſte würden fi) erheben 
wider den Ruheſtörer. Mit zmeifellofer Zuverficht harrte Karl X. 
auf den Erfolg ber Iuliordonnanzen, und kurz vor dem Februar 
1848 fchrieb General Radowitz, unter dem Cindrud der Ge- 
ſpräche mit Guizot, das Julikönigthum babe niemals fefer ge 
fanden. Sollte dieſe unheimliche Erfahrung, deren regelmäßige 
Wiederkehr auf einen Grundſchaden im franzöſiſchen Staate hin- 
weift, heute ſich wiederholen? Sollte das zweite Kaiferreich be 
reits am Borabend feines Falls ftehen, während es feinen höch⸗ 
Ren Trumpf ausfpielt und den größten Namen aus den An- 
nalen der Monardie auf fein Bauner fhreibt? Wir Überlaffen 
andern, ben Schleier der Zukunft zu lüften, und begnügen ung, 
bie Fragen zu erwägen: If der Bonapartismus in hem Cha⸗ 
ralter und der Geſchichte des franzöflihen Wolle begrlindet? 


Bildet er den endgültigen Abſchluß von zehn Revolutionen? 


Und welches Recht haben dieſe 8 rtee, brüft: it 
dem Ruhme rg erhabenen Seerihes. —— vr * 


Neue Eſſays von Heinrich von Treitſchke. 


ſchreckliche Wort des Ariſtoteles bewührte, das Wort: nur ein 
Gott fanı Käxig fein? 

Eine kritifche Reviſion der hiſtoriſchen Acten Frauk⸗ 
reichs ſeit der Zeit des erſten Napoleon leitet die Kritik 
bes Bonapartismus ein. Treitſchke findet in der franzd- 
ſiſchen Nation ftarke monacchifche Neigungen. Die Wieder- 
berftellung der Monarchie durch Napoleon I. war indeß 
feineswegs vine Neftauration der alten Ordnung: der 
Raifer erkennt die Vollsfonveränetät an und leitet feine 
Gewalt von dem allgemeinen Stimmredt her. Er be- 
trachtet ſich als ben Vertreter der Nation. „Niemals 
bat ſich die innige Berwandtſchaft von Demokratie und 
Tyrannis gewaltiger offenbart.” Mit Recht fagt ber 
Neffe: „Es if die Natur der Demokratie, ſich in einem 
Manne zu perfonificiren.” Der Selbfiherrfcher vollendet 
indeß den Lieblingsgedanken der franzöfifchen Demokratie: 
die Idee der Gleichheit. 

Die nähern Ausführungen biefer Punkte fowie ber 
centraliftrenden Thätigfeit Napoleon’8 auf dem Gebiete bes 
Rechtsweſens, der Finanzen, des Heerweſens, auf weldes 
das Princip der Gleichheit nicht in ber allgemeinen Wehr⸗ 
pfliht Anwendung findet, die gauze Charafteriftit der 
innern Politik des Kaiſers enthält wenig Neues, gruppirt 
aber das Belaunte gefchidt unter die wichtigen Geſichts⸗ 
punkte. Die auswärtige Politik Napoleon's L wird mit 
Entfchiedenheit verurtheilt; er babe feit bem Jahre 1801 
ben Frieden in Ehren wahren und feinen Staat auf einer 
nie zubor erreichten Höhe der Macht und des Ruhms 
erhalten können; nur feine Erobererwuth habe ihn weiter 
von Sieg zu Sieg getrieben. Xreffeud find hierbei bie 
folgenden Betrachtungen unſers Autors: 

Der glühende friegerifche Ehrgeiz dieſes Bolls marb mon 
altexsher verftärkt durch eine eigenthlämliche Berirrung bex natio⸗ 
nalen Phantafle, die man das Römerthun der Kranzofen nen⸗ 
nen mag. Dit entfchiedener Misgunft Bat fi) längf ber Ge⸗ 
nius der Nation von den germaniſchen Elementen abgewendet, 
denen Frankreich doch einen guten Theil feiner Srbße ſchulbet. 
Sieyes ſprach nur ein allgemeines nationales Vorurtheil aus, 
ala er dem adelihen Deutjchen, den Zwingherren der bürger- 
lichen Gallier und Römer, Fehde ankllindigte, und felb ber 
nüchterne Guizot weiß von dem esprit gaulois Wunderdinge 
zu erzählen. Noch beftimmiter Kerrfcht in der Nation der Blanbe, 
daß fie bie Erbin fei altrömiſcher Traditionen. Wer berühren 
bier eins der feinften Geheimniſſe des Volksthums. Wir Ger» 
manen verftehen nicht leicht, wit welchem dämonifhen Zauber 
die Größe der alten Roma noch heute das Herz der romaniſchen 
Bölter erſchüttert. Glorreiche Erinnerungen aus ber römifen 
Geſchichte, für uns ein Gegenftand Fühler gelehrter ng, 
Haben für jene noch bie Gewalt leibhaftiger Wirklichkeit: ſchier 
anderthalb Yahrtaufende nad dem Fall der Gracchen konnte der 

roße Name tribunus plebis das neurdömilhe Bolt in leiden» 
—** Erregung bringen. Auch den Gramofen bietet das 
römifche Weſen manche Charakterzüge, die ihrer eigenen Mater 
entſprechen: Nationalftolz, wmilitäriichen Ehrgeis, ftraffe Staats» 
einheit. Die Geſchichte Roms, entſtellt oe fe iſt burg Die 
Schulxhetoren des Afterthums, muß mit ihrem heroiſchen Pathos 
binreißend wirken auf ein Bolt, beffen Phantafie immer mehr 


und von Baris aus die Welt bezwang. 
rögne! jauchzten beflifiene Hofpseten dem vierzehnten 2 u. 
Immerdar fonnte ich das Selbfigefähl des Hefe ums 258 





Neue Effays von Heinrih von Treitſchke. 


an dem Glanze der Eifaren. Die Nation war nie befriedigter, 
als wenn fle ihren eigenen Herrſcherſtolz in einer großen Far 
flengeftaft verlörpert wieberfand. Selbſt den erſten Bourbonen- 
Lnig nennt die Inſchrift feine® Denkmals an der neuen Brlide: 
Henricus magnus, imperstor Gallise. @in Boltaire kriecht, 
gebiendet von Ludwig's Eäfarenruhme, bewundernd im Stanbe 
vor dem Todfeinde hugenottiſcher Glaubensfreiheit. Ludwig 
Napoleon ſprach der Mehrzahl feiner Nation aus der Seele, 
als er einft Lamartine zurief: „Wir danfen Rom alles, alles, 
bis auf den Namen.” 


Ebenfo treffend ift es, wenn Treitſchke bemerlt, daß 
Rapoleon’s Kriege doh nur wie ein letter gigantifcher 
Ausbruch jener Kabinetspolitit des 18. Jahrhunderts er⸗ 
feheinen, welche, jedes Recht, jedes Volksthum misachtend, 
nah Fürftenlaune mit den Völkern umfprang wie mit 
Schadhfiguren. Einige letzte bezeichnende Striche im Cha⸗ 
raltergemälde des Kaiſers enthält die folgende Stelle: 

Wir beginnen zu zweifeln, ob diefem Genie, das fein Maß 
zu halten weiß, ein Pla gebühre unter ben reinen hiſtoriſchen 
Größen; unfere Zweifel mehren fi, wenn wir die Perfon des 
Helden fchärfer ins Auge faflen. Die Armutb der Sprade, 
von tiefern Geiftern feit langem ſchmerzlich empfunden, reicht 
am wenigften aus für bie Charakterzeichnung. Im modernen 
Raturen mifchen fi; widerſpruchsvoll taufend feine Züge, und 
anfer Auge, das längſt gelernt, diefen leiſen Karbentönen der 
Seele mit reizbarem Verſtändniß zu folgen, ſucht umfonft nad 
Worten für den Tieffinn der pfychologifchen Betrachtung. Klingt 
es nicht Tächerlich,, zu fagen, daß der größte Mann des Jahr⸗ 
bunderts tm Grunde geifllos war? Und body muß das Ab⸗ 
geihmadte ausgeiprochen werben. Diefer erhabene Berftand, 
deffen Macht, Schärfe, Sicherheit Über das Maß des Menſch⸗ 
lichen hinausreicht, hat nie einen Blid getban in den geheimniß⸗ 
vollen Kern des Dafeins, nie geahnt, daf die Menfchheit etwas 
anderes iſt ale eine wohlgeordnete Mafchine, daß ein Boll unter 
firaffer Verwaltung, mit georbneten Finanzen und fchlagfertigen 
Soldaten fih bis zur Berzweiflung unglüdlih fühlen Tann. 
Das Höcftperfönliche im Leben des einzelnen wie der Völler, 
die Welt der Speale blieb ihm unfaßbar. Die weite Welt durch⸗ 
ſchante die Gründe feines Stnrzes, er allein nicht; denn wie 
follte der Heimatlofe verfiehen, daß den Völkern felbft die hei⸗ 
miſche Unfitte theuerer ift als die fremde Sitte? Erwägen wir 
dies, fo ertennen wir die fchrediiche Wahrheit in dem tollen 
Dort Blüher’s: „Laßt ihn machen, er iſt doch ein dummer 

Ueber die Darftellung der Reftauration können wir 
raſcher hinweggehen; die Kritif der Regierung und ber 
Parteien erfcheint als eine zutreffende. Gegen den Irr⸗ 
thum Guizot's und der Doctrinäre; das Inſtrument, die 
Charte, fei vortrefflich gewefien, nur daß es an geſchick⸗ 
ten und wohlgefinnten Handwerkern gefehlt habe, macht 
Treitſchke geltend, daß die jüngere, durch eine herbe Er⸗ 
fohrung über den Zuſammenhang von Verwaltung und 
Berfaffung belehrte Generation kaum noch begreife, wie 
man diefen „buntjchedigen Staatsbau“, defjen Glieder 
einander „anheulten“, als „das englifche Syſtem“ preifen 
konnte. 

„Die goldenen Tage ber Bourgeoiſie“, das Yulifönig- 
thum, wird von Treitfchle mit einem wenig verhehlten In⸗ 
grimm geſchildert, wie wir ihn bisher nur bei focialifti- 
ſchen Schriftfiellern zu finden gewohnt find. Das Regi- 
ment Ludwig Philipp’S erfcheint ihm als ein Regiment ber 
Halbheit, der Unwahrbeit: 

Das Dafein der Krone ift ein nnabläffiger Kampf um das 
Dafein, ein Kampf, der jeden Gedanfen an eine fchöpferifche, 
für die Dauer wirkende Staatsfunft im Keime erflid. Schon 
die Namen der politifchen Syſteme, welche unter dem Bürgers 


611 


könige einander ablöfen, lafſen errathen, wie biefe Krone von 
vornherein mit dem Fluche der Unfruchtbarkeit gefchlagen if. 
Da finden wir eine Bolitit des Zugeftändniffes, eine Politik 
bes Widerflandes, der Berföhnung, des Gehenlaffens, durchweg 
ein Leben aus der Hand in den Mund, durchweg das ohn- 
mächtige Bewußtſein, daß die treibenden Kräfte der Zeit außer» 
halb der Regierung flehen. 


Das Yuliregiment war die Herrfchaft des Mittelftan- 
des und der Mittelparteien: 


Die bat die Bourgeoifie diefe Probe beftanden? Sie ber 
währte nicht nur eine fehr geringe Begabung zur Leitung bes 
Staats, fie offenbarte and) eine Roheit der fländiichen Selbft- 
fucht, welche den fchnödeften Verirrungen des alten Adelshod;- 
muths würdig an bie Seite tritt. Das in allen Eolonien feft- 
ſtehende Urtheil, daß ein kaufmänniſches Regiment die Meinlichfte 
und engherzigftie Form ber Mißregierung fer, iſt durch die fran⸗ 
zöſiſche Bourgeoifie nicht widerlegt; die in ber Republik ber 
Niederlande erprobte Erfahrung, da der Mittelfiand eine fühne 
auswärtige Politik nicht zu führen vermag, ift durch Ludwig 
Philipp abermals beftätigt worden. 

Weiterhin heißt es: 

Wenn wir biefe Bourgeoifie betrachten, wie fie, verknöchert 
in ihrer Selbftfucht, ihrem Dünkel, auf der weiten Welt nichte 
feben mag denn allein ſich felber, jo erinnern wir uns unmwill- 
arlich jener adelihen Damen des alten Regime, die ſich un⸗ 
befangen in Gegenwart ihrer männlidjen Diener entkleideten, 
weil ihnen der Gedanke ganz fern lag, daß die Canaille ſozu⸗ 
fagen auch zu den Menfchen gehöre. „Wir“, ruft Guizot feinen 
Getreuen zu, „wir, die drei Gewalten, find die einzigen geile» ' 
fihen Organe der Bollsfouveränetät; außer uns gibt es nur 
Ufurpation und Revolution.‘ Mag der Pöbel um Hülfe ſchreien 
und fi) zufammenrotten zu verzweifelten Kampfe, um arbeitenb 
zu leben oder Tämpfend zu fierben — das pays legal, bie Kam 
mer und bie reiche Wählerfchaft, hält zu dem Syfteme, darum 
fteht dem Bürgerkönig feft die pensee immuable, daß jeber 
Schritt Über die beftehende Oligarchie hinaus zur Zerrüttung 
der Geſellſchaft führt. Die DOrönungsliebe der herrichenden 
Klaſſe fleigert fh zum Fanatismus der Ruhe; für das arme 
Bolf erfindet das Geldprogenthum den nieberträditigen Ausdrud 
„die gefährlichen Klaffen'‘. Gleich den Arbeitern behandelt bie 
Oligarchie auch alle Übrigen focialen Elemente, die nicht zu ihr 
gehören, mit vollendeter Geringſchätzung. 

Die Staatsmünner des Julikönigthums, Guizot mit 
feinem öden Doctrinarismus verfallen fcharfer Berurthei- 
lung, ebenfo die auswärtige Politik Ludwig Philipp’s, die 
zwar nie eine wahre Großmachtspolitik, aber doch eine 
Griedenspolitif war. Ludwig Philipp pflegte zu fagen: 
„Der Krieg ift die Revolution”, ein Ausſpruch, der in 
jüngfter Zeit in-bemerfenswerther Weiſe fich beftätigt hat; 
das zufannmenbrechende second empire empfindet feine 
Wahrheit. Treitſchke hebt dagegen bie „hochherzigen Im⸗ 
pulſe“ hervor, welche ſich „in der Phantafterei der 
franzöfifchen Kriegsluſt unzweifelhaft verbergen‘. Wir 
verdanken diefen „hochherzigen Impulſen“ jedenfalls auch 
den mörberifchen Srieg von 1870 und find daher gewiß 
nicht geneigt, in dies Xoblied mit einzuflimmen, das 
noch einmal in der folgenden Bartation erklingt: 

Nur der Haß kann leugnen, daß dem propagandiftiichen 
Triebe der Sranzofen nicht allein eitle Ueberhebung, fondern 
and ein weitherziger Idealismus zu Grunde lirgt — ein hoch⸗ 
finniger Zug, der durch tauſend Trübungen hindurch in dem 
Groberungezügen des Convents, in dem italienischen Feldzuge 
Napoleon's III. nnd vor allem in dem fittlich reinflen Kriege 
des neuen Sranfreih, in dem Kampfe für die Unabhängigkeit 
Nordamerifas, unverkennbar hervortritt, Auch jet riefen edle 
und verwerfliche Leidenschaften, Ruhmſucht und Habgier, Hoch⸗ 
muth und Schmwärmerei für Völlerbeglüdung, und am aller 

77* 





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612 Neue Effays von Heinrih von Treitſchke. 


lauteſten die unftete Neuerungsfucht diefes nervbs aufgeregten 
Geſchlechts nad) einem großen Kriege für die Freiheit. 

Das Charalterbild Ludwig Philipp's felbft, welches 
Treitfchle entwirft, ift fo wenig geſchmeichelt, es Gebt mit 
ſolcher Borliebe die ungünftigen Züge hervor, bag wir 
dem von Gervinus entworfenen Porträt wegen geredhterer 
Bertheilung von Licht und Schatten den Vorzug geben. 
Treitſchke fagt: 

Wie das Syſtem felber, fo vermochten auch die Perfonen 
feiner Träger nicht, diefem Soldatenvolfe ins Herz zu wachſen. 
Mochten des Könige Schmeichler den Helden von Jemappes 
feiern, diefe äme toute frangaise, bie nie das Schwert gegen 
Fronfreich geführt — der Herzog von Chartres Hatte body die 

lorreichſten Tage feines Landes nicht mit feinem Wolle verlebt. 
—* war, als ob der Inſtinct der Maffen etwas ahnte von der 
längft vergefienen Thatſache, daß diefer Schüler Dumouriez’ 
während bes Kaiferreihs mehrmals fi) zum Kriegszuge gegen 
das Vaterland erboten hatte Auch an den Orleans haftete 
etwas von dem Bourbonenflude, ein nationaler Herrfcher if 
Ludwig Philipp nie gewefen. Nachdem die Heinen Künfte bes 
königlichen Regenſchirms vernugt waren, verfpottete bie Prefie 
die Berfon des Köuigs und feinen Birnenlopf mit einer erbit⸗ 
terten Ironie, einer Kecheit, die ſelbſt gegen Karl X. nie ger 
wagt worden. Das Mistrauen der dffentlihen Meinung folgt 
jedem feiner Schritte, madt ihn zum unfreieften Manne feines 
Bolls; er wagt nicht einmal ein Opernunternehmen zu unter» 
ſtützen, aus Furcht, die Nation werde gemwiunfüdtige Specu⸗ 
lation dahinter mwittern. Man mag in alledem die Wilbheit 
eines fleberifchen Parteilampfes tabeln — ein rechter Franzofe 
war biefer König nicht, der fchlane Handelsmann, der nie jung 
eweſen, ber durch kleine feige Ränke hindurch den Weg zum 
Ehrone geihlihen war und als König noch die alten ſchon 
dem Prinzen unziemlihen Krämerkünfte übte, ber mit all feiner 
Welterfahrung die begeifternde Macht der Ideen nie gelannt, 
bei al feiner Sanftmuth die fchönfte Pflicht des Königthums, 
bie velnütung der VBedrängten, nie begriffen bat und bei all 
feiner bitrgerlichen Solidität do im Stande war zu Gauner- 
ftreichen, vote zu jenem Wortbruche gegen ben gefangenen Abd⸗el⸗ 
Kader. Selbft die Tugenden feines bürgerlich -(hlihten häus- 
lichen Lebens blieben biefem ritterlichen Bolle unverſtändlich. 

Im Zufammenhang der Darftellung macht die ver- 
nichtende Kritik des Julikönigthums doch den Eindrud, 
als ob fie der darauffolgenden Charafteriftit des second 
empire zur Folie dienen follte, fowie das Porträt Ludwig 
Philipp's demjenigen des dritten Napoleon. Diefer wird 
uns in feiner Jugend als homme carr6, als doux en- 
tete geſchildert, phlegmatifch als ob Holländifches Blut in 
feinen Adern flöffe, ein unfranzöftfches Temperament, das 
tiefe nachhaltige Leidenſchaften Teineswegs ausschließt. Die 
Attentate von Strasburg und Boulogne werben in ihrer 
Lächerlichkeit dargeftellt; aber ben publiciftifchen Arbeiten 
des Prinzen wird eine Anerfennung gezollt, der man mit 
einiger Einfchränfung nur zuftimmen kann: 

Uns, bie wir heute bie Schriften des Prinzen minder be- 
fangen überbliden, erjcheint fchier unbegreiflih, wie man die 
jen Autor jemals misachten konnte. Denn fie entfpredden nicht 
nur keineswegs den Erwartungen, die man gemeinhin ben lite- 
rarifgen Sünden eines Prinzen entgegenbringt, fie verdienen 
ſchlechthin einen ehrenvollen Plag in der Geſchichte der Publi⸗ 
ciſtik. Nicht ein geiftreicher, aber ein eminent praftifcher Kopf, 
nüchtern und fiher im Beobachten, fet und felbfländig im Ur⸗ 
tbeilen, bat fie gefchaffen. Auch die Darſtellung ift Mar und 
bündig, von echt franzöflicher nettet6; der Prinz weiß feine 
Lefer raſch zu orientiven, allen feinen Säten eine praftifche 
Spige zu geben. Der Ioeenreihthum, das Pathos der Wahr- 
baftigfeit, die Macht der Phantafie, bie den Hiftorifer machen, 
find ihm verfagt; doch er verfteht vortrefflih, iu discuffiver 
Darſtellung, mit Gewandtheit und ohne Gewiſſensbedenken, bie 





biftorifchen Borausfegungen ber Gegenwart für feine Zwecke fi 
zurechtzulegen. Kurz, er zeigt fi als ein begabter Journaliſt; 
und wer da wußte, daß diefe Schriften nicht Itterarifch etwas 
bedeuten , fondern das Programm einer praktiſchen Staats kuuſt 
bilden ſollten, der mußte bei einiger Unbefangenheit bekennen, adß 
bier ein ungewöhnliches ftantsmännifches Talent ſich offenbare. 

Der Prinz verlangte in dem berühmteften feiner Aus- 
fprüche von dem Politiker, er folle an der Spike der 
Ideen feines Jahrhunderts fchreiten, auf daß fie ihn nicht 
ftürzen. Mit Recht meint Treitfchle, daß es biefer For⸗ 
derung nur halb genügt habe. Die Bebeutung bes vier- 
ten Standes und der focialen Frage habe er wohl erkannt; 
aber jene Mächte des Idealismus, bie auch unferer nlid}- 
ternen Epoche nicht fehlen, feien ihm fremd geblieben. 
In der That kennt Napoleon III. nur einen Iealismue, 
den der „Napoleonifchen Ideen“, und dieſer muß ver- 
dächtig erfcheinen, weil er mit den perfönlichen Intereſſen 
feines Bertreters vollftändig zuſammenfällt. 

Einen Heinen, bier eingejhobenen Excurs über deutſche 
und franzöfiihe Sitten wollen wir unfern Lefern wicht 
porenthalten, da er einen oft nicht genug beachteten Ge⸗ 
fihtspunft in den Vordergrund ftellt. In der heutigen 
Epode ift dies um fo nöthiger, als bie gerechte Ent- 
rüftung über den vom Zaun gebrochenen Volkskrieg Leicht 
bazu geneigt machen dürfte, mit dem Vollshaß auch wie 
der die früher beliebte „Franzofenfrefierei” in Schwung 
zu bringen. Daß wir uns von den fhlechten franzöfljchen 
Einflüffen und Sitten emancipiren, iſt gewiß in der Ord⸗ 
nung; keineswegs aber dürfen wir alles, was von einem 
jo bedeutenden geiftigen Culturvolk wie die Franzoſen 
zur Entwidelung der Menſchheit beigefteuert worden iſt, 
geradezu misachten oder ganz über Bord werfen. Treitſchle 
wendet fid) gegen den „pharifüerhaften Dünkel“, mit wel- 
chem oft über die Unzucht der Sitten und Schriften un« 
ferer Nachbarn abgeſprochen wird: 

Wir wollten fie wahrlich gern entbehren, jene tugendhaf- 
ten Urtheile tdealer Kritiler liber das reale Lafter des nenen 
— „welche heute ehrenfeſt in ben Feuilletons unferer 

eitungen einherſtolziren und — alsbald dem allgemeinen Hohn⸗ 
gelächter verfallen würden, menu die anonymen Berfafler ihre 
eigenen reinen Namen enthüllen wollten. Am lauteſten pflegt 
das VBerbammungsurtheil Über das neu-franzöflihe Babylon in 
den wiener Blättern angefiimmt zu werden — in jenem Wien, 
das fittlih unzweifelhaft tiefer fiebt als Parts, denn an ber 
Donau wird fhwerlich weniger geiinbigt und gewiß weit weniger 
earbeitet ale an der Seine. Die Urbeber folcher wohlfeiler 
oralpredigten vergeffen, wie tief wir einft felber, zur Zeit 
bes Zungen Deutichland, in die Netze der parifer Sirene ver⸗ 
fridt waren. Sie vergeffen, daß das Urtheil gerabe Über bie 
feinften ſittlichen Fragen, troß des Chriſtenthums und tro bes 
ſchwunghaften Weltverlehrs, ein je nach dem Bollsthum ver- 
ſchiedenes fein und bleiben muß. Das ungeftlinre Blut unferer 
Jugend liebt einmal, beim Zehen und Kaufen, das Feuer der 
jungen Sranzofen, in galanten Abenteuern ſich auszutoben; und 
die Frage, welche biefer nationalen Schwächen für baltlofe Na⸗ 
turen verderblicher fei, ift keineswegs leicht, fie ift jedenfalls 
nicht für alle Menſchen auf die gleiche Weiſe zu beantworten. 
Wir bleiben ein tm jedem Sinne ſchwereres Voll denn unfere 
Nachbarn. 

Die Februarrevolution hat nach der Anficht unfers 
Autors „gar nichts des Bewunderungswürdigen“, bie Zer⸗ 
rüttung der Verhältniffe, die allgemeine Verlogenheit, bie 
bare Gedankenlofigkeit der Todesangſt gehören zur Signa- 
tur der Epoche; der Sieg ber Yunitage, „des furchtbar⸗ 
ften focialen Kampfes, den bie neue Gefchichte feit dem 


Neue Effays von Heinrih von Treitſchke. 


deutſchen Bauernkrieg gejehen bat”, war ber Sieg ber 
Dourgeoisrepublil, die zur Monarchie zurüdtrebte. Die 
neue republikaniſche Verfaflung nennt Treitſchke „die wider⸗ 
finnigfle unter den vielen todtgeborenen Conſtitutionen jenes 
Jahres“. Wir haben diefe Konftitution, fowie die innere 
und äußere Bolitit der Zeit erft vor kurzem in d. BL. 
befprochen; bie innern Widerfprüche berfelbeu werben von 
Treitfchle in ganz ähnlicher Weife auseinandergefegt, wie 
von dem Berfaffer der Schrift über den „Staatsſtreich 
vom 2. December‘. Die Abvocatur für diefen Staats⸗ 
ftreih übernimmt Treitſchke indeß in einer Weife, die 
doch wol nur die Ueberhebung ftaatömännifcher Ueber- 
weisheit ift; denn wenn er auf ber einen-Seite fagt, daf 
der 2. December eine Nothwenbigfeit gewejen fei könne 
fein Dann von politifchem Urtheil beftreiten, und dann 
wieder eine Verfchwörung, bie bon ben Hütern bes Ge- 
ſetzes ausgeht, die häßlichſte aller Rechtsverletzungen nennt, 
weldhe durch bie fittliche Nichtigkeit der Gefellen des Prä- 
fidenten faft unfühnbar geworben fei, wenn er die maß- 
lofe und unnüge Brutalität in der Ausfilfrung des Staats- 
ſtreichs tadelt, fo erhält fein Urtheil doch etwas Scielen- 
des und politifche Weisheit und moralifche Entrüftung 
bilden eine ungelöfte Diffonanz. Hier lefen wir, daß 
der Staatöftreih eine Nothwendigkeit war; dort, das 
Schredliche der Kataftrophe Liege in der Thatſache, daß 
die Mehrheit der Nation ihn billige. Warum follte die 
Mehrheit der Nation nicht eine „Nothwendigkeit“ billi» 
gen? Tann in diefer Bewährung des „politifchen Ur⸗ 
theils“, in dieſer Vorwegnahme deutfcher Profefjoren- 
weisheit denn etwas fo „Schredliches” Tiegen? 

Die Conftruction der faits accomplis als „politifcher 
Nothwendigkeiten“ gehört zu den Erbfrankheiten unferer 
Gelehrſamkeit; ihr zu Grunde liegt eine misverftändfiche 
Anwendung des Hegel’fhen Sates von der Vernünftigfeit 
des Wirflihen und im Grunde die unerquidliche Xobprei- 
fung bes Erfolge. Der 2. December war ein Berbre- 
hen, keine Nothwendigfeit, vielleicht eine Nothwendigkeit 
für den Präfidenten Bonaparte, obgleich auch dies beftrit- 
ten und die Wahrfcheinlichkeit feiner immerhin verfaffungs- 
widrigen Wieberwahl von vielen Seiten behauptet wird. 
Für diejenige ſtaatsmänniſche und mitfchuldige Weisheit, 
welche in dem 2. December einen Act politifcher Noth⸗ 
wendigkeit fieht, zahlen wir noch im Jahre 1870 die 
Schul und Kriegsfoften. Es ift Zeit, daß diefer legte 
Reſt der Napoleonifchen Legende aus den Köpfen unferer 
Staatsweifen entfchwinde. 

Die Kritit der „perſönlichen Tyrannis“, des verant« 
wortlichen Kaifers als des homme-peuple, bed ganzen 
Berfaffungsinftems als eines gouvernement indiscutable 
leugnet nicht, daß das KRaiferreich eine Gewaltherrſchaft 
und ein vechtlofer Zuftand geblieben ift, daß der geiftige 
Adel der Nation ſich mit fittlihem Ekel von ihm ab- 
wendet, fie analyfirt das dem Anjchein nach conjequente 
Berfaffungsgebände und feine Körperſchaften; doch fie 
ſucht das Heil nicht in entfchlofjenem Einlenfen in die 
Bahn bes parlamentarifchen Syſtems, in welcher ber 
"Raifer und fein Miniſter Olivier neuerdings jelbft die 
Krönung des Gebäudes erblidten, nicht in der Theilung 
der Gewalten, fondern in der Beichränfung der Staats- 
gewalt durch Selbftverwaltung, in der Decentralifation, 





613 


welche das Schlagwort einer großen franzöſiſchen Bubli- 
ciftenfchule geworden iſt. Xreitfchle findet das größte 
Hindernig der Selbftverwaltung in ber Herrſchaft des 
vierten Standes. In der Begünftigung diefer Herrſchaft 
liegt ein SHauptcharalterzug des neuen Bonapartismus, 
in der Sorge für das Wohl ber arbeitenden Klaffen 
vielleicht fein Hauptverdienft. 

Einer Charakteriftit der induftriellen Unternehmungen, 
des großen Creditſchwindels, der an bie Law'ſchen Zeiten 
erinnert, während der Handelövertrag mit England von 
ZTreitfchle mit Recht als eine von den undankbaren Zeit- 
genoffen halb vergefiene große That des Kaifers gefeiert 
wird, einer ffizzirten Darftellung ber Eultur- und Literatur⸗ 
zuftänbe des second empire, ber kirchlichen Reaction, die 
als furchtbare Feindin ber geiftigen Bildung der Nation 
in fortwährendem Wachsthum begriffen ift, folgt ein Ueber⸗ 
blick über die auswärtige Politik des Kaiſerreichs, welcher 
durch die neueften Ereignifje vielfach Tüdenhaft und un- 
haltbar geworden if. Wenn KXreitfchle behauptet, daß 
ber Deutſche mit begreiflicher Theilnahme auf bie Napo- 
Teonifche Mittelpartei unter Ollivier's Führung fehe, jo hat 
fi) diefe Napoleonifche Mittelpartei, welche in dem „libe⸗ 
ralen“ Minifterium Dllivier ans Ruder fam, durch bie 
freche, günzlich unmotivirte Kriegserflärung gegen Deutfch- 
land Längft um jeden Reft der Theilnahme gebracht und 
ftatt derfelben gerechten Haß eingeerntet. Wenn Treitſchke 
an einer andern Stelle fagt: „Wir vermuthen nicht mehr, 
nein, wir haben feit dem Sommer 1866 die actenmäßige 
Gewißheit, daß die Höfe des Aheinbundes nad der erften 
Niederlage Preußens augenblidlih bereit fein werden, 
abermals das Joch des Fremden zu tragen, und bas Bolt 
im Süden befigt weder die Macht noch den feften Willen, 
fie daran zu hindern“, fo hat bie Vegeifterung unb bie 
Treue gegen bie Verträge, welche die Yürften und Stämme 
bes deutjchen Südens gleichmäßig befeelte, und welche bie 
ſüddeutſchen Truppen mit ihrem Blute befiegelt haben, 
jene mistrauiſchen Vermuthungen glänzend wiberlegt. 
Treitfchle ift Übrigens von der Triedensliebe bes Kaifers 
volllommen überzeugt, im Gegenſatze zu unfern Lyrifern, 
welche den Käfer allein verantwortlich machen fiir alle 
Greuel des Kriegs; er jagt an einer Stelle: 


Die vielverfpottete Berficherung des Kaiſers: ’empire c’est 
la paix, war von Haus aus ernft gemeint. Alle Schöpfungen 
des monarchiſchen Socialigmus verlangen ben Frieden, auch die 
ernfte, gedanlenreiche europäiſche Politik Napoleon’s IH. bat 
mit roher Schlagluft nichts gemein. Und doc bedarf er der 
freubigen Hingebung feiner Soldaten, und doch verdanlt das 
Kaiferreih dem Cultus des Kriegsrubme fein Daſein. Man 
pflegt von Amts wegen bie chauviniſtiſchen Gedauken. In allen 
bedenklichen Zeiten müffen die balbamtlichen Blätter die Rhein⸗ 
frage anregen, um die unrubigen Köpfe in Boll und Heer zu 
befhäftigen — fo unmittelbar nad dem Staatsftreidde, jo nad 
dem Zage von Königgrätz. Im der Militärichule von St.-Eyr 
trägt Hr. Lavallee die Lehre von deu natlrlichen Grenzen mit 
erflaunlider Plumpheit vor. Sogar der Minifter Duruy, der 
Beſchützer der friedlihen Aufffärung, kommt in feiner Einleitung 
au franzöfifhen Geſchichte immer wieder mit leidenfchaftlicher 

ntrüäftung zur auf „jene ungeheure Lücke in unfern Grenzen“, 
die fi von Lauterburg bie Dunkirchen ansbehnt. Die deutſche 
Sprade im Elſaß if ihm nur ein unberedhtigtes rohes Patois; 
und allein dem perſonlichen Billigkeitsgefühle des Kaiſers ver- 
danlen die Elſafſer, daß ihre Sprache aus den Schulen nicht 
verſchwunden ift. 


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612 Neue Effays von Heinrih von Treitſchke. 


lanteſten die unftete Neuerungsfucht diefes nervös aufgeregten 
Geſchlechts nad; einem großen Kriege für die Freiheit. 

Das Charakterbild Ludwig Philipp's felbft, welches 
Treitfchle entwirft, ift fo wenig gefchmeichelt, es hebt mit 
folcder Borliebe die ungünftigen Züge hervor, dag wir 
dem von Gervinus entworfenen Porträt wegen gerechterer 
Bertheilung von Licht und Schatten den Vorzug geben. 
Treitſchke jagt: 

Wie das Syſtem felber, fo vermochten auch die Perfonen 
feiner Träger nicht, diefem Soldatenvolfe ins Herz zu wachſen. 
Mochten des Könige Schmeichler den Helden von Jemappes 
feiern, diefe äme toute frangaise, die nie das Schwert gegen 
Frankreich geflihrt — der Herzog von Chartres Hatte doch die 

lorreichſten Sage feines Landes nicht mit feinem Volle verlebt. 
Es war, ale ob der Inflinct der Maffen etwas ahnte vou der 
längft vergefienen Thatſache, daß diefer Schliler Dumouriez’ 
während des Kaiferreihs mehrmals fid zum Kriegszuge gegen 
das Vaterland erboten hatte. Auch au den Orleaus haftete 
etwas von dem Bourbonenfluche, ein mationaler Herrfcher iſt 
Ludwig Philipp nie geweſen. Nachdem die Heinen Künſte bes 
töniglichen Regenſchirms vernugt waren, veripottete die Prefie 
bie Berfon des Königs und feinen Birnenkopf mit einer erbit- 
terten Ironie, einer Keckheit, die felbit gegen Karl X. nie ge- 
wagt worden. Das Mistrauen der Öffentlihen Meinung folgt 
jedem feiner Schritte, macht ihn zum nnfreieften Manne feines 
Bolls; er wagt nicht einmal ein DOpernunternehmen zu unter- 
ſtützen, aus Furt, die Nation werde gewinnfüctige Specu- 
lation dahinter mwittern. Man mag in alledem die Wilbheit 
eines fieberiichen Parteilampfes tadeln — ein rechter Franzoſe 
war biefer König nicht, der fchlaue Handelsmann, der nie jung 
eweſen, der durch Heine feige Ränke hindurch den Weg zum 
Ehrone geihliden war und ale König noch die alten fchon 
dem Prinzen unziemlichen Krämerfünfte übte, der mit all feiner 
Welterfahrung die begeifternde Macht der Ideen nie gelannt, 
bei al feiner Sanftmuth die fchönfte Pflicht des Königthums 
die Beſchützung der Bedrängten, nie begriffen bat und bei a 
feiner bitrgerliden Solidität doc im Stande war zu Gauner⸗ 
ftreichen, wie zu jenem Wortbruche gegen ben gefangenen Abörel- 
Kader. Selbft die Tugenden feines bürgerlich⸗ſchlichten häus- 
lichen Lebens blieben dieſem ritterlihen Volke unverfländlich. 

Im Zufammenhang der Darftellung madt die ver- 
nichtende Kritik des Julikönigthums doch den Eindrud, 
als ob fie der darauffolgenden Charakteriftil des second 
empire zur Folie dienen follte, fowie das Porträt Ludwig 
Philipp's demjenigen des dritten Napoleon. Diefer wird 
ung in feiner Jugend als homme carr6, al® doux en- 
teto gefchilbert, phlegmatifch als ob bolländifches Blut in 
feinen Adern flöffe, ein unfranzöfifches Zemperament, bas 
tiefe nachhaltige Leidenfchaften keineswegs ausſchließt. Die 
Attentate von Strasburg und Boulogne werben in ihrer 
Lücherlichkeit bargeftellt; aber den publiciftifchen Arbeiten 
des Prinzen wird eine Anerfenuung gezollt, der man mit 
einiger Einfchränfung nur zuftimmen kann: 

Uns, die wir ‚heute die Schriften des Prinzen minder be- 
fangen Überbliden, erſcheint fchier unbegreiflich, wie man bie 
fen Autor jemals misachten fonute. Denn ſie entſprechen nicht 
nur keineswegs den Erwartungen, die man gemeinhin den lite- 
rarifhen Sünden eine® Prinzen entgegenbringt, fie verbienen 
ſchlechthin einen ehrenvollen Platz in der Geſchichte der Publi⸗ 
eiſtik. Nicht ein geiftreicher, aber ein emiuent praltifcher Kopf, 
nüchtern und fiher im Beobachten, feft und felbfländig im Ur⸗ 
theilen, bat fie gefchaffen. Aud die Darfiellung if Mar und 
biindig, von echt franzöfticher netteto; der Prinz weiß feine 
Lefer raſch zu orientiren, allen feinen Süßen eine praktiſche 
Spite zu geben. Der Ideenreichthum, das Pathos der Wahr- 
baftigkeit, die Macht der Phantafte, bie deu Hiſtoriker machen, 
find ihm verfagt; doch er verfteht vortrefflih, in biscuffiver 
Darftellung , mit Gewandtheit und ohne Gewiſſensbedenken, die 





biftorifchen Borausſetzungen ber Gegenwart für feine Zwecke ſich 
zurechtzulegen. Kurz, er zeigt fi als ein begabter Journaliſt; 
und wer da wußte, daß biefe Schriften nicht Iiterarifch etwas 
bedeuten, fondern das Programm einer praktiſchen Staatskunſt 
bilden follten, der mußte bei einiger Unbefangenheit befennen, adß 
hier ein ungewöhnliches ſtaatsmänniſches Talent ſich offenbare. 

Der Bring verlangte in dem berühmteſten feiner Aus- 
fprüche von dem Politiker, er folle an ber Spige der 
Ideen feines Jahrhunderts fchreiten, auf daß fie ihn nicht 
ftürzen. Mit Recht meint Treitſchke, daß er diefer For⸗ 
derung nur halb genügt habe. Die Bedeutung bes vier- 
ten Standes und der focialen Frage babe ex wohl erfannt; 
aber jene Mächte des Idealismus, die auch unferer nüch⸗ 
ternen Epoche nicht fehlen, feien ihm fremd geblieben. 
In der That kennt Napoleon III. nur einen Idealismus, 
den der „Napoleonifhen Ideen‘, und biefer muß ver» 
dächtig erfcheinen, weil er mit den perfönlichen Iutereffen 
feines Vertreters vollftändig zuſammenfällt. 

Einen Heinen, bier eingefchobenen Excurs über deutfche 
und franzöftfhe Sitten wollen wir unfern Lefern nicht 
porenthalten, ba er einen oft nicht geung beachteten Ge⸗ 
fihtspunft in den Vordergrund ſtellt. In der heutigen 
Epoche ift dies um fo nöthiger, als bie gerechte Ent⸗ 
rüftung über den vom Zaun gebrochenen Bollskrieg leicht 
bazu geneigt machen dürfte, mit dem Volkshaß aud) wies 
der die früher beliebte „Franzoſenfreſſerei“ in Schwung 
zu bringen. Daß wir und von den fchlechten franzöflfchen 
Einflüffen und Sitten emaucipiren, iſt gewiß in ber Orb 
nung; feineswegs aber dürfen wir alles, was von einem 
fo bedeutenden geiftigen Qulturvoll wie die Franzoſen 
zur Entwidelung der Menſchheit beigefteuert worden ifl, 
gerabezu misachten oder ganz über Bord werfen. Treitſchke 
wendet fich gegen den „phnrifäerbaften Dinkel“, mit wel 
chem oft über die Unzucht der Sitten und Schriften un⸗ 
ferer Nachbarn abgefprodyen wird: 

Wir wollten fie wahrlich gern entbehren, jene tugendhaf⸗ 
ten Urtbeile idealer Kritiler Über das reale Lafter des nemen 
Frankreich, welche heute ebrenfeft in den Feuilletons unferer 
Zeitungen einberftoßiren und — alsbald dem allgemeinen Hobn- 
gelächter verfallen würden, wenn die anonymen Berfaffer ihre 
eigenen reinen Namen entbüllen wollten. Am lauteften pflegt 
das Berdbammungsurtheil über das neu⸗franzöſiſche Babylon in 
den wiener Blättern angeftimmt zu werden — in jenen Wien, 
das fittlich unzweifelhaft tiefer ftebt ale Paris, beun am ber 
Donau wird ſchwerlich weniger geilindigt umd gewiß weit weniger 

earbeitet ale an der Seine. Die Urheber folder mwohlfetler 

oralpredigten vergeffen, wie tief wir einft felber, zur Zeit 
des Jungen Deutihland, in die Nete der parifer Sirene ver- 
firidt waren. Sie vergeffen, daß das Urtbeil gerade über bie 
feinften fittlicden Fragen, trog des Chriftentbums und troß bes 
ſchwunghaften Weltverlehrs, ein je nach dem Bollsthum ver 
ſchiedenes fein und bleiben muß. Das ungeftlime Blut unferer 
Jugeud liebt einmal, beim Zehen und NRaufen, das ener ber 
jungen Frangofen, in galanten Abenteuern ſich auszutoben; und 
die Frage, welche dieſer nationalen Schwächen für baltlofe Na⸗ 
turen verberblicher fei, ift keineswegs Leicht, fie ift jedenfalls 
nicht für alle Menſchen auf die gleiche Welfe zn beantworten. 
Wir bleiben ein tn jedem Sinne ſchwereres Boll denn unfere 
Nachbarn. 

Die Webruarrevolution hat nad ber Anficht unfers 
Autors „gar nichts des Bewunderungswürdigen“, die Zer⸗ 
rüttung der Verhältniſſe, die allgemeine Verlogenheit, bie 
bare Gedankenloſigkeit der Todesangft gehören zur Signa⸗ 
tur der Epoche; der Sieg der Yumitage, „des furchtbar 
ften focialen Kampfes, den die neue Gefchichte feit dem 





Neue Effays von Heinrih von Treitfchle. 


dentſchen Bauernfrieg gefehen hat“, war ber Sieg ber 
Dourgeoisrepublil, die zur Monarchie zurückſtrebte. Die 
neue republifanifche Berfaffung nennt Treitfchte „die wider- 
finnigfte unter den vielen todtgeborenen Conftitutionen jenes 
Jahres“. Wir haben dieſe Konftitution, fowie die innere 
und äußere Politit der Zeit erft vor kurzem in d. BL. 
befprochen; bie innern Widerfpritche berjelben werden von 
Treitfchle in ganz ähnlicher Weife auseinandergeſetzt, wie 
von dem DBerfaffer der Schrift über den „Staatsftreich 
vom 2. December”. Die Abvocatur für diefen Staats 
ftreih übernimmt Treitſchke indeß in einer Weife, bie 
doch wol nur die Ueberhebung ftaatemännifcher Leber- 
weisheit ift; denn wenn er auf der einen-Seite jagt, daß 
der 2. December eine Nothwenbigkeit geweſen fei könne 
fein Dann von politifchem Urtheil beftreiten, und dann 
wieder eine Berfchwörung, die von ben Hütern bes Ge- 
ſetzes ausgeht, die häßlichſte aller Rechtsverlegungen nennt, 
welche durch die ſittliche Nichtigkeit der Gefellen des Prä- 
fidenten faft unfühnbar geworben fei, wenn er bie maß⸗ 
Iofe und unnütze Brutalität in der Ausführung des Staats» 
ftreich8 tadelt, jo erhält fein Urtheil doch etwas Schielen- 
des und politifche Weisheit und moraliſche Entrüftung 
bilden eine ungelöfte Diffonanz. Hier lefen wir, baß 
ber Staatsftreih eine Nothwendigkeit war; bort, das 
Schredliche der Kataftrophe liege in ber Thatfache, daß 
bie Mehrheit der Nation ihn billigte. Warum follte die 
Mehrheit der Nation nicht eine „Nothwendigkeit“ billi- 
gen? kann in diefer Bewährung bes „politiichen Ur⸗ 
theils“, in diefer Vorwegnahme deutfcher PBrofefioren- 
weisheit denn etwas jo „Schredliches” Tiegen? 

Die Conftruction der faits accomplis als „politifcher 
Nothwendigkeiten“ gehört zu den Erbkrankheiten unferer 
Gelehrſamkeit; ihr zu Grunde Liegt eine misverftändliche 
Anmendung des Hegel'ſchen Sages von der Vernünftigkeit 
des Wirklihen und im Grunde die unerquidliche Lobprei⸗ 
jung bes Erfolge, Der 2. December war ein Berbre- 
hen, Teine Nothwendigfeit, vielleicht eine Nothwenbigfeit 
für den Präftidenten Bonaparte, obgleich auch dies beftrit- 
ten und die Wahrfcheinlichkeit feiner immerhin verfaffungs- 
widrigen Wiederwahl von vielen Seiten behauptet wird. 
Für diejenige flaatsmännifche und mitſchuldige Weisheit, 
welche in dem 2. December einen Act politifcher Noth- 
wenbigfeit flieht, zahlen wir noch im Jahre 1870 die 
Schul« und Kriegskoſten. Es ift Zeit, daß diefer legte 
Reſt der Napoleonifhen Legende aus den Köpfen unjerer 
Staatsweiſen entjchwinde. 

Die Kritik der „perfünlichen Tyrannis“, bes verant« 
wortlichen Kaifers als des homme-peuple, bed ganzen 
Berfaffungsfuftems als eines gouvernement indiscutable 
leugnet nicht, daß das Kaiferreich eine Gewaltherrſchaft 
und ein vechtlofer Zuftand geblieben ift, daß der geiftige 
Adel der Nation fih mit fittlihem Ekel von ihm ab⸗ 
wendet, fie analyfirt das dem Anſchein nach confequente 
Berfaffungsgebäude und feine SKörperfchaften, doc fie 
ſucht das Heil nicht in entfchloffenem Einlenken in die 
Bahn des parlamentarifchen Syſtems, in welcher der 
Kaiſer und fein Minifter Olivier neuerdings felbft die 
Krönung des Gebäudes erblicten, nicht in der Theilung 
der Gewalten, fondern in der Beſchrünkung ber Staate- 
gewalt durch Selbftverwaltung, in der Decentralifation, 


613 


welche das Schlagwort einer großen franzöftfchen Publi⸗ 
ciftenfchule geworben if. Treitſchke findet das größte 
Hindernig der Selbftverwaltung in ber Herrfchaft des 
vierten Standes. In der Begünftigung diefer Herrſchaft 
liegt ein Hauptcharalterzug bed neuen Bonapartismus, 
in ber Sorge für das Wohl der arbeitenden Klafien 
vielleicht fein Hauptverdienft. 

Einer Charakteriftit der induftriellen Unternehmungen, 
des großen Creditſchwindels, ber an die Law'ſchen Zeiten 
erinnert, während ber Sanbdelövertrag mit England von 
ZTreitfchle mit Hecht als eine don ben undankbaren Zeit- 
genoffen halb vergefiene große That des Kaifers gefeiert 
wird, einer ffizzirten Darftellung ber Cultur⸗ und Literatur- 
zuftände des second empire, der kirchlichen KReaclion, bie 
als furchtbare Feindin ber geiftigen Bildung der Nation 
in fortwährendem Wachsthum begriffen ift, folgt ein Ueber⸗ 
blid über die auswärtige Politik des Kaiferreichs, welcher 
durch die neueften Ereigniffe vielfach Lüdenhaft und un⸗ 
haltbar geworben if. Wenn Treitſchke behauptet, daß 
der Deutfche mit begreiflicher Theilnahme auf die Napo⸗ 
leonifche Mittelpartei unter Ollivier's Führung fehe, fo hut 
fi diefe Napoleonifche Mittelpartei, welche in dem „libe⸗ 
ralen” Minifterium Ollivier ans Ruder kam, durch bie 
freche, günzlich unmotivirte Kriegserklärung gegen Deutfch- 
land längſt um jeden Reſt der Theilnahme gebradjt und 
ftatt derfelben gerechten Haß eingeerntet. Wenn Treitſchke 
an einer andern Stelle jagt: „Wir vermuthen nicht mehr, 
nein, wir haben feit dem Sommer 1866 die actenmäßige 
Gewißheit, daß die Höfe des Rheinbundes nad) ber erften 
Niederlage Preußens augenblidlih bereit fein werben, 
abermals das Joch bes Fremden zu tragen, und das Bolt 
im Süden beflgt weder die Macht noch den feiten Willen, 
fie daran zu hindern“, fo Hat die Vegeifterung und die 
Treue gegen die Verträge, welche die Fürften und Stämme 
bes beutjchen Südens gleihmäßig befeelte, und weldje die 
füddeutſchen Truppen mit ihrem Blute beftegelt haben, 
jene mistrauifhen Bermuthungen glänzend widerlegt. 
Treitſchke ift übrigens von der Triedensliebe des Kaifers 
volllommen überzeugt, im Gegenfate zu unfern Lyrikern, 
welcye den Cäſar allein verantwortlich) machen für alle 
Greuel des Kriege; er fagt an einer Stelle: 


Die vielverfpottete Berfiherung des Kaiſers: l’empire c’est 
la paix, war von Haus aus ernft gemeint. Ale Schöpfungen 
des monarchiſchen Socialismus verlangen den Frieden, auch die 
ernfle, gedanlenreiche europäiſche Politik Napoleon’s ILL. bat 
mit roher Schlaglnft nichts gemein. Und doch bedarf er der 
freudigen Hingebung feiner Soldaten, und doc verdankt das 
Kaiferreih dem Cultus des Kriegsrubme fein Dafen. Dan 
pflegt von Amts wegen die chauviniſtiſchen Gedanken. In allen 
bedentlihen Zeiten müfſen die halbamtlichen Blätter die Rhein- 
frage anregen, um bie unrubigen Köpfe in Bolt und Heer zu 
befhäftigen — fo unmittelbar nad dem Staateftreidhe, jo nad 
bem Tage von Königgräg. In der Militärihule von St.-Eyr 
trägt Hr. Lavallee die Lehre von dem natierlichen Grenzen mit 
erflaunlicher PBlumpbeit vor. Sogar der Minifter Duruy, ber 
Beſchützer der friedlichen Aufflärung, fommt in feiner Einleitung 
zur franzöſiſchen Gefchichte immer wieber mit leibenfchaftlicher 
Enträftung zuräd auf „jene ungeheure Lücke in unfern Grenzen“, 
die fi von Lauterburg bis Dunkirchen ausbehut. Die beutiche 
Sprade im Elſaß if ihm nur ein unberechtigtes rohes Batoie; 
und allein dem perfönlichen Billigleitsgeflihle bes Kaiſers ver» 
danken die Elfaffer, daß ihre Sprache aus den Schulen nicht 
verſchwunden ifl. 


me. 


— — — — — — 
v 


614 Neue Eſſays von Heinrich von Treitſchke. 


Und an einer andern Stelle heißt es: 

Die Mäßigung und Weisheit bes Kaiſers iſt noch immer 
der befte Berblindete, den wir im Frankreich befigen. Was 
auch der biplomatifhe Klatſch fi zuraunen mag von ber 
Schlummerfuht des Kaifers, die nur durch einen Schlag von 
mächtiger Hand auf Augenblicke geftört werden könne — fo tief 
ift der bedeutende Mann doc nicht gefunfen, daß er bie furcht⸗ 
baren Gefahren eines Kriegs mit Deutfchland nicht fehen ſollte. 
Seine Freunde wahrlich find es nicht, die das Kriegsgeſchrei 
am Tauteften erheben; nicht bei den Thiers und Jules Favre 
und den andern falfchen Göten einer urtheilslofen öffentlichen 
Meinung ift der Rath zu finden, der Frankreich frommen mag. 
Der Kaiſer hat in den lombardifchen Ebenen gelernt, daß ihm 
die Gaben des großem Feldherrn verfagt find und and) feine 
Leibestraft für einen zweiten Feldzug ſchwerlich ausreichen wird, 

ür das Haus Bonaparte aber ift ein vom Rheine flegrei 
eimfehrender franzöfticher Marfchall kaum minder gefährtt 
als ein zum dritten male in Paris einziehender preußiſcher 
Seldherr. So ſtehen wir Heute: jeder neue Tag friedlicher 
Being befeftigt freilich die Sicherheit Europas, bach zulegt 
hängt die Ruhe der Welt noch immer an dem unberedhenbaren 
Spiele ber politifhen Kräfte im Innern Frankreichs. Wie der 
Kaifer den Ultramontanen zu Liebe das Schwert ziehen mußte 
gegen die Italiener, fo tönnen ihn auch jet ſteigende Verlegen⸗ 
beiten der innern Politik in die Arme der Chaupviniften, zu 
einem ruchloſen Raubzuge gegen Deutfchland treiben. Nach 
fiebzehn Jahren ungebeuerer Arbeit ift er dahin gelangt, daß 
jein Regiment biefjeit wie jenfeit der Grenzen wieder einem 
ebenfo allgemeinen Mistrauen begegnet wie einft nah dem 
2. December. Die Krankheit des franzöfifchen Staats bat für 
ben ganzen Welttheil einen Zuſtand bauger Spannung ger 
ichaffen, der dieſes Hochgefitteten Jahrhunderts nicht würdig ifl. 
Noch einige Schritte weiter, und der Name Napoleon III. 
kann bei der Nachwelt einem Rufe verfallen, den er nidt 
verdient. 

In den legten Sätzen zeigt fi) wieber die propheti« 
ſche Ader unfers Autors. Auch was die Ausfihten für 
bie Zukunft Frankreichs betrifft, fo ift die folgende Cha⸗ 
rakteriſtik der politifchen Parteien durch den jeßigen Krieg 
keineswegs veraltet, fondern in den Vordergrund des eu⸗ 
ropäifchen Intereſſes gerückt: 

Und doch ſehen wir keinen Mann und keine Partei, welche 
im Stande wären, den Kaiſer zu erſetzen. Die herbe Gering⸗ 
ſchätzung des Selbſtherrſchers gegen ſeine Feinde, gegen den 
Schaumwein ber Oppofitionsreden iſt nur zu begreiflich. Die 
alten Parteien fcheinen vernußt, neue find nicht entflanben. 
Die Monarchie der Bourbonen und ber Drieans bildete Repu⸗ 
blitaner, die Republik erzog ein Geſchlecht von Reactionären; 
unter dem Kaiferreiche bat der Geift des Widerfpruchs zwar 
der Ungnfriedenen viele, boch nicht eine ſtarke Liberale Partei 
mit feften Zielen geichaffen. Die Herrfchaft der Legitimiften ifl 
in dem neuen Frankreich unmöglich — wenn anders wir das 
gefährliche Wort auf die unberechenbaren Zuftände diefes Reiche 
anwenden dürfen. Die Orleaniften haben wenig gelernt. Nicht 
blos ihre Flüchtlinge verzehren fi in unfrudtbarem Hafſe, 
wie jener eimft jo befonnene Dunoyer, ber in feinem Werke 
über das zmeite Kaiſerreich nur finnlofe Zornreden und das 
ewige quiconque est loup agisse en loup zu fagen weiß. 
Aue die daheim geblieben, find den Ideen verfchollener Tage 
nicht entwachſen: verantwortfiche Minifter und eine feindfelige 
Haltung gegen Deutſchland würden ihnen genligen. Die ge⸗ 
mäßigten Republifafter zählen nocd immer wie vor zwanzig 
Jahren viele hochachtbare mannhafte Namen, aber die Mafle 
fteht nicht Hinter ihnen, und auch fie leben weniger in neuen 
Gedanken als in dem alten Hafle gegen den 2. December, 
„der fein Datum, fondern ein Verbrechen iſt“. Bon den Ra⸗ 
dicalen find die einen übergelaufen zu dem rothen Prinzen, bie 
andern beranſchen fih an Xraumbildern, die jeden Staat, jede 
Ordnung der Geſellſchaft zerftören müfjen. 


Als das Refultat der umfaffenden Darftellung des Bo⸗ 


napartismus wird die Anſicht ausgefprochen, daß die Ge 
danken bes Repräfentativfuftems durch den Bonapartismus 
wicht überwunden find, und daß wir hoffen dürfen, es 
werde fich für ihren unverwüſtlichen Kern eine moderne 
Form finden lafien. Studien über die Entwidelung des 
Syſtems in der Gegenwart und das Ziel, dem biejelbe 
zuftrebt, beflimmen die Phyſiognomie bes Auffages über 
„das conftitutionelle Abnigthum im Deutſchland“, von bem 
ber Berfaffer im Vorwort fagt: 

Er bat feinen Zmed erreicht, wenn er den Lefer beftärkt 
in dem Bertrauen, daß das conflitutionelle Syſtem auf dent- 
fhem Boden eine lebensvolle, nationale Ausbildung empfangen 
wird. Noch find der Gebrechen, welche das unfertige porla- 
mentarifche Leben des preußifchen Staats entftellen, nur allzu 
viele. Es frommt nicht, die bereditigten Klagen, welche den 
deutfchen Markt erfüllen, zu verftärfen durch doctrinäre Launen; 
es frommt nit, diefen deutfchen Staat darum zu fchelten, weil 
er einem willkürlich aus der Fremde entlehnten Idealbilde nicht 
entfpricht und nicht entſprechen barf. 

Die Abhandlung beginnt mit einem Hiftorifchen Rück⸗ 
blick, fehildert dann die confervativen Kräfte im preußiſchen 
Stante, die Krone, das Heer, da8 Beamtenihum, ritifirt 
als falfche Ideale die Parteiregierung und das nnbe- 
ſchränkte Steuerverweigerungsrecht, ftellt dagegen als er- 
reichbare Ziele rechtliche Schranfen für die Berwaltung, 
Selbftverwaltung ber Provinzen und Gemeinden und die 
Freiheit der geiftigen Bildung, als fchönes Ziel dentfcher 
Entwidelung aber den deutſchen Gefammtftaat Hin. 
Zreitfchle verlangt eine lebendige monarchiſche Gewalt. 
Das Herrſcherhaus der Hohenzollern habe feit zwei Jahr⸗ 
bunberten ben deutfchen Staat vertreten; es fet fat die 
einzige politifche Kraft, welche die moderne Welt mit ber 
Bergangenheit verbinde; deshalb dürfe eine trene und 
gerechte Nation einem Herrſcherhauſe von folder Ver⸗ 
gangenheit nicht jenes Mistrauen eutgegenbringen, das 
nad der alten conftitutionellen Theorie die vorherrſchende 
Empfindung eines freien Volls fein folle: 

Die monardifche Gefinnung mwurzelt felfenfeft in umjerer 
Nation, fie ift die männlide Empfindung eines freien Volle, 
fie entfpringt der dankbaren Erfenntniß, daß unfere Krone bie 
hoben Pflichten, um derentwillen fie befteht, immerdar erfüllt 
hat. In foldem Sinne ift nichts von myſtiſchem Aberglauben; 
die blinde Ergebenheit gereint nit mebr in unſerm handfeſten 
Jahrhundert, das ſchon einige hundert deutſcher Fürſten⸗ nnd 
Herrenfronen zerfchlagen hat und in diefer löblichen Arbeit ohne 
Zweifel fortfahren wird. 

Dffenbar verlangt Treitichle von den Unterthamen ber 
zerfchlagenen „beutfchen Fürſtenkronen“ das Gegentheil der 
„monarchiſchen Geflnnung”, was bie Allgemeingültigkeit 
bes Priucips mefentlich beeinträchtigt. Doch diefe mo⸗ 
narchiſche Geſinnung ift weit entfernt von Berberrlihung 
des Legitimitätsprincips: 

Der Name Legitimität mar in Preußen immer nur eine 
leere Phraſe. Die Macht diefer Krone rubte von jeher auf 
befjern Rechtstiteln, als Erb- und Kaufverträge gewähren können. 
Wie fie ihre Serrfhaft im Serzogthum Preußen einer Revolution, 
der That Martin Luther’s', verbantte, fo ift fie auch fernerhin 
gewachſen durch die lebendigen Kräfte der beutichen Geſchichte, 
oftmals im offenen Kampfe mit dem Reicht⸗ und Bundecrecht. 
Bis zum Jahre 1866 blieb ihr mindeftens ber Troft, daß fie 
fein Dorf befite ohne die Zufimmung Europas. Doch durd 
den deutfhen Krieg warb der Bruch mit der Legitimität, ber 
fat in allen europäifhen Staaten den Beginn einer freiern 
Epoche bezeichnet, förmlich vollzogen; es ift heute nicht mehr 





Neue Eſſays von Heinrih von Treitfchte. 


möglid , zualei) ein treuer Preuße und ein Legitimift zu fein. 
Seitdem beginnt felbft das dunkle Gefühl der Maflen das We⸗ 
fen diefe® nationalen Königthums zu verftehen; fie ahnen, daß 
diefe Macht der Zradition zugleich eine Iebendige Kraft des 
Fortſchritts, der Mehrer des Reiche, der Vorkümpfer der deut- 
hen Einheit if. Die uralte Ehrfurcht vor Kaifer und Neid, 
welche die Stürme der Jahrhunderte nicht ausrotten Tonnten 
aus dem treuen Herzen unfers Volls, die alte deutiche Sehn⸗ 
ſucht nad einem Schirmherrn des Rechts in dem zerriffenen 
Baterlande — fie vedeten aus dem Jubel jener braven frieflichen 
Bauern, die fi in Wilhelmshaven um König Wilhelm dräng- 
ten und ihre Buben auf die Schultern hoben, um fi ben 
beutfchen König "mal anzuliefen. 


Mit der DBegeifterung für eine „ſtarke Monarchie‘ 
geht natürlich die Polemil gegen die Parteiregierung und 
das Stenerverweigerungsredht, in welchen: Dahlmenn ein 
unentbehrliches Nothrecht und das abfolute Beto ber 
Bolliwertretung gefunden, Hand in Hand, fowie eime 
Iharfe Kritik der liberalen Parteien der preußifchen 
Kammer. Die Doctrin vom abfoluten Steuervermeige- 
rungsrecht fchließt, nach unferm Autor, eine grobe Rechts⸗ 
verletzung in fi: 

Sie geht aus von jener franzöfifchen Borftellu d: als ob 
erſt mit der gefchriebenen Berfaflung das wahre Leben bes 
Staats, die berühmte &re de 1a liberte, begiune und alle an- 
beru Nechtsverbindlichkeiten des Gemeinweſens zurüdftehen müß- 
ten hinter den Vorſchriften der Charte. Aber das verfafjungs- 
mäßige Budgetgeſetz tft offenbar nicht der Rechtsgrund, Traft 
deſſen der Staat feine Ausgaben leiſtet. Wenn jenes Geſetz 
nicht zu Stande kommt, fo bleibt der Staat nichtsdefloweniger 
verpflichtet, feinen Gläubigern die Zinfen, den Beamten bie @e- 
halte, dritten Staaten die vereinbarten Zahlungen zu gewähren; 
deun dieſe Berbindlichkeiten beruhen anf ältern Geſetzen, auf 
Berträgen, auf einer Waffe gültiger Rechtstitel, die ein Par- 
lamentsbeſchluß gar nicht befettigen kann. Daher hat während 
des Conflicis auch der eifrigfte Yortihrittsmann unter unfern 
Beamten unbedenflih feinen Gehalt angenommen, und mit 
Recht. Wer das unbebingte Stenerverweigerungsrecht fordert, 
der will nicht nur den Beſtand bochwichtiger für die Dauer 
beſtimmter politifcher Inflitutionen, fondern auch eine Menge 
en Rechte alljährlich der parlamentariſchen Willlür 
überlaffen. 


Außerdem aber fei der Beſchluß, bie Steuern zu ver⸗ 
weigern, eine Unwahrheit, er wolle nicht, was er fage, 
fonft müßte er die DVernichtung des Staats wollen, 
während er boch nur durch gewaltfame Drohung andere 
Zwecke, den Sturz eines Minifters u. f. f., zu erreichen 
fuche. Das Budgetrecht der preußiſchen Berfaflung fei 
eine Muſterkarte politifcher Fehler. Das Heilmittel fin- 
det Treitfchle, im Anſchluß an einen Blan Karl Mathy's, 
in einer Theilung des Budgets: 

Man muß in jedem Titel des Budgets die auf Geſetzen 
und Berträgen beruhenden Ausgaben abfondern von den be- 
weglichen Poften; jene bat bae Parlament nur nad) ihrer Ge⸗ 
ſetzlichkeit zu prüfen, biefe au) nad) ihrer Zwedmäßigkeit, jene 
einfah anzuerfennen, dieſe nad) Ermefjen herabzuſetzen. Die 
Summe der permanenten Ausgaben wird natürlich geringer 
fein als die der beweglichen; denn zu diefen zählen auch alle 
Poſten, welde zwar nad) ihrem Rechtsgrunde, doch nicht nad 
ihrem Betrage feſtſtehen. So erhält die Krone eine Blirg- 
ſchaft gegen den Misbrauch des Ausgabebewilligungsredhte, und 
fein vernünftiges Bedenken hindert mehr, aud) das Einnahme 
budget bergeflalt neu zu ordnen, baß den permanenten gejch- 
lichen Einnahmen einige bewegliche Poſten hinzutreten, welche 
ber freien Bewilligung des Unterhauſes unterliegen. Auf dieſem 
Gebiete ericheimt bie Weisheit der engliſchen Verfaffnug wahrbaft 
bewunderungsveittdig. 





615 


In feiner Begeifterung fir ben Krieg gebt unfer 


Autor noch über Fichte und Hegel hinaus. Der ſchüler⸗ 
bafte Denker Kant wird vornehm zurechtgewieſen, benn 


auf ihn beziehen fi) doch jebenfalls die Worte mit: 


„Wer vom ewigen Frieden träumt, verlangt nicht ‚mx 
das Unausführbare, fondern den Unfinn; er begeht einen 
ſchülerhaften Denkfehler.” Weiterhin erfahren wir, daß 
die Hoffnung, den Krieg aus der Welt zu vertilgen, 
nicht nur finnlos, fondern „tief unfittlich” fei, und dann 
beginut ein Hymnus auf den Krieg, der fich ohne große 
Mühe in ein Dbenversmaß bringen ließe. Und dod 
wehren fich die humanen Inſtincte des Jahrhunderts ge- 
gen die Anfchauung, daß ber Krieg nicht bloß-eine poli⸗ 
tifche Nothwendigkeit der Gegenwart, fondern aud) das 
Ideal aller Zukunft fei. Unſere tapferften Heerführer 
und Soldaten fprechen ohne Zögern ihren Abſcheu vor 
ben Greueln des Kriege aus; wir aber glamben nicht, daß 
der „Staatsfanatismus“, wie ihn andy Treitſchke vertritt, 
das legte Wort der Menſchheit fet. 

Der berbe Tadel, welchen Treitfchle über die Politik 
der Südſtaaten ünfert, iſt durch die legten Creigniffe im 
wefentlichen entkräftet worden. Der Aufſatz fchließt mit 
den folgenden ſchwunghaften Wendungen: 

Große politiiche Leidenfchaft if ein Mftliher Schatz; das 
matte Herz der Mehrzahl der Menſchen bietet nur wenig Raum 
dafür. Glüchſelig das Geſchlecht, welchem eine fzenge Noth⸗ 
wendigkeit einen erhabenen politiſchen Gedanken auferlegt, der 
groß und einfach, allen verſtändlich, jede andere Idee der Zeit 
in ſeine Dienſte zwingt! Ein ſolcher Gedanke iſt unſern Ta⸗ 
gen die Einheit Deutſchlands; wer ihr nicht dient, lebt nicht 
mit feinem Volle. Wir n im Lager; jeden Augenblid 
kann uns des Feldherrn Gebot wieder unter die Waffen rufen. 
Uns ziemt nicht, den tanſend und taufend gligernden Freiheits⸗ 
wäniden, die dies Zeitalter ber Revolutionen durchflattern, in 
biinder Begierde nachzujagen. Uns ziemt, zufammenzufiehen tm 
Manngszucht und GSelbfibefhränfung, und ben Hort unferer 
Einheit, das dentſche Königthum, treu bewahrt den Söhnen zu 
übergeben, welche — forgenfreier vielleicht, nicht glüdlicher ale 
ihre hart ringenden Bäter — den deutſchen Staat bereinft aus⸗ 
ſchmücken werden. Für Deutichlande Einheit fümpfen heißt bie 
Kreigeit des Gedanlens verteidigen wider röomiſche Herrſchſucht; 
die deutiche Einheit vollenden heißt ein jugenbliches und fit 
liches Boll, das noch faum im zweiten Viertel feiner wunder⸗ 
vollen Geſchichte lebt, ſich felber zurückgeben. Erfüllen wir 
biefe Pflicht, fo bleibt den Ideen parlamentarischer Freiheit auf 
demtfcher Erde eine ſtolze Zukunft gefichert. 

In dem biographifchen Porträt Cavour's wirb bas 
Ideal eines Staatsmanns vorgeführt, das Ideal eines 
pofitiven Geiftes, erfüllt von dem fichern Inſtinet fiir das 
Möglide. Dies Portriit ift mit vieler Liebe außgeflihrt, 
und gibt uns zugleich einen Umriß der italienifchen Ein⸗ 
heitsbeftrebungen. Doc das Bild ift allzu fehr Licht im 
Licht gemalt; daß Cavour ein Minifter biplomatifcher 
Doppelzängigleit war, umd daß bie Verfchadjerung von 
Nizza und Savsyen do eine That der feelenverfaufenben 
Gabinetspolitit war, kann unfern Autor nicht beftimmen, 
das Bild feines Helden etwas dunkler zu retouchiren. 

Die Darftellung der „Republik der vereinigten Nie⸗ 
berlanbe” iſt eine Abhandlung, in welcher die publiciſti⸗ 
ſche Tendenz bie biftorifche überwiegt. ‘Der Autor will 
uns die Entwidelung der Berfaffung biefes denkwür⸗ 
digen Gemeinweſens darftellen — des einzigen Staaten« 
bunbes ber Befchichte, ber zum Einheitsſtaate warb, des 
einzigen alfo, der dem Norddeutſchen Bunde verwandt ifl. 








616 Literaturgeſchichtliches. 


Er läßt dabei alles Dramatiſche in den Charakteren, 
Kämpfen und Kreigniffen außer Acht; er zeichnet eben 
nur bie Linien ber Entwidelung — eine für eine berartige 
Abhandlung nicht zu verwerfende Darftellungsmeife, die fich 
aber auch in vielen neuen Geſchichtswerken geltend macht und 
ihnen einen blutlos unlebendigen Anftrich gibt. 


Treitſchke's Stil ift durchweg edel und ſchwunghaft, 
nur etwas ermübend durch die fortwährende patheti⸗ 
ſche Geberde und an einzelnen Stellen zur Unzeit mehr 
rhetorifch glänzend als ſachgemäß entwidelnd, 


Rudolf Gotifchall. 


Kiteraturgefchichtliches. 
(Beichluß ans Rr. 38.) 


8. Edouard Schuré's Gefchichte des deutfchen Liedes. Ein⸗ 
geleitet von Adolf Stahr. Alleinberehtigte deutſche Aus- 
gabe. Berlin, Sacco Nachfolger. 1870. Gr. 8. 1 XThlr. 
10 Ngr. 

Wenn man flieht, wie ein Deutfcher die Volkslieder 
feiner Heimat mishanbelt, fo ift e8 doppelt erfreulich, 
einem Franzoſen zu begegnen, welcher für das bentfche 
Volkslied und feine Bedeutung fir unfere gefammte Kunft- 
dichtung das rechte Berftändnig hat. Und das zeigt uns 
das Buch von Schuré. Allerdings iſt diefer eigentlich 
fein echter Franzoſe, fondern ein Elfaffer, geboren auf 
demfelben Boden mit dem Bollslied vom „Heidenröslein“, 
ein Mann franzöflfhen Namens aber dentfchen Blutes. 
Ein geborener Strasburger, befchäftigte ſich Schure früh⸗ 
zeitig mit Leffing und Herder, Goethe und Schiller, ver- 
weilte dann mehrere Jahre in Nord⸗ und Süddeutſch⸗ 
land und machte ſich näher mit ber Gefchichte ber deut⸗ 
ſchen Literatur und Tonkunſt befannt. Der deutfchen und 
franzöfifchen Sprache gleich mächtig, bot er feinen politi- 
chen Landeleuten, ben Franzoſen, in diefem Buche dar, 
was er liber die Dichtung feiner geiftigen Landsleute er⸗ 
forfcht und empfunden Hatte Zu Berlin mit dem Ber- 
fafjer befannt geworden, übernahm es Abolf Stahr, die 
Berbeutfchung diefer franzöfifchen Geſchichte des deutſchen 
Liedes durch ein Vorwort in die Lefewelt einzuführen. 

Gegenüber ben meiftens höchſt oberflächlichen Anfichten 
ber parifer Feuilletonfchreiber über Deutichland und beut- 
ſches Geiftesleben ift e8 erfreulich, von Zeit zu Zeit Fran⸗ 
zofen zu begegnen, deren Blid frei genug iſt, um in 
Deutfchland nicht blos das Land der Kafernen und Zünd⸗ 
nabelgewehre, fondern auch das Land zu fehen, welches 
in Hinſicht auf vielfeitige und felbftändige geiftige Arbeit 
dem in Gentralifation verfnöcherten Frankreich getroft zur 
Seite treten barf, ja vor bemfelben mandherlei Vorzüge 
bat. So hat denn Schure in biefer „Geſchichte des deut⸗ 
ſchen Liebes” e8 unternommen, feinen Landsleuten die Ent- 
widelung unferer neuern Inrifchen Poeſie auf dem Grunde 
des alten Volksliedes darzuftellen und nachzuweiſen, welche 
Duelle ewiger Tugend unfere Lieberbichtung in dieſem 
Naturboden befigt, der ben Franzoſen fehlt ober fo gut 
wie gar nicht von ihnen benugt worben ift. Betrachten 
wir ben dabei eingefchlagenen Weg näber. 

Das einleitende Kapitel handelt von den Wefen ber 
Bollspoefie und zwar zunächſt der deutfchen, welche burch 
Herder zuerſt ihre Würdigung gefunden. Das beutfche 
Lieb ift individuell, während der Gallier von jeher „einen 
unwiderſtehlichen Hang zur officiellen Poefie hatte. Selten 
verleugnet ſich das Autoritätsbedürfnig in unferer Riteratur- 


geſchichte. Es ift der galliſchen Kaffe eingeboren, durch 
die römifche Tradition befördert und von der katholiſchen 
Kicche forgfältig genährt. Ob der Yranzofe eine Sorbonne, 
eine Alademie oder das Haupt einer Schule anerkennt, 
immer ift e8 das Bedürfniß nach Autorität, das einen höch⸗ 
ſten Gerichtshof verlangt, um zu derbammen oder Beloh⸗ 
nungen auszutheilen.“ 

Scure erlennt alfo jehr wohl den Gegenfat zwiſchen 
der germanischen und romaniſchen Dichtung. Au der 
Hand der deutfchen Literaturgefchichte weift er nach, wie 
neben der Kunftdichtung der Höfifch- gebildeten Stände 
frühzeitig eine Volkspoeſie aufblühte, und wie jene bei die⸗ 
fer immer aufs neue Jugendkraft und Yugenbfrifche findet. 
Bon ben Liedern auf die ſempacher und murtener Schlacht 
geht er über zu den vollsmäßigen Stimmungsliedern, in» 
dem er ſich hauptſächlich anlehnt an das Wunderhorn, 
Uhland und Simrod. Naturfinn und Weltabentener, 
Liebesleid und ⸗Luſt, das religidfe Leben des Volks ziehen 
in wechjelnden Bildern an uns vorüber, und wir erken⸗ 
nen mit rende, mit welchem. wahrhaft beutfchen Ver⸗ 
fländniß und zugleich mit welcher echt franzöftfchen Ge⸗ 
ſchicklichkeit der Behandlung Schure aus dem fo mannidh- 
faltigen Stoffe runde lebensvolle Bilder geftaltet bat. Wir 
fehen, wie biefe Funftlofen, durch ihre Wahrheit und 
Schönheit jo wirkſamen Lieber ihre Wirkung anf ein 
offenes und treues Gemüth allezeit bewahren und wie 
fehr diefer Reichthum aud dem Frembling imponirt. Dann 
geht Schurd über zu Tod und Auferftehung bes Liebes; 
Herder’8 Berbienfte finden geziemende Würdigung, Goethe 
begeifterte Feier. Eingehend weift Schure nad, wie bie 
Rückkehr zu der Art des Bollsliedes den größten Reiz in 
der Dichtung Goethe's wie der Romantifer bilbet; Eichen» 
borff, Heine, Uhland und ganz kurz einige ber bedeutend⸗ 
ſten Lyrifer der Gegenwart werben fein und fchön be- 
handelt; nur daß Geibel noch immer als Dichter der 
Backfiſche erfcheint, mag einigermaßen wunbernehmen. 
Schure ſchließt mit folgenden Worten, welche zugleich als 
Zeugniß für die Anmuth und Frifhe der Darftellung, 
wie fiir die fichere Freiheit ber Ueberfegung hierftehen 
mögen: 

Die gelehrte Poefte ift ein Lurus für Leute, die nichts zu 
thun haben, eine Liebhaberei der Gelehrten; die volksthümliche 
Poefie (ich meine damit diejenige, die kräftig aus dem Gel 
und den Formen ber einfachen Poefie gefchöpft hat) iſt ein 
Element des focialen Lebens, der freie Ausbrud der Seele der 
Nation. Die erfiere ift taufend Gefahren ausgeſetzt, denn nur 
zu leicht artet fie in handwerksmäßige Spielerei aus, verirrt 
fih in Modethorheit, metaphyfiſche Abftractionen, in Unwahr⸗ 
beit und hohle Aufgeblafenheit; die andere fchreitet auf bem 





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Literaturgeſchichtlich es. 617 


feſten Boden der Wirklichkeit fort und findet in ihren Vorbil⸗ 
dern die drei Geheimnifſe der höchſten Kunſt verkörpert, Kraft, 
Einfachheit und Wahrheit. Die eine ift gefchrieben und eriflirt 
nur auf dem Papier, die andere wird gefungen und Iebt auf 
allen Lippen. Jene ift ein Salonvergnligen, ein Zeitvertreib 
für Kenner, die fih mit dem prunfenden und leeren Namen 
der „Kunſt um ihrer felbft willen“ ſchmückt, diefe ein Wert für 
alle, das in der Hütte des Armen wie im Fürftenichloß hei- 
mifh ift, die freude eines ganzen Volks, die menſchliche und 
für die ganze Menſchheit beitimmte Kunſt. Diefem Ideal ent- 
ſpricht das deutſche Lied, und ihm verdanft es feine wunder- 
bare Lebenskraft. Man fingt e8 am häuslichen Herd, auf der 
Schulbank, der Univerfität, in Städten, auf den Bergen, bei 
Schligenfeften und felbft bei großen Boltsverfammlungen. Bon 
dem einfamen Boetenftübchen fliegt es zum Tanzplatz im Dorf, 
von dem Gipfel der Alpen in den Salon der Weltdame, die 
fih Herz und Geiſt erfrifcht, indem fie im Dialelt des Hod- 
landes die einfachen Lieder der Sennerin fingt. So ift das Lieb 
gewiffermaßen ein verfnlipfendes Band zwiſchen allen Schichten 
der Geſellſchaft geworden, eine glüdbringende, fruchtbare Be⸗ 
rühbrung. Denn wenn das Gemlith des Volks immerdar das 
der gebildetern Klaffen zu beleben und zu verjüngen vermag, 
jo können dieſe wiederum bie urfräftigen Regungen des Volks 
dem Ideal zumenden. Iſt e8 daher zu verwundern, daß in 
Deutichland die Beziehungen des Handwerlers zu dem Manne 
des Gedankens, zwiſchen dem Landmann und dem Städter, 
dan? dem gemeinjamen Gefange, inniger und freundlicher als 
bei uns find? Man gehe nur an einem Sonntage durd) die 
Berggegenden MWürtembergs, Thliringene, Schwabens oder der 
Rheinlande, und man wird ein erfrenlichese Schauſpiel fehen. 
Die jungen Leute aus der Stadt, die abends von den mit alten 
Ruinen und Wäldern befränzten Höhen herabfleigen, fingen 
oft die alten Liebeslieder des Bolls, und die Bänerinnen ant- 
worten fern im Thal mit Hauff’s „Abſchiedslied“, Eichendorff’s 
„Mühle oder Heine’8 „Lorelei“. Iſt das nicht ein freund: 
licher und zugleich ſchelmiſcher Gruß, mit dem fie fagen wollen: 
Wenn ihr um unfere Liebe und um unfere Lieder wißt, fo 
fennen wir dafür bie euern, und wer weiß, ob uniere Söhne 
euch nicht einſt noch übertreffen‘? 


Auf das einzelne näher einzugehen, dürfte bier wol 
überflüffig erfcheinen; Ulrich von Hutten beifpielömeife 
würde faum in emer Gefchichte der volfsthiimlichen deut- 
ſchen Dichtung vermißt werden. Als befonders gelungene 
Bilder aus der Gefchichte der deutjchen Dichtung heben 
wir hervor die Abfchnitte über Goethe und Heine; ale 
zufammenfaffendes Urtheil aber läßt e8 fich ausſprechen, 
daß das Buch nicht allein mit eingehender Kenntniß, fon- 
dern mit einer liebenstwürdigen Frifhe und Wärme ge- 
ſchrieben ift und dadurch fefthält und fortzieht; es fpricht 
ih, möchte man fagen, in der ganzen Auffafiung und 
Darftellung bes wie es fcheint noch jugenbfrifchen Ber- 
faflers jener belebende Hauch der Freiheit und Reinheit, 
jener Drang zum Idealen, jene Luft am Forſchen und 
zugleich jene Wreudigfeit im Genuſſe des Schönen aus, 
wie der Berfafler fie auf deutfchen Hochſchulen kennen 
lernen konnte. Die Berdeutfhung iſt fehr gewandt und 
left fi völlig wie eine Urfchrift; als einziges Kleines 
Berfehen ift dem Berichterftatter aufgefallen, daß Her⸗ 
wegh's „‚Reiterlied” hier das „Lieb des Cavaliers“ genannt 
it; doch dürfen wir einer Dame nicht übel nehmen, daß 
fie das Reiterlied des Lebendigen nicht Tennt. 

Um feinen Landsleuten einen Hand dom Geift des 
deutſchen Volksliedes zu geben, hat Schure eine Anzahl 
deutjcher Lieder ins Branzöfifche übertragen und als An- 
hang beigefügt. Ein ſchweres Unternehmen, welches aber, 
joweit der Deutſche urtheilen kann, im ganzen faft wohl 

1870, =. 


gelungen iſt. Als Beiſpiel ftche Hier bie Uebertragung 
von Goethe's „Gefunden“: 

Dans la for&t profonde 

J’allais tout à loisir, 

Ne cherchant rien au monde, 

Au gre de mon desir. 


Je vis debout a l’ombre 

Fleurette eclose au jour, 

Ses beaux yeux d’un bleu sombre, 
Deux etoiles d’amour. 


J’etends la main vers elle; 
La fleur dit a ravir: 

Quoi! je suis jeune et belle, . 
Et je devrais mourir! 


Je sortis la fleurette 

Du sol bien doucement, 
Et portai la pauvrette 
Dans mon jardin charmant. 


J’y plantai la mignonne 
Dans un endroit cheri; 
Toujours elle bourgeonne, 
Toujours elle deurit. 


Möge das Buch in feiner franzöfifchen Geſtalt un- 
fern Nachbarn willlommen fein und dazu beitragen, daß 
fie deutfches Wefen gerechter würdigen, als eg oftmals 
ber Tall ift; möge e8 in diefer Verdeutſchung auch unter 
uns die warmen Treunde finden, bie e8 verdient. 

4. Die moderne Nibelungendihtung. Mit bejonderer Rüdficht 
auf ©eibel, Hebbel und Jordan. Bon ©. R. Röpe. Ham- 
burg, D. Meißner. 1869. 8. 24 Ngr. 

Lehrer an der Realſchule des hamburger Johanneums, 
hat der Verfaſſer 1865 ein Schulprogramm gefchrieben 
über die dramatifche Neudihtung der Nibelungenfage in 
Geibel's „Brunhild“ und Hebbel’s „Nibelungen“; ein an» 
beres Oſtern 1869 über Jordan's neues Nibelungen» 
epos. Dieſe beiden Abhandlungen, vielfach erweitert und 
durch einen Auffag über die alte Nibelungendichtung ein- 
geleitet, bilden das Buch; fo ift e8 auch den beiden hier 
behandelten Dichtern, welche noch unter ben Lebenden 
find, Geibel und Jordan, gewibmet. 

Betrachten wir ben Inhalt näher. Die einleitende 
Abhandlung befpriht kurz die dem „Nibelungenlied“ zu 
Grunde liegenden Mythen und den gegenwärtigen Stand 
der Forfchungen über das Gedicht, wenn man es einen 
Stand nennen darf, daß jeder Germaniſt feine eigene 
Haus» und Leibanfiht hat. Der zweite Abfchnitt gebt 
nach einem raſchen Blid auf Hans Sache’ und Raupad)’s 
Dichtungen über zu Hebbel’8 Trilogie und zu Geibel’s 
„Brunhild“, welche beide eingehende Entwidelung und Be- 
urtheilung erfahren. Der dritte und legte Abfchnitt be- 
ihäftigt fich in befonderer Ausführlichleit mit Jordan's 
alliterirender Dichtung; ein Schlußwort faßt den Stand» 
punft des Verfaſſers nochmals zufammen und weilt die 
Grundidee bes Chriſtenthums in Jordan's Epos nad). 

Röpe ift ein begeifterter Berehrer der genannten Dich—⸗ 
tungen. Allerdings weift er der alten „Nibelunge nöt‘ 
nicht die Fünftlerifche Bedeutung zu, welche wol die mei- 
ften dieſer großartigften Heldendichtung bdeutfcher Zunge 
beimeffen; der Mangel feinerer pſychologiſcher Motivirung, 
die Berwifchung des zu Grunde liegenden Sagenftoffs, 
die mannichfachen Rängen und Härten find Gebrechen, die 

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618 Literaturgeſchichtliche s. 


ihn unſers Erachtens die überwältigende Großartigkeit des 
Gedichts nicht in verdientem Maße genießen und ſchätzen 
laſſen. Dagegen iſt es erfreulich, einen gef—hmad- und 
tenntnißreihen Mann über Dichtungen der Gegenwart 
mit dem vollen Bruftton bewundernder Empfindung reben 
zu Hören, in einer Zeit, die unbilligerweife von manchen 
Kunſtrichtern Lediglich als eine Zeit der Epigonen betrachtet 
wird. Des Berfafiers eingehende Beurtheilung, feine 
wahrhaft liebevolle Beſprechung vom erften Wort bis zum 
legten: „Mit der deutſchen Poefie ift’s, Gott fei Dant, 
noch nicht zu Ende!” Hat ſchon darum befondern Werth, 
weil fie über dem Guten ber Vergangenheit das Gute ber 
Gegenwart nicht misachtet. 

Dagegen ift das Buch in anderer Hinfiht etwas 
mwunderlid. Warum wir es jo nennen, das mag ber 
Verfaſſer felbft erläutern. Er fagt im Vorwort: 

Im anderer Hinficht aber werde ich dem Tadel ſchwerlich ent- 
gehen. Ich jhäme mid des Evangeliums von Chrifto nicht 
und habe die hier beſprochenen Dichtungen nad) den Grund» 
fägen des Chriftentbums beurtheilt. Der Apoftel Paulus fagt 
1 Kor. 2, 15: „Der Geiftliche richtet alles und wird von mies 
mand gerichtet.‘ Das heißt nun allerdings nicht, daß jeder 
tathotifhe Priefler und jeder Lntheriihe Pfarrer, weil er ein 
Geiſtlicher Heißt, das Recht habe, alle Erſcheinungen auf dem 
Gebiete dp8 Geiſtes nad) der kürzern ober längern Eile feiner 
Orthodorie zu mefjen, und dem, was darliber hinausragt, fein 
damnamus oder anathema zujurufen. Das heit es aber aller⸗ 
dings, daß das Chriffentfum, da e8 ſich ale ervige göttliche 
Wahrheit gibt, auch Anfprud darauf macht, das Maß aller 
Dinge zu fein; und wer nun wirklich in Jeſu Ehrifto den Men- 
ſchen anerkennt, in dem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig 
wohnt, der fann nun einmal nicht andere, ais das Maf dieler 
Ueberzeugung an alle geiftigen Dinge, alfo aud an die Dichter- 
werte fegen, die ihm durch Form und Inhalt, entziidt haben. 
Aber ich frage, kann denn in geiftigen Dingen irgendein Menſch 
jemals anders als nad feiner Ueberzeugung urtbeilen? So 
beftreite man mir wenigftens nicht mein jubjectives Recht, wenn 
man aud mein objectives Urteil vermirft. 

Wir find weit entfernt, den Verfaſſer um biefer An« 
ſchauungsweiſe willen zu tabeln ober ihm fein fubjectives 
Recht dazu zu beftreiten, um fo weniger, da er biefen 
feinen Maßſtab nicht fowol zu dem Ende anlegt, um bie 
Dichtungen, über welche er handelt, zu verurtheilen, fon- 
dern um bie barin verborgene hriftliche Idee nachzuwei ⸗ 
fen. Ex ſpricht in diefer Dinſicht die gewiß beherzigene- 
werthen Worte: 

Wenn aljo ein gläubiger Chriſt bei Betrachtung der reli- 
giöfen Anfichten anderer Zeiten und Wölter ſich aud ihrer Ber 
ſchränkung, ihrer Irrthümer Mar bewußt wird, fo fann er 
fich doch auch vor den offenbaren Wirkungen Gottes in den 
Herzen der Menſchen, felbft der entartetften, nimmer verfchlier 
gen; wenn er fi) mum aber gar in die Ideen bedeutender Män- 
ner, die mitten in ber Chriftenheit feben, verjenft, jo kann er 
unmögli, in ihren religidfen 2ebensanfhauungen die Einwir- 
tung des göttlihen Geiftes verfennen, jelbft wenn diefe Män- 
ner von der Hiftoriichen Entwidelung des Reiches Gottes und 
den fpecifiihen Wahrheiten chriſtlichet Dogmatif mit bewußter 
Abfihtlihteit abgefehen Hätten. Und es if doch wahrlich; er« 
freulicher und erfprieficher, anftatt immer und ewig mur bie 
Unterfheidlingen Hervorzuheben, auf das Uebereinftimmende und 
Wahre, wo e8 ſich darbietet, Tiebevoll zu achten. 

Dir haben es alfo mit einem Schriftfteller zu thun, 
welcher ftreng auf dem Boden bes pofitiven Chriſtenthums 
fteht, aber weitblidend genug ift, um bie Spuren deſſel⸗ 
ben aud) in den hervorragenden Werken ber ältern und 
neuern deutſchen Literatur zu erkennen, wenn ex aud) be» 





reitwillig einräumt, daß diefelben nicht mit bewußter Abe 

ſicht in diefelben hineingelegt worden. Es ift nicht jeder 

manns Sache, wo es ſich um ein Urtheil über künſtleriſche 

Hervorbringungen handelt, ſich in häufiger Wiederholung 

auf das Gebiet der Theologie, auf die dunfeln Fragen 

der Sünde und der Erlöfung Hingeführt zu jehen; aber 
wir haben jedenfalls die Pflicht, bereitwillig anzuerkennen, 
daß des Verfaffers Standpunft, obwol ein pofitiv chrift- 
licher, ein ganz anderer ift als derjenige jener Zeloten, 
welche unfere gefammte claſſiſche Dichtung, unfere moderne 
Wiſſenſchaft als einen Heillofen Abfall won Gott betrach- 
ten, über einen Leſſing und Humboldt mit Grimm ober 
mitleidigem Lächeln den Stab bredjen, oder wie jener bie- 
dere Wupperthaler „bei Goethe und Schiller nur Trä- 
bern gefunden Haben“; mandje gewagte Behauptung Röpe's 
möchte wol ein Rüchſchlag fein gegenüber dem auf allen 
Gaffen erfchalenden Geſchwätz zungenfertiger Prediger 
der materialiftifchen Schule. Wem der Berfaffer zu 
pofitiv erfeheint, der mag bedenken, daß es zahlreiche und 
mächtige Vertreter der Anficht gibt, Röpe's Anſchauungen 
feien zw weitherzig; der Freund deutſcher Dichtung aber 
wird fich freuen, einen Bundesgenoſſen zu finden in einem 

Lager, wo er ihn ſicherlich am wenigften erwartet hätte. 

5. Ueber Goethe's Taffo. Bon A. F. €. Bilmar. frankfurt 
a. M., Heyder und Zimmer. 1869. Gr. 16. 12 Ngr. 
Der Berfafler der bekannten „Riteraturgefchichte‘‘ hielt 

im Jahre 1845 einige Vorträge über Goethes „Taflo“, 

welche nunmehr in Seftalt einer fortlaufenden Entwicke ⸗ 

lung herausgegeben vorliegen. In dem Beſtreben, die 

Vorzüge der Dichtung zu allgemeiner Anerkennung zu 

bringen, bezieht ſich das Büchlein auf mandje Urtheile, 

welche dem Publikum vor 25 Jahren befannt jein mochten, 
uns jet aber fehr fern gerüdt find. Vilmar entwidelt 
mit dem ihm eigenthümlichen Feinfinn die Entftehung des 

Gedichte, Taſſo's Lebensgefhid, und knüpft daran eine 

umfafjende Befprehung des Ganges wie der Charaktere 

des edeln Werks. Diefelbe Iegt Zeugnig ab vom ſchönſten 

Verftändniß, wenn fie gleih unſers Erachtens Taſſo's 

Schuld etwas zu leicht mißt. Wer Goethe's herrliche 

Dichtung kennt und liebt, wird an der ſchön durchdachten, 

ſchön dargeftellten Entwidelung fid erfreuen. 

6. Dicterharaltere. A. Chenier, Beranger, Burns u. |. w. 
Bon Adolf Saum. Bremen, Kühtmann und Comp. 8. 
24 Nor. 

Unter diefer Ueberſchrift vereinigt ber Verfaſſer eine 
Reihenfolge von Auffägen — um das ebenfo beliebte als 
bebeutungslofe Wort Eſſays zu verdeutſchen — über 
A. Chenier, Beranger, Burns, Gray, Luis de Leon, 
Bryant, Günther und Ehamiffo. Die Vorrede bemüht 
ſich zu erweifen, daß dieſe Dichter „‚mandes Gemein- 
fame, fie einander in Beziehung Bringende haben. Sie 
find vorzugsweife Lyriler und haben als ſolche einen be- 
deutenden, meift reformirenden Einfluß innerhalb ihrer 
jedesmaligen Literatur ausgeübt.“ Es ift nicht zu ver- 
Tennen, daß ber Baden, welder einen jo correcten Kunfl- 
dichter wie Chenier mit einem fo vollſtändigen Vollspoeten 
wie Burns, einen Gray mit Beranger verbindet, etwas 
loder ift; doch fol uns das nicht Kindern, uns der adıt 
Dichterbilder zu erfreuen. Der Berfafler gibt einen ein- 


Bergleihende Erdkunde. 619 


gehenden Bericht über Lebensgeſchick und dichterifche Eigen- 
thümlichfeit eines jeden und fügt feiner Darftellung der 
nichtbeutfchen Dichter eine Reihe wohlgelungener Ueber⸗ 
tragungen befonders befannter oder harakteriftifcher Dich⸗ 
tungen hinzu. Wie die Beiprehung der Dichter von 
tiefer Kenntniß und feinem Berftändnig Zeugniß ab» 
legt, jo wirken bie mitgetheilten Gedichte in ihrer fichern 
und gewandten Ueberjegung mit der Friſche des Drigie 
nals, foweit folches überhaupt möglih ift, und laſſen 
ums der im Vorwort als demnächft erfcheinend angefün» 
digten Sammlung ausgewählter Lieder von Beranger und 
Burns mit Erwartung entgegenfehen. 

1. Einführung in die dentſche Literatur von ihren erften An- 


füngen bis zur Gegenwart. Biographien und Proben. Bon 
A. Droefe. Langenfalza, Greßler. 1868. Gr. 8. 1 The. 
Ein überaus dilettantifches Bud. Weufterftüde aus 
dem weiten Gebiet der deutſchen Literatur von Ulfila bis 

Prutz; dazwifchen jehr unbedeutende und unwiljenfchaft- 

liche biographifche und beurtheilende Einleitungen. Die 

Reihenfolge nimmt, wie es jcheint, Iediglich auf das Ge- 

burtsjahr Rüdfiht; nur fo erflärt es fi, daß Göthe 

(denn fo fchreibt Droefe für Goethe) mitten zwifchen die 

Hainbündner, Arndt zwifchen die beiden Brüder Schlegel 

eingefchoben ift; inmwiefern die Menge des dargebotenen 

Stoffs der Bedeutſamkeit eines Dichters entfpricht, erhellt 

daraus, daß Walther von der Vogelweide dreiviertel Seite 

erhalten hat, Langbein drei Seiten. Die bem Berfafjer 
beimohnende Kenntniß ift fehr befcheiden. Bei dem König 

Etzel des „Nibelungenliebes‘ fügt er als Bermuthung bei: 

(Attila?); Konftanze Peutinger wird „das artigfte und 

Schönfte Mädchen Augsburg‘ genannt; gleich danach heißt 

Hutten kurz und ficher der Verfaſſer der „Epistolae ob- 

scurorum virorum”. Daß Hebbel bereitd 1863 geftor- 

ben ift, fcheint dem Verfaſſer unbekannt. Das Nonplus- 
ultra, mwodurd eigentlich jedes weitere Wort überflüffig 
wird, ift, daß Klopſtock's berühmter „Zürcherſee“ fehr 
behaglich in feiner ganzen Ausdehnung als ein Gedicht 

von Bodmer mitgetheilt if. Wer felbft noch das A⸗b⸗c 

der Fiteraturgefchichte nicht kennt, follte nicht darüber fchrei- 

ben. Kurzum, ber Verfaſſer verfteht es, Edelfteine, die 
bei uns jeder zufammenlefen kann, in werthlofefter Faſſung 
darzubieten. 

8. Geſchichte der deutjchen Literatur von der älteften bis auf 
die neuere Zeit mit Beifpielen aus den beften Werfen der 
Boefle und Profa. Bon Klotilde von der Horfl. Zum 
Gebraud für Schulen und zum Selbflunterridt. Drei 
Theile. Detmold, Meyer. 1869-70. Gr. 8. 3 Thlr. 
15 Rgr. 

Die Berfaflerin berichtet im Vorwort, daß fie in ihrer 
frühen Jugend bereit8 den Wunſch gehegt Habe, eine 


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Literaturgefchichte zu fchreiben, die zugleich als Leſebuch 
dienen fünne. „Neue Anfichten und Gefichtspunfte über 
die Titeraturgefchichte zu geben, lag mir fehr fern, auch 
würbe daͤs meine Kräfte weit überfchritten haben.“ Als 
Richtſchnur hat ihr neben andern Büchern vornehmlich) 
Bilmar’s Literatur gedient. Sie hat ihr Manufcript an 
Vilmar geſchickt, welcher erflärte, dag er das Buch fir 
ein wohlausgearbeitetes, zur Lektüre filr jüngere Damen, 
wie namentlich in Penfionen und Töchterfchulen, ſehr 
empfehlenswerthes Werk halte: ein Zeugnif, welches auf 
der Rückſeite des Umſchlags abgedrudt. if. 

Der erfte Theil behandelt die deutjche Literatur bis 
zu Opitz; der zweite Theil die literariſchen Erjcheinungen 
des 17. und die ältern Dichter des 18. Jahrhunderts; der 
dritte Theil geht von Klopitod, Leifing, Wieland nebft 
ihren Mitftrebenden und Anhängern über zu Herder, 
Goethe, Schiller, welchen gleichfalls eine Anzahl von An- 
hängern beigefügt find. Daran reihen fi) in verfchie- 
denen Gruppen die Romantifer und Nachromantiker, bie 
Treiheitsdichter, die ſchwäbiſche Dichtergenofjenfchaft, von 
den Dichtern der neuern Zeit Heine und Nikolaus Lenau. 
Die noch lebenden, in diefem Jahrhundert geborenen Dich⸗ 
ter find nicht berüdfichtigt, da man „das Werdende und 
noch nicht Fertige wol beurtheilen und Fritifiren, doch 
nicht gefchichtlich darftellen fann“. Wir können diefen 
Grund nicht für ganz zutreffend erfennen, um fo weni« 
ger, da auch die vorliegenden Bünde auf die Bezeichnung 
einer gefchichtlichen Darftellung ſchwerlich Anſpruch er- 
heben dürfen. Wer ſich eine ſolche Mufterfammlung er» 
wirbt, wünfcht darin auch Kunde zu finden itber die her- 
vorragendften Erfcheinungen unjers Jahrhunderts, welches 
feine Jugendjahre bereits ſtark überjchritten hat. Warum 
Iiterarifche Erfcheinungen wie Geibel, Freiligrath, Reu⸗ 
ter, Freytag u. a., weil fie in diefem Jahrhundert ge= 
boren find und noch leben, nicht der Kenntniß zugeführt 
werden follen, ift fchwer erfindlih. Wichtiger möchte 
der Grund fein, daß das Buch durh ein Weiterführen 
bi8 auf die neuere Zeit zu feinen drei anfehnlichen Thei— 
len noch einen vierten befommen hätte, und aud) fo darf 
man mol den Zweifel ausfprechen, ob dafjelbe ſchon um 
feines Umfangs willen für den Gebrauch in Schulen 
geeignet ſei. Wenigitens feheint und der Stoff vielfach 
zu umfafjend; bie Gruppirung läßt mandjes zu wünjchen, 
beifpielsweife erfcheinen Spindler und Hauff unter den 
Anhängern Goethes und Schillers. Doch das beiher. 
Die Berfafferin bat jedenfalls ihren Stoff forgfam zu- 
fammengetragen und lesbar verarbeitet, aud) die Muſter⸗ 
beifpiele entjprechen ihrem Zweck. 

Wilhelm Buchner. 


Vergleichende Erdkunde. 


Neue Probleme der vergleihenden Erdkunde als Verſuch einer 
Morphologie der Erdoberfläche von Oskar Peſchel. Leip- 
jig, Dunder und Humblot. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 


Im Jahre 1866 begann Oskar Peſchel im „Ausland“ 
bie hier gefammelt vorliegenden Auffäge zu veröffentlichen. 
Jeder Gingeweihte mußte fofort ben bedeutenden Fort⸗ 
ſchritt erkennen, der in biefen elegant gefjchriebenen und 


gleichzeitig von immenjer Gelehrſamkeit Zeugnig ablegen- 
den Arbeiten fi kundthat. Hier waren in der That 
neue Bahnen bejchritten und die ungemein vielfeitigen 
Ergebnifje eines höchſt mühevollen Studiums niedergelegt. 
Wir wüßten aber aud) keinen zweiten Mann in Deutfch- 
land zu bezeichnen, der e8 hätte wagen können, an eine 
ſolche Arbeit heranzutreten, die ein Eingehen in die 
78 * 





. 


Fans ln Zr SEE 58 


n 


620 Vergleichende Erdkunde. 


verſchiedenartigſten Wiſſenſchaften verlangt, welche alle bis 
zu einem gewiſſen Grade bewältigt ſein wollten, ſollte das 


vorliegende, nur wenig umfangreiche Werk geſchaffen wer⸗ 


den. Was der Verfaſſer des „Kosmos umfaſſen mußte, 
das alles Hatte auch Peſchel zu berüdfichtigen, und mir 
bewundern in der That, wie diefer anregendfte unter den 
deutfchen Geographen gleich bewandert in der Geologie, 
Botanif und Zoologie erſcheint, wie er phyſikaliſche und 
hemifche Fragen erörtert und überall eine große Ber- 
trautheit mit den neueſten Fortſchritten dieſer Wiſſen⸗ 
ſchaften offenbart. Es iſt zu beklagen, daß ein ſolcher 
Mann nicht einen Lehrſtuhl auf einer der erſten deutſchen 
Hochſchulen innehat, von dem aus er befruchtend auf 
die Jugend wirken und einer Wiſſenſchaft neue Jünger 
zuführen könnte, die, zur Schande unſerer Univerfitäten 
fei es gefagt, fich faft nur in die geographifchen Gefell- 
fchaften und Journale flüchten muß, während eine lange 
Keihe weit weniger bedeutender Disciplinen fid) breit macht 
und oft doppelte und dreifache Xehrftellen aufmweilt. 

Peſchel ift fich der Neuheit feiner Arbeit wohl bewußt, 
welche auf die Geftaltungen der Erdoberfläche dafjelbe 
Unterfuhungsverfahren anwendet, wie Goethe auf die 
Morphologie der Pflanzen, Cuvier auf die Anatomie, 
Bopp auf die Sprachwiſſenſchaft, und er bittet dabei um 
Nachſicht, „da das Vetreten neuer Pfade mit den Keizen 
immer auch die Gefahren eines Abenteuerd vereinigen 
wird“. Uns find nur wenige Stellen aufgeftoßen, bei 
denen gelinde Bedenken wach wurden, aber dem Ganzen 
gegenüber, das trefflich begründet daſteht, verfchwinden 
fie, und fo laſſen wir die Kritik beifeite umd verjuchen 
e8, einen allgemeinen Ueberblid des Werl zu geben, 
damit ber Leſer menigftens deſſen reichen Inhalt ahne, 
der mit Leichtigfeit von dem Verfaſſer zu einem dicken, 
von Citaten ftrogenden Buche hätte ausgedehnt wer- 
den können. Aber in der Befchränfung zeigt fi der 
Meifter. 

Der Ausdrud Bergleichende Erdfunde wurde zuerft 
von Ritter angewendet; Pefchel zeigt uns nun, daß der 
Altmeifter der Erdkunde keineswegs eine vergleichende 
Geographie fchrieb, wenigftens nicht in dem Sinne, wie 
wir das Wort „vergleichend‘ heute in den Wifjenjchaften 
anwenden. Er gab vielmehr eine geographifche Zeleologie, 
einen Berfuh, Schöpferabfichten aus dem Gemälde des 
Erdganzen zu ergründen. Anders Peſchel. Er legt feinen 
Unterfuchungen naturtrene Karten zu Grunde, die er als 
die Darftellung biftoriicher Vorgänge auffaßt. Er hält 
zunächſt die Vermuthung feit, daß nicht der Zufall die 
Tündergeftalten zufammengetragen habe, jondern daß im 
Gegentheil jede, auch die geringfte Gliederung in den 
Umriſſen oder Erhebungen, jedes Streben der Erdober⸗ 
fläche feitwärts ober aufwärts irgenbeinen geheimen Sinn 
babe, den zu ergründen er verſucht. Das Verfahren zur 
Löfung feiner Aufgabe befteht nun im Auffuchen ber 
Aehnlichkeiten in der Natur, wie fie vom Landlartenzeichner 
dargeftellt wird. Er überblidt eine größere Reihe folcher 
Achnlichkeiten, deren Örtliche Verbreitung ihm meift Auf: 
ſchluß über die nothivendigen Bedingungen ihres Urſprungs 
gibt. Den Beginn macht Peichel mit den Fjorden, die 
am beutlichften in die Augen fpringen und am leichteften 
zu ergründen find. 


Forde werden zunächſt durch ihre örtliche Anhäufung 
und ihr gefellige® Auftreten charakterifirt; fie zeigen ſich 
wejentlich, wenn auch nicht ausnahmelos, an den Nord» 
und Weſtküſten und werden nur in hohen Breiten ge⸗ 
funden. Grönland, Norwegen, die Weſtküſte Patagoniens, 
Britifch-Columbien, die Weſtküſte der Südinfel Neuſeelands 
find die näher erörterten Beifpiele. Sie finden ſich auch 
an Infelgruppen im füdlichen Theil bes Indifchen Oceans, 
auf den Erozet-, Serguelen-, Yalklandbs-, Süd⸗Sandwich⸗, 
Siüd-Drfney- und Süd-Shetlandinjeln, in Schottland, 
Irland, Island. Peſchel jagt auch deren zufünftiges 
Auffinden an Küften voraus, bie auf unfern heutigen 
Karten mit glattem Rande verlaufen, nämlih an den 
arktiichen Spitzen des afiatifchen Continents, am Taimyr- 
und Zfcheljusfin-Cap. Ohne auf die Begründung hier 
näher eingehen zu können, führen wir an, daß nad) 
Peichel die Fjorde klimatiſche Erfcheinungen find, deren 
Bildungsbedingung in niedrigen Temperaturen zu ſuchen 
ift. Niegends fehlen den Fjorden die Eismaflen und ihre 
mechanifchen SKräfte; denn entweder find fie noch gegen- 
wärtig die Ninnfale von Gletfhern, oder wir treffen 
Gletſcher in ihrer Nühe. Die Fjorde find nun die leeren 
Gehäuſe ehemaliger Eisftröme, und mit diefer Erflärung 
an der Hand wird es auch möglich, andere geologijche 
Erfcheinungen zu enträthfeln, nämlich die Entftehung ge⸗ 
wifjer enger Gebirgsfeen, namentlich der norditalienifchen, 
die nach Peſchel einfach die Fjorde eines ehemaligen, num 
duch Land ausgefüllten lombardifhen Meeres find. 
Tiorde fehlen nirgends, wo eine fteile Aufrichtung der 
Küfte, eine hinreichende Polhöhe, wie fie das Auftreten 
der Eiszeit erheifcht, und ein reichlicher Niederfchlag, 
wie ihn eine ergiebige letfcherbildung verlangt, vor⸗ 
handen find. . 

Der Berfaffer wendet fi) dann der Entftehung der 
Infeln zu. Er beklagt, daß unfere deutſche Sprade nur 
zwei gleichbedeutende Wörter, Inſel und Eiland, für die 
größten und Heinften Infelgeftaltungen habe. Das liegt 
in der Natur der Sache, da Deutichland nicht viele Inſeln 
an feiner Küfte befist, unb die wir haben, find alle Hein, 
Aber für diefe kleinern Haben wir doch eine recht man⸗ 
nichfaltige Bezeichnung: Hallig, Doge, Holm, De. Der 
verfchiedene Urfprung der Infeln in der Nähe vom Feſt⸗ 
land drüdt fi durch ihre Phyfiognomie fo deutlich aus, 
daß man fogleid alle Infeln, die Trümmer von Küften 
find, von jenen unterfcheidet, die dadurch entftanden, daß 
fih an ben Rändern ber Feſtlande durd) Senkung und 
Ueberſchwemmung der See größere oder kleinere Stüde 
von dem Hauptlörper ablöften. Kitfteninfeln nennt Befchel 
jene Trümmer, wie z. B. die von Weftichottland abge» 
löften Hebriden, die Lofodden vor Norwegen, ben Ban- 
couver⸗Archipel vor Britifch-Columbien. Völlig verfchieden 
von ihnen, dem Urfprung nach wie. durch Gliederung und 
Größe, find die durch örtliche Senfungen vom Feſtland 
abgelöften Infeln. Die Merkmale einer folden Entftehung 
zeigen fich am reinften bei Großbritannien und Irland; 
ein Seitenftüd gewährt Neuguinea, dur die jeichte 
Torresftraße von Auftralien getrennt; ferner bie großen 
Injeln Borneo, Sumatra, Yava, die, wie Wallace zeigt, 
erft zu Alten gehörten, von dem fie nur durch ein feichtes 
Meer getrennt find. Die Grenze ber auftralifchen und 


Bergleihende Erdkunde. 


afiatifchen Welt, die in glängender Weife von Wallace 
botanifch und zoologiſch feftgeftellt wurde, verläuft zwifchen 
den Eilanden Bali und Lombol. Noh auf ein merk 
würdiges Gefeg, das beim Anblid der Karten ins Auge 
fullt, macht Peſchel aufmerkfam: 

Während die Inſeln auf vulkaniſchen Spalten und bie 
Koralleneilande unter ſich eine unverfennliche Aehnlichkeit ihrer 
Einzelkörper zeigen, finden wir Zufammenfcharungen folcher 
Inſeln, deren Einzelwefen durh Gliederung und Mannid)- 
faltigleit der Umriffe imdividualifirt find, nur da, wo durch 
Zerftörung eines ältern Zufammenhangs von Feftländern Inſel⸗ 
welten entflanden find. 

Soldier Zufammenfcharungen, bei denen weder Ko— 
rallenbauten noch vulfanifche Kräfte thätig waren, zählt 
Beichel folgende auf: die malatifche Gruppe zwiſchen 
Auftralien und Südaſien, die großen Antillen zwifchen 
Norb- und Südamerifa, den griechiſchen Archipelagus, 
die dänifchen Inſeln. 

Ganz verſchieden find die vulfanifchen und die Korallen⸗ 
infeln von den eben bezeichneten; fte finden fih nur auf 
der hohen See. Die vullanifchen Infeln find durch ihre 
Reihenfolge und Anordnung leicht zu erfennen und finden 
fih am vegelmäßigften an den Rändern des Stillen Meers 
von der Halbinjel Alaska in Nordamerila bis zu den 
Philippinen. Auf diefer Strede bilden die leuten, 
Rurilen, Japan, bie Liu-Fin, Yormofa und die Philippinen 
eine „Inſelguirlande“, wie Pejchel bezeichnend fagt. Vul⸗ 
kaniſche Inſelſchnuren find auch die Boningruppe, die 
Marianen, die Salomonen, Neuen Hebriden, die Mandana- 
infeln n. f. w. „Allen diefen vulfanifchen Infelfchnuren 
ift e8 gemeinfam, daß fie nad) dem Ocean zu gemölbt 
(conver), nach dem Lande zu Hohl (concav) find.” Ueber 
die Koralleninfeln und deren fon durch Darwin erläu- 
terte Entftehung brauchen wir nichts hinzuzufügen, fie ift 
befannt genug; nur erwähnen wollen wir, daß fürzlich 
Profeflor Semper in Würzburg mit einer neuen Theorie 
ihres Urſprungs hervorgetreten ift. 

Die Summe der Unterfuchungen Pefchel’8 über bie 
Entftehung der Inſeln ift folgende: Alle Inſeln, die 
einem Teltlande nahe liegen, find nichts anderes als ent- 
weder abgefprengte Bruchftüde der nächften Küften, oder 
Anfhwenmungen jungen Landes, ober Ablöfung eines 
ehemaligen Continentalgebiet8 durch langſame Senkung 
unter den Meeresfpiegel. Alle andern Infeln liegen im 
Deean und find, mit Ausnahme von nur zwei Erbräumen, 
entweder durd; Bauten ven Korallen entflanden oder durd) 
vulkaniſche Erfcheinungen auögezeichnet. Jene beiden Aus- 
nahmen find Madagasfar und Ceylon. Erſteres ift keine 
vulkaniſche Schöpfung, noch weniger ein abgelöftes Stüd 
Afrikas, denn Fauna und Flora laflen es als eine Fleine 
Welt für ſich erſcheinen; und Ceylon zeigt troß feiner 
großen Annäherung an das indifche Feftland doch fo viel 
Selbftändiges, daß es gleichfalls nicht als ein Stüd der 
vorderindiſchen Halbinſel betrachtet werden kann. Was 
aber mit diefen beiden anfangen? Peſchel erklärt: 

Wir haben in Madagaskar und in Ceylon die Testen Ueber- 
refte vormaliger Weltinfeln, die mit unferer Erdfeſte nicht ver- 
bunden waren, bie aber vielleicht ehemals unter ſich zufammen- 
hingen, und zwar Über die Sejchellen, granitifhe Infeln im 
Norden und in der Verlängerung von Madagaskar gelegen. 
Daß ehemals dort ein Welttheil Über Madagaskar, bie Mas⸗ 
karenen mit ber Granitinfel Rodriguez, die Sejchellen, die 


621 


Malediven und Cehlon ſich ausbreitete, ja fi oftwärts bis 
Celebes erfiredte, freilich in den älteften Xertiärzeiträumen, zu 
diefer Annahme werden alle Anhänger der Lehre von der Ein- 
beit der Schöpfungscentren gezwungen fein, da fidh die Lemu⸗ 
rinen ober Fuchsaffen und die ihnen naheflehenden Faulaffen, 
überhaupt faft alle Halbaffen auf jene Inſeln beichränfen, wes⸗ 
halb Sclater vorgeichlagen hat, jenes verſchwundene Feſtland 
„Lewuria“ zu nennen. Celebes bezeugt durch feine wenigen an⸗ 
dern Säugethiere, injofern fte Anllänge an afrikaniſche Formen 
zeigen, daß es mit den fernen weftlichen Ländern einen Zuſam⸗ 
menhang genofjen Haben muß. 

Wir fehen, welche Rolle hier ber Zoologie zugemwiejen 
if. In der That gewinnen viele der von Peſchel bezüg- 
lich der Entftehung der Infeln aufgeftellten Behauptungen 
erft ihre Begründung, wenn die Fauna und ebenfo bie 
Flora der Infeln mit jener der Feſtländer verglichen wird. 
Dies führt ihn zu einer neuen gleichfalls höchſt anregen- 
den Unterfuchung „Ueber die Thier- und Pflanzenwelt ber 
Inſeln“. Hier offenbart fih, daß auf den Gefchöpfen, 
welche die Infeln bewohnen, ein eigenes Berhängniß ruht, 
welches ſich nicht blos auf ihre phnftfchen Trachten allein 
befchränft, fondern dem ſogar die Bewohner in ihren 
geſchichtlichen Schiefalen, ihren Sitten und ihren Sprachen 
unterlagen. Namentlich find e8 die Eingriffe de8 Men⸗ 
ſchen in die Thier- und Pflanzenwelt ber Infeln, die ben 
Berfaffer hier bejchäftigen und die er mit einer großen 
Anzahl intereffanter Beifpiele belegt, die Zeugnig von 
feiner immenfen Belefenheit ablegen. Auch das Ausfter- 
ben vieler Infelvölfer wird hier behandelt, wobei Pejchel 
folgenden wahren und geiftreihen Ausſpruch thut: 

Denn der NRafientod alle Urbewohner der Süpfeeinfeln, 
ja felbft einer Weltinfel wie Auftralien vielleicht noch vor 
Ablauf des gegenwärtigen Jahrhunderts vertilgt haben wird, 
fo faun man aud) von allen diefen Menfchenftämmen behaup- 
ten, fie fein, als fie mit den Continentalvöllern wieder 
offiin. 8 famen, nichts anderes geweſen als befeelte 

0 . 

Der Berfaffer handelt von den Bedingungen, unter 
benen feftlänbifche Thiere und Pflanzen auf die Infeln 
gelangen; er zeigt‘, wie viele feitländifche Gewächfe ben 
Uebergang zum Inſelklima nicht überftehen können und 
mit der von ihnen abhängigen Thierwelt zu Grunde gehen. 
Geräumige Infeln verhalten fich indeffen wie die Feſt⸗ 
lande, denn fie werden ihren Bewohnern immer eine 
Anzahl von begünftigten Zufluchtsſtätten bieten. Hier 
wird darauf Bingemwiefen, daß in Irland manche Säuge⸗ 
thiere fehlen, die in England noch vorkommen. Als 
einen Schreib» oder Weberfegungsfehler müſſen wir es 
anfehen, daß dort (S. 52, Anmerkung) angegeben wird, 
das Murmelthier fei in England heimiſch. 

Mit dem Auftreten des Menfchen auf vorher unbe- 
wohnten Inſeln beginnt ein neuer geologifcher Zeitabfchnitt, 
oder vielmehr die letzten Accorde einer ältern geologifchen 
Zeit verklingn. Es ift aber nicht gleichgültig, welche 
Menfchenrafje auftritt — große und jühe Wechfel er- 
folgten erft mit dem Auftreten der Weißen. 

Auch in den „geographifchen Homologien‘ (der glüclich 
gewählte Ausdrud rührt von Agaffiz her) erörtert der 
Berfaffer ein neues Problem, wenn auch gerade hier ſchon 
andere Forſcher ihm vorgearbeitet Hatten. Es Handelt 
fi) um die Wiederkehr der nämlichen Oeftaltungen, fei 
es in den flachen Umriffen, fei es in ben Bodenerhebun⸗ 
gen, die wir auf den Tänbergemälden unferer Erbe abge- 





620 


verfchiedenartigften Wiflenfchaften verlangt, welche alle bis 
zu einem gewiſſen Grade bewältigt fein wollten, jollte das 
vorliegende, nur wenig umfangreiche Werk gefchaffen wer- 
den. Was ber Verfaffer bes „Kosmos“ umfaſſen mußte, 
das alles hatte auch Pefchel zu beritdfichtigen, und wir 
bewundern in der That, wie diefer anregendfte unter den 
deutfchen Geographen gleich bewanbert in der Geologie, 
Botanif und Zoologie erfcheint, wie er phyſikaliſche und 
chemifche Fragen erörtert und überall eine große Ver- 
trautheit mit den neueften Fortſchritten diefer Willen 
ichaften offenbart. Es ift zu beflagen, daß ein folder 
Mann nicht einen Lehrftuhl auf einer der erften deutjchen 
Hochſchulen innehat, von dem aus er befruchtend auf 
die Jugend wirken und einer Wiſſenſchaft neue Jünger 
zuführen Könnte, die, zur Schande unferer Univerfitäten 
fei -e8 gefagt, fich faft nur in die geographifchen Gefell- 
ſchaften und Journale flüchten muß, während eine lange 
Reihe weit weniger bedeutender Disciplinen fid) breit macht 
und oft doppelte und dreifache Lehrſtellen aufweiſt. 

Peſchel ift fich der Neuheit feiner Arbeit wohl bewußt, 
weiche auf die Geftaltungen der Erdoberfläche daſſelbe 
Unterfuhungsverfahren anwendet, wie Goethe auf bie 
Morphologie der Pflanzen, Cuvier auf die Anatomie, 
Bopp auf die Sprachwiſſenſchaft, und er bittet dabei um 
Nachſicht, „da das Betreten neuer Pfade mit den Keizen 
immer auch die Gefahren eines Abenteuerd vereinigen 
wird”. Uns find nur wenige Stellen aufgeftoßen, bei 
denen gelinde Bedenken wach wurden, aber dem Ganzen 
gegenüber, das trefflich begründet dafteht, verjchwinden 
fie, und fo laſſen wir die Kritik beifeite und verſuchen 
ed, einen allgemeinen Weberblid des Werks zu geben, 
damit der Lefer wenigftend deffen reichen Inhalt ahne, 
der mit Leichtigkeit von dem Berfaffer zu einen diden, 
von Citaten ftrogenden Buche Hütte ausgedehnt wer- 
den fünnen. Aber in der Beſchränkung zeigt ſich der 
Meiſter. 

Der Ausdruck Vergleichende Erdkunde wurde zuerſt 
von Ritter angewendet; Peſchel zeigt uns nun, daß der 
Altmeiſter der Erdkunde keineswegs eine vergleichende 
Geographie ſchrieb, wenigſtens nicht in dem Sinne, wie 
wir das Wort „vergleichend“ heute in den Wiſſenſchaften 
anwenden. Er gab vielmehr eine geographifche Teleologie, 
einen Berfuh, Schöpferabfichten aus dem Gemälde des 
Erdganzen zu ergründen. Anders Pefchel. Er legt feinen 
Unterfuhungen naturtreue Karten zu Grunde, die er als 
die Darftelung Hiftorifcher Vorgänge auffaßt. Er Hält 
zunädft die Vermuthung feit, daß nicht der Zufall die 
Kändergeftalten zujammengetragen habe, jondern daß im 
Gegentheil jede, auch die geringfte Gliederung in ben 
Umriſſen oder Erhebungen, jedes Streben der Erdober- 
fläche feitwärts ober aufwärts irgendeinen geheimen Sinn 
babe, den zu ergründen er verſucht. Das Berfahren zur 
Löſung feiner Aufgabe befteht nun im Auffuchen ber 
Achnlichkeiten in der Natur, wie fie vom Landlartenzeichner 
dargeftellt wird. Er überblidt eine größere Reihe jolcher 
Aehnlichkeiten, deren Örtliche Verbreitung ihm meift Auf 
ſchluß über die notäwendigen Bedingungen ihres Urjprungs 
gibt. Den Beginn macht Pejchel mit den Yjorden, bie 
am dentlichften in die Augen fpringen und am leichteften 
zu ergründen find. 


Vergleichende Erdkunde. 


Fjorde werden zunächſt durch ihre örtliche Anhäufung 
und ihr gefelliges Auftreten charakterifirt; fie zeigen ſich 
wefentlih, wenn auc nicht ausnahmslos, an den Norb- 
und MWeftfüften und werden nur in hoben Breiten ge- 
funden. Grönland, Norwegen, die Weſtküſte Patagoniens, 
Britiih-Columbien, die Weftküfte der Südinſel Neuſeelands 
find die näher erörterten Beiſpiele. Sie finden fid) auch 
an Inſelgruppen im füdlichen Theil des Indischen Ocean, 
auf den Erozet-, Serguelen-, Falllands-, Süd⸗Sandwich⸗, 
Süd-DOrkney- und Sibd-Shetlandinfeln, in Schottland, 
Irland, Island. Peſchel fagt auch beren zukünftiges 
Auffinden an Küſten voraus, die auf unſern heutigen 
Karten mit glattem Rande verlaufen, nämlich an den 
arktiſchen Spitzen des aſtatiſchen Continents, am Taimyr⸗ 
und Tſcheljuskin-Cap. Ohne auf die Begründung hier 
näher eingehen zu können, führen wir an, daß nach 
Peſchel die Fjorde klimatiſche Erſcheinungen ſind, deren 
Bildungsbedingung in niedrigen Temperaturen zu ſuchen 
iſt. Nirgends fehlen den Fjorden bie Eismaſſen und ihre 
mecdhanifchen Kräfte; denn entweder find fie noch gegen- 
wärtig die Rinnſale von Gletfchern, oder wir treffen 
Gletſcher in ihrer Nähe. Die Fjorde find nun die leeren 
Gehäuſe ehemaliger Eisftröme, und mit dieſer Erklärung 
an der Hand wird es auch möglich, andere geologiſche 
Erjcheinungen zu enträthfeln, nämlich die Entjtehung ge- 
wiſſer enger Gebirgsjeen, namentlich der norbitalienifchen, 
die nach Peſchel einfach die Fjorde eines ehemaligen, nun 
duch Land ausgefüllten lombardifchen Meeres find. 
Tiorde fehlen nirgends, wo eine fteile Aufrichtung der 
Küfte, eine hinreichende Polhöhe, wie fie das Auftreten 
der Eiszeit erheifcht, und ein reichlicher Niederjchlag, 
wie ihn eine ergiebige Öletfcherbildung verlangt, vor⸗ 
handen find. . 

Der Berfaffer wendet fih dann der Entftehfung der 
Infeln zu. Er beklagt, daß unſere deutfche Sprache nur 
zmwei gleichbedeutende Wörter, Inſel und Eiland, für bie 
größten und Hleinften Infelgeftaltungen habe. Das liegt 
in der Natur der Sache, da Deutichland nicht viele Infeln 
an feiner Hüfte befist, und die wir haben, find alle Hein. 
Aber für diefe Meinern haben wir doch eine recht man⸗ 
nichfaltige Bezeichnung: Hallig, Doge, Holm, De. Der 
verfchiedene Urfprung der Inſeln in der Nähe vom Teft- 
land drückt fich durch ihre Phyfiognomie fo deutlich aus, 
daß man fogleih alle Infeln, die Trümmer von Küften 
find, von jenen unterjcheidet, die dadurch entftanden, daß 
fih an den Rändern der Feſtlande durch Senkung und 
Ueberſchwemmung der See größere oder Feinere Stücke 
von dem Hauptlörper ablöften. Küfteninjeln nennt Peſchel 
jene Trümmer, wie 3. B. bie von Weftfchottland abge- 
löften Hebriden, bie Lofodben vor Norwegen, ben Ban- 
couver⸗Archipel vor Britifh-Columbien. Völlig verfchieben 
von ihnen, dem Urfprung nad) wie durch Gliederung und 
Größe, find die durch öÖrtlihe Senkungen vom Feftland 
abgelöften Infeln. Die Merkmale einer ſolchen Entftehung 
zeigen fi) am reinften bei Großbritannien und Irland; 
ein Seitenftüd gewährt Neuguinea, durch die feichte 
Torresitraße von Auſtralien getrennt; ferner bie großen 
Infeln Borneo, Sumatra, Yava, bie, wie Wallace zeigt, 
erſt zu Aften gehörten, von dem fie nur durch ein feichtes 
Meer getrennt find. Die Grenze der auftralifchen und 





Bergleihende Erdkunde. 


afiatifchen Welt, die in glänzender Weife von Wallace 
botaniſch und zoologifch feftgeftellt wurde, verläuft zwifchen 
ben Eilanden Bali und Lombok. Noch auf ein merk. 
würdiges Gefeg, das beim Anblid der Karten ins Auge 
füllt, macht Pefchel aufmerkjam: 

Während die Infeln auf vullanifchen Spalten und bie 
Koralleneilande unter ſich eine unvertennliche Achnlichleit ihrer 
Einzellörper zeigen, finden wir Zufammenfcharungen folder 
Inſeln, deren Einzelmefen durh Gliederung und Mannid)- 
faltigfeitt der Umriffe inbividualifirt find, nur da, wo bdurd) 
Zerftörung eines Altern Zufammenhangs von Feftländern Infel- 
welten entflanden find. 

Solder Zufammenfcharungen, bei denen weder Ko— 
rallenbauten noch vulfanifche Kräfte thätig waren, zählt 
Peſchel folgende auf: die malaiiſche Gruppe zwijchen 
Auftralien und Südaften, die großen Antillen zwifchen 
Nord» und Südamerika, den griechifchen Archipelagus, 
die dänischen Inſeln. 

Ganz verjchieden find die vulfanifchen und die Korallen- 
infeln von den eben bezeichneten; fte finden fi) nur auf 
der hoben See. Die vulkaniſchen Inſeln find durch ihre 
Keihenfolge und Anordnung leicht zu erkennen und finden 
fid) am regelmäßigften an den Rändern bes Stillen Meers 
von ber Halbinfel Alaska in Nordamerila bi zu den 
Philippinen. Auf dieſer Strede bilden bie Aleuten, 
Kurilen, Japan, die Liu⸗-Kiu, Formoſa und die Philippinen 
eine „Inſelguirlande“, wie Befchel bezeichnenb jagt. Vul⸗ 
kaniſche Inſelſchnuren find auch die Boningruppe, bie 
Marianen, die Salomonen, Neuen Hebriden, die Mandana⸗ 
infeln u. f. m. „Allen diefen vullanifchen Inſelſchnuren 
ift e8 gemeinfam, daß fie nad) dem Ocean zu gemölbt 
(conver), nad) dem Lande zu Hohl (concav) find.” Weber 
die Koralleninfeln und deren ſchon durdy Darwin erläu- 
terte Entftehung brauchen wir nichts Hinzuzufligen, fie ift 
befannt genug; nur erwähnen wollen wir, daß kürzlich 
Profeſſor Semper in Würzburg mit einer neuen Theorie 
ihres Urfprungs bervorgetreten ift. 

Die Summe der Unterfuchungen Befchel’8 über bie 
Entftehung der Inſeln ift folgende: Alle Inſeln, die 
einem Feſtlande nahe liegen, find nichts anderes als ent- 
weber abgefprengte Bruchſtücke der nüchften Küften, oder 
Anſchwemmungen jungen Landes, ober Ablöfung eines 
ehemaligen Continentalgebiet® dur; langſame Senkung 
unter den Meeresfpiegel. Alle andern Infeln liegen im 
Deean und find, mit Ausnahme von nur zwei Erbräumen, 
entweder durch Bauten von Korallen entftanden oder durd) 
vulkaniſche Erfcheinungen ausgezeichnet. Jene beiden Aus- 
nahmen find Madagaskar und Ceylon. Erfteres ift Feine 
vulkaniſche Schöpfung, noch weniger ein abgelöftes Stüd 
Afrilas, denn Fauna und Flora lafien e8 als eine Heine 
Melt für fich erfcheinen; und Ceylon zeigt troß feiner 
großen Annäherung an das indifche Feftland doch fo viel 
Selbftündiges, daß es gleichfalls nicht als ein Stüd der 
vorberindifchen Halbinfel betrachtet werden Tann. Was 
aber mit diefen beiden anfangen? Pefchel erklärt: 

Wir haben in Madagaskar und in Ceylon die letzten Ueber⸗ 
refte vormaliger Weltinfeln, die mit unjerer Erdfeſte nicht ver- 
bunden waren, die aber vielleicht ehemals unter ſich zuſammen⸗ 
hingen, und zwar über die Sefdellen, granitifhde Infeln im 
Norden und in der Verlängerung von Madagaskar gelegen. 
Daß ehemals dort ein Welttheil über Dadagaslar, die Mas⸗ 
farenen mit der Granitinfel Rodriguez, die Sefchellen, bie 


621 


Malediven und Ceylon fi ausbreitete, ja fi oflwärts bie 
Celebes erfiredte, freilich in den älteften Tertiärzeiträumen, zu 
diefer Annahme werden ale Anhänger der Lehre von ber Ein- 
beit der Schöpfungscentren gezwungen fein, da ſich die Lemu⸗ 
rinen ober Fuchsaffen und die ihnen naheftehenden Yaulaffen, 
überhaupt faft alle Halbaffen auf jene Infeln befchränfen, wes⸗ 
halb Sclater vorgeichlagen hat, jenes verſchwundene Feſtlaud 
„zemuria‘ zu nennen. Celebes bezeugt durch feine wenigen an- 
dern Säugetiere, injofern fie Anklänge an afrifanifche Formen 
zeigen, daß e8 mit den fernen weftlichen Ländern einen Zuſam⸗ 
menhang genofjen haben muß. 

Wir jehen, welche Rolle hier der Zoologie zugewiejen 
if. In ber That gewinnen viele ber von Pefchel bezlig- 
lich der Entftehung der Infeln aufgeftellten Behauptungen 
erft ihre Begründung, wenn die Fauna und ebenfo bie 
Flora der Infeln mit jener der Feftlänber verglichen wird. 
Dies führt ihn zu einer neuen gleichfalls höchft anregen- 
ben Unterfuchung „Ueber die Thier- und Pflanzenwelt ber 
Inſeln“. Hier offenbart fih, daß auf den Gejchöpfen, 
welche die Infeln bewohnen, ein eigenes Berhängniß ruht, 
welches fich nicht blos auf ihre phyſiſchen Trachten allein 
befchränft, jondern dem fogar die Bewohner in ihren 
geſchichtlichen Schidfalen, ihren Sitten und ihren Sprachen 
unterlagen. Namentlich find es die Eingriffe des Men- 
chen in die Thier- und Pflanzenwelt der Infeln, die ben 
Berfafjer hier befchäftigen und die er mit einer großen 
Anzahl intereffanter Beifpiele belegt, die Zeugniß von 
feiner immenfen Belefenheit ablegen. Auch das Ausfter- 
ben vieler Inſelvölker wird hier behandelt, wobei Peſchel 
folgenden wahren und geiftreichen Ausſpruch thut: 

Wenn der. Raffentod alle Urbewohner der Südſeeinſeln, 
ja felbft einer Weltinfel wie Auftralien vielleiht noch vor 
Ablauf des gegenwärtigen Jahrhunderts vertilgt haben wird, 
fo fann man aud von allen dieſen Menſchenſtämmen behaup- 
ten, fie jeien, als fie mit den Kontinentalvöllern wieder 
a ng famen, nichts anderes gewefen als befeelte 

0 

Der Berfaffer Handelt von den Bedingungen, unter 
denen feftländifche Thiere und Pflanzen auf die Infeln 
gelangen; er zeigt, wie viele feitländifche Gewächſe den 
Uebergang zum Inſelklima nicht überftehen können und 
mit der von ihnen abhängigen Thierwelt zu Grunde gehen. 
Geräumige Infeln verhalten ſich indefjen wie die Feſt⸗ 
lande, denn fie werden ihren Bewohnern immer eine 
Anzahl von begünftigten Zufluchtsftätten bieten. Hier 
wird darauf Bingewiefen, daß in Irland manche Süuge- 
thiere fehlen, die in England noch vorlommen. Als 
einen Schreib⸗ oder Weberfegungsfehler müſſen wir es 
anfehen, daß dort (S. 52, Anmerkung) angegeben wird, 
das Murmelthier fei in England heimiſch. 

Mit dem Auftreten bes Deenfchen auf vorher unbes 
wohnten Infeln beginnt ein neuer geologifcher Zeitabjchnitt, 
oder vielmehr die letzten Accorde einer ältern geologifchen 
Zeit verflingen. Es ift aber nicht gleichgültig, welche 
Menſchenraſſe auftritt — große und jähe Wechfel er- 
folgten erft mit dem Auftreten der Weißen. 

Auch in den „geographifchen Homologien“ (der glücklich 
gewählte Ausdrud rührt von Agaffiz her) erörtert der 
Verfaſſer ein neues Problem, wenn auch gerade bier ſchon 
andere Forſcher ihm vorgearbeitet Hatten. Es handelt 
fi um die Wiederkehr der nämlichen ©eftaltungen, ſei 
es in ben flachen Umrifien, fei e8 in den Bodenerhebun⸗ 
gen, die wir auf den Ländergemälden unferer Erde abge- 


622 


bildet finden. Die Iehrreichften Aehnlichkeiten find in den 
Umriffen Südamerikas, Afrilas und Auftraliens wahr 
zunehmen, wobei man die Inſel Tasmanien als Sübfpige 
Auftraliens betrachten muß. Die gemeinfamen Familien⸗ 
züge laſſen ſchließen, daß ihre horizontale Geſtalt völlig 
unabhängig von ihrer fenkrechten Gliederung erfcheint, 
die bei jedem der drei Feſtlande verjchieden ift. Dieſe 
Aehnlichkeit trog der Verſchiedenheit der fenfrechten Glie⸗ 
derung lehrt uns, daß die großen Umrifje der Feſtlande 
von andern Ffrüften geftaltet wurden, als diejenigen waren, 
welche das Auffteigen ber Gebirge Hervorriefen, oder mit 
andern Worten, die Feftlande find älter als die Gebirge, 
die fie tragen. Der gleichen Anfchauung, die feharf for 
mulirt und bewiefen zu haben Peſchel's Verdienſt iſt, 
Schließen fih an Humboldt, früher d'Aubuiſſon und C. 
F. Naumann. Eine geographifche Homologie ferner, die 
jedem, der aufmerffam die Karte betrachtete, in die Augen 
gefallen fein muß, ift endlich die bedeutungsvolle Aehn- 
lichleit ber Inſeln Borneo, Celebes und Gilolo oder 
Halmahera. Diefelbe fcharf ausgeprägte Injelform wieber- 
bolt fih in raſcher Folge dreimal hintereinander. Noch 
jehen wir feine Mare Erläuterung vor Augen, aber 
Peſchel meint: 

Wir unfererfeits fehen in Celebes ein abgemagertes Bor⸗ 
neo, welches längft verſchwunden wäre, wenn nidt feine Ge- 
birge als Beingerüft uns die ehemaligen Umriffe des Landes 
noch zu ziehen erlaubten. Bei Gilolo endlich iſt das Ber- 
hängniß ſchon weiter fortgefchritten. Für die Anfchauung, daß 
wir in jenen Iufeln die Reſte geſunkener Rändermaflen vor uns 
haben, ſpricht auch die Sefchichte jener Erdräume, foweit fie ſich 
aus den Pflanzen und Thierreften- ermitteln Yäßt. 

In der folgenden Abhandlung: „Die Abhängigkeit des 
Tlächeninhalts ber Feftlande von der mittlern Tiefe ber 
Weltmeere“, zerftört Vefchel den Wahn von großen 
Mafjengebirgen und Thälern, die auf dem Boden der 
Oceane borlommen follen; er zeigt, wie allein das Nord- 
atlantiiche Meer geräumig genug fei, alle Körpermafien 
ſämmtlicher Feſtlande der Erde, wenn fie bis zum See 
jpiegel abgetragen wilcden, aufzunehmen, ohne dadurch bis 
zum Rande troden gelegt zu werben. Mit Zahlen wird 
das Thema diefer Arbeit erhärtet und ſchließlich wieder⸗ 
holt, daß unfere Feſtlande nur als gewaltige Hochebenen 
über die Sohle der Occane emporragen. „Das Auf 
fleigen der Gebirge an den Feftlandsrändern“ wird an 
der Hand geologifcher Thatſachen erörtert, und darauf 
Bingewiefen, daß ſchon vor der Erhebung der Gebirge 
die Umriffe der Feſtlande gegeben waren. Ueberaus reich 
mit DBeifpielen der anziehendften Art belegt ift die Unter 
juhung „Ueber das Auffteigen und Sinken der Küſten“. 
Auf dem Antlig unfers Planeten ruht noch nicht eine 
tödliche Erftarrung, fondern es verändert noch fortwährend 
feine Züge, infofern die Umriffe der Infeln und Feftlande 
beftändig jchwanfen, hier ſich verfürzen, bort fich aus- 
dehnen, und zwar mitunter fo beträchtlich, daß fich ſchon 
im biftorifcher Zeit vieles anders geftaltet hat. Im der 
ſich Hieran reihenden Abhandlung „Ueber die Berfchiebungen 
der Welttheile feit den tertiären Zeiten” erkennen wir, 
daß die Verluſte, welche die Feſtlande feit den tertiären 
Zeiten erlitten Hatten, wieder durch Zuwachs in andern 
Räumen ausgeglichen wurden, und daß das Flächenver⸗ 
hältnig zwifchen Waffer und Land, welches etwa wie 5:2 





Bergleihende Erbfunde 


jegt ermittelt worden ift, in frühern Erbdzeitaltern das 
nämliche gewefen fein mag. Aber das Land war vormals 
anders vertheilt ald heute. Die nördliche Halblugel hat 
mehr Land gewonnen als verloren, bie fübliche mehr 
Land verloren als gewonnen. Im allgemeinen ergibt fi 
aus diefer Unterfuchung, daß die verlorenen Gebiete alle 
öftlih von den jegigen großen Welttheilen Liegen, die neu 
erworbenen bagegen weſtlich, daß alfo das Trockene nad) 
Welten flieht, weshalb auf ihrer Oftfeite die alten Yeft- 
lande immer abgelöfte Stüde Hinter fid) zurüdlaflen, 
während ihre weftlichen Uferlinien faft gänzlich frei von 
Inſeln find, abgefehen immer von den vullanifhen Bau⸗ 
werfen, bie örtlich wirkenden Kräften ihren Urfprung danken. 

Pefchel gebt nun auf die Flüſſe über und erläutert 
zunächft die verfchiebenartigen „Deltabildungen‘, dann den 
„Bau der Ströme in ihrem mittleren Laufe“. Er theilt 
die Flüſſe in zwei Oattungen ein, in Querftröme, die 
ftet8 vom Innern einer trodenen Erdfeſte mehr oder 
weniger fenktrecht und auf dem kürzeſten Wege nach der 
Küfte fließen, und in Längenſtröme, die parallel mit der 
großen Achſe continentaler Erhebungen fließen. Wie nie 
etwas bei Peſchel troden ift, und er dem fcheinbar dürr⸗ 
ſten Gegenftande eine geiftige Seite abzugewinnen weiß, 
fo auch hier. 

In der Eulturgefhichte Haben die Querſtröme cine ver» 
ſchiedenere Rolle geipielt als die Längenfiröme. Die erftern 
nämlich find auf den niedern Stufen der Entwidelung ethno⸗ 
graphifche Grenzlinien geworden. So ſchied der Ziber, wenn 
auch nicht ganz fcharf, Etruster und Römer, der Rhein nod 
zu Cäſar's und Tacitus' Zeiten Germanen und Gallier, die 
Eider Deutiche und Dänen, ja felbft noch heutigentags trennt 
der Lech den ſchwäbiſchen vom bairishen Volksſtamm, ſoweit ſich 
die Unterfchiede in Tracht und Mundart erhalten haben. Der 
Senegal war, ſoweit die Geſchichte zurückreicht, die Bölkerfchrante 
zwifchen Berbern und Negern. Längenftröme haben viel jeltener 
diefe Macht ausgeübt. 

Wir möchten in biefer Beziehung hier noch von einem 
Tängenftrome, der Donau, reden. Auf ſie findet beides 
Anwendung, benn in ihrem Laufe durch das Land deut—⸗ 
ſcher, magyarifcher, flawijcher, vomanifcher und türfifcher 
Bölfer ift fie nur einmal ethnographifche Grenzſcheide, 
und zwar im untern Laufe, wo fie faft haarſcharf die 
Rumänen von den Bulgaren und Türken trennt; nur 
im Delta und nad) Serbien hin greift das ungemein 
erpanfionsfähige rumänische Elemertt etwas über. 

Zum Schluſſe werden die „Chalbildungen“, dann 
„Wüften, Steppen, Wälder” in vergleichender Weife be- 
handelt. Was die letztern angeht, fo bezeichnen dieſe 
drei Begriffe Steigerungen an Pflanzenreichthum in den 
trodenen, feuchten und naflen Erdftridgen, denn ihr räum- 
liches Auftreten hängt fireng zufammen mit der örtlichen 
Bertheilung der mäfjerigen Nieberfchlige in der Geftalt 
von Nebel, Than, Regen oder Schuee. Ihre Bertheilung 
wird aber. genau beftimmt durch die Gäftalt des Trodenen 
und Feften auf einem fugelfürmigen Kikeper wie bie Erde, 
der fih von Weften nad) Often mit der , höchften Geſchwin⸗ 
digfeit am Aequator, mit der geringften an den beiden 
Polen bewegt. Einzelheiten aus dem \organifch geſchloſ⸗ 
fenen Ganzen diefes Aufſatzes Tünneh wir hier nicht 
bringen, aber wir mahnen noch zu reich lohnenden 
Lektüre bes epochemachenden Heinen Werts. 

Bidard Andree. 





Feuilleton. 623 


Fenilleton. 


Ein Wörterbud zu Luther's deutſchen Schriften. 
Bei_der hohen Bedeutung, welche die Sprache Luther's 
in der Entroidelung des deutfchen Geifteafebens erlangt Hat, 
iſt es gewiß ein banfenswerthe8 Unternehmen, feinen Sprache 
ebrauch in einem umfafjenden Wörterbuche darzuftellen. Schon 
Fer iR Luthers Wortihag Gegenftand der Aufmerlamteit 
geweſen, aber erſt jeit Grimm ift eine ausgedehntere Samm« 
tung der Luther'ſchen Ausdrüde verſucht worden. Es liegt 
in der Natur eines ſolch weit angelegten Werks wie das 
Grimm'ſche Wörterbug, daß Hier keine unbebingte Bolftändig- 
keit erzielt und aud erwartet werben fonnte. Zu einer mono- 
grophiihen Sammlung des Luther'ſchen Sprahihages war 
daher nit allein noch Raum übrig, fondern das Grimm’ihe 
Wörterbuch, mußte aud mit Anlaß fein, biefe von den Um- 
fländen gebotene Lüde auszufüllen. daß ein ſolches Werk, 
welches fid) die Aufgabe felt, den gefammten Wortvorrath ur 
ther’8, wie derfelbe in feinen deutſchen Schriften mit Einihluß 
der Bibelüberfeguug niedergelegt iſt, zu verzeichnen und die 
verfdiedenen Formen und Beneutungen der einzelnen Wörter 
mit jorgfältig ausgewählten Beifpielen zu belegen, im höchſten 
Grade ſchwierig und mlhfem ift, wird von bornherein jeder« 
mann empfinden. Und ber, welcher ſich einer fo gewaltigen 
Arbeit unterzieht, verdient gewiß Dani und Anerkennung. 
Bor zwei Jahren trat B. Dietz in Marburg mit einer erflen 
Lieferung von einem „Wörterbud zu Dr. Martin Luther’ 
deutfgen Schriften“ (Leipzig, Bogel) hervor, und jet (1870) 
iſt der erfte Band, beftefend aus vier Lieferungen umd veichend 
bis zum VBucftaben F inclufive, vollendet, Die jchwere Aufe 
jabe ift in mireigfier und trefflichſter Weiſe gelöf worden. 
Sa dem Bormorte gibt der Serifograph aud) eine „Kurze Charakterie 
fiil_ der wefentlichften Eigenthlimlichleiten der Sprache Luther’s‘', 
wobei er jedoch von gammaiiser Bolftändigkeit ganz und gar 
abgeſehen hat. Mit Recht. Denn eine grammatiihe Darftellung 
ift eine Aufgabe für ſich und erfordert ſelbſt einen ausgebehn. 
teen Raum, als er einem Borworte gegeben if. Dann folgt 
das „Duellenverzeihniß‘‘, in welchem mamentlid eine Menge 
Heiner Flugſchriften Luther's Bbibliographiih angeführt find. 
Muß diejes Wörterbud; von Die den Oprahforigern will 
tommen fein, fo haben aud alle Theologen Beranlaffung, an 
diefem Werke ein Interefje zu nehmen. Aber auch über diefe 
gelehrten Kreife hinaus verdient es beachtet und benutzt zu 
werden. 


Notizen. 

Aus Barnhagen von Enfe’s unerſchöpflichem Nach- 
laß ift von Ludmilla Affıng nun aud eine franzöſiſche Briefe 
ſammlung ans Licht gefördert worden: „Lettres du Marquis 
A. de Cnstine & Varnhagen d’Ense et Rahel Varnhagen 
d’Ense accompagndes de plusieurs lettres de la comtesse 
Delphine de Custine et de Rahel Varnhagen d’Ense‘ (Brüf- 
fel, Mugquardt, 1870). Der Briefwechjel umfaßt einen fehr 
großen Zeitraum, von 1816—46, und enthält über literariſche 
und politifhe Creigniffe und Perfönlichteiten im Bedjelverkehr 
zwiſchen Paris und Berlin mande interefiante Bemerkung. 
Tuftine iſt ein ſcharfer Kopf und bt eine fehr unbefangene 
Keitit, Man darf der Herausgeberin beiftimmen, wenn fie in 
dem Vorwort fagt, baß biefe Briefe eine glänzende Beſchrei⸗ 
bung der franzöftjhen Gefellihaft bieten, deren Details voll 
Reiz und Seife find, indem Guftine ebenfo viel Geift wie 
Schwung in der Erzählung pilanter Anekdoten beweiſt. Die 
Serausgeberin derwirft das ungünftige Urtheil, das Cuſtine 
über Victor Hugo fällt, den fie einen ber größen Poeten un. 
ſers Jahrhundert6 nennt, der aus. feinem Eril heraus bie 
Sympathien und bie Berrunderung aller edeln Seelen zu ge: 
winnen verfanden habe. Sie hat dieſen Brief nicht unter- 
drüct, wie fie fi im der Borrede rühmt. Dies ift eigentlich 
felbRverfländlig, beun wozu folkte eine Redaction führen, melde 
nad) den Meinungen des Herausgebers die überlieferten Briefe 











und Scriftfllide zurechtſchneiden wollte? Das Zutreffende ein⸗ 
zelner Urtheile Cuſtine's hat die Folgezeit bewiejen, fo wenn 
er den Meinen Girardin einen „politiihen Robert Macaire "' 
nennt, dem alles fehle, um ſich über fein Jahrhundert zu er« 
heben: bie Beredſamkeit und die Weberzeugung. Er werde 
in feinem gangen deben ſich in einer faljehen Tage befinden, in 
der Lage eines Märtyrers ohne Glauben. Zunächſt fei er das 
Ichneumon des Krofodils Thiere. 

Aus einem huzem Lebensbild von Barnhagen erjahren 

wir, daß Mfolphe Marquis de Cuftine (geb. in Paris 1793, 
gef. in St.-Gratien bei Enghien den 26. September 1857) 
der Entel des berühmten franzdfifchen Generals if, und daf 
fein Bater wie fein Großvater auf dem Schaffot während ber 
Revolution flarb. Möglich, daß fid) daher jene zeligiöfen und 
politifhen Borurtheile fhreiben, melde bie Herausgeberin in 
der Borvede bedauert. Sein Hauptwerk ift jedenfalls: „La 
Russie en 1839“, ein Wert, das durd) feine freimüithigen Ir» 
theile Auffehen erregte. Außerdem Kat er zwei Romane ver» 
faßt: „Lo monde comme il ost“ und „Ethel“, und ein @Werf: 
„L’Espagne sons Ferdinand V] 
Bon nemen deutſchen — in Nordamerika ermäh- 
nen wir: „Der deutfhe Pionier. Cine Monatsſchrift für 
Erinnerungen aus dem deutſchen Pionierleben in den Bereinig- 
ten Staaten, herausgegeben vom deutſchen Pionierverein (Cin- 
einnati, Ohio). Bon der Zeitfhrift liegt uns ber erfte Jahı- 
gang vor; fie ift weſentlich biftorifh und fucht die bahnbrechen- 
den Thoten und fortfhreitenden Cuftureroberungen ber beute 
ſchen Einwanderung im einer Flle einzelner Abhandlungen 
darzuftellen. 








Bibliographie. 
Die Armee Sadjens Er u Zorddeutſches Armeecorps im ante 
(gen Gelbyuge 1670, Sag ben Mittpeltungen eigener Berißterltter, Sor« 
Fefpenbenten und —— ie © 3 Feinzig, Minde, 

ru turned. Bon_ber Berjafjerin von “ Dapemen fe 
—E— deutjche Musa jabe. us dem gnglifhen von 
e 2 be. Seinnig, Sälide. 2 208. W gr. 
ante’s Hölle der Verlleblen deutsch gereimt At elnigen Bemer- 
jen und einer Belegstelle aus dem, Roman du Lancslot von R. Minz- 
Ir — Hahn. Gr. &. 
5 ehrt Haidlüge_ Aphorismen. 21 Otüd, 
ui Hilger Geipräge Göthes mit Edermann. Gumbinnen. 4. 








© 
Beigiäte des, — dom Dahre 1870. iſtes Heft. Stutt - 
gert, ® — 
an * Die ball ehe Reform und das erste Vatican-Con- 
ei. — 


* engen in feiner perföntichen und weltges 
wianig em — 9. Cine naturwilfenfhaftlige Seelentunde uns 
baranf inet: Weilknfganung. ifte Mbth. Leipzig, Thomas. Gr. 8. 


ı ei 

Ei in pbilofoy jer, politif unb nationaler Bes 
aba ii as — a barscheile Seine kung in Pi 
.$ TÜR ber Liebe. Novelle. Altona, Berlagd-Bürcan. 


s BE. Eipis, Bon Rom nah Creta. Neifefkigge. Iena, Reuen- 

. & e. 

in gmer, ©. © v., George Sirifopg von Raten, Ghel der weißen 

& — Ein Beitren dur [bite der Armee Friedrich II. Hannover, 
Pi 


Bere länge ans Böhmen. Zeitgebißte. Cine Apotheofe 
flo.“ 2te Muft. Leipzig, Matthep, 16. 224, Nat. 
franzönische und deutsc jearbeitung der 
Amel, "perl, — Comp. 1869. Gr. 8. 8 Ngr. 

„© @ lichte dos europäischen (Besveräicherungerechts, 

















8 ER Gr. 8. 9 Thlr, 
der zweite December und dag Raiferreid. Naqh Ring- 
Late’ he es Srlmtriges auß dem Gngliigen übertragen. Ihehoe, 


Rufe, Sur 
x Deutforen Max im dahre 1870 in Wort und 
Berlin, Mlönne, 
Srellentein, 8 v., Daß entlarote Yubenthum ber 
Nengeit. 1. Die Iuben in —E am Main. Zürig, Berlagsmagazin. 


3 10R 
Wallace, A. R., Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl, 
Eine Reihe von Essais. Autorisirte deutsche Ausgabe von A, B, Meyer. 
Erlangen, Besold, Gr. 8. 2 Tale 
Ttber, &.. Rapoleon IL, — Saite oder; 
ver Step der Kapfe tigen. Suuftrirter bioriier Roman aus dem 
ige ie N Elan Ife und Ste &ief. Berlin, Humburg u. Comp. 


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624 


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Anzeigen. 


igem 


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Deutfche Allgemeine Zeitung. 
Verantwortlicher Redacteut: Prof. Dr. Karl Biedermann. 
Derfag von 5. A. Brochfans in Leipsig. 


Während des ) genenmärt| en Kriegs hat ſich die Deut 
ſche Allgemeine Zeitung bemüht, den erhöhten Anforderungen 
nad) allen Seiten hin zu entipreden: duch Zugabe einer 
tägligen Ertra=Beilage, vermehrte telegraphiide 
Depeiden, OrigiualberigteuomKriegsihanplage, 
aus Paris, London zr., Mittheilung der amtlihen Bes 
richte and den Hauptquartieren, Veigabe von Karten nnd 

länen, täglide Leitartikel und Ueber ſichten. Sie 
at and die Genugthuung gehabt, daß die Zahl ihrer 
Abonnenten bedentend geftiegem und aus der Mitte 
derfelben mehrfach die vollſte Belriehigng über die Reich⸗ 
hattigteit Fe ie ganze Haltung des Blattes ausgeſprocheu 
worden 

Redaction und Verlagäpandlung werden in, biefem Ber 
ſtreben nicht ermüden. Inöbefondere werden fie bemüht fein, 
über die voransfihtiih bald an die Stelle der Kriegsercig- 
niſſe tretenden diplomatifhen und Friedensverhand- 
Iungen ebeufo rafdy und gefintet wie über jene zu be= 
richten, wober ihnen mehrfeitige zuverläffige DVerbindungen 
zur Seite ftehen. Sie dürfen daher hoffen, daf der neu ge= 
wonnene Lefertreis der Deutfhen ‚Algemeinen eitung ihrem 
alten Stamme getrener Lejer und Abonnenten dauernd Hinz 
zutreten werde, 

Mit dem 1. October beginnt ein neues Abonnement 
auf die Deutfce Allgemeine Zeitung, und werben deshalb alle 
auswärtigen Abonnenten (die bisherigen wie nen eintretenbe) ex» 
fuht, ihre Befellungen auf das nägfte Vierteljahr baldigft 
bei den betreffenden Poftämtern aufzugeben, bamit ‚feine Ber- 
zögerung in der Heberfenbung flattfindet. Der Abounements- 
preis beträgt vierteljährlid, 2 Thlr. 

Die Deutihe Allgemeine Zeitung erſcheint, folange es 
bie pafiiiäen Berhäftniffe wänfdenswerth maden, täglid 
zweimal (Sonntags einmal): vormittags 9 Uhr (Sonntage 
11 Uhr) und nahmittags 3 Uhr, vefp. (mit tefegraphifchen 
Börjenberichten) 5 Uhr. Nach auswärts wird fie mit den 
nädften nad Erfheinen jeder Nummer ober Ertra-Beilage 
abgehenden often verfandt. 

Inſerate finden durch die Deutſche Allgemeine Zeitung, 
melde zu biefem -Zivede vom den weiteflen Kreifen und na 
mentlic, einer Reihe größerer induftrieller Inſtitute regelmäßig 
benußt wird, die allgemeine und ziwedmäßigfte Werbreitung; 
die Imfertionsgebühr beträgt für den Raum einer viermal ger 
fpaktenen Zeile unter „Ankündigungen“ 1Y, Ngr., einer drei— 
mal geipaltenen unter „‚Eingefandt‘ 2%, Ngr. Die Herren 
Haafenftein & Vogler in Leipzig (Dresden), Hamburg, 
(Lübed), Berlin, Frankfurt a. M., Breslau, Köln, Stuttgart, 
Dien (Prag), Bafel (St.-Gallen), Züri, Genf (Laufanne) 
haben den ausfhliehlichen Iuferatenbetrieb für die Deutſche Alle 
gemeine Beitung übernommen und find deshalb alle Inferate an 
eins dieſer Etabliffements zu fenden. 


Derfag von 5. 9. Brodfians in Leipzig. 


Paris als Waffenplatz. 
Plan von Paris und seinen Festungswerken. 
2%, Ngr. 

Ein nach sorgfältigen Aufnahmen in Stahl gestochener 
Plan von Paris nebst Umgebung, auf welchem alle Fortifi- 
cationen durch Farbendruck hervorgehoben und die wich- 
tigsten Gebäude, Plätze, Brücken u. s. w. namentlich an- 
gegeben sind. 








Derfag von 5. A. Brodfans in Leipsig. 


Bilder - Atlas. 


Ilonographiſche Encyklopädie der Wiffenfchaften 
und Künfte. 
Ein Ergänzungswerk zu jedem Eonverfations-Lerikon. 

Zweite vollländig umgearbeitete Auflage. 

500 Taſeln in Staßrfih, Holzfänitt umd Lithographie. Med er» 
fäuterndem Cexte. 
Im Lieferungen zu 7, Sgr. 
Soeben erfdien: 
Bierzigfie Lieferung. 
Arqitektur (von Effenwein), Taf. 28; Zoologie (von Bogt), 
Taf. 15; Botanik (von Willfomm), Taf. 12; Baumejen (vom 
Heyn), Taf. 15; Piaſtit und Malerei (von Carriere), 
Taf. 13. 

Erfie Lieferung des Erläuternden Tertes: 
Seewefen. Bearbeitet von Kapitän zur See R. Werner. 
(S. 1-28.) — Phyfi. Bearbeitet von Profeſſor Dr. 9. 

Müller. (&. 1-48.) 





Gleichzeitig mit der 40. Lieferung der Tafeln erhalten die 
Subferibenten die 1. Lieferung des Erfäuternden Tertes. 
Sie behandelt die Abtheilungen „Seewefen“ und „Phyſit“, 
von welchen beiden Fächern mit feter Bezugnahme auf die 
Tafeln eine gedrängte, aber volfländig abgerundete Darftellung 
des BWiffenswürdigften vom Standpunkt der neueften Forjhung 
aus dargeboten wird. Der Erlänternde Tert ericeint in Lie⸗ 
ferungen von 5—6 Bogen Lerifonoctan zum Preife von 7Y, Sgr. 
und ſoll einen Band von etwa 60 Bogen umfafjen. 

Der „Bilder- Atlas“ bietet in Diefer zweiten, vom dem 
tüchtigfen Fahmännern bearbeiteten Auflage eine notbmwen- 
dige Ergänzung zu jedem Converfations-Lerifon, 
ift aber zugleid) ein Werk von völlig felbftändigem Werthe, 
das im feiner fofematifgen Orbnung den mannichfadften Bil- 
dungszweden entipriht. 

„sn allen Buchhandlungen ift das Erſchienene vor: 
täthig und werden Unterzeihuungen auf das Werk 
angenommen. 





Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipzig. 


Diplomatifche Geſchichte 
der Jahre 1813, 1814, 1815. 


Zwei Theile. 8. Geh. 4 Thlr. 10 Nor. 

Eine diplomatifche, vom deutfhen Standpunft 
aufgefaßte Gefhiähte jenes hochwichtigen Zeitabichnittes, in 
der, wie e8 im vorliegendem Werke geſchieht, unter nothwendi ⸗ 
ger Bezugnahme auf die friegerifhen Ereigniffe die dadurch 
veranlaßten Blindniffe, Verhandlungen und Friedensihlüffe einer 
auf die betreffenden Urkunden geftügten Beurtheie 
fung unterworfen werden, war bisher noch nicht vorhanden, 
Sie wird weſemlich dazu beitragen, irrige, hauptfächlic, vom 
franzöfifhen Geidigti—reibern verbreitete Meinungen zu ber 
richtigen und die Thatfachen ſowol wie die Motive, aus benen 
fie entfprangen, mieber in ihr Hiorifches Recht einzufegen. 
Die Urkunden, welde mit der geſchichtlien Darftellung ver- 
webt find, gewähren nebft der nothmendigen Beweisführung 
and den Reiz unmittelbarer Aufjafjung der Ereigniffe durd) 
die zunächft betheiligten Zeitgenoffen. 





Berantwortliier Redacteur: Dr. Eduard Srodhaus, — Drud und Verlag von 5. A, Srohhaus in Leipzig. 








Blätter 
literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. —4 Ar. 40. #8 1. October 1870. 





Die Blätter für literariſche Unterhaltung erfheinen in wöchentlichen Lieferungen zu dem Sreife von 10 Thlrn. jährlich, 5 Thlru. 
bafbjährlig, 2%, Thlrn. vierteljäͤhrlich Alle Buchhaudlungen und Poſtämter deB In- und Auslandes nehmen Beſtellungen an. 





Iuhalt: Ebeling's Sküzen aus Paris. Bon Mudolf Sottſchal. — Cine neue Gefchichte Oeflerreihs. Bon Hand Prutz. — 
Neue Romane und Erzählungen. Bon Mobert Springer. — Senilleton. (Die Reclam’sche „Univerfalbibliothet; Zur Kriegslyrif; 
Zur Gefdichte der deutſchen Rechtſchreibungsfrage; Notizen.) — Sibliographie. — Anzeigen. ' 





Ebeling’s Skizzen aus Paris. 


Neue Bilder ans bem modernen Paris. Bon Adolf Ebe- | gleiche Mitſchuld. Thiers hat vor dem Kriege geivarnt, 
oe: ger —* zweiter Band. Paderborn, Schöningh. doch nur weil der Augenblidk ihm nicht geeignet erſchien. 
gebe Runde aus dem modernen Paris, welche dazu Der frühere Diinifter bee Suitimigthumg, dem wir das 
beiträgt, uns bie Eulturzuftände ber Weltftadt unter dem a m Yahız 1866 and ben — —SeS 
serond empire zu erläutern, iſt in jetziger Zeit doppelt (6° der eifriafte Vorfä ner Fri 8 fiti 
willlommen; denn in diefen Zuftänden mefentlich ift ber erbet " nelche pi — —A— — ideen ne 
Schlüfſel zu den großartigen Niederlagen des Yahres f 8° re 
1870 zu ſuchen. Die Wallfahrt ber Fürften und Natio- Dies Paris bes second empire, das jegt bald nur 
nen im Jahre 1867 zu dem großen Friedenstempel des ber Geſchichte angehören wird, dies Paris der großen 
Marsfeldes und der Vormarfch der deutfchen Armeen im Cultur-⸗ und Friedensfeſte wie ber unfinnigen Sriegs- 
Fahre 1870 nad) der Yaiferlofen Hauptftadt bilden einen | abenteuer in fremben Zonen und des unfinnigften Er— 
merfwitrdigen Pendant. Die kriegeriſche Nation, ſiegreich oberungszugs an ben Rhein, barg im fid) bie intereffan- 
teften Qulturphänomene der Neuzeit, mag man in ihnen 


im Frieden und befiegt im Kriege — wel ein Wider- inen hinter glänzenden Phrafen verftedten Werm 
mit ben Traditionen Frankreichs! Doc der Eultur | nur einen Hinter glänzenden Phrajen berfiedten Berme- 
ſpruch nd eich och der Cultur ſungsproceß oder die ſchimmernde Repräſentation des 


des Friedens einen Tempel bauen in dem einen Jahre, proce E — 

in dem andern fie leichtſinnig preisgeben für vagen Kriegs⸗ materialiftifchen Weltprincips erbliden. Jeder Beitrag zu 
ruhm, der ſich unter der Hand in Schmach der Nieder- feiner Charakteriſtik muß uns daher willfommen fein. 
lagen verwandelt — das heißt ein Spiel treiben mit den Adolf Ebeling hat bereits in einer ganzen Serie don 


höchſten Gütern der Nationen, ein Spiel, welcdes die Bänden „Lebende Bilder aus dem modernen Paris‘ uns 
Züchtigung durch die Eifenfauft des deutfchen Volks ver- | vorgeführt, und zwar find alle diefe Skizzen mit großer 
dient! Unvergeflen wird es unferm Volke bleiben, daß es | Detailfenntniß gearbeitet. Die GOrnndſtimmung des Ver⸗ 
zwar mit Begeifterung in ben Krieg z0g und biefen glän- | faflers ift eine dem Kaiſerreich durchaus freundliche, offen- 
zend und glüdlich führte, daß aber ber Zorn über die | bar weil der Bonapartismus den Firchlichen Intereffen 
freche Friedensftörung nicht geringer war, daß es nicht | ftetd Rechnung getragen Bat. Darum aud) die Verherr⸗ 
triegte um des Kriegs willen, fondern um ſich vor Ueber» | lichung der Kaiferin, dieſer Schutzgöttin des Baticang, 
füßen zu fihern, welche die humanen Intereffen, die Fort⸗ der „Spanierin‘‘, gegen welche fi ber Vollkshaß jett 
Schritte geifliger Arbeiten auf allen Gebieten des Willens | nicht minder heftig wendet wie vor zeiten gegen die 
und der Kunft ſtets von neuem gefährden. „Oeſterreicherin“. Ebeling läßt feine Gelegenheit vorüber: 

Immerhin bleibt Paris der Herd der ganzen Bere- | gehen, wo er ihr einige ftiliftifche Blumen auf den Weg 
gung; aber nicht blos bie Tuilerien, fondern das Palais- ftreuen Tann. Gleichwol ift fein Ultramontanismus nicht 
Bourbon, die Prefle und ihre Heißfporne, ein Emile de | anfdringlich, fondern tritt nur gelegentlich hervor, und 
Girardin an der Spige, bie ganze Nation tragen bie | bei aller Bewunderung für das second empire, die ber 

1870. 40o. 79 





— 


626 Ebeling’s Skizzen aus Paris, 


Autor hegt, laſſen feine unbefangenen Schilderungen des 
Bolfslebens die Achilleusferfe des modernen Cüfarismus 
durchaus nicht verfennen. 

In den vorliegenden Bänden fpielen indeß Kaifer und 
Kaiferin keine hervorragende Rolle; nad) der legten großen 
Rataftrophe möchte man ihnen gern einmal näher ins 
Auge ſehen. Merkwürdiger noch als das wechjelnde 
Süd, welches den Kaifer von Abenteuer zu Abentener, 
in das Gefängniß, auf den Thron und jegt wieder in 
die Kriegsgefangenfchaft verfolgte, ift das ebenjo wechjelnde 
Urtheil der öffentlichen. Meinung über ihn. Der PBräten- 
dent von Strasburg und Boulogne galt in den Augen 
der Welt für einen Narren; der Präfident der Republik 
für einen beſchränkten Mann, der nad, der höchften Macht 
firebte, um ſich ihren Genüffen Hinzugeben; der Kaiſer 
galt lange Zeit für den Träger aller politifchen Weisheit, 
für das Orakel Europas und aller Cabinete, fir den 
Vertreter der MWeltherrfhaft der romanifchen Nationen. 
Seit dem verfehlten Kriegszuge nah Mexico begann 
diefer Ruhm zu fchwinden; jest aber ift man allgemein 
geneigt, wieder zu der erften Auffaſſung zurüdzufehren 
und einen vom Zufall begünftigten, fonft unbedeutenden 
Glüdsritter in ihm zu fehen. Daß die dentjchen Waffen 
und Federn nad) dem leichtſinnig heraufbeſchworenen Kriege 
den Cäſar nicht fchonen, ift felbftverftändlich und berech⸗ 
tigt; doch das unbefangene Urtheil der Gefchichte wird 
in Napoleon II. immer einen Stantemann von hervor- 
ragender Befähigung erbliden, der das Princip des Mac⸗ 
chiavellismus durch gefchidte Ausbeutung der Zeitideen in 
der innern und äußern Bolitit mit feltener Kunft zur 
Anwendung bradjte und, indem er bie dynaftifchen Inter⸗ 
effen zu ftüten fuchte, aud) dabei manche wahren Inter⸗ 
efien des Volks fürderte. 

Noch mehr aber als fein Oheim zeigt der dritte Na- 
poleon die Wahrheit des franzöftfchen Satzes: „Rien ne 
reussit que le succes!” In den Augen der Welt ward 
er zum Narren und zum Weifen, je nachdem er Nieder- 
lagen oder Giege erlebte. Niemals in der Gejchichte 
wechjelte das Urtheil jo mit dem Erfolg, gleich als ob 
der Charakter feinen innern Werth, fondern nur einen 
äußern Preis hätte, den die Umftände allein beftimmten. 

Ebeling führt uns einmal den Kaiſer vor bei dem 
großen Rennen im Bois de Boulogne, wo Frankreich ein 
neues „Waterloo“ durch den Sieg bes englifchen Pferdes 
„Ceylon“ erleben follte: ' 

Die Majefäten verließen die rothen Sammtfanteuils ihres 
Pavillons und mijchten fich unter die Spaziergänger; aber wenn 
der Kaifer, noch dazu in fchlichter Civilkleidung, jeiner Gemahlin 
den Arm gibt, fo fieht er nie fehr gut und nichts weniger als 
impofant aus: er ift zu Hein umd von zu unterjegter Statur; 
der Lefer weiß längſt, daß der Kaifer zu Pferde und in Uni» 
form gejehen werden muß, um zu gefallen. Ohnehin kann 
man fi einen Napoleon nicht wohl anders denfen. Ludwig 
Philipp trug gern Tichtgraue Kaſimirbeinkleider, weiße Wefte 
und einen braunen Frack mit goldenen Knöpfen und Samnıt- 
fragen, dazu einen Spazierfiod oder gar bem hiftorifch gewor⸗ 
benen Regenihirm. Aber man ftelle fich einen Napoleon in 
ſolchem Coftüm vor! Die Kaiferin Hingegen, wo fle erjcheint, 
ift immer die wahre Majeftät, eine moderne Maria Thereſia. 
Sie trug an jenem Tage ein weißes Kleid mit lila, nach wie 
vor ihre Kieblingsfarben, und war entſchieden unter den unter 
dem Pavillon verjammelten, etwa zweihundert Damen am ein- 
fachften gefleidet. Aber fie durfte dies wagen, denn ber Der: 


zoginnen, Fürſtinnen, Oräfinnen u. f. w. zählte man nach allen 
Seiten bin zu Dutzenden, und da mußte fchon eine die andere 
durch eine ſtets Toftbarere und brillantere Toilette zu überbieten 
und auszuftechen fuchen, nur, um in der glänzenden Menge 
nicht ganz unbeadhtet unterzugeben. 

Wie fehr Ebeling für die „Spanierin” ſchwärmt, be« 
mweife die folgende Schilderung ihrer Triumphe im Yahre 
1866: 

Die Kaiferin — Ehre, dem Ehre gebührt, und wir ſetzen 
Ihre Majeftät gern in diefem Kapitel obenan — iſt zurlidgefehrt 
von ihrem Triumphzuge; denn diefen Namen verdient ihre 
Rundreiſe nad) Ehälons und Nancy, die wirklich eine fünftägige 
glänzende Dvation der dortigen Bepölkerung war, fo glänzend, 
wie kaum je eine zu Gunften der Napoleonifchen Dynaftie flatt- 
gefunden bat. Den Kaifer hielten feine „Geichäfte‘‘ (er Hat ja 
immer alle Hände voll zu thun) in den Zuilerien zurfid, : wo 
faft ein permanenter Minifterrath etablirt war, und bie Reiſe 
der Kaiferin gewann fomit eine doppelte Bedeutung: fie ftellte 
den zufluftigen Thronerben zum erften mal offlciell dem Bolle 
vor und repräfentirte zugleich ihren abweienden Gemahl. Wol 
noch nie ift in frankreich eine Monarchin derartig gefeiert wor⸗ 
ben: die ganze Reife ging unter Ehrenpforten, Blumenguirlan⸗ 
den und Blättergewinden, das kleinſte Dorf war wie zu einem 
Nationalfefte geſchmückt, in Nancy felbft zählte man über zwei⸗ 
malhunderttaujend Gäfte von nah umd fern. Biele Taufende, die 
weder in den Gafthöfen noch in den Privathäuiern ein Unter- 
fommen finden konnten, campirten unter Zelten im Freien, 
und die öffentlihen Gärten und Promenaden waren in Bibuaks 
und Sclafftätten verwandelt. Im Chälons nahm die Kaiferin, 
wie eine zweite Maria Therefia, die Revue der Lagerarmer, 
gegen 27000 Mann, ab und vertheilte Ehrentreuze uud Mes 
daillen; Überall mifchte fih in die Acclamationen „Vive l’Im- 
peratrice, vive le Prince Imperial!‘ der Zuruf: „Vive la 
heroine d’Amiens!" — eine Anfpielung auf die nenlidge Heife 
der Gefeierten nad Amiens zum Beſuch der dortigen Chofera- 
kranken. Stundenlang dauerten jeden Vormittag die Öffentlichen 
Audienzen, zu denen jeder zugelaflen wurde: die herzgewinnende 
Freundlichkeit der Kaiferin, die auf jede Anrede eime pafſſende, 
gemüthoolle Antwort hatte, verfcheuchte oft dergeftalt bie Eti⸗ 
fette, daß Männer und Frauen aus dem Boll ihr bdreift die 
Hand gaben oder den Prinzen umarmten, der auch feinerfeits 
Heine Reden bielt, d. h. ihnen von Paris erzählte und fie iu 
die Tuilerien einlud. Bei der kirchlichen Feierlicjfeit in Nancy 
wurde eine Pracht entfaltet, wie man fie, nach Berfidderung 
bon Augenzeugen, in Notredame felbft bei folcheu Gelegenheiten 
nie ſchöner und glänzender geſehen; fünf Bifchöfe mit zahls 
reichem Gefolge umgaben den Erzbifhof von Paris, und nit 
weniger als fehshundert Priefter vom hohen und niedern Klerus 
waren gegenwärtig. Die Kaiferin ift nad) wie vor für die fran- 
zöfiſche Geiftfichkeit bie große und einflußreiche Bermittlerin 
zwiichen Rom und dem ZTuileriencabinet. 

Wenn der Kaifer in Vichy iſt, präfibirt die Kaiferin 
dem Miniſterrath: 


Zwei Minuten genügen, um den Herrn Gemahl von allen 
Beichlliffen in Kenntniß zu feßen, und zwei andere Minuten, 
um feine Antwort zu erhalten. Wenn der erfie Napoleon ſolche 

eiftige Commmnicationsmittel gehabt hätte! Der Neffe hat fein 
rbeitszimmer in Saint-Cloud ganz mit den alten Möbeln 
feines großen Oheims einrichten laſſen; der Schreibtifch mit 
den grünbefchirmten Bronzecandelabern ift derfelbe, die präd- 
tige Pendule, eine Erdlugel, auf welcher der Senfenmann Chro- 
no8 die eilenden Stunden anzeigt, beögleihen; aber wenn er 
Leben bätte, der alte, vergoldete, bärtige Gott, fo würde er 
fid) gewaltig verwundern über das, was man jet in einer 
einzigen feiner Minuten, oder gar feiner Stunden abmadıt. 
Und Batte der Kaifer nicht ganz recht mit feinen Worten beim 
fetten Montagsempfang der Kaiferin, an eben jenem Xage, wo 
[9 die Börfe beim endlichen Ausbruche des Kriegs wie eine 
erzweifelnde geberdete: „Ich begreife wirklich nicht, weshalb 
wir in Paris nnd in Frankreich nicht ruhig und guter Dinge 
fein follten, wenn fih aud die andern da drüben im den 





Ebeling’8 Skizzen aus Paris. 


Haaren liegen?‘ Er konnte dies librigens leicht fagen, denn er 
hatte vermutblich Teine fälligen italienifchen Coupons. 


Auch die Illuminationslämpchen der Anekdote werden 
angeftedt, um das Bild der Saiferin jo glänzend wie 
möglich hervortreten zu lafjen: 


Im Theätre du Gymnafe wird feit einiger Zeit ein neues 
Schauſpiel von Gondinet gegeben: „Le Eomte Jacques.‘ Gon- 
dinet ift nur ein eines Kerzchen im Vergleich zu dem großen 
Gaskronlenchter Augier; aber feine Städe find dafür anfländi- 
ger und fehr amufant. Im „Comte Jacques‘ bat namentlich 
ein junges Landmädchen eine niebliche Rolle. Das ganze Un- 
glück der Kleinen ift, Teine 1000 Franken zu befigen, um hei⸗ 
rathen zu können; denn fo viel verlangt der Bater ihres Ge- 
tiebten al® Ausſteuer. Die Noth und die Klagen des armen 
Kindes find fo natürlich und allerliebft, daß die Schaufpielerin, 
noch dazu eine junge Debutantin, durch ihr naives, hübſches 
Spiel allgemeinen Beifall erntete. „Wenn nicht anders‘, fo 
heißt es in ihrer Rolle, „ſo gehe ich in die Elyſeiſchen Felder 
und warte, bis die Kaiſerin vorbeifährt. Dann werfe ich ihr 
meine Bittfchrift in den Wagen. Sie ift ja fo reich und fo 
gut; fie kann mir leicht die taufend Franken geben. Alle Blicke 
richteten fih bei diefen Worten auf die kaiſerliche Loge; denn 
die Majeftäten wohnten zufällig der Borftellung bei. Die Kai⸗ 
ferin lächelte und midte der Meinen Bäuerin freundlich zu. 
Während des Zwifchenactes fh fie den Director zu ſich bitten 
und erfundigte fi) nah der Debutantin. Die Auskunft war 
fehr befriedigend: die angehende Künſtlerin ift die Tochter einer 
unbemittelten Witwe und unterflügt mit ihrer Gage die Mut⸗ 
ter und einen jüngern Bruder. „In diefem Falle”, jagte Ihre 
Majeftät, „grüßen Sie doch die Bäuerin von mir und melden 
ihr, daß ich ihre Bittfchrift angenommen babe und ihr die fo 
ſehnlich gewünſchten taufend Franken ſchenke.“ Am andern Mor- 

en brachte ein kaiſerlicher Lakai der Kleinen die Summe. Die 

roßen und Reichen biefer Erbe haben es freilich fehr leicht 
und billig, Ontes zu thun; aber es kommt aud) noch auf die 
Art und Weife an, wie file es thun, umd darin kann die Kair 
ferin wirklich als Muſter dienen. Ich für meine Berfon wünſche 
jest nur nod), daß die Heine Bäuerin auch in Wirklichkeit einen 
Schatz habe, ben fie num heirathen kann, ſchon weil mir eine 
verheirathete Schaufpielerin lieber ift als eine ledige. 


Unter der Ueberfchrift: „KRaiferliches Amufement”, wird 
uns bie folgende Anekdote erzählt, die fiir den faft tür: 
fischen Dienfteifer der kaiſerlichen Behörden ein rühmliches 
Zeugniß ausftellt: 

Wenn man ein hoher Herr ift, oder gar der allerhödifte 
im Lande, jo bat man oft die originelliten Amnfements und 
Ueberrafchungen. Dahin gehört die Meine Geſchichte von den 
acht Bäumen, die dem Kaifer kürzlich in höchfteigener Perſon 
paffirt iſt. Er machte nämlich vor feiner Abreije nad) Biarrit 
der Prinzeffin Elotilde einen Abichiebsbefuh im Palais-Royal, 
nachdem er ben Neubau der Zuilerien infpicirt hatte. Im 
Borbeifahren wirft ber Kaifer einen Blic auf den neuen, gerade 
vollendeten Plag vor dem Theätre francais, wodurch die ſüd⸗ 
weftliche Seite des Palais⸗Royal frei geworben if. Se. Ma⸗ 
jeftät läßt den Wagen einen Augenblid anhalten und fagt zum 
General Fleury, der ihn, wie faft immer, begleitet: „Der Plat 
ift hübſch, aber etwas kahl; man hätte dort recht gut einige 
Bänme binpflanzen lünnen. Weiter fagt der Kaifer nichts und 
fährt hinein in den Hof bes Palaftes, macht feinen Beſuch und 
nimmt fogar, als außerordentliche Gnade, die Einladung feines 
Betters an und bleibt zu Tiſche. Alfo ganz wie ein gewöhn⸗ 
fiher Bürgersmann; vielleicht daß er gar nad Saint-Eloud 
geihict Hat, nm der Kaiferin fagen zu laſſen, fie folle nit 
mit der Suppe anf ihn warten, er fei fonftwo eingeladen und 
dinire in Paris. Nach der Zafel, gegen 8 Uhr, vermuthlid 
bei einer Taſſe Kaffee mit einer Cigarre, tritt der Kaifer, wie 
von ungefähr, auf den füdmeftlichen Balkon hinaus und [haut 
hinab auf den erwähnten freien Blat. Aber diefer ift wie durch 
ein Zauberwort verändert: acht hohe ftattliche Bäume fliehen zu 
beiden Selten; man pflanzt gerade noch dem letzten, und die 


627 


Arbeiter bringen dem Kaifer, den fie recht gut erkennen, ein 
lautes Lebehoch. Dieſer läßt fogleih durch die Lakaien einige 
Dugend Flaſchen Wein Binabtragen, die vermuthlich fein Ge⸗ 
. wäds aus Suresne oder Puteaur waren, und num geht das 
Anftoßen und das Vive l’Empereur! dort unten los, ale wenn 
e8 der 15. Augufi wäre. Die Borlibergehenden bleiben neu- 
gierig ſtehen, zu Hunderten und Zaufenden, denn die dortige 
Gegend ift eine der belebteften von ganz Paris, und fein Menſch 
weiß, was dieje Bacchanalie zu bedeuten hat. Am nächften 
Morgen lieft man die Geſchichte in den Zeitungen und madt 
dem General Fleury ein Compliment Über jeine Aufmerkfamteit, 
ohne ſich indeß weiter den Kopf zu zerbrechen, wie es möglich 
gewefen ift, diefe ‚„„Decorationsveränderung‘ fo fchnell zu be= 
werfteligen. Dem Lejer will ich fie aber doch Tieber mit zwei 
Worten erflären. Eine fofortige ittbeilung Fleury's an Mon- 
sieur Alphand, inspecteur general des embellissements de 
Paris (ein Dann, fo gejhidt, wie fein Zitel lang ifl), und 
bie Weilung, daß man ihm höchftens drei Stunden Zeit lafſe. 
In drei Stunden kaun aber Monfieur Alphand viel thun. Nach 
ehn Minuten ift der Platz bereits abgeiperrt und ein Meines 
egiment Arbeiter erſcheint; je zwölf Dann graben eins der 
acht tiefen Löcher, in welche die Bäume gepflanzt werden fol- 
Im. Im faum einer Stunde find die Löcher fertig. Ein an- 
beres „Regiment“ hat mittlerweile in der Baumſchule der Tui» 
lerien acht große Kaftanienbäume ausgegraben, & zwanzig Mann 
für jeden Baum, ebenfalls das Werk einer Stunde. Darauf 
erfcheinen die zu dieſem Behufe conftruirten Wagen und heben 
mit ihren Ketten, Stangen und Rädern die Biume ſammt dem 
fie umgebenden Erdreihe heraus und fahren fie durch die Aue 
de Rivoli hinüber nad) ihrem neuen Wohnplatze. Monfieur 
Alphand, zu Pferde, fprengt wie ein General ab und zu, come 
mandirt, treibt zur Eile an und hält dabei die Uhr in ber 
Hand: er hat nur noch 50 Minuten; aber frhon iſt der erfte 
Baum gejegt und nad weitern 20 Minuten bie übrigen. 
Schnell werben die Löcher. zugeworfen, der Plat wird geebnet 
und gefänbert, und die „Regimenter“ ziehen mit ihren Haden, 
Spaten und Schaufeln Ieife wieder ab, wie fie gelommen. 
Monfleur Alpband hat noch Zeit, in der Mitte des Plates 
einen venetianijchen Maft mit wehenden Tricoloren aufzurichten 
und die Paffage wird wieder freigegeben, als wenn gar nichts 
paiftrt wäre. Da öffnen ſich aber auch fhon oben die Balkon⸗ 
thliren — e8 war mithin die höchfte Zeit, denn die leßten zwanzig 
Arbeiter waren, wie gejagt, noch am adıten Baume beichäftigt, 
zum Aerger freilich des Imfpectors, aber zur Beruhigung des 
Kaifers, der denn doc jah, daß alles mit natürlichen Dingen 
jugegangen war. 

Der Beſuch des Königs von Preußen in Compiegne, 
ein Beſuch, den Napoleon III. bisher nicht erwidert hatte 
und jest auf Wilhelmshöhe als unfreimilliger Gaſt des 
Königs ſehr gegen feinen Willen erwidert, gewinnt in 
folder Beleuchtung durch die Ereigniſſe der jüngften Zeit 
ein erneutes Intereffe. Ebeling fam einen Tag nach dem 
Beſuch des Könige nah Compiegne und murde durd) 
einen Caftellan in das Schloß hineingefchmuggelt: 

So ging id denn keck die breite escalier d’honneur hin- 
auf, eine prächtige Doppeltreppe ganz aus weißem Marmor, 
auf der ſich der roth-geflammte Teppich wunderſchön ausnahm. 
Im großen Empfangsſaale war noch alles wie an jenem Abende, 
wo ihn der König von Preußen mit der Kaiferin am Arme 
zuerft betreten. In den hohen koſtbaren Vaſen die feltenften 
ausländifhen Blumen, die man aus den botanifhen Gärten 
von Marfeille, Lyon nnd Paris mit großen Koften und noch 
größern Umftänden hatte kommen laffen; die Vaſen jelbfl, 
mande mit ihrem Unterfaße aus Goldbronze gegen 10 Fuß 
hoch, und die Gemälde auf einigen im Werthe von über 
20000 Frances, kurz, das Reichſte und Schönfte, was Stores 
je geliefert; die Gobelins ferner an den Wänden, lebhafter und 
ausbrndevoller als die Rubens'ſchen Gemälde im Loupre, 
und bie Hinterwand des Saals in ihrer ganzen Höhe und 
in ihrer halben Breite eim einziger ungeheuerer Spiegel; 
rechts und links bis hinauf an ben goldenen Fries der Dede 

79 * 


—— 


628 


bluhende Topfgewachſe: Farbenglanz, Blumenduft, Reid- 
thum, Eleganz — man meinte, alle Schlöffer Frankreichs 
hätten ihr Schönſtes und Koftbarftes hergefandt, dieſen einen 
Saal anszufgmüden. Und nun denke man fi diefen Raum, 
belebt von mehr als dreifundert Berfonen ber höchſten Ständel 
Schimmernde Uniformen und bligende DOrdensflerne, Gold» 
Ridereien und eberhilte, und dann die Damentoiletten in 
Sammt und Spigen, und die Hauptſache! die Juwelenpracht, 
vorzüglich die Diamanten, alles im feuer von mehr als zweie 
taufend Kerzen — furz, der Empfang des Königs muß wunder» 
vol gewefen fein. Und ein Etwas fam hinzu, das diefen Em⸗- 
pfang vor allen Übrigen ausjeihmete, die der Kaiſer Napoleon 
ſchon andern gefrönten Häuptern bereitet hat. Das waren bie 
feinen Aufmerfjamkeiten und zarten Rüdficten für ben könig - 
lien Gaft, die fi überall fundgaben, ohne die geringfte 
Prätenfion und wie abfichtslos, die aber den König felbft, der 
fie fofort verſtand, erfrenten umd rührten. &o die Vorliebe 
des Königs für Blumen, für gewifſe Mufitfüde und Opern- 
texte m. few. Die ganze Terrafje vor den königlichen Gemädhern 
war in einen Blumenflor verwandelt, wie eben nur die kaifer- 
lien Zreibhäufer einen ſolchen aufgpweifen haben; man hatte 
die Orangen und Granatbäume im Sreien gelaffen, fodaß 
man fi mitten im Sommer glaubte, und das herriichſte Wet» 
ter begünfigte die Täufhung. ud; in das Schlafimmer 
wagten wir uns Binein: alles in Blau, „la couleur de la 
Prusse‘, fagten die parifer Feuilletons pathetiſch. Auch die 
Hofdamen jollen an jenen Tagen viel Blau in ihrer Toilette 
getragen haben, mas fogar einzelne Oppofitionsblätter auf 
eigenthümliche Weife commentirten, ale wäre man in der Eour« 
toifle zu weit gegangen. Cine große Albernheit, fofort einige 
blaue Bänder und Kleider eine polinſche Rolle fpielen zu Laffen, 
aber echt frangdflich! Der alte Frangoiß ging nod; mit mir in 
das Privatcabinet des Königs, eim alleriichfte® Boudoir, ganz 
mit veilhenbfauem Sammt ausgeſchlagen; an den Wänden 
reizende Medaillons aus Stores, der Plafond aus farbigen 
Kryftallplatten zufammengefet, der Kronleuchter aus getriebe» 
nem Silber. Auf dem prädtigen Bureau ftand noch das file 
berne Schreißgerätg, und ein paar gewöhnliche Federn lagen 
in der Achatmufcel. Ic konnte der Berfuhung nicht wider» 
fehen, mir eine diefer Federn anzueignen, zumal ihre mit 
Tinte gefchwärzten Spigen augenf—einfid, bewiefen, daß, man 
ich ihrer bedient Hatte. Mein Führer fächelte, als ich heimlich 
und verfioßlen eine jener Federn in die Brufttafde meines Rode 
edte, und Kieß den unfgufdigen Diebftahl ruhig geichehen. 


Sehr fpärlih find die Silhouetten franzöfifcher Ab- 

ggocbneter und Staatsmänner in ben beiden Bänden. 

ur ein Befuc im Corps legislatif gibt eine Heine Aus- 
beute an parlamentarijchen Porträts: 


Tags zuvor hatte Thiers geſprochen und ebenfalls reiche 
Lorbern geerntet. Thiers if wirklich ein Phänomen, wenig- 
ſteus eim oratoriſches. Seine Stimme ift troß feines hohen 
Alters umd feines zarten Körperbaues fräftiger, Marer und ein⸗ 
dringlier denn je. Wenn er fpricht (matlirlich bei einer Stille, 
daß man eine Fliege im Saale jummen hören könnte), fo Hin» 
gen die Worte deutlich und fharf bis in die entlegenften Eden; 
man verliert nicht ein einziges Wort. Bon ihm gilt, wol mehr 
als von irgendeinem andern Rebner, der Ciceroniſche Ausſpruch: 
„Er beherrjäit fein Aubitorimm.“ "Dabei geficufiet er lebhaft 
und viel, feine Augen bligen, die ganze Heine Figur ift Leben 
und Feuer. Auf feinem Plage iſt er ebenfalls in fleter Ber 
mwegung, aber den Blick immer auf die Tribline gerichtet; No» 
tigen macht er faſt gar nicht. Nur manchmal ſchnellt er im die 
Höhe: „Je demande la parole!" Dann wenden fi unmill- 
Mrlich alle Koͤpfe nach feiner Seite. — Yufes Favre if der ernfe, 
ſtrenge, unerbittlihe Cato, wozu fein bitterböfes Geſicht und 
feine harte, obwol fehr verfländlie Stimme nit wenig bei« 
trägt. Wenn er auf ber Tribüne fiet, mit feiner flarten, 
großen Figur, dem wilden, bufchigen Haar, während der Rede 
gewöhnlich den einen Arm drohend emporgehoben, wie wenn 
er ein Schwert barin hielte, fo meint man einen Griminalrichs 
ter zu fehen und erfchridt. Cine Toga, einen ehernen Seſſel 





Ebeling's Skizzen aus Paris. 


und im Hintergrunde die dumfeln Fluten des Styr: fo dachten 
fi die Alten die Richter der Unterwelt. Daheim, im Schos 
feiner ie foll Jules Favre ein liebenswürdiger, heiterer Ge- 
felfchafter fein und fogat Verſe maden. Mid erinnert er da» 
bei flets an Meperbeer. — Berryer if in diefem Jahre fehr alt 
geworden, feine Stimme hat etwas Schwanfendes, Zitterndes; 
aber feine ehrmürdige Erſcheinung erwedt ftetß diefelbe herzliche 
Sympathie: er ift der Ehrenmann ohne Furt und Tadel, 
charalterfeſt und Üübergeugungstren, und al reis doppelt ehr- 
würdig. Große Senjation machte es, al® Berryer nad der 
Thiero ſchen Rede aufftand, feinem Gegner die Hand drüdte und 
ihn fat umarmte; er, der freund des Grafen Chambord, dem 
ehemaligen Minifter Ludwig Philipp’s! — Glais + Bizoin ſict 
mittlerweile und kramt und fichtet in einem Wuſt von Papie- 
ren, motirt viel und wirft vom Zeit zu Zeit eine ſpitze oder 
biffige Bemerkung in die Debatte. Größere Reden hält Glais- 
Bizoin mur felten; aud hat er ſchon feit dem vorigen Jahre 
viel von feiner frühern Bedeutung verloren. Die ehrlichen 
Bretonen, feine Wähler, find ihm gram, weil er die Bermin- 
derung der Tabadspreife nicht, wie er e8 ihmen damals ver- 
ſprach, durchgefegt hat. Als wenn das möglich, gewejen wäre! 
In der Bretagne dürfte er deshalb wol nicht wieder gewählt 
werben, aber dafür in Paris jelbft nicht geringe Chancen ha- 
ben. — Diggt neben ihm fügt Sarnier-aget, ein Mitglied der 
proviforifhen Regierung von 1848 und in mehr als einer Ber 
ziehung ein Geitenftüd zu Jules Favre. Auch feine Mede 
(natürlich gegen die römiſche Expedition) fiel noch im die erfte 
Decemberwode und machte viel böfes Blut. Er nannte ſich 
File und faut ein Kind der Revolution und apoftrophirte den 
inifter Rouber mit den kecken Worten: „Was find Sie denn 
anders, und was können Sie anders fein?’ Die Herren von 
der Linken geniren ſich nicht, wie man fieht, das Ding beim 
echten Women zu nennen; aber s mic ipnen and gut zud« 
gegeben. . 
Auch die literariſchen Porträts find fpärlich in dem 
Werke verteilt. Ebeling hat feine Antipathien, zu die 
fen gehören natürlich Gegner ber Kirche, wie Victor Hugo 
und Erneft Renan. Bon den „Travailleurs de la mer jagt 
er, daß fie ald Roman weit hinter den „Miscrables” zu« 
rüdftänden. Der bleibende individuelle Eindrud hafte auch 
nit an dem Buche jelbft, fondern wende ſich auf die 
Perſon des Berfafiers, der in dem dämoniſchen Zwielichte 
hier eines überfpannten, bort eines irrfinnigen Greijes 
erſcheine. Ebeling citirt Edmund Abont, welcher die 
„Miserables“ als Zigerbraten mit Weinfauce arafterifirte 
und von den „Travailleurs de la mer“ gejagt haben foll: 
„Sanct- Johannes und Polichinell, d. h. die Apofalypje 
auf einem Puppentheater”. Nenan wird ein „phrajen« 
großer” Mann genannt, feine Werke „romantiſche Schrei» 
bereien“, welche bald genug das Miniaturſchickfal ereilen 
werde. Dabei wird die folgende Anekdote erzählt: 

Die Reife dürfen wir nicht mnerwähnt lafjen, die Reman 
im verfloffenen Hecht nad) Baläfina und Syrien gemach Hat, 
um an Ort und Stelle nod; verſchiedene Nachforſchungen zur 
haften. In Damaskus wird er von Abd-el-Kader gaſtlich auje 
genommen, nud der Emir bringt alsbald das Gejpräd auf das 
„Leben Zeju”. „‚Kennen Sie denn das Buch?“ fragt Renan 
erftaunt. „Ob ic es kenne?“ ruft Abd-el- Kader; „ich habe 
es wenigfiens zehnmal durchgeleſen, und das nicht allein, denm 
ih habe es auch von Anfang bis zu Ende mit Anmerkungen 
verſehen.“ Dabei zeigt er ihm den Band, der aud wirklich, 
vol von Notizen if. „Das Merkwürdigſie dabei’, fligt der 
Beriterftatter hinzu, „if der Umſtand, daß der Emir das 
dergeftalt anmotirte Werk heranszugeben gebentt.‘ 

Wenn Bictor Hugo und Renan für Ebeling „Nullen“ 
find, fo Hat man ein Recht, ſich nad) feinen „Größen“ 
umzufehen. Glüdlicherweife begegnet uns alsbald Louis 
Benillot mit feinen „Odeurs de Paris“, ein „böjer Mann“ 











Ebeling’s Skizzen aus Paris, 629 


mit einem „böfen Buche”, welches dennoch als bedeutende 
Erfcheinung begrüßt und einer Kritif, die e8 „herausfor- 
dert”, auf mehrern Bogen gewürdigt wird. Ebeling ift 
zwar der Meinung, daß es in Paris noch immer nicht 
jo ſchlimm ausfieht, wie es Veuillot jchildert. Er ver- 
gleicht jein Wert mit dem trübgelben hochgejchwollenen 
Seinefluß, darüber den dunkelgrauen melancholiſchen Wol⸗ 
fenhimmel, und endlofen Schmuz in allen Straßen; er 
vermißt darin den blauen Himmel und Sonnenſchein, den 
man doc auch in Paris begrüßen kann. Im Grunde 
aber ftimmt er mit dem fcharfen, unerbittlichen Logiker 
Beuillot fehr überein in dem Urtheil über Zuftände und 
Perfönlichkeiten. 

Nicht in dem politifchen und Literarifchen Porträt find 
die Borzüge des Ebeling’schen Werks zu fuchen, fondern 
mehr in einer intimen Oenremalerei aus dem Volksleben 
und in ber Fülle mitgetheilter Anekdoten aus der parifer 
Geſellſchaft. 

Zu den echten pariſer Größen gehört die Alcazar⸗ 
Diva Teéreſa. Dergleichen Erſcheinungen können nur in 
einer Zeit vorlommen, in welcher ein Raffinement herricht 
wie in der Herenwelt, wo „schön häßlich“ und „häßlich 
Schön" ift, wenn wir nämlich zwei großen Dichtern wie 
Shaffpeare und Schiller glauben dürfen: 

Die Sängerin Terkfa, die faum den Namen einer Sän⸗ 
gerin verdient, hat weder Talent noch Stimme, ift weder ſchön 
noch gebildet, und machte und macht dennod allabendlich ein 
zum Erdrücken und Erfiiden volles Haus, bei dreifach erhöhten 
Eintrittspreifen, trog Pfeifen» und Cigarrenqualm, und Bier 
und Punſch; beides, Tabad wie Getränt noch dazu von der 
letzten Sorte. Und die Löſung dieſes Räthſels? Sie ift einfach, 
ja für den, der Paris und die Parifer kennt, ift es gar fein 
Räthſel. Große Sängerinnen hat man längft gehabt. Laſſen 
mir daher einmaf eine Sängerin auftreten, die eben feine ift, 
die dabei aud nicht ſchön, jondern häßlich, nicht graziös, ſon⸗ 
dern plump ift, die ftatt des feinen Spiels jchlechte Manieren 
hat, und legen wir ihr fehließlich flatt zarter Verſe unjaubere, 
zweideutige Bänkelfängerlieder in den Mund... mer weiß, mer 
weiß, wir könnten vielleidht renffiren. Weiter nichts? entgegnet 
man und Dergleichen Subjecte gibt e8 auch anderswo, und 
in den Kneipen und Zanzlocalen Tester Klaſſe kann man ſolch 
fümmerlihe Waare in allen Städten autrefien und braucht des- 
halb nicht nach Paris zu gehen. Das wohl, aber das findet 
man in feiner andern Stadt der Welt, daß eine ſolche „Künſt⸗ 
lerin“ Mode wird und Epoche madt, und daß man ihren Ra- 
men mit Popularität wie mit einem Nimbns umgibt. 

Doh auch ein vornehmes Publitum kommt in die 
Räume des Alcazar, um die Diva zu bewundern: 

Schon Petron erzählt uns, wie zur Zeit der Decabenz bie 
vornehmen Römerinnen heimlich und verkleidet in zweideutige 
Häufer gingen, um den Orgien der Freigelaffenen zuzufchauen. 
Sollen doch fogar die Herren und Damen den Kaijer gebeten 
haben, die Tereſa nad; Compiegne kommen zu laffen, und wer 
weiß mas geichehen wäre, denn Se. Majeftät ift überaus 
liberal gegen feine Gäfte und gewährt ihnen, wie Girardin 
fürzlich Togte., alle die Freiheiten, die er dem franzöfifhen Bolfe 
entzieht. Aber die Kaiferin legte mit ihrem gewöhnlichen Takt 
ein energiſches Veto ein. Dürfen wir uns nad) folchen Vor⸗ 
gängen Über die hochrothgefürbten Haare der Loretten und Über 
ihre blau ober grün angemalten Schoehunde, beides ebenfalls 
Errungenfcaften der Demi- Monde aus den verflofjenen Jah⸗ 
ren, wundern? Auch in diefer Beziehung können wir einen 
römiſchen Schriftfteller citiren, Suvenal, der von einem Decret 
berichtet, welches allen feilen und Teichtfertigen Weibern Roms 
befahl, ihre Haare roth zu färben. Bon den Hunden fagt 
Auvenal nichts; aber etwas müſſen wir Modernen doc auch 
vor den Alten voraushaben. Das Repertorium der Tereja wird 


man mir wol in feinen Details erlaffen. Ein Sappeur, der 
in eine Köchin verliebt if; ein Tambour⸗Major, ber von feiner 
Heinen Daitrefie geprügelt wird; ein Droſchkenkutſcher, der ein 
verliebtes Baar in die Rue de Paradis fahren foll, aber dem 
Weg verfehlt und im der Rue d’Enfer anlommt — daß find die 
Bravourarien der Diva des Alcazars, die für jede Rolle eine 
befondere Stimme hat, die Weiber zumeift dur die Fiftel 
fingt und für die Männerpartien einen nie dagemwejenen Alt 
entwidelt. Die Geften und Stellungen entfprechen natürlich 
dem Gefange, und der unvermeidlihe Cancan, in höchſter 
Rigolboche⸗Vollendung, bildet jedesmal den Schluß. 

Es ift fiir einen Berichterftatter nur ein Schritt von 
ber Terefa bis zur Fürſtin Metternich; denn beibe machen 
gleich viel von fich fprechen. Ein Eulturbiftorifer des se- 
cond empire wird den Abfchnitt „über die Frauen’ mit 
der Raiferin beginnen und dann der Fürſtin Metternich, 
die fi zu einer parifer Berühmtheit acclimatifirt hat, 
ebenfo wie der Alcazar- Diva ein befonderes Kapitel wid- 
men müſſen. Ebeling berichtet über einen Maskenball bei 
der Fürftin: 

Die Fürſtin Metternich, welche in ber diesjährigen Saifon 
mehr ale je den Ton angibt, hatte eine ganz eigenthlimlidye 
Geſellſchaft geladen: die Herren einfach im rad, wie zu einer 
gewöhnlichen Soirde, und die Damen im Domino und mas⸗ 
fir. Es wurde weder getanzt, noch Muſik gemadt, nod 
Theater geipielt, wie fonft bei folchen Gelegenheiten. Die 
Herren führten vielmehr die unbelannten Damen in den Sälen 
und Galerien umher; man jeßte ſich in den verſchiedenen Sa- 
ons zu einer Cauferie nieder; man intriguirte und wurde in- 
triguirt, und infofern wurde allerdings Theater gejpielt, denn 
es follen fich dort die feltfamften und fpaßhafteften Scenen zu- 
getragen haben. Auch der Kaifer war gegenwärtig; und in 
einem blaßrothen Domino, dem man Überall ehrerbietig Platz 
machte, vermuthete man .die Kaiferin. Aber die Herren find 
der Fürftin troß des amufanten Abends fehr gram geworden. 
Denn man denfe fi die Enttäufhung, als beim Souper, das 
jeder als den glüdlihen Moment herbeifehnte, wo endlich die 
Masten fallen und alle Räthſel fich Idfen würden, dies eben 
nit gefhah, fondern jämmtlide Damen masfirt blieben und 
ihre zierlichen florfeidenen Halbmasten, die fie nit am Eſſen 
und Trinken binderten, noch fefter banden, um nidt erfannt 
zu werden. Man fand diefe Prüfung zu hart, und es märe 
faft zu einer Verſchwörung gelommen, wenn nicht die Damen 
durch verdoppelte Liebensmärdigleit die armen Getäufchten mit 
dem allzu ftrengen Incognito verföhnt hätten. Daun fam nod) 
der tröſtliche Umſtand Hinzu, daß jedem Gaft für die nächfte 
Woche eine Einladung zu einem großen Concert in der Am- 
baſſade zugeftellt wurde, mo fi dann diejelbe Gefellfchaft von 
Angefiht zu Angefiht fehen folltee Da war man denn wol 
gezwungen, fich zu fügen, und lonnte doch wenigftens um eine 
Hoffnung reiher nad Haufe fahren; aber der Fürftin Metter- 
nid muß man das Privilegium lafien, daß fie fih auf Erfin- 
dung pilanter Situationen verfteht. 

Andere Kapitel zur Charalteriftif der Frauenwelt unter 
Napoleon IH. bringen die Skizzen: „Eine Lorettengräfin 
vor Gericht“, „Schon wieder ein Lorettenproceß“, „Ein 
Heirathsbureau“, „Eine Damenfchneiderrehnung”. Eine 
Beichreibung des im Jahre 1866 modijchen „chapeau 
Lamballe” lautet: 

Er ift nicht viel größer ala ein Barbierbecken, d. h. als 
ein Meines; und ein ſolches würde auch fehr gut die pafjende 
Form bieten, natürlich mit weißem oder roſa Tüll überzogen 
und mit Pfauenfedern garnirt; zu beiden Seiten fallen die mehr 
al8 zwei Dieter langen und mehr als einen Fuß breiten (ich 
übertreibe um feinen Zoll), buntgeflammten Atlasbänder herab, 
die ebenfalls mit Meinen Tüllpuffen und Pfauenfedern eingefaßt 
find. Das ift der chapeau Lamballe. An fi, Jelbſt in der 
pariſer Zoilettenwelt, die ja ſtets die ercentrifchften Dinge er» 
findet und verbreitet, Fein großes Ereigniß; aber die begleitenden 


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5, „"... Kan . . " . fun tn i 


628 Ebeling’s Skizzen aus Paris. 


blühende Topfgewächſe: Farbenglanz, Blumenbuft Reich⸗ 
thum, Eleganz; — man meinte, alle Schlöfſer Frankreichs 
hätten ihr Schönſtes und Koſtbarſtes hergeſandt, dieſen einen 
Saal auszuſchmücken. Und nun denke man ſich dieſen Raum, 
belebt von mehr als dreihundert Perſonen der höchſten Stände! 
Schimmernde Uniformen und blitzende Ordensfterne, Gold⸗ 
ſtickereien und Federhüte, und daun die Damentoiletten in 
Sammt und Spitzen, und die Hauptſache! die Juwelenpracht, 
vorzüglich die Diamanten, alles im euer von mehr als zwei⸗ 
taufend Kerzen — furz, der Empfang des Königs muß wunder- 
vol gemeien fein. Und ein Etwas fam Binz, das diefen Ems 
pfang vor allen Übrigen auszeichnete, die der Kaifer Napoleon 
Ihon andern gefrönten Häuptern bereitet hat. Das waren die 
feinen Aufmerffamfeiten und zarten Rüdfichten für den könig⸗ 
lichen Gaſt, die fi überall kundgaben, ohne bie geringfie 
Prätenfion und wie abfichtslos, die aber den König felbft, der 
fte fofort verfland, erfreuten nud rührten. So die Vorliebe 
des Königs für Blumen, für gewiffe Mufikſtücke und Opern- 
terte u. |. w. Die ganze Zerraffe vor den königlichen Gemädern 
war in einen Blumenflor verwandelt, wie eben nur die faifer- 
lichen Treibhäufer einen ſolchen aufzuweiſen haben; man hatte 
die Drangen- und Granatbäume im fsreien gelaffen, fodaß 
man ſich mitten im Sommer glaubte, und das herrlichfte Wet⸗ 
ter beglinftigte die Täuſchung. Auch in das Schlafzimmer 
wagten wir uns hinein: alles in Blau, „la couleur de la 
Prusse”, fagten die parifer Feuilletons pathetifh. Auch die 
Hofdamen follen an jenen Tagen viel Blau in ihrer Toilette 
getragen Haben, was fogar einzelne ÖOppofitionsblätter auf 
eigenthämliche Weiſe commentirten, als wäre man in der Cour⸗ 
toifie zu weit gegangen. Cine große Albernbeit, fofort einige 
blaue Bänder und Kleider eine politifhe Rolle fpielem zu Laffen, 
aber echt franzöſiſch! Der alte François ging nod mit mir in 
das Privatcabinet des Königs, ein allerliebftes Boudoir, ganz 
mit veilhenblauem Sammt ausgefhlagen; an den Wänden 
reizende Medaillons aus Stores, der Plafond aus farbigen 
Kryftallplatten zufammengefettt, der Kronleuchter aus getriebe» 
nem Silber. Auf dem prädtigen Bureau fiand noch das file 
berne Schreibgeräth, und ein paar gewöhnliche Federn lagen 
in der Achatmuſchel. IH konnte der Verſuchung nicht wider» 
ftehen, mir eine diefer Federn anzueignen, zumal ihre mit 
Tinte gefhwärzten Spiten augenſcheinlich bewielen, daß man 
fi) ihrer bedient hatte. Mein Führer lächelte, als ich heimlich 
und verftohlen eine jener Federn in die Brufttafche meines Rode 
fiedte, und ließ den unfchuldigen Diebftahl ruhig gefchehen. 


Sehr fpärlih find die Silhouetten franzöfifcher Ab⸗ 
geordneter und Staatsmänner in den beiden Bänden. 
Nur ein Beſuch im Corps Legislatif gibt eine Kleine Aus- 
beute an parlamentarifchen Porträts: 


Tags zuvor hatte Thiers gefprochen und ebenfall® reiche 
Lorbern geerntet. Thiers ift wirklich ein Phänomen, wenig- 
ften® ein oratoriſches. Seine Stimme ift troß feines hohen 
Alters und feines zarten Körperbaues fräftiger, klarer und ein- 
dringliher denn je. Wenn er fpricht (natlirlich bei einer Stille, 
dag man eine Fliege im Saale fummen hören könnte), jo Hin- 
gen die Worte deutlich und fcharf bis in die entlegenften Eden; 
man verliert nicht ein einziges Wort. Bon ihm gilt, wol mehr 
als von irgendeinem andern Redner, der Ciceroniſche Ausſpruch: 
„Er beberricht fein Auditorium.” Dabei gefticulirt er lebhaft 
und viel, feine Augen bligen, die ganze Meine Figur ift Leben 
und Feuer. Auf feinem Plage ift er ebenfalls in fleter Be 
wegung, aber den Blid immer auf die Zribline gerichtet; No⸗ 
tizen madıt er fa gar nidt. Nur manchmal ſchnellt er in die 
Höhe: „Je demande la parole!“ Dann wenden fi unmwill- 
kürlich alle Köpfe nach feiner Seite. — Jules Favre iſt der ernfte, 
firenge, unerbittliche Cato, wozu fein bitterböfes Gefiht und 
feine Harte, obwol ſehr verfländlihe Stimme nicht wenig bei- 
trägt. Wenn er auf der Tribline fieht, mit feiner ftarfen, 
großen Figur, dem wilden, bufchigen Haar, während ber Rede 
gewöhnlich den einen Arm drohend emporgehoben, wie wenn 
er ein Schwert darin hielte, fo meint man einen Eriminalrichs 
ter zu fehen und erfhridt. Cine Toga, einen ehernen Seffel 





und im Hintergrunde die dumfeln Fluten bes Styr: fo dachten 
fi) die Alten die Nichter der Unterwelt. Daheim, im Schos 
feiner Familie fol Jules Favre ein liebenswlrdiger, heiterer Ge⸗ 
jelfchafter fein und fogar Berje machen. Mid erinnert er da- 
bei ftets an Meyerbeer. — Berryer ift in diefem Jahre fehr alt 
geworden, feine Stimme hat etwas Schwankendes, Zitternbes; 
aber feine ehrwürdige Erſcheinung erweckt ftets diefelbe Herzliche 
Sympathie: er ift der Ehrenmann ohne Furcht und Tadel, 


‚Harakterfeft und Überzengungstreu, und als Greis doppelt ehr- 


würdig. Große Senjation madhte es, als Berryer nad der 
Thiers'ſchen Rede aufftand, feinem Gegner bie Hand drückte und 
ihn faft umarmte; er, der Freund des Grafen Ehambord, dem 
ehemaligen Minifter Ludwig Philipp’s! — Glais - Bizoin figt 
mittlerweile und framt und fichtet in einem Wuſt von Papie⸗ 
ren, notirt viel und wirft von Zeit zu Zeit eine fpite oder 
biffige Bemerkung in die Debatte. Größere Reden hält Slais- 
Bizoin nur felten; auch hat er ſchon feit dem vorigen Jahre 
viel von feiner frühern Bedeutung verloren. Die ehrlichen 
Bretonen, feine Wähler, find ibm gram, weil er die Vermin⸗ 
derung der Tabadepreife nicht, wie er e8 ihnen damals ver- 
ſprach, durchgefet hat. ALS wenu das möglich geweſen wäre! 
In der Bretagne dürfte er deshalb wol nicht wieder gewählt 
werden, aber dafür in Paris ſelbſt nicht geringe Chancen ha- 
ben. — Dicht neben ihm figt Garnier- Pages, ein Mitglied ber 
proviforifchen Regierung von 1848 und in mehr als einer Ye 
ziehung ein Seitenſtück zu Jules Favre. Auch feine Rede 
(natürlich gegen die römiſche Expedition) fiel nod in die erfle 
Decemberwode und machte viel böfes Bint. Er nannte ſich 
offen und laut ein Kind der Revolution und apoftrophirte deu 
Minifter Rouher mit den keden Worten: „Was find Sie deun 
anders, und was fünnen Sie anders fein?" Die Herren von 
der Linfen geniren ſich nicht, wie man fieht, da® Ding beim 
zechten Namen zu neunen; aber es wird ihnen auch gut zurkd» 
gegeben. . 

Auch die Literarijchen Porträts find fpärlich in dem 
Werke vertheilt. Ebeling hat feine Antipathien, zu bie 
jen gehören natürlich Gegner der Kirche, wie Victor Hugo 
und Erneft Renan. Bon den „Travailleurs de la mer” fagt 
er, daß fie als Roman weit hinter den „„Miserables” zu« 
rüdftänden. Der bleibende individuelle Eindrud hafte aud) 
niht an dem Buche felbft, ſondern wende fi auf bie 
Perjon des Verfaſſers, der in dem dämonifchen Zwielichte 
biex eines überjpannten, dort eines icrfinnigen Greiſes 
erfcheine. Ebeling citirt Edmund About, welcher bie 
„Miserables” als Zigerbraten mit Weinfauce charakterifirte 
und von den „Travailleurs de la mer“ gefagt haben fol: 
„Sanct = Johannes und Polichinell, d. h. die Apofalupfe 
auf einem Puppentheater”. Renan wird ein „phrafen- 
großer” Mann genanut, feine Werke „romantifche Schrei- 
bereien”, welche bald genug das Miniaturſchickſal ereilen 
werde. Dabei wird die folgende Anekdote erzäglt: 
Die Reiſe dürfen wir nicht nnerwähnt laffen, die Renan 
im verfloffenen Herbft nad PBaläftina und Syrien gemacht hat, 
um an Ort und Stelle noch verihiedene Nachforſchungen zu 
balten. In Damasfus wirb er von Abd-el-Kader gaſtlich aufe 
genommen, und der Emir bringt alsbald das Geſpräch auf das 
„Leben Jeſu“. „Kennen Sie denn das Bu?" fragt Renan 
erflaunt. „Ob ich e8 kenne?“ ruft Abdrel- Kader; „ich habe 
es mwenigfien® zehnmal durchgelejen, und das nicht allein, denn 
ih habe es aud von Anfang bis zu Ende mit Anmerkungen 
verſehen.“ Dabei zeigt er ihm den Band, der auch wirflid 
voll von Notizen if. „Das Merkwürdigſte dabei”, flügt der 
BVerichterflatter Hinzu, „ift der Umſtand, daß der Emir da6 
bergeftalt annotirte Werk herauszugeben gedenkt.“ 

Wenn Bictor Hugo und Renan für Ebeling „Nullen“ 
find, fo hat man ein Recht, fi) nad) feinen „Größen“ 
umzufehen. Glücklicherweiſe begegnet uns alsbald Louis 
Beuillot mit feinen „Odeurs de Paris”, ein „böfer Dann“ 


Ebeling’s Skizzen aus Paris. 


mit einem „böfen Buche”, welches dennoch als bedeutende 
Erfcheinung begrüßt und einer Kritik, die e8 „beraudfor- 
bert”, auf mehrern Bogen gewürdigt wird. Cbeling ift 
zwar der Meinung, daß es in Paris noch immer nicht 
fo fhlimm ausfieht, wie es Veuillot fchildert. Er ver- 
gleicht fein Werk mit dem trübgelben hochgefchwollenen 
Seinefluß, darüber den dunkelgrauen melandolifchen Wol⸗ 
fenhimmel, und endlofen Schmuz in allen Straßen; er 
vermißt darin den blauen Himmel und Sonnenſchein, den 
man doch auch in Paris begrüßen kann. Im Grunde 
aber ftimmt er mit dem ſcharfen, nnerbittlichen Logiker 
Benillot fehr überein in dem Urtheil über Zuftände unb 
Perjönlichkeiten. 

Nicht in dem politifchen und Literarifchen Porträt find 
die Vorzüge bes Ebeling’schen Werks zu fuchen, jondern 
mehr in einer intimen Oenremalerei aus dem Volksleben 
und in der Fülle mitgetheilter Anekdoten aus der parifer 
Geſellſchaft. 

Zu den echten pariſer Größen gehört die Alcazar⸗ 
Diva Terefa. Dergleihen Erfcheinungen können nur in 
einer Zeit vorkommen, in welcher ein Raffinement herricht 
wie in der Herenwelt, wo „schön häßlich“ und „häßlich 
Schön” ift, wenn wir nämlich zwei großen Dichtern wie 
Shakſpeare und Schiller glauben dürfen: 

Die Sängerin Zerkfa, die faum den Namen einer Sän⸗ 
gerin verdient, bat weder Talent noch Stimme, if weder fchön 
nod gebildet, nnd machte und macht dennoch allabendlidy ein 
zum Erdrücken uud Erfliden volles Haus, bei dreifady erhöhten 
Eintrittspreifen, trotz Pfeifen- und Cigarrenqualm, und Bier 
und Punſch; beides, Tabad wie Getränt noch dazu von der 
legten Sorte. Und die Löſung diefes Räthſels? Sie ift einfach, 
ja für den, der Paris und die Parifer kennt, if e8 gar fein 
Räthſel. Große Sängerinnen hat man Tängft gehabt. Laſſen 
wir daher einmal eine Sängerin auftreten, die eben feine ift, 
die dabei auch nicht ſchön, ſondern häßlich, nicht graziös, jon- 
dern plump ift, die ftatt des feinen Spiels ſchlechte Manieren 
bat, und legen wir ihr ſchließlich flatt zarter Verſe unfaubere, 
zweidentige Bänfelfängerlieder in den Mund... wer weiß, wer 
weiß, wir lönnten vielleicht venffiren. Weiter nichts? entgegnet 
man uns. Dergleihen Subjecte gibt e8 auch anderswo, und 
in den Kneipen und Tanzlocalen letter Klaffe kann man ſolch 
fümmerlihe Waare in allen Städten antreffen und braudıt des» 
batb nicht nad) Paris zu geben. Das mohl, aber das findet 
man in feiner andern Stadt der Welt, daß eine foldhe „Künſt⸗ 
lerin“ Mode wird und Epoche macht, und daß man ihren Na⸗ 
men mit Popularität wie mit einem Nimbus umgibt. 

Doch aud ein vornehmes Publitum kommt in die 
Räume bes Alcazar, um die Diva zu bewundern: 

Schon Petron erzählt uns, wie zur Zeit der Decadenz die 
vornehmen Römerinnen heimlich und verkleidet im zmeidentige 
Häufer gingen, um den Orgien der Freigelaſſenen zuzujchauen. 
Sollen doch fogar die Herren und Damen den Kaifer gebeten 
haben, die Terfa nach) Compiegne kommen zu lafjen, und wer 
weiß was gejchehen wäre, denn Se. Majeftät ift überaus 
liberal gegen feine Gäfte und gewährt ihnen, wie @irardin 
lürzlich —8* alle die Freiheiten, die er dem franzöſiſchen Volke 
entzieht. Aber die Kaiſerin legte mit ihrem gewöhnlichen Takt 
ein energifches Veto ein. Dürfen wir uns nad ſolchen Bor- 
gängen Über die hochrothgefärbten Haare der Loretten und über 
ihre blau oder grün angemalten Schoshunde, beides ebenfalls 
Errungenfcajten der Demi- Monde aus den verfloffenen Jah⸗ 
ren, wundern? Auch in biefer Beziehung künnen wir einen 
römiſchen Schriftfieller citiren, Juvenal, der von einem Decret 
berichtet, welches allen feilen und leichtfertigen Weibern Roms 
befahl, ihre Haare roth zu färben. Bon den Hunden fagt 
Suvenal nichts; aber etwas müſſen wir Modernen doch aud) 
vor den Alten vorausbaben. Das Repertorium der Tereja wird 


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629 


man mir wol in ſeinen Details erlaſſen. Ein Sappeur, der 
in eine Köchin verliebt iſt; ein Tambour⸗Major, der von ſeiner 
Heinen Maitreſſe geprügelt wird; ein Droſchkenkutſcher, der ein 
verliebtes Baar in die Rue de Paradis fahren joll, aber deu 
Weg verfehlt und im der Rue d’Enfer ankommt — das find die 
Bravourarien der Diva des Alcazars, die für jede Rolle eine 
befondere Stimme hat, die Weiber zumeifi durch die Fiftel 
fingt und für die Männerpartien einen nie dagewejenen Alt 
entwidelt. Die Geften und Stellungen entſprechen natürlich 
dem Gefange, und der umvermeidlide Cancan, in höchſter 
Rigolboche-Bollendung, bildet jedesmal den Schluß. 

Es ift fiir einen Berichterftatter nur ein Schritt von 
der Terefa bis zur Fürftin Metternich; denn beide machen 
gleich viel von fich fprechen. Ein Eulturhiftoriler des se- 
cond empire wird den Abfchnitt „über die rauen’ mit 
ber Kaiferin beginnen und dann ber Fürftin Metternich), 
die ſich zu einer parifer Berühmtheit acclimatifirt hat, 
ebenfo wie ber Alcazar- Diva ein befonderes Kapitel wid- 
men müſſen. Ebeling berichtet über einen Maskenball bei 
der Yürftin: 

Die Fürfiin Metternich, welche in der diesjährigen Saiſon 
mehr als je den Ton angibt, hatte eine ganz eigenthlimlicdhe 
Gejellichaft geladen: die Herren einfach im rad, wie zu einer 
gewöhnlichen Soirde, und bie Damen im Domino und mas⸗ 
firt. Es wurde weder getanzt, noch Muſik gemadt, noch 
Theater geipielt, wie fonft bei folchen Gelegenheiten. Die 
Herreu führten vielmehr die unbelannten Damen in den Sälen 
und Galerien umber; man feste fih in den verjchiedenen Sa- 
lons zu einer Eauferte nieder; man intriguirte und wurde in⸗ 
triguirt, und infofern wurde allerdings Theater geipielt, denn 
es follen fidh dort die feltfamften und ſpaßhaftefſten Sceuen zu» 
getragen haben. Auch der Kaifer war gegenwärtig; und in 
einem blaßrothen Domino, dem man Überall ehrerbietig Platz 
machte, vermuthete man .die Kaiferin. Aber die Herren find 
der Fürſtin trog des amufanten Abends fehr gram geworden. 
Denn man denfe ſich die Enttäufchung, als beim Souper, das 
jeder als den glüdlihen Moment berbeifehnte, wo endlich die 
Masken fallen und alle Räthſel ſich löͤſen würden, dies eben 
nicht geſchah, fondern fämmtlihe Damen maslirt bfieben und 
ihre zierlichen florfeidenen Halbmasten, die fie nit am Eſſen 
und Trinken binderten, noch fefter banden, um nidt erkannt 
zu werden. Dan fand diefe Prüfung zu hart, und es wäre 
faft zu einer Verſchwörung gekommen, wenn nit die Damen 
durch verdoppelte Liebensmürdigfeit die armen Getäufchten mit 
dem allzu ftrengen Incognito verföhnt hätten. Dann fam nod 
der tröflihe Umftand hinzu, daß jedem Gaſt für die nächte 
Woche eine Einladung zu einem großen Concert in der Am- 
bafjade zugeftellt wurde, mo ſich dann diefelbe Geſellſchaft von 
Angeficht zu Angefiht fehen folltee Da war man denn wol 
gezwungen, fich zu fügen, und konnte doch wenigftens um eine 
Hoffnung reiher nad Haufe fahren; aber der Fürftin Metter- 
nid) muß man das Privilegium laffen, daß fie ſich auf Erfin- 
dung pilanter Situationen verfteht. 

Andere Kapitel zur Charalteriftif der Frauenwelt unter 
Napoleon I. bringen die Skizzen: „Eine Lorettengräfin 
vor Gericht”, „Schon wieder ein Lorettenproceß”, „Ein 
Heirathsbureau“, „Eine Damenfchneiderrehnung”. Eine 
Beichreibung des im Jahre 1866 modifchen „chapeau 
Lamballe” lautet: 

Er ift nicht viel größer als ein Barbierbeden, d. 5. ale 
ein Meines; und eim folches wiirde auch fehr gut die pafjende 
Form bieten, natürlich mit weißem oder roſa Tüll überzogen 
und mit Pfauenfedern garnirt; zu beiden Seiten fallen die mehr 
als zmei Meter langen und mehr als einen Fuß breiten (ich 
übertreibe um feinen Zoll), buntgeflammten Atlasbänder herab, 
die ebenfalls mit Keinen Tüllpuffen und Pfauenfedern eingefaßt 
find. Das ift der chapeau Lamballe.. An fi, jeibit in der 
parifer Toilettenwelt, die ja ftets die ercentrifchften Dinge er- 
findet und verbreitet, Fein großes Ereigniß; aber die begleitenden 


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630 Cheling’s Skizzen aus Paris, 


Nebenumftände find interefjant genug, um fie unfern Les 
ferinnen kurz mitzutheilen. Die Erfinderin des Huts, ich fage 
dies nicht ohme einen gewiflen patriotifchen Stolz, iſt eine 
Deutihe, Madame Riel, eine der erſten Putmacheriunen im 
Quartier Lofitte, dem fogenannten Rothſchilds⸗Viertel. Sie 
ift auch Lieferantin der Fran Baronin, was ich beftimmt ver- 
bürgen kann; Feine Kleinigkeit! Aber Madame Kiel hätte faft 
ihre Reputation durch jenen unglüdlihen Hut verloren; denn 
fowie er erſchien, erhob fi ein allgemeines Pereat in den 
Tagesblättern iiber das miſchöne Ding, und viele beantragten 
eradezu, und zwar im Namen bes fchwerverletten guten Ge- 
chmacks, die Erfinderin in Anflagezuftand zu feßen und das 
corpus delicti in die Acht zu erllären. Leichtfertig fligten fie 
hinzu, Madame Kiel fei eine Deutſche, wie wenn fle dadurch 
ihre eigene Nation vormurfsfrei machen wollten. Aber Dta- 
dame Riel blieb die Antwort nidht ſchuldig; fie erflärte einfach, 
daß fle den Hut genan nad einem Porträt der Prinzeffin von 
Zamballe copirt habe, was jeber in der Galerie von Berfailles, 
wo jeues Bild hängt, controliren könne. Dieſe Controle hat 
ftattgefunden und die Nichtigkeit der Behauptung erwiejen. Noch) 
dazu datirt das Porträt vom Jahre 1780, einer Epoche, wo 
die franzöfiichen Moden mehr als je flir das ganze elegante 
Europa maßgebend waren. Die voreiligen Kläger mögen num 
unferer Landsmännin Abbitte thun, wollen fie anders nicht ale 
Berleumder daftehen ; unfere Pflicht aber war es, zu conflatiren, 
daß das deutjche Element bei diefer Geſchmacksverſündigung nicht 
betheiligt if. Denn häßlich iſt der Hut, troß der Schönheit 
derjenigen, bie ihn einft getragen; und wenn er dennoch hier 
in Paris in Aufnahme fommt, fo beweift dies wieder einmal, 
daß die Barifer nicht unfehlbar find, umd daß wir wohl daran 
thun (d. h. Sie, verehrte Leferinnen), ihnen nicht alles nach⸗ 
zumaden. In den erflen Magazinen der Boulevarbs fieht man 
ſchon einige Sremplare, auf Ehre, nicht größer als ein Meines 
Untertäßchen. 


Als Beitrag zu der Schilderung des Luxus und ber 
neneften Schönfärberei der parifer Weltdamen mag bie 
folgende Skizze über den Violet'ſchen Parfumerielaben 
dienen: 

Violet ift ber Lieferant ber Kaiferin, und fein neues Eta⸗ 
biiffement führt den Titel: A la reine des abeilles. Ihre 
Majeſtät ift fogar lürzlih in Perfon dort geweſen, um Eins 
füufe zu maden; das jagt alles.” Es ift auch wirklid) der Mühe 
werth, einen Moment vor den 20 Fuß hehen Spiegelſcheiben 
ſtehen zu bleiben und hineinzuſchauen. Dies Etabliffement 
ift nämlich wieder etwas ganz Neues; es ift fein Laden und 
fein Magazin, es ift ein Salon und zwar ein Salon 
Louis treize. Die Herzogin von Galiera, deren Hotel man 
immer ſprichwörtlich als das ſchönſte in ganz Paris bezeichnet, 
und deren Salons aud ich unwürdiges Menfchenfind mand- 
mal betreten, bat feinen Salon, glaube ich, der deu Vergleich 
aushielte mit dem Salon biefes Parfumeurs. Auch ift die Kai- 
jerin, fo viel id) weiß, nie bei der Herzogin von Galiera ge- 
weſen, wohl aber, wie id) eben fagte, bei Violet. So gehi's 
in der Welt, mwenigftens in der parifer, und ein Pommaden⸗ 
fabrifant ift eine bedentende fociale Perfon. Dies Nonplusultra 
von Salon bildet eine große Rotunde und iſt ganz mit rothem 
Sammt ausgefhlagen; das Dedengemülde, eine fehr phanta- 
ftifhe Apotheofe, ift von Petit, dem berlihmten Fresfenmaler, 
der unter 10000 France gar feine Leiter an irgendeinen Pla- 
fond fegt. Die Möbeln find ſümmtlich von Ebenholz mit Gold 
eingelegt, und in Schränken von ähnlicher Arbeit ruhen in 
Kryſtall und Porzellan, oder auch in koſtbaren Käſtchen aus 
Lad oder Seide die Wunber der parifer Barfumerie, der erften 
der Welt. Wäre die franzöfifche Nation doch nur in allem fo 
groß wie in ihren Seifen, Pommaden und Effenzen! Wenn 
denn auch diefe leßtern etwas weniger vollkommen und voll 
endet wären, wir würden uns fchon zu tröften wiffen. Auf 
dem Kronleuchter in ber Mitte brennen allabenblich, genau ges 
zählt, hundert Flammen — fein plebejiſches Gas, ſondern rothe 
Wachskerzen, mie in ben Tuilerien bei ben Soirden ber Kai- 
jerin. Solche Kerzen koſten juft einen Franken das Stüd; «8 


muß fi alfo bei den Seifen und Pommaden viel Geld ver⸗ 
dienen laſſen. Neben dem großen Salon iſt ein kleinerer, ein 
fogenanntes Bondoir Pompadour, und neben dieſem ein dritter, 
das Allerheiligſte, in das kein profanes Auge ſchauen und noch 
weniger ein profaner Fuß treten darf. Wir find aber dad 
darin gewejen. Hinter feidenen Borhängen, und aud nur m 
Gegenwart der Eingeweihten, werden dort beim Kerzenfceine 
einzelne koſtbare Specifica und Kosmetica an zarten Wangen, 
Brauen und Lippen probirt. Manche ältliche, bleiche Dame, 
die ſchüchtern und verfchleiert dort ankam, verläßt mad einer 
halben Stunde zog an jugendfrifh, und Rotabene, nun mit 
zurückgeſchlagenem Schleier, jenes myſteriöſe Bondoir, und... 
honny soit qui mal y pense. Wenn fie nur beim Cinfleigm 
in ihren Wagen der armen zerlumpten Frau, mit dem krauen 
Kinde auf dem Arm, ein Almoſen gibt, fo wollen wir fie nicht 
verdbammen. Abends auf dem großen, glänzenden Ball in ber 
Chaufjee d’Antin oder ſonſtwo geht alsdann ein erflauntes 
Flüfern dur den Damenfreis: man findet die Gräfin X, um 
zehn Fahre jünger geworden nnd fragt neugierig nad) der Adreſſe 
ihres „Hactotums”, um nöthigenfals den Künſtler aud zu con 
fultiren. Dann geht der Name Biolet Teife von Mund zu 
Mund, und fein Ruf fleigt täglich. So kann ſelbſt ein Bar- 
fumeur zu hoben Ehren gelangen. 

Doch nit alle Pariſerinnen denken nur am ihren 
Putz und ihre Schönheit; manche denken auch an bie 
Armen. Die Damen des Faubourg St.» Germain wer- 
ben wegen ihrer Wohlthätigkeit bejonders gerühmt. Do 
die Art und Weife, wie fie diefelbe ausüben, erinnert an 
die Wohlthätigfeitsreclamen der wiener „Grille“, welde 
den „Dummen-Jungen-Orden”, der zu ihrer Fahne ges 
fhworen, fiir die „Armuth“ brandfchagte als Verkäufern 
in einem Bäderladen und in ähnlicher Weife. Cheling 
erzählt uns eine Anekdote, wie man im Faubourg Gt: 
Germain Unterftügungsgelder einkaffirt: 


Die Fürſtin B. bat eine neue Idee im diefer Hinfiht ger 
habt und mit dem glänzendften Erfolg realifirt. Sie ließ eines 
Tags das ganze untere Stockwerk ihres Palaftes in ein Kaffee 
haus verwandeln; der Leer erflaunt, aber es ift wirflid io: 
in ein Kaffeehaus, d. h. in ein parifer Kaffeehaus mit Billard 
zimmern, Eflaminets für die Raucher, Lefecabineten mit in» 
und ausländifchen Zeitungen, einem Divan flir die Schad- und 
Dominofpieler u. |. w. Der große Saal in ber Mitte bildete 
das Centrum, das eigentliche Cafe. Die Furſtin felbft ſaß am 
Hauptbüffet, als Dame du Comptoir, wie dies in dem parlier 
Kaffeehänfern Mode ift, von Taffen, Kryſtallflaſchen und Silber⸗ 
geräthen umgeben; die ſämmtliche Dienerfchaft des Haufes war 
in Kellnertradt; und Befuchende kamen umd gingen und zwar 
in folder Menge, daß man am zweiten Abend gegen funfjehnhun 
dert Perfonen zählte. Alle biefe Gäſte gehörten den höchſten 
Ständen an und mußten theuer bezahlen, denn anf ben überall 
ausgelegten Karten waren bie Preife anferordentlic hoch netitt; 
bie einfache Zaffe Kaffee Loftete 2 Francs, ein Glas Eis 
5 France u. ſ. w. Auch wurden die Beſuchenden gebeten, beim 
Sortgehen das Zrinfgeld nicht zu vergefien. Drei Tage dauerte 
diefer großartige Scherz, von weldem die ganze bormehme 
parifer Welt ſprach und der gegen 60000 France eingebradt 
baben foll, und deſſen ernfte, ſchöne Seite mit zwei Worten 
dieſe ift: Die Kürftin bewohnt im Sommer ein Schloß in der 
Normandie; in dem zu biefer Herrihaft gehörenden Dorfe brach 
im vorigen Jahre eine Feuersbrunft aus, welche die Pfarrwoh⸗ 
nung in Aſche Tegte und der angrenzenden Kirche bedeutenden 
Schaden zufügte. Die erftere ließ die Fürſtin (fie if Witwe 
und fchon im vorgerückten Alter) fofort auf ihre Koften wieder 
aufbauen, und fr die Kirche, verſprach fie bem betrübten Pfar- 
rer, werde fie forgen, wenn fie in Baris fei. Und wahrlich, 
fie bat ihr Wort furſtlich gelöft, und dabei ift ihr Bermögen 
feineswegs fo koloſſal, wie das vieler anderer Familien Im 
Fanbourg Saint» Germain. 


Die Anekdote und das Genrebild find überhaupt in 





Ebeling’8 Skizzen aus Paris. 


Ebeling's ‚Neuen Bildern” vorherrſchend; doch denken 
wir nicht gering von ihnen. Wir willen, daß ganze 
Städte auf einem durch Infuforienpanzer gebildeten Boden 
aufgebaut find? — „die Macht des Kleinen’ aber ift in 
der Gefchichte und der Eulturgefchichte nicht geringer als 
in der Natur. „Vive la bagatelle!” ruft überall der For⸗ 
her; denn oft gewinnt er durch einen Bagatelleproceß, 
was er durch einen Monſtreproceß nicht zu gewinnen ver- 
mag. Und alle diefe Kleinen Begegniffe und Creigniffe 
weiß unfer Autor mit einer den franzöfifchen Cauſeries 
abgelernten Leichtigkeit zu erzählen. Daß die Franzofen 
aus einem „Nichts ein „Etwas“ zu machen willen, be- 
weift ihr Feuilleton nicht minder wie ihre Kriegs⸗ und 
Siegsbulletins. 

Gern folgen wir Ebeling zu den Vollsfeſten ber 
parifer Wäfcher und Wäfcherinnen am Mitfaftentage, zu 
den Wettrennenfeften von Longchamps, in bie Billa Pom⸗ 
peji des Prinzen Napoleon, zu dem Löwen im Circus 
und zu den Löwinnen der parifer Trinkhallen, in die Kunſt⸗ 
ausftellungen und die Volkstheater, zum Niagarafönig 
Blondin und zum Feuilletonkönig Trimm, dem Gebieter 
des „Petit Journal“, Wir könnten überall pilante Aus» 
züge geben, wenn es der Kaum erlaubte. Nur bei dem 
Militärfpectafelftüd: „Les Volontairs de 1814” müſſen 
wir etwas verweilen. Die Epoche, in welcher jenes Stüd 
fpielt, hat mit der allernächften Gegenwart eine auffal« 
Iende Wehnlichkeit; freilich die Gefchichte liebt die Varian⸗ 
ten, jonft würde fle fi in Wiederholungen von ertöbten- 
ber Einförmigkeit erjchöpfen; aber die Aehnlichleit der 
bauptfächlihen Züge auf dem Schachbret ift oft über- 
rafhend. Napoleon I. in Yontainebleau, Napoleon IH. 
in Sedan — ift die etwas anderes als eine Variante? 

Sejour ſpricht in feinem Stüd, wie jest Gambetta 
und Yules Favre fprechen: 

Er macht der Stadt Paris ben harten Vorwurf der Lau- 
heit und ber Gleichgültigkeit, ja der heimlichen Freude bei 
Annäherung der Berblindeten, der „Koſacken“. Nach ihm hätte 
fih ganz Paris wie ein Dann erheben follen, um den „Erb⸗ 
feind“ zu verjagen; Weiber und Kinder will er bewaffnen zum 
Schutze des heimatlichen Herdes; eine Vertheidigung etwa wie 
diejenige Karthagos gegen die Römer. Cine jolde Anomalie 
tonnte man aber unmöglich geftatten; denu die Gejchichte fteht 
falt und umerbittlich Hinter uns und erzählt uns das Gegen- 
theil. Man braucht nur in Vaulabelle nachzuleſen (‚Histoire 
des deux restaurations“), um ben wahren moraliichen Zuftand 
der franzöfifchen Hauptftadt beim Einzuge der Alltirten kennen 
zu lernen. Dabei ift Baulabelle, obwol Royaliſt, durchaus 
unparteiifh; er berichtet nur Thatſachen und belegt fie mit 
Actenftüden. Da leſen wir denn (I, 161): „Rod am 27. März 
war Paris ganz unbeforgt und ruhig; man ladjte, wenn einer 
von der Möglichkeit ſprach, daß die Verbündeten auf Paris 
rücken könuten, und der König Iofeph hielt auf dem Carrouffel- 
plaß eine Revue ab Über die neugefchaffene Nationalgarde, Auch 
noch am folgenden Tage herrjchte diefelbe Zuverfiht. Man er- 
zählte fich freilich, daß ein deutfches Armeecorps unter Blücher 
bis nad Meaur (vier Meilen binter Fontainebleau) vorgerlicdt 
fei; aber man wußte den Kaijer in DMontereau, und die Zei- 
tungen meldeten bereits die neuen Siege des Imperators. Am 
Dienstag Morgen hieß es, Napoleon, Überall fiegreich, rücke 
in Eilmärſchen auf Paris, zum Entſatze feiner Hauptftadt. 
Abends 8 Uhr fanden 180000 Berblindete vor den Thoren 


631 


und hatten bereits die 13000 Manu zuridgebräugt, bie fidh 
ihnen unter Marmont und Mortier entgegenfellten. Jet end» 
lich verftand fi der König Joſeph dazu, eine Proclamation an 
bie Bevölkerung von Paris zu erlaffen umd auch noch zögernd, 
weil er «feinen beſtimmten Befehl» vom Kaifer erhalten. Alle 
männlichen Einwohner wurden zu den Waffen gerufen; aber 
es waren feine Waffen da, und felbft noch in diefem fchredlichen 
Moment vermweigerten der Kriegsminifter und der Stadtcom- 
mandant die Definung der Arjenale. «Ich bleibe bei euch», 
hatte Joſeph pathetiich im feiner Proclamation gefagt; aber die 
Wagen und Eguipagen ftanden fchon bereit, um den König mit 
feiner Familie und Suite nad) Blois zu bringen.“ 


Uebrigens begann die damalige Proclamation ber Ber- 
bünbeten mit den Worten: „Nous ne faisons pas la 
guerre a la France.” Möglich, daß biefe Erinnerung 
ben parifer Zeitungen und den Männern der propifori- 
hen Regierung vorfchmwebt, wenn fie behaupteten, König 
Wilhelm babe daffelbe erflärt. Ueber die „Volontaires de 
1814“ ftelt Ebeling folgende Unterfuchungen an: 


Zuerft die einfache und naive Frage: Gab es denn Überall 
im Sabre 1814 gut Zeit der „Invaſion“ Freiwillige in Frank⸗ 
reih unb Paris? Keineswegs. Das beißt, Seehoillige, wie 
wir fie zur Zeit des Befreiungskriegs in Deutichlaud und 
namentlih in Prenßen gejehen; Männer, jung und alt, „von 
ſechzehn bis ſechzig Jahren”, wie der biedere Arndt fich ausdrückt, 
die dem Rufe ihres Königs folgten und zu den Waffen eilten 
zur Erlöfung aus unwürdigen Banden — „Kuechtſchaftsbanden“, 
wie Rotted fagt? Dergleichen „Freiwillige gab es damals in 
Frankreich nicht, ſchon aus dem einfachen Grunde, weil der 
höhere moralifde Impuls fehlte, um fie hervorzurufen. Das 
ganze große Kaiferreih war matt und milde von den beinahe 
zwanzigjährigen Kriegen, die Über eine Million Menſchen ges 
toftet hatten, man ſehnte ſich nach endlicher, endlicher! Erlöfung, 
aber nad) Erföfung bon der eifernen Hand des Gewaltigen, 
beffen umerjättlichem Ehrgeize alles zum Opfer gefallen war, 
und deſſen hochfliegenden Planen nichts, nichts genligte, nicht 
einmal die europäische Weltherrſchaft; denn feine Worte find 
befannt, die er fogar dem General Bertrand noch auf Sauct- 
Helena wiederholte: „Une fois l’Europe pacifise (die® «pacifide» 
ift wirklich ftark!), j’aurais attaque l’Angleterre aux Indes.“ 
Die Volksbewegung in Frankreih, im Jahre 1814, war mit- 
bin eine ganz andere und von durchaus untergeordneter Art, da 
fie fih faft ebenfo fehr nad innen gegen den Ufurpator, als 
nad) außen gegen die „Feinde“ richtete. Dabei wollen wir bem 
PBatriotismus der Franzofen gern volle Gerechtigkeit widerfahren 
laſſen, und als der fchredliche, nie für möglich gehaltene Mo⸗ 
ment erſchien — Hannibal ante portas! — thaten die Barifer 
ihre Schufdigkeit, d. h. fomweit und fo gut fie konnten, denn, 
wie fon ermähnt, es fehlte überall an Waffen. Wer weiß 
was gefchehen wäre, wenn die Bevöflerung von Paris bewaffnet 
und militärifch organifirt geweſen; jedenfall® hätten die Ber- 
bündeten einen harten Stand gehabt, mo fie jet mit Hingen- 
den Spiel und von wehenden Tüchern und mit Bivatrufen 
begrüßt ihren feflichen Einzug halten Lonnten. 

Dos neue, befeftigte Baris mit dem bewaffneten Volk, 
den innern Seflungen der Kaſernen, welche die weitgebehn« 
tin Linien der Faiferlichen Boulevards beherrfchen, dürfte, 
wenn die Barifer den Heroismus haben, den die Leit- 
artifel der republifanifchen Zeitungen athmen, allerdings 
erft nad einem hartnädigen und blutigen Kampf erobert 
werden, und der Einzug der Deutfchen wird jedenfalls 
eine jehr abweichende Variante von dem Einzug der Ber- 
bündeten im Jahre 1814 bilden. 

Rudolf Gottſchall. 


a \ 





632 


Eine neue Geſchichte Defterreichs. 


Eine nene Geſchichte Oeſterreichs. 


Geſchichte Defterreihs vom Auegange des wiener October» 
aufftandes 1848. Bon G. von S....n. I Die Belagerung 
und Einnahme Wiens. October 1848. II. Revolution und Reac⸗ 
tion im Spätjahr 1848. Mit urfundlichen Beilagen und einer 
Ueberfichtslarte. Prag, Tempsky. 1869—70. Gr. 8. 6 Thlr. 

Die nene Aera, welche infolge des blutigen Tags von 
Königgräg für Defterreich begonnen hat, und durch welche 
ein, wie es augenblidlich ſcheint, vollftändiger Bruch mit 
der von Wirrmniſſen aller Art erfüllten Vergangenheit der 
habsburgifchen Monarchie herbeigeführt und dieſe, ihres 
ehemals jo zuverfichtlih und ftolz behaupteten Charakters 
entfleidet, nad) dem Siege der bualiftifchen Richtung in 
eine Öfterreichifch- ungarifche Monarchie verwandelt mwor- 
den ift, bezeichnet in der Entwidelung des nationalitäten« 
reichen Staats, wenn auch ficher noch nicht den Beginn 
einer völlig geficherten und zur Daner berufenen Orbnung, 
fo doc) jedenfalls den Eintritt in ein ganz neues und don 
allen frühern wefentlich verfchiedenes Entwidelungsftadium. 

Welches der Ausgang bdefjelben fein wird, muß die Zu- 

Zunft lehren: fürs erſte fcheinen alle Zweifel, bie gegen 

den Beftand und die wirkliche Lebens- und Entwidelungs- 

fähigfeit der Schöpfungen des vielgewandten und von raft« 
loſem Tchätigkeitsdrange erfüllten Grafen Beuft aus- 
geſprochen werden, nur allzu begründet zu fein, und man 

Tann e8 feinem verdenken, der in diefer neuen Aera auch 

nur eins von den vielen Experimenten fieht, deren Gegen⸗ 

ftand die Ränder biefjeit und jenfeit der Leitha von jeher 
gewefen find, und demfelben daher ein ebenjo klägliches 

Ende vorausfagt, wie ein folcyes feine Vorläufer faft aus« 

nahmslos getroffen hat. Jedenfalls aber fordert der Ein⸗ 

tritt in eine neue Phafe der ftaatlihen Entwidelung dazu 
auf, fi) riidwärts zu wenden und namentlic in ber jling- 
ften Vergangenheit diejenigen Momente aufzufuchen, die 
für die Bildung der gegenwärtig berrfchenden Verhältnifie 
maßgebend gewefen find, und die Yactoren Far darzulegen, 
bie, in den Schidfalen der legten Jahrzehnte begründet, 
zugleich als treibende und fchaffende Kräfte in der Ent- 
widelung der Gegenwart mitwirken. Auch für Defterreic) 
bildet da das Jahr 1848 mit feinem unruhigen Stürmen 
und Drängen, feinem unreifen Braufen und Güren ben 
epochemachenden Abſchnitt, auf den zu einem tiefern Ver⸗ 
ftändniß der Gegenwart wird zurüdgegangen werben milf- 
fen. Bolle zwei Jahrzehnte Liegen num zwifchen dem Jetzt 
und dem Damals; aber wenn die Reidenfchaften auch aus⸗ 
getobt und die Hitze des Parteilampfes allmählich einer 
nücdhternern und kältern Anſchauung und Beurtbeilung 

Plag gemacht Hat, fo fehlt doch noch immer fehr viel 

daran, daß die Ereigniffe jener wirren und ftürmifchen 

Zeit frei von jeder Parteifärbung, von einem völlig ob» 

jectiven Standpunkt aus, gleichfam als Ereigniffe an fid) 

dargeftellt worben wären. Es ift das natürlich nicht in 
dem Sinne gemeint, als ob eine Gefchichtfchreibung ohne 
jegliche Gefinnung, ohne jegliche politische Weberzeugung, 
alfo anch ohne jegliche Parteinahme des Gefchichtfchreibers 
überhaupt möglich ſei — und follte fie durch einen wun⸗ 
derlich gewaltſamen Deftillationsproceg möglich werden, 
fo wäre fie wahrlih nicht wünſchens- und nicht empfeh- 
lenswerth —, jondern nur darauf kommt es an, daß ber 


Geſchichtſchreiber, gleichviel welcher Partei er angehört 
und gleichviel ob er gegen biefe oder gegen jene Kid. 
tung fi) wenbet, die Thatſachen felbft unbedingt ber 
Wahrheit gemäß, foweit wie es möglich ift, in der Ge 
ftalt, die fie zur Zeit ihres Geſchehens Hatten, ber Nad. 
welt zu überliefern bemüht ift. Geſchieht dies, fo ift im 
übrigen jebe Parteinahme fir den allgemeinen Werth ſei⸗ 
ner Darftellung gleichgültig und wird niemals als eine 
zu verwerfende Parteilichleit erjcheinen. 


Diefer Gefihtspuntt ift e8, den man gegenüber bem 
vorliegenden neuen Werke über die „Geſchichte Def 
reichs vom Ausgang des wiener Octoberaufftandes 1848“ 
einnehmen muß, um ben Werth und die Bedeutung befil- 
ben richtig zu würbigen. Denn wenn wir bem politiichen 
PBarteiftandpuntt des anonymen Berfaflers aud) nicht the 
len und daher eine Menge von Urtheilen, bie er über 
Perſonen und Zuſtände fällt, als nicht richtig zurüchwei⸗ 
fen müffen, fo ftehen wir doch im übrigen nicht an, fein 
Merk dem Beten zuzuzählen, was in der letzten Zeit über 
die Geſchichte des Jahres 1848 in Oeſterreich in bie 
Deffentlichkeit gelommen if. Daffelbe Hat biefen Zweig 
der biftorifchen Literatur wirklich bereichert, denn bie noch 
immer fo zweifelhafte und lückenhafte Kenntni der ver- 
hängnißvollen Vorgänge in und vor Wien, am kaiſerlichen 
Hoflager zu Olmütz und in Ungarn ift durch diefe Dar 
ftelung in zahlreichen Punkten ergänzt und vervollfländigt 
ober geläutert und berichtigt. Mit außerordentlicher Eorg- 
falt find alle einfchlagenden Quellen benugt: nicht blos 
von den zahlreichen Memoiren und Tagebüchern, die zum 
Theil auch anonym, ihrem Werth nach durchgängig höchſt 
zweifelhaft, nach der Kataſtrophe erfchienen find, fondern 
auch von den zahllofen Flugblättern, von den in allen 
möglichen Zeitfchriften zerftreuten einzelnen Auffägen wird 
dem fleißigen Verfaſſer faum eins oder das andere ganz 
unbedeutende entgangen fein; befonders wertvoll erſcheint 
die eingehendfte Benugung der während jener flurmbeweg- 
ten Wochen in Wien erfchienenen Zeitungen. ber augen 
fcheinlich Haben dem Verfaſſer noch andere Quellen zu 
Gebote geftanden: täufchen wir und nicht, fo fpridt der- 
jelbe an mehr als einer Stelle als Augenzemge und zwar 
als ein mit Schärfe und Unbefangenheit beobadtender 
Augenzeuge; anbererfeitS verdankt er werthvolle Mitthei⸗ 
lungen über das Detail einzelner bisher weniger befann- 
ter Borgänge folchen Perfonen, die nicht blos Augen. 
zeugen, fondern felbft als Mithandelnde dabei beteiligt 
waren, und zwar müflen des Gefchichtfchreiberd der 
bindungen im ziemlich hohe Regionen hinaufgereicht haben, 
wie das auch aus den im Buche angefügten Beilagen 
hervorgeht, in denen die Orbre be Bataille und bie Die 
location des gegen Wien operirenden Heers vom 28. Och⸗ 
ber früh, dann die Windifchgräg’fche Dispoſition zum 
Angriff gegen Wien und enblich die Detaildispofitionen 
Zellachich's fir die Schlacht bei Schwechat mitgetheilt wer: 
den. Ausdrüdlich verfichert unfer Anonymus zwar, bob 
ihm feine officiellen Angaben zu Gebote geftanden haben; 
jebenfalls aber find die ihm gemachten Mittheilungen, f 
wenn fie noch nicht einmal officiöß fein follten, aue guten 


Fine neue Geſchichte Oeſterreichs. 633 


Duellen geflofien und um fo werthvoller, ald man auf 
bie Erfchliegung wirklich amtlicher Quellen und die Er- 
öffnung der Ardive zum Studium der Vorgünge des 
Jahres 1848 aud in dem Defterreich der neuen, Beuft’- 
ſchen Aera vergebens warten würde. Aus diefen umfang- 
reichen, ihrem Werth nach freilich im höchſten Grabe un⸗ 
gleihen Materialien hat der Berfafjer mit einer troß ſei⸗ 
nes ausgeſprochenen Barteiftandpunktes fachlih durchaus 
unparteüfchen Kritik den wirklichen Gang der ‘Dinge, fo- 
wol der vielfach Höchft zweifelhaften Zeitfolge nach wie in 
Rückſicht auf ben oft noch fraglihern Inhalt und Cha⸗ 
rafter, zu ergründen gefucht und zwar mit dem beften 
Erfolge. In Einzelheiten mag mandjer, der gleichfalls als 
Augenzeuge ober gar als Mithandelnder Zeugniß abzulegen 
berufen ift, von ber bier gegebenen Darftellung abzumweichen 
Grund haben: es wird ihm aber wie jedem, der tiefer 
auf die Sache eingehen will, Gelegenheit geboten, bie 
Gründe kennen zu lernen, weshalb der anonyme Geſchicht⸗ 
fchreiber des wiener Octoberaufftandes das fragliche Er⸗ 
eigniß gerade fo und nicht anders dargeftellt hat, da der- 
felbe in zahlreichen, zum Theil kritiſch auf die verjchie- 
denen lUeberlieferungen eingehenden Aumerkungen die An- 
fit, die er fich gebildet, rechtfertigt und in ihrer logi- 
fhen Entftehung nachweiſt. Ueberall die Wahrheit ernſt⸗ 
lich fuchend, ift der Verfaſſer doch zugleich befcheiden genug, 
fich Teineswegs für unfehlbar zu halten; andern Meinun- 
gen gegenüber nichtS weniger al8 hochmüthig abjprechend, 
drüdt er den Wunfch aus, daß man ihn in denjenigen 
Punkten, wo er troß aller angewandten Sorgfalt doch 
geirrt babe, berichtige und fo die von ihm geſuchte Wahr- 
heit an ben Tag bringe. 

Diefe unparteiifche und ernfte Bemühung um Erkennt. 
niß der hier fo viel getrübten und oft abfichtlich gefälſch⸗ 
ten Wahrheit ehrt den Berfafler unjers Werts um fo 
mehr, als man diefelbe keineswegs allen Geſchichtſchrei⸗ 
bern nachrühmen Tann, die fo fcharf und entjchieden ben 
Parteiftandpunkt einnehmen, auf den er fich von An- 
fang an ftellte. Ein Anhänger des alten Defterreich, ein 
„Schwarzgelber” in der Sprache bed Jahres 1848, ift 
er ein ausgeſprochener Gegner der Partei und der Mün- 
ner, welde in jenen wildbewegten Jagen in die Höhe 
famen und als mehr oder minder leitende Perfönlichkeiten 
auch mehr ober minder mitgewirkt haben, auf das glän- 
zende und lebensluftige Wien das Verhängniß herabzube- 
ſchwören, deſſen furchtbares Bild uns Hier in den lebhaf- 
teften Farben entworfen wird. Daher finden wir denn, 
fo hoch wir fachlich den Werth des Buchs anjchlagen, in 
ben Betrachtungen und Urtbeilen, welche fi) dem Ge- 
ichichtfchreiber aus den von ihm erzählten Ereigniſſen er- 
geben, manches, was eben nur von dem Parteiftandpunft 
des Verfaſſers aus gerade fo, gerade in diefem günſtigen 
oder ungünſtigen Lichte erfcheinen mußte. Wenn er gleich 
im Eingang feiner Darftellung das fennzeichnende Merk⸗ 
mal deflen, was fi) 1848 im Mittelpunkte des üfter- 
reichifchen Saiferftants abfpielte, in den Ausbrud „Ge⸗ 
dankenloſigkeit“ zufammenfaßt und „von unten leichtfinni« 
ge® Hingeben, von oben unbebachtes Nachgeben, einzig 
von den vorüberraufchenden Eindrüden bes Tags be- 
herrſcht“, als Signatur der Zeit hervorhebt, fo hat das 
eine gewiſſe Berechtigung; wenn er weiterhin von Wien 

1870. 40. 


behauptet, es fei demfelben im Jahre 1848 gänzlich das 
Bemußtfein abgegangen, die Hanptftadt eines großen 
Reichs zu fein und diefe Stellung behaupten zu müſſen; wenn 
er die Thätigkeit des von den Galerien aus beeinflußten und 
durch die draußen lürmende Menge beherrfchten Reichs⸗ 
tagsrumpfs draftifch als „gehorfames Pagodenthum“ be⸗ 
zeichnet, und von der Studentenfchaft, deren Haltung im 
übrigen auch die gebührende Anerkennung gezollt wird, 
memt, fie jei mehr ein misbrauchtes Werkzeug als ein 
jelbftändig anregender Factor des Aufftandes gemejen: fo 
wird dem auch von jeden unbefangenen Anhänger der 
entgegengejetten Partei zugeflimmt werben können. Bes 
denflicher dagegen und eben nur als Ausflüſſe der ihn 
erfüllenden ftreng kaiſerlichen Barteianficht zu erflären 
find andere Aeußerungen und Anſchauungen unfers Ge- 
ſchichtſchreibers. Wir heben nur einzelne Punkte hervor. 

Ganz entfchieden ins Schöne gemalt ift das Bild, 
welches von Jellachich, dem Banus von Kroatien, entworfen 
wird: der unbedeutende und den großen Berwidelungen, 
in die er bineingeworfen wurde, durchaus nicht gewachjene 
General, deffen militärifche Befähigung ſchon jehr gering 
war, und der fein momentanes Emporlommen nur dem 
Zuſammenwirken fehr eigenthilmlicher Berbältniffe, an 
denen er ſelbſt durchaus nichts gefchaffen, zu ver- 
danken hatte, durfte nicht als eim bedeutender Srieger 
und bedeutender Staatsmann dargeſtellt und nicht im 
eine fo glänzende, fait blendende Beleuchtung gerüdt 
werden; das brauchte nicht zu gefchehen, um zu zeigen, 
daß von feiten der wiener Revolution dem Banus aller- 
dings Unreht gethan worden war, wenn dieſe ihn in 
ber öffentlichen Meinung als Räuber und Mordbrenner 
zu brandmarten ſuchte. Ein Gleiches gilt und zwar faft 
in noch höherm Grade von der Charakteriftil, welche von 
dem Befieger des wiener Aufftandes, dem Fürſten Windifch- 
gräg, entworfen wird; auch da hat den Berfafler feine 
ftreng kaiſerliche und entſchieden antirevolutionäre Geſin⸗ 
nung verleitet, feine Vorliebe für die Sadje auch auf die 
diefelbe vertretende Perfon zu übertragen und das Bild 
der legtern daher ins Schöne zu malen. Windifchgräg’ 
Lebensgefchichte wird ein bedeutender Raum gewährt. Die 
Laufbahn, die derfelbe durchgemacht, erflärt allerdings das 
Gewaltfame und Schroffe, das Herrifche und Despotifche 
in feinem Wefen; eine Rechtfertigung feines Verfahrens 
gegen Prag in den Yunitagen und dann gegen Wien ift 
damit jedoch noch nicht gegeben, ebenfo wie bie Ueber- 
hebung des ftolzen Ariftofraten und die ihn erfüllende 
Beratung gegen das Bürgerthum und alles damit 
Zufammenhängende dadurch noch nicht als böswillige Er- 
findung der wiener Revolutionäre erwiefen ift, daß ge- 
zeigt wird, jenes dem Fürſten nachgefagte Wort: „Der 
Menſch fange erft mit dem Baron an“, ftehe bereits in 
dem über hundert Yahre alten Buche „Vademecum für 
luſtige curieuſe Leute”. Intereſſaut und charakteriftifch iſt 
die Parallele, welche der Verfaſſer zwiſchen Windiſchgrütz 
und Wallenſtein zieht; dieſelbe trifft nicht blos darin zu, 
bag wie Wallenſtein's, jo auch Windiſchgrätz' Charakter⸗ 
bild, von der Parteien Gunſt und Haß verwirrt, in der 
Geſchichte ſchwankt, ſondern auch darin, daß Windiſchgrätz, 
als er ſeine Truppen aus dem aufſtandsluſtigen Böhmen 
ziehen ſollte, ſich deſſen offen weigerte und dem Kriegs⸗ 

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634 


. minifter Latour, ber fpäter ein fo entjetliches Ende fand, 
mit Auflündigung des Gehorſams drohte — ein Schritt, 
den Latour geradezu durch den Hinweis auf die Rebellion 
MWallenftein’8 beantwortete. Auch den Marſch anf Wien 
trat der Fürſt zumächft ohne Befehl dazu an, auf eigene 
Gefahr und Verantwortung, und fehlieglih mag man auch 
feine unumfchränfte bictatorifhe Gewalt, durch melde 
das von feinem Träger und feinen Stüten preisgegebene 
Kaiſerthum gerettet wurbe, mit der Stellung vergleichen, 
welche ber "Herzog von Friedland einft zur Seite Ter- 
dinand's II. oder eigentlich über bemfelben eingenommen 
hatte. Noch einen Punkt Heben wir gleich bier Heraus, 
in welchem der fonft fo billig und Mar urtheilende Ver⸗ 
faffer durch die mit feinem Parteiftandpunkt fo leicht fich 
verbinbende Boreingenommenheit zu einer entfchieden un⸗ 
Haren Auffaffung und infolge davon zu einem nicht mehr 
unparteiifchen Urtheile verleitet worden ift: es betrifft dies 
die Perfünlichkeit, die Thätigleit und das Ende Robert 
Blum’s, über den wir hier nur den Parteimann, nicht 
mehr wie fonft in dem Buche faft überall den Geſchicht⸗ 
fchreiber urtheilen hören, Recht anfprechend und mit 
fihtlichee Teilnahme find die Charakterbilder der Haupt⸗ 
führer des wiener Aufftandes gezeichnet; der unklar ſchwär⸗ 
mende und allein in fchwülftigen Phrajen ftarfe Meſſen⸗ 
baufer, ber dem ihm zugefallenen Plage aud) nicht im 
geringften gewachſen war, der unheimliche, abenteuernde 
Pole Bem, der kalte und klare, vor nichts zurüdichredende 
Tenneberg, der das Zeug zu einer Art von Nobespierre 
in ſich Hatte, fowie andere Perfönlichkeiten der wiener 
Revolution werben uns in lebensvollen und anziehenden 
Bildern nahe gebradit. 

Auf den materiellen Gehalt des Buchs einzugehen 
und die in ihm erzählten Ereigniffe in ihren Hauptzügen 
näher zu verfolgen, ift Hier nicht der Ort. Gern wird 
jeder der lebendigen und anfchaulichen Darftellung folgen, 
welche, durch ein reiche® und intereffantes Detail noch 
anziehender gemacht, den Leſer fortdauernd in Athen er« 
hält und demjelben die erzählten Vorgänge mit echt dra- 
matifcher Lebendigkeit vor Augen ſtellt. Eben in diefer 
Kunft der Darftellung jehen wir ein Hauptverdienft des 
Berfafferd: nirgends verliert man die Mare Weberficht über 
den fo verworrenen Gang ber Ereigniffe, man fteht faft 
von Stunde zu Stunde die Entwidelung fid) der gewal- 
tigen Rataftrophe nähern. Dieje Abfchnitte find es, denen 
durch die perfünlichen Anfchanungen und Erfahrungen bes 
Berfaflers und mehrerer feiner Freunde ein befonderer Werth 
verliehen wird, und bier erfennt man erft recht, wie rich. 
tig der Berfaffer in der von „jenfeit bes Waldes’ ba- 
tirten Vorrede fein Werk bezeichnet als „eine Mofailarbeit, 
zu welcher von den verfchiedenften Seiten bunte Steinchen 
zufammengetragen und zu einem Geſammtbilde ineinander- 
gereiht wurden“. 8 liegt eben darin eine der auszeich⸗ 
nenden Cigenthümlichkeiten diefes Werks: auf Grund 
fritifcher Forſchung und Sichtung der zunädft faft nur 
in Parteifchriften enthaltenen Weberlieferung wird der 
vielfach unfichere oder auch abſichtlich unrichtig dargeftellte 
Thatbeftand mit möglichfter Genauigkeit nachgewiefen, und 
infofern entlehnt, wie der Berfaffer bemerkt, fein Bud 
die Form von der Hiftoriographie, im übrigen aber fann 
ed faft der Memoirenliteratur zugerechnet werben. Leß« 


Eine neue Geſchichte Defterreich®, 


teres kommt auch der Darftellung mejentlih zu gute: au 
Friſche und Lebendigkeit, an Anfchaulichkeit und gleichſam 
greifbarer Plaftif werden ſowol aus der eigentlich hiſto⸗ 
riſchen Xiteratur wie aus der Waffe älterer und neuerer 
Memoiren nur jehr wenige diefem Werke an die Saite 
geftellt werben köͤnnen, und man kann daher dem Ber- 
faſſer nur aufridhtig dafür danken, daß er feine vortreff⸗ 
liche Arbeit nicht, um fie ald opus posthumum erfceinen 
zu laſſen, vielleiht nod jahrelang im feinem Pulte 
zurüdgehalten bat. Um unſern Lefern von der Art der 
Dorftelung einen Begriff zu geben und fie durch biefe 
Probe zugleich zu dem lohnenden Studium bes ganzen 
Werks einzuladen, theilen wir eine Stelle mit, in welder 
der Höhepunkt des Kampfes während des am 28. De 
tober unsgeführten allgemeinen Angriffe auf Wien ge 
ſchildert wirb: 


Jet glaubte General Frauk den Zeitpunft gekommen, 
einen entfcheidenden Sturm gegen die Kirhenbarrilade unter 
nehmen zu laſſen. Major Schneider mit feinen Schönballern, 
Grenabiere von Kaiſer und Schönhals rliden von neuem duırd 
die Praterfiraße vor. in mörderifches Feuer empfängt bie 
Truppen, die von ihren Offizieren zu muthiger Ausdauer angeeifert 
werden. „Vorwärts, Schönhals! Bormärts, erfle Compagnie!“ 
ruft Hauptmann Theobald, der, bereits an der rechten Haud 
verwundet, deu Säbel in der linken führt. Ein Häuflein Uns 
erichrodener folgt ihm, das ein dichter Kugelregen überſchüttet; 
da ſinkt der tapfere Hauptmann, am Kopfe tödlich getroffen, 
bewußtlos nieder; fein Lieutenant ſtürmt meiter und nimmt bie 
nädften Häufer. Es war der Höhenpunkt des Kanıpfes. Die 
Commandorufe ber Führer, das leidenfchaftlide Toben der 
Kämpfenden, das Aechzen, Stöhnen, Wimmern, alle die 
Schmerzensiante der Berwundeten und Sterbenden, das Jam- 
mergeichrei der rauen und Kinder, die ſich aus dem heftigfen 
Feuer in Sicherheit zu bringen fuchten, widerhallten gräßlich 
in dem Schmettern einzelner Trompetenſtöße, dem Wirbeln der 
Trommeln, dem umaufhörlichen Heulen der Sturmgloden, dem 
Knattern des Gemwehrfeners, dem Donner der Gefchüte, dem 
Gekrache auffliegender Pulverlarren; dazu das Brafjeln der in 
Flammen flehenden Häufer, das Berſten einfilirzgender Manern, 
das donnerähnliche Herabſtürzen der Balken, das “Pfeifen der 
fliegenden, das Abprallen der einſchlagenden Kugeln, das Ge⸗ 
klirr zertrümmerter Fenſterſcheiben; alles das faſt unaufhörlich 
eingehüllt in undurchdringlichen Pulverdampf, daß ſich die 
feindlich gegenüberſtehenden Kämpfer kaum erblicken fonnten, 
und wenn ſich der Rauch auf Augenblicke verzog, der ſchauder⸗ 
volle Anblick der entfeſſelten Leidenfchaflen und ihrer Folgen: 
die Wuth in den Blicken der Streiter, das Hinftlirgen einzelner, 
die Maffenden Wunden, die vom Tod verzerrten Mienen ber 
Gefallenen, große Blutlahen allenthalben auf dem Boden. Su 
ber innern Stadt lag breiter heller Sonnenſchein auf den leer⸗ 
gefegten Straßen, ın deren Stille nicht blos die dumpfen 
Schläge der Kanonen, fondern felbft der wirre Lürm der Strei⸗ 
tenden herlibertönten; in den der Leopoldftadbt näher gelegenen 
Stabttheilen klirrten die Fenfter und erzitterten die Gemäner 
von der ungehenern Lufterfhütterung. Wer aber vermödte al 
die verfchiedenen Scenen zu überbliden, die Züge von Tapfer⸗ 
feit, Geiftesgegenmwart, von heldenmüthiger Ausdauer, von denen 
nur die wenigften in dem rafenden Getümmel bemerkt und ber 
Bergeffeubeit entrifjen wurden! 


Um das von ihm entworfene bdetaillirte Bild ber 
wiener Revolution zu vervollftändigen, gebenkt der Ber- 
fafler auch der ähnlich gearteten Bewegungen auf andern 
Schauplägen, jedoh nur in aller Kürze. Die Berhält- 
niffe der übrigen Provinzen bes Kaiferftants, die Bor- 
gänge namentlich) in Ungarn, aber auch die in Frankfurt 
und Berlin werden kurz gefchildert, um den Hintergrund 
zu vervollftändigen, auf dem ſich das blutige wiener Drama 


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Nene Romane und Erzählungen. 635 


abfpielt. Der zweite Band, der in drei Abſchuitten: „Allge⸗ 
meiner Gang und Charakter der mitteleuropäifchen Bewe⸗ 
gung des Jahres 1848”, „Die Nationalitätenfrage” unb 
„Annus confusionis“ zerfält, bat diefelben Vorzüge und 
Schattenſeiten wie der erſte, enthält aber einige pikante cul« 
turgefchichtliche Kapitel. Der Berfaffer nennt ſich auf dem 
Titel befjelben mit feinem vollen Namen; e8 ift Joſeph 
Alerander Freiherr von Helfert. 

Ehe wir von dem interefianten und wertvollen Buche 
für jetst fcheiden, müflen wir noch einen Punkt hervorheben, 
der uns mehrfach Anftoß gegeben hat. So gut nüm- 
fh der Berfafier im ganzen fchreibt, fo haften ihm doch 
eine ziemliche Anzahl zum Theil recht förender öfterrei- 
hifcher Provinzialismen an, ja felbft an Spradjfehlern 


ift Fein Mangel. Als foldhe feien „ämtlich“ ftatt amtlich, 
„zeitlich morgens”, die ,Wägen”, „inner die Linie”, „Erläſſe“, 
„Bedung“ herausgehoben. Zahlreicher noch find Abfonber- 
lichkeiten wie: „es mit jemand verſchütten“ “flatt verder⸗ 
ben; „ſchüttere Reihen”; fie „überfetten” die Donan auf 
„plätten‘; „nnmweltläufig”; die „Rückwärtigen“ u. f. w. 
Wollte man boshaft fein, fo könnte man angefichts dieſer 
Blumenlefe fih auf die einmal von dem Berfafler ge- 
machte Bemerkung berufen, daß nämlich) auch heute noch 
bochgeftellte öfterreichifche Offiziere der dentſchen Sprache 
nicht fo ganz Herr feien und fi) daher nicht immer 
richtig auszubrüden wüßten, und darauf die Vermuthung 
gründen, es ſei das zugleich eine beiläufige oratio pro domo 
und er felbft gehöre im diefe Kategorie. Hans Pruß. 


Uene Romane und Erzählungen. 


1. Das Haus Bernhard. Roman von 3. Hallervorden. 
Zwei Bünde. Leipzig, Grunow. 1869, 8 2 Thlr. 
20 Nor. 

Die Handlung bewegt fih in bürgerlichen reifen. 
Johannes Bernhard, der Sohn eines reichen Fabrikherrn, 
hat eine Geliebte, der er insgeheim feine Neigung gewid- 
met, durch den Tod verloren und zugleich die fehmerz- 
The Pflicht übernehmen müſſen, fein Kind, das ihm bie 
Scheidende Hinterlaffen, ohne Wiſſen des firengen Vaters 
zu verforgen. Auf den Wunſch des- legtern geht er ein 
Ehebündniß ein; dieſes wird aber bald geftört durch das 
alte und fchroffe Benehmen der Gattin, welche die 
Iugendverirrung ihres Mannes erfahren hat. Nachdem 
ber alte Bernhard plöglich geftorben, fieht ſich Johannes 
in ein gefchäftiges, praktiſches Leben verfett, dem er ſich 
um fo mwilliger Bingibt, als bie Gattin ſich von ihm 
zurückgezogen hat und feine Zochter ihm durch ein ſchänd⸗ 
liches Ränkeſpiel aus den Augen entrüct worden if. 
Die Schwefter feiner verftorbenen Geliebten, ein felbft- 
füchtiges Weib, tritt nämlich mit einem ſchurkiſchen Arzte, 
Dr. Beit, in Berbindung, um dem Pater fein Kind 
vorzuenthalten und zugleich eine jährliche Rente, vorgeb- 
ih zum Unterhalte defjelben, zu erprefien; nebenbei 
wird auch die Witwe Bernhard, in dem Olauben daß 
die Geliebte ihres Stieffohns noch am Leben fei, von 
den Betrügern um bedeutende Summen geprellt. Nad) 
vieler Jahren erft, als Bernhard's Tochter herangewad)- 
fen ft, findet ihr Vater fie auf; die Betrüger werden 
entlarvt; das junge Mädchen vermählt ſich mit einem 
wodern Manne; Johannes findet endlich feine Gattin 
verföhnlich geftimmt und beginnt, freilich fpät, ein glüd- 
licheres Familienleben. 

Zu den Mängeln des Romans gehört der unmwahr- 
ſcheinliche Umſtand, daß Magdalene ihrem Bater trog 
allen Nachforſchungen ſo lange verborgen bleiben konnte; 
ferner bie höchſt mittelmäßige Zeichnung einer trivialen 
Schurkennatur, wie der Dr. Beit iſt. Abgefehen von fol- 
hen Mängeln und obgleich die Hauptperfon, der junge 
Bernhard felber, ein matter Charakter ohne Energie if, 
läßt fi der Roman doc mit ntereffe Iefen, da die 
Handlung Antheil erwedt, die Charaktere größtentheils 
treffend gezeichnet find und durch die Verſchiedenartigkeit 
der gefchilderten Lebensverhältniffe für zwedmäßige Ber- 


tbeilung von Licht und Schatten geforgt if. Dadurch 

erhalten auch die Nebenfiguren eine anfprechende Bedeu⸗ 

tung, wie unter andern Sufanne, eine von Bernhard’s 

Stieffchweftern, welche fi) ber entnervenden Erziehung im 

mütterlicden Haufe entzieht und zu einer kräftigen Jung⸗ 

frau beranreift, während ihre Schwefter Angelifa, aus- 
ſchließlich dieſen verweichlichenden Einflüffen unterworfen, 
ſiech und geiſtig gebrochen zu Grabe geht. Der Gegen⸗ 
ſatz zwiſchen dem praktiſchen Leben des Mittelſtandes und 
dem nichtsnutzigen Streben nach Vornehmheit, welches in 
dem Hauſe der Stiefmutter des Fabrikherrn vorwaltet, 
iſt in ſehr gelungener Weiſe gezeichnet; die naturgemäße 

Erfindung des Stoffs wie die klare Darſtellung der 

Perſonen und Lebensbezüge entſchädigen für den Mangel 

an hochſtrebenden Tendenzen und genialen Pointen. 

2. Aus Welt und Haus, von St. Graf Grabomsti. 
Zwei Bünde. Leipzig, Grunow. 1869. 8. 2 Thlr. 
20 Nor. 

Der gewandte und vielgelibte Verfaſſer veröffentlicht 
unter diefem Titel eine Sammlung Erzählungen und Novellen 
verjchiedenartigften Inhalte. 

„Pyramus und Thisbe“ ift ein humoriſtiſcher Schwant 
aus dem Militärleben, welcher dem Verfaſſer, der fich 
bier auf vertrautem Terrain bewegt, wohl gelungen ift, 
infofern er die Heinlihen Berhältniffe des Offizierlebeng 
innerhalb des engen Garnifondienftes in muntern Farben 
barftellt, die ungeachtet einiger Tomifcher Uebertreibun⸗ 
gen, doc nicht ber Lebenswahrheit ermangeln. Nicht 
übel, wenngleich zu breit gehalten und weniger inter- 
effant, ift die auf gleichem Gebiet fpielende Novelle: „Die 
Antipoden”, in der die Eiferfüichteleien zweier Lieutenants, 
die fih um die beiden Töchter eines Commerzienraths 
bewerben, geſchildert find. 

„Die Heine Königin” betitelt ſich eine hiſtoriſche Er⸗ 
zählung aus der Zeit Karl's VI. von Frankreih. Sie 
ſchildert das verworfene Leben am Hofe des wahnfinnigen 
Königs und den merkwürdigen Einfluß eines Kindes aus 
dem Bolfe, der befannten Odette, welcher es gelang, die 
verberblichen Neigungen des wahnfinnigen Monarchen 
durch Sanftmuth und Tiebenswürbigleit zu zügeln. Die 
Heine Königin farb übrigens nicht vor Karl VI., wie 
der Verfaſſer erzählt, jondern überlebte den König unb 
wurde nach feinem Tode, als die Engländer Herren 


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636 


des Landes geworden waren, in das Tempelgefängnig 
eſetzt. 

8 Der Sohn der Steppe ift eine intereffante Epifobe 
aus bem verzweifelten Vertheidigungskriege der Tſcher- 
teffen, in theil® grellen, theils büftern Farben gehalten, 
die indeſſen der Wildpeit des Schauplages und ber beiden 
tümpfenden Nationalitäten ganz entiprehenb find. 

„Zweite Rlafje“ gibt uns eine zu breit liniirte Humoreske, 
deren Motiv in dem Irrthum einer jungen Dame beruft, 
welche einen Gerichtsaſſeſſor, mit dem fle in einem 
Eifenbahncoupe allein fährt, für einen entflohenen Zucht · 
hausfträfling Hält. 

„Bruder und Schwefter”, eine Erzählung aus der 
Zeit der Franzoſenherrſchaft im Königreihe Weftfalen, 
ſchildert die zerfahrenen Zuftände einer Heffifchen Stadt 
zu jener Epoche, wo ein Theil der Bevölferung in heim- 
lichem Patriotismus grollte, und ein anderer fid zu allen 
Niederträchtigkeiten bergab. Die Erzählung vermag wol 
eine ziemlich vichtige Vorſtellung jener Verhältniffe zu 
verleifen, wenngleih die Compofition nur ſchwach ift 
und bie handelnden Perfonen nur wenig Antheil erweden, 
am wenigften der eigentliche Held, ein junger Kaufmann, 
der, bald von Patriotiemus, bald von nichtöwitrdigem 
Ehrgeiz angetrieben, zwifchen den entgegengefegten Rollen 
eine Empörers und eines Polizeifpions Hin- und her- 
ſchwanlt. 

„Eine militäriſche Execution“. Die Meuterei eines 
Regiments der franzöſiſchen Beſatzung von Livorno ver⸗ 
— den Kaiſer, feinen Schwager Murat abzuſenden, 
damit er firenge® Gericht über die Empörer Halte. 
Diefer wird jedoch durch eine vagivende Mufilantin, die 
Geliebte eines der Nüdelsführer, zum Mitleid bemogen 
und läßt zwar drei Meuterer erſchießen, aber nur zum 
Stein: die Musteten find blind geladen und die Ge- 
falenen ſtehen nachher wieder auf. Die Erzählung ift 
fpannend, beruht aber wol nur auf einer vomantijchen 
Erfindung, denn wir wiſſen, daß bie Gehülfen bes 
Schlachteniaiſers ebenfo wenig fentimental waren wie jener 
felöft, den Kleber fehr treffend le general A dix mille 
hommes par semaine nannte. 

„Peter Wiebe von Meldorf” ift eine knapp concipirte, 
hübſch gefchriebene Seeräubergefichte aus dem 15. Jahr⸗ 
hundert, die auf der Inſel Helgoland fpielt und auf 
hiſtoriſcher Wahrheit beruht. 

3. Berfehlte Ziele. Roman von C. Löwenherz. Bier Bände. 

Berlin, Langmann und Comp. 1870. 8. 5 Zhlr. 


Es ift feine gewöhnliche Unterhaltungsleftüre, mit ber 
wir es hier zu thun haben, fondern ein focialer Tendenz« 
roman, in welchem bie Emancipation der rauen das 
Hauptthema bildet: jene fogenannte Emancipation, die in 
neueſter Zeit wieder zu fpufen angefangen hat nnd barin 
beftehen fol, daß man das Weib an den Pflichten und 
Laſten, angeblih an den Vorrechten der Männer theil- 
nehmen laſſe. Die Frage wird bier in der ſchidlichſten 
Weiſe gelöft: bie edle Beftimmung bes Weibes, dem 
Hausftande und ber Kindererziehung vorzuftehen und dafür 
des Vorzugs einer rein menfchlihen individuellen Exiftenz, 
ungetrübt don den Pflichten des Staatslebens und ben 
Sorgen und Kämpfen des Weltgetriebes, zu genießen — 





Neue Romane und Erzählungen. 


diefe Beftimmung behauptet ihr Recht gegen alle ver- 
ſchrobenen Emancipationsideale: eine Löſung, die um jo 
mehr anzuerfennen ift, als das Werk allem Auſchein 
nad von weiblicher Weber verfaßt if. Letzteres ift er- 
fihtlih an der mübhfemen und faubern Ausführung ein- 
zelner Details, an ber fhmwungvollen, nicht immer maß- 
haltenden Diction, an den edeln, echt weiblichen Motiven, 
die doch noch immer umter bem wild aufgeſchoſſenen Ge- 
firlipp überreizter Phantafiegebilde zu erfennen find, an 
dem NRofettiven mit den verfchiedenartigften Bildungs- 
elementen, und endlich an einzelnen Berftößen gegen den 
geläuterten Gefhmad, die ſich eben felber nur als ein 
Ergebniß weiblicher Emancipation erflären laſſen. 

Aus diefem wunderlichen Roman, obgleich er ſchon 
vier Volumina umfaßt, ließen fi doch noch wenigſtens 
ſechs gelungene Senfationsromane mobernfter Art heraus- 
ſchneiden, und es ift der BVerfafferin vor allen Dingen 
anzurathen, fünftig ihre Mittel in Öölonomijcherer Weiſe 
zu verwenden. Die Handlung iret auf jo verjchiedenen 
Schauplägen — von den Wülten Aegyptens bis auf bie 
Boulevards von Paris und die Squares von London — 
und in fo wibderfprechenden Lebensverhältniffen umber, 
daß der Leſer kaum im Stande if, den Plan der Con- 
ception zu verfolgen; man wird fo irr und wirr dabei, 
als hörte man eine Zufunftsoper, ober betrachtete jene 
berühmte „Pet in Florenz“, ober, proſaiſcher aus- 
gedrüdt, als ginge einem ein Mühlrad im Kopfe 
herum. Diefer verwidelte Verlauf des Romans macht 
es auch unmöglich, in einer kurzen Kritik auf die Anlage 
der Eompofition und die Zeichnung aller einzelnen Figuren 
genauer einzugehen, und wir müffen nnd auf wenige 
Andeutungen bejchränfen. 

Die beiden wichtigſten Vertreterinnen der Frauen - 
emancipation find Mariam und Clementine. Mariam 
zieht Hofen an, tritt als Mann auf, malt, bilbhauert, 
jecirt Leichname, macht chirurgiſche Operationen und ſchlägt 
fh auf Piſtolen — es fehlt nur noch, da fie einen 
Senjationsroman ſchreibt, um alles gethan zu haben, was 
fi nicht für ein Weib ſchickt. Zu letzterm ift fie aber 
zu fürmifch; fie begnügt fi damit, ihre Marimen 
mündlich von fich zu fprubeln, wozu ihr ber Widerſpruchs · 
geift Leonor's oft genug Gelegenheit bietet. Leonor Richter 
ft nämlich ein fvebfamer Denfa, aber viel zu bernünf- 
tig, um dem flürmifchen Gange der geiftig Cmancipirten 
folgen zu können, die er überdies in ihrer Verlleidung 
für einen eraftirten Stngling hält. 

Aehnliche Anfichten wie die Mariam’s vertritt die feurige 
Elementine, die einen Theil ihrer Marimen in folgenden 
Worten kundgibt: 

Mid) dauert die arme Kirche, die gezwungen ift, täglich 
ſolche gebrochene Eide zu Hören und ſolche, die ſchon mit der 
Abfiht gethan werden, fie nie zu halten. Warum gibt man 
dem Weibe nicht eine Tätigkeit, die fie davor bewahrt, ſich im 
die Ehe wie in einen Sriedenshafen flürzen zu müfjen? Die 
eine ſcheut den Spott ber Welt, melde Über eine alte Jungfet 
ſtets die Nafe rimpft, weil man fie doch immer nur als über- 
faftgee Mitglied der Menjchheit betvachtet; die andere treibt 
die Noth im fremde Männerarme; die dritte heiratet aus 
purer Langeweile den erften beften 
dem glaubt, daß es nicht anders geht. Gebt dod) den Frauen 
einen Wirfungsfreis, ben ein Weib leicht auezuflillen vermag; 
verfgließt ihr mit mit Männeregoismus den Ileinen Plag, 


mm und weil fie aufer- 





Neue Romane und Erzählungen. 637 


ben fie am Steuer der großen Welt einnehmen Tann; Üüberlaßt, 
ihr einen Theil der Befchäftigungen, die ihren Kräften und 
Fähigkeiten angemefjen: dann wird wol feiner mehr über 
eine alte Jungfer laden, weil fie dann ein nütliches Mitglied 
der menſchlichen Gejellichaft if. Dann blickt euch juchend um: 
die Ehe der bloßen Convenienz wird wie ein libermucderndes 
Unfraut von dem Erdboden fortgemäht fein; ihr werdet nur 
glüdlih lachende Gefichter fehen, bie allein die innigfte Liebe 
aufammengeführt, uud gute, brave Kinder find ſicher die fchönfte 
Frucht folder Ehen. So wird felbft die Einſame glücklich, die 
zu dem großen Weltenwerfe auch die Hände regen darf und 
fh nicht mehr als überflüffiges Weſen auf der Erde fühlt. 
Befragen Sie doch die Lehren der alten, erforfchen Sie die 
Spfteme der modernen Philofophen, und dann beantworten Sie 
mir offen die Frage, ob ihnen nicht fchließlih die Pſyche aller 
der Geſchöpfe, deren Geiflesorganismus und Seelenfunctionen 
die Hauptgegenflände ihrer Unterfuhung ausmachen und bie fie 
zwar üußerlid in männliche und weibliche getheilt haben, nur 
Pſyche blieb, gleichviel ob fie in der Hülle des Genus mas 
culinum ober femininum lebte; ob fie bei ihren gelehrten For⸗ 
{Hungen eigentlich überhaupt ein höheres piychologiihes Pro- 
blem Tannten als die Löſung der Frage Über die Wefenheit 
des Individunmse? Ebenfo follte die Gefellichaft verfahren; fie 
müßte ıms niit eintheilen in Dann und Weib, fie müßte uns 
als Ganzes betrachten, nicht Heinlich jedem Gefchlecht das Maß 
feiner Beſchäftigungen zumeifen, fondern jeben frei wirken und 
handeln lafſen ans fich heraus, je nach eigenem Bedürſniß und 
innerm Berufsdrange. Sie follte nicht im engherzigen Egois⸗ 
mus dem Weibe ewig Grenzen ziehen wollen, ſondern dieſes 
ſelbſt enticheiben lafſen Über fein Thun und Handeln; fie follte 
das freie Gottesgeſchöpf nicht einzwängen im jene lächerlichen 
veralteten Regeln von Sitte und Anftand, die doch für feine 
derſelben ans ſich ſelbſt herans eriftiren , die fie ſelbſt kaum in 
fi) fühlt und die troßdem von jeder edeln Frau in noch fo 
zweifelhaften Berhältnifien, noch fo unfauberer Umgebung ficher 
aufrecht erhalten bleiben dürften. 

Der armen Clementine ift folcher Herzensergug um 
fo mehr zu gönnen, als le von ihrem Manne nicht ver- 
ftanden werden Tann; von diejem gibt fie jelbft folgende 
wenig fehmeichelhafte Schilderung: 

Denke dir eine kleine dürre Geſtalt, bie ſich durch thurm⸗ 
hohe Schuhabſätze und einiges Halsrecken gewaltſam größer 
machen möchte. Ein dürres, ganz abgelebtes Antlitz, welches 
eine Maske ſtereotypen ſlißen Lächelns trägt und gern Bla⸗ 
firtheit zeigen möchte. Das alles eingezwängt in geckenhaft 
modiſche Kleidung, und das Lorgnon als unzertrennlicher Be⸗ 
gleiter in das erloſchene Auge geflemmt. Die Sprache flü⸗ 
fternd, füßlih, Tispelnd, da er immer aufs Tächerlichfte den 
Ariftofraten fpielen möchte. Zu Zähnen, Mund und Haaren 
ift mein Ange noch nicht gelangt, da ich die Nähe und Berüh⸗ 
rung diefes Menſchen wie die eines garfligen Reptils fcheue. 
Er ift graufam, hart, ohne Mitleid, verfchwendet wo es feiner 
Citelfeit dient, weift dem ‚Armen Hingegen ſtets die Thür. 
Die arme Mutter führt in feinem Haufe nicht das angenehmfte 
Leben, da fie da8 Wort Gnade täglich aus feinem Munde hören 
muß. Das ift das große Süd, um das die Menfchen mid) 
fo vielfach beneiden, das den Haß fo vieler auf mid) zog. Ich 
taufchte e8 gern gegen meine frühere Armuth ein. 

Beide Nepräfentantinnen ber Emancipation, Mariam 
und Clementine, unterfcheiben ſich jedoch noch weſentlich 
voneinander, und dieſer Unterſchied iſt meiſterhaft gekenn⸗ 
zeichnet: während ſich nümlich Clementine einer glühenden 
Liebe zu ihrem Verführer hingibt, bannt Mariam ſolches 
läſtige Frauengefühl aus ihrem Buſen und ſtrebt nur 
nach männlicher Thatkraft. 

Die Vertreterinnen der echten Weiblichkeit, jener 
Emancipation gegenüberſtehend, find Lady be Courecy, 
Mariam's Mutter und ihre Coufine Edith, vor allem 
aber die liebenswürdige, mit anfprechenden Farben ge= 


ſchilderte Amable, bie ſich einem viel ältern, aber edeln 
und retfchaffenen Manne, dem Dr. Greenwood, ver- 
mählt. Außer legterm und dem erwähnten Leonor Richter 
find die, übrigen Männer faft alle Tangenichtſe. Baron 
Rothenburg, der Wüſtling, ift übrigens naturwahr und 
treffend gezeichnet; Graf Powills, den die Berfafferin, 
als einen in ben fchmerzlichften Kämpfen des Lebens gehär- 
teten Mephiſto, mit einer glimpflichen Theilnahme behan⸗ 
delt, ift dagegen zum überwiegenden Theile ein „Sonnen- 
bruder‘, deffen zerriſſener Mantel eher den Eckenſteher ala 
ben Diogenes durchjehen läßt. 

Ohne bem vielfach verfchlungenen Faden der Colli⸗ 
fionen zu folgen, wollen wir nur anflihren, daß in der 
Kataſtrophe die echte Weiblichkeit zu ihrem echte gelangt, 
während bie fürperliche und die geiftige Emancipätion zu 
Schanden werden. Edith, Lady de Courcy und Amable 
gewinnen die Männerliebe, welcher fie ſich unterorbnen; 
dagegen findet Mariam durch die Hand der Rache ihr 
Grab in den Fluten, und Clementine fällt, geſchmäht und 
verachtet, als Dpfer der Sinnenluft. 

Abgefehen von einzelnen Berftößen, die eben ale 
Mangel an geläutertem Geſchmack oder vielmehr ale 
Mängel weiblicher Berbildung anzufehen find, ift der Stil 
Mar und finnig. Ueberhaupt läßt fid) aus dem, was wir 
bier nur kurz andeuten konnten, wol genugſam erfehen, 
daß dem Lejer hier ein bedeutendes Werk vorliegt, das 
reich an genialen Zügen ift und fogar theilmeife von 
pigchologifcher Tiefe zeugt. Wenn unfere Bermuthung, 
daß der Roman das Product eines weiblichen Geiftes fei, 
fi beftätigt, und überdies bes alten Hippel Behanptung: 
fein Weib lafie ſich beffern, überall zutrifft, jo wird 
freilich) auch die Mahnung vergeblich fein, die wir der 
begabten Schriftftellerin hiermit in wohlwollendſter Abficht 
ertheilen: fie möge ihr überaus reiches Talent nicht fer- 
nerhin zu überfpannten, vermwidelten und vorzugsweiſe 
auf den Effect berechneten Compofitionen verwenden, fon- 
dern fih an claffifhen Muftern beranbilden zu edler 
Einfachheit und Klarheit bes Plans und zu einer natur- 
getrenen und kunſtgemäß idealifirten Darftellung, die 
einer feflelnden Einwirkung auf den Leſer immer gewiß 
fein Tann. 


4. Gegen den Strom. Roman von I. Weftrig. Zwei Bänbe. 
Leipzig, Rötſchke. 1870. 8. 2 The. 


Wenn dem vorgehend genannten Roman eine zu ver- 
widelte Anlage und eine zu üppige Häufung von fpan- 
nenden Scenen zum Vorwurf gemacht werden mußte, fo 
finden wir in dem vorliegenden das Gegentheil: eine ein- 
fache Handlung in deutſchem bürgerlichen Kreife; wenige 
Perfonen, die aber die verfchiedenften Charaktere und 
Beftrebungen darftellen und dennoch ohne allen Zwang, 
durch die matürlichften Beziehungen miteinander in Ber- 
fehr treten. Freilich fpielt bie leidige Politif eine Nolle 
bei der Berwidelung, inbeffen nur infofern fle, wie es 
in der Wirklichkeit gefchieht, einen Einfluß auf die bür- 
gerlichen Verhältnifſe ausübt und die Menfchen nöthigt, 
ihren Charakter und ben Standpunkt, den fie überhaupt 
in der Bildung einnehmen, unverhohlen kundzugeben. 
Aus diefem Grunde ift der Roman, wenngleich jene poli- 
tifchen Einwirkungen fih maßgebend darin geltend machen 











638 


und ber entfchieden ‚liberale Standpunkt des Verfaſſers 
der entgegenftehenden Partei wenig zufagen wird, doch 
Fein eigentlicher politifcher Tendenzroman, fondern berubt 
vorzugẽweiſe auf pſychologiſchen Motiven. 

Emmi, die Toter eines reihen Kaufmauns Bor- 
nemann, fließt ſich mit jungfräulicher Neigung an ihren 
Lehrer, den Dr. hoben, und die Xeltern willigen bor« 
laufig in eine fünftige Verbindung. des jungen Paare. 
Während Rhoden's Abweſenheit lernt Emmi jeboch einen 
jungen Fabrikherrn, Namens Arnftedt, kennen, ber fie 
durch Reichthum, Liebenswürdigleit und gefellige Begabung 
zu feffeln weiß und von ber finnigen Einfachheit, die 
allein dem Charakter Rhoden's entſpricht, allmählich ab- 
lenkt. Rhoden findet die Geliebte bei feiner Riickehr 
verändert, gibt aber das Verhältnig noch nicht auf, bis 
ihn die politifchen Ereigniffe zur Theilnahme reizen und 
er dadurch in eine undaltbare Stellung zum Bornemann’- 
ſchen Haufe geräth. Während er als entjchiedener Fibe- 
raler ſich der Oppofition gegen die Regierung anſchließt 
und deshalb ein Opfer der Verfolgung wird, machen die 
übrigen Perfonen, von der Fürftengunft angelächelt, eine 
Schwenkung zur reactionären Partei. hoben, der von 
einer gleihgefinnten und mitfühlenden Braut erwartet 
hatte, daß fie ihm Theilnahme ſchenlen, feine Gefinnung 
ehren und feine Handlungen billigen werde, muß endlich 
in Emmi nur ein oberflählihes, vergnügungsfüctiges 
Mädchen erbliden, das ſich von dem Iebensluftigen Arn ⸗ 


Feuilleton. 


ftedt in höherm Grabe als von ihm, dem ernften Denker 
und entſchiedenen Politiker, angezogen fühlt. Elfriede 
dagegen, eine verwaifte Verwandte der Bornemann’schen 
Bamilie, welde fih in dem weltlichen, oberflächlichen Lurus 
des Haufes unbehaglih und unglüdlic fühlt, wibmet ihm 
ganz unbeachtet eine tiefe Neigung. 

Die misliebige Stellung, in welche Rhoden zur Re 
gierung geraten, läßt die Bornemann'ſche Familie end- 
ich eine Löfung feines Verhältniſſes zur Tochter wün« 
ſchen. hoben tritt zurlid und Emmi vermählt ſich mit 
Arnftedt. Nachdem Rhoden, vielfach geprüft und ver 
folgt, Elfriede's Liebe und Aufopferungsfähigfeit keunen 
gelernt hat, ſchließt er mit ihr ein glüdliches Bundniß 
für das Leben. Emmi fühlt bald tiefe Neue, als fie die 
ſchnell vergängliche Zuneigung ihres Gatten erfalten ſieht 
und fid durch Tofette Eroberungen zu entjchädigen ſuchen 
muß. Daß die Untrene des lebtern und fein Verhältnig 
zu feiner Schwägerin Luife, einer Iebensluftigen gemüth- 
Iofen Frau, nur vorübergehend und ambeutend erwähnt 
wird, gehört zu ben Feinheiten der Ausarbeitung, gegem 
welche einzelne Schwächen, wie Arnſtedt's Auftreten ale 
Rhoden’3 Denunciant, nicht in Anfchlag kommen. 

Diefe einfache Handlung, wie wir fie Hier angegeben, 
hat der BVerfaffer in finniger und feflelnder Weife und 





durch die gelungene Charakterifirung der mitwirfenden 
Berfonen zur Anſchauung gebradt. 


Koberi Springer. 





Feuilleton. 


Die Reclam’fhe „Univerfalbibliothet. 


Wenn die Popularifitung unferer Nationalliteratur das 
Ziel iR, welches feit der Freigebung unferer Claffifer von zahl. 
reichen Unternehmungen bes Verlagsbuchhandels angeftrebt wirb, 
fo Äudht Die Verfagebughandfung von Bhilipp Reclam jun. in 
Leipzig in ihrer „Univerfalbibliothel“ auf der breileſten 
Grundlage das Ziel zu erreichen; denn jedes der von ihr ans⸗ 
gegebenen ‚Heften bringt zu dem Preife von 2 Nor. irgendein 
volfändiges Wert, von Schiller, Goethe ober andern Dichtern, 
und fo wird bie clafflfche Gebdankenfant auch auf einen Boden 
ausgeftrent, der bisher folder Befruchtung nicht zugänglich war. 

Es, liegen uns gegen 260 Bandqhen diefer „Univerfaß- 
bibliothek” vor, die nod im rüfigem Fortgang begriffen if. 
Offenbar überwiegt bisher das Drama und die Erzählung — 
und zwar gewiß aus dem einfachen Grunde, weil der Umfang 
biefer Productionen dem normalen Umfang der einzelnen Bände 
EA entfpeicht. Zwar finden ſich auch größere Romane, wie Jean 

aul s. Flegeljahre", Müler’s „Siegfried von Lindenberg‘ ı1. a.; 
doch find dies in dem bisher erjdienenen Heften der Sammlung 
nur Ausnahmen. Während die Dramen bon Leffing, Schiller, 
Goethe, Shafipeare vollfändig, fehr zahlreich die Eile von 
Mland, Kogebue, Moliere, Müller, Blaten, Raimund, Grabbe, 
Beer, felbf ältere Stide von Babo, Gerftienberg, Klinger, Leifewig, 
and unbebeutendere von Albini, Angely, Steigentelh u. a. ver» 
treten find, fpielt die Sprit darin eine fehr untergeordnete Rolle. 
Bisjett fehlen ſelbſt Goethes und Schiler's Gedichte, und wir 
bemerken nur Blrger’s Gedichte Körner’s „Reier und Schwer 
ZYurns’ Lieder und Balladen, Hebel’ „Alemannifhe Gedich 
Emald Cärifion don Kleif’8 Werke, Matthiffon’s Gedichte, die 
Sonette von Midiewicz, Wieland's „Oberon“ und „Mufarion‘, 
Blumauer’s „Aeneis" und Schufze's „Bezauberte Rofe‘ auf dem 






I night fehlen. Dis deutſche Geſchichtſchreibung if bisher durch 
Archenholg’ „Gedichte des Siebenjährigen Kriegs“ allein ver- 
treten. Es wäre infhenswerth, wenn aud) andere populäre 
Geſchichtswerle folgten, ſo fehr die voluminöje Production der 

deutichen Hiftorifer ihte vollsthhümliche Verbreitung erihwert 

aan ndehens bürften bie Schilerfden Geihictswerke nicht 
chlen. 
Die „Univerfalbibtiorhel" beſchränkt fih indeß micht bios 

auf die ältern Schrififieler,\ fie bringt and) ganz neue x 

werke, namentlich Dramen, \wie „Sacobäa von Baiern 

„Dlgmpias von Marz, dei Bauernkrieg“ von Seh 

„König und Dichter“, „Blatek in Benedig‘‘, „Die 

nigvolle Perrüte” von Cornelius, „Die Waldenſe 

Sovean, „Jacob Molay“ und das Gedicht „Muhamed“ von 

Nüben. Wir werden auf biefe werie in einer ſelbſtandigen 

Kritik zurückkommen. \ 

Jedenfalls verdient ein Unternehmen bie befte Förderung, 
das ben Befitz geifig anregender Werke aud den ärmern 
offen ermöglicht. \ 









Zur Ariegetyril. 

Außer den zahlreichen Kriegagebihten im den Zeitungen 
erfheinen einzefne Heine felbRändig gedrudte Ciederfammlungen. 
Johann Fafenrath läßt 15 Kriege, und Siegeslicder unter 
dem Titel: ‚Die deutſchen Helden von 1870 (Leipzig, €. 9. 
Mayer, 1870) erſcheinen, die mit der Dithyrambe beginnen: 


An den fein, an ben Rhein, an ben Beiligen Mhein 
‚Im Beiligem Zorne geflogen! \ 

Deutfg, deutih find des Meines Wogen! 

6 tritt ſelbſi ber Amabe fürs Baterland, Ct — 





Repertoire dieſet 260 Bänden. f ift, baf die 
Sumoriften wie Jean a ee nme I Nah and Die 1 


Konnt’ vom Branzmann fo fuel fhon wergefien fein 
Das Iafr agtyehnhundertunbbreigehn? . 





Feuilleton, 639 


Es finden fi in den Gedichten die beliebteften Zeitwitze, 
die „Moltlencur‘, die „anderthalb Napoleon”, die „Ihöne 
Helene‘, fie haben bin und wieder populären Humor, fonft 
feine ausgeprägte Bbnlogusmic. Rudolf Kulemann befingt 
„Germania“ (Nürnberg, Korn, 1870) in ottave rime, denen e6 
nicht an Schwung und Kraft fehlt. Hin und wieder erſcheint 
bie Allegorie nicht farbenreich genug. Sechs Kriegelieber aus 
Stddeutfchland“ von Ferdinand Wilferth (Lindau, Lud⸗ 
wig, 1870); einzelne derfelben, wie das „Auf den Sieg von 
Ihnviner haben eine durch zahlreiche Anaphoren gehobene 
raft: 

Die die Windsbraut jäplings die Flur burhfauft, 

Bie der Hagel nieder auf Gaaten Braut, 

Die bie Feneröhrung mächtens bie Släfer fredt, 

Wie die Wafferfint fhwellend bie Simſe Iedt; 

Bie das frieblige Lamm ber gierige Kar, 

Die den wehrlofen Wanbrer der Mölle Shar: 

&o, mit fatanifger At über Rat, 

Stürmte auf und bed deindes Mad. 

Wenig bedentend find die Kampflieder von Theodor 
Gesky: „Der Rhein foll deutſch verbleiben" (Halle, Her- 
— 1870); am gelungeuſten erſcheint die „Ode am ben 

in“. 


Zur Geſchichte der deutſchen Rechtſchreibungsfrage. 


Nach der trefflichen Schrift von K. I. Schröer in Wien: 
„Die beutfce Rehtfcreibung in der Gcule“ (Leipzig, Brod- 
haus, 1870), auf weiche wir früher die Aufmerkjamteit hin» 
gelenkt haben (vgl. Ar. 37 d. BL. f. 1870), lernten wir eine 
ebenfalls aus Wien flammende Abhandlung Über deutſche Recht ⸗ 
ſchreibung fennen, welde nicht minder Beachtung verdient. 
Während Scäröer ein praftifches Buch bietet, wenn aud mit 
Darlegung und Entwidelung theoretiſcher Grundfäge, iſt dieſe 
Abhandlung eine „geſchichtliche Studie“, wie fie auch der Titel 
nennt. Sie gibt einen Ueberblid über „Die Reformbeftrebungen 
auf dem Gebiete der deutſchen Rechtſchreibung'“ (Wien 1870). 
Urfpränglich in ber „Zeitfchrift fiir öfterreichifche Oymnafien" 
fhienen, ift diefe Arbeit jet dur befondern Abdrud weitern 
Kreifen in banfenswerther Weile zugänglich gemadt. Denn 
die_gefammte Lehrerwelt nimmt an der Frage Über die Ber- 
befferung unferer Seatigreibung theil, ja e8 wird bon dieſer 
Frage nicht allein die Schule berührt, fie if gemiffermaßen 
jHon zu einer nationalen geworden. Der Derfaffer der 
„geiigtligen Studie“, Alois Egger, Profeflor am atade- 
milgen Gymnafium zu Wien, will mit jeiner hiſtoriſchen Dar- 
ftellung zur Klaͤrung der Anfihten über Wefen und Ziel der 
orthographifchen Bervegung beitragen. Nur wer ben Berlauf 
des Etraıe ganz Üiberjehe, fei berufen, auf dem gegenwärtigen 
Standpunkte ein beffimmendes Wort zu ſprechen. Aber wir 
meinen, daß auch folhe, deren Beruf fie nicht zur directem 
Betheiligung an der Streitfrage veranlaßt, aus Egger's Schrift 
vieles zu — Orientirung gewinnen lönnen. Nach kurzem 
Nüdbfid anf die orthographiſchen Beſtrebungen vor Grimm's 
Grammatit entwidelt der Berfaffer die Stellung, welhe Grimm 
zur Rechtfcreibungefrage einnahın, ferner die entgegengefegten 
Anfihten Heyfe's. Dielen Ehorführern ſchloſſen fih Anhänger 
an, die fi gegenfeitig befämpften. Die fogenannte hiſtoriſche 
Rechtſchreibung/ die auf Grimm's Anfhauungen zurlidgeht, 
verfochi am nachdrdlichſten Weinhold. Ihm trat ale eben- 
blrtiger Gegner Nudolf von Raumer entgegen, der ſtatt des 
hiftorifh-etgmologifchen Principe das hiftoriich-phonetifhe zur 
Seltung zu bringen fuchte. Jakob Grimm, vom dem ber erfte 
Impul® ausgegangen war, trat in den Hintergrund. Man 
fann wol dem Berfafler recht geben, wenn er behauptet, daß 
es unter ben wiffenfhaftligen Parteien die Hiforifche fei, welche 
feither an Boden und Anjehen beträchtlich verloren habe. Die 
Literatur Über deuiſche Rechtihreibung ift ſchon eine ungemein 
große, dazu fommt, daß aud die Staaten der Sade um des 

interricht8 willen ihre Fürſorge zumenden mußten und Gut- 
achten von Gachverfländigen ausarbeiten liefen. Selbſt unter 











den Anhängern eines und deſſelben Princips treten im einzelnen 
Gegenſäthe und Abweihungen hervor, ſodaß auf diefem Gebiete 
die buntefte Mannichfaltigteit herricht, welche zum Glüd in der 
Praris fid) nicht allzu ftörend erweif. Mit Schröer befindet 
fi, Egger nicht durchaus im Cinffang. 


Notizen. 

Die Kürzlich im Verlag von O. Wigand erfhienene Bro- 
fhüre von Rudolf Doehn: „Der Bonapartiemus und der 
beutfd) «frangöfiihe Conflict vom Jahre 1870", wird, wie wir 
hören, von Pietro Birano, Profeffor an der Univer- 
fität zu Turin, ins Stalienifche überjegt. Der italienifhe Pro- 
fefor ift_ ein Freund von Arnold Nuge und tmohlbewandert in 
der deutſchen Literatur, 

Bon dem Praditwerfe: „Die Urſchweiz, claffiiher Bo- 
den der Telljage, verherrlicht durch Schiller's Freiheitsjang‘* 
(Bajel, Krüfi) liegen uns vier Lieferungen vor, melde in 
zahfreihen eleganten Stahlftihen landſchaftliche Bilder aus 
dem Kreis der Tellsfage: Altdorf, Fllielen, Tell’8 Geburtshaus 
in Bürglen, Steinen, Walter Flr’s Haus u. a. vorführen. 
Der. hiftorifdh-topographif—e Text, der oft an die Worte der 
Scilerihen Digtung anfnüpft, zugleich aber die genauefte 
Kenntniß der ſchweizer Geſchichte bekundet, ift von dem als 
Juriſten wie als Tonriften rühmiich befannten Profefjor E. Dfen- 
brüggen. Das Wert foll 60 Siahiſtiche enthalten und in 15 
Lieferungen abgeichloffen fein, 





Bibliographie. 
Der Franzofenfrieg im Jahre 1970 oder Deutſchlands 


Beder, ., 
Seuerprobe. " Siftorifg-romantiiche —22 bes beutjen Nationallanıs 
pies gegen Brantreig. Aftes und 2ied Deft. Berlin, Serhagen. Gr. 8. 
a3 Nor. 


Sohlmann, D, Die Briebene-Bebingungen und ibre Bernertfung. 
Eine Stizze. Ifte und 2te Aufl. Berlin, 9. — Gr. 8. 5 Ngr. 
Vragmentarifcper Briefiwecel der Kaiferin Eugenie mit ihren Bertraus 
den une Greunden. & ——— 

etsch, R., 





15 Ner, 
Grazer, in Wort ber Erinnerung an Abregt v. Graefe. Hall, 
ippert. &r. 8." 5 Na, 
Hense, O., Heliodoreische Untersuchungen, Leipzig, Teubner. 
Gr. 8, 4 The 10 Nr, 
mautd. %,, Mveutigtand., Distergrüße am Kuferhungsmorgen 
bes geeinigten Beutfhlands im Pocjommer des Jabres 1870. In forge 
füttiger Auswahl dem deutfgen Bolte Dargeboten. 1ftes . Langen 
falza, Berlags-Comptoir. 5 Nor. 
Knobelsdorff, O. v., Die keltischen Bestandtheile in der eng- 
lischen Sprache, Eine Skizze. Berlin, Weber. 8. 10 Ngr. 
Menzel, ®., laß und Lothringen find und bleiben unjer. Stutte 
gart, Kröneı 3. 10 Nor. 
— Du Deutlglands Traum, Kampf und Sieg. Sehot 
el 
1. 








einem Anhang vaterländifger Cefänge. Leipzig, 


Br. Ri Pr a co 
Müblfeld, I, Der deuti- franzöfiihe Krieg von 1870. Chronik 
ber Ereignifie. Bogen 1-4. Bielefeld, Thiele u, Comp. Br. 8. &1Y, Nr. 
1 Märgenbud. Ajgpersleden, 8, 20 Nr. 

Des Der Grangofenkrieg. 1870. Ifte Cief. Berlin, D3. For 
Bed. 8 Npr 

— — Gewalt und Lift Franfreihs gegen Deutſchland feit dreihundert 
Yabren. Gefhichtsbilder. I. Berlin, Kaftner. 16. 2%, Nor. 

Der moderne Sozialismus und Communismus im Bergleih zu dem 
Sozialismus und Gommunismus ber lehten zwei Jahrtaufende (von I. 
Frühauf.) Halle, Buhbanblung ber Watfenhaufee. Gr. 5. 6 Mar. 

baulomw,©., Acten ben bundertjährigen Geburtstag Hegel’s be— 
treffend. Aftes Heft. Kiel, Univerftätsbußanblung. Gr. 8 he 

Treitihte R2 d., Was fordern wir von Frankreich? Berlin, 

Ir. 8. 6 Npr 












—* 
I. Reis 








auf beutfer Kriege» und freie 
eld und Haus gefammelt. EIbing, 


Kristenthums. 





Festschrii Buchhandlung des Waisenhauses. Gr. 8, 7./, Nar. 
Bittftod, %, Paris. Haus, Grau, Familie im Babel an ber Seine, 
2 Boe. Berlin, Cangmann u, Comp. 5. 1 Zhlr. 
Geflügelte Worte von &. M. Arndt, opftod, Stolderg, Herder, 
Nüdert und Geibel an die Deutjen. Giterstoh, Bertelsmann, Gr. 8. 
10 Nor. 








46 


640 


Anze 


— — — 


verlog von 5. A. Brodfaus in Leipsig. 


William Shaleſpeare's Dramatiſche Werke. 
Uederſeht von 
ig oobenft,. Fre Delius, ee 
——— — aa ie > 
Nach der Tertrevifion und unter Mitwirkung von Nicolaus Delind. 
Mit Einleitungen und Anmerkungen, 
Herausgegeben von 
Friedrich Bodenftedt. 
Im 38 Bändchen. Jebes Bänden geh. 5 Ngr., cart. 7Y, Ngr. 
Soeben erfgien: 


Die Komödie der Irrungen. 
von Georg Herwegb. 

Die Vorzlige der von Bodenftedt im Verein mit den nam⸗ 
hafteften beutfchen Dichtern und Tertkritikern herausgegebenen 
neuen Shafefpeare-Ueberfegung find allgemein anerfannt, wes 
Halb fie fl aud) einer fortwährend fleigenden Verbreitung er · 
freut. Jedes Bändchen enthält ein vollftändiges Drama nebſt 
ausführlicher Cinleitung und erläuternden Anmerkungen; 
29 Bändchen liegen en bereite vor, die übrigen 9 find zum Theii 
u ſchon im Drud und werden in kurzen Zwiſchenräumen 
folgen. 


29. Bänden. Ueberfegt 








Wieland’s Oberon. 


Alustrirt mit vier grösseren Molschnitten 
and gmölf kleineren im Cexte, 
nad) der großen Pradjtausgabe. 
Tafdhenformat, elegant gebunden. 
Preis Thlr. 2. 20., oder Sl. 4. 30, 

Durch alle Buchhandlungen zu beziehen. 
Verlag der 6. I. Göſchen ſchen Verlagshandinng. 
in Stuttgart. 


Anzeigen. 





igen. 





Derfag von 5. A. Brochhaus in Leipzig. 
WER“ 70000 Abdrücke hinnen ärei Wochen! gr 
Paris als Waffenplatz. 


Plan von Paris und seinen Festungswerken. 
2% Ner. 

Allgemein ist dieser Plan von Paris und den die Stadt 
umgebenden Fortificationen als der anschaulichste bei Ver- 
folgung der Belagerungsoperstiongn empfohlen worden. Er 
ward daher sowol zum Beilegen in deutschen wie auswär- 
tigen Zeitungen (z. B. nach Petersburg, Odessa, Pesth u. s. w.) 
als auch für den Privatbesitz in so grossen Partien bezogen, 
dass ea der grössten Anstrengungen bedurfte, um die ver- 
langten Abdrücke — 70000 binnen drei Wochen — immer 
prompt zu liefern. Jetzt sind indess die umfassendsten 
Massregeln zur Herstellung getroffen, sodass jeder Auftrag 
unverzüglich ausgeführt werden kann. 








Dertag von 5. X. Broddans in Leinig. 


Lehrbücher der, deutschen Sprache 
für Franzosen. 


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1a langue allemande. 8. 
29° &dition. 


Premier co 
Second cours. 
Troisieme cours, 
Traduction des thömes —X 
cours. 7° edition. 5 Ngr. 

—— Grammaire allemande bborique et pratique. 
tion. 8. 24 Ngr. 

—— L’Allemagne poẽtique ou choix des.meilleures podsies 
allemandes des deux derniers siveles. Classces par 
ordre chronologique et pröcädees d'un apergu historique 
de la podsie allemande depnis Haller jusqu’a nos jours. 
8. Geh. I Thlr. Geb. 1 Thlr. 8 Ngr. 

Belloe, L. de. De la formation des mots en allemand. 
Complöment indispensable de toute Grammaire allemande. 

Ner. 

B. Dislogues frangais et allemands, accom- 

une traduction interlineaire, a Pusage des deux 

2° edition, revue et augmentde. 8. 12 Ngr. 

Sesselmann, B. Premier livre de lecture, d'éeriture et 
struction allsmende & Pusage de la maison et des &coles. 
2° edition. 8. 6 N; 

— Second livre de Teeture, de version et d’instruction 
allemande & l’usage des familles et des &coles fran- 
gaises pouvant servir de themes aux dlöves allemands. 
2° edition revue et corrigei 








Premier et second 


3° edi- 



















Derfag von 5. A. Br 


Die Oeffentlichkeit 


. in den 
Baltischen Provinzen. 
8. Geh. 15 Ngr. 


Diese Schrift enthält einen nenen energischen Ruf der 
russischen Ostseeprovinzen nach Mündlichkeit und Oeffent- 
lichkeit der Justiz, Beseitigung der Censur, Freiheit der 
Presse und Wahrung germanischer Civilisation. 





Verantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Brodhaus. 


— Drud und Berlag von 8. A. Brohhaus in Leipzig. 


pr u U A — — — 2 — 


Bla 


tter 


r 


iterariſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


- Ar. 41. ÿæ 


6. October 1870. 





Inhalt: Kleine Schriften zur Zeitgeſchichte. Bon Rudolf Gottichall. — Ein Drama Deblenjchläger’s. Bon Auguft Kretzſchmar. — 
Geſchichte der Hannoverjhen Armee. Bon Karl Buflev von Berneck. — Fenilleton. (Die Bibliothek Friedrich von Schillers. 
Bon Alfred Meißner.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Kleine Schriften zur Beitgefchichte. 


1. Der Bonapartiemu® und der deutſch⸗franzöfiſche Conflict vom 
Jahre 1870. Eine biftoriihe Studie von Rudolf Doehn. 
Leipzig, D. Wigand. 1870. 8. 10 Nor. 


Der Berfofier Hat zu feiner Schrift, welche noch vor 
ber Entfcheidungsfchlaht von Sedan abgefaßt war, bie 
Werke von P. Lanfrey, Jules Barni und Eugene Tenot 
über den erften und dritten Napoleon benutt; er beginnt 
biefelbe mit „Bruchftücden aus der Gefchichte Napoleon’s 1." 
Durch allerlei Anekdoten wird das Bild des erften Cäſars 
nicht gerade mit bengaliihen Ylammen beleuchtet. Wir 
erfahren, baß er ſich in feiner Jugend mit einer Dame 
über Turenne unterhielt, und als diefe dem General 
wegen der graufamen Berwüftung der Pfalz Vorwürfe 
machte, ganz ruhig antwortete: „Nun, meine Theuere, 
was liegt daran, wenn biefer Brand und diefe Grauſam⸗ 
feiten für feine Entwürfe nöthig waren?” Laſayette theilt 
in feinen „Memoiren folgenden Ausſpruch des Kai« 
jers mit: 

Cäfar war nichts weiter als eim Held; er handelte nad 
Gemütbseingebungen, überließ ſich feiner Einbildungskraft und 
hat fi den Mörderdolchen preisgegeben, Auguſtus war ihm 
weit überlegen und ein wahrhaft großer Mann; er verftand 
gramfam zu fein, wenn es noththat, und gnädig, wenn das 
für feine Lage paßte. Er war ein wahrhaft politiiher Kopf, 
der fih darauf verfland, den Leuten Dinge einzureden, an bie 
er jelbft nicht glaubte, und Sefinnungen zur Schau zu tragen, 
die ihm gänzlich fremd waren. 

Ex ungue leonem! So faftte Napoleon ben Begriff 
des großen Mannes auf. Als Beweis für die Taktlofig- 
feit und Unzartheit des erften Napoleon kann die folgende 
von Barni mitgetheilte Anekdote dienen: | 

Gemein war es jedenfalls, daß Bonaparte, als er während 
feines Feldzugs in Aegypten mit der Gattin eines feiner Offi⸗ 
ziere eine intime Berbindung gejchloffen Hatte, verlangte, daß 
fein Stieffohn Eugen, der als Adjutant bei ihm in Function 
fand, ihn auf feinen Spazierfahrten mit diefer Frau begleitete, 
Da derfelbe fich weigerte und um feine Berfegung in ein Re 
giment —2 um der ſchiefen Lage zu entgehen, in welche 
er durch die fo Öffentlich zur Schau getragene Liebſchaft feines 

1870, 41. 


Stiefvaters gerieth, fo überließ fi Bonaparte einem heftigen 
Zornausbrude gegen ihn. Später, ale er fi von der Ge⸗ 
fährtin feines Lebens trennen wollte, um eine öflerreichtiche 
Erzberzogin zu beirathen, wählte er Sofephinens eigenen Sohn, 
eben diefen Eugen, zum Vermittler. Er berief ihm eigens zu 
-diefem Zmede, ohne ihm jedoch irgendeine vorläufige Anden- 
tung darüber zu geben, ans Italien nach Paris, ertheilte ihm 
den Auftrag, Sofephine zu dem Opfer, da8 er von ihr ver 
langte, zu bewegen, und nöthigte ihn, feinen Pla im Senat 
an dem Tage einzunehmen, ba man diefem Staatskörper bie 
Auflöfung der Ehe feiner Mutter officiel befannt machte. Be- 
fanntli wurde dem Brinzen Eugen auch die Rolle des fürm- 
lichen Freiwerbers K4 die Hand der Erzherzogin Marie Luiſe 
für den gewefenen Gatten feiner Mutter anvertraut. 


Bon dem „Eäfarenwahnfinn“, ber aud) in Napoleon 1. 


fich regte, gibt Doehn folgende Proben: 

Seldft die grauenvolle Niederlage des Jahres 1812 und 
die begeifterte Erhebung des preußifhen Volks im Sabre 1813 
waren nit im Stande, Napoleon's thörichten Uebermuth zu 
heilen und ihn auf den Eongreffe zu Prag (5. Inni bie 
10. Aug’ ft 1813) für den Frieden günſtig zu flimmen. Der 
öfterreis ſche Minifter, Hr. von Metternich, fagte z. B. nad) 
einer U «terredung mit ihm im Dresden am 28. Juni 1813 (dem 
Todestage des edeln Scharnhorft), in welcher er vergebene ihn 
zur Unterzeichnung des Friedens zu bewegen gefucdht, zu Ber⸗ 
thier, ber ihn fragte, ch er mit dem SKaifer zufrieden ſei: „Ja, 
ih bin zufrieden mit ihm, denn er Bat mich ins Klare gejekt, 
und id) SAmdre Ihnen, Ihr Herr bat den Berftand verloren !" 
Napoleon beharrte in übermüthigem Trotze dabei: „Nicht ein 
Dorf foll von dem franzdfifchen Kaiferreihe mit allen ihm ein- 
verleibten Provinzen abgerifjen werden!“ Cr hatte Übrigens 
fhon früher Zeichen einer an Wahnſinn fireifenden Gemüths⸗ 
verfafjung gezeigt, eine Erſcheinung, die — wie Jules Barni 
nicht mit Unrecht bemerkt — eine gewöhnliche Wirkung des 
Cäfariemus if. Schon im Jahre 1809 fagte der Marine- 
minifler Decres zu Marmont, der damals fehr verwundert war, 
eine ſolche Sprade zu vernehmen: ‚Der Kaifer iſt verrüdt, 
völlig verrlüdt.... Und die ganze Geſchichte wird ein Ende 
mit Schreden nehmen. Im der eben erwähnten Unterrebung, 
welche Napoleon mit Metternich hatte, fprach erflerer and) 
Worte, bie den legten Zweifel dariiber heben, was ihm ein 
Wenſchenleben galt: „Sie find nit Militär”, fagte er zu 
Metternid, „Sie haben feine Soldatenfeele wie ih, haben 


81 


IR 





642 


nit im Felde gelebt, nicht gelernt, das Leben anderer und 
Ihr eigenes, ſo's noth ift, zu veranten.... Was fheren mich 
200000 Mann! Metternih war, wie Hr. Thiers, der dieſen 
Auftritt berichtet, duch diefe Worte tief erjchlittert und rief: 
„Wir wollen Thliren und Fenſter öffnen, damit ganz Europa 
Sie höre, Sire, und die Sache, die ich bei Ihnen vertrete, 
die Sache des Friedens, wird fi) dabei nicht fchlechter ſtehen!“ 

Der Faden, der dieſe Bruchftücke verknüpft, ift ber 
Nachweis, daR das Syſtem Napoleon’8 ber Despotis- 
mus nach innen und die Eroberung nach außen gemefen, 
und daß der Träger diefes Syſtems durch Heuchelei, 
Hinterlift und Grauſamkeit unmwerth fei der Vergötterung, 
welche man lange feiner „Größe gezollt Bat. 

Das zweite Kapitel bringt: „Bruchftüde aus der Ge⸗ 
ſchichte Napoleon's IH.“ Es find befannte Daten und 
Actenftiide, bie aber, im Zuſammenhang mitgetheilt, ein 
vollftändiges Bild der Geſchichte des dritten Cäſars geben. 
Die Zufammenftellung der franzöfifchen Allianzvorſchläge, 
welche die Begehrlichkeit nach dem Erwerb fremden Gutes 
fo deutlich darlegen und deren Veröffentlichung durch Bis⸗ 
mord eine ber fchmerzlichiten Niederlagen für den Bona⸗ 
partismus war, tft ebenfo lehrreich, wie die Gelegenheit 
zur Bergleihung einiger Reden Ollivier's, die und von 
Doehn geboten wird. In der begeifterten Friedensrede 
am 15. Mai 1868 fagte diefer Staatsmann: 

Anftatt den größten Theil der Reffourcen des Budgets zur 
Entwidelung der innern Wohlfahrt zu verwenden, anftatt eine 
Bolitil des Friedens und ber Entwaffnung zu ergreifen, verfolgt 
die franzöfifhe Regierung eine Politik, die nicht der Krieg, die 
aber auch nicht der Friede if. Es gibt nur zwei Wege, aus 
diefer Lage heranszulommen. Der erfte ifl ber wrien. Biele 
Leute glauben, der Krieg fei nothwendig, es ſei eine Ehrenſache 
zwifchen Fraukreich und Deutfchland zu erledigen. Dies wird 
gejagt, gefchrieben und verbreitet. Aber meiner Anfidht nad 
wäre der Krieg ein Unglüd. Ich fprecdhe nicht im Namen der 
Brüberlichleit, im Namen der Gefühle, welche mit der Politik 
nichts zu fehaffen Haben; ich fpreche im Namen der Intereffen. 
Die Erfahrung bat jenes Wort Montesquieu's beftätigt: „Die 
Diänner des Kriege find es, die Europa tuiniren werben.‘ 
Der Krieg Hat niemals irgendetwas gethan, nie eine Frage 
gelöſt. Vergeblich würdet ıhr fegreich fein, vergebens hättet 
ihr Deutihland zurückgedrängt, ben Rhein erobert. Nach dem 
Siege würdet ihr meniger leicht entwaffnen fünnen als vor 
dem Kriege. Ihr würdet no gemötbigt fein, euere Armeen 
zu vergrößern, nnd das Misbehagen der Welt wiirde nicht auf- 
hören. Der Krieg tft fomit meiner Anficht nach eine unpral⸗ 
tijche, verberbliche Löſung, eim taftender Ausweg. Die wahre 
Löͤſung ift der Friede, aber der Friede mit ber Entwaffnnng, 
ber Friede mit der Freiheit, ohne welche der Friede weder glor- 
reich noch ſicher if. 

Das ift derfelbe Friedensmann, der in der Unter- 
redung mit dem preußifchen Gefandten ausrief: „I ya 
mnenace de guerre!“ Und mährend am 19. Juli bie 
längft geplante frauzöfifche Kriegserklärung an Preußen er- 
laſſen wurde, hatte Ollivier die Stirn, noch am 30. Juni 
1870 im Gefeggebenden Körper über bie auswärtige Po- 
litik der Regierung die folgende Erklärung abzugeben: 

Die franzöfiiche Regierung ift in keiner Weife beunruhigt. 
Ich darf erflären, daß zu einer Zeit die Erhaltung des Frie⸗ 
bens mehr gefichert war als gegenwärtig. Nirgends gibt es 
eime aufregende Frage; die Cabinete begreifen, ah bie Verträge 
aufrecht erhalten werben müffen. Der Barifer Vertrag von 
1856 und ber Prager Frieden werben als Verträge betrachtet, 
welche refpeetirt werben urlffer. Wenn man fragt, was bie 
Regierung gethan babe, fo erwibere er, fie habe viel gethan, 
‚fe babe die Freiheit entwidelt, um den Frieden zu fichern, fie 
babe etwas noch Wirkfameres gethan, indem fie die zwiſchen 


Kleine Schriften” zur Zeitgeſchichte. 


ber Nation und dem Souverän herrſchende Einigkeit zum äußern 
Ausdrud gebracht habe. Mit einem Wort, die Regierung bat 
das franzöſiſche Sadowa gewonnen, nämlich das Plebiscit. 

ALS Preis des deutſchen Siege verlangt Doehn bie 
uns widerrechtlich entriffenen „burgumdifchen und lothrin⸗ 
gifchen Lande”, jedenfalls eine zu weitgehende Yorberung, 
wenn bamit das alte Burgund gemeint iſt; doch au 
„mach innen“ verlangt Doehn einen Preis des Siege: 

Das deutſche Bolt hat den ihm von dem blutigen December- 
mann fredy und frivol hingeworfenen Handſchuh mit feltemer 
Einmüthigkeit aufgenommen, es ift dem Hufe feiner Flirſten 
gefolgt und bereit, mit feinem Herzblut dafür einzuftehen, daß 
der ruchloſe Napoleonide, nnd wenn auch erft nad hartem, 
wechlelvollem Kamıpfe, bie längfiverbiente Strafe erhält. Aber 
indem es den bonapartiftifchen Eäfarisınus zu Boden ſchmettern 
wid, ift es nicht gewillt, im feinem eigenen Haufe, an feizem 
eigenen Herb die rohe Gewalt eines deutfchen Cäfarismns anf- 
fommen zu laffen. Der gegen beu meineidigen und blutbefled- 
ten Urheber der modernen Militärdictatur, ber die Soldaten 
als die ‚Auserwählten der Nation“ bezeichnete, gerichtete Kampf 
auf Zod und Leben, er muß auch in Deutfhland, im ganzen 
Dentſchland die rohe Soldatenherrſchaft zu Kal bringen. Nur 
erſt wenn der unerträgliche, entfittlichende Militärdruck von ben 
Schultern der Völker Europas genommen ift, können Induftrie 
und Handel, Wiffenfchaft und Kunft durch die Segnungen bes 
Griedens und der Freiheit in ungeahnten Maße blühen. Köig 

ilhelm I. von Preußen hat gefagt, daß er „dent deutihen 
Bolle Treue um Treue entgegenbringe und unwandelbar halten 
werde”. Hoffen wir, daß diefe ſchönen Worte ſich ſtets in der 
That bewähren werden, und daß nad der Niederwerfung des 
dritten Rapoleon keine neue „heilige Allianz’ entftehen möge, 
e8 fei denn bie heilige Freiheitsallianz der Völker. 

Leider läßt uns der Autor in Ungewißheit, was er 
unter der „Soldatenherrfchaft” verfteht, wie iiberhaupt im 
der Schrift Bin und wieder die pathetifche Begeiſterung 
mit der Phraſe feuerwerkert, ftatt fachliche Kernſchüſſe 
zu thun. 

Dei der Beurtheilung des Bonapartismus, den Zreitfchke, 
Blankenburg u. a. al8 ein politifches Syſtem nicht ohne 
gewiſſe Vorliebe darakterifirten, ift ber moraliſche Maß- 
flab, welchen Doehn anlegt, gewiß nicht zu entbehren. 
Doch ſcheint und dabei eine Seite nicht genugfam hervor- 
gehoben. Ein tief in unferer Zeit liegender Zug ift der 
Eultus des Erfolgs; diefen Cultus bat der Bonapartie- 
mus mehr begünftigt, als irgendeine frühere Epoche; deun 
er felbft beruht auf abenteuerlichen, märdhenhaften Erfol- 
gen. Natürlich fehlt au) der Kevers der Münze nicht — 
mit dem erften entfcheidenden Miserfolg verweht feine 
Macht wie Spren im Winde, Zwiſchen den Thaten bes 
erftien Napoleon und feinen Erfolgen herrfchte noch ein 
logiſches Verhältniß; es war in ihnen gleichſam eine wohl⸗ 
motivirte dramatiſche Steigerung. Anders bei dem dritten 
Napoleon! Da fielen die Erfolge wie Ueberraſchungen 
aus dem Lostopf und gingen den Thaten voraus. Darum 
drückte feine Machtſtellung der ganzen Epoche das Ge—⸗ 
präge des Glücksritterthums auf, überall, in den Cabine⸗ 
ten, an der Börfe, in den Boudoirs, ja felbft auf dem 
Katheber und auf der Bühne. Tief in alle Berbältuifie 
drang die Unart, den Werth allein nad dem Erfolge zu 
meflen, und bie heiße Gier nach Erfolgen, welche jebes 
ruhige Streben beeinträchtigt. Hoffentlich haben bie deut⸗ 
hen Heere bei Sedan nicht nur den Cuſariemus befiegt, 
ſondern auch das Princip des „Glücksritterthums“, eine 
unheimliche Signatur der Zeit. 





Kleine Schriften zur Zeitgeſchichte. 643 


2. Abrehnung mit Frankreich. Bon Kranz von Löher. 

Silnbneghaufen ‚ Bibliographifches Inftitut. 1870. Gr. 8. 

gr. 

Der tüchtige Hiftorifer gibt in biefer Heinen Schrift 
eine nicht unwichtige Grundlage für bie Friedensverhand⸗ 
lungen mit Frankreich, das er keinesfalls leichten Kaufe 
ans biefem Krieg entlaffen will. Es handelt ſich nad 
feiner Anfiht um eine alte Abrechnung, bie fi auf län- 
ger als Hundert Jahre erftredt. Zu einer naturgemäßen 
und dauerhaften Ordnung unfers Verhältnifies mit Fran 
reich Hält er zweierlei für nothwendig: erftens Sicherheit 
anf unferer Weflgrenze, zweitens daß unferer nationalen 
Ehre Genüge gefchehe. Was die Grenze zwiſchen Deutſch⸗ 
land und Frankreich betrifft, fo ſtellt fich nach Löher Har 
zu Ungunften Frankreichs eine doppelte Thatfache heraus, 
eine geographifche und eine Biftorifche: 

Die geographiſche beſteht darin, daß alles Land, welches 
Frankreich vom Rhein, Mofel-, Maas⸗ und Scheldegebiet be- 
figt, ihm mehr Tünftlich als natlirlich angegliedert erjcheint. In 
volkswirthſchaftlicher Hinficht find die Lebensbedingungen der 
Sandestheife, die man mit Recht als das germaniſche Frankreich 
bezeichnet Hat, nicht an das Übrige Frankreich geknüpft. Die 
geihichtliche Thatſache ftellt ſich noch mächtiger dar. Im Leben 
der chriſtlichen Böller zählt ein und das andere Jahrhundert 
wenig. Das Schwergewicht der Völker ſchwankt hin und her, 
bier läßt es ein Gebiet frei, dort ergreift es ein fcheinbar ver⸗ 
Icfjienes wieder. Nun ift e8 gar nidt fo lange her, nur zwei⸗ 
hundert, zum Xheil erft etwas Über einhundert Sabre, daß 
die natlirliche Grenze zwifhen Deutihland und Fraukreich — 
einen ichmalen Küftenftrid am Kanal ausgenommen — zu uns 
jerm Nachtheil verrüdt wurde, und zwar nicht durch eine ethno- 
taphifche oder natürliche, ſondern durch eine rein politifche 
inie. 

Die natürliche Grenze beginnt mit dem leichten Höhen⸗ 
zug, der in ber Mitte zwifchen Boulogne und Calais am 
Borgebirge der Grauen Naſe anfest und fi breit nad 
beiden Seiten abdachend bis ins Duellengebiet ber Lys, 
Scelde, Somme, Dife und Sambre zieht. Es ift bie 
Wafferfcheide. Löher unterfuht nun, was hüben und 
drüben von diefer Naturgrenze zu Deutſchland gehörte 
und was es von Rechtswegen wieder fordern muß; er 
führt feinen Leſern vier Gruppen vor: das Ahönegebiet, 
die belgiſchen Grenzlande, Lothringen und Elſaß. Das 
prachtvolle Ahönegebiet deshalb, weil e8 im Mittelalter 
zum Deutfchen Reiche gehörte, wieder zu verlangen, könne 
zwar niemand einfallen; anders aber verhalte es fich mit 
der Freigraffhaft Burgund und ber gefürfteten Graffchaft 
Mömpelgard, und deutfche Politik möge dafür forgen, 
dag das altberühmte Völkerthor zwifchen Vogefen, Jura 
md Schwarzwald vollitändig unter deutfchem Berfchluffe 
bleibe. Ueber die „belgifchen Vorlande“ gibt der Ver⸗ 
fafier eine kurze gefchichtliche Weberficht; hier könne es 
fh nur um Erwügung des militäriſchen Berjchluffes 
banbeln. 

Ganz anbers verhält es ſich mit Lothringen, welches 
über 1000 Jahre zu Deutſchland und feit anderthalb Yahr- 
hunderten zu Frankreich gehört. Löher meint, für das 
legtexe gebe e8, wie fchon ein Blick auf die Karte zeige, 
feine genügenden Gründe; beun: 

1) Alte Yotdringifchen Flüffe laufen nad) Norden, und zwar 
ans Frankreich Hinaus nad Deutichland Hin. Man fol fich 
aber wohl Blüten, die obern Flußläufe in Händen eines fremden 
Bolls zu laſſen. Denn wie das Waffer abwärts läuft, ziehen 


feine Gedanken mit ihm und traten immer, das weiter unten 
liegende Laub auch zu erobern. 

2) Das Iothringer Land paßt nicht zu dem Gebiet und 
Beruf, welde die Natur den Franzoſen angewieſen. Fraukreich 
bat feine Stellung zwiſchen Ocean und Mittelmeer. Dorthin 
öffnet fich fein flinfgliederiges Flußſyſtem des Adour, der 
Garonne, Loire, Seine und Somme; hierhin dffuet ſich das 
Rhönethal. Beide Theile ergänzen ſich und fließen fi ab. 
Das Gebiet aber, welches Frankreich von Deutſchland abgeriffen, 
bat mit jemen beiden nichts zu thun, und fein Beſitz dient nur 
dazu, die Franzoſen immer mey: in Eroberungsgedanken nad) 
Deutichland hineinzuziehen. Es if body gewiß eine Mahnung 
der Natur, daß im jelben Grade, als die Franzoſen ihr Stre- 
ben nad Deutichland Hin richteten, fie ihre überſeeiſchen Be⸗ 
fisungen verloren. 

3) Die Naturgrenze, welche Lothringen von Dentfchlandb 
ſcheidet, ift in dem lang ſich hinziehenden rauhen und unweg⸗ 
famen Waldgebirge der Argonnen auf das deutlichſte gezogen. 
Ale Gewäfjer jenjeits fließen Frankreich zu, die Seine, Aube, 
Marne, Aisne, Aire, Oiſe. Alles, was biefjeits entipringt, 
gebt zur Maas, Mofel und Saar. 

Die Naturgrenze und auch bie Spracdhgrenze gibt 
Löher ähnlih an, wie Richard Böckh in feinem grimblich 
eingehenden Auffag: „Die natürlichen Grenzen Deutjch- 
lands und Frankreichs“ in „Unfere Zeit” (Neue Folge, VI, 2, 
3583 fg.); aber er kommt in Betreff der Annexion zu an⸗ 
bern Refultaten. Während Vöckh die Sprachgrenzen fireng 
gewahrt wifjen will und deshalb die gewaltige Feftung 
Mes von dem zu annectirenden Gebiet ausſchließt, meint 
Löher, wir bürften nicht fo arge Philologen fein unb die 
alte Reichsſtadt Met aufgeben, blos weil fie außerhalb 
der Sprahgrenzen liegt. Und da fi, wenn wir Dies 
behalten, der Mofellauf nicht entbehren Täßt, fo müßten 
wir auch Nanzig behalten, und es bliebe bann der Ar- 
gonnenwalb die Naturgrenze. Dagegen herrſcht über den 
Ekſaß feine Meinungsverfchiebenheit unter den „Annerione« 
gelehrten”. 

Bei ben andern Kechnungspoften, der Entfhädigung 
der baaren Auslagen für Ausrüftung und Verpflegung 
mehrerer Bunderttaufend Soldaten, file birecte Berlufte 
durch Kapereien und Bombardements und die Verbannung 
unferer Landsleute aus Frankreich, für die Invaliden und 
die ganze Störung des Nationalwohlftandes wirft Franz 
Löher fein Auge nad) den „Heinen überfeeifchen Colonial⸗ 
ändern” ber Franzofen, ben Kleinen Antillen, den Inſeln 
Reunion und Ste.-Marie, Pondihery u. a Elſaß und 
Lothringen wieder deutſch zu machen, daflir erſcheinen 
ihm die geeignetften Mittel die in allen Aemtern, Ges 
richten und Zeitungen wieder eingeführte beutfche Sprache, 
das beutfche Beamtenthum, Befreiung der Confefftonen, 
namentlich der Proteftanten, von jeder Art Polizeidrud, 
gute deutſche Schulen auf allen Dörfern, wohlbefegte 
Gymnaſien und eine deutſche Univerfität wieder m Stras⸗ 
burg, ſowie die Erleichterung der Anfiebelung der jungen 
Kauf» und Gewerbsleute. 

Die beiden Testen Abjchnitte behandeln die „Noth⸗ 
wendigfeit der Schwächung Frankreichs“ und „Deutſch⸗ 
lands Machtſtellung“. Hier fchlägt Loher einen dithyram⸗ 
bifhen Ton an; er fieht in diefen Tagen den zweiten 
berrliden Sonnenaufgang des beutichen Volks, Deutſch⸗ 
land wieder als das Hauptland mit der Hegemonie in 
der enropäifchen Politit, und in ben Iesten Schlachten 
ben fiegreichen Kampf des germanifchen Geifte® gegen den 

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644 


überhandnehmenden Romanismus. Die Heine Schrift ift 
mit genauer Geſchichtskenntniß, mit Eleganz und Schwung 
abgefaßt. 

Noch fpecieller in das ftatiftifche Detail eingehend ift 
die Schrift: 


3. Elſaß und Lothringen und ihre Wiedergewinnung für Deutſch⸗ 
Yand von 4. Wagner. Leipzig, Dunder und Humblot. 
1870. 8. 12 Ngr. 


Der Berfafier geht in feinen Anforderungen nicht fo 
weit wie Löher und ſtimmt mehr mit Richard Böckh 
überein. Er geht davon aus, daß Frankreich unfer Feind 
ift, das franzöftfche Volk, nicht Napoleon; der Weftfälifche 
Frieden, dieſe Beflegelung unferer tiefften Erniedrigung, 
müffe, foweit e8 unjer Rationalinterefie erheifcht, wieder 
befeitigt werben: 

Wahrlich, wir werden aud im größten Siege das deutſche 
Maßhalten nicht vergefien. Kein Menſch denkt bei uns an 
eine Wiederherftellung des Heiligen Römifchen Reiche im mit- 
telalterlihen Umfange Unter deu Folgen folder verkehrter 
römischer Weltreihspolitit haben wir lange genug gelitten. 
Deun unfere ehemaligen Ueberfchreitungen unfers natürlichen 
nationalen Machtgebiets, den Stalienern wie den Franzoſen 
gegenüber, haben mächtig zu jener Reaction diefer Bölter gegen 
ung mitgewirkt, buch die ber Zerfall unſers Staats mit 
herbeigeführt wurde. Niemand möchte, etwa als Vergeltung 
für 1811, wo Frankreichs Grenzen bis an die Mündung der 
Elbe und Trave vorgefhoben waren, aus dem franzöfiichen 
Nationalgebiet Stüde berausfchneiden, Verbundenes trennend, 
Arembartiges verbindend. Rein, womöglich fein franzöfliches 

orf wollen wir nehmen, foweit e8 der nothwendige Grenzzug 
irgend vermeiden läßt. Mögen die Franzofen behalten, mas 
von Natur und Rechts wegen ihr Eigen if. Aber womöglich 
auch fein deutfhes Dorf, das fie ſtahlen und verdarben, ſollen 
fie behalten. Was dieffeit unferer Natnrgrenze und innerhalb 
unfers Sprachgebiet® Ttegt, muß wieder unfer, der Rhein wie- 
der Deutſchlands Strom werden, nicht länger, wenigſtens 
gegen Frankreich nicht länger, Dentſchlands Grenze bfeiben! 

o kümpfen wir für uns, aber wir kämpfen für eine Spee 
zugleich, fir das NWationalitätsprincip, das ihr, Franzoſen, 
fiets mit Füßen tratet, oder nur befolgtet wo e8 euch nüßtzlich 
war. Wir wollen auch jetst nicht weiter geben, als jene hobe 
Idee geftattet. 

Auch Wagner verlangt, wie Bödh, dag die Sprach⸗ 
grenze im ganzen zur Staatögrenze erhoben werde. In 
der Annerion eines größern ober wicdhtigern nationale 
franzöfifchen oder völlig franzöſirten Gebietstheild an 
Deutfchlandb findet er die Keime zu nenen Kriegen. 
Weitergehende Wünfche in Bezug auf Lothringen will 
Wagner nicht befürworten; über Metz beißt es: 

Eruftlliher wird von dentfcher Seite wol nur die Rüd- 
erwerbung von Metz in Frage fommen. Die großartige mili- 
tärifche Bedeutung diefer Stellung, für dem Angriff und für 
die Vertheidigung gegen Deutichland, bat die weltgeſchichtliche 
furchtbare dreitägige Schlaht vom 14., 16. und 18. Auguft 
vom nenem ermwiefen. Es wäre auch wol eine gerechte Sühne 
für das vergoffene Blut, weun diefes Bollwerk gegen Deutſch⸗ 
land in ein Schutzwerk für dafjelbe verwandelt würde, wenn 
die Stabt wieder deutjch wiirde, von der es einft Karl V. 
gegenliber bieß: 

Die Meg und bie Magb (Magbeburg) 
Haben dem Kaifer ben Tanz verfagt. 

Met Tiegt no heute nur 2 Meilen von der Sprachgrenze 
entfernt, was die Germaniſirung erleichtern wlürbe. Aber den- 
nod hat die Erwerbung große Bedenken. Die Stadt iſt ein- 
mal fo gut wie ganz —* und wegen ihrer Größe 
(55000 Einwohner) nicht Teiht zu amalgamiren. Ob ihre mi- 
litäriſche Bedeutung nicht durch Diedenhofen und das hboffent- 


Kleine Schriften zur Zeitgeſchichte. 


lich wieder deutſch werdende Luremburg ausgeglichen werden 
kaun, mögen die Berufenen wenigſtens erwägen. Könnte nicht 
vielleicht eine Friedensbedingung ſein, dab Granfreich dem 
Erwerb von Luremburg dur Deutichland Leine Schwierig. 
feiten entgegenftellen darf? Ließe fidy nicht, wenn Meg tm 
frauzöſiſchen Händen uns zu gefährlich, bleibe, auf der Schlei- 
fung der Feſtung beftehen und die völferredhtliche Servitnt des 
Nidtwieveraufbaues auf den Platz legen (wie nad dem Krim- 
friege auf Bomarfund)? Muß Mes wirllich vom Sicherheits 
geſichtspunkte aus zu Deutſchland kommen, fo follte doch zur 
fo viel weiteres franzöftihes Gebiet mit ihm überuommen 
werden, als unbedingt nothwendig fi, um bie Stellung 
zu ſichern. 

Auh in Bezug auf das von Löher heruorgehobene 
Bölkerthor zwifchen Bogefen, Yura und Schwarzwald ift 
Wagner anderer Meinung. Dort wohnt eine compact 
franzöfifche Bevölferung, namentlich in dem franzöfifchen 
Sprachgebiet, in welchem das fefte Belfort liegt: 

Das Nationalitätsprincip wird möglichſt gewahrt, wenn 
man die Wafferjcheide zwifhen Doubs und IU zur Staate- 
grenze erhebt, aljo Belfort bei Frankreich läßt. Cine gute 
Naturgrenze findet ſich in diejer Segen nicht, auch wenn man 
weiter nad) Nordmeften vorgeht. Aber Belfort bedt befanntlidh 
den Durchgang vom Rhone- zum Oberrheinthal. Die militä- 
rifhen Rüdfigten werben daher bier wieder mit entfcheiden 
mäüffen, wo die Stantögrenze zu ziehen if, ähnlid wie bei 
Met. Die geringe Bedeutung Belforts ale Stadt veranlaßt 
auch weniger Bedenken gegen die Annerion, wie in bem Fall 
von Det. Dennoch möchte auch Hier die möglichſte Berück⸗ 
fihtigung des Nationalitätsprincips zu empfehlen fein. Das 
Berlangen, Belfort definitiv zu fchleifen, könnte ja auch deutſcher⸗ 
ſeits geftellt werben, wenn es bei Frankreich bleibt. 

Ueber die „Wiederentwelfchung von Elſaß und Lothrin⸗ 
gen” fpricht fi) Wagner in ähnlicher Weile ans wie 
Löher; nur daß er noch eingehender bie ſtatiſtiſchen 
Grundlagen berüdfihtig.. Er weiſt darauf hin, daß 
innerhalb des deutfchen Sprachgebiets, das an Deutſch⸗ 
land zurüdfallen fol, eine nad) Zahl und Bebentung 
nicht wmerhebliche, wirklich franzöftfche Bevölkerung Lebt, 
theild eingewanderte Nationalfranzofen und deren Nadı- 
fommen, theils franzöfirte Deutjche, daß ferner gegen⸗ 
wärtig der größte Theil ber nicht franzöftrten Deutfchen 
im Elſaß und in Lothringen in politifcher Beziehung 
ganz franzöfifch gefinnt if. Die Maſſe der Landbevöl⸗ 
ferung und der Kleinſtädter ift weniger franzöfirt als 
man denkt: 


Unfere Solbaten find allgemein verwundert, auf dem 
Lande im Elſaß und weit hinein nad Lothringen faft nur bie 
deutſche Sprache zu finden. Die wenigen, welche ſich bisher 
in Deutfhlaud um die Kenntniß folder Dinge kümmerten, 
wußten das wohl, im Volke, bei der großen Mehrzahl der 
Gebildeten war e8 aber faſt unbelannt oder wurde unglänbt 
angehört. Die Erfahrung war ber Lehrmeifler. Eharakterifiii 
find aud die Mittheilungen jener winbigen parifer Sonrnaliften, 
welche die promenade a Berlin hatten mitmachen wollen und 
ftatt deffen in die wilde Klucht von Wörth und Saarbrücken 
verwidelt wurben. Was fie erzählen, ift komifh genug und 
doch befchämend für uns Deutſche, die wir einen noch fo faft 
ganz dentſchen Stamm vor dem Kriege fat ſchon endgültig auf- 
gegeben batten. Dank der unfinnigen Aufftachelung flohen je 
die Bollsmaflen mit und verwirrten badurd vollends Mac 
Mahon's flüchtige Scharen. „Alles ſprach deutid um uns 
herum, wir verftanden fein Wort und niemand verfland uns, 
und wir waren glüdfich, einmal einen Menſcheü zu finden, der 
franzöſiſch ſprach. Wir famen dur eine Menge beutfche 
Drtichaften, aber wer lann ihre verbammten deutſchen Namen 
behalten” — fo Eagten die Barifer über ihre „Landelente“ auf 
bem Weg durch die Bogefen ins Departement Meurthe hinein. 





Kleine Schriften zur Zeitgefhichte. 


Barbarus hie ego sum, quia non intelligor ulli, Tonnte der | 


„Reurömer" im eigenen Lande fagen. Gibt es bei Ihnen 
wirklich mur Franzofen? jo darf man den Chef der amtlichen 
franzöſtſchen Statiſtik fragen. 

Stärker iſt das franzöſiſche Element in den größern 
Städten und Heinen Induſtrieorten. In jenen find die 
Mitglieder der Staatsverwaltung, das Berwaltungsperfonal 
ber großen öffentlichen Unternehmungen, die Lehrkörper 
ber höhern und niedern Schulen meift franzöftfch, ebenfo 
der Großhandel und die Großinduftrie, bie fich allerdings 
mehr in den Händen von franzöftrtien Elſäſſern und 
Schweizern befinden. Mehr deutſch ift das Handwerk 
und die Heine Induſtrie, während die ftädtifche Arbeiter» 
klaſſe und die Fabrikarbeiterbevöllerung vorzugsweife fran- 
zöſiſch iſt. Wagner empflehlt diefelben Mittel zur Ent» 
welfchung wie Löher in dem betreffenden Abſchnitt: deutfche 
Einwanderung, Einführung der Parität in den confeflto- 
nellen Berhältniffen, außerdem Aufhebung der ertödtenden 
Centralifation.. Entſchieden erklärt er fich gegen das 
Selbftbeftimmungsrecht nationaler Bruchtheile, wie ber 
Elfäffer und Lothringer, und gegen die Erhebung von 
Eifaß-Lothringen zu einem neutralen Zwiſchenſtaat zwi⸗ 
Shen Dentfchland und Franfreih. Sehe ſcharf fpricht 
er fich dabei über die bisherigen „neutralen Zwifchenftaaten“, 
namentlich iiber Holland aus, welches „bie Wacht am Rhein“ 
fie Deutfchland übernehmen und gleichzeitig die „ſchöne 
Idee” von Zwiſchenſtaatspuffer zwifchen Frankreich und 
Deutfchland verwirklichen follte. Er nennt Holland einen 
berfrämerten deutſchen Mitteljtaat, der in jeder Hinficht 
Mäglich Fiasco "machte. 

Intereffant ift der Hinweis darauf, daß Frankreich in 
der Bollsvermehrung und dem davon abhängigen volfs- 
wirthfchaftlichen Fortjchritt, daher auch in der Entwidelung 
feiner Staatsmacht auferorbentlich zurüdgeblieben, und 
ſchon dadurch fei das Machtverhältnig zwifchen Frankreich 
und Deutfchland weſentlich ander geworden: 

Die Bollssznnafme war jedoch innerhalb Deutfchlanbs 
wieder fehr verjcieden, nämlich ſehr raſch in Sachſen und 
Breußen, aljo Im größten Theil Norddeutſchlands, erheblich 
langfamer in Deutſch⸗Oeſterreich, faſt noch langfamer als im 
Frankreich fogar in Südmeft- Dentfchland und dem Reſt der 
norbdeutfchen Länder (Hannover, Kurheſſen, Medienburg). 
Daraus erklärt fih die außerordentliche Berfchiebung des poli⸗ 
tiſchen und volfswirtbfchaftlihen Schwerpunfts unjerer Nation 
innerhalb Deutſchlands — eine auch felten genligend gewür⸗ 
digte, den meiften nicht einmal befaunte mitwirkende Urjache 
der neuern politifchen Geſchichte unfere Vaterlandes. Für 
Frankreich war dieſe deutſche Volkszunahme alſo doppelt peni⸗ 
bei, weil fie dem politiſch bereits geeinigten Theil unſers Bolks 
traf. Und gleichwol daneben, wie in England, dieſe kolofſale 
Answanderung, duch melde in Nordamerika ein neues germa⸗ 
niſches Weltreich, defien Macht Frankreich in Merico bereits zur 

e keunen fernen follte, entflanden ift und in Auftralien 
ein ähnliches fich vorbereitet. Wo hat die gallifche Kaffe etwas 
nur entfernt Aehnliches geſchaffeu! Es klingt wie Spott, 


645 


Algier nur zu nennen. Dahin fendet ja Franfreih kaum 
Menſchen, fondern dort refrutirt e8 feine ciuififatorifchen Heere, 
za deren Ausfüllung feine eigene Bevölkerung nicht ausreicht. 
Wenige Zahlen zeigen die broßartige Bedeutung des erwähnten 
Moments. Die mittlere jührliche Volkszunahme war (nach den 
forgfältigen Berechnungen im gothaer Almanach) in Frankreich 
1821—61 0,47, in Sübweftveutiland 1834—64 0,42, dagegen 
in England und Wales 182161 1,30, in Preußen 1822-61 
1,18, ın Sadjen 1834—64 1,24 Proc. Danadı ergibt ſich bei 
entſprechender Andauer biefer Zunahme eine Berdoppelungs- 
periode der Bevolkerung in Sranfreich von 147,6, in Suddeutſch⸗ 
land von 167,2, in England von 53,8, in Preußen von 59,9, 
in Sadjen von 56,1 Jahren. Die Volkedichtigkeit ift in Frank⸗ 
reich von 1816—66 nur geftiegen von 3110 auf 3897 Ein- 
wohner auf der Duadratmeile, in Preußen (ohne Annerionen) 
von 1816-67 dagegen von 20560 auf 3879: ehemals auf der 
gleich großen Fläche des zum Theil ftiefmütterlich ausgeflatteten 
Bodens von Preußen 1060 Menſchen weniger, jetst ebenfo viel 
als auf der gefegneten Erde Frankreichs. Im ganzen Deutfchen 
Bunde war die Bollsdichtigkeit 1816 aud nur 2630, 1864 das 
gegen 4100 auf die Duadratmeile. Welch verjhiedenes Tempo 
in diefen Fortjchritten, wie weit vorauseilend Deutſchlaud vor 
Frankreich! 


Der Deutſche Bund und Frankreich gingen aus der 
großen Territorialregelung von 1814 und 1815 faſt genau 
mit derſelben Einwohnerzahl hervor: beide mit 30 Mil⸗ 
lionen. Dieſe Zahl ſtieg bei Frankreich bis 1866 auf 37,45, 
beim Deutſchen Bunde bis 1864 auf 46,6 Millionen, 
d. h. der Deutſche Bund hatte um die Zeit feiner Auf- 
Löfung faft 10 Millionen Einwohner mehr ale Frankreich. 
Durch den Austritt Oeſterreichs verlor Deutjchland 
14,35 Millionen Deutfh»Defterreiher. Dank der Volks⸗ 
vermehrung ſteht indeß auch das jegige Deutichland, 
der Norddeutſche Bund mit den ſüddeutſchen Staaten, an 
Bevölkerung gegen Frankreich nicht zurüd. Dieſes hat 
38,19 (inclufive Savoyen und Nizza), Deutſchland 38,51 
Millionen Einwohner. Nur Schleswig (0,0 Millionen 
Einwohner) und die Provinzen Preußen und Pofen (zu- 
fammen 4,63 Millionen Einwohner) find hinzugekommen, 
damit dies Refultat erreicht werden konnte. 

Diefe Daten der Statiftil find außerordentlich Lehr- 
rei; fie zeigen, daß der gefchichtlihe Schwerpunkt weder 
durch den Zufall no durch eine, wir möchten jagen 
tdeologifche Gewaltſamkeit verrüdt wird, fondern daß 
bie Logik der Thatfachen und der Zahlen dies hervorruft. 
Abgefehen von dem ftatiftifchen Fleiß erfreut die Wagner’ 
Ihe Schrift durch eine energifche patriotifhe Haltung, 
und wenn fie in ber Charakteriftif der franzöſiſchen Na- 
tionalität zu fehr nur die Schattenfeiten hervorhebt und 
allzu gering von der geiftigen Miffton diefes Volks denkt, 
fo entfchädigt dafiir wieder das Mafhalten in Betreff 
der Forderungen, welche Wagner der deutſchen Diplo» 
matie ald Grundlage fir den abzufchliegenden Yrieden 
vorſchlägt. 

Rudolf Goitfdall, 





644 Kleine Schriften 


überhandnehnenden Romanismus. Die Heine Schrift ifi 
mit genauer Geſchichtskenntniß, mit Eleganz und Schwung 
abgefaßt. 

Noch fpecieller in das ftatiftifche Detail eingehend ift 
die Schrift: 


3. Elſaß und Lothringen und ihre Wiedergewinnung für Deutich- 
land von U. Wagner. Leipzig, Dunder und Humblot. 
1870. 8. 12 Ngr. 


Der Berfaffer geht in feinen Anforderungen nicht fo 
weit wie Löher und ſtimmt mehr mit Richard Böckh 
überein. Er geht davon aus, daß Frankreich unfer Feind 
ift, das franzöftfche Volk, nicht Napoleon; ber Weftfälifche 
Frieden, diefe Beflegelung unferer tiefften Erniedrigung, 
müffe, foweit e8 unjer Nationalinterefie erheifcht, wieder 
befeitigt werden: 

Wahrlich, wir werden aud im größten Siege das deutſche 
Mafihalten nicht vergeffen. Kein Menſch denkt bei uns an 
eine Wiederherftelung des Heiligen Römiſchen Reihe im mit- 
telalterlihen Umfange. Unter den Folgen folder verkehrter 
römifher Weltreihspolitit haben wir lange genug gelitten. 
Deun unfere ehemaligen Weberfchreitungen unfers natürlichen 
nationalen Machtgebiets, den Italienern wie den Franzoſen 
gegenüber, haben mächtig zu jener Reaction diefer Bölter gegen 
ung mitgewirkt, durch die ber Zerfall unfers Staats mit 
herbeigeführt wırrde, Niemand möchte, etwa als Vergeltung 
für 1811, wo Frankreiche Grenzen bis an die Mündung ber 
Elbe und Trave vorgefhoben waren, aus dem franzöflichen 
Nationalgebiet Stüde herausihneiden, Verbundenes trennend, 
Bremmbartiges verbindend. Nein, womdglich fein franzöfifchee 

orf wollen wir nehmen, foweit e8 der nothiwendige Grenzzug 
irgend vermeiden läßt. Mögen die Franzofen behalten, was 
von Natur und Rechts wegen ihr Eigen if. Aber womöglich 
auch kein dentihes Dorf, das fie ſtahlen und verdarben, ſollen 
fie behalten. Was diefjeit unferer Naturgrenze und innerhalb 
umjere Sprachgebiets liegt, muß wieder unfer, der Rhein wie- 
der Deutihlands Strom werben, nicht länger, wenigflens 
gegen Frankreich nicht länger, Dentſchlands Grenze bieiben! 
So kümpfen wir für uns, aber wir lämpfen für eine Idee 
zugleich, für das Nationalitätsprincip, das ihr, Franzofen, 
fiets mit Füßen tratet, oder nur befolgtet wo e8 euch nützlich 
war. Wir mollen auch jeßt wicht weiter geben, als jene bobe 
Idee geftattet. 

Auch Wagner verlangt, wie Bödh, daß bie Spradh- 
grenze im ganzen zur Staatögrenze erhoben werde. In 
der Annerion eines größern oder wichtigern national- 
frangöfifchen oder völlig franzöfirten Gebietötheils an 
Deutſchland findet er die Keime zu nenen Sriegen. 
Weitergehende Wünfche in Bezug auf Lothringen will 
Wagner nicht befürworten, über Diet Heißt es: 

Ernftliher wird von dentſcher Seite wol nur die Rück⸗ 
erwerbung von Met in Frage fommen. Die großartige mili- 
tärifche Bedeutung diejer Stellung, für den Augriff nnd für 
die Bertheidigung gegen Dentichland, hat die meltgefchichtliche 
furchtbare breitägige Schlaht vom 14., 16. und 18. Auguft 
von neuem erwielen. Es wäre andy wol eine gerechte Sühne 
für das vergofiene Blunt, wenn bdiefes Bollwerk gegen Deutſch⸗ 
land in ein Schutzwerk für dafjelbe verwandelt würde, wenn 
die Stadt wieder deutſch würde, von ber es einft Karl V. 
gegenliber hieß: 

Die Mes und bie Magb (Magbeburg) 

Haben bem Kaifer den Tanz verfagt. 

Met Liegt no heute nur 2 Meilen von der Sprachgrenze 
entfernt, was die Germanifiruug erleichtern wirbe. Aber den⸗ 
no bat die Erwerbung große Bedenken. Die Stadt ift ein- 
mal fo gut wie ganz *— und wegen ihrer Größe 
(85000 Einwohner) nicht leicht zu amalgamiren. Ob ihre mie 
Utärifche Bedeutung nicht durch Diebenhofen unb das hboffent- 


zur Zeitgeſchichte. 


fi wieder deutfch werdende Luremburg ausgeglichen werben 
fann, mögen die Berufenen wenigſtens erwägen. Könnte nicht 
vielleicht eine friedensbedingung fein, da rankreich dem 
Erwerb von Luxemburg durch Deutſchland Feine Schwierig- 
feiten entgegenftellen darf? Ließe fig nit, wenn Meg in 
franzöfiihen Händen uns zu gefährlich bleibt, auj der Schlei⸗ 
fung der Feſtung beftehen umd die völferrechtlihe Servitut des 
Nidtwieberaufbaues auf den Plat legen (wie nad dem Krim⸗ 
kriege auf Bomarfund)? Muß Mey wirklich vom Sicherheits⸗ 
gefichtspunfte aus zu Deutſchland kommen, fo follte doch nur 
fo viel weiteres franzöfiiches Gebiet mit ihm übernommen 
werden , al8 unbedingt notbiwendig if, um bie Stellung 
zu fidhern. 

Auch in Bezug auf das von Löher hervorgehobene 
Bölkerthor zwifchen Bogefen, Jura und Schwarzwald ift 
Wagner anderer Meinung. Dort wohnt eine compact 
franzöfifche Bevölkerung, namentlich in dem franzöfifchen 
Sprachgebiet, in welchem das fefte Belfort liegt: 

Das Nationalitätsprincip wird möglichſt gewahrt, wenn 
man die Waſſerſcheide zwiihen Doubs und IU zur Staate- 
renze erhebt, aljo Belfort bei Franfreih läßt. Eine gute 
Naturgrenze findet fih in diefer Segen nit, auch wenn man 
weiter nad) Nordweſten vorgeht. Aber Belfort deckt befanntlidh 
den Durchgang vom Rhone⸗- zum Oberrheinthal. Die militä- 
rifhen Rüdfihten werden daher Hier wieder mit enticheiden 
müffen, wo die Stantögrenze zu ziehen if, ähnlich wie bei 
Met. Die geringe Bedeutung Belforte als Stadt veranlaßt 
auch weniger Bedenken gegen die Annerion, wie in dem ‚gen 
von Det. Dennoch möchte auch hier die möglichſte Berück⸗ 
fitigung des Nationalitätsprincips zu empfehlen fein. Das 
Berlangen, Belfort definitiv zu fchleifen, könnte ja auch dentſcher⸗ 
feits geftellt werden, wenn e8 bei Yranfreich bleibt. 

Ueber bie „Wiederentwelfhung von Elſaß und Lothrin⸗ 

en“ fpricht fih Wagner in ähnlicher Weile ans wie 
öher; nur daß er nod eingehender die ftatiftifchen 
Grundlagen berückſichtigt. Er weiſt baranf Hin, daß 
innerhalb des deutfchen Sprachgebiets, das an Deutjch- 
land zurüdfallen fol, eine nad Zahl und Bebeutung 
nicht unerheblihe, wirklich franzöftfche Bevöllerung Lebt, 
theild eingewanderte Nationalfranzofen und deren Nad}- 
fommen, theils franzöfirte Deutfche, daß ferner gegen- 
wärtig der größte Theil der nicht franzöftrten Deutfchen 
im Elſaß und in Lothringen in politifcher Beziehung 
ganz franzöftfch gefinnt if. Die Maſſe der Landbevöl⸗ 
ferung und der Kleinftäbter ift weniger franzöfirt ale 
man denkt: 


Unfere Soldaten find allgemein verwundert, auf dem 
Lande im Elſaß und weit binein nad; Lothringen faft nur bie 
deutfche Sprache zu finden. Die wenigen, welde ſich bisher 
in Deutichlaund um die Keuntniß folder Dinge kümmerten, 
wußten das wohl, im Volke, bei der großen Mehrzahl ber 
Gebildeten war es aber faſt unbelannt oder wurde unglänbi 
angehört. Die Erfahrung war der Lehrmeifler. Eharakterifif 
find aud die Mittheilungen jener winbigen pariſer Sonrnaliften, 
welche die promenade à Berlin hatten mitmachen wollen umd 
ftatt deffen in die wilde Klucht von Wörth und Saarbrüden 
verwidelt wurden. Was fie erzählen, ift komiſch genug unb 
doch beſchämend für uns Dentfche, die wir einen noch fo faſt 
ganz deutfchen Stamm vor dem Kriege faſt fhon endgültig auf 
gegeben hatten. Dank der unfinnigen Aufftachelung flohen ja 
die Bollsmaffen mit unb verwirrten dadurch vollends Mac 
Mahon's flühtige Scharen. „Alles ſprach deut um uns 
herum, wir verftanden fein Wort und niemand le une, 
und wir waren glüdli, einmal einen Menſcheñ zu finden, ber 
franzöſiſch ſprach. Wir kamen durch eine Menge beutiche 
Ortſchaften, aber wer taun ihre verbammten beutfihen Namen 
behalten’ — fo Eagten die Barifer über ihre „Landelente““ auf 
bem Weg durch die Bogejen ind Departement Meurthe hinein. 





Kleine Schriften 


Barbarus hie ego sum, quia non intelligor ulli, Tonnte der . 


„NReurömer" im eigenen Lande fagen. Gibt es bei Ihnen 
wirklich nur —— ſo darf man den Chef der amtlichen 
franzöſtſchen Statiſtik fragen. 

Stärker iſt das franzöſiſche Element in den größern 
Städten und kleinen Induſtrieorten. In jenen find die 
Mitglieder der Staatsverwaltung, das Verwaltungsperſonal 
ber großen öffentlichen Unternehmungen, die Geßrförper 
der böhern und niedern Schulen meift franzöftfch, ebenfo 
der Großbanbel und die Großinduftrie, bie fich allerdings 
mehr in den Händen von franzöfirten Elſäſſern und 
Schweizern befinden. Mehr deutfch ift das Handwerk 
and bie Heine Induſtrie, während die ftädtifche Arbeiter- 
Hoffe und bie Fabrikarbeiterbevöllerung vorzugsweiſe fran- 
zöfiſch iſt. Wagner empfiehlt biefelben Mittel zur Ent⸗ 
welfhung wie Löher in dem betreffenden Mbfchnitt: deutiche 
Einwanderung, Einführung der Parität in ben confeſſio⸗ 
nellen Berhältniffen, außerdem Aufhebung ber ertödtenden 
Centralifation. Entſchieden erflärt er fich gegen das 
Selbfibeftimmungsreht nationaler VBruchtheile, wie ber 
Elſaſſer und Lothringer, und gegen bie Erhebung von 
Elfag-Lothringen zu einem neutralen Zmifchenftaat zwi« 
Shen Deutfhland und Frankreich. Sehr ſcharf ſpricht 
er ſich dabei über die bisherigen „neutralen Zwiſchenſtaaten“, 
namentlich iiber Holland aus, weldjes „bie Wacht am Rhein“ 
fie Deutjchland übernehmen und gleichzeitig die „ſchöne 
Idee” von Zwiſchenſtaatspuffer zwilchen Frankreich und 
Deutfchland verwirklichen follte. Er nennt Holland einen 
verfrämerten bdeutfchen Mittelſtaat, der in jeder Hinficht 
Mäglich Fiasco machte. 

Intereſſant iſt der Hinweis darauf, daß Frankreich in 
der Volksvermehrung und dem davon abhängigen volks⸗ 
wirtbfchaftlichen Fortjchritt, daher auch in der Entwidelung 
feiner Staatsmaht außerordentlich zuridgeblieben, und 
ſchon dadurch fei das Machtverhältnig zwiſchen Frankreich 
und Deutſchland weſentlich anders geworden: 

Die Volkszunahme war jedoch innerhalb Deutſchlands 
wieder ſehr verſchieden, nämlich fehr raſch in Sachſen und 
Preußen, alſo im größten Theil Norddeutſchlands, erheblich 
langfamer in Deutſch⸗Oeſterreich, faſt noch langſamer als in 
Fraukreich ſogar in Südweſt⸗Deutſchland und dem Reſt der 
norbdeutfchen Länder (Hannover, Kurheſſen, Mecklenburg). 


Daraus erklärt fi die außerorbentlihe Berfhiebung des poli- 
tifchen und volfswirthfchaftlihen Schwerpunfts unferer Nation 


innerhalb Deutſchlands — eine auch felten genügend gewür⸗ 
digte, den meiften nicht einmal befannte mitwirkende Urfache 


der nemern politiihen Gefchichte unſers Vaterlandes. Für 
Frankreich war dieſe deutſche Volkszunahme alſo doppelt peni⸗ 
bel, weil fle dem politiſch bereits geeinigten Theil unſers Volks 
traf. Und gleihwol daneben, wie in England, dieſe Loloffale 
Auswanderung, durch melde in Nordamerika ein neues germa⸗ 
niſches Weltreich, deſſen Macht Frankreich in Merico bereits zur 
Senlige kennen lernen ſollte, entflanden ift und in Auftralien 
ein Ähnliches fidh vorbereitet. Wo bat die galliiche Rafſe etwas 
nur entfernt Aehnliches geſchaffen! Es klingt wie Spott, 


zur Zeitgeſchichte. 


645 


Algier nur zu nennen. Dahin ſendet ja Frankreich kaum 
Menſchen, fondern dort rekrutirt e8 feine civtftiatorifchen Heere, 
zu deren Ausfüllung feine eigene Bevölkerung nicht ausreicht. 


ı Wenige Zahlen zeigen die großartige Bedeutung des erwähnten 


Moments. Die mittlere jührlihe Vollszunahme war (nach den 
forgfältigen Berechnungen im gothaer Almanach) in Frankreich 
1821—61 0,47, in Sübweftveutfchland 1834—64 0,42, dagegen 
in England und Wales 1821—61 1,80, in Preußen 1822-61 
1,18, ın Sachſen 1834—64 1,24 Proc. Danach ergibt fi) bei 
entfprechender Andauer dieſer Zunahme eine Berdoppelungs- 
periobe der Benäfferung in Frankreich von 147,6, in Süddeu G 
land von 167,2, in England von 53,8, in Preußen von 59,9, 
in Sadjfen von 56,1 Jahren. Die Volkedichtigkeit iſt in Frauk⸗ 
reih von 1816-66 nur geftiegen von 3110 auf 3897 Ein- 
wohuer auf der Duadratmeile, tn Preußen (ohne Annerionen) 
von 181667 dagegen von auf 3879: ehemals auf der 
gleich großen Fläche des zum Theil ſtiefmütterlich ausgeftatteten 
Bodens von Preußen 1060 Menſchen weniger, jetzt ebenfo viel 
al8 auf der gefegneten Erde Frankreichs. Im ganzen Deutfhen 
Bunde war die Bollsdichtigfeit 1816 auch nur 2630, 1864 das 
gegen 4100 auf die Quadratmeile. Welch verfchiedenes Tempo 
in diefen Kortfchritten, wie weit vorauseilend Deutſchland vor 
Frankreich! 


Der Deutſche Bund und Frankreich gingen aus der 
großen Territorialregelung von 1814 und 1815 faſt genau 
mit derſelben Einwohnerzahl hervor: beide mit 30 Mil⸗ 
lionen. Dieſe Zahl ſtieg bei Frankreich bis 1866 auf 37,45, 
beim Deutfchen Bunde bis 1864 auf 46,6 Millionen, 
d. 5. der Deutfhe Bund hatte um die Zeit feiner Auf- 
löfung faft 10 Millionen Einwohner mehr als Frankreich. 
Durh den Austritt Defterreiche verlor Deutfchland 
14,35 Millionen Deutſch⸗Oeſterreicher. Dank der Bolls- 
vermehrung ſteht indeß aud das jegige Deutjchland, 
der Norddeutſche Bund mit den füddeutſchen Staaten, an 
Bevölkerung gegen Frankreich nicht zurüd. Dieſes hat 
38,19 (inclufive Savoyen und Nizza), Deutfhland 38,51 
Millionen Einwohner, Nur Schleswig (0, Millionen 
Einwohner) und die Provinzen Preußen und Pofen (zu- 
fammen 4,63 Millionen Einwohner) find Hinzugelommen, 
damit dies Refultat erreicht werden fonnte. 

Diefe Daten der Statiftif find außerordentlich lehr⸗ 
reich; fie zeigen, daß der geſchichtliche Schwerpunkt weder 
duch den Zufall no durch eine, wir möchten fagen 
tdeologifche Gewaltſamkeit verrüdt wird, fondern daß 
die Logik der Thatfachen und ber Zahlen dies hervorruft. 
Abgefehen von dem ftatiftifchen Fleiß erfreut die Wagner’ 
fhe Schrift dur eine energifche patriotifhe Haltung, 
und wenn fie in der Charalteriftif der franzöſiſchen Na— 
tionalität zu fehr nur die Schattenfeiten hervorhebt und 
allzu gering von der geiftigen Miffton diefes Volks denkt, 
fo entfchädigt dafiir wieder das Maßhalten in Betreff 
ber Forderungen, welche Wagner ber deutſchen Diplo» 
matie ala Grundlage für den abzujchliegenden Frieden 
porfchlägt. 

Rudolf Gotifchall, 





646 


Ein Drama Oehlenſchläger's. 


Ein Drama Gehlenfchläger’s. 


König Helge. Eine Norblandeage. Bon U. Dehlen- 
ſchläger. Ueberfest von Gottfried von Leinburg. 
IL Yrſa. Eine Tragödie. Berlin, Allgemeine deutjche Ver⸗ 
Yage-Anftalt. 1869. 8. 18 Nor. 

Man kann e8 nur als einen erfreulichen Beweis des 
fih immer univerfeller geftaltenden Bildungsgangs unferer 
Nation betrachten, daß ausländiſche Geifteswerke, welche 
infolge ihrer eigenartigen und von dem, was und bon 
andern Seiten her geboten wird, nad Form und Inhalt 
wefentlich abweichenden Befchaffenheit bisjegt verhältniß- 
mäßig geringe Beachtung gefunden, in neuerer Zeit mit 
einem Intereſſe aufgenommen werden, welches bie Autoren 
und ihre Vermittler, die Meberfeger, zu fernerer Thätige 
feit ermuthigen muß. 

Eine biefer in früherer Zeit von nur wenigen beach⸗ 
teten und gepflegten Literaturen ift die flandinavifche, die 
dem großen Lefepublitum faft nur in ihren Erzeugniflen 
leichterer Gattung, in Romanen, Novellen u, dgl. be⸗ 
lannt war. 

Der Hauptgrund, aus welchem die gebiegenern Werke 
des unferm Vaterland gleichwol fo nahe verwandten Nor⸗ 
dens erft in neuerer Zeit allgemeinern Anklang finden, 
lag darin, daß es an Uebertragungen mangelte, welche 
dem Geift und der Form ber Originale vollftändig ge» 
recht geworben wären und die zugleid) durch begleitende 
Anmerkungen und Erflärungen dem Leſer das richtige 
Berftändniß diefer Dichtungen erfchlofien hätten. 

Seit einigen Jahrzehnten ift dies anders geworden; 
und ſeitdem Zegner’s „Frithiofsſage“ nahezu an dreißig 
mehr oder minder glücdliche Ueberjeger und Commentato- 
ven gefunden, find auch andere ebenbürtige oder nod) 
höher ftehende Gaben ber flandinavifcdhen Literatur von 
Bearbeitern uns angeeignet worden, die ihren Beruf zu 
Löſung diefer oft ungemein fchwierigen Aufgabe auf die 
glänzendite Weife documentirt haben. 

In allererfter Reihe diefer Bearbeiter ſteht Gottfrieb 
von Leinburg, der befannte Verfafjer der erften ſchwedi⸗ 
ſchen Literaturgefchichte und Anthologie, nicht nur in 
Deutfchland, fondern in Europa, die unter dem Xitel: 
„Hausſchatz ber ſchwediſchen Poefie und Proſa in Proben 
mit gegenüberftehendem Urtert und kurzen literarhiftori- 
ſchen Einleitungen und Charafteriftilen”, in ſechs Bänden 
erfchien, nachdem er eine überaus gelungene Ueberſetzung 
der „Frithjofsſage“ geliefert, deren günftige Aufnahme be⸗ 
reits eine vierte Auflage nothwendig gemacht Hat. 

Ein befonders glüdlicher Gedanfe war e8 von ihm, 
zunähft A. Oehlenſchläger's „König Helge“, das bis da⸗ 
bin unüberfeste Hauptwerk des däniſchen Dichterfönige, 
ja vielleicht da8 Hauptwerk der ganzen dänifchen Poeſie, 
bem deutſchen Leſepublikum im einer Geftalt vorzuführen, 
bie nicht verfehlen Tann, der großartigen Dichtung gleich⸗ 
begeifterte Freunde zu gewinnen wie in ihrer engern 
Heimat. 

Diefe Dichtung befteht bekanntlich aus drei genau mit- 
einander zufammenhängenden Theilen und zwar: I. „Helge“, 
einem Gebiht in 21 Romanzen, ähnlich benen der 
„Frithiofsſage“ und gleichfalls in nad) Form und Inhalt 
wechjelnden Versmaßen; II. „Yrſa“, einer Tragödie in 


— 


antiken Trimetern mit prächtigen Chören und Gefängen; 
und III. der „König Hroers⸗Sage“, einem Roman in 
Proſa, im Ton und Stil der echten Rordlandsjagen, 
nur reiher an Inhalt und intereffanter, mit vielen iu 
ben Text eingeflochtenen Liedern und Romanzen. 

Diefe von echt dichteriſchem Geift durchwehte Trilogie 
verfetst, wie ein anderer Sritifer bei Gelegenheit des Er- 
ſcheinens der Verdeutſchung ihrer erſten Abtheilung fehr 
richtig bemerkte, den Leſer mit gewaltigem Flügelſchlage 
auf die Höhen des altjtandinavifchen Wilingerlebens; fie 
ift, fozufagen, das männliche Seitenftüd zur „Frithiofs⸗ 
ſage“, deren Verfaſſer felbft geftand, daß er ohne „Helge“ 
fein Wert gar nicht hätte fchreiben können, und zu welder 
es fih verhält wie die „Ilias“ zur „Odyſſee“, wie das 
„Ribelumgenlieb“ zur „Gudrun“. Das uralte däniſche Leben 
ragt in feiner ganzen Kraft und Wildheit hervor, denn 
die dem grauen Altertfum angehörende Bollsfage, weldye 
dem Gedichte zu Grunde liegt, führt Weſen und Dämo- 
nen anderer Orbnung als gewöhnliche Dienfchenkinder der 
neuern Zeiten handelnd darin ein. Es ift die Auffaffung 
des „Nibelungenliebes‘, nur viel düfterer und geiwalt- 
famerer Art. | 

Auch wir haben in Nr. 4 d. BL. f. 1866 der Ueber⸗ 
fegung des erften Theils diefer großartigen Dichtung ge- 
bührende Aufmerkjamfeit erwiefen und eine Beſprechung 
mit einer angemefjenen Auswahl von Citaten gebradt. 
Heute Tiegt ung die angenehme Pflicht ob, dies aud) iu 
Bezug auf bie zweite Abtheilung, die Tragödie „Yrſa“, 
zu thun, und wir freuen uns, glei bon vornherein er» 
Hären zu können, daß bie Verdeutfhung diefer Ahthei- 
lung derjenigen der erfien in Feiner Weiſe nachſteht. 

Wir werben dem Lefer fogleich Gelegenheit geben, ſich 
felbft Hiervon zu überzeugen, und kommen nur erft mit 
furzen Worten auf den Schluß von „Helge“ zurüd, um 
den Anfnüpfungspuntt für bie Beſprechung von „Dre“ 
zu gewinnen. 

„Helge“ ſchließt mit dem Hachegelübbe der Königin 
Dluf von Sachsland, welche der Wilingerfönig, nachdem 
er von ihr a la Brunhildis behandelt worden, doch nod 
überliftet, indem er fie auf fein Schiff lockt und zwingt, 
mehrere Nächte hintereinander fein Lager mit ihm zu 
theilen, um fie dann mit Schimpf und Schmach beladen 
ans Land und in ihr Schloß zurüdkehren zu Iaffen. 

Die Frucht der gezwungenen Hingebung Oluf's am 
König Helge ift eine Tochter, welche fie mit Hülfe ber 
Meerfrau Scilflieb, die früher einmal ebenfalls Helge’s 
Liebe genoffen und dann von ihm verfchmäht und ver 
ftoßen worden, zur Welt bringt und einem alten Fifcher 
zur Erziehung übergeben läßt. 

Die Tragödie „Yrfa“ fpielt fechzehn Jahre fpäter- 
Die handelnden Perfonen bderfelben find: König Helge; 
die Königin Oluf; Yrſa, die von beiben erzeugte und 
in Unbefanntfchaft mit ihrer Abftammung aufgewachfene 
Tochter; ihr Pflegevater, der alte Fiſcher Follwar; Helge's 
Freund und Begleiter Reigin; die vorhin erwähnte bienft- 
fertige Meerfrau Schilflieb; und die Göttin Yreia, bie 
nordifhe Denus. Außerdem treten noch der Chor ber 





Ein Drama Dehlenfhläger’s. 


Meerfrauen, Kämpen des Königs Helge, fowie Herolde 
und weibliches Gefolge der Königin auf. 

Der Schauplag des Dramas ift eine waldige Bucht, 
mit Eichen und Buchen im Vorder⸗ und dem Meer im 
Hintergrund. Auf einem jchroff in die See hinaushän⸗ 
genden Felſen erblidt man das Schloß ber Königin Dluf 
mit feinen rohen angeljächfifchen Mauern und Thürmen; 
Fr dem Strande, hinter Gebüfch und Geſträuch, eine 

öble. 

Das Drama felbft beginnt mit einem Monolog der 
Königin Oluf, defien Anfang lautet: 

Mit Angft und Grauen nah’ ih mi, mit leifem Tritt 
Der dunkeln Höhle diefes Waldes, die ich num 
In fechzehn langen Jahren nicht mehr wiederjah; 
Wo mid die Meerfrau damals, mich, die ſchon dem Tod 
Unbeimgegebne, diefem Leben wiedergab; 
Wo fie die Frucht von Oluf's und von Helge's Schimpf 
Aus meinen fhwaden Armen riß, und dann das Kind 
In Hut und Pflege jenem Fiſcher übergab. 
Geheimer Schimpf ift darum doch nicht minder Schimpf 
Und färbt mit dunkelm Mohnblut Stirn und Wangen roth, 
So oft die Seele wieder ſchamvoll dran gebenft. 
In diefer Waldſchlucht, ja, iu biefer Hüte war's, 
Wo ich der argen Meerfrau damals ſchwor den Eid: 

u baffen jenen Helge, grimm die Baftardfrucht 

un baffen diefes Leibes, und das Rächeramt 
Ihr felbft zu Yaffen. 

Sie erwähnt hierauf, daß fie fich infolge einer ihr 
von der Meerfram gefendeten Botfchaft heute bier ein» 
gefunden, und ſpricht bie Ahnung aus, dag die Mitthei- 
lung, die ihrer harre, eine unbeilvolle fein werde. 

Es dauert nicht lange, fo erfcheint Schilflieb, die 
Meerfran, und fragt die Königin, ob fte noch bereit fet, 
den vor fechzehn Sahren geleifteten Schwur zu halten. 
Die Königin bejaht diefe Trage, und Scilflieb fordert 
fie dann auf, Yrſa, wenn aud bios als Sklavin oder 
Magd, an ihren Hof zu rufen, warnt fte aber zugleich: 

Der Lieblichen zu fchaden, und ein Blütenblatt 

Der Lilie zu rauben. 

Dluf verfpricht zu thun wie die Meerfrau von ihr 
begehrt, und diefe fagt ihr nun, daß Helge'8 Wiederkunft 
nahe bevorftehe, worauf fie hinzufetst: 

Klopft der Held 

Als Saft an deine Pforte, dann — verſprich mir das, 

D Königin! — thu freundlich gegen ihn, und was 

Er will von bir, und was er es von dir erflebt, 

Gewähr’ es ihm und gib’s ihm. 

Nachdem die Königin das verlangte Verſprechen ge 
geben und durch Handſchlag bekräftigt, kehrt fie in ihr 
Schloß zurüd, während die Meerfrau ſich wieder in das 
Innere der Höhle zurüdzieht. 

Unmittelbar hierauf erfcheinen ber alte Fiſcher Folk⸗ 
war und feine Pflegetochter Yrſa. Er fagt ihr, bie 
Königin habe jedenfalls von Yrfa's Schönheit gehört und 
ihm deshalb befohlen, fie hierherzubringen, wahrſcheinlich 
um fie nicht wieder im ihre zeitherige Heimat zurückkehren 
zu laffen. Yrſa erflärt, daß fie, dafern auch Folkwar 
bedacht werbe, gern zu bleiben bereit fei, denn oft ſchon 
babe fe im Traume biefes Königsjhloß gefehen, und 
Folkwar ſagt bei fich ſelbſt: 

Bei Zeiten wächſt der jungen Adlerin die Kraft 

Der flogen Flügel! Mächtig fühlt und ſchlägt fie fie, 

Db manches Jahr im Grab des fernen Dünenjande 

Auch lag das Königsvogelei in tiefem Schlafe. 


647 


Die Königin tritt, diesmal mit Gefolge, wieder auf, 
und der Unblid Yrſa's, die ihrem Water gleicht, ent- 
zündet im ihrem Herzen wieder den alten Haß und Groll, 
obſchon die folge Haltung der Jungfrau ihr zugleich Be 
wunderung abnöthigt. Sie nimmt fie als ihr Eigenthum 
in Anſpruch, indem fie fagt: 

In meinem Schloß gebar di eine Sklavin mir, 

Die mit dem Tod braadiie deiner Tage Licht. 

Gerlihrt von deiner Unſchuld, übergab ich did 

Zur Bflege diefen Fiſcher. Darum achte dich 

Br feine freie J Bon Geburt mein eigen fon, 

ordr’ ich dich jegt, mein Heilig Eigenthum, zurück. | 

Yrfa’s flolzer, unabhängiger Sinn empört ſich gegen 
ben Gedanken, daß fie eine Sklavin fein folle, und ganz 
befonders entfett fie fih vor der ihr mun drohenden Ge⸗ 
fahr, den Lockenſchmuck ihres Hauptes zu verlieren. Die 
Klage, in welche fte hierüber ausbricht, ſcheint ung eine 
der gelungenften Stellen der Originaldihtung ſowol ale 
der Mebertragung zu fein. Sie lantet: 

So foll ich euch verlieren, goldene Flechten, ihr, 

Die ihr fo flolz vom meinen Achſeln niederhängt? 

Denn nicht if einer Sklavin langes Haar erlaubt. 

Wie oft am frühen Morgen wuſch id) in dem Quell 

Und ſtrählt' ih mit dem Goldkamm euern reihen Schwall! 
Wie waren meine Finger fo darin gelibt! 

Des Spiegels nicht bedurft’ ich eines blanken Schilde 

Und nicht des Wogenfpiegels, iu das Gold hinein 

Mir anmuthvoll zu winden Bänder blau und roth. 

Nicht lieblich mehr umſchwankt ihr meine Schläfe nun, 
Mein Haupt num muß ich beugen Oluf's Herrſcherſchwert; 
Und gleich dem Mann bes Tods, der da am Rabenſtein 
Den Henterfchlag empfangen fol und dem das Haar 

Bis niederwärts zur Grube feines Halsgenide 

Geſchoren wird geflihlfos ruhig — mäht der Stahl 

Mit einem Schnitt den Flor von fechzehn Lenzen ab. 

Auf das Harte graufame Gemüth der Königin äußert 
jedoch feloft diefe rührende Klage keine Wirkung und fie 
ſteht fchon im Begriff, das entehrende verunftaltende 
Werk mit eigener Hand zu verrihten, als plöglicher Don⸗ 
ner und beginnender Meeresſturm fie an das der Meer- 
frau gegebene Berfprechen, „der Lilie kein Blütenblatt zu 
rauben“, erinnert, ſodaß fie ihr Vorhaben erfchroden auf- 
gibt und Yrſa fo, wie fie it, mit in ihr Schloß nimmt. 

In der näcdftfolgenden Scene — das Ganze ift nicht 
in mehrere Ucte, fondern nur in Scenen abgetheilt — 
lenkt König Helge's Drachſchiff in die Bucht herein und 
wirft am Geftade Anker. Der König Tpring! mit fernen 
Kämpen ans Land und naht ſich mit feinem Begleiter und 
Fremd, dem Jarl Reigin, dem Vordergrund. 

Obſchon der Schimpf, den er der Königin Oluf an- 
getban, nur eine Vergeltung des ihm früher von ihr zu. 
gefligten gewefen, jo hat ihn doch fehon feit längerer Zeit 
die Sorge um ihr fpäteres Geſchick gequält. möchte 


Ob im Verzweiflungsichmerze fie den Tod geſucht? 
Ob fie fich jelber damals in die See — 

Ob eines Kindleins holde Frucht ihr Schos gebar? 
Ob es am Leben, ob esf % hingewelkt? 

Ob es ein Knabe? Ob's in füher Unſchuld Glanz 

Ein Mägdlein hold und lieblich? 


Die Meerfrau Schilflieb erſcheint und weiß, um ihren 
eigenen Racheplan zu fürbern, Helge's verfühnliche Geſin⸗ 
nung gegen Diuf in neuen Groll umzuftinmen, indem 
fie ihm erzählt, dag die Königin das Andenken ihres 





648 


Siegs über ihn noch alljährlich durch ein feftliches Gelag 
feiere, während fie das Geheimniß ihrer eigenen Niedere 
lage und Schmad) Hug zu wahren verftanden habe. Dies 
fei ihr um fo leichter geworden, als Helge's Umarmun- 
gen für fie ohne Folgen geblieben oder vielmehr die dem 
„baßerzwungnen Brautbett” entjprungene Frucht fofort 
wieder vernichtet worden fei, ſodaß man nichts von ihrem 
„lüngſt verlorenen Kranze” ahne. Schilflieb entfernt fich, 
nachdem fie Helge noch den gleißnerifchen Rath gegeben, 
fi) mit der Königin, anftatt ihr zu zürnen, lieber aus- 
zufühnen. 

Nıfa tritt auf, mit einem Eimer auf dem Kopfe, um 
am nahen Brunnen Waſſer zu holen. Helge, auf den 
ihre Schönheit den gewaltigſten Eindrud macht, verlangt 
von ihr einen frifchen Trunk, den fie ihm bereitwillig 
zeit. Es folgt ein Zwiegeſpräch, in welchem Helge fi 
wiederholt erbietet, Yrja mit nad Dänemark zu nehmen. 
Er fpricht zugleich, obſchon Reigin ihn vor Webereilung 
warnt, den Borjag aus, fie zu feiner Gemahlin zu madıen; 
ehe jedoch Yrja Hierauf, eine beftimmte Antwort geben 
kann, erfcheint die Königin, vor welcher fie fich fchen 
zurückzieht. 

Oluf und Helge wechſeln einige Worte, in welchen ſie 
dem fie gegeneinander befeelenden Haß und Groll. Aus- 
druck leihen, bis erftere, ſich gewaltfam faffend, fagt: 

Genug des Streits! Willlommen am Geflade mein! 
Bitt eine Freumdfchaftsgunft dir, eine Gnade aus: — 
Wenn ich e8 kann, die höchfte felbft gewähr’ ich bir. 
Helge antwortet, daß er ſich jet nicht mehr fehnt 
Nach dem Blid und Kuß bethörend üpp'ger Fraun — 
fondern nad einem R 
— — Fromm holdfel’gen liebenden Gemahl — 
und ſchließt feine Bitte mit den Worten: 
So wenig in ber That wie früher, Königin, 
Lot mid, die Morgengabe ber Erwählten jetzt, 
Noch ſtachelt mi Gewinnfucht neuen Gnts und Rande: — 
Genug bes Landes hab’ ih an der Offee Strand 
Und feine Grenze kenn' ih in ber Heerfahrt Flug. 
Was frag’ ich nach dem Glanz und Reichthum meiner Braut? 
Veber die Frauen wirft zuleitt der Mann das Los, 
Und durch die Heirath Hebt er fie zu ſich empor, 
Sleihwie am Ulmbaum fi) empor die Rebe ranft. 
So nehm’ ich dich bei deinem Königewort benn, und 
Bor deinem ganzen Hofe bitt' ich dich hiermit: 
Laß deine Hirtin Yrſa frei, und gib fie mir! 

Nachdem Diuf ihrem Erftaunen über biefes Berlan- 
gen Worte geliehen, willigt fie in Helge's Begehren und 
murmelt dann mit heimlihem Triumph bei fi felbft: 

Ha, du Herrſcherin 
Im Schaum ber Salzflut! Schaudernd nım verfeh’ ich dich. 
Du kuhlſt die Rache ſchrecklich, doch du kühlſt fie. 

Helge bedeckt Yrſa's Haupt mit dem Schleier, nach⸗ 
dem er von ihr das Geftändniß ihrer Gegenliebe empfan- 
gen, und fagt: 

Eh’ neu erglängt des Tages Purpurſchein, 
Als Helge's Weib erwachſt du in ben Armen mein. 
Komm! Ber fein Glück will, läßt der Spottfucht feine Zeit: 


Das, was geichieht, wedt flets der Thoren Haß und Streit. 


Geſchehnes Toben fie zuletzt; fo iſt die Welt, 
Die dann das Wunderbare für alltäglich Hält. 
Er geht Hierauf mit Yrſa und feinen Kämpen dem 
Strande zu, und bie Königin ſchlägt mit ihrem Gefolge 


Ein Drama Deblenfchläger’s. 





den entgegengejegten Weg ein, welder nad ihrer Burg 
binaufführt. 

In der nächftfolgenden Scene gibt ber Chor der von 
verfchiebenen Seiten herfommenden Meerfrauen feiner 
Frende über bie gelungene Lift der Gebieterin Ansbrud. 

Als lauter Feftiubel Hinter der Scene verkündet, daß 
die biutfchänderifche Vermählung des Vaters mit ber eigenen 
Tochter wirklich vollzogen ift, verftummt ber Chor ber 
Meerfrauen und Scilflieb ergreift das Wort, indem fie 
ausruft: 

Wehe! Wehe! 
Hör’ ich nicht dorten 
Herab von dem Ded des 
Konigedrachen 
rohes Gejauchz' und 
örnerſchall? 
Ja, wehe, wehe, 
Dreimal wehe 
Dir dann, du ſtolzer 
Schildungenenkel! 
Denn dann ifl’3 geſchehn, 
Und volbradt if meine 
Und Stufe Race! 
Geſchmückt von Lole’s 
Und Hela’s Händen 
Iſt Helge’s und Yrſa's 
Graunvoll ſchreckliches, 
Unerhörtes 
Und ſchändliches Brautbett. 

Die Meerfrauen und ihre Gebieterin verſchwinden und 
Königin Oluf tritt auf, gefolgt von einem Herold, welcher 
ihr meldet, daß der von ihr an König Helge gefendete 
Bote bereits zurüd ift, und daß der König, dem fie rufen 
laffen, ihm auf dem Fuße folgt. Oluf bereut jet, was 
fie getan. Die Che des Baters mit der Tochter er- 
ſcheint felbft ihr bei Fälterer Ueberleguug als etwas fs 
Ungebenerliches, daß fie davor erfchridt und es, bafern 
nod Zeit, verhindern will. Helge tritt mit ungebulbiger 
Eile auf und fragt, was die Königin von ihm begehre, 
daß fie ihn aus den Armen der ihm nun vermählten 
Braut hinwegrufe. Oluf, welche nun weiß, baß das 
Entfeglihe ſich unwiderruflich vollzogen, verkündet ihm 
die Wahrheit mit den nieberfchmetternden Worten: 

Hör's, du Stolzer! Ahnungslos 
Haft du in dem Brauibett enblidh deiner Bade rucht gepflüdt, 
Meine Leibesfrucht und deine, Yrja, heimgeſührt als Brant. 

Helge kann e8 nicht über fich getwinnen, diefer Schreckens⸗ 

kunde fofort Glauben beizumelien, fondern antwortet: 


Das war leines Weibes Rede, das war nächtlich Wolfsgeheuf! 


Oluf erzählt ihm num in ihrer Rene und Zerknir- 
fhung, wie fie von Scilflieb, der Meerfrau, zu Wuth 
und Race angeftachelt worden, und nun nichts heißer 
berbeiwünfche als den Tod. Zugleich fordert fie Helge 
auf, ihr den Dold in die Bruft zu fioßen. Er weigert 
fi, dies zu thun; er will felbfl flerben, aber nicht ge- 
meinſchaftlich mit Oluf, welcher ex zuruft: 

Bahr hinab in beine Nächte! Deine Wege wall’ ich nicht, 
ift'ge Schlange meines Lenzes, Irrlicht meiner Tage du! 


— ME Ci CE (un ——————— — ibm GAMES <EM> ü GE (EBD 


Bleibe dn in deiner Höhle! Selber jchnfft du dir die Qual 

Gramumwölkt, in fangen en tanzen Scemen da 
umber, 

Welche dir erzählen werben von der Nacht des Tobtenlande, 

Wo bereits von weidhen Schlangen Hela bir ba® Bett gemadt. 





Ein Drama Dehlenfhläger’s. 


Auf Oluf's Trage, was mit Yrſa werden folle, ent- 
gegnet Helge, Balder in Walhalla werde über dem Haupt 
der Unfchuldigen wachen, deren Auge fi nicht trüben 
bürfe, wenn fie des Rachewerks gedenke, welches den un- 
glüdfeligen väterlichen Bräutigam befchimpfe. Er felbft 
aber werde mit feinen Kümpen ausziehen, um feines Ar- 
mes legte Kraft zu verfuchen: 

Eia, Steven gegen Steven! DR, an Maſt nnd Ded an 


e 
Laß den Aar ins Schiff bes Beinben Hagen feine Kupfer- 
au 


n 
Und wenn dann der Quell des Blutes purpurn durch den 
Panzer ſpritzt, 
Lachen wir des Tods und reiten gen Walhalla mit Geſang! 

Nachdem er fich entfernt, tritt Folkwar, Yrſa's Pflege 
vater, auf. Schilflieb hat ihm mitgetheilt, daß fie Yrſa 
erzählt hat, wer ihr Gatte und Bater fei, und ift dann 
mit den übrigen Meerfrauen gen Sikild davongezogen. 
Als die Königin Oluf dies vernommen, ftürzt fie in wil- 
ber Verzweiflung ab. Yrſa ericheint mit einem Dolch 
in der Hand, fpricht deu Entſchluß aus, fi zu tödten, 
und verfentt fi, zu Folkwar gewendet, in bie Erinne- 
rung an ihre glüdliche Vergangenheit: 

O ſchöne Tage, 

Da ich es war, 

Dein liebes Kindlein, 

Im Haus am Strand, 

So harmlos glückich 

In meiner Armuth, 

Eine Fiſcherin! 

Da wußt' ich noch nichts 

Von Pracht und Herrlichkeit, 

Von Gold und Seiden. 

Da ſchritt ich des Morgens 

So heiter zum Strande, 

In meinem armſel'gen 

Woll'nen Kleide, 
Im Arm die Angel, 
In Händen den Ehonfrug 

Voll fühlenden Frühtrunks, 

Geſchöpft am perlenden 

Duell des Gebirge. 

Sie erklärt nochmals, die Schmach, das Weib des 
eigenen Vaters zu fein, nicht ertragen zu fünnuen, und 
fteht ſchon im Begriff, ſich den Dolch in die Bruft zu 
ftoßen,, da erfcheint Freia, die Erhalterin der Welt, Die 
Soldhanrige im blauen Gewand, und verkündet Yrſa, 
daß auch ihr noch das befte, höchſte Glüd des Weibes 
bejchteden fei, nämlich das der Mutterfreude. 

Yrſa bedeckt fi, als fle diefe Kunde vernimmt, mit 
beiden Händen fchaudernd das Antlig, Freia aber begrün- 
det ihre Verheißung mit den Worten: 

Was grauenhaft empfangen ward, fol ſchön erblühn. 

Auf Lavabergen reifen Purpurtrauben oft, 

Und wunderbar zu ſchauen glüht im Sumpf und Moor 

Dft eine Goldfrucht hell. Darum fei wohlgemuth ! 

Der Sohn, den bu in deinem reinen Schos empfingſt, 

GSereicht einmal zum Ruhme dir; und nicht unr dir, 

Dem ganzen Infeloolf des fchönen Dänenlands; 

Und wieder nicht nur Dänemarks hochherz'gem Bolt: 

Dem ganzen Norden, von der Pracht der Eideran, 

Bis wo an Thules Hipp’gem Strand die Iöfuln ſpei'n. 

Sein Name wird ergfänzen durch der Zeiten Nacht 

Bleih einem Stern bes Himmels, und fein Ruhm erwedt 

Ein ipätgeborenes Geflecht von Sängern noch 

Zu Lob nnd Preis: Hrolf Krale ſoll fen Name fein, 
1870. 4. 


649 


Urſa fühlt fi durch diefe troftreichen Worte wunder- 
bar aufgerichtet und dankt ber mächtigen, hulbreichen 
Göttin, die ſich in die Luft erhebt und verfchwindet. 

Reigin, der Freund und Begleiter des Königs Helge, 
tritt mit einem Gefolge dänifcher Kümpen auf und naht 
fi Yrfa mit der Krone des Könige. Auf ihre Trage, 
wo diefer ſei, antwortet Reigin, Helge habe, anftatt wieber 
wild ins Meer hinauszuſtürmen, wie er fih anfangs vor⸗ 
genommen, den Tod auf andere Weife gefucht und ge- 
funden. Geharniſcht, mit Helm, Speer und Schild Habe 
er fih auf fein Streitroß geſchwungen und fet in ein 
von unbehauenen riefigen Felsblöcken errichtetes Grabmal, 
welches die Königin Oluf für fich felbft erbauen laſſen 
und vor deffen Thür, umgeftürzt im Gras und mit Moos 
bededt, der Schlußftein des Gemwölbes gelegen, hinein» 
geritten: 

Raſch! Wälzt den Stein 
Bors Grab! Ich bin des Gankelſpiels der Erde müp’, 
Id will Hinunterfteigen im die Nacht des Todes — 


babe er gefagt, und dann, nachdem man feinen Befehl 
vollzogen, habe man gehört, wie er noch heiter fein 
„Bjarkemal“ gefungen, währenb der Hengft ftolz wiehernd 
mit den Hufen gefchlagen; dann fei alles ftill geworben. 
Reigin bietet hierauf Yrſa die Krone, die fie annimmt, 
nachdem fie noch erfahren, daß Dluf, ihre Mutter, von 
Berzweiflung und Gewiſſensangſt getrieben, ſich von einem 
Felſenriff ind Meer geftürzt habe. 

Folkwar, der alte Fiſcher und Yrſa's Pflegevater, be⸗ 
gleitet feine Tochter in ihr neues Reich, nach welchem fie 
mit den dänifchen Kämpen unter Segel geht, und Reigin 
Tchließt die Tragödie mit den Worten: 


So fegeln wir heimwärts 
Mit günſtigen Winden, 
Heimmärts im Fluge 

Zum lieben Geftade 

Der Buchen und Erlen, 
Dem freundlich holden. 
Gefäll'gen Hauches 

Biäft Aegir bereits 

Ins frührothfunkelnde Segel. 


Die in Vorſtehendem mitgetheilten Proben der deut⸗ 
ſchen Bearbeitung dieſes ſchwungvollen nordiſchen Dicht⸗ 
werks geben den Beweis, daß der Ueberſetzer ſeine Auf⸗ 
gabe auf eine Weiſe gelöſt hat, die kaum zu übertreffen 
ſein dürfte. 

Ueberfetzungen aus ben flandinavifchen Sprachen ha⸗ 
ben, wenn ſie nicht blos ſinngetren, ſondern auch metriſch 
tren gehalten fein ſollen, in noch höherm Grade als die 
aus dem Engliſchen mit dem Uebelſtand zu kümpfen, daß 
die Kürze der Wortwurzeln, die ungeheuere Menge ein⸗ 
ſilbiger Wörter, die Knappheit und Einfachheit der Fle⸗ 
rionen und die Fähigkeit, den Artikel und allerhand an- 
dern etymologifchen Apparat entweder ganz auszuſcheiden 
oder eine höchft unbedeutende Nebenrolle fpielen zu laflen, 
es oft geradezu unmöglich machen, den Inhalt des Ori⸗ 
ginal® innerhalb ebenfo fnapp gezogener Grenzen wieder« 
zugeben. 

Daß Gottfried von Leinburg in biefer Hinficht, fowol 
was bie hier vorliegende als die früher von ihm geliefer- 
ten Weberfegungen betrifft, da8 Menfchenmögliche geleiftet 


82 





——— 


— ger namen un 


— 


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650 Geſchichte der hannoverſchen Armee, 


Hat, Kann ihm niemand abſtreiten; und wenn auch einige 
Stellen, wie z. B. ©. 84, wo es heißt: 
Sqh bin die Difa, die die Welt erhält — 

nit nehm ins Ohr fallen, fo wird ber Lefer für 
dieſe —F geradezu unabſtellbaren el durch bie feine, 
gewifienhafte und ſaubere Arbeit bes Ganzen ſowie durch 
den darin herrſchenden Adel und Schwung der Sprache 
zeihlid) entjchäbigt. 

Den dritten Tfel der Oehlenſchlager'ſchen Trilogie 
bildet, wie ſchon oben erwähnt worben, bie „Hroers ⸗ 
Sage", welche, in Proſa gejchrieben, den Tod des edeln 
Könige Hro, des Bruders Helge's, erzählt; und ben 


Scäeußftein des Ganzen bildet das epiſche Gedicht von 








Geſchichte der han 

Geſchichte der königlich haunoverſchen Armee. Bom General» 

Heutenant 2. von Sihart. Ürfer bie dritter Band. 
Hannover, Hahn. 1866-70. Gr. 8. 6 Thlr. 

Die Hannoverfche Armee Hat eine fo ruhmvolle, mar 
kelloſe Gefchichte, daß wir eine Darftellung derfelben mit 
Freuden begrüßen. Das Werk ift von einem hochgeach · 
teten Veteranen, welcher jener Armee angehört hat, ſchon 
vor der Kataftropfe von 1866 begonnen worden, und es 
macht dem Lefer, der mit Antheil den underfäufdeten 
Untergang bes tapfern hannoverſchen Heers erlebt hat, 
einen traurigen Eindrud, im Vorwort zu lefen, was ber 
Berfaffer, nit ahnend, daß fein Thema nad wenig 
Monaten einen ſolchen Abſchluß fir immer finden werde, 
als Mahnruf zu Tinftigen Wafferrthaten geſchrieben Hat. 
Den Söhnen Hannovers, den hannoverſchen Regimentern 
unter Preußens Fahnen, werden in künftigen Kriegen 
zuhmvolle Waffenthaten nicht fehlen; eine hannoverſche 
Armee jedoch wird nicht mehr im Gelbe erfcheinen! 
Ueber diefe veränderten Verhältniſſe hat ſich der Berfafler 
im Vorwort zum zweiten Bande 1868 ausgeſprochen und 
wir Können mit allem, was er darin gefagt hat, voll- 
tommen einverflanden fein, vorzüglich aber damit, daß er 
fein Werk nad bem urfprüngligen Plane fortgefegt Hat, 
„weil es als em Denkmal für die Armee anzufehen fei, 
bie als ſolche zu beſtehen aufgehört habe“. Ein witrdigeres 
Denkmal tonnte ihr nicht gefegt werben. 

Die Einleitung fpricht ſich ‚her den Plan des Werks 
und bie Zeiträume für die Gefdichte der Armee aus. 
Bir finden den exflern ſowol abs die Eimtheilung ehr 
richtig. Eine eigentliche Kriegögefchichte Tann bier nicht 
gegeben werben, nur diejenigen Ereiguifle, bei weichen ſich 
hannoverſche Truppen ausgezeichnet haben, werben je nach 
ihrer Wichtigkeit oder dem Jutereſſe, das fie erregen, 
möhr oder minder vollftändig gefchildert. Die Armer- 
defchichte iR im fieben Abfepnitte getheilt: 1) von Trrich 
tag ‚der erſten ſtehenden Truppen bis zum Weſtfäliſchen 
Srieden, 2) bis zum Erlbſchen bes Mannsftamms der 
celejägen nie 1706, 3) 338 zum Unfange des Gieben- 
jährigen Kriegs, 4) bia zur Franzbfiſchen evolution, 
5) bis zur Befegung Hannovers durch die Franzoſen 
1803, 6) 56 gar Wiederbefreiung :1818 (Gefhichte 
der Töniglich «beutfchen Legion), 7) dis auf bie neuefte 


Hrolf Krale, des von Helge und feiner Tochter Yıfa er- 
zeugten Sohnes. 

Die „König Hroers-Sage“ iſt bereits von Dehlen- 
fötige felbft deutſch herausgegeben worden, Gottfried 
von Leinburg ſtellt jedoch am Schluß feines Commentars 
zu „Drſa“ au von der ebengenaunten Pichtung eine 
eigene neue Bearbeitung in mahe Ausficht, und nach dem, 
was er fchon auf biefem Felde geleiftet, Tann man biefer 
Arbeit, im welcher er fein tiefes Verſtändniß des Origi 
nals und feine Meiſterſchaft im Berdeutigen ohne Zweifel 
abermals bethätigen wird, nur mit Intereſſe und Span- 
nung entgegenfehen. 

Augufl Archfchmar. 


moverſchen Armee. 


Bei der Darftellung ber beiden erften Zeiträume hatte 
der Berfaffer mit Benteißen Schwierigkeiten zu kämpfen, 
welche ſich jedem Geſchichtſchreiber, der die Wehrzuftände 
früherer Zeiten fhildern will, in den Weg ftellen. Die 
Quellen find dürftig, unzuverläffig, in wefentlichen Punt- 
ten einander oft widerfprechend. Wir willen das Ber- 
dienft des Verfaſſers, die vom ihm benugten kritiſch ge - 
fitet und möglichftes Licht über die Anfänge ftehender 
Truppen in den getheilten braunfchweig « Lüneburgifchen 
Landen verbreitet zu haben, um fo anerfennender zu 
würdigen, weil auch wir und zuweilen ähnlichen mühe- 
vollen Arbeiten unterziehen mußten. Dantenswerth ift 
die geſchichtliche Ueberſicht der vier Linien, welche im 
Anfange des 17. Jahrhunderts die Lande Braunfchmeig- 
Luneburg unter fid) getheilt Hatten. Als Stamm der Hanno- 
verfchen Armee find die fechs Regimenter — drei zu Pferd, 
drei zu Fuß — anzufehen, welche Herzog Georg aus dem 
Haufe Füneburg-Celle nad dem 1631 zu Würzburg mit 
Guftav Adolf von Schweden geiätoflenen Tractate er · 
richtete. Im Haufe Lüneburg⸗Celle war nach dem Beir 
fpiel anderer Fürſtenhäuſer der meitern Zerfplitterung 
duch einen Vertrag Chriſtian's des eltern mit feinen 
fünf jüngern Brüdern vorgebeugt, nach welchem dem äl- 
teften Defcendenten immer das ganze Farb ohne fernere 
Erbtheilung zufallen und von den übrigen nur derjenige 
ſich eberbürtig vermäßlen follte, melden das Los dazu 
beituumen würbe.. Das Los entſchieb Hier fiir Herzog 
Georg. Er felbft, wie wir hinzufligen, beftieg zwar dem 
angeftammten Thron nicht, weil bei feinem EN 1641 
noch her regierende Herzog, fein älterer Bruder Friedrich, 
lebte, wol aber folgte Iegterm, der feine fucceffionsfähigen 
Kinder hinterließ, 1648 Georg's Sohn Ehriftian Ludwig. 
Diefer ſchlug feine Refidenz in Hannover auf und 
wurde der Stammater der jlingern melfiiche Linie, 
welche 1714 die engliſche Krone erwarb und 1866 tie 
hannoverfche verlor. Die ältere Linie der Welfen, in 
Braunfchweig, wird mit bem jegt regieremben Herzog 
ausfterben. E 

Dir Ihren zu unferm Werke zurüd, das die Thaten 
des Hergog6 Beong mit feinem Aetnen trefflic, organiſit 
ten Heere in der Haren anſchaulichen Weife ſchildert und 
beurtheilt, welche den einſichtsvollen Militär und geretften 





Mann befundet.. Die Darftellung ber Begebenheiten 








Geſchichte der hannoverſchen Armee. 


entfpricht im ganzen Werke dem Charakter, ben wir als 
hannoverſche gute Eigenart fo treffend in der Biographie 
Sir Yulius von Hartmann's von deſſen Sohne, jegt preußischen 
General, bezeichnet finden (dgl. Nr. 46 d. Bl. f. 1858). 
Herzog Georg kam mit feinen Truppen nicht zur Schladht 
von Tüten, die fonft vielleicht nicht die erften Wechſel— 
fälle, weldje den verhängnißvollen Witt des Schweden⸗ 
königs mit geringer Begleitung nad dem gefchlagenen 
Flügel und feinen Tod verurfachten, gehabt hätte, wir 
lefen bier aus den Urkunden, abweichend von Deden’s 
Darftellung, was den Abmarfch des Herzogs verzögerte. 
Diefer ſtarb 1641, und die drei braunfchweigifchen Her- 
zoge ftellten ihre vereinigten Streitkräfte nun unter den 
Dberbefehl bes Lanbgrafen von Darmſtadt. Ein Theil 
derfelben, mit den Schweden vereinigt, half den Sieg bei 
Wolfenbüttel erfämpfen, welcher ihren Bürften, bie ins⸗ 
geheim ſchon mit dem Raifer um Frieden unterhanbelten, 
fo ungelegen kam, daß fich Herzog Auguft der Züngere 
ſogar beim erierzeg Leopold Wilhelm über den Sieg 
entſchuldigte!! Die Schlacht, ſagt der Verfaſſer, bot das 
ſeltſame Schaufpiel, daß bie ſiegreichen Truppen in der⸗ 
ſelben ohne eigentliches Haupt waren, der Gewinn 
derſelben wurde nur den ausgezeichneten Oberſten der 
Regimenter und der Tapferkeit der Truppen zugeſchrieben. 
Haben wir Aehnliches nicht auch erlebt, noch zu tiefern 
Chargen als die Oberſten hinabgehend? Mit der Zügel⸗ 
führung ber Feldherren in den neuern Schlachten, die, 
wie die Sriegsgelehrten ſich ausdrüden, zu „Partial⸗ 
Tämpfen bdiscreter Haufen‘ geworden find, ift es ein 
eigened Ding. 

Der zweite Zeitraum unfers Werts 1648 — 1705 
bot dem Berfafler noch größere Schwierigfeiten ale der 
erfie. Das Haus Braunfchweig-Füneburg zerfiel in vier 
Linien: Celle, Hannover, Dsnabrüd und Wolfenbüttel, 
die „Völker“ derfelben, welche mehrfach getheilt, vereinigt, 
wieder feparirt und theilmeife überlaffen wurden, mußten 
nad unklaren Duellen einzeln feftgeftellt und betrachtet 
werden. Die ſchwierige Aufgabe durchzuführen ift dem 
Berfafjer wohl gelungen; dem Kenner wird nicht entgehen, 
welche Mühe ihn das gefoftet hat. Im zweiten Raub» 
kriege Ludwig's XIV. waren die welfifchen Fürſten trau⸗ 
rigerweife umeins, der von Hannover war mit Frankreich 
verbindet, die beiben andern ftanden auf deutfcher Seite. 
Der franzöfifche König zahlte jenem für jeden Keiter 50, 
für jeden Dragoner 40, für jeden Fußſoldaten 15 Spe- 
cieöthaler, außerdem monatli 30000 Thaler und bie 
Werbeloften. Dieſe Bortheile bewogen den Herzog, fein 
Corps bis auf 15000 Mann zu vermehren. Weber bie 
Formation deffelben und feine Reduction nad) dem Fries 
ben lefen wir nad) den vorhandenen Quellen bie genaue⸗ 
ften Details mit den Namen der betreffenden Stabsoffiziere, 
Hauptleute und Rittmeifter, wie denn der Verfaſſer diefe 
Perfonalien durch das ganze Buch durchgeführt Hat, weil 
e8 für die Nachkommen jener Krieger Interefle Hat. In 
gleicher Weife werden bie Truppen ber andern braunfchweig- 
Lüneburgifchen Fürften vorgeführt und nad) ihrer Rekru⸗ 
tirung, Ausrüftung, Ausbildung und Unterhaltung be- 
fproden. Die ehrverhäftnifi hatten Hier denſelben 
Gang genommen wie in andern Ländern: es waren jebt 
ftehende Truppen, welche im Kriege vermehrt, nad) dem 


651 


Trieben rebucirt wurden. Auch das vielberufene Ueber» 
lafjen und Berfchenten ganzer Regimenter fam vor: 
Georg Wilhelm von Celle überließ 1668 feine drei 
Snfanterieregimenter der Republik Benedig zum Sriege 
auf Candia gegen die Türken; Auguft von Wolfenbüttel 
ſchenkte Ernft Auguft von Hannover, als biefer in den 
Befig von Dsnabrüd fam, drei Compagnien; der Kur⸗ 
fürft von Köln gab dem Herzog von Eelle 1671 ein im 
Lüttichſchen gemorbenes, ans Wallonen beftehendes und mit 
polnifchen Pferden berittenes Dragonerregiment. Neben 
ben „geworbenen Völkern‘ beftand aber noch eine Miliz- 
einrihtung, nach welcher der neunte Mann „zum Ans 
ſchuß befchrieben” und einexercirt wurde, beflimmt, im 
Kriege die feften Städte und Päffe zu befegen, dem ur⸗ 
ſprünglichen Gedanken der Landwehr gemäß. Aus ben 
damaligen Dienftreglements werben die wichtigſten Vor⸗ 
ſchriften mitgetheilt, was den militärifchen Xefern von 
Intereſſe fein wird; ebenfo die Uniformirung: die Cavalerie 
hatte weiße, die Infanterie mit Ausnahme weniger Regie 
menter rothe Röde. Ein Bataillon, das fih 1704 bei 
Hochſtädt ſehr ausgezeichnet, aber auch große Verlufte erlit« 
ten hatte, erhielt zum Andenken an diefe Berlufte ſchwarze 
Rabatten, Auffchläge, Unterfutter und Weften. Na den 
organifatorifchen Berhältniffen werden die Friegerifchen 
Ereignifje von 1648—1705, an denen braunſchweigiſch⸗ 
lüneburgifche Truppen theilgenommen Haben, dargeftellt. 
Diefe Haben ruhmvoll gekämpft gegen die Türken in Une 
gern und im venetianifchen Solde, beim Entfage von 

remen und Hamburg, in vier Kriegen gegen Ludwig XIV., 
auch gegen Dänematk und Schweden. Aus den Teld- 
zügen gegen Frankreich werden intereflante Einzelheiten 
von den hannoverfchen Truppen erzählt, die fi) nament- 
lich bei Enzheim (Enfisheim) mit einem friegerifchen 
Enthuſiasmus gefchlagen haben, daß Turenne geiufert 
haben fol, ex würde befiegt worden fein, wenn die ganze 
alliirte Armee ebenfo tapfer als die Lüneburger gefümpft 
hätte. Beſonders zeichnete fi) das Regiment Molleflon 
aus, das von den Franzoſen wegen feiner grünen Uniform 
mit rothen Schößen das „Papagaienregiment“ genannt 
murde. Ein anderes Regiment, Melleville, aus „Aus—⸗ 
ſchuß“ (Miliz), Compagnien gebildet, war nicht uniformirt 
und trug auch im Kriege gewöhnliche Bauernfleidung. 
In der Naht nad) der Schlacht bei Enzheim entfleideten 
die Soldaten deffelben die Todten, gleichviel ob von der 
Infanterie oder Cavalerie, und erfchtenen bei Tagesanbruch 
uniformirt, wenngleid in Montirungen von verfchiedenem 
Schnitt und verfchiedener Farbe. Ihr Herzog lachte 
herzlich, nahm das Regiment unter feine ftehenden 
Truppen unb Tieß fogleih Uniformen für baffelbe aus 
Celle fommen. 

Aus dem Feldzuge von 1674 unter dem Oberbefehl 
des Großen Kurfürften hätte noch erzählt werben können, 
wie nad) der Schlaht bei Türfheim die Defterreicher ihre 
deutfchen Verbündeten im Stich ließen, indem ſie heimlich 
in ber Nacht den Rückzug nad) dem Rhein antraten, ohne 
fie davon zu benachrichtigen. Der Herzog von Lüneburg« 
Selle brachte die Meldung, bie ihm endlich von feinen 
Poften zugelommen war, beftürzt und zornig dem Kur⸗ 
fürften in die zerflörte Mühle, wo diefer die Nacht zu- 
bradjte. Es blieb den Brandenburgern und Liineburgern 

82 * 


652 


nun auch nichts übrig, als abzumarfchiren und den 
Elſaß, das alte deutfche Reichsland, das ſchon wieberer« 
obert war, zu verlafien! 

Nachwehen aus dem Dreißigjährigen Kriege finden 
fi neben ehrenhaften Sriegerthaten an nod. Die 
Wirthe in den Winterguartieren, wie angegeben wird, 
mußten den Colbaten nicht blos Eſſen und Trinken 
„ſatt und vollauf”, fondern auch große und Heine Mon⸗ 
tirung „hinlänglih und überfläffig” und beim Abmarſch 
jedem Mann 4 harte Thaler baares Geld geben. Dafür 
behielten die Kriegäherren den Sold ein. Wir haben 
diefen faubern Brauch anderswo nicht erwähnt gefunden. 
Zwei wolfenbütteliche Regimenter verlangten num aber 
1675 neben dem „Winterbenefiz‘ auch ihre Löhnung, ver- 
jagten, als fie abjchlägig beſchieden wurden, ihre Offiziere 
und marſchirten unter einigen Corporalen eiligft nad) dem 
Hildesheimifchen zurüd, wo ihnen, wie General von Sichart 
in den Acten des Föniglichen Archivs gefunden, der Herr 
von Münchhaufen entgegengefchidt wurde, um — fie 
zu befänftigen und nad Haufe zu führen. Aus ben 
Türkenkriegen verfagen wir uns ungern Details, die hier 
der Vergeſſenheit entriffen werden, mitzutheilen; aus dem 
dritten Hauptkriege gegen Ludwig XIV. heben wir ale 
befonder8 gelungen die Darftellung der Schlacht von 
Neerwinden hervor. 

Der zweite Band umfaßt den Zeitraum von Erlöfchen 
der cellefhen Linie 1705 bis zum Siebenjührigen Kriege, 
alfo den Epanischen und Defterreihifchen Erbfolgekrieg, und 
wir find aufrihtig mit dem Verfafler einverftanden, wenn 
er im Vorwort dieſes Bandes fagt, daß die Reihe der 
biutigen Schlachten und Gefechte, an welchen die hanno⸗ 
verſchen Truppen einen nicht unmwefentlichen Antheil ge- 
nonımen und dabei ihrem Namen ftet8 Ehre gemacht 
haben, den Beweis liefert, daß auch Truppen, welde 
einer Hleinern Armee angehören, file ihre Waffenthaten 
ein Blatt in der Sriegögefchichte in Anfpruch nehmen 
dürfen. Die Hannoveraner haben ihr Recht dazu voll» 
gültig dargethan. 

Während des Spanifchen Erbfolgefriegs farb 1705 
Herzog Georg Wilhelm von Celle ald letzter feiner Linie, 
und die Befigungen nebft den Truppen berfelben gingen 
an das Kurhaus Hannover über. Bon 1705 an kann 
alfo die hannoverſche Armee als ein Ganzes in ihrer 
Geſchichte dargeftellt werden. Nach denjelben Gefichts- 
punkten wie früher wird ihre Formation, Rekrutirung, 
Ausbildung, Ausrüftung und Unterhaltung gefchildert; 
militärischen Lefern wird das taftifche Kapitel beſonders 
intereflant fein, der wichtigſte Abſchnitt ift aber ber 
dritte, welcher die kriegeriſchen Ereignifje enthält. Im An« 
fang des Spanifchen Erbfolgefriegg Hatte Braunfchmeig- 
Wolfenbüttel, das die Erhebung der jüngern Linie zur 
Kurmürde nicht verſchmerzen konnte, ein Bündniß mit 
Frankreich gefchlofien. Ein überrafchender Einfall celle- 
bannoverfcher Regimenter mit Genehmigung bes Kaifers 
in das Braunfchweigifhe und die Bermittelung anderer 
Vürften bewogen aber ben Herzog Anton Ulrih von je- 
nem Bündniß abzuftchen und das Hülfscorp8 von etwa 
9000 Dann, das zum Heer des Herzogs von Marl« 
borough in den Niederlanden ftoßen follte, konnte nun 
ohne Gefahr abmarfchiren. Daffelbe kämpfte mit Aus- 


Geſchichte ver hannoverſchen Armee. 


zeihnung in allen Feldzügen unter dem großen britifchen 
Heldheren; feine Waffenthaten find hier in der trefflichen 
Darftelungsweife des Verfailers fo ausführlich gejchildert, 
als die archivaliſchen Quellen geftatteten, bei jeden Gefecht 
und jeder Schlacht auch die oft fehr großen Berlufte mit 
namentlicher Angabe der getöbteten und verwunbeten Of—- 
fiziere. Daß diefe Waffenthaten im Zufammenhange mit 
den Operationen und dem Gange der Schlachten nicht 
herausgeriſſen dargeftellt find, gibt dem Werke einen größern 
friegsgefchichtlichen Werth. In der Schlacht bei Höchſtüdt 
1704 eroberte da8 Regiment Bothmer zwei Paulen der 
franzöfifchen maison royale (Gardecavalerie), ein fpäterer 
Chef bes Regiments fchenkte fie 1773 der Univerfität 
Göttingen, wo fie noch jegt in der Aula aufbewahrt find 
und bei ben alabemifchen Actus und Concerten gebraucht 
werden. Jede derfelben trägt eine Infchrift in altem 
claffschen Latein von dem berühmten Philologen C. ©. 
Heyne, worin auch erwähnt ift, daß fie turmis gal- 
licis cataphractis Praetorianis viclis fugatisque, cum 
aliis insignibus (erobert) feien. Es wurden in der Schladit 
aber auch andere eigenthilmliche Eroberungen gemacht, 
3. B. 34 Kutſchen mit Damen. Bei Ramillies 1706 
wurde das ftolze „Haus des Königs”, die Elite der 
franzöfifchen Reiterei, abermals von einem hannoverſchen 
Regiment, Beng, geworfen. Dabei fiel ein achtzigjähriger 
Reiter, der fchon bei St.Gotthard in Ungarn 1663 ge- 
fümpft hatte. Als Defterreihs Verbündete 1713 mit 
Frankreich Frieden gefchloffen hatten, wurben die hanno⸗ 
verfhen Zruppen vom Prinzen Eugen mit einem höchſt 
anerfennenden Schreiben, das hier mitgetheilt wird, ent: 
lafien. Im Jahre 1719 mußte Hannover mit Braun« 
ſchweig die Reichsexecution in Medlenburg vollftreden, 
wo der Landesvater rufftfche Truppen, welche ber nod 
nicht beenbigte nordiſche Krieg in fein Land geführt, zur 
Durchführung feiner Gewaltmaßregeln gegen feine Stände 
benutte. Dann nahm ein hannoverfches Corps an tem 
thatenlojen Reichöfriege von 1734 und 1735 gegen Frank⸗ 
reich theil. Im Defterreichifchen Erbfolgekriege kämpften 
die Hannoveraner mit den Engländern verbunden unter 
ihrem gemeinfamen Landesheren Georg II. für Maria 
Therefia. 

Es wird unfere Leſer intereffiren, daß die oft wieder⸗ 
holte Gefchichte aus der Schlacht von Fontenoy, wo bie 
englifche und franzöfifche Garde, fi) an Courtoiſie über. 
bietend, dem Gegner die erfte Salve anzucomplimentiren 
geſucht haben foll, eine Hiftorie, welche jüngft Garibaldi 
in feinem Aufmwiegelungsbriefe an die franzöfifche Armee 
wieder vorgebracht hat, in das Reich ſchöner Erfindungen 
gehört, wie Cambronne's „La garde meurt et ne se 
rend pas” bei Waterloo. Nad dem Schlachtbericht find 
bie Engländer unter dem euer der Franzoſen, ohne einen 
Schuß zu thun (im damals üblichen langſamen Schritt 
von 75 in der Minute!) bi8 auf 30 Schritt im Bor» 
rüden geblieben und Haben dann erft gefeuert. Gegen 
den Marfchall von Sachſen konnten aber bie Verbündeten 
bei mangelhafter Führung weder dieſe noch eine andere 
Schlacht gewinnen. 

Der dritte Band enthält die Geſchichte der hannover⸗ 
Shen Armee von 1756—89. Bei ber Weichhaltigfeit bes 
Stoffe wurde es nöthig, denfelben in zwei Abtheilungen, 





Geſchichte ver hannoverſchen Armee. 


welche ziemlich ſtark find, erfcheinen zu laſſen. Die Dar- 
ſtellung mußte fih nämlich aud auf die Leiſtungen der 
leichten Truppen erftreden, „bie unter einem Luder, 
Freytag, Scheither u. a. der Art gemefen find, daß fie, 
wenn auch die Kriegführung ſich wejentlich verändert Hat, 
auch jet noch für Parteigänger nnd Führer Fleinerer 
gemifchter Truppenkörper als ein glänzendes Vorbild da⸗ 
ftehen werden.“ Diefem Urtheil fönnen wir nur voll« 
kommen beiftimmen, und empfehlen darum diefe Partie 
des Werts als bejonders lehrreich den weiteften militärt- 
fchen Leſerkreiſen. Unfere modernen leichten Truppen 
lönnen von den alten noch fehr viel Iernen! 

Die erfte Abtheilung des dritten Bandes bringt bie allge- 
meinen Berhältnifie der Armee fir den ganzen Zeitraum und 
aus dem Siebenjährigen Kriege die Feldzüge der Hanno» 
veraner von 1757, 1758 und 1759. König Georg II. 
war jet mit Friedrich II. verbindet. Preußens wenige 
deutsche Verbündete ftellten 1757 ein Heer von 45000 Mann 
auf, deſſen Commando der Herzog von Cumberland über- 
nahm. Es beftand aus Hannoveranern, Heflen, Braun⸗ 
fhweigern und Büdeburgern, die erftern machten weit 
über die Hälfte aus. Bekanntlich verlor der Herzog ge- 
gen die doppelt fo ftarfe franzöftfche Armee die Schlacht 
von Haftebed, in welcher der hannoverfche Oberft von Brei« 
denbach mit zwei Schwadronen feines Dragonerregiments 
und drei Infanteriebataillonen, zur Dedung der Flanke 
beſtimmt, das feindliche Corps, auf das er ftieß, fo ent⸗ 
ſchloſſen in Flanke und Rüden angriff, daß dieſes, vier- 
zehn Bataillone ftark, feine Gefchlige im Stich Laffend, die 
Flucht ergriff, und der Marfchall d’Etrees, der fi um⸗ 
gangen glaubte, den Nüdzug für die ganze Armee an« 
ordnete. Leider hatte aber auch der Herzog von Cum⸗ 
berland, der die Schlaht verloren gab, die Retirade 
angetreten, Breidenbah wurde nicht unterftügt, fondern 
erhielt Befehl, fich derfelben anzufchließen, worauf bie 
Sranzofen wieder umkehrten und die Verfolgung begannen, 
allerdings num zu ſpät. Breidenbach's Bericht, der we» 
nig befannt geworden, ift in unferm Werke mitgetheilt. 
Die Folge der Niederlage war die Convention von 
Klofter Zeven zur Einftellung der Feindſeligkeiten und 
Auflöfung der Armee, die aber in dem Xefcript bes 
Königs Georg eine „unglückliche und höchſt misfällige“ 
genannt und von der Regierung nicht ratificirt wurbe. 
Der Herzog von Cumberland nıufte nach London zurüd» 
tehren, um ſich zu rechtfertigen, wo ihn fein Bater höchſt 
ungnädig empfing; den Oberbefehl über die Armee erhielt 
nun nad Berhandlungen mit dem Könige von Preußen 
der Herzog Ferdinand von Braunfchweig, der fih an 
ihrer Spige in fünf ſiegreichen Feldzügen als ausgezeich⸗ 
neter Feldherr bewährte. 

Zur Geſchichte diefer Feldzlige hat der Verfaſſer alle 
in neuerer Zeit erfchienenen Werke, weldye die Kreigniffe 
auf dem weftlichen Kriegstheater behandeln, von Renouard, 
Weſtphalen, Kneſebeck u. ſ. w. mit felbftändiger Kritik 
benugt, und aus den Ücten bes Archivs nebft andern 
Duellen für feine Darftellung wertvolle Angaben ge⸗ 
ſchöpft. Intereſſante Originalberichte werden aud) im 
Auszuge eingefchaltet. Den einzelnen Schlachten folgen 
ſtets umter der DBezeihnung „Denkwürdigfeiten‘ ſowol 
kritiſche Bemerkungen als befonderd Hervortretende Er⸗ 


653 


fheinungen oder Momente bes Kampfs. Wie fehon er⸗ 
wähnt ift den Leiftungen der leichten Truppen eine fpe- 
ciele Aufmerkſamkeit gewidmet, unter deren Filhrern 
Ludner wol das meifte Intereffe auf ſich zieht, fchon 
wegen feines fpätern Scidfals im franzöfifchen Dienfte. 
Tür glüdliche Conps erhielten diefe Leichten Corps aus 
der Contributionsfaffe anſehnliche Donceure, der Führer 
in der Regel 1000 Thaler, jeder Kapitän oder Ritt⸗ 
meifter 100 Dukaten und fo herab bis zu den Gemeinen, 
welde 2 bis 3 Thaler befamen. Die großen Operatio- 
nen find im Zuſammenhange bargeftellt, ihre Brennpunkte, 
die Schlachten, in ihren Hauptmomenten fehr anſchaulich 
geſchildert. So bei Minden der denkwürdige Angriff der 
englifch-hannoverfchen Infanterie auf die franzöſiſche Ca⸗ 
valerie. Diefe bildete ausnahmsweife das Centrum ihrer 
Armee, daher traf jene beim Vorrüden nicht, wie doch 
fonft immer nach der herrfchenden Schlachtordnung der Zeit, 
auf Infanterie, fondern auf Reiterei, von ber fie zwar 
wiederholt heftig angegriffen wurde, ſich aber, alle Attafen 
durch Teuer auf nächſten Abftand abweifend, im Avanci- 
ren nicht aufhalten ließ, ſodaß endlich die feindliche Ca⸗ 
valerie das Schlachtfeld räunte. Der letzte Angriff wurde 
von 18 Schwadronen Gensdarmen unb Carabiniers, welche 
„Die Blüte des franzöfifchen Adels und der Stolz Frant- 
reichs“ waren, unternommen, fie burchbradhen fogar das 
erfte Treffen, wurben aber fchließlih doc mit großem 
Berlufte zerjprengt und ließen 50 todte und gefangene, 
39 verwundete Offiziere zurüd. Neun Standarten, welche 
die Hannoveraner genommen, wurden in ber Garniſon⸗ 
firche zu Hannover mit einer Gedenftafel aufgeftelt, von 
den Franzoſen aber 1803 entfernt, wie 1806 das Dent- 
mal vom Schladhtfelde von Roßbach. Die fliegenden 
Corps thaten dem Feinde auf feinem Rückzuge noch viel 
Schaden, befonders an Pferden, Urff nahm die ganze 
Veldequipage de8 Prinzen Xaver von Sachſen und bie 
ſächſiſche Kriegskaffe, unter Freytag's Beutepferden foll 
fi) eins des Marſchalls Contades mit einem goldenen 
Tliegennete, 15 Pfund ſchwer, befunden haben; Luckner's 
Hufaren brachten täglich Beute ein. Herzog Ferdinand 
verlieh an die Truppentheile, die fi in der Schlacht 
bejonder8 ausgezeichnet hatten, beträchtliche Geldgeſchenke; 
von einer Dragonerfchwadron erhielt der Kapitän, von 
dem Busfche, 1000 Thaler, jeder Offizier 100 Thaler, 
jeder Unteroffizier 2 Dukaten, jeder Dragoner und Tam- 
bour 1 Dukaten. Luckner's Huſarencorps wurde 1760 
auf vier Schwadronen gebracht und zum Regiment „becla- 
riet”, der Führer zum General ernannt. Die Armee 
erhielt eine bedeutende Verſtärkung durch engliihe Trup⸗ 
pen, auch wurde cine fogenannte legion britannique von 
fünf leichten Bataillonen und fünf Dragonercompagnien er⸗ 
richtet, welche feltfanermeife jedes eine andere Uniform 
trugen. Mehr und mehr war ſchon früher das Führertalent 
des Erbprinzen von Heflen hervorgetreten, deſſen Unter⸗ 
nehmungen eingehend gefchilbert werden. Er legte Hier den 
Grund zu feinem Ruhme, der ihm fpäter 1792 und 1806 
ben Oberbefehl der preußifchen Armee verfchaffte, zu deren 
und feinem cigenen Unglüd. Ludner, der unermitdliche, 
wurde nun auch zu größern Zwecken gebraucht und war 
meiſt glücklich. Mit der Feder mußte er allerdings 
nicht fo gut umzugehen, wie mit dem Gäbel. So 


654 


berichtete ex 1761 aus Halle (buchftäblih dem Original | 


entnommen): 

Euer Excell. habe die Ehre Zu Berichten, wie daf id 
heute das glückh gehabt habe 3 bifferente Langer® zu defogieren, 
eines nach dem andern, daf erfle wahr Caraman, felber pliirte 
fih anf Ehabbo, diefen tonrnirte ich) Zu Eſchershauſen, felbe 
pliirten fih nad Stabtoldendorfj, ich machte es Bten eben fo, 
fo fannte der Feint vor gut, alle 3 Laagere zu quitieren. 

Noch in demfelben Jahre 1761 avancirte Ludner 
zum Oenerallieutenant, erſt 39 Jahre alt. Wir bedauern, 
das originelle Schreiben wegen feiner Tänge nicht mit- 
tbeilen zu Können, in welchem er, geftügt auf ein Ver⸗ 
fprechen des Königs, dem General, welcher 1000 Gefan⸗ 
gene einbringen würde, ein außergewöhnliches Avancement 
zu verleihen, daflelbe für fi in Aufprud nimmt. Im 
legten Feldzuge des Kriegs führte er dann ein Corps 
von 8 Bataillonen und 22 Schwadronen. Am 15. No 
vember 1762 machte ein Waffenftillfiand den Feindſelig⸗ 
feiten ein Ende, dem fpäter der Frieden folgte. 


Feuilleton. 


Unter Ferdinand von Braunfchweig hatten ſich bie 
Hannoveraner, welche faft die Hälfte feiner Armee aus- 
machten, unverwelflihe Lorbern gefammelt. Im Jahre 
1775 ließ Gcorg IM. fünf hannoverfche Bataillone im 
englifchen Sold treten, um damit ebenfo viele englifche in 
Gibraltar und Minorca ablöfen und letztere gegen feine 
aufftändifchen nordamerifanifchen Colonien verwenden zu 
können. In Gibraltar hatten fie die lange Belagerung 
auszuhalten und kehrten erft 1784 nach dem Frieden von 
Berfailles in ihr Vaterland zurüd. Auch nah Oftindien 
gingen hannoverfche Truppen, welche die Oſtindiſche Com⸗ 
pagnie nach erhaltener Genehmigung des Königs 1781 
in ihren Sold nahm. Es waren zwei Kegimenter, welche 
dort in dem Sriege gegen bie Sranzofen und Tipoo Salb 
verwendet wurden und bis 1792 blieben. Damit fchliekt 
ber dritte Band. Wir fehen der Fortſetzung des treffe 
lichen Werks mit großer Erwartung entgegen. 

Karl Guflen von Berned. 





Fenilleton. 


Die Bibliothek Friedrih von Schiller's. 

Alfred Meißner fendet uns aus Bregenz die folgende 
Mittheilung zu: 

IH glaube, es geht nod) vielen andern fo wie uns, 
denen bei bebeutenden Männern immer die Frage intereflant 
war, was ihre Bibliothek geweſen? Die Bücherſammlung, die 
diefer oder jener große Mann befefien, gibt freilich feinen 
Schluß auf feine Leltüre, mander hat mit Vorliebe Öffentliche 
Bibliotheken benutzt oder, durch feine finanziellen Berhältnifie 
bewogen, feine Lektüre mehr leihweiſe bezogen; dennoch aber 
hat die Bücherei eines geiſtigen Führers ber Nationen immer 
mehr Werth ale den bloßer Reliquien. Die Bucher, die er 
fi) anſchaffte und zu eigen gehabt, hat er gewiß geleien, es 
dürften fih darunter feine Lieblinge finden. Iſt er ein Schrift- 
fteller geweien, jo werden die Bücher im allgemeinen wie im 
befondern Aufichlüffe Über feine Probuctton geben und vieles 
erffären, was feine biographifche Darftellung enthält. Was 
gäben wir drum, die Bücherſammlung Shalipeare’s beifammen 
zu haben! Unzählige Controverjen der Kritifer und Commen⸗ 
tatoren wären mit Einem Sclage gelöft. 

Bon einem unferer theuerfien Namen ift die Bibliothek 
faft noch vollftändig beifammen. Wir meinen die Friedrich von 
Schillers. Einzelne Bände mögen fortgelommen fein, der 
Hanptſtamm derfelben ift noch im Befitz feines Enkels. Diefer, 
der peufionirte öÖfterreichifche Rittmeifter Friedrich Freiherr von 
Schiller, hat fi Bregenz zum Wohnort gemählt, das Städtchen 
am Bobenfee, das dem ſchwäbiſchen Lande gewiffermaßen mit 
angehört. Da ſtehen fie, von fpätern Erwerbungen jorgfältig 
gelgieben, in einfachen, meift recht abgenugten und verblaßten 

inbänden, die Bücher, die ihm gehörten, und nie bin ich, der 
Ri denjelben Ort bewohne, vor den Schranf, der fie birgt, 
ohne eine gewiffe Ehrfurcht getreten. Es ift ein Schag auf 
einem ganz unbeacdhteten, gar wenig befuchten Plate und fiber- 
dies ſchwer zugänglich. Im einer großen Stadt wäre er der 
Zielpunft von Wallfahrten; hier wiffen felbft die Mitbürger 
fanm etwas von feiner Exiſtenz. Ich glaube ben Literarbifto- 
rifern des Baterlandes einen intereffanten Stoff zum Nachden⸗ 
fen zu geben, indem ich die Lifte mitiheile; jedenfalls wird es 
für kommende Zeiten, wenn bie Sammlung etwa getheilt wer⸗ 
ben follte, wichtig fein, zu wiflen, was der ſichere Beſtand 
der Schiller'ſchen Bibliothet war. 
Archenholz, Flibuſtier. — Guſtav Wafa nebſt einer Schilde 

rung des Zuſtandes von Schweden, 2 Thle. Tübingen 1801. 
Ahelung, J. C., Wörterbuch der hochdentſchen Mundart, 4 Bde., 

Leipzig 1774—86, 


Abraham a Sancta Efara, Judas, der Erzfchelm. *) 

Bed, Anleitung zur Kenntniß der Weltgefchichte, 2 Bde. 
Bourret, Reife in Savoyen. 

Bauer, Hiftorifches Jahrbuch. 

van Bylen, Libellorum parcorum Index. 

Balzac, J. L., Lettres choisies, 

— Entretiens. 

Bossuet, Oraisons funtbres. — Flechier, Oraisons funebres. 
Bourdaloue et Mascaron, Oraisons choisis. 

Brodmann, Gedichte, . 
Beibers, Haudlungs- und Handwerkierilon. 

Bode, Der geftirnte Himmel. 

Bunting, Brauſchweigiſche Chronik. 

Birker, Ehrenſpiegel des Hauſes Oeſterreich. 

Chas de Nimes Bonaparte. j 

Ducoe, Geheime Memoiren von Lonis XIV. und XV., 


Dalberg, Grundjäge der Aeſthetik. 

Ebel, Gebirgsvölker der Schweiz. 

Eichen, Horaz lyriſche Gedichte, 2 Bde. 

Forfter, Ozasman's Reiſe. 
auft, Geſchlechtotrieb des Menſchen. 
oethe, Götz. — Was wir bringen. — Benvenuto Cellini. — 
Propyläen. 

Godwin, Erlebniffe Williams. (?) 

Grimsco, Luther's Leben, 

Gall's Theorie der Phyſiognomik von 2, F. Froriep, Weis 
mar 1802. 

Gozzi, Theatralifche Werke. **) 

Haman, Poetiſches Lexikon, ober nützlicher und brauchbarer 
—A “*) von allerhand poetiſchen Redensarten, Leipzig 

Hoven, Epidemiſche Fieber. 

Hufeland, Beförderung der Geſundheit. 

— Kunſt, das Leben zu verlängern. 

Heſſe, Kaiſer Günther von Schwarzburg. 

Heppe, Elementarnaturlehre, 2 Bde. 

Heilmann, Thucidides. 

Fer * dn * 
auſe, Geſchichte des Dreißigjährigen Kriegs. 

Körte, Briefe an Bodmer. giahris 


u Rapuzinerprebigt im „Wallenſtein“. 

—2 so underliches Buch — ine Sammlung von poeti⸗ 
eine Sa g von po 

{den Präbicaten gu allen möglichen Eubjecten. Mit Augeunbelegeng v 

85 iuß, Eobenkein, — FE dus euung ver 





Feuilleton. 655 
Nlopftod’s Oben. Denkiolirdigkeiten aus der Regierum; ung Beinei IT I. von Frankreich. 
Lavater, Anatomiſche Kenutniſſe. Reifen ber Väpſte (von J. van ar er), 1782. 
Lapide, Dissertatio de ratione. &mor, der Tyrann. 
Leffing’® Schriften, 4 Bde., neue Auflage, Berlin 1796. Briefe eines jungen Gelehrten. 
Lemercier, N. L., La journde d'une conspiration, comedie. | La soirde du Jubyrinthe. 
Lorenz, Euclid’s Elemente. & agmente jur Stoatengeigiäte, 
Monnier, Expos& de ma conduite dans Yassembl&e nationale. | Tälringifhe Chronit. 
Macchiavelli, Historia forentiga. La vie du Comte de Tottleben. 
+Mercier, Der Defesteur. Amusemens serieuses et comiques, 
Moriz, Nahahmung des Schönen. La vie de Corneille Tromp. 
Murr, Beichreibung der Reichskleinodien. Friedrich Karl, Fürft von Rudofftadt. 


Ru Sr 16 der tflabt und dem Iumern Fraukreiche. ©: des Ri 
Mäder, 9. ——— BR | ee 











Dann, esfäresung des Kriege. Neifebeihreibungen für die Jugend. 
Gnfav III. von Schweden, Bra 1798, Lebensbeſchreibung von Sebaftian Schärtliu. 
- kur des hiſtoriſchen Gemälb Sändertheitung de8 fähfifhen Haufes. 
_ der Seren 1798, Teig ir. Klio, Monatſchriſt. A 
Pütter, Staatsverfafjung. Les 'Liaisons dangereuses (von Choberlos de Laclos) 1782. *) 
Is Penle, Berkin Duc de York. *) Beimariiher Hofkalender. 
Bram, © de überfegt vom Knebel, Leipzig 1798. **) Richelieu, Mazarin et Colbert. 
je rebus Suecicis. Kutdestungsreijen. 
Rollin, Histoire ancienne. Grundrig der Fürftenkunft. i 
Zeat Melchior Striegel, ein Sedicht. Listoire politique et litteraire, 2 Bde. ; 
Rousseau, Confessions; Paris, Didot. Der neue Sammler. 9 
Rabatt, Weltgeſchichte des 17. Jahrhunderts, 5 Bde. Thalia. 12 Hefte. + 
Demoiren. — Manuscripts de Necker pulis par sa | Autimacdjiavel, Haag 1740. 8 
en 1805. Biographien fr die Jugend. ı 
Schidzer, Stagtsgelehrheit. Die tragiihen Theater der Griechen. ! 
Sprengel, Staatenkunde, Briefe Über das ſchweizeriſche Hirtenlaud. N 
Schiller, Abfal der Niederlande. — Pitaval. Le cosmopolite. j 
— Geldiäte des Malthejerordens. ***) Gedichte von Louvbois. ' 
— Hiforifhe Memoiren. Athenor, ein Gedicht. } 
Seibold, Selectiora Adagia. Actes de la paix de Ryswick. 
Serres, Inventaire de l'histoire. Acta rerum belgicarum. ! 
Scuberth's Englische Balladen. — Othello. Schriften der furfürftlichen Gefelfaft zu Münden, 2 Bde. i 
Stolberg, Ehr. von, Aeſchylus' Tragödien. Esprit des croisades, 4 Bbe. j 
Sälegel, Shatipeaseo Bert Feige — — — Athendum. Stammtafel der europäifchen Reiche und Fürſtenhäuſer. 
Topographie der Nheinpfalz. 
Schmidt, 8537* der nid Aristipp et Lais. 
Schüg, Gefgihte der Republi Frantreich. Der deutſche Merkur, 10 Bde. a 25 Hefte. 
Schwan, Deutid-franzöfifcher —E —— Würtemberger Repertorium ber Literatur. — 
Sartoriue Fr des hanſeatiſchen Bundes. mm Seäntüicer Mertur von * von Soden. 
Spittler, Gefchichte von Hannover, Göttingen 1786. ie Horem, 3-Bbe. a 14 Hefte. 
— Beſchichte von Würtemberg nnter den Grafen und Herzo- | Zimmermann über (Friedrich den Großen. — — 
gen, @öttingen 1282. Aus diefen Büchern fegt fid die Bibfiorhet Friedrich von 
— Entwurf ir Geſchichte der europäiſchen Staaten, 1793. Schiller's zufammen, ‚Gewiß eine beicheidene Sammlung, und 
Schaal, Tafjo’s Befreites Jeruſalem. doch weiß ich, daß der intereffantefte Aufſatz gejchrieben werden 
Spenner, Geſchichte der deutſchen Regenten. fönnte, wenn man die Einflüffe derfelben auf Schillers Pro- 
Vatel, Pieces diverses. duction eingehend zu fSildern und ihren Zufammengang mit 
Dion, Geographiſche Belufligung. der Perfönlichkeit Schiller's darzuftellen unternehmen wollte. 
de Ia_Veau, Nuits champötres. Dazu gehörte alleraings eine Gelehrfamfeit umd zumal eine 
Voltaire, Romans, 2 Bde., Paris, Dibot. Kenntnig Schiller's, über die ich nicht verfüge. Ich habe das 
Birgilius, Zoylen. Meinige gethan, wenn ich auf diefen Punkt die Aufmerkfamteit 2 
Burmb, Reiſen in Oftindien. (2 Erempl.). bingelenkt und zum Berftändniß einer, wie man glauben möchte, 
me Briefe an Wolzogen. bereits don allen Seiten beleuchteten Perfönlidkeit, fiber die j 
Bethes, Konradin von Schwaben. nichts Nenes mehr zu fagen ſcheint, noch etwas herbeigebracht } 
Bood, Homer’s Driginalgenie. babe, was neu ift, weil es bis heute unbeadhtet geblieben. j 
8 Die Fi des en, PR re \ 
ielaub, Lucian von Samofata, 8 *) Eins der beruchtigiſten Bucher im Befig des idealen Digters. ! 
— Betifges Mufeum, ©. 1. —- Arifipp, 5 Bor. Ri ERSTEN " 
Sämmtlihe arte, 84 Bbe., Leipzig, Goſchen. Bibliographie. } 
— Cicero's Briefe, 5 Bde. ee 
Biedeburg, Koemolo; PR ATI HIN 8, ®., dramatijhe Werke. Ueberſegt von 0» 


Eeitignat u. MAD ber Gere ion und 
mh Di Y Ki Sinneng —* und Aenertungen. 
Bodn.: Die Komödie der 





Winkelmann, aan von ‚den zieneflen harlulauiſchen Ent · ge Pihoirtung von 








deefungen, Geungest Hebertept von ©. 5. Keinygr Srotpeut. 6 UM 

” gen. fegt von erwe Fin todbaus. 8. jr. 

Woltmann, Aelare Menfrmgefäiie. (2 Area.) mutiüign, Korea Re 
en Dt: le 'icola; t. * 

= Sei he Beratung. ieaten. —— Lieber. iſter Thi. die Mafl, eipsig, Broa 

Sat. Er « * mpeL iM 1 14 — — —R dei Mögern nah 57 Jahren ‚im 

Wartet“, 70, "Wittenberg, oe Y 

FT 1 Bien „Dur — „ia Beberfegungen vor. —D er 3 Deut — ber franzöftiben Zeit. Berlin, G. #ei- 

* — der „Beltpeler“, Rat. 





656 Anzeigen. 


Anze 


igem 


— — 


Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipzig. 


Soeben erjdien: 


Der Nene Pitaval. 


Eine Sammlung der interefanteften Criminalgeſchichten 


aller Länder aus älterer und nenerer Zeit. 


Begründet von . 
3. €. Hipig und W. Häring (Wilibald Alexis). 
Vortgeführt von Dr. A. Dollert. 
Reue Serie. Sünfter Band. Drittes Heft. 
8 Geh. 15 Nor. 

ee a) 

Einen überaus Iehrreihen Cinblid in den Eharafter ber 
franzöſiſchen Geſellſchaft kurz vor Ausbrud des gegenwärtigen 
Kriegs gewährt der Proceß des Prinzen Pierre Rapo- 
Teom wegen Töbtung Victor Noir's, wie er im März d. I. 
vor dem Gtaatsgeritshof zu Tours verhandelt wurde. An 
die Mare und authentiihe Darftellung des berühmten Falles 
Inlipft der Heransgeber des „Pitaval” noch ſcharffinuige Ber 
merfungen über das flattgehabte Procefverfahren im Vergleich 
mit der dentihen Criminaljuſtiz. 

Der „Reue Bitaval‘' if I einzelnen Heften zu 15 Ngr. 
oder in jährlichen Bänden zu 2 Thle. durch ale Buchande 
Tungen zu beziehen. 


Im Berlage d J audl: ü . 
— — — 
eeziehen: 


Ueber Erziehung und Bildung. 





Nach ſelteneren Schriften großer Pädagogen und Welt⸗ 


weiſen bearbeitet und herausgegeben 
von 
Dr. N. A. Müller. 
Oetad. Geheftet. 1870. 27 Sr. 





Von F. A. Brockhaı 
Leipzig ist zu beziehen: 


Leitfaden 


zum 
leichtern Erlernen der rumänischen Sprache, 
für die Beamten der rumänischen Eisenbahnen 
und 
für das deutsche in Rumänien reisende Publikum 
herausgegeben von 





Sortiment und Antiquarium in 


Glaise, 
Dragoman des Norddeutschen Bandes- Consulats in Galatz. 
Galatz 1870. 8. Geh. 1 Thlr. 10 Ngr. 


Der Mangel eines praktischen Lehrbuchs der rumäni- 
schen Sprache für Deutsche, der sich zunächst bei den ans 
Deutschland nach Rumänien berafenen Eisenbahnbeamten 
fühlbar machte, hat dem Verfasser zur Bearbeitung des 
vorliegenden Leitfadens Anlass gegeben. Die Schrift ent- 


‘spricht daher einem unmittelbaren Bedürfniss, darf aber 


um so mehr auch auf weitere Verbreitung rechnen, je ge- 
wisser die Eröffnung der rumänischen Eisenbahnen einen 
lebhaften Verkehr mit Dentschland hervorrufen wird. 





Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipzig. 


Das Keben Iefu. 
Erneft Renan. 


Autorifirte deutfhe Ausgabe. 
Dritte Auflage, 
vermehrt mit neuen Dorseden des Derfaffers nnd einem Anfang nad) 
den letzten Ausgaben des Originals. 
8. Geh. 1 Thlr. 20 Nor. Geb. 2 Thlr. 

Im die vorliegende dritte Auflage der autorifirten deut» 
Shen Ausgabe von Renan’e „Leben Jein“ (früher Verlag von 
Georg Wigand in Leipzig) wurden des Berfallers Borworte 
zur 13. franzöfifchen Auflage (1867) und zur iluftrirten fran« 
— Bolleansgabe (1870) ſowie ein beſonders wichtiger 

mhang: „Ueber das vierte Evangelium‘ aufgenommen: Cr- 
jänzumgen, welde in feiner anderu deutſchen Ausgabe ent» 
Falten rd. Ungeachtet der Hierdurch veranlaßten bedeutenden 
Bermehrung des Umfangs (um 6 Bogen) blieb der bieherige 
Preis des Werts unverändert. 

Us Supplement zu allen frühern Ausgaben 
von Renan’e „Leben Jeſu'“ if zugleich ein Separatabdrud 
jener Ergänzungen erfgienen und zum Preife von 10 Ngr. im 
allen Buchhandlungen zu haben. 

Don dem Derfaffer erſchien in denfelden Derlage: 
Die Apoftel. 8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr. 
Paulus. Mit einer Karte. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 
2 Thlr. 10 Nor. 








Derfag von 5. A. Brochaus in Ceipsig. 


Die deutſche Rechtſchreibung 
in der Schule 
und deren Stellung zur Schreibung der Zulunft. 
Mit einem Berzeiäuiffe zweifelhafter Wörter. 
Bon Karl Iulius Schröer. 
8. Geh. 20 Nor. 

Borliegende Schrift wurde infolge eines Auftrags des 
Öfterreihiihen Minifteriums für Enftus nnd Unterricht verfaßt 
und bat den Zmed, in die deutſche Orthographie der Wolke» 
und Mittelfhulen Ordnung und Einklang zu bringen. Der 
BVerfaffer geht dabei von dem Grundfag aus, daß die Schreibung, 
bie in der Schule zu lehren ift, dem herrſchenden Schreibe 
gebrauch ſich anfchliegen mäffe. Sein Bud; empfiehlt fi for 
wol zum Gebrauch beim Unterrit, als für jedermann zum 
Nacfhlagen in zweifelhaften Fäden. 








Im Verlage der Hahn’schen Hofbuchhandlung in Han- 
nover ist soeben erschienen und durch alle Buchhandlun- 
gen zu beziehen: 


Dante’s Hölle der Verliebten. 


Deutsch gereimt, Mit einigen Bemerkungen und 
einer Belegstelle aus dem Roman du Lancelot 
von 
Dr. Rudolf Minzloff, 

Kais, Russ, Staatsrath und Oberbibliothekar ete. 
Lex.-Format. Geh. 16 Sgr. 





Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Srochhaus. — Drud und Verlag von $. A, Brodhaus in Leipzig. 





Blätter 


für 





literari 


ſche Unterhaltung, 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erfcheint wöchentlich. 


—a Ar, 42, ö— 


13. October 1870. 





Inhalt: Sermanifche Literaturdenkmäler. Bon Karl Bartſch. — , Ein deutſcher Satirifer. Bon Rubolf Gottſchal. — Neu- 


gewonnene Hälfsmittel zum beffern VBerfländniffe Pindar’e. 


Bon Karl Fortlage. — Vom Büchertiſch. — Senilleton. (Zur 


Kriegslyrik.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Germanifche Literaturdenkmäler. 


1. Der Heltand oder die altjähfiihe Evangelien⸗Harmonie. 
Ueberfegung in Stabreimen nebft einem Anhauge von 
C. W. M. Grein. Zweite durchaus neue Bearbeitung. 
Kaſſel, Krieger. 1869. 8. 24 Nygr. 


Unter den chriſtlichen Dichtungen des germanifchen 
Mittelalters nimmt der altfächfifche „Heliand“, d. 5. der 
Heiland, eine hervorragende Stellung ein. Es ift der 
erfte Verſuch, die Gefchichte bes Neuen Teftaments epifch 
zu geftalten, und diefer erfte ift feither von feinem fpätern 
nit nur nicht übertroffen, fondern von feinem erreicht 
worden. Klopſtock's einft vergötterter, aber ſchon bei 
Lebzeiten des Dichters mehr bemunderter als gelefener 
„Meſſias“, den heutzutage gelefen zu haben fchon zu den 
Merkwürdigkeiten gehört, und der nur in unfern Litera⸗ 
turgefchichten eine Stelle findet, ift alles, nur fein von 
wahrhaft epifchem Geifte erfülltes Gedicht. Aber auch von 
ben Bearbeitungen des Mittelalters kann Feine mit bem 
„Heliand“ fi mefjen. Die interefjanteften Vergleichungs- 
punkte mit ihm gewährt Otfried’ „Evangelienbuch“, fchon 
deshalb, weil beide Dichtungen bdemfelben Jahrhundert 
angehören. Beide gehören dem Zeitalter an, welches bas 
Chriſtenthum erft zu allgemeinem Siege über das ger- 
manifche Heidenthum gelangen fah, in welchem noch zahl- 
reiche Belenner des Heidenthums fortlebten und fortwirf. 
ten, in welchen die Bollsbichtung noch wefentlic einen 
beidnifchen Inhalt hatte. Das Chriſtenthum zum leben⸗ 
digen Bewußtfein der germanischen Völker zu bringen, 
war eine der jchönften Aufgaben der damaligen Zeit; die 
deutfche Poefie bemächtigte fich deffelben, und wir fehen 
auf deutſchem Boden zwei Dichter des 9. Jahrhunderts an 
ihrer Röfung fich verfuchen. Aber mit wie verfchiedenen Mit- 
teln, in wie verfchiedener Weife! Difried mit dem ganzen Ap⸗ 
parat hriftlicher Dogmatik und theologifcher Gelehrfamteit, 
mit der ganzen fcholaftifchen Anfchauung und Auffaflung 
der Bibel, und doc in dem guten Glauben, mit feinem 
Were den cantus laicorum obscenus, der fo vielen 

1870. @. 


frommen Gemüthern ein Anſtoß war, wenn er aud 
nichtS weniger als etwas Obfcönes im Beutigen Sinne 
des Worte® bedeutet, zu befiegen und zu verdrängen. 
Der Dichter des „Heliand‘ dagegen, in der allererften Form 
der Bolfapoefie, im alliterirenden Gewande fich bewegenb, 
in al ben epifchen Yormeln und Wendungen, bie dem 
Volke feit Jahrhunderten lieb und vertraut waren, und 
feinen Chriftus zu einem beutfchen Chriftus machend, 
ihn darftellend als einen deutfchen Vollsfönig, um ben 
feine Jünger wie trene Lehns- und Gefolgsmannen ſich 
fharen — mie ganz anderd mußte eine ſolche wahre 
Berdeutfhung der biblifchen Geſchichte in Fleifh und 
Blut bes Volks eindringen und melde Förderung für 
das Eindringen bes Chriftenthums fein, welchem gerade bie 
Sachſen fo hartnädigen Wiberftand entgegengefet hatten! 
Somit ragt die Bebeutung des „Heliand“ über bie eines 
poetifchen Werks unjers Alterthums hinaus in bie 
Geſchichte unſers Volks: er ift eine That in ber Ent- 
widelung des rveligiöfen Lebens unferer Vorfahren. Nie 
wieder hat es em Dichter verftanden, das Chriftenthum 
in fo fchlichter volksthümlicher Weife zu prebigen, fobaß 
bei aller Uebertragung auf deutſche Anfchauungen, bie 
allein dem Volke die Erlöfungsgefchichte verſtändlich ma- 
chen konnten, der wahre Inhalt des Neuen Teſtaments 
doch unangetaftet blieb. 

Es ift daher begreiflich und gerechtfertigt, daß man nicht 
allzu lange nad; dem Wieberbefanntwerden des herrlichen 
Werts daran dachte, daſſelbe durch Weberfegungen auch 
weitern Kreifen zugänglich zu machen. Die erſte Ueber- 
fegung lieferte Kannegieger (1847); ihm fchloffen ſich mit 
ungleichem, aber jedenfalls beſſerm Erfolge Simrod, Koöne, 
Rapp an. Grein felbft Hat ſchon vor 14 „Jahren eine 
Ueberfegung veröffentlicht; dieſelbe Tiegt jet in gänzlich 
umgearbeiteter Yaflung vor. Daß ber Ueberfeger bie 
Form der Alliteration beibehalten bat, darf als felbft- 
verftändlich kaum befonders bemerkt werden. Heutzutage 

83 








658 


find wir durch die Simrod'ſche Ueberfegung der „Edda“, 
und neuerdings "dur die Anwendung ber Alliteration 
auf felbftändige Dichtungen, wie W. Jordan's „Nibe- 
lungen“ und 2. Weiß’ „Neue Edda“ (meld letzterer den 


eigenthümlichen Verſuch macht, Aliteration und Reim ; 


miteinander zu verbinden), fo fehr wieder an biefe uralte 
Kunftform der germaniſchen Völker gewöhnt, daß in ber 
That die Zeit gelonimen zu fein ſcheint, wo mir an ein 
mehr als Fünftlic erhaltenes Reben derfelben glauben 
dürfen. Daß Grein ebenfo wie Simrock die Aliteration 
nad) den ftrengen Regeln behandelt, die wir in unfern 
alten Poeſien jelbft vorgezeichnet und beobachtet finden, 
ift bei einem ermaniften von Fach ebenfalls felbfivere 
ſiändlich: ich würde es nicht befonder8 Kervorheben, wenn 
nicht andere Dichter in diefer Hinficht fich Freiheiten ger 
ftattet hätten, bie über jene Regeln hinausgehen und 
ein theilweife neues Princip ber Alliteration aufftellten. 
Ueber das Weſen des Stabreims hat der Ueberfeger felbft 
in einer kurzen Borrede orientirt; in einigen Punkten, 
die jedoch nicht wefentli find, Hat fi Grein, nad 
Simrod’8 Borgange, Freiheiten erlaubt, z. B. darin, daß 
er bie ftrenge Regel, ſp nur mit fp, fi nur mit fl, nicht 
diefe Lautverbindungen untereinander alliteriren zu laſſen, 
aufgegeben hat. Wir wollen das nicht tadeln, weil jene 
Regel in der That dem Ueberfeger große Schwierigfeiten 
auferlegt; weniger befreunden können wir und indeß mit 
Bindungen wie db und t, g und k, denn es will uns 
feinen, daß dadurch das Weſen der Alliteration, die doch 
eben im gleichen Inlaut beftcht, allzu fehr beeinträchtigt 
würde. Wenn man ſchon Reime wie „leiden — gleiten” 
heutzutage kaum mehr billigen wird, fo find dieſelben 
doch noch eher zu extragen, weil der Reim bon ber 
Affonanz, alfo dem Vocale ausgegangen und der auf 
die reimenden Bocale folgende Conſonant relativ weniger 
weſentlich ift; hier aber, in der Alliteration, ift der Con» 
fonant die Hauptfache, diefer muß alfo gleich fein. Wir 
würden in folchen Yällen daher ein Aufgeben der Einned- 
treue, ein etwas freiere® Wiedergeben des Gedanfene 
vorgezogen haben. Die alliterivenden Worte oder die 
Stäbe, wie man fid) auadrüdt, find im Drucke nicht ber 
ſonders bezeichnet; nur ba, wo fie einer Dervorhebung 
bebürftig erfchienen, ift dies durch gefperrte Schrift ger 
ſchehen. Das ift in der Regel dann der Fall, wenn die 
iogiſche Wortbetonung dem als Stab dienenden Worte 
einen nicht genügend Hohen Ton geben würde. Aber 
darin liegt ein Heiner Mangel: denn bie Alliterationge 
poefie hängt aufe immigfte mit dem logiſchen Princip der 
Betonung zufammen und bindet baher nur ſolche Worte, 
bie and) dem Einne nad) einen hohen Ton im Satze 
Haben. Wenn der Ueberfeger (©. 112) 3, 3946 fg. 
überträgt: 

Ich zeige end) von Gott felbR des Guten doch fo viel 

mit Worten und mit Werfen mn wollt ihr mid, allhier 

ſtrafen flarren Sinnes und mid mit Stein werfen, 

mid) (öfen von meinem Leben — 
fo müffen in der zweiten Zeile die Worte: Worten — 
Werken — wollt, alliteriren. Auf „wollt“ liegt aber fein 
logiſches Gewicht, und dies hat der Ueberfeger empfunden, 
daher das Wort geiperrt gebrudt. Trotzdem wird man, 
ohne den Sinn zu beeinträdtigen, „wollt“ nicht fo ſtark 





Germanifge Literaturdentmäler. 


hervorheben dürfen, um es zum Alliterationsſtabe zu ma- 
hen. Das Original hat auch das Berbum „wollen“, aber 
nicht biefes, fondern der davon abhängige Infinitiv bildet 
den Stab: 
wordö endi werkö: nu williad gi mi witnön her. 
Aber williad — wollt affiterirt nicht mit, jondern witnda 
mit wordö und werk& Schon das hätte ein Fingerzeig fein 
follen, daß bier cin anderer Stab zu ſuchen war, Nicht 
anders verhält es fi mit Ber 3986: 
Es fagte der Sohn des Herrn zu feinem.Gefolge. 
And) Hier liegt auf „feinem“ fein logiſcher Nahdrud, und 
vergleicht man das Original, fo findet man vielmehr, 
daß Hier entſprechend dem richtigen Tonverhältniß das 
Wort, welches dem „Gefolge“ entfpricht (gisidon), die 
Wliteration trägt. Trotz folder Meiner, ich geftehe es, 
nicht ohne Schwierigkeit zu vermeidender Mängel, deren 
Befeitigung aber ein nochmaliges Durcharbeiten doch wol 
erreichen dürfte, Lieft ſich die Meberfegung ſehr gut und 
fließend. Wir erlauben uns, ein paar Meine Stellen 
herauszuheben, welche zugleich für die deutfche Auffaffung 
befonder& charakteriftiich find und eine Vorfiellung von dem 
Charakter des Originald wie der Ueberfegung geben wer« 
den. Bere 3924 fg.: 
Da ſprach einer der Zwölfe, 
Thomas darauf, ein tuchtiger deld, 
des Fürften rufmreier Gefolgemann: „Nicht follen wir 
ihm das Vorhaben tadeln, 
Taßt uns aushalten mit ihn, 
daß iſt eines Helden Preis, 
flehe feR aufanımen, 
thun wir drum alle fo, 
ob wir im Boll aud) fterben 
fo wollen wir unfer Leben 
dann lebt der Nahruhm ums 
doc drauf, 
&o wurden die Mannen Chrifti, 
einmüthigen Siunes 


ihn abhalten von feinem Willen! 
beharren bei unferem Herrn! 

daß er mit feinem Furſten 
und fierbe ihm zu Ehren; 
folgen wir feiner Fabrı! 

mit unferm lieben Herrn, 
doch nichts dagegen adıten! 


dor Menichen gute Worte.“ 
die edelgebernen Helden 
dem Herrn zu Willen. 


Die zweite Stelle ift die Rebe des Petrus, ale 
Chriſtus den Verrat den Süngern anfünbet, und Chrifti 
Entgegnung, Vers 4638 fg.: 

Da ſprach Simon Petrus 
der Dienftimann zu feinem Fürften mit dreiften Worten 
ans Huld zu feinem Herrn: „Wenn diefe Heldenihar 
aud all von dır abfällt, will ich doch immer mit dir 
im allen Bedrängniffen  dufden und außharren. 

Id bin gamı und gar bereit, wenn Gott mir's zuläßt, 
daß ich zu deiner Hllie beharrlich ſtehe: 

Wenn in dem Kerker dich mit Ketten und mit Banden 
das Wehrvolt audı verwahrt, dach hab’ id) wenig Zmeifel, 
daß ich bei dir in den Banden bieiben werde, 

dort fiegen bei dem fo Lieben! Wenn fie vom Peben dann 
did durch der Schwerter Schärfe ſcheiden mollen, 

wein Herr, du guter, fo geb’ ich Bahin mein Feben 

an der Waffen Spiel fir di. Nicht wurdig dunm es mir, 
dee zu vermeiden, fo lange mic nur außhält 

Herz und Hanpdfraft." Da fprad) ihm fein Herr entgegen: 
„Du trauft dir zu fürmahr zweifellofe Treue 

und fühne Dinge, HaR eines Kümpen Giun, 

dein Wille ift wol gut! Doch fag’ ih dir, wie es mod 


J J werben foll, 
daß dur wirftfo weichmlithig, obgleich du es nicht wähneſt alfe, 
daß du verleugneft dreimal 


deinen fieben Herrn, 
Heint vor dem Hahnenſchrei und fagR dei ic) dein Ger 


nicht fei, 
veradteft meine Obhut." Zur Antwort gab ber Maun: 





Germanifhe Literaturdenfmäler. 


„Wenn in ver Welt das je 
daß ich mit dir zuſammen 
umd tapfer den Tod erleiden,’ 


fo werden follte, 

dürfte fterben 

doch wiirde der Tag nicht 

fonmen, 

daß ich dich verfengnete, den lieben Herrn, 

gern vor diefen Juden.‘ 

Ein Anhang von mehrern Kapiteln behandelt unter 
anderm: bie Quellen, welche der Dichter benugte, und 
unter welchen die Evangelienharmonie des Tatianus bie 
erfte Stelle einnimmt; die Zeit der Abfaſſung, welche ber 
Ueberfeger abweichend von den Refultaten des Dr. Win- 
diſch vor 820 fegen möchte; endlich die im riner latei⸗ 
nifchen Aufzeihnung und überlieferte Entftehungsgefchichte 
des Gebichts, in welcher wir eine Nachahmung desjenigen 
erbliden dürfen, was Beda über den angeljüchftichen 
Evangeliendichter Cudmon berichtet. 

2. Ban deme Holte des billigen Eruzes. Mittelniederdeutſches 
Gedicht mit Einleitung, Anmerkungen und Wörterbudy, ber» 
ansgegeben von Karl Schröder. Erlangen, Beſold. 1869. 
&r. 8. 20 Nor. 

8. Brnwenlof. — Ban Sunte Marinen. Mittelniederdeutſche 
Gedichte, herausgegeben von Karl Schröder. Erlangen, 
Beſold. 1869. Gr. 8. 10 Ngr. 

Der niederdeutſchen Literatur des Mittelalters hat 
man in den letzten Jahren größere Aufmerkſamkeit als 
bisher zugewendet: es ſteht dies einerſeits im Zuſammen⸗ 
hange mit der größern Ausdehnung, welche die germaniſti⸗ 
{hen Studien gewonnen haben, mit der wachſenden Zahl 
der Mitforfchenden und Mitftrebenden, mit der Marer 
berportretenden Nothwendigkeit einer Theilung der Arbeit, 
einer Beſchränkung des einzelnen auf ein beftimmtes Ge⸗ 
biet, andererjeits mit der literarifchen Hebung der nieder- 
deutſchen Mundarten der Gegenwart, die wir namentlich 
Fritz Reuter und Klaus Groth verdantn. Die nieder- 
deutfchen Dichtungswerke des Mittelalters Haben nicht bie 
weitgreifende Titerarifche Bedeutung, die einem heile ber 
mittelhochdentfchen Werke zukommt; fie halten fih auf 
einer gewiffen Mittelhöhe, durch Einfachheit vortheilhaft 
abftehend gegen die gejchraubten mittelhochdeutjchen 
Dichtungen der Berfallzeit, aber freilich meift aud ohne 
höhern bdichterifchen Schwung. Neben dem fpradjlichen 
Intereſſe, welches hier fchon deshalb mehr in den Vorder» 
grund tritt, weil die Zahl der veröffentlichten Dentmäler 
eine geringere ift als in der mrittelhochdeutfchen Literatur, 
bleibt den meiften der niederdentfchen Dichtungen doch aud) 
ein Jiterarifches Intereffe, welches fi) entweder an ben 
Stoff oder an die Behandlung knüpft. 

In beiden Ritdfichten verdienen die hier von Karl Schrö- 
ber herausgegebenen Gedichte eine Beachtung. Unbekannt 
waren biefelben den Forſchern allerdings nicht, allein fie 
erfcheinen hier zum erften male in gereinigter und ur» 
Tundlicher Form, auf Grundlage einer forgfältigen Ver⸗ 
gleihung der Handſchriften, aus denen fie entnommen find. 

Die erfte Dichtung war bereits in der erften Hälfte 
des vorigen Yahrhunberts dur; Staphorſt in feiner 
„Hamburgiſchen Kirchengefchichte” (1731) abgedrudt, aber 
äußerft unzuverläffig und fehlerhaft. “Die einzige Hand⸗ 
fchrift verdanfen wir der im Jahre 1392 geftifteten 
Brüpderfchaft des heiligen Leihnams zu St.-Johannes in 
Hamburg, auch die Wlanderfahrergefelfhaft genannt. 
Denn fchon der Name derfelben auf nahe Beziehungen 


J —— —— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —— —— re, — — — — — 


659 


zu den Niederlanden Hindentet, fo gibt ihre literariſche 
Thätigfeit noch mehr von einer folgen Berührung Kunde, 
Sie veranftaltete mater dem Titel „Hartebok“ eine 
Sammlung geiftliher und weltlicher Gedichte, welche faft 
alte une dem Niederländifchen überfett zu fein fcheinen. 
Die Handfchrift. galt lange fir verloren, bie 1847 
Bappenberg fie in der Lade der Brüberfchaft fand. Bon 
dem vorliegenden Gedichte hat das niederländifche Original, 
das als Borbild diente, fi erhalten und läßt uns fomit 
die Art und Weife der Uebertragung ertennen. Bei fo 
nahe verwandten Dinleften, wie das Niederbentfche und 
Niederländifche find, war eine folche Hebertragung in den 
meiften Fällen nicht mit zu großen Schwierigkeiten ver- 
bunden, inbeß es fehlte doch auch nicht an Stellen, wo 
eine bloße Umfchreibung in niederdeutihe Spradformen, 
nicht ausreichte, namentlich wenn bie niederländifchen 
Reime feine nieberdeutfchen ergeben hätten ; in diefen Fällen 
mußte ftärfer geändert, oft die ganzen Verſe wmgearbeitet 
werden. Doc auch abgefehen von diefen nothmendigen 
Wenderungen, hat der Ueberjeger theils in Zufügen, theil® 
in Weglafjungen größerer und kleinerer Stellen fid) ziem⸗ 
liche Freiheiten geftattet, wie ſolche in den meiften Ueber- 
fegungsverfuchen des Mittelalter8 begegnen. 

Die Sage, welche das Gedicht behandelt, gehört zu 
den im Mittelalter ſehr weit verbreiteten; wir Tennen 
und befigen Bearbeitungen in allen neuern Sprachen. 
Die Einleitung fpricht eingehend davon; freilich iſt der 
Stoff bei weiten nicht erfchöpft, und eine demnächſt er- 
fcheinende Abhandlung von A. Muflafia über die Seth» 
Legende wird zu dem von Schröder beigebracdhten Material 
gar manche Nachträge zu liefern haben. Die Legende 
brachte da8 Kreuz, an welchem Chriftus flarb, in Bezie- 
bung zu dem Baume bes Lebens, dem Baume der Er» 
fenntniß des Guten und Böfen. Ein Zweig von demjelben 
wurde nad) Jeruſalem verpflanzt und erwuchs zu einem 
hohen Baume, aus welchem das Kreuz Chrifti gezimmert 
ward. Damit im Zufammenhange fteht eine andere 
Ueberlieferung, nach welcher Adam in ſchwerer Krankheit 
feinen Sohn Seth ind Paradies fendet, um entweder 
Früchte oder heilendes Del dorther zu holen. Seth bringt 
ein paar Truchtlörner des Baums mit und pflanzt die» 
felben ein; zur Zeit des Salomoniſchen Tempelbaues 
foßte der daraus erwachlene Baum bei diefem verwendet 
werden, blieb aber unbenugt liegen und fand nachher 
anderweitige Verwendung, wie als Steg über einen Bad). 
Das Beftreben, bedeutend hervortretende Ereigniffe und 
Perfönlichleiten des Alten und Neuen Teftaments durch 
die Sage in Berbindung zu feßen, hat mehrfache Varia⸗ 
tionen des alten Sagenftoffe veranlaßt, die in ihren 
Berzweigungen zu verfolgen von großem Intereſſe iſt. 
Nicht allein die Einleitung, fondern aud, die Anmerkungen 
des Herausgebers geben Hier reichliches Material, indem 
die verfchiedenen abweichenden Punkte hervorgehoben wer» 
den. Ein forgfältiges Wörterbuch bildet den Schluß bes 
Buchs und wird auch demjenigen, der die alte nieder- 
beutfche Sprache nicht näher kennt, das PVerftändniß der 
finnigen Dichtung erichließen, deren Inhalt den fymboli» 
firenden Geift des Mittelalter wie wenig andere Legen» 
den zur Anfchauung bringt. Zu ihrer Empfehlung fei 
noch angeführt, daß auch Herder's feiner Geift ihr 

83 * 


662 


Wellgunde's (Stiame von oben). 
Boglinde, wachſt du allein? 
Woglinde. 

Mit Wellgunde wär’ ich zu zwei'n! 

(Run tommt die noch nicht publicirte Fortſetzung h 
Bagnermwogner (mallend auf Wogen des weſtlichen Windes). 

Und mit Bülobuble zu drei'n! 
Honolulu! 
Bilobulu! 
Lulu, lulu! 
Binfelnde Winde 
Bagalaweia! 
2 Selinde, 
O Eieleia! 

M das nicht mwunderfhön? Das ift die wahre Porfie 
der Zufunft „mallafa, weiala, meia’! Diefe feine Perfiflage 
der Synagoge fonnte nur dem Hirne deffen entipringen, dem 
das Jahrhundert „Das Judenthum In der Muſit“ zu ver» 
danten hat. 

Die Parodie auf ein Gedicht von Johannes Minckwitz: 
„Die Völkerſchlacht“, brachte den Kleinftädter, wie wir 
aus einem abermald parodiftifch gefaßten Proceßbericht 
erfehen, fogar in Conflict mit den Gerichten, weil er nicht 
deutlich genug hervorgehoben hatte, daß er feine eigenen 
traveftirenden Verſe und nicht diejenigen von Mindwig 
mittheile. Im übrigen erfcheint hier die Satire weniger 
berechtigt, weil fie ſich nur an Einzelheiten Mammert, die 
aus dem Zufammenhang gerifien werden. 

Mehr auf das Große und Ganze geht die elfte 
Epiftel, in welcher Karl Vogt abconterfeit wird, und zwar 
in der Form eines Beſuchs, den dieſer ſich ſelbſt abftartet. 
Auch Hier ift die Satire parodiftifch; denn fe nüpft an 
die Schilderung an, die Vogt von einem Beſuche bei 
Alexander von Humboldt entworfen hat. Ebenſo ift fie 
einfeitig; denn fie wird den Berdienften diefes geiftreichen 
und glänzenden Kopfes nur wenig gerecht. Doc, indem 
fie ſich gegen die „Wandervorlefungen“ richtet, berührt 
fie einige Punkte von allgemeinem Interefie. Vogt jagt 
zu Bogt: 

„Aber Überfhägen wir die Vorträge, ihre Wirkung und 
Ihre Berunderer nicht zu fehr, hüten wir uns, die wir ung 
zu Mpofteln der freien Forſchung und zu begeifterten Berlün« 
digern des Coangeliume der Gelbferfenntnig machen, hüten 
wir uns vor Gelbfitäufhung. Dienen Ihre Vorträge vor- 
nehmlid) dem Intereffe der Eipenfaft, oder hat das, mas 
eigentlid, Nebenſache fein follte, die damit verbundene Einträg- 
figjfeit, einen beflimmenden Einfluß auf Form und Subflanz 
derfelben gewonnen ? Ich verlange von feinem Menſchen, auch 
von dem gelehrteften night, daß er für feinen Beruf heiden- 
mäßig verhungere, aber auf der andern Seite möchte id and, 
nicht zugeben, daß das, was einfad ein gutes Geſchäft ift, als 
Wiffenfhaft gefeiert und dem Tribunal des gefunden Laien 
verflandes entzogen werde. "Ic finde es fehr dantenswerih, 
daß der gelehrte Forfcher jetzt beftrebt in das Refultat feiner 
Studien der Allgemeinheit zugute fommen zu laffen, aber ich 
muß mir aud) fagen, daß bei der Prägung des in der Tiefe 
der Erde gefundenen edein Metalle in allgemein gültiges Cou« 
vant viel unedie Subflanzen Hinzugefegt werden, und daß von 
dem edefn Metall, wenn es den Proceß der „Gangbarmayung' 
beftanden hat, bisweilen verwünfdt wenig übrigbleibt. Ich 
will mid, Marer ausdrüden: die Wiflenfchaft, fo meit vorge 
ſchritten fle auch ift, liefert gerabe über bie Urgeichichte des 
Menfeen nod ſehr unbeftiedigende Refnitate, unbefriedigend 
twenigftens für den Saien. Das iharffinnige Geflige mehr oder 
minder beredhtigter Oypotheſen bietet für das große Publikum 
nur geringe Reize dar. Die anſpruchsbolle Menge verlangt ber 
Rimmte Thatfagren, umd der Wiffenfchafter, weicher ſich dazu 





Ein dentſcher Satiriker. 


bequemt, den Anfpräcen dieſer Menge zu genligen, tommt 
wider Willen dazu, an die Stelle der Bermuthungen beſtimmte 
Behauptungen treten zu laffen und Hypotheſen für Thatſachen 
auezugeben. Darin liegt die Gefahr derartiger apopulärer» 
Vorträge. Wenn der Bortragende nur das fagte, was er weiß 
und was er vor feinem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen verantworten 
tann, fo wilde das Auditorium fih Iangweilen und ziemlich, 
enttäufcht ausrufen: «Der weiß ja eigentlih gar nichts» Um 
das Publitum zu fefleln, um die Bänfe vor dem Katheber zu 
füden, müffen Conceifionen gemadt werben, und zwar auf 
Koften der Grünblichkeit, der Wiffenſchaft. Und das geihieht; 
am erſten Abeud Heißt es: «Nehmen wir an, daß fi bie 
Soden fo und fo verhalten»; am zweitın Abend heißt es: 
«Wir haben geftern bewieſen, daß fi die Sachen jo ımb fo 
verhalten.» Und auf dieſer, jet auf einmal als thatſächleche 
Grundlage voranggeiegten Hnpothefe wird weiter gebaut. Auf 
dieje Weiſe wird Stodwerf auf Stockwert gejegt, bie ſchließlich 
der Affe als Krönung des Gebäudes das funfvolle Ganze 
fließt. Und auf den Affen fommt es ja hauptiädjlid au. 
Auf ihm wartet das Publitum fünf Vorträge lang mit feigen- 
der Ungebuld, und e8 würde ſicher ſchon beim dritten dapon» 
laufen, menn nicht die Iicbenswürbige Vefie, welde im der 
magiſchen Beleuchtung des Schlußvortrage in ihrer vollen Grazie 
erſcheint, fon an den Borabenden ihre Orgenmwart in dißcreter 
Weiſe verriethe. Bringt doch jeder Abend die mwißbegierigen 
Zubörer dem erfehnten Ziele, dem Affen, näher. Dies färkende 
Bewußiſein erhält die Geifter in Friſche umd Lebendii — 
„Sind Sie bald fertig?" fragte id) mich, während id) umge- 
Duldig auf meinem Stuhl hin« und herriidte und mir ſwarf 
ins Auge ſah. — „Blei“, antwortete ih mir und fuhr fort: 
„Webrigens haben Sie außer dem Affen nod) ein anderes Reize 
und euer ittel für den großen Haufen, und aud) dieſes 
Mittel halte ich für etwas bedenflih und nicht ganz; wiſſen- 
f&afılih: ich meine die Pointen, mit weldien Cie Ihre Bor- 
träge wurzen. Sie dürfen verfiert fein — und Cie wiſſen 
es auch ganz gut — daß die Mehrzahl Ihrer andächtigen Zur 
börer fi weniger um das beflimmert, mas Sie jagen, ale 
um bie Art und Weife, wie Sie es fagen. Man wartet fürn 
lich darauf, daß Sie einen Wig maden, und der Beifall, 
melden Ihre geifreihien Improvifationen Anden, veranlaßt Sie, 
damit night zu fargen. Beiehen Gie fih rinmal Ihre Gönner 
in der Wähe, umd fragen Sie fle nach dem Schiuß Ihrer Bor- 
träge, was fie von denfelben profttirt umd im Gedächtniß ber 
halten haben. Man wird Ihnen die meiften Ihrer glücdlichen 
Einfälle ganz getreu wiederholen und hinqufegen, daf mir im 
dem Affen einen verwahrloften Bruder zu begrüßen die Ehre 
Haben. Damit bafta. Im Übrigen haben Sie die Zahl der 
dunteln Begriffe und confulen Auffafungen, die in den Schü- 
dein der Menſchen niften, um einige neue vermehrt, und das 
eben nennt man: aufflären. Das Publifum, das auf die 
Bointen fanerte, ift fhließlid) zu der Annahıne gelangt, daß die 
Vorträge der Pointen wegen da find, und die Wiſſenſchaft ift 
die Dienerin des faulen Wiges geworden.“ 

Im ganzen überwiegt die literariſche Satire, wenig- 
tens in diefem erften Bändchen. Auch die „Picder einer 
Berlorenen" von Ada Ehriften werden einer eingehenden 
Beurteilung unterworfen und zwar einer ſehr ſcharfen. 
So wird ihnen moraliſche Codonnerie zum Vorwurf ger 
macht, das kunſtvoll verfificirte Renommiren mit Gewiſſens- 
qualen. Daß „Ada Chriſten“ feine Myſtification ift, 
wie der Doctor in der Epıftel des Kleinſtädters meint, 
haben wir bereits in d. BI. erwähnt. Damit fällt auch 
die weitere Argumentation: 

Ich Halte die Geſchichte zunächſt für eine Moftification, 
Irgendein pfiffiger Spaßvogel, der feinen Heine in- und aus- 
wendig fennt, hat fi vermuthlih den Scherz erlaubt, in 
Heine’fcher Manier einige ziemlich gleihglftige Berje zufammene 
juichreiben, und um die Geſchichte pifant zu machen, feinen 
ehrlichen Namen mit dem einer Dame vertaufht — e 

D, lat fie wid) nicht nennen, tenfge Sternel 






Nengewonnene Hälfsmittel zum beffern Berftännniffe Pindar's. 


‚ Sole Berfe lann id, auch machen, und zwar zu jeher 
Zeit, z. B.: | 

Du bift wie eine Tulpe 

So fromm und rein und hold, 

Du heft Diemanten und Berlen, 

Haft Kupfer, Silber und Solb. 

Und gehſt mit einem Anbern! 

Das finte ich gemein. 

96 ſchau' did an und Wehmsty 

Schleicht mir ind Herz bineln. 

Wir höchſt moraliihen Deutfchen hatten bereits das 
Lorettentyum in Tönen — Offenbach; es wer witzig, toll, 
anfprud;elod, und deshalb Taffe ich's mir gefallen. Wir hatten 
ferner die Liederlichleit in Yarben — Malart; fie war geiſt⸗ 
vol, künftlerüch, genial, und deshalb habe ich dagegen abielut 
nicht8 einzumenden. Es fehlte noch die Proftitution in Worten, 
und in Ada Ehriften ift uns eine Soppho der Mufenhalle er⸗ 
Randen; ihr Gewinſel ift Iignerifch, fentimental, anſpruchsvoll 
und deshalb unerträglich. 

Mende, Schweiger und die dentfchen Soctaliften, bie 
Gournier’fche Ohrfeige, das Concil mit feinen Canones, 
Hournaliften» und Muflfertage bieten dem Stleinftädter 
Stoff für ferne fatirifchen Randglofien. Eine Refolution 
des Mufilertage lautet bei ihm: 

„In Erwägung, daß vor allem auf dem Mufilertage ein 


Hengewonnene Hülfsmittel zum 


Bindar’s Siegesgeſänge. Mit Prolegomenis Über Pindarifche 
Kolometrie und Textkritik von Morig Schmidt. Erfter 
Band. Olympiſche Siegesgefänge griechiſch und dentſch. Jena, 
Mauke. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 


Dieſes gelehrte Werk bringt uns den großen griechi⸗ 
ſchen Dichter in zwiefacher Hinſicht näher, in muſikali—⸗ 
ſcher und poetiſcher; in muſikaliſcher auf dem Wege müh- 
ſamer Forſchung, in poetiſcher auf dem Wege eleganter 
Ueberſetzung. 

Pindar's feſtliche Siegeshymnen wurden in Begleitung 
von Zithern und Flöten von Singchören vorgetragen. Es 
iſt dem Verfaſſer gelungen, auf dem Wege anhaltender 
Studien, Vergleichungen und Berechnungen das Grund- 
geſetz für den muſikaliſchen Vortrag derſelben zu entdecken, 
welches bisjetzt völlig unbekannt geblieben war; ein Geſetz, 
welches zugleich auch für den Bortrag der Chöre in ben 
dramatifchen Aufführungen feine Geltung hatte. Es ift 
diefes ein Geſetz, welches auch für den, der nicht im 
Stande ift, felbft die dornigen Pfade der philologifchen 
Beweisführung mit zu durchwandern, ſchon allein durch 
feine ungezwungene Einfachheit und natürliche Grazie 
etwas unmittelbar Einleuchtendes und das Gefühl An- 
fprechendes hat, indem e8 uns in den Stand fegt, das 
Berhältniß der antifen Muſik zur modernen in Beziehung 
auf Takt und Rhythmus fo feftzuftellen, wie e8 mit den 
übrigen Charakterzügen diefer grundverſchiedenen Zeitalter 
im beiten Eiuflang flieht. Denn den Gegenfag des ftreng 
gefchloffenen, vollendet geformten, maßvollen antiken We⸗ 
fend gegenüber dem ungebundenern und entfefleltern Wefen 
ber modernen Welt fehen wir in Betreff des antiken und 
mobernen Rhythmus uns bier auf das lebendigfte vor 
Augen treten. 

Bei uns fteht das Metrum oder Versmaß eines Ge⸗ 
bichts, welches von einem Mufiler componirt wird, mit 


663 


guter Tor harrſchen muß, beichlieht die Berſammlung, baf, 
wenn irgendein Individuum uicht den Takt befigt, zu nermei« 
deu, daß eine Diffonanz im Durchgang norlommt — wodurch 
natfrlih die Harmonie und der Einklang geflört werden wärs 
den —, daffelbe zunähft mit einem S⸗Schlüſſel zu verſehen if. 
Wird dieſe Anfpielung nicht verfianden, fo läßt die Berfammiung 
eine Pauſe von einigen Secunden eintreten, dann aber zieht fie 
andere Seiten auf und ergreift, ſobald fie überzeugt if, daß 
feine enharmonifche Verwechſelung eintreten kann, mit einer 
Schwingung den Imculpaten und wirft ihn ohne Intervalle, 
in gefteigertem Tempo und mit einem leiſen Nachſchlag derart 
die Scala berauf, daß er ohne Accompagnement, aber nicht 
ohne Tremolo auf dem Refonauzboden ankommt.“ 


Die harmlofen Epifteln unfers Satirikers verrathen 
ein ganz unleugbares Talent, das fid) namentlich in der 
Perfiflage und JIronie, in der Parodie und Traveſtie 
äußert. Die Abweichung von den gewohnten Gleifen 
des Feuilletonhumors, die felbftändige Einkleidung, die an 
unfere beffern Mufter, Sean Panl, Immermann u. a., 
erinnert, machen die Erfcheinung des Kleinſtädters auch 
zu einer literarifck bemerfenswerthen und ermweden die 
beten Hoffnungen für die Fünftigen Reiftangen einer fo 
fchneidend fcharfen Begabung. Audolf Gotifchall. 


befern Verſtändniſſe Pindar’s. 


der Wahl und der Eintheilung des Taftmaßes nicht im 
einem vorherbeftimmten Verhältniß. Der Muſiker darf 
bei ung mit den Worten ganz fchalten wie es ihm ge- 
fält. Er darf Worte wiederholen, die der Dichter nicht 
wiederholt hat; er darf Silben auf das längfte ausdehnen, 
auf das kürzeſte zufammenzichen, wie er es für gut findet; 
er darf fogar bei feinen. beliebigen Wiederholungen Säge 
abfürzen, Slidwörter (mie „ja” oder „nein“) eimfchieben; 
wir haben über alles diefes Feine beftimmte Regel. Die 
unmittelbare Folge hiervon ift bei uns, daß überall, wo 
Muſik und Dichtkunſt zufammenwirken, die erfte die Herr» 
Schaft ausübt, welcher ſich die letztere als Dienerin zu 
fügen hat. Im griechifchen Altertfum fand das Gegen- 
theil Hiervon ftatt. Obgleich auch bei ben Griechen die 
Inftenmentolmufif der Saiten- und Blasinftrumente (wie 
Harfen und Klarinetten) ſich ſchon zu einer für fich allein 
beftehenden Kunftübung, zu einem wahren Birtuofentguu 
gefleigert Hatte, fo trat doch überall, wo Muſik und 
Dichtkunſt zuſammenwirkten, die erftere als Dienerin zurüd, 
die leßtere als Herrſcherin hervor. Die Mufil Hatte in 
diefem Falle dort nicht, wie bei ung, die Gewalt über 
ihren eigenen Takt. Dieſen empfing fie vielmehr von ber 
Dichtkunſt; ihr einziges Geſchäft war, das empfangene 
Taktſchema des Metrums durd die Erfindung einer dazu 
pafienden Melodie Höher zu färben. 

Um nun aber die Metra richtig zu lefen, d. 5. fo zu 
lefen, daß fie nicht ſowol für den fprechenden, als viel- 
mehr für den fingenden und von Inftrumenten begleiteten 
Vortrag fih brauchbar zeigen, dazn gehört die Grund» 
norm eines conftanten Taktmaßes, in welches ſich die 
Bersfüße einorbnen, und welches uns vom Alterthum 
nicht ausdrüdlich überliefert worden ift, weil es ſich fei- 
ner großen Einfachheit wegen bei den alten Schriftitellern 
nur ganz von felbft verftand. Es muß aus gelegentlichen 


664 


Bemerkungen, indirecten Anzeichen, Bergleihung befann- 
ter Yale mit unbelannten, befonders aber durch anhal- 
tendes Einftudiren in ben immer wiederkehrenden Tonfall, 
welcher auch in den complicixteften Maßen dem geübten 
Ohr noch immer als ein und derfelbe durchklingt, be- 
rechnet und ertaftet werben. Die Yorderung wurde ge- 
ftellt von Bödh; weiter wurde auf diefem Wege mit wech⸗ 
felnden Erfolgen gearbeitet von Weftphal. Durch Morig 
Schmidt fcheint barum wol das Ziel wirklich erreicht wor- 
ben zu fein, weil man fi etwas Natürlicheres und Ein- 
facheres, etwas der noch unerfchloffenen Blüte unferer 
mufitalifgen Kunſt Entfprechenderes nicht wohl vorftellen 
ann. 

Warum rundet ſich bei uns bie Melodie jedes Wal- 
zers, überhaupt jedes einfachen Tanzes, in acht Talten 
ab? Warum bemerken wir dafjelbe Gefeß herrſchend bei 
den meiften Melodien einfacher Volkslieder? Ohne Zweifel 
darum, weil diefe unter allen möglichen Taktgruppirungen 
biejenige ift, welche am leichteften und natürlichften in 
das Ohr fällt, welche einem einfachen und kindlichen 
muſikaliſchen Gehör von befchränkterer Faſſungokraft am 
meiften zufagt. Nun wohl! dieſes Geſetz, welches bei 
und nur die einfachfte Norm fiir den Naturgefang bildet, 
war nad) der Beweisführung von Morig Schmidt bei 
den Griechen bie allgemeine Norm für allen, felbft für 
den höchſten Kunftgefang. In dieſes Maß, das ein» 
fachfte was es gibt, die mannichfaltigften Tonfälle und 
Bersfüße bald in üppig wucernder Fülle auszufchütten, 
bald in fparfam zurüdhaltender Weife gleichfam tropfen- 
weife einzulaffen, darin beftand der Zauber des antiken 
Kunſtgeſangs. 

Schon in ſeiner frühern Verdeutſchung vom Konig 


Oedipus“ des Sophokles (Jena 1862) hat Moritz Schmidt 


die Chöre nach dieſer Theorie überſetzt. Und au r 
wieder hat er die erſte und vierzehnte olympiihe Ode 
des Pindar in bdiefer Art im Versmaße des Originals 
getreu wiedergegeben. Aber weil wir lefend immer bie 
Worte nur fprechen und nicht fingen (wie die Alten tha- 
ten), fo Hilft uns eine ſolche Sangbarmachung derfelben 
ohne muſikaliſche Compoſition nicht viel und verlohnt 
faum bie nicht geringe Mühe, welche eine folche Weber- 
feßung koſtet, befonders wenn diefelbe nicht nur ſinn⸗, 
fondern auch möglichſt wortgetreu fein fol. Die einzig 
mögliche Art, uns den antiken Chorgefang zu veranfchau- 
lichen, ift die durch moderne Compofition antiker Chöre, 
wie fie zuerft Mendelsſohn verſucht hat. Leider fielen 
jeine Verſuche in eine Zeit, wo das Grundgeſetz des an⸗ 
tifen Rhythmus noch unbelannt war, und daher die Don- 
ner’fche Ueberfegung noch nicht zum fichern Führer auf 
diefem Wege taugen konnte. Daher fam es, daß durch 
Mendelsfopn und feine Nachfolger Tanbert und Laffen 
zwar wol mit genialem Inftinct in einzelnen Partien das 
Richtige getroffen werben konnte, im ganzen aber noth» 
wendig über das wahre Ziel weit hinausgejchofjen werden 
mußte. Wie dagegen ein antiker Chor in feinem echten 
Rhythmus wirklich gelungen hat, laſſen zwei völlig correcte 
Eompofitionen, welche dem Schmidt'ſchen Werke anhangs- 
weiſe zugegeben find, in höchſter Lebendigkeit und An- 
Ihaulichleit erfennen. Die eine ift ein Chor aus dem 
Euripibeifhen Satyrfpiel „Der Cyklop“, die andere ein 


Neugewonnene Hälfsmittel zum beſſern Verſtändniſſe Pindar's. 


Chor aus dem Sophokleiſchen „König Oedipus“, beide 
nach der Schmidt'ſchen Ueberſetzung und correcten Takti⸗ 
rung des Originals. Um bei dem zweiten Chor den 
Gegenſatz antiker und moderner Compoſttionsweiſe dent» 
licher vor Augen treten zu laſſen, iſt als Gegenbild die 
in ihrer Art vortreffliche, nur vollkommen ungriechiſche 
Compoſition beffelben nad der Domner'ſchen Meberfegung 
durch den Kapellmeifter Laffen mitgetheilt worden. 

Aber es gibt aufer dieſem birecten noch einen in- 
directen Weg, den füßen mufilaliihen Wohllaut Pindari- 
fer Sefänge in unferer Mutterſprache nachzuahmen, und 
and) diefer ift von Moritz Schmidt hier verfuchsweife mit 
Glück eingefchlagen worden. Sowie die griechifche Dicht⸗ 
funft vor der unferigen den Zauber muſilaliſch gebachter 
Metra voraushatte, welcher uns verloren ift, jo hat die 
unferige dafür mit dem Eintritt ihrer gefanglofen Sprech⸗ 
periode einen Sprachzauber anderer Art gewonnen, von 
welchem die Griechen nichts wußten, ben Rem. Auch 
der Reim ift als eine füße Muſik ber Silben unferm 
Ohre nicht minder einfchmeichelnd, als wie e8 bem griedhi- 
ſchen ein Pindarifches Metrum war. Auch ber Reim 
bindet die Verszeilen mit ähnlicher eftigfeit, wie bei 
Pindar das durchgehende und conftante muftlalifche Takt⸗ 
maß thut. Auch der Reim rundet die Strophen ebenfo 
deutlich zu einander entſprechenden Berögruppen ab, als 
das Schema einer adhttaftigen Melodie. Daher ift ber 
neugewonnene Sprachzauber gewiß am beften geeignet, 
den altverlorenen zu erſetzen, bei fonftiger möglichft wort- 
getrener Weberfegung des Originale. Schmidt hat dieſes 
Berfahren beobachtet bei ſechs olympifchen Oben, nämlich 
bei der zweiten, dritten, jechsten, fiebenten, neunten und 
elften. Die Wirkung ift eine vollkommen gelungene zu 
nennen. Ya, man darf wol behaupten, daß gerade bie 
erhabenen religiöfen Stellen weldje ben Schwing ber 
Bindarifchen Mufe am ftärkften kennzeichnen, durch diefes 
Mittel in unferer Spradhe einen Glanz befommen, welcher 
die hohe Fürbung des Originals vollkommen wiedergibt. 
Man beihaue z. B. in biefem neuen Gewande, daß nicht 
ichöner gewählt werben konnte, die in der zweiten olym- 
pifchen Ode enthaltene Stelle, welche den Zuſtand der 
unfterblichen Seelen nach dem Tode befchreibt. Sie lautet: 

Doch ein Dajein voller Frieden ift dem Edelen bienieden 
Und im Hades zugedadht: und berfelben Sonne Pradit, 
Die dem Tag auf Erden lat, leuchtet ihrer Todesnacht. 
Keine Sorge, keine Noth um des Leibes kärglich Brot 
Knechtet ihn, das Feld zu pfllügen und die Woge zu befiegen. 
Um die Gottgeehrten jchweben thränenlos in Ewigkeit 
Fromme Schatten, die im Leben band bes Eides Heiligkeit. 
Doch der Frevler harrt daB Bar Qualen gräßlid) anzu» 
aun. 


Aber wer von Schuld und Fehle rein bewahrte feine Seele, 
Wer zum dritten mal beftand, Hier und dort im Schatienland, 
Wandelt frei auf Jovis Pfade nad) Saturnus hohem Bau, 
Wo um felige Geſtade koſen Luft und Wellenthau; 

Wo der Farbenſchmelz der Dolde funtelnd glüht im Blumer 


golde, 
Aus des Baumes fiolzer Höh' ih am Feſtland vom ber 
weigen 
Goldne Blütenkelche neigen, Blumengold entſprießt der Se. 
Sefigeroinde, bunte Kränze windet draus die fromme Sant 


or dem treubewährten Richtertribunal des Rha damanık, 
Welchen Zeus, der Göttervater, Rhea's Gatten zugefellt, 





Neugewonnene Hälfsmittel zum beffern Verſtändniſſe Pindar's. 665 


Auf dem Thron am Saum ber Welt, feinen einfligen Be⸗ 


rather. 
Belens auch und Kadmos zuhlen  bort im Reigen frommer 
eelen. 

Und Achilles, defien Hand Kylnos im den Tod gefandt, 

Der den Heltor, Trojas mächt’ge wandellofe Säule, brach, 

Dem Aurorens Sohn, der nächt'ge Aethioperfürft, erlag, 

Gönnet Zeus, von Thetie' Flehn tiefgerlihrt, dort einzugehn. 

Es ift diefes eins von den fehönften der mannich⸗ 

faltigen, abwechfelnden, oft in fehroffen Gegenfäten ein⸗ 
ander ablöfenden Gemälde ober lebenden Bilder dieſes 
großen Dichters, welche gleich Bifionen oder aud wie 
auf hohen Bergen die Kandfchaften ans den trüben Nebeln 
unter und emportaucdhen, um minutenlang im hellften 
Sonnenfchinmer zu ftrahlen. Sole Gemälde nehmen 
fih im Deutfchen in gereimten Verſen weit befier und 
der Schönheit des Originals entfprechender aus als in 
irgendeiner Nachbildung des griechischen Bersmaßes. Yu 
ihnen gehört unter andern die Geburt des Wahrjagers 
oder Propheten Jamos dur die jungfräuliche Evadne 
in der fechsten Ode, die Geburt der Athene aus dem 
Hanpte des Zens und das Emporfteigen der Infel Rho⸗ 
dus dom Meeresgrunde in der flebenten, die Bevölkerung 
der Erde nach der großen Flut durch Deufalion und 
Pyrrha in der neunten. Hierher gehört befonders auch 
in der elften die frübefte Stiftung der Olympifchen Spiele 
durch Herafles, nachdem diefer Held die tollkühnen Söhne 
der Molione, die Tirynthier, welche ihm den Paß nad) 
Elis verfperrt hielten, den Kteatos und Eurytos, erfchla- 
gen hatte. Er Iegte die Beute aus diefem Kampfe in 
Pifa nieder am Grabe des Pelops, weihte den olympi- 
jhen Boden dem Zeus, und pflanzte mitten im freien 
Felde den Dlivenhain Altis, aus welchem von geheiligten 
Bäumen bie Kränze ans Delblättern geflochten wurden, 
mit denen man die Stirnen der Sieger fchmüdte: 

Aber er, der wadre Streiter, Jovis vielgeliebter Sproß, 

Hegt in Pifa drauf die Beute und dem ganzen Kriegertroß. 

Dem erhabnen Bater weihet heil’gen Boden bier ber Held; 

Drauf umfriedet er die Altis mitten in dem freien Feld, 

Gibt den Plan, der die Umfriedung rings umfpannt in wei 


tem Kreis, 
Dem gefammten Bolt als Feftfaal, dort fein Mahl zu rliften, 
preis. 


Der Wettlampf wird nun durch Herakles eröffnet, 
ans welchem die erften olympifchen Sieger hervorgehen, 
und zwar im Schnellauf, im Ringen, im Yauftlampf, 
im Wagenrennen mit dem Biergefpann, im Speerwurf 
und im Schleudern des Diskus, worauf ein Beifallfturm 
bes verfammelten Volle erbrauft: ' 

Indeß des Mondes weiches Zauberlicht 

Mit ſüßem Liebreiz durdy die Dämm’rung bridt: 
Und bald erklingt der meite Feftpla wieder 
Vom Siegesjubel froher Tafellieder. 

Die nähere Beſchreibung der Pflanzung des Oliven⸗ 
hains Altis durch Herakles enthält die dritte Ode. Denn 
es war ein Hauptverdienſt, welches dieſem Helden nad)« 
gerühmt wurde, daß er durch die Anpflanzung dieſes aus 
Platanen und Oelbäumen beſtehenden Gehölzes die Gegend 
von Olympia, welche früher kahl geweſen war, zu einem 
anmuthigen Aufenthalt umgeſchaffen hatte: 

Des Mondes Mitte war es, die Altäre 
Für Vater Zeus, fie waren längft geweiht, 
Und mählich war in ſtiller Abenbdzeit 


1870. «4. 


Auf goldnem Kahn der Mond beraufgefhwommen 
Und vollen Auges ob der Welt erglommen. 


Doch noch entiproß Fein ſchönbelaubter Baum 
Der weiten Trift im Kron'ſchen Pelopsthale; 
Ein ſchattenloſer, Tahlentblößter Raum, 
Ein Zummelplag dem heißen Sonnenftrahle 
Bedüunkt es ihm — und in bes Helden Bruft 
Erwadte neu die alte Reijeluft 
ns Land des After, wo Latona’s Kind 
Bor Zeiten huldreid ihn willlommen hieß, 
Die Rofjefreundin, als er Thalgewind’ 
Und Bergeshöhn Arkadiens verlieh, 
In Iovis Auftrag, wie Euryſth befohlen, 
Die Hindin mit dem Goldgemweih zu holen. 
Anf ihrer Jagd erblickt' er die Gefilde, 
Wo machtlos flirbt des Nordes eifig Wehn, 
Und blieb gefeffelt von dem holden Bilde 

.2; Der grünen Baumpradt ftillverfunfen flehn. 
Und ihn ergreift ein mächtiges Gefühl, 
Sold Reis zu pflanzen, wo im Hippodrom 
Die Wagen zwölfmal donnern um das Ziel. 
Gern weilt er jet nod) bei dem Feſt am Strom, 
Und mit ihm nahn die göttlihen Genoffen, 
Ein Zwillingspaar, der ſchlanken Leda Sprofien. 
Denn ihm vertraut’ er, zum Olymp verklärt, 
Das Hüteramt der flaunenswerthen Schenkung, 
Wo fih der Mann in feiner Kraft bewährt 
Und im Geſchick behender Wagenlenkung. 


Nicht minder ſchön nimmt fi in Reimen ans das 
ftolze Selbftgefühl des Dichters in der flebenten olympi⸗ 
chen Ode: 

Ich Huldige mit ſüßen Geiftesfrüchten, 

Die id) an preisgelrönte Männer fende, 

Mit Deufenfeim und reicher Neltarjpende 

Dlympias und Pythos Siegeshelden: 

Und felig der, von dem die Lieder melden. 

Doch läßt der Sieg bald da bald dort ſich nieder, 

Mit Santenffang und vollen Flötentönen 

Der Menſchen Leben wonnig zu verfhönen — 
oder in der neunten: 

Bei Gott, im Lichtmeer meiner Lieber fol 

Der Lolrer tbeure Mutterftadt ſich ſpiegeln! 

Den ftolzen Renner will ich überflügeln 

Und fchneller noch als auf des Schiffes Schwingen 

In alle Welt die Siegestunde bringen. 

Ich pflege ja mit gottgemweihter Hand 

Die Feengärten in der Aumuth Land; 

Und fie allein verleihet Reiz dem Leben, 

Die Muth und Weisheit auch nur Götter geben — 
und ähnlich in der zweiten: 


Unter meines Armes Bogen flarıt der Köcher von Geſchofſen; 
Sprade reden fie bem Klugen, alöben ift ihr Sinn ver⸗ 


offen. 
Hechter Weisheit Wiffensfchäte find die Mitgift ber Natur, 
Angeborne Geiftesgabe; angelernte plappert nur 
Mit geläufigem Geſchwätze zungenfertig, wie die Raben, 
Wenun ihr müß’ger Schwarm im Kreis flattert um den Aar 
des Zeus. 

Soldier ſtark ausgefprochdene Sängerſtolz darf uns 
nad) unferer feinern Sitte freilid) überfpannt erfcheinen. 
Doch muß man dabet nicht außer Augen laffen den über- 
aus anmuthigen Dämpfer, welcher ihm dadurch aufgefegt 
wird, daß er im weiten Zuſammenhange immer einen 
religiöfen Auftrich befommt. Denn er enthält eigentlich 
nur ein Rob des Gottes, welcher in dem Schwachen mächtig 
ift und ben Sänger zu Herborbringungen befcelt, die 
fich durchaus wicht lernen laſſen und folglich feine eigene 

84 


u —— 


—— 


666 Neugewonnene Hülfsmittel zum beſſern Verſtändniſſe Pindar's, 


menſchliche Kraft weit überſteigen. Nur bie Mufenbegei- 
fterung Hilft. Aller Geift fommt von oben, ift eine 
Naturgabe der Götter, niemals ein Werk der Kunft; wie 
e8 heißt in der neunten Ode: 

Bollendet prangt, was die Natur erichaffen: 

Und wähnt audy mander der Vollendung Schimmer 

Durch anerlerntes Können zu erraffen, 

Ihm ſchweigt das Lied, die Gottheit fucht ihm nimmer. 


O fünd’ ich jebt des rechten Wortes Weifen, 
Bom Sit der Mufen mein Geſpann zu leiten, 
Und möchte Kraft und Kühnheit uns geleiten, 
So Gaſtlichkeit wie Heldenmuth zu preifen! 

Auch die prächtigen Anreden an bie Götter und Hel- 
den nehmen fich vortreffli in Keimen aus, wie die in 
der zmweiten Obe: 

Siegeshymnen tönt die Leier! Welchem Gotte, fagt mir an, 
Welchem Heros gilt die Feier, melden Mann? 
Preis dem Zeus, Piſas Hort; hoch Heraͤkles, der ihm dort 
Aus der Beute heißer Schlacht weiht der Spiele heitre Pracht — 
oder in der eliten: 

Ja, Breis dem Gotte, der im Wettergrollen 

Sich offenbart in feines Donners Rollen, 

Aus deffen Fauſt der Blige Feuerſchwert 

Den Sieg verkündend zudend niederfährt. 

Herrli runden fih in diefer Form auch ab die 
häufig eingeftveuten Sentenzen und Gittenfprüdhe. So 
3. B. finden wir das Lebensglüd überall als unficher be- 
zeichnet, nnd ftreng davor gewarnt, ſich darauf irgend zu 
verlafien, wie in der flebenten Ode: 

Des Menfhen Herz umgaufelt Wahn auf Wahn, 
Und feines Sterblichen Verſtand ermißt, 

Wie weit in Zukunft ihm zum Glück gereicht, 
Was ihm das Heut in rof’gem Lichte zeigt. 

Der Wechfel des trüglichen Gefchids wird auch be 
fohrieben in folgenden Worten der zweiten: 

Aber ad, fein Menfch ergrlindet, wann der Tod fein Tager 
ndet: 


Wird der Tag nur, da die Sonne, morgens friedlih) uns 
gelacht, 

Uns in ungetrübter Wonne auch vergehn, wie wir's gedacht? 

Eine Strömung nad) der andern dringt im Wechfel auf uns ein; 

Muß der Frohfinn von und wandern, kommt die North mit 
ihrer Bein. 

Für das Höchſte und Preiswürdigſte im Leben gilt 
dagegen die Tugend, melde durch Mühſal zum Siege 
Schreitet, wie e8 heißt in ber fechsten Ode: 

Nichts yilt im Staat, nichts an des Schiffes Bord, 
Ber fonder Wagniß ſich emporgeſchwungen. 

Nur der allein lebt im Gedächtniß fort, 

Der feine Größe mühvoll fi) errungen. 

Auf die Mühe der Siegesarbeit aber gehört auch der 
Siegesruhm, ohne welchen der Sieg unvollftändig bleibt, 
wie es heißt in der elften: 

So hat auch der vergeblich nur gefront 
Und fieht des Lebens lange Mühe nur 
Mit kurzer Luft, Agefidam, gelohnt, 

Der Hanglos einzieht in des Hades Nacht, 


Nachdem er glorreih wadre That vollbradit. . 
Doch dich, o Hochbegnadeter, begrüßt 

Der Laute Klang, der Flöte ſchmelzend Spiel; 
Die Bieriden felber find erfchienen, 

Die Töchter Iovis, deinem Ruhm zu dienen. 


Auch die Schönheit der Körperform wird als göttlich 
verherrliht. So beim Sohne bed Archeftratos, eben bie- 
ſem Ageſidamos von Lokri, bem Sieger im Fauſtkampfe 
der Knaben, in berfelben Ode: 

Noch ſeh' ich ihn in voller Iugendfrifche 

Sn feiner Formen Liebreiz vor mir prangen: 
Gleich Ganymedes, der, dem Tod entgangen, 
Sn Eros’ Armen ruht am Göttertiſche. 

In diefer einheimischen Form uns näher gebracht, 
begreifen wir in unferer Mutterſprache erſt auf anſchau⸗ 
liche Art das Anmuthige der Pindarifchen Gefänge, welches 
in andern Formen, 3. B. der Ueberfegung des berühmten 
Thierſch, uns dem größten Theile nach unverftanden bleibt. 
Ein anderer angenehmer Eindrud, welcher ſich hieran 
knüpft, ift die Aehnlichkeit des Pindariſchen Schwungs 
mit dem Schiller'ſchen, welche uns hierbei beſonders ins 
Auge ſpringt. Wir beſitzen in Schiller unſern Pindar. 
Die Erhabenheit der Empfindung, die Großheit ber Bil- 
der, das Sententiöfe der Redeweiſe, das Ethiſche des 
Standpunfts, verbunden mit der Süßigfeit der Metaphern 
und der grazidfen plaftifchen Abrundung in der Zeich—⸗ 
nung der Meinen anfchaulichen Züge der Gemälde ift bei« 
den gemeinfam. Auch ein früherer Nachahmer des Piu⸗ 
dar (Petri) hat diefe Bemerkung fchon darin ausgebrüdt, 
daß er zur Wiedergabe Pindarifcher Gedanken Schiller'⸗ 
[ches Versmaß wählte, wie folgendes hübfche, von Schmidt 
angeführte Beifpiel verdeutliht. Der Schluß der erſten 
olympifchen Dde lautet im Versmaße des Originals bei 
Morig Schmidt: 

Mir verleiht der 
Muſe mächtiger Speer Wunberfraft. 
Anderer Macht entjpringt anderen Quellen. Auf dem Gipfel 
bes Lebens 
Stehn die Fürſten. Drüber hinaus firebe nicht. Genug, 
Wenn fonnige Höhn entlang deine Straße zieht, mid des 
trauten Verkehrs wilrdig hält 
Sold ein Mann, und rings meiner Geſänge Ruhm leuchtet 
in Hellas’ Bauen. 


Derfelbe Schluß lautet in ber zwar nicht wortgetreuen, 
wohl aber finngetreuen glüdlichen Nachbildung von Petri 
(Rotterdam 1852): 


Die Mufe begabt mich mit firebenber Kraft, 
Noch mehr der Geichoffe zu fenden. 
Ein andrer ja immer fid) andres jchafft, 
Des Lebens Ziel zu vollenden. 
Des Fürften Krone zu oben firahlt, 
Ihm haben die Göitter ſchon vol gezahlt; 
Was mehr ift, laß es beifeiten. 
Und während ich finge dein herrliches Los, 
Ich finge mid felbft mit dem Könige groß, | 
Schweb’ body auf dem Strome der Zeiten. 


Karl Sortlage. 


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u 


Vom Büchertiſch. 667 


Dom Büchertiſch. 


1. Anſichten vom Leben, Ein Verſuch von Sigmund Schott. 

Breslan, Trewendt. 1870. 8. 1 Thlr. 15 Nor. 

Ein gutes Buch, voll gefjunder Gedanken und fittlicher 
Wärme, das uns faft auf jeder Seite liebgewordene An⸗ 
ſchauungen reproducirt. Zwangloſe Aperçus, ſorgſame 
Erörterungen über abſtracte und concrete Gegenſtände 
bringt uns dieſer gelungene „Verſuch“, der von der Ver⸗ 
günglichkeit, von der Trauer um Todte, der von ben 
Frauen, vom Herzen und vom Gottvertrauen fo anregend 
zu plaudern weiß. Dabei zittert ein wehmüthiger Ton 
durch das Buch), als wäre alles Irdiſche ein mildes Abend⸗ 
roth, das fanft und allmählih dahingeht, um in bie 
Nacht des Chaos oder des ewig Räthſelhaften zu ver- 
finten. So etwa ift der Eindrud, den wir von dem 
erften Eſſay, bem „Bon der Bergünglichkeit“ erhalten. 
Reizend, fein beobachtet und voller Fülle menfchlichen 
Verſtändniſſes ift der Auffag, der über die Frauen han- 


delt. Lehnt fich der Verfafler auch, wie er es in feinem 


Buche durchweg gethan, an Citate aus aller Herren Län⸗ 
bern, geht er befonders häufig auf die Ausſprüche der 
Roland und Stael über ihr Gefchlecht ein, fo weiß er 
doch fehr viel Driginelles, Treffendes beizubringen. Die 
Detailtenntniß der menfchlichen Dinge verleugnet fd) eben 
nirgends; befonders tritt in dem Eflay „Vom Herzen“ 
ein wahrhaft liebevolles Verftändniß file die feinen Gewebe 
menfchlichen Fühlens, fiir den wunderbaren Organismus, 
der im Kampf mit dem Denten lebt und fi nur in ſel⸗ 
tenen Fällen mit jenem vereinigt, hervor. Am unbedeu- 
tendften find uns Schott's Anfichten vom Gottvertrauen 
erfchienen, die wenig Urfprüngliches bieten und die wiſſen⸗ 
fchaftliche Ethik zu wenig berüdfichtigen. Indeſſen wollen 
wir diefe Eſſays, die abfiracte Schemata mit feltener 

Grazie und fchriftfteleriichem Geſchick behandeln, dem den- 

enden Publikum angelegintlid empfohlen haben. 

2. Die neue Zeit. Freie Hefte für vereinte Höherbildung ber 
Wiffenichaft und des Lebens, deu Gebildeten aller Stände 
gewidmet. Im Geifte des PBhilofophencongrefjes unter Mit- 
wirkung von Gefinnungsgenoffen herausgegeben vou Her- 
mann Freiherrn von Leonhardi. Zweites Heft. Prag, 
Tempely. 1870. ©r. 8. 26 Nur. 

Was interefjirt uns jegt der Philofophencongreß, wäh⸗ 
zend die Kugeln faufen und das Blut in Strömen fließt, 
während das abftracte Denken der Nation von Dentern 
und Dichtern fi umfegt in eine concrete Begründung 
deutfcher Einheit und Freiheit, in den neuen beutfchen Staat! 
Was kann uns Hr. Geh. Hofrath Profefior Dr. Schliep- 
bade über „den fubjectiv-analygtifchen, d. i. zur Gewißheit 
der Gotteserkenntniß als höchſten Wiſſenſchaftsprincips 
emporleitenden Theil der Philoſophie“, oder über „den Be⸗ 


griff des Geiſtes nach den Thatſachen des Selbſtbewußt⸗ 


ſeins“ Neues ſagen, was wir nicht aus den philoſophiſchen 
Katechismen Herbart'ſcher Confeſſion bereits wüßten? Und 
wenn gar die Frauen zu Philoſophinnen werden, dann 
wird uns unheimlich: mag der verehrliche ſchönere Theil 
der Schöpfung Arzt, Wahlmann, Stadtverordneter, oder 
wie in Wisconfin Geſchworener fein, zum Philoſophen 
dürfte der concrete Charakter holder Weiblichkeit fich ſchwer⸗ 
lich eignen, Frau Julie Hoff aus Bajel möge und denn auch 


— —  — 


verzeihen, wenn wir ihre auf dem prager Philoſophen⸗ 

congreß gehaltene Vorleſung über Idealismus und Ma⸗ 

terialismus (ein weitſchichtiges Thema, das fie übrigens 
auf brei Seiten erledigt) als nicht über das Gebiet ba- 
naler Phrafe berausgehend bezeichnen. Wie die meiften 

Damen, die ſich für Philofophie begeiftern, ift auch Julie 

Hoff eine warme Anhängerin des vielfach überfchägten 

Kraufe. Der Schlußfag und fromme Wunfc der Red⸗ 

nerin ift etwas unflar: „Da beſonders jest‘, fagt Julie 

Hoff, „die Frauen fich geiftig jo wader Hervorthun, fo 

wäre es wünſchenswerth, daß die Männer auch in in- 

tellectuellen Verhältniſſen fig mit ihnen harmoniſch ver- 
einigten.“ 

Hohlfeld bringt auf ©. 89 fg. einige fehr Logifche 
Auseinanderjegungen über die Begründung des Religions- 
begriffs, und ber Herausgeber theilt eine Folge von Sägen 
über Glauben und Wiſſen und fodann Anmerkungen zu 
diefen Süßen mit. Diefe Markfteine der philofophifchen 
Anficht Leonhardi's enthalten viel Beherzigenswerthes und 
rihtig Gedachtes. So 3. B. bie nachfolgende Stelle 
(Sag 57): 

Biele „Gebildete“ und im Sinne der Schule Kant’ „Auf⸗ 
geffärte‘' find nicht nur der Meinung, fondern thun fi) noch 
etwas zugute darauf, zu behaupten, das fogenannte Religiöfe 
beftehe, fofern e8 Werth babe, allein in Moralität. Was Über 
legtere binausgehe, weiſen fie als „für überflüffig‘ und als 
„Aberglauben‘ von fih. Daran haben fie unrecht. Nur fo viel 
darf ihnen zugegeben werden, daß vollendete Religiofität auch 
zu vollendeter Moralität führt, und daß eine religtöfe Bethäti- 
gung, die nicht auch fittliche Früchte trägt, mindeftens eine un- 
vollfommene oder frankhafte ift; wie denn das Auflommen jener 
Meinung geihichtlic, nachweisbar nur eine Reaction ift gegen 
die Moralität vernadhläffigende confelfionelle Einfeitigfeit. 

Das ift eine Wahrheit, die noch immer gegenüber bem 
blinden Kantianismus, der mit der Epoche des 18. Yahr- 
hunderts wol feinen Abſchluß gefunden hat, zu beherzigen 
if. Die Unfähigkeit jener philofophifchen Partei, einen 
objectiven Maßſtab an ethifche Berhältniffe anzulegen, die 
ſchon Schleiermader und Hegel Mar nachgewiefen haben, 
documentirt ſich nicht fchlagender als eben in der Beur- 
theilung des Religionsbegriffs. 

3. Das Manifeft der Bernunft. Diverfionen eines Beteranen 
im Freiheitsfampfe der Geiſter. Cine Stimme der Zeit in 
Briefen an eine Schöne Moftilerin von $. Clemens. Zmeite 
gänzlich umgearbeitete Auflage. Berlin, Grieben. 1870. 
8 1 Thlr. 10 Nor. 

Die erfte Ausgabe diefes Buchs ift uns nicht zu Ge» 
fiht gelommen. Schon vor 35 Yahren, „al® noch alles 
unheimlich fill ringe im Reiche ber Geifter war und ber 
Pietismus in ungeftörter Sicherheit feinem Fifchzug im 
Trüben nachging“, erließ der Verfaſſer fein „Manifeſt der 
Bernunft“, Während die Weisheit der andern ungenieß- 
bar war, wie ungereifte Brombeeren, gab %. Clemens 
ber Menfchheit „die neueften Früchte vom Baume der 
Erkenntniß“ zu koſten. Die Form, in die der zuber- 
fihtlihe Autor feine Ergüſſe Hleidete, die filbernen Sca- 
len, in die er feine goldenen Erkenntnißäpfel legt, ift 
nun eben feine originelle, es ıft die Briefform. Clemens 
Bringt auch feine Weisheit nicht an den Mann, fondern 
an die Tran: feine Briefe find an „Madame“ gerichtet. 


84 * 


—— — 


668 Vom Büchertiſch. 


Madame ſcheint eine alte Betſchweſter geworden zu ſein 
und ihre Jugend ganz vergeſſen zu haben. Nun Cle—⸗ 
mens macht ihr den Standpunft unermüblid Mar. Er 
gehört zu jenen vorurtheilslofen Beiftern, welche die Ber- 
nunft über das Dogma, die Ucherzeugung über bie. Tra- 
dition fegen. Ihm tft das Chriſtenthum eine misberftan- 
dene Natur» und Humanitätöreligion, die des guten Kerns 
nicht entbehrt und die nur in Priefterhänden gemisbraucht 
ward, Das ift eben fein neuer Standpunft, aber ber 
Verfaſſer weiß feine Belege für die Widerfinnigfeit bes 
heutigen verfälfchten Chriftenthums in forgfamer Dar- 
legung und fließender Sprache beizubringen. Zum Schluß 
gibt der Autor, der ein Stüd Poet zu fein ſcheint, unter 
dem Titel: „Der Sonntag- Morgen‘, fehr hübſch und 
würdig gehaltene Dichtungen, theils dithyrambifcher, theils 
elegifcher Art dem Leſer in den Kauf. 


4. SH. Ein Selbfigeifpräh. Fragment von 8. v. R. jun. 

Zürih, Orel, Füßli und Comp. 1870. 

Ein wunderliches Büchlein, ungebunden im Inhalt, 
gebunden in der gefchiet gehandhabten Yorm. Dem klei⸗ 
nen Werfchen ift die Photographie eines ältern Mannes 
mit energifchen Zügen vorgebeftet, die die Unterfchrift 
trägt: 

i Die Menge wird mich nicht entziffern, 

Den Freunden red’ ich nicht in Chiffern; 
Der Menge bleib’ ich pfeudonym, 
Den Freunden offen und intim. 
Wallenftadt, den 13. Juni 1870. 2. Bernold. Oberſt. 


Wir gehören nun zu jener Menge und wollen un 
auch nicht die unnöthige Mühe geben, das „Sch“ des Hrn. 
Dberften zu entziffern. Daß der feltfame Autor in einer 
„Zueignung an %. A. Brodhaus in Leipzig“ den „Geiſtes— 
thaten” des Wiffensborns, dem „Converſations⸗Lexikon“, 
der „Gegenwart“ und „Unfere Zeit“ ein „wohlberathenes 
halb Jahrhundert verdankt‘, ift ein aufrichtiges Zeugniß 
für den großen allgemein bildenden Werth der Brodhaus’- 
ſchen encyflopädifchen Unternehmungen. Nichtsdeftoweniger 
vermögen wir nicht recht einzufehen, welche neuen Gedan⸗ 
fen der Autor mit feinem in gereimte Jambenform ges 
brachten Selbftgefpräcd hat anbringen wollen, oder welchen 
Einfluß er fich von feinen gutgemeinten, aber nicht gerade 
originellen Ideen über Gott, Welt, Zufall und nod 
einiges verfprochen hat. Sehr ehrenwerth ift es von dem 
Berfafier, daß er feinen Monolog mit militärifcher Kürze 
auf einen verhältnigmäßig Kleinen Raum bejchränft hat, 
der für die überfichtliche Recapitulation befannter geiftiger 
Bervegungen volllommen ausreicht. 

5. Beiträge zur Pädagogif. Bon A. Hartung. Wittenberg, 

Herroje. 1869. GEr. 8. 10 Nor. 

Der Berfaffer, der fi der Grimm'ſchen Schreibweife 
befleigigt, Hat doch nicht über Grimm'ſche Klarheit und 
objective Anfcyauung der Dinge zu gebieten. Ein ſpecifiſch 
chriſtlicher Standpunkt, der den Autor oft über gemifje 
Borbedingungen pädagogischer Praris ungerecht urtheilen 
läßt, hindert denfelben, die Einfeitigfeit kirchlicher Lebens— 
anfchauung aufzugeben und einen unabhängigen pädago- 
giſchen Weg einzufchlagen, der nichts von confeffionellem 
Streite weiß. Theilen wir gleich die Polemik gegen mate- 


rialiftifche Tendenzen, die aud) auf pädagogiſchem Gebiet 


allzu geneigt find, zu verwäffern, fo Halten wir dod bie 
Anlehnung an eine directe Confeffton, wie die proteflan« 
tifche, in Betreff des Erziehungsprincips für verfehlt. Es 
ſpukt ein wenig Hegel in der Schrift Hartung’s, aber 
nicht der Hegel freien Denkens, deſſen Säcularfeier wir 
ftill in diefem Jahre begangen, fondern der berliner Hegel 
fpäterer Jahre, der mit Glackhandfchuhen das Verhältniß 
des Glaubens zum Denen anfaßte und fi) mit der 
Kirchlichkeit vortrefflich abzufinden wußte. 

6. Das Zeitalter der Novelle in Hellas. Bon Bernhard 

Erdmannsdörffer. Berlin, G. Reimer. 1870. Gr. 8. 

8 Nor. 

Borliegende Arbeit ift zuerft für einen Vortrag im 
Berliner wiffenfchaftlichen Verein unternommen nnd fpäter 
in den fünfundzwanzigiten Band der „Preußifchen Jahr⸗ 
bücher” übergegangen, aus dem fie in vorliegender Form 
feparat abgedrudt wurde. Eleganz und Sadlenutniß der 
Darftelung zeichnen dies neueſte Opus des berliner Ge- 
[ehrten vortheilhaft aus. Es ift die Zeit zwifchen Homer 
und Solon, die Zeit zwifchen der mythiſch-heroiſchen 
Epoche und der Blüte der ältern griechiſchen Tyrannis, 
von der uns Erdmannsdörffer erzählt. Die epifche Form 
des Herameters genügte ſchon nit mehr, man fuchte 
beweglichere Formen poetifcher Stoffe. Archilochus ift 
ein fchlagendes Beifpiel. Seine Rügelieder, die ihre Pa- 
rallelen in der romantjchen Rügeliederliteratur des Mittel⸗ 
alter8 finden, bringen einen jo fubjectiven Ton im bie 
Poefie, etwas fo Urfprüngliches, daß man nun alle For- 
men gelten läßt, die fi) von der objectiven Ruhe bes 
Hexameters entfernen. Und ſchon arbeiten eine Menge 
Sagen- und Märchenſtoffe im Volksgemüth der Umwoh⸗ 
ner des Archipels. Die milefifchen Novellen, die ſyba⸗ 
ritifhen Erzählungen, die Thierfabeln, die anekdotenhaften 
Geſchichten kleinaſiatiſcher Bauernkönige, wie Gorbios 
und Midas, Kandaulos-Gyges, der Sagenkreis, der ſich 
um Kröſus ſchließt, die Brautfahrt des Hippokleides, 
die Schwänke des dummen Margites, die Sagen um 
Periander und Polykrates u. a. m. gaben eine Fülle von 
Stoff für die helleniſche Phantaſie ab. Der Verfaſſer 
weiß uns ſehr eingehend und mit dem Verſtändniß des 
Geſchmacks von der Formung und Umformung jener 
Themata zu berichten. Die Abhandlung lieſt ſich leicht, 
iſt inſtructiv für das literariſche Leben einer frühen Cultur⸗ 
zeit, erreicht völlig ihren Zweck, nämlich den: zu erweiſen, 
wie auf dem Grunde analoger culturgeſchichtlicher Voraus⸗ 
fegungen — bier im griedjifchen Altertfum, dort im 
Mittelalter (das fleifig angezogen wird) — eine Anſchauung 
von Welt und Leben erfteht, zu deren eigenften Wefen 
neben vielen andern gleich charafteriftifchen Zügen e8 ge— 
hört, jenes leichte Genre fait unbewußter Dichtung her⸗ 
vorzubringen, weldes wir mit dem Namen Novellen be— 
zeichnen. 


7. Das Baffionefpiel in Oberammergan. Zur Führung und 
Drientirung von Friedrich Lampert. Würzburg, Stu- 
ber. 1870. 8. 7%, Nar. 

Dem merkwitrdigen Ueberreft mittelalterlihen Schau- 
ſpiels, dem oberammergauer Paſſionsmyſterium, ift durch 
den Krieg ein plößliches Ende gemacht worden, Vielleicht 
wird, wie e8 beabfichtigt zu fein fcheint, das nächſte Jahr 





—ñ—Nñ —— 


Vom Büchertiſch. 669 


eine Fortſetzung des unterbrochenen Schauſpiels geben. 
Ansführlicher und liebevoller, als es der bairiſche Ab⸗ 
geordnete Lampert gethan, kann man kaum dem literar⸗ 
hiſtoriſchen Unicum, das vor den Augen von fern und 
nah herbeigeeilter Schauluſtiger in die Erſcheinung tritt, 
das Wort reden. Der Lefer erhält einen Maren Weber» 
bli® über Entftehung, Inhalt und Ausführung des volls⸗ 
thämlichen Dramas, da8 voll ergreifender Momente und 
überrafhender Effecte iſt. Auch anf die oberbairifche 
Landſchaft, die das Paffionsfchaufpiel fo forglih bis in 
unfere Zeit hinein gepflegt, fällt manch intereffantes Streif⸗ 
licht. Die Literatur des oberammergauer Spiels, bie in 
diefem Sommer wieder mächtig angewachſen if, bat 
durch Lampert's Skizzen einen neuen werthoollen Beitrag 
erhalten. 


8. Beter Arbues und die fpanifche Inquiſition. Hiſtoriſche 
Skizze, zugleih Erläuterung zu W. von Kaulbach's Bilde 
„Arbues“. Münden, Adermanun. 1870. Gr. 8. 6 Nor. 
Das Kaulbach'ſche Bild, das eine ftarfe Polemik ber 

münchener Drtbodoren gegen den Meiſter bervorrief, er- 

regte bekanntlich die Aufmerkfamkeit der ganzen gebildeten 

Welt. Der berühmte Hiftorienmaler, dem es ebenfo wie 

Richard Wagner befchieden war, in der bairifchen Haupt- 

jtadt von ultramontaner Seite angefeindet zu werden, 

hatte ein Hiftorijches Genrebild mit der Hauptfigur des 
berüchtigten fpanifchen Kegerrichterd gefchaffen, der einem 

Auto de Fe präfidirt und in voller Glorie ein paar 

Keger gen Himmel brennen fieht. Da jenes Gemälde 

viel von fi) reden machte, hielt man es vermuthlich für 

pafiend, eine Erläuterung zu geben, in der man bed 

Arbues Leben, deffen Zeitalter in den Ausgang des Mit- 

telalter8 fällt, zum Gegenſtand biographifcher Darftellung 

machte. Yreilih Hat der anonyme Verfaſſer ſich nicht 
geſcheut, vüdhaltlofe Kritif zu Üben und dem von Ales 
ander VII. felig, von Pins IX. Heilig gefprochenen In— 
quifitor energifch zu Leibe zu gehen. Ein Torquemada 
war ein harmloſes Kind gegen einen Arbues: die Ströme 
von Blut, die der fromme Aragonier (geb. 1441, geft. 
1485) zur Ehre des Glaubens fließen ließ, haben ihm 
den Verruf eined aufgellärten Zeitalter8 und ebenfo wie 
feinem Geiftesverwandten Konrad von Marburg den Tod 
durch Mörderhand zugezogen. Die Darftelung des Ver— 
faſſers wirft grelles Licht auf eine finftere Zeit und deren 
fanatifchen Sohn. Intereſſant dürfte auch für unfere Lefer 
die Beichreibung von Kaulbach's vielbefprochenem Gemälde 
fein, das, foviel wir willen, noch in feiner photographi« 
ſchen oder xylographifchen Vervielfältigung vorhanden ift. 

Man höre den Text zu Kaulbach's Wert: 

Er (Arbues) ift aus der Pforte des Inquifitionspalaftes, 
an deſſen Fronte ſich vecht harafteriftifch eine Statue der ger 
benedeiten SIungfrau, dieſer ZTröfterin der Betrübten, zeigt, 
berausgetreten, um eine Schar Keber in Empfang zu nehmen, 
welche durd) zwei Spione in Möudshabit ihm zugeführt mor« 
den find. Ihm zu Füßen liegen neben der Biblia sacra, bdie- 
fem Bemeisinftrument aller Keter, die confiscirten Geldbeutel, 
Schmudjahen und aus edelm Metalle gefertigten Gefäße; gierige 
Hände befchäjtigen fich bereits nit der Hinwegräumung bdiefer 
Koftbarkeiten. Im Hintergrunde — für die Gefangenen wahr- 
lich eine bitter fchmedende Tröftung auf ihr fommendes Schick— 
fal — zeigt fi) der brennende Holzftoß, hoch Über demjelben 
an Pfähle gebunden bereits abgeurtheilte Leidensgefährten, den 
Tod durch die züngelnden Flammen ermwartend. Im weiten 


Kreis aber um deu flammenden Scheiterhaufen proceffioniren 

Blalmen fingend mit brennenden Kerzen in der Hand fanatifche 

Mönchsgeſtalten — hinter dem Bildniß des Gekrenzigten, ber 

noch am Kreuze ben veuigen Sünder die Aufnahme ins Para- 

dies verheißen und feinen Süngern die Feindesliebe zur heilig- 
fien Pflicht gemacht Hatte. 

9, Die Corps der deutſchen Hochſchulen nebft einer eingehenden 
Darftellung findentifher Verhältnifſe. Anhang: Die mo- 
dernen Burfcheufchaften. Leipzig, Liner. 1870. Gr. 8. 
20 Nr. 

Die fiudentifche Berbindungsfrage nimmt momentan 
einen faft ebenfo großen Raum in Anſpruch wie die Ar- 
beiterfrage.. Nach den vielen Broſchüren von burfchen- 
fchaftlider Seite kommt und auch einmal eine Bertheidi- 
gung der Corps vom Corpslager aus zu Geſicht. Aller 
dings müſſen wir eingeftehen, daß die vorliegenden Erör- 
terungen, was Stiliſtik, logiſche Gliederung und Rede— 
vermögen sans phrase anbetrifft, den burfchenfchaftlichen 
Brofhüren den Rang ablaufen. Mag e8 nun an ber 
gefchloffenern Phalanz bes beutfchen SC. vefp. CC. Liegen, mag 
die Logik der Thatfachen mehr für die Corps fprechen, 
mag ben Burfchenjchaften, ähnlich wie dem Liberalismus 
unferer Tage, fo inhaltreih er ift, weniger die knappe 
und treffende Redeform zu Gebote ftehen als dem ge- 
mäßigten Confervatismus, genug, diefe Corpsbroſchüre ift 
gejchichter gefchrieben als eine aus dem gegnerifchen La— 
ger. Nur müfjen wir gegen eine Menge Befchuldigun- 
gen, die der Anhang gegen die Burfchenfchaften vorbringt, 
Verwahrung einlegen. Freilich find die Burfchenfchaften 
niht mehr das, was fie im Sinne ihrer erften Stifter 


bütten werden follen, fie find eine ftudentifche Halbheit 


geworden und darin liegt da8 Schwarze, in welches alle 
Pfeile der Corpsbroſchüre treffen; aber ſie enthalten doch 
noch einen Kern der intelligenten Studentenfchaft und ein 
wefentliches Kontingent der beften Vertreter alademifcher 
Tugend. Und von diefem Standpunft aus muß man es 
zum mindeften als eine harte Ungerechtigkeit bezeichnen, 
wenn der anonyme Autor vorliegender Schrift die mo- 
dernen Burfcenfchaften als „Brutftätten der Heuchelei im 
ftudentifchen Leben‘ bezeichnet. 


10. Sammlung gemeinverftändlicher wifjenfchaftlicher Vorträge 
herausgegeben von R. Virchow und $. von Holken- 
dorff. Hefte 91, 99, 100, 102 und 103. Berlin, Lü⸗ 
derig. 1870. 8. Jedes Heft 5 Nor. 


Heft 91. Ueber den Barafitismus in der organifhen Natur 
von Marimilian Perty. 

Der vielfeitige Verfaffer führt uns diesmal in das 
unheimliche Teben der Schmarogerthiere ein und gibt in- 
tereffante Auffchlüffe über diefe Plebejer der Inſektenwelt. 
Ob der zartfühlende Xefer fich diefer Lektüre gegenüber 
immer wird des Efel8 erwehren können, muß freilich da- 
bingeftellt bleiben. Andererſeits erhalten wir zwar von 
der Planmäßigfeit der Natur einen Begriff, wenn wir 
erfahren, daß die Paraſiten theilmeife beflimmt find, die 
felbitändigen Organismen in Schranken zu halten, ihrer 
Fülle und Ausbreitung entgegenzutreten und injofern dem 
gleichen Zweck zu dienen wie viele felbjtändige Organis— 
men, welche durch ihre größere Energie und Kraft ſchwächere 
Geſchöpfe unterdritden und vernichten. Aber wir müſſen 
doch vor unferm Primat in der Schöpfung bange wer- 
den, wenn wir erfahren, daß ber Menſch, ber die größten 


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6.70 „ıteuilleton 


und ſtärkſten Raubthiere bezwingt, die Heinen Schma⸗ſachlich gehaltene Schriftchen bietet eine gute Ueber⸗ 

rotzer trotz ſeinen Waffen und feiner Wiſſenſchaft nie | ſicht über bie hiſtoriſche Entwickelung der ärztlichen 

wird ganz bezwingen können. Praris. 

Heft 102. Ueber die Arbeitsvorräthe der Natur und ihre Be⸗ 
nuntzung. Bon Karl Zöpprip. 

Sorglichkeit der Stoffverwerthung und bie Bemühung 
nach Dentlichkeit find biefem Bortrage nicht abzufprechen, 
wenn auch die Behandlung des Gegenftandes eine ziemlich 
trodene ift. Wer die Behandlungsweife kennt, bie fran« 
zöflfche Gelehrte, 3. B. Arago, folchen Stoffen zutheil wer⸗ 
den laflen, der wird uns nicht des Verlangens nad, Un⸗ 
möglichen zeihen. Vielleicht lernt man aud) mehr aus 
biefen drei Bogen als aus einem breitleibigen phyſilali⸗ 
fhen Compendinm, und wäre e8 auch nur die Erfahrung, 
dag in Iegter Inſtanz die Sonne die Erzeugerin aller 
irdifchen Arbeitsvorräthe if. 


Heft 103. Ariftoteles und feine Lehre vom Staat. Bon Wil- 
heim Oncken. 


Ariftoteles und kein Endel D. BI. haben nicht bie 
Prätenfion, ein Refume der eleganten Darftellung zu ge- 
ben, die Onden von der Staatötheorie des griedhifchen 
Weltweifen entworfen hat. Ob Onden nicht zu viel weiß, 
wenn er don Ariftoteles (mie Stilling von Goethe) be= 
hauptet: fein Herz, das nur wenige Yannten, jei jo groß 
gewejen wie fein Berftand, den alle kannten — das 
überlaffen wir einen pfychologifchen Philologen, der uns 
vielleicht ungeahnte Auffchlüffe über das Gemüthsleben 
des Philofophen geben wird. 


Heft 99. Das Zwölfgätterfgfiem der Griechen und Römer von 
C. Beterfen. 


Der Berfafler zieht andere arifhe Stämme nicht in 
den mythologiſchen Vergleich, er ſpricht nur von den claf» 
fiichen Völkern und erwähnt zu Anfang kurz einige Zwölf. 
götteranalogien der Semiten. Was der Autor über die 
plaftifche Darftelung der Götter unb bie Kalendarien der 
Alten beibringt, ift zwar nicht nen, aber anfchauli und 
faßlich wiedergegebey. 

Heft 100. Der ärztlihe Beruf von Robert Bol;. 


Eine Gefchichte der Aerzte in nuce, mit Geift und 
Sorgfalt gefchrieben. Bon ©. 33 an kommt ber Ber- 
faffer auf die moderne Stellung ber Aerzte zu fprechen, 
und erörtert eingehend Vortheile und Nachtheile der neuen 
Zeit. Die deutfchen Aerzte, die bis zur Mitte unfers 
Jahrhunderts in gewiſſem Grade dem Staat verpflichtet 
blieben, find jest nach Erfüllung ihrer wifjenfchaftlichen 
Pflihten frei und nur noch „der Menfchheit und ihrem 
Gewiſſen verpflichtet‘. Der Norddentſche Bund ift im 
Hinblid auf die medicinifchen Reformen anderer Länder 
fogar noch weiter gegangen: er hat nad) Freigebung der 
ärztlichen Praris in dem Vorbehalt einer Prüfung für 
perfönliches Belieben fich englischen Berhältniffen genähert, 
wenn er auch dadurch nicht, wie Volz meint, ein „Auf- 
heben der wiflenfchaftlihen Gewähr” veranlaft hat. Das 


LT ——————— —— — 





Fenilleton. 


Zur Kriegslyrik. Du wirb bie F nad Kriegẽgewittern, 
Friedrich Bodenſtedt hat „Neun Kriegslieder“ (gedruckt n großes Bbiterwunder ſebn⸗ 
Das ein'ge Frankreich wird zerſplittern, 
in dieſem Jahre bei Belhagen und Klafing in Bielefeld und Ein einig Dentfhlanb auferftehn. 


Leipzig) herausgegeben, von denen einige aus den Zeitungen 
und Sournalen befannt und zum Theil ſchon von uns erwähnt 
find. Das erfte Gedicht: „Warum, warum troß alledem?" 
beginnt mit dem Vers: 


‚Neues Kriegslied‘‘, „Der Auemarfc zum Rhein”, „Nie 
wird ber Rhein franzöfiich fein‘, die Humoriftiiche „„FZeldinftrnction 


Napoleon bat Macht und Gelb, über die Zuaven“, „Er umd wir. Der Grundton der Ge- 
It groß in Thaten und in Worten, dichte ift behaglich und friih; man flieht unter dem Kriegshelm 
Er iſt der klügſte Mann ber Welt, die Züge Mirza⸗Schaffy's hervorfhimmern. 
Man rühmt und preift ihn allerorten ; 
Ihn ſchmückt ein Katjerbiadem Das neuefte fünfte Heft der „Lieder zu Schug und Trup‘“ 
Und Ruhm folgt feiner Feldſtandarte — einer Sammlung, die fi) al® ein Repertorium der Kriegsigrif 
Warnm, warum troß alledem erweift, bringt außer dem großen Freiligrath’ichen Gedicht: 
Berachtet man ven Bonaparte? „Hurrah Germania”, Bedichte von Alfred Meiner, Wil⸗ 
und fehließt nad eimer Reihe fragender Strophen mit ber | beim Ienjen, Mori Carriere, Morig Blandarte, 
Antwort: Sriedrih Bed ua. Auch Berthold Anerbad hat fid 
Weil er Europas Hohn und Fluch, durch ben Kriegslärm auf den Iyriihen Pegaſus binaufnöthigen 
Weil morſch der Grund von feiner Größe, lafjen und ein „Lied ber deutſchen Soldaten im Elſaß“ gedich⸗ 
weu FB 33 Trug, tet, das ſehr volksthümlich ift, aber doch nicht genügen wird, 
Sein Name if ber Püg” Emblem, hun einen Platz unter den Lyrilern der Gegenwart ein. 
* ſpielt —8 Spiel mit falfiher Karte: " 
arum, trotz Kron' und allebem, - M. Evers bat „Vorwärts. Sieben gebarnifchte Sonette 
Berachtet man ben Bonaparte. an das deutfche Voll’ herausgegeben —E Schulze 


. n 50 N ) 

Die andern Gedichte find: „Auf Frankreichs Kriegserkläärung“, | die nicht gerade originell, aber doch auch nicht Übel find. 

en te salutant‘‘, „Deutſchlands Auferfiehung‘‘ mit dem | Wir theilen zur Probe das fechste nit: 2 ſ 
ußvers: 


Bald wird am Rhein die Schlacht geſchlagen, Wohlan zum Kampf! wenn wir nun einmal ſollen, 
Ganz ausgelämpft ber alte Streit, Dann wollen fämpfen wir mit deutſchem Muthe! 
Davon man fingen wirb und fagen Färbt fi die Erd’ dann mit der Brüder Blute, — 


Dis in der ſpät'ſten Entel Zeit. Euch Frevelmüth’gen wird's ber Himmel zollen! 





Teuilleton. 


: Huf jet durch Bäß' und Gtröme — angeſchwollen 
Sind fle wie Bald von unferm Herpeneblutel — 

Dem Geind enigegenl Schmag, wer ba nod rabte, 
Bo Sgmerier Hiren und Ocladtenbonner teen! 
Borwärts! Roch wehen hoch und ſtoli bie Fahnen! 
„Vorwärts!“ erigallt bes Gelbferrn Donnerflimme 
Breit dung) den Geind end Tühne Giegeäbahnen! 
Stärit euqh auf ihn mit allgemaft'gem Grimme 

Unb jeder ringe — was fol id nad mahnen? — 

Daß er zuerft des Gegners Hay erfiimmel, 

Zum Schluß bringen wir Hier die in vielen Zeitungen 
mitgetheilte poetiſche Aatwortsepiftel auf den Brief, dem der 
franzöfifhe Dichter an das deutſche Bolt gerichtet hat, von dem 
Herausgeber d. Bl.: 








Un Bictor Hugo. 

Aufgeſcheucht aus beined Patmos ftillen Träumen ſenbeſt du 

Einen Brudergruß der Bölter jet dem beuticen Bolte zu, 

Cine Taube mit vem Delgwelg aus der Gänpflut Wogendrang — 
DLR mit prießerligen Worten Heinmen unfeer Waffen Gang. 
Frieden, beitig Wort des Lebens, alle Bergen fhlagen bir! 
Siöner ale des Lorbers Kronen winkt uns deiner Palmen Bier; 
Dog de jegt mit Dlut und Tpränen fig dem Saoe des Kriegs entringt, 
„IR der ew’ge Frieden nimmer, ben das Lieb ber Dichter ſingt. 
Wenn auf Raub die Geier flogen, tommt der Taube Ging zu fpät. 
Wrantreig erntet jept mit Syaudern, was nur Franfreih ansgefät, 
Eines blut'gen Krieges Würfel warft ihr Hin im Knabenfpiel, 

Und ihr weigert jept den Ginfap, weil für un® der Würfel fiel! 
Nigt den Marſch der Legionen pemmte tuhner Freifelt That 
Damalt als bie free Dropung jedes Böllerredt gertrat; 

Nimmer hat fie da ihr Banner uns zum ferud’gen Gruß geſchwentt 
Und im Dom der Invaliben der Gäfaren Ruhm verjentt! 

Und des Gänger® Fenerruthen, feiner Büdtigungen Hohn, 

Sind ein Drandınal für ven Zodten, bem Lebend’gen eitle® Drohn. 
Dein Napoleon der Kleine blieb mod immer groß genug, 

Bis die Macht der deutſchen Heere feinen Herrſcherihron gerihlug. 
Habt ihr nit den müben Caſar in dem letzten Kampf gebeht, 
Ihn, der vor der Matabore rothem Zuge fih entjegt? 

Mär’ ex ale ein Banderobrer heimgefefrt mit Glanz und Ruhm — 
Aqh 100 blieb der Freiheit Banner und bes Friedens Prieftertfum? 
Und du ſelbſt, ein wandelbarer Gänger wefelveller Zeit, 

Belefe in den Sugenbliebern eines Cäfars Perrligteit; 

Gleicpwie vor der Bundeslade David tanzenb Hymnen fang — 

Um die erzue Raiferfäule tanztef du mit Harfenflang. 

Selbſt der Nähte bleiher Sänger Rimmt in folgen Yubel ein, 
Und von ſeines Siebe Champagner flog der Pfropfen nach dem Mein. 
Self dad Bürgerreic) des Qui brütet folpe Seidenfaft — 

3a, ber Rhein iR Granfreige Wahnflun, und der Rhein if Dentfglande 

Kraft, 





Einmal ſchon den Brief des Friedens ſqrieb ein Dichter gleich wie bu, 
Allen Böltern warf die junge Republik bie Rofen zu; 

Bald gebrocpen lag bie Ayra vor den Stufen eined Throns, 

Und ber Mdler bed Gopannes weicht dem Kar Napoleon’. 

Täglich Haft du andre Saunen, Friedensgruß und Lriegesjorn, 
Zrägt ein Beilden Heut im Wappen, morgen [pon ben Ritterfporn, 
rantreid, wanbelbarer Proteus! Wehsle Garden und Bealt — 
Dog wir Haben dig und Halten dich mit eiferner Gemalt. 
Hunberttaufend Helden fallen nicht für einen Obolus, 

Den der Tod dem bielgen Hährmann für bie Faprt bezahlen muß. 
Feantreig Yämpfte mit dem Gäfar, Branfreid heile fein Gefgid: 
@i6 heraus den Kaub ber Xönige , feiebensfel’ge Nepubtifl 

GIB Heraus bie veutfhen Sande, unſers Keiges Erb’ und Gut, 
Unfer werde jegt die Erbe, wo der Heiden Mfdhe ruht! 

Die verlornen Kinder lege wieder an der Mutter Herz, — 

Sähne für das Blut der Eveln, der Berlaffenen Roth und Schmetz. 


Haft zugleich du mit der neuen deine alte Sauld beyaplt, 

Dann zum Bölferfrievenstempel, der im Glanz des @eiftes Rrafit. 
Iede Rache fei begraben, nie entweiht der Brudergruß; 

Zwei vereinte Bölter fegnet dann der Meufheit Genius. 

Sonf — zum legten Kampf! Wir nahen erumpangert, fiegegemiß, 
Und fo werde Garagoffa, Mbermäth'ges Sybarie | 

Böllermutter, welge graufam jegt die Unfrigen verflich, 

Höpuend deines Sängers Preislied, weltvergiftendes Paris! 








671 


Du Bultan, ber plöglig wieber feine Senerfäufen hob, 

Der fo lang’ nur graue Mjde über alle Bölter ſtod, 

Das Berbrechen der Zerfiörung und ber Flach fommt über big, 
Denn dein ift das Wort bes Griebens — ber Beflegte beuge fih! 


Souſt in deinen üpp'gen Flitter ſchlägt die deutſche Cifenfauft ! 
Hbe, wie fhon das Gälahtgemitter um die Giegehbagen brauft! 
Dichter, häng’ bie Harfe jammerub an ben Weiden Babels auf; 
Denn die Weltſtadt eng umtlammernd nimmt Verderben jeinen Lauf. 








Bibliographie. 
Baumbach, E., Gedichte. te veränderte Anflage. Mitau. 5. 1 Thlr, 








Baum arten ‚9., Wie wir wieder ein Bolt geworden find. Leip⸗ 
ige, 
EREHIE, fi Chlbatenlicher für ben beutfäen reg 15 ia, 
un — Golbatenliche für iſch 2 Leipzig, 


58, € re Mi; 20: Der Qraf von Hasımestein, 
za —— — 


Üttger, 4, Das Setsennänngen. Dramatitge —————— 

— Kormann. Br. 8. 1 © 

gung ennerg m, Die Aus wenn in gen Zeigen une aul 
Die, zer an „Heincig Heines ete ehe. Momanı "Bertin, 

Iante, 

Wie hunde 








Sen, 3. —— 8 
————— bu Das nen — 
fies beleugtet. rigen, ger. 
Elimenreioh, A., Acht Kriegslioder zu Schutz und Truiz. Ge- 
widmet den deutschen Volke, dem drutschen Hecre zum 5 ‚gonnenen 
Feldzoge wider den Fransmann, Leipzig, G. Schulze. 16 2 Nar. 


Eitefter, %, $., Worte der Berfändigung, des Beiebens und des 
Be denne ie Deffen Nadlafe von $ Mitter. Berlin, Deu 


1 The, 6 
%f Begri der Zeit. Inangaral-Dimertaion. Dar- 


In, is er * M., a. 
n rat 5. "on de en ee ‚vor 1870, 8 E23 id 
—e— & Ti ig, Mayer. — KR a 


Au Di Krieg © Fr ‚ben Erbfei 
ern fein nern Be —— en Res uns 
ai. Sunlgunde ober v ü 
PR CH „er une e ober Sieg ber göttlichen 
Benfigen, D. 5, Et 1 Briegsieder. Berlin, Großer. 6. 1 Nr. 
ufeire Geile bes beutfa Rrieges 
um. eh & er Ieß Heft. Wi ag EHE 


Volowin, L, Runland unter Alezander IL, Original - Ausyabe. 
Welpe, Krehbeig, "Gr. 8. 1 Thlı 


25 
—— "ir genöttugel in bie focdale Dämmerung. Würze 


Deutfölande antzeich, Ger 
a een! Bauplan hu 


— von der nafehlbarteit des Pap ⸗ 
Rot. 



























altann, 8, Das Ammergauer Baffonsfpiel im Jahre 1570. Tün- 

Re, het Et "Npr. 
Di, m gejchriebbener Gehreibe » Brief von Iant Mauſes 
Y vi ER ‚aub Paris, Uufentpalt or Sieu unbetant. Bere 


ae zit Brankreig. —— Biblio» 

wi I nfitzt, Gr Nor. 
EEK, Salberöelein Ein Averfranf. Bindury, Doc. 
1 Payılan U, Fiugt aus Mep nah Paris, Leipzig, ©. Schuhe. 


olger, ®., Bolten: ‚Bele! n Unterhalt 
F Me — — ——— Irns und Unterhaltung, 


beutigen anhenjleher. Bei dem nähen Yeievenefhluß zu belichiser 
jen Kannenjlei u 
Bennhung vor Herrn Srafen von Bifmerd. ihweig, Hug. Gr. 5. 


Wagtel, 9, Afener Boat on Herrn Dr. Gel Bee 
une, 


res Matterial von eenen 


geippig, 


3. 
ie mit Rapolı und mit nkreich. Boli iihe Bes 
Pe I Bam ee Ber BE Re 


—8 





Der deutsche Name Germanen und die «tl 
ae historische Untarsuch 


u D d * 
— 






sraphi- 
Pa- 





Geber Belilneh, &r, 
Glisransı #, &n 
fein, Hiferiiges Edanpiet- 


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Deriag von 5. A. Brodfaus in Leipaig- 


Wörterbücher der neuern Sprachen. 


Deutsch, Französisch und Englisch. 
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serte Auflage. In drei Abtheilnngen. 8. Cart. 2 Thlr. 
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Erste Abtheilung: Frangais-allemand-anglais. 
Zweite Abtheilung: English, German, and French. 
Dritte Abtheilung: Deutsch-französisch- englisch. 


Französisch - Deutsch. 

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allemand et allemand-frangais. — Bolfländiges Tajchen- 
Wörterbud; der franzöfiichen und deutſchen Sprade. Sie- 
bente Auflage. 8. Geh. 20 Ngr. Geb. 25 Ngr. 

Kaltschmidt, J. H. Dictionnsire Tresor frangais-allemand 
et allemand-frangais. — Praltiſches Wörterbud) der fran« 
zoſiſchen und deutſchen Sprache. Zweite Auflage. Zwei 
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Englisch-Deutsch. 

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and German Languages. — Bolfländiges Tajhen-Wörter- 
buch der englifchen und deutſchen Sprache. Dritte Auf- 
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Flügel, F. und J. @. Practical Dictionary of the English 
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Italienisch - Deutsch. 

Valentini, J. Dizionario portatile italiano-tedesco. — Ta- 
ſchen⸗ Wörterbuch der italienifchen und deutſchen Sprache. 
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Erster Theil: Italienisch-deutsch. Geh. 1 Thlr. Geb. 
1 Thlr. 5 Ngr. 

Zweiter Theil: Dentsch -italienisch. Geh. 1 Thlr. 
10 Ngr. Geb. 1 Thlr. 15 Ngr. 


Vorstehend aufgeführte Wörterbücher zeichnen sich 
durch praktische Einrichtung wie durch Wohlfeilheit 
des Preises aus und sind, wie die wiederhelten neuen 
Auflagen beweisen, allgemein im Gebrauch. 





Beitgefdjichtliche Werte 


aus bem 
Yerlag von S. A. Brockhaus in Leipzig. 


Blanlenburg. Der deutſche Krieg von 1866. Hiſtoriſch, por 
litiſch und Feieonienfgefeti dargeſtellt. Mit Karten und 
Plänen. 8. Geh. 2 Thlr. 20 Ngr. Geb. 3 Thlr. 

Charrad. Geſchichte des Krieges von 1818 in Deutſchland. Aus 
torifirte deutfche Weberfegung. Mit 2 fhographirten Kar» 
ten. 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Zhlr. 10 Nor. 

1, Histoire de la guerre de 1818 en Allemangne, Avee 
cartes speciales. 8. Geh. 2 Thlr. 10 Ngr. Geb. 2 Thir. 
N; 





— Histoire de la campagne de 1815. Waterloo. 5me ddi- 
tion, revne et augmentöe de notes en röponse aux asser- 
tions de M. Thiers dans son recit de cette campagne. 
2 Vols. Aveo un atlas nonvean. B. Geh. 2 Thir. 
Geb. 2 Tblr. 10 Ngr. 

Dipiomatiſche Gefhidgte der Jahre 1813, 1814, 1815. Zwei 

. . 4 Thlr. 10 Nor. 

l. Das Leben des Generals von Scarnhorfl. Nach 
größtentbeils bisher unbenugten Quellen dargefiellt. Erſter 
und zweiter Theil. 8. Geh. 3 Thlr. 15 Ngr. 

König Hröme und feine Zamilie im Eyil. Briefe und Auf 
zeichnungen. Herausgegeben von Erneftiine von 2. 8. 
Geh. 1 Thlr. 20 Nor. 

Hiſtoriſches Taſcheubuch. Herausgegeben von Geiedrih von 
NRaumer. hrgang 1842 umd 1843. Seder Jahrgang 
in ermößigtem Breife 1 Thle. 10 Ngr. (früher 2 Thlr.). 

Jaßrgängen fofgenbe zwei für bie Gegenwart fehr 

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Wenfälligen Brieben. Ben d- Ogeren. 


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Unfere Zeit. Deuiſche Revue der Gegenwart. Herausgegeben 
von Rudolf Gottfhall. 1870. Het 18. 6 Ngr. 
Eutpält unter anderm: 


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wart erhöhtes Juterefie erlangt mb verdienen jett befondere 
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Soeben erschien: 


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ARTHUR SCHOPENHAUER. 


Essai de critique 


par 
Alexandre de Balche. 
8. Geh. 15 Ngr. 

Diese Schrift gewinnt durch die darin geführte Be- 
kämpfung der politisch - philosophischen Anschauungen 
‚Renan’s vermittelst der Lehren des deutschen Philosophen 
Schopenhauer für die augenblickliche politische Lage 
Frankreichs ein. besonderes Interesse. 





Verantwortlicher Redacteur: Dr. Ednard Grohhans. — Drud und Verlag von 8. A, Srochhaus in Leipzig. 








Blätter 


literariide Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—A Ar. 43. on 


20. October 1870. 





Inhalt: Die romantiſche Schule in nener Beleuchtung. Bon Nudolf Gottſchal. — Ein neuer Band der „Anthropologie der 
Raturvölter”. Bon Maximilian Berty. — Ein Beitrag zur opel des deutfchen Nordens und Südens. Bon Sranz Sirfh. — 


Alfred de Muffet. 


Bon #. von Bobenbanſen. — Kleinere philofop 


Ihe Schriften. — Fenilleton. (Englifche Urtheile über nene 


Erſcheinungen ber deutfchen Literatur; Eine Ueberfegung des „Spiel von den zehn Inngfrauen“.) — Sihlingraphie. — Anzeigen. 





Die romantifche Schule in nener Beleuchtung. 


Die romantifhe Schule. Ein Beitra 
[hen Geiftes von R. Haym. 
Gr. 8. 4 Thlr. 


zur Geſchichte des deut⸗ 
erlin, Gaertner. 1870. 


Ein Werk von faft 1000 Seiten über bie „roman⸗ 
tifche Schule” berechtigt gewiß zu der Borfrage, ob bie 
Bebentung diefer Schule eine fo eingehende und gelehrte 
Behandlung rechtfertigt, ober ob diefelbe nur einer jener 
beliebigen Stoffe ift, welche bie deutſche Gelehrfamteit 
fih ausſucht, um fie durch ihr Fortwälzen zu lapinen- 
artigen Maſſen anfchwellen zu lafien. 

Zunächft muß hervorgehoben werden, daß die Kluft, 


- welche in Deutfchland zwifchen Titerarhiftorifcher und na⸗ 


tionaler Geltung befteht, gerade bei der romantifchen 
Schule ſcharf in die Augen fällt. Keine andere Nation 
bat etwas Achnliches aufzumeifen. In Frankreich und 
England befchäftigt fich bie Literaturgefchichte mit Vorliebe 
mit den von der Nation anerlannten Dichtern; in Deutſch⸗ 
Iand muß man ihr umgekehrt eine befondere Vorliebe für 
die verfannten und vom Publikum nicht beachteten Poeten 
nachfagen. Daß bies auf ein Trankhaftes Element in 
unferer Literatur deutet, ift fraglos — danach aber zu 
forfchen fällt den gewifiendafteften Forſchern nicht ein. 
Sie nehmen die Thatfache als gleichgültig hin und fahren 
fort, die Kluft durch ihre Gelehrfamleit zu erweitern. 
Um die Dichter der „romantifchen Schule” hat es 
immer fchief geftanden; denn fie hatten kein Publikum. 
Welche Dichtung von Ludwig Tied hat auch nur eine nene 
Auflage erlebt? Welde Buchhandlung würde e8 wagen, 
von Tieck's gefanmelten Werken eine neue Ausgabe zu ver- 
anftalten? Welche der neuen „Nationalbibliothelen‘‘, die der 
deutfchen Nation geiftige Schäte fammeln, hat nur irgend» 
eins ber Tieckſchen Dichtwerke aufgenommen ? Und Ludwig 
Tieck ift doch der Meifter vom Stuhl der romantifchen 
Poeſie! Die Journale der Schlegel, aus denen uns Kober- 
ftein und Haym fo umfafjende Anszitge mittheilen, find 
aus Abonnentenmangel immer bald felig entfchlafen und 
1870. 43. 


batten ftets ein ſehr Kleines exclufives Bublilum. Dem 
großen Publilum werden fie nur befannt durch Berfpot- 
tungen auf der Bühne und in gelefenen Schriften. 

Ein Homer und Pindar, ein Aeſchylus und Sopho- 
kles, ein Shalfpeare und Schiller waren große Dichter 
und ſchon vollstbüimlich bei ihren Beitgenofien, andere 
Dichter, wie Goethe, beſaßen eine Größe, die den hervor⸗ 
ragenden Geiftesperwandten ihres Zeitalters imponirte und 
in ber Betrachtung der fpätern Gefchlechter von Zahr zu 
Jahr wuchs; doch Ludwig Tieck und die Schlegel waren 
weder volksthümlich noch große Dichter, und auch die fo 
eingehende Kritik von Haym ift weit davon entfernt, ihrem 
Piedeſtal auch nur einige Fuß Höhe zuzufegen, was ihre 
dichterifche Bedeutung betrifft. Wir mitfien befennen, daß 
wir ſchon in Koberſtein's Literaturgefchichte die Behand- 
lung der romantiſchen Schule gerade wegen ihres forg- 
fältigen Fleißes und des aufgehäuften Materials in er⸗ 
flaunlidem Misverhältniß zu dem Plan des Werks fan- 
ben. Was uns bei den Claſſikern, das heißt bei großen 
Dichtern, intereffirt, darf bei den Romantifern, das heißt 
bei ſehr mittelmäßigen Dichtern, nicht entfernt das gleiche 
Intereſſe beanfpruchen. Eine Sleichartigkeit der Behand- 
fung bei fo ungleihen Berbdienften um die Nationallitera- 
tur erfcheint uns nicht als recht und billig; geht fie aber 
aus gleich Hoher Schägung hervor, fo müßten wir gegen 
ſolche Afthetifche Begriffsverwirrung proteftiven. Bann 
follen wir in einem Werke, welches bie beutfche National- 
literatur behandelt, diefe zahlreichen Excerpte aus den 
Briefen der Romantiker mit in den Kauf nehmen? 

Etwas anderes ift es mit einer Monographie, die ein 
jelbftändiges Recht in Anſpruch nimmt. Wer fi für 
die „romantifche Schule” nicht intereffirt, mag fie un- 
gelefen laſſen. Ueberdies Tündet R. Haym fein Wert 
als einen „Beitrag zur Geſchichte des deutſchen Geiftes“ 
an. &8 Handelt fi in demfelben aljo um eine Dar- 
legung der Gedankenfäden, welche in ber romantifchen 


85 


674 Die romantifhe Schule in neuer Beleugtung. 


Schule einen neuen Knotenpunkt geiftiger Entwidelung bil« 
beten. Es ift dies eine Darftellung, die im Grunde für 
eine Gefchichte der Philofophie mehr paßt als filr eine 
Kiteraturgefhichte; und in der That erinnert das Merk 
von Haym ebenfo oft am bie erfte als an die zweite, ja 
feine eigentlichen Vorzüge liegen nad; jener Geite hin. 
Die Aufgabe der Literaturgefchichte findet Haym darin, 
die Wandlungen des Ideenlebens einer Nation darzuftele 
Ien; doch fie ift eine andere: fe fol die vorhandenen 
Literaturbenkmäler allerdings aus ber Entwidelung der 
Dichter erflären, aber dieſelben mit aligemeingtfigem 
üfthetifchen Maße meſſen und das volle Lebensbild der 
Dichter mit feiner, endgültiger Charafteriftif und vorfüh- 
zen. ine Fiteraturgefchichte, welde den Hauptnaddrud 
auf jene geiftigen Linien legt, in denen die Ideen 
fortbewegen, wird der Bedeutung ber einzelnen Dichter 
um fo weniger gerecht werben, als fie bie Bedeutung des 
urfprünglichen Talents in feiner „Einzigkeit“ anerkennt. 
Diefe Darftelungsmweife paßt nur für diejenigen Kapitel, 
in denen die Literaturgefchichte die Entwidelung der Phi⸗ 
Tofophie und der Wiſſenſchaften vorträgt. Hayın felbft gibt 
zu, daß nicht die Dichtung, fondern die Wiſſenſchaft durch 
die romantifche Revolution eine nachhaltige Bereicherung 
und Vertiefung erfahren habe, obgleich auch Hier Fort- 
ſchritt und Rüchſchriit, erfrifchende Begeifterung und ver» 
wirrende Trübung fi) dicht nebeneinander finden. Es ift 
daher die wiſſenſchaftiiche Seite der Romantik, welche im 
feinem Wert befonders Bervorgehoben wird. 

Ohne Frage ließ ſich indeß daffelbe um einen neuen 
Band von 1000 Seiten vermehren; denn Haym ftellt 
eigentlich nur die grundlegenden Anfänge der Schule 
dar, in welde er, bei den fließenden Grenzen derſelben, 
nit nur Schelling und Schleiermacher, fondern auch 
Hölderlin ganz mit Hereinnimmt. Wol aber ift bie ganze 
weitere Entwidelung der Schule ausgeſchloſſen, die ſich 
gerade nach poetifcher Seite Hin üppig entfaltet. Wir 
erfahren nichts von Tiecks fpätern novelliſtiſchen Pro- 
ductionen, nichts von Brentano's ungehenerlichen Dich- 
tungen, von Arnim's phantafievoll finnigen Romanen und 
baroden Puppenfomödien, von Fouquè's zierlichen Ritter- 
poefien und manieristen nordiſchen Redendramen, nichts 
von Heinrich von Kleiſt's fo vielgepriefener dramatifcher 
Wirkfamfeit, nichts von Amadeus Hoffmann’s grellen 
Nachtſtücken und groteöfen Zerrbildern. Ebenſo wenig 
erfahren wir von der Auflöfung der Romantik, von ben 
Faden, welde in die Heine ſche Dichtung, in die jung- 
deutiche Emancipationsliteratur hineinreichen, von den Ein« 
flüffen, welche die romantiſche Schule auf fpätere Dichter, 
auf Immermann, Grabbe, Hebbel ausübte. Noch mehr 
in ber Tendenz des Autors hätte e8 gelegen, den Nach- 
weiß zu führen, wie die Gedanken der Romantiker alle 
mahlich in der germaniftifchen Wiffenfchaft, in der ver- 
gleihenden Sprad- und Riteraturfunde, in der nachfol- 
genden Weberfegungstunft, in dem fortiuchernden Shak- 
fpeare»Eultus, in der Pflege der romanijden Literatur 
zu pofitiven Reſultaten führten, wie fie in der Rechts· und 
Staatsphilofophie einer großen Partei zu politifcher Geltung 
kamen, welde Rolle fie in Preußen fpielten unter dem 
Testen Momantifer auf dem Thron Friedrich’s des Großen. 
Durch ſolche erſchöpfende Darftellung wäre der „Beitrag 





zur Geſchichte des deutſchen Geiſtes“ erſt ein vollitändi- 
ger geworben, der Einfluß der romautiſchen Schule auf 
die Gegenwart Marer Herborgetreten. Haben doch jelbft 
ihre Sünden und Frevel eine Nachlommenſchaft aufzuwei - 
fen, die noch unferer Zeit nicht zum Heil gereicht! Der 
pasquillartige Ton der Fournaliftit, der ſchonungsioſe Wit 
der Kritik, die Abhängigkeit von perfänlichen Einflüffen 
in Lob und Zabel, alle journaliſtiſchen Kniffe, von der 
Anwendung bes praltiihen Sprihwort® Manus manum 
lavat bis zur Kunft des vornehmen Todtſchweigens, find 
von den Schlegel in ihren Journalen bereits mit meijter- 
hafter Birtuofität zur Anwendung gebracht worden. Ha- 
ben biefelben doc; felbft Schiller todtgelchwiegen — mit 
welchem Exfolg, ift weltbekannt und lehrreich fir die jour - 
naliftifchen und Literarhiftorifchen Nachfolger der Schlegel, 
welche auch namhafte Dichter durch Todtſchweigen aus 
der Welt zu fehaffen glauben. 

Wenn wir das alles erwägen, mas fir eine boll- 
fländige Darftellung der romantif—hen Schule unerlaßlich 
wäre und was in dem Werke von Haym fehlt, jo er- 
ſcheint das letztere nur als eine volumindfe Skizze. Es 
iſt zwar das Recht des Verfaſſers, ſich ſein Thema mit 
jeder” möglichen Beſchränkung zu ſtellen; aber der Titel des 
Werts ſcheint doch derartige Beſchränkungen auszufcließen. 

Die Darftellungsweife Haym's ift aus feinen Werken 
über Hegel, Wilhelm von Humboldt und Schopenhauer 
bekannt; fie ift feinſpurig, geifteih, Mar und im ganzen 
geſchmadvoll, wenn wir don einigen tberfliiffigen und 
etwas abenteuerlichen Fremdwörtern abiehen, denen wir 
gern das Bürgerrecht im deutſchen Werfen verweigern 
möchten. Eine zufammenfaffende Charatteriſtil der ein 
zelnen Dichter und Denker fällt außerhalb ber Methode 
der Haym’fchen Darſtellung, welche Stein auf Stein zur 
fammenträgt und uns mitthätig an dieſem Aufbau helfen 
läßt. Er macht nur den Strich unter die einzelnen Poften 
und läßt uns felbft die Summe ziehen. Vollftändig tritt 
eigentlich nur das Bild von Novalis, Hölderlin und den 
beiden Schlegel vor uns Hin; annähernd ift die Bedeu- 
tung Schleiermacher's erfhöpft; von Tieck und Scelling 
wird nur bie erfte Zeit ihres Wirkens charalteriſirt. Was 
die erfte, im Bezug anf grundlegenbe Theorien wichtigſte 
Epoche der Romantit betrifft, ift das Wert vom Hayın 
jedenfalls das gründlichſte und fleißigfte von allen bisher 
erfchienenen. 

Seine Vorgänger läßt Haym in ter Einleitung die 
Revue paffiren. Das ſtizzenhafte Gemälde, welches Ger- 
vinus von der romantiſchen Schule im furzen Schluß. 
abſchuitt feiner „Geſchichte der deutfchen Dichtung“ ent- 
worfen Hat, wird gerühmt wegen der weitgreifenden Um- 
fiht, mit welder die Grundlagen und Zufammenhänge, 
die Wirfungen und Charakterzüge diefer Bewegung an« 
gedeutet werden. Hettner's Schriftchen über die roman- 
tifche Schule erhält Lob wegen der geiſtreichen Durchfüh - 
rung eines einzelnen Geſichtspunktes, des innern Zufame« 
menhangs der romantiſchen Schule mit Goethe und Schil ⸗ 
ler. Yulian Schmibt’8 „fett und Hart zugreifendes Ür - 
theil“, fein eindringender Scharffinn, bie gefunden Grund« 
anſchauungen feiner Kritik follen die Biftoriiche Betrach- 
tung der Romantik weſentlich gefördert haben. Uns fällt 
auf, daß Haym von Julian Schmidt nur die „Geſchichte 





Die romantifhe Schule in neuer Beleuchtung. 


der deutfchen Literatur‘ erwähnt und nicht das Haupt« 
wert diejes Autors in Bezug auf die Romantif: „Ges 
fhihte der Romantik im Zeitalter der Reformation 
und Revolution.” Koberftein’s eiferner Fleiß und un⸗ 
vergleichliche Gewiflenhaftigfeit erhalten Haym's dankende 
Anerkennung; fein eigener Verſuch wäre ohne Koberſtein's 
Borgang nie unternommen worden. Wir hätten an bie- 
fer Stelle auch das Ruge⸗Echtermeyer'ſche Manifeſt gegen 
die Romantik in den „Halliſchen Jahrbüchern“ gern er⸗ 
wähnt gefehen, welches doch in Fritifcher Hinficht das be- 
deutendfte Actenftüd unferer Riteraturgefchichte gegenüber 
der Romantik ift und an welches namentlich die Julian 
Schmidt'ſche Kritik der Romantik fortwährend erimnert. 
Auch Heine's Schriftchen über die romantifche Schule 
durfte nicht übergangen werben. Geine Flüchtigkeit in 
der Darftellung der literarhiftorifchen Entwidelung, der 
philofophifchen Grundgedanken u. |. w. ift zwar haarfträn- 
bend; doch defto treffenden ift fein Urtheil über bie ein- 
zelnen Dichter ber Schule. 

Den Standpunkt feines eigenen Werks beftimmt Hayın 
mit den folgenden Worten: 

Eins am meiften wird die folgende Darftellung von denen 
der Vorgänger unterjcheiden. Aud diefe zwar — mit Aus 
nahme etwa von Hettner, ber wenigflend den Urfprung der 
Schule ausſchließlich im Poetifhen fucht — find_auf den Zu- 
ſammenhang der poetiſchen mit den wifſenſchaftlichen und praf- 
tifchen Beftrebungen berjelbeu eingegangen. Daß es den kecken 
Nenerern nicht einzig um die Poefie, fondern um eine ganz 
neue Bildung zu thun war, als deren Mittelpuntt nur ihnen 
die Poefie galt, if von ihmen felbft fo beflimmt ausgeſprochen 
worden, ihr idealiſtiſcher Unverſalismus und Eucyflopäbismus 
liegt fo offen zu Tage, daß auch eine befchränktere Faſſung der 
Literaturgeichichte fortwährend gezwungen war, von der Ge- 
ſchichte der Dichtung auf die dieſelbe mannichfach krenzenden 
Wege des pbilofophifhen Denkens, des religiöfen und fittlichen 
Lebens abzubiegen. Jener culturgeſchichtliche Standpunkt, wel- 
hen mit Recht die Darftellung von Julian Schmidt für bie 
Literatur Überhaupt anftrebt, wird bier geradezu zur Noth- 
wendigfeit, und es gilt nur, auf der einen Seite vollen Ernſt 
damit zu machen, auf ber andern nicht zu vergeffen, daß den- 
noch de Literatur eines Bolls oder einer einzelnen Periode 
nit die Cultur digfes Volks oder biefer Periode ſelbſt, fon- 
dern nur die Spiegelung derjelben in profaiichen und poetijchen 
Serborbringungen fein ann. Immer baben feit dem Beginn 
unferer großen Literaturepodhe in Deutihland Dichtung nnd 
Philofophie zufammengearbeitet und lebhaft ineinandergegriffen. 
Niemals jedoch Haben fie fi dergeftalt durchdrungen mie im 
den Befrebungen der Grünber der romantiihen Schule. Je 
flacher die Wurzeln find, welche die Dichtung diefer Zeit im 
Boden des Lebens, bie Philofophie im Boden des Realen Hatte, 
um fo mehr verjchlingen bieje beiden ihre Wurzeln ineinander 
und fuchen eine ans der andern Nahrung zu ziehen. In dieſer 
änßerften Geiftigfeit, in dem Sneinanderfließen des Phantafle- 
und Gedantenlebens befteht geradezu, wenn es doch einmal 
unter eine Kormel gebracht werben joll, das We en ber Ros 
mantil, ımd Hierin wieder lag die Möglichkeit, daß die feinften 
Ausftrömmngen des Seelenlebens, die Regungen ber Frömmig⸗ 
teit ſich friedlich damit verbinden Tonnten. Wie fih in ber 
Romantit Dichtung, PHilofophie und Religion bie Hände zum 
Bunde reihen, jo muß fih and in der Darftellung dieſes 
revolutionären Idealismus die Gefchichte der Dichtung mit ber 
Geſchichte der Philofophie und der Religion begegnen. Die 
Geſchichte der Romantik kann ſchlechterdings nit gründlich ge- 
schrieben werden, wenn nicht neben ber Bewegimg, bie Bier von 
der Goethe'ſchen zur Tieckſchen Ditung vor fi ging, ebenfo 
die Bewegung verfolgt wird, die vom der Fichte ſchen zur Schelling'⸗ 
ſchen Philofophie, von dem Pietismus ber Brüdergemeinden zu 
der Religionsverfündigung Schleiermacher's hinüberführte. 


675 


In derartiger Gefchichtfchreibung findet Haym die 
zufammengejegtefte und zartefte Aufgabe Die fchrift- 
ftellerifchen Werke find ihm nur „Kreuzungs- und Knoten⸗ 
punkte gleihfam der durcheinanderfchiegenden Fäden“; in 
ihnen jegt fich nur fcheinbar „die zwiefache Bewegung bes 
allgemeinen und individuellen Geiftes zu einem feſten Nies 
derſchlag ab; es ift die eigentliche Aufgabe der Geſchicht⸗ 
fhreibung, dieſe Werfe nach vorwärts und rückwärts 
flüffig zu machen“. Diefe Anwendung der Dialektik auf 
die Literaturgefchichte erfcheint uns als höchft einfeitig und 
nur anwendbar auf fecundäre Talente, bei denen äußere 
Einflüffe, die Bedingungen der Epoche, die Einwirkungen 
der Mitftrebenden vorzugsweife entfcheidend find. Bei 
dem großen Genius fpielen fie nur eine untergeordnete 
Rolle. Seine Meifterwerke brauchen nicht flüſſig gemacht 
zu werden; ihr innerfter Kern widerfteht jeder chemifchen 
Zerfegung. Derartige Literaturgeſchichtſchreibung würde 
bier nur am Beiwerk berumtappen. Bei den Romantikern 
j es etwas anderes. Bon ihnen kann Haym mit Necht 
agen: 

Die Reflexion anf ihr eigenes Thun, die Bewußtheit und 
Abfichtlichkeit ihres Probucirens iſt ein außzeichnender Zug und 
eine der Schwächen diefer Männer. Gerade jene Ueberflille 
geiftiger Strebungen, hinter denen die Lebensſchickſale der Nation 
ganz in die Ferne rücken, biefe franfhafte Erregung gerade bes 

eiftigen Organismus gewährt die beiehrendften Auffchlüffe fiber 
einen Bau. Die Nerven des dentſchen Geiftes liegen hier gleich“ 
fam entblößter vor den Bliden des Beobaditers, und wenn 
jenes Ineinandergreifen von Dichtung, Philofophie und Reli⸗ 
gion das Gefichtsfeld ins Weite dehnt, fo leiften die verſchie⸗ 
denen Ricätungen dem, der nad) den Xriebfebern ber literari- 
fhen Bewegung fplirt, zugleich den Dienft, fich wechfelfeitig zu 
beleuchten, ja durdhfichtig zu machen. 

Die Geſchichte der romamtifchen Schule, einer Lite⸗ 
raturrevolution, die ebenjo wol als ſolche gemeint war 
wie fie als folche gewirkt Hat, hat Haym in drei Bücher 
getheilt. Das erfte Buch fchildert uns „Das Entftehen 
einer romantischen Poeſie“; das zweite Buch: „Das Ent- 
ftehen einer romantifchen Kritil und Theorie”; das britte 
bei weitem ausführlichfte: „Die Blütezeit der Romantik.“ 

Der Held bes erften Buchs ift Ludwig Tied mit fei- 
nen Freunden Wadenroder und Bernhardi. „Die An« 
fünge Tied’8”, „Die Märchen⸗ und Komödiendichtung“, 
fein Verhältniß zu Wadenrober und „Sternbald’8 Wande- 
rungen“ werden uns in drei Kapiteln vorgeführt; über 
„Senoveva“ finden wir freilich erft das Nähere im drit⸗ 
ten Kapitel des dritten Buchs, über „Octavian“ im Schluß- 
fapitel des ganzen Werks. Ludwig Tied begann mit einer 
handwerlsmäßigen Yabrilation für Leihbibliotheken; er war 
überhaupt der am meiften „unclaffiiche Kopf“ der ganzen 
Schule. Sol der Zuſammenhang bderfelben mit den 
Claſſikern nachgewiefen werben, fo ift Tied’s Entwidelung 
für folhen Nachweis am wenigften ergiebig. Gervantes und 
Shalfpeare waren frübzeitig feine Meiſte. Sein Roman 
„Sternbald’8 Wanderungen‘ weift allerdings auf „Wilhelm 
Meifter‘ Hin. Außerdem bat er einmal Goethe feine 
„Genoveva“ vorgelefen, und diefer hatte für dies kindliche 
Weihnachtsgeſchenk der Poefte ein herablaffendes Lob: 

Goethe war bamals ganz Freundlichkeit und Entgegenlom- 
men gegen die junge Schule. Auch fein Urtheil Über die „Ge⸗ 
noveva‘ war höchft ſchmeichelhaft für den Berfaffer. Zu feinem 
neunjährigen Sohne aber, welcher ber Borlefung beigewohnt 

85 * 





p- 
» 





676 Die romantifhe Schule in neuer Beleuchtung. 


hatte, wandte er fi mit den Worten: „Nun, was meinft bu 
denn zu allen den Karben, Blumen, Spiegeln und Zauber- 
fünften, von denen unfer Freund uns vorgelefen hat? If das 
nicht recht wunderbar?” Die Worte waren fidherlich nicht ge» 
ſprochen, um einen Zabel auszudrücken, aber fie enthielten ein 
fehr zweifelhaftes Lob und fte geben höchſt charakteriftiiich den 
Eindruck wieder, den noch heute jeder unbefangene, zu Wohl- 
wollen und Anerkennung geflimmte Lejer der „Genoveba“ das 
vontragen wird. 


Schärfer urtheilte Schiller nad) der Lektüre der „Ge⸗ 
nopvepa‘, 


daß der Verfafſer eine grazidfe, phantaftereiche und zarte Natur 
fei, daß es ihm aber an Kraft und Xiefe fehle und gewiß 
immer daran fehlen werde; er fand dieſes wie bie frühern 
Werke Tiel’s voll Ungleichheiten und voll Geſchwätzes; er be- 
klagte, daß ein fo großes Talent fo wenig für die Zukunft ver- 
fpreche, denn wohl könne die rohe Kraft und das Gewaltiame 
fih läutern, aber niemals gehe der Weg zum Bortrefflichen 
durch die Leerheit und das Hohle. 


Tied fah fpäter in Schiller nur einen „fpanifchen 
Seneca“. 

Dem Urtheil, welches Haym über die erſten Pro- 
ductionen Tieck's fält, kann man nur beiftimmen. Spu- 
ren der Warbenkfledjerei, welche Tieck für feine literarifchen 
Tabrifarbeiten brauchte, finden fih auch in diefen Ro⸗ 
manen. Der eigenthümlich düftere Zug derfelben wird 
von Haym in geiftreicher Weife betont und erklärt: 


Schon den Knaben hatten die erften Anwandlungen des 
Trübfinns gequält, damals zuerft, wenn er fah, daß fein phan- 
taftifches Bedürfnig nad Freundſchaft fih in der Wirklichkeit 
nicht ſtillen wolle, wenn fein überfhwengliches Werben um 
Theilnahme und Liebe troden, kalt, ſchnöde zurückgewieſen 
wurde. Dieje kindiſchen Schmerzen waren vergangen. “Die 
jugendliche Natur Hatte fih unter dem Einfluß reicher An- 
regungen und Zerſtreuungen wieder geholfen. Aber eben die 
Fülle diefer Anregungen, ber Geiſtesluxus, dem er fich ergab, 
hatte im flillen neuen Krankheitsſtoff gehäuft. Die äfthetilche, 
der Schuldisciplin zum Trotz getriebene Schwelgerei, verbun⸗ 
den mit dem öden Rationalismus, der ihn umgab, hatte feinem 
erregten Geiſte den Halt geraubt. Leidenfchaftlicher, endlofer, 
aufreibender nee war alles, wa® dem auf eigene Hand 
Grübelnden übrigblieb. Dazu trübe Erlebniffe, wie der raſch 
aufeinanderfolgende Berluft zweier Freunde. Die alte Krankheit 
Hypochondrie, fie, die es an der Art Hat, daß fie, oft lange 
zuräüdgedrängr, von Lebeneluf, ja von ausgelaffener Laune 
überwältigt, plöglid) wieder ausbricht, der alte Zrübfinu flellte 
fi von neuem und in verflärktem Maße ein. Derfelbe nährte 
fih jetzt, bei dem gereiftern Süngling, an immer ausgebilde- 
tern, immer üppiger wuchernden Zweifeln. Zumeilen wol 
wirft die Natur, die Hoffnung einer jugendlichen Liebe, am 
öfteften bie Poefie beſchwichtigend und heilend auf die verſtimm⸗ 
ten Lebensgeifter. Allein der Phantafiebegabte ift beffer und ift 
Schlimmer daran als andere. Nicht blos Iöfend und errettend, 
ebenfo oft bindend und quäfend erjchienen ihm die einbildfamen 
Geifter. Set führten fie ihn gaufelnd von feiner Schwermuth 
hinweg, jetzt wieder verwandelten file gerade feine Zweifel und 
Aengfte in Bilder, die nun doppelt peinigend und erdrüdend 
auf feiner Seele laſteten. Tieck bat oft, noch in fpäterer Zeit, 
diefe Seelenzuftände, diefe „Schatten, die fich über fein Gemüth 
ausbreiteten‘‘, felbft gejhildert. Er deutet an, wie in ben Zei⸗ 
ten folder Berfiimmung das Grauen de Todes, die Angft 
vor der Bernichtung ihn erfaßt babe, Die Grundfragen alles 
Daſeins warf er, deffen Denken ungeſchult, aber angeftedt von 
dem umlaufenden Gifte materiafifiiicher Philofophie war, vor 
fi) auf. Er fand keine Antwort auf das Wie und Warum 
der Eriftenz. Vergeblich, im tödliche Angft, fuchte er Gott. 
Sein Suchen endete in völliger Zroftlofigleit. Liebe, Schön- 
heit, Ordnung, alles Ideale erichien ihm dann als etwas Trü- 
geriſches, das fi gleißend vor die eigentliche Wirklichkeit hin⸗ 


ftelle, und diefe fogenannte Wirklichkeit hinwieberum gähnte ihn 
als das Nichts, als ein ungeheuerer leerer Abgrund an. Und 
wenn fi dann fein Kopf in folchen Grübeleien zermarterte, 
fo fühlte er zugleich den Drud des erhigten Blute. Die aus 
gangslofen Gedanken brachten Schwindel und Ohnmachten zu 
Wege. Die Arbeit feines Gehirns‘, die Wallungen feines Bluts 
verwandelten fi ju Geſtalten und Geipenfter, die er auf fi 
zuſchreiten ſah. Zuftände der verzmweifeltfien Anfregung wech⸗ 
felten mit Zuftänden bemußtlofer Berfuntenheit. Zumeilen fühlte 
er fi) dem Wahnfinn nahe, zumeilen fam ihm der Gebanfe 
des Selbfimorbes. Bis in fein fpäteres Mannesalter ift Tied 
von folhen Berbüfterungen periodenmweife heimgeſucht worden. 
Die Krankheit ift feine VBegleiterin durchs Leben geblieben, mur 
daß fie im Alter mildere Formen annahm. 


Das waren bie Orundzüge feines „Abdallah“, des 
Trauerfpield „Karl von Berne“ und namentlich der 
„Geſchichte des William Lovell“, die er felbft als „das 
Manfoleum vieler gehegten und geliebten Leiden und Irr- 
thümer“ bezeichnet. In ber frühen Beichäftigung mit 
Shakſpeare und Ben Jonſon ſchon in ber Yugenb lag 
eine künftige Lebensaufgabe angedeutet. 


Pilant ift das Verhältniß des Romantikers zu dem 
Hauptvertreter des Aufflärihts, F. Nicolai, ber anfangs 
al8 befreundeter Brotgeber erfcheint, fpäter aber als der 
Hauptzielpunft der Tieck'ſchen Satire, wie fie fid) nament- 
lich in der Märchen- und Komddiendihtung Tieck's aus- 
ſprach. Was diefe betrifft, fo findet Haym in ihnen 
mol eine Bewährung von Tieck's „improviſatoriſchem Ta- 
Ient”, findet aber für und „den Spaß ſchal und ab- 
geftanden”. Treffend ift die Bergleichung zwifchen Tied 
und Ariſtophanes: 


Das größte Unrecht jedenfalls begehen diejenigen au dem 
berliner Luftfpieldichter, die ihu ummittelbar mit dem großen 
Athener, dem „ungezogenen Liebling der Grazien“, zufammen- 
fielen. Nein, fo leicht ift die Gunſt der Grazien nicht zu er» 
obern. Wahrlich nicht „in einigen heitern Stunden‘ bat Ari- 
ftophanes feine „ Wollen”, „Sröfche”, „Bögel“ aus dem Aermel 
gefchäittelt, und nicht fo mühelos ift ihm bie vollendete Kunftform, 
die Anmuth feiner Jamben, die Muſik feiner Ehorgejänge aus 
dem Griffel gefloffen. Fremd — mas Tied auch felber darüber 
fage — ift dem Ariftophanes jene Selbftironie, mit weldjer der 
Dichter des „Geſtiefelten Katers” jeden Augenblick ſich ſelbſt 
unterbricht und, in den Spiegel feiner eigenen Laune lachend, 
jein Wert nur zu bilden fcheint, um das gebildete wieder zu 
zerftören. Ariftopbanes befittt dagegen, was unjerm Roman 
titer fehlt.‘ Er ift der Allverfpotter, weil das eruftefte, inhalt⸗ 
vollfte Pathos feinem Muthwillen das Gegengewicht hält. Die- 
fer Grundbaß der kombdiſchen Melodie, der fo ergreifend ins 
befondere aus feinen Parabajen beraufllingt: wo wäre ber bei 
dem berliner Ariftopbanes? Auch biefem fliegen die Pfeile des 
Spottes leicht vom Bogen, aber die Federkraft diefes Bogens 
tft nicht der Ernft einer großen Gefinnung, nicht die Leiden- 
haft des Hafjes und der Liebe, die er vielmehr als „Geiſt der 
Partei“ von fi, ablehnt. Zahm und oberflächlich wie fein 
Spott ift, fo fehlt au viel, daß ex ein Allverjpotter wäre, 
Die Komödie ift univerjell, und fie wird national nur, wenn 
fie in der Komddirung der Stantszuflände und des öffentlichen 
Lebens gipfelt. Dahin zielt alles beim Ariftophanes, jene 
Angriffe auf die Staatsmänner fo gut wie die auf die fophi- 
ſtiſche Erziehung und die ſophiſtiſche Dichtung. Was will es 
dagegen jagen, wenn im „Geſtiefelten Kater’ der Bopanz ‚„‚Geiet“‘ 
fi) in eine Maus verwandelt, die Hinze verzehrt, um Freiheit 
und Gleichheit und die Herrichaft des Tiers- Etat zu proclami- 
ren? Literatur und wieder Literaturl Biel mehr aber: nm „Iff⸗ 
land und Kotebue”, um die „Zauberflöte und den „Spiegel 
von Arkadien““ — um literariiche Nichtigkeiten und Modeartitel 
brebt ſich alles. 





Die romantiſche Schule in neuer Beleuchtung. 


In der That find alle diefe Stücke fir uns unge 
nießbar, ja einzelne, wie bie „Verkehrte Welt“, waren von 
Haus aus nur als albern zu bezeichnen. 

Die Beziehungen zwifchen Tieck und Wackenroder wie 
das Porträt des Kloflerbruders werden von Haym mit 
vieler Liebe gezeichnet. „Sternbald’8 Wanberungen‘‘ wer- 
den der erſten Abficht nach als eine Ausführung der 
Ideen bes Kloſterbruders bezeichnet; der Roman wurde 
unwillkürlich nach Inhalt und Form ber erfte bebeu- 
tendfte Nachklang, den in unferer Literatur der Goethe’fche 
„Wilhelm Meiſter“ fand. Den frühern Schöpfungen, na- 
mentlich dem, Lovell“, Tiegt der „Sternbald” gegenüber durch 
fein pofitives Pathos, die Verehrung ber Kunft, die fromme 
Hingebung eines anbächtigen Gemüths. „Im «Sternbald» 
zuerft conftitwirte fi der romantifche Geift nach feinen 
beiden am meiften charakteriftiichen Clementen , bem 
Elemente der frommen Kunftandadht und dem Klemente 
her hyperidealiſtiſchen Poetifirung der Welt und bes 

ebens.‘‘ 

Bon Ziel führt uns Haym im zweiten Buche zu 
den Schlegel. In Bezug auf diefe Hat unfer Autor bie 
genaueften Stubien gemacht, auch noch, wenn ſchon nicht 
in ber erften Hälfte des Werks, den handfchriftlichen 
Schatz benugen können, der fi aus dem Nachlaß U. W. 
Schlegel’8 in den Händen Eduard Böcking's in Bern be- 
findet. Namentlich für den Anhang, für einen Anbau 
von Ergänzungen und Berichtigungen konnte er diefen 
Schat benuten. Ueber die Schlegel haben wir bisher 
noch nie fo genaue Auskunft erhalten. Das ganze zweite 
Bud) ift ihnen gewidmet, aber auch das eingehende fünfte 
Kapitel des dritten Buchs, in welchem A. W. Schlegel’s 
berliner „Borlefungen‘ ausführlich und zum erften male 
analyfirt werden. Die Schlegel waren die Doctrinärg 
und Programmfchreiber der romantifchen Schule. U. W. 
Schlegel erfcheint auch bier im ganzen maßvoller und 
liebenswürdiger als ber Erfinder „der göttlichen Frechheit‘, 
Friedrich Schlegel, defien Anmaßung mit poetifcher 
Ohnmacht gepaart war, der aber allerdings an Wit 
und genialen Einfällen, an revolutionärem Trieb und 
Drang dem Bruder überlegen war. Cine Über von 
Sriebrih Schlegel finden wir in Heinrich Heine wieder, 
eine andere in den berliner Yungbegelianern, Edgar Bauer 
u. a., welche die freche Doctrin auf ihr Banner gefchrie- 
ben hatten. Die Anfänge der beiden Schlegel hängen 
aufs engfte mit unferer claffifchen Literaturepoche zu⸗ 
ſammen. 4. W. Schlegel's Recenflonen in ber „Literature 
zeitung” zeigten indeß bereits einen vielfach abweichenden 
Standpunft: 

Die Bertrautheit mit der poetifchen Literatur der modernen 
Böller brachte nicht blos eine ſchätzbare Erweiterung des Geſichts⸗ 
freifes unjers Kritilers Über den Hellenismus Goethe’ und 
Schillers mit fi, fondern fie drohte, im Zufammenhang mit 
der Ueberfchägung des Yormellen und der formalen Phantafie- 
thätigfeit, feine äfthetifhen Principien allzu meit und weich zu 
machen. Doc das nicht allein waren bie Urfachen einer Ber- 
ihiebung feines Standpunktes, Perfönliche Verbältniffe und 
Eindrüde wirkten wefentlih mit. Am meiften und unmittel- 
barften das Berhältnig zu feinem Bruder Friedrich. Schon 
im Auguft 1796 war diefer von Dresden gleichfalls nach Jena 
iibergefiedelt. Der neue Ankömmling wurde zum Störenfrieb. 
Durd feine ungefhidte und rückſichtsloſe Weiſe geſchah «6, 
daß zwilchen den beiden Schlegel und Schiller eine Spannung 


677 


eintrat, die nicht wenig dazu beitrug, die Stellung auch des 
älteru der beiden Brlider zu dem Goethes Sciller’fchen Claſſicis⸗ 
mus zu verändern umd die fih bald in der ganzen literarifchen 
Haltung deffelben abfpiegeln jollte. 

Gerade das Berhältnig der Schlegel zu Schiller, 
welchem ein ganzes Kapitel des Anhangs gewidmet ift, 
zeigt die Hohlheit eines aus perfünlichen Rüdfichten ver- 
götternden -und abfallenden Journalismus, In jener 
erften Epoche iſt Friedrih Schlegel ein entfchiedener 
Bewunderer des Schiller'ſchen Geiſtes. Später findet er, 
daß Schiller bei allem geiftigen Gehalt doch abgeriffen und 
unnatürlich fei, doch ehrt er noch in ihm den großen 
Dann. Der ältere Bruder, der fir die philoſophiſch⸗ 
fritifchen Arbeiten Schiller’8 gar feinen Sinn hatte, zog 
fogar ſchon Bürger’s Naturalismus vor. Allmählich wird 
aber auch für Friedrich Schlegel der Dichter Schiller 
dur” Goethe verdunkelt. Der Bruch war durch bie 
Recenjententhätigleit der Brüber gegeben. Der ültere re⸗ 
cenfirte die „„Doren‘, der jüngere den „Muſenalmanach“. 
Der letztere vermißte in der Recenſion des Bruders die 
„sententius vibrantes fulminis aestas‘, er meint, eine 
Recenſion müffe, um e8 lucrezifch zu fagen, tota novum sal 
fein. Gleichwol wünſchte Friedrich Schlegel noch bei 
Schiller in Gnaden zu bleiben, um die Mitarbeiterſchaft 
an den „Horen“ nicht zu verlieren. Schiller nahm indeß 
einen Aufſatz über „Cäſar und Alerander” für die „Horen“ 
nit an. Dadurch wuchs die Verftimmung gegen Schiller, 
den er früher mit Pindar verglichen, dem er „Stärke 
der Empfindung, Hoheit der Gefinnung, Pracht der Phantafle, 
Würde der Spracde, Gewalt des Rhythmus“ nachgerühmt 
hatte. In den „XZenien” geifelte Schiller das „geniale 
Gefchleht der Sonntagskinder“, die „gefährliche Nach. 
folge” u. ſ. f. Damit war der Bruch ausgefprocen. 
Ueber den Prolog zu Schillers „Wallenftein‘, der im 
„Mujſenalmanach fir 1799” erſchien, fagt Friedrich 
Schlegel: 

Ras Schiller betrifft, fo bewundere ih nächſt der beiden 
miütbigen Selbfientäußerung in bem Goethe'ſchen Prolog, ber 
mir wie eine ausgehöhlte Fruchthülſe vorkommt, nichts fo fehr 
wie die Geduld. Denn einen ſolchen laugen Draden in Pa- 
pier, in Worte und Reime auszufchniten, dazu gehört doch eine 
impertinente Geduld. Uebrigens erinnert mich fein Glück an 
fein Unglüd, daß ihm die äfthetifchen Briefe nicht rein heraus⸗ 
famen und geftört wurden. Die fteden ihm nun im Geblüte 
und die ganze Würdeanmuth ift auf die innern Theile gefallen. 
Auch vergeht felten eine fange Zeit, daß er fich nicht einiger 
Gedichte, die äſthetiſcher als dichterifch find, Luft macht. Weun 
das eine Eilftel feines „Wallenftein‘‘ fo Göthesk iſt wie der 
Prolog, fo bin ich auf alle eilf Eilftel nicht fehr begierig. Ich 
kann mir denken, daß eine ſo angeſtrengte Nachahmung bei dem 
Spiel und Anblick und erſten Eindruck täuſcht: aber beim Leſen 
muß dann die Tauſchung wegfallen. Ich hatte gehofft, er würde 
etwa im Dreißigjä eigen Brlege eine Mittelgattung zwifchen feiner 
alten und neuen Tollheit entdeden. 

Später ftellt er ihn neben Jacobi und betrachtet ihn 
ale den Don Duirote von Goethe, wie diefen als den 
don Fichte; er wundert fich über „die Nachficht der Großen 
gegen diefe beiden‘ und hält „dieſe beiden halbirten Don 
Duirotes Jacobi und Schiller fiir die vornehmften Re⸗ 
präfentanten bes böfen Princips in der beutfchen Literatur”. 
Es gehörte in der That eine göttliche Frechheit dazu, 
gegen bie eigenen frühern Urtheile folde Impietät zu be 
weifen: der große Mann von 1793 verwandelt fich ſchon 


— — — —— 


ne 


678 Die romantifhe Schule in neuer Beleuchtung. 


1799 in einen Don Quirxote. Friedrich Schlegel 
vertritt das böfe Princip des deutſchen Journalismus, 
das eine große Nachkommenſchaft aufzumeifen hat: bie 


Schlechte Wandelbarkeit der Anfichten aus perſönlichen 


Motiven. 

Die Begriffsbeftimmungen der romantischen Poeſie, die 
man anfangs einfach für Romanpoeſie fegte und in denen 
Friedrich Schlegel befonders unermübli Mar, mag man 
in Hayın’d Werke felbft nachlefen. Im November 1797 
fchrieb Friedrih an Wilhelm: „Meine Erffärung des Wor⸗ 
tes romantiſch Tann ich dir nicht gut ſchicken, weil fie — 
125 Bogen lang if.” In ber That blieb der Begriff 
ein ſchwankender, auch nachdem er längſt ein literarhiftorifches 
Stichwort geworden war. 

Die Darftellung der Blütenzeit der Romantik beginnt 
mit einer Charakteriſtik Hölderlin's, der als ein Seitentrieb 
ber „romantifchen Poeſie“ gefchildert wird; man Fünnte 
ihn mit gleichem Recht für einen Seitentrieb der claffifchen 
Schule erflären; denn das Fieber der Gräcomanie war 
body nur eine Lebertreibung biefer Richiung. Bor allen 
Dingen aber ift Hölderlin als Lyriker durdy den Adel 
der Runftform, den vollen Guß und fchlanfen Bau feiner 
Gedichte geradezu als ein Jünger Schiller's zu bezeichnen 
und den Romantifern bei weitem überlegen. Webrigens 
hätten wir in dem Sapitel eine häufigere Rüdfichtnahme 
auf Alerander Jung's treffliches Werk über Hölderlin 
gewünfcht, das nur einmal in einer Note erwähnt wird. 

Mit befonderer Vorliebe ift Novalis behandelt, in der 
That der poetifch begabtefte Romantiker; das Triebwerk feines 
Geiſtes charakterifirt Haym in folgender Weife: 

Sein unverborbenes I fein reizbarer Sinn wirb von 
irgendeinem Eindrud, einer Erjcheinung in Beſchlag genommen, 
Sofort ftreift fein Enthuflasmus dem Gegenftanbe alles Uwoll⸗ 
fommene ab; fein Tiebendes Auge flieht nur die Bolllommenbei- 
ten; die Liebe beflicht feinen VBerfland nnd erwärmt feine Ein⸗ 
bildungstraft; er kann nicht anders als unbebingt idealifirem, 
um unbedingt glauben, lieben und verehren zu können. In 
dieſem kindlich⸗ unſchuldigen Berehrungsbedlirfniß ruft er uns 
wieder Wadenroder in Erinnerung. Den Zug in die Höhen 
bes Ideals theift er mit Hölderlin, aber der Glanz feiner eigenen 
Gefichte Schlägt ihn nicht, wie diefen, nieder, fonbern hebt ihn 
wie auf leichten Wollen empor. Auch bei einem ganz andern 
Manne endlich, bei Friedrich Sälegel, haben wir dieſe Sucht, 
das Bedingte willfürlih und im Augenblide zum Unbebingten 
u fleigern, angetroffen. Wirklich begegnen fid an biejem 
untte die beiden Freunde fortwährend; fie find nur darin 
gänzlich verjchteden, daß jener zur Verfeſtigung feiner Unbe- 
dingtheiten Fein anderes Mittel ale den pointirenden Berfland 
bat, während biefer bie Erzeugniffe feiner Schwärmerei im 
Herzen trägt und fie glänzend mit den Fäden feiner Phantafte 
umſpinnt. 

Die Fichte'ſche Grundlage des Gedankenſyſtems von 
Novalis wird einleuchtend dargelegt, ſein „Heinrich von 
Ofterdingen“ eingehend analyſirt und namentlich die Be⸗ 
ziehungen des Helden auf Novalis' eigene Lebensſchickſale 
überzeugend hervorgehoben. Novalis war in Bezug auf 
urfprüngliche Infpiration ohne Frage der begabtefte unter 
den poetifchen Denkern der romantischen Schule. 

Zwei intereffante Abfchnitte behandeln Schleiermacher 
und Schelling und ihre Beziehungen zur Romantik. 
Was den erftern betrifft, fo tritt das Bild dieſes eigen- 
artigen Dannes, in welchen ebenfalls eine fo ftarfe re- 
volutionäre Ader und die Meigung zu „allerlei Teufeleien“ 


fo lebendig mar, hier in fehärfern Umriſſen vor uns bin, 
als fie jonft in feinen Idealporträts beliebt werden, und 
zwar nicht durch Urtheile des Berfaflers, ſondern durch 
die Oruppirung der Meinungen und die Analyje ber 
Werke de8 Theologen felbft. 

Die Rolle, welche die Frauen in ber romantifchen 
Schule fpielm, ift feine unbedeutende; die „Wreigeifterei 
der Leidenfchaft” war im Schwang. Der Dichter ımb 
der Ereget ber „Lucinde” beweifen zur Genüge, daß 
fie jeder Prüderie fremb waren. Henriette Herz war 
Schleiermacher's und Friedrich Schlegel's Mufe. Doro- 
then Veit, mit welcher ber lettere fpäter lange in freien 
Berhältniffen lebte, und Karoline Böhmer, erſt Auguft 
Wilhelm Schlegel’s, fpäter Schelling’8 Gattin, Iebtere 
namentlich nicht ohme Literarifche Begabung, vertreten das 
„ewig Weibliche”, wozu indeß minder begeifterte Sterbliche 
auch den Klatſch und die Intrigue rechnen, in einer 
im ganzen unerquidlichen Weiſe. Der rothe Faden bie 
fer weiblichen Einflüffe läßt ſich durch die Kapitel ber 
Haym'ſchen Schrift hindurch verfolgen. 

Neben Schleiermadher wird eine originelle, wenig be» 
kannte Perfönlichkeit der Schule, U. 2. Hülfen, charaf- 
terifirt, fowie neben Schelling, befjen naturphilofopgifche 
Schriften fowie das Identitätsſyſtem eingehend beſprochen 
werden, I. W. Ritter und Hemif Steffens. Die Soli- 
barität der Naturphilofophie mit der neuen Poefie und 
Kritik trat befonbers hervor, als Schelling die Poeſie für 
das Höchfte und Letzte erklärte. Durch das Ydentitäts« 
fuftem langte Schelling auf der Höhe der romantifchen 
Tendenzen an. Haym fagt hierüber: 

Es verbindet nicht nur den Fichte'ſchen Idealionus mit 
der Goethe'ſchen Poeſte, fonbern es wird zugleich dem im der 
letztern enthaltenen Moment der Naturanjhaunng gerecht. Bon 
allen Elementen der Romantik fehlt nur das miyſtiſche, wie es 
borzugsweife durch Schleiermacdher vertreten wurbe — jo body, 
bag in meiterer Entwickelung auch Schelling fi demfelben 
nicht entziehen konnte, während umgelchrt Schleiermacher, unter 
Steffens’ Einfluß, zur Anlehnung an die objectivere Welt⸗ 
auſchauung und an bie ſymmetriſchen wiſſenſchaftlichen Figuren 
Schelling's gedrängt wurde. Erſichtlich iſt ferner, wie ſich das 
Sdentitätsiyften auf halben Wege mit der Theorie und Praxis 
der Schlegel begegnete. Stärker auf die Seite Fichte's neigend, 
lehrte Friedrich, daß der wahre Dichter mit hefler, transicen- 
bentaler Bewußtheit bichten müſſe. Stärker auf die Seite 
Goethe's neigend, lehrte Schelling, daß der wahre Philoſoph 
bie ganze Welt wie ein Poem mit bichterifgem Auge anfehen 
müſſe. In den Dichtungen der Schlegel wurde bie poetifche 
Empfindung an die Heflerion, die Schönheit der Gemüthe⸗ 
bewegung an die formelle Kunft verrathen. Iu dem Syſtem 
des Identitätsphiloſophen wurde das wiflenfchaftliche Erkennen 
durch Poefie verborben und die Poeſie hinwiederum zur ab⸗ 
firacten Formel heruntergebradht. Aber e8 war eine Univerjal- 
formel. Zugleich ein Seiten- und ein Gegenftlid zu ber roman» 
tifchen Poefie mie zn der romantifchen Religion und Ethik, war 
das Identitätsfgftem gleichſam eine Eodiflcation des Geiſtes ber 
Romantif Überhaupt. Es vomantifirte das ganze Univerfum. 
Es war wie ein philoſophiſcher Auszug und wie das allgemeine 
Programm jener Univerfalpoefie, welche Friedrich Schlegel ge- 
fordert Hatte, und war zugleich die Berwirklichung jener Ench⸗ 
fopädie, welche dieſem fowol als Hardenberg im Sinne lag. 
Wie von einem höchſten Gipfel liberfhanen fih von biefem 
Syſtem ans die ſich begegnenden, fich frenzenden und ergänzen. 
ben Beſtrebungen des ganzen romantiſchen Kreifes. ine un⸗ 
baltbare und vergängliche Bildung, im Entflehen ſchon zerfallend, 
war es nit weniger eine nothwendige und epochemachende Er⸗ 
Iheinung. Ein Denkmal fieht es da für die Innere Berechtigung, 








Ein neuer Band der „Anthropologie der Naturvölker“. 


ein Zeugniß ift e8 durch feine fpätere Geſchichte für das Schickſal 
der Romantik geworben. 

Das letzte Kapitel: „Befeftigung, Ausbreitung und 
Bertheidigung des romantischen Geiſtes“, zeigt uns zunächft 
die raftlofe Journalproduction Friedrich Schlegel’s; die 
verſchiedenen Projecte und Plane, der „Alarcos“, dieſes 
romantifche Monftregedidht, das Gefpräcd über die Poeſie, 
die Rede über die Mythologie werden uns eingehend 
vorgeführt — wir bewegen uns bier in bem Gebiet des 
Poetifch - Paradoren, einer Titeraturrevolution mit ewig 
mechfelnden Stihwörtern. Selbft das romantische Dogma 
von her Yronie, die im Wechfel mit Enthuſiasmus für 
die Seele der Romantik galt, wird umgebogen in das 
non der allegorifhen und didaltiſchen Deftimmung der 


Poefie. 

A. W. Schlegel als der Praktiker der Schule wird 
zunächſt als Dichter gewürdigt. Bei dieſer Gelegenheit 
wird der Schlegel⸗Tieck'ſche Muſenalmanach mit Recht 
einer ſcharfen Kritik unterzogen; er iſt der ausgeſprochene 
Bankrott der romantiſchen Schule auf dem Gebiet der 
Lyrik. Die ansgebreitete Thätigfeit der Schlegel in ben 
verjchiedenften Zeitfchriften, dem „Athenäum‘, ber „Al- 
gemeinen Titeraturzeitung‘, der „Erlanger Literaturzeitung“, 
die poetifchen und Theaterzeitungen Bernharbi’s und Tieck's 


679 


zeigen einen raſtloſen Trieb der Propaganda. Doch weit 
wichtiger find die bisher unbelannten Borlefungen A. W. 
Schlegel's; man wird fie in Auszug bier mit Onterefie 
verfolgen. Schlegel erfcheint hier klarer in feinen Be⸗ 
griffsbeftimmungen, vielfeitiger in feiner literarhiſtoriſchen 
Würdigung, als dies in feinen andern Schriften, mit 
Ausnahme feiner ‚ Borlefungen über die dramatifche 
Literatur” der Fall iſt. Intereſſant ift der nähere Nach⸗ 
weis, wie die germaniftifche Wiffenfchaft aus der roman⸗ 
tifchen Schule hervorgegangen iſt. Der Anhang enthält 
Näheres über die Jugendgeſchichte Friedrich Schlegel’, 
über die erſte Berührung ber beiden Schlegel mit Tied, 
über die Gründung und Fragmente des „Athenäum“, 
* W. Schlegel's Urtheil über das Nibelungenlied u. 
m. 


Das Werk Haym's iſt jedenfalls ein Schatz für den 
Literarhiſtoriker, der hier die Bewährung eingehenden 
Quellenſtudiums in geiſtreichen Entwickelungen und Grup⸗ 
pirungen findet, aber auch für das größere Publikum 
anziehend durch eine geiſtreiche, doch nie ſpringende Dar⸗ 
ſtellung, welche uns das Bild einer Literaturepoche, 
wenngleich nur in ihren Anfüngen, mit anziehendem 
Pragmatismus entrollt. 

Rudolf Gottſchall. 


Ein nener Band der „Anthropologie der Naturvölker“. 


Anthropologie der Naturvolker. Bon Theodor Waitz. Mit 
Benutung der Borarbeiten des Verfafſere fortgejegt von 
G. Berland. Hlnfter Theil: Die Völker der Südſee. 
Ethnographiſch nnd culturhiftoriih dargeſtellt. Mit einer 
Karte. Leipzig, Fr. Fleifher. 1865-70. Gr. & 3 Täler. 

Umüberfteigliche Hinderniffe haben das Erjcheinen der 
Schluflieferung des fünften Theils dieſes wichtigen Werks, 
deflen vier erfte Theile in den Jahrgüngen 1859 — 64 
d. BL beſprochen worden find, bisjegt verzögern laſſen. 
Wir begrüßen die Vollendung bes vorliegenden fünften 
Theil um fo mehr, als auch der fechste und letzte be⸗ 
reits fih unter der Preffe befindet und noch im Laufe 
des gegenwärtigen Jahres ausgegeben werden fol. Der 
fünfte und feste Theil behandeln die Bölter der Süd⸗ 
fee, der erſtere namentlich die Malaien, die Mikroneſier 
und nordweſtlichen Polgnefier, und die legtern beiden 
Böllergruppen find felbftändig, jedoch im Geifte und in 
der Haltung bes Leider fo früh verftorbenen Theodor Waig, 
von ©. Gerland bearbeitet. 

Waitz ſpricht ſich im Eingang feiner gründlichen Yor- 
ſchung gegen die Anfiht von Crawfurd aus, die Malaien 
als den wahren Typus und urfprünglichen Stamm zu 
betrachten, aus welchem die verwandten Völker des Indi⸗ 
fchen Archipels und Stillen Dceans hervorgegangen wären, 
weldge vielmehr wie bie Malaien als Abzweigungen eines 

emeinfhaftlichen ältern Stammes anzufehen find. Die 
prachen ber Südſee-Inſulaner find nicht aus der malati= 
ſchen entftanden, fondern Haben einen mehr urfprünglichen 

Typus und alterthümlichen Bau bewahrt; . wegen ihrer 

Ifolirtheit find die Polgnefier auf einer frühern Stufe 

chen geblieben, Waitz faßt fie und die Malaien der 


oftindifchen Infeln als malaiifche Raſſe zufammen und 
betrachtet fie al8 deren beide Hauptabtheilungen. Für die 
Bevölferung der oftindifchen Inſeln durch die Malaien 
vom aſiatiſchen Kontinent ans fprechen Feine Biftorifchen 
Thatfachen, und doch Bleibt kaum eine andere Annahme, 
wenn man nicht für fie ein eigenes Schöpfungscentrum 
im Indiſchen Archipel behaupten wil. Verwerflich ift 
ber Berfuch mancher Gelehrten, die Bevölkerung der in⸗ 
diſchen Unfeln von denen des Großen Oceans herleiten 
zu wollen, indem alle Umftände darauf deuten, daß Poly- 
nefien von Welten ber bevölkert worden ift; auch feine 
Eulturpflanzen und wenigen Hausthiere weifen auf Aſien 
bin. Nah Buſchmann fehlen in den Sprachen der Poly⸗ 
nefter fandkritifche Elemente, welche die malaiiſchen Spra⸗ 
hen befigen und die man felbft noch in den Sprachen 
der Zagalen und Madegafien, obfchon in geringer Zahl 
findet. Die Polyneſier müſſen fi aljo von dem gemein- 
ſchaftlichen Urſtamm zu einer Zeit abgelöft haben, als auf 
diefen noch keine Einwirkung des Sanskrit flattgefunden 
batte, nämlich vor dem Anfang der chriftlichen Aera. 


Wilhelm von Humboldt theilte die Sprachen der ma, 
laiiſchen Völker in drei Klaſſen: jene der Polynefier, der 
Tagalen und Madegaſſen, und die der eigentlihen Dia- 
laien. Leyden, deſſen Eintheilung von Lajjen angenommen 
worden ift, ftellte hingegen folgende Gruppen auf: 1) Die 
Sprache der Bewohner von Malakka, welche viele für 
die echten und urfprünglichen Malaien halten und die bei 
ihrer Einwanderung in Malalla nad) der Angabe ihrer 
Annalen („Sejara Malayu‘) feineswegs die Siamefen im 
Defig des Landes gefunden zu haben fcheinen, und weil 





680 


fie deshalb auf Heinen ernfllichen Widerſtand ftiefen, 
eine Anzahl Staaten dafelbft gründeten, welde ihre Be- 
pölferung meift von Menanglabao, dem Hauptlande der 
Malaien auf Sumatra, und zwar im 13. Jahrhundert 
erhielten. Jedoch trafen fie in Malakla auf tieferftehende 
malaiiſche Stämme, von deren Herkunft man nichts weiß, 
und die durch fie von ben Küften in bas Innere gedrängt 
wurben. Diefe Stämme, weldye man ald Drang-Benua, 
Binna oder Binuma zufammenfaßt, find vielleicht bie 
zeinften Repräfentanten des urfprünglichen Malaienthums. 
2) Die Sprachen der Malaien von Sumatra, wo file bie 
Hauptvölfer bilden als Atjinefen, Battas, Küftenmalaten, 
Redjangs und Paſſumas, Lampongs. Eine mit indifchen 
und mohammedaniſchen Zufägen vermiſchte Sage führt 
die Abftammung der Sönige von Menangkabao auf den 
Halbgott Ikſander, d.5. Aleranber den Großen zuritd. Von 
Jaba ber erfolgte eine fehr ftarfe Einwirkung, namentlich 
auf den jüdlichften Theil von Sumatra. 3) Die Sprachen 
auf Java, wo die malaiifche Eultur ihren höchſten Gipfel 
erreicht bat, alfo jene der Sundanefen und Javaneſen 
im engern Sinne, von welchen die legtern die gebildetern 
find und viel mehr Sanskritelemente enthalten als die 
fundanefifhen Idiome. Namentlich haben die brahmani« 
ſchen Einwanderer aus Vorderindien feit den erften Jahre 
hunderten der chriſtlichen Aera ungemeinen Einfluß auf 
die Entwidelung der Civilifation von Java geübt. 4) Die 
Spraden von Borneo ober jene ber Dajals, für beren 
eine wenigftens der malatifche Charakter ficher erwiefen 


iſt. Borneo fol in früherer Zeit in drei große Reiche 


getheilt gewefen fein, unter welchen das Reich von Bruni 
bei der Ankunft der Europäer auf der Höhe feiner Macht 
- Hand, wofelbſt fie die Cultur von Malallka und eine glän- 
zende Hofhaltung fanden. 5) Die Sprachen der Sulu⸗ 
infeln, welche von den malaiifchen fehr abweichen, aber 
dem Bifaya auf einem Theil der Philippinen fehr nahe 
verwandt oder fogar mit diefem identifch find; das Ta⸗ 
gala, die Hauptjprache der Philippinen, fol unter allen 
malaüfchen Idiomen die ausgebildetfte Grammatik haben. 
Indiſche Eultur wirkte durch Vermittelung von Malaien 
oder Javaneſen fchon früh auf die Philippinen ein. 6) Die 
Sprade von Celebes, nämlich das Bugi, das Malaflar 
und Manbhar, welche nebft den Sprachen bis über Timor 
hinaus gleichfalls zur malatifchen Gruppe gehören. 7) Die 
Sprachen der Moluffen, obſchon noch malaiiſch, find jehr 
ftark mit fremden Elementen verfegt. Auf Amboina und 
den benachbarten Inſeln wurden die urfprünglichen Spra⸗ 
hen durch malaiifche Idiome von Weiten kommender Ein- 
wanderer verdrängt. Malaien finden fi auch auf Ceylon, 
zweifelhaft find fie auf den Nilobaren. 8) Auf Mabagas- 
far fol nur eine Sprache berrjchen, welche zum malaii- 
fhen Stamm gehört und wahrſcheinlich durch javanifche 
Einwanderer zu einer Zeit bahin gelommen ift, wo in- 
difhe Eultur noch nicht nad) Java gedrungen war, in⸗ 
dem das Madagaſſiſche nur wenige Sanskritworte enthält. 

Die phyſiſche Befchaffenheit der malaiifch- polyneftichen 
Bölfer weicht bedeutend ab, und es ift kaum möglich, eine 
treffende allgemeine Charakteriſtik berfelben zu geben, wie 
eine folche jedoch Hombron in d'Urville's Reiſewerk zu 
geben verfucht hat. Das Richtige fcheint Yvan getroffen 
zu haben, wenn er diefe Völker fir einen Mitteljchlag 


nn 


Ein neuer Band der „Anthropologie der Naturvölker“. 


zwifchen der Taufafifchen und Negerrafje erklärt, obſchon 
infolge von Miſchungen mit aſiatiſchen Völkern es bei 
ihnen an mongolifhen Zügen nicht fehlt. Den malaii- 
chen Völkern fcheinen als Urbevölferung des Indiſchen 
Archipels ſchwarze kraushaarige Völker voransgegangen zu 
fein, welche nie eine höhere Cultur erreicht haben, von 
denen fih Spuren am norböftlichen und am nordweſt⸗ 
lichen Ende der Malaienländer finden und zu welden 
auch die Heinen fchwarzen kraushaarigen Stämme des 
Bindjhagebirgs in Borberindien gehören. Selbft auf 
manchen der großen Inſeln zeigen fich zwifchen ben ma- 
lauschen Völkern bedeutende phufifche wie nicht minder 
eiftige Unterfchiede, wie namentlih auf Java zwifchen 
Sabanefen und Sundanefen; unter den Bifayas der 
Philippinen fol e8 ganz weiße rauen geben. 

Die Eulturverhältniffe der malaiifchen Völker laffen die 
größte Abftufung wahrnehmen, indem bie einen auf fehr nie- 
dern Stufen ftehen geblieben find, die andern ſehr Hohe er- 
reicht haben, welche Unterfchiede fich, abgefehen von ben 
geichihtlichen Schidfalen diefer Bölker, theild aus dem geo- 
graphiſchen und Himatifchen Berhältniffen, theils aus ber 
Einwirkung erflären, welche Inber, Chinefen, Araber und 
Europäer auf fie geübt haben. Die älteſten Hiftorifchen 
Sagen finden ſich gefammelt in den „Sejara Malayu“, und 
nad) ihnen Hätten die Malaien in Borderindien ihren Ur- 
fprung gehabt. Ein indifcher Fürftenfohn aus dem Stamme 
Alexander's des Großen fei aus feinem Baterlande zu der 
Zeit, als das Sanskrit in voller Blüte fland, andgewan- 


dert, babe mancherlei Länder befucht und zulegt das Reid 


von Menanglabao auf Sumatra geftifte. Sri Zribuane 
gründete im Jahre 1160 n. Chr. Singapura und fett 
dieſer Zeit hieß die Halbinjel Malakka Tanah Malayu, 
das Malaienlend. Im Yahre 1252, nad) Eroberung 
Singapuras durch bie Javanen, gründeten die Malaien 
das mächtige Reich Malakla, und die bortigen Fürſten 
nahmen im Jahre 1276 den Yelam an — alles Anga- 
ben, bie jedoch nur bis auf einen gewiflen Grab glanb- 
würdig find, ba bie „Sejara Malayu“ erft kurz nach bem 
Jahre 1612 niedergefchrieben wurden. Sumatra iſt wahr- 
ſcheinlich von Indien ber colonifirt worden und andy bie 
altjavaniſche Cultur ift indiſch. Menangkabao war ber 
älteſte und berühmteſte Malaienſtaat und die nad Su- 
matra verpflanzte indiſche Cultur ging von da auf Me- 
lakka über, wo mit der Belehrung zum Islam erſt bie 
eigentlich Hiftoxrifche Zeit der Malaien beginnt, die fid 
dann dur Handel und Eroberung über den ganzen in- 
difchen Archipel verbreiteten. Am glünzendften entfaltete 
fih die Macht und Cultur der Malaien in 16. Jahr 
bundert in Malafla, Atjin und Bruni unter Einwirkung 
indifcher und arabifcher Elemente. 

Sifcherei, Handel und Seeraub waren von alter® her 
Lieblingsbefchäftigungen der Malaien, welche mit Landbau 
und Viehzucht fich viel weniger abgaben. Ihre Nahrung 
befteht Hauptjächlih aus Vegetabilien, namentlich eis, 
dann aus Fiſchen. Waig gibt don ihrer Xebensweife, 
ihren Sitten, Bamilienverhältnifien, politifcden und reli- 
giöfen Berfaffungen ausführliche Nachricht; aber die alten 
Einrichtungen find unter der Einwirkung der Holländer 
in fortwährendem Verfall begriffen. ‘Die Malaien-Sul- 
tone auf Borneo find übrigens zu habfüdhtigen umb 





Ein neuer Band der „Anthropologie der Naturvölker“. 


wollüftigen Tyrannen geworben, welche zunächſt die Reichen 
und Vornehmen bebrüden, die fi dann wieder durd) 
Erprefiungen am Volke ſchadlos Halten. Die heiße Leiden- 
fhaftlichkeit des malaiifchen QTemperaments in der Liebe, 
wie im Haffe und der Race find befannt und finden 
auch in dem fogenannten Amoflaufen einen Ausbrud, wo 
einzelne, von blinder Wuth ergriffen, fortftürzen und alles 
niedermadhen, bis fie felbft, wilden Thieren gleich, erlegt 
werden. Wait fchlägt offenbar bie geiftige Begabung ber 
Malaien etwas zu hoch an, während Crawfurd von ihnen 
bemerkt, daß auch die audgezeichnetften nicht über die 
Mittelmäßigfeit civilifirter Europäer binausreichen, und 
jedenfalls fo viel richtig ift, daß fle Fremdes zwar ziem- 
fich leicht fi) aneignen Fünnen, aber faft nichts Eigenes 
hervorgebracht haben. Bei manchen, namentlich den Bat- 
ta8, ift der Kannibalismus eine fehr alte Inftitution und 
hängt mit dem Rachegefühl zufammen, weldes durch eine 
Beleidigung oder ein Verbrechen hervorgerufen wird. 

Aus der Vorrede der von Gerland bearbeiteten Schluß- 
Iieferung des fünften Theil erfährt man, daß es ‚nur 
möglich war, in demfelben die Schilderung der Mikro⸗ 
nefier zu geben und die allgemeinen Borfragen für Poly- 
neflen zu erörtern, ſodaß ein fechster und legter Band 
die fpecielle Schilderung der Polynefier, Melanefier und 
Auftralier enthalten fol. Wenn ©. vı gefagt wird, daß 
das Wert von Waig „bie Grundzüge der Lehre Darwin’s 
und ihre wichtigften folgenfchwerften Conſequenzen auf das 
allerbedeutfamfte und fchlagendfte beftätigt und ergänzt”, 
ferner ©. vı und x, daß es als Grundlage einer fpätern 
Philoſophie, beziehungsweiſe Religionsphilofophie, für wel- 
chen Zweck eigentlich Waitz ſeine große Arbeit unternahm, 
dienen werbe, fo Tünnen wir unſere Uebereinſtimmung 
mit diefen Behauptungen nicht ausfprechen. Das Grund⸗ 
prineip der Darwin'ſchen Lehre ift die Entwidelung neuer 
Arten aus den alten durch Trangmutation dieſer legtern, 
und deren äußerſte Confequenz ift das Hervorgehen des 
Menfchen aus niedrigern, refpective thieriſchen Formen. 
Bir lernen in diefer Beziehung aus Waig’ Werke nur, 
was man fchon lange wußte, daß niedriger und höher 
organifirte Bölfer in den mannichfachſten Abftufungen 
nebeneinander eriftiren und auch früher eriſtirt haben, 
aber nichts, was für Darwin’s Theorie, nichts, was gegen 
ſie ſpräche. Und wenn der ſelige Waitz die „Anthro⸗ 
pologie der Naturboller“ deshalb zu ſchreiben unternahm, 
um eine fefte Grundlage für die Philofophie, namentlich 
die Religionsphilofophie zu gewinnen, fo hat derfelbe einen 
ſehr weiten und wie uns bünft unndthigen Umweg ge- 
nommen, indem alles für dieſen Zwed Nothwendige ſchon 
gefammelt und vorbereitet, größtentheils aud) ſchon ver. 
werthet ift. Das große Verdienft von Waitz befteht darin, 
daß er die Ethnologie ber Naturbölfer nad den umfaf- 
fendften Studien in einer Bollftändigkeit und Ueberſichtlich- 
keit dargeftellt hat, wie früher nicht gefchehen if, und fo 
können wir mit Freuden ben büftern Worten, bie er nad) 
S. xu in feiner legten Krankheit geſprochen, entgegnen: 
Nein, fein Leben war fein verlorenes, voll Arbeit zwar, 
aber nicht ohne Wirkſamleit, welche freilich nur allmählich) 
ihre Früchte bringen wird. 

Serland unterfcheidet als brei Hauptgruppen der poly- 
nefifchen Völker: die Mikronefter im Nordweften, den Ma⸗ 

1870. 4. 


681 


laien näher ftehend; die Bolynefier im engern Sinne im 
Dften, ben Samoa» und Zongn-Ardipel, Neufeeland, 
die Coofsinfeln, die Gefellfchafts-, Auftral- und Baumotu- 
infeln bis zur Ofterinfel, die Markeſas⸗ und Sandwid)- 
infeln u. f. w. bewohnend; endlich den Fidſchi⸗Archipel mit 
theilweife melanefifcher Bevölkerung. Manche betrachten 
Polynefien als die Reſte eines verſunkenen Continents, 
und auf den Slarolinen dauert die Senkung jest nod) fort. 
In ganz Polynefien finden fich Feine Metalle und auf 
den meiften Infeln als Baumaterial nur Korallenkalkftein, 
in deſſen Hößlungen fi das Regenwaſſer jammelt; auf 
dem ganz waflerlofen Oatafu und im Paumotu-Archipel 
fehneidet man Löcher in die Kofospalmen, um das Regen- 
waſſer darin aufzufangen. Die Armuth an nütlichen 
Pflanzen und Thieren, das häufige Fehlen des Süßwaſ⸗ 
jer®, die öftern Weberflutungen ber niedern Imfeln durd) 
die See, die fteil anfteigenden unfruchtbaren Berge vieler 
hohen Inſeln machen Polynefien höchſt ungünftig für die 
Entwidelung des Denfchengefchlehts; Chamifjo nennt das 
Leben dafelbft eintönig und ermüdend. Die Trennung 
ber Inſelgruppen durch weite Waflerwüften macht ben 
Verkehr fehr fchwierig und läßt in Verbindung mit den 
andern genannten Umftänden böbere Culturſtufen nicht 
erreichen. Nur einige Inſeln, wie Tahiti und Hawaji, 
find mehr begünftigt. Der Mangel anderer befjerer An- 
regungen hat die Neigung zur Wolluft verftärft. Die immer 
fi) gleichbleibenden Umftände haben eine ftaunenswerthe 
Beharrlichkeit der Sitten, Einrichtungen, Sprachen Herbei- 
geführt; Tahitier und Nenfeeländer verfiehen ſich, obſchon 
feit ihrer Trennung vom gemeinfchaftlichen Urftamm Jahr⸗ 
taufende verfloffen fein mögen. 

Unnöthige Schwierigkeiten, um die Einwanderung in 
Polynefien von Weften her unmöglich erfcheinen zu laſſen, 
haben Moerenhout, Crawfurd, Scirren erfonnen, und 
doch deuten alle Umftände darauf; man leugnete den Zu- 
fammenhang ber Polynefier mit den Malaien, und Scir- 
ren wollte für erftere ein eigenes Schöpfungscentrum im 
Großen Ocean annehmen. Flora, Yauna und die Spra- 
chen Polyneſiens weifen auf Aften bin; von den Sunda⸗ 
infeln Haben die Auswanderer da8 Schwein, den Hund, 
die DBorftenratte, dad Huhn nah Polynefien gebradit. 
Bermuthlich ftammen, wie diefes Hombron und Rienzi 
behaupten, bie Bolynefter unmittelbar von den Dajaks ab. 
Dabei ıft durchaus nicht wahrfheinlih, daß fie auf den 
Infeln des Großen Oceans bereit eine negritifche Ur- 
bevölferung vorgefunden haben, wenn auch auf vielen der- 
felben Individuen ſich finden, welche durch dunkle Farbe 
und fraufes Haar an bie Melaneſier erinnern, bei denen 
bie Schiffahrt fo wenig entwidelt war und die kaum je 
größere Seefahrten unternommen haben, Dieſes Borlom- 
men von dunkeln kraushaarigen Individuen erflärt ſich 
viel leichter aus klimatiſchen Einflüſſen und aus ber be- 
deutenden Beränderlichkeit des polynefifchen Typus. Findet 
man ja auch unter den Malaien alle Wbftufungen der 
Farbe vom Hellgelb bis zum Schwarz. Die exfte Bevöl- 
ferung ber eigentlich polgnefifchen Infeln geſchah alfo durch 
die Polynefter, und eine Mifchung mit melanefifchen Stäm- 
men hat allein im Fidfchi-Archipel ftattgefunden. 

Gerland gibt zuerft eine Schilberung der Mifronefier 
und beginnt mit den Marianen, deren Bevölferung burd) 


86 


682 Ein Beitrag zur VBerftändigung des deutfhen Nordens und Südens. 


die Spanier ſchon im Anfang bes 18. Jahrhunderts aus- 
gerottet worden if. Man muß Hierbei jedoch nicht der ⸗ 
geffen, daß den erften Anſtoß zu den Conflicten ein Chie 
neje gab, der marianiſcher Priefter geworden war und 
den Einfluß der einheimifchen Priefter durch bie atholi« 
ſchen Miffionare bedrogt fah; der Fehler diefer Legtern 
beftand darin, die weltliche Macht ihrer Nation zur Ber 
hauptung ihrer Stellung in Anfprud zu nehmen, wie 
diefes Häufig genug im Großen Ocean auch von proter 
ſtantiſchen Sr fionaren geſchehen ift. Uebrigens hat bie 
Ankunft der Europäer in Polynefien auf die Eingeborenen 
wie faft überall verberblich gewirkt, und es find unter 
ihnen tödliche, früger unbefannte Krankheiten ausgebrochen. 
Man Iefe nur, was ©. 163 fg. hierüber gefagt wird. 
Die Tätowirung hat nad) der Verfiherung der Mir 
krouefier eine veligiöfe Bebentung und wird bei den Bor- 
nehmen reichlicher und volltommener ausgeführt, weil diefe 
für „göttlicder“‘ gelten als bie Geringen, ebenfo reichlicher 
bei den Männern als bei den rauen. Die ©. 72 er 
wähnten merkwürdigen Bauwerke in Matalanien, aus 
mädtigen Wälen von Bafaltgeftein mit unterirdifchen 
Gewölben beftehend, find nicht don den ſpaniſchen Ent- 
dedern, fonbern von den Eingeborenen ausgeführt worden, 
was aud von den Steinpyramiden, Terraſſen, Mauern, 
Bildſaulen vieler polyneſiſchen Infeln gilt, von melden 
©. 223 fg. gefprochen wird. Die Bewohner der Maria 
nen waren nicht ohne Beredfamfeit, und die Rede bes 
Chamorri Djoda, womit er feine Landsleute zum Auf - 
ftand gegen die Spanier anfeuerte, wie jene des Hurao 
und Aguarin, zeichneten ſich durch Klarheit und Energie 
aus. Das Eharakterbild, welches Chamiſſo von feinem 
Freunde Kadu, einem Eingeborenen der Karolinen, gegeben 
hat, feheint das mikroueſiſche Weſen überhaupt fehr gut 
auszubrüden, namentlich wenn man noch das Binzunimmt, 
was ©. 104 nad) Hale hierüber gefagt ifl. Wie bei den 
Bolyneftern unter dem Namen Areois, fo gab es auch 
auf den Marianen eine zügellofe Adelslaſte, die Ulitaos, 
welche mit allen beliebigen Frauen im freieften Umgang 
lebten; und wie die Areois die Kinder, namentlich von 
niedern Frauen tödteten, fo war bei den Ulitaos Fünft- 
licher Abortus im Schwang. Sie ftellten zugleich eine 
religiöfe Sekte und geſchloffene Geſellſchaft dar, welche 
den Göttern näher ſtand, und bie üppigen Lieder bei ihren 
Feſten wurden in einer ältern, dem Volle unbelannten 
Sprache gefungen. Wie in Polynefien, fo war auch in 





Mikroneften das niedere Volk feelenlos, ohne Recht und 
Eigentfum, ale Macht in den Händen des den Göttern 
naheftehenden Adels und der göttlich verehrten Könige, 
die mit andern Worten angerebet wurden als die übrigen 
Menſchen und alles Beiligten, was fie berührten. Im 
Segenfag zu Polynefien Hat fih in Mikronefien der 
Annenenltus fehr ausgebildet. Die Marianer glaubten 
an perfönliche Fortdauer, an Paradies und Hölle, gute 
und böfe Geifter; auf den Karolinen gab es Priefter, 
welche mit den Seelen der Verſtorbenen verkehrten, aud 
Krankheit und Tob verurfachten. Das Tabu in Mikro 
nefien unterfcheibet fi vom dem polyneſiſchen durch viel 
geringere Strenge und Allgemeinheit. 

Ruüdſichtlich Polynefiens werden am Schluß diefes 
Theils nur gewiſſe Vorfragen und allgemeine Berhältmifie 
behandelt, während bie ethnologifche Schilderung dem 
festen und Schlußtheile, dem wir mit Berlangen ent ⸗ 
gegenfehen, vorbehalten bleibt. Unter ben Sprachen, welche 
ſich alle fehr gleichen, nimmt das Tonga, welches zugleich 
ein Verbindungsglied mit den weftlichen Sprachen ift, den 
erften Play ein, dann folgen die Idiome von Neufeeland, 
Rorotonga, Tahiti, den Markeſas und zulegt die von 
Hawaji. Nach Hale find die Polynefier von Malaifien 
her eingewandert und haben ſich vom Samoo-Ardipel aus 
über den Großen Dcean verbreitet. Ein fpäterer Aus- 
gangspunft wurde dann Tahiti, von welchem aus Nufu- 
hiva, Hawaji, Paumotu, die Auftral- und Herveyinfeln 
bevölfert wurden. Alle Wanderfagen weifen nach ber 
Samoogruppe, und ber Name von deren Hauptinjel: 
Savaji, kehrt wieder im jeder einzelnen Iufelgruppe des 
Großen Deeans, nur dialektiſch umgeftaltet. Ueber bie 
Zeit diefer Wanderzüge läßt fi Hingegen faum etwas 
Beftimmtes ausmitteln; Miller, welder den Linguiftifchen 
Abſchnitt der Novara-Reife bearbeitet hat, fett die Tren -⸗ 
numg des malaiiſchen und polyneſiſchen Zweige etwa auf 
ein Iahrtaufend vor Chriſtus, weil die malaiifchen und 
javaniſchen Sprachen ſchon im Anfang der chriſtlichen 
Aera ihre jeßige idelung hatten und doch geraume 
Zeit nöthig war, um hierzu von jener Einfachheit zu ge- 
langen, welde bie polynefiichen Sprachen beibehalten 
haben. Gerland weift aber, wie und dünit, mit triffigen 
Gründen nad), daß jene Trennung in einer noch frühern 
Zeit ftattgefunden Hat; die Einwanderung in Polynefien 
vollzog ſich natürlich erft im Laufe mehrerer Jahrhunderte. 

Maximilian Pertp- 


Ein Beitrag zur Verkändigung des deutfchen Nordens und Lüdens. 


1. Nord und Süd. Geographifd-etänographifge Studien und 
Bilder. Als Beitrag zur Berfänbigung allen Gebildeten 
der deutfhen Nation gewidmet, zugleich als Reiſehandbuch. 
Bon Emil Shagmayr. Braunſchweig, Bruhn. 1869. 
©. 8. 25 Nor. 

2. Deutſchlauds Horden und Süden. Geographiige Skigen 
von Emil Schatzmayr. Zweite umgearbeitete Auflage. 
Braunfchweig, Bruhn. 1869. Gr. 8. 20 Nor. 


Mit Abneigung und Groll ſchafft man feine gengra- 
phifch-ethnographifchen Werke, ‘am wenigften ſolche, die 
zur Verfländigung des deutjchen Nordens mit dem Süden 





führen follen, wie das Hier zu beſprechende Buch. Groll 
und Unwillen find vielleicht fr die geharnifchte Poefie 
brauchbare Fugredienzien — facit indignatio versum —, 
allein aus dem Unwillen über einen ganzen beutjchen 
Stamm Tann fi bie ethnographiſche Gerechtigkeit feinen 
Bers und die deutſche Volkskunde Fein Kapital machen. 
Ein merkotirbiges Buch, biefes „Nord und Süb‘'; wie 
es fi in der erften Auflage nennt „ein Beitrag zur Ber- 
ftändigung”, der „allen Gebilbeten der deutſchen Nation“ 
gewidmet ift. Und Hinter biefer Berfläudigung lauert die 





Ein Beitrag zur Berftändigung bes dbeutfhen Nordens und Südens. 


blindefte Wuth gegen den dentfchen Norben, dem wir 
boch immerhin noch etwas mehr als nur dem deutſchen 
Staat verdanken. Welch verfühnenden aufflärenden Ein- 
fluß könnte ein derartiges ethnographiſches Buch Haben, 
wenn es nicht einfeitig nur ben Süddeutſchen feine Liebe 
zumwendete und die Norbbeutjchen nur nah Hören» 
fagen beurtheilte, wie es das vorliegende Opus Emil 
Schatzmayr's thut! Wie Härend könnte bei den fprachlichen 
Kenntniffen und ber richtigen Beobachtungsgabe des Au⸗ 
tor8 fol ein Buch wirken! Aber während Schagmayr 
forgfam in die Schadhte fitddeutfchen Volksthums hinab⸗ 
fteigt und Goldadern und Edelſteine köſtlicher Art darin 
findet, bleibt er Norddeutſchland und fpeciel Preußen 
gegenüber ganz auf der Oberfläche, ohne zu ahnen, welche 
Schätze gerade das tiefangelegte norbdeutfche Bolt für den 
Forſcher germanifcher Sitte und germanifcher Sprache 
birgt.” Er bleibt immer auf der norddeutſchen Ebene, 
graft ein paar Blumen ab, und ba er dabei einige 
Brenneſſeln findet, fo vergißt er nicht, fi dafür zu 
rächen. Der Autor macht, wie auch jein Name anbeutet, 
den Eindrucd eines Sitddeutfchen, dem (wie in ber Vorrede 
zur erften Auflage angedeutet) während feines Studiums 
in Halle ein Unrecht gejchehen ift, da8 er nun den ganzen 
preußtfchen Staat entgelten läßt. Er macht den Eindrud, 
al8 ob er von diefem vielverfpotteten preußifchen Staat 
nichts ale Halle kennt und vielleicht — was zweifelhaft 
bleibt — einen kurzen Einblid in Berlin gethban hat; 
vermöge feines jegigen Wohnfiges Elberfeld ift ihm nie 
derrheinifches und weftfüliiches Vollsthum befannt, da⸗ 
gegen mangelt ihm felbft die oberflächlichite Kenntniß bes 
dentfchen Nordoftens, den er jo gern im Munde führt. 
Wir ditefen hier nicht verjchweigen, daß das Werk über 
Sübdentfchland fo hübſche Bemerkungen, richtige Beob⸗ 
achtungen und charalteriftiiche Anführungen bringt, daß 
die ftiefmittterliche Behandlung des Nordens dagegen um 
fo ftärfer abftiht. Auch das wollen wir nicht verſchwei⸗ 
en, daß die ein Jahr jüngere zweite Auflage mefentliche 
aricaturen norddeutſchen Wejens weggelajien hat, daß 
fie bebeutende Milderungen jener abſprechenden Urtheile 
enthält; baß fie dagegen fein Wort des Zufages, fein 
Wort des anerlennenden Lobes der guten Seiten bes 
Norboftens bringt, von dem der deutfche Staat der Zu⸗ 
kunft feinen Anfang genommen bat. Und fo dächten wir, 
eine Beleuchtung dieſer ethnographiſchen Skizzen, die 
einen Beitrag zur Berfländigung deutjcher Stämme geben 
folen und nur eine ftille Liebe für den bairifch- 
öfterreihifchen Stamm an die große literarifche Glocke 
hängen, wäre zeitgemäß und beiden Parteien zu Nug 
und Frommen. 

Die erfte Auflage, die, wenn fie auch in dem pater 
peccavi ber zweiten umgearbeiteten Auflage eine Abdäm- 
pfung erfahren bat, doch von Hunderten gelefen worden 
ift, bei denen von den Berbächtigungen des Nordens 
semper aliquid haeret, ift fo preußenfrefferifh, daß fie 
die Henilletons des münchener, Volksboten“ ſchmücken könnte. 
Um nicht den Vorwurf des Verfaſſers zu verdienen, wir 
hätten uns geflifſentlich nur an die erſte, überwundene 
Auflage gehalten (die der Autor übrigens ſicher für die 
gelungenere hält), werben wir ſchneller über dieſelbe hin- 
weggehen. Wir werben nur lurz einige charalteriſtiſche 


683 


Merkmale des Nordens, wie ſie ſich in des Autors Auf⸗ 
faffung ſpiegeln, wiedergeben. Der Norden iſt natürlich 
viel zugelnöpfter, verfnöcherter, froftiger, fteif und fteifer 
froftig als der Süden. Im Norden iſt e8 eine Unſitt⸗ 
lichfeit, befannt zu werden ohne vorgeftellt zu fein: bie 
Mordgefhichte von den zwei Liebenden, die ſich nad) 
Jahren vergeblichen Sehnens endlidy in einer Gartenlaube 
zufammenfinden, unb die man des andern Morgens, weil 
fie einander nicht vorgeftellt find, verfchmachtet findet, ift 
natürlich in Preußen paffirt. In Berlin, der wendifchen 
Stadt, ift die Bevölkerung ein Viertel Slawe, ein Viertel 
Franzoſe, ein Viertel Germane und — ein Viertel Mofes 
Menbelsfopn! Der Norboften ift überhaupt halbflamwifch, 
das erfahren wir auf jeder Seite. Tortwährend wird 
von ben ſchmählichen Borurtheilen des deutſchen Nordens 
gegen den Süden geredet und nie vom Gegentheil, wäh- 
rend doc das ganze Schagmayr’fche Buch ein einziges 
Borurtheil gegen den Norden if. Nur die Sübländer 
können Geographie, dort würde es nicht vorkommen wie 
in norddeutfchen Gymnaſien, daß man Kärnten für bie 
Hauptitabt von Tirol hält. Der gerühmten norboftdentfchen 
Logik des Halb wendiſchen Berlin theilt der Berfafler, 
fo oft er kann, Seitenhiebe aus, und doch vergißt er die 
einfache logiſche Schlußfolgerung anzumenden, die er jelbft 
den Norbdentfchen zuruft: Wahrheit gegen Freund und Feind. 
Es finden fi) grobe thatfächliche Unrichtigkeiten in feinen 
Skizzen. Wenn wir aus feinen Behauptungen anführen, daß 
im Norboften eine Tanne eine Kiefer oder Fichte bedeute, 
wenn er Medlenburger wie Berliner fprechen läßt, wenn er 
keine Ahnung von dem Urfprung latinifirtee Geſchlechts⸗ 
namen bat und die Magnus, Crufius, Curtius u. ſ. w. 
deshalb für „beliebt” im Norden hält, weil bie ent- 
fprechenden beutfchen Namen — zu demofratifch klingen, 
fo ift das nur eine fehr geringe Blumenlefe ans der 
großen Zahl von Unrichtigkeiten, deren fi) der Berfaffer 
wiffentlich oder unwiſſentlich ſchuldig gemacht hat. Diele 
lapsus find auch nicht fo fchlimm wie die Geftnnung 
des Werks. Oder klingt das Nachfolgende nicht wie 
Erpectorationen gewifjer ſüddeutſcher Zeitungen: „Es 
icheint als ob der Norden, oder wenigſtens ber Nord⸗ 
often, noch eine Antwort auf 1866 erwarte — eine Ant» 
wort in Keilfchrift, um erft den nöthigen Reſpect vor 
dem Süden zu befommen!?“ 

Der zweiten umgearbeiteten Auflage, deren Vergleichung 
mit der erften bei dem Mangel einer Sapiteleintheilung 
ein gutes Stüd Arbeit ift, müſſen wir nachſagen, daß fie 
die meiften jener oben gerügten Zendenzftellen ausgemerzt 
bat. Mit dem Verſchweigen allein ift aber noch nichts 
gethan: der Charakter des Buchs ift noch berfelbe ge- 
blieben, vielleicht nicht aus Abficht des Verfafſers, fon- 
dern aus mangelnder Kenntniß norddeutſchen Landes und 
norddeutſcher Leute. Der rheiniſch⸗weſtfäliſche Gau, in 
dem der Autor lebt, ift noch lange nicht ale Typus des 
Nordens aufzufaffen, und wie oben erwähnt, ift ihm ber 
Nordoften und, wie wir vermuthen müſſen, auch ein gut 
Theil Mitteldeutfchlands terra incognita. Um Ethnograph 
zu fein, muß man jedoch, wie Goltz und Wiehl, fi per- 
fönlich über Menfchen und Dinge informiren, die man 
Schildern will. Während Schatzmayr's Anfichten über den 
Süden auch in der zweiten Auflage fcharf gefchaut und 

86 * 





684 Alfred de Muffet. 


warm wiebergegeben find, wimmelt es aud) dort in Be- 
zug auf den Norden wieder von Irrthümern gröblicher 
Art. Daß fih in Oft- und Weftpreußen ein wunder 
fames Gemifd; von flawifchen, germaniſchen und „romani« 
ſchen“ Stämmen vorfindet, war und bisher fo unbelannt, 
wie dem Berfaffer der Umftand, daß die Öfterreihifche 
Mundart in der That eine Abart ber bairiſchen ift, daß 
das öfterreihifche Donauland von bairiſchen Coloniften 
befiebelt wurde, und dag man noch immer von einem 
bairifch-öfterreichifhen Bolls- und Spracdftamm redet. 
Wieder wird uns die alte längft überwundene Geſchichte 
aufgetifcht, daß oftwärts von der Elbe die Bewohner 
Deutſchlands germanifirte Slawen mit mehr oder minder 
ſlawiſchen Sitten, flawifhem Typus und Charakter feien. 
Bas das Bottewirigfäoftige betrifft, fo ift keineswegs, 
wie Schagmanr meint, der Tabad ein ausſchließlich füd- 
beutfches Gewähs; was würden mol bie wadern Uer- 
mörfer zu dieſer Fühnen Behauptung fagen! Das Ohr 
des Autors muß fir fprachlichen Wohlffang eben nicht 
ſehr offen fein, da er dem Süden mehr volltönende, 
reine Bocale als dem Norden zufcreibt. Naher noch 
Tiegt jedoch dem Lefer ber „Geographiſchen Skizzen“ eine 
andere, fr den Autor eines ethnographifchen Werks nicht 
fehr günftige Bemerkung. Es ſcheint nämlich als ob der 
Verfaſſer beharrlich den oberſuchſiſchen Sprachſtamm ind- 
befondere die Mundart des Konigreichs Sachſen, rund- 
weg mit den Mundarten der nordöftlichen preußifchen 
Provinzen ibentificirt. Wenn er anführt, daß das füb- 
deutſche Papa, Mami, Salät u. f. w. im Norden 
Pappa, Mamma, Sällat u. |. w. laute, wenn er den 
Nordoften eechal ftatt egäl, ſchöne und fcheene ftatt ſchön 
ſprechen läßt, wenn er als harafteriftifche Namen des 
Nordens Frigiche, Nitzſche u. a. m. aufführt, jo erinnert 
das doch fo ſtark an dem fpecifiich meißniſchen Dialekt, 
daß wir mol dem Autor eine oberflächlicde Kenntniß des 
Konigreichs Sachſen, nicht aber die Spur einer aus eigener 
Anſchauung erwachſenen Belanntfchaft des Nordoſtens 
zugeſtehen iünnen. So iſt auch hier wieder Sachſen der 


Sundenbock zwiſchen dem deutſchen Norden und Siüben- 


geworben. Die Worte, mit benen Schagmayr unfern 


Schiller ablanzelt, weil er in bem befannten Diſtichon es 
Baiern an Salz gebrechen läßt (vieleicht hat er attifches 
Salz gemeint!): „Unfer guter Schiller bedachte wol nicht, 
daß, wer einen Mitmenſchen be» oder gar verurtheilen 
will, den zu Verurtheilenden vor allem felbft gejehen und 
gehört Haben muß, und daß es unendlich, leichter und 
bequemer ift, mit dem großen Strome als, der Wahrheit 
zur Ehre, auch mal gegen ben Strom zu ſchwimmen!“ — 
diefe Worte find wörtlich auf ben Berfafler von „Deutjch- 
lands Norden und Süden” anzuwenden. 

Es ift ein großes und fhägbares Kapital etönogra- 
phifcher Darftellungsgabe in dem Schatzmayr'ſchen Buch, 
teog einer vielfach vermorrenen Durdeinanderwerfung 
verfchiedener Elemente und dem Mangel einer fyitemati- 
fen Ordnung. Uber es bleibt immerhin bebauernswerth, 
daß das vorliegende Werk nicht zur Berftändigung, jon- 
dern zum Misverftändnig zwifchen Nord und Süd führt, 
alfo trog aller Phrafen am Schluß feinen Zwed verfehlt 
hat. Was könnte der Norden, wenn er ſich revandiren 
wollte, nicht vom Süden fagen, was noch jchlimmer wäre 
als die Schroffheiten des „gelobten Landes ber Ruaate 
und ber Zaſtrows“, wie ber Autor das vielgehafte 
Altpreugen zu nennen beliebt! Aber der Norden ijt ver- 
ſöhnlich und gerecht. Wie viel Könnten folhe ſachgemäße, 
warm und beiden Theilen gerecht werdende Studien 
nügen, wie viele Vorurtheile bejeitigen, wie viel herzliches 
Berftändniß ftammeserblicher Eigenthiimliäfeiten vom ob» 
jectiven Standpunkt aus vermitteln! Vieleicht wäre Hr. 
Emil Schagmayr doch noch der rechte Autor für ſolch 
ein Bud), vielleicht ſchafft er eine neue, dritte Auflage, 
in der er nicht blind den Norden höhnt, wie in der 
erften, nicht mit Weglaffung der ärgften Stellen das 
Nöthige getfan zu haben glaubt, wie in der zweiten, 
fondern auch die guten Eigenfchaften des deutſchen Mor- 
dens mit bderfelben Wärme und Vorliebe hervorzuheben 
verfteht wie bie Fiebensmwürbigkeiten feiner geliebten Süd« 
deutfchen! Nach dem von Nord und Sitd im Berein 
geführten Kriege wäre ber günftige Zeitpunkt für ein 
folches Werk gefommen. . 

San Yirfdh. 


Alfred de Mufet. 


Afred de Muffet. Eine Studie von Karl Eugen von 
Ujfalvy. Leipzig, Brodhaus. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 

Bol noch nie ift eine Kritik mit fo dichteriſchem Geift 
jefchrieben worden wie diefe Studie über Alfred de Muffet. 
En Dichter hat über den andern Gericht gehalten und 
ift als Dolmetfcher für ihn eingetreten. Das Verftänd- 
niß für Alfred de Muffet wird duch Hrn. von Ujfalvy 
in Deutſchland in eine ganz neue Phafe treten; man 
Yannte ihn eigentlich bis dahin nur aus vereinzelten Dich. 
tungen und hielt ihn mehr für einen Sonderling als für 
einen Poeten. Haft jedermann kannte fein Gedicht, das 
den Mond über dem Kirchthurm ale „Punkt auf dem i" 
darftellt, und einige feiner andern genialen Seltjamteiten, 
während wenige feine hochpoetiſchen Schöpfungen gelefen 
hatten, bie fid) den berüßmteften Dichtungen Byron’s an 


die Seite ftellen laffen, wie „Don Paez“, „Vortia“, 
„Ramouna” und vor allen „Rolle“. 

Die Studie Ujfalvy’s beſchaftigt fich eingehend gerade 
mit diefen Werfen; „Namouna“ wird als griechiſches 
Marmorbild darakterifit, „Rola” als eine römiſche 
Bronzeftatue. Es ift ein befonderer Borzug des geift- 
vollen Kritifers, daß ex durch folde ſcharfumriſſene Ber- 
gleiche dem Lefer mit wenigen Worten ein beutliches Bilb 
von den Intentionen des Dichters gibt. 

Auch die reizenden Heinern Gedichte Muſſel's werden 
onalyfirt und gewürdigt; „Die drei rofenrothen Darmor- 
Rufen“ namentlich And ganz dazu angethan, um das 
Interefie au der tälteften und blafirteften Leſer zu 
erweden. Gedichte werben Heutzutage wenig gelejen; 
es genügt Alfred de Muſſet's Poefien zu erkennen, 





Kleinere philofophifhe Schriften. 


fie zu analyfiren, um ihnen Leſer und Bemwunderer zu 
erweden. 

Das Buch des Hrn. von Ujfalvy darf ficherlich 
auf einen Play in den Bibliotheken ber gebildeten Leje- 
welt Anfpruch machen, da e8 eigentlich erſt den Sclüf- 
fel zu ben geheimnigvollen Schönheiten und oft ſchwer⸗ 
verſtändlichen Bildern des Dichters gibt und auch in 
ſprachlicher Hinſicht für deutſche Leſer viele Erleichterun⸗ 
gen bietet, indem eine wörtliche Ueberſetzung oder doc) 
Berdeutfhung einzelner fchwieriger Worte dem franzbſi⸗ 
on Zerte beigefügt iſt. 

Mit großer Delicatefie Hat der Berfafler das Privat- 
leben des Dichters behandelt; er verräth bafjelbe nicht 
der profanen Neugier, reißt nit den Schleier von 
den Wunden bes Herzens und den Fehlern bes Charal- 
ters, um feine Studie pifanter zu machen; er deutet 


685 


nur an, wo es durchaus nothmwendig zum Berftändniß 
if, dag ein ftürmifches, ereignißvolles Leben über dag 
Haupt Alfred de Muſſet's Hingebrauft ift und ihm einen 
vorzeitigen Tod gebradjt hat. 

Die genußreiche Ausbeute diefer Studie läßt den 
Wunſch rege werben, der Verfaſſer möge feinen in Aus- 
fiht geftellten Plan bald ausführen, auch die übrigen 
Werke Muſſet's in gleicher Weiſe zu beſprechen, nament- 
lich feine veizenden „Proverbes“, die einen ganz neuen 
Zweig der dramatifchen Literatur ing Leben gerufen ha⸗ 
ben. Seine Romane werben weniger intereffanten Stoff 
zur Beſprechung liefern, doc eriftirt eine rührende Er- 
zählung über die Leiden eines Taubſtummen von Mufie, 
die beweift, daß er auch ohne feine prächtigen Verfe ein 
Meifter des Wortes und der Seelenmalerei war. 

S. von Hohenhauſen. 


Kleinere philoſophiſche Schriften. 


1. Der Philoſophencongreß als Berföhunngeratd,. Bireg zu 
einer veſung ber religidfen Zeitfrage von K. H. Frei⸗ 
Fr eonbardi. Prag, Tempsty. 1869. Gr. 8. 
Der Berfaffer, welcher das Verdienſt hat, fchon 

zweimal eine Berfammlung von Philoſophen (in Prag 

und Frankfurt) zu Stande gebracht zu Haben, ift ber 

Borlämpfer der Krauſe'ſchen Philoſophie. Der Philoſophen⸗ 

congreß ſoll nur das Borfpiel zu einem allgemeinen 

internationalen Wiſſenſchaftsbunde fein, von dem ein all 
meiner periodifch wieberfehrender Kongreß nnr ein Organ 
porftellen fol. Wenn man letteres auch vorläufig ale 
frommen Wunſch beifeitelafjen und fich jeglicher Auſion 
entfchlagen wird, als ob durch die aufgezäumten Parade⸗ 
pferde einfludirter Vorträge die Wiflenfchaft geförbert 
werbe, oder als ob durch parlamentarifche Beſprechung 
und unmaßgebliche Abftimmung große hiftorifche Gegen⸗ 
füge zum Ausgleih zu bringen feien, fo ift doch der 
anderweitige Nugen der gelehrten Berfammlungen, welcher 
weientlih in der Ermöglihung eines Anknüpfens von 
privaten Beziehungen befteht, gegenwärtig fo allgemein 
anerfannt, daß bie Idee eines Philofophencongrefies tro& 
der auf bdiefem Gebiete ungleich größern Schwierigkeiten 
nur als eine gliidlihe und dankenswerthe betrachtet wer⸗ 
den Tann. Aber auch eine Gefahr liegt auf dieſem Wege. 

Denn wenn die Realwiſſenfchaften jede Gabe dankbar an⸗ 

nehmen können, weil fie in ihren Principien wefentlich 

klar geftellt find, fo dreht ſich in der Philofophie der 

Kampf weſentlich um Principien, ſodaß ein Kongreß, 

deſſen principielle Richtung durch die Antecedentien feiner 

Entftehung firirt ift, nur ala Rumpfcongreß bezeichnet 

werben kann. Dies ift leider bei den Beftrebungen des 

Freiherrn von Leonhardi in dem Maße der Kal, daß 

oußer den Anhängern Krauſe's fi nur bie Baader's, 

Günther's und Schelling’8 nebft einigen Herbartianern 

bewogen gefunden haben, fi) zu betheiligen. Wo die 

Erkenntniß Gottes (und zwar des felbftbewußten, allweifen, 

allmäctigen und allliebenden) als die Bürgfchaft der 

Möglichfeit ber angeftrebten allgemeinen Wiflenfchafts- 

barmonie bingeftellt wird, wo bie Sanbhabe zum fchnellern 


Borwärtöbringen ber Welt allein in dem Glauben gefucht 
wird: „daß Gott auf diefer Erde fein Reich begründen 
wolle und feinen irrenden Sindern zur vechten Zeit hel⸗ 
fende und rettende Urgeiſter fchiden werde” (S. 33), 
da kann man freilich kein anderes Reſultat erwarten 
als fi) bei den bisherigen beiden Philofophenperfamm- 
Iungen gezeigt hat, welche befanntlich theild aus philofo- 
phiſch angehauchten Theologen, theils aus theologiſch ge- 
färbten Philofophieprofefjoren beftanden (die unvermeid⸗ 
lichen redſeligen Blauſtrümpfe nicht zu vergefien), umd 
ganz dazu angetan waren, die Philofophie in den Augen 
des großen Publikums durch die Yangweiligfeit und Mittel 
mäßigleit ihrer Verhandlungen um den legten Reſt von 
Credit zu bringen. Wenn auf folder Baſis ein Wiflen- 
fhaftebund zu Stande lüme, der ſich damit befafte, 
„die Leiftungen der bisher vereinzelt Arbeitenden mit 
Rückſicht darauf durchzuprüfen, wie fie zu bem für alle 
gleich wohnlichen Sefammtban ſich verhalten” (S. 9), fo 
würde darans eine ſchlimmere Form ber Monopolifirung 
der Gelehrſamkeit entfpringen, als irgendeine ber frühern 
oder noch beftehenden war. Wie der Philoſophencongreß 
nad) Anficht des Verfaſſers auf der Krauſe'ſchen Lehre 
baftren muß, fo wird neh ihm der allgemeine Wifien- 
ſchaftsbund dadurch zu Stande gebracht werden, daß auch 
die andern Nationen fih zur Krauſe'ſchen Philofophie bes 
fehren. Die Töfung der religiöfen Trage findet der Ber- 
fafler in der Aufhebung des fpeciellen Belenntnigzwanges 
und in Beibehaltung folgender freiwilliger Belenntnißformel 
als Minimum (S. 89): 

Id glaube an den gottgeweihten Beruf bes Menichen und 
der menfclichen Geieniäof! in dem Weiche GBottes, welches 
da ift ein Rei der Wahrheit, ber Gerechtigkeit und ber 
— und ich verpflichte mich zur Nachfolge Chriſti in dieſem 

eru 


2. Fine liberale Polemik gegen den Atheismus. Bon Friedrich 
x.“ Laudenbad. Zwei Theile. Frauenfeld, Huber. 
1869. Gr. 8. 2 Tülr. 

Der Berfaffer meint es recht gut mit ber Welt und 
den Menfchen, es fehlt ihm aber alle wiflenfchaftliche 

Srundlage und Methode. Er Hat viel gelefen (bie 





686 Feuilleton. 


Excerptenſammlung ift noch das Befte an dem Bud), 
aber wenig verbaut. Ex geht von vornherein davon aus, 
baß man das Dafein Gottes fo wenig wie das Gegen 
theil wiffenfchaftlich beweiſen könne, und daß das fomit 
in völlige Freiheit der Wahl geftellte Ich blos nad) fei- 
nem Willen entfcheidet. If das Ich ein gottlofes, böfes, 
eigenfinniges, fo entſcheidet es ſich gegen den Goties⸗ 
glauben; gibt es aber der Einfiht Raum, daß nur durch 
ben Gottesglauben es in ſich felbft zur Harmonie gelan« 
gen und die menſchliche Gefelfchaft vor allen Greueln 
ber Verwüſtung bewahrt werden kann, dann entſcheidet 


es ſich aus freier Wahl für den Gotteeglauben. Unter 
©otteöglauben verfteht aber ber Berfafler den Glauben an 
einen perfönlicen, allweifen, allgütigen und allgerechten 
Gott; wer diefen nicht Hat, ift Atheift; aber der Atheis- 
mus ift eigentlich gar fein Standpunft. Der Fiberalismus 
des Berfaffers befteht darin, bag er feine Religion für 
bie alleinfeligmachende Hält, fondern jebe gelten läßt, die 
feinen Gotteöglauben Hat. Das Buch beſteht wefentlich 
in erbaulichen Variationen auf das Thema, daf der 
Atheismus der Ruin der Menſchheit if. Der Stil 
erhebt ſich nirgends über die Kanzelphraſe 





Fenilleton. 


Englifge Urteile Über neue @rfgeinungen der 
deutfden Literatur. 

Ueber W. Dilthey’s „Leben Schleiermacher's“ fagt die 
„Seturday Review’ vom 20. Auguft: „Die vor zehn Jahren 
fattgehabte Feier des Hundertjährigen Geburtstage Schleier 
madıer’8 war eine Ausnahme von dieſen im allgemeinen etwas 
zweifelhaften Kundgebungen, fowol in Betreff der echten Be- 
geifterung, die fie erwedte, als auch des aus ihr Hervorgegange- 
nen wefentlihen Gewinns für die Literatur und Theologie. 
Zum größern Theil rührte dies wol von der Entrüftung er, 
die man über den päpflihen Hof empfand, unb der allgemei« 
nen Unzufriedenheit mit der Dienſtbarkeit der Geiftlichkeit gegen 
die Regierung, als von dem meu belebten Jutereſſe an dem ber 
elügmten berliner Prediger. Dan fuchte nad) einer Gelegenheit 
zu einer voflethlimfihen Kundgebung, und fo fam bie feier 
gut zu flatten. Won diefem Sehdtepantte aus muß denn auch 
die Biographie Schenfel’8 betrachtet werden; fie if eben eine 
Selegenheitsihrift. Schleiermader's Name indefen verdiente 
etwas mehr als das Lofungswort einer Partei zu fein; und da 
ex wieber einmaf in den Vordergrund gebracht worden war, 
fo veranlafte es den Berfaffer der vorfirgenben Schrift, ihm 
ein weit forgfältiger ausgearbeitetes und bleibenderes Denkmal 
zu widmen. Diele Biographie, von welder zunächſt der erfte 
Band veröffentlicht ift, verdient wegen der barin zu Tage tre⸗ 
tenden Eiuſicht und literariſchen Geſchicklichteit Anerkennung 
und ift infolge des darin enthaltenen neuen Materials, weldes 
dem Berfaffer zur Verfiigung geſtellt worden, werthvoll. Das 
Wichtige davon if eine große Zahl Wriefe von ben beiden 
Schlegel und andern Mitgliedern ihres Kreijes, bie zwar bier 
nicht abgedrudt find, beren Durchſicht aber ben Verfaſſer in 
ben Stand gejegt hat, Schleiermacher, den man bisher zu fehr 
als einen bloßen Fachtheologen betrachtet hat, in feinem eigent- 
ihen Zufammenhang mit der weitern geiftigen Bewegung, an 
der er theifhatte, darzuftellen. Das Yauptinterefie und das 
eigentlich Neue in Dilthey’s Werk liegt in ben Kapiteln, in 
welchen Schleiermagjer'8 Beziehungen zu ben beiden Schle- 
gel, Ziel und andern Führen der romantiſchen Schule wie 
zu Fichte und Schelling auseinandergefegt werden, und in dem 
unparteiifchen nnd febensvollen Schilderungen diefer ausgezeich . 
neten Männer. Die mehr das Privatleben Schteiermacher's 
betreffenden Stellen find gleichfalle trefflih erzählt, und die 
jenigen Zwildenfäle, meige eine EntfQufdigung erfordern zu 
fhienen, wie 3 B. feine Dertheidigung der «Lucinden, find 
einfach und treulich mitgerbeit Die neuerbings wiederer- 
wachte Theilnahme für Schieiermacher und Schriftfteller ver- 
wandten Geiftes iſt ein aufmunterndes Zeichen einer entfpredjen» 
den Wieberbefebung der Lange jhlummernden dichterifcen und 
geiftigen Elemente in der deutfchen Literatur, für welche die 
politiihen Zeitverhältniffe ganz befonders gende find.“ 

Ueber „Aus Schelling’s Leben. In Briefen“ Heißt es 
ebendafelbft: „Der zweite Band von Sdelling's Briefen iſt 
weniger reich als ber frühere an Beleuditungen feiner Philo- 
ſophie, aber intereffanter, wenn auch nicht reihhaltiger, was 
die perfönli—hen Gingeffeiten betrifft. Die glänzende und [höpfe- 








riſche Periode von Schelling's Laufbahn war bereits vorüber, 
ale er fih im Jahre 1803 als Brofeffor in Würzburg habir 
litirte. Wie Eoferidge, dem er in fo vielm Hinfichten ähnlich 
war und der ihm fo viel verbankte, vergendete auch er feine 
beſten Kräfte großentheile an glänzende aber unfruchtbare Ent- 
wöürfe; indeffen nicht wie Coleridge aus Trägheit oder Genuß. 
ſucht, fondern weil er abfolut nicht im Stande war, feinem 
raſch entwidelten philofophifhen Syfem etwas Wejentliches 
hinzugufligen. Die Briefe, welde über Metapufit handeln, 
find Hauptfäglih an Zünger und Anhänger im allgemeinen, 
wie Windiſchmaun und Sicenmaner, gerichtet und find laum 
derart, daß fie Schelling's geiflige Begabung hervorgerufen 
hätten. Auch zeigen fie den Philofophen nicht immer im lie- 
benerürbigfen Fichte. Schelling bejaß angenjeinlic Lebhafte 
Empfindung und ein ſtolzes Unabhängigfeitsgefühl; alleim feine 
Empfindlichkeit artet leiht in Ouengelei und feine Würde in 
falten Hohmuth aus. Sein Häuslicer Vriefechfel zeigt ih 
von ber vortheilhaftern Seite, und einige Briefe an feine Freunde, 
befonders an den ſchwediſchen Dichter Auterbom, find mit fel- 
tener Gefühlewärme geſchrieben. Die beiten Briefe in der 
Sammlung indeſſen find nit Schelling’s, jondern die, melde 
feine zweite Gattin, Pauline Gotter, vor ihrer Berbindung mit 
ihm am ihn gerichtet bat. Die anziehende Individualität der 
Schreiberin offenbart fih in der ungefünftekten Durchfichtigteit 
der Gefinnung und des Ausdruds, fie enthalten and einige 
intereffaute Notizen über Goethe, mit dem Pauline auf hr 
freundfgaftlihen Fuße fand. Einige Briefe Schelling’s geben 
Einzelheiten über den Tod feiner erflen Gattin, der Wuwe des 
ältern Schlegel, die in ber frühern Geſchichte der romantifgen 
Schule feine unbedeutende Rolle gefpielt hat. Sie wird ge» 
wöhnli als eine Frau von großem Talent und Zauber, aber 
als raſtloſe Ränkefpinnerin und Unpeilfifterin dargeftellt. Es 
fei_ une nod bemerkt, daß Schelling's Briefe im allgemeinen 
außerordentlich Mar find, ſelbſt wenn fie die bunkelften meta- 
phufifhen Gegenftände behandeln.“ 

Bon den zahfreihen Beiprehungen Biftorifcher Schriften 
fei, Bier nur die über Mendelsfohn-Bartholdy’s Ge 
ſchichte Grieenlands angeführt. „Dr. Mendelsjohn-Bartgolby, 
der Sohn des Componiften, ift als glühender Philhellene ber 
tannt, der die Theilnahme an feinem Gegenftande mit jener 
Kenntniß deffelben verbindet, welche beide erforderlich find, um 
bie Gefchichte der griechiſchen Unabhängigeit anzichend zu machen. 
Dies it denn and das Thema des erfien Bandes feiner 
Seſchichte Neugriechenlands; denn ber traurige Zeitraum zivie 
fen dem Falle Konkantinopels und der Empörung Ali-Bajchas 
wird kaum berüdfihtigt. Statt deffen findet man interefjante 
Bemerkungen über bie Gebrechen der turkiſchen Herrihajt und 
den focialen Zufand Griechenlands unter derfelben, ſowie 
Über defien Sprache und Fiteratur. Die Geichichte der militüe 
tifjen unb politifden Creigniffe des Unabhängigteitsfriege if, 
wenn auch weniger reichhaltig und zuverläffig als die Finlay's, 
gewiß weniger troden; fie zeugt zwar von wenig felbftändiger 
Forſchung, if aber mit Gefhid aus einer Mafie von Material 
dufammengedrängt und hat nur den einen Nachteil, daß einige 





Feuilleton, 687 


Begebenheiten von einem unvermeibfien Dunkel behaftet find 
und bie am meiſten malerischen nur einen epifobifchen Charakter 
haben. In feinem zweiten Bande wird Mendelsjohn die um- 
erfreuliche Geſchichte Griechenlands feit deffen Befreiung zu 
verfolgen haben, eine Aufgabe, welde, wie zu hoffen ſteht, er 
nit im Geifte eines krititioſen Vertheidigers vollziehen wird.” 

Ueber A. 5. von Shad’s „Dur alle Wetter; Roman 
‚in Berſen“, fagt das Blatt: „Es iſt dies einer der gelungenften 
Berfuhe neuerer Zeit in einer Dictungsart, in welcher ein 
rechter Erfolg felten erzielt wird. Einen zweiten «Don Yuan» 
zu fHreiben, wäre einen zweiten Byron erfordern, und mas 
diefer Dichtung naghſteht, wird fofort durch den Vergleich, den 
8 unvermeidlich hHervorruft, als mislungen bezeichnet. Cin 
humoriſtiſches Epos zu dichten, welches nicht an «Don Iuann 
erinnerte, iſt ein Unternehmen, da® die Kräfte aller derer über» 
fleigt, die e8 bisher verfucht haben, und ſelbſt Schad’s wirkliche 
poetiiche Begabung hat dennoch nicht verhüten tönnen, feine 
Leiſtung gewiffermaßen als einen Berfuch erfcheinen zu laffen. 
Trogdem if es ein Bud, das man mit fortwährender Luft 
und häufiger Bewunderung leſen Tann; es iR intereffant ale 
Dichtung, frifh als Satire und zeichnet ſich dur des Ber- 
faſſers durchgängige Beherrihung der Sprade und Eleganz des 
Stils aus. Der Hauptfehler ift bie Sucht zu glänzen, ein 
Fehler, der in Schriften, wo man nicht anders ais geiftreich ober 
langweilig fein fann, fo ſchwer zu vermeiben iſt.“ 

B. —— eberfesung der „Shalfpeare'ihen 
Sonette'' findet der Recenfent zwar nicht fo poetiſch wie einige 
andere Uebertragungen berfelben, aber genau und im allgemei- 
nen befriedigend. 

F. A. Leo’s Bearbeitung von „Antonius und Kleopatra‘ 
meint er, verbiene wegen ihrer Vorzüge und ale Beifpiel von 
der vortrefflichen Weile, in welcher Aufgaben diefer Urt in 
Deutjdland gelöft werden, Beachtung. 

auf Heyfe's „Böttin der Vernunft‘ erllärt er für Eräftig 
und wirkungsvoll, was die Sprache und Situation betrifft, das 
Ganze aber fei zu offenbar erfünftelt und nicht® ala die gefdidtte 
Beraxbeitung einer Idee zu rein literariſchen Zweden. 

Die Ueberficht tet mit einer abermaligen rühmlichen 
Erwähnung von „Unfere Zeit", von der es Heißt, 
fie behaupte ihren Charakter als werthvolles Repertorium 
reihhaltiger und eingehender Wbhandlungen Über wichtige 
Gegenftände. 


Eine Ueberfegung des „Spiel von den zehn 
Yungfranen". 

Ludwig Bechſtein fügte feiner Publication des bekannten 
„Spiel von den zehn Sungfrauen‘' aus dem Jahre 1322 eine 
Uebertragung in die hentige Sprache bei. Später finden wir 
einen gleichen Berſuch im dritten Bande der „Herbftabende und 
Binternägte” von Ludwig Eitmiüller (Stuttgart 1867). ine 
dritte Ueberfegung bietet und eine Meine Schrift von Albert 
Freybe: „Das Spiel vom den zehn Jungfrauen, eine Opera 
seris, gegeben zu Eifenad; am 24. April 1322, Übertragen und 
eitgefahnt behandelt" (Leipzig 1870). Bechſtein kannte nur 
eine, die mühfhäufer Handjchrift, fpäter wurde von Maz Rieger 
ein zweiter, ein oberheſſiſcher Tert aufgefunden und in Pfeiffer's 
„Germania’ (1865) veröffentlicht. Ettmüller fcheint biefen 
Tert nod) nicht gelaunt zu haben, als er zu feiner Mebertragung 
des Spiels ſchrut. rehbe's Arbeit gründet fih_auf beide 
Terte. Diefe Weberfegung können wir empfehlen, fie if recht 
lesbar; dabei glättet der Berfaffer nicht allzu jehr, ſoudern Hält 

ih möglihft an das Original. Muf das Spiel felbft folgt in 
reybe's Buche ein Kapitel „um Berfläudniffe und zur WBür- 
digung des fogenannten gro] thüringer Myſteriums und 
eher ‚Zeit‘, weldes, abgelehen von einer etwas novelliſtiſchen 
Einfeidung, im fachgemäßer Weife die literariſchen und hiſto⸗ 
riſchen, aud einigermaßen die dogmatifhen Berhältniffe des 
Spiels und des benfwärdigen Vorgangs, dem es hervorrief, 
berahrt und fo wirklich zum Verftändniffe diefer Hervorragenden 
dichteriſchen Erſcheinung beiträgt. 











Bibliographie. 
ler Frage einen wirklich dauerhaften Frii 
370. Hambarg, Hoffmann u, pe. Gr. 


(gl, Betragtungen eines Verſtorbenen. Breslau, Liqtenauer. 


üch’s, L. v., gesammelte Schrift 
2, Roth und H. Eck, Zter Bd. B 


Nar. 

Chlebik, F,, Die Philosophie des Bewussten und die Wahrheit 
des Unbewussten in den dialektischen Grundlinien des Freiheits- und 
— nach Hegel und C. L. Michelet entworfen, Berlin, Loo- 
wenstein. Gr. 8, 18 Ngr. 











Ewald, 
4 Thlr. 





Herausgegeben vı 
‚ 6. Reimer. 












Dömt , Im Bivouac. Zur Grütnerung an bie Siege vom 
30. Augu 2, September 1870 dem deutien Heere und feinen Fühe 
kein genibmet. Bamberg, Buhner. Or. 5. 3 Mar. 

brard, M., Gufan König. Gein Lehen und feine Kunft. Erlans 


nen, Deicert, Abt. Or. 8. 1 Er. 16 Mer, 

Eihwalb, 8., Nieverbeutige Sprüdiörter und Mebendarten geſam - 
weit, and mit einem Gloffar verjeben. Ate Ausgabe. Bremen, Tannen, 
3 15 Nor. 

Frattig, 9. 9, Leben und Schriften, Ergänzungssand. — A. u. 
b. Z.: Bädagogiice Tchensweispeit. Aus ben nachgelaffenen Papieren 
bes Berfafierd herausgegeben von 8. C. €. Ehmann. Heidelberg, C. 
Winter, 8. 16 Nur. 

Eite, De Fuemig, van Beeiheven. Gin Lebensbils. Bielefeld, 

* 


rt ® Das Frommannfde Haus und feine Freunde 
usa io, "Sener Q%. Hemmanın Or. 6. 1% Son, 
Watrietifhe Gevigte, Mr. 1. Speyer, Lang. Er. 8. 1 ng. 
Be a Palo eanargte 
Granins, — Boltstieder im Kriegs «Jahre 1870, Hamburg, Grüs 





Hartmann, E. v., Philosophie des Unbewussten. 2ie vermehrte 
Auf. Berlin, C. Duncker. Gr. 8. 3 Thlr. 10 Ngr, 

Höfer; P., Die Bedeutung der Philosophie für das Leben nach 
Plato dargestellt. Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 8. 10 Ngr. 





Jacobi, De, Berlender Wein in funteinbem Olafe., In einer Reife 
bon Gharatterzigen berühmter Menigen aller Zeiten und Mationen ; for 
wie Sentengen über alle Verhältniffe des Lebens, und eine Sammlung 


beiterer Anetvoten, Gaffel, &udhartt. 3. 10 Nar. 
Kleine, F. Geblchte. Hildesheim, Nolte m. Schneidler. Gr. 16. 
nd, %., Die frangofen nad Berlin, Komiſches Heldengedicht 
dur Grinnerimg an pas Bahr "lat, Yankurg. Gr. 16. 10 Nur 7 
Knorg, 8, Märden und Sogn der nordamerifanijhen Indianer, 
Deng, Gofeüeble, 1EM, Br. 8 120Rte. Do Mar, ; 
eue und alte Iuflige und ernfte Kriegs=Lieder gegen bie Franzoſen 
1010. Sreklan, Gebhenik 61. 1 Dar. > —— * 
ulemann, Germania, Nürnberg, Korn, Gr. 16. 2%, Nor. 
Kummer, Cri ungen aus bem Leben einc# Veteranen ber künig- 
177 kart ven Armee. Dredden, Meinhold u. Söhne. Br. 8, 24 Nor. 
te, U, — zu fingen nach ber bekannten Weife: 
ber Bocior Elfenbart.” Bremen, Tannen: Or. 8. 17, Ngr. 
.. Bartholomäus Garranza, Erzbiinof von Toledo (geb. 
Kempten, &öfel. ®r. 8. * 
. be, Kram und Zroftlieber. Gera, Euppe. Gr. 16. 








Mussafla, A,, Ueber eil 
Universitätsbibllothek zu Pa‘ 





Itfranzösische Handschrift der königl. 
richt, Wien, Gerold's Sohn. Lex.-3. 





12 Nar. 
Yapoleon, der Morbörenner der Berrätper genen Heer um Sauce. 
m geben, Berlin, Löhner, 


@r. 8. 2, Nat. 

Weregrina, Eorbula, Die Seſgichte ber Deiligen Rothburga von 
Nottendurg. PVoelifh erzäplt." Innsbrud, 3. Raub. 8. 77, Mar. 

an gamaier, us dem Traumisben der Chinesen.” Wien, Ge- 
zold's Sohn, Y, Dar. 





—* 
Rittershaus, €, Den vo und Jungfrauen in ber Kriegägeit. 
Drei Lieder nad Boltsweijen. Barmen, W. Tangewieihe. 8. 2 Ngr. 
Seiakruun, Atice, Das ont Beties in Jeuguifen von bester 
nen, Btifopden ind Dictern, Geipig, Price, 16; 18 Mar, 
Säraber, 4., Zunft und Liebe. Socialer Roman aus ber Gegen 
wart in 5 Don, Leipzig, Gerbe. 1BTL. 8. 6 Thlr. 15 Nor. 
Der untesgang Sea aten, Kegime. Cociater Roman aus ber 
% Serbe. 1871. 8. 4 Th 
1, 


in 3 re. 
8 Berhängniß. Socialer Roman aus der Gegenwart in 6 


dm. eipjig, Gerbe. 1871. 8. 8 Thlt. 
See, ®, dom (©. d. Struenfee), Ballenrobe, Roman in 4 Bon. 
Hannover, Rümpler, 8. 6 Tplr. 










Segejfer, 9. ®. v., Studien und Glofjen zur Ta; ihigte. Am 
Worabend des Gonciliume, Bafel, Bahnmaier. 1869. 12 Ngr. 

Vivenot, A. Ritter v., Thugut und sein politisc tem. Ür- 
kundliche Beiträge zur Geschichte der deutschen Politik österreichi- 


schen Kaiserhauses, während der Kriege gegen die französische Revolu- 
tion. Wien, Gerold's Sohn, Gr. 8. 20 Ngr. 

Zingerle, J. V., Beiträge aur älteren tirolischen Literatur. I. Os- 
wald von Wolkenstein. Wien, Gerold's Sohn. Lex.-8. 12 N 








di VE mn er Dat A nd 





688 


Anze 


Anzeigen. 


igem 


Derfag von 5. 4. Brochhaus in Leipzig. 





Griechenland 
Bengrapifä, efhichic unbeuturfitoith 


von den äfteften Zeiten bis auf bie Gegenwart 
in Monographien dargeftellt. 





Separatausgabe 
aus der 
Allgemeinen Enchllopäbie der Wiſſenſchaften und Künſte 
von Erſch und Gruber. 
Herausgegeben von 


Hermann Brokhans. 


At Bünde, 
Gr. Duart. Preis jedes Bandes 8 Thlr. 25 Nor. 


Eine Darftellung Griechenlands und des griedhifchen 
Volks durch feine ganze lange Entwidelung hindurch, von 
den frübeften Zeiten an bis zur Gegenwart herab, war 
durch den Charakter der Erfh- und Gruber'ſchen „All- 
gemeinen Enchflopädie der Wiffenfhaften und SKünfte“ 
geboten, und zwar Tonnten birftige Abrifje und Ueber- 
fihten weder ben wiſſenſchaftlichen Anforderungen noch 
dem reichen Stoffe Genüge leiften. Redaction und Ber- 
lagshandiung entſchloſſen ſich vielmehr, die Artikel über 
Griechenland und die griechifche Welt in einer Reihe er- 
ſchöpfender und einander ergänzender Monographien den 
Leſern vorzulegen. Es ift dadurch eine Vollftändigfeit 
in ber Behandlung des Gegenftandes nach allen Seiten 
hin erreicht und gewiffermaßen eine griechiſche Ency- 
ilopadie geſchaffen worden, wie fie bisjegt die Literatur 
feines Volls aufzumeifen hat. 

In der Erih- und Gruber'ſchen „Encyklopädie“ 
füllen diefe Monographien, für deren gebiegenen Werth 
die Namen der Berfaffer Gewähr Ieiften, den 80.—87. 
Theil der I. Section. Um biefelben indeß auch andern 
Kreifen als den Subferibenten jenes weitumfafjenbden Werts, 
namentlich der deutſchen Gelehrtenwelt, allgemein _zugäng- 
lich zu machen, wurde unter obigem Zitel eine Geparat- 
ausgabe in acht Bänden veranftaltet, welde vollftändig 
vorliegt und durch alle Buchhandlungen zu beziehen ift. 

Nachftehend ein Verzeichniß ber in dem Werke ent- 
haltenen achtzehn Monographien und ihrer Verfaſſer. 


Inhaltsverzeihniß. 


Erfier Band: 
A. Alt-Griehenland. 
1. Geographie, von Profeffor Dr. 3. 9. Krane in Halle. 
1. Gefhichte von der Urzeit bis zum Beginn des Mittele 
Fr von Profeffor Dr. ©. F. Hergberg in 
alle. 








Zweiter Band: 
II. Griechiſche Sprache und Dialehe, von Profefjor Dr. 
. 3. X. Mullad in Berlin. 
IV. Griehifge Mufit, Khyihmik und Metrit, von Pror 
feflor_Dr. €. Fortlage in Jena und Profeffor 
Dr. 9. Beiffenborn in Erfurt. 
V. Griechiſche Metrologie, von Gymnafialdirector Dr. 
Fr. Hulgich in Dresden. 
VI. Gricchiſche Literatur, von Proſeſſor Dr. Theodor 
J Bergl in Halle. 
Dritter Band: 
VO. Religion ober Drytiotogie, Theologie und Gottes- 
verehrung der Griechen, von Profeffor Dr. Ehrie 
Rian Peterfen in Hamburg. 
van. Geicäilde Nunf, von Profeffor Dr. C. Burfian 
in Iena. 
Bierter Band: 
IE. Griehifhe Stantsalterthümer, von Profeffor Dr. 9, 
Brandes im Leipzig. 
X. Griechiſche Privatalterthümer, von Gymnafialdirector 
Dr. Hermann Göll in Edleiz. 
XI. Griehijges Theater, von Profejjor Dr. Friedrid 
Biefeler in Göttingen. 


B. Griechenland im Mittelalter und in der Henzeit. 


XI. Geographie. Bon der weft. und oſtrömiſchen Raifer- 
zeit ab durch das Mittelalter bis zur Gründung des 
neuen griegifhen Königreichs, von Profefor Dr. 
3.9. Kranfe in Halle. 

Funfter Band: 
XII. Griehifhe Kirge, von Dr. 9. Hafemann, Paftor 


in Arzberg. 

ZIV. Chriffih-griechifche oder bizantinifche Kun (Arcitettur, 
Skulptur und Malerei). Bon Profefor Dr. fr. 
B. Unger in Göttingen. Erfter und zweiter 
Abfgnitt. 

Sechster Band: 
Ehriflich⸗ griechiſche oder byzantinifche Kunft (Arie 
tektur, Skulptur und Malerei). Von Profeflor 
Dr. Fr. B. Unger in Gittingen. Dritter und 
vierter Abſchnitt. 

XV. Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelal 
is _auf unfere Zeit (1821). Bon Profeffor Dr. 
€. Hopf in Königeberg. Erſte und zweite Periode. 

Siebenter Band: 
Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelaltere. 
i8 auf unfere Zeit (1821). Bon Profeflor Dr. 
€. Hopf in Königsberg. Dritte Periode. 

ZVI. Grichifh-römifhes Hecht im Mittelalter und im der 
Neuzeit. Bon Dr. C. B. €. Heimbach, Bir 
‚präfibent des Oberappellationsgerichts in Jena. 

Achter Band: 

XVII Gefhite Griechenlands im neunzehnten Iahrhundert. 

Bon Profeffor Dr. ©. $. Hergberg in Halle. 

XVII. Gefhichte der bipantinifen oder mittelgriechifchen 
Fiteratur, von Juflinian's Thronbefteigung bis anf 
die Eroberung Conftantinopels durch die Türten, 
von 529— 1458. Bon Dr. Rudolf Nicolaı 
in Berlin. 


ANe Buchhandlungen nehmen Beftehungen auf das Wert 

an rn —* m it, sinen Band zur Yafıht Ani 
er wird au en il 5 
Pt ich einzeln zum Preife von 3 Thle 





Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Srohhaus. — Drud und Verlag von F. A, Srodhaus in Leipzig. 





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Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


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Erſcheint wöchentlich. 27. October 1870. 
Inhalt: Zur Gefhicdhte der Mormonen. Bon Rudolf Doegn. — Neue lyriſche Gedichte. — Bilder aus dem Altertfum. Bon F 
Rudolf Gottſchal. — Neue Romane und Novellen. — Senilleten. (Pfeiffer⸗Feier in Bettlach; Notizen.) — Bibliographie. — a 
Anzeigen. 33 
— 
Zur Geſchichte der Mormonen. Be 


Geſchichte der Mormonen nebft einer Darfiellung ihres Glaubens 
and ihrer gegenwärtigen focialen und politiichen Verhältniſſe 
1% morit Buſch. Leipzig, Abel. 1870. 8 2 Thlr. 

3 gr. 


Es iſt Sitte geworden, die Bereinigten Staaten von 
Amerika als das Mutterland und das Eldorado der ver- 
fhiedenften und mwunderbarften Religionsfelten anzufehen, 
und doc haben, wie ſchon Karl Friedrich) Neumann in 
feiner „Sefchichte der Bereinigten Staaten von Amerika’ 
(II, 378) anerkennt, die allerdings Außerft zahlreichen 
religiöfen Genofjenfchaften, welche auf dem fruchtbaren 
Boden der nordamerilanifchen Union wucern, mit weni- 
gen Ausnahmen in den religiöfen Bewegungen des alten 
Europa ihren Urfprung. So flammen 3. B. die Bifchöf- 
lichen: oder Episfopalen von der anglifanifchen Kirche, 
die Presbyterianer von der reformirten Kirche in Schott- 
land, die Holländifch-Reformirten aus Holland, die Deutſch⸗ 
Reformirten ans der rheinischen Pfalz und der Schweiz; 
die Zutheraner, Herrnhuter, Mennoniten und Rappiften 
fomen aus Deutihland, die Quäker und Shaker aus 
England; Methodismus und Baptismus, die ſchnell an 
Zahl und Macht zunahmen, und vornehmlid die niedern, 
einfichtslofen Klafien, 3. B. die Neger, an fich zogen, 
wuchſen faft zu derfelben Zeit in der Alten und ber 
Neuen Welt empor. Alle diefe Confeffionen pflegen die 
Meberlieferungen und nähren fi an den Symbolen, den 
Liedern und Agenden, an der theologifchen Literatur, den 
Sitten und Gebräuchen der betreffenden Muiterkirchen 
in Europa. Xroß ihrer mehr jugendlichen Friſche und 
Rührigkeit, wie fie in der Alten Welt felten vorgefunden 
werden, halten dieſe transatlantifchen Genofjenfchaften bei 
aller geiftigen Entwidelung, bei allem materiellen Wohl⸗ 
behagen feft an den Grundfägen eines gewiſſen orthodoren 
Broteftantismus. Die eigentlichen, die wahren Amerikaner, 
die wirklichen Träger der Union und alles Großen, mas 
durch diefe Union gefchaffen, find ein ernft-religidjeg, 
- 1870. 4. 


hriftlich-proteftantifches Bolt, ohne ſchädlichen Fanatismus, 
jedoch hier und da religiöfer Schwärmerei ergeben. Man 
hält es, wie auch K. F. Neumann a. a. DO. es beftätigt, 
in Amerifa im allgemeinen flir ungeziemend, ohne befon- 
dere Beranlafiung viel über Religion zu fprechen, weil 
man fie für eine innere, eine häusliche und heilige An- 
gelegenheit erachtet, die jedes Individuum oder jede Ba- „;, 
milie für fih abzumachen hat. Bei alledem ift es nicht "RE 
ganz ungefährlich, fie öffentlich zu misachten, da man fie 
als ein® der widhtigften und wohlthätigften Bindemittel 
der bürgerlichen Gefellfchaft anfieht und in ihr gleichfam 
ein Surrogat für die in despotiſch regierten Staaten 
herrfchende Polizeigewalt zu finden glaubt. Vorzüglich 
von ben Amerifanern folcher fireng religiöfen Richtung 
find, vielleicht wegen der gejeglich herrſchenden Religions- 
und Gewiffensfreiheit, die meiften focialen Berbefferungen 
und viele neue Ideen und Einrichtungen ausgegangen; 
bei ihnen find mehrfach dem Fortſchritt und der höhern 
Menſchlichkeit dienftbare Vereine, z. B. Unitarier, Aboli- 
tionsgefellfchaften u. ſ. w, entftanden. „Wir glauben nicht“, 
ſprach der edle William E. Channing, wohl der beden- 
tendfte Theologe Neuenglands, „daß man bei den Refor⸗ 
matoren des 16. Tahrhunderts ftehen bleiben fol. Der 
menfchliche Geift ift in der Ausbildung begriffen. Was 
einem rohen und verborbenen Jahrhundert gut dünfte, er= 
ſcheint ungeeignet für unfere erleuchteten Tage.” . 
Zu den wenigen religiöfen Selten, die ausnahmöweife 
ihren Urfprung nicht aus Europa ableiten und doch 
fcheinbar uralte, Höchft wunderbare und verfchrobene Tehren 
und Gebräuche befiten, gehören die Mormonen. Boltaire 
fagt irgendwo von einer religiöfen Sekte, daß fie nur 
geringe Chancen des Gedeihens babe, weil ſich in ihren 
Doctrinen nichts vorfinde, was der menjchlichen Vernunft 
befonders ſtark ins Geſicht ſchlage. Legt man dieſen 
Maßſtab an den Mormonismus an, jo wird man ihm 
ficherlich einige Chancen des Gedeihens zugeftchen müſſen. 
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688 Anzeigen. 


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Derfag von 5. A. Brochaus in Leipsig. 





Griechenland 
geographifch, geſchichtlich und culturhiſtoriſch 


von dem älteſten Zeiten bis auf die Gegenwart 
in Monographien bargeftellt. 


Separatandgabe 
aus ber 
Algemeinen Encpllopäbie der Wiſſenſchaften und Kinfte 
von Erſch und Gruber. 
Herausgegeben von 


Hermann Brodhans. 


Acht Bünde, 
Gr. Quart. Preis jedes Bandes 3 Thlr. 25, Ngr. 


Eine Darftelung Griechenlands und bes griechiſchen 
Volls durch feine ganze lange Entwidelung hindurch, von 
den früheften Zeiten an bis zur Gegenwart herab, war 
durch den Charakter der Erf» und Gruber'ſchen „All- 
gemeinen Cnchflopädie der Wiffenihaften und Künſte“ 
geboten, und zwar konnten ditrftige Abriffe und Ueber- 
fihten weder ben wiſſenſchaftlichen Anforderungen noch 
dem reichen Stoffe Genüge leiften. Redaction und Ber- 
lagshandlung entſchloſſen fid vielmehr, die Artikel über 
Griechenland und die griehifche Welt in einer Reihe er⸗ 
ſchöpfender und einander ergänzender Monographien den 
Lefern vorzulegen. Es ift dadurch eine Vollſtändigkeit 
in ber Behandlung des Gegenftandes he! allen Seiten 
hin erreicht und gewiſſermaßen eine griechiſche Ency- 
ilopadie geſchaffen worden, wie fie bisjegt bie Literatur 
teines Volls aufzuweiſen hat. 

In der Erſch- und Gruber'ſchen „Encyklopädie“ 
füllen dieſe Monographien, für deren gebiegenen Werth 
die Namen ber Berfafier Gewähr leiften, ben 80.—87. 
Theil der I. Section. Um biefelben indeß auch andern 
Kreiſen als den Subfcribenten jenes weitumfafjenden Werts, 
namentlich der deutſchen Gelehrtenwelt, allgemein _zugäng- 
lich zu machen, wurde unter obigem Titel eine Separat- 
ausgabe in adıt Bänden veranftaltet, welche vollitänbig 
vorliegt und durch alle Buchhandlungen zu beziehen ift. 

Nachftehend ein Verzeichniß der in dem Werke ent 
haltenen achtzehn Monographien und ihrer Berfaffer. 


Inhaltsverzeihniß. 


Erfier Band: 
A. Alt-Griechenland. 
I. Geographie, von Profefjor Dr. 3. H. Kranfe in Halle. 
1. Geſchichte von der Urzeit bis zum Beginn des Mittel 
Fr von Profefjor Dr. ©. F. Hergberg in 
alle. 








Zweiter Band: 
II. Griegifhe Sprade und Dialefte, von Profefior Dr. 
5. 8. A. Mullad; in Berlin. 
IV. Griegifhe Ruft, Khyihmik und Metrif, von Pro- 
feflor_Dr. € Sortlage im Jena und Profeffor 
Dr. 9. BWeiffenborn in Erfurt. 
V. Griehifce Metrologie, von Gymnaſialdirector Dr. 
Br. Hulgfc in Dresden. 
VI. Griehijgje Literatur, von Profefor Dr. Theodor 
, Bergt in Halle. 
Dritter Band: 
VI. Religion oder Mythologie, Theologie und Gottes» 
verehrung der Öriehen, von Profefjor Dr. Ehri- 
Rian Peterfen in Hamburg. 
VII. Griechiſche Kunſt, von Profeffor Dr. C. Burfian 
in Jena. 
Bierter Band: 
IR. Griedifhe Staatsalterthlimer, von Profeffor Dr. 9. 
Brandes in Leipzig. 
X. Griechiſche Privatalterthümer, von Gymnafialdirectot 
Dr. Hermann Göll in Schleig. 
XI. Griehifhes Theater, von Profeffor Dr. Friedrich 
Biefeler in Göttingen. 


B. Griechenland im Mittelalter und in der Henzeit. 


XII. Geographie. Bon der weh. und ofrömifhen Kaifer- 
zeit ab durch das Mittelalter bis zur Gründung des 
neuen griehifgen aenigreiä, von Profeffor Dr. 
3.9. Kraufe in Hole. 

Fünfter Band: 
x. Siehifäe Kirche, von Dr. I. Hafemann, Baftor 
im Arzberg. 

XIV. Ehriftlic-griedifche oder byzantinifche Kunft ( Architettur, 
Skulptur und Malerei). Bon Rrofeffor Dr. Sr. 
®. Unger in Göttingen. Erfter unb ziweiter 


Abſqhnitt. 

Sechster Band: 
Chriflich/ griechiſche oder byzantiniſche Kunft (Ardi- 
teltur, Skulptur und Malerei). Bon Profeflor 
Dr. $1. ®. Unger in Göttingen. Dritter und 
vierter Abſchnitt. 

XV. Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelal 
bis auf unfere Zeit (1821). Won Profeflor Dr. 
€. Hopf in Königsberg. Erſte und zweite Periode. 

Siebenter Band: 

Gefhichte Griechenlands vom Beginn des Mittelalters, 
bi® auf unfere Zeit (1821). Bon Profeffor Dr. 
€. Hopf im Königsberg. Dritte Periode. 

XVI. Griegifh-römifhes Rede tm Mittelalter und im der 
Nengeit. Bon Dr. €. ®. €. Heimbad, Bice- 
praſident des Oberappellationsgerichts in Jena. 

Adter Band: 
XVII Gefhichte Griechenlands im neunzehnten Jahrhundert. 
Bon Brofeffor Dr. ©. $. Hergberg in Halle. 
XVII. Gefgjihte der Dygantinifen ober mittelgriecifcher 
Kiteratur, von Juſtiniau's Thronbefteigung bis auf 
die Eroberung Conftantinopels durch die Türfen, 
von 529 — 1458. 


v Bon Dr. Rudolf Nicolai 
in Berlin, 


Affe Buchhandlungen nel 8 dad Wert 
u —* he, a een aa bes But 

J 111 * 
Pr Pag 1. einzeln zum Breife von 3 Thlr 





Berantwortlier Rebacteur: Dr. Eduard Grodhaus, — Drud und Berlap von F. A, Sroahaus in Leipzig. 





— 


Blaͤtter 


für 


literariſche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erſcheint wochentlich. 


se Ar. 44. Mr 


27. October 1870. 


Inhalt: Zur Gefchichte der Mormonen. Bon Rudolf Doehn. — Nene lyriſche Gedichte. — Bilder aus dem Altertfum. Bon 


Nudolf Gottſchal. — Neue Romane und Novellen. — Fentkelon. 


(Pfeiffer-Feier in Bettlach; Notizen) — sKibliographie. — 


neigen. 


Zur Gefchichte der Mormonen. 


Geſchichte der Mormonen nebft einer Darflellung ihres Glaubens 
and ihrer gegenwärtigen fociafen und politiichen Verhältniſſe 
2 morit Buſch. Leipzig, Abel. 1870. 8. 2 Thlr. 

2 Rgr. 


Es iſt Sitte geworden, die Vereinigten Staaten von 
Amerika als das Mutterland und das Eldorado der ver- 
fhiedenften und wunderbarften Religionsfelten anzufehen, 
und doch haben, wie ſchon Karl Friedrid) Neumann in 
feiner „Sefchichte der Vereinigten Staaten von Amerika” 
(I, 378) anerkennt, die allerdings äußerft zahlreichen 
religiöfen Genoſſenſchaften, welche auf dem fruchtbaren 
Boden der nordamerifanifchen Union wuchern, mit weni- 
gen Ausnahmen in den religiöfen Bewegungen des alten 
Europa ihren Urfprung. So flammen 3. B. die Biſchöf⸗ 
lichen oder Episkopalen von der anglilanifchen Kirche, 
die Presbyterianer von der reformirten Kirche in Schott« 
land, die Holländifch-Reformirten aus Holland, die Deutſch⸗ 
Reformirten ans der rheinischen Pfalz und der Schweiz; 
die Lutheraner, Herrnhuter, Mennoniten und Rappiften 
kamen aus Deutfchland, die Quäker und Shaker aus 
England; Methodismus und Baptismus, die ſchnell an 
Zahl und Macht zunahmen, und vornehmlich die niedern, 
einfichtslofen Klafien, 3. B. die Neger, an ſich zogen, 
wuchſen faft zu derfelben Zeit in der Alten und der 
Neuen Welt empor. Alle diefe Confeſſionen pflegen bie 
Ueberlieferungen und nähren fi an den Symbolen, den 
Liedern und Agenden, an der theologifchen Literatur, den 
Sitten und Gebräuchen der betreffenden Muitterkirchen 
in Europa. Trotz ihrer mehr jugendlichen Friſche und 
Rührigkeit, wie fie in der Alten Welt felten vorgefunben 
werben, halten diefe transatlantifchen Genoflenjchaften bei 
aller geiftigen Entwidelung, bei allem materiellen Wohl- 
behagen feft an den Grundjägen eines gewiſſen orthodoren 
Broteftantismus. Die eigentlichen, die wahren Amerilaner, 
die wirklichen Träger der Union und alles Großen, was 
durdy dieſe Union gefchaffen, find ein ernft-religidfes, 
: 1870. 4. 


hHriftlich-proteftantifches Volk, ohne fchädlichen Fanatismus, 
jedoch hier und da religiöfer Schwärmerei ergeben. Man 
hält es, wie auh K. F. Neumann a. a. D. es beftätigt, 
in Amerika im allgemeinen für umgeziemend, ohne bejon- 
dere Beranlaffung viel über Religion zu ſprechen, weil 
man fie für eine innere, eine häusliche und heilige An- 
gelegenheit erachtet, die jedes Individuum oder jede Fa⸗ 
milie für fich abzumachen hat. Bei alledem ift es nicht 
ganz ungefährlich, fie öffentlich zu misachten, da man fie 
als eins der wichtigſten und mohlthätigften Bindemittel 
der bürgerlichen Geſellſchaft anfieht und in ihr gleichſam 
ein Surrogat für die in despotiſch regierten Staaten 
herrſchende Polizeigewalt zu finden glaubt. Vorzüglich 
von den Amerilanern folcher fireng religiöfen Richtung 
find, vielleicht wegen ber gejeglich herrſchenden Religions- 
und ©ewiflensfreiheit, die meiften focialen Berbeflerungen 
und viele neue Ideen und Einrichtungen ausgegangen; 
bei ihnen find mehrfach dem Fortſchritt und der höhern 
Menjchlichkeit dienftbare Vereine, z. B. Unitarier, Aboli- 
tionsgejellfchaften u. ſ. w, entftanden. „Wir glauben nicht“, 
fprad) der edle William E. Channing, wohl der bebeu- 
tendfte Theologe Neuenglande, „daß man bei ben Refor⸗ 
matoren des 16. Yahrhunderts fichen bleiben fol. ‘Der 
menſchliche Geift ift in der Ausbildung begriffen. Was 
einem rohen und verborbenen Jahrhundert gut dünkte, er- 
Scheint ungeeignet für unfere erleucdhteten Tage.“ 

Zu ben wenigen religiöfen Selten, die ausnahmsweiſe 
ihren Urfprung nicht aus Europa ableiten und doch 
fcheinbar uralte, Höchft wunderbare und verfchrobene Lehren 
und Gebräuche befigen, gehören die Mormonen. Voltaire 
jagt irgendwo von einer religidfen Sekte, daß fie nur 
geringe Chancen des Gedeihens habe, weil ſich in ihren 
Doctrinen nichts vorfinde, was der menfchlichen Vernunft 
befonders ſtark ins Geſicht ſchlage. Legt man dieſen 
Mafftab an den Mormonismus an, fo wird man ihm 
fiherlich einige Chancen bes Gedeihens zugeftehen müflen. 


87 


690 Zur Geſchichte 


Die Mormonenbibel, die perfönlichen Specialconferenzen, 
welche die Mormonenpropheten bei jeder Gelegenheit mit 
dem lieben Herrgott haben, und aus denen die „Offen“ 
barungen“ hervorgehen, die Bielweiberei, die abfolute 
Vrieſterherrſchaft und ähnliche Dinge laſſen in dieſer 
Beziehung nicht viel zu wiluſchen übrig. Man wilrde 
aber ſicherlich das Rechte verfehlen, wenn man fi damit 
begnügte, die Mormonen in jeder Hinſicht lächerlich zu 
finden und fie zu verfpotten. So urtheilt auch der geift- 
reihe W. Hepworth Diron in feinem „Neu- Amerika” 
(überfest von Richard Oberländer; Jena, Coftenoble, 
1868, ©. 137); und es ift deshalb immerhin als ein 
verdienftvolles Unternehmen zu begrüßen, dag Morig 
Buſch in dem vorliegenden Werke die Gedichte, bie 
Slaubensfäge und die focialen und politifchen Ver⸗ 
hältniffe einer Weligiongfelte, melde den Vereinigten 
Staaten von Amerifa bereits fo vielfache Unannehm- 
lifeiten und Schwierigleiten bereitet hat, uns in 
einer gründlichen und erjchöpfenden Weife vor Augen zu 
führen ſucht. 

Der Berfafer, welcher felbft längere Zeit in Amerika 
lebte, wiederholt mit Meinen und größern Mormonen« 
gemeinden verlehrte und mit ber Literatur über das 
Mormonentfum ziemlich gut vertraut ift, betrachtet die 
ſtaatliche Entwidelung und den Glauben der „Latterday- 
Saints“, d. 5. der „Heiligen der legten Tage“, wie ſich 
befanntlich die Mormonen nennen, nicht fowol als einen 
„großartigen Schwindel”, fondern als „eins der größten 
Wunder und Näthfel der amerikaniſchen Culturwelt“. 
Diefe Auffaffung der fonderbaren Religionsſekte ſcheint 
uns num aber doch etwas zu hoch gegriffen zu fein. 
Bir felbft lebten mehrere Jahre im Staate Miffouri, 
wo die Mormonen eine Reife von Jahren ihr Weſen 
trieben; wir waren aud; in Nauvoo im Staate Illinois, 
wohin die Mormonen zogen als fie Miffouri verließen, 
und wir haben, abgefehen von dem was wir aus Büchern 
und Zeitungen über fie erfahren, an Ort und Gtelle 
Hinlänglich Erkundigungen über fie eingezogen, um be 
redhtigt zu fein, ein Urtheil über das Leben und Treiben 
der wunderbaren „Heiligen ber legten Tage“ zu fällen. 
Diefes unfer Urtheil geht num aber, kurz gefaßt, dahin, 
daß das Mormonentgum allerdings als ein charakteriſtiſches 
Erzeugniß des amerifanifhen Thuns und Treibens be 
zeichnet werben kaun, über dag man mit einem bornehmen 
Achſelzuden nicht wohl hinweggehen darf, welches jedoch 
anbererſeits ſchwerlich als „eins ber größten Wunder 
und Räthfel der amerifanifhen Culturwelt“, dem kein 
„großartiger Schwindel” beigemifcht fei, aufzufaflen ift. 
Dies hindert und indeffen nicht, Buſch beizuftimmen, 
wenn er jagt: 

Das Mormonentfum will aus dem Boden, auf dem es 
erfland, aus hundert Einzelheiten in feiner Entwidelung be- 
griffen fein, und dazu bebarf es einer ausführlichen Darftellung, 
welche die Erfheinung an ähnlichen Phänomenen mißt, melde 
die Hauptdaraktere in dem Drama fid nad) Möglichkeit ſelbſt 
charattetjſiren läßt, und melde das, was nad) einem Vergleich 
der Berichte für und wider dunkel bleibt, aus dem Leben des 
Vanteetums, aus dem die beiden Propheten der Selte flam- 
men, und emjenigen in den weſtlichen Orenzregionen zu exe 
Mären im Stande if, wozu nur gründfiches Studium dieſes 
Drag nur im parteiifcher Färbung vorgeführten Lebens 
efähigt. 


der Mormonen. 


Die Religionsanfchauungen ber Mormonen find fo 
feltfamer Natur, daß feit Jahrhunderten im Bereiche der 
chriſtlichen Welt kaum ein feltfameres Exedo aufgetaudt 
if." Der Gottesglaube ift, wie unfer Autor ©. 352 fg. 
nachweiſt, materiell im gröbften Sinne des Wortes. 
„Bott ber Bater“ Hat einen Körper mil Gliedern und 
Theilen; er ift nicht allgegenwärtig, weil er jonft bem 
Nichts gleich fein würde. Die Menſchen, die in Polygamie 
leben, werben ihm einft im Jenſeits gleich und zwar voll- 
kommen gleich, aljo ebenfalls Götter fein. Lebende können 
Todte erlöfen, indem fle fich file diefelben taufen Laffen, 
fie können ihnen zu größerer Seligkeit verhelfen, indem 
fie ſich dieffeits mit ihnen vermählen. Yejus hat nad 
feinem Tobe ein zweites Leben unter ten Rothhäuten 
Amerilas gelebt, welche Nachkommen fraels find, er Hat 
inte ihnen gelehrt, Wunder gethan, Jünger gewählt 
u. ſ. w. 

Die Mormonen nennen ihr Regierungsſyſtem gern 
eine „Theo- Demokratie” und vergleichen fid in ihren 
bürgerlichen Beziehungen mit den alten Sraeliten unter 
Mofes. Bei ihnen ift die ftaatliche, refigiöfe und bürget ⸗ 
liche Gemeinde untrennbar verbunden. Der Borftand 
der Mormonen ift zugleich weltlicher und geiftliher Ges 
bieter, Richter und Prophet; fie geben eigenen Berftand 
und Urtheil ihrem Despoten unbedingt gefangen. 8. F. 
Neumann findet a. a. D. eine große Achnlichkeit zwir 
fchen der chineſiſch · chriſtlichen Selte der Taiping und den 
Mormonen; beide find zufälig auch um dieſelbe Zeit 
entftanden. 

Der Autor behandelt feinen Gegenftand in elf Ka- 
piteln. Die erften fech® Kapitel ſchildern zunächſt die 
Entftefung des Mormonismus und bie Charaktere der 
Hauptträger bdefielben; alsdann geben fie eine genaue 
Beſchreibung des Mormonenlebens in Mifjourt und 
Illinois. Das flebente Kapitel enthält eine Darftellung des 
mühe- und gefahrvollen Exodus ber Mormonen durch die 
Präiriewildnig des Weftens nach Utah und dem Beden 
des Salzſees, fowie eine intereflante Angabe des Berhält- 
niffes der Heiligen zu den Camaniten; im achten Kapitel 
finden wir eine treffliche Schilderung von Utah oder De- 
feret, außerbem behandelt der Autor hier die Verfafjungs- 
frage und die Einfegung einer Territorialregierung, das 
Verhältniß der Mormonen zu den Indianern, die Griindung 
verfchiedener Colonien, die Einführung der Polyganıie 
dur Brigham Young, ben Streit mit der Familie 
Joſeph Smith’s, den Conflict mit den Bundesbehörden 
der Union, die Miffionen im Auslande u. ſ. w. Das 
neunte Kapitel befchreibt das „neue Jeruſalem“ in feiner 
heutigen Geftalt, die Tempel, die Tabernakel, die Fabrilen 
die Bildungsanflalten, die künftige Univerfität mit Lehrern 
vom Himmel, wie der Mormonenältefte Vhelps fie einmal 
in einer ſchwungvollen Rede verfündigte, u. a. m.; bas 
zehnte Kapitel enthält das Glaubensbekenntniß ber Mor- 
monen, die Speculationen von Drfon Pratt u. j. w. 
Das elfte Kapitel endlich bringt eine Rechtfertigung der 
Bielweiberei von Pratt und ſchildert die Verfiegelungs- 
ceremonie, die Anfänge von Bolyandrie, bie ftellvertretend: 





Ehe und die Verheirathung mit Todten, die Eschatologie 
der Mormonen, den Beginn des taufendjährigen Reiche 
die Wiederfunft der verlorenen Stämme Sfrael’$ und den 





- 


Zur Geſchichte ver Mormonen. 691 


Züngften Tag. Vom achten Kapitel an Hat der Berfafier 
weſentlich das obengenannte Buch von Hepworth Dixon 
benutzt, jedoch in ziemlich ſelbſtändiger Weiſe. 

Der eigentliche Stifter und erſte Prophet des Mor⸗ 
monenthums, Joſeph Smith, zeichnete ſich durch Schlau⸗ 
heit, Sinnlichkeit und Habgier aus, anch fehlte ihm nicht 
jener eigenthümliche Humor, der in Amerila durch prak⸗ 
tiſche und gewinnbringende Spüße auf gewiſſe Perfünlich- 
keiten großen Einfluß gewinnt. Joſeph Smith iſt der 
religiſſe Barnum; er kaunte die Schwäche feiner Lands⸗ 
leute in religiöſen Dingen und verſtand es meiſterhaft, ſie 
auszubeuten. Obſchon zeitweiſe gewinnſüchtiger Specu⸗ 
lant in Staatsländereien und betrügeriſcher Bankdirector, 
wußte er ſich doch mit dem Scheine einer freundlichen 
Harmloſigkeit, wie dies nicht ſelten bei heuchlerifchen Frömm- 
fern der Fall ift, zu umgeben und feinen Anhängern Ber- 
frauen einzuflößen. Käufliche Zeitungen, wie 3. B. der 
nenyorker „Herald“, fchrieben von ihm: „Der Brophet 
iſt als Redner fühn, gewaltig und überzeugend, als Führer 
befonnen und Hug, dabei furchtlos; als Bürger vol Würde, 
Leutjeligfeit und Güte, einfach in feinen Manieren und 
vornehm in feiner Haltung.“ 

Bei der Wahlbewegung unter der Präfidentfchaft von 
Iohn Tyler war Smith verwegen ober unverfchämt genug, 
die Präfidentichaftscandidaten Henry Clay und John 
C. Ealhoun in einem Briefe vom 4. November 1843 auf- 
zuforbern, fie möchten ihre Anfichten dem Mormonenthum 
gegenüber zu erkennen geben. Beide, in jenen Tagen 
neben Daniel Webfter die erften Männer der Republik, 
ließen fi herab, dem Seher und Wunderthäter, dem 
Kicchenoberhaupt , dem Schulzen und Hotelbefiger zu 
Nauvoo in einer Weife zu antworten, welche das An⸗ 
fehen des religiöfen Humbugmanne derart fleigerte, daß er 
die Stirn hatte, felbft als Bewerber um die Prüfident- 
{haft der nordamerifanifchen Union aufzutreten (vgl. 
Ray. 5, S. 152 fg.). 

Was nun Brigham Young, den gegenwärtigen Pro- 
pheten anbetrifft, jo beurtheilen ihn, unferer Meinung 
nad fowol Hepworth Diron wie unfer Autor zu günftig. 
Nach allem, was wir über ihn gehört und gelefen haben, 
fliegen wir und dem allerbings barten Urtheil eines 
Correfpondenten der neuyorker „Zribune‘ an, der in einem 
von ber Salzfeeftadt (Salt Lake City) am 13, Juni 1869 
datirten Briefe ſich aljo ausfpricht: 

Brigham Young, welcher die Seele und belebende Kraft 
des ganzen Mormonenthums in Utah if, übt eine Gewalt aus, 
die ans Wunderbare grenzt. Daß er ein Mann von außer- 
ordentlichen Fähigkeiten in adminifirativer Beziehung ift, der die 
menfchliche Natur gründlich kennt, hat feine Vergangenheit hin⸗ 
lünglich bewieſen; fle hat aber auch zu derfelben Zeit bewiejen, 
daß er gemein, finnlih, ſelbſtfüchtig, grauſam, geigig und 
herrſchſüchtig iR und kein Mittel fcheut, um fein Bier zu er⸗ 


reihen. Er ift nicht bloß ein glänzender Schurke, ſondern aud)- 


ein gemeiner Schurke, ein Erzheuchler, ein Unterbrüder der 
Waiſen und ein räuberifcher Betrliger der Witwen. 

Der Eorrefpondent der „Zribune” rechtfertigt fein 
firenges, aber gerechtes Urtheil durch verſchiedene that- 
fächliche Belege und fagt dann mit Rüdficht darauf, dag 
Brigham Young von vielen feiner Anhänger „der Löwe 
de8 Herrn“ genannt wird: „The Lion of the Lord, for- 
sooth! The Were-wolf of the devil would be a more 
appropriate title.‘ 


Wenn unfer Autor in feinem Vorwort meint: „Viel⸗ 
leicht fchon in biefem Jahre, auf alle Fälle in einem ber 
beiden nädften, wird die Welt in die Reihe der demo- 
fratifchen Republiken, welche die amerifanifche Union bil« 
den, einen Staat eintreten fehen, der, wenn wir ihn. bes 
ziemlich durchſichtigen republifanifchen Scheins entlleiden, 
mit dem ihn bie vorfichtige Klugheit feiner Begründer 
umhüllt bat, nichts mehr und nichts weniger als ein Ber- 
ſuch ift, die Theokratie in Amerika einzuführen‘, fo zwei⸗ 
feln wir doch aus guten Gründen gar fehr daran, daß 
der Welt ein foldhes Schaufpiel geboten werben wird. 
Zur Begründung unferer Anficht könnten wir verfchiedene 
ältere und neuere Thatſachen anführen, wir begnügen 
uns aber, auf folgende Umftände, die allerdings Morig 
Buſch bei Abfafjung feines Buchs noch nicht befannt fein 
fonnten, weil fie erft fpäter flattfanden, hinzuweiſen. 

Ganz abgejchen davon, daß in der legten Zeit wieder- 
Bolt ernfthafte Streitigkeiten unter den Heiligen am Salzſee 
ausbradhen, die nicht dazu dienen konnten, das Anfehen 
von Brigham Poung zu flärfen, hielt der Vicepräſident 
der nordamerilanifchen Union, Schuyler Colfar, auf feiner 
Rückreiſe von Californien bei feinem Aufenthalte in Salt 
Lake City am 5. Dectober 1869 eine Rebe, in welcher er 
aus dem „Mormonenbucdhe” („Book of Mormon‘) felbft 
die Geſetzwidrigkeit der Vielweiberei bewies und die Ab- 
Ihaffung derfelben nach amerifanifchen Gefeten für noth- 
wendig erklärte. Zwei Tage fpüter wurde auf ber halb⸗ 
jährlichen Mormonenconferenz eine Denlſchrift abgefaßt, 
in welcher der Kongreß in Wafhington City um Zulaffung 
von Utah als Staat ber Union erſucht ward. Die Be 
völferung Utahs wurde darin auf 150000 Köpfe an- 
gegeben. Als nun im December 1869 der Congreß zu- 
fammentrat, 30g im Haufe der Keprüfentanten der Aus 
ſchuß für die Territorien die Frage, ob Utah als ein 
Staat in die Union aufgenommen werben follte, in &r- 
wägung, und obmwol kein beftimmter Beſchluß gefaßt wurde, 
fo jchienen die Mitglieder des Ausſchuſſes doch einflimmig 
der Anficht zu fein, daß die Aufnahme nicht eher ftatt- 
finden dürfe, als bis die Bielmeiberei abgefchafft fei. Hr. 
Cullom, Vorfigender des genannten Ausſchuſſes, wird — 
fo lanten die neneften Nachrichten — demnächſt eine Bill 
einbringen, die dahin geht, daß ben Mormonen alle Rechte 
der Bürger der Vereinigten Staaten fo lange entzogen 
werden follen, bis fie dem Gebrauche ober ber Unfitte 
der Polygamie entfagt haben. Dies ift ſchon ein harter 
Schlag gegen das Mormonenthum; es hat aber ganz den 
Anſchein, als ob noch ein ſchwereres Gewitter ſich ver- 
nichtend über den Häuptern der Mormonen zuſammen⸗ 
zieht. Der Bundesſenator Cragin bat nämlich am 21. De⸗ 
cember 1869 eine Bill, betreffend die Verwaltung von 
Utah, eingebracht, in welcher bie ganze Eontrole über die 
Gerichtsbarkeit in jenem Xerritorium in die Hände der 
Beamten der Union gelegt wird. Nicht Brigham Young, 
fondern dem Gouverneur allein fol die Ernennung der 
Richter und Milizoffiziere zuftehen. Ein befonderer Ab» 
Schnitt in der Bil ift gegen die Polygamie gerichtet und 
verbietet Heirathen in den fogenannten verbotenen Graden, 
die befanntlich unter den Mormonen und ihren Apofteln 
fehr beliebt find. Endlich werden auch viele von ben 
Territorialgefegen, vermittel® welcher Brigham Ponng 

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692 


und andere Mormonenpriefter ſich in ben Beſitz der werth« 
vollſten Ländereien und Privilegien im Territorium gejegt 
Haben, annullirt. Ein Gefeg wie dieſes, welches geradezu 
darauf berechnet ift, der Mormonentheofratie in Utah ein 
Ende zu maden, und welches ſehr mwahrfcheinlih vom 
Congreſſe angenommen wird, ift freilihd — wie die Er- 
fahrung gelehrt Hat — nicht auszufilhren ohne dag ben 
vollziehenden Behörden eine entfpredende Truppenmacht 
nr Seite ſteht. Für eine folde Macht wird indefien 
Beafident Grant im Nothfal ſchon forgen. Er hat ber 
reits am Schluffe des verflofienen Jahres den Gouvernenr 


Neue lyriſche Gedichte. 


von Utah, Hrn. Durkee, der wenig Energie entfaltete, 
abgefegt und an feine Stelle ben thatkräftigen Oberſien 
I. Vilfon Shaffer, welcher früher unter General Butler 
diente, ernannt und ihm, wie zuverläffige Berichte aus 
Waſhington City melden, im voraus fo viel Truppen 
zur Verfügung geftellt, als zur Aufrechterhaltung ber 
Unionögefege nöthig fein mögen, Unter joldien Umftän- 
den fcheinen und die Tage des Mormoninpapſtthums in 
Utah gezählt und die Einführung eines tbeofratifch regier- 
ten Staats in bie nordamerifanifhe Union, wie Morig 
Buſch dies annimmt, unmöglich zu fein. Mudolf Woche. 


Uene lyriſche Gedichte. 


1. Ranken. Gedichte von Marie Mindermann. Bremen, 
von Halem. 1870, Gr. 16. 1 Thlr. 

2. Morgenvoth. Jugendlieder von Helene Baroneffe von 
Engelhardt-Schnellenftein. Stuttgart, Metzler. 1870. 
©r. 16. 1 The. 

3. Ausgewählte Didtungen von Ludwig Leſſer. Nebft 
sum Abriß feines Lebens. Berlin, R. Lefier. 1870. 16. 

gr. 

4. Zunge Lieder von Gottfried Opig. Leipzig, Schulte. 
1869. 4. 1 Zhle. 10 Rgr. 

5 geriäte von F. Wilden. Leipzig, Matthes. 1869. 16. 

t. 


6 —— Gedichte von Chriſtian und Theodor Kird- 
Hoff. Altona, Lehmtuhl und Comp. 1870. 8. 1 Thlr. 
15 Nor. 


„In der Poetenwelt ift der ZTiers-Etat nicht nütlic, 
fondern ſchadlich“, fagt Heinrich Heine in feinem kilrzlich 
von Adolf Strobtmann herausgegebenen literariſchen 
Nachlaffe. Diefer Say des parifer Ariftophanes findet 
in den Zuftänden ber heutigen deutfchen Lyrik eine trefr 
fende Iluftration. Denn da ift e8 eben der Tiers-Etat, 
welcher mit feinen ins Breite wachſenden Dimenfionen 
die Keime des Beſſern und Beſten einengt und erftidt. 
Wie harakterifirt fich aber diefer Tiers-Etat in der Lyrik? 
wo haben wir ihn in derfelben zu ſuchen? Ex harafterifirt 
fich durch die Signatur einer halbwüchfigen, ſich ins Unbe ⸗ 
deutende verlierenden Subjectivität; wir haben ihn zu fuchen 
in jener in allen Kleinigkeiten des Lebens framenden, bald re⸗ 
ſignirt blafirten, bald kokett frivolen Nipptiſchpoeſie von Heute, 
deren Genealogie fih zum großen Theil auf unfern oben 
eitirten Gewährsmann Heinrich Heine zurüdfüßren läßt; 
wir haben ihm ferner zu fuchen in jener modernen Ro- 
mantif, welde nicht milde wird, die vormärzlichen The» 
mata von „Des Knaben Wunderhorn” endlos zu variiren. 
Auf jeder Buchhandlermeſſe ftellt diefer Tiers Etat — 
anadjroniftifch genug — fein zahlloſes Contingent zu dem 
Heerbann der Lyrik, und unter dem vorlauten Getöne 
feines monotonen Klingklangs von echten und, unechten 


Reimen verhallen ungehört die vollern, aber mn Zahl 
geringern Stimmen derjenigen, welche unter moder« 
nen Lyrilern ſich die voetiſche Vertretung höchſten, 
die Menſchheit und bie Zeit bewegendem. een zur 


Lebensaufgabe gemacht haben —: die Gedenkenlyrik, 
die Hdeendichtung fteht in Deutſchland längft auf dem 
Ausfterbeetat. . 

So finden wir denn auch unter den heute von uns 
zu beſprechenden lyriſchen Novitäten diefen ſchreibſeligen 





Tiers · Etat mit einigen Beifpielen vertreten. Ans Rüdfiht 
auf das leicht verlegte Gefühl ber Autoren möge es uns 
indeffen bei der folgenden iritiſchen Beleuchtung erjpart 
bleiben, die Spuren biefes Tiers-Etat am dem betreffenden 
Dichterphyſiognomien nachzuweiſen. Der zartfinnige Lejer 
wird an der Hand unſerer Beiprehung unter den ihm 
heute vorzuführenden Autoren, auch da wo wir nur an 
deuten, die ephemeren von ben höher organifirten Talenten 
zu fondern wiſſen. 

Unferer Gewohnheit gemäß laffen wir den Damen 
den Bortritt. 

Da begegnen wir denn zuerft einem recht reſpectabeln 
Talente in den „Ranken“ von Marie Mindermann 
(Nr. 1). Die Verfaſſerin baut die Gebiete des jang- 
baren Liebes, des Reflexionsgedichts und ber Ballade mit 
Glüd an. Die erfte Abtheilung der Sammlung bringt 
unter der Ueberfchrift „Wermifchte Gedichte” neben einigem 
Unbebentenden, zu welchem wir das etwas triviale Gedicht: 
„Man bildet viel ſich ein“, und das in feiner Idee Höchft 
unflare „In der Kirche” rechnen, manche hübſche Lieder ⸗ 
gabe, wie z. B.: „Die Nacht will niederſinien“ und 
Frage nicht nach dem Glauben”. Ein tief empfindendes 
Herz fpriht aus dem Cyflus „Einer Berklärten” und 
aus dem ſchönen Gediht: „Am Grabe meiner Mutter“, 
weldes letztgenannte wir bier folgen lafien: 

Der Himmel blaut, die Blumen ringsum prangen — 

Mein Sinn if trüb, mir thut die Pracht jo weh. 

Loft Wolfen um des Himmels Bläue bangen, 

Daß ich der Sonne Strahlengold nicht fch'; 

Sähließt eure Keiche Blumen, fenft in Schweigen 

Die zarten Häupter, fo voll Glanz und Duft: 

Ihr feht ja mich da® Haupt zur Erde neigen, 

Id) kann eud) nur umflorte Blide zeigen, 

Denn meinen größten Schag birgt diefe Gruft! 

Bel) Engelherz bewohnte diefe Hülle, 

Wie ruhig groß, wie fef und doch wie mild! 

Im bitten Schmerz fo mei; und dog) fo flille, 

Im ſchweren Kampf der Stärke ſchönes Bild. 

D du, die fo voll Liebe mich getragen, 

Did) fenfte man fo tief, fo tief hinab; 

Kein Marmor wird nad längft ent hwundnen Tagen 

Der Nachwelt, wer hier fhlummert, prunfend fagen, 

Denn pruntios wie dein Leben if dein Grab. 


Benn Seelengröße ungehemmt auf Thronen 
Die Arme fegnend Über Bölter red, 

Benn hohe Tugend Scepter trägt und Kronen, 
Hat fie im Bufen Ehrfurcht uns erwedt; 





Nene lyriſche Gedichte. 693 


Doch wer allein ſürs Höhre ſcheint geboren, 

Ber für das Schöne, Große fill erglüht 
Und dennoch aus dem Auge nicht verloren 
Des niedern Kreifes Pflicht, die ihm erloren, 

Tragi in ſich wahrhaft Königlich) Gemürh. 

&o, Mutter, warft du — umd mit lichten Zeichen 
Steht mir dein Bild im innerfien Gemüth, 

Das, feit im Tode ich dich fah erbleihen, 

In Schmerz und Lieb’ allein für did ergläpt. 

Seit id} von dir, dur reiner @eift, geſchieden, 

;ähl? ich mich fo verlaffen, fo allein, 
uch” ich umfonft nach jenem Kindesfrieden, 

Nad) dem. verlornen Paradies hienieden, 

Und ſehne mid, wie einft ein Kind zu fein. 

Seh’ ich dich einſt, wenn ich den Kampf vollendet, 
Benn meiner Thränen legte Hier verfiegt? 

Seh! ich dich einft, wenn id mich Hingemwendet, 

Bo Glanz und Größe diefer Welt verfliegt? 

Säß' ich did nit — was wären Emigkeiten, 

Die von dem Stern zu Stern die Brüde baun? 
in Höhnend Wort, gehörend ird'ſchen Zeiten! — 

Nein, will ein Gott den Himmel uns bereiten, 

Muß, was ſich liebt, auch dort ſich wiederſchaim. 

Neben ſolchen echt Igrifchen Mollllängen kennzeichnen 
patriotiſche Gedichte von energifcher Prägnanz wie: 
„Am 18. October 1863", das Talent Marie Minder- 
mann’s als ein zugleich empfindungsinniges und gefinnungs- 
träftiges. Den eigentlich heimifchen und ihrer Begabung 
am meiften angemefjenen Boden betritt bie Verfaſſerin 
aber erft in ber zweiten, „Balladen und Romanzen” über⸗ 
ſchriebenen Abtheilung der „Ranlen“. Sie weiß den Ton 
der Ballade meiftens glüdlich zu treffen. So hat die 
Bearbeitung der angelländifchen Sage „König Steäf” echt 
dichterij hen Guß, wie wir auch „Die Todtengloden zu 
Speier", eine ftilvole Glorification des Kaifers Heinrich IV., 
zithmend hervorheben, als ganz beſonders gelungen aber 
Die effectvole Erzählung: „Die Alte von Hufum“, und 
Das im dümonifchen Balladencolorit gehaltene Gedicht: 
-.Die Gloden der Lorettoiche zu Prag“, bezeichnen 
zeaüffen. 

Als bei weitem weniger gereift und in ber Form 
eindolllommener als die Gedichte von Marie Mindermann 
reifen ſich diejenigen der Berfafferin des „Morgenroth“, 
Ser Baroneffe Helene von Engelpardt-Schnellen- 
ein (Nr. 2). Dieſelbe führt fi in der den Gedichten 
mworgedructen Vorrede ald eine junge Rurländerin, welche 
erft eben das neunzehnte Lebensjahr überfchritten hat, beim 
Zublitum ein und nimmt für diefe ihre Exftlingsgedichte 
die Nachſicht deſſelben in Anfprud. Was kann man von 

einem fo jugenblichen Miter Gereiftes und Ausgetragenes, 
Tiefes und Gedanfenudlles erwarten? Eben nichts als 
die ungewifle Stimmung des heraufdämmernden Morgens. 
Morgenroth“ — die Berfaflerin konnte den Titel für 
ihre Meinen Lieder nicht paflender wählen. Denn das 
portifche Blumengärthen, in welchem bie blonde Mufe 
unſerer jungen Baronefje ihre dichteriſchen Veilchen und 
Bergigmeinnichtfränge windet, zeigt ſich uns zwar in ber 
Beleuchtung diefe® „Morgenrothes” als ein trauliches 
Bägchen, an welchem mande frifche Fieberblüte duftet — 
aber es liegt in der Niederung, meitab von ben Höhen 
des Parnaſſes, wo die Sonne im Zenith ficht. Wir find 
volllommen der Meinung der Berfafferin, wie fie diefelbe 
in der Vorrede naid ausjpricht, daf fie in ihrem Blumen- 





gärthen „ein wenig forgfältiger Hätten gäten follen“, 
Wenn wir indeß and; nirgends unter den Blumen 
unferer Dichterin der impofanten Centifolie ober der 
elegifhen Pafftonsblume begegneten, fo bat unfer Ange 
mit —— auf mancher noch halb in ber Knospe 
ruhenden Blüte geweilt. So haben z. B. die „Springen“ 
etwas Friſches und Naives: 

Springen blühn, Springen blühn, 

Nun müffen alle Sorgen fliehn ; 

Mein Herzen, bift du wirffich toll? 

Id weiß nicht, was das heißen ſoll, 

Du podeft ohne Raſt und Rub’, 

Was wilft denn du, was will benz du? 

Und treibt ſtets wilder mir das Blut, 

Umd jauchzeſt laut vor Uebermuth, 

Und wirft mir nod den Kopf verdrehn, 

Id fann fon nicht mehr ruhig gehn, 

Ich tanze durch das Wiefengrün, 

Springen blühn, Springen blühn. 

Springen biüähn, Syringen blühn! 

Auch meine Wangen höher glühn; 

€i, fag’ dad an, Syringenfrand), 

Birgft du für mid ein Glüdchen au? 

Fünf Blatichen, fieben, achte per 

Wie fonderbar, wie fonderbar 

Die leben mögen richtig fein, 

u Blättchen find Geſchwifier mein, 

wei andre find das Helternpaar, 
ie fieben find mir völlig Mar; 

YIedod wo kommt das achte hin? 

Springen blühn, Syringen blühn! 

Syringen blühn, Springen blühn! 

Die Schwalben in ihr Nefichen ziehn; 

Der Storch, ber Mappert feinen Gruß, 

Da fteht er ſchon auf Einem Fuß. 

Rur die Gyringen fehe ich, 

Bie feltfamli, wie feltfamtid)! 

Ic denke nur ans Blätten Mein, 

Bas mag mein achtes Glüdchen fein? 

Und autut ruft und Nachtigall: 

„Dein Glüdden findft du ihom einmal, 

D glaub’, das wird dir night entfliehn 1" 

Springen bfühn, Gyringen blühn! 

Aus der Zahl der übrigen Gedichte des „Morgenroth“ 
zeichnen wir noch „Wiegenlied“ und beſonders das ger 
müthvolle „Die kranken Geſchwiſter“ aus. Auch ift 
„Philemon und Baucis“, ein im Stil und in dem 
Strophenbane von Goethe's ‚Der Gott und die Bajabere” 

efchriebenes erzählendes Gedicht Hervorzuheben. Die den 

riginalgedichten beigefügten „Weberfegungen aus dem 
Ruſſiſchen“, welche Proben vom Grafen Alerander Puſchkin, 
Michael Lermontow u. a. bringen, find mit Verſtändniß 
ausgewählt und Iefen fich fließend. 

Welch ein Abftand zwiſchen den allzu jugendlichen 
poetifchen Probucten der neunzehnjährigen Helene von 
Engelhardt-Schnellenftein und den gereiften „Ausgewählten 
Dichtungen“ Ludwig Leffer’s (Mr. 3), welche un die 
Ausbeute aus einem ganzen, tiefbewegten und reichen 
Menſchenleben bringen! Das Gefühl, welches uns bei 
der Begegnung mit einem edeln, ben hödhften Zielen 
gleihmäßig zuftrebenden Charakter unwilltürlich überfommt, 
das Gefühl der Hochachtung, begleitete und dur bie 
Leltüre der Leſſer'ſchen Gedichte. Der Verfaſſer, durch 
feine mannichfachen frühern poetifchen Veröffentlihungen 
in zahlreichen belletriftifchen Blättern unter dem Namen 





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692 


und andere Mormonenpriefter fi in den Befig der werte 
voliften Ländereien und Privilegien im Territorium gefegt 
haben, annullirt. Ein Gefeg wie biefes, welches geradezu 
darauf berechnet ift, dee Mormonentheokratie in Utah ein 
Ende zu machen, und welches fehr wahrfcheinlih vom 
Congreſſe angenommen wird, ift freilihd — wie die Er- 
fahrung gelehrt Hat — nicht auszuführen ohne daß ben 
vollziehenden Behörden eine entfprehende Truppenmacht 
zur Seite ſteht. Für eine ſolche Macht wird indefien 
Präfident Grant im Nothfall ſchon forgen. Er hat ber 
reits am Schluffe des verfloffenen Jahres ben Gouverneur 


Nene lyriſche Gedichte. 


von Utah, Hrn. Durkee, der wenig Energie entfaltete, 
abgejegt und an feine Stelle den thatkräftigen Oberſien 
I. Wilfon Shaffer, welcher früher unter General Butler 
diente, ernannt und im, wie zuverläffige Berichte aus 
Waſhington City melden, im voraus fo viel Truppen 
zur Verfügung geſtellt, als zur Wufrechterhaltung ber 
Unionsgefege nöthig fein mögen. Unter folchen Umftän- 
den feinen uns die Tage des Mormonenpapfttfums in 
Utah gezählt und bie Einführung eines theofcatifch regier- 
ten Staats in bie norbamerifanifche Union, wie Mori 
Buſch dies annimmt, uundglich zu fein. Rudolf Woche. 


Nene lyriſche Gedichte. 


1. Ranken. Gedichte von Marie Mindermann. 
von Halem. 1870. Gr. 16. 1 Täler. 
2. Morgenroth. Yugendlieder von Helene Baroneffe von 


Engelhardt-Schnellenftein. Stuttgart, Metler. 1870. 
©r. 16. 1 Zhlr. 


3. Ausgewählte Dichtungen von Ludwig Leſſer. Nebſt 
sum Abriß feines Lebens. Berlin, R. Leffer. 1870. 16. 
gt. 
4. Junge Lieder von Gottfried Opitz. Leipzig, Schultze. 
1869. 4. 1 Zhlr. 10 Ror. 
5. geriäte von F. Wilden. Leipzig, Matthes. 1869. 16. 
25 


gr. 

6. Adelpha. Gedichte von Chriſtiau und Theodor Kirch- 

Sark Altona, Lehmtuhl und Comp. 1870. 8. 1 hir. 
ar. 


Bremen, 


„In der Voetenwelt ift der Tiers-Etat nicht nüglic, 
fondern ſchädlich“, fagt Heinrich Heine in feinem kürzlich 
von Adolf Strobtmann herausgegebenen literarischen 
Nachlaſſe. Diefer Sa des parifer Ariftophaned findet 
in ben Zuftänden ber heutigen deutſchen Lyrik eine trefe 
fende Iluftration. Denn ba ift e8 eben der Tiers-Etat, 
welcher mit feinen in® Breite wachſenden Dimenfionen 
die Keime des Beſſern und Beften einengt und erftidt. 
Wie harakterifirt ſich aber diefer Tiers-Etat in der Lyrik? 
wo haben wir ihn in derfelben zu ſuchen? Er charakieriſirt 
fi durch die Signatur einer halbwüchfigen, ſich ins Unbe« 
deutende verlierenden Subjectivität; wir haben ihn zu fuchen 
in jener in allen Kleinigkeiten des Lebens framenden, bald re⸗ 
ſignirt blafirten, bald ofett frivofen Nipptifchpoefie von heute, 
deren Genealogie ih zum großen Theil auf unfern oben 
citirten Gewährsmann Heinrich Heine zurüdführen läßt; 
wir haben ihn ferner zu ſuchen in jener modernen Ro- 
mantif, welde nicht mübe wird, die vormärzlichen The- 
mata von „Des Knaben Wunderhorn” endlos zu variiren. 
Auf jeder Buchhandlermeſſe ſteilt dieſer Tierd-Etat — 
anachroniſtiſch genug — fein zahllofes Eontingent zu dem 
Heerbann der Lyrif, und unter dem vorlauten Getöne 
feines monotonen Klingklangs von echten und, unechten 
Reimen verhallen ungehört bie vollern, aber n Zahl 
geringern Stimmen berjenigen, welde unter moder · 
nen Lyrikern ſich die poetiſche Vertretung höchſten, 
die Menſchheit und die Zeit bewegendent. een zur 
Lebensaufgabe gemacht haben —; die Gedmfenlyrif, 
die Ideendichtung fteht im Deutſchland längft auf dem 
Ausfterbeetat. . 

So finden wir denn auch unter ben heute von uns 
zu beſprechenden lyriſchen Novitäten biefen ſchreibſeligen 








Tiers · Etat mit einigen Beiſpielen vertreten. Aus Rüdfiht 
auf das leicht verlegte Gefühl der Autoren möge es uns 
indefien bei ber folgenden kritiſchen Beleuchtung erjpart 
bleiben, die Spuren dieſes Tiers-Etat an ben betreffenden 
Dicterphyflognomien nachzuweiſen. Der zartfinnige Lefer 
wird an der Hand unferer Beſprechung unter den ihm 
heute vorzuführenden Autoren, aud) da wo wir nur an 
deuten, die ephemeren von ben höher organifirten Talenten 
zu fondern wiffen. 

Unferer Gewohnheit gemäß lafien wir den Damen 
den Bortritt. 

Da begegnen wir deun zuerft einem recht vejpectabeln 
Talente in den „Ranfen“ von Marie Mindermann 
(Mr. 1). Die Verfaſſerin baut die Gebiete des jang- 
baren Liebes, des Reflexionsgedichts und der Ballade mit 
Süd an. Die erfte AbtHeilung der Sammlung bringt 
unter der Ueberfchrift „Vermiſchte Gedichte” neben einigem 
Unbebeutenden, zu welchem wir da® eimas triviale Gedicht: 
„Man bildet viel fi ein“, und das in feiner Idee höchſt 
unklare „In der Kirche‘ rechnen, manche hübſche Lieder» 
gabe, wie 3. B.: „Die Nat will niederfinfen” und 
Frage nicht nach dem Glauben“. Ein tief empfindendes 
Herz fpriht aus dem Cyflus „Einer Berflärten“ und 
aus dem ſchönen Gedicht: „Am Grabe meiner Mutter“, 
welches letgenannte wir hier folgen laſſen: 

Der Himmel blaut, die Blumen ringsum prangen — 

Mein Sinn ift tehb, mir thut die Pracht jo weh. 

Laßt Wolfen um des Himmels Bläue bangen, 

Daß ich der Sonne Strahlengold nicht jeh'; 

Säjließt eure Kelde, Blumen, fentt in Schweigen 

Die zarten Häupter, fo voll Glanz und Duft: 

Ihr feht ja mic das Haupt zur Erde neigen, 

Id) iaun euch nur umflorte Blide zeigen, 

Denn meinen größten Schoß birgt diefe Gruft! 

Weich Engelherz beroohnte diefe Hille, 

Wie ruhig groß, wie fett und doch mie mild! 

Im bittern Schmerz fo weich und dog) fo flille, 

Im ſchweren Kampf der Stärke ſchönes Bild. 

D du, die fo voll Liebe mic getragen, 

Did) fenfte man fo tief, fo tier hiab; 

Kein Marmor wird nad längft entihwundnen Tagen 

Der Nachwelt, wer hier fHlummert, prunkend fagen, 

Denn prunfio® wie dein Leben iR dein Grab. 


Wenn Seelengröße ungehemmt auf Thronen 
Die Arme fegnend über Völker ſtrict, 

Benu hohe Tugend Scepter trägt und Kronen, 
Hat fie im Bufen Ehrfurcht uns erwedt; 





Neue lyriſche Gedichte. 693 


Doch wer allein fürs Höhre ſcheint geboren, 
Wer für das Schöne, Große ſtill erglüht 
Und dennoch aus dem Auge nicht verloren 
Des niedern Kreiſes Pflicht, die ihn erkoren, 
Trägt in fich wahrhaft königlich Gemüth. 
So, Mutter, warſt du — und mit lichten Zeichen 
Steht mir dein Bild im innerſten Gemüth, 
Das, ſeit im Tode ich dich ſah erbleichen, 
In Schmerz und Lieb' allein für dich erglüht. 
Seit ich von dir, du reiner Geiſt, geſchieden, 

ſhl' ich mich fo verlafſen, fo allein, 

uch’ ich umfonft nad) jenem Kindesfrieden, 
Nach dem. verlornen Paradies bienieden, 
Und fehne mid, wie einft ein Kind zu fein. 
Seh’ ich dich einft, wenn ich deu Kampf vollendet, 
Wenn meiner Thränen letzte bier verfiegt? 
Seh’ ich dich einft, wenn ich mich hingewendet, 
Bo Glanz und Größe diefer Welt verfliegt? 
Säh' ih di niht — was wären Ewigkeiten, 
Die von dem Stern zu Stern die Brüde baun? 
Ein höhnend Wort, gebörend ird’Ihen Zeiten! — 
Kein, will ein Gott deu Himmel uns bereiten, 
Muß, was fi liebt, auch dort fi wiederfchaun. 
Neben folchen echt lyriſchen Mollklängen kennzeichnen 
patriotiſche Gedichte von energiſcher Prägnanz wie: 
„Am 18. October 1863, das Talent Marie Minder⸗ 
mann's als ein zugleich empfindungsinniges und gefinnungs- 
fräftiges. Den eigentlich heimifchen und ihrer Begabung 
am meiften angemeflenen Boden betritt die Berfafferin 
aber erft in der zweiten, „Balladen und Romanzen“ iiber- 
ſchriebenen Abtheilung der „Ranken“. Sie weiß den Ton 
der Ballade meiftens glüdlich zu treffen. So hat bie 
Bearbeitung der angelländifchen Sage „König Steäf” echt 
dihterifchen Guß, wie wir auch „Die Todtengloden zu 
Speier“, eine ftilvolle Slorification des Kaifers Heinrich IV., 
rühmend hervorheben, als ganz bejonders gelungen aber 
die effectvolle Erzählung: „Die Alte von Hufum“, umd 
das im dämoniſchen Balladencolorit gehaltene Gedicht: 
„Die Gloden der Lorettoliche zu Prag”, bezeichnen 
müſſen. 

Als bei weitem weniger gereift und in der Form 
unvollkommener als die Gedichte von Marie Mindermanu 
erweifen fich diejenigen der Berfafferin des „Morgenroth“, 
der Baronefje Helene von Engelhardt-Schnellen- 
fein (Nr. 2). Dieſelbe führt fi in ber den Gedichten 
vorgedrudten Vorrede als eine junge Kurländerin, welche 
erft eben das neunzehnte Tebensjahr überfchritten hat, beim 
Publikum ein und nimmt fir diefe ihre Erſtlingsgedichte 
die Nachſicht defjelben in Anfprud. Was kann man von 
einem jo jugendlichen Alter Gereiftes und Ausgetragenes, 
Tiefes und Gedanfenuolles erwarten? Eben nichts als 
die ungewiſſe Stimmung des heraufdämmernden Morgens. 
„Morgenroth“ — die Berfafferin konnte den Zitel für 
ihre Heinen Lieder nicht paffenber wählen. Denn das 
poetifche Blumengärthen, in welchem die blonde Muſe 
unferer jungen Baronefje ihre dichterifchen Veilchen⸗ und 
Bergigmeinnichtlränge windet, zeigt fi) uns zwar in ber 
Beleuchtung diefes „Morgenrothes” als ein trauliches 
Bläschen, an welchem manche frifche Liederblüte duftet — 
aber es liegt in der Niederung, weitab von den Höhen 
bes Parnafjes, wo die Sonne im Zenith ſteht. Wir find 
vollflommen der Meinung der Verſaſſerin, wie fie diefelbe 
in ber Vorrede naiv ausfpricht, daß fie in ihrem Blumen⸗ 


. 


gärtchen „ein wenig forgfältiger hätten gäten follen“. 


Wenn wir indeß and nirgends unter ben Blumen. 


unferer Dichterin der impofanten Centifolie ober der 
elegifchen Paſſionsblume begegneten, fo bat unfer Auge 
mit Wohlgefallen auf mander noch halb in ber Knospe 
ruhenden Blüte geweilt. So haben z. B. die „Springen“ 
etwas Frifches und Naives: - 

Syringen blühn, Syringen blühn, 

Nun müffen alle Sorgen fliehn ; 

Mein Herzchen, bift du wirklich toll? 

Ich weiß nit, was das heißen fol, 

Du pocheſt ohne Raſt und Ruh’, 

Was wilft denn du, was will denn du? 

Und treibfi flets wilder mir das Blut, 

Und jauchzeft Taut vor Uebermuth, 

Und wirft mir nod den Kopf verdrehn, 

Ih kann Schon nicht mehr ruhig gehn, 

Ich tanze dur das Wiefengrün, 

Springen blühn, Syringen blühn. 

Syringen blühn, Syringen blübn! 

Auch meine Wangen höher glühn ; 

Ei, ſag' doch an, Syringenftraud), 

Birgft du für mid ein Glückchen au? 

Fünf Blättchen, fleben, achte gar, 

Wie fonderbar, wie fonderbar! 

Die fieben mögen richtig fein, 

ünf Btätthen find Geſchwiſter mein, 
wei andre find das Aelternpaar, 

Die fieben find mir völlig Mar; 

Jedoch wo kommt das achte Hin? 

Syringen blühen, Syringen blühn! 

Syringen biühn, Gyringen blühn! 

Die Schwalben in ihr Neſtchen ziehn; 

Der Storch, der klappert ſeinen Gruß, 

Da ſteht er ſchon auf Einem Fuß. 

Nur die Syringen ſehe ich, 

Wie ſeltſamlich, wie ſeltſamlich! 

Ich denke nur ans Blättchen klein, 

Bas mag mein achtes Glückchen fein? 

Und Kukuk ruft und Nachtigall: 

„Dein Glückchen findft du fchon einmal, 

D glaub’, das wird dir nicht entfliehn!“ 

Springen blühn, Syriugen blühn! 

Aus der Zahl der Übrigen Gedichte des „Morgenroth‘ 
zeichnen wir noch „Wiegenlied” und befonders das ge- 
müthvolle „Die kranken Geſchwiſter“ aus. Auch ifl 
„Bhilemon und Baucis“, ein im Stil und in bem 
Strophenbaue von Goethe's „Der Gott und die Bajadere“ 
geſchriebenes erzühlendes Gedicht hervorzuheben. Die den 
Driginalgedichten beigefügten „MUeberfegungen aus dem 
Ruſſiſchen“, welche Proben vom Grafen Alexander Puſchkin, 
Michael Lermontow u. a. bringen, find mit Verftändniß 
ausgewählt und Iefen fich fließend. 

Welh ein Abftand zwifchen den allzu jugendlichen 
poetifchen Producten der neunzehnjährigen Helene von 
Engelhardt-Schnellenftein und den gereiften „Ausgewählten 
Dichtungen“ Ludwig Leſſer's (Nr. 3), welche uns bie 
Ausbeute aus einem ganzen, tiefbewegten und reichen 
Dienfchenleben bringen! Das Gefühl, welches uns bei 
ber Begegnung mit einem edeln, den höchſten Zielen 
gleihmäßig zuftrebenden Charakter unwillkürlich überlommt, 
das Gefühl der Hochachtung, begleitete uns durch die 
Lektüre der Leſſer'ſchen Gedichte. Der Berfafler, durd 
feine mannichfachen frühern poetifchen Beröffentlihungen 
in zahlreichen belletriftifchen Blättern unter dem Namen 








« B — .. 
ee . : . 
Y Ve TERN EL TIER Ber a 


694 


2. Liber, namentlich als feinfinniger Räthfelbichter bekannt, 
jehört feit dem 2. December 1867 zu den Berftorbenen. 
ihm verlor feine zweite Vaterſtadt Berlin (Lefler 
wurde am 7. December 1802 zu Rathenow von judiſchen 
Acltern geboren) einen ihrer werfthätigfien Mitbürger, 
einen Mann, welcher dur die reichen Gaben feines 
Geiſtes und Herzens auf literarifchem, focialem und 
politiſchem Gebiete in engern und weitern reifen fein 
Leben hindurch fegensreih und beglüdend gewirkt hät. 
Bir begrüßen die foeben erfchienenen „Ausgemäßlten 
Dichtungen“ Ludwig Leffer’s als ein würdiges und banern- 
bes Dentmal eines echten Mannes und edeln Dichters. 
Es ift nicht das elegifche Pathos einer mit dem Höchften 
Fragen philoſophiſcher Specnlation ringenden Künftler- 
feele, es if nicht die glühende Leidenſchaft eines in 
Dithyramben redenden Dichtergenius, fondern es ift einer- 
feits die harmoniſch abgeflärte, mit den realen Yactoren 
des Lebens rechnende Eontempfation, es ift andererfeits 
die ebenfo Teichtflüffige wie tieffinnige Geftaltungstraft 
einer abgefchlofienen Dichterperfönlichkeit, was und aus 
den Leſſerjchen Poefien fo ſympathiſch auſpricht. Diefel- 
ben, zu einem großen Theil bereits aus ben dreißiger 
Jahren flammend, tragen überall den Stempel warmer 
Herzensempfindung, beweglicher Phantafie und großer 
Formgewandtheit und bringen e8 namentlich in ihrer er- 
flen Abtheilung: „Poetiſche Erzählungen, Romanzen und 
Balladen“, zu oft muftergültigen Leiftungen. Wir fegen 
bie zu dieſer Rubrik zählende ſchöne Romanze: „Schach 
Ibrahim und der Derwiſch“, melde in mande Antho- 
Iogien übergegangen ift, als befannt vorans und nennen 
ferner noch als befonders glänzende Beiſpiele aus dieſer 
Abtheilung bie nad) einer Stelle des Talmud gedichtete 
Legende: „Bon ben fleben treuen Söhnen“, und das 
Gedicht: „Die Mutter.” Als Probe des Leſſer'ſchen 
Ballabenſtils möge hier das folgende Poem einen Piatz 
finden: 
Die jüngfe Tochter. 
cixiandiſch) 
Mutter, zähle deine Töchter, 
Butter, zähle fie geſchwind, 
Ob fie alle fünf beifammen 
Im der trauien Kammer find. 
Und die Mutter Magt und jammert, 
Als fie ihre Töchter zählt; 
Denn, wie fle aud fpäht und rufet, 
Ad, die jüngfte Tochter fehlt. 
BWeinend ging hinaus die Süngfte, 
Einſam an des Bades Rand, 
Dentend des geliebten Jünglings, 
Der ihr fern Im fremden San 
Und am Ufer traurig mwanbelnd, 
reift fie einer Linde Zweig, 
Streift ihm ab bie fner'gen Blüten, 
Daß er ſchmudlos fei, ihr gleich. 
Ad! da reift fie mit den Blüten 
Bon dem Finger ihren Ring, 
Den fie von dem Heißgeliebten 
Bei dem Abſchiedslkuß empfing. 
Und als fie den Ring num ſuchet 
Im den Bellen Har und rein, 
Stürzt mit ihrem Weh die Jungfrau 
Selber in den Bad) Hinein. 





Neue lyriſche Gedichte. 


Dod der Bad hält fie nicht fange, 
Führer fie dem Gtrome zu, 
Und es trägt der Strom die Iamgfrau 
Hin zum Deere fonder Ruh 
Doc das Meer, das tiefbewegte, 
Hüßt fie in ein Schaumgemand, 
Wiegt fie fanft und trägt fie wieder 
Hin anf einen meiden Strand. — 
Jahre ſchwinden — aus dem Gtrande 
Sproßt ein Lindenbaum hervor, 
Der mit fünf der fhönften Aefe 
Sölant und lieblich wude empor. 
Eines Morgens tritt ein Süngfing 
Fr ber ſchlanken Linde bin, 

Ind er bricht der Aefte ſchönſten 
Sich voll heiterm Jugendfinn. 
Shnigt und biegt den Zweig zur Harfe, 
Ziehet drauf der Saiten Bold, 
Und er ruft, alß er fle rührer: 
„Welch ein Ton, wie lieblich hold!“ 
Geht zur Mutter mit der Harfe, 
Doc, wie fie vernimmt den Klang, 
Spricht fie weinend: ,„&o, adı, rben 
Meine jüngfte Tochter fang!" 

Die zweite Abtheilung: „Lyriſches (Ernſter Sarg)” 
enthält manches Bebeutende; fo die vom Geifte echter 
Religiofität erfüllten „Choräle“, welche zum Theil in bas 
Geſangbuch der jüdifchen Gemeinde zu Berlin aufgenom- 
men worden find; fo ferner die Gedichte „Mahnung“, 
„Mailied“ und das im Strophenban und der Reime 
verfhlingung von Schillers „Würde der Frauen” ge- 
ſchriebene Reflerionspoem „Denker und Dichter”. 

Unter ber Ueberfchrift „Lyriſches (Heiterer Gang)” 
bringt die dritte Abtheilung Beifpiele des Töftlichften Hu« 
mors und bildet infofern das Gegenbilb zu der vorher- 
gehenden. Sie illuſtrirt recht lebhaft die alte Wahrheit, 
daß der rechte Exrnft immer Hand in Hand geht mit der 
rechten Heiterfeit. Aus ber vierten Abtheilung: „Ueber« 
fegungen“, find namentlich „Donna Alda” (aus dem 
Spaniſchen) und die „Hugenottenlieder” (aus dem Fran- 
öfifchen) Hervorzugeben. Die Sammlung ſchließt mit 
„Selegentlid®s”, einer Rubrik, welche unter anderm das 
ſchöne Gedicht „Am Begräbnißtage 2. Uhland's“ bringt, 
würdig ab. 

Bas die „Yungen Lieder” von Gottfried Opig 
(Rr. 4) betrifft, fo fteht die Inzuriöfe Ausſtattung der 
felben zu ihrem geiftigen Gehalte in einem Misverhältniß. 
Wenn wir z. B. anf ©. 141 des in Quart erfcier 
nenen Buchs nichts als den winzigen Bere: 

Ieden Frühling blühen andre Rofen, 

Jeden Hrübling oft ein andrer Wind, 

Jeden Es träuft ein audrer Regen, 

Jeden Hrühling kuß' ich ander Kind — 

Iefen, fo kommt uns unwillkürlich die maliciöfe Frage: 
ob die Leerheit des glatten Velinpapiers oder biejenige des 
glatten Berfes eine größere fei? Diefer Vers könnte jehr 
wohl ale Motto der „Jungen Lieber“ von Opitz dienen. 
Denn der Frühling und die Liebe find die Themata, welche 
die Opitz ſche Dichtung zwar in meiftens vecht nett der» 
fifteirten Strophen, aber im ganzen ohne geiftige Beden- 
tung und gemüthliche Tiefe behandelt. Zu dem beffern 
ber „Jungen Lieber" zäpfen: „Ein Schmetterling zum Bliüm- 
lein flog“, „Du bift fo jhön, wer kann dir grollen“ und 


Neue lyriſche Gedichte. 695 


Heidelberg“, von denen das legte fogar das Prädicat 
„shwungvoll” verdient. Das zweite der ebengenannten 
Xieder fegen wir hierher: 
Du bift fo ſchön, wer kann dir grollen, 
&o voller Lieb’ und Heiterkeit, 
Daß Ehrfurcht felbft die Rohflen zollen, 
Und doch von jedem Stolz fo weit. 
Berfhönend wirfet deine Nähe 
Bie in der Welt das Sonnenlicht, 
Und wo ich in bein Auge fehe, 
Wird alles Tag, Lenz und Gedbicht. 
Berföhnend fließen deine Worte 
Aus diefem füßen Friedenemund, 
Der Hader weicht von jedem Orte 
Und, wo du bift, zu jeder Stund'. 
Wie ih in der kryſtallnen Welle 
Der Bogel das Gefieder negt 
Und nen erfriſcht, mit neuer Helle 
Die Lüfte mit Gefang ergögt: 
So babet fi in deinen Bliden 
Der Geit mix wieder jung und neu 
Und fingt, verſöhnt mit den Gefdiden, 
Bon Anmuth, Huld und Weibestren, 

Hätte Opitz lauter jo hübſche Liedchen geliefert, wir 
wilrden die Sammlung loben fönnen. Aber es läuft in 
derfelben zu viel des Trivialen mit unter. Wer heute 
Lieder fammelt, fammle mit Wahl! 

Die in der Form recht gemandten Poeſien von 
F. Wilden (Mr. 5) zerfallen in die Abtheilungen: „Did; 
ter& Lieb’ und Leid. Zwei Sonettenkränze”; „Bermifchte 
Gedichte"; „Romanzenkranz‘; „Treue. Ein Sonetten- 
franz” und „Bilder der Gedichte". Den Sonettenkrängen 
Tonnten wir wegen ber nicht wegzulengnenden Manierixtheit, 
welche biefer Form nun einmal anklebt, Feinen Gefhmad ab- 
gewinnen, obgleich ihnen, namentlich dem „Treue“ betitelten, 
ein gewiffer dichterifher Gehalt nicht abzufprechen iſt. Die 
„Bermifchten Gedichte” enthalten neben einer metriſch fehr 
unvolllommenen Obe und einigen andern mehr ober weni« 
ger gelungenen Gedichten das phantafie- und gemüthvolle 
ngraum“. Der „Romanzenkranz“ läßt Prägnanz und 
epiſchen Stil vermiffen, wogegen die „Bilder der Ge- 
ſchichte“ ftelenweife Freskenſtil befunden. Aber es fehlt 
ihnen die einheitliche Geftaltung ber ihnen zu Grunde 
liegenden Idee, fowie künſtleriſche Abrundung. Auch ber 
einträchtigt die Licenz, welche fi ber Verſaſſer erlaubt 
hat, indem ex die dritte Abtheilung dieſes Cyklus, ab» 
weihend von den übrigen trodäifchen, in iambiſchem 
Maße fehrieb, die Wirkung des Ganzen. Die „Bilder 
der Gefchichte” fehliegen mit folgenden auf die Franzoſiſche 
Revolution bezüglihen Verſen: 

Wie der Löwe, wenn die Wuſte 

Zaglang ihm den Raub verfügt, 

Wenn die flüchtige Gazelle 

Scheu an ihm vorüberjagt, 

Mit des Donners wilden Brüllen 
. Auf die Beute niederfällt 

Und mit einem mächt'gen Schlage 

Mark und Leben ihr zerigelt: 

Afo lürzen zur Baftille 

Dicht gedrängt die wilden Reihn; 

Und die ſchweren Ketten brechen 

Und die Thore ſtürzen ein; 

Und es färbt vom Blut der alten 

Grauen Hüter ſich der Grund; 

Und die Fahne dr Luteten 


Wehet auf den Trümmern rund. 
Fr dem König von Berfailles 
ritt ein Hofmann ernſt heran 
Und erzäglt mit feuer Miene, 
Bas Paris fo kühn begann. 
„Run, was if’6? ein Heiner Aufſtand“, 
ft verägtlih Frankreichs Gohu. 
„Rein, Herr König” — fpricht der andre, 
„Das iſt Revolution.” 

Die „Gedichte von F. Wilden haben nichts Eigen- 
artiges und feheinen Producte eines noch fehr jugendlichen 
Berfaffers zu fein. Die Kritik darf fie als eine glüdliche 
Talentprobe, als dichteriſche Studien willkommen heißen, 
wenngleich fie ihnen eine größere Bedeutung nicht beie 
meſſen fann. 

„Adelpha“ betiteln ſich die gemeinfam herausgegebenen 
Gedichte zweier Autoren, vermuthlich Brüder, von denen 
der eine in Altona, der andere in San- Francisco lebt, 
die Gedichte von Ehriftian und Theodor Kirchhoff 
Mr. 6). Wenn wir die bichterifchen Leiftungen beider 
gegeneinander abwägen, fo finkt die Fritifche Wagſchale zu 
Gunſten des Iegtern: ein Umftand, welcher vielleicht zu 
einem großen Theil feinen Grund darin bat, daß ſich 
diefem mittel® eines, wie es fcheint, reicher bewegten Le— 
bens eine ungleich auögiebigere Stoffwelt für feine dich- 
terifchen Beftrebungen erfhloß, als fle jenem zu Gebote 
and. Chriftian Kirchhoff's Producte Überfchreiten faft 
nirgends den Werth des Mittelguts und bewegen ſich in 
einer etwas monotonen Weile auf 176 Geiten beinahe 
ausſchließlich um das Verhältnig des Dichters zu feiner 
Geliebten. Iſt diefes Verhältniß nun aud, wie es in 
der That aus jeder Strophe der Heinen Lieder hervorgeht, 
eins der innigften, veinften und fhönften, fo machen denn 
doch Publitum und Kritit an poetiſche Erzeugniſſe, welche 
heutzutage an bie Deffentlichfeit treten, mit echt größere 
Borderungen, als fie die Liederblüten Chriftian Kirchhoff's 
befriedigen Können. Die deutſche Literatur Hat des jub- 
jectiven Minnefangs genug, mehr benn genug, und nur 
groß ausgeprägten Talenten, melde mitteld einer origie 
nellen Lebensauffaffung im Stande find, bie Liebestyrik 
mit neuen gebanflihen Elementen zu erfüllen und ihr 
neue Seiten abzugewinnen, nur folgen Talenten fteht es 
zu, heute noch vor die Nation zu treten. Was wir wie 
von jeder echten Poefle, fo auch von der Liebeslyrik for- 
dern, das ift, daß fie etwas Typifches, etwas Weltweites 
habe; eine große Leidenfchaft muß fie tragen. Was in- 
tereffirt es den Leſer, ob Chriftian Kirchhoff ſich in Alt- 
wieb von feiner Geliebten den Hut befrängen läßt, oder 
bei Heifterbad} ihr zu Ehren einen fieggekrönten Wettlauf 
unternimmt? Zu den beſſern Gedichten Kirchhoff's ge- 
hört das folgende, welches von einer echt lyriſchen Stim- 
mung durchweht ift: 

Monrepos. 
Durch die fonnige Ebene wanderten wir 
An der Wied zu des Fürflen Jagdſchloß hinauf 
Und traten ins Kühle Korftrevier, 
Bo bei Rodenbach mit raſchem Lauf 
Veruutereilen die Quellen. 
Bie wuchſen im Thal, am riefelnden Bach 
Der großen Vergigmeinnicht fo viel! 
Die Sonne blidte durchs grüne Dad 
Mit taufend goldenen Augen ins Spiel 
Der muntern Bögel und Wellen. 


696 Bilder aus dem Alterthum. 


Da blieben wir beide zögernd zurüd, 

Und pflüdten der Blümchen, und nimmer ung: 
Und taufchten die Sträuße mit liebendem Blid. 
Und folgten von fern der Freunde Zug, 

Und hörten im Walde fie fingen. 


Bir traten hinaus vor das Firfienfhloß, 
Dos ſchneeweiß ſtrahlende Monrepos. 

Wie der glänzende Ahein durche Gefilde floß, 
So war die Seele uns maienftoh 

Und mod’ in die Lüfte ſich ſchwingen. 


Die leuchtenden Fluren, die waldigen Höhn, 
Die lagenden Dörfer am Ufer der Wied — 
Mein Lieb zeigt’ olles mir freudenfhön, 

Als gehört’ ihr ringe das weite Gebiet, 
Der Königin meines Herzens. 


Mehr Prägnanz und eine bebeutendere Phyſiognomie 
als diejenigen Chriftian’6 haben bie Gedichte von Theo» 
dor Kirchhoff. Ya, biefelben befunden fogar mitunter, 
namentli da, wo fie die Schranken rein fubjectiven Ge» 
fühlslebens durchbrechen und Welt und Zeit in ihren 
Kreis ziehen, einen gemiffen großen Zug, etwas Feru- 
blidendes, etwas Eulturhiftorifh- Orandiofes, wie die ſehr 
Hangvollen und inhalt weren „ZTerzinen“ aus Stalien 
und das „Miffiffippi-Panorama‘ beweiſen. Der Ber- 
faffer ift ein vielgereifter Mann, der es verfteht, bie 
Böoller mit ihren Sitten und die weite Welt mit ihren 
wechſelnden Naturfcenerien in feinen Poeſien wiberzufpie- 
geln. Dem „Stillen Meere” widmet der Dichter die fol« 
genden anapäftifchen Strophen: 

Biltommen, bu herrliches Stilles Meer 
von teopiiher Fülle umgeben, 

Wo bie ſchwelienden Waffer im Gonnenglang 
wie wonneathmend fi) heben, 

®o Tlar ſich fpiegelt der Berge Kranz 
im Schoſe der Azurmogen, 

Und dunkelblau barüber ih wölbt 
des füblijen Himmels Bogen. 


Billlommen, du Golf von Panama 
mit den Infeln vol buftender Wälder, 
Bo am Fuhe der grünenden Hügel ſtehn 
die raufhenden Zuderrohrfelder, 
Mit den alten Gemänern fo traulich dort 
im Säatten ber Kolosbänme,, 
®o die fäufelnden Winde melodiſch wehn 
wie im Banberfande der Träume. 
Einft ſah dich ſtaunend, ein nenes Meer, 
der tropiſchen Urwelt Spiegel, 
Der Spanier, blinfend im Panzerffeib, 
von des Inhmus jmellendem Hügel. 
Nach Golde ſuchend, irrte er weit, 
gen Werten, gen Welten immer; — 
Auq mid verlodte vom Baterland 
des Weſtlands goldener Schimmer. 
Ihr blanfen Gewäffer, tragt mid) ſacht 
vom palmenumgürteten Strande, 
Bon Neu-Granadas bläulihem Golf 
zum californifhen Lande, 
Wo der Waldftrom rauſcht auf goldenem Sand 
über funfelnde Belfenquadern 
Und die Felewand bligt wie edles Geſtein, 
durdflodten von leuchtenden Adern. 

Über die Sehnſucht nad der Heimat ift mächtiger als 
der Reiz der Tropen, und das Gedicht Mingt mit fol- 
genden elegiſchen Berfen ſchön aus: 

Hindber, hinüber zieht es mich 
zur Heimat aus ferneften Weiten! 
Nicht feffeln der Südfee Zauber mic 
und die Himmel tropiſcher Breiten. 
Ihr duftenden Wälder lauſchtet nie 
der Nadhtigall Trilleraccorden, 
Und grüner al® Palmen von Panama 
find die Buchenhaine im Norden. 

Neben diefen im Freslenſtil gehaltenen Gedichten finden 
ſich bei Theodor Kirchhoff einfache Lieder voll Gemüth 
und Innigleit, wie 3. B. „Der lieben Mutter ſtilles 
Grab“, welches unwiderſtehlich das Herz gewinnt, weil 
«8 aus dem Herzen flammt. Wir begrüßen den Ber- 
fafler als ein refpectables Talent. 


Bilder aus dem Alterthum. 


Hiftorife Bilder aus der alten Welt. Bon Arthur Stahl. 
Wien, Hartfeben. 1870. 8. 1 Zhfr. 10 Nr. 

Die Zeit ift vorüber, in welder Meißner, Feßler 
u. a. in fogenannten biftorifchen Romanen die Heroen des 
Alterthums den modernen Leſern mundgerecht zu machen 
pflegten. Der hiſtoriſche Roman, namentlich der Mes 
moirenroman, wählt in jüngfter Zeit feine Stoffe mit 
einer berechtigten Vorliebe aus der Neuzeit, welche den 
Huftincten des Lefepublitums beffer entgegenfommt. 

Anders verhält es ſich mit einzelnen Eulturbildern, 
wie fie Arthur Stahl und hier in einer Meinen Samm- 
fung mittheilt. Die ganze Breite der Eultur, wie fie 
ein großer Roman nöthig hat, würde uns fchleppend er- 
feinen durch die Fülle des ardäologifchen Details, welche 
er notwendig ausframen muß, und felbft ein mit fo viel 
Fleiß und Geift ausgeführtes Gemälde wie Bulwer's 
„Leiste Tage von Pompeji” enthält einzelne Kapitel, die 
uns wie ber erläuternde Katalog eines archäologiſchen 
Muſeums gemahnen und uns aus dem freien Reich der 





Bhantafie in die Eüle de8 Museo Borbonico verfegen. 
Wenn ums aber ein Autor einzelne Lichtpunkte antiker 
Eultur vorführt, fo laſſen wir uns gern eine Zeit lang 
feffeln; namentlih wenn bie mit Geſchmack und Geift 
geſchieht, ohne notizenhafte Trodenheit auf der einen Seite, 
ohne phantaftifche Weberfchwenglichteit auf ber andern. 
Den „Hiftorifchen Bildern“ von Arthur Stahl darf man 
nahrühmen, daß fie uns weder mit Detailnotizen üher - 
ſchütten, noch in freier Hingabe an die Phantafie Ber- 
Möße gegen das antife Coſtiim und den antifen Geift ſich 
zu Schulden kommen lafien. 

Arthur Stahl ift befanntlih der Schriftftellermame 
einer Dame, die fi als Tonriftin durch ihre ſpaniſchen 
und ägyptifchen Weifebilder, als Romanjchriftftelleriu 
namentlich durch ihre farbenreiche „Tochter der Alhambra‘‘, 
mit Glüd in unfere Literatur eingeführt hat. Cie hat 
in ihren bißherigen Werfen neben einer lebendigen Bhan- 
tafie ſtets gründliche Stubien bewährt, und in ihrer Lebens- 
auffaffung und Weltanſchauung einen Zug von Drigi- 








Bilder aus dem Alterthum. 697 


nalität und geiftiger Bebentfamkeit, der fie von dem Gros 
unferer Romanfchriftftellerinnen ſehr vortheilhaft unter« 
fcheidet. Sie macht allerdings dem alltäglichen Geſchmack 
feine Zugeftändnifie — und fo Haben ihre Schöpfungen 
etwas Fremdartiges, das fi den Bedürfniſſen des Leſe⸗ 
publifums® nicht bequem und behaglich einzufchmeicheln ver- 
ſteht. Namentlich aber ift ihr „Hellenismus“, die ſchöne 
Sinnlichkeit, welche ihre Schriften athmen, ein fremder 
Tropfen im Blute der deutſchen Frauenliteratur. 

Diefen „Hellenismus“ zur Schau zu tragen, boten 
ihre die in dem „Biftorifchen Bildern‘ gemwählten Stoffe 
willlommene Gelegenheit. Diefelben find durchweg „antik“ 
und flir unfer modernes Bewußtfein „problematifch”. Zwei 
berfelben haben deutfche Dichter dramatiſch verwertet, in 
einer Form, bie fir derartige Stoffe fo ungünftig wie 
möglich ift; denn bas Drama fchließt das „Problematifche” 
aus und wenbet fich von der Bühne herab, in lichtvoller 
Deffentlichkeit, welche keine Myſterien duldet, an bie Nation. 
Baul Heyfe hat den „Antinous“, den Helden des erften 
Gefchichtsbildes, in fein Drama „Kaifer Hadrian” als 
einen der Hauptcharaltere mit aufgenommen, und der 
„König Candaul”, den uns Arthur Stahl im Anſchluß 
an Theophile Gautier vorführt, ift einer der Helden des 
Hebbel'ſchen Trauerfpiels: „Der Ring des Gyges.“ Beide 
Dramen find durch ihren Stoff von ber Düne aus⸗ 
geſchloſſen. Das Bedenken, das man gegen das Heyſe'ſche 
Stück hegen kann, bat auch der Erzählung „Antinous“ 
von Arthur Stahl gegenüber ſeine Berechtigung. 

Der Antinous⸗Cultus des Alterthums hängt mit einer 
Sitte zuſammen, welche von der Nenzeit geächtet und 
fteafredhtlich verurtHeilt wird. Der Dramatiker muß diefe 
Sitte gänzlich) ignoriren. Dadurch aber wird das Freund⸗ 
ſchaftsverhältniß des Kaifers zu dem Knaben eine piycho- 
logiſche Unbegreiflichfeit, minbeftens eine wenig antike Sen- 
timentalität. Der Novellift darf weiter gehen in feinen 
Andeutungen, aber doc, nicht weiter ald bis zu Andeu⸗ 
tungen. Die erfte Begegnung des Kaiferd mit dem Kna⸗ 
ben, eine Scene, bie durd die feenhafte Decoration ber 
blauen Grotte von Capri opernartig gehoben wird, beutet 
uns fogleih das „Antike“ durch den Eindrud an, den 
die Körperfchönheit des Antinous auf den Kaifer macht. 
Es find nit, wie in Heyſe's Drama, gemüthliche Wal- 
lungen, welche das Band zwifchen dem Monarchen und 
dem Knaben knüpften: 

Der Anblick, welcher fi Adrian's geblendetem Auge bot, 
war zauberiſch. Beinahe reglos ſaß er ba, in den Glanz ſtar⸗ 
send, der durch diefe wundervolle Spiegelung hervorgebracht 
wird. Weber dem tiefen Azurblau der Wafferfläche wölbt ſich 
die natürliche Kuppel der Grotte und if von fo glänzendem 
GSeftein, daß, wenn die Sonnenflut durch eine der Oeffnungen 
brit, fie das Himmelblau des Waffers in reinfter Färbung 
reflectirt und zwar fo intenfiv, als fei auch die Luft blau, durch⸗ 
taucht von den Strömungen goldenen und azurnen Lite, bie 
fie einander zufenden. Die Wirkung für das Auge ift jo magiſch, 
fo unerwartet, fo phantaftifh, daß es die Sinne der Wirklich 
keit vollſtändig entrüdt und in einen Taumel verfegt. Adrian 
faubte den wonnevolffien Traum feines Lebens zu träumen. 

enn um die Illuſion des Ueberirdiſchen, Zauberhaften noch zu 
erhöhen, ſchwamm in diefem azurnen Element, fo rubig wie 
zu ihm gehörig, von den goldig-blauen Lichtwogen fanft ge- 
küßt, ein Götterjüngling, würdig neben der Anabyomene dem 
Meere zu entfleigen. So ſchön wie nur die Griechengötter iu 
göttfichem Uebermuth und Neltarraufch beim olympiſchen Mahle, 


1870, 4. 


im Delirium geraubten Liebesglüds, der Schöpferlaune Geflalt 
zu geben wußten, fo ſchön, als fei bie blaue Grotte in ihrer 
feenhaften Pracht nur um dieſes Sünglings willen geichaffen, 
die Wölbungen, um feiner prachtvollen Geftalt ale Spiegel zu 
dienen, das Wafler, um den Rhythmus dieſer Glieder wiegend, 
tragend, ſchmeichelnd, miderfirebend — zum vollfien Ausdruck 
zu bringen. Das Boll von Athen konnte nicht mit andächti⸗ 
germ Schauern vor dem Schönheitideal ftehen, als die Schaum- 
geborene vor feinen Augen dem Meere entfiieg, ale Adrian 
vor diefem Wunder der blauen Grotte. Hatte eine der Göt⸗ 
tinnen — Benus ſelbſt, Diana, die wenn fie wider Willen 
defto heißer erglühte, oder Thetis die Silberfüßige in dieſe 
azurne Perimuttermufchel ſich dieſe herrliche Perle eingefchlofien ? 
Wie konnte felbit die Phantafle der Himmliſchen ein wonne- 
volleres Berfted ausfinnen für verſchwiegene Seligleit? Draußen 
das Toſen des Meere und des Lebens, bier Stille, Kühle, 
Glanz und feine Bewegung als die leife, zitternde der Welle 
und das Wogen des blauen Aethers, der fich mit dem einbrin- 
genden Sonnenftrahl vermähltee Der Imperator ſaß in feinem 
Nachen unbeweglich wie vor einem Wunder. Bald betrachtete 
er mit fiummem Entzüden den herrlichen Kopf des Jünglings, 
der forglos zurlidgeworfen von einer wilden Flut brauner Loden 
umfloffen war, bald die vollendete Formenſchönheit der Geftalt, 
die Küinfilernaturen mit mehr als bloßem Wohlgefallen berührt, 
die ihnen wie ein Triumph bes Schöpfungsgebantens, wie ein 
Sieg Über die Diffonanzen des Dafeins e8 zu erfüllen und auf- 
zuldjen fcheint in felige Harmonie. Leife fchwebte der Nachen 
bin und wieder durch die blaue Flut, und in großen Kreifen 
wie der Schwan folgte ihm der afiatiſche Knabe, fo wenig ſich 
bewegend, als fei das Wafler fein watlirliches Element. 

Weiterhin findet die Verfaflerin Gelegenheit, uns am 
Faden ihrer Erzählung mit Hadrian und Antinous aud) 
in die „„Sleufinifchen Geheimniſſe“ einzuführen, bie uns 
mit großer Xebendigfeit und Farbenfülle gefchildert werben. 
Ueber dem Berhältnig zwiſchen Hadrian und feinem Be- 
gleiter ſchwebt eine Wolfe, welche den Eindrud bes an⸗ 
tifen Geiftes der anfänglichen Begegnung allmählich gänz- 
lich verfchleiert. In den üppigen Selten des Schlofies 
von Wlerandrien, die uns mit Hamerling'ſcher Glut ge- 
jchildert werden, fcheint Antinous nur ben Mismuth des 
Dienenden, des Unfreien zu empfinden, ähnlich wie in bem 
Heyfefhen Drama. Nur angedeutet wird, daß biefen 
Feſten der Schmud der Frauen fehle: 

Im Mittelpuntte des Balaftes, wo die Säle wie zu einem 
Stern zujammenliefen, fehimmerte von Lotosblumen rings be» 
fäumt, von Arkaden umgeben, von taufend Lampen biendend 
erleuchtet, ein fpiegelllares Baſſin. Lieblihe Knaben ſchwam⸗ 
men darin, tummelten fi fcherzend in rhythmiſcher Bewegung; 
Horus, der Ägyptifche Apoll, mit dem Finger auf der fippe 
fhaute ihnen von feinem ©ranitpiebeftal zu, bie grünen Sma- 
ragdaugen der Kate auf dem fchöngeftredten Götterleibe der 
Iſis biinzelten funkelnd über fie Hin. Herrliche Frauengeſtalten 
trugen ale Karyatiden den purpnrroth feidenen Baldadhin, welcher 
bei Tage das Baffin vor den ſenkrecht einfallenden Sonnen- 
ſtrahlen jhligte und die ſchwimmenden Geftalten in purpurnes 
Licht tauchte; aber alles Weibliche hier jchien zu Marmor ver- 
fteint oder in Bronzeform gegoflen. | 

Die Flucht des Antinous, feine Liebe zu ber reizen- 
den Opiumfammlerin des Fayoum, die Begegnung mit 
dem Kaiſer im Labyrinth, der Opfertod, ben Antinous 
für Habdrian ftirbt — das find die weitern Begebenheiten 
diefer Erzählung, in welcher das Pfychologifche zurück⸗ 
tritt gegen Glanz und Pradjt der Schilderung; namentlich 
aber durchzieht die Rofen- und Liebesidylle im Fayoum 
ein echt poetifcher Hauch, und Scenen von großer Tieblid- 
feit Idfen fi ab. 

Ohne Frage verwerthet die Berfaflerin in diefer Er- 

88 











698 Bilder aus dem Alterthum. 


zaͤhlung mit Glüd ihre ägyptifhen Studien; nur wird 
die Decorationsmalerei bisweilen der Dichterin gefährlich; 
der Palaft in Alerandrien, die Memnonsfäule, das 
Labyrinth uw. f. w. werden uns fat mit mehr Liebe ge- 
ſchildert als die Vorgänge im Gemüt des Antinous, 

‚Ein zweites ägyptiſches Bild entrollt und die Erzählung: 
„Säfarion“, deren Held ein anderer Knabe, ber Sohn 
der Meopatra und des Caſar ift, welchen Octavian er- 
droffeln ließ. Die Frucht einer orientalifh glühenden 
Liebe, das traurige Opfer der dynaftifchen Beftrebungen 
des erften römiſchen Kaiſers kann indeß fein tieferes 
Intereſſe einflögen, da Cäfarion nicht wie Antinous in 
fpannende Conflicte gebracht ift; wol aber werden und 
Kleopatra, Antinous und Octavian von ber Berfafferin 
vorgeführt im einer vielfach dramatiſch fpannenden Er- 
zahlung, die allerdings in den Scenen des großen britie 
fen Dichter eine bedenkliche Concurrenz findet. Denn 
wenn auch Erzählung und Drama fi weſentlich unter- 
ſcheiden, fo find doch einzelne Situationen, wie der Tob 
der Rleopatra, ganz gleichartig. Und wer wollte mit 
Shaffpeare auf einem Gebiete wetteifern, wo er unüber« 
trefflich ift, wie dies namentlich ber meifterhafte Schluß- 
monolog feiner ägyptifchen Königin bemeift? 

Doch Caſarion ift file] Artyur Stahl nur das eine 
Glied einer Parallele, deren anderes durch den Herzog 
von Neichftadt vertreten if. Zwei Kaiferföhne, die in 
ihrer Jugend dapinfterben, der eine gewaltfam, der andere, 
nad) der Darfiellung der Verfafferin, in raffinirter feiner 
Beife hingemordet. Den Einn ber Parallele künden bie 
Schlußworte des „Cäfarion“: 

‚Im derſelben Nacht hauchte unter ben phantaftifchen Tempel» 
gisen von Efepbantine noch ein jüngeres Leben feinen legten 

ufjer aus, ein Leben ohne Spur und ohne Geſchichte und 
doch zu beiden berechtigt ſcheinend wie nie ein Flͤrſienſohn, 
Ehfarion Ptolomäus, der König der Könige wie Antonius ihn 
gefrönt hatte, der Süngling, im bdeffen Üdern das Blut der 
beiden hernorragendfien Menſchen des Alterthums floß! Warum 
hatte der Imperator ſich in dem eigenen Sohn nicht den Erben 
ermählt, warum hatte ex für den Sohn der geliebteften rau 
nicht vorgeforgt wie fir Octavian, der aud ein Knabe war? 
Slaubte Cäfar, wie feltlamermeife fpäter Napoleon, nigt an 
die Erbicaft des Genius? Ahnte er, daß es einen Höhenpunft 
gibt, Über welden hinaus die Shöpferiihe Natur keine Gaben 
mehr zu vertheilen hat und wieder abwärts fleigt? Gründer 
das Genie feine Dynaftien, weil e6 einfam wie ber Komet durch 
den Himmelsraum fliegt, die Bahnen der andern Gefirne fühn 
durchichneidend? 

Ein phantaſtiſches Capriccio iſt die Erzählung „Gar 
Taten”. Der Stoff ift durch „Die ſchöne Galathea“ von 
Voly Henrion und Suppe allen Bilhnenbeſuchern in etwas 
profaner Weiſe nahegerücdt worden, und es gehörte Muth 
dazu, mod) eine poetifch ernſte und finnige Behandlung 
deijelben zu wagen. Wenn in einer folden Erzählung 
Aphrodite felbftredend eingeführt wird, fo bewegen wir 
uns im Reiche der Mythe, das nur poetifche Bedeutung 
hat wenn e8 einen tiefern Gedanken fymbolifitt. Pygma- 
lion, unbefriedigt durch den höchſten Kunftgenuß, empfindet 
ſiunliche Begier für das gefchaffene Meifterwerk; Aphrodite 
erwedt es ihm zum Leben, aber den Zufällen irdiſchen 
Geſchicks erliegt das Götterweib, das den Künftler durch 
feine Liche befeligt hat. Pygmalion zertrlimmert mit fei« 
nem Wunfd fein unfterblices Kunftwert und töbtet mit 








irdifcher Begierde den Gott in fi. Im folder 
bigung aus dem Munde der Göttin, melde zugleich 
mit die Selbſtherrlichteit der Schönheit preift, liegt be 
Sinn der in phantaftifcher Beleuchtung verbänme 
Gefdichte. Das Erwachen ber Bildjäule zum Leben 
und in einer Weife gefchildert, welche ung in eine m 
Stimmung feitbannt: 
Das weiße Bid ſchimmerte aus der Dunkelheit, als 
es von innen leuchte. Pugmalion firedte erbebend die Arme 
ans. Die Wonnen der vollen, erften, heißen Liebe flutetem über 
fein Herz, jene Wonnen, melde noch nicht zu berlihren mı 
welche zu übermächtig find, um den Ausdrud zu finben. 
erleuchtete fih das Gemah mit tinem Schein, nicht Monde 
nicht Sonnenliht — mit dem Licht des Lebens föunte man für 
gen; wie man fidh denft, daß e8 Äber die dunkle Erde 
mit dem erflen Erwachen eines Organiemus, mit dem i 
Gedanken eines Intellect, mit dem erfien Athemzuge eines Ber 
bendigen, und ein leifes Tönen jitterte in der Luft, Di : 
wie daB Tönen der Sphären am Scöpfungstage, das fi in 
den warmen Pant der erften Wenjhenftimme ergießen 
Pygmalion blidte zum Antlig der Galatea auf. Ihm 
als ob ein blaues Flammchen Über ihrer Stirn tanze, al® 
in den Augen fi ein Glanz entzünde, als ob die zartem 
der leiſe fchauderten vor dem mahenden Leben. Bugmalion 
näherte fi — er, der Schöpfer, der König, ber Gebieter, dem 
alles gehorchte, ſchlang feine Arme jclichtern um bie al 
der Jungfrau, fein Lönigliger Mund, der zu ftolz geweien mar 
zum Küffen, weil ec nur Öflavinnen umarmt Hatte, jet Mifte 
er mit Inbrunft, weil er liebte. Umd unter dem Drude feiner 
Lippen fühlte er wonneberauſcht, wie die ihrigen weich 
warm wurden, wie der Flaum ihrer Wangen am jeimen ere 
glügte, wie der Marmor zu wogen begaun umd ſich 4 
feinem Arm zu fügen. Er fühlte ihr Herz poden, ihrem gar« 
ten Buß an feinem zuden, er fühlte, ein jelig Träumende 
all maͤhlich alle Rathſeĩ des Lebens heiß in ihr fich offen! 
und al® er fie entzüdt auf feinen Armen im dem erflem 
der Morgenfonne trug, damit Helios fie jegnend berühr, 
Rexten ihre Lippen: Pygmalion, 
In allen diefen Erzählungen herrſcht ein finnlicher 
Bulsihlag; aber fie find von antiter Keufchheit, weil fi 
frei find von jeder Frivolität. Dagegen ift ber 
Candaul“, diefe nur frei überfegte Erzählung bes 
phile Gautier, im Grunde nur ein lüjtermes Cabii 
Der deutfche Dramatiker Hebbel ſuchte in biefen 
einen tiefern Sinn zu legen — in der Reufchheit der F 
war ein echt weibliches Princip zu einer verhängnifi 
Uebertreibung gefteigert; dod 28 war mur die g 
Weiblichkeit, weldye dem Gyget den Dolch im die 
drüdte. Der frivol lächelnde Franzoſe zerjtört aber bu 
allerlei Seitenbemerfungen diefen Adel der Haltung 
läßt und die Frage frei; ob Stolz oder Püfternheit 
Königin beſtimmte, in dem ſchönen Gyges dem Mö 
des Gemahls zu dingen? 
Und jet — was war der eigentliche Gedanfe ber 
Hatte fie wirklich bei der Begegnung in Balırien ben jur 
Kapitän bemerkt und von ihm eine Erinnerung bewahrt, } 
einem der verfiedten Winfel der Seele mo aud) bie ehr 
tefte Frau immer etwas zu verbergen hat? War ber 
ihre beleidigte Ehre zu räden, gefladelt durch eim 
uneingelandenes Verlangen? Und wenn Guges nicht der 
junge Mann in Afien gervefen wäre, würde fie ebenfo vi 
darangefegt haben, Candaul dafür zu beftrafen, die 
der Ehe angetaftet zu haben? Cine jo delicate Frage if 
zu entfcheiden, vorzüglich nad) dreitaufend Jahren, mund 






mir Herodot, Ephefttien, Platon, Ardilaus von Paros, 
mäus, Cuphorion und alle Die gefragt haben, die ü 
oder wenigen Worten von Ryifia, von Gandaul und vom 


Neue Romane 


Iprechen, haben wir zu Teinem beflimmten Rejultate gelangen 
Löunen. Nach fo vielen Sahrhunderten, unter den Ruinen fo 
vieler zertrlimmerter Reihe, unter der Aſche untergegangener 
Bölfer Über eine fo verborgene Nuance der Empfindung zu 
enticheiden, if} eine fchwere, wenn nidt eine unmögliche Arbeit. 

Es find Hppige, fehr glänzend ausgemalte Bilder, 
weiche uns dieſe Erzählung bietet; aber es find nicht ein- 
mal immer bie Gemälde eines Tizian mit der beftechlichen 
Glorie götilih nadter Schönheit; fie erinnern oft an 
die Bilder der Rococotabatieren, wo allerlei Fünftliche 


Hene Romane 


1. Der Dorfpaganini. Eriminafnovelle von Georg Füll⸗ 
born. Hamburg, Verlag der Roman» und Rovellen-Diappe. 
1870. 8 15 Nor. 

2. Sarriöre. Originalnovele von Hermann Hirſchfeld. 
gambur ‚ Berlag der Roman und Novellen- Mappe. 1870. 

. gr. 

Was gehört zu einer guten Movelle ? Und wie fchreibt 
man eine foldhe? Zur Beantwortung diefer Tragen, bie 
gewiß jeden jungen Schriftfteller fchon oft innerlich be» 
wegt haben mögen, wenn er feine Feder anfegte, die 
Welt mit einer Frucht feiner Mufe zu beglüden, bieten 
„Der Dorfpaganini” und „Barriere” pafjende Antnipfungs- 
punkte dar, die wir aber nicht in grauer Theorie, ſon⸗ 
. dern unter Anlehnung an die Erzählungen felbft benugen 
wollen. 

„Der Dorfpaganini” von ©. Büllborn (Nr. 1) 
ift die Gefchichte eines Mufilanten, der aus guten Ver⸗ 
bältnifjen hHerabgefunfen ift zum armen Dorf-Geigen- 
fpieler, als folher ben Verdacht des Mordes auf ſich 
ladet und ins Gefängniß gefegt, endlich) aber aus dem⸗ 
felben befreit wird, da feine Unfchuld ans Licht kommt, 
nun aber freiwillig feinen Tod fucht und findet, weil 
ihm nad dem Tode feiner geliebten „Golddore“ das Le- 
ben zuwider geworden if. Als der wirkliche Mörder 
wird der fogenannte „Sirfchenbauer herausgefunden, 
und diefer leidet denn feine verdiente Strafe. Diefe 
Criminalgeſchichte ftellt eine keineswegs beſonders erfreu- 
liche Begebenheit dar. Aber der Erzähler hätte ihr fehr 
leicht ein tieferes Interefie geben können, wenn er beſſer 
zu motiviren verftanden hätte Wir verſtehen es gar 
nicht, was denn eigentlich einen Geigenfpieler von ſolchem 
Talent, wie uns der Friedel Heimbach gefchildert wird, 
fo weit Herunterbringen konnte, wie wir ihn fon im 
- Anfang der Erzählung vorfinden: muſikaliſches Genie ift 
heutzutage burchaus nicht fo hülflos dem Elend verfallen. 
Unglüdliche Liebe, die allein ſolch eine tiefe krankhafte 
Berftimmung hätte motiviren können, entwidelt fi erft 
innerhalb der Erzählung felbft; und da erfcheint es benn 
wieder als eine zu ſtarke Zumuthung fir unfer Gefühl, 
daß diefes frifche prächtige Goldmädchen, nicht nur bie 
reichte Erbin, fondern auch das ſchönſte Naturkind des 
Doris, welches zubem fchon einen andern licht, ben 
verfommenen Gefellen lieben und gar heirathen fol, 
nur um ihn ans feinem traurigen Zuftande zu erlöfen. 
Uud nun frage man einmal jebes unverdorbene Mädchen, 
ob es bei folcher Lage der Verhältniffe mit einem ſolchen 
verfhmähten Burfchen am fpäten Abend im einfamen 


und Novellen. 699 


seaperie verwendet ift zur Erhöhung eines prickelnden 
eizes. 

Im ganzen beweiſen dieſe „Bilder“ Arthur Stahl's von 
neuen die ungewöhnliche Bildung und das glänzende Tar- 
ftelungstalent der Berfaflerin, deren oft beredter und be⸗ 
geifterter Stil nur Meine Gefchmadlofigkeiten, wie die 
thörichten Sremdwörter „fublim‘“, „fuperb” u. f. w., abs» 
zuftreifen brauchte, um gegen kritiſchen Tadel gewaffnet 
zu fein. Rudolf Goliſchall. 


und Novellen. 


Kahne aufs Meer Hinausfährt ? Da würde ſich doch jedes 
hübſche Kind fehr ſchnippiſch für eine ſolche Zumuthung 
bedanken. Den ftilen felbftbewußten Trotz in ſolchen 
Naturfindern gegen alles, was ihnen ohne ihre Erlaubniß 
zu nahe kommen möchte, ſcheint der Berfafler gar nicht 
zu kennen. Cbenfo wenig wird fold; ein Mädchen wie 
die Golddore ſich am fpäten Abend von biefem Friedel 
in den Wald begleiten laſſen: fie geht ja zum Rendez⸗ 
vous mit ihrem wahren Geliebten. Alles Derartige mußte, 
um und irgendwie glaubwürbig zu erfcheinen, in viel feinern 
Einzelzügen ausgeführt fein, al® e8 hier gejchehen. Lefe der 
Verfaſſer dody die Novellen von Hermann Grimm, von 
Baul Heyfe („La Rabbiata” z. B.), oder, noch beifer, 
einen größern Roman der George Sand (,Balentine” 
etwa, oder „Conſuelo“), um ein richtiges Gefühl davon 
zu befommen, worin die Kunſt ber poetifchen Erzählung 
befteht: die Feinheit der Detailzeihnung, bie leiſen Ueber 
gänge, die nur ganz allmählich von Schritt zu Schritt 
ſich löfenden Verwickelungen, bie vorfichtige Vorbereitung, 
bie breite Ausführung auf der Höhe des Vorgangs, bie 
raſche Löſung am Schluß, das find einige von dem erften 
Bedingungen, die ein guter Erzähler zu erfüllen hat. 
Wie roh fteht hier dagegen bie Figur, der Charafter und 
die That des „Kirſchenbauers“ da: wir intereffiren uns 
ja gar nicht für fold ein Subject, um fo weniger, als 
es der Dichter nicht einmal begreiflich erfcheinon läßt, wie 
er zu einer folden ganz ſcheußlichen That kommen konnte. 
Sold) ein liebes gutes Kind bei Nacht in das Schwarz. 
wafler zu flürzen! Nun, daß ein fonft ehrenfefter und 
wohlhabender Bauer eine derartige That begeht, dazu gehört 
doch etwas mehr als eine nicht bezahlte Holzrechnung! 
Etwas beffer find die Übrigen Figuren gelungen. Aber 
im ganzen treten die gerligten Mängel fo auffallend her- 
bor, dag die Erzählung nicht den wohlthuenden Eindrud 
binterläßt, den jede Fünftlerifche Leiftung gewähren follte. 
Ganz anders die zweite Novelle‘: „Sarriere”, von Her⸗ 
mann Hirſchfeld. Kine intereflante Verwidelung mit 
überrafchenden Wendungen, die trogbem nicht unwahr⸗ 
ſcheinlich, macht das Meine Büchlein vor allem zu einer 
angenehm fpannenden und unterhaltenden Leltüre und er» 
füllt jo bie erfte Bedingung dieſer Gattung leichterer 
Literatur. Die Charaktere ſowol, wie die Localitäten, in 
welchen bie Erzählung ſich bewegt, zeigen Bekanntſchaft 
mit der großen Welt: e8 ift eine Salonnovelle im beiten 
Sinne des Worte. Und daher hat die Sprache auch faft 
überall jene leichte und gefällige Eleganz, wie fie ben 
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700 Neue Romane und Novellen, 


dargeftellten Perſonen und Zuftänden entſpricht. Die 
Erzählung beginnt in einem deutſchen adelichen Haufe bes 
17. Jahrhunderts, das maleriſch ſchön am Strande der 
Oſtſee gelegen ift. Der Baron Guntram von Langenried, 
der Herr dieſes Haufes, lebt dort mit feiner einzigen 
Nichte, der fchönen Amelie von Langenried, der Verlob- 
ten feines mit ber Armee in den Krieg gezogenen Sohnes 
Leonor. Die Familie ſteht feit alter Zeit mit dem ber» 
zoglichen Hofe von Marnig in naher Verbindung, und 
der alte Baron ift von ber Zeit her, mo er als einer 
ber hödjften Beamten am Hofe fungirte, im Befige eines 
wichtigen Documents geblieben, welches in Bezug auf die 
Erbfolge in der regierenden Herzoglichen Familie ein höchſt 
gefährliches Geheimniß enthält: «6 handelt fi eben um 
das Recht der Erſtgeburt zwifchen zwei Prinzen des her- 
joglichen Haufe. Alles dies ift gleich im Anfange der 
ovelle jo geſchidt angedeutet und erzählt, daß wir fo 
gleich in jene Spannung gerathen, die uns für die Löſung 
einer folden wichtigen Frage Intereſſe einflößt. Diefe 
Spannung wird noch erhöht durch bie eigenthümliche Er- 
ſcheinung der Hauptfigur, des fpätern Miniftere Wigo 
von Barby. Er kommt aus dem Lager her und bringt 
dem alten Baron die Trauernachricht, daß fein Sohn 
Leonor gefallen. Der ganze Beſitz fält damit an ben 
Neffen des Barons, an Otfried von Haldberg; mit dem» 
felben auch Amelie als Braut und Erbin, nad alter 
Familienbeſtimmung. Es iſt nun in intereffanter Weife 
durchgeführt, wie es dem Chevalier Wigo von Barby, 
der um jeden Preis Carriere machen will, gelingt, diefe 
Verhultniſſe völig zu verwirren, das wichtige Document 
aus dem Schloffe herauszuſchaffen, die Liebe der fehönen 
Amelie zu gewinnen, ſich heimlich mit ihr zu vermählen 
und nad) der Brantnacht zu entfliehen, um am Hofe von 
Marnig wieder aufzutauchen und dort Carriere zu machen. 
Im Grunde eine catilinarifche Eriftenz, ber jedes Mittel 
recht ift, wenn es dem Zwede dient, feine Carriere zu 
fördern — ein Charakter, der in den höhern Kreifen ber 
Geſellſchaft keineswegs fo felten ift, wie ehrliche Leute 
vielleicht glauben mögen —, erhebt er ſich durch alle mög- 
lichen Intriguen bis zum regierenden Minifter des Lan- 
des, freilich um ben Preis feiner Liebe zu Amelie, die er 
hintergeht und in den Tod treibt, um ſich mit einer 
Milionärin zu vermähfen, dem Wunſche der Herzogin 
Anna gemäß. Er felbft aber wird nicht glüdlic in bier 
fer Ehe, wird durch ähnliche Intriguen zulegt geftürzt, 
erliegt fo derfelben dämoniſchen Madıt, die ihm feine 
Carriere geebnet, und vergiftet fi, als er fein ganzes 
tünftliches Gebäude zufammenftürzen fieht. Ueber dem 
Grabe des bisher allmächtigen Minifterd aber geht dem 
Lande eine ganz neue Zukunft auf in der Regierung des 
Prinzen Oslar, deſſen Bermählung mit der Prinzeffin 
Magda die Anſprüche beider Linien ausgleiht. Die 
Tochter Ameliend und Wigo's verföhnt in ihrer Liebe 
zum Erben des alten Haufes, dem jungen Philipp von 
Haldberg, auch dieſe wiberftreitenden Interefien, ſodaß 
wir über den Schatten der Vergangenheit von allen Sei- 
ten ein reineres Leben emporfteigen fehen. Der Eindrud 
am Schluß ift fo ein durchaus wohlthuender: es ift eine 
Kunftnovelle im beften Sinne des Worte. 
Um zur Leltüre des intereffanten Heinen Buchs zu 





bewegen, wirb das Gefagte wol hinreichend fein. Cs iſt 
durchaus nicht fo leicht, wie mancher junge Schriftiteller 
zu glauben fcheint, ſolch eine lesbare Novelle zu jchreiben; 
gerade weil der Gegenftand Heiner, da8 Thema enger 
umgrenzt, bie Gntwidelung wie die Charaktere leichter 
überfcaulic find, darf die Kritit um jo firenger barauf 
halten, dag alles bis in das Heinfte Detail hinein künſt ⸗ 
leriſch abgerundet und techniſch vollendet erſcheine. Eine 
ſpannende Verwidelung und eine gebildete Sprache find 
nur die erften äußern Bedingungen einer guten Novelle: 
das Geheimniß der Kunſt befteht hier vorzugsweiſe in jener 
feinen, befonnenen, nie ausfegenden Verbindung alles ein- 
zelnen untereinander, welche wir eben als künſtleriſche 

Motivirung in jeder Kunft befonders Hedidägen. Unter 

den neuern Novelliiten it gerade darin vielleicht feiner 

geſchidter als Ludwig Tied. 

3. Novellen und Erzählungen von €. ®. Stuhlmann. Erw 
fler Band: Aus dem Patrimonialftaate. Hamburg, I. F. 
Richter. 1870. 8. 24 Nor. 

Drei Novellen in Holzfehnittmanier: „Wie gewonnen, 
fo zerronnen”; „Der Hauptmann von Sarow“; „„Dop« 
pelt blamirt“. Der Verfaſſer if bereits befannt ala guter 
Erzähler; feine frühern Erzäglungen: „Herztroſt“ und 
„Ber das Glüd Hat, führt die Braut heim“, Haben 
großen Beifall und in d. DI. anerfennende Beurtheilung 
gefunden. Was feine Art und Weife vorzugsmeife charat- 
terifirt, ift ein bei aller Zartheit der Empfindung fir 
alles, was Xiebe verdient, etwas derb ironifcher Ton, ber 
bei der marfigen Sprade und den braftiihen Bildern 
und Situationen auffallend an Fritz Reuter erinnert. Wie 
diefer entnimmt aud) er feine originellen Geſchichten be» 
ſonders gern der nordiſchen Heimat und namentlic, dem 
Mecklenburgiſchen. Und ba findet fi denn, im biefem 
gelobten Lande antebiluvianifher Cultur, jo vieles, was 
feiner ſatiriſchen Ader reichen Stoff darbietet, daß wir 
mit großem Interefje die eigenthümlichen Schlaglichter ver- 
folgen, welche fein unbarmherziger Humor auf die länd- 
lichen Zuftände, Charaktere und Ereigniſſe dort fallen 
fäßt. Zumeilen freilich läßt ber talentvole Verfaſſer ſich 
etwas zu fehr gehen, im Inhalt wie im Stil; die letzte 
der drei Novellen: „Doppelt blamirt“, iſt ein Beifpiel 
dafür, daß eine Satire auch mislingen und langweilig, 
ja peinlich werden Tann, fobald e8 an demjenigen Wig 
fehlt, der auch einem an fi ungenießtaren Thema durch 
die Form der Darftellung Intereſſe zu geben weiß. Das 
ift dem Verfaſſer Hier nicht gelungen, und es dürfte dar 
her diefe Novelle wol als die ſchwüchſte jeiner bisherigen 
Leiſtungen zu betrachten fein. Cbenfo enthält die erite: 
„Wie gewonnen, fo zerronnen“, neben glänzenden Aus- 
führungen zuweilen öde Partien einer Darftellung, die 
weniger Ironie über norddeutſche Sandwüſten als dieſe 
felbft zu geben feheinen: der Schäferfohn, der den großen 
Herrn fpielen will, weil fein Vater ihm ein in etwas 
unwahrſcheinlicher Weife gemonnenes Rittergut hinterlafien 
hat, müßte doch entweder intereffanter gejchilbert oder 
unbarmherziger gegeifelt werden mit auflöjendem Humor, 
wenn er und durch 155 Seiten hindurch fefleln fol. 

Am beften ift jedenfalls die mittlere Novelle gelun- 
gen: „Der Hauptmann von Sarow“. Diefer Daupt- 
mann ift einer jener Junker, die fih noch immer 





Neue Romane und Novellen, 


einbilden, ihr Patrimonialftaat fei die Welt, dieſe felbft 

nur dazu da, von ihnen genofien, ihre Untergebenen 

nur gefhaffen, um von ihnen mishandelt zu werben. 

Mit erfchütternder Kraft ift es gezeichnet, wie über folche 

Junkerwirthſchaft das Gericht von 1806 hereinbricht. Der 

ehrwürdige alte Pfarrer, Paftor Stark, weiß ed zwar zu 

verhindern, daß der ehemalige Hauptmann und jetige 

Öutöbefiger von der empörten Soldatesla, unter deren 

Offizieren ſich fogar mehrere feiner ehemaligen Tagelöhner 

und Fronarbeiter befinden, förmlich Hingerichtet wird; aber 

er Tann fie nit davon abhalten, ihn wenigftens in den 

Block zu legen, damit „er jelber es einmal fchmede, wie 

das Krummliegen thut“. Kine ganze Nacht hindurch Liegt 

er fo in der Folter. Sein ganzes Weſen bricht dadurch 
innerlich zufammen, körperlich wie geiftig wirb er aus 
einem vüdfichtslo8 harten Mann in wenigen Wochen ein 

hinfülliger Greis. Und eines Tags findet man ihn im 

Walde erhängt mit dem eigenen Haldtuche, nachdem in 

der Tetten Zeit fhon Spuren des Wahnfinns an ihm 

wahrgenommen wurden. Einem der Dffiziere der fran- 
zöfifchen Armee, einem geborenen Medienburger, hält der 

Pfarrer die Frage entgegen: 

„Und nun kämpfen Sie gegen Ihr eigenes Vaterland?“ 
Der Major ſchwieg einen Augenblid. „Herr Paſtor“, er- 
widerte er dann, „Sie und Ihresgleichen können vielleicht von 
einem Baterlande fprechen; aber kann dieſes auch der Leibeigene, 
der durch die Geburt an die Scholle gebunden ift, mit welcher 
er ben Herrn Über Leib und Ehre wechielt nad Erbredit und 
Kaufrecht? Bierzulande war ich weiter nichts als ein willen- 
loſes Ding, es wurde mir fogar zum Verbrechen gemadt, eine 
rein menfchliche Neigung zu hegen. Ausgefoßen war ich durd) 
das Geſetz aus der meunſchlichen Geſellſchaft: ein Vaterland habe 
ich bier nimmermehr befeffen. Weber den Kaifer aber mag man 
denen, was man will: fo viel fteht fe, daß für die Maſſe 
des Bolts allenthalben feine Siege auch wirklich Siege find. 
Wohin er feinen Fuß fett, zertritt er der Tyrannei der kleinen 
Herren das Genid; feine Herrichaft kennt feine dor dem Ge» 
feg privilegirten Herren, denen gegenüber die andern Meuſchen 
rechtlofe Sklaven find.’ 

Die Novelle zeichnet in diefer Weife ganz vortrefflich 
die Stimmung jener Zeit gegenüber den großen Welt- 
ereignifien. In diefem Sinne bat fie Hiftorifchen Hinter» 
grund und auch dadurch fchon jene höhere Bedeutung, 
welche die beiden übrigen weder durch ihren Inhalt noch 
durch ihre Form in Anfpruch nehmen können. 

4. Das Bafthaus zum grünen Baum. Erzählung von Baronin 
Elifabeth von Grotthuß. Wien, Medithariften- Eon» 
gregations- Buhhandlung. 1869. 8. 12 Nor. 

Eine ſehr erbauliche Räubergefchichte für fromme Ges 
müther: diefe Furze Notiz wird genügen, um dasjenige 
Publikum, welches fich fir folche Erzählungen intereffirt, 
auf das Büdlein aufmerkfam zu machen. 

5. Klatſchereien. Drei Beichichten von Eduard Köller. Iena, 
Coftenobfe. 1869. 8. 1 Thlr. 15 Nr. 


Der Titel ift richtig gewählt: Geſchichten find es, 
die vieleicht irgendwo einmal paffirt fein mögen. Es gibt 
aber langweilige und kurzweilige Gefchichten, bedeutende 
und unbedeutende, intereffante und gleichgültige. Für 
einen Schriftfteller, der gelefen fein und Wirkung ha- 
ben will, follte fih das nicht nur von ſelbſt verſtehen, 
daß er das SKurzweilige, Bedeutende und Intereſſante 
feinem Gegentheil vorzieht; auch die Art der Darftellung 


701 


muß dabei eine ſolche fein, daß wir uns im reinen Aether 
der Kunft fühlen, und nicht auf dem Boden ber profai« 
fchen Wirklichkeit. Selbft der künftlerifch angelegte Roman, 
and) die wirklich poefievolle Novelle find fortwährend im. 
Gefahr, fi über ihre Grenze hinüber in bie gewöhnliche 
Profa zu verieren, weil die bequeme Form der verslofen 
Erzählung gar zu leicht dazu verführt, allerhand Ballaft 
mit in das Schiff zu nehmen, ber den Weg zum Ziele 
nur aufhält und oft nicht einmal zum Schmud im ein- 
zelnen dient. Wenn aber der Boden ber gewöhnlichften 
und unerquidlichften Proſa gar nicht verlaflen wird, wenn 
und Dinge berichtet werden, deren Unmahrfcheinlichkeit 
mit ihrer unerquidlichen Intereſſeloſigkeit wetteifert, und 
dazu noch in einer Form, daß es eben nur „Geſchichten“ 
find, die wir hören, aber nicht Funftvolle Erzählungen, 
fo it in ber That die Breite der Darftellung eine ſtarke 
Zumuthung für den Leſer. Für ſolch einen Windbeutel 
von Flaneur, der, weil er in ber Reſidenz lebt und einen 
Diener in Livree hat, in feinem Geburtsorte einmal Mi⸗ 
nifter fpielen will, intereffirt man fid) wirflid nicht fo 
jehr, daß er ſelbſt ohne die vaffinirtefte und wißigfte 
Gelbftperfiflage 92 Seiten lang von ſich erzählen bürfte. 
Auch find die Heinen Provinzialftädte durchaus nicht fo 
zutraulich tölpelhaft, wie es hier vorausgefet wird, um 
eine folche an gemeinen Betrug ftreifende Taäuſchung irgend- 
wie wahrfcheinlich erfcheinen zu lafien. Kurz, diefe erfte 
Gefhichte, „Kurze Zeit Minifter”, Hinterläßt einen pein- 
lichen Eindrud, weil ber Berfaffer es nicht verftanden 
bat, einen fo bebenfli „ unintereflanten Stoff durch pilante 
Würze des Wied genießbar zu machen, 

Etwas beffer ift die zweite Erzählung: „Drangjale 
und Mühen.” Ein Privatgelehrter, welcher zu der re- 
fpectabeln Sorte jener Lente gehört, bie ihre Carridre 
verfehlt haben, Iernt durch die vielfältigen Bemühungen, 
ein Amt zu erhalten, allmählich Menſchen kennen und 
praftifch werden, ift aber body zuleßt noch froh, in eir-r 
Todtengräber- oder Kirchhofs- Infpector - Stellung mit 
nicht unbebeutendem Gehalt feine altwerdende Braut heim- 
führen und feine Tage in Ruhe befchließen zu können. 
Es ift dies mit derbem Humor und erträglichem Wis 
ausgeführt, wenn auch zumeilen die Farben etwas zu 
ſtark aufgetragen find. Im den Preßbureaur der größern 
Staaten und auf den NRedactionen der bebeutendern Zei⸗ 
tungen 3. B. gebt es denn doch nicht fo mechanisch und 
unanftändig her, wie e8 Hier gefchildert wird; und Dinge, 
die auf diefes ober jene® Blatt eine treffende Satire ent« 
halten, paflen darum noch nicht auf alle Blätter. Ueber⸗ 
haupt tritt zuweilen, ganz wie in der erften Gedichte, 
die Erbärmlichkeit der gewöhnlihen Menſchenwelt fo un- 
verhüllt zu Tage, daß wir den Berfaller verwundert fra« 
gen müflen, warum er ſich do di Nühe gebe, uns 
ſolches „Menſchenkehricht“, das fchon in der Wirklichkeit 
völlig ungenießbar erfcheint, auch noch im Bilde vorzu- 
führen. Der Schlußeindruck einer folchen Darftellung ift 
und bleibt ein widerwärtiger: dieſe Art Hohn auf jedes 
ideale und würdige Streben, wie fie hier als Schluß- 
effect zu Tage tritt, ift jener Nihilismus, den eine gewiſſe 
Sorte von Fiteraten uns ald geſunde Koft und würdigen 
Erfag für alles bieten möchte, was dem Leben gediegenen 
Inhalt zu geben vermag. ES eriftirt aber nur Eine 











ie 


702 Fenilleton. 


Form, in der diefer Nihiliemus erträglich wird: und das 
ift der vernictende Wit des „Klabberadatfch”, der ſich 
dadurch von dem bier vorliegenden ganz weſentlich unter» 
ſcheidet, daß er aus der abfoluten Fulle einer höchft geift- 
vollen Weltanfhauung heraus durch plöglich trefiende 
Schlaglichter alles aufzulöfen verſteht, was dieſes hohen 
Geiſtes unwerth erſcheint. Wem in Bild und Wort 
nicht die gleiche Schlagkraft zur Dispofition ſteht wie 
den geiftreichen Gelehrten der berliner Tafelrunde, der 
muß fi in Acht nehmen, Gegenflände zur Darſtellung 
zu bringen, bie nur durch witige Behandlung genießbar 
werden, an fi aber proſaiſch, uninterefiant, ja ımanges 
nehm find. Denn in aller Kunft — und das Komiſche, 
der echte Humor namentlich ift jedenfalls eine der feinern 
Formen des künftlerifchen Geiftes — feilelt uns nie der 
Gegenſtand als folder, fondern nur die Art der Behand» 
lung. Theaterzuſtände z. B. mögen faft überall gegen» 
wärtig fo fein, wie fie hier gefchilbert werben: barf darum 
der Erzähler uns eine dürftige Photographie davon geben ? 





Bir glauben nit: vielmehr bat ex gerade folden Zur 
fländen gegenüber feine ganze Kunft anzuwenden, das 
künſtleriſche Ideal in irgendwelder Form zu reiten vor 
der unlünſtleriſchen Gemeingeit. Wir konnen biejetst dem 
Berfaffer noch nicht zugefichen, dag ihm dies vollflommen 
gelungen ift. Geld, Eervilismuns, Eliguenwirihidaft ha- 
ben von jeher im der Welt gehrerfcht; aber ift das Poeſie, 
wenn ſolche Erbärmlicfeiten mit photographiſcher Irene 
copirt werben? 

In Bezug auf die Form der Darfielung im einzelnen 
gilt das Gefagte auch von ber dritten Geſchichte. Die 
Gemeinen Menſchen“ aber enthüllen ſich allmählich als 
die beſſern: Hr. von Lüchtingshagen liberwinbet das ober- 
flüchliche Pantoffelregiment feiner Frau, und feine edle 
Tochter erhält ihren Erwählten flatt des ihr zugedachten 
alten Diplomaten. Der Schluß ift wenigflens wohlthuen · 
ber als im den beiden erften Gedichten. Die Sprache 
zeigt indeffen auch hier keineswegs jene Eleganz, die wir 
in folgen Novellen ans bem High Iıfe gewohnt find. 


Feuilleton 


Pfeiffer- Feier in Bettlad. 

„Dem Andenten an Dr. Franz Pfeiffer von Bettlach, 
geboren zu Solothurn 27. Sebruar 1815, geſtorben als Brofeffor 
der deutfchen Sprache und Literetur am der Univerfität Wien 
29. Mai 1868. Seine Mitbürger 1870. So lautet die Inſchrift 
in lateinifhen Uncialbuchftaben auf einem Gedenfflein, einem 
mädtigen Granitblode im Gewichte von nahezu 300 Eentnern, 
welder zu Ehren franz Pfeiffer’s in feinem jchweizeriſchen Hei⸗ 
matorte Bettlady im Mai diefes Jahres feierlich errichtet wurde. 
Ueber, dieſe Bfeiffer-Beier in Beitlad braditen berſchiedene Bläts 
ter feinerzeit furzen Bericht, unlängft erſchien eine ausführliche 
Schilderung im funfzehnien Iahrgange der „Germania” von 
Iohann Schmidt in Felbfird, der al Vertreter der Öferreichie 
hen Regierung Zeuge des fefllihen Tages war und im Namen 
derielben Dank und Anerkennung für die Berherrlihung eines 
Mannes aueſprach, den and Deflerreih den Geinen nennen 
dürfe, und unter der Verfiherung, daß man in Defterreih an 
der erhebenden feier gerührten Antheil nehme und Pfeiffer's 
Name ewig grünen werde, einen Lorberfrang auf den Stein 

te. 

Srany Pfeiffer war, wie es durch die Angabe der betreſ ⸗ 
fenden Kirchenbücher außer allen geeifet gelegt it, in Solo» 
thurn geboren, fein Heimatort aber war Bettlah, wo feine 
Familie das Bürgerrecht befaß. Die Anregung zu einem Ge- 
benfflein für Pfeiffer ging aus von dem durch Herausgabe von 
Gedichten und Sagen in folothurner Mundart befaunten Dr. 

rang Joſeph Schüid in Grenchen, einem Dorfe bei Beitlach. 
ie Errichtung des Denkmals folte nicht fill und Hanglos 
vorübergehen, fle war Anlaß zu einer wärdigen Gedädtniß- 
feier, bei der eim Aufzug, Gejänge, Mufit und Bölerichffe 
nicht fehlten, bie aber ihre wahre Weihe und Bedeutung erſt 
erhielt durch mehrere treffliche Feſtreden. Zuerſi ſprach Pro- 
feffor G. Schlatter, Hector der Gantonsfgule in Solothurn. 
In feiner Rede if es namentlich der Ausdrud ber Pietät und 
des Heimatgeflißle, der jeden, auch wenn er von Pfeiffer und 
feinen Berdienfien nichts weiß, ſympathiſch ergreifen muß. 
Deute feiern wir", jo fagte unter andern der Heiner, das 
Andenfen des früh Dahingefdiedenen durch das Gehen eines 
Deuffieins und fragen uns: Was Bemegt Peiffer’s Mitbürger, 
ihm, den fein Schidjal früh dem Vaterland entriffen, der feine 
Stellung im Auslande hatte und der fein ſchweizeriſches Bür- 
gamst fogar aufgeben mußte, was bewegt feine frühern Mit» 
ürger, fein Undenten fo feRtich zu begehen? Wir fagen: Es 
iſt der gerechte Stolz, daß dies Rind unferer Berge, unſers 





Bolle durch die Energie feines Willens zu einer jo hoch ge» 
achteten, von ben Gelehrteften der deuiſchen Ration anerlannten 
Stellung fi emporgerungen hat. Richt vornehme, nicht reiche 
Ueltern oder Berwandte flanden an der Wiege des Gefeietten; 
feine Heimat war ein Heine® Dorf, defien Rare faum je ger 
nannt wurde außer den Grenzen de6 Baterlandes, und denncdh 
Hat er e8 weiter gebradjt als taufend andere, denen vornehme 
Geburt oder Reichthum bie Wege zu Ruhm und Ehre eben, 
und ihm Haben wir es zu danfen, wenn der Name feiner Heir 
mat heute ein weithin befannter if.’ Auf Pfeiffer's Ieudten- 
des Beifpiel wies Schlatter namentlich feine jungen Tandelcute 
Hin, die an derfelben Auſtalt fi den Willenfgaften widmen, 
au der er fih die Grundlage feines Miflens geholt. „lUn- 
jere Zeit if nicht rei an energifchen Charakteren, am wenig- 
fen an folgen, die mit Begeiflerung und ohne Rüdfiht auf 
materiellen Erfolg dem leüſchen ienfle_ der Wiſſenſchaften 
fich Hingeben; adıtet fomit, meine jungen Preurde, in Pfeiffer 
nit blos den großen Gelehrten, fondern aud) den edeln Men» 
fen, der als Mann die Ideale feiner Jugeüdtage fefigebalten 
und ihrem Dienfle fein ganzes Leben gewidmet hat. Wenn 
bie sentige Beier in euch ben Funken der Begeiſterung, den 
Heifigen Borfag, cdeln Sweden euer Leben zu widmen, zur 
hellen Flamme anfadt, fo hat fle ihren fhönften Zweck 
erfüllt.” Uber aud) nod aus einem andern Grunde habe 
Bfeiffer es wohl verdient, daß im feiner Heimat, in der Schmeiy, 
ihm ein dauerndes Andenken für immer gefiert bleibe. Im- 
mer fei er ein treuer Schweizer geblieben fein Leben lang, nie 
habe er feine Heimat verleugnet. Recht ſchweijeriſch war der 
reimuth, mit dem er in feinen gelehrten Kämpfen audı dem 
een Freunden rüdfichtelos feine Meinung fagte. Ein Schwei- 
zer ift Pfeiffer auch geblieben durch feine -fortwährende An« 
hanglichkeit an feine Heimat. 

Auch den Bettlahern drüdte Schlatter den Dank aus im 
Namen der Angehörigen und der vielen Freunde und Berehrer 
ihres berühmten Mitblirgers für die finnige Art, wie fie jein 
Andenken geehrt hätten. Und zum Schluffe fagte der Redner, 
zu den Bürgern von Bettladh gewendet: „Für emer junges 
Sefchlecht aber mdge da® Andenken am ben’ berlibmt gemorde- 
nen Beimatgenoflen ein Sporn fein zur Arbeit und zu tüchti- 
gem Streben. Nicht alle können Gelehrte werden umd jollen 
es ad nicht. Mber jeder if achtungsiwerth, der alle Sträfte 
feines Geifes daranfegt, im Leben ein tächtiger Menfch gu 
werben. Hängt Vjeiffer's Bildniß, daB beffem Mime der Ge 
meinde Vettlacp zur Erinnerung an den Zeutigen Tag ſcheult, 








Venilleton. 


in euerm Schulgaufe auf und fagt euern Knaben: Geht, wir 
bilden nur ein feines Dorf, und wenige haben vom uns ge» 
mußt; dennoch if aus unferer Mitte der Mann hervorgegan- 
gen, deffen Bildniß ihr hier feht, ein Mann, der durch feine 
Berdienfe um die Wiffenfhaft und feinen trefflichen Cha 
ralter weithin fih einen Wamen gemacht hat, Ex fei euer 
Vorbild; wenn ihr auch nicht Gelehrte werdet, Brave, tüchtige 
Menfgen follt ihr alle werden, wie er war.“ 

Beofeffor Schmidt, ein Schüler Bieiffer’e, nlipfte an feine 
oben amgedeuteten Dantesworte aud eine kurze Schilderung 
bes &efeierten, wie er war als Lehrer und Menſch, deſſen her» 
vorfleheudfte Züge Herzensgüte, Naturſinn uud unerjhrodener 
Breimuth bildeten. 

Auch eine Rede fm Schweizerdeuiſch, gehalten von Dr. 
Schild, verſchönte die Feier. Was über Pfeiffer zu fagen fei, das 
habe fein Freund, der Herr Rector Schlatter von Solothurn, 
und fein Schiller, der Herr Brofeffor Schmidt als Abgeordneter 
von der Uferreichifgen Wegıerung, fon gefagt._ Cr erlaube 
fid nur ein paar Worte in freundnadhbarlidem Ginne an die 
Bettlacher zu richten: „Beulech und Grende fy vo jeher guet 
Frund gig, fie hei’s gäng guet mit enangere hönne, "af e8 
beffer nüt nügt. Sid 3’Orendern-änern.es Feſtli g’fg, für dir 
Faesn-lie Übere ho und heit mitg'madıt; iſch bih · n · euch Öppis los 
fe, fy mer uff Bettted ho, wie's Fründ fülle made. I much 
ed füge, am Ajang, wo's g’heiße het, die weilet em Pfeiffer 
es Dünfmol Rele, hei mer ed} fchıer weile benude; aber nei, 
het's do g’heiße, Geitlech iſch feig Steifhing, üſem Fründ iſch 
au einifd Bppis podane, er Jot au einifah dppie ha. "AB mer 
üfi Freud d’ra hei, chaſch a dem g’jeh, wil mer hüt fo zahlrych 
ufg'räde fg, au fy ne angeri Nahbure do umd hei ihri Freud 
vr Selzed) iſch do, Solothurn 19 do, d’Regierig if do und 
fogar em Abordnig vo Wien if ’em hürige Tag z’lieb acho 
und macht mit.” Un die Shuljugend von Vettlad) wendet 
fi) wie der Vorredner auf Dr. Schild; dann bezeugt er den 
Bürgern feine Anerkennung, daß fie mit ebenfo viel Fleiß, 
Entſchloſſenheit und Ausdauer, mit deneu es Pfeiffer dahin ge- 
bracht habe, mas er geworden fei, mit ebenfo viel Eutfcioffen» 
heit und Kraftanftrengung den mädtigen Granit vor das Schul 
haus gefüget hätten. „Die fyt werth, der Pfeiffer zum Dit- 
burger z’ba.” Schließlich erſuchte der Redner die Militärmuſit 
von Örenden, den Betilachern zur Gratulation für ihren heu- 
tigen Tag eins anzuflimmen. 

Eın auf dem Feiplage prangender vollsmäßiger Spruch 
don Dr. Sgild lauter: 

Bas aus dem Boxer werben fann, 
Wenn er polixt und fein gefhliffen, 

Sat une der Bleiffer vorgepfifen: 

DS Hein ber Ort, bo groß der Mann, 


Notizen 

Bon der Bobenfedt’ften Shaffpeare-Ueberfegung 
(Leipzig, Brodyaus) liegen die Bändchen 27, 28 mad 24 vor; 
fie enthalten die „Zähmung einer Wderpenfigen“, „Die Kor 
mödie der Irruugen'“, überjegt von Georg Yerwegh, „Der 
Sturm", überſeißt von Friedrich Bodenſiedt, Die Einlei-⸗ 
tungen find durchaus zwedentpredend abgeiaßt. Intercffant 
bleibt es, den Dichter der ‚Rieder eines Lebendigen““ als Wever- 
feger Shatipeare'jher Luftipiele mwiederzufindeu und überdi 
als einen Commentator, der den ehrwürdigen Facultätsmantel 
Shatipeare'fher Gelehrfamteit nod mit dem Auiputz philologi- 
fer Unterſuchungen Über antite Sıllde ausfayfirt. 

Kanzleirati Robert Fiſcher hat das Geſetz betreffend 
das Urheberrecht an Schriitwerten, Abbildungen, mufitalifhen 
Compofitionen und bramatiihen Werken vom Il. Juni 1870” 
herausgegeben (Gera, Griesbah, 1870), mır Erläuterungen nad) 
den amtligren Waterialien und mit einem ausführlichen alpha 
betifhen Sadregifler. Die Schrift if fie jeden Schrüitfieller, 
Eomponiften und Journaliften für den Yandgebraud kaum zu 
entbehren; die Grläuteruugen find durchaus fadgemäß. Am 
wictigfen find die Abſchmite Über Nadprud, Ueberfegungen 





708 


und bramatifhe Schriften, welche letztern jetzt nicht mehr die 
ausdrüd.ige Verwahrung von feiten der Autoren an der Stirn 
du tragen branden, 





„as wliographie. 


I, Brod- 


A 

Fir 1, I, Die Bi ft d0 
Be — weh 
aiffe aus — ‚Berzänge ber —— Ya 


ar. 
ar 
ausgegeben von @. Bet, eis enter um, Gelgmmelt und der- 

nligen, & $, Bom beatfen Salfer. Zwölf Blcber. Berlin, 
@rofler. 0.737, 


R 
iyarre — 3 Bbe. Lelpzia. Rötigle. 8. A 10 Mar. 
Benns im 
Berdeflerte 
















— 9. 8. Ri 
‚x Uebertritt des ich 
ollolvnus, Bin Beitrag zur Geschichte der Katholischen 
„ger Be dos eebenltarigen Kr 
—— Gr, 
Hei De Anıpel ve an —A 
gegen —X —5*838 offlciellen Bucden und Winteitun- 
— Gerkbeten fe 618 die Bel, Aikgen. Merfohe Gerd. Ad Mar 
Deutjge Helden des Releget von 1970, Eine, Rriegsjdiderun mit 
15 Forträte in Stapifig. Leipia, Dürrihe Bnspandlung 


dir 
entel, MÜtHE auf das Fahr 1913 mit feinen Oelden, Thaten nad 
er m den ‚Sampie Kr Beulfgen mit den 


153 
Ki zur 15 Nyr, 
m Rettonelrege 












gierern, Ein Sherflein y 
Braujofen, „Gaflel. gecpiamidt. 9, 

Yenne-Am Kon Sutturgeinigte der neueren Zeit, Bom 
Wieberaufleben der Wi bie auf die Gegenwart. Iker Bd. — 


a. u d. Z.; Rulturgefichte Des geitatters der Weformation, Vom Wies 
beraufieben der Willenigaften 9 zur Zeit bed breißigläprigen Krieges. 
eıpsig, D. Bigane. @r 3. 3 The, Ju Nor, 

Ylser, @ Setigedigne. Wofet, Euler 16. SW . 
. Be, Mömergräber in Meliendurg. Sawerin, Giler. 


3 
Ra ig Dentgtenne, Rrstelide, See tel, 
— Bäfoge. Sn. le are desen Brantiei 
urer, &. Veinigte De Suse bung in Deutfgland, 


* J — 
ater 8». , Singen, — —— dar Aieren. Bestehunpeny, 


gwisches Veutohlaud'uud Uagarı nebst eluem Anhang Züge aus 
Angerischen Ontturleben im 11. Jahrluadert. Leipeig, MS Fielacher. 


Gr... 16 Ne 
2 -krllsche Beiträge sur Qeschlohte Bran’a 1, 
rebischof's von Köln. (O5 



















Tas. ., Arbintelen Aber Kunst besonders über Tragädl. 
rn. ehe ud Kritische Untersushungen, Wien, W. Breumälle, Brr6, 





F. F,, Papst Innocenz der Dritte und seine Schrift: De 
Ein Beitrag sur Geschichte des Geistes im Mittel- 
ichung zur Oultur der Renualssunoe und der Rofor- 
se "Abit, Geroulchte uud Krlk, Erlangen, Deichert, 16T, 





in 
alter in nächster 


mailen. 


8 

SeikiintmeitGatüntansnt, 9, Wellen Im Dave und 

Vowaflen. Cine Darkclung ver Landfdaft, der Gultur und Gitten ber 

Bemopner, Iu — 

Bafirt auf bie Mefuitate ver wiflenfsaftiigen Wilflen von Hermann, 

Nrotps und ob —— ausgelübrt in den Jahren 1854—1858. 
* 










2er Bp. dodal im stapa von Bputän 6i6 Rafpınir. Iena, 
&chezeke, UT, Bein 5 Zoe. 10 Nor 

leder nie Sußi der Olhaufpiefer Bei Plants und Les 

en unier bieliben. @ehönte Breite 





u une sie Beiheuung — 
it Seien en. Bela 0 Kar. 
si 2 Bei unferen Zruppen vor Mep. Berlin, 


Sue Ser Knbagt in yonligem Gemantr. Lei - 






—* 











vs Fauß, — "guitar. @ede Borträge, 2te Kufl, Leite, 
irzel. @r. d. It. 
BR tüne, &,, Untiindungen über be, Gegeräte in Wetlaten und 
.  Frommann, 
ee Werfels Wliife, Zelsiatung. Oßersurg, 
Docgern u a Ber 


Sasistaddt, L. y.; Elsotrielsht, Wärme, Licht. Versuch der LB- 
sang des Prohlams der Mehsitdung, Weitdewoylung uud Weltunterhaktang. 


Bei En Lüderit G 
"Winterieh, & „De "iepfant. Somifger Roman. 4 Bbe. 
Ei ıntorifirte beujge Ueber · 
ee 








var, — 
— — 














704 


Anze 


Anzeigen. 


igenm 


— — 


Derfag von 5. A. Brocihaus in Leipsig. 


Soeben erfgien: 


Der lette Bürgermeifter von Straßburg. 
Beterländisches Dramu in fünf Ictın, 
Mit einem Epilog aus der Gegenwart. 
Bon Karl Biedermann. 
8. Geh. 20 Nor. 


Obwol diefes Drama lange vor den neueften großen Er⸗ 
signiffen entftanden ift, ergeben ſich doch bie Beziehungen auf 
die genwart von jelbfl. Ueberdies bringt der beigefligte 
Epilog den Searnfap gwifen dem erhebenden Jeht nnd dem 
trüben Damals zu befonderm Ausbrud. Bon mehrern deut 
ſchen Bühnen wird bie Aufführung des Stüde vorbereitet. 

Don dem Derfaffer erſchien in demfelden Derfage: 
Kaifer Otto ber Dritte. Zrauerfpiel. 8. Geh. 20 Nor. 





Derfag von 5. A. Brodfans in Leipsig. 
Soeben wurde vollſtändig: 


Hundert Jahre. 
1770 — 1870. 
Zeit- und Lebenabilber, aus drei Generationen. 


om 
Heinrich Albert Oppermann. 
Neun Theile. 8. Geh. 10 Thlr. 10 Nor. 


Mit dem forben erſchienenen neunten Bande liegt das trefje 
liche Werk, womit ſich der verſtotbene Berfaffer ein ruhmvolles 
Hiterarifches Denkmal errichtet hat, num volifiändig vor. Ein 
befannter Kritiker vergleicht e8 mit Sealofield's „‚Lebensbildern 
aus beiden Hemifphären“, indem er binzufügt: in dieſer Weife 
follten alle Romane geichrieben werben, welde die Gegenwart 
‚oder bie nächfte Bergangenhrit hitdern wollen! An dem Fa⸗ 
den ber Zeitereigniffe gibt das Oppermaun'ſche Werk eine Reihe 
culturgeſchichtlicher Schilderungen, die, bald ernft bald Humor 
riftiſch gehalten, immer frifh, anſchaulich und in hohem Grabe 
feſſelnd find. 











Derfag von 5. A. Brodfaus in Leipsig. 





Soeben erschien: 


HERMES TRISMEGISTUS 
AN DIE MENSCHLICHE SEELE. 
Arabisch und deutsch herausgegeben von 
Prof. Dr. H. L. Fleischer. 

4. Geh. 20 Ngr. 


Zur Feier des fünfandzwanzigjährigen Bestehens der 
Deutschen Morgenländischen Gesellschaft hat der berühmte 
Orientalist dieses „Sendschreiben“ herausgegeben, dessen 
Handschrift sich in der leipziger Stadtbibliothek befindet. 
Der arabische Text erscheint zum ersten mal im Druck, 
während die früher vom Herausgeber veröffentlichte Ueber- 
setzung hier in wesentlicher Umarbeitung vorliegt. 


Dertag von 5. A. Brochhaus in Leipzig. 


Soeben erschien: 


CH Die deutsch-französischen Grenzen Di 
historisch — politisch — sprachlich. 
In fünf verfhiedenen Sarben dargefelft. 
Entworfen und gezeichnet von Henry Lange. 


Preis 4 Sgr. 

Eine sehr interessante Karte der deutsch-französischen 
Grenzgebiete, unentbehrlich zur Orientirung bei allen Er- 
örterungen und Verhandlungen über die Frage der neuen 
Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich, indem sie 
1) die bisherige französische Grenze, 2) die historische Grenze 
von Elsass, 3) die bistorische Grenze von Lothringen, 4) die 
Sprachgrenze, 5) die deutsche Westgrenze mittels verschie- 
dener Farben aufs anschaulichste markirt. 








Derlag von 5. A. Brockhaus in Leipzig. 


| Deutfhes Sprihwörter-Lerikon. 
Ein Hausschatz für das deutsche Volk. 
Herausgegeben von K. F. W. Wander. 
Erster und zweiter Band. (A—Lehren.) 


4. Jeder Band geh. 10 Thlr., geb. 10%, Thlr. 


Dieses Werk ist die vollständigste und vergleichs- 
weise wohlfeilste aller Sprichwörtersammlungen ; die 
Zahl der in den vorliegenden zwei Bänden mitgetheilten, 
alphabetisch geordneten, vielfach mit Erklärungen, Citaten 
und Quellenangaben versehenen Sprichwörter beläuft sich 
anf nicht weniger als 1: Es wird mit Recht als ein 
ebenso für die deutsche Sprache wie für die deutsche Cul- 
turgeschichte überaus wichtiges ä 
in welchem die Anschauungen, Ansichten, Urtheile, 
thümer und Erfahrungen, Rechtsgrundsätze, Kingheits. und 
Weisheits-, Glaubens- und Sittenlehren der frühern Ge- 
schlechter aller Bildungsschichten und Berufsklassen sich 
In, und das in jeder öffentlichen wie in jeder grössern 
ibliothek seinen Platz zu beanspruchen habe. 

Die Fortsetzung des Werks erscheint in regelmässiger, 
ununterbrochener Folge (wie bisher in Lieferungen zu 20 Ngr.). 




















Verlag von Friedrich Vieweg uud Sehn in Braunschweig. 
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.) 


Die Spectralanalyse 


in einer Reihe von sechs Vorlesungen mit wissen- 
schaftlichen Nachträgen 
“ von H. E. Roscoe. 
Autorisirte deutsche Ausgabe, 
bearbeitet von 
C. Schorlemmer. 


Mit 80 in den Text eingedruckten Holstichen, Chromo- 
lithographien, Spectraltafeln etc. 





Gr. 8. Fein Velinpapier. Geh. Preis 3 Thir. 





Berantwortlicher Redactenr: Dr. Eduard Srochhaus. — Drud und Verlag von 8. A, Srodhaus in Leipzig. 





Blätter 
literariihe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gotifdall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—ea Ar. 45. Po 


3. November 1870. 





Zuhalt: Reue Romane. Bon Nudolf Gottichal. — Bollszahl und Sprachgebiet der Deutichen. Bon Mubelf Dochn. — 
Heimiſche und fremde Dichtungen. Bon Adolf Laun. — Senileten. (Engliiche Urtheile Über neue Erfcheinungen der dentichen 
Literatur.) — SBiblisgraphie. — Anzeigen. 





Nene Romane. 


1. Die Kinder Roms. Roman von Alfred Meißner. Bier 
Bände. Berlin, Janke. 1870. 8. 6 XThlr. 


Das Tofephinifche Zeitalter, welches von Karl Fren⸗ 
zel in feinem Roman als das „goldene Zeitalter" bezeichnet 
wird, jedenfalls eine Zeit, in welcher die Menſchheit noch 
an ihre Ideale glaubte und der Himmel voller harmoniſch 
geftimmter Geigen hing, bildet auch den Hintergrund des 
neuen Romans von Alfred Meiner, obſchon in demfel« 
ben weniger jene Begeifterung für die Idee, als vielmehr 
der Kampf zwiſchen Staat und Kirche mit allen Intriguen, 
bie er zur Folge Hatte, in den Vordergrund tritt. Im 
einem Staate, in welchem bie Einführung und Aufhebung 
des Concordats fo große Wendepuntte ber ganzen innern 
Entwidelung bezeichnet, wird ein Roman, der fid um 
diefelbe Achſe dreht, das lebhafteſte Intereſſe in Anſpruch 
nehmen. Die Enthüllung pilanter Kloftermyfterien der 
Neuzeit wird dies Intereſſe »oc erhöhen, wie denn aud) 
der Berfaffer am Schluß fein : Erzählung mit Recht jagt: 
als er vor bald zwei Jahrer an das Nieberjchreiben ber- 
felben ging, 
tonnte er nicht ahnen, daß die Tagesgeſchichte ihm recht geben 
und Kloftergeheimniffe an den Tag bringen werde, die gleich 
fam für alles, was in dieſer Eräbtung etwa unglaubhaft 
fchiene, den Beweis der Wahrheit liefern würden. Er konnte 
andererjeits nicht ahnen, daß das Erſcheinen dieſes Buchs in 
eine Zeit der Krife fallen folle, in ber Rom alle Kräfte im 
Kampf gegen ben Geift der Zeiten entfalten werbe. Dat diefes 
Buch, gewiffermaßen aus einer Borahnung hervorgegangen, 
an der Stimmung des Tags den richtigen Relief gefunden, 
ober iſt es durch die Ereignifje ſelbſt gerechtfertigt? Diele Frage 
bat nun der Leſer zu beantworten; gut, wenn er jagt, daß bie 
Geſchichte Ebenſtein's und des Grafen Radlitz geichrieben zu 
werden verdiente. 

Die Stimmung, aus welcder der ganze Roman her- 
vorgegangen ift, entipricht der Grundſtimmung des Jo⸗ 
,vhiniſchen Zeitalters, jener Anfllärung, die durchaus 
kirhen⸗ und kloſterfeindlich in der Wegräumung dieſer 
Inſtitute nur einen entſchiedenen Fortſchritt der Menſch⸗ 

1870. 6. 


heit erblickte. Das Kloſter erſcheint bier als der Herb 
pfäffifcher Intriguen, fchlau gefpielter Mirakellomdbien, 
graufamer Märtyrertragödien in verfchwiegenen Kloſter⸗ 
gefängniffen; geiftlicher Hochmuth, Heuchelei und Gewinn- 
ſucht wirken zufammen; der Staat beraubt die Kirche, 
die Kirche betrüigt den Staat, und gemeine Diebe mijchen 
fi in einen Diebftahl, der dem Gebiete des Staats- und 
Kirchenrechts angehört. 

Diefes Bild ift im Grunde unerquidlich, weil e8 uns 
mehr einen Kampf ber Intereffen ala ber Ideen vorführt. 
Daß der Antor für die Aufklärung Partei ergreift, wol⸗ 
len wir ihm am wenigfien verargen; aber der Dichter 
follte doch auch ber Gegenpartei einiges Licht zukommen 
lofien. Wir erinnern nur an Outlow’s „Zauberer von 
Rom’, ein Gemälde der Tatholifchen Welt, welches zu- 
gleihh eine ſehr ſcharfe Kritit des Katholicismus vom 
Standpunkte bes modernen Zeitbewußtſeins aus enthält 
und in weldem die tiefften Schatten nicht fehlen; doch 
auch die Poefie des Katholicismus ift hier in einem Haupt⸗ 
beiden des Romans, in Bonaventura vertreten; wir be« 
wegen uns nicht fortwährend gleichſam in unheimlichen 
Labyrinthen, in denen jedes Licht ſchöner Menfchlichkeit 
erlojchen ift, wir tappen nicht blos in einem unbegreif- 
lichen Dunkel, welches Yahrtaufende anf der Menfchheit 
laftete; wir verftehen doch auch, was eble Gemüther und 
tüchtige Geifter an bie Kirche zu fefleln vermochte. Bei 
Meißner aber find die „Kinder Roms” nur Kinder der 
Nacht; Pater Bonaventura ift ein feifter Pfaffe und 
Intriguant von orbinärftem Schlage; der Erjefuit Pa- 
gomas, eine Mifchung von Cagliofiro und Cafanova, 
ein Betrüger von dunkelſten Antecedentien; bie eine 
Nonne verbrennt fi) bei einem Gaukelſpiel, indem bie 
Rache aus den offenen Grüften des dem Staate verfal- 
Ienen Kloftere von Doran in Geftalt einer Rauchwolfe 
emporfteigt, zu ber die Nonne den unterirdifchen Opfer⸗ 
altar rüftet; auch ein Kind bat fie ins Klofter entführt; 

89 


an 


706 


die Geliebte bes frommen Paterd Bonaventura fpielt die 
Somnambule und prophezeit unter dem Andrang ber 
Frauen und Damen. Im Befige eines Geheimnifies, 
der Blutfhuld des Gattenmörders, des Grafen Radlig, 
ſuchen bie Kinder Roms möglicften Gewinn für die 
Kirche aus ſolcher Mitwiffenfchaft zu erprefien; kurz, es 
find lauter Intriguen und Schandthaten höchſt profaner 
Art, welche aus der Chronit des Klofterlebens heraus⸗ 
gegriffen und in den Woman verwebt find, 

Auf der andern Seite flößen auch die Vertreter der 
Aufklärung fein wahrhaft ideales Intereffe ein, vielleicht 
den Kaifer Joſeph ausgenommen, ber aber faum von fei- 
nem geſchichtlichen Piedeftal herunterfteigt, um ſich in den 
Mantel des romantiſchen Abenteuer zu Hüllen. Der 
Strom ber Geſchichte läuft überhaupt unvermiſcht neben 
der freien Phantafieftrömung einher; die nieberländifchen 
Wirren und Unruhen und felbft der Türkenkrieg ſchieben 
ſich als felbfländige Geihichtäghronif ein, bie nur durch 
ein loderes Band mit der eigentlichen Handlung des Ro- 
man verknüpft if. Was aber den Helden des Dichters, 
den Baron Ebenftein, betrifft, fo ericheint berfelbe doc 
nur als ein aufgeflärter Bureaufrat, der feine Pflicht und 
Schuldigleit thut, unbeirrt durch die Verfolgungen, die 
ihm fein Dienfteifer zuzieht, bie er für feine bittern Ex 
fahrungen entſchädigt wird durch des Kaifers perfünliche 
Huld und das Glüd der Liebe, das ihm die Ernonne 
Marcelline zutheil werben läßt. Ein wenig mehr Schwung 
und Begeifterung für die menfchheitlichen Ideale, die doch 
damals in ber Luft des Jahrhunderts lagen, hätte ben 
Charakter gehoben und bedeutſamer hingeftellt. Bei Ge- 
Tegenheit feiner Miſſion nad) Belgien fagt der Autor 
von ihm: 

Der Kaiſer, der fein Talent erkannt, hatte ihm zugleich 
eine große Entſchädigung für alles, was er erlitten, bieten 
wollen und damit war er wieder in ben Vordergrund der ſtrei⸗ 
tenden Haufen geftellt. Kaum von den Wunden genefen, die 
er in der Schlacht mit der Meritalen Bartei in Böhmen davon» 
getragen, follte er abermals ben finflern Mädten im Kampfe 
gegenliberftehen. Er ſollte — fo lautete feine Miſſion — alle 
obſchwebenden Differenzen in Eultusangelegenheiten und nament · 
lid in der Schul und Klofterfrage zu einer endgültigen Löfung 
bringen. Es war ihm aber ein feinen Zwecen nicht fürder- 
ficer Ruf in den Niederlanden vorangegangen. eine Bro» 
ſchüre über die doraner Angelegenheit hatte mod) kurz vorher 
feinen verpönten Namen in den Vordergrund der Aufmerkiam- 
feit gezogen unb ber firhlihen Partei Gelegenheit gegeben, 
feinen Tharatier in ihren Zeitungen mit den [hmärzeften Far- 
ben auszumalen. &o fland er in den Augen des Bolt, das 
ihn nicht faunte, in dem häßlidNen dichte da; die erregte 
Bhantafie der Glänbigen ſchuf fi eine wahrhaft fataniihe 
Seflalt aus ihm, einen dämonifhen Vorgänger des Teibhaften 
Antihrift, der ihm auf dem Fuße folgen müffe. Cbenflein 
war nicht lange im Brüffel, al® er die traurige Berlihmtheit, 
die er hatte, erfannte, aber Halb und halb darauf gefaßt, fah 
er hierin nur den unheimlichen Abglanz der riefigen Schwierig · 
teiten, welchen die Vollendung feiner Miffion begegnen würde. 
Er mußte, daß die Berunglimpfungen nicht feiner Perion, ſon · 
dern der Sache galten, und die Angriffe, die er erbuldete, 

jegen dem Urheber der Heformen, den Kaifer, gerichtet feien. 

Str entfernt, zurfdäufchreden, ſuchte er feinen Wurh bie zur 
Höhe der Gefahr feiner Sage au erheben nnd den Grad feiner 
Energie nad) der Größe ded Widerftandes zu befimmen. 

Immer fehen wir hinter dem Helden den Kaifer ftehen; 
wir wiffen faum, ob jener aus eigenem Antrieb Kraft 
ud — genug befefjen Hätte, um den Finſterlingen 








Neue Romane. 


mit Entſchiedenheit entgegenzutreten; ja ob überhaupt bie 
freie geiftige Richtung mit feiner Erziehung und Bildung 
zufammenhängt, oder ob er diefelbe nur vertritt, weil ihm 
dies von obenher anbefohlen wird. 

ge höher wir das glänzende Talent Alfred Meißner's 
ſchätzen, deſto ängftlicer glauben wir darüber wachen zu 
mätflen, daß er es ſich nicht zu leicht mache mit feinen 
Aufgaben und ihrer Löfung. An einen Dichter vom gei- 
fliger Bebeutung darf man flets den höchſien Mafftab 
anlegen. Uns aber jcheint es, al® habe er ſich es mit 
den „Kindern Roms” etwas leicht gemacht und verjäumt, 
für feine Charaftere ein tieferes Jutereſſe zu erwedken. 
Der Gruftbrand, der Kiftendiebftahl, der Schloßbraud 
und Gattinnenmorb, die geheimmißvolle Entführung der 
Ernonne Marceline — das find alles Senfationgmotive, 
welche eine lebhafte Spannung erregen und dem Autor 
Gelegenheit zu lebendigen Schilderungen geben. Daran 
wie. an geiftvollen Refiexionen ift im bem Roman fein 
Mangel. Doc die Geheimnifie des tiefen Seelenlebens, 
die eine feffelnde Sympathie erweden, find namentlich bei 
Marcelline und Ebenftein nicht mit jener Kunft geichil- 
dert, wie wir fie zwar niemal® von einem bloßen Roman» 
fhriftfteller verlangen würden, wol aber von einem echten 
Dichter verlangen: es find alles leichte Relieffiguren, und 
vieles ift von Gußeiſen, was von Erz grftaltet jein müßte. 
Selbft der Stil ift oft laſſig. Mehrfade Wiederholungen 
defielben Pronomens in einem Sage, Relative, die von 
ihrem Hauptworte duch allzu weite Zwifhenräume getrennt 
find, gehören nicht zu den Seltenheiten. 

Zu ben am beften gezeichneten Charakteren des Werts 
gehört der Grieche Pagomas, der Alchemiſt, der ſich zu- 
Iegt als Erjefuit entpuppt; folde Figuren find in dem 
Zeitcoftüm ber zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in 
welcher die Moftiter und Wunderthäter eine jo große 
Rolle fpielten. Diefe Abenteurer mi geheimnifvollem 
Hintergrund des Lebens und Denkens find gerade djaraf- 
teriftifch für jene Epoche. Daß Meißner uns hier in die 
rechte Stimmung zu verfegen und den Zeitgeift in der 
einzelnen Perfönlicjkeit zu fpiegeln verfteht, beweiſe die 
folgende Schilderung, die und den Magier im Bouboir 
der ſchönen Gräfin Rauenkirch zeigt: 

Rechts und linfs vom Fenerbod lagen auf der Erde zwei 
wunderbar gearbeitete Sphinxe aus ſchwarzem Marmor, vom 
deren geflügelten Löwenleibern fi die Seitenwände des Kamine 
von weißem Marmor in fühner Eurve emporfhwangen, dem 
ſtark Überfrogten Sims zu tragen, auf welchem allerlei ägyp- 
tifche Aterrhümer, Bofen und Figurinen fanden, melde fi 
in dem Spiegel von venetianifhem Glaſe in filigranem Silber« 
rahmen zu verdoppeln ſchienen Pagomas fchlirte die Kohlen, 
daß die Funken aufſprühten und hier und da die Flamme ans 
den glühenden Böden aufihlug. Dann fielen feltiame Streif- 
Tichter auf die ägyptifhen Bhyfiognomien der Löwenjungfrauen 
und die glänzenden gefpigten Brüfte derfelben hoben fi) durch 
tiefe Schlagſchatien empor. Gedanfenvol biidte Pagomas den 
Kamin an, eigentlich die beiden Gphinge. Wer ihn jo un- 
bemerkt gefehen hätte, würde über den veränderten Ausbrud 
feines Gefichts erſtaunt gewefen fein. Bon den unbeweglichen 
Zügen, die von einem unerfhlitterlihen Geibitbewußtiein zeug- 
ten, war der font imponirende Zauber eines ruhig, aber 
mädtig wirkenden Geiſtes gewichen. Gie waren von einen 
Schmerz, der in tiefer Bruft im tiefften Berfled zu wohne 
ſchien, heimgefuht und zerriffen. Die dunkeln jüdlichen Augen 
die den Gegenfiand fonk fo fharf und Hart fefibielten, fie jeı 
deten matte, verſchwommene Blide einer unbeſchreibliche 





Neue Romane. 707 


Schwermuth hinaus. Seine ſtramme, beinahe hereuliſche Ge⸗ 
ſtalt lag in dem Lehnſtuhle wie zuſammengebrochen, ſodaß man, 
von fern ihn betrachtend, weit eher einen Greis als einen 
Mann im kraftvollſten Alter zu ſehen geglaubt hätte So war 
er reglos und fchweigend, in brütenden Meditationen verfunten, 
lange bdagejfeffen, bis er, ſich plötzlich zufammenraffend, ausrief: 
„Sphinze, Sphbinge, Töchter des Typhon und der Echydna, 
fragenftellende graufame Weſen, Sinnbilder des Unbelannten 
und Ungewiffen, Gottheiten der Abenteurer, voll Reiz und voll 
Grauen zugleih! Ihr Tegt dem Menſchen die Räthſel des Les 
bens unb der Zufunft vor, denn was ift das Leben und die 
Zukunft als jede neue That, die man unternimmt? Wie oft, 
Söttinnen, bin id; ſchon vor euch getreten! Vermeſſener hat ſich 
niemand zur Löfung eurer fchweren Fragen gedrängt! Ic, er- 
jheine diesmal wieder und werde ein neues Glüderäthſel zu 
löſen verfuchen, aber wer weiß, ob der Verſuch mein Herz be- 
febt oder e8 mit neuen Wunden bededt? Hochgenüſſe und Er- 
folge aller Art find mir zutheil geworden, aber das Geſchick 
hat mir auch dich aufgeladen — ſchwere, ſchwere Schuld! DO 
biefe Schuld! Wie ein Ungeheuer auf der Lauer liegt fie vor 
mir da und bannt meine Blide endlos auf fih — ich fürchte, 
daß fie mich noch verfchlingt. Doch falle ich nicht zufammen, 
uch fühle ich in mir einen kühnen, verzweifelten Muth! Die 


entſetzlichſten Gefahren führen nicht immer zum Tode. Die 


Zeit nur kann mir fagen, ob die Löſung des flirchterlichften 
Sphinrräthſele meines Lebens gelungen! Unterbeffen will ich 
den Muth, den ich andern Unglüdlichen einzubauchen verftehe, 
bei mir felbft anwenden und bet der allgemeinen Ausbeutung 
nnd Pllinderung der Welt nicht müßt und verbroffen daftehen. 
Edle und fchuldlofe Menfchen gehen hienieden fo oft jammervoll 
zu Grunde — was hätte aljo der Schuldbemußte für eine ganz 
bejondere Urſache zum Entſetzen nnd zur Furcht? Der Wahn 
macht gluͤcklich oder unglüdlich, ich will mich betäuben in einem 
füßen, Vieblihen Wahn..." 


Marcelline felbft, die poetifhe Blume bes Romans, 
ift nur die paffive Heldin deſſelben. Wenn der Dichter 
fie den dämoniſchen Charakteren entgegenftellt, fo irrt er 
fich gewiß, follte er in dem Baron von Ebenftein, dem 
Geliebten Marcellinens, ein Exemplar diefer Species 
ſuchen: 

In dieſen Tagen des Kampfes zweier miteinander unver⸗ 
träglichen Weltanſchauungen, von meiden ſich unſere, den Ideen 
nicht mehr lebende Zeit nur mühſam eine Vorſtellung macht, 
nehmen wir den Faden unjerer Erzählung wieder auf. Es 
gibt Charaktere, die duch fein Berhältniß hindurchgehen kön⸗ 
nen, ohne auf ihrem Wege bleibende Spuren zurüdzulafien, 
Charaktere, unter deren Einfluß ſich fcheinbar geringfügige Um⸗ 
flände, mie in unbewußtem Spiel, zu SKataftrophen fteigern. 
Wo immer fie erfcheinen, beſchwören fie Conflicte, oder gera- 
then in fie nnd fuchen fie auf; fie lieben den Sturm, ben 
Kampf, die Bewegung; Ruhe ift ihnen unbehaglid) und lange 
weilig, oder erft dann lieb und erſehnenswerth, wenn fie lange 
aufs Spiel geſetzt war und verloren fchien. Das find die fo» 
genannten dämonifchen Naturen. Es gibt aber aud gemifie 
Menfchen, die jene raftlofe überquellende Thatkraft und oft fri- 
vole Angriffsiuft gar nicht befigen, die jedem Kampfe fchen und 
thüchtern ausweichen und beffenungeachtet aus einer Bermwide- 
Inng in die andere ftürzgen. Bon den bämonijchen Naturen dem 
Weſen nad; grundverfchieden, ja ihnen entgegengefettt, haben 
fie mit denſelben ſchließlich gen ähnliche Schiedfale gemein. Die 
Laufbahn beider ift an Eollifionen, Gefahren, extremen Wed- 
fein überreih. Was bei jenen der ungezügelte Drang und der 
vermeffene Wille anftiftet, das tritt bei diefen unbeabfichtigt 
und ungejucht durch ein Berhängniß ein, entweber weil fie von 
unbezwingbaren Berbältnifien fortgeriffen werden, ober weil ihr 
Leben überhaupt eine fehiefe und unvegelmäßige Bafls erhalten 
bat. Die erften find Helden, die legtern Märtyrer. Zu den 
legten mußte Marcelline unbedingt gezählt werben. 


Daß der Roman lebendig, fpannend, oft mit Dichte 
rifhem Reiz, oft mit dem Humor feiner Oenremalerei 


gefehrieben ift, braucht bei einem Autor von der reichen 

Phantafie Meißner's nicht befonder8 hervorgehoben zu 

werden. Unfere Ausftellungen richteten fich gegen den 

Kern geiftiger Bedentung, ber uns nicht fo bewältigend 

erſchien, wie wir ermartet hatten. 

2. Kinder der Zeit, Roman von Karl Marquard Sauer. 
Drei Bände. Hannover, Rümpler. 1870. 8 4 Zhlr. 
Unſers Wiſſens ift diefer Roman ein Erftlingswerf 

des Verfaſſers, und er hat fi ohne Trage mit demfel- 
ben glüdlih in die Literatur eingeführt. Die Darftel- 
lungsweiſe ift fließend, natürlich, belebt; der Autor weiß 
auch bei ſolchen Situationen, denen der Reiz der Neuheit 
fehlt, auf das Gefühl zu wirken; der Dialog ift durd- 
weg pilant und gefättigt mit jenen Gedanken, welche ein- 
mal den „Kindern ber Zeit” buch den Kopf zu gehen 
pflegen. Eine Tochter, die ihren Bater ſucht, ift in die- 
ſem Roman wie in dem vorhergehenden bie Heldin; aber 
in welchem neuen Roman überhaupt fehlen diefe „Ver⸗ 
widelungen dev Defcendenz‘, welche in der Vergangenheit 
Knotenpunkte für die Verwirrung und Entwirrung ber 
Komanfüden bilden? Seraphine ift wie Marcelline bie 
paffive Heldin bes Romans; nur daß die Abentener der 
erftern in früher Kindheit fpielen. Das Heine Mädchen 
entläuft der Alten, ber es anvertraut ifl, wird auf der 
Promenade von zwei jungen Männern aufgefunden, die 
e8 bei einem befreundeten Doctor im Pflege geben. Später 
ergibt fi), daß Seraphine bie Tochter des reichen Bankiers 
bon Hellenbadh ift, und ba fie wieder zu Gnaden an» 
genommen wird und überdie8 den einzigen Dann, den 
fie geliebt hat, heirathet, jo darf man fi) von einer 
jolhen Heldin faum mehr verfprechen, als daß fie fchön, 
gut und liebenswürdig if. Seraphine ift denn auch der 
gute Engel de8 Romans und beglüdt ihren Retter durch 
ihre Liebe und ihre Hand. 

Doch eine Romanpelbin, die uns ein lebhafteres In⸗ 
tereſſe einflößen fol, muß den Teufel im Leibe haben. 
In ber ſchönen Olympia ift aud) dies Genre vertreten. 
Anfangs Balletratte, ſpäter berühmte Schaufpielerin, nod) 
fpäter Gräfin, macht fie die glänzendfte Carritre, die 
man auf dem Gebiete ihrer Kunft machen kann. Zu 
ihren anfänglichen Liebhabern gehört der Senfationsheld des 
Romans, Hr. Streder, Intriguant von Profeffion, Mör- 
der dur) Zufall, von Olympia, der frühern Geliebten, 
entlarvt und einem Criminalproceß nur dur Selbftmord 
aus dem Wege gehend; ferner der junge Mediciner Wolf- 
bardt, der fie in die Geheimniſſe von Stoff und Kraft 
einweiht und ihr die Grundlagen einer radicalen, welt⸗ 
veracdhtenden Geſinnung gibt, welche felbft die geiftige 
Erziehung des Dr. Peregrin nit umzuſtoßen vermag. 
Olympia, mit ihren Antecedentien, ihrer ftolzen Schön» 
beit, ihrem geiftreichen Peffimismus und ihrem refoluten 
Handeln iſt jedenfalls bie intereffantefte Yigur des Romans, 
Dffenbar ift der Berfaffer in der Theaterwelt heimifch, 
die er mit befonderm Behagen fchildert. Das Souper 
bei der Tänzerin, wo die Naivetät ber VBalletratten mit 
ihrer ganzen Unvermwüftlichfeit aus den Schleierchen bes 
geſellſchaftlichen Anftandes hervorblidt, vor allem aber 
die Rundreife, welche die Schaufpielerin mit ihrer jungen 
Pflegebefohlenen in der theatralifchen Welt madt, find 
mit einer volllommen „fachmänniſchen“ Kenntniß gejchildert. 


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706° Neue Romane. 


die Geliebte bes frommen Paters Bonaventura fpielt die 
Somnambule und prophezeit unter dem Andrang ber 
Frauen und Damen. Im Beige eines Geheimnifles, 
der Blutſchuld des Gattenmörders, des Grafen Radlitz, 
ſuchen die Kinder Roms möglichften Gewinn für bie 
Kirche aus folder Mitwifienfchaft zu erprefien; kurz, es 
find lauter Intriguen und Schandthaten höchſt profaner 
Art, welde aus ber Chronif des Klofterlebens heraus ⸗ 
gegriffen und in den Moman verwebt find. 

Auf der andern Seite flößen auch die Vertreter der 
Aufklärung kein wahrhaft ideales Intereſſe ein, vielleicht 
den Kaifer Joſeph ausgenommen, der aber faum von ſei⸗ 
nem geſchichtlichen Piedeftal Herunterfteigt, um ſich in den 
Mantel des romantifchen Abenteuers zu hilllen. Der 
Strom ber Geſchichte läuft überhaupt unvermifcht neben 
der freien Phantafieftrömung einher; die mieberländifchen 
Wirren und Unruhen und felbft der Türkenkrieg ſchieben 
ſich als felbftändige Gefchidhtschronif ein, die nur durch 
ein lodere8 Band mit der eigentlichen Handlung des Ro- 
mans verfnüpft ift. Was aber den Helden des Dichters, 
den Baron Ebenftein, betrifft, fo erſcheint derſelbe doch 
nur als ein anfgellärter Bureaufrat, der feine Pflicht und 
Schuldigkeit thut, unbeirrt durd die Berfolgungen, die 
ihm fein Dienfteifer zuzieht, bis er für feine bittern Er- 
fahrungen entfchädigt wird durch des Kaifers perfünliche 
Huld und das Glüd ber Liebe, das ihm die Ernonne 
Marcelline zutheil werden läßt. Ein wenig mehr Schwung 
und Begeifterung für die menſchheitlichen Ideale, die doch 
damals in der Luft des Jahrhunderts lagen, Hätte ben 
Charakter gehoben und bebeutfamer hingeftellt. Bei Ge- 
Tegenheit feiner Miſſion nach Belgien fagt der Autor 
von ihm: 

Der Kaifer, der fein Talent erkannt, Hatte ihm zugleich 
eine große Entfhädigung für alles, was er erlitten, bieten 
wollen und damit war er wieber in ben Vordergrund der freie 
tenden Haufen geftellt. Kaum von den Wunden genefen, die 
ex in der Schlacht mit der klerikalen Partei in Böhmen davon» 
getragen, folte er abermals ben finfern Mächten im Kampfe 
gegenüberftehen. Cr folte — fo lautete feine Miffion — alle 
objhmebenden Differenzen in Eultusangelegenheiten und nament» 
lid in ber Schule und Koferfrage zu einer endgüftigen döſung 
bringen. Es mar ihm aber ein feinen Zweden nicht fürder- 
tier Ruf in ben Niederlanden vorangegangen. eine Bro» 
fejlire Über die doganer Angelegenheit Hatte mod; furz vorher 
feinen verpönten Namen in den Vordergrund der Aufmerkſam- 
feit gezogen unb der kirchlichen Partei Gelegenheit gegeben, 
feinen Cparakter in ihren Zeitungen mit den fhmärzeften Far« 
ben auezumalen. &o fand er in ben Augen des Wolle, das 
ihn nicht kaunte, in dem häßlihften Lichte da; die erregte 
Phantaſie der Gläubigen ſchuf fih eine wahrhaft fataniihe 
Geftalt aus ihm, einen dämonifhen Vorgänger des leibhaften 
Antigrit, der ihm auf dem Fuße folgen müffe. CEbenfein 
war nicht lange in Brüffel, als er die traurige Berlihmtheit, 
die er hatte, erfannte, aber Halb unb halb darauf gefaht, fah 
er hierin nur den unheimlichen Abglanz der riefigen Schwierig · 
teiten, welden die Vollendung feiner Miffion begegnen würde, 
Er wußte, daß die Berunglimpfungen nicht feiner Berfon, fon« 
dern der Sache galten, und bie Angriffe, die er erduldete, 
jegen dem Urheber der Reformen, den Kaifer, gerichtet feien. 

eit entfernt, zurädzufchreden, juchte er feinen Wut bie zur 
Höhe der Gefahr feiner Lage zu erheben und den Grad feiner 
Energie nad) der Größe des Widerftandes zu befimmen. 

Immer fehen wir hinter dem Helden den Kaifer ftehen; 
wir wiflen faum, ob jener aus eigenem Antrieb Kraft 
und Muth genug befefjen hätte, um den $infterlingen 





mit Entſchiedenheit entgegenzutreten; ja ob überhaupt Die 
freie geiftige Richtung mit feiner Erziefung und Bildung 
zufammenbängt, oder ob er biefelbe nur vertritt, weil ihm 
dies von obenher anbefohlen wird. 

Ie höher wir das glänzende Talent Alfred Meißner's 
ſchätzen, defto ängftliger glauben wir bariiber wachen zu 
mitſſen, daß er e8 ſich nicht zu leicht mache mit feinen 
Aufgaben und ihrer Löfung. An einen Dichter von gei- 
figer Bedeutung darf man flets den höchſten Maßſtab 
anlegen. Uns aber ſcheint es, al® Habe er ſich es mit 
den „Rindern Roms” etwas leicht gemacht und verfäumt, 
für feine Charaftere ein tieferes Intereſſe zu ermeden. 
Der Gruftbrand, ber Kiſtendiebſtahl, der Schloßbrand 
und Gattinnenmord, die geheimnißvolle Entführung der 
Ernonne Marcelline — das find alles Senfationsmotive, 
welde eine lebhafte Spannung erregen und dem Autor 
Gelegenheit zu Iebendigen Schilderungen geben. Daran 
wie. an geiftvolen Refiexionen ift in dem Roman fein 
Mangel. Doc; die Geheimniffe des tieferen Seelenlebens, 
die eine feſſelnde Sympathie erwecken, find namentlich bei 
Marcelline und Ebenftein nicht mit jener Kunft geichil- 
dert, wie wir fie zwar niemals von einem bloßen Roman» 
fchriftfteller verlangen würden, wol aber von einem echten 
Dichter verlangen: es find alles leichte Nelieffiguren, und 
bieles ift von Gußeiſen, was von Erz geftaltet jein müßte. 
Selbft der Stil ift oft läſſig. Mehrfache Wiederholungen 
befielben Pronomens in einem Gate, Relatide, die von 
ihrem Hauptworte durch allzu weite Zwifchenräume getrennt 
find, gehören nicht zu den Geltenpeiten. 

Zu den am beften gezeichneten Charakteren des Werks 
gehört der Grieche Pagomas, der Aldemift, der fich zu= 
legt als Eyjefuit entpuppt; ſolche Figuren find in bem 
Zeitcoftüm der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im 
welcher die Myſtiker und Wunderthäter eine fo große 
Rolle fpielten. Diefe Abenteurer mit geheimnigvollem 
Hintergrund des Lebens und Denkens find gerade charaf- 
teriftifch für jene Epoche. Daß Meißner uns hier in bie 
rechte Stimmung zu verfegen und ben Zeitgeift in ber 
einzelnen Perfönlicjkeit zu ſpiegeln verfteht, beweiſe die 
folgende Schilderung, die und den Magier im Bouboir 
der ſchönen Gräfin Rauenkirch zeigt: 

Rechts und linke vom Feuerbock lagen auf der Erde zwei 
wunderbar gearbeitete Sphinge aus ſchwatzem Marmor, vom 
deren geflügelten Löwenleibern fih die Seitenwände des Kamine 
von weißem Marmor in fühner Curve emporfchwangen, den 
ſtark Überkragten Sims zu tragen, auf welchem allerlei ägyp- 
tifhe Atertflimer, Bafen und Fignrinen ftanden, welche ic 
in dem Spiegel vom venetianifdern @lafe in filigranem Silber 
rahmen zu verboppeln fdienen. Pagomas ſchurte die Kohlen, 
daß die Zunfen aufiprähten und hier und da die Flamme aus 
den glühenden Blöden aufihlug. Dann fielen feltiame Streife 
Tichter auf die ägyptiſchen Bhyfiognomien der Lömwenjungfrauen 
und die glänzenden gelpigten Brüfte derſelben hoben ſich durch 
tiefe Schlagfhatten empor. Gedanfenvol blidte Pagomas den 
Kamin an, eigentlich die beiden Sphinze. Wer ihn fo um« 
bemerft gefehen hätte, würde über dem veränderten Ausdrud 
feines Geſichts erftount geweſen fein. Bon den unbeweglichen 
Zügen, die von einem unerfchlitterlihen Gelbitberußtiein zeuge 
ten, war der fonft imponirende Zauber eines ruhig, aber 
mädtig wirtenden Geifles gewichen. Sie waren von einem 
Schmerz, der in tiefter Brut im tiefften Verfled zu wohnen 
ſchien, heimgefuht und zerriffen. Die dunfeln ſüdlichen Augen 
die den Gegeuftand fonft fo ſcharf umd hart feftbielten, fie jen 
beten matte, verſchwommene Blicke einer unbeicreiblige 


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Neue Romane, 707 


Schwermuth hinaus. Seine Rramme, beinahe hereuliſche Ge⸗ 
Ralt Tag in dem Lehnſtuhle wie znfammengebrodhen, fodaß man, 
von fern ihn betrachtend, weit eher rinen Greis als einen 
Mann im fraftvolifien Alter zu jehen geglaubt hätte. So war 
er reglo® und fchweigend, in brütenden Meditationen verfunten, 
lange dagefeffen, bis er, ſich plötslich zufammenraffend, ausrief: 
„Sphinre, Spbinze, Töchter des Typhon und der Echydna, 
fragenftellende graufame Weſen, Sinnbilder des Unbelannten 
und Ungewiſſen, Gottheiten der Abenteurer, voll Reiz und voll 
Grauen zugleih! Ihr legt dem Menſchen die Räthſel des Le- 
bens und der Zukunft vor, denn was tft das Leben und die 
Zukunft als jede neue That, die man unternimmt? Wie oft, 
Söttinnen, bin ich fchon vor euch getreten! Vermeſſener bat ſich 
niemand zur Löfung eurer fehweren Fragen gedrängt! Ic, er- 
jheine diesmal wieder und werde ein neues @lüdgräthiel zu 
föfen verfuchen, aber wer weiß, ob der Verſuch mein Herz be- 
febt oder e8 mit neuen Wunden bededt? Hocgenüffe und Er⸗ 
folge aller Art find mir zutheil geworben, aber das Geſchick 
bat mir auch dich aufgeladen — ſchwere, ſchwere Schuld! O 
diefe Schuld! Wie ein Ungeheuer auf der Lauer liegt fie vor 
mir da und bannt meine Blide endlos auf fih — ih fürdte, 
daß fie mid) noch verſchlingt. Doc falle ih nicht zufammen, 


noch fühle ich in mir einen kühnen, verzmeifelten Muth! Die, 


entfeglihften Gefahren führen wicht immer zum Tode. Die 
Zeit nur kann mir fagen, ob die Löſung des fürchterlichften 
Ephinyräthjele meines Lebens gelungen! Unterbefien will ich 
den Muth, den ich andern Unglüdlichen einzubauchen verftehe, 
bei mir felbft anwenden und bet der allgemeinen Ausbeutung 
nnd Pllinderung der Welt nicht müßt und verdrofien daftehen. 
Edle und ſchuldloſe Menfchen geben hienieden fo oft jammervoll 
zu Grunde — was hätte aljo der Schuldbemußte für eine ganz 
bejondere Urfache zum Entjegen und zur Furcht? Der Wahn 
macht glüdlic ober unglücklich, ich will mich betäuben in einem 
füßen, Vieblihen Wahn ...“ 

Marcelline felbft, die poetiſche Blume bes Romans, 
ift nur die paffive Heldin deſſelben. Wenn der Dichter 
fie den dämonifchen Charakteren entgegenftellt, jo irrt er 
fich gewiß, follte ex in dem Baron von Ebenſtein, dem 
Geliebten Marcellinens, ein Exemplar diefer Species 
fuchen: 

In biefen Zagen des Kampfes zweier miteinander under. 
träglichen Weltanſchauungen, von welchen ſich unfere, ben Ideen 
nit mehr Iebende Zeit nur mühſam eine Borftelung macht, 
nehmen wir den Faden unferer Erzählung wieder auf. Es 
gibt Charaktere, die durch Fein Berhältniß hindurchgehen kön⸗ 
nen, obne auf ihrem Wege bleibende Spuren zurüdzulafien, 
Charaktere, unter deren Einfluß ſich jcheinbar geringfligige Um⸗ 
fände, mie in unbewußtem Spiel, zu SKataftrophen fteigern, 
Wo immer fie erjheinen, beſchwören fie Conflicte, oder gera⸗ 
then in fie und fuchen fie auf; fie lieben den Sturm, den 
Kampf, die Bewegung; Ruhe ift ihnen unbehaglich und lange 
weilig, oder erfi dann lieb und erfehnensmwerth, wenn fie lange 
aufs Spiel geſetzt war und verloren fhien. Das find die fo- 

enannten dämoniſchen Naturen. Es gibt aber aud) gewiffe 
Brenfcen, die jeme raſtloſe überquellende Thatkraft und oft fri« 
vole Angriffsiuft gar nicht befigen, die jedem Kampfe fchen und 
ſchüchtern ausweichen und beffenungeachtet aus einer Berwide- 
{ung in die andere flürzen. Bon den dämoniſchen Naturen dem 
Weſen nad grundverfchieden, ja ihmen entgegengefettt, haben 

e mit denjelben jchließlich ganz ähnliche Schidlfale gemein. Die 

aufbahn beider if an Eollifionen, Gefahren, extremen Wech⸗ 
fein überreih. Was bei jenen der ungezügelte Drang und ber 
vermeflene Wille anftiftet, das tritt bei diefen unbeabfichtigt 
und ungeſucht durch ein Berbängniß ein, entweder weil fie von 
unbezwingbaren Berbältnifien fortgeriffen werden, oder meil ihr 
Leben überhaupt eine fchiefe und unregelmäßige Baſis erhalten 
bat, Die erfien find Helden, die letztern Märtyrer. Zu den 
letztern mußte Marcelline unbedingt gezählt werden. 


Daß der Roman lebendig, fpannend, oft mit Dichte, 
riſchem Reiz, oft mit dem Humor feiner Genremalerei 


gefegrieben ift, braucht bei einem Autor von ber reichen 

Phantafie Meißner's nicht beſonders Hervorgehoben zur 

werden. Unſere Ausftelungen richteten fich gegen ben 

Kern geiftiger Bedentung, der uns nicht fo bewältigend 

erfchten, wie wir erwartet hatten. 

2. Kinder ber Zeit. Roman von Karl Marquard Sauer. 
Drei Bände. Hannover, Rümpler. 1870. 8 4 Zhlr. 
Unfers Wiffens tft diefer Roman ein Erſtlingswerk 

des Verfaſſers, und er hat ſich ohne Frage mit demiel- 
ben glüdlih in die Literatur eingeführt. Die Darftel- 
lungsweiſe ift fließend, natürlich, belebt; der Autor weiß 
aud) bei joldyen Situationen, denen ber Reiz der Neuheit 
fehlt, auf das Gefühl zu wirken; der Dialog ift durd)- 
weg pifant und gefättigt mit jenen Gedanfen, welche ein- 
mal den „Kindern der Zeit” durd; den Kopf zu gehen 
pflegen. Eine Tochter, die ihren Vater ſucht, ift in die⸗ 
fem Roman wie in dem vorhergehenden die Heldin; aber 
in welchem neuen Roman überhaupt fehlen diefe „Ver⸗ 
widelungen ber Defcendenz‘, welche in der Vergangenheit 
Knotenpunfte für die Verwirrung und Entwirrung ber 
Romanfäden bilden? Seraphine ift wie Marcelline die 
paffive Heldin des Romans; nur daß die AUbentener der 
erftern in früher Sinbheit fpielen. Das Heine Mädchen 
entläuft der Alten, ber es anvertraut iſt, wird auf ber 
Promenade von zwei jungen Männern aufgefunden, bie 
e8 bei einem befreundeten Doctor im Pflege geben. Später 
ergibt fid), daß Seraphine die Tochter des reichen Bankiers 
von Hellenbady ift, und ba fie wieder zu Gnaden an» 
genommen wird und überdies den einzigen Mann, ben 
fie geliebt bat, heirathet, fo darf man fid) von einer 
jolhen Heldin faum mehr verfprechen, als daß fie ſchön, 
gut und liebenswürdig if. Seraphine ift denn auch der 
gute Engel des Romans und beglüdt ihren Retter durch 
ihre Liebe und ihre Hand. 

Doch eine Romanheldin, die uns ein lebhafteres In⸗ 
terefje einflößen fol, muß ben Teufel im Leibe haben. 
In der ſchönen Olympia ift auch dies Genre vertreten. 
Anfangs Balletratte, fpäter berühmte Schaufpielerin, noch 
fpäter Gräfin, macht fie bie glänzendfte Carriere, die 
man auf dem Gebiete ihrer Kunft machen Tann. Zu 
ihren anfänglichen Liebhabern gehört der Senfationsheld des 
Romans, Hr. Streder, Intriguant von Profeffion, Mör- 
der durch Zufall, von Olympia, der frühern Geliebten, 
entlarbt und einem Criminalproceß nur durch Selbftmord 
aus dem Wege gehend; ferner der junge Mediciner Wolfe 
bardt, der fie in die Geheimniſſe von Stoff und Kraft 
einweiht und ihr die Grundlagen einer radicalen, welt- 
verachtenden Gefinnung gibt, welche felbft die geiftige 
Erziehung des Dr. Peregrin nicht umzufloßen vermag. 
Dlympia, mit ihren Antecedentien, ihrer ſtolzen Schön- 
beit, ihrem geiftreichen Peffinismus und ihrem refoluten 
Handeln ift jedenfalls die intereffantefte Yigur des Romans. 
Offenbar ift der Berfafler in ber Theaterwelt heimisch, 
die er mit befonderm Behagen fchildert. Das Souper 
bei der Tänzerin, wo bie Naivetät der Balletratten mit 
ihrer ganzen Unverwüftlichleit aus den Schleierchen des 
gefelfchaftlichen Anftandes hervorblidt, vor allem aber 
die Rundreife, welche die Schaufpielerin mit ihrer jungen 
Pflegebefoglenen in der theatralifhen Welt macht, find 
mit einer volltommen „fachmännifchen” Kenntniß gefchildert. 


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Degleiten wir einmal die beiden Damen in das Vorzim⸗ 
mer des Theateragenten: 


Nah einer Fahrt von etwa einer Biertelftunde hielt der 
Bogen vor einem ftattlihen, im modernen Billaftile gebauten 
Saufe ber Halbmondfiraße. Eine Thür im erften Stod zeigte 
die Auffchrift: „Eduard Bodmer, Theateragent, Redacteur dee 
Deutſchen Büͤhnenblatts.“ Eliſe Täutete mit einem kurzen, ſchar⸗ 
fen Rucke an. Ein Diener iu etwas phantaftiſch⸗theatraliſcher 
Livree öffnete die Thür. „Bringen Sie Hrn. Bodmer meine 
Karte und fagen Sie ihm, wir hätten es eilig!‘ fagte Eliſe, 
indem fie mit ihrer Begleiterin in das bereits ziemlid gefüllte 
Borzimmer trat. Der Diener warf einen Bid auf die Karte. 
Der Name verfehlte feine Wirkung nicht, denn der Daun ver- 
beugte fi ſogleich achtungsvoll. „Belieben die Damen nur 
einen Augenblid Plat zu nehmen”, fagte er. „Frau Montag- 
Zacchetti ift gerade ber Hrn. Bodmer, aber das thut nichts, 
ich werde Sie fogleih melden. Damit fhidteer fih an, nad 
einer dichtverhängten Glasthür zu gehen. Er hatte jedoch mod) 
nicht vier Schritte gemacht, als er auch Schon fi) von fünf der 
Sarrenden umringt ſah. „Ich warte bereite feit einer Stunde“, 
fagte ein ältlicher, nichts weniger als elegant, dafür aber 
um fo jugendlicher Heransftaffirter Herr mit hoher Zenorftimme. 
„Und ich feit anderthalb Stunden!’ rief eine bereits ſtark über⸗ 
tragene Dame mit langen Schmaditloden. „Glauben Sie, id 
hätte nichts anderes zu thun, als bier au ſitzen?“ rief ſchnip⸗ 
piich ein junges Mädchen in kurzem Röckchen. life erfannte 
auf den erften Blick in der Kleinen das, was fie einft felbft 
gervefen, eine Balletratte, und zwar eine vacirende. „Wenn 
mi Hr. Bodmer noch fange warten läßt‘, brummte ein etwa 
vierzigjäßriger vobufter Mann mit tiefer Baßftimme, „To gehe 
ich wieder rt Schwerenoth! Ich denke, mein Geld ift wol 
ebenfo gut ale das anderer Leute!“ Dabei warf der Baßbuffo, 
denn diefes Amt bekleidete der Mismuthige in der Theaterwelt, 
einen wenig wohlwollenden Blick auf Elife und ihre Begleiterin. 
„Aber, meine Herrſchaften, nur ein Hein wenig Geduld!‘ rief 
ber Diener, indem er verfuchte, ſich durchzuarbeiten. „Sie 
werden ja alle nad und nad) daranfommen. Ich babe Sie 
gemeldet! Mehr Tann ich doch nicht thun! Ich darf die Herr- 
ſchaften nur Hineinlaffen wie Hr. Bodmer es mir befiehlt.“ 
Die Supplicanten kehrten unzufrieden auf ihre Plätze zurück, 
und der Diener verihwand mit feiner Karte Hinter der ge- 
heimnißvollen Glasthür, dem Gegenftande der allgemeinen Sehn- 
ſucht. Serapbine fühlte ſich in diefer Umgebung feltfam beengt. 
Alle Augen waren auf fie und Efife gerichtet. Dieſe neugieri- 
gen, neidifhen und wol un underfhämten Blide trieben ihr 
das Blut in die Wangen. Yräulein Nadler dagegen faß mit 
vollfommenem Gleihmuth in ihrem Fauteuil und mufterte kalt 
die Geſellſchaft. Es dauerte eine Weile, bie Seraphine fidh 
ſoweit gefaßt Hatte, um auch ihrerfeits die Hier verfammelten 
Künfller ein wenig die Revue paffiren zu laſſen. In Hrn. 
Bodmer’s eleganiem Borgemad war fo ziemlich jedes Fach der 
dramatifchen Kunft und jedes blühnenfähige Alter vertreten. Der 
Heine Mann in der Ede, mit der Slate, der hochkupferigen 
Nafe und der großen Brille, konnte unmöglich etwas anderes 
fein ale Souffleur oder Komiler. Neben ihm faß, den faden- 
fcheinigen rad zugefnöpft bis hinauf zum Halfe, dafür aber 
im Schmude fleifer, weißer Batermörber, eine Äußerfi ehr⸗ 
würdige Perfönlichleit, die ab und zu aus einer fogenannten 
fandauer Dofe feierlih eine Prife nahm. Jedenfalls ein 
engagementfudhender Pere⸗noble. Zwei oder drei Frauen, fänmt- 
lich bereits üüber die erfte Jugend hinaus und ſehr einfach ge 
Heidet, fchienen vacirende Choriflinnen, oder wie die Theater⸗ 
zeitungen fagen, „Chordamen“ zu fein. Hierzu famen noch die 
vier Perfönlichleiten, welche vorhin den Bebdienten Hrn. Bod⸗ 
mer’s um Einlaß befürmt hatten. Obne Zweifel gehörten fie 
ausnahmslos dem untergeordneten Perfonale an. Obwol jeder 
von ihnen feine eigene, fcharfausgeprägte Bönflognomie zur 
Schau trug, hatten fie doch alle etwas gemeinfam: Unzufrieden- 
beit und hochgradiges Selbftbemußtfein. 


Der XTheateragent felbft iſt ein lebenswahres Cha- 
rakterbild, ebenfo wie der Schaufpieler Herb, Seraphine’s 


Neue Romane. 


Ideal, der glänzende Don Carlos auf der Bithne, der 
ih im Leben mit den abgejchmadteften Rebus und 
außerdem mit den eingehendflen Yinanzfpeculationen be» 
ſchäftigt. Wie Olympia den Kritiler und dramati⸗ 
ſchen Dichter Bärentatz ködert: das iſt ebenfalls wit 
einer Menge pilanter Züge geſchildert, welche dem Leben 
abgelaufcht find. 

Unter den „Kindern der Zeit” nimmt biefe Tochter 
bes Jahrhunderts, welche fo glänzend auf feine Schwächen 
zu fpeculiven verfteht, jedenfalls den erften Hang ein. 
Als die durch den Titel bezeichneten Helden müſſen bann 
noch die vier jungen Männer gelten, die wir bei dem 
Beginn des Romans als Freunde bei einem Abfchiebsfeit 
verfammelt fehen. Ferdinand Dombell macht diefem Ro- 
man am meiften Ehre. Als Induftrieller Huldigt er jenem 
Socialprincip, welches Laffalle zuerft mit befonderer Be- 
eiferung betont hat und welches wir auch in verſchiedenen 
Mafchinenfabriten der Romane, wie auch in Spielhagen’s 
‚Hammer und Amboß“ verwirklicht ſehen. Dies Priucip 
iR die Ausgleihung der Intereffen von Kapital und Ar⸗ 
beit durch Aufhebung bes Unternehmergewinns und durch 
Detbeiligung der Arbeiter an den finanziellen Erfolgen 
der Fabril. Kleine Romanlapitel, die uns wie Kapitel 
aus Cabet's „Ikarien“ gemahnen, ſetzen uns ben Ge⸗ 
ſchäftsbetrieb einer folden Fabrik mit einer Genauigkeit 
auseinander, welche für die Geduld der Leferinnen etwas 
ermidend fein muß, während fie dem praktiſchen Zwed, 
ſolche Einrichtungen etwaigen Lejern aus dem Bereich ber 
Großinduftrie zur Nachahmung zu empfehlen, volllommen 
Rechnung trägt. Die Kapitel, welche und das Fabrik⸗ 
etabliffement von Weißenhübel darftellen, führten ums 
eine „Fabrikidylle“ vor: ein Wiberfpruc), der nur durch 
folhe humane Mufteranftalten, durch folche induftrielle 
Gnadenfreis gelöft werben Tann. Wir Haben allen Re— 
fpect vor Yerdinand Dombell's Einfiht, Energie und 
Menfchenliebe — gleihwol fommen uns diefe Romanfapitel 
nach der frühern narkotifchen Aufregung etwas ſchwächlich 
vor; dies Austönen einer mit vollen Senfationsaccorben 
ergreifenden Handlung entſpricht kaum den Regeln ber 
Spannung, bie der Romanſchriftſteller beobachten muß. 
Eine Idylle von zwei Seiten genügt, wenn der Roman⸗ 
dichter die Helden, bie es verdienen, glüdlich machen will. 
Wenn fi dies friedliche Glück durch eine lange Reihe 
von Kapiteln erftredt, die noch dazu lehrhaft auf eine Ver⸗ 
befferung der Zuftände der Menſchheit binarbeiten, fo 
darf der durch narkotifche Dofen verwöhnte Romanleſer 
fi vielleicht über ſolche Zumuthungen beffagen. 

Das zweite „Kind der Zeit” ift der Dichter Polben- 
bofen, ber es mit feinen Stüden zu Erfolgen jeder Art 
bringt, indem er fogar am Schluß nod eine glänzende 
Partie macht. Der dritte Genoffe ift der bereits erwähnte 
Materialift, der Dr. Wolfhardt, der von Java mit einer 
fehr reichen aber häßlichen Frau zurüdfomnt; der vierte 
ift nur eine epifodifhe Yigur in dem Roman, der che- 
malige Mathematiker Teidersborf, der fpäter zur föderali⸗ 
ftifhen Oppofition gehört, einen ſchwarzen Schnurrod 
und hohe „Oppofitionöftiefeln” trägt, ſich als Kind der 
„gottgefegneten Hanna” der flawifchen Partei anjchliekt 
und auf das Bedenken feines Freundes Dombell, der feine 
beutfche Herkunft erwähnt, nur entgegnet, er ſei „Slawe 








Reue Romane 709 


aus freier Wahl”. Sein Freund fragt ihn, was ihn zu 
dieſer Wahl beſtimmt habe? 


„Einmal das Gefühl, daß wir bisher ſchrecklich zurück⸗ 
gefegt worden find‘, fagte LXeidersdorf, „und dann die Ueber⸗ 
jeugung, daß ein junger Dann, der etwas gelernt bat, es in 
der Politit weit leichter zu etwas bringt als iu jeder andern 
Carriere. Du biſt ein alter Freund, Dombell, mit bir kann 
ich aufridtig fein. Du haft keinen Begriff, welch glnfliger 
Boden die nationale Politik Heutzutage iſt. Welche Maſſe von 
Zengs muß fo ein Gelehrter in feinen Schädel bineinflopfen, 
bis er unter der großen Menge auch nur ein Hein wenig be» 
merft wird. In der Politit geht das weit leichter und rajcher. 
Laß doch einmal einen Gelehrten mit irgendetwas Neuem, 
Beſonderm, noch nicht Dagemwefenem heransrücken! Wie eine 
biffige Meute fallen die andern über ihn her und laffen fein 

ntes Haar an ihm. Wer aber unterfieht fi, mir zu wider⸗ 
** wenn ich im Namen der Nation das Wort führe? 
Bon unſern Leuten feine Seele! Und je ſchärfer ich auftrete, 
deſto mehr made ich Wirkung, und je heftiger mich die Gegner 
angreifen, defto höher Reige ih im Anſehen bei meiner Partei. 
Es find noch nicht volle vier Jahre Her feit ich unter die po⸗ 
litiſche Fahne getreten bin, und ftebe ich heute bereits im Be⸗ 
geifi, in den Landtag gewählt zu werden. — „Alle Wetter, 
eidersdorf, da haft du es wirklich ſchon weit gebracht für einen 
Anfänger!”’ fagte Dombell. „Nun, ich gratulire!“ — „Du 
darfſt aber nicht glauben”, rief Leidersdorf, den fein freimüthi⸗ 
ges Beleuntniß bereitö zu reuen anfing, „daß ich etwa nur au® 
Speculation jo handle! Es thäte mir leid, Dombell, wenn du 
eine folche Meinung von mir hegteſt.“ — „Bewahre, bewahre!“ 
rief Yerdinand, dem Leidersdorf’S politische Beichte nicht wenig 
Spaß machte. „Aber bei allem dem begreife ich noch immer 
nicht, weshalb du dich gerade ber ſlawiſchen Bartei angefchloffen 
haft. Wärft du bei den Deutfchen geblieben, 8 hätteſt du es, 
ſcheint mir, doch viel bequemer gehabt.“ — „Du vergißt, daß 
ih ein Kind unſerer gottgeſegneten Hanna...“ — „Höre, Lei⸗ 
dersdorf“, unterbrach ihn Dombell, „mit ſolchen Phraſen darſſt 
du mir nicht kommen! Bei deinen Hannaken mögen dieſe viel⸗ 
leicht Effect machen, aber bei mir verfangen ſie ganz und gar 
nit. Laß alfo deine gottgefegnete Hanna beifeite und fprich 
aufricätigl Du meißt, es bleibt ja unter uns!“ Leidersdorf 
blickte ſich erſt vorſichtig nach feinen Parteigenoffen um. Die 
Herren beim Fenſter disputirten fo laut, daß er nicht zu be- 
fürdten brauchte, von ihnen gehört zu werden. Dann beugte 
er fih zu Dombell hinüber und fagte halblaut: „Die Con⸗ 
eurrenz!' — „Die Concurrenz? Was foll das heißen?“ — 
„Weißt du, bei euch treiben zn viele das Geſchäft“, fagte Lei- 
dersdorf mit jchlauem Zwinkern. „Du verftehft mich! Aber 
bei uns ift das anders! Da ift noch frifcher, jungfräulicher 
Boden; die Politiker find dünn gefäet! Da kann man eher her⸗ 
austreten. Uebrigens iſt das, wie gefagt, nur fo nebenbei 
mit ein entfchetdender Beweggrund für mich geweſen“, fuhr er, 
wieder in das frühere Pathos zurüdverfallend, fort. „Ich bin 
ein Sohn unferer...' — „‚Gottgejegneten Hanna!" rief Dom- 
bel, lant auflahend. „Du fiehft, ich fanı es bereits ausmenbig, 
alfo firapazire dich nicht unnöthigerweifel Nun, Leidersdorf, für 
einen ehemaligen Mathematiker ift das gar nicht fo fchlecht ge- 
rechnet. Ich mache die mein Compliment und wünſche bir den 
beften Erfolg!’ — „Ich hoffe, er wird nicht ausbleiben‘‘, meinte 
Leidersdorf, mit der Miene felbftbefriedigender Zuverfiht. „Ein- 
mal war ich bereits drauf und dran, eingejperrt zu werben. 
Das bat mid mächtig gefördert. Habe ich erft wirklich einmal 
fo drei bis vier Wochen gebrummt, dann bin ich nationaler 
Märtyrer und meine Earritre ift gemacht!“ — „Nun“, meinte 
Dombell, „das Ziel wird fi ja wol nod erreichen laffen. 
Sch Hoffe alfo in deinem Spmtereffe recht bald zu vernehmen, 
daß bu dich wohlbehalten Hinter Schloß und Riegel befindeſt.“ 


Dombell fragt den Freund nach feiner Wohnung: 


„Hier ift meine Adreſſe“, fagte Leidersdorf, ein elegantes 
Bifttenlartentäfchchen hervorziehend und Dombell eine Karte 
überreihend. „Während der Nachmittageftunden bin ich immer 
zu Haufe. Es ſoh mid freuen, dich bald bei mir zu ſehen.“ 


Ferdinand warf einen Blid auf bie Karte. Sie enthielt dem 
Namen „M. Laidrétorf“ nebft einer ſlawiſchen Umfchrift. Die 
Adrefie ſelbſt war deutſch beigeſetzt. „Der Taufend!’ fagte 
Dombell, „Sogar bein Name ift flawifirt, wie ich fehe. Das 
ift denn doch eine radicale Reform!" — „Ja, das ift fo der 
moderne Stil”, meinte Leidersborf. „Die Ungarn haben da⸗ 
mit angefangen, und wir madjen es ihnen nad. Ich war leht« 
bin in Pe, da findeft du anf ben Firmen lauter Szontag, 
Frydrych, Snaidr u. |. w. Weshalb follten wir bei der alten 
deutfchen Orthographie bleiben?’ — „Natürlich!“ fagte Dom⸗ 
bel, „Jeder kann ja mit feinem Namen anfangen was er 
will! Das fteht außer aller Frage.‘ 


Ein töftliches Genrebild, fehr bezeichnend für bie 
Zuftände Oeſterreichs, in denen e8 nad dem Ausſpruch 
unfer8 Verfaſſers Gentraliften, Dualiften und Föderali⸗ 
ftien, Deutfhe, Magyaren, Polen, Rumänen und fouft 
noch alles Mögliche die Hülle und Fülle, nur keine Oeſter⸗ 
reicher gibt. 

Den Gegenfag zu biefen „Sindern der Zeit” bildet 
der uneigennügige Idealiſt Dr. Peregrin; das Bild die- 
ſes harmlos edeln Gelehrten dürfte unter den Charalter- 
föpfen des Romans den erften Play einnehmen. Ueber⸗ 
haupt ift das Werf wol als ein Album von Charalterlöpfen 
und Lebensbildern zu betrachten — eine auf der Grund⸗ 
fuppe ber Erzählung Herumfchwinmende Moral ver- 
mochten wir nicht abzufchöpfen. Daß der Dialog des Ro⸗ 
mans pilant ift, davon haben wir bereitd Proben gege- 
ben. Einwendungen möchten wir nur gegen das „Roman 
wetter machen. Es ift ein an und für fich löblicher 
Brauch der Romanfchriftfteller, daß fie bei grufeligen 
Mordfcenen die Wolle vor den Mond ziehen lafjen, wie 
es in dem befannten Lieb von Künappel heißt. Doch 
durch die zu häufige Anwendung ift diefem für beftimmte 
Situationen feftftehenden Romanmetter ber Heiz geranbt. 
Ehe Frau Kathi von Streder erwürgt wird, nimmt bie 


ganze Natur die bekannte tragiſche Maske vor: 


Es war eine furchtbar ſtürmiſche Naht. Das Wetter, feit 
einigen Wochen ununterbroden ſchön, war plößlich umgeſchla⸗ 
gen, und feit Nachmittag braufte einer jener Stürme fiber bie 
Refidenz, wie Wien deren fo viele im Laufe des Jahres durd)- 
mahen muß. Die Bäume raufdten laut im Winde, an dem 
vom balb verdedten Monde nur ſchwach beleuchteten Himmel 
jagten die Wollen in wilder Flucht dahin, und die alte roftige 
Wetterfahne auf dem Salettl kreifchte ſchrill bei ihrem rajenden 
Ringeltanze. 

Wir würden zur Abwechſelung gern einmal eine 
Mordthat bei heiterm Himmel vollbracht ſehen, wenn die 
Säule des Barometers durch einen geringern Luftdruck 
niedergehalten wird. 

8. Sphinx. Roman von Robert Byr. Drei Bände. Ber- 
lin, Janke. 1870. 8 4 Zhlr. 

Robert Byr Hat in feinem Roman: „Der Kampf ums 
Daſein“, ſich als ein Schriftfteller gezeigt, der nicht bloßes 
Unterhaltungsfutter zur Verproviantirung der Leihbiblio- 
thefen producirt, fondern Dichtwerfe, in denen ein philo- 
ſophiſches oder pſychologiſches Problem bie Achſe der 
Handlung bildet. Bei der großen erdrüdenden Maſſe 
der heutigen Leihbibliothefen- Probuction verdienen folche 
Werke von tieferm Gedanteninhalt eingehendere Aufmerk⸗ 
famteit und hervorhebende Berüdfihtigung. Wir haben 
daher auch den neuen Roman von Byr mit Spannung 
in die Hand genommen und durchgeleſen. 

Diesmal Handelt es ſich nit um eine allgemeine 


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110 


philofophifche Theorie, fondern um ein Charakterproblem. 
Die Heldin des Romans ift eine Sphinz, die mehrere 
Dpfer in den Abgrund ftößt und zulegt felbft in ihm 
verfinft. Sie gibt indeß nicht blos Räthſel auf; ihr 
ganzes Sein und Weſen fteht felbft unter der Herrichaft 
eines Räthſels. Dies Problem ift interefiant, und ber 
Dichter hat es im britten Bande in einer Weiſe vertieft, 
die unfern wärmern Antheil gewinnt. Freilich erſt im 
dritten Bande — und damit nehmen wir den Haupttadel 
vornweg, der fi) gegen das in vieler Hinſicht geiftreiche 
Werk ausfprechen läßt. In den zwei erſten Bänden über- 
wuchert die Fülle des breiten Beiwerks allzu ſehr die 
dämonifche Hanptgeftalt der Heldin; ja was noch fchlim- 
mer ift, wir glauben nicht recht an ihre dämonifche Des 
deutung, wir find geneigt in ihr eine flatterhafte Kofette 
zu fehen, und da zwölf von diefer Spielart ein Dugend 
bilden, fo verfehlt anfangs diefe Evastochter den Eindrud 
eines problematifchen Charakter zu machen, wie er vom 
Dichter beabfichtigt wird. 

Robert Byr ift fonft mit den Geheimnifjen der Ro- 
mantechnik wohlvertraut, wie namentlich, der leute Band 
beweift, in welchem feine Erfindung erft eigentlich in Fluß 
kommt. Gleichwol hat er es in den erften Bänden ver- 
füäumt, unſer Intereſſe bereits auf jene geheimnißvollen 
Antecedentien hinzumweifen, welde den Schlüfjel zu dem 
dämonifchen Wefen feiner Heldin bilden. Er braudte 
deshalb den Schleier nicht zu früh zu heben; wir wifjen 
fehr wohl die Discretion- eines Romandichters zu jchägen, 
ber das letste Wort des Räthſels erft auf der legten Seite 
ausſpricht. Doch er muß uns von Haus aus mittheilen, 
daß es ein folches „letztes Wort” gibt, daß der Charalter 
feiner Sphinx durch eine Conjunctur der Geſtirne mit- 
beftimmt wirb, die ihrer Wiege leuchteten. 

Auch erfcheint uns feine Sphing nicht dämoniſch, 
nicht firenenhaft, nicht vampyrartig genug. Ihr Fehler 
geht nicht viel über eine fchüchterne Koketterie hinaus, über 
dasjenige, was man „Ermuthigung‘ nennen möchte. Nach 
diefer Seite hin ift Byr der Gegenfühler Sacher⸗Maſoch's. 
Der bütte folder „Sphinx“ ganz andere graufame Kral⸗ 
len gegeben, freilich aber auch ihre „nadten Britfte” mit 
Tizianiſchem Incarnat zur Schau geftellt; er hätte aus ihr 
eine wilde, wahrſcheinlich farmatifche Emancipirte gemadht, 
welche ben Rachedurſt, den fie gegen das ganze Gefchlecht 
hegt, nach Art einer ruffifchen Katharina im Genuß und 
der darauffolgenden Hinopferung der Liebhaber zu Fühlen 
fudt. Ganz anders Byr, der, fittfam von Natur, feine 
Heldin feldft zu entſchuldigen bemüht if. Zwar ſchildert 
er fie von Haus aus als einen „Oymnoten“. Go bat 
ihr anfängliher Verehrer, Erwin von Schönberg, einen 
feiner Romane betitelt, und erläutert dies Wort in fol- 
gender Weiſe: 

Gymnoten find eigentlich Yale; gymnotus electricus heißt 
der Zitteraal. Es gibt in der Welt fo fchlanke, fchlüpferige, 
unfaßbare Erfcheinungen, vollgelaben mit Eleltricität, die jedem, 
ber fie berührt, empfindliche Schläge ertheilen — Schläge, bie 
feibft töbten können. Solche geichmeidige, zierlihe und gefähr- 
fie Wefen, die man nicht feftzuhalten vermag, will ich zu 
ſchildern verjuchen. 

Aber die elektriſchen Schläge unſers Zitteraals er- 
ſcheinen zu ſchwächlich, um die Baroneß Natalie zu einer 
berborragenden Bertreterin der Öymmoten zu machen. 


Neue Romane. 


Der Delonom Olſchmann verliebt fich in fie fo, 

Weib und Kind vernachläffigt und zulett fich 

die Seinen ganz ins Berderben ſtürzt — ift das 
Schuld? Wir erfahren ja nur, daß fie ihn mahnt, jene 
Leidenschaft zu zügeln, feiner Frau mindeftens den Glan- 
ben an ihr häusliches Glück zu laſſen. Der Kaplan Tiebt 
fie mit einer verzehrenden, wilden Leidenfchaft, die ihn 
zulegt zum Selbfimord treibt — ift das ihre Schul? 
Und wenn fie dem Lieblingähelden bes Autors, dem geift- 
reihen Erwin, Kuß und Umarmung in der Dunkelheit 
gewährt, dann aber fid) wieder von ihm losfagt, weil «8 
jo befjer für beide fee — ift dies viel mehr als eine 
Caprice? Und Zragödien aus Gapricen haben eine 
mislihe Herkunft. Eine ähnliche Caprice ift ihre Heirath 
mit dem todkranken eldmarjhall- Lieutenant, ber balb 
baranf fterbend fie zur Witwe macht, während ein Adjutant 
deffelben als ihr Courmacher oder vielmehr als ihr Ber- 
ehrer erſcheint. Somit bewegen wir uns in einem Ca⸗ 
priccio der Neigungen, deſſen bin- und herſchwirrende 
Zöne kaum eine ernftere Gewalt anszuüben vermögen. 
Erft ald Natalie ihre Capricen überwindet, in Liebes- 
leidenfchaft zu Erwin zurüdfehrt und von biefem, der fein 
Herz, wegen ihres Unbeftandes, längft von ihr abgewendet 
hat, verworfen wird; erft als fie dann, in der Billa des 
verftorbenen Gatten, aus Verzweiflung ſich einer wilden 
Lebenstuft überläßt und fi) einem frühern verfchmähten 
Unbeter, dem Grafen Salitzhofen, der fie in folder Stim⸗ 
mung überrafcht, hingibt — da fehen wir eine begreifliche 
Kataftrophe, eine dämonifche Wendung vor ung, die und 
von jest ab mit gejpannter Theilnahme für das Geſchick 
der Heldin erfüllt. Als Probe der Iebendigen Darftel- 
Iungsweife des Autors wollen wir die Schilberumg diefer 
Kataftropde aus dem Roman herausheben; fie darf als 
deſſen gelungenfte Partie betrachtet werden. Nataliens 
Stimmung, nachdem Erwin ihre Liebe verfchmäht hat, 
wird mit folgenden Worten geſchildert: 

„Berworfen!’'... rief fie mit einem zischenden Laut... „ver 
worfen und verhöhnt, verleumbet und verbammt! Ha, was 
kümmere ich mich und zerfleiihe meine Seele im nutlofen Rin- 
gen gegen das Geſchick, das mir ſchon in die Wiege gelegt war! 
Eroe! auch ich will Ieben, auch ich will mich beraufchen in 
wilder Luft und perlendem Champagner! Ich will nicht beffer 
fein ale fie alle, die tugendgefchminkten Krähen, die nur der 
Zaube die Augen aushaden aus Neid und Bosheit. WBilllom- 
men, Schweflern in der Lüge und der Süinde, ich will eine der 
enern fein, nehmt mid in euern Reigen. Fort mit den Zwei 
fein, fort mit bem zaghaften Schritt! Cancan, das iſt Die Los 
fung der Zeit und grand Galop infernal! &8 lebe die Freude! 
Es lebe die Luſt!“ — Wie vom bacchantiſchen Taumel ergriffen, 
drehte fie fih ein paarmal um fidh jelbft und eilte dann anf 
das Pianino zu, das feit dem Tode bes Generals geichloffen 
war. Natalie hatte nie wieder eine Zafte berlihrt, fo oft man 
fie in Röthenftein aud aufgefordert hatte. Selbſt wenn fie 
ihre Schwefter fpielen hörte, durchrieſelte fie ein teifer Schauer. 
Sie hatte die Muſik immer Teidenfchaftlich geliebt, ımdb num ſchien 
es als ob fie derfelben für immer entfagen wolle. Es war ein 
Zeichen ihrer ungegeuern Aufgeregtheit, daß fie fidh jetzt an das 
Inſtrument feste; mit einem vollen Accord griff fie in bie 
Taften, aber e8 ertönten nur die erften drei Takte eines vafend 
fhnellen Galops, dann brad fie mit einem heifern Schrei ab. 
Es war ihr als legten ſich zwei eifig kalte Hände mit Centner⸗ 
fhwere auf ihre Adyfeln, und lähmend ranı die Erflarrung an 
ihren Armen herab bis in ihre Fingerſpitzen, ein kalter Hauch 
glitt ihr den Rüden entlang, daß ihre Haare fi) in den Wur⸗ 
zen hoben. Sie fpraug auf, und neben der Thüre ſtehend warf 








Neue Romane 


fie einen Blid hinein in das anſtoßende Zimmer, ihr Auge 
bing wie gebannt an der Stelle, wo früher das Bett bes Ster- 
benden geftanden. Eine Sinnestäufchung geftaltete aus den 
Schatten der tief bereinbredenden Dämmerung wieder das La» 
ger. Dort, dort ruhte die Leiche — und jet erhob fie langfam 
den Kopf und öffnete die ftarren Augen und firedte die mumien- 
artigen Arme nad) ihr. Der Athem fiodte Natalie, keinen Laut 
vermochte die vertrodnete Kehle hervorzubringen, fie wankte, 
dann aber wandte fie fih zur Flucht und flog von wilden 
Schred gejagt dur den Salon und Über den knirſchenden Kies 
der Gartenwege, ohne fi umzufehen, ohne zu wiflen wohin, 
bis fie auf dem Hügel unter der Hängeeſche mit fliegendem 
Athen anhielt. Hier erft blidte fie um fi, ſie fügte ſich an 
dem Stamme und ließ fih dann langfam auf die Bank nieder- 
finten. Wieder fam das hohle, fremdartige Lachen über ihre 
Lippen. „Ich glaube, ich fürchte Geſpenſter“, ſprach fie halb⸗ 
aut zu fi jelber, „und es ift doc noch nicht Mitternacht. 
Berfolgen fie mid) heute? Ich bin ja kein Kind mehr — er hat 
es gejagt. Nein, nein, fein Kind, ein vermworfenes, zurück⸗ 
geftoßenes Weib — eine Bettlerin um Liebe, der man flatt Brot 
einen Stein gibt. Wer fragt danach, ob fie daran verhungert? 
Und das Leben foll dennoch ſchön fein! Ha, ich will es genießen, 
ih will nicht beffer fein als mein Ruf. Das Leben felber fol 
mich tödten. Willlommen die Bernichtung!” So grauenhaft 
der wild dahinbranfende Orlan, weit grauenhafter ift, daß der 
Sturm im Menfchenherzen kein Eco findet in der Natur. 
Leife und unheimlich ſank die Nacht herein, ein warmer Luft⸗ 
Hauch ſtrich durch die flüfternden Wipfel der Bäume und beugte 
auf den weiten Feldern das hochftehende Getreide zu janften 
rünenden Wogen, liber denen ber ferne Wald wie eine finftere 
auer zum leife verglühenden Himmel aufragte, an dem jchon 
bier und dort ein vereinzelte Sternlein gligerte. Kein Laut 
war vernehmbar als das fachte Raufchen des Laubes und das 
eintönige, unaufhörliche Gezirpe der Grillen, das ſich wie ein 
zur Landſchaft gehöriger melaudyolifcher Ton mit in der Natur 
auflöſt. Natalie fa noch immer an den Stamm der Hängeeiche 
elehnt, regungslos wie eine Statue, und ſchaute hinaus ine 
eite, ohne daß ihr Blick ein einzelnes erfaßte. Jetzt ermwedte 
fie ein Geräufh, wie von brödelndem Geftein, apathiſch hob 
fie den Kopf. Bor ihr auf der Mauer tauchte eine Geflalt auf 
and ſchwang fi) raſch herliber. Mit einem Sprunge fland dies 
jelbe auf der Plattform des Hügels knapp am Eingange in die 
Laube. Einen Moment hielt fie zögernd ftill, dann wandte fie 
fi) um, nad dem Park hinabzuſchreiten. Da Iöfte fi) Nata⸗ 
liens Zunge, die Schred und Ueberrafhung eine Secunde ges 
fefjelt gehalten. „Wer ift Hier?’ Nieß fie rauh hervor. Das 
Beben der Stimme verrieth ihre Schwäche oder Angſt — viel» 
leicht aud) beides. Der kühne Eindringling fuhr zufammen. 
Er hielt an, aber e8 war fein Zaubern. Unmittelbar darauf 
trat er, die Zweige auseinanderbeugend, in den tiefen Schatten 
des Baumes. „Natalie““, flüfterte Salitzhofen's leidenfchaftlich 
vibrirende Stimme, „welch glüdlidher Zufall!" — „Was wollen 
Sie bier? Verlaſſen Sie den Bart!" — „Nicht um eine Welt! 
Ih erfuhr Ihre Rückkehr. Ich mußte zu Ihnen — id) mußte 
Sie fehen, Natalie!’ Sie machte eine rafche eBenbung und 
fuchte zu entfliehen, fein Arm legte fi eiferu um ihre Taille. 
Ein heftiger Fieberſchauer fchättelte die feinen zierlichen lieder, 
dumpf und röchelnd kam ein Wort ans ihrer wogenden Bruſt: 
„Berworfen!" Diesmal wehrte fie dem Kufſe nit. Wieder 
lachte fie auf — e8 Fang wild und unheimlich, wie das Lachen 
des Wahnſinns. Und file ward’s, nur der Luftzug ging 
raufhend durch die Wipfel der Bäume und die Grillen zirpten 
ihr einförmiges Concert. 

Salighofen rühmt fich leichtfertig feines Triumphes. 
Dies führt zu einem Duell zwifchen ihm und dem Ad⸗ 
jutanten des ©enerals, dem Lieutenant von Waldſchütz, 
der als Opfer des Kampfes ftirbt. Natalie verfällt einem 
Nervenfieber und die fcheinbar Geneſene rafft bald dar⸗ 
auf der Tod hinweg, Die Enthilllungen, die fie felbft 
dem geliebten Erwin nicht zu geben vermochte, erfährt 


711 


derſelbe von ihrer Großmutter, der Frau Kolbinger, der 
Wirthſchafterin aus dem Pfarrhauſe. Natalie war ein 
Findellind, „erzeugt in Ehebruch und Schande” und „ge⸗ 
hegt in Berheimlihung und Lüge”. Mit edler Großmuth 
hatte die Baronin die filia adulterina des Barons für 
das eigene Kind ausgegeben. Die Alte bat fie in das 
Geheimniß eingeweiht und gelehrt, „das Maunsvolk zu 
verachten”. Das ift das Räthſel der Sphinr! 

Sehr anmuthig ift Helene, die Halbſchweſter Natalieng, 
mit diefer contraftirt als Bertreterin einer edeln harmo⸗ 
nifchen Weiblichkeit. 

Was die Charakteriſtik der Nebenfiguren betrifft, fo 
überwuchert fie in den erften Bänden allzu fehr; der Doctor 
Alchenbrenner, eine matte Copie des Jean Paul’schen 
Kagenberger, erfcheint mit feinem ewigen Hunger doch 
etwas trivial. Mindeſtens ift der Dichter zu eifrig auf 
die Befriedigung deffelben und auf die Ausmalung des 
Stillebens feiner Zafelfreuden bedacht. Der Hauslehrer 
Korn ift Fein Spielhagen’scher Held; fein Liebesabenteuer 
mit der magern, fpitigen Lotte gibt Gelegenheit zu einer 
Smollet’fchen Prügeljcene. Der Theaterfeldwebel mit fei- 
ner papagaienhaft aufgeputten Gattin und ben drei pifant 
geihilderten Töchtern, der hypochondriſche Yabrikbefiger 
mit feinem „dies und das” bilden eine ganz amufante 
Gruppe. Zwei Typen aus Byr’s früherm Roman: „Der 
Kampf ums Dafein”, der Mögliche Sournalift und der 
joviale Maler, finden fi) aud in feinem neueften Werke 
wieder; der Yournalift Huldrih, der feiner Frau mit 
einer Tänzerin durchgebt, ift minder abftoßend als Schmerle; _ 
der Dealer Bokel minder geiftreih als Il Zotico. ‘Die 
beiden Bilder Bokel's, welche der Dichter fchildert, er⸗ 
fheinen als eine feine Satire auf einzelne Richtungen 
der neuern 9: rei: 

„Sehen müflen Sie die Leinwand! Ein ganz neues inter 
effantes Sujet. Weite, endloje Puſzta, in der Ferne die zwei, 
ipi zufammenlaufenden Stangen eines Ziehbrunnens. Mitten 
in der öden flimmungsreichen Unendlichkeit eine Heerde Schafe — 
von denen will ich nicht reden‘, fchaltete er ein, „aber kein 
Hund, fein Schäfer, nichts ala ein Hut, eim biutiger Foeos 
und eine Bunda, an der ein Widder fhuüffelt. Und die Bunda, 
die Bunda müſſen Sie fehen. Sie liegt mit der Wolle nad 
auswärts — aber dieſe Wolle — ſolche Schafmolle Habe ich nod) 
nicht gemalt. Und die Stimmung, was denken Sie fi) Dabei? 
Nichts ale die Bunda.“ 

Nicht minder flimmungsvoll ift das zweite Bild, be⸗ 
zeichnet ald Begegnung Rebekla's mit Eliezer: 

Fürs erfie ſah man nichts als eine zahlreiche, mit aller 
Bokel'ſchen Birtuofität gemalte Schafbeerbe, die, flanbbededt 
und durfiig, nad) einem Brunnentrog und einer Pfütze drängte, 
und jo den ganzen Bordergrund einnahm. Erſt beim genauern 
Hinbliden vermochte man rechts im Hintergrunde die ganz in 
graugrlinem Zon gehaltene, verfhwimmende Gruppe ausfindig 
zu machen, aus der es der Phantafie freigeftellt blieb, die 
Figur Elieger’8 am Brunnen und Rebekka's mit dem Kruge 
ſelbſtthätig zu gefalten. 

Der geiftige Boden, auf welchem unfer Roman ab» 
fpielt, ift der des öfterreichifchen ‚Katholicismus. Die 
Darftelung ift oft ſchwunghaft, an poetifchen Scilde- 
rungen, originellen Bildern und geiftreichen Reflexionen 
reich, nur wird der Stil bin und wieder durch einzelne 
Auftriacismen getrübt. 

Rudolf Gottfchall, 


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112 


Bollszahl und -Spracgebiet der Deutfchen. 


Volkszahl und Sprachgebiet der Dentichen. 


Der Deutſchen Bollszahl und Spradigebiet in den europäifchen 
Staaten. Eine ſtatiſtiſche Unterfudung von Rihard Böckh. 


Berlin, Onttentag. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr. 


Diefes Werk, weldjes der Erinnerung an Ernſt Morik 
Arndt zu deflen Bundertjährigem Geburtstage gewidmet 
ft, gibt einen anf flatiftifchen Ermittelungen beruhenden 
Nachweis von der Größe, der Vollszahl und dem Um- 
fange des Sprachgebiets der bdeutfchen Nation. Der 
Geift, welcher dieſe vortreffliche Schrift durchweht, ifl 
ein ebenfo wiflenfchaftlicher mie patriotifcher; und wir 
Finnen e8 nur mit Freude begrüßen, baß gerade der 
Gegenwart, wo die entjcheidenden Siege des deutſch⸗ 
franzöfifchen Kriegs die Frage in praftifche Nähe gerüdt 
haben, das Werk eines competenten Statiſtikers vorliegt, der 
es unternommen bat, darauf hinzumeifen, daß man über 
bem innern nationalen Ausbau des deutſchen Staats- 
weſens nicht die in den Nachbarländern Iebenden Stam- 
meögenofien vergefien fol, Denn e8 unterliegt wol fei- 
nem Zweifel, daß auch die fern vom Mutterlande leben- 
den Deutfchen einen vollbereditigten Anfprud auf die 
Sympathie, reſp. den thatkräftigen Schuß des beutfchen 
Baterlandes haben, um fo mehr, wenn ihre culturberechtigte 
Stellung buch fremde Gewalt und Anmaßung bedroht 
ft. Die nationale Berwandtfchaft ſchließt bis zu einem 
hohen Grade eine nationale Zugehörigkeit in fi, Die, 
wenn fie auch vorwiegend oft nur eine geiftige ift, des⸗ 
halb doch nicht theilnahmlos angefehen und wirklichen Ge⸗ 
fahren fchuglos überlaffen werden darf. 

Der erjte Theil des in Rede fichenden Buchs be- 
behandelt in zwei fi ergänzenden Vorworten „Das Wa» 
tionalitätsprineip” und „Die ftatiftifche Ermittelung der 
Nationalität”. 

Was nun die Anerkennung des Nationalitätsprincibs 
betrifft, fo liegt darin, nach der Anficht des Berfaffers, 
der Keim zu einem unermeßlichen Fortſchritt in der Ent- 
widelung ber Völker. Bei grundfägli richtiger Auf⸗ 
fafjung, meint er, ift die Anerfennung des Nationalitäts- 
princip8 durch das gemeinfame Intereſſe aller Völker 
gefordert. Keinem Volle iſt die ihm eigenthümliche Gei⸗ 
ſtesgabe zum Zweck der Unterdrückung anderer verliehen, 
und feinem kann dieſe Unterdrückung wahren Nuten brin- 
gen; in deutlichen Beifpielen zeigt die Geſchichte früherer 
und neuerer Zeit, wie von einem herrſchenden Volke ges 
übte Unterdrüdung ihm felbft wenig frucdhtet, wie im 
Gegentheil der Unterdrüdte, indem er ſeinerſeits in den Geift 
ber unterdrüdenden Nation hinübergeht, bort ändernd und 
verderbend eingreifen und fogar zum unerwünſchten und 
tyrannifchen Führer der Herrichenden Nationalität werden 
fann. Umgekehrt begreift die Anerkennung des Nationa- 
litätsprincips die Anerkennung der Befonderheit jeder Na» 
tion und gewährt damit einer jeden die freie Uebung ber 
fchöpferifchen Kraft ihres eigenen Geiftes, mithin die Frei⸗ 
beit vom Drude fremden Geiftes; fie enthält weiter bie 
Anerkennung der Einheit jeder Nation und verbürgt da- 
mit den Angehörigen berjelben bie Gemeinſchaft ihres 
Wirkens und Schaffens, mithin die Befreiung von unbe- 
rei“ Sonderbeſtrebung; fie enthält endlich die Aner- 
fenn „ 3 Geſammtheit jeder Nation und gewährt ba- 


mit jedem einzelnen das Hecht, daß diejenige Nationa- 
fität, der er nach unverlennbarem, in feiner Natur felbft 
begründeten Kennzeichen angehört, in ihm geachtet werbe. 
Diefe Anſchauungen auf das deutſche Boll anwendent, 
fagt der Berfafler: 

Daß es feiner andern Nation wichtiger ift ald ber beut- 
fen, bie nationale Einheit zu ihrem feſten Dogma zu erheben, 
bebarf in einer Zeit, wo das Wort ber dentſchen Einheit ben 
Unverfändigen nachgerade ebenfo geläufig ift wie den Beriäm- 
digen, feiner weitern Ausführung. Bei ber Berwirklichung 
bedarf es aber für eine Nation, deren Geſchichte bei ben ein⸗ 
zelnen Bruchtheilen zahlreiche Sonberinterefien erzeugt hat, umb 
namentlich bei folchen, bie fi am Leitfeile der fremden Kegie- 
rungen befinden, dem fremden Intereffe den Schein des eigenen 
gegeben bat, der grunbfäglichen Unterſcheidung des natiomalen 

emeinfamen von dem local und landſchafilich bereitigten 
Befondern, und diefe kann nur gewonnen werben durch richti⸗ 
e8 Erkennen des Wefens der eigenen Nationalität, Hanıpt- 
üchlich ift e8 aber für feine Nation wichtiger ale für bie beut- 
ſche, bie Gemeinfchaft aller Angehörigen der Ration grunbfäg- 


feinen Gegnern g T 

tionalität jedes einzelnen, alfo der Zugehörigleit jebe® einzel⸗ 
nen zu feiner Nation, damit and, demjenigen, welchem bie 
ünßere Verbindung mit feinem nationalen Lande abgeht, doch 
die geiftige Verbindung mit der großen Geſammtheit gefidhert 
—* welcher er feiner eigenen Natur nad ſelbſt ein 

et . 

Als erfte Grundlage des Begriffs der Nationalität 
fieht unfer Autor die Annahme der gemeinfchaftlichen 
Abftammung, der Gemeinschaft der Geburt innerhalb der 
einzelnen. Bölfer an. Während ihm in der Stammes 
gliederung der Menſchen das Nationalitätsprincip als 
begründet und in dem Borbandenfein der Völkerindividnen 
als verwirklicht erfcheint, erblidt er in der Volksſprache 
das charakteriftiiche Kennzeichen der einzelnen Böller- 
individuen, weil die Sprache das naturgemäße gefell- 
ſchaftliche Organ des Menſchen iſt. Jede Nation erſtreckt 
ſich demnach ſo weit, wie die Verſtändigung durch eine 
Volksſprache erfolgt. Das Beſtehen der Bölkerindividuen 
iſt nach der Anſicht des Verfaſſers unabhängig von dem 
Grade der Ausbildung der Sprache, obſchon er nicht 
verkennt, daß dieſe Ausbildung zur Fortentwickelung der 
Völker in mittelbarer Beziehung ſteht. Der Uebergang 
einzelner Individuen oder Vollsbruchtheile von einer Spradye 
zur andern ift in der Völkermiſchung begründet; er ge- 
fchieht nicht felten der menfchlichen Freiheit gemäß, jedoch 
niemal® nad) der reinen Willlür des einzelnen. 
gegen fteht die gewaltthütige Aufdrängung fremder Volle 
fprachen und insbefondere die Berbrängung der Bolle- 
fpradje durch die fogenannte Staatsſprache mit dem 





Volkszahl und Sprachgebiet ber Deutſchen. 713 


Nationalitätsprincip in einem ſchneidenden Widerſpruch; 
„ſie iſt ein Frevel gegen die geiſtige Ordnung der Völker“. 
Der Staatsſprache will Böchh nur den Vorzug, „die erfte 
unter gleichen zu fein’, einräumen. Es gehört zu ber 
Aufgabe gefitteter Böller, die Entwidelung der nationalen 
Sprache in biefer Sprache und durch diefe Sprade zu 
fördern; zur allgemeinen Verwirklichung biefer Aufgabe 
hält es der Autor für nothwendig, daß das Recht der 
Nationalität in das gemeinfame Staatenrecht aufgenommen 
werde. Die deutfche Nation dürfe fich nicht die Ehre 
nehmen lafien, in diefer Beziehung voranzugehen, fowol 
zu Gunften ber Deutfchen, wie zur Sicherung des Völler- 
friedens überhaupt; fie bat, nach Böckh's Meinung, bie 
weltgefchichtlihe Miffion, die Berbrüderung derjenigen 
Nationen herbeizuführen, welche fi zur Achtung und 
Förderung des Nationalitätöprincipe verpflichten. Cr 
fagt deshalb: 

Die Förderung der Bildung jedes Bolleftammes in feiner 
eigenen Sprache und durch die Ausbildung berfelben iſt alfo 
eine Conſequenz der wirklichen Anerlennung des Grundfates 
der Nationalität. In biefem Sinne dem Nationalitätsprincip 
Geltung zu verichaffen, zu Gunſten des eigenen Bolfs wie 
zu Gunften aller Bölter, welche unter dem Drude fremden 
Sprachzwanges leiden, nnd welche bie Geltendmachung bes 
Nationalitätsprincips von dieſem Drude erlöjen Tann, tft bie 
würdige Aufgabe unferer deutfhen Nation. Es bedarf hierzu 
nicht der äußern Herrſchaft durch irgendein beflimmtes Bolt; 
wohl aber bedarf e8 der Herrſchaft des gemeinjamen Principe, 
alfo der allgemeinen grundjäglihen Anerkennung der vollen 
Freiheit jedes Volls, feine Sprache in denjenigen Wohnſitzen 
zu üben, denen es angeflammt ift, oder in welche es ſeine 
Anfiedelungen erfiredt Bat. Und ſolchen Staaten gegenüber, 
welche das Nationalitätsprineip nicht anerkennen, mithin die 
höhere Ordnung des Bollsgeiftes lengnen, bedarf es des wirf- 
lichen Schutzes berjentgen, welche abweichender Nationalität 
find, und nöthigenfall® der Abldfung ihrer Wohnſitze von dem 
unterdrüdenden Staate. 

Der Berfafier verfennt nicht, daß e8 an Berheißungen, 
Zuficherungen und Berträgen, welche bei der Bereinigung 
eroberter Xerritorien mit einem GStaatswefen oder bei 
freifinnigen und freiwilligen Umgeftaltungen im Innern 
eines Staats der abweichenden Nation die Erhaltung ihrer 
Nationalität und den Gebraud) ihrer Sprache zuficherten 
(wie z. B. bie Capitulationen, welche die Baltifchen Her- 
zogthümer an Rußland brachten), bisher fchon nicht gefehlt 
bat; da aber alle foldde Garantien meiſtens nur bloßer 
Schein waren, weil ihre Achtung oder Nichtachtung in 
die Willkür desjenigen geftellt war, der fie gegeben hatte, 
fo kommt er zu dem Sclufle, daß erft bie Aufnahme 
folder Garantien in das gegenfeitige Staatenrecht, welches 
man heutzutage mit dem ungenanen und fehr dehnbaren 
Ausdrnd des internationalen oder Völlerrechts bezeichnet, 
dem Nationalitätöprincip diejenige feſte Grundlage geben 
kann, mit welcher die Nationalität von dem geiftigen 
Drud der Staatsangehörigfeit gelöft wird. Und wenn, 
wie bereitö angedeutet, die Anerkennung der Nationalität, 
wie fie die angeftammte Volksſprache zeigt, die Forderung 
ft, in welcher das Nationalitätsprincip feinen vollberech⸗ 
tigten Ausdrud findet, fo find, wie unfer Autor meint, 
die Hauptforderungen, welche die deutfche Nation unter 
Umftänden im Namen des Nationalitätsprincips ale ihr 
volles Recht mit aller Energie in Anfprud zu nehmen 
bat, etwa folgende: Deutſche Sprade als Geſchäfts⸗ und 

1870. 6. 


Gerichtsſprache in allen deutjchen Wohnfigen, deutſcher 
Gottesdienſt in ben Gemeinden beutfcher Nation, deutjche 
Volksſchulen für die Kinder beutfcher Weltern und die 
Geltung des deutfchen Geiftes an ben höhern Bildunge- 
anftalten der Deutfhen. Die thatfächliche Durchführung 
folder Forderungen würde in Wahrheit die „Tilgung 
langer deutſcher Schanden“ fein, vor allem derjenigen, 
welche unfer weftliches Nachbarvolk unter Leitung feiner 
Bourbonen, Eonvente und Cuſaren in beharrlicher Unter- 
drüdung der deutſchen Nationalität auf unfer Voll ge⸗ 
bäuft bat, und deren Tilgung für die deutfche Nation 
eine ebenjo unverjährbare Pflicht, wie ber Anſpruch auf 
Achtung der angeſtammten Nationalität ein underjährbares 
Hecht ift. Die neueften Ereigniffe verjprechen eine rabicale 
Heilung diefer Misftände durch die Annerion ber dent» 
ſchen Provinzen Frankreich; dadurch werden bie folgen- 
den Worte des Verfaſſers erft in vollem Maße zur 
Wahrheit werden: 

Die Wiedereinfegung der beutfchen Sprache im Elſaß und 
Weſtreich in ihr altes Recht als geltende Landesſprache und die 
Zurückſetzung der franzöfiſchen Sprache in jene Stellung, welde 
ihr als gemeinfamer Staatéſprache und als ber BVollsiprade 
eines Meinen Theils der angeflammten und eingewanderten 
Bevöllerung zulommt, wäre bie unerlaßliche Bedingung, unter 
welcher der erflarlende dentſche Vollsgeiſt die ſortdanernde Ber- 
bindang eines wichtigen Theils der Ration mit einem fremden 
Neiche ohne Entwürdigung betrachten könnte; fie allein könnte, 
ohne Veränderung der Staatengrenze, der deutichen Nation das 
vechte Pfand des Friedens und der Kreundfchaft geben. Wenn 
nun im Gegentheil die neueften Verhandlungen des franzdfifchen 
Senats den Regierungen biefes Staats die Anerlennung ge- 
ben, daß fie fein Mittel unverfncht gelaffen haben, bie deutſche 
Sprade in dieſen Randestheilen zu vernichten, und wenn ber 
franzöfiihe Senat die Befeitigung bes Deutfchen aus dem 
Unterriät für eine nationale Aufgabe erften Ranges erklärt, 
was ift dies anders al® eine offene Kriegserklärnng gegen die 
deutfche Nation! 

Bei der Geltendmachung des Nationalitätsprincips in 
diefem Sinne, im Sinne der Gleichberechtigung jebes 
nationalen Geiftes, wiirde — fo muthmaßt Bid — 
die beutfche Nation nicht vereinzelt daftehen; ihre ſüd⸗ 
lichen und nörblihen Nachbarn, in der Eulturentwidelung 
den Deutſchen nicht allzu unähnlich, würden ſich dieſen 
Beftrebungen um fo bereitwilliger anfchließen, je eher 
ihnen gegenüber die deutſche Nation jelbft das Nationa- 
Iitätöprincip in gerechter Handhabung zur Anwendung 
brächte: 

Es würde damit der Grund zu einer Völkerverbrüderung 

elegt fein, welche geeignet wäre, eine der geiſtigen Natur de® 
enſchen entiprechende Ordnung und mit ihr eine Zeit des 
Bolkerfriedens herbeizuführen. Zu biefer Berwirflihung des 
Nationalitätsprincipe im Sinne wahrer Freiheit und Bildung 
ift aber die beutfche Nation, welche an Zahl keinem andern 
Bolfe der weißen Raſſe nachſteht, vorzugsweije berufen, da fie 
vor andern jene Gigenfchaften befigt, welche einem Bolfe ein 
maßgebendes Borangehen auf geiftigem Gebiet zumeifen. 

Gegen dieſe Argumentationen und Schlußfolgerungen 
unſers Autors, die an fi logiſch, Mar und verlodend 
klingen und vielleicht auch) find, läßt fi vom theoretifchen 
Standpunkte aus ſchwerlich viel einmenden; die Sache 
gewinnt indefien ein ganz anderes Anfehen, fobalb mir 
diefe untadelhaften Theorien vom Standpunkte ber prak⸗ 
tiſchen Politik auffaffen nnd zur thatſächlichen Verwirk⸗ 
lichung derſelben ſchreiten wollen. Wir würden dann 

90 








— 


712 Volks zahl und .Spracgebiet der Deutſchen. 


Volkszahl und Sprachgebiet der Deutſchen. 


Der Deuijſchen Vollezahl und Sprachgebiet in den europäifcen 
Staaten. Eine ftatiftifche Unterfuhung von Rihard Bödh. 
Berlin, Onttentag. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr. 

Diefes Werk, weldes der Erinnerung an Ernſt Morig 
Arndt zu deſſen hundertjährigem Geburtstage gewidmet 
iſt, gibt einen anf flatiftifchen Ermittelungen beruhenden 
Nachweis von ber Größe, der Vollszahl und dem Um- 
fange des Sprachgebiets ber deutſchen Nation. Der 
Geift, welcher diefe vortreffliche Schrift durchweht, ift 
ein ebenfo wiſſenſchaftlicher wie patriotifcher; und wir 
Tönnen es nur mit Freüde begrüßen, daß gerade ber 
Gegenwart, wo bie entſcheidenden Siege des deutſch- 
franzöfifchen Kriegs bie Frage in praktiſche Nahe gerüdt 
haben, das Werk eines competenten Statiſtilers vorliegt, der 
es unternommen hat, darauf hinzuweiſen, daß man über 
dem innern nationalen Ausbau des deutſchen Staats- 
weſens nicht die in den Nachbarländern lebenden Stam- 
meögenofien vergefien fol. Denn es unterliegt wol fei- 
nem Zweifel, daß auch bie fern vom Mutterlanbe Ieben- 
den Deutfchen einen vollberehtigten Anſpruch auf bie 
Sympathie, reſp. den thatkräftigen Schub des deutſchen 
Baterlandes haben, um fo mehr, wenn ihre culturberechtigte 
Stellung durch fremde Gewalt und Anmaßung bebroft 
ft. Die nationale Verwandtſchaft fchliegt bis zu einem 
hohen Grade eine nationale Zugehörigkeit in ſich, die, 
wenn fie auch vorwiegend oft nur eine geiftige ift, des ⸗ 
Halb doch nicht theilnahmlos angefehen ımd wirklichen Ge- 
fahren ſchutzlos überfaffen werben darf. 

Der erſte Theil des in Rede ſtehenden Buchs ber 
behandelt in zwei ſich ergänzenden Vorworten „Das Na ⸗ 
tionalitätprincip“ und „Die ſtatiſtiſche Ermittelung der 
Nationalität”. 

Das nun die Anerkennung des Nationalitätsprincips 
betrifft, fo liegt darin, nad der Anſicht des Verfaſſers, 
der Keim zu einem unermeßlichen Fortſchritt in der Ent- 
widelung ber Bölfer. Bei grundfäglid richtiger Aufe 
fafjung, meint er, ift die Anerkennung des Nationalitäte- 
princip8 durch das gemeinfame Intereſſe aller Völker 
geforbert. Keinem Volke ift die ihm eigenthilmliche Gei- 
fteögabe zum Zmwed der Unterdrüdung anderer verliehen, 
und feinem kann dieſe Unterdrüdung wahren Nugen brin- 
gen; in deutlichen Beifpielen zeigt die Geſchichte früherer 
und neuerer Zeit, wie von einem herrfchenden Bolfe ge 
übte Unterdrüdung ihm felbft wenig frudtet, wie im 
Gegentheil der Unterbrüdte, indem er feinerfeits in ben Geift 
der unterbrüdenden Nation hinübergeht, dort ändernd und 
verberbend eingreifen und fogar zum unerwünfchten und 
tyranniſchen Führer der herrſchenden Nationalität werden 
Tann. Umgelehrt begreift die Anerkennung des Nationa- 
litatsprincips die Anerkennung ber Befonderheit jeder Na« 
tion und gemährt damit einer jeden die freie Uebung der 
ſchopferiſchen Kraft ihres eigenen Geiftes, mithin die Freie 
heit vom Drade fremden Seiner; fie enthält weiter die 
Anerkennung der Einheit jeder Nation und verblirgt da ⸗ 
mit ben Angehörigen berjelben die Gemeinfchaft ihres 
Wirkens und Safens, mithin die Vefreiung von unbe 
rechtigter Sonberbeftrebung; fie enthält endlich die Aner« 
Iennung der Gefammtheit jeder Nation und gewährt ba- 





mit jebem einzelnen das Recht, daß diejenige Nationa- 
Kität, der er nad) unverfennbarem, in jeiner Natur ſelbſt 
begründete Kennzeichen angehört, in ihm geadjtet werde. 
Diefe Anfchanungen auf das deutſche Voil anwendend, 
fagt der Berfaffer: 

Daß es feiner andern Nation wichtiger it als der dent 
fen, bie nationale Eineit zu ihrem feRlen Dogma zu erheben, 
bedarf in einer Zeit, wo das Wort ber beutihen Einheit den 
Unverftändigen nadjgerabe ebenfo geläufig ift wie ben Berflän 
digen, feiner weitern Ausführung. ei der Berwirflichung 
bedarf es aber für eine Nation, deren Geſchichte bei dem ein» 
jelnen Deuaitheilen zahlreiche Sonberintereffen erzeugt hat, und 
namentlich bei folchen, die fidh am Leitfeile der fremden Regier 
zungen befinden, dem fremden Intereſſe den Schein des eigenen 

jegeben hat, ber grumbfäglichen Unterfeidung des nationalen 
teinfamen von bem local und Iandicaftlid bereditigten 
Befondern, und biefe kann nur gewonnen werben durch richtie 
je8 Erkennen des Weſens ber eigenen Nationalität. Haupte 
chlich iſt es aber für keine Nation wichtiger als für bie deut- 
he, die Gemeinſchaft aller Angehörigen der Nation grundjäg- 
fi) zu erfennen und ihre allgemeine Anerkennung zu fordern. 
Im eigenften deutfchen Gebiete in eine Anzahl ganz unb Halb 
jelbftändiger ſtaatlicher Gemeinfcaften zerfblittert, denen theil- 
weife ſelbſt der Name deutſcher Staaten beftritten wird, meiter 
mit Bruchſtücken anderer Nationen zu Siaatsganzen verbun - 
den, von deren Leitern theilweife dem Dentihen das Recht auf 
den Gebraud_feiner angeſtammten Sprache verfagt wird, im 
beträgtlihen Theilen fogar unter die Herrihaft eines fremden 
Gtammes geftellt, der geradezu bie deutſche Matiomalität zu 
vertilgen beftrebt if, und endlich außerhalb ihres angeflammten 
Gebiets in weitverzweigten Golonien fiber fremde National» 
‚gebiete verfireut — bedarf ber Deutſche am meiften der richti- 
gen Aumendung des großen Grundjages, der in unferer Zeit 
zur Regelung ber Ordide der Böller geltend gemadt und von 
feinen wird: der Anerkennung der Na · 
tionalität jedes einzelnen, alfo ber Zugehörigfeit jedes einzel- 
men zum feiner Nation, damit auch demjenigen, welchem bie 
äußere Verbindung mit feinem nationalen Lande abgeht, doch 
die geiftige Verbindung mit ber großen Gejammtheit gefihert 
1 Me welcher ex feiner eigenen Ratur mad) jelbft eim 

it if. 

AS erfte Grundlage des Begriffs der Nationalität 
fieht unfer Autor die Annahme der gemeinſchaftlichen 
Abftammung, der Gemeinfchaft der Geburt innerhalb der 
einzelnen: Völker an. Während ihm in der Stammes- 
glieberung der Menſchen das Nationalitätsprincip ala 
begründet und in dem Vorhandenſein der Völkerindivibuen 
als verwirklicht erſcheint, erblidt er in ber Volksſprache 
das harakteriftifche Kennzeichen der einzelnen Bölfer- 
individuen, weil die Sprache das naturgemäße gefell- 
ſchaftliche Organ des Menfchen ift. Dede Nation erftredt 
id, demnach fo weit, wie die Verftändigung durch eime 
Bollsſprache erfolgt. Das Beftehen der Völferindividuen 
ift nad) der Anſicht des Verſaſſers unabhängig von dem 
Grade der Ausbildung der Sprache, obſchon er nicht 
verfennt, daß dieſe Ausbildung zur Sortentwidelung der 
Bolker in mittelbarer Beziehung ſteht. Der Uebergang 
einzelner Individuen oder Bollsbruchteile von einer Sprache 
ur andern ift in der Völfermifchung begründet; er ge- 
—* nicht felten der menſchlichen Freiheit gemäß, jedoch 
niemals nad; der reinen Willfür des einzelnen. Da- 
gegen fleht die gewaltthätige Aufdrängung fremder Bolte- 
ſprachen und insbefondere bie Verdrängung ber Bolfs- 
ſprache durch bie fogenannte Staatsjprahe mit dem 


d 





Bollszahl und Sprachgebiet ver Deutſchen. 713 


Nationalitätsprincip in einem ſchneidenden Wiberfprud); 
„fie ift ein Frevel gegen bie geiftige Ordnung der Völker“. 
Der Staatsſprache will Böchh nur den Vorzug, „die erfte 
unter gleichen zu fein‘, einräumen. Es gehört zu ber 
Aufgabe gefitteter Völker, die Entwidelung der nationalen 
Sprade in biefer Sprache und duch diefe Sprache zu 
fördern; zur allgemeinen Bermwirflihung biefer Aufgabe 
hält es der Autor für nothwendig, daß das Recht der 
Nationalität in das gemeinfame Staatenrecht aufgenommen 
werde. Die deutſche Nation dürfe ſich nicht die Ehre 
nehmen lafien, in diefer Beziehung voranzugehen, ſowol 
zu Gunften ber Deutfchen, wie zur Sicherung des Völler- 
friedens überhaupt; fie bat, nad Böchh's Meinung, die 
weltgefchichtlihe Miſſion, die Verbrüderung derjenigen 
Nationen herbeizuführen, melde fi zur Adtung und 
Förderung des Nationalitätsprincip® verpflichten. Er 
fagt deshalb: 

Die Förderung ber Bildung jedes Bollsftammes im feiner 
eigenen Sprade und durch bie Ausbildung bderfelben ift alfo 
eine Confequenz ber wirklichen Anerfennung bes Grundſatzes 
der Nationalität. In diefem Sinne dem Rationalitätsprincip 
Geltung zu verihaffen, zu Gunften des eigenen Volle wie 
zu Gunften aller Völker, welde unter dem BDrude fremden 
Sprachzwanges leiden, und welde die Geltendmachung bes 
Nationalitätsprincips von diefem Drude eridfen kann, ift die 
mwürbige Aufgabe unferer deutſchen Nation. Es bedarf hierzu 
nicht der Außern Herrſchaft durch irgendein befiimmtes Boll; 
wohl aber bedarf es der Herrichaft des gemeinfamen Princips, 
alſo der allgemeinen grunbfäglichen Anerlennung der vollen 
Freiheit jedes Volls, feine Sprache in denjenigen Wohnfttgen 
zu üben, denen es angefammt if, oder in welde es eine 
Anfiedelungen erfiredt hat. Und folgen Staaten gegenüber, 
welche das Nationalitätsprineip nicht anerkennen, mithin bie 
höhere Ordnung bes Bollsgeiftes Iengnen, bebarf e8 des wirf- 
fihen Scutes derjenigen, welche abweichender Nationalität 
find, und udthigenfalle der Ablöfung ihrer Wohnſitze von dem 
unterdrüdenden Staate. 

Der Berfaffer verfennt nicht, daß es an Verheißungen, 
Zuſicherungen und Berträgen, welche bei der Bereinigung 
eroberter Xerritorien mit einem Staatsweſen oder bei 
freifinnigen und freiwilligen Umgeftaltungen im Innern 
eines Staats der abweichenden Nation die Erhaltung ihrer 
Nationalität und den Gebrand) ihrer Sprache zuficherten 
(wie 3.8. bie Capitulationen, welche die Baltifchen Her- 
zogthümer an Rußland brachten), bisher fchon nicht gefehlt 
bat; da aber alle ſolche Garantien meiſtens nur bloßer 
Schein waren, weil ihre Adtung oder Nichtachtung im 
die Willkür desjenigen geftellt war, der fie gegeben hatte, 
fo kommt er zu dem Schlufle, daß erft die Aufnahme 
folder Garantien in das gegenfeitige Stantenredht, welches 
man heutzutage mit dem ungenauen und fehr dehnbaren 
Ausdrud des internationalen oder Völlerrechts bezeichnet, 
dem Nationalitätöprincip diejenige fefte Grundlage geben 
kann, mit welcher die Nationalität von dem geiftigen 
Drud der Staatsangehörigfeit gelöft wird. Und wenn, 
wie bereitd angedeutet, die Anerkennung der Nationalität, 
wie fie die angeftammte Vollsſprache zeigt, die Forderung 
ift, in welcher das Nationalitätsprincip feinen vollberech- 
figten Ausdrud findet, fo find, wie unfer Autor meint, 
die Hauptforderungen, welche die deutſche Nation unter 
Umftänden im Namen bes Nationalitätsprincips als ihr 
volles Recht mit aller Energie in Anſpruch zu nehmen 
bat, etwa folgende: Deutſche Sprache als Gefchäfts- und 

1870. 46. 


Gerichtsſprache in allen deutfchen Wohnftgen, beutjcher 
Gottesdienſt in ben Gemeinden deutfcher Nation, beutfche 
Volksſchulen für die Kinder beutfcher eltern und die 
Geltung des deutfchen Geiftes an den höhern Bildungs- 
anftalten der Deutfchen. Die thatfächliche Durchführung 
folder Forderungen würde in Wahrheit die „Zilgung 
langer deutſcher Schanden“ fein, vor allem derjenigen, 
welche unfer weſtliches Nachbarvolf unter Leitung ferner 
Bourbonen, Eonvente und Cüfaren in beharrlicher Unter» 
drüdung der deutſchen Nationalität auf unfer Volk ge 
bäuft hat, und deren Tilgung für die deutſche Nation 
eine ebenfo unverjährbare Pflicht, wie ber Anſpruch auf 
Achtung der angeflammten Nationalität ein underjährbares 
Recht iſt. Die neueften Ereigniffe verjprechen eine rabicale 
Heilung biefer Misſtünde dur die Annerion der deut⸗ 
ſchen Provinzen Frankreichs; dadurch werben bie folgen- 
den Worte des Verfaſſers erſt in vollem Maße zur 
Wahrheit werden: 

Die Wiedereinfegung der deutſchen Sprade im Elſaß und 
Weſtreich in ihr altes Recht ala geltende Landesſprache unb bie 
AZurüdfegung der franzöfifhen Sprache in jene Stellung, welde 
ihr als gemeinfamer Staatsſprache und als ber Bollsiprache 
eines Heinen Xheils der angeftammten und eingewanderten 
Bevöllerung zulommt, wäre die unerlaßliche Bedingung, unter 
welcher der erflarfende beutjähe Bollsgeift die fortdauernde Ber- 
bindung eines wichtigen Theile der Nation mit einem fremden 
Neiche ohne Entwürdigung betrachten könnte; fie allein Lünnte, 
ohne Beränderung der Staatengrenze, der deutſchen Nation das 
rechte Pfand des Friedens und der Kreundfchaft geben. Wenn 
nun im Gegentheil die neueften Verhandlungen des franzdfifchen 
Senats den Regierungen diejes Staats die Anerkennung ge- 
ben, daß fie fein Mittel unverfucht gelaffen haben, die deutiche 
Sprade in diefen Landestheilen zu vernichten, und wenn ber 
franzöfiihde Senat die Beſeitigung des Deutfhen aus dem 
Unterrigt für eine nationale Aufgabe erflen Ranges erklärt, 
was ift dies anders als eine offene Kriegserflärung gegen bie 
deutfche Nation! 

Bei der Geltendmachung des Nationalitätsprincips in 
diefem Sinne, im Sinne der Gleichberechtigung jedes 
nationalen Geiftes, würde — fo muthmaßt Bödd — 
bie deutfche Nation nicht vereinzelt daſtehen; ihre füb- 
lichen und nördlichen Nachbarn, in ber Eulturentwidelung 
den Deutfchen nicht allzu unähnlich, würden fid) dieſen 
Beftrebungen um fo bereitwilliger anfchließen, je cher 
ihnen gegenüber die beutfche Nation felbft das Nationa- 
Itätsprincip im gerechter Handhabung zur Anwendung 
brädhte: 

Es würde damit der Grund zu einer Völlerverbrüberung 

elegt fein, welche geeignet wäre, eine der geiftigen Natur bes 
enfchen entfprehende Ordnung nnd mit ihr eine Zeit bes 
Bölterfriedens herbeizuführen. Zu diefer Verwirklichung des 
Nationalitätsprincips im Sinne wahrer Freiheit und Bildung 
ift aber die deutfche Nation, welche an Zahl keinem andern 
Bolle der weißen Raſſe nachfteht, vorzugsweije berufen, da fie 
vor andern jene Eigenſchaften befittt, welche einem Volke ein 
maßgebendes Vorangehen auf geiftigem Gebiet zuweilen. 

Gegen diefe Argumentationen und Schlußfolgerungen 
unfers Autors, die an fich logiſch, Mar und verlodend 
klingen und vielleicht auch find, läßt ſich vom theoretifchen 
Standpunkte ans jchwerlih viel einwenden; die Sache 
gewinnt indeflen ein ganz anderes Anfehen, fobald wir 
diefe untabelhaften Theorien vom Standpunkte der praf- 
tiſchen Politik auffaffen und zur thatfächlichen Verwirk⸗ 
lichung derſelben fchreiten wollen. Wir witrden dann 

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714 


fehr bald erfennen, ein wie weiter Raum zwifchen der 
Richtigkeit einer Idee und der realen Ausführung der- 
felben Liegt, wie viel bei der thatfächlichen Löfung theo- 
vetifch Leicht zu entſcheidender Fragen fafl immer von ben 
jedesmaligen phyfifchen und moralifchen Machtverhältnifien 
abhängt. Wir verwahren uns aber ausdrüdlich dagegen, 
daß wir mit diefen Bemerkungen die patristiichen Aus⸗ 
führungen unfers Autors als vollftändig in der Luft 
ſchwebend darftellen wollten; wir wollten vielmehr einzig 
und allein nur auf die Schwierigkeit der Verwirklichung 
an fich richtiger Ideen aufmerffam machen. 

Das zweite Vorwort ftellt ſich zur Aufgabe, die rich- 
tige Methode feftzuftellen, durch die das Nationalitäts- 
verhältnig eines Volks ſtatiſtiſch ermittelt werden kann. 
Da die Volksſprache erwiefenermaßen das alleinige allge 
meine Kennzeichen der Rationalität ift, fo folgt daraus 
mit Nothwendigkeit, daß eine methodifche Statiftil zur 
Kenntniß des jebesmaligen Nationalitätsverhältnifies ihre 
Aufnahme grundfäglih und vor allen Dingen auf bie 
Bollsiprache zu richten Hat. Kein Theil der thatfächlichen 
Bevölkerung darf von der Aufnahme ausgefchloffen fein, 
und ebenjo wenig darf fie fi auf die Angabe einzelner 
Landesſprachen beſchränken. Die Angabe zweier Sprachen 
für einen Einwohner ift unzuläffig. Die Aufnahme hat 
fihh der ganzen Mittel der Bolkszählung zu bedienen, 
fowol der Auskunft der Familienhäupter, wie der amt- 
lichen Organifation. Je weiter aber die ftatiftifche Be⸗ 
trachtung, aus dem einzelnen auffleigend, ſich der Dar⸗ 
ftellung des Gefammiverhältnifies nähert, um fo mehr 
müfjen die Schattirungen zuridtreten, welche die Wirk 
fichleit im einzelnen Yalle uns zeigt. Und wie von ben 
gewonnenen Zahlen foldhe, die nur mit Mistrauen und 
in Ermangelnng befjerer aufzunehmen find, in den Sum- 
men jelbft fi mit den ficherfien Ergebnifien nothwendig 
mifchen, jo müſſen auch die nebenſächlichen Gefichtepunfte 
fchlieglich Hinter denjenigen zurüdtreten, deren Verfolgung 
die der ftatiftifchen Ermittelung zu Grunde liegende Idee 

ebietet. 

i Die Einheit jeder Nation und ihre Berfchiebenheit 
von den Übrigen ftatiftifch zur Anſchauung zu bringen, 
ober um mit dem Beſchluſſe des ftatiftiichen Congrefies 
zu reden: die Darftellung der einzelnen Bollsftämme nad) 
der Zahl ihrer Angehörigen und dem Gebietöumfange 
ihrer Wohnfige, das ift es, worin bie ftatiftifche Betrach⸗ 
tung ihr Ziel erblidt: 

Nicht das Vermiſchen unb Verwiſchen iſt es, was bie 
Statiftit da im Auge haben darf, wo fie ihre Betrachtung auf 
die Allgemeinheit der Thatſachen ausbehnt, jondern vor allem 
das Herausfehren desjenigen, was die zn Grunde liegende Idee 
als wirflihen Gegenſatz darftellt; denn darin befteht ihre bil⸗ 
bende Thätigkeit, daß fie die Thatſachen zur Darftellung des 
Gedankens benugt und für das Körperlofe in dem Thatſächlichen 
fein Gleichniß findet. 

Der nun folgende „befchreibende Theil”, welcher eine 
Darftellung des deutſchen Sprachgebiets, feiner Grenzen 
gegen die Gebiete anderer Nationen, ber dieſſeits und jenfeits 
vorhandenen Uebergänge und Spradinjeln und wiederum 
der an diefe fich anfchließenden oder für fi beftehenden 
gemischten Wohnfige gibt, bietet (S. 47—216) ein un- 
gemein reichhaltiges, belehrendes und intereffantes Material. 
In elf Kapiteln ſchildert der Berfafler dns deutſche 


Volkszahl und Spracgebiet der Deutfchen. 


Sprachgebiet unter den Engländern, den Skanbinaviern, 
den 2etten und Eften, den Ruſſen, den Polen, den 
Wenden und Czechen, den Magyaren, den Rumänen, 
den Serben und Slowenen, ben Ytalienern und Rhäte- 
romanen und endlich unter ben Franzoſen. Bon ganz 
bejonderm Intereſſe dürften gerade in der Gegenwart bie 
eingehenden Angaben fein, welche ber Berfafier tiber das 
Miſchungsverhältniß der Deutſchen und Czechen gibt, 
fowie über das Berhältniß der Deutfchen zu den übrigen 
in Oefterreich und Rußland lebenden Bölkerftämmen; wicht 
jehr erfreulich find die Hefultate der Unterfuchungen über bas 
Beftehen oder vielmehr Verkommen des deutſchen Sprach⸗ 
elements in den Landestheilen, die früher zu Deutſchland 
gehörten, jegt aber unter franzöfifcher Botmäßigfeit fichen. 

Ungeachtet mancher nicht ganz umerheblicher Ab⸗ 
weichungen, welche die ftatiftifhen Zuſammenſtellungen 
Böckh's im Bergleih zu ähnlichen Angaben anderer 
Statiftiler zeigen, ſteht doch als Hauptergebniß bes in 
Rede ſtehenden Werks feft, dag die beutfche Ration ihrer 
Zahl nad unter allen Nationen Europas voranfteht, fei 
es als die unbedingt zahlreichite Nation, oder ſei es 
daß die ruffifche Nation, welche gleich der beutfchen ſich 
reichlich ans ſich jelbft vermehrt, wenn auch bei nachthei⸗ 
ligern Lebensverhältnifien als die deutfche, derjelben an 
Volkszahl gleichlommt; freilih nur mit Einrechnung der 
Kleinzuffen, welche von mancher Seite als eine befonbere 
Nation betrachtet werden. ALS dritte Nation Europas 
erfcheint die franzöftfche, unter Zurechnung nit nur der 
Wallonen, die ihr nah Abflammung und Sprade zuge- 
bören, fondern auch des occitanifchen und catalanifchen 
Bolleftammes, welcher vielleicht richtiger als jelbftändige 
Nation zu betrachten ift. Ber Abrechnung der Occitaner 
würde bie franzöfifche Nation in Anfehung ihrer Bolls- 
zahl innerhalb Europas der italienifchen und ber englifchen 
ungefähr gleichftehen, mithin nur ungefähr Halb fo ftarf 


‚vertreten fein wie die deutfche und die ruſſiſche Nation. 


ALS fechste der größern Nationen Europas ericheint bie 
ſpaniſche einſchließlich der PBortugiefen (Hier ohne die Ca⸗ 
talanen gerechnet); als erfte der Meinern Nationen die 
polnifche (ein Dreißigftel der Bewohner Europas), dann 
die ſtandinaviſche, dakoromaniſche, czechifche, ferbifche, 
magyarifche u. f. w. 

Daß diefem BZahlenverhältnig gegenüber die deutſche 
Nation thätſächlich noch immer eine untergeordnete Stel- 
lung unter den Nationen Europas einnimmt, liegt — 
wie unfer Autor richtig bemerkt — bei weiten weniger 
in der Zerfplitterung ihres Sprachgebiets, als vielmehr 
in ihrer politifchen Zerfplitterung. Denn was die ört« 
liche Zerftrenung der Deutfchen angeht, fo tft derjenige 
Theil der Deutfchen, weldyer über andere Sprachgebiete 
zerfireut wohnt, zwar an ſich fehr beträchtlich, aber doch 
gering im Vergleich mit der zufammenwohnenden Maſſe 
der Deutſchen. Bon der Zahl der Deutfchen, welche mit 
Einrechnung der deutfch redenden Juden auf minbeftens 
53 Millionen und höchſtens auf 55 Millionen, am rich⸗ 
tigften wohl auf 54 Millionen innerhalb Europas an- 
genommen werden kann, wohnen über 49 Millionen 
(genauer 49,110000) im zufammenhängenden dentſchen 
Spracdgebiete. Eine ftaatliche Einigung dieſer 49 Mil- 
Ikonen Deutſchen würde allerdings die deutſche Nation 





Heimifche und frempe Dichtungen. 


wol zu der mädhtigften von allen europäifchen Nationen 
machen; daher ift e8 begreiflih, wenn namentlich unfere 
weftlihen und öftlichen Nachbarn die deutſchen Einheits- 
beftrebungen mit Neid und Misgunft verfolgen. 

Den Schluß des Werks bildet ein forgfältig gefichteter 
„zabellarifcher Theil” (S. 219-308), weldher die Er- 
gebnifle der Nationalitäts-Ermittelungen in ben einzelnen 
Staaten enthält, und fich ebenfo jehr durch eine lichtvolle 
Darftellung, wie durch eine das gründlichfte Quellen⸗ 


715 


ftudiun befundenbe Ausführung empfiehlt. Als befonders 
inftructiv heben wir aus dieſem werthvollen Schlußtheile 
des Buchs hervor: bie Schägungen für das Herzogthum 
Schleswig, die Zählungsanfnahmen und ftatiftifchen Er⸗ 
mittelungen aus den europäifchen Rändern des ruffifchen 
Reihe und den verfchiedenen Gebieten der dfterreichifch- 
ungarischen Monardie, fowie endlich die hiftorifche Glie⸗ 
derung des beutfchen Sprachgebiets in Frankreich. 
Rudolf Wochn. 


Heimifche und fremde Dichtungen. 


Die Ergebuifie der neueften Literarifchen Statiſtik find 
uns nnbelannt, aber daß wir Deutfchen noch heute, wo 
wir, wie man behauptet, ein politifchee Boll geworden 
find, alle andern Bölfer an Bersproduction übertreffen, 
das leidet wol feinen Zweifel. Was dafür und dagegen 
zu fagen, ift ſchon fo oft in d. Bl. erörtert worden, daß 
dem nichts hinzuzufügen fein möchte. Gehen wir aljo 
glei an die Befprechung ber vorliegenden Gedichte. Sie 
bilden ein fo buntes Gemisch, daß es ſchwer ift, einen 
gemeinfamen Geſichtspunkt für fle zu finden und ein Ge 
fammtrefultat daraus zu ziehen. Wir können bier nur 
einen vereinzelten Beitrag zum fchlieglichen Facit geben 
und werden es ohne Vorurtheil thun, zumal und bie 
Namen fümmtliher bier zu befprecdender Dichter zum 
erften mal entgegentreten. Ein Urtheil über Iyrifche Pro- 
ducte ift immer ein mehr oder weniger fubjectiv gefürbtes, 
das kann nicht anders fein; doch find wir und einer ge- 
wiſſen vielfeitigen Empfünglichleit bewußt und werden, 
damit dem Hervorheben des Guten Raum bleibe, dem Ver- 
gnügen, das im Berfpotten des Schlechten liegt, zu wider- 
ftehen fuchen. Leider können wir uns heute dem ſchönen 
Hange zur Anerkennung nur felten ganz hingeben. Bor 
allem nicht bei: 


1. Der Schönften. Gedichte von Hans Elliffen. 
gen, Elifien. 1870. ©®r. 16. 10 Ngr. 

Die Schönen finden felbft an monotonen Kobliedern 
anf fie Gefchmad, fie können in diefem Punkte viel er⸗ 
tragen. Unfere Schönfte hört e8 gewiß gern, wenn ihr 
gefagt wird: 

— Die höchſte Seligfeit 
Kannſt du allein nur geben; — 
hört fie dann aber weiter: 
Wem Liebe nie das Neben bot, 
Kennt Leben nicht, lebt nur den Tod — 
fo wird ihr doch mol etwas bedenklich dabei, ſchwül aber 
wird ihr ficherlih zu Muthe bei: 
Die Schwüle wandelt du in Himmelsluft, 
Den Trumpf nur zeigen meines Lebens Karten. 

Deruhigen muß e8 fie aber, daß der von ihr Begeifterte 
fih mitten in feiner Berzüdung oft fehr plan und ver- 
ſtündlich ausdrückt, wie 5. B.: 

Wenn ich Reichthum gleich entbehre, 

Wenn's an Gütern mir gebricht, 
An die Bagatelle kehre 
Ich mich jett und ewig nicht. 


Göttin» 


Eigentliche Poeſie haben wir in dem Liedern des ohne 
Zweifel noch fehr jungen Dichters nicht gefunden, wol 
aber Bier und da Lebendigkeit und Friſche. Zuweilen Mingt 
auch ein muſikaliſcher Ton darin. Liebeslieder nnd nur 
Liebeslieder find heutigentags nur zu ertragen, wenn In⸗ 
halt und Form bedeutfam find. 

2. Pfaffenkrieg. Gewappnete Lieder von 
Züri, Verlagsmagazin. 1870. 8. 16 
Aus der Liebe gerathen wir Bier in den Haß; aber 

er bat ebenfo wenig wie jene bier einen wirklichen Dichter 

erzeugt. An Oefinnungstüchtigleit und Tapferkeit fehlt 
es nicht. Kgenter führt feine drei poetifchen Fähnlein 
mit ihrer Nachhut Tampfluftig ind Weld gegen Papſt, 

Ultramontanismus, Jeſuiten und Pfaffen, er findet Ieg- 

tere auch im proteftantifchen Lager und begeht dabei die 

denfwilrdigen Verſe (©. 135): 

Der Sofua Bismard und Joſua Kuad, 
Sie jhoben die Sonne nun gar in Sad, 
Und nur ihre eignes Lichtfabrifat 
Beleuchtet Heute den Preufenflaat! 

Mitunter nehmen diefe in oft unmöglichen Reimen 
und Rhythmen fi) bewegenden Strophen einen Anlanf 
wenn nicht zur Poeſie, doch zur Rhethorik in Herwegh'⸗ 
ſchem Stile und fchreiten in ber That gepanzert einher, 
z. ©. in „An mein fchlagfertiges Heer” (©. 1): 

Ziehe Hin, mein muthig Heer, 
Schwing das Schwert und wirf den Speer u. |. w. 

Sewöhulich ift e8 aber nur verfificirte Brofa, gereim- 
ter Reitartilel eines Parteiblattes. Wir erlennen eine 
polemifhe Poeſie an, wir geftatten ihr Derbheiten, 
Hyperbeln und Cynismen, wenn fie ſich als etwas Ge- 
wolltes, zu künftlerifchen Sweden Berwenbetes darftellen; 
doch Bier ift es meiftens ein rohes Schelten und Schim- 
pfen im Bierbankton, defien Monotonie nur felten durch 
eine ſchwungvollere Strophe, eine fchlagende Wendung 
und ein poetifches Bild unterbrochen wird; die Trivialität 
finft dabei mitunter zur Gemeinheit herab, fiehe: „Ein 
boffuungsvoller Seminarift”, ein Gedicht, deſſen fünfte 
Strophe als Beleg zu citiren wir aus Anftandsrüdfich- 
ten unterlafien. 

Der Berfaffer ift übrigens Tem abftracter Declama- 
tor, er greift ins Leben frifch hinein und fest, an Ber- 
ſbnlichkeiten und Zeitereigniffe anfnitpfend, alles in Scene, 
was nur die Journale von nltramontanen Schandthaten 
enthüllen, nur will’8 wicht im ben Ders hinein und geftaltet 
fich nicht poetiſch. Kin Pamphlet in Proſa würde ihm bei 

90 * 


. 3. Egenter. 
Gn s 





716 


feinem Eifer ohne Zweifel viel beffer gelingen und mit 
Johannes Scherr an Kraftausdriiden wetteifern. Warum 
benn Berfe? weshalb fol denn die arme dentſche Sprade 
fir die Sünden ber Jeſuiten und bes Papftes bien, 
wie (wir greifen blindlings aus der Fülle von Beifpielen 
heraus) fie e8 S. 79 thnt: 

Rapoleon ſelbſt, der getreuefle Sohn, 

gut ab vom Beiligen Vater, 

r wird im Bund mit Italien 
Ein grenlicher Attentater. 


3. Das Mädchen aus Böhmen. Idylliſches Epos von I. Rein⸗ 
tens. Trier, Zins. 1870. 8. 12 Nor. 

Bom Flirrenden und Mappernden Sambentritt gewapp- 
neter Lieder gehen wir zum ruhigen Gleis idyllifcher Hexame⸗ 
ter über. Ort der Handlung im erften und legten Gefange:: 
das Ufer des Rheins, im zweiten: Böhmen; Zeit: das Jahr 
1866 beim Ausbruch des Kriege zwiſchen Preußen und 
Defterreih. Gottfried, der Sohn eines wohlhabenden 
Müllers und Ortsvorſtehers zieht als preußifcher blauer 
Hufar ind Feld und wird in der Schlacht von Sadowa 
durch eine öfterreichifche Kugel am Beine verwundet, fein 
Pferd geht mit ihm durch und wirft ihn vor dem letzten 
Haufe eines einfamen Dorfs zu Boden. Die Bewohnerin 
derfelben, Marianne, die Schweiter eines in ber öfler- 
reichifhen Armee in Italien dienenden Arztes, nimmt den 
durch Blutverluft Erſchöpften hülfreich auf und pflegt ihn, 
es entwidelt fich ein zartes Verhältniß, in bem fi, wir 
fehen es voraus, zwei feinblide Stämme wie in ber 
„Minna von Barnhelm” verjühnen werben. Indeß bricht 
bie Cholera aus, und da Frieden geſchloſſen ift, räth 
Marianne dem Gottfried, heimzufehren, und entſchließt 
fih, da er nod ihrer Hülfe bebürftig ift, ihm auf der 
Eifenbahn bis an den Rhein zu begleiten. Sie wird im 
Haufe der dankbaren eltern als Zochter aufgenommen 
und ſetzt bie Pflege des Genefenden fort; aber jehend, 
daß die Mutter ihn mit einer reichen Nachbarstochter zu 
verheirathen wünſcht, entſchließt fie fi mit brechendem 
Herzen zur Flucht. Darauf tritt die Kataftrophe ein, es 
fommt, wie im Goethe’fchen Idyll, zur Erklärung zwifchen 
den Liebenden und Gottfried befiegt den Wiberftand der 
eltern. Die ohne große Mühe erfundene Handlung ift, 
wie man fteht, fehr einfach, genügt aber zu einem Idyll. 
Die Durchführung derjelben madt in ihrer anjpruche- 
lofen Natürlichfeit und ruhigen Entfaltung einen wohl⸗ 
thätigen Eindrud. Die Charalteriftil der handelnden 
Perfonen, beſonders die der Aeltern, hätte wol fchärfer, 
inbividualiftrender fein können, ein Anſatz ift dazu ge⸗ 
macht; vom edeln Liebespaare verlangt man dies im 
einem Idyll weniger; daflelbe konnte aber bei der Kata⸗ 
ftrophe ein tieferes Pathos entfalten, die Sitnation war 
dazu angethan. Der Hiftorifche Hintergrund gibt, wie 
in „Dermann und Dorothea“, das ale Mufter überall 
durchblidt, dem Ganzen eine höhere Bebentung: die 
Stimmung des Volks beim Ausbruch des Kriegs, ber 
furz angedentete Feldzug, die Zuſtunde in Böhmen, das 
Leben auf der Mühle find lebendig gemalt und wol zum 
Theil eigener Anſchauung entnommen; auch die Natur⸗ 
bilder find ſtimmungsvoll und ber Haltung bed Ganzen 
entfprecyend; ber tdyllifch-epifche Charakter ift überall, 


befonder8 auch in Sprade und Handhabung des meift 


Heimifhe und fremde Dichtungen. 


gut gebanten Hexameters mit feinen nur ſparſam verwen⸗ 
beten Trochäien, innegehalten. 

Die Schlußworte diefes nicht bedeutenden, aber ge- 
junden und anfprechenden Gedichts find folgende, fie 
bezeichnen Geift und Sinn bes Ganzen: 

Amen, fagte der Greis, nud du halt ewig in Ehren, 


Gottfried, ewig das Mädchen, das Leben und Liebe bir ſchenkte, 
Denke mit Dank an die Tage des Leine, das jüngſt in bem 


du 
Duldeteſt, wahrlich, es blühte dir Freude daraus für die 
Zukunft! 
Sieh, wenn die Saat einſt wächſt, bie fern anf böhmifchen 
eldern 


Preußens fchlachtengewaltiges Bolt nun fäte, wenn weithin 
Deutfhlands mächtige Stämm’ ineinander die Kronen ver- 


ſchlingen, 
Stolz alsdann ſich ihr Wipfel erhebt hoch über die Erbe, 
Ueber die Throne der Welt, mit Frieden Europa beſchattend, 
Sieh, dann darfſt du mit Stolz zu der Gattin bliden und 


IH au fand an dem Werk, vang ee die herrlichſten 
Ööter 


Dentſchlande mit und gewann zugleich mir jelber das Bee, 
Wie es dem liebenden Mann auf Erben das liebende Weib if, 


4. Georginen. Poetifhe Proben, erfonnen und gelungen am 
n und am Pruth von 9. G. Obriſt. Gernowitz, 
Buchowiecki n. Comp. 1870 


Weshalb diefe erfonnenen und gefungenen Proben 
Seorginen heißen, ift nicht erfichtlich. Sagte der Ber- 
faffer e8 nicht in der Dedication, man fähe es bald, daß 
es Erftlinge, alfo keine Herbft-, jondern Frühlingsblumen 
find. Der Inhalt ift fo unbedeutend wie bei Elliſſen, 
aber es zeigt fih mehr Formtalent und Geſchmack, ber 
Liederton ift meiſtens getroffen, Rhythmus und Keim 
correct und rein, aber man hat nur felten den Eindend, 
baß die Lieder mit innerer Nothwendigkeit dem Gemüth 
entfprungen find; es ift ala habe der Verfafſer fi in 
allerlei lyriſchen Weifen verfuchen wollen; daß ihm das 
ohne bedeutfamen Inhalt gelingt, erjcheint uns für feine 
poetifche Zukunft bedenklich, weniger Form und mehr 
Gehalt verjprähe mehr. Wir hatten nad dem Titel 
gehofft, auf etwas Nationales und Eigenthümliches vom 
Ufer des Pruth und des Inn zu ftoßen, fanden uns 
aber getäufcht, die Lieder hätten au am Rhein und au 
ber Weſer gedichte fein können, fie zeigen weder nationale, 
noch perfönliche Individualität. Indeß ift, wie der Um⸗ 
flag befagt, der Reinertrag für fleißig Studirende einer 
Realfchule beftimmt; möge er dafür erſprießlich fein uud 
damit dem Büchlein eine raison d’&tre geben; jeden- 
falls iſt das Intereffantefte daran, daß es ans der 
Bulowina kommt. 

5. Gedichte von Franz Othen. Wiesbaden, Limbarth. 1870. 

Gr. 16. 1 Zhlr. 20 Ngr. 

Dies find Feine vom jugendlichen Beröffentlichungs- 
drang zu früh zufammengerafften loſen Blätter, bier Liegt 
ein Stüd Leben vor, hier ift etwas Gereiftes, mit Sorg⸗ 
falt Gefeiltes und Zufammengeftelltes. Ein edles männ- 
liches Streben, ein tieffittlichee Wollen, eine ſelbſtgewiſſe 
Perfönlichkeit tritt uns hier entgegen; body verrathen die 
meiften der Gedichte, die in formaler Hinficht tadellos 
find, mehr den Denker als den Dichter. Reflexion, 
Lebens⸗ und Selbſtbeobachtung find überwiegend, umb 





Heimifhe und fremde Dichtungen. 7117 


nur felten gelingt e8 dem Berfafier, wie oft er auch ben 
Anfag dazu nimmt, dns Gedachte plaftiich zu geftalten, 
das Empfundene mufilalifch austönen zu laflen, ex bleibt 
dabei meift auf halbem Wege ſtehen. Das Bild und bie 
Situation, womit er beginnt, werben nicht concret und 
verlieren ſich in die Breite der Reflexion; abftracte, nicht 
immer klar ansgebrüdte Gedanken und unverfländliche 
Anfpielungen greifen ftörend hinein und wirken ermüdend. 
Den Liedern fehlt das Knappe, Skizzenhafte und Volls⸗ 
thümliche, fie klingen felten vein und melodifch aus, jelbft 
das, welches er ausbrüdlih „Lied“ überfchreibt, ift fein 
ſolches. Indeß gelingt ihm doch hier und da ein glüd«- 
licher Wurf, 3.2. in: 


Einer Gefallenen. 
Des Bades Wellen gleiten 
Dahin durch Wiefengrün 
Und fehn im Glanz der Sonne 
Die Heinen Blumen blühn. 


Und eine Bfume ftehet 
Am Ufer zart und ſchön 
Und neiget fill die Krone 
Und lauſchet dem Getön. 


Die grlinen Stengel küffen 
Die Wellen blendenb rein, 
Dann fingen fie die Blumen 
In fühes Träumen ein. 


Und belle Tropfen fpringen 
Empor im kecken Tanz 
Und hängen an der Krone 
In wunderlichtem Glanz. 


Sie ſinkt und taucht herunter 
Ihr Helles Angefiht — 

Da raufchen wild die Wafler, 
Der zarte Stengel bricht, 

Sie treibet rafch von dannen, 
Und fern am dürren Strand 
Da werfen fie die Wogen 
Berrifien an bas Land. 

Noch immer fpielen Wellen 
Am Ufer hin nnd ber, 

Dih, arme Meine Blume, 
Did) grüßet keine mehr. 

Bon tiefem Ernfte zengen die Zwiegeſpräche, bie er 
mit fi Hält; aber Gegenftand und Beranlaflung treten 
nicht Mar heraus, man müht fich dabei umfonft mit Ent- 
räthfelung bes Halbverhüllten ab. Aehnlich iſt es bei 
feinen Bliden in die ihn umgebende Welt in drei Ab- 
fhnitten: „Aus dem Leben”, „Wanderungen“ und „Ber- 
mifchte Gedichte‘, die jedoch manches Bemerkenswerthe ent» 
balten, 3. B. „Moberner Götzendienſt“, „Aprös nous le 
deluge”, „Zeichen ber Zeit‘, „Ein welles Blatt”, „Ruhe“, 
„Der Dergwald”. Bezeichnend für des Verfaſſers tüch⸗ 
tige Perfönlichkeit ift das kräftige, die Strophe mit einem 
bolltönenden Refrain abfchliegende Gedicht „Stolz“: 

Wie hoch des Lebens Flut and fchmwillt, 
Doc höher Hebe bu dein Haupt, 
Erheb’ es ſtolz, ein Bötterbild, 

Dem nichts die freie Würde ranbt. 
Berſchwindet in dem Strom ein Gut, 
Das fi dein Herz zur Luft erlor, 

Laß fahren! es verſchlingt die Flut 
Nur den, ber bang ſich ſelbſt verlor. 


Ya ähnlichem Geifte find „Verloren“, „Traum und 
That”, „Bannfpruch” und mande ber wohlgeformten 
Sonette gedichtet. 

Eine fiegesgewiffe Stimmung fpricht aus „Der Lebens⸗ 
baum“, von dem bier Anfang und Schluß fliehen möge; 
es ift Poefle darin: 

Mein Geift erblidt in nädhtlihem Traum 
Mit prangenben Blüten den Lebensbaum, 
Aus den Wipfeln erfchallt der Bögel Gefang, 
Dod am Srunde hallt e8 dumpf und bang: 
Bir nagen! Wir nagen! 
Doch wähft der Baum und firebet fühn, 
Die Frucht will reifen, die Knoepe blühn, 
So zeuget er ihn von des Lebens Gewalt 
Und fpottet des Rufs, der unten erfhallt: 
Wir nagen! Wir wagen! 

. Die dem Fortfchritt, der Humanität und Aufklärung 
zugeneigte Gefinnung bes Dichters zeigt fich in der „Ge⸗ 
benftafel beim Jubiläum eines Volksſchullehrers“, nur ift 
die Tafel zu lang und zu breit. 

Conciſer fpricht fich feine Auffaffung der jeßigen poe⸗ 
tifhen Richtungen aus, 3. B. in „Auf ein Liederbuch“ 
und in „Deine und feine Nachfolger”, das als charakteriſtiſch 
mitgetheilt zu werden verdient: 

Man liebt es, Ted zu fpielen 

Mit Liebesinft und Leid, 

Seit Hingende Zügen geflelen 

Der bochgebildeten Zeit. 

Seitdem lat man in Thräuen, 

Dann wird das Spiel pilant, 

Die feinen Leute gähnen 

Sonft zu dem Liedertand. 

Doch wen Natur zum Didier, 

ra heiligen Dienft geweiht, 
at einen höhern Richter 

ALS diefen Geiſt der Zeit. 

Ihm if ans Herzenstiefen 

Das Wort nit Spiel und Tand 

In fpottenden Hieroglyphen, 

Die jedem Buben belannt. 

&r wird nit in ernfle Mienen 

Berzerren fie zum Scherz, 

Der Wahrheit wird er dienen, 

Denn heilig iſt der Schmerz. 

Den wenigen epifch-Iyrifchen Gedichten fehlt der Inappe, 
volksthümliche Balladenton, fie find viel zu breit, es ift 
fhade darum, denn die Imtentionen find geiſtreich. 

Am bedeutendften ift jedenfalls der Teste Abſchnitt: 
„Sprüde und Sinngebichte”, mit dem Motto: 

Ein Spruch ift feine leichte Waare, 
Die man gewinnt in Epiel und Scherz, 
Ihn muß die Noth oft vieler Jahre 
As Frucht erſt reifen für base Herz. 

Die Dibaktil ſcheint Othen's eigentliches Feld zu fein; 
bier ſchadet's nicht, daß der Denker ben Dichter überragt, 
und bier tritt uns, freilich neben einigem Gewöhnlichen, 
viel Tiefgebachtes und Feinbeobachtetes in wohlgeformten 
Deren entgegen, deuen es jedoch zuweilen an guomifcher 
Concentration und Kürze, an der epigrammatifchen 
Spite fehlt. 

Wir zweifeln, daß biefe über 300 Seiten ftarfe 
Gedihtfammlung, die vortrefflich gedrudt und glänzend 
ausgeftattet ift, fich ein großes Publitum erwerben werde, 





118 Heimifhe und fremde Dichtungen, 


Dan & ift fie nicht angetban, ben umſchwärmten Putztiſch 
wird fie nicht zieren; aber wir fühlten und gebrungen, 
der Achtung, die fie uns troß ihrer poetifhen Mängel 


einflößt, Hier einen Ausdrud zu leihen. 


6. Die Rofe des Libanon. Epiſche Idylle in drei Gejängen 
von Ferdinand Hollandt. Braunfhweig, Sievers u. 
Comp. 1870. 16. 1 Thlr. 

Marie, die Schwefter des Lazarus, „ein Mädchen 
ſchön wie aus dem Tabellande‘ geht in ben Walb 
und bleibt entzückt flehen, benn während ihr „Haar 
im milden Abendwinde fpielt und den Schwanenbufen 
in Naht hüllt“, flieht fie unter „jenen Bäumen ben 
Götterjüngling träumen”. Diefer Oötterjlingling, ber auch 
der fchöne Schläfer, der Götterſchwan genannt wird, ift 
Jeſus. Vorläufig gleicht ec aber dem Endymion, wie 
diefe Strophe befagt: 

Und Hold zu Shaun! voll Sehnfucht und voll Zagen, 

Halb Üherrafcht, halb lächelnd fteht fie da, 

So lächelt?’ einf im jenen goldnen Tagen 

Boll ſüßen Wehs die keuſche Cynthia, 

Aus fie herab vom folgen Drachenwagen 

Auf Bium’ger H55’ den ſchönen Schläfer ſah. 

Ein keifer Schmerz fpielt fanft in ihren Zügen, 

In Träumen ſcheint fi) Herz unb Haupt zum wiegen. 

In den folgenden Strophen wird ber Beginn des 
zarten Berhältniffes, zu defien Ausmalung wenige ein⸗ 
fache Vibelftellen dem fchönfeligen Dichter Veranlaffung 
gaben, gefchildert; wir citiren fie, damit man ums nicht 
ber Berleumdung zeihe, wenn wir dieſe epifche Idylle, 
die zu analyfiren ung der Kaum fehlt, fir eine Geſchmacks⸗ 
verirrung erklären: 

Und als fle jett mit jungfräulihen Zegen 

Sich unſchuldsvoll in holder Aumuth neigt, 

Als wolle fie deu Schönen Schläfer fragen: 

Iſt's auch kein Traum, der meine Sinne täufcht? 

(Reimt mit: neigt.) 

Da mahnt den Herrn, die Augen aufznfäjlagen, 

Ein leifes Web, das aus dem Herzen fleigt, 

Und Traum und Schuierz und alle Bilder fliehen 

Um fchöner jetzt im Leben aufzubfühen. 

Ha, wie jetzt in den engelgleihen Zügen 

Der Jungfrau Lieb’ In holde Scham zerrinnt, 

Wie Schwänen glei des Buſens Wellen fliegen 

Und man den Schlag bes Herzens fafl vernimmt, 

Wie ſtrahlend jegt, um alles zu beflegen, 

An ihrem Blick die helle Seele ſchwimmt, 

D holde Scham, o reizendes Verbrechen, 

Wenn Wang’ und Blick des Herzens Sprache ſprechen. 

Wir müſſen die Liebhaber einer ſolchen Vermiſchung 
bes Heiligen mit dem Profanen, des Sinnlichen mit dem 
Geiſtigen auf das ſchön gefchmüdte Büchlein jelber ver- 
weiſen; auf uns bat die verſchwommene, fublimixte, ſüß⸗ 
lich fromme Empfindſamkeit, die ſich im fchönklingender 
Sprache ohne Keru und Kraft gefällt, einen wiberwärtigen 
Eindrud gemacht. Die Berfe find übrigens glatt und, 
mit einigen Ausnahmen, nicht übel gebaut, fie erinnern 
an Lie Stangen von Ernſt Schulze in „Cäcilie“ umb „Die 
— Roſe“, üben aber eine uarkotifche Wirkung ans 
unb Iullen den Lefer in einen gefühlefeligen Dufel ein. 
7. Das Gohelich, ein dramatiſches Gedicht, Metwifch bearbeitet 

von Heinrih Stadelmann. Mit einem Titekbilde von 

Zulius Schnorr. Eichſtädt, Krüll. 1870. 16. 10 Ngr. 

Dies einer ühnlichen Richtung entſprungene ra 

ſchön geſchmückte Büchlein erweckt aus gleiche 


denlen. 





Inwiefern eine Dramatifirung bes Hohenliedes wtögisd 
uud flatthaft ift, und inwiefern, dies zugegeben, die Ein⸗ 
theilung in Acte («8 find deren fogar fee), die Orte 
beftimmung der einzelnen Ecenen und bie Rollenveriheilung 
paſſend und die übrigens wohlgereimte Paraphrefirung 
des Urtertes entſprechend ift, mögen die Thenlogen beur- 
teilen. Bir, denen ber Luther'ſche Text genligt, Tönen 
ſolchen Berfchönerungen und Mobdernifirungen feinen Ge⸗ 
ſchmack abgewinnen. Wenn ber Berfafler in feiner Wid⸗ 
mung an ben befannten Dichter Gerok fragt: 

Doch wer mit frommen Sinnen 

Dies Lied der Liebe lief, 

Ob nicht ein höhres Minnen 

Sid feinem Geift erſchließt? — 
fo fcheint uns eher das Gegentheil davon wahrſcheinlich, 
denn bei biefer opernhaften Imfcenirung kommt erſt recht 
bie weltliche Erotik des Ganzen zu Tage. 


8 Sämmtliche Idyllen des Luis be Camoens. Zum erflen 
male dentfh von & Schlüter nd W. Stord. Mänfer, 
Auffel. 1869. Gr. 16. 1 The. 10 Nur. 


Der größte und auch wol nur einzige große Dichter 
der Portugiefen ift uns in der bebentendften feiner Schö- 
pfungen, in den „Luflaben” jchon feit länger durch die vor⸗ 
treffliche Donner’fche UWeberfegung zugänglich gemacht 
worden. Ebenſo gab uns Arendtſchild durch finngetreue 
und formgemwandte Mebertragung feiner Sonette (Leip⸗ 
jig 1852), ein Mittel an die Hand, des vom Schid- 
fal hart verfolgten Mannes fo vreichbewegtes inneres 
und Auferes Leben, wie es fich treu in ihnen fpiegelt, 
fennen zu lernen. Ihm ſchloß fi in edit poetijcher 
Wiedergabe einzelner Sonette und Canzonen der verftorbene 
Ruperti an. 

Einer Ueberfegung der Idyllen begegnen wir bier 
zum erften male. Der Fleiß, bie Gründlichleit und 
Sorgfalt, mit der die Bearbeiter ihre Aufgabe gelöft ha⸗ 
ben, find um fo mehr anzuerkennen, als fie fi) von 
vornherein fagen mußten, daß fie nur ein Meines Publikum 
vereinzelter Liebhaber finden würben. Die Hirtenpoefie 
bat für uns etwas Zopfiges, BVeraltetes; die Canzonen 
und vor allem die Elegien, von denen der Anhang zwei 
bringt, gewähren ſchon mehr Intereffe. Für die vorantike 
Schäferwelt, in der ſich böfifche Bildung und Tändliche 
Einfachheit vergebens zu verfchmelzen fuchen, für biefe 
kunſwoll gelehrte, fich in Antitheſen, Concettis, mythologi⸗ 
ſchen Andeutungen und räthſelhaften zeitgeſchichtlichen und 
perſönlichen —— ergehende Behandlungsweiſe, Die 
mit der Ratur des Stoffs in einen unlösbaren Gegenſatz 
teitt, Haben wir lein Organ. Diefe Eflogen und Idyllen 
gehören der Riteraturgefchichte an. Gern aber wollen wir 
bezengen, daß bie beiden verbiimbeten Berfaffer ſowol in 
den überaus gelehrten Eommentaren ald and) in ber 
Uebertragung Berdienftliches geleiftet haben, fie Haben mut 
einem Eifer und einer Singebung, der wir ein erfprieß- 
licheres Object gewünfcht hätten, große Schwierigkeiten zu 
überwinden gejucht, und meiftens tft e8 ihnen gelungen, 
der widerfpenftigen Terzinen, Ottaven und der Ganzonen- 
form mit ihrer bunten Reimverfchlingung Herr zu werben, 
freilich) mit ihnen wohl zu geftattender Anwendung bes 
männlidden Reims. Wer da weiß, was es heißt, im 
reim Ȋrmern deutfchen Idiom dem Wohllaut des fonoren 





Feuilleton. 719 


romanifhen nahlommen zu müllen, wirb ihnen gern 
einige Härten nnd verjchränfte Wortftellungen nachſehen 
und es mit der abfoluten Reinheit des Reims nicht fo 
genau nehmen. 


9. Einige lyriſche Gedichte. Polniſchen Meiftern nachgeſungen 
von Leo Ary Zuker. Leipzig, Kittler. 1869. 16. 20 Ngr. 


Hier iſt nicht über Intereſſeloſigkeit des Stoffs zu 
Hagen, bier iſt kein Misgriff in der Wahl deſſelben ge⸗ 
heben, denn in die neuere poetifche Literatur Polens 
laſſen wir uns geru einführen, es fehlt ihr nit an 
Actualität. 

Wir bedauern aber, daß es in fo unvollftändiger 
Weiſe durch „einige lyriſche Gedichte” geichieht. Der Bei⸗ 
trag ift für die Erkenntniß doch zu gering und vor allem 
zu unſyſtematiſch und einfeitig. Einige phantaftifche, ernfte 
und humoriftifche Erzählungen des bei und ſchon einge 
bürgerten Mickiewicz, feines Nachfolger im Romantifchen, 
Syrotomla, und politische Lieder Kornels Ujersli, aus 
benen der Schmerz Über den Untergang bes Landes nnd 
die Klage ber feine gefallene Größe in erjchütternden 
Weiſen klingt, machen ben Hauptinhalt des Gebotenen 
aus. Wir gewinnen bei diefer Anthologie, anf welche die 
Arbeit doch angelegt ift, wie gefagt, nur vereinzelte Blicke 
in das reiche Feld der neuern polnifchen Poefle, und, 


was fchlimmer ift, wir willen gar nicht einmal, inwie- 
weit wir polnifche Gedichte vor un® haben, denu ber 
Berfaffer macht im Vorwort folgendes wunderbare Ge- 
fländniß: „Eine Bergleihung des Gebotenen mit dem 
UÜrbilde wird zeigen, daß manches bei mir ganz anders, 
zuweilen felbft in einem völlig veränderten Lichte erfcheint, 
und auch auf mandjes Urſprüngliche und Eigenthümliche 
wird der geneigte Leer ſtoßen.“ Bei einer jo verftande- 
nen Ueberſetzungskunſt verliert die Kritit den Kompaß, ift 
ihre Fahrt zu Ende, fie kann nur noch conflatiren, daß 
bie ſprachlich⸗metriſche Behandlung eine gewifie Gewandt- 
heit verräth, daß neben gehobenen poetifchen Wendungen 
auch fehr triviale vorfommen, daß der fpringende, meift 
daktylifche Rhythmus trog feiner Lebendigkeit bald monoton 
wird und mitunter aufhört rhythmiſch zu fein, und 
ſchließlich, daß der Verfaſſer es mit ſprachlicher Correct⸗ 
heit und Reinheit des Reims nicht ſehr genau nimmt. 
Wir begegnen Formen, wie „entzunden“, „blank und blink“, 
hören „Wellen geheimnißvoll ſauſen“, leſen daſelbſt auch: 
„Unterwerfung bleibt die dann offen“, und ſtoßen überall 
auf Reime wie „büßen — miſſen“, „Iöſt — bläft“ u. |. w. 

Das Nachjfingen, mit dem ber Berfafler fein Ver⸗ 
fahren entjhuldigt, if, wie man fieht, nicht immer 
melodifh. 

Adolf Laun. 


Senilleton. 


Englifhe Urteile über neue Erfheinungeu der 
deutfhen Literatur. 

Das „‚Athenseum‘ Kat in leiter Zeit der deutfchen Lite» 
ratur ganz befondere Aufmerkſamkeit gewidmet. Außer meh. 
rern kürzern Beurtheilungen Lönnen wir heute drei eingehende 
Beiprehungen: bes „Boltaire' von D. F. Strauß, der 
„Studien und SKritilen zur Philofophie und Aefthetit” von 
Robert Zimmermann, und der „Bilder aus dem geifigen 
Leben unferer Zeit" von Julian Schmidt verzeichnen. Aus 
letzterer ſei Hier eine Stelle mitgetheilt: „Wir bemerken bier 
diefelbe Schärfe ber Analyfe, biehefke ausgebreitete Beleſenheit, 
diefefbe Genauigkeit der Kritil, wie in feinen frühern Werfen; 
wie Hr. 3. Schmidt jeboch ſelbſt in feinem Vorworte bemerft, 
fiehen einige dieſer Eigenſchaften richtiger dem Hiſtoriker als 
den Efjayiften zu, und es if fraglich, wie weit die Grenzlinie 
in der uns vorliegenden Schrift eingehalten worden if. Das 
von dem Berfaffer im allgemeinen beobadıtete Verfahren ift 
eins, welches umfaflende Anfichten faft unmöglich mad... 
Statt die Haupteigenfchaften jedes Autors zu gruppiren, nimmt 
er alle Hauptwerke berfelben der Reihe nach durch und unter- 
wirft fie einer ins einzelne gehenden Analyfe. Dabei entfallen 
ihm allerdings manche Bemerkungen von weiterreichender Be⸗ 
dentung und zieht er Häufige Beleuchtungen aus den Werten 
anderer Schriftfteller mit herein, um feine Anfichten durch den 
Bergleich zu unterflligen. Doch wenn alles dieſes geichehen if, 
haben wir zwar eine Reihe Abhandlungen über die einzeluen 
Werke jedes Autors, nicht aber eine allgemeine Charakteriſtik 
des Autors ſelbſt. Wir Lönnen jebem Werlke feine richtige 
Stellung im Berzeichniß anweiſen und deſſen relative Beden- 
tung abjhägen; ja, wir können fogar-nocdh weiter gehen, und 
das beſte Werk eines Autors mit dem beflen eines andern oder 
mehrere Werke des einen mit mehrern eines andern vergleichen. 
Do werden wir höchſtens die einzelnen Werte geprüft, nicht 
aber einen Maßſtab für die Geſammtſchöpfungen erlangt haben. 
Dies ift der Hauptfehler der Schmibt’fchen Methode, und wir 
mäffen befennen, daß fie ih in allen feinen Abhandlungen 


— 


ſichtbar macht. Sie Tann indefien von noch einem aubern 
Geſichtspunkte betrachtet werben, und man mird dann finden, 
daß fie große Weitfchweifigkeit zur Zolge hat. Wenn alle Haupt 
werfe folder bändereihen Schriftfieller, wie Sir Walter Scott 
und Lord Lutton, einzeln befproden und die Berwi 

und Charaktere eines Romans nad; dem andern dem Leſer 
förmlich vorgeführt werden, ſcheint Teine Ausfiht vorhanden 
zu fein, daß der Efjay zu Ende kommen könne Wir werden 
an eine im einer Kirche gemachte Bemerkung erinnert, ale ein 
fremder Geiſtlicher den Gottesdienft mit einer Paufe zwiſchen 
jedem Worte zu leſen anfing, und einer fi zu feinem Nachbar 
mit den Worten wendete: «Wir bleiben bier bis zum Jüngſten 

age. »"' 

Die „Saturday Review” jagt Über „Walpurgis‘' von 
Buftav zu Butlig: „Der geheimnißvolle Armenier, wel» 
der übernatlirlide Bündnifſe fließt und bie übrigen Per- 
fonen der Geſchichte nad Belieben in Bewegung ſetzt, iſt zwar 
nichts weiter als ein altes Stud Maſchinerie, das aus ber 
Rumpellammer, der e8 längft überwiefen war, wieder hervor⸗ 
ebolt worden if. Deſſenungeachtet ift es eine willfonmene 

wedfelung nad) der Geſchmackloſigkeit bloßer Photographie 
ans dem comventiomellen Leben, und ber elegante Stil Pullitz', 
ſowie der Häufig leidenſchaftliche Ton feines Dialogs würden 
fhon allein hinreichen, fein Wert vor der Maffe gleichzeitiger 
Dichtungen vortbeilhaft anszuzeichnen.“ 


Bibliographie. 

a e &. .r Unter d x Ba be ugen d B 1 
am —2R —E —* Anb am ——— A ven Sal: 
ten 1849— 1868. iſter Bd. Benezuela. Iena, Koftenodle Gr. 8. 5 Thin. 

f eder, B., National » Blionomifhe Raketen. Schleiz, Hübſcher. 8. 

% 
Liebe. Aus ben teren eines dlings. ansgegeben 
und a aem Bsemor ih ” von M. Ar e uns 3te ge Selena, 
“ [2 6“ t 75 
Ifart5, 9. 9. T. D Uige Krieg bes Jahres 1870, Ein 
Wort 4 I Bose 5 — on Rechen t und beffen et hnne um 
9* wie deren Angehörigen daheim inbbeſondere. Berlin, Groſſer. 16. 


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———— 


Commissionsverlag von F. A. BROCKHAUS in Leirzie, 


M. RENAN . 
et 
ARTHUR SCHOPENHAUER. 


Essai de critique 


par 
Alexandre de Balche, 
- 8. Geh. 15 Ngr. 

Diese Schrift gewinnt durch die darin geführte Be- 
kämpfung der politisch-philosophischen Anschauungen Re- 
nan’s vermittela der Lehren des deutschen Philosophen 
Schopenhauer für die augenblickliche politische Lage Frank- 
reichs ein besonderes Interesse. 





Verlag von Friedrich Vieweg und Sehn in Braunschweig. 
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.) 


Faraday und seine Entdeckungen. 
Eine Gedenkschrift 
von John Tyndall, 


" Professor der Physik an der Royal Institution und der Königl. Berg- 
werksschule zu London. 


Autorisirte deutsche Ausgabe, 
herausgegeben durch. 
H. Helmholtz. B 
@r. 8. Fein Velinpapier. Geh. Preis 1 Thlr. 10 Sgr. 





Derfag von 5. A. Brochfans in Leipzig. 


Gefpräde mit Goethe 


in den fetten Jahren feines Lebens. 


Bon Johann Peter Ihermann. 
Dritte Auflage. 
Drei Theile. 8. Geh. 3 Thlr. Geb. 4 Thir. 


Edermann’s Geſpruche mit Goethe‘ bilden, belauntlich 
ein unentbehrlihes Supplement zu Goethes Wer- 
ten; mr bier findet fi über vieles, was in feinen Schriften 
und feinem Leben bes Nachweiſes bedarf, bie richtige Erfärung 
aus bes Dichters eigenem Munde. Das Werk hat daher flets 
den Goethe · Forſchern als quellenmäßige Autorität gegolten und 
iſt auch in faft alle europäifhe Sprachen (jelbft ine Türkifhe) 
Überfegt worden. Doc; beeinträditigte bisher teils der ‚hohe 
Breis (6 Thle.), teils der Umfland, daß der dritte Theil in 
anderm Verlag als ber erfle und zweite erfchienen war, bie 
allgemeine Verbreitung des Werks im größern Publikum. Nadj- 
dem e8 mum gelungen, alle drei Theile im einem Verlag In 
vereinigen, wurde borliegende vollfändige nnd um die 
Hälfte wohlfeilere dritte Auflage bergeftelt, bie kein 
Befitger von Goethe'a Werten fich anzuſchaffen verfäumen follte. 

Einzelne Theile dieſer dritten Auflage werden nicht ab» 

jegeben. Bon der erften Auflage aber iſt nod eine Anzahl 
are des dritten Theil vorhanden, welche den Be⸗ 
der erfien beiben Theile einzeln zum ermäßigten 
ai von 1 Thlr. (fatt 2 Thlr.) geliefert werben. 


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Dertag von 5. A. Brodfans in Leipzig. 


Lehrbücher der deutschen Sprache 
Franzosen. 


Ahn, F. Nouvelle möthode pratique et facile pour apprendre 
la langue allemande. 8. 
Premier cours. 29° ddition. 8 Ner. 
Second cours. 16° &dition. 10 Ngr. 
Troisieme cours. 10° ödition. 8 Ngr. 
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3°’ sdition. 8. Geh. 9 Ngr. 

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struction allemande & usage de la maison et des &coles. 
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struction allemande & l’usage des familles et des &coles 
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Deutsch - französische Wörterbücher, 


Kaltschmidt, J. H. Petit Dietionnaire complet francais- 
allemand et allemand-frangais. — Bolftändiges Taſchen⸗ 
Wörterbud) der franzöffgen und beutfcen Sprache. Sie- 
bente Auflage. 8. Geh. 20 Ngr. Geb. 25 Ner. 

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serte Auflage. In drei Abtheilungen. 8. Cart. 2 Thir. 
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Erste Abtheilung: Frangais-allemand-anglais. 
Zweite Abtheilung: English, German, and French. 
Dritte Abtheilung: Dentsch-französisch-englisch. 





Vorstehende Lehr- und Wörterbücher, allgemein als 
vorzüglich anerkannt und zum Theil bereits in zahlrei- 
chen Auflagen erschienen, sind durch alle Buchhandlun- 
gen des In- und Auslandes zu beziehen, 





Berantwortliger Redacteur: Dr. Eduard Brodhans. — Drud und Verlag von 5. A, Brochhaus in Leipzig. 


Blätter 


für 


literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottfdall. 


Erfcheint wöchentlich. 


Inhalt: Reifeliteratur, — Kleine Schriften zur altbeutfchen Literatur. 


—e Ar. 46, Pi 


10. November 1870, 


Bon Reinhold Bechſtein. — Eine neue Dichtung von 


Adolf Böttger. Bon Rudolf Gottſchal. — Zur Dämouologie. Bon Morig Carriere. — Senilleton. (Notizen) — Anzeigen. 





Reifeliteratur. 


Durh die Vollendung des curopäifchen Eifenbahn- 
netzes — wenigſtens in Beziehung auf die Hauptlinien — 
ift e8 möglich geworden, vom Herzen Deutfchlands aus 
jede Hauptftadt unfers Welttheils, mit einziger Ausnahme 
vielleicht von Ronftantinopel und Liffabon, binnen höchftens 
drei Erdrotationen zum erreichen. Nicht mehr blos Paris, 
London, Kopenhagen, Bern und Zürich, auch Edinburgh 
und Stodholm, Petersburg, Mosfau, Neapel und Madrid 
liegen innerhalb des Bereichs einer Ferienreiſe. Die treff- 
lihe Einrihtung ber Rundreifebillets, welche ohne Zweifel 
bald noch eine größere Ausdehnung erfahren wird, ver- 
mehrt durch ihre Billigkeit und zumal durch die große 
Bequemlichkeit, die fie bietet, bie DVerlodungen für bie 
reifeluflige Welt um ein Bedeutendes. Es wird bald 
auch in Deutfchland zu den Seltenheiten gehören, daß 
ein gebildeter Mann nicht mwenigftens Paris, London und 
Italien gejehen bat. Daß diefe Erleichterung des Rei⸗ 
jens auch auf die Keifeliteratur einen bedeutenden Einfluß 
üben muß, Tiegt auf der Hand. Die nädjfte Folge in 
biefer Beziehung ift eine von Jahr zu Jahr zunehmende 
Ueberſchwemmung des Markts mit Tonriftenfchriften. Es 
ift eine gar zu angenehme Beichäftigung, wieder in feinen 
vier Pfählen angelangt, die „Reiſeeindrücke“ und „Reiſe⸗ 
bilder” noch einmal an fich vorüberziehen zu laſſen, um 
diefe Bilder dann in möglichft elegante Rahmen gefaßt 
dem Publitum vorzulegen. Dagegen ift nichts zu machen, 
und der Kritiler mag ihnen in Gottes Namen ein „laissez 
passer“ mitgeben, ſodaß fie ſich als unſchädliche Unter- 
baltungsleftüre Iegitimiren können, wenn fie chen nichts 
Weiteres beanfpruchen als die fubjectiven Eindrücke des 
Geſchauten und Erlebten wiederzugeben. Auch an einem 
belehrenden Elemente in mehr oder minder wichtigen Bei- 
trägen zur Kenntniß der ſiets wechjelnden focialen, kirch⸗ 
lichen und politifchen Zuftäinde der europäifchen Bölfer 
wird e8 den beſſern und bedentendern von ihnen nicht 
fehlen. Was uns dagegen billigermweife erfpart werben 

1870, «6. 


follte, find langathmige Befchreibungen hundertmal ge- 
ſchilderter Gegenftände, fei e8 in Form trodener ftatifti- 
ſcher Aufzählung ihrer Eigenschaften und Merkmale, oder 
in enthuflaftifcher Schönmalerei. Wir verfennen dabei 
nicht, daß es aud) in Europa noch manche bisher ım- 
beachtete Gegenden gibt, welche auch derartige Reiſeſchrif⸗ 
ten rechtfertigen, ja nothwendig machen. Selbſt in um- 
ferm deutſchen Vaterlande find in diefer Beziehung noch 
bier und da Entdeckungen zu maden, mehr noch in den 
außerhalb. der großen Route liegenden Gegenden der drei 
füdfichen Halbinfeln, am meiften vielleicht im Oſten des 
Welttheils. Um fo energifcher aber muß die Kritik dagegen 
proteftiren, daß und der Dom von Mailand, der NRialto 
und der Martnsplag, der Palaft Bitti und die Caſcinen 
von Florenz, die Petersklirche und das Coloffeum, ber 
Befun und Pompeji, die Alhambra von Granada und 
die Giralda von Sevilla, wenn uns gar Paris und Fon: 
don, Petersburg und Stodholm, oder Lauterbrunnen und 
die Wengernalp immer von neuen in allen Einzelheiten mit 
einer and Naive ftreifenden Nichtbeachtung alles deſſen, was 
ſchon unzähligemal und oft weit beſſer, gründlicher und 
anſchaulicher über diefelben Gegenftände gejagt worden 
ift, vorgeführt werden. 

Wenn in der gelehrten Welt wie in der periodifchen 


Brefie darüber Klage geführt wird, daß ſich die Schrift: 


fteller zu oft einander aus- und abfchreiben, fo möchte 
man in der Touriftenwelt vielmehr darüber Magen, daß 
die Autoren einander gar nicht kennen und leſen. Es 
bat etwas geradezu Komiſches, wie oft man feit vielen 
Jahren ganz befannte Dinge mit großer Emphafe als 
neue Entdedungen der glüdlichen Touriften behandelt und 
mit der größten Selbfigefälligkeit und Weitläufigfeit be- 
ſchrieben findet. 

Anders verhält es ſich mit der Verſchmelzung ber 
durch Autopfie gewonnenen Anſchaunngen mit dem bereits 
vorhandenen Material zu einem abgerundeten und farben- 


91 


122 


hellen Geſammtbilde. Mit Geſchick und gemifienhafter 
Sorgfalt ausgeführt, werden dergleichen Schriften ſiets 
dankenswerthe Bereiherungen unferer Literatur fein. Wir 
tönnen bei biefer Gelegenheit nit umhin, unfere Ber- 
wunderung barüber auszuſprechen, daß bie vergleichende 
Geographie, wie fie ſich feit Karl Ritters Vorgang in 
der Wiffenfhaft Bahn gebroden hat, von den Touriſten 
faft ganz unberüdfichtigt gelaflen wird. Und doch würs 
den aus einer einigermaßen forgfältigen und gründlichen 
Bergleihung des Charakters fremder Gegenden und Böl- 
fer, ihrer Sitten und Einrichtungen untereinander und 
mit ben Heimifchen fi noch wichtige und interefjante 
Refultate für die Geographie wie für die Ethnographie 
erzielen laſſen, wenn ſich auch aus der Kenntniß ber 
eivilifirten Nationen feine Grundlage für die vergleichende 
Pſychologie ergeben dürfte, wie Adolf Baflian fie von 
einer comparativen Schilderung der Naturvölter erhofft. 
Aber freilich, bei der Flüchtigkeit, mit der bie meiften 
Zouriften die Welt, die fie hernach zu ſchildern unterneh- 
men, durchfliegen, fei es allein oder als Mitglieder einer 
Stangen’shen Geſellſchaftsreiſe, if einer folden tiefern 
Auffaffung von vornherein ber Boden entzogen. Bon ben 
anten angeführten Schriften bietet mur das Warsberg'ſche 
Bud in biefer Beziehung einige Ausbeute. 

1. Benebig. Gtreiflicter aus Vergangenheit und Segment. 

Leipzig, Dunder und Humblot. 1868. Gr. 8. Nr. 

Venedig iſt lieblich gleich einer Blume, die auf den Waffern 
ſchwimmt, und doc fo herrlich, fo voll erhabenen Ernſtes — 
es ift einem majeflätiichen, in Marmor gemeißelten Epos zu 
vergleichen, welches Kirchen, Baläfe, Häufer, auch das ärmfle 
vol malerifgen Reiges, mit reihen Wellen umfdlieft, ‚wie eine 
Dichtung in rhythmiſchem Wohllaut die Einzelgedanten zu Ber- 
fen fügt — Menichenalter, Jahrhunderte find die Strophen, 
begleitender Harfenton ift die flaunende Bewunderung der Welt, 
der mit den letztem Accorden um fie trauert. _ 

Mit diefen Worten, denen eine nicht minder begei- 
ſterte Apoftropge an die ehemalige Königin der Meere 
folgt, leitet der anonyme Berfaffer feine Schrift ein, ein 
feltfames Durdjeinander aller möglichen Notizen aus dem 
Gebiete der Statiſtik und Gefchichte, der Kunft und des 
Lebens. Das Büchlein entHält auf 134 Seiten zwar eben 
nichts Neues — bei feinem Gegenftande vielleicht cin un« 
billiges Verlangen —, aber doch ein reiches, auf viel- 
feitigem Studium beruhendes Material und manchen guten 
Gedanken. „Leider ift es dem Verfaſſer nicht gelungen, 
feinen Stoff fo zu bewältigen, um feine Schrift als ein 
organifches Ganzes erſcheinen zu laſſen, während ihm doch 
auf der andern Seite ganz das fubjective Element, bie 
friſche Darftellung des Selbfterlebten und Gelbfterfahrenen 
abgeht, die und auch weſentlich Belanntes in einem neuen 
Lichte erfcheinen läßt oder durch anſpruchsloſe Harmlofig- 
keit die Kritit entwaffnet. Nehmen wir dazu die im 
Gegenfag zu der ſchwungvollen Einleitung meiſt trodene, 
ich möchte fagen, gefhäftsmäßige Darftellung, die ab- 
gebrochene, etwas fteife und reizlofe Schreibweife, fo ift 
zu fürdten, daß die meiften Leſer troß des reichen In- 
halts das Buch ziemlich unbefriedigt und verbrießlich aus 
der Hand legen werden. 

Seiner ganzen Auffaffung der geſellſchaftlichen, Hiftori- 
fen und politifchen Verhältniſſe wie feiner Ausdruds- 
weife nad; ſcheint der ungenannte Berfafler der reactionär« 





Reiſeliteratur. 


ultramontanen Seite ber norddeutſchen Ariſtolratie an- 
zugehbren, die es noch weniger als bie Deſterreicher ſelbſt 
derſchmerzen kann, daß „ber Doppelaar, auf deſſen lai- 
ſerliche Rechte!) geſtützt, Venedig würdevoll vor aller 
Welt hätte ſtehen können“, nicht mehr die hesperiſche Halb- 
infel beherrſcht, und die Stadt beffagt, daß fie zur „Wolle- 
magd“ herabzufinfen droße. Ueber die Italiener urtheilt 
ex mit etwas einfeitiger Härte und zuweilen nicht ohne 
mit ſich felbft in Widerſpruch zu geratfen: 

Der Staliener iR Patriot, eim fenriger, feine wichtigften 
Intereffen in fanatifher Begeifterung vergefjender Schwärmer, 
bei deffien republifanifer Gefinnung nur das eine von Einfing 
iR, daß feine Eitelteit rüdfichtelo® nach Aufehen und Hervore 
treten, nad) Bemerftwerden firebt. Aufopferung und Pflicht» 
gefühl, Zurüdfiellen des eigenen Ichs aus wahrer Baterlands- 
tiebe fehlen aber... Wo e8 galt, felbf aufzutreten im freie 
heitetampfe, haben die Benetianer, wie die Staliener Überhaupt, 
fi) feine Lorbern erworben; nad dem Abmarſche der Südarmer 
den Defterreihern weit Überlegen, Garibaldi mit 30000 Mann 
gegen 6000, fonnten fie biefelbe Armee, melde im Morben 
eine fo fürdjterliche Lehre erhalten Hatte, ſowenig zurüidrängen, 
al6 die Flotte, ihr ganzer Stolz, dem Meinen Gegner gemadi- 
fen war. Wol ift die Zeichnung des mailänder Witsblattes 
gerechtfertigt, wo an den Flaggentöden bes Markusplatzes die 
itafienifche Flagge Iwiſchen der preußifhen und franzöfifchen, 
wie von ihnen gefhligt und gehalten, weht. 

Einer Reihe fragmentarifcher Hiftorifcher Notizen über 
den venetianifhen Abel, der des Berfaffers Jutereſſe 
natürlich in erfter Linie in Anſpruch nimmt, folgt eine 
lange Aufzäplung der Paläfte des Canal grande, Ber 
richte über Wohnung und Lebensweife, die nur längft 
Belanntes wieberholen, eine ziemlich unbedeutende Skizze 
der venetianifchen Kunftgefchichte, einige ſehr magere natur- 
geſchichtliche Notizen über bie Lagunen; zur Abwechjelung 
etwa8 aus der Chronique scandaleuse der während 
des Aufenthalts des Verfaſſers anmefenden fremden Gejell- 
ſchaft, doch ohne Nennung der Namen; dann wieder 
ſtatiſtiſche Mittheilungen über die Streitkräfte der cher 
maligen Republit, endlich eine ſummariſche Geſchichte ihres 
Berfals und Endes. 

Der Berfafier jchliegt mit dem Wunde, daß bie 
untergegangene und doch felbft im Verfall noch under 
gleihlihe Schönheit und Größe der Erhebung nicht ver 
geblich harren möge. In der That glauben wir, daß 
der Wunſch Ausfiht auf Erfülung hat, wenn auch viel 
leicht nicht im Sinne des Verfaſſers. Es unterliegt Feir 
nem Zweifel, daß, wenn Venedig öſterreichiſch geblieben 
wäre, ed unter dem niederbrüdenden Einfluffe des auf ⸗ 
Mrebenden und von dem „Doppelaar“ gehätſchelten Trieft 
allmählich ganz zu Grunde gegangen wäre. Wenn es 
dem jungen, noch um. feine Eriſtenz fimpfenden König 
reich Italien gelingt, fi von dem auf ihm laftenden Alp, 
namentlich von den Folgen der jahrhundertelangen Fremd- 
herrſchaft und Misregierumg nebft der dadurch tief ber 
gründeten Verderbniß des Volfscharakters endlich frei- 
zumaden, dann wird Venedig, zwar nicht als ariftofra 
tifche Republik, wol aber als Seefeftung und Handels 
ftadt erſten Ranges wieder einer der ebelften Steine in 
Diadem der Italia werben; freilich, eine Vollsmagd, abr 
im Dienfte der Nation Größeres leiftend, als es jemal 
in dem einer engherzigen, bes Volles Mark zweit umhe 
ausfaugenden Ariftofratenkafte vermocht hat. 








Reifeliteratur. 723. 


2. Ausflug nad Neapel und dem Normannenardipel im Som- 
mer 1867. Bon 5 randes. Detmold, Meyer. 
1868. 8 12, Nur. 

H. 8. Brandes ift ein großer Neifender vor dem Berrn. 
Bon dem Ben Nevis bis zum Mont-Berdu und ber Cumbre 
al Mulhazen, von den eifigen Tjelds Norwegens bis zum 
Aetna und dem Parnaß hat er alles gefchant, was Kunft 
und Natur dem Europäer Herrliches innerhalb feines Welt- 
theils bieten; ja, er bat fogar die alten Wohnftge der 
Jonier an der Küfte Sleinafiens, die Stätte von Troja 
und den Olymp von Bruffa beſucht. Er hat alles Schöne 
mit frifchen und empfänglichem Sinne genofjen bis in 
fein, wenn wir nicht irren, jeßt hohes Alter hinein. Eine 
ſolche Gunft des Geſchicks ift wol zu beneiden. Bierzehn 
Zauben hat er inzwifchen nad) feiner eigenen Ausbrude- 
weiſe ausfliegen lafien, um der Welt Runde zu geben, 
welche Meere feine Arche durchfegelt Habe. Wir flirchten 
allerdings, daß, abgefehen von den perfönlichen Freunden 
des Berfafiers, die Welt nicht übermäßig viel Notiz von 
ben Briefen genommen babe, die unter den Flügeln bie- 
fer Tanben hingen. Wir kennen freilich nur die Heinere 
Zahl derfelben: vielleicht daß bie, welche die Reifen in 
weniger befannte Gegenden befchreiben, des Neuen und 
Intereffanten mehr enthalten. Die vorliegende Schrift 
hätte dagegen dem Publikum wol erfpart werden dürfen. 
Allerdings mag vielen Leſern die Inſel Jerſey und ihre 
Eigenthümlichleiten in LZage, Bewohnern und Gebräuden 
noch ziemlich unbefannt fein; die Schilderung ift indeß 
viel zu ungenügend und fragmentarifch; der Aufenthalt 
bes Verfaſſers war zu kurz, feine Beobachtungen zu flüchtig, 
um ein bedeutendes Intereſſe beanfpruchen zu können. 
Wenn wir aber in ziemlich trodener und einförmiger 
Darftellung eine Aufzählung der Herrlichleiten bes Golfs 
von Neapel, die Namen ber bedeutendften Kunſtwerke des 
Diufeo Borbonico, eine Befchreibung von Pompeji, dem 
Veſuv, Bajä u. f. w. ohne da8 geringfte Neue oder auch 
nur Pikante in Beziehung auf Stoff, Auffefjung oder 
Ausführung, nur, was allerdings den Philologen verräth, mit 
nicht minder befannten @itaten ans den alten Claſſilern ge- 
ſpickt, zu leſen belommen, fo hat die Kritik wol im Na- 
men des ganzen Publiflums das Hecht, zu fragen: cui 
bono? Wie oft follen wir uns den abgedrofchenen Tert 
mit der alten Melodie und Begleitung von mittelmäßigen 
Birtuofen noch vorleiern lafjen? 

3. Bilder ans Neapel. Neifebefchreibung und Führer für 
Freunde biftorifher Forſchung. Bon Eduard Lobflein. 
Würzburg, Stabel. Gr. 8. 16 Nor. 

Bilder — eine Reſebeſchreibung — ein Führer — Ma⸗ 
terial für Freunde biftorifcher Forſchung: das heißt viel 
verfprechen und, fügen wir nad Durchleſung des 144 
Dctavfeiten ftarken Büchleins hinzu, wenig halten. Lafjen 
wir den beiden erften Aushängefchildern des Titels ihre 
Berechtigung, wiewol ed den Bildern vielfach an Abrun- 
dung und Anfchaulichkeit, der Keifebefchreibung an allem 
Reiz perfünlicher Erlebniſſe mangelt. Wie dagegen ber 
Berfafler feine Schrift im Ernſte als einen Reifeführer 
betrachten fann, ift uns ſchwer begreiflih. Nicht allein 
daß bei einem fo flüchtigen Beſuche, wie der feinige war, 
ein grünbliches Studium der Localverhältnifie,‘ das doch 
ein folder Zwed nothwendig voraudfegt, eine Unmöglich- 


feit war; nicht nur, daß er wichtige und allgemein be- 
fannte Punkte der nächften Umgegend von Neapel, wie 
Camaldoli, Herculanum und Ischia, offenbar gar nicht 
befucht Hat und das Iettere unſers Erinnerns gar nicht 
einmal erwähnt; daß er die Stadt Neapel nur in weni⸗ 
gen flitchtigen Strichen oberflächlich charakterifirt, der 
Sammlung des Mufeo Borbonico nur im Borbeigehen 
mit wenigen Worten gedenkt: es fehlt dem Buche aud) 
volftändig an allen den praftifchen Notizen über Gafl- 
höfe, Breife, Führer, Transportmittel u. ſ. w., über welche 
der unlundige Reifende nicht minder der Auskunft bebarf 
als über Gegenden, Städte und Kunſtwerle. Der Ber- 
fafier ift ein naiver Schriftfteller: er fchreibt fein Buch, 
als ob, was er hier auf dem „Wege alles Fleifches” an 
den Ufern des Golfs, in ben Straßen von Pompeji, an 
dem Bujen von Bajä, in ben Drangenhainen Sorrents, 
auf den Felfen von Capri, an dem Srater bes Veſuv gejehen 
bat, zum erften mal befchrieben fände, als ob ex nicht 
auf einen wieder und wieder umgepflügten Felde aderte, 
von bem keine Scholle mehr unbelannt ift und das hundert⸗ 
und aber hundertmal von allen möglichen Geſichtspunkten 
aus unterfucht und gefchilbert worden if. Er ift begei- 
ftert für feinen Stoff: das wollen wir ihm keineswegs 
verbenfen, wiewol die vielen Ausrufungszeichen den nüch⸗ 
ternen Lefer fchwerlich erwärmen werden; wir wollen es 
ihm auch nicht zu body anrechnen, daß er dem mit diefem 
Artikel Schon fchwerbeladenen Büchermarkt noch eine Heine 
Laft mehr anflegt; aber wir bedauern, um das Publikum 
vor einer berben Täufchung zu bewahren, dem vielver- 
heißenden Zitel mit einem ausdrüdlichen Dementi entgegen» 
treten zu müſſen. Es fcheint, daß der Berfaſſer nicht 
einmal die ältere Literatur über Neapel, wie z. B. das 
trefflihe Bud von Mayer gefannt bat, fonft bätte er 
vielleicht das jeinige ganz ungefchrieben gelaflen oder ihm 
wenigftens eine anſpruchsloſere Bezeichnung gegeben. Und 
nachdem wir fomit unfere Recenfentenpflicht gethan, wol⸗ 
len wir gern Binzufügen, daß das Schriftchen demjenigen, 
der noch nichts über das „Eden Europas“, dieſes pezzo 
di cielo caduto sulla terra, gelefen hat, wie auch wol 
dem Reifenden, ber daneben mit einem tüchtigen guide 
du voyageur wie Murray, Börfter u. dgl. verfehen if, 
wol einigen Nutzen und Genuß zu gewähren vermag. 

4. Bilder aus Stalin. Bon Eduard Paulus. Zweite, 

J vermehrte Auflage. Stuttgart, Kröner. 1870. 8. 

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s In freier Luft, im Lorberhain, 
Bei dem Gefang der Vögelein, 
Hab’ id) dies Buch geichrieben. 
Es jchien der hellſte Sonnenfchein 
Mir zwilchen jedes Wort Hinein, 
Und fo ift e8 geblieben! 

Sa, fo ift e8 geblieben! Heller Sonnenfchein und 
Bogelgefang und Windesranfchen in den Lorberwipfeln 
und Myrtenbüſchen ſchimmert und klingt von Seite zu 
Seite in dem Buche wider, und dazwiſchen Inſekten⸗ 
gefumm — bald Bienen, die eifrig Honig faugen aus 
allen Kelhen, bald auch Inſekten 

Mit Heinen ſcharfen Scheren, 
die hier find, um: 
Catan, ihren Herrn Papa, 
Nach Würden zu verehren. 
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724 


Ein größerer Gegenfat als der zwifchen biefer und 
der Lobftein’fchen Schrift iſt kaum denkbar. Dort alles 
fteife Profa, welcher felbft die Wärme der Begeifterung 
feinen Schwung zu verleihen vermag; hier alle8 ungefuchte 
Poeſie, die dem Dichter — das ift Paulus vom Wirbel 
bis zur Zehe — mühelos ın gebundener wie in ungebun⸗ 
dener Rede von den Lippen rinnt; dort der regelrechte 
Gang, wie er dem „Reifeführer‘ geziemt, mit langathmi« 
gen Beichreibungen von Punkt zu Punkt; bier gleichſam 
ein Schmetterling, der, von Blnme zu Blume flatternd, 
fih auf benen niederläßt, die ihm gerade behagen, un» 
befümmert um die, denen er vorbeifliegt, felbft wenn fie 
der Welt vielleicht noch größer, fchöner und buftender 
erfcheinen follten; dort ein Arfenal von Citaten und Aus⸗ 
zügen; bier mit geringen Ausnahmen alles nur fubjective 
Empfindung, der Refler der Außendinge im Spiegel eines 
poetifchen Gemuths ohne allen und jeden gelehrten Apparat; 
dort bedeutende und, wie wir gefehen, kaum gerechtfertigte 
Anfprüce; hier die anmuthige Anfpruchslofigkeit einer 
Darftelung, die wie eine naive Kolette bei alledem wol 
bas Bewußtfein hat, daß fie gefallen werde und mülle, 
Kurz, die Paulus'ſche Schrift ift ein liebenswürdiges 
Buch, das felbft der mit Bergnügen durchblättern mag, 
den die nimmer verrinmende Hochflut der italienifchen 
Reiſeſchriften längft in Bezug auf alles Mittelgut voll» 
ftändig blafirt gemacht bat. Alle die Kleinen unangeneh- 
men Erfahrungen und Erlebniffe, denen der Keifende im 
ſchönen Hesperien nicht entgeht und die unferm würdigen 
Nicola einft feine fchwerfälligen quos ego auspreften, 
föfen fi ihm in leichten nedifhen Humor, während das 
Schöne und Liebliche, bad Große und Erhabene in ver» 
Hleinerten, aber treuen und Haren Bildern in den Zeilen 
bes Dichters fich widerſpiegelt. Ungendthigt kommen ihm 
Rhythmus und Reim zu Hülfe, wo die Profa nicht aus⸗ 
reicht, vorzugsweiſe freilich in der Maske des Momus 
in muntern hüpfenden Anapäften; dazwifchen jedoch auch 
manch finniges Gedichtchen, mehrere davon hervorgerufen 
durch die Hiftorifchen Erinnerungen des claffifcden Bodens, 
wenn fi auch Hier die Poefte nicht immer auf der Höhe 
ihres Gegenſtandes zu halten vermag (vgl. das Gedicht 
über Konradin, S. 170, über Dante, ©. 52 u. f. w.) 

So eilt der Berfafler mit leichtem Gepäd von feiner 
fhwäbifchen Heimat, an ber fein ganzes Herz zu hängen 
Scheint, über die Alpen nad) Mailand, über die Apenni« 
nen nach Florenz, und weiter die umbrifche Straße über 
Arezzo, Montepulciano, Perugia und Orvieto nad) Rom 
und feiner Umgebung, den Sabiner- und Albanergebir- 
gen, fährt mit ber Eifenbahn durch die wilden Schlud)- 
ten der Abruzzen nach Neapel, welches die Schrift nur 
flüchtig mebft der Inſel Capri berührt, fchifft über das 
fteahlendblaue ſiciliſche Meer nach Palermo hinüber, und 
kehrt endlich längs der adriatiſchen Küſte über Ravenna, 
Rimini und Venedig nach Deutſchland zurück. 

Wir geben nachſtehend einige Proben der originellen 
Darſtellungsweiſe des Verfaſſers in Vers und Proſa, 
ernſten wie komiſchen Inhalts. 

In Florenz finden wir eine ebenſo originelle wie von 
feinem Blick und Geſchmack zeugende Vergleichung der 
Thürme von Florenz, München und Stuttgart: 

Der Glockenthurm des floventiner Dome, die Frauen- 


NReifeliteratur. 


thürme in München, der Stiftslirchenthurm in Stuttgart zeigen 
eine merkwürdige Verwandtſchaft. Alle drei find fie richtige 
dide Thlirme, unverjlingt, ohne Spige, als Urformen aller 
Thürme unvergeflih. Und alle drei find fie die ausbrudsvoll- 
ften Vertreter ihrer Stadt. Der florentiner Thurm, vieredig, 
freiſtehend, unverjüngt, tft ganz aus gefähliffenem , farbigen 
Marmor erbaut. Wunderbar richtig find die Farben vertheilt, 
beim größten Reichthum das fchönfle Maßhalten. Da fteht er 
feft und anmuthig auf Marem Sodel, zu hoben Stockwerlen 
frei uud leicht zufammengebunden, lühn auffirebend und wieder 
durchs prädtige Kranzgefims ernft abgefdloffen. So fleht er 
da, voll Kraft und Würde und Überlegener Bildung, bürger⸗ 
adelſtolz und fein gefchliffen. Troß feines Alters erfcheint er 
nod ganz neu, in ewiger Jugend, glei dem emwigblühenden 
Firenze, das ihn auf dem Gipfel feiner Macht ale ungeheuern 
Denlmalspfeiler feiner freien Herrlichkeit vom großen @iotto er- 
richten ließ. — Der Stiftokirchenthurm in Stuttgart, aus grln- 
bemooften Sandfteinen erbaut, von den Leuten fchlechtiweg ber 
Dide genanut, unten vieredig, gegen eben hin adjtedig, mit 
drei Kränzen gejhmüdt — ein flattliher Rathsherr. Immer 
feelenrubig und feelenverguligt fchaut er mit liebem Behagen 
umber im fauften grünen fiuttgarter Weinthalkeſſel. Zur Seite, 
etwas zurüd, ſteht ihm die befcheidene Hausfrau, der fchlanfe 
Seitenthurm mit der zierlichen altſchwäbiſchen Spithaube. — Die 
münchener Frauenthürme find noch ediger, faſt bis Herunter 
adhtedig, und aus Badfleinen von blauröthliher Färbung er- 
baut. Es find zwei Iunggefellen, chief ans dem Wirtshaus 
fommend, eng ameinandergelehut, die niedern Kappen gar 
drollig auf den köſtlich zugerundeten Spießbürgerſchädeln. Es 
wäre jammerſchade, wenn man fie modern aufftukte. 

Paulus wohnte im April 1865 dem großen Dantt- 
Zubelfefte bei und gibt uns folgenbe köſtlich humoriſtiſche 
Beichreibung bes Feſtzugs: 

Alles fommt in hellen Haufen, 
Das heißt in dunfeln, gelaufen, 
Denn alle thaten fieden ' 

In langen ſchwarzen Fräden; 
Es trüben die Frackſchwänze 
Das altehrwürdige Firenze; 
O bis! bis, bös! 

Und ſchredlich offlciös! 


Steif und fteil, wie Chinefer, 

Nahen die Senuefer, 

Mit Bannern von Gold und von Purpur ſchwer, 
In der Mitte fpaziert ber Gonfalonier, 
Bol Mojeftät, 

Stark aufgebläht, 

Die breite Bruft mit Orden befät, 
Und um des Buten Hale 

Hangt einer ebenfalls, 

Das war ein Commenthur, 

Die ihn gar wenige nur. 


Dann wieder durch der Straßen lange Zeile 
Wächſt grenzenlos des Frackes Langeweile, 
Bis fie ein Kapuziner unterbricht 

Mit brauner Kutte und feiſtem Geſicht, 
Der zu des Volkes Gaudium 

Arezzo's Fahne trägt herum. 

Der Dann war rund 

Und ferngefund, 

Und gräüßte mit emancipirtem Blick, 

Als bringe er die Republit; 

Die Menge Haticht ihm endlos zu — 
Bas ſpricht da wol der Papft dazu? 


Intereffant waren auch die Turiner, 
Die dur einen ihrer Diener 

Die Fahne tragen ließen, 

Und dadurch bewielen, 

Daß fie nicht mehr fo fidel, 

Seit Bictor Emamel 








Neifeliteratur. 


Aus ihrer Stabt kutſchirte 

Und fie ganz ignorirte. 

Die Banner au von Venedig und Rom 
Hagen hervor, 

Umwunden mit Flor, 

Aus dem bunt aufwogenden Fahnenfirom. 
Pulsky auf, der Magyar, 

Bei dem Zug betheiligt war, 

Kofſuth's erſter Adjutant 

War er einſt im Ungarland. 

An der Emigranten Spitze 

Zog er, trotz der Beckenhitze 

In der Biberpudelmütze 

Und dem Rock von Pelzen ſchwer, 

Stolz und kriegeriſch einher 

Und geftel dem Volke ſehr. 


Hinter der franzoſiſchen Flagge 
Kommen wieder in finſterem Fracke, 
Wegen des Alighieri, 

Einige Foreftieri. (Fremde.) 
Sachſens Fahne wird vermißt, 
Ebenfo ihr Träger Brodhaus; 
Weil e8 heiß geweſen ift, 

Zog vermuthlich er den Rod aus 
Und fah fo zu diefer Frift, 

Bol aus einem Marmorblodhaus, 
Eine Pfeife raucdhend, munter 

Auf den ganzen Zug herunter. 
Schließlich kam die Jugenbwehr ; 
Die gefiel uns allen fehr. 

Und zulegt 

Raben jetzt 

An wallendem Talare 

Die ftädtifhen Notare, 

Dabei die ſechs Prioren 

Mit mweitabfiehenden Ohren. 

Ueber die braune Heide ber Campagna fieht er im 
Geiſte den Leichenzug des jugendlichen Kaiſers Otto II. 
daherziehen:: 

Bon Ferne leuchten 
Hoch im Gebirge die zerflörten Städte, 
Und fhwer und ſchwül Siroccolüfte feuchten. 


Und mit der Leiche 

Des jungen Königs ziehn fie weiter, weiter; 
In offner Bahre liegt die anmuthreiche. 

Das Wehn des Windes 

Bewegt wie Geiſterhand die langen Locken 
Des früh vor Gram geſtorbnen Heldenlindes. 


Des Heldenlindes 
Bieledle, weltumfaſſende Gedanken, 
Sie waren eitel wie das Wehn des Windes. 


Nichts kann beſtehen: 
Dem Helden wohl, der in der Jugend hinſinkt, 
So wird ſein Bild durch alle Zeiten gehen. 

Ganz beſonders gelungen iſt die Schilderung der Fon⸗ 
tana Trevi in Rom: 

Ob da nicht noch eine Rieſenidee Alberti's oder Michel 
Angelo's mit herausklingt, auch die Architektur des Palaſtes ift 
verdächtig. Wunderbar, wie hier eine geradlinige ſtolze Palaſt⸗ 
ſaçade aufwächſt aus regellos wildem Felsgetrümmer, das von 
großen, aus den Kalkfelſen herausgemeißelten Pflanzen belebt 
wird; aufflarren hier fleinerne Kletten, Farrnkräuter, Feigen⸗ 
und Lorberbüfche, dort Reben mit Trauben, Difteln, Bären 
Mau und anderes troßiges, bor Alter graugeworbenes SKraut- 
gefirüppe, von feingefiederten lebendigen Gräfern und Blumen 
umgränt und umzittert; und über dieſe Felſen empor fteigen 
ſtürmig bewegt bie großen Marmorgeftalten: der Meergott auf 
ven Muſchelwagen, gezogen von zwei ſchnaubenden Seeroffen, 


725 


die von den Zritonen kaum zu bändigen find. Dies alles aus 
Stein; und nun, wie ein Ueberftrömen der Gewalt, drängen 
die Felfen herunter ganze Ströme lauterftien Waſſers, oft hoch⸗ 
auffprittend als Springquellen, oder fächerförmig ſich zerglaſend, 
oder in ſchweren Güffen mit Rauſchen hinabfallend. Durch 
alle Riten des vielzerklüfteten Travertinſteins ſtrebt es hin⸗ 
durch, ziſchelt und orgelt, oder hängt in dunkeln Höhlungen 
als feine Fäden, wie Oel, lautlos nieder, hellgrünes Moos 
und Algenwerk mit ſich herabziehend; inmitten aber, vor dem 
Gott einher, wogt dreimal geſtuft, majeſtätiſch wallend, der 
durdfichtige Hauptſtrom und gibt den ſchweren Grundton des 
ganzen Gerauſches. Unten aber ſammelt ſich die Menge des 
Waſſers in breitem, weitumrandetem Seebecken und ſchaukelt 
ewig bewegt in kleinen kurzen, im Sonnenlicht glitzernden Wel⸗ 
len. Großartig ernſt ruht hinter dem allen der Palaſt, mit 
weiter ſänlenbeſetzter Niſche den Meergott umfaugend. Hohe 
korinthiſche Pilaſter, dazwiſchen feſtlich mit Kränzen umhängte 
Fenſter ſchmücken ihn, und wie er unten mit den Felsblöcken 
verwachſen vom Boden ſich hebt, fo gipfelt er oben kühn und 
frei in dem riefigen von Engeln gehaltenen Papſtwappen, daß 
mit feinen vielfach zerlöcherten Umriffen in den Himmel hin⸗ 
einragt. 

Wir könnten diefe Proben noch flark vermehren, ohne 
fürchten zu müſſen, ınfere Lefer zu ermübden, wenn e8 
der Raum d. BI. geftattete. Bei folch Liebenswürdigem, 
anſpruchsloſen Naturell verzeigen wir es dem Verfaſſer 
leicht, wenn feine Kenntniſſe in ben Hülfswiſſenſchaften 
des Reiſebeſchreibers nicht lückenlos ſind und hier und 
da z. B. ein kleiner botaniſcher lapsus vorkommt, wie 
wenn er aus den Tamarisken des Meeresufers (Tamarix 
gallica und africana) Tamarinden macht, oder Palermo 
mit dem Rieſen Mittelafrikas, dem Baobab, beſchenkt. 
5. Bon ber Norbdfee in die Sahara. Bon Guſtav Raſch. 

Berlin, Hausfreund- Expedition. 1868. 8. 20 Ngr. 

Wie die Verleger durch die Umfchläge ihrer Bücher 
in Buntdrud, auf weldhen bie Lefer ſchon einen Vor⸗ 
ſchmack des ganzen Inhalts befommen, das Publikum 
anzuloden fuchen, fo beginnen — meift wol nicht ohne 
buchhändlerifchen Einflug — aud die Schriftfteller mehr 
und mehr durd) die Wahl ihrer Titel Reclame zu machen. 
Der bekannte und vielgewandte Berfafler der Bücher „Vom 
verlaffenen Bruderſtamme“, „Frei bis zur Adria” m. f. w. 
befigt neben andern fchäßbaren Autorenkünften auch diefe 
in anertennenswerthbem Grabe. Neben feinen zahlreichen, 
alljährlich fich mehrenden Touriftenfchriften, die meift durch 
den politifhen Beigefhmad ihren Hauptreiz erhalten, 
jpielt übrigens die vorliegende trog ihres verſprechenden 
Titels nur eine ſehr befcheidene Rolle. Sie enthält eine 
Reihe von Einzelichilderungen aus Nord» und Süddeutſch⸗ 
land, Italien, Sübdfranfreih und Nordafrika, gleichſam 
Heine Epifoden, die, in bie Rahmen der größern Reife 
werfe des Berfaffers nicht paffend, bier zu einer lofen 
Kette bunter Steine zufammengefügt find. Die feharfe 
Beobachtungsgabe des Berfaflers, feine Birtuofität in ber 
Darftellung, die Anfchaulichkeit feines Stils verleugnen 
fih auch hier nicht; einzelne Auffäge darin, wie bie 
„Fahrt auf dem Boden ber Norbfee” (von bem Strande 
bei Eurhaven zu der Infel Neumerk), welche die freilich 
in neuefter Zeit ſehr häufig bejchriebenen Eigenthümlich⸗ 
feiten des nordweſtdeutſchen Wattenmeers draftifch fdhil- 
dert, und „Die fchönfte Straße Italiens“, die Riviera bi 
Bonente zwifchen Nizza unb Genua, würden ohne eine 
gewifje vornehme Nachläſſigleit der Darftellung, die nicht 





126 


felten Wiederholungen und übermäßige Amplificationen 
bringt, in ſprachlichen und geographiſchen Mufterantho- 
logien eine Stelle verdienen. Der etwas bombaftifchen 
Schilderung des „Maurenpalaftes im Schwabeniande“, 
d. 5. der Wilhelma bei Stuttgart, ziehen wir die be 
ſcheidnere Skizze des „Deutſchen Dichterhaufes in Weins- 
berg“ bebentend vor. Auf die trefflichen und feit Goe- 
the’'8 Zeit wenig befuchten und befprochenen Bauwerke 
Palladio's in Vicenza wieder aufmerkſam gemadjt zu haben, 
iſt ein unbeftreitbares Verdienft, wogegen wir dem Ber- 
faffer die im jedem Converfations-Lerifon zu findenden 
Lebenoſtizzen Sanſovino's, Tintoretto's, Eanoba’s und an- 
derer denetianifcher Künftler gern geſchenkt hätten. „Zwir 
ſchen Eis und Schnee” ift eine Befchreibung ber allbelann- 
ten Simplonftraße, bei ber es nicht ohne geographifche 
Irrthumer abgeht; wie wenn ber Berfaffer den Gried- 
gletfcher im Oberwallis von dem Gotthard herablommen 
Täßt. Mit befonderer Fiebhaberei verweilt er bei fchauer- 
lichen Kerlerſcenen. „Der Kerker Cola di Rienzi's“ (den der 
Berfaffer, beiläufig bemerkt, im höchſt unbiftorifcher Weile 
ibealiftet) in Avignon; das „Chäteau d’If“ bei Marfeille 
mit Monte Criſio ſchen Neminifcenzen, „Schloß Chillen“ 
mit der nöthigen Zuthat einer Biographie Bonnivarb’s 


Kleine Schriften zur 

Zu allen Zeiten hat es neben umfangreichen und 
didleibigen Büchern auch Heine und dilnne Schriften ge» 
geben, die ein gleiches Anrecht auf Beachtung und Werthe 
ſchatzung befigen, fobald fie einen Inhalt aufweifen, der 
ihre Eriftenz vedhtfertigt. Die Literatur der Broſchüren 
iſt im Wachfen begriffen, zum Aerger ber Bibliographen, 
Bibliothekare und Sortimenter ; die Umiverfitäten und 
Säulen bringen eine wahre Sünbflut von Differtationen 
und Programmen hervor, und doc nimmt man es öfters 
dankbar Hin, wenn eine literarifche Arbeit, deren Ber» 
breitung ſonſt nur dem Zufall anheimgegeben ift, auch 
durd) den Buchhandel zugänglich wird, wenn fte, anftatt 
einem Sammelmerke oder einer Zeitfehrift einverleibt zu 
werben, felbftänbige Herausgabe findet, welche bie gefon« 
derte Anfchaffung ermöglicht. Unbdererfeits freilich ift es 
geradezu Pflicht, vor der Zerfplitterung der literarischen 
Ürbeiten Meinerer Art zu warnen und auf die vereinigenden 
Drgane hinzuweifen, nicht allein im Intereſſe der Lefer, 
fondern im Intereffe der Schriftfteller ſelbſt. 

Eine Reihe Meinerer Schriften ‚aus dem Gebiete ber 
altdeutſchen Literatur bringen wir hier zur Anzeige. Sie 
verdienen allefammt, daß man ihrer gebenfe, aber feine 
von ihnen ift von folder Bedeutſamteit, dag man fie 
nicht im Verein mit andern beſprechen dürfte. Gie zeigen 
und verfchiedene Richtungen und Gebiete; vertreten ift: bie 
Tertmittheilung, die Literarhiftorifche Unterſuchung, bie 
Erforfchung der Metrik, die Ueberfegung, auch eine in 
das Unterrichtögebiet einſchlagende Schrift haben wir her« 
beigegogen, weil fie gewiſſermaßen eine Tagesfrage in 
ſich fliegt. 

Bir verzeichnen zunäcft die Veröffentlichung eines 
altdeutſchen bramatifchen Gedichte. 


Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur. 


und ſchlecht überfetster Byron'ſcher Strophen; endlich der 
„Bagno von Toulon“ werden mit fammt dem unvermeid- 
lichen Zubehör von Kettengerafiel, feuchten dunleln Ber» 
liefen, Folterinſtrumenten u. f. w. der Reihe nad) in ex- 
tenso abgehandelt. Die „Blaue Grotte auf Capri“ wird — 
in grelem Contraft zu der neuerlichen, allerdings in das 
entgegengefegte Extrem fallenden Schilderung bes Re- 
dacteurs des „Auslandes” — noch blauer gemalt als im ben 
übertriebenen Veduten unferer Kunftausftellungen, und bie 
jedem Reifenden befannte Thatfahe, daß ein Menſch in 
der Grotte unterzutauchen pflegt, um bie ſeltſame Eilber- 
farbe barin ſchwinmender Körper zu zeigen, wird zu einem 
groteöfen Abenteuer aufgepugt. Ueberhaupt können mir 
das Buch von einer gewiſſen Webertreibung und Effect- 
hafcherei nicht freiſprechen. 

Die beiden afrifanifchen Skizzen über „Algier“ und „Ein 





Ritt durch die Wüfte Sahara”, d. h. von Biscara, ber 
füblichften franzöfifchen Niederlafjung nordwärts zum „Tell“, 
find unbebentende Epifoden oder vielmehr Auszüge aus 
dem größern Werke: „Nach den Dafen von Siban in 
der großen Wüſte Sahara” (Berlin 1866). 


(Der Beiäluß folgt in der nägfen Ranımer.) 


altdentfchen Literatur. 


1. Ein Weihnachteſpiel aus einer Haudſchriſt des 15. Jahr- 
Hunderte, unter Benutzung einer Abfhrift berfelben von 
Bilmar und mit defien Anmerkungen zum erflen male her- 
ausgegeben von 8. W. Piderit. Pardim, Wehdemaun. 
1869. 8. 12 Rgr. 


Ludwig Uhland erflärte noch im Jahre 1830 in feir 
nen Borlefungen über bie aftdeutfche Literatur — und id) 
habe dies in meinem Bericht in Nr. 14 d. BL. f. 1867 
befonder8 hervorgehoben —, daß das Mittelalter fein 
Drama befeffen habe. Seit biefer Zeit find aber ver- 
ſchiedene dramatifhe Dichtungen aus der Periode des 
Mittelalters befannt geworden. Die meiften gehören frei- 
li dem 15. Jahrhundert an, wenigftens in ihrer Leber 
lieferung, alfo einer Zeit, bie wir mit Uhland ſchon zur 
Reformationsperiode rechnen bürfen. Allein die Tendenz 
diefer Dramen ift fat durchaus noch mittelalterlich, auch 
wird fid) bei den meiften annehmen und ſelbſt erweiſen 
laſſen, daß fie in eine frühere Zeit zurüdreichen, aus 
welcher wir zufällig die Niederfchriften entbehren müffen, 

Das vorliegende Drama if ein Weihnachtsfpiel. Es 
gehört in feiner bermaligen Faſſung ber zweiten Hälfte 
des 15. Jahrhunderts an, im einzelnen aber fehen wir 
wieber, was wir eben im allgemeinen andeutelen, daß 
der gegenwärtigen Form bes Weihnachtsfpiels eine ältere 
Abfafjung zu Grunde liegt. Beſonders interefjant iſt es, 
daß in diefem Weihnachtsſpiele fi) eine wenn auch furze 
Reminifcenz aus dem „Spiel von den zehn Yungfranen 
vorfindet, welches befanntlich im Jahre 1322 vor dem 
Londgrafen Friedrich zu Eiſenach aufgeführt worden ifl. 
Dana) will Piderit die äußerfte Grenze ber Entftehungs- 





zeit des Weihnachtsſpiels beftimmen. Tas ift wol alı 
wahrſcheinlich anzunehmen, allein ein fiherer Beweis it 





Kleine Schriften zur 


es niht. Wenn das „Spiel von den zehn Jungfrauen“ 
im Jahre 1322 erweisfich aufgeflihrt ift, fo fteht bamit 
nicht auch feft, daß es erft in biefer Zeit gebdichtet fei. 
Wir willen nur nicht von frühern Aufführungen. 

Bas den Ort der Entftehung des Spiels betrifft, fo 
weift die Sprache, der Dialeft auf Heflen. Ich habe 
ſchon in meiner Differtation über das „Spiel von ben zehn 
Jungfrauen” (auch in Pfeiffer’s „Germania“, XI. Jahr- 
gang, ©. 159) nacdjgewiefen, daß fih ebenfalls in 
einem heſſiſchen Spiele, im Alsfelder Paffionsfpiele 
Keminifcenzen aus dem thüringer Spiele finden. Und 
fo ift es auch möglich, daR biejes für das Weihnachtsfpiel 
die Borlage geweſen ift. Die Reminifcenz aus den „Zehn 
Jungfrauen“ findet fih nun wirklich and im Alsfelder 
Baffionsfpiele, und zwar am Schluffe (Haupt’8 „Zeit⸗ 
ſchrift“, III, 518). Die betreffenden Worte im „Weihnachts⸗ 
ſpiel“ weichen freilich im einzelnen von beiden Yaffungen 
nicht unbedeutend ab. 

Für die Literaturgefchichte der geiftlichen Dramen iſt 
Piderit's BVerdffentlihung ein fehr fhätbarer Beitrag. 
Beiondern Werth haben die Teufelsſcenen, die bier 
außergewöhnlich heiter und dabei auch von draftifcher 
Derbheit find. 

Die Anmerkungen erftreden ſich meift auf das Sprad)- 
lihe und Mundartlihe. Sie rühren zu großem Theile 
von Vilmar ber. Der Herausgeber hätte feine Edition 
noch werthvoller machen können, wenn er auch die litera- 
riſche Seite in den Anmerkungen mehr berüdfichtigt hätte 
duch Bergleihung mit andern Spielen überhaupt und 
mit Weihnadtsipielen insbefondere, was fowol die Auf- 
faflung und den dramatifchen Bau als auch den oft for- 
melhaften und typifchen Ausdruck anlangt. 

Sole Berdffentlichungen wie bie des „Weihnachts- 
ſpiels“ werden wol nur von ben Fachmännern und 
den fpeciellen Freunden ber Literatur beachtet, gelejen 
und benußt werden, eine allgemeine Theilnahme Tann 
fih ihren nicht zuwenden, weil eine folche bigjegt nur 
den claffifchen oder durch hohes Alter merkwürdi⸗ 
gen Schöpfungen des Mittelalters zutheil wurde. All⸗ 
gemach aber wird der Kreis der anziehend erfcheinenden 
Literatur erweitert werden. Bor noch gar nicht zu lan⸗ 
ger Zeit war es ansfchliepli das „Nibelungenlied“ und 
vieleicht noch einigermaßen Walther von der Vogelweide, 
denen man eine Bedeutung and für das Heutige Leben 
zugeftand. Jetzt aber gefellen fich diefen bevorzugten 
Dichtungen noch andere, bie mit beinahe gleicher Theil⸗ 
nahme willlommen geheißen werden. Vorzugsweiſe find 
diefe aber epische Werke; unter den Lyrikern hat eigentlich 
nur Walther eine Stätte wieder in der neuen Welt ge= 
funden. Das zeigen im einzelnen bie Ueberſetzungen und 
die Unternehmungen, welche ſich die Erklärung altdentjcher 
Geiſteswerke zur Aufgabe fegten, wie die Pfeiffer'ſche 
Claſſikerſammlung und die Zacher'ſche Handbibliothek. 
Aber auch die andern Minneſünger haben uns Blüten 
der Dichtkunft geboten, und wie man im Beginne ber 
Romantik gerade die mittelalterliche Lyrik liebte und zu 
erneuen beftrebt war, fo wird auch Fünftig Walther von 
andern Dichtergenoſſen in den Bibliotheken der Gebilbeten 
umgeben fein, wenn er aud in ihren Herzen al® ber 
Bannerträger immerdar gelten wird. 


altdeutfchen Literatur. 727 


Auf die Lyrik des 12. Jahrhunderis fucht bie folgende 

Heine Schrift Binzulenfen: 

2. Die älteften deutſchen Liebesfieber des 12. Jahrhunderts. 
In freier Mebertragung von Otto Richter. Separatabdrud 
aus dem vierumdvierzigfien Bande des Neuen Laufitifchen 
Magazins. Görlitz, Wollmann. 1868. Gr. 8, 7Y, Ngr. 


Richter hat es verfucht, „trog der mandherlei Vor⸗ 
urtheile, eine freie Bearbeitung der Minnelieder zu be- 
ginnen; verfucht, durch diefe Bearbeitung den Gebildeten 
unſers Volks Gelegenheit zur Würdigung jener poetifchen 


| Schöpfungen zu geben, ohne daß fie es nöthig haben 


Borftudien zu machen“. Er war ferner beftrebt, den gei- 
fligen Duft diefer Blüten zu feffeln, während er für die 
veraltete Form eine moderne zu weben fuchte Hier ift 
ung ein Anfang des Vorhabens geboten; Richter hat mit 
den älteften Liedern begonnen, bei benen ſich noch nicht 
ber fremdländifche Einfluß bemerfbar macht, welcher feit 
Heinrich von Veldeke erft allmählich eindrang, dann eine 
Zeit Tang faft ausſchließlich herrſchte. Es find die Lieder 
folgender Dichter: der Kürenberger, Dietmar von Aiſt, 
Meinlod von Sevelingen, der Graf von Nietenburg, 
Burggraf von Regensburg. Daran reihen fi) eine An- 
zahl namenlos überlieferter Lieder. Am Schluffe find die 
beiden geiftlichen Dichtungen: das Weihnachts- und Ofterlied 
de Spervogeld mitgetheilt. 

Eine allgemein orientirende Einleitung über die deutſche 
Lyrik des Mittelalters überhaupt und deren frühefte Epoche 
geht der einen Liederfammlung voraus. Ueber die ein- 
zelnen Dichter ift das nöthige Literarifche und Biogra- 
phifche gejagt. Die Uebertragungen verdienen Anerkennung, 
obwol uns ber Ausdrud öfters zu modern erfcheinen will. 
Nach diefen erften Berfuchen können wir ben Wunſch aus- 
fprechen, daß der Ueberſetzer fih auch an bie Lieber 
der jüingern Periobe wagen möge, doch bürfte hier vor 
allem eine ftrenge Auswahl anzuempfehlen fein. 

Die deutſche Literatur im Lateinifchem Gewande, bie 
fogenannte Hof- und Klofterdihtung, welche vor unb in 
der Üebergangszeit vom Althochdeutfchen zum Mittelhoch- 
deutfchen uns vielfach einen Erſatz bieten muß fir man- 
gelnde Denkmäler deutſcher Zunge, hat bisjeßt noch wenig 
zu Mebertragungen und Nachdichtungen gereizt, nur ber 
MWaltharius ift in diefer Beziehung nicht vernachläffigt 
worden. Der neur'te Ueberſetzungsverſuch liegt uns in 
folgender Schrift ı 
3. Walther von Aquuunmen. Heldengebicht in zwölf Gefängen, 

mit Erläuterungen und Beiträgen zur Heldenfage und My- 

thofogie, von Franz Linnig. Paderborn, Scöningh. 

1869. ©r. 16. 10 Nr. 

Die berühmte Tateinifche Dichtung von Walther und 
Hildegunde hat fchon oft zu Ueberſetzungen und Bearbei- 
tungen gedient, welche die echt deutſche Erzählung des 
fremden Gewandes entlleiden und fie fo bem heutigen 
Geſchlechte wieder nahe zu bringen ſuchen. Auch Bictor 
Sceffel fügte in feinem „Ekkehard“ eine Ueberſetzung cin. 
Franz Linnig gibt der Arbeit Karl Simrod’8 den Preis; 
nad ihm müffe jeder erneute Nach⸗ und Umbdichtungs- 
verſuch als müßig und eitel erfcheinen, wenn jene biejenige 
Berbreitung gefunden hätte, welche fie ihrer Bortrefflichkeit 
wegen fo fehr verdiente. Der Umftand jedoch, daß das 
Gedicht nur als Theil des „Kleinen Heldenbuch” erfchienen 







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fei, habe bie Verbreitung beeinträchtigt. Die andern Stücke 
des „Heldenbuch“ eigneten fi) nicht alle in gleichem Maße 
zur Jugenbleltüre, einige müßten fogar gegründete DBe- 
denen erregen. Franz Linnig unternimmt es daher, 
„nach jahrelangem Zögern” ber Jugend eine neue Faſſung 
bes Waltherliedes zu übergeben. Sein Beftreben war 
darauf gerichtet, dem lateinifchen Driginale möglichft treu 
zu bleiben, doch bat er fih auch — und wir glauben 
mit allem Rechte — einzelne Abweichungen, Motivirungen, 
auch eine Erweiterung des Gedichts um einige Strophen 
zu Gunften eines guten Abfchluffes erlaubt. 

Die Form der alten Dichtung ift der- Herameter, 
welchen unter andern auch San-Marte in feiner Bears 
beitung beibehielt. Der neue Bearbeiter wählte dagegen 
die Nibelungenftrophe. Hätte fich vielleicht der Verſuch 
wagen lafjen, die Alliteration anzuwenden, um den alten 
Gedichte auch das alte Coſtum zu geben? Oder wenn 
eine jüngere, uns zugänglichere und angenehmere Form 
genommen werden follte, hätte es nicht näher gelegeii, 
die Waltherliedftrophe, welche noch bazu mehr Beweglichkeit 
befigt als die Nibelungenftrophe, neu zu beleben? 

Linnig’8 Arbeit ift im ganzen gefällig. Im einzelnen 
fallen ungewöhnliche Ausdrüde auf. Nach der trogigen 
Rede Walther’s, daß Fein Franke fi rühmen dürfe, von 
feinem Hort etwas erlangt zu Haben, folgt fogleih die 
Neue, daß er fo ſtolz gefprochen. Bier wendet der Um⸗ 
dichter das niederdeutſche Wort „Gilp“ fir „übermüthige 
Ruhmrede“ an, wie es auch fogleich in der Anmerkung 
erflärt if. Wozu diefe Spielerei? Der Dichter hat bie 
Schriftſprache feiner, Zeit zu reden, und es ninumt ſich 
fehr geſchmacklos aus, wenn ein Wort im Texte eine 
Erklärung nachſchleppt. Etwas anderes ift es, wenn der 
heutige Dichter Ältere Worte wie Minne, Degen, Ferge 
u. dgl. wieder in die Sprache einführt. 

Eine Stelle gibt uns Anlaß, eine Aenderung für eine 
etwaige neue Auflage zu empfehlen. Der Sachſe Edefrid 
will ebenfalls mit Walther kämpfen und xuft ihn an. 
Walther macht ſich Iuftig über feine celtica lingua, über 
fein Kauderwelſch, wie man wol übertragen könnte. 
Linnig hat nun verfuht, den Eckefrid aud wirklich) 
ſächſiſch reden zu laflen, was gewiß fein übler Ge- 
banfe ift: 

Piſt du ein fleiſ⸗chlich Menſchenpild, 

Oder triegſt du, Arger, mit einer Luftgeſtalt? 

Mir gleichſt du einem Sochrate, der hier hauſt im Wald. 

Das „fleiſ⸗chlich“ und „Sechrate“ ift richtig fächfifch, 
natürlich niederfächflfch, insbefondere weftfälifch, aber „Piſt“ 
und „Pild“ ift e8 nicht, im Oegentheil, das wäre gerade 
recht hochdeutſch. Auch font ift die Umfchreibung nicht 
durchgeführt. Es könnte fo gefagt werden: 

Biſt du ein fleeſtlik Minſchenbild, 

Oder triegſt du, Arger, mit eener Luchtgeſtalt? 

Mi glitft du eeme Skrate, de hie huſt im Wald. 

Könnte der Dichter nicht gleich in diefen Berfen ein 
dat oder wat anbringen, was als beſonders charakteriftifc) 
bervorftechen würde? Die folgenden Worte Edefrid’s find 
ebenfo umzufchreiben. 

Der Tert wurde mit erläuternden Anmerkungen be- 
gleitet, was durchaus zu billigen iſt. Linnig konnte bier 
fo mancher Forſcher Belchrungen benugen, namentlich 


[2 


/ 
/ 


728 Kleine Schriften zur altbeutfhen Literatur. 


die bed Dr, Heyder in Haupt's „Zeitſchrift“. Auch Namen- 
beutungen find im Linnig's Anmerkungen verfucht, wicht 
immer mit Glück. So foll Walthari die Bedeutung bes 
Herrſchens zweimal enthalten, der Rame fei zufanımen- 
gelegt aus walt vom Verbum walten (was durchaus 
richtig ift) und hari, heri — Herr; hari ift vielmehr — 
unferın Heer. Skaramund wird erflärt als Schlachten- 
mund; ganz verfehlt: „mund“ im Namen ift vielmehr — 
Schutz, Schirm, wie aud in Bormund, mündig. Auch 
andere Erklärungen find nicht getroffen: unfer „Rede Hat 
mit dem Worte „frech gar nichts zu thun. 

Auf den Tert folgen, wie auch ſchon auf dem Titel 
bemerkt ift, „Erläuterungen, Beiträge zur Heldenfage und 
Mpthologie”. Es wird hier die Verbreitung und Fort⸗ 
entwidelung der Walther-Sage in durchaus fachgemäßer 
Weiſe bejprochen, ſodann verfchiedene mythologifche Be⸗ 
züge in der Heldenſage; auch über die Alterthümer, 
wie namentlich über die Bemwaffnungen, werben wir 
belehrt. 

In einem Anhange find die zerftrent erſchienenen Frag. 
mente von Walthersliedern vereinigt: die angelfächfifchen 
Bruchſtücke, die beiden mittelhochdeutfchen. 

Wir empfehlen das Büchlein namentlich der reifern 
Jugend. Eine zweite Auflage würbe außer verfchiedenen 
Berbefjerungen und Wenderungen im Terte und in 
ben Beigaben auch das eine noch zu gewähren Gaben: 
eine vellere Correctur; der Drudfehler find mehr als 
zu biel. 

In den beſprochenen Büchern findet fi neben ber 
Mittheilung der Texte in Urſprache oder Ueberſetzung 
auch Literarhiftorifche Betrachtung und Unterfucgung. 
Neuerdings ift die Aufmerkfamfeit vorzugsweife auf die 
Quellen Bingelenft, beren ſich die Dichter des Mittel 
alters bedienten, da fie der freien Erfindung nicht fo fol- 
gen konnten, wie c8 den nenern geftattet ift. Nicht immer 
ift die Benugung einer beftimmten Duelle zweifellos er- 
wieſen, es liegen öfters verfchiedene Schriften vor, welche 
ald Quellen gebient haben können; aber ohne nähere 
Unterfuhung ift bie Entfcheidung nicht möglich. Solche 
Dnellenforfhungen wird fein gewiffendafter Heransgeber 
verabjäumen; wo fie»freilich verwidelt find, müſſen fie, 
wozw Cinleitungen nicht immer dem ſchicklichſten Platz 
abgeben, in monographifcher Weife angeftellt werben. 
Wer die Zeitfchriften für deutfches Alterthum aus neuerer 
Zeit darauf Hin anfleht, wird gewahren, daß ſolche 
Duellenfragen bort ziemlich häufig niedergelegt find. Auch 
verjchiedene größere und kleinere Schriften find felbftändig 
erſchienen, welche ſich mit derartigen Aufgaben bejchäf- 
tigen. Wir nennen hier ihrer zwei; zunächſt eine, welche 
ih auf das beftimmte Werk eines beftimmten Autors be- 
ſchränkend zugleich der ſtofflichen Entwidelung der behan- 
beiten Sage nachgeht: 


4. nn Me ah bes rdregorin⸗ —— von Ane, 
von Friedri old. Inauguraldifſertation. Yeipzi 
9. Fritzſche. 1869" er. 8. Tr iR, 
Bor nicht Langer Zeit wurbe dieſe Frage nach ber 

Duelle des Hartmann’fchen „Gregorius“ von Joſeph Strobl 

in Pfeiffer's „Germania“, XII, 188, zu beantworten gefucht 

(vgl. Ar. 40 d. BL f. 1868). Wir beflgen ein latei⸗ 

niſches Gedichtbruchſtück, welches H. Leo in Nr. 352 





Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur, 129 


db. DL. f. 1837 zuerſt veröffentlichte und dann Grimm 
und Schneller in den lateinischen Gedichten bes 10. und 
11. Jahrhunderts aufnahmen. Grimm fah in ihm bie 
Duelle Hartmann's. Wir befigen ferner ein vollftändiges 
altfranzöfifches Gedicht „Vie du pape Gregoire le Grand“, 
welches Bictor Luzarche herausgab (Tours 1857). Lu⸗ 
zarche glaubte, Hartmann Gabe nach diefer franzöfifchen 
Dichtung gearbeitet. Strobl ftellte genauere Vergleiche an, 
und kam zu dem Ergebniß, daß das Iateinifche Gedicht 
nur die mittelbare Duelle fei; es gehöre ber Vorlage an, 
aus der Hartmann's directe franzöfifche Quelle gefloffen fei, 
von ber bie uns allein vorliegende Dichtung bei Luzarche 
verfchiebentlich abweiche. 

Lippold begnügt fich nicht mit diefem Reſultat. Er 
nimmt nochmal® genaue Bergleichungen vor, die zugleich 
die Dichterthätigfeit Hartmann’8 beleuchten, und zeigt 
uns einen andern Weg. Das lateinifche Bruchſtück ift 
bei ihm bald zur Seite gefchoben, benn er führt ben Be⸗ 
weis, und ich glaube, e8 ift ihm dies gelungen, daß das 
lateiniſche Gedicht, ftatt Hartmann’8 Duelle zu fein, 
vielmehr unigefehrt als Ueberſetzung nah Hartmann zu 
gelten habe. Die Bergleihung mit dem franzöfifchen 
Gedicht bei Luzarche führt zu dem Ergebniß, daß der 
deutfche Dichter von diefer Borlage nicht unmittelbar ab» 
bängig fein lönne wegen der allzu großen Abweichungen 
an verfciedenen Stellen bei fonftiger Uebereinflimmung. 
Diefes Ergebniß ift, wie man leicht fieht, noch meniger 
pofitiv al® das von Strobl gefundene. Wir willen jest, 
daß weder dus lateinifche noch das vorliegende franzöfifche 
Gedicht Hartmann’s Duelle fein kann, aber ein negatives 
Refultet ft auch eins. Die unbelannte Quelle kann 
nun eine Lateinische oder eine franzöfifche Faſſung fein. 
Möglich, daß uns ein glüdlicher Fund hierin noch Ge- 
wißheit bringt. 

Der zweite Theil der Abhandlung befhäftigt ſich mit 
ber Geſchichte der Legende, welche bekanntlich eine Art 
Dedipusfage ift. Lippold weift einen Zufammenhang mit 
diefer alten Sage nicht zurüd, geht die Wandlungen 
durch, welche dieſe im Laufe der Zeit erfahren, gedenkt 
der verwandten Sagen, wie unter andern der vom hei« 
ligen Albinus und ber ferbifchen Legende vom Findling 
Simon und kommt ſchließlich auf die Erzählungen von 
Gregor. Drei kennen wir bereitt. Nah Hartmann ifl 
ferner ein Iateinifches Gedicht in Herametern gearbeitet, 
von ber Eriftenz eines englifchen Gregor haben wir nur 
eine Nachricht, ferner befiten wir eine wol auf fran« 
zöſiſcher Borlage beruhende profaifche Sufammenziehung 
der Legende in ben „Gesta Romanorum‘‘, und ſchließlich 
das bdeutfche Vollsbuch. Lippold nennt nur Simrock's 
Bearbeitung, einen alten Drud erwähnt Görres in feiner 
befannten Schrift über die Vollsbücher. *) 

Die Schrift Lippold's iſt nit nur fleißig und gut 
diöponirt, und erjchöpft fo ihren Stoff, fondern fie ift 
zugleih ein trefflicher Beitrag zur Charafteriftit einer 
unferer liebenswürdigſten Dichter des Mittelalters; bei 
aller Beſchränkung auf deu zunächft liegenden Gegenſtand 
läßt fie uns auch im allgemeinen einen Blick thun in die 

au te Siegen ht Sea dat Inge Bee ae 


1) im fepwebifiger Oprade, 2) al® fpanifhe® Drama, und teilt 3) eine buls 
garifge Faſſung mit. 


1870, «. 


geiftige Werkftätte der Vorzeitdichter. Sie zeigt ferner 


ben engen Zufammenhang, den die deutfche Philologie 

mit der romanifchen hat und haben muß, wenn eine 

tiefere Kenntniß der beiderfeitigen Literaturen gewonnen 
werden fol. 

Einen weitern Kreis al8 die Abhandlung von Lippold 
unschreibt bie folgende Schrift, melde uns deshalb 
befonders intereffiren muß, da es fih auch in ihr um 
die Feſtſtellung der Duellen von einigen altdeutjchen 
Dichtungen handelt: 

5. Die Sage vom trojanifchen Kriege in den Bearbeitungen 
bes Mittelalters und ihre antiken Quellen. Bon Hermann 
Dunger. Leipzig, Bogel. 1869. Gr. 8. 16 Nor. 
Unter allen Sagenkreifen des Alterthums ift feiner 

mit folder Vorliebe gepflegt und in allen feinen Aus- 

läufern fortentwidelt worden wie der vom Zrojanifchen 

Kriege. Man fann fagen, daß fein antiker Sagenkreis, 

felbft nicht der von Alexander dem Großen, eine fo all- 

gemeine Verbreitung auch in der Zeit des Mittelalters 
fand wie gerabe diefer: nicht nur daß es viele, zum heil 
umfangreiche Bearbeitungen des Zrojanifchen Kriege gab, 
und zwar faft in allen europäifchen Sprachen bis zu dem 

Norden Islands hinauf, es leiteten fogar viele Völker 

nach dem Borgange der Römer ihren Urfprung von den 

Trojanern ab. Der Grund bdiefer Beliebtheit iſt eines⸗ 

theils wol in dem hohen Anſehen zu fuchen, welches 

Birgil im ganzen Mittelalter genoß, anderntheils Hatte 

der Stoff — Dunger nennt ihn nicht mit Unrecht einen 

romantifhen — an fih etwas Anziehendes für das 

Mittelalter, namentlich ſeitdem durd die Kreuzzüge bie 

Blide des Abendlandes nad dem DOften hingelenkt waren. 

In den mittelalterlihen Bearbeitungen dürfen wir freilid) 

nicht die Geſtalten Homer's fuchen; nicht nur das äußere 

Gewand, in weldem uns die Sage entgegentritt, trägt 

einen fremdartigen Charakter, auch “der Stoff felbft weicht 

oft wefentlih von den uns geläufigen antifen Ueber- 
lieferungen ab. Die Aufgabe, welche fi) Dunger vor- 
gefett, die mittelalterlihen Bearbeitungen des Trojanifchen 

Kriegs näher zu betrachten, und namentli die antiken 

Quellen, auß welchen jene gefhöpft find, einer eingehen- 

den Prüfung zu unterziehen, ift gewiß in hohem Grade 

anziehend und lohnend. Dunger befchränft ſich bei feiner 

Unterfudung auf die abendländiſchen Darftellungen. Er- 

wähnenswerthe Borarbeiten find zuerft Cholevius’ treff- 

liches Buch über die „Geſchichte ber deutfchen Poeſie 
nad ihren antiken Elementen‘, und fodann die Ueberficht 
über die Erwähnungen ber Trojanerfage in der mittel⸗ 
alterlichen Literatur, welche Karl Bartfch in feinem Werte 

„Albrecht von Halberftadt und Ovid im Mittelalter‘ 

gegeben, 

Zuerft werden „Die antiken Quellen ber mittelalter- 
lichen Trojanerkriege“ befprochen. Die Hauptquelle ift die 
fpät lateinifche Erzählung des fogenannten Dares Phry- 
gius. Dunger führt den Nachweis, einmal daß ein 
griechifcher Dares nicht eriftirt, und zweitens, mas burch 
das ganze Buch immer feftgehalten und betont wird, daß 
ed einen ausführlichern Dares als ben uns vorliegenden 
nicht gegeben hat. Dem Dares reiht fih an: der Dictys 
Cretenfis, ſodann Homer, aber nicht der alte und echte, 
von dem man im Mittelalter nichts wußte oder nicht 


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730 Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur. 


viel Hielt, fondern die unter dem Namen bes Pindarus 
Thebanus uns überlieferte „Epitome Iliados Homericae“. 
Zu diefen drei Schriftfielleen Tommen als andermeitige 
Quellen nod; hinzu: Ovid, Virgil und Statius. 

In einem weitern Kapitel werben bie lateinifchen 
Gedichte des Mittelalters vom Trojanerkriege genannt, 
geihildert und auf ihren Inhalt hin mit Beziehung auf 
die benugten Duellen geprüft. Einen wefentlih andern 
Eindruck als diefe gelehrten Arbeiten, welche trog mander 
Freiheiten dennoch im allgemeinen das Gepräge des Alter- 
thuns an fid) tragen, machen die Trojanerlieder der höfi- 
fen Dichter, in welchen bie Helden des Alterthums zu 
mittelalterlichen Rittern werben. Ihnen widmet ber Ber- 
faffer in feiner Schrift befondere Betrachtungen. Der ältefte 
diefer romantifchen Dichter ift der nordfranzöfifche Trou ⸗ 
vere Benoit de Sainte-More (III), welcher um bie Mitte 
de8 12. Jahrhunderts blühte. Seine Hauptquelle ift Da- 
res; wo biefer nicht mehr ausreicht, folgt er dem Dietys; 
nebenbei benugt er gelegentlich Ovid, Virgil, Julius 
Honorius Orator und wahrfcheinlich Drofins. Die 
Epifode vom Liebesverhäftniß zwifchen Brifeida und Troi- 
lus ift von Benoit erfunden. Ans Benott übertrug fie 
Guido von Columna in feinen lateiniſchen Roman von 
Troje, aus Guido entlehnte fie Boccaccio, welcher fie in 
feinem „Filostrato“ felbftändig bearbeitete und Brifeida 
zu Grifeida umänderte. Aus Boccaccio entnahm diefen 
Stoff Chaucer in feinem „Boke of Troilus and Creseida”, 
und aus legterm ſchöpfte hauptſächlich Shaffpeare. 

Der ültefte deutfche Nachfolger Benott’s ift Herbort 
von Fritslar (IV). Ueber ihn faßt ſich Dunger kurz, da 
in ber Quellenfrage Frommann in feiner Ausgabe von 
Herbort's Lied von Trope, wie auch in einem Auffage in 
Pfeiffer’s „Germania“ ſchon voransgegangen iſt. 

Eingehender ſpricht der Berfaffer über Konrad von 
Würzburg (V), von welchem bie bebentendfte Feiftung des 
Mittelalters auf dem Gebiete der Trojanerfage herrührt. 
Konrad’ Hauptquelle ift Benoft, aber er ergänzt und 
erweitert biefe feine Vorlage aus Ovid's „Heroiden” und 
„DMetamorphofen” und aus ber „Adjilleis” des Statius. 
Das gerechte Urtheil Dunger’8 über die glänzenden Bor- 
züge Konrad's wie über feine Schwächen unterſchreibe 
ich Wort fir Wort. Auf diefes Urtheil möchte ih um 
fo lieber hinweiſen, als Konrad meiftens über Gebühr 
unterfhägt wird. 

Konrad’8 unvollendetes Werk ift von einem uns un- 
befannten Dichter zu Ende geführt worben, welcher einer 
andern Quelle folgt, nämlich bem Dictys, daneben finden 
ſich Anflänge an Dares und Virgil. Der Fortfeger ar« 
Beier phantaflelos in firenger Abhängigfeit von feiner 

elle. 

Auch nad) Italien drang Benoit’8 Wert. Dort wurde 
es don Guido be Columna (VI) in einen lateiniſchen 
Profaroman umgearbeitet; außerdem benutzte Guido ver» 
einzelt den Dares. Dunger faßt die „Nachfolger Guido’s 
und Konrad’s in einem Kapitel (VII) zufammen. Auch 
der Dramen des Hand Sache wird Hier gedacht, melde 
der Trojanerfage angehören. Außerhalb der zulegt ber 
hanbelten Gruppe von Bearbeitungen dieſer Sage fteht 
der Trojanerfrieg bes Pſeudo · Wolfram von Eſchenbach (VII). 
Der Berfaffer benugt Teine beftimmte Quelle; er jcheint 








aus dem Gebädtnig allerlei Darftellungen niedergeſchrie - 

ben zu haben mit Hinzufügung einer Fülle eigener Er— 

findungen. 

Das letzte Kapitel (IX) Handelt von der nordiſchen 
Trojumanna Saga. Ihre Hauptquelle it Dares, dieſer 
wird ergängt in der Argonautenfage au Dvid, in dem 
Trojaniſchen Kriege aus dem Lateinifchen Homer; den Schluß 
macht Birgil; die eingeflochtenen Erzählungen aus der 
Mythologie find aus Theodulus und Dvid entnommen. 

Zur befiern Weberfiht über das Verhältniß der eins 
zelnen Bearbeitungen zu ihren Onellen ift am Schluffe 
eine Tabelle beigefligt. 

Aus der gewonnenen Thatſache, dag der Dares des 
Mittelalters identiſch ift mit dem uns überlieferten, er— 
gibt ſich zugleich ais intereffanter Beitrag zur Cultur« 
geſchichte jener Zeit, „daß das Mittelalter durchaus nicht 
ganz losgelöft war von den Traditionen des Alterthums“. 

Auf verhältnigmäßig knappem Raume ift in Dunger’s 
fleißiger, echt wiſſenſchaftlicher Arbeit eine der umfafjend- 
fen Fragen in lichtvollſter Weife behandelt und beant- 
worte. Des Verfaſſers Darftelung und Schreibart iſt 
in hohem Maße gewandt, woburd die Lektüre feiner jo 
gelehrten Abhandlung weniger eine Arbeit als ein Ber- 
gnügen ift. 

Die Unterfuhungen über die Benugung der Quellen 
find literarhiſtoriſcher, zum Theil auch antiguarijcher 
Natur. Zugleich aber ſchließen fle bedingungsweife aud) 
ein fünftlerifches, Afthetifches Element in fi, welches, 
foweit mir bisjegt die Dichterthätigfeit unſerer mittel- 
alterlihen Poeten zu beurtheilen vermögen, meift mur 
vorübergehend berührt wird. Es wird aber die Zeit kom— 
men, wo bie zu ſichern Nefultaten gelangte Quellenfor- 
hung auch oder ausfcjlieglich Mittel ift zum Zwed der 
äfthetifcden Beurtheilung. 

Eine andere fünftlerifche Seite betrifft die Form, 
welche unausgefegt die Forſchung angeregt Hat und nie 
aufhören wird zu immer neuen Beobachtungen zu reizen. 
Bisjegt haben die metrifchen und rhyihmiſchen Studien 
fich vorzugsweiſe im Gebiete des Stofflichen bewegt, fo fein 
und buftig dies aud; fein mag. Der xhetorijchen Seite 
wird ſich erft in Zukunft die Aufmerffanfeit zuwenden. 

Die folgende Meine Schrift hat es auch mit einem 
geroiffermaßen techniſchen Elemente der Dihtkunft zu thun, 
zu befien wirklichem Verſtändniß der Verfaſſer weſenilich 
beigeſteuert hat: 

6. Ueber Otfrid's Versbetonung von Richard Hügel. Leipzig, 
Bogel. IN ©. 8. ft Nor. oerh gua Mi 
Die Einzelheiten find fo fpecieller und gelehrter Art, 

daß wir hier über fie Hinmeggehen miüfjen. Wenn ich 

Hügel’8 Abhandlung hier erwähne, fo kommt es mir dar- 

auf an, die für bie Literaturgeſchichte wichtigen Ergebniffe 

hervorzuheben. 

Seit Lachmann's grundlegendem Aufjage über alt- 
hochdeutſche Betonung und Verskunſt ift nad) Hügel’s 
Anſchauung nichts von Belang veröffentlicht worden, was 
ſich auf die Metrit der ältern Periode fpeciell bezöge und 
igre Erfenntniß förderte. Das ift richtig, fobald wir das 
Bort „von Belang“ betonen. Kelle's in Ausficht geſtelite 
Metrit Otfried's wird noch lange auf fd) warten laſſen, 
darum ift es ganz wohlgethan, wenn verſucht wird da 





Kleine Schriften zur altdeutſchen Literatur. 731 


anzufnüpfen, wo Lachmann aufgehört hatte. Wie feft 
auch die von Lachmann gefundenen Regeln ftehen, fo kann 
es doch nicht fehlen, dag im einzelnen andere Grundfäge 
aufgeftelt und begründet werben. Auch Hügel befindet 
fid) in einer Richtung im Gegenfag zu Lachmann. Wer 
vorurtheilsfrei bie von Hügel vorgebrachten Beweife nadj- 
prüft, wird ihm recht geben müffen, woburd) Lachmann's 
unfterbliches Verdienſt nicht im mindeften gefhmälert wird. 

Die Metrif, wie fie am beutlichften und bewußteſten 
in Otfried's Evangelienbuche gehandhabt ift, wurde von 
Lachmann und feinen Nachfolgern auch auf andere Dich- 
tungen, fogar auf alliterirende des althochdeutſchen Zeit- 
raums übertragen. Dagegen ift ſchon von anderer Seite 
aus Einfpradhe erhoben worden. Hügel wirft am Schluß 
feiner höchſt fleißigen, wohlgeorbneten und an feinen Ber 
merfungen reichen Abhandlung einen Blid auf diefe an» 
dern Dichtungen. Sie find zum Theil den aufgeftellten 
metrifchen Gefetzen nicht entgegen, andere aber gehen ihren 
befondern Weg. . 

Das „Hildebrandalied‘ — fo urtheilt nun au Hügel — 
fügt ſich den aus Otfried abgeleiteten Betonungegejegen nicht; 
dies macht die fonft wol gerechtfertigte Aunahme von vier Her 
bungen in etwas bebenllid), weni, —* muß man ſagen, daß 
der Dtfrieb’fhe viermal gehobene Vers in ihm nicht zu finden 
ift. Vom „Muspilli' Hat Mülenhoff e8 mir nicht wahrſcheinlich 
gemacht, daß in ihm der Vers von vier Hebungen burdzufüh- 
ren ſei. Ganz verkehrt aber ift es, wie namentlich Feußner 
gethan hat, aus den Meinern alliterivenden Gedichten, indem 
man fie diefem Schema gemaltfam anpaßt, merkwürdige Ge- 
fege abzuleiten, während man doch erſt bie Anwendbarkrit die- 
fe® Versſchemas auf fie erweiſen müßte. 

Man darf begierig fein, zu erfahren, zu melden Re⸗ 
fultaten die künftige Metrik Otfrieb's von Kelle gelan- 
gen wird. 

Suchen die Ueberfegungen die ältere Literatur unferer 
Gegenwart wieber nahe zu bringen, fo ift daneben ber 
andere Weg betreten und verfolgt worden, die Urterte 
diefer alten Denkmäler durch Erklärung zugänglich zu 
maden. Solche Beftrebungen reihen weit zurüd, fie 

“haben ſchon ihre Geſchichte; an ihnen ift deutlich wahr- 
zunehmen, wie hier das Intereſſe ſowol wie das Ber 
fändnig nad) und nad) gewachſen ift. Erſt in neuerer 
Zeit wurde bie Erflärung altdeutfcher Schriftwerke mit 
theovetifchen Bewußtfein vorgenommen, die in den Zeiten 
des Anfangs nad dem jeweiligen Bedürfuiß oder nad) 
fubjectivem Ermeflen geſchah. Mit der Theorie ift natür- 
üch auch ſogleich der Widerſpruch Herausgefordert. Dem 
Widerſpruch gegen ein bekanntes, nicht mit Ungunſt 
aufgenommenes Unternehmen verdankt, wenigſtens zum 
Theil, die folgende kleine Schrift ihre Entſtehung: 

7. Einführung iu das Studium des Mittelhochdeutſchen. Zum 
Selbſtunterricht für jeden Gebildeten. Bon Inlius Zu- 
piga. Oppeln, Reifewig. 1868. Gr. 8. 16 Ngr. 

Ein fehr wohlgemeintes Bud. Zupitza möchte durch 
feine Arbeit jedem, der ben ernften Willen Hat, Mittel 
hochdeutſches verftehen zu fernen, das lebendige Wort eines 
Lehrers, der nicht für jeden zu erreichen ift, nach Mög- 
lichkeit erfegen. Er wählt dazu das „Nibelungenlied“, 
aber nicht das ganze, fondern nur den Abfchnitt, der 
von der Werbung des Burgunderfönige Gunther um 
Brunhild von Ifenftein Handelt. Er überfegt Strophe 


für Strope, beſpricht die grammatifh wichtigen Dinge, 
erflärt die und verloren gegangenen ober in der Bebeu- 
tung veränderten Worte, macht auf bie ſyntaktiſchen Eigen» 
thumlichteiten aufmerffam und zieht aud die Metrit her 
bei. Dies alles in fachgemäßer tüchtiger Weile. Wollte 
man im einzelnen fritificen, fo ließe fi Hier und da 
etwas ausſetzen, aber im allgemeinen kann Zupitza's An« 
feitung mit doller Ueberzeugung empfohlen werben. 

Bei der pädagogifchen Tendenz des Schriftchens hät- 
ten wir feine Veranlafjung, ihm in d. Bf. cine Bes 
fprehung zu widmen, wenn nicht im Vorwort eine Stelle 
vorkäme, welche uns auf das literarifche Gebiet weilt. 

Zupiga nämlic) kommt hier, wo er die Nothwendige 
keit betont, bie Schäge unferer erften claſſiſchen Fiteratur« 
periode in das geiltige Peben der Gegenwart wieder ein» 
zuführen und fie in der Urſprache, micht in Ueberſetzung 
zu genießen, auf das befannte Unternehmen Franz Pfeife 
fer's und feiner Genofjen zu ſprechen; er erfennt das 
Berdienftliche deiielben an, „allein der Weg”, fett er Hinz 
zu, „den fie (jene Männer) eingefchlagen haben, muß 
mir als verfehlt erjcheinen. Ihre Ausgaben bezwecken 
nur mechaniſches Verſtandniß der jedesmal vorliegenden 
Stelle, nicht zugleich Eindringen in die Sprache, befons 
ders in ihren grammatifchen Bau, welcher befähigte, aud) 
ohne ſolche Ausgaben mit alleiniger möglichft befchränfter 
Benugung des Wörterbuchs Mittelhochdeutſches zu leſen.“ 

Afo „verfehlt“ erſcheint dem jungen Gelehrten das 
Unternehmen wegen feiner Form. Das ift freilich höchſt 
betrübend für die Herausgeber, allein das Unglück ift ein- 
mal gefchehen, das Unternehmen ift im Gange, ein Band 
folgt dem andern, von den erften Bänden find boppelte, 
von Walther von der Vogelweide fogar drei Auflagen 
nöthig geworben. Somit ſcheint das deutjche Publitum, 
und unter ihm gewiß auch eine Anzahl gelehrter Leute, 
die Pfeiffer'ſche Clafjiterfanmlung doch nicht als ein vers 
fehltes Unternehmen betrachtet zu haben, Was Zupitza 
als einen Fehler rüigt, ift gar feiner, Daß die Art der 
Erklärungen, die ganze Einrichtung noch der Berbefferung 
fähig ift, leugne ich am wenigften, der id) der Samm— 
tung feit ihrem Beginn meine Dienfte gewidmet und auch 
zwei Bände felbjt herausgegeben habe. Wir Herausgeber 
wollen gar Feine Spracjlenntniffe principiell fördern um 
ihrer felbft willen, wir beabjichtigen Stellenerflärung, die 
immer das erfte Ziel philologijcher Thätigfeit geweſen ift. 
Zupiga ſcheim allen Ernftes zu glauben, die Claffifer« 
fammlung wäre dazu da, um mittelhochdeutſch zu lehren, 
während der Zwed ein literarifcher und dann ein äftheti« 
ſcher if. ; 

Zupiga fucht nun auf andere Weife zu erflären; e 
bietet eine Art Präparation oder, wenn man will, eine 
Art Collegienheft. Geſetztenfalls, es mähme fichicimLich- 
Haber der alten Sprache und Liierature dit MAERSiefe 
Anleitung, tüchtig durchzuarbeiten, gtgtiöt IHRE" Bhfäiter, 
daß ein folder dann im Stande Bet, ‚den Kanye von 
der Vogeiweide friſchweg Nu — V—— Pder 

i ansHihrlicher 
Weiſe erflärt .merbend Bert holktnDdenniobagiralinärkien, 


folen die andern Schräätitehennand „it ı 
mer folte ſolche Biicher ntihfenköct die BurlegehmrnT 





Zupige’s Unternehmen iſt gang Topp "Hh“gte "Aber 
es ift beinahe fühn, ein ſolches Bud Kelle 
92 * 


9 
= 


132 


der Pfeiffer’fchen Glaffiterfammlung in Verbindung zu 
bringen. Diefe „Einflihrung” in das Studium des Mittel 
hochdentfchen bat ihre Berechtigung, aber es beburfte nicht 


Eine neue Dichtung von Adolf Böttger. 


zu ihrer Motivirung und Empfehlung einer Gegnerfchaft 
gegen ein Unternehmen, welches viel Höhere Ziele verfolgt. 
Reinhold Bechſtein. 


Eine nene Dichtung von Adolf Köttger. 


Das Galgenmännchen. Dramatifche Märchendichtung von Adolf 
Böttger. Leipzig, Kormann. 1870. Br. 8. 1 Thlr. 

Ein Lebenszeichen bes erkrankten Dichters, der durch 
feine anmuthige Formgewandtheit und bewegliche Phantafie 
wie durch fein ſeltenes UWeberfegertalent fo viel Erfreu- 
liches geleiftet hat, wird gewiß allgemein willfommen fein, 
um fo mehr, wenn ber Inhalt ein fo origineller ift wie 
in diefem „Galgenmännchen“, ein Thema, welches, in ben 
Zeiten des Tieck ſchen „Phantafus” behandelt, dem Dichter 
gewiß eine Stelle unter den damals modifhen Romanti⸗ 
fern verichafft Hätte; denn der Stoff erinnert an den 
„Fortunatus“, welchen Lubwig Tieck in fo umfafjender 
Märchendichtung behandelt Hat. 

Adolf Bottger's Behandlungsweife unterjcheidet ſich 
indeß wefentlich von der romantifchen, welche fi nament- 
lich in einem vomanifchen Strophencarneval, in Stanzen, 
Sonetten, Terzinen gefiel und ihren Humor in Concettis 
und etwas altfräntifhen Wigturnieren, „Euphnismen‘, 
nach Lilly's und Shalfpeare’8 Vorgang zuzufpigen liebte. 
Adolf Böttger hat zwei Borbilder — Goethe und Byron, 
jenen namentlich, für die genrebilblichen und humoriſtiſchen 
Scenen, biefen für die Ergüffe mit poetifchem Schwung. 
Es ift der Stil des „Fauſt“, der und aus dem Gedicht 
am meiften in die Ohren klingt, bis in bie baftyliich 
ſchwebenden Chorgefünge hinein. Auch die Vorliebe für 
die dialogifch infcenirten Genrebilder, die im Vergleich zu 
dem Umfang der Dichtung eine fehr große Breite in An- 
ſpruch nehmen, gemahnt an bas Goethe’fche Vorbild. Die 
Scenen im Weinſchank zur „Stadt Zürich” gemahnen an die 
Scenen in Auerbady’3 Keller, die Scenen auf bem Marft- 
plas an den Jahrmarkt in Piundersweilern, während bie 
Scenen des Mastenballd an den zweiten Theil von Goethe's 
„Fauſt“ erinnern, ebenfo bie Schatten des Hochmuths, 
der Armuth, der Erinnerung an die allegorifchen Geftal- 
ten, mit denen der greife weimarifche Poet die ftodenbe 
Handlung des zweiten Theil feiner Fauftdichtung in Fluß 
zu bringen fudhte. 

Ganz in die Byron'ſche Manfred- Stimmung verfegt 
uns bagegen der folgende bichterifch -fchöng Monolog: 
(Später Abend. Der Mond geht auf, Über Felfen, Walb und 

tiefe Schluchten fcheinend.) 
Theobald. 

So bin id) denn verfioßen und verlaflen, 

Berdbammt zu namenlojer Oual! " 

Noch einmal will id dich, Ratur, umfaffen, 

Noch einmal — body zum Teßten mal. 

Hoch Über mir die Gletſcher, diefe blanten, 

Eifigen Nachbarn der Geflirne, 

Zur Seite fleil die wildgezadte Firne, 

Barhänptig, ohne Schmud Iebend’ger Ranken, 

Darunter wild und böllenmädhtig 

Die grauenvolle Schlucht, 

Durch deren Bucht, 

Erhaben prächtig, 


Erhellt vom Mondes Silberſtrahl, 

Die wilden Wafſſer ſtürzend ſchäumen, 

Und mit der Wellenkämme Bäumen 

Herniederdonnern in da tiefe Thal. 

Dicht Über diefer Schluchten grauf’ge Radıt 

Hält mandje Fichte, die bei Sturmeswettern 

Die rollenden Feljenftüde niederfchmettern, 

Als trener Steg die Waffer üÜberdacht. 

Und auf dem Etege, fröhlich fingend, 

Sein Hab’ und But anf firammer Schuiter ſchwingend, 

Wallt furchtlos, leicht ein Wanderer dahin; 

Der Glücliche! 

Gewiß bat er fein Weib, fein Tiebes Kind im Sinn! 

Dod ih? — — 

Meh! ich bin fertig mit der Zeit und Welt, 

Mir ift das Leben durch mid) felbft vergäft. 

Sollt' ich das Leben friſten no in Schmach, 

Mir jelbft zur Laſt? — 

Nicht geb’ ich Tänger nad! 

Beſchloſſen iſt's — mir griufi aus jedem Strauch 

GSeipenfterbaft ein drohendes Geſicht; 

Erſchütternd weht um mid ein Geiflerhaud), 

Daß mir das Herz faft vor dem Tode bricht! 

Das Licht des Monde umfchleiern Wollen dicht! 

Weh mir! — 

Wir wollen durch bdiefen Hinweis nicht bie Selb- 
ftändigfeit der Dichtung verdächtigen; es ift ja das Los 
aller heutigen Pocfie, daß man nad ihrem Stammbaum 
und ihrer Ahnentafel fragt. Der Stoff. der Böttger'ſchen 
Märchendichtung hat manche höchſt originelle Seite, 

Theobald , eines armen Edelmanns Sohn, deſſen 
Mutter fchon bei der Geburt farb, zeigt auf der Schule 
wenig Sinn für die hohe Wifjenfchaft, da ihn feine Phan⸗ 
tafle in eigene Bahnen hinzieht. Als nun auch der 
Vater firbt, nimmt er Dienfte bei dem benachbarten För« 
fier, um friſch und frei die Waldnatur zu genießen. Da 
gerieth er aber in wüſte Gefelfchaft, wurde vom Förſter 
entlaffen — und mußte feiner Piebe zu der fanften Martha 
entfagen, weil bie fterbende Mutter nicht das Kind in 
eines Wüſtlings Hände legen wollte. Martha gibt den 
Ring zurid und ſchwört, jeben Gedanken an Theobald's 
Liebe aufzugeben; die Mutter ſtirbt getröftet. 

Das ift die erſte Scene der Dichtung. Die zweite 
bringt und jenen byronifirenden Monolog. Theobald will 
fih, nachdem Hochmuth, Armuth, Erinnerung ihm er- 
fchienen find, in die Flut flürzen, als ein Mann in 
Schwarzer fpanifcher Reitertracht ihn zurückhält. Cr bietet 
ihm eine billige Gabe an, durch welche ex als reichfter 
Cavalier und Liebesheld leben Tann: 

Weiß nicht, ob Ihr geheime Weſen kennt, 

Die man gewöhnlich „Galgenmännchen“ nennt, 
Und die fo manchen lieblich ſchon bethört. 

Sind Teufelden, in Gläslein eingefchloffen. 
Wer fold) ein Glas befigt, wird nie berdroffen, 
Denu er gewinnt von ihm, was nur das Leben 
Des Schönften, Sinnlichſten vermag zu geben, 





Eine neue Dichtung von Adolf Böttger. 733 


Bor allen Dingen unermeßlid Gold. 

Das Männlein ftellt nur den Beding dagegen, 
Daß der, dem es auf Erden bienfibar hold, 
Nah feinem Tod es drunten müſſe pflegen. 

Das heißt, wenn der Beſitzer, eh’ er ftirbt, 

Den Heinen Geiſt nicht von ſich abgemenbet. 
Dies muß durch Kauf gefchehn. Wer e8 erwirbt, 
Zahlt wen’ger, als ber Borige geipenbet. 

Meins Toftet zwei Dulaten; — gebt mir einen, 
Und es ift euer. 


Seifterhöre von oben und von unten fuchen Theo- 
bald's ſchwankenden Entfchluß verfchiedenartig zu beftim- 
men. Sein Hauptbedenken, daß er fein Geld hat, ent- 
fräftet der Spanier durch den Rath, in ben Weinſchank 
zur „Stadt Zürich” zu gehen und fidh dort einen „hel- 
fenden Kumpan“ zu fuchen. Dort borgt Theobald in der 
That von dem Wirt ein Goldftiid und kauft das „Galgen⸗ 
männlein”, . 

Die Scenen im Weinfhant find fehr lebendig; das 
Lied ber Studenten vom heiligen Paulus ift durchaus 
frifh und volksthümlich: 


Solo mit Chor. 
Zu Leipzig im Panlinum, 
Da ftebt der Heil’ge Paulns, 
Doch wünſcht man den Gambrinum 
Biel lieber als den Saulus. 
Sehe Ellen von der Erde 
Steht er mit feinem Schwerte; 
Er wacht am Kirchengiebel 
Mit aufgeſchlagner Bibel. 

Chor. 


Baulne, warum, warum 
Wendſt du das Blatt nicht um? 


5 Solo. 

Wenn er die zwölfte Stunde 
Zu Mitternadt hört ſchlagen, 
Soll dem Studentenbunde 
Ein Stern des Fortſchritte tagen. 
Panl ſchlägt dann auf dem @tebel 
Ein Blatt um in der Bibel 
Und lämpft mit feinem Schwerte, 

. Daß Licht und Freiheit werde. 


Chor. 


Paulus, darum, darum, 
Wende das Blätthen um! 


Solo, 
Studenten gehn vorüber: 
Mag's jchlagen, mag es tagen! 
Wir grämen uns nicht drüber, 
Hört er's nicht zwölfe fchlagen. 
Beim Alten zu verhbarren, 
Das macht uns nit zu Narren. 
Wer will mit dreiften Händen 
Die Privilegien fchänden ? 
Chor. 


Baulus, darum, darum 
Wende das Blatt niht um! 


Solo. 

Der Paulus ift von Steine, 
Kann nit das Blättlein wenden, 
Doch ihr von Fleiſch und Beine 
Könnt manchen Unfug enden. 
Bir flehn vor den Gerichten 

Ar glei an Recht und Pflichten. 
Iſt feiner, den's beflimmert, 

Der falſches Hecht zertrlimmert? 


Chor. 
Brüber, darum, darum 
Wendet das Blätthen um! 


Auch fonft enthält die Scene drollige Einfälle, wie 
3. B. glei) am Anfang, wo der eine Weinreifende das 
Monopol des Deliriums für fih in Anſpruch nimmt: 


Meinreifender (dem andern zutrinfend,) 

Karl! du Haft das Delirinm! 
Anderer. 

Meinshalb! was kümmerſt du dich drum? 
Seh’ ih in jeder Ed’ auch Mäufe 
Und Raten, Spinnen, Uhrgehäuſe, 
Drin Ihwarze Männer Infiig ſpringen 
Und immer, immer tictac fingen, 
Das geht di, Bruder, gar nidhts an. 
Der Wafferfrug madt nimmer Hug und dreift, 
Der Wein ift der Porten heil'ger Seit 

Die legte. Behauptung ift doch nur gültig mit großer 
Einfhränfung. In der Weinlaune ift noch fein unfterb- 
liches Lieb gedichtet worden. 

Driginel ift auch der Pedant Engelöberger, der fein 
ganzes Leben „nach Principien” führt und als er feine 
drei Hauptgrundfäge erpliciren will, das dritte Princip 
auf einmal nicht mehr finden Tann. 

Im Befig des dämoniſchen „Salgenmänndens” gibt 
ſich Theobald nun dem Glück der Liebe Hin, das er in 
den Armen einer Hetäre Helene findet, troß ber begriin- 
beten Einwendungen, welche der Geift der Wehmuth gegen 


dies Glück macht. Im Gegeuſatz zu den frivol beleuch⸗ 


teten Salonfcenen ftehen die Scenen in ber Hütte der 
Martha, welche mit dem Einfiebler Gregor fromme Dia- 
Inge führt. Wir erfahren aus biefer Unterhaltung, daß 
Theobald der Martha große Summen Goldes gefchidt 
bat, welche diefe aber zurückwies. Dagegen ift fie im 
Beſitze eines Amulets, welches ihr die fterbende Mutter 
gab, einer Seltenheit ans ber älteften Zeit der Franken, 
mit welcher es, wie uns der Eremit auseinanderſetzt, fol« 
gende Bewandtniß hat: 

Biſchof Remigius bat fi dies Heine Stüd 

Bom Köni Ehlebwig als Gejchent erbeten, 

Indem er Hab’ und But, fein ganzes Erbenglüd 

Der Kirche Chriſti frendig abgetreten. 

Die allerfleinfte Minze wollt’ er nur, 

Doch mit des Könige Bild, zum Angedenten; 

Das theuerſte von feines Herren Geſchenken 

Trug er fie Zag und Nacht an einer Schnur. 

Bar Chlodwig gleich doch feinem Wunfch gewillt, 

Ließ eigens ihm die Heinfte Münze prägen. 

Des frommen Biſchofs Glaube war geftillt, 

Zufriedenheit nur fei des Lebens Gegen. 

Du trägft die Münze jetzt mit frommer Schen: 

O! bleibe die Zufriedenheit dir treu! 

Theobald Lebt inzwifchen in Saus und Braus, Tyeften 
und Bällen. Die Schilderung eines Maskenballs bietet 
manches pilante Bild. Der Dichter des „Hrüblings- 
märchen“ zeigt fi) uns wieder in dem humoriſtiſch⸗ 
phantaftifchen Lieb der Pilze: 

Trüffel, Morchel, Moucheron, 

Kommt zu Tanz und Schmauſe! 

Bir und Marquis Champignon 

Sind bier recht zu Haufe. 

Bovift und Graf Fliegenſchwamm 
Sind die größten Leute; 

Gift des Gelds nur macht fi ſtramm 
Ale Welt zur Beute. 


” 
1 
—* 
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2° wi 





134 


Armuth ift ein ſchwach Infekt, 

Muß ſich drehn und menden; 
Sticht und wehrt ſich's grolfgewedt, 
Wird es bald verenden. 

Reichthum einzig hat das Recht, 
Unbill nie zu tragen: 

Bir, das reiche Pilzgefchlecht, 
Können alles wagen! 

Helene wirft das „Galgenmännchen“ zum Fenfter hin- 
aus in den Fluß; doc es Fehrt augenblidlich wieder 
zurüd und ift nur etwas getauft worden. Theobald fchenft 
e8 dann dem Doctor, nachdem er voll innerer Unbefrie- 
digung über bes böfen Geiſtes geheimnißvolle Hulb einen 
Fauſtiſchen, das Gold verdammenden Monolog gehalten 
bat. Ohne feinen Talisman nun in Geldnoth, trifft der 
Held auf einem Jahrmarkt einen Tabuletfrämer, der ihm 
feinen ganzen Sram verlauft gegen ben letzten Seller, 
der in Theobald's Beſitz if. Die Waare findet glänzen- 
den Abfag; denn, o Wunder, unter bem Kram befindet 


Zur Dämonologie. 


ſich wieder das Männchen in der Flaſche. Theobald 
ſchleudert das Fläfchchen auf die Steine — vergebens! 
Er kann nad den Bedingungen bes urſprünglichen Er- 
werbs den böfen Geift nur gegen die Hälfte des Ein- 
kaufsgeldes los werben. Einen Heller hat er bezaglt, er 
jammert jet vergebens nach einem halben Heller. Und 
nun ift e8 ein finnig tiefer Gedanke, daß das Amulet 
der frommen Martha dieſer halbe Heller ift, durch welchen 
der fterbende Theobald vom Fluche exlöft wird. 
ebenfalls ift dieſe Böttger'ſche Märchendichtung reich 
an originellem Gehalt, troß der Anklänge des dichterifchen 
Tone. Sie enthält Stellen von großer poetifcher Schön- 
beit, und wenn auch einzelne Allegorien, wie die ber „Gicht“, 
etwas gefucht, einzelne Geiſterchöre, wir möchten fagen, 
hyperlyriſch gemahnen, fo ift doch das ganze Werk wieder 
das Zeugnif eines grazidfen, Tiebenswitrdigen Dichter⸗ 
geiftes, deffen neuen Schöpfungen wir gern begegnen. 
Audolf Golttſchall. 


Bur Dümonologie. 


Geſchichte des Teufels. Bon Guſtav Roskoff. Zwei Bände, 
eipzig, Brodhaus. 1869. 8. 5 Thlr. 

„Der Teufel ift los! Die Berruchtheit eines ein- 
zelnen, der feinen Thron für fi und feine Familie 
ſichern will, bricht die Gelegenheit zum Krieg zwiſchen 
zwei Gulturnationen vom Zaune, und all ber Schmerz 
der Wunden, al die Thränen der Waifen und Witwen, 
der Aeltern und Gefchwifter, al die Noth und Greuel 
der Verwüſtung des Landes und der Verwilderung der 
Sitten find ihm nichts! Und das franzöfifche Volt klatſcht 
ihm Beifall, die Staatsmänner wollen uns Deutjchen 
verbieten, daß wir nach eigenem Sinn uns eine Reich- 
verfaflung geben, die Schriftfteller übertreffen fih in 
maßlofem Schimpfen, in frechem Lügen, um eine gewiſſen⸗ 
loſe, frivole Geiftreihheit der Feuilletonphraſe glänzen zu 
lafien, und die Menge taumelt in Größenwahnftnn und 
Selbftverblendung dem Führer nad, der fie in Kampf 
und Elend best, um fie. gefnechtet zu Halten!” So fagte 
id) entrüftet zu einem befreundeten beutfchen Poeten. Er 
erwiderte in vollem Ernſt: „Und da leugnet ihre die 
Perfönlichfeit des 658 gewordenen negativen Principe! 
Groß Macht und viel Liſt fein graufam Nüftzeng ift! 
hat fchon Luther gefungen. Wie wäre denn dieſe dämo⸗ 
nifehe Gewalt zu erflüren, wenn fie nicht einen gewal« 
tigen Dämon zum Träger bütte? Es wird cine ſchwere 
Arbeit werden, aber wir werden ihn doch befiegen, denn 
Gott ift mächtiger al8 er. — „Ya, Gott ift mit ung!“ 
fuhr ih fort. „Dieſe Vegeifterung fürs Vaterland, die 
auf einmal Nord und Süd einig macht, biefer Todes— 
muth fir ideale Lebensgüter, dieſe Ueberwinbung ber 
Selbſtſucht und aller Heinlichen Bedenken, diefe Opfer- 
frendigfeit zeigen uns, wie der eine allmaltende Geift bes 
Guten und Wahren fih in all den Seelen regt und be- 
zeigt, damit er durch fie feine fittliche Weltorbnung be- 
währe. Zeigen wir uns dieſes großen Augenblides werth, 
diefer Offenbarung Gottes in der Weltgeſchichte!“ — 
„Die du anerfennft, das weiß ich“, verfegte her Freund. 


„Wie magft du da den Dämon leugnen, deffen Wirken du 
doch ſelber gefchildert haft?” 

Dies Geſpräch aus dem Anfange des glorreichen 
Auguftmonats erinnerte mich an das Buch, welches id) 
zu vecenfiren übernommen, und ich finde endlich Zeit, 
mein Berfprechen zu halten. Es ift ein tüchtiges, ge⸗ 
lehrtes und doch allgemein verftändliches Bud, und vor 
allem ift zu rühmen, daß der Verfaſſer, ein prote- 
ftantifcher Theolog in Wien, mit voller wiſſenſchaftlicher 
Unbefangengeit und ohne dogmatifche Boreingenommendeit 
an das Werk gegangen, die ner fung geführt und die 
Ergebniffe dargeftellt hat. Möge der Muth, der unfere 
Krieger auf dem Schlachtfelde befeelt, auch bald wieder 
auf religiöfem Gebiet fid) erweifen, möge das Recht der 
eigenen Ueberzeugung über die Zurechtmacherei und bie feige 
Anbequemung, über die Geifteöträgheit fiegen! 

Roskoff beginnt mit ber Frage: Wie gelangt ber 
Menſch zur Vorſtellung eines übermenfchlichen böfen 
Weſens? Wie bildet ſich ber religiöfe Dualismus ? 
Er reiht daran die Unterfuchung, mie diefer Glaube 
im Mittelalter feine höchſte Macht gewonnen ; er 
ſchließt mit der Darftellung feiner Wiederabnahme in ber 
neuern Zeit. 

Roskoff geht von der Natur und dem Naturmenfcen 
aus. Nach den Wirkungen der umgebenden Natur, weldye 
der Menſch als angenehm oder unangenehm unterfcheibe, 
indem er fein Wohl dadurch gefördert oder gehemmt fieht, 
bewegt fich fein religiöfes Gefühl im reife der Gegen- 
füglichleit von Furcht und Scheu, oder danfbarer Aner- 
fennung. Er perfonificire die Summe und den Grund 
der freundlichen und feindlichen Erfcheinungen zu guten 
und zu Uebles bringenden Wefen. Die religiöfe Anſchauung, 
fügt der Berfaffer Hinzu, ift aber deshalb ebenfo wenig 
Product der Natur wie der menfchliche Geift, fo wenig 
als fittliche Ideen aus der Beobachtung der Natur ent- 
nommen werden; die Natur bietet jedoch die Anregung, 
daß fi) der Geift fo oder anders geftaltet, und unter 





Feuilleton. 


ſtützt jomit bie Entwidelung religiöjer und fittlicher Vor⸗ 
ftelungen. Deshalb hätte Roskoff auf das Böſe in der 
Druft des Menfchen, auf die Erfahrung feiner Macht 
im eben bes einzelnen wie in ber Gefchichte mehr 
Gewicht legen follen, um den Urfprung und die Ent- 
widelung der Teufelslehre zu begründen. Sonft hat er 
den Dualismus in. den Religionen der Natur» und 
Sulturvölfer ausführlich gefchildert, und dann gezeigt, 
wie im Mittelalter der Tenfelsglaube dadurch feine Aus- 
bildung und Ausbreitung erhielt, daß die Geiftlichfeit 
Heidnifches und Teufliſches vermengte. Daran reiht fi) 
dann eine fehr ausführlihe Schilderung des Hexenweſens 
und der Hexenproceſſe. In Bezug auf den Xeufels- 
glauben Luther's wirb erwähnt, daß er mit der Lehre 
von der Sündhaftigkeit der menſchlichen Natur im engen 
Zufammenhange ftand und das fittlihe Gepräge der 
Berlodungen zum Böfen, der Gewiffensfämpfe erhielt. 
Wie früher der Teufel in den mtittelalterlihen Schau⸗ 
fpielen, fo wird nun fein Vorkommen im Gefangbuch be« 
leuchtet. Dante ift nicht vergefien, aber leider Milton, 
der gerade fiir die poetifche Seftaltung bes Satans dod) 
da8 Beſte gethan und einen Charakter von fchaucrlicher 
Größe geſchaffen hat, deſſen Herrfcherfraft und Freiheits⸗ 
drang dur Selbſtſucht zum Abfall non Gott getrieben 
wird, aber auch im Sturz noch ihre urjprüngliche Macht 
bewahrt. Die Poeſie Byron's Hat in Milton ihre 
Wurzeln. Ueberhaupt ift die weltgefchichtliche Bedeutung 
Milton’8 noch zu wenig anerlannt. Der Dichter und 
Denker fteht neben Srommell, dem Helden und Staats⸗ 
mann; der reformatorifche Geift und die Yorm ber 
Renaiffance einigen fi in ihm; Mirabeau und Rouſſeau 
Inüpfen fih an feine Ideen. Der vierte Band meines 
Buchs über „Die Kunft im Zufammenhange der Eultur- 
entwidelung‘ legt dies dar. 

Die englifchen Deiften, die franzöfifchen Encyklopädiſten, 
die beutfche Aufklärung, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft 
traten dem Aberglauben aller Art entgegen, und fo fam 
auch der Teufelsglaube in Abnahme. „Der Zeufel, 
feiner perfönlichen Exiftenz entkleidet, warb zum begriff- 
lichen, ethifchen Moment des menfchlichen Bewußtſeins 
herabgedrückt.“ — „Den Böfen find fie los, die Bofen 
find geblieben”, könnte man mit Goethe jagen, und 
unfern Autor fragen: Iſt denn nicht aud) Gott für vicle 
zu einer Borftelung bes Menſchen „herabgedrüdt‘? 

Dies läßt mich an das anfangs mitgetheilte Geſpräch 


135 


wieder anknüpfen. Objective Wirklichkeit kommt dem 
Böſen nicht zu, es Bat an und für fich feine Eriftenz, 
fondern nur im Willen, in der Subjectivität der Perfön- 
lichkeit; es ift die Verirrung ber freien Lebenstriebe, bie 
Bermwirrung, welche dadurch in bie Welt gelommen, das 
Unheil und die Sünde, was und nad einem runde 
forfchen heißt; diefen Grund wollte man in einem Prin- 
cip des Böfen finden. Aber nur das Seiende, Pofitive, 
Gute hat feinen ewigen Lebensgrund, und der ift Gott. 
Als der Gute und Freie fann er nur in einem Reich 
der Freiheit und der Xiebe offenbar werden; dies erfor 
dert jelbfländige, felbfiberuufßte Weſen, die auch anders 
denken und wollen können, al® das Geſetz es verlangt; 
die Möglichkeit des Böen muß für fie vorhanden fein. 
Sie müſſen fich felbft erfaffen, und das führt die Gefahr 
der Selbſtſucht mit fih, bie nun nur an das eigene Selbft 
denft und damit das Bewußtſein des Ganzen in fich ver- 
finftert, innerlich, in ihrer Subjectivität ſich vom Allge⸗ 
meinen trennt, den Abfall vollzieht und das Boſe in der 
Sefinnung verwirklicht; denn bier, nidht in der Realität 
der Außenwelt hat es feinen Sit, es ift fein objectives 
MWefen für fi) und braucht deshalb auch feinen fiir ſich 
feienden realen Lebensgrund, wie der Teufel wäre. Aber 
bie Perfönlichkeiten, die Menfchen, find wirkliche Weſen, 
und für ihr enbliches Dafein fordert die Vernunft eine 
erfte Urjache, ein Unendliches, ein Princip, das fähig ift, 
eine Welt der Liebe und ber Freiheit, ein Reich des Gei- 
ftes hervorzubringen; und bie fittliche Weltordnung, die 
fi) uns gegenwärtig in der Gefchichte unfers Volks er- 
fahrungsmäßig beweift, führt uns tiber einen bloßen Stoff, 
über eine blinde Kraft, über ein bewußtloſes Gefeg zu 
einem felbftbewußt wollenden, das Gute, Wahre, Schöne 
uns als Ideal, als das Seinfollende fegenden Geiſt, der 
natürlich nicht naturlos ift, fondern in deflen eigener Natur 
die Realität bes Univerfums begründet if. Es kommt 
darauf an, die fpinoziftifche Subftanz ale Geift zu er- 
faffen, das Hat fchon Hegel gefagt; ex ließ fie aber nur 
in uns, ihrem Modus, zum Geifte werden. Wenn indeß 
Spinoza die Subftanz an ſich als Denken und Ausdeh— 
nung beftimmt, fo braucht man fi) nur Mar zu madıen, 
daß das Denken die Thätigleit der Subjectivität ift, daß 
im Denken wir uns felbft erfaflen und beftimmen. Die 
Subſtanz ift nicht blos an fi, fondern als ſolche auch 
für ſich, fie iſt Subject, bei ſich felbft feiende Einheit 
des Unendlichen. orig Earrierr. 


Feuilleton. 


Notizen. 


Aus der unermeßlichen Fülle der Liebespoefle Hat eine 
Auswahl zufammengeftelt TH. Bubdeus: „Freya, das Leben 
der Liebe in Liedern und Gedanken deutfcher und fremder Dich⸗ 
ter” (Berlin, Stile und van Muyden, 1870). Außer Liedern 
und Gedichten enthält die Sammlung auch Proſaſprüche von 
Sean Paul, Gutlom u. a., felbft dramatiſche Stellen aus 
Schiller's Dramen und aus dem „Sohn ver Wildniß“. Die 
fremden Dichter find, außer durch Shalfpeare, nur durch einige 
franzöftfche Autoren, wie Nobier, de Maiftre, Frau von Staël 
u. a., jehr befcheiden vertreten. Die Auswahl aus unjern neuen 


— —- — — — 


beutfehen Dihtern darf im ganzen ale geſchmackvoll gebilligt 
werben. 

Die Anthologien aus Schleiermacher's Werken mehren fid. 
E. Rudorff Hat „Stunden der Weihe (Berlin, Boettcher) 
zufammengeftellt, eine Sammlung von Aueſprüchen Friedrich 
Schleiermacher's, und zwar in folgenden Abjchnitten: „Des Ehri- 
ftien Charakter und Wandel’, „Der Chrift als Lehrer und Bild- 
ner”, „Der Ehrift im Verhältniß zu feinen freunden und zu 
feiner Familie”, „Der Auſſchwung der Seele zu Gott‘, „Trüb⸗ 
fal und Tod“ verflärt duch den GOlauben. Die präcije, oft 
fünftferiic geichloffene FZaffung der Sentenzen Schleiermadher’s 
läßt fie für Anthologien fehr geeiguet erfcheinen, 


— — 





736 


Yıze 


Anzeigen. 


igen 


— — 


Zeitgeſchichtliche Werke 
aus di 
Verlag von S. A. grodhans in Leipzig. 





Die nachſteheuden Werke Haben durch die Ereigniffe der Gegen» 
wart neues und erhöhtes Imtereffe erlangt, weshalb fie hier 
in überfichtlier Zufammenftellung aufgeführt werden. 


Blautenburg, Heinrich. Der beutfche Krieg von 1866. Hiforiſch, 
politif und ee bargeflelt. Mit Karten uud 
Plänen, 8. Geh. 2 Thlr. 20 Nor. Geb. 3 Thir. 


Di Borzüge, welche Blantenbur; —S des ereze 
a aetehen 60 —X ——— —5 — Be 





ru) bi 
L * Eee Sei Se va 





Action und ben BD 
Bi aber, hab br. 





Charras. Histoire de la guerre de 1818 en Allemagne, Aveo 
eurtes spöciales. 8. Geh. 2 Thlr. 10 Ngr. Geb. 2 Thir. 
20 Ner. 

— GSeſchichte des Krieges von 1813 in Deutfchland. Aus 
torifirte — — ——— Mit 2 lithographirten Kar⸗ 
ten. 8 2 Thlr, Geb. 2 Thir. 10 Ngr. 


— air deis eampagne de 1815. Waterloo. 5m ddi- 
tion, rerue et augmentee de notes en r&ponse aux asser- 
tions de M. Thiers dans son reeit de cette campagne. 
2 Vols. Avec un atlas nouveau. 8. Geh. 2 Thir. 

Ge 2 Thlr. 10 Ngr. 

d Werten des dı ine politife und militärif 

Su mE Re get ange 

Hienlenonte Gparyas. von Denen bad erke and Iulabtorlhrte —*5 

— — Raum, ER mal Ber gegreige Sant 900 
Heete Rapoleon'e Feder einee 
*8 RE je Snehe jenen Borken Wine el ie 





Hürden ans ——— 
. te 
Br SEE Werte — —— reisen 
jeihigtslitratur. 


Diplomatifhe Geſchichte d Sabre 1818, 1814, 1815. Bi 
h ae ER De 10 Nor. Im 


Die Eharras in Bezug auf bie militäcijhe Action ben unwahrer 
Bepauptungen franpöfiiser Schriftfteller enigegentrüt, fo hat der Wers 
fafer der, Diplomatiien Gefbihte“ fih zur Aufgabe geftelt, bie 
sEtale aefienti verbreiteten falfgen, Darfeungen beyäntid, ber 
garonille erhanpiungen jene 
Periode zu berichtigen, die Tpatiahen fowol wie bie Motive, aus dee 
hen Meg einufepen. Durg 
Witbeilung ber dahin gehörigen Urkunden, Gorrefpondenjen, Brotoe 
tolle und Metenftüde, bie ih bier in einer Bolftänbigfeit wie in feie 
nem andern Gef&idtswerte beifammen finden, wird auf autbentifhe 
Weife nahgewielen, welde Intriguen bie verbünteten Müdte im Bere 
ein mit dem beficpfen rantreih bamale anzettelten, bamit Deutfce 
land zum Cohn für feine heidenmüthigen Auftrengungen mit offenen, 
unbeiügten renyen aus dem Kriege bervorgebe. Das Stublum veh 
Werte it überaus Tehrreid, namenttih angefihts der wahriheintig 
balb beginnenden neuen Wricbenöverpanblungen mit dem feintlichen 
Nagpbarftaate. 


Klippel, Georg Heinrih. Das Leben des Generals von 
Säarnhorft. Nach größtentheils bisher nnbenugten Onel- 
im ee Exfter und zweiter Theil. 8. Geh. 3 Thir. 

gr. 


PRESENT Ste Bart 


unferer Be auf die 


itiges — ——— 
galtia fe mnte, * 
abden Odutnbarfs ve lälofien war. de —— nice Mes 


Beutjen 
ber — ga wirb Hlanen | Turgem erfgeinen. —— n an 











König Jeröme und feine Familie im Eyil. Briefe und Auf- 
Er Herausgegeben don Erneftine von 2. 8. 
Geh. 1 Thfe. 20 Nor. 


Yen non Weapel 





Scherer, H. Der Raub der drei Biethümer Mey, Tull und 
Berbun im Jahre 1552 bis zu ihrer förmlidhen Abtretung 
an Frankreich im Wenfälifgen Frieden, 


—— Ber Verrath Strasburgs an Fraukreich im Jahre 1681. 


ei Auffäge, in denen urfunbt 


1) fi 
Duden Si zant nad ben pertäiaßen 


bes rund u 





alt Granteci@ Big — —3 — A 
sehraße pa. „Der Lerfaler tal Wabuung 5* 
eine, vᷣſii eb bi jolten jei, vie —X — —*8 


——— —— Wiebergewinnung jener Provinzen zu 


Die npcl aejgiätigen Monsgraphien Aar, n Teichrig von 
—— 
ten Breite 1 hie 10 Mdr. (eüher aaa Orc um ermäßig- 





Benebey, Jakob. Die deutſchen Republifaner unter der jran- 
zöficgen Republit, Mit Benugung ber Aufzeihiunngen 
feines Vaters Michel Benedey daigefellt. 8. Geh. 
2 Tplr. 10 Ngr. 

Das Benny‘ es Memoizenwert füt eine Lüde in der Geidiäte 


h Kaneisung aus 1 ang, [nbem 28 über eine bläber Buntie Bartic in ben 3 
enticen Bo fereß ut autbentiihes 
ai 





—— Die Haren Bönbfe ke deufen Bcvolferungen 
A Mainz, |. m. zu Gute bee 
boriae Kinn Süden ben @egenfand ber 3 rfilung, melde 









ls auf jeitgenöffiigen 
on N Den, ıpei 


on ben verfciebenfie 








das sin — Geife 
gelßzleden |2 en tönne, 
babesre HEICHeAHArK —e— aus dub. 
sie Bier: teile Br je begrüi vor 
CH ten greike Bea zeiten * 
—8— 

‚ein Bud, für * ven Ber 4 er —W ns 
ss et In undf, ch mid 34 bauten n " x 





Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig. 
(Zu besichen durch jede Buchhandlung.) 


Die Lehre von den Tonempfindungen, 


physiologische Grundlage für die Theorie der Musik 
von H. Helmholtz, 


Professor der Physiologie au der Universitat zu Heidelberg, 
Mit in deu Text eingedruckten Holzstichen, 
Dritte umgearbeitete Auflage. Gr. 8. Geh. Preis 3 Thlr. 
15 Sgr. 





Berautwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus, — Dind und Berlag von S. A, Grodhans in Reipzig. 


Blätter 
literarifhe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. —4 Ar. 47. mr 17. November 1870, 





Inhalt: Effays von Julian Schmidt. Bon Mudelf Gottiget. — Meifeliteratur. (Beſchluß.) — Bom Buchertiſch. — 


Seniketon. (Engliihe Urtheile Über neue Erſcheinungen der dentſchen Literatur.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Efays von Inlion Schmidt. 


Bilder aus dem geifiigen Leben unferer Zeit von Julian 
Schmidt. Leipzig, Dunder und Humblot. 1870. Gr. 8. 
2 Thlr. 20 Nor. 

JZulian Schmidt hat in feinen literaturgefchichtlichen 
Berten das Talent des Effayiften nicht bewähren können, 
da das Hiterarifche Porträt in denfelben ganz in den 
Hintergrund tritt. Und zwar hat ſich der Eifer, nur 
Richtungen und geiftige Strömungen zu zeichnen umd die 
Charakterköpfe der Autoren felbft als nebenfähliche Ara- 
besten an ben Rand zu ſchieben, mit jeder Auflage ger 
ſteigert, ſodaß fih aus der Iegten faum ein zuſammen ⸗ 
bhängendes Charakterbilb irgendeines deutſchen Schrift 
ftellers gewinnen läßt, wenn man fi nicht felbft bie 
Mühe geben will, aus einer Menge zerſtreuier, muflvi- 
fer Züge aus ben verſchiedenſten Kapiteln ſich ein ſolches 
Bild zufommenzufegen. 

Doch die Literaturgefchichte hat nicht blos eine Ideen- 
welt, fie Hat auch eine Geftaltenwelt uns vorzuführen. 
Und zwar ift diefe eine doppelte: es find bie Geftalten 
der Dichter felbft, es find die Geftalten ihrer Phantaſie. 
Alle Literaturgefhichtfchreibung ift leblos, die nur abftracte 
Linien zeichnet; der Stammbaum ber Ideen ift nicht der 
Lebensbaum bes nationalen Geiſtes. Die Dichtung ift 
eine Kunft, und in der Gefchichte ber Kunft verdient jedes 
einzelne Kunſtwerk als ein Ganzes und jeder Künftler ala 
ein fchöpferifhes Talent liebevolle Beachtung in feiner 
urſprunglichen Eigenart. 


Julian Schmidt muß als Efjayift folder fonft un⸗ 


willlommenen Darftellungsweife Rechnung tragen; er muß 
Borträts malen, ftatt ber Gedankenfreöten, mit denen 
ex die Propyläen feiner Literaturgefchichte ſchmückte. Es 
iſt von vornherein anzunehmen, daß er geneigt fein wird, 
wo es ihm irgend möglich ift, „ins Allgemeine zu tauchen“, 
von der GStaffelei, auf der fein einzelnes Porträt fteht, 
abzufpringen, bie Richtungen und geifligen Zufammen- 
hänge für dem einzelnen Autor aufzuſuchen; es ift ferner 
1870, 4. 


die Frage, ob es ihm gelingen kann, bei feiner Neigung 
für das Schematifche und feiner im ganzen armen Phan- 
tafle, ein einzelnes Eharakterbild mit ſcharfer Zeichnung 
und lebendigem Farbenreichthum auszuführen. Denn hier 
tlommt es auf Intuition an, melde nicht eine Gabe 
undichteriſcher Köpfe zu fein pflegt, und aller Scharffinn 
der Zerglieberung genügt nicht, ein Ganzes zu ſchaffen. 

Ueber die Aufgaben des Effayiften ift fih Julian 
Schmidt volllommen Mar. Er fagt darüber: 

Benn man literariſche Erfheinungen der Gegenwart, zu 
denen man immer ein befimmtes fubjectives Berhältniß hat, 
in Hiforifchen Fluß bringen wil, findet Teicht eine Berjhiehung 
des Gefihtspunltes att: der Efjay zeigt das fubjective Berhal- 
ten offen an und befennt, doß die Acten noch nicht gejchloffen 
find. Der Effayift wählt unter den zu befpredienden Schriften 
diejenigen aus, bie fein Intereffe ſtart in Aufpruch nehmen umd 
über bie er etwas Neues und Trhebliches zu jagen weiß; ber 
Hiftorifer follte eigentlich alles leſen, denn wie wollte er fonft 
wiffen, ob er nicht etwas Wichtiges Aberſehen hat? Wer das 
aber budfäbfid ausführen wolte, fäme in dringende Gefahr, 
den Berftand zu verlieren. 

Diefer Gefahr hat ſich Julian Schmidt auch ale 
Literarhiftorifer allerdings nicht ausgefegt; denn er ift als 
folher auch Eſſayiſt gewefen, wenn nämlic, nad; feiner 
eigenen Erflärung bie Eigenthuümlichkeit eines Eſſahiſten 
darin befteht, unter ben zu beſprechenden Schriften die- 
jenigen auszuwählen, bie fein Intereffe ftarf in Anſpruch 
nehmen. Ueber ſolche Auswahl ift er auch in feinem 
Hauptwerk nicht hinausgegangen; er hat einzelne Schrif- 
ten, welche fogar Specialitäten behandeln und nicht ent» 
fernten Anſpruch auf nationale Geltung haben, mit der 
gehbien Ausfügrlichleit behandelt; er Hat Dichter und 

ichtungen von Bedeutung oft faum mit einer Zeile, oft 
gar nicht erwähnt, weil er fle nicht gelefen hat, mahr« 
ſcheinlich um nicht „den Verftand zu verlieren‘. 

Die erften Auffäge der vorliegenden Sammlung be 
wegen fich noch in dem Fahrwaſſer des Autors; es find 
Abhandlungen über allgemeine Themata, tiber Beftrebungen 

93 


738 


und Richtungen des Zeitgeiftes, Parallelen zwifchen 
ben Jahrhunderten, für die ein philoſophiſch gefchalter 
Kopf leicht die richtige oder wenigftend bie blendende Yor- 
mel finden wird. Der Auffag: „Die neue Generation‘, 
befteht aus zwei Abhandlungen, die wie die Schweifftüde 
eines Papierbrachens aneinandergeflebt find und ben eigen- 
thiimlihen Eindrud eines „volllommenen Widerſpruchs“ 
malen, der nach Goethe, wenn auch nicht nad) Hegel, 
gleich geheimnißvoll bleibt für Weiſe wie file Thoren. 

In dem erften Auffag: „Die europäifche Riteratur in 
ihrem gegenwärtigen Standpunkt“, erfahren wir, wie wir 
es jetzt fo herrlich weit gebracht haben. Das 18. Jahr⸗ 
hundert wird durch folgende Sätze darakterifirt: 

1) Die Bildung geht aus der zbeotogie hervor und ift 
zwar in ihrem innerften Grund gegen die Theologie gerichtet, 
aber nicht bios tm ihrer Methode, fondern auch in ihren ledten 
Zweden von derfelben beſtimmt. 

2) Der todten Wortgläubigkeit ded 16. und 17. Jahrhun⸗ 
derts, welche die Individualität unter das flarre Joch des Ge⸗ 
fees beugte, ſuchte fi Die folgende Periode durch eime freie 
Entwidelung des imbividuellen Gemüths zu entziehen. Das 

. dert M die Peridde der Subjectivität, des voll» 
endeten Individualismus, ber „leeren freiheit‘. 

3) Die Antike ift für die neuere Cultur durchweg der 
Eauerteig. 

4) Durhh das ganze Zeitalter geht ber Trieb, mit Beiſeit⸗ 
fegimg aller gefchichtlichen Borausfegungen das Reich der Zu- 
Iunft nad; Begriffen der reinen Bernunft aufzurichten, die Ge⸗ 
fhichte der Menſchheit gemwiffermaßen von neuem zu begimuen. 

5) Indem num ber Geift der Entzweiung, der vom ame. 
ritanifchen Freiheitskrieg an bis 1848 immer neue Zudungen 
ber Gejellichaft hervorrief, fi and in den Werten der einzel» 
nen geltend macht, nehmen wir in dem charalteriftiichen Dich⸗ 
tungen der Periode etwas feltfam Fragmentarifches wahr. 

So beſchaffen war das 18. Jahrhundert; wenigftens 
ericheint e8 fo in dem Spiegel, den Sultan Schmidt ihm 
verhält. Die Züge find, wenngleich nicht erjchöpfend, 
do im ganzen richtig. Nur gilt doch vieles für die Jetzt⸗ 
zeit: die Antike ift mac wie vor der Sauerteig unferer 
Eultur, und was den „©eift der Entzweinng‘ betrifft, 
fo ift dies ein höchſt abftracter Schatten; könnte er ſich 
genauer legitimiren, fo würde man vielleicht erkennen, 
dep er auch in der Gegenwart no wirkſam üt. 

Nachdem das 18. Yahrhundert in dem photographi« 
ſchen Atelier Julian Schmidt’8 möglichſt treu aufgenommen 
ift, tritt es ab, und an ferner Stelle erfcheint das 19. Jahr⸗ 
hundert, felbftgewiß auf die photographifche Säule geftiigt, 
in ſchöner, warmer Beleuchtung. Oder vielmehr, es iſt 
bie neuefte Öeneration, die ſich einem Lichtbild unterwer⸗ 
fen muß. Ihre befondern Kennzeichen find die folgenden: 

1) Die Wiffenfchaft if zu der Erkenntniß gelommen, baß 
fie eine andere Aufgabe bat als bie Theologie, eine andere 
Aufgabe als die Metaphufil. 

2) Der Götzendienſt der Individualität if vorfiber. 

‚.3) Indem wir uns auf dem Boden unlerer eigenen Ge⸗ 
ſchichte beffer orientirt haben, Hört damit bie übermüßige Be⸗ 
dentung des Alterthums anf. 

4) An Stelle des revolutionären Geiſtes hat ſich jetzt ber 
conferbative Trieb der Menge bemächtigt. 

5) Der letzte fragmentariſche Ausdruck des frühern Idealb 
war ber Weltſchmerz in der Seele reichbegabter Individuen. 
Dies Rei des Fauſt und Don Inan Hat aufgehört. 

Mit diefen Nummern verfehen, erſcheint die nee 
Generation bis zur Stedbrieflichkeit unverlennbar gezeichnet. 
Wir wollen die drei exften Nummern auf fich beruhen 


Eſſays von Inlian Schmibt. 


laſſen. Was aber bie vierte betrifft, fo erjcheint bie 
Faſſung doch einfeitig und verkehrt. Das Jahr 1866 
bezeichnet die revolutionärften Acte ber neuern beutfchen 
Geſchichte. Der Unterfchieb gegen 1848 befteht nur darin, 
daß bie Revolution ſich vorzugsweiſe auf die Macht ftügt, 
nit auf den Glauben an die Idee. Der Trieb ber 
Menge ift keineswegs confervativer als früher. Dod be 
dee großartigften Ummilzungen und NeufchBpfungen jetst 
von den orgamfirten Staatögewalten auögehen, fo befindet 
ſich der revolutionäre Geift der Menge in der gleichen 
Strömung mit jenen und erfährt durch bie Erfolge großer 
ZThaten, welche den alten Beftand ber Dinge umſtürzen, 
zugleich eine innerite Befriedigung. 

Am feltfamften aber ift jedenfalls das Decret Iulian 
Schmidts, daß das Reich bes Don Yuan und Fauft 
aufgehört habe. Man pflegte Fauſt und Don man 
als ewige Typen und Repräfentauten ber Menfchheit zu 
betrachten, in benen fi das unbegrenzte Streben. nad 
Erkenntuiß und Lebenagenuß verlörperte.e Das ift alſo 
jest ander8 geworden. Sollte ſich noch ein Dichter oder 
überhaupt ein Sterblicher finden, in welchem folder Wif- 
fens» und Lebensdrang, binausreichend über bie gegebenen 
Schranken, pulfirte — man würde ihm bald nachweifen, 
dag derartige „problematifche Charaktere” und „catifine 
riſche Eriftenzen“ in ber neuem Generation nichts mehr 
zu fuchen haben. Don Yuan und Fauſt find Bertre 
ter bes geiftreiähften Steebeng — das Derret, das fie 
in die Schattenwelt verweift, verurtheilt anjer Geſchlecht 
zur Geiftlofigfeit, zur trodenfien Nüchternheit, zur poefie 
loſeſten Kaltblütigkeit. 

Glücklicherweife iſt es mit Dein Decret Yulien Schmudre 
nicht fo ernſthaft gemeint; denn ſchon im nächſten Auffat: 
„Die Wendung des Jahres 1848”, erfahren wir zu um⸗ 
ferer Beruhigung, daß ber „Fragmentarifche Ausdruck bes 
frühern Ideale“, der Weltſchmerz, der übrigens durchaus 
nicht fragmentarifch zu fein braucht und der überhaupt 
mit dieſem Wort hochſt begrifflos zuſammengekuppelt iſt, 
doch noch in Blüte ſtehen muß. Hören wir nur bie fol⸗ 
genden Auseinanderjegungen: 

Gleichviel ob wir Segefianer, Rutttianer ober teftifer 
waren, baran hatten wir keinen Zweifel, daß die Bernuuft zur 
Regierung der Welt berufen fei; wenn das nicht im Augemblid 


deutlich bervortrete, fo möüfje wenigftens einmal bie Zeit kam⸗ 
men, umd jeder von uns war an jeinem Platz eifri 


nden, und 
Wrlkciophie 
den:· 


man außerhalb des Begenflanbed wirtliche oder vermeintliche 
e 





Eſſays von Inlian Schmibt. 739 


finden als im Leben ſelbſt. Es iſt immer ein unbequemes Ge⸗ 
fühl, wenn man eine ſtark bernortretende geiftige Richtung nicht 
verſteht. 

Run, befinden wir uns hier night in der Blütenepoche 
de8 „Weltſchmerzes“, der ſogax fo wenig fragmentariſch ift, 
baß er ganze Lehrbücher der Philofophie beherrſcht? Ju⸗ 
lan Schwidt leugnet jet nicht die Eriftenz des Welt« 
ſchmerzes; er findet es nur unbequem, dag ex felbft ihn 
nicht verfieht. Haben wir ung nach den fünf Nummern 
bed vorigen Auffages von der neuen Generation das Bild 
entwmorfen, daß fie ein jehr Hares, gefundes, von meta« 
phyſtiſchen Zräumereien und fragmentarifchen Schwärme⸗ 
zeien freies Geſchlecht fei, fo erfahren wir ein paar Seiten 
fpätex zu unferm großen Erftaunen, daß wir wieder bar- 
auf angewiejen find, wie in der Periode der ältern Ro⸗ 
mantif, den „Orient“ und wahrſcheinlich auch den „Occi⸗ 
bent” im Nebel zu fuchen, daß man für ben Augenblick 
unficher ift, wohin? 

Iwan Turgenjew bezeichnet die progreffiftifden Beſtre⸗ 
bungen Rußlants als Rauch, Charles Kingeley bat für das 
chastiihe Ringen des jungen England einen zwednäßigern 
Ausdrud gefunden: Yeası (Hefe, Güxung). So erſcheint aud) 
wir, was in dem geifligen Leben Deutſchlands vorgeht. Noch 
fieht alles vermorren genug aus, aber es ift eine Verwirrung, 
die den Keim fchöner Früchte im fich trägt. 

Uns erfcheint auch dies alles verworren genug; ber 
Autor vergißt auf ber einen Seite, was er auf der vor- 
bergehenden gejagt hat; es ift fehr viel „Rauch“ und 
„Yeast” in feinen YAuseinanderfegungen; die Phrafe, na- 
mentlich in Geftalt des bictatorifchen Machtſpruchs, macht 
fi hier vornehm geltend, um fich gleich darauf wieder 
aufzuheben. Wir wenigſtens fegen eine Prämie feft für 
jeden, der fich von der neuen Generation „ohne Weltſchmerz“, 


aber mit ihren Schopenhauers und Zurgenjews, mit ihrer 
Weltverzweiflung, mit ihrem Rauch und Rebel, ein klares 


Bild machen kann, 

Die zweite Hauptabhandlung: „Der Einfluß bes 
preußifchen Staats auf die deutfche Literatur‘, behandelt 
ein fehr inteveffantes Thema, welches Yulian Schmibt mit 
folgendem Facit abſchließt: 

Was hat das preußiſche Bolk der deutſchen Literatur ge⸗ 
bracht? — Nicht mehr und nicht weniger als andere Stämme: 
ich habe eine ftattlihe Reihe zufammengefiellt, fie könnte noch 
leicht erweitert werden, aber einen Anſpruch auf die Hegemamie 
im geifligen Leben Deutichlands würde fie uns nicht geben. 
Was hat das preußifche Königthum für die deutiche Litexatur 
getan? — Unmittelbar fehr wenig. Ich habe die Gründung 
der Umiverfität Halle, fpäter die Gründung der Univerfität 
Berlin angefligrt, aber andere Fürſten haben auch finttliche 
Hochſchulen eingerichtet, ohne daß «8 auf ihren Stans van Be» 
ſonderm Ginfluß gewmeſen märe. Es lommt auf. ben Hohen at, 
auf den man ſäet. Was Künig Marimilien in Baiern ver⸗ 
fuchte, war fo einfichteuoll und dabei jo königlich, alg mar es 
ih nur vorſtellen kann, aber im Bolt Hat es Leine Wurzel ge» 
fchlagen. Das Eigenthlimliche bei Preußen war, daß die frem- 
den Kräfte, die man heranzog, in kurzer Frift preußifcher wur⸗ 
den als die geborenen Preußen. Mit einem Wort: der preu- 
hiſche Staat hat gewirkt nicht durch den Willen diefes oder je⸗ 
nes feiner Regenten, fonhern durch feine Eriftenz, durch feine 
natürliche Schwerkraft. Der Staat hatte die natürliche Rage, 
eine unabhängige Eriftenz wenigftens fuden zu bürfen. Die 
ältern Hohenzollern hatten unter andern Regententugenden den 
nüchternen Sinn, das praftiih Nothwendige dem Glänzenden 
vorzuziehen, fie legten die Kundamente, ehe fie an bie Kuppel 
bachten. As nun bie große nationale Bewegung ſich confo- 





Kidirte, die man Reformation nennt, ftellte fih Prenfen ſehr bald 
ale der mächtigſte der proteftantifchen Staaten herauf, und als 
ſolcher mußte ex mit der Zeit Brennpunkt des geiftigen Lebens 
Dentichlands werden. Man kaun über Möglichkeiten wenig. 
ſtens träumen, wan kann fi alfo die Möglichkeit vorftellen, 
daß die Kranzöfifche Revolution in ſich zufammengefallen wäre, 


und feinen Napoleon hervorgebracht hätte: dann hätte fich viel⸗ 


(etcht die Bedeutung des Kleinfürſtenthums in Deutfchland Ihn- 
ger erhalten, dag Beifpiel von Weimar wäre nachgeahmt wor⸗ 
den, mir hätten bedeutend mehr Zragödien und romantiſche 
Gedichte erlebt. Da das aber nit geihah, fo drängte der 
Einfluß Preußens das geiftige Leben mehr in die Brofa, in die 
Reflerion, im die praktiſche Philofophie und Moral, in das 
Staats⸗ und Rechtsleben, in bie eigentliche Politik, deren wirk⸗ 


Nliches Gedeihen nur in einem großen und umfaflenden Drga- 


nismus denkbar if. An Farbe hat die Literatur dadurch nicht 
gewonnen, im Gegentheil; aber die Blätter und Blüten werden 
nicht ausbleiben, wenn nur der Stamm einen gefunden und 
träftigen Wuchs gewonnen Bat. Und was bie preußifche Ueber- 
hebung betrifft, fo werden ſich unfere veutichen Brüder mit der 
Zeit vielleicht verfühnen laffen, wenn fie fich mit der Meberzeugung 
durchdringen, daß wir keinen fehnlichern Wunſch haben als den, 
jeden Grund zu diefer Ueberhebung wegfallen zu ſehen, keinen 
fehnlihern Wunſch als ben, dafs jeder Deutfche dieſelben Laften 


und diefelben Ehrenzeichen tragen möge, bie wir bisher gern 


oder ungern getragen haben. 

Man fieht, daß Jnlian Schmidt auf bie Tragödien 
und romantischen Gedichte, auf das Beifpiel von Weimar 
fein fonderliches Gewicht Iegt. Jedenfalls würde er lie- 
ber Literaturgefchichte jchreiben, wenn es derartige Pro⸗ 
ductionen nicht gäbe, die er ſtets nur als ein nothwen⸗ 
diges Uebel und nie um ihrer jelbft willen behandelt, 
fondern nur wegen ihres Zufammenhangs mit diefen oder 
jenen Tendenzen, die in ber Luft der Zahrzehnte fchweben. 
Auch hätten wir gewünfcht, daß die Miffton Preußens, 
beutfche Kunft und Wiffenfchaft zw pflegen, der jetigen 
Regierung warm and Herz gelegt würde; denn die Yür« 
derung, welche fie 3. B. der deutfchen Dichtung zu= 
bıumen ließ, befchränft ſich auf den Schiller⸗Preis und 
auf die Benflonen fir Emanuel Geibel und Johannes von 
Mindwig. 

Die Studien Über „Die romantifche Schule” find eine 
Sammlung von Kritiken, bie wohl oder übel unter dieje 
Sefammtüberfhrift gebracht find: „Schelling’s Leben im 
Briefen‘, „Heinrich von Kleift’8 «Prinz von Homburg‘ 


. paffen wol darunter; den alten Goethe aber zu einem 


Romantiker zu machen, oder gar Hegel, den principiellen 
Gegner der Grundſätze der romantifhen Schule, — das 
heißt doch, den Begriff der Romantik bis zum organifchen 
Tehler zu ermeitern. Dies gefchieht aber von feiten un- 
fers Autors, indem er die Auffäge „Goethe und Suleika“ 
und „Hegel im Lichte der Gegenwart” ebenfalls zu dem 
Studium über die vomantifhe Schule rechnet. Der 
Auffag „Goethe und Suleika“ befpricht die Mittheilung, 
die Hermann Grimm in Bezug auf die Suleila-Lieder im 
„Weftöftlihen Divan“ gemacht hat und berzufolge aus 
einem pofitiven Berhältnig Bervorgegangen find: 

Duxch den Briefmechfel Goethe's mit den Brüdern Boiſſerée 
bat man nun erfahren, daß das Urbild Suleika's eine Frau 
von Willemer in Frankfurt war, die Goethe in einem Sommer» 
aufenthalt auf dem Lande 1815 Tennen lernte, als er ſelber 
66 Sabre alt war. Vierunddreißig Sabre fpäter, 1849, ift 
Hermann Grimm diefer Dame vorgeflellt worden, und feitbem 
dis zu ihrem Tode, 1859, in bauerndem Verkehr mit ihr ger 
blieben. Sie befaf einen reihen Schat von Briefen Goethe’s, 
der aber nad ihrer teftamentarifchen Berfüguug erſt zwanzig 


93 * 


740 


Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht werden fol. Im Laufe 
eines lebhaften Geſprüchs hat fie nun, wie Hermann Grimm 
berichtet, ihm eröffnet, daß die beiden .berlihmteften Suleika⸗ 
Lieder: „Was bedeutet die Bewegung“ und „Ad, um beine 
feuchten Schwingen“, von ihr find, fowie noch einige andere, 
und ibm die Originale vorgewiefen, die Goethe ein wenig ver- 
ändert bat. Hermann Grimm befennt, daß er durch biefe Er⸗ 
Sfnung aufs Außerfie Überrafht wurde. Mir ging e8 ebenjo. 
Einmal ift es eine ſtarke Zumuthung, zu glauben, daß Goethe 
zwei Lieder von einer fo eminent poetifchen Kraft ohne weiteres 
unter die feinigen aufgenommen babe, ohne die leifefte Spur 
einer Andeutung, daß fie nicht von ihm herrühren. Sodann 
hatte man an der Autorjchaft jo wenig gezweifelt, ba wenn man 
Goethe's Poeſie charalterifirte, diefe beiden Lieder immer als ein 
wejentliches Moment betrachtet wurden. 


Julian Schmidt gibt fi nun die Mühe, Hinterbrein 
zu entdeden, daß „diefe Lieder im Tonfall, im Stil, in 
der ganzen Haltung einen ftarfen Contraft gegen bie 
übrigen bilden”. Diefe Entdeckung kritiſcher Treppen- 
weisheit ift aber nicht begründet; im Gegentheil hat fich 
bie Dichterin alle Mühe gegeben, auch im Zonfall und 
in der ganzen Haltung ihr Borbilb nachzuahmen, und 
es ift ihr dies auffallend geglüdt. Wer das Gedicht: 
„Ad, um deine feuchten Schwingen”, mit dem folgenden 
vergleicht: „Iſt e8 möglich, Stern der Sterne, drück' ich 
wieder dih and Herz”, und mit mehrern andern, ber 
wird fagen müſſen, daß ber Ton ber beffern Gedichte des 
„Weftöftlichen Divan“, die von Verſchnörkelung frei find, 
vortreffih und zum Verwechſeln getroffen if. Die 
Stellen, die Julian Schmidt anführt, um zu beweifen, 
daß Goethe die Autorfchaft feiner Freundin bald ſchelmiſch 
verftedt, bald den Schleier halb Lüfte, find allerdings 
beweisfräftig. 

Was den „Prinzen von Homburg‘ betrifft, jo bringt Ju⸗ 
lian Schmidt bie beliebten Bariationeu über das von Röt⸗ 
cher angefchlagene Thema. Nach einem Tadel wie dey 
folgende: „Das Stüd war auf einen ernfthaften Conflict, 
alfo, wenn auch ber Andgang verfühnend war, auf eine 
Tragödie angelegt, der Charakter des Prinzen treibt es 
in die Komödie und bringt dadurch aud den Charalter 
bes Rurfürften in Unordnung“, dürfte alles barauffolgende 
Lob nur von geringer Bedentung fein. 

Der Auffag: „Hegel im Lichte der Gegenwart“, fchließt 
fih an das Wert von Karl Roſenkranz an: „Hegel 
als deutjcher Nationalphiloſoph“, und gibt zugleich eine 
Nachkritik der Haym’fchen Schrift, der gegenüber er Hegel’s 
„Phänomenologie” als ein fehr bedeutendes Werk, deſſen 
Tehler die Fehler der ganzen damaligen Philoſophie waren, 
erflärt. Ueber das Verhältniß Hegel’ zu Kant enthält 
Schmidt's Auffag manche treffende Bemerkung; er ſchließt 
mit ben Worten: „In Hegel's Schule zu gehen, erlaubt 
uns unfer Gewiſſen nicht mehr, den großen Schriftfteller 
werben wir vielleicht befjer würdigen lernen, als es 
früher geſchah!“ 

Die Reihe ber eigentlihen Eſſays beginnt mit 
„Walter Scott”, einem liebevoll entworfenen Porträt, 
welches mit demjenigen Bulwer's zufammen jedenfalls bie 
gelungenften Partien der Sammlung vertritt. Zwar die 
Einfeitigleit der Darftellungsweife verleugnet fi auch hier 
nit; fie trifft nicht die rechte Mitte bes Portraits, ein 
Treffen, welches nur in einem „Zuſammenſchauen“ aller 
einzelnen Züge befteht. Dafür fuht Schmidt theild das 


Effays von Iulian Schmibt. 


Allgemeine” des Zeitalter auf, für welches ibm ber 
einzelne Autor gewichtigfter Vertreter ift, theils analyſirt 
er auf das genauefte die einzelnen Werke, und bei bie 
fer Analyſe floßen wir auf eine Fülle fehr treffender 
Bemerkungen. Auch erfcheint fie um fo anziehender, als 


gerade in jüngfter Zeit Walter Scott von unferer Kritik 
jehr beifeitegefchoben worben ift und and) dem heutigen 
Leſepublikum viele feiner Werke unbelannt find. 

Julian Schmidt unterfcheibet zwifchen einer philofo- 
pbifchen Romantik, zu welcher bie Mehrzahl der deutfchen 
romantifchen Dichter gehört, und zwifchen einer Hiftorifchen 
ae zu deren Hauptvertretern er Walter 
rechnet: 


Das Glaubensbekenntniß der hiftorifchen Richtung if etwa 
folgendes. Was wir Cipilifation nennen, if nicht zu allen 
Zeiten und bei allen Völkern daſſelbe geweſen; es Hat Zeiten 
egeben, wo man fih nit in den parifer Frack fleidete, fein 
eben weder nach den Zehn Geboten nod nad) Alberti's Eom- 
plimentirbuch einrichtete. Man Heidete ſich aber nicht blos am- 
ders, man dachte und empfand anders als jeht; im Stabium 
dieſes Abweichenden, Beſondern, Naturwüchſigen liegt der Reiz 
der echten Wiffenfhaft, in der getrenen farbenreichen Anfhauung, 
der Nachbildung defjelben der echte Reiz der Kumfl. Unſere 
Civiliſation, die alles grau in gran malt, die alles Derbe uud 
Urſprüngliche abfhwädt, nimmt dem Leben allen Reiz und 
läßt die Kunft in Gemeinplägen verlommen, ja fie verfännmert 
uns auch die Vergangenheit. Denn es ift nicht wahr, daß ber 
Berftand die höchſte Macht Über das Leben ausübt; die Leiden- 
fhaften und das Gemlith find viel mächtiger und aud viel 
werthuvoller. Im Mittelalter dachte und empfand man nod 
nicht nad) der Schuur, vieles war unzwedmäßig eingerichtet; 
aber die Macht des Gemüths entfaltete fi im der Lehnetrene, 
in der Dingehung an ideale Begriffe, und ebenfo hatte bie 
Leidenfchaft Gelegenheit, fi in Kraft und Freiheit zu entfalten. 
Die edeiften Güter des Lebens find diejenigen, die ſich ber 
mathematifchen Beweisform und der Analyfe entziehen. Das 
echte Leben liegt in ber Fülle der individuellen Erſcheinungen, 
das „Ding au ſich“ kennen wir nicht, und es hat aud wenig 
zu bedeuten. 


Bei ber zweiten Hllfte diefer Erklärung verlieren wir 


und wieder in Allgemeinheiten, welche fir die Charal- 


teriftit Walter Scott’8 wenig ergiebig, ja nicht einmal zu⸗ 
treffend find. Wo Julian Schmidt ben Einfluß Walter 
Scott's auf die jüngern Schriftfteller auseinanderfegt, 
fagt er: 

Es ift unnöthig, die Nachahmer vom gemeinen Schlage 
aufzuzählen, ebenfo unnöthig wie unmöglich: die Sames, bie 
Tromlit u. f. w.; auch die beften Schriftfieller, die im diefer 
Gattung arbeiteten, einer Gattung, die recht eigentli) durd 
ihn entdedt if, unterliegen feinem Einfluß. Cooper ift ganz 
Balter Scott, Didens würde feinen „Barnaby ARudge “, 
Bulwer feinen „NRienzi' oder ,‚Deverenr‘, Mamoni feine 
„Berlobten” nicht gejchrieben haben, wenn ihnen nicht bies 
Vorbild vorgefhwebt hätte. Bei uns flud Wilibald Wleris, 
Spindler, Hauff, Rebfues jeher anerlennenswerthe Nachahmer, 
aber auch Guſtav Freytag bat in „Soll und Haben”, wes 
die Technik betrifft, mehr aus Walter Scott gelernt ale aus 
„Wilhelm Meiſter“. 

Wir haben bisher bei Freytag's „Sol und Haben‘ 
weder an Goethe noch an Walter Scott gedacht, fonderr 
nur an Didens, der offenbar für die Darftellungsweil 
bes deutſchen Autors das Mufter mar. 

Sultan Schmidt analyfirt zunächft die Dichtunge. 
Scott's und ſucht namentlih an ihnen nachzuweiſen, wa 
er unter hiſtoriſcher Romantik verſteht. Was die Roman’ 
betrifft, fo unterfcheidet er zwei Arten von Biftorifche 





Eſſays von Julian Schmibt. 741 


Romanen: ſolche, deren Grundlage die Ueberlieferung bil⸗ 
det, wie alle aus dem Zeitalter Karl's II. und der Kron⸗ 
prätendenten, und ſolche, deren Grundlage das Buch⸗ 
ſtudium bildet, wie „Ivanhoe“, „Kenilworth“. Den lettern 
gibt er in Bezug auf künſtleriſche Compofition den Vor⸗ 
zug, den frühern, was den wahrhaft poetifchen Gehalt, 
die Schöpfung echter origineller und bleibender Menfchen- 
typen betrifft. Uns erſcheint ber ganze Eintheilungsgrund 
nicht ftichhaltig genug, um zwei große Gattungen zu 
unterfcheiden; denn es Handelt fih im Grunde nur darum, 
ob die Handlung bes Romans in älterer oder neuer Zeit 
ſpielt. Auch für die Romane aus ben Zeiten ber Stuart 
war das Buchſtudium jedenfalls nicht minder wichtig als 
die Ueberlieferung. Man könnte die Romane eher ein« 
theilen nad) dem geringern oder größern dramatifchen 
Intereſſe, das fie darbieten — da unterfcheiden fi „Kenil- 
worth” unb „Joanhoe” wefentlid von mehr epifch ver- 
laufenden Dichtwerken —, oder nach der größern und ge= 
ringern Bedeutung, welche hervorragende geſchichtliche 
Charaktere in ihnen beanſpruchen. Hier, wo es fi um 
die Stellung ber Dichtung zur Gefchichte Handelt, fucht 
Inlian Schmidt die Frage zu beantworten, ob es erlaubt 
fei, eine Figur, deren Leben und Thaten und in zahlreichen 
Documenten aufbewahrt find, mit bichterifcher Freiheit 
zu behandeln? 

Es ift ein weſentlicher Unterſchied, ob fie in dem Roman 
nur epiſodiſch auftritt, nur zur farbigen Illuſtration der Ver⸗ 
Hältniffe, in denen der wirkliche Held des Romans, das Er⸗ 
zeugnig der PBhantafte, ſich bewegt, oder als Hauptgegenftanb 
der pfychifchen Analyſe. Im erflern Kal wird man die Be 
rechtigung leichter zugeben; aber auch Über dem zweiten entſchei⸗ 
det ausſchließlich die individuelle Befähigung des Dichters. Die 
wahre Analyje des Charakters if die wiſſenſchaftliche, die fich 
teils auf uumittelbare Zeugniffe, theils anf Schlußfolgerungen 
fligt, die big zu einem geriflen Grade bemeisfähig find. Aber 
der geniale Blid eines Dichters, durch ernfihaftes Stubium der 
Geſchichte gebildet, faun bis zu einem gemiflen Grade die Ana» 
iyſe durh Anſchauung erfegen, und er erleichtert damit doch 
nur bie Operation, die jeder anftellen muß, dem bie hiſtori⸗ 
ſchen Thatſachen nicht bloße Worte bleiben follen. Jeder echte 
Freund der Geſchichte muß fi bemühen, bie Perfonen, von 
denen feine Duelle ihm berichtet oder liber deren Charakter ein 
früherer Hiftorifer reflectirt, mit Augen zum fehen: der Verſuch 
wird je nad) der Kraft beffen, ber ihn anftellt, fehlſchlagen 
oder gelingen, aber er if nicht zu umgehen; und die große 
Freude, die man empfindet, in dem Bild eines geiftvollen und 
teuntnißreichen Romanfchreibere das, was man fi ungefähr 
vorgeftellt, nur prägnanter wiederzufinden, genügt, die —** 
tigung der Gattung nachzuweifen. Die Klage, daß unwiſſende 
Leute in ihrer hiſtoriſchen Kenntniß irregeführt werden können, 
indem fie etwas als bewieſen annehmen, was doch nur Ver⸗ 
mutbung ift, bat ungefähr ebenfo viel Berechtigung ale der 
Borwurf eines eingefchnürten Moraliften, Soeihe unbe feine 
Bhiline jo liebenswürdig gefchildert, daß wohlgefiunte Kammer- 
jungfern dadurch verführt werden Lönnen, dem erften beften 
jungen Herrn um den Hals zu fallen. 

Den wichtigften Unterfchieb, der bet biefer Frage in 
Betracht kommt, überſieht unfer Effayift, den Unterfchied, 
ob ein großer Hiftorifcher Held in ber Tragödie oder im 
Roman auftritt. In der dramatifchen Form darf er 
entjchieden Träger der Handlung fein; denn das Drama 
verlangt die großen Entſchlüſſe, die kühne Smitiative; es 
drängt die Handlung zufammen in ihre entjcheidenben 
Wendnngen und Kataftrophen; es gibt Gefchichte in ihrer 
bergeiftigten Eſſenz. Im Roman aber wollen wir ben 


großen Geſchichtshelden nie als Hauptperſon fehen; hier 
wo das Detail ber Heinen Züge, die Fülle unvermeidlicher 
Veberlieferungen fi) nothwendig vorbrängt, buch die 
breite epifche Form begünftigt, würde einerfeitS die dich» 
terifche Freiheit allzu fehr beſchränkt, andererfeits die 
Spannung auf den Fortgang der Ereigniffe, gegenüber 
den befannten Thatfachen, zu fehr entlräftet. Die Haupt. 
perfon bes Romans muß ein Held fein, der nur von ber 
Phantaſie des Dichters feinen Geburtsfchein erhielt, oder 
der mindeftens von der Geſchichte in das befcheibenfte 
Dunkel geftellt wurde. Auch bat Walter Scott dies 
Princip nie außer Acht gelafen: feine Maria Stuart, 
Elifabeth, fein Karl II. treten bedeutfam, in fcharfen 
Umriffen hervor; fein Ludwig XI. und Karl der Kühne 
intereffiren vielleicht mehr als ber Phantafieheld Quentin 
Durward — aber fie find nicht bie Helden bes Romans; 
es ift Entwidelung und Schickſal ber mit ihnen in Be⸗ 
rührung kommenden Phantafiegeftalten, was im Border» 
grund des Romans ftebt. 


Ueber die Charaktere Walter Scott's fagt Julian Schmidt 
fehr viel Richtiges, 5. B.: 

Walter Scott’ Cavaliere, Kreuzritter, Hochländer, Zigen- 
ner und Schleichhändler, Räuber und Berrlidte find eigentlich 
immer nur Staffage.e Wer wollte für den romantifchen Reiz 
feiner Meg Merillies, feines Elaverhoufe, feiner Elsbeth Cheyne 
unempfänglidh fein: aber heimiſch wird uns erfl, wenn wir an 
bie fernigen Figuren der Meinen Pächter, Kaufleute, Advocaten, 
Pfarrer u. f. w. fommen. Die eigentlihe Subftanz feiner Ro 
mane tft diefelbe wie im den Dichtern des 18, Jahrhunderts: 
fie find Charakter⸗ und Sittenfhilderungen, mit bejonderer 
Borliebe für ſolche Phyfiognomien, die etwas Eigenes ha⸗ 
ben, die nicht außjehen wie Hans und Kunz. Daburd aber 
unterfcheidet fih Walter Scott von feinen Vorgängern, dab er 
ſehr wohl weiß, wie gewiffe Eharaktertgpen am beftimmte Zeit 


verbäftniffe gebunden find, und daß er diefen Unterſchied der 


Zeit deutlich markirt. Smollet, Fielding und die andern pho⸗ 
tograpbiren jede intereffante Figur, bie in ihre Nähe kommt, 
al8 wäre fie nur einmal in der Welt, oder als wäre fie zu 
allen Zeiten fo; Walter Scott fragt nach ihren Vätern, Groß⸗ 
pätern und nad ihren Kindern; die individnelle Erfcheinung 
bat für ihn etwas Genetifches, fie blidt nad) ihrem Urſprung 
und nach ihrer Folge Bin. 

An einer andern Stelle fagt er: 

Als Charaltermaler ſteht Walter Scott wenigſtens eben- 
bürtig in der Reihe der großen Humoriflen von Defoe biß auf 
Didens. Er bat eine unglaublidhe Fülle neuer, intereffanter 
und liebenswürdiger Figuren geihaffen, welde unfere Men⸗ 
ihentenutniß bereichern und vom Leben ein volleres Bild geben. 
Alle diefe Figuren find von fehr ausgeprägter Phyflognomie, 
eigenartig, fcharf und folgerichtig gezeichnet, frei in ihrer Be⸗ 
wegung , feft auf ihrem Boden umd zum Theil im großen 
Stil des Komifchen. Er bat bie Modelle aus der unmittel» 
baren Anſchauung genommen, aber ihnen das Gepräge bes 
Typiſchen aufgedrüdt und fie dadurch in den Kreis ber blei⸗ 
benden Ideale eingeführt. 

An einer dritten Stelle fpricht er ſich über bie edeln 
Romanhelden Walter Scott’8 aus, die nach dem Muſter 
Grandiſon's zugefhnitten find, junge, wohlerzogene, aber 
langweilige Männer, und über die Yrauengeftalten des 
Dichters. Schade nur, daß dieje Bemerfungen an ver» 
fehiedenen Stellen vereinzelt auftauchen, wie es gerade die 
Betrachtung dieſes oder jenes Romans mit fid) bringt, 
ftatt daß uns Yulian Schmidt die Charakterzeichnung 
Scott’3 im Zufammenhang dargeftellt Hätte. So macht die 
ganze Abhandlung einen burdans mufivifhen Eindrud; 


| 
1 
u 





142 


hier und dort wird ein buntes Steinchen eingefegt, wie 
es dem. Autor gerade in. hie Hände füllt; der Eſſay 
wächlb gleichjam aus ber Lektüre heraus, win bie Literatur⸗ 
gefchichte aus dem. Excerpt; es fehlt die Dispafitian, hie: 
durchgreifende Energie der Behandlung 

Die Charalteriſtik Bulwex's iſt im ganzen. nicht minder 
gelungen, die Aualyſe der einzelnen. Ramane ebenſo ein⸗ 
gehend, Mit Recht heißt ee von ihm: 

Es iſt wahr, feine bichterifche Kraft ſteht bei weiten Bin- 
ter. dev won: Walter Scott, und Didens zuräd, und von ben 
verſchiedenen Broblemen, die ex angeregt, ift wol nicht eine, 
da® er befriebigenb gelöft hätte, aber vom hiſtoriſchen Stand⸗ 
puutt betrachtet, gewinnt er eine bedeutende Phyſtognomie. 
Mehr als ivgeudeiu anderer Dichter der Periode war er durch 
feine Steflung auf ven Höhen ber. Geſellſchaft, duxch fein ein⸗ 


gehenbes Stadium fämmtlicher Literaturen Curoyas befähigt, 


den Blid ind Große zu richten. Er hatte wirkliche und eigene 
Gedanken, und wenn er der Gefahr unterlag, in fleter Selbſt⸗ 
beipiegelung, was in ihm vorging und was er leiftete, zu 
überfgägen, fo bleibt ihm doch realer Inhalt genug. Ja für 
das Nachdenken bietet er mehr Ausbente als Walter Gcott 
und Didens: er ift von biefen Dichtern der mobdernfle; die 
Probleme, die ihn innerlich bewegten, find noch die unjerigen. 


Die pathetifche, oft fleptifche Haltung und her ſym⸗ 
metriihe Schematismus der erflen Romane Bulwer's, 
ber humoriſtiſche Ton umd die weitläufigen Excurfe feiner 
fpätern werben von unferm Autor mit Hecht unterfehieden. 
Daß übrigens Julian Schmibt feinen frühern moralifchen 
Rigorismus um einige Löcher zurüdgefchnallt hat, beweiſt 
die Schlußparabafe feiner Charakterifiif Bulmer’s, in 


welcher er diefen Dichter mit Didens und Thackeray 


vergleicht: 
In einem, Pustt ei Bulwer jeuen beiden Dichtern vor⸗ 
amiehen, die ihn an Talent fo. bedeutend Überragen: feine 
oral ift kühner und bat einen freiern Blick. Weil die Leiden⸗ 
ſchaften und der Idealismus ben Menfchen jo oft in Wider« 
ſpruch mit fich ſelhſt bringen, ihn nicht einmal glücklich machen 
wenn fie erfolgreich find, gefchweige denn im entgegengeletten 
Fol: darum foll man, das feinen Didens und Thaderay zu 
empfehlen, foviel als möglich velgnieen; das gute Herz if das 
einzige, worauf es anfommt. Aller Ipealismus iſt mit Ehrgeiz 
verfnitpft, der Ehrgeiz madıt hart und einfeitig, er bat etwas 
vom Fieber an fih, und jebe feheinbare Befriedigung ift nur 
das Borfpiel zu neuem Kämpfen und Ringen. Wenn fie das 
auch nicht befländig predigen — oft genug thun fie es —, fo 
zeigt doch die Bertheilung des Intereſſes, das fie an den ver- 
ſchiedenen menſchlichen Naturen nehmen, deutlich genug, wie fie 
denen; fie glauben mit dem Ehrgeizigen, den fie achten, nod) 
beſonders ſchonend umzugehen wenn fie diefe Seite feiner 
Natur ſoviel ale möglid) ignoriren. Bulwer denkt größer 
von der menſchlichen Natur. Im Audley Egerton, Algernon 
Morbaunt, Eugen Aram, Guy Darreli u. ſ. mw. zeigt fi 
zwar, daß der guoße Wille große Opfer koſtet an Lebensglüd, 
auch wol an Herzensreinheit; aber darum bleibt er doch ber 
ebeifte Theil der Menfchheit; und wenn er bei weniger edel 
angelegten Naturen, bei William Brandon, Randal Leslie, 
Lumley Ferres zum poftin Böſen führt, fo bleibt ex doch das 
wichtigſte Ferment der Geſchichte und der Sittlichkeit. Bulwer 
iſt bei der Zeichnung dieſer Charaktere im Detail der Beobach⸗ 
tung viel weniger fchnellblidend, viel weniger fein als Thacke⸗ 
ray; in der Ausmalung threr Nuancirungen viel meniger 
gasaltig als. Didens: aber gedacht hat er ſie richtiger. Es 
fehlt pas an ihrem innern Leben, zu ihrer. völligen Ruu⸗ 
dung: x feine poetifhe Kraft nicht ans, die er öfters durch 
it ——— ſteigern muß; aber es bleiben ſehr lehr⸗ 
weiche Stadiertäpfe- In feinen moraliſchen Problemen hat er 
a ein un fon etwas, daß er wagt. Wenig. 
Pins; nerfuct: ar qſetau uen ans große, ins veiche, ins flarke 


Eſſays von Julian Schmipt, 


Leben zu reißen, unſere Phantafie mit den hödften Aufgaben 
der. Dienfchheit au hefchäftigen, während jene mit ihren Ihealem, 
wenn fie fich ganz gehen lafien, nichte finden als den Gtand 
der Unſchuld, b. h. ber Unreife. 


Die Studie über George Eliot iſt beſtrebt, auf bie 
tiefere Bedeutung dieſer Schriftfiellerin aufmerkfam zu 
mahen, von der bisher noch nicht die Rebe gewefen fei. 
Das Problem, das faft alle ihre Romane behauheln, beißt: 
Was ift die Sünde? Wie kommt fie in den Menfchen? 
Wie wird fie gefühnt? Auch eine lange culturhiſtoriſche 
Einleitung fol uns bie Bedeutung von George Sliot Mar 
machen. Wir glauben, daß diejenigen George Eliot rich⸗ 
tiger beurtheilen, bie ihr Fein großartiges Piebeflal gei⸗ 
fliger Bedeutung aufbauen, fondern fie nur als gute Er⸗ 
zählerin betrachten. Ihre Romane enthalten maunches ge- 
Iungene Stimmungs- und Landfchaftsbild, manchen feinen 
pigchologifchen Zug, manche ibyllifche Niederländerei, aber 
eine äfthetifch nicht genug zu verwerfende Detailmalerei 
der todteften, nichtsfagenden Aeußerlichkeit und dabei auch 
echt englifche Senfationsmomente. Uns erfcheint die ganze 
Studie ald Gerede, das ſich an die zufälligen Stoffe 
ber Mrs, Lewes knüpft; es ift Feine Kunft, auch über 
Schriftftellerinnen von nicht geringem Talent eim ſolches 
Brimborium zu machen. Der äſthetiſche Maßſtab gebt 
überhaupt zulett ganz verloren, wenn man aus dem 
ftoffartigen Intereſſe jeder Erzählung glei weiß Gott 
was für Gulturgefhichte u. ſ. f. zu Tage fürdert. 

Ebenfo übertrieben if bie Schägung ber Erimann- 
Chatrian’fchen Erzählungen und Romane. Die erfien 
Nachtſtücke des elſaſſer Autors waren im Stil eines 
Amadeus Hoffmann gehalten; fpüter fchreibt er elfafler 
Senrehilder ganz nah dem Herzen Inlian Schmidt's, 
umd genießt der Ehre, mit Jeremias Sotthelf und Fritz 
Reuter verglichen zum werden. Wo biefe Dorfgefchichten 
indeß ins biftorifhe Gebiet münden, da erhält der fran⸗ 
zöſiſche Patriotismus Erkmann⸗Chatrian's einige verdiente 
Lectionen. Ueberall iſt das Sioffartige, der Inhalt der 
Geſchichten, der Anſtoß für die Reflexionen Jules 
Schmidt's; die geiftige Bedeutung und das künſtleriſche 
Talent der Autoren kommt dabei faft gar nicht in Be- 
tracht; aus den befcheibenften Genremalern werben un« 
fterbliche Heroen der Kunſt gemacht. Die Titeraturgefchichte 
der Zufunft hat feine leichte Arbeit, den Kehricht dieſer 
fogenannten literarhiſtoriſchen Studien der Realiften bei- 
feitezufegen, welche das Gefühl für dichteriſche Beden⸗ 
tung ſo gänzlich verloren haben, daß ſie über einen 
Schiller oder Shakſpeare ſtolpern würden ohne ihn zu 
bemerken, wenn er nicht bereits in der bengaliſchen Glorie 
des Weltruhms ſchimmerte. 

„JIman Turgenjew“ gibt Veranlaſſung zu einigen 
neuruffifchen Studien. Er iſt jedenfalls ein geiſtreicher 
Schriftſteller; aber alle ſeine Bildungselemente find „Im- 
port“, und feine Eigenthümlichkeit befieht nur darin, bag 
er die nationalruffifchen Zuftände mit her Stepfis der 
modernen deutſchen Philofophie beleuchtet und fich zugleich 
als fcharfblidender Eultur- und Genremaler wie als 
denkender Kopf bekundet, Wie Byron die ruſſtſchen Ly⸗ 
riler und Epifer infpirirt hat, fo infpirirt jest Schopen- 
bauer die xuffifchen Romanfcriftfteller. Iulian Schmibt 
bewunbert Turgenjew's künſtleriſches Naturell und fein 





Reifeliteratur. 743 


Technik und meint, daß ex an poetifcher Kraft keinem der 
jagt lebenden Schriſtſteller Europas weiche. Wir wollen 
nicht unterfugen, ob dies Urtheil acht über dad Ziel 
hinausſchteßßt, ſoadern uns mer freuen, daß Zulian 
Schmibt, ber die Werte eines Schiller und Goethe fit 
„Studien“ erflärte unb in Hegel den Repriifentanten 
einer unfertigen Bildung fieht, inzwiſchen „bewundern‘' 
gelerat hat und in hyyperboliſcher Weiſe gu loben 
verſteht. 

Merkwurdigerweiſe beſprechen alle dieſe Efſays nur 
Romanfhriftfteller; man ſieht daraus, dag Julian Schmidt 
in einer Leihbibliothek als fleißiger Leſer abonnirt ift, 
aber nie Gedichte lieſt und nie ind Theater geht: ber 
Roman ift fir ihn der Inbegriff der ganzen Tchönen 
Literatur — und wenn ja das Glück will, daß bie 
ſchweizer, die medtenburger, die elfafler, bie znglifchen 
und rwififchen Bauern in den Romanen mit Phosogvaphifdi« 
ethnographifcher Treue geſchildert werben, bann geht ihm 
das Herz awf über bie großen Dichter, bie unfere Claſ⸗ 
filer fo tief befhämen. Denn wo finbet fih bei Schiller 
und Voethe rin gefunber Bauer? Die Bauern im „Zeil“ 
fpreden gar in Jamben — und das ift doch ein Berftoß 
gegen alle Lebenswahreit, wie jeder wit gefunden Sinnen 
ausgerüfttte Tomift am Bierwelbftibterfe zit Leich⸗ 
tigleit Beobachten Tann. 

Eine einzige Ausnahme macht Zulian Schmidt zu 
Gunſten eines Dichters, der zwar auch Novellift, dei 
ebenfo Dramatiker amd Epiler in Verſen iſt — zu Gum⸗ 
ſten Paul Heyfe's; ja er wappnet ſich mit beſonderer 
Lieben@wiirbigfeit, um biefen Dichter zu begrüßen, fobaf 
e8 der ansbrüdlichen Erwähnung einer „jungen Dame‘ 
in der folgenden Stelle bedarf, um den Argwohn zu 
wiberfegen,, daß diefe Worte felbſt der Erguß einer zar⸗ 
ten weiblichen Feder find: 

Seit einiger Zeit fieht man in den Schaufenftern uuferer Kunſt⸗ 
läden neben gefeierten Prinzeffinnen uud Tänzerinnen überall 


die Photographien unſerer Poeten, und wer einen Dichter 
ans feinen Werten liebgewonnen Bat, faun nun erfahren, wie 


er ausfieht, und dadurch ein perſonliches Verhältniß ankulipfen. | 


Wenn eine Junge Dame biefe Galerie duvchmuſtert, fo iſt mit 
zeemelicher Wahrſcheinlichkert anzunehmen, daß fie am längſten 
vor dem Bilde Paul Heyſe's verweilen und daß diefe Be- 
tradjtung fie anregen wird, ih feinen Novellen nad den Er⸗ 
fahrungen feines Lebens zu Tischen. Detin er „erſcheint in fo 
fragwürdiger Beftalt‘‘, ſeinem Geſicht ift To dentlich bie Fähig- 
keit und die Neigung uufgeprägt, in dem Felde, auf melden 
fi feine Novellen ausfchlieglih bewegen, Erfahrungen zu ma- 
Gen, daß man vorausfegen darf, in feinen Dichtungen feinen 
leeren Abftractionen und Scattenbildern zu begegnen. 

Auch bei ber nähern Fritifchen Beſichtigung bewahrt 
Sultan Schmidt feine Liebenswürdigleit; ex ftellt zwar 
einzelnes an ibm aus, 3. B. daß ihm das Mitleben mit der 
Natur fehlt, das aud) das Unfcheinbarfte mit Leben und 
Seele erfüllt, dad vom Geift der märkiſchen Kiefern 
duchjchauert, ihn zur Anſchauung zu bringen weiß — 
beiläufig eine etwas kühne Wendung, dies Durchfchauert- 
fein vom Geifte der märkiſchen Kiefern. Auch daß ex 
die beutfchen Bauern nicht jo reden läßt, daß wir fie 
felbft zu hören glauben, erfährt eine Heine Zurechtwei⸗ 
jung, obwol wir dies Vergnügen weit leiter haben kön⸗ 
nen, wenn wir uns anf das nächfte Dorf begeben. Dazu 
braucht kein Heyfe dom Himmel zu Tommen. Mit dem 
Betrachtungen über die „Moral des Philiſters“ ftößt 
Sultan Schmidt die Sonde tief in die eigene Wunde, 
Daß er hierin jet etwas freigeiltiger geworden ift, ha⸗ 
ben wir fchon oben geſehen. Heyſe's Dramen werben 
fo kurz wie möglich behandelt; tim ganzen aber Tann ber 
Dichter mit dem artigen Benehmen bes Kritikers, der 
beim Eintreten und beim Abgehen den Kragfuß nit 
vergißt, fehr zufrieden fein. 

Yuliaen Schmidts Eſſays find ein nicht unwichtiger 
Beitrag zur realiftifchen Aeſthetik ber Neuzeit und zeigen, 
bei manchen Borzügen ſcharfſtuniger Auffafiung, doch bie 
Berirrungen einer Kritik, weiche, durch und durch nich. 
tern umd poefielos, den flüchtigften Launen bed Zeitge- 
ſchmacks fchmeichelt und den von der Mode begtinftigten 
platten und bebeutungslofen Schöpfungen vergebens ein 
bauerndes Piedeftal aufzumauern fncht. 

Rudolf Sottfhull. 


Reifeliteratur. 
Geſchluß aus Nr. 46.) 


6. Ein Sommer im Orient. Bon Alerander Freiherr 
von Warsberg. Wien, Gerold's Sohn. 1869. Gr. 8. 
3 Thlr. 10 Rear. 


Eine am Eingange aufgehängte Warnungstafel belehrt 
uns, daß das Buch nur fir diejenigen gefchrieben fei, 
die das Land, welches es fchildert, gefehen Haben und 
lieben. Sie bildet zugleich die ganze VBorrede und iſt fo- 
mit allerdings ein charafteriftifches Aushängefchild für bie 
ganze Schrift, die ſich durch eine gewiſſe Excluſivität und 
ariſtokratiſche Behandlungsweiſe kennzeichnet. Denunoch find 
wir geneigt zu glauben, daß ber Berfaſſer dieſe Wur- 
nung nit ganz au pied de la lettre genommen zu 
haben wirft. Sicher ift, daß fein Buch auch denjeni- 
gen, die den Drient nicht aus eigener Anfchauung feunen, 
ein tiefes ‚und nachhaltiges Interefie zu bieten geeignet ift. 

Wird auch vielleicht der Lefer, ber die türkiſche Haupt⸗ 


ſtadt nicht befucht und die Reſte aus dem Alterthum, bie 
fie noch darbietet, nicht felbſt gefehen bat, auch nicht 
Archdolog von Fach ift, die Detatlfchilberungen und topo- 
graphiſchen Unterfuchungen über Konftantinopel theilweife 
überfchlagen, fo bietet doch die Schrift nicht nur eine 
Menge anfchaulicher, mit dem feinften Sinne fir Kunſt⸗ 
and Naturfhönheit ausgeflihrter Schilderungen von Land⸗ 
fchaften, fondern zuglei neben vielen charakteriftifchen 
Bildern aus dem türkischen Bolls- und Straßenleben ein- 
gehende Unterfuchungen über bie politifchen und commer- 
ciellen Verhältniſſe des türkiſchen Reichs, gefchiehtliche und 
ſtatiſtiſche Excurſe. Dazu kommt endlich eine lange Reihe 
eiftreicher Bemerkungen über orientalifhe Zuftände im 
tgleich wit europäiſchen, über philoſophiſche und reli« 
gidfe, politifche und fociale Probleme aller Art: Bemer⸗ 
tungen, die oft reiht einfeitig, ja nicht felten parador 











144 


klingend, body ebenfo ſehr von ſcharfer Beobachtungsgabe 
wie von origineller Auſchauung und Auffafſſung zeugen und 
zum Theil wol geeignet find, eingewurzelte Vorurtheile 
in unferer traditionellen Anſchauungsweiſe orientalifcher 
Berhältniffe wirkſam zu berichtigen. Warsberg teitt 
äußerft ficher und felbftbewußt auf; in der Darftellungs- 
weije herrſcht eine gewiſſe vornehm» bequeme Nondhalance; 
dabei ift jedoch ber Stil ebenfo kurz und Inapp wie Har 
und anſchaulich. Auch ift feine Bildung eine tiefere und 
umfaflendere, als fie in den höhern Schichten ber öſter⸗ 
reichiſchen Gefellihaft, denen der Berfafier angehört, im 
allgemeinen heimiſch zu fein pflegt; denn er ſcheint nicht 
nur wie gewöhnlich in Kunſt und Politik, fondern auch 
in Geographie und Statiftit, in Gefhuhte und National- 
öfonomie, ja in der neuern Naturforfchung verhältniß- 
mäßig wohl bewandert zu fen. Sein Stanbpunft 
ift ber bes unbefangenen Beobachters, wenngleidy fid) 
der Ariſtokrat und Katholik und, wie es uns wenigftens 
fcheinen möchte, auch der Militär nicht verleugnen Tann. 

Der Verfaſſer reifte im Frühling von Trieſt nad) 
Konftantinopel, machte von hier aus einen Ausflug nad) 
Brufla, bradhte den Sommer am Bosporus zu und kehrte 
mit dem eintretenden Herbft über Athen zurück. 

Bon Korfu erhalten wir eine Lebendige Schilderung 
und biftorifche Rückblicke, die freilich etwas an das Con⸗ 
verfations-Lerilon gemahnen. Ihm wäre „das Kleinod, 
das Königin Victoria weggeſchenkt“, um alle Schäge In⸗ 
diens nicht feil gewefen. Als er abends wieber auf das 
Schiff kommt, ſtrauchelt er über einen auf bem Berbed 
fchlafenden Albanefen: 

Der Manu erwacdte nit, aber im Schlummer griff ex 
nah feinem Dolche. Gab's eine aufrichtigere Sprache, aber 
auch eine, die mir verflänblicher die Lebensart bes ganzen Volks 
geſchildert Hätte? Und fte ifl die richtige, bie von Gott gegebene. 
Streik für Streih, Fanſt gegen Fauſt. Die Eivilifation fieht 
freilich mit Verachtung auf unfer Mittelalter herab, weil es 
das fo gemacht; aber wenn man den heutigen Sitten die Tu⸗ 
gendkapuze abfireift, mas bleibt dann anderes als das Fauſt⸗ 
recht, der Kampf des einen gegen alle, das öte toi que je m’y 
mette? Daß es von unfern großftädtifchen Börfen ftatt von den 
vereinfamten Burgen aus gelibt wird, ändert an dem Werthe 
ber Sache nicht, ° J 

So erkennt auch der katholiſch⸗ Ariſtokrat in der 
Menſchenwelt ben Kampf ums Dp”.in, wie er ihn ſpäter 
an den Abhängen des Olymp bet Bruffa in der Natur 

- erblidt: 

Abſtechend und unvermittelt, fo wie das Leben überall neben 
dem Tode fteht, blühten unter diefen faftlofen Gefpenftern (vom 
Brande verdoriten Banmflämmen) gauze Felder von Stief- 
mütterchen, jo weit verbreitet und fo blau gefärbt, daß es wie 
Wollkenſchatten auf den Abhängen des Berges lag. Die Afche 
der Bäume hatte die natlirliche Zeugungsfraft des Bodens noch 
gemehrt; die Zerflörung des einen war das Leben des andern 
geworden. Es ift derſelbe Bertilgungslampf, der auch bie 
Menſchenwelt durchzieht. Alles wird und iſt nur durch den 
Tod des Geweſenen. Wie follte da der Egoismus nicht der 
vorlauteſte Trieb unſers Willens fein? 

Im Uegäifhen Meere wird das Schiff von einem 
heftigen Sturme erfaßt: 

Schon um 7 Uhr ift es vollflommen Naht. Ich harre aus 
auf dem Berded. Das Unmögliche wirb möglich, das Unwetter 
fleigert fi) no, und fcheint felbft da feine Grenzen noch nicht 
gefunden zu haben. Mir ift auch das nicht unangenehm, Etwas 
wie ftolges Selbfibewußtfein erhebt mich, daß der Meunſch das 


Reifeliteratur. 


alles ertragen, daß der Geift, das Göttliche in ihm, diefe Ele⸗ 
mente bemeiftern lfaun. Im Gturme, im wilben Drange ber 
Gefahr, erkennt erſt der Menſch feine Kräfte, die Windſtille ex- 
f&lafft, und der Soldat wie ber Seemann handelt erſt, wenn 
der Tod ihm vor ben Augen flieht. Und wie der Menſch, fo 
die ganze Ratur; ihre größten Thaten, bie Alpen und bie 
Büfen, bat fie durch NRevolutionen erzeugt; Gletſcher und Hel⸗ 
den wollen riefige Geburtswehen haben, zn Grunde geht dabei 
nur, wags ſchon angefreffen von der Fäulniß if. Daher baum 
die fonderbare Ericheinung, daß oft Lörperlih Harte und geiunbe 
Menfchen unter dem erften Angriff zuſammenbrechen, 

fheinbar gebrechliche und was man nerodje Raturen nennt, 
wiberfiehen und flegen. Die einen haben in der Gewohnheit 
ber Unthätigkeit den Willen und die Fähigkeit verloren, wäß- 
rend die andern in der Aufregung ihres innern Leben® bem 
Geiſt, der endlich doch das Enticheibende if, nicht bios erhal- 
ten, fondern jogar geſtärkt haben. 

Neben Schilderungen ber Stadt Konflantinopel unb 
ihrer Umgegend erhalten wir Epifoden aus der ältern 
und neuern Geſchichte, von der Empörung bed Pholas 
an, den er den NRobespierre des Kaifers Mauricius nennt, 
bis zu dem neuerlichen Berfuche Riza Paſchas, mit Hälfe 
der Franzoſen oder wenigftens im Einverfländniß mit dem 
franzöfiſchen Gefandten die Thronfolge zu Andern. Dam 
begleiten wir ihn zu einer vornehmen armeniſchen Doppel- 
hochzeit und bem nachfolgenden Balle, an bem and das 
diplomatifche Corps theilnimmt: Sir Henry Bulwer, den 
er gegen die übelwollenden Bemerkungen ber öfterreichifchen 
Zournaliftil in Schuk nimmt, wie ber Marquis von 
Mouftier und ber öfterreihifche Internuntins. Ber einer 
Unterredung mit der Yürftin von Samos legt er biefer 
eine freilich nicht neue, doch treffende und von deu deunt⸗ 
[hen Zouriften noch immer nicht binlänglich beherzigte 
Bemerkung in den Mund: 

„a, Sie haben‘, fo ſchloß fie ihre Rede, „Sie Haben 
ben rechten Zeitpunkt getxoffen, Konftantinopel und deu Boe⸗ 
porus muß man im Sommer fehen, wenn feine Gärten blühzen 
und feine Hügel grünen, wenn jeine Fluten eben und mit ben 
leichten Booten feiner Bewohner geflillt And, die um Abend⸗ 
fonnenfcheine von Europa nad den noch fhönern Ufern Afiens 
hinüberrudern. I halte es überhaupt für einen Irrtum, im 
deu die Bequemlichleit den Norbländer verführt, bie Länder des 
Südens, Italien und ben Orient, in den falten Jahreszeiten 
zu befjuchen; ba erflirbt bier fo gut ale im Norden das Leben, 
wenn anch nicht in gleichem Grade, fo doch verbältnißmäßig. 
Was der Fremde fieht, ift todt, fomweit die Sonne bes Südens 
das Sterben Überhaupt zuläßt. Es ift ein Unrecht, das damn 
mit dem Früßling des Nordens zu vergleichen und zu richten, 
als fei es das letzte Wort, welches diefe Landſchaften ausfprechen 
lönnen. Neapel gefiel mir erft, ale ich es im Sommer fah, 
wenn e8 alle fliehen; wer den Preis haben will, barf ben 
Schweiß nicht jcheuen und muß etwas Hite aufhalten können.“ 

Dann geht es nach dem Herrlichen Bruffa, dem Pa- 
rabiefe Kleinafiend. Im Hafen von Mubania verbringt 
ex bie Nacht wachend, im Anfchauen von Meer und 
Gebirge verfunfen. Wir geben die Stelle ala Probe ſei⸗ 
ner Runft zu fchildern, wie feiner eigenthitmlichen contem- 
plativen Auffafjungsweife: 

Ich flüchte auf die Terraffe, die vor dem Haufe in das 
Meer binausgebaut if; Hier finde ih Einſamkeit und athme 
mit der falzig geimürzten Luft auch die Ruhe, die anf dem Meere 
den warmen Mittageſchlummer ſchläft. So feft if ber, Dai 
felbft die Brandung, bie doch fonft immer unbellinmert um 
Windesftille ihre eigenmächtige Sprache fortlispelt, in regunge 
loſes Schweigen verſunken, und die Flut zu meinen Füßen ge 

lättet wie draußen auf der hoben See if. Dort liegen rinig 
Kifcherboote; mit ihren Gteuerlenten raften auch ihre © 





Reifeliteratur. 


die fchlaff und Halb gejenft an den Maſten hängen, von der 
geibonen Arbeit. So ift Ruhe und Erholung Überall, in den 

enſchen und in den Dingen, lebendig unb bewegt nur nod) 
das Licht. Grüne und blaue Farben gleiten wechfelnd Über das 
Waſſer, und fülberne Streifen wellen leuchtend dazwiſchen. Mir 
gegenüber, auf der andern Seite bes Golfs, glühen die runden 

erge in rothen Lichtern, indeſſen tiefer drinnen, wo die Ufer 
fi treffen und man das Land nur noch fieht, weil es bie in 
die Höhen bes ewigen Schnees emporſteigt, verſöhnliche Schat- 
ten um die fchroffern Formen gehüllt find, damit fie paſſender 
in den beitern Zon des ganzen Bildes flimmen. Dort ragt 
höher als alle andern, wie er andy alle durch Schönheit über⸗ 
trifft, der Katerfü Dag empor. Der Schlaf einer ganzen Nacht 
hätte mir nit mehr Erquidung und Sammlung geben können 
als das ungeflörte Schauen diefer einen Stunde. Wie eine 
Wechſelwirkung fpannt fi der Verkehr zwifchen uns und der 
Natur aus. Ich fühle den Frieden, der im ihr ruht, und fie 
ſcheint — fo menigflens meinem Ange, das alles glaubt, was 
in feinen Vorftellungen gegenwärtig ift — von Gedanken erregt, 
wie fie aufmwühlend mein Inneres durchziehen. Wer das fo 
erfahren, wird den Orientalen nit mehr tadeln, wenn er ihn 
tagelang in fiummem Sehen vor folhen Bildern ſitzend findet. 
Müßig mag man dabei feine Hände und Füße fchelten, aber 
nicht feinen Geiſt; der kann folder Schönheit gegenüber nicht 
anders als nad ihrem Schöpfer fragen und ihm danken, daß 
er fie gefchaffen und daß er ihn fie fchauen läßt. Derfelbe 
Gedanke wird zugleich Erkenntniß, Anbetung und Opfer, unb 
diefelbe Betrachtung Offenbarung nnd Glauben mwerden. So 
ift der Orient eben dadurch, daß er die Heimat aller Schönbeit, 
der in der Natur wie in der Kunſt geborenen, if, auch bie 
Geburtsftätte aller edelften Religionen geworden. An den Ufern 
des Ganges, wie am denen des Nil und an dem großen griechi⸗ 
fen Weltmeer, wie an dem Kleinen galiläifchen See Tiberias 
Bat die bellere Sonne felbft dem Menſchen geholfen, fich den 
Gott und ben Slauben zu finden, der den Völkern und den 
Zahrtaufenden erft ihre Richtung und ihre Würde gab. Solde 
Entdedung wieder zu verlieren und zu leugnen, das war nur 
dem Norden möglih, wo fi Nebel zwiſchen die Augen und 
die Gotteswerle legen und Kälte die Gedanken einer warmen 
Empfindung in jammervolle Öungergeftalten erſtarrt. Der 
Atheiemus ift feine Pflanze des Glidens, fein Boden treibt 
fhönere und nahrhaftere Früchte. 


Des Berfaffers Anfichten über die focialen wie die politi« 
Then Zuftände des türkifchen Reichs weichen weit ab von 
der hergebrachten Auffaffungsweife. Seiner Meinung nad) 
ift die Stellung der Frauen eine ganz naturgemäße und 
dem Klima entfprechende; fie fei im Orient nie anders 
gewefen und werde nie anders fein. Doc erzählt er 
felbft, daß eine Menge türkifcher Wrbeiterinnen jest in 
den chriſtlichen Seidenfabrifen Bruſſas befchäftigt fei, was 
denn doch bereits auf die Morgenröthe einer neuen Auf⸗ 
fafſung der Pflichten und Berhältnifie des fchönen Ge⸗ 
ſchlechts zu deuten fcheint. Die öffentlichen Zuftände bes 
Osmaniſchen Reichs findet er zwar keineswegs unverbefier- 
lich; aber er warnt dringend vor ihrer Umwandlung nad 
occidentaliſchem Muſter. Nur nah ihren eigenen Prin- 
cipien und aus ihrer ganz verfchiedenen Eigenthümlichkeit 
heraus dürfen fie reformirt werden. In feinen national- 
ölonomifchen Ideen fcheint ex im mefentlichen auf phyfio- 
Fratifchem Boden zu ſtehen. Rohproducte und Handel 
damit follen ben Grund des Wohlftandes legen, dagegen 
feine für den Orient ungeeignete Induſtrie Fünftlid im⸗ 
portirt werden; das Grundeigenthum fol möglichft von 
Laſten befreit, auch Fremden zugänglich, dafür aber bie 
Sapitulationen und Eremtionen aufgehoben werden. Die 
Staatsverfaſſungen des Drients erfcheinen ihm viel geſünder 
als die des Deccidents, „folange fie nicht mit dem Gift 

1870, 47. 


145 


europäifcher Eultur verjest find“. Deshalb vor allem 
um Gottes willen feine conftitutionelle Monarchie in Kon» 
ftantinopel! „Die Zeit der Civilifation, der Berbürger- 
lichung, it die des Verfall und ihr würdiges Stants- 
Heid die conftitutionelle Regierungsform, diefer Nothbehelf 
der Schwäche, wo die Duantität den Mangel an Qua⸗ 
lität erſetzen fol.” Man fieht, unfer Autor kann ge- 
legentlih aud die Sprache der Prenzzeitung reden, fo 
liberal er auch an andern Stellen erjcheint. Aber einem 
Driginal, das Franz Bader! in gutem Glauben ftir einen 
der eriten Menjchen unfers Stammes Hält, muß man 
ſchon etwas zugute halten. 

Neben derartigen kreuzritterlichen Streifzligen und 
Erpectorationen erhalten wir werthvolle und eingehende 
Unterfuhungen über die Seiden- und Banmwollenpro⸗ 
duction, die Induftrie und den Handel der Türkei, deren 
ftatiftifchen Zahlen jedody der Autor felbft keinen großen 
Werth beilegt: 

Denn entgegen der allgemeinen Meinung babe ich für 
ſtatiſtiſche Zahlen nur geringen, und für die Sade, die fi 
nur durch fie beweifen Täßt, gar keinen Reſpect. Ich babe fie 
zu oft doppeifinnig und biefelbe Zahl in zu vielen Parteilagern 
gefunden, und muß liberdies fogar, weil ich den Keichtfinn, ber 
diefe Zahlen famınelt und zufammenflellt, perſönlich Tennen 
lernte, dieſe Bielfeitigfeit ihrer Ratur gemäß finden. Beſtäti⸗ 
gen und orbnen, was bie Augen im Leben felbft gefehen haben, 
das können fie; aber alleiniger und verläßlicher Wegweifer wer⸗ 
den fie mir nie fein. 

Dem Mibsbrauch gegenüber, der nicht nur in ben 
gefhicdt gruppirten Budgets der Yinanzminifter, fondern 
auch in wifjenfchaftlichen Werfen jest mit den Zahlen 
getrieben wird, verdient biefe Bemerkung allgemeine Be⸗ 
berzigung. Geht man doch beiſpielsweiſe bereit fo weit, 
auf Grund ftatiftifcher Erhebungen jedem Alter und Ge- 
fchleht im Volle ein gewiſſes nothwendiges Quantum 
präbeftinirter Selbftmorde zuzumeifen. 

Im Übrigen darf man freilich nie vergefien, daß unfer 
Autor faſt jo europamüde ift wie weiland Semilafjo unb 
die Yuftände des Abendlandes durch eine tief rauchgrau 
gefärbte Brille zu betrachten liebt. Wo er irgend kann, 
fteeicht er bie Zuftände des Drients auf unfere Koſten her⸗ 
aus. Iſt ihm doch fogar das „aus feinem Formgefühl 
entfpringende” langſame Schreiben der Türken eine Tugend! 
Weniger kann man ihm unrecht geben, wenn er, im Be- 
geiff über die heulenden Derwifche den Stab zu brechen, 
im Gedanken an die Springproceffion nad; Echternach inne- 
hält. Wenn er aber aus der Vebereinftimmung zwifchen 
mobammedanifchen und Fatholifchen Aberglauben und dem 
daraus entjpringenden, unſers Yahrhunderts unwürdigen 
Gebaren den Schluß zieht, das fei nun einmal ber Fe 
ligion natürlich und ein Beifpiel des Kampfes zwifchen 
Seift und Materie, fo beweift er nur, daß fein Begriff 
von Religion noch feft im dem jefuitifchen Gymnafium 
wurzelt, bem er vermuthlich feine Erziehung verbanft. 

In ferner forgfältigen und genauen Topographie bon 
Konftantinopel zeigt er fich als jcharfblidenden Beobachter 
und weift dem befannten Hammer’fchen Werke eine Menge 
widerfpruchspoller und auf oberflächlicher Anfchauung be- 
ruhender Angaben nad. Sehr eingehend ift der Land- 
aufenthalt in Bujukdere gejchilbert, wenn er dabei aud) 
freilich den Beweis Liefert, dag die Botanik unter feinen 


94 


4 





746 


vielfeitigen Studien keinen hohen Plag einnimmt. Ob 
man ihm recht geben wird, wenn er bei bem Blid hin« 
über nad Afien und anf das Schwarze Meer den Ar- 
gonautenzug aus handelspolitiſchen Abſichten Herleiten will, 
iR uns freilich ſehr zweifelhaft; ficher wird man ihn aber 
deshalb nicht fleinigen, wie er zu fürchten ſcheint. Auch 
die furze Schilderung Athens und feiner clafſiſchen Trüm · 
mer ift fehr Iefenswerth. Dagegen hätte-ber Verfaſſer 
fehr wohl gethau, die holperigen Verſe des wohlgemeinten, 
aber fehr unpoetifchen Schlußgebichts fir ſich zu behalten. 
7. GSittenbilder aus Tunis und Algerien. Bon Heinrich Freie 
ern von Maltzan. Nebf einer Tafel Abbildungen. 
eipjig, Dit. 1869. 8. 1 Thle. 10 Ngr. 

Die Malgan’fchen Neijebilder haben vor ben Zou- 
viftenfchriften gewöhnlichen Schlags unleugbar große Bor- 
züge. Nicht nur daß ber Boden Afrikas, auf dem fie 

zumeift bewegen, ein weniger durchwühlter ift als 
der Europas, Nordamerikas und Vorderafiens, ſodaß wir 
nicht Hundertmal Geleſenes und Bewundertes abermals 
zu leſen und zu bewundern haben, nicht nur daß er ine 
folge feines Tängern Aufenthalts jenjeit des Mittelmeers 
Land und Lente aus allen Schichten der Geſellſchaft beffer 
und gründliche kennen gelernt hat, als es dem flüchtigen 
Neifenden vergönnt ift: er befigt auch die Gabe, feine 
Schilderungen in ebenfo gefälliger wie anfchaulicher Weiſe 
abzurunden, durch eingeflochtene Erzählungen die Er- 
mübung, welche das Nebeneinander langer Bejchreibungen 
fo leicht in dem Lefer hervorruft, gefchidt zu vermeiden 
und fo feinen Schriften neben dem ethnographiſchen ein 
geroiffes romantifches Intereffe zu verleihen. Man Könnte 
die letztern mit den Werken eines Landfſchaftsmalers ver · 
gleichen, welche die charakteriftiichen Züge der von dem 
Meifter gefhilderten Gegenden mit folder Trene wieder» 
geben, daß jeder, ber fie gefchant, fie anf ben erſten Blick 
wiedererfennt, ohne baß eine einzige feiner Landfchaften 
vielleicht genan fo in der Wirflichkeit eriftirte. Allerdings 
iſt ein foldes Verfahren fiir einen Schriftfteller, deffen 
erfter und wefentlicher Zwed nicht in der Herftellung eines 
Kunftwerts, fondern in der naturgetrenen Schilderung von 
Ländern und Bölfern befteht, nicht ohne bedeutende Be- 
denken. Berfaffer und Lefer finden gleiche Schwierigkeit 
darin, eine feharfe Grenze zwifchen Wahrheit und Dich» 
tung zu ziehen, und der legtere läuft Gefahr, individuelle 
Züge, die nur der Phantafie des erſtern entfprungen find, 
in das fi im ihm entwidelnde Bild des Landes und 
Bolks zu verweben. Diefe Bemerkung findet befonders 
Anwendung auf den legten Theil der vorliegenden Schrift, 
welcher drei Erzählungen enthält: „Der Haſchiſchraucher 
von Algier”, „Die Diamanten des Paſcha“ und „Ein 
tabylifcher Soff“, Geſchichten, die ihrem pofltiven Inhalt 
nad) vermuthlih, wenigſiens bie erfte und dritte, im 
wefentlichen ein Werk freier Erfindung find, doch zugleich 
eine fo entjchiebene Localfürbung tragen, dag man ben in 
die Sitten und Gebräuche des Landes auf das innigfte 
eingeweihten Berfaffer auf jeder Seite bewundern muß. 

Zum Verftändnig der Titel bemerken wir, daß Ha- 
ſchiſch das narkotifche Kraut bezeichnet, welches, fi im 
Drient fo allgemeiner Beliebtheit erfrewend, die Stelle 
unferer berauſchenden Getränfe vertritt. Es ift baflelbe 
übrigens keineswegs, wie man gewöhnlich fälſchlicherweiſe 





Neifeliteratur. 


annimmt, Opium ober überhaupt irgendein Product der 
Mohnpflanze, fondern das Blatt von Cannabis indica 
(indifdem Hanf), das entweder getrodnet und geraudt, 
ober in Form eines durch Prefjung gewonnenen Ertracts 
geſchlürft, oder mit ans Mehl bereitetem Kuchen vermiſcht 
genofien wird. Die befannte entzüdende und entmervende 
Wirkung fehildert uns Malgan auf höchſt draſtiſche 
Beife an bem Beifpiel des jungen Ali, indem er zugleich 
eine orientalifche Liebesgeſchichte daran Enüipft. Cine äfn- 
liche fpielt die Hauptrolle in dem „Kabylifchen Soff“, bei 
dem man übrigend nicht etwa am ben entjpredjenben 
fiudentifchen Kunftansdrud, fondern an eine aus ben ver- 
ſchiedenſten Urſachen entfpringende Erbfehde zwifchen zwei 
Kabylendörfern oder ſelbſt verfchiedenen Familien deſſelben 
Doris zu denken hat. Im den „Diamanten des Paſcha“ 
entrollt ſich ein. harakteriftifches Gemälde don türkiidem 
Despotismus, judiſcher Schlanheit und allgemeiner Trem- 
und Gewifienlofigkeit, das in feinen vielleicht etwas grell 
aufgetragenen Farben uns mit einem gelinden Schauber 
vor ben darin geſchilderten Menſchen und Zuftänden er- 
füllt. Alle drei Geſchichten find lebendig und anjchaulid, 
nur zumeilen mit einer fi gar zu behaglich behnenden 
epiſchen Breite erzühlt. 

Die erſte Hälfte des Buchs ſchildert wirklich vorhan ⸗ 
bene Zuftände ohne phantaſtiſche Zuthat. Die meiiten 
Beſucher Nordafritas befehränfen ſich auf Algier und lernen 
aud) Hier mur ben eingewanberten Tabylijch - arabijchen 
Janhagel kennen; während es dem Verfaſſer gelungen ift, 
auch bei der eingeborenen maurifchen Bevölkerung Ein- 
gang zu finden, die in den engen und büftern Straßen 
der Altftadt von Algier in würbevoller Surücgezogenheit 
und, den Iandläufigen Vorſtellungen entgegen, ausnahme- 
108 in Monogamie lebt. Leider nimmt diefer Kerm der 
algierifchen Bevölkerung, dem Kampf ums Dafein nicht 
gewachſen, von Jahr zu Jahr mehr ab. 

Ebenſo lächerlich wie efelerregend ift das Bild, welches 
uns Malgan von dem Hofe, der Regierung und dem 
Bolte von Tunis entwirft. Der gänzlich unfühige Bei, 
fein allmächtiger Günftling, der „Minifterjunge‘ Eibi 
Muſtapha Chasnadar, die Oberften und Generale von 
11—19 Yahren, die Luſtigmacher und Hofnarren, die 
Stanbalgefchichten des Harems muthen und an wie eine 
Swift'ſche Satire, über bie man laden möchte, wenn 
nicht der phyſiſche und moraliſche Ruin einer ganzen 
Bevölferung damit im engften Zufammenhange fände. 
Die Schilderung der ſchmachvollen Weife, wie der Bei 
und der Staat von franzöfifchen Bankiers betrogen mur- 
den, liefert eime treffliche Jluſtration zu den betreffenden 
diplomatifchen und Kammerverhandlungen des verflofjenen 
Jahres. 

Pilante Aneldoten, wie die vom der Engländerin im 
Harem, bie nad; dem Schnupftuch zeigte, dem Däger 
des Fürften Püdler, der für feinen Herem angejehen und 
mit dem Großkvenz des Niſcham -Ordens geziert wurde, 
würzen die ernflen Schilderungen und machen auch diefen 
Theil des Buchs zu einer ebenfo unterhaltenden wie ber 
Ichrenden Leltüre. 

8. Unterwegs. Reifebifder von Alfred Meißner. 

Günther. 1867. 8. 1 Thlr. 10 Nor. 

Meißner verfaßte die vorliegende Schrift während der 


Leipzig, 





Reifeliteratur. 147 


gewitterfchwillen Tage, die den gewaltigen, aber raſch 
vorübergehenden Inftreimigenden Entladungen von 1866 
borangingen. Aber nur die Vorrede leiht den dadurch 
erregten Empfindungen Worte; der Text des Buchs felbft 
it heiter und friedlich wie ein wollenfreier Frühlingsabend. 
Sein anmuthig nachläffiger, leichtgeſchürzter Stil erinnert 
lebhaft an die franzöfifchen Yeuilletoniften, zumal ihren 
Altmeifter Jules Yanin, während do Inhalt und Form 
zugleich vielfach an die Reifebilder gemahnen, wie fie vor 
einigen dreißig Jahren das „Junge Deutſchland“ in die 
Mobe brachte. Zrefflich verftcht es der Verfaſſer, kurze 
Raturfchilderungen mit Anekdoten, politifche und fociale 
Aperçus mit Reifeerlebniffen, Hiftorifche und biographijche 
Ercurfe mit Betrachtungen über Menſchen, Stübte und 
Länder abmwechfeln zu laſſen. Es find eben, dem Titel 
entfprechend, bunte, unzufammenhängenbe, aber trefflich 
ffigziete Bilder, die wie eine Fata-Morgana an uns 
vorüberziehen. Bon einem Reiſebericht, der beftimmt wäre, 
une von allem Erlebten und Gefchehenen Rechenſchaft zu 
geben, ift feine Rede; dazu war die gewählte Route — 
über den Bobenfee rheinabwärts bis Belgien, und von 
Antwerpen nad) Olasgow und Edinburgh — nit an⸗ 
gethan. 

Borarlberg, der vorgefchobene Poſten Oeſterreichs am 
Bodenſee mit feiner rüftigen, den bigoten unwiſſenden 
Tirolern weit vorangeeilten Bevölkerung, gibt dem Ber» 
fofjer Gelegenheit, den Stab zu brechen über die öfter- 
reichifche Wirthichaft, die außer dem Bau von vier bie 
fünf riefigen Kafernen nichts für Bregenz, das vormals 
die erſte Stadt am Schwäbifchen Meer, jegt raſch hinter 
Konftanz und Lindau zurüdtritt, zu thun wußte. 

In Zürich traf er mit Herwegh zufammen, ber bda- 
mals bier einfam und verbittert lebte, noch ſchwärmend 
für feine radicalen Tosmopolitifchen Ideale, nichts ver- 
gefiend und nichts lernend, mit allerlei ſeltſam durch- 
einanbergeworfenen wifjenfchaftlihen Studien befchäftigt. 
Meißner benugt diefe Gelegenheit, um ſdas zumal von 
Herwegh’s Feinden immer von neuem aufgewärmte Ge⸗ 
fhichtchen von feiner Flucht unter dem Sprigleder Anno 
1849 als eine fcherzhafte Erfindung des befannten Turn⸗ 
lehrers Spieß zu enthüllen, welche Herwegh nur aus 
Stolz zu bementiren unterlaffen habe. Auch die Gefchichte 
der Flucht Felice Orſini's aus Mantua, bei der Frau 
Herwegh behilflich geweſen, bekommen wir zu hören. 
Orſini, ein leidenfchaftlicher Teuerfopf, aber eine groß⸗ 
artig angelegte Natur, war beiläufig gejagt eind der 
zahllofen Opfer Mazzini's, der mit kaltem Blut feinem 
Gott oder Götzen, der einheitlichen italienifchen Republik 
und der „fratellanza dei popoli liberi“, jeit 37 Jahren 
Hekatombe auf Helatombe von Märtyrern jchlachtet. 

In Baden-Baden läßt und Meißner von einem Chiro⸗ 
manten die Hand Napoleon's zeichnen und auslegen, er. 
zählt uns im Heidelberg, nachdem er ber deutſchen Al⸗ 
bambra den obligaten Tribut dargebradht, ein Luftiges 
Studentenabenteuer; zeichnet in Brüffel mit grellen Far⸗ 
ben ein Phantaſieſtück in Callot's Manier, das E. T. 
A. Hoffmann Ehre machen würde, gibt uns bafelbft bei 
Erwähnung Rogeard's, des bekannten Berfafjers des 
„Propos de Labienus”, dem er in ber belgifchen Haupt⸗ 
ftabt begegnet, fogar eine Ehrenrettung Cäfar’8 und ein 


Berbammungsurtheil feiner Mörder mit in den Kauf, und 
macht in Antwerpen einen Streifzug auf das Gebiet ber 
Kunſtkritik und der Hiftorifchen Ethnographie. 

Bon DOftende, an deffen buntem Badeleben er eine 
Woche lang teilgenommen, fährt er nah Hull hinliber 
und weiter mit der Kifenbahn über York nach Glasgow. 
Nachdem wir bier mit ihm einen fchottifchen Sonntag 
durchgemacht, unter deſſen Einfluß fogar fein fonft fo 
leicht und munter firömender Redefluß trüber dahinjchleicht, 
einer Quäkerverſammlung beigewohnt und die berühmte 
Nekropolis befucht haben, fahren wir den Clyde Binab 
über ben Koch Lomond und den öden Gebirgspaß nad) 
Inverary, dem alten Stammfige ber Argyles. Edin- 
burgh gibt dem Berfaffer Gelegenheit zu einer hiftorifchen 
Epifode. Die freilich oft gefchilderte Tragödie von Holy- 
rood und ber „Kirk of field” (wol bauptfählih nad 
Laing's „Geſchichte von Schottland‘ erzählt) zieht in leben- 
diger Darftellung von dem Morde Rizzio's bis zu dem 
Darnley’8 an uns vorüber. Meißner gibt ſich dabei die 
überflüffige Mühe, die Schuld Maria’s zu erweilen. 
Intereffanter find die beiden frangöfifchen Sonette ber 
Königin, die er mittheilt, welche nicht nur, wie das be- 
fannte „Adieu, plaisant pays de France”, das Borbild 
des Beranger'ſchen Liedes, den Stempel eines echten 
Dichtergenius tragen, fondern auch eine unbegreifliche 
Liebesglut für den abfcheulichen Bothwell befunden. 

Aus der Vergangenheit lehrt Meißner zur Gegenwart 
Schottlands zurüd. Er findet hier nicht viel Tröſtliches: 
die Glanzepoche der Scott, Burns und der „Scotch re- 
viewers” ift unwieberbringlich vorüber ; bie ſchottiſche Eigen- 
art verfchmwindet, die gaelifche wie die ſächſiſche, allmäh- 
ich in dem englifhen Wefen. Das bünnbevölferte Land 
verödet,; in Glasgow, Paisley und Überdeen drängt ſich 
alles Leben zufammen. ‚Die Bewegung ift unaufhaltjam ; 
die Schidfale Englands werden ſich bis zum letzten Aus- 
läufer des Reichs hinaus erfüllen. Was denn? ruft der 
Reifende und ſchaut in die Wellen. Aber fie raufchen 
und raufchen, ohne daß er ihre Antwort verfteht.‘ 


9. Länder⸗ und Städtebilder. Dritte Folge: Thüringen, Wien, 
Paris. Bon E. Laubert. Danzig, Kafemanx‘ ’1868. 16. 
ar. . 


Die Laubert'ſchen „Länder« und Städtebilder“ haben 
fih in ihren beiden erften Serien („Venedig“, „Genua“, 
„Nizza; „Der Genferſee“, „Die Infel Wight“) bereits den 
Beifall der Lejewelt erworben. Sie find aus Vorträgen 
entftanden, die der Berfafler in Danzig vor einem ge- 
mifchten Publikum zum Beften der dortigen Kleinfinder- 
bewahranftalten *) gehalten hat. Sein Zwed ift, gewifle 
von der Natur bevorzugte und dadurch allein fchon inter- 
efjante Dertlichkeiten herauszugreifen und von ihnen ein mög- 
lichſt objectives Gefammtbild zu Tiefern. Er hat die ur- 
jprüngliche Form des Vortrags beibehalten, weil fie nad 
feiner gewiß richtigen Anfiht für die Anordnung des 
Stoffs fowol wie fiir die Meodulationen des Stils ent- 
ſchieden Vortheile bot. 

Als die bei weitem gelungenſte unter den drei vor⸗ 
liegenden Skizzen müſſen wir die erfte, das Bild, weldes 


*) Wie lange wirb dies ungefllge, mehr als fesquipebale Verbum ‚noch 
in unferm Oprachſchatz figuriren? 
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148 


ber Berfafler von Thüringen entwirft, bezeichnen. Er 
erweift fich Hier nicht nur als einen gründlichen Kenner 
bes Landes in allen feinen Theilen und nad) allen Rich—⸗ 
tungen bin, der fi mit Natur und Kunft, mit Dertlid- 
feiten und Menfchen, mit feiner Gefchichte und Statiſtik 
genau befannt gemacht Hat, und feinen eigenthilmlichen 
Schönheiten ein Tiebevolles Verſtändniß entgegenbringt; er 
verfteht es auch, auf Meinem Raum dur geſchickte Ber- 
theilung von Liht und Schatten, dur ſcharfe Hervor⸗ 
bebung der charafteriftifchen Eigenthümlichkeiten, durch 
eine dem Gegenſtande ſich leicht und natürlich) anſchmie⸗ 
gende Form ein ebenfo farbenreiches wie naturgetrene® 
Dild des Ganzen vor uns zu entrollen. Gefchichtliches, 
Geographifches, Statiftifches — Landſchaft und Bewohner 
in raſchem Ueberblid zufammenfaffend, Keinen der fchön- 
ften Punkte in Berg und Thal, Stadt und Schloß un⸗ 
erwähnt laffend, ohne je in eine trodene Aufzählung zu 
verfallen, orographifche und geognoftifche, botanifche und 
fauniftifche Verhältniſſe, Handel und Induſtrie der Be 
wohner — alles ſcheinbar oberflählih und flüchtig be⸗ 
rührend, aber dod) fo, daß das darakteriftiihe Moment 
klar und anfchaulich Hervortritt, und das Ganze durch 
die Geftalten der großen Männer des Landes aus naher 
und ferner Bergangenheit, vor allem des großen Refor⸗ 
matord und unferer beiden Dichterfürften, als einer treff« 
lichen und trefflich benugten Staffage belebend und illu- 
firirend, hat er es verftanden, das Intereſſe des Leſers, 
fei ihm das gefchilderte Terrain aus perfünlicher An- 
ſchauung befannt oder nicht, bis zum legten Augenblid 
zu feffeln und ein Gefammtbild zu Tiefern, das unter den 
claffifijen Schilderungen deutſcher Landſchaften eine blei⸗ 
bende Stätte zu finden verdient. 

Die Schilderung der Öfterreihifchen Metropole und 
der Weltftadt an der Seine ftehen gegen biejes Landfchafts- 
bild fehr zurüd. Hier ift es dem Verfaſſer trog aller 
fihtbaren Anftrengung nicht gelungen, bie gewaltige Stoff. 
mafje zu bewältigen und die zahllofen Einzelheiten zu 
einem Haren Zotalbilde zufammenzufafien. Das Beftre- 
ben, möglichft vollftändig zu fein, Tein wefentliches Mo⸗ 
ment unberüdfichtigt zu laffen, Lage und Terrain, Straßen« 
züge und Plätze, alle die wichtigften Gebäude und Kunſt⸗ 


Bom Büchertiſch. 


benlmäler dem Lefer vorzuführen und ihn zugleich mit ben 
Beſchäftigungen und ber Eigenart ihrer Bewohner, ja 
fogar mit ber Gefchichte der Stadt belaunt zu machen, 
nöthigt ihn bei dem knappen Rahmen einer Borlefung, 
eine unendliche das Gebächtnig erbrildende Menge von 
Namen und Thatſachen mteinanderzubrängen, welche die 
Aufmerkſamkeit ermüden und nit im Stande finb eine 
klare Borftellung von dem bargeftellten Gegenftande her⸗ 
vorzurnfen. Der Berfafler hätte bier offenbar befler ge⸗ 
tban, in engerm Rahmen eine Reihe einzelner Miniatur» 
gemälde auszuführen, ftatt ein Reiſebild in bloßen Um⸗ 
riffen zu ſtizziren. 

Als eine Probe, wie meifterhaft Laubert die Sprade 
zum Zweck ber Schilderung zu handhaben verfieht, führen 
wir eine Stelle aus ber Charakteriftil des Thüringer⸗ 
waldes an: 


Auf folden Wiefen und Lichtungen-, in den Thalmulben 
und an den Hängen fommt denn auch ber einzelne Baum ober 
die Gruppe landſchaftlich zu größerer Geltung, obgleich jemer 
Blid von den Bergzinnen über das Meer von grünen Häups 
tern, mögen fie nun im Sturmwind frachen oder ſchweigſam 
unb rvegungslos fiehen, in anderer Weife erhebend if. Hier 
unten fehen wir die Tannen und Fichten aus bem Thale, als 
ob es die eine der andern zuvorthun wollte, gegen bie Felſen 
anfleigen, dieſelben wie im Spiele umftellen oder angreifen, 
und eine fi muthwillig bis anf die Stirne wagen ; dort oben, 
vom Rande in die Tiefe blickend, fcheint es als ob die ſchlan⸗ 
fen Stämme wie in jähem Sturze reihen» und ſchichtenweiſe 
unanfhörlich verfänfen oder verfchlungen würben. Gin frifcher, 
Üppiger Rafenteppich ift unferm Auge Überall wohlthnuend und 
willfommen, aber wie gewinnt er, wenn einfam im Gebirge 
plöglid) das fanft anfleigende und der Wölbung bes Berge 
folgende Wiefengelände licht und glänzend uns entgegentritt, 
von den weichen, twelligen Linien der aneinanderjähließenden 
Buchen umgeben, deren Schatten breit und gerundet über bie 
binmenbunte, fonnigwarme Fläche fallen. Und dieſe Miſchung 
von Wald und Wieſe, von durdfichtigen Vorhölzern, aus deren 
Kronen die Goldammer, einander abwechſelnd, das Morgen- 
oder Abenbroth grüßen, und büfterm, ſchauerlichem Dickicht, 
wo der Habicht arhere Zufludt findet, von Berg und Thal, 
von Blatt und Nadel, von Heu- und Tannenbuft, von 
plätfcher der zahlreichen Haren Quellen und Gemurmel ber Bäde 
mit den winzigen Cascaden, von fonnigen Halden, fchattigen 
Gründen und ftarren, firuppigen Felfen macht eine Reife nad 
Thüringen fo anziehend und genußreid. 


Dom Büchertiſch. 


1. Ueber Erziehung und Bildung. Nach feltenen Schriften großer 
Pädagogen und Weltweifen bearbeitet von R. U. Müller. 
Hannover, Hahu. 1870. 8. 27 Nor. 


Denn feine Beobachtung menfchlicher Natur, befonders 
der Rindesnatur, und forgfältige Auswahl pädagogifcher 
Anfichten aus der Weisheit aller Völker und Beitalter ein 
gutes Buch Schaffen können, fo ift die vorliegende Schrift, 
die am Gediegenheit und Reichthum bes Inhalts nichts 
zu winfchen übrig läßt, beftens zu empfehlen. Was 
der Berfaffer in feinem Vorwort ald das Ziel bezeichnet, 
das er ſich in feinem Buche geftedt: die Herftellung. einer 
natürlichen Ordnung von dem „Umgange mit Sindern‘, 
bie nach ihren Grunbtrieben ſich entwidelt, das ift ihm 


in vollem Maße gelungen. Das „Charakteriftifche des 
Menfchen felbft, feine Naturanlagen, feine Anfichten von 
der Welt, feine mannichfaltigen Formen im geſellſchaft⸗ 
lichen Leben, feine Schwächen und Liebenswilrbigfeiten, 
befonders auch fo manches Individuelle des weiblichen 
Geſchlechts“ finden fid) mit eingehender Kenntniß menſch⸗ 
fiher Natur in diefem Buche befprochen, ohne daß es 
ein trodener Codex pädagogischer Kegeln geworden if. 
Die Gedanken großer Pädagogen aller Zeiten und Böller 
find fleißig und paffend angezogen, Ronſſeau und Plutarch 
begegnen uns am häufigſten. Das vorliegende Bud 
fönnen wir wieder als einen Beweis unferer an dieſer 
Stelle oft begründeten Behauptung geben, daß der öfte - 





Vom Büchertiſch. 


reichiſche Lehrſtand ſeit den letzten Jahren ſich an der 
padagogiſchen Literatur Deutſchlands mit einen fehr ſtarken 
Contingent betheiligt. 


2. Crörterung einer philofophifchen Grundeinficht von X. Spir. 
Leipzig, Findel. 1869. Gr. 8. 9 Nor. 


Jedes Jahr begegnen uns auf unferm Buüchertiſch 
ſchätzenswerthe Bereicherungen menſchlicher Denkſyſtematik 
von der Feder des fleißigen Autors A. Spir. Auch 
dieſes Jahr bat ber Verlag von J. ©. Findel wieder ein 
fauber gearbeitete® und fauber verlegtes Wert Spir’icher 
Gehirnarbeit auf feinem Papier in liberaler Cicero Antiqua 
vertrieben; aber fo lodend das anftändige Gewand ift, fo 
langmüthig muß die Gebuld bes Leſers fein, ber mit 
Bergnügen diefe ſechs Bogen herunterlieſt. Ein Spir’fches 
Bud ift wie das andere: endlofe Forſchung über Logische 
Orundwahrbeiten in ermübdender Form. Wenn der An⸗ 
tor fagt: „In ber Philoſophie kommt es vor allem auf 
zwei Punkte an: erſtens auf die Feftftellung ber Prin- 
cipien, der unmittelbar gewiflen Einfichten; zweitens auf 
die Weftitellung der richtigen Art und Weife, wie aus 
denfelben Folgerungen gezogen werben follen‘, jo hat er 
den dritten Sankt vergefien: auch in der Philoſophie 
verlangt man Geift in der Darftelung, und die Dar- 
legung allbelannter metaphufifcher Procefje genügt nicht 
dem Publikum Imterefie an philofophifchen Fragen bei- 
zubringen, wenn bie Darftellung gänzlih der an- 
vegendben Yorm entbehrt, durch die fi Schopenhauer 
feldft Hegel einen fo großen Leſerkreis erworben 
aben. 


83. Der Roman als Kunftwerl. Eine Skizze ale Beitrag zur 
Aeſthetik von Detlev Freiherrn von Biedermann. Dres 
den, Schulbuchhandlung. 1870. 8. 10 Ngr. 


Das Skizzenhafte diefer Arbeit ſchützt diefelbe vor dem 
Borwurf zu großer Allgemeinheit und zu geringer Detail» 
rung. Ein forglidhes Eingehen auf die Kunftgefege der 
epiſchen Proſa ift nicht zu verkennen, ebenſo macht fi) 
ein ſcharfer Blick für das Soll und Haben romandid- 
teriicher Buchführung bemerkbar. Manche Behauptung 
bedarf indeg der Widerlegung; z. B. die gleich zu Anfang 
ausgefprochene: „daß fich unfere Kritik nicht mit dem 
Ernft, den er doc) verdient, mit dem Roman befchäftigt‘; 
ferner, daß e8 „der Kritik an gutem Willen fehle, ben 
fünftlerifchen Werth des Romans mehr herauszuheben 
und fo das Berftändniß dafür zu wecken und zu heben“. 
Das iſt denn boch zu viel gefagt. Gerade d. BI. haben 
e8 fich feit ihrer Begründung angelegen fein lafjen, dem 
Roman und ber Novelle eine fo forgjame und eingehende 
kritiſche Aufmerkſamkeit zuzumenden, daß des Verfaſſers 
Vorwurf allein ſchon von unſerer Seite her zu entkräften 
iſt. Abgeſehen von dieſem und manchem andern Verken⸗ 
nen thatſächlicher Verhältniſſe müſſen wir dem Autor 
meiſt recht geben. Er polemiſirt gegen die Unterſchätzung 
des Romans und will letztern ebenſo gut als „Kunſtwerk 
der Dichtkunſt“ angefehen haben wie alle metrifchen For⸗ 
men derfelben. Die Belimpfung bes Tendenzromans und 
die Warnung, den fogenannten hiftorifhen Roman als 
Hülfsmittel der populären Hiftorie anzufehen, künnen wir 
nur unterfchreiben. Auch darin müflen wir dem Ber- 


149 


fafler recht geben, daß, wie er richtig betont, ber durch 
kurze Erzählungen und Novellen verborbene Titerarifche 
Magen die fchwerere Speife des größern Romans nicht 
mehr fo gut verbauen kann. Wer fi) für eine äfthetifche 
Sondirung beflen, was dem Roman gut thut und was 
ihm ſchadet, interefftirt, dem fei Biedermann's gewiſſen⸗ 
bafte Unterfuchung empfohlen. 

Der Verleger des Büchleins hätte indeß fiir genauere 
Correcturlefung etwas thun können. Gleich in den drei 
erften Zeilen begegnen wir den Schnigern: „americianiſch“, 
„Courszeddel“ u. a. m. und auch fpäter wimmelt es vou 
Vehlern; fo anf S.6, wo es heißt: „wir werden bie 
Büfte über dem Relief ftellen”, „eine Symphonie vor 
einem Capriccio den Borzug geben”, u. a. m. Ober foll« 
ten diefe Corrigenda einem nachläffigen Manufcript zur 
Laft fallen? 


4. Srinnerungen an Henriette Hendel⸗Schütz. Nah ihren 
hinterlaſſenen Aufzeichnungen und Mittheilungen von Zeit- 
genoffen herausgegeben.” Darmfladt, Zernin. 1870. 8. 
15 Nor. 


Wie wir vor nicht langer Zeit die Befprechung einer 
Biographie der Sophie Schröder von ihrem Schwieger- 
fohn brachten, fo geben wir heute die Fritifche Anzeige 
eines Lebensabrifjes der nicht minder berühmten Henriette 
Hendel-Schüg von ber Hand ihres Enkels. Der anonyme 
Biograph fcheint pommerfcher Abſtammung zu fein; nicht 
Shriftfteller von Beruf, wie ex kolett gefteht, führt ex 
doch eine gewandte Weber und weiß die Pietät gegen bie 
Großmutter mit objectiver Darftellung der intereffanten 
Perfünlichkeit glüdlih zu vereinigen. Das bewegte Leben 
der Schüler⸗Eunicke⸗Hendel (nit Händel)⸗Schütz bietet 
gewiß pilante Einzelheiten, die uns natürlich der Enkel 
verfchweigen muß. Der Parallelen mit der Schröder gibt 
e8 auch hier genug, nur fcheint die Hendel eine unruhigere 
Natur geweien zu fein und weniger Freude am Inhalt als an 
der Form der Kunft befefen zu haben. Die genialen plafti« 
hen Darftellungen, durch welche die Henbel-Schüß die Zeit- 
genoflen der erften Decennien des Jahrhunderts entzüdte, 
baben ihr noch dauerndern Huf verfchafft als ihre fchau- 
fpielerifchen Leiftungen, die — der Biograph wird uns 
entſchuldigen — nie fehr bedeutend gewefen fein können, 
wenn man competenten Zeitgenofjen glauben darf. “Die 
idylliſche Abgefchiedenheit, in der die Bielgefeierte ihre 
legten Jahre zubrachte, föhnt uns in der anziehenden 
Schilderung bes Enkels mit vielen Ertravaganzen aus ber 
Zugendzeit ber fehönen Frau aus. Die Hendel-Schüß 
bat das Recht der plaftiichen Mimik in origineller Weife 
zur Geltung gebracht: fie hat würdiger als Emma Ha⸗ 
milton die Gebilde malerifcher und bildender Kunft lebendig 
in mimifches Leben übertragen, fie bat einem Goethe und 
den Beſten ber Zeit Bewunderung und begeiftertes Lob 
entlodt: fo wird ihr Name eine gute Stätte in ber Ge- 
ſchichte deutfcher Kunſt und bie biographifche Erinnerung 
an die Künftlerin einen dankbaren Leferkreis finden. Oft 
genug bat man mit Unrecht das neue Feld der Mimik, 
das die Hendel-Schüß eröffnet, verfannt, wie aus bes 
anonymen Enfels Darftellung Hervorgeht; möge man num 
u „der vielfach Berleumbeten Gerechtigkeit widerfahren 
laſſen! 


750 
5. Wiener humoriſtiſches Jahrbuch 1870. Herausgegeben 
F Si idor Gaiger. Giebenter Jahrgang. Wien, 
gel. 


Auch diefer Yahrgang bes beliebten Unternehmens er⸗ 
frent fi gefunden Humors und interefianter feruilleteni- 
ftifcher Beiträge, Die wigigen Manatsſonette, die Heinen 
ftanbalöfen Nachträge zu Rotteck's „Weltgeſchichte“ find 
nicht minder gefalzen und gepfeffert, als die Feuilletons 
von Ludwig Speidel („Praterabende“), Ferdinand Kürn⸗ 
berger („Der Knabe aus ber Fremde“), Siegmund Schles 
finger („Im Criminal”) umd dem Herausgeber („Neue 
wiener Stadtmärchen“, „Reifeerinnerungen eines Urlaubers‘' 
n. a. m.). Beſonders ragt die Allegorie von Kürnberger 
duch tiefe Symbolik und zarten wehmüthigen Schmelz 
der Yarbengebung vortheilhaft hervor. Es ift das Chrift- 
find felbft, das unter ben verficchlichten Chriften der 
Jetztzeit als Kind aus der Fremde erfcheint und übel 
empfangen wird, bis e8 bei — den Juden eine befcheidene 
Stätte findet. Die Idee diefer Allegorie ift bis auf den 
Schluß nicht neu, aber Kürnberger hat e8 verftanben, in 
die hellen Farbentöne der übrigen Artikel eine dunflere 
Schattirung zu bringen, bie einen wohlthuenden Gegenſatz 
zu ben Teichtfüßigen Schilderungen wiener Lebens bildet. 
Speidel’8 fonft pilante „Praterabende“ enthalten zu viel 
Iocale Anfpielungen, bie für den Nichtwierrer unverftänd- 
Ich find. Dagegen berührt Gaiger, der unter allen 
Autoren des „Jahrbuch“ wol über den meiften Humor 
gebietet, in den wiener Märchen ein fociales Thema mit 
hübfchen Bariationen, während bie „Reiſeerinnerungen“ 
an ziemlicher Eintönigleit leiden. Den Schluß des Buchs 
bilden unter dem Titel: „Lichtbilder aus der wiener Ges 
ſellſchaft“, etliche biographifche Abriffe wiener Theater⸗, 
Muflt- und Induftriegrößen, - eine Sammlung emphati- 
cher Lobpreifungen, die ftart nach Reclame fehmeden, 
um fo mehr, ald man im Inferatenanhang des „Jahrbuch“ 


Feuilleton. 





mehrere Annoncen einiger jener gepriefenen wiener Größen 
bertreten findet. 
6. Der heilige Antonius von Pabua von Wilhelm Bnic. 

Lahr, Schauenburg. 1870. Gr. 8. 10 Rear. 

Ein wunderlicher Heiliger, diefer Antonins von Pabue, 
und um fo wunderlicher, da ihn Wilhelm Buſch, ber 
Rafael ber „Fliegenden Blätter“, zum Sujet prädtiger 
Zeichnungen gemacht hat. Wer kennt nicht ben genie- 
len Humor Buſch's aus den „Münchener Bilderbogen“ 
und den zahlreichen Illuſtrationen zu deutfchen Journalen? 
Zwerchfellerſchütternden Humor, göttliche Laune in jebem 
woblberechneten Strich: fo treten die Zeichnungen bes 
Künftlers, der einen, Legendenftoff mit profaner Laune 
behandelt hat, vor uns hin. Den Iluftrationen geht ein 
harakteriftifcher Tert nebenher, der an fatirifchem Onmor 
nichts zu wünſchen übrigläßt und volles Lob verdient. 
Oft gemahnt uns die ſchallhafte Dichtung an Scheffel's 
Diufe, wenn wir nicht vermuten müßten, auch ber Text 
jei von des Zeichners Hand. Das Ganze ift eime ge- 
Iungene Satire auf die Ungeheuerlichkeit Tirchlicher Legen» 
benmacherei, voller Ausfälle auf die hohe Klerifei, bie 
Klofterzudht und noch etwas mehr... Sp war es demn 
begreiflih, daß, wie wir in biefen Zagen lajen, das 
Inftige Biichlein dem Veto des Staatsanwalts verfiel. Das 
Leben des heiligen Antonius, den Buſch im originelften 
Bhnfiognomiewechjel vorführt, wird getreu der Legenbe 
erzählt und illuſtrirt, das heißt, wie bie Satire erzählt, 
der reißende Wolf im Schafskleide. Man denke, was 
das für Stoff gäbe, wenn man alle Heiligen, wie son 
ihnen die acta sanctorum berichten, fo hernehmen würde 
wie der münchener Sünftler den frommen Antonius! 
Allen fcherzfropen Gemüthern ſei das fröhliche Werlchen 
beftens empfohlen. “Mebrigens‘ wundern wir uns, daß 
Buſch ſich die Fiſchpredigt des Heiligen Antonius hat ent- 
gehen laſſen. 


Fenilleton. 


Engliſche Urtheile über neue Erſcheinungen der 
deuntſchen Literatur. 

Ueber „Voltaire“ von D. F. Strauß ſagt die „Saturday 
Review‘ vom 15. October‘; „Der Name des Dr. Strauß ift 
fo ſehr mit einem berühmten Buche ibentiflcirt, daß wenigftens 
bei uns nicht viele eine richtige Vorftellung von feinen Ber- 
dienften als’ Schriftfieller haben. In der That aber können nur 
wenige höhere Anfprliche auf Auszeichnung in diefem Fache er- 
heben, wenn wir die Benennung auf ihre gewöhnliche Beden- 
tung beichränfen, nach welder fie den Beſitz feiner Eultur und 
eines kritiſchen Geiftes bedeutet, und fie nicht jo weit ausdehnen, 
daß fie urſprünglichen Genius bezeichnet, für welchen fchrift- 
ftellerifche Vortrefflichkeit nicht Zwed, fondern blos Mittel ift. 
Wenig Männer von gleicher Berühmtheit haben den Weltſchatz 
origineller Ideen weniger bereichert al8 Dr. Strauß; doch, 
wenn wir die Theologie gänzlich aus dem Spiele lafien, gibt 
es wenige, deren Urtheil fiber die Ideen anderer durch größere 
Unpartetlichleit und Urtheilsfähigfeit gefennzeichnet find. Daß 
Strauß’ «Sleinere Schriften» vernadläffigt worden find, liegt 
wol theils an der allgemeinen Neigung, die weltlichen Schrif- 
ten eines Theologen als bloße gelegentliche Unterhaltungen fei- 
ner Muße zu betrachten, theils aber auch daran, daß fie Iedig- 
lich deutfche Gegenftände zum Inhalt Haben. Mit Freuden be» 
grüßen wir e8 daher, daß er diesmal ein Thema von allge- 
meinem Intereffe zu behandeln unternommen bat, welches hewiß 


in einem weiten Kreiſe Beadhtung finden wird und die beften 
Eigenſchaften feines Geiftes bewähren mußte. Die Würdigun 
des vieljeitigen Charafters, der mannichfachen Fähigkeiten uud 
des ungewöhnlich großen Einfluffes, welchen Boltaire befaß, 
verlangt ebenſo viel Billigfeit, Scharffinn und Vielſeitigkeit 
wie irgendein ethifches oder literariiches Problem. Es verfieht 
fih von ſelbſt, daß Strauß fi ſtark zu Voltaire, als Bor⸗ 
kämpfer des freien Gedankens und der Toleranz, bingezogen 
fühlt, und daß es ihm fehr unangenehm ift, feinen Helden fo 
tadeln zu müfjen, wie e8 die hiftorifche Gerechtigkeit gebieteriſch 
erheiſcht. Diefe zarte Rückſicht befundet ſich indeffen nicht 
durch die etwaige Unterdrüdung oder and) nur Biilderung 
abfloßender Züge oder zweifelhafter Handlungen, jondern if 
nur daran zu erkennen, daß diefen in dem Gefammtüberbfid 
des Charalters dag gebührende Gewicht nicht gegeben wir». 
Strauß jhildert zwar den wirklichen Mann treu genug; allein 
wie Guido, al8 er den Farbenmiſcher malte, hält er das innere 
Auge auf den ideellen Voltaire gerichtet, vergegenmwärtigt ſich, 
was Boltaire mit feinen feltenen Gaben und der glänzenden 
und alleinftehenden Rolle, die ihm in der Welt zuertheift wer 
bätte fein follen. Unmerfiih nimmt dann der ideele Charakte 
die Stelle des wirklichen ein, und Bat auch Strauß Boltaire" 
Ruchlofigkeit, Unaufrichtigkeit, Bosheit und unbegreifliche 
Mangel an GSelbflahtung feineswegs verhehlt, jo Fönne 
wir doc nicht umhin, zu fühlen, daß diefe Lafter nicht fo ha: 


| 
\ 








Feuilleton. 751 


angeſchlagen werben, wie fie e8 verdienten, Andererſeits jedoch 
hat Strauß jedwede förmliche Eutſchuldigung oder Lobrede ger 
wiſſenhaft vermieden. Er betont nicht, was er mit vollem Rechte 
gan betonen Lönnen, daß das eigentliche Geheimnig der Macht 

oltaire's gerade in feiner wunderbaren Vieiſeitigkeit und Ge 
fmeidigkeit lag; daß ein fo gearteter Charakter nothwenbiger- 
wmeife von ben umgebenden @inflüffen tief berührt werden 
mußte, und daf der Voltatte zu Fkruey ein ganz anderer war 
als der Blake in Berlin oday Paris. Eeine usihägbaren, 
der Gedanken⸗ und Gemiffensfreigeit geleifteten Dienfte werden 
bei Strauß durhaus nicht zu ho angerechnet, und ale 
Schriftſteller kommt ex eher zu farz, weil es Strauß mit 
feinem Plane nicht vereinbaren kounte, fi anf eine ſörmliche 
Zergliederung feiner Werte einzulaffen oder Proben daraus au« 
— er Plan des Werte iſt namlich der einer Weihe 
von Borlefungen; bie Anordmumg if qronoiegiſch mit 
Nubepunkte Hier umd da, um irgendeinen Zweig der viel 
Zpätigleit Boltaire’s insgefammt zu Überfhauen, und mit einem 
befäudigen Bemühen, feine Schriften foweit als möglid nad 
ihrem Inhalte zu gruppiren. Die Leichtigkeit umd Meiſterſchafi 
in der Behandlung einer fo verwidelten Aufgabe find fehr 
bemerkenswerth ; der Stil, wie es bei dem Berfaffer ſtets der 
Fall, if Iebendig und Mar. Dr. Strauß if einer der wenigen 
deutichen Schriftfieller, die fi in diefer Hinfiht gleihbleiben. 
Das Berk ſcheint auf die Anregung der Prinzeffin Alice 
von Heffen, der es gewidmet if, untermommen worden zu 
fein. Hierin liegt mol etwas mehr ale eine blos formelle 
ir ee Beglinfiigung der Literatur feitens Ihrer Lönig- 
fügen Hoheit.” 

Ueber „Die romantiſche Schule‘ von R. Haym fagt die 
„Saturday Review‘ vom 17. September: as offenbar 
wiedererwachte Interefje an der romantifhen Schule Deutſch-⸗ 
Tonde ift vom gnter Borbedeutung für deſſen Nationalliteratur. 
Mau könnte viel Gründe für die lange Vernahläfkigung diefer 
Schriftfteller anführen: ohne Zmeifel find ihre eigenen Thor- 
heiten und Unvollfommeneiten zum großen Theile ſchuld daran; 
der Hauptgrund jedoch bleibt am Ende ber Grad, bis zu wel- 
Gem ihre Phantafie Über den Horizont eines unpoetifhen Zeit- 
alters hinausging. Wie ungefund oder affectirt auch ber Müfli» 
eismus der Schule gewejen und was man aud von ihren fen- 
daliftiſchen und vomanifivenden Tendenzen halten mag, fo fann 
doch nur Pedauterie oder Gefüihlfofigkeit das äſthetiſche Berdienſt 
ihrer dentwürdigfien Schöpfungen in Frage flellen; Were wie 
die beflen Gedichten im „Rhantafus", „Undine“‘, oder „Heinrich 
von Ofterbingen‘ konnten nur von einer flr das ge 
and Dichteriſche gänzlich theilnahmloſen Generation der Bernad)- 
läffigung anheimgegeben werden. Während ber verwandte 
Genius eines Wordeworth und Coleridge feinen tiefſten Ein» 
fluß auf den Geift Englands ausübte, verlor man die deutſchen 

cheifeftefler, ausgenommen allerdings bei ums, ans den Au- 
en. Zeichen eines Umfhlags Haben ſich inbeffen in neuerer 

eit kundgegeben: das Erſcheinen z.B. eines fo umfangreichen 
Werls wie das von R. Haym ſcheint jedenfalls eine bedeu- 
tende Tpeilnahme des Publifums an dem Gegenftande voraus- 
zuſetzen. Nichte weniger in der That als eine ſolche wiirde 
einen 2efer beftimmen, fi an einen fo ungehenern Band zu 
wagen, und nichts weniger ald Begeiferung würde ihn damit 
zu Ende kommen laſſen. Der Berfafler ſcheint dem Grundſatz 
Eäfar’s zu huldigen und dafür zu halten, daß er gar nichts 
eſagt habe, fo lange noch etwas übrigbleibt, das er nicht ge» 
jagt Hat. Die, melde fein Werk wirklich bewältigt Haben, 
lönnen fih Glück winjhen dazu, daß ihnen feine Seite des 
Segenftandes — if. Abgeſehen von Leichtigkeit und 


iuem 








Gedrängtheit, befit das Werk jedes Verdienſt; es iſi ein Muſter 
von Unparteifichleit, und des Verfafſers Gewiflenhaftigkeit ift 
midjt weniger fichtbar in der Ammendung wie in der Zufame 
mentragung feines Materials. Das Hauptmerkmal feines Buchs 
if ein Cifer, den Gegenfländen feiner Kritik, ohne Schen und 
ohne Gunft, die volle Gerechtigkeit widerfahren zu laffen. 
Die Anordnung if fo befriedigend, wie man fie in ber Ge- 
ſchichte einer Titerarifhen Bewegung, bie zugleih originell und 








lauuenhaft war, und in der Schilderung literariſcher Grup- 
pen, bie Yid in einem Zuftande fortwährender Bildung, Aufe 
1bfung und Wieberverbinbung befanden, erwarten kann. Der 
panoramifche Charakter der Ueberficht ift fehr fhlagend, und 
Haym zeigt, daß er bie kritiſchen, philoſophiſchen und theologi⸗ 
ſchen Tendenzen der Schule, wie ſoiche in den Schlegel, Schel- 
ling und Schleiermacher vertreten waren, nicht minder zu wir 
digen verſteht als ihre rein literarifche Seite. Die eingeftren- 
ten biographifden Detail® bieten gegenüber ber allgemeinen 
Scgwerfäligteit des Werts eine angenehme Abwechfelung und 
zeichnen ſich durch dieſelbt gewiſſenhafte Genauigkeit aus, wie 
die iriniſchen Vefandiheile 





Bibliographie. 


Bed, &., Religion und Gultus, Betrachtungen eines Laien ale WR 
guet sum immun eines vernünftigen Giehbenbbereantnufee Happen- 


E73 
Gonze, A., Zur Geschichte der Anfänge grlochlscher Kunst. Wien, 
Gerold'a Sohn.” Lex... 1 Thir. 6 Ngr. 

Csermak, J., Ueber Schopenhauer’s Theorie der Farbe. Ein Bel- 
{rag zur Geschichte der Farbenlahre. Wien, Gerold's Bohn, Lex.-8, 








Bönneten, 9., Mu nad Brantieiß! oktr ber Rrieg ber Dentfgen 
gsoen, bie Pranzofen im Jahre 1370, ter Thi. Deutihe Diebe, #7 

labbad, Hofter. 3. 3; 

Daniel,‘ 


—* 
„I, Die Lehre von der Unfehldarfeit bes Papſtes auß ber 
Bejtiöte keleud 6 Nor. 


—— 


öllenleben. Roman, Aus dem Franzöſches—, &in- 


ihlänn’und DOefterreic autorifirte Ausgabe. 2 Dve. Berlin, 
3, 3 Tplr. 











8, %., Zänbeleien. Dreöben, Burbad. 32. 2), Nur. 

Griechenland geograppiih, geihichtlic und culturpifteriih bon ben 

ätteften Zeiten BIS ’auf pie Gegenwart in Monograppien dargefiellt. 172 

* $. Bro@yaus. In 8 Bon, Leipzig, Orodhaus. 4. à Bb. 
ar. 









Herman „ Erinnerungen au Rom. Briefe und Stizzen. Mün 
gen, 2. Winfterlin. 8. 20 War. 
Hermes ogistus, an die menschliche Beele. Arabisch und deutsch 
hormusgegeben von H. L. Fleischer. Lei Brockhaus, Lex.-8, 
sr. 
Hoh Deutfland! Yurcap Preußen. SHeransgegeden von $. Gncd« 
i8e mb Yeletie Er 9 Goedihe. 1870, BR Berlin, 
hoebfhe. 3. 


ohenioho-Waldenburg, F, K, Fürst zu, Die deutschen Far- 
ben: Schwars, Gold, Roth und die historische Berechtigung der rothen 
Farbe im deutschen Banner, April 1866. Stuttgart, Gr, 6 Near. 
a ai Stienhof. Originalehtoman. 3 Bpe. Seippig, 

fe. 1er1. "8, * 

umbolbt, U. »., Kosınos. Gntiwurf einer vbyfſsſen ettanfgau- 
ung, Dit einer Siograpfilgen Sinleitung von Bernd. d. Gotta, 4 Dbe, 
Stuttgart, Cotta. Gr. 16. 2 Zplr. 34 Mar. 
„9 gimörteten des Epiagtjeiet, Ms. 1-4. Darmfabt, Zernin. @r. 8, 

2 Teyony, D. v., Die Sieferanten ber Höle unb bie Liätfäenen. 

ifiorifes Gemälde des @epeimpofigelmejens und ber geheimen @ejelle 
(alten af Seiten und Böll, Seipia, Di. Eaäler, & 1 Eh. 

Kriegs-Epronit. Gebenfbug an eutihefrangöfiigen Belbgug von 
— „ıfe Sief, Belpig, Beber,, x. Bol. 3 Mer, 

Laö-Taö's taö 16 king. Aus dem Chinesischen ins Deutsche über- 
sun eingeleitet, und commentirt von V. v. Strauss, Leipzig, Fr. Flei- 
scher. Gr. 8. 4 Thlr, 

Teifner, €, BINR du dein Berg mir jfenten? Sgauſpiel in zwei 
— dus bem Eben Oh, een Bade. 














‚mengerecht umgearbeitete Aufl. Leipzig, einer, Gr. 8. 7’, ir. 
Sohn, Anna N in DICH sue Betümbfüng Anef Bore 
resden, Burbad. 


ana, Unmelötih. "Ein 
— unter einem großen Theile ber Frauenwelt. 
. 3 Rat, 
Moderne Märgen, 
Mäbter. Eeipaig, 
Wenger, 
Sul Im 







Plahn. 8. 10 N 









ige Gottes. 
— 
. Winterfeld's gleigmamigem Ro 






* rei Abe gu Oißertidromantifä 
Ws lnsfer get af un en ol 


2. € Bilder au dem Leben ber Muſit und ihrer Meifter. — 
ar enpigunes Beinen, Becionen unb has 


Newton’schen Anziehungsgesetze. Braun- 


hwarze 3 
Ueberlieferungen ans ber @eidicte nnd bem Leben in Aftenfilden, Der 
tißten und Ggifderungen, Leipzig, M. Schäfer. Cr. 8. 20 Npr. 


7152 Anzeigen 
Anzeigen. 
—u 
Derfag von 5. A. Broddaus in Leipsig. Derfag von 5. A. Brochfans in Leipjig. 
Soeben erſchien: Das fe b en Je fu. 
om 
Deutfde Siebe. ! Erneft Renan. 
. Aus den Papieren eines Fremdlings. Autorifirte Denis Ausgabe. 
j it ei Dritte 
Herausgegeben Br einem Bormort begleitet von vermehrt mit uenen Dorseben des De 6 und sinem Anfang nad 
ar Müller, den fehten Ausgaben des Originals. 
Dritte Anflage 8. Geh. 1 Thle. 20 Ngr. Geb. 2 Thlt. 
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Rgr. Im die vorliegende dritte Anflage ber autorifirten deut- 


| 
ſchen Ansgabe von Renan’e „Leben Jefn“ (früher Verlag von 
Das, von dem berühmten deutfchen Gelehrten Brofeffor | Georg Wigand in Leipzig) wurden des Berfafers Borworte 
Mar Müller in Orford Gerausgegebene Buch, eine geift- | zur 18, fsamgöffchen Auflage (1867) umd zur illuftrirten frane 
und feelenvolle Novellendihtung, zählt in Deutſchland wie im | jönjden Bollsansgabe 11870) fowie ein befonders wichtiger 
Auslande, befonders in England (mo 6 aud) Überfeßt worden), | Anhang: „Ueber das vierte Evangelium“ aufgenommen: Cr- 
fo viele Freunde daß bereits zwei Auflagen bavon vergriffen | gänzungen, welhe in feiner andern beutichen Yusgabe ent- 
ud. Die jegt vorliegende dritte Auflage eridjeint in nenem, Hatten find. Ungeaditet der hierdurch veranlaftten bedeutenden 
noch anfpredienderm Gewande und empfiehlt fi um fo mehr | Mermehrumg des Umfangs (um 6 Bogen) blieb der bißherige 








zu einer pafienden Gabe für bie gebildete Frauenwelt. Breis des Werts unverändert. 
i au —— au — Ina Ausgaben 
1 von Renan’s „Reben fu iſt zugleich ein Separatabdru 
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1870, 2. Octoberheft. allen Buchandinngen zu haben. 
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dv. Wydenbrugk. — J. v. Döllinger und die liberale katho- | Die Apoftel. 8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Nor. 
lische Bewegung in Deutschland II., von Dr. B. Zirngiebl. — | Bald, Mit einer Karte. 8. Geh. 2 Tl. Geb. 
Das geschichtliche Verhältniss 2 


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Frankreich I., von Prof. Wegele, — Nekrolog. 2 Tolr. 10 Nor. 

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Zoologie: Neue Untersuchungen über die Vogelnester, | Maltzan, Heinrich Freiherr von, Adolph von 

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Physiologie und Mediein: Die Krankenpflege im Wrede’s Reise in Hadhramaut, Beled 











Kriege III., von Dr. Ploss. . Beny ‘Yssa und Beled el Hadschar. 
Handel und Verkehr: Die Blokade der deutschen Kü- Mit einer Einleitung, Anmerkungen und Erklärung 
sten, von A. Lammers. der Inschrift von ‘Obne. Nebst Karte und Fac- 





Kriegswesen: Der strategische Werth von Elsass und 


Lothringen, von Fr. Maurer. — Die Vortrappen, von KG. | SiMile der Inschrift von “Obne. Gr. 8. Fein 





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BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghansen. Alphabetiſch geoxdneter Ordanten-Schag aus 


i Schillers Werken und Briefen. 

; Im Berein mit Gsttfried Frigfge und Mar Moltte 
N herausgegeben von 

! Dr. Morik Bille, 

| Director dee Gelammt« Gpmnafiumb zu Leipzig. 

f 8. Geh. 2 Thlr. Geb. 2 Thlr. 10 Nor. 

! Die „Schiller Halle“ ſtellt alle bedeutſamen Ausſprüche 
Schiller's, nad) den Gegenfländen oder Stichworten alphabetiih 
| georbnet, im bequemer Ueberficht zufammeır, bifbet alfo gemifle 
| 





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Neueste Kriegskarten. 


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werke. (In mehr als 80000 Abdrücken verbreitet.) 21, Sgr. 








Die de: -' ö isch — | Maßen eine Feal -Encytlopuüdie aus und ju Schiller's ſamm 

* utsen französischen Grenzen, historisch — | fin Schriften, eine Mt von Scillet-Converfatione 

politisch — sprachlich. In 'arben dargestellt. Ent. Lexikon. Mit Recht darf fie ein mit Schiller's eigenem Wo: 

worfen und gezeichnet von Henry Lange. 4 Sgr. | glörihene Grfänterunge- und Ergänzungsband 

” ı Sciller’8 Werfen genannt werben, ber jedem Befiser 

Karte von Frankreich. (Nebst Oarton: Umgebung | Brenz Anfaffung zu empfebfen iR. Aud) jur Berin- 
von Paris) Von Henry Lange. 5 Sgr. dung ald Schulprämie ift das Werk vorzliglid, geeignet. 














Berantwortli—er Redacteur: Dr. Eduard Brohhaus. — Drud und Verlag von S. A. Grochaus in Leipzig. 





Blätter 


literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erfcheint wöchentlich. 


—d Ar, 48, 9 


24. November 1870. 


Inhalt: Philoſophiſche Verſuche. Bon Julius Sranenftädt. — Land und Peute im Orient. Bon Auguſt Müller. — Romane 


und Erzählungen, 


Bon Emil Müller: Samdwegen. — Neue Bücher liber das Leben der Vögel. Bon Karl Ruß. — Senilleton. 
(Zur Kriegslyrik.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Philofophifche Verſuche. 


1, Ueber Erfenntnig. Bon Marimilian Droßbad. Halle, 
Pfeffer. 1869. Or. 8. 10 Near. 

2. Leibnig und Newton. Ein Berfuch über die Urſachen der 
Belt auf Grundlage der pofttiven Ergebniffe der Philofopbie 
und der Naturforihung. Bon Joſeph Durdik. Halle, 
Pfeffer. 1869. ®r. 8. 10 Nor. 


Auf dem Gebiet der Metaphyſik befteht ein Gegenfag 
zwifchen den moniftifhen und pluraliftiichen Syſtemen. 
Die moniftifhen Syſteme, wie verfchieden fie auch unter 
fi fein mögen, haben doch alle biefes miteinander ge- 
mein, daß fie nur ein wahrhaft Seiendes, nur ein ur- 
fprüngliches Wefen, eine Subftanz anerkennen. Sie ftehen 
alfo im wefentlihen auf dem fpimoziftifhen Standpuntt. 
Die pluraliftiiden Syfteme dagegen haben dieſes mit- 
einander gemein, daß fie viele urfprüngliche Wefen, viele 
Keale annehmen, mögen fie biefelben Atome, oder Mo- 
naden, oder fonflwie nennen. 

Die beiden erwähnten Schriften nun gehören in bie 
Neihe der pluraliftifchen Spfteme. Droßbad hat feine 
pluraliſtiſche Weltanfchauung bereits in mehrern Schrif- 
ten dargelegt. ‘Die obengenannte „Ueber Erfenntniß‘ (Nr. 1) 
enthält eine Erfenntnißtheorie vom pluraliftifchen Stand» 

unkt. 

Es läßt ſich nicht leugnen, daß jede philoſophiſche 
Erkenntnißtheorie eine Metaphyfik zur Grundlage hat, ſei 
dieſelbe nun ausgeſprochen oder unausgeſprochen. Denn 
ohne eine allgemeine Anſicht vom Weſen und Zuſammen⸗ 
hang der Dinge läßt ſich gar nicht über die Bedentung 
und Stellung des Erkennens urtheilen. Es iſt nur Täu- 
ſchung, wenn man meint, eine Erkenntnißtheorie unab- 
hängig von aller Metaphyſik aufftellen zu können. Möchte 
auch ein Syftem immerhin mit der Darftellung der Er- 
fenntnißtheorie zuerft anfangen und die Metaphyſik erft 
fpäter folgen laſſen, der Inhalt der Erkenntnißtheorie 
wird doch immer fchon das Gepräge ber eigenthümlichen 
Metaphyſik des ganzen Syſtems tragen. 

1870. 48. 


So trägt denn aud die Droßbach'ſche Erfenntnif- 
theorie das Gepräge feiner Metaphufif, und wir können 
es nur loben, daß er und über dieſe Metaphufif nicht 
im Unffaren gelaffen, fonbern diefelbe ſcharf und deutlich 
ausgefprochen hat, obwol fie trog des deutlichen und ſchar⸗ 
fen Ausbruds nicht haltbarer geworben ift, al8 überhaupt 
die pluraliftifche Metaphyſik an fich if. 

Droßbach flimmt in der Erfenntnißtheorie weder dem 
Dogmatismus, noch dem Sriticismus bei, erfennt aber 
in beiden ein Wahres an nnd fucht das-Wahre beider 
in feiner Erfenntnißtheorie zu vereinigen. 

Nah Droßbach find es die wirklichen Dinge, mit 
denen wir im Erkennen in Beziehung ftehen,; wir erfen- 
nen nicht Erfcheinungen, fondern das Reale. Erfchei- 
nungen find nicht das Object der Erfenntniß, ſondern 
das Product der im Erkennen ftattfindenden Wechfelwir- 
fung zwifchen Object und Subjet. Wie da8 Subject 
nicht aus dem Object, fo kann das Object nicht aus dem 
Subject hergeleitet werden. Beide find vielmehr abfolute 
Tactoren der Wahrnehmung; fällt einer von beiden hin- 
weg, fo hört die Wahrnehmung auf. Beide find einander 
coorbinirt, ftehen in dem Verhältniß von Urſache zu Ur- 
fahe — nit in dem Berhältnig von Urfache zu Wir⸗ 
fung. Dagegen befteht zwifchen uns und den Erſchei— 
nungen das Berhältniß von Urſache und Wirkung; de a 
die Erjcheinungen find Product des Erfennens, und nur 
zwifchen PBroducenten und Product beftehe das Verhältniß 
von Urſache und Wirkung Kant babe alfo recht, daß 
die Erfcheinungsdinge ſich fletS nad) uns richten müſſen; 
unrecht habe der Kriticismus nur, die Wahrnehmbarkeit 
der wirklichen Dinge zu leugnen. 

Das Wahre im Dogmatismus ifl: daß wir das Wirkliche 
wahrnehmen; das Falſche: daß die Erfcheinungen das Wirkliche 
jeien. Das Wahre im Kriticismus ift, daß die Erfcheinungen 
nur fubjective Borftellungen find; das Falfche: daß die wirf- 
lihyen Dinge unmwahrnehmbar feien. Indem die Naturwifien- 
fhaft das Wahre beider Syfteme in fich vereniigt und das 

95 





1754 


alſche derjelben erkennt, legt fie ben Grund zu einem neuen 
yſtem, welches fid) über diefe beiben erhebt, und fie ift dann 
nicht mehr Wiffenihaft von den Erfceinungen, jondern vom 
Wirklichen, vom Abfoluten. 
Nun wird man au das Motto verftehen, welches 
Droßbach feiner Schrift vorangefett Hat: 
Willſt du in die Ferne ſchweifen? 
Sieh — das Wahre ifi fo nah, 
Kanuft e8 mit den Händen greifen, 
Dfien liegt es vor dir da. 


Es foll damit der Glaube, daß wir im Erfennen mit 
Erfcheinungen in Beziehung ftehen und nicht mit dem 
Wirklichen, den realen Urjachen der Erfcheinungen, wider- 
legt werden. Droßbah hält es für ganz verkehrt, Die 
wirflihen Dinge überhaupt fuchen zu wollen, da wir fie 
fhon befigen, mit ihnen in ununterbrocdhenem Verkehr 
ftehen und uns nur zum Bewußtſein zu bringen haben, 
daß wir fchon mit ihnen in Zufammenhang find. 

Das Erkennen im Sinne des Wahrnehmens, BPerci- 
pirens des Wirklichen ift nad) Droßbach nicht blos eine 
Eigenfchaft des Menfchen, fondern eine allgemeine Eigen- 
[haft aller Wefen. Auch die fogenannten unbewußten 
Weſen erkennen, weil alle Wefen in Wechfelwirkung ftehen 
und das Erkennen, Borftellen die nothwendige Folge der 
Wechſelwirkung ift, wenngleich nicht alle denfelben Klar» 
heitsgrad des Erkennens haben. Der Stein wie der 
Menſch ftellen immer vor, der Unterfchied befteht nicht 
dein Wefen, fondern nur dem Grade nad). 

Die Metaphyſik, auf welcher dieſe Erfenntnißtbeorie 
beruht, ift folgende: Ein wahrhaftes Wefen Laffe fich nur 
denken als keines andern zu feiner Eriftenz bedirftig, 
alfo als fchlechthin felbftändig, Nun fei aber ein end» 
liches Weſen fein felbftändiges Wefen und mithin fein 
Wefen überhaupt. Ein felbftändiges Wefen dürfe nichts 
von fi ausſchließen, fonft ſei es endlich und befchränft, 
es müſſe unendlich, fchranfen!os fein. Das jelbftändige 
Weſen fei alfo nur denkbar als unenbliches. 

Hieraus würde fireng genommen folgen, daß es nur 
ein wahrhaft feiendes Weſen gibt, alfo die pantheiftifche 
Lehre. Aber Droßbah nimmt eine Bielheit fchranfen- 
loſer Wejen an. Schrankenlofe Wefen ſchließen alles in 
fihh ein; was feine Schranfen hat, könne zu den andern 
fommen, in ihnen fein, daher feien viele ſchrankenloſe 
Weſen denkbar. „Weil das unendliche Wejen die andern 
in ſich einfchließgen Tann, darum find viele möglich: da- 
gegen tft eine Bielheit endlicher Weſen unmöglich, weil 
fie fich ausfchliegen müßten, und basjenige fein Wefen 
ift, was die andern ausfchlieft.” Man halte die vielen 
Weſen für endlih, weil man vorausjege, baß fie nur 
beftehen können, indem fie äußerlich und mechaniſch neben- 
einander liegen. Man denfe nicht daran, daß es Wefen 
gibt, die ineinander find, einander durchdringen, obwol 
es doch gewiß fei, daß die Kraft alles durcchdringt, daß 
Raum und Zeit nichts von fi) ausſchließen. 

Die jhrantenlofen Weſen Liegen nah dem Berfafler 
nicht mechaniſch außer- und nebeneinander, fondern durch⸗ 
wirken fich innerlich und bleiben daher troß ihrer Viel. 
beit unendlih. Sie ſchließen fi) ein, weil fie unendlich 
find. Nur folange man fich die vielen nicht anders als 
fi gegenfeitig ausfchließend denke, werde man zu der 


Philoſophiſche Verfuche. 


widerfprechenden Vorſtellung endlicher Wefen getrieben 
und halte eine Bielheit unenblicher für unmöglid. So- 
bald fi aber diefelben einfchließen, fei eine Vielheit 
fchrantenlofer Wefen fehr wohl denkbar. „Sa, es ift nur 
eine Vielheit fchrankenlojer Weſen denkbar im Gegenſatz 
zu der Bielheit endlicher, die nicht denkbar iſt.“ „Be—⸗ 
hauptet man, daß es nur ein unendliches Wejen gibt, 
jo find wir alle endlih, und da endliche Wefen nicht 
möglih, fo find wir felbft unmöglid — aber daß em 
unmögliches Wefen zu diefer Einficht komme, ift ebenfo 
unmöglich.“ 

Nach dem Verfaſſer ift e8 ein Widerfpruh, daß End- 
liches, Begrenzte® in Zuſammenhang ftehe; denn wirft es 
über feine Örenzen hinaus, fo feien es feine Grenzen, 
und find die Grenzen wirflihe, fo fei damit fchon gefest, 
daß es nicht dariiber hinauswirfe. „Zwifchen begrenzten 
Dingen ift Zufammendang unmöglih. Was in Zujam- 
menhang fteht, muß ſchrankenlos fein; und nur Schrau- 
kenloſes kann in Zuſammenhang fein.” 

Jedes Weſen iſt nach dem Verfaſſer eine Welt für 
ſich, und doch ein alle andern zufammenfafienbes Ganzes. 
Die vielen Unendlichen büßen dur ihre Beziehungen zu- 
einander nichts von ihrer Unendlichkeit, Abſolutheit ein, 
weil die Beziehungen in ihrem eigenen Innern, gleichſam 
in ihrem eigenen Haufe vor fich gehen, wobei das Haus 
feine Aenderung erleidet, und weil nichts vorhanden tft, 
was von außen auf fie einwirken und fie befchränfen 
fönnte, wie dies bei endlichen Dingen der Yall if. „So 
ift jedes Wefen eins und alles zugleich — als eins mit 
allen, als alles mit nichts in Beziehung — in Beziehung 
ftehend und felbftändig zugleich.“ Als felbftändig für ſich 
fetend lebt e8, als jelbfithätig den andern ſich hingebend 
liebt e8, ohme damit feine Selbftändigfeit aufzugeben. 

Bon diefem feinem metaphufifchen Standpunkt aus 
findet der Verfaſſer in allen dogmatifchen Eyftemen zwei 
einander widerfprechende VBorausjegungen: die eine, daß 
wir der Erfenntniß des Weſens der Dinge, alſo abſolu— 
ter Erfenntniß fähig; die andere, daß wir bedingt, end⸗ 
ih, befchränft fein. Nur eine diefer beiden Boraus- 
jegungen fei haltbar; entweder Haben wir abfolnte Er- 
kenntniß und find überhaupt nicht bedingt, nicht endlich — 
oder wir find enblich und haben feine abfolute Erfenntnif. 
Die kritiſche Philofophie entfcheide fich fir das letztere. 
Woher aber habe fie die Erkenntniß, daß wir bedingt 
find, daß unfere Erkenntniß blos die Erfcheinungen ber 
trifft? Erkenne fie Schranken, fo feien diefe Schranken 
nur Erfcheinungen, mithin Feine wirkliche, wahre, folglich 
jet unfere Erkenntniß ohne wirkliche Schranken, within 
ſchrankenlos. Der kritiihen Philofophie Liege gleicher 
maßen, wie den dogmatifchen Syftenen, das fich felbk 
wiberfprechende Dogma unferer Bedingtheit zu Grunde. 
Wie fol der beſchränkte Berftand des Kritilers richtig 
entjcheiden, daß er beſchränkt ift? 

Nur wenn ich abfolut erfenne, kann ich ein richtiges X“ 
theil fällen... Nur eine Philoſophie, welche von der Einfidt 
ausgeht, daß alle Weien ohne Ausnahme abfolut find, fiber 
windet den Dualismus von bebingien und unbebingten Wefei, 
von ſtunlicher und überfinnlicher Erfenutniß, von Körper uı 
Seit, Stoff und Kraft, in weldem alle andern Syfleme not » 
wendig befangen find, weil fie ihre Borausfeung des 9» 
dingten, des Sinnlichen, des Körperlichen ohne die weite e 





Philoſophiſche Verſuche. 


Annahme eines Unbedingten, Geiſtigen, Immateriellen nicht aneignen. 


feſthalten können. 

Die Droßbach'ſche Schrift iſt recht geeignet, den engen 
Zuſammenhang zwiſchen Erkenntnißtheorie und Metaphyſik 
zum Bewußtſein zu bringen und zu zeigen, wie von ver⸗ 
fchiedenen metaphyſiſchen Standpunkten aus ſich verjchie- 
bene Exfenntnißtheorien ergeben. Die Droßbach'ſche Be- 
banptung der Schrantenlofigfeit unfers Erfennens ift eine 
nothiwendige Yolge feiner Behauptung der Schranfenlofig- 
feit unfers Seins. Dagegen muß eine Metaphyſik, welche 
Beſchränktheit des Seins der vielen Weſen lehrt, noth- 
wendig eine Erfenntnißtheorie zur Folge haben, welche 
BDefchränktheit ihres Erkennens behauptet. 

Aber eben wegen diefes engen Zuſammenhangs zwi⸗ 
chen Erfenntnißtheorie und Metaphyſik zieht auch der 
Sturz einer beftimmten Metaphyſik den Sturz ber aus 
ihr fich ergebenden Erfenntnißtheorie nad; fi. Die Droß- 
bach'ſche Metaphyſik aber mit ihrer logifch unhaltbaren 
Behauptung der Bielheit ſchrankenloſer Weſen muß ftür- 
zen; folglich muß auch die darauf gebaute Erfenntniß- 
theorie ftürzen. 

Wir für unfern Theil können uns die vielen nicht 
anders denken als endlich, begrenzt, beſchränkt; Hin- 
gegen ein unenbliches, unbeſchränktes Wefen können wir 
und nicht als eines von vielen denken. Daraus, daß 
bie vielen in Beziehung, in Wechjelmirtung miteinander 
ftehen, daß fie aljo über ihre Schranken hinüberwirken, 
folgt nicht, was Droßbach daraus folgert, daß fie ſchran⸗ 
fenlos find. Denn jedes ber vielen kann doch nur fo 
weit auf andere wirken, als feine und der andern be» 
grenzte Natur es zuläßt. Ein Stein kann uns nid, 
wie Droßbach, durch Worte Gedanken mittheilen. Das 
Durchbrechen der Schranken ift alfo in den: Wirken ber 
vielen aufeinander immer nur ein begrenztes, velativeg, 
fein abjolutes. Die Leiftungsfähigkeit jeder endlichen Kraft 
ift eine qualitativ und quantitativ beftimmte, begrenzte. 
Es findet alfo weder ein abfolutes‘ Gebanntfein der vie 
Ien in ihre Grenzen ftatt, noch ein abjolutes Ueberjchrei= 
ten derfelben. Jedes Wefen, obgleich auf andere wirkend 
und von ihnen Wirkungen empfangend, bleibt doch immer 
es jelbft, ein beftimmtes, begrenztes Wefen, und über- 
Schreitet trog aller Erweiterung nicht bie Schranfen feiner 
Natur. Die Beziehungsfähigkeit der vielen aufeinander 
ift, wie fie felbft, begrenzt. 

Kurz, die Unendlichkeit, Schrankenlofigkeit der vielen 
ift von Droßbady nur fcheinbar bewiefen. Es iſt und 
bleibt eine unbewiefene Behauptung: „Zwiſchen begrenzten 
Dingen ift Zufammenhang unmöglich; was im Zuſammen⸗ 
hang fteht, muß fchrantenlos fein, und nur Schranken⸗ 
fofes kann im Zufammenhang ftehen.“ Die Wahrheit ift 
vielmehr diefe: Weber abjolut begrenzte, db. h. in ihre 
Grenzen feftgebannte und über fie nicht hinüberwirken Fün- 
nende, noch abjolut unbegrenzte, d. 5. feine andern außer 
fi) Habende Weſen fünnen in Zufammenhang ftehen, ſon⸗ 
dern nur ſolche, die zum Theil begrenzt, zum Theil un« 
begrenzt find, alſo aus Begrenztheit und Unbegrenztheit 
gemifchte Weſen. 

Die Droßbach'ſche Alternative: entweder die Weſen 
find unbedingt, oder fie find nicht, weil bebingtes Sein 
eine contradictio in adjecto fei, fünnen wir uns nicht 


755 


Wir können nicht mit Droßbach die Welt zer- 
fällen in Seiendes, das unbedingt ift, und in Bedingtes, 
dem Fein Sein zulommt. Unjere Anſicht ift vielmehr 
diefe. Die wirflihen Dinge find gemifchter Natur. Es 
ift in jedem Wirflihen ein Ewiges, Unbedingtes — das 
wahrhaft Seiende in ihm; es ift aber auch in jedem ein 
Bergängliches, Bebingtes — die Erfcheinungsform. Jedes 
ift gemifcht aus Subftanz und Accidend. Das wahrhafte 
Sein kommt allerdings nur der Subftanz zu, aber die 
Hccidentien find auch; man kann ihnen das Sein nicht 
abjolut abjprechen. Der Begriff bes Seins ift ber all- 
gemeinfte, und von ihm find fubitantielles und acciden- 
telle8 Sein Unterarten. Die Dinge diefer Welt vereini- 
gen eben beide Arten des Seins in fi, und darım find 
fie weder abfolute Wefen, noch mwefenlofe Phantome. 

Das Unendliche, Abfolute, die ewige Subftanz iſt 
in den vielen endlichen Wefen gegenwärtig, aber in feinem 
ganz; denn es erjchöpft ſich in feinem einzelnen. Nur 
alle endlichen Wefen zufammen in ihrer Wechjelbeziehung 
und Wechjelwirfung machen die Realität des Abfoluten 
aus. Nur auf diefe Weiſe läßt ſich nad) unjerm Dafür- 
halten der Pluralismus mit dem Monismus verbinden. 
Aber ein Pluralismus unendliher Weſen ift für uns 
undenkbar. 

Hiernach beftimmt fi) denn auch unfere von der 
Droßbach'ſchen abweichende Erkenntnigtheorie. Sowie wir 
weder abjolute Wejen find, noch wefenlofe Phantome, fo 
ift auch unjer Erkennen weder ſchrankenlos, noch ift e8 
auf puren Schein befchräntt, aljo von der Wahrheit 
völlig ausgefchlofien. Sondern gemifcht wie unfere Natur 
aus Weſen und Erfcheinung ift, ebenfo gemifcht iſt auch 
unfer Erkennen. Wir nehmen im Erfennen das Wirk. 
liche, Wefendufte wahr; aber nur fo, wie ed ung ver- 
möge unfers Intellects erfcheint. 


Joſeph Durdif’s Schrift: „Leibnig und Newton“ 
(Nr. 2), beabfichtigt nichts Geringeres, als „aufzubeden 
wohin die Anfichten über die Clemente der Welt zuftre- 
ben, ſowie daß dieſes Endziel ſchon gegeben und in dem 
Denkrefultate der zwei erflen Heroen der Wiſſenſchaft — 
Leibniz und Newton — enthalten ıft“. 

Der Berfaffer weift auf die Bedeutung bin, melde 
die atomiftifche Betradhtungsweije in der modernen Natur« 
wiſſenſchaft erlangt hat. Die Atomiftif ſei gerade jo eine 
phllofophiihe That, wie der Dynamismus, nur erbebe 
die erftere defto dringendere Forderungen, an ihrer Ver— 
volllommnung zu arbeiten, je unabweislicher fie ift. Die 
Atome im engern Sinne des empirischen Phyſikers reprä- 
fentiren nad) dem Berfafler nicht die Urfachen der Welt, 
es fehle etwas Wefentliches an ihrem Begriffe. Hier fei 
das Teld, wo Philofophie und Naturwiſſenſchaften ſich 
fo zufammenthun müſſen, daß man fie gar nicht fcheiden 
fann, hier fei das Feld der Metaphufil, die auch noch 
nah dem Kant’schen Hochgericht intact verbleibt, die ſich 
durch keinen Machtſpruch befeitigen läßt, fondern treibt 
und blüht. 

Die neue Phafe des Atomismus ift nach dem Ber- 
fafjer von Newton und Leibniz Herzuleiten. Erſt durd) 
das Newton’sche Gravitationsgefeg wurben an das Atom 
„Kräfte angefügt, die bis ind Unendliche wirken, e8 wurde 

95 * 


756 Philoſophiſche Verfude. 


da der vollftändige Zufammenhang der ganzen Welt, aller 
Weſen, nit nur geahnt, fondern beftimmt ausgeſprochen 
und bewiejen in einer Mar einfahen mathematifhen For ⸗ 
mel gefaßt”. Im der Welt Newton's fei alles in ftreng 
urfählihen Zufammenhang, alles ändere ſich auch mittels 
Heinfter Differenzen, und aud da könne man wie bei 
Leibniz fagen, jeder Augenblid fei beladen mit der Ber- 
gangenheit und ſchwanger mit der Zufunft. Es Habe mit 
der Newton'ſchen That diefelbe Bewandtniß filr die tele» 
flopifche Welt, für den Makrokoomos, wie mit der Leib- 
niz für den Mitcolosmos. Das Geſetz des erſtern mußte 
mathematifch beiiefen werden, während wir das zweite 
unmittelbar in und fühlen. Beide aber feien Ausbrei- 
tungen eines Prädicats des wirklichen Seins auf alle 
Weſen. 

Leibniz' großes Verdienſt beſteht nach dem Verfaſſer 
in der Enidedung, daß die Urſachen der Welt Individuen, 
lebendige Weſen mit innern Zuftänden, mit Vorſtellungen, 
daß fie Monaden ſeien. Sowie Newton der Kraft den 
unendlichen Raum erobert, fo habe Leibniz die Innerlich- 
teit auf alle Weſen ausgedehnt. Das Ueberfinnliche be» 
fteht, es ift eben und allein das Innerliche. Wenn wir 
Newton umb Leibniz vereinen, fo fei das nur in dem 
Sage möglich: „Das wahrhaft Seiende ift unendlich und 
innerlich.” In Leibniz’ Lehre findet der Verfafler eine 
weſentliche Vervolllommnung der alten Atomiſtik. Das 
Atom wird mit einer Innerlichteit begabt, es wird Monas. 
Die Monaben alfo find die mahren Atome, find die Elemente 
der Dinge. Hieraus erhelle bie gewaltige Bedeutung der 
Leibniy ſchen That, er habe die Innerlichkeit der Weſen 
entdedt. Was daneben von ihm aufgeſtellt wurde, folge 
entweder aus dieſem Princip oder ſei unweſentlich von 
ihm Hinzugefügt worden, um verſchiedenen anderweitigen 


Zeitbedürfniffen Rechnung zu tragen. Die Innerlichkeit | 


der Wefen bleibe ba8 Hauptmoment: 

Zum erften male if bier dr große Schritt gemacht wor- 
den, bie gen äußere Natur ung fo nahe zu rliden, da fie 
mit uns einer Wefenheit erſcheint, das Aeußere als Folge eines 
Innern zu begreifen, dem Gefchehen das Borfiellen zu unter 
legen. Zu der Mythologie und der Elementargeifierlehre ſteht 
Leibnig’ Vrineip in einem ähnlichen Verhältniß, wie die Lehre 
Nemwton’8 von dem Aulommendong, der Himmelstörper und 
ihrer Einwirkung auf die Erde zur Aftrologie, 

Durch die Aufftellung der Monas ift nad dem Ber- 
faſſer die pHilofophifche Wiſſenſchaft mit einer Fülle von 
ungeabnten Gefichtspunkten bereichert worden. Zwiſchen 
dem fpinoziftifchen „Modus und der Leibniz'ſchen „Mo- 
na8” liege ein Abgrund von Verſchiedenheiten. Es fei 
etwas wunderbar Tiefes um Leibniz‘ Syſtem, es eröffne 
die Ausficht in die äußerften Enden alles Lebens, es habe 
die Entwidelung am großartigften begriffen und aus— 
gebrüdt. So lange man ben Gedanken darin verjenkt 
halte, fpüre man das Wefen der Wahrheit, ein unnenn- 
barer Reiz wie von einem gelöften Geheimniß locke uns 
immer wieder an. 

Doch, trog dieſer Begeifterung für bie Monabologie 
findet der Verfafer dennoch, daß auch ihr noch etwas 
fehle, auch fie noch) an einem Gebrechen leide, weshalb 
von ihr aus vorwärts geſchritten werben müffe. Sowie 
die Entdedung des Weltgefeges der Gravitation noch von 
niemand für die Metaphyſik mit Entſchiedenheit gel- 





tend gemacht und außgebeutet worden fei, fo habe auch 

der große Gedanke Leibniz’ von der Monade eher eine 
Berfümmerung als Ausbildung erfahren. Die Realen- | 
lehre Herbart’8 ift nach dem Verfaffer Fein Fortſchritt, 
feine BVervolllommnung des Monadismus, fondern ein 
Rüchſchritt; denn die Nealenlehre habe das innere Reben 
und bie Entwidelung wieber befeitigt, fie fei der Atomis- 
mus nad) feinem Durchgang durch den kritifchen Ge- 
danken Kant's. Diefen Gang durch den Kant'ſchen Ge 
danken hindurch habe der Monadismus noch nicht gethan, 
fondern er blieb in feiner Geftaltung, wie ihn der Urheber 
ließ, unberichtigt und unergänzt, dajtehen. 

Der Veifaſſer unterwirft nun den Kant’ichen Gedan- 
ten einer eingehenden Prüfung, und wir begeguen in 
diefer ben Droßbach'ſchen Anſichten über Ding an ſich 
und Erſcheinung: 

Inforeit das Ding an fi uns angeht, wird es Erichei- 
nung; und als Ding an fih im firengen Sinne, wo es mur 
an ſich ift, ohne jede Beziehung zu une, ift e8 aud) wirklid; ein 
Nights. Ein folhes Nichts hat Kant nicht gemeint, denn nad) 
ihm gehen unfere Affectionen von den Dingen an fi aus. 
Die fol dann alfo das Ding an fid) gauz aufer unferm Be- 
reiche liegen, menu es auf uns doch einwirtt? Mir nehmen 
die Erigeinungen wahre — wohl — aber auf Anregung der 
Dinge an fih. Zugleich fagt Kant, daß die Erjheimumgen 
unfere Borftelungen find, daß fie von unferer Organifation 
abhängen, fo halte ich daflir, daß doch mad) jeder Logik hieraus 
gefehfoffen werben muß, daß wir bie Erfheinungen nicht wahr« 
nehmen, fondern fie erzeugen, da felbe gar nichts haben, womit | 
fie auf uns wirkten. Sie find umfere Erzeugniffe. Wir flehen | 
mit den Dingen an fi in caufaler Beziehung und übertragen } 
diefes Berhättnig auf Exiheinungen. Der caufale Zufammen- | 
hang der Wefen darf aber nicht fo gedeutet werden, dab eins 
die Urſache des andern wäre, fondern der Zuſtand allein iſt die 
Birkung, das Wefen felbft die Urfache. 

Ganz wie Droßbach betont es der Verfaſſer als | 
poſitives Reſultat des Kriticiemus: „Wir ftehen fchon 
vor allem Denfen mit den realen Weſen in unmittelbarer | 
Wechſelwirkung, wir nehmen das Wirkliche ſinnlich wahr, | 
die Erſcheinung erzeugen wir.” Und ganz wie Droßbach j 
feine Erfenntnißtheorie an eine Metaphnfit anknüpft, 
welche eine Vielheit unendlicher unbedingter Weſen an« 
nimmt, ſo auch der Verfaſſer, nur mit dem Unterſchiede, 
daß dieſer die Vielheit unendlicher Realen als ein nothwen- 
diges Ergebniß der Geſchichte der Philoſophie darzuſtellen ſich 
bemüht. Ale philoſophiſchen Syſieme haben nämlich nad) 
dem Berfaffer das Ziel gemeinfam, daß fie die realen 
Urſachen der Welt fuchen, und fie unterſcheiden ſich 
hauptſachlich darin, daß die einen als Urgrund das Eins, 
die andern die Bielen fegen. Halte man fid) nämlich 
an ben Begriff des wahren Seins, fo mülje man zu 
Spinoza, ja eigentlich zu den Eleaten zurüdgreifen. 
Hiermit fei die ErHärung ber Veränderung abgefchnitten, 
und greift man, um diefe zu ermöglichen, zu den Vielen, 
feien es num bie Atome, oder Monaden, oder Nealen, 
fo feien alle diefe, abgefehen von andern Widerfpritchen, 
beſchränkt, bebingt, daher nicht wahrhaft letzte, abjolnte 
Urfachen. Es fei ein umerbittliches Dilemma, in welden 1 
bie Antwort auf die Frage „ob eins, ob viele“ ſchwante 
Aus diefem Dilemma rettet nad) dem Verfaſſer mir eine 
Pluralitätslehre, welche bie vielen Realen als Unendliche 
anerkennt. Der gefchichtliche Verlauf der Pluralitätslehre 
ſelbſt dränge dahin, die Urfachen der Welt als Unendliche 








Land und Leute im Drient. 157 


anzuerkennen, bamit ſowol dem Sein als der Veränderung 
Genüge gefchehe. 

Damit aber — das flieht der Berfafler fo gut wie 
Droßbah ein — find wir an bem entjcheidenden Punkt 
angelangt, wo fi der Einwurf erhebt: Wie ift es 
möglich, daß auch nur zwei unenbliche Wefen beftänden ? 
Sie müßten fih ja gegenfeitig bejchränfen, wären alfo 
niht unendlih. Der Berfafjer erwibdert, ähnlich wie 
Droßbach, biefer Einwurf fei nur dann volllommen be- 
gründet, wenn man fich die zwei Wejen als nebeneinander 
in einem begrenzten Raume dent, wo jedes dem andern 
den Eintritt in feinen Raum verwehrt und feinerfeits 
den Angriff befjelben als Befchränfung empfindet. Uber 
eben diefe Anftcht fei falſch. Das Nebeneinander fei 
abzuweifen. 

Jedes Wefen Hält den ganzen Raum in fih, und alle 
Weſen durchbringen einander. Die Phyſik bietet uns Beiſpiele 
genug, wie SKtraftäußerungen einander durchfegen. So muß 
man immer wieder in,den Schatz der naturmwiflenfchaftlichen 
Refultate greifen, um mit den frifchen wahren Daten die Ger 
ipenfter alter Schufbegriffe zu verfcheuchen. Ein Atom ber 
Erde wirkt bis zum Mond, zur Sonne, nod) weiter, ins Un- 
endlihe fort, es ift unendlid. Außer ihm find aber auch an- 
dere Atome da, die ebenjo wirken, ebenfo unendlid) find —, 
ihre Kraftfphären durchdringen einander, fagt der’ Phnfiler, 
d. 5. die beiden Atome durchmwirken fich gegenjeitig, was ihrer 
Unendlichkeit keinen Abbruch thut. Dies ift eine von jenen 
großartigen Anſchanungen, die wir der Naturwiflenichaft ver- 
danken .... Jedes tft ein wirkliches Eins und Alles in ſich 
tragend, die ganze Welt umfaffend. Wäre es allein da, fo wäre 
e8 das eleatifhe Ey zart rnav und volllommen. 

Dhne Newton wären wir nad dem Berfafler nicht 
zu der Einficht gelommen, daß die Weſen ertent, ohne 
Leibniz wüßten wir nicht, daß die Wefen innerlich vor: 
ftellend jeien, und ohne Kant möchten wir fie noch immer 
ſuchen mollen. Leibniz, Newton, Kant bezeichnen baher 
„die drei wichtigften Punkte der neuen Weltanfchauung“. 
Diefe überwindet mit Zuhülfenahme des Durchwirkens 
die alte Meinung, daß mehrere Unbedingte nicht beftehen 
fönnen. „Nicht neben, fondern ineinander find die Ur» 
fahen der Welt. Jede von ihnen beharrt bei aller Ver⸗ 
änderung, fowie die Subftanz Spinoza’s beim Wechfel 
der Modi.” 

Ganz wie Droßbach rühmt auch Durdik von diefer 
Pluralitätslehre, daß durch fie der Dualismus überwun⸗ 
den fei. Das alte Erbftüd von zwei grundverfchiedenen 
Welten verblaffe vor dem Morgenroth der Weltallwiſſen⸗ 
haft, die fublunarifche Welt fei gerade fo göttlich wie 
die Himmlifche; im Wefen, im Ding an fich fei ber 
Gegenſatz zwiſchen wirklihem Sein und Erfcheinung auf- 
gehoben, infofern nur das Wefen ein Sein hat, die Er- 
Iheinung hingegen ein Product des Weſens ift. 


Zum Schluß wirft der Verfaſſer einen Bid auf das 
Refultat feiner ganzen Unterfuhung, und fagt von dem⸗ 
felben, e8 ruhe auf zwei ©eneralifationen: auf der 
Newton's und Leibniz’: 


Wofür liegen mehr Argumente vor, als für das Grapita- 
tionsgefeg und die Iunerlichkeit der Weſen? Leibniz war zwar 
ein Dogmatift, aber was ift fein aufrichtiger, fruchtbarer Dog- 
matismus gegen bie bialeftifche, vernumftiiberragende Dictatur 
Hegel's? Zu diefen zwei PBrämifjen fommt noch das aus ber 
Kant'ſchen Doctrin gewonnene Refultat. 


Somit ergibt ſich als der eigentlihe Inhalt des 
Ganzen: 

I. Kant: Wir ftehen fchon vor allem Denken mit 
den Wefen in unmittelbarer Beziehung. 

IL. Leibniz : Die Wefen find innerlid) vorftellend, 
d. i. Monaden. 

III. Newton: Das Weſen iſt unendlich ausgedehnt, 
erhaben über Raum und Zeit. 


Die Verwandtſchaft ber Durdik'ſchen mit der Droß⸗ 
bach'ſchen Metaphyſik ift unverkennbar. (Die innere Ber» 
wandtichaft drüdt fich auch äußerlich dadurch aus, daß 
beide Schriften in demfelben Verlage erfchienen find und 
gleiche Ausftattung in Drud und Papier erhalten haben.) 
Aber die Plurafität der unbedingten Realen ift ung bei 
Durdif nicht denkfbarer geworben als bei Droßbach. Was 
wir gegen die Droßbach'ſche Metaphyſik gefagt, dafjelbe gilt 
auch gegen die mit ihr identifche Durdik's, fowie überhaupt 
gegen jede pluraliftifche Metaphyſik. 

Das Motiv, aus welchem der Pluralismus entfpringt, 
ift diefes, daß der Monismus die Erklärung der Ver⸗ 
änderung, des Werdens und Gejchehens abfchneide; aber 
fireng genommen gilt doch dies nur von jenem Monis- 
mus, der das unbedingt Eine für ein in fid) unterfchied- 
Iofes hält. Aus einem in fich unterjchiedslofen Einen 
läßt ſich allerdings Fein Werden und Geſchehen ableiten. 
Aber es gibt noch einen andern Monismus als jenen 
falfchen. Der wahre Monismus ſchließt aus der einen 
abſoluten Subftanz nicht die Vielheit und Verſchiedenheit 
ihrer Attribute, ihrer Kräfte und Yunctionen aus. Man 
hat alfo, um dem ftarren, vegungslofen Eins des falfchen 
Monismus zu entgehen, nicht nöthig, zu einem Plura- 
lismus abfoluter, unendlicher Wefen feine Zuflucht zu 
nehmen, wie Droßbah und Durdik, jondern man 
braucht fh nur zum wahren Monismus zu wenden, 
der das abfolute Al-Eine als ein in ſich unterfchie- 
denes, gegliedertes auffaßt und die MWechfelwirkung der 
Mefen als die Wechſelwirkung der Glieder diefes Einen 


betrachtet. 


Iulius Srauenflädt. 


Land und Lente im Orient. 


Man begegnet feit einiger Zeit oft der Anficht, bie 
einzig richtige Methode der Forſchung faft für alle Wiffen- 
ſchaften ſei die naturwiffenjchaftliche; fie, die man auch 
wol als die „eracte‘‘ par excellence bezeichnet, ſei alfo 
möglichft überall in Anwendung zu bringen. Die Anflcht 
ift richtig, aber fie ift nicht neu, wenigftens nur dem 


Ausdrude nad neu; denn bie wahre naturwifienfchaftliche 
Methode befteht in einer möglichſt vollftändigen Induction, 
aus der vorfichtig und confequent Schlüffe gezogen wer⸗ 
den; diefelbe Methode aber iſt fchon feit langer Zeit in 
andern Wiflenfchaften, 3. B. der Philologie, üblich. Aber 
freilich ift zuzugeftehen, daß die Entwidelung einiger 





1758 


anderer Willenfhaften zwar nicht eine ausbrüdliche Ableh⸗ 
nung, aber doch ein ftilfchweigendes Ignoriren dieſer 
Methode zeigt, das erft allmählich befjerer Einficht ge- 
wichen if. Dahin gehört in einer Beziehung auch bie 
Geſchichte. ES feheint mehr eine unbewußte Anlehnung 
an einen von dem überaus verftändigen Herodot einge. 
führten Gebrauch alter Hiftorifer, als eigene fichere Er- 
fenntniß gemefen zu fein, der gemäß hier und da topo- 
graphifche und klimatologiſche Notizen über einzelne Län- 
der gegeben werden; die Mare Einficht dagegen, daß bie 
äußere Beichaffenheit jedes Landes ein nicht geringes 
Moment für die Entwidelung des darin wohnenden Volks 
fei, ift erft vor kurzem volllommen burchgebrungen. 
Hierin ift allerdings ein bedeutendes Verdienſt der mo- 
dernen Naturwiſſenſchaft zu erfennen, deren Entwidelung 
den Anftoß zu der Durchführung jenes Sates gab; denn 
damit ift ein neuer gewaltiger Schritt zur Bervollftändi- 
gung der Induction auf dem bezeichneten Gebiete gethan. 
Curtius' „Griechiſche Gefchichte” bietet in ihren erſten Par- 
tien ein befonder8 glänzendes Beispiel der Art, wie diefe 
Methode gehandhabt werden muß; auf derjelben Erfennt- 
niß, daß Natur und Menfchenleben immer im Zufam- 
menhange ftehen, beruhen die Verſuche des zu früh dahin- 
geſchiedenen Julius Braun, topographifche Schilderun- 
gen mit hiftorifchen Skizzen zu einem Ganzen zu ver- 
binden. Den Anlaß zu diefen Zeilen gibt Braun's letztes, 
nad) feinem Tode erfchienenes und mit einem Vorwort 
von Mori Carriere eingeführtes Werk: 

Gemälde der mohammedanifhen Welt. Bon Julius Braun. 

Leipzig, Brodhaus. 1870. Gr. 8. 2 Thlr. 15 Nor. 

Der Autor umfaßt freilich darin nicht alle das, was 
bon jenem Geſichtspunkte aus zu fordern if. Wie die 
von der Cultur noch nicht berührte Natur ber moham- 
medanıfhen Sünder auf deren Einwohner gewirft habe, 
erfahren wir nur felten und gelegentlich; Braun begnügt 
fich, die jegige Geftaltung der Gegenden darzuftellen, durch 
welche er ung führt. Was von geographifchen und Hiftori- 
Ihem Material vergangener Epochen beigebracht wird, bil- 
det nur die Einleitung zu der Beſprechung des einzelnen 
Volks oder Reichs unferer Zeit. Dennod) wird die geftellte 
Aufgabe nur dann als erfüllt gelten fünnen, wenn nicht nur 
der Einfluß eines verfumpften Flußthals oder einer ſandver⸗ 
wehten Landfchaft auf das Aufßere Leben der Bewohner in 
Betracht gezogen, fondern wenn in größern Zügen nad)- 
geroiefen wird, wie 3. B. der Unterfchied zwifchen einem 
ägyptiſchen Fellah und dem freiheitsliebenden Sohn der 
Wüſte fchlieglih darauf beruht, daß der Fellah auf das 
fruchtbare aber enge Nilthal angewiefen ift, während der 
Beduine in feiner endlofen Steppe bald hier bald dort 
umberfchweifen muß. 

Für die Semiten, von denen die mohammebanifche 
Religion zunächft ausgeht, hat Renan es verfucht einen 
jolden Cauſalnexus zwifchen Land und Volk zu con« 
ſtruiren; aber die brillante Einleitung zu feiner „Histoire 
des langues semitiques” (Paris 1855, zweite Ausg. 1858), 
die in dem ziemlich) paradoren Gate: „Le desert est 
monotheiste‘, gipfelt, ſcheint gerade in ihren hauptſüch— 
lichſten Refultaten wenig gefichert zu fein (vgl. Mar 
Miller, „Eſſays“, I, 297 der deutfchen Bearbeitung: „Der 
femitifche Monotheismus“); um fo intereffanter würde es 


Rand und Leute im Drient. 


geweſen fein, von einem Gelehrten wie Braun eine nene 
Darftellung diefer Punkte zu erhalten. Freilich würde 
diefe Behandlungsmeife das ohnehin fo umfangreiche Ma- 
terial noch bedeutend vermehrt haben, und es liegt uns 
ganz fern, dem verdienten Forſcher einen Vorwurf bar 
aus zu machen, daß er feine Darftellung auf den Theil 
des Gebiets befchränft hat, den er wie fein anberer zu 
behandeln verſtand; wir mußten nur diefe negative Seite 
feines Buchs hervorheben, weil ein Sat des von dem 
Treunde des DBerftorbenen dent Buche voransgefchidten, 
mit wohlthuender Wärme gefchriebenen Vorworts gerade 
in diefer Beziehung misverftanden werden könnte. Was 
Braun ums bietet, ift eine Schilderung des jetzigen Zu- 
ftandes der Länder, welche augenblidlich das Gebiet bes 
Islam bilden, unter Beifügung der gefchichtlichen Notizen, 
welche bei jeder Dertlichkeit von Interefle find, und durd) 
welche die jest erreichte Stufe der Entwidelung als noth- 
wendiges Refultat dargelegt wird. Es ift aus Braun's 
„Biftorifchen Landſchaften“ bekannt, wie anziehend er, 
zum großen Theil durd) eine fcharffichtige Autopfie unter 
ftütt, bei der Beſprechung eines bejtimmten Punktes jene 
topographifchen und Hiftorifden Elemente zu einem har- 
monifchen Ganzen zu verbinden weiß, und dieſe geradezu 
fünftlerifche Oeftaltungsweife bildet auch wieder den Glanz- 
punkt des vorliegenden Werks. Im einzelnen den Fach—⸗ 
gelehrten zu mancherlei Einwänden reizend, vermag bie 
Schilderung in ihrer Gefammtheit doch ein vollkommen 
klares und treues Bild der mohammebanifhen Welt, wie 
fie jegt ift, zu geben. Wir werden zunächſt nach Mekla 
geführt, der Heimat Mohammed's und feiner Religion: 
der hiſtoriſche Exeurs, der fi an diefen Namen fofort 
onfnüpft, gibt eine in ſich abgerundete Darftelung des 
Lebens jenes merkwürdigen Mannes und jener erften 
Nachfolger. Zweierlei müfjen wir indeß bei biefer Aus- 
führung beanftanden. Braun ift nicht Kenner der orien- 
talifchen Sprachen, fpeciel des Arabifchen, und muß id) 
infolge beffen an die vorhandenen Arbeiten neuerer Ge⸗ 
lehrten anjchliegen. Nun ift allgemein befannt, ein wie 
epochemachendes und umentbehrliches Werk Sprenger’s 
„Leben und Lehre des Mohammed” ift; nichtsdeſtoweniger 
kann die Auffaffung der pfychologifchen Entwidelung des 
arabifhen Propheten, welche Sprenger gibt, ſchwerlich 
befriedigen. Es ift Hier nicht der Ort, auf diefe Frage 
näher einzugehen; es mag genügen, darauf Hinzumeijen, 
daß Nöldeke, einer ber bedeutendſten femitifchen Philologen 
unferer Zeit, in feiner „Geſchichte des Doräns“ eine 
andere und weniger jpeciell mediciniſch-pathologiſche Ana⸗ 
lyſe von Mohammed's Charakter gegeben bat, welche 
unfern Widerfprud) gegen Sprenger rechtfertigt. Brauu 
nun bat fich Lediglid an Sprenger angefchloffen und 
ſchwächt ſo in hohem Grade die moralifche Bedeutung 
ab, welche dem Mohammed unferer Dleinung nad) zuge- 
ſprochen werden muß. 

Aber das ift eine Verfchiebenheit der Anfichten, Die 
feinen Borwurf gegen ben Schriftfteller einfchließt; ſchlim⸗ 
mer ift es, daß Braun aud) auf femitifchem Gebiete 
fi) jener Neigung zu waghalfigen mythologifhen Hy⸗ 
pothefen Hingibt, welche ihm fchon innerhalb der leich⸗ 
ter zugänglichen indogermanifchen Keligionswifienfchaft 
fo viele Gegner zugezogen hat. Er felbft jagt: „Ungleich 





Land und Leute im Orient. 


wichtiger als die «Tautverfchiebungsgefege» find die Sinn- 
verfchiebungsgefeße, d. 5. die Gewohnheit, aus dem un⸗ 
verftandenen Fremdwort fo lange umzugeftalten, bis «8 
auch auf bem neuen Boden einen, wenn auch nocd fo 
unzureihenden Sinn gibt.” In vorfichtiger Beſchränkung 
angewandt mag diefer Sag gelten; aber die Yautverjchie- 
bungsgefege müflen auch nicht gänzlich ignorirt werden, 
wie dies bei Braun ſtets geſchieht, ſobald er mythologiſche 
Combinationen vorträgt. Hier ganz befonders ift ihm 
feine Unkenntniß des Arabiſchen gefährlich, deſſen echt 
ſemitiſches Lautſyſtem von dem indogermaniſchen ſo weit 
abweicht wie nur möglich; ſchon von dieſem Standpunkte 
aus ſind ſeine Interpretationen alter ſemitiſcher Sagen, 
die auch im übrigen oft ſehr gewagt erſcheinen, zum 
Theil geradezu unmöglich, und es kann dieſem Theile 
des Buchs gegenüber nur die größte Vorſicht angerathen 
werden. 

Einen kleinern Anſtoß äußerlicher Art mögen wir an 
den eben ausgeſprochenen Tadel anſchließen, weil er aus 
demſelben Grunde hervorgeht: wir meinen den von einem 
auf die ausſchließliche Benutzung moderner Quellen an⸗ 
gewieſenen Schriftſteller ſchwer zu vermeidenden Uebel⸗ 
ſtand, daß die Umſchreibung der orientaliſchen Namen mit 
deutſchen Buchſtaben eine ſehr inconſequente und oft for 
gar irreleitende iſt; ſo erſcheinen z. B. für das arabiſche 
Dhal (= engl. tb weich ausgeſprochen, isländiſch 3), an 
verjchiedenen Stellen z, dz, d; für das arabifche Dſchin 
(== engl. g vor e und i) dſch, di, j und Achnliches. 

Doc Lehren wir zu der Wiege des Islam zurüd. 
Wenn in ben erften Abjchnitten unfers Werks die ange- 
deuteten Mängel bisweilen den unbefangenen Genuß der 
Schilderung ftören, welche im übrigen gewandt und concis 
die erften Schidjale der neuen Religion darftellt, fo kann 
man fih in den folgenden Theilen des Buchs um fo 
unbedenkliher der Führung Braun’s überlaſſen. ‘Der 
Weg geht zunächſt von Mella nad) Medina, der „Stadt 
bes Propheten‘, die den Mohammed aufnahm und als 
Propheten anerkannte, ald er aus Meta flüchten mußte. 
Weiter die Pilgerftraße nad; Norden verfolgend, gelangen 
wir an dem durd den Bader chriftlicher Selten mehr 
al8 durch die achtungsvolle Verehrung der Mohammedaner 
entweihten Serufalen vorüber nach Damaskus, der Stadt 
der Gärten, wo einft mit geringen Unterbrechungen 
Ehriften und Mohammedaner friedlih nebeneinander 
wohnten, bis die zuchtlofen Scharen der Kreuzfahrer ben 
Hriftlichen Namen den Einwohnern Syriens zum Schreden 
und Greuel machten; die Chriftenverfolgung von 1860 
zeigt deutlich, wie gut man es im Mittelalter verftanben 
bat, den Haß der Andersgläubigen zu weden. Freilich 
unterftügt die elende türkifche Wirthichaft derartige Aus- 
brüche des Fanatismus, während fie im übrigen das von 
der Natur jo reich gefegnete Land in Armuth und Un» 
ficherheit verkommen läßt. Nur Haben wir „Franken“ 
feinen Grund, barüber uns zu entrüften, folange die 
furzfichtige und gewifjenlofe Politik unferer Weſtmächte 
alle Berfuche zur Beflerung der Zuftände, wie fle 3. B. 
unter des ägyptiſchen Paſchas Mehemed und feines 
Sohnes Ibrahim Regierung begonnen hatten, vereitelt. 
Türkiſche Paſchawirthſchaft und europäifche Politik find 
überhaupt für unfern Schriftfteller Themata, die er nicht 


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milde wird abzuhandeln: ex bat recht darin, denn follen 
je die fchönen Länder des Dftens wieder etwas von bem 
werden, wozu fie beftimmt zu fein fcheinen, jo müfſen 
an jener Stelle die erften Aenderungen eintreten. Bis⸗ 
jest freilih ift die Ausficht dazu gering; die lblichen 
Bemühungen der Mifftonare, die aber zuweilen auch 
arge Misgriffe begehen (vgl. S. 184, Anm. 2), können 
feine dauernden Erfolge haben, folange bie Grunblagen 
für eine menfchenwitrdige Eriftenz überhaupt fehlen. 

Ueber den Libanon wenden wir uns dem Uuellenlanbe 
bes Euphrat und Tigris zu, bier wie dort merkwitrdigen 
hriftlichen und mohammedaniſchen Selten begegnend, 
deren dogmatifche Ausjchweifungen oft in das Unglaubliche 
gehen. Wir berühren Ninive und durcheilen bann bie 
mefopotamifch- fyrifche Wüfte mit den der Sage nad) 
poetifchen, jedenfalls aber jehr unbequemen Bebuinen- 
flämmen, deren Beruf das Nünberleben ift, um zu ber 
Stelle zu gelangen, wo Jahrtaufende hindurch die Haupt⸗ 
ſtädte mächtiger Reiche ftanden: Babel, Ktefiphon und 
vor allen Bagdad, die ftolze Khalifenftadt Harun’s, jetzt 
ein elender Auinenhaufen. Gibt biefer Wechjel abermals 
Zeugniß von dem Segen ber Türkenherrſchaft, fo bietet 
auch da8 benachbarte Berfien, defien Blütezeit durch die 
großen Namen Firdufi und Hafis bezeichnet wird, jett 
nur noch das jümmerliche Schaufpiel eines rettungslofen 
Verfalls dar: das ganze Land verkommen wie bie Stadt 
des Hafis, Schiras, deren Rofen nur im Liede noch leben. 
Herodot berichtet von den alten Perfern, fle hätten fir das 
ſchimpflichſte aller Bergehen die Lüge gehalten: ben Perfer 
unferer Zeit charakterifirt eine Falſchheit, die bei jeder 
Gelegenheit fich felbft wie andere betrügt und beren 
Gipfelpunkt. eine wahrhaft raffinirte Ausbildung ber offi- 
ciellen Züge ift, welche die Regierung als ein Mufter von 
Vollkommenheit darftellt, während das Land fehuglos allen 
innern und äußern Wirren preisgegeben if. Dier mie 
überall im jeßigen Drient find die Denkmäler vergangener 
Größe das einzige, was unjere Theilnahme in Anfpruc 
nehmen Tann. 

Wir wenden uns nun dem Welten zu, mit Aegypten 
beginnend, der älteften Eulturftätte der Menfchheit, welchem 
die ewig wiederfchaffende Natur felbft jet noch eine her» 
vorragende Bedeutung, vielleicht fogar eine ereignißreiche 
Zukunft bewahrt. Freilich erblidt das Auge des Wan» 
dererd auch hier gegenwärtig nur das traurige Schaufpiel 
eines von gewwiflenlojen Despoten ausgefogenen Landes; 
aber der Nil, der alte Segenfpender, befruchtet in jedem 
Jahre von neuem feine Ebene, und ſoviel die Habſucht 
der Herrfcher von dem armen Fellah erpreßt, es bleibt 
immer die Deöglichkeit, in wenigen Jahren geordneter und 
gerechter Verwaltung das Land zu einer hohen Blüte zu 
bringen; ſchon vorläufig wird, obwol Tediglih im egoifti- 
chen Interefie des Bicelönigs, im Anſchluß an die Voll- 
endung des Suezkanals viel gethan, um die Production» 
kraft des Landes zu fleigern. 

Ein eigenes Gefühl ergreift ung, wenn wir die fleg- 
reichen Deere des jungen Islam nad) Spanien hinüber⸗ 
begleiten. Mit Recht find wir gewohnt, das arabijche 
Spanien als das Attila des Islam zu betrachten, der 
Name der Alhambra erwedt in uns wehmüthige Erin⸗ 
nerungen an eine vergangene ſchöne Zeit ritterlich⸗poetiſchen 





160 


Lebens; und mögen diefe auch größtentheilg auf den 
„Letzten Abencerragen” Chateaubriand’8 zurüdgehen, fo 
fiimmen doch bier Poeſie und Wirklichkeit in feltener 
Meife überein; Schad, der gediegene Kenner des arabifchen 
wie des chriftlichen Spanien, bat das in feinem ſchönen 
Buche über die „Poeſie und Kunft der Araber in Spanien‘ 
erwiefen. Das ift alles dahin, nur die prachtvollen 
Trümmer ber Paläfte und Mofcheen geben eine Ahnung 
der alten Herrlichkeit, im übrigen bat die Inguifition hier 
grünblicher aufgeräumt als Timur's Mongolen in Perfien. 

Wenig ift über da8 mohammedanifche Afrika zu fagen; 
das „Kaiſerreich“ Marokklo ift bie concret gewordene 
Ohnmacht; und ob die Türken in Bagbab ober die 
Sranzofen in Algier das Kolonifiren beſſer verftehen, 
bleibt zweifelhaf.e Ganz unzweibeutig bagegen ift bie 
Wirthſchaft des Bei von Tunis, von ber gelegentlich 
unfere Zeitungen berichten, wenn er wieder einmal 
einen Berfuch gemacht Hat, feine franzöſiſchen Gläubiger 
hinter das Licht zu führen oder — und das gelingt 
ihm leider beſſer — in feinem Lande eine Hungersnoth 
hervorzurufen. 

Nach einem kurzen Blick auf Tripolis, Nubien und 
den türkiſchen Sudan — die ſelbſtändigen mohammeda⸗ 
nifchen Reiche entziehen fi) immer noch der Forſchung — 
lernen wir endlich das Voll näher kennen, bem unmwillig 
noch die meiften der befprochenen Länder gehorchen. Die 
Türken, einft der Schreden Afiens und Europas, deren 
Geſchichte eine folche Reihe von kraftvollen Eroberungszligen 
aufweift wie die weniger anderer Bölfer, fcheinen fich 
durch eben dieſe Ueberanftrengung gänzlich erſchöpft zu 
baben — heute mwenigftens ift der Nationalfehler des fonft 
gutmütbigen Volks eine ſchwer zu übertreffenbe Indolenz 
und Faulheit. Große cultuchiftorifche Momente haben 
fie freilich nie gehabt, ihre Moſcheen und Paläfte, fofern 
fie überhaupt der nühern Betrachtung werth find, haben 
fie von den Byzantinern geerbt, fo vor allen die Aja Sofia, 
die große Mofcher von Stambul, bie noch ben dhrift- 
lichen Namen (Hagia Sophia — heilige Weisheit) trägt. 
Gegenwärtig aber find fle Meifter darin, diefe Reſte alter 
Eultur verfallen und die ehemals fo reichen Ränder ihrer 
Herrſchaft verfommen zu laffen: eine von nur zu durd)- 
greifendem Erfolge gefrönte Wirkſamkeit, welche der meift 
verkehrten Einmiſchungsverſuche wefteuropäiicher Staats⸗ 
weisheit fpottet. Und doc, finden fid) an manden Stel- 
fen Spuren noch nicht ganz erlofhener Volkskraft und 
einer Sehnjuht nah einem menfchenwürdigern Daſein, 
die nur der Nahrung und Unterftügung bebarf, um hier 
neued Leben aus den Ruinen blühen zu lafien. Etwas 
anderes als dieſe verborgene Sehnſucht nad) höherm gei- 
fligen Leben ift e8 doch gewiß nicht, was Yahr fir Fahr 
bunderttaufend mohammedanifche Pilger die heilige Wall- 
fahrt nad; Mekka unternehmen heißt, auf ber wir zum 


Land und Leute im Drient. 


Schluß unjern. Berfafier begleiten. Freilich ift das 
Scaufpiel Fein -erfreuliches: roher, egoiftifcher Aberglaube 
verdunfelt die Aeußerungen des religiöfen Gefühle, aber 
ein mächtiges religiöfes Gefühl Liegt doch felbft hier dem 
Aberglauben zu Grunde; wir glauben zu erkennen, daß 
anch biefer Grad der Verkommenheit nicht die Möglid- 
feit einer Wiedergeburt ausſchließt. Ob dieſe erfolgen 
wird, ob der alternde, verfnöcherte und dem hohen Geifte 
feines Stifter8 entfrembdete Islam fie aus fich ſelbſt er- 
zeugen kann, oder ob die chriftliche Eultur Bier vermitteln 
muß, bleibt dahingeſtell. Wir bedauern tief, daß ein 
zu früher Tod Julius Braun verhindert hat, dem Werle 
den von ihm beabficdhtigten Schlußabſchnitt anzufügen, 
in welchem er die Forderungen zufammenzuftellen gedachte, 
die fi) aus den bisherigen Entwidelungen ergaben; aber 
die ganze Haltung feines Buchs zeigt deutlich, was ex 
gefordert haben würde: eine ehrliche und gewiflenhafte 
Politit Europas den Ländern gegenüber, welchen der Weſten 
einen fo großen Xheil feiner mittelalterlihen Cultur ver- 
dankt. Bon diefem Ziele freilich find wir fern; vor- 
läufig ift der Oſten für uns meift nur der Gegenftand 
mebr oder weniger ſchwindelhafter Sinanzipechlationen, von 
deren allgemeinem Charakter nur das Unternehmen bes 
Hrn. von Leſſeps eine Ausnahme bildet. 

Unfer Ueberblid wird, auch bei der nothwendigen 
Bermeidung des meift überaus intereffanten Details, eine 
Anfchauung von dem reichen Inhalt des Werks gegeben 
haben. Der mufterhafte Fleiß in der Benutzung aller 
dem Berfaffer zugänglichen Hilfsmittel, den jede Seite 
beweift, läßt um fo mehr die Birtwofität bewundern, mit 
welcher berjelbe aus fo vielen heterogenen Elementen ein 
barmonifches Ganzes bat bilden fünnen. Man darf au 
nicht als einen Fehler der Ausführung rügen, daß frog 
jenes Ebenmaßes in der Behandlung ber einzelnen Par- 
tien das Buch in wiffenfchaftlicher Beziehung eigentlich un« 
foftematisch tft: follte der Zujammenhang zwilchen Land 
und Boll, den in gewiſſer Weife herzuftellen die Aufgabe 
war, nicht zerriffen werden, fo mußte eben das äußerliche 
Princip geographifcher Eintheilung zu Grunde gelegt wer- 
den, welches dann freilich bisweilen hiſtoriſch Zuſammen⸗ 
gehöriges voneinander trennt. Daher wird mit mahrem 
Genuß das Buch vor allen der Iefen, der in der orientali« 
[hen Geſchichte nicht ganz unbewandert ift und jebe 
Notiz fofort in ihren gefchichtlichen Zufammenbang einzu- 
reihen vermag; aber bie lebhafte und anziehende Dar- 
ftelung und die Fülle intereffanten Materials empfehlen 
das Werl auch denjenigen, welche für gewöhnlich jenen 
Ländern und Völkern fern ftehen und in rafchem Ueber. 
blid betrachten wollen, was Braun vorzufligren be 
abfihtigte und in gelungener Weife wirklich gefchaffen 
bat — ein Gemälde der jegigen und zum Theil der ehe⸗ 
maligen mohammedanifchen Welt. Auguf Mülkr. - 





Romane und Erzählungen. 


761 


Romane und Erzählungen. 


Es würde ſchwer halten, die vorliegenden Werke in 
dieſer Beſprechung unter einen Hut zu bringen. Wir 
verzichten auf den Verſuch. Nebeneinandergeſtellt haben 
wir gefchichilihe Romane, Criminalnovelle, Lebenebild, 
Erzählung, einfache Novelle. Kurz, diefer Artikel umfaßt 
fo ziemlich alle Spielarten der erzählenden Literatur. Wie 
verichieden die Bücher aber auch an Umfang, an Stoff und 
in ber Ausführung fein mögen, das eine ift ihnen gemeinfam, 
daß die Autoren mit dem beften Willen die Arbeit unter- 
nahmen. Belannte und unbelannte Namen drängen fich 
bier zufammen, bewährte und folche, welche fich erft noch 
bewähren follen, die weibliche Feder ift neben der männ- 
lichen vertreten: gewünſcht hätten wir, auch einem Buche zu 
begegnen, welches über da8 Maß des Herfümmlichen und 
Gebräuchlichen Hinausgriffe. 
1. Refugirt und Emigrirt. Eine brandenburgifcd - franzöfifche 

Geſchichte in drei Büchern von George Heſekiel. Drei 

Bände. Berlin, Janke. 1869. 8. 4 Thlr. 15 Ngr. 

2. Eine brandenburgifche Hofiungfer. Hiftorifcher Roman aus 
Joachim Neftor’8 Lagen von Ludovica Hefeliel. Drei 
Bände. Berlin, Janke. 1868. 8 2 Thlr. 

Weniger die Gemeinfamfeit des Verlags, mehr eine 
gewiffe innere Webereinftimmung ber beiden genannten 
Werke beftimmt uns, fie zufammenzufaflen. Es befteht 
zwiſchen den zwei Autoren eine engere als bie ber bloßen Na- 
mensverwandtichaft, daß zeigt die Tendenz nnd die Form 
der Werke. Mag George das feinige eine Geſchichte, 
Ludovica das ihrige einen. hiftorifchen Roman nennen, 
biefer Meine üußerliche Unterfchied beeinträchtigt die Ueber- 
einftimmung in der Form, was bie Scenerie und ben 
Stil betrifft, nicht im minbeften. In Betreff der Ten- 
benz finden wir in beiden Werken den ganzen George 
Hefeliel, wie wir ihn aus vielen trefflichen Romanen 
und Geſchichten zur Genüge fennen; diefe Eendenz konnte 
Ludovica nur einfach adoptiren. Die Tendenz, mag 
fie für bie heutige Zeit eine oft zu eng begrenzt vater» 
ländiſche, eine fich in das Biftorifche Detail zu eng ein- 
fpinnende fein, wird immer gewiffenhaft mit patriotifcher 
Degeifterung durchgeführt: Ludovica greift in der Zeit 
noch weiter zurlid als George, fie erzählt aus dem An⸗ 
fang des 16. Jahrhunderts, während er mit dem Ende 
des 17. Jahrhunderts beginnt; aber fie umfpannt nicht 
viel mehr als ein Decennium, ihm dagegen genügt ein 
Sahrhundert noch nicht. Der Sprung über Yahrzehnte 
hinweg mag ihn beftimmt haben, feine Dichtung eine 
Gefchichte zu benennen. Durd bie Betonung des „bran» 
denburgifch” auf beiden Werken ift der Charakter beiber 
hinreichend gefennzeichnet. George glänzt durch die Ver⸗ 
berrlichung des brandenburgiſch⸗hohenzollernſchen Weſens, 
Ludovica ift auf dem beften Wege, e8 ihm gleich zu thun. 
In dem erfteen Werke fpielt eine franzöfifche hugenot⸗ 
tifche, in die Kurmark verſchlagene, in legterm eine echt 
märkiſche Adelsfamilie die Hauptrolle; während biefe ſich 
nur felbft zu Toben braucht, muß jene aus bem Gegen» 
ſatze des franzöflfchen zu brandenburgifchem Wejen bas 
Lob der Kurmark ſchöpfen. Schon oft verfuchte ſich George 
Heſekiel in der Zeichnung des franzöfifchen Lebens früherer 
Jahrhunderte, und immer mit Glüd. So auch in biefem 

1870. 48. 


neneften Werke. Ob es fi) um bie hugenottifchen Wir- 
ren unter Ludwig XIV., oder ob es fi) um das royali⸗ 
ftifche Parteigängertfum in der Revolutionszeit handelt, 
mit gleicher Sicherheit fchildert er Zeiten und Perfonen, 
natürlih immer von feinem beftimmten politiſchen und 
religiöfen Standpunkte aus. Auch Yubovica verfteht e8, 
durch treue Tocalzeihnung und Sittenfchilderung zu fefleln, 
man glaubt, fie felbft Habe als brandenburgiiche Hofiung- 
fer das Leben am Hofe Joachim's I. kennen gelernt, fie 
jelbft habe dem Turnier in Ruppin beigemwohnt. Mag 
vieles in den Situationen gewagt, vieles in ber Detail- 
ſchilderung troß ber Localtreue willfürlich fein, man über⸗ 
läßt fich gern der Feder der Verfafferin, da von ihr eine 
beftimmte, fichere Perſpective für Zeit und Ort feſtgehal⸗ 
ten wird, Wenn George's Geſchichte den Leſer mehr 
rühren, Ludovica's Roman ihn tiefer ergreifen will, fo 
glauben wir uns gegen eine Tleine Prätenfion der Ver⸗ 
fafferin wenden zu müſſen. Als vother Faden ziehen ſich 
durch beide Werke die reformatorifchen Beitrebungen auf 
religiöfem Gebiete. Nun kann man auch einem weiblichen 
Autor das Prunken mit wer weiß wie tiefen, ſcheinbar 
der eigenen gelehrten Yorfchung entfprofienen mwelt- und 
eulturhiſtoriſchen, geographifchen, archäologifchen, linguiſti⸗ 
fhen und andern Kenntniffen zugute halten, obgleicd dies 
je8 Prunken in einem belletriftiichen Werke ber aus Him⸗ 
beerjaft fabricirten Limonade in der Billigkeit jehr nahe 
fommt; auf dem Firchlichen oder theologifchen Gebiete aber 
wird ber weiblichen Feder immer eine beftimmte Zurück⸗ 
haltung anzurathen fein. Wir Halten ben fittlichen Ernft 
der Berfafferin fehr Hoch, wir wollen nicht behaupten, 
daß fie mit ihrer Verherrlichung der reformatorifchen Be⸗ 
firebungen Luther's confeffionelle Tendenzzwecke verfolgte: 
und doch, weshalb ermüdeten uns die Scenen, in welchen 
Luther auftrat, weshalb flimmten uns bie Gefpräche über 
firhlihe Dinge Hier und da verdrieflih? Doch wol 
lediglih, weil die Berfafferin für Ereigniffe auf einem 
Gebiet die Garantie übernimmt, auf welchem dem weib- 
lichen Gefhleht zwar die Kompetenz zu lernen und zu 
glauben, nicht aber diejenige zu lehren und zu ftreiten 
zufteht. Auch Hört fid) das Lob der neuen (Iutherifchen) 
Zeit gegenüber ber alten (fatholifchen) in dem Munde 
einer ſtreng kirchlichen, royaliftiichen Dame, die doch fonft 
wol den Forderungen neuer Zeiten nicht gerade gewogen 
fein möchte, etwas eigenthümlich an. 


Die Beziehungen der beiben Autoren zueinander find 
alfo in beiden Werfen unverfennbar. Gehen wir einen 
Schritt weiter und fuchen die Einflüffe der männlichen 
Feder auf die weibliche und umgelehrt zu firiren, fo be- 
geben wir uns allerdings auf ein unficheres Gebiet. Zu 
einer beftinmten Bermuthung find wir aber des theilmeife 
gemifchten Eindrucks wegen, welchen das erftere der bei- 
den Werke auf uns ausübte, berechtigt. ‘Der erfte Band 
defjelben — ja, da ift ber ganze George Heſekiel, wie wir 
ihn 3. B. aus „Bor Jena“ u. ſ. w. fennen; ber zweite 
Band, zum mindeften einzelne Theile deſſelben wie 
aud des dritten — gehören ficherlich einer weiblichen 
Teder an. Wir würden dieſe Mutbmaßung felbft als 


96 


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762 


unndtbige Krittelei bezeichnen, wenn wir mit ihr nicht | 
eine Beine äſthetiſche Rüge deden wollten. ‘Diefe Rüge 
trifft die Sucht nad) abenteuerlichen Situationen, wie fie | 
fih in ähnlicher Weife auch in der „Brandenburgifchen : 
Hofjungfer“ vordrängt. 
wir allerlei Spuf eher zugute al8 der männlichen. 


Zwei 


Punkte in „Refugirt und Emigrirt“ haben unſer äſtheti- 


ſches Gewiſſen etwas ſchwer belaſtet. Einmal die Aus- 

ſcharrung einer Begrabenen, welche ſich in den Armen 

des Geliebten hinterher als nur ſcheintodt erweiſt; dann 
die Stellung zum Magnetismus und andern unergründ⸗ 

Iihen Kräften, welche der Autor im dritten Bande ein- 

zunehmen beliebte. Hier hören wir fein entfchiebenes Ja 

—* Nein, und ein ſolches müſſen wir verlangen; der 

Verfaſſer fiebängelt mit allerlei Zauberfünften der folgen- 

ſchwerſten Art, ohne uns zu jagen, ob diefe Künfte fich 

wirffih auf übernatürliche oder auf einfach natürliche 

Kräfte zurücführen laffen. Dort aber bietet er und ale 

Tolge jener Wiederausgrabung an den beiden Betheiligten 

eine in diefem Augenblid abftoßende und im nächſten an- 

ziehende, höchſt bedenkliche Sorte von Wahnfinn. Wie 
elagt, der weiblichen Phantafie, welche, mag fie fi von 

Aberglauben noch fo fern willen, doch herzlich gern in 

allen Eden Zruggeftalten fieht, halten wir allerlei Spuk 

zugute. Darum rechten wir mit der Derfaflerin des 
zweiten Werks auch nicht wegen der Geſtalt des Zau- 
berers; fie kann ſich damit entjhuldigen, daß bie alche— 
miftifchen Torfchungen ja ein charakteriftifches Zeichen jener 
pvorreformatorifchen Zeit waren; nur das eine haben wir 
auszuftellen, daß wir in der Geſtalt dieſes Zauberers 
wieder nicht zu einem feften Yacit gelangen. Anftatt daß 
die Verfafferin die Papiere des Zauberers mit eigener 

Hand dem Feuer überantwortete, muß während eines 

Sewitterd ein Blig vom Himmel die Freundlichkeit, be= 

ſitzen, das zu thun. Im übrigen fcheiden wir von bei- 

den Werfen mit voller Anerkennung. 

3. Das vergiftete Halsband. Kriminalroman vom Berfaffer 
der „Afrilanerin”. Drei Bünde Leipzig, Kollmann. 
1868. Gr. 16. Ir. 

Die Bezeihnung Criminalroman weift und auf das 
Gebiet de8 Schauerlichen. Und baran fehlt e8 in dem 
Buche nit. Gift, Dolch, Treiheitsberaubung, es wird 
uns das alles in fehr ſtarken Dofen vorgefett. Ein aus 
dem 15. Sahrhundert ftammendes, den Borgia angeblich 
zugehöriges Halsband, deſſen Perlen das feinfte Gift 
enthalten haben follen, richtet das entſetzlichſte Unheil an. 
Der Berfaffer befittt jedenfalls Phantafie genug, um in 
der Neuzeit, in welche ſich die Geſchichte hineinzieht, mit 
diefem Halsband in graufiger Weife zu fpielen. Wie viel 
an der Gefchichte Wahrheit ift, wie viel Dichtung, wir 
vermögen es nicht zu beftimmen. ebenfalls erkennen wir 
an der Schreibweife des Verfaflers, daß er fi), wie das 
jugendlichen Köpfen eigen zu fein pflegt, in Uebertrei- 
bungen gefällt. Schauerliche, ins Endlofe ausgefponnene 
Scenen, wie der Kampf der Schiffbrüichigen mit den Hai- 
fifchen, ftreifen ans Tragikomiſche. Aus einer Schluß- 
bemerfung erfehen mir deutlich, daß der Berfafler bie 
ſchwache Seite feiner Erzählung fehr wohl erfannte. Er 
jagt von fi: „Als der Verfaſſer diefe Geſchichte ſchrieb, 
trieb ihn durchaus nicht der Wunſch, im Leſer eine krank⸗ 


Der weiblichen Phantafte halten | 


+ 
' 


Kr ꝰꝰ ——— ——— oe — —— ———— —— — — — — — — 


Romane und Erzählungen. 


hafte Gier nach entſetzlichen Ereigniſſen zu erregen und 
die ſchwärzeſten Seiten des menſchlichen Charakters zu 
ſchildern. Sein Zweck war vielmehr, zu beweiſen, daß das 
Böfe bei feinem abfoluten und unvermeiblihen Mangel an 
den Genliffen, welche die Tugend allein gewähren Tann, 
ſich felbft ſtraft.“ 

Wenn er den gewiß löblichen ſittlichen Zweck nur 


; erreicht hätte! Wir meinen, daß die Mehrzahl der Leſer 
| gerade durch die „Eranfhafte Gier nad; entfeglichen Ereig⸗ 


niſſen“ an dieſes vergiftete Halsband gefeſſelt wird und ihm 
wenig dankt, wenn er bie fo ſpannend beginnende Ger 
ſchichte nicht mit einigen außergewöhnlichen Knalleffecten 
Ichließt. Verkennen mir auch keineswegs feine Befähigung 
namentlich in dem Beſtreben nad) ſcharfer Charafterifirung 
der einzelnen Perfönlichkeiten, jo wird er doch gut thun, 
feine Kraft nicht zu viel an Senſations- und Schaner- 
gefhichten zu verſchwenden; die Vorführung des „Laſters 
in einer Geftalt, in welcher e8 der Leſer noch nie gefehen“, 
bat Schon mehr als einen Romanſchriftſteller verleitet, ſich 
mit jeder neuen Leiftung mehr und mehr von ben Yor- 
derungen ber Xefthetit zu bdiöpenfiren. Bei dem Leih— 
bibfiothefspublitum möchte das „‚Bergiftete Halsband“ ent- 
ſchiedenen Erfolg erzielen. 

4. Die Erbſchaft oder des Goldes Fluch und Segen. Ein 
Lebensbild von Auguft Erehiämar. Drei Bände. Leip⸗ 
jig, ©. F. Schmidt. 1868. 8. 3 Thlr. 

Kretzſchmar nennt feine Gefchichte ein Lebensbild, 
während er ein in d. DL. ſchon beiprochenes anderes 
Wert: „Eine Nothlüge”, als Originalroman bezeichnet. 
Will er damit andeuten, im lettern gehöre die Hanb- 
lung feiner Erfindung an, während er dort Thatfächliches 
nur nacherzähle, fo fann das fir uns, bie wir die Hand- 
lung in dem einen wie in dem andern nur nad ihrem 
innern Werth prüfen Können, fein Grund fein, die „Erb⸗ 
ſchaft“ nachfichtiger anzufehen, bei dem Originalroman 
dem Verfaſſer etwa wegen feiner bedentenden Erfindungs- 
gabe Lobſprüche zu ertheilen, bei dem Lebensbild dagegen 
das loſere Gefüge zu entjchuldigen. Sturz, bie „Erb⸗ 
Schaft” ift fo gut ein Roman wie die „Nothlüge“, oder 
die letztere iſt nur ſo gut wie erſtere ein Lebensbild, 
wenn wir in einem Roman großartigere Handlung, poeti⸗ 
ſchere Darſtellung und tiefere Tendenz erwarten, als die 
enge Sphäre des immerhin foliden oder unfoliden Klein⸗ 
bürgerthbums gewähren fann. 

Bon dem nämlichen Berfafler haben wir aus einem 
und demfelben Jahre gleich zwei je breibändige Romane 
bor uns; geftehen wir, daß wir an die Lektüre nicht 
ohne einiges Mistrauen gingen. Zum Glüd erwies es 
ſich als ungerechtfertigt. Wie jeder vielfchreibende Schrift 
fteller zunächſt auf fein beftimmted ‚Publikum rechnet, fo 
wird auch Kretzſchmar das feinige im Auge haben. Die 
ſes Publikum zählt freilich nicht zu ben erclufiven Krei⸗ 
fen, was die Anſprüche an Geſchmack und Poeſie betrifft, 
es hält aber etwas auf Anſtand und gut bürgerliche Sitte; 
es will durch eine Erzählung zwar nicht in die Höhen 
bes Ideals getragen fein, es verwirft aber bie Platthrit 
und Trivolität, welche nur auf den flüchtigen Sinnenlit d 
ber blafleten Ganz. oder Halbwelt fpeculirt. Was * 
uns in der „Erbſchaft“ erzählt, das paſſirt eigentlich alle 
Tage: nicht ſelbſt erworbenes Gelb und Gut gereicht brm 





Nene Bücher über das Leben der Vögel. 


einen zum Fluche, dem andern zum Segen; der Werth 

des Lebensbildes berußt daher niht in bem Stoffe an 

umd für fi), fondern in der Form, in welche ihn der 

Antor brachte. Bedeutenden Perfönlichkeiten begegnen wir 

nicht, aber doch einer Anzahl von braven Menſchen, denen 

wir gern unfere Theilnahme jchenten. Einige, zu denen 
wir den Haupthelden, den leichtſinnigen Notar, nicht rechnen 
möchten, fefleln uns fogar durch eine befcheidene Drigi« 
nalität, wie die Kunftreiterin und der in Genfationd- 
artifeln machende berühmte praltifche Arzt. Der Haupt« 
held zäglt Leider zur großen Schar der gefchniegelten Qumpe, 
deren jedes Jahr in großen Städten eine erfiedlihe An- 
zahl geboren wird, bald als Halsabfchneider, bald ale 

Schwächlinge wie in vorliegendem alle, immer aber als 

Egoiften, die um fo ſchneller Ehre und Yamilienglüd ihrer 

Sinnlichkeit opfern, je unvermutheter fie aus tiefer Noth 

zu Glanz und Reichthum gelangt find. Daß fich Kretzſch⸗ 

mar nicht verleiten ließ, den Lebenslauf des Helden mit 
fentimentalen Rührſcenen abzufchliegen, glauben wir als 
einen Borzug des Lebensbildes hervorheben zu müſſen. 

5. Auf den Wellen. Eine Erzählung von Emma Wader- 
bagen. Halle, Mühlmann. 1868. 8. 21 Ngr. 
Häufig ſchon lag auf unferm Tiſche ein Werk erzäh- 

Iender Natur im blauen Umfchlage aus dem Verlage von 

Mühlmann in Halle. Wir durften e8 immer mit einem 

gewiflen Vertrauen in die Hand nehmen. Wir waren 

fiher, in ihm zwar fein epochemachendes zu finden, aber 
ein folches, das den fttlichen Ernſt nicht verleugnet. 

Meift hatten fie einen bejtimmt religiöfen Anflug, und zu- 

meift hatten fie Damen zu Autoren. Wie eine fittige 

Landpaftorstochter ſchmuck⸗ und prunklos traten fie auf, 

bon vornherein darauf verzichtend, mit glänzendern Er- 

fcheinungen um die Wette ein großes Publikum an ſich 
zu fefleln oder es zu beftechen. Das Gleiche gilt auch von 
diefer Erzählung. Die ftile Gemeinde finniger, nament- 
lich junger weibliher Gemüther wird ihre Befriedigung 
auf diefen „Wellen“, welche den friedlichen Hafen, wenn 
auch nur den der Reftignation, in fichere Ausſicht ftellen, 
fiherlich finden. Zumeift handelt es fi in allen ber- 
artigen Geſchichten um eine Analyfe von Seelenftimmun- 
gen, wie fie durch das junge Glück erfter Liebe, durch 

‚trügerifche Hoffnungen, Enttäufchungen und den Rüdzug 

in das ftille Afyl der Entfagung bedingt werden. Der 

Handlung pflegt gewöhnlich das Fortreigende, den Lefer 

m Athem Erbaltende zu fehlen, dafiir aber wird ihm 

auch das zweifelhafte Vergnügen erfpart, in allerlei roman 

tiſchen Strudeln und pfgchologifchen Untiefen zu ertrinfen. 


163 


Die Autoren derartiger Geſchichten wählen gern die Briefe 
form, da fi in ihr Seelenzuftände umfländlicher als in 
furzen erzählenden Worten ausmalen laffen. Auch die 
Berfaflerin vorliegender Gefchichte wählte theilweife dieſe 
Form. Sie fchildert uns die Geſchicke zweier jungen 
Treundinnen von verfchiebenem Temperament. Die „Wels 
len”, das find der Liebe Wellen. Für das zweite, daß 
ftilere Gemüth find fie nur fanft gefräufelte auf ftill- 
Harem See; für das erftere, das feurigere, aber theilweiſe 
hochgehende auf bewegtem Meer. Jugendliche Mädchen- 
feelen werden, je nachdem fie nun mehr bem erftern ober 
dem andern zuneigen, fich gern mit Hildegund von Berned 
oder mit Emilie Hallberg identificiren und in dem Ge⸗ 
ſchick dieſer oder jener das eigene Tiebesglüd vorgezeichnet 
finden. 

6. Hugo von Zrimberg, der Meifterfänger. Novelle von Da- 
mian Holdey. Leipzig, Kollmann. 1868. 8. 20 Ngr. 
Die Literarhiftorifer pflegen von dem mittelalterlichen 

Dichter bei aller Anerkennung feiner Berdienfte um die 

didaktifche Poeſie nicht gerade mit der Begeifterung des 

Verfaſſers vorliegender Novelle zu fprechen. Zrimberg 

ift befanntlic) auch auf unfere Tage mit dem Lehrgedicht 

„Der Renner” gelommen. Die Literarhiftorifer fehen in 

Zrimberg immer nur den poetifchen Lehrmeifter zu Tro⸗ 

ftadt bei Bamberg, während uns Holden ben liebebegeifter- 

ten ritterlihen Jüngling im Abendjonnenglanz der finfen- 
den Minnezeit und eined untergehenden ritterlichen Ge⸗ 
ſchlechts vorführt. Dem deutſchen Gemüth wird nun ein- 
mal mit der Romantik der Burgruinen gefchmeichelt, und 
wenn ein Autor mit warmem, poetifchem Herzen in jene 

Beit des Mittelalters zuridgreift, welche uns fo oft bunfel 

und ſchwarz erfcheint, fo thut er es ficher mit dem frohen 

Bewußtfein, dort echtere Lebenspoeſie zu finden als in 

dem materiellen Treiben der Gegenwart. Hunbert- und 

aber hundertmal find auf die Liebe zweier reinen Herzen 

Hymnen gefungen, man möchte fagen, das Lied fei nun 

endlich abgefungen: unb doch, warum verliert die Liebe in 

ihrer zarten Reinheit und heiligen Keujchheit nichts an 
ihrer Wirkung, wenn fie ung eben nur echt und lauter 
vorgeführt wird? Zierlich ift das Büchlein, befcheiben ber 
poetifche Wille des Autors, romantisch die Schilderung 
der Landſchaft um Saaled, erhebend die innige Zuneigung 
zweier jugendlichen Seelen, rührend das Ende des Liebes⸗ 
glüds und erfreulicd, der Eindrud der Novelle. Ob das 

Talent des Verfaſſers größern Aufgaben des erzählenden 

Genre gewachſen fei, wollen wir feiner weitern Prü⸗ 

fung unterziehen. Emil Müller - Samswegen. 


Nene Bücher über das Leben der Vögel. 


Kaum irgendein anderer Gegenſtand in dem Gebiete 
der naturwiffenichaftlichen Literatur wird von ben Schrift- 
ftellern mit ſolcher Vorliebe behandelt und zugleih von 
den Lefern fo freundlich und begierig entgegengenommen, 
al3 der Bogel und die Schilderungen aus feinen Leben. 
Daher ift e8 auch erflärlih, daß bie immer neu auf- 
tauchenden zahlreichen Vogelbücher eine jo große Man⸗ 
nichfaltigfeit der Auffafjungen zeigen, ein ſolches Bieler- 


lei der Darftelungen. Wir brauchen nur die in legterer 
Zeit in d. Bl. befprochenen neuen Vogelbücher zu über- 
Ihauen, um diefe intereffante Erſcheinung recht klar vor 
Augen zu haben. 

Unter allen diefen Vogelbüchern obenan, in Hinſicht 
der poetifchen Auffaffung und auch gleich berechtigt im 
wiffenfchaftlihen Werth, fteht zweifellos „Das Leben der 
Vögel“ von U. E. Brehm. Einen Gegenfag zu ihm 

96 * 


764 


in ber Auffaffung des Vogellebens bildet „Der Bogel 
und fein Leben“ von Bernhard Altum. Wiederum im 
vollen Gegenfag zu beiden befindet fich die „Ornithologie 
Nordoft- Afrikas" von Theodor von Heuglin, welcher ſich 
dann „Die Papagaien” von Dito Finfh und „Die Vögel 
der Norbfeeinfel Borkum" anſchließen. 

Während wir in dem werthvollen Buche von O. Finfch 
vorzugsweiſe ben großen Fleiß, die Gründlichkeit und das 
reihe Wiffen eines deutſchen Gelehrten bewundern mußten, 
fo dürfen wir von der Heuglin’fchen „Ornithologie“, 
welche uoch im Erfcheinen begriffen und wol erft zu 
Ende des Jahres 1870 vollendet fein wird, nicht allein 
diefelben Vorzüge rühmend hervorheben, ſondern wir müffen 
auch noch darauf hinweifen, baß dies Wert bereits längft 
die ehrendfte Anerkennung aller Sachkundigen gefunden 
bat. Ganz befondern Werth verleihen ihm auch die mahr- 
haft herrlichen lebensvollen Abbildungen nad) Zeichnungen 
des Verfaſſers, ausgeführt in Chromolithographie von der 
gerade hierin rühmlihft befannten Anftalt des Berlegers, 
TH. Fifcher in Kaffel. Vogelkundige und Liebhaber Haben in 
diefem Werke eine Duelle zur Belehrung über die Vögel von 
Nordoft- Afrika vor ſich, mie eine ſolche in diefer Weife bisher 
noch fein anderes Voll befigt, und welche durch ihren wiſſen ⸗ 
ſchaftlichen Werth, durch die lateinischen Befchreibungen u.f.w. 
zugleich durchaus eine internationale Bedeutung beanjpru- 
hen darf, Un dies Iegtere Buch ſchließt fi wiederum 
ein nahe verwandtes, mit welchem wir die Beſprechung 
der und vorliegenden neuen Vogelbücher beginnen: 


1. Baron Karl Klaus von der Deden’s Reifen in Ofl- 
Arite in den Jahren 185965. Herausgegeben im Auf- 
trage der Mutter de Reifenden Fürftin Adelheid von Pieß. 
Vierter Band. Wiffenfhaftlier Theil. Die Bögel Ofte 
Aritas, von Otto Finſch und ©. Harılaud. Mit 
11 Tafeln in Buntdrud, nad der Natur gezeichnet von 
D. Fin. Leipzig, €. F. Winter. 1870. Hoch 4. 25 Thle. 


Zwei der hervorragendſten Ornithologen Deutſchlands 
haben ſich vereinigt, um in biefem Bande des ſchon 
früher von uns hier ebenfalls befprocenen Decden'ſchen 
Neifewerls eine vollftändige Vogelkunde der von diefem 
Reifenden beſuchten Landſtriche zu geben, wie eine folde 
ebenfalls noch in der Literatur feines Volks bisjegt 
vorhanden ift. Während in dem Heuglin’fchen Werke 
allerdings Anfhauungen an Ort und Stelle mit um- 
faffendften Studien Hand in Hand gehen, zeigt biefe 
Bogelfunde wiederum gewiffermaßen einen internationalen 
Charafter, indem bie Verfaffer Studien an den Bögeln 
fänmtlichee hervorragenden Sammlungen in Europa mach 
ten, und indem auch englifche, franzöfifche, italienifche, 
ſchwediſche Gelehrte ihre Beihillfe gewährten; aud Th. 
von Heuglin ift in wichtigen Mittheilungen als Mit- 
arbeiter dieſes Buchs zu betrachten. 

Wenn dieſer flattlihe Band von etwa 56 Bogen, 
mit ben werthvollen naturtreuen Abbildungen in Farben⸗ 
druck, wiederum ausgeführt von der Anftalt von Th. Fir 
ſcher in Kaſſel, bei dem Preife von 25 Thaler freilich 
für ein weiteres Publikum nicht zugänglich ift, jo dürfen 
wir doch Werke wie diefe „Vögel Oft-Afrikas”, Heuglin’s 
„Drnithologie Norboft- Afritas“, und Finſch's „Papa- 
gaien“ in der That ale VBereiherungen unferer Literatur 








Neue Bücher über das Leben der Vögel. 


anfehen, welche ebenfo dem deutſchen Fleiß, der deutſchen 
Grünblileit, Gelehrfamteit und bem Eifer der deutſchen 
Reiſenden Ehre machen, als fie dem Wiffensdurft ımd der 
fachwiſſenſchaftlichen Bildung aller Länder zu ftatten fom- 
men. Ehre und Ruhm den Schriftjtellern, welche ſolche 
hervorragenden, hochwichtigen Werke ſchaffen, und Aner- 
fennung den Berfegern, welche die Herausgabe derartiger 
Werke unternehmen! 


2. Gefangene Bögel. Ein Hand- und Lehrbuch für Lieb- 
Haber unb Pfleger einheimifer und fremder Rüfigvögel. 
Im Verbindung mit Bodinus, Belle, Cabauis Gronau, 
Fiedler, Finfh, von Freyberg und andern bewährten Bogel- 
wirthen des Ine und Auslandes von U. €. Brehm. 
Erſter Theil: Die Stubenvögel. Erfte Lieferung. Leipzig, 
€. 5. Winter. Lerx.8. 1870. 10 Mer. 

Auch dies Werk beginnt in der befannten ſchwung · 
vollen Darftellung Brehm's, doch ift es durchaus für den 
praltifchen Gebrauch beftimmt und Hält fih auf dem 
realen Boden der Belehrung. Wir milſſen daher mit 
diefer Erwähnung uns begnügen und das Buch am die 
ſem Orte für genugfam befproden erachten. Als Em- 
pfehlung Können wir ihm jedoch noch das Urtheil auf den 
Weg geben, daß es jedenfalls ala Hand- und Lehrbuch 
feine volle Schuldigfeit thun wird. Erwähnt fei mod, 
daß der Berfaffer die auch von uns bereits früher in 
naturwiſſenſchaftlichen Büchern gebrauchte vereinfarhte Or ⸗ 
thographie mit Fortlafjung aller überflüffigen Dehnunge- 
zeichen, insbeſondere des in der deutſchen Rechtſchreibung 
noch fo verſchwenderiſch gehandhabten h angewendet hat — 
ein Verfahren, welches unſers Erachtens namentlich in 
naturwiſſenſchaftlichen Werken wol weitere Nachahmung 
verdient. 


3. Die Welt der Vögel, von I. Miche let. Bevorwertet vom 
Hermann Mafius. Mit Ilufrationen von 9. Gincomelli. 
Berlin, Sacco Nachfolger. 1870. 2er.-8. In Sieferungen 
zu 20 Nor. 

Man wird es mol nicht beftreiten, daß gerade die 
Schilderung der Vögel, fei e8 in ſchwungvoll poetifcher, 
fei e8 in wiſſenſchaftlich ernfter oder Marer populärer 
Weife, in hohem Maße dazu angethan ift, ber Anregung 
und Förderung naturwiffenfchaftlihen Iutereſſes in den 
weiteften Kreifen Vorſchub zu leiften. Darum erjcein: 
es aber auch um fo unverantwortlicher, wenn auf diejem 
Gebiete Misgriffe begangen werden — und ſolche müllen 
wir in dem jegt folgenden Werke rügen. 

In feiner Richtung pflegen die Autoren Leichtfertiger 
zu verfahren als bezüglich der Titel ihrer Werke. Bei 
Romanen und Theaterfchriften ift e8 weniger nothwendig, 
daß der Titel fireng bezeichnend fei, wenn er nur wohl 
Mingend und vielverfpredhend erſcheint. Ein anderes aber 

ilt für alle Bücher, die, wenn auch nur beiläufig, einen 

Fepejued im Auge haben. Bei ihnen fol der Titel jedet- 

mal angeben, was man Hinter demfelben zu erwarten be 

rechtigt ift, damit der Käufer ſich nicht getäufcht fühle. 

Denn ein Bud fi nun „Die Welt der Vögel‘ nennt, 

fo ift man doch jedenfalls berechtigt, eine mehr ‚ober we · 

niger umfaſſende, wenigſtens einigermaßen überſtelich 

Behandlung bes ganzen beſprochenen Gebiets dar: ju 

ſuchen. Davon ift aber in Michelet's Bude Teinänes 





Ku 


Nene Bücher über das Leben der Vögel. 


die. Rede. Der geiftvolle Hiftoriker und Philoſoph greift 
vielmehr irgendetwas aus dem Vogelleben heraus, alfo den 
Flug, das Ei, den Gefang u. f. w., und knüpft daran 
eine Reihe der lebendigften und weitgehendften Betrach⸗ 
tungen — eben in der Weife eines geiftreihen Mannes, 
welcher nebenher an einem Gebiete der Naturwifienfchaft 
Interefle genommen und fiber dafjelbe vor einer Gefell- 
ſchaft hingebender Zuhörer improvifirt. Der Titel hätte 
etwa lauten können: „Plaudereien über einige Momente 
des Vogellebens“ oder „Aus der Welt der Vögel“ und 
damit wäre zugleich die Kritik entwaffnet worden. Denn 
elegant gefchrieben ift das Buch, voller Gedankenblige und 
ſchöner Durchfichten, Iebendig im Stil und zuweilen dich⸗ 
terifches Heuer athmend — gleichviel was wir auch hinter⸗ 
drein daran fadeln müſſen. 

Der Miichelet’fche Esprit fteigt nun aber nicht felten 
in jene Regionen, wo nad) unferer Anficht nur noch der 
Scherz ober der höhere Blöbfinn athmen fann. Was ift z. B. 
damit gefagt: „Das Ei eines Kolibri ift ebenſo viel werth 
als die Milchſtraße“ (S. 21); „geflügelte Flammen, 
die wir Vögel nennen“ (S. 23); „Die Seevögel find 
Luft und Meer, die Elemente, welche fi) Flügel an⸗ 
geſchafft Haben” (S. 66). 

Ueber die biologifchen und morphologifhen — richtiger 
phantaſtiſchen — Excurſe über ‚Anfänge zu Flügeln“, „Bb« 
gel, welche den Uebergang zu Fifchen und Säugethieren ma⸗ 
chen“, und andere Misverſtändniſſe dev Darwin’fchen Lehre 
wollen wir hier hinwegfehen. Sehr verletzt aber eine übel an- 
gebrachte Empfindſamkeit, welche fchlieglich alles übertrifft, 
was in biefer Richtung vorfommen kann. ©. 132 er» 
zählt Michelet, wie ihm der Anblid eines in Wachs bof- 
firten Vipernkopfs die trübfte Stunde feines Lebens ver- 
urfacht und ihn zu Zweifeln an der Vorſehung getrieben. 
Und ©. 29 redet er von der „unendlich rührenden‘ mit 
Neid erfüllenden Unſchuld — nicht etwa der Zintenfijche, 
welche einzig und allein eine folche Zirade verdienen könn⸗ 
ten, Sondern der Walfifche, weil fie (man Höre und 
ftaune!) blos fchmerzensfreie Wefen vertilgen. „Dreimal 
glüdiih, dreimal gefegnet jene Welt“, xuft er aus, „mo 
das Leben fich erhält, ohne daß es einen Tod koſtet!“ 
u. ſ. w. Das geht doch wahrhaftig noch mehrere Spar- 
ren über Werther und ift obendrein nicht wahr, da ber 
Walfiſch vielmehr Taufende von Leben in einer Minute 
vertilgt. 

Schon der Ueberjeger, weldyer das Buch mit einer 
vermittelnden Erflärung einleitet, deutet jehr treffend an, 
daß die deutſche Sinnigfeit nicht durchweg von dem fran» 
zöfiſchen Esprit befriedigt fein werde. Aber noch viel 
ſchwerer wiegende Bedenken fallen ins Gewicht, biejenigen 
des wiſſenſchaftlichen Standpunkts nämlich. Ein popu⸗ 
läres Buch, und ein ſolches will „Die Welt der Vögel“ 
doch ſein, hat auf die Vermeidung grober Irrthümer noch 
ängſtlicher zu ſehen als ein wiſſenſchaftliches, deſſen Leſer⸗ 
kreis über einen Lapſus des Verfaſſers fo leicht nicht ſtol⸗ 
pert. Denn bei aller Anregung der Phantafte foll aus 
einem folchen Buche doch auch etwas gelernt, oder der 
unbefangene Leſer ſoll wenigftens nicht auf Abwege ge- 
führt werden. In den vorliegenden Lieferungen des 
Miichelet’fchen Werks finden wir aber eine Menge von 
Ungebeuerlichleiten, welche wenigftens durch Anmerkungen 


765 


unfchädlicd; zu machen ber deutfche Herausgeber mol hätte 
wagen dürfen. Wir fönnen hier nur einige erwähnen. 
So heißt e8 3. B.: „Un leicht zu werden, madt der 
Bogel ſich aufblafend, fein Volumen größer, vermindert 
alfo feine relative Schwere; dann fteigt er allerdings von 
felbft in einer Umgebung, die jchwerer ift als er, im die 
Höhe u. f. w.“ Daß ein Bogel durch Aufblafen, welches 
doh nur mit Luft gefchehen kann, leichter werden foll 
al8 diefe felber, ift ein neuer Widerſpruch, der einem 
Denker wie Michelet eigentlich nicht paffiren follte. Aber 
auch das oft behauptete, doch niemals bewiefene Aus⸗ 
pumpen der Knochenhöhlungen, welches dem beriihmten 
Franzoſen dunkel vorgefchwebt Hat, vermag den Vogel 
niemals leichter zu machen als die Luft felbft; und dabei 
werden die armen Unmwiffenben nod) beklagt, welche dies 
wunderbare Geheimniß nicht kennen. Ein anderes Bei- 
jpiel finden wir fpäter: „Die Blätter der Pflanzen faugen 
befanntfich Giftftoffe ein, und die Blüten verbichten fie 
gleichfam in fih. Diefe Vögel nun (Kolibris) leben von 
den Blüten, von den durchdringenden ©erlichen folder 
Blumen, deren feharfen glühenden Saft, aus den ſtärk⸗ 
ften Giften beftehend, fie trinken.“ Es ift ganz unmög« 
ih, in zwei Sägen mehr Unfinn zufammenzubrängen, 
als bier gefchehen. Es ift erftens nicht befannt, daß bie 
Blätter Giftftoffe einfaugen; fie nehmen hauptſächlich 
Kohlenfäure auf, melde unjerm Magen ungemein wohl« 
thätig ift und noch von niemand unter bie eigentlichen 
Sifte gerechnet wurde. Zweitens, von einer Verdichtung 
diefer und etwaiger anderer Giftftoffe in den Blüten kann 
nur jemand reden, welcher von ber Sache gar keine 
Ahnung befigt. Drittens, die Vögel leben fowenig von 
den Gerüchen der Blüten, ald Eufenfpiegel in der bekann⸗ 
ten Anekdote vom Bratenduft fatt wurde. Biertens, der 
Zuderfaft der Blüten, welchen einige wenige Bogelarten 
nafchen (die meiften fangen in den Blumen nur Infelten), 
ift nicht fcharf und glühend, fondern milde und füß, und 
befteht flinftens nicht aus den ftärfften Giften, fonbern 
aus fügen Nabrungsftoffen. Zu den Fabeln, welche man 
in einem naturbiftorifchen Buche nicht gern mehr aufe 
gewärmt findet, gehört denn auch die von den Giftbäu- 
men, deren Schatten bereitS mit Vergiftung broft. Cine 
weitere Blumenlefe wäre überflüjftg; es ſei nur noch eine 
fehr treffende Selbftkritit des Verfaſſers angeführt. „Ja, 
wir Münner bed Dccidents werben troß aller unferer 
fubtilen und zugleich Teichtfertigen Raifonnements immer 
Kinder bleiben...” Ya wohl, Hr. Michelet, die franzöfifche 
Leichtfertigkeit, das ift ebeu der Hafen. Ueber die Auf- 
nahme, welche das Buch in dem gebildeten Leſepublikum 
Frankreichs gefunden, dürfen wir ſchweigen, da gerabe 
in biefer Zeit die franzöfifchen Berhältniffe nah allen 
Geiten bin fo eingehend beleuchtet worden, daß es über⸗ 
flüſſig wäre, noch weiteres hinzuzufügen. So fehr man 
auch die franzöfifche Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit und 
Anmaßung tadeln mag, ein zu häufiges Zurückkommen 
darauf follte, als ein Einſtimmen in das Vae victis, ge= 
rade jett vermieden werden. 

Noch müſſen wir einige Worte über die Illuſtrationen 
hinzufügen, welche dad Genie Giacomelli's dem Michelet’- 
ihen Buche beigegeben. Sie find fo vorzüglich, daß fie 
allein das Werk vielleicht über dem Wafjer zu halten 


165 


vermögen. Selbſt einige Fehler diefer Illuſtrationen feinen 
nur auf ein faft zu tiefes Einbringen in den Geiſt des 
Berfafjers hinzudeuten. Welch ein herrliches Wert würde 


Feuilleton. 


ein tüchtiger Bogelfundiger zu ſchaffen im Stande fein, 


wenn ihm ber Griffel Giacomell's zur Seite ftände! 
Karl uf. 





Feuilleton. 


Zur Kriegslyrit. 

Die ſuddeutſche Zriegsihrit liegt jegt in zwei Samımlun 
en vor: „Dentf land Über Alles. Kriegs und Bater- 
jandefieder aus Schwaben“, Herausgegeben von ber Verlage 
buhhandfung . Kröner (giweite Ausgabe Auguft 1870), und 
„Drei Kameraden. Zeitlieder zum Beſten der deutſchen In- 
validenfiftung‘‘, herausgegeben von I. ©. Fiſcher, Feodor 
Löwe und Karl Schönhardt (Stuttgart, Kröner, 1870). 
Ein Theil der Gedichte aus der zweiten Sammlung findet 
fid) in der erften mit aufgenommen. 

Die Mufe I. ©. Siee behauptet auch in der frieger 
riſchen Vegeiflerung einen finnigen Zug, der freilich dem Aus- 
druck oft eine philofophifche Schwerfäligkeit gibt, Guß und 
Fluß hemmt, und dem es am jener bligartigen Kiarheit fehlt, 
wie f% geiibegwingend aus Berfen voll wahrhaft Hinzeißenber. 
Begeifterung hervorbricht. 

Strophen wie die beiden folgenden aus dem Schluß. 
gedit: „Vom Krieg zum Frieden‘, mögen beweifen, was wir 
unter biefer verfchlnngenen und gezwungenen Gedanfenbewegung 
verfleßen: 

Re 93%) Tann end nit, ihr Gtantenlenter, Ihren, 
Dog weiß ih waß jeder Brave preift: 
Das Leben it Daß Werden, das Gemähren, 
Der Freiheit Strom und Wiberftrom ber Sein; 
Dog mit dem Heer, dem wir die Hände brüden, 
GStehn wir vor einer nod verfhlofinen Thür, 
Und jener Mann, dem fie die Maien pflüden, 
Wie tritt ex nun au feinem Bolt berfür? 
Du Wort, zur Zeit der Kriege trub verwildert, 
Was wir doch einzig braugen, das vig bu, 
Zur Zeit des Zwangs und Dranges fhlimm 
Dir, $reipeit, drängt dog alles, alles 
Die Salad ien· bie fHlugt ihr in biefen Tagen, 
Hat diefe® Dranges Gtreit und Gegenfreit, 
‚Hat ber Gebante Tängf vorausgeihlagen 
Und feine Gieger längft ihr Bolt befreit. 

Die beften, hier mitgetheilten Gedichte Fiſcher's: „Der 
Eroberer‘, „Nur einen Mann aus Millionen‘, find aus jeiner 
Testen Sammlung befannt. „Ein Traumgeſicht““ hat vifio« 
nären Schwung und prophetiſche Geſten; aber es ift auch viel 
weltgefightlicher Nebel, durch den man fih Kindurdarbeiten 
muß zum Berfländnig. „König und Kaifer‘ behandelt die 
große Scene der Begegnung zwilhen dem Sieger und Befieg- 
ten in dem Schlößden bei Sedan, meiftens marfig in Stu 
und Gebanfen, aber ohne plaftifhe Anſchaulichkeit und oft mit 
manierirtem Zieffinn, wie die folgenden Verſe beweiſen: 

Night allo bu! das if} bie Höllengual, 
Daß wenn bie Züge große Namen ftad 
Sie zu des eignen Gaufelfpiels veſcini 

Siq ſelbſt entlarven und entleiben muß, 

Daß von dem Rleinften, das man Größe Heißt, 

Das Rleinfte nit erjagt ein Heiner Geif, 

Und daß er weiß, wie ihn die Erde fennt, 

Die ihn die Welt beim wahren Namen nennt. 

Entflich dir ferhkt, wirf'e deinem Bolte zu — 

Die felbt in beinem Bolt begegneft bu, 

Das deine ewige Erffärung iR, 

Beil «8 dein Sleichniß, weil bu feines Bif. 

Solde Wendungen find zu abftract, aus ber metaphufi- 
fen Schmiede entlehnt, nicht poetiſch neugeboren. 

Beodor Löwe Hat Sonette von edler Haltung zu der 
Sammlung beigefeuert: „Falſch if das Glid’', „Mit Blind» 
Heit fehlägt der Herr", „Zur rechten Stunde", „Erzählen wird 
man einft, und andere Gedichte von ungleihem Werth. Dft 
if hr in „Soldatentrof” der volfsthümlihe Ton glüdli 
getroffen: 




















Und eh’ I aus nicht eben born, 
30 flolg bie Bührer fehen, 
&o hir’ iQ Trommeln dos und Horn, 
Wenn ind Gefecht wir gehen. 
Morieiirend nur in Keih' und Glied 
Txet’ ic} dem Tob entgegen, 
Und der maght Teinen Unterfepieb 
Deim dichten Lugelvegen. 
Der nit nad hoc und nieder frägt, 
If nur ber Tod alleine, 
Bor feinem Büdt er fi und föLägt 
Ins Grobtuß und ind feine. 
Man hat aus befierem Metall 
Die Kugel nit gegoflen, 
Bomit vom Roß der Felbmarigall 
Gerunter wird gefoffen. 
Sie reißt im Flug ein Herz entzwei 
Und hat nicht Zeit zu fragen, 
Doe Bürgerlid, 058 adlic fei, 
Dat raſch ins Ziel geſchlagen. 
Im Leben nur gilt unterſchled 
Der Lob allein mad feinen, 
Und pfeift daffelbe Gterbelich 
Dem Merigall und Gemeinen. 

Oft aber drängen fi; auch triviafe Wendungen in fonft 
edel gehaltene Verſe, wie wenn in dem Gedicht: „Zum Frie- 
densſchluß“, gleich in der erfien Strophe von einem „faulen 
Frieden“ die Rebe iR umd meiterhin von einem Frieden, der 
vie jranzoſen jeden Rheingedanken für immer aus dem Köpfen 
reißt”. 

Die Gedichte von Karl Schönhardt find anfprudslos 
und frifd; in den Gedichten „Aus Paris‘ if Icbhafte Anjchaus 
lchteit; „Das Kind von Frankreich‘ in der Form geſchloſſen. 
Die drei Tegten Strophen lauten: 

Enfant de France! bu armes bleihes Kind, 
Dem buntel glängenb die @efdide fielen — 
Du weißt e6 nicht, wie frop bie Kinder find, 
Die vor dem Schloß in beinen Gärten ſpielen! 
Bas wird bir deine Matter wol bafür, 

Das folge Brantreid ein zum Lohne geben, 
Daß hinter Bajonnet und goldner Tplr 
Leflidet warb tein fröpli Xinberleben? — 
Cin Grenabier am Giegesbogen Rand; 

Der iprigt vor fi: daß did der Himmel fhüge! 
Das Rind im Wagen Iegt die Meine Hand 

Zu ſtummem Gruß an feine Bärenmüßc. 

Bon den Gedichten der andern Sammlung verdienen, außer 
den befannten Freiligrath’f—en Gedichten, die funfjehn „Fieber 
von Einem, «der nicht mit darf», vom C. Weitbrecht, ent 
ihieden den Vorzug; in ihnen ift jugendliches Ungeftüm , jpo- 
rentlirrender Schwung, militäriihe Bravour in feftgegliederten, 
melodif auf» und abmogenden Strophen. Bon dem befann- 
teften unter biefen Gedichten, das bereits mehrfach componirt 
worden ift, theilen wir die erfle und die zwei letzten Stro- 
phen mit: 

Xtompeter blas l Un den Rhein, an ben Rhein! 
Hört ihr feine Wogen grollen? 

Sie {gießen bapin mit Gemitterfgein, 

Sie zürnen wie Donner Rollen, 

Sie däumen wie nirfgende Roffe fih Hop: 
„Wollen fen, wer uns zwingt in das frembe Jod!" 
Und das Exho der Gelfen fhmettert brein! 

Dlas, bla® Trompeter! Zum Rpein, zum Npein! 


Trompeter Bla6] An den Rhein, an den Nein! 
Und feht ihr die ſchwarzen Sparen? 

90% über die Berge und Wälder berein 
Kommen 2ügow’s Jäger gefahren ; 








Feui 


Sie jagen theinauf, fe jagen rheinab, 
Und der alte Dlücher entfteigt dem Grab: 
Nipt Länger (hlammert der Helden Gebein — 

Bias, dias Trompeter! Zum Rpein, zum Mpein! 

Blas, bias Trompeter! Zum Rhein, zum Rpein! 

Ihr Brüber, hört ihr eö fomettern ? 

Die Helben follen zufrieden fein 

MI und in des Gturmed Weiteru! 

Die Fabne hoc und bie Schwerter fharf! 

© glüdtich, giüdtig, wer reiten darf, 

Denn es tönt Ianbaus , wenn es tönt landein : 

Trompeter blas! An ben Rhein, an ben dibein 

Anmuthigen Fluß, nur bieweilen zu altdeutf-minnigliche 
Antlänge hat das „Tagelied” von Wilhelm Herk, einfache 
Kraft das „Süddeutjhe Kriegslieb‘‘ von Otto Müller. Das 
Märchen von Hermann Kurz: „Die zwölf Brüder und der 
Menfenfreffer'‘, hat einen etwas forcirten Märdenton. 

Die 3. ©. Fiſcher, fo haben auch mehrere norddeutſche 
Boeten in ihre Heinen Sammlungen frügere pofitifce Gedichte 
mit aufgenommen, die an die Zeitfiimmung anflingen. So 
bringt z. B. Heinrich Pröhle in den „Deutihen Liebern 
und Dden aus der Zeit des zweiten franzöfiichen Kaiferreichs" 
(Berlin, Moeſer, 1870) - Gedichte aus der Zeit der öfter 
reichifch » preußischen Waffenbrüderfhaft von 1864, Idyllen 
aus dem Jahre 1866 u. a. Pröhfe liebt die antifen Formen, 
das Difihon und die Odenfirophe, ähnlich wie weiland Stäge- 
mann. Aud ift die Zeitgeihighte fo freundlich, ihm Moloſſen 
und Doppelfpondeen zur Auswahl darzureihen, wie im der 
„Veimtehr der Landiwehrlüraffiere von Quedlinburg‘ ſchon das 
Wort: Sandwehrlüraffier, einen halben Bentameter an fid) felhR 
darftelt, und and: Graf Bismard-Schönhaufen, einen halben, 
kunſtgerechten, ſchwerbefrachteten Herameter vertritt. Die Hals 
tung der meiften Oden und Diftichen if eine ernfte, würdige, 
nar flören uns „epiſche“ Beimdrter, die aus der Stimmung 
herausſchleudern, wie wenn e8 in der fonft kräftigen fapphifchen 
Ode anf den Friedensbrecher heißt: 

Und fein Röflein füttern im Weigenader , 
Bo der Storch font friedlih mit rotfen Beinen 
Un bie Blaßrotp farbigen reifen Mepren 

Nüet nun im Fluge! 

Die „Waffenflänge‘‘, Zeitgedihte von Emil Taubert 
(Berlin, Ktiegemann, 1870), enthalten ungefähr vierzig, nur den 
jüngften Beitereigniffen gemdmete Lieder und Gelänge, zum 
Theil für mufitaliihe Compofition befimmt, mit fangbaren 
Refrains, meift lauter und Mar in der Form. „Die preußiſchen 
Ulanen‘, die Geibel und auch Löwe befungen haben, werben 
in einem frifchen Lied gefeiert, wit der trefflichen erften Strophe: 

Was reitet wie ber ehrne Greif 

Mit dampfbefgwingtem lügel? 

Im Winde flattert der Rofie Schweif, 
He Mingt der Eporu in dem Bügel. 
Das fpafft dem Heere Plah und Bahn? 
Hurraß, ber preußiige Wan. 

Auh die „Zeitgedihte von Eugen Labes (Roflod, 
Stier, 1870) enthalten viel Anfpregjendes, Pieder, aud Oden 
und Giegeshymnen in Marer Faſſung. Bon Johann Fa- 
Nenrath’8 Kriege» und Siegesliedern: „Den beutj—en Hel- 
den von 1870, liegt die fünfte, abermals vermehrte Auflage 
vor mit einer Menge neuer, namentlid) epigrammatifd) f—harfer, 
wigiger Gedichte. Bejonders gelungen find „Die drei Kreuze‘, 
in denen das hölzerne Kreuz, das rothe und eiferne befungen 
werden. Auch eine Dame, Frau Agnes Kayfer-Langerhanng 
reiht ſich den Kriegafängern an in den „Baufteinen für Strasburg. 
Lieder von 1870” (Naumburg a. ©., Sieling, 1870), es find 
warm geflßlte Gedichte, fhliht und vom Herzen fommend. 
Adolf Eitment cih’8 „Act Kriegelieder zu Schutz und Trug” 
Eeipzig, ©. Sqhutze,) fireben nach vollsthümlichem Humor, doch 
verfallen fie oft in einen trivialen Bänfchjängerton, 3. ®. 

Raifer Louis, der Plebieciter, 

Siielt ſcon lang auf Deutihland Bitter, 
Zürgtet daß e8 groß und frei, 

Eubtl$ fand er an dem Zollern 

Faulen Borwand für fein Kollern, 

Um zu maden Gtänferei. 











lleton. 767 


Otto Franz Genfigen ſchlagt in den zwölf jangbaren, 
nad) befannten Melodien eingerichteten Liedern: „Bom deutfden 
Kaifer“ (Berlin, Grofier, 1870) am Schluß vor, Barbaroffa 
fortfchlafen u faffen und den beutfchen Kaifer „im Rathhaufe 
zu Berfin" zu Erönen! 

Bon der Franz Lipperheide ſchen Sammlung: „Lieder 
zu Schuh und Trug”, liegt das ſechote die adıte Heft vor; 
aud hier begegnen uns mande Autoren, die nicht auf der 
großen Heeritraße zu finden find und bie wir zum Theil 
aud nicht auf dem Gebiet ber politii—en Pyrit anzutreffen 
erwartet hätten. Wie wir erfahren, hat der Berleger den 
glüdficen Gedaufen, in Leinen Liederfammfungen „Fir 
Strasburg, zum Bellen der armen Kinder“ die eine 
zelnen Dichter der hentigen Kriegefgrit dem Publikum felbfläne 
dig voräuführen — eine willommene Crgärgung iu jenem 
größern Repertorium, duch welde erft eine fritifche Wuͤr⸗ 
digung der Leitungen der einzelnen Dichter ermöglicht wird. 
8 werben folde Liederfammlungen erjheinen von Geibel, 
Bodenſtedt, Meißner, Große, dem Herausgeber d. Bl. und 
mebrern andern Dichtern. Bon jener großen Sammlung er- 
Scheint bereits eine zweite vermehrte Auflage. 








Bibliographie. 
Blod’s, G., Bolt» ter. 2. 40: . 
Gergintiiged Ohaufpie e Bern ah rue 
»Bratzanel, in Beimar (18.)Ein Beil ur 








Bugner, B., Mozart. Gin Lebenehüd. Lahr, Schauenburg. 1. 


TA Rot. & 
_ — Seume, 16. 7 RE 
Sparatiergüg Beusfaeh 86 
gegen Sranfreig ©. Yrig, Bade. 16. 27, Bor. 
Diependrod, 2. 3, Deuraiaund leg und Herrlichkeit in Raat- 
iger Bereutung. Yatriotifde Borlefung. Freie 


Die Neforn auf Dem Kppietz ber beutigen 
3. Eine gelaihine ten, Bed. ©r. 8. 4 Rat. 
De u ea —— 

age. Die Hufl., mi n 7 
a de ge it fpätern Zufägen. Leipzig, 


Ya Nor. 
Henbad, 3. €. Neihsfreih., Deutfgland 2 
EL Bot Pain hama ge: 


. 1. 
Buhap vom Get, Raboma, Roman. 4 Bde, Hannover, Rünp- 
Jordan, W., Dio Zweldeutigkeit der Copula bei Stuart Mill, Stutt- 
gart. 4. 12 Ner. 
fen. Mabberanatig auf dem Eiegeömasfg nad Varic. Leipgig, R. Sqee - 
Br. 3. ar. 
Deutihe Klänge. Langenfalga, Rlingpammer. 32. 8 Rat. 
re heilige rieg 1970, Afe und Ate Lief. Lelpjig, Bahn. @r. 4. 


Nr. 
Mesiiiußranf,, ter Br.: Eamelie von A. Lrepfhmar. Leippig, 


nötige. 9. 2 
ermanu, 9. M., Hundert Jahre 1770-1870. Zeit» 1 
bilder — Shen, Er pi, Wah — 
auli, I, ii 3 . 
Wiiflonare In Oftinpien. Nicnderg he wart. sei 
Luft vdqu. Min 


och, 8, tufigen Komdbienblgiein, sIc® und diee, 
Gen, Lentner. 180%, 1871. Or. 16. a 21 gr. 
Reich, E., Systern derllygieine. Ister Bd, Moralische und sociale 
ire Hälfte, Socialo ilygleine. Leipelg, F. Fielscher. Gr. 9. 
ur. 

Mr, Die Weltgefgigte iR das Weitgerigtl Louis Napoleon 

Beztin, Agemeine deutfäe Weriagdenfalt, 8. 20 Rat, 
Rittweger, b., Der deutfp=frangäfiige Krieg 1370. Sein Entfter 
n uno fein Settauf, mit Beifügung aller varauf Dejügligen Mienfude 
Bearbeitet, ARE 5i0 ae &ief. rantiurt a, M., Krebs» Sgmibt. 4. 
Rochhols, E. 


Ein Gebenabilb. Lahr, Shauenburg. 


uecboten aus em 




















. eftrebungen 





ler. 














Hygieine. 
1 Tülr, 15 
a; 








Bonaparl 


L., Drei Gaugöttlunen. Walburg, Verena und Ger- 
trud als deutsche Kirchenheillge. Bittenbilder aus dem germanischen 
Frauenleben. Leipzig, Fr. Fleischer. Gr. 8. 1 Thlr. 
Roscoe, H. E., Die Spectralanalyse in einer Reihe von 
lesuugen mit wissenschaftlichen Nachträgen. Autorisirte 
—8 von C. Bchoriemmer. Braunschweig, Vi 
7.8. ir. 
Salıbrunn, Alice, Weibnahts » Geinnerungen. Novellen und 
grpen aus dem Önglifgen übertragen, Leipgig, Se Gapige- 11, 8 


err, I., Barca; Leipzig, DO. Wigand. 3. 2 Zhlr. 
5, Her Scala lee Dapeaang. 


che Vor- 











Säulthes, 9, Guropäll tötalendet. 

10092 Yhilgen, Bet. Gr a. 3 2uE Trade 
Sulzer Deligfg, Die Entwidelung des Genoffenihaftswelene. 
igemeinen Ürbeiter« Berbandes beutier 








Zus, au dem Organ an 
‚erbd« um irt ft6; : „Blät —— 

Erin delle — ver Bubanfe? Bann, Sanıke degnar 3 Eli. 
1. 











168 


Anze 


Anzeigen. 


igen. 


—  — 


Verfag von 5. A. Brodfaus in Leipzig. 


Der lebte Bürgermeifter von Straßburg. 
Baterländisches Brama in fünf Yen, 
Mit einem Epilog aus der Gegenwart. 
Bon Karl Biedermann. 
8 Geh. 20 Nor. 


Obwol dieſes Drama lange vor den neneften großen Er- 


eigniffen entftanden iſt, ergeben fid dod die Beziehungen auf 
die Gegenwart von ſelbſt. Ueberbies bringt der beigefügte 
Epilog den Gegenfag zwiſchen dem erhebenden Seht und dem 
trüben Damals zu befonderm Ausdrud. Bon mehrern deut» 
fen Bühnen wird die Aufführung bes Stüds vorbereitet. 


Don dem Derfaffer erſchien in demfelden Derfage: 
Raifer Otto der Dritte. Trauerfpiel. 8. Geh. 


ERGÄNZUNGSBLÄTTER, 


1870, 1. Novemberheft. 


Geschichte: Historisch-politische Umschau, von v. Wy- 
denbrugk. — J. v. Döllinger und die liberale katholische 
Bewegung in Deutschland III, von Dr. E. Zirngiebl. — 
Das geschichtliche Verhältniss zwischen Deutschland und 
Frankreich II, von Prof. Wegele. — Nekrolog. 

Literatur: Englische Dichter II. Rossetti und Swin- 
burne, von Fr. Hüffer. — Nekrolog. 

Kunst: Nekrolog. 

Geographie: Die argentinische Republik. — Die Be- 
wohner der Andamanen. 

Meteorologie: Die neuesten Fortschritte. 

Physiologie und Mediein: Die Krankenpflege im 
Kriege IV., von Dr. Ploss. 

Botanik: Zuckerrohr in Italien. — Saure Kirschen. — 
Bambusgewächse. — Nekrolog. 

Volkswirthschaft: Deutschlands Fähigkeit zu verlän- 
gertem Kampf, von A. Lammers. 

Kriegswesen: Die Bedeutung der Festungen, von A. 
Niemann. — Die Benutzung des Sieges, von K. G. v. Ber- 
neck. — Die Geschütze der französischen Marine. 
Nekrolog. 

Technologie: Nekrolog. 

Illustrationen: Transportmittel für verwundete Krie- 
‚ger. — Hinterladungsgeschütz der französischen Marine. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 


20 Kor. 











Derfag von 5. A. Brochfans in Leipgig. 


HERMES TRISMEGISTUS 
AN DIE MENSCHLICHE SEELE. 
Arabisch und deutsch herausgegeben von 
Prof. Dr. H. L. Fleischer. 

4. Geh. 20 Ngr. 

Zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der 
Deutschen Morgenländischen Gesellschaft hat der berühmte 
Orientalist dieses „Sendschreiben“ herausgegeben, dessen 
Handschrift sich in der leipziger Stadtbibliothek befindet. 
Der arabische Text erscheint zum ersten mal im Druck, 
während die früher vom Herausgeber veröffentlichte Ueber- 
setzung hier in wesentlicher Umarbeitung vorliegt. 












Vene Reifewerke 


aus dem Verlage von Hermann Coſtenoble in Jena: 


Appuu, Carl Ferd., Unter den Tropen, Wande- 
rungen burd; Venezuela, am Orinoco, durch 
Britifh Guyana und am Amazonenjtrom in 
ben Jahren 1849— 1868. Ürfter Band: Be: 
nezuela. Mit 6 vom Berfaffer nad) der Natur 
aufgenommenen uftrationen. Gr. 2er.-8. Eleg. broſch. 
Preis 5 Thlr. 

Diefes bedeutfame Werk, für welches Se. Königf. Hoheit 
Prinz Adalbert von Preußen die Wibmung anzunehmen geruht 
bat, ift die Frucht eines zwanzigjährigen Studiums 
der Natur und Menſchen in dem auf dem Titel mäher bezeic- 
neten Gegenden des tropifhen Südamerika, welde der 
Berfaffer Aiuftenge ber englifdhen Regierung bereifte. 

Die herrliden Begetationsanfihten, nad dem auf 
grridmeten Gemälden des Berfafiers gefertigt, gereichen dem 

udhe zu wahrer Zierde und find durch ihre vorzügliche Aus, 
führung im Atelier von R. Brend’amour u. Comp. in 

Düffeldorf im hödften Grade werthuol. 

Seit Alerander von Humboldt’s Reifen erfdien 
tein fo hervorragendes Werk über das tropiſche Amerita. 
Srowu, I. Koß, Neifen und Abentener in dem 

Apaqhen- Land: Arizona und Souora. Aus dem 
Englifhen. (Bibliothet geographiſchet Reifen uud 
Gntoedungen älterer und neuerer Zeit WI. Bo.) 
Mit 155 Illuſtrationen. Gr. 8. leg. broſch. Preis 
2 Thlr. 

Der Verfaffer führt uns durch Gegenden, welde die Cidi - 
Iifation nod wenig berührt hat, er lernt uns Völker fennen, 
die durch ihre Naturwüchfigkeit einen ganz bejondern Reiz für 
den Lefer gewähren. Mit großer Spannung folgen wir dem 
Verfaſſer durh brennende Wüften, wo er mit Klapper- 
fhlangen und Scorpionen, Banditen und Apacht- 
Indianern zu fümpfen hat. 








Baſirt auf die Refultate der wiſſenſchaftlichen Miffi 
von Hermann, Adolfund Robert von Schlagint- 
weit, auögeführt in ben Jahren 1854 bis 1858. 
Zweiter Band: Hodafien (I. Der Himalaya.) Mi 
7 Landfcafts - Anfihten in Tondrud und 3 Tafeln 
topographiſcher Gebirgsprofil. Gr. Ler.-8. lee 
brofh. Preis 5 Thlr. 10 Sgr. 

dl. Band: Indien. Preis 4 Thlr. 24 Sgr.) 





Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig. 
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.) 
Arnd, Eduard, Geschichte der französischen 
Revolution von 17891788. Sechs Theile 
in drei Bänden. Zweite wohlfeile Ausgabe. 8 
| Fein Velinpapier. Geh. Preis 2 Thir. 








Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Grodhaus. — Drud und Verlag von S. A, Srochhaus in Leipzig. 





Blätter 
literariihe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich). 


—4 Ar. 49. — 


1. December 1870. 





Inhalt: Voltaire, Strauß und Renan. Bon Rudolf Sottſchal. — Alaska. Bon Richard Audree. — Epiſch⸗lyriſche Dich⸗ 
tungen. — Stmilleten. (Nefrologe.) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Voltaire, Strauß und Renan. 


1. Boltaire. Sechs Vorträge von David Friedrich Strauß. 
Leipzig, Hirzel. 1870. ®r. 8. 2 Thlr. 

2. Krieg und Frieden. Zwei Briefe an Ernſt Renan nebft 
defien Antwort auf ben erflen von David Friedrich 
Strauß. Leipzig, Hirzel. 1870. Gr. 8. 10 Nr. 


Jene Trias von Freidenkern, die an der Spige un- 
ferer Beiprechung fteht, hat in neuer Zeit viel von ſich 
reben machen. Der Zufall wollte, daß das Werk von 
Strauß über Voltaire faſt gleichzeitig mit dem Beginn 
des beutfch-franzöfifchen Kriegs erſchien, und fo den Ber- 
faffer nöthigte, das eifrige Studium, das er dem vorzugs⸗ 
weise franzöfifhen Nationalautor widmete, zu rechtfertigen 
und fi) über die geiftigen Beziehungen Frankreichs und 
Deutſchlands auszufprechen; er hat dies in feinen, jeßt 
jelbftändig abgebrudten zwei Briefen an Renan gethan. 

Die große Anziehungskraft, welche Voltaire auf einen 
Autor wie Strauß haben muß, bedarf kaum der Erflärung. 
Beide galten ihrem Zeitalter als die eifrigften Gegner des 
Chriſtenthums — mindeftens waren fie unerbittliche Gegner 
der hriftlichen Kirche. So verfchieben ihr philofophifcher 
Standpunft fein mag, indem Boltaire ein Deift war, 
Strauß aber einer Schule angehört, deren Meifter den 
Glauben an ein &tre supräme als leer und inhaltelos 
verurtheilte: fo groß ift doch die Gemeinfamfeit in der 
Oppoſition gegen das Beftehende und in dem vorzugs⸗ 
weife polemifchen Zug, welcher ben beiden Autoren eigen- 
thumlich if. Zwar hat Voltaire große Dichtwerfe ges 
ſchaffen, deren Stil ſchon "die Polemik ausfchliekt ; 
und Strauß hat biographifche Werke gefchrieben, welche 
ein Charakterbild Liebevoll aufbauen, ja er hat in jei- 
ner Dogmatit aus den Acten der Auflöfung und Zer- 
fegung einen pofitiven Nieberfchlag zu retten geſucht; 
aber das Bolemifche bleibt doch das eigentlih Charal- 
teriftifche für beide Schriftfieller. Der Boltaire der 
„Henriade“ und der Zrauerfpiele wäre ohne DBedentung 


für fein Jahrhundert geblieben; erſt wo er den Harniſch | 


1870. 4. 


anzieht und die Lanze einlegt, wirb er zum Helden fei- 
ner Zeit. Auch die Bedentung von Strauß ruht wefent- 
ich auf feinem „Leben Jeſu“; und fo tief verftedt ver 
polemifche Grundzug biefes Werks ift unter einem Ap⸗ 
parat ſchwerer und wuchtiger Gelehrfamkeit und unter 
der Masle wiſſenſchaftlicher Objectivität: er ift doch un- 


verfennbar und tritt in der Bollsausgabe feines „Reben 


Jeſu“ um fo ſchärfer und fchneidender hervor. 
Ueberhaupt mußte die Aufgabe, ein Leben Boltaire’s 

zu jchreiben, ein Bild diefes großen Schriftflellers zu ge- 

ben, deſſen ſümmtliche Werke zu ſtudiren ber viel befchäf- 


tigten Gegenwart eine Unmöglichkeit ift, um fo verloden- 


der für eine fo analytifche Begabung fein, wie fie Strauß 
befigt, als kaum eine andere Größe der Literatur in ſich 
eine ſolche Fülle von Contraſten vereinigt, welche den 
Scharffinn des Piychologen herausfordert. Daß Strauß, 
dem Zuge feiner Sympathien folgend, gern bei den Licht- 
feiten bes Charakters verweilt, die Schattenfeiten nicht 
verfchweigt, aber doch im Schatten läßt, daß er zwar 
nit zu den literarhiftorifchen Fleckenreinigern gehört und 
feine „Rettung“ fchreibt, aber doch vielfach. entfchuldigend 
über manche ziemlich fchreiende Diffonanz im Leben feines 
Helden hinweggleitet, das darf bei der Berwanbtfchaft der 
geiftigen Richtung nicht befremben. 

Wohl aber wird die Form bes Werks von Strauß 
vielen unerwartet fein; man mochte an „Ulrich von Hutten“ 
und andere umfafjende Biographien unfers Autors deuten, 
oder einen jener eingehenden Lebensläufe erwarten, twie 
ihn Rofenfranz von Diderot verfaßt Bat. Statt deſſen 
wird und Boltaire’8 Leben in ſechs Vorträgen von nur 
mäßigem Umfang vorgeführt, eine Form, die allerdings 
die größte Präcifion der Faſſung und Gebrängtheit des 
Inhalts voransfegt. Noc mehr befremden muß es, daß 
biefe Vorträge einer Dame nit nur gewibmet wurden, 
fondern auch für fie gefchrieben und von ihr freundlich) 
angehört worden find? — und zwar einer englifchen 


97 




















3.0 


Fa 
E 
8* 
u 
- 
& 


770 Voltaire, Strauß und Renan. 


Brinzeffin, ber Prinzeffin Ludwig von Heſſen. Diefe 
Thatfache beweift auf ber einen Seite, daß biefe Vorträge 
ſich überhaupt aud) an das große Damenpublifum richten 
und alles Anſtößige vermeiden; auf ber andern aber 
ſcheint fie doch die Freiheit der Behandlung zu gefährden, 
indem fie den Autor nöthigt, über mandes, was für 
feinen Helden charakteriſtiſch ift, flüchtig erwäßnend ober 
abſichtlich vermeidend hinwegzugleiten. Der Eynifer 
Voltaire dürfte unter folhen Vorausfegungen faum zu 
feinem Rechte kommen. Denn die deutjchen und engliſchen 
Frauen des 19. Jahrhunderts haben nicht mehr den fri« 
volen Sinn der Höhern Geſellſchaftskreiſe des 18. Jahr» 
Hunderte. Damals galt es für das Ziel eifriger Ber 
werbung von Fürften und Prinzeffinnen, einer Abjchrift 
der „Pucelle“ Voltaire's, welde lange Zeit nur in 
Manuferipten umging, habhaft zu werden; das Gebicht 
wurde al8 der feinfte Lederbiffen behandelt, feine Kennt» 
niß galt gleihfam für das Exfennungszeichen der guten 
und beften Gefellſchaft. Jetzt würde fon eine genauere 
Inhaltsangabe in der guten und beften Geſellſchaft an- 
Mößig genug fein. Boltaire ift überhaupt fein Damen- 
poet, wie man ihn jegt träumt, ein Sänger „am blauen 
Bande die Zither“, deſſen Gedichte fähig find in ſchmucem 
Einband auf den Toilettentifchen zu glänzen oder in eine 
lyriſche Hauspoftille, wie Theodor Storm’s „Kritifche 
Anthologie” aufgenommen zu werden; bei ihm findet man 
nichts von befeelten Blumen, plandernden Waldfeen, ver- 
dammernden Stimmungsbilderchen; bei ihm ift alles „Geift“, 
and vor dem „Geift“ bekreuzt ſich ja die Miniaturdufel- 
poefie, welche den lyriſchen Nipptifch für unfere Frauen 
und Mädchen aufpugt. Und BVöltaire'8 Geift ift noch 
dazu fo rüdfihtelos und fehonungslos, daß er unter 
Umftänden die Geften des hölliſchen Cavaliers nicht 
verſchmaht. 

Wir empfinden es daher als eine Beſchrunkung, die 
fih an einzelnen Stellen fühlbar machen muß, daß 
Strauß feinen „Voltaire” in Vorträgen für eine Dame 
behandelt; müſſen aber gleich hinzufügen, daß trog biefer 
ſelbſt aufgelegten Befchränkung der Verfaſſer wenigftens 
fo viel Freiheit der Darftellung und des Urtheils ſich 
bewahrt, als fi irgend mit ihr vereinigen läßt. 

Strauß beginnt fein Wert mit ber folgenden 
Duverture, welche die Hauptmotive befielben kräftig 
zufammenfaßt: 

Wer etwa den Einfall Hätte, eine Lobrede auf Voltaire zu 
halten, der wäre wenigſtens nicht durch die lakoniſche Frage 

die eng: zu treiben, wer ihn benn table. Denn getabelt — 
was fage id}: getadelt? — geſchmäht, verdammt, verflucht, iſt 
vielleiht fein Menjh in dem Maße worden wie Voltaire, 
Schon zur Abwehr alfo hätte, wer Voltaire loben wollte, auch 
anf das einzugehen, was man an ihm getadelt Hat, wären 
nicht beide, Lobrede wie Mpofogie, gerade bie ungeeigneiften 
Wege, dem Wefen eines Menfchen auf den Grund zu iommen 
und feinen Werth zu befimmen. Der einzig rechte Weg dazu 
iſt der, Lob und Tadel dorerft ganz aus dem Spiele zu laffen, 
dagegen bem Lebens. und Entwidelungsgange desjenigen, den 
man fih zur Betrahtung und Darftellung auserfehen hat, 
Schritt für Schritt nachzugehen, fein Werden aus und im feir 
ner Zeit wie fein Wirfen auf biefelbe zu beobachten, feine 
Werke, wenn es ein Schriftfeller if, zu ſtudiren, aus den 
Handlungen feine Zriebfedern und Gefinnungen, aus ben 
Schriften feine Yähigleiten und Anfihten zu ermitteln, im 
Lichte den Schatten, aber aud im Schatten das Licht aufzu- 









fugen, und fo zufegt ein Gefammtbild vor fi und m 
aufzuflellen, beffen Ergebnis man um jo weniger verſucht 

wird in einem kurzen Schlagwort auszufpreden, je jorgfältiger 
bie Beobachtung ar, und je bedeutender der Mann ift, dem 
fie gegolten hat. Bei feinem merkwürdigen Manne find dieje 
Schlagwörter, das Abthun ber ganzen Perfönlichkeit mit eimem 
allgemeinen Prädicat, gewöhnlicher als bei Boltaire. Und bei 
keinem ift doch biefe Art ungeeigneter, ja finnlofer, als gerade 
bei ihm. Sie ift e8 bei jedem wirflich bedeutenden Menjchen; 
aber e8 gibt unter dieſen doch, fogufagen, monachiihe Seelen, 
deren reiche und mannichfaltige Gaben, deren veridiedene Triebe 
und Neigungen unter einem höchſten und alle andere behere- 
ſchenden Streben zufammengehalten find. Bei einem folden 
Menſchen wird e8 zwar immer kahl und jeicht, doch aber midht 
geradezu widerſinuig fein, fi mit durch Prädicate, mie 
ebel oder gemein, aufopfernd oder egoiftiich, ernft oder frivol, 
abzufinden. Cine monardiihe Seele in diejem Ginne mar 
aber Boltaite nicht. Wenn au die Wirkungen, die er berbor- 
brachte, fo ziemlich in Einer Ritung lagen, jo war doc) jede 
von ihnen das Ergebniß des Zufammenipiels gar verjchiebener 
Kräfte, die in ihm durdeinandergingen, reiner und unreiner 
ZTriebfedern, die ihn gleihermaßen bewegten. Dein Mame if 
Legion! fonnte Boltaire'g Dämon mit jenem des Gergefemers 
ſprechen; im ber Legion waren aber neben den böfen auch zahle 
reiche gute Geifter, und felbft von dem erſtern eigueten fi) mur 
wenige, in Schweine, wohl aber mandje, in Kayen oder Affen 
zu fahren. # 
Strauß erwähnt darauf die Aeußerung Goethe’s, dafı 
Voltaire der höchſte unter dem Franzojen benfbare, der 
Nation gemüßefte Schriftfteller fei. Um eine jo hohe, 
ein Jahrhundert beherrſchende Stellung zu gewinnen md 
zu behaupten, dazu fei aber, neben der innern Begabung 
und der Gunft äußerer Verhältniffe, insbefondere auch 
ein langes Leben erforderlich. Das feinige verlief ume 
ter vier Negierungen, und man kann es jelbft in vier 
Epochen theilen: 

Die erfte ift die der Iugend, während deren fich feim 2 
lent, fein Nature und feine Lebensführung entwideln, bis ihr 
im Jahre 1726, feinem zweiundbreißigften ——— ei - 
felige Rataftrophe, die nad England treibt, ein Ende it. 
Der beinahe dreijährige engliſche ei 
feine zweite Lebensperlode bei 





weitern Verlaufe ift der Charakter dieſes Lebensahl 
vornehmlich duch Boltaire's Verhäliniß zu feiner geil 
Freundin, der Marquife du CEhätelet, und das gelehrte & 
leben auf deren Schlofje Cirey beflimmt; wie bt der 
der Marquife im Johre 1749 es ifl, ber diefer Periode 
unerwartetes Ziel ſetzt. Nun erft gibt der Künfundfunfzig 
den ſchon feit zehn Jahren wiederholten Einladungen 
gereönten Berehrers, Friedrich's von Preußen, nach, 
ufenthalt in Berlin und Potsdam eröffnet eine dritte 
die, nad; einem glänzenden Anfang, die nnrubigfte umd 
baglihfte, zum Glüd aud nur Furze Uebergangeperiode 
Boltaire'8 Leben bildet. Bon Deutfhland abgeopen, vom 
Regierenden in Frankreich nicht wie er es wänjchte willfo 
jeheißen, Täßt ſich Boltaire nach allerlei Irrfahrten erſt 
franzöfiihen Schweiz, dann in einem Grenzftrich feines 
iandes nieder, und von dem Erwerb und bald der bfeil 
Anfiebelung in gene um 1758 und 1760 datirt fid) die 
zwanzigjährige ‘Periode feines Lebens, die in jeder Di 
mir mögen auf die Stellung und Haltung des Mannes, 
Zahl und das Gericht feiner Arbeiten, oder auf dem U 
feines Wirkens und bie Höhe feines Ruhms jehen, als 
bedentendfte und ſchonſte feines Tangen und reichen 2eb 
betrachten if. 


Die Quellen zu Voltaire's Leben fliehen überreicht 





Boltaire, Strauß und Renaı. 


abgeſehen von feiner eigenen autobiographiicden Auf- 
zeichnung, feinen taufend Briefen und der Rolle, die er 
in ben Denkwürdigkeiten und Briefwechjeln der Zeit- 
genofien fpielt. Seine drei Secretäre, die nacheinander 
in feinen Dienften waren, haben ausführliche Aufzeich- 
nımgen über fein Leben binterlaffen: Longchamp, der 
Florentiner Collini und der Schweizer Wagniere. Hierzu 
fommt die große Zahl von felbftändigen Biographien und 
Monographien über einzelne Abfchnitte feines Lebens, von 
dem Werfe Duvernet’3 und Condorcet’8 an bis zu dem 
neueften großen Werke von Guſtav Desnoiresterres: 
„Voltaire et la societe frangaise au XVIIIme siecle”, 
einem Werte, „das in feinen bisjegt erfchienenen vier Bän- 
den durch Aufſpürung felbft der verborgenften Quellen, 
volftändige Zufammenftellung, gefchidte Gruppirung und 
geiftvolle Beleuchtung des gefchichtlichen Stoffs allen For⸗ 
derungen umnferer Zeit Genüge thut“. 

Franz Maria Arouet ward in einem Yahr mit un—⸗ 
ferm dentjchen Reimarus, 1694, geboren; fein Vater war 
Notar am Chätelet, feine Mutter eine Frau von Geift 
und gefelliger Bildung. So fcheint die Theorie Schopen- 
hauer’s, daß ſich die geiftigen Fähigkeiten und Neigungen 
der Mutter auf bie Söhne vererben, bei Voltaire eine 
Beftätigung zu finden. Mit zehn Jahren kam der Dichter 
in das Yefuitencolleg Louis le Grand. Die Erziehung 
hier war eine mangelhafte: Gefchichte, Mathematit und 
vernünftige Pbilofophie wurben vernachläffigt; aber die 
dramatiſchen Aufführungen, bie überall in den Jeſuiten⸗ 
fhulen blüßten, gaben feiner Neigung zum Scaufpiel 
die erfte Nahrung, und die rhetorifchen und poetifchen 
Uebungen wedten feine Fähigkeiten. Sein erſtes Stegreif- 
gedicht Hatte den Zwed, eine mit Befchlag belegte Schnupf- 
tabadsdofe zuriüdzuerhalten. 


Ueber die Manern bes Colleges hinaus drang der Dichter⸗ 
ruf des Knaben zuerft aus folgender Beranlaffung. Ein be- 
dürftiger Invalide . bat eines Tags den Vorſteher der Anftalt 
am eine poetifche Bittfchrift fir den Dauphin, in deffen Re⸗ 
giment er gebient Hatte; der Vorſteher, befchäftigt, weift ihn 
an ben reimfertigen Zögling, und dieſer macht ihm ein paar 
Berſe, die dem Imvaliden ein hübſches Almofen, dem jungen 
Boeten aber für ein paar Zage bie Aufmerkſamkeit ber Stadt 
und des Hofs verſchaffen. Damals fei e8 auch geweien, er- 


zählte Voltaire fpäter, daß fein Pathe der Abbé ihn zu feiner. 


alten Freundin, der befannten Ninon de P’Enclos, geflihrt habe, 
die, eine franzöfifche Aſpaſia, von den letzten Zeiten des Car⸗ 
dinals Nichelieu bis in die Tage der Frau von Maintenon 
durch die Bildung ihres Geiftes und die Anmuth ihrer Sitten 
nicht minder als durch ihre Lörperlichen Reize die Männerwelt 
bezaubert und fchließlih auch bei den Frauen fih in Achtung 
gejetst Hatte. Jetzt habe die mehr als achtzigjährige Huge Frau 
Wohlgefallen an dem aufgewedten Knaben gefunden und ihn 
mit 2000 Frances „zur Anfchaffung von Büchern‘ in ihr 
Teftament geſetzt. 

Der Bater Voltaire's verlangte, daß der Sohn bie 
Rechte ſtudirte. In ber That trat diefer 1710 in die 
Rechtsſchule ein; doch der galante Hausfreund der Mutter, 
der Abbe de Chäteaunenf, Treuzte des Vaters ernfte Ab- 
ſichten; er führte den Sohn in bie fogenannte Gefellfchaft 
des Tempels, wo bei fehwelgerifchen Gelagen vornehme 
Herren über Religion, Sitte und bie herrſchenden Per- 
fonen fpotteten. Neben recht frivolen Gedichten fchrieb 
Boltaire auch Legenden, fo fehr er fühlte, nicht da⸗ 
für gefhaffen zu fein. Er Hatte ſchon im Kolleg 


771 


die heilige Genoveva befungen und bewarb fih 1712 
um den poetifchen Preis mit einer Dbe auf den Bau 
des Chors der Notre - Dame» Kirche. Als Page des 
Marquis de Chäteauneuf, eines Bruders des Abbe, reifte 
er nad) dem Haag und verliebte ſich dort in Olympia 
Dunoyer, die Tochter einer literarifchen Abenteurerin; 
ex erlebte dabei felbft allerlei Abenteuer, wurde im 
Sefandtichaftshotel confinixt, ba die Mutter mit der 
Zochter andere Plane hatte, und dort von ber entjchlof- 
jenen Geliebten in Mannsfleidvern befuht. Dann finden 
wir den jungen Arouet wieder in der GSchreibftube des 
Procurators, wo er ſich manche brauchbare Rechtskenntniß 
erwarb, daneben aber allen Vergnügungen der Haupiftabt 
buldigte. Der Marquis von Saumartin nahm den Dichter 
längere Zeit mit auf fein Gut Saint-Ange bei Fontaine 
bleau; begeiftert für Heinrich IV. erwedte er in dem 
Süngling den erften Gedanken der „Henriade“, wie als ge 
nauer Kenner der Regierung Ludwig's XIV. jenen Antheil 
an diefer Ölanzepoche Frankreichs, welcher ihn fpäter zur 
Darftellung des „Sièclo de Louis XIV.” infpirirte, 

Satirifche Gedichte auf den Regenten, ben Herzog 
von Orleans, sogen ihm mehrfach Verweifungen und eine 
faft einjährige Gefangenschaft in der Baftille zu. Hier 
fhrieb er an feiner „Henriade“. Das erfle größere 
Merk, das in die Deffentlichkeit gelangte, war indeß fern 
„Dedipe”, der am 18. November 1718 mit glänzenden 
Erfolg zur Aufführung kam, wobei der muthwillige 
einundzwanzigjährige Dichter felbft als Schleppträger des 
Oberpriefters auftrat. Das Stüd erfhien im Drud, 
und war der Herzogin von Orleans gewidmet, mit einer 
Zueignung, weldhe zum erften male den Namen Boltaire 
trug, ein Anagramm von Arouet. 

Nah dem Tode des Vaters fammelte Voltaire fich 
ein eigenes Bermögen, auf Grundlage des väterlichen 
Erbtheils und der erften literarifchen Berdienfte, und ver- 
mehrte daflelbe durd) Lieferungen, welche die Gunft bes 
Regenten ihm zumwandte. Gönner und önnerinnen ver- 
ſchönten fein Xeben, ohne manches Unangenehme abmenben 
zu fönnen, wie 3. ®. bie Prügel, die er an der Brüde von 
Stores von dem Hauptmann Beauregard erhielt; diefer hatte 
ihn früher denuncirt und und war von ihm an ber Tafel des 
Kriegsminifters ein Spion genannt worden. Mit Mabame 
de Rupelmonde, einer jungen galanten Witwe, reifte 
Boltaire 1722 nach Ylandern, wo er den Dichter Yean 
Baptifte Rouffeau, einen fpätern erbitterten Gegner, per» 
fönlich kennen lernte, und nach dem Haag, wo er feine 
„Henriade“ herausgab. Eine fpätere Belanntfchaft mit 
Lord Bolingbrofe, der in der Zouraine ein Landhaus Hatte 
und mit Recht als Hauptträger des englifchen Deismus 
und Senfualismus galt, war für Boltatre vom höchften 
Werth. Das Don-Yuan-Regifter des jungen Dichters 
entrolt uns Strauß mit den folgenden inhaltvollen 
Beilen: 

Unter den Belanntfchaften, die Voltaire in jenen Jahren 
pflegte, nehmen die mit geiftreihen und liebenswürdigen rauen 
eine hervorrageude Stelle ein. Da ihm eine eigene Häuslich- 
feit fehlte umd er zur Ehe wenig Luft empfand, jo war es ihm 
Bedürfniß, in einem befreundeten Haufe, bei einer rau, die 
ihn zu fchägen und warm zu Halten wußte, daheim zu fein. 
Dabei lief das eine mal Liebe mit unter, das andere mal nicht; 
die Dame mochte Witwe fein oder auch nicht; denn felbft wenn 

97 *7 











7172 


Liebe dabei war, madten die Ehemänner iu damaliger Zeit 
fein Hinderniß. So fand Voltaire in jenen Jahren erft bei 
einer Marquife de Mimeure, die Witwe war, dann bei einer 
Bräfidentin de Bernieres, die mod) einen Mann hatte, bei dieſer 
and als Miethomann in ihrem Haufe, eine behagliche Heimat; 
leidenſchaftlich verliebt war ex Tängere Zeit in die Marfhallin 
Billars, die ihm jedoch mit falter Koketterie ebenfo in Athem 
als fern zu halten mußte. Bon anderer Art waren bie Be- 
ziehungen, worein den dramatiſchen Dichter der Verkehr mit 
der Breterwelt zu jungen Schaufpielerinnen bradte. Zu der 
eit, als fein „Debipe‘ im Werben war, machte er ber 
uclos den Hof; jpäter war Adrienne Lecouvreur einmal feine 
Geliebte und blieb bis zu ihrem nur allzu frühen Tode feine 
din; ein befonders anmuthiges Berhältnig aber entipann 
nm die Zeit feiner Verbannung nad Suly mit einer jun« 
gen Dilettantin, die er dafelbft kennen lernte. Sufanne Liory 
war die Tochter eines inanzbeamten in Paris, hatte aber 
einen Oheim in Sully, und wurde di u den bramatif—en 
Vorftellungen herangezogen, die eine Fieblingsunterhaltung des 
Herzogs unb feiner hohen Gefellihaft bildeten. Den Beifall, 
der hierbei einem hubſchen Mädden mit angenehmen Manieren 
niemals fehlt, nahın Sufanne als Bürgichaft für ein dramati⸗ 
es Zalent, zu deſſen Ausbildung ihr der jugendliche Thenter- 
dichter behhfflich fein follte. Sie nahm bei ihm Unterricht in 
ber Declamation, und er brachte es in der nädjften Zeit and 
dahin, daß fie auf dem theätre frangais, unter anderm ale 
Sotafte in feinem „Debdipe‘, auftreten durfte. Aber fie hatte 
wenig Erfolg; offenbar war die Luſt größer als bie Kraft. 
um h mehr Erfolg hatte fie bei ihrem Lehrer, und er nicht 
minbern bei der Schülerin. Man liebte fi Herzlih und ſchwür 
ſich ewige Treue; man führte bei aller Knappheit der äußern 
Berhältniffe ein Leben wie im Paradiefe. Aber man hat außer 
der Geliebten aud einen Freund, und der wurde zur Schlange 
des Parabiefes. Voltaire führte den Freund bei der Geliebten 
ein, und ber — ſtach ihn bei der Geliebten aus. Er war 
and gar zu lſebenswürdig, diefer junge Genonville, das hatte 
Boltaire felbft empfunden; darum ja feinen Brud. Voltaire 
überwindet ben Verdruß umd bfeibt mit beiden Theifen im ber 
flen Einvernehmen. Das war fo feine Art; denn wir werden 
feinerzeit einen viel ernſtern all antreffen, wo fi das 
Gleiche wiederholte. 

Ueber bie „Henriade“ lautet das Urtheil unſers 
Biographen: 

„Sie füllte eine Lude in ber franzöffhen Literatur, der ein 
claſſiſches Epos bis dahin gefehlt hatte. Das goldene Zeitalter 
Ludwig’ XIV. hatte das claffifhe Drama geigaffen, au im 
She der Lyrit, beſonders nad; ber didaktiſchen und fatiriihen 

eite, Mufter aufgeftellt; aber bie epifchen Verſuche, deren 
einem wir bald jefbft noch begegnen werben, waren fehr un. 
volllommen gehfieben und hatten fi bei weiten nidt zu ber 
Höhe eines Racine oder Despréaur erhoben. Doc; neben dem 
Titerarifhen hatte das Voltaire'ſche Gedicht zugleich ein patrio- 
tifches Verdienſt. Es war aus der vaterländifchen Gedichte, 
und zwar aus deren nächfter lebendiger Vergangenheit genom«- 
men unb verherrlicte in feinem Helden, dem Friedeneſtifter 
nad) den langen Religions» und Bürgerfriegen, die religiöfe 
Toleranz, die feine Enkel und Nachfolger, zum unberehenbaren 
Schaden des gemeinen Wefens, mur gar zu fehr außer Acht 
elaffen Hatten. Der moderne Charakter des Stoffs wie der 
—— ſchloß das Wunderbare, und damit freilich eine 
reiche Quelle ber poefie, die dem Epos bis dahin gefloſſen war, 
aus, woflr die höfgerne DMafhinerie, die der Dichter an die 
Stelle ſetzte, die ausgefiopften Figuren der Zwietracht, der 
Politit, wie andererfeits der Liebe und Religion, die von Kopf 
bie zu Füßen befeprieben werben und zum Theil lauge Reden 
halten, feinen Erjag gewähren können; doch fo fehr derlei aller 
goriſches Unweſen wider unfern Gef hmad if, fo wenig verffieß 
es gegen den damaligen. Das Bersmaf endlich, der todte eins 
tönige Alerandriner, fällt zwar traurig ab nicht allein gegen 
den Iebensvollen Herameter des griechifch-römtichen, fondern auch 
jegen die, bei aller Gleichförmigfeit des Rahmens, dod im 

Innern vieler Abwechſelung fähige Stanze bes italienischen Epos; 


Voltaire, Strauß und Renan. j 













indeß für frangöfiige Ohren, bie babei hergelommen inaren, 
— 14 ehe nit empfindbar hie : * 
In Bezug auf die Stellung, welche Voltaire durch 
feine Gönnerfchaften in ber —ã ſich zu erringen 
ſuchte, und über das ſociale Aufſireben unſerer deut 
ſchen claſſiſchen Dichter ſchreibt Strauß eine geiftvolle 
Parallele, welche auch einige Grundverjchiedenheiten im 
Ber m der deutſchen und franzöfifchen Nation ins 
icht ſtellt. 

Eine zweite Prügelaffaire mit dem Chevalier de Rohan, 
bei welder Boltaire wiederum ber leidende Theil war, 
hatte feine Feſtſetzung im der Baftille und fpäter feinen 
Ausflug über den Kanal zur Folge. { 

Die Einflüffe des englifhen Aufenthalts umb der 
englifchen Philoſophie und Poefie auf Voltaire behandelt 
der zweite Vortrag. Hier findirte er Newton und Lode, 
die rationaliftifchen Wundererklärer Collins und Wooliten, 
die Gedichte Pope's, die Satiren Swift's, die englifchen 
Dramen jener Zeit; er hat diefe Mufter fpäter mehrfach 
nachgeahmt. In England fehrieb er fein Drama „Brutus” 
und feine „Geſchichte Karl’ XI“, bald nach feiner Rüd- 
kehr nad) Frankreich, entrüftet über die Weigerung der 
Geiftlihfeit, feine Freundin Adrienne Lecoupreur am & 

und 





weihter Stelle zu begraben, ein beredtes ftrafendes 
dicht, ſowie fpäter die freigeiftige „‚Epiftel an Uranie“ 
feinen „Geihmadstempel‘, der Pope's Vorbild nicht ver= 
leugnete. Mit feiner „Zaire“ erſtieg er 1732 bie Höhe 
feines dramatifchen Dichterruhms. - 
Strauß benutzt biefe Gelegenheit, ein Gejammtbild 
des Dramatifers Voltaire mit feinen Zügen zu entwerfen; 
er vergleicht den dritten in der Gruppe der großen frame 
zöffchen Tragiler dem Curipibes, dem er in der 
darin ähnlich fei, daß er feine Dramen mehr als feine 
gänger zu Gefäßen feiner politifch-religiös-philofophifchen 
Denkart machte, und daß er biefe Vorgänger, vom benem 
er Racine in mandjer Beziehung für unübertrefflich Hielt, 
in anderer zu überbieten ſuchte. Ciner feiner Grundjäge 
war, daß bie Liebe entweder ben Knotenpunkt der Hand. 
tung bilden, oder ganz aus dem Stüde verbannt fein 
mäüffe, fie darf nie ein Lüdenbüßer fein; deshalb Hat 
Voltaire aus „Oreſt“, „Merope“ die Liebe gänzlich, a 
„Caſar's Tod“ fogar jede weibliche Nolle ausgejchlo 
Auch berührte Voltaire zuerft von den Xragiferm ü 
der „Bare“, ber „Adelaide Duguesclin“ franzöfijche 
men und Gedichten, obwol nur jehr jchüchtern u 
von fern. Ebenſo fuchte er die Beichränkung des 
gebieis des franzöflfhen Dramas zu befeitigen, indem er 
ftatt der fürftlichen Perfonen ſolche wählte, welche 
Natur näher fanden, und überdies feine Stüde mi 
blos im Altertfum, fonbern in allen Zeiten umd 
theilen fpielen ließ. Aeußerlich juchte er die Bühne 
der unwilllommenen Servitut zw befreien, unter der ai 
die altenglifche ſeufzte: daß nämlic, die vornehmerm 
Schauer auf der Bühne felbft faßen und fanden und 
die Schaufpieler beengten. Dagegen konnte ſich Bolt 
zeitlebens von ber engherzigen Herrſchaft der drei q 
telifchen Einheiten nicht iosmachen, jowie von bem 9 
zandriner ald dem Vers der Tragödie; er ſpottet 
Shalfpeare, der feine Perfonen von einem Schiff auf 
her See mit einem male 500 Meilen weit ins 


Boltaire, Strauß und Renan. 173 


binein, aus einer Hütte in einen Palaft, von Europa 
nad Aſien verfege, und am liebften eine Handlung ober 
auch mehrere Handlungen zugleich darftelle, die ein halbes 
Sahrhundert dauern; Strauß gibt mit Recht zu, daß 
Shaffpeare hierin unftreitig zu weit gebt, daß fein ra⸗ 
ſcher Scenenwechfel auf der einen, und die beträchtlichen 
Zeitllüfte zwifchen den Theilen ‚mehrerer feiner Dramen 
auf der andern Seite, von ber Schwierigkeit fir bie 
Darftelung noch abgefehen, der Stetigkeit, mithin ber 
Einheit der Handlung zu nahe treten. 


Was Boltaire'8 Beziehungen zu Shalſpeare betrifft, 
fo pflegt man in der Regel nur den Ausſpruch von 
dem „betrunfenen Wilden” zu Tennen, ber Feinesfalls für 
das Verhältniß zwilchen dem franzöfifchen und dem eng- 
liſchen Tragiker erfchöpfend if. Shakſpeare ift im Gegen- 
tbeil auf jene freiern Tendenzen Voltaire's nicht ohne 
Einfluß geblieben. In der Zufchrift feines „Brutus” an 
Lord Bolingbrole fagt Voltaire: 


Mit welhem Vergnügen babe ich in London Ihre Tragödie 
„Zulins Cäfar’ gejehen, die feit 150 Jahren das Entzliden 
Ihrer Nation iſt! Es fällt mir wahrhaftig nicht ein, die bar» 
barifchen Unregelmäßigkeiten gut zu beißen, deren fie voll if; 
erflaunen muß man nur, daß ihrer nicht mehrere find in einem 
Werte, das in einem Jahrhundert ber Unwiffenheit von einem 
Manne verfaßt if, der nicht einmal Latein verfiand und keinen 
Lehrer hatte ale fein Genie. Aber mitten unter fo vielen 

toben Fehlern, wie war id) hingeriffen von dem Anblid bes 

rutus, der, den von Cäfar’s Blut gefärbten Dolch in der 
Sand, das römische Bolt verfammelt und von ber Rednerbühne 
berab anredet: Römer, Mitbürger, Sreunde u. f. f. Nach 
diefer Scene fommt Antonius und bringt durch eine knuſtvolle 
Rede dieſe folgen Geifter wieder zur Belinnung; dann, ale er 
fie befänftigt fiebt, zeigt er ihnen den Leichnam Käfar’s, und 
mit den leidenfchaftlihften Redebildern ſtachelt er fie zur Em- 
pörung und zur Rache auf. Schwerlich würden bie Franzoſen 
fi gefallen laffen, daß man auf ihrem Theater einen Chor 
von römifchen Handwerkern auftreten ließe, daß der bintige 
Leichnam Käfar’s vor dem Boll ausgeftellt, und diefes von der 
Rednerbühne herab zum Aufruhr ermahnt würde — das iſt bie 
Gewohnheit, die Königin der Welt. 


Wenn Boltaire indeß felbft den Geift Shakſpeare's 
in Frankreich heraufbeſchworen hatte, jo wußte ex ihn 
fpäter nicht wieder loszuwerden; der felbft mit bem Lor- 
ber gejchmüdte Tragiker begann in Shaffpeare einen auf« 
dringlichen Nebenbußler zu ſehen, daher fchränfte er fein 
Lob mehr und mehr ein, bis zuletzt der Tadel und der 
Spott ausjchlieglid die Oberhand gewannen. Die Stelle 
von dem „betrunkenen Wilden“ findet fi in der Ein- 
leitung ber „Semiramis“, in einer Kritik des „Hamlet“: 

Ich bin gewiß weit entfernt, die Zragdbie „Hamlet“ in 
ollem zu rechtfertigen; fie ift ein grobes barbariihes Stüd, 
das in Frankreich und Stalten nicht von dem niedrigften Pöbel 
geduldet werden würde. Hamlet wird verräidt im zweiten Act, 
und feine Geliebte im dritten; der Prinz erfticht ihren Vater 
unter dem Borwand, eine Ratte umzubringen, und die Heldin 
fpringt ins Waſſer. Man bereitet ihr Grab auf dem Theater; 
die Todtengräber machen Späße in ihrer Art, indem fie Todten- 
ſchädel in der Hand halten; der Prinz antwortet auf ihre ab» 
fheulihen Plumpheiten durch Thorheiten, die nicht weniger 
widermwärtig find. Unterdeſſen madıt eine der handelnden Per- 
fonen die Eroberung von Polen. Hamlet, feine Mutter unb 
fein Stiefvater trinten zufammen auf dem Theater; man fingt 
bei Tafel, man zankt fi, ſchlägt fih und bringt fi um. Man 
möchte glauben, dieſes Werk fer die Frucht der Einbildungs⸗ 
kraft eines betruntenen Wilden. Aber unter biefen groben Un⸗ 


regelmäßigleiten, die das englifche Theater noch heute fo ab⸗ 
eihmadt und barbariſch madıen, finden fih im Hamlet“ felt- 
amermeife erhabene, des größten Genies würdige Züge. Cs 
ift, ale Hätte fich die Natur darin gefallen, in dem Kopfe die- 
ſes Dichters das Stärkfte und Größte mit dem Niedrigflen und 
Abfcheulihfien zu verbinden. 


Do auch diefes Lob ift noch immer vollwidhtig gegen- 
über dem fpätern Urtheil, das ein Brief an b’Alembert 
enthält und demzufolge Shaffpeare „ein Dorfhanswurft 
ift, der feine zwei ordentlichen Zeilen gefchrieben hat“, 
und als gar eine Shakfpeare» Üeberfegung von Letoureur 
erſchienen war, richtete Voltaire noch zwei Jahre dor 
feinem Ende ein Schreiben an bie Alademie, in welcher 
er Shafjpeare „einen Seiltänzer nennt, der glüdliche Ein- 
fälle hat und Grimaſſen macht“. Mit Recht macht 
Strauß indeß darauf aufmerkfam, daß Shaffpenre’fche 
Tranerfpiele Voltaire vielfach vorfchwebten, fo der „Yulins 
Cuſar“ bei „Caſar's Tod’, bei „Semiramis“ der „Hamlet“, 
bei ,„Zatre” „Othello“, bei „Zancreb“ „Romeo und Julie“. 

Der zweite Bortrag enthält außerdem ein Urtheil über 
Boltaire’8 „Pucelle“, dies eigenartigfte Werk des Dichters, 
das er mit dem größten Behagen gefchaffen hat. Den 
frivolen Grundgebanfen der Dichtung charakterifirt Strauß 
treffend in folgender Weife: 


Die nationale Heldin palt ber Tandläufigen Vorflellung, 
und war noch zuletzt dichterifch gefeiert worden, als bie reine 
Zungfran, die eben als foldhde würdig befunden war, das Organ 
gönlicher Ofienbarungen und Wirkungen zu fein. Göttl 
fienbarungen und Wunderwirkungen nun gab es flir die 
Geiftesricätung, die in Voltaire ihren genialen Sprecher hatte, 
feine mehr. Aber ebenfo wenig wollte man an jungfräuliche 
Reinheit glauben. Was Mepbiftopheles zu Fauft ale feinem 
uur allzu gelehrigen Schüler jagt: 
Ihre ſprecht ſchon faR wie ein Franzos, 
ober vorher: 
Du ſprichſt ja wie Hans Liederlich, 
Der begehrt jebe Liebe Blum’ für fi, 
Und dunkelt ipm, es wär’ kein' Chr’ 
Und Gunſt, die nicht zu pflüden wär — 
das war bie Anfiht ber Kreife, für welche Boltaire feine 
„Pacelle“ dichtete. Im der Heldin von Orleaus konnte er alfo 
ſozuſagen zwei liegen mit Einer Klappe treffen: den Glauben 
au göttlide Offenbarung und ben an weibliche Heinheit. Dies 
bewerffielligt er in dem Gedichte fo, daß er die Wundermafdi- 
nerie beibehält: der heilige Dionyfius, Frankreichs Schutzheili⸗ 
er, ſucht fih die Heldin aus und läßt ihr in wiederholten 
rfeheinungen feinen Beiftand angebeihen, mworliber er mit dem 
heiligen Georg, dem Beichliger Englands, in Streit geräth; 
das alles aber wird — man denke nur an den geflligelten Eſel, 
der fi als Neitthier der Heldin zur Verfügung ftelt — in fo 
burlesten Zügen durdhgeflihrt, daß es als bloße Parodie er- 
ſcheint. Auch bildet diefe Seite der Sache nur die Folie, den 
Hintergrund; den Bordergrund nimmt die Durchführung des 
andern Themas ein, das Übrigens weniger an der Heldin ſelbſt, 
al8 gelegeutlih ihrer an den Übrigen weiblichen Figuren bes 
Gedichts, von der ſchönen Agnes Sorel bis zu Nonnen und 
Aebtiſſinnen, anſchanlich gemadt wird. Bei allen diefen ift es 
nur Sache der Gelegenheit, ob fie Heinheit und Treue bewah- 
ren oder nicht, und felbft der Zwang, ber fle ihnen raubt, iſt 
nit ganz unwilllommen. Im Unterſchiede von ihnen erſcheint 
Johanna noch ganz ehrenwerth; fchon die Derbbeit der Dorf» 
dirne, die den Zubdringlichen im Notbfall mit einer tlichtigen 
Obrfeige abzuführen weiß, fommt ihr zu flatten: und da ihre 
patriotifche Heldenrolle ihr wirklich am Herzen liegt, und fie 
die Borftellung theilt, daß deren Durchführung an ihre Jung» 
fräulichleit al8 Bedingung gebunden fei, fo weiß fie diefe bie 
auf weiteres firamm zu behaupten. 


Die Belanntfchaft Voltaire's mit feiner gelehrten Mufe, 


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774 Voltaire, Strauß und Renan.” 


der Marquiſe du Chätelet, der Aufenthalt auf Schloß 
Cirey, die Beſchaftigung mit Mathematit und Naturs 
wiſſenſchaften, der Verkehr am Hofe des Könige Stanid- 
laus in Commercy, feine Aufnahme in die Alademie, bie 
Streitigeiten mit reron, die Untrene der Geliebten, bie 
fi in einen jüngern Dann verliebte, den Gardelapitän 
Saint-Lambert,. die Mutterfchaft der Marguife, ihr Tob 
infolge der Entbindung — das alles bildet den weitern 
Inhalt des zweiten Vortrags. Wir konnen uns in Bezug 
auf die übrigen kürzer fallen, nachdem wir uns aus den 
beiben erften überzeugten, welche Fülle biographifchen und 
kritiſchen Stoffe, ohne Ueberladung, in gefälliger Ein« 
kleidung Strauß zufammenzudrängen verfteht. 

Der dritte Vortrag behandelt die Beziehungen Wried- 
rich's des Großen zu Voltaire in vorurtheilsfteier, zu⸗ 
fammenhängender Darftelung; der vierte führt uns nad) 
Prangin und Ferney in die fürftlich bequeme Hänslichfeit 
des Patriarchen und ſchildert uns feine ehrenvollen Be- 
mühungen zu Gunften der Yamilie von Jean Calas und 
Sirven, im Dienft der Aufflärung und Humanität gegen- 
über fanatifchen Yuftizmorden; ber fünfte fehildert uns 
Voltaire als Philoſoph und religidfen Freidenker; der 
ſechste die Idylle von Ferney und die legten Triumphe 
von Paris, fowie er manchen dharakteriftiichen Zug für 
das Porträt des Dichters hinzubringt. 

In dem vierten Vortrag fommt Strauß auch auf die 
Erzäplungen Voltaire’ zu ſprechen — und hier ſcheint es 
uns, als ob bie Rüdfichten, die er fi auferlegen mußte, 
ihn an einer eingehendern Behandlung gehindert Hätten. 
Der ſchlupfrige Ton namentlid der Erzählungen in Ber- 
fen und die chnifchen Epifoden felbft in den berüßmtern 
Vrofaromanen, wie die Unterſuchung nach dem Edelſtein 
in „Candide“, beburften um fo mehr der Erwähnung, 
als wir in biefen Erzählungen die Mufter vor uns haben, 
nad; denen fi) Wieland's Mufe bildete. So athmet 3.8. 
die „Waffertaufe” den Voltaire ſchen Geift. Bon „Can- 
dide“, einem Roman, den Scherr ein unübertrefiliches 
Meifterftüc des gefunden Menfchenverftandes nennt, be 
Hanptet Strauß, daß er, von unferm heutigen Stand- 
punkt angefehen, unter feinem Ruhm ſtehe. „L’Ingenu” 
ift der befte der Voltaire'ichen Romane. Der Gegenfag 
zwifchen Natur und Gultur, den er behandelt, wurbe 
infolge diefes Romans auch ein Lieblingsihema deutſcher 
Diätung: wir brauchen nur an die gahfeeien Kotzebue'⸗ 
ſchen Stüde zu erinnern, bie ihn bis zur Erſchöpfung 
ausbeuteten. 

Daß Strauß den Philoſophen Voltaire und den reli⸗ 
giöfen Freidenker mit beſonderer Vorliebe behandelt, er⸗ 
Hört ſich leicht. Die Beilagen enthalten zwei hierauf be 
züglihe Schriften: „Das Mittagemahl des Grafen von 
Bonlainvilliers” und einen Aufjag über den „Pfarrer Mes- 
Tier und fein Teſtament“; jenes Gefpräd einer der frei« 
geiftigften Dialoge über die Wunder des Alten und Neuen 
Zeftaments, die religiöfen Borurtheile, die abgejchmadten 
Xügen und ben gefährlichen Aberglauben: ein Dialog, 
der die geiftige Quinteſſenz bes Zeitalters ber Aufklärung 
fpiegelt, während das „Teſtament des Pfarrers Meslier 
ein Actenſtück des politiich=religiöfen Radicalismus ift, 
wie er nur fpäter in ber Revolution fich offenbarte; ja 


fogar der Königsmord wird darin geprebigt. Strauß fagt: | der Lage fein, Stimmen wie der Ihrigen das Ohr zu fe 










Bas Boltaire mittheilt, find die Beweisführungen bes 
Pfarrers, daß bie Seiftihe Religion weder göttlich noch 12 
feiz daß überhaupt alle Religionen auf Lüge und Betrug — 

en; daß bie bibliſchen Bücher weder von Gott eingegebem, 
noch ale menſchliche Bücher glaubwürdig oder bedeutend jeien; 
daß die Lehre ber chriftlichen Kirche ein Gewebe des crafjeflen 
Aberglaubens; daß Iejus feibft, weit entfernt von jedem Are 
Bd auf eine höhere Würde, ein Außerft unbedeutender mb 
verädtliher Menſch geweſen fei. Die Schrift des Pfarrers von 
Ctripignp, die und er jeit wenigen Jahren vollftändig gedrudt 
vorliegt, it für Voltaire's theologische Schriftftellerei von eins 
greifender Bebeutung. Wenn er auch nicht gerade viel Meues 
aus ihr lernen Zonnte, was er nicht ſchon aus dem Studium 
Bayle's und der engliichen Deiften wußte, jo regte fie ihm doch 
zu weiterm Kampfe an: ſein Berhältnig zu Meslier bat ums 
verfeunbare Aehnlichleit mit dem umfers Leifing zu Reimarus. 

Außerdem enthalten die „Epiſtel an Uranie“, die 
„Wichtige Unterſuchung des Lord Bolingbrofe“, der „Sermon 
der Funfzig“, „Gott und die Menfdyen von Dr. Obern“, 
meiſt pſeudonyme oder mit irgendeiner Maske verfehene 
Schriften, fowie die Artikel der „Vhiloſophiſchen Ench- 
Hopäbie”, die Anfchanungen, melde Voltaire von dem 
Chriſtenthum hegte. Was uns Strauß von bdenfelben 
mittheilt, namentlic, foweit es Bezug auf das Leben Yefır 
hat, zeigt zur Genüge, daß Ernft Renan aus Voltaire 
nicht weniger gefchöpft Hat als aus den deutjchen Philos 
ſophen — nur daß er die KedHeit der Voltaire ſchen Ber 
hauptungen und Schmähreben vermeidet und die iromie 
fen und fleptifchen Lichter nur gelegentlich feinem farbene 
reich ausgeführten Gemälde auffegt. Den Ausdruck 
„Eerasez linfame”, bezieht übrigens Strauß auf bie 
chriſtliche Kirche. 

Das Erſcheinen des Werls von Strauß furz dor dem 
Ausbruch des deutſch · franzöſiſchen Kriegs hatte jenen Briefe 
wechſel zwiſchen bem frangöflfchen und deutjchen Philo« 
fopgen zur Bolge, der jegt zufammengeftellt im einer 
Separatausgabe: „Krieg und Friede” (Nr. 2), vorliegt. 
Strauß nennt fein Werk eine „internationale Friebens- 
arbeit“ und meint, daß man ſich folcher Schrift nicht 
freuen Lönne in einem Augenblid, wo bie beiden Nationen, 
die fie einander näher zu bringen helfe, fich in Waffen 
gegenüberftehen. Doch ſchiebt er die Schuld des Kriege 
allein auf Frankreich und auf deffen Sucht, den 
ſchen Primat zu behaupten, auf die Misftimmung über 
die ſich confolidirende deutſche Einheit, und jagt je 
treffend: 

Die Einheit, die er (Mapoleon) hintertreiben wollte, jebt 
Haben wir fe; die unerhörte Anmaßung, die in dem Ani 
an ben König don Preußen lag, war dem geringiten 
in der Mark wie ben Königen umd Herzogen üdlich dee Main 

feich verſtändlich und unerträglich; wit ein Sturm weht, 

eift der Jahre 1813 und 1814 duürch alles deutiche Land, 
bereits haben die erflen Kriegserfolge uns ein Pfand gege 
daß einer Nation, die nur für dasjenige kämpft, wozu fie 
Recht und die Macht in fi fühlt, der Erfolg unmöglich fehlem 
tann. Diefer Erfolg, um den wir ringen, ift einzig die Of 
bereihtigung der europäifgen Wölter, if die Sicherheit, bi 
fortan nit mehr ein unrubiger Nachbar nad; Belieben m 
in den Arbeiten des Friedens ſtören und der Früchte 
Fleißes berauben fann. Dafür wollen wir Blirgichaften Bi 
und erft wenn diefe gegeben find, wird von einem jreumdl 
Einvernehmen, von einem einträdtigen Zujammenmirken di 
beiden Nachbarvölfer an allen Arbeiten der Cultur und Dr 
manität die Rede fein Tönnen; dann aber auch erſt, wenm de 
feangöfifgen Bolke der falfche Weg verſperrt ift, wird es 


Alaska. 


die es von jeher anf den rechten, den Weg der redlichen Arbeit 
an ſich ſelbſt, der Zucht und Sitte, hingewieſen haben. 

Renan ſpricht in ſeinem Antwortſchreiben ſehr ſchön 
über den Einfluß der deutſchen Geiſtesbildung auf ſeine 
eigene Entwidelung; er ertheilt und das glänzende Lob: 

Wenn es irgendeine Nationalität gibt, die ein augenfchein- 
liches Recht hat, in all ihrer Unabhängigkeit zu eriftiren, fo ift 
dies ficher die deutſche. Deutſchland bat den beften nationalen 
Rechtstitel, nämlich eine gefchichtlihe Holle von böchfter Be- 
deutung, eine Seele, möchte ich fagen, eine Literatur, Männer 
von Genie, eine eigenthilmliche Auffaffung göttlicher und menſch⸗ 
licher Dinge. Deutſchland hat die bedeutendfte Revolution der 
umern Zeiten, die Reformation, gemacht; außerdem bat ſich in 
Deutſchland feit einem Jahrhundert eine der fchönften geiftigen 
Entwidelungen vollzogen, welche die Geſchichte kennt, eine Ent- 
widelung, die, wenn ich den Ausbrud wagen darf, bem menſch⸗ 
tihen Geift an Tiefe und Ansdehnung eine Stufe zugeſetzt bat, 
fodaß, wer von diejer neuen Entwidelung unberlihrt geblieben, 
zu dem, der fie durchgemacht Bat, fi verhält wie einer, der 
nur die Elementarmathematik kennt, zu dem, der im Differentiale 
calcul bewanbert if. 

Doch will er in Bezug auf ben legten Krieg auch die 
preugifche Regierung nicht von Schuld freifprechen; er 
erhebt auch die geiltigen Vorkämpfer Frankreichs und feine 
gebildete Gefelfchaft, die nichts mit den burlesfen Jour⸗ 
nalen und Heinen Poffentheatern zu thun habe. Gegen 
die Losreißung des Elſaß und Lothringens wehrt fid 
Renan aufs ünferfte; er nennt dies eine Verftiimmelung, 
welche Rachehandlungen ohne Ende zur Folge haben werde; 
man müfſe überhaupt das Nationalitätsprincip durch das 
Princip der Föderation reguliren. Gegenüber den ge- 
barnifchten Kriegspolititern, wie Xreitfchle, macht ſich 
Renan fogar eines Denffehlers ſchuldig und muß ale 
„ſchülerhafter Philoſoph“ vom heibelberger Katheder herab 
zur Ordnung gerufen werben, wenn er die folgende 
chriſtliche Friedenspredigt hält: 

Ach, mein theurer Herr, wie gut hat Jeſus gethan, ein 
Reich Gottes zu gründen, eine Welt, erhaben über Haß, Eifer⸗ 
ſucht und Stolz, wo ber Geachtetſte nicht wie in der traurigen 
Zeit, worin wir leben, derjenige ift, der am meiflen Uebles 
thut, der fchlägt, tödtet, befhimpft, der größte Lügner, ber 
Unebrlihfte, Uugezogenfte, der Mistranifchfte und Treuloſeſte, 
der Fruchtbarſte an böfen Anſchlägen, an teufliichen Ideen ift, 
am wenigfien Mitleid und Berzeihung kennt, am wenigften 
Lebensart hat, ber feinen Gegner überraſcht und ihm die ſchlimm⸗ 
fen Streihe fpielt; fondern der Sanftefle, der Beſcheidenſte, 
der am meiften aller Dreiftigfeit, aller Prahlerei und Härte 
fern ift, der aller Welt den Bortritt läßt, der ſich als ben letz⸗ 
ten betrachtet. Der Krieg ift ein Gewebe von Sünden, ein 
wibernatäirliher Zuftand, wo man das als ſchöne Handlung 
empfiehlt, was man zu jeder andern Zeit als Fehler und Ver⸗ 
brechen meiden beißt; wo es Pflicht ift, fich Über das Unglüd 
des andern zu freuen, wo berjenige, der Gutes für Böſes thun, 


775 


der die evangelifche Vorſchrift, Unrecht zu verzeihen, ſich ſelbſt 
zu erniebrigen, üben wollte, abgeſchmadt und felbft tadelnswerth 
erſcheinen würde. Was den Eintritt in Walhalla eröffnet, ver- 
Ihließt den in das Reich Gottes. Haben Sie bemerkt, daß 
weber in den adıt Seligfeiten, nod in der Bergprebigt, noch 
fonft im Evangelium, noch in der ganzen urchriftlichen Literatur 
ein Wort fi findet, das bie friegerifchen Tugenden unter den» 
jenigen aufführte, bie das Himmelreich gewinnen? 

Auch Strauß flimmt in feinem zweiten, vortrefflichen 
Briefe, der noch mit größerer Schärfe die franzöfiichen 
Anmaßungen geifelt und file die beutfche Einheit, die 
Verbrüderung von Nord und Süd eine Lanze bricht, in 
Bezug auf ben Krieg nicht mit Renan überein; er nennt 
die Seligpreifungen in der Bergpredigt evangelifche Para⸗ 
doren, deren ideale Hoheit man zwar verehren, die man 
aber cum grano salis verftehen müſſe. Er ift aud) ge 
neigt, dem Kriege viel Gutes nachzuſagen; nur Raub⸗ 
und Eroberungsfriege feien von jeher verderblich für bie 
Sittlichfeit gewefen; dagegen hätten alle Kriege, welche 
die Völker zur Abwehr fremder Einfälle unternommen 
hätten, regelmäßig einen Aufſchwung des nationalen Le⸗ 
bens zur Folge gehabt. Er fährt fort: 

Uebrigens ift e8 eigen und bemeift einen merkwürdigen 
Umfhwung der Dinge, daß ein Franzoſe uns Deutfchen den 
Frieden predigt. Ein Mitglied des Bolls, das feit Jahrhun⸗ 
berten die europäifche Kriegsfadel in Händen hielt, dem Nach⸗ 
bar, ber immer uur zu thun gehabt bat, die Brände zu löſchen, 
die der andere in feine Städte geworfen, an feine Saaten ge- 
legt Hatte. Was mußte gefchehen, wie viel ſich ändern, bis es 
dahin fam! Der Franzofe hat den Deutjchen fo lange mishan- 
delt, jo unaufhörlich bebroht, bis biefer endlih, um fi Ruhe 
zu fchaffen, fich entidhloß, feine Sichel zum Schwert umzuſchmie⸗ 
den. Und mit diefem Schwert bat nun ber Deutiche dem Fran⸗ 
zofen jo gründlich zugeſetzi, daß diefer anfängt ihm die Seg⸗ 
nungen ber Sichel auzupreiſen. Bei uns bedarf es dieſes Prei⸗ 
ſens nicht; wir wären am liebſten bei der Sichel geblieben. 
Als Milo in der Verbamung die Bertheibigungsrebe Cicero's 
zu lejen befam, die dieſer erſt nachträglich zu dem berühmten 
Kunftwert ausgearbeitet hatte, foll er gejagt haben: „Hätteſt 
du jo geſprochen, o Marcus Zullius, jo würde ich jett nicht 
in Maffitin biefe leckern Fiſche effen. Ganz ähnlich könnten 
jest unfere in Frankreich eingeridten Söhne reden, geſetzt es 
fiele ihnen am Wachtfeuer das Blatt mit Ihrem Sendichreiben 
in die Hand. Hätteft du fo zu deinen Franzofen geſprochen, 
o Ernft Renan, könnten fe jagen, nnd, was die Hauptfacdhe if, 
fie zu deinen friedlichen Gefinnungen befehrt, fo würden wir 
nicht hoffentlich demnähft in Paris diefe Löftlichen franzöftichen 
Weine trinken. 

Die beiden Briefe von Strauß zeichnen fid) burch bie 
Gediegenheit des Inhalts, durch die fchlaghaft prägnante 
und doch gefällig feine Form fo vortheilhaft aus, daß 
man fie immerhin zu den geiftig denfwürdigen Actenftüden 
diefer Epoche rechnen darf. Audolf Bottfchall, 


Alaska. 


Alaska. Reifen und Erlebniffe im Hohen Norden von Fre⸗ 
berif Whymper. Autorifirte deutſche Ausgabe von Fried- 
rih Steger. Mit 1 Karte und 38 Originalilluftrationen. 
Braunschweig, Weftermann. 1869. Gr. 8. 2 Thlr. 20 Ngr. 


Das Buch umfaßt mehr als der Titel fagt, denn 
nicht allein da8 ehemalige ruſſiſche Amerifa, das heutige 
Territorium Alaska, fondern die Bancouver-Infel, Britifch- 
Columbia und der öftlichfte Theil Sibiriens von der Halb- 


infel der Tſchuktſchen bis Petropawlowst anf Kamtfchatla, 
endlich Californien werben hier behandelt. Immerhin 
nimmt aber Alaska den größern und intereflantern Theil 
de8 Ganzen ein. 

Der Berfaffer, ein Engländer, begleitete die ameri« 
fanifche Xelegraphenerpedition, weldhe von San- Francisco 
nad) dem Norden ging, um den Anfchluß an den fibirifchen 
Zelegraphen, welcher den Amur abwärts bis Nikolajewsk 





7716 


geführt war, zu veranlaflen. . 
Wege der Beringöftraße die ‚Alte und Neue Welt verbin- 
ben, da das Legen eines Kabels durch den Atlantifchen 
Dcean bis dahin ftets misglüct war. Als das Unterneh- 
men fehon ziemlich weit vorgeſchritten war und bebeutende 
Koften verurfacht Hatte, blieb es Tiegen; das atlantifche 
Kabel war mittlerweile eine Thatfache geworden und der 
amerifanifch- fibirifche Telegraph überflüſſig. Die Er⸗ 
pebditiongmitglieder Hatten inbeflen keineswegs vergeblich 
gearbeitet; fie hatten ein reiches wifjenfchaftliches Material 
mitgebracht, da8 jedoch zum größern Theil in den Archi⸗ 
ven ber aufgelöften Xelegraphencompagnie ruht. Publi⸗ 
cirt wurde daraus jüngft in Petermann’s „Geographiſchen 
Mittheilungen” eine neue Karte Alaskas von Dale, und 
durch diefe wird die von Whymper im vorliegenden Buche 
mitgetheilte derartig berichtigt, daß ſie ganz entbehrlich 
erſcheint. Whymper's Karte hat nur einigen Werth fir 
den untern Lauf des Inkouflufſes, ift übrigens aber jehr 
uuzuderläffig. 

Whymper's Verdienſte Tiegen auf einem anbern Ge- 
biete. Seine Schilderungen der Menfchen in dem durch⸗ 
reiften Gebiete und die Befchreibung ber verſchiedenen 
Abenteuer ift höchſt gelungen. Er fieht mit dem Auge 
bes Malers und weiß den anfcheinend troftlofeften, unter 
Eis und Schnee begrabenen Gegenden Reiz abzugewinuen. 
Der widhtigfte Theil der Reife, mit dem aud wir uns 
befhäftigeu wollen, bezieht fid) auf den „Miffiffippi Alas- 
las“, auf den großen Jukonſtrom oder Kwichpaf, der, das 
Zerritorium feiner ganzen Breite nad) durchziehend, in 
ben Nortonfund, eine Ausbuchtung des Beringsmeers, 
miünbet. 

An jenem Sunde Liegt Unalafchlit, einer der nörd⸗ 
Iichften Hanbelspoften der Ruffen, und diefer wurde der 
Ausgangspunkt der Reife ins Innere nah Nulato am 
Jukon, die mit Hunbefchlitten unternommen wurde. Nach⸗ 
dem man — im November — bei einem umgewöhnlich 
ftarten Schneefall einen der ſchlimmſten Neifetage hatte 
überflehen müſſen, ſah man don einer Fleinen Anhöhe 
berab einen feinen blauen Streifen durch die Bäume 
ſchimmern. Ihn zu erreichen wurde fofort der March 
befchleunigt und gegen Abend Hatte man die Wälder im 
Rüden. Dann ſchoß man auf Schneefchuhen einen flei- 
Ien Abbang hinab und ſtand nun auf einem fchneebeded- 
ten, ungehenern Eisfelde — das war ber Jukon: 

Kaum ein Fleckchen offenen Eiſes Tieß ſich fehen, alles war 
mit einem Wintermantel bedbedt. An vielen Stellen waren 
große Hanfen von Eisblocken auf die Oberfläche gedrängt wor» 
den. Dies war vor dem völligen Zufrieren bes Fluſſes ge- 
heben und noch jeßt gab es offenes Waſſer, welches in ein- 
zelnen ifolirten Streifen raſch dahinfloß. Bon Ufer zu Ufer 
war nicht weniger al& eine Meile uud in jeder Richtung Tagen 
Infeln. Denkt fi) der Lefer einen Fluß von 2000 englifchen 
Meilen Länge, der von biefem Punkte an auf einem ganzen 
Lanfe eine bis fünf Meilen breit ift, von der Quelle bie zur 
Mündung ale eine unter Schnee Tiegende Cismaffe, fo kann 
er fih den Jukon im Winter vorfielen. Ich war darauf ge⸗ 
foßt, einen breiten Strom zu fehen, hatte aber von dem wirt 
lihen Schaufpiel, das mic erwartete, keine Vorftellung. Keine 
Feder und kein Pinjel vermag von der furchtbaren Größe, ber 


ungehenern Monotonte, dem unermeßlichen Raume, der ſich 
vor uns entfaltete, eine Vorſtellung zu geben. 


Rulato, wo man halt machte, ift die am weiteften 


Alaska. 
Man wollte auf dem | im Binnenlande gelegene und zugleich nöordlichſte von allen 


Stationen der ruffifchen Pelzcompagnie. Sie ift ein großes 
mit Pfahlwerk umgebenes Blodgebäude mit Scheiben aus 
Seehundsdarm und wird von wenigen Pelzhändlern be- 
wohnt, bie dort ihr Neben unter feindlich gefinnten In⸗ 
dianern vertrauern. Der fältefte Tag, welden die Ge 
ſellſchaft in Nulato erlebte, fiel in den December. Am 
26. November ſank der Thermometer von der verhältuiß- 
mäßig milden Temperatur von — 13° R. plöglich auf 
— 22° R. und ging fort und fort Tag fir Tag noch 
tiefer herab, bi8 er am 5. December — 41° R. erreidte! 
Aber auch an Tagen, die in Nulato fir leiblih warm 
gelten, blieb das Klima winterlih genug. Se konnte 
Whymper einige Bleiſtiftſtizzen nur unter großen Schwie⸗ 
rigfeiten und „ratenweife‘ zu Stande bringen. Jedesmal 
nad ein paar Striden mußte er auffpringen und fi 
durch Bewegung zu wärmen fuchen oder ins Zimmer bin- 
eingehen. Kiumal erfror ihm gar das linke Ohr mb 
ſchwoll zu einer unförmlichen Maſſe an. Bon Aquarell⸗ 
malen war natürlich gar keine] Rebe, oder es Tonnte nur 
ausgeführt werden wenn ein Topf mit kochendem Waſſer 
zur Seite ftand. Selbſt innerhalb des Blockhaufes wer 
in der Nähe der Tenfter umb auf dem Fußboden bie 
Temperatur nicht felten unter dem Gefrierpuntte. 

Dan kann fi leicht vorftellen, daß umter folden 
Umftänden aud; der Proviant ber Erpebition von der 
Kälte nicht unberührt blieb. Die gedörrten Aepfel waren 
zu einer Steinmaffe geworben und mußten mit dem Beil 
aufgehauen werben; der Sirup bildete einen diden ſchwar⸗ 
zen Klumpen; und felbft mit dem fchärfften Meſſer wäre 
e8 unmöglich gewefen, ein Stüdchen Schinken vom Knochen 
zu löfen, bevor. biefer im Zimmer aufgethant war. Die 
Hafen und Birkpühner, welche man von den Iubianern 
kaufte, hielten fi) monatelang friſch, und Hautgoät war 
in dieſem Klima etwas Unerreichbares. Länger als eim 
halbes Jahr mußten die Reifenden in Nulate unter ſolchen 
Umftänden ausharren, um bie zur Weiterreife nöthige 
Befreiung des Jukon von Eis abzumarten. 

Während der langen Zeit der Gefangenſchaft in dem 
eis» und fchneeumlagerten Nulato gewährte der Berkche 
mit den Indianern den Neifenden ein beſonderes Intereſſe. 
Bis aus einer Entfernung von mehrern hundert englifchen 
Meilen kamen fie heran, um das erbeutete Belzwert in 
Nulato umzutaufchen. Der mächtigfte Indianerſtamm am 
Jukon find die Co⸗-Jukons, die an einigen Stellen aller⸗ 
dings Localnamen haben, überall aber diefelbe Mundart 
reden und daher au als Ein Voll zu betrachten find. 
Ihre Erjheinung ift wild und grinmig, die Kleidung 
höchſt fonderbar. Sie tragen nümlid einen beppelt- 
geſchwänzten Rod, den einen Schwanz vorn, den andern 
Binten, was etwa den Eindrud macht, als hätten fie zwei 
Fracks angezogen. Die Kleider der Frauen haben bicfe 
Schwalbenſchwänze nicht; dagegen prunfen die Frauen 
mit einem eigentbümlichen Muſchelſchmuck, der ans einem 
Loche durch den Nafenknorpel über den Mund herabhängt. 
Die Tobten der Eo-Iulons werden nicht beerdigt, fondern 
in lange Kiften gelegt und diefe auf Pfähle geftellt. Cine 
andere Eigenthümlichkeit des Volls ift das Brillentragen. 
Auf den Yagden ober Reifen, die fie im Frühjahr an 
ftellen, bedienen fie fich nämlich hölzerner Augenfchirme, 








Alaska. 717 


um fi) vor dem Erblinden durch den Sonnenrefler auf 
dem Schnee zu ſchützen. Diefe Brillen find von mandherlei 
Seftalt, wie die Abbildungen bei Whymper zeigen, aber 
alle haben eine enge Spalte, durch die ihr Träger eben 
hindurchblinzeln Tann. Wichtig ift die Beobachtung, daf 
die Sprache der Co⸗Jukons mehrere hundert englifche 
Meilen weit von allen Stämmen am untern und mittlern 
Jukon geredet wird, aber total verfchieden von dem Idiom 
ber Küftenvölfer if. Die Jukonindianer find nad; Whym- 
per's Anficht zu den eigentlichen amerifanifchen Indianern 
zu zählen; während die Küftenbewohner aflatifhen Stam- 
mes und mit den Tſchuktſchen jenfeit der Beringsftraße 
ein und bafjelbe Volk find. 

Im April trat Thanmetter ein, Gänfe zogen aus dem 
Süden heran, im Mai kamen Schwalben und das Eis 
des gewaltigen Stroms brach auf, der num ſchiffbar wurbe. 
Noch mit den Schollen kümpfend zog man in Fahrzeugen 
aus Seehunbsfel in Begleitung der Ruflen firomaufwärts 
nad) Newicargut, wo die Indianer ihr Sommerlager am 
Flußufer aufgefchlagen Hatten und die Pelzmefle ftattfand. 
Hier hatten die Reiſenden den interefianten Anblid einer 
Zeufelaustreibung: 

Eine Gruppe von Iubianern nıngab ben Leidenden, und 
mitten unter ihnen brannte ein Iümadıe Feuer. In gedämpf⸗ 
ten Tönen fangen fie einförmig im Chor, während der Be- 
ſchwörer gewiſſe Ceremonien vollzog, die fidh theilweiſe zur 
Mittbeilung nicht eignen. Zuletzt flellte er fi ale ob er ben 
böfen Geift aus dem Kranken bervorzöge, mit ihm ringe und 
ihn ins Feuer mwerfe, worauf er plößlih vor Furcht und 
Schrecken bavonlief. Jetzt war er nämlich ber Beſeſſene, ge» 
fticnlirte, ſtöhnte und fhäumte aus dem Munde, indem er das 
Ganze mit einem Recitativ begleitete, das fich dem Chor kunſt⸗ 
voll einfügte. Das Schaufpiel glich einer Zauberjcene in einem 
Senfationsdrama, und befonders wirffam waren die Zuthaten, 
die Aberhängenden Bäume, das Zwielicht und das düftere Feuer, 

Man fuhr nun weiter ſtromaufwärts zunächſt durch 
das Gebiet der Tanana- Indianer, die nach Whymper die 
echteften, urfprünglichften Indianer find, die e8 heutzutage 
noch gibt. Sie bemalen fi mit grellen Farben, tragen 
Federn im langen Haar, haben am Hinterkopf Fleden 
von rothem Thon anfgeflebt, die mit Kleinen fteifen Federn 
bedeckt find, doppelichwänzige Röde und hirſchlederne Mo- 
caffing mit Franſen und Perlen bebedt. Intereſſante 
Abwechfelung gewährte den Reiſenden die Jagd, nament- 
lich auf die fehr zahlreichen Elen- oder Mufathiere. 
„Das Wleifch iſt vortrefflih und fteht hoch über Hirſch⸗, 
ja felbft Renthierfleiſch, und namentlih ift die Nafe, 
richtig gedämpft, ein großer Lederbiffen. Nach meinem 
Geſchmack ift fie ſogar dem entgegengefettten Endpunkt des 
Bibers, dem Schwanze, vorzuziehen.” Eigenthümlich ift 
die Art, wie die Indianer die Elenthierjagd betreiben. 
Sie fchonen häufig Pulver und Blei, nähern fi dem 
Wild und verfolgen e8 mit ihrem Kahne von Birkenrinde, 
während es buch den Jukon ſchwimmt, fo lange, bis 
das Thier matt geworben ift, worauf fie leife heranfahren 
umd es durch einen Mefferftich ins Herz oder in ben 
Nacken tödten. 

Man gelangte nun nad Fort Jukon, wo bie zwei 
Dnellarme bes gleichnamigen Stroms, der Pelly und ber 


Borkupine oder Rattenfluß, zufammenfliegen. Cs ift 


1870, 4. 


freundlicher als die übrigen ruſſiſchen Yorts und ein 
äußert wichtiger Plag für den Pelzhandel, an dem bie 
verfchiedenartigften Indianerſtämme, bie weit aus ben 
britifchen Beſitzungen Hierher kommen, fi Stellbichein 
geben. „Das PBelzzimmer des Forts war ein Anblid, ben 
man nicht jeden Tag hat; Taufende von Marberfellen 
hingen an den Sparren, und gewöhnliche Pelze lagen in 
großen Haufen umher. Man verfchafft ſich Hier aud 
eine ſehr anfehnliche Menge von filbergrauen und ſchwar⸗ 
zen Füchſen.“ Das find die Vorräthe, die fpäter, nadj- 
dem fie ihren Weg durch Sibirien genommen haben, auf 
den Meffen von Nifhnij- Nowgorod und Leipzig zum Ver⸗ 
fauf gelangen. In Leipzig werben mit ben Pelzen be= 
kanntlich die mannichfachſten Berfhönerungsoperationen 
vorgenommen; aber die Indianer am Jukon verftehen fid 
auch fchon darauf. Whymper berichtet, daß ein Indianer 
ein weißes Fuchsfell ſchwarz fürbte und die Händler da⸗ 
mit betrog. „Seht, wir Wilden find doch befire Men- 
chen”, hat bort feine Anwendung mehr. Das Fell ift 
in Bort Yukon Werthmeſſer und alle Breife reguliren fi 
dort nad Fellen. Ein Gewehr im Werthe von 40 Scil- 
ling galt 20 Selle, und unter Zell verfteht man Biber, 
im Werth von 2 Schilling. Ein Paar Hofen Foften 
6 elle, ein Paar Mocaffins 1 Tel. 

Nachdem die Erpeditionsmitglieder zwei Wochen in 
ben gaftlichen Räumen von Fort Yulon zugebracht, fuhr 
man Anfang Yuli wieder in ben ledernen Booten den 
Strom abwärts. Dieamal ging die Reife ſchneller von 
ftatten. Man war in etwa ſechs Tagen wieder in Nulato, 
und in weitern fieben Tagen in St.» Michael, einem Po⸗ 
ften auf einer Imfel des Nortonfundes. Die ganze 1300 
englifche Meilen lange Strede war in der kurzen Friſt 
von funfzehn Zagen zurüdgelegt worden: 

Es erübrigt noch, einige Worte über den Werth und 
die Bedeutung Alaskas Hinzuzufügen. Man bat fi be- 
fanntlich von feiten vieler Amerikaner darin gefallen, die 
ganze Erwerbung lächerlich zu machen und die fieben Mil- 
lionen Dollars, welche die Union an Rußland für das 
Territorium bezahlte, al8 weggeworfenes Geld zu bezeich- 
nen. Bon feiten diefer Partei erhielt Alaska den Namen 
„Walruffia”. Whymper urtheilt billiger und wie wir 
glauben richtiger. Er weift darauf hin, wie der Pelz⸗, 
Minerale, Fiſch-⸗ und Holzreichthum des Landes genügt, 
bald wieder den Kaufpreis herauszufchlagen. Weiterhin 
fei die Erwerbung Alaskas ein Act der Gerechtigkeit gegen 
die ruſſiſche Regierung. Die amerilanifchen Walfifchfän- 
ger hatten an den Küſten Alaslas viel Handel getrieben 
und dadurh den Nuten der ruſſiſch⸗-amerikaniſchen Pelz- 
geſellſchaft ſehr gefchmälert; das Kat nun aufgehört eine 
Benachtheiligung zu fein, denn ganz Alaska gehört der 
Union. Gewiß hat auch die Sache ihren politifchen Hinter- 
grund; es ift wieder eine europäifche Macht vom ameri- 
kaniſchen Boden verbrängt, und die britifchen Beſitzungen 
am Stillen Ocean find von ben Vereinigten Staaten in 
die Mitte genommen. Der Abfall Britiſch⸗Columbias, 
der vorbereitet ift, wird eine weitere Folge ber Erwer- 


bung Alasfas fein. 
Kichard Andree. 


— N 


98 





d— 
gpen- weg 
EUGEN. 


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©». 
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-1 
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4 


118 


Epiſch-lyriſche Düchtungen. 





Epifch-Inrifche Dichtungen. 


= Uns liegt eine buntgemifchte Heide von Gedichten vor, 
die ber Mehrzahl nad) derfelben Gattung angehören, aber 
verfchiebene Wege wandeln und gar wenig einander ähn⸗ 
lich fehen. Sollte das gleiche Urfprungsbatum des hier, 
wenn auch zufällig Zufammengeftellten nicht den Rückſchluß 
erlauben, daß unfere Poeſie jegt einen überwiegend eklek⸗ 
tifhen Charalter hat und von feinem innern Drange nad) 
einer beftimmten Richtung getrieben wird ? Es wäre bieß 
in negativem Sinne eine signatura temporis, aber ale 
folche noch immer ber Beachtung werth. 


1. Romanzen und Bilder von &. Ferdinand Meyer. Leip- 
zig, Säffel. 1870. Ki. 8. 10 Nr. 


Die nur 123 Seiten ftarfe Sammlung ift mit forg- 
fältigfter Auswahl gemacht, fie follte, das fleht man, nur 
©ereiftes und Gediegenes bringen, und das thut fie. Nichts 
Unfertiges und fogar nichts Unbedeutendes tritt uns in 
ihr entgegen. Alles ift concentrirt, in der Empfin- 
dung, im Gedanken und im Ausdrud; die Situationen 
find mit wenigen, aber bedeutjanen Stricden gemalt, und 
diefe regen bie Phantafie des Lejerd mehr an und reizen 
fie mehr zur Selbitthätigkeit, als es die ausgeführteften 
Bilder gethan haben würden. Kurz, wir haben es hier 
mit einem wirklichen Dichter und Künftler zu thun, deſſen 
Weiſe viel mit der Hermann Lingg's Oemeinfames hat. 
In der erften, „Stinnmung” überfchriebenen Abtheilung fin- 
den ſich reizende Landfchaftsffizzen, meift aus der Schweiz 
und Italien, die ebenfo ſtimmungsvoll find, wie ihnen 
ein bebdeutjamer, oft nur angedeuteter, halbverjchleierter 
Gedanke zum runde liegt. Wir meinen: „Die Brüde“, 
„Spätjahr”, „Epheu”, „Die Jungfrau” und das ganz 
liederartig gehaltene „Auf dem See”, und citiren als kür⸗ 
zeres bezeichnendes Beifpiel vom Stil des Dichters, der 
gern volltönende, freilich nicht immer ganz veine Reime 
erklingen läßt und auch Hierin an Lingg erinnert, ben 
„Srntewagen“; 

Run des Tages Gluten flachen, 
Miſchen alle zarten Farben 

Sid am Himmel hell und Har, 
In die Helle ſeh' ich ragen 
Einen hoben Erntewagen, 

Den umeilt der Schnitter Schar. 
Dunkle Arbeit, lichtumgeben, 
Nächtige Geſtalten heben, 
Schichten letzte Garben leis, 
Und des Abends Feierſtunde 
Schmückt mit heilig goldnem Grunde 
Müder Arme fpäten Fleiß. 

Sinnige Betrachtung und empfindungsvolle Berfen- 
tung in die Oeftalten der Natur, der Kunft und des 
Lebens ift das den Dichter Bezeichnende; Leidenfchaft, 
Schwung und Feuer fehlen ihm wie feiner Sprache und 
feinen Rhythmen, die mit einer gewiſſen meift trochäifchen 
Monotonie behaftet find. Er gibt feine BPerfönlichkeit 
nicht ganz aus, fie und feine Weltanſchauung bfidt nur 
verhüllt durch feine Bilder und Erzählungen, eine gewiſſe 
fünftlerifche Kälte und Objectivität haucht uns troß des 
geiftreich Gedachten und ſchön Geftalteten mancherwärts 
an; um fo rührender und ergreifender klingt das „Glöck⸗ 


fein”, die Perle der Sammlung, von großer Zartheit 
und Tiefe: 

Er ſteht an ihrem Pfühl in herber Qual 

Und muß den jungen Bufen kenuchen fehn, 

Er if ein Arzt und weiß, fein traut Gemahl 

Erblaßt, fobald die Morgenſchauer wehn. 


Sie hat geihlummert. „Lieber, du bei mir? 
Mir träumte, daB ich auf ber Alpe war. 

Wie ſchön mir träumte, das erzähl’ ich dir — 
Du ſchickſt mid wieder bin das nächſte Jahr! 


„Dort vor dem Dorf — du weißt den moofgen Sein — 
Sof ih, und rings umballte mid Setön, 

Die Heerden zogen alle mit Schalmein 

An mir vorliber von den Sommerböhn. 


„Die Heerden ziehen alle heut nach Haus — 
Run iſt's die letzte wol? Nein, eine noch! 

Noch ein Geläut’ Hingt an und eins klingt aus, 
Das endet nicht! Da kam das lette dod). 


„Nun alles fill. Es flarb das Abenbroth, 
Die Matten dunkelten fo grün und rein, 
Die hohen Gipfel fanden bleich und tobt, 
Und drüber glomm ein leijer Sternenfchein. 


„Ein Glöcklein, horch! Klingt fern es aus der Schludt ? 
Irrt e8 verfpätet noch am Felſenhang? 

Ein armes Glöcklein, das bie Heerde fucht — 

Da wacht' ih auf — und höre nod den Klang. 


„Du ſchickſt mich wieder auf die lieben Höhn — 
Sie Haben, ſagſt du, mich gefund gemadt... 

Da war's jo ſchön, da war's fo wunderſchön! 
Das Glöocklein! Wieder! Hört du's? Gute Nacht!“ 

An folden, in wenig Worten viel andentenden Sitna- 
tionen ift beſonders die zweite Abtheilung: „Erzählungen“, 
veih. Es ift alles nur ſtizzirt, aber die Züige find marfig 
und vielbedentend, fo in „Amphitheater“, deſſen erſte und 
letzte Strophe wir herjegen: 

Fechterfptel iſt angefagt anf Heut, 

Und die Römerin verfäumt es wicht, 

Aus dem Spiegel, den die Sflavin beut, 

Schaut ein blafjes Angeficht, 
Auf die Bpp’gen Flechten 
Drüdt fie mit der Rechten. 

Eines Diademes hligend Licht. 


Dies fpricht eine „weibliche Geftalt, groß, als wäre 
fie der Geift von Rom”, der übes der Arena ſchwebt. 

Die Stoffe zu diefen concentrirten Geſchichtsbildern 
find dem alten Hellas und Rom, doc einige and) dem 
Mittelalter und einer neuern Zeit entnommen; bie In⸗ 
fcenefegung ift frappant, der zu Grunde liegende Gedanke 
ift faft immer bedeutfam und poetifch, tritt aber zumetlen 
nit Mar genug heraus, vor allem da nicht, wo die Dar- 
ftellung fi auf ein wenig belanntes, ber Specialgefchickte 
entnommenes Yactum bezieht. Beſonders angefprocden 
haben uns „Die Fahrt des Achilles” mit dem Schlau 
vers: „Hoch! Homer beginnt fein Lied!“; das tieffinw'ge 


Epiſch-lyriſche Dichtungen. 779 


„Michel Angelo”; „Bapft Julius“, ein großartiges Cha- 
rafterbild; das lebhaft und anſchaulich erzählte „Alexan⸗ 
der's Fe“; „Die Spielleute“ mit feinen poetiſch⸗roman⸗ 
tifchen Perfpectiven; „Milton's Wache”, eine rührende 
Scene aus des blinden Dichters Leben, in bie eine Stelle 
des „Verlorenen Parabiefes” bedeutungsvoll Hineinflingt; 
und das „Heimen“. Ein Schiffsjunge hatte auf bes Co- 
Iumbus Entdedungsfahrt aus Andalufien dies Luftig zir- 
pende Thierchen mitgebracht: 

Doc als das letzte Grün verſchwand, 

Da ward’8 dem Heimchen ſchaurig, 

Beklommen ſaß es an ber Wand 

Und wurde fan! und traurig. 

So darbt's und dämmert's Iange hin, 

Ich gab es ſchon verloren, 

Und nun, fo wahr getauft ich bim, 

Iſt es wie neu geboren. 

Das Heimen zirpt! Das Heimchen zirpt! 

Es glaubt fi ſchon im Grünen; 

Wer fpielt, gewinnt. Wer wagt, erwirbt, 

Das Glück ift mit dem Kühnen. 

Das Heimen belebt den Muth der vergweifelnden 
Mannſchaft, und bald erblidt man das erfehnte Land. 
2. Reiſegeſchichten. Novellenbud in Berfen von Gisbert Frei- 

berrn von Binde Münfler, Brumm. 1869. 16. 1 Chlr. 


Der geiftoolle und fprachgewandte Verfaffer bringt 
uns in diefem poetifchen Novellenbuch eine bunte Reihe 
bon Bildern und Erzählungen, die eine in Paris bei ber 
Weltausftellung fid) zufällig zufammenfindende Geſellſchaft 
von Gelehrten und Künftlern einander mittheilt. Sie 
waren fich früher fchon in Benedig in freundfchaftlichen 
Zufammenkünften näher. getreten und nehmen jett gegen- 
einander fein Blatt vor den Mund; das fieht man an 
ber Art und Weife, wie das jedesmal von einem ber 
Mitglieder Vorgetragene kritifirt wird. Es gefchieht dies 
unter fortwährender Anfpielung auf die neuere beutjche 
Aeſthetik und Kritik, auf die mancher fatirifche Pfeil ab» 
gefhofien wird. Die nach Art der Erzähler im „Deca- 
merone” ober in ben „Canterbury Tales” Berfammelten 
und in ihrer originellen Eigenthümlichfeit Gezeichneten brin- 
gen zum heil Selbfterlebtes, ihre eigenen Abenteuer vor. 
Der Ton ift meift humoriſtiſch und leicht, wie es ber 
Segenftand mit fi bring. Mitunter ift es ein geift- 
reiches Spiel mit einem Nichts, das erft bie Darftellung 
zu etwas macht, diefelbe gefällt fi) dabei in jenen fort 
währenben Abjchweifungen und Selbftunterbrechungen, wie 
wir fie aus Byron's „Beppo“ Kennen, der als Muſter 
auch für bie virtuos ausgeführten Reimkunſtſtücke gedient 
zu haben fcheint.. Daß diefelben in ihrer Barochheit oft 
zu einer wigigen Pointe führen, dient ihuen wie ben 
fatirifchen Nebenfprüngen zur Entſchuldigung. Indeſſen 
das Lejen mit Hindernifien, bei bem wir im jedem Augen- 
blick den Faden verlieren, wirft doch zulegt ermüdend, 
und ber leichtfpielende Humor wird, weil er zu oft und 
zu viel fpielt, mitunter Täflig, wie gewandt die Sprade 
dabei auch in allen möglichen Tönen gehandhabt wird. 

Uns wenigftens haben die ernft gehaltenen Erzählun- 
gen, unter denen ber „Manalibrunnen” und „König 
Edgar” wol die bebeutendften und poetifchften find, am 
meiften angejprochen. Bei einigen ber anbern ift der 
Inhalt body zu unbedeutend, als daß die wigig grazidfe 


Behandlung darüber wegfehen ließe. Jedenfalls wird die 
Zahl ber Leſer, die daran Gefallen findet, nur Hein fein, 
denn nicht alle find im äſthetiſchen Feingeſchmack fo weit 
vorgefchritten, daß ihnen das Wie wichtiger ift als das 
Was; auch find nicht alle in der Schweiz, in Italien, 
in Paris und andern Großftädten genug bewandert und 
mit den mobernen Keifefitten, Kunft- und Literaturzuſtän⸗ 
den vertraut, um bie darauf bezüglichen witigen und geift- 
reichen Andeutungen und Seitenhiebe zu würdigen. Der 
Berfaffer wirb mit feinen bunten Arabesken und feinen 
Federſtizzen wol nur auf ein excluſives Publilum von 
gebildeten Weltleuten und Kunſt⸗ und Literaturfreunden 
zu rechnen haben. 


- 


3. Bon der Nordmark. Romanzen und Balladen von Ale⸗ 
Se bon Schrenck. Leipzig, Weber. 1870. 16. 
r. 


Der Verfaſſer hat mit großer Gewiſſenhaftigkeit unter 
jedes, auch das kleinſte ber Gedichte das Entftehungs- 
datum gefegt. Wir erjehen darans, daß er feit mehr 
benn dreißig Jahren in berfelben Weife bichtet und ſich 
eines Immergrüus ber Gefühle, einer Kindlichkeit und 
Naivetät noch im Yahre 1869 erfreut, die ſchon 1835 
aus feinen Liedern fpricht. Der über 400 Seiten flarke, 
elegant ausgeftattete Band enthält Romanzen.und Balla⸗ 
den, Erzählungen und Lieder der Liebe, die fi in das 
„Buch Edda” und das „Buch Inlien“ theilen, Mit 
Ausnahme der Erzählungen, die allerdings ſehr faßbar 
und breit find, iſt das meifte äußerſt unflar und ver- 
ſchwommen; es find Zöne, Klänge und Weifen, die an 
Eichendorff, Heine, Uhland u. f. mw. erinnern, aber das 
ift auch alles, zu einer Haren anfchaulichen Sitnation, 
zu einem verſtändlichen Gebaufen kommt es felten. Cs 
find meift Lieder, wicht ohne Worte, aber ohne Sinn, 
wenigftens ift letzterer, um ein bem “Dichter geläufiges 
Bild zu gebrauchen, fo verborgen wie bie Perle des Tau⸗ 
here. Zum Beweiſe dafür, welch wunberlidder Sprache 
fi) der Berfafier bedient, um wunderlich Gedachtes und 
Enpfunbenes zu malen, citiren wir die „Kerzenzieherin“, 
die aus dem Jahre 1861, dem dritten Schöpfungsluftrum 
ftammt: 

Des Küfters Tchterlein feine 

Zog gelbe Wachsterzelein; 

Sie hielt fie im fauberen Schreine 
Und wog den Käufern ein. 

Die Kerzen, fie flimmern belle 
Am grünen Tannenbanm, 

Davor lebt ein alter Geſelle 

Und träumt einen füßen Traum; 


Er tränmet von Jugendtagen, 
Bon Lieb’ und Liebesglüd, 
Die alten verfchollnen Sagen 
Bringt ihm der Traum zuräd. 


Sie fieht zu ihm, die Kleine, 

Die Kerzenzieherin, — 

Sie weiß nit, warum er weine, 
Erräth nicht feinen Sinn. 


Und baben’s ihm doch ihre Kerzen, 

Ihre Augen angethan: 

Sie wedten ihm tief im Herzen 

Den alten glüdlihen Wahn. 
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780 


Sie hat wol die Kerzen vergiftet, 
Die Heine Here, im Guß, 

Das Unheil al damit geftiftet, 
Daß ihrer er träumen muß. 

Es ift für uns ein Räthfel, daß man fo viel derartige 
Lieder fingen kann, wie hier mit ftaunenswerther Uner- 
müblichfeit dreißig Jahre lang gefchehen if. 

Die Erzählungen find lang ausgejponnen und frei 
von aller Poefle, deswegen lieſt man bie ihnen zu Grunde 
Tiegenden Anekdoten auch lieber in Profa. Als Probe 
ber Naivetäten, an benen dieſe Erzählungen reich find, 
citiren wir zwei Stropfen aus „Fatime“. Dieſe Cir⸗ 
caffterin, die allerlei Fährlichleiten zu beftehen hat, er- 
zählt einem jungen englifhen Matrojen, daß ihr ein alter 
Paſcha nachgeftellt habe, im folgender Weife: 

Alltäglich drängt’ der Arge 

Mich hart mit feinem rein, 

Bald ſchmeichelnd und bald drohend 

Er ſtürmte auf mid) ein, 


Doch konnt’ ich für die Liebe 
Beradhtung nur ihm beu’n; (sic) 
Ein freies Weib der Berge, 

Ich troßte feinem Dräun. 


Dod genug der geftotterten Phrafe der Unkunſt. 


„Fatime“ datirt von 1862, aljo aus ber legten Ent- 
widelungsperiode des Dichters. 


4. Sriedrih der Einzige. Ein Gedicht von Karl Edwin 
Billing. Berlin, ©. Dunder. 1870. 8. 22%, Ngr. 


Eine verfificirte Gefchichte Friedrich's U. und feiner 
Kriege, und kein Gedicht, obgleich es der Verfaſſer fo 
nennt. Wahrfcheinlih Hat ein Handbudh für Schulen 
zum Grunde gelegen. Zum Epos gehört ein Held und 
eine Handlung, beide find dba; aber es gehört auch Cha⸗ 
rafteriftit und Compoſition, Kunft und Poefle dazu — von 
dem allen finden wir wenig, es find aneinandergereihte 
Erzählungen und Schilderungen in meift hölzernen Ber- 
fen und oft trivialer Diction. Der originellen Kraft, bie 
Scherenberg in feinen Schlachtgemälden entfaltet, entbeh- 
ren bie Mölling’fchen ganz und gar, fie find farblos und 
enthalten Stellen wie folgende (S. 37): 

Da zit Therefia ihr leuchtend Schwert, 
Und Brown und Königsed befteigen’s Pferb. 

©. 29 fagt der Abt eines fchlefiichen Klofters zu 

Friedrich: 

Ich ehr' die Gottheit in des Krenzes Zeichen, 

Auch ohnedem kann ſie der Geiſt erreichen — 
worauf jener mit Anfpielung an bie bekannte Façon ant- 
wortet: 


Nach feiner Art mag jeder felig werden, 
Kein Glaube fHör’ den anderen auf Erden. 


Wir denken, dies genügt zum Beweife für unfer Ur- 
theil. Die Arbeit gewinnt dadurch ein gewiſſes Interefle, 
daß fie, aus Amerika fommend, der Königin von Preußen 
gewidmet ift und des Verfaffers Zufriedenheit mit der Wen- 
dung der deutfchen Dinge wie auch feine Begeifterung 
für Preußen und den Hiftorifihen Beruf befielben aus- 
fpridt. Seine Sefinnung ift eine durchaus correcte, fein 
Ders und feine Sprache find es weniger. 


Epiſch-ILyriſche Dichtungen. 
5. Serufalems Opfertod. Das Lieb von der Böllerfreiheit. Epos 





tu funfzehn Geſängen von Philipp Heinrich BWolff. 
Berlin, Wegener. 1870. & 1 Zhlr. 10 Rear. 
Hier ift mehr als gereimte Hiftorie, Hier ift ein An- 

fa zum Epos vorhanden. Joſephus und andere Duellen 

werben nicht blos in Verſe gebracht, fondern das Ganze 
bat auch einen poetifchen Mittelpunkt: die Rache Berenice's, 
die den Titus zum Bernichtungslampf gegen Jerufalem 
entflammt, weil Eleazar, der Held des Gedichts und ber 

Anführer der Juden, ihre Liebe getäufcht hat. Der Ber- 

faffer entfaltet in funfzehn Geſängen ein umfaffendes 

Gefhichtsgemälde und Holt mitunter, 3. B. in ber römi⸗ 

fen Kaifergefhichte, weit aus, verliert aber troß aller 

Epifoden und aller Details doch nie den Faden und ift 

fi, feiner Aufgabe immer bewußt. Er fieht im Kampfe 

Zubäas gegen Rom den Kampf ber Freiheit gegen Ty- 

rannei und bat, das fühlt man, ein patriotifches unb 

perjönliches Pathos, das feiner Darftellung vom tragifchen 

Untergange Jeruſalems und dem Schidfal Iſraels in 

mancher gehobenen Strophe Schwung und Wärme ver- 

leiht. Im großen und ganzen beweift aber auch fein 

Verſuch die Unmöglichkeit, der Poefle und der Geſchichte 

ugleich gerecyt zu werden. Es ift Bier ähnlich, wie mit 

ingg's „Bölferwanderung”. Die Schwere und die Waffe 
bes Hiftorifchen Detaild, von der er fi) vermöge ber 

Anlage des Gedichts nit losmachen Tann, brädt ige 

überall, wo er ſich frei auffchwingen möchte, nieder, 

hemmt den Gang der Handlung, und führt zu Explica- 
tionen und Deductionen, die nur in Profa gegeben wer⸗ 
den können und in feinen Strophen zu oft einen harten 
und holprigen Ausdrud finden, wie fehr er fi aud um 

Reinheit und Correctheit der Sprache bemüht und in 

Bewältigung von fchwer in Reim und Rhythmus zu 

bringenden Einzelheiten nicht ohne Gewanbtheit if. Ge⸗ 

währt das Gedicht auch Feinen harmonischen Eindrud, fo 
bält dafſelbe doch vermöge feiner Mannichfaltigkeit, feiner 

Lebendigkeit und des anziehenden, noch felten poetiſch 

behandelten Stoffs das Intereſſe bis zu Ende feſt und 

darf der Aufmerkjamkeit auch der nichtjübifchen Lefer 
empfohlen werben. 

6. Paulus. Dramatifches Gedicht in dreißig Gefängen ven 
Theodor Fronmüller. Duderow, Buchhandlung des 
Lehrerwaiſenhauſes. 1870. Gr. 16. 24 Ngr. 

Bei ernften Dingen fol man ernfthaft fein; es iſt 
aber nicht unfere Schuld, wenn wir beim ftillen Lefen 
biefe® Opus mehr als einmal laut gelacht haben. Die 
unfreiwillige Komik, die fich hier entfaltet, ift aber gerabezu 
überwältigend. Man lefe nur (S. 143) folgendes büftere 
Gemälde von Pauli Schiffbruch: 

Und böher fleiget des Sturmes Wuth! 

Sid grauend — hinter der Wolte verfledt 

Die Sonne fi hält; das Gleiche thut 

Der Mond; und die Sterne, Hold erfchredt, 

Berweilen zitternd in fichrer Kammer 

Nicht ſchauen wollend des Schiffes Sammer u. ſ. w. 
Dder ©. 156; 

Beſuvius dort 
Rechts vom Bord 
Düfter ſich redend, 
Städte erfchredend, 
Unheil erbedend, 
Sinnend ob Mord. 


Epiſch-lyriſche Dichtungen. 781 


rau — ſchau — wen, du Städtepaar 
Liegft fo ſicher. Es lauert Gefahr. 

Siehe doch, fieh 

Puteoli! 

Ende der Reiſe 

Naſſem Gleiſe 

Klind’geu mit Fleiße 

Anf wir allhie 

Das bedrohte Städtepaar ift, wie die Note befagt, 
Hereulanum und Pompeji. Die Noten find überhaupt 
fehr nützlich, 3. B. wenn e8 im Text (S. 81) heißt: 

Nicht darf des Sterblicgen ber Lichtverflärte, 
Nicht deiner Pflege, armer Erdenfant! — 

fo fagt die Note: „barf — bedarf“, ein neu eingeführtes 

Berfahren, das wir auch andern modernen und dunkeln 

Dichtern anempfehlen. Die dreißig Gefänge find, wie wir 

zur Beruhigung bemerken, feine Gefänge unb haben Feine 

epifche Länge, es find kurze Rhapfodien in allen mög⸗ 
lihen Rhythmen und Reimweiſen. Weshalb der Ber- 
faffer die Zufammenftelung berjelben ein „dramatiſches“ 

Gedicht nennt, ift nicht erfitlih. In der Widmung an 

fein „werthes pommerfches Freunde⸗Kleeblatt“, die Herren 

Baftoren u. f. w., fagt der Dichter: 

Es grüßt herüber und binliber, 
Es Uingt herab, es Klingt herauf, 
Des mad’ uns lieb und lieber 
Zu wallen fingend unjern Lanf. 

Wir glauben aber, ernfthaft gefprocdhen, nicht, daß 
ſolches Singen , ſolche Ansfchmüdungen und Berwäf- 
ferungen ber Heiligen Schrift, der Religion einen guten 
Dienft leiften; der Poeſie Leiften fie wenigftens einen fehr 
ſchlechten. 

7. Ein Blatt Geſchichte. Bilder aus dem bibliſchen Morgen⸗ 
laude, von M. Letteris. Leipzig, Leiner. 1870. 8. 
20 Nor. 

In der aus Wien im Auguft 1869 batirten Vorrede 
fagt der Berfaffer: „Das Heine Bud, das ich Hiermit 
dem freundlichen Lefer vorlege, tritt nad) ben angebeu- 
teten Umriffen anſpruchslos auf den Büchermarkt als ein 
Refler mehrerer im Talmud, Midrafh uub fpätern die 
biblifchen Sagen weiter fortführenden und fortdichtenden 
zerfireuten Sagen und Legenden.” 

Hier haben wir es nicht, wie in der eben beſproche⸗ 
nen Berballfornifirung der Apoftelgefchichte, mit hohler 
Berſemacherei zu thun, fondern dichteriſche Begabung, 
verbunden mit tief eindringender Gelehrfamleit tritt uns 
entgegen. Aus allem und jedem weht uns ein Hauch 
des Drients an. Der Berfafler lebt und webt in jener 
ihm heimifchen Welt, er Hat fi) mit den nur wenigen 
zugänglichen Quellen al gelehrter Sprachforſcher befannt 
gemacht, und bietet bier dem größern Publifum in ganz 
deutfch gewordener, poetifch gehobener Form die ſchmack⸗ 
bafteften Früchte feiner Studien. Es if ein hoher Ge- 
nuß, dur ihn in die Gedankentiefe, die Bilderpradt 
und die bebeutfamen Allegorien jener erfindungsreichen 
Sagenzeit eingeführt zu werden. Angeregt durch Goethe, 
der, wie er im vierten Buche von „Wahrheit und Dichtung“ 
erzählt, fchon in feiner Jugend mit dem Gedanken um⸗ 
ging, die Gefchichte Joſeph's zu einem Epos in pro- 
faifcher Form zu verwenden, gibt uns Letteris eine indi- 
vidualifirende, in die Tiefen der Piychologie Binabfteigende 


Erzählung von Joſeph's Schidfalen, für die er außer den | 


altteftamentlichen Quellen auch manches aus dem Talmud 
u. f. w. benugte, was ihm Gelegenheit gab, fi in an- 
ſchaulichen Schilderungen des Landes und ber Zeit zu 
ergeben und einige tieffinnige Paramythien einzuflechten, 
Obgleich die Sprache eine ganz moberne und keineswegs 
nah Archäisınen hafchende ift, fo durchhaucht das Ganze 
doch ein bibliſch alterthlimlicher Geift. 

Auf dies Gedicht in Profa folgt eine Reihe Heinerer 
Gedichte in modernen Versformen, denen allen ein alt 
morgenländifcher Stoff, eine biblifhe Anſchaunngsweiſe 
zum Grunde liegt. Unter diefen poetifchen Nachbildungen 
findet fich viel Ergreifendes und Tiefgedachtes von orien« 
talifchem Hauch Durchwehtes, das vermöge feiner Bedeut⸗ 
famfeit und Neuheit ein hohes Intereſſe erregt. Man 
Iefe nur das Gedicht: „Ehre dem Biederweib“, metriſch 
nad dem Xert der Sprüde Salomonis, ein Lied, das 
Herber das goldene Asbsc der Frauen nennt, um zu fehen, 
wie entfprechend der Berfafler den Ton innezuhalten weiß. 
Wir fegen einige Strophen her: 

Wer fih ein edles Weib errungen, 
Dem ift ein feltuer Kauf gelungen, 
Bernbigt lebt und fchafft der Mann, 
Der weiß, wem er vertrauen kann, 


Es fuhlt, was ihm die Gattin werth, 

Die treu er liebet und ernährt; 

Des Segens Fülle, Gottes Spende 

Gedeiht und blüht dur ihre Hände — 
Mit frohem rüfligen Beginnen 

Beſchickt fie finnig Wol’ und Finnen, 

Sie bringt dem Kaufmannsſchiffe gleich 
Gewinn ins häuslihe Berih — — — — 

Bor den fo oft wiederholten und meift misrathenen 
Berfuchen, Bibelterte in moderne Berfe zu bringen, zeich- 
nen ſich dieſe „Bilder aus dem biblifchen Morgeulande“ in 
erfreulicher Weife aus, fle find ber Begeiſterung entfprungen 
und haben eine tiefe Kenntniß zur Grundlage. 


8. Joſephine. Liebe, Olaube und Baterland. In Romanzen 
von Joſeph Pape. Dritte umgearbeitete und vermehrte 
Auflage. Paderborn, Kleine. 1868. 16. 12 Nor. 


Ein in wohlgeformten Bierzeilen gefungenes Idyll 


der Liebe, das auf dem Boden Weftfalens fpielt und 


bübfche Landſchafts⸗ und GSittenfchilderungen mit indivi⸗ 
duellen Zügen und nationalem Colorit enthält. Indeß 
das als real Dargeftellte löſt fih in eine Allegorie 
auf und Hat nur eine fombolifche Bedeutung; mit bem 
Mägpdlein find Vaterland, Liebe und Glaube gemeint. 
Die Dichtung ift in romantifch Tatholifchem Geifte ver- 
faßt, der Dichter Hofft auf Vollendung des Doms, befien 
Niefenbogen das verfühnte deutfche Volt umfangen wer- 
den, und befingt die chriftlichen Feſte, die Tage ber Hei» 
ligen, und erzählt ihre Legenden in der Weiſe unjerer 
frühern Romantifer, zu welcher ber Bifpanifirende, nur 
auf die Dauer monoton werbende vierfüßige Trochäus 
nicht übel paßt. 

Der Berfaffer hat, wie wir auf dem Umfchlag des 
Büchleins fehen, fchon einen „Treuen Edart, ein Epos 
von. deutfcher Entzweinng und Verſöhnung“, und bie 
„Weiffagungen bes heiligen Johannes zum Berftänbnig 
unfers Zeitalters“ herausgegeben, und da feine „Joſephine“ 
bier ſchon in dritter Auflage vorliegt, fo ift anzunehmen, 


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182 Feuilleton, 


daß feine fpecififcde Richtung, und die Art und Weife, | man für biefe romantifch - mittelalterliche Anfchauungs- 
wie er dem Myſtiſchen Geftalt und Farbe zu geben weiß, | weife keine Sympathie mehr. Das Boetifche, das im ihr 
im Lande Weftfalen Anklang findet. Im proteftantifchen | Liegt, hat, wie wir gern zugeben, der Berfafler ſehr wohl 
Dentfchland, wenigfiens im größeren Theil defielben, hat | zur Anſchauung zu bringen gewußt. 





Feuilleton 


Netrologe. 
Einige namhafte Schrififteller find in jüngfter Zeit ver- 


zben. 
Bogumil Goltz, der humoriſtiſche Neifeprediger, farb 
am 15. November in Thorn. Er war am 20. März 1801 
in Warſchau geboren, wo fein Vater damals ein juriftifches 
Amt befleidet hatte, und befuchte die Gymnaſien in Königsberg, 
ohne indeß einen regelmäßigen Curſus auf der Univerfität zu 
abfolviren, objchon er fpäter in Breslau Vorleſungen mit an- 
hörte. Deshalb vermiflen mir and im feinen Schriften die 
Sicherheit, die Formbeherrſchung und den Geſchmack, wie fie 
nur eine alabemifhe Bildung zu geben weiß; es klebte ihm 
zeitlebens etwas vom Autobidalten an, das Schroffe, Willkür 
liche und die Ueberſchätzung eigener Inſpiration. Eigentlich 
Een er bie Landwirtbichaft praftifch erlernt, war auch eine 
eit lang Gutsbeſitzer, doch fah er fich genöthigt, fein Gut zu 
verfaufen, auch gab er einige übernommene Pachtungen wie 
ber auf und lebte als Einfiedler in Gollab nur- feinen Studien. 
Um nidt in diefer Kleinftädterei zw verfumpfen, muchte er 
große Reifen in Polen, Deutfchland, Frankreich, England, Ita- 
ien, Aegypten und Algerien, und legte die Welt- und Lebeus⸗ 
erfahrungen, die er fich auf demjelben erworben, in Schriften 
nieder, die ihm bald Titerarifchen Ruf verfchafften. Sein „Bud 
ber Kindheit‘‘ erſchien 1847, „Ein Iugendleben, biographifches 
Idyll aus Weſtprenßen“, 8 Bde., 1852, in zweiter um- 
earbeiteter Auflage 1865, „Ein SMeinfläbter in Aegypten‘ 
1868 Diefe Schriften waren durchaus autobiograpbifcher 
Natur, Lebens. und Meifeerinnerungen. Später folgten obs 
jective Studien über die Raſſen und Nationalitäten: „Der 
Menſch und die Leute‘ (5 Hefte, 1858), und fociale Stu⸗ 
dien, in denen er namentlich dem fchönen Gefchlecht eine nicht 
immer ſchmeichelhafte Aufmerkfamkeit widmete: „Feigenblätter“ 
(3 Bde., 1861—62), „Zur Charakteriſtik und Naturgefchichte 
der Frauen‘ (1859), „Typen der Geſellſchaft“ (2 Bde., 1860), 
„Die Bildung und die Gebildeten“ (2 Bbe., 1864) u.a. Goltz 
begab fich auf Reifen und hielt humoriſtiſche Borlefungen wie 
Saphir; namentli errang er fich in Wien große Erfolge. Er 
if als ein literariider Sonderling, ein humoriſtiſch⸗ſatiriſcher 
Franc⸗tireur zu betrachten, der in vieler Hinfiht an Sean Baul 
erinnert, nur daß er feine größere Eompofition gefchaffen bat 
und bie Ertrablätter fi bei ihm in Permanenz erflären. Die 
Borliebe für die kleinſtädtiſche Idylle und die Meifterfchaft im 
ihrer Zeichnung hat er mit dem Humoriſten von Wunſiedel 
emein; ebenjo eine unerſchöpfliche Fülle von Einfällen umd 
dern. Doch ift diefer Reichtum nur ein fcheinbarer. Seine 
Bariationen haben meiftens biefelben Themata zur Grundlage; 
ber Proteft gegen bie Zeitbildung, der bei ihm aus einer Mnor- 
rigen Driginalität bervorgebt, wiederholt fi mit einfeitiger 
Hartnäckigkeit; dem tiefern Ideen und Tendenzen bes modernen 
Geiſtes fand er fremd gegenüber. Doc mag er als Sitten⸗ 
maler das Lob, da8 einem Lauremberg und Mofcherofch zutheil 
geworden, mit Recht für fih in Anſpruch nehmen; er hatte 
Sinn für raſche Auffafjung des Eigenthümlichen im Menjchen- 
und Naturleben, ſoweit es hanudgreiflich und augenfälig war, 
and Humor und Satire in der Einfleidung feiner Schilderung. 
Am 16. November flarb in Leipzig Adolf Böttger, 

ein Dauptvertreter jener Iyrifch - epifchen Poefte, wie fie, feit 
Byron's Borgang auf) in Dentichland Mode geworden, und 
als Ueberſetzer englifcher Dichter von großem Berbieufl. Er 
war am 21. Mai 1815 zu —A geboren, wo fein Vater als 
Steuereinnehmer lebte. Diefer befchäftigte fich mit engliſcher 


Lexikographie, was anf die frühe Bekanntſchaft des Kuaben mit 
engliſcher Literatur wicht ohne Einfluß blieb. Er findirte in 
Leipzig feit 1836 und wibmete fich feitdem ausſchließlich Titera- 
riſcher Seieäftigung. Seine Ueberfegung von Byron's Wer⸗ 
fen (1840, 1 Bd.; 1841, 12 Bde), mit welcher ex fih in 
unfere Literatur einführte, zeichnete fih durch ausnehmende 
Formgewandtheit ans und blieb, bis zum Erfcheinen der Gilde⸗ 
meifter’fchen, ohne jede gleichberechtigte Concurrenz. And an- 
bere englifche Dichter, wie Milton (1846), Bope (1842), den 
Offien (1847), ferner einige Stüde von Shaffyeare und Racine’s 
„Phädra“ eignete er ber deutichen Literatur au. In der an 
ezeichneten Schule poetilher Formgewandtheit, wie fie im der 
Heberfetung bichterifcher Meiſterwerke Tiegt, bildete ſich erſt fein 
eigenes Zalent heran, welches namentlid von den Engländern 
die Richtung auf das anjhaulide Stimmungsbild überlam. 
Seine „Gedichte“ (1846) haben geringen Werth, ba fie originefle 
Prägnanz und geiftige Bedeutung bei Klarheit der Form umb 
Zartheit der Empfindung vermifien Iafien; doch GShaffpeare’s 
Eifengeifter tummeln fi, neu zum Leben erweckt, mit Tieblicher 
Phantaſie und frifhem Humor, in dem „Frühlingsmärchen“ 
(3. Aufl., 1850) und in der „Pilgerfahrt der Blumengeiſter“ 
(1861), Im den „Duſtern Sternen‘ (1852), der „Habana“ 
(1853), dem „Fall von Babylon“ (1855), zeigt fich der Einfluß 
Byron’s in ſchwunghafter Schilberung, in dem Glanz exotiſchen 
Colorits, und nur die burdh alle poetiihen Berhüllungen durch⸗ 
fhimmernde Eigenart des britifchen Dichters weicht bier einer ob» 
jectivern Hingabe an die poetifche Darftellung. Die Charaktere 
find indeß flets nur mit lyriſchen Streiflichtern, nicht mit epi- 
Ihem Behagen gezeichnet. Einen Humor, defien Geſchwätzigkeit 
und parodifiiihe Versbehanblung fih an „Don Juan“ umd 
„Beppo’' gebildet hatte, verräth befonders „Zi Ealenipiegel‘ 
(1850) und mandjes humoriftiihe Fragment, das in die Ge⸗ 
fammelten Dichtungen‘ (1865-68) aufgenommen wurde. Wie 
ihon früher ein Drama: „Agnes Bernauer‘, vollendete Böttger 
furz vor feinem Tode eine Fauſtiade en ministure: „Das Galgen- 
männlein‘‘ (1870), die wir vor kurzem in d. Bl. befpraden. 
Die Einfamfeit deutjcher Literatenflelung und die Borliebe fr 
jene falſche Genialität, wie fie zu Grabbe's Zeiten und nad 
dem Borbild biefes wüſten „Oenies“ ange in ber Literatur 
gepriefen wurde, führten den begabten Dichter auf Abwege im 
eben, welche fein Talent nicht zu voller Entwidelung fommen 
ließen. Hierzu kam ber Unfegen der Berbältniffe und des Zeit- 
gelamads: wie könnte heutzutage eim lyriſcher Dichter vom 

rtrag feiner Dichtungen leben? Und Böttger dachte umb 
frieb nur in Berfen! So hatte ex mit der Noth des Leben 
zu fümpfen und verfiel, um diefe zu überwinden, immer mehr 
jenen „genialen“ Angewohnbeiten, dur welche die Singer 
Grabbe's ihre erhabene Ausnahmeflellung Über dem Philifterium 
barzuthun ſuchten. Einzelne feiner Dichtungen werben den phan⸗ 
tofiereichen, formbegabten Dichter überleben. 


Die Prinzeffin Amalie von Sachen, welche am 20. Iufl 
1870 in Dresden ftarb, die ältefte Schweſter des Königs Johann, 
wurde am 10. Auguft 1794 geboren, begleitete ihren Obeim, 
den König Anton, auf großen Reifen in Italien, Franirei 
und Spanien. Sie hat ſich ale Bühnenfchriftftellerin {yon fr 
einen Namen gemacht, indem fie 1829 unter dem Pfeubonnz 
„Marie Amalie Heiter‘ ein Schaufpiel: „Der Krönumngstag‘ 
nnd 1830 ein zweites: „Mesru“ jchrieb. Beide wurben im 
Dresden mit Beifall gegeben. Allgemeinen Erfolg errang fle 
fih mit dem Schaufpiel: „Lüge und Wahrheit‘ (1833), welchen 
jpäter noch zahlreiche andere bürgerliche Kamiliengemälde: „Dei 





Feuilleton. 783 


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Oyeim, „Die Fürftenbraut“, „Die Braut ans der Refidi 
jetter Heincih” u. a. folgten. Gemeinfam ift allen 
Städen der Sinn für Bürgerfihe Schlichtheit und Tüchtigkeit, 
ein gewandter Dialog, eine Bühnenfenntniß, welde den 
Kualleffect verfjmäht, aber body heitere Ueberrajhungen liebt, 
eine mohlwollende und wohlthuende Anffafjung der Lebens“ 
verhaltniffe. 





Bibliographie. 
Sammlung be ‚von ihm felhft ansgı 
aber angemerlten Gtellen aus Dißtern unb Gärifiieern alter uub neuer 


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zer. Stuttgart, Ehelius. 1871, Or. 8. 1 Cplt, 
Mopt ., Bür die Erhaltung her fübbeutfihen Staaten. Gtuttgart, 


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(öneh von Hoilsbronn, Zum ersten Male vollständig herausgs- 
J. F. L. T. Merzdorf, Berlin, Ebellag u. Plahn. Gr. 


2 Dbe, Berlin, 








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ee ane dem beutfäen Gtäbtelesen im Mittelalter. 
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“ niteregend, &, Bosoikter —— 1 Sec eigen 

gartenetien in bie deiefhen Golbaten. — Langemii ne 


—— BB. ; Die deutschen Pronomina und Zahlwörter histo- 


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(7 denb: Teger, E 1a pen Auswahl aus 
Nagiat — Meter. 3 Gi Ber, 
Schultze, F., Der Fotischiomus. 12,26 je io 
a Be Rellgionsgeschichte, Leipzig, ae 18 z.“ or 8 1Thln 


umann, R., Gejammelte & Über Deufit — 
ste Aufl, 2 Doe, EN Are ———— * 
"W., Das menschliche Denken. Berlin, Weber. Gr- 


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1. Eye 5 1970. Rampf- und Gieged- Gebichte. Halle, Barthel. 

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Eol — Eine biographische Skisse, Wien, W. Braumi 

Bald mülfer, R. (€. Duboc), Die taufenbjäßrige Eiche im Eifaß, 
Granitiige & une Bei — page Eid t 
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784 " Anzeigen. 


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LA LINGUA TEDESCA 
Dr. F. Ahn e Prof. Enrico Wild. 


Seconda edizsione emendata. 
Oorso primo, dal Dr. F. Ahn. 12 Ngr. 
Corso secondo, dal Prof. Enrico Wild. 16 Ngr. 
Traduzione tedesca dei temi nei due corsi. 8 Ngr. 


Vorliegende drei Bändchen bilden zusammen eine voll- 
ständige Anleitung für Italiener zur leichten Erlernung 
der deutschen Sprache. Der erste Cursus ist von Dr. 
F. Ahn verfasst; nach dessen Tode bearbeitete Professor 
Heinrich Wild, Director der Handelsschule zu Mailand, 
unter genanem Anschluss an die bewährte Ahn’sche Me- 
ode, den zweiten Cursus, wie derselbe auch die soeben 
erschienene zweite verbesserte Auflage beider Curse 
herausgegeben und mit einem Schlüssel vermehrt hat. 


Graetz, Geschichte, XI. Bd. 











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Graetz, Prof. Dr. H., Gefäiäte der Juden 
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Die längft erwartete Fortfegung und der vorläufige 

Schluß biefes ausgezeichneten Geſchichtswerles Tiegt im 


dem 11. Bande nun dor, mas bie vielen freunde bes 
berüßmten Hiforifers mit rende begrüßen werben. &or 
eben erſchien ferner: 


Graetz, Prof. Dr. H., Seigiäte der ben 


öl! auiſchen Cultur (1027). V. Band. Preis 


vom Abfhinß bes Talmınd’(500) iS zum Aurblähen 

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lands und des Anslandes zu beziehen. Mit Titelblatt: Heine's 
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Eleg. geb. 14Y, Thlr. 

Der letzte soeben erscheinende Band enthält als Bei- 
gabe ein wohlgetroffenes Portrait des seel. Verfassers, ein 
genaues alphabetisches Inhalts-Register und ein Verzeichnisse 
der besprochenen Bibelstellen. 











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1870, 2. Novemberheft. 6 Sgr. 
Geschichte: Der Decembermann und seine Mitschuldi- 


gen, von J. J. Honegger. — Das geschichtliche Verhält- 
niss zwischen Deutschland und Frankreich III. Von Prof. 
Wogele. — Nekrolog. 





Literatur: Beiträge zur neuesten vergleichenden Sagen- 
forschung I, von Dr. 8. Ethe. — Nekrolog. 

Kunst: Die Söhne J. Seb. Bachs. — Nekrolog. 

Chemie: Färbekraft einiger Anilinfarbstoffe. — Das 
Feinen des Goldes. — Aethylidenchlorid. — Der Farbstoff 
der Curcumawurzel — Nekrolog. 

Astronomie: Nekrolog. 
gie und Mediein: Die Wundheilung, von Dr. 
Otto Barth. — Der elektrische Kugelsucher. — Listers 
Verbandpflaster. — Die elektrische Durchleitung von Jod. 

Mineralogie und Geologie: Coccolithen. — Nekrolog. 

Veikswirthschaft: Die volkswirthschaftlichen Kräfte 
Russlands I, von Dr. Dühring. — Nekrolog. 

Handel und Verkehr: Die Münzfrage nach dem Kriege, 
von A. Lammers. — Telegraphenstatistik. 

Landwirthschaft: Die Düngerfrage I, von Prof. Birn- 
baum. 

Kriegswesen: Militärische Beschreibung des Feldzugs 
1870. I. Der Aufmarsch, von A. Niemann. — Nekrolog. 

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Das Werk enthält nachstehende Beilagen: 

1. Beeihoven's Portrait, in Kupfer gest. von G. Gonzenbach. — 

Vier bildliche Darstellungen, gezeichnet von Moritz von 
Schwind, in Kupfer gest. von H. Merz und G. Gonzen- 
bach, nämlich: Eintritt Fidelio's in den Hof des Gefüngnisses. 
Erkennungs - Scene. Pistolen - Scene. Ketten - Abnahme. — 3. „Au 
Beethoven“, Gedicht von Paul Heyse. — 4. Ein Blatt der 
Partitur in Facsimile von Beethovens Handschrift. — 5. Das 
vollständige Buch der Oper, Dialog, Gesänge und Angabe 
der Soenerie enthaltend. (Deutsch und französisch.) — 
6. Vorwort mit biographischen Notizen und Angaben über 

die Entstehung der Oper. 





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Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—e Ar, 50. #9 


8. December 1870. 





Inhalt: Neue Erzählungen und Romane. Bon Rudolf Gottſchal. — Zur Charakteriſtik der erſten franzöſiſchen Republik. — 
Vom Büchertiſch. — Fenilleton. (Notizen) — Bibliographie. — Anzeigen. 





Nene Erzählungen und Romane. 


1. Das Vermächtniß Kain’s. Novellen von Sadher-Ma- 
ſoch. Erſter Theil: Die Liebe. Zwei Bände. Stuttgart, 
Cotta. 1870. 8. 3 Thlr. 

Sacher-Maſoch's farmatifche Mufe, die hoch zu Roß 
figt mit Sporen und Neitgerte als eine emancipirte, von 
ber Glut der Leidenfchaft trunfene Amazone, bat jett eine 
Allianz gefchlofien mit dem Peſſimismus dee franffurter 
Meltweifen, der einfam mit feinem knurrenden Pudel 
durch Feld und Stoppeln ſchweifte und beobachtete, wie 
fi in feinem Begleiter das Abfolute, ber Willen, regte, 
das ewig Pofitive, im Gegenfag zu bem Yanft- Pudel, 
der ſich aufblähend den negativen Geift gebar. Und aus 
diefer Allianz zwifchen der wilden Sarmatin und dem 
ſchwarzgalligen deutfchen Denker erfteht ein Gefchlecht von 


Novellen, nicht harmlos, wie die Plaudergefchichten der 


aus der Arnoftadt verfcheuchten lorentiner während der 
Bet, fondern alle gewaffnet mit dem gleichen Stachel bes 
Peſſimismus, deffen hohes oder vielmehr tiefes Lied von 
ihrem vollbefetsten Orchefter angeftimmt und begleitet wird. 
Die Summe aller biefer Novellen fol eine Welt- und 
Lebensanfchauung vertreten, welche ala eine philofophifche 
von moftifcher Tiefe Hinlänglich durch den Titel: „Das Ver⸗ 
mächtnig Kain's“, bezeichnet ift. Denn man würde dieſen Titel 
eher bei einem philofophifchen Gedicht oder einem Trauer⸗ 
fpiel nad) Art der Byron’fchen „Mysteries“ erwarten, als bei 
einem Novellencyklus, der jedenfalls fehr bänbereich zu wer- 
den verfpricht, da nur das eine Legat aus dem verhängniß- 
vollen Nachlaß bes erften Mörders bereits zwei Bände füllt. 

Nicht an die neuern deutſchen Philofophen knüpft in- 
deß der Autor in der Einleitung an, fondern an einen 
ruffiichen Sektirer, ſodaß das ganze Werk von Haus aus 
eine nationale Fürbung gewinnt. Wir erfahren, daß die 
Wanderer die eigentHümlichfte und phantaftifchfte aller alt- 
gläubigen Selten der ruſſiſchen Kirche bilden, nach deren 
Anfchauung der Teufel die Herrſchaft über die Welt be- 
fist und jede Betheiligung am Staats» oder Kirchenwefen 

1870. 50. 


reiner Tenfelsdienft if. Heimatlos fchweift der Wanderer 
durchs Leben, ohne Weib, ohne Eigenthum, verwirft 
Staat und Kirche und den Krieg, immer wanbernd und 
auf der Flucht vor ber Welt begriffen! Das ift im 
Grunde die oftafiatifche Weisheit des Buddha, die über 
den Kaukaſus und Ural gedrungen ift. Ein folder Wan» 
berer begegnet dem Autor und verkündet ihm, daß dieſe 
ſechs: die Liebe, das Eigentum, der Staat, der Krieg, 
die Arbeit und der Tod das Vermächtniß Kain’s find, 
der feinen Bruder erfhlug — ein Progranım, das ung 
außer dem erſten noch fünf andere Novellenchklen in Aus⸗ 
fit ftellt, alles Nachtſtticke, aber nicht in Callot's Ma- 
nier, fondern mit philofophifcher Tuſche ausgeführt. 

Diefer Plan ift ebenfo unheimlich wie großartig, es 
bandelt fih um eine auf den Kopf geftellte Theodicee, 
wir möchten fagen um eine „Luciferiade“, die ähnlich wie 
der Rucifer Dante's aus ſechs Augen weint. 

Der erfte vorliegende Novellenchklus behandelt „Die 
Liebe”. Den Prolog zu bemfelben fpricht dev Wanderer 
mit den folgenden Worten aus: 

„Das Gluück! wer hat es nicht vor allem in ber Liebe ge- 
fucht, und wer bat nicht in ihr bie bitterften Täuſchungen er- 
fahren? Wer war nicht in dem Wahne befangen, die Befriedi- 
gung diefer übermenſchlichen Sehnſucht, die ihn erfüllt, der 
Beſitz des geliebten Weibes müſſe ihm volllommenes Genligen, 
namenlofe Seligfeit bringen, und wer bat nicht zuletzt trübſelig 
über feine eingebildeten Freuden gelacht? Es ift jeine beſchämende 
Erkenntniß für uns, daß die Natur biefe Sehnſucht in uns 
gelegt, nur um uns zu ihrem blinden, willigen Werkzeug zu 
machen, denn was fragt fie um uns? Sie will unfer Gefchlecht 
fortpflanzen! Wir können zu Grunde gehen, wenn wir nur ihre 
Abficht erfüllt, für die Unfterblichleit umferer Gattung geforgt 
haben, und fie hat das Weib mit fo viel Reiz ausgeftattet, nur 
damit es uns zu fi} zwingen, uns fein Joch aufladen und ung 
fagen fann: arbeite für mich und meine Kinder. Die Liebe 
ift der Krieg der Gejchlechter, in bem fie darum ringen, eins 
da® andere zu unterwerfen, zu feinem Sklaven, feinem Laft- 
thier zu machen, denn Mann und Weib find Geinde von Natur, 
wie alle Lebendigen, für kurze Zeit durch die Begier, den Trieb 

99 > 











1786 


fih fortzupflanzen, in füßer Wolluſt gleichfam zu einem einzi⸗ 
gen Weſen vereinigt, um bann in noch ärgerer Feindſchaft zu 
entbrennen und noch heftiger und noch rüdfihtelofer um bie 
Herrichaft zu ftreiten. Haft du je größern Haß gejehen, ale 
zwiſchen Menjchen, welche einft die Liebe verband? Haft du 
irgendwo mehr Grauſamkeit ımd weni 


ger Erbarmen gefunden 
als zwifhen Mann und Weib? „Ihr Berbiendeten! Ihr aber- 
witigen Thoren ! 


Ihr Habt einen ewigen Bund geftiftet zwi⸗ 

{hen Dann und Weib, als wäret ih: im Stande die Natur 

zu verändern, nach euern Gebdanlen und Einbildungen, zu der 

Pflanze zu fagen: blühe, aber verbfühe nie und trage feine 
rucht.“ 


Was uns dieſer ruſſiſche Sektirer hier verkündigt: das 
hat er offenbar aus Schopenhauer's „Metaphyſik der Ge⸗ 
ſchlechtsliebe“ ader aus E. von Hartmann's Auseinander⸗ 
ſetzungen über „Das Unbewußte in der geſchlechtlichen 
Liebe“ in der „Philoſophie des Unbewußten“ geſchöpft. 
Beide Philoſophen ſehen in der Geſchlechtsliebe nur eine 
Prellerei des Egoismus zu Gunſten fremder Zwecke, der 
Zwecke der Gattung. Der ruſſiſche Ahasver gibt uns 
nur einen Extract aus dieſen philoſophiſchen Kapiteln; 
der Dichter ſelbſt aber liefert in den folgenden Novellen 
die Illuſtrationen dazu. Unſers Amts iſt es, ihre Be- 
weiskraft zu prüfen. 

Die erſte Novelle: „Don Yuan von Kolomea“, er⸗ 
ſcheint mit einer Vorrede von Ferdinand Kürnberger. 
Da eine ſolche Vorrede von einem andern befreundeten 
Autor doch nur eine Empfehlung der folgenden Geſchichte 
enthält, fo kann man fie blos als eine eingeheftete Re—⸗ 
clame betrachten und würde ſie um ſo lieber fortwünſchen, 
als ſolche Vorreden, namentlich bei einzelnen Erzäh— 
ungen nicht Brauch find, als Sacher⸗-Maſoch überhaupt 
nicht zu den Autoren gehört, die einer Einführung be- 
dürfen, und Ferdinand Kürnberger nicht zu denen, die 
durch das Gewicht ihres Namens und ihrer Leiftungen 
zu einer folchen berechtigt find, wie er übrigens jelbft mit 
vieler Befcheidenheit zugibt. Der Vorredner vermißt in 
unferer neuern Literatur die productive Sinnlichkeit, wie 
fie nur Goethe hatte; felbft Heine und Uhland hätten nur 
reproductive gehabt. „So koſtbar ift poetifche Sinnlich- 
feit, und fo hoch fteht fie im Preiſe.“ Wir müſſen be- 
fennen, daß uns der Unterfchied zwifchen productiver 
und reproductiver Sinnlichkeit nit Mar geworden ift. 
Wahrhaft productive Sinnlichkeit erzeugt Kinder und nicht 
Bücher. Wir erfahren ferner, daß aus -dem Often die 
verjüngenben Blutftröme in den greifen Körper des Abend- 
fandes dringen werden, daß er dem Weſten Neues und 
Eigenthümliches zu bieten hat und zwar in ber doppelten 
Kichtung des Naturfinns und des Menſchenſinns. Und 
zwar handelt e8 fich Hier um den europäifchen Often, als 
defien Prophet Turgenjew proclamirt wird! Wir find 
gerabe ber entgegengefeten Anficht; diefe panflawiftifchen 
Deutfchen, wie Kürnberger, ftellen die Sache auf den 
Kopf. Die ganze flawifche Xiteratur ift durchdrungen 
von germanischen und romanischen Einflüffen; ohne Byron 
fein Puſchktin, ohne Schopenhauer und — Auerbach 
fein Turgenjew. Doc Kürnberger fchreibt folgenden Dithy- 
rambus: 

Sollen hyſteriſche Blauſtrümpfe und gedankenblaſſe Can⸗ 
didaten, chriſtbaumaufputzende Goldſchnittdichte und Manu⸗ 
facturiſten der Leihbibliothek, oder wol gar poetaſternde Mena⸗ 
gerien der Höfe (wenn dieſe zu beſtehen fortfahren) den Dich⸗ 
tergarten Deutſchlands im Blühen erhalten? Welche Gärtner] 


Neue Erzählungen und Romane. 


Sitzende Menſchen bebürftig der Waſſereur. D es wäre ein 
ſchöner Gedanke, wenn uns in ber langen anstroduenden Dürre, 
in der wir von Goethe I. bis Goethe II. fo manchmal ver- 
jagen würden, ein Hand der Erquidung aus der großen ur⸗ 
alten Lebenspforte des DOftens anmwehte, wenn aus den flammt- 
verwandten Blute der Slawenfamilie, uns gleich an Sangesluft, 
an Gemüth und häuslichem Sinn, aber in al ihren Tugen⸗ 
ben noch unverbraucht, ungeholzfchnittet und unillufirirt, Dichter 
auferflünden, welche die deutſche müdhinſinkende Feder ergriffen, 
am fie mit frifherm Ingendfinn liber jungfräuliche Fluren ber 
Phantafle zu führen. enn flatt der zerfungenen Rebe bes 
Rhein, welche von Literatenlippen hinweg in excluſtv fürſtliche 
Keller fließt, die demokratiſche Traube des Bruth unfere welten 
Ziegenſchläuche füllte, wenn ftatt des kurz und Hein durdfor- 
fleten Schwarzwald das unberührte Urmaldsland der freien 
Huzulen feine Dorfgefhichten erzählte, wenn flatt Menfchen, 
welche zwiſchen dem Staatseramen und ber Staatsanftellung 
dichten, die forglofen Jünglinge dichteten, melde die Yale des 
Bug und die Lade des Sanfluffes angeln; wenn ber Frucht⸗ 
garten von Kolomea feine Duftwollfen aufwirbelte und von dem 
Schneegipfel der Tſchernahora die laubſchweren Waldgürtel und 
honigtriefenden Wiefengehänge der Karpaten herab bis im bie 
italiſch ſonnigen Thalbreiten feiner Obft-, Wein⸗ und Melonen⸗ 
fülle das erbliche Wohlbefinden der deutſchen Buchpoefie zu⸗ 
frömtel Es wäre ein jchöner Gedanke, von allen deutfchen 
Zräumen vielleicht der fchönfte, weil am wenigſten — Traum. 

Es ift ein kühner Gedanke, das den „Ichönften bdeut- 
Ichen Traum“ zu nennen, wenn bie Jünglinge zu Did 
ten anfangen, welche die Yale des Bug und die Lachſe 
des Sanflufjes angeln! Nein, da gibt es, Gott fei Dauf, 
für Dentfchland noch fchönere Träume als ein ruthent- 
ſcher Dufenalmanah! Der „Don Yuan von Kolomea“ 
fol nun, nad der Anficht des Autors, keine Zendenz- 
novelle fein, fondern ein Stüd — Naturgeſchichte des 
Menfhen. Es ift wunderbar, wie diefer Realismus, 
der fo gegen die Phraſe proteftirt, felbft ſtets die un⸗ 
geheuerlichften Phrafen zu Tage fürbert, von der „pro⸗ 
ductiven Sinnlichkeit” bis zur „Raturgefchichte des Dien- 
ſchen“. Die Sache felbft ift feine neue; denn ſchon in 
Raff's Naturgefchichte für Kinder findet fi) der Menſch 
mit unter den übrigen zoologifchen Wefen behandelt — und 
dies Kapitel dürfte mit bem „Don Yuan von Kolomea“ 
um das Lob wetteifern, cin Stück „Naturgeſchichte des 
Menſchen“ zu fein. 

Glüdlicherweije ift die Erzählung beſſer als die Bor: 
rede. Sacher⸗Maſoch hat mit Turginjew gemein, daß 
er für die Bollszuftände feines Geburtslandes (des öſt⸗ 
Iihen Galizien) einen ſcharfen Blick befigt und auf biefe 
wildwachjenden Genrebilder die Augen deutſcher Bildung 
oculirt. So find aud die Genrebilder der Schenke und 
der damaligen Revolutiongzeit mit großer Friſche gezeich- 
net. Der Stil hat etwas kurzathmig Springendes, Blitzen⸗ 
des, ohme alles epifche Behagen, aber oft voll draftifcher 
Kraft. Bon dem Don Yuan, der die Schenke beſucht, 
erhalten wir das folgende Porträt: 

Er war offenbar ein Gutsbefiger, denn er war fehr gut 
gekleidet; fein Tabacksbeutel reich geftidt, feine Art vornehur ; 
aus der Nähe oder doch aus dem reife von Kolomea — ba | 
der Jude kannte ihn. Ein Ruffe, das Hatte er gleich geſag 
und war auch nidyt ſchwatzhaft genug, um für einen Bol 
gelten zu können. Es war ein Dann, der den Frauen gefe » 
len konnte. Er Hatte nichts vom jener plumpen Sraft, ve. 
jener rohen Schwerfälligleit, welche andern Bölltern als Män : 
lichkeit gilt, er war durchaus edel, ſchlank und ſchön; aber fei : 
elaftifche Energie, feine unverwüſtliche Zähigleit ſprach ans jeb : 
Bewegung. Das braune fchlichte Haar, der etwas gefräufel: , 





Neue Erzählungen und Romane. 


furz gefchnittene Bollbart warfen ihre vollen Schatten in ein 
wetterbraunes, aber wohlgebildetes Geſicht. Er war nidt fo 
ganz jung mehr, aber hatte fröhliche blaue Augen wie ein Knabe. 
Unauslöfchliche, gütige Menſchenliebe lag milde in diefem dun⸗ 
fein Antlitz, dunkel in fo viel Linien, welche da® Leben tief 
hineingeſchnitten. Er fand auf und ging ein paarmal durd) 
bie Schenfe. Die meiten Hofen in die faltigen gelben Stiefeln 
geftedt, den Leib unter dem offenen weiten Rode mit einer 
bunten Binde geglirtet, die Belzmüte auf dem Kopfe, fah er 
wie einer jener alten weifen, tapfern Bojaren aus, welde zu 
Kathe fagen mit Wladimir und Jaroslaw, in die Schlacht 
zogen mit Igor und Roman. 

Daß er indeß feinen Namen durch bie That verdient, 
beweift der Schluß der Belenntniffe: „Alle rauen find 
mein“, fagt der Held, „alle; Bauernweiber, Judenweiber, 
Bürgerfrauen, Edelfrauen, alle! Blonde, rothe, braune, 
fhwarze, alle, alle!" Er liebt zugleich eine junge jehr 
gebildete Dame und das Weib eines gehängten Räubers, 
die nicht einmal lefen Tann! Wie aber ift der Ruſſe zu 
einem folchen Don Juan geworden? Das eben ift der 
Beitrag zur „Naturgefchichte des Menfchen“. Er hat, 
wie Kürnberger in der Vorrede fagt, „an feinem eigenen 
Leibe erlebt, was die Monogamie felbft im beften Falle 
menschlich Unvolllommenes hat“. In der That find bie 
Heinen Leiden des ehelichen Glücks mit einer Fülle von 
Detailzügen gejchildert; namentlich die Kinder werden als 
die Störenfriede bingeftellt, welche die Ehen unglücklich 
machen; der Gatte wird zuerft untreu, dann die Gattin. 
„Ein beglücdter Theſeus wird in ber Regel feine Ariadne 
verlafien”, fagt Schopenhauer; die Täuſchung verſchwin⸗ 
det nach dem erlangten Zwede der Gattung. Der Don 
Yuan hat einen philofophifchen Freund, Leon Bobofchkon, 
der zu viel gelefen bat und darüber frank geworben ift. 
„Die Menſchen machte er auf wie die Uhren und jah hin- 
ein, ob alles in Ordnung ſei.“ Diefer Freund philofo- 
phirt über die Liebe wie Schopenhauer und Hartmann: 
„Die Natur hat und ein Xeiden gegeben, noch entfetzlicher 
als das Leben — die Liebe.“ „Ja, die Liebe ift ein Leis 
den, der Genug — Erlöfung!“ Die Barallelftellen zu 
den Bemerkungen Bodoſchkon's wollen wir in unfern neuern 
pefftmiftifchen Philofophen ohne Mühe auffchlagen. 

Noch bemerken wir, daß Nilolaja eine faftgrüne 
Kazabaila trägt, welche mit fibirifchen Eichhörnchen 
ausgefchlagen iſt. Die Mufe von Sacher-Maſoch beſitzt 
einen wahren Belzladen, und jede feiner Heldinnen wird 
mit einem angemefienen Pelzcoftüm ausgefteuert. Das 
ift aber auch von Wichtigkeit für die Liebe, benn Pelz- 
wert hat, nach den Beobachtungen unfers Autors, einen 
fehr anregenden Einfluß auf bie Nerven und athmet ein 
elektriſch⸗ſprühendes Arom aus. 

Die pſychologiſchen Schilderungen im „Don Yuan” 
find durchaus aphoriſtiſch, fragmentariſch; aber wir ver⸗ 
ſtehen ihren Zuſammenhang. Ihre Wahrheit aber iſt 
nicht allgemeingültig, nur in Naturen wie unſer Don 
Juan wehrt ſich der Inſtinct gegen Beſchränkungen, in 
welche ſich andere mit Behagen finden. 

Die zweite Erzählung: „Der Capitulant“, beginnt 
mit genialen Steppenbildern, die das bedeutende poetiſche 
Talent des Antors außer Frage ſtellen; wir theilen zur 
Probe die folgende Schilderung eines Schneeſturms mit: 

Zerriſſeue Nebel ſchwirrten wie Bögel mit großen matten 
Fittichen um uns. Dort iſt das Heiligenbild auf ſteinernem 


787 


Pfahl, hier wendet ſich der Weg nach Tulawa zur Rechten. 
Schon ſchlägt uns der Wind mit beiden Fäuſten in den Nacken, 
er heult mit entſetzlichen, jammervollen, wahnſiunigen Stim⸗ 
men, er ſtößt von der Höhe herab in den Schnee, wühlt ihm 
auf, zerichlägt die großen Wollen, wirft fie zur Erde in flodi« 
gen Klumpen umd droht uns damit zuzudeden. Die Pferde 
nehmen die Köpfe zwijchen die Beine und fdhnauben. Der 
Sturm weht weiße Wirbel auf bis zum Himmel empor, lehrt 
die Ebene mit weißen Befen und kehrt ungeheuere Kehricht- 
haufen zufammen, in denen er Menſchen und Thiere, ganze 
Dörfer begräbt. Die Luft brennt ale wäre fie glühend, he ift 
feft geworden, von Sturm zerbrochen fliegt fie in Stücken 
umber und dringt, wenn man Athem holt, gleich Glasfplittern 
in die Lunge. Die Pferde können nur langfam vorwärts, fie 
graben fid) durch Schnee, Luft, Wind. Der Schnee iſt em 
Element geworden, in dem wir mit aller Anftrengung ſchwim⸗ 
men, um nicht zu ertrinfen, das wir athmen, das uns zu 
verbrennen droht. Im der furdhtbarften Bewegung mird die 
Natur ſtarr umd eifig. Wir felbft find nur Theile der all» 
gemeinen Kälte und Starrheit. Man begreift, wie das Eis 
eine Welt begraben hält, wie man aufhört zu leben ohne zu 
fterben, ohne zu verweſen. Ungeheuere Elefanten, riefige Mam⸗ 
muths liegen darin unverfehrt aufgejpeichert für die Suppen» 
töpfe fleißiger Gelehrten. Dan erinnert fi an vorweltliche 
Diners und ladt. Man wird Überhaupt lachluſtig. Kitzeln 
reizt zum Lachen und die Kälte kigelt furchtbar, ununterbrochen, 
graufam. Scheintodte in der Nafe geligelt niefen und werben 
dann lebendig. Alles friert. Die Gedanken hängen wie Cis- 
zapfen am Gehirn, die Seele bekommt eine Eisdede, das Blut 
fällt wie Quedfilber. Man denkt nicht mehr feine Gedanken, 
man fühlt nicht mehr wie Menichen fühlen, Moral und Chri⸗ 
ftentHum hängen uns wie erftarrter Nebel in den Haaren, das 
Eiementarifhe an ung wird gemwaltfam heransgetehrt. Wie 
zornig werden wir, wenn uns ein Nagel nicht in die Wand 
will, wir zerfchmettern ihm wol mit einem Streid) das metal- 
lene Haupt; wir werfen einen engen Stiefel in die Ede und 
überhäufen ihn mit den merkwürdigſten Schimpfworten. Hier 
ift e& ein Kampf um das Dafein, aber man kämpft ihn mie 
ein Element, geduldig, ftumm, vefignirt, beinahe gleihgültig. 
Jenes Leben, das wir fo fehr lieben, ift erflarrt, wir find ein 
Stein, ein Stück Eis, eine erflarrte Luftblafe mehr in dem 
Kampf der Elemente. Dan beobaditet den eigenen Puls wie 
einen fremden. Ein weißer Borhang trennt uns von unjern 
Pferden, der Schlitten trägt uns im Sturme wie ein Kahn 
ohne Auder, ohne Segel — er fieht beinahe ſtill. Der Orları 
beult eintönig fort, die Luft brennt, der Schnee wirbelt; 
Raum und Zeit verfhwinden. Gehen wir vorwärts? ftehen 
wir? If's Nacht — iſt's Tag? Langſam ziehen die Wolfen 
gegen Abend. Langfam fchnauben die Pferde wieder, jetzt 
tauchen fie auf, den Rüden voll Schnee — es fallen dichte 
Floden, die Erde ift ellenhoch von ihnen bededt, aber man 
fieht wieder und fommt vorwärts. Der Sturm feudt nur 
noch und mwälzt fih winſelnd im Schnee, die Nebel liegen wie 
grauer Schutt am Boden. Wo find wir? 

Das Charakterbild des „Kapitulanten‘‘ felbft mit fei- 
ner wehmüthigen Refignation ift trefflich gezeichnet. Seine 
Geliebte ift die Maitreffe und dann die Frau des Guts— 
bern geworden; der Gapitulant rettet dem Gutsherrn 
während des Bauernaufftandes das Leben und tröftet fich 
über feine unglüdliche Liebe mit der Betradhtung: 

Es ift beffer, wenn ich mir jagen Tann, mein Auge ver» 
löſcht für immer und eine arme Seele fommt zur Ruhe. Ach 
denke, es ift für den Mann beffer ohne Weib. Nicht das Weib 
fudt den Mann, fondern der Mann das Weib. Darin Tiegt 
der ganze Bortbeil, und jo kann ein Weib ruhig feine Rechnung 
machen mit den Manne. Was follte auch ein Weib anderes 
denken, als Bortheil zu ziehen aus biefer jammervoll lächer⸗ 
lichen Lage des Mannes? Wenn einer bis an den Hals im 
Waſſer fteht, mit den Füßen im Schlamme fledt und ertrinfen 
muß, ihr aber könnt ihn retten und er hat einen Beutel mit 
Gold bei fi, er wird ihn euch gern an das Ufer werfen. Ein 


99 * 


788 


Unges Weib ift aber mit einem Beutel Goldes nicht zufrieden, 
fie fchleppt den Mann vor den Geifllihen. Berſteht ihr mid 
mn? Darum ift aud fo große Feindfchaft zwiſchen den Weir 
bern wie zwiſchen &chneidern oder Korbflehtern. Jede ſucht 
ihr Rörbgen fo gut als möglid; an den Mann zu bringen. 
Und Bat fie unredht? 

Dann fährt er fort: 

Was hat fie mir eigentlich gethan? Ic bin in feiner glüd- 
lichen Stunde geboren. Und dann — id; habe dem Leben lange 
genug zugefehen — der und jener hat ja auch geliebt und auch 
gang und gaaus geheirathet, und jetzt hebt fein Weib bie 

öde gegen ihn auf. „Da — kufſe mich.“ Seht ihr. Wenn 
fie mein Weib geworben wäre, hätte ich fie vielleicht in kurzer 
zeit geprügelt. Es if ganz alles eins, fo oder jo, ganz alles 
eins. 

Uebrigens maden wir am Schluß ber Geſchichte noch 
die Belanntſchaft der fehönen Dame in „einem koſtbaren 
Pelze" — diesmal ohne nähere Angabe des Pelzwerks. 

Die dritte Erzählung: „Mondnacht“, Hat wieder eine 
Vorrede bed Berfaflers, welche gegen bie Prüberie, bie 
Heuchelei proteftirt, bie anf unferm ganzen Leben laſtet; 
Sacher-Maſoch behauptet von feiner Erzählung, daß fie 
in das ðleiſch der Geſellſchaft fehneide, und rechtfertigt 
das Wunderbare, ſcheinbar Phantaftifche in derſelben da. 
mit, daß die Somnambule volltommen nad der Natur 
— daß jeder Zug ihrer Geſchichte wahr und er⸗ 
ebt ift. 

Die Beleuchtung ber Novelle ift durchweg ftimmungs- 
voll, man fühlt den Athem der Mondnacht; die Wärme 
eines Naturgefühls, wie es Jean Paul in feinen Schil- 
derungen bewährte, pulſirt in der Beſchreibung. Das 
Erſcheinen der Somnambulen konnte nicht beffer motivirt 
werden, man bekommt felbft Luft, in ſolchem Mondenglanz 
zu nachtwandeln, wie die Meine verliebte Kage, die an dem 
hohen blanken Schilf, den bleichen Wafferlilien vorüber, 
dem tiefen dampfenden Wald zuwandelt. Die Erzählung 
felbft bewegt ſich anfangs nicht auf neuen Bahnen, ber 
Ehebrud; der Fran aus leibenfchaftlicher Neigung ift ein 
beliebtes Thema der Dichtung. Nur gegen ben Schluß 
bin wird die Geſchichte origineller. Der Mann erſchießt 
den Liebhaber im Duell; die Gattin aber bleibt ruhig 
mit dem Gatten zufammen: 

Olga verabfchente ihren Mann von ganzer Seele, und fie 
bfieb doch bei ihm; fie wurde vor Kummer faft to, oft faßte 
fie ein bämonifher Haß, fie hatte ſchon die Pifole geladen, 
mit der er Wladimir getödtet, um ihn zu erſchießen, und — 
fie blieb doch bei ihm, denn fie erträgt es nit, nicht geliebt 
u werben, unb es tut ihr wohl, daß er fie liebt, daß er 
jeibet, in dem furdtbaren Gefühl, daß fie fein if umd doch 
nicht fein. 

Das ift allerdings ein Charakter, den aller Mond» 
fein nicht verflären Tann! Sader-Majoh wird fi 
auf die Lebenswahrheit berufen; wir wollen aber doch in 
den Novellen auch aus dem Iebenswahren Bild irgend 
einen Gebanfen hervorleuchten fehen, ber eine Bebeutung, 
und fei es eine reformatorifche, Hat. Fortwährende 
Bariationen auf das Thema: Lieb’ ift Leib und Wahnfinn, 
wirlen ermüdend. 

Welchen Wahnſinn aber führt uns die „Venus im 
Pelz“ vor; es Mingt parabor und doch ift es fo: wir 
müffen uns die Liebe mit Prügeln zufammen denken; 
es handelt fi nur darum, wer prügelt und wer geprü« 
gelt wird. Es ift das ein echt farmatifches Vergnügen, 





Rene Erzählungen und Romane, 


weldes dem von Kürnberger fo gepriefenen Often an- 
gehört — wir danken indeß für diefe „Kapitalien von 
unverbrauchter Naturkraft“, von denen wir in jolden 
Novellen die Zinfen erhalten, und wenn bie „jorglojen 
Yünglinge am Bug und Sanfluß“ uns nichts Befjeres 
liefern, fo wäre es un lieber, wenn fie nad) wie vor 
Aale und Lachſe angelten! Es Handelt ſich in der Er- 
zählung nit um jene gefunden und volfsthümlichen 
Prügel, welche oft eine gute Wirkung hervorrufen; es 
handelt fih um ein Raffinement, wie es nur eine far« 
matifche „Venus im Pelz“ zu geben vermag. 

Der Held biefer Erzählung, Severin, erzieht jeine 
Frau mit dem „Kantſchu“. Diefe pudagogiſche Weisheit 
if die Frucht eigener Lebenserfahrung, er ift nämlich 
früher felbft gepeitfcht worden von ber Frau im Pelz, 
die er liebte; er Hat fich zum Märtyrer biejes Weibes 
gemacht als ein Ueberfinnliher, bei dem alles im ber 
Phantaſie wurzelt: 

Id war früh entwidelt und Überreizt, als id) mit zehm 
Jahren etwa bie Legenden der Märtyrer im die Hand befam; 
id erinnere mid, daß ich mit einem Gramen, das eigentlich 
Entzüden war, las, wie fie im Kerfer ſchmachteten, auf dem 
Rofi gelegt, mit Pfeilen durchſchoſſen, im Pech gefotten, wilden 
Thieren vorgeworfen, an das Krenz gefhlagen wurden, umd 
das Entfegliäfte mit einer Art Freude litten. Leiden, graue 
fame Dualen erdulden erſchien mir fortan ala ein Genuß, unb 
‚ganz befonders durch ein ſchöͤnes Weib, da fi mir won jeher 
alle Poeſte, wie alles Dämonifche im Weibe concentrirte. Ich 
trieb mit demfelben einen fürmlichen Cultus. Ach ſah in der 
Sinnlichkeit etwas Heiliges, ja das einzig Heilige, in dem 
Beibe und feiner Schönheit etiwas Göttlihes, indem die wid 
tigfle Aufgabe des Dafeins: die Fortpflamyung der Gattung, 
vor allem ihr Beruf iſt; ich fah im Weibe bie Perjonification 
der Natur, die Ifis, und in dem Manne ihren Briefler, ihren 
SHaven, und fah fie ihm gegenüber graufam wie die Natur, 
welde, was ihr gedient hat, vom fi Mößt, jobald fie feiner 
nicht mehr bedarf, während ihm noch ihre Mishandlungen, jo 
ber Tod durch fie zur wolluſtigen Seligkeit werden. 

Die Pelzvenus, eine echte Sarmatin, Wanda mit Na- 
men, erfüllt nun die Wünfche Severin’s, ber durchaus 
von ihr gepeitfcht und mit Füßen getreten jein will; fie 
peitfcht ihn, läßt ihm peitfchen, mishandelt ihn im jeder 
Weife; er empfindet babei Trunkenheit, Entzüden u. ſ. f- 
Sie entfchädigt ihm dafür durch gelegentliche Hingebung, 
durch Schauftellung ihrer unverhüllten Schönheit, und 
durch praftifche Lebensweisheit, indem fie ihm mittheilt, 
daß fein ganzer Wahnfinn nur eine damoniſche, unge 
fättigte Sinnlichkeit fei, und ihm überdies folgende Offen- 
barungen über den Charakter des Weibes gibt: 

üßfe did) mie ſiget bei dem Weibe, das du üebſt, dem 
die Natur des Weibes birgt mehr Gefahren, als du glaubft. 
Die Frauen find weder fo gut, wie ihre Werehrer und Ber- 
theidiger, noch fo ſchiecht, tie ihre Feinde fie maden. Der 
Charakter der Frau ift die Charafterlofigkeit. Die befte Frau 
fintt momentan in den Schmuz, die flehtefte erhebt fid un- 
erwartet ® großen, guten Handlungen und beihämt ihre Ber» 
ädter. Nein Weib ift fo gut oder fo böfe, ba c& nicht jede 
Augenbtid forwol der teuflifchften als der göttlichften , 
ſchmuzigſten wie der reinfen Gedanken, Gefühle, Sandlungen 
ſühig wäre. Das Weib it eben, trog allen Fortichritten de 
Eivilifation, fo geblieben wie es aus ber Hand der Ni 
hervorgegangen ift, es hat ben Charakter des Milben, welch 
fid) treu und treulos, großmüthig und gramfam zeigt, je nad 
ber Regung, bie ihm gerade behertſcht. 

Das eirgig Onte an ber Gefchichte ift, wie Severin 
curirt wird: Wande läßt ihn nämlich gelegentlich durch 










Zur Charafteriftit ber erften franzöfifhen Republik. 


ihren neuen glüdlichern Liebhaber durchpeitfchen, wobei 
denn das fonft empfundene Gefühl der Zrunfenheit und 
des Entzückens von andern, minder feligen Empfindungen 
abgelöft wird. 

Doß die Liebe ein Leid ift, wird durch den farma- 
tifhen Naturfinn, der fih die Liebe nur mit Priügeln 
zufammen denken kann, allerdings ſehr anſchaulich ge- 
madt. Im übrigen aber fteht biefe „Venus im Pelz‘ 
jenfeit der Grenzen bes äfthetifch Erlaubten, und man 
muß wiederholt bedauern, ein fo bedeutendes Talent auf 
ſolchen Abwegen zu fehen. Ein krankhaftes Raffinement 
zu fchildern, Tann nie die Aufgabe der Poeſie fein, am 
wenigften darf ein folcher farmatifcher Sparren mit dem 
Anſpruch auf Allgemeingültigfeit auftreten. in folcher 
geprügelter Held ift widerwärtig; die Darftellung der 
Satyriafis gehört überhaupt in die Pathologie, nicht in 
die Poefle, und wo Menſchenwürde und Menjchenverftand 
aufhören, da Hört auch die Poeſie auf, es gibt keine 
Apotheofe bed „Hündifchen”. 

Einen ebenfo miberwärtigen, wir möchten jagen 
bermaphroditifhen Charakter trägt bie Erzählung: 
„Die Liebe des Plato“. Kine fih als Yüngling ver- 
kleidende Gräfin gewinnt in biefer Weiſe das Herz eines 
platonifchen „jungen Mannes”, der in ihren freundjchaft- 
lichen Beziehungen einen Reiz empfindet, gerade dur 
das verhüllte Weibliche, das ihn wie ein Räthſel feflelt. 
Als nun der „Freund“ in Weiberkleidern erfcheint, da 
zerrinnt die Liebe und die Illuſion. Das ift wieder eine 
jehr feltfame Gefchichte voll Frankhafter Gelüuſte — muß 
denn die Poefte alle Misgeburten der Liebe in Spiritus 
jegen ? Sollen wir durch ein anatomifches Muſeum 
fogenannter „Probleme” fpazieren gehen? Wenn uns 
die Liebe als ein Legat Kain’s, als ein fchmerzbringendes 
Berhängniß fir die Menfchheit gejchildert werden fol, 
fo müffen nicht die feltenen Verirrungen des Gefchlechts- 


18% 


triebes, fondern e8 muß die Liebe, wie fie im Durch» 
ſchnitt bei den Sterblichen erfcheint, als die Duelle des 
Elends dargeftelt werden. Statt defien thut Sacher⸗ 
Mafoch feinem „Wanderer das Leid an, ihn durch feine 
fegte Erzählung Lügen zu‘ ftrafen. „Marzelle oder das 
Märchen vom Glück“ ift eine Erzählung, in ber es ohne 
alle Romantik zugeht; eine zum Glück führende Neigung 
ohne alles Kaffinement bildet den Inhalt berfelben; die 
„Madonna im Pelz“ fol uns für die „Benus im Pelz” 
entfchädigen. Wir erhalten überdies bier Dffenbarungen 
über das normale Verhältnig der Gefchlechter, über bie 
Orundlage der modernen Ehe, das Bedürfniß nach einer 
böhern Einheit in Gefinnung und Intereſſen, phyſiſche 
Gegenfäge und geiftige Gleichartigkeit, gemeinfame Arbeiten, 
über da8 Genie des Herzens, das dem Weibe alles ent- 
bült, u. f. f. Die Tendenz des ganzen Werks geräth 
dadburd ins Schwanfen! Gibt der Autor dem Wanberer 
recht, oder will er und in jedem Abjchnitt feines Werks 
zeigen, wie das „Vermächtniß Kain's“ zum Heil und 
Segen der Menfchheit umgeftaltet werben fann? Dann 
mußte dies doch auch im „Prolog“ bereits mit bebeutfamer 
Anfündigung hervorgehoben werden. 

Ein großes Talent der Darftelung, weit fertiger, 
ſtimmungs⸗- und Iebensvoller als in den frühern Schrif- 
ten, von ausnehmender ftiliftifcher Grazie und Prügnanz, 
Ipricht fich in diefen Novellen Sacher⸗Maſoch's aus; aber 
jelbft die einzelnen genialen Züge emtfchädigen nicht für 
die widrige Unnatur der Erfindung in einzelnen Novellen 
und für die franfhafte Ueberreizung der Phantafte, deren 
„KRoffartige” Wirkungen den feinern geiftigen Heiz Des 
ethifchen Problems oder vielmehr der Rabulifterei der 
Sinnlichkeit in den Hintergrund drängen. 


Rudolf Gotifchall. 
(Der Beſchluß folgt in der naächſten Nummer.) 


Zur Eharakterifiik der erfien franzöſiſchen Republik. 


Die dentfhen Republifaner unter der franzöflfhen Republik. 
Mit Benukung ber Aufeihuungen feines Baters Michel 
Benedey bargeftellt von Jakob Venedey. Leipzig, Brod- 
haus. 1870. 8. 2 Thfr. 10 Ngr. 


Die franzöfifche und die deutfche Geſchichtsforſchung 
haben fih in jüngfter Zeit in denkwürdiger Weife die 
Bände gereicht. Jene wurde durch die Erfahrungen unter 
dem zweiten Saiferreich dazu geführt, die Entwidelungs- 
gefchichte des erften einer Kritik zu unterziehen; dieſe fühlte 
fich getrieben, die Zeit der erften franzöfifchen Revolution 
zu durchforſchen, um deren wahren Werth für bie Ent- 
widelungsgejchichte Europas feſtzuſte llen. Beiden Rid- 
tungen lag ein gleich bedeutungsvolles Streben zu Grunde, 
und beide haben ber Gegenwart viel genußt. Das fran- 
zöſiſche Volk erfannte mit Entfegen, daß die Gejchichte 
Napoleon’s J., auf bie e8 bis dahin fo ftolz geweſen 
und die zum Theil feine Handlungen beftimmt hatte, von 
Grund aus falſch gefchrieben worden ift, daß bie 
Mythen, welche die Thaten aller hervorragenden Für⸗ 
ften und Volkshelden verändern, und bie dabei thätige 

















nationale Eitelkeit den erften Kaifer der Franzofen mit 
einem Nimbus umgeben haben, der feinen grenzenlofen 
Despotismus, feine Rachſucht und Eitelfeit und vor allem 
feine Knechtung des eigenen Bolld und feine von ber 
Geſchichte mit Recht geziichtigte Unterdrückung ber übrigen 
Bölfer Europas verdeckte. Was Charras, Lanfrey und 
Barni für die Kritit der Gefchichte Napoleon’ I. zu 
Tage förderten, ſchlug wie ein Blig in Frankreich ein, 


| der feine verzehrende aber auch zugleich reinigende Kraft 


gegen die Vergangenheit wie gegen bie Gegenwart kehrte 
und nicht wenig dazu beitrug, die Kriſis herbeizuführen, 
welche Ludwig Napoleon zwang, in die Bahn der confti- 
tutionellen Entwidelung einzulenten, ja welde ihn aud 
zu dem verhängnißvollen Kriege trieb. 

Ein ſolches Kaltwaflerbad der Kritik wurde auch dem 
deutſchen Volke zutheil, wenn es durch Hiftorifer wie 
Sybel und Memoirenfchreiber wie Perthes bie Greignife 
der erften franzöſiſchen Revolution in ihrem wahren Lichte 
und die Leiter derfelben in der vollen Natürlichkeit ihrer 
von nationaler Eitelfeit und wüſter abftracter Herrfchbegier 








730 


erfüllten Charaktere kennen lernte. Auch diefe Volksführer 
waren in der Zeit ber allgemeinen Unterbrüdung von 
einem Nimbus umgeben worden, der ihre Mängel ver- 
bedte und nur ihre Kühnheit und ihre Opferung fir das 
Gemeinwohl in volles Licht treten ließ. Die idealiftifche 
Berherrlihung Ser Männer, welde der Lauf der Ereig- 
niffe zu Führern emporbebt, ift aber noch feine Gefchichte; 
erſt wenn wir fie in ihrem wahren Wirken vor uns 
fehen, und wenn alle Traditionen benubt werden, um 
folhe Männer nad) der wahren Natur ihres Weſens zu 
ſchildern, können wir ihre Bedeutung, ihre Erhebung iiber 
die Maffe, ihre Abfichten und das, was fie erreichen, ſo⸗ 
wie ihren Untergang vollftänbig begreifen. 


Diefe Art von Kritik war namentlich nothwendig für 
die Männer, welde als Vorgänger Napoleon’3 dieſem 
die Bahn zur beöpotifchen Beherrfchung bereiteten, fir 
Kobespierre, St.⸗Juſt und die übrigen Helden des Con: ! 
vents, für die fi) bei uns in Deutſchland eine gefährliche 
Verehrung gebildet Hat, deren fchlechte Frilchte wir gegen- 
wärtig in dem leichtfertigen Trachten von Republikanern 
vor uns fehen, vie fich Fein Gewiſſen daraus machen, 
fi mit den unferer nationalen Entwidelung feindlichften 
Elementen zu verbinden, um nur den abftracten Kißel 
befriedigen zu können. 

Was Dliver Crommell einmal zu dem Maler Lely 
fagte, der fein Porträt ausführen follte: „Malt mich wie 
ih bin, mit allen Narben und Runzeln, fonft zahle ich 
Euch feinen Schilling“, iſt aud für die Gefchichtfchrei- 
bung unferer Zeit Princip geworden, und fie ift daburd) 
auf eine Bahn gebracht worden, die zu größern Reſultaten 
führt als alle frühern Fiteraturepochen. Die reiche ideelle 
Anfhauung der Gegenwart erhält dadurch den realiſtiſchen 
Hintergrund, der fle in ben Stand jegt ber Vergangen- 
beit ins Her zu jehen und fie in ihrer vollen Lebenskraft 
zu ſchildern, weil wir gelernt haben, ſie mit der ſchärfſten 
Unparteilichkeit zu erforſchen. 

Einen wichtigen Beitrag zu dieſer neuen kritiſchen 
Darſtellung der franzöſiſchen Revolutionszeit hat uns Jakob 
Venedey's Buch über die Entſtehung und die Schickſale 
der cisrhenaniſchen Republik geliefert. 


Es iſt aus den Aufzeichnungen hervorgegangen, welche 
Michel Venedey, einer der Führer der republikaniſchen 
Bewegung am Rhein, dem Sohne hinterlaſſen hatte. Die⸗ 
fer ift aber erſt nach längern vielfeitigen Studien dazu 
gelangt, die nur fragmentarifh gehaltenen Denkwürdig⸗ 
feiten und bie dazu gehörigen Briefe zu der Schilderung 
zu verarbeiten, die wir jegt vor und fehben. Sie bringt | 
ung viel Neues, und die Blide in das deutjche wie in 
das franzoſiſche Weſen der Zeit, die es berührt, muß 
uns aufs mannichfachſte beſchäftigen und zu bedeutſamen 
Gedanken anregen. 

In dieſem Conflict des franzöſiſchen Revolutionsgeiſtes 
mit dem deutſchen Idealismus erſcheint uns der erſtere in 
ſeinem wahrſten Lichte; aber wir lernen auch wieder einſehen, 
in welche Gefahren die deutſchen Patrioten ihre Heimat brach⸗ 
ten, als ſie ſich voll thörichten Glaubens an die Größe 
der franzöſiſchen Freiheitsentwickelung deren ſelbſtfüchtigen 
Führern in die Arme warfen und dabei den ſchnödeſten 
Undank erfuhren. Dieſe bittere Erfahrung wird auch 


Zur Charakteriſtik der erſten franzöſiſchen Republik. 


jetzt noch ihre Wirkung auf das deutſche Bolt üben, und 
jeder wahre Liberale muß Jakob Venedey Dank dafür 
wifien, daß er biefen wichtigen Stoff fitr die neueſte Ge⸗ 
ſchichte fo eifrig durchforſcht und mit foldher Entſchieden⸗ 
beit dargeftellt bat. In ihr fpiegelt fich ber rechte Frei⸗ 
beitöfinn unferer Zeit ab, ber die Energie erlangt bat, 
ebenfo gegen den abftracten Freiheitsdrang von unten, wie 
gegen den Despotismus von oben Front zu machen. 

Venedey beginnt feine Darftellung mit ber Schilderung 
der republilanifchen Bewegung in Straeburg, welche ber 
Errichtung der Republifen in Mainz und in den Rhein- 
landen voranging. Es ift ihm gelungen, dabei eine 
Ehrenrettung des bis dahin als Revolutionsfcheufal ver⸗ 
fchrienen Eulogius Schneider zu bewirken, welde in alle 
Geſchichtsbücher übergehen muß, weil fie unwiderleglich 
ift; und das Verhältniß, in dem dieſer deutfche Freiheits⸗ 
wärmer zu St.-Juſt und Robespierre fand, gibt zu⸗ 
ı gleich Gelegenheit, diefe in einem Lichte zu zeigen, weldjes 
dem mit ihrem Angedenken getriebenen Gögendienft ein 
Ziel fegen muß. 

Eulogins Schneider war ein beutfcher Jakobiner und 
ſtolz darauf, der „deutſche Marat“ genannt zu werden, 
weil es ihm ebenſo ernſt wie dieſem mit der Erhaltung 
ber neuen freiheit war, und weil er ebenfo wenig mie 
der Vorkümpfer des franzöfifhen Radicalismus vor den 
entjchiedenften Mitteln zurüdjchredte; er befaß aber and 
bie Selbftbeherrfchung, nur in den nöthigften Tüllen von 
der Gewalt Gebraudy zu machen, welche ihm als öffent- 
licher Anfläger zutheil wurde, und es waren nur 30 
Zobeöurtheile und Hinrichtungen, welche er bei feinem 
Durchziehen des Elſaß veranlaßt Hatte. Er gab in 
Strasburg die Zeitfchrift „Argos Heraus, und wurde 
von allen Republifanern und von ber Arbeiterbevölferung 
der Stadt ebenfo geliebt und geachtet, wie er den alten 
ariftokratifchen Elementen des ganzen Elfaß verhaßt war. 
Er wollte aus diefem eine wahre tepublifanifche Provinz 
machen und dabei den Deutfchen zeigen, wie fie mit ihrem 
eigenthümlichen Weſen fih dem großen Streben der 
Parifer anzufchliegen hätten — das war eine Stellung, 
die feine Feinde um jeden Preis zu untergraben und zu 
vernichten ſuchen mußten. 

Sie fetten die ärgften Berleumdungen gegen Schnei- 
ber in Bewegung, und St.-Juſt war fo niebrig, ihnen 
gegen feine eigene Weberzeugung Eingang bei fih zu ge 
ftatten, weil es augenblidlih feinem und Hobeäpierre's 
Bortheil entſprach, Ultraradicale wie Schneider zu ver« 
leugnen, und weil es ihm perfönlih darum zu thun war, 
den deutſchen Marat aus dem Wege zu räumen, der im 
feinem Blatte verlangte, daß die Tepnbiitanifche Tugend 
nicht nur geheuchelt, fondern auch gelibt werde, und ſich 
ſogar ſchon erlühnte, dem Convent vorzuwerfen, daß er 
die der Republik drohenden Gefahren nicht ſcharffichtig 
genug beobachte, und das Volk auch nicht davor bewah 
dem Militirdespotismms anheimzufallen. Ein ehemalig 
Maire von Strasburg erflärte: „Es gibt in Strasim 
nur eimen einzigen ehrlichen Mann, und diefer eine i 

Schneider.” Ale nähern Freunde deffelben, zu ben ı 
auch Michel Venedey gehörte, fagten, daß fie die gege ı 
Schneider erhobenen Anklagen für unwohr gehalten hab , 
und biefe felbft beweifen die Wahrheit jenes Yusfpruc, . 





Zur Charafteriftif der erften franzöſiſchen Republik, 


191 


Während Schneider die gegen die Republik gerichteten Röcke, breite Schleppfäbel, rothe Jakobinermützen und 


Complote verfolgt und deren Anftifter ins Gefängniß 
gebracht. Hatte, wurde er bejchuldigt, diefe Complote 
feloft gefördert zu haben, um die legitime Regierung zu 
erfhüttern. Völlig unbewiefen waren die Erpreflun- 
gen und graufamen moralifhen Unterdrüdungen, und 
eine nichtswürdige, offenbare Lüge war die Behauptung, 
daß er einen Vater gezwungen habe, ihm jeine Tochter 
auszuliefern, da er um biefeg Mädchen in aller Form 
geworben und fie geheirathet Hatte. Die Familie hatte 
ihn auf der Rüdreife nad) Strasburg begleitet; in 
der Brautnacht wurde Schneider aus den Armen feiner 
jungen rau gerifien und ins Gefängniß geführt, wo er 
mit demfelben Gegenrevolutionär Dietrich zufammentraf, 
den er in Anklageftand verjegt hatte Es war ein tra- 
giſches Gefchid, dem der ehemalige Mönch und nachherige 
Profeffor der fchönen Künfte, der Freiheitsſchwärmer, der 
feine ganze Habe an die Erhaltung feines „Argos“ gejett 
hatte, verfiel. 

Aber biefer deutſche Marat hatte fih mit feinen 
Anhängern geweigert, die Steuer zu vertbeilen, welche 
durch die Repräfentanten St.⸗Juſt und Lebas ben 
Reihen zu Strasburg auferlegt wurde, „weil fie den 
herzzerreigenden Anblid fo vieler troftlofen Familien, 
die in den traurigen Zuſtand verfegt wurden, ohne 
Schutz und ohne Zufluhtsort herumirren zu müſſen, nicht 
aushalten konnten“. Das hat Monet, der Gegner und 
Hauptanfläger Schneider’s, erklärt, indem er ihn des 
Moderatismus zieh. Schneider hatte ſich aber aud in 
feinem „Argos“ gegen die nußlofen Blutfcenen in Pa- 
ris ausgefprochen und die Jalobiner aufgefordert zu⸗ 
fammenzuhalten, damit der Volksvertreter, vor welchem 
viele Tauſende das Haupt beugen, in ihrer Geſell⸗ 
ſchaft zittere, wenn fein Gewiſſen ihm fagen müſſe: 
„Du bift ein Schurke.” St.⸗Juſt ließ Schneider „wegen 
öffentlicher VBerhöhnung der republifanifchen Sitten” ver- 
haften. Als er kurz darauf den öffentlihen Ankläger 
des Nevolutionstribunals fragte, was er über Schneiber’s 
Berhaftung denke, antmortete diefer mit franzöfifcher 
Geiftreichigkeit wigelnd: „Ale Welt, mit Ausnahme 
Schneider’s, hat das Hecht, darüber unzufrieden zu fern.“ 
St.⸗Juſt erwiderte: „Das ift wahr, aber wenn Schnei- 
der uns entfchlüpfte, fo würden wir in Gefahr fein, 
füftlirt zu werben.‘ 

St.⸗Juſt's Handlungen in Strasburg fagen uns am 
beften, was er mit dem Elſaß vorhatte und wie gut er 
es mit den Deutjchen meinte. Er becretirte zunächſt ein 
Anlehen von neun Millionen von den Bürgern, die auf 
einer Liſte verzeichnet waren. Zwei Millionen von diefer 
Summe follten zur Unterftübung der bürftigen Patrioten 
verwendet, eine Million zu den Feſtungswerken gebraucht 
und fehs Millionen in die Kaffe der Armeen geliefert 
werden. Die ganze Municipalität mit Ausnahme Mo- 
net’8 wurde abgefeßt, und die Geſellſchaft der Jakobiner 
aufgefordert, zwölf Mitglieder für eine prodiforifche Mu- 
nicipalität zu wählen. Sodann wurde die „Geſellſchaft 
der Propaganda“ in Paris veranlaßt, zur Belebung des 
repnblifanifchen Sinnes 60 Mitglieder nad) Strasburg 
zu fenden, von benen jeder täglich 15 Francs aus der 
Staatskafſe erhielt. 





große Schnurrbärte. Sie verlangten natürlich, daß man 
jeptembrifire. Es wurde auch ganz ernftdaft der Vorſchlag 
im Jakobinerclub beſprochen, daß man 6000 Mann ber 
elſaſſer Bürgerfchaft auf Schiffe zum Angriff gegen Kehl 
befehlen und diefe dann mitten im Rhein, den Gefchügen 
der Deutfchen preißgegeben, durch die franzöfiichen Geſchütze 
in den Grund bohren laſſe. Monet empfahl als wirk—⸗ 
jamftes Mittel, den Niederrhein zu naturalifiren, daß 
man die beutfche Sprache, die beutjchen Trachten und 
Sitten abſchaffe und eine große Anzahl von Franzoſen 
dahin verfege. Die zahlreihen Güter der Berräther 
follten den Familien der mit Ruhm bebedten Waffen- 
brüder gegeben werben. 

Das waren die Segnungen ber Freiheit, welche die fran« 
zöfljche Republik ihren deutfchen Provinzen bereitete. Dürfen 
wir uns da no wundern, wenn ein Vorkämpfer der 
deutſchen Yreiheit wie Schneider von St.⸗-Juſt unſchädlich 
gemacht wurde? Was galt diefem ein Menjchenleben ? 
Nach der Errichtung des Revolutionstribunale fragte er 
defien Präfidenten am nächſten Tage, wie viel Köpfe fie 
hätten fpringen laflen, und als jener antwortete, es fei 
ihnen vor allem darum zu thun gewejen, ben Stand der 
Affignaten zu halten, fagte St.Juſt: „Seit zweimal vier. 
undzwanzig Stunden in Yunction und noch nicht ebenfo 
— Köpfe ſpringen laſſen? Ihr verſteht eure Aufgabe 
nicht!“ 

Schneider wurde zuerſt in Strasburg auf der Guillotine 
ausgeſtellt, dann nach Paris geſchickt, vor das Revolutions⸗ 
tribunal geſtellt, verurtheilt und hingerichtet. 

Robespierre wollte anfangs nicht an die Schuld 
Schneider's glauben, „weil man den Anklagen, ſelbſt beim 
Anblick der Beweiſe keinen Glauben ſchenken könne“, und 
doch ließ er ſich durch St.⸗Juſt's Berichte zur Verur⸗ 
theilung beſtimmen. Schneider ſchrieb aus dem Gefäng⸗ 
niſſe ſeine Rechtfertigung an den Jakobinerclub. Dieſer 
wollte ſie drucken laſſen; als Robespierre es erfuhr, ließ 
er die Formen zuſammenwerfen, das Manuſcript wurde 
aber durch einen Zufall erhalten und nach 25 Jahren 
gedruckt. Die Schrift zeugt von dem reinen Gewiſſen 
Schneider's. Bol Stolz fordert er, daß man ihm Ge⸗ 
rechtigkeit widerfahren laſſe, oder ihn hinrichte. Wie er 
voll innerer Verachtung die öffentliche Ausſtellung und 
den Hohn feiner Feinde ertragen hatte, ging er auch voll 
Muth dem Tode entgegen. 

„Schneider und St.-Fuft find die fprechendften Gegen- 
füge”, jagt Venedey; „beide waren gleich große und auch 
gleich ehrliche Enthufioften. Die füidlihe Phantafte aber 
ging vollfommen mit St.-Iuft durch und verleitete ihn 
zu den wunbderlichften Irrfahrten auf dem Blutſtrom, der 
überall floß, wohin er fam. Schneider war, wie er, ber 
Anfiht, daß den Berräther an ber Republik der Tod 
treffen müſſe, aber er frug, felbft der Revolution gegen- 
über, nad) dem Gejege der Revolution, das den Verbrecher, 
folange er noch nicht verurtheilt war, dem Gericht 
gegenüber ſchützen follte.” In diefes milde Urtheil über 
St.⸗Juſt können wir nit einftimmen. Der Idealiſt war 
in diefem Lieblingsfchüller Robespierre's bereits zum gran- 
famen Despoten ausgeartet, und fitr einen folchen gibt es 


Sie trugen fümmtlih lange blaue . Feine Ehrlichkeit mehr, fondern nur noch Zweckmäßigkeit. 


792 


St.» Juft und Robespierre waren eben folde Tyran⸗ 
nen, wie es nach ihnen Napoleon wurde, und alle 
drei verdienen ben gleihen Haß der WMenfchheit, wenn 
fie auch ihre Berbdienfte um bie Erfümpfung der Frei⸗ 
beit anerfennt. Nobespierre handelte Schneider gegenüber 
geradezu ehrlos; doch eine folche Eigenfchaft Hatte ja fir 
ihn keine Bedeutung mehr! 

Es ift ein furchtbarer Einblid in das innere Getriebe 
der Hevolutionszeit, welche wir durch diefe Borgänge in 
Strasburg gewinnen. Der Eindrud wird aber noch ge- 
fleigert, wenn wir nach dem tragifehen Geſchick der deut- 
Shen Yalobiner in Strasburg — denn nad; Schneider 
wurben noch viele vom befien Freunden auf die Ouillotine 
geſchickt — das Schidfal der mainzer Republik ins Auge 
fafien. Was Georg Forſter und Abam Lur in Paris 
empfanden und durchlebten, nachdem ihre Hoffnungen auf 
die Befreiung der Böller durch die große Frankenrepublik 
fi als Häglide Täufchungen erwiefen hatten, bildet die 
beredtefte Berurtheilung der Sünden, welde fi das 
franzöftfche Bolt in feiner Revolution fchuldig gemacht 
hatte. Adam Lux fuchte den Tod und führte ihn durch 
feine Schrift über Charlotte Corday herbei, indem er, 
ohne deren That zu billigen, deren Heroismus anerkannte 
und pries, weil fie damit ein Beifpiel gegeben, wie freie 
Männer der Tyrannei der Machthaber entgegenzutreten 
baben. Adam Lur Hatte gehofft, daß nad dem Siege 
Frankreichs über den Despotismus bie „deutfche Republik” 
neben der franzöflfchen erſtehen würde, und ebenjo dach⸗ 
ten alle rheinifchen Patrioten, die fich für eine Vereinigung 
mit Frankreich erklärt Hatten; als er aber den Sigungen 
des Jakobinerelubs in Paris beigewohnt und nichts als 
Berleumdbungen und Graufamleiten gehört hatte, fdhrieb 
er nad Mainz, wenn er biefes Treiben gelannt Hätte, 
fo würbe er feine Landslente nicht zur Vereinigung mit 
Branfreich veranlaßt haben. 

Georg Forfter fchrieb ſchon act Tage nach feiner 
Ankunft in Paris: 

Aus der Ferne fieht alles anders aus als bei näherer 
Beſichtigung. Ich Bande noch feft an meinen Grundfätzen, aber 
ih finde die wenigften Menſchen ihnen getreu. Alles ift blinde, 
leidenſchaftliche Wuth, rajender Parteigeift und fchnelles Auf⸗ 
braufen, welches nie zu vernünftigen, ruhigen Reſultaten ge- 
langt. Auf der einen Seite finde ich Einfiht und Talent ohne 
Muth und Kraft, auf der andern eine phyſiſche Energie, die, 
von Unwiffenheit geleitet, nur da @utes wirkt, wo der Knoten 
wirklich zerhauen werden muß. Der ruhigen Köpfe find bier 
fehr wenige ober fie verſtecken fidh; die Nation ift, was fie immer 
war, leichtfinnig und unbeftändig, ohne Feftigleit, ohne Wärme, 
ohne Liebe, ohne Wahrheit, lauter Kopf und Phantafle, kein 
Herz und Feine Empfindung. Mit dem allen richtet fie große 
Dinge aus, bern gerade biefe® kalte Hieber gibt den Franzofen 
ewige Unruhe und ben Schein von allen edeln Anftrengungen, 
wo bod) nur Enthuflasmus der Ideen, nicht Gefühl der Sade 
vorhanden ifl. 

Ein richtigeres und fehärferes Urtheil ift felten über 
das franzöſiſche Bolt gefällt worden. Und Yorfter war 
e8, der in dem Schreiben an ben franzöftichen National« 
convent, mit dem er von dem rheinifchen Konvent beauf- 
tragt war, zur Bewirkung des Anſchluſſes der mainzer 
Republit gefagt Hatte: „Durch die Vereinigung erhaltet 
ihr Mainz — den Schlüffel des Deutfchen Reichs und die 
einzige Deffnung, durch welche noch euere Provinzen den 


Zur Charakteriſtik ver erften franzöſiſchen Republik. 


Armeen und den Artilleriegitgen bes Yeindes zugänglich 
find.” Furchtbare Dialektik der Gefchichte! 

Mainz felbft wurde für feine Freiheitsliebe hart ge- 
ſtraft. Nur ummillig ertrug es den Uebermuth ber Fran⸗ 
zofen, welche die ganze Berwaltung an fich riffen und 
während der Belagerung bie Niederträchtigfeit begingen, 
Hunderte von Bürgern mit Frauen und Kindern aus ber 
Stadt den Kugeln der Belagerer entgegenzutreiben; als 
biefe fie nicht aufnahmen, mußten fie zurüd und wurden 
zwilchen zwei Feuern dem Hungertode ausgeſetzt, dem fie 
auch verfallen wären, wenn bie gemeinen Soldaten fie 
nicht gegen den Befehl aus Mitleid wieder in die Stadt 
eingelafjen hätten. 

Als die Preußen die Stabt einnahmen, ließen fie 
ihre Wuth an der Republik aus; fie erſchoſſen eine An- 
zahl der angefehenften Bürger,- indem fie biefelben aus 
ihren Häuſern riffen, an die Wand ftellten und nieber- 
firedten. Die Grauen zerrten fie in ihren Nachtröcken 
nad) dem zur Raferne umgewanbelten Schloß des Kur⸗ 
fürften und zwangen fie, den dort von den Tranzofen 
zurüdgelafjenen Unrath mit den Händen fortzufchaffen. 
Dieje Graufamkeit wurde zu jener Zeit von den freifinni« 
pen dentfchen Zeitjchriften vielfach gebrandmarkt. 

Welcher Held Euftine war, zeigte fich bei dem Auf- 


ſtande in Frankfurt a. M., wo dad Boll beim Nahen ber 
Preußen am 17. December 1792 bie franzöfifhe Beſatzung 


aus der Stadt trieb. Es nahm den Soldaten bie Ge- 
wehre ab, und dieſe liefen darauf von den Wällen fort. 
Daraus macht Euftine in feinem Bericht an den Condent 
eine große Schlacht, indem er ſagte, breihundert Tapfere 
feien ruhmvoll für die Freiheit fümpfend unter den Meſſern 
von Meuchelmörbern gefallen. Zum Beweis ſchickte er 
ein folches Meſſer mit; es war das größte Metzgermeſſer, 
das er in Mainz hatte auftreiben Fünnen. „Zehntanfend 
Mann waren damit bewaffnet.“ Falſtaff ift ein Kind 
gegen dieſen officiellen Prahlhans! Wie viele Analogien 
bierfitv bietet die neuefte Zeit! 

Forſter erlebte in Paris Cuſtine's Anklage und Hm- 
richtung. Die geheime Urſache feiner Berurtheilung war 
der Umftand, daß uftine dem alten Abel angehörte. 
Der Convent wollte ein Beifpiel flatwiren und erreichte 
au diefen Zwei, Bon da ab gehorchten die Generale 
der fränkifchen Deere dem Convent aufs Wort. 

Venedey gedenft auch der Erzählung, welche Goethe 
von dem Rachegelüſt der gehetzten Bollähefe in Mainz 
gegen die Republikaner bei deren Abzuge gibt, um deſſen 
„talte, eigenfüchtige, hochmüthige Ariftofratennatur“ zu 
fhildern. Was er aber als Beweis anführt, bie Erret- 
tung von Leuten, die mit tödliher Mishandlung bedroht 
waren, fpricht gegen biefe Auffafiung. Goethe that 
was er unter diefen Umſtänden vermochte, indem er das 
Volk aufforderte ‚den Burgfrieden des Herzogs von Weimar 
zu achten, und ed war immer ein Verdienft, daß er 
Menſchen vor dem Erjchlagenwerben bewahrte. Daß er 
dabei auf feine. Weife ſprach und dachte, ift natürlich. 
Goethe war nicht dazu angethan, fich für die Frelheits- 
ideen ber Revolution zu begeiftern, er haßte das „Franz⸗ 
thum“, „weil e8 wie einft das Lutherthum Die ruhige 
Bildung zurüddrängte” ; er wurde fpäter auch ein Bewun⸗ 
derer Napoleon’s, und feine Schilderung bes Feldzugs 


— 





Zur Charalteriftil der erften franzöfifben Republik. 


in der Champagne ift ein ſchwaches Werk, aber doch 
immerhin merkwürbig, weil e8 beweift, daß damals Goe⸗ 
the’3 Anfichten eine große Erfchütterung erlitten, und daß 
er zugeftand, „es fei eine neue Zeit angebrochen“. Wenn 
man das Buch verurthtilt, ohne es gelejen zu haben, wie 
Benedey erflärt, weil es ihn angewidert habe, fo ift man 
auch nicht zur Beurtheilung berechtigt, ſondern verliert ſich 
in fanatifchen Haß, der den Blick trübt. 

Auf die Gefchichte der mainzer Republik läßt Venedey 
die der cisrhenanischen Republik folgen, deren Hauptglie⸗ 
der Koblenz, Trier und die Freie Reicheftadt Köln wur⸗ 
den, welche in diefer glüdlicden Stellung ähnliche, wenn 
auch nicht fo ſchlimme Erfahrungen wie Mainz machten. 
Die rheinischen Patrioten ſchwärmten ebenfo für bie Idee 
einer Republik ihres Landes, hofften aber dafür befjere 
Ausfichten zu haben als die Mainzer, weil ihr Gebiet 
ein größeres war. Sie waren auch fo gefcheit, Mar⸗ 
ceau, und als dieſer fehr bald von einer öfterreichiichen 
Kugel getroffen wurde, den General Hoche für ihre Ideen 
zu gewinnen. 

Der letztere war nicht abgeneigt, darauf einzugehen. Der 
Plan einer beutfchen Republik neben der franzöfiichen war 
von großer Tragweite und mußte einen Mann von jo 
großer militärifcher und politifcher Befähigung wie Hoche 
anziehen. Er war ber einzige, der bem General Bona- 
parte das Gleichgewicht zu halten vermochte. ben des⸗ 
halb dachten aber auch die Kepublilaner in Paris daran, 
ihn an die Spite zu bringen. Als Pichegru mit den 
Kopaliften das Directorium bedrohte, rückte auf Barras’ 
Aufforderung Hoche mit einem Theil feines Heers in die 
Nähe von Paris; Carnot hatte aber nicht den Muth, diefe 
Macht zu benugen, und Hoche mußte nach dem Rhein 
zurüdfehren. Er war unzufrieden, hatte Beiprechungen 
mit dem Profeſſor Beaury und andern Patrioten von 
Koblenz und entfchied fi fiir bie ciöchenanifche Republik. 
Seinen Truppen gab er ben Namen „Armee Deutfch- 
lands”. Bald darauf raffte auch ihn der Tod Bin. Er 
ftarb unter allen Anzeichen der Bergiftung, und man 
glaubte allgemein, daß dieſe in der Bender ftattgefunden 
babe. inter Hoche's Papieren fand man einen Brief des 
Directoriums, welcher die ciörhenanifche Bewegung mis⸗ 
billigte und von Hoche forberte, daß er für den einfachen 
Anfchluß der Rheinlande thätig fein ſolle. Die Einver- 
leibung und Ausbeutung diefer Provinz nach derfelben 
Weiſe, wie fie in Mainz verſucht worden war, bildete 
das Ziel der franzöfifchen Machthaber, und was Venedey 
über die franzöſiſche Verwaltung am Rhein berichtet, Lie- 
fert bie traurigen Beweiſe, daß die meiften Beamten ber 
großen Frankenrepublik das alte Betrugſyſtem der deö- 
potifchen Zeit ausübten. Es ift ein widerliches, empb⸗ 
rendes Schaufpiel. 

- Als die Franzoſen in Koblenz einrüdten, wurden fie 
von den Bürgern, welde das Xreiben der franzöftfchen 
Brinzen und Emigranten angewibdert hatte, mit großer 
Freundlichkeit empfangen. Sie braditen ihnen Wein und 
Efſen, und die neue Herrichaft begann mit einem Tefte, 
dem Pflanzen des Freiheitebaums, wobei die Deutfchen 
aber doch nicht mittanzten, als die Soldaten ihr Ca iral 
ertönen ließen. Trotz dieſer Berbrüderung erließ Mar—⸗ 
ceau einen Befehl, daß die Aſſignaten für voll angenom⸗ 
1870. 50. 


793 


men werden müßten, der Preis der Waaren aber nicht 
vertheuert werden dürfe. Während Trier nur 3 Millionen 
Kriegskoſten auferlegt wurden, mußte Koblenz 41, Mil- 
lionen bezahlen, bamit, wie Bourbotte in feinem Erlaß 
voll Hohn fagte, das Geld, das die Emigranten Frank⸗ 
reich geftohlen und im Koblenz verzehrt Hatten, wie- 
der in die Kaffen ber franzöfiichen Nation zuritdfliehe. 
Anger Geld und Waffen braudte die Republik auch 
Schuhe. Damit diefe fogleich befchafft werden Tünnten, 
wurden die Toblenzer Bürger nad) dem Schloßplatz be» 
ftelt und ihnen dort verkündet, daß fie gefälligft ihre 
Schuhe ausziehen und den Soldaten überlaffen möchten. 
So erhielten die „Ohnehoſen“ in kürzefter Weife die nöthi- 
gen Schufterrappen, wührend die Koblenzer in Strüm- 
pfen nach Haufe gehen durften. 

Die Requifitionen erftredten ſich auch auf Kunftgegen- 
flünde und Bibliothekſchätze. Hobespierre war gefallen; 
am nächften Tage erhob das Spitbubenfyftem, dem bald 
nichtö mehr heilig war, frech fein Haupt und verbreitete 
fi insbefoudere überall in den eroberten Ländern. Am 
12, November 1794 wurde in Aachen die Centralregie- 
rung für die Länder zwifchen Maas unb Rhein, fpäter 
zwifchen Rhein und Moſel errichtet. Unter diefer ftanden 
fieben Bezirksverfbaltungen: Aachen, Maftriht, Spaa, 
Limburg, Geldern, Blankenheim und Bonn. Köln wurde 
unter die bonner Bezirksregierung geitellt. An fchönen 
Berfprehungen in hochtrabenden PBroclamationen fehlte es 
nicht. „Tod den Tyrannen, Krieg den Paläften, Friede 
den Hütten!” hieß es in einer Anfprache des Vollsreprä- 
fentanten ©ilet, der mit Championnet nah Köln kam. 
Es wurde auch verheißen, daß die großen Befigungen 
ber Geflohenen dem Aderbau zurückgegeben werden joll- 
ten, damit die Menfchen durch unzerreißbare Bande des 
Eigenthums an die Revolution gefeffelt wiürben. In Wahr- 
heit hatte das Land aber nur Laften, Bebrildungen, 


Störungen, Stodungen in allen Berlehrsverhältniffen zu 


empfinden. Handel und Wandel ftanden flill, tiberall 
trat Noth ein. 

Indeß, die rheinifchen Patrioten thaten, was in ihrer 
Macht ftand. Sie fchlofien fi der franzdfifchen Ver⸗ 
waltung an, um den Berfuch zur Begründung neuer 
republifanifcher Imftitutionen zu machen, erreichten da- 
durch auch mandjes, fcheiterten aber fchlieglih doh an 
der über ihnen ftehenden Gewalt, ſodaß fie zulegt muthlos 
das Spiel aufgeben, da e8 ohnehin zu Ende ging. Die 
Freie Stadt Köln fandte ihren Bürgermeiſter Dumont 
und den Profefior Walraf nah Paris, um mit bem 
Convent um ben Erlaß der ihr auferlegten Kriegsſteuer 
von 480000 Tivres zu unterhanbeln, erreichte aber auch 
dadurch nichts. Die Nationalcommiffare erjchienen, um 
den Senat ber Freien Stadt aufzulöfen und eine admi- 
nistration municipale an deſſen Stelle zu fegen. 

Koblenz wurbe der Brennpunkt der niederrheinifchen 
Beitrebungen für eine rheiniſche Republik im Gegenjat 
zu ben oberrheinifchen Beftrebungen für ein Aufgehen der 
Rheinlande in der franzöfifchen Republik. Görres begann 
bier feine wunderbar auf- und abfteigende Laufbahn mit 
dem Eifer der rüdfichtslofeften Hingebung an die Idee, 
welche ihn augenblidlich gefeffelt hatte. Er gab zuerft dag 
„Rothe Blatt” Heraus, in welchem er die Schurfereien 

100 





796 


Sefinnung aud) die Gabe der Darftellung fügt, haben 

wir noch immer Mangel. 

4. Wilder Honig (Fortfegun: 
Bon Alban Stolj. 
&. 8. 1 Th. 10 Ngr. 
Der hochehrwürdige Herr, der mit der Gefchichte des 

freiburger Erzbisthums eng verwachſen ift, hat fon in 

den von gewiffen Kreifen mit Beifall begrüßten „Witte 
zungen ber Seele“ dem Latholifchen Publikum, das nicht 
zu denfen verlernt hat, eine lange Reihe von Gebanfen- 
gängen gegeben, die für den Vſychologen nicht minder 
intereffant find als für den Dogmatifer. In „Wilder 

Honig“ gibt uns ber merkwürdige, vielfeitige und innerlich, 

vertiefte Geift des Autors eine jo nadte Darlegung feines 

innern Menſchen, wie fie die Tagebuch und Memoiren- 
fiteratur unſers Zeitalters kaum in ähnlicher Weiſe aufe 
weifen bürfte. Alle Vorgänge der Außern und innern 

Welt werden mit feltener Ausführlichkeit durchdacht und 

durchſprochen: leuchtet aus dieſen Herzensergießungen 

neben fireng katholiſch-dogmatiſcher Ueberzeugung auch 
eine monotone Empfindfamteit, oft eine befremdende Süß- 
lichkeit heraus, fo fol doch nicht geleugnet werden, daß 
andererſeits eine gewiſſe Derbheit, Menfchen und Ber- 
hältniffe anzufehen und zu behandeln, ſowie ein lebhafter 

Realismus, der die Dinge der fihtbaren Welt unter dem 

Gefiätspunft regelmäßiger und gefeglicher Zwedmäßigfeit 

betrachtet, fi in dieſen Tagebuchauſzeichnungen ſtark gel- 

tend madt. Wir unfererfeits Lönnen nicht bie, Anſicht 
derer heilen, die derartige Veröffentlihungen als ein 

„Sicnadtausziehen auf einem Marftplag am hellen Tage” 

bezeichnen: wir halten gerade die Bekenntniſſe und bie 

ſeeliſchen Vorgänge höchſter geiftlicher Würbenträger, mögen 
fie nun der latholiſchen oder ber proteftantifchen Kirche 
angehören, für fehr geeignet, die richtige Auffaſſung und 
das gerechte Verſtändniß derartiger Ficchlich orthoborer 

Naturen, wie die des Verfaflers, zu fördern, und fo den 

Schluſſel zu mander, dem Laien nicht immer begreiflichen 

Handlung unferer geiftlichen Ariftofratie zu geben. Dazu 

fommt noch, daß die vorliegende Schrift in äfthetifch fhd- 

ner Form gehalten ift, die nicht felten an Goethe'ſche 

Proſa erinnert. 

5. Margarethe Berflafien. Ein Bild aus ber katholiſchen Kirche 
von A. Pi en Meyer. 1870. 8 iu 
Ein ſchüchterner aber mwohlgelungener Verſuch, das 

Leben der wohlthätigen und religiöfen Frau, bie der Con - 

fequenz und Stärke des katholiſchen Syſtems alle Ehre 

macht, dem Lefepublitum zu vermitteln und die fegend- 
reiche Thatigkeit der Fromme verftändigen Rheinländerin 
zu beleuchten. Briefe von Clemens Brentano fowie ein 

Anhang von Briefen Margarethens tragen dazu bei, bie 

Theilnahme für die Biographie, welche die Feder einer 

Sram nicht verleugnet, zu erhöhen. 

6. Zur Seſchichte der refigiöfen Wandlung Kaifer Marimilian's II. 
von J. Reiges. Mit bisher ungedrudten Urkunden aus dem 
Näbtifchen Archiv zu Wien. Leipgig, Dunder und Humblot. 
1870. Gr. 8. 12 Nor. 

Eine urfprünglid von ber leipziger philofophifchen 

Facultut gebilligte Inauguralbifiertation hat der Autor 

mit wol etwas veränderter Yaflung als bie vorliegende 


der „BWitterungen der Seele"). 
teiburg i. Br., Herder. 1870. 


Vom Büchertiſch. \ 










Schrift erſcheinen laffen. Sie behandelt das mertwilrdige 
Berhältnig des humanen Kaiſers zur Reformation und 
die Stellung zu ben confeffionellen Streitigkeiten feiner 
Zeit. Marimilion, im Herzen immer Lutheraner, foll 
noch vor feiner Thronbefteigung dem offenbaren Uebertritt 
zum Lutherthum beabſichtigt Haben. In diejem Falle hätte 
der freibenfende Monarch indeß eine dreifache Oppofition 
borgefunden: einmal bie katholiſche, dann die calbiniſche 
und drittens die der Intherifchen Fürften: „Was jollte 
diefen“, ruft Reitzes aus, „ein Kaifer frommen, der die Bor- 
theile ber Einziehung des Kirchenguts ſich allein zumen- 
dete, die Entwidelung der Landeshoheit hemmte und fie 
ſelbſt, die vielleicht jeder vom einer ihre jpätern Nach-⸗ 
kommen zierenden Kaiſerkrone träumten, zu bloßen Ba- 
fallen eines kräftigen Reichs herabbrüdte?" Aber die Kraft 
des Kaifers, der trog alledem ben Schritt des Uebertritis 
thun wollte, erwies ſich zu ſchwach gegenüber jenen Geg« 
nern. Reiges zeigt, wie die Berhältwiffe den Monarchen 
zwangen, in einer Annäherung an die Be 
Partei die alten Traditionen feiner Dynaftie wieder rn 
zunehmen. So glaubte Marimilian feine politiſchen Plane 
durchführen zu fönnen, die auf der Ausficht beruhten, 
Spanien und Polen für das Haus Habsburg erwerben 
zu können. Die Schwäche des Kaiſers auf dem regend- 
burger Reihötag wird durch diefen Umftand erflärlicer: 
erflärlich wird dadurch aber auch der näcjfte Verlauf der 
deutfchen, ſpeciell öſterreichiſchen Geſchichte, der durch) den 
verhängnigvollen Compromig Mazimilian’s mit ber fatho- 
liſchen Partei bedingt war. „Fuͤhrte ja doch die Bahn“, — 
fagt Neiges, „melde Marimiltan’s Halbheit jet betrat, 
zum Dreißigjährigen Krieg und zur öfterreihifchen Gegen- 
veformation, jener nur mit bem blutigiten Wüthen der 
Inquifition zu vergleichenden Leiftung jejuitifcher Politit! 
Die angehängten actenmäßigen Belege find nen umb ger 
währen Aufſchluß über den Kaifer und jeine Wandlung, 
7. Briefe über die chriſtliche Religion von 5. AU. Müller 
Stuttgart, Kötzle. 1870. Gr. 8. 1 Thlr. 
Der eifrige Berfafer hat den Muth, der augen! 
lichen Phafe, in ber fi) das moderne Kirchenthum ber 
findet, kühn ins Geſicht zu fehen. Cr dedt bie Schäden 
der dogmatifchen Kirchlichkeit unferer Tage jchonungsl 
auf, geht auf die Bedürfniffe der Gemeinde jorglich e 
und verfehlt nicht, durch feine erwärmende Gefinnung 











gedankenreiche Sprache einen wohltyuenden Einbrud 
machen. Wenn er gleich zu Anfang die Reformation 
Januskopf von Reaction und Foriſchritt bezeichnet, 
einen widerſpruchsvollen Compromiß und eine 
Halbheit, fo fönnen wir ſchon aus den Eingang jchlü 
was wir im Allerheiligften des Hauſes jehen ma 
Ueber die Perſönlichkeit und die Lehre Jefu gibt 
Autor tief Gedachtes; intereffant ift der Hinblid auf 
zeitgenöffifchen Communismu® Jeju. Der vierte Br 
bringt und eine Beleuchtung bes jubenchriftlichen „° 


Iinismus“, defien Quinteſſenz Müller in dem Beftrel 
des Apoftels zu finden ſcheint, nit nur die unmittel 
mündliche Tradition von den Lehren des Meifters zur 
achten und zurüchzuweiſen, fondern auch das gefi 
Gotteswort feinerzeit als ungültig zu zerreifien. 

die hierarchifchen Veftrebungen der Zeit richtet ſich 
fünfte Brief, der von dem johanneifchen Lehren vebet, 





Feuilleton. 


nach Müller der Hierarchie ſehr unbequem geworden. 
Der Berfaffer äußert: 

Die chriſtliche Entwidelung bat fi) weientlih an bie Ber- 
bindung von Judenchriſtenthum und Panlinismus gehalten und 
den Fohannes noch weit mehr und mit weit größerm Unrecht 
über dem Paulus vernadläffigt, wie den Platon über dem 
Ariftoteles. Die Hierarchie aber verabfcheut die Principien des 
Johannes und muß fie verabjcheuen, weil die abfolute Tole⸗ 


197 
ranz deren Conſequenz ift, und das Pfaffentbum nur in ber 
Intoleranz leben und gedeihen kann, wie der Teufel nach Jo⸗ 
bannes nur in der Finfterniß. 

Nach diefer Probe der Denkweife und des Stils des 
Autors kann man ermeflen, welche Anfchauung der 
Schlußbrief „Ueber das Chriftentfum und die Gegen- 
wart“ vertritt, 


Senilleion, 


Notizen. 

Aus der umfangreichen „Allgemeinen Encyllopädie der 
Wiflenfchaften und Künfte” von Erſch und Gruber Hat die 
Berlagsbuhhandlung von F. A. Brodhaus eine Separat- 
ausgabe der act Bände veranftaltet, welde in einer Reihe 
werthvoller Monographien „Griechenland geographiſch, ge- 
ſchichtlich und eulturhiſtoriſch von den Äfteflen Zeiten bis auf 
die Gegenwart“, darſtellen. Eine einzelne Kraft Hätte einen fo 
umfafjenden Stoff nit in gleicher Weiſe bemältigen können, 
da eine ganz andere Richtung der Studien dazu gehört, um 
von der Geſchichte des alten Hellas, ober vom der des mittel. 
alterliden und neuen eine wiflenjchaftlich begründete Darftellung 
zu geben; ganz abgejehen von der Wrbeitstgeilung in Bezug 
auf die einzelnen Zweige: Mythologie und Kirche, das Recht, 
die Literatur, die einzelnen Künſte. Die Folge der Bünde 
und Abhandlungen, in welde fi die Gefanımtdarftellung 
gliedert, iſt: 

Erſter Band: A. Alt-Oriehenland. I. Geographie, von 
Brof. Dr. 3.9. Kraufe in Halle. II. Geſchichte von der Urzeit bis 
zum Beginn des Mittelalters, von Prof. Dr. ©. Fr. Hergberg 
in Halle. — Zweiter Band: III. Griechiſche Sprade und Dia⸗ 
Ielte, von Prof. Dr. 5.W. X. Mullach in Berlin. IV. Griedifche 
Mufit, Rhythmik und Metrit, von Prof. Dr. C. Fortlage in Jena 
und Brof. Dr. H. Weiffenborn in Erfurt. V. Griechiſche Me- 
trologie, von Gymnaſialdirector Dr. Fr. Hultfch in Dresden. 
VI. Griechiſche Fiteratur, von Prof. Dr, Theodor Bergk in 
Halle. — Dritter Band: VII. Religion oder Mythologie, Theo⸗ 
logie und Gottesverehrung der Griechen, von ‘Prof. Dr. Chri⸗ 
ftian Beterfen in Hamburg. VIII. Griechiſche Kunft, von Prof. 
Dr. ©. Burfian in Jena. — Bierter Band: IX. Griedifche 
StaatsalterthHümer, von Prof. Dr. H. Brandes in Leipzig. 
X. Griechiſche Privatalterthümer, von Prof. Dr. Hermann Göl 
in Schleiz. XI. Griehifhes Theater, von Prof. Dr. Friedrich 
Wiefeler in Göttingen. — B. Griedenland im Mittelalter und 
in der Neuzeit. SU. Geographie. Bon der weſt⸗ und oflrö- 
mifchen Katjerzeit ab durch das Mittelalter bis zur Gründung 
des neuen griechifhen Königreihe von Prof. Dr. 3. 9. Kraufe 
in Halle. — Fünfter Band: XII. Griechiſche Kirche, von Dr. 
3. Hafemann, PBaftor in Arzberg. XIV. Chriſtlich⸗griechiſche 
oder byzantiniſche Kuuft (Architektur, Skulptur und Malerei). 
Bon Brof. Dr. Fr. W. Unger in Göttingen. Erſter und zwei- 
ter Abfchnitt. — Sechster Band: Ehriftlich - griechifche oder by⸗ 
zantinifhe Kunſt (Arditeltur, Skulptur und Malerei). Bon 
Brof. Dr. Fr. W. Unger in Göttingen. Dritter und vierter 
Abſchnitt. XV. Geſchichte Griechenlands vom Beginn des 
Mittelalters bis auf unfere Zeit (1821). Bon Brof. Dr. €. 
Hopf in Königsberg. Erſte und zweite Periode. — Siebenter 
Band: Geſchichte Griechenlands vom Beginn des Mittelalters 
bis auf unjere Zeit (1821). Bon Prof. Dr. C. Hopf in Kö. 
nigeberg. Dritte Periode- XVI. Griehifh-römiihes Recht 
im Mittelalter und in der Neuzeit. Bon Dr. C. W. E. Heim- 
bad), Bicepräfident des Oberappellationsgerihts in Jena. — 
Achter Band: XVII. Geſchichte Griechenlands im nennzehnten 
Jahrhundert. Bon Prof. Dr. H. F. Hertzberg in Halle. 
XVII. Geſchichte der byaantinifgen oder mittelgriechiſchen Lite⸗ 
ratur, von Juſtinian's Thronbeſteigung bis auf die Eroberung 
Eonftantinopels durch die Türken, von 529—1453. Bon Dr. 
Rudolf Nicolai in Berlin. 


Die Anordnung der einzelnen Abhandlungen erjcheint ung 
ſyſtematiſch begrlindet, vielleicht mit der einzigen Ausnahme, daß 
die achtzehnte AbHandlung: die Gefchichte der buyzantinifchen 
ober mittelgriechiſchen Literatur, fi) wol befier der vierzehnten 
über chriftlich » griechiſch ober byzantiniſche Kunſt angereiht 
hätte, flatt den Abſchluß des ganzen Werts zu bilden. Wäh- 
rend gerade diefe Abhandlungen, wie bie Darftelung der 
mittelgriechifchen Gefchichte, durch ihr minder befauntes und 
durchforfchtes Thema anziehen, haben die Abhandlungen über 
aftgriechifche Literatur, Sprache, Mythologie, Kunft und Alter- 
thümer, fo betreten auch diefer Boden fein mag, eine wiflen- 
fhaftlihe Gediegeuheit für fi, welche feine Koncurrenz zu 
fheuen braudit. 

Guſtav Freytag iſt von der Redaction der „Grenzbo⸗ 
ten‘ zurldgetreten und hat feinen VBefigantheil an der Zeitfchrift 
dem Berleger, 5. W. Grunow, Hberlaffen. Die vorwiegend 
publiciftiiche Zendenz war in letter Zeit in den ‚„‚Grenzboten‘‘ 
fo in den Bordergrund getreten, daß fie auf einen kritiſchen 
Einfluß, wie ihn das Blatt zur Zeit Inlian Schmidt's aus 
übte, verzichtet zu haben ſchienen. Man fand meiftens unbe- 
deutende oder nur zeitgejchichtliche Werke in demjelben beſprochen 
und berlidfichtigt, vorzugsweife die Productionen befreunbeter 
Autoren. Eine umfaflende Darftellung umferer Titerarifchen 
Bewegung zu geben, ober aud nur auf bie hervorragenden 
Zalente aufmerkſam zu maden, lag offenbar nicht mehr im der 
Abficht der Herausgeber. Daß eine Verſchiedenheit veligiöfer 
Anjhauungen zum Bruch zwifchen dem Berleger und dem 
Herausgeber führen würde, konnte man nad den wenig ber- 
vortretenden Tendenzen ber Zeitfchrift auf diefem Gebiete faum 
erwarten. Der neue Rebacteur derjelben, der Sohn Robert 
Blum’s, der Reichstagsabgeordnete Hans Blum, der fid 
als tlichtiger Publicift bereits bewährt hat, wird ziwar, bem 
Anfchein nah, duch einen religiöfen Sclagbaum in feiner 
freien Bewegung etwas gehindert fein, aber dafür dem Blatt 
wieder eine größere literarifhe Regſamkeit und kritiſche Be⸗ 
deutung zu fihern vermögen. Der am häuslichen Herd der 
„Grenzboten“ ausgebrocdhene Conflict dat bereits in weitern 
Kreifen ein Echo gefunden, indem der Berleger des Blattes in 
einer öffentlichen Erklärung die Gerichte in Zweifel ftellte, de⸗ 
nen zufolge Guſtav Freytag im Hirzel'ſchen Berlag mit dem 
1. Sanuar 1871 eine neue Zeitjchrift erfcheinen laffen würde. Er 
appeflirte dabei an die Chrenhaftigleit des Autors, der ſich 
durch einen Paragraphen im Berlagscontract verpflichtet hatte, 
nad feinem etwaigen Rüdtritt von den „Srenzboten‘ feine Zeit- 
ſchrift von gleicher literariſch⸗politiſcher Tendenz herauszugeben. 

Gleichwol wird jest eine ſolche Zeitihrift angekündigt: 
„Im neuen Reid. Wocenfchrift für das Leben des deutfchen 
Bolls in Staat, Wiffenfhaft und Kunft‘ (eeipaig Hirzel). 
Doch find die comtractlihen Bedenken des Berlegers der 
‚„ Srenzboten‘ dadurch befeitigt, daß Dr. Alfred Dove 
als Heransgeber und verantwortlicher Redacteur genannt ift, 
während von Hrn. Dr. Guſtav Freytag nur mitgetheilt wird, 
daß er feine journaliftifche wbätigteit ausſchließlich diefer Zeit- 
fhrift widmen werde. ine foldye gelegentliche Mittheilung 
einer dem Verleger des neuen Blattes angenehmen Thatſache, 
mag fie auch in erſte Linie geftellt fein und den Herausgeber 
und Redacteur etwas in den Schatten drängen, verträgt fid 
bemnad mit allen Paragraphen des frühern Contracts und 





798 Feuilleton. 


wird dem Verleger der „Grenzboten“ zu Feiner weitern Intere 
pellation Veranlafjung geben fännen, ihn aber über den Werth 
derartiger contractlicher Befimmungen aufzuffären vermögen. 

Die neue Zeitfehrift verheißt in ihrem Profpet Bieles 
und Großes: 

Fur das neue Reich der Deutichen, welches durch Prenßen 
im Jahre 1866 begründet und durch die Erfolge diefes Jahres über 
den Main ausgedehnt ward, fordert unfer Blatt den Einfhluß 
ſammtlicher deutfcher Staaten, engere gefeigfiche und verfaffungs- 
mäßige Verbindung der Theile auf jedem Gebiete gemeinfamer 
Intereffen. Cbenfo die Befeitigung der legten Reite altfränfi« 
fer Bevormundung und polizeiliher Willkür in den einzelnen 

staaten ; die Ausbildung der Zucht und Hingabe an ben Staat 
in den Bürgern; die Kräftigung des Selbfiregiments in jedem 
Kreife des Öemeinlebens. Die Wocenfchrift wird aufer poli- 
tifchen Xrtifeln auch Berichte und Correfpondengen aus den ein 
zelnen Landſchaften, und im regelmäßiger Folge beurtheilende 
Meberfichten Über die Zagesereigniffe in der politifhen Welt 
Bringen; fle wird aufmerham bie Politif der Außenmächte und 
die Stimmungen der Bölfer verfolgen, und verfpricht nament» 
lid) der Sache des Deutſchthums in Deſterreich und Rußland, 
in allen Ländern, wo deuiſche Coloniften ſich angefiebelt haben, 
die wärmfte Theilnahme.“ 

Die Zeitſchrift will das leiſten, was bie „Greuzboten“ 
eben mit leiſten durften. „Sie beabfihtigt bie focialen 
und Eulturfragen der Zeit mit Aufmerfamfeit zu behandeln, 
in dem Kampfe zwilhen Staat und Fire und gegenüber 
den Anmaßungen ber iatholiſchen umd lutheriſchen Orthodorie 
ihre Pflicht zu thun und den Ehrennamen eines freifinnigen 
Blattes wohl zu verdienen.” Auch für „heimiſche Sitte, gute 
Bürgerlichfeit und inniges Bamilienleben wird die Zeitſchrift 
eintreten; fie wird alfo ein „folides‘ Blatt fein. Weiterhin 
heißt e8: „Im der angeftrengten Arbeit der letzten Jahrzehnte 
ſind die realen Intereffn der Ration fehr mächtig geworben, 
die Ausbildung für das prattiſche Leben nimmt ungleich größern 
Raum in — — als zur Zeit unſerer Bater. Gegen bie 
Bildungsformen der letvergangenen Generation, welde allzu 
ausfchfieglic der Humanififhen Literatur zugewandt war, ſteht 
ſchroff eine jüngere Methode ber Bildung, die als materialifiiich 
geiholten wird und allerdings im entiprechender Einfeitigfeit 
von der Wiſſenſchaft vorzugsweife das Rutzliche, von der Kunft 
bequemen Ginnengenuß begehrt. Den großartigen Erfolgen 
diefes Steebens in fortichreitender Bewältigung von Raum und 
Zeit, in Hebung äußerer oogtfahrt und Minderung menſch · 
ũchen Elends fol durch dieſe Wochenſchrift durchaus ihr Recht 
widerfahren; um ſo mehr aber gilt es jetzt, die ideale Habe 
unferer Nation, die höchſen Refultate deutfcher Wiffenfchaft, die 
Gefege edler Schönheit in Sinn und Gedägtniß der Gegenwart 
zu erhalten. Im folder Tendenz wird das Blatt fid zur Aufe 
gabe maden, wichtige neue Werke aus allen Gebieten ber 
Wiſſenſchaft und Kunft eingehend zu beſprechen, die Ergebniffe 
meuer Forſchungen und den Gewinn neuer Entdedungen dar 
zulegen, über Richtungen und Fortſchritte durch periodifche Ueber« 
figten zu befehren.” „Sm neuen Rei” wird alfo für Haupt 
und Glieder, für Staat, Kirche, Sitte, Wiſſenſchaft, Literatur 
und Kunft in reformatorifcher Weife geforgt werben. Der Ten⸗ 
denz darf man beifimmen — der Name des Hauptmitarbeiters 
bürgt für werthvolle Beiträge: wir fehen alfo der erften 
Nummer mit Spannung entgegen. 

Die neulich, von Alfred Meißner in Nr. 41 d. BI. gebrachte 
Mittheilung tiber die Bibliothet Schitler'e bedarf einer 
Grgimgung, welche uns durch die Buchhandlung von I. A. Star- 
gardt in Berlin zugegangen if. Im Herbfle des Jahres 1851 
erftand die Berlagskachgandtun, von des Dichters älteſtem 
Sohne Karl Freiherr von Schiller % . 14. September 1793, 
FR 21. Juni 1857), Oberförfter in Naunftabt am Koder, eine 

feine Blicherſammlung, welche diefer von feinem verfiorbenen 
Bruder übernommen hatte. Während die von Alfred Meiner 
beſprochene Sammlung mehr einen allgemeinen Charakter trägt, 
ß diefe Bibfiothet vorzugemeife eine Bibliothek franzdfifcher 

emoiren, welche der Dichter für feine Geſchichtswerie, na- 





mentlich für die von ihm heransgegebenen Memoiren brauchte. 
Die Sammlung enthält 156 Bände, darunter Acten und Mer 
moiren zum frieben von Utrecht, Nymwegen und Rysmid, 
Memoiren zur Gefhidte Heinric's IIL., der Regentfejaft, Lud- 
wig’s XIV. Memoiren von Buffy Rabutin, Zoli, Suly, 
Bafjompierre, Montecuculi, Marquis de Feuquſere, Boulainvil- 
Tiere, Eaftelnau, Temple, der Marquife von Pompadour u. a., 
außerdem nur wenige größere Geſchichtswerle, wie Gibbon's 
Seſchichte des Verfalls und Untergangs des römijchen Reiche”. 
Ein genaner Katalog, mit erläuternden Briefftellen und Ans 
merfungen und einem Facfimile aus Schiller's eigenhändigem 
BVlicherverzeichuiffe, findet fi) in der Meinen Schrift: „‚Kriedrih 
von Schiller's Bibliothel. Zum 10. November 1859“ (Ber 
Kin, Stargardt). Bis zu dieſem Jubiläum befand fih die 
Sammlung in Berlin in den Händen des Buhhändlers Star 
gardt, ohne daß fie indeß, wie Alfred Meißner von eimer ders 
artigen Sammlung in einer großen Stadt erwartet hatte, ein 
Bielpunft von Wallfahrten geworben wäre; dann bat fie eine 
Ruheſtätte in der Hamburger Stadtbibliothek gefunden. 





Bibliographie. 

Diäter sup ben Zagehuße sic Gteabberaert wäßtenb ber Beilage 
zung in den Monaten Auguf und Gepember 1870. Altona, Berlast« 
———— En: Gtatififg-geographifge und Hiforiigepotitiide 

. ei orije 
selten Fangen Ba Ha hi * 












Ewald, d., Wa ir Wieberferfleilung Deutjglanbe. Leip 
& h fi 
gen zur Wie ung gta: nis. 
Gen Je w über Kusslands Kriegemacht und Kriegspolltik. 


us dem Russischen. Mit olnem Vorwort von Julius Eckardt, 


1% Bammpf und Sieg. Sriegetieher. Berlin, Squeigeer 


Gasener, F. I., Die Bchlller-Gosthe'schen „Xenfen“. Mit einer 
Einleitung und Erläuterungen. Wien, Helf, Gr. 8. 10 N; 


Huber 

Öregorouins, ©, Seialäiz der Stadt Rom im Mittelalter. Som 

ʒ w zum 16, Jahrhundert. ter Bb. Gtuttgart, Cotta. Gr. 5. 3 Zpir. 
* 


ie Gunftbamen und bie Rinder ber Liebe im Haufe Habebutg. Eine 
galante Etudie von A. 2. Berlin, Shlingmann. @r. 16. 7, Kar. 

Hantke, A., Die Chronik des Gislebert von Mons. Leipzig, Dun- 
ker u. Humblot. 1871, Gr. 4. 15 Ngr- 

„BSlerieL, D.. Beaen bie Brangoien, Preubiige Sriege- uns as. 
nigslier, Berlin, Goimsigger 16. 10 A: ST 
2x u fglite Geigicten. 2 Bbe. Berlin, Ianfe. 1371. & 
Ir. 15 Mr. 

Hetiner, $., Goethe und Siiller, 2 Wblheilungen. Braunfiteig, 
Biene Eh ee a Alle Kr “ 

— — Literaturgejdichte bes adtzehnten Jahrhunderts. Ster Tpl.: Die 
Es @iterotus im 18. Jahrhundert. 38 Bud, 2te Mhth.: Das Tlaii- 





[2 Sgltatter der ventigen Eiteratur, "sie Mbit; Das Ipeal der Sumasir 
t. ‚Braunfgmeig, Biemeg u, Cohn, Gr. 8, 2 Thle, 25 Mar. 
Birth, G,, Tagebuch des deutsch französischen Krieges 1870. Eine 
Sammlung ’der” wichtigsten Quellen. Im Vereine mit d. x; Gosen bear- 
Deikn, „te Hof Berlin tlke n. van Moyden. 4, 10 Mer 
the, ©, Gin Tag in Gaarbrüden, ober: Der framgofe in der 
meld. pnmöritifges Kriegesiio mir Gefang. Beriin, Kaflar, Gr. in 
Ir. . 
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‚hen Generals Fadejew über die 
Streitkräfte Russlanı t nicht blos in mil ischen Krei- 
sen, sondern auch den Politikern aller Nationen das 
grösste Aufsehen erregt; denn noch niemals ist der Status- 
quo und die aggressive Politik des Czarenreichs so sach- 
kundig und so rückhaltlos dargelegt worden. Vorliegende 
deutsche Uebersetzung des Werks, eingeleitet durch ein 
Vorwort von Julius Eckardt, darf daher gerade im 
gegenwärtigen Augenblick sicher auf allgemeine Beachtung 
rechnen. 







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Meerestiefen von Ernst Haeckel. Mit 1 Titelfupier 
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denbrugk. — geschichtliche Verhältniss zwischen 
Deutschland und Frankreich IV. Epoche des dreissigjähri- 
gen Kriegs 8. Von Prof. Wegele. — Nekrelog. 

Literatur: Charles Dickens, von J. J. Honegger. — 
Beiträge zur neuesten vergleichenden Sagenforschung auf 
indogermanischem Gebiet II, von Dr. Hermann Ethe. — 
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kologie: Julius Braun, von W. Gross. 

Geographie: Wirthschaftliche Verhältnisse auf Neusce- 
land. — Nekrolog. 

Meteorologie: Der Einfluss des Krieges auf die Witte 
rung, von Klein. 

Volkswirthschaft: Die volkswirthschaftlichen Kräftı 
Russlands II, von Dr. Dühring. — Land und Leute, sowie die 
wirthschaftlichen Zustände in Elsass und Lothringen I, or 
Emminghaus. — Nekrolog. 5 

Landwirthschaft: Die Düngerfrage II, von Birnbaum. 

Kriegswesen: Fliegende Kolonnen, von A. G. v. Ber 
neck. — Die Panzerflotten der ausserdeutschen europäische: 
Mächte. — Nekrolog. 


BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT in Hildburghausen. 














Verantwortlicher Rebacteur: Dr. Eduard Grohhaus. — Drud und Berlag von 5. A. Grodhaus in Feipsig. 











Blätter | 


literariihe Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 





Erſcheint wöchentlich. 


—4 Ar. 51. er 


15. December 1870. 





Inhalt: Bunfen’s Memoiren. Bon Hermann Lüde. — Neue Erzählungen und Romane, Bon Rudolf Gottſchall. (Beſchluß.) — 
Ein fteirifcher Bolksdichter. — Zur Frauen⸗Unterrichtsfrage. — Feuilleton. (Menue Boethe- Ausgabe, Der deutihe Spradunter- 
it und die Mundarten; „Germaniftifche Studien’; Notizen.) — Bibliographie. — Anzeigen. 


Buufen’s Memoiren. 


Chriſtian Carl Joſias Freiherr von Bunfen. Aus feinen Brie⸗ 
fen und nad) eigener Anſchauung gefchildert von feiner Witwe. 
- Deutfche Auegabe, durch neue Mittheilungen vermehrt von 

Friedrich Nippold. Zweiter Band: Schweiz und Eng⸗ 

land. Leipzig, Brodhaus. 1869. Gr. 8. 3 Thlr. 

. Die Bunfen’fhen Memoiren haben, wie die ihr bio» 
graphifch und zeitgefchichtlich fo intereffanter Inhalt nicht 
anders erwarten ließ, bei dem Publikum und der Prefje 
eine überaus günftige Aufnahme gefunden. In England 
find innerhalb weniger Donate zwei Auflagen des Werke 
erfchienen, unb in Deutſchland ift in mehr als vierzig 
eingehenden Befprechungen bes erften Bandes der von 
Profeſſor Nippold beforgten Ausgabe, in Blättern der ver⸗ 
ſchiedenſten Firbung der Werth diefer Biographie und 
damit zugleich das Verdienſt und die Bedeutung Bunſen's 
auf da8 Tebhaftefte anerfannt worden; nur die jefwitifch- 
ultramontane Partei hat nicht unterlaflen, aufs neue, wie 
vor dreißig Jahren, feindfelig gegen Bunfen aufzutreten 
und mit ihren befannten taktifchen Künften Angriffe gegen 
ihn zu richten, auf welche bie einzig richtige Erwiderung, 
die überhaupt gegeben werben konnte, in den „Preußifchen 
Sahrbüchern” (vom März und April 1869) durch eine 
zufammenhängende Darftelung der kölner Wirren nad 
ben im erften Bande veröffentlichten Documenten bereits 
erfolgt ift. 

An Zufägen zu dem Text des Originals, an neuern 
werthuollen Mittheilungen ift ber zweite uns vorliegende 
Band der bentjchen Ausgabe noch reicher als der erfte; 
fie umfafjen gegen 200 Seiten und find theils aus Brie⸗ 
fen und Tagebüchern Bunfen’s entlehnt, theils beftehen 
fie aus längern Abhandlungen und Denkfchriften deffelben, 
unter denen die Aufzeichnungen aus ben Jahren 1848 
und 1849, bie fih auf die politifchen Vorgänge jener 
Zeit beziehen, von beſonders hervorragendem Interefle find. 

Aus dem reife der römischen Wirkfamfeit, mit deren 
- Schilderung der erfte Band ſchloß, fehen wir Bunfen im 
1870, 51. 


* — 


zweiten, welcher die Jahre 1838—49 umfaßt, auf einen 
neuen und größern Schauplag der Thätigkeit übergehen; 
die Beziehungen feines bisher ſchon reichbewegten —* 
nehmen die weiteſten Dimenſionen an, die ganze Biel- 
feitigfeit feiner Natur tritt zu Tage. Mit befonderer 
Aufmerkfamfeit aber beobachten wir fein Berhältniß zu 
den politifhen Problemen jener Zeit. Wir fehen, wie er 
feit der Ernennung zum Geſandten in London den Einfluß 
feiner Stellung für die Zwede bes immer fefter in feiner 
Ueberzeugung Wurzel fchlagenden Liberalismus unermüb«- 
lid) geltend zu machen verfudt; fein Urtheil und feine 
Mittheilungen über die politifchen Ereigniffe jener Tage, 
denen er fo nahe ftand, geben uns manchen intereffanten 


Auffchluß. 


Nachdem Bunſen feine capitolinifhe Wohnung in 
Rom verlaffen, begab er fich zumfichft nach Miinchen, wo 
er befonders mit Schelling lebhaft verkehrte und das neue 
Syſtem beffelben mit begeiftertem Intereſſe zu ftudiren 
begann. Im Auguft 1838 reifte er nad; England und 
fand fich Hier fehr bald Heimifch; feine Frau war Eng- 
länderin, und mit ben bedeutendften Männern des Landes 
hatte er fchon in Rom Verbindungen angefnüpft. Weber 
die römiſche Streitfrage, die den Nüdtritt von feiner 
Stellung in Rom zur Folge gehabt, fand er felbit bei 
ihm naheftehenden proteftantifchen Freunden viele unklare 
Anfihten, ſodaß er ſich doppelt veranlaßt fah, feine 
Sade zu vertheidigen, als die Feindfchaft der Anhänger 
O'Connell's und der hochlirchlichen Partei in den Blättern 
öffentlich gegen Preußen ausbrach. 

Den mächtigen Eindrud, den das englifche Leben auf 
Bunſen übte, ſchildert er felbft in mehrern Briefen mit 
enthuftoftifhen Worten. Im Gegenfat zu der politifchen 
Adgeftorbenheit Roms, zu ber politifchen Unmündigkeit 
Deutjchlandse in jener Zeit mußte er den Segen eines 
großen ftaatlichen Gemeinwefens, in dem ſich der Wille 
der Nation einen freien, felbftändigen und impofanten 


101 





802 


Ausdrud zu geben vermag, doppelt lebhaft empfinden. 
Er jchreibt an John Hille: 

Sch wünfde, ich könnte Ihnen eine adäquate Idee geben, 
was für eine Macht die Anfchauung des engliſchen Leben® auf 
mid) ausübt. Nie habe ich es fo leicht und angenehm gefunden, 
auf meinen eigenen deutſchen Fittihen zu fliegen, als in ber 
weiten und anregeuden Atmofphäre diefes Lebens. In Münden 
fand ich zum erften male nad) vielen Jahren Muße und Be- 
geifterung wieder für die höchſte, fpeculative Thätigleit; aber 
erft jet, wo der andere Pol meiner Eriftenz durch England 
eleftrifirt worden ift, flihle ich die neue Schwunglraft, melde 
Schelling meinem intellectuellen Leben gegeben bat. 

Dann fehreibt er einem Freunde über feinen erften 
Beſuch im Parlament: 

Meine erfte parlamentariſche Nacht liegt hinter mir. Ich 
wünſchte, Du könnteſt Dir eine Idee machen von dem, was id 
fühlte. Ih ſah zum erften mal Männer, die Glieder eines 
wahrhaft germaniſchen Staats, an ihrem ehrenvollften, ihrem 
eigentlichen Plate, bie höchften Intereffen der Menſchheit mit 
gewaltiger Rebe vertheidigend, Tämpfend, wozu der Juſtinct 
den ganzen Fräftigen Mann treibt, aber mit den Waffen des 
Geiftes.... Ich fah vor mir dies Weltreich regiert und die übrige 
Welt controfirt durch diefe Berfammlung, und ich fühlte, daß, 
wäre id in England geboren, id) lieber todt fein möchte, ale 
nicht unter ihnen zu figen und zu ſprechen. Ich dachte an mein 
Baterland und dankte Gott, daß ich ihm danken konnte, eim 
Deutfcher zu fein, aber ich fühlte au, daß wir auf diefem 
Felde alle Kinder feien verglichen mit den Engländern. Wie 
viel vermögen fie, mit ihrer Disciplin an Leib, Geift und 
Herz, bei mäßigem Genie und felbft bei bloßem Zalent! 


Die Schilderungen der fonftigen Erlebniffe während 
diefes Aufenthalts in England, der Ausflüge, die Bunfen 
von London aus nach Wales, Drford, Cambridge und 
nach dem weftlihen England unternahm, bieten ein mannid)- 
faltiges, buntfarbiges Bild. Bon befonderm Intereſſe er⸗ 
ſcheint das fogenannte Cymreigybdionfeft, dem Bunſen zu 
Llanover in Wales beimohnte, eine Dctoberfeftlichkeit, bie 
zur Hebung und Erhaltung ber alt- walififchen (kymriſchen), 
im Bolle noch lebendigen Poefie von Freunden berjelben 
veranftaltet wird. Im feinem Tagebuch fchreibt Bunfen: 

Die Zeit der Ruhe in Llanover dauerte nicht fange; das 
Cymreigypdionfeft kam heran (9., 10. October), mit feiner poe- 
tifchen Lebendigkeit und kymriſch⸗engliſchem Geräufch.... Lepftus’ 
und Dr. Prichard's Gegenwart verfchönerte die Feier. Einen 
eigenthlimlichen Reiz gibt der Zufammenklunft das Gefühl des 
Volksthümlichen in dem Harfenfpiel, und in dem Dichten und 
Singen aus dem Stegreif. Diesmal kam der merkwürdige 
Umftand Hinzu, baß Graf Billemargue aus ber Bretagne gegen- 
wärtig war, ein junger achtbarer Forjcher, der die Bollsfagen 
und Xieder der Bretagne gefammelt hatte und zum Erflaunen 
der Kymri und zu ihrem unbefchreiblihen Jubel fi, wenn- 
leich nothdürftig, durch feine Mutterfprache verftändfich machen 
onnte, nach vierzehnhundertjähriger Trennung. Alles dies 
war ein wenngleich ſchwaches Abbild der helleniſchen Spiele, 
und die Profa dazu bildeten die Bälle der vornehmen Welt.... 
An ber kymriſchen Poeſie gewann ich große Freude buch Tur- 
ner’8 geniale Forſchungen, die mid von der Echtheit ber alten 
Lieder Üiberzeugten, und Jones Tegid's, des Barden, lebendige 
Dichtungen zeigten mir das Cigenthüimliche der alten Eimbern, 
mitten in ber englifhen Civiliſation und in dem umfchaffenden 
Gebiet des Ehriftenthume. 


Bon der Univerfität Oxford wurde Bunfen während 
biefer Zeit mit der Doctorwürde befchenkt; ein Brief fei- 
ner Frau fehildert die Promotionsfeierlichkeit, bei welcher 
die Studenten eine eigenthümliche und wenig ceremoniöfe 
Rolle fpielen: 


Kurz vor Beginn ber Feierlichkeit füllte fi die ober 


Bunfen’s Memoiren. 


Salerie des Saale von Studenten, bie mit furchtbarem Getöfe 
bereinftirmten, als wenn fie zeigen wollten daß fie fidy Hier 
gan zu Haufe befänben, und fofort ihre Gefühle laut zu äußern 
egannen. Zunächſt mit Cheers „für die Damen“, „alle Da- 
men’, „ale blauen Hüte‘. Dann wurden Staatsmänuer ge 
nannt, einige, damit ſich das Publilum mit Beifollsbezeigungen 
unterhalten könne, andere, 3. B. O'Connell, um fie mit einem 
Gehen! zu begrüßen, von dem das Gebäude ſelbſt zu zittern 
ſchien. Als die Doctoren und VBorflände einzogen, wurden fie 
verfchiebentlich begrüßt — einige mit Beifallgrufen, andere mit 
Geziſch m. f. w. 

Was die perfünlichen Beziehungen Bunſen's betrifft, 
fo fehen wir ihn in lebhaften Berfehr mit ben Theologen 
Arnold, Hare, Maurice, ber philantropifchen Elifabeth 
Fry, der glänzenden Lady Naffles, mit Palmerfton, Peel, 
Ruſſel, Sladftone; befonders intereffirt das Verhältniß zu 
bem legtern. Während ſich Bunfen gegen die Whigs, deren 
Richtung er für vorwiegend negativ erflärte, im ganzen 
ablehnend verhielt, fand er fih mit Gladſtone in voller 
Uebereinftinmung; das vielgenannte Werk befjelben tiber 
Kirche und Staat erregte feine höchſte Bewunderung, 
und er propbezeite dem Berfaffer feine fpätere Leitende 
Stellung, ohne allerdings vorauszufehen, daß berfefbe 
durch die Hochfirchlihe Wendung feiner Tendenzen mit 
feinen frühern Anfchauungen in den entjchiedenften Wider- 
ſpruch gerathen würde. 

Elf Monate waren ſeit Bunſen's Ankunft in Eng⸗ 
land vergangen, als er ſeine Ernennung zum Geſandten 
in der Schweiz erhielt. Namentlich den Bemühungen des 
Kronprinzen (des ſpätern Königs Friedrich Wilhelm IV.), 
der ſich, wie aus dem erſten Bande bekannt, lebhaft für 
Bunſen intereſſirte, hatte er dieſen Wartepoſten zu ver⸗ 
danken, für den er die ausdrückliche Weiſung erhielt — 
nichts zu thun. Ohne dem Stande der Dinge im Lande 
fremd zu bleiben, ging er während des einen Jahres fei- 
ner fchweizerifchen Geſandtſchaft allem politifgen Wirken 
aus dem Wege, und benugte feine Muße auf dem ibylli- 
ſchen Landſitz Hubel bei Bern hauptſächlich zur Yort- 
ſetzung feiner wiflenfchaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet 
der Bibelfunde und der ägyptiſchen Forſchungen. 

In der Mitte des Jahres 1840 ftarb Friedrich Wil⸗ 
helm II, und die Xhronbefteigung feines Sohnes ward 
von Bunfen wie von Taufenden damals in Deutichland 
mit der höchſten Begeifterung begrüßt. Die unbegrenzte 
ften Hoffnungen, die Erwartung eines neuen mächtigen 
Aufihwungs in dem gefammten politifhen und geifligen 
Leben Inüpften fi an die glänzende Erſcheinung dieſet 
Monarchen; auch außerhalb des preußifchen Staats famen 
ihm allerorten lebhafte Sympathien entgegen, und es be 
gleitete in der That eine Viſion von deutfcher Einigkeit 
diefen allgemeinen, aber kurzen Rauſch. 

Die erften Regierungshandlungen Friedrich Wil- 
helm's IV., unter denen bie Reactivirung Arndt's vielleicht 
die allgemeinfte Freude Hervorrief, fchienen die gehegten Er⸗ 
wartungen zu rechtfertigen. Weber jene königlichen Anläsfe 
und über die fie begleitende Stimmung des Jahres 1840 
enthalten die im Anhang zu dem zweiten Abfchnitt neu mit- 
getheilten Briefe Bunfen’8 und mehrerer feiner Fremıbe 
bemerfenswerthe Berichte. Ebenda findet ſich ein inter- 
effantes Referat Bunſen's über feinen Briefwechfel wi 
Sriedrih Wilhelm IV. vor deflen Tchronbefteigung, br 





Bunſen's Memoiren. 


ſich auf Fragen der Kirche und Schule bezieht und er- 
kennen läßt, wie weit ſich der König von feinen urfprüng- 
lichen Anfichten in diefen Dingen fpäter entfernte; in 
einem der Briefe hebt er 3. B. die Gemeindevertretung 
als einen Hauptpunlt für den Entwurf einer neuen Kirchen⸗ 
verfaflung hervor. 

Ein Theil der übrigen in bem Anhang mitgetheilten 
Schriftſtücke bezieht fi) auf die Sendung bes Grafen 
Brühl nad) Rom zur endliden Schlichtung der kölner 
Wirren, auf die Berufungen Schelling's, Cornelius’ und 
Mendelsſohn's nach Berlin, bei denen Bunfen, wie jpäter 
noch häufig, mit Alerander von Humboldt gemeinschaft. 
lich thätig war. Die verhängnißvolle Berufung Stahl’s, 
der damals noch auf den lirchlich unparteiifchen Stand- 
punkt Scelling’3 ftand, und Bunſen's Betheiligung dabei 
betreffen einige andere Berichte; dann folgen noch Aus 
einanberfegungen über eime proteftantifche Miſſion ſür 
Syrien und Baläftina, und zulegt einige Briefe Bunfen’s 
on Bluntfhli in Züri, die feine Stellung zu den in- 
nern Fragen der Schweiz und den entfchieden proteftan- 
tfchen Liberalismus feiner Gefinnung charakterifiren. 

Bald nach feiner Thronbefteigung berief Friedrich Wil« 
heim IV. Bunfen nad Berlin, um ihn mit einer fpeciel« 
Ien Miffion nad) England zu beauftragen; ſie betraf die 
Gründung eines englifch-preußifchen Bisthums in Jeru⸗ 
falem, ein Project, deffen Durchführung die großen Hoff- 
nungen, welche der „Romantifer auf bem Thron der Cäſa⸗ 
ren‘ damit verband, wenig erfüllte. Die englifchen Staats⸗ 
männer nahmen gleihwol ein warmes Intereffe an dem 
Plan, nad längern Berhandlungen kam berfelbe in der 
That zur Verwirklihung, und Dr. Gobat ging als erfter 
Bifchof nad) Yerufalem. 

Ueber die Ernennung zum ftändigen preufifchen Ger 
fandten am englifchen Hofe, melche durch diefe Miſſion 
vorbereitet wurde, berichtet Bunſen felbft in einem Brief 
an feine Frau; das Ungemwöhnliche der Formen, unter 
welchen dieſe Ernennung erfolgte, erklärt fi) dadurch 
genügend, daß die Wahl einer PBerfönlichkeit wie Bunfen 
zu den Xraditionen des berliner Cabinets in fehr offen- 


barem Widerſpruch ftand. Bunſen fchreibt am 18. Nor 


vember 1841: 


Lord Aberdeen Ind mich heute zu einer Konferenz ein, 
melde um 2 Uhr flattfand. Die Unterredung betraf zunächſt 
den neuen Bifchof von Jeruſalem. Dann theilte er mir geheime 
Depefchen über die Drufen mit, alles mit einer Bertraulichkeit, 
die mir auffiel. Als ich mich empfahl, fagte er: „Nun, wir 
wünfchen uns felbft Glück dazu, daß wir Sie behalten.” Ich 

ab ihm meine Unwiffenheit zu erkennen, und ex eröffnete mir 
Folgendes: „Der König hat mit dem letzten Kurier, der vor 
acht Tagen ankam, dur den Minifter ſchreiben lafjen, er 
wünſche einen Gefandten ganz nach dem Herzen ber Königin zu 
ſenden unb wolle deshalb die (in der That, fügte Aberdeen 
hinzu, ganz ungewöhnliche) Form wählen, ihr drei Namen 
vorzufchlagen. Sie waren einer, und wir haben Sie ansgebe- 
ten. Ich glaubte, Schleinig hätte es Ihnen mitgeteilt. So 
alfo ift es wol entfchieden, denn bu weißt, baß ich dem König 
zu folgen entichloffen war... . Ich ſchreibe Rhapfodien. Dein 
Herz ift fo bemegt, wenn ich benfe, wie du, Geliebte, nun 
enblich von dem Maune deiner Wahl, dem du als unbelanntent, 
armen, wanderndem Süngling Hand und Herz gabfl, nach der 
Heimat zu folder Beftimmung ſollſt zurückgeführt werben, 


-- Auch der dritte Abfchnitt ber Biographie, der mit 
diefer Ernennung Bunſen's zum englifchen Geſandten 


803 


jchließt, enthält, voie die vorigen, mandhe intereffante Per⸗ 
fonalien. Der Anhang bietet eine Anzahl von Aufzeich⸗ 
nungen Bunfen’s, welche die Gründung bes Bisthums 
in Jeruſalem betreffen und feine eigenen Anſichten über 
diefelbe wie die Anſchauungen bes Königs und die vor 
Bunfen’8 Sendung nad) England darüber geführten Ver⸗ 
bandlungen näher bezeichnen. Daß in Bunfen ſchon da- 
mals, am Ende des Jahres 18411, in Bezug auf den 
Gang der politiichen Dinge in Deutfchland ernfte Beden⸗ 
fen und Zweifel aufftiegen, daß er ſchon jetzt in der Re⸗ 
‚gierung des Königs die unheilvollen Anfänge ber fpätern 
Reaction erfannte, beweifen bie folgenden Yeußerungen 
in einem feiner Briefe: 

Ich fürdhte, der König verbindet noch nit Urſache und 
Wirkung hinlänglich im Regieren. Große Zurüftungen find 
gemacht. Die Welt wartet, und die Zeit fliegt dahin unter 
Nichtsthun, welches als höchſte Weisheit gilt.... Wozu find 
Ideale da, als um verwirklicht zu werden; wozu find Gedan- 
fen gut, als um ausgeführt zu werden? Nie in der Welt 
geichichte wird ein großes Geſchick demfelben Fürften zweimal 

eboten. Und man täufcht fih, wenn man glaubt, im diefem 
Sabıhundert Böller täufchen oder in Schlaf wiegen zu können. 

Eines in dem dritten Abfchnitt mitgetheilten Briefs 
von Robert Peel an Bunfen fei noch gebacht, der geeignet 
ift in unfern Tagen ein allgemeines Intereſſe zu erregen. 
Es Heißt darin: 

Die Einigung und die Baterlandsliebe jenes Volle, welches 
das Herz Europas bewohnt, wird für den Frieden der Welt 
die ficherfie Gewähr bieten.... Es ift meine ernftliche Hoffnung, 
daß ein jeder Angehörige diejes großen Bollsftammes — möge 
er auch dem Staate, in dem er geboren, wie feinem heimt- 
fen Herde, eine befondere Anhänglichleit wahren — feine 
Baterlandsliebe nicht anf die Grenzen feiner engern Heimat be⸗ 
ſchränke, fondern, ſtolz anf den Namen eines Deutichen, ben 
Anſpruch Germaniens auf die Liebe, die Treue und die patrio- 
tifde Hingebung aller ihrer Söhne anerkenne. Die Empfin- 
dungen eines jeden Deatfchen beurtheile ich wol mit Recht nach 
denjenigen, welche in meinem eigenen Herzen (im Herzen eines 
Fremdlings und Ausländers) duch ein Lied Bervorgerufen wor⸗ 
den find, im welchem bei all feiner Einfachheit dev Wille eines 
mächtigen Volks fich verkörpert zu haben ſchien: 

Sie ſollen ihn nicht haben 

Den freien beutfhen Rhein. 
Sie werden ihn nicht haben — der Rhein wird durch ein Lied 
befhligt fein — wenn die Gefinnnungen, welde das Lied zum 
Ansdrud bringt, jede deutfhe Bruſt erflillen. 

Hatte Bunfen in feiner londoner Stellung, was den 
Aufwand der äußern Repräfentation betrifft, nicht nöthig, 
den übrigen Geſandtſchaften Concnrrenz zu machen, fo 
wurde fein Haus in Carlton Terrace doch fehr bald, wie 
früher die capitolinifche Wohnung, der Mittelpunkt einer 
diftinguirten Gefelligfeit, an der faft alles theilnahm, was 
zur geiftigen Ariftofratie Londons zählte. Bunſen's pro⸗ 
noncirte Borliebe für das englifche Wefen mußte ben 
Engländern feine Gefellfchaften natürlich befonders ange. 
nehm machen. Wie aufmerffam er damals bie englifchen 
Berhältniffe beobachtete, zeigt eine im Anhang zum vier- 
ten Abſchnitt mitgetheilte Dentichrift vom Jahre 1843, 
die namentlid) in Hinficht der irifchen Frage von Inter⸗ 
effe iſt. Im wiffenschaftlider Beziehung Hat er während 
der Londoner Zeit der beutfchen, bejonders religiond- 
gefhichtlichen Forſchung vielfach einen wichtigen Einfluß 
verfchafft, während er praktiſch für feine Landsleute in 
London hauptfächlih durch die Gründung bes deutſchen 

101 * 


804 


Hospitals thätig war. Am tiefften und lebhafteften aber 
mußten ihn in diefen Jahren die großen Tragen der 
nationalen Entwidelung Deutſchlands befchäftigen, vor 
allem bie fchweren Probleme, die fi aus den kritiſchen 
Zuftänden in Preußen ergaben. Die politifche Atmoſphäre, 
deren Schwille ex ſchon längſt empfunden, Hatte fich hier 
inzwifchen immer mehr getrübt. 

Die Popularität Friedrich Wilhelm's IV. war raſch 
geſchwunden; der phantaftiihe Zug in der Natur dieſes 
edeln und hochbegabten Würften, bie Befangenheit in 
mittelalterlich⸗ romantiſchen Anſchauungen bradjten ihn zu 
feinem königlichen Beruf und den Forderungen feiner Zeit 
in unheilvollen Widerſpruch; er verfannte die Beditrfniffe 
der Gegenwart und unterfchägte die Bedeutung ber poli- 
tischen Bewegungen, in denen fie fi kundgaben. Ale 
Bunfen auf den Wunfch des Königs im Jahre 1844 
nach Berlin reifte, fand er ſchon überall die bedrohlichen 
Anzeichen einer nahenden SKataftropfe. Bon Köln und 
Düffeldorf jchreibt er: | 

Hier ift es trübe, alles verfiimmt, verwirrt, unzufrieden, 
beforgt. .. . Bei dem ebelften Willen macht man fchlimme 
Misgriffe, alles, was geichieht, wird gemiebilligt, entweder 
wegen irgendeines wirklichen oder fcheinbaren Mangels oder 

ehlers, oder weil es nicht bas if, was man will, nämlich 
eichsſtände. 

Dann von Berlin: 

Alles Traurige, was ich über die Provinzen gehört, wurde 
beſtätigt. Aber niemand merkt, daß eine Clubherrſchaft in allen 
großen Städten fich zu bilden beginnt. Der Widerſtand, der 
fi vorbereitet, ift fein Aufftand, aber eine Aufregung, durch 
Zeitungen und Reden. 

In einer Audienz bei dem Prinzen von Preußen entwidelt 
Bunfen feine Anfichten über die Verfaffungsfrage ziemlich 
rückhaltlos und erklärt, daß er für unmöglich halte, 
länger mit Provinzialftänden zu regieren; es fei, als 
wolle man das Sonnenſyſtem mit bloßer Centrifugalfraft 
ausftatten. Die Zufäge zum dritten umd vierten Ab» 
fhnitt geben über Bunſen's Anfichten in biefem Punkte 
eingehende Mittheilungen, ebenfo der Schluß des Bandes 
in den Denffchriften aus den Jahren 1848 und 1849, 
die der Herausgeber mit Recht zu dem Bebentenbften 
rechnet, was damals gedacht und geplant wurde. Die 
Nuglofigkeit feiner Bemühungen in Berlin mußte Yunfen 
bald erkennen. Er fchreibt: 

Ich weiß, daß ich untergehen wiirde in wenigen Jahren, 
bliebe ich bier... . Man wird nichts thun, das ift das Wahr- 
fheinlichfte. Thut man etwas, fo wird man manche meiner 
Ideen benutzen, die das enthalten, woran niemand bier dachte 
oder zu denken wagte, Entweder paſſe ich überhaupt nicht zur 
Ausführung von Gejchäften, oder ich paffe nicht zu den Män- 
nern, mit denen ich hier zu thun Hätte. Ich begreife nicht 
einmal, wie mar auf ſolche Weiſe Geſchäfte macht, nämlich die 
großen und nothwendigen. Es kommt mir vor, als gingen fie 
den Fluß herunter zu den Wafferfälen. Das gewöhnliche Leben 
des Hofs und der Minifter leidet feinen Tag Unterbrechung, 
als lebten wir in der gewöhnlichfien Zeit, und doch jagt jeder- 
mann, wir lebten in einer Kriſe. Non ci capisco niente. 
Oft jagt mich das Gefpenft der Gejchichte bes Hofs und des 
Minifteriums in Paris 1788 und 1789. Aber ich fage mir dann 
wieder: Prenßen ift nicht Frankreich, und vor allem Friedrich 
Wilhelm IV. ift nicht Ludwig XVI. Ih Habe im Leben ge- 
zeigt, daß ich nicht nervös bin: ich kann fchlafen im Sturm 
und fchmweigen im Feuer; allein fäße ich am Gteuerruber, ich 
hätte feine ruhige Stunde, bis ein Entſchluß gefaßt wäre, und 
id) darauf Hin ans Werk gehen könnte. Denn ein Zögern 


Bunfen’s Memoiren. 


zwiſchen Entfhluß und Handeln ift mir verhaßt, wie zwiſchen 
Berlobung und Hochzeit. 


Bor feiner Abreife von Berlin fchrieb Bunſen noch 
am 18. Juni 1844 „Schlußbetradhtungen über die flän- 
difhe Frage“, in denen folgende denkwürdige Stelle 
vorkommt: 


Die Jahre von 1820 bis 1840 werden in der Geſchichte 
trübe erſcheinen, manche Geſtalten darin ſchwarz; 1840 war 
ein Jubildumslichtpunkt, nicht allein für Preußen, ſonderxn für 
ganz Deutſchland. Bierzig Millionen fühlten, daß die Deutichen 
das erfte und größte Bolk der Erbe find, wenn fie als Brüder 
daſtehen. Alle ſchauten auf Friedrich Wilhelm IV. Die Worte 
von Köln 1841 tönten durch ganz Europa wieder. Aber 1842 
fühlte man, daß Preußen viel weniger eine Einheit als 1817 
fei, alfo viel weniger einen Mittelpunkt für Deutſchland, eimen 
Anlehnungspuntt, nicht für die Fürſten, fondern für bie Bölfer 
bilde.... Wird aber das preußifche Reich einmal wiedergeboren, 
dann wird es eine europäifche Nation höherer Ordnung, als es, 
in niederer Stufe, im Kreife des deutihen Lebens die Sachſen 
und Wlrtemberger find; ein neues deutfches Hei, ummingt 
von unabhängigen Stammfürften und freien Städten und frei 
von ben Feſſeln bes Vaticans, welcher zwei weltgefchichtlide 
Bölfer, die alten und die menen Herren der Welt, in möndiide 
Feſſeln zu fchlagen begann, als der Papſt dem Sohne Bipin’s 
die Kaiferfrone aufs Haupt febte, dem neuen Geſchlechte ein 
Diadem, das ihm nicht gehörte. Dann wird Preußen nidt 
mehr dem deutfchen Geift wider fi haben, fondern vou ihm 
getragen werden in banfbarem Gefühle, daß ber Hort gefunden 
Mt gegen Fremdherrſchaft wie gegen fleinlihe Quälerei im 
Innern. Preußen wird das Bewußtſein bes beutfchen Geiſtes 
werben, bie Seele eines freien und in der Freiheit gejetlichen 
Staatslörpers, der alle Übrigen Organifationen Europas ebenfo 
ſehr überdauern wird, als es fie Überragt; ein Lölner Dom, 
dem gegenliber die Weftminfterabtei und St.-Denis uur pro- 
vinziale Farbe tragen. 


Die Stürme der Revolution, die Bunfen lange vor⸗ 
hergefehen ,„ brachen endlich tiber Deutfchland herein. 
Weitgehende Hoffnungen, die freilich bald ſchmerzlich ent- 
täufcht werden follten, Initpfte der Sanguimismus feiner 
leicht entzlindeten Natur an die Bewegungen der Jahre 
1848 und 1849, bie er al8 eine Fortſetzung der Freiheitsfriege 
betrachtete. Jugendlich, wie damals, war feine Begei- 
fterung für die Sache des Vaterlandes. So fdreibt 
er an Henry Reeve, den Herausgeber der „Edinburgh 
Review”; 


Was jet geboren werben will und fol, ift damals, in 
ben Jahren der Freiheitsfriege, erzeugt unter Thränen, im 
Sammer, in Blut, in Gebet — aber im Glauben an jeme 
Ideale, zu deren wahrem Erkennen und Durchleben eben das 
Gefühl des Baterlandes , des freien Volls gehört... -.. 
Arndt's großes Vaterlandelied, Körner’s Todesgefang, Rüdert’s 
geftählte Lieder — das alles mag dem Fremden nur kſingen 
ale Poeſie; uns, die wir damals bie Gellibde der Jugend 
ſchwuren, uns war e8 heiliger Ernft, Maß und Ausdrud für 
Serz und Geifl. Und fo blieb e& uns; und unfern Kindern 
Iehrten wir die Heiligen Gelübbe, und als wir 25 Jahre lang 
in jchweren Feffeln lagen, als das freie Wort gefnechtet war, 
jelbft im 2iede, da fllichtete es fi in das Heiligthum ber 
Wifſenſchaft. Da ward der Jugend von treuen und verfolgten 
Männern gelehrt, wie nur die Freiheit alt ift und bie Tyrauſei 
jung; ba ward der engliſche Empirismus, die franzöfiſche Ib 
firaction, die ſchwächliche Nachahmung beider in unſern fi 
deutſchen Berfaffungen, mit der Idee und der Geſchichte u r» 
lichen und ein höherer Standpunkt gewonnen für alle. die 
and uns das Fahr 1840. Seine Hoffnungen wurden nidt er» 
fült; König und Boll (nad) Beckerath's treffendem Ausbr A) 
fpraden ganz verfchiedene Sprachen; fle lebten im verfdhiebe en 
Sahrhunderten. Der Weg verbunfelte ſich. Es blitzte, im 
Sturm kam, und das Alte war vergangen. Das find B- te 





Neue Erzählungen und Romaue. 


73 Zoge, und wir leben, und der Entwurf ward geboren, ehe 
70 Tage um waren. Descendit coelo, wenn je irgendeine 
Bollsbewegung, von welcher die Geſchichte berichtet. 


Im Juli 1848 ward Bunfen von König nach Berlin 
berufen zu Befprechungen, über deren Inhalt die am 
Schluß bes ſechsten Abjchnitts mitgetheilten Tagebücher 
ausführlichen Bericht geben. Ohne irgendein beſtimmtes 
Reſultat erzielt zu haben, kehrte er im October nad; London 
zurüd, mußte aber fchon im Januar 1849 einem neuen 
Befehl des Könige nach Berlin folgen. Diesmal follte 
ee als Bermittler dienen zwifchen Preußen und dem 
deutfchen Parlament in Frankfurt. Es gelang ihm, den 
König zu überrafchenden Zugeftändniffen zu bewegen; in 
Frankfurt einigte er ſich raſch mit Gagern und war nad) 
wenigen Zagen wieder in Berlin. Der Ausgang der 
Angelegenheit war für ihn niederfchlagend wie faum eine 
andere Erfahrung feines politifchen Lebens. Er fchreibt: 


Ich übergab dem König fogleih nah meiner Rücklehr 
von Frankfurt einen Bericht, in welchem ich das Ergebniß der 
Berbandlung im fünf Punkten aufftellte: Princip der Erblich⸗ 
keit für das Neichsoberhanpt, fofortige Revifion der Berfaffung, 
Notäwendigfeit, daß Preußen fich bereit erkläre, ohne Defterreich 
ſich an die Spige ber Bundesbewegung fegen zu wollen, 
dabei aber jedem frühern Bundesmitglied volle Freiheit geben 
beizutreten oder nicht, und rathend, vor allem den Hebel, 
Frankfurt, nicht zu zerbrechen. Der König antwortete mir um⸗ 
gehend, in Haft, denfelben Zag: er werde nichts von dem 
allen tbun, der Weg, den man eingefchlagen, fei ein Unrecht 
gegen Defterreih, er wolle mit der Fortſetzung einer fo ab- 
ſcheulichen Politik nichts zu thun Haben, ſondern Überlaſſe fie 
dem frankfurter Miniftertum; aber fomme bie perfönliche Frage 
(wegen Annahme der Kaiferfrone), dann werde er als Hohen 
zoller antworten, um als ehrliher Dann und Fürft zu Ieben 
und zu fterben. Ich erfuhr alsbald den Kommentar von den 
Miniftern. Bald nad; meiner Abreife war der König gänzlich) 
umgeſchlagen; ein geheimer Briefwechſel mit Olmütz ward 
durch — fortgeführt; au die Nothwendigkeit der Kanımern und 
ber Berfländigung mit ihnen warb nicht gebadht; der König 
wollte die Politik allein führen. Ich bewältigte den Schmerz, 
und war doppelt froh, meine Abreife dem König auf Mittmod) 
angekündigt zu haben. Das Wiederjehen war freundlid. Der 
König las mir den Brief an den Prinzen Albert vor, den ich 
mitnehmen follte, und worin er fagte, nie babe ex fo jehr einen 
Schritt bereut, al® den, zu weldem ich ihm gerathen. ... . - 
Mehr als je fühlte ich mich ein Fremder in der Hauptfladt 
des Vaterlandes, abgeftoßen felbft in des Königs eigener Woh⸗ 


— — — 


805 


nung. Die unheimlichen Geſichter in den Vorzimmern riefen 
mir 1806 zurück: kein freier Sinn, kein friſches Herz, kein 
Menſch unter allen den Menſchen, die dort umherſch lichen und 
ſaßen ... Durch — erfuhr der König jeden Morgen alle nur 
aufzutreibenden unangenehmen und aufregenden Nachrichten’ 
bald von der Unart der franffurter Rebner, bald von Sagerns 
wühleriſchen Ausſprüchen und Planen, bald von diefen und 
jenen Klagen deutfher Fürften, Grafen und gedrlicdten Wohl- 
gelinnten im Lande. Durch — — droht der Kaifer von Ruß⸗ 
land dem König, brieflih oder mündlich. So bilden fi im 
Cabinet des Königs Gedanken, Plane, Geflihle, gegen welche 
bie Minifter vergebens anlämpfen, geheime Briefwechſel, welche 
bie Politit beherrfhen und die Diplomatie verderben. Der 
Haß des Junkerthums und der Bureaufratie, der mid) nun 
zwanzig volle Jahre verfolgt Hatte, trat mir fchroffer als je 
entgegen; ebenſo ihre heilloſe Unfähigfeit und unverbefferfiche 
Beichränftheit, melde die Erbitterung über 1848 nur noch 
mehr bexvorhob. Ein wirkliher Staatsmann war nirgends zu 
hauen. Und was jollte er aud bei biefer Geftaltung der 
Dinge in Charlottenburg anfangen? Der König will Dictatur 
üben neben der Konftitution, und babei doch als freifinniger, 
conftitutioneller Fürſt angefehen werden, obwol er das coufli» 
tutionelle Syflem für ein Syftem bes Lugs und Trugs Hält. 
Oft kommen ihm wirklich deutfche und freifinnige Gefühle und 
Gedanken, aber die Umgebung und die geheimen Schreibereien 
von Olmüß und Münden Iaffen fie nicht auflommen. .... 
Ich fühle mid an ihn gefeſſeit durch Liebe und Dankbarkeit, 
allein das eigentlihe Seelenband ift zerriffen; die Hoffnung, 
die ich auf ihm geftellt, erjcheint mir als Täuſchung, die Zus 
Eunft, ſeine und des Baterlandes, bunfel, jedes nähere Ver⸗ 
hältniß im Dienſt als Staatsminifler unmöglich ohne baldigen, 
jhweren Brud, Rings um mich ber uber erblide id) Nicht- 
achtung, Mistrauen, Haß, Erbitterung gegen den König, die 
mein Herz ebenfo fehr empören als verwunden. . .. . Und das 
bei einem fo edeln, fo felten begabten, fo hochherzigen und 
en ugenben Fürften, geboren, die Zierde feines Zeitaltere 
zu fein, 


Mit befitmmertem Herzen, mit fehmerer und ſchmerz⸗ 
licher Refignation Fehrte Bunfen im Frühjahr 1849 in feine 
londoner Stellung zurüd. Bis zu biefem Zeitpunkt veicht 
der zweite Band der Memoiren. Der dritte (leiste) Band, 
welcher den Schluß von Bunfen’s bdiplomatifher Wirk 
famfeit, fowie feine Thätigkeit in Deutfchland bie zu fei- 
nem Lebensende umfaßt, wird in kurzem erfcheinen, und 
darf von feiten des Publikums ohne Zweifel in gleichem 
Grabe, wie feine Vorgänger, eines entgegenlommenden 
Interefjes gewiß fein. Hermann Lücke, 


— — — — — — — 


Neue Erzählungen und Romane. 
(Beihluß aus Nr. 50.) 


2. Götter und Götzen. 
Bände, Berlin, Hausfreund⸗Expedition. 
5 Thle. 10 Nur. 


Mar Ring geht in feinen Schriften nicht auf das 
Ungewöhnliche, Baradore, Raffinirte, wie Sacher⸗Mofoch, 
er fucht Feine fchwierigen fittlihen oder phnfiologifchen 
Probleme zu Löfen; er zeichnet Lebensbilder, die er durch 
einen geiftigen Yaden zufammenhält. In bem vorliegen- 
den Roman ift e8 ber durch den Titel bezeichnete Gegen⸗ 
fag der Götter und Göten, welcher den einheitlichen 
Grundgedanken bes Werks bildet. Es Handelt fih um 
die Götter und Odtzen ber Gegenwart. Zu ben letztern 
gehört vor allem das goldene Kalb, welches von bem 


Roman von Max Ring Bier 
1870. Gr. 8. 


Ihwindelnden Tanz der europäifchen Goldgräber und 
Papierjpeculanten umkreiſt wird; und neben der Börfe, 
als dem Tempel, in welchem diefer Götze verehrt wird, 
das Ballet, wo bie opferheifhenden Bajaderen, die 
Priefterinnen des Ginnencultus, ihren eigen tanzen. 
Doch auch noch Götter gibt es im einer Zeit bes 
Betifchdienftes: die Kunft, welcher ber Held des Romans 
mit Begeifterung treu bleibt, die Liebe, welche als eine 
reine befeligende Macht die Herzen vereinigt und über alle 
Hinderniffe triumphirt, und die Humanität, welche für eble 
Zwede, für das Wohl der Menſchen wirkt. 

Gewiß ift diefer Grundgedanke des Romans ein fehr 
anfprechender, um jo mehr, als die Götter über die Götzen 


806 


ben Sieg davontragen und die falfchen Priefter der letz⸗ 
tern dem Untergang verfallen. Wir fteuern von Haus 
aus nicht ohne Kompaß auf dem leere der bewegten 
Handlung; wir vertrauen, daß und die Führung des 
Autors vecht führen wird, da ihn die legten Ziele feines 
Romans volllommen Mar find. 

Mar Ring befigt eine ungezwungene und gefüllige 
Darftellungsweife, frei von dem prunfenden Schimmer 
falfcher Genialität, lebendig in Schilderungen und 
Keflerionen, nirgends über die Bahnen des gefunden 
Menfchenverftandes hinausfchweifend. Die Bedeutung des 
Grundgedantens in dem vorliegenden Roman wird nir- 
gends verdunkelt, wenngleich die Bedeutung der Charaltere, 
die er zu Trägern der Handlung macht, nirgends über 
ein befcheidenes Mittelmaß, über das Durchſchnittsniveau 
der Romanfiguren fih erhebt. Wer finde nicht alte 
Belannte in dem foliden Bankier und feinem unfoliden 
Sobne, in dem ſchwärmeriſchen Maler, in der leicht⸗ 
fertigen Tänzerin, felbft in der geheimnißvollen mater 
dolorosa, die aus dem Dunkel der Bergangenheit ihre 
Hand ſchützend und belfend über den jungen Maler und 
feine Braut ausftredt? Doch in ber Gruppirung diefer 
Charaktere Liegt etwas Anziehendes, und ihre Zeichnung 
ift im ganzen fo anfprucdhslos, daß wir nirgends in eine 
Stimmung fommen, welche nad) Ungewöhnlichem verlangt. 
Unter ben Charakteren des Romans erhebt fi indeß 
doch einer der Hauptgötzendiener über da8 Niveau der 
landesüblichen Typen. Der Autor führt uns eine jener 
problematischen Eriftenzen vor, wie fie die eigenthümlichen 
Geld» und Induftrieverhältniffe der Neuzeit erzeugen. Mag 
bie Naturforfchung die generatio aequivoca leugnen — 
für unfer fociales Leben bleibt fie eine Thatſache; aus 
ihr gehen Millionäre hervor, denen man ihre Herkunft 
und den Stammbaum ihrer Millionen nicht recht 
nachweiſen Tann. Der Urbrei und zeugungsfräftige 
Schlamm, aus welchem diefe Eriftenzen hervorgehen, ift 
die Börfe, von weldher uns Mar Ring die folgende 
Parabafe fingt: 

Die alten Götter find aus der Welt gefchwunden, und an 
ihre Stelle find die Göten unferer Tage getreten. Die Ideale 
haben den Idolen weichen müflen, vor denen die blinde Menge 
im Staube Iniet. Zahlreiche Priefler opfern an ihren Altären 
in herrlichen Zempeln, mit hohen Marmorfäulen und bunter 
Sarbenheacht geihmüdt. Ein nener Glaube ift entflanden, eine 

rt Weltenreligion, wie zu den Zeiten des römiſchen Berfalls. 
Sn demjelben Pantheon throuen in frieblicher Eintracht ber 
griechiſche Mercur, der Schutpatron des Handels, die launen⸗ 
bafte Fortuna auf rollendem Glücksrade, der goldene Plutus, 
der die Welt beberrfcht, neben dem chaldäiſchen Mammon, ber 
Schäte auf Schäte häuft, dem phöniziichen Moloch, der wie 
vor taufend Jahren feine Menfchenopfer fordert, und bem gol⸗ 
denen Kalbe Aegyptens, das mehr als je amgebetet wird. 
Bon allen Seiten firömen Scharen von Andächtigen herbei, 
Gläubige und Ungläubige, Juden und Ehriften, Leviten und 
Laien, die Belenner aller Eonfeffionen, die fi) unter Einem 
Dach mit amerlennenswerther Toleranz verfammeln. Der 
Gottesdienft beginnt, ein wunderbares Schaufpiel!, das mit 
feinem andern Cultus fich vergleichen läßt. Statt ber feier- 
fihen Stille, welche fonft im Heiligthum zu herrfchen pflegt, 
bernimmt man bier cin dumpfes Rauſchen und Braufen, einen 
Lärm, wie wenn da8 Meer brandend gegen feine Ufer fchlägt. 
Kein Mund öffnet fi zu einem frommen Lied, feine Lippe 
bewegt fi zum Gebet, kein Priefer fpricht den Segen 
oder Worte der Offenbarung und des Heild. Man bört nur 


Neue Erzählungen und Romane. 


ein wirres Durcheinander von Stimmen, abgebrodyene Worte, 
unartilulirte Raute, deren geheimnißvoller Sinn dem uneinge- 
weihten Obre verborgen bleibt. Vergebens fucdht man in ber 
Berfammlung nad; einem Ausbrud göttliher Erhebung und 
Begeifterung, obgleich ein hoher Grad von nervöfer Bewegung 
und krampfhafter Aufregung fi bemerkbar macht. In ben 
Zügen und Außerfi lebhaften Mienen einzelner verräth fi 
zumeilen eim außerorbentlicder Wechfel der Stimmung, deflen 
Urſache jeboc häufig ein Aütbfel bleibt. Trauer und Freude, 
Hoffnung und Berzweiflung ziehen fo fihnell vorüber wie 
Regen und Sonnenichein im April. Kein Barometer ift fo 
empfindlich flir die Leifeften Schwankungen der Luft wie dieje 
zart organifirten Naturen, die vom dem unbedeutendſten Ge- 
rücht erfchlittert werden. Unbeſtreitbar fcheint die ganze Ge⸗ 
meinde unter dem Einfluß gewiffer magneto⸗elektriſcher Strö- 
mungen zu ſtehen, da der telegraphifhe Draht fich nur in 
Bewegung zu ſetzen braudt, um eine allgemeine Aufregung 
bervorzurufen. Er vertritt die Stelle ber alten Orafel, und 
jein Ausiprud wird wie die Stimme bes Schichſals verehrt. 
Im hoben Grabe anerfennenswerth ift die Toleranz, die man 
einander bis zu einem gewiflen Punfte erweiſt. Die Mitglie 
der der Berſammlung find nichts weniger al8 pietiflifche Kopf⸗ 
hänger oder ortbobore Eiferer; fie befigen ihre eigene Moral, 
gerade wie die großen Politiker, und handeln nach befonbern 
Grundfägen, die allerdings nicht immer mit den gemeinen 

griffen von Recht und Unrecht übereinftimmen. Kleinere Ueber- 


: tretungen nimmt man nicht allzu genau, und Schwächen ver» 


zeiht man gern umd leicht dem irrenden Bruder. Wenn er 
ftrauchelt oder fällt, vergibt man feine Schuld, voransgejegt 
daß er noch die Kraft befitt, fi) von feinem Kalle zu erholen; 
was gewöhnlich auch gejchieht, indem der Gejallene fih in 
furzer Zeit nit nur aufrichtet, fondern meift feſter zu ſtehen 
pflegt ale vor feinem Sturz. Was für alle andern Religionen 
der Glaube, das ift bier ber Credit. Wer diefe unfchägbare 
Gnade befigt und fi unter allen Berhbältniffen zu bewahren 
weiß, der zählt zu den Auserwählten und genießt die höchſte 
Achtung und ein unbebingtes Vertrauen. 

Der Held aber, der fih um Kopfeslänge über das 
Getümmel erhebt, ift der ehemalige Kunfthändler Her 
Vledel, der aus bejcheidenen Anfängen vor unfern 
Augen zum Millionär wird, zum Hochmeiſter unb 
Gebietiger der Börſe. Bon Haus aus ftrebt Yledel nad 
dem erhabenen Ziel, Millionär zu werben; er ift Her⸗ 
außgeber verfchiedener Zeitfchriften, von denen immer nur 
die vielverfprechende Probenummer erfchien, Erfinder 
und Colporteur eines untrüglichen Mittels für zahnende 
Kinder, Fabrikant von waſſerdichten Kunftftemen, bald 
Agent, bald Director einiger gemeinnützigen Gefellfchaften 
mit den höchtönenden Namen „Prometheus, „Phönix“ 
und „Sphinx““, des „Agronomifchen Eulturvereins‘, der 
„Animaliihen Düngungscompagnie‘, des „Europäifchen 
Nachweiſungsbureau“ und ähnlicher meltberühmter Ans 
ftalten. Hierauf gründet er das „Internationale Pantheon 
für Kunft, Wiſſenſchaft und Literatur”, ein „Univerfal- 
mufeum, eimen unentbehrlichen Mittelpunkt der geiftigen 
Intereſſen für die an der Spige ber Civilifation und 
Intelligenz ftehenbe Metropole”. Die Gründbungsgefchichte 
diefes Iuflituts wird uns mit vielem Humor gefchilbert. 
Das Refultat ift ein betrügerifcher Bankrott; Fleckel 
prellt fogar noch den Erecutor um 50 Thlr., und fügt 
jo zum Leichtfinn die Gemeinheit. 

Nachdem er fo fir immer fi) unmöglich gemacht Hat, 
fehrt er eines fchönen Tags aus England als General. 
agent des Hauſes Dobfon und Chiswid zurüd; er hat 
den englifhen Millionär überrebet, ein inbuftrielles Unter⸗ 
nehmen in Deutſchland, die Norbweftbahn, in die Hand 


——*RXRXRXE 





Neue Erzählungen und Romane. 


zu nehmen und ihm die Leitung zu dibergeben. Fleckel 
wird von dem leichtfinnigen jungen Vertreter des Bank⸗ 
baufes Schröder unterftügt und arrangirt fich mit feinen 
Stäubigern, wobei die große Nachſicht der Criminalpolizei 
nicht zu verkennen ift nad) DBetrligereien, deren Opfer 
fogar ein Erecutivbeamter wurde; die Bedenken der Börfe 
werden durch das perſönliche Erfcheinen des ehemaligen 
Stiefelwihsfabrifanten, jetigen Millionärs Dobfon über- 
wunden; Fleckel reuffirt, nimmt wieder große Unter⸗ 
nehmungen in Angriff, wird felbft Millionär und eine 
Großmacht der Geſellſchaft: 

In der That beſaß Fleckel, abgeſehen von feinen ſonſtigen 
Schwächen und Heinen Fehlern, einen angeborenen Specnlationg« 
geift, eine ungewöhnliche Erfindungsgabe und vor allem das 
unbeftreitbare Zalent, der Welt Sand in die Augen zu fireuen 
und Wind zu machen. Abwechſelnd genial und lächerlich, 
geiftvoll und kindiſch, bewunderungswürdig und verächtlich, war 
er ber Typus einer Menſchenklaſſe, bie gegenwärtig eine bedeu- 
tende Rolle in der Welt fpielt und, je nad) dem Erfolge, bald 
wegen ihrer Kühnheit und Klugheit bewundert und gepriefen, 
Bald wegen ihrer Sreapeit und Gewiffenlofigleit verachtet und 
verfpottet wird. Wie jedes Jahrhundert, bat auch die Gegen⸗ 
wart ihre Charlatane, Goldmader, Alchemiſten, Wunderthäter 
and Abenteurer. Unſere Caglioftros fuchen aber nicht den 
Stein ber Weiſen in dem chemifchen Laboratorium, fondern an 
der Börfe, fie verwandeln nicht Blei, fondern Lumpen und 
Bapier in Gold; fie haben nichts mit Geiftern, fondern mit 
ber wirklichen Welt zu tun, fie citiren nicht die Schatten ber 
Berftorbenen, ſondern herrſchen Uber bie Lebenden, die, nicht 
minder leichtglänbig wie die Gejellichaft des 18. Jahrhunderts, 
fih von diefen modernen Glücksrittern täufchen Yäßt. Solange 
fie das Glück beglinftigt, erreihen file alles, Ruhm, Ehre, 
Macht und Einfluß; ſelbſt ein Thron ift ihnen nicht zu hoch. 
Wenn Boltaire behauptet, daß ein glücklicher Krieger der erfle 
König war, fo kann man mit bemfelben Recht jetzt fagen, 
dag ein glücklicher Abenteurer in unferer Zeit die Krone trägt. 
Die Heroen ber Geſchichte find den Helden der Speculation 
gewrigen, und bem großen Onkel ift der Heine aber fchlaue 

effe gefolgt. 

Dennoh nimmt ledel ein Ende mit Schreden; er 
verfehwindet, als ihm abermals Criminalunterfuchung 
wegen betrügerifchen Bankrottes droht; fein Freund aber, 
ber junge Bankier Jacques Schröder, mit vermwidelt in 
diefen Bankrott, macht feinem Leben durch einen Piftolen- 
ſchuß ein Ende. Die Nemefis verfieht in ben Romanen 
von Dar Ring ihre Amt mit einer anerfennenswerthen 
Gewifjenhaftigkeit; e8 wäre nur zu wünſchen, daß es im 
menſchlichen Leben gerade fo correct zuginge. Das Lafter 
wirb beftraft, wenn es auch eine Zeit lang triumphirt, 
die Tugend belohnt. 

Das Gegenbild gegen Fleckel ift der alte reiche Wel- 
lee mit feinem unfichtbaren Socius, ber fein Geringerer 
ift als der Liebe Gott felbft, wie fih am Schluß heraus⸗ 
ftellt, nachdem ſich die Firma Schröder und die Lefer 
lange den Kopf über diefen geheimnißvollen Gefchäfte- 
theilhaber zerbrochen haben. Weller hat ſich ftets von 
allem Schwindel frei gehalten, fein Geld für wohlthätige 
Zwede verwendet und gründet ſchließlich ein Polytechnikum 
und eine Kunftfchule file Gewerbe, wozu er eine Million, 
den größten Theil ſeines Vermögens, ergibt. 

Der italienifche Profeffor und die fchwärmerifche 
Anunziata, welche für den Dealer Bernhard noch zeitig 
genug flirbt, daß er die Hand der geiftig ftrebfamen, 
charakterfeſten Klara erhalten Tann, die geheimnißvolle 


807 


Dame aus bem fürftlihen Palais, ber leichtfertige Ban⸗ 
fiersfohn und feine „coulante” Oattin bringen in ben 
Roman das eigentlich fpannende Intereffe; wie die Fäden 
verfchlungen und gelöft find, wollen wir bier nicht ver- 
rathen, nur auf die Grauſamkeit unferer Romandichter 
binweifen, welche, um ihren Helden ben „Kampf ums 
Daſein“ zu erleichtern, anbere in diefem Kampfe kläglich 
untergehen laſſen. Wie in Spielhagen’8 „Hammer und 
Amboß“, thut au in dem Ring'ſchen Roman der Held 
mit feiner erften Wahl einen Misgriff; fie führt ihn nicht 
zu voller Befriedigung. Da haben beide Autoren baffelbe 
Ausfunftsmittel; die erfte Gattin muß fterben, damit ber 
Held des Romans das Schickſal corrigiren Tann. Die 
harmonische Bildung des Helden ift feit Goethe's Vor⸗ 
gang der letzte Endzwed des Romans; was ihr in den 
Weg tritt, muß biegen ober brechen; für ihre Helden 
empfinden die Romanbichter einen fouveränen Egoismus. 
Daß der Held diefes Romans em Maler ift, wie bie 
Helden des letzten Romans von Mar Ring: „Fürft und 
Muſiker“, Vertreter der Tonkunſt waren, gibt ihm Ber- 
anlaffung, wie dort manche Berirrungen der Mufil, fo 
jegt die Verirrungen der Malerei mit fatirifchen Streif- 
lihtern zu beleuchten. Das „Internationale Pantheon‘, 
defjen Unternehmer, Hr. Tledel, fchildert, welche Bilder 
bei dem Publikum Abſatz finden, fowie die Gemäldeaus⸗ 
ftelung werben mit fattrifhen Arabesken reichlich um- 
rahmt: 

In friedlicher Eintracht hingen fromme Kirchenbilder und 
nackte mythologiſche Geſtalten, transſcendental durchſichtige Ideal⸗ 
figuren neben realiſtiſchen Fleiſchloloſſen, Thierſtücke und Land⸗ 
ſchaften, Architeklkturen und Marinen bunt durcheinander. Hier 
kniete ein ſchwindſüchtiger Heiliger, dort ſchwebte ein waſſer⸗ 
köpfiger Engel in der Luft, allen Geſetzen der Schwere Hohn 
ſprechend. Noch immer ſchleppte der arme Columbus ſeine 
ſchweren Ketten, ſtand der muthige Galilei vor ſeinen Richtern, 
weiche die grimmigſten Geſichter ſchuitten und ſehr erzürnt über 
ſeine aſtronomiſchen Ketzereien ſchienen. Die unglückliche Maria 
Stnart wurde unbarmherzig mindeſtens zum hundertſten mal 
hingerichtet, und der würdige Sokrates trank feinen Schier⸗ 
lingsbecher, ohne eine Miene zu verziehen, mit einem ſo heitern 
Geſicht, als ob er Champagner ſchlürfte. Die leberkranke Prin⸗ 
zeſfin Leonore feste in dem bekannten Garten dem hypochondri⸗ 
ſchen Zaffo den Lorberkranz auf das ſchönfriſirte Haupt, wozu 
dieſer eine Verbeugung machte, die jedem Tanzmeiſter zur Ehre 
gereicht Haben würde. Auch das unſchuldige Gretchen mit dem 
niedlichen Hüubchen anf dem golbblonden Köpfchen befuchte noch 
wie früher fleißig die Kirche, gefolgt von dem liederlichen Fauſt 
im prachtvollen Mantel von blauer Seide nud dem boshaften 
Mephiſto, der eben ans einer Bütte mit rother Farbe zu kom⸗ 
men ſchien. Natlirlich fehlte e8 nicht an verjchiedenen Julias, 
die im weißen Neglige von ihren Romeos zärtlich Abſchied 
nahmen, an ſchwärmeriſchen Lauras und Beatricen, welche mit 
ihrem Petrarca und Dante kokettirten. Ein ehrgeiziger Wallen- 
fein krümmte fi am Boden im bloßen Hemde, von der Heller 
barte feiner Mörder durchbohrt, während fein berühmter Gegner im 
gelben Lederloller feine edle Seele auf dem Schlachtfelde bei Lügen 
aushauchte. Ueberhaupt befundeten die biftorifchen Maler einen 
Blutdurft, der in der That an ihren gutem Herzen zmeifeln ließ. 
Ihre Phantafle ſchwelgte färmlih in den furchtbarften Greuel⸗ 
fcenen und Unthaten, ale ob fie bei einem Scarfrichter in bie 
Lehre gegangen wäre. Dafür entichädigten verichiedene Genre» 
maler durch ihre Gemütblichleit und wahrhaft harmloſe Kind- 
fichleit, welche bie ganze Welt in eine Kinderſtube verwandelte. 
Da gab es Kinder in ber Wiege mit und ohne Mütter, im 
welchem Yale man fich allerdings der Beſorgniß nicht erweh⸗ 
ren Tonnte, daß die Meinen unbeaufſichtigten Wejen leicht zu 
Schaden kommen dürften; andere Kinder fpielten mit großen 





808 


Hunden; was ebenfalls in Anbetracht der Bilfigkeit und einer 
möglichen Wafferfhen Bedenken erregen mußte. Aud beim 
Anblid der verfchiedenen „Näſcherinnen“, welche die verbotenen 
Speifefchränfe plünderten, Tag der Gedanke an eine Inbigeftion, 
wo nicht gar an eine mögliche Vergiftung durch allerhand ſchäd⸗ 
lihe Subftanzen nit eben allzu fern. Bon ber Wiege bis 
zum Grabe waren alle möglichen und felbft unmöglichen Bor- 
fommniffe und Situationen dargeftellt, wobei auch in der Kunft 
das moderne Princip der Arbeitstheilung vielfach zur Anwen⸗ 
dung kam. Gin berühmter Genremaler lieferte vorzugsweife 
„Wochenfinben‘‘ und „Kindtaufen“ mit felig lächelnden, etwas 
angegriffenen Müttern! glüdftrahlenden Vätern, zahnlofen Ge⸗ 
batterinnen und angeheiterten Gäften. Ein anderer Künſtler 
machte dagegen ausfchlieglih in Hochzeiten und Liebesfcenen, 
während ein dritter in feinen Kicchhofsbildern und Leidhen- 
begängniffen eine melancholiſche Birtnofität und traurige Bra⸗ 
vour entiwidelte. Wie auf jeder Kunftausftellung wimmelte es 
auch bier von italienischen Bauern und Bäuerinnen, Hirten 
und Hirtimmen, Räubern und Räuberinnen, wogegen and un⸗ 
fere biedern Landleute aus dem Schwarzwalde und Thüringen 
ebenfo wenig über Berne hä ffigung fih beklagen durften, da 
diefelben in ihren Iandesüblihen Zradten fih in zahlreichen 
männlichen und weibliden Eremplaren weit beffer und ſchöner 
im Bilde als in der Wirklichkeit präfentirten. Wie bie Hi⸗ 
ftorienmaler mit befonderer Vorliebe die gejchichtlicde Verbrechex⸗ 
welt berlidfidhtigten, fo zeigten einige @enremaler eine nicht 
minder bedenffiche Neigung für Heine Gauner, Spigbuben und 
andere verbächttge Subjecte. Zigeuner und Bagabunden, Kunſt⸗ 
reiter und Tafchenfpieler ſchienen ſich ihrer befondern Gunft zu 
erfreuen und um fo mehr ihrem Ideale zu entfprecdhen, je zer⸗ 
Iumpter und beruntergefommener fie waren, ſodaß man in ber 
That fid) veranlagt fand, die Taſchen zuzubalten und auf feine 
Börfe zu achten. Landſchaften, Architelturen und Thierftlide 
waren in folhem Ueberfiuß vorhanden, daß man mit Hecht 
eine Thenerung der Teinwand beflirchten mußte. Man fah da 
unzähligemaf die Sonne auf- und untergehen, wobei die Maler 
eine wahrbafte Berihmwendung mit Zinnober, Ocher und ähn- 
lihen brennenden feuergefährliden Farben trieben. Cbenfo 
wenig fehlte es an grünlichen Mondfceinlandfchaften, an See⸗ 
fliden mit und ohne Sturm nnd an Gewitterſcenen mit [8jdh- 
papierenen Wolfen und zmweibeutiger Beleuchtung. 


Diefe und ähnliche Stellen beweifen, daß Mar Ring 
auch mit Humor und Satire barzuftellen weiß und ein« 
zelnen Partien des Romans diefe unentbehrliche Würze 
ertheilt, ohme welche das moderne Zeitgemälbe allerdings 
leicht fab und unerquidlich wird. 


3. Luther in Rom. Roman von Levin Shüding Drei 
Bände. Hannover, Rümpfer. 1870. 8. 4 Thlr. 15 Nr. 


Levin Schücking, der Meifter weftfälifcher Landſchafts⸗ 
und GSittenmalerei, tritt uns hier zum erften mal mit 
einem biftorifchen Roman entgegen, der auf dem claſſi⸗ 
Shen Boben der ewigen Roma fpielt. Diefer Roman 
ſchildert uns, wie der Zitel bereits bezeichnend angibt, 
die Erfahrungen, welche unfer beutfcher Reformator in 
der Haupiſtadt der Kirche gemacht bat, Erfahrungen, 
deren Bedeutung er felbjt in dem zum Motto des Ro- 
mans gewählten Ausfprud würdigt: „Ich wollte nicht 
hunderttaufend Gülden nehmen, daß ich Rom nicht ge= 
fehen hätte.” Und fo fpricht Luther felbft c8 am Schluß 
unfers Romans fcheibend aus, daß ihm Rom ein großes 
Dpfer abverlangt bat, den innern Frieden, die glänbige 
Einfalt feines deutfchen Gemüths; 
und e8 hat mir baflir gegeben den Sturmdrang zum Kampfe 
für die Wahrheit und das reine Wort Gottes; ich fam in der 
Yeichten Kutte bes Bettelmönds, nnd gehe beim belaftet mit der 
ſchweren Rüftung eines Streiters Chrifti, Euer Buch in der 
Hand, hohe Frau, wie ein ſcharfes fieghaftes Schwert! 


Neue Erzählungen und Romane, 


Das Bud, von welchem bier die Rede ift, war das 
Wert eines Kaiferlihen Reformators, Friedrich's II., das 
dieſer niedergefchrieben hatte um die Zeit feiner Ercommmmi- 
cattion bei dem Concil von Lyon, ein Buch, in welchem 
allerdings bedeutſame reformatorifche Gedanken in energi- 
ſchem Stil ausgeſprochen find. Eine Urenkelin Hoben- 
ftaufenfcher Herricherfamilie, Corradina, weldye die Heldin 
der freierfundenen Handlung bes Romans if, hat dem 
dentfhen Mönd das Bud; gegeben, und er fhöpft aus 
demfelben Infpiration und DBegeifterung fir fein eigenes 
Auftreten. 

Im ganzen ift das DBerhalten Martin Luther's im 
Rom ein weſentlich paffives, er nimmt nur Eindrüde im 
ſich auf; aber diefe Eindrüde find berartig, daß fie uns 
den Berfall und die Entartung des Kirchenweſens in da⸗ 
maliger Zeit fowie den ungeftiimen Neformdrang des 
beutfchen Anguftinermönds volllonmen erläutern. Er 
fteht in dem Haufe des Meſſer Agoftino Chigi die Schen- 
ftellungen nadter weiblicher Schönheit in lebenden Bildern, 
an denen die Großmwürdenträger der Kirche ihre Freude 
haben; er bat eine Audienz. bei dem Papſte Yulius IL, 
der feine religionsbebürftigen Herzensergüffe und feinen 
Glaubensdrang nur verladht und die Auseinanderfegungen 
des Mönche mit den Worten unterbricht: 

Ihr feid doh ein Schwürmer, ihr benft zu viel, ihr 
Deutfhen! Was bat ein Bettelmönch zu denken? Left euere 
Mefien, fingt euere Pfalter ab, und dann legt euch auf euern 
Strobfäden aufs Ohr. Dur euer Denten kommt ihr zu 
Kegereien. Nicht wahr, Pabre Geronimo? Laßt bie Kirche für 
euch denfen, wie die Kirche uns, ihr alleiniges Oberhaupt, 
denfen läßt für fie; und aud wir denken nicht, demm wenn 
wir grübelten und dädhten, jo wüßten wir zuletzt nicht mehr, 
ob, was wir erbadt, unfere fterbliche Weisheit fei, oder bie nu- 
feblbare Eingebung bes Heiligen Geiſtes. 

Schließlich wird Luther anf Befehl des Papftes, den 
die Homilien des Mönch langweilen, von einem Car⸗ 
dinal und einem Padre unfanft zur Thür hinausgeſcho⸗ 
ben. „Werft ihn hinaus“, fagt Papſt Julius, „ige ſeht, 
daß er ein Dummkopf ift und bag er nichts weiß.“ Es 
ift dies ein feiner Zug des Dichters! Der Papſt hatte 
feine Ahnung davon, daß er mit dem deutſchen Mönd 
bie halbe Chriftenheit zum Batican und zu feinem Tempel 
hinauswarf. 

Die Beziehungen Luther's zu dem deutſchen Grafen 
Egino enthüllen uns einige Nachtſeiten der katholiſchen 
Welt. Die Liebe zur ſchönen Corradina, die ſich einem 
Todten hat antrauen laſſen, führt den Deutſchen in ein 
Kloſter am Aventin, welches dem Schloß der Hohen⸗ 
ſtaufin nahe iſt und durch unterirdiſche Günge mit ihm 
correſpondirt. Die Romantik der Pöonitenzzellen, ber 
Kloſtermyſterien, der Entführungen und Mordthaten ſieht 
bier in Blite — Luther lernt hier die Katalomben bes 
Katholiciesmus kennen, jene mit Nacht und Grauen be- 
deckte Welt, deren Schleier auch fiir die Gegenwart ned 
bisweilen gelüftet wird, die Greuel der kirchlichen Die 
ciplin und ihre Torturen. Außerdem ift dies eine Parti 
des Nomans, in welcher Schücking's Borliebe fir ge 
waltfame Erfindungen voll ungewöhnlicher Schauerromanti 
gipfelt. Schon die VBermählung mit dem Todten if et 
ſolches grufeliges Cabinetſtück — und faum geniigend mo: 
tivirt, um nicht auf den Charakter ber Leichenbraut eine 








Nene Erzählungen und Romane. 


Schatten zu werfen. Die Begegnung in ben unterirdi⸗ 
fchen Gängen, der Kampf und die Ermordung bes Gra- 
fen Livio durch den deutfchen budeligen Kraps — das 
find Abenteuer, welche and; der ſtoffhungerigſten Phantafie 
Genüge leiften. Der Charakter der ftillliebenden, opfer- 
[uftigen Irmgard zeigt uns das beutfche Gemüth, eine 
zarte Feldblume, die in den fonnenheißen Gärten der 
ewigen Roma verwelfen muß. 

Die Darftellung Levin Schüding’s ift wie immer 
lebendig, ohne ftiliftifche Ueberſchwenglichkeiten; die Reflexio⸗ 
nen, zu denen der Stoff vielfach herausfordert, über 
wuchern nicht die Erzählung in ungebüßrlicher Weife. 
Gleichwol ift nicht zu verkennen, daß die Anſchauungen 
Luther's nur bei den glaubensfeftern Gemüthern unferer 
Zeit Lebhaftern Antheil erweden werden. Gegenüber den 
großartigen Gemälden Rafael's im Batican fpricht ſich 
diefe Befchränttheit, die zwar für Luther und die damalige 
Zeit charakteriftifch, aber fir die Gegenwart wenig an- 
ziehend ift, am deutlichiten aus, namentlich in der Be— 
gegnung zwifchen dem jungen Mönd und dem genialen 
Maler. Bon Luther felbft erhalten wir bie folgende 
Photographie: 

Der junge Mönch fah mit feiner feflen und gedrungenen 
Geftalt, feinem dicken blonden Kopfe, feinen derben Zügen, 
denen ein breites, uuternehmenbes Kium den Charakter des 
Muthigen und Energiſchen anfdrüdte, ganz wie ein Dentſcher 
aus. Es war nicht möglich, daß anderes als germanifches 
Blut dur diefe kräftige unterfegte Geflalt rolltee Nur was 
in feinen auf Egino Tächelnd nieverblidenden Angen lag, diejes 
eigenthümliche glänzende Leuchten, diefer Wechſel zwifchen hellem 
Strahlen und tiefem Glühen, den er bald bei der re 
zeigte, im welche ihn die Unterhaltung mit Egino führte, hatte 
nichts von nationalem Typus; es war ein Eigenthümliches, 
anz biefem jungen Mann im Habit der Auguftinermönde 

igene®, das flet6 eine Art von Zauber auf den, der ihm in 
dies tiefe flammende Seelenauge blidte, übte. 

Nah dem erften Anblid der unfterblichen Bilder, die 
feinen Gefährten, ben deutſchen Grafen, begeiftern, daf er 
mit entfalteten Schwingen ins Morgenroth, in die Him⸗ 
melsluft fliegen möchte, fagt Luther: 

Das Menſchengeſchlecht, ber irdiſche Leib, unfere elende 
Körperlichleit in dieſer freien Schönheit dargeftellt, das ift ja 
eine Dergöttlihung der Ereatur, als ob fie ohne Sünde gebo- 
ven feil Seht diefe Geftalten! Sind das irdiſche Geſchöpfe, für 
den Schmerz geboren, wie wir Menfchen es find, und der 
Erlöſung durch Chriſti Opfertodb, der Gnade bedürftig, um zu 
eben, nm im Schmerz nicht unterzugeben? Stehen fie nidt 
da in ſtolzer Selbfigenlige und als ob fie ber Rechtfertigun 
nicht bedürften, weil fie gerechtfertigt durch ſich ſelbſt find 
Predigt die neue Kunſt im Hauſe des Heiligen Vaters das 
Heidenthum? 

Da tritt ihm der Maler ſelbſt entgegen: 

Es war ein Daun von Geſtalt nicht groß und mehr zier⸗ 
(ich als ſtark, von auffallend fchönen Zügen, mit reihen auf 
bie Schultern niederfließenden braunen Haaren. Er trug den 
Kopf auf dem langen Halſe ein wenig vorgebeugt; ſchöne, weit- 
geöffnete braune Augen glänzten darin, die Haut war von 
einer feinen olivenfarbenen Bläfſe bedeckt, es war eine ganz 
geiftige, faft Sorge einflößenbe Erſcheinung. 

Die Begegnung zwifchen dem Theologen und dem 
Künftler ift anmuthsvoll durchgeführt: 

„Und was fpridt Ener Ordensbruder da zu feinem Lands- 
mann... er fcheint mit meiner Arbeit nicht fonberlich zufrieden 
zu fein? Dabei warf er mit einer Kopfbewegung, die für 
einen Mann beinahe zu viel Anmuth und etwas Weibliches 

1870, 51. 


809 


batte, da8 lange Haar zuräd; die Stimme, womit er ſprach, 
hatte etwas Klares, Silbertöniges, was eigentbämlich zum 
Herzen drang. Der deutſche Mönch wenbete fich von den Bil- 
dern ab und trat dem Maler einen Schritt entgegen, wie be» 
troffen und bingezogen von biefer merkwürdigen Erſcheinung. 
Auch Egino konnte nicht anders als feine Aufmerkſamkeit von 
den Bildern abziehen, um fie den ſich gegenübertretenden bei» 
den Männern zuzuwenden, dem fchönen feelenleuchtenden Antlik 
bes jungen Malers, aus dem voller Heiterer Lebensmuth bei 
einem feltfamen, faſt Scheu erwedenben Eruſte blidte, und dem 
feftgemeißelten Kopfe des Mönche, der, um anzuziehen, nichts 
hatte als die in diefem Augenblid von einen ganz eigenthlim- 
lihen feuer belebten Augen; es war ale ob aus den vier ſich 
fo begegnenden Augen fich krenzende Strahlen geworfen würden, 
unfichtbare Geiflesfäden hin⸗ nnd herzudten, die eine Verbin⸗ 
bung fuchten und fie nicht finden könnten, ein wechſelndes 
Suchen der Seelen und ein troßiges Herausfordern. „Welch 
einen Kopf Ihr Habt, guter Frate”, fagte mit fberlegenem 
Weſen dann lächelnd ber Maler; „hätte ich ihn eher gejehen, 
hätte ich ihn dort unter den Männern ber fireitenden Kirche 
brauchen können.“ Er wies nad rechts bin auf das Gemälde 
ber Disputa. „Vielleicht aber‘, fuhr er fort, „hättet Ihr ihn 
nicht dazu hergegeben; Ihr macht ein gar ernfle® und wie er- 
Shrodenes Geſicht zu diefem Bilde. Er hatte dies in ziemlich 
fließender lateinifher Sprache gejagt und Bruder Martin ver- 
fette in berfelben: „Erſchrocken, doch nur Über die Schönßeit 
Euerer Darftellungen, die darauf deuten, daß Ihr mehr in 
Plato’8 «Gaftmahl» als in der Bibel geilen habt. Der Maler 
nidte lächelnd. „Ich habe Plato’8 «Baftmahl» gelefen, aber die 
Bibel auch; es bat, fagt es jelbft, meinen Bildern nicht geſcha⸗ 
det. — „Nicht Euern Bildern, vielleicht aber fchabet e8 den 
Seelen, welche ſich in dieſe Bilder verſenken.“ — ‚Und wes⸗ 
halb?’ — „Weil fie wie ein beraufchender Zaubertrank find. 
Diefe Fülle von Schönheit ift zu groß, um nicht das Herz ge- 
fangen zu nehmen und es in einen gefährliden Traum von 
menjchliher Hoheit, Größe und Schönheit zu Tullen. Seib 
nur ganze volle Menjchenbilder — aljo predigt ihr da vom biefen 
Wänden herab — und ihr habt der Schönheit, bes Glücks, der 
innern Harmonie geuug; ihr ftrahlt dann als freie Könige ber 
Belt, ihr feid dann die Geftalt gewordenen ewigen Ideen, bie 
ans dem Schofe des göttlichen Weſens euer griedhifcher Philo- 
fopb Hervorgeben läßt — ihr bedürft nicht mehr!" — „Und foll 
ich ſolche Weſen nicht darftellen?' fagte der junge Maler. „Iſt 
der Gott der Bibel ſchwächer, ohnmächtiger ale das ewige We- 
fen Plato’s, und wenn dies Ideen bildet, die, zur Geftalt ge- 
worden, fi als Ideale ſchöner Erjheinungen darftellen, ſoll 
ih) dann den Inquiſitor wider fie machen und fie ale heidniſch, 
undriflic und fündhaft vernichten, fie it ber Glut meiner 
Hriftliden Devotion als Ketzer verbrennen? Sind die Gefchöpfe 
des chriſtlichen Gottes ſchwächer und ungefunder, und erkennt 
Ihr nur die geftlimperten als feine Kinder, die wie die langen 
magern und verdrehten Heiligen in Euern deutſchen Kathedra⸗ 
fen und leider auch in unfern italifchen ausſfehen?“ — „Der 
Gott Plato's if nit unjer Gott“, erwiderte lebhaft ber deutfche 
Mind. „Der Gott Plato’s ift der Gott ber heibnifchen Welt. 
Was die alte Welt darftellt, was bie heidniichen Künſtler bil- 
ben, das ift eine Welt des Gllicks, des Heldenthums, des Siegs, 
der Kraft, des fich felbft genligenden Seins, der Dafeinsfreude. 
Das Altertfum iſt das Erdenglück. Das Chriftentfum aber 
ift der Schmerz. Im Altertum gehört ber Menſch der Natur, 
im Chriftenthum dem Geifte. Es Herricht im Ehriften der Zwie⸗ 
ſpalt zwifchen Menfh und Natur. Die Sünde Hat den Zwie- 
fpalt zwifchen fie gebradt. Der Sroiefpaft geht bis zum völli- 
gen Auseinanderjheiden beider, dem Tode, und fo ift unfer 
game® Leben ein fchmerzhafter Kampf, ein Sichdurchſchlagen 
i8 an jenes dunkle Thor ins Jeuſeits, an deffen Schwelle wir 
zufammenbredhen, und durd das ſich dann ein rettender Arm 
ervorfiredt, um une bineinzureißen in die Burg des ewigen 
riedene. Darum, Meifter, thut Ihr unredht, wenn Ihr Men- 
ſchen malt, in denen fein Zwiefpalt ift, die nicht flerben kön⸗ 
nen, weil ihr barmonifches Sein in einer Herrlichkeit bes Gei⸗ 
ſtes und der Geſtalt dafteht, an der feine Sünde iſt, und die 


102 











810 Ein ſteiriſcher 


nicht zu impfen brauden bis an ben Tod. Wir find Chriſten 
und wiffen, baf wir der Gnade beblirfen, wollen wir das 
Leben haben. Ich habe mir manches betrachtet, was von Kunſt⸗ 
ſchatzen des Alterthums hier in diefer alten Weltflabt vom Unter- 
gang gerettet und dem fremden Beſuchern zur Anſchauung freir 
gefeltt iR. Da Habe ich Herausgefunden, daß die Negypter am 
beften die Schönheit des Thiers dargeftellt Haben, die Griechen 
am beften die Schönheit der Menſchen; die Chriften aber follen 
am beften die Schönheit der Seelen darftellen, das fol ihre 
Kunft fein. Ihr aber, Meifter, bildet Gbitermenſchen.“ 

Die büftere Weisheit des Auguſtinermönchs hat Hier 
durchaus feinen weltbefreienden Zug. Sollte indeß ber 
Deuiſche, welher Wein, Weib und Gefang liebte, aller 


Ein ſteiriſcher 


1. Zither und Hadbret. Gedichte in oberfteiriiher Mundart 





von P. 8. Rofegger. Mit einem Vorworie vom Robert 

Hamerling. Graz, Bod. 1870. Gr. 16. 20 Nor. 

2. Zannenharz und Sichtennadeln. Geſchichten, Schwänke, 
Skizzen und Lieder in oberfteirifher Mundart von P. K. 
Rofegger. Graz, Pod. 1870. 8. 24 Nor. 

3." Sittenbifber aus dem fteirifhen Oberfande von » K.Rofeg- 
ger. Graz, Berlag des „Leyfam‘'. 1870. Gr. 8. 28 Nor. 
Durch die Reformation hat die Gefchichtsentwidelung 

mit ber Naivetät gebroden, und charakteriftifch file die 

neue Zeit warb die fouveräne Macht des reflectirenden 

Geiſtes. Alles Herlommen in Staat, Geſellſchaft und 

Kirche unterwerfen wir der Sichtung der Vernunft. 

Dies bringt die gewaltige Arbeit, den märhtigen Fluß in 

die moderne Eulturentwidelung. Die Poeſie findet ihre 

Beftimmung darin, die ewigen und göttlichen Ideen, die 

in ber Epodje nach Geftaltung ringen, zu ſchöner Er 

ſcheinung zu bringen. So entflammt fie die Kinder ber 

Zeit für die Arbeit ihrer Zeit, indem fie das Dauernde 

von dem Vergäinglichen ſcheidet, zugleich aber auch mit 

prophetiſchem Blick auf deſſen Fortentwidelung in ber 

Zukunft hindeutet. Dies Wurzeln im Geifte ber Zeit 

gibt dann den poetifchen Schöpfungen die Lebenskraft für 

die Zukunft. Der Geift der Epoche wird daher nur in 
jener Sprachform ftattfinden können, in welcher ſich bie 

Nation vor allem in ihrer Einheit begreift und findet, 

und welche vom Provinziellen, von jedem Dialelte los 

gelöft ift. Deshalb finden wir fein Beiſpiel, daß eine 

Dichtung, bie vom Ibeengehalt der Epoche gefättigt iſt, 

fi) des Dialekts bedient hätte. Die Dialeltpoefie zieht 

ſich auf enge Kreife zurück; in ihr Bereich zieht fie nur 
das unmittelbare Leben und Weben des Dienfiengeifes 

im Noturzuftande, bevor noch die Reflerion die Nabel- 

ſchnur gelöft. Darin liegen die Mängel der Dialektpocfte 

und ihre Vorzüge. Letztere werben indeß nur dann 
hervortreten, wenn ber Dichter nicht aus Koletterie zum 

Dialekte griff, fondern wenn er naturnotfwendig bazu 

getrieben ward, weil er in ber Anſchauungeweiſe des ber 

treffenden Volloſtamms heimiſch ift. 

Wir Können dies don jenem Dialektbichter fagen, auf 
den wir die Aufmerkfamfeit hinlenken wollen. 

Rofegger , den Robert Hamerling als „jlngern 
Sangesbruber” einführte, ift ein Dichter, den nicht bie 
Lektüre dazu gemacht, fondern bie Natur. Im einem 
einfamen Bauerhofe Oberfteiermarfs geboren, trieb er als 





Volksdichter. 


Lebensfreudigkeit in künſtleriſcher Geſtaltung ſo 
geweſen fein? 

Der neue Roman Schücking's iſt reich an Ibeen und 
Geftalten. Einzelne Schilderungen find durchweg fpan« 
nend — gleichwol erwärmen wir ung im ganzen wenig für 
die Hauptdaraktere des Romans; es fehlt ihnen der volle 
Pulsſchlag des Lebens, fie erfcheinen wie mit feiner SKumft 
auf Gemälde Hingezaubert, deren Betrachtung in dem 
deutſchen Mönd; den Reformator mect und diefe Wand 
lung dem Lefer begreiflich machen joll. , 
Audolf Gotifdall. 









Volksdichter. 


Kind die Schafe zur Weide; ald er kräftiger ward, jchaffte 
er im Hauswefen ber -Aeltern. Spät erſt lernte er das 
Lefen und Schreiben. Im Jahre 1858 erhielt er einem 
Vollskalender in die Hand, in welchem ex eine Dorje 
geſchichte von Auguft Silberftein: „Der Zierthalerhof 
gefunden. Das war von mädjtigem Eindrude auf ihn, 
es wedte das ſchlummernde poetiſche Talent. „Bon bier 
fer Zeit an wurde es anders in mir; die halben 

aß ich beim Kienfpan und ſchrieb, und jchrieb allerlei 
wunderliches Zeug durcheinander“, erzählt Nofegger el ‘ 
Schwächlich von Natur entſchloß er fich zum Handwer⸗ 
kerſtand. „Ich kam zu einem Schneidermeiſter und R 
mit bemfelben ein wahres Nomadenleben geführt. Wir 
zogen bon einem Bauer zum andern, und am Samftag 
ging ich wieder heim zu den Xeltern und las md fi 

ie Nacht und den Sonntag hindurch. Da fiel es m 
einmal ein, Gedichte, wie ich fie gemacht hatte, ) 
Graz an die Redaction der «Tagespojt», welche Zeittum; 
beim Wirth im Dorfe auflag, zu jchiden. Das mw: 
mein Glüd. Der Redactene, Hr. Dr. Spoboda, fh 
mir, daß ich Talent Habe, und daß er alles a 

werde, meiner Lebensbahn eine andere Nicjtung zu gel 

ich möge ihm nur alle meine Schriften — deren ic 

lich ſchon mehrere Pfunde vorräthig Hatte — 3 

Bon nun an warb ber Entwidelungsgang Rojegger’s 
anderer. Der Zmwanzigjährige fuchte durch am 

Ürbeit das in früherer Jugend Berfüumte naı 

Nach vier Fahren folder Selbftbildung entichloß ex ji 
mit einer umfaffendern Probe feines Talents vor 
Bublitum zu treten, wobei ihm Robert Hamerling 
Geleitsmann biente. Es war dies die Gedichtjamm 
„Zither und Hadbret“; fie führte ben Namen vom dem 
fteirifchen Oberlande zwei beliebteften Mufilinftrum: 
Mag das Bild abgeblaft fein — die Leltiire diejes 
muthet an wie ein Waldgang an einem lichten Sonnta; 
morgen. Erquidender Harzgeruch füllt die Luft, im 
Bäumen fingt und Tlingt es, vom fern Her ſchlag 
Raufchen des Gießbachs an das Ohr, und von ben HU ® 
Mingen die lerchengleich aufwirbelnden Luftigen Bi 2 
aus dem Munde der Sennerin oder des heimfch 
Holzknechts. Die Liebe führt im biefer — m 
das große Wort; freilich fern von mächtiger ei 





aber aud; ebenfo fern von blafjer Sentimentalität. 4 
innigfeit fehlt nicht, aber auch nicht der Muth, derb J 


Fin fteirifher Volksdichter. 


zu fein; man merft, Naturmenfchen handeln dies Thema ab. 
Wie innig ift das Gedidt: 


»s Pfüatdihgottnehma.) 
Ih thua mih nit fürchtn 
Wann ſ' mih einilegn in d' Erd, 
Aba 's Auſſitrogn fürcht ih, 
Bo da Muata?) ihrn Herd. 


Na, 's Auffitrogn fürdht ih nit 
D’ Muata geht ma nodj; 

Aba 's Einfchlofn ih ih, 
Werd neamamehr mod. 


Na 's Einſchlofn fürcht ih nit, 
Weil ih auf jo wieda fteh, 
Aba ’3 Pfüatdihgottnehma 
Bon Diandl thuat weh. 


Bol derber Schalkheit ift: 


Aba nit 3’ viel. 
A Biſſerl konnſt ſcho zan Diandl gehn, 
A Biſſerl konnſt ſchon an Fenſterl ſtehn, 
A Bifferl konnſt ſchon einiſchaun, 
A Biſſerl konnſt ſcho klopfn on, 
Aba nit z' viel! 
Geh, klopf nit z' fort, ’8 Glos if’ dünn, 
An Fenſterſcheiberl if’ bold Hin. 
ALS Beifpiel urwüchfiger Epigrammatif diene: 


Auf a mogers Diand!. 
Dir därf ih'n Himmel ſcho valündiga, 
Schau! Du fonnft jo gor nit fleiſchli fündige, 
Wos kunnt dann ah da Teufl mit dir thoan, 
Er will a Fleiſch, er brot jo foane Boan. 

Was und auffällt, ift, daß die Schönheit der Natur 
feltener die Veranlaffung eines Liedes wird. Es mag 
dies deshalb fein, weil das Maß ber Liebe erft in ber 
Trennung vom Geliebten erkannt wird; in den Armen 
der Geliebten ruht die Sehnfucht und das Lied, zu der 
Entfernten erhebt fi die Seele auf Liedesſchwingen. 
Doch fehlen Stüde diefes Genre nicht gänzlich, hervor» 
gehoben fei „Gottes Hochzeitsfeſt“. 

Ein fchlichtes aber tief empfundenes Lebensbild ftellt 
fih uns dar in „Des Ahndl ihr Traum ban kloan Ahndl 
fein Wiagei“. Auch das ernfte Gefiht des. Didaktikers 
fehrt und manchmal der Dichter zu, wie in „'s Stückl 
Brot und fei GOſchicht“, „A por Wörtl an meine Xondeleut“, 
„Der Omashaufn“; frifcher Humor ift die Signatur von 
„A betende Jungfrau‘, „Da Meßnabua“. Ein Herz 


liebes Lied ift: 
Nut Heidl!?) 


's Haſcherl) in Heiderl ) if leidi ®), 
s Augerl if’ ah noh nit Hell, 

's Buſſerl if’ noh nit recht zeiti, 
Sn Herz ftedt a burfloane ”) Seel. 
Nut Heidi! 


Und 's Haſcherl in Heiderl wird fchneidi®), 
»s Augerl bleibt ah nit fo trüab; 
’g Buffer! von Büaberl wird zeiti, 
Sn 's Herz kimmt a Buttn) und Liab. 
Nutz Heidi! 
Etwas zu derb realiftifch Hingt uns: „Wos warft für 
a ſchöns Diandl!" Die erfte Strophe Tantet: 





2 Abſchiebnehmen; Pfücnt dih Gott = Behüte big Gott. 2) Mutter. 
3— Brav wiegen. 4) unbehütfliger Menig. 5) Diminutiv von Wiege. 
6) traurig. 7) fehr Hein. 8) muihig. 9) Hölgerner Traglorb. 


811 


Wos warft für a ſchön's Diandl 
Auf ber Olm ba die Küa; 

Do wa ’8 Kiderl!) vul Miſt 
Oba 's Wanger! vn! Blüa! 

Das Naturbild „Olmleuchtn“ leidet an einem zu 
weit hergeholten Vergleich; der Dichter erklärt das 
„Olmleuchtn“: 

Da Herrgott zündt 

Ols geweichte?) Kirzan feine höchſtn Felſn on, 

So oft auf d' Nocht a Muata bet für's liabe Kind. 

Die drei letzterwähnten Gedichte gehören ſchon der 
lyriſchen Beigabe von „Zannenharz und Fichtennadeln“ an. 
Das ift eine Sammlung von Gefchichten, Schwänfen, 
Skizzen und Liedern, welche ganz den naiven, frifchen 
Geift der erfterwähnten Gedichtſammlung athmen. Die 
dorfgefchichtlichen Anläufe find treuer im Gedankenkreiſe 
und der Unfchauungsweife des Volks gehalten, das in 
ihnen denkt, handelt und empfindet, als bei Auerbad), 
befien Schwarzwälder denn doch zu fehr in fonntäglicher 
Nobleffe auftreten; doch füllt der Dichter auch nicht in 
die zu berben Realismen bes Schweizers Jeremias Gott⸗ 
belf. Liebe und Treue finden eine ſchöne Verherrlichung 
in ber ſchlichten Gefchichte „D’Annamiadl”. Anmuthende 
Stimmung athmet das Föftliche Idyll: „D'Schwoagerin 
und die Kita”. Aus dem eigenen Leben gefchöpft ift: „Da 
Schneidapederl.” Der heimatliche Boden und beffen Be- 
wohner finden treue und liebewarme Schilderung. Nod) 
eine eigene Gattung ber Erzählung ſchuf ſich ber Dichter, 
in der vor allem jener derbe Humor — freilich zumeift 
parodiftifcher Natur — durdfchlägt, der den Bewohnern 
der Alpenlanbe eigen; es ift dies die Wiedergabe griechifcher 
und biblifcher (jüdischer) Diythen, fo „A Kapitl vo die oldn 
Griachn“, „Voder Abraham”. Was die Sprache betrifft, 
ift hier die Eigenheit des oberfteirifchen Dialekts forg- 
famer und treuer gewahrt als in „Zither und Hackbret“, 
in welcher Gebichtfammlung dem Lefer, der des Dialefts 
unfundig, mande Conceffionen gemacht wurden; dem 
dadurch erfchwerten Berftändniß fucht ein dem Werkchen 
beigegebenes Sloffar zu Hülfe zu kommen. Daß durch 
die häufige Zuhülfenahme des Glofjars der Totaleindrud 
leidet, ift erllärlich; fo erfchienen ung biefem gegenüber als 
Fortfchritt die in anmuthiger, neuhochbeutfcher Profa ges 
ichriebenen „Sittenbilder aus dem fteirifchen Oberlande“. 

Der Berfaffer fagt dafelbft einmal: 

Die Sitten nnd Gebräuche des Volks, jo nnbedentend fie 
auch oft fcheinen mögen, ehrt fie! Sie find das Erbe ber 
Bäter aus alten Zeiten, und innig find fie verwoben mit dem 
armen Menfchenherzen, das ſich noch nicht emporzuringen ver- 
modt zum freien Lichte des Geiftes; fie find die Gold- 
fäden, die fein herbes Los mit dem SHeitern und Schönen, mit 
dem Ideale verweben. Und dieſe goldenen üben ziehen fich 
duch das ganze Menſchenleben von der Wiege Über den Trau⸗ 
altar bis zum Grabe. Selbft um den Sarg weben fie noch 
den zarten, milden Schleier der Poefle. 

Mag fi) auch der Geift von diefen Sitten und Ge- 
bräuchen befreit Haben, das Herz hängt noch daran, dar⸗ 
um bie Pietät und Treue in der Varbengebung Weil 
aber eben der Verſtand fich ſchon davon befreit, fo liegt 
ihm der Gedanke nahe, daß es der Zug unferer Zeit 
entwidelung ſei, baß alle Natur im Geifte wiedergeboren 
werde, daher auch Ueberlieferungen vergangener Sitten 


1) Diminutiv von Kidl —= Kittel, 2) geweißt. 
102 * 





812 


und Gebräude in. gleichem Maße ſchwinden, als die 
Cultur fi) ausbreitet. Diefer Gedanke ruht wie elegiſche 
Berflärung über den meiften dieſer Bilder. So eint ſich 
Hier der cultuchiftorifche Werth mit dem poetifchen. Dazu 
Tommt es, daß Treue und Wahrheit der Schilderung das 
friſch pulfivende Leben nicht befeitigt hat. Der Rahmen, 
in ben das Bild gefaßt, ift Häufig ein novelliſtiſcher. Der 
Stoff ift ein reicher. Es mag feinen Feſttag des Jahres, 
fein denkwürdiges Ereignig bes Lebens geben, von bem 
wir nicht erführen, wie der finnige Volkögeift feine poe ⸗ 
tiſchen Blumenkränze um fie ſchlingt. Auch bie focialen 
Berbältniffe treten in ſcharfen Umriffen vor uns hin, fo 
dag wir nad Durdjlefung dieſes Buchs fein gefäljchtes, 
fonbern ein farbentreues und uns doch Liebes Bild ber 
Bewohnerſchaft des fteirifchen Oberlandes befigen. Wie 
Sehnfucht befchleicht e8 uns nach diefen Gebirgswäldern, 
nad den einfamen Gehöften, den abgelegenen Dörfern, 
worin nod ein Stüd urwüchſigen Vollsthums, „derb und 
rauh zwar, aber eigenthümlich und finnig“, feiner Be- 


Iur Fcanen-Unterrichtsfrage. 


1. Die berliner Frawen-Bereins-Conferenz am 5. und 6. Nor 
vember 1869. Berlin, Fliverig. 1869. Gr. 8. 10 Rgr. 
2. Braftifche Verſuche zur Löfung der Beauenfeage von Luife 
Büdner. Berlin, Sanfe. 1870. 8. 10 Nor. 
3. Die Stellung ber deutfchen Lehrerinnen von Marie Calm. 
Berlin, üderig. 1870. Cr. 8. 5 Nor. 
ur Frauen - Unterrichtsfrage in Preußen von Ulrike 
enſchke. Berlin, Lüderig. 1870, Gr. 8. 5 Nr. 
Diefe Schriften find feit wenigen Monaten erſchienen 
und fönnten alle den Titel der legtgenannten „Zur Frauen» 
Unterrihtöfrage” führen. Im der erſten: „Die berliner 
Frauen-Vereind-Conferenz", iſt es zunäcftNöggerath, der die 
Notäwendigkeit der Gewerbeſchulen für das weibliche Ge- 
ſchlecht betont; er hat felbft eine ſolche in Brieg in Schlefien 
ins Leben gerufen. Neben ihm ift es Emminghaus, ber 
ein faft vollftändiges Bild aller Berufstreife entwirft und 
zu dem Refultat gelangt, daß fein Kreis als folder den 
Frauen verfchlofien fein dürfe, und es fi darum handle, zu 
den gemäßen die nothwendige Borbildung zu ſchaffen. Bom 
Handwerk ausgehend betont er, daß wenn Frauen auch 
auf das Schlähter-, Schmiede- und Schlofferhandiwert 
verzichten würben, bie große Menge der Handwerke (nad; 
Daul 500) für Frauen geeignet feien. Ebenſo wäre ber 
Taufmännifche Gefchäftsbetrieb nad) den meiften Richtungen 
den Frauen zugänglich, wenn aud) eine Borbildung dafür 
nothwendig ſei. Für bie Landwirthſchaft in vationellem Sinne 
thätig zu fein bedürfe e8 gleichfalls der Vorbereitung. So 
ſtellt ſich die Nothwendigkeit der Gewerbe, Handels- und 
Aderbauſchulen für Frauen heraus. Diefunft ift dasjenige 
Gebiet, das feinen univerfalen Charakter noch am meiften 
bewährt, und beshalb werben auch Kunſtſchulen noch am 
eheften von beiden Geſchlechtern beſucht, dennoch ift das 
Bedürfniß nad; Zeichenfhulen für das weibliche Gefchlecht 
vorhanden. Was den Berufsfreis innerhalb der gelehrten 
Fächer betrifft, fo meint Emminghaus, daß auch hier den 
rauen nicht der ganze Kreis verfchloffen fein dürfe, daß 
fie vielmehr file einzelne Facultäten Schüler und Lehrer 


4. 


Zur Frauen-Unterrihtsfrage. 







ſtimmung harrt, feifche Kraft dem großen ganzen d 
ſchen Volle zuzubringen und dafür die Segensfülle reicher 
Eultur entgegenzunehmen. . 

Hier und da Hat die Kritit ſchon die Frage aufgewor- 
fen, wohin Rofegger nun ſich wenden werde, da ex dech 
unmöglich immer bei den Bauern verbleiben fünne. Auch 
wir find nicht im Stande uns befonders für das Genre 
der Dorfgefchichte, dem er fich jest zuneigt, erwärmen 
zu Können; aber wir meinen, daß er noch einer Ueber 
gangszeit bedarf. Ob ihm bann jener Uebergang zu 
Dihtngen modernen Geiſtes gelingen wird, wie er Auer- 
bad) gelang, mit bem hier und da Roſegger verglichen 
wird, müllen wir ber Zukunft anheimftellen. Iedenfalls 
bedarf es dazu ernfler Arbeit, eines nimmermüden Stre- 
bens, bie moderne Ibeenftrömung ſich zu eigen zu machen. 
Im übrigen Hoffen wir, daß ber gejunde Kern, das reiche 
Talent, die Tiefe und Friſche bes Empfindens, die im 
Kae ruhen, ihm’ den rechten Weg werden finden 
elfen. 














an Hochſchulen fein müßten. Der Lehrberuf und der 
ärztliche fer den Frauen zugünglich zu machen und jelbft- 
verftänblich die notäwendige Vorbereitung an Seminaren 
und Hohfhulen. Emminghaus macht folgenden bemer- 
kenswerthen Vorſchlag: „Die Hochſchulen in den Heinen 
deutſchen Städten folten file Frauen eingerichtet werden, 
denn vieles, was gegen das Studium der Männer an 
Heinen Univerfitäten ſpricht, fpridt gerade für das Stu— 
dium der Frauen an denfelben.“ Behandelt Emminghaus 
die Unterrihtöfrage in großem Stil, fordert er Umgeftal- 
tung und Nengeftaltung von Lehranftalten in einer Aus- 
dehnung, zu deren Realiſirung die bedeutendften Mittel 
nothwendig wären, fo befchränfen ſich die drei letgenanm- 
ten Söpciften auf einzelne Gebiete und zeigen am dem ber 
ſtehenden Verhältniſſen die Möglichkeit und Nothwendige 
teit der Reformen. ; 
Allen dreien ift e8 gemeinfam, auf die m elhafte 
Ausbildung in ben Töcterfchulen Sinzumeifen. Ruif 
F Büchner betont das Mangelhafte des Hanbarbei 2 
richts und verlangt größere Aufmerkſamkeit und fyftem 
tifchere Behandlung deilelben, fowie obligatorijche Ein 
führung in Stadt und Landſchule. 

Marie Calm und Ulrike Henſchke behandeln 
gehend die Stellung der deutſchen Lehrerin und ihre 
nachtheiligung ſowol in materieller als in geiftiger 
hung. In Freuen eriftiren 81 Seminare fir die 9 
bildung der Lehrer, und 8 file Lehrerinnen; im a 
übrigen deutſchen Staaten find nur drei Seminare 
Lehrerinnen vorhanden, ſodaß es in Deutjchland 133 
minare für Lehrer und 11 fir Lehrerinnen gibt. 
unterrichteten aber in Preußen 1864 an öffentlichen 
Ien 4610 Lehrerinnen, außerbem eine Menge von PB: 
lehrerinnen, Gonvernanten; es gehen ing Ausland ger 
prüfte und ungeprüfte Erzieherinnen, ſodaß bie Borbereie 
kung zu diefem Berufe wol berücjichtigt zu werben 
verdient.” 




















Feuilleton. 


Hat die Schrift von Ulrike Henſchke gemeinſam mit 
der von Marie Calm die Betrachtung des Lehrberufs 
der Frau, ſo behandelt erſtere, wie es auch der Titel 
zeigt, die ganze Schulbildung der Mädchen des gebilde- 
ten Mittelftandes. Sie rügt die geringe Aufmerkfamfeit, 
welche Gemeinden und Staat der Erziehung des weiblichen 
Geſchlechts zollen. Die Töchterfchulen find Privatunter- 
nehmungen, meift finanziell unficher geftellt und deshalb 
geizen fie mit den Lehrkräften; die Stunden, bie ein 
Gymnafiallehrer oder Geiftlicher gerade frei hat, werben 
benutzt, und in Rüdficht daranf, nicht nach innerer Noth- 
wendigfeit wird ber Xehrplan entworfen. Außer diefem Man⸗ 
gel herrſcht hier auch die gänzliche Vernachläſſigung deſſen, 
was für das praftifche Leben der Fünftigen Hausfrau und 
Mutter nothwendig ifl, worauf die Berfaflerin hinweiſt. 

Die Haushaltungslehre, die Gefchichte der Induſtrie, 


813 


Unterricht in der Chemie und Volkswirthſchaftslehre, Ge- 
fundheitslehre und Pädagogik find in den Schulplan für 
Töchterſchulen aufzunehmen, nebft einem praftifchen Cur⸗ 
fus im Kindergarten. 

Diefe Reformen Hält Ulrike Henſchke im Intereſſe der 
Erziehung der Jungfrau für die Familie nothwendig: 
weiter geführt Lönnten fie zur Berufsbildung für das 
da der Buchhändler, Apotheker, Droguiften hinüber⸗ 
eiten. 

Wir machen auf die genannten Schriften aufmerkſam; 
fie haben neben ihrer praftifchen Bedeutung auch cine 
theoretifche, und zeigen, daß die fo viel befprochene Frauen⸗ 
frage bereits das erfte Stadium überwunden hat, das Sta- 
dium, welches Goethe „die weitfchweifige, nulle Epoche” 
nennt, und daß fie ſich hinübergerettet hat aufs fefte Land, 
wo es „mit Beftimmtheit, Präcifion, Kürze gethan ift“. 


SFenilleton, 


Neue Goethe⸗Ausgabe. 

Bon der in Hempel’8 Berlag in Berlin veranftalteten, 
nad den Quellen vevidirten Ausgabe von Goethes Werken 
find dem vor kurzem erfchienenen „Fauſt“ uud dem britten 
Theile der „Gedichte nunmehr die „Sprüche in Profa‘ ge 
folgt — ein Werk, welches in biefer Geflalt den Freunden ber 
Goethe -Fiteratur befonders ſchätzenswerth erfcheinen wird, in- 
dem fih H. vom Loeper hier zuerft der Aufgabe unterzogen hat, 
die einzelnen Sprüche auf ihre Quellen zurückzuführen und 
ihren Zufammenbang, namentlich ihre Beziehung zu den gereimten 
nachzuweiſen. So außerordentlich ſchwierig diefe Aufgabe jeben- 
falls war, fo Tonnte diefelbe doch von einem jo bewährten und 
umfichtigen Goethes Kenner wie ber Herausgeber infoweit ge 
Löft werden, daß er nur die Nachweilungen von einer Heinen 
Reihe Sprüche ſchuldig zu bleiben brauchte. Die Rubricirung 
ber Sprüche ift mit logifcher Berechtigung in derfelben Weife 
beibehalten, wie e8 die Herausgeber des Nachlaffes, eine Aeuße⸗ 
rung Goethe's gegen Edermann zur Richtſchnur nehmend, be- 
reits durchgeführt Hatten; nur in wenigen einzelnen Fällen, wo 
die frühere Gruppirung gegen die Rubriken „„Cthifches”, „Kunſt“, 
„Natur“ verfließ, wurde von der traditionellen Anorbnnung ab- 
gewichen. Die aus Sterne’s „Koran“ entlehnten Reflexionen, 
auf welche das „„Deutfche Diufeum‘‘ *) und bie „Blätter für lite⸗ 
rarifche Unterhaltung‘ **) bereits früher aufmerkfam machten, 
find zwar wieder mit unter die ethilchen Sprüche aufgenom- 
men, im Commentar jedoch als Angeeignetes gekennzeichnet 
worden. ine ſchätzenswerthe Hülfe zum Gebrauche dieſes 
Buchs der Weisheit bietet ein dreifaches Regiſter für die An- 
fäünge, die Namen und den Inhalt. Wen demnach diefe ori- 
ginalen Sprüche Tieb geweien find, welche fi) ebenfo wol auf 
die Natur wie auf die geiflige und fittliche Bildung erftreden 
und die Spruchfammlungen eines Epiktet und Marc Aurel, 
eines Larochefoucauld, Seume und Lichtenberg an Bündigkeit 
und Fruchtbarkeit bei weiten übertreffen; wer dieſe Reflexio⸗ 
nen als die edelften Früchte Goethe'ſcher Altersmeisheit zu 
fhäten gewußt hat, dem wird durch den gemiffenhaft aus- 
genrbeiteten Literarifch - hiftorifchen Kommentar ihr Verfländniß 
nunmehr leicht zugänglich, ihr Werth mithin unvergleichlich er⸗ 
höht erjcheinen. 

Eine der werthvollſten Bereicherungen der Claffilerliteratur 
erhalten wir in der von Loeper erläuterten Ausgabe des „Fauſt“, 
wodurd in ähnlicher Weife wie in Carriere's treffliher Ausgabe 
(in Brodhaus’ „Bibliothek der deutſchen Nationalliteratur des 
18. und 19. Jahrhundlrts) dem größern Publilum die Möglich" 


— 48 f. 1867: ,Iſt Gotehe ein Plagiarius von Lorenz Sterne?” von 
. Springer. 

*s) Nr. vo f. 1869: Feuilleton, worin ber engliſche Text neben ben deut⸗ 
ſchen gefegt ift. - 


feit geboten wird, ohne Studium umfangreicher und ſich mei- 
Be widerfprechender Commentare in den Sinn biefes theils 

agmentariſchen, theils Tüdenhaften „incommenfurablen‘ Werks 
— wie der Dichter e8 felber nannte — einzubringen. 9. von 
Zoeper fucht im feiner eigenen Weife bie Einheit der Idee in 
biefer großartigen Schöpfung anzudeuten, gibt aber zugleich 
einen umfaffenden und fritifchen Hinweis auf alles, was von 
Aſher, Deyds, Weiße, Gruppe, Röticher, Oervinus und an⸗ 
dern Erffärern bervorgehoben worden ift, fließt fich jedod) 
jelber ber philoſophiſchen Auslegung Carriered am nächften 
an. Der Entflehungsgeihichte des Werks folgt eine Tritifche 
Betrachtung der einzelnen Scenen, und jebem der beiden Theile 
ein Anhang, welcher bie Paralipomena und die Xertrevifion 
enthält. Bon unſchätzbarem Werth find für den umgelehrten 
Dilettanten die unter dem Text befindlichen Noten ſacherklären⸗ 
den Inhalts, wobei wol Düntzer's Commentar in zweckmäßiger 
Weiſe benutzt, aber auch viel Neues aus dem Wiffensichat des 
Herausgebers gefpenbet worben if. 

Die Verehrer Goethes wird in gleicher Weife der jekt 
ausgegebene britte Theil der „Gedichte“ (Berlin, Hempeh in- 
tereffiren, infofern berjelbe neben jämmtlichen Gedichten, welche 
in den nad Goethes Tode erfchienenen Ausgaben neu ver⸗ 
öffentlicht wurben und allen in Briefwechſeln und Einzeldruden 
zerftreuten Stiiden, auch die vom Loeper beigefteuerten, bisher 
ungebrudten Gedichte, in einer Anzahl von 154, enthält. 
Es fehlen nur einige bisjegt noch verheimlichte Gedichte und ein 
paar Objcönitäten, wie das „Tagebuch“, welde grundſätzlich 
weggelafien find. Der Herausgeber, F. Strehlle, Director 
des Gymnaſiums zu Marienburg, bat die einzelnen Gebichte 
mit Anmerkungen verjehen, welde um fo mwilllommener find, 
al8 gerade dieſe bisher unbelannten Dichtungen der Erflärung 
bedürfen. Auch bei diefem Bande zeugt die beigefligte Reviſion 
von der Sorgfalt, welche ber Berleger wie bie Herausgeber 
diefer Goethe» Ausgabe auf die Herftellung eines richtigen Textes 
verwenden. 


Der deutfhe Sprahunterriht und bie Munbarten. 


Das Berbältnig der Mundarten zum Spradjunterricht ift 
ſchon öfter Gegenſtand des Nachdenkens und der Erörterung 
jeitens unferer Bädagogen geweſen. Bor allen Hat Rudolf von 
Ranmer in feinem berühmten Werke: „Der Unterricht im 
Deutfchen‘, diefer Frage eine beſondere Aufmerkſamkeit gefchentt. 
Ihm gilt die gefprochene Mundart als die eigentlihe Mutter- 
ſprache des Schlilers. Mit ihr ift er aufgewachſen, und fie ift 
das utprlingliche Organ feiner Gedanken und Emfindungen.. 
Es wird deshalb die Aufgabe der Volksſchule fein, den Schü⸗ 
fer, foweit er fich überhaupt an der Schriftiprache betheiligen 


814 


folf, von feiner Mundart zur Schriftſprache hinüberzuleiten. 
Dem ganzen Zwed und Charakter der Vollsſchuie gemäß wird 
dies aber möglichft auf dem Wege praftifher Uebung zu geſchehen 
haben.“ Der Gegenfag zwifden der Sgriftſprache und ber 
Mundart tritt am auffalendften hervor in folden Sprachen, 
melde, obgleid) fle die Elemente der fhriftgemäßen Ausbildung 
befigen ober auch einft befeffen Haben, einer fiegreihen Schwe- 
ſterſprache —E auf den Standpnuft einer gewöhnlichen 
Mundart zurlüdgedrängt find, So im Provenzaliiden, fo im 
Niederdeutſchen oder Plattdeutjchen. Muß das nieberbeutiche 
Bauernfind hochdeutſch in der Schule lernen, aljo ein feiner 
Mutterſprache völlig entgegengefegtes Idiom, fo mwirb dem 
Lehrer von vornherein nichts anderes übrigbleiben, als den 
heimifhen Diafett im Unterricht ebenfo Heranzuziehen, wie er 
ihn vergeffen lehren fol. Gine theoretifch » päbagogiiche Ber 
trachtung Über diefes in ber Praris ſich wol von ion dar- 
bietende Verhältniß finden wir unter anderm in der Programm«- 
abhandlung von Karl Straderjan, Realihuldirector in Ol 
denburg: „Das Plattdeutſche als Hilfsmittel für den Unterricht‘ 
(Oldenburg 1866). Aehniich, wenn auch principiell verſchieden, 
iſt das Verhaltniß der ober- und mitteldeutſchen Munbdarten zur 
hochdeutſchen Schriftſprache. Hier wird der Lehrer bfters wegen 
der feinern Unterfhiede zwiſchen lebendiger Sprache und Schrift 
einen ſchwerern Stand haben als der Lehrer im Gebiete des 
Plattdeutſchen, weil diefer es mit zwei völlig verſchiedenen 
Spradorganismen zu thun hat. Auch im hochdeutſchen Gebiete 
tritt an den Lehrer die Forderung heran, daß er die Mundart 
als Hülfesmittel beim Unterricht benuge. Im anregender Weife 
behanbelte diefes Thema, wenn aud nicht mit Beſchränkung auf 
die hochdeutſchen Mundarten, Karl Julius Schröer in einem 
Bortrage: „Der deutfhe Spradunterricht und die Mundarten“, 
welchen er in einer Nebenverfammlung des neunzehnten all» 
gemeinen deutſchen Lehrertags, den 8. Gun 1870 hielt, und 
welcher jet al® Separatbrud aus der Zeitfärift „Die Bolte- 
[m “vorliegt (Wien, Sallmayer und Comp., 1870). 

indem der Berfaffer jenen Grundfag R. von Raumer's aud) 
au dem feinigen macht, hält er es für unerlaßlich, daß die 
Lehrer zu ber Arufpabe, den Sciifer von der Mundart zur 
Säriftfprade Hinüberzufeiten, geldicdt gemacht werden. Der 
Lehrer foll, ohne daß er ſprachvergleichende Studien treibt, bie 
Einfiht gewinnen, daß die Vollsmundarten Fein verberbtes, 
aus gefeglichen Gleifen gerathenes Schriftdeutſch find, fondern 
die örtlich, gefärbte natlirliche Fortbildung der Sprade unferer 
Väter; dann fol er eine allgemeine Kenntniß gewinnen von 
den deutſchen Hauptmundarten, und ſich in einer berfelben, im 
feiner eigenen ober einer, bie feiner Heimat die nächſte if, 
heimiſch fühlen. Wol im Vewußtfein, daß bie Erfüllung nicht 
jo bald winfen wird, fließt Schröer feine Betradhtung mit 
dem Antrag, den er „hiweigend im die unendliche Zeit nieder» 
Tegt"“, in der Hoffnung, daß er einmal vielfeißt zur Geltung 
tomme, daß an dem deutjchen Fehrerbildungeanftalten der Unter» 
richt in den Mundarten in den deutſchen Sprachunterricht aufe 
genommen werbe, 


„Germaniftifhe Studien". 


Als Franz Pfeiffer feine „„ Germania gründete, beftanb 
als alleiniges Organ flir die germaniſtiſchen Etudien Haupt's 
Beitfchrift für deutſches Altertfum‘. Seitdem ift nod eine 
Zeitſchrift gleicher Richtung in Leben gerufen worben, Höpfner'g 
und Zacher’s „Zeitfchrift für deutſche Philologie". Der Kreis 
der Mitarbeiter auf biefem Gebiete hat ſich b erweitert, bie 
Production fi fo gefteigert, daß felbft die vermehrte Anzahl 
ber ‚Organe nicht mehr ausreicht. Es ift den Herausgebern 
nicht möglich, die eingejanbten Beiträge raſch zu veröffentlichen 
wegen ihres Ueberfluffes. Um diefem Uebelſtande abzuhelfen, 
müde fi aber dod die Gründung noch einer vierten Zeit« 
ſchrift nicht empfehlen. Karl Bartfch, ber Herausgeber der 
von Pfeiffer begründeten „Germania‘, bat baflir ein anderes 
Unternefmen ins Auge gefaßt, welches jenen Uebelftand befeitigt 
und zugleich die Zerfplitterung vermeidet, Unter dem Zitel: 
„Germanifiie Studien“ beabfihtigt er ein „Supplement zur 
Germania” herauszugeben, in weldem haupiſächiich umfang« 





Feuilleton, 


reichere Arbeiten, bie eine Trennung in mehrere Hefte nothe 
wendig maden würden, zum Abdrude gelangen, auch werth- 
volle unbelannte Terte deröffentlicht werden follen, während 
Recenfionen, Bibliographie, Miscellen nach wie vor aueſchließlich 
ber ge felöft zufallen. Diefes neue Unternehmen wird 
gewiß mit Freude begrüßt werben. Namentlich auch für Texts 
mittheilungen wird fi das Supplement vorzüglich eignen, 
wenn fle zu umfangreich für eine Zeitfhrift umd zu Hein für 
eine gefonderte Heransgabe find. it Recht hat Pfeiffer von 
allem Anfang an bie Tertmittheilung mögiichſt ausgeichloffen, 
und die Abhandlung, die Anterinhung als das Ziel feines pe» 
riodifchen Unternehmens hingeftelt. Größere Auffäte, die zum 
Umfang eines Buchs anſchwellen, wie fie fi öfters in Haupt’s 
„Beitfhrift” finden, find ebenfo wenig vortheilhaft für ein Organ, 
weldes die Wiſſenſchaft mach allen Richtungen pflegen umd 
Wannichfaltigkeit bieten fol, Das von Bartjd gegründete 
Supplement wird fid ähnlich zur „Germania' verhalten wie die 
aätilhungen zur deutfchen Geſchiche · zu Sybel'e „Hiflorilcher 
ei ., 


Notizen. 

Aus C. F. Amelang’s Verlag (F. Boldmar) iu Leipzig 
find zwei ebenfo gefhmadvoll ansgeftattete wie in jeder Hin- 
fit empfehlenswerthe Weihnachtsgaben hervorgegangen: „„Fir» 
der, Balladen, Romanzen, harmonifh verbunden mit der 
bildenden Kunft durch Sluftration von Baul Thumann, 3. Füll- 
haas u. a. herausgegeben von Albert Traeger‘, umd bie 

jebente, bedeutend verfchönerte Auflage des „Album für 

eutfhlande Töchter. Fieber und omangen. Dit 
Illuſtrationen von Paul Thumann, W. Georgy, I. Füllfaas 
u a.“ Der unermüblie Verleger weiß mit feinem Kunf- 
gefühl in jeder meuen Auflage feiner Prachtausgaben das min- 
der Gelungene augzufgjeiden und durch neue Suuftrationen von 
gediegenem Werth zu erfegen. In dem Zrarger’ichen ‚, Album‘ 
iſt die Auswahl ber Gedichte eine gefhmadvolle nud zmed« 
entiprecdjende; fie bewegt fi nicht auf der großem Heerſtraße 
der lyriſchen Anthologien, vermeidet alles, was für den Gr 
(ine des Haufes und der Familie allıu freigeiftig if. Die 

[uftrationen, jomol die mehr ‚geidihtiigen, als auch bie 
landſchaftlichen, zeichnen ſich vortheilhaft aus, jene durch marfi- 
gen Schwung, diefe durch fiimmungsvollen Ausdrud, der oft 
mit wenigen Mitteln glüclich erreicht if. 

Eine Anthologie mit weſentlich pädagogiſchem Zwed ift 
die folgende: „Auswahl deutfcher Gedichte für Schule und Haus. 
Nah den Ditungsarten geordnet und mit erlänternden Air 
merfungen verjehen von Oskar Liebel“ (Dresden, Schut- 
buchhandlung, 1871). Die Sammlung, welde auch einzeine 
poeiiſche Gaben der Gegenwart in ſich aufgenommen hat, will 
ein Heiner Beitrag zur äfhetifchen Erziehung der Jugend jein 
und beobachtet dafer in ihren. einzelnen Wötheilungen einen 
dom Leiten zum Scheren auffleigenden Gang in der Anord- 
nung des Stoffe. Cine kurze, allerdings nur das Hauptjäh- 
lichfie berügrende Einleitung, ſachliche Anmerkungen umd bie- 
graphiſche Notigen über die Dichter bilden die Zuthat des Her- 
ausgebers. Die mitgeteilten Gebidte fint jedenfalls zwed- 
entſprechend; nur vermiffen wir ungern manches Gedidt, ;. ©. 
von Freifigrath und Lingg, welches bei Hohen dichteriichen 
Werth fe nicht über den Horizont der hetauwachſenden It- 
genb_binaußfiegt. 

Einen Meinen poetifhen Blumenftrauß zur „Förderung 





wahrer Herzensbildung“ bietet die Sammlung: „‚Bergif 

night. Blumenlieder für junge Blumenfreundinnen gefammelt 
von ©. Hartmann, Mit Bildern in Delfarbendrud na“ 
Originalzeichnungen von Prof. 3. B. Sonderlaud“. (MWefe 
Diüme). Die Blumen find nad dem Jahreszeiten und mac 
dem Blutenkalender geordnet. Außer einigen frommen Did 
tern, wie Krummadjer, Harms, Spitta, Agnes Franz find no 
mentlic Goethe, Rüdert, Uhland, Tied, Geibel in diefer po 
tiſchen Botanik vertreten. Schiller fehlt gänzlich; fein „Mädcı 
aus ber Fremde” reiht wol Blumen dar, aber fie find 
näher nad) Sinn? oder Jufflen befimmt. Ju umjerer Samr 
Tung aber find nur anfländige Blumen aufgenommen, die fi 











Feuilleton. 


Iegitimiren können, nidt blos Kfen und Lilien, auch Kaifer- 
kronen, Mauerpfeffer, Eiſenhut u. f. 

Die Kalenderliteratur kann der —* d. Bl. gemäß 
in der Regel keinen Anſpruch auf Beachtung in enfelben mar 


hen. Ausnahmeweife fei uns jedoch geftattet, auf ein Unter 
nehmen hinzuweiſen, das einmal von der Herfönnmlihen Form 
and» 


der Almanache abweiht. Wir meinen den „Fiterifsen 
kalender“, herausgeben von J. Mehtig ame ter Jahrgang auf 
das Jahr 1871; Leipzig, ©. Schulze). Das Aweicjende deffele 
ben befteht darin, daß er, meben bem Angaben des afttonomis 
fen und bürgerlichen Kalenders, an der Stelle ber Namen der 
Kirhienheiligen diejenigen berühmter Furſten, Staatsmänner 
und Milltare aufzäßft nach ihren Geburtstagen und »Sahten. 
Außerdem findet fi am Fuße des Almanach ein Meines Ber 
zeihniß von Yublläen, fowie von geſchichtlichen Ereigniffen aus 
den Tiger Jahren jedes Jahrhunderts, Es erfceint ein fol- 
es Borgehen durchaus zeitgemäß; Notigen über diefe neuen 
Ralenderheiligen haben für jeden teunb der Geſchichte und ber 
nenen Zeit eine hervorragende Wichtigkeit gegenüber den alten. 
Die von uns herausgegriffenen Daten haben wir Übrigens als 
richtig. erfunden. 








Bibliographie. 

— Diätergrüße am Auferſtehungemorgen oe jeeinigten 
Deutilanı —— des Jahres eo Ye — —R 
bem beutfe ben Soil fe bargebı je Rnaunth. Fr Bohn. Langen« 
Tata, ‚Bel oge-Gmpt * * 

—8 ——— Ei ‘verlorene Quellenschrift des 19, 
Jahrhan ts aus Bruchstücken a le 83 Nr. Scheffer- 
—— — ick, Wagner, 2 Thlı 

Baur, @., Dir [77 Beurer Chart. Nie ensurg, Ugens 

tur Fr —* — 





sten, bon 
. 16, 








— Gier Dorfleben in Neu land. Gine 

< un, dem isn. Sunganı 9. D. Steintor dere & 

J— — — nachtöfrend und, Weihnaqteleid. Ein Lieder⸗ 

 ferslautern, * 32. 10 Not. 

Far —A— — ee er Meupeit. Srigen. Seipig, Gru- 

PROC dee len haften jeit. Aer Db.: 

u er germanih jem —A ee in et han von 
R. vd. Raumer, Ir. 

€, Ei — von Paris ober bie ar beim Ka Dar 





—— re e — aus bem beutig-fe 


3870, ARE m. Be 
in, plere, Markgraf von A: 
Stammvater ——— "Hauses, Berilb, Loosenstein. 197L- 


28 

RE Arena ge Bigen © 
E17 RER, Die Königin der Bälle. Rovelte- "ütone, erlagds 

un, 9 Zrauerfpiel. Leipgig, Hirzel. Er. 8. 
Wi A u, 1 param&ieber, 2te, ſtart vermehrte Aufl. Bremen, 

Tele, © ®, —E te durchgeſehene Aufl. Roſtoc, Stiller, 


16, 5% 
ünfer nieberpewonnenes Sand. Beiträge er Renntniß bet beutfgen 
Gebietes in Stjaß und Lothringen. Berlin, Dlmmler. 9. 10 Rer, 





Bullenweber. 








Ey Der Hirchenstaat und die Opposition gegen den 
päpstlichen Abeolütlonlus tm — desi4. Jahfkander,” Leni, 
Bien Genie, Heine Sgmägen. Sehmtofe Gefäigten aus Siforifge 

ße Leute . Han 2 
ie yabaciger Grianerung, Berlin, X. Dunder, 171: Gr % Yale 
— an, Die Umerkenzti “a Piegestten 


1871. Dr. 8. 1 Lhlr. 15 Nor. 


a 
Io 4. 3 Ehlr. 


Gin Roman ter norbifgen 


Ianens In einem Band, 1ste 





atb, &., Das ren) yon Bine, 
Kichpelm. 8. 1 Zplr. 5 R 





Panel 
eos weh, 
* Hoyer F —— allgemeinen r 
1. ‚Aldburghausen, Biilogr. Institut, Br 
ie 000. L., Hegel, der —— —— Eine 


ipaig, Duuoker u. Humblot. Gi 
Up1Ea, Eonife, Kaifer Sofenp und je gansetncst. PHifsrl- 
8, 


Michelet, C. 
Jubelschrift, Lei 


Dürrfge Buhhantlung. 8. 


fen. Sin Rate 
Sa Ber, 
3 Thir. 10 


an, 8., Die Barifer — Seite Stigen aue dem Bar 


„= "gr 27 li &r, 
se, SR £ SD. — Kat (ge gem 
ıd Sgil era, nad jeinem evangelifgen Leben und Wirken darge« 
Ra Rene Grante. &r- 8.20 Apr 


vn, it Woman. Me Abth. 4 Bde. Leip) 


äptten 3, Sugente bie Gptaijerin der range 
Sg de ber Heigeit. Sleleeib, Thlele u- 
'., Deutsche Alterthumskunde. 





815 


Detling, ech S.. Rieber mit ! Napoleon! Cine Sammlung patristifger 


Siohigen, Ra, 
"Ein Benbebeittänn, (A souaty Samily.), Roman. Aus 
dem —2 — von GTife Mirug., Ginige, nom dad a auiorifirte 


dentfce 5 eeipni ht dir, 
une nimidt, h ie e tönt, da — KH Si — 
—2 er are (a Rare Aal. Br 


St tn Knen Berti Bene. ıRıs 8b. — 
en und Eijanı. 
ertin, Sante. 187), Or. 6 DEbe en — 
J—— "DR. , Heinrig IV. und Philipp II. Die Be, rünsung 
hs (renden Aergemigi, a Gatape *AosB- 100. Ahr — 
Pier ‚5. Pangaiei auß beb Lebens Mai, lufsatignen. Dig- 
tungen su bg dern, Öranen. 4. 36 Mar 
36 Eile Eine —5 —— ——— De: Wer 
eines Sekenssiten Noti en en "und rasch later Kine 
— ii, —S— 
R., Kriti He un ehe —— — istes 
” —e—— —— über das We- 
—— jene Gun nt Jens Brüge und 
um. bung, fe 
Ber, sine — — —— 1 ji uns fein 
tier 8, Die Bmanaiparlon ti —— von —2* — unb Me 
eliglonsunte 
Bieer hesgen. Gekcnte Se Hei —— —— 2a ha 


23 
——— —— ae ale Kr 2 


ynide a ENT Fa 

Der Krieg um bie ;ter 1870 a * ie 

— Yargeheite 1fe BE tele, Sankt De Dir 1% = u 
Sanio, F. D. Buz Brinnerang an Heinrich Eduard De Leip- 
alte Vetter, Roman in Berfen. 2te ver- 





feit Ührer 
Segelimbung 
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si, Zeubadr. „Or '8 
a 
Beferte, Su 








Ir, 10 Ngr, 
Gallien Sr ahe — rien: Zur Gharafterifit des 
en —— 7 "Bei Te Fr FE: Lebensbild für 9ı 
tage 
au. Bet, ‚aftneı ft DE —* J m Beben für Yung und 
&%, 


—8 und Beobachtungen zur mit u —F 
gründung seiner Theorie er Umsetzung aM 
Bonnenanziehung und eines gleichzeitigen Wochsels der Einzch ten a vr 
den —— der — jörlits, Remer. 1871. Gr. 8. 16 Ngr. 
Se MWafa oder Ma m Maste. Sqhauſpiel. 
BE D —5 — — 1871, 8. 
Bortifge länge. 


—5 — Kaun 

dlitz, ©. v., —* —E—— — Ein russisches 
Dichterleben. Mitau, Behre. Gr. 8. 1 Thir. 15 Ngr. 

eifert, D,, Dr. Mattus Beti6 von Grabe und feine Zeit, Ci 

sinociäee Batet:, Ci. Bullen, Snler a Sonne 100, (dr A 

et, 1 Ein Weihgejhent für die Zeit, Wien, Mayer u. 


er Gleg des Olfen, ober Rrieg bem Mriege. Pramatifges Iär« 
gu Gar tus Seit seh, Röhigederg 1 Ui., Braun m Weber, 


Haan ©., Xiptaemneftra. Trauerſpiel. Münden, Adermann. 











©. 
Die Dusten ven Ehaltptase In Mobenen, Müssen 
x au mi —S— eien 2e * 
de 
'teger, J., Platonlsche —S ir. Innsbruck, Wagner. Gr. 8. 





16 25 pr 
— , 2;, Binceng von Paul. Gin Lehrherictt. Mainz, air- 


ein, 

ma don ber zeitli— en Deitiäd} fan 
klei * 2 Setemuntl mit. bei jene en — ante r4 
mntud, ante 8 F — jerd gegen Kleutgen un de ShHolaftit. 
—*8 


— „bg au Dem altgriecifgen geben. Reipzig, Teube 
ie Beiden 





nen 





* e ober Berliner im Eiſaß. 
tuimanı, 6. %., Sräßfungen auß Motbbeutfälans. 2ter Dr. 


inforff 
En ‚blättern eines“ Sehbunbfiebzigere, aus bem Feldzuge 1870. 
* —* — ——— 


Zeitgedichte. Berlin, Königemann. 


teiner mit den Griechen in Pa- 
ıten Jahrhundert und der Neu- 
verflossenen Jahrzehn, Bt. Gr“ 


Fe ORTE Ben 


BE: arte am Ki ober einige Hrenfifg » frampö ei Spaten, 


u. ar 
im ® 2 ıc. aber Güfifier gutgue wie 
er et uns SE —S— a ven "Branee 
fenfriege im Jahre 1870. Wittenberg, Se oft. im eist 
Dir yluniae Metpef aber ber Uberalimnge Im wahren Site na 
ber Jellefiaidie Don ei men Menfene ——— 
Bien, Hoyer u. Comp. 9. 4 Jer 


3 i 
etiaindreh, R, 


Samant., Berlin, Laflar. Cr. 16. 
Rense, 


dert, har "Waffenflänge, 
;9e Streit der 















816 


Anzeigen. 


Unzgeigen. 


—'Stt — 


Feſtgeſchenke 


and dem Verlag von F. A. Brochaus in Leipzig. 


Olluſtritte Bibel. 

Mit Yolzſchnitten nach Originalzeichnuungen von Bende— 
— Serien, Neil % ale teinle u. a. Groß- 
Onart. Geh. 7%, Ehle. Geb. in Halbfram 94, Zäfe., 
in Leder mit Goldſchnitt 10 Thlr., in Chagrinleder mit 
Goldſchnitt 11 Thlr. — Pracht - Ausgabe in Folio. Geh. 
15 Thir. 18 Nor. Geb. in Ehagrinfeder mit Gofbfhnitt 


20 Thlr. 18 Nor. 
Hausbibel. 
Klein ⸗Quart. Geh. 37, Thlr. Geb. in Halbfranz 4 Thlr., 
im Leber 5 Thle., in Leder mit Goldſchnitt 5%, Thle., in 
Chagrinfeder mit Goldſchnitt 6 Thlr. 5 Nor. 


Das Aene Teſtament und der Yfalter. 
it Photographien nad Zeichnungen dev erfien Künſtler 
Deutfhlande. Dctav. Cart. 4 Thlr. 24 Ngr. Geb. in 
Chagrinfeder mit Goldſchnitt 6 Thlr. 


Die Länder und Stätten ber Heiligen Schrift. 
Bon Friedrich Adolf Strauß und Otto Strauß. 
Mit hundert Bildern nad Zeihnungen von Halbreiter, 
Bernaz, Strähuber n. a. Groß-Onart. Geh. 9 Thir. Geb. 


in Leinwand mit Goldſchnitt 117% Thlr., in Chagrinleder 
mit Goldſchnitt 1224 Thlr. 





Dieſe aufs ‚olidigfte ausgeftatteten Bibelwerke (früher 
Berlag ber Bibelanflalt der 3. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung), 
von dem herborragendfien deutſchen Klinfilern illuftrirt, 
find befonbers als Feit- und Weihegaben zu Weihnachten und 
Oſtern, bei Jubiläen, Hochzeiten, bei der Confirmation u. f. w. 
zu empfehlen und in einfachen wie in koſtbaren Einbänden 
dur alle Buchhandlungen zu beziehen. 





Derfag von 5. A. Brochfans in Leipsig. 





Soeben erſchien: 


Rorträts und Studien. 


Bon 
Rudolf Gottſchall. 

Erfter und zweiter Band. 
Literariſche Charalterföpfe. 
Zwei Theile. 

8. Geh. Jeder Theil 1 Thlr. 24 Nor. 
Inhalt: 

Erfier Theil. Byron und die Gegenwart. — Bictor Hugo 
als Lyriler. — Friedrich Rüdert, — Heinrich Heine nad 
neuen Quellen. — Sei Hebbel. — Charles Seale- 
fi, — Malbert Gtifter. - 
weiter Theil. Hermann Lingg. — Robert Hamerling. — 

3 Wilhelm Srban. Bi Albert Sindner und ber — — 
Das Leben Jeſu in den Darſtellungen von Retian, Strauß 
und Schenlel. — Ferdinand Laſſalle. — Die Unſterblichteits- 
frage umb die neueſte deutſche Philoſophie. — Ein Phiioſoph 
des Unbewußten. 





Dertag von 5. A. Brocihaus in Leiphig. 





Soeben erſchien: 
Deutſche Dichter des fechzehnten Jahrhunderts. 


Mit Einleitungen und Worterflärungen. 
Heransgegeben von Marl Gordeke und Iulius Tittimann, 
Fünfter Band. 

Dichtungen von Hans Sadıs. 

Zweiter Tpeil. Spruhgebigte. Herausgegeben von I. Tittmann. 
8. Geh. 1 Thlr. Geb. 1 Thlr. 10 Ngr. 

Unter dem Zitel „ Spruchgedicte” gibt diefer Band, im 
Anflug an die im vierten Bande enthaltenen „‚Geiflichen und 
weltlichen Lieder‘, eine wohlgeorbnete Sammlung ber befien 

iftorien, Schwänfe, Wabeln, Sprüde und Geipräde von 

Sir Sad, mit Worterflärungen und einer literarhiftori» 
ſchen Ginleitung. Der Herausgeber war befirebt, die reiche 
‚ülle der Stoffe und die Mannichfaltigfeit der bibaktiichen 
'ichtungen, weiche ber nilenberger Meifterfänger poetiſch ber 
handelt hat, in richtiger Auswahl Hervortreten zu laſſen. 


Inhalt des 1.—4. Bandes: 

Liederbuch aus dem fechzehnten Jahrhundert. 

Schaufpiele aus dem ſechzehuten Jahrhundert. Erſter Theil. 
Mitolaus Manuel, Panl Rebhun. Lienhart Kulman. Jatet 
Funtelin. Gehaftian Wild. Petrus Medel.) 

Schauſpiele aus dem ſechzehnten Iahrhundert. Zweiter Theil. 
(Bartholomäus Krüger. Iatod Horer.) 


Digtungen von Haus Sachs. Erſter Theil. 


Geifllihe und 
weltliche Lieber. 





Derfag von 5. 2. Brodfan: 


BEETHOVEN, 


ses critiques et ses glossateurs. 
Par Alexandre Oulibicheff. 
8. Geb. 3 Thlr. 


Beethoven, 
feine Kritiker und feine Ausleger. 
Bon Alexander Mlibifcheff. 
Aus dem Franzöfifchen überfegt von Ludwig Biſchoff. 
8. Geh. 1 Thir. 24 Nor. 





Leipzig. 











Diefes Wert des berühmten ruſſiſchen Biographen Mo- 
zart’s über Beethoven, im frangöfifhen Original wie im treff 
ücher deutſcher Meberfegung vorliegend, flieht in wohlverdientem 
Anſehen als einer der wichtigſten Beiträge zur Beethoden 
Literatur. Aus Anlaß des Jubiläums fei die Aufmerkſamlen 
der Mufiter und Mufilfrennde von nenem darauf hingelentt 





Verantwortlicher Redacteur: Dr. Eduard Srohhaus, — Drud und Verlag von F. A, Srodhaus in Leipzig. 





Blätter 


für 


literariiche Unterhaltung. 


Herausgegeben von Rudolf Gottſchall. 


Erſcheint wöchentlich. 


—#e Ar, 59, 8 


22. December 1870. 


Inhalt: Zur Shaffpeare- Literatur. Bon Nudolf Gottſchal. — Neuefte Romane und Novellen. Bon 3. 3. Honegger. — 
Ein neuer Band von Pertz' Leben Bneifenau’s. Bon Hans Prug. — Ein Kaufmann ale Philoſoph. — Feuilleton. (Englifche 
Urteile über neue Erſcheinungen der deutjchen Literatur; Notiz) — Bibliographie. — Anzeigen. 


Bur Shakfpenre-Piteratur. 


1. Sahrbud der Deutichen Shaffpeare - Gefellichaft im Auftrage 
des Borftandes herausgegeben durh Karl Elze. Fünfter 
zehrgeng. Berlin, Aber und Comp. 1870. Lex. ⸗8. 

r. 


2. Geſchichte der Shakſpeare'ſchen Dramen in Deutſchland. 

Bon Rudolf Sende. Leipzig, Engelmann. 1870. Gr. 8. 

2 Thlr. 22%, Nor. 

Die Shafjpeare-Forihung und Shaffpeare- Kiteratur 
vermehrt ſich in gleichmäßiger Progreffion, welche In⸗ 
terefjien auch fonft die Zeit bewegen mögen. Die im 
„Shakfpeare- Hahrbuch” (Mr. 1) mitgeteilt „Shalefpeare- 
Bibliographie”, März 1868 bis Februar 1870, zufammen- 
geftellt von Albert Cohn, weit eine große Menge von 
Textausgaben, Ueberfegungen, Monographien, Auffägen 
u. ſ. w. in England und Deutfchland nad), welche von dem 
unermübdlihen Eifer der Shaffpeare- Philologie Zeugniß 
ablegt. Es läuft dabei auch viel Todtgeborenes, Barodes 
und Berjchrobenes mit unter; denn wie e8 in der Bibel 
beißt. „Es werben nicht alle, die zu mir fagen: Herr, Herr! 
in das Himmelreich kommen“, fo gilt dies auch bei Shak⸗ 
fpeare; viele beten ihn an und rufen: Herr, Herr! und 
ſchwatzen Hinterdrein confufes Zeug. 

Bon den englifchen Tertausgaben erwähnen wir nur bie 
von Knight, Howard Staunton, von Charles und Mary 
Cowden Clarke, von Charles Kemble; außerdem findet 
fih eine große Zahl von Ausgaben einzelner Stücke; 
bann erwähnen wir die neue „Shaffpeare- Örammatif‘' 
von E. U. Abbot. Die Schrift von William Hazlitt 
über die Charaktere in Shakſpeare's Stüden ift in neuer 
Auflage erjchienen; überdies hat derſelbe Verfaſſer Vor- 
leſungen über die englifchen komiſchen Schriftfteller Heraus- 
gegeben, unter denen ebenfalls Shaffpeare in erfter Linie 
ſteht. Andere Borlefungen veröffentliht Henry Giles 
über das Meenfchenleben bei Shalipeare; Henry Brown 
erflärt die Shakſpeare'ſchen Sonette von neuem; Richard 
Simpfon ſchreibt eine Kinleitung zu ihrer Philofophie; 
von W. Dodd's „Schönheiten Shakſpeare's“ wird eine 
neue Auflage veröffentlicht ; dann erjcheinen von George 

1870. 52. 


Ruffel French , Genealogifche Shakſpeareana“; von 
Henry Greene ein Werl: „Shakespeare and the em- 
blem writers”, und eine überaus große Zahl von Heinen 
Shaffjpeare-Notizen, Wort- und Sadjerflärungen, ge- 
Inadten Shafjpeare-Nüffen in ben „Notes and Quibbles“, 
dem „Athenaeum‘“ und all den andern englifchen Zeit- 
fohriften. Auch an Anthologien fehlt es nicht; fo hat fi 
ein Engländer die Mühe gegeben, an 2700 Mottos aus 
Shakſpeare zu ſammeln. 

Was die deutſche Shakſpeare⸗-Literatur betrifft, fo 
find die hervorragendern Werke bereits im Verlauf ber 
legten Yahrgänge d. BI. erwähnt worden. Wir tragen 
noch nad), daß vorn der neuen Ausgabe der Schlegel- 
Tieck'ſchen Shakfpeare- Ueberfegung, die unter Redaction 
von Ulrici durch die Deutfche Shakfpeare - Gejellfchaft her⸗ 
ausgegeben wird, jegt acht Bände vorliegen, und daß 
darin als neu überfegt und zwar von Hergberg die Stüde: 
„Liebesleid und Liebesluft“, „Die Komödie der Irrungen“, 
„Die beiden Beronefer”, und von Herwegh der „Coriola- 
nus“ erfchienen, während die von “Sodenftedt herausgegebene 
Ueberfegung bis zum 30. Bündchen gediehen ift. Unter 
den Shaffpeareana vermiflen wir bie Auffäte, die in ben 
erften Nummern des von Mar Moltle herausgegebenen 
„Shakipeare- Mufeum“ enthalten find. 

Der übrige Inhalt des neuen, fünften Jahrgangs 
bringt uns mandje Auffätze von Werth. Ein inter- 
eflantes Thema, das vorausfichtlih in einer Reihe 
von Artikeln behandelt werben wird, hat fih C. C. 
Henfe gewählt: „Deutfche Dichter in ihrem Verhältniß 
zu Shalfpeare.” Es wird zunächft der Einfluß nachgewie- 
fen, welchen ber britifche Dichter anf die Stürmer und 
Dränger, wie Reinhold Lenz und Marimilian Klinger, 
ausgeübt; dann der Einfluß auf Schiller’8 und Goethe's 
Zugendwerfe, auf den „Wilhelm Meifter‘‘, und auf Leffing. 
Sehr treffend find befonders die Beziehungen zwiſchen Ed⸗ 
mund Glofter, Richard II. und Franz Moor hervorgeho- 
ben. In der Sefbftkritil der „Räuber“ ſpricht Schiller es 


103 











818 Zur Shaffpeare-Literatur. 


aus, man werde es, wenn nicht an ben Schönheiten, 
doch defto gewiſſer an ben Ausſchweifungen merken, wie 
fehr der Dichter der „Räuber“ ſich in feinen Shakjpeare 
vergafft habe. Im der That ift Shaffpeare der Ahnherr 
für ale Ausfchweifungen unferer Kraftdramatit von ben 
„Räubern“ bis zur Gegenwart. Welch reiches Feld bietet 
ſich für die fpätern Artikel Henſe's dar in der Charak- 
teriftit der romantiſchen Dramen von Tied, Brentano, 
Arnim, in den ganz verjhaffpearificten Erſtlingsdramen 
von Immermann, in ben folofjalen Ausgeburten der 
Grabbe'ſchen Phantafle, defien Mohr Berdoa im „Herzog 
Theodor von Gothland“ an den Aaron des „Titus An« 
dronicus“ erinnert, in den Stüden von Buchner, Hebbel, 
Griepenkerl u. a. Wenn Henfe aud) in Auffindung ein- 
zelner Parallelen zu erfinderijch ift, wie der Vergleich 
zwiſchen Ferdinand und Othello doch wol im einzelnen 
zu gefucht erſcheint, fo find doch bie Parallelftellen in 
Bezug auf den dramatifchen Ausbrud, die Ueberſchweng · 
lichkeit des Affects und der Leidenfchaft, ja bie vielen 
anflingenden Bilder glüdlih gewählt, und mit Recht fagt 
Henfe: 

Diefe Kühnheit, Seltfamkeit und inbividuelle Ausführung 
ber Bilder in einer leidenihaftfihen Sprade tritt überall her⸗ 
vor und verränh große Liebe des jugendlichen Schiller zu Shaf- 
fpeare. An drei Stellen gibt er den Steinen perfönliches Le- 
ben, wie Shaffpeare in ber Leichenrede des Antonius; er nennt 
den Tag verihämt wie Shatſpeare in „Macheth‘'; er bezeichnet 
die Neue als eine hölliſche Eumenide, eine grabende Schlange, 
die ihren Fraß wieberfäut, bie ihren eigenen Koth wiederfrißt 
und erinnert uns an Shalipeare's Bezeichnung der Eiſerſucht 
im „Othello‘'; er ruft Wehe über die fhlaue Glinde, die einen 
Engel vor jeden Teufel ftellt, tie Angelo in „Maß für Map’ 
ähnlich ſich auebrlidt; er wendet das Roloffale und die Ueber- 
treibung wie das Niedrige an, um flarfen Effect oder auch eine 
komifche Färbung hervorzubringen; der individualifirende Stil 
tritt auferbem im der Fabel hervor, melde Fiesco vom Reid) 
der Thiere und der Gärung in demfelben erzählt und melde 
an de8 Menenius Erzählung vom Streite der Glieder gegen 
den Magen in Shalſpeare's „Eoriolan’‘ erinnert. 


Auch über das Verhältniß Leſſing's zu Shalfpeare, 
welches nad; unferer Anficht in den Dramen bes erftern 
Dichters weniger hervortritt, während er in feinen Kritis 
ten ihn für Deutſchland erobern half, ſpricht fi Henfe 
treffend aus: 


Leffing war fi über feine Schranke fo Mar, daß er auf 
das Gebiet de8 Lyriſchen und Romantiſchen Shaffpeare nie ge- 
folgt if; es genligte ihm, an bem großen dramatifcen Ber- 
Rande Shakjpeare's ſich für die eigenen Compoftionen zu ſchu- 
Ien und zu bilden. Daher war er weit entfernt, in Shaffpeare 
den Dichter dramatiſcher Unregelmäßigfeit zu fehen, wie Lenz 
und Minger; er fab ig fogar im Gintlange mit ben Regeln feines 
Ariftoteles. Er hatte wie Shafjpeare die Bühne im Auge und 
hat wie biefer Blihnenmäßiges, Aufführbares geleiftet; nicht die 
zegellofe Natur war fein Ziel, fondern Shaffpeare’s befonnene 
Kunft; und während Lenz’ und Ringen Dramen längft von 
ber Buhne verihrwunden find, Ieben Leffing’s Dramen auf der 
Bühne, find Charaktere derfelben, wie Orſina, Marinelli, 
Nathan, das Iebhafte Studium bedeutender Mimen; fie ver- 
danken ihr dauerndes Leben der befonnenen Kunft des kritiſchen 
Dichters. Diefer hatte daher auch volllommen recht in ber 
Berwerfung der Erzeugniffe der Stürmer und Dränger; ja er 
war aus Gründen der Compofition aud mit Goethes Göbtz“ 
unzufrieden, wieweit aud dieſe Dichtung an echt poetiichem 
Gehalt die Dramen Lenz’ und gingen überragt. Wenn wir 
in den Selbftbetrahtungen, Einfälen und Heinen Auffägen 
Leffing’s die Worte finden (XI, 748): „Er füllt Därme mit 













Sand und verkauft fie für Stride. Wer? Etwa ber 
der ben Lebenslauf eines Manne Dialogen bringt und 
Ding für ein Drama ausfhreit" — fo ift die Anipiefung 
Sg von Berlichingen“ um fo deutlicher, als Leifing and 
em Briefe an feinen Bruder vom 11. November 1774 (Bi 
12, ©. 21) bemerkt, „daß er Luft Habe, mit Goethe, troß 
nem Genie, worauf er fo podje, anzubinden‘‘. 


Neu ift die Vergleihung zwiſchen Kleopatra u 
Abelheid im Goethes „Gotz“, zwiſchen Antonius 
Weißlingen, Octavia und Maria. Auch auf die 
an Hamlet im „Clavigo“ wird unfers Willens hier 
erften mal hingewiefen. 

Einige andere Aufjäge haben praktiſche Bed 
Der Aufjag: „Wie fol man Shafjpeare fpielen?“ 
von dem Autor Freiferen von Frieſen felbft als 
Fragment bezeichnet. Ex enthält manche trefjende 
kungen, namentlich was die Parallele zwijchen Shatfi 
und Schiller und den Unterſchied in der von beiden 
Iangten Spielmeife betrifft; doc) hindert die phantaftijd 
ee eur Einkleidung die durchfichtige Fafjung 
der Refultate, das Mare beſtimmte Facit. 

Wilhelm Dehelhäufer vertritt in dem „Shakfpeı 
dahrbuch“ die ſehr willkommene praktiſche Richtung, mi 
das Studium Shakſpeare's mit den Beditrfniffen der 
tigen Bühne vermittelt. In feinem erften Aufjas: „Kön 
Heinrich VI, in ein Stüd zufammengezogen umd für 
Bühne bearbeitet“, theilt er einen neuen Aneignung 
der Shaffpeare’f—en Rofendramen in jeinen allgem: 
Umriſſen mit. Die Grundfäge, nad) denen er bei 
Bearbeitung verfuhr, find die folgenden: 

i allem Iunehalten der Schranten, welche der ® 
ter eines_ältern Originalwerls als unabmweisbare refpect 
fol, muß derfelbe fi allerdings im vorliegenden (all 
weiigehendſte Freiheit in Anwendung erlaubter A g 
jrundfäße gehalten. Es Hanbelte jich, abgefehen vom dem 
Röndigen ‚eglaflen des erften Theile, um weitere Auafchei 
von etwa zwei Dritteln des urjprlinglichen Umfangs des 
ten und britten Theile. Wenn aud an unb für fich ber m 
intereffanten Gcenen und übermäßigen Cängen quantitati 
viele find, daß diefe Mlirzungsproportion im allgem 
tommen zuläffig erfcheint, fo ſehen doch die Anforde 
Delonomie ded Dramas und die Motivirung ber fo 
Sanung dem Bearbeiter fehr häufig in Berlegenheit, z 
dem zu Streichenden und Beizubehaltenden bie richtige 
zu treffen. Bedenkt man ferner, daß in meiner Bearbeit 
die Zahl der redend und handelnd auftretenden Berjomem 
Befeitigung oder Zufammenlegung von 75 auf 35, die 
zelnen Scenen mit Verwandlung des Schauplates von 5 
ber vierte Act des zweiten Theils erforderte mad) dem D 
achn Verwandfungen) auf 17 reducirt worden ift, 
man endlich die bei ben Sugendarbeiten bes Dichte d 
hervortretende Notäiendigkeit, ben Text der Schlegel’fchen 
fegung, behufs Erzielung der Deutlichteit und des Woh 
durchgehende zu revibiren, fo wird man begreifen, m 
Arbeit Auferlich das Gepräge der vollftändigen Llmgel 
tragen fann, während eine eingehende Prüfung bemms 
volltommene Uebereinfimmung mit allen irgend 
Srundzügen des Driginal® in Handlung, Wotii 
Charakteriftit ergeben wird. Dede eigene Zuthat 
materieller Bedeutung, die nicht zur Ücherbrüdung g 
Stellen nothwenbig erfgjien, ift fireng vermieden, m 
man auch felbftverftändfi in den zur Ergänzung des 
nen eingefügten Stellen (wozu bas Material möglichft & 
fallenden Gcenen entmommen, im übrigen dad Go 
Shatſpeare ſchen Sprache in größter Einfachheit nad 
die Motivirungen ſcharfer inftellen wird, ais ſie 
aus der allzu großen Breite des Originals hervorheben, 








Zur Shaffpeare-Literatur. 


ich doch nirgendwo fremde Motive herbeigeholt, oder foldhe er- 
funden, wo der Dichter, wenn aud) fehlerhafterweife, felbft 
feine gegeben Hat. Es war meine vorwiegende Rüdfiht, den 
Hauptperfonen, den Hauptträgern ber Yandlung, ihre volle 
Bedentung zu fichern; ich betrachte als ſolche die Rollen von 
König Heinrich, Margaretfe, Wort, Gloſter, Winchefter, 
Richard und Elifabeth, letztere allerdings mehr in Rückficht 
auf das im Eyflus folgende Drama „Richard III.“, als auf das 
gegenwärtige. In zweiter Linie fommen daun Warwid, Suf- 
fol, Eduard, Clifford, Cade u. |. w. 

And nimmt Dechelhäufer außer den Cade'ſchen Schar- 
müßeln nur die Schlachten bei Wakefield im vierten und 
bei Tewksbury im fünften Act auf, von Mord⸗ unb 
Sterbefcenen nur die des jungen Rutland und bes Prin« 
zen Eduard. DBefeitigt find insbefondere die Tödtungen, 
refp. die langathmigen Sterbereden der beiden Clifforbs 
und Warwid’s, ferner bie Tödtung York's und Hein- 
rich's VI. auf offener Bühne, 

Db das, was nad ſolchen energifchen Kürzungen 
zurüdbleibt, noch genug Zufammenhang und Spannung 
bat, um ein brauchbares Bühnenftüd zu geben, wird ſich 
erft nach Kenntniß der Bearbeitung felbft überſehen laſſen. 
Dingelftedt hat befanntlich den zweiten und dritten Theil 
für die Bühne in zwei Schaufpielen bearbeitet, in denen 
er einzelne Scenen von bramatifcher Wirkung neu hinzu« 
gebichtet, andere, wie die Scene mit der Herzogin don 
Stofter, theatralifch wirkſam zugeftugt hat. Ob der chronik⸗ 
artige Stil diefer Dramen ohne folhe Zufäge auf un- 
ferer Bühne wirken kann, erfcheint uns fraglid). 

In einem andern Aufſatz: „Ueber die Darftellung des 
Sommernachtstraum auf der beutfchen Bühne”, ſchlägt 
Oechelhäuſer eine andere Einrichtung des Stüds vor als 
die Tieck-Mendelsſohn'ſche: 

Ich Habe zahlloſe Darftelungen davon gefehen, bei denen 
fi mir aber mehr und mehr die Bemerkung aufdrängte, daß 
bie Feerien der Waldfcene, die Rüpelſpüße und Mendelsfohn’s 
Mufif die alleinigen Träger der Bühnenwirkung find, dagegen 
die Hauptbandlung, auf der fi das Stück aufbant, die Scenen 
des Theſeus und der Liebespaare, zu jenem Erfolg nicht blos 
nichts beitragen, fondern denfelben geradezu beeinträchtigen, in⸗ 
dem fie fi) wie Bleiflumpen an das ſceniſche Dabinjchreiten 
der duftigen Dichtung beften. Gewahrt man bei einem Shal- 
ſpeare ſchen Stüd einen ſolchen ungleihartigen Eindrud, fo thut 
man ſtets wohl daran, einiges Mistrauen in die Richtigleit 
ber geübten Auffaflung zu fegen; denn nnfer Dichter war fo 
dur und durch Bühnenkenner, daß ihm — von einzelnen Erſt⸗ 
lingswerken abgeſehen — eine folche Ungleichartigleit im Bau 
feiner Stüde und der darauf berechneten Wirkung wenigfiene 
nicht fo leicht unterlaufen konnte. 


Dechelhäufer, der fih an Ulrici's Auffaffung anſchließt, 
ift der Anfiht, daß das Stüd eine Parodie der Liebe 
ift, und daß alle Perfonen ohne Ausnahme, die Helben 
wie die Niebenden, die Teen wie die Rupel, Träger bie- 
fer Parodie find. Theſeus, Dippolyta und bie fterblichen 
Liebespaare müßten alfo in der Art gefpielt werben, wie 
etwa die Helden und Heldinnen der Offenbachiaden zur 
Darftellung kommen. Die Darfteller jollen fortwährend der 
parodiftiichen Tendenz ihres Thuns und Treibens ſich 
bewußt ſein; die Verſchmelzung der Alt⸗ und Neuzeit 
ſoll in der komiſchen Verſchmelzung der Trachten den 
äußern Ausdruck finden. Die Andeutungen, die Oechel⸗ 
bäufer über die Durchführung der einzelnen Rollen nad) 
dieſer Auffaflung gibt, find geiftreich und beherzigenswerth. 
Einzelne Darſteller, wie Hr. Mitterwurzer in Leipzig, 





819 


geben fchon aus Inſtinct diefen Liebhabern einen parodi- 
ftifchen Zug, um die unfagliche Langeweile zu befeitigen, 
welche biefe Liebesfcenen bei ernfter Auffafiung auf das 
Bublitum ausüben. 

Der größere Auffag von Heinrich Vieh off: „Shal- 
ſpeare's Yulius Cäfar”, fucht die vollen Confequenzen 
aus der Erkenntniß zu ziehen, daß Brutus, nicht Cäſar 
ber Held, der Kern» und Mittelpunkt des Stüdes fei. 
Diefe Anfchauung befindet fi im diametralen Gegenſatz 
zu derjenigen Lindner’s, ber in einem frühern Jahrgang 
des „Shakſpeare⸗Jahrbuch“ die Einheit des Stücks gerade 
dadurch zu begründen fuchte, daß er ben Zulius Cäſar 
nicht blos Tebend, fondern auch nach dem Tode als Ge- 
fpenft und Geift zum ausfchlieglichen Helden des Stücks 
macht. Viehoff wendet fich glei am Anfang bes Auf 
fates gegen den Ausſpruch unferer „Poetil”, daß dem 
Stüde Einheit der Handlung und Einheit des Intereſſes 
fehle. Dem gegenüber fagt Viehoff: 

Ich werde nun nad) allen Seiten nachzuweiſen ſuchen, daß 
Shakſpeare's „Julins Cuſar“ nicht minder wie fein „Coriolan“ 
eine in fich abgefchloffene, durchaus felbfländige Tragödie if, 
und baß es dem Dichter Hier nicht ſowol um die Darftellung 
einer Epoche oder Uebergangsperiode im Entwidelungsgange 
des römischen Volks, als vielmehr um die Veranſchaulichung 
eines großen, bedeutenden Charakters und bes in ihm begrlin- 
deten individuellen Schidjals zu thun war. Als ein Kriterium 
zur Entiheidung, ob diefer Nachweis wirklich erbracht und der 
richtige Sefihtspuntt für die Anſchauung des Kunſtwerks auf- 
gefunden ift, wird man e8 wol gelten laffen, wenn aus dem 
Standpunkt der Betrachtung, den wir wählen, alle Theile und 
Glieder des Kunftwerls in völliger Harmonie erfcheinen, wenn 
in der ganzen Organifation befjelben, in der Darftellung und 
Gruppirung der Charaktere, in der Anlage und Durchführung 
der Handlung, in der Bertheilung des Stoffs, wie in der das 
Stüd durchwehenden Stimmung und dem fpradhlihen Colorit 
fi) ein durchaus Übereinftimmendes, einheitliches Gepräge zu 
erfennen gibt, wenn Idee und Stoff des Kunſtwerks, Geift 
und Form fi) volllommen deden, und die an der Kompofition 
gerligten Mängel nicht nur gänzlich verjchwinden, fondern fo- 
gar fi ale Vorzüge darftellen. 

Biehoff tadelt an dem Stüde nichts als den unzu« 
treffenden Titel, welchem felbft ausgezeichnete, einfichts- 
volle Kritiker einen ungebührlichen Einfluß auf ihre An⸗ 
fhauung des Dram ”" "ingeräumt hätten. Immerhin 
bleibt e8 doch mehr ao auffallend, wenn ein Dichter ein 
Drama, defjen Held nad) feiner Anfiht Brutus fein fol, 
Yulius Cäfar tauft. „Zunächſt hatte Shakſpeare“, fagt 
Biehoff, „wenn er dem Brutus das Hauptinterefie fihern 
wollte, dafür zu forgen, daß die gewaltige Figur bes 
großen Cäfar nicht zu imponirend herborträte. In ber 
That finden wir diefe Geftalt hinreichend tief in dem 
Schatten gerüdt, um für den Eindrud des Hauptcharak⸗ 
ters ungefährli zu bleiben.” 

Dies iſt nun durchaus nicht der Fall. Schon die 
Introbuctionsfcene concentrirt alles Intereſſe fo lebhaft 
auf Cäfar, daß man eine derartige Expofition für ein 
Drama, deſſen Held Brutus fein follte, fehr ungefchict 
finden müßte. Auch fonft erfcheint Cäſar Hinlänglich mit 
imperatorifchen Geſten ausgeftattet, um Brutus, der doch 
nur ein Verſchwörer mit andern Verſchworenen, wenn 
auch das Haupt der Verſchwörung ift, in Schatten zu 
ſtellen. Freilich nur fo lange er lebt. Nach feinem Tode, 
wenigftend mit dem vierten Acte, tritt Brutus in den 


103 * 


820 Zur Shaffpeare-Literatur. 


Vordergrund. So fteht unfere Auſicht zwiſchen berjeni« 
gen von Lindner und Viehoff in der Mitte, freilich nicht 
ohne gegen beide zu proteftiren. ‚Der Held der drei erften 
Acte it Caſar, der Held der zwei legten Brutus; es ift 
dies ein Compofitionsfehler, der fi dadurch nicht in 
Abrede fiellen läßt, daß bie einen Cäfar, die andern 
Brutus zum Helden des ganzen Stüds zu machen fuchen. 
Das Interefie bleibt getheilt. „Julius Cäfar” ift eben 
eine Hiftorie und feine funftgerechte Tragödie. 

Der Aufjag von H. 4. Werner: „Ueber das Dun« 
Tel in der Hamlet- Tragödie”, ift etwas zu weit ausholend 
und gibt feine durchſichtigen Reſultate. Das legte Facit 
fimmt im Grunde mit der Rümelin'ſchen Anſchauung 
überein, nur mit bem Unterfchied, daß biefer begabte 
kritiſche Kopf, der den Shalfpeare-Philologen von Fach 
hierin fehr überlegen ift, das Stüd nicht zum Zweck der 
Apotheoſe analyfirte, fondern aus dem Wiberftreit feiner 
Grundelemente, ber alten nordifchen Sage und dem mo» 
dernen fubjectiven Inhalt, den der Dichter aus dem eigen- 
fien Gemilihsleben heraus derfelben unterlegte, die Dunkel« 
heiten und fehler des Werts herleitet. Werner jagt: 

Die Tragddie „Hamlet“ verdankt alſo ihr Dafein drei ver- 
fhiedenen Bitalitäten. Es wirken in ihr: erſtens, der alte 
voltsthümliche Mythus vom Prinzen Hamlet, ein Erzengniß 
der mittelalterlichen Phantafie; zweitens, der vom Dichter ges 
adelte Hamlet, der nicht in Erfüllung von Blutrache und Wie- 
bererfangung eines Grbtheils, fondern im Streben nad) den 
höchften Gütern der Menfchgeit untergeht; drittens, das Gemüth 
des Dichters felbft, das, wie jede tiefe Seele, fein eigenes Leid 
auf die Zufände der gefammten Mitwelt zurüdiührt und durch 
diefelben zu begreifen fucht. In der Berjgiedenheit diefer Ber 
Randtheife ſowie in ihrer unverträglihen Mifhung liegt die 
geheime Anziehungskraft der Dichtung und ihre Räthfelgaftigfeit. 
Alles verräth uns, daß wir vor uns haben die Selbftoffenba- 
rung der gemüthlichen Zuflänbe eines eminenten Geiftes. 

Der erfte und dritte Punkt ift unferm Autor mit 
Rimelin gemeinfam; unfer Autor weiſt indeß ihre Un— 
verträglichleit nicht nach. Der zweite ift anfechtbar; benn 
Hamlet geht keineswegs im Streben nad) den höchſten 
Gütern der Menfchheit unter. 

Der Auffag: „Zu Titus Andronicus“, von Hermann 
Kurz, gibt intereffante Mittheilungen über die geiftigen Ei= 


„ genthumeverhältniffe zur Zeit des altbritiichen Theaters. Die 


„Aphorismen über Shalſpeare's Sturm“, von Johannes 
Meißner, fuchen den philoſophiſchen Grundgedanken des 
Stüds, die „Profpero-Ibee“ u. dgl. m. feftzuftellen, ver- 
Tieren ſich aber ftelenmeife etwas zu tief ins Detail. 
Treffend erſcheinen uns indeß bie Bemerkungen über bie 
landſchaftliche Scenerie und Himatifche Eigenthilmlichkeit 
der Bauberinfel, die keineswegs auf fübliche exotiſche 
Pracht, oder auf die blühenden Decorationen des Lenzes 
binweift, fondern auf ein Herbftliches Klima. Nicht von 
immergrünen Lauben ift hier die Rede, fondern von „dilrrem 
Land, Hoher Heide, braunem Ginfter“. 

Intereffant ift der Auffag von N. Delius: „Die 
Proſa in Shalkſpeare's Dramen“, Diefe erjceint ihm in 
dreifacher Abftufung: auf ber niebrigften Stufe als Profa 
der Clowns, ihrer Standes- und Gefinnungsgenofien, auf 
der als zweiten ber Converfationsftil der vornehmern und 

jebildetern Perfonen, des feinen Humors und der höhern 
umaniften, auf der dritten als die gefünftelte „euphuiftiiche” 
Profa mit ihren gezierten Phrajen und Conftructionen, 













ihren Antithefen und Metaphern. Delius 
wohnter Sorgfamleit aus allen Dramen SI 
Proſaſtellen hervor, claffificirt fie nach ber 
theilung und ſucht dem Inſtinct oder der Iufeı 
Dichters für bie Abwechfelung der Diction zwifchen & 
und Profa auf bie Spur zu fommen. Nicht in 
ruht indeß dieſer Wechſel auf innerer Nöthigung, fi 
oft andy auf Laune und Willtürlichfeit. — 
Sachlich eingehend find die Auffäge: „Prolog 

Epilog bei Shaffpeare”, von Ferdinand Lübers, 
„Die Schreibung des Namens Shakefpeare”, von 
Elze Wilhelm Dehlmann cdarakterifirt mit weni 
aber ſcharfen Zügen „Shalſpeare's Werth, für unfere m 
tionale Literatur”. Aus dem Jahresbericht für 186; 
gt hervor, daß die Zahl der Mitglieder des Ch, 

ereing ſich auf 193 beläuft und die Bibliothek 
Jahre von 300 auf 400 Bünde gewachfen ift. 


Das Werl von Rudolf Gence (Nr. 2) behandelt 
ſelben Stoff wie Cohn und wie Koberſtein in feiner 
ten tüchtigen Abhandlung; aber obgleich es die 
überfchreitet, welche jene Autoren ſich zogen, ift 
leineswegs bis zur Gegenwart durchgeführt. Wir 
gerade hit einen Mangel des Werks, weil u 
der allgemeinen Bezeichnung des Titels eine glei 
In utcung des Stoffs bis auf unſere Zeit ern 

urfte. 

In dem erſten Abſchnitt des Werks ſchildert 
„Das deutſche Theater unter den Einflüflen Shal 
Er beginnt mit den Anfängen des deutſchen 
und den englifhen Komdbianten in Deutſchlaud, 
terifiet die alten Bearbeitungen Shakſpeare ſcher 
die Einführung Shatſpeare's im die deutſche 
und Bord's Weberfegung des „Julius Cäfar“, 
und Johann Elias Schlegel's Urtheile über, 

u. ſ. f., und bewegt fich bier, bei Hlarer und 
ſprechender Darflelung und fleifigen Ergänzungen, 
auf einem Gebiete, auf welchen bereits Cohn und 
fein mit grundlegender Thätigfeit vorangeg: 
Darauf harakterifirt Gende veſſing und Herder als 
dramaturgifche Vorkämpfer Shafſpeare's, jchilden 
Einfluß des Dichters auf die Stürmer und Drär 
Goethe's und Schiller's Erftlingswerfe und jchließt 
Abtheilung mit der voMftändigen Aneignung Shafjp 
durch U. W. Schlegel. 

Er Hat ſich der Vorrede zufolge nur die 
geftellt, die Beziehungen Shafjpeare'3 und bes 
Dramas zum deutſchen Theater in der Epoche 
eigentlichen Entwidelung zu behandeln, und ji 
Schluſſe des Abſchnitt 

Die unmittelbaren wie mittelbaren Einflüffe Sb 
auf unfer eigenes deutf—es Drama waren auf ber $ 
daffelbe im Unfange diefes Jahrhunderts erreichte, and) 
gewifien Abfgluß gefommen. Wie con Feffing im 
beiden legten dramatifhen Dichtungen eine Bere) 
romantiſchen Elements mit dem antifen anfrebte, 
Stiller, von gleiher Anſchauung ausgehend und 
größerer jhöpferifher Kraft begabt, die Yölung jener 
gewinnen, um melde in der Evodhe unfers muthigen 
nad} einem eigenen nationalen Drama fid) der Kampf 















mußte. Wir kommen fpät, aber dejto jlinger find mi 
einft freudig verheißende Wort Herder's bezeichnete 


Neunefte Romane und Novellen. 


Epoche des fo fchnellen Wachsthums unferer dramatifchen Dich⸗ 
tung und den kühnen Flug der jugendlihen Schwingen. Die 
Lehren aber, die derfo kurze Zeitraum eines halben Jahrhunderts — 
von den Anfängen Leſſing's bis zur Vollendung Schillers — 
in reicher Fülle enthält, fie haben an ihrer Bedeutung auch flr 
die Gegenwart noch nichts verloren. 

So ift das Wert von Sende nur ein Xorfo; der 
Autor nimmt einen etwas größern Anlauf ald Cohn und 
Koberftein, um nachher ebenfalls mitten in der Arbeit 
fteden zu bleiben, 
widelungsepoche” des deutfchen Theaters zu fprechen und 
diefe mit Schiller’ 8 Dramen zu begrenzen, ift doch nur 
eine Willlürlichkeit. Der Einfluß Shakſpeare's macht fich 
ja in ben folgenden Epochen der Literatur noch bebeut- 
ſamer geltend, und wie Genee fowol Kritit als Production 
bis an den Anfang dieſes Jahrhunderts gleihmäßig be- 
rüdjichtigt hat, fo mußte er dies aud) für bie folgen- 
den Jahrzehnte bis zur Gegenwart thun. Wir haben 
fon oben bei Befprehung des Henſe'ſchen Aufſatzes im 
„Shakſpeare⸗Jahrbuch“ angedeutet, welch ein reicher Stoff 
bier der Bearbeitung vorliegt. Shaffpeare, wie ex der 
romantifhen Schule erfcheint — das ift fiir einen fünf: 
tigen „Shakſpeare in Deutſchland“ ein Abfchnitt, der alle 
andern an Neichhaltigkeit übertrifft; ja aud) an Bedeutung 
für die Gegenwart — denn die Shaffpearomanie knüpft 
fi gerade an den Gögendienft, den biefe Schule mit 
Shalfpeare trieb, allen voran Ludwig Tied, der ben 
Briten gegen unfere Nationaldichter ind Feuer führte 
und Schiller, ben er einen fpanifchen Seneca nannte, 
nicht tief genug herabfegen konnte. Noch mehr als bei 
ben Stürmern und Drängern zeigte fich der verberbliche 
Einfluß eines einfeitigen Shaffpeare: Eultus bei den Dramen 
ber Romantifer, beren Formloſigkeit, Verzerrtheit, witz⸗ 
haſchende Manierirteit und hyperboliſche Ungeheuerlichkeit 
ohne die Anlehnung an Shakſpeare, deſſen Fehler man 
principiel zu Tugenden ftempelte, unmöglich gemwejen 
wäre. Immermann begann als verzierter und ſchwäch— 
licher Nachahmer Shaffpeare’s, und hat ſich als Dra- 
matifer nie zur Selbftändigfeit emporgefchwungen; Grabbe 
proteflirte gegen die Shaffpearomanie und überfhalipearifirte 
den Shakſpeare. Buchner, Griepenkerl, Klein, Hebbel, 
Dtto Ludwig und eine Menge anderer Dichter geben den 
reihhaltigften Stoff für eine Darftellung der fruchtbaren 
Anregungen und verhängnißvollen Berirrungen, welche 
das deutjche Drama und Theater dem Vorgang Shal- 
ſpeare's verdankte. 


Denn von einer „eigentlichen Ent- 


821 


Noch wichtiger ift eine Geſchichte der Shakſpeare⸗Kritik 
von der romantifhen Schule bis zur Gegenwart; fie 
bat mit der Kirchengefchichte die bedauerliche Aehnlichkeit, 
daß eine Menge der hirnverbrannteften Anfchauungen 
in ihr eine Stelle finden, und daß fie einen Beitrag zu 
einer Pathologie des menſchlichen Geiftes bildet. Man 
ann in der That behaupten, daß es kaum etwas fo 
Sinnlofes gibt, was nicht über Shakſpeare's Dramen 
geäußert worden wäre, und daß eine Bertiefung in dieſe 
endlofe Shaffpeare-Literatur dem Beſuch der Goethe’fchen 
Hexenküche gleichkomme, in welcher Fauft einen Chor von 
hunderttauſend Stimmen fprechen hört. Hier aber Liegt 
für eine gründliche, äfthetifch fefte Kritik noch eine große 
Aufgabe vor — nicht der Dichter, fonbern feine Ausleger 
müffen einmal vor das Yorum unbefangenen Scharffinns 
und ftrafender Satire gezogen werben — eine Kritik der 
deutfchen Shaffpeare- Kritik ift der Anfang und die Grundlage 
einer echten Kritik Shakſpeare's. 

Unfer Autor bat, wie wir gefehen, feine Aufgabe 
enge geftedt; nur in der zweiten Abtheilung des Werks: 
„Shronologifche Gefchichte der ſämmtlichen Ueberjegungen, 
Theaterbearbeitungen, theilweifen Benugungen Shakſpeare'⸗ 
fher Stüde und Stoffe, fowie ber wichtigſten Auffüh- 
rungen derfelben in Deutfchland‘‘, einem fehr fleißig gear- 
beiteten Regifter, das gleichwol manche unvermeidliche 
Lücke hat, führt er den Faden bis auf die Gegenwart und 
ſchildert auch „Shalfpeare auf dem gegenwärtigen. deutfchen 
Theater‘ in ftatiftiichen Weberfichten über die Aufführun⸗ 
gen an den Hauptbühnen. Wir vermiffen indeß aud) 
bier einen wichtigen Abfchnitt: Shaffpeare’s Einfluß auf 
unfere dDramatifche Kunft, und eine Charakteriſtik der hervor» 
ragendften beutfchen Shalfpeare-Darfteller biß zur Gegen⸗ 
wart. Der dritte Abfchnitt gibt umfangreichere Mittheilungen 
aus einigen ältern und wenig gekannten Weberjegungen 
und Bearbeitungen Shaljpearefcher Stücke und gleich» 
artiger Stoffe, z. B. „Tragedia von Tito Andronico“, 
„Innocentia“ von M. Kongehl (der Stoff bes „Cymbeline“), 
„Der Zub von Venedig“, „Der beftrafte Brudermord oder 
Prinz Hamlet.” Für den Shakſpeare⸗Kenner bieten fich bier 
wichtige Parallelen dar. 

Rudolf Geneée's Werk iſt ein immer verdienftlicher 
Beitrag zu dem Thema, welches das Titelblatt verkündet; 
aber eine erjchöpfende Geſchichte der Shakfpeare’fchen 
Dramen in Deutfchland bleibt nah wie vor noch 
ungefchrieben. Ä Rudolf Gottfchall. 


Nenefle Romane und Wovellen. 


Es wäre eine eigene ‚literaturgefchichtliche Aufgabe, 
nachzuweiſen warum in den neueften Producten neben den 
Iyrifchen Klängen, die niemals verftummen, der Roman — 
da8 Wort in feiner wmeiteften Ausdehnung gefaßt — 
immer wieder als herrſchende Gattung auftritt. Darthun 
ließe fi, wie die Neigung, welche die fchreibende und die 
lefende Welt ftets aufs neue diefer Gattung zutreibt, 
jehr beſtimmt mit den andern Erfcheinungen aus dem 
Leben der Zeitftrebungen und Zeitanfchauungen zufam- 
menhängt; das ift hier nicht unfere Aufgabe, wohl aber 


follte mit dem einen Sat angedeutet werden, daß und 
wie das auffallend reihe Schaffen auf diefem Felde ne- 
ben der nicht minder auffallenden Stagnation auf einer 
ganzen Reihe der andern ſich erllären läßt. Erſcheinen 
ja, fo zumal bei der jegigen Generation der Franzoſen, 
felbft eine Zahl der Dramen blos wie verfificirte Romanel 
Was aber die verjchiebenartige Bebeutung jener Producte 
betrifft, fo können wir uns nicht verfagen darauf zu be» 
ftehen, daß der Hiftorifche Roman, wenn er wirklid) der 
Höhe feiner Aufgabe entfpricht, die erfte Stufe einnimmt. 


822 


Die alte kritiſche Streitfrage: ift ber hiſtoriſche Roman 
als eine Art Verberbniß der Geſchichte von ungünſtiger 
Einwirkung auf die richtige Geſchichtsauffafſung, demnach 
zu verwerfen? oder iſt er als eine Erjcheinung, die ganz 
wohl lebendig treue Sittenbilder der Zeiten und Böller 
liefern und der eigentlichen Geſchichtſchreibung felbft für- 
bernd nnd ergänzend in die Hand arbeiten Tann, zu 
begrüßen? Diefe Streitfrage fcheint uns, abgefehen von 
allen kunſttheoretiſchen Erwägungen, heute entjchieden zu 
Gunſten des Geſchichtsromans gelöft; für unfere bentfche 
Literatur gelöft durch eine fehr namhafte Reihe von glän« 
zenben Wrbeiten, wenn wir etwa Ludwig Tied’8 „Aufruhr 
in den Cevennen“, oder feine „Bittoria Accorombona“, 
oder Hauff's „Lichtenſtein“ als Ausgangspunkt fegen. Dan 
darf e8 ferner nicht fiir bloßen Zufall halten, daß bisjegt 
die beiden Zweige der ftrenggefchichtlichen und der hiſtoriſch⸗ 
romanbaften Bearbeitungen in paralleler Entwidelung eine 
Fülle der Production zeigen. 

So ftehen wir nit an, umter den unferer heutigen 
Beratung zu Grunde liegenden Werken demjenigen, 
welches am ausgeprägteften alle Grundzüge eines echten 
Geſchichtsromans an ſich trägt, als einer vorzüglichen 
Arbeit die erfte Stelle zuzumeifen: 

1. Robert Bruce oder die Helden von Bannodburn. Ein ge- 
ſchichtliches Lebensbild aus den fchottifchen Freiheitskriegen 
1316—29. Bon 8, Gräfin von Robiano. Fünf Bände. 
Hannover, Rümpler. 1870. 8. 6 XThlr. 

Gewiß ein würdiges Object, der heldenmüthige Be—⸗ 
freinngskrieg eines unter fremder Herrſchaft geknechteten 
Volks in allen ſchweren Wechfeln des nationalen Scid- 
false bis zum Wugenblide der neugefefteten Freiheit! 
Ein großes Object, und mit einem Geſchick durchgeführt, 
beffen Hauptverdienſt wir in ber einfach naturmahren, 
jeber gefuchten Kitnftlichkeit, jeder Manier oder Ueber- 
tretbung fernen Treue ber Zeichnung beruhend finden. 
Das rein gefchichtliche Element ift mit großer Kraft ver- 
treten, und wir würden diefes Wert unbedenflih ale 
eins der Exempel binftellen, wenn es ſich darum handeln 
follte, den Gegnern des Gefchichtsromand zu beweifen, 
daß derfelbe wirklich eindringliche, Tebendige, treue und 
nebenbei höchſt anziehende Völker⸗ und Zeitenbilder Tie- 
fern Tann. 

Der Größe des Ereigniffes entfprechend, ift und eine 
große Reihe von Berfonen, darunter geſchichtlich hoch⸗ 
bedeutende, vorgeführt, und in ihren befondern Lebens⸗ 
ſchickſalen jpiegelt fid) ganz genau der Verlauf des Völker⸗ 
kampfes felbft ad. Wir wollen deshalb die mefentlichiten 
bier in der Folge, in welcher die dramatifche Abwickelung 
der Gefchichte fie einführt und an ihnen den eigenen Gang 
abzeichnet, kurz charakterifirt namhaft machen. 

Da ftehen vor allem die Hauptgegner felbft: König 
Eduard I, der mächtige, geiftig hochentwidelte, aber als 
Repräfentant und Wahrer der Größe feines Reichs 
unnachgiebige Fürft, der die Erhebung bes kurz zuvor 
unterworfenen Schottland als Rebellion niederdrücken will 
und in feinen legten Jahren durch die Erfolglofigkeit 
feiner Triegerifchen Anftrengungen und die Hartnädigfeit 
der Tämpfenden Gegner bis zur tyrannifchen Wuth fich 
binveißen läßt. Ihm folgt der ſchwache Eduard IL, ein 
leichtfertiger, verzogener, den Lüften und dem verdorbenen 


Neuefte Romane und Novellen. 


Günftling Gavefton blindlings hingegebener Fürft, der bie 
eigene Gemahlin, die ftolze und genußfüdtige Iſabella 
bon Frankreich, fchwer beleidigt und vernacdjläffigt und ba- 
fir von ihr und der feindfeligen Baronenpartei entthront 
wird; wir geleiten den Unglüdlichen von dem Augenblid 
an, wo er als Kronprinz im Rathe des Baters nicht 
ohne Geift, aber ohne Ernſt auftritt, durch die innern 
und äußern Kämpfe feined Reichs, feines Haufes und 
Hofs Hin bis zum gewaltfamen Tode und fehen ihm im 
dem noch unmündigen, aber bereitö fcharf entſchiedenen 
Ednard III. einen kraftvollen Nachfolger und Rächer er- 
wachjen. Ihnen beiden ſteht Robert Bruce gegenüber, 
jeder Zoll ein Held, ein in der That zum Befreier feines 
Volls, deſſen befte Züge er in fich vereinigt, gefchaffener 
Mann, immer gleich, feſt und großmüthig, befonnen und 
ausdauernd, groß in ber That und im Rathe; offenbar 
hat dieſes Heldenbild die volle Liebe des Autors, und 
nicht Ein Zug findet fi, der die Confequenz der Zeich- 
nung flören würde. 

Die Scene eröffnet fi in dem Momente, wo ber 
junge Bruce, an Ebuard’8 I. Hofe weilend, durch bie 
Tücke der Comyns, eines feiner Yamilie feindlichen Slan- 
gefchlechts, dem Herrfcher ala Berräther denuncirt wird, 
durch befondere Hülfe entflieht und jo ganz eigentlich im 
die Empörung bineingetrieben wird; fie ſchließt erft nach 
dem Tode bes Helden, nachdem er die anerfannte 
Unabhängigfeit des Landes erfämpft hat, eine natür- 
lich an ſchweren Wogungen überans reiche Laufbahn 
abrollend. 

Dann werben uns vorgeführt: der alte Miles Gor⸗ 
don, der im vorangegangenen Kampfe die Tochter Alice 
fpurlos verloren bat, und der verbannte, heimlich heim⸗ 
gefehrte Ritter James Douglas, Alice’8 Ingendgeliebter, 
im Verlauf Bruce’3 treuefter Freund und einer feiner 
beften Arme im Kampf; er findet feine Alice wieder, bie 
ihn als Page in den Krieg begleitet und in einer Schlacht 
den Heldentod für ihn ftirbt. Wir folgen Bruce in feine 
Familie, und treffen die Gattin Ifabella, eine überaus 
zarte und durch die Liebe zum Herrn ihres Haufes und 
Herzens getragene Yranengeftalt, die nachher mauches Jahr 
in englifcher Gefangenfchaft ſchmachtet und nicht gar lange 
nah ihrer Befreiung ftirbt; das muntere Töchterchen 
Marjory, das durch die folgende Gefangenſchaft mit der 
Mutter ernft und entfchloffen zur tüchtigen Yrau heran- 
reift; die Mündel des Helden, Edith, eine ſchwer ernfle 
und geheinmißvolle Natur von tieffter Innerlichkeit, im 
ftillen von einer ſchwärmeriſch verehrenden Liebe für ben 
Helden felbft erfaßt, die faft geweihte Prophetin Schott- 
lands mit dem myſteriöſen Seherblid; endlid) aud) ben 
unglüdlichen Bruder Eduard, eine weniger reine, mehr 
heftige und hochfahrende Natur, beftimmt, auf einem übel 
enbdenden Zuge nach Irland, das er ebenfalld von Eng⸗ 
land frei machen und deſſen Krone er fih gewinnen will, 
zu Grunde zu gehen. Bei Anlaß der Krönung Robert’ 
zum Schottenfönig tritt uns eine andere Prachtgeftali 
entgegen: es ift die eble Iſabella, Gräfin von Buchan 
aus dem Hanfe Fife, dem allein das gefchichtliche Kedht 
zufteht, einem Könige die Krone aufs Haupt zu felgen. 
Entgegen dem Willen eines ungeliebten Gemahls mu’ 
ihrer eigenen Yamilie, die anf feiten Englands ftehen 


— 





Nenefte Romane und Novellen. 


hat theils eine alte innige Liebe zu Robert, theils eine 
enthuflaftifche DBegeifterung für die Unabhängigkeit des 
Baterlandes, das edle Weib bewogen, heimlich hinweg⸗ 
zueilen und an Wobert jenes Krönungsrecht zu üben; 
von ihrem Gemahl dafür aus dem Haufe verwiefen, 
büßt fie im ſchwerer englifcher Haft. Ein nicht minder 
intereflantes Weib ift die fogenannte Peggy, die einftige 
Geliebte des im frühern Freiheitsfampfe gefallenen National- 
helden Robert Wallace, nun in allen möglichen Formen 
und Berfleidungen das Land durchftreifend, immer aber 
die Schlau energifhe Kundfchafterin und Führerin der 
aufftändifchen Schotten, die nur noch von dem Doppel» 
gefühl der rüchenden Liebe für den Gefallenen und ber 
Aufopferung file ihr Yand und Volk lebt und kämpft unb 
leidet; auch fie hat etwas durchaus Geheimnißvolles an fich, 
nur in anderer Art als Edith. Diefe, Ifabella von Buchan 
und Peggy find die in ihrer Wefensverfchiedenheit vortrefflich 
ſich ergänzenden Schattirungen berfelben geiftigen Grund⸗ 
einheit, jede in ihrer Art unglüdlich und groß, jede ein 
befonderes Herzensintereffe wedend. Amira, die glänzend 
ftolze Schönheit, ift die Tochter des irifchen Fürften von 
Tyrone und heimliche Bermählte von Eduard Bruce, dem 
fie bi8 in den Tod ergeben bleibt, worauf fie als hoch— 
herrliches Heldenweib mit einem großartigen Racheact an 
den Yeinden endet. Wieder eine andere Schattirung ift 
die legte der bedeutenden Frauen, die eingeführt werben, 
Eliſabeth de Burgh, die des Schottenkünigs zweite, lieblid) 
gemüthvolle Gemahlin wird und ihm einen Thronerben 
ibt, dann aber, als der legte Stern feines geprüften 
ebend, noch vor ihm ins Grab fintt. 

Dies find, neben zahlreichen mindern Gewichts, die gut 
gezeichneten Hauptperſonen, die Träger des Schidjale 
ihrer Nation, 

Allgemeine gefchichtliche Reflexionen find nicht eben 
häufig, aber hochſinnig und treffend wo fie angefügt find, 
Wir führen nur eine Betrachtung diefer Urt an: 

Die Schladht bei Bannodburn nimmt eine nicht minder 
hervorragende Stelle in der Weltgefchichte ein als die Schlacht 
bei Waterloo. Die Ietere befreite Deutfchland von den Ban- 
den eines franzöfifchen Despoten, die erftere legte den Grund- 
flein zu der Selbftändigkeit des ſchottiſchen Volle und bewahrte 
dafſelbe vor dem traurigen Zuftande, in dem fi) Irland heute 
befindet... . . Diefe Schladht allein wiirde genügen zu bewei- 
fen, daß, wie e8 in unfern Tagen der Fall geweien, die beften 
Truppen unterliegen müſſen, wo unerfahrene, gar unter fi 
eiferfüichtige Generale befehligen. Wie viel höher ſteht aber ein 
Geift wie Bruce, der fo viel mit feiner Heinen Schar ausflihrte, 
als ein Eroberer unfers Jahrhunderts Während dem Ietten 
fein gefchulte Truppen und aufs höchſte vervollfommnete krie⸗ 
gerifce Mordwerkzeuge, wie Ehafjepots und Zündnadelgewehre, 
zobes Geſchütz, Kanonen mit ungeheuerm Kaliber, zu Gebote 
Heben, ſodaß er nicht durch fein Talent oder feinen kriegerifchen 
Geiſt fiegt, fondern durch die Macht feiner Hülfemittel, erfämpfte 
Bruce mit feinem Völkchen die freiheit feines Landes. Er be- 
faß freilich, was vielen Eroberern fpäterer Zeit gemangelt bat, 
einen Bundesgenofjen von unfchäßbarer Kraft, nämlich die ein- 
müthige Begeifterung feiner Krieger für die heilige Sache des 
Baterlandes, verbunden mit unbegrenztem Bertrauen auf die 
Uneigennägigfeit und Hingebung ihres heidenmüthigen Führers. 
0. Eine fo innige Verbindung zwiſchen König, Heerflihrern 
und Volk weift nicht einmal die glorreiche Zeit Friedrich's des 
Großen auf. 

Als eine der großartigften Scenen wählen wir 
Amira's freiwilligen Untergang. Ihr geliebter Gemahl 


823 


Eduard Bruce ift auf dem Schlachtfelde gefallen, und fte 
felbft, nur noch von dem Gedanken zehrend, feiner wür⸗ 
dig zu enden, bat das Schloß Carridfergus vertheidigt, 
folange es fich halten ließ. Nun übergibt fie es den ein⸗ 
ziehenden Feinden, und unter diefen ift ihr Vetter Bruno, 
vor deſſen roh finnlichen und wilden Lüſten fie einft unter 
Eduard's Schug floh. Sie empfängt den Giftigen, der 
fie demüthigen möchte, mit überlegener Hoheit und ber 
erdrüdenden Anklage, daß er, ein Verräther am eigenen 
Volke, feinen Verwandten und Wohlthäter, ihren Vater, 
meuchlings habe morden lafjen. Die übrigen Führer des 
feindlichen Heers mifchen fich befhwichtigend in den Streit, 
und unterbe find alle Säle des weiten Schlofjes mit Kriegern 
erfüllt, und überall wird gezeht. Im Hauptfaal hat 
Amira zu einem großen Banket decken laſſen; fie felbft, 
mit ihrer in den Tod ergebenen Freundin Eleonora, ſetzt 
fi) zu den Edelleuten an den Tifh, und nun beginnt 
ein Gelage, wild und wilder; fo ging's zwei Stunden, 
da bot der Saal einen jeltfamen Anblid, Die Geſichter, 
anfangs dunkelroth, zeigten allmählich eine unheimlich aſch⸗ 
graue Farbe, ein feltfames Zuden, verzerrte Gefichtszlige; 
die Augen wurden ſchwer, die Zungen erlahmten; man 
fämpfte fichtlich. mit Anftrengung gegen eine unheimliche 
Srmattung, aber vergebens. Ein Zecher um ben andern 
finft auf den Boden. Die Luft wird umerträglid. Ein 
ftarker Geruch von Peh und Schwefel verbreitet ſich, 
und ein feiner blauer Rauch feheint aus dem getäfelten 
Boden aufzufteigen: 

Set erhob fih Amira, wandte fih zu Bruno und fragte 
mit höhnifhem Lächeln: ‚Vetter, wie behagt dir der Wein, ben 
die Tochter des ermordeten O’Nial dir credenzt hat?" — „Wie 
einem, der von einer Natter geflohen worden”, ſchnellte der 
Angerufene mit der letzten Aufraffung feiner Kräfte empor. 
„Verfluchtes Weib! Xeufel in Engelögeftalt, du Haft mid 
vergiftet! — „Nicht blos did, alle, die in der Schlacht von 
Tagher gegen König Eduard von Irland kämpften. Ich hatte 
einen feierlichen Eid geſchworen, baf feiner von euch mehr 
das Tageslicht erbliden follte, und — id Babe mein Wort 
gehalten. Noch mehr; unter biefen Zimmer ift euer angelegt, 
die Brücke ift aufgezogen, die Thore find gejchlofien; dieſes 
Schloß, einft der Schauplag meiner Liebe, meines Glücks, 
wird der Schauplag meiner Rache. Es bete, wer nod) beten 
fann, denn ihr habt nur wenige Augenblide zu leben. Aber 
fo e8 euch zum Trofte gereihen möchte, wifjet, ich theile euer 
208. Sch habe von dem vergifteten Weine getrunken, denn 
Amira will nit als Sklavin nah England geſchleift und 
verhöhnt werden, noch fol ihr Körper den Feinden als Beute 
anbeimfallen ! 

Bruno rödelt; er will reden und kann e8 nicht, er 
ftirbt. Der blaue Rauch fteigt höher, das fladernde Licht 
der Fackeln an der Wand verdüfternd. Amira tritt zu 
ihrer geliebten Eleonora hin und findet fie eine Teiche. 
Nichts als Leihen! Sie allein flieht der unbarmherzige 
Tod; aber fie zwingt ihn. Die legten Worte gelten der 
Freundin und dem Geliebten und dem armen theuern 
Baterlande: 

Langfam glitt fie neben der Freundin nieder, eine Ster- 
bende unter vielen Todten. Das Licht der Fadeln an ber Wand 
erlofch in dem Qualm; ein ftarkes Kniftern ließ ſich hören, der 
Boden wurde giüigend Heiß; ringsum an den Holzwänden zlin- 
gelten die Flammen hervor und verbeiteten ſich mit rajender 
Schnelligkeit im Banterfaal. 

Es ift vorbei. Der rauchende Fall des ftolzen Schloffes 
ift die Leichenfeier. 


824 


Ebenfalls dem hiftorifchen Feld ift eine zweite Arbeit 
entnommen: 

2. Der Piofeſſor von Heidelberg. Ein deutfches Dichterleben 
aus dem 16. Jahrhundert. Bon Otto Müller Dre 
Bände. Stattgart, Kröner. 1870. Gr. 8. 4 Thlr. 
Die Babel des. Buchs ift kurz folgende: Lotichius, 

der nachherige berühmte Profeflor der Medicin zu Heibel- 

berg und noch berübhmtere Dichter, begegnet uns zunächft 
als Hofmeifter junger Adelicher zu Bologna; hier erreicht 
ihn ein furchtbares Schidfal: eine eiferfüdtige Römerin 
bat dem mit dem jungen Hofmeiſter befreundeten Stu- 
denten Grafen Hugo von Greifenftein als vermeinten 

Liebeszauber einen vergifteten Kuchen gebaden, ben durch 

Zufall Lotichins verfpeift; nach langer fehwerer Krankheit 

wird zwar fein Leben gerettet, aber es bleibt ihm eine 

zeitweilig bis zur Geiftesftörung anfteigende Krankheits⸗ 
anfage zurück, welche in wiederholten Anfällen feine Kraft 
jung aufreibt. Ein zweiter und faft ebenfo ſchwerer 

Kampf ift über feine Seele gegangen: das ift die gewalt⸗ 

fam aufleimende Liebe zu der glänzenden Gräfin Yulia 

Iſolani, die befielben Grafen Hugo glüdlihe Gattin 

wird. So fett fi denn das ganze Lebensbild aus 

zwei fehr verfchiedenen Elementen zufammen: aus einer 
phyſiologiſch⸗pſychologiſchen Geſchichte der drückend büftern 

Seelen⸗ und Leibeskämpfe des jungen begabten Mannes, 

bie uns durch das Eingreifen des halben Wahnfinns mit 

dem finftern Zauber des Unheimlichen paden; dagegen 

im Gegenſatze zu jenen aus der anmuthend erheiternden 

Schilderung aller der Ovationen, womit jenes Jahrhundert 

noch feine wenig zahlreichen Gelehrten» und Dichtergrößen 

zu feiern pflegte. 

Por der Geftalt des Profefiors, welche ein nach allen 
Seiten in bie Zeit paſſendes Lebensbild gibt, treten alle 
andern Figuren als blos begleitende zurüd. Als far- 
benreiche Sittengemälde aber zeichnen ſich folgende Sce- 
nerien aus: Der Auftritt, wo die beutjchen Studenten 
bem wüthenden Haufen des. bolognefer Pöbels gegeniiber 
mit ihren Stöden und Schwertern eine fogenannte Aca- 
badura ſchützen, der verblendete Volksglaube aber macht 
jenes alte häßliche Weib zur Giftmifcherin und Wahr- 
fagerin, welche die fchauerlihe Mifflon übernehme, den 
Sterbenden durch Ermürgen den legten Todeskampf zu 
verfürzen; die mannichfachen und wechfelvollen, bisweilen 
mit verberblihem Ausgang verknüpften Geſchichten der 
italienifchen Xiebeshändel; das ind Große und Bunte ge- 
triebene Stubentenleben auf den blühenden Univerfitäten 
Italiens und Deutſchlands. 

Drei jehr anmuthende Epifoden flechten einen befon- 
dern Reiz ein: Erſtens das perfünliche Eingreifen bes 
berühmten pfälzer Kurfürſten Ottheinrich und feines 
ebenfall8 berühmten zahmen Löwen, des Gompaters, im 
Zwinger und in ber Freiheit, fowie die Gefchichte feines 
bochherrlichen Türftenbaues, bes Heidelberger Schloſſes, 
an das fich überdies fehr fein durch eine Bifion bes 
Dichters die dunfle Vorverfündigung der einftigen furcht⸗ 
baren Zerftörung knüpft. Zweitens ift e8 die höchſt er⸗ 
gögliche Art, wie Janus Onader, der kurfürftliche Jagd⸗ 
und Zeichmeifter, von der Wirthſchaft der Tagenäugigen 
Kroaten auf deutſchem Kriegsboden berichtet und von dem 
Zaubermittel feiner großen Nafe gegen biefe Erzlannibalen. 


Neuefte Romane 


r 


und Novellen. 


Einen ganz andern, halb gemüthlihen, halb tragiſchen 
Eindrud macht das dritte Zwifchenftüd: es iſt die rei- 
zende Gefchichte, wie ber Dichter eine einft von Sigeunern 
geraubte und nun ſtill in Deutfchland lebende Italienerm, 
zu der er wie zu einem geheimnißvollen Kinde eime eigene 
Neigung faßt, dem untröftlich fie fuchenden Bruder und 
der harrenden Mutter zurüdgeben will; ba tödtet em 
Blitzſtrahl das eigenartige Weſen, die Mutter ftirbt und 
der Bruder ertränft fih. Es find da gewichtige Geiſtes⸗ 
momente niedergelegt. 

Ergreifend tft der Schluß des Lebenobildes: Bei Ein- 
weihung des Prachtichlofjes fol Lotichins mit dem Dichter- 
lorber befränzt werben; Graf Hugo mit feiner Gemahlin 
ift hergekommen, und diefe, die noch immer in des Did 
ter8 Erinnerung als befeligendes Ideal Iebt, fett ihm den 
Kranz aufs Haupt. Da finkt der kranke Mann, die Er- 
ſchütterung nicht mehr ertragend, als ein Sterbenber nie- 
ber. „Wie fteht ed, Hans, wo ift er?” fragt Ottheinrich 
feinen PBagen Gemmingen. — „Er ift fort, fort — ber erfte 
aus diefem Schloffe.” — „Wie? ſchon hinunter nach ber 
Stadt?” — „Nein, Durchlaucht, hinauf in den Himmel, 
fein’ legtes Wort war: Yulia Iſolani!“ 

Es find dunfle und unheimliche Seeleugründe, bie 
uns aufgededt werden in den verfchiebenften Momenten 
und Lebenslagen. Wir nehmen als Beifpiel eine einzige 
Situation heraus. Als Lotichius von der Anno 1508 
in der Pfalz wüthenden Peft und von den „Rufern“ er- 
zählen gehört, daß nämlich ein Sterbender in den letzten 
Augenbliden diefen oder jenen beim Namen genannt und 
daß der Gerufene wirklich als nächſtes Opfer habe folgen 
müffen, fest fih in feinem kranken Geifte fogleich. ber 
Gedanke feft, daß ja auch fein Freund und Lehrer Micyll 
noch in den legten Ungenbliden feinen Namen genannt 
babe und er fo unfehlbar dem nahen Tode verfallen fei: 

Wenige nur abnten die ſchreckliche Krankheit im Gemüth 
des fcharffihtigen Arztes, ahnten die Aengflen feiner Seele, 
wenn ihn bald im flillen Walde, bald in der einfamen Studiw 
fiube plößlich die wohlbelannte Stimme des verfiorbenen Freun- 
des wie der Donner bes Süngften Gerichte erjchredte und 
Micyll's Stimme laut feinen Namen rief, nicht im dumpfen 
Grabeston, aud nicht im fanften Flüſtern eines unſichtbaren 
Schußgeiftes, fondern laut und lebendig und fogar mit dem 
dem Berflorbenen eigenen Accent, daß es ber @erufenen durch 
Mark und Bein jhütterte, er, der doc; ale gefchidter Arzt Hätte 
wiffen müfjen, daß jolhe Stimmen nur aus dem eigenen Ius 
nern fommen und nirgends fonft als in der kranken Seele des 
Gerufenen ihren Urfprung haben! 

Bom Felde des gefchichtlichen Romans treten wir mit 
dem nüchſten über auf dasjenige des humoriftifchen, eine 
Schattirung, in der wir an wirklich gelungenen PBrobucten 
nicht eben beſonders reich find: 

3. Der Schübderump. Bon Wilhelm Raabe Drei Bände 

Braunſchweig, Weftermann. 1870. 8. 5 Zhlr. 


Hier herrjcht eine von Anfang bis zu Ende durchau⸗— 
gleichförmige Tonart in der Färbung, fodaß eine äußerft gı 
müthige und bis ins Drollige gehende Komik ber Zeichnur, 
der Situationen und der Lebensanſchauung überwiegt, } 
doch mit einer ziemlich ſtarken Doſis von tragifch patht 
tiſchem Ernſte ſich verflicht. Es ift der echte deutid 
Humor. 

Der Schlüddernmp — was ift denn das für e 





Neuefte Romane und Novellen. 


Ding? Darüber gibt und ber Autor in einer Reiſeerinne⸗ 
rung einleitend Aufſchluß. Er ift in einem norddeutſchen 
Städten und findet da eine abfcheuliche Mafchine auf- 
bewahrt, die in Cholerazeiten dazu diente, durch Ueber- 
fippen eine Laſt von Peftleichen in die Grube zu fchütten; 
es ift nichts mehr und nichts weniger als ein vom Küfter 
mit Grauſen und Berehrung als Rarität angefchauter 
hoher ſchwarzer Karren mit einem Halberlofchenen weißen 
Kreuz auf der Vorderwand unb der. Jahreszahl 1615 
anf dem Rückende. 

Gefchichte und Perſonen find folgende Wir werden 
in ber Gegend des nördlichen Harzes auf den Lauenhof, 
ein altes Rittergut, geführt und treffen da neben der 
ſehr praftifchen, derben und verftändigen Witwe- Mutter 
als Hauswirthin zwei Originale als alteingelebte Stamm- 
gäfte des Haufes: den meflfälifchen Edeln Hrn. Karl Eu- 
ftahius von Glaubigern und das Fräulein Elotilde Paula 
de St.-Trouin, furzweg Frölen Trine, beide ein bischen 
ins Somifche verzerrte und fehr abgeblaßte Figuren aus 
der Nitterzeit, die fich in der Gegenwart recht außer Platz 
und im Grunde langweilig überflüjfig erweiſen, bis der 
Ritter uns fchlieglich durch einen tüchtigen Act mit all 
feinen Eigenheiten ausſöhnt. Dann folgt der junge Edle 
Hennig von Rauenhof, eine gutmüthige Natur, an der 
gerabe genug Zeug ift, um unter ben wunderlichſten Er- 
ziehungseinflüffen einen rechten Krautjunker daraus zu 
ſtempeln. Vom alten verlebten Herrenhaufe werden wir 
direct ind Armen» und Siechenhaus des nahen Dorfes 
Krodebe geführt, zunächſt mit einer einzigen Infaflin, 
langeher der Herrin des Plages. Doch bringt der Armen- 
farren gerade zwei neue, das ift die Marie Häußler, bie 
einft jo Schöne Tochter des Frodebeder Dorfbarbiers Diet- 
rich Häußler, und ihr ebenjo ſchönes uneheliches Kind 
Antonie, jene, um ba zu fterben, dieſes, um hernad vom 
Lauenhof erzogen zu werden und in die große Welt zu 
fommen. Die dritte im Bunde bes Elends iſt die alte 
und zähe Haufirerin Jane Warwolf, bei aller Originalität 
eine fehr tüchtige Perfünlichleit, die großen Einfluß be- 
bauptet und eine Fräftige Rolle in unferer Gefchichte fpielt. 
Antonie und der junge Hennig kommen, das erfte mal 
unter recht drolligen Umftänden, in nahe und freundliche 
Rinderbeziehung zueinander. , Indeß wird der Junker auf 
die Schule geihidt, und die Jahre vergehen. Da mit 
einmal kommt der bis dahın Halbverjchollene Großvater 
der fchönen Antonie, der alte krodebecker Barbier, der 
unterdeß im Auslande große Speculationsgejchäfte ge- 
macht, Glück gehabt hat und geabelt worben ift, zum 
Schreden aller in die glücklich ftile Welt hereingefahren 
und reclamirt die fchöne Enkelin, um fie in die vornehme 
Welt zu Wien einzuführen und beiläufig auch als cine 
Art Speculationsartitel oder wenigftens als Rodvogel aus⸗ 
zungen. Das eigenartige, zartgebaute Kind mit tief 
innerlichem Gefühl kann fih in die Lüge und den Trug 
diejes vornehmthuenden Speculantenlcbens, an welches es 
auch verfchachert werden fol, nicht finden und ftirbt jung 
hinweg, man möchte fagen am gebrochenen Herzen, nach⸗ 
dem es noch das hohe Vergnügen erlebt, den Yugend- 
freund Hennig und ben alt geliebten Freund und Erzieher, 
ben Xitter von Glaubigern, bei fi) in Wien zu fehen, 
die ihm die alte traute und heimelig glüdjelige Erinne- 

1870. 52. 


825 


rung an bie Yugendzeit auf dem Lauenhofe mitgebracht 
haben. 

Der Ton des freien Humors ift durchweg mit Glüd 
getroffen und hat eine Reihe Situationen von ganz be- 
fonderer Anziehung geichaffen, fei es im Stile der heitern 
und ein bischen ironisch gehaltenen Lebensbilder, bie über⸗ 
wiegen, fei es in foldyen von tiefer Innerlichkeit und ſchwe⸗ 
rem Geſchick, fo ganz befonbers alles, was fi an die 
Geſchichte des Urmen- und Siehenhaufes von Krodebed 
knüpft. 

Als ein Beiſpiel der urwüchſigen Komik derbſten Stile 
ſei die einzige Scene erwähnt, wie Anno Domini 1578 
der Junker Hilmar ab dem Lauenhofe ſeinem Geſchlechte 
zu weit ruchbarer Glorie verhalf. Das ging alſo zu: Ini 
felben Jahre famen Herzog Friedrich IV. von Liegnig mit 
dem Hrn. von Schweinichen zu Herzog Julius von Wol⸗ 
fenbüttel geritten; das lodte viele Ritter und Edle an den 
berzoglichen Hof, unter ihnen aud) befagten Junker Hil- 
mar mit feinem Knechte Zwiebrecht Affen: 

Da ift das Saufen angegangen auf dem Schloß in bem 
Saale, jo man ben burgundifchen nennt, und bat zu gutem 
Anfang gemwähret drei Tage und drei Nächte in einem fort; 
am vierten und fünften Tag bat man den guten Rauſch ver⸗ 
fhlafen, und am fehheten hat man unter Fürftliher Gnaden 
Fürbitt des Ortes Merkwürdigkeiten vifitiret, und ift allda des 
Hrn. von Lawen Chr mit Gottes gnädiger Zulaffung auf ben 
Tiſch gehoben. 

Im Provianthaus hing nämlich eine große geräucherte 
Dratwurft, fo eine Biertelmeile Wegs lang war, und auf 
die Trage, wie viel Zeit ein Mann mit dem Wunderftüd 
zu thun haben möchte, antwortete der von Lauen: mit 
Gotts gnäbigem Beiftand verhoff er's fertig zu bringen 
in vier Tagen, allein es müfje der Trunk nicht dazu feh- 
len. Den Herzog reute die Wurft, die Ritterfchaft aber 
trieb und ftadhelte, und fo mußte fie dran; am fechsten 
Tag ber Feltlichfeit ward dem von Lauen der Zipfel 
in den Mund gegeben, die Junker fehen mit gutem Troſt 
und Zutrinken in großer Luft dem Bacchanal zu, während 
des Herzogs Geficht um fo länger wurde, je färzer bie 
Wurft: 

Es war die Wurſt um eine Säule gelegt, und vier Tage 
fang bat fidy der Herr Hilmar um gemeldete Säule fort und 
fort herumgefreffen, und am dritten Zage ift ſchon ein Eilbot 
an den ehrbaren Rath zu Braunfchweig nm einen Sciiderer 
abgejendet, daß er den Junker mit dem letten Zipfel der Wurſt 
zum ewigen Gedächtniß abconterfeie.... Der von Lawen lag 
acht Zage und grunzte im Schlaf, und fein Knecht Zwiebredjt 
Affen pflegte ihn Lieblich,; mein gnädiger Junker Hilmar fam 
anf einem befränzten Leiterwagen mit Geſchnarch und im tief 
ften Schlaf auf dem Lauenhof an, und hätt’ der getrene Knecht 
Zwiebrecht der Frauen nicht verzählet, was der Geftrenge aus- 
geführet und zu ewigem Ruhme des Haufes Lawen ausgefrefien, 
mein geftrenger Junker felber hätt’ wenig davon fagen können. 

Wem aber die Humoriftifche Komik etwas feinern Stils 
befier behagt, der findet eine Reihe der köftlichften Zeich- 
nungen, unter denen unftreitig eine der gelungenften die— 
jenige des Fräuleins von St.-Zrouin ift, der Tochter eines 
Grafen von Bardiac, der am Anfang diefes Jahrhun⸗ 
derts einer der tllchtigern Zeichenlehrer in Berlin war, 
aber in großer Armuth ftarb und feine Tochter dem Groß⸗ 
vater des Junkers Hennig vermachte. Es ift eine Dame 
von fehr vornehmer Geburt, die fich fchreibt: Sehr edle 
und mächtige Yrau, Gräfin von Parbdiac, Frau und 


104 


826 


Gerichtöherrin ber Grafſchaft Balcroiffant, geborene Rit- 
terin von Malta zufolge des Privileg des Papftes Ho- 
norius III., verliehen der fehr glorreichen Familie Johann's 
von Brienne, erften Fürften zu Tyrus und fpäterhin Kai— 
fers von Konftantinopel. Unftreitig würde die hohe Frau 
ohne die abfcheuliche franzöſiſche Revolution von 1789 
nit unter den Barbaren des Hercynifchen Waldes leben. 
Den Refer, ber ihre nähere Belanntfchaft zu machen 
wünfcht, verweifen wir, da es zu umftändlich würde, fie 
in Perfon hier einzuführen, einfach auf I, 27 fg. des 
Driginals, wo fie mit all ihren unfchuldigen, wenig koſt⸗ 
baren, aber um fo komifchern nobeln Baflionen und der 
vollen Grazie einer alten Jungfer auffpaziert. 

Hatten wir es bis dahin mit größern Gefchichte-, 
Sitten- und Lebensbildern verfchiedener Färbung zu thun, 
fo floßen wir in einem legten Werke noch auf fehr ein- 
ſache Familiengefchichten mit ganz nad dem Leben ge- 
zeichneten Unterlagen. Die Dinge, die uns erzählt wer- 
den in den 


4. Novellen von Otto Roquette. Berlin, Herk. 1870. 
8 2 Thlr. 


find durchweg höchſt natürlich der Realität menfchlicher 
Lebensläufe nachgefchildert, die Situationen mehrfach mit 
Glück gefaßt. Es ift ein Band mit vier Stüden: „Rum- 
pelſtilzchen“; „Einer von beiden”; „‚Unfere Jugend“; 
„Peter Weyrih’s Haus“. 

„Rumpelſtilzchen“ ift der Beiname eines verwai—⸗ 
fin Mädchens, Charitas, die in das Haus einer be» 
häbig mit ihren fünf Söhnen, der Tante Jasmunda 
umd dem frühern Hauslehrer der Knaben, Hrn. Stumpf, 
anf ihrem Landfige lebenden Witwe eingeladen wird; in 
dem lebendigen Familienkreis entfpinnt fi nun eine eigene 
Berwidelung. Der jüngfte Sohn Sigismund, noch halb 
Knabe, bat für Charitas fchon in der Stabt eine ideale 
Jugendneigung gefaßt. Ein älterer Bruder Eugen, der 
„Tyrann“ der Familie, kränkelnd und verwöhnt, von vie 
len Anfagen und großer Gelehrſamkeit, aber heftigem 
Eigenfinn, faßt für fie eine mehr aus eigenwilligem Stolz 
entfprungene Vorliebe und will fi ihre Hand erzwingen, 
wird aber von dem einfach gefunden Mädchen gedemüthigt. 
Diefes, eine lieblihe und taftvolle, erfahrene und ver- 
nünftig überlegende Natur von echter Hausfreundlichkeit, 
wird die glücliche Gattin des Alteften Sohnes Friedrich, 
eines ruhig in fich gefefteten Charakters und praftifch ver⸗ 
flündigen Hauswirths. Nach einigen Auftritten löſt ſich 
der Conflict in Frieden. 

Der intereflante Yamilienkreis diefer neun Berfonen 
in ihrem verfchiebenen und doch ein freundlich geſchloſſenes 
Ganzes ausmachenden Walten und Berfehr bot dem Dich— 
ter die befte und in der That wohlgenutte Gelegenheit 
zu mannichfacher Charakterzeihnung, auf der jo ziemlid) 
da8 ganze Interefje ruht. Alle neun Perfonen, zumal 
die fünf Brüder in der Berfchiedenheit ihres Weſens und 
Zemperaments, ftellen uns ganz beftimmte Lebensbilder 
dar; Tante Jasmunda und Hr. Stumpf heben fih mit 
liebenöwtirdigem Humor in fehalkhafter Färbung ab; kurz, 
es ift reales Leben und Natur darin ohne einen einzigen 
manierirten Zug. 


„Einer von beiden” ſtreift jchon eher ins Roman- 


Neuefte Romane und Novellen. 





hafte. Der arme junge Muſiker Arno bat im ftillen 
heftige Xiebe gefaßt zu Luitgart, der prädtig ſtolzen Tod- 
ter eine® vornehmen Haufes, und liegt nun todkrank im 
feinem elenden Dadftüblen. Sein Freund Dr. Wolfram 
bittet Quitgart, den Kranken im geheimen zu befuchen, und 
fie folgt. Arno geneft, wird ein Meiſter in ber 
gewinnt die Hand feiner Geliebten. Indeß hat auch in 
Wolfram’ Herzen Liebe zu der Schönen Platz gefaßt, er 
nimmt im Haufe des Freundes eine etwas zweifelhafte 
Stellung ein, die defjen Argmohn wedt und hart an eine 
tragifche Entfcheidung führt, als im rechten Angenblid 
die Räthſel und Zweifel fi löfen, um ein nun erft blei« 
bend beglüctes Familienband feftzufchlingen. 

War jene erfte Nummer ein Samiliengemälde, fo mag 
man die zweite ein dreifach fehattirtes Seelengemälde heißen, 
das durch feine innern Kämpfe intereffirt. Diefe, erft 
halb Mitleid, halb auffnospende Liebe in ber Bruft bes 
ftolzen, nie zuvor mit der harten Noth des Lebens im 
Berührung gefommenen Weibes, bis der glüdjelige Liebes⸗ 
traum bewältigend hervorbricht; die äußern und innern 
Berwidelungen und mannichfach wechſelnden Scenen im 
Leben und Herzen der beiden Freunde, Zweifel, Bangen 
und Hoffen, Mistrauen und Xiebesfeligleit, das Briten 
und bie Schaffensfreudigfeit: kurz, es ift eine Gefühls⸗ 
fcala, nur zu reich für den engen Rahmen! Webrigens 
find auch hier die Figuren in klarer Beſtimmtheit nad 
der Natur gezeichnet. 

„Unfere Jugend“ ift durch und durch von launigem Hu⸗ 
mor getragen unb ganz modern, die Früchte unfers Er- 
ziehungslebens werden gejchildert. Clotilde, ein verzogenes 
Dänmchen, aus der Benfion heimkehrend, trifft mit ihrer 
Mama auf der Eifenbahnftation in recht ergöglicher Situa- 
tion, welche die vornehmen Damen zum „PBumpen‘ bringt, 
mit einem unfcheinbar und befcheiden reifenden Studenten zu- 
fammen, ber ſich in der Yolge als der Sohn eines Jugend⸗ 
freundes der Mama entpuppt. Clotilde hat von der Pen- 
fion her Liebſchaft und Briefmechfel mit einem jungen 
Mann angefnüpft, der nachher noch bei zeiten als Spie- 
ler, Slüderitter und Bankrotteur aufgededt wird. Die 
Aeltern der jungen Leute, von früh an befannt und fi 
nicht gleichgültig, dann durchs Leben auseinandergerifien 
und nun wieder vereint, fchließen jet erft den Liebesbund 
fürs gereifte Alter, Eine Rolle, ja die Hauptrolle fpielt 
auch hier eine alte Tante Thuenelda, die Huge und ener- 
giſche Tugendwächterin des unerfahrenen Dämdens und 
Liebesbotin der Aeltern. Die Situation ſchließt: 

Nun, Kinder, machen wir, daß wir bald fortlommen; 
wir haben hier unfern Zweck erreidht und können getroft mit 
Kind und Kegel nad) der Stadt zurückkehren. Das Kind muf 
aus biefen Umgebungen meg, der Kegel (fie wies auf den Stu⸗ 
denten) auf die Univerfität, und ihr beide müßt euch zu emerer 
Hochzeit rüften, die nicht mehr aufzufchieben if. Und als die 
Geſellſchaft eine Stunde darauf einen Spaziergang durch ben 
Bart machte, Balentine und Nithatt voran Arm in Are, 
die Stiftsdame ihnen folgend, auf der einen Seite von Kir 
mens geführt, auf der andern Clotilden führend, immer lade ıd 
und plaudernd, da war Thusnelda zum erften mal ganz I» 
friedigt und ging freudig gehobenen Hauptes daher, jeder ZH 
Frau Minnetroft. 

War in ben drei Stüden ein glüdlicher und zumeilın 
ins Komische ftreifender Humor entfaltet, fo folgt das 


I legte: „Peter Weyrich's Haus“, mit ſtark tragiſchem 


Ein neuer Band von Pert’ Leben Gneifenau’s,. 


Nachſchlag. Peter Weyrih, ein alter menfchenfeindlicher 
Sonderling, bat in der Jugend den eigenen Bruder, ber 
politifch compremittirt und überbies wegen einer heimlichen 
Ehe verfolgt war, herzlos denuncirt und vertrieben, fobaß 
bie zarte fchöne Gattin bald in Sorgen ftarb. Der Bru- 
der ift derfchollen, Tehrt aber fpäter al8 bedeutender Mann 
heim ; Arnold, das Kind der beiden, ift von einem Jugend⸗ 
freund erzogen worden. Nach einem trübfeligen Beben 
fommen dem Peter interefjante Papiere zu Händen, bie 
ihm des verſtoßenen Bruders Laufbahn und die eigene 
Schuld ftreng vor Augen und Gemiffen rüden, und in 
feinem erfchredt-fahrigen Weſen zündet er beim Forſchen 
in diefen Schriften das Haus an und wäre felber mit 
verbrannt ohne ben eindringenden Brudersfohn, der ihn 
rettet. Diefer aber, verlobt mit der Tochter jenes Jugend⸗ 
freundes, der ihn erzog, und der wiedergefundene Vater 
beginnen ein neues Leben bes Friedens und Glüds. 

Es ift eine eigene Bemerkung, die fi einem zum 


827 


bundertften mal aufdrängt: fobald das Tragifche auch nur 
mit einem Finger hereingreift, padt es unfer Herz mit 
eigener Macht; und fo wird denn Leicht diefes letzte Stück 
einen tiefern Eindrud machen als die vorausgegangenen, 
zumal Peter Weyrich felbft und fein Haus mit ihrem 
halb geheimnißvoll düftern Weſen und wie das leibhafte 
Conterfei einer alten Zeit anſchauen. Es ift tragifch, wie 
im Augenblid, da er in finfter beflommener Erinnerung 
an die alte, nie gefühnte Schuld im Manufcript des ge- 
meinfamen Yugendfreundes eben die ihn verdammenden 
Worte gelefen: „Wenn ich ihn nun al® einen lächerlichen 
Gecken behandelte, während ich ihn doch ala einen Schur- 
ten betrachtete”,... wie in dieſem Augenblid, da das Ge⸗ 
wicht der rächenden Stimme ihm die Kehle zufchnürt, die 
beim Suchen nad) eben diefen Papieren von ihm felbft 
entzlindeten Flammen herporbrechen und all fein Hab und 
Gut zufammenbrennen. 
3. 3. Honegger. 





Ein neuer Band von Perb’ Leben Gneifenan’s. 


Das Leben des Feldmarſchalls Grafen Neitharbt von G©nei- 
fenau von ©. 9. Berk. Dritter Band. 8. Juni bis 
31. December 1813. Berlin, ©. Reimer. 1869. Gr. 8. 
3 Thlr. 10 Nor. 


Bon der umfaffend angelegten Biographie des Yeld- 
marſchalls Grafen Neithardt von Oneifenau, in welcher 
G. H. Perg auf Grund der ihm zur Verfiigung geftell- 
ten koſtbaren Materialien ein Seitenftüd zu feinem Leben 
Stein’s zu ſchaffen unternommen bat, liegt nad einer 
ziemlich langen Baufe ein neuer, der dritte Band vor, 
welcher die Ereigniffe vom 8. Juni bis zum 31. Decem⸗ 
ber 1813 und den hervorragenden Antheil Gneifenaw’s 
an denjelben behandelt. Daß in einem Bande von über 
700 Seiten die Geſchichte von nur fieben Monaten, wenn 
auch außerordentlich inhaltreicher Monate, gegeben wird, 
ſtimmt ganz zu dem Charakter diefes Werks, deſſen Eigen⸗ 
thümlichleiten wir ſchon bei dem Erfcheinen der erften 
beiden Bünde in d. DL. hinreichend gefennzeichnet zu 
haben glauben. Wir begnügen uns deshalb hier damit, 
noch einmal kurz darauf Hinzumeifen, daß das Werk 
eigentlich mit Unrecht als ein Leben Gneiſenau's eingeführt 
wird; wäre e8 als ein Urkundenbuch zu einer Biographie 
des großen Feldherrn oder ald „Materialien zur Gefchichte 
der deutſchen Kriege gegen Napoleon aus den Gneifenau’- 
chen Papieren” bezeichnet worden, fo hätten fid viele 
Lefer, die mit Luft und DBegeifterung an biefen großen 
Stoff gingen, eine ſchmerzliche Enttäufchung erfpart. 
Denn jo wie die frühern Bände bietet und auch diejer 
neuefte feine zufammenhängende, auch nur einigermaßen 
fünftlerifch abgerundete Biographie Oneifenau’s, fondern 
nur eine große Menge werthvoller Urkunden und Acten- 
ftüde, Briefe und Memoires, welche, durd) einige bürftige 
Bemerkungen des Herausgebers aneinandergereiht, höchſtens 
den Stoff geben, um daraus ein Bild von dem eben 
Gneifenau’8 und deſſen Thätigfeit in jener großen Zeit 
entwerfen zu können. So bleibt e8 dennoch nach wie vor 
zu bedauern, daß aus einem Stoffe, der wie faum ein 


zweiter geeignet gewejen wäre, ein wirklich nationales 
Geſchichtswerk zu fchaffen, fo ganz uud gar nichts ge 
macht ift, und daß alle die Vortheile, die fi) unter 
folhen Berhältniffen dem Darſteller von Gneifenau’s 
Leben darboten, völlig ungenugt gelaffen find, indem ftatt 
eines Biographen ein Herausgeber die koſtbarſten Ma- 
terialien unverarbeitet und undurchgeiftigt mit gelehrter 
Bornehmheit dem Publikum als eine der überwiegenden 
Mehrheit durchaus unverbauliche Speife vorfegt. Wir 
unterlaflen e8, auf alle die Misftände noch ansdrüdlich 
binzuweifen, die ſich aus einer folden Art Gefchichte zu 
ichreiben mit Nothiwendigfeit ergeben; diefelben liegen auf 
der Hand: nur das eine fei bier hervorgehoben, daß 
jelbft, wenn man ftatt einer Biographie Gneifenau’s ein 
Urkundenbuch zur Gefchichte deffelben geben wollte, dann 
doch noch lange nicht alles das aufgenommen zu werden 
brauchte, was wir hier vereinigt finden, indem durch die 
Aufnahme mehrerer oft faft Wort für Wort überein- 
ftimmender Berichte über daffelbe Ereigniß eine Menge 
von Wiederholungen veranlaßt find, die dem Leſer er- 
müden und zu nichts dienen, als den ohnehin ſchon fo 
gewaltigen Umfang des Bandes noch mehr anfchwellen 
zu lafien. 

Sehen wir von diefen Gebrechen, welche freilich ge- 
nügen, um das Werk völlig um die weitreichende Wir- 
fung zu bringen, die e8 feinem Gegenftande nach bean» 
ipruchen könnte, den Abfichten des Herausgebers folgend 
ab, fo müffen wir uns allerdings der koſtbaren Bereicherung 
freuen, welche aus ben uns hier gebotenen Materialien 
nicht blos für eine Fünftige Biographie Gneiſenau's, fon- 
dern flir die Gefchichte der großen Zeit ber Befreiungs- 
friege überhaupt gewonnen wird. Inſofern kann man 
das diefem Bande gegebene Motto: „Die Nachwelt wirb 
erftaunen, wenn bdereinft die geheime Gefchichte diefes 
Kriegs erſcheinen kann“ — eine Aeußerung Gneiſenau's 
ſelbſt in einem am Morgen des entſcheidenden 18. Oc⸗ 
tober an feine Frau gerichteten Briefe —, als durchaus 


104 * 


828 Ein neuer Band von Perg’ Leben Öneifenaw’s, 


beredhtigt anerkennen. Die Veröffentlichung dieſer Onei- 
fenau’f—hen Papiere Hat uns den Zeitpunkt um ein Bes 
deutendes näher gerlidt, in welchem biefe geheime Ge- 
ſchichte endlich wird and Licht gezogen werden können. 
Sehr erfreulich allerdings wird das Refultat nicht gerade 
fein: wir werden nämlih, was im allgemeinen ja ſchon 
hinreichend befannt ift, aufs neue und in ben alleruner- 
quidlihften Einzelheiten beftätigt finden, daß kleinliche 
Eiferſucht und erbärmliche Intrigue, niedriges Mistrauen 
und unwürdige Zweideutigkeit gerade nirgends fo ſehr 
herrfchten wie in ben leitenden reifen, und daß, mas 
dennoh Großes und Gutes gefchah, meift nicht durch 
diefelben, fondern trotz berfelßen und im Kampfe mit 
deren Trägheit und Unwahrheit und Selbſtſucht zu Stande 
gefommen ift, daß nur diefe Hindernden Mächte es ger 
mefen find, melde einen ſchnellen und für alle Zeiten 
entſcheidenden Sieg der Verbündeten und zugleich eine 
darans folgende völlige Wiedergeburt Deutſchlands ver- 
eitelt haben. Der und zugemefiene Raum erlaubt es 
nicht, alle die fehlagenden Belege anzuführen, welche ung 
für diefe Behauptung aus ber Torreſpondenz Gueifenau's 
mit feinen Freunden und Geſinnungsgenoſſen geboten 
werden. Nur ein paar befonders charalteriſtiſche Stellen 
heben wir hervor. - 

Wie alle wahren Patrioten, denen es mit bem Kampfe 
gegen den franzöjifhen Imperator wirklich Ernſt war, fo 
fehen wir auch Gneiſenau ben Waffenftillftand als einen 
unverzeihli—hen und Höchjft verhängnißvollen fehler in 
unmuthigem Zorne beflagen; er erflärt benfelben für 
den dümmften von all den dummen Streichen, bie feit 
20 Jahren von den gegen Fraukreich verbiindeten Mäch- 
ten begangen find. Pi dies die Meinung aller Einfid- 
tigen war, zeigt” ein an Gneiſenau gerichteter Brief des 
englifch- gannoverfchen Miniſters Grafen Münfter, der 
all den bangen Beforgniffen, bie ihn erfüllten und tief 
verftimmmten, einen recht bezeichnenden Ausdrud gibt in 
den Worten: 

Zerförung des Bonaparte ſchen Syſtems hätte unfer großer 
Ziel fein und diefer durch einen Nationalkrieg erreicht werden 
Vnnen und follen. Jetzt läßt man den Muth erfalten, zerflört 
das Zutrauen der Völfer in ſich ſelbſt und discutirt über die 
Abtretung Heiner Landſtriche, ale ob bie Rede vom Bairiſchen 
Succefflonefriege wäre! Kurz, man läßt fid ein Stübden im 
brennenden Haufe einräumen, ohne die alles zerſtdrende Feuers- 
brunft zu löſchen und ohne den Morbbrenner zu ſtrafen. Nur 
Bonaparte’8 Üebermuth kann uns retten; ift er Hug und willigt 
ein, fo find wir verloren. 

Ueber einen andern unerquidlichen Punkt, das Ber- 
haltniß der Verbündeten zu Bernadotte, den Kronprinzen 
von Schweden, und über deſſen Unzuverläffigfeit und 
Saumſeligkeit finden wir ebenfalls eine Menge rüchaltlos 
freimütthiger, oft einſchneidend ſcharfer Urtheile Gneiſenau's : 
fo erfärt derſelbe ſich denn auch mit aller Entſchiedenheit 
gegen eine Unterordnung Billow's unter ben Oberbefehl 
des Kronprinzen, und macht dem Konige bie dringendfte 
Vorftelung gegen eine folde Beftimmung — freilich 
vergeblid. Zu jpät erft ſah man an entſcheidender Stelle 
ein, welden Fehler man begangen, indem man den auf 
die genauefte Bekanntſchaft mit Verhältniſſen und Per 
fönlicfeiten gegründeten Rath Oneifenau’s unbeachtet ließ. 
Ueberhaupt verdient als beſonders bezeichnend für bie 















widerſpruchsvollen Zuftände jener Zeit und bie 

vieler doch äußerlich fo hocgeftellter Männer 
hervorgehoben zu werden, daß Gneifenam 

mit ihm entgegenarbeitenden Cinflüffen zu kämp 
mehrfach gegen die niebrigften Intriguen aufzutreten hal 
Trotz der glänzenden Verbienjte, bie er fich um 
preußifchen Staat erworben hatte, und obgleid; man ihn 
eine Reihe bedeutender Auszeichnungen hatte bewill 
müffen, wurde Oneifenau doch immer nur mit eim 
wiſſen Mistrauen angefehen. Er dadjte eben zu frei 
felbftändig, Hatte e8 zu oft gewagt, rüdjichtelos 
Wahrheit zu fagen, al® daß er nicht vom al 

hätte angefeindet werden follen. Der König von P 
felbft machte fein Hehl daraus, daß er Öneifenau, 
bei ihm als Freidenker und Neuerer angejchwärz! 
nit leiden könne, und ihm eben nur, weil er mic 
erjegen war, an feinem Plage lafje. Niemand wußte 
beffer als Gneifenau felbf. Cs macht einen 
peinlichen Eindrud, zu fehen, wie Öneifenau, ir 
Feldzuge von 1813 der gefeiertfte Stratege des | 
ſchen Deers, die Seele all der Triumphe, welch 
ſchroffen Gegenfag zu der Thatenlofigkeit der 
andern Armeen, bie bon ihm und dem greifen Bf 
geführte fchlefifche Armee gefeiert hatte, wenige 

der Schlacht bei Leipzig, die er eigentlich herbeig 
ja faft erzwungen hatte, in der das Ziel feines 
langen aufopfernden Strebens endlich erreicht werben 
an den Kanzler Hardenberg einen Brief richtet, im 

er um eine Anftellung im Staatsdienft für die 
Friedens bitte. Das Motiv, welches ihm day 
war die Mare Erkenntniß der unüberwindlichen 2 
die den König gegen ihn erfüllte. Er ſpricht dai 
offen aus: 

Wenn nicht große Fehler gemacht werben und bie 

beharrlich find, b muß ſich diefer Krieg vortheilhaft 
gute Sache enden. Mein vorgeriidtes Alter wiirde 
nur bei einer großen Staatsgefahr die Wafjen wieder 
taffen. Im Frieden mag ich nid)t mehr Soldat fein, 
aud andere Gründe, die e8 mir wlinichenswerth machen 
der Armee zu treten, worunter mit der gehört, baf 
König nicht gewogen iſt. 
Nach der Schlacht bei Leipzig wiederholt er 
Hardenberg gerichtete Bitte, und fügt denfelben 
ihn nur noch weiter ausführend, bei: er erklärt 
unangemeffen, daß er in die Nähe des Könige 
denn der König finde feinen Geſchmack am ihm. 
heiht e8: 

Wenn id) dereinſt in bie Höhern Stellen der Armee 
würde, jo würde es unvermeiblicd; werden, mit dem 
über Gegenftände desjenigen Theils des Militärweiens, 
er fi gerade am meiften beichäftigt, in unmittelbare 
zung zu fommen, 3. B. Mufterungen, Baraden, Keit 
id) würde es ihm Hierin vieleicht nicht zu Dan mache: 
mir bdiefe Demüthigungen und Kränfungen zu exjp R 
ih eine andere Laufbahn betreten, um die fidh der 
niger befümmert. .... J 
Selbſt da konnte der König dieſe Abneigung. 
Oneifenau nicht überwinden, wo die erhabene Wei 
des Augenblids jedes andere Gefiihl als dankbare | 
fterung hätte erfliden müfjen: als am Tage 
Einnahme Leipzigs der König mit feinen Ali 
den auf dem Markte verfammelten Generalen 












Ein Raufmann als Philofoph. 829 


wurde Gneifenau, ber von allen am meiften Dank ver- 
diente, mit auffallender Kälte behandelt. Auch das fo 
glänzend verdiente Woancement zum enerallieutenant 
blieb länger als billig aus. Alles das erklärt ſich aus 
dem Geruche liberaler Neigungen, in denen Gneijenau 
nun einmal ftand. ‘Derfelbe war noch befeftigt worden 
durch) die Energie, mit welcher Gneifenau im Beginn 
des Feldzugs für die Landwehr und den Landfturm ein- 
getreten war unb beibe Inftitute gegen das Mistrauen 
und die übelmollenden Berdächtigungen, derjenigen ver- 
tHeidigt hatte, die in bdenfelben nur ein gefährliches 
Werkzeug zu demagogifchen und revolutionären Umtrieben 
fehen wollten. Immer von neuem aber erhebt Gneifenau 
feine Stimme gegen dergleichen Verbächtigungen, und mit 
Freude und Stolz und zugleih mit Ehrfurcht vor dem 
freien Geifte, der daraus fpricht, wird jeder die Zeugniſſe 
lefen, die Gneiſenau während des Kampfes in Schleflen 
und namentlich nad der Schladht an der Katzbach ben 
Landwehrleuten ausftellte. 

Die Wilrdigung ber DVerdienfte, die ſich Gneiſenau 
als Chef des Blücher’jchen Generalftabes um die Führung 
des Kriegs in Schlefien und dann durch feinen mit im⸗ 
mer gleicher Energie geltend gemachten Einfluß um den 
Gang ber Operationen überhaupt, bis zur Schlacht bei 
Leipzig und dann wieder bis zu dem endlichen Rhein- 
übergang, erworben hat, eingehend und richtig zu wür⸗ 
digen, müfjen wir den Militärs von Fach übherlaffen. 
Wie body biefelben anzufchlagen, erfennt man aber erft 
recht, wenn man fieht, welcher Wiberftand auch hier zu 
überwinden war. Im ungünftigften Licht erfcheinen von 
ben unter Blüher und Gneifenau ftehenden Generalen 
namentlich Dorf und Langeron. Erfterer, immer ſchwarz⸗ 
fehend und gallicht, machte ſtets Schwierigkeiten unb 
janımerte und Hagte beim Beginn des Kampfes an der 
Katzbach über ben Wahnfinn, mit dem man die Armee, 
bie erjt zwei Tage Ruhe haben müßte, ins Berderben 
treibe. Man leſe blos S. 243 bie Raudbemerkungen, 
die Gneiſenau zu einem dieſer lamentirenden Berichte 
Horfs machte, und man wird ſehen, welcher Gegenſatz 
zwiſchen dieſen beiden Männern beſtand und welche 
Schwierigkeiten ſich ihrem Zuſammenwirken entgegenſtellen 
mußten. Aehnliche Verhältniſſe, nur in vergrößertem 
Maßſtabe, waren es dann, mit denen Gneiſenau nach 
dem Siege bei Leipzig und Napoleon's Rückzug über den 


—3 


Ein Kaufmann 


Der Hellenismus und der Platonismus. Von S. A. Byl. 
Leipzig, Pernitzſch. 1870. 8. 10 Near. 


In dem großen Berjüngungsprocefie, ber ſich jest 
auf allen Lebensgebieten vollzieht, ift auch die ernfte For⸗ 
[hung nicht Teer ausgegangen. Mehr und mehr verliert 
fie ihre Eden und Runzeln, und die leichte, anmuthige 
Tracht, in ber fie fich jest gefällt, hat ihr den Eintritt 
felbft in folche Kreife geöffnet, die der Wiſſenſchaft bis- 
ber völlig fremd gegenüberftanden. Gleichwol ift es aud) 
heute noch eine feltene Erfcheinung, daß ein nicht zur 
Zunft Gehöriger mitten im Treiben ber Gefchäfte die 


Rhein zu kämpfen hatte, um ben Webergang über ben 
noch immer als Grenze Deutſchlands angefehenen Strom 
und die Fortfegung des Kriege bis zur Vernichtung der 
Napofeonifchen Herrfchaft zu Stande zu bringen. Das 
Gewirr von Selbſtſucht und Feigheit, Intrigue und 
Kleinlichkeit, welches nad) dem enifcheidenden Siege im 
Lager der Verbündeten zu berrfchen begann, wird von 
Gneiſenau in den Berichten trefflich gefchildert, die er aus 
dem Hauptquartier der Monarchen zu Frankfurt a. M. 
an feine Freunde richtete; man fieht, wie er nod) damals 
mehrfach ernftlich fürchtete, daß man den Sieg nicht völlig 
benugen, fondern fid) mit einem faulen Frieden begnügen 
werde, Neue LTebensluft, neue Begeifterung und die Hoff- 
nung, das große Ziel feines Lebens doch noch erreicht zu 
jehen, ſprechen aus Gneifenau’8 Briefen, ſeitdem der Ueber⸗ 
gang über den Rhein und der Angriff auf Frankreich 
ſelbſt befchloffene Sache find. 

Gerade bis zu dem Augenblid, wo Blücder, in der 
erften Stunde des Jahres 1814, den Rhein überfchreitet, 
reicht dieſer dritte Band des Perg’fchen Werks. Das 
Bild Oneifenau’s als eins der edelften und reinften, be» 
geiftertften und feurigften Streiter für die große nationale 
Sache, wie wir e8 im Anfchluß an die eriten beiden Bände 
den Lefern d. Bl. früher gezeichnet haben, bleibt auch hier 
in gleicher Klarheit und Lebendigkeit beftehen, bier und da 
um manch Föftlichen Zug bereichert; was uns auch bier 
fo angezogen und gehoben hat, ift die edle, milde Menfch- 
lichkeit, die aus dem großen Feldherrn fpricht: derfelbe ift 
immer zuerft Menfch, und rührend ift es zu fehen, mit 
welcher Treue und Sorgfalt er inmitten des Donners 
der Schlachten feine Pflichten al Gatte und Bater und 
Freund zu erfüllen weiß. 

Auch von der Perfönlichkeit Gneiſenau's abgefehen, ent⸗ 
hält der vorliegende Band des Berg’fchen Werks manchen 
werthvollen Beitrag zur nähern Kenntniß jener großen 
Zeit. Wir heben in diefer Hinficht die neuen Enthüllun- 
gen über bie Trachenberger Konferenzen (S. 113) hervor, 
jowie den im Anhange mitgetheilten Bericht über die Auf- 
nahme der Nachricht von der Tauroggener Convention 
am preußifchen Hof, weldyer aus ben perfönlichen Erin- 
nerungen König Wilhelm’ I. von Preußen flammt unb 
über einen bisher ziemlich dunkeln Punkt erft völlige Klar⸗ 


heit verbreitet. 
Hans Prup. 


als Philofoph. 

nöthige Sammlung findet, fich in die fchwierigften Pro—⸗ 
bleme der Wiffenfchaft zu verfenfen, ja ſich aufgefordert 
fühlt, auch jeinerfeits zu ihrer Löſung beizutragen. ine 
folhe Exfcheinung haben wir vor uns in der obengenannten 
philojophifchen Studie von ©. 4. Byk. Der Berfafier 
ft Kaufmann; aber die Schriften der Alten find ihm 
ebenfo verftändlih wie der neuefte Qurszettel, und er 
verkehrt mit den Philofophen, die längft im Grabe ruhen, 
auf ebenfo vertrautem Fuße, wie mit feinen Gefchäfte- 
freunden. In feinem Comptoir ftehen Wriftoteles und 
Plate, Aeſchylus und Pindar nicht weit von den 





830 


Rechnungsbüchern, und einträchtiglic liegen in feinem Pulte 
die Wechſel des Kaufmanns neben den Manufcripten bes 
Denkers; Theorie und Praris, die fonft fo feindlichen 
Gefäwifter, haben hier Frieden geſchloſſen. 

Die vorliegende Schrift, die, wie wir Hören, nur der 
Vorläufer eines umfafjendern Werks fein fol, hat ſich zur 
Aufgabe geftellt, die Differenzpunfte, die ſchon für dem 
oberflädlichen Betrachter zwiſchen der Hellenifchen und 
der platonifchen Weltanfhauung beftehen, fehärfer her 
vorzufehren und bie einzelnen Unweigungen aus tiefer« 
liegenden Grunbverfchiedenheiten herzuleiten. 

Der Hellenismus vergötterte die Erſcheinungen felbft, 
die er für ihre eigene Urfache annahm, Die hellenifche 
Religion ift eine Neligion der Thatſachen; der Mächtige 
hat Recht, und ber Ausgang, wie ihn das blind waltende 
Scidfal in räthſelhafter Berkettung herbeiführt, entjcheie 
det. Nein bleibender, von den einzelnen Dingen unab« 
bängiger Maßftab beftimmt ben Werth berfelben; fie 
tragen ihr Maß in fih. Eine erhaben über den Er- 
ſcheinungen tbronende Idee, ein Sollen, das ja die erfte 
Bedingung aller fittlichen Lebensbetrachtung ift, liegt die⸗ 
fer Gedankenrihtung fern. Die Kunft war bie Ethik 
des Hellenismus. 

Anders malt fi die Welt in Plato’s Kopfe. Ihm 
ift die Idee des Guten das erſte Princip, aus dem alles 
andere herfließt; doch da es ſich nicht in der Wirklich“ 
keit, fondern nur im Reiche der Gedanken findet, fo ift 
diefe fichtbare Welt keine Welt der Volllommeneit, fon- 
dern eine des Sollens, die der Volllommenheit zuftrebt, 
dem Ideale bes Guten fich nähert, ohne es zu erreichen. 
Plato hat alfo ein ethiſches Kriterium, das dem Wellen- 
[lage der flüchtigen Erſcheinungen entrüdt if. Der 
Menjch, der nad; Plato ein Individuum, ein freies We 
fen ift, Tann fi der auf ihn eindringenden äußern 
Mächte erwehren und fol, über fie hinweg, zum Gu« 
ten durchdringen. 

Aehnlich ſieht Plato in der Natur nicht blos Gat- 
tungen, fonbern überall Individuen, die nicht etwa nur 
als Glieder der Gattung in biefer aufgehen, fondern 
ihr zugleich als Befonderheiten felbftändig gegenüberftehen. 
Dem elleniomus ift die Natur nur ein ewig fich gleich⸗ 





Feuilleton. 


bleibendes, unveränderlich beharrliches Sein; der Plato- 
nismus erfennt in ihr ein immerwährenbes Schaffen, ein 
Umformen und Verändern, eine ununterbrodjene Erneuung, 
ein ewiges Werben. 

Sehr fein find die Unterfchiede, die der Verfafer auf 
demfelben Wege zwifchen der helleniſchen Kunftanfhauung 
und ber des Plato findet. Letzterm ift ber Menjch der 
witrdigfte Gegenftand und zugleich der Zwed der Kunft; 
fie ift ihm ein Erziefungsmittel, und nur als ſolches läßt 
ex fie gelten. 

Die geeignetfte Werkftätte für den Menſchen, dieſes 
Höchfte Kunftwerk, ift aber nach Plato der Staat, von 
dem er gleichfalls ein anderes Ideal entwirft, als ben 
Hellenen vorſchwebte. Der griechiſche Staat vereinigt alle 
feine Mitglieder zu einer Gemeinſchaft, melde das Ber- 
hältniß ber Bürger zueinander regelt, ohne die Menjchen 
in ihrer Innerlichfeit zu erfaflen; was nicht unmittelbar 
den Staat und fein Intereſſe berührt, ift für ihm nicht 
vorhanden und bleibt in feiner frühern Form beftehen. 
Der platoniſche Staat will den ganzen Menjchen ; er nimmt 
alle einzelnen Individualitäten ihrem ganzen Inhalt nach 
ohne Reſt in ſich auf und verfchmilgt fie alle zu einer 
einzigen Wefenheit. Der einzelne, ber in den Gtaat ein« 
tritt, wird, ohne ſich felbft zu verlieren oder zu theilen, 
zum organifchen lieb einer neuen, höhern Individualität. 
Diefer Staat ift Feine mechaniſche Verbindung der eim- 
zelnen Bürger, fondern ber Menſch jelbft in der höchſt 
dentharen Steigerung, ein lebendiger, ſchaffender Orga- 
nismus. 

So iſt Plato, auf dem Boden des Hellenismus er⸗ 
wachſen und zum Theil noch in ſeinen Formen befangen, 
dennoch in der Ethik, in der Betrachtung der Natur, in 
der Aeſthetil und in feinen Anſichten vom Staat wejent- 
lich über die herkbmmliche Auffaflung Hinausgegangen. 
Wir bedauern, es Hier bei diefer kurzen Sfizirung des 
Gebankengangs der Byffcen Schrift bewenben Laffen zu 
müffen. Der Verfaffer bringt für feine Ausführungen 
zahlreiche Belege bei, die zugleich werthvolle Beiträge zur 
Beleuchtung mancher dunfeln Stelle in ben platoniſchen 
Schriften find. 





Fenilleton. 


Englifge Urteile über neue Erfgeinungen der 
deutfgen Literatur. 

Ueber 2. Freytag's „Ziberins und Tacitus“ fagt die 
„Saturday Review“ vom 19. November: Wenige Männer 
von Ruf haben bei der allgemeinen Revifion hiſtoriſcher Ur⸗ 
theife, welche feit dem Zeitpunkt, von welchem an die Gefchichte 
durch die neuere Sritit zu einer Wifienfhaft erhoben worden 
iR, vorgenommen wurde, mehr gewonnen als ber Kaifer Tibe- 
rius. Weshalb er fo bejonders verrufen war, if leicht zu ent 
räthfeln: die ihm beigelegten Verbrechen und Laſter waren im- 
pofant und malerifh; fie erregten die Phantafle durch ihre 
Scheußlichteit und die Neugier durch das Geheimnikvolle, 
das fie umgab. Seine Tugenden, die nämlich eines gerechten 
und f&harffinnigen Verwalters, fonnten nicht leicht die Auf» 
merlfamteit des Hiftorifers auf ſich ziehen, fo Lange feine Auf- 
gabe durch feine eigene Auffafjung derfelben auf eine Verzeich- 


mung des Hoflebens, der kriegeriſchen Ereignifie und der Su 
natsberatgungen befchränft war. Die helere Seite vom Cha 
ralter bes Tiberius war daher fo gut wie nicht worhanden, 
und jene firenge Beurteilung eines Herrfchers, die mur die 
Erfühung feiner öffentlichen Sihten ins Auge faßt umd wobei 
mandjer glänzende Ruf zu Grunde gegangen tft, hat ſich gerabe 
für ihm höchſt günftig erwielen. Niemals aber hat man deut: 
Tiger wahrnehmen tunen, wie fehr jeder Meimungsumjchlag 
dazu geneigt ift, ins entgegengefegte Extrem zu gerathen, als 
bei den jüngften Vehrebungen, den mürrifgen Einfiebler vor 


‚Capri zu einer Art Heiligen und fogar zu einem Märinrer ju 


erheben. Nicht alle Hiftorifer befigen die vortreffliche Urtheils- 
gabe des Mr. Merivale. Einige feinen gänzlich unfähig, die 
Bereinigung des eiferflüchtigen Tyrannen und gewifienhajten 
Hertſchers in derfelben Berfon zu begreifen; andere ĩaſſen fich von 
der Liebe zum Widerfinnigen leiten, und wieder audere don ber 





Teuilleton. 


Liebe zum Despotismus und dem Gefühle, daß man flir einen 
folhen wadern Feind der conflitutionelen Regierung im jedem 

* Falle etwas verfuchen müffe. Hr. Freptag, der Iette Mpofoget, 
gehört ber erſtern Kaffe an. Er fcheint zu glauben, daß er 
für Tiberius fon eiwas gefeiftet Habe, indem er aus Geneca 
und Philo beweiſt, daß die Provinzen mit feiner Regierung 
ufrieden waren. Seine ganze Beweisführung indeffen ift von 
der ireigen Anfiht durhdrungen, daß eine im allgemeinen ge- 
rechte öffentliche Bermalting fih nicht mit Ungeretigteit, 
Graufamteit und Roheit in Berhandfungen, welche das perfün« 
liche Interefje oder die Sicherheit des Herrſchers betreffen, ber ⸗ 
tragen Töne. Solche Beihuldigungen, nimmt er fcrweigend 
an, fönnen nicht wahr fein, fie müfjen ſich wegerflären laſſen, 
und da dies fi nit mit Hülfe der einzigen für ben Gegen» 
Rand braubaren Duelle tun läßt, fo muß diefe Quelle feibft 
unlauter und corrupt fein. Daher wird die Ehrenrettung des 
Tiberius zur Anklage des Tacitus; uud da, foniel man aud) 
auf Rechnung der rhetorifchen Schönfärberei ftellen muß, die 
Angaben des Hiftoriters gewöhnlich nicht wegen innerer Un- 
glaubmwürdigfeit oder Unvereinbarfeit miteinander angreifbar 
find, fo nimmt man feine’ Zuflugt zu einer Theorie von 
einem befondern Grolle, der 60 Jahre nad, feinem Tode in 
fenatorif—en Kreifen gegen Tiberius gehegt worden fei. Diefe 
geiftreihe und nicht unmöglid;e Hnpothefe in im letter Zeit 
häufig genug vorgebradit worden, um für diejenigen, deren 
Zweden fie dient, zu einer erwielenen Thatſache zu werben. 
Sie ift naturich nichts weiter al8 eine ziemlich, glaubroürbige 
Mutgmaßung, und felbt wenn fie bemiefen wäre, fo würde e6 
dennod durchaus nicht daraus folgen, daß Trajan’8 Senatoren den 
Charakter des Tiberius nicht fehr richtig gemürdigt haben. Sie 
hatten ſicherůch beffere Unterlagen dazu al8 Hr. Freytag, der 
überhaupt nit mie ein Mann von gefundem Urtheil fchreibt. 
Die Theorie, auf weiche fein Werk gegründet if, verräth große 
Untenntniß der menſchiichen Natur, und der Ton deſſeiben ift 
fern von Seidenfdaftslofigteit, ja er iR fe bie zur Anmaßung 
und bitter bie zur Bösmilligfeit. Uns ſcheint der Charakter 
des Tacitus wichtiger für die Menfchheit als der des Tiberius, 
und wir bliden mit Mistrauen und Ungunft auf alle Verſuge, 
an den einmal feftgefellten Ausfprüden der Geſchiche leigt- 
fertig zu rütteln. Die Rebifion hiftorifher Ürtheile iA eine 
nothmendige Aufgabe; fie folte aber in einem Geifte des Ern- 
fies und der Nuchternheit und mit der Anerkennung, daß bie 
Laſt des Beweiſes denen zufällt, welde die acceptirte Anficht 
beftreiten, nicht denen, welde fie behaupten, unternommen 
werben. 

Ueber 8. Biedermann’s „Der legte Bürgermeifter von 
Strasburg” fagt daffelbe Blatt: „„Diefes patriotifche Schaufpiel 
darf wohl nit mit Unrecht für ein bloßes piece de circon- 
stance (Gelegenheitsftüd, wie wir fagen würden) gehalten wer« 
ben; doc} ift e& in diefer Hinfiht eine fehr rüügınlidhe Leitung. 
Es ſtellt die wackere Baterlandeliebe Diedri’s, des legten 
Burgermeiſters“, im Kampfe mit den Ränten und ber An« 
maßung der Sranzofen, der Trenfofigteit oder Furdtfamteit 
feiner Collegen in der ftäbtifhen Wermaltung und den Zwift 
zwiſchen dem Adel und dem Volke dar. Die Situation ift mit 
bedeutender Kraft und Würde des Ausdruds geſchildert, und die 
Handlung Hat einen rafhen Gang. Die künferiihe Wirkung 
wird indefien durd ein Stüd Effecthaſcherei in der Geftalt 
eine® Epilogs etwas beeinträchtigt. Der patriotiige Bürger 
meifter iſt faum in die Gefangenfhaft abgeführt, als eine 
Trauermuſik aufgefpielt mird, und nad dem geringften Zwiſchen⸗ 
raum, den man mit einigem Anfland für 289 Jahre gelten 
laffen ann, tritt Deutſchland, mit dem Schwert in der Rechten 
und Fahne in der Linken auf und declamirt einen im Blankvers 
abgeiaßten Zeitungsartitel her.‘ 

Das „Athenzenm‘ vom 19. November fagt Über „Rampfe 
und Siegsgedigte von Julius Sturm: „Der Berfaffer die- 
fer Berfe jagt uns felbft, daß Deutſchland ebenfo viele Krieger 
lieder wie Bojonnete hervorgebracht habe; dod hält er fid 
durch die Betrachtung, daß dies alles nur den fräftigen Herz« 
ſchiag des deutfchen Bolt bemeife, fir gerechtfertigt, deren 








831 


Zahl zu vermehren. Wir können nur fagen, daß, wenn 
Sturm’s Gedichte für die übrigen fennzeihnend find, es ein 
Süd zu nennen, daß der Krieg fein fiterarifher in wie ber, 
welden die Sänger im «Tanhäufer» führen. Sturm’s Name 
reizt fehr zum Wortfpiel, und es fällt ſchwer, den Vorſchlag 
aurlidzubaften, er möchte ihm das Wort «Drang» hinzufügen. 
Jene Schule indeffen, wie heftig fie auch gewefen, zählte einige 
Dichter unter fih, während Sturm nichts von ihr hat ale ihre 
Ueberfpmwenglichteit.*" 2 
Notiz 

Die Franz Lipperheide ſche Verlagsbuchhandlung gibt unter 
dem Titel? ür Strasburgs Kinder, eine hnachts⸗ 
beſcherung von Deutſchlands Dichtern‘, eine Sammlung der neuern 
Lriegslieder Heraus, die ſich dadurch von den „‚Liedernzu Schutz und 
Trug“ unterfheidet, daß jeder Dichter eimgeln in einem Heft 
vertreten ift und das Bublifum ſich daher feine Lieblinge ausmäh- 
Ien kann, wie überhaupt bie Phyfiognomie und Bedeutung der 
einzelnen Dichter in folder Weile fhärfer bervortritt. Das 
Bedeutungslofe, das allerdings aud nicht fehlt, läßt ſich fo ber 
quemer ausfondern. Bon den Dichtern find vertreten: fFried- 
rich Bodenftedt, Karl Gerof, Rudolf Gottihall, Hermann Grie- 
ben, Julius Groffe, Karl von Holtei, Wilhelm Ienfen, Her- 
mann Lingg, Oswald Marbach, Alfred Meißner, Guflav von 
Meyern, Wolfgang Müller, Wilhelm Oferwald, Adolf Pichler, 
Heinrich) Pröhle, Julius Rodenberg, Chriſtian Schad, Karl 
Simrod, Franz Trautmann, Wbert Trarger, Heinrich Biehoff, 
Heinrich Zeife. Auf einige diejer Gediäthefte, deren Haupt 
ingalt bisher unbefprodjen blieb, tommen wir nod} näßer zurlid. 








Bibliographie. 
Ib. t und Rrı des beut! Krieges 1870, liche Bor» 
genen hans and @ehgigte biefee Milenehe Bow 
F der — 


845, E. Blumen und Gterne. Gedichte. Ste vermehrte Aufl. 
2eipzig, Amelang. 16. 1 Zhlr. 16 ner. 

Uhren Le B., Der arisiietsehe Lostesbogrif mit Besiohung auf die 
ehrisdliehe Gottesidee. Leipzig, Bene — 1 Tal, Hofaeiäi 

ohleneat. 88, dr (Höiy Henrion), Rleinbeutfge Bofgefgiäten. 

ser Bo Der hinae Ders Don Ehepf, Lin Epiegeibiin sus Dr 
aeg, Düc (de Sndbanttung, 

Deyı. ul Die Meiigion bes @eifed, Weilgtöfe und philolophiſce 
Gebigte. Yeipzig, Brodbaus, 1871, 1 It. 

Sta Bon wien nad Umerifa. Betrachtungen über englifge 
und amerftanijhe Juftänve, Übicago. 16. 10 Rat. 

Eamarı 6 heeklgten aus ber Gegenwart. Bünfte Sammlung. 
geipig, Brothaus. ©r. 5 1 Zhlr, 24 Wr: 

rpdier @., Hilvebrand und Habubrand. Ein dramatiſches Ge- 
bit. ac dem Hildebrandslieh. j, Mofer. 8, tar. 
exe, SingrSang. Derigie eines Berigelenen. Münden, Wagner. 


. 2309 
Der verhängnißvolle Sommer 1870. Aus ber poetifgen Erinnerung 
eines Raturforfperd. fpreiberg, Engelhardt. 16, 4 Rp 
Steger, 8. Eifaß mit Deutf= Lothringen. Sand und Leute, 
Sritbefäreising, Beigigte und Gage. keipig, Ünandt u. Händel 
7. 8. 15 Nor, 
Eutermeißer, D., Immergrün. Sagen und Parabeln, Lehrſprüche 
und Rätpfel. Mefel, Düms. Br. 6, 25 Mar, 
Bu. zetgenblumen. Reie Gabeln und Üflermäegen. Weit, Düme. 
x. 8 


25 Nor. 
Ber Teufel auf dem irdencor. Ein muftafifgee Schenssii_aus 
Men. Bon „Eatus,r Gray Moter. 8.37 Mar. 
alheim, Louife, 3 


Mai Drei Crjählungen. 
Bredlau, Lrewendt. 1871.’ Dr. 8, 1 pie. 
Tiesmener, 2, Neifeerinnerungen an ben beutf& » franpöfligen 
Sieg 1870, Barmen, Mein. 8. 4 Mpr. 
Aptie, Di freie menfölige Spule. Cin Berfug. Gera, Strebel. 


Gr. 16. 3 Rar. " 
Vämböry, H., Russlands Machtstellung in ‚Asien. Eine historisch- 


politische Btadie. Leipzig, Brockhaus. 1871. Gr. 8. 


— 



























in lase dee Leben 






Bolger, %., Eifaß, Lothringen und unfere Frleden en. 

‚die. Iffe DIE Ate Aufl. Anklam, Diepe. Gr. — 

— Bi SL HE 
3 Bbe. Leipzig, Günther. 8. 2 Zhlr. 15 Nr. 


Vogelweide, Auswahl aus den Liedern, her- 
ıd’ olnem Glossar versehen von B, 





Wterlatik dor arabischen Poose. 
. 20 Nor. 
e Garen Sappeimann’e'peitere Beräte vom Rriejee 
ches Heft. Berlin, Groffer. Or. 8, 27, Mar. 
mit’ Bifgöfen der — Medrbeit über 
6 firglige Lage von einem Alttatpoliten. Bafel, Bahnmaier. Gr. 8. 
#2 

















832 


Anze 


— Niiii — 


Derfag von 5. A. Brodhhaus in Leipzig. 


Soeben exfgien: 
Bunfen’s Bibelwerk. 


Drei Abtheilungen in neun Bänden. 
Geheftet 20 Thlr. Gebunden 23 Thir. Bibelatlas 1 Thlr. 
Nene Ausgabe in 30 Lieferungen, 
Erle Lieferung. 
Subferiptionspreis jeber Lieferung 20 Nor. 

Das berühmte Werk liegt jegt vollendet vor und ift 
volfändig auf einmal, geheftet und gebunden, ober nah und 
nad) in 9 Bänden ober in 3 Abtheilungen zu beziehen. Außer 
dem erfheint von bemfelben, um bie allmähliche Anſchaffung 
u erfeihtern, eine Neue Ausgabe in 30 Lieferungen zu je 

Nor. Bon diefer Ausgabe werben monatlich 1—2 Liefer 
rungen ausgegeben. Die erfte Lieferung ift bereits erſchie- 
nen und in allen Buchhandlungen zur Anfiht zu erhalten. 

Bunfen’s Bibelwerk, das fon während feines allmäh- 
lichen Erſcheinens große Verbreitung gefunden Hat, if troß 
einzelner ‚Anfeindungen von Ha und orthodorer pro⸗ 
teftantifher Seite allgemein als ein oͤbchſt bedeutendes Unter» 
nehmen anerfannt worden, das die vollſte Beachtung 
nicht nur ber theologifhen Welt, fondern der wei— 
teen Kreife des deutfhen Volks verbient. 


Bunfen’s Bibelwerk 


nach feiner Bedeutung für bie Gegenwart beleuchtet 
don 
Bernpard Rähring. 
Zweite umgearbeitete Auflage. 8. Geh. 12 Nor. 
Bähring’s bereits in zweiter Auflage vorliegende Schrift 
Hat ſich als eine vorzüglihe Cinführung in Bunfen’s Bibel- 
wert bewährt, indem fie mit Kiarheit und Schärfe die Bes 


ziehungen hervorhebt, wegen deren dafjelbe für unfere Zeit vom ! 


fo tiefer Bedeutung ift. 





Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig. 
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.) 
Klein, Hermann J., Handbuch der allge- 
meinen Himmelsbeschreibung vom Stand- 
punkte der kosmischen Weltanschauung dargestellt. 
Das Sonnensystem, nach dem gegenwärtigen Zu- 
stande der Wissenschaft. Mit drei Tafeln Abbil- 


dungen. Zweite verbesserte Auflage. Gr. 8. Fein 
Velinpapier. Geh. Preis 2 Thir. 
Klein, Hermann J., Entwickelungsge- 


schichte des Kosmos nach dem gegenwärti- 
gen Standpunkte der gesammten Naturwissenschaften. 
Mit wissenschaftlichen Anmerkungen. Gr. 8. Fein 
Velinpapier. Geh. Preis 1 Thir. 


Anzeigen. 





igem 
Dertag von 5. A. Brocheus in Leinsig. 


Soeben erfdien: 


Predigten aus der Gegenwart, 
Bon 
D. Earl Schwarz, 
Oberpofprebiger und Oberconfiforinrath zu Gotha 
Fünfte Sammlung. 
8. Geheftet 1 Thfr. 24 Nor. Gebunden 2 le. 

Diefe nene Prebigtfammlung des gefeiertem Kamelrednert 
enthält Predigten über den Apoftel Paulus und fFeipredigten, 
Paulus gilt dem Verfaſſer, wie er im WBormort jagt, alt 
Apoftel der Freiheit und al® beſonders geeignet, dab 
Chrifienthum mit der Bildung und bem fittlichen Impulien 
unferer Zeit zu vermitteln. Unter dem freftprebigten, die fih 
alle am beflimmmte Zeitbeziehungen anfchfiehen, ficht namentlih 
die Kriegepredigt mitten im Leben ber Gegenmart. 

In wie weiten Kreifen Schwarz’ Predigten Eingang ge 
funden haben, bezeugt die raſche Folge nener Auflagen: die erſe 
Sammlung, fe t bereits im dritter, die zweite umb dritte im 
zweiter Auflage vor. Jede der Gammlungen koftet geh. 
1 Thfr. 24 Ngr., geb. 2 Chr. 


Für Weihnachten. 
Kürzlich erfchienen und in allen Buchhandlungen vorcäthig: 
Robert Surns, Lieder und Balladen, deutſch von A. Yatın, 
Geh. X Sor-, fein in Golofgnitt geb. 1 Thlr. 
A. Elje, Lord Byron. 2 Thlr. | 
A. Caun, Waſhington Irving. 2 Bde. 2%, Thlt. 


Fur die Jugend: 
A. Saradap, Naturgefhichte einer N 6 Ber 
Te Rene BEER 


Enthält in einer dem Verfländuiß des Kindesat . 
paßten Form die Grunblehren der Raturmiffenfäah ause 


Verlag von R. Oppenheim in Berlin. 














Derfag von S. A. Brocihaus in Leipzig. 


Soeben erfdien: 


Die Religion des Geiftes, 
Aefigiöfe und philoſophiſche Gedichte 
bon 
Meldior Kleyr. 
8. Geh. 1 Thir. Geb. 1 Thlr. 10 Apr. 

Diefe Dicht des di ine philoſophi i 
u Ar m Menke at 
Scriftfelere beruhen auf fo neuen, eigenthümfigen Anfefan« 
ungen von dem Verhältnitz des Menfchen zu Gott und fiehen 
aud in der Form fo — da, Daß fie nicht verfehlm 
werden mehr als gewöhnlid;e Beachtung zu finden. I einer 
längern Ginfeitung entwidelt der Dichter felbft die Ausgangs 


punkte feines poetischen Schaffens ſowie dis z 
er zufirebt. chaffene ſowie die Hohen ide, den 





Berantwortliger Rebacteur: Dr. Eduard Srohhaus. — Drud und Verlag von F. A, Srodhaus in Leipjig. 


Regiſter. 


(Die mit * bezeichneten Namen und Werke find im Feuilleton ber betreffenden Nummer erwähnt.) 


Actenſtuͤcke, officielle, zu dem von Sc. Heilig: 
feit dem Bapfte Pıus IX. nad Rom be: 
rufenen Oekumeniſchen Goneil. 17. 

Adami, F., Große und Kleine Welt. 72. 

»Advocat Hamlet. Schaufpiel. 80. 

Ahlers, W., Die Notabilitäten der Thiers 
welt. 241. 

*Afademie, bie Leopoldinifche. 463. 

Akſaͤkow, A., |. Davis. 

Album. Bibliothek beutfcher Originals 
zomane. Dreinndzwanzigfter Jahrgang. 

—— ausländifcher Dichtung in vier Bü⸗ 
Kern: England, Frankreich, Serbien, 
Bolen. In beutfcher Ueberſetzung von 
H. Nitſchmann. 817. 





* für Deutfchlands Töchter. Lieder 
und Romanzen. 814. 
— ſchlefiſcher Dichter. Herausgegeben 


vom Derein für Poefle unter perfönlicher 
Redaction des Vorſitzenden N. Finden: 
fein. Siebente Yolge. 459. 

Althaus, F., Englifche Obarafterbiber. 305. 

Altmann, 3., Aus einem Dichterleben. 461. 

* Amalie von Sachſen, Brinzeffin; Tod ber: 
felben. 782. 

Anthony, W., Die feindlichen Brüder, 282. 

Aphorismen aus den Papieren eines Ders 
ftorbenen. 284. 

Aprent, 3., Adalbert Stifter’ Briefe. 481. 

Arbues, Peter, und die fpanifche Inquifition. 
Hiftorifhe Sfizze, zugleich Erläuterung 
an Fa von Kaulbach's Bilde „Arbues“. 
669. 

Arendt, R., Der Anfchauungsunterricht in 
der Naturlehre, als Grundlage für eine 
zeitgemäße allgemeine Bildung und Vor⸗ 
bereitung für jeden höhern naturwiſſen⸗ 
fchaftlichen Unterricht. . 

—— Moterialien für den Anſchauungs⸗ 
unterricht in ber Naturlehre. 244, 

Arndt, F., Eduard Hildebrandt, der Maler 
des Kosmos. 106. 

Auer, Adelheid von, Modern. 550. 

—— Schwarz auf Weiß. 250. 

Auerbach, B., Das Landhaus am Rhein. 5. 

"Aufverfung einer literarifchen Faͤlſchung, 
betreffend die Correfpondenz zwijchen Bas: 
cal und Newton. 559. 


1870. 


"Autographen = Berzeichnig von Richard 
Zeune in Berlin, das funfzehnte. 78. 

Avé⸗Lallemant, R. C. B., Anfon. 123. 

Avenarius, R., Ueber die beiden erflen Pha⸗ 
fen des Spingzifchen Pantheismus und 
bas DVerhältnig der zweiten und dritten 
Phaſe. 203. 


"Baader, $. non, Die Verfaſſung der chriſt⸗ 
lichen Kirche und der Geiſt des Chriſten⸗ 
thums. 287. 

Barni, I., Napoleon I. und fein Gefchicht- 
fhreiber Thiers. Verdeutſcht von N. 
Ellifien. 85385. 

Barre, &., Gedichte. 198. 

Bary, N. de, Ueber Schimmel und Hefe. 56. 

Baffewig, K., Gedichte. 119. 

Baſtian, N., Alexander von Humboldt. 
Feſtrede. 87. 

—— Die Völker des öftlichen Aflen. Dritter 
bis fünfter Band. 113. 

u Meltauffaflung der Buddhiſten. 


Baubifin, Graf U., Ronneburger Myfterien. 


Baumgarten, M., Herr Generalfuperinten: 
dent Dr. ®. Hoffmann in Berlin vor 
den Richterſtuhl der deutſchen Chriſtenheit 
geſtellt. 17. 

Bechſtein, ſ. Claſſiker. 

Beck, K., Still und bewegt. Zweite Samm⸗ 
lung der Gedichte. 418. 

Becker, A., Aus Stadt und Dorf. 490. 

—— ſ. Gareis. 

Beiträge, livlänbifche. Herausgegeben von 
W. von Bol. Neue Folge. eier Band, 
Erftes bis drittes Heft. 449. 

Benedix, R., Abenteuer in Rom. — Weih⸗ 
nachten. 81. 

— Der münblie Bortrag. 
vermehrte Auflage. 271. - 

Benedix⸗Fonds und Benedix⸗Feſt. 447. 

Benfey, R., Alexander von Humboldt und 
feine Bedeutung für bie VBolfshildung. 87. 

Beranger, Lieder und Chanfons. ber: 
tragen von A. Zaun. 581.| 

Bertram, Winifrid, und die Welt, in der 
fie lebte. Bon der Berfafferin der „Bas 


Zweite 


milie Schönberg-Cotta”. Aus dem Eng⸗ 
fifchen von Charlotte Philippi. 490. 

Beskow, B. von, Die Sefundheit der Seele. 
Nach der zweiten Auflage des fchwebifchen 
Driginals überfeßt und mit einem kurzen 
biographifchen Abriß des Verfaſſers vers 
fehen von G. von Saraum. 158. 493. 

Beſſe, P., Die Königin Euife von Preußen 
und ihre welthiftorifche Bedeutung. 795. 

Betrachtungen über die franzöflfche Armee 
mit befonberer Derüdfihtigung bes mo⸗ 
ralifchen Elements. Bon M. v. K. 

Beyer, K., Friedrich Rückert. 481. 

»Bibliothek ausländifcher Klaffifer (Hild⸗ 
burghauſen, Bibliogr. Inſtitut). Heft 
108—113. 3083. 

* — der beutfchen Nationalliteratur des 
achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. 
Band 28. 398. 

* —— Hiftorifch-politifche. Erſtes bis breis 
zehntes Heft. 47. 

* — ypoilofophifche. Herausgegeben von 
3.9. von Kirchmann. Bis 84. Heft. 47. 

Bibra, ©. Freih. von, Aus jungen und 
alten Tagen. 137. 

Bilmore, A. S., Reifen im oftindifchen 
Archipel in den Jahren 1865 und 1866. 
sus dem Englifchen von 3. E. A. Martin. 


® 


Biedermann, D. Frei. von, Der Roman 
als Kunftwerf. 749. 
Dienemann, F., Aus baltifcher Borzeit. 


487. 
Binhack, F., Reime und Träume 119. 
Dirlinger, A., So fprechen die Schwaben. 
329 


Biurften, H., Der Fluch der Armuth. Aus 
dem Schwedifchen von F. Zeißberg. 101. 

De E., Volkstheater. Nr. 31—33. 
9 


Blomber ‚9. von, Pſyche. 122. 
* Blum, Hans, Rebacteur ber „Grenzboten“. 


197. 

Blumſtengel, K. G., Leibniz's aͤgyptiſcher 
Plan. 107. 

Bock, W. von, Der deutſch⸗ruſſiſche Con⸗ 
fliet an der Oſtſee. 449. 

—— f. Beiträge, livländifche. 

* Bodenitent, Friedrich; Rüdtritt defjelten 


‚s 
* 


year 


J 
* 4 
— 





u 


von ber Zeater  Intenbantur zu Mei⸗ 
ningen. 81. 
*Bodenftebt, F., Neun Kriegslieder. 670. 
Boͤch, R., Der Deutſchen Volkezahl und 
Enta qhgebier in den europälfchen Staaten. 


Bölte, Amely, Ein Thron und fein Geld. 
588. 


— re Movellenſtrauß. Zehn⸗ 
ter Band.) 

—— Streben © Reben, 138. 

Bomhard, €. von, Aehren vom Felde ber 
Betradhtung. ülus deffen literarifchem 
Nachlaß Herausgegeben von 9. Siabel⸗ 
mann. 73. 

Bornemann’s, W., Jagbgebichte. Aus ben 
hinterlaffenen Handfriften des verflors 
benen Dicjters ‚gfamnek unb heraus: 
gegeben von K. Bornemann. Neue Aut 

gabe. 195. 

Big, Adolf, Das Galgenmännchen. 732. 
*—— Goethe’s Jugendliche. Dritte Auf: 
tage. 197. 

*—— Tod befielben. 782. 
Brachvogel, A. €., Die Grafen Barfus. 


— Eubiig der Zieg hute oder die Ko⸗ 
modie bes Lebens. 602. 
—— Der deutſche Michael. 552. 
r—&, Dichtungen. Zweite vermehrte 


„ Hufl SEE. sa 
ie —— 80. 
—— Emil. 286 

Brandes, H. R., Ausflug nach Reapel und 
dem Normannenarjipel im Sommer 
1867. 723. 

Brandt, H. von, Aus dem Leben des Bene 
tals der Infanterie 3. D. Dr. Heinrich 
von Brandt. Aus den Tageblihern und 
Aufzeichnungen feines verftorbenen Vaters 
aufammenge ellt. Siweiter Theil. 186. 

Braubach, Religion, Moral und Philo— 
fophie der Darwin’fc—hen Artlehre nach 
ihrer Natur und ihrem Charakter ale 
Heine Daralle menfchlich geiftiger Ente 
widelung. 285. 

"Braun, der Abgeorbnete, und bie Autoren⸗ 

te. 190. 


rechte. 
Braun, A. Die Ciszeit ber Erbe. 382. 
— 5., Gemälde der mohammebanifchen 
Welt. 758, 
— 8, Der Weinbau im Rheingau. 387. 
—Üs, ., Aus der Chewelt. 550. 
—— Eine gelungene Cur. 429. 
— Ein häplices Mädchen. 28. 
—— Das Erbe Tosfa's, 429. 


Brehm, U. E., Gefangene Vögel. Erſter 
Theil: Die Stubenvögel. Erſte Liefer 
zung. 764. 


Breifwert, D. von, Ein Depoffeirter. 
300. 


Briefe, Harmlofe, gie beutfchen Klein» 
ſtadters CErfler Bi 660. 

Briefwechfel landen von Humbolbt's mit 
Serie) Berghaus aus den Jahren 

25—58. Zweite wohlfeile Jubel⸗ 

Aue jabe. 87. 

Brudbadh, ©., Wegweifer durch bie Ges 
ſchichte der Päbagogif. 155. 

Büchner, Luife, Prattiſche Verſuche zur 
öfung ber Frauenfra, e. 812. 

Buchwald, D., Kleine Baufteine. 219. 

* Bubbeus, 2%, Freya. Das Leben ber 








Regifter. 


Liebe in Liedern und Gebanfen beutfcher 
und fremder Dichter. 399. 785. 
Bulwer, @. Lord Pytton, Der dechtmäßige 
Erbe. Ins Deutſche übertragen von 
8. $. Simon. 297. 
Bund, L., Die Semi-Säcularfeier der für 
nigligen Kunftafadeniie zu Düffeldorf. 


Bunfen. — Chriftian Carl Iofias Freiherr 
von Bunſen. Aus feinen Briefen und 
nach eigener Amfsauung eſchilbert von 
feiner Mitwe. Deutfeie Su [usgabe, durch 
neue Mitgilungen vermehrt von &. Rip 
volb. Bu Aeiter jand: Schweiz und Eng⸗ 
ai 

Pe ® A. 9. f. Goethe. 

Burns, R. Lieder und Balladen. Deutfch 
von A. gaun. 235. 

Buſch, M., Gefdichte ber Mormonen nebft 
einer Darftellung ihres Glaubens und 
ihrer gegenwärtigen focialen und politis 
fen Berhältuifle. 689. 

u W., Der Heilige Antonius von Padua. 


Buflon, A., Die florentinifche Gefchichte der 
Malespini und deren Benugung durd) 
Dante. 465. 

Bıf, ©. 9., Der Hellenismus und ber 
Platonismus. 829. 

Byr, R., Sphinz. 709. 





Ealderon be la Barca, Das Leben ein 
Traum. Aus dem Spamfchen nen übers 
feßt und für bie beutfche Bühne bearbeitet 
von P. Herlth. 579. 

— go elbe, Ueberfegt von I. D. Gries. 


FG Marie, Die Stellung der deutſchen 
Sedrerinnen. 812. 
„Der Erbe des Millionäre. 


Calmberg, 9. 
278. 

—— Jürgen Wullenweber. 278. 

Gamoens, 2. de, Die Lufiaden. Deutfc in 
ber Versart ber portugiefifcjen Urheift 
von I. 3. C. Donner, Dritte, vielfach 
verbefierte Auflage. 581. 

I amntlice Zoyllen. Zum erſten 
male deutfh von &. Schlüter und W. 
Stord. 718, 

Earlyle, T., Blicke eines Engländers in bie 
firclichen und forialen Zuftände Deutſch⸗ 
lands. Ueberfeßt von ®. dreih. von 
Richtgofen. . 

— Gefcjichte Sriedrich’s IL. von Preußen, 
genannt Friebrich der Große. Deufch 
von 3. Neuberg, fortgefept von F. Alt 
Haus. Bünfter und fester Band. 359. 

Easpari, D., Die pſychophyfiſche Bewegung 
in iane ber Natur ihres Subftrats. 


Giriken, Ada, Aus der Aſche. 436. 

Glaffiter, beutfge, des Mittelalters. Ber 
gräudet von $. Pfeiffer. Giebenter und 
achter Band: ottfeled’8 von Straßburg 
Zeil. ‚Herausgegeben von R. Bedhftein. 


Elemens, F., Das Manifeft der Vernunft. 
Amel gänzlich; umgearbeitete Auflage. 


Sofen, 8 $., Die dichterifche Phantafle und 
der Mechanismus bes Bewußtſeins. 237. 
Cohn, 8., Licht und Leben. 56. 








"Collection of German Authors. ®5. 16: 
Gutzkow, Trough night to light. Ueber» 
fegung von Mrs. Faber. 271. 

Gorrad, G. Vermiſchte Schriften. Zweiter 
Theil, 275. 

Eongen, H., Einleitung in das ſtaate- und 
volfewirthiäjaftliche Studium. 218. 
Coe ver's, W., ausgewählte Dichtungen. 

Ueberfegt von W. Borel. 

Corps, die, der beutfchen Hodyfchulen nebit 
einer eingehenden Darftellung ſtudentiſchet 
Berhältnifte. 669. 

Eorrobi, A., Blühendes Leben. 588. 
Eofel, E. von, Geihichte des preusiichen 
Stantes und Volles unter den Hohen: 
gell’ ien Ne, Fürften. Grfter bis dritter 

and. 

Gotta, B. a Ueber das Entwicelungs- 

jeg der Erde. 248. 

Griminalgefchichten, die intereffanteften, aller 
Länder aus älterer und neuerer Zeit. 
Eine Auswahl für das Volk aus dem 
„Neuen Bitaval”. Umgearbeitet und 
Herausgegeben von A, Vollert. Bünfter 
und fechster Band. 217. 


Daguet, A., Geſchichte der ſchweizeriſchen 

—— von ben älteften Zeiten 

bis 1866. Deutfche Ausgabe nach der 
fechsten Auflage mit Nachtrag. 167. 

*Daul, A, Reitherne im Sehen and Sichen 
der Frauen. 126. 

Daumer, ©. F. Charafteriftifen und Kris 
tifen, betreffend bie willenichaftlichen, 
zeligiöfen und focialen Denfarten, Syfteme, 
Brojeete und Zuftände der neueiten Zeit. 

26. 


Davis, A. J. Die Prineipien ds-Batur, 
ihre göttliche Offenbarung und Ffite 
timme an bie Menichheit. Aus der 
dreifigfien Ausgabe des amerifanifchseng« 
Uifchen Driginale mit Autorifation des 
Derfaflers ins Deutſche überfegt von 
G. K. Wittig und mit einem Vorwort 
mebß Anhang Herausgegeben von A. 
Atſatow. 422, 

Deden’s, Baron K. K. von der, Neifen in 
Dftafrifa in den Jahren 185‘ Her 
ausgegeben im Auftrag der Mutter des 
Reifenden Fürſtin Adelheid von Blef. 
Dierter Band. Wiſſenſchaftlicher Th: 
Die Bögel Ofafrifa's, von D.. Fine 
und ©. Hartlaub. 764 

Demmin, 9, Die Krisgswaften in ihrer 
hiſtoriſchen " Entwidelung von ber Stein» 
zeit bie zur Erfindung des Zündnadel- 
gewehrs. 410. 

Der Frauen Königreich. Cine Liebecge- 
ſchichte von der Berfaijerin von „Joom 
Halifar”. Aus dem Gnglichen vom 
Sophie Berena. 

Deutſch, €, Der Talmıd. 
ten — Auflage ins 

tragen. 

Daukalanı. — Eine periodiſche Schrift zur 
Beleuchtung beutfchen Lebens in Staat, 
Geſellſchaft, Kirche, Kunft und Wiffenz 
haft, Weltgefchichte und Zukunft. Im 

reine mit mehren herausgegeben won 
DB. Hoffmann. Erfter Jahrgang. 1870, 
Erfter Band. 526. 


















Aus der fieben- 
Deutjche übrr- 





| 


* Deutfchland über Alles. Kriegs und Vater⸗ 
landslieder aus Schwaben, herausgegeben 
von ber Verlagsbuchhandlung A. Kröner. 
766. 


*Devrient, Eduard; Penſionirung beffelben 
ale Generalbirector bes karlsruher Hof: 
theaters. 31. 

Dichter, beutiche, des 17. Jahrhunderts. 
Herausgege en von K. Goebefe und 9. 
Tittmann. Erſter Band: Ausgewählte 
Dichtungen von M. Opitz, herausgegeben 
von I. Tittmann. Zweiter Band: Ges 
dichte von P. Yleming. Herausgegeben 
von I. Tittmann. Dritter Band: Sinn- 
gedichte von F. von Logau. Heraus: 
gegeben von ©. Eitner. 411. 

F Daſſelbe. Zweiter und dritter Band. 


»Dietz, P., Woörterbuch zu Dr. Martin 
guide 8 beutfchen Schriften. Erſter Band. 


Dillenius, F., Florian Geyer von Geyern, 
Hauptmann der fchwarzen Schar im 
großen Bauernfriege von 1525. 277. 

Dindlage, &. von, Tolle Gefchichten. 102. 

Dove, H. W., Gedächtnißrede auf Alerans 
ber von Humboldt. 87. 

Dochn, R., Der Bonapartismus und der 
Be — Conflict vom Jahre 
— Dafetke Ins Italienifche über: 
tragen von P. Virano. 9, 

* Dramen, vaterländifche (preußifche). 271. 

Drvege, ®., Der Krieg in Neufeeland. 409. 

Drocke, W, Einführung in die deutſche 
Literatur von ihren erſten Anfängen bie 
zur Gegenwart. 619. 

Droßbach, M., Ueber Erfenntnig. 183. 753. 

DroftesHülshoff, 5. Baron, Die Bogelwelt 
der Norbfeeinfel Borfum. 92. 

Dunger, H., Die Sage vom trofanifchen 
Kriege in ben Bearbeitungen des Mittels 
alters und ihre antifen Duellen. 729. 

— Leber Dialekt und Bolfslied des 
Vogtlands. 335. 

Dühring, €., Kapital und Arbeit. 310. 

ritifche Geſchichte der Philoſophie 
von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. 9. 

— Die Verkleinerer Carey's und die 
Kriſis der Nationalökonomie. 310. 

"Senden H., Goethe's Eintritt in Weimar. 


Durdik, 3., Leibnig und Newton. 753. 


Ebel, W., Diron’s und Duncker's Seelen» 
bräute. 156. 

Ebeling, A., Neue Bilder ans dem moder⸗ 
nen are Erfter und zweiter Band. 625. 

— S. W., Wilhelm Ludwig Wethrup. 
Sehen und Auswahl feiner Schriften. IL 


Ebersberg, J. Hauss, Hof und Staats: 
gefchichten. 582. 

Eberty, F., Gefchichtebes preußifchen Staats. 
Zweite Abtheilung. Erfler und zweiter 
Band. 859. 

Edardt, 3., Baltifche und ruffifche Eulturs 
fubien aus zwei Jahrhunderten. 487. 
— Bürgertfum und Bureaufratie. 487. 
—— Rußlands ländliche Zuſtaͤnde feit Auf: 

hebung der Leibeigenfchaft. 449. 

Eckſtein, E., Schach der Königin! 84. 


Regifter. 


Egenter, F. 3., Pfaffenkrieg. 715. 
"Egger, A., Die Reformbeftrebungen auf 
ben Gebiete ber beutfchen Rechtfchreibung. 


Eggers, F., Blicke auf die Kunftrichtung 
ber Gegenwart. 795. 

Ehrenberg, C. G., Gedachtnißrede auf Alerans 
ber u Humbolbt. 381. 

Gitner, ©., |. Dichter, deutfche. 

Elliſſen, $, Der Schönften. 715. 

Elimenreich, A., Acht Kriegslieder zu 
Schutz und Truß. 167. 

Elsner, 5 Die Braut des Nil. 420. 

Elwert, W., Heimatlieder, 151. 

Elze, K., Lord Byron. 481. 

— Englifcher Liederſchatz aus britifchen 
und amerifanifhen Dichtern. Künfte 
rerteſg —— vermehrte Auflage. 817. 

Emminghaus, A, Hauswirtbfchaftliche Zeit: 
fragen. 586. 

Engelbarbt-Echnellenfleln, Helene Baroneffe 
von, Morgenroth. 692. 

Engelien, A. und W. Lahn, Der Volks⸗ 
mund in der Mark Brandenburg. Erſter 
Theil. 329. 

Engelmann, T. P. Ueber die Flimmer⸗ 
bewegung. 386 

Erdmannsdorffer, v., Graf Georg Friedrich 
von Waldec. 218, 

ee Das Zeitalter der Novelle in Hellas. 


Erinnerungen an Henriette HendelsSchügß. 
Nach ihren binterlaffenen Aufzeichnungen 
und Mittheilungen von Beitgenofien hers 
ausgegeben. 7 

Erlach, F. von, Die Freiheitskriege Feiner 
Bölfer gegen große Heere. 406. 

Ernft, T., Der Bürgergeifl, bie Bühne und 
ber Bühnenvorftand. 157 

Gsmardh, F., Ueber den Kampf der Huma⸗ 
kit gegen die Schreden bes Kriege. 


Eike, H., Morgenlänbifche Studien. 12. 
Euden, R., Ucher die Methode und die 
Grundlagen der Mriftotelifchen Ethik. 


"Enangelfenüberfeßung, eine beutiche, aus 
bem 12. Jahrhundert. 14. 

"vers, M., Vorwärts. Sieben gehar⸗ 
nifchte Sonette an das deutfche Bolf. 670. 


Falb, R., Grundzüge zu einer Theorie ber 
Erhbeben und DBulfanausbrühe. 245. 
0 


Falkland, H., Gedichte. 457. 
Familienbibliothef, illuſtrirte. Herausge⸗ 
geben von P. Kormann. Grfter Band. 


"Gehen, 2 $., Die deutfchen Helden von 
38. Fünfte vermehrte Auf: 
a 267. 


Fels, E., Loreley. 588. 

Feval, ÿ. Die Herzogin von Nemours. 
Aus dem Branzöftfchen überfeßt. 267. 
Fichte, 3. H. von, Die näcjften Aufgaben. 
für die Nationalerziehung der Gegen 
wart mit Bezug auf 1 Brievrig Bröbel's 

Erziehungsfpfem. 
Senf R., A sun ſchleſiſcher Dichter. 
Sindel, 3 ,.®,D ie Säule ber Hierarchie 
unb des Abjolutismus in Preußen. 526. 


IU 


Finſch, F ſ. Decken. 

»Fiſcher, J. G. Löwe, F. und K. Schoͤn⸗ 
hardt, Drei Kameraden. 766. 

— R, Geſetz betreffend das Urheber: 
recht an Schriftwerfen, Abbildungen, 
muftfalifchen Compofltionen und drama: 
tifhen Werfen som 11. Juni 1870; 
heransgegeben. 703. 

Slaumberg, ®., Ein Leben in Liedern. 


—— Die Rofe von Urach. 429. 
Bieming, B., ſ. Dichter, deutiche. 
edichte. Herausgegeben von I. Titt⸗ 
mann. 79. 

*Förftemann, E., Straßennamen von Ge: 
ren . 

Förſter, K ‚ Meber ben Berfall der Reſtau⸗ 
ration alter Gemälde in Deutfchland 
und Proteft gegen das von Bettenfofer'fche 
Regenerationsverfahren. 218. 

Franz, O., Gajus Gracchus. 35. 

— Fudas Sicharioth. 84. 

BrauensBereins:Conferenz, die berliner, am 
5. und 6. November 1869. 812. 

Sreimuiß, W., Ins Klofter. 552. 

Srenzel, K ‚ Im goldenen Zeitalter. 177. 

Frefenius, a. K., Die pſychologiſchen Grund⸗ 
lagen der Raumwillenfchaft. 182. 

»Freybe, A., Das Spiel von ben zehn 
Jungfeauen; übertragen und zeitgefchichts 
lich behandelt. 687. 

Freymann, Julie, Kritif der Schillers, Shafs 
fpeares und Goethe’ fchen Frauencharaktere. 


Freylag, G., Karl Mathy. 81. 

— fein R Rücktritt von ben „Grenz⸗ 
boten‘ und feine Mitarbeiterfchaft au 
„Sm neuen Reich”. 797. 

Bei F., Poetifche Pinafothef. 151. 
ritſch, K Au f. Reiß. 

Fröhlich, F. J., Beiträge zur Geſchichte der 
Muſik der ältern und neuern Zeit, auf 
muſitaliſch Documente gegründet, 283. 

Sronmüller, T 


a 
Banlus. Dramatifches 

Gedicht. 
Fullborn, G., Der Dorfpaganini. 699. 


* Für Strasburgs Kinder. Eine Weihnadjts- 
beiherung son Deutfchlande Dichtern. 


Frommutb, E 


Bacerg, Th., Adrian von Oftade. 154. 
Salen, P., Der Löwe von Luzern. 522. 
— Walram Sork, ber Demagoge. 139. 

. Beier, Zur Phyfio⸗ 
grapbie des Meeres. 


86. 

* Saribaldi, G., Die Regierung des Mönche. 
— Ankündigung diefeg Romans. 126. 

Gayette-Beorgens, Jeanne Marie von, Geift 
des Schönen in Kunft und Leben. 219. 

—— Marimus Caſus, der Oberlehrer von 
Druntenheim. 

»Geibel's Sophonisbe; Aufführung am bers 
liner Boftheater. 30. 

Geilfus, G., Helvetia. Baterländifche Sage 
und Geſchichte. Vierte vermehrte und 
verbeſſerte Auflage. 167. 

Genée, R., —*6 der Shalſpeare ſchen 
Dramen in Deutſchland. 817. 

"Genen, D. F., Dom Deutfchen Kaifer. 
767, 


Georg, der Auswanderer. Oder: Anſiedler⸗ 


Bareis, A., und A 





WV 


leben in Südbraſilien. Neue wohlfeile 

Ausgabe. 205. 

Georg ber II. und bie fhöne Minette. Er 
ählung aus der erflen Hälfte des 18. Jahrs 
underts. Don der Berfaferin von „Ein 
Barehans vor 50 Jahren“, 


jerbel, C. R. von, tungen. Exfie 
Sammlung 40. icheuns u 
Gerland, ©., f. Baig. 
Gerftäcer, 8. Die iffionare. 549, 


Sg —— befelben, 14. ve 
jichte terreiche vom Ausgange bes 
wiener Octoberaufftandes 1: Von 
©. von ©....n. I. Die Belagerung 
und Einnahme Wiens. II. Revolution 
unb Reastion im Spaͤtjahr 1848. 632. 


"Gesty, T., Der Rhein foll deutfch vers 
bleiben. "689. 
Giacomelli, P., Der Millionär und ber 


Sin, aus dem Stalienifchen von €. 
eis, 2 8. A, Der Berggeifl. 


Gibendier, 6 Johann Georg Ha⸗ 
mann s Briefe mit Briebrich Hein 
rich Sgebl, 865. 

art, 8 ‚ Ahasverus, der ewige Jude. 


— nobert 9. 
Ga; Iagan, D., Litauen unb bie Littauer. 


ol, A, Was ih Wahrheit? 43. 
Sternloje Nächte. Nults sans 
Brote 


581. 
Siaß R., Warwid, 59. 

Gtahbrenner, A, Gedichte. _ Fünfte vers 
mehrtg und verbeffexte Wuflage. 468. 
nad, &,, Bopuläre Vorträge über Dieter 
und Digchun, Erfte Sammlung. 284. 

Goebefe, 8., f. Dichter, deutiche. 
Emanuel Gelbe, rfier Theil. 


Goldammer, 2,, Sabowa. 435. 

Sollbanmer, T., Gebichte. 358. 
Golg, ® „ Borlefungen. 305. 
— Tod beffelben. 782. 

Som, € 8. Blüctige Blicke in Natur 
und Kunfl. "219, 

Görner, C. A, Almanach dramatiſcher 
Bühnenfpiele zur gefelfi ig Untergang 
für Stadt und Land. Elfter Jahrgang. 


"Goethes Gedichte. Brachtausgabe von 
A. Lupe, mit Illuſtratinen von Her⸗ 
mine Stilfe. 78. 

— Unterhaltungen mit dem Kanzler Fried⸗ 
F% von Müller. Herausgegeben von 

€. 9. H. Burfharbt. 597. 
"Geste gabe, neue (Berlin, Hempel). 





Gottsiber und Cultus bei ben alten Preußen. 


Genie von Straßburg, ſ. Claſſiker. 
Goitſchall, R., Pi Hoc Die Dichtkunſt 
und ihre Tehnit. Zweite Kuflage. 62. 
*—— An Victor Hugo. 671. 
*&rabbe's, €. D., fönmtliäe Werke. 541. 
Grabunehi, &t. Graf, Aus * und Haus. 


— — Aungfean von Orleans. 173. 

— Der Schüpling des Raifere. 521. 

Grain Tuig. Schwänfe und Gedichte in 
fauerlänbifcher Mundart vom Verfafler 





Regifter. 


der „Sprideln und Spoͤne“. 
Auflage. 327. 
Gramming, M., Heimatlos. 296. 
Grasberger, J, Singen und Sagen. 151. 
Grass, $., Gefhichte der Juben von ben 
älteften Beiten bis auf die Gegenwart. 
Zehnter Band: Gefchichte der Juden von 
der dauernden Anflebelung der Marannen 
in Holland (1618) bie zum Beginne der 
Menbelsfohn fchen Zeit Yreo). 157. 
Grauert, A., Frühlingeblüten. 198. 
Stein, ©. , 1 Heliand. 
*Grieyenland geograpfifch, gefehichtlich und 


Zweite 


culturhiſtoriſch von den ãlteſten Zeiten 
bie auf die genmart, Geransgegeben 
von Hermann Brodhaus. 797. 


Sriepenterl, R., Novellen. 284. 

Grode, M., Die Hodzeit zwifgen Geiſt 
und Herz. 19. 

Grofle, 3, Vox populi. Bhantafiefüct 
aus der Thierwelt. Abenteuer einer 
Seelenwanderung nach den Biflonen eines 
Haſchiſcheſſers %50. 

Brothe, 9., Bilder und Stublen zur Ges 
ſchichte der Induſtrie und des Mafchinens 
wefens. Grfle' Sammlung. 218. 

— B,, Theolog und Komöbiant. 313. 

Gottäuß, Glifaberh von, Das Gaftaus 
zum grünen Baum, 701. 

GBrüdl, Das Haus Morville. 250. 

—22 Friedric; Wilgelm; Tod deffeiben. 


Gilfusie, Baron 2. von, Poftive Pneu⸗ 
matologie. Die Realität der Geifterwelt, 
fowie das Phänomen der direcien Schrift 
der @eifter. 445. 

Günthert, E., Gedichte. 198. 

Gutzkow, K., Die Söhne Peſtalozzi's. 401. 

— Lebensbilder. Erſter und zweiter 
Band. 401. 
7 —— Ritter vom Geifte; Berichtigung. 95. 

Guätowefi, Elifaberh, Gedichte. 353. 


Yadländer, 8. ®., Eigene und fremde 
Belt. 316. 
— Zwölf Zettel. 315. 
Sale, T., Blätter und Blüten aus dem 
Schwarzwald. 196. 
Harger, , König Richard. 128. 
77. 


IE Fropenlieder. 198. 
Hagemann, ©, Boholngie. 
Im de. (Sekengolen un in, 400. 
R. ©, Schloß Hramobar. 588. 


Hai 

Valleruoen, 3, Das Haus Bernhard. 

Halsband, das vergiftete. Griminalroman 
vom Verfaſſer der „Afrifanerin“. 762. 

Hanslid, ®., Gefhichte des Concertwefene 
in Bien.” 281. 


Hartmann, E. von, Aphorismen über das 
Drama. 574. 





Hausfrau. Gattin. Mutter. Gebanfen über 
Brauenbildung, ben Gebilveten ihres Ge: 
kalete gewidmet von der Berfaflerin. 


Pr R. Die romantifche Schule. 673. 

Hegel⸗ Säcularfeier. 527. 

* Heinrich, G. Deutſche Sehe, zunachſi 
für höhere ——— 

Heinflus, A, Meine eigen in ihren 
Grundzügen. Berbefierte und zum Theil 
umngearbeitete zweite Auflage. 476. 

Seinen, 8. Bas it Humanität? 573. 
Held, EM "Sarey's Secistrifenfgaft und 
ee Mertantilfpkem. 310. 

Helene, Royelen und Sfigen für ihre 
Freunde. 

Helfert, 3. © Ei, von, |. Geſchichte 

ee Seo H 43° 
elm, E., 5 Herzberg. 7. 

@., DlvensBarnevelbt. 35. 

Heliand, der, ober bie altfähfiihe Evan- 
gelien-Garmonie. Ueberfegung in Stab- 
teimen nebft einem Anhange von C. ®. 
M. Grein. 287. Zweite durchaus 
neue Bearbeitung. 657. 

Hendel-Schüg, f. Erinnerungen. 

Heufe, Johann Hus und die Synode von 
Konſtanz. 

Henne, ©, Die geſchtiebene Offenbarung 
und der Menfehengeift. 17. 

Heuſchke, Ulrife, Zur Frauen-Unterrichtes 
frage in Preußen, 812. 

Henfel, (Buife M., Lieder; herausgegeben 
von €. Säläter. 195. 


Herbft, Paula, Cabale und Liebe. 69. 

— GStiefmütterchen. (Novellenftrang 
Neunter Band.) 539. 

"Sep, ®. 767. 


Hefehiel, G, Schellen-Morig. 374. 
— Kefugirt und Emigrirt. 761. 
— Lubovica, Eine brandenburgifche Hof: 
jungfer. 761. 
Seufnger, D., Amerifanifche Kriegabilber. 
— 2 eines Könige Dant. 584. 
Heydrich, M., Sonnenfcein auf dunklem 
Biabe. 


een M., Bibliothek der älteften deutſchen 
Kiteraturbenfmäler. 223. 

Heyſe, B., Gefammelte Novellen in Verſen 
Zweite aufs Doppelte vermehrte Auf⸗ 
Tage. 49, 

u Moralifgr Novellen (achte Samm: 
hung 


Bi 


Sibehtand, R., Ueber Grimm's Wörters 
buch in feiner wiflenfhaftlichen und na= 
tionalen Bedeutung. 574. 

Hillern, Wilhelmine von, geb. Bird, Ein 
Arzt der Seele. 177. 

Hiltl, &., Unter ber rothen Gminenz. 26, 





. 8 Bas mir die Stunden brachten 


* — ©, Bergimeinnit. Blumenlieder | "Hirf, Sranz. Prolog. 7. 
für junge Blumenfreundinnen gefammelt. | Hirfchfeld, 9., ar 699. 
814. gogmu 3. 3. 8., Gedichte. 358. 
* Hartmann’ von Er 1 Degeri“, 174. | Hüter, ©, Eines Andern Frau. 232. 
Hartlaub, G., f. Di ‚Hoefer, €, Aus Kriegs: und Friedens⸗ 
Hartfen, 8. 9. von, " Geunbfegung von | zeiten. 


Aeſthetik, Moral und Erziehung, von 
empirifchen Standpunft. 502. 
—— Unterfuhungen über Logif. 77. 
— Unterfugungen über Afpchofogie, 7. 
Hartung, A, Beiträge zur Bädagogi 


—— Der verlorene Sohn. 39. 
‚Hoffinger, von, Bon der Univerfität. 381. 
ent ha von, Kronen aus Italiens 
Bi terwalbe. 817. 
icht: und Tonwellen. Aus dem Nach 


lag ber Verfaſſerin herausgegeben und 
mit einer Lebens: und Charakterſtizze 
verfehen von J. von Hoffin 305. 

Hoffmann, C., Gedichte und 

W., f. Deutfchland. 

Hohenhaufen, %. von, Berůͤhmte Liebes⸗ 
paare. 

Hohelied, das, ein dramatiſches Gedicht. 
Metriſch bearbeitet von H. Stadelmann. 
718. 

Holdey, D., Hugo von Trimberg, der Meiſter⸗ 
ſänger. 3. 

Hollander, F., Der berliner Figaro. 299. 

— F., Die Roſe des Libanon. 718. 

Holtei, K 8 Eine alte Jungfer. 42. 

Holtfhmidt, K . F., Ecce homo! 278. 

Holgendorfi, F von, Englands Breffe. 382. 

Somberg, Tinette, Gedanken über das wahre 
Glück. 258. 


"leder. 368 


dörmann, Angelifa von, Grüße aus Tirol. 
152. 


Horn, Freih. G. von, Die Kunit des Wetters 
prophezeiend ober bie Wetterzeichen und 
Bauernregeln nebft einem Anhange: Die 
Wetterprophezeiungen bes Hunbertjährigen 
Kalenders. 1 

Horſt, Klotilde von der, Gefchichte ber 
deutfchen Literatur von ber älteften bis 
auf die neuere Zeit mit Beifpielen aus 
den beften Werken der Boefle und Brofa. 


619. 
Huber, Ir Der Broletarier. 310. 
K., Gedichte. . 
Sübner, J., Schadow und feine Schule. 
1 
Püget, R., Ueber Otfrid's Versbetonung. 
Huhn, &. H. Th., Karl Mathy. 390. 
Humboldt. — Briefe von Alerander von 
Humboldt an Ehriftian Karl Joſias Freis 
herr von Bunfen. 87. 
* Sumboldtperlen. Gin Demantfranz aus 


Alerander von Humboldt’s Leben und 
Schriften. 143. 


34. Ein Selsflgefpräd Fragment von 
v. R. jun 

gm Brautfranz. am Frau Therefe. 106. 

"Am neuen Reich. SHauptmitarbeiter ©. 
Freytag; Redacteur A. Dove. 797. 

Sm Ural und Altai. Briefwechfel zwifchen 
Alexander von Humboldt und Graf Georg 
von Bancrin aus den Jahren 1827—32. 
87. 

Smmermann, I. Putlitz. 


fing, W. von, Sobanna b’Arc. 57. 


Jäger, ©., Die Darwin’fche Theorie und 
ine Stellung zu Moral und Religion. 


— u Künfllerftreihe. 428. 

Jahn, G. Gerſtäcker und die Miffton. 
Zweite Auflage. 108 

Jahr, G. H. G., Stoff ober Kraft? Ober: 
Das immaterielle Mefen der Natur. 220. 

Jahrbuch der deutſchen Dante⸗Geſellſchaft. 
Zweiter Band. 467. 

—— der Deutfchen Shaffpeare-Befellfchaft 
im Auftrage des Borflandes herausgegeben 
buch 8. Ee. Fünfter Jahrgang. 817. 

—— ofifriefifches. Altes und Neues aus 
Dfifriesland. Herausgegeben unter Mit: 


Regiſter. 


wirkung von Kenuern und Freunden oft: 
friefifhen Landes und Volks. Eriter 
Band. Erſtes Heft. 286. 
— wiener humoriftifches, 1870. Heraus⸗ 
Bere zn J. Gaiger. Siebenter Jahr: 
Si — 5. Fu Satz bes zureichenden Grun⸗ 
1 
u, Der Papſt und das Eoncil. 17. 
Jäͤßing, A., Saitenflänge. 119. 
_— Borgefühle. 193. 
Senfen, W., Die braune Erica. 
— Das Erbtheil des Bluts. 
— Im Pfarrdorf. 233. 
— Neue Novellen. 395. 


396. 
395. 


Jerwig, W., Fromm und Froͤhlich. 439. 
»Jordan, W., Nibelunge. Zweite Aufs 
lage. 127. 


— Das Kunſtaeſeb Homer's und die 
Rhapſodif. 219. 

Jugenberinnerungen eines alten Mannes. 53. 

Junghans, S., Gedichte. 


»Kaliſch, D., Luflige Werfe. Erſtes bis 
fünftes Heft. 11. 

Kampmann, %., Gedichte. 121. 

Karpeles, G., Ludwig Birne. Lichtfirahlen 
aus feinen Werfen. ars. 


— Heinrich Heine und bas Judenthum. 
1 


Käszony, D. von, 1872. Ein Roman ber 
Zukunft. 267. 
Satan und Cherub. 101. 
* Rayferstangerhanng, Agnes, Baufteine für 
Strasburg. Lieder von 1870. 767. 
Keferftein, H., Pädagogiſche Streifzüge. 
(Bierte Sammlung pädagogifcher Sfiz- 
en.) 155. 

Kelchner, E., |. Nagler. 

Kempner, D., Hiftorifche Novellen aus ber 
neueften Zeit. 233. 

Keſſel, K. von, Fried Eigenreich oder die 
Schule des Lebens. 

— Koniggnen 377. 

Kiehl, , Anfangsgründe der Volks⸗ 
— 218. 

Kirchhoff, C. und T., Adelpha. 692. 

Klapp M., Revolutionsbilder aus Spanien. 


Klein, H. 3., Handbuch der allgemeinen 
Simmelsbefchreibung vom Standpunfte 
der Fosmifchen Weltanfchauung. Erfter 
Theil: Das Sonnenſyſtem nach dem ge en 
wärtigen Zuftande der Wifjenfchaft. 

— 5.2, Geſchichte des Dramas. Bier 
bis flebenter Band: Gefchichte des ita⸗ 
lienifchen Dramas. 225. 

Kleinfteuber, H., Das Schloß am Meere. 27. 

"Kluge, 9., Gefchichte ber beutichen Na⸗ 
tionalfiteratur. 415. 

"Koberftein, A.; Tod deffelben. 254. 
— 2 Erich XIV. 380. 

Köller, E., Klatfchereien. 701. 

König Jer dme und ſeine Familie im Exil. 
Briefe und Aufzeichnungen. Heraus⸗ 
gegeben von Ernefline von L. 90. 

Köpfe, R. DOttonifhe Studien zur beut- 
ſchen Gðeſchicht⸗ im 10. Jahrhundert. 
II. Hrotſuit von Gandersheim. 140. 

Kormann, P., ſ. Familienbibliothek. 

Krämer, m, Ueber die ſittliche Werth⸗ 
ſchaͤtzung menfchlicher Größe. 477. 





V 


Krafler, F., Offenes Vifir. 

Krepfhmar, A., Die —R oder des 
Goldes Fluch and Segen. . 

"Kriegslyrif, die, von 1870. 556. 606. 
638. 766. 

Kruſe, $., Die Gräfin. Drama. 30. 
Dritte Auflage. 271. 

Kühne, G., Römifche Sonette. 458. 

Kühner, C., Dichter, Patriarch und Ritter. 
Wahrheit zu Rüdert’s Dichtung. 481. 

* Kulemann, J— Germania. 639. 

Kulke, E., Aus dem jüdiſchen Volksleben. 


Ein Nachſpiel zu Na⸗ 
278. 


238. 
Kurd und Blanda. 
than dem Weifen. 
»Kurz, H. 767. 


"Rabes, E., Zeitgedichte. 767. 
—2* Angelika von, Edle Frauen. 
539 


Die geſchichtliche Entwicke⸗ 
lung bee Freihandels 56. 
Lampert, F., pH Baffionsfpiel in Ober: 


anmergau, 
R., Die Grenzen ber menſch⸗ 


Sammer’ 6, A., 


Landau 
lichen Erfenntniß und bie religiöfen Ideen. 
183. 


Lanfrey, P., Gefchichte Napoleon’s des 
Erften. Aus ben Franzöfiſchen von ©. 
von Glümer. @ingeleitet von 8* Stahr. 
Erſte bis achte Lieferun * 

Lange, F. A. 3. St. Mil s Aufleiten über 
die fociale Frage und die angebliche Um: 
wälzung der Sorialwiflenfchaft duch 
Garey. 810. 

Langenberg, E., Aus Dieherweg’s Tages 
bu von 1818—22. 381. 

Lao⸗tſe Taͤo⸗tẽ⸗king. Der Weg zur Tugend. 
Aus dem Chinefiſchen überſetzt und er⸗ 
klärt von R. von Plaenckner. 529. 

Laſaulx, A. von, Der Streit über die Ent- 
ſehung des Vaſalies. 387. 

ran, 9. ,‚ Meifter Cckhart der Myflifer. 
1 


Laubert, E., Länders und Stüdtebilder. 
Dritte Folge: Thüringen, Wien, Paris. 
747 


Laudenbach, %. K., Eine liberale Polemik 
gegen den Atheismus. 

Zaun, A., Dichtercharaftere. a gẽehenier, 
Beranger, Burns u. f. w. 8. 

— Bafhington Irving. 48. 

LavergnesBeguilhen, M. von, Die confer: 
vative Soriallehre. Erftes Heft: Die 
Goncurrenz und die Ölieberung ber Staas 
ten. 310. 

Lazarus, M., Rede beim Schluß ber erſten 
fraelitifchen Synode zu Leipzig am 4. Juli 
1869. Nebſt einer Änſprache des Ober- 
rabbiners Löw aus Szegedin an den Prä- 
fidenten. 284. 

Lebensbilder, geichichtliche und culturges 
fhichtlihe. Aus den Erinnerungen und 
a Mappe eines Breifes. Zweiter Theif. 


397. 
. Ritter von, Herbſtblumen. 


Leonhardi, K K. H. Freih. von, Der Philo⸗ 
ſophencongreß als Berföhnungsrath. 685. 
. Zeit, die nem. 


Le Grave, Agnes, Frau Lee. 
Leitner, R. 


VL 


Leopold, 3. inphantaften. 
lage. 2 

Leſſer, 2. —ã Dichtungen. 692. 

Letteris, M., Ein Blatt Gedichte. 7BL. 

Lewald, A., Anna. 394. 

“Richel, D., Auswahl beutfcher Gedichte für 
Styule und Haus. Nach den Digtunges 
arten geordnet und mit erläuternden Ans 
merfungen verfehen. 814. 

Bichestieder, bie älteften deutſchen, bes 
12. Jahrhunderts. Im freier Uebertrar 
gung von D. Richter. 727. 

Liebetrut, F., Dom Schönen und vom 
Samui. Eingeleitet durch Hoffmann. 





Zweite Aufs 





— Borträge. 156. 
Liebmann, D., Ueber den objectiven Ans 
blick. 3 


"Lieder, Balladen und Romanzen. Herausr 
‚gegeben von U. Traeger. 814. 
"Lieber zu Schug und Trug. Heft 1-8. 
606. Heft 5. 670. Heft 6-8. 767. 

*Lindau, Paul. Feſtrede. 447. 

Linnig, 8 1. Walther von Aquitanien. 


Lippold, 2 Ueber bie Duelle des Gregos |" 


rius Hartmann’ von Aue. 728. 
*Lippoldt und Holt’ in Neuyort Ausgabe 
ausländifcher Autoren. . 
ur 3. €, Confonanzen und Diffonangen, 


Lobſtein, E., Bilder aus Neapel, 723. 
— 8, "Die Opfer mangelhafter Juftiz. 


Sogan, g. von, f. Dichter, deutſche 

— Einngedichte. Herausgegeben von 
K. Einer. 79. 

Löher, F. von, Iakobän von Baiern und 
ihre Zeit. 553. 

— rechnung mit Frankreich. 648. 

Lorinfer, 8., Die Bhagavad-@ita. 333. 

Low, f. Sajarus. 

“Löwe, F. & diſcher, I. ©. 

Söwenherz, &., DVerfehlie Ziele. 636. 
Lüders, $. ©. 3., Das Norde oder Bolars 
licht, wie « iR und was es iſt. 570. 

Ludwig, ©., f. Tafchenbud;, berner. 

Ludwig's, D., gelammelte Werke. 350. 
Separatausgabe. 591. 

Zunbeberg, A, Bilder aus meiner Praris, 
Deutſch von A. Krepfehmar. 172. 


Maͤdler, 3. H. von, Neben und Abhand⸗ 
lungen über Gegenflände ber Himmels⸗ 
Funde. 57L. 

Maffabäer, ber lehte. Hiſtoriſcher Roman. 
Aus ben Sapieren eines Verſtorbenen. 


552. 
"Maltig, Apollonius von; Tod defielben. 
255. 


— 8. von, Die Bolitif des Herzens oder 
die Annectirten. 

Malgan, H. Frei. von, Sittenbilder ans 
Tunis und Algerien. 746. 

Manfried, F., Gedichte. 353. 

Mann, ©., Kraft und Wärme der Orga- 
nismen. entflammen einer Duelle, 7. 

Marc, $., Gedichte. Dritte Auflage. 457. 

Marenzi, 8. Graf von, Der Karſt. Zweiter 
Manuferiptabvrud. 245. 

Marie Helene, Gräfin Ida Hahn⸗Hahn. 


48l. 
Marlitt, E., Goldelſe. Fünfte Auflage. 289. 








Regifter. 


Marlitt, &,, Das Sehe, ar alten 
Mamfel, Dierte Auflage. 

—— Die Reichögräfin — i Auf⸗ 
lage. 289. 

Martin, ©. A., Bilder und Sfigen aus 
ber Naturkunde, 243. 

— $., Rußland und Europa. Deutfche 
vom Berfaffer Durhgefehene und vermehrte 
Ausgabe. Ueberfegt und eingeleitet von 
©. Kintel. 145. 

— ®.2£., Taridermie ober bie Lehre vom 
Eonferviren, Bräpariren und Naturaliens 
fammeln auf Reifen, Ausftopfen und Auf ⸗ 
Kellın der Thiere, Raturalienhanbel u. ſ. w. 


Marz, 8, Jacobäa von Baiern. 277. 

— König Nal. 277. 

— 8, Der achtzehnte Brumaire bes 
Louis Bonaparte. 573. 

Mag, J. Tilly. 60. 

Maurer, 8, Cine Reife durch Bosnien, die 
Saveländer und Ungarn. 474. 

Mayr:Tüchler, 3,, Wulten. 198, 

"Mehlig, 3, Hiforifcher Wandfalender. 
Anelier Jahrgang auf das Jahr 1871. 


eMeifne, Alfred. 286. 
er Bericht über bie Bibliothek Schiller’s. 


— Erinnerungen an Wien. 430. 
—— Die Kinder Rome. 705. 

— Kleine Memoiren. 233. 

—— Unterwegs. 746. 

Fr 2., Schwerting, der Sachſenherzog. 
—— Blafa. 273. 


Mels, A., Gebilde und Gefalten. 
Mendel, H., Giacomo Meyerbeer. 
Zeben und feine Werfe. 288. 
"Mendelsfohn, M., Bhädon oder über die 
Unfterblichfeit ber Seele, und: Jerufalem 
ober über religiöfe Macht und Jubens 
!yum. Herausgegeben von A, Bodel. 


MenbelfehnsBartgotip, 8 .. f. Ragler. 
DMenger, M., Die auf Selbſthütfe Gefüten 
Genofenfchaften im Handwerkers und Ars 
beiterftande. 310. 

Menzel, W., Kritif des modernen Zeite 
bewußtſeins. 561. 

— Bas hat Breufen für Deutfchland 
geleitet? 561. 

Mevert, E. Der König von Münfter. 279, 

Meyer, ©. $., Romanzen und Bilder. 778. 

MeyersMerian, Th., Entſchwundene Zeiten, 
Nacgelafene Crräslungen und Bilder. 
Herausgegeben von 8. Dfer. 45. 

Micelet, I, Die Welt der Vögel. 764. 

w, "Neue Gedichte. 454. 

*Mindoig, 9., Deutfchlandse Traum, 
Kampf und Sieg. 606. 

Mindermann, Marie, Ranfen. 692. 

Rittheilungen aus bem Tagebuch und Briefe 
wechfel der Fürftin Meleid Amalia von 
Galigin neh Bragmenten und einem 
Anhang. 892. 

Mohr, 2., Roxhe Weip, 

älfaufen, Bl. Das Nheriguldenblat. 


— 8. €., Friedrich der Einzige. 780. 
Moraliomus ober Emancipation bes Geiftes. 


Mofeatht, S. H., Habella Orſini. 30. 161. 


584. 
Sein 








Moͤhlbach, Luife, Kaifer Joſeph und fein 
Landefneht. Grfte Abtheilung. 588. 
Muhlfeld, Breie Bahn. 137. 
»Nüldner, R., Aus deuiſchen Gauen. 286. 
"Müller, 8., " Neueftes Künftlers Lerifon. 
Grginpungebane bearbeitet von A. Seu⸗ 


3, Briefe über die rifliche Res 
_ligion. 706, bi 


— 5. ©,, Deutfhe Klange aus den für 
das deutſche Vaterland fo ereignißvollen 
Jahren 1866 und 1867. 196. 

ur, RN. A, Ueber Erziehung und Bildung. 
— D., Erzahlungen. Die Feuerdore. 
Der Helm von Gannä. 551. 
— Der Brofefjor vom Heidelberg. 324. 
—— Dtto. 767. 
—g Religion und Chriſtenthum. 381. 
*— von ber Werra und W. Baenfch, 
Alldeutichland. 556. 
Mügelburg, A. Der Bodreiter. 398. 
— Robert Clive, der Eroberer von Beu⸗ 


galen. 140. 
—— Das Schlof an der Oſtſee. 490. 
Mylius, D., Die Irre von Eſchenau. 68, 











Ragler. — Briefe des Föniglich Preufifchen 
Staatsminifters, General = Boftmeifters 
unb ehemaligen Bundestags» Gefandten 

8. 8. von Nagler an einen Staats: 
beanten. Als ein Beitrag zur Geſchichte 
des 19. Jahrhunderts herausgegeben von 
€. Kelchnet und K. Mendelsjohns-Bars 
tholby. 109. 

*Ralonatsititge deutſcher Dichter. (Ian 
te’fche, 

r— ee Gugtow's Ritter vom 
Geifte. Oito Ludwig's gefammelte Werte. 


— Dieſelbe. Spielhagen's ſammtliche 
F 419. 

Naumann, M. E. A., Beiträge zur Vor— 
ober Autere ber zehnten Auflage der von 
Dr. Ludwig Büchner verfaßten Schrift: 
„Kraft und Stoff.“ 285. 

Nebeliheudhe, die. Bon Marimns:Gafus, 
Oberlehrer zu Druntenheim. Erſte He: 
liade. 539, 

Niendorf, M. A., Ein ausgeriffenes Blatt. 

1839. 


— Bie man regiert. 490. 
Nippold, F., Aeguptens Stellung in ber 
Religionss und Gulturgefhichte. 56. 

Bunfen. 

Niffen, M. Der frieſiſche Spiegel mit einer 
hochdeutſchen Ueberjegung. 

Notter, $., Die zwei eriten Grfknge von 
Dante's Hölle. 317. 


"Diezmiller, 8, Deutfärtelifges Wörter 


buch. 

Drill, 3. — Georginen. 716. 

Debtenfcjläger, 9, König Helge. Eine 
Norblandsfage. "Ueberfegt von ©. von 
Leinburg. Drfa. 646. 

Dlivier, U, Der fremde Knecht. Aus dem 
Srangöfifchen von der Ueberfeßerin der 
Börfterstochter". 398. 

Ompteba, F. von, Zur deutjchen Geſchichte 
in bem Jahrzehnt vor den Befreiungss 





friegn. D.: Politiſcher Nachlaß bes 
hannoverfchen Staates und Eabinetsmis 
niftere Ludwig von Ompteba aus ben 
Jahren 1804—18. Drei Abtheilungen. 


III. 65. 

Oncken, W., Ariſtoteles und ſeine Lehre 
vom Staat. 670. 

Opitz, G., Junge Lieder. 692. 

— M. |. Dichter, deutſche. 

Oppenheim, H. B., Vor und nach dem 
Kriege. Der Vermiſchten Schriften zwei⸗ 
ter Theil. 145. 

"Oppermann, H. A.; Tob befielben. 255. 

Dergen, G. von, Alte Bilder und junge 
Blätter. 853. . 

—— In Sonnenichein und Wind. 124, 

Dfer, 8., f. Meyer:Merian. 

Deſterreichs jüngſte Krifie. Eine März« 
betrachtung von Ernft*** 476. 

Oswald, E. Der Judenhaß. 297. 

Othen, F., Gedichte. 716. 

Otto, Luiſe, der Genius der Menſchheit. 
Frauenwirken im Dienſte der Humanität. 


— W., Kaufmann und Ariftofrat. 549. 


Pabſt, K. R. Die Verbindung der Künſte 
anf der dramatiſchen Bühne. 157. 
"Bape, 3, Der treue Eckart. Zweite Aufs 
lage. 127. 
—— Sofephine, Liebe, Glaube und Vater⸗ 
land. Dritte vermehrte Auflage. 127, 
1 


781. 
Paſchkowsky, D. von, Chriftine. 521. 
Bafig, &., Berpetua. 3583. 
Pasqué, E., Drei Gefellen. 375. 
"Baul, D., Handlexikon der Tonfunft, 
Zweite und dritte Lieferung. 479. 


ftark vermehrte Auflage. 723. 

Perty, M., Ueber den Barafitismus in ber 
organifchen Natur. 669. 

Berg, ©. H., Das Leben des Feldmarſchalls 

Grafen Neithardt von Gneiſenau. Dritter 
Band. . 

Beichel, O., Reue Probleme der vergleichens 
den Erdkunde ale Berfuch einer Morphos 
logie der Erboberflähe. 619. 

Peterfen, C., Das Zwöälfgötterfyflem ber 
Griechen und Römer. 670. 

Petrarca’s, F., Hundert ausgewählte So: 
nette, überfeßt von 3. Hübner. 469. 
Pfalz, F., Bilder aus dem deutfchen Staͤdte⸗ 

leben im Mittelalter. Erfter Band. 252. 

Dfannenfchmid, H., Das Weihwaffer im 
heidniſchen und chriftlichen @ultus, unter 
befonderer Berüdfichtigung des germanis 
ſchen Alterthums, . 

Pfeiffer, E., Die Eonfumvereine, ihr Weſen 
und Wirken. . 

Pfeiffer⸗Feier in Bettlah. 702. 

Dfleiverer, D., Die Religion, ihr Weſen und 
ihre Gefchichte, auf Grund bes gegen- 
wärtigen Standes ber philofophifchen und 
ber biftorifchen Wiffenihaft. 584. 

Biderit, K. W., f. Weihnadhtsfpiel. 

Pierſon, W., Aus Ruplands Vergangen⸗ 
heit. 572. 

— Gfeftron, ober über die Borfahren, 
die Berwandtfchaft und ben Namen ber 
alten Preußen. 8386. 

Pindar’s Siegesgefänge. Mit Prolegos 


Regiſter. 


menis über Pindariſche Kolometrie und 
zritit von M. Schmidt. Erſter Band. 
6 


Pionier, der deutſche. Eine Monatsſchrift 
für Erinnerungen aus dem deutſchen 
Pionierleben in den Vereinigten Staaten, 
herausgegeben vom deutſchen Pionier⸗ 
verein. 

Bitamall, @., Der Jäger von Königgräp. 
173: 

—— Maria Stuart. 173. 

Plaenckner, R. von, f. Laostfe. 

Pogobin, Offener Brief an Herrn Brof. 

chirren über befien Buch: Livländifche 
Antwort. Aus dem Ruffifchen des Golos. 

Bolko, Elife, Auf bunfelm Grunde. 238. 

— Haus:Album. 478. 

— Schöne Frauen Zweite Reihe. 138. 

Bonfon bu Terrail, Das Geheimniß des 
Arztes. 172. 

—— Das Muttermal. 490. 

Poppe, F., Am Zwifchenahner See. 198. 

Preis, J., Die befle Ausflattung für junge 
Damen. 219. 

"Bröhle, H-, Deutfche Lieder und Oben 
aus ber Zeit bes zweiten franzöfifchen 
Kaiſerreichs. 767. 

Butlig G. zu, But gibt Muth. 31. 

— Karl Immermann. Sein Leben und 
feine Werfe aus Tagebüchern und Brie: 
Ion an feine Familie zufammengeftellt. 


Naabe, W., Abu Telfan oder die Heims 
fehr vom Mondgebirge. 314. 
— Die Chronik der Sperlingsgafle. 

Vierte Auflage, 79. 

—— Der Regenbogen. 395. 

—— Der Schübderump. 824. 
Ramann, 2, Bach) und Händel, 104. 
Ranke's, L. von, Sämmtliche Werke. Zwölf: 

ter bis funfzehnter Band. 148. 
Rai, &., Bon ber Nordſee in die Sahara. 


Raumer, F. von, Litterarifcher Nachlaß. 


Rauſcher, E., Nora, ein Gedicht in vier 
Gefängen. 149. 

»NReclam's „Univerſalbibliothek“. 638. 

Regeneration, die, der deutſchen Studenten⸗ 
ſchaft. Vom Verfaſſer der Brofchüre: 
„Die deutſche Studentenſchaft; eine aka⸗ 
demiſche Zeitſtudie.“ 475. 

Reichart, A., Die fittliche Lebensanſchauung 
des P. Ovidius Naſo. 221. 

Reimann, E., Geſchichte des Bairifchen Erb⸗ 
folgefriegs. 

Reintens, J., Das Mädchen aus Böhmen, 
71 


Reis, P., Die Sonne. 570. 

Reif, W., und N. Stübel, Ausflug nad 
ben vulfanifchen Gebirgen Negina und 
Methana im Jahre 1866, nebft minera- 
Wiſchen Beiträgen von K. von Fritſch. 


— Gefchichte und Befchreibung der vul⸗ 
anifchen Ausbrüce bei Santorin von 
der älteften Zeit bis auf die Gegenwart. 
385 


| Reitzes, J., Zur Gefchichte der religiöfen 


vu 


Religionsphilofophie, die, als eine Wiſſen⸗ 
Ba für jeden, ift reif für eine Umges 
altung. . 
Revue des Literaturjahres 1869. 1. 
Ribbet, O., Sophofles und feine Tragübien, 


Nichter, D., f. Liebeslieber. 

Ring, M., Lieben und Leben. 520. 

—— Götter uud Gößen. 805. 

Ringseis, Emilie, Sebaftian. 38. 
Risterhaus, E., Sreimaurerifche Dichtungen. 


— Gedichte. Dritte'vermehrte und vers 
befferte Auflage. 127. 458. 

Robiano, 8%. Gräfin von, Robert Bruce 
ober bie Helden von Bannockburn. 822. 

Rochlitz, F., Für Freunde der Tonfunft. 
Dritte Auflage. Mit einer biographis 
fchen Skizze bes Verfaſſers. 105, 

Rodenberg's, J., Gedichte, ins Englifche 
überfegt von William Vocke. 286. 

Rokitansky, K., Die Solidarität alles Thier⸗ 
lebens. 492. 

Rommel, E., Gedichte. Poefie und Kunft, 
Liebe, Glaube, Wiffen, Arbeit und Vater⸗ 
land. 121. 

Röpe, G. R., Die moderne Nibelungen- 
dichtung. 617. 

NRoquette, D., Novellen. 826. 


Rofegger, P. K., Sittenbilder aus dem 


fteirifchen Oberlande. 810. 

—— Tannenharz und Fichtennadeln 810. 

Zither und Hadbret. 810. 

Roſen, Des Nächften Hausfrau. 31. 

Roskoff, G., Gefchichte des Teufels. 734. 

Roßbach, J. J., Gefchichte der Gefellfchaft. 
Zweiter Theil: Die Mittelflaffen im 
Drient und im Mittelalter der Bölfer 
des Occidents. DB. 

— Daffelbe. Dritter Theil: Die Mittels 
klaſſen in ber Gulturzeit der Voͤlker. Erſte 
Abtheilung. 218. 

* — Daſſelbe. Berichtigung. 95. 

"Rudorff, E., Stunden der Weihe, Samm- 
lung von Ausſprüchen Friedrich Schleier: 
macher's. 399. 735. 

Nüffer, E., Die Strategen und bie Stra⸗ 
tegie der neueflen Zeit. 408. 

Ruß, K., Natur⸗ und ulturbilder. 388. 





Sacher⸗Maſoch, Aus dem Tagebuche eines 
Meltmanne. 72. 

—— Die gefchiedene Frau. 72. 

—— Das Vermäͤchtniß Kain's. Erſter 
Theil: Die Liebe. 785. 

Saggau, Ch., Bild und Stimmung. 121. 

Salis, A. von, Georg Jenatſch. 36. 

Samarin's, J., Anklage gegen die Oſtſee⸗ 
provinzen Rußlands. Ueberſetzung aus 
dem Ruſſiſchen. Eingeleitet und com⸗ 
mentirt von J. Eckardt. 449. 

Sammlung gemeinverſtaͤndlicher wiſſenſchaft⸗ 
licher Vorträge, herausgegeben von R. 
von Virchow und F. von Holtzendorff. 
Heft 80—88. 56. Heft 93—98. 382. 
Hefte 91, 99, 100, 102 u, 103. 669, 

Sauer, K. M., Kinder der Zeit. 707. 

Schapmayr, E., Deutſchlands Norden und 
Süden. Zweite umgearbeitetie Auflage. 
682 


82, 
Wandlung Kaifer Marimilian’s II. 796. | — Nord und Süd. 682. 


4 
MU - '& 27 Vor Er BER ES IE STE 


a. >» 





VIII 


Schauenburg, €. H., Zur Beränbigung 
aller der bei der legten Präfldentenwahl 
entflanbdenen Misverftänbnifle und Mis— 
riffe. Allen Mitgliedern der Kaiferlich 

opoldiniſch⸗Karoniſchen Afabemie deut⸗ 
ſcher Naturforſcher vorgelegt. 350. 

— 5, Erinnerungen aus dem preußiſchen 
Kriegslazaretäleben von 1866. . 

Schaufert, H. A, Schach dem König. 161. 

"— 1684. Schaufpiel. 80. 

Scheffel I. ®., Bergvfalmen. 209. 

— Gaubeamus. 209. 

—— Der Trompeter von Sädingen. Zehnte 
Auflage. 209. 

re Aoentiure. Zweite Auflage. 

Schellen, H., Die Spectralanalyfe in ihrer 
Anwendung auf die Stoffe der Erbe und 
die Natur der Himmelsförper. 134. 

Schenkel, D., Brennende Fragen in ber 
Kirche der Gegenwart. 17. 


*Sciller-Gefpräche. 222. 
*— Duplifate derfelben. 126. 
ESgille · Halle. Abhabetifch geordneter 


Gebanfenfcap aus Schiller's Werfen und 

Briefen. Im Berein mit ©. Brigfche 

und M. Moltte Herausgegeben von M. 

Zille. Fünfte und fechste Lieferung. 479. 

* Schiller’, Friedrich von, Bibliothef. 654. 

*— ein Theil verein jegt in Hamburg. 
'98. 


798. 

"Schillers fämmtlihe Schriften. Hifo 
tifggeteitifche Ausgabe. Achter Band: 
Gefchichte des Dreißigjährigen Kriegs; 
jerausgegeben von &. Deflerlen. 207. 

Scirren, €., Livländifhe Antwort an 
Herrn Juri Samarin. 449. 

"Schlegel, ©. ; über chinefifche Bräuche und 
Spiele in Europa. 126. 

“Sälefinger, %, Geldichte Böhmens. 
Anete vermehrte und verbefierte Auflage. 

91. 

Schletterer, H. M., Gefchichte der geifte 
figen Bistung und ficchlichen Tonfunft 
in ihrem Zuſammenhange mit ber polis 
tifchen und focialen Entwidelung, ins» 
befonbere des beutfchen Wolfs. 282. 

*Sclofer's, d. B., Weltgefhichte für das 
deutſche Bolt. Neue revidirte Bolfsauss 
gabe. 495. 

Schlüter, |. Henfel. 


Schmid, H., Müge und Krone. 102. 
Schmidt, %., Ernſt Morig Arndt. 221. 
—— NAlerander von Humboldt, 87. 


— 3, Bilder aus dem geifigen Leben 
unferer Zeit. 737. 

— M., Die culturgeſchichtliche Bedeus 
tung bes Hülfevereins-Wefens mit befons 
derer Berüehfichtigung ber Briedensthätige 
1eit ber Oenfer-Wonventions-Verehne und 
Begründung, eines nationalen Hülfes 
vereind, . 

eäelt, 8, Ueber den Begriff Tochterſprache. 


Schönau, H. von, Eavalier und Jũdin. 550. 
Schoͤnbeck, R., Guten Morgen Bielliebchen! 


198. 
Schoͤnhardt, R., f. Fiſchetr, J. ©. 

* Schopenhauer, Arthur; bie „Revue des 
deux mondes’ über venfelben. 238. 
Schöpfer, KR, Die Widerfprüche in ber 
Aftronomie, wie fie bei der Annahme des 
Kopernicanifcjen Syflems entftchen, bei 











Regifter. 
ber entgegengefeßten aber verſchwinden. 
568. tgegengeſeb 


Scott, S, Anfihten vom Leben. 687. 
Sholtmiler, 4, Die Weit des Be, 


Schramm, H., C. J. Ph. von Martius. 154. 

Schrend, A, von, Bon der Norbmarf. 779. 

*Säriftfieller, bie dramatifchen Deutfch- 
lands; Aufruf zur Gründung einer Ges 
moffenfchaft dramatifcer Autoren und 
Componiſien. 511. 

Schröder, 8., ſ. Ban dem Holte, und Vru⸗ 
wenlof. 
— Sophie, wie fie lebt im Gedaͤchtniß 
ihrer Zeitgenofien und Kinder. 220. 
*Schröer, K. J. Die beutfche Rechtichreis 
bung in der Schule und deren Stellung 
zur Schreibung ber Zufunft. 590. 

* — Der beutice Spradjunterricht und 
die Mundarten. 814. 

Sauber, 5. K., Und fie bewegt fd doch! 


Shüding, &., Biligran. 250. 

— Luther in Rom. 808. 

Schuler, K. I., Die Jahreszeiten. Bers 
beflerte Gefammt- Ausgabe, 120. 

Schure's, E. Geſchichte des deutſchen Liebes. 
Eingeleitet von A. Stahr. 616. 








Schwarz, R., Gedichte. 200. 
Säweidel, R,, In den preufifiien Hinter 
wälbern. I. Der Artfehwinger. 898. 


Scott, W. Die Dame vom See. In den 
Versmaßen bes Urtertes übertragen von 
8. Sreptag. 577. 

Sehrwaid, $., Deutfche Dichter und Dens 
fer der vaterländifchen Jugend und ihren 
Freunden ausgewählt und durch literars 
hiftorifche Gharafteriftiten eingeleitet. 143. 


Semper, &., Die Philippinen und ihre Ber 
wohner. . 
Senthis, @., Die wilde Roje. 551. 


"Shafefveare's, W., Dramatifce Werke, 
heraußgegeben von ®. Bobenfledt. Bänd: 
den 22: Titus Andronicns, überfept 
von Delins; 23: Was ihr wollt, übers 
kat von Gilvemeifter. 62. 24: Die 
beiten DVeronefer, überfept von ©. Herz 
wegh. 366. Bänden 27—29. 708. 

Shafefpenre's Kleinere Diptungen. Deutid) 
von A. Neidhardt. 577. 

* Shatefveare'6 Werke. Herausgegeben von 
N. Delius Funfzehnte bis neunzehnte 
Lieferung. 207. Lieferung 20.—24. 367. 

* Shafefpeare:Epitaph, ein. 46. 

*Shafefpeare · Galerie. Charaktere und 
Scenen aus Shafefyeare’s Dramen, Mit 
erläuterndem Tert von F. Pecht. 478. 

* Shafefpeare-Mufeum. Herausgegeben von 
M. Moltfe. Nr. 1. 308. 

Sharpe, ©, öefchichte des Bebräffchen 
Volks und feiner Literatur. Mit Ber 
wilfigung des Berfaffers berigjtigt und 
ergänzt von H. Joiowicz. 54. 

Sichart, 2, von, Gefhichte der loniglich 
hannoverfchen Armee. Grfter bis oritter 
Band. 650. " 

Sierfe, @., ©. ©. Leſſing al angehender 
Dramatifer, gefchildert nad} einer Ver⸗ 
gleihung feines Schapes nad} den Tri 
nummus des Plautus. 157. 

Sigwart, C. Spinvza’s neuentdedter Trac⸗ 
tat von Gott, dem Menfchen und befien 
Glüdfeligfeit. 203. 








Simtock, K., Auserlefene deutſche Bolts- 
bücher. In ihrer urfprünglichen Reinheit 
wieberhergefellt. 142. 

Stett, B., Bunte Blätter. 196. 

Sölti, Furſten⸗Ideal der Jefuiten in einem 
treuen Spiegelbilde dargeftellt. 573. 
Speht, 8. A. K. von, Gefchichie der 

Waffen. 410. 

Spielgagen, $., Die Dorftofette. 395. 

grielmnn, 1 —* Fe 70. 
pir, 9., Grörterung einer philofophifchen 
Srunteinfit. 746. N 

— Borfgung nad) der Gewißheit in der 
Erfenntniß der Wirflichfeit. 188. 

— Borflag an die Freunde einer ver⸗ 
nünftigen Lebensführung. 284. 

"Sprüde, altdeutſche aus ber Wartburg; 
componirt und ie von Ph. Groi⸗ 





Welt. 696. 

Steffens, F. Künflerftreben und Alltags- 
leben. 551. 

Stein, P., Aus den Tagen des erſten Nas 
poleon. 267. 

— 8., Gediäte. 353. 

Steinthal, $., Mythos und Religion. 382. 

Stern, A. Gedichte. Zweite vermehrie 
Auflage. 421. 

— 3, Balentin. 294. 

"Sternwarte, die. Großes Schatten: und 
Buppenfpiel u. |. w. von Gabriel Mer 
»hifto. 126. 

"Stifter, Adalbert. 206. 

— f. Aprent. 

Stinging, R. von, Hugo Donellus in Alte 
dorf. 54. 

Stolz, A, Wilder Honig. 796. 

Straderjan, L., Aberglaube und Sagen aus 
dem Herzogthum Oldenburg. 3 

*— Das Plattdeutihe als Hülfsmittel 
für ben Unterricht. 814. 

Strauß, D. F., Krieg und Frieden. 

joltaire. 769. 

Stroheder, I. R., Die freie Naturbetrach- 
tung gegenübergeftellt ver materialiftifchen 
Lehre von Sr und Kraft. 497. 

* Stubien, germanififgje; herausgegeben von 
8. Bar, 814, 

Stübel, 4, f. Reih. 

Stuhlmann, &. W., Novellm und Erzah— 
lungen. Erſter Band: Aus dem Vatri⸗ 
monialftaate. 700. 

eriler, 4, Shriftlehre und Naturwiflenz 


am. 

3., Lieber und Bilder. 419. 

“Süß, 5. B., Das Handlungshaus Fer: 
dinaud Flinſch. 271. 

Szwykowsfa, Hedwig von, Aus dem Herzen. 
198. 


769. 


Tackels, C. 3., Kriegefeuerwaflen. 410. 
Tagebuch des Sultans. Grinnerungen an 
aris, Sonden, Koblenz, Wien. Nach 
der türfiichen Handihrift. 286. 





*Zantitme, die, der Dramatiker und ber 
norddeutfche Reichstag. 158. 

Taſchenbuch, Berner, auf das Jahr 1870. 
Gegründet von 2. Sauterburg. In Ber 
bindung mit Freunden fortgefegt von 
G. Ludwig, uni nter Jahrgang. 476. 

»Tauber, 3. S., Ouinten. Zweite Auf: 
lage. . 

Tauber, €., Sngenbparnbiee, 200. 353. 


— Bofenflänge 

Zayler, I erintiae Betrachtungen 
über Glaub und Pflicht. Uebertragen 
von J. Bernard. 220. 


Temme, I. D. H., Die Frau des Rebellen. 
688 


Tennyfon, A., Aylmer’s Field. Aus dem 
Engliiäien von H. 9. Feldmann. 236. 

— Doffelde. Meberfegt von F. W. 
Weber. 578. 

—— Enoch Arden. Ueberſetzt von 3. W. 
et 236. 
Thaler, K. von, Aus alten Tagen. 455. 

Therefe, Frau, f. Im Brautfranz. 

Thierſch, 9. Bw, J., Luther, Guſtav Adolf 
und Marimilian I. von Baiern. 369. 
— Das Berbot der Ehe innerhalb ber 
nahen Berwandtfhaft, nach der Heiligen 

Schrift und nad) den Grundfägen ber 
chriſtlichen Kirche dargeftellt. 108. 
Tittmann, 3., f. Dichter, deutfche. 
Toepfer, H., Das mechanifche Wärmeäquis 
parent, feine Refultate und Gonfequenzen. 


Torell, O., und A. E. Nordenffiöld, Die 
fhwebifchen Erpeditionen nad Spitz⸗ 
bergen und Bären-Eiland, ausgeführt in 
den Sahren 1861, 1864 und 1868. Aus 
ben Schwediſchen überfegt von, Paſſarge. 


Treitieite H. von, Hiftorifche und politifche 
Auffäpe. Neue Folge. 

Trofchfe, Th. Freih. von, Die Militaͤrlite⸗ 
ratur ſeit den Befreiungskriegen mit be⸗ 
ſonderer Bezugnahme auf die „Militär: 
Literaturs Zeitung‘ während ber erften 
—8 Jahre ihres Beſtehens von 1820—70. 


Tube, P., Die Fauftfage und ber religiös 
Alice Standpunft in Goethes Fauft. 


Uhland's Schriften zur Geſchichte ber Di: 
tung und Sage. Dritter und vierter 
Band, 337. 

Ufaloy, K. E. von, Alfred de Mufiet. 684. 

Ule, D,, Alerander von Humboldt. 87. 

— Jahr und Tag in der Natur. 244. 

Ulrici, Clara, Gertrud von Stein. 539. 

Unger, 3., Zur Reform ber wiener Unis 

ät, 

-urläweiz die. "Slaffifcher Boden ber Tell: 
fage, verherrlicht durch Schiller's Frei: 
beitsfang. Tert von E. Dfenbrüggen. 

tfte bis vierte Lieferung. 689. 

*rtheile, englifche, über neue Erſchei⸗ 
nungen ber beutfchen Literatur. 15. 110. 
173. 221. 318. 383. 414. 493. 575. 
686. 719. 750, 830. 


Vacano, E. M., Das Geheimuiß der Frau 
von Nizza. 426, 


Regiſter. 


Van deme Holte des hilligen Cruzes. Mittel⸗ 
niederdeutſches Gedicht mit Einleitung, 
Anmerkungen und Worterbuch, heraus: 
gegeben von K. Schroͤder. 


* Varnhagen von Ense. — Lettres du |, 
Marquis A. de Custine & Varnhagen |, 


d’Ense et Rahel Varnhagen d’Ense etc. 
623. 

Deer, ©. de, Danf vom Haus Defterreich 
ober ber Infant Dom Duarte. 54. 
Venedig. Streiflichter aus Vergangenheit 

und Gegenwart. 722. 
Venedey, 3., Die beutfchen Mepublifaner 
unter ber feanzöfifchen Republif. 789. 
ur Heinrich Friedrich Karl von Stein. 


Berflaflen, Margarete. Ein Bild aus der 
Eatholifchen Kirche von A. H. 796. 
*Derfehr, ber literarifche. Herausgegeben 

von DO. Löwenftein. 14. 
Dierorht, K., Der Zeitfinn nad) Verfuchen. 


Vilmar, A. F. C., Handbüchlein für Freunde 
des deutſchen Volksliedes. Zweite Auf⸗ 
lage. 598. 

—— lieber Goethe's Taſſo. 618. 


Binde, ©, 8 G. Rreih., AsBsE für Haus und 

elt. 

— Reifeosfärichten Novellenbuch in 
Berfen. 779. 


Sich, R., Menſchen⸗ und Affenjchädel. 


—* 3. A., Skizzen aus dem Leben Fried⸗ 
rich David Ferdinand Hoffbauer's, wei⸗ 
land Baftors zu Ammendorf. 407. 

Bolddaufen, Adolfine, Das Kind aus dem 
Ehrärrgang. 588. 

molfebüder, auserlejene deutfche, |. Simrock. 

Bollert, A., f. Eriminalgefchichten. 

Volz, A, Der ärztliche Beruf. 670. 

Bon ber Bolfspoefle. Nebſt ausgewählten 
echten Volksliedern und Umdichtun en 
berfelben. weite verbeflerte Auflage. 
gleich ein Supplement zu "Rleinpanl's 
Boetif”, Vom Ausarbeiter ber letztern. 

Bondel’s, I. van den, Lucifer. Ein Trauer: 
fpiel aus dem Sahre 1654. Aus en 
Holländifchen übertragen buch G 
de Wilde. 34. 

»Vorhof⸗Klaͤnge. Bon einem Wahrheit: 
ſucher. Dritte vermehrte Auflage. 127. 

Voß, Käthe, Waldblumen. 128. 

Brumwenlof. — Ban Sunte Marinen. Mittels 
ieperbeutiche Gedichte, herausgegeben von 

K. Schröder. 659. 


Waderhagen, Emma, Auf den Wellen. 763. 
Wagner, N., Elſaß und Lothringen und 
re MWiedergewinnung für Deutfchland. 


— Yu Zuleiffa. 19. 

Waip, T., Anthropolo ogie ber Natyrvölfer. 
Mit Benupung ber Vorarbeiten des Ders 
faflere fortgefegt von G. Gerland. Fünfter 
Theil. 679. 

Wallace, U. R., Der malalifche Arcjipel. 
Autorifirte deutfche Ausgabe von A. B. 
Meyer. 507. 

Wallach, J., Das Leben des Menfchen in 
feinen Förperlichen Beziehungen. Zweite 
Auflage. 389. 


IX 


Walther, E., Der Schaufpielerberuf in 
fünftlerifcher, gefellfchaftlicher und fitt- 
licher Beziehung. 574. 

— von Aquitanien. Heldengebicht in 
zwölf @ejängen, mit Erläuterungen und 
Beiträgen zur Deibenfage, und Mytho⸗ 
logie, von 5 Zinni 

Wander, J., Die Wahnffrnigenn aufAland. 231. 

Marsberg, a. Freih. von, Ein Sommer im 
Drient. 748. 

Dee, 8 A., le Streifen. Zweiter 


— G., Algemeine eitgeihiite. Achter 
Band. Zweite Hälfte. 

— M. M. von, Werke and age 108. 

Weber, R., Die poetifche Nationalliteratur 
ber beutfchen Schweiz. 167. 

Wedding, H., Das Eifenbüttenwefen. Erfte 
Abtheilung: Die Erzeugung des Roh: 
eifens. 382. 

Degele, 5. X., Friedrich der Preidige, 
Markgraf von Meipen, Landgraf von 
Eodeingen, und bie Wettiner feiner Zeit. 


De 5, Pr faufenden Webſtuhl ber 


Seit. —8 Ernennung deſſelben zum 
artiſtiſchen Director des ſtuttgarter Hof⸗ 
theatere, 14. 31. 

We eihnaghrsfbiel, ein, aus einer Handſchrift 


8 15. Jahrhunderte. gu rauegegeben 
un 8. W. Biderit. 726. 
Meilen, J., ‚„Rolamunbe 30. 161. 


Weinhold, M., Geſchichte der Arbeit. Erfler 
Band. 252 

Weiſe, K., Borher und Roſe. 196. 

“Meiß, 8 Coſtümtunde. Fünfte und 
jecchste Lieferung. 47. Siebente und 
achte Lieferung. 479. 

— Kr., Der Nothftand unter den Frauen 
und die Abhülfe deffelben. 156. 

"Meitbrecht, &. 766. 

Wenn das Heimmeh fommt. Drei Novellen 
vom Berfaffer des Bilderbuchs eines 
armen Stubenten. 234. 

Merren, B. &., Baltifche Briefe. 490. 

Mefen, das, ber menfchlichen Kopiarbeit. 
Dargeftellt von einem Handarbeiter. 106. 

*Meitphal, Rubolf, über den beutfchen und 
italienifchen Reim in feiner „Philoſo⸗ 
philch = hiftorifchen Grammatik der deut- 
fchen Sprache”. 238. 

Weſtritz, J., Gegen den Strom. 637. 

Whymper, F., Alaska. Reiſen und Er⸗ 
lebniſſe im hohen Norden. Autoriſirte 
deutſche Ausgabe von F. Steger. 775. 

mike, J. von, Aus alten Tagebüchern. 


Witenburg Amafy, 3 Ihelmine Gräfin, 
Neue Gedichte. 8. 

Wiegand, 4, Wie * erging. 381. 
— K. Kleine beutfche Sprachlehre auf 
er Grundlage bes beutichen Sprichworts. 


»Wilbrandt, A., Der Graf von Hammers 
ftein. 431. 

—— Novellen. 397. 

Wild, H., Ueber Föhn und Eiszeit. 242, 

Wilden, 8, edichte 692. 

Widzenfele, 9 . von, Satanas in Neuyork. 


eBilferit, F., Eee Kriegslieber aus Süd⸗ 
beutfchland. 









x 


Willborn, 3., Zwei medlenburgifche Serjooe 
ober Pflicht und Leidenichaft. 584. 
Wulemm, E., Die Welt des Scheines. 


250. 
Winhrlband, W., Die Lehren vom Zufall. 


77. 
Winterfelb, A. von, Der Winfelfchreiber. 


— Banatifer der Ruhe. 316. - 

Wittich, W. von, Vbyegnomit und Phre⸗ 
nologie. 382. 

Wittig, G. K., ſ. Dav 

Winſtec, A., übagonifie Wanderungen. 


Wohfrautf, L., Deutſche Treue. 278. 

Molff, P. H., Jeruſalems Opfertod. Das 
Lieb von ber Bölkerfreiheit. 780. 

MWollbeim, A. ©, Gold-Elfe oder bie 
Egoiften. 298. 


Zaddach, G., Die ältere Tertiärgeit. 56. 





Regiiter. 
Bebtiß ‚Srübfäler, Eliſabeth Graͤſin, Ges 


sg ie fosmifche Bedeutung der 
Herolithen. 569. 

Zeit, die neue. Freie Hefte für vereinte 
Höherbildung der MWiffenfchaft und bes 


Lebens, den Gebildeten aller Stände ge⸗ 


widmet. Herausgegeben von H. Freih. 
von Leonharbi. Zweites Heft. 667. 


Zelger, K., Geognoftifche a anberungen im 


ebiete ber Trias Franfens 
"Zettel, K., Edelweiß. Dritte verbefferte 
Aufla e. 8399. 
Zetter, K., Bamilienradhe, oder: das Erb- 
—5 von Galabrien im Jahre 1788. 


und Mohammebdaner. 


| Zeune, |. Autographen-Berzeichnif,. 


Bimmermann, L. R., Erinnerungen eines 
ehemaligen Brigantenchefs. 188. 


3) 


—— Die lebten Grafen ei, oder Chriſt 


| Btengiebl, 


+ 





| Zupiga, J., Einfüh 


Zimmermann, 8 R., Lofe Skizzen aus 
dem üfterreichifchen Solvatenleben. 408. 

— N, Studien und Kritiken zur Philo⸗ 
ſophie und Aeſthetik. 305. 

Zimpel's Auszug aus „Die elfte Stunte 
mit bem Ant qriſt·. Achtundzwanzigſte 
Auflage 

Zinck, auf, Gedichte. 358. 

E., Studien über das Inflitut 
der Geſeliſchaft Jeſu mit beſonderer Be⸗ 
rüdfichtigung der paͤdagogifchen Wirkſam⸗ 
keit dieſes Ordens in Deutſchland. 441. 

Zopff, H., Orunbzüge einer Theorie der 
Oper. Erfter Theil. 279. 

Zöpprig, K., Meber bie Arbeitsvorräthe ber 
Natur ‚unb ihre Benugung. 670. 

Zufer, & 9, Einige Iprifche Gedichte. 
Ben Meiftern nachgefungen. 719. 

rung in das Studinm 

des Mittelhochdeutfchen. 731